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ALBRECHT DIETERICH
KLEINE SCHRIFTEN
MIT EINEM BILDNIS UND ZWEI TAFELN
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VERLAG VON B.G.TEUBNER IN LEIPZIG UND BERLIN 1911
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Di-
ALLE RECHTE
EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS VORBEHALTEN
VORWORT
Nach Albrecht Dieterichs Tode, noch im Sommer 1908, wurde der
Wunsch laut nach einer Zusammenfassung seiner kleinen Schriften, die
vielfach zerstreut erst als Ganzes ein Bild von dem Menschen geben
können, der sie schuf.
Diese Sammlung erscheint spät, weil ich erst den umfangreichen
Nachlaß Dieterichs an Manuskripten und Notizzetteln durchsehen wollte,
ob etwas davon sich zur posthumen Veröffentlichung eignete. In der
Tat haben sich zwei Abhandlungen gefunden, die hier zum erstenmal
dem Druck übergeben werden, über den Ritus der verhüllten Hände
(XXIX) und der Untergang der antiken Religion (XXX).
Den ersten Aufsatz hatte Dieterich kurz vor seinem Tode als druck-
fertig bezeichnet. Er war auf fünf Abschnitte berechnet, aber es fand
sich das Manuskript nur der ersten drei, und ohne Anmerkungen.
Diese habe ich aus Dieterichs Notizen zugefügt, soweit das möglich
war; viele der Monumente, die in jenen Abschnitten besprochen werden,
kannte er im Original und gibt daher ihre Beschreibung nach eigener
Anschauung, nicht nach älterer Literatur, die zitiert werden müßte.
Dieterich hatte vor, diesem Aufsatz eine Reihe von Abbildungen bei-
zugeben; ausdrücklich bezeichnet hatte er dafür nur eine einzige, die
als Tafel II aufgenommen wurde. Die fehlenden Abschnitte konnten,
wenigstens in ihren wichtigsten Gedanken, nach dem R^sume eines in
Basel gehaltenen Vortrags gegeben werden.
Der Untergang der antiken Religion sollte nach Dieterichs Angabe
im Herbst 1908 gedruckt werden, das Werk war, als er im Mai jenes
Jahres starb, in seinem Innern ausgereift. Aber es kann hier nicht in
der Form erscheinen, die ihm der Verfasser selbst gegeben hätte.
Die Einleitung und der erste Abschnitt sind zwar nach Dieterichs eigener
Niederschrift gedruckt, aber diese Niederschrift stammt aus seinen
früheren Jahren; später hätte er mehr als eine Einzelheit daran selbst
geändert. In Abschnitt II -V habe ich versucht, die Hauptgedanken
aus Kollegheften^ und den Stichworten, die Dieterich selbst sich für
die Vorlesungen aufgezeichnet hatte, zu rekonstruieren. Daß dieser Ver-
' Ich danke Dieterichs Schülern R. Ebner, E. Fehde, H. Ostern, R. Rot-
heimer für die freundliche Überlassung ihrer Nachschriften.
lY Vorwort
such in Inhalt und Form weit hinter dem gesprochenen Wort zurück-
bleiben mußte, lag in seiner Natur. Aber auch wenn er besser ge-
lungen wäre, hätte ein Buch von Dieterich ihn übertroffen. Denn er
würde manches straffer zusammengezogen, anderes ausführlicher be-
gründet haben, als er es in den Vorträgen getan hat, und einiges hätte
er sicher nicht so formuliert. Wohl habe ich bei der Unvollkommen-
heit des Entwurfes, der hier geboten wird, daran gedacht, ihn nicht
zu drucken. Aber den Ausschlag gab der mündlich geäußerte Wunsch
Dieterichs, daß gerade die Gedanken, die er über dieses Thema vor-
getragen hatte, nicht verloren gehen möchten.
Im Texte des ^Untergangs' habe ich nichts geändert, weder zugesetzt
noch gestrichen, und habe mich auch da, wo ich anderer Meinung bin,
an das vorhandene Material gehalten. Nur wo es mich im Stiche ließ,
mußte ich hier und da einen verbindenden Gedanken zusetzen, um die
Lücke zu füllen. Mit Anmerkungen konnte ich bei allgemeiner be-
kannten Dingen sparsam sein, nur die wichtigsten Quellen sind zitiert,
und nicht jedesmal wieder für eine Einzelheit, die dorther entnommen
ist. Da in Kap. II -V dieser Abhandlung keine Anmerkung von Dieterich
selbst herrührt, waren keine'unterscheidenden Zeichen nötig; in den übrigen
Teilen der Sammlung bedeuten, wenn nichts anderes bemerkt ist, recht-
winklige Klammern, daß die Anmerkung nachträglich von Dieterich in
seinem Handexemplar notiert war: an diesen Anmerkungen ist höchstens
die Form geändert, um sie ihrer Umgebung anzupassen; spitzwinklige
Klammern sind Zusätze des Herausgebers. Und zwar habe ich mich
darauf beschränkt, Verweise auf andere Stellen von Dieterichs Schriften
anzubringen, die zu dem kommentierten Ort etwas Neues sagen. Zu-
sätze aus den Werken anderer sind nur als Ergänzungen zu Nachträgen
Dieterichs gegeben worden.
Ein Verzeichnis der von Dieterich selbst in den Druck gegebenen
Aufsätze steht am Schluß des Nekrologes, den ich zuerst im Band CXLV B
des Jahresberichts für Altertumswissenschaft veröffentlicht habe und den
ich hier (S. IX ff.) mit der freundlichen Erlaubnis des Redakteurs W. Kroll
wieder abdrucke. In diesem Lebensabriß habe ich versucht, den einzelnen
Abhandlungen ihre Stelle im Entwicklungsgang Dieterichs anzuweisen.
Nicht aufgenommen sind die Rezensionen Dieterichs. Zwar sind sie
für ihn charakteristisch, weil aus ihnen die Liebe zur Sache und bei
aller Kampfesfreude die Achtung vor der Person des Gegners besonders
deutlich spricht, aber sie enthalten auch vielfach Referate und Einzel-
bemerkungen, die man sehr gut an der Stelle der ersten Veröffent-
lichung nachlesen kann.
Vorwort y
Bekannt geworden sind mir folgende Besprechungen:
1. K. Wessely, Zu den griechischen Papyri des Louvre und der
bibliotheque nationale. S. A. Jahresbericht des k. k. Staatsgymn.
Hernais 1888/89. Berl. philol. Wochenschr. 1891, 9. 10.
2. Karl Buresch, Klaros. Leipzig, Teubner 1889. Berl. philol.
Wochenschr. 1891, 625-630.
3. Ernst Rieß, Nechepsonis et Petosiridis fragmenta magica. Diss.
Bonn 1890. Berl. philol. Wochenschr. 1891, 819-822.
4. Albrecht Wirth, Danae in christlichen Legenden. Wien, Prag,
Leipzig (Tempsky und Freitag) 1892. Zeitschrift für Kirchen-
geschichte XIII, 1892, 420 f.
5. Paul Decharme, Euripide et Tesprit de son theätre, Paris, Garnier
frdres 1892. Deutsche Lit. Zeit. 1894, 361-363.
6. Friedrich Weber, Platonische Notizen über Orpheus. Progr.
Luitpold-Gymn. 1898. München, Lindl 1899. Deutsche Lit. Zeit.
1900, 864. 65.
7. Carl Maria Kaufmann, Die sepulcralen Jenseitsdenkmäler der
Antike und des Urchristentums. Mainz, Franz Kirchheim 1900.
Deutsche Lit. Zeit. 1900, 2909-15.
8. Hock, Stefan, Die Vampyrsagen und ihre Verwertung in der
deutschen Literatur. Berlin, A. Duncker 1900. Zeitschr. für
franz. Sprache und Litt. XXIII, 1901, 2, 119-121.
9. Deißmann, Adolf, Ein Originaldokument aus der Diokletianischen
Christenverfolgung. Tübingen und Leipzig, J. C. B. Mohr
(P, Siebeck) 1902. Gott, gel Anz. 1903, 550-555.'
10. Erwin Preuschen, Mönchtum und Sarapiskult, 2. Aufl., Gießen 1903,
Ricker (A. Töpelmann). Berl. philol. Wochenschr. 1905, 13-19.
11. H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen
Testaments, Forschungen zur Religion und Literatur des Alten
und Neuen Testaments. Heft I, Göttingen, Vandenhoeck und
Ruprecht 1903. Archiv für Rel.-wiss. VII, 1904, 278 f.
12. Bericht über griechische und römische Religion (1903) 1904,
1905. Archiv für Rel.-wiss. VIII 1905, 474-510.
Aber eine Probe des Stils, den Dieterich als Rezensent schrieb,
möchte ich doch geben. Zu diesem Zweck, nicht, um alten Streit neu
anzufachen, wähle ich ein Stück aus der Besprechung Nr. 7. Hier
werden antike Parallelen zu dem christlichen Ängelus aufgeführt, und
dann heißt es:
' A. Deißmann hat hierauf geantwortet in der 'Studierstube' 1 1903, Dezember-
Heft: 'Der Brief des Psenosiris'.
VI
Vorwort
^Aber freilich würde ja K. dergleichen Material kaum haben ver-
wenden wollen noch können. Ihm „fehlt jede profane Analogie". Seine
Anschauung läßt ihn alles wirklich oder vermeintlich Christliche, so-
weit es nur irgend geht und noch viel weiter isoliren, wo andere un-
leugbare Entwicklung zu sehen meinen. Manchmal könnten sich ja
beide einigen auf Wendungen von der äußeren Form und dem Sinne,
meist stehen sich eben verschiedene Anschauungen von geschichtlicher
Forschung gegenüber, die unvereinbar sind. Das gewaltige Problem
der Genesis des Christentums kennt K. natürlich nicht: nicht als ob
die, welche ihm dienen wollen, alles Christliche als schon dagewesen
erweisen wollten. Darauf kommt es nicht an und noch weniger wollen
sie mit plumper Hand das Geheimniß der persönlichen Wirkung Christi
antasten; aber alles was in irdischen Formen wird und wächst, muß
auch hier in seiner geschichtlichen Entwicklung verstanden werden.
Wer zu dem Resultat kommen kann, daß „abgesehen von der
äußeren meist indifferenten Form, in die fast jedes Volk bestimmte
Begriffe kleidet, die christlichen Jenseitsdenkmäler nichts von der An-
tike ererbt haben", muß allerdings jenen Bestrebungen ganz fremd und
blind gegenüberstehen; und ich verstehe es ja sehr gut, daß Jemandem,
der in gewissen religiösen und theologischen Lehren und Traditionen
fest gewurzelt ist, eben jene Bestrebungen absolut unverständlich sind
oder gar frivol erscheinen. Um so mehr muß es ausdrücklich anerkannt
werden, daß K. in der Polemik gegen die, welche in anderen Grund-
anschauungen leben und arbeiten, immer maaßvoU und sachlich bleibt
und sich in seinen Formen von manchen Schriftstellern auf beiden Seiten
sehr vorteilhaft unterscheidet.
Wir „anderen" müssen uns ruhig sagen, daß Vieles für K. und
viele niemals bewiesen werden kann, was darum nach unserer An-
schauung nicht weniger sicher ist. Aktenstücke pflegen wir ja nicht
präsentiren zu können, daß am so und so vielten des und des Jahres
die und die Vorstellung übertragen sei. Religionsge schichte im tiefern
Sinne - ich nehme den Mund nicht so voll, daß ich von „vergleichender
Religionswissenschaft" rede - wird K. nicht treiben und schreiben
können, vielleicht eher „monumentale Theologie". Und das soll nicht
ungesagt bleiben, daß wir ihm stets dankbar sein werden für Erörte-
rungen altchristlicher Denkmäler.'
Auch die kleineren Artikel über die antiken Dramatiker, die Dieterich
für die Realencyclopädie des classischen Altertums von Pauly-Wissowa
verfaßt hat, sind nicht mit abgedruckt. Wer diese Dokumente treuer
Vorwort yU
philologischer Kleinarbeit nachlesen will, findet das Verzeichnis der
Stichworte in der Anmerkung/ Aufgenommen wurden, mit der freund-
lichen Erlaubnis des Redakteurs der Realencyclopädie, W. Kroll, die
großen Artikel Aischylos und Euripides. Der Versuch, in diesen Artikeln
durch das Verweisen der Zitate in Anmerkungen den Text rein heraus-
zuheben, war leider nicht durchführbar.
Weggelassen sind ferner diejenigen Schriften, die Dieterich als selb-
ständige Bücher und Broschüren hat erscheinen lassen. Sie sind
sämtlich von Teubner verlegt: Abraxas 1891, Nekyia 1893, Die Grab-
schrift des Aberkios 1896, Pulcinella 1897, Eine Mithrasliturgie 1903
(zweite Auflage 1910), Mutter Erde 1905.
Die Anordnung der aufgenommenen kleinen Schriften ist die chrono-
logische. An zwei Stellen, nach XIII und XV, ist sie aufgegeben, um
Zusammengehöriges nicht zu trennen. - Am Rande sind durchweg die
Seitenzahlen der ersten Veröffentlichung beigefügt.
Dieterichs Schüler Otto Weinreich hat mich beim Lesen der Kor-
rekturen freundlichst unterstützt. Auch für die Anfertigung des Registers
sei ihm herzlich Dank gesagt.
Königsberg 5. August 1911.
RICHARD WÜNSCH
^ Aemilius 21, Agathon 13, Aiantides 3, Akestor4, Alexandros 83, Alkaios 11,
Alkimenes 4, Amphianus,'AvaTvu;cTiKoi,Antiphanes 14, Antiphon 12,Apollodoros 56,
ApoUonios 25, Archestratos 12, Aristarchos 21, Aristias 2, Aristippos 6, Ariston 49,
Asklepiodotos 11, Astydamas 1. 2, Athenion 7, Auleas, Bion 4. 5, Biotos, Chai-
remon 5, Chares 12, Charilaos 3, Choirilos 3, Datis 2, Demetrios 73, Demonax2,
Dikaiogenes 2, Diogenes 36.37, Diognetos 14, Dionysiades 1, Dionysios l Schluß,
Dorillos, Dorotheos 14, Dymas 5, Epigenes 12, Euaion 2, Euandridas, Euaretos,
Euetes 1, Ezechiel.
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Albrecht Dieterich IX
— I. Papyrus magica, Prolegomena 1
II. Schlafszenen auf der attischen Bühne 48
~ III. De hymnis Orphicis 69
IV. Die Zahl der Dramen des Aischylos 111
V, Über eine Szene der aristophanischen Wolken 117
VI. Die Göttin Mise 125
VII. Aischylos .136
— ■ VIII. Über den Ursprung des Sarapis 159
IX. Matris cena 162
X. Die Widmungselegie des letzten Buches des Properz 164
XI. 6\)aff€KiCTr\c 193
XII. Ein hessisches Zauberbuch 196
XIII. ABC-Denkmäler 202
XIV. Ein neues ABC-Denkmal 229
XV. Himmelsbriefe 234
XVI. Weitere Beobachtungen zu den Himmelsbriefen 243
- — XVII. Die Religion des Mithras 252
XVIII. Die Weisen aus dem Morgenlande 272
XIX. Ober Wesen und Ziele der Volkskunde 287
XX. Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart . . . 312
XXI. Sommertag 324
-^XXII. Enneakrunos 353
XXIII. Hermann Usener 354
XXIV. Euripides 363
XXV. XMr 409
XXVI. OöXoc öveipoc 410
XXVII. AIKA 412
XXVIII. Die Entstehung der Tragödie 414
-XXIX. Der Ritus der verhüllten Hände ... 440
XXX. Der Untergang der antiken Religion 449
Register. Von Otto Weinreich 540
ALBRECHT DIETERICH ^
Albrecht Dieterich wurde am 2. Mai 1866 zu Hersfeld im Kur-
fürstentum Hessen geboren.^ Sein Vater Albrecht war Lehrer ' am
dortigen Gymnasium und verheiratet mit Henriette Münscher, der Tochter
des Direktors. Dreizehn Jahre war die Ehe kinderlos geblieben, ehe
die Geburt des Sohnes den heißen Wunsch der Eltern erfüllte; sie
haben den Dank dafür durch liebevolle Sorgfalt in Pflege und Erziehung
abgetragen, die Mutter in Fröhlichkeit, der Vater in Strenge. Das
lag im Wesen dieser grundverschiedenen Naturen. Die Mutter war
in einem Hause aufgewachsen, in dem die Freude an den schönen und
guten Gaben des Lebens daheim war, und wo sorglos weitgehende
Gastlichkeit gepflegt wurde. Diesen Ton gab ihr Vater an; Direktor
Münscher, Sohn eines Marburger Professors der Theologie, war aber
nicht nur ein weltfreudiger Mann, sondern auch ein vielseitiger Ge-
lehrter und guter Pädagog, über die Schulräume hinaus und weit über
die Grenzen der Stadt verehrt und beliebt. Ein Teil dieser Liebe
kam auch den Seinigen zugute. So, von Freundlichkeit umgeben, war
die Tochter herangewachsen, frohen und heiteren Geistes, mit offenem
Sinn für die Kunst und ihre Schönheit, aber auch fähig und bereit,
sich den ernsten Anforderungen des Tages anzupassen. Und gerade
diese Eigenschaft war notwendig, um ihre Ehe harmonisch zu gestalten.
Albrecht Dieterich dem Vater, gleichfalls einem Hessen, war keine
^ Abgedruckt aus dem Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. CXLV B
1910, mit geringen Änderungen; dazu gehören drei Berichtigungen, für die ich
O. Crusius, L. Deubner, A. Elter, C. Hosius, und zwei Zusätze, für die
ich F. BoU verpflichtet bin.
* Um einen Lebensabriß von Albrecht Dieterich geben zu können, bedurfte
ich der Angaben für seine Jugendzeit bis zum Abgang von der Universität.
Frau Marie Dieterich sandte mir des Dahingeschiedenen Tagebücher und
Aufzeichnungen und stellte mir zur Verfügung, was sie nach seinen Erzählungen
aufgeschrieben hatte. Von Freunden aus der Gymnasialzeit schickte F. Wachen-
feld, Professor in Rostock, seine Erinnerungen; R. Homburg, Oberlehrer in
Kassel, sammelte außerdem Beiträge von Bekannten aus der Jugendzeit.
Ihnen allen sei hiermit herzlich gedankt. Herbst 1889 machte ich selbst die
Bekanntschaft Albrecht Dieterichs; mit dem Oktober 1890 beginnen seine
Briefe an mich, in denen er niederlegte, was er erlebte und was ihn beschäftigte.
)( Albrecht Dieterich
frohe Jugend beschieden gewesen; noch als Mann hat er mit den
Sorgen des täglichen Lebens zu kämpfen gehabt. Sein Weltauffassung
war darüber ernst geworden. Sie gründete sich auf einen strengen
evangelischen Glauben, der für Denken und Handeln die alleinige Richt-
schnur war; irgendwelche Zweifel sind ihm trotz eines scharfen Ver-
standes und eines ausgebreiteten Wissens nicht gekommen. Ebenso
fest an der alten Sitte hielt er auch als Staatsbürger; dem letzten
Kurfürsten von Hessen hat er in seinem Herzen stets die Treue ge-
halten, in herber Ablehnung der neu entstandenen Verhältnisse.
Diesen beiden so verschieden gearteten Menschen verdankte der
Sohn die wesentlichen Züge, die ihn als Mann auszeichneten. Er hatte
von der Mutter die sonnige Lebensfreude und die Fähigkeit, Werke
der Kunst rein zu genießen; vom Vater das stark ausgeprägte Denk-
vermögen, den kraftvollen Willen, den heiligen Ernst in den großen
Fragen des Lebens. Er hat das später selbst empfunden und glaubte
zu fühlen, wie mit den Jahren das Wesen des Vaters in ihm das
Stärkere wurde.
Der Grund zu diesem nachhaltigen Einfluß ist in Albrecht Dieterichs
Jugendzeit gelegt worden. Seine Mutter starb früh; der Knabe war
damals sieben Jahre alt, der Schmerz über ihren Verlust zitterte noch
lange in seinem empfänglichen Herzen nach. Seine Erziehung ging
nun ganz an den Vater über, der bei aller Strenge volles Verständnis
für die anders gearteten Züge im Wesen seines Sohnes besaß und
seiner Entwicklung mehr Freiheit ließ, als er sich selbst zugestand.
Als der Junge in das Gymnasium der Vaterstadt eingetreten war, be-
durfte er zur Arbeit keines Spornes. Der Vater erzählte gern, wie
freudig er lerne, im gemeinsamen Arbeitszimmer, stolz auf seinen
eigenen Tisch und seine eigene Lampe. „Es steckt ein Münscher in
ihm", pflegte er zu sagen. Dieses Verhältnis ging aber über das Ab-
hören der täglichen Pensa hinaus; es wurde ein wirkliches Füreinander-
leben. Der Vater wurde der Vertraute des Sohnes; er suchte das
Kind der Lebensauffassung zuzuführen, die er selbst besaß; dieselbe
kirchliche Anschauung, dieselbe Liebe zum angestammten Landesherrn
sollten in der Seele des Knaben Wurzel schlagen. Auch weckte der
Vater in ihm die Erkenntnis vom Wesen wissenschaftlicher Arbeit und
die Freude an den Werken der deutschen Dichtkunst.
In den oberen Klassen kam die Freundschaft mit gleichstrebenden
Schulfreunden hinzu, die dem etwas einseitigen Ernst der väterlichen
Erziehung erfolgreich entgegenarbeiteten. Wohin die Neigungen des
kleinen Kreises gingen, zeigt der Name „Sonnengötter", den die Klasse
Albrecht Dieterich XI
für die vier Teilnehmer erfand; man las viel miteinander, namentlich
mythologische, poetische und philosophische Bücher und disputierte
eifrig über den Wert des Gelesenen. Von Sekunda an hat Dieterich
sich auch als Dichter versucht; die erhaltenen Poesien, die zum Teil
in der Unterhaltungsecke hessischer Lokalblätter Abdruck gefunden
haben, zeigen bei aller Jugendlichkeit Formgewandtheit und Gestaltungs-
gabe und die Fähigkeit, sich für ein Ideal zu begeistern. Zum großen
Teil sind es Balladen; sein Vorbild ist vor allem Uhland, hin und
wieder Heine; Motive aus dem Ahertum sind selten, es dominiert die
nordische Heldensage. In anderen Gedichten kommt das eigene starke
Empfinden zum Ausdruck; sie gelten der verstorbenen Mutter, den
Freunden und dem Vaterland. In den patriotischen Liedern klingen
die Anschauungen des Vaters wider; ein Hesse will er bleiben, dem
Hessenlande will er seine Lieder und sein Leben weihen, und weh-
mütig berührt es, wenn der Siebzehnjährige sich ein Grab in hessischer
Erde wünscht.
Ostern 1884 verließ Dieterich das Gymnasium, um die Hochschule
zu beziehen. Auch den Vater fesselte jetzt nichts mehr an Hersfeld;
er legte das Amt, das er 35 Jahre verwaltet hatte, nieder und zog
Ostern 1885 in seine engere Heimat zurück. In Kirchditmold bei
Kassel erwarb er ein kleines Haus, in dem er selbst seinen Studien
lebte, und das für den Sohn das ersehnte Ziel wurde, dem er in den
Ferien zueilte.
Zunächst ging Dieterich nach Leipzig. Dort wollte er, dem
Wunsche seines Vaters entsprechend, Theologie studieren. Er hat denn
auch theologische Vorlesungen gehört, und die Probleme des Neuen
Testaments und der Kirchengeschichte haben ihn stark angeregt, aber
dennoch haben sie nicht vermocht, ihn zum Theologen zu machen.
Andere Neigungen waren stärker; die Nachschriften und Exzerpte der
Leipziger Zeit drehen sich um philosophische Probleme, namentlich
religions- philosophischer Art, und um deutsche Literatur; das Interesse
am eigenen Land und Volk, das bereits aus seinen Hessenliedern spricht,
gewinnt an Umfang und Vertiefung. Auch die klassische Philologie
tritt jetzt in seinen Gesichtskreis, er hat bei G. Curtius, Crusius,
Lipsius, Ribbeck gehört und ist ein Semester lang außerordentliches
Mitglied des philologischen Seminars gewesen. Seine Seminararbeit
handelte über den Schluß der Phönissen des Euripides. Es war die
erste Berührung mit einem Dichter, der ihn dann nicht wieder los-
gelassen hat. In persönliche Beziehungen ist er damals wohl nur zu
Crusius und Rudolf Hirzel getreten; dem letzteren spricht er in der
XII Albrecht Dieterich
Vita seiner Dissertation einen besonderen Dank aus. Studentischen
Verkehr hatte er teils mit alten Hersfelder Freunden, teils in dem
„Philologischen Verein", dem er beigetreten war. In diesem Verein
war das Hauptinteresse auf antike Dichter gerichtet; im Sommer 1885
las man gemeinschaftlich Aristophanes, den Dieterich bei seiner Empfäng-
lichkeit für Witz und Humor besonders geliebt hat. Auch die eigene
dichterische Tätigkeit wurde fortgesetzt. Als der Philologische Verein
im Dezember 1885 seinen Stiftungstag feierte, dichtete er das Festlied.
„Wir setzen ein des Lebens Kraft, Nur einen Stein emporzuheben
Zum stolzen Bau der Wissenschaft. Schnell wird das Leben uns ver-
rinnen. Doch jener Bau wird ewig stehn."
Ostern 1886 kam Dieterich nach Bonn, entschlossen, Philologie zu
studieren, aber noch unsicher, ob er den Nachdruck auf germanische
oder klassische Philologie legen sollte. Die erste Vorlesung, die er bei
Hermann Usener hörte, entschied diesen Zweifel. Er erzählte selbst,
es habe ihn da wie ein Blitz durchzuckt: „Hier liegen die großen
Probleme, denen du dein Leben widmen mußt." So wurde er klas-
sischer Philologe, Schüler von Bücheier, Lübbert, Usener. Auch
Archäologie bei Kekulä hat er gehört, teils um die Kunstwerke eben
als Kunstwerke zu genießen, teils um durch sie das Verständnis der
schriftlichen Tradition zu vertiefen. Das Wichtigste waren ihm Kolleg
und Seminar bei Bücheier und Usener; freudig genoß er die wunder-
vollen Stunden, in denen die Arbeit nicht dumpfe Pflichterfüllung,
sondern seelisches Erleben war, jene Übungen, die nicht nur das Wissen
des Schülers mehrten, sondern ihn auch zum Manne erzogen in Ehr-
lichkeit gegen sich selbst, in der Überzeugung von der Unzulänglich-
keit der eigenen Kenntnisse, in dem kategorischen Imperativ, daß in
wissenschaftlichen Dingen nichts um der Person, um der Sache willen
alles zu geschehen habe.
Dieterich nahm drei Semester am philologischen Seminar teil,
während eines Semesters war er Senior. Von Franz Bücheier hat er
viel gelernt, und im Gespräch oft dankbar anerkannt, wie viel er ge-
rade Bücheier verdankte. Aber mächtiger zogen ihn die religions-
geschichtlichen Probleme an, die Hermann Usener beschäftigten; es
waren die Jahre, in denen das „Weihnachtsfest" heranreifte. Für jene
Fragen war Dieterichs Gemüt besonders empfänglich; er hatte an
seinem Vater gesehen, was die Religion dem einzelnen Menschen be-
deuten kann; er hatte in Leipzig gelernt, wie die Religion in der Ge-
schichte gewirkt hat. Am liebsten hätte er, der sich nun zu eigener
wissenschaftlicher Arbeit reif fühlte, ein rein religionsgeschichtliches
Albrecht Dieterich
XIII
Thema angefaßt. Doch Usener, der scharf in das unklare Gären des
jugendlichen Feuerkopfes hineinsah, wehrte es ihm und drang darauf,
daß zunächst die philologischen Fundamente fester gelegt wurden.
Darum stellte er für eine Preisarbeit ein Thema zur Kritik des Aichylos;
er war überzeugt, daß es niemand anders als Dieterich, und dieser
gut, lösen würde. Diese Erwartung trog nicht. Und als dann Bücheier
eine rehgionsgeschichtliche Aufgabe stellte, griff Dieterich mit beiden
Händen zu. Für den in Leyden liegenden griechischen Zauberpapyrus
J 384 sollten Textverbesserungen und Eriäuterungen eingereicht
werden. Dieterichs Arbeit erhielt auch hier den Preis, und aus dieser
Preisarbeit erwuchs die Dissertation, die dann in erweiterter Form er-
schien unter dem Titel: Papyrus magica Musei Lugdunensis Batavi,
denuo edidit commentario critico instruxit prolegomena scripsit A. D.
Um diese Ausgabe machen zu können, hatte Dieterich den Papyrus
an Ort und Stelle noch einmal verglichen. Es war nicht leicht, den
Vater zu bewegen, daß er diese Reise nach Leyden erlaubte. Denn
durch die rein philologische Arbeit, die dadurch gefördert wurde, er-
klärte der Sohn endgültig seine Abkehr von der Theologie. Aber der
Vater fügte sich, obwohl er seinen Lieblingswunsch scheitern sah; die
Dissertation ist Patri et praeceptoribus gewidmet.
Dieterichs erste Arbeit zeigt deutlich die Schule Useners. Den
abstrusen Unsinn, den die Zauberpapyri auf den ersten Anblick bieten,
sucht er geschichtlich zu verstehen. Namentlich kommt es ihm darauf
an zu zeigen, daß in diesem Trümmerhaufen Goldkörner alter religiöser
Vorstellungen verschüttet liegen, daß die Zauberformeln zum Teil um-
geformt sind aus wirklichen Gebeten und Hymnen der Religionen und
Mysterien des Altertums. So wies er in der Vorrede besonders auf
gnostische, ägyptische und orphische Nachklänge hin, Reste aus einem
orphischen Hymnenbuch werden herausgeschält und gesäubert. Die
Ausgabe selbst zeigt, daß er die Technik der Edition anzuwenden
gelernt hat, ein grammatisches Register beweist, daß er sich der Be-
deutung dieses Textes auch für die Geschichte der griechischen Sprache
bewußt ist.
Das Doktorexamen bestand Dieterich insigni cum laude, die Pro-
motion fand im August 1888 statt. Die Thesen, die er verteidigte,
weisen auf intensive Beschäftigung mit den griechischen Tragikern hin;
auch Aristophanes ist mit einer Konjektur bedacht. Opponenten waren
Freunde aus dem Philologischen Verein, dem Dieterich auch in Bonn
beigetreten war. Eine ganze Reihe der engsten Beziehungen, die das
Leben hindurch gehalten haben, hat er gerade mit seinen Vereins-
XIV Albrecht Dieterich
brüdern in Bonn geknüpft. Sie alle einte zunächst das ehrliche
Arbeiten an der Wissenschaft; in kühnem Wagemut werden von den
Lesekränzchen die schwersten Autoren in Angriff genommen und in den
Vorträgen die schwierigsten Themata behandelt. Aber neben dem Ernst
behielt die Freude ihr Recht; die Bonner Bierzeitungsmappe bewahrt
aus jenen Tagen manches Gedicht Dieterichs und seiner Freunde, das
von Lebensfrische und köstlichem Übermute strahlt.
Nach bestandenem Doktorexamen kehrte Dieterich in das stille
Haus von Kirchditmold zurück, um sich zur Staatsprüfung vorzubereiten
und das Zusammensein mit dem Vater zu genießen. Seine philosophische
Staatsexamensarbeit hatte das Thema: „Was wissen wir über Piatons
Theismus oder Pantheismus?" Die Frage ist deutlich mit Rücksicht
auf seine religionsgeschichtlichen Neigungen gestellt worden. Man
fühlt, wenn man die Arbeit liest, mit welcher Freude, mit welch
heiligem Eifer sie geschrieben ist. Sie ringt mit Piatos Worten, um
ihnen die Entwicklung seiner Auffassung abzugewinnen; eine innere
Wärme durchzieht die Stellen, die vom Wesen dieses Einzigartigen
handeln.
Das Staatsexamen bestand Dieterich im Mai 1889 und trat dann
sein Probejahr am Gymnasium zu Elberfeld an. Die Lust, das päda-
gogische Können zu erproben, das ihm im Blute saß, war groß, und
mächtig die Freude, wenn es gelang, den Gegenstand des Unterrichts
anschaulich zu gestalten, die Stunde zu beleben. Die Autorität, die
der Lehrer braucht, hatte er sich gleich in der ersten Stunde durch
energisches Eingreifen gesichert.
In diese erste Lehrzeit hinein fiel der Tod des Vaters. Er starb
unerwartet im September 1889. Sein Scheiden hinterließ eine Lücke
im Leben des Sohnes, die sich nur langsam schloß. Das Haus in
Kirchditmold konnte er sich lange nicht entschließen zu verkaufen; er
sah wohl auch voraus, daß er diesen ruhigen Winkel noch brauchen
werde. Denn so gern er an der Schule unterrichtete, sein letztes Ziel
war doch ein anderes. Er wollte für seine wissenschaftliche Arbeit
mehr Bewegungsfreiheit, als sie die Anforderungen des Gymnasiums
gewähren können. So faßte er nach Ablauf des Probejahres die Habili-
tation, die ihm lange vorgeschwebt hatte, ernstlich ins Auge. An Stoff
zur Arbeit fehlte es nicht. Das Museum von Leyden barg außer jenem
griechischen Zauberpapyrus, von dem die Dissertation handelte, noch
einen zweiten (J 395); dem wandte Dieterich sich jetzt zu. In der
Stille von Kirchditmold begann die kritische und kommentierende Tätig-
keit. Doch bald stellten sich die Zweifel ein, ob gerade diese Arbeit
Albrecht Dieterich vy
für eine Habilitationsschrift sich eignen werde. Es existierte damals
noch die Ansicht, daß philologische Arbeit, an einem Texte geleistet,
der nicht der Kunstliteratur angehörte, nicht genüge, um den Verfasser
als Philologen auszuweisen. Deshalb wählte Dieterich für die Habili-
tationsschrift aus seiner umfassenden Arbeit einen Abschnitt aus, der
weniger weit von der gebahnten Straße der Philologie ablag: die
orphischen Hymnen. Mit diesen hatte er schon in der Dissertation
Fühlung gewonnen, ihre Doktrin hatte auch im zweiten Leydener
Papyrus Spuren hinterlassen, und mit ihnen durfte man sich abgeben,
da sie namentlich durch Gottfried Hermann in das Bereich der klassisch-
philologischen Studien einbezogen waren. Ihnen gilt Dieterichs Ab-
handlung De hymnis Orphicis capitula quinque, die in kurzen Zügen
die einzelnen Etappen auf dem Wege festzustellen suchte, den diese
Sammlung sakraler Gesänge zurückgelegt hat. Einzelnen Hymnen sind
besondere Bemerkungen gewidmet; namentlich haben ihn diejenigen an-
gezogen, die sich an chthonische Gottheiten richten. Ihnen gilt Kap. V,
der Vorläufer späterer Untersuchungen über die religionsgeschichtlich
so wichtigen griechischen Vorstellungen von der Unterwelt.
Das übrige, was Dieterich zum zweiten Leydener Papyrus zu sagen
hatte, vereinigte er in seinem Abraxas. Der Name versinnbildlicht
das bunte Gemenge sonderbarer Glaubensvorstellungen, das in jener
Papyrus magica vereinigt war und analysiert werden mußte. Die Unter-
suchung ist eindringender geführt als in der Dissertation, fruchtbar
namentlich der Hinweis, daß auch stoische Elemente in diesen Syn-
kretismus hineingezogen sind; damit war der Erkenntnis von dem be-
deutenden Einfluß der populären Philosophie eines Poseidonios der
Weg geebnet. Wie nach rückwärts, wird auch nach vorwärts von den
religiösen Vorstellungen des Papyrus aus die Brücke geschlagen.
Wenn der uralte Mythos vom drachentötenden Lichtgott in die Visionen
der Johannesapokalypse und in die Sage vom heiligen Georg hinein
verfolgt wird, so zeigt sich hier Useners Mitarbeiter an der Frage nach
der Entstehung des Christentums.
Die Arbeit am Abraxas und an den orphischen Hymnen nahm
von der Mitte 1890 an etwa ein Jahr in Anspruch. Nebenher fielen
ein paar kleine Aufsätze zu 'den geliebten attischen Dramatikern ab
(Rhein. Mus. 48): über die Zahl der Dramen des Aischylos, über die
Einwirkung des Mysterienwesens auf eine Szene bei Aristophanes. Im
Winter hat Dieterich auch einige Wochen in Göttingen zugebracht. Es
trieb ihn, die dortigen Philologen kennen zu lernen, C. Dilthey, F.Leo,
Ü. V. Wilamowitz-Möllendorff. Wie sein Sinn hauptsächlich auf
XVI Albrecht Dieterich
griechische Religion und griechische Dichtung gerichtet war, zog es ihn
vor allem zu Wilamowitz. Dessen „Herakles" war 1889 erschienen
und hatte auf Dieterich einen tiefen Eindruck gemacht; ein kleiner
Aufsatz Dieterichs über eine technische Einzelheit der attischen Tragiker
(Rhein. Mus. 46), der unter der unmittelbaren Wirkung jener Lektüre
geschrieben ist, klingt in einen Hymnus voll ehrlicher Begeisterung auf
dies Buch aus. Was für Dieterich die Vorlesungen von Wilamowitz,
in denen er hospitierte, und der persönliche Verkehr mit ihm gewesen
sind, zeigte sich darin, daß er andere bestimmte, in gleicher Weise
für einige Zeit nach Göttingen zu gehen: „So etwas darf der Philologe
sich nicht entgehen lassen."
Im Sommer 1891 wurde der „Abraxas" Usener zur Feier seiner
fünfundzwanzigjährigen Lehrtätigkeit an der Bonner Universität vom
dortigen Philologischen Verein dargebracht; es war zugleich ein Dank,
den der Schüler dem Lehrer abstattete. Zur selben Zeit vollzog
Dieterich seine Habilitation. Daß er sich in Marburg niederlassen
könnte, wünschte er als Hesse von Herzen; das verständnisvolle Ent-
gegenkommen namentlich von Georg Wissowa erleichterte ihm die Er-
füllung seines Wunsches. Seine Antrittsvorlesung hielt er im Oktober
1891 über die Entwicklung des Epitaphios und der Laudatio funebris,
ein Thema aus der Literaturgeschichte, das mit seinen Studien über
die antiken Vorstellungen von den Dingen nach dem Tode im Zusammen-
hang steht.
Mit dieser Vorlesung begann Dieterichs akademische Tätigkeit.
Die Kollegia umspannten nach und nach die Hauptzweige griechischer
Dichtung: Lyrik, Komödie und Tragödie. In das Gebiet der römischen
Literatur greift eine Vorlesung über das Wesen der Satire ein; es
reizte ihn, die Beziehungen von Witz und Spott dieser Literaturgattung
zu den verschiedenen Arten des Lustspiels zu verfolgen, und seine
eigene Anlage zu Humor und Satire, wie sie sich in den Scherzen der
Bonner Jahre betätigt hatte, verstärkte seine Neigung für dies Thema.
Die Grammatik ist mit einer Vorlesung über griechische Syntax ver-
treten; in besonderen Übungen wurde philologische Methode gepflegt.
Von Kollegia aus seinem Lieblingsgebiet erscheinen zwei. Die Vor-
lesung über griechische Mythologie betrachtete er zugleich als heilsamen
Zwang, sich die Tatsachen der griechischen Göttersage in den Zu-
sammenhang geordneten Erkennens zu bringen. Die „Geschichte des
Untergangs der antiken Religion" sollte ihm zugleich Material sammeln
für die Entstehung des Christentums, eine Frage, die ihn immer leb-
hafter beschäftigte. Das erkennt man aus seinem nächsten Buch, der
Albrecht Dieterich
xvn
„Nekyia", die den Untertitel trägt „Beiträge zur Erklärung der neu-
entdeckten Petrusapokalypse". Dies in einem Grabe von Akhmim ent-
deckte Pergamentbruchstück enthält Schilderungen vom Ort der Seligen
und vom Ort der Verdammten, die sonst in der christlichen Literatur
nicht nachgewiesen waren. Die Aufgabe, hier den Ursprungsnachweis
zu führen, mußte Dieterich ganz besonders reizen, da er in seinen Vor-
arbeiten über die Jenseitsvorstellungen der Griechen den Schlüssel des
Rätsels besaß. Aber wenn auch jene apokalyptischen Vorstellungen
hellenisch waren, so stammten sie doch nicht aus der staatlich ge-
pflegten Religion, sondern aus einer Unterschicht religiöser Vorstellungen,
die im Volke lebendig geblieben war; von hier ab wird der „Volks-
glaube" ein wichtiger Faktor für Dieterich. Nächst dem griechischen
Volksglauben vom Totenreich sind für ihn die Mysterien von Bedeutung;
sie entwickeln die Lehre, daß im Jenseits den Eingeweihten ewige
Trunkenheit, den Nichtgeweihten der Schlammpfuhl erwarte. Damit
legen sie den Grund zu den Anschauungen von Orten ewiger Seligkeit
und ewiger Qual, die dann durch Vermittlung orphischer Lehren auch
dem Christentum bekannt werden.
In der Vorrede zur Nekyia dankt Dieterich seinem verehrten
Lehrer Hermann Usener für die Beihilfe, die hauptsächlich wohl den
religionsgeschichtlichen Teilen zugute gekommen ist. Wilhelm Schulze
hatte für sprachliche, Adolf Jülicher für theologische Fragen freund-
liche Unterstützung geleistet. Der Beistand dieser beiden Marburger
Kollegen ist Beleg dafür, daß Dieterich den Wert der Universitas
literarum zu schätzen wußte. Die Religion der Griechen und Römer
sollte der klassische Philologe nicht isoliert betreiben, sondern gefördert
von der Sprachwissenschaft und der Theologie.
Auch die literargeschichtliche Arbeit hat Dieterich in diesen Jahren
nicht vernachlässigt. Georg Wissowa, zu dem er bald in ein freund-
schaftliches Verhältnis getreten war, hatte ihn als Bearbeiter der
griechischen Tragödie für die neue Auflage der Paulyschen Real-
enzyklopädie angeworben. Eine Menge kleiner Artikel hat Dieterich
dafür im Laufe der Jahre fertiggestellt; unter den älteren ragt durch
die Klarheit, mit der das umfangreiche Material geordnet und gesichtet
ist, der große Artikel „Aischylos" hervor, der 1894 erschien. In den
schweren Wolken der bibliographischen Zeugnisse blitzt hier und da
ein Gedanke auf, der beweist, wie Dieterich bemüht gewesen ist, diesem
Größten unter den Großen innerlich nahe zu kommen.
Im März 1894 trat Dieterich die lange geplante Reise nach den
Stätten klassischer Kultur an, die ihm vergönnen sollte, in eigenes
Albrecht Dieterich: Kleine Schritten. b
XVIII Albrecht Dieterich
Schauen und Erleben umzusetzen, was bis dahin Buchweisheit gewesen
war. Ober Triest ging es nach Korfu, wo die südliche Frühlingspracht
und das damals noch leichter zu beobachtende Volksleben tiefen Ein-
druck auf ihn machten. Dann an einem sonnenklaren Tag am Korinthi-
schen Meerbusen entlang nach Athen; am späten Nachmittag wurde
die Akropolis in der Ferne sichtbar. Noch am selben Abend stieg er
zum Parthenon empor und verweilte lange bei den mondbeglänzten
Trümmern; eine alte Sehnsucht war ihm hier zur Wirklichkeit ge-
worden.
In den nächsten Wochen erschlossen sich die Ruinen und Museen
Athens, meist durch W. Dörpfeld und P. Wolters, an deren Giri er
teilnahm. Am liebsten weilte er allein mit den Denkmälern der Antike.
Dann wurden die geliebten Dichter in ihm lebendig, und die Gestalten,
die einst über die Orchestra im Theater des Dionysos geschritten waren,
gewannen Blut und Bewegung. Nun glaubte er das klassische fünfte
Jahrhundert zu verstehen. „Es ist, als wäre man vorher nur ein
Zehntel von einem Philologen gewesen" war sein Eindruck der neu
einströmenden Erkenntnis gegenüber. Und es drängte ihn, andere an
seiner Freude über diese gewaltigen Eindrücke teilnehmen zu lassen.
Manche attische Nacht schwand zu ihrem größeren Teile bei griechi-
schem Wein in gleichgestimmtem Kreise. Meist beherrschte Dieterich
das Gespräch, das vielfach mit einer gleichgültigen Einzelheit anhob,
um mit einem Dithyrambus auf antike Schönheit oder auf die Wissen-
schaft, die ihm vor allem teuer war, zu schließen.
Von Athen aus beteiligte sich Dieterich auch an den größeren
Reisen des Instituts. Der Peloponnesgiro war über Korinth nach
der Argolis gerichtet und durchquerte dann Arkadien. Ein paar
Stunden vor Olympia ging der Pfad durch einen Hohlweg, dessen Rand
von Bäumen bestanden war. Ein starker Ast warf Dieterich von seinem
hochbeinigen Maultier auf die spitzen Steine des Weges, wo er zum
furchtbaren Schrecken der Mitreisenden zuerst bewußtlos liegen blieb.
Allmählich erholte er sich so weit, daß er nach Olympia transportiert
werden konnte. Man fürchtete eine schwere innere Verletzung. Dieterich
selbst glaubte nicht, daß er mit dem Leben davonkommen würde.
Doch er genas rasch, dank seiner kräftigen Natur. Diese Stunden, die
er für seine letzten gehalten hat, haben ihn noch dankbarer gemacht
für alles Große und Schöne, was ihm die Reise und das ganze spätere
Leben beschert haben.
Von antiken Trümmerstätten sagten ihm Delos, das er mit der
Inselreise des Instituts besuchte, und Delphi, wo Th. Homolle ihn
Albrecht Dieterich
XIX
freundlich aufnahm, besonders viel, die beiden Sitze des Gottes, der ihm
nach Dionysos der nächste war. Das moderne Griechenland fesselte
ihn namentlich durch die kirchliche und volkstümliche Feier des Oster-
festes, das er in Athen veriebte, allerdings nicht ganz ungestört, da ge-
rade damals Attika wochenlang durch Erdbeben heimgesucht wurde.
Ende Mai veriieß Dieterich Athen; von Smyrna aus wurde Pergamon,
Sardes, Ephesus und Magnesia am Mäander besucht. Hier war er bei
C. Humann zu Gaste, der ihm in bereitwilliger Führung das wechselnde
Schicksal dieser Griechenstadt aus den Denkmälern erschloß. Starke
Eindrücke bot sodann Troja, wo W. Dörpfeld gerade damals den Nord-
ostturm der sechsten Stadt freilegte. Was Dieterich in den Ruinen und
bei den Ritten durch die schöne Landschaft der Troas in sich auf-
genommen hatte, sollte später seinem Homerkolleg zugute kommen.
In Konstantinopel wurden die Reste byzantinischer Zeit als Vermittler
zwischen Altertum und Gegenwart gewürdigt und die prächtigen Er-
werbungen des Tschinilikiosk, namentlich der noch nicht lange bekannte
Alexandersarkophag bewundert. Daneben kam auch die herrliche Um-
gebung und das bunte orientalische Leben zu seinem Rechte; das Treiben
des Bazars lehrte die antike Agora verstehen, der Besuch bei den tan-
zenden und heulenden Derwischen warf helles Licht auf das Wesen der
dionysischen Ekstase.
Der Juni ging zu Ende, als Dieterich in Neapel eintraf, um an den
Vorträgen teilzunehmen, die A. Mau in Pompei hielt. In den Stunden,
welche die Führungen frei ließen, suchte er auf seine eigene Art den
Denkmälern der kampanischen Stadt nahe zu kommen. Es reizte ihn,
auch hier die stummen Monumente über das Leben, das sie einst ge-
schaut hatten, zum Reden zu bringen, vornehmlich solche, die von Re-
ligion und Drama zu erzählen wußten. Damals zuerst hat er sich um
die Deutung der Bühnenbilder unter den Wandgemälden abgemüht.
Nach dem Aufenthalt in Pompei wurde Neapel besucht, dann durch-
streifte er Sizilien. Nun begannen auch die Studien in den Bibliotheken.
In Palermo fand Dieterich auf der Suche nach altchristlichen Schriften
die Apokalypse der Anastasia. Er hat seinen Fund nicht selbst be-
arbeitet, sondern seinem Schulfreund R. Homburg anvertraut, der ihn
herausgegeben hat (Apocalypsis Anastasiae, Bibl. Teubn. 1903).
Mit dem September zog Dieterich nach Rom. Er kam mit der Be-
sorgnis, nach dem griechischen Sommer werde ihm der römische Winter
nichts zu sagen haben, und den vom hellenischen Urbild der antiken
Kultur Begeisterten werde die römische Kopie enttäuschen. Aber diese
Besorgnis war grundlos. Rom ist ihm für das, was er bis dahin ge-
b*
j(j( Albrecht Dieterich
sehen hatte, der Schlußstein geworden, und mit besonderer Freude hat
er später gerade an die römische Zeit zurückgedacht. Er hätte nicht
Albrecht Dieterich sein müssen, wenn er der ewigen Stadt und ihren
unendlichen Schätzen nicht hätte gerecht werden wollen. Die hohe Kultur
der römischen Kaiserzeit ist ihm hier aufgegangen und hat ihm zugleich
die Klassiker jener Epoche näher gebracht; mit dem Wesen der Renais-
sance, ihrer geistigen und künstlerischen Bedeutung ist er erst hier
näher vertraut geworden. Das italienische Volksleben zog ihn an, nament-
lich wegen der Fortdauer alter religiöser und dramatischer Formen, die
er hier vermutete. Den Leitern des archäologischen Instituts, E. Petersen
und Chr. Hülsen, ferner A. Mau und W. Heibig hatte er manche Förde-
rung seiner Studien zu danken. Der Kreis gleichstrebender Jugend,
der sich jeden Winter um das archäologische Institut zu schließen pflegt,
war damals besonders glücklich zusammengesetzt und hatte menschlich
und wissenschaftlich viel zu geben. „Dem römischen Freundeskreise
des Winters 1894/95 in Erinnerung an frohe Tage" ist eine der nächsten
Schriften gewidmet.
Mit längeren Stationen in Toskana, die dem Genuß der italienischen
Kunst, namentlich der Malerei gewidmet waren, ging es im Frühjahr
1895 nach Marburg zurück. Das Sommersemester fand Dieterich bereit,
die Vorlesungen aufzunehmen, mit frischen Augen und verstärkter Kraft.
Die Kollegia der nächsten Zeit weisen schon in der Wahl des Stoffes
auf den Einfluß des Wanderjahres. Die römische Literatur ist ihm näher
gekommen; es werden Ciceros Briefe gelesen, um daran das Leben
jener Jahrzehnte anzuknüpfen; Tacitus wird als Interpret der Kaiserzeit
erfaßt. Das monumentale Material der Überlieferung tritt in den Vorder-
grund; aus eigener Anschauung - Dieterich ist in der Folge noch öfter
im Süden gewesen - werden Rom und Pompei in ihren Denkmälern
geschildert. Neu ist auch eine Vorlesung über den vorchristlichen Un-
sterblichkeitsglauben; sie war veranlaßt durch Erwin Rohdes Psyche
(Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube bei den Griechen), die 1894 er-
schienen war. Dies Buch hat einen tiefen Eindruck auf Dieterich ge-
macht, tiefer noch als auf die meisten, die sein Erscheinen mit Ver-
ständnis erlebt haben. War es doch eine Antwort auf Fragen, die er selbst
in der Nekyia gestreift hatte. „Manches habe ich mir ähnlich gedacht,
und doch fühle ich mich Rohde gegenüber als Bettler", war seine ehrliche
Meinung. Wie sehr die Psyche Dieterichs Gedanken immer wieder auf
sich gezogen hat, zeigen einzelne Bemerkungen auch seiner letzten Schriften.
Äußerlich trat in Dieterichs akademischer Tätigkeit eine Änderung
ein, als er im Sommer 1895 zum außerordentlichen Professor ernannt
Albrecht Dieterich vvi
wurde. Damit erhielt er zugleich Anteil an der Leitung des philo-
logischen Seminars. In dessen Sitzungen hat er zum erstenmal Properz
behandelt, und zwar dessen viertes Buch, im besonderen das einleitende
Gedicht.
Auch in den Publikationen der nächsten Jahre klingen die An-
regungen der Römerreisen nach. 1896 erschien die „Grabschrift des
Aberkios", „Johannes Bauer, dem treuen Genossen zweier Romfahrten
zur Erinnerung an herrliche Reisetage" gewidmet. Veranlassung zu
diesem Büchlein hat das Bruchstück einer Inschrift im Lateran gegeben,
der Rest der Grabschrift eines phrygischen Bischofs, die sonderbare
Angaben über religiöse Dinge des dritten Jahrhunderts enthält. Diete-
rich schlug eine neue, geistreiche Lösung der hier liegenden Rätsel vor
und versetzte mit ihr den Text aus der christlichen Sphäre in die des
Heidentums. Auch diese Schrift war als Beitrag zur Entstehung des
Christentums gedacht.
Im Jahre 1897 erschien ein größeres Werk: „Pulcinella, Pompeia-
nische Wandbilder und römische Satyrspiele." Angeregt zu diesem Buch
hatten ihn die Studien an den Bildern, die der Untertitel nennt. Es ist
ein Versuch, die Geschichte der lustigen Person im Drama von den
komisch wirkenden Figuren griechischer Tragödien über die römische
Dichtung hinweg zu verfolgen bis zur Gegenwart, in der als letzter,
heute noch lebender Nachkomme Pulcinella seine Italiener erfreut. Zum
letzten Kapitel, das die lustige Figur auch in Nordeuropa behandelt, hatte
der Germanist Edward Schröder, schon damals in Marburg mit Dieterich
eng befreundet, Material beigesteuert. Auch an klassische Philologen
richtet die Vorrede ihren Dank: an Franz Skutsch in Breslau, mit dem
Dieterich durch gemeinsame Beziehungen zum Bonner Verein verknüpft
war, sowie an Theodor Birt und Ernst Maaß, die beiden Marburger
Ordinarien. Dieterich hatte also unter den dortigen Kollegen festen Fuß
gefaßt, das kollegiale Verhältnis hatte sich in ein menschliches umgewandelt,
und namentlich das zu Theodor Birt sollte sich in der Folgezeit noch
enger gestalten. Und Dieterich war es eine herzliche Freude, wenn
die so gewonnenen Beziehungen sich fruchtbar auch für die Wissenschaft
erwiesen.
Während die ersten Arbeiten ziemlich günstig beurteilt worden waren,
erhob sich gegen Aberkios und Pulcinella lebhafter Widerspruch. Man
bestritt den heidnischen Charakter jener Inschrift, man sah am Pul-
cinella weniger das Neue und Gute, als daß man sachlich Unrichtiges,
schiefgezogene Entwicklungslinien und allzu kühne Konstruktionen tadelte.
Soweit die Einwände sachlich begründet waren, hat Dieterich sich mit
XXn Albrecht Dieterich
Fleiß bemüht, ihre Beweiskraft anzuerkennen. Aber einiges in den Re-
zensionen war im Ton vergriffen, und Dieterich fühlte sich dadurch ge-
kränkt. Die Freude an der wissenschaftlichen Produktion war ihm auf
Jahre hinaus gelähmt, seitdem er zu sehen glaubte, daß man in ihm
nicht einmal den ehrlichen Arbeiter anerkenne. „Allen Tadel, der ver-
dient ist, nehme ich um so lieber auf mich, je mehr die Sache dabei
gewinnt. Denn ich weiß den Tadel, der erzieht und fördert, sehr wohl
von dem zu unterscheiden, der beleidigt und im Innersten verletzt." Diese
Sätze aus dem Vorwort der „Mithrasliturgie" sind Zeugnis über das, was
damals in seinem Innern vorgegangen ist.
Ostern 1897 erhielt Dieterich einen Ruf als ordentlicher Professor
nach Gießen, als Nachfolger von E. Schwartz. Der Abschied von Mar-
burg wurde ihm nicht leicht; zahlreiche freundschaftliche Beziehungen
wurden dadurch gelockert. Außer den Fachkollegen war es ein Kreis
meist gleichaltriger Dozenten und Bibliothekare, in dem Dieterich seine
nächsten Freunde gefunden hatte, ein Kreis, von dem ein Teil auch durch
die gemeinschaftliche Mittagstafel Gelegenheit zu anregender Aussprache
fand. Was ihnen Dieterich gewesen ist, hat Johannes Bauer pietätvoll
bezeugt, wenn er seine „Ungedruckten Predigten Schleiermachers" (Leipzig
1909) gewidmet hat „Albrecht Dieterich zum Gedächtnis und den ge-
meinsamen Freunden".
Aber Gießen war ja nahe, und wenn die Zusammenkünfte auch nicht
mehr so zahlreich waren wie bisher, so brauchten sie darum nicht ganz
aufzuhören und haben auch nie ganz aufgehört, soweit Dieterichs freie
Zeit es ermöglichte. Diese war allerdings in Gießen nicht allzureich
bemessen. Die hessische Landesuniversität besaß für klassische Philo-
logie nur zwei Dozenten - G. Gundermann war damals der andere -,
die ihre Vorlesungen und Übungen so einzurichten hatten, daß die Hörer
während ihrer Studienzeit einen Überblick über das gesamte Gebiet der
klassischen Philologie erhielten, und daß die Seminare jedem einzelnen
die Gelegenheit boten, wissenschaftlich arbeiten zu lernen. Dabei wuchs
die Zahl der Studenten mit jedem Semester und damit die Aufgabe,
ihnen allen gerecht zu werden. Da auch neue große Vorlesungen aus-
zuarbeiten waren, wurden hier an Dieterich Anforderungen gestellt, die
selbst seine starke Arbeitskraft aufs äußerste anstrengten. Von diesen
neuen Vorlesungen haben ihm besonders diejenigen Freude gemacht, in
denen er die Erfahrungen seiner Reisen verwerten konnte: so die Vor-
lesung über Homer. Zu den topographischen Kollegia über Rom und
Pompei trat ein solches über Athen hinzu: Gießen war damals eine der
wenigen Universitäten, die dem Philologen für solche Zwecke einen
Albrecht Dieterich XX\\\
Lichtbilderapparat zur Verfügung stellten. Römische Erinnerungen belebten
die Vorlesung über die Dichter der augusteischen Zeit. Die griechische
Literatur wurde über die klassische Epoche ausgedehnt: im Seminar
wurde Kallimachos, Lukian, Plutarch behandelt; ein Kolleg umfaßte die
griechische Literatur nach Augustus. Auch Properz erscheint wieder in
den Seminarübungen; aus der wiederholten Beschäftigung mit diesem
Dichter ist der Aufsatz „Die Widmungselegie des letzten Buches des
Properz" hervorgegangen, der 1900 erschien (Rhein. Mus. LV 191 ff.),
ein schönes Beispiel seines Vermögens, eine Interpretation sachlich genau
und doch in anschaulicher Darstellung und künstlerischer Form zu geben.
Die alte Vorlesung über Mythologie erhielt den Titel „Antike Religion
in ihren Grundzügen"; sie war also auf eine erheblich breitere Basis
gestellt worden. An Stelle des Registrierens mythologischer Varianten
war die Frage nach der Herkunft der mythischen Vorstellungen getreten.
Diese hat ihn sodann auf die Entstehung der religiösen Denkformen
überhaupt geführt. Er erkannte, daß die höchsten Gedanken der Re-
ligion sich aus primitiven Vorstellungen entwickelt hatten, deren Reste
er in den mehr volkstümlichen Vorstellungen der einzelnen Stämme sah.
So wandte er sein Studium der volkstümlichen Unterschicht religiösen
Denkens zu. Auch sah er, wie das Begreifen derartiger Vorstellungen
bei Hellenen und Italikern erleichtert wurde durch den Vergleich mit
entsprechenden Anschauungen anderer Völker. Er begann daher, sich
in die wissenschaftliche Literatur der Ethnographie einzuarbeiten. Doch
lag ihm dabei die deutsche, besonders die hessische Volkskunde durch
seinen eigenen Werdegang besonders nahe; deren Kenntnis wurde nun
an der Hand von Jakob Grimm und Wilhelm Mannhardt vertieft. Mit
kleinen Aufsätzen: „Ein hessisches Zauberbuch", „Himmelsbriefe", ver-
sucht er in die Denkweise des eigenen Volkes einzudringen. Regen An-
teil nahm Dieterich an der Bewegung, die damals in Gießen unter der
Führung von Adolf Strack zur Begründung der „Hessischen Vereinigung
für Volkskunde" führte. Was diese ihm verdankte, haben H. Hepding
und K. Helm in den „Hessischen Blättern für Volkskunde" (VII, 1908,
S. 115 ff.) ausgesprochen: „Wesentlich seinem Einfluß ist es gewiß zu
danken, daß sie den Namen , Hessische Vereinigung für Volkskunde*
trägt, womit ausgedrückt sein soll, daß sie nicht nur die hessischen
Volksüberlieferungen sammeln will, sondern sich auch der großen Auf-
gaben einer philosophisch -psychologischen, vergleichenden Volkskunde
bewußt ist." Man versteht, daß unter den Vorlesungen nun auch ein
Kolleg erscheint „Die Volkskunde und ihre wissenschaftlichen Aufgaben".
Aus einem Vortrag, der auf der ersten Generalversammlung jener hes-
XXIV Albrecht Dieterich
sischen Vereinigung im Sommer 1902 gehalten wurde, ist der Aufsatz
„Über Wesen und Ziele der Volkskunde" hervorgegangen (Hess. Blätter I^
1902, S. 177 ff.), in dem von vornherein dem Dilettantismus, der diesen
Bestrebungen zum Teil anhaftet, entgegengetreten wird. „Ich bin der
Überzeugung, daß sie wissenschaftlich nur der treiben kann, der in
irgendeiner Philologie, d. h. dem Studium einer gesamten Volkskultur,
sozusagen mit beiden Füßen steht." Aber über dieser einen Kultur darf
er nicht den Vergleich mit den anderen unterlassen. „Kann man wirk-
lich mit den Analogien warten, bis die einzelnen Tatsachen ganz erforscht
sind? Wie oft kann die Forschung erst wieder durch die Anregung
der Analogie weitergehen! Gerade durch diese Wechselwirkung wird der
Fortschritt so oft bewirkt. Sollte Erwin Rohde warten, uns den Dionysos-
kult in seiner tiefsten Natur verständlich zu machen durch die Analogie
etlicher orientalischer und gewisser Bräuche der Naturvölker, bis die
griechische Religion in allen ihren Einzelheiten erforscht war?" Mit
Hilfe solcher Analogien soll die psychologische Erklärung einzelner Vor-
stellungen errungen werden, und dabei handelt es sich „um nichts
Wenigeres als darum, mit induktiv-geschichtlichen Methoden zu Gesetzen
der Entwicklung menschlichen Denkens vorzudringen", soweit nämlich
die Forschung ergeben wird, daß die Hauptformen ursprünglichen Denkens
bei den meisten primitiven Völkern dieselben sind, nicht allein durch
Übertragung der Kultur, sondern vielfach als gesetzmäßige Entwicklung
aus den überall gleichartigen Verhältnissen kulturlosen Lebens. In den
Dienst dieser Gedanken stellte Dieterich auch eine Reihe von Vorträgen,
die er im folgenden Winter am Freien Deutschen Hochstift zu Frankfurt
am Main gehalten hat. Sie handelten über Volksglauben und Volksbrauch
in Altertum und Gegenwart, soweit er sich an Geburt und Namengebung,
Tod und Bestattung oder einzelne Feste anschließt: ferner über die Formen
des Zauberbrauchs, des Zauberspruchs und der göttlichen Offenbarung.
Neben diesem neuerwachten Streben zum volkskundlichen Urgrund
hin äußern sich die archäologischen und literarischen Interessen immer
seltener, die religionsgeschichtlichen Forschungen dagegen werden da-
durch neu befruchtet. Ein Beitrag zur Kenntnis des antiken Zaubers
ist der Aufsatz „ABC -Denkmäler" (Rhein. Mus. LVI, 1901, S. 77 ff.),
der eine Menge von Alphabetreihen, griechische und lateinische, sammelt
und erklärt „als zauberkräftige mystische Zeichenreihe, als Abwehr der
Dämonen und üblen Zaubers oder als wirkungsvollen magischen Ge-
heimspruch". Eine Episode in der Entstehung des Christentums beleuchten
„Die Weisen aus dem Morgenlande" (Zeitschr. für neut. Wiss., III, 1902,
S. 1 ff.); dort wird die Erzählung von den Magiern, die das Jesuskind
Albrecht Dieterich vvy
anbeteten, als Abglanz eines historischen Faktums aufgefaßt, der Reise
des Parthers Tiridates, der im Jahre 66 aus dem Morgenlande nach
Rom kam, um den Kaiser Nero zu verehren. Wie Dieterich für die Er-
kenntnis des werdenden Christentums die Erforschung des späten heid-
nischen Synkretismus als Voraussetzung forderte, so hat ihn das monu-
mentale Werk von F. Cumont über den Mithraskult (Textes et monuments
figures relatifs aux mysteres de Mithra, 1896, 99) stark beschäftigt
und gefördert. Was er über das Buch zu sagen hatte, verdichtete sich
zu einem Aufsatz „Die Religion des Mithras" (Bonner Jahrb. 108/9,
1902, S. 26 ff.). In einem Punkt betont Dieterich seine Abweichung von
Cumont: in der Schätzung des Pariser Zauberpapyrus, der unter anderem
eine alte, auf den Mithrasdienst bezügliche Liturgie enthalte; daß der-
artige Reste reUgiöser Urkunden sich in den Rezepten der Zauberer be-
finden, hatte Dieterich wiederholt betont. „Die gewaltige, kunstvolle
Sprache jener Liturgie, wenn das Fremde fortgeschnitten ist, trägt, hoffe
ich, den Beweis in sich, daß diese buntprächtige Perle religiöser Dichtung
die Mißachtung nicht verdient."
Seitdem er Ordinarius geworden war, hatte Dieterich mehr Gelegen-
heit, seine Zuhörer anzuregen, zu ihrer wissenschaftlichen Erstlingsarbeit
eines der zahlreichen Themata aus der Religionsgeschichte zu nehmen.
Eine ganze Reihe tüchtiger Dissertationen dieser Art ist unter seiner
Leitung in Gießen entstanden. So L. Deubners De incubatione capita
quattuor, die bei Teubner 1900 als besonderes Buch erschienen; hier
war der antike Brauch des orakelwirkenden Tempelschlafs bis in die
christlichen Kirchen hinein verfolgt. Deubner hatte sich sein Thema
selbst gewählt; die Probleme, die Dieterich stellte, kennzeichnen seinen
Blick für die Fragen, die eine Behandlung bereits vertrugen, und sein
pädagogisches Geschick, den richtigen Mann an die richtige Arbeit zu
stellen. Im 26. Supplementband der Jahrbücher für klassische Philologie
stehen zwei Arbeiten von seinen Schülern: Fr. Adami, De poetis scae-
nicis graecis hymnorum sacrorum imitatoribus, eine Untersuchung der
Beziehungen von Religion zum Drama, wie es auch Dieterichs Aristophanes-
aufsatz war, und C. Ausfeld, De Graecorwn precationibus quaestioneSy
über das Schema, nach dem die Gebete der Griechen aufgebaut sind,
in einen Vergleich mit den Bitten des „Vaterunsers" endigend.
Nachdem jene Supplementbände aufgehört hatten, zu erscheinen, lag
der Gedanke nahe, ein eigenes Organ zu schaffen, in dem für die Zu-
kunft derartige Abhandlungen Aufnahme finden konnten. Durch freund-
liches Entgegenkommen des Verlagsbuchhändlers Alfred Töpelmann in
Gießen wurde es möglich, die „Religionsgeschichtlichen Versuche und
XXVI Albrecht Dieterich
Vorarbeiten" zu begründen. Der Eröffnungsband erschien 1903: H. Hep-
dings grundlegende Untersuchung „Attis, seine Mythen und sein Kult",
ein Urkundenbuch zur Geschichte des Synkretismus. Auch der zweite
Band enthält noch Dissertationen von Dieterichs Schülern aus der Gießener
Zeit: L. Ruhl, De mortuorum iudicio, eine Ergänzung zur „Nekyia",
L. Fahz, De poetarum Romanorum doctrina magica, eine Arbeit, welche
die Zauberpapyri zur Interpretation der hohen Literatur heranzieht,
G. Blecher, De extispicio, wichtig durch den mit Analogien primitiver Re-
ligionen gestützten Gedanken, daß die Eingeweide des Opfertieres darum
vorbedeutend werden, weil der Gott Besitz von seinem Opfer ergriffen hat.
Auch die Abhandlung von W. Schmidt, Geburtstag im Altertum (VII, 1),
ist aus einer von Dieterich damals angeregten Dissertation hervorgegangen.
Die Ferien zwischen den arbeitsreichen Gießener Semestern sahen
Dieterich vielfach auf Reisen. So besuchte er im Herbst 1897 die vier-
undvierzigste Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in
Dresden. Er hatte selbst einen Vortrag angekündigt „über den Ursprung
des Sarapis" (s. in den Verhandlungen jener Versammlung S. 92 f.). Die
Lektüre des Tacitus hatte ihn auf diese „wesentliche Erscheinung, durch
die jene gewaltige Bewegung, die wir Synkretismus nennen, eingeleitet
und schnell ausgebreitet wurde", aufmerksam gemacht; er hatte in den
Erzählungen von der Einführung jenes Kultes die echte Tempellegende
wieder erkannt, zusammengesetzt aus uralten legendarischen Motiven von
der Hyperboreerfahrt und der Götterepiphanie; er sah die Bedeutung
dieses Kultes, den ein Ptolemäer künstlich geschaffen hat, darin, daß
Sarapis als höhere Einheit über die bisher verehrten Götter gesetzt
wurde; das bahnte dem Glauben an einen Gott den Weg. Dieterich
forderte ein Urkundenbuch für Sarapis, wie es Cumont für den Mithras
geschaffen hatte, als weiteren Beitrag zum Synkretismus und seiner Ge-
schichte; denn ehe wir diese „genau analysieren können, ist die große
Frage nach der Genesis des Christentums unlösbar". - Leider hat dieser
Vortrag keine besondere Wirkung geübt, da die Zeit zum Reden zu knapp
bemessen war und Dieterich nur einen rasch zusammengestrichenen
Auszug geben konnte. Er hatte zwar in Aussicht gestellt, das Ganze
zu veröffentlichen, sobald die Frage nach dem Ursprung des Namens
Sarapis mit Hilfe der Kenner babylonischer und ägyptischer Dinge sicher-
gestellt sei. Aber diese Sicherheit hat er nicht mehr erhalten und des-
halb die Abhandlung über Sarapis nicht mehr druckfertig gemacht.
Wie er selbst zuletzt über diese Fragen dachte, zeigt die von ihm an-
geregte Dissertation von E. Schmidt, „Kultübertragungen" (Rel.-gesch.
Vers. Vorarb. VIII, 2) im dritten Kapitel.
Albrecht Dieterich XXVII
Auf einer anderen Reise, im Jahre 1898, verlobte er sich in München
mit Marie Usener, der Tochter seines Lehrers; im Frühjahr darauf führte
er sie heim nach Gießen. Diese beiden Naturen haben miteinander
harmoniert, wie es selten begegnet. Frau Marie Dieterich hatte von
ihrem Vater her das Verständnis für das, was des Gatten Leben ausfüllte,
für seinen Lehrberuf und seine wissenschaftlichen Ziele. Ihrer Vorliebe
für die Malerei, die sie auch ausübend betätigte, kam Dieterichs Neigung
für dieselbe Kunst entgegen. Das ermöglichte beiden, sich ein Heim
zu schaffen, in dem der Ernst der Gelehrtenstube durch heiteren künst-
lerischen Schmuck verklärt wurde. In ihren traulichen Räumen waren
ihnen Jahre reinen Füreinanderlebens beschieden. Nicht immer waren
die Tage ungetrübt; Frau Marie wurde wiederholt von Krankheit heim-
gesucht. Aber das brachte beide noch inniger zusammen. Zum neuen
Jahre 1900 schrieb Dieterich: „Erst die letzten Wochen haben wir wieder
im gewöhnlichen Sinne glückliche Tage gehabt, denn im übergewöhn-
lichen Sinne sind auch die schwersten Tage glücklich. Im Leiden lieben
sich die Menschen erst, wie es keine Seele vorher ahnt, über alles, ich
möchte sagen, irdische Verstehen." Vollendet wurde das Glück dieser
Ehe, als im Januar 1902 der erste Sohn geboren wurde, der nach Vater
und Großvater den Namen Hermann Albrecht erhielt. Ihm folgte einige
Jahre später noch ein Bruder, Hermann genannt.
Ein wunderbares Zusammentreffen war es, daß nun Usener und
Dieterich auch persönlich zueinander in die engste, nie unterbrochene
Beziehung traten. Sooft es sich in den Ferien einrichten ließ, sind sie
zusammen gewesen und haben miteinander die Fragen, die sie beide
gleich bewegten, in idealem CuincpiXoXoTeTv der Lösung genähert. Die
Briefe Dieterichs strahlen, wenn er von diesem Zusammensein erzählt.
Usener erschloß seine ganze Tiefe; er hatte den Erben gefunden, dem
er sein Vermächtnis anvertrauen wollte. Dieterichs ferneren Arbeiten ist
dieser klärende Gedankenaustausch zum Segen geworden. Wie ein-
gehend er alles mit Usener besprach, zeigen die Zettel von Useners
Hand, die sich bei Dieterichs nicht ausgeführten Entwürfen fanden. Man
sieht dabei, wie der Jüngere am eigenen Material sich das Ergebnis er-
arbeitet und dies dem Älteren zur Prüfung vorlegt, der dann aus dem
eigenen Schatz beisteuert, was er an entlegenen Zitaten in langen Jahren
gesammelt hatte.
Der großen akademischen Geselligkeit, die in Gießen recht lebhaft
zu sein pflegt, konnten sich Dieterichs nur mit Pausen hingeben. Sie
waren auch mehr die Menschen des kleinen vertrauten Kreises, in dem
sich der einzelne rückhaltlos gibt und offener von dem spricht, was
XXVIII Albrecht Dieterich
sein Inneres bewegt, als es sonst möglich ist. Ein Teil der Kollegen,
die zu diesem Kreis gehörten, war mit Dieterich bereits in Marburg
zusammengewesen; die Gelegenheit, die alte Freundschaft fortzusetzen,,
wurde freudig benutzt. Wohlgelitten war Dieterich auch in dem treff-
lichen Institut des „Sonderbundes", der sämtliche Dozenten zu wissen-
schaftlichen Abenden und behaglichem Zusammensein vereinigte. Diete-
rieh war zuletzt Sekretär dieser Gesellschaft, und es war prächtig, wie
er in Versen, die tiefes Gefühl und ironischen Humor zu gleichen Teilen
enthielten, als Sekretär sich selbst als ^, dem scheidenden Mitglied die
Abschiedsrede hielt.
Der Abschied von Gießen fiel in das Frühjahr 1903. Dieterich
hatte einen Ruf nach Heidelberg als Nachfolger von 0. Crusius erhalten;
daß er ihn annehmen würde, stand ihm sofort fest. Schon daß er nun
denselben Lehrstuhl bestieg, den einst Erwin Rohde innegehabt hatte,,
wäre durchschlagend gewesen. Es kam hinzu, daß er in Baden Mit-
glied des Oberschulrats werden sollte und dadurch wieder in Fühlung
mit dem Gymnasium kam; das Fehlen einer solchen Beziehung hatte
er bis dahin als Mangel empfunden; er wollte wissen, wie die Schule
ihm die Schüler vorbereitete, und was sie von denen erwartete, die er
für die Schule ausbildete. In Heidelberg war bald ein hübsches Haus
in der Vorstadt Neuenheim behaglich eingerichtet; zwei große, luftige
Zimmer, die den Eindruck eines einzigen machten, mit dem Blick auf
das Grün des eigenen Gartens waren sein Tuskulum. So begann in
einem herrlichen Sommer die glänzendste Zeit im Leben Albrecht
Dieterichs.
Die Vorlesungen, die er in Heidelberg gehalten hat, waren im wesent-
lichen dieselben wie in Gießen. Nur von der griechischen Poesie, die
er bis dahin in Längsschnitten behandelt hatte, gibt er nun auch einen
Querschnitt, indem er „Griechische Literatur des V. Jahrhunderts" liest.
Neu erscheint Plato; er erklärte das Symposion, zu dem er von jeher
ein tiefes innerliches Verhältnis hatte. „Es ist mir wie ein Evangelium",
sagte er. Von öffentlichen Vorlesungen machten den Hörern besonderen
Eindruck seine Vorträge über die „Hauptprobleme der Religionswissen-
schaft". An ihnen hing ja auch sein Herz am innigsten, zu ihrer Lösung
beizutragen hielt er seit der Bonner Zeit in immer steigendem Maße
für seinen wahren Beruf. Die Arbeiten der Heidelberger Zeit bewegen
sich denn auch fast alle in dieser Richtung. Nur die Beiträge an der
Realenzyklopädie von Wissowa gehen daneben weiter; 1905 wurde der
Euripides fertig, ein Seitenstück zu dem so viel früher verfaßten Aischylos,
nur vielleicht noch mehr als dieser aus dem Vollen geschöpft.
Albrecht Dieterich XXIX
Das Buch „Eine Mithrasliturgie" wurde im Frühjahr 1903 ab-
geschlossen. Es ist im ersten Teil eine Ausführung des Gedankens, den
er in seiner „Religion des Mithras" ausgesprochen hatte. Der Passus
des Pariser Papyrus, der dort erwähnt war, wird kritisch und mit einer
deutschen Übersetzung versehen ediert; dann wird der Nachweis an-
getreten, daß dies Stück, das durchsetzt ist von ägyptischen und sto-
ischen Gedanken, die auf Poseidonios zurückgehen, ursprünglich wirklich
eine antike Liturgie ist, bestimmt in einem Mithrasmysterium bei der
Himmelfahrt der gläubigen Seele und ihrer Vereinigung mit Gott verwendet
zu werden. Diese Art der Verwendung leitet über zu dem wichtigsten
Teile des Buches, den liturgischen Bildern des Mithrasmysteriums. Dort
werden die verschiedenen Formen, in denen der primitive Mensch sich
die Vereinigung mit der Gottheit vorstellt, analysiert: das Essen des Gottes,
die Liebesvereinigung des Menschen mit dem Gotte, die Gotteskindschaft,
die Wiedergeburt, die Himmelfahrt der Seele zu Gott. Es ist die erste
durchgeführte Untersuchung bestimmter primitiver Denkformen; über
solche hatte Dieterich bereits in seinem Aufsatz über „Wesen und Ziele
der Volkskunde" gesprochen. Das Buch hat trotz mancher Ablehnung
- namentlich die Bezeichnung des Papyrustextes als „Mithrasliturgie"
ist angegriffen worden - Erfolg gehabt; es ist, was man einem solchen
Werk nicht zu prophezeien gewagt hätte, bereits in einer zweiten Auf-
lage (1910) erschienen. Gewidmet ist die Mithrasliturgie Franz Cumont,
ein Zeichen der Erkenntlichkeit für dessen Mithra; in der Vorrede ge-
denkt Dieterich auch hier dankbar seiner alten Freunde, die ihr Wissen
in seinen Dienst gestellt haben: Siegfried Sudhaus namentlich für die
Textrezension, Paul Wendland für die Partien des Kommentars, die an
der Grenze zwischen Christentum, Judentum und Hellenismus liegen.
Andere Arbeiten dieser Zeit hängen mit den Vorträgen zusammen,
die Dieterich in Frankfurt gehalten hatte. Aus den Gedanken über den
Volksglauben, der sich an die Geburt des Menschen anknüpft, entstand
das Buch „Mutter Erde, ein Versuch über Volksreligion". Ausgehend
von drei merkwürdigen römischen Riten bei Geburt und Tod zeigt er,
daß sie und alle verwandten Bräuche bei anderen Völkern nur verstanden
werden können aus der einen Grundvorstellung (S. 32): „Die Erde ist
die Mutter aller Menschen, aus der sie hervorkommen, und in die sie
zurückgehen, um aus diesem Mutterschoß wieder zu neuem Leben ge-
boren zu werden." Daran schließt er einen Überblick über die Haupt-
phasen, „in denen sich der mächtige Glaube an eine Mutter Erde
innerhalb der geschichtlichen Entwicklung antiker Religionen mannigfach
wirksam erwiesen und immer wieder aus den unerschöpflichen Tiefen
XXX Albrecht Dieterich
der Volksreligion emporgedrängt hat" (S. 91), dies zum Teil in Be-
rührung mit V. Wilamowitz und dem Vorwort seiner Übersetzung der
Eumeniden des Aischylos; Dieterich hat dankbar anerkannt, daß dieses
ihm „wesentlich dazu geholfen hat, die Bedeutung der Religion der
Mutter für die Griechen zu verstehen" (S. 43, Anm. 2). Auch hier fehlt
zum Abschluß nicht der Ausblick auf das Fortleben jener Vorstellungen
in der Zeit des Christentums. Gedacht war das Ganze als erster Teil
eines Buches über „Volksreligion, Versuche über die Grundformen reli-
giösen Denkens"; dem sollten sich als weitere Kapitel anschließen: „Die
Formen des Zauberritus", „Die Formen göttlicher Offenbarung", „Die
Formen der Vereinigung des Menschen mit Gott", dies letztere als Neu-
bearbeitung des zweiten Teiles der Mithrasliturgie. Dieterich war sich
damit über die wichtigsten Punkte klar geworden, die schon jetzt mit
seiner Methode erreichbar schienen. Daß er auf diesem Wege mit
Usener zusammenging, bekräftigte er dadurch, daß er ihm die „Mutter
Erde" zum 70. Geburtstag, zum 24. Oktober 1904 widmete. Zu Ehren
desselben Tages erschien als Festgabe einiger Schüler Useners ein Bei-
heft des „Archivs für Religionswissenschaft"; auch zu diesem hatte
Dieterich beigesteuert, und zwar den Aufsatz „Sommertag", von Marie
Dieterich mit einer hübschen Vignette verziert. Hier wurden mit einem
Heidelberger Volksbrauch deutsche und griechische Heischelieder zu-
sammengestellt und gezeigt, „wie aus gleichen Grundanschauungen gleicher
Brauch und gleiche Motive und Formen des Liedes erwachsen". Ein solcher
Beweis war für Dieterich wichtig; denn erst dann, wenn gezeigt ist, daß
gleiche Riten und Mythen auch ohne Übertragung bei verschiedenen Völkern
entstehen können, darf man von allgemein menschlichen Denkformen reden.
Dieterichs letzter Aufsatz „Die Entstehung der Tragödie" (Archiv
für Rel.-wiss. XI, 1908, S. 163 ff.) spricht der attischen Totenklage am
alljährlichen Totenfeste und den ApuujLieva der eleusinischen Mysterien
einen starken Einfluß auf das Werden des Dramas zu. Sein Geschick,
Literatur und Religion in ihren Wechselwirkungen zu erfassen, zeigt
sich hier noch einmal in glänzender Weise; das warme Empfinden für
die Sache ist durch kühles Reflektieren temperiert. Vorgetragen hat er
diese Gedanken zuerst im Eranos, einer Vereinigung, die aus den religions-
geschichtlich interessierten Kollegen in Heidelberg bestand. Dieterich hatte
bei ihrer Gründung mitgewirkt und den Austausch der Meinungen häufig
in lebhafter Diskussion gefördert.
Auch in der Heidelberger Zeit legen die Dissertationen Zeugnis
davon ab, wie starke Anregungen Dieterich seinen Schülern gab. Mit
seinen eigenen Studien über die typischen Figuren des Dramas hängt
Albrecht Dieterich
XXXI
die Arbeit von Franz Bertram zusammen: „Die Timonlegende, eine Ent-
wicklungsgeschichte des Misanthropentypus in der antiken Literatur".
Die meisten Doktorarbeiten sind in die Religionsgeschichtlichen Versuche
und Vorarbeiten aufgenommen: Fried. Pfister, „Der Reliquienkult im Alter-
tum" (Bd. V, erste Hälfte erschienen), Eugen Fehrle, „Kultische Keusch-
heit" (Bd. VI), Otto Weinreich „Antike Heilungswunder" (VIII, 1);
Ernst Schmidts „Kultübertragungen" sind bereits genannt worden. Man
erkennt, daß hinter diesen Aufgaben der Plan steht, die wichtigsten
Äußerungen religiösen Denkens vom Boden der klassischen Philologie
aus sammeln und erklären zu lassen. Einzelne Arbeiten verfolgen die
heidnischen Anschauungen bis in die späteren Zeiten hinein und werden
dadurch Beiträge zur Entstehung des Christentums.
Neben den Anforderungen, die der Lehrberuf an Dieterich stellte,
standen die Verpflichtungen, die ihm die Mitgliedschaft des Oberschul-
rates auferlegte. In dieser Eigenschaft hospitierte er im Gymnasial-
unterricht, wohnte den Abiturientenprüfungen bei und nahm teil an den
Staatsexamina der badischen Kandidaten für das höhere Lehramt. Diesen
Aufgaben unterzog sich Dieterich mit Freude; des Vaters und des Großvaters
Neigungen wurden in ihm wach. In den Gymnasien verhielt er sich meist
zuhörend, bestrebt, für die eigene pädagogische Technik zu lernen; wo er
eingriff, tat er es in einer schonenden Weise, die immer nur auf die Sache
selbst ging und jedermann von dieser Sachlichkeit zu überzeugen versuchte.
Zu all dieser Tätigkeit, die hingereicht hätte, die normale Arbeits-
zeit eines Menschen ganz auszufüllen, übernahm Dieterich gleich zu
Beginn seiner Heidelberger Zeit eine neue Verpflichtung. Das „Archiv
für Religionswissenschaft", das Thomas Achelis im Jahre 1898 begründet
hatte, war aus dem Verlag von Paul Siebeck in den von B. G.Teubner
übergegangen. Teubner suchte einen zweiten geschäftsführenden Re-
dakteur, und seine Wahl fiel auf Dieterich. Dieser hat sich lange be-
sonnen, ehe er zugriff. Er wußte wohl, wieviel kostbare Zeit gerade
der besten Jahre, die er der eignen Produktion hätte widmen können,
die Redaktionsführung mit ihrer nicht immer erquicklichen Korrespondenz
und ihren rein äußerlichen Geschäften verschlingen würde. Aber das
Gefühl der Verpflichtung der Sache gegenüber siegte. 1904 erschien
der erste, von A. Dieterich und Th. Achelis gemeinsam redigierte Band,
der siebente der ganzen Reihe. Er enthielt zu Beginn das Programm
des neugestalteten Archivs.
Es sollte ein Zentralorgan sein für alle historische, mit philologischen
Mitteln arbeitende Erforschung der verschiedenen Religionen, bestimmt,
die Hauptfortschritte der einzelnen Philologien von der einen zur anderen
XXXII Albrecht Dieterich
mitzuteilen. Diese Erforschung sollte sich zunächst weniger auf die ge-
schichtlichen, von einzelnen Persönlichkeiten bestimmten religiösen Ent-
wicklungen richten. Nicht etwa, weil Dieterich für die Persönlichkeit
und ihr Verhältnis zur Religion kein Verständnis gehabt hätte — dagegen
spricht seine eigene Hinneigung zu Aischylos und Piaton. Aber er
wollte die zerstreute religionsgeschichtliche Arbeit auf das Gebiet kon-
zentrieren, dessen Erforschung ihm die Vorbedingung zu jeder weiteren
ersprießlichen Arbeit schien, auf die volkstümliche Unterschicht, die
Volksreligion. Da diese durch die Analogien aus dem Leben der Natur-
und Kulturvölker aufgeklärt werden sollten, so empfahl er den Philo-
logien ein enges Bündnis mit Ethnologie und Volkskunde. Als weiteres
wichtiges Ziel, dem das Archiv zunächst dienen sollte, wurde die Er-
kenntnis von der Genesis des Christentums genannt, vom Untergang
der antiken und vom Werden der neuen Religion, ein Problem, zu dessen
Lösung er sich die Mitarbeit der wissenschaftlichen Theologie erbat.
Dabei schwebte ihm nicht nur das Ziel der theoretischen Erkenntnis
vor, sondern er hoffte, daß die Arbeit des Archivs auch praktisch dem
einzelnen in seinem Ringen um die Weltanschauung zugute kommen
sollte: „wahre geistige Befreiung auch aus den religiösen Fesseln und
Nöten der Zeit wird dem wissenschaftlich Gebildeten nicht durch Nega-
tion oder Position, durch Vermittelung oder Umdeutung gewonnen, sondern
allein durch geschichtliche Erkenntnis."
Eine glückliche Änderung war es, daß das Archiv die neu er-
schienenen Bücher nicht mehr in einzelnen Rezensionen zerstreut behandelte,
sondern in zusammenhängenden Berichten, die alles, was auf dem Ge-
biet einer bestimmten Religion innerhalb von zwei oder drei Jahren er-
schienen war, zusammenfaßten; durch sie trat die Entwicklung der reli-
gionsgeschichtlichen Forschung in ein helleres Licht. Den ersten Bericht
über die antiken Religionen in den Jahren 1903-1905 hat Dieterich
selbst angefertigt (Arch. VIII, 1905, S. 474 ff.). Mit Freude konnte er
feststellen, wie das Bestreben, die Unterschicht des religiösen Denkens
zu erkennen, im Wachsen begriffen war, wie die Anregungen der Eth-
nologie und Volkskunde sich immer stärker geltend machten, so stark,
daß Dieterich warnen mußte: es drohe „eine Modeform der Vergleichung
einzelner herausgehobener Züge sich auszubilden, die eine naturgemäß
langsam vorschreitende notwendige Arbeit nur hindert und diskreditiert".
Ferner stellte er freudig das Wachsen der Erkenntnis des Synkretismus
jener Vorbedingung zur Erforschung des Werdens des Christentums, fest,
die namentlich durch Reitzensteins „Poimandres" gefördert war. Ihm
sprach er das große Verdienst zu, „es energisch versucht zu haben, den
Albrecht Dieterich XXXIII
ägyptischen Einschlag in dem bunten Riesengewebe späterer antiker
Religion auszulösen." Gerade mit Reitzenstein, der im nahen Straßburg
lehrte, hat Dieterich während der letzten Jahre in regem Austausch über
die Fragen des Synkretismus gestanden. - Aber trotz der Freude an
den Fortschritten im einzelnen ist Dieterichs energischer Natur die
Entwicklung der Forschung nicht vielseitig genug. Der Bericht endet
mit der Mahnung: Messis quidem multa, operarn autem pauci. Den-
selben Spruch hatte er unter die Titelvignette der „Hessischen Blätter
für Volkskunde" geschrieben, die, von der Hand seines Freundes O.Ubbe-
lohde gezeichnet, ein Kornfeld darstellt, durch das ein einsamer Schnitter
schreitet.
Vom VIII. Band ab führte Dieterich allein die Geschäfte des Archivs,
Th. Achelis war zurückgetreten. Dagegen blieben die Mitredakteure,
die seit der Neugestaltung des Archivs ihm helfend zur Seite standen,
H. Oldenberg für das Indische, C. Bezold für das Babylonisch-Semitische,
K. Th. Preuß für das Gebiet der Naturvölker. Für das klassische Alter-
tum hat zuerst Usener noch mitberaten. Aber er starb im Oktober 1905.
Es war ein schwerer Schlag für Dieterich; selbst wenn man weiß, was
ihm der Schwiegervater als Mensch und Gelehrter gewesen ist, kann
man kaum die Größe des Verlustes ermessen. Seinem Andenken hat
Dieterich im Archiv einen tief empfundenen Nachruf gewidmet, der in
kurzem Abriß das Lebenswerk des Religionshistorikers Hermann Usener
erschließt. Manches darin ist zugleich Selbstbekenntnis; ein solches
klingt heraus aus dem Hinweis auf das schöne Wort Useners, daß alle
Mythenforschung unwillkürlich uns zuletzt auf unser innerstes Anliegen,
die eigene Religion zurückführen und das Verständnis derselben fördern
müsse, oder aus der Betonung von Useners tiefem Verständnis für das
Leben des eigenen Volkes.
Dieterich hatte es als eine Pflicht der Pietät empfunden, zum Ge-
dächtnis an den Meister eine ausführliche Biographie zu schreiben. Um
sich dafür den Grund zu legen, las er ein besonderes Kolleg: „Ge-
schichte der klassischen Philologie im 19. Jahrhundert". Er war be-
geistert, als ihm von hier aus nach und nach die einzelnen Züge in
Useners Bild verständlich wurden; die Darstellung gewann in seinem
Innern Umriß und Gliederung. Er freute sich, daß ihm alles so pla-
stisch vor Augen stehe, daß er es nur niederzuschreiben brauche. Aber
geschrieben worden ist keine Zeile.
Auf den Reisen, die Dieterich von Heidelberg aus, meist mit der
Gattin zusammen, unternahm, fand teils seine alte Sehnsucht nach Natur
und Kunst und sein Bedürfnis neuer wissenschaftlicher Eindrücke ihre
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. C
XXXIV Albrecht Dieterich
Befriedigung, teils war er im Dienste der religionsgeschichtlichen Studien
tätig. Im Herbst 1904 nahm er an dem zweiten internationalen Kongreß
für allgemeine Religionsgeschichte in Basel teil und sprach dort in einer
Plenarsitzung über die Religion der Mutter Erde, in einer Sektionssitzung
über den Ritus der verhüllten Hände. Der letzte Vortrag war bis jetzt
nur in einem Auszug bekannt (Verh. des Bas. Kongr. S. 322 f.), unten
S. 440 ff. wird das vollständige Manuskript, so weit es noch vorhanden
ist, veröffentlicht.
Im Herbst 1905 sprach Dieterich auf den „Salzburger Hochschul-*
kursen" über das Thema „Der Untergang der antiken Religion". Seine
Vorträge müssen, nach den Zeitungsberichten zu urteilen, hinreißend ge-
wirkt haben. Dieselben Vorträge hat Dieterich noch einmal, im Frühjahr
1908, vor einer großen Zuhörerschaft in Hamburg gehalten.
Zwischendurch, im Sommer 1907, erhielt Dieterich einen Ruf an die
Universität Halle. Er hat ernstlich geschwankt, ob er ihn nicht annehmen
solle. Namentlich die Freundschaft für Georg Wissowa, der dort wirkte,
fiel stark ins Gewicht; im preußischen Kultusministerium zeigte man das
weitestgehende Entgegenkommen. Aber es war nicht leicht, die bis-
herige ideale Wirksamkeit, die selbst Halle nicht bieten konnte, aufzugeben.
Den Ausschlag gab der Gedanke, daß er in Baden auch dem höheren
Schulwesen noch nützen könne. Es war Dieterichs Art, solche Fragen
vom Standpunkt des sachlichen, nicht des persönlichen Vorteils zu ent-
scheiden. Mit Genugtuung erfüllte es ihn, daß man ihm für sein Bleiben
dankbar war. „Ich kann Dir sagen, daß mir eine solche Lebensfreude
noch nie geworden ist. Studenten, Kollegen, Gymnasiallehrer, Regierung:
«s war für mich persönlich beschämend und überwältigend. Du wirst mir
glauben, daß es nicht die schönen Worte waren, die sie mir sagten, die
ich meine", so schrieb er im Juni 1907. Auf einem Kommers, mit dem
man ihn damals feierte, sagte er scherzend, er werde keinen Ruf mehr
annehmen, „bis der letzte Ruf kommt, den niemand ablehnen kann".
Wohl keiner, der ihn das in blühender Kraft und voller Gesundheit
sagen hörte, ahnte, wie bald dieser Ruf an ihn ergehen sollte.
Im April 1908 hatte Dieterich auf der Hamburger Reise sich eine
Influenza zugezogen, die gründlich auszuheilen er sich nicht die Zeit
nahm. Den nach Hause Zurückgekehrten beanspruchten die Berufs-
pflichten, Dienstreisen und Examina stärker als sonst. Dann kamen die
Vorbereitungen zum Semester, die seine geschwächten Kräfte weiter
aufrieben. Dienstag den 5. Mai wollte er morgens seine Vorlesung über
das attische Drama beginnen. Vor dem Kolleg hatte er sich noch längere
;;^eit im Sprechzimmer wie sonst mit einem befreundeten Kollegen unter-
Albrecht Dieterich XXXV
halten. Er stand ganz unter dem frischen Eindruck vom Tode seines
Lehrers Franz Bücheier. Er schilderte in feinsinniger Weise Büchelers
Wesen und Wirken, in bewundernder Anerkennung des seltenen Mannes.
„Das werde ich auch meinen Studenten sagen. Nicht am Anfang der
Stunde, denn sie sollen freudig beginnen. Aber zum Abschluß." -
Das Erscheinen Dieterichs im Auditorium wurde jubelnd begrüßt. Er
begann zu sprechen, den Plan seiner Voriesung zu entwickeln. Aber
nach den ersten Sätzen wurde seine Sprache langsamer, er fing an, nach
den Worten zu suchen. Schließlich stockte er ganz. Die Zuhörer
halfen ihm, das Zimmer zu verlassen. Draußen brach er zusammen:
ein Gehirnschlag hatte ihn getroffen. Man brachte ihn auf das Zimmer
des Dieners im archäologischen Institut und bettete ihn dort. Noch
diesen Tag und die folgende Nacht hat er so fast ganz bewußtlos ge-
legen. Gattin und Freunde weilten bei ihm. Am Morgen des 6. Mai
hatte er ausgelitten.
Am Abend dieses Mittwoch fand an der Bahre für die Nächsten
eine schlichte Leichenfeier statt; Fr. Scholl als Fachgenosse und Freund
sprach ergreifende Worte. Die Beisetzung auf dem Friedhof am 8. Mai
war eine Feier wirklich inniger, allgemeiner Trauer. Auch von weither
waren die Schüler und Freunde gekommen. Die Worte, die in der
Friedhofskapelle am Sarg gesprochen wurden, waren tief empfunden,
schmerzlich bewegt von der Trennung, die sich hier vollzog, durch-
drungen von der Erkenntnis, was hier für immer verloren war. Es
war die Totenklage um den herrlichen Menschen, dem auch an dieser
letzten Stätte seines Wirkens die Herzen freudig entgegengeschlagen
hatten. Draußen war ein südlicher Frühlingstag, die Sonne glühte wie
im Hochsommer. Unter Blumen und Blüten bewegte sich der Zug der
Trauernden zum Ort der Feuerbestattung. Es war eine Stimmung in
der Natur wie zu der Zeit, da die Frauen von Hellas um Adonis klag-
ten, den göttlichen Jüngling, den plötzlicher Tod an einem Sommertag
gefällt hatte.
Mit Albrecht Dieterich sind große Pläne und kühn gedachte Entwürfe
zu Grabe gegangen. Man darf sich nicht vorstellen wollen, was er der
Wissenschaft geworden wäre, wenn ihm das Schicksal noch ein oder
zwei Jahrzehnte gegönnt hätte, ihm, der mit jeder Arbeit die Erkennt-
nis, oft an einem entscheidenden Punkte, förderte und selbst da, wo er
irrte, Anregung gab. Sein Nachlaß enthielt große Mengen von Notizen,
Zeugen seiner Teilnahme an allen Bewegungen religiösen Lebens im
Altertum und an den Analogien anderer Völker, die er in langen Jahren
zusammengetragen hatte. Leider ist das meiste dieser Kollektaneen für
XXXVI Albrecht Dieterich
niemand anders verwendbar; meist ein Zitat, dazu ein kurzes, nur ihm
vertrautes Stichwort - das ist alles. Für einige Materien sind die
Notizen ausführlicher und zu Gruppen geordnet (z. B. für Abendmahl,
Angeloi, Himmelfahrt, Fax, heilige Quellen, Traum). Alle diese Sammlungen
hat Frau Marie Dieterich sich entschlossen dem in Bonn gegründeten
Usenerarchiv zu überweisen und damit allen zugänglich zu machen.
Nicht beendet ist von größeren Arbeiten eine Ausgabe der Legende
des heiligen Theophilos, die Dieterich durch die Beziehung des Zaubers
zur Legende lockte, und eine Edition der orphischen Hymnen, die er
nie aus den Augen verloren hatte. Sie sollte zusammen mit anderen
Resten orphischer und mystischer Poesie im zweiten Band der Samm-
lung Poetarum Graecorum fragmenta erscheinen, die U. von Wilamowitz
redigiert. Beide Arbeiten sollen von Freunden Dieterichs zu Ende ge-
führt werden. Ebenso wird die Redaktion der „Religionsgeschichtlichen
Versuche und Vorarbeiten" und des „Archivs für Religionswissenschaft"
im Sinne Dieterichs von befreundeter Hand weiter geleitet.
Das geplante Buch über „Volksreligion" ist nicht mehr geschrieben
worden. Es sind jedoch die Vorarbeiten vorhanden, umfangreiche und
geordnete Materialsammlungen. Wer sich berufen fühlt, jenen Plan
Dieterichs auszuführen, wird diesen seinen Stoff mit Ertrag benutzen
können. Von dem „Untergang der antiken Religion" gibt es Auf-
zeichnungen von seiner Hand und Nachschriften seiner Schüler, die
eine ungefähre Wiederherstellung möglich machten (unten S. 449 ff.).
Dieterich ahnte, daß er nicht alt werden würde. Das hätte ihm
Schonung auferlegen sollen. Aber die kannte er nicht und wollte sie
trotz aller besorgten Zureden nicht kennen. War ihm ein Problem
klar geworden, so setzte er die Nächte daran, um seine Gedanken in
einem Zug niederzuschreiben, unbekümmert darum, welches die An-
forderungen des Tages sein würden. Vor die Wahl gestellt zwischen
einem kurzen Leben in Tätigkeit oder einem langen Leben in Untätig-
keit, hätte er gewählt wie Achilleus. Nur das bewirkte die Vorahnung
von seinem frühen Ende, daß er seine Arbeiten auf bestimmte Ziele
konzentrierte; das hat er selbst ausgesprochen. Dies ist der Grund,
weshalb er die mehr philologischen Fragen, die ihn doch früher ge-
reizt hatten, in den letzten Jahren bewußt zurücktreten ließ. Wohl
schrieb oder sprach er gelegentlich freudig von Stellen der Dichter,
die zu heilen oder zu erklären ihm gelungen sei, oder von literarischen
Zusammenhängen, die ihm aufgegangen seien. Aber verarbeitet hat er
davon nichts, unbeirrt dadurch, daß ihn Fernerstehende nicht mehr als
Philologen rechneten, und trotz des mahnenden Zuredens von Usener,
Albrecht Dieterich XXXVII
dem kein Religionsforscher genug Philologe sein konnte. Dieterich ging
seine eigenen Wege, weil ihm andere Dinge mehr auf dem Herzen brannten.
Zunächst wollte er den „Untergang der antiken Religion" fertig stellen.
„Und dann kommt die »Genesis des Christentums* und das , Leben Jesu*.
Zuerst natürlich die Biographie (Üseners), die ich mir vorgenommen und
gestern eingehend disponiert habe" schrieb er im August 1907 an seine
Frau. Diese Werke sollten seine religionsgeschichtlichen Untersuchungen
in der Höhe krönen, wie das Buch über Volksreligion in der Tiefe das
Fundament sein sollte. „Ist es mir vergönnt, das alles noch zu voll-
enden, dann will ich mit meinem Leben zufrieden sein", sagte er kurz
vor seinem Tode. Es war ihm nicht beschieden; er wurde abgerufen,
ehe sein Lebenswerk auch nur halb vollendet war. Und vieles davon
wird für alle Zeiten unvollendet bleiben.
Aber nicht verloren ist das, was er seinen Schülern eingepflanzt
hat. Er erinnerte gern an das schöne Wort Useners: „Nur das im
Menschen ist dauernd, was in den Herzen anderer fortlebt." Auch Die-
terich versuchte das, was er seinen Schülern gab, so eindringlich zu
gestalten, daß es wirklich zu Herzen ging. Und nicht nur eindringlich,
sondern auch wissenschaftlich ehrlich wollte er seinen Vortrag. Darum
bereitete er sich für Kollegia und Übungen stets sorgfältig vor; lieber
kürzte er den Schlaf, als daß er sich mit dem Schein einer Lösung zu-
frieden gegeben hätte. Die Vorlesungen arbeitete er in der späteren
Zeit nicht mehr wörtlich aus, sondern zeichnete nur einzelne Stichworte
auf, so daß er, wenn er dieselbe Vorlesung von neuem las, auch die
Mühe des neuen Durchdenkens hatte. So war sein Vortrag vor dem
Kleben am Manuskript bewahrt; er sprach fast völlig frei, mit starkem
Temperament, getragen von dem Glauben an die eigene Sache. Auch
improvisierte er, wenn ihn der Gegenstand fortriß und ihm neue Ge-
danken zuführte. Er konnte das wagen, da ihm die Worte leicht flössen
und sich von selbst zu prägnanten Wendungen und treffenden Bildern
gestalteten. Unterstützt wurde sein Vortrag von einer melodischen Stimme,
die jedem Affekte gehorchte; es war unmöglich, mit dieser Stimme et-
was Langweiliges zu sagen. Am glänzendsten war sein Vortrag, wenn
er nach Abschluß einer Interpretation die erklärte Stelle in seiner eigenen
Übersetzung vorlas; die dichterische Veranlagung befähigte ihn, die wirk-
same Form zu finden und sie mit dem heiligen Ernste des Aischylos ebenso
zu erfüllen wie mit dem frechen Spott des Aristophanes. Und wie Dieterich
sprach, so schrieb er auch: innerlich überzeugt, anschaulich, packend. Nur
sprudeln in den ersten Büchern die Worte noch jugendlich empor,
während sie in den späteren Werken klarer und ruhiger dahinfließen.
XXXVIII Albrecht Dieterich
Den Fehler, mit diesen rednerischen und stilistischen Vorzügen
glänzen zu wollen, hat Dieterich sich stets gemüht zu meiden; es lag
ihm daran, nicht der äußeren Form die innere Sachlichkeit preiszugeben.
Stets hat er auch an sich gearbeitet, von der unwillkürlichen Neigung
seines Temperaments freizukommen, daß er in der Freude über eine
glänzende Kombination die Gegeninstanzen gering achtete; wer die Ar-
beitsweise seiner Bücher verfolgt, wird wahrnehmen, wie er mit den
Jahren vorsichtiger und umsichtiger geworden ist. Wie er gegen sich
selbst streng war, so verlangte er auch von seinen Zuhörern strenge
Schulung des eigenen Denkens und Wollens zu rücksichtsloser wissen-
schaftlicher Ehrlichkeit. Immer wieder wies er auf die Notwendigkeit
genauen und vollständigen Verständnisses der Texte hin, wie es nur bei
solidem grammatischem Wissen und sorgfältiger philologischer Inter-
pretation möglich ist; das waren ihm die Grundlagen, ohne die ihm
eine wissenschaftliche Betätigung überhaupt nicht denkbar war. Den
Schülern, die das Wohltätige dieser Zucht anerkannten und sich ihm
voll Vertrauen anschlössen, stellte er sich mit allem, was er ihnen geben
konnte, zur Verfügung: mit seinem Rat, nicht nur in wissenschaftlichen
Dingen, und mit seiner Zeit. Für seine Schüler war er stets zu haben,
freundlich empfing er sie, auch wenn sie unangesagt zu stundenlanger
Besprechung kamen und er deshalb eine lang geplante Erholung auf-
geben mußte. Gerne zog er sie in sein gastfreies Haus. „Erst werden
dreimal Studenten eingeladen, dann einmal die anderen" war sein
Grundsatz. Hier im Hause suchte er ihnen das Heim zu ersetzen, das
viele während des Semesters entbehren mußten. Ungezwungen gab
er sich den soviel Jüngeren hin; die Anrede „Herr Geheimrat**,
die ihm in der letzten Zeit von Titels wegen zukam, war verpönt. Er
wußte seine Gäste zum offenen Plaudern zu bringen und war fröhlich
mit den Fröhlichen. Dabei klang im Gespräch doch der ideale Ton
durch, auf den er das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler gestimmt
wissen wollte; zusammen sollten sie ein epavoc nach platonischem Vor-
bild sein, geeint im ernsten Streben nach edelster wissenschaftlicher
Erkenntnis. Die Begeisterung, mit der Dieterich diese seine Auffassung
von der Aufgabe des Lehrers vertrat, ist vielleicht das Beste gewesen,
was er den Philologen, die durch seine Schule gingen, mitgegeben hat;
wer dafür offenes Gehör hatte, der ist auch seinen Schülern wieder
ein guter Lehrer geworden. Was sie Dieterich verdankten, wußten die
Heidelberger Studenten wohl. „Es ist, als wäre uns der Vater ge-
storben**, war ihre Stimmung in jenen Maitagen; für einen Lehrer die
schönste Grabschrift. Sie haben es ihm auch später durch eine ergrei-
Albrecht Dieterich XXXIX
fende Trauerfeier gedankt, bei der Aischylos Agamemnon aufgeführt
wurde. Der Schluß war als Threnos gestaltet; die Klage um den
gefallenen Fürsten mit ihrer sich von selbst einstellenden Beziehung
wirkte erschütternd.
Wo Albrecht Dieterich hinkam, erwarb er sich Freunde: auf der
Schule, als Student, im Süden, unter den Dozenten, deren Kollege er
war. Seine freundliche, ungezwungene Art, sein sonniges Lachen ge-
wann sofort die Herzen. Die heitere, humorvolle Überlegenheit über
die Kleinlichkeiten des Daseins, seine starke Lebensfreude machte den
Gleichgesinnten bald mit ihm vertraut. Seine Begeisterung für alles
Schöne und Große riß mit sich fort, sein Ringen mit den höchsten und
letzten Problemen der Menschenseele erweckte den Drang zu gleich-
gerichteter Mitarbeit. Wo Dieterich solche Empfindungen fand, hat er
sie reich erwidert; es war ihm Bedürfnis, Freunde zu haben. Wer
sich Dieterichs Freund nennen durfte, wird nie vergessen, was er ihm
verdankt für wissenschaftliche Erkenntnis und Durchbildung des inneren
Menschen. Wie für die Studenten, war Dieterich auch für die Freunde
von treuer Aufopferung; mochte er noch so bedrängt von Pflichten sein,
er suchte doch noch die Zeit, einen Dienst zu erweisen, um den er ge-
beten war. Am herrlichsten aber waren die Stunden, wenn Albrecht
Dieterich in vertraulicher Zwiesprache, über Raum und Zeit erhaben»
sein Inneres erschloß und alles, was dort webte und wogte, in un-
erschöpflicher Fülle zutage drängte; das war wie eine Art dionysischer
Ekstase. Sie erinnerte an die herrlichste antike Darstellung des Dio-
nysos in solcher Begeisterung, an das Marmorbild in Leyden; das
kannte Dieterich im Original und liebte es mehr als alle antike Plastik.
Darum schien es der richtige Schmuck für das Titelblatt diese Buches
zu sein.
Aber nicht pflegte Dieterich Freundschaft in jenem schwächlichen
Sinne, daß er um jeden Preis mit aller Welt hätte gut Freund sein
.mögen. Wo er selbstgefälligen Wissensdünkel, unehrliches Herumreden
um das, was ihm als Wahrheit galt, zu sehen glaubte, war er mit der
Ablehnung rasch bei der Hand, und seine Kritik konnte sehr scharfe
Formen annehmen. Auch da, wo er sich selbst und seine Sache an-
. gegriffen sah, hat er nicht immer sanft erwidert. Stets aber war er
darauf bedacht, die Person des Gegners zu schonen. Ebenso die Ge-
fühle Andersdenkender, was bei seinen Untersuchungen auf dem Gebiete
der Religion nicht immer leicht war. Aber als Sohn seines Vaters
hatte er vor dem Glauben anderer hohe Achtung. Nur das veriangte
er, daß man Glauben und Wissen scharf voneinander trennte; die histo-
XL Albrecht Dieterich
Tische Untersuchung durfte keine Rücksicht auf das religiöse Dogma
nehmen. Erst wenn durch die Forschung sicherer Grund gelegt war>
sollte auf diesem Grund der einzelne seine gefestigte und geläuterte
Weltanschauung aufbauen. Eine solche sich selbst zu gewinnen, war
er unermüdlich an der Arbeit. Während er nach außen im reichsten,
tätigsten Leben stand, suchte er im Innern die harmonische Eukosmie
der Seele. Sein Wahlspruch waren die schlichten Schlußworte des
platonischen Phaidros; dort lautet das Gebet des Sokrates: Oeoi, boitiie
jLioi KaXuj Y^vecGai ToivboGev.
SCHRIFTENVERZEICHNIS
Von Rezensionen und Artikeln der Realencyclopädie sind nur die wichtigsten
aufgenommen.
1888
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi, quam C. Leemans edidit
in papyrorum Graecarum tomo II (V), denuo edidit, commentario
critico instruxit, prolegomena scripsit A. D. Erweiterte Dissertation,
Jahrbücher für klass. Philol. Suppl. Bd. XVI 749-830. Die Prole-
gomena s. unten als Nr. I.
1891
Schlafszenen auf attischer Bühne, Rhein. Mus. XL VI 25-46. Unten Nr. IL
De hymnis Orphicis capitula quinque, Habilitationsschrift, Marburg, Elwert,
57 S. Unten Nr. IIL
Abraxas, Studien zur Religionsgeschichte des späteren Altertums. Teubner,
221 S.
1893
Die Zahl der Dramen des Aischylos, Rhein. Mus. XLVIII, 141-146.
Unten Nr. IV.
Über eine Szene der aristophanischen Wolken, Rhein. Mus. XLVIII,
275-283. Unten Nr. V.
Nekyia, Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalypse.
Teubner, 238 S.
Die Göttin Mise. Philol. LH 1-12. Unten Nr. VL
1894
Aischylos 13, Realencyclopädie I 1065-1084. Unten Nr. VIL
Albrecht Dieterich j^i i
1896
Die Grabschrift des Aberkios. Teubner, 55 S.
1897
Pulcinella, Pompeianische Wandgemälde und römische Satyrspiele. Teub-
ner, 307 S.
Über den Ursprung des Sarapis. Verh. der 44. Versammlung deutscher
Philologen und Schulmänner S. 31 ff. Unten Nr. VIII.
1900
Matris cena. In der Strena Helbigiana, S. 49-50. Unten Nr. IX.
Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius, Rhein. Mus. LV,
191-221. Unten Nr. X.
eOttTTeXiCTric, Zeitschr. für die neut. Wiss. I, 336-338. Unten Nr. XI.
Ein hessisches Zauberbuch, Blätter für Hess. Volksk., II, 5-7. Unten
Nr. XII.
1901
ABC -Denkmäler, Rhein. Mus. LVI, 77-105. Unten Nr. XIII.
Himmelsbriefe, Blätter für Hess. Volksk. III, 9-12. Unten Nr. XV.
1902
Die Religion desMithras, Bonner Jahrbücher 108/9, 26-41. Unten Nr. XVII.
Die Weisen aus dem Morgenlande, Ztschr. für die neut. Wiss. III, 1-14.
Unten Nr. XVIII.
Weitere Beobachtungen zu den Himmelsbriefen, Hess. Blätter für Volksk. I,
19-27. Unten Nr. XVI.
Über Wesen und Ziele der Volkskunde, Hess. Blätter für Volksk. I, 169-194.
Unten Nr. XIX.
1903
Eine Mithrasliturgie. Teubner, 230 S. 2. Auflage 1910.
Adolf Deißmann, Ein Originaldokument aus der diokletianischen Christen-
verfolgung. Besprochen Göttinger gel. Anz., S. 550-555.
Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart. Jahrbuch
des Freien Deutschen Hochstifts zu Frankfurt a. M., 124-135.
Unten Nr. XX.
1904
Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des N.T., Archiv für
Rel.-wiss. VII, 278 f.
Ein neues ABC -Denkmal, Archiv für Rel.-wiss. VII, 524-529. Unten
Nr. XIV.
1905
Mutter Erde. Teubner, 123 S.
Albrecht Dielerich: Kleine Schriften. C*
XLII Albrecht Dieterich
Griechische und römische Religion (1903) 1904, 1905, Archiv für Rel-
wiss. Vm, 474-510.
Sommertag, Archiv für Rel.-wiss. VIII, Beiheft, 38 S. Unten Nr. XXI.
Enneakrunos, Archiv für Rel.-wiss. VIII, 156. Unten Nr. XXII.
Hermann Usener, Archiv für Rel.-wiss. VIII, I-XI. Unten Nr. XXIII.
Euripides 4, Realencylcopädie VI, 1242-1281. Unten Nr. XXIV.
E. Preuschen, Mönchtum und Sarapiskult. Besprochen Berl. philolog.
Wochenschr., Sp. 13-20.
1906
XMr, Berl. philol. V^ochenschr., 510. Unten Nr. XXV.
OöXoc oveipoc, Archiv für Rel.-wiss. IX, 147-148. Unten Nr. XXVI.
1908
AIKA, Archiv für Rel.-wiss. XI, 159-160. Unten Nr. XXVII.
Die Entstehung der Tragödie, Archiv für Rel.-wiss. XI, 163-198. Unten
Nr. XXVIII.
Inedita
Der Ritus der verhüllten Hände. Unten Nr. XXIX.
Der Untergang der antiken Religion. Unten Nr. XXX.
I
PAPYRUS MAGICA MUSEI LUGDUNENSIS BATAVI
PROLEGOMENA^ 749
Terra mater in dies plures prodit thensauros filiis philologis. Aegyp-
tiorum sepülcra minus exspectata quam multa plane inexspectata ad
lucem misere.
Libri magici graeci in papyris scripti, quorum primi anno 1865 editi
sunt, nunc iam octo prostant, postquam Carolus Wessely hoc ipso anno
quattuor huiusmodi Chartas publici iuris fecit: plane nouum litterarum
genus.
Hae sunt papyri:
pap. Berolinensis I ed. G. Parthey in act. acad. litter. Berol. 1865 p.
120 sqq.
pap. Berolinensis II ib. p. 150 sqq.
pap. mus. Lugdun. Bataui J 384 (V) ed. C. Leemans in pap. graec.
mus. Lugd. Bat. II 1885 p. 10 sqq.
pap. mus. Lugd. Bat. J 395 (W) ib. p. 82 sqq.
pap. Parisina (biblioth. nation.) ed. Carolus Wessely in: 'Denkschriften
der kaiserl. Acad. der Wissensch. zu Wien'. Phil.-hist. Classe. XXXVI.
1888 p. 44 sqq.
pap. mus. britann. XLVL ib. p. 127 sqq.
pap. Mimaut du Louvre 2391 ib. p. 139 sqq.
pap. mus. britann. XLVII. ib. p. 149 sqq.*
Permultum adferunt nouae scientiae haec monumenta, quae omnia
quin gnostica sint i. e. doctrinam ac philosophiam illam quam uocare
* < Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi quam C. Leemans edidit
in papyrorum Graecarum tomo II (V). Denuo edidit commentario critico instruxit
prolegomena scripsit A. D. phil. dr., Jahrbücher für klass. Philol. Suppl. Bd. XVI
S. 749-830. Nur die Vorrede, bis S. 792, ist hier abgedruckt; die eigentliche
Ausgabe soll demnächst durch die Revision von K. Preisendanz in den bei
B. G. Teubner erscheinenden 'Griechischen Zauberpapyri* ersetzt werden.>
' Quod lias quattuor papyros statim typis expressas adhibere mihi licuit ad
mea studia, debeo Vseneri benignitati.
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 1
2 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
solemus gnosin sapiant iam dubitari nequit. discendum est ex his papyris
solis qualem re uera se praebuerit gnosis ut ita dicam uolgaris; in-
tellegendum quanta ac qualis fuerit deorum ac religionum commixtio
illis saeculis. ac fundamento sint oportet hae chartae, si quis de natura
atque historia superstitionum antiquarum quaerere uelit. accedit quod
ad linguam graecam huius aetatis pernoscendam adhuc misere neglectam
permulta insunt utilissima.
Nee uero ulla res iam consummata est, dum incipit: attamen in-
cipienda est.
Papyrus musei Lugdun. Bat, J 384 digna est quae seorsum tractetur.
750 quam emendandam et explicandam proposuit proximo anno ordo philo-
sophorum Bonnensium. praemium merui. ac papyrum editurus emen-
datam ut certiore uterer fundamento, ipse denuo contuli in museo
Lugdunensi Batauo, ubi Chartas liberrime adhibere Leemansii singulari
benignitate mihi licuit.
Sane non est obliuiscendum Leemansii, Aegyptologi celeberrjmi,
egregie de hoc monumento meriti, qui primus papyri litteras legit atque
enucleauit. retractare multo facilius, sed hoc esse retractandum uix
quisquam negabit homo philologus.
Hac quidem papyro usus exemplo ac protypo id egi, ut illustrarem
omne hoc litterarum genus, ut historiam ac naturam librorum magicorum
eorumque originem patefacerem. nee non uolui quo modo cum aliis
libris ac monumentis haec coniuncta sint adumbrare ac notis grammaticis
subiunctis aliisque indiculis parare ad usum utilem hoc quidem monu-
mentum. quantum fructus ad singulas res superstitiosas antiquas per-
noscendas hinc capiendum esset, primo impetu congerere non potui.
nee in ea quae tractanda sunt Aegyptologis - optime hanc quidem
prouinciam Leemansius adnotationibus editioni adsertis administrare
coepit - inquirere potui; pauca adnotaui quamuis manca, ne necessaria
omitterem.
Papyrus musei Lugdunensis Bataui J 384 uidetur inuenta esse in
sepulcro Thebano. quam J. d'Anastasy, qui legati Suedici munere funge-
batur Alexandriae, acceptam olim ab Arabibus postea tradidit Batauis
una cum aliis papyris; quo factum est, ut prior pars chartae usque
ad p.VII anno 1828, posterior anno 1830 transueherentur Leidam, ubi nunc
utraque pars inter tabulas uitreas pressa diligentissime seruatur. quoniam
pap. J 383 Thebis inuentam esse constat, ibidem positam fuisse et hanc
apparet, cuius fragmenta cum illa coniuncta ac mixta deferebantur.^
* Cf. Leemans. pap. graec. II p. 6.
Papyrus magfica musei Lug-dunensis Batavi 3
ac sl reputabimus, ubinam maiores quidem chartae in Aegypto inueniri
soleant, statuere licebit in sepulcro positam fuisse papyrum. memineris
uerborum Plinii de Democrito dictorum, qui Dardani magi uolumina ex
eius sepulcro petiisse fertur.*
Tredecim plenae paginae graecae scriptae sunt in papyro, praemissae
uero duae, adnexae quattuor demoticae, quibus fragmenta graeca nimis
lacera inserta sunt, de demoticis quae neglego uide Leemansii monum.
Aegypt. II, tab. CCXXVI et CCXXVII
I DE PAPYRORUM MAGICARUM NATURA ATQUE HISTORIA 751
1 DE UBRIS PSEUDEPIGRAPHIS
Papyrus est über magicus. formulis uero magicis et incantationibus
alchymica et astrologica inserta sunt fragmenta ita ut quam arte
coniunctae fuerint olim hae artes superstitiosae uideamus* quorum
librorum magicorum indolem ac naturam luculentius perspiciemus, si
de scriptis hisce et scriptoribus nonnulla antiquitus tradita conscrip-
serimus.
Magicos libros et Lucianus memorat ut in Philops. par. 39, ubi
dicentem facit magum Upd xiva ^k ßißXou TraXaiäc 6vö|LiaTa eTrrd —
et ib. 57, ubi incantator rdc ßißXouc Xaßibv addit: eici be luoi AiTUTTTiai
ludXa TToXXai Trepi täv toioutujv. Paulus in sentent. libr. V tit. XXIII
statuit, ne quis apud se habeat 'libros magicae artis'. postea
Ammianus Marcellinus XXIX 1, cum anno 371 sub Valente a Christianis
magos uexatos et caesos esse tradat, addit haec: 'congesti innumeri
Codices et acerui uoluminum multi sub conspectu iudicum concremati
sunt e domibus eruti uariis ut illiciti ad leniendam caesorum inuidiam'
et tum: Mnde factum est per orientales prouincias ut omnes metu
similium exurerent libraria omnia: tantus uniuersos inuaserat terror'.
nee obliuiscaris narrari iam in act. apostol. 19, 19 christianos Ephesios con-
cremasse magorum xdc ßißXouc, quae pretio aequasse L milia drachmarum
feruntur.
Tales Codices seruatos nunc habemus similesque putes, quos Dio-
cletianum maximam partem alchymicos in Aegypto cremari iussisse
* Hie sensus sit oportet loci libr. XXX 9, quamquam libri plerique
tradunt 'uoluminibus Dardani in sepulcrum eius petitis', unus tantum codex
'a sepulcro*.
* Cf. Vsener, 'De Stephano Alex/ ind. lect. Bonn. aest. 1879 p. 9.
4 Papyrus magica musei Lugd'uneiisis Batavi
tradunt Suidas aliique.^ multi uero Codices eiusmodi chemici adhuc
seruantur in bibliothecis, plurimi nondum publici iuris facti.
Permulti magici argumenti libri apud scriptores commemorati, qui
modo maxime uario inscribuntur, attribuuntur scriptorum nominibus
siue ignotis siue notissimis. ac quoniam partes papyrorum ipsarum
uidemus adscriptas huiusce generis auctoribus, nonnulla colligantur, ut
quid de hac re iudicandum sit, intellegamus. incipiamus a nominibus,
quae in pap. V occurrunt.
p. VI 16 figura in linteolo delineanda est kqt' 'OcrdvTiv. permultis
752locis commemoratur ille Ostanes uel Osthanes uel Hostanes apud
scriptores posterioris aeui ut Plinium Apuleium Suidam, medicos auc-
tores et ecclesiasticos^ qui fuerit summus magus, qui primus de magica
arte sit commentatus, qui libros non modo magicos sed etiam chemicos^
et astrologicos scripserit. quasi dux habetur et archegetes artis prae-
cipue magicae. nee quidquam ualet, quod alterum Ostanem tradunt
Xerxem comitatum uelut semina artis portentosae insparsisse Graeciae,
alterum Ostanem Alexandrum magnum secutum orbem terrarum pera-
grasse et artem propagasse.'^ uides enim, quomodo et Graeci et barbari
clarissimum magum sibi magistrum acquisiuerint. notandum est praeterea
in pap. Paris, u. 2006 praecepta magica ornata esse titulo ßaciXei 'OcTctvri
TTiTuc xaipeiv. iam rex est hariolator!
Praeceptor erat Ostanes Democriti^ cuius fama paene aequauit
praeceptorem. cui in pap. V (p. XI 1) adscribitur C9aTpa illa iatro-
mathematica: ttpotvujctiköv lu)r\c xai Gavarou. clarissimum uero Abderitam
non licere in hanc nebulonum societatem deducere intellexerunt. etenim
iam ante Plinii aetatem coepit Democriti nomen adscribi libellis super-
stitiosis": impostores haud pauci primis p. Chr. saeculis opera sua cele-
brato nomine ornarunt magi astrologi medici geoponici imprimis chemici;
* Vid. Kopp, 'Beiträge zur Gesch. der Chemie' p. 87.
' Contulit locos Wessely ad pap. Parisin. 1. c. p. 95. praeterea nonnulla apud
Diltheyum M. Rh. 27 p. 386 et in iis quae Berthelot disseruit in: 'Journal des
Savants. Sept. 1884' p. 525 sqq. de Democrito et alchymia. apud Herodotum
VII 63 iam Ostanem nominari ineptum est dicere. 'Kicciuuv bi fjpxe 'Avdqpric
6 'Oxdveuj' cf. 61. hoc simile nomen illic memoratum ansam dedisse famae illi
de Ostane Xerxis comite qui suspicatur, ineptit.
' Vide imprimis quae Kopp, Beitr. p. 407 sqq. disseruit.
* Vtramque narratiunculam prolatam habes apud Plinium h. n. XXX 8 et 11.
'^ Synes. in epist. ad Dioscorum. Fabric. bibl. graec. (pr. ed.) VlII p. 233:
[AniuiÖKpiTOcl ^|LiucTaYi«Ti1Öil irapa toö jaeYoiXou 'Ocrdvou ^v tiu iepiu rfic M^iucpeiuc.
* Antiqui ipsi doctiores fraudem diuinarunt: uide Gell. X 12: 'his praestigiis
atque portentis a Plinio secundo scriptis non dignum esse cognomen Democriti
puto*. — 'multa autem uidentur ab hominibus istis male sollertibus huiuscemodi
commenta in Democriti nomen data nobilitatis auctoritatisque eins perfugio
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi c
quasi Über librorum erat AninoKpiTou 9uciKd Kai iliuctikoi.^ utrum et
Laertii Diogenis indicem librorum philosophi iam irrepserit fama mendosa
uix diiudices: dicitur scripsisse de lapidibus, herbis, de liquoribus
(Tiepi X^MiI^v), qualia et postea ei supposuerunt. forti tribuas, quod
apud Diogenem ei über ttpötvujcic inter medica scripta (IX 43) uindicatur.
nolo uero actam rem agere post ea quae Kopp^ et Berthelot ^ compo-
suere nisi quod fortius affirmo in bis farraginibus nil esse Democriti753
neque ueteris neque recentis nisi uanum nomen, in quod fortasse in-
cidere, quod clari philosophi libri similiter inscripti innotuerant.
In pap. p. IV 15 öveipoTTOinTTLu adduntur uerba: toutuj Kai 'AttoWuu-
ßnH expäio. Plinius uero (1. XXX 9) tradit: 'Democritus Apollobechen
Coptiten - inlustrauit — '. idem nomen, quod nunc in Plinio coniec-
tandi cupidis ereptum est, aliunde non notum. neque alia quae in
pap. V citantur magorum nomina occurrunt, quod sciam, in aliis aut
chartis aut libris. nisi forte 'ATaöoKXfic, cui et ipsi p. IV 1 öveipo-
Tro)Li7TÖc tribuitur, idem uidetur qui ap. Varr. R. R. 11 et ap. Colum.
R. R. I 1 memoratur geoponicus.^ tertius qui oveipoTroiuTToO auctor
esse dicitur p. IV 15 ZiuTvic Tentyrita plane ignotus itemque OupßiKoO,
qui TUJ ^€TaXtu Ouqpiup ^xpa^o (p. X 6), gloria nos latet. nee minus
'HjLiepiou (p. III 23), qui quomodo atramenti genus quoddam parandum
esset docuit, exstincta est memoria, uix enim 'l)uepiov quendam subesse
licet suspicari.
Sed sunt nomina in ceteris papyris, quae notissima et in his rebus
utique sint celeberrima. quid quod legis in pap. Paris, u. 886: xd
ovöfiata, ä Ifpavi^ev ev 'HXiouTTÖXei 6 Tpic|neTicToc '€p|ufic lepo-
•fXucpiKoTc Tpam^ctciv? ac si addideris Plutarchi uerba in libro de Is.
et Os. c. 61 ev be xaTc *Gp|LioO XeTOfnevaic ßißXoic icxopoOci TeTpaqpÖai
TTcpi xOuv i€pu)v 6vo|udxu)v, intelleges eundem citari libellum. aliud uero
citatur opus in pap. Leid. W I 12: eK be xauxric xnc ßißXou 'GpMnc
KXevi/ac xd ^7Ti0u)Liaxa irpocecpiüvricev ^auxoO lepa ßOßXtu diriKaXoujuevr)
TTxe'puTi. praeterea paene innumera Hermetis scripta apud scriptores
adducuntur, quae non iuuat hie repetere^; memineris tantum quod
utentibus.' cf. Columell. VII 5: 'Aegyptiae gentis auctor memorabilis, Bolus
Mendesius, cuius commenta, quae appellantur graece ÖTro|iivri)uaTa, sub nomine
Democriti falso produntur/
» Cf.Vsener, M.Rh. 26 p. 157.
* Beitr. p. 108 sqq.
* Journ des Sav. Sept. 1884. 'Les origines de l'alchimie et des oeuvres
attribu6es ä D6mocrite d'Abdöre' p. 517 sqq.
* Agathocles uarios uide apud Fabricium in bibl. gr. (ed. Harles.) III p. 459.
^ Vide Parthey ad Plut. Is. et Os. p. 255 et Pietschmann, Hermes tris-
megistus. Leipzig 1875 p. 34 sqq. et 41 sqq. Kopp, Beitr. p. 367 sqq.
^ Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
lamblichus de myster. 8, 1 Manethonem tradit numerasse dei 36 525
opera, quem numerum ad chronologiam pertinere optime illustrauit
Boeckhius.^ iam enim constat iudicium de hoc scriptore calami acer-
rimi: imprimis a 2 p. Chr. saeculo impostores in Aegypto^ ubi Hermes,
qui Graecis et ipse magorum patronus colebatur, erat Thoth litterarum
deus, aduocabant auctorem diuinum suis misellis farraginibus: nee pudet
referre etiam Arabes et postea medii aeui homines doctos ut Albertum
magnum scripta Hermetica memorasse.'^
Non defuere qui interpretes exsisterent dei scriptoris uelut Bituc
Trpo<pr|TTic (lambl. de myst. 8, 5 et 10, 7)- quem alioquin ignotum esse
censet Parthey (ad lambl. 8, 5). immo vero Bithus etsi apud Plinium
754uocatur Durrachenus (28, 82), idem esse uidetur. nunc licet apponere
pap. Parisinae locos; u. 2140 TTixuoc 0€cca\ou dvotKpicic, u. 1928
(XTUüYn TTiTuoc ßaciXeujc, u. 2006 TTituoc öTUJTri' ßaciXei 'Ocxdvr] TTituc
X«ipeiv: sunt tituli praeceptorum magicorum. ac si dubitari nequit
quin idem sit numen, eo luculentius uides minime certis circumscriptos
esse finibus illos auctores. adde insuper, quod Eusebius (I 200) Bitem
raemorat Aegypti regem antiquissimum.
Similia atque Hermae adscribuntur opera Orpheo, interdum eadem
et Hermae et Orpheo.* notanda pap. Leid. W uerba p. XXI u. 21 :
ujc 6 0eoXÖTOc 'Opq)€uc TrapebujKev biet Tfjc irapacTixiboc ibiac. atque
in pag. eadem u. 34 citantur Erotyli aliunde ignoti Orphica. plurimis
sCriptorum locis occurrit Orpheus magicus scriptor^ praeterea notum
est, quanta operum multitudo Orpheo adscripta fuerit: congessere Lo-
beckius in Aglaophamo, G. Hermannus et E. Abelius in Orphicis.^ quae
Orphica quam arte coniuncta sint cum his schedis magicis, postea
docendum; ac fortasse iam sentis, quid adferri possit utilitatis illis
Orphicis diiudicandis ex his studiis.
Et alia nomina graecae originis inueniuntur. pap. Paris. 1716 Hi(poc
Aapbdvou' TTpäSic x] KaXou|uevT) Hicpoc. satis sit aduocare Plinium
(30, 9), qui Dardani magi uolumina a Democrito illustrata esse docet;
quin ^Dardaniae artes' sunt artes magicae ap. Columellam (R. R. X 358).^
€urivoc, cuius dTro|avii)Liov€U|LiaTa laudantur in pap. Leid. W p. 22, 16,
^ Manetho p. 17. * Pietschmann 1. c. p. 35.
' Pietschmann 1. c. p. 47 et 58.
* Cf. Parthey ad pap. Berol. I u. 305 et 308.
^ Imprimis ap. Plinium h. n. 7, 203; 20, 32; 25, 12 (de herbis); 28, 34 et 43;
34, 7. Tzetza eidem Orpheo scripta astrologica magica epodica et hymnos
attribuit. cf. Abel, Lithica p. 2.
® Chemica quaedam tradi sub Orphei nomine adnot. Kopp, Beitr. p. 387.
' Cf. Dilthey, M. Rh. 27 p. 386 sqq.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 7
non potest comparari cum Eueno ullo aliunde noto^ nee non ignotus
'€TTacppöbiToc, qui citatur in pap. Par. u. 2429.^ si uero in diffuso
papyri W loco (p. XXII 31) scriptum fuisse legimus ev rrj e' tiuv
TTToXnaiKUJV, plus proficimus; scimus Ptolemaeo VH Physcöni (Euer-
getae II) uTTO^vr^aia uiginti quattuor librorum attributa esse, quibus
miracula naturae tractabantur^; fuerat enim rex ille Verum mirabilium
curiosissimus inuestigator'.* mirum quod statim post illa uerba citatur
TravdpeTOc ßißXoc^ (23, 1), quo titulo inscribitur apud scriptores 755
ecclesiasticos über qui inscribi solet 'cocpia Cipdx'. Siraci libellus uor-
tebatur in graecum sermonem in Aegypto regente Ptolemaeo Euergeta®:
notus erat haud dubie in Aegypto aeque ac uersio LXX uirorum (cf.
infra). itaque etsi non illum ipsum librum respexit compilator super-
stitiosus, tamen titulum usurpauit auctoritate ornatum.
Ac multo clariores aduocauere Hebraeorum scriptores: papyri W
prima pars inscribitur ßißXoc lepd erriKaXoujLievri Movdc x] dfhox]
Moüceuuc (I 1). mirentur theologi. qui liber saepius adhibetur:
p. VIII 30: Movdba ßißXov, f\v oubeic icxuce |Lie0ep)nTiveOcai f| ixpätai
et p. XVI 28: Moüce'ujc Movdc ti' Kai u7TÖ|uvTi|ua dmKaXou)LidvTi eixTälijjvoc
et XVI 35: Moücecüc drrÖKpuqpoc r]'. multaque alia scripta tribuere
prophetae ludaeo, quae uocantur *ApxaTT€XiKri (W 22, 22), CeXr]viaKri
(W 25, 13), d7TÖKpu(poc r\ beKdin (W 25, 33)" nee uidentur non ad
Mosen esse referenda uerba (W 22, 27) ev tuj Nojuiu - dßpaicTi.
longe uero omnium saepissime citatur libellus qui uocatur KXeic
(W I 19. 29. 34, II 16, VI 17, IX 39, X 41, XVI 41). idem Moses
celebratur ut alchymista librosque chemicos composuisse fertur.^ iuuat
referre eadem scripta Mosis citari in libris saeculi XVI theodiscis, qui
» Faüric, Bibl. gr. (ed. Harl.) IV p. 474. « Ibid. V p. 65.
" Apud Athenaeum plurimis locis: XIV 654^, II 43 e, VI 229d et al. uide
Hommel in libro qui inscribitur 'die äthiopische Übersetzung des Physiologus'.
Ups. 1877 p. XII et XXXII. ^ Pitra spicileg. Solesm. III p. LV.
^ Sunt uerba haece: üjc b^ ^v t^ e' tujv TlToXiLialLKiJuv || ^v Kai xö iräv ^iri-
Tpaq)ön€vov uavap^xtu ßißXiu irepi^xei ktX. Estne quintus Ptolemaicorum liber
idem ac TTavdperoc an non? locus paene desperatus. placetne scribere: ^v vi]
€' TÜJv TTToX|LiaiKOüv Kai ^v ttJ ^iriTpacpoiLidvT^ TTavap. ßißXtu. an mauis: — ||, ^v —
Kai TÖ TTäv tmypa(p6pL€vov — TTavap^xiu ßißXiu (cf. modum citandi p. W22, 9)?
an aliud inest, si reputas philosophum illum, cui Ptolemaeus Euergetes annua
XIl talenta dedit, nomine usum esse Panareto (Athenaeus XII 552 c)? uix credo.
[ibc bt iv xfi e' tüjv TTToXeiuaiKuiv <Tfi> tö gv xai Träv ^TriTpaqpoia^vTi iravap^TUJ
(oder besser TTavaperou) ßißXuj Häberlin, Deutsche Lit. Zeit. 1889, 1822.1
• Vide uerba prologi Siraci iunioris: ^v fäp tüj öfböw Kai TpiaKocxOi Ixei
^ttI toö 60€pT^TOU ßaciX^iuc irapaTevnOelc eic Aitutttov Kai cuTXPOvicac ktX.
' Legendum dtrÖKpuqpoc 1^ beKäxt], non n' ^e^. uel fi uel i'.
* Kopp, Beitr. p. 396 sqq.
g Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
uocantur *Fausts höllenzwang' : 'aus dem VI- und VII. Buch Mosis bibliae
magicae'.^ quid mirum, quod etSalomonis regis sapientissimi nomen
hie occurrit? CoXo|liOuvoc xaTaTTTOJCic xai im iTaibiuv Kai reXeiiuv ttoi-
oOca inscribitur pap. Parisinae particula (u. 850). paullo autem alio
modo recurrit in u. 3040: öpKiZ:iJu ce Kaxa xfic ccppaTiöoc fic €06X0
CoXojLiiuv eTTi xfjv f^üjccav xoO 'Iripejuiou! nee alibi exstineta est me-
moria Salomonis magi, euius formulis utentes apud losephum (ant. 8,
2, 5) ineantant.^ adnotare liceat regem simili modo rerum mirabilium
seriptorem aduoeari in physiologo quodam.^
Nee uero solum ludaeorum uiri sapientes admouentur, etiam
Zujpodcxpric ö TTepcric (W p. 22, 19), Parsorum arehegeta. qui qui-
dem haud raro rerum magiearum — saepissime apud Plinium - geo-
poniearum (Geopon. I p. LXXIV ed. Nielas) aliarum auetor eommemoratur.
apud Lueianum in neeyom. e. 6 prodit aliquis xüuv ludTUJV xujv Zujpo-
756acxpou juaGrixüJV Kai biaböxtuv.^ de quo quanta hariolati sint |docet
Plut. de Is. et Os. e. 46: Ziupodcxpric 6 jidtoc, öv irevxaKicxiXioic execi
Tujv TpuiKiüv T^TOvevai TTpecßuxepov kxopoOciv. atque aliorum librorum
relieta est memoria: Prodieiani gnostiei gloriabantur se habere Zoroastris
Apoealypses, opus astrologieum et theurgieum^; Proelus ad Plat. rem
publ. laudat eiusdem irepi cpuceuuc IV libros ad Cyrum regem.^
Minus autem noti Aegyptii sunt qui laudem in his rebus sibi eom-
pararunt. in pap. W 22, 9 eitatur Ocpfi lepoTpaniLiaxeuc — ev xrj TTpöc
'ßxov ßaciXea, in pap. Paris- 154 Neqpiuxric YajuinTixixtu ßaciXei. neuter
aliunde innotuit. sed si papyro Par. inde a u. 3007 insertum est irpoc
bai|LioviZ:o)U€Vouc TTißrixeiuc bÖKi|Liov, TTißnxnc non dubium quin idem
Sit ae TTißrixioc uel 'Girißrixioc, qui persaepe laudatur inter auetores
ehemieos.' ne MaveGuuc quidem effugit impostores: pap. W 1, 21:
xaOxa be 6 MaveGübc IXeyev ibia ßißXuj. et astrologi et ehemiei eum
aduoeauere*: quot autem tituli librorum Manethonis^, qui eitantur,
genuini sint, quot hue dueendi - suspieiosa mihi lepd ßißXoc, irepi
* Vide ap. Wuttke 'Der deutsche Volksaberglaube* p. 176 adn. 1.
' Anno 1850 prodiit liber nefarius magicus, qui excerptus esse affirmatur
'aus dem grossen buche Sälomos' Wuttke 1. c. p. 178 adn. 1. quanta uanitatis
assiduitas!
' In physiologo island. apud Hommel. 1. c. p. 101 sqq.
* Cf. paene eadem uerba apud Plut. rrepi tOüv ^KXeXoiirÖTtjüv xpncTrjpiwv c. X.
* Vid. Matter, Histoire du gnosticisme. II p. 263.
«Ed. R. Schoell in Anecd. var. graec. et lat. edd. R. Schoell et G. Stude-
mund. II. Berol. 1886. p. 59, 32.
' Vide quae collegit Kopp, Beitr. p. 188. p. 47 nominis formae TTißrixioc —
TTiß/ixic — TTißrixnc alia ex alia ortae esse uidentur. * Kopp, Beitr. p. 50.
» Vide catalogum ap. Parthey. ad Plut. Is. et Os. p. 180.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 9
KaiacKeufic Kuqpiujv - non uelim diiudicare, quoniam et Boeckhius se
nunquam rem tractasse fatetur hac confusiorem.^
Habes auctores magicos, qui in papyris occurrunt. magnus praeterea
numerus congeri potest nominum passim citatorum. notissimi sunt
fabulosi illi Nechepso et Petosiris, notus Damigeron^; et Chaeremonis
nomen arripuere, qui stoicus erat philosophus^: in Plin. h. n. XXXVI,
89 uocatur Chaeremon spado Necthebis, qui ipse est celeberrimus ille
rex Necta^ebus^ cuius nomen et restituas epistolae illi Porphyrii,
quae praemissa Pseud.-Iamblichi libro de mysteriis uulgo tribuitur Ane-
boni cuidam. ^ Mosi interdum adnectuntur lannes et lambres scriptores,
qui iam in Paul. ep. ad Timoth. II 3, 8 occurrunt: lannes recurrit apud
Plinium (XXX 11)" et Apuleium de mag c. 90, lanni et lambri liber757
adscribitur in Orig. tract. in Matth. 35 p. 193. sed quid iuuat nomina
plura conferre? cui bono referam nomina (multa semel incertis litteris
tradita) nisi quid obseruari potest? uelut adnotare liceat illum Tar-
moendam ap. Plin. XXX 5 et Carinondam' ap. Apul. de mag. c. 90 et
fortasse Parmoenem, qui fertur ad Traianum imperatorem de rebus
superstitiosis epistolam dedisse^ eundem esse hominem mihi uideri. .
Iam satis multa collecta sunt, ut iudicium possimus proferre de hac
re memorabili. primis post Christum saeculis in Aegypto compilatores
superstitiosi nomina congessere celebrata ex omni orbe terrarum, ut
auctoritate fucata probarent misella ipsorum opera plebi nimis credulae.
apparet igitur ne frustulum quidem genuinum esse nee unum ex illis
homuncionibus re uera usum fuisse tali nomine.
Ac reputandum quantopere gnostici illa aetate Graecorum et Aegyp-
tiorum, ludaeorum et Parthorum religiones congesserint ac docendum
* Manetho p. 10.
' Geoponicorum lapidarii aliorum auctor. cf. M. Rh. 27, 386.
' Vix discerni potest, quot tituli allati ueri quot mystici sint. uide Zelleri
dissert. in Herma XI 430 — 433, qui omnia eidem Chaeremoni philosopho re
uera imputare uult.
* Cf. M. Rh. 27, 387. lÜber Nectanebus vgl. Pseudo-Callisthenes <Ad. Aus-
feld, Der griech. Alexanderroman 30ff.>. Auch Jul. Valer. cap. 4.)
' Cf. Euseb. pr. eu. 14, 10: duö Tfic irpöc NeKxaveßüj töv AItOtttiov ^iricroXfic
TTopqpupiou. uide adnot. Partheyi ad locum in editione lamblichi.
* Verba Plinii: 'factio a Mose et lanne et Lotapea ludaeis pendens*. paene
ueri similiter Hildebrand, ad Apul. II p. 615 uoci Lotapea a codd. uario modo
traditae subesse censet 'lambre'. sed cauendum est. nondum omnes papyri
ad lucem protractae sunt!
' [Ob Charondas? Gesetzgeber mit Zaleukos, siebentes Jahrhundert, aus
Katana, gab den chalkidischen Pflanzstädten Siziliens und Italiens Gesetze <Niese
bei Pauly-Wissowa III 2180ff.; s. jetzt Abt, Die Apologie des Apuleius, Rel.-
gesch. Vers. Vorarb. IV 2, 244f.>l
* Pitra analecta sacra spicilegio Solesmensi parata. tom. II p. 647.
fQ Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
erit ex omnibus illis et sententias et uerba manasse in hasce papyros.
insuper notum est homines et Graecos et ludaeos aliosque multos
conuenisse in Aegyptum, qui sua quisque et tenuerint et propagarint.
*est et alia magices factio a Mose et lanne et Lotapea ludaeis pendens'
tradit Plinius (XXX 11): ludaei maximam auctoritatem Mosi et Salomoni,
Graeci Hermae Orpheo Democrito, Parthi Zoroastri, Aegyptii Nechepsoni
Petosiridi Manethoni aliis tribuere. atque obseruare poteris pap. Leid.
W magis ludaeorum, papyros Berol. et fortasse Leid. V magis niti
auctoritate Graecorum. ac si in propatulo est ludaeos summo ipsorum
prophetae, Parthos religionis conditori, Graecos Hermae adscribere
uoluisse illa, ueri est simile philosophos illos Democritum Chaeremonem
- et Pythagoras Zamolxis^ Epimenides^ Empedocles Anaxagoras^ alii
occurrunt - ideo aduocatos esse, quod docuerant uel scripserant quae
re plane alia, specie ac titulo similia erant. quo quis erat antiquior,
eo honoratior, quo quis longius arcessitus, eo exoptatior et clarior: et
nonnullos qui feruntur antiquissimi Aegyptiorum reges fuisse deiecerunt
in hanc rancidam colluuiem.
Nee uero praetermittas in bis scriptoribus illustrandis animaduertere
quam arte bis temporibus omnes coniunctae fuerint artes superstitiosae:
namque omnes paene illi et magici et chemici et astrologi et medici et
geoponici sunt.
Nunciam de forma atque indole illorum librorum magicorum pseud-
epigraphorum quae possunt inuestiganda sunt: nam si quomodo nomina
singulis librorum partibus praeposita sint reputaueris, intelleges sae-
758pissime formam simulari epistularum. pap. Par. 154 Necpuüxric Ya|Li)nri-
Tixuj ßaciXei AitOtttou aiiuvoßitü xci^P^i'^*» u. 2006 ßaciXei 'OcTdvr]
TTiTuc x«ip€iv, pap. W 22, 9: ^v Trj irpöc ^Qxov ßaciXea - uttö Gqpfi
iepoTpa|Li|uaTeu)c multaque alia similia. atque obseruare licet in aliis
papyrorum locis epistolographi mores adhiberi: sie in pap. Berol. I u.
51: dTr€7r6|iv|;a xrivbe xfiv ßißXov, iv' eK|Lideric. nee non in pap. V
seruata sunt uerba quae priorem formam diuinari iubeant: p. I u. 27:
Tpd[q)uj] be coi Kar' eiboc dcpGövuJC, iv' eibric Kai |Lir|bev emZ^riTTJc.
etenim haec scribendi ratio propria uidetur esse huic librorum generi:
e. c. in codice Cauensi, cuius nuper nouas partes Pitra (1. c.) public!
iuris fecit, nonnulla huiuscemodi inueniuntur de lapidibus magicis scripta:
* [Ol T&c ZajLiöXHiöoc ^irtuöotc BpuXoövxec lulian. Conviv. (Caesares) p. 309 C-l
* Apul. de mag. c. 26. 27.
* Psellus de lapidum uirtutibus ed. Bemard. p. 38.
* <s. die Besprechung von E. Rieß, Nechepsonis et Petosiridis fragmenta,
Berl. philol Wochenschr. 1891, 820 und Abrax. 161ff.>
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi i\
libellus regis Aegyptiorum missus ad Octabiano Augusto (sie) p. 641,
Feramus rex ad Adrianum imperatorem p. 647, epistola Parmoenis
ad Traianum imperatorem p. 647; et in Damigeronte qui dicitur
latino: Euax Arabiae rex Tiberio imperatori salutem/ nee rarius
talia inueniuntur in rebus alehymicis: Ostanes seribit ad Petesium
Trepi Tfic lepäc rauxric Kai Geiac xexvnc^; permulta inter ea, quae Kopp
de collectionibus alchymieis eomposuit^: philosophi cuiusdam ad Theo-
dosium magnum imperatorem*, Stephani ad Heraelium magnum imperato-
rem^ Heliodori ad Theodosium imperatorem'' aliaque ereberrima. elucet
ex bis plerumque fingi epistolas ad regem quendam uel imperatorem.'
omnino uero e natura et indole est artium harum non publiearum, ut
semper ab uno ad unum tradantur. legas enim papyri Berol. I uerba
u. 192 TaÖTtt ouv iLiribevi irapabibou ei )ir\ |uöviu . . . icxivuj vm cou
dHioövTi Tct (irap' fi)|au)v pr|0€VTa ev€p(Tri)|aaTa (ef. p. V III 20); uelut
et inter nostrates hariolos semper ab uno uiro ad unam mulierem uel
ab una muliere ad unum uirum solere deferri ars magica dicitur.
Quae cum ita sint, liceat proferre sententiam quo modo orti sint
libri illi. primum quidem uidentur singula praecepta incantationes
precationes alia ornata esse quasi epistolae illis nominibus. quae
tabulae (iriTraKia) magis magisque consarcinantur titulis modo omissis
modo seruatis libeliique nouis ornantur titulis ut KXeic Mujüceiuc, ^€p]Lioö
TTxepuH'^ alia. iterum autem atque iterum cum describerentur denuo
partes e chartis diuersis, nouae exstiterunt farragines e partibus prio-
rum uelut pap. Berol. I (u. 46) [eK] ßißXoic inupiaic (sie) cuviaTiua esse
prae se fert. itaque tot nomina partibus quibus seruata sunt appo-759
nuntur, tot libri citantur. ac quoniam sie partium hinc illine colla-
tarum particulae' per annorum decursum etiam atque etiam describe-
bantur, orta sunt tandem uolumina, quäle est pap. Parisina uersuum 3274.
^ Abel, Lithica p. 162.
' E cod. Vindobon. prolatum in progr. gymn. Franc- los. Vindob. 1886 p. 4
a C. Wessely.
' Beitr. inde a p. 249. * Kopp 1. c. p. 249 no. 8. ^ Kopp 1. c. p. 249 no. 1 1.
• Kopp 1. c. p. 259 no. 8.
' Quin qui reges esse alias non dicuntur, ut titulus exsistat solitus, efferun-
tur ad Ihronum: ßaciXel 'Ocxdvri TTixuc pap. Paris, u. 2006.
^ ['€p|Lioö irrdpuS, cqpaTpa Ari|LioKpiTou kommen zugleich als Titel von Tech-
nopägnien vor, formell von den Zauberbüchern beeinflußt nach Crusius, Woch.
f. class. Philol. 1888 S. 1095, inhaltlich davon emanzipiert, Häberlin, Deutsche
Litt. Zeit 1889, 1822; s. ebenda über Simias und den Altar des lulius Vestinus.j
® Fortasse in pap. V e siglis et compendiis quae usurpantur (pro uocibus
övo^a, b€Tva, Geöc, üjpa, xpr]iidricov , lfx<)pva etc.) maxime uario modo, colligi
potest partes e diuersis libris exscriptas esse. e. c. in ea parte quae Oeofidv-
\2 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
2 DE TRADITARUM PAPYRORUM HISTORIA
Non solum traditas esse papyrorum partes sed etiam ualde corruptas
elucet. et amputatae et amplificatae eaedem partes propagabantur:
uidemus in pap. W res iam prolatas inde a p. IX paene omnes am-
pliore stilo repeti. satis uero illa illustrare possumus papyro V. frag-
menta uides amputata uelut in initio, ubi TrpäEic, qua Köpr) cogitur, iam
affertur incantationibus et precationibus quae solent praecedere omissis;
uides in p. VI a u. 7 usque ad u. 17 immissas duas particulas, quarum
prior initio posterior fine caret. quae utrum iam antea e continuatione
recta ereptae an huc demum e schedula quasi in fronte et in tergo
lacerata delatae sint uix diiudices. Nee mirum quod homines imae
plebis in usum describentes menda plurima uerbis intulerunt atque
insaniam ipsam insaniorem reddiderunt-
Repetitio aberranti oculo tribuenda occurrit p. VII u. 9 sqq.: u» tojv
(pavepiuv KaXuTTTai, (b tujv Nejiieceujv tijuv cuv u)liiv biaTpißoucüuv xrjv
TTäcav ujpav KußepvfjTai — , u. 12 u) tiuv d7T0KeKpu)Li|aeviJuv qpavepiuTai,
d) Tiuv Nejueceujv cuv ujuTv biaxpißouvTuuv xriv Träcav ujpav irdXiv Kußep-
vfJTtti. apparet enim conscribendum esse u» täv qpavepojv KaXuTTrai
et u) Tüuv dTroKeKpu|U|ueviJuv q)av6piJUTai: scriba uero alterum omissum
postea adserens illa de Nemesibus leui calamo iterauit et irdXiv ipse
addidit. namque quo modo mutarint ipsi scribae, uides in p. VII u. 2:
certe in u. 3 tradebatur eTTiGue, quod quoniam iam in u. 2 aberrante
oculo scripserat, mutauit ^mGucac in anteced. uers.: sie enim correctum
est in hac ipsa papyro. praeterea interdum suo loco mota sunt quae-
dam ut ea quae de sculptura anuli p. VIII 20 adseruntur, uidentur
trahenda esse ad descriptionem sequentem alterius anuli, quoniam de
altero iam eadem dicta sunt VI 30 sqq.
Nee desunt menda litterarum, qualia in omnibus codicibus inueniun-
tur. p. III u. 9: iropeuöeic Trdvxa töttov Kai Trdcav okiav — . scriben-
dum: TTOpeuGeic eic rrdvia töttov ktX. (cf. p. IV 25, 29 al.). p. I 24
7T3ir|cac TÖv epujxa im TparreZ^Tic ktX. scribendum : eiriGriceic ktX.
760 (TTOiricac iam in eodem uersu legitur). p. VII 30 eXeOcerai, scribendum
eXiccexai. p. VII 11 eirixdKTai: scrib. uTTOidKTai. p. IX 22 x^jp^iv:
scr. x^pu^v. p. V 15 legitur Tevecöiu ßaTrXajuri aurn: iam ßaTiXaiurj uox
magica habebatur: legas pap. Paris, u. 970 TCvecGiü cpiöc TuXdroc ßdGoc
^flKoc Ov|;oc auTn- Alia permulta docebit editio ipsa. uides quanta
stoliditate scribae prouinciam administrauerint.
Tiov appellatur, paene nulla sigia, in iis, quae öveipotroimtroi uocantur, permulta
leguntur; praeterquam quod modo hoc modo illud compendium eidem uoci
adhibetur.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
13
Itaque saepe redintegrare plane non possumus quae originitus scri-
bebantur. optime uero sarcinandi et discerpendi rationem illustrare
possumus, quoniam compluriens eaedem partes uario modo propagatae
in duabus papyris occurrunt. exemplis igitur docere liceat.
Pap. Leid. V p. HI u. 6a sqq.
' *tü r| Tiäca kticic uirÖKeiTai
^ enl ToO XuJToO KaOrjiLievoc
Ktti XajLiTTupibujv xrjv öXt^v
olKoufLievriv
' dpu6pä[c] OaXdccTic
^ ö ixiuv jiopcpnv
^ cu €? 6 Vr|7TlOC
***dv be TOIC TTpOC VÖTOV
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^* lidticxe
^^ ifd) cim 6 cuvTiviricac uttö
TÖ i€pöv öpoc Ktti dbujpricuj
Pap. Berol. II u. 101 sqq.
C€ KaXiu TÖv iLieTctv ev öupaviu, depoeibf],
auTeEovjciov, d) ■üTieT&fx] iräca 9ucic,
uic (scr. öc) KttTOiKeTc xriv öXr|v oiKou)Lievr|V
bopuqpopoöciv Ol bexa^H fiTavTec eiri
XujTUJ Ka9ri)nevoc Kai XaiuTTupitiuv
Tf|v 6Xr|v oiKoujLievTiv ö KaiabeiHac
[im TTic Tnc] Z^uJtt, o\j tö lepov öpveov
^Xeic ev Tri cioXr) ev t[oTc iT]pöc dir-
TiXiiuTTiv fuepeci Tfjc dpuOpdc GaXdccnc
tue [t ?IX€ic dv Toic TTpöc ßoppd
juepeci )Liopq)f]V vtittiou Traiböc dirl
XujTUj KttOrijuevoc dvToXeö 7roXuiüvu)Lie
cecevY€v ßapcpapaTTHC dv be toTc irpöc
VÖTOV juepeci iiiopcpnv exeic toö dTiou
lepaKOC, bi* f)c TrejuTTeic Tfjv eic depa
TTupwciv, Tnv Ttvo|Lievnv XepGeH avaE
dv bi ToTc Trpöc Xißa inepeci )Liop(pr)v ^X^JV
KOpKobiXou oupdv öqpeujc, ev0ev d9iujv
ueTouc Ktti xiövac. dv be toic irpoc dir-
r|Xiu)TTiv inepeci bpdKOVTa ex€ic TTTepo-
cpufi ßaciXeiov ex^v depoeibfi, lü Ka[Ta]-
KpaTeic ToO uTi' oiipavoö Kai im thc
eic Mujüceuj cu dp' dcpdvnc Trj dXn-
Geia -----------
kXöGi )Lioi, jidTiCTC 0ee, Ko|a|aric, Tf]V
fijuepav (pwiil^v vaO|Lia|LiaiJuO 6 vr|7Tioc
dvaTeXXujv juaipaxaxGa öXov ttöXov bi-
[objeuiüv GapKaxaxav 6 eauTtu cuvtivö-
inevoc Kai buvaiuoujLievoc irpocauHfiTa Kai
TToXucpuuTicTa cecevTev ßapcpaparrnc 'J^«"
Tujv 9epiCTe Gee, ko|li)liti
6 )Li€TiCTOC Kai icxupöc Geöc i^di ei^i 6 761
beiva ocTic coi dirrivTiica Kai biljpöv MOi
14
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
fiOl Tf|V TOÖ 6v(6|LiaTOC) cou
Tvoiciv Tiv Ktti TT]pr|CLU ktX.
- ö Iwv 0€Öc (cf. Pap. Paris.
1038. 1563. 859. 956)
^ uoces magicae et praecepta
peculiaria III u. 6 - 1 1
•'' opKii^u) ce Kttx' Off iou Kai
ktX.
®^T€vec6uj Tobe npäfixa r]br]
ß'
^ 6 eK Tiüv b' iLiepujv touc
dvejLiouc cuvceituv
^bLuprjciu Trjv toö ineticTOu cou övö-
ILittToc Tvujciv ou T] ^ifiqpoc 0p. ir) le la
lari — — — — — — — — — — — —
ILiepiuv
1
Neque alteram ex altera neque utramque ex uno fönte sie de-
scriptam esse incantationem apparet; per satis diuturnum tempus denuo
iterum atque iterum describebant uariabant amputabant addebant, ut
tandem talia prodirent; quibus tarnen origo eadem est sine ulla dubi-
tatione. uide insanas corruptelas: 6 ^x^v luopcpriv in cod. Leid. —
cuius? iam non additur; epuBpäc ÖaXdccric: — unde pendeat omittitur.
formarum uero dei et regionum caeli enumeratarum quam misella
fragmenta relicta sunt in pap. V, quae sola non intellegantur! ^ev be
Tok Ttpöc vÖTov juepeci' desumpsere - tum omnia omisere; sed quae
postea tribuuntur regioni orientis 'bpotKovia e'xeic -mepocpuf]' - ad-
scripsere: 'bpdKiüv ei Triepoeibric'. atque in pap. V etiam partes ser-
uantur in p. Berol. omissae (2, 4, 5, 6^ 8), quae formulae ex parte addi
potuerunt a scribis ipsis: uocum magicarum plus minusue hie iüic inter-
posuere.
Probantur quae obseruamus altero quod in promptu est exemplo:
Pap. V
p. VII u. 27-33.
beöpö jLioi ö eK tiuv b' dveiuiuv,
6 TravTOKpdTUjp 0eöc,
6 ^vcpucricac TTveujuaTa
dv0piuTroic eic J^ujr|v,
beCTTOTtt TU)V €V KOCJUIU KttXuJV
errdKOucöv jliou, Kupie,
Pap. W
p. XXII u. 14-27.
beOpÖ ]UOl 6 ^K TOIV b' dV€|LlU)V,
6 TravTOKpdxujp,
6 evcpucricac Ttveujua
dv0piJU7Toic eic Z^ujrjv,
^ Numeros adieci singulis particuüs dispositis , ut pap. Leid, partes quo-
modo se excipiant intellegeretur.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
15
OU ^CTIV t6 KpUTTTÖV övofna
dppTlTOV,
ö Ol baijLiovec dKoucavxec
TTTOOÖVTai
OU Kttl 6 fiXioc
ßapßapeix
apceMcpe)Li(pu)0
OU TÖ övo]Lia, ov r\ tn (XKOucaca
dXiccexai, ö ö.br{c dKouuuv ra-
pdccetai, TTOTa^oi, edXacca, Xi^-
vai, TTTiTtti, dKOuoucai TniTuviai, ai
TTexpai dKoucacai priYuvxai (sie)
Kai oupavöc }ikv KCcpaXfi,
aiOfip be cuj|Lia,
Tn TTÖbec,
xö be Trepi ce (ibujp lUKeavoc
dTaeöc bai|Liujv
CU 61 KUplOC
6 T€vvüuv Kai xpeqpujv
Kai auHujv xd irdvxa
oij ecxiv x6 kputtxov övojua
Kai dppiixov
ev dvGpiuTToic, xö )udvxi (sie)* Xa-
XriGfjvai ou buvaxai,
oij Kai Ol baijLiovec dKOuovxec 762
xö övojua TTxoüjvxai (sie)
ou ö fiXioc
apveßouax ßoXXox
ßapßapix
ßßaaXa a^riv TTxibaiou apveßouax
Kai ceXrivri
apcev irev TipujouO
ßapßapa lujvri ocpap jaejuipexei
öcpöaXjioi eiciv dKdjLiaxoi
XdjUTTovxec dv xaTc KÖpaic
XUJV dvGptUTTUJV
(Ij oupavöc Keq)aXr|,
aiGrip be cujjua,
Tn be TTÖbec,
xö be Trepi cöv ubiup
6 dTaGobaijLiujv
cu ei ö ujKeavöc
ö Y^vvujv dyaGd Kai xpoqwjuv
xr]v oiKOU)nevr]V.
Nonnulla tantum adnotabo: in pap. V quid sit ^oij Kai ö fiXioc\
intellegitur eomparato loeo pap. W, ubi non modo plures uoces magi-
cae adscriptae sunt sed etiam sententiae conexus multo plenior ser-
uatur. intereiderunt enim in pap. V, quae seribenda erant post ^oij Kai
6 fiXioc', quae uerba nune e similium sententiarum eonexu (oupavöc
^ev KeqpaXf] kxX.) erepta interposita sunt in alius sensus continuationem
(ou Ol bai|Liovec — irxoouvxai kxX.). — uideas uerba in loeorum finibus
perturbata: elueet illius membrorum dei deseriptionis ultimo enuntiato
dieendum fuisse oceanum esse zonam dei: scriptum erat ut puto; xö
^ <dvepiÜTTOu cTÖjuaTi corr. L. Radermacher Rh. M. 55, 150.>
15 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
be TrepiZ^ujjua ujKeavöc. cu ei otTaGoc bai.uuuv, cu ei Kupioc — .^ utrius
papyri locus prius descriptus uel utra papyrus ex utra sit deriuata
uana quaestio. nemo hercle diuinat quotiens nouae ex antecedentibus
tales precationes uariatae et confertae sint. papyri V incantationis sane
fons erat recensio, in qua etiam uersus illi quattuordecim (p. VII 33-
763 VIII 5), quos primus compilator sententiis exhaustis ipsos insuper ad-
scripsisse uidetur, seruati erant quamuis laceri (cf. infra).
Quae secuntur sententiae post illas tractatas et ipsae in pap. V et
W (V: VIII 5-10; W: XVII 27-43) paene sunt eaedem; sed quoniam
non satis mulium utilitatis adferunt, non appono. neque uero piget
adnotare legi in totius imprecationis clausula in pap. V, VIII 10: oö tö
övojna t6 evboHov oi aj-feKoi ujuvoöciv, in pap. W, XVII 40: oij ai
lioöcai ujLivoöciv tö ^vboHov övojua. iam diuinamus hoc fluxisse e
recensione quae magis religionem Graecam sapere uidebatur, illud e
recensione magis ut ita dicam ludaica. sed omnia iam tum mixta
fuere: si quis in harum formularum compositionibus innumeris uaria-
tionibus uariatis auctis corruptis dilaceratis, quibus magis insaniam quam
rationem captare e re erat — , si quis certos fontium riuulos detegere
conaretur, certe quidem fluctus congereret in cribrum ac sibi quaereret
elleborum, quo opus erat nebulonibus illis magicis.
Sed postea magis magisque id egere, ut quae tum scripta essent,
diligenter seruarentur. namque proprium est uocibus et incantationibus
magicis, ut eadem semper uox ac littera proferri debeat. itaque legi-
mus unam recensionem rectam esse affirmari in papyro ipsa p. X 8:
toOto Top ^CTiv t6 d\r|6ec, rd be ctWa öca qpeperai bid jiiaKpujv
eipeubriTÖpTiTai iiifiKOC ekaTov Trepiexovxa. atque in aliis papyris cum
diligentia saepe sine dubio fucata uariae lectiones adnotantur: dXXiuc
- Ol be - et similia.^
Sed si haec omnia reputauimus, difficillimum est statuere quo modo
edendus et emendandus sit papyri contextus, eo difficilius, quod qui
descripserunt et ipsi mutarunt; nee dignosci saepe potest, quid ei qui
postremus descripsit tribuendum sit, quid prioribus, quid auctori.
Igitur nisi certi quid diuinari potest de prioribus enuntiatorum formis,
seruemus tradita, praesertim cum rationis leges saepe non item atque
alias hie obseruatae sint. quid uero statuas, quo modo in rebus sin-
gulis grammaticis et orthographicis edenda sint uerba papyri? quoniam
* Cf. fragm. orph. 123 u. 30 (Abel): la^ccn bk Idjvr] Trepinx^oc olöiuia eaXdccTic.
fortasse in altera recensione legebatur tö bk TrepiZuüjLia ö6u)p, in altera tö bä
irepiZuu^a ibneavöc, unde orta perturbatio.
* Cf. Wessely, Stud. Vind. VIII p. 188 et in ' denkschriften ' 1. c. p. 36.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 17
saepe uix diiudices, quae stoliditati quae rationi tribuenda sint. nil
seruaui nisi quae certa ratione grammatica nituntur, ut papyrum re uera
emendatam ederem. ipsi illi scribae non ignorabant sua emendanda
esse et haud raro emendabant: pap. W 9, 35: dTTOKeuecGai corr. diro-
TeuecGai, p. W 8, 3: GupiToc com Gupiboc, p. W 10, 14: TiXucidrov
corr. TrXncidZiov, p. W 11, 16: niuvei corr. üjuvei, p. W 16, 32: tvujti
com TvOuGi, p. W 24, 32: qpOXov com cpuXXov, p. W 9, 42: xiou com
Giou (= Geiou). ac formae illae aiTuiTTidZlovjcai singillatim tantum
occurrunt, sed solent eadem uerba scribi modo solito. non est dia-
lectus certis legibus circumscripta, sed graecitatis corruptio certo more
propagata. ne tamen corruptionis Aegyptiae uestigia plane oblitterarem 764
- non minimum quidem horum monumentorum pretium est, ut illius
sermonis Graeci Aegyptii formas ac uoces ab hominibus plebeis usur-
patas accipiamus -, omnia haec orthographica et grammatica collegi
in indice grammatico.
11. DE ORIGINE AC FONTIBUS PAPYRI LUGDUNENSIS BATAUI
J 384
1 GNOSTICA
Primo obtutu nunc apparet omnes hasce papyros esse confectas ab
hominibus gnosticis, quae res Partheyo pap. Berolinenses edenti non-
dum certa uidebatur esse (p. 116). ac si non tota sententiarum et
precationum natura se praestaret gnosticam, certissimis papyrorum
uerbis doceremur: in pap. Mimaut d. L. u. 290 sqq.: iva ce vor|cuj|U6v
XÖTOv, i'va c€ eTriKaXecuj|Li€v fvüuciv. nee in pap. V ipsa deest uox
TvAcic (III 20): Kai ^bujpr|cu) rriv xoö ineTiCTOu övö)LiaTÖc cou fviuciv.
sed si certam certi cuiusdam philosophi gnostici doctrinam requirere
conamur, nil proficimus: hie enim non habemus philosophica monu-
menta, sed mystica ac superstitiosa, non doctorum doctrinam, sed
hariolationes inferiorum hominum. quomodo enim plebis multitudo
suum in usum acquisiuerit philosophorum placita, simili modo hie uide-
mus atque in Cabbalae ludibriis, quae e ludaeorum philosophia petita
sunt.^ reputandum praeterea gnosin originem duxisse non tam e sen-
tentiis philosophorum quam ex hariolatorum inuentis superstitiosis uisam
esse iam antiquissimis ecclesiasticis scriptoribus.^ neque uero negabis
in papyris iam adeo certa uestigia esse gnoseos ipsius, ut e Valen-
^ Cf. Wiedemann in 'Jahrbücher des Vereins von altertumsfreunden im Rhein-
lande' 1885 p. 233.
' Placuit Adolfo Harnack 'zur quellenkritik der geschichte des gnosticismus '
p. 29 sqq. cf. Baudissin, 'Studien zur semitischen religionsgeschichte ' p. 252.
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 2
18 Papyrus magica musei Lugfdunensis Batavi
tini, qui in Aegypto permultum ualebat, eiusque discipulorum placitis ea
manasse eluceat. nil amplius pro certo habeas: nisi forte praecipue
Marcum, quem de numeris mysticis multa excogitasse tradit Hippolytus,
tales res excitasse putas.* quae praeterea certam significare uidentur
sectam, fallunt.^
765 Ne christianae quidem religionis multa adsunt uestigia: etsi noui
testamenti haec illa scripta non ignorari uidentur (cf. infra p. 766), etsi
nomen 'Incoöc Xpiciöc aduocatur (p. V VI 17, pap. Paris. 1233, 3019),
tarnen appellatur 6 0ۅc tujv ^ۧpaiujv. uerine est simile Signum iliud
A, quod scribitur p. IV 32, esse monogramma notissimum Christi?
quod certe iam antiquiore quam Constantini aetate"' in usu erat, sae-
pius uero commiscebatur cum signo Aegyptio ^, quod in manibus de-
orum Aegyptiorum pictum significabat uitam.* nonne hie talia statuenda?
sed quoniam j^ in papyris saepius alias significat res, potest et hie
alio explicari modo.^
Iam ut quantum ualeat in papyro gnosis intellegamus, componamus
breui uoces ac dicta certe gnostica:
aiiuv. aiüjvec. VII 35. uox gnosticis tritissima. Matter bist,
du gnost. II 111 (de Valentini aeonibus).
TT i CT IC. ifd) f] TTiCTic cic dvGptuTTouc eKpuGeictt VII 17. non minus
iis usitata: uide librum 'Pistis Sophia' ^ et in Hippolyti refut. omn. haer. VI 30. '
dTTÖppoia. ou ai dTaOai dtröppoiai tiuv dcxepujv eiciv baijuovec
Kai Tuxai* Ktti jioipai VIII 7. notae sunt dTTÖppoiai, emanationes, irpo-
* AÖYoc (incantatio) in pap. Paris, u. 3084 dicitur (pu\acc6|Lievoc irapct Kaea-
potc dvbpdciv. Wessely in indice p. 178 adnotat in uncis: 'Essener*, minime:
si certi homines significantur, Nouatiani dicuntur, qui KaOapoi uocabantur qui
inde a med. tert. saec. p. Chr. et Alexandriae floruere. Irecte Wessely.]
' 'Abujvaioc 'Accaqpaioc traduntur fuisse numina ophitarum (e. c. Orig. c. Cels.
VI 31): a6a)vai€ legitur VIII 17, IX 5. acrpacpaiov IX 8 (cf. VI 11). caue ne
imbrem congeras in cribrum.
^ Apud. Ross. inscr. Graec. ined. III n. 246 ^ p. 8 legitur, qui titulus 2. p. Chr.
saeculo attribuitur. cf. Herzog, ' realencyclop. für protest. theologie*. IX, p. 738 sqq.
* Letronne exam. arch6ol. de deux questions sur la croix ans6e 6gyptienne
p. 285 sqq. in 'osuvres choisies. III. serie. tom. 2* p. 133 sqq.
* XPnci|iiov? sie iam Wessely uoluit intellegi in pap. britann. XL VI 97. 'denk-
schriften' 1. c, p. 39. pap. britann. XLVI 399, 406 ^ = xpu».
* Opus gnosticum Valentine adiudicatum e cod. manuscr. coptico Londinensi
descripsit et lat. uertit Schwartze. ed. Petermann. Berol. 1851.
'Edd. Duncker et Schneidewin. Gott. 1859.
* l'Tuxai sind deutlich die Schicksalsfrauen wie im Mittel- und Neugriechi-
schen. , . . Damit erledigt sich die Stelle von den ^tttci rOxai toö oOpavoö der
Ephesia grammata'. Zuschrift von O. Crusius vom 4. I. 1889. Ephesia gram-
mata ^von Karl Wessely, Jahresber. des Franz -Joseph -Gymnasiums für 1885/86)>
p. 17 no. Ä5 <S. A. Dieterich, Eine Mithrasliturgie * S. 70>.]
Papyrus magica musei Lug:clunensis Batavi \g
ßoXai gnosticorum. sescentiens legimus in Pist. Soph. 'magna diröppoia
luminis' (p. 76, 82, 83, 84 etc etc.).
ctTTeXoi. baiiuovec TTveO)uaTa. IX 10. VIII 14. V 7. VIII 14.
de angelis gnosticorum uide Lipsii notas in 'Ersch und Gruber, ency-
clop/ .1. sect. pars 71 p. 237. baijuövia in Pist. Soph. saepe uocantur
(p. 134, 237 etc.).
TTveOiua. nKOucGri jnou tö TTveöjiia - utto irveuiuaToc X 12 sqq.^
äyiov TTV€u^a. Hippol. VI 31 de spiritu säncto in Valentini doc-
trina.
TTpOTldTUip. VII 20. TTaVTOKpdTUJp VII 27. VIII 3 TrpoTTdTujp
saepe in Pist. Soph. p. 13, 17, 29 (dTevriToc - auTOTCvriToc etc.).
döparoc p. 117, 136 etc. cf. VII 19 öv oubeic 6pa oube ttpottctOjc övo-
^dZ^ei. - apud Marcum: Hippol. VI 43. irairip dtewriToc dcpGapToc ap-
Valent. Hippol. VI 29. Irenaei c. haer. I 1, 1.
ö TTupivoc Oeöc IV 9: sie apud Naassenos (Ophitas) appellabatur 766
briiuioupTÖc secundum Hippol. V 7.^
ILiucxripiov sescentiens in libro Pist. Soph. inuenitur (uel in prima
pagina noniens). cf. iam Matthaei 13, 11 Tvoivai rd inucTrjpia.
irappncia VI 12. tritissima uox in Pist. Soph. p. 7, p. 19 tef,
p. 20, 84, 86 etc. etc
övo)Lia 67rTaYpd)Li)LiaTOV — dpjnoviav tujv enra qpOÖTTiuv exöv-
Tuuv (pujvdc VIII 6. Pist. Soph. p. 3 *septem (puJvaC. de septem uoca-
libus ap. Marcum gnosticum uid. Hippol. VI 48.
öcpeoTTpöcujTroc 6eöc V 19 in memoriam reuocat Ocov öqpiöinopcpov
Ophitarum. cf. Lipsium 1. c. p. 279.
TÖv kukXov |Lif| Tivu)CKU)v ToO aTiou KttvGdpou 11 5. est formula
dicendi gnostica- Matter bist, du gnost. I 223, Reuvens lettres ä Le-
tronne I p. 14. cf. Evang. lohann. I 10: 6 b^ K6c^oc auxov ouk ifvw.
epist. I ad Corinth. 1, 21: ouk ctvu) 6 köcjuoc bid rfic cocpiac töv Oeov.
TCvecOu) ßdGoc TrXdxoc infiKoc autn V 17. memineris uerborum
geneseos T^vecGuü (piIic, unde fortasse illud sumpsere gnostici. insuper
in memoriam uocatur locus ep. ad Ephes. 3, 18: iva eHicxucTixe Kaxa-
XaßecÖai cuv irdci toic drioic, xi xö TrXdxoc Kai iiifiKOC Kai ßdOoc xal
livpoc, Tvujvai xe xriv uTtepßdXXoucav xfic Tvuuceujc kxX. (cf. LXX lob.
XI 7, 8, 9); unde illa uerba huc deportata esse per gnosticos non
1 »<
'6v TU) K€vuj 1Tveu^aTl in formula deuotiua et ipsum uidetur huc trahendum :
nil inueni prorsus simile.
* Ed. Duncker et Schneid, p. 146 toj Taiirric rnc Kxiceiuc 6n|iiioupT«4' laXöaßaiwe,
eeö» iTUpivui, dplG^öv TCTapriu- oötujc TOp tov briM^o^PTÖv Kai irax^pa toO iÖikoO
KÖciuou KaXoöciv, cf. V 26.
2*
20 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
modo conicio sed affirmo: namque Hippolytus in describenda Valentini
doctrina citat haec ipsa uerba et quomodo ille explicarit locum adnotat
(VI 34)/ Pist. Soph. p. 146: "homines qui cognouerint uerbum illud
cognituros esse scientiam uerborum omnium, quae dixi uobis, quod
ßdGoc et quod altitudinem, quod longitudinem et quod latitudinem'
etc.
6 evcpucrjcac 7TV€U|LiaTa dv0pu)7Toic eic Z^ujtjv VII 27. eadem
uia huc delata esse uidentur, si legimus uerba geneseos (II 7) et ipsa
ab Hippolyto in enarrandis Valentini sententiis adscripta: Kai evecpucricev
€ic TÖ TTpöcuiTTOV auToö Trvof]v lvjf[c (VI 34).
8v KaXoOci BaXxom V 11. nonne est Bileam {^^^^y BaXad|Li), de
quo mago ac deuotore narratur in 4. libr. Mos. c. XXII 5 sqq.? a quo
nomen duxisse Nicolaitae gnostici (2. saec. p. Chr.) uidebantur nonnullis
theologis. (cf. imprimis apocal. loh. II 14, 15 et Langii notas in commen-
tario apocal. (1871) p. 84.)
Videmus haud pauca et a ludaeis petita esse." sed nee cum aliis
767illis nee cum Graecorum et Aegyptiorum religionibus commixta esse
potuere unquam nisi tum a gnosticis. neque enim unquam deorum
ac religionum conturbatio in orbe terrarum uisa est tanta, quantam illic
uidemus. omnium paene religionum, quae dilabi atque infringi coepere,
ruinae ac fragmenta corruere in ingentum superstitionum molem in
Aegypto maxime coaceruatam. nunc demum papyri haece docent, quo
processerint in his rebus illa aetate, et qualis re uera fuerit gnosis
uolgaris. habes adscriptos, quales deos ac numina adorarint uel no-
minarint:
'ATttGobaiiuuiv^ "A)n|uijuv, ''Avoußic, 'ApTroKpdTTic, ^Epiudvoußic, GtüG,
"Icic, ''Ocipic, CdpaTTic, CriG, Tucpuiv, '^Qpoc.
'Aßpad|u, 1cdK, 'laKÜuß, '!cpar|X f Iduj CaßatOG), 'Iricoöc XpiCTÖc 6 tujv
'Gßpaiujv Geöc.
Miöpac, MeXiKepxric, luriiriP Öeüuv.
'Aörivd, '"'Aibric, 'AttöXXujv, "Apr|c, ''ApreiiAic, ^'AqppobiTTi, Aiövucoc,
'€KdTTi, 'Epivvuec, ' Epjufic, "Gpujc, Zeuc, "^RXioc, '^Hcpaicroc, Kpövoc, Mrivri,
TTepceqpdcca et TTepcecpövri, CeXr|vri.
^ VI 34: iva lEicxOcriTe vofjcai, xi xö ßdGoc, öcirep ^cxiv 6 TraxT^p tujv öXiuv,
Kai x( TÖ irXdxoc, öirep Icxiv ö cxaupöc, ö öpoc xoO nXripiüiuaTOC, f\ ti tö iht^koc,
TouT^CTi t6 Tr\ripU)|Lia tu)v aiuüvujv.
^ De nominibus harum papyrorum ludaeis nonnulla se dixisse adnotat
Wessely (denkschr. 1. c. p. 35) in actis anglicis 'The Expositor' III no. 13 p. 194,
quae bibliothecae non suppeditarunt.
* Numeros non opus adscribere; facile quaeres in indice uerborum, quem
Wessely adseruit editioni pap. Paris, et Lond. denkschr. 1. c. p. 154 sqq.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 21
AittKÖc, 'AKTttiri, 'AXkuövti, 'AX\r|KTUj, 'Aiucpidpaoc xöövioc, "AipoTTOc,
'Axepiuv xöövioc, Bpi)nu), Kepßepoc, KXuuGu), Adxecic, MoOcai, Nejueceic,
Tdpiapoc xöovioc, Tr|6\jc, Tixdv, Xdpujv xöövioc.^
Lucidissimum in ipsa pap. V est exemplum deorum mixtorum p. VII
inde a u. 20, cuius rei nouum testimonium efficio ipse in p. VI 17
XpicToc "Avoulßic].^
lam nomina illa hie illic composita inuenta erant in gemmis gnosti-
cis, quae quin omnia amuleta magica fuerint, uix dubium est.^ iam
didicimus, quantopere superstitiones gnosticae peruolgatae fuerint per
omnes fere imperii Romani prouincias; in Aegypto, in Syria, in Hi-
spania, quin etiam ad Rhenum'* inuenta sunt illa amuleta. aliquando
historia erit conscribenda superstitionis illius, ubi quomodo quando
propagata fuerit.^
Ac si nomina magica eodem modo inuenimus in papyris ac gemmis,
quis negabit re uera papyros esse commentarium et quasi clavem ad-
hibendam frustulis illis lapidariis? reuera inuenimus nomina arcana illa
ritissima lauu Caßauie abujvai aßpaHac etc. in gemmis innumeris^; re-768
perimus et uoces magicas papyrorum c€|U€ciXa)a, cecevTev ßapcpapaTTnc,
dßXavaGavaXßa dKpa|Li)LiaxaMapi ' et alia multa, quae conferre inutile
est.
Neque uero hoc genus uocum magicarum a gnosticis inuentum est
iam Aegyptii antiquissimis temporibus — inter annos 1500 et 1000 a.
Chr. n. - talibus litterarum compositionibus formidulosis se deos cogere
posse opinabantur^i iam Graeci antiquiore aetate utebantur ^ephesiis
litteris''' ac Romanos iam priscos talia adhibuisse docet Varro de r. r.
^ Alia addi possunt e papyris demoticis et copticis magicis uelut in pap.
copt., quam ed. L. Stern in 'ägypt. zeitschr.' 1883 p. 43 inuocantur Christus,
Immanuel, Maria.
' Cf. imaginem explicatam in Kingii libro 'the gnostics and their remains,
p. 91 sqq.
' Baudissin, 'Studien zur semit. religionsgesch." Ups. 1876. I p. 187.
* Tabula argentea gnostica inuenta est prope Badenweiler, de qua egit
Wiedemann 'jahrb. des Vereins von altertumsfreunden im rheinland'. 1885.
'^ In libellis magicis medii aeui eaedem occurrunt uoces: Zebaoth Adonay etc.
cf. Wuttke, 'der deutsche volksaberglaube' p. 177 adn. nenne et multarum rerum,
quae nunc magicae seruantur, uUimi fontes sunt illa inuenta gnostica?
•^ Contulit Baudissin 1. c. p. 189 sqq., qui historiam uocis Mduu (sie acuen-
dum esse docuit p. 252) instituit ibid. inde a p. 201.
' Cf. Wiedemann 1. c. p. 220, 222, 225, 226. Kopp, Palaeogr. crit. III p. 664,
671, 681 etc.
« Vid. Ed. Meyer, 'gesch. des alten Aegyptens'. 1887. p. 275. iam legun-
tur talia in papyro quae uocatur pap. Harris.
* Cf. Hesych. s. u. fp&pL}xaTa. Clem. Alex. Strom. V 8. Lobeckii Aglaopham.
p. 1163, 1330.
22 Papyrus magica musei Lug-dunensis Batavi
1, 2, 34 et alias, omnes fere, ut puto, populi in his rebus usurpabant
uoces, quae quo obscuriores eo diuiniores uidebantur.
Sed illa sunt perpauca ac pusilla, si nunc in papyris uidemus, quan-
tam uocum magicarum incredibilem molem congesserint gnostici, qui
primi haud dubie haec collegerunt ac cumularunt.^
Possuntne haec intellegi atque explicari? ipsi scriptores adscribunt
interdum singulis uocibus eWrivicii - dßpaicTi - aiTUTTTicii talia.
Atque eo modo, quo haud raro sapiunt illa uerba linguam graecam ut
V 35 : acxpaßov, OecKepauve, jueYaXovo . riXio, irepavo, KOC|LioXa)UTrpoßTi\o
ktX., quamquam non plane graeca sunt, et in aegyptiis hebraeis aliis
talia interdum subesse concedo.^ sed caue ne explicare tibi uidearis,
quae omni ratione carent. rectissime Wiedemannus, uir in his uersa-
tissimus, 1. c.^ de nonnullis usitatissimis uerbis iudicauit ea nil esse nisi
lusum litterarum, alia certo quidem modo explicari non posse/ iam
antiqui ipsi nonnulli intellexere ovöiuara esse dcrma.^ etsi nemo nisi
qui omnes linguas, quibus uti potuere, probe sciat rem diiudicare pot-
ent, tamen certum est explicari eo modo, quo Zuendel^ Bergk'
Kopp"* alii uoluere, non licere. tamen caue, ne af firmes omnes has
769 uoculas sensu carere: litterarum complexiones non modo saepe recur-
runt eaedem (cf. ßaivxtuujx, cecevTev ßapcpapaßaTT^c) '^ sed etiam in
similibus incantationibus uelut epecxiTaX itüepßTiö iu)7TaKepßr,8 ktX.
uidentur adhiberi in formulis deuouentibus.^^ haec aliis explicanda re-
mitto. uerum permulta iam nunc uidemus esse uanos numerorum uel
litterarum lusus. sie aßpacaH = 365", ajuriv = 99*^ intellegendum, ac
multa certe non extricari possunt, si reputamus quanti numerorum ludi
* Laminae illae plumbeae: CIGr. III 5858 b et imprimis quae edita est a
Lenormant, M. Rh. IX 370 sqq., ubi plurimae similes uoces occurrunt, postea
demum confectae sunt, altera Alexandriae reperta 3. p. Chr. saec. adtri-
buenda.
' E. c. plana sunt illa xpuße Kpuße X 10. ßißiou ßißiou ccpri C9T1 3, 6. quae
idem significant ac raxv ra^i» r{br] i\br] (II 4, IIl 13, V 3). [KpOße KpOße graeca
sunt.)
« p. 222, 225, 228.
* Cf. Wessely, Stud. Vindob. VIII 182 sqq.
^ Lucian necyom. c. 469. lamblich. de myst. VII 4, 5. Origen. c. Cels. I 24.
« M. Rh. XIX p. 481 sqq. ' Philologus XXI (1864) p. 585 sqq.
* Palaeogr. crit. III permultis locis.
'' Wessely 'ephesia grammata' in progr. gymn. Franc- loseph. Vindob. 1886.
p. 20 et 22.
'" Cf. XI 20, XV 28. cf. Wessely 1. c. p. 23, ubi talia plura colligere potes.
cf. et infra, ubi tractantur defixiones.
^' Pap. Leid. W 4, 30: cü ei ö dpiGiuöc toö ^viauToö 'AßpacaH.
" Vide quae contulit Wessely in 'mitteilungen aus der Sammlung der pap.
erzherz. Rainer'. Vind. 1887. I p. 113.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 23
gnosticis adscripti sint\ qui saepe uoces dissoluerunt in numeros ac
rursus his uario modo computatis alia uerba effecerunt.^ at quis non
intellegit meros ludos litterarum prima uocis littera mutata effici in his
uerbis: vevvava cevvava IV 6; caßauue TaßauuG III 7; GaG cpaG xaQ'
IX 12; acTpacpai lacxpacpai VI 1 1 et in aliis? praeterea innumeros
effinxere iraXivbpöiaouc, qui uocantur, quales detexerunt Wessely* et
Kopp^ et quales pauci in pap. V inueniuntur: dßXavaGavaXßa® sae-
pissime, }io}i^o}i IV 10, GaG IX 12, xaOaGix IV 7 fortasse erat xaöaöax.
GaGaßaGaG XII 5. fortasse constitutae erant uocales' VI 14 hoc modo:
uuoueriujriiju j ujriuui^eoua».
namque quis illas nugas miseras explicare poterit, quae a scribis in-
numeris misere corruptae* traduntur.'^
Quibus adnotatis restat, ut alia gnoseos testimonia in papyro lu-
culentissima adferamus. namque anuli illi, qui describuntur VI 28 sq.
et VIII 29 sq. uere gnostici sunt, lapides, quibus serpentes oupoßöpoi
insculpuntur et Isis^^ cornibus ornata uel KdvGapoc et sol, et quibus
laiu caßamG aßpaHac inscribitur, haud pauci seruantur adhuc"; quales 770
ipse uidi in museis Cassellano et Leidensi.
^ Cf. simiilimas mysticas particulas libri Pistis Soph. p. 80, 201, 225, 234.
cf. Hippolyt. VI 44 sqq. Iren. c. haer. I 14, 5 sqq. * Cf. Wessely 1. c.
^ I6ae <pae xciO: es wechseln die anlautenden Aspiraten, caßatOG raßatüG: es
wechseln aufeinander folgende Buchstaben. Skutsch.I
* In stud. Vindob. VIU 189 et 194. cf. 181 de titulo CIGr. I 5858 b. cf. prae-
terea pap. Paris, p. 55 (paene incredibiles litterarum compositiones iraXivbponoi!)
pap. W p. V 11/12, 18-20.
* Arthur Kopp, 'beitr. zur griech. excerptenlitteratur' p. 65.
* IHaben die Carmina figurata in solchen magischen Liedern ihre Vor-
gänger? 'Wie in den Zauberformeln Ablanathanalba u. ä. die Niederschrift
trrepuToeibOjc gehalten war, so vermute ich, daß auch '€p|Lioö TrxepuS u. ä. mit
der Form der Niederschrift in Zusammenhang stand.' 0. Crusius 4. I. 89. Vgl.
Wessely, Eph. gramm., Crusius Woch. für class. Philol. 1888, 1095. <s. den
Zusatz oben S. 1 1 Anm. 8 und Abrax. S. 199 zu Z. 6.>1
' Vocales imprimis ad lusus maxime uarios aduocabant, praecipue gnostici
Marciani. cf. Baudissin 1. c. p. 196, Kopp, Palaeogr. crit. III 300.
» Cf. quae supra de ßairXann dixi. — in pap. V p. IV 23 et 27 eadem sex
nomina mystica bis repetuntur: uide quot litteras mutauerint.
^ Omnia papyrorum gemmarum laminarum ephesia grammata bene collegit
Wessely in progr. gymn. Franc- los. Vindob. 1886.
*" VI 29 scribendum: Kai dui.uecov toO bpdKovxolc 'Iciv b]vo dcx^pac Ixovcaw
^irl Tujv buo Kcpdxujv. cf. cod. Ambros. A 95 (e Damigeronte graeco) in Abel.
Lith. p. 168 in lapide describendo: K^eue dödinavTi rXuqpnvai KdvGapov elra elc
tViv KoiXiav auToö kxOucav ^Iciv kxX. cf. quae alia Abel, attulit et Parthey ad Plut.
Is. et Os. p. 151.
" Kopp, Pal. crit. IV 104, 156, 180, 312. King, the gnostics and their re-
mains. Lond. 1864. tab. prim. fig. 3, II 7. Matter, hist. du gnost. II. planch. IIB
24 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
Ac Jlujbiov illud dvGpujTToeibec, quod describitur IV 16-22, uidemus
plane eodem modo depictum esse in gemmis gnosticis. alas quattuor,
corollam, bracchium curuatum, manus porrectas^ digitos curuatos,
quorum unus adponitur CTOjudxqj KeKXeicjuevuj, TruTnv TriepiuTriv, dKxe-
TttTineva etsi non Hiqpri tarnen duas hastas reperimus et illic^: est Har-
pocrates, qui gestu digiti cirnv gnosticis tarn honoratam significat^.
quo referendum sit Ziujbiov illud, quod pap. exhibet depictum in p. XII, nescio.
lam multa a ludaeis desumpta esse in papyro non modo in uocibus
magicis sed etiam in sententiis atque enuntiatis demonstrauimus: licet
unum addere: et^ ei|ui 6 cuvriviricac utto tö lepöv öpoc xai ebujpricuj
rfiv ToO ovöiuaTÖc cou tvwciv* (III 19): elucet e pap. Berol. II, ubi
(u. 126) paene idem occurrit, non montem Thabor, ut Reuvensio uide-
batur^ sed montem Mosis (Sinai) significari: paulo ante in pap.
Berol. II u. 115 legitur: €ic Moüceiu cu ap' eqpdvric xf) aXTiOeiot. atque
addiscendum hanc de monte sententiae quasi formam ad Graecos pro-
pagatam esse uario modo uelut apud lamblich. uit. Pyth. c. 28 Aglao-
phamus Pythagoram in monte Pangaeo docuisse fertur.
Nee uero praetermittendum et TTdpeouc memorari in pap. VIII 18:
Kaxd be TTdpBouc ouep . . . TravTobuvdcia: nil amplius e litteris elici
potest.'^
Num quae referenda sint ad Mithram in pap. uix certum est: paene
ueri est simile quae IV 34 -V 2 de cane, qui Kpdrea deuoret, dicun-
tur recte comparari cum monumentis Mithriacis.'
flg. 3. et apud scriptores talia amuleta praescribuntur cf. Pitra, Analecta sacra
II p. 676 sqq. Galen, de simpl. med. IV 2, 19, IX 26 (ubi Nechepso citatur),
Marc. Empir. 20 p. 115 b. Aet. tetrab. IX c. 26.
^ Cf. Pap. Paris. 924: rdc x^tpac ^ul tüüv y\outu)v ^Krexaia^vac. cf. ad haec
lahn, 'berichte der sächs. ges. der wiss.' 1855 p. 102.
« Kopp, Pal. crit. III p. 136, IV 305. Matter, hist. du gnost. II planch. IE
fig. 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13. cf. quae exposuit lahn 1. c. p. 81. et Harpocrates ktiX
ToO XwToö KaOfiiLievoc III 14 saepissime inuenitur: 1. c. Kopp, Pal. crit. III p. 684,
IV p. 33, 82, 305. King, the gnost. and their rem. tab. Vli 4.
^ Cf. Plut. Is. et Os. c. 68. Aegyptii olim infantem digitum sugentem fingere
uolebant; postea gestum ciTnc perperam intellexere.
* Leemans legens ovcou de Aegyptiorum deo Chonsu uerba fecit.
* Lettr. ä M. Letronne p. 159.
* Parthos exercuisse artes magicas docet et Plin. h. n. XXX 14, qui narrat
Tiridatem regem Parthorum cum magis Romam profectum Neronem artibus illis
initiasse.
' Reuvens. lettr. p. 19 adn. c. cf. Zoega, 'abhandlungen' ed. Welcker p. 157.
J. Burckhardt, 'zeit Constantins des Grossen' p. 228. ad uocem Kpdrea cf. uo-
cem 'uires' usurpatam in taurobolii ritu ('uires excipere'). ib. p. 223. uid. quae
contulit Wolff de sacellis Mithriacis in 'Zeitschrift für hessische geschichte'.
VIII. supplem. Cassellis 1882. <S. A. Dieterich, Eine Mitrasliturgie *, namentlich
S. 29ff.>
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 25
2 AEGYPTIACA^ 771
Quod haud pauca in pap. ex Aegyptiorum religione ac superstitione
petita sunt, cui mirum? etenim nusquam terrarum artes magicae magis
floruere, quam apud Aegyptios iam antiquissimos. quibus iam in
monumentis multis saeculis Christo n. antiquioribus omnia paene
impleta sunt; Osiridis uero religio ipsa paene magia est.^ iam Ramse II
rege, qui aetate Mosis uixit, homo quidam supplicio affectus est, qui
magicis artibus regem e medio tollere uoluerat.^ magicae sunt in-
scriptiones pyramidum*, magicae papyri hieraticae, permultae demoticae
et copticae. quae quantopere graecis coniunctae ac similes fuerint,
pap. ipsa V prae se fert, cui 6 paginae demoticae magicae adsertae
sunt.^ longe simillima est pap. demotica no. 65 Leidensis, cuius partes
a Revillout." et Maspero' uersas ad emendandum quidem pap. V ad-
hibui. fragmenta coptica exposuere Stern ^ et Erman.^
Mutuo modo desumpsere alii ab aliis: qui composuere libros
gnosticos, uetere Aegyptiorum superstitione utebantur; qui conglutina-
runt in usum imae plebis libros demoticos et copticos, desumpsere illos.*®
Nee superuacaneum breui significare, quae in pap. V redoleant
mythos Aegyptiacos.
pag. II 4 e(peac€ tö Tröp" ktX. haud dubie est mythus^^ de Osi-772
' Summa comitate Wiedemannus me adiuuit ita, ut haec quidem pauca
congerere potuerim in usum non aegyptologorum sed eorum qui papyris illis
intellegendis operam sunt nauaturi.
• Cf. Erman, 'Aegypten und ägyptisches leben' II. 1888 p. 471 sqq. Meyer,
'geschiente des alten Aegyptens' p. 87 sqq.
' Cf. Revillout in 'revue 6gyptologique' I p. 165 sqq.
* Recueil de traveaux relatifs ä phil. et arch. 6g. III cf. papyr. Ebers
prooem. p. 16.
* De quibus nil facere potui, quia adhuc nondum uersa edita sunt.
• 'Revue 6gyptol.' I p. 167 sqq. '' 'Recueil de traveaux relat.' I p. 20 sqq.
" 'Aegyptische Zeitschrift' 1885 p. 42.
® 'Aegyptische Zeitschrift' 1884 p. 93 sqq.
'® Vide memorabile praeceptum in pap. demot. apud Maspero: recueil de
trav. 1 p. 36 'tu r^cites l'^vocation sur sa töte, tu tiens sur sa töte Tövocation
enlanguegrecque'. uidentur igitur primo quidem hae res graece scriptae f uisse.
" Mythi de mundo igne deleto reliquias apud Aegyptios inuestigauit benigne
Wiedemannus meum in usum: pap. Ebers 69, 3 'mein sehn Horus, es brennt
im lande, wasser sei dort, wo kein wasser ist. der Nil eile herbei, um das
teuer zu löschen', ib. 69, 6: 'mein söhn Horus, es brennt im lande; kein wasser
ist dort, kein retter ist dort, bringe mir wasser über die ufer der flut (also die
Überschwemmung des Nils), um zu löschen das teuer'.
Metternich- Stele (aeui Ptolem.): 'teuer das herauskam aus dem hause der
göttin User-A (i. e. 'die mächtige' sicut deae complures uocabantur). nicht ist
wasser dort um es (das teuer) zu löschen', cf. Plato Timaeus 22.
" Praeponitur incantationi mythus quidam apud permultas gentes: apud
Aegyptios antiquissimos cf. Erman, 'äg. zeitschr.' 1883 p. 104 sqq. et 'Aegypten
26 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
ridis, qui quasi solis deus (mvOapoc, Oiupei)^ describitur, bia|LieXic)Liiu -
per Typhonem, qui rröp uocatur^, effecto. similem rem spectat II 16 sqq.:
edv be )Liou TrapaKOucrjc ktX.*
p. XI 22 sqq. judxnv - ujc eixov Tuqpwv Kai^Ocipic ktX. in mythum
eundem spectat.
p. VII 23 eTiJu ei)ui "Ocipic ö KaXoujuevoc libiup. conferas Plut. Is.
et Os. c. 33: ''Ocipiv |uev dTiXÜJC äiracav ifiv utpottoiöv dpxnv kqi bO-
vajLiiv et Hippolyti, qui narrat Osiridis et Isidis mysteria apud Naassenos
multa ualuisse, uerba V 7 p. 142: ''Ocipiv be XeTOuciv ubuup.
Ibid. *lcic f] KaXou|aevr| bpöcoc. explicare nequeo. Plutarchus
terram esse Isin docet.
p. VII 16 efu) cpuTÖv övojLia ßaic, e^Oj dTröppoia aijuaxoc d-rrö Tf\c
ToO jLieTdXou xacpfic tüjv ^diix)v. Tacprj hie est ^arcula uel loculus'
Osiridis lacerati ut in pap. biling. J 383, 8 u. 25, 26: ßacrd^uj xrjv
Tttcpfiv Toö 'Ocipiboc.'^ praeterea cf. Wiedemann., ^Sammlung altägyp-
tischer Wörter, welche von klassischen autoren umschrieben oder über-
setzt worden sind'. Lips. 1883 p. 16 s. u. ßdi = ipuxri (Horapoll. I 7)
et ßdic = *palmbaum' (Chaerem. ap. Porphyr, de abstin. IV 7). nil
amen certi efficere possum.
p. IV 32, XI 17 sqq., 24, XV 21 aduocatur uariis incantationibus
CtiiÖ -TOqpujv, malus Aegyptiorum deus.''
p. III 5 sqq. cO ei 6 vrjTTioc ktX. secuntur dei formae pro regioni-
bus caeli enumeratae. cf. pap. Berol. II 101 quae supra composui.
numen solis sie in diuersis coeli regionibus animalium figuris diuersis
uti dicebatur: infantis, serpentis, crocodili etc.'
p. III 15 6 em toö XujtoO KaGrijuevoc Kai XaiuiTupibiJuv ifiv öXtiv
oiKou)Lievr|V: formula antiquissima monumentorum Aegyptiorum^ nee alia
illa TÖv iv Tfj KaXri Koiir] (II 1).
u. äg. leben' p. 471. Maspero 1. c. p. 40. apud Indos et Germanos: uide quae
comparauit A. Kuhn KZ. 13 p. 49 sqq. et 113 sqq. * Cf. Leemansii adnotat.
* Cf. Plut. de Is. et Os. c. 11 et 18. tö iu^yictov koI ^vboHov aöroO KaTexpn-
cavTo in pap.: nonne referendum ad Osiridis genitalia abscissa? Plut. de Is. et
Os. c. 18. Hippolyt. V 7 p. 142.
' Typhonem ignem esse putari docet E. Meyer. 'Set-Typhon'. Lips. 1875 p.41.
* ^äv irapttKoucric (cf. IV 34) paene legitima formula esse uidetur harum
dtreiXuüv ßiacTiKU)v cf. Lucan. Pharsal. VI 492. Psell. de op. daemon. p. 26
(Boissonade). Reuvens lettr. p. 19. lamblich. de myster. VI 5 et 6.
'" Cf. Leemansii adnotat.
•^ Cf. Meyer, 'Set-Typhon'.
' Brugsch, 'religion und mythologie der alten Aegypter' I p. 160 et 241.
cuius libri quod uolumen secundum nuper editum nondum inspicere potui ualde
doleo.
» Brugsch 1. c. p. 168 et 121.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 27
jx. IF 19 - TTOiricavToc xd reccapa 0e|LieXia Kai laiHavxoc xouc b' 773
dvenouc. opinio Aegyptiorum antiquissima est mundum exstructum esse
a deo in quattuor columnis. iam in monumento, quod adscribitur
aetati Ramsis VI., legitur: 'der himmel ruht fest auf seinen 4 pfeilern'/
p. III 29 cu ei xö ujöv dTto Xoxiac — . finxerant Aegyptii mundum
ortum esse ex ouo et solebant deum solis uel deum summum fabulari
ex ouo ortum esse uel ipsum ouum esse.^ cf. Orphicum woTevfi in
hymn. VI 2 (Abel.).
p. V 5 . . . nv öp(e)öv ißiOTTpöcu)7rov. quo modo lacuna supplenda
est? postea u. 8. sequitur: xaxd xoö iraxpöc cou 'Ocipiboc xai "Iciboc
jf\c jUTiTpöc cou: est Horus.^ ißioTTpöcujiroc uero nemo esse potest nisi
öu>6, graece 'Cpjufic, quem in hac deorum mixtione et filium Osiridis
et Isidis uocari potuisse ueri est simile. scribendum est <,'Ep|Li>fiv
öp[0]öv ißiOTTpöcujTTOv: quod me docuit Wiedemann.
p. VII 24 ifd) €i)Lii Hceveqpuc x] KaXou|Lievri eap.* inesse debet
Neq)0uc dea^ quae saepius inuocatur in demoticis et copticis papyris.®
9
in papyro coptica' lego: ceceveßGiu, quid iudicandum sit, uideant alii.
p. VII 25 ifdi) ei|Lii cOxoc. nomen est aegyptium crocodili, quod
Leemansius ad locum adnotauit. deus KpoKobeiXo€ibr|c est Sebak.
p. VI 5 xö xfic opTfic ovojua xveuj)Li. de uoce xveajju ne Leemansius
quidem certi quid attulit.
Denique notatum sit formulas illas ifd) eijLii Geöc - et talia (III 1,
VI 13, VII 18 sqq.) iam proprias esse ueteris Aegyptiorum superstitionis.^
' Brugsch uertit 1. c. p. 201. cf, p. 209: 'er hob empor den himmel auf
seine 4 Säulen '. de 4 zonis Aegyptiorum multa collegit Reuvens. lettr. p. 28 sqq.
* Brugsch 1. c. p. 161, 168, 169 sqq. cf. codicis graeci uerba in Berthelot,
'collection des alchimistes grecs' 1 'texte grec' p. 20: övoiuaTouoiia toO ii;oö-
aiLJTÖ Tdp ^CTiv TÖ iLiucxripiov xfic x^x^nc (1) xö iJüöv ^KdXecav xexpdcxoixov b\ä xö
elvai auxö köci^ou ^i|lhiciv rrepi^xo"^ fd x^ccapa cxoixe^a ^v ^auTUj.
' Cf. pap. Paris, u. 1075 'Öpoc — uiöc "Iciboc Kai 'Ocipetuc.
^ Cf. Plut. de Is. et Os. c. 69 xö 5' lap nepcepövriv: potestne Nephtys cum
Persephone comparari? [Brugsch, Rel. der alten Ägypter S. 252 zu einem kos;
mologischen Bild, das unterhalb des westlichen Auges (der Herbstgleiche) die
Isis, unterhalb des östlichen Auges (der Frühlingsgleiche) die Nephthys dar-
stellt, 'sei noch bemerkt, daß ohne Ausnahme das Bild der Göttin Isis sich
unter dem westlichen Auge, das der Nephthys sich unter dem östlichen befindet.
Man versteht hiemach die merkwürdige Angabe eines griechisch -ägyptischen
Papyrus, wonach die Esenephys d. i. Nephthys genannte Göttin den Frühling
darstellt'.] " De qua Plut. de Is. et Os. c. 12 et 14.
•* E. c. uide Maspero 1. c. p. 21. ' Erman, 'aeg. zeitschr.' 1. c. p. 161.
* Simili modo mortui iam in pyram. inscriptionibus ipsi uocantur: 'hie
Osiris N. N.* Meyer, 'geschichte des alten Aegyptens' p. 88. et in libro mor-
tuorum leguntur: 'ich bin Ra, Horus' etc. Meyer, 'Set -Typhon' p. 11.
28 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
iam legis in pap. mag. Harris 8, 5: *ich bin Ammon, ich bin Anhor —
ich bin der fürst, der herr des Schwertes' etc.^
774 Haec tantum^ sint de fontibus Aegyptiacis adnotata, ut diuines qui-
dem, quantum in papyris hisce ualeat superstitio antiqua Aegyptiorum.
ignoscas, quod mea nimis manca sunt, aliis hie habitandum erit.
3 ORPHICA
Multa sunt, quae e fontibus graecis petierunt, praeterquam quod
graeca numina saepe inuocantur.
Si in p. II. u. 34 legimus cu ei 6 irepiexujv xdc x^piTac ev rrj Kopuqprj
XaiLiTTpfj, nonne id graece dictumst de Apolline? nonne iam uerborum
coliocatione diuinare iubemur e uersu quodam sie discerpta esse uerba?
legis et in hymno Apollinis pap. Berol. II 6: cfic lepfic Kopucpfic ktX.,
legis in pap. mus. britann. XLVII. u. 10 ^v Kopucpjfjci ttoXutttuxou
vjv|iTi\o[To, in pap. Berol. II 140: Mouciuv 'AttöXXujv. potest fuisse uersus,
quem dilacerarunt, hie:
6c t' ^v er) Kopuqprj Xa)Li7Tpr| x^PiTac Trepitcxeic.
ipsi uersus^ quattuordecim etsi corrupti seruantur in papyri p. VII. et
VIII. atque in iis, quae antecedunt et quae conscripsi in p. 761, sen-
tentiae atque enuntiata inueniuntur simillima. iam antea erant in pap.
Berol. inuenta hymnorum fragmenta et iam Diltheyus in iis, quae de
hymnis a Millero editis disputauit in M. Rh. XXVII p. 375 sqq., illustrare
coepit, quo modo illi, qui libros magicos graecos in Aegypto olim primi
conglutina^sent, sententias formasque precationum repetissent e copia
hymnorum uel carminum, quae solent appellari Orphica. demonstrare
uero nunc licet exemplis lucidissimis sententias *Orphicas' huc manasse
et in omnes fere libros magicos delatas esse.
In p. VII. uerbis, quae supra adscripsi, duae sententiarum quasi
series conseruntur:
I omnia contremiscere ac turbari audito nomine dei sacro;
II omnes mundi partes esse dei summi membra.
* Vertit Erman, 'Aegypten und ägyptisches leben' II p. 472. cf. Lenormant
'la magie chez les Chald6ens'. Paris. 1874 p. 87. hie mos ortus esse uidetur
mihi ita, ut mythus olim de deo narratus, quo modo ille eadem arte magica
effecerit, quod nunc efficiendum sit, postea correptus sit in formulam: kf\b ei)ui
Geöc etc. <Anders Mithrasliturgie * S. 112.>
' Non adhibui fragmenta illa inde a p. XIV. contextui demotico interposita,
quia nimis incerta sunt. p. XVI. u. 19 ßdpic solis dei commemorari uidetur (cf.
Wiedemann 1. c. p. 17).
3 Et uersus Homerici adhibentur ad incantationes magicas e. c. in pap. Paris,
u. 469—474 Septem uersus e uariis Homeri locis conscripti sunt, nonnulla
collegit Wessely in stud. Vindob. VIII p. 117.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 29
nee uero latet in uersibus illis quattuordeeim sententias reperiri
easdem.
Vnde hae, quas legimus, sententiae sumptae sint, quaeritur. quae
de caelo et terra et omni mundo, quo modo perturbata sint, dicuntur
conscripta has fere praebent sententias: (övo|Lia) ö oi bai|uov€c dKou-
cavT€c TTTOOÖVTtti, oij To övo|Lia f] Tn dKoucaca ^Xiccexai, 6 &br]c (xkouujv
Tapdcceiai, TTOiaiLioi GdXacca \i|Livai irriTai dKoOoucai TrrJTVuvTai, ai ire-
Tpai dKoucacai priTvuvxai. uide quam sint similes uersus 7-10 (uide
p. 779). maxime uolgatae fuere huius rei depictiones in libris carmini-
busque magicis.
Pap. V p. IV u. 12: öv Tide Oeöc TrpocKuveT xai Tide bai)Liujv q)piccei.775
Pap. W 19, 35 sqq.: etriKaXoöiLiai cou tö övo)Lia tö |lI€tictov ev
Geoic, ö edv emix) xeXeiov, ecrai ceic|uöc, 6 fiXioc cxricexai xai r\ ceXrjVTi
€V9oßoc Icxai Ktti ai Tteipai xai xd öpt] Kai r\ GdXacca xai oi Troxaiuol
Kai Trdv iifpöv i)7T0TT€xpujGr|C€xai, 6 k6c)lioc öXoc cuvxuGr|cexai.
Pap. Berol. I 273: 9uXaKxr|piov, dv ip irdvxec urroxdccovxai Kai
GdXacca Kai xrexpai cppiccouci Kai bai)Liov€c kxX.
Pap. Paris, u. 356 sqq.: ce ihopKilvj Kaxd xoö övö|aaxoc xoö cpoße-
poO Kai xpo)Li€poO, ou r\ fr\ dKoOcaca xoO 6vö|Liaxoc dvoiTncexai, ov oi
bai)Liov€c dKoucavxec xoö 6vö)Liaxoc evqpoßoi (poßr]Gr|covxai, ou oi iroxa-
jaoi Kai ai irexpai dKoOcavxec xö övojLia q)piccovxai -.
Pap. Paris, u. 372: öv xpcjuei f^wa Tiupöc Kai cpXÖTCc TTepicpXoTiZ^ouci
Kai cibripoc XaKa Kai irdv öpoc eK GeiueXiou 9oßeTxai, ö^kHw ce Tidv
TTveö^ia bai)Liöviov — Kai TTOioövxa cKxpoina xd GefiieXia auxfic (seil.
TTic) KXX.
Hymni, qui insertus est papyro primae Berol., uersus est hie: Ttdca
q)ucic xpo|Lie€i ce Trdxep köc|lioio, hymni magici a Millerp e papyro
Paris, editi hie (ap. Abel. V 30): baijuovec f\\ cppiccouci Kai dGdvaxoi
xpo|ueouci. hymni Dianae in pap. Paris, (u. 2533) hi sunt uersiculi
emendati: KXaTTflc cfic diovxa^ xd KOCjuiKd irdvxa boveixai || vepxepiai^
xe TTuXai Kai XriG^c lepöv libuup || Kai x^oc dpxaiov^ Kai xdpxapa*,
* dKoOovxa pap. cuvUvxa Wessely 1. c. p. 30 et Herwerden in Mnemosyne
1888 p. 16. ad diovxa, quod scripsi, cf. et Argon. Orph. u. 436 (Abel).
' Herwerdeni (1. c.) emendatio palmaris. v€Kxdpiai pap.
' Sic restituo. pap. apxexaov e. i. dpxaixaxov, quod in uersu Aegyptiorum
more recitato ferri potuit (dpxexaxov). in hymno antea conscripto legebatur
haud dubie dpxaiov cf. Arg. Orph. u. 12: dpxaiou — x<ieoc et idem u. 421.
Wessely et Herwerden dpx^rovoc.
* Ci. Wess. Tapxdpou pap. [Cf. Schmidt, Volksleben der Neugriechen p.235:
'xd Tdprapa Unterwelt, wie schon in der alten Sprache'.]
30 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
Xacjüia cpaevjov} \\ f\v 0eoi dGdvaTOi^ TrdvTec GvriToi t' dvöpuiTroi, |
oupea dcTepöevTtt vd-rrai Kai bevbpea irdvia || Kai Troxaiuoi KeXaboövxec^
ä^'* dTpuTCTÖc T€ GdXacca || iix^ epr|)uaiii Kai baijuovec oi Kaid köcjliov |
qppiccouciv^ ce, fidKaipa, dKOuovrec® öira b€ivr|V.
Vides quanta constantia propagata sit in libris magicis haec eadem
sententia: quam ipsam mireris quod et scriptores in rebus magicis
enarrandis testantur: in Vergil. Aen. IV 489 dicitur de sacerdote in-
cantatrice, quae ^carminibus promittat':
776 ^sistere aquam fluuiis et uertere sidera retro,
nocturnosque mouet Manis; mugire uidebis
sub pedibus terram, et descendere montibus ornos.'
Ovid. Metamorph. VII 204 de Medea:
'uiuaque saxa sua conuulsaque robora terrae
et siluas moneo iubeoque tremescere montes
et mugire solum' - .
Lucan. Pharsal. VI 463:
*Torpuit et praeceps audito carmine mundus,
axibus et rapidis impulsos luppiter urguens
miratur non ire polos.'
472: *de rupe pependit
abscissa fixus torrens; amnisque cucurrit
non qua pronus erat. Nilum non extulit aestas,
Maeander direxit aquas Rhodanumque morantem
praecipitauit Arar: submisso uertice montes
explicuere iugum.'
* cpaeivöv Herwerdenus 1. c. in suspicionem uocauit, quod Soph. Ai. u. 395
Ipeßoc u» (paewÖTttTov defendere non potest. quae Herwerdenus scripsit X''^<^}^<^
t' deivujv aut xäc|LiaT' de(va) nolo accipere. malim quod non uult KeXaivöv.
<(paeivöv wird von Dieterich selbst verteidigt Abrax. S. 35; vgl. dazu Nek. 201.)
"^ Sic emendo codicis uerba 9\v udvTec dedvaxai. Wess.: Kai rravTec Öeoi
nb^ Geai.
* [Apoll. Rhod. III 531 de Medeae veneficiis
TOlCl Kttl dKa|LldTOlO TTUpÖC jLlGlXlCCeT ' duT|ar]v,
Kai -rroTaiLiouc icxriciv dqpap KeXabeivd ^^ovxac,
äcTpa xe Kai Mrivr^c iepnc ^iT^bric€ KeXeüeouc]
* (ä)n' Wess. Y\b* pap.
^ [Theocr. II 13
T^ XQoviq. 9' '€KdTa, xdv Kai CKÜXaKec xpoin^ovTi
^pXO|u^vav veKijuüv dvd t' r\pia Kai iii^Xav aT|na.
'Eine Reminiszenz aus dem Millerschen Hekatehymnus' 0. Crusius 4. I. 89.
<Dazu s. R. Reitzenstein, Inedita poetarum Graecorum fragmenta HI, Progr.
Rost. 1892/3 p. 28.>I
•* l^dKaip' ^iraKoOovtec Wess. papyrum defendit Herwerden.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 31
527: 'omne netas superi prima iam uoce precantis
concedunt carmenque timent audire secundum.'
Quintilian. in declamatione X illa 'magica': in incantatione ipsa
magi c XV: 'magis mihi laborandum est quam cum sidera mundo
reuelluntur, cum iubentur hiberni fluuiorum stare decursus' etc/
Iam uero unde desumpta sint illa, doceat fragmentum Orphicum
238, 3 (Abel): baijuovec, öv cppiccovjci Kai dGdvaxoi Tpo|Lieouciv. si
quaerere pergis, adest apud Lactantium de ira 23, 12 Apollinis Milesii
oraculum e Porphyrio desumptum^:
^c be 6€Öv ßaciXea Kai €C T^vexfipa TrpoTrdvxujv,
öv Tpojueei Kai Tctia Kai oupavöc ^be GdXacca
rapidpioi xe fnuxoi Kai bai|Liovec eKcppiccouciv.^
Alteram illam sententiam, qua mundi partes tamquam membra dei
commemorantur, sie fere componam: oö Kai tiXioc Kai ceXr|vr| öqpGaXiiioi
eiciv dKd)Liaxoi - Kai oupavoc |li€v KeqpaXrj, aiGfip be cujjna, Tn ^^ TTÖbec,
xö be 7repiJ^uj)Lia ujKeavöc.
Similem habemus sententiarum nexum in hymn. mag. pap. Berol.
(Abel 19):
öpKiIuj KeqpaXriv ce 0€oO öuep kxiv ''OXu)LiTroc,
bpKilw ccppaTiba Oeoö ÖTiep kxiv öpacic,
öpKiZiuj xepa beHixepriv fj köc|liov eTTicxeiC*
Vt uero uideri possit, quo modo apud Orphicos, unde desumpsere 777
magici, magis magisque exculta atque ad pusilla excogitata sit illa
numinis diuini descriptio, hos uersus statim adscribam alios post alios:
Fragm. orph. ap. Macrob. Sat. 1, 20:
ei)Lil 0eöc xoicibe inaGeTv olöv f ctuj eiTTiu
oupdvioc KÖc)Lioc KeqpaXf), Tacxfip hk. GdXacca,
Taia be ^oi TTÖbec eici, xd b' ouax* ev aiGepi KcTxai,
6\x}ia xe xriXauT^c XainTipöv cpdoc n^Xioio.
Fragm. orph. 123, 13 (Euseb. praep. eu. III 9. Stob. ecl. phys.
I 1, 23):
' [Apul. Met. I 3. III 15.1 * Cf. Dilthey, M. Rh. 27, p. 417.
» Nescio an quid de talis sententiae historia concludi possit ex eo quod
simillima inueniuntur ad Dianam celebrandam dicta in hymn. Homer. XXVil 6:
xpoiLidei U Kdpnva | C»vi;riXOüv öp^ujv laxei 5' ^iri ödcKioc v\r] \ öeivöv Otto K\affi]C
eripu)v (ppiccei U xe Taia | ttövtoc t* Ixeuöeic. an quid utilitatis paratur e uerb.
epist lacobi I cap. 2, u. 19: — xd öai^övia TriCTeuouci Kai (ppiccouci, quae
e libris hebraicis hausta esse (cf. lesaiae c. XIV, u. 9) uerisimile, unde plura
et huc manauere (e LXX)? <Hierzu hatte Dieterich eine Menge Parallelen
notiert, die dann Abrax. S. 140 f. verwertet sind. S. auch die Besprechung von
Buresch's Klaros, Berl. philol. Wochenschr. 1891, 629.)
* Correxit Schenkelius. pap. ^\v köc|iioc ^ir^cxec.
32 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
ToO hx] TOI KecpaXri juev ibeiv Kai KaXd -rrpöccuTra
oupavöc ai^Xri^ic, öv xP^ceai djuqpic eöeipai
dcxpiuv jLiapuapeiuv rrepiKaWeec iiepeGoviai.
Taupea b' djaqpoxepiuöe buo xp^ceia Kepaia
dvToXiti T€ bOcic T€, Geiuv öboi oupaviiuvujv,
ö|Li|LiaTa h' r\i\\oc Kai iraiucpavötuca ceXr|vr|
ouc be Ol dvpeubec ßaciXrjiov dqpGiTOc aiGrjp,
dj br\ Trdvxa kXOci Kai (ppalerav ovbe Tic ecTiv — .
u. 26: uJjuoi jLiev Kai CTepva Kai eupea vujTa GeoTo
df]p eupußiric TTTeputec be oi eHecpOovTo,
Taic em irdvTa iroTäG*' kpr] be oi eirXeTO vrjbuc
Tctia Te TraiLiuriTeip', öpeujv t aiireivd Kdpr|va,
iLidcca be Z;ijuvti ßapunx^oc o?b|ua GaXdccr|c
Kai 7TÖVT0U* TTUjudTTi be ßdcic xöovöc IvboGi pilai
TdpTapd t' eupujevTa Kai ecxaTa ireipaTa Tainc
Huc et ducenda uidentur illa papyri V (p. VIII 5) : coO bk t6 devvaov
KUJ)LiacTr|piov dvuj dcpibpuTai et in pap. Mimaut d. L u. 129: il) 6 oupavöc
eTevcTO Kiü^acTripiov/
luuat adnotare simillimam mundi figurationem et posterioris aeui
philosophis placuisse: depingitur mundus quasi animal, cuius oculi sint
stellae, sei cor, iecur luna, stomachus uero et nares terra ac mare,
apud Plut. de fac. lun. 15. Pythagoreis autem illis posteris mundus
uidebatur speciem praebere corporis humani (Epiphan. c. haer. 1, 5).
Sententias uero illas uersuum fragmenti orphici 1-6 et 11-14 (uid.
p. 778 sq.) et simillimas uerborum in papyro antecedentium esse re uera
^Orphicas' ut probem, locorum copiam aduoco tantum, ne in his nimis
longus sim: hymn. 0. XVIII 17, XVII [2] 7, XXIX 10, LV 6. fr. 0. 164.
fr. 7. fr. 5, 9; 6, 10. h. V 36, IV 5 in appendice Abelii. h. 11, 10; 13,
5. 20, 5; 73, 2. fr. 238/39.
778 Apparet illa papyrorum enuntiata quae in p. 761 sq. composui et
omnia quae hie attuli similia e uersibus in pedestrem sermonem discerpta
esse, nee minus ueri simile esse uidetur uersus illos quattuordecim sie
conglutinatos esse e carmine maiore, quod siue ipsum fons erat enun-
tiatorum illorum siue simillimum erat fonti. uideas apud Diltheyum 1. c.
p. 376 et 77, quo modo hymnus triginta uersuum a scriptore magico
redactus sit in hymnum duodecim uersuum. hos uero uersus dilacerantes
* Adiungas simillimae sententiae Hebraeorum simplicissimam formam, unde
nescio an quid huc manarit: lesaiae cap. LXVI 1 apud LXX: 6 oupavöc mou ö
ep6voc, 1^ bä yf] i)Troirö6iov tOuv ttoöüjv |hou (cf. Matthaei eu. c. V 34 et 35. XUI 22.
Actorum VII 49).
Papyrus mag-ica musei Lugdunensis Batavi 33
quomodo rem egerint magici Uli homunciones perspicuum est. alium
enim uerborum ordinem constituerunt, haec eiecerunt sensus ratione
uix habita, illa addiderunt, quae eis aliunde in promptu erant - inter-
posuerunt tum plura tum pauciora 'ephesia grammata'. etiam atque
etiam parta sunt innumera apographa: - ut ita dicam - stoliditate et
leuitate obstetricibus/
Si quis quando has res denuo tractare uelit, multa noua fortasse
statuere poterit de Orphicis, praesertim postquam sex noui hymni -
inter quos iambici - a Wesselyo in papyris Paris, et Lond. 1. c. nuper
editi sunt.^ multo enim quam putant artiore uinculo hymni illi cum
rebus magicis coniuncti sunt; re uera carmina illa in sacrificiis recitata
esse quis illis quae exposui probatis negabit?^ ac sacrificia magica
illa ad similitudinem illorum sacrorum efficta esse perfacile est ad demon-
strandum, in Aegypto composita esse carmina Orphica paene nunc
elucet*, sed multo priore aetate quam Nonnus eiusque sectatores floruere.^
si recta sunt, quae de papyri tempore statuemus (p. 779 sq.), iam ca.
annum 200. p. Chr. hymnorum thensauros ad manus fuisse compila-
toribus magicis certum est.
Hymni fragmentum
p. VII 33 - VIII 5 editur restitutum.*^
TIC iLiopcpdc ZIjJüujv ^TüXacev; Tic b' eöpe KeXeuOouc;*
TIC KapTTUJV TCveTTic; Tic b' oupea uipöc' €T€ip€v;
TIC b* dv€)Liouc ^KcXeucev ex^iv eviaucia ^'pTct;
1 £TrXac€ P €Tr\aT€ L<eemansius> legit be P quales KeXeOGouc? hiat
poema [♦ lacunam significat] <aber s. unten Anm. 6 Ende) 2 T€vvnTT]c P ?T«pev
Herwerdenus in Mnemos. 1888 p. 31 3 be P ad hiatus illos oöpea viipöc' —
u. 2 et Kttl (ibaxi u. 14 cf. GHermannus de hiatu in Orphicis impr. p. 725
' Cf. Dilthey 1. c. p. 383.
' De quibus egit Herwerdenus in Mnemosyne 1888 p. 2 sqq., qui iam tria
carmina addidit. permulta uersuum frustula in pap. Parisina adhuc latent.
'^ Cf. quae plane alia ratiocinatione adductus adumbrauit R. Schoell in satura
philologa Hermanne Sauppio oblata. Berol. 1879 p. 178.
* Dilthey 1. c. p. 382.
'' Ca. Nonni tempora putat composita esse Dilthey 1. c.
« Omnia mea parata erant, cum Herwerdeni animaduersiones et in hunc
hymnum in Mnemosynes uolumine ultimo (p. 31 sqq.) prodierunt. edidi sicut
iäm antea ordini philosophorum Bonn, tradidi praeterquam quod in u. 2 Her- 779
werdeni Irtip^v recepi; cuius tamen adscripsi nonnullas coniecturas. optuma
iam adumbrauerat anonym, in annal. Fleckeis. 1886, quem Herw. neglexit.
[rursus edidit versus Wilamowitzius in ind. lect. Gotting. 1889 p. 30. uu. 10 et
1 1 eicit nee non u. 13. interpungit vero post TTveuMaxa. praeterea xai <C6> Tpf-
iLiouciv dedit et 'epica qualia poeta uoluerat\ in u. 1 de Zi^bioic dici egregie
animadvertit. sed neque rpoM^ouciv falsum neque interpunctionem mutandam
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 3
34 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
779 TIC ö' aiüuv aiüuva rpeqpujv aiüuciv dvdccei;
5 elc 0eöc aOavaioc ttoivtiüv Y^veriup cu irecpuKac
Kai TTCiciv vpuxdc cii v€)ueic Kai Travia Kpaiuveic,
aiijuvujv ßaciXeO Kai Kupie. — — —
— — — — — — — Kai TpO|U€OUClV
oupea CUV rrebioic tttitojv TTOxajuujv xe xd p€T0pa
Kai ßuccoi TttiTic Kai irveiJiuaxa rrdvxa xd qpuvxa*
10 oupavöc uiyiqparic ce xpejaci Kai irdca ödXacca
Kijpie TravxoKpdxiup ctTioc Kai becrroxa Trdvxiuv
er) buvdjuei cxoixeia ireXei Kai cpOeG* dTiavxa*
TieXiou jLirivTic xe öpöjuoc vuktoc xe Kai iioOc*
14 depi Kai Totia Kai ubaxi Kai rrupöc dxjuuj.
III DE TEMPORE PAPYRI
De tempore, quo papyrus V confecta sit, breuiter adnotemus, quae
ex iis, quae disputauimus, colligi possunt.
Scripta est haec papyrus, quantum e re palaeographica collegere uiri
peritissimi, inter annos 300. et 350. p. Chr.\* certus igitur terminus ante quem.
4 aitüvaiva P aiOüva Iva L. aiOüv' dvacxpeqpuuv L. ci. cf. anonym, in annal.
Fleckeisen. 1886 p. 113. cf. pap. W 13, 36; 23, 3; pap. Paris. 1169; 2196 Tic b'
alCbva tpicpwv aiojciv <^lc aUv)> dvdccei; Herw. 1. c. p. 32 5 Yevvr)Tuup P
7 Tpeiaouciv P Tp.ejuouciv L. legit. hiat oratio, caue ne c^ (Herwerd. 1. c.) uel
potius 6v Tpo|u^ouciv corrigas! 8 iraibioic P iraibioic ttht^v L. explicauit:
'fonticulis' hebraismum statuens! pi9pa P TroTaiuujv re j!)^e9pa Herwerd. 1. c.
9 ßucuccac P ßuccoi L. [Klal L. [Orph. hymn. 58, 6 irveOinaTa iravTOY^veGXa, Orph.
frg. 22 Herrn.: irveOiuaTa . . irdvT ^x^Kvujce Kpovoc. — Kai uveOinaTa , irdvTa^xd
(pOvra? oder auch irdvxa xe cpOvxa.j 10 i»i|;i(pavr]c L. 11 ä-^ie P dTiuüxaxe
b^cTToxa TT. Herwerd. 1. c. fÖYie muß man stehen lassen. Vgl. die Prosodie
der engverwandten Orakel in dem meinem Klaros angehängten Anekdoton'
Buresch <Woch. f. klass. Phil. 1890, 876ff.>, der gegen Wilamowitz das übrige
verteidigt.] 12 cr| öuvaiuicxuxeia P er] 6uva|uiccxuxeia L. legit. cpuexai iravxa L.
non rectum, etsi linguae Aegyptiorum aptum. cpuexairavxa et Herwerd. legit.
13 f: iHNHC P fissura deletae partes litterarum }x et y]. lavricxai L. legit. öiuvricxai!
L. ci. cf. anon. in annal. Fleckeis. p. 113 [K]ai L 14 aepei P I<^v> öbaxi
Wilam. 1. c] axjuuj P ayiuijü LI dKiurj Lc cf. anon. 1. c. p. 113. Ultimos uersus
Herwerd. sie constituit:
crj buvdjuei cxoixeTa nrdXei Kai qpijpeO' ÖTiavxa
r\ipi Kai YCiiri Kai libaxi Kai trupöc dxjLiiu.
*******
^eXiou iLirivric xe bpö|uoc vukxöc xe Kai rjoOc.
de conexu uersuum cf. quae adnotaui in p. 778 sq.
esse concedo. conferas exempla in p. 776, imprimis oraculum Porphyrii, ubi
xpo|Li^€i .... cf. frgm. orph. 238, 3 baiiuovec . . xpoiu^ouciv et alia p. 775. — xic
luiopqpdc 2lüujv ^irXacev; xic 5' eupe KeXeüGouc | rieXiou iJiY\vr\c xe bpöjuouc vukxöc xe
Kai riouc; <Dieterich zog also der Athetese von V. 13 eine Umstellung vor.)]
* Wessely in ed. pap. Paris, et Lond. prooem. p. 36 et stud. Vind. VIII 188.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 35
Ex iis quae de libris magicis ac nominibus auctorum composuimus,
nil effici potest, nisi confectas esse has papyros, postquam illi uixere
uelut post Hadriani tempora. neque uero licet ex ea historiola, quae 780
in pap. Paris. 2446 sq. de Pachrate et Hadriano narratur, concludere has
farragines circa Hadriani tempora confectas esse.^ quiuis, ut puto, ex iis,
quae disseruimus,intellexerit,quanta fides habendasit talibus historiolis fabu-
losis, quibus nomina magis antiquiorum hominum intulere quam recentiorum.
Ea uero, quae de tradito papyrorum contextu explicauimus , docent
iam per tempus haud breue haec propagata ac mutata sint* oportere,
ut faciem praebeant tarn rugosam ac quasi senilem, itaque iam ante
annum ca. 250. componi coepisse fit ueri simile.
At Parthey ex eo, quod in pap. Berol. I u. 26 is, qui aduocaretur
dyaee feujpTe, esset sanctus Qeorgius, cui dies constituta esset 23. apr
anno 303. p. Chr., hunc ipsum annum esse terminum a quo collegit.*
iam uero Baudissin.^ suspicabatur TeujpTe esse deriuandum ab adiectiuo
TeujpTÖc: quod rectum puto. nee obstat quam Parthey attulit inuocationem
dTa0ou T€u)pToO in tabula lignea Aegyptiaca (p. 140) satis mutila: uide
modo u. 6 vuKTi jueXaivr] xopTdcjuaciv eTri|uebo . . . v.^
Ne minimum quidem utilitatis ad hanc rem afferre potest lingua
papyrorum, quoniam scribae suas quisque formas intulere nequedum in
his obseruationibus tantum effectum est, ut certiori aetati formas ac
uoces adtribuere possimus.
Ex iis uero, quae de uocibus ac sententiis gnosticis hie relictis
statuimus, sequitur, ut post Valentini uel Marci tempora demum haec
sie confici potuerint.^ ac cum Valentinus floruerit ca. annum 150
(mortuus est anno 160. in Cypro insula) et Marcus ca. 170., iam abripimur
in angustiorem annorum gyrum.
Omnia si reputamus, statuere licet haud sine summa probabilitate
has quidem papyros atque imprimis pap. V confectam esse ca. annum
200. p. Chr., etsi nemo, quando prima incrementa ac frustula talis ar-
gumenti conscribi coeperint, audebit affirmare.
IV ANALECTA DE PARTIBUS QUIBUSDAM PAPYRI
1. Quo usque iam culta atque elaborata fuerit disciplina occulta,
prae se fert index ille plantar um aliarumque rerum magicarum, qui
1 Wessely, Stud. Vindob. VIII p. 189, Menkschriften' 1. c. p. 37.
* Cf. Wessely, Stud. Vind. VIII 188, 'denkschriften' 1. c. p. 36.
' In edit. pap. Berol. ad loc. et in prooem. p. 117.
* 'Studien zur semitischen religionsgeschichte' p. 119 adn. 1. " im^r\b6߀vov?
* <Die Ansetzung nach den großen Gnostikern wird als falsch bezeichnet
Abrax. 133 Anm. 2.)
3*
36 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
inscribitur ep)Liriv€iJ,uaTa €k tujv lepüjv |U€8r|p|Liriv€vj|ueva, oic ixpijjvjo o\
lepoi Tpa^Mareic. iam componebant lexica rerum in usu magico tritarum :
781 namque secundum litterarum ordinem indicis altera columna disposita
est uel potius erat: inde a p. XIII. tantum uersibus 10. et 11. series
alphabetica interrumpitur\ quoniam in u. 18. post Kebpiac superioris
uersus T^üucca supplendum est uelut interdum non priores sed alterae
nominum uoces litterarum ordinem seruant.^ nee uero latet haec frustula
desumpta esse e libello quodam, cui nomina ita inserta erant, ut ac-
cusatiui essent positi: XII 30 ttötiv, XIII 7 dKCKaWiba, 14 deröv^, 23
TÖvov. interdum XeT^i apponitur (XII 25. XIII 20, 25) et nominatiuo (XIII 25).
Hoc uero nominum mysticorum genus et aliunde notum: ut apud
Plut. de Is. et Os. c. 37 x^vöcipic i. e. planta Osiridis = kiccöc (cf. Parthey
ad loc. p. 230), c. 62 cibripixic XiGoc = ocxeov "Qpou, cibripoc = öcTeov
Tuqpujvoc. permulta similia inueniuntur apud Dioscoridem, quae bene
comparauit Berthelot.^ unde apparet quam sit fucata haec doctrina:
nam nominibus plantarum mysticis alia apponuntur uera, ueris alia
mystica: non re uera haec in usu fuere, sed alius alia finxit: omnia
nil nisi fraudes ac tenebrae.^ plenus talibus rebus est libellus Me her-
barum uirtutibus', qui adscribitur Apuleio^; multa apud Plinium et in
scriptis medicis occurrunt.
Vnde haec omnia orta sunt? iam uiri docti quoniam in Apulei opus-
culo inueniuntur quae neque apud Dioscoridem neque apud Plinium
occurrunt fontem antiquiorem communem quaerebant.' praesto erat
Pamphilus qui opus irepi ßoiaviuv scripsisse traditur. uide quae de eo
dixerit Galenus in operis Tiepi Kpdceujc Kai buvd)Li€UJc tujv dirXujv cpap-
ludKUJV libro VII. = editionis Kuehn. XI 792: Kai ^evroi Kai xfiv rdHiv
auTUüV (seil. TUJV q)UTU)v) Tf]c fpa(pf[c €TVujv XP^'vai KaTd CTOixeiov
TTOiricacGai , .... outiu bx] Kai TTd)Liq)iXoc erroiricaTO Tf]V irepi tüjv
ßoTavujv TTpaT|uaT€iav. dXX' eKeivoc ^^v eic tc iliOöouc TpctOuv
Tivac dH€Tpd7T€T0 . Kai Tivac TorjTeiac AiTUTTTiac Xripuübeic djiia ticiv
^TTiubaTc, de dvaipoujuevoi Tdc ßoTdvac e-rriXeTOuciv. Kai br\ KexpnTai
^ V. 14 oceXXeßei non intellego: corruptum uidetur.
' Sic elementorum ordinem obseruandum esse me monuit Buecheler.
^ Nisi deroö scribendum et ai|aa supplendum.
" In 'Journ. des Sav.' apr. 1886, ubi papyros a Leemansio editas tractauit,
p. 215 sqq. et XoUection des alchimistes grecs'. Paris. 1887. I p. 10 sq.
* Tarnen et apud nostrates huius generis nominum exempla seruantur:
'Ochsenzunge', 'teufelsbart', 'gaensefusz',' Igelsamen', 'teufelsdreck', 'löwenzahn'.
cf. Berthelot, Xoll. des alch.' p. 11 c. adn. 6. (cf. 'odinskopf" Wuttke, 'deutscher
Volksaberglaube' p. 92.)
® Cf. imprimis c. 10.
' Cf. Wiedemann, 'Sammlung altägyptischer Wörter etc.' p. 3 sqq.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 37
TTpöc TrepiaTTTtt koi ctXXac iuaYTaveiac ou TiepiepTOuc jliövov, oub'
e'Hu) Tfic iaxpiKfic xexvnc dWct Kai lyeubeTc dTrdcac p. 793: 6 be
T€ TTdMcpiXoc 6 xd irepl tOjv ßoiaviuv cuvGelc eubriXöc eciiv KdH auxujv
iLv Tpdqpei Tpa|a)LiaxiK6c uuv Kai juriG' euupaKiuc xdc ßoxdvac uTiep iLv 782
biTiTeixai )ur|xe xnc buvd^€lüc auxujv TTeireipaiuevoc, dXXd xoTc irpo
auxoO TeTpatpdciv dTtaciv dveu ßacdvou TreTTicxeuKiuc. ouxoc
^ev 'eH eTpavpe^ ßißXia, TiXfieoc övo)Lidxu)v eq)' €Kdcxr) ßoxdvri |udxriv
TTpocxiOeic, ele' dHnc ei xic auxuiv eH dvepiiuTrou juexeiiiopcpiüeTi biTiTOUjue-
voc, eixa exriubdc Kai CTTOvbdc br| xivac Kai eujuidimaxa xaic em xoO-
xuuv eK xfic Tnc dvaipececi irpocTpdqpujv, ^xepac be TOtiTci ac xoiaOxac
Xripuubeic. öbe 'AvaZiapßeuc AiocKOupibric p. 794: xaOxd xe ouv dva-
TITVUJCK6IV xpn TÖv einTTCipov TevecGai liXnc ßouXö|aevov, ^xi xe irpöc
xovjxoic xd 0' ^HpaKXeibou xoO Tapavxivou Kai Kpaxeua Kai Mavxiou
ujcG' öxuj cxoXf) xPnci)Lioic 6)LiiXeiv ßißXioic irepi cpapindKuv TeTpa|Li|Lievoic
^X€i TToXXd Kai xujv iraXaioJV iiiev, u)c eiprixai, Kai xu)v vecuxepujv
hl ouK oXifa luexpi Kai xujv Txepi TTd)Liq)iX6v xe Kai 'ApxiT^vriv. — .....
TTajicpiXou xoö |uir|b' övap ^lupaKÖxoc iroxe xdc ßoxdvac, iLvxdcib^ac
e7Tix€ipeT Tpdq)eiv '.
p. 797: Tpdq)Ovxoc diriubdc Kai |uexa)Liop(pujceic Kai beKaviuv
Kai baijuövujv lepdc ßoxdvac dvdcxoix' dv; öxi ydp TÖriTec dvGpuu-
TTOi ^K7rXr|xxeiv xöv ttoXuv öxXov IpTOV TreTioiTmevoi xd xoiaOxa cuv-
eGecav dH auxiliv ^vecxi coi ^vujvai xoO TTa)Li(piXou ßißXiiuv, oc Trpüjxov
)Liev ev xaTc ßoxdvaic l^pa\\tey/ dßpöxovov, diraciv fiiuiv TVubpijLiov xut-
Xdvoucav, eiG' llf\c dyvov, iKavüuc Kai xoöxo TVu>piHov Gdjuvov, eix'
dTpiwcxiv, oube xoTc ibiuixaic drvuücxov iiöav, eix' dfxo^cav, ^v oube
auxfiv dTvoei xic, ÜJCTiep ouv oube xö dbiavxov ecpeEnc auxfj ye-fpaiu-
fLievov. dv ^^v bfi xouxoic oubev luv iC|Liev Ttepixxöxepov Ypdcpei. juexd
be xaöxa ßoxdvric |Lie)LiVTixai KaXou|uevTic, ujc auxöc cpriciv, dexoö, irepi
Y]c öiuoXoTeT juribeva xüuv '6XXr|VUJV eipT]K€vai \ir\hiy, dXX' ev xivi xijüv
eic 'GpiLifiv xöv AifUTixiov dvacpepOjLievuuv ßißXiuuv exTeTpdcpGai
Tiepiexovxi xdc X^' xüüv u)pocKÖ7ru)v lepdc ßoxdvac, di eubriXov
ÖTi TTCtcai Xfjpöc eici Kai ixXdcjuaxa xoO cuvGevxoc, öfnoiöxaxa xoTc 'Ocpio-
viKOic xoic KoTX^ctKÖTX^ot-'
Haec omnia adscripsi, ut appareat Pamphili opus et ipsum prorsus
superstitiosum simillimum fuisse indici isti in papyro seruato. et gno-
stica inerant: uide apud Galenum beKavuJv Kai bai^övujv lepdc ßoxdvac.
compositum erat Kaxd cxoixeTov: recensentur primae herbae a Galeno
* iU'rpa\\s€ traditur. correxit Lobeck, Agflaoph. p. 610.
' Cf. Vsener, Mus. Rhen. XXVIII 640 (cf. 411) et E. Rhode, 'griechischer
roman' p. 219.
38 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
sie: dßpOTOvoc, ayvoc, octpiajctic, ctTXO^ca, dbiaviov, dexöc.^ sex
erant libri quos titulo usos esse suspicor eiKÖvec iiuv ßoiavOuv, quamuis
783 contra disputatum sit.^ apud Suidam TTd|Li(piXoc, 'AilkpittoXittic, f\ Cikvj-
d)vioc, f| NiKOTToXiTric, cpiXöcoqpoc -^ traditur eiKÖvac xard cioixeTov scrip-
sisse. iam Petrus Lambecius in comment. de bibliotheca Vindob. lib. II
c. 7 tAv ßoTavuJv inseruit. cf. Galen, xdc ßoxdvac ojv xdc ibeac diri-
xeipeT Tpdqpeiv. nil aliud significat ac in titulo indicis plantarum papyr. V
p. XII 20 eic Geujv eibujXa eireTpaiiJev.
Quae de planta dexöc uocata adduxerit Pamphilus inuenisse eum
tradit Galenus Iv xivixüjv eic '€p)Lifiv xöv Aituttxiov dvaqpepojLievujv
ßißXiuuv — Tiepiexovxi xdc X<;' xüuv ujpocKÖTTUJV lepdc ßoxdvac kxX.
nonne plane eiusdem generis est indiculus iste papyri qui inscribitur:
'EpjUTiveujuaxa eK xoiv lepOuv |U€6r|p|Lir|veu|ueva, oic expijuvxo oi
lepoi Tpam^aTeTc. (22: — xdc Xvjceic iiyd^oiuev eK xüjv ttoXXüjv dvxiYpd-
cpujv Ktti Kpu(pi|Liu)v irdvxujv.) et dexöc re uera exstat in papyro (p. XIII 14).
In huius igitur papyri illa particula (p. XII 17 et XIII) seruatur spe-
cimen libellorum iam xaxd cxoixeTov conscriptorum, unde Pamphilus
aliique, qui Dioscoridi Plinio Apuleio aliis ad manus fuere, doctrinam
superstitiosam sumpserunt. quid iuuat Dioscoridis et aliorum unum
fontem quaerere? neque enim Pamphilus solus talia compilauit: apud
Galenum nonnulla nomina adsunt, apud Plinium citatur Apion quidam:
*quaerat aliquis quae sint mentiti ueteres magi, cum adulescentibus nobis
uisus Apion grammaticae artis* prodiderit cynocephaliam herbam (kuvo-
KecpdXou nomen inter papyri plantas saepius occurrit, in pap. XLVI
mus. brit. adhibent KuvoxecpaXov ßoxdvriv) quae in Aegypto uocaretur
osiritis diuinam et contra omnia ueneficia, sed si tota erueretur, statim
eum qui eruisset mori etc.' sed quod plus ualet quam uana unius
nominis umbra -: patefacta est uia, qua e tenebris magicis per Pam-
phili aliorum compilationes deriuatae sunt scientiae botanicae ad scrip-
tores rei medicae et omnes sequioris aeui homunciones, qui Tiepi ßoxa-
viuv opuscula conglutinabant.^
* Cf. Schoenemann, De lexicographis antiquis qui rerum ordinem secuti
sunt quaestiones praecursoriae. diss. Bonn. Hannover. 1886 p. 113, adn. 3.
* Eruditorum sententias nuperrime recensuit Schoenemann 1. c. p. 62 sqq.
ipse uoluit scribere e'iKÖvac irepi ßoxavAv k. ct. [Häberlin, Deutsche Lit.-
Zeit. 1889, 1823 schlägt einen Doppeltitel vor, wie ihn die Satiren des Varro
tragen: eiKÖvec, irepl ßoravojv.] <(S. Abrax. 142 Anm. l.>
' Pamphilos diuersos pertractauit Schoenemann 1. c. p. 64 sqq. grammaticum
fuisse eundem ac scriptorem irepl ßoravuiv censuit.
* Obserues et hunc grammaticum fuisse aeque ac uidetur Pamphilus cf.
supra adn. 3.
^ De nonnullis egit Valentinus Rose in Hermae uol. VIII. p. 37.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 39
Nec uero hie praetermitto simili modo atque in papyro plantas collecta
esse chemiae incrementa similibus nominibus ornata: uide glossas che-
micas (XeHiKov Kaid cTOixeTov Tnc xP^coTroiiac) a Bernardo editioni
Palladii libelli de febribus^ adsertas^: d^ppobiiric CTiepina ecTiv avGoc
XaXKOÖ. - d7T0C7T6p)LiaTic)Liöc bpdKOVTÖc ecTiv ubpdpTupoc. - fdXa ßoöc
ILieXaivTic ecTiv ubpdpTupoc diiö Geiou. - Tiidvöc kiiv dcßecToc - alia.
Multum antiquitus ualebant in re magica plantae^: adhibentur in 784
Omnibus libellis superstitiosis.
Et aliis papyri locis plantae memorantur: iam I 1 exiuv öcirpiiuv
eTTieTiüv'^, I 21 TravToTa Tevn KapTTuuv, crpoßiXouc I 22^ I 23 \xr\ka cpoiviKia.
Xn 14 dicitur qui piZiav TraciGeav f\ dpiejuiciav secum habeat errixapic
Ktti TTpocqpiXfic KQi eau)nacTÖc toTc öpujci ktX.: huiusmodi radicibus semper
summa uis adscribebatur usque ad hunc diem: quam dicunt ^spreng-
wurzel' iam eodem modo describit Plinius h. n. X 18; XXV 4, quo nunc
laudant superstitiosi.'' ac papyri Parisinae locus docet, quali ritu piZ^o-
TÖ|uoi quaesiuerint atque incantarint radices magicas; ubi quoniam oc-
currunt nomina generis tractati liceat apponere nonnulla: u. 2982: cu f]
bpöcoc fi TÜuv Geujv TidvTUJV, ci> f) Kttpbia toö '€p)uoO, cu ei tö crrepiua
Tujv TTpofövujv Oeüjv, cu €1 ö 6q)6aX|aöc toO fjXiou, cu e? tö cpijuc xfic
ceXrivric, cu ei r\ ciroubfi' tou 'Ocipeujc. — u. 2988: t6 TTveujua tou
"Amnuivoc. — u. 2994: cou xd ävQr\ ecfiv 6 6cp0aX)Liöc tou "Qpou, tö
cöv CTrepiLia tou TTdvöc dcTiv CTrepina ktX.
2. Inter plantas etiam animalia^ quaedam nominantur uelut öcpic,
' Lugd. Batau. 1745.
' Nuper iterum editas in opere 'collection des alchimistes grecs publice
par M. Berthelot' I. 'texte grec' p. 4 sqq.
' Cf. Welcker, 'kleine schritten' III p. 20 sqq. nonnulla et de his rebus
collegit Dale 'dissertationes de origine ac progressu idololatriae et superstitionum '.
Amstelod. 1696 p. 603 sqq. de tali medii aeui superstitione cf. Meyer, 'der aber-
glaube [des mittelalters'. Basel 1884. p. 60 sqq. herbas et nunc creberrime
ad has res adhiberi docet Wuttke 1. c. p. 92 sqq. Grimm , mytholog. ed. I. ap-
pend. p. CLX.
* Fabae saepius ad res magicas adhibentur. pap. Paris, u. 769, 2682. cf.
Lemuriorum Romanorum ritus: Ovid. fast. V436: et nigras accipit ore fabas |
auersusque iacit. sed dum iacit 'haec ego mitto, | his' inquit 'redimo meque
meosque fabis'. cf. Petron. 135 (in actione magica). cf. Plut. de Is. et Os. c.65.
Herod. II 37.
* Cf. pap. Berol. II 245, 47, 25. pap. W 23, 33.
* Wuttke 1. c. p. 96.
' CTTOAH (= cTro6id-6oc) 'cineres' correxit Buecheler.
* Nonnulla de bestiolis magicis collegit O. Jahn in 'berichte der sächs. ges.
der wiss.' 1. c. p. 97 sqq.
40 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
786KuvoK€q)aXoc\ ißic, xoipOTP^XXoc, KaXaßiUTric- (= dcKaXaßujXTic), xo^poc,
XOlpiblov•^ xnvaXtÜTTTiH* etc. atque alia occurrunt in pap. animalia ad
sacrificia uel actiones adhibita: aXcKTpuiuv (I 30, VII 2, IX 31) ^
Xnv (VII 2)^', TrepiCTepd (I 31, VII 2)\ tö lepöv öpveov (poiviE"^
(VII 20), rpuTtüV (I 31)-', öpiuH (I 30) ^^ aiXoupoc (IV 2)^\ vuKxepic
^ Imprimis KuvoKcqpaXov Aegyptii uenerabantur. cum Selene et Mercurio quo-
dammodo coniunctae fuisse uidentur simiae. Parthey ad Plut. Is. et Os. p. 261.
in gemmis gnosticis figuratae inueniuntur. Kopp, pal. crit. IV p. 80. cf. omnino
0. Keller, 'tiere des classischen altertums'. Innsbruck. 1887 p. 1 sqq. quae in
cippis funerariis sculptae fuerant et in sepulcris argilla fictae reperiuntur, non
lusus causa factae sunt, quod Keller p. 6 (c. adn. 74) putat. memineris lege
Pompeia homines cum simiis coniunctos ad supplicium deportatos esse (Keller
p. 6) certe haud sine causa mystica. uide uerba Modestini Digest. 48, 9, 9:
culleo insuatur cum cane, gallo gallinaceo et uipera et simia etc.
* Lacertas magi omnibus temporibus adhibebant. cf. Theocrit. II 58. Pausan.
VI 2, 2. Plin. XXX 15; VIII 31, 49. Lenz, ' Zoologie der griechen u. römer'.
Gotha 1856 p. 429. Jahn 1. c. p. 37 et imprimis p. 99. C. Meyer, ' aberglaube
des mittelalters' p. 79 sqq. Wuttke, 'deutscher Volksaberglaube' p. 112.
^ Sues ab Aegyptiis nulli deo nisi CeXrivr) et Aiovucuj sacrificatas esse tradit
Herod. II 47. Aelian. de nat. anim. 10, 16 fert Athenienses in mysteriis sacri-
ficasse sues. * Cf. Keller 1. c. p. 287.
^ In omnibus fere sacrificiis magicis adhibentur. pap. Berol. II 25, pap.
Paris. 35, 2190 (fere semper albi coloris: ärcixov h^ lu^Xavoc pap. V IX 31); cf.
Jahn 1. c. p. 79 c. adn. 204 et p. 98. et nocti et laribus mactabantur Ovid. Fast.
1, 455; luuenal. 13, 233. in gemmis gnosticis saepe occurunt Kopp III p. 217.
IV p. 2 et 8, 168, 198, 236, 249, 293, 362. Plut. de Is. c. 61: Anubidi sacrari
gallos albos aut croceos. cf. Lucian. gall. c. 28. C. Meyer 1. c. p. 284. Wuttke
1. c. p. 112.
* Osiridi et Harpocrati anseres sacri erant. inueniuntur picti in cippis, fi-
gurati aurei in sepulcris (cf. 'archeol. zeitung' 1877, 178), in epulis funereis
fruebantur anseribus (CIL V 7906). Hercyna (Orci dea) in templo Lebadeensi
tenebat anserem in manu nee non huc referendum, quod in tot monumentis an-
seres strangulantur. [Journ. of hell. Stud. 1885 p. XLIX: eine vierflügelige Me-
duse hält Schwäne am Halse gepackt, Baumeister III 1953.J nonne haec docent
anseres rei aliquid habuisse cum Orco, quod Kellero non uidetur 1. c. p. 291?
vTi Töv xnva: diceret Socrates legem Rhadamantis secutus. cf. Wuttke p. 113.
' Cf. B. Lorentz, 'die taube im altertum'. progr. Würzen. 1886, quid docet
columbas apud Germanos antiquitus habitas esse aues infaustas, apud Gothos
etiam funebres. cf. Wuttke p. 113.
^ Cf. Keller p. 253. Hommel, 'äthiopische Übersetzung des physiologus' p. XXXIX.
* Cf. pap. Paris, u. 2305. pap. Mimaut. u. 204. cuius carne sacerdotibus
Aegyptiis non licebat frui. Porphyr, de abst. IV 7 Wuttke 1. c. p. 113.
^^ Cf. V 5 ai'iLiaTi öpxuYiou. Plin. h. n. X 69: ' coturnicibus ueneni semen
gratissimus cibus quam ab causam eas damnauere mensae simulque comitialem
propter morbum despui suetum.' cf. Wuttke p. 117.
'^ Pap. Mimaut. 15, 219; pap. Paris. 1648, 2137. apud Aegyptios sanctissi-
. mae erant feles. Parthey ad Is. et Os. p. 263. Leemanns ad Horapoll. 1, 10
p. 166. Herod. II 67. — Roug6 in 'revue arch6ol.' I p. 373. cf. C. Meyer 1. c.
p. 74. Wuttke p. 120. imprimis utuntur nigris felibus (cf. IV 2 aTXoupov dXo|u^-
Xava).
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 4|
(XI 26)' alia. Quae omnia - uide adnotationes - in usu erant superstitioso.
ac sicut de plantarum uiribus egerunt peculiaribus libellis, sie et animalium
qualitates ac uires iam antea conscripsere ^ ita, ut hoc modo — ut
puto - orirentur 'physiologi' quos uocamus. in iis uero paene semper786
omnes illae bestiolae recurrunt. iam persuasum est uiris doctis primum
physiologum in Aegypto prope Alexandriam ab hominibus nondum
Christianis confectum esse, qui postea ad christianas sententias atque
allegorias mutatus propagabatur ad omnes fere gentes.^ primum om-
nium quos habemus physiologum graecum edidit Pitra in spicil. Solesm.
III p. 338 sqq., ubi legis irepi cpoiviKOc TTereivoO, irepi vuKTiKopaKoc
Tiepi ipuTÖvoc, Tiepi öqpeuuc, irepi TrepicrepOuv, Trepi Tßeojc etc.
Vides quibus e tenebris mysticis ortae sint disciplinae quas uocamus
botanicam et zoologiam.
3. Nee uero aliis ex originibus prodiit mineralogia quae uoeatur.
ingentem numerum librorum de lapidibus mystieorum conseripsere :
habemus Orphei Lithica (saec. IV.?), Aetium (saec. VI.), Pselli libellum
(saee. IX.), seruatur Damigero qui uoeatur latinus, eui nuper multa noua
addidit e codice Cauensi 3. (saee. ca. XI.) Pitra in anal. sacr. II
p. 641 sqq., anonymi Christiani 'Opq)eujc XiGiKct KripuTiuaxa alii. pri-
mus, quod sciamus, libellus de hisee rebus uoeatur Damigero graecus,
cuius fragmenta tantum enueleari possunt - nondum postremi Marbodi
Rhenani (f 1123) poema de lapidibus et Vineentii Bellouaeensis (t 1264),
Arnoldi Saxonis (f 1220) excerpta et Alberti magni opus *de rebus
metallicis': et francogallica et germanica lapidaria* haud pauea postea
VPap. Paris. 2943 sqq. cf. Plin. XXX 15. Geoponica XIV 2, 5. XII 8, 8.
XIII 1, 4. Lucian. Luc. p. 580. medii aeui temporibus Passouiae uendebantur
ut amuleta 'mit dem blute von fledermäusen' bemalte zeddel' C. Meyer 1. c.
p. 277. cf. Wuttke p. 117. Grimm, mythol. ed. 1 p. LIV:
'auch treibt man mit der Fledermuss
menig tewschlich spil.'
' Huiusmodi multa collecta sunt in iis libellis, quos irepl dvTmaeeiOüv Kai
cu)Lnra9€iu)v conglutinabant: 'AvaxoXiou irepi tujv xaTOt dvriTrdeeiav Kai cu|Litrde€iav
ed. in Fabr. bibl. gr. IV p. 295 sqq. (prior, ed.): ArmoKpiTou irepi cuiuiraeeiüjv
Kai dvTma0€iu)v cum notis Rendtorfii ib. IV p. 333. eiusdem generis sunt, quae
apud Aelianum N. A. I 35-37, Geopon. XV 1 et al. prostant.
ä Haec exposuit Hommel, 'die äthiop. übers, des physiologus' p. XI sqq.
cf. Pitra in spicil. Solesm. HI p. XLVII-LXXX historiam physiologorum adum-
brauit. C. Meyer, 'der aberglaube des mittelalters' p. 71 sqq. imprimis cf. Carus,
'geschiente der Zoologie' p. 109 sqq., ubi plura inuenies. quales tractarentur
bestiolae in octo physiologis docuit indiculo in p. 137.
* 'Das steinbuch, ein altdeutsches gedieht von Volmar'. ed. H. Lambel.
Heilbronn 1877. (XIll. saec?) et lapidarium illud, quod dicitur 'S. Florianer
steinbuch' (XV. saec.) et alia. L6on Pannier edidit: 'les lapidaires fran9aises au
12. et 13. siecle.' omnino cf. C. Meyer, 'der aberglaube des mittelalters' p. 55 sqq.
42 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
occurrunt. ueteres uero libellos ex parte collegit Eugenius Abel in
Lithicis (Berol. 1881) \ tractauit et disposuit Valentinus Rose in Hermae
uol. IX. p. 472 sqq.
Quam arte ea quae in pap. de iaspi lapide et heliotropio anulis
infigendis (VI 27 sqq. et VIII 24 sqq.) deque uiribus eorum (VIII 30 sqq.
IX 21 sqq.) dicuntur, coniuncta sint cum iis, quae in libellis istis collecta
patent, si adumbraueris, docebis quanta constantia haec eadem frustula
ex his uetustissimis fontibus desumpta propagata sint ad illas collec-
tiones. Ea uero doctrina non minus fucata quam in plantarum indicibus:
falleris, si putas semper easdem uires eisdem lapidibus adscribi ac
falluntur, qui haec mutando et transponendo efficere uoluerunt: miselli
illi auctores eisdem semper incrementis usi omnia miscent.
787 Ad VII 27: in cod. Ambros. A 95 (e Damigeronte graeco; Abel,
Lith. p. 168, 7): XiGoc cjudpaTboc 6 koiXXictoc xai ttoXutijuoc bOvaiuiv
e'xei Tipöc iräcav irpäHiv Kai eirixuxiav ev Tidcri TrpdHei.
Ad VIII 24 et 32: Damig. lat. p. 172* (Abel): 'gratissimos facit
portantes illum et facundos, etiam amabiles et idoneos' etc. 'Opcp. Xi6
KTip. p. 144^*^: eil be Kai Trpöc TidvTac emxapiTOuc euTieiGeTc Trapa-
CK€ud2ei Touc cpopouvrac auxöv Kai euojuiXouc iroieT.
Ad IX 1 (iTOieT be Kai Tipöc bai|uoviOTrXr|KTOuc) : Damig. lat. p. 187*^:
^facit ad lymphaticos et ad daemoniacos'.
Ad VIII 31 (ö dv Tivi eiTTrjc 7TiCT€u9r|cr] -). Lith. 627: Kai GeXHeic
Hu6oici ßpoTOic. 'Opqp. XiG. Ktip. p. 143^: prjTOpiKiuTepov iroieT cf.
p. 144, 11 et 21. Damig. 1. 168^: 'persuasionem habet in omni negotio'.
p. 177^^: 'facundum et potentem et gratum et suadentem facit'.
Ad VI 27 ([Trpöc] ßaciXeic Kai fiTejaövac Xiav evepTec) et VIII 31
(1x1 be ßaciXeuuv opTdc Kai becrroTOJV TraOei). Damig. 1. p. 164'^: ^iras
quoque potentium summe delinit gestatus'. p. 169^: ^maximum autem
tutamentum aduersus iras dominorum insculptum nomen' etc., ubi uide
Damig. graec. Trpöc opTnv becTTÖiou. p. 172^: 'nee non ad omnes minas
et iras regum et dominorum portatus obsistit'. p. 176, 2: 'aptus est
autem ad potentiores' etc. cf. Lith. u. 226; 'Opcp. X. k. p. 139''; 148^'.
lam ex his exemplis addisces quo uinculo coniuncta sint lapidaria illa
cum papyro. sed utrum papyri uerba desumpta sint ex eiusmodi libellis
an frustula haec postea demum conquisita ac conferta sint, uix diiudicem.
4. Duae praeterea sunt in pap. particulae, quae et ipsae quasi frag-
menta sunt e magnis librorum thensauris.
Neque uero in profunda chemicae scientiae mysteria altius de-
^ Cf. Pitra spicil. Solesm. lli p. 324 et anal. sacr. II 1. c.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 43
scendi quam ad uerba VI 18-26 restituenda necesse erat, quod mihi
uideor effecisse. quot opera postea confecta sint alchymica docet Kopp
in libro qui inscribitur: 'beitrage zur geschichte der chemie'. omnium
uero quae seruantur uetustissima sunt pap. X Lugd. Bat.^ et hoc
papyri V frustulum, quod etsi non e papyro X desumptum tamen eius
partibus simillimum est. eo minus has res equidem fusius tractare
uelim, quod Berthelot, qui iam multa bene adnotauerat", nuper edere
coepit opus, quod inscribitur 'collection des alchimistes grecs' 'premidre
livraison' Paris. 1887: in prooemio tractantur peculiariter 'les papyrus
de Leide' et fragmentum papyri V p. 13 sqq. et papyrus X p. 19 sqq.
(uertitur inde a p. 28). über est summi pretii; multa explicantur in prolego-
menis: signa et instrumenta alchymica, metalla; alia nonnulla obseruantur
de historia librorum alchymicorum (p. 200 sqq.); multa e codicibus graecis 788
eduntur (e. c. Democriti cpuciKd kqi luuciiKd, Synesii commentarius, Olym-
piodori scripta) adiutore Ch.-Em. Ruelle. aegre fero quod hoc opere uti
sero mihi licuit, cum pars commentationis meae prelo iam subiecta esset.^
cqpaTpa Atijliokpitou (p. XI) e superstitione astrologica petita
est. similes cqpaipac commemorare uidetur Proclus ad Plat. rem. publ.
p. 103, 26 (ed. Schoell): xai yop niiieic eveiuxoinev cqpaipaic ßapßapi-
KttTc AItutttiiuv xai XaXbaiujv Kaict tcic inoipac toö ZiujbiaKOÖ ictc tujv
ßiujv biaqpopctc juerpoOcaic. cf. Horapoll. I 38. Berthelot et de his re-
bus disseruit in opere 'collection des alchimistes grecs' I p. 86 'la
Sphäre de D^mocrite et les m^decins astrologues'.^ affert e bibliothecis
Parisiensibus duas cqpaipac uel potius 'kvjkXouc' similis argumenti non-
dum editos, qui Petosiridi adscribuntur.^ similiora sunt, quae edidit
^ Leemans pap. graec. tom. II p. 199 sqq. cf. Kopp 1. c. p. 97 sqq.
* Journ. des Sav. (avril) 1886 p. 218 sqq. (mai) p. 263 sq. (juin) p. 335 sqq.
' Index scriptorum mysticorum (övöinaxa tujv cpiXocöcpujv xfic eeiac kmcd\iir]c
Kai T^xvnc) e codice Veneto editus (p. 111, cf. 'texte grec' p. 25) utilis est ad
illustranda ea quae inde a p. 757 exposui. uocantur auctores non solum notis-
simi, sed etiam e. c. EevoKpdxric, AouKdc, Aiot^vtic, Mapia, 'Hcibujpoc (= Mcibiüpoc),
ea\Y\c (sie), 'HpdKXeixoc, 'louXmvri etc. - /lr\piOKphov ßißXoc e' upocqpujvrieeTca
AeuKiirutu editur 'texte grec' p. 53 sqq.; libelli, quos "Icic irpöc töv ulöv aOrnc
"ßpov dedit, prostant ib. inde a p. 28 et 33: adscribas iis quae in p. 758 notaui.
- XaßüpivGoc f^virep CoXo^ujv iTCKTrivaTo deformata est in p. 157 (cf. 'texte grec'
p. 39): addas in p. 755. - Erotyli nomen, quem aliunde ignotum esse dixi in
p.754, oceurrit et inter auctores alchymicos (p. 17). -quae uerba e codicibus graecis
prolatasunt 'texte grec' p. 21 et 22 de serpente oöpoßöptu bene illustrant, quae in
p. 769 adnotaui. - cosmologiam gnosticam in pap. Leid. W seruatam, de qua Ber-
helot in p. 18 nonnulla uerba fecit, spero me haud sine fructu mox tractaturum esse
<Abraxas p. 3 sqq.>. <:» oia
* Iam nonnulla adumbrauerat in: 'Journ. des Savants. avril 1886 p. 213 sqq.
* Alter inscribitur: HeTocipou iLiaeimaxiKoO irpöc Nexeiiiib töv ßaciX^a. cf. ad
p. 756.
44 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
Paul Tannery in ^notices et extraits des manuscrits de la bibliothdque
nationale', t. XXXI. 1885. una tabula inscribitur: Vn^oc ^ßbofnaxiKr]
fmepOuv biaTvocTiKf] Z^ujfic Kai eavdiou'. neque uero ego innumera
astrologiae opera perquisiui — perscrutatus sum dies aegyptiacas collec-
tas^ sine fructu, quod aliis legibus compositae sunt; an quod parum
mathematicus sum?
5. Quibus adnotatis liceat de artis magicae parte quadam pauca
proferre, cuius testimonia exstant monumenta integra antiqua. cum
alia de superstitione magica colligenda dissipata sint in scriptorum
operibus, tarnen hie certissimae artis ipsius atque usus reliquiae ser-
uantur. defixiones dico uel deuotiones. notissimae enim sunt la-
minae litteratae quibus seruatis gaudemus.
Tabellae uel laminae (TrivaKibec, TTixidKia, TreiaXa) in papyris passim
789 memorantur cuiusuis materiae: TreiaXov xp^coöv pap. Paris. 1218, 1812.
ev xp\icf} Xerribi ib. 2226. eic Xeiriba dpTupäv ib. 258, TreiaXov dpyu-
poOv ib. 2705. cibripoöv xpiKov pap. britann. XLVI u. 308, em Xaiiiviou Kacci-
xepivou pap. Par.3014, eiri rrXaKi Kaccirepivri ib. 2212, TrXdxuiujua iiioXußoöv
ib. 329, KaXTidcou cpuXXov ib. 2050, cpuXXa bdqpvrjc pap. britann. XLVI u.
384. pap. Par. 2206. cpuXXa juupcivric ib. 2232. Xdjuva ex xaiviou ib.
2239. öcxpaKOV dirö 6aXdccr|c ib. 2218. xapixou ocxpaKov P V 11,
16 ^ TTixxdKiov lepaxiKÖv pap. Par. 3142. cf. 2068. 2513. ßuccivov
pdKoc'^ P V 5, 5. öGöviov KaBapöv P V 4, 16.
Ac quales ex bis tabellis in terra obrutae per saecula seruari po-
tuerunt, seruantur. praeterquam quod papyrus huius argumenti super-
stes est adscribenda quarto ante Chr. saeculo* ac schedulae quaedam
papyraceae^ habemus aureas argenteas plumbeas laminas.
Aureas huius argumenti bratteolas collegit Wessely in stud. Vind.
VIII p. 176 et 178 sqq.^ argenteam edidit Froehner in philologo XXII
(1865) p. 546, aliam tractauit Wiedemann in ^Jahrbücher des Vereins
von altertumsfreunden im rheinland' 1885 1. c, plumbeas permultas
et graecas et latinas composuit Wachsmuth in M. Rh. 18 p. 560 sqq.;
» CIL I. in M. Rh. Guilelmus Schmitz composuit 22, 203; 23, 520 et 665;
29, 171; 31, 295. cf. et C. Meyer 'abergl. des mittelalters' p. 210.
* rdpixoc hie interpretandum 'mumie' quod nos dicimus. notissimum est
semper permultum ualuisse in re magica quae e mortuis desumpta essent.
* Linteo adscribebatur uis religiosa. sacerdotes Aegyptii uestiebantur linteo.
Herod. II 81. Plut. de Is. et Os. c. 3 adn. Partheyi p. 157, 158; item philosophi
b'equioris aeui cf. Lucian. Philops. 10. Friedländer 'römische Sittengeschichte'
I p. 352. linteae scidulae litteratae prodiere e sepulcris Aegyptiis.
* Papyrus quae uocatur Artemisiae. 'Petrettini papiri greco-egizj.' Vindob.
1826. Blass, Philol. 1882 p. 746. Wessely in progr. gymn. Franc. los. Vind.
1885 p.4sqq. ^ Cf. Parthey ad pap. Berol. p. 138. '^ Cf. O. Jahn 1. c. p.43.
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
45
addas quam tractauit ib. 24 p. 474 et quae Buechelerus adnotauit in
'oskische bleitafel' p. 3/ iam Indi utebantur amuletis aureis (Weber,
'indische Studien' IV p. 430) et plumbeis (ib. p. 409) nee non apud
Germanos haec metalla in usu sunt superstitioso (cf. Wuttke 1. c. p. 92 et 223).
Sed ea mittamus. inspiciamus quam tenacem ac diligenter pro-
pagatam se praebeat haec superstitio in inscriptionibus lamellarum: quae
in papyris praescribuntur, seruantur in monumentis.
Formulae deuotiuae, qualis exstat in papyri V p. XI 17, conuocanda
tria simillima exempla, quae quomodo uariata sint uideas:
Pap. Leid. V XI 17 sqq.
eTriKaXoO)Liai ce
TÖv em Kevuj TTV€u)LiaTi
beivöv döpaxov
ILieTav Oeöv
TÖV TraTCtHavTa fr\y Km ceiavöiaTOV
KÖC^OV
ö q)iXujv Tapaxdc
Ktti mcu»v eucxaöeiac
Km CKOpTTiZ^ujv Toic v€(p€Xac an*
dXXr|Xujv.
Pap. Leid. V XV 21 sqq.
d7TiKaXoO)nm c€
TÖV iy TLU Kevuj irveujuaTi -
beivöv^ döpaTov
Oeöv qpOopOTTOiöv Km epninoTTOiöv
)Liicu»VTa oiKiav eucTaeoöcav
790
KttTtUTlOV TTpaccovTa.
Pap. mus. britann.
XLVI 122 sqq.
drriKaXoOinai ce
TÖV ^v Tqj Kevu» TTveOfLiaTi
beivöv Km döpaTOV Geöv.
Pap. Leid, biling. J 383
(Reuvens Lettr. p. 39) p. X.
£7TiKaXoö)Liai ce
TÖv dv Tuj Keveu) (sie!) TrveuMaTi*
beivöv döpaTOV
TiavTOKpdTopa 0eöv Oeujv
(pOopOTTOlÖV Kttl dprmÖTTOlOV
ö ^icujv oiKiav eucTaOoöcav.
n aliis uero formulis solent aduocari Orci numina graeca:
'Gpunc xöövioc Oepcetpövn CIGr. I 538 (Wachsmuth M. Rh. 18
p. 560 A), bai^ovi xöoviuj Km Tfj xöovict Km toTc xöovioic rrdci CIGr. I
1034 (Wachsm. 1. c. p. 561 C). Ad^aTpi Km KoOpa Km GeoTc toTc rrapd
Ad^aTpl Km Koupa uel Km toTc dXXoic Geok uel Km toTc ttpottöXoic
solent inscribi lamellae in sacello Cereris Cnidio inuentae (Wachsm. 1.
» Cf. ephem. epigr. V p. 317. Buecheler, M. Rh. 41 p. 160. libellum gnosti-
cum foliis plumbeis compositum descripsit King 1. c. p. 147.
' TTVCDUaTa Tl P. ** öiov P.
* iTveuMaxa n Reuvens. irveÖMaTi Brunet du Presle 'd'aprds le texte de fac-
sim.' cf. Revue 6gypt I 1880 p. 168.
46 Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi
c. p. 568 sqq.). tabula osca inscripta est; Keri arentik[ai] (Cereri
ultrici), valaimas puklu (dis manibus), ulas leginei (sepulcri potestati)':
sie enim Buechelerus interpretatus est 1. c. p. 76.
In titulo Alexandrino (Lenormant, M. Rh. IX p. 370. Wachsm. 1. c.
p. 563 E) legis: 'Gpiun xöövie - TTXoutujv üece|U|uiTabuJV )napxa|Lia Kai
Köpri epecxiTCtX [ZaßapßJaGoux Kai Oepceqpövr] ktX. adponas papyri
Paris, uersus inde a 328, ubi praescribitur Xaßibv TiXaiu^ua jaoXußoöv
Tpaipov Tov XÖTOV: u. 335; OeoTc xöovioic üecejuiTabujv Kai Koupr] TTep-
ceq)övri epecxiT«^ Kai 'Abuuvibi tlu ßapßapiöa '€p|urj KaTaxOoviuj.^ u. 341;
Kai baijuoci KaiaxÖGvioic.
In u. 345 pergitur öpKiZiuj TrdvTac baifiovac touc dv tuj töttlu toutlu
et postea: öctic ttot' ei eixe dppnv eixe GfiXuc ktX. comparanda defixio
79lCumana CIGr. III 5858^ (Wachsm. 1. c. p. 562 D); baiiuovec Kai irveu-
ILiaia Ol ev [tuj tö]ttuj toOtuj ötiXukOuv Kai dppevi[KUJv] ktX.
lam uero comparare pergas tabellae illius Alexandrinae uerba et
papyrorum ;
Pap. Paris, u. 338 sqq.'
'€p)Lir] KaxaxOoviuj öujouG 9ujk€v-
aepxÖaOouiuicouKTai.
Pap. Par. Leid. V IX 10 sqq.
TÖv )LiacKeXXei, töv )uacKeXXu)0, töv
cpvou, TÖV KevTaßaujG, töv öpeo-
ßaZ^aTpa, töv ittttoxGujv, töv
prjCixGujv, TÖV TTUpnrriTavuH.
Tab. Alexandr. (sequor edit.
Wachsmuthii 1. c. p. 563).
'€p|ufi xöövie dpxebdjua Oujxev
en;euca
pepTaGouiLiicov Kai kt. Kai TTXoutujv.
Idem in tab. u. 15 et 32 legitur.
Tab. Alexandr.
28 . . • acKeXXuj evou
KevTap . uj opeoßaZia
priHixGuiv iTTTTOxGiuv
TTUpiTiriYa *
Cf. pap. Paris. 3175 sqq.; jaacKeXXi juacKeXXuj q)vouKevTa ßauj opeo
ßataTpa pnHixGujv ittttoxGujv TTUpirrriTavijH. ibid. 2753: luacKeXXi juac-
KcXXuj qpvouKevTaßaouG opeoßaZiaTpa pr|HixGujv ittttoxGujv opeoTrriTavuH.
Non opus haec singillatim tractare. hoc exemplo discas luculen-
tissimo quanta fuerit in uitae usu uis librorum illorum. nonnulla addam alia:
KaTabuj usurpatur sollemniter in titulis: uide KaTabecjueiJUJ pap.
britann. XLVI 325. ib. 317 KaTabeGr|TUj -; in pap. Paris, u. 335: Ttapa-
KttTaTiGejuai ujliTv toOtov töv KaTdbecfuov , in tit. apud Wachsm. 1. c»
^ Cf. veKubaiiLiuiv in papyris.
* In u. 341 scribitur tuj rac KXelbac ^xovti tOüv Ka0' äbov. cf. apocalyps. I
18: ix^ Tdc KXeic xoO i^bov. * Vbi lamina plumbea praescribitur.
* Trupi7rriTci(H:ouca) supplere uoluit Wachsmuthius ! [^r]lixQov, irupKpeTT^c, oö-
pecicpoiToc wird Dionysos angerufen, Hymn. Orph. 52, Qf.j
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi 47
p. 561 C (CIGr. I 1034): TrapaKaxaTiGeiuai. ac simillima inter se quae
de deuotis fieri uoluerunt: biaxtupicGrivai pap. V XV 26; 5idKoii;ov XV
30 (cf. bittKOTTÖc XI); eKTTupujcai V 17, 11; Kaöcov 17, 22. pap. 65
p. 10: KardßaXe pixei Kai TTupetuj.i - unum uotum paene semper idem
inicitur: in pap. britann. XLVI u. 317 in xdpTnv lepaiiKÖv r\ juoXußoOv
TTeraXov kqi cibtipouv KpiKov scribi iubetur: KaiabeGriTaj auioö r\ cppövri-
cic. — u. 325: )Lin XaXricdiuj, jix] avTiCTraxu) ktX. in titul. ap. Wachsm.
1. c. p. 559, no. 76: töv vöov kqi rfiv T^iuccav louiei KaiaTpacptu.
in Cumanudis tit. sepulcr. n. 2585: f] ^XiJucca autujv Kai n lyuxn inöXuß-
boc TcvoiTO Kai fuf) buvaixo cpGeTT^cGai .urjbe voficai ktX. in titul. lat.
ap. Wachsm. 1. c. p. 564 F CIL. I n. 818: '- nee loqui nee sermonare
possit.' cf. p. 565'' in tab. ose. (bullet. Neap. p. 100): 'nep deicum nep792
fatium putiad nep memnim nep ulam sifei heriiad' (nee loqui nee fari
possit nee memoriam nee ollam sibi habeat). in pap. Paris. 354: iva
juf) buvriGrj x] A )ur|T€ ttcTv (sie) )Lir|T€ 9a'feTv. - 372: Kaxdcxec auific
Tfjv ßpojciv Kai xfiv TTÖciv. in tab. ose. ed. Bueeheler. p. 76: 'nip
putiad edum nip menvum limu' (ne possit edere nee minuere famem).
lam satis sit. sed quod in pap. Londin. XLVI u. 336 de lamina
plumbea confeeta fieri iubetur, ualde dignum, quod obseruetur: eiia
dTreve^Kac auxö eic duupou^ [|avfi]|ua öpuHov kxX. u. 242: eixa xiA)cac
dTTepxou. reuera seis tabellas illas repertas esse in sepuleris.
Videmus leges papyrorum magieas in usu uere fuisse atque intel-
legimus adhibendas esse papyros hasee ad omnes artis magieae reli-
quias — non tantum herele antiquas - explieandas. permulta traetanda
et eonquirenda nunc quidem relinquo - papyrum V perquirentes doeebit
index magiearum rerum - : quantum ualeant papyri in historia artium oe-
eultarum ac quanta fides eis tribuenda sit in bis mysteriis fallaeibus, iam
pellucet comparatis similibus artis superstitiosae monumentis et libellis.
* Correxit Wachsmuth. 1. c. p. 567. legerunt irupeiiu.
* Vox duüpoc iis uerbis magicis solitis apponenda est, quae Dilthey, M. Rh.
27 p. 387, adn. 3 et p. 388, adn. 1 adnotauit. paene idem atque Ärvaioc signi-
ficat: saepissime in papyris legitur. iraiöec äujpoi ad multas res magieas ad-
hibentur et in papyris (cf. Horat. epod. 5. C. Meyer 1. c. 282, 284 et al. Grimm,
mythol. ed. I p. LX, LXIII, LXIV, CVII). et saepius occurrit in his ßioedvaxoc,
ßiaioGdvaxoc, ßiaioc (cf. pap. V IV 2). cf. Jahn 1. c. p. 95 c. adn. 277 et 78. Fried-
länder, 'römische Sittengeschichte' III 640. Alex. Trall. I 15 fiXoc kxaupuju^vou
adhibetur amuleti instar, ibid. |Liovo|udxou cqpaT^vxoc - ^dKoc i^^a^^ivov. ad-
hibetur 'culter quo gladiator iugulatus sit' Scribonius Largus cap. 13 fin. ibid.
c. 2, 17: 'ex iecinore gladiatoris iugulati particulam aliquam nouies datum con-
sumant' (homines epilepsia afflicti). Serv. ad. Aen.4,386: 'biothanatorumanimae'.
Luc. Philops. c. 17 et 29. B. Schmidt, 'volksieben der Neugriechen' p. 169, 173.
apud Wuttkium 1. c. p. 125 sq., et 128 sqq. uideas easdem duas res plane idem
in superstitione Germanorum ualere.
SCHLAFSZENEN AUF DER ATTISCHEN BÜHNE'
25 'Vielleicht läßt sich beweisen, daß die Trachinierinnen 430 oder
429 abgefaßt worden sind' hat noch neulich Wecklein gesagt^; und
wenn auch dem Beweis, ehe er geboren wird, schon mehr als eine
Leichenrede gehalten ist, so höre und lese ich doch', daß man zumeist
das noch für unentschieden hält, ob der euripideische Herakles oder
die Trachinierinnen des Sophokles zuerst aufgeführt seien. Und es ist
wahr: daß in den Stellen, die in dem neuen herrlichen Buche über
den Herakles (das Vel laudare ambitiosum esset, nam videremur aesti-
mare velle quae utinam satis intellegeremus!') kurz notiert sind, Sophokles
der Nachahmer gewesen, braucht keiner zu glauben. Wer braucht zu
glauben, daß roidb' 'HpaKXfic . . oiKoOpi' dvTeTTeiuvpe toö juaKpoO xpovou
(Trach. 542) umgebildet sei nach inaKpdc biavxXoOc' ev bö|uoic oiKOupiac
(Her. 1373)? - oiKoupeiv, oiKoupnina kommt von Äschylus an vor, und
merkwürdig ist höchstens das neutr. oixoupia bei Sophokles. Muß wirk-
lich dXXuJv T€ )Liöx6ujv iLiupiujv dT€ucd)LiTiv (Trach. 1101) gemacht sein
nach dxdp hr\ ^öxOtuv )uupiujv ereucdiLiTiv (Her. 1353), kommt doch das-
selbe Bild schon in der Antigone vor KaKiuv dTeucroc aiiuv (582)
und sagt doch schon Pindar (Nem. VI 28) ttovujv eTeücavTO^? Muß
die Beschreibung der Kentauren bicpu^ djuiKTov iTr-rroßdinova cTpaxöv
0T1PÜJV ußpicTfjv dvo|Liov uTiepoxov ßiav (Trach. 1096) zum Vorbild haben
das euripideische TexpacKeXec 0' ußpiciaa Kevxaupujv ^evoc (Her. 181)?
Ein übermütig Volk sind die Kentauren längst vorher gewesen (z. B.
Pindar. P. 2,42 uTrepqpiaXov tövov) und etwas Besonderes wäre nur
^ <Rhein. Mus. XLVI, 1891, S. 25ff.>
' Berl. philol. Wochenschr. 1890, Nr. 29/30, p. 941.
'^ z. B. bei Christ, Gr. Literaturgesch., 2. Aufl. 1890, p. 209.
* So dann auch bei Eurip. öfter: Hec. 375 TewecGai KaK&v, Ale. 1069 Tr^veouc
ToObe TC'Joiiai iriKpoO. Schröder, De iteratis ap. trag. gr. p. 113. Was hat es
für Gewicht, daß das ganz gewöhnliche Bild bei Soph. nur einmal in dieser
Form vorkommt?
Schlafszenen auf der attischen Bühne 49
ußpic^ia. Und die Klage über Hellas, das einen solchen Mann verliert
w TXfJMOV *€XXdc, TTevGoc oiov eicopuu eHoucav dvbpöc Toöbe t' ei ccpa- 26
Xriceiai (Trach. 1112) und lueXeoc XXXdc, a töv euepTexav dTioßaXeTc
(Her. 877) - wenn da Nachahmung wäre, will man entscheiden, wer
nachgemacht hat? Aus solchen Anspielungen einzelner Worte und Sätze
ist nun einmal nichts zu beweisen, wenn die Ähnlichkeit nicht ganz
anders hervortritt. Wie viel Formelhaftes bildete sich in der tragischen
Sprache, wie oft wurden ähnliche Dinge dargestellt, wie oft auch in
ähnliche Gedanken und Worte gefaßt! Der 'Stil' der Tragödie bekam
je länger je mehr feste Wendungen - das würde uns ganz anders
klar, hätten wir von den vielen 'kleinen' Tragikern Stücke erhalten:
so haben wir nur Werke der drei Führer, der originellsten Geister. In
Fällen von dieser Sorte können wir meist weder wissen, ob es nötig
ist, Anlehnungen anzunehmen, noch ob sie gewollt oder zufällig ist,
und am wenigsten, wer nachgemacht hat. Trach. 78 steht id TioTa,
lafiiep; TÖV XÖTOv Tdp dTVOuj und Phoen. 707 xd TroTa raOra; töv Xötov
Tdp dTvoiI). Will man da etwas schließen? Med. 523 heißt es ujct€
vaöc Kebvöv oiaKocTpöqpov , in Reminiszenz, es mag sein, an Aesch.
Sept. 62: cu b* ujcT€ vaöc kcövöc oiaKocTpöcpoc. Die Stücke liegen
36 Jahre auseinander! Kurz, jene Beweismethode, die meist nur äußer-
liches Wortefangen ist, hat keine Kraft: sie findet eitel ungläubige
Herzen.
Ich glaube also nicht, daß die Trachinierinnen nach dem Herakles
aufgeführt sind? Allerdings glaube ich es und ich müßte mich schämen
wenn ich sagte, daß der Verfasser des Herakleskommentars nach dem
Äußerlichen und dem Buchstaben geurteilt hätte; sein sicheres Gefühl
und seine subjektive Überzeugung kommt aus dem Geist und dem
Ganzen.
Aber es kann unumstößlich bewiesen werden, daß die Trachinierinnen
nach dem Herakles, durch ihn unmittelbar angeregt, aufgeführt sind -
ich will es beweisen, und es soll mir, hoffe ich, jeder glauben.
Die bewegteste, kunstvollste Szene des Herakles ist die 'Schlaf-
szene' - sie ist umtönt von all dem glänzenden virtuosen Rhythmen-
spiel der neuen Musik. Der Bote hat erzählt, daß Herakles Weib und
Kinder ermordet hat und endlich, durch den Steinwurf der Athena in
Schlaf versenkt, an die Säule gelehnt drinnen liege
eübei b' 6 TXr|)Liu)v üttvov ouk €i>bai)Liova.
Dann die jammernde Klage des Chors (1016ff.), Dochmien mit Jamben
gemischt; 'womit kann ich die grause Tat vergleichen, wie soll ich Klage 27
erheben?' Das Ekkyklema rollt hervor; der Chor beschreibt es: die
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 4
50 Schlafszenen auf der attischen Bühne
Leichen der Kinder - der Schlafende angebunden - hinterher wankt
der TTpecßuc Amphitruo ucrepLu irobi. Es folgt das wechselvolle Duett
des Alten und des Chores. Angstvoll leise mahnt der Vater:
Ka5)U€ioi yepovTec, ou cTt« ciya töv uttviu Trap€i)Lievov
edcex' eK\a6ec0ai KaKUJv; (1042 f.)
Der Chor bejammert ihn in seinem Entsetzen.
eKacrepu) TTpößaTC, bittet der Alte wieder,
)ulf] KT\J7TeiT€, jLlfl ßodie, |Lir|
TÖV eijhi iauovO* urrviiubed T^euväc eYeipeie.
Der Chor klagt, der Greis warnt in aufgeregtem Wechsel
ouK dTp€)Liaia Gpfjvov aidHex', lu TtpovTec, —
er wird erwachen und alles zertrümmern, aber dbuvax' dbuvaxd |noi -
dem Chor ist's unmöglich, sich zu fassen. — Alles in den stoßweisen
zitternden Dochmien mit jambischen und enoplischen Stücken. Und
nun die dochmischen Monometer und dann die katalektischen jambischen
Dimeter - wie malen sie! Der Vater beugt sich über den Sohn
cTt«, TTVodc ILldölU'
q)epe irpöc oijc ßdXuj.
€Öb€i; — vai, eiibei
UTTVOV UTTVOV 6\ö|Lievov - (1058 f.)
und so fort - wechselnd hervorgestoßene abgerissene Töne der Angst
und des Jammers. Der Schlafende regt sich — soll ich fliehen? -
sei ruhig, vuH e'xei ßXeqpapa iraibi cui - seht, seht, er wird mich töten
- 0 wärst du längst tot! - flieht, (peuTexe ludpyov dvbp' eTteTeipöjaevov,
er wird Mord zu Mord fügen und toben durch die Kadmeerstadt. Der
Chor schließt:
iw ZeO, XI Traib' fjxOripac iLb' uTT€pKÖxu)c
xov cöv, KttKiDv b€ ireXaToc ec xöb' TJtaTec;
Herakles erwacht: ea. Er weiß nicht, wo er ist, glaubt noch im Hades
zu sein. Das schnelle Wechselgespräch mit Amphitruo klärt ihn über
das Entsetzliche auf - es ist ein Erwachen, das bis zur Verzweiflung
führt
oT|Lior XI bfixa qpeiboiuai i|iuxfic €|Lific; (1146).
Da rettet ihn Theseus.
Das ist eine Szene des höchsten Bühneneffekts. Man muß sich
nur zu all den wechselnden Stimmungen, zu dem leisen Warnen und
dem schrillen Klagen, der zitternden Angst und dem jähen Entsetzen,
Schlaf Szenen auf der attischen Bühne 51
dem lautlosen Schlaf und der lautesten Verzweiflung die Musik hinzu- 28
denken - man glaubt sie zu hören, wenn man die Verse liest. Man
denke sich den gewaltigen Helden schlafend daliegen auf der Bühne
inmitten der Leichen - die Klage weckt ihn - er regt sich - er er-
wacht ganz - wird er alles töten und zertrümmern? - er erhebt sich
- und endlich steht der Gewaltige da, vernichtet von der furchtbarsten
Verzweiflung. Welche Kontraste, welche Spannung und welche Stei-
gerung!
Und nun lesen wir die Szene der Trachinierinnen, die mit v. 947
anfängt. Die tpocpöc hat berichtet, daß sich Deianira das Leben ge-
nommen. Der Chor ist entsetzt: 'worüber soll ich zuerst Klage erheben
in all dem Unheil?' Ein Zug naht sich still und lautlos. Der Chor
beschreibt ihn:
Hevujv Totp ^Hö|Lu\oc r\be Tic ßdcic.
Tta b' au (popeT viv; ujc cpiXou
TTpoKTibojueva ßapeiav
dipoqpov q)ep€i ßdciv.
aiai, 6h' dvaubaioc (pepexai.
Ti xpn OavövTa viv f| KaG'
U7TV0V övTtt Kpivai;
Die Klage bewegt sich in Dochmien mit jambischen und daktylischen
Teilen. Neben dem Schlafenden jammert sein Sohn Hyllos
OljiOl €TÜJ coö,
TTdxep, oT|aoi i'^uj coO iiieXeoc —
als der Zug heranschreitet, geht der Rhythmus in Anapästen über.
Den Sohn mahnt ein Trpecßuc - wo kommt der irpecßuc her?
ciTa, T€KVOv, ixx] Kivr|cric
dtpictv öbuvriv iraTpoc uj|uÖ9povoc"
li} tap TTpOTTerrjC- dW €CX€ baKibv
CTÖ|na cöv.
- ist er tot oder schläft er? -
ou |LiTi dH€T€peTc töv uttvuu Kdxoxov
KdKKivrjceic KdvacTrjceic
90iTdba beivriv
VÖCOV, UJ T€KVOV;
Er kann nicht ruhig sein; denn ihm ^MMCMOvev cppnv. Darüber regt
sich Herakles
4*
52 Schlafszenen auf der attischen Bahne
a» Zeö,
TTOl yÖLC flKlU; TTapd TOTCI ßpOTUJV
KeTjLiai TreiTovriiLievoc dXXr|KTOic
öbuvaic; -
29 er weiß nicht, wo er ist.
dp" €Hr|br|c0', sagt der Alte, öcov ^v icepboc
ciYrj K€u0eiv Kai ^x] CKcbdcai
T(f>b* ÖLTiö Kpaxöc
ßXecpdpujv 6' U7TV0V,
Hyllos kann seinen Schmerz nicht bemeistern:
ou T«P €xuj TTÜJC dv
CTepHaijui xaKÖv tobe Xeuccujv.
Herakles erwacht ganz - a> ZeO
oiav yi' dp eOou Xiüßav, oiav
und nun steigert sich sein Schmerz bis zum entsetzlichen Wut- und
Jammergeheul - er will den Tod (1013 ff.):
Kttl VÖV eTTl TÜjbe VOCOÖVTt
ou TTUp, oiiK ^TXOC TIC övrjcijiov ouK dtriTpeiiiei;
l l
oub' dTTttpdHai Kpäxa ßiou 6eXei
ILioXibv ToO CTUT€poO; (peO, cpeu.
(1031) iui TtaT,
TÖv 9\JcavT' oiKTip', dveiricpOovov eipucov Itxoc.
TiaTcov djLidc UTTÖ KXrjboc. —
Der Chor schließt:
kXuouc' ecppiHa xdcbe cu|U(popdc, cpiXai,
dvaKToc, oiaic oioc u)v dXauvexai.
Ich brauche keine Worte weiter dartiber zu verlieren, wie ähnlich
bis ins einzelnste die Szene der Trachinierinnen der des Herakles ist.
Es ist dieselbe; es ist derselbe Bühneneffekt. Die Steigerung des
schlafenden, allmählich erwachenden, endlich in lautestem Schmerz
verzweifelnden Heros; der Kontrast des schlafenden Gewaltigen, der
schrillen Klagen der Umgebung und der leise ängstlichen Mahnung des
Alten - ein irpecßuc ist sogar in den Trachinierinnen ganz unvermittelt
eingeführt nach dem euripideischen Amphitruo.
Halt! Nach dem euripideischen Amphitruo? das muß ich erst be-
weisen. Es könnte ja ebensogut Euripides der Nachfolger des Sophokles
gewesen sein, zumal die Szene bei Sophokles, besonders metrisch,
Schlafszenen auf der attischen Bühne 53
einen einfacheren Eindruck macht: der Komponist älteren Stils hat noch
nicht all die Künste der Zukunftsmusik adoptiert.
Daß Herakles, der Wahnsinnige, nachdem er die Kinder getötet,
von Athene durch einen Steinwurf in Schlaf versenkt und dadurch vom
Wahnsinn geheilt wird, ist mehr oder weniger alte Sage. Die Verse 30
im Herakles 1002 ff.:
dXX* fjXOev €iKU)v, ibc öpäv dcpaiveTo,
TTaXXdc Kpabaivouc' Ifxoc im XÖ9UJ x^pi
Kctppiipe TTCTpov crepvov eic 'HpaKXeouc,
öc viv q)övou )LiapTu»vT* eirecxe Kdc uirvov
KaefJKe* TTiTvei b* eic trebov -
lassen gar nicht zweifeln, daß nach solcher Sage Euripides diese
Szene gedichtet hat\ mag er die Sage genommen haben, woher er
will. Pausanias erzählt ja auch (IX, 11, 1), daß die Thebaner einen
XiGoc cu)(ppovicTr|p gehabt hätten, durch den Athene den Rasenden in
Schlaf gebracht.* Was will man mehr? Durch die paar ganz neben-
sächlichen Verse des Euripides ist das doch nicht aufgekommen. Wir
wissen ja von all den Heraklesdichtungen, die es gab, nichts, fast gar
nichts. Diese Geschichte kann sehr alt sein - sie hat jedenfalls den
Euripides angeregt, den Herakles durch den Schlaf zur Vernunft kommen
zu lassen, den Schlafenden auf die Bühne zu bringen, die effektvolle
Schlaf- und Erwachensszene zu dichten und zu komponieren.
Der Wahnsinn des Helden ist bald, und in der Volksvorstellung^
sobald sie die einzelnen Vorgänge genauer ausmalte, gewiß sehr frühe
als i€pd vöcoc, als Epilepsie, aufgefaßt. Es ist bekannt, daß die Epi-
leptischen immer nach einem Anfall in langen tiefen Schlaf sinken,
nach dem dann alles vorüber ist. Wahnsinn (jnavia) und Epilepsie
waren überhaupt in der Vorstellung der Alten ziemlich gleich, beide
waren Oeiai vöcoi. Hippokrates erklärt Grund und Äußerung beider
fast gleich. Die Epileptischen und Wahnsinnigen sind, solange antike
Auffassung dauert, Gottgeschlagene; sie werden zu 'Besessenen' bai-
IhoviötiXtiktoi u. ä. (so im N. T. und weiterhin), als die alten Götter
sich in böse Geister verwandeln. Die Schilderung des Schlafs bei
* V. Wilamowitz, Herakles I p. 352.
' Es gibt auch hierzulande solche Steine, merkwürdige Felsblöcke, von
denen sich das Volk von alters eine Geschichte erzählt: der Riese hat nach
jenem damit geworfen, als usw. So mag auch das Volk in Theben sich von
irgendeinem auffallenden Felsstück , als im übrigen die Sage vorhanden war,
erzählt haben: das hat Athene nach dem Herakles geworfen, als er seine Kinder
erschlagen hatte. Einen auch auf Herakles von dem Riesen Alkyoneus ge-
schleuderten Stein zeigte man auf dem Isthmos (schol. Find. Isthm. IV 25).
"54 Schlaf Szenen auf der attischen Bühne
Euripides mag sich auch in Einzelheiten nach Erfahrungen und Vor-
31 Stellungen jener Art gerichtet haben - es ist recht eigentlich die
lepd, Geia vöcoc - die Göttin sendet ihre Botin Avjcca. Das Röcheln
(cL Her. V. 1058 und 1092) ist ein Charakteristikum dieses Schlafs
und die daraus Erwachenden pflegen nicht zu wissen, was sie getan
noch wo sie sind. Man muß mit den Versen 867 ff.
f|V iboO Kai hx] Tivdccei Kpäxa ßaXßibujv otTTO
Ktti biacTpöcpouc eXiccei ciTa toPT^JUttouc KÖpac,
diLiTTVodc b' ou cuuqppoviZ^ei, TaOpoc luc ec ejußoXriv,
beivd fnuKaxai be Kf]pac dvaKaXujv xdc Tapxdpou
die Beschreibung in dem Büchlein des Hippokrates^ irepi lepfic voucou
-vergleichen z. B. c. VI: ctcpujvöc xe fivexai Kai irvifexai Kai dqppöc eK
xoO cx6)Liaxoc CKpeei Kai oi öbövxec cuvripKaci Kai ai x^ipec cucTiiuvxai
Kai xd ö|Li)uaxa biacxpeq)0vxai Kai oubev cppoveouciv. c. IV Kr|v ßXri-
Xwvxai Kr|v beHid CTTUJVxai — , fjv be öHOxepov Kai eiixovibxepov q)9eTTi1-
xai — r|V be dqppov eK xoO cxöjiiaxoc dcpir) Kai xoici ttoci XaKxi2[ri (vgl.
TTobujv CKipxriiuaxa Her. 836). Später sprechen die Mediziner aus-
drücklich von der Epilepsie des Herakles und von dem heilenden
Schlafe, und die Komiker machen ihre Witze darüber. Sie wollen den
ehrwürdigen Heros mit Klystieren heilen.^
Auch die Kunst hat den Wahnsinnigen dargestellt; das späte unter-
italische Vasenbild des Asteas könnte nach einer späteren Tragödie
gemacht sein; mit der des Euripides hat es im einzelnen nichts zu tun.^
Daß auch Maler an dem rasenden Helden ähnliche Züge der heiligen
Krankheit dargestellt haben, wie wir sie erwähnt, kann die Schilderung
zeigen, die Philostratos"^ von einem Gemälde des 'HpaKXfjc )Liaivö|uevoc
gibt: aiixiij (dem Herakles) aicOricic luev auxujv oubeiuia, dvappiTixei be
xouc TTpociövxac Kai cujUTraxeT, ixoXu )nev xoO dq)poö bieKTTxOujv, )Lieibiiuv
be ßXocupöv Kai Hevov Kai xoTc 6cp0aX|uoTc dxeviZ^iuv eic auxd, d bpa,
32 xf)v be xoO ßXejLijuaxoc evvoiav dTidTtuv eic d eHr|Trdxr|xai. ßpuxdxai be
^ Die ungemein lehrreiche Schrift, durch die ein freier wissenschaftlicher
Zug hindurchgeht gegen allen Aberglauben (man soll heilen äveu KaGapjuüjv Kai
|aaY€U)LidTU)v Kai udcric äX\r\c ßavauciric Toiauxric ist der Schluß, vorher z. B. dXXä
irdvTa Geia Kai dvepuümva) gehört doch jedenfalls zu den ältesten des hippokra-
tischen Corpus.
* Von Epicharm gab es auch einen 'HpaKXfic Trapaqpopoc.
' Mavia, 'AXK)Lirivri , 'löXaoc sind Zuschauer. Man könnte fast versucht sein,
hinter dem Bilde die ältere Form der Kindermordgeschichte zu suchen. Theseus
trat ja bei Euripides nur an lolaos' Stelle. Die ganze Komposition des Bildes
ist aber sehr töricht.
* eiKÖvec II 23.
Schlafszenen auf der attischen Bühne
55
x] qpdpuYH kt\. Daß auch der Schlafende nach dem Rasen dargestellt
wäre, kann ich nicht entdecken; wie Nearchus 'Herculem tristem in-
saniae paenitentia'^ gemalt hat, kann man nicht wissen.^
Wir brauchen auch nicht weiter abzuschweifen. Worauf ich hinaus
wollte, ist klar: der Schlaf ist ein alter Bestandteil des irdeoc des
Herakles in Sage und Vorstellung, wie er zur lepd vöcoc gehört, die
im Altertum sehr verbreitet war, die jeder kannte. So wurde aus Sage,
Volksvorstellung und Erfahrung die Schlafszene im Herakles, da ist sie
sozusagen organisch. Ist es ebenso mit der Schlafszene in den Tra-
chinierinnen? O nein, da ist es ganz anders. Was sollte der Tod-
wunde sich nach Trachis tragen lassen? Um Deianira zu strafen - der
Sterbende! Und wenn er denn auf die Szene sollte, ohne daß der
Schauplatz geändert wurde, kann der von den Flammen des unheil-
vollen Gewandes zerfressene Leib, kann der Gewaltige, der in maß-
losem Schmerz und in unbändiger Wut sich gegen den Tod auflehnt,
kann er schlafen? Sophokleische Kunst hat es bewirkt, daß wir die
UnWahrscheinlichkeiten nicht sehr stark fühlen - aber in der Sage
war natürlich nichts davon. Es liegt auf der Hand: hier ist die Nach-
ahmung. Wie, wenn Sophokles überhaupt dieses wehevolle Finale
seinem Stück anhing, um mit der wirksamen Schlafszene, der Steigerung
von leisem Schlaf zu donnerndem Wutgeheul denselben Beifall zu
ernten, den Euripides kurz vorher mit der Szene seines Herakles ge-
erntet hatte? Die Schlaf szene der Trachinierinnen ist dramatisch und
musikalisch eine Nachbildung der Schlafszene des Herakles gewesen:
das kann gar nicht bezweifelt werden.
Wir mögen uns denken, welchen Beifall die entzückten Athener
diesen Szenen im Dionysostheater gespendet haben, wenn wir sehen,
daß dasselbe Effektmittel des dramatischen Repertoirs nach einer
Reihe von Jahren wieder auf die Bühne gebracht wird.
Auch Philoktet schläft auf der Bühne - und auch da hat nicht
allein die Ökonomie des Dramas, das auch dadurch eine bedeutsame
Ähnlichkeit mit den Trachinierinnen hat, daß der körperliche Schmerz 33
des Helden zur Darstellung gebracht wird, sie hat nicht allein die
Schlafszene veranlaßt - mag diese auch mit dazu da sein, die red-
liche Gesinnung des Neoptolemos zum Durchbruch zu bringen. Vers 822
beginnt's:
' Plin. n. h. 35, 142.
' Es gibt allerlei Darstellungen eines schlafenden oder ruhenden Herakles
- aber das gehört, soviel ich sehe, alles in einen viel heiterern Zusammenhang
und geht auf Satyrspiel und Komödie zurück.
55 Schlafszenen auf der attischen Bühne
TÖv avbp* €OiK€V uTTVoc ou jiaKpoö xpovou
'eHiw Kotpa yäp vmxdleTai TÖbe.
ibpuuc fe Toivuv ttäv KaxacTdZlei heiiac —
Ein leises Schlummerlied erklingt über dem Schlafenden (827 f.)
"Yttv' öbOvac dbar|c, "Yirve h\ dXTeiuv
€uaf|c fiiLiTv IXOoic,
euaiujv, euaiujv, ibvoE —
dann erregt, halblaut die Mahnung an Neoptolemos, mit dem Bogen
den Schlafenden im Stiche zu lassen. In feierlich heroischem Maße
mit lauter, fester Stimme weist der Jüngling die Versuchung ab. Der
Chor mahnt ihn ängstlich leise zu reden
ßaidv )Lioi, ßaidv, ui t€kvov,
TrejiTTe Xötu)v (pd|Liav
u)c TTdvTiuv iv vöcLu cubpaKrjc
UTTVOC duTTVOC \€UCC€IV -
Dann aber ermuntert ihn der Chor in leichtem, frischem Ton: ^der
günstige Fahrwind ist da, es säuseln die Winde, geschwinde, ge-
schwinde!' — in leichten Daktylen und Trochäen wiegt sich die Strophe-
Nun mahnt Neoptolemos - denn Philoktet regt sich (865 f.)
ciTdv xeXeuu) jurjb* dqpecxdvai cppevujv,
KiveT fäp dvrip öjujua xdvdTCi Kdpa.
Der Leidende erwacht:
ui cpetTOC UTTVOU bidboxov xö x' ^Xiribiuv
dTTicxov oiKOupr|)Lia xujvbe xujv Hevujv.
Er ist gerührt über das treue Ausharren des jungen Freundes. Weiter
geht dann die Steigerung vom Erwachen bis zu dem Schrecken und
Jammer des Philoktet, als er hört, welcher Trug ihn umgibt.
Was jenen andern in dieser Szene ähnlich ist, was nicht, brauche
ich nicht zu sagen — daß es dasselbe dramatische Kunststück ist,
sieht jeder. Das war 409 (Ol. 92, 3). Und siehe da, an den folgenden
Dionysien (408. Ol. 92, 4) bietet Euripides seine ganze Kunst auf, die
vorjährige Leistung seines großen Nebenbuhlers und alle die ähnlichen
frühern durch eine neue Schlafszene zu übertreffen. Als das neue
Stück beginnt, liegt Orestes schlafend auf einem Lager auf der Bühne,
34 seiner wartet die sorgsame Schwester. Nach dem Prolog, den sie
spricht, und einem Dialog, den sie mit Helena hat, mahnt sie den
Chor (Orest. 136 f.):
Schlafszenen auf der attischen Bühne §7
Ol (piXxaTai T^vaiKec, ncuxiu Trobi
XU)peiT€, [iX] iiiocpeixe ^r]b' Ictu) ktuttoc.
(piXia Toip n cf| TTpeuiuevnc |Liev, dXX' i^oi
TÖvb' eHcTeipai cu)Liq)opd T^vricexai.
Der Chor stimmt zu
ciTa, ciTa, Xctttöv ixvoc dpßuXnc
TiOere, )Lif| KTüTreite —
und Elektra:
diroTTpo ßdx* eKcTc*, dTroirpö fnoi Koixac.
Sie ermahnt leise zu singen und der Chor:
Tb*, dipeiLiaTov die uTTÖpocpov qpepu)
ßodv.
Elektra:
- TTpöciO' dTpe'iLiac, dipeimac T0i
und so fort. Wie steht's mit ihm? fragt der Chor.
exi \iiv dfLiTTVcei, ßpaxO be dvacxevei.
xi qpric, o» xdXac; fragen lauter die Ängstlichen.
dXeic, ei ßXeqpapa Kivr|ceic
U7TV0U TXuKuxdxav qpepoineviu xapiv.
Beide klagen — da regt sich Orest (v. 166).
öpqic; ev ttcttXoici Kivei bejuac.
cu TOp viv, vj xdXaiva
Ou)uHac* ^ßaXec eH uttvou
wirft Elektra dem Chor vor. 'Willst du nicht fortgehen und vom Ge-
sang ablassen?' - 'Er schläft ja fest.' Und nun das herrliche Gebet
der Elektra an die Nacht (v. 174 ff.): 'hehre, heilige Nacht, die du
Schlaf spendest den vielgeplagten Sterblichen, aus der Tiefe steig auf,
komm, komm, senke den FlQgel tlber Agamemnons Haus. Denn unter
Schmerzen und Leiden schwinden wir hin und vergehn wir - kxuttov
nrarex' bricht sie ab.
ouxi ciT«, ciT« cpuXaccojLieva
cxö|Liaxoc dvoKcXabov dtrö Xexeoc f^-
cuxov uTTVOu x«piv irapeHeic, q)iXa;
sie klagen weiter, sie ängstigen sich - wird er sterben? — er er-
wacht (211):
u) q)iXov uTTVOu OeXTTixpov, eiriKOupov vöcou
ujc f)bu ^101 7TpocfjX0€c iv bcovxi T€ — ^
* Dazu muß man noch besonders beachten Philokt. 867: <b cptTToc öirvo"
58 Schlafszenen auf der attischen Bühne
35 (215) TTÖOev ttot' fjXöov beOpo; ttujc b' dqpiKÖjuriv;
d]uvr|)uovu) T^p tiuv irpiv dTro\eiq)9eic q)pevÜLJV.
Die Schwester hilft dann dem Bruder und unterstützt ihn wie in den
Trachinierinnen der Sohn den Vater, im Philoktet Neoptolemos den
Kranken: es ist immer dieselbe Gruppe. Hier im Orest steigert sich
dann das Erwachen noch bis zum entsetzensvollen Schauen der Erin-
nyen (260 f., 268 ff.). Man darf auch die Ausdrücke wie ö)U)aa cöv Ta-
pdccexai, xaxOc be fLiereGou Xuccav, dpxi ciucppovujv (v. 253), die Bitte
Orests (v. 2 19 f.) ex b' ö|uopHov dOXiou CTÖjiiaTOC dcppiiubri ireXavov
6|Li)LidTujv t' ejuuuv u. ä. nicht übersehen, um zu erkennen, daß auch
hier die Vorstellungen, von denen die Rede war, eingewirkt haben.
Die Orestszene ist in denselben Dochmien und 'enoplischen Dochmien'
gedichtet wie die Heraklesszene: dieselbe oder noch viel mehr musi-
kalische Kunst ist aufgewendet. Hauptsächlich hat der Dichter sich
selber nachgeahmt, hier und da ist die Einwirkung des Philoktet zu er-
kennen, ein wenig auch die der Trachinierinnen.
Wir haben die klare Entwicklung eines dramatischen Kunstgriffs, eines
Bühneneffekts vor Augen: wir tun einen Blick in die Praxis der großen
alten Theatermeister und ihre, wenn man will, äußere dramatische Technik.
Mag vielleicht zwischen Herakles -Trachinierinnen und Philoktet -Orest ein
Zwischenglied gewesen sein, von dem wir nichts mehr wissen; das ist
sicher: Euripides hat diese 'Schlaf szene' und ihre Wirkung erfunden; So-
phokles hat's in seiner Weise nachgemacht - er hat Musik und Rhythmen
nicht so wechselvoll angewendet, wie der Vertreter der modernen Musik
(mehr schon im Philoktet als in den Trachinierinnen), endlich hat Eu-
ripides noch einmal den Nachahmer und sich selbst überboten im Orest.
Und sie geht noch weiter, die Geschichte der Schlafszene. Wer
kennt nicht den wahnsinnigen, schlafenden und genesenden Orest auf
unserer Bühne? Wo hätte Goethe die Anregung zu dieser Szene her?
Aus der taurischen Iphigenie des Euripides kann er sie nicht haben;
da wird zwar ein Anfall des Orest erzählt
(282) ecTTi Kdpa xe biexivaH' dvuu Kdxiu
xdvecxevaHev uiXevac xpejuujv oiKpac,
juaviaic dXaivujv Kai ßoot KuvaTÖc ujc -
(307) TTiTTxei be juaviac irixuXov* 6 Hevoc )ie6eic,
36 cxdtu)v dqppuj T€veiov —
(310) ctxepoc be xoTv Hevoiv
d(ppöv x' dTrei};Ti
^ Dasselbe Bild von derselben Sache Herakl. 1189: |uaivo|ii^viu mrOXqj irXaTXÖeic.
Schlafszenen auf der attischen Bühne 59
Stellen, die es lehrreich ist mit den berührten Schilderungen der
Äußerung der Oeia vöcoc zu vergleichen. Die Eumeniden hatte Goethe
gelesen: da ist nichts von jenem Schlafe, der dem Furiengejagten erst
408 durch Euripides beschieden war. Wir wissen auch, daß Goethe
den Hygin benutzt hat - da fand er auch kein Wort davon. In Glucks
Oper 'Iphigenie in Tauris' ist eine Szene (II. Akt 3. Szene), die noch
mehr an jene antike erinnert. Nach längeren Klagen 'schläft Orestes
entkräftet ein' - 'Furien und Dämonen steigen empor und umringen
den Schlafenden' und singen: 'bestraft des Frevlers Taten, vollstreckt
der Götter Zorn' usw. Der Geist Klytämnestras erscheint - die Angst
des Erwachten steigert sich bis zum höchsten Entsetzen - der Musik
der Stelle bei Gluck' mag in gewissem Sinne die antike ähnlich ge-
wesen sein. Der Text ist von einem gewissen Guillard (1758-1814).
Die Oper erschien 1779 - in demselben Jahre, in dem Goethe die
Iphigenie dichtete -, also daraus konnte er auch nichts nehmen. Jener
Guillard ist einer Iphigenie en Tauride eines Claude Guymond de la
Touche (1719-1760) gefolgt, die lange in großer Gunst gestanden hat,
aber, soviel ich finde, nicht mehr vorhanden ist. Darin wird also jene
Szene ähnlich gewesen sein, und Guymond wird sie direkt oder in-
direkt nach Euripides' Orest gemacht haben.^ Goethe hätte also das
Stück des Guymond gekannt. Oder hatte er den Orest des Euripides
gelesen?^
^ In einer Einleitung in die Oper von Mendel lese ich: 'soll in dem er-
schütternden Charaktergemälde dieser Figur (Orest) auf einzelnes noch besonders
aufmerksam gemacht werden, so ist es der Monolog (II. Akt 3. Sz.), die ent-
setzliche Furienszene (11. Akt 4. Sz.), und der Dialog mit Iphig. (5. Sz.), die als
das Ergreifendste in allen Einzelheiten, bis auf den Akzent des Wortes herab,
zu nennen sind, was die musikalische Feder je niedergeschrieben hat.'
' Racine hat bloß den Plan zum 1. Akt einer Iphig6nie en Tauride hinter-
lassen.
' Das ist mir eigentlich wahrscheinlicher. Goethe hat mehr Griechen ge-
lesen als man glaubt. So fand ich neulich zufällig, daß im Triumph der Emp-
findsamkeit' II. Akt (gegen Schluß), was Merkulo singt:
Du gedrechselte Laterne
Oberleuchtest alle Sterne,
Und an deiner kühlen Schnuppe 37
Trägst du der Sonne mildesten Glanz
übersetzt ist nach Aristophanes Ekklesiaz. v. Iff.:
(h Xaiuirpöv ö|Li|Lia toO TpoxtiXdxou Xuxvow
KdXXicr' ^v eOcKÖTTOiciv IHripxriii^vov,
yovdc Te Tcip cdc Kai rOxac 5nXi£)C0|iev.
TpoxuJ rdp ^^aöeic Kepa^iKilc i5)iJ|uiic ärto
luuKTTipci XaiLiTTpac i^Xiou Ti|ncic äx^\c.
Die übersetzten Verse sind aus derselben Zeit, da Goethe die Vögel dichtete
^ Schlafszenen auf der attischen Bühne
37 Aber ich will mich nicht in Dinge verlieren, die uns jetzt nichts
angehen; zurück zur Sache! Denn ich möchte nicht dies kleine Kapitel
aus der Bühnengeschichte abschließen, ohne das äußere Hauptresultat,
auf das ich im Anfang gleich hinaussteuerte, gehörig auszunutzen. Ich
möchte gern die Untersuchung über das Verhältnis von Herakles und
Trachinierinnen, soweit ich kann, abschließen. Denn nachdem es be-
wiesen, daß Sophokles dem Euripides gefolgt ist, sehen wir noch viel
mehr; jetzt bedeuten jene zu Anfang aufgeführten Stellen auch mehr.
Aber wir brauchen gar nicht hier und da die Worte zusammenzutragen.
Lesen wir nur in den Trachinierinnen weiter, wo wir vorhin aufhörten,
also die größere Rede des Herakles: wir werden fortwährend an Stellen
des euripideischen Herakles erinnert: 1058 TnTCvfic cTpaxöc TiTavxujv
erinnert an Her. 178 toTci xnc ßXacTrmaci TiTaci.^ 1061 faiav KaGai-
pu)v und dazu noch aus der vorhergehenden Szene 1009 TröOev ^ct\
ui irdvTwv 'GXXdvuJv dbiKiuxaToi dvepec, ouc hx] TToXXd juiev ^v
TTÖVTLu Kaxd T6 bpitt TrdvTtt Ka0aipu)v dbXeKÖjuav 6 xdXac, Kai vOv
im Tujbe vocoOvTi ou irOp, ouk Itxoc tic övr|ci)Liov ouk eiriTpeij/ei;
vergleiche man mit Her. 222 f.
oub* '€XXdb' ijvec* — KaKiciriv Xa|Lißdvu)v de traib' djnöv
fiv xP^iv veoccoTc roicbe irOp Xö^x^tc ÖTrXa
(pepoucav dXGeiv, irovriiuv KaBapjudxujv
Xepcou t' djLioißdc, u)v djLiöxOTicev Tratrip.
Es ist dieselbe Vorstellung, teilweise dieselben Worte von dem, der
38 die Erde von Ungeheuern gereinigt, dem Wohltäter, gegen den Griechen-
land undankbar ist, hier weil es den verlassenen Kindern, dort weil es
dem Todwunden nicht Hilfe bringt - irOp und öirXa. Weiter:
(1071) — öcTic ujcxe TtapGevoc
ßeßpuxa KXaiu)V Kai TÖb* oub* dv eic ttotc
TÖvb' dvbpa qpaiTi rrpöcG' ibeiv bebpaKÖia,
dXX' dcxevaKTOC ai^v ei7TÖjur|v KaKoic.
vOv b* eK ToiouTOU OfiXuc Tiupr||iai jdXac.
Wenn man vergleicht Her. 1354
und sich für die attische Komödie interessierte. Der Triumph der Empf. ist
1778 Jan. aufgeführt, 1780 Sommer sind die Vögel geschrieben. Ich weiß nicht,
ob jenes schon erkannt ist, bekannt ist's gewiß nicht. Und wenn's auch eigent-
lich nicht hierher gehört, so interessiert so etwas uns Philologen doch nicht
am wenigsten.
' Auf diese und eine Anzahl der folgenden Stellen hat mich mein Freund
Dr. Carl Hosius aufmerksam gemacht.
Schlaf Szenen auf der attischen Bühne 51
(ttövujv) u)v out' dTreiTTov oubev out* (xtt* ö^^dTlJuv
^CTttHa TTTiTac oub' av djöjLinv ttote
eic Toöe' iKcceai bdKpu* an' ö)U)ndTujv ßaXeiv
(1412) ei c' öipeTai Tic GfiXuv övt' ouk aivecei,
so erkennt man, daß es dasselbe wirkungsvolle Motiv ist, den einst
so gewaltigen Helden, der nie gedacht, daß es so weit mit ihm kommen
würde, Tränen vergießen zu lassen wie ein Weib. Nun werden wir
mit anderm Gefühl bei dem
blCpufj t' dfLllKTOV iTTTTOßdlLlOVa CTpttTOV
etipuiv ußpicTTiv dvojuov uTiepoxov ßiav (1095 f.)
an das TCTpacKeXec üßpiciaa KevTaOpwv t^voc (Her. 181) denken und
wir werden ein Gleiches meinen, wenn wir zu dem Folgenden
TÖv e' UTTÖ xöovöc
"Aibou TpiKpavov ckOXok
d7Tp6c|naxov Te'pac (1097 f.)
die Verse des Herakles (1277 u. 611) halten:
"Aibou TTuXujpöv Kuva TpiKpavov - eiipa TpiKpavov.^
Wir werden vielleicht auch den Anstoß zu Wendungen wie dies dirpöc-
Maxov und das diiXaTov Opemna KdirpocriTopov, das 1093 von dem
Löwen gesagt wird, finden in dem diiXaTov des Her. 369, wenn wir
die dort folgenden Verse
TÖV T6 xpv^ceiuv
bpQKOVTQ |Lir|Xuv cpuXaK dir* kxdTOic töttoic
zu Her. 395 ff. stellen: - xP^ceov ircTdXujv
diTo |LiTiXo9Öpu)v x^pi KapTTÖv d^epHujv,
bpdKOVTQ TTUpCÖVUJTOV, ÖC C9' ClTlXaTOV d^iq)-
€Xikt6c ^XiK* dq)poupei KTaviuv.
Nun lesen wir auch gerade hier das ctXXujv Te )liöx6ujv ^upiwv e^ev- 39
cd^nv (1101) und gleich darauf die Klage des Chors (1112)
iJu tXtiiliov 'GXXdc, TidvOoc oiov eicopuu
^Houcav dvbpöc ToObe t* ei c(paXr|C€Tai
vgl. Her. 875 dTTOKcipeTai cöv ctvGoc iröXeoc — d tov euepteTav diro-
ßaXeic und 137 '€XXdc, tu ^umudxouc oiouc oiouc öXecaca Toucb* diro-
cTeprjcr). Ich wiederhole, daß ich auf jede einzelne Stelle gar kein
Gewicht lege, daß ich den Einfluß des Herakles in jeder einzelnen
Stelle mir abstreiten lasse, wie ich ihn ja selbst im einzelnen abstreiten
* Das Wort rpiKpavoc kommt in dieser Form, wie es scheint, nur noch vor
CIQr 4121, wo es gar nicht ganz sicher ist. Aber djLiqpiKpavoc und andere Kom-
posita gibt's ja noch.
52 Schlafszenen auf der attischen Bühne
wollte - so läßt sich ja bei manchem des Angeführten das Triftigste
einwenden: TnTeveujv dvbpujv - titövtujv heißt es schon in der Ba-
trachomyomachie (v. 7)\ wo es natürlich nach stehender alter Formel
gesagt ist, und es ist ja uralte Vorstellung. Die Auffassung des Herakles,
der Sand und Meer gefegt von Ungetümen, steht mit ganz ähnlichen
Worten schon bei Pindar (Nem. 1, 62) öccouc juev ev x^pciu Ktaviuv,
öccouc 5e TTÖVTLU efipac dibpobiKac, hat doch auch Sophokles in der
Anführung der Kämpfe zwar nur solche, welche auch Euripides aus-
gewählt hatte ^ - außer dem erymantischen Eber (Tr. 1092), den
Euripides nicht hat -, aber es könnte doch alle Ähnlichkeit beider nur
daher kommen, daß beide aus den vorhandenen Gedanken und Formen
der Heraklesdichtung schöpften. Das würde ich alles gern zugeben und
gebe es für manches zu: aber wenn von der Schlafszene an so vieles,
die ganze Szenerie, Reden des Heros, die Hereinziehung seiner Taten
in so ähnlichen Wendungen, wenn so vieles des verschiedensten Inhalts
in Wort und Auffassung übereinstimmt - und wenn wir bewiesen haben,
daß die Trachinierinnen nach dem Herakles und ohne Zweifel bald
danach aufgeführt sind - dann hört doch wahrhaftig der Zufall auf.
Es ist auch kein Zufall, daß gerade in diesem Teil des Stückes die
Übereinstimmungen, eine hinter der andern, zu finden sind, während
in der eigentlichen Deianiratragödie fast nichts zu finden ist. v. 177
schon wird Herakles irdviiuv dpicToc cpijuc genannt wie Her. 150^ das
40 oiKoupia, von dem die Rede war, steht Tr. 542; man könnte auch
zwischen dem Gedanken von Tr. 114 f.:
d\X* em TTTiiLia Kai xapäv
TTotci kukXoOciv aiev dp-
KTOu cTpoqpdbec xeXeuGoi
und Her. 101 f.:
Kd|Livouci fdp TOI Kai ßpOToTc ai cuincpopai
Kai TTveu)LiaT' dve)Liujv ouk dei pCuinTiv €X€i
Ol t' euTuxoOvrec öid xeXouc ouk euruxeic —
eine gewisse Verwandtschaft finden und man wird weniger fehlgehen,
wenn man Tr. 919^ (baKpuiuv Gepjud vdjLiaTa) den Gebrauch von vdjuiaTa^
* Auch später in den Phoenissen, in Arist. Aves und sonst heißen die Gi-
ganten so.
* V. Wilamowitz, Herakles II p. 121 über die Taten, die Euripides auswählt
' In dem Eöen stand schon t^kvov öpicTov ZeOc ^x^Kvtuce von Herakles.
dvöpOüv öpicToc heißt er auch im 'HpaKXfic yajLiiJüv des Archippos Keck I p. 680
no.8.
" Auch diese und die vorhergehenden Stellen notiert mir Hosius.
^ Ober väiLia v. Wilamowitz a. a. 0. II 166.
Schlafszenen auf der attischen Bühne
63
bei Tränen, der sonst, soviel ich sehe, nie vorkommt, auf Her. 625
vd^iax' ociujv zurückführt/ Aber das ist nicht viel, vielleicht nichts.
Was sind diese gegen jene Anklänge! Es ist also ausgemacht: die
Heraklesdichtung des Euripides, die bei den Athenern begeisterten
Beifall gefunden, hat den älteren Dichter, der, um zeitgemäß zu dra-
matisieren und zu komponieren, immer mehr von dem Jüngern annahm,
angeregt, den Herakles auch auf die Bühne zu bringen, ihn am Schluß
seiner Deianiratragödie so auf die Bühne zu bringen, wie Euripides
zum Entzücken der Schauer und Hörer es getan hatte. Die ganze
Auffassung und Darstellung des Helden als tragischer Figur hat er im
Ganzen und vielem Einzelnen entlehnt. Man wird nicht mehr bezweifeln
wollen, daß das Stück des Euripides zuerst den Herakles in ernstem
Spiel auftreten ließ^ und daß nichts natürlicher ist, als daß Sophokles 41
die Art, wie das zustande gebracht war, beibehalten mußte, und wie
die Schlafszene zeigt, auch die neuen Effektmittel, mit denen Euripides
das erste Auftreten des tragischen Herakles begleitet hatte, verwenden
wollte.
Nun aber dürfen wir der Schlußfrage nicht aus dem Wege gehen:
wann sind denn die Trachinierinnen aufgeführt? Nun, kurz nach dem
Herakles; denn es ist doch von selbst einleuchtend, daß eine so starke An-
lehnung nur kurz nach dem Stücke, das so starke Anregung gab, ge-
dacht werden kann. Wann ist also der Herakles aufgeführt? 421 bis
415 setzt V. Wilamowitz an. Der t^'pujv doiböc hat ihn gedichtet, nicht
vor 424, und der vpÖToc und eTraivoc toHötou paßt doch gewiß am
besten nicht sehr lange nach Delion und Sphakteria. Die Auflösungen
im Trimeter weisen ebendahin. Härtung hat seinerzeit allerlei be-
^ Eine andere vielleicht nicht so ganz zufällige Übereinstimmung Tr. 1148
liidTTiv dKoiTiv — Her. 339 indTtiv ö|LiöYaMov. 17 indxriv iröciv gehört in die spätere
Partie. Solche Wendungen sind gerade auch echt sophokleisch, obwohl ich hier
etwas ganz Ähnliches bei ihm nicht kenne.
* Man hat dagegen gesagt, daß doch Herakles im Antaios des Phrynichos
vorgekommen sei und daß das doch eine ernste Tragödie gewesen sein könne.
Wir wissen von dem Antaios nur, was im Schol. zu Ar. Fröschen 688 steht,
ö TpaxiKÖc Opuvixoc ^v 'Avxaiui öpdjiiaTi 'Tr€pi iraXaiciidTUJv iroWd bieEfiXGev — das
wird ein Entzücken der turnkundigen Athener gewesen sein. Also der Ringkampf
des Herakles und des Antaios wird dargestellt - diese Balgerei wird wohl in
einem Satyrspiel gewesen sein, so gut wie der Antaios des Aristeas, von dem
wir hören, ein Satyrspiel war. Und wenn wir wissen, daß Herakles in Satyr-
spiel und Komödie von alters mit die beliebteste Figur war, aber kein Wörtchen
aufzutreiben ist von einem tragischen Herakles, und alles dafür spricht, daß der
des Euripides der erste auf der tragischen Bühne war - so ist doch damit
nichts widerlegt, daß er schon bei Phrynichos vorgekommen sei. Ich hoffe in
Kürze das Satyrspiel im Zusammenhang zu behandeln, wodurch wohl auch auf
diese Dinge noch deutlicheres Licht fällt <Pulcinella S. 64ff.>.
54 Schlafszenen auf der attischen Bühne
ziehen wollen auf die von Theben verbannte demokratische Partei,
deren Haupt ein gewisser Ptoiodoros war, und auf die gewalttätigen
Aristokraten, die in Theben am Ruder waren. Mit Hilfe Athens hatten
die Demokraten wieder zur Herrschaft kommen wollen, aber der An-
schlag klappte nicht, Hippokrates und Demosthenes verfehlten den An-
schluß, mit Delion war es vorbei. Wir wissen von diesen Dingen aus
Thukydides IV 26!.; aber es kann doch auch nach Delion allerlei der-
gleichen noch gespielt haben, und mit Theben ist doch um die Zeit
des Nikiasfriedens und bald nachher auch manches im Werke gewesen.^
Die Verse im Her. 588 — 92 reden von den bettelhaften Oligarchen,
die an der cxdcic schuld seien, biiuXecav ttöXiv und sich bereichert
haben. Sie gehören zu den Versen, die so sehr aus dem Zusammen-
hang fallen, daß sie eine beabsichtigte Anspielung enthalten müssen,
die wir in diesem Falle nicht mehr recht fassen können. Aber gewiß
dürfen wir die Verse nicht für unecht erklären.^ Und ob nicht für die
Athener in der Figur des Lykos mehr Beziehungen steckten als für
uns? 'Ein naives Publikum wird an dieser Figur und ihrer Bestrafung
42 seine Freude haben, damit hat aber Euripides nur für das Parterre,
z. T. nur für die Gallerie gearbeitet' sagt v. Wilamowitz.^ Ob da nicht
bestimmte politische Beziehungen und Personen dahintersteckten? Und
es ist schwer, die Worte des Theseus, als er zu Hilfe herbeigeeilt ist,
und überhaupt die Einladung des Herakles nach Athen ohne politische
Nebenbedeutung zu fassen. Das ist ja nun freilich das alte eyKuumov
'AOrivoiv, das allen Bedrängten und Unglücklichen selbstlos, edelmütig
zu Hilfe kommt. Der Herakles steht denn auch den Supplices sehr
nahe^ und ich kann es nicht empfinden, daß zwischen Supplices und
Herakles die Lebenserfahrungen liegen sollen und die Verbitterung des
Euripides eingetreten sei, die seine späteren Stücke und so sehr die
iroische Tetralogie charakterisieren — auch im Herakles nimmt er noch
regen Teil an der Politik. Ich bilde mir gewiß nicht ein, die Aus-
führungen V. Wilamowitz, die ich bewundere, korrigieren zu können:
aber ich habe die subjektive Anschauung, daß der Herakles 422 oder
421 aufgeführt ist. Ich halte es für gar nicht unwahrscheinlich, daß
Herakles, Hiketiden, Erechtheus zusammen gegeben wurden: Theseus,
der den Herakles aus Theben nach Athen führt, daß er dort ganz ge-
* Thuk. V 32 u. sonst. * wie v. Wilamowitz II 160 tut. "" I 360.
* Daß sie 421 aufgeführt sind, ist wohl sicher, v. Wilamowitz I 349 Anm.
F. Giles meint in der Classical Review IV 95 f., in der Rede des Adrastos 857 ff.
trete das Bestreben hervor, die Partei des Nikias zu verherrlichen. Das ist sehr
wahrscheinlich.
Schlafszenen auf der attischen Bühne 55
nese, Theseus, der die Leichen der Argiver von den gottlosen The-
banern einfordert, wie die Athener nach der Schlacht von Delion es
getan, am Schluß aus Göttermund die Mahnung an Athen und Argos
sich zu verbünden — in beiden Stücken ganz dieselbe Animosität gegen
Theben* — ; Erechtheus, der den feindlichen Einfall siegreich zurück-
weist, seines Kindes Blut hochherzig fürs Vaterland hingibt — und
darin das herrliche Friedenslied, das man in Athen auf allen Gassen
sang* - drei Stücke, ein großes eTKuuimov 'AGrivüuv: im Jahre des
Nikiasfriedens.
Die Trachinierinnen sind also ein, zwei/ drei Jahre danach auf-
geführt, und es mag denn auch kein Zufall sein, daß ein Vers (416) 43
Xet' ei Ti XPTl^^tic- Ktti fäp ou ciTn^oc €i bis auf ein Wort (dort ßouXei
für xp^^eic) mit einem Supplicesverse (567) gleich ist. Wenn sie 419
aufgeführt sind, könnte man sich ausmalen, daß die Athener, als sie
hörten, die 'Weiber von Trachis' würden gegeben, mit ganz besonderem
Interesse ins Theater strömten: denn im letzten Winter war eine noch
nicht lange an Stelle des alten Trachis gegründete Stadt Heraklea in
Trachis das Tagesgespräch gewesen, sie hatte mit thessalischen Stämmen
fortwährend im Kriege gelegen, und gerade im Frühjahr 419 war sie
im Mittelpunkt des Interesses - die Böoter hatten Heraklea eingenommen
und befestigt Mn 'A0r|vaToi Xdßujci^: also die Athener hatten ihre Augen
dahin gerichtet und würden sich auch damals besonders für die Sagen
der Heraklesstadt interessiert haben. Doch das mag Phantasterei sein,
die ich mich hüten will, weiter auszuführen. Wichtiger ist, daß auch
die metrischen Beobachtungen die Trachinierinnen in dieselbe Zeit
weisen: näher dem Philoktet und Oed. Col.* Die Auflösungen ergeben
auch ungefähr ein solches Verhältnis.^ Diese metrischen Dinge, in
' Die zuweilen nicht recht übereinstimmende Behandlung Thebens kann man
nur verstehen, wenn man an die Parteien denkt, von denen ich eben sprach:
die eine verhaßte, die in Theben herrscht und jetzt die thebanische Politik ver-
tritt, die andere vertriebene, auf die man hofft.
* Plutarch. Nik. c. 9. ' Thukyd. V 51 u. 52.
* Schmalfeld, Zeitschr. f. Gymn. XIII 1859 S. 383.
■' z. B. Wulff hinter der Ausg. der Elektra 3. Aufl. p. 123. Abweichend
sind genauere Zählungen meines Freundes Hosius, die mir seine Güte zur Ver-
fügung stellt:
Ai. 77 = einmal in 137^ Versen, El. 50-22'/,
CR 85-14; OC82-15V,
Ant. 43-21 y, ; Trach. 60-16; Phil. 128-87,.
Auffallend wäre Aias und OR; genau weiß man ja auch gar nichts über die Zeit
des OR. Durch Weglassen der Eigennamen und gewisser besonderer Arten
von Auflösungen wird das Verhältnis ganz anders. Von den Auflösungen des
Aias sind etwa 15 nur Eigennamen. Es ist eben aus Zahlen allem nichts zu
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 5
56 Schlafszenen auf der attischen Bühne
44 denen ja gewiß etwas von physischer Notwendigkeit liegt, können und
sollen ja nur andere Momente unterstützen — das Fehlen der Parodos,
die stichische Anwendung des Hexameters, die gebrochenen Anapäste,
eine sehr starke Lizenz \ die enoplischdochmischen Metren 879- 95 ^
alles das weist in späte, nicht späteste Zeit und kann bestätigen: kurz
nach 420. Und wie deutlich gibt das ganze Stück den Einfluß euripi-
deischer Kunst zu erkennen: ein erotisches Sujet, wie sie Euripides auf
die Bühne gebracht, ein Prolog nach seiner Manier, auch eine Anklage
des Zeus in seinem Stile, auch eine rpocpöc und ein, wie wir sahen,
nach der Szene des Herakles ganz mechanisch, unvermittelt eingeführter
Ttpecßuc — Gestalten, die das euripideische Drama geschaffen.^
Man wird mir nun erlassen, mit all den andern Ansichten, die das
Stück fast durch die ganze Arena der Lebenszeit des Dichters gejagt
schließen. Über die Verteilung des Trimeters unter mehrere Personen notiert
mir Hosius dies:
Verteilung
an 2
an 3
an 4 Personen
Aias
8
—
—
El.
27
1
—
OR
10
2
—
OC
47
1
(1)
Ant
—
—
Trach.
4
Phil.
27
3
1
Man sieht, was dergleichen hilft - denn in den Trachinierinnen sind die Ana-
päste zwischen mehrere Personen verteilt; das hat ein ganz anderes Gewicht
und ist zum Teil unerhört, vgl. oben. Eine genaue Tabelle über einsilbigen
Versschluß steht mir ebenfalls durch Hosius' Freundschaft zu Gebote. Ich setze
nur die Schlußzahlen her (Enklitika sind mitgezählt):
Aias 64 mal. Einmal in 16 Senaren.
El.
91
OR
121
OC
125
Ant.
58
Phil.
103
Tract
i. 74
12% „
10
10 V, „
15 V5 „
10 V, „
13 „
Weitere Betrachtungen mag daran knüpfen, wer damit etwas ausrichten zu können
meint. Uns genügt es hier zu sehen, daß auch diese Rechnungen unserer Be-
weisführung nichts in den Weg legen können.
* V. Wilamowitz, Anal. Eur. p. 196 u. 98.
* Vgl. V. Wilamowitz, Herakles 1 352 über diese Verse.
' Ein ähnlicher up^cßuc (oder uaibaYuuTÖc) kommt in den erhaltenen Stücken
vor in Eur. Medea, Ion, El., Phon., Iph. Aulid.; bei Soph. nur in der Elektra.
Eine Tpocpöc bei Eur. in Hippol. und Androm.; in den Trachin. Tpoqpöc und
TTp^cßuc.
Schlafszenen auf der attischen Bühne 57
haben, abzurechnen. Auch die Ansicht von Kalkmann ^ und Hense,
daß die Chorverse des Hippolytos v. 545 ff. bewiesen, daß die Trachi-
nierinnen vorhergegangen sein müßten, hat nichts zu bedeuten^: es steht
ja nichts da, als daß Herakles Oichalia zerstörte, um lole zu gewinnen 45
- nichts von Folgen und andern Verwicklungen: OixaXiac äXujcic war
ja da und wie viel Heraklesdichtung! In etwas anderm freilich ist eine
Ähnlichkeit mit diesem Stück da: die Sterbeszene des Hippolytos ist
recht ähnlich der des sophokleischen Herakles, besonders auch die
Todesklage beider, mehr im ganzen als im einzelnen. Im einzelnen^
kann man etwa Hipp. 1387
€i8€ lue Koiiiiceie tov bucbaijuov' "Aibou
^eXaiva vuKtepöc t' dvdfKa
und Trach. 1040 vergleichen — tu t^ukuc "Aibac -
euvacov euvacov iLKux^pa |uöpuj
TÖv ineXeov cpOicac (vgl. Hipp. 1376 Kaxd t euväcai töv
e)Li6v ßiov)
und dann ist es dieselbe Gruppe, die wir kennen: der Vater Theseus
unterstützt den sterbenden Sohn (1445), steht sorgend neben ihm. Es
gehört der Hippolytos in die Reihe der Stücke, die den körperlichen
Schmerz auf die Bühne brachten, freilich noch lange nicht so drastisch
so naturalistisch wie in den Trachinierinnen und dem Philoktet. In
diesen Zusammenhang muß auch die Schlußszene der Acharner ge-
rückt werden, die 495 gedichtet ist: Lamachos wird verwundet auf die
Bühne geführt, gerade wie Hippolytos, nachdem sein Unglück von einem
Boten erzählt ist mit allerlei Parodie solcher Berichte in der Tragödie
Und nun jammert Lamachos in schlotternden Dochmien - es ist ganz
Parodie, freilich nicht auf Trachinierinnen oder Herakles - da fände
nichts auch wer es suchte - wohl aber auf Hippolytos z. B. Ach. v. 1215
Xd߀c6e )Liou Xd߀C0e xoö CKeXouc Trarrai
TTpocXdßecO' uj qpiXoi
auf Hipp. 1359 f.
b|UU)€C XPOOC eXKlubOUC d7TT€C0e
X€poTv usw.
Dikaiopolis verhöhnt noch die Worte auf seine Weise:
* Daß cpiXTpa in beiden Stücken erwähnt werden, hilft doch hier nichts
(Kalkmann, De Hipp. Eur. p. 9 f.). Dergleichen uralte Dinge des Volkslebens
braucht doch nicht erst ein Dichter im Theater sagen zu lassen, damit's ein
anderer auch tun kann.
' Vgl. auch V. Wilamowitz, Hermes 18, 244 Anm. 7.
» Mehr stellt zusammen Kalkmann a. a. O. p. 9 ff. Doch die Worte sind
kaum ähnlich und die Gedanken kehren ähnlich so oft wieder.
5*
58 Schlafszenen auf der attischen Bühne
ejuoö be TC cqpuj xoO tteouc ajLiq)uj )uecou
TTpocXdßecG' m qpiXai
es ist eine Verhöhnung jener Gruppe, die wir in der Tragödie so oft
wiederkehren sahen. Auch Ach. 1191 und Hipp. 1347 ff. sind sich
46 ähnlich und die Anrufung des Paian Ach. 1212 und 1373.^ Aber das
eigentliche Ziel des Hohns mag doch ein andres Stück gewesen sein,
und man hatte gewiß schon mehr solche Szenen auf der tragischen
Bühne gesehen.^ Wir wissen, daß auch in den Niptren des Sophokles
dergleichen vorkam, in denen der verwundete und sterbende Odysseus
dargestellt war - an Telephos kann man auch denken - der Prome-
theus mag vielleicht das erste Stück in dieser Reihe gewesen sein.
Sterbeszenen sind jedenfalls sehr alt auf der Bühne - es wäre ein
noch viel interessanteres Stück Bühnengeschichte, die Entwicklung der
Sterbeszenen in weiterm Umfange zu untersuchen. Wir wollen uns
für diesmal begnügen, aus der Entwicklung der Schlafszenen auf der
attischen Bühne einige Resultate gewonnen zu haben, und wenn
wenigstens das Resultat, daß die Trachinierinnen nach dem Herakles
gedichtet sind - zwischen 422 und 415, denn die nähern Datierungen
will ich nicht für bewiesen ausgeben - unumstößlich feststeht, so habe
ich diese Zeilen nicht umsonst geschrieben, wenn ich auch nur ein
Pünktlein nachgetragen habe zu dem Buche, das uns neulich die Sage von
dem alten Dorergott und die Dichtung des großen Atheners vermittelt hat.
Während ich dies schreibe, kann ich aufsehen zu der Kolossalstatue
des farnesischen Herkules, die oben auf dem Wilhelmshöher Berge steht:
das ist auch ein Stück Geschichte der Auffassung des alten Gottes -
nach der Statue aus der späten Zeit, die nur den kraftprotzenden
Athleten sah, ein Kupferbild auf ein eckiges Riesengebäu, in dem das
Wasser für allerlei Wasserkunst gesammelt wird, hinaufgestellt in einer
Zeit (1717), der die Antike nur ein ergötzliches Ornament für Lust-
gärten und Fürstenschlösser war - das Volk nannte den alten Helden
den ^großen Christoffel'! Wir aber können heute wieder den Ge-
waltigen verstehn, der Schlafende ist ganz erweckt durch seinen
deutschen Hypopheten, xriveXXa KaXXiviKe.
^ Kalkmann hat diese Stelle schon notiert a. a. O. p. 10 Anm. 1.
* Bei Cic. Tusc. II 21 werden Stellen aus der Bearbeitung des Pacuvius an-
geführt. Da war auch der Gegensatz des einst Gewaltigen und jetzt Gebrochenen
benutzt: nimis paene animo es molli, qui consuetus in armis aevom agere-. Von
cap. 7 an bespricht Cicero mehrere solche Szenen. Ähnliches kam in der Epinau-
simache des Accius vor. Sie wird wohl auch nicht selbständig nach Homer, sondern
nach dramatischen Vorbildern gemacht sein. Vgl. die Notiz von einem Eurypylos
eines unbekannten Dichters bei Nauck fr. tr. gr. * p. 838. Auch bei Aristoteles
cap. 23 wird ein Eurypylos erwähnt.
I
De hymnis Orphicis 59
III
DE HYMNIS ORPHICIS
CAPITULA QUINQUE^
€1 6' 'Opcp^uuc laoi T\u)cca Kai la^Xoc irapnv!
Eurip. Ale. 357.
EXORDIUM
Quae hierophanta Eleusinius olim in mysteriis sacerrimis cantauerit 1
nemo imquam non ignorabit. uix unquam ullus lapis in lucem prodibit
uel Ulla Charta ubi legatur antiquae illius aetatis hymnus mysticus.
quamquam nuUus fuisse uidetur in Graecia deorum cultus neque publi-
cus neque secretus cui carmina non adhiberentur, tarnen hymni sacri
graeci paene omnes sunt perditi; et qui in Alexandrinorum bibliotheca
seruabantur precationum thensauri Kard ttöXcic dispositarum ^ ne nobis
perierint in aeternum uereor.
carminum uero in mysteriis usitatorum auctor paene diuinus antiquitus
credebatur Orpheus uates Thracius. 'Opcpeuc juev ydp TeXexdc fiiuTv
KQTebeiHe, inquit Aeschylus Aristophaneus^ inde a sexto saeculo Or-
phicam quam dicunt theologiam Athenis floruisse ne dicam ortam esse
satis constat. nee negandum est multum et in rebus Eleusiniis ualuisse
poetae uenerandi sacra praecepta. quid quod Lycomidae Attici mysteria
quaedam gentis propria agentes cantasse feruntur louc 'Opcpeuuc u|livouc^?
an miraris quod posteriore aetate omnium fere cum Apoliinis tum Bac-
chi mysteriorum sollemnia aucta et celebrata esse permulti testantur
scriptores iis uersibus quos paene omnes adscribebant celeberrimo sa-
crorum praeconi, filio deorum - quem Aristoteles nunquam re uera
uixisse primus profiteri non dubitauit. omnium illorum uersuum nobis
nil relictum est; diu, pro dolor, putredine consumptae sunt cavibec illae»
TOic 'Opcpeia KaicTpaipe ^f\f)\)c (Eur. Ale. 968). itane uero? immo ex- 2
stant 'Opcpeiuc qui inscribuntur Ö)livoi. qui quin posterioribus uel adeo
postremis antiquitatis adscribendi sint saeculis nemini iam licet dubitare,
iis saeculis, quibus religionis graecae lucidissimus olim splendor in dies
magis philosophorum inuentis obscurari aliarumque gentium mythis ma-
* <Ad veniam legendi in universitate Philippina Marpurgensi a philosophorum
ordine impetrandam scripsit A. D. Marpurgi Cattorum, impensis Elwerti biblio-
polae academici, 1891. >
' cf. Gruppium, culte und mythen p. 547.
•' ran. 1032. cf. Eurip. Rhes. 944. * Pausan. IX 30, 12.
70 De hymnis Orphicis
culari coeptus »erat, attamen summi sane pretii est inuestigare quid de
horum hymnorum origine forma compositione iudicandum sit, quos si
mysticae Graecorum poeseos genuinas esse reliquias demonstrari poterit,
fortasse et priorum temporum nonnulla fragmenta indagare licebit, et
cum postrema aetas paullo liberalius frustula quaedam reliquerit, lucem
quandam adferre hymnorum mysticorum graecorum historiae.
I
DE 'BUBULCIS' ORPHICIS
3 Hymnorum Orphicorum libellus qui seruatur utrum deberetur ingenio
poetae cuiusdam uel potius philosophi qui 'animi causa ut ostenderet
quid Orpheus si uoluisset optimam precandi rationem tradere'* haec
composuisset, an in cultu ac religione certorum hominum in usu fuisset
ita ut has precum formulas re uera recitarent in sacris mystarum coe-
tibus, ambigebant uiri docti usque ad hunc diem. etsi nonnulli uiri et
ii doctissimi nuper sensere illam olim omnium sententiam qua hymnos
ut legerentur fictos esse putabant minus ueram esse, nuperrime exstitit
qui Stoicum quendam illa consarcinasse et quae Orphicam doctrinam
saperent interpolata tantum esse non modo putauit sed etiam publicauit^.
neque uero sensibus et coniectamentis indulgere licet ubi demonstrari
potest. atque eo minus illis nouissimis studiis uenia concedenda est,
quoniam iam ante hos duodecim annos Rudolf us Schoell, uir insignis
in satura philologa Hermanno Sauppio oblata paucis pagellis (p. 176 sqq.)
nouis titulis aduocatis etsi neque satis demonstrauit et explicauit neque
amplius prosecutus est, tamen adumbrauit cur de imprecationum Orphi-
carum origine et usu uix iam dubitari posset. nolo autem inculpare
neque rixari, sed ipse demonstrare.
in eiixri irpöc Moucaiov hymnis praemissa, cuius in fine Hecatam
aduocant, legitur (u. 9 sq.):
Xicco|nevoic KoOpriv TeXeraic öcirici Ttapeivai
ßouKÖXtu^ eu|uev€oucav dei Kexapnoii Gujuiu,
atque in Curetum hymno (XXXI 6 sq.):
cXÖoit' eu|a€V€0VTec in €ucpr|)Lioici XÖTOici
ßouKÖXuj eOdvTriTOi äei KexapriÖTi 0u|uuj.
4 non iam ignoramus quid in his uersibus, qui certae formulae precatiuae
^ haec erat Lobeckii sententia, Aglaoph. p. 395.
' Otto Kernius in Hermae uol. XXIV p. 498 sqq.
' [u. Buresch, Aus Lydien n. 8, 10 dpxißoOKoXoc [rfic crrleipric. <(aus H. Useners
Handexemplar.»
De hymnis Ofphicis yj
speciem praebent, sit ßouKÖXoc. an etiam nunc sunt qui putent eum
qui hymnos finxerit se magis bubulcum quam poetam appellari ipsum
uoluisse? etsi enim tituli non essent inuenti, iam Lucianus nos edocere
potuit quid essent illi ßouKÖXoi. qui tradit^ choros Bacchicos maxime
agi in Jonia et in Ponto ibique adeo homines his rebus deditos esse,
ut per totos dies contemplarentur Titanes et Satyros et ßouKÖXouc.
quorum partes agere saltando nobilissimum quemque. uides ministros
ac cultores Bacchi dei summi, dHiou xaupou quem antiquitus uocabant,
fuisse ßouKÖXouc eodem modo quo Corybantes (et Curetes) et Satyri
deum custodivisse et coluisse, Titanes uero eum puerum misere lace-
rauisse ipsis Orphicorum effatis notissimis dicebantur. quas res illic
saltantes agebant atque imitabantur. in illis autem ipsis regionibus, de
quibus dicit Lucianus, inuenti sunt lapides, eiusdem rei testes sinceris-
sumi. Pergami inuenerunt titulum^ qui praebet haec uerba:
Ol ßouKÖXoi ^Tei|UTicav ZujTfipa 'ApTeiuibiupov töv dpxißouKÖXov
bid Toö euceßujc Kai dHiwc toö KaGtiTtluövoc AiovOcou irpoiCTacOai
Tujv 0eiujv ^ucTTipiujv. eiciv be oi ßouKÖXoi — secuntur nomina
— u)LivobibdcKaXoi — c€iXr|Vioi — xop^TÖc.
in lapide qui Apolloniae ad Pontum^ in lucem prodiit, non modo Xik-
vacpöpoc, Kicxacpöpoc, dpxi|LUJCTTic, dpxißaccdpa memorantur, sed etiam
ßouKÖXoc. ad senatum et populum Iliensium rex Pergamenus dedit
epistulam quam lapidi incidendam curarunt*: se iam antea donauisse
commemorat rdc xe ßoOc xai xoOc ßouKÖXouc. quid igitur? suntne
ai ßöec uerae boues an potius eaedem ac ßaccdpai? memineris, quaeso,
^ Trepi öpxnceuuc, in cap. 79: i^ lu^v ye BaKXiKi^i öpxricic ev Mujvia ladXicxa
Kai ^v TTövxuj cirouöaZ[o|LievTi kqixoi caxupiKiri oöca oöxuu KexeipujTai touc
dvBpuüTTOuc xoOc ^K€i üjcxe Kaxä xöv xexaYM^vov ^Kacxoi xaipöv ÖTrdvTUJv ^iri-
XaOöiiievoi tu)v öXXujv KaGfjvxai bi' fm^pac Tixävac kqI Kopußavxac xai caxOpouc
Kttl ßouKÖXouc öpu)vx€C. Kttl öpxoüvxai f€. xaOxa oi euyev^cxaxoi Kai -rrpujxeiiovxec
^v ^Kdcxr) xüüv TTÖXeiuv oux öttuuc aiboij|H€voi dXXd xai )LX^f a cppovoOxec ^iri xA irpaY-
^axi inöXXov fjirep ^ir' €\}feveiaic Kai Xeixoupfiaic Kai d5iuj|Liaci irpoYOviKoic. <S.
auch Nek. 148.)
* edidit C. Curtius in Herrn. III 39. cf. MouceTov Kai ßißXioGfjKTi xfic cöaTT«-
XiKnc cxoXfic ^v CinüpvT) 1875/76, p. 4, ubi idem lapis iterum publicatus est.
» CIGr 2052.
* CIGr 3604 . . . oc 'IXi^ftüv] xf| ßouX^ Kai xii» 6r||auj x«piv, i^v ^x^J^v öiaxeXu)
i)liiv iv travxi KaipOu irepi xfic irpöc xö öelov eöceßeiac Kai ladXicxa irpöc xViv
'AOr^vdv ^K xfic upöxepov Ypacpeicric eiricxoXfic irpöc u|uäc ueiTeiciuai udci cpavepöv
7re(puK€vai, KaÖ' ^v xdc xe ßoöc Kai xouc ßouKÖXouc dvexi[6l€iv. Kai vOv b^
xuupav riTÖpa[Ka ... agi de rebus sacris, non pecuariis uerba ipsa prae se ferunt.
e quibus minume sequitur ut boues et bubulci donati sint in Mineruae usum.
priore epistula rex de his bubulcis dixerat, sacerdotes uel ministras donauerat,
nunc agrum emit ubi templum exstrueretur uel ubi mystae deos suos, inter
quos Bacchus haud dubie putandus est summus, rite celebrarent.
72 De hymnis Orphicis
Dianae ministras uocatas esse apKTouc, Bacchi et xpötTouc, postea mystas
Mithrae, cui saepe ut solis deo leoninam attribuebant faciem, Xeoviac
et Xeaivac^ nee inutile est comparare apud Ephesios eos adulescentes
qui festo Neptuni die potum ministrarent laupouc esse adpellatos^ sumas
uero si coniectando pauxillum indulgeas feminas Eleas quae illud aHie
TttOpe cantitabant implorantes Dionysum, ut ueniat tuj ßoeuj irobi Guiuv,
iam nomine ßoüuv fuisse ornatas. sed ßouKÖXiuv adscribenda sunt alia
6 testimonia: Polemo^ narrauit de dpxißouKÖXiu, qui in Troade habitauit, sed
quod mirum est Apollinis sacerdos fuisse uidetur. an putandum est in
illis regionibus cultus Bacchici tantam fuisse uim et auctoritatem, ut ad
eius exemplar aliorum sacrorum instituta uel certe nomina quaedam
constituerentur?'^ unus uero titulus graecus quem olim Cyriacus Anco-
nitanus legit Perinthi, in urbe ad Propontidem sita, dignissimus est
quem hie acrius examinemus. ediderunt eum uiri docti hoc modo'':
euTuxeiTe. xp^^inöc CißuXXrjc.
errdv b* 6 BotKxoc eudcac TrXr)c[0r|c]€Ta[i],
TÖie ai|aa xai iröp xai kövic )niTr|ceTai.
CTieXXioc Gur|0ic dpxißouKÖXoc
'HpaKXeiboi; 'AXeHdvbpou dpxiMucTOÖVTOC.
quo minus iamborum sensum intelleges, eo lubentius ut puto mihi con-
cedes ut paullo fusius de eis disseram, ac lux quaedam fortasse ad-
^ cf. CIL VI 744 et quos Henzenus conuocauit testes. addas locum Porphyrii
de abstin. IV 16: uüc xouc |u^v |U€T^xovTac tuuv auTUJv öpyiuiv jaOcxac Xeovxac
KaXeTv, xac M Y^vaiKac Xeaivac, xoijc bi UTrr]pexoOvxac KÖpaKac kxX. cf. CIL
III 3415. « Athenaeus X p. 425 C.
^ fragm. 31 Preller. (schol. Ven. in Iliad. 139): CiuivGioc yäp xöttoc xfjc Tpuj-
döoc, ^v öj iepöv 'AiröXXujvoc CjuivGiou dirö alxiac xfjcbe. €v XpOcr], tröXei xf^c
Muciac, Kpivic xic iepeuc fjv xoO kgiGi 'AttöWuuvoc. xouxtu öpYicöeic ö Geöc ^ireinnjev
auxoö xoic dYpoic juiiac oixivec xouc KapTrouc ^\u|uaivovxo. ßouXr]e€ic öe Troxe ö
6€Öc auxiju KaxaXXaTfjvai irpöc "Opör^v xov dpxißouKÖXov aOxoO Trap€Y^v€xo, irap'
dj Hevicöeic ö Geöc uuecxexo xOjv kükOjv d-rraXXdSeiv Kai 6ri Trapaxpni^ci xoEeOcac
xouc inuc öieq)G€ipev. dTraXXaccöjuevoc ^vexeiXexo xr^v ^mcpdveiav auxou brjXüJcai xuj
Kpivibi. ou Yevo|Li^vou ö Kpivic iepöv iöpucaxo xuJ Geuj CjuivG^a auxöv irpocaYopeucac,
eiT€ibri Kttxd xriv eYXii'Piov auxujv bidXcKxov oi jLiuec CjuivGoi KaXouvxai. rj icxopia
napd TToX^iuiwvi. — auxou i. e. lep^ujc. minime credo hie dici uerum bubulcum
sacerdotis ministrum qui boues Apollini mactandos administrauerit. est dpxißou-
KÖXoc et uir magni honoris, sed minoris quam iepeuc.
* fortasse Aiövucoc CiaivGioc in memoriam reuocandus est et suspicandum
'AttöXXujvoc C|uivGiou et Aiovücou C|uivGiou cultum illic fuisse coniunctum. modo
uideo Tuempelii adnotationes de Baccho Sminthio in Philologi nouissimo fasci-
culo (XLIX, 3, p. 573 sq.), quas tarnen non prorsus probo.
" proposuerunt enim iam hi : Dumontius , inscriptions et monuments figures
de la Thrace 1876 p. 38. Mommsenus in ephem. epigr. III (1877) 236, Kaibelius
in mus. rhen. XXXIV 211. SchoelHus 1. c. p. 179.
De hymnis Orphicis 73
fulgebit mysteriorum horum tenebris. traditur enim in fine prioris uersus
et insequentis initio TTAHCTATTOYe unde unum quidem TÖre recte elicuit
Wilamowitzius; sed quae de reliquis litteris nXricTai fecerunt critici TrXricr]
TTÖXiv, TrXavrjceTai probari non possunt nee magis TiXTicGricexai. quem
tandem sensum uerbis inesse putauere? unus Schoellius respondit 'nihil
nisi apparatum sacrificii mystis furore Bacchico satiatis faciundi per
imaginem' praescribi. ubi gentium tale tali modo sacrificium praescri-
bitur? atque in priore uersu non de mystis sed de Baccho ipso res
est. sed ne longus sim: nonne scis ubi cineres et sanguis et ignis ut
fiat res sane summi momenti miscenda fuerint, nonne recordaris illius
grauissimi de hominum origine placiti uere Orphici? uersibus illis prae-
betur uaticinium Sibyllinum ut par est obscurum de anthropogonia.
Toö Tujv Tirdviuv ai'inaTÖc €C)li€v n^ieicS sie professi sunt Orphei ad-
seelae, toutouc ö Zeuc eKepa\Jvu)ce Kai ek Tfjc aiOdXric tujv diiiiuv
Tüjv dvabo6€VTUJV eH autiuv üXr|c Tcvecöai toOc dvGpuüTroucl e Xu-
6pu) i. e. eruore eum puluere eommixto orti sumus^ atque id quod
summum est: etiam Bacehi ipsius sanguis nobis inest ujc toö cuujLiaToc
fiiaujv AiovuciaKOu övtoc, juepoc ydp auToO ec)Liev, eiye ex Tfic aiGdXric
TÜJV TiTdvujv cuTKei|ae0a Y€uca|uevujv tujv capKÜJV toutou*. inde effulsit
illis mystis eertissima immortalitatis spes, quod in cuiusque et animö
et eorpore partieula dei tam misere lacerati inesset, eius sanguinem
sibi inesse putabant eo quod Titanum filii essent qui Dionysi partieulas
eomedissent, igne uero eaelitus misso Juppiter animas hominum ereauit
Titanes eomburens in eineres eo modo, quo iam antiquitus anima ipsa
ex igne eaelesti deuenisse putabatur^, TiTavov be Kupiwc Tfiv Koviav
cpaiLiev TÖ ibiujTiKOuc XeTÖ)Li€vov dcßecTOv, tö ev XiGoic KeKaujuevoic
Xvotubec XeuKÖv. exXriOri be oijtujc dirö tujv ijuGikujv TiTdvuJv, oöc ö toO
jLiuGou Zeuc KtpauvoTc ßaXiuv KaTeqppufe * bi auTOuc Tdp Kai t6 dH d^av
TToXXfic Kavjceu)c xai ibc oiov eiTreiv TiTavujbouc biaTpuqpGev ev XiGoic
XeiTTÖv TiTavoc oJVO^dcGri oiov iroivfic tivoc TiTaviKnc Tevojaevric Kai ev
auTuj*'. ne igitur mireris, quod in illo uatieinio de hominibus oriundis
Orphico nil de Titanibus inuenitur, sed de Baeeho solo; 'hune' enim
'potissimum finem speetant' Orphiei, 'ut ex Baeehi illa eaede genus
hominum ortum suum eepisse appareat et ut Baeehus eum in modum
trucidatus - palingenesiae et immortalitatis Sponsor et uindex eer-
» Die Chrysost. orat. XXX 10. ' cf. Lobeckii Aglaoph. p. 566.
' Oppian. halieut. V 9.
* Olympiodor. ad Piatonis Phaedr. p. 61 C. cf. Luebberti commenta in in-
dice lect. Bonnensi hibern. 1888/89, ubi de Pindaro theologiae Orphicae censore
disseruit, p. 10. '^ cf. Kuhnii librum die herabkunft des feuers, p. 69 sqq.
« Eustath. ad Iliad. II 735.
74 De hymnis Orphicis
tissimus informetür'^ quid igitur illud TTAHCTAI? adscribo nunc
8 Himerii locum quo de ea ipsa Bacchi caede agit: Aiövucoc eVeiTO |uev,
oI)Liai, TrXriTeic Kai Tf]v ttXtiy^IV icvevalev^ . . . denique propono uersus
emendatos:
eTTCtv b' ö BotKXOC eudcac TiXriYnceTai,
TÖTE ai|Lia Ktti TTup Ktti Kovic juiTncexail
quod si uerum est iam intellegimus quo modo Sibyllarum effata et
oraculorum sententiae commixta sint cum bis litteris, sed etiam id quod
hie nostra interest, in mysteriis illis culta esse placita Orphica ac
ßouKÖXouc fuisse Bacchi praecipue Orphici ministros. eadem uero dog-
mata et in carminum Orphei Hbello testatur, ut de aliis locis nunc
taceam, iam illa Titanum imprecatio: fuLieiepiuv rrpÖTOVoi TTaiepiuv (hymn.
XXXVII 2). nullus enim uidetur fuisse coetus huiusmodi sacer quin
haberet propriam lepdv ßißXov, in qua theogonia et anthropogonia ex-
plicarentur, et peculiarem carminum libellum. neque iam dubites, quin
u)Livujboi et uiuvobibdcKttXoi, qui in illis titulis atque aliis* a mystis
positis ut certi administri memorantur, docuerint ac recitarint qualia
nobis praebent 'Opqpeiuc üjuvoi qui inscribuntur - qua inscriptione
omnes has singulas similium mysteriorum collectiones ornatas fuisse
ueri est simile.
nee uero solum in illis regionibus - Pergami, in Troade, Apollo-
niae, Perinthi - ßouKÖXouc Bacchi fuisse scimus, sed etiam, quod
minime miramur, RomaCy posteriore quidem imperatorum aeuo. praeter
9 lapidem urbis Romae, cui nil nisi haec duo uerba graece insculpta
sunt: TPO(t)IMOC BOYKOAOC^, haud raro uiri nobilissimi praeter alios
sacros honores in eos cumulatos appellantur etiam 'archibucoli dei
^ Luebberti uerba 1. 1. p. 3.
* Himer. erat. IX 4. uerba insequentia sunt haec: ä|LiTre\oc bä r\v KaTr](pric
Kai CKuBpuuTTÖc oTvoc Kai ßörpuc üjcirep baKpüuuv Kai BdtKXOc oökcti cqpupöv eic ti^v
Kivr]civ elxev eudpiiiocTov. dXX' oö 5iä t^Xouc tö bdKpuov ou5^ iroXeiLtiujv tö xpö-
iraiov. 6 ycip Zeuc ^TroirTeOujv kdjpa iravTa Kai töv Aiövucov iyeipac, duc Xötoc,
TiTävac ^iroiei irapd tiuv |ui36uuv ^XauvecGai.
' nonnulli tradunt Bacchum Titanes inebriatum occidisse (uelut mythogr.
Vaticanus III 12. fragm. Orph. 206 Abel.), sed neminem spero ex hac parte redi-
turum esse ad -rrXricericeTai. nam si litterarum hastas et compendia epigraphica
et insuper Cyriaci oculos reputauimus, nullo alio modo illud TTAHCTAI effici
potuisse pellucet nisi TTAHrHCCTAI fuerit.
* CIGr 2052. uide Herm. IV 228. CIGr 1720 Nicodemiae (Bithyniae). Oiuviu-
hoi ab Hadriano instituuntur Smymae CIGr 3148. 3170. 3199. 3348: Hadrianopoli
(Bithyniae) 3883.
^ nunc apud Kaibelium, inscriptiones graecae Italiae et Siciliae etc. 2045.
De hymnis Orphicis 75
Liberi } quae inscriptiones paene omnes quarto p. Chr. saeculo sunt
adsignandae.
unum addo testimonium, idem posteriorum temporum sed plane
alius generis, quod nescio an singularis cuiusdam sit momenti. repe-
tendum est ex Aegypto, in papyro Parisina '"* magicis precibus et car-
minibus impleta leguntur in fine imprecationis cuiusdam (u. 2434 sqq.)
haec: ö Xötoc outoc xfic TrpdHeujc. Xajußdviu ce Trapd ßouKÖXov töv
exovia TTiv eirauXiv Tipöc Xißa, Xaiußdviu ce irj x^P« Kai tuj öpcpaviu^
böc jLioi oOv xapiv epfaciav eic Tamr]v jliou Tf]V irpäHiv. cpepe |uai
dpTupia, XP^cöv, ijaaTicinöv, ttXoötov TToXuoXßov eir' dTaOuj. quibus
uerbis, etiamsi non satis plana sint, tarnen constat ßouKoXov, cuius aula 10
uel sacellum ad orientem uersus situm est, rerum magicarum esse
antistitem et quasi sacerdotem. scimus autem quam arto uinculo hae
papyri coniunclae sint cum hymnis Orphicis: primus nos edocuit Carolus
Dilthey^ permulta illa carmina quae libris magicis inserta sint re uera
esse Orphica et desumpta esse ex hymnorum collectionibus, e quibus
una aetatem tulit. nonne in propatulo est illos compilatores superstitiosos
sua quaesiuisse non e poetarum uel philosophorum figmentis sed ex
usu ipso sacro? insuper nunc uides non solum poemata sed etiam
^ CIL VI 510: Dis magnis matri deum et Attidi Sextilius Agesilaus Aedesius
V. c. causarum non ignobilis Africani tribunalis orator et in consistorio principum
item magister libellor. et Cognition, sacrarum magister epistular. magister
memoriae uicarius praesector. per Hispanias uice s. c. pater patrum dei solis
inuicti Mithrae hierofanta Hecatae dei Liberiarchibucolus taurobolio crio-
bolioque in aeternum renatus aram sacrauit dd. nn. Valente V. et Valentiniano
iun. Augg. conss. idib. Augustis. CIL VI 500 (Romae ca. a. 300 p. Chr.):
ARCBDEILIBXVVIROSF
iam uides 'archibucolus dei Liberi' primis inesse litteris, sicut saepius SDL
scribitur i. e. sacerdos dei Liberi. CIL VI 604 (Romae a. 376 p. Chr.): Dis
magnis Ulpius Egnatius Fauentinus v. c. Augur. P. V. P. R. Q. pater et hiero-
ceryx di solis inu. Mithrae archibucolus dei Liberi hierofanta Hecatae
sacerdos Isidis percepto taurobolio criobolioque. [Bull, dell' inst, di corr. arch.
1884 p. 56: . . patri sacrorum summi invicti Mitre hierofante Aecatae arcibucylo
dei Liberi XV viro s. f. tauroboliato deum matris pontifici.l
* edidit Carolus Wessely, denkschriften der kaiserl. kön. akad. der wiss.
zu Wien. phil. bist classe. 1888.
•'• TT] xapct Kai TUü opqpovxri traditur in papyro. quin recte emendauerim non
dubitabis si locum papyri Parisinae quae uocatur Mimaut contuleris, u. 235 (ed.
Wessely I.e.): iroincöv inoi xö A (=b€iva) irpäTlua, ^|aol tu* ttic xr\pac öp(pavuj.
neque uero explicare possum has formulas nimis mysticas. an de Iside et
Horo cogitandum est Osiride necato orbatis? an uiduis ut saepius in plebis
superstitionibus et orbis sicut iraiciv (ctiupoic plerumque) in rebus magicis singu-
laris quaedam auctoritas attribuebatur?
* in mus. rhen. XXVII p. 375 sqq.
75 De hymnis Orphicis
ipsa instituta ac nomina acquisiuisse illos e mysteriis Bacchicis
Orphicis \
nunc uero paullulum redeamus ad aetatem multo uetustiorem. nonne
iam in mentem uenit uersus ille uesparum Aristophaneus (u. 10):
TÖv auTÖv ap' i^oi ßouKoXeic Caßdliov,
quod idem fere est atque 'eundem colis Sabazium'?^ Cratinus uero
composuerat fabulam quae inscripta erat BouköXoi, cui cum rebus
Bacchicis aliquid fuisse docet Hesychius s. u. irupTTepeTXei (?): Kparivoc
dirö bi0upd|nßou ev BouköXoic dpHdjuevoc^ multo luculentius fit quid
iam tunc fuerit ßouKÖXoc duobus Antiopae Euripidiae uersiculis per-^
dementem Alexandrinum seruatis*:
evbov be 8aXd|Lioic ßouKÖXov
KOiLituvTa kicclD ctöXov euioi) GeoO.
sed longe omnium clarissimum testimonium praebetur Cretensium, qua
tabula Euripidem de mysteriis Orphicis egisse notum est, his uersibus
quos Porphyrius tradit^:
.11 QYVÖv be ßiov xeivujv eH ov
Aiöc 'Ibaiou fLiucxac Yevö)Lir|v
Ktti vuKTiTTÖXou ZttTpewc ßoUTttC^
Touc uj|LiocpdYOuc baiiac reXecac
ßdxxoc eKXr|0r|v öciujGeic.
ßouTttc plane idem significare atque illis aliis locis ßouKÖXoc satis apparet.
quid quod eodem nomine utitur BoOiac Bouidöiuv, generis Attici auctor,
cui cum rebus Bacchicis et mythis Thracicis aliquid fuisse haud igno-
ramus'? sed de his rebus item ac de BouIutwv sacris quae a cultu
Eleusinio haud prorsus aliena fuisse magis coniectari quam scire possis^
si certa efficere uellem, multum exspatiari deberem; nam permulta hie
aduocanda essent quae quin a Baccho eiusque sacerdotiis alienissima
^ hie adnotare iuuat magi nomen esse BouKoXößpac in Photii biblioth.
XXVII 19. Euphorbus uenator rerum magicarum peritissimus dicitur Bouko-
Xibr|c in Lithic. Orphic. u. 463.
* in eccles. u. 81 idem uerbum respicit Argum, qui custodiam lonis in bouem
mutatae suscepit - sed altera uerbi significatione reputata fortasse etiam plus
salis in illo uersu inesse sentimus d|Li(picßTiTriTuuc prolato.
^ fragm. 18 Kock. cf. Crusium in philolog. XLVII 37.
* stromat. I p. 418. fragm. Eur. 203 Nauck \
" de abstin. IV 19. fragm. Eur. 472 Nauck *.
^ perperam traditur ßpovroic. praeclare emendauit Dielesius.
' cf. loannem Toepfferum, attische genealogie, p. 113 sqq.
* cf. Toepfferi eundem librum, p. 140 sqq.
De hymnis Orphicis 77
sint longe abest, ut dubitauerim. unum uero addere liceat: ei ipsi
religioni neque alii cuidam ßouTp09ia certe destinatum fuisse BouköXiov
illud prope arcem Athenarum situm iam probatur ut alia mittam loco
Aristotelico praeclari de re publica Atheniensium libelli nuper felicis-
simo casu reperti, cap. 3 (p. 7 Kenyon)^: dXX' 6 )aev ßaciXeuc eixe t6
vöv KaXou|U€vov BouKoXeTov TrXriciov toO TTpuxaveiou. criiLieTov öe'
eil Ktti vöv Top TTic Toö ßaciXeujc T^vaiKÖc r\ cij|a|LieiHic dvxaOGa Tivexai
Tuj Aiovucuj Ktti 6 Td|uoc. hoc igitur certum efficitur illarum opinio-
num, unde sumpsere ßouKÖXujv nomen ac notionem, quasi radices fuisse
in Atticis sacris haud dubie uetustissimis.
redeundum est ad carmina Orphica. quid illic sibi uult nomen
ßouKÖXou? sicut caerimoniae ipsae uocantur otYvd iLiucxripia (h. XLIV 9),
TeXcTtti öciai (XLIII 10), Giacoc (LIV 4) et sim., ita qui eorum participes
sunt, appellantur plerumque luOcxai uel etiam öcioi iLiucxai^, cuius no-
minis sollemni honore homines Orphicos antiquitus esse usos constat^? 12
inter quos satis aperte discernuntur veoiuOcxai uel veoqpdvxai^. quibus
uocibus quin certi initiationis gradus constituantur uix dubites, si et in
lapide mysteriorum Andaniae peculiariter nonnulla decreta esse de
T^puJxo^\JCxalc reputaueris^ simili modo in urnae^ opere caelato cuius
imagines spectant ad res Eleusinias, effictos uides tres quasi mystarum
gradus: qui hostiam adferens primo adgreditur (ttpujxoilujcxtic uel veo-
(pdvxTic) - qui iam mysta sacerrimis ritibus initiatur - qui iam altiore
sapientia dignatus ipsum Bacchi sacrum serpentem colit uel nutrit
(^TTÖTüxric). ßouKÖXoc igitur etsi non ipse dei sacerdos tamen is est qui
magis ad Bacchi cultum quasi cotidianum aduocatus sit quam i^ucxai
et veoMucxai. insuper si in titulis supra tractatis uidemus hie ßouKÖXujv
nomina praeter mystas adscripta, illic dpxißouKÖXov subditum fuisse
imperio dpxiMOcxou^ iam efficitur ßouKÖXouc, quibus praepositus erat
dpxißouKÖXoc, coUegium fuisse e reliquis mystis electum, cui mandatum
erat ut lepOTTOioic summo sacerdoti (dpxiiuucxri) additis deum non modo
* p. 2, 25 sqq. in editione Kaibelii et Wilamowitzii.
« innumeris locis VlII 20, XVIIl 19, XXV 10, XXXIV 27, XXXVI 13, XLI 10,
XLIV 11, L 10, LI! 13, LXXI 12, LXXIV 10, LXXVI 11, LXXVII 9, LXXVIII 9. öcioi
liucxai LXXXIV 3.
' e. c. Plat. rep. II p. 363 C. cf. Erwinum Rohde in libro qui inscnbitur
Psyche, p. 265 adn. 2.
* veo^ücTtti XLIII 10. veoqpdvxai IV 9.
* cf. Sauppium, die mysterieninschrift von Andania, Gottingae 1860, u. 15,
40, 70. ceteroquin idem uerbum nisi apud Achillem Tatium III 22 non occurrit.
* urna publici iuris facta est in bulletino della comm. archeol. com, vol.
VII p. 5 sqq. cf. Stengelium griechische kultusaltertümer, p. 122 et tab. IV, fig. 3.
' cf. lapidem Perinthi p. 6 et locum Polemonis p. 5 sq.
78 De hymnis Orphicis
rite uenerandum curare sed etiam bpaiuaioupTiac et saltationes Bacchicas
agere, siquidem loci Lucianei memineris et hymni Orphici Curetum
(XXXI), ubi qui eos qui CKipTriiai evÖTiXia ßr^aia ponunt, dei summi
comites et custodes, imitatur haud forte ßouxöXov se ipse appellat. neque
uero certum munerum ordinem efficies: nam archibucolum saepius in
lapidibus praesertim Romanis summum significare sacerdotem sentio nee
ueri est dissimile ßouxöXov, qui hymnum Orphicum recitat primum,
13 ujLiviuböv fuisse et ujuvobibdcKaXov uel certe carminum recitatorem,
siquidem unum pro omnibus uersus pios elocutum esse luculentissime
docet hymni XXXIV u. 10:
kXuGi ^eu ei»xo|Lievou Xaujv ÜTiep euqppovi 0u|lhju.
olim iam Xaoi uocabantur non modo qui in contionem (cKKXriciav) ^ et
qui in theatrum Bacchi Atheniense ad fabulas spectandas conuenerant",
sed etiam qui choris mysticis bacchantes deum celebrabant^ praeterea
ludaeos in ueteris testamenti uersione graeca haud raro appellari Xaouc
ita ut opponantur hominibus ethnicis nee aliter in nouo testamento
Christianos notum est. iam uero si in sodaliciis Orphicis Xaüuv uTiep
exclusis omnibus ßeßrjXoic unum quendam e piorum grege electum
preces effari apparet, ipse sentis quomodo huiusce uoculae notio propa-
gata Sit, ut tandem fere idem insit quod nostrates usque ad hunc diem
dicunt ^laien. iam tunc in Orphicorum sacello XaOuv ürrep preces ac
uota misit ad numina diuina Bacchi ßouxöXoc
II
DE HYMNORUM ORPHICORUM FORMA ORDINE ORIGINE
14 Satis superque dictum est de bubulcis. attamen ut de hymnorum
et indole et origine eo clarius edoceamur, acrius inquirendum est in
totius libelli formam et compositionem. primo enim obtutu elucet non
modo in exordio uniuscuiusque TeXeTfjc - nam leXeiai rrpöc Moucaiov
appellantur hymni in nonnullis codicibus - suffimenta superadscribi
quae re uera a precantibus obferantur, sed etiam in fine deorum nu-
mina ut ueniant sacrisque mystarum intersint formulis certis implo-
rari item atque in hymnis magicis* quos adhibitos esse in usu reli-
gioso uel superstitioso nemo negabit. ut de una clausula soUemni
pauca dicam: petunt saepissime ut numen sibi occurrat eudvinrov l
^ Aristoph. eq. 163. * Aristoph. ran. 676. ' ibid. 219.
* uide clausulas eorum hymnorum quos Abelius adnexuit Orphicorum edi-
tioni et quos Carolus Wessely praemisit papyris Parisinis et Britannicis.
' uelut h. II 5, III 13, XXXI 7 et saepissime.
De hymnis Orphicis yg
adpono lapidis uerba graeca: TToXuvikti Mocxiiuvoc 0iXd5ou Tuvf] Mrixpi
Geoiv euavrriTUj iaipeivr) e\)xr\y\ et hymni magici uersus apud Hippo-
lytum IV 35 p. 102 (ed. Duncker.-Schneidewin.) seruatos:
fopTÜJ Kai Mopiuuj Ktti Mrivri TToiKiXöiuopcpe ^
eXOoic eudvTTiToc ecp' fmeiepria OuriXaTc,
et papyri Lugdunensis^: kqi o\j Kaxicxucei ixe ctTraca CtuH* kivouju€vti,
ouK dvTiTd£€Tai jLioi TTdv 7TveO)ua, ou baiiuöviov, ou cuvdvTTijLia oiiöe
ctXXo Ti Tüuv Ka0' "Aibou irovripujv. quibus comparanda est Hesychii
nota I p. 209: dvTaia. evavTia, iKecioc AicxuXoc CeiueXr). crunaivei 15
he Ktti öaijuövia^. Kai Tf|v 'GKdiiiv be dviaiav Xetouciv dirö xoö eiri-
7T€^7T€iv auid^. ccce quantam ritus et religionis antiquitatem redolet
Hymnus Orph. XLI 'Aviaiac, quam imprecantur ^XGeiv eudviTiiov eix'
euieptu ceo |hucti;i".
neque uero solum sie parum definite numina diuina sibi benigna
appropinquare cupiunt, sed etiam ad singulos deos singulas emittunt
preces qua quemque maxime pollere putant potentia. sanitatem petunt,
uitam iucundam et quietam, diuitias, bonam messem, faustum nauium
cursum'; quin etiam lujfiv öcinv uel dTaGnv bidvoiav (cf. LXI 10 sq.)
quam maxime desiderant. quid quod in primo omnium hymno Hecatae
€iX€iOuia supplicant pro fausta progenie (u. 13):
bibou be Yovdc dirapujToc eoOca Kai cwV — —
et in ultimo omnium Morti ipsi pro felici uitae fine (u. 10 sqq.):
^aKpoici xpovoic lwx]c ce neXaleiv
aiToöiLiai, Oucirici Kai euxujXaic Xixaveuuiv,
ibc av Ir) T€pac kGXöv ^v dvGpüuTroici tö ttiP^c.
* apud Foucartum, des associations religieuses chez les Grecs p. 199, no. 14
(^cprm. dpx- no. 2589).
' traditur kqI TroXO|Liop(p€. emendauit Wilamowitzius in indice lect. Gott. aest.
1889 p. 29.
' in mea papyri editione, quae addita est libro Abraxas, Studien zur reli-
gionsgeschichte des spätem altertums, p. 196, 19 sqq.
* a-rracbpaH traditur. emendaui. ^ 5a{|Liova codd. correxit Lobeckius.
* cf. Etymologicum magnum p. 111, 49: dvTaia Kai i\ 'GKarri d-meeTiKOK:.
AioT€V€iavöc, iKkioc. - dvTair] öai|uujv et alias occurrit: schol. ad Apoll. Rhod.
III 861.
' cf. hymn. LXXI MeiXivör^c:
u. 6: 11 BvriTOuc |aa(v€i qpavrdciLiaav fiepioiciv
u. 9: dvraiaic ^cpöboici Kaxd Zoqpoeiöda vOKxa.
" antiquitus mystae se a deis suis in procellis maritimis seruari credebant,
imprimis magnorum Samothraces deorum ministri. Aristoph. pac. u. 278. cf.
Usenerum in mus. rhen. XXIII 329. (hymn. Orph. LXXV 5, Palaemonis: cüj^eiv
^lJCTac Kaxd xe xG<^va xal xaxd irövxov).
80 De hymnis Orphicis
nonne iam suspicaris omnia carmina ex ordine quodam collocata esse?
itaque ut imprecationum seriem perscrutari exordiamur, primum summis
laudibus tollunt Hecatam quam uocare licet ^cosmicam', omnium reginam,
eodem plane modo, quo iam eadem dea celebratur in interpolata qui-
dem sed satis antiqua theogoniae Hesiodiae parte \ qui uersus minime
16 sunt separandi a prooemio quod uocatur euxn Trpoc MoucaTov: iam huic
ipsi subiungitur summae deae adoratio. primo autem carmine implo-
ratur 'Gkoitti TTpoeupaia €iXeieuia. quid? siquidem notum est eiusdem
simulacra saepe posita esse in portis et in templorum uestibulis', nonne
et horum mysteriorum sacellum mystas intrantes primum quidem öedv
KXrjboOxov (u. 5) contemplatos uel certe ueneratos esse pones? tum
legitur NuKTÖc, omnium matris, gloria, qua par erat inaugurari vuKTiq)afi
öpTia (h. LIV 10). iam uero deorum quorum secuntur laudes ordinem
adscribere liceat ita:
III ^ NuH IV Oupavöc
V Alerip
VI TTpuiTÖTOvoc
tboTevric (u. 2)
VII "AcTpa VIII "HXioc IX CeXnvri
X OOcic XI TTäv
XII ^HpaKXnc
(xpövou TTttirip u. 3)
XIII Kpövoc XIV 'Pia
XV Zeuc XVI "Hpa
XVII noceibiuv
XVIII nXouTUJV
quid igitur? hie in libelli exordiis principia quaedam theogonica cumu-
lata esse et inde ab h. XIII -XVIII deorum genera certo ordine laudari
^ u. 413-449. - u. 413 sq.:
ILioipav äx^iv yair]c t€ Kai arpuT^TOio eaXdccric
r\b^ Kai dcT€pöevTOc du oöpavoO ^|Li|Liope Ti|uf|c
hymn. Orph. I 2:
oöpaviTiv xöoviriv xe Kai 6ivaXiT]v
cf. de '€KdTri ^TKocjuitu fragm. Orph. 201 (Abel).
^ saepe culta est Hecata quippe quae portas custodiret cf. Prelleri-Roberti
mythol. graec. p. 322. Hesych. s.u. irpoTruXaia. Ilithyiam constitutam esse Argis
in porta tradit Pausan. II 18, 3, eiusdem sacellum fuisse Hermionae in ipsa porta
quod nemini licuit intueri nisi sacerdotibus II 35. Olympiae adorabatur ut quae
aluisset Sosipolim daemonem in illius templi uestibulo Pausan. IV 20, 2. cf.
hymn. u. 14: del cuixeipa dirdvTujv. cf. Roscheri lexic. mythol. I p. 1220, 1895,2906.
* quamquam TTpoeupaiac hymnum primum esse censeo, Noctis secundum etc.,
tarnen editionis Abelianae numeros hie mutare nolui. j'GKdTri xaiv ßaciXeiujv
TTpöboiuoc |U€\depujv Aesch. frg. 388 N * est irpoGupaia.I
De hymnis Orphicis gj
nemo, ut puto, non uidit.^ uerum enim uero certa subest theogonia.
noctem et caelum iam ueteres theologos Orphicos omnibus aliis prae-
posuisse quin doceat Aristoteles metaphys. p. 1091 b* nemo sanus dubitat:
apxeiv (paciv . . . vuKxa Kai oijpavöv.^ atque si quidem aiGrip in pla-
citis orphicis theogonicis nocti aut chao adponitur'^, hie quod noctem
et caelum sequitur nil mirum. quomodo ouum et ex ouo TTpuüxcTovoc,
qui dicitur, u. 2 uJOTevr|c, uel 'HpiKa-rraToc (u. 4) uel <^ävr]c (u. 8) orti
sint satis notum est. nee quisquam offendet in septem mundi rectori-
bus (^TTxacpaeic Ituvac ecpopou^evoi)* una cum Sole et Luna^ celebratis.
secuntur <1>ucic et TTäv, qui qua ratiocinatione sint coniuncti iam uidebis,
si TTäva aWriTopiKÜuc et Stoicorum more omnium quasi regem, cuius
membra sint mundi partes, et Ouciv Tra|Li|Lir|T6ipav Gedv uocari obser-
uaueris'' nee non reete legeris uersum h. X 20 de Oucei dictum:
7TavT0T€xvec, TrXdcxeipa, TroXuKxixe, TTdvxia baT)Liov.
non minus pellueet hoc inesse in iravxoia quod traditur^ quam hanc
femininam formam effietam esse, ut TTavi masculino, uniuersi deo, quasi
uxor adnecteretur.^ quae numina etiam in poesi theogonica locum
habuisse ut probem adnoto Damaseii uerba: xauxric öe xfic xpixric xpid-
boc xov xpixov Geöv Kai r\be f] öeoXoTia TTpujxÖTOvov dvujLivei Kai Aia
KttXei irdvTUJV biaxdKXOpa Kai öXou xoO köcjuovj biö Kai TTdva KaXeT- 18
cöai^ sequitur Hercules qui hie xpovou Tiaxrip dicitur (u. 3), sed eadem
ratione qua in theogonia Hieronymiana xpovoc simul appellatur Hercules,
ipse est xpovoc, si quidem praeter alios hos respexeris uersus (11 sqq.):
öc Txepi Kpdxi qpopeic r\6j Kai vuKxa jueXaivav
biubeK' dir' dvxoXiiüv dxpi buc|aujv dOXa biepTiiuv
dOdvaxoc, TToXuTreipoc, dTreipixoc, dcxuqpeXiKxoc.
dein inde a Kpövuj, qui et ipse ut xpo^o^ deus explicatur, deorum
genera et caeli maris orei dei fraterni subiunguntur satis noti.
* nee latuit Petersenum, uirum de bis hymnis longe optime meritum, Philo!.
XXVII (1868) p. 384, quem mirum quantum neglexerunt qui post eum Orphica
tractabant.
' caelum post noctem ponitur in generibus theogonicis saepius, fragm.
Orph. 85 (Abel.), aether iuxta caelum apud Proclum in Plat. Tim. II 95 E. fragm.
121. 122. " Kern de theogoniis p. 4 sqq.
* cf. fragm. theogon. Orph. 79-82 (Abel.)
^ cf. fragm. theogon. Orph. 127 (Abel.)
« TTäv et iiinTrip e€U)v iam prioribus temporibus alio modo coniungebantur
cf. Usenerum, der heilige Theodosius, p. 185. ' coniecere uö-rvia.
* cf. schol. ad Demosth. orat. XXI 9 ubi traditur ut deae nomen TTdvTia, sed
peruerse explicatur ita ut idem sit at TTavbia (deriuandum a irdvTore öieivai!).
» theogoniae Orph. fragm. 37 (Abel.), de Oucei cf. fragm. 83. - Häv '-
hymni u. 12 uocatur ä\r]ei]c ZeOc ö Kepacxric.
Albrechl Dieterich: Kleine Schriften. 6
m
g2 De hymnis Orphicis
non puto fore qui mihi opponat theogoniam talem qualis in hym-
norum ordine uestigia subesse demonstraui traditam non esse, an
nescis quantam deorum generationum uarietatem Orphici tradiderint?
multarum enim habemus theogoniarum fragmenta quae inter se maxime
differunt^ atque hie satis erat demonstrare huius principiorum uel deo-
rum in hymnis ordinis et singula membra et totum conexum originem
carte duxisse ex Orphei quae dicitur theologia. nee quod in earminibus
ipsis interdum numina laudibus ornantur, quae aliena esse uidentur ab
ordine eonstituto - uelut si Saturnus uoeatur (u. 6) ßXdcxrma ^n^ kcxi
oupavoö uel si omnium deorum patres uel matres fuisse dieuntur haud
pauea numina (Physis, Saturnus, Rhea ete.), uexat nostram argumen-
tationem: nam probe seimus quantopere e more fuerit istorum poetarum
eum quem modo laudent deum omnibus extollere epithetis et unum-
quemque reddere uniuersi deum. pro eerto igitur pronuntiamus: in eo
saero sodalieio Orphieo, ubi illa eantabant, utebantur OeoTOviot quadam
ut lepa ßißXtu, ad euius normam ordinem quidem disponebant earminum,
etsi uersus ipsos plerosque aliunde iam eos aeeepisse sumas.
19 iam transeundum est ad hymnos sequentes:
XIX Kepauvöc^ XX Zeuc 'AcTpaireOc XXI Necpri
XXII edXXacca XXIII Nnpeijc XXIV Nripri"iö6c XXV npiuteuc
XXVI rn XXVII Mninp eeiuv.
(yaiav ^x^i^ u. 6)
apparet earmina eadem ratione eonstituta esse qua iam indicantur in
prooemio (u. 32 sqq.) bai)Liov€c oiipdvioi, depioi, evubpioi, x^övioi ita ut
qui louis regno adseribuntur primo loeo altero qui Neptuni, tertio qui
in terra ipsa habitant deineeps eonstituti sint. seeuntur uero:
XXVIII '€pMf|c XXIX OepcecpövTi XXX Aiovucoc^
|Lir)Trip €ußou\f)oc EOßouXeüc
pergunt enim deorum genera persequi ae primum quidem adseruntur
ii qui uTTOxOövioi Plutonis regionum ineolae sunt et qui simul summi
mysteriorum dei sunt, aecedunt alii:
XXXI Koupniec XXXII ^AGtivd XXXIII Nikt]
* iam constat post Gruppii {die rhapsodische theogonie und ihre bedeutung
innerhalb der orphischen literatur in suppl. XVII ann. philol.) et Susemihlii
(dissertatio de theogoniae Orph. forma antiquissima, Gryphiae 1890) curas. nunc
cf. libri mei Abraxas p. 126 sqq.
* Kepauvoö inscribitur Carmen in codd. etsi Zeüc ipse aduocatur, non licet
cognomen dei haud dubie antiquissimum mutare. Kepauvöc et hominum nomen
erat, filii Clearchi Flut. Alex. II 5, Ptolemaei cognomen Paus. X 19, 7. [u. H.
Usener, Götternamen p. 286.] — cf. apud Romanos luppiter Fulgur.
' et hie subesse doctrinam de Baccho nato Orphicam patefacit hymn. XXXVI 6:
— Aiöc Kai Oepceqpoveiac dppriToici y^^Moic TeKvtüGeic (Aiovuroc). cf. h. XXIX 7.
spectant ad Bacchum serpentiformem Proserpinam adeuntem.
De hymnis Orphicis 33
XXXIV 'AttöWiuv XXXV ArjTiu XXXVI "Apxemc
cur hie collocati sint de Curetibus uersus bene docet Proclus qui in
theogonia illa Orphica quam legit iuniorum deorum primam Mineruam
fuisse tradere uidetur\ atque idem addit^: Kai Tap 01 TTpiuxicToi Kou-
pfjTec idTC aXXa irj idHei xfic 'A0r|väc dveiviai ktX. et alio loco^: rriv
ouv €upu0|uov xopeictv* bid Tfjc Kivriceujc \j7T0(paiv€i (fi 'AGrivä) fic Kai
laexebujKe irpiuTTi )nev irj KoupriiiKrj idHei, beuiepiuc be Kai toTc dWoic
9eoic' toi Tap ri 0eöc Kaxd lauxriv Tf)v buva|uiv, f]fe|Liujv tOjv Kou-
pr|TUJV, ujc q)Ticiv 'OpcpeOc. ibidem nonnulla legis de Diana fragm.
137 sqq. sex summi Olympii dei hoc modo subiuncti sunt, adsertis 20
denique Titanibus qui uocantur njueiepuuv irpoTÖvoi uaTepiuv (u. 2) et u.4:
dpxai Kttl TTriTtti irdviiuv ÖvrjTiJV 7ro\u|uöx0ujv,
u. 6: eE i)|H€UJV Tap Trdca rreXei Teveri Kaxd köc|uov
deductae sunt genealogiae usque ad ipsorum hominum originem. quae
nunc secuntur dedicata sunt honoribus eorum qui mysteriorum horum
Bacchicorum et Orphicorum proprii sunt praesides et fautores qui pro-
oemio indicantur BdKxou cuveuacifipec dTraviec (u. 34):
XXXVIII Koupfiiec
XXXIX Kopußac XL Ar||ur|TTip 'GXeucivia
XLI MriTTip 'Aviaia XLII Micn
€v)ßouXov T^Haca u. 8
XLIII 'ßpai XLIV CeiueXn
}Jir\rr]p Aiovucou u. 3
XLV Aiövvjcoc Baccapeuc rpiexripiKoc XLVI Aikvittic
XLVII TTepiKiövioc
XLVIII Caßdrioc XLIX "Itttto
BdKXOV jariPMJ BdKXOu
^vKaTapdv|;acu.2sq. xpoqpöc u. 1.
L Aucioc Arivaioc LI NOiucpai
BdKxoio Tpocpoi u, 3
LH Tpi€TTipiKÖc LIII 'A)H(pi6Tr|C LIV CeiXnvöc Cdiupoc BdKxai
LV 'AcppobiTTi LVl "Abuuvic LVII '€p)ufic xöövioc
C€^vf\ BdKxoio €i)ßou\eO u. 3 ßoKxexöpoio Aiovücou
■rrdpebpe u. 7 Kuirpiöoc TXuK€pöv Y^veGXov Kai 'Acppo-
edXoc u. 8 öiTTic u. 3 sq.
iterum praedicantur Curetes, qui tamen hie ev Ca)uo0paKri dvaKTCC di-
cuntur; saepius enim Curetes et Corybantes (u. 20 KoupnTec KopußavTec)
* fragm. 131, 132. Procl. in Plat. Tim. p. 52 B, 51 D.
* fragm. 133. Procl. ad Polit. p. 387.
» fragm. 132. Procl. ad Cratyl. p. 118.
* lu. E. Maaß, Orpheus p. 62 sqq.l
84 De hymnis Orphicis
et Cabiri plane commiscentur^; praeterea hie primi sacrorum magistri
et aduectores fuisse putantur, u. 6:
uiLieTc Kai leXerriv TipiuToi ^epÖTiecciv eGecGe.
Kopußac eos excipit ac si legeris u. 7 (h. XXXIX):
ArioOc öc Tvuj|Liriciv iyr\\\alac be^xac otYvöv
GripoTUTTOV 6€juevoc )uopqpr]V bvocpepoTo bpdKovTOC,
21 iam intellegis cur adiungatur Cereri Eleusiniae Bpo)Liioio cuvecxiiu (u. 10),
cui est simillima |ur|Tr|p 'Avxaia (XLI)^, GußouXov reHaca 0eöv (u. 8);
de Micri nil certi affirmare ausim: est simul apcriv Kai öfiXuc, simul
GeciLioqpöpoc Aiövucoc (u. 1), Avjceioc "laKXOC (u. 4) et Micr| ävaccal
Horae autem quantum ualuerint in cultu Bacchico ostendit non solum
uersus Simonideus (fr. 148 Bergk.), ubi uocantur Aiovucidbec*, et
Aiovucou öpGoö ara Atheniensis in Horarum sacro posita (Philochor.
apud Athen. II p. 38 c), sed etiam multorum monumentorum imagines,
ubi dei thiaso intersunt.^ nee forte factum est, ut primum deae uernae
celebrarentur, dein ipiexripiKÖc deus, tum Aikvittic, postea demum Aucioc
ArivaToc etc. de reliquis uix quidquam addendum est.^ Bacchi enim
matribus nutricibus comitibus choreutis percensitis iam adnectuntur
Venus, summa eius Trdpebpoc, et Adonis, deae filius et ipse GußouXeuc,
et Mercurius chthonius, Bacchi et Veneris progenies. disponamus igitur
nunc reliquorum carminum ordinem:
* cf. Lobeckium in Aglaoph. p. 1111 sqq.
2 et de Antaea ipsa dicitur, u. 3 sqq.:
r\ uoT€ luacTeuouca TroXuirXdYKTUJ ^v ävü]
vrjCTeiTiv Kar^Traucac '€\€ucivoc YudXoiciv ktX.
' Misam re uera in horum numinum societatem referendam esse docet
Harpocratio s. u. AucauXric, qui et in rebus Eleusiniis locum habuit et in scriptis
Orphicis cf. fragm. Orph. 215 et 217 (Abel.), et hymni Misae antecedentis uersum
6, ubi praeclara Hermanni emendatione e bucaYvoc recuparatus est AucauXric.
Misa uero maxime in Aegypto honorata esse uidetur, u. 8:
r\ Kai iTupoq)öpoic Trebioic ^iraYäXXeai ÖYVotc
CUV er) |ur|Tpi eea lueXavriqpopuj "Icibi ccjuvr),
AiYUTTTOU Trapct xeO^ci cuv djuqpmöXoici riGrivaic.
nunc scimus Alexandriae <von Dieterich berichtigt unten VI zu Anfang) fuisse
KdGobov Tf\c MicTic, Herodas mimiamb. I 56 (u. mus. rhen. 1891 p. 635).
* [et fragmentum Pindari dithyrambicum <75, 14 Schröder. Aus H. Useners
Handexemplar>.I
^ plura adlata sunt a Rappio in Roscheri lex. myth. I p. 2719 sq.
® Sabazium et Hippam non temere conligatos esse simili modo ac Kopußavxa
et Cererem iam uides in hymno Sabazii (qui Bacchi pater est, u. 2 sq.), u. 4.
de Hippa conferas fragm. Orph. 207 (Abel.) et Luebberti commentariolum de
Pindaro theologiae Orphicae censore indici lect. Bonnensi ann. 87/88 hib. prae-
missum p. XX.
De hymnis Orphicis gg
LVIIl "Gpujc LIX Moipai LX Xdpixec
LXI Neinecic LXII Aikti LXIII AiKaiocuvn LXIV Nöjaoc
LXV "Apnc LXVI "HcpaicToc LXVII 'AckXtittiöc LXVIII YTieia 22
LXIX 'Gpivvuec LXX Guiuevibec LXXI MeiXivön
LXXII Tuxn LXXIII AaiiLiujv
LXXIV AeuKoeea LXXV HaXaiiLiiuv
LXXVI MoOcai LXXVII Myt^ocuvti
LXXVIII Hiüc
LXXIX 0e)Liic
LXXX Bopeac LXXXI Zecpupoc LXXXII Nötoc^
LXXXIII ^QKeavöc
LXXXIV ecTia
LXXXV "Yttvoc LXXXVI "Oveipoc LXXXVII edvatoc
etsi extricari possit cur Amoris post Mercurium gloria instituatur, quo-
niam et in monumentis hi dei una effinguntur^ et e. c. apud Ciceronem
(de natura deorum XXIII 6) ex antiquissimo mytho Amor Mercurii et
Dianae chthoniae filius dicitur, tarnen hie res est de Amore cosmogo-
nico qui TrdvTuuv xXriTbac e'xei, u. 4 sq. :
aiOepoc oupaviou, ttövtou, xöovöc r\b' öca OvrixoTc
7TV€U|LiaTa TTavTOTeveeXa Ged^ ßöcKei x^oÖKapTroc
r\h' öca Tdpxapoc eupuc exei, ttövtoc ö' dXiöouTTOc,
ILioOvoc xdp TOUTiuv TTdvTUJV oiTiKa Kpaiuveic.
eundem Amorem iam uetustissima aetate Lycomidas Atticos laudauisse
hymnis quos composuissent Orpheus et Pamphos, tradidit Pausanias
IIX 27, 3): eundem nouissima aetate Lucianus (am. cap. 31) praedicat
lepoqpdvTTiv luucxnpiujv. nee uero latet quo uinculo coniunctus ille fuerit
cum Gratiis - saepe Parcis simillimis - iam in antiquissima religione,
uelut in Elide Gratiarum et Amoris statuae in eadem basi constitutae
erant (Pausan. VII 24, 6). quod uero Moeris subiunctae sunt Nemesis
lustitia Lex, nullo eget commentario. inde ab Amore nouam aliorum 23
numinum seriem incipere suspiceris notionis cuiusdam uniuersaüs et a
sensibus quasi abductae. quid uero, quaeris, hie Mars et Volcanus et
Aesculapius? sed a primo nil aliud petunt nisi pacem (cf. imprimis h.
^ bene iudicauit Gruppius, die rhapsodische theogonie, p. 731 adn. 1, hymni
austri initium intercisum esse nee non intellexit haud sine bona causa Euri lau-
dem esse omissam. cf. Hesiod. theog. u. 378 et Rappium in Roscheri lex. I
p. 1255.
' in herma, apud Gerhardum, antike bildwerke, tab. 41, inter Samothraces
deos Mercurio Amor adpositus est.
' eed quod traditur restituendum est. accepit Abelius Wielii coniecturam
peruersam 'P^a; sed Proserpina uel Ceres dicitur.
35 De hymnis Orphicis
LXV 6 sqq.), ab altero qui Travia oikov e'xei, Tiacav ttöXiv, e'Gvea irdvia
(LXVI 8) ut hominum opera laeta bene adiuuet (u. 11), a tertio item
atque ab Hygia ut sanitatem demittat morbosque malos depellat. iam
omnia clarescunt; nam MeiXivörj quidquid de ea iudicandum est, vujucpri
xeovia esse dicitur (u. 1) neque Furiis est dissimilis. itaque se ex-
cipiunt qui uitam regunt, qui iustas constituunt leges, qui malos ulcis-
cuntur, praemio donantur bonos — qui pacem artes sanitatem, res
maritimas, res musicas curant' - tandem quae epTwv f^yriTeipa, ßiou
TTpÖTToXoc 6vriToici, quae iräciv epfaciiuov ßioTov 0vr|ToTci TtopiZ^ei (LXXVIII
6 et 12), ut juucTaic lepöv cpdoc auHoi (u. 13), imploratur ipsa diua Au-
rora quasi ujbrj dujOivf] quales postea in sodaliciis christianis uetustissimis
cantari solebant.^ multo luculentius est Themin hie intellegendam esse
ut TctiTic deam (u. 2)^ Aquilonem Zephyrum Austrum aeris deos,
Oceanum aquae^, Vestam ignis^ elementa enim quattuor adorantur
sicut in prooemio iam legebatur (u. 39): köc^ou le ^epri xeipa-
24 Kiovoc aubu). denique quod in totius libelli fine*' fratres illi "Yttvoc
"Oveipoc Gdvaioc locum habent nemo mirabitur.
nunc hymnis omnibus percursis fidentissime confirmo: conlecta sunt
carmina certo quodam ordine, ex parte quidem ad normam theogoniae
cuiusdam Orphicae'; oriunda enim sunt ex ipso mystarum usu, qui in
sacello suo quaecunque animis gestiebant hisqe carminibus recitatis a
deis expetebant, euruxwc XP^ exaipe superadscribitur in nonnullis co-
* fortasse collocati erant antea hymni ita ut h. LXIX - LXXIII Legis hymnum
LXIV sequerentur, deinde proferrentur singulae rerum humanarum preces.
* horum hymnorum ordini fortasse ratio subest paullo obscurior: Athenis
olim vriqpdXia (i. e. sacrificia chthonia qualia propria erant mysteriis) obferebantur
Mnemosynae, Musis, Aurorae, Soli, Lunae, Nymphis. cf. Polemonis fragm.
74 (Preller) = schol. Soph. Oed. Col. 100. Soli et Mnemosynae -rrÖTrava tri-
buuntur CIA II 1 651. hie uero Musae Mnemosyna Aurora uersibus deinceps
sequentibus celebrantur, et Aurorae cum uentis fuisse consuetudinem constat
(cf. Rappium in Roscheri lex. I 1255 sq.), uentis uero et ipsis Athenis danda
erant sacrificia chthonia (cf. Stengelium, Herm. XVI 346 sqq.)
" quae oracula docuit Apollinem et Pythiam sedem priscis temporibus occu-
pauit (u. 3 et 6). Terra erat ipsa.
^ u. 4 sq.: i^ ouirep TrctvTec uoraiuoi kqI Ttäca edXacca
Kai xöövioi yair]c trriYÖppuTOi iKiudbec ÖTvai.
* u. 2: 11 iLi^cov oTkov exeic irupöc devdoio.
* quem huc transtulere Martis hymnum ex Homericis ihde ab Hermanno
sane Orphicus est, sed plane alius generis et certe ab hoc collectionis loco
alienissimus.
' etsi non affirmo in singulis ex ea quam adumbrare conatus sum ratioci-
natione sie dispositos esse hymnos nee nego hie illic nonnulla perturbata uel
omissaesse, tamen certum efficere uoluisse ordinem compilatores demonstrasse
mihi uideor. quorum rationes quam maxime inquirere magis e re erat quam
si quid minus processit coniectamentis indulgere.
De hymnis Orphicis gy
dicibus, quoniam ut fieri solet in his litteris pseudepigraphis libri pro-
oemium ab Orpheo ad Musaeum datum esse prae se fert. a certi thiasi
Bacchici Orphici sodalibus adhibebatur libellus.
qui ubi ortus uel potius redactus sit si quaeris, ex iis quae supra
exposuimus respondeo: in Äsiae minoris oris maritimis et Aegypti
prope Alexandriam; cui opinioni egregrie fauet quod permulta rei
maritimae numina adorantur/ in Aegypto maxime hanc hymnorum
mysticorum poesin excultam et propagatam esse patebit fortasse postea
singulis quibusdam rebus reputatis.^ apte quadrat quod de hymnorum
aetate iudicandum est.
quando enim conlecti sint non opus est noua quaestione. iam
sentimus, etsi non demonstrassent uiri docti^ fieri non potuisse ante 25
Stoicorum doctrinas atque allegorias ut hymni sie instituerentur.* accedit
quod papyrorum magicarum auctores Aegyptiaci e talibus carminibus
conlectis sua desumpsisse constat', unde sequitur ut antea constituta
sint hymnorum uolumina. postea magis magisque dei commiscentur
et imae aetatis numina uelut Serapis, Osiris, Isis, Mithras, lao, Sabaoth
etc. saepissime occurrunt in papyrorum uersibus. uerum ille libellus
nescio an paucis saeculis ante confectus sit i. e. inde ab anno c. 200
a Chr. usque ad ca. Christum natum.^ quae cum satis probata sint iam
* cf. quae de Nereidis dicuntur, h. XXIV 10:
0|Lieic fäp irpüJTai TcXeTriv dveöeiSaxe C6|Livriv
€Üi^pou BdKXoio Kai äyv^c TTepaqpoveiric
KaXXiÖTTT) cijv |Lir|Tpi Kai 'AttöWujvi övokti
(Calliopa et Apollo Orphei parentes sunt!)
' e. 21, adn., p. 2 et adn., p. 9.
'' Petersenus haec optime explicauit 1. c, et Kernius 1. c. qui hymnos uere
stoicos originitus fuisse putat quamuis peruersa opinione (quam optime profli-
gauit Gruppius, die rhapsodische theogonie, p. 728 sqq.), tamen bonus est testis
quantum in illis carminibus ualeant Stoicorum placita.
* de Stoicorum doctrina ad posteriorum temporum religiones propagata
fusius egi in libro qui inscribitur Abraxas, Studien zur religionsgeschichte des
spätem altertums, 1891, impr. p. 83 sqq.
^ inde ab anno 100 uel 150 p. Chr. cf. quae exposui in prolegomenis papyri
magicae a me editae in suppl. ann. philol. XVI p. 779 <supra p. 34> sqq. sed paullo
priore aetate quam illic uolui similes libros iam conscribi coeptos esse conce-
dendum est.
* eo magis elucet hanc poesin non modo traditam sed etiam auctam et
mutatam esse si reputaueris sacrorum illorum socios nobilissimos et eruditissimos
fuisse uiros, ad quos ne imperatores quidem non dederunt epistulas. prooemio
ipso euincitur aut antea hoc in uolumine plures conlectos esse hymnos aut
prooemium ipsum ex simili opere praefixum esse, ibi memorantur quae non
hymnis ipsis celebrantur numina: "Hßri (u. 13), €uc6ßeia (u. 14), 'eviauTÖc(u. 18),
(Aiujvri, u. 19), Clbaioi 0eoi, u. 22), Hicric (u. 25), (06cno6ÖT€ipa, u. 26), ^AxXac
(u.28), Aiuüv (u. 28), CtuH (u. 29), Hpövoia (u.30), ('AöpdcTeia, u. 36), Bpovrai (u. 39),
Miiv (U.40), 'Apxn et n^pac (u. 42). quorum plurima posterius aeuum sapiunt.
88 De hymnis Orphicis
sentis cur illi homines iterum atque iterum orent ac rogitent, ut pax
sibi praebeatur^ nam tum cum illis post Alexandrum magnum saeculis
duces ac reges bellicosissimi orbem terrarum paene quotannis et ferro
et igni uexabant et deuastabant, iam pii deorum cultores id agere coe-
perunt ne huiusce mundi incolae essent sed sperarent fore ut uita
aerumnosissima pie absoluta patriae cuiusdam caelestis fierent ciues a
regnorum corruentium turbis longe remoti.
III
OBSERUATIONUM SINGULARUM DODECAS
26 Hic subiungere liceat paucissimis uerbis obseruationem singularum
dodecadem, quibus nonnulla hymnorum Orphicorum uerba tradita aut
defendantur aut si dis placeat emendentur.
1. VIII HAIOY, u. 12 seruandum est qpuuccpöpoc, aioXööiKre -,
damnandum Hermann! aioXöbeiKTe et Wielii Abeliique aioXöjLUKxe. Aiktti
nympha est a qua mons Dictaeus nomen duxisse dicitur (Seru. ad Verg.
Aen. III 171). cui formae adponenda mascula Aiktoc, quo nomine
mons Cretensis utitur apud Aratum in Phaen. u. 33. Aiktuc idem nomen
est alius suffixi opera formatum; nomen femininum AiKxuvva. quas
formas non abiKTuov sed a radice biK(beiKvu)Lii) lllustrare' (cf. GupuöiKTi,
AaoöiKTi etc.) esse deriuandas me edocuit Usenerus. quantam igitur
antiquitatem sapit epitheton illud sollemne! statim similis sensus nomen
diuinum uindicari poterit. h. XXXVI APTeMlAOC, u. 3 scribendus est:
TTacicpdri, babouxe, 0ed AiKxuvva, Xoxeir).
Traciqparic codd. comparare iuuat uersus ad Lunam emissos magicos
papyri Parisinae (apud Carolum Wessely 1. c), u. 2301:
Ktti Trap0€v' eivobia cu Kai TaupobpdKaiva viJ|U(pr|
iTTTTOC KÖpri bpaKttivd Te Mivuuiri Kparair).
ceteroquin TTaci9dTi uetustissimum deae Lucis nomen esse notum est
(cf. Pausan. III 26). et Aiktou et TTacKpdric nomina ad antiquitates Cre-
tenses sunt referenda!^
' X30 XIV 13 XV 10, 11 XVII 10 XIX 22 XXIII 8 XXIX 18 XXXII 16 XXXVI
15 XL 19 XLIII 9. hymno LXV Marti supplicant, ut terris pacatis se uertat eic
epYtt Tct Ar]oOc.
* TTepcia Hecata dicitur in Orph. h. 1 4, de cuius nominis origine cf. Usenerum
mus. rhen. XXIII p. 352. pap. Par. 2271 Luna uocatur TTepcia, No|nia (? voiitea
traditur. Noiaiac pater erat Auxdujv Pausan. X 31, 10), 'AXKuövri, ibid. 278P
Hecata: 'AXxuia Oed, NcKuia, TTepcia. scis quid de Perseo et Dictyo iudicandum
Sit. hic uero haec omnia nomina sacra antiquissima tractare non licet.
De hymnis Orphicis 89
2. XII HPAKAGOYC, u. 10 traditur: 27
TTpujTOTÖvoic CTpavpac ßoXiciv |LieTaXu)vu)Li€ vaiuuv.
ßoXiciv pro (poXiciv iam dudum emendauit Lennepius. Pro vaiujv pro-
posuere scribenda baT|Liov, TTaiiuv, alia. nescio an Naiujv tenendum sit.
Hercules item atque luppiter ipse celebratur, qui anni tempora dirigat
(e. c. u. 3 xpovou Trarep), qui mittat ttpujtgtövouc ßoXibac. nonne Zeuc
uocatur Ndioc? (cf. Prelleri et Roberti mythol. graec. p. 123, adn. 3).
nuper etiam Athenis olim cultum esse louem Ndiov lapide a LoUingio
publicato edocti sumus (dpxaioXoTiKOV beXTiov, Sept. 1890). an dubitas
formam Naiujv idem significare posse de loue uel Hercule, quoniam et
eum ipsum fontium deum fuisse non latet (cf. Prelleri mythol. graec.
II 274 sq.). hominis nomen Naiujv inuenitur CIGr II 3064, 31. fortasse
alia prodibunt testimonia, ut minus dubitanter de hoc loco agere liceat.
discendum tamen quantopere hie abstinendum sit temere mutando.
3. XXXII A0HNAC, u. 4 traditur:
Y\ bioiT€ic öx6u)V uv|iTixeac dKpujpeiac.
pessime Abelius Karexeic post Wielium accepit. (Hermannus nie bidic-
ceic uipauxevac dKpujpeiac), sed e AIOIFGIC eliciendum est AI6TT6IC
= bieireic.
4. XXXVIII KOYPHTON, u. 21 uocantur Curetes - öfiioO Aiöc
KÖpoi auToi. Zrivöc KÖpoi editores. Aiöc cktovoi (cf. XXXII 1) melius
esset, rectum uero sine dubio est: - ömoO KoOpoi Aiöc au toi.
5. U\ TPieiHPIKOY, u. 1 traditur:
KiKXriCKUJ ce, fudKap, 7ToXuiuvu|ue, jiiaviKe BaKxeO -
post Hermannum scripserunt inaivöXa. restituas:
KiKXriCKU) ce |udKap, fiiaviKÖc, iroXuuJVuiae BaKxeO.
hoc aeuo nominatiuum poni solere pro uocatiuo probe scimus. ignorat
Abelius qui huius generis nominatiuos saepius mutauit.
6. LIV CIAHNOY CATYPOY BAKXQN, u. 5 scribendus est:
euacTric, 9iXdTpuTTv\ evalwv oici ciXrivoTc,
Naici Kai BdKxaic fiY0\3|aeve Kiccocpöpoici.
traditur (piXdTpuirve vedriuv oici ciXnvoTc. inde ab Hermanno edi- 28
derunt Doruillii coniecturam: cpiXdTpuTive cuv eiJ^:mvoici Ti0r|vaic. scri-
berem aici xiGrivaic, nisi censerem in illius aetatis carminibus uocalis i
in ciXnvoTc correptionem tolerari posse.
7. XLI MHTPOC ANTAIAC, u. 8 tenendum est: EußouXov reEaca
eeöv, minime cum Abelio scribendum eußouXna xeKoOca Ged. lieHa
aoristus eiusque formae saepius leguntur apud posteros scriptores cf.
Lobeckii Phrynich. p. 743. iam sermonis Attici plebei uidentur fuisse:
Aristoph. Lysistr. u. 553 evxeHri.
90 De hymnis Orphicis
8. LXI NGMeceQC, u. 4:
dWdccouca Xötov ttoXuttoikiXov, dcraiov aiei.
non recte intellexere editores qui post Wielium dW exöouca uoluerunt.
nuper W. H. Roscherus (Berliner philol. Wochenschrift 1891, n. 16,
p. 501) proposuit dW dcToöca speciose quidem, sed tarnen male, an
ignorant Nemesin quae fortunam moderetur animi esse inconstantis, cui
rota adponi solet ab artificibus: r\ be iroWd TToWdKic bivou|uevr| kqi
jueTarnTTTOuca Neiuecic (in Luciani libello qui inscribitur AoOkioc f| övoc,
cap. 35). plura uide apud Posnanskyum, Nemesis und Ädrasteia, Vra-
tislau. 1890, p. 50 sqq. inde et in re amatoria multa ualuit, de qua re
disputauit Baumeisterus in denkmäler des class. altertums, p. 1008 et
Albrechtus Dieterich in libello de Tibulli amoribus Marburgi anno 1844
edito. dXXdccouca igitur recte traditur, sed nescio an pro Xötov scribas
vöov necesse sit. quod hie uersus non satis quadrare uidetur ad alia
quae de dea iustissima proferuntur, nil mirum inter epitheta persaepe
et contraria sine certa ratione cumulata. insuper illis uocibus dcTaxov
aiei, quae nisi de deae ipsius mente dicuntur inepte dici sentiendum
est, me recte esse argumentatum probatur.
9. LXIII AIKAIOCYNHC, u. 11 traditur:
ev coi Tdp cocpiTi dpeific xeXoc öXXov kdvei.
pro cocpiTic iam Hermannus restituit cocpin. pro öXXov ediderunt ecOXöv,
edendum erat öXßov. oXßoc enim est leXoc dperfic, quo sapientia tendit.
cf. h. XVIII 10. LXXXIV 8. Lithic. Orph. u. 63 sqq.
29 10. LXXII AAIMONOC, u. 1 legitur in codicibus:
Aai]uova KiKXrjCKuu juefotXavriYriTopa (sie) cppiKTÖv.
dTttGr] Tuxn saepissime coniuncta est cum dTaGuj Aai^ovi; locos ad-
scripsit permultos L. de Sybel in Roscheri lex. myth. I p. 939. hymni
Tuxnc antecedentis (LXXII) primus uersus hie est:
Aeupo, TuxTi, KaXeuu c' dyaOilv, Kpdvieipav eir' epYOic
illum igitur Aaijuovoc imprecationis primum uersum, quem Hermannus
sie edidit: Aaijuova KiKXricKU) juexav euriTr|Top« cppiKTÖv, Abelius et
Wielius Aaijuova KiKXricKiu TreXdcai fiYntopa qppiKTÖv, fidenter restituo
hoc modo:
Aaijuova KiKXrjCKO) c' dYaOöv, jueyaXriTopa, qppiKiöv.
11. LXXXI ZG0YPOY, u. 1 sqq. sie seruandi sunt:
Aöpai TravTOTeveTc Zecpupixibec, riepöqpoiTOi,
'HbuTTVOOi, vjJiGupai, Gavdxou dvdTrauciv e'xoucai.
minime scribere licet TrovTOTeveTc et Kajudxou. cf. h. XXXVIII 3 ZIlüotövoi
TTvoiai et u. 22 Tivoiai devaoi, njuxoxpöqpoi. an ignoras xpixorrdxopac
De hymnis Orphicis gi
dve^ouc quos rogabant non modo Athenienses, sed etiam Orphici uTiep
T6vec€ujc TTaibujv? aixioi erant Teveceuuc. cf. fragm. Orph. 240 (Abel.)
(0iXöxopoc be ToOc xpiTOTTdiopac TrdvTUiv T€Tovevai TTpuuTouc
ev be ToTc 'OpcpiKoTc dve'iuujv Traibac. Suid. et Phot. s. u- TpiioirdTiup)
schol. Od. K 2 p. 331. cf. Luebbertum de Pindaro dogmatis de mi-
gratione animarum cultore, ind. Bonn. hib. 1887/88 p. IX sq.
12. LXXXVII 0ANATOY, u. 3:
cöc Tdp uTTVoc ipuxriv Opaüei xai du.uaxoc öXköv.
quid ÖXköv? intellegi nequit. inest in OAKON övkov uel ötkov, quae
uox de externa corporis facie et dignitate usitata est.
IV
DE HYMNO QUODAM ORPHICO PYTHAGOREO
Poeseos quam tractamus Orphicae sacrae primordia et origines redu- 30
cendas esse ad Athenienses nemo negabit. compluriens religionum plerum-
que Atticarum uestigia uetustissimarum in hymnorum corpore posteriore
aeuo conglutinato monstrare quidem digito potuimus. qua re apparet
quanta constantia inter nouissima postea addita seruauerint formulas
rituales deorumque epitheta sacra etiam in hac uerae religionis graecae
ruina. sed dum haec diligenter enodata sint et demonstrata, ita ut si
uaniori spei indulgere liceat usque ad Onomacriti uersus et Lycomi-
darum hymnos Orphicos horum carminum historia redintegrata sit, multo
opus erit sudore et amplissima multarum rerum explicatione. tanta
nunc non molimur. sed haud ita multo post quam Athenis res Orphi-
cae maxime floruerunt, in aliis regionibus illa mysteria ulterius usque
progrediebantur. nam postquam Pythagoras, religionis paene nouae
antistes et auctor, in Italiam inferiorem demigrauit et per multa oppida
suum Toö ßiou ipÖTrov propagauit inde a quinto fere medio saeculo\
paullo post Orphicorum placita atque effata ad Pythagoreos translata et
utramque doctrinam plane commixtam esse scimus. iam uero sodalicia
Orphica Pythagorea permulta in illa terra instituta sunt, ecce, hodie
illorum hominum uersus prodiere e sepulcris Thuriensibus et Petelinis.
quid quod Thuriis, in ipsa illa urbe quam anno 443 Athenienses maxime
condidere, hae de quibus dicam lamminae aureae inuentae sunt?^ sed
* uixisse fertur Crotone et Metaponti, uenisse in Italiam a. 438, si sequimur
Ciceronis auctores (de re publ. II 15, Tusc. I 16). quales numeri quamuis sint
incerti uel falsi, tarnen magis sunt probabiles, quam alii postea ad altiorem
antiquitatem redacti. <Nekyia S. 84.)
* Thuriis Bacchum cultum esse et ex eo sequitur quod una oppidi pars
statim uocitabatur Aiovucidc, Diodor. XII 10.
92
De hymnis Orphicis
statim adscribo inscriptionum trium uerba, quibus uerum hymnum^ effici
non latebit, hoc modo:
31 A. B. C.
epxo)Liai ex Ka0apujv KaGapd, xöo- epxo)aai ck KaOapiuv Ka0apd,
viiuv ßaciXeia XÖovituv ßaciXeia,
€uKXfjc GußouXeiJC re Kai dOdvaxoi EÖKXe Kai GußouXeö Kai 06oi
0601 dXXoi" öcoi baijuovec dXXor
Kai Tdp eTUJV ujuiliv t^voc öXßiov Kai ydp efujv ujliuüv y^voc eu-
euxojuai eijuiev,
5 dXXd }ie laoip' ebd)Liacce Kai dcTC-
poßXfiTa Kepauvujv
XOjuai öXßlov eivai,
TTOivdv b' avTaTTeieica lpTU)v
ev€Ka oÖTi öiKaiiüV,
eiT€ )Li6 iLioTpa ebdjLiaccev €it' 5
dcTepoTTfixa KepauvAv.
vOv b' iKexric tiku) Tiap' dTvf]V
Oepcecpöveiav,
ujc |Li€ 7rpöq)pujv Tre|Livjir) ^bpac
k euaTeiüv.
kukXou b' eEeTTxav ßapu7Tev0eoc
dpYaXeoio,
i)LiepToO b' eireßav crecpdvou ttoci
KapTraXijLioici,
10 becTToivac be uttö köXttov ebuv
X0oviac ßaciXeiac.
'öXßie Kai laaKapicxe, 0eöc b' ecrii
dvTi ßpOTOio'.
^plCpOC ec f&y €7T€T0V.
1 <S. Nekyia S. 85ff.>
Tres lammellae ABC inuentae sunt in agro Thuriensi prope uicum Cori-
gliano. Fiorelli notizie degli scavi, 1880, p. 155, tab. VI. Comparetti Journal of
hellenic studies III p. 114 sqq. sed uide nunc omnia accuratissime administrata
apud Kaibelium, inscriptiones graecae Italiae et Siciliae 641, cuius apparatum
criticum non describo nisi si quid corrigendum esse censeo.
A. 5 acTepoßXTira Kepauvov traditur. B. C. in unum conscripsi B et C
kot' dcrepoßXfiTa Kepauvov Buechelerus quoniam uix inter se differunt. 2 kqi
in mus. rhen. XXXVI p. 334. Kepauvöc
mauult emendare Kaibelius, 'ut poeta
nominatiuum dcxepoßXfiTa formauerit sicut
apud Hom. Kuavoxaixa linTÖTa sim. extant'.
ex parte quidem recte. acTepourixi Kpau-
vuDvB exepoTüiiTiKTi KCpauvo, postea spatium
litterae N bene sufficiens C. äcTepoirrixfic
louis epitheton Hom. II. I 580, 609. VII 443.
XII 275. scribendum: dcxepoirfjxa (nee
äcxepoßXfjTQ A damnare licet) KepauvAv.
Geoi bai|ao[vl6[cl aWoi B. 5 eba-
inacaxo B, non legitur in C. cetero-
quin ad u. 5 cf. A.
De hymnis Orphicis 93
etiamsi non pro certo affirmauerim horum uersuum tres uel potius duos 32
quasi Codices sie contaminandos esse in unum contextus progressum,
tarnen hoc modo scripsi ut unum subesse Carmen eluceret, cui hie illic
uersum postea desumptum uel additum esse non negauerim. sed quid
sibi uelint hi uersus bene perspicis, si quos in dextra et in sinistra
pagella posui coniunxeris, ita ut undecim uersuum Carmen oriatur.
supplicatio est mystae ad Inferorum reginam regesque facta, ut se ex-
cipiat in pratis beatorum. iam uersu undecimo iudicium fert regina:
beate, deus eris. u. 12 continentur uoces mysticae metro solutae, adhuc
editoribus obscurissimae. at proferamus nunc quae habemus ad hoc
precum Carmen sepulcrale acrius intellegendum.
primum quidem ex eo dogmate, quod de migratione animarum
constituerant, dicta esse notandum est haec:
kukXou b' dHeiTTav ßapuTrevGeoc dpfaXeoio.
omnia enim clarescunt iis quae Laertius Diogenes VIII 14 tradit de Pytha-
gora: TTpuJTÖv xe (paciv toötov diroqpfivai xfiv ipuxriv kukXov dvdtTKTic
djLieißoucav dWoie dXXoic evb€Tc0ai Z^üjoic. eodem modo memoratur
apud Proclum ad Tim. p. 330 A: kvjkXgc ific reveceujc. dv tuj xfic
€\^ap|ievric . . . TpoxuJ» dicitur apud Simplicium ad Aristot. de caelo
p. 168 b (ed. Karsten.), ubi pergitur ouirep dbuvarov dTraXXaTnvai Kaxd
TÖv 'Opcpea |Lin Touc Oeouc iXeuucdinevov, oic eireTaHev 6 Zeuc
kukXou t' dXXöcai Kai dvaijjuHai KttKÖiriTOC
idc dvepujTTivac vi^uxac, illo autem Prodi loco adduntur haecce: (n
Tiepioboc) TTdcav ... xfiv ^lufiv änö inc irepi Tr)v T^veciv TrXdvnc,
fic Kai Ol uap' 'OpqpeT tu) AiovOcuj Kai xf) Köpr] xeXoOinevoi xu-
Xeiv euxovxai,
kukXov x' dv XnHai Kai dvaixveOcai KaKÖxr|xoc.*
satis perspicue uerba docent, cur quod effugerit circulum fatalem lae- 33
tetur poeta Thuriensis, Pythagorae et Orphei discipulus. eodem refe-
rendum quod addit:
TTOivdv b' dvxairexic' ^pTU)V eveK' ouxi biKaiuJV.
omnes enim ex illorum placitis poenam luunt non modo scelerum et
male factorum, sed etiam culpae cuiusdam primigeniae; inde factum
est, ut haec terrestris uita ipsa poena esset rraXaioö rreveeoc, quae iam
» plura de his rebus conlegit Luebbertus, de Pindaro dogmatis de migra-
tione animarum cultore, 1. c. p. VII sqq. de kOkXiu nonnuUa Orphica adnotasse
O. Kernium modo uideo in libro, qui inscribitur Aus der Änomia, p. 86 sqq.
{Orphischer totenkult) et adponas Procl. ad Plat. remp. p. 116 (ed. Schoell.):
94 De hymnis Orphicis
Plato (in Cratylo p. 400 C) Orphicis imputat. nee facere possum, quin
ad duos Pindari locos te mittam:
oici be Oepceqpöva iroivctv TiaXaiou TrevGeoc
beHexai ec tov urrepöev äXiov Keivuuv evaioi erei
dvbiboi ijjuxac rrdXiv, . . . ec be töv Xoittöv fipuuec ayvoi
Trpöc dv6pui7TUJv KaXeöviai.-^
ubi tarnen de animis, qui iterum ad lucem emittuntur, sermo est item
atque in eiusdem Pindari od. Ol. II 63:
oibev t6 lueXXov,
ÖTi GavövTUJV ju^v evGdb' auriK' diraXaiuvoi cppe'vec,
TTOivdc ericav, xd b' ev xabe Aiöc dpxa
dXixpd Kttxd Y«c biKd^ei xic exGpd
Xöyov q)pdcaic dvdYKa.^
sed qui — uel potius eins anima, quae illos lammellae uersus clamat,
plane ex omni funesta migratione quod erepta sit exsultat: omnem
poenam soluit et rediit, unde olim profecta est, ad diuinos honores;
34 generis deorum est unde deciderat (ujuüuv Tevoc öXßiov euxoiuai eivai).^
adloquitur Euclum i. e. Orcum ipsum* et Eubuleum et ante omnes In-
ferorum reginam Proserpinam primo illo uersu epxojuai ex Ka0apujv
KttGapd (seil, vjjuxn), XÖoviujv ßaciXeia - i. e. mysta sum, mysteriorum
Orphicorum particeps sum. nam oi KaOapoi iidem sunt atque ol öcioi^,
qua uoce significantur 'puri'.^ statim igitur contendit, ut dea se mittat
oüveK' d|Li€ißo|Li^vn ipuxvi KttTct kOkAo xpövoio
dvGpuuTTOU 2tüoici laeT^pxexai äXXoGev dXXoc ktX.
et Verg. Aen. VI 748 sqq.:
has omnes, ubi mille rotam uoluere per annos
Lethaeum ad fluuium deus euocat agmine magno,
scilicet immemores supera ut conuexa reuisant
rursus et incipiant in corpora uelle reuerti.
* threni fragmentum in Menone Piatonis p. 81 B traditum (in Bergkii lyr.
gr. I \ 428). cf. Luebbertum 1. c.
* singula ea quae a nostra re aliena sunt explicat Luebbertus 1. c. p. XVII.
et in Orco animae committunt peccata, quorum poenas in terra soluunt.
» in simillimi argumenti lammella (apud Kaibelium no. 438) legitur: auxctp
eiLioi Y^voc oupdviov.
* sie explicauit Buechelerus in mus. rhen. uol. XXXVI 333 ex Hesychii glossa
EukXtic' "Aibric. ^ cf. supra p. 11 <77>.
* cf. Rohdeum, Psyche, p. 265 (öciai X€tp€c etc. öciouv: ßdKxoc öcnjuGeic
Eurip. fr. 472). praeterea kexric KaOapöc Aesch. Eumen. 474. Soph. OC 548.
Eurip. Ion. 1334 e linguae sacrae formulis depromptum est. etiam saeculo post
Chr. IV. Nouatiani Christiani proprie appellabantur oi KaGapof.
De hymnis Orphicis 95
ebpac ec euareujv. uoculae euaTnc mysticae historiae quasi terminos
duos habes, si hymni Homerici ad Cererem legeris u. 273 sq.:
öpTia b' auTf] erdiv UTüoer|co|Liai, djc otv eTreiia
euafeiuc epbovTec e^öv vöov iXacKOicOe.^
et Synesii philosophi Platonici, sacerdotis Cyrenaici, hymnorum, qui
quantum ex orgiorum antiquorum formis desumpserit facile est ad
demonstrandum, hos uersus:
h. III, u. 394 sqq.: Ö0€V eKirpoqpuTÜJV
biupoici reoic
cxeqpoc euaTeuuv
OtTTÖ Xeiiuiuvujv
coi TOÖTO TrXeKuj — .^
praeterea satis nota sunt inde ab Homero prata illa, quae uocat alius 35
tabulae Thuriensis uersus 6 (apud Kaibelium n. 642): Xeiiuujvdc 6' lepoOc
et aXcea Oepceqpoveiac. eodem spectat si exsultat anima:
ijuepTOÖ eireßav ciecpdvou ttoci KapTraXijuoici.
nam cie'qpavoc est qui cingit loca beatorum uel prata illa ipsa desiderata.
simili notione uox cieqpavoc usurpatur in Orphicorum Argonauticorum
uersu 761 sq.:
auTiKa Ol creqpavoc Kai xeixoc epujuvöv
Air|T6U) Kaxeqpaive kqI dXcea.^
iam uero illud epiqpoc €c -^cüC eireTov^ quid sibi uelit quaeris. quod
paene desperatum uidetur. inspicias uelim quae Clemens Alexandrinus,
protrept. III 15, de Cereris aliisque mysteriis refert: xd c\j)ußoXa xfic
|Liur|C6ujc eK irepiouciac TrapaxeGevxa oib' öxi Kivncei Te^u^^a Kdv ixx]
TeXaceiouciv u)uiv bid xouc dXeTXOuc €k xujUTrdvou eqpaTov ek ku|u-
ßdXou CTTiov exepvoqpöprica* uttö xov Ttacxöv uTrebuov. *xaOxa
oux ußpic xd cij|LißoXa; ou x^^^n Tct |Liucxr|pia; quibus subiungo quae
idem uir Alexandrinus de mysteriis Eleusinüs tradif, ib. 21: Kdcxi xö
* cf. eiusdem hymni u. 370.
* cf. VlIQ Kai ö^xvuco inouciKütv ! ^S evafiiuv ^leXAv. VIII 39: öciov ö^ ecp^iroi
XÖTOC i uavaKripaTOv euar^c | dbiKOic äßaxov ttöGoic. 46: cuv b' evaf^ixjv xöpoic j
u^vouc dvdteiv bihov. addendum est fragmentum Orph. 151 Abel. (ap. Procl. in
Plat. remp. p. 696), quod iam Kernius aduocauit 1. c: oi lu^v evay^^uciv utt'
auTcic ri^Xioio aöxic diroqpeiiLievoi |ua\aKUÜTepov oTxov ^xo^civ i ev KaXuj XeimiJvi
ßaeOppoov d|a<p' ^Axepovxa. formula ipsa Sacra inuenitur satis antiqua in Theo-
criti carmine quod uocatur Afjvai f| BdKxai, XXVI 30: auxöc 5' euar^oi^i
Kai euoT^ecciv äboxpn et in Callimachi hymno in Del. 98: euayeujv bk Kai
€uaY^€cci jueXoijuriv.
' cf. Argon, u. 895. ttöXioc cxeqpavoc, Anacr. fragm. 72. Find. Ol. 8, 42
(Troiae moenia). Eurip. Heracl. 839. ^ <S. Mithrasliturgie S. 214.)
95 De hymnis Orphicis
cuvöriiua 'GXeuciviiuv luucxripiuuv evricxeuca' eiriov xov KUKeujva*
eXaßov ex KiCTr]C" €TT€ucd)Lievoc dTreGejuriv eic KdXaGov Kai eK
KttXdGou eic KiCTTiv. KttXd fe id Gedjuaxa xai 0ea TupeTTOvia. plus his tene-
bris lucis adfert Firmicus Maternus, qui de eadem re scribit 18, 1 p. 102, 14:
in quodam templo, ut in interioribus partibus homo introiturus
possit admitti dicit: de tympano manducaui, de cymbalo bibi et
religionis secreta perdidici, quod graeco sermone dicitur — (secuntur
lere eadem, quae leguntur apud dementem), quid igitur uolunt ista
mystice et consulto obscurissime dicta? signa sunt et symbola sociorum,
quibus inter se agnoscunt, quibus auditis excipiuntur in adytis profanis
Omnibus reclusis. significare uidentur omnibus his formulis se accepisse
summam sapientiam ac felicitatem uel intimam dei consuetudinem.
36 nonne eiusdem generis est illud epicpoc ec f&y eireTov? an miraris
quod in fine tabulae a uersibus separatum adscribitur mysteriorum illo-
rum symbolum, quo pronuntiato anima mortui in Orco agnoscatur ^ut
homo introiturus possit admitti' in euaTeuuv sedes interiores? maxime
necessarium uidebatur, ut hoc adponeretur mortuo, cuius in manibus
positae fuisse uidentur tabellae.^ at nondum hercle nobis quiescendum
est. an sensu plane carere illud effatum concedere licet? minume. apud
Hesychium legitur "Gpicpoc* Aiövucoc et ab eiusdem Bacchi nominis
stirpe deriuandum esse et epitheton eppacpeuuiac in AI cm an is fragm. 90
et eipacpiLUTTic in hymn. Homer. XXXIV 2 optime animaduertit Wieselerus.^
addo oraculi imperatorum aeuo conscripti, Pergami inuenti, uersum (in
Kaibelii epigr. graec. 1035, u. 7sq.):
TU)v f] )uev Kpovibr|V u^vuui, ]xm b' €ipaq)iiJUT[riv
. . . [laeXiplni
nee non hymni Orphici XLVIII u. 1 sq.:
CaßdJlie, Kubijue Koöpe,
öc BdKXOv, Aiovucov, epißpo|uov, GipacpiiüTriv
|Lir|puj eYKaxepaipac, öttiuc — .
praeterea apud Hesychium legitur s. u. EipaqpiuÜTrjc "Gpiqpoc rrapd
AdKUJciv, apud Stephanum uero Byzantinum (s. u. 'AKpujpeia) nota ex
Apollodoro desumpta: Aiövucoc* 'Gpicpioc irapd MeTaTTOVTivoic.
patet religionis et nominis historia: a Doriensibus, inter quos iam
Alcman testis est, translata est in Italiam, unde propagata est ad po-
sterioris aeui cultus Bacchicos (et Asiae minoris). ecce in illa ipsa Italiae
^ cf. Comparettium 1. c.
' Philol. 1855, p. 701. cf. F. A. Voigtii optimam de Dionyso commentationem
in Roscheri lex. myth. I p. 1059.
De hymnis Orphicis gy
regione, ubi uersamur, Bacchus rite colebatur "Epicpoc nee nobis mirum,
quod eius ministri epicpoi se appellasse uidentur. quid uero quod di-
cunt 'haedus ad lac uenit'? lac, primum atque Optimum hominum
nutrimentum, donat suis Bacchus:
ö ö' eHapxoc 'Bpö^ioc euoT',
p€i he TaXttKTi Tiebov (Eur. Bacch. u. 141. cf. u. 706).
fontes ubique emergunt lactis, si chorus Bacchicus appropinquat, nee 37
non mellis.^ omnia fluxere lactis et mellis aurea aetate^ fluent prata
beatorum. unum accedit: erant qui putarent ^akaBav i. e. uiam lacteam
caelestem esse beatorum domicilium.^ unum promo locum, quo statim
unde haec sumpserint edocemur. Porphyrius enim refert de antr. nymph.
cap. 28: hf\yioc be öveipujv Kard TTuGaTÖpav ai ipuxai, ac cuv-
dTecGai cpriciv eic töv faXaHiav töv outuj TrpocaTopeuöjaevov otTTÖ
Tijuv TöXaKTi Tpe(po)uevtuv, örav eic T^veciv ttecujciv. biö Kai CTievbeiv
auTttic T01JC vjiuxaTUJTOuc |LieXi xeKpajuevov töXcikti ujc av bi* fibovnc eic
Te'veciv juejueXeiriKuiaic epxecGai, aic cuTKueTcGai tö YdXa irecpuKev. nonne
patet sacrificia illa lactis et mellis, quae oblata esse mortuis nemo ne-
scit, originitus instituta esse quibus animae fruerentur ut cibo? sed iam
intellegis illud epiqpoc ec xaX' eTrerov. lepidissime sane dicitur et hae-
dulum nunc domum rediisse ad matris lactea ubera et Dionysi ministrum
et mystam, nunc et ipsum deum, qui uttö köXttov Ibv Oepceqpoveiac,
adiisse ad beatae uitae prata lactea.^
attamen unum restat strenuo interpreti: ''
becTTOivac b' utto köXttov ebuv xöoviac ßaciXeiac
iam a dea benigne receptus exsultauit mysta. etsi modo intellegere 38
omnia tibi uisus es, tamen est quod acrius quaeramus. scimus enim
* e. c. Plat. Ion. p. 534 A: al ßdKxai dpOrovrai ^k tOjv irorairnjuv |li^\i kqI xciXa.
cf. Phaedr. p. 253. Horat. carm. II 19, 9. plura apud Voigtium 1. c. p. 1042.
' e. c. Ovid. metam. I 111. has opiniones multis communes esse populis
non opus est ut persequar.
' Cic. somn. Scip. cap. 16. Manil. 1786: an fontes animae huc (in faXaliav)
migrant ex orbe. Plac. gloss. Mai coli. Vat. III 481: lacteus circulus quem alii
dicunt animis heroum antiquorum refertum et merito resplendere. cf. Bergkii
opusc. II 708, Lobeckii Aglaoph. p. 935, Gottholdi Ettig Acheruntica (in stud.
Lipsiens. XIII), p. 348. eadem opinio apud permultas gentes inuenitur.
* simillima sunt quae fn quarta tabula prope uicum Carigliano inuenta (apud
Kaibelium 642) leguntur. inter hexametros, quorum secundus desperandus esse
uidetur, et unum trimetrum interponuntur haec: ^t^vou Qeöc kS. dvGpiIjTrou, Epiqpoc
ic fdy ?TT€Tec. hie alius illo symbolo utitur mystam salutans. quod haud dubie
non inter uersus ipsos antea sie scriptum erat, pro illo ^y^vou Geöc il dvGpUiTrou
olim lectum esse e. c:
9eöc 6' eic dvxi ßpoTOio
puto, quos uersus postea magis magisque dissoluebant.
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 7
98 De hymnis Orphicis
uetustam adoptionis formam talem fuisse qualem Diodorus IV 39 narrat
de Hercule: lunonem ascendisse torum genialem, Herculem in sinum
adsumpsisse et ex uestimento deiecisse. sie eum factum esse eius
filium. quem adoptionis modum ait Diodorus apud exteras nationes et
tunc usitatum esse/ sed aliud ne neglegamus: quid significet ^accipere
in sinum' illustrat quod Pausanias narrat de Attidis rebus (VII 17, 5):
OuTttiepa toö CaTTapiou TTOTajuoö XaßeTv toO KapiroO (djuuYÖdXric). ec-
0€|uevr|C be ec töv köXttov Kapiröc juev eK6Tvoc fjv dcpavfic auTiKa,
ami] be eKuei.^ sie louem uel Sabazium serpentem faetum eic Kopric
köXttov intrasse tradunt Orphici et hoc modo generasse Bacehum. ita-
que mystae anguem illum, qui quantum ualuerit in rebus Bacchieis
nemo neseit, adnominabant töv biet köXttou Öeöv. bpdKoiv be ecxi xai
ouToc, inquit Clemens Alex, protrept. II 76, bieXKÖ)uevoc toO köXttou tOuv
T€Xou|uevu)v^ et in hymno Orph. LH 11 ineantant deum: uiTOKÖXTrie.
quibus disputatis effulget illum qui dicat beciroivac uttö köXttov ebuv
uelle profiteri non modo se ab inferorum dea ut liberum acceptum
et quasi adoptatum esse^ sed etiam ex altera parte se intima consue-
39 tudine coniunctum esse cum Proserpina regina eadem unione mystica
qua olim ipse deus se illi miscuit. iam uero sumas homines illos
Thurienses, si bpaiuaxa sacra agentes nee non per initiatorum sinus
serpentes uetustissimo ritu trahentes res uitae beatae futuras sibi ante
oculos posuerint, hoc preeum ad patronos summos Carmen recitasse.
cui sententiae fauet quod eiusdem rei testimonio:
xaOpoc bpdKOVTOc Kai iraTrip raupou bpdKiuv,
^ cf. Hesychium s. u. 6euTepöiTOT|uoc, et Prellerum in mythol. graec. p. 550.
^ plura apud Voigtium 1. c. p. 1087. addas quod de lunone flore grauidata
dicitur apud Ouid. in fast. V 256 : tangitur et tacto concipit illa sinu. cf . Usenerum
mus. rhen. XXX 216. in KaTabecjutu amatorio legitur (in Abelii Orphicis p. 290,
u. 19):
el be Tiv' äXKov ^Xoic fev köXttoic öc KardKeixai
K61V0V dTTUJcdceuj. dc utero usurpatur et köXttoi saepissime et
köXttoc Sext. Emp. adu. math. V 62. Poll. II 222.
^ cf. Arnob. V 21 : aureus coluber in sinum dimittitur consecratis et eximitur
rursus ab inferioribus partibus atque imis. cf. Foucartum, des associations
religieuses chez les Grecs, p. 77; Rivillium, la religion ä Rome sous les Sä-
veres, p. 61.
^ praeterquam quod de ualle Eleusinia cogitat, tamen et ad ea quae supra
adduxi adludit, si quid sapio, Sophocles in Antigonae choro Bacchico u. 1115 sqq.
TToXu(JÜvu|ue Ka6|U€iac
vOjuqpac äYaX|ua Kai Aioc ßapußpejuexa
Y^voc, kXutoiv 8c djuqp^'ireic 'IxaXiav, |u^beic bk
uaTKOivoic '€Xeuciviac
AtioOc ev köXttoic,
\h BaKxeO kxX.
De hymnis Orphicis 99
quo effato patris et filii unitas affirmatur, addit Clemens (protrept. II 16)
uersum, cuius uerba corrupta esse uidentur, sensus tarnen non pror-
sus latet:
ev öpei TÖ Kpucpiov ßouKÖXoc t6 xevTpov (KevTpiov?),
et Arnobius idem placitum adpellat 'Tarentinum notumque senarium,
quem antiquitas canit'. colligimus enim magnae Graeciae sodalicia
Orphica eodem modo instituta esse atque ea de quibus primo capite
diximus ibique mythos illos de deorum generatione sacros et actis et
dictis a 'bubulcis' celebratos esse, quid uero de Tarento?^ an nescis
illic maxime non modo Pythagorae disciplinam, sed etiam Bacchi secreta
floruisse? adeas Liuium, qui celeberrimis capitibus (XXXIX, 8-19) ex-
plicat, quantopere in illis Italiae inferioris oppidis Bacchanalia aucta et
extensa et posteriore tempore magis magisque sceleribus libidinibusque
deprauata sint, dum senatus Romanus emisit consultum illud de Bac-
chanalibus, cuius unum descriptum inuentum est in agro Teurano Brutti-
orum. innumeros homines poenis persecuti sunt, multos occiderunt ita
ut complures annos continuo persequerentur bacchos sceleribus correptos:
in Äpulia usque ad annum 181, Tarenti usque ad annum 184^ ^quo 40
anno L. Postumius praetor, cui Tarentum prouincia euenerat, magnas
pastorum coniuraiiones uindicauit et reliquias Bacchanalium quaesti-
onis cum cura exsecutus est' (Liu. XXXIX 41). sie enim editur. quid
quod in uno codice legitur ^reliquas Bacchanalium quaestiones'?
nonne paene cogimur pastorum coniurationes ad eandem rem referre
et putare Liuium uel eum, e cuius libro descripsit - nam fortasse et
haec uerba sicut antecedentia e Valerii Antiatis fallacibus thensauris
desumpta sunt - e graeco uertisse, ubi tradebatur de ßouKÖXoic, sed
aut ipsum non recte intellexisse aut certe librarios?^
uerum utut hoc quidem se habet, satis multa collecta sunt, ut lucem
adspergamus illis Italiae mysteriis Bacchicis Orphicis Pythagoreis. unum
^ an 'Tarentinum senarium' referre mauis ad Rinthonem poetam cum
Crusio (mus. rhen. XLV267sqq.)? immo uero, etsi a demente citatur uoiriTyic
€i6iü\iKÖc, tamen primus uersus Taöpoc - bpdKuuv ab eo ipso aliunde citatus erat.
* Liu. XL 19. cf. Zellerum, philosophie der griechen, III 2, p. 80 sqq. 153,
299 sqq. et Prelleri myth. rom. » II 363 sq.
* res tamen non plane certa est: iam cap. 29 de L. Postumio et pastorum
coniuratione traditur; sed fortasse ea omnia quae plane eadem esse uidentur
ac quae cap. 41 traduntur peruersa sunt, potuere a scriptoribus posterioris
aetatis Romanis genuini pastores de quibus cap. 29 dictum est et ßouKÖXoi, de
quibus c. 41, commisceri et fortasse ideo Liuius eandem rem bis narrare uidetur,
quod certe non fecit auctor primus, quoniam illic nil de bacchanalibus, hie nil
de ueris pastoribus et latronibus adscripsit.
100 ^® hymnis Orphicis
addere liceat: multa in illis Apuliae et Calabriae regionibus inuenta sunt
uasa pulcherrima, quae facta et picta erant, ut in sacellis sepulcralibus
constituerentur. nemo negat picturarum quasi caput esse quae in me-
diis tabulis efficta sunt: Orpheus qui citharam tenens implorat Orcum
et Proserpinam ^ in templo quodam sedentes. alias figuras Hecatam,
Mercurium, Erinyas, Theseum, Herculem, Aeacum. Rhadamanthum, Tripto-
lemum alios nunc non curamus, quamuis magni sint momenti, neque
illos quos mortuos Orcum modo ingressos esse paene constat.*
41 quid? effecimus cultum Orphicum maxime floruisse inde ab anno fere
400 usque ad annum fere 200 — uasa illa sepulcralia adscribenda sunt
tertio maxime saeculo^ — Carmen sepulcrale* iam qui litterarum formam
respexerunt reuocarunt ad saec. IV uel III (uide Kaibelium ad no. 641).
quorum omnium quasi scaena est eadem. fac in eodem sepulcro ad-
stitisse illa uasa, in eodem mystae mortui manu frigida contineri lammellam
illam auream. — nonne ea inter se cohaerent? nonne ipse Orpheus
pictus animarum descendentium quasi praesul Proserpinam sie adloqui
tibi uidetur:
epxojuai eK KaGapiuv Ka9apd, x^oviiuv ßaciXeia ktX.
hercle non hariolamur, sed res ipsae clamant et pro nobis interpretantur.^
^ maxime Proserpinam eum adorare in nonnullis uasibus perspicuum est
sicut memoratur apud Diodorum IV 25, 4, apud Ovidium met. X 15. cf. Wink-
lerum, die darstellungen der Unterwelt auf unteritalischen vasen, in comment.
philol. Vratislau., III 5 p. 39.
* cf. Winklerum p. 77.
3 cf. Winklerum p. 82.
* alios uersus lamminae Petelinae et quartae Thuriensis (apud Kaibel. 638
et 642) nunc non fusius tracto, quoniam hymnos esse non affirmauerim. sed ne
eos quidem uersus excerptos esse e maioris poematis procursu feie "Aiöou Kaxd-
ßacic uel sim.) iam illa prae se fert tabula, ubi hexametris trimeter insertus est.
rectius iudicare mihi uidentur qui oracula esse ea putabant; certe quidem ora-
culorum formam induerunt (dW öiröxav — , €upr|C€ic h^ —). de uersibus Pete-
linis nunc nil addo (ap. Kaibel. 638). de Mnemosynes ac Lethes fontibus multa
dicenda essent. uia animae descendentis describitur et quasi itinerarium Drei
mortuis traditur. summa est similitudo argumenti inter illa et ea quae insunt
in libris sepulcralibus (uocari solent: 'totenhuch') Aegyptiorum. sed me ipse
cohibeo. Pythagorei item atque Aegyptii corpora inhumata seruari uoluerunt,
non igne deleri. (cf. Rohdeum, Psyche p. 209).
^ maxime nunc tendunt archaeologi et philologi, ne quid ad 'mysteria'
referant, saepissime quidem recte. Winklerus quamquam de Pythagoreorum
palingenesia et metempsychosi ipse cogitat, tamen addit: 'soweit ich auch von
der alten erklärungsweise entfernt bin um an mysterien und verwandtes zu
denken' (1. c. p. 79). sed caueamus ne Creuzerum Charybdin fugientes abripi-
amur ad Nicolaium Scyllam. quae supra adumbraui, si quid scio, certissima
sunt; non modo quid nos uideamus sed etiam quid quibus illa picta erant
homines antiqui uidere sibi uisi sint nostrum est interpretari.
De hymnis Orphicis 101
V
DE HECATAE TYPHONIS INFERORUM HYMNORUM FRAGMENTIS
QUIBUSDAM
Lucis quasi unus radius paullum illustrat hymnorum historiae quos 42
inuestigamus fuscas per multa saecula tenebras. redeundum est ad
eiusdem generis carmina a quibus ut par erat exorsi sumus. alia enim
carmina uere mystica in rebus sacris cantabantur postremis quod sciamus
antiquitatis temporibus ea quae magica uocamus. quae desumpta esse e
libellis Orphicis non demonstrandum sed demonstratum est\ et quae ipsi
magi postea conglutinabant ad eorum normam excutiebant. et in magorum
sacris exstitisse ßouKÖXouc iam adnotatum est (p. 23 sq.). addo quibus
uerbis salutet suos sacerdos magicus (in pap. Paris, u. 1136): x^^ip^Te oic
Xaipeiv ev eiiXoTia biboiai döeXcpoic Kai dbeXcpaic ocioic Kai öciaic
an mirum quod etiam poeseos Orphicae thensauri huc deportati sunt?
hymnis qui nunc e papyris Aegyptiacis et ex Hippolyto recuperati sunt
longe plurimis Hecatam celebrant, summam mundi reginam et maxime
Tapxapoöxov. quos et hexametris et trimetris et octonariis uersibus
compositos si singillatim tractare uellem, nouus mihi conscribendus esset
libellus, sed unius imprecationis Hecatae fragmentum inter praecepta
magica lectum in Marcelli Empirici de medicamentis libro nuper nouis
curis ab Helmreichio edito (apud Teubnerum, 1890), hymnis uindicare
in animo est. nunc legitur I. c. p. 149,5: 'remedium ualde certum et
utile faucium doloribus sie. scribes in Charta haec:
elbov Tpi|Li€pfi xP^ceov xoavabov
Kai xapTapoOxou xaKeciv xoucavabov
cujcöv |Li6 c€)Live, vepiepujv uTrepTaxe.^
quam chartam in phoenicio obuolutam lino conligabis colloque suspendes 43
meminerisque ut mundus haec facias et ne tertia manu scriptura tanga-
tur'. quae cirumscripsere nebulones superstitiosi neglegenda sunt,
quippe qui prorsus aliunde suis inseruerint iambos tres adhuc misere
corruptos. statim uero aduoco Porphyrium, cuius seruauit Eusebius in
praep. euang. III 11, 32 hanc doctrinam: '^KaxTi he x] ceXr|VTi TidXiv xfjc
TTepi auxfiv MexacxnMaTicemc Kai Kaxd xouc cxn^axicuouc buvd^emc.
biöxpi^opcpocf] buvaiLiic, xiic |Liev vou^Tlviac cpepouca xfjv Xeuxeinova
Kai xpucocdvbaXov Kai xdc Xainirdbac fimuevac, 6 be KdXaGoc öv eiri
xoic )i€xeu)poic (pepei xnc xiuv KapTTUiv KaxepTaciac ouc dvaxpecpei Kaxd
* cf. Diltheyum in mus. rhen. XXVII p. 382.
* traditur 1 xpiiiiepuxpoiceov 2 Toucavabovrec 3 cujuv|ne cenvepveprepov urep-
ßoT€, bene haec quidem correcta sunt.
102 De hymnis Orphicis
xriv ToO cpuuTÖc irapaijHriav, xfic b' au iravceXrivou x] xa^-KOcdvbaXoc
cujußoXov. quid XP^cocdvbaXoc sibi uelit satis apparet; quid uero xakKo-
cdvbaXoc paullo acrius extricare iuuat. nosti Tartari xa^^eov ouböv
(Hom. II. VIII 15; Hes. theog. 811) eodemque uellem retulissent inter-
pretes quod Sophocles de loco prope Furiarum nemus sito dicit (OC. 57):
XOovöc KaXeiiai Triebe xö^köttouc oboc,
praesertim cum Oedipus postea ingrediatur leti ianuam per tov Kaxap-
pdKxriv oböv xci^KoTc ßdOpoici T^lOev eppiZ^ujjuevov (u. 1590 sq.).
'Gpivuc est ipsa xa^^ÖTTOuc (Soph. El. 492), uti solet irXdcxiTTi xo^^^^n-
Xdxuj. nee latet cuius originis sit XaXKiÖTrric nomen, quam fuisse
filiam GupuTrOXou i. e. Orci ipsius tradit Apollonius Rhod. III 688 ^
iam memoria redeat uersuum Aristophaneorum ran. u. 294 sq., ubi de
Empusa, quam haud raro paene ipsam Hecatam esse scimus, leguntur:
AION. "GiLiTTouca xoivuv ecxi. ZAN. irupi toöv Xd^Tiexai dirav x6
44 TtpöciuTrov. AION. Kai cKtXoc xa\KO\jv e'xei. eiusdem rei testis
est Etymologicum magnum, in quo Empusae nomen quamuis absurde
deriuatur dirö xoö exepov iröba xa^Koöv e'xeiv'-. insuper alium de
Hecata uersum adscribo e papyro Parisina, u. 2334 sq. eliciendum:
dpuj CTiiueTov x^^^^ov x6 cdvbaXov
xfic Tapxapouxou . . .^
nunc denique eos uersus, a quibus degressi sumus corruptis, promo
emendatos:
eiböv ce xpijuepfi' xP^ceov xö cdvbaXov
Kai Tapxapovjxou xa^^eov x6 cdvbaXov,
cüjcöv )LA€, cejLive, vepxepujv uTrepxaxe.
intellegimus sie oupaviav et xapxapoOxov deam significari duobus sanda-
liis et aereo et aureo. hymni exstitit fragmentum: si quid uideo car-
minis sunt uersus Ultimi, quoniam illud cüucov kxX. plane e more
Orphico conscriptum est. etsi uersus ipsi sunt posterioris aeui, tarnen
symbola illa ipsa iam ueterum Atheniensium fuisse patefecimus.
in hymnis uero Orphicis prae ceteris deis Hecatam ueneratos esse
supra monendum erat, magis magisque haec Hecatae et Bacchi my-
^ xaXKGia in sacrificiis chthoniis et magicis adhibentur: xaXKavGoc et x&\-
Kijuoc sacrificantur Hecatae, Orph. Argon, u. 908 sqq. xaXKeTov cIytoc pap. Paris.
223, TTorripiov 3247, xaXKeia YpacpeTa 259, 3255 etc. de aeris usu in multorum
gentium moribus et religionibus multa collegit Friedreichius, Symbolik und
mythologie der natur, p. 152. de Germanorum superstitionibus cf. Wuttkium,
der deutsche volksaberglaube p. 122, 143 et al.
' <Zusätze hierzu Nekyia 49 Anm. 2.>
" cf. eiusdem papyri uerba ad Hecatam dicta, u. 2292: toOto ydp cou c\!>|n-
ßoXov TÖ cdvbaXöv cou ^Kp\}x\ta kolI K\eTöa KpaTÜJ ktX.
De hymnis Orphicis 103
steria coniuncta sunt, non modo in Asia minore, ubi iam diu illius deae
initia floruere, sed etiam e. c. Aeginetas omnium deorum maxime Heca-
tam coluisse Pausanias fert 11 30,2^: xai xeXexriv dTouciv dvd rräv
exoc 'GKaxTic, 'Opqpea C(pici xov GpaKa KaxacxricacGai xfiv xeXe-
xf]v XeTOvxec; postea uero Romae utraque initia haud raro consociata
fuisse docti sumus illis uirorum nobilissimorum honoribus: uccantur
simul et hierofanta Hecatae et sacerdos uel archibucolus dei Liberi.
anni 377 p. Chr. est lapis cuius litteras modo euoluo in Kaibelii nouis
thensauris, 1019:
cujußoXov eiittTeuDv xeXexujv dve0r|Ke Caßiva
"Axxei Kai 'Peir] ßuujuöv dTripdciov,
AajUTrabiou Öufdxrip |LieYaXr|xopoc öpYiocArioOc 45
Ktti qpoßepdc '€Kdxr|C vuKxac eTricxajuevTi^
quid testimonia colligam? unam inspicias quaeso lamminam aeream
paruulam quae publicata est in Instituti annalibus (1850 tab. M)^: ex-
sculptam enim uidemus Hecatam, cuius simplici corpori imposita sunt
tria capita, adposita sex bracchia; haec mucronibus flagellis facibus,
illa calathis instructa sunt, in utraque parte cista animaduertitur serpen-
tibus cincta; a sinistra stat uir quidam et saltans et adorans, qui tergo
culeum, manu autem pedum tenet. in tabella uersa ostenditur Bacchus
et mulier bacchans. quid igitur? quid uir pedo ornatus? est ßouKÖXoc.
an pulchrius ipsis antiquitatis reliquiis illustrari poterit ille primi Orphici
hymni u. 9, quo illam ipsam Hecatam triformem (oupavinv xöovinv
eivaXiTiv u. 2) precantur:
xeXexaTc ocirici irapeTvai
ßouKÖXtu €U|Lieveoucdv dei Kexapriöxi Gujlilu.
tabella uero illa sine ulla dubitatione amuletum est magicum. aper-
tissimum est quo deductae sint initiorum Bacchicorum et Orphicorum
reliquiae.
sed cum Hecata facta esset f] TapxapoOxoc, non defuit ö Tapxap-
oöxoc. uersus magici qui non ad illam uel etiam ad solis uniuersalem
deum directi sunt, hunc maxime adeunt tremendum regem, Typhona
dico. hymnus Orphicus XVIII, quem dicunt Plutonis esse, inscribitur
» alia earum rerum testimonia conlegit Steudingius in Roscheri lex. I
p. 1085 sqq.
* latine subscribitur: D(omino) N(ostro) Gratiano Aug(usto) IUI et Fl(auio)
Merobaude coss.
' repetitam. uides imaginem apud Baumeisterum, denkmäler^ I p. 633.
JQ4 De hymnis Orphicis
in Omnibus codicibus eic Tucpujva. an expellere licet testimonium eius
dei sie maxime in Aegypto exculti^:
u. 1: iB Tov uTTOxOöviov vaiujv bö|uov, ößpijuöGujue,
Tapxdpiov XeijLiuJva ßa6ucKiov r\be XmauTH»
ZeO xöovie, CKTiTrioöxe, Tab' lepd beSo Trpo0ij|Liu)C,
TTXouTuuv, öc Kttiexeic Yctinc KXr|Tbac otTrdcric.
adscribo enim quae in uersu 179 papyri Parisinae leguntur:
46 Kparaie Tu(piuv xfic ctviü cktitttouxicic
CKrjTTToOxe Kai buvdcra Gee öeiuv dvaH ktX.
unum uero nunc eiusdem dei hymnum adhuc papyri Parisinae miseris
sordibus obuolutum^ (u. 261 sqq.) editurus sum. hie erat nondum
corruptus:
ce KttXeuj TÖv irpüjTa Öeujv köcjuov bierrovia,
ce TÖV eiToupaviujv CKfjirTpov ßaciXeiov exovTa,
ce lueceövTUJV tujv dcTpiuv Tucpiuva buvdcTiiv,
c€ TÖV dviu em tuj CT€peiJU|üiaTi beivöv dvaKTa,
5 ce KaXeuj qpoßepöv, Tpojuepöv Kai qppiKTÖv eövTa,
ce TÖV beivöv, djurixavov, juicoirövripov,
ce KaXeiu Tuqpujv' ujpaic dvöjLioic dfiieTpriTOic,
ce TÖV err' dcßecTiu ßeßr|KÖTi Tiupi XiTeitu,
ce TÖV dviu xio"vu^v, KdTiu be irdTOuc CKOTeeivoO,
10 ce TÖV eTieuKTaiiuv Moipüuv ßaciXeiov ^xo^t«-
KXrilu), TravTOKpdTUJp, iva )lioi Tioirjc ä c' epiUTUJ,
euGiJc eTrevve\jcr]c juoi eTriTpeipric tc T^vecGai.
1 c^ in uersus cuiusque initio acri pronuntiatione productum esse patet.
opYiXov bie-TTovra Pap. öpYiXov uetatur (legitur de Baccho, Anthol. IX 524, 16).
postulatur substantiuum. nulluni relinquitur nisi köc|liov, cuius litterae haud ita
longe absunt a traditis. 3 ce tov avo) luecovxujv acxpujv xucpujva buvacxriv 4 ce
TOV eui TU) cxepeuuiLiaTi beivov avaxTa Pap. aviw inferiori uersui uindicaui, lueceov-
Tiuv restitui et postea uocem tuuv addidi. 5 ce tov qpoßepöv xai Tpo|uepov koi
qppiKTov eovTa Pap. restitui. 6 ce tov briXov ajurixavov Pap. AHAON tolerari nullo
modo potest. AEINON subesse (una tantum hastula adpingenda est) putaui,
quamquam in u. 4 beivöv ävaKTa legitur. quod nullius momenti est in huius
aetatis hymnis: saepissime fit, ut magi talia adhibentes uersus intermittant. —
praeterea conferas CIGr5950: Aai)iovi TTepceir) iroXuiuöpcpuj iLieicoirovripiu, quod
statuae triformi subscribitur. nonne Typhon est Hecatae quasi maritus et regni
conlega? 7 lupaicavoYvoic aiueTpriToic Pap. suspicor in papyro ipsa scriptum
esse ANOMOIC, non Wesselyi ANOfNOlC. 9 ckotivou Pap. correxi. 11 iroiTicric
a ce epujTuu Pap. emendaui. 12 Kai euGuc emveucric luoi eiriTpeipTic 5e YevecGai
Pap. recuperaui formas genuinas.
* et ex hac re colligere licet hymnorum corpusculum in Aegypto redactum
quidem esse.
* Wesselyus editor plane nil addidit nisi 'die anrufung Schwingt sich zu
hexametrischen anklängen empof. ne litterulam quidem correxit.
De hymnis Orphicis IQ5
quoniam res est de Typhone, locum libri memorialis Ampeliani
(VIII 3) ibc ev TTapööuj emendare liceat adhuc desperatum: (Argis in 47
Epiro) 'louis templum hyphonis unde est ad inferos descensus
ad tollendas sortes: in quo loco dicuntur ii qui descenderunt louem
ipsum uidere'^ deum illum serpentiformem se oculis praebuisse apparet
sicut omnia oraculorum numina hanc formam induere solebant.^ ne
Apollo quidem ipse qui draconem Pythium terrae filium, pristinum ora-
culi possessorem, uicit, tarnen ipse 'forma draconina' emergere non
aspernatus est. similis est louis illius infernalis condicio et Typhonis,
quem et prioribus temporibus apud Graecos uim habuisse infernam
uestigia nonnuUa exstant^ formae draconinae permulta. uocatur in
hymno Orphico u. 3 Zeö xöövie nee iam ignoramus ad quantos cae-
lestes honores eum postea promouerint. ergo templum illud unde ad
inferos descendebatur erat louis Typhonis, nee quidquam impedit
quin posteriore demum aeuo sie adnominatum esse sumas.
ipsi uero descendamus ad inferos paullo altius. ad eos enim in
dies magis delata sunt Orphicae poeseos olim splendidissimae fragmenta
macerrima. iam non aureas adimus tabulas sed plumbeas. nam ante
hos paucos dies publici iuris facta sunt quae leguntur in septendecim
lamminis plumbeis a muliercula sane doctissima britannica^ diris com-
pletae sunt et deuotionibus; quas nunc non curamus, quamuis multa
desiderent non criticam, sed criticum. sed tabellarum ad unam omnium
precibus praemittuntur quattuor uersus hexametri compluriens pleni
seruati, plerumque praeter nonnullas litteras deleti aut non satis expli-
cati. hymni mystici fragmentum tenemus. atque cum reperta sint haec
monumenta plumbea in Cypro (prope Curium oppidum, haud procul
ab agro Paphiaco), quae insula Ptolemaeorum regno addicta erat, dum
Romanorum signa et illuc delata sunt, a uero uix ne aberrem uereor 48
arbitratus hosce uersus eidem generi carminum Orphicorum uel magi-
corum adscribendos esse, quod in Aegypto maxime floruisse perspicuum
est. ipsa uero inspicias uerba, quantum potui, emendata:
Aai)Liov€C Ol Kaxd fr\v koX Öai|i0vec oWivec ^cie
Ktti TTttiepec TraTepuiv Kai juritepec dviieveipor^
* desperauit etiam Rohdeus, Psyche p. 1 12. antea tentauere Trophonii' pro
'hyphonis'. ' cf. Rohdeum 1. c.
" apud Aristoph. ran. 847 sq. ei agnus niger immolandus dicitur.
* edidit 'Miss Macdonald' in 'proceedings of the society of biblical archaeo-
logy\ vol. XIII, part. 4, 1891. p. 160-190.
* [Luc. de motte Peregr. 36: 6ai|uov€c lunTpiuoi koI iraxpqJoi, hilacQi ne eöjxe-
vöc] <1. dvTiöveipoi, ut dvTiiraic al. Usener in seinem Handexemplar.)
106 ^® hymnis Orphicis
oiTivec ev0db€ KeTc0e Kai oixivec evGa Ka0fic9e
0u|uöv otTTÖ Kpabir|c TToXuKiibea irpöcGe Xiiröviec — .
^ bejuovec — k€ bejuovec in tab. 2 Ke bis in tab. avxievipioi tradi dicitur.
dvTidveipoi coniectari uidetur quae edidit; sie quidem uertit. cassum est. hoc
mihi meditanti unum relinquitur: evepoi sunt Inferi, quae uox deriuatur a vep,
evep (cf. ^V€p9e etc.). veprepoi, evepxepoi Inferi. veipöc* ^cxaToc, KaTiuTaroc Hesych.
(cf. ev X0OVÖC veipoic juuxoic Lycophr. 896). nil obstat quominus eveipoi formam
accipiamus. sed de forma dvxieveipoi, quam seruare paene cog-imur, ipse de-
spero. an inest aliquid quod simile sit illis dvTioic uel dvxaioic ita ut jurirepec
dvxaiai essent et öai|u6via eveipa? cf. p. 21 <(oben S. 84>. 3 k€oitiv€C evGabe
KicGe Ke oiTivec €v0a6e KaOecxe in tab. 4 irpocGe Xaßovxec compluriens legitur,
semel in tab. XI Xaßovxec Xiirovxec. puto Xaßovxec errore scriptum esse, quoniam
sequi solent haec: irapaXdßexe xoö . . . xöv 6u)liöv.
ipsas mortuorum immo patrum et matrum animas et omnes inferos-
imprecantur. de hac animarum aduocatione, quae auxiliarentur uel
potius malum inferrent hominibus deuotis eosque perterrerent et inter-
ficerent, nunc diligenter agere uelle audacis esset ^ quam hie satis
habeo demonstrasse uere Orphicam esse. Titanes enim, hominuni
generis auctores nunc Tartarum percolentes, aduocantur in hymn. XXXVII 7
his precibus:
xjjjLäc KiKXricKuu jufiviv xa^CT^nv dtTTOTrejUTreiv
€1 TIC dlTÖ XÖOViuJV TTpOYÖVUUV OIKOICI 7TeXdc0Ti.
sane habent cur talia petant; sciunt enim quibus artibus sibi admittant
daemonas inimici. namque praeter maiorum animas ingentem daemonum
gregem in terrae uel Tartari profundis uersari opinabantur homines illi
magis ridiculi quam religiosi. paullulum subsistamus in hoc papyri
Parisinae catalogo uere Acheruntico (u. 1443 sqq.): '€pjufi xöovie Kai
49 'GKdxri xöovia Kai 'Axepujv xöövie Kai 'Q|uoq)dYoi xöövioi Kai 0ee xöövie
Ktti "Hpujec xöovioi Kai 'Ajucpidpae xöövie Kai 'AjLicpiTToXoi x^ovioi Kai
TTveujuara xöövia Kai 'Ajuapriai xöoviai Kai "Oveipoi xöövioi Kai "OpKOi
X0ÖVIOI Kai 'ApiCTri x^ovia Kai Tdpiape xöövie Kai BacKavia x^o^ioc,
Xdpu)v xöövie Kai 'Oirdovec x^övioi Kai veKuec Kai oi baijuovec Kai
ipuxai dvGpiüTriuv TrdvTiuv . . . MoTpai Kai 'AvdTKri . . . . öti dmKaXoOiuai
Xdoc dpx€Tovov, "Gpeßoc q)piKT6v, Ciufoc Obuup, vdjuaTa Ar|0r|C dxe-
poOcid Te Xijuvri "Aibou, 'EKdir) Kai TTXovjieO Kai Koupa, 'Gp|ufi x^övie,.
Moipai Kai TToivai, 'Axepujv Kai AiaKe TiuXujpe KXei0pujv tüjv dibiujv.
uix respiramus Tartari terroribus paene oppressi. sed ne hie quidem
melioris aeui memoria plane oblitterata est, uersuum dico, quos elicias:
Kai xaoc dpxeyovov, "Gpeßoc cppiKiov, Ctutöc ubuup,
Tr|v t' "Aiboc Xijuvtiv, dxepoucia vdjuaxa Ar|0r]c.
^ cf. nunc Rohdei librum, Psyche^ passim.
De hymnis Orphicis jQy
nil nunc de aliis Orci administratoribus, de 'ßjuocpdToic, quibus haud
dubie comparandus Aiövucoc ujjuTiCTrip et Hecata capKocpdtToc (in hymno
lunae p. 295 u. 54 Abel.), nil de fascinationis dea (BacKavia xöovia),
cui bene adscriberetur ipsius Mortis deus ö ßdcKavoc baijucuv, qui oc-
currit in carminibus sepulcralibus/ nee desunt BacKdvioi "Aibou (in
Kaibelii epigr. n. 381):
- evödbe KeTjLiai
dpTTa[x]66i[c' 'Aibeuj] BacKavioic.
[ßJacKaivei enim toic dTa0oT[c 'Aiönc], quem uersum (Kaibel. ep. 496)
sie recte restitutum esse a Buechelero iam elucet. ne ab bis quidem
horridis mostellis absterrentur poetae magici Orphici; legitur in pap.
Paris, u. 1399 sqq.:
Moipaic, 'AvdTKttic, BacKOcOvaic, Aoimjj, (1>0övuj,
q)6i)Lievoic dtupoic ßiojuöpoic TrejUTriu Tpocpdc,
TpiKdpave vuxia, ßopßopoqpöpßa TTapGeve,
KXeiboöxe TTepceqpdcca, Tapxdpou KÖpri -.^
si adsumas ex antecedentibus rpocpdc illas esse dirö toO aprou, ou 50
ecGieic öXiyov kqI KXdcac ttoiticov eic eTrrd iijujjuouc Kai eXGibv öirou
fipuuec eccpaTncav ktX., iam perspicuum est hie seruari uetustissimum
'GKdTTic beiTTVUJV ritum religiosum, qui simillimus est Xurpujv Atticorum
caerimoniis sacris. Aristophanes dixisse fertur tujv fipujujv eivai id
TTiTTTovia^ ne alia addam: unde talia manauerint et certis quasi legibus
sint circumscripta, iam doceat Laert. Diog. VIII 34 et Suidas, qui ad-
notant illud xd irecövra dTTÖ TpaireZiTic |ufi dvaipeicGai symbolum esse
Pythagoreum, quod olim iam Crotoniatis traditum sit*. sed ea mittamus
contenti quod in uno exemplo originem Pythagoream et si addere
liceat Orphicam enucleasse contigit. quod difficillimum est in bis rude-
ribus. nee tamen non sunt in his farraginibus quae ualeant ad hymnos
Orphicos recte intellegendos. uelut in Typhonis hymni XVIII u. U:
8c Kpaieeic GvriTÜuv Gavdrou x^piv, ui iroXubaTjLXOV.
1 in Kaibelii epigr. graec. 345. 348 ((pGovepöc bai^ijuv). 569. 579 (BdcKavoc
f| 00ÖVOC). satanas etiam a poeta christiano uocatur BdcKavoc 1140, 4. cf. Flut,
uirt. mul. XVII: BacKdvou rdcpoc (uüc ßacKdvtu Tivi rOxri -n^v TToXuKpixnv (pBovr)-
GeTcav diroXaöcai tOjv niaOuv). cf. quae de hoc daemone et Romanorum Inuidia
adnotauit Eduardus Schwartz in ind. lect. Rostoch. aest. 1889, p. 10 sqq.
' constituit uersus Herwerdenus in Mnemosynes uol. XVI, 1888, p. 5. non
amplius haec tracto, quoniam multa essent exponenda, quibus nil est cum
hymnis Orphicis.
8 fragm. 305 Kock. praeterea cf. Athen. X 427 E (Euripides*in Bellerophonte
similia memorauit). Plin. nat. hist. XXVIII § 27.
* Jamblich. uit. Pyth. 126. cf. Rohdeum, Psyche, p. 224 adn. 1, Prellerum
et Robertum in myth. graec, p. 325 adn., Voigtium in Roscheri lex. I p. 1073.
jQg De hymnis Orphicis
ne Ruhnkenio quidem et Hermanno licuit mutare in TioXubeTiuov, quam-
nis recte de eo monerent. memorantur in tabulis Cypricis baijuovec
TToXudvbpioi. TToXudvbpiov est locus sepulcrorum^ nee dubium quin
TToXuavbpoc unum fuerit ex illis nominibus quibus ornauerint deum
potentissimum illum, qui omnium regum sane ditissimus imperat plurimis
uiris, qui TioXudvbpioi uocari possunt. TToXijavbpoc nomen est hominis
CIGr 1705. num alius est TToXubai|uujv ac TToXiJavbpoc, praesertim cum
avbpac mortuos uocari baijuovac minime lateat? Polydaemon est homi-
nis nomen apud Ouidium metam. V 84 (- ^Semiramis Polydaemona
sanguine cretum').
unum uero luculentissimum superest testimonium, quo probetur
51 homunciones illos magicos re uera fuisse poetarum Orphicorum discipulos
quamuis degeneros et stolidos. et in Cypricis tabellis (tab. I) aduocatur
'PriHixOujv (traditur 'PticixOuüv), quod nomen haud raro inter papyrorum
litteras dignoscebatur. en, et TtiHixöövti (trad. 'Pr|cix6övri) in eadem
lammella occurrit. sed ne longus sim; haec comparanda remitto:
hymn. Orph. LII (AiovOcou) u. 9 sq. tab. plumb. Alexand.*
'PriHixOtuv TTupicpefTec . , opeoßaZla 'Pr|Hixöujv
oupecicpoiToc TTupiTiriTa
pap. Leid. V 9, 10 sq. = pap. Par. 3175 sq.
TÖv opeoßaZiaTpct - 'PriHixÖuJV
TÖv TTupiTTTiTavuH
ecce historiola quaedam in nuce uersuum mysticorum; uides poeseos
sacrae ruinas et discerptiones. äbripimur ad insaniae lusus atque
inuenta stupiditatis, quas persequi taedet. de hymnis nobis agendum
erat: adumbrauimus quomodo propagati sint ad magorum sodalicia ac
uigilias, quo intrandum est ei qui carminum mysticorum fragmenta omnia
conlecturus est; his in tenebris postremae reliquiae indagandae sunt
Orphicae poeseos olim illustrissimae. nam sicut fit in litterarum histo-
ria: multa quae olim erant splendidissima ac pulcherrima, nobis alta
nocte obuoluta sunt; quae sordida et tenebrosa, nimium quantum illu-
cescunt. attamen tenebras conlustrare philologi est.
EPILOGUS
DE HYMNORUM MYSTICORUM GRAECORUM MEMORIA PROPAGATA
52 Haec proponere uolui de carminum Orphicorum reliquiis. liceat in
fine commentationis a limine salutare sequentia eiusdem poeseos fata.
^ Dion. Halic. I 14 et saepius.
^ apud Wachsmuthium , mus. rhen. XVIII 563. de tabularum plumbearum
et papyrorum consuetudine iam dixi in prolegomenis papyri magicae a me editae
in suppl. ann. philol. XVI, p. 791 <oben S. 46>.
De hymnis Orphicis jQg
in Aegypto uerisimile est hymnorum Orphicorum librum redactum
esse. Bacchi profecto cultus Alexandriae maxime floruit. Alexandrum
enim ipsum ad Bacchi honores efferebant, Ptolemaeum appellabant veov
Aiovucov. pompam dei magnificentissimam omnibus signis mysticis
omatam descripsit Callixenus Rhodius in libro de urbe ipsa edito (unde
Athen. V 25-33). sicuti Alexandrum mundum expugnare uiderant, nunc
Bacchi expeditionem imprimis Indicam celebrabant poetae inde ab
Euphorione Chalcidensi quod sciamus.^ Dionysius BaccapiKd edidit
omniumque clarissimus Nonnus ingentem panxit librum Bacchicum, qui
permultis Orphicorum placitis et narratis perspicuus est (cf. Abelii Or-
phica p. 224 sqq.). quin etiam hymni haud dubie Orphici insunt (XL
369-410 Herculis, XLIV 191-199 Lunae, cf. Diltheyum in mus. rhen.
XVII p. 383). et Orphei ipsius iter infernum tractabant. Hermesianactem
(Athen. XIII 8 p. 597) uidetur postea imitatus esse Lucanus Romanus.
carmina uero Gnosticorum quin ad exemplar hymnorum antiquorum
mysticorum i. e. Orphicorum composita sint uix est quod dubites. papyri
enim quae carminibus Orphicis scatent prima sunt gnoseos documenta.^
Alexandriae hymnos sacros panxerunt Basilides Valentinus Naasseni.
Naassenorum psalmum metris antiquis ^liturgicis' — sit uenia uerbo -
compositum esse egregie demonstrauit Usenerus.^ quid uero de Ophitarum
sexstrophis, quasOrigenes in libro contra Celsum VI 31 tradit, iudicandum 53
est? 'in graecis uerbis', inquit Christius, 'nee metricarum nee rhythmi-
carum legum uola aut uestigium indagari potest'.* itane uero? licet
alii uersus plane deleti sint, ultimus uersus compluriens sie legitur:
f) xcipic cuvecTiu jLioi, vai, irdtep, cuvecTiu.
quid quod Sotadeus est uersus? quas res sane sudore dignas nunc
mittamus. gnosticis quos constat hymni christiani quasi patres fuisse
licuit haurire e fontibus poeseos Graecae mysticae nobis, pro dolor,
reclusis. inde hausit Nepos, Aegyptius episcopus, Arius, presbyter
Alexandrinus.^ uerum eos omnes eiecit ecclesia catholica uictrix eorum-
que musica blandimenta. iam coeperunt nil aliud cantare homines
christiani nisi ludaeorum psalmos. quae fuerint whai et ö^voi, de
quibus dicit Paulus apostolus nescimus (Ephes. V 18; Col. lU 16), nee
magis quae Christiani Bithynii cantauerint Christo quasi deo (Plin. epist.
X 96). contra uidemus ipsi nonnullas uetustas cantuum ecclesiasticorum
* Icf. E. Maass, Aratea 1892, ubi de Neoptolemo Pariano p. 204 sqq., im-
primis 207.] * cf. quae exposui Äbraxas p. 133, 152 et al.
^ aligriechischer versbau, p. 90 et 94.
* in anthologia graeca carminum christianorum ed. Christ et Paranikas, p. XVI.
5 Euseb. hist. eccles. VII 24, 4. cf. Buhlium der griechische kircheng esang
bis zur zeit des Chrysosiomus, in annal. hist. theol. XVIII p. 207 sqq.
wo De hymnis Orphicis
reliquias. psalterium illud Salomonis quod paullo post Hierosolymam
deletam confictum esse constat', carmina sunt ecclesiae in apocal.
loannisl 4-8, V 9, XI 15-19, XXI 3-8, dein apud Lucam I 46-55,
68—79, II 29-32 (quae omnia in parte euangelii postea adserta legun-
tur), postea in act. apost. IV 24-31, quae omnia nil sunt nisi centones
e psalmis aliisque Hebraeorum libris sacris confecti. inter ea cantica
quae ueteris testamenti uersioni graecae in codice saec. V. Alexandrino
subiuncta sunt, quippe quae cantarentur a Christianis, praeter psalmos
nonnullosque alios ueteris testamenti locos nil legitur nisi illae ipsae
54 psalmodiae in Lucae libello traditae. euanuit antiquae precum formae
memoria, quin etiam damnata erat, nondum prorsus euanuisse a. 340
docemur narratiuncula de Apollinaribus, seniore presbytero et iuniore
lectore ecclesiae, seruata, quos Epiphanium sophistam, qui hymnum in
Bacchi honorem confectum recitasset omnesque touc djuur|Touc et ßeßri-
Xouc ex more abire iussisset, non fugisse traditur. quam ob rem Theo-
dotus qui Laodiceae munere episcopi fungebatur iis interdixit usu sa-
crorum.^ eadem in urbe patres ad concilium conuocati uetuerunt ne
quid aliud in ecclesia cantaretur nisi psalmi traditi (concil. Laodic. canon
LIX). sie iam Hebraeorum poeseos amnis grande aestuans quasi inun-
dauerat campos antea uersicolores. tamen Orphei ne tum quidem obliti
sunt: in coemeteriis enim Romanis qua forma Christum lubentius orna-
bant quam Orphei omnia carminibus permulcentis!^ an putas mero
casu hoc factum esse, ut hunc celeberrimum cantorem eligerent, si
legeris saepissime illo aeuo Christum et Orpheum opponi aut ut dam-
narent falsae religionis antistitem et poetam aut ut nonnuUa ueritatis
christianae iam praesagiuisse prophetam mysticum affirmarent.
hisce quae leuissimo stilo circumscripsi de hymnorum illorum memoria
magis magisque euanescente ueniam peto. sed quanto luculentius fit
iisdem saeculis quibus carminum unus iste libellus uere in rebus sacris
antiquis recitatorum nobis traditus confectus uel certe redactus sit,
paullo post Dauidis libris eiecta esse carmina Orphei et plane obliuioni
tradita, tanto magis discendum est, quo studio tractandae sint quas
temporum inuidia nobis non ademit reliquias hymnorum Orphicorum.
^ cf. Schuereri librum, neutestamentliche Zeitgeschichte, p. 140 sqq. illud
psalterium cum litteris apocalypticis ualde coniunctum esse docet quod Baruchi
apocal. c. V paene idem est ac psalm. Salom. XI.
^ Sozomen. hist. eccles. VI 25.
^ cf. Piperum, mythologie der christlichen kunst, p. 121 sqq. F. X. Kraus,
Roma sotteranea, die römischen katakomben, p. 195 sqq. adnotare iuuat simil-
limas Orphei imagines antea imprimis in numis Alexandrinis (Marci Aurelii,
Antonini) inueniri, cf. Piperum 1. c, Friedlaenderum et Salletum, das königliche
münzkabinety p. 221, n. 869.
IV
DIE ZAHL DER DRAMEN DES AISCHYLOS^
Man pflegt die überlieferten Zahlen der Dramen des Aischylos ent- 141
weder als unvereinbare verschiedene Angaben nebeneinander stehen zu
lassen oder durch gewaltsame Änderung und ebenso künstliche als
unwahrscheinliche Kombination zur Übereinstimmung zu zwingen.^ Je
überflüssiger es wäre, eine neue ähnliche Rechnungskünstelei vorzulegen,
um so nützlicher wird es sein, wenn sich in jenen Zahlen durch eine
einfache Beobachtung vollkommen übereinstimmende, beste alte Tradition
erkennen läßt. Wir haben ja bei Euripides gelernt, wie sich noch viel
mannigfaltigere Zahlenangaben als solche Überlieferung erwiesen.
Dies ist der Tatbestand unsrer Nachrichten über die Dramenzahl des
Aischylos: Suidas s.v. eTpavye be Kai eXeTcTa Kai xpaTtubiac evevriKOvra,
Vita Aesch. Medic. (§ 12 bei F. Scholl vor Ritschis Ausg. der Septem)
€Troir|cev bpdjuaxa^ o' Kai erri toutoic carupiKa djuqpi xd e' (2 codd. recc.
djucpißoXa e'). Hinter der Vita folgt in der mediceischen Hs. ein Katd-
XoTOC Tüuv AicxOXou bpaiudioiv, der 73 Titel gibt (nach neuester Kol-
lation von Vitelli in Weckleins Aischylosausg. Berlin 1885, S. 471).
In Wirklichkeit sind es 72: denn in der untersten Reihe der ersten
Kolumne kann ^puTioi nichts anderes sein als versehentliche Ditto-
graphie aus dem folgenden OpuTec. Das zeigt sich auch darin, daß
der Schreiber, der nun mit der Reihe infolge dieses Versehens nicht
auskam, einen Titel noch unter die zweite Kolumne schrieb, die so
allein 19 Titel hat, während die anderen deren 18 haben.
Es sind also 4 Kolumnen mit 18 Titeln, die von links nach rechts 142
durchgehend alphabetisch geordnet sind. Es fehlen aber Titel in diesem
Katalog, die wir sonsther kennen. Es fehlt z. B. auch der Oiveuc, den
doch dieselbe Mediceerhs. in der Hypothesis der Perser angibt: den
mußte doch der Verfertiger des Katalogs kennen. Nur den rXaöKoc
iTÖvTioc, jedenfalls Satyrspiel, verzeichnet er, den TXaOKOc TTotvieuc,
» <Rhein. Mus. XLVIII 1893 S. 141ff.>
* z B F Scholl de locis nonnullis ad Aesch. vitam et ad historiam tragoed.
graec. pertin. epistula Jenae 1876. Susemihl de vita Aeschyli quaestiones epi-
criticae, ind. schol. Gryph. Winter 1876/77, S. 5 ff. u. a. o •* n- •
» bpduaxa bezeichnet öfter ungenau die Tragödien allein z. B vit. Eunp.
ciLZexai h^ aOTOÖ öpd^xaT« 2c;' . . . ., carupiKd b^ n'. TpaTH^biai bei Suid meint
natürlich die Satyrspiele mit, was nicht 'ungenau', sondern sehr richtig und
eigentlich gesagt ist.
112 Die Zahl der Dramen des Aischylos
das dritte Stück der Perser, aber nicht.^ Den TTaXajuribric nennt das
Schol. des Med. zu Prom. v. 473, der Katalog des Med. hat ihn nicht.
Kurz, es ist das Fehlen solcher Titel in der sonst so sorgfältigen Liste
des Med. nur durch äußeres Versehen erklärbar, durch einen Verlust,
den dieselbe im Laufe der Zeit erlitten hat.
Sollte eine Kolumne oder ein Teil der Kolumne ausgefallen sein?^
Falls nicht schon weitere Verwirrungen nach diesem Verluste eingetreten
sind, müssen sich die übrigen bekannten Titel bei der Art der alpha-
betischen Ordnung des Katalogs in eine Kolumne gruppieren. Übrigens
ist die alphabetische Ordnung natürlich wie bei allen diesen Listen nur
im ersten Buchstaben genau (hier: eujaevibec eiriTovoi eXeucivioi, i(piTe-
veia iHiuJV iKexibec, KipKr) xripuKec Käpec, ToHöxibec iriXecpoc xpoqpoi u. a.).
Machen wir also mit jenen Titeln die Probe. fXaÖKOc TToTvieuc läßt
sich in eine 5. Kolumne als 3. Reihe rechts neben fXaÖKoc TTövtioc
setzen, s. den nebenstehenden Katalog; 'kpeiai paßt in dieselbe Kolumne
rechts neben ' IcpiTeveia, TTaXa|ur|bTic richtig in dieselbe neben 'OctoXötoi,
und man sehe, wie sich TTpo^nÖeiJC TTupKaeuc, das richtig neben den
TTupcpöpoc zu stehen kommt ^ und Cicucpoc TrerpoKuXicTric, der ebenso
144 neben den bpaireTTic kommt, wie sich <t>iveijc und 'QpeiGuia nun von
selbst einordnen. Ist das Zufall? Gewiß nicht.
Aber ich habe noch 3 Titel, die man nennt, beiseite gelassen. Ein-
mal die GaXajLioTToioi. Man nimmt sie seit Hermann (Abh. der sächs.
Ges. d. W. IV, 1847, S. 123 ff., Ausg. I 329) und Welcker (Rh. Mus. XIII
189 ff.) wohl meist identisch mit den AitOtttioi an, und diese nennt
der Katalag schon in der 3. Kolumne oben. Diese Annahme wird nun
sicher, wenn unsre Deutung des Katalogs richtig ist. Das Stück ist in
irgendeiner späteren Überlieferung Aitutttioi f| GaXajuoTTOioi genannt
worden. Ferner wäre noch der Kukvoc vorhanden, aber 'huius nomine
inscriptam fuisse fabulam non licet affirmare', sagt Nauck trag, fragm.^
p. 39. Man darf nicht aus dem Verse der Frösche 963 oiib' eHeTrXriT-
^ In der Hypothesis des M. steht nur rXaOKoc, in den anderen Hss. aber
rXaöKoc TToTvieOc; das ist nicht wertlose, sondern richtige Überlieferung. Mögen
beide Stücke ursprünglich nur fXaöKoc gebeißen haben, das Stück der Perser-
trilogie war der TToTvieOc, wie wohl jetzt ziemlich allgemein angenommen wird,
s. auch V. Wilamowitz Herakles I 204, Anm. 167.
* Den Gedanken hat, soviel ich sehe, nur Bergk einmal in einer Anmerkung
der gr. Litgesch. III 282, Anm. 35 hingeworfen, aber ihn weder begründet, noch
die Konsequenzen gezogen, noch mit den sonst erhaltenen Titeln die Probe gemacht.
* Den TTpo|uyi0euc irupKaeuc halte ich für sicher als Satyrspiel der Perser-
trilogie. Ursprünglich hat es natürlich nur TTpoiuTieeOc geheißen. TT. irupK. ist
aber bezeugt durch Pollux IX 156, X 64, ein Satyrspiel Prom. außerdem sicher
durch Plutarch de util. ex in. perc. II p. 86 f (s. Trag, graec. fragm. ed. Nauck * p.69).
Die Zahl der Dramen des Aischylos 113
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Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. "
1J4 D^® Zahl der Dramen des Aischylos
Tov auToOc KuKVOuc TTOiujv Kai Me|uvovac KobiuvoqpaXapOTTuuXouc ein
Stück KuKvoc folgern; der Unhold, sei es der Aressohn, den Herakles
bezwang, sei es der Poseidonsohn, den Achilleus erschlug, kann in gar
manchem andern Stück vorgekommen sein/ Es bleibt noch übrig die
'A\K|Lir|vr|. Sie wird nur einmal genannt bei Hesychius I p. 258. Ai-
cxuXoc 1c9juiacTaic Kai 'AXKjurivr). Man hat daraufhin, da sonst nie etwas
davon erwähnt wird, eine Alkmene des Aischylos nicht annehmen wollen
und entweder 'AjuujuOuvr] geändert oder ein Elipittiötic oder einen andern
Namen vor 'AXK)ur|vr] als ausgefallen betrachtet. Auch wir stehen hier
vor der Schwierigkeit, daß wir zwischen Aiivaiai Tvncioi und vöGoi
nicht werden 'AXKjurjvri gesetzt denken wollen. Es mag hier schon nach
Verlust der letzten Kolumne wieder Veränderung zugegangen sein, und
es ist ja ganz natürlich, daß zu den AlxvaTai Tvricioi die Airvaiai
145v6öoi, falls sie mit der Kolumne in Wegfall geraten waren, wieder zu-
gesetzt werden mußten. Zwischen AiTvaiai und 'A|uu|uiuvri würde dann
gerade 'AXK)ur|vr| passen, auch nach der schärferen alphabetischen
Ordnung, die gerade bei den 8 A-Stücken beobachtet worden ist, und
wäre in dem schon verstümmelten Katalog durch die wiedereingesetzten
AiTvaiai vöGoi verdrängt. Doch wage ich hier, da eine Verwirrung vor-
liegen mag und die 'AXKjurjvri nicht einmal sicher ist, ganz und gar nicht
zu entscheiden.
Aber ich denke, es ist zwingend: wenn der gelehrte, so sorgfältig
geordnete Katalog Stücke nicht hat, die der Verfasser unzweifelhaft
kennen mußte, wenn also dieses Fehlen nur durch äußern Verlust der
Überlieferung erklärbar ist, wenn die Probe, ob diesen Verlust die
schon in Kolumnen geordnete Liste durch Abhandenkommen einer Ko-
lumne erlitten hat, so vollständig gelingt, daß sich 7 der sonst genannten
Titel in eine 5. Kolumne am rechten äußern Rand des Blattes fügen
und nur gerade die (2 bzw. 3) Titel nicht passen, die auch sonst schon
die zweifelhaftesten waren, so hat eben der Katalog bei einem Vorfahr
^ z. B. glaube ich wohl wahrscheinlich machen zu können, daß er in den
Mucoi, die verschieden vom TriXecpoc sind, vorkam. Kyknos fiel am Kaikos
(Sen. Troad. 237, Agam. 216). Vgl. Fragm. der Mucoi 144 N ^:
TTOTainoO KaiKOU x^^'^P^ irpOuroc öpYeuOv,
ei»xaic bk. cujZioic beciröxac iraiuüviaic.
Ein Grieche fordert den Priester auf, für seine Herren zu beten, denen der Un-
hold Verderben droht; Achilles rettet dann alle. Weicker sagt 'ein Diener spricht
für seinen Herrn, den leidenden Telephos', aber es heißt ja becTröxac! Ich
wüßte die Verse nicht anders als auf Kyknos zu deuten. Doch müßte ich noch
weiteres über die Möglichkeiten für TrjXecpoc, Mucoi und auch TTa\a|uf]6Tic (auch
Sophokles TToiin^vec) sagen, was hier zu weit führen würde.
b
Die Zahl der Dramen des Aischylos 115
des cod. M. noch 5 Kolumnen gehabt. Die 5. Kolumne gab auch
18 Titel, denn Qpeieuia gehört in die unterste Reihe. Also gab der
ganze Katalog 90 Titel: dieselbe Zahl, die auch Suidas angibt.
Das ist die gute alte Überlieferung. Die Alexandriner werden die
90 Stücke nicht mehr sämtlich gehabt haben, aber 90 Titel kannten sie
aus den Didaskalien. Der Katalog bewahrte diese wertvolle alexandri-
nische Tradition. Jedenfalls glaubte man damit alle Dramen zu kennen:
l'ipa\\)e TpaYLubiac ^vevriKovra heißt es.
Nun aber steht in der Vita zu lesen, daß Aischylos 70 Tragödien
gemacht habe und Satyrspiele ungefähr 5. Daß die letztere Angabe
falsch ist, hat jedermann angenommen, und es liegt in der Tat auf der
Hand. Wir kennen acht als solche bezeugte Satyrdramen (KepKuiuv
KripuKEC KipKri Aeiuv AuKoOpTOC npo)uri6euc (TTupKaeuc) TTpuuTeuc CqpiTH),
die außer dem TTpo|UTieeiJc alle auch in dem versttimmelten Kataloge
stehen, wenn auch nur die KipKTi den Beisatz caiupiKri hat. Außerdem
kann man noch 5 sicher als Satyrspieltitel annehmen fAjuujuujvri fXauKoc
TTÖVTioc 'OcToXÖTOi Cicuqpoc bpaTreiric OopKiöec), also im ganzen wenig-
stens 13. Auf keinen Fall kann jenes kqi im toutoic carupiKd djucpi
Tci e' richtig sein.
Der Bioc und der KaiaXoToc gehören ja zusammen und sind gewiß 146
von lange her verbunden überliefert. Natürlich stimmten sie miteinander
überein; wir haben beide als eine einheitliche Überlieferung anzusehen.
Der Katalog gibt 90 Titel, darunter die Satyrspiele. Der Bioc gibt die
Zahlen für Tragödien und Satyrspiele im einzelnen. Die Zahl 70 für
die Tragödien ist durchaus nicht anzufechten, im Gegenteil, sie ist von
vornherein sehr wahrscheinlich, da wir ja 66 Tragödientitel noch haben
außer den 13 Satyrspieltiteln.^ Dann ist aber, so gewiß in70 + x = 90
X = 20 ist, als Zahl der Satyrspiele 20 ursprünglich angegeben gewesen.
Auch dieser Schluß scheint mir zwingend.
Weniger sicher ist, wie man sich die Verderbnis zu denken hat.
Ich würde sie mir am liebsten so erklären: nach der Verstümmelung
des Katalogs wollte man die Zahl, die viel zu hoch schien, nicht mehr
stehen lassen; man hatte nur noch die 72 (oder schon versehentlich
73) Titel. Man wollte nicht weit darüber hinausgehen. Merkwürdiger-
weise konnte man vielleicht, wenn man KipKn caiupiKrj, das einzige in
der Liste als Satyrspiel bezeichnete Stück, und die Aiivaiai vöGoi ab-
zog, gerade die 70 Tragödien angegeben glauben. Oder aber einer,
der in seiner Hs. die 7 Tragödien und vielleicht noch die TTroeeceic
* Natürlich kann ja noch ein oder der andere Titel einem Satyrspiel gehören.
Aber die Möglichkeit ist wohl nur noch für 'AtpuO und 'ßpeOuia vorhanden.
8*
115 D^® Z^^^ ^^^ Dramen des Aischylos
dazu hatte, in denen für 5 Tetralogien 5 Satyrspiele angegeben waren,
mochte gerade deshalb diese Zahl setzen und seiner sonstigen Un-
sicherheit und Unwissenheit durch das djucpi Ausdruck geben. Aber
ob man nun mit Heranziehung der Lesart jüngerer Hss. schreiben will
caxupiKd k'' djLiqpißoXa e' (Bergk schreibt caxupiKd k', ojv djuqpißoXa e'.
Wachsmuth Symbol, phil. Bonn. 149: caxupiKd*' d)U(pißo\a e' will die
Zahl im ungewissen lassen: sie ist das einzige, was ich für ganz sicher
halte) oder ob man etwa in dem d|Licpi xd e' den Rest eines dfucpi xd
eiKociv entdecken wollte; es ist jedenfalls sicher, daß die Zahl 20 ur-
sprünglich für die Satyrspiele angegeben war.
Also man kannte in Alexandria wenigstens dem Titel nach (leider
wissen wir nichts von cuiZ;exai) von Aischylos 90 Dramen, darunter
70 Tragödien und 20 Satyrspiele.^ Wir kennen 79 Dramen, darunter etwa
66 Tragödien und 13 Satyrspiele. Es fehlen uns nur 11 Titel. Viel-
leicht kann einmal weitere Kombination diese oder jene Lücke unseres
Katalogs ausfüllen, für jetzt ist es auch ein Gewinn bei der gegebenen
Deutung der Überlieferung, daß wir ein Stück 0aXa|uo7roioi neben den
AiTUTTxioi gegenüber allen Hypothesen, die immer wieder in dieser
Richtung aufgestellt sind, und ebenso KOkvoc als Titel eines Dramas
endgültig beseitigen können.
^ Weitere Berechnung nach Tetralogien ist unstatthaft. Denn Aischylos
wird früher nicht nur Einzeltragödien, sondern auch Einzelsatyrdramen auf-
geführt haben.
V
ÜBER EINE SZENE DER ARISTOPHANISCHEN
WOLKEN^
Strepsiades will sich von Sokrates in die neue Weisheit einführen 275
lassen. Der in seinen Spekulationen gestörte Denker läßt sich endlich
mit dem Bittenden ein. ßoOXei toi 0eTa irpaYinaT* eibevai cacpOuc,
fragt er (v. 250); willst du die Wolken sehen, mit ihnen Worte tauschen,
die unsere Göttinnen sind? Er wünscht es und muß sich nun zuerst
auf einen heiligen Schemel, lepöc ckijuttouc, niedersetzen. Dann muß
er einen Kranz aufsetzen und wird von Sokrates, da er ängstlich einer
Situation des sophokleischen Athamas gedenkt und fürchtet, er solle
wie jener geopfert werden, mit den Worten getröstet dXXd xauTa Tidvia
Touc T€Xou|Lievouc Troioö)Liev. Er soll stillhalten, mahnt ihn der geheim-
nisvolle Lehrer v. 261, und was er über sich ergehen lassen soll,
deuten die Worte des erstaunten Schülers an KaxaTraTTÖiuevoc yctp i^ai-
TrdXr) Ytvrico|Liai. Er wird bestreut und wird wie lauter Mehlstaub.
Sokrates spricht dann feierliche Gebetsworte an 'Ar|p, AiGrip und die
NecpeXai; die Wolken sollen erscheinen. |ur|Truj |ur)7TUj ye, ruft Strepsiades
irpiv dv TOUTi TTTVjHiujaai d. h. bevor ich mir mein i|udTiov über den Kopf
gezogen habe (vgl. auch die Schollen). piX] KaxaßpexOuJ setzt er scherzend
hinzu. Es folgen dann weitere Anrufungen der Wolken durch Sokrates,
die Gesänge des Wolkenchors selbst und endlich die längeren Be-
lehrungsversuche des schwerfälligen und zuletzt ganz unbrauchbaren
Schülers. - Zunächst also sitzt Strepsiades auf einem ckiiuttguc, den
Mantel über den Kopf gezogen, und Sokrates steht bei ihm und bestreut
ihn mit etwas Mehlartigem. Daß über^ den Schemel noch ein Widder-
fell gebreitet ist, auf dem er sitzt und auf das er sich dann später zum
cppovTiZ:eiv hinlegt, scheint aus v. 730 hervorzugehen (xic dv hf\T em-
ßdXoi eH dpvaKibuJv tvu)]ut]v dTrocTepriTpiba; auch da wird er wieder
ermahnt sich zu verhüllen, v. 727 und 735).
Was diese merkwürdige Gruppe auf der Bühne soll, erklärt ein Blick 276
auf das von Ersilia Lovatelli im Bulletino della commissione archeologica
' <Rhein. Mus. XLVIII 1893 S. 275 ff.>
118 Ü^ßr 6^"ö Szene der aristophanischen Wolken
comunale di Roma 1879 VII 2, tav. I — III publizierte Relief einer Aschen-
urne. Die mittlere der drei Gruppen stellt einen Mann dar, der auf
einem ckijuttouc dasitzt, und diesen Schemel bedeckt ein Widderfell (wie
das Widderhorn zwischen den Füßen des Sitzenden deutlich macht);
das Haupt und der ganze Körper bis auf den rechten Arm und einen
Teil der Brust sind vom Gewände verhüllt, die Linke hält, wie es scheint,
eine Fackel. Hinter ihm steht eine Frau und hält über das Haupt des
Sitzenden eine Getreideschwinge (Xikvov), die sie, wie schon die Haltung
der Hände zeigt, schüttelt. Sie bestreut also daraus den Verhüllten,
Das ganze Relief steUt Riten bakchischer Mysterien dar. In der
ersten Gruppe rechts steht ein Einzuweihender, in der rechten Hand
das Opferferkel, in der linken Opferkuchen, vor einem Priester, der
Wasser über das Ferkel gießt. In der dritten Gruppe sitzt Demeter,
die Fackel in der Hand, von einer Schlange umwunden; neben ihr steht
Köre, ebenfalls mit der Fackel, auf der anderen Seite der Myste, der
die Schlange liebkost. Die mittlere Gruppe ist die oben beschriebene.
Es ist die Reihenfolge der Einweihungszeremonien: das Opfer, die
KttGapcic und die e-rroTTTeia.
Über die Bedeutung des heiligen Schemels (vgl. die Opöviucic in der
Weihe der Korybanten Fiat. Euthyd. p. 277 D; Dio Chrysost. or. XII p.387
eiiuOaciv ev tuj KaXoujuevLU öpovicjULu KaGicavTec touc jiiuoujuevouc oi te-
\oövT€c kOkXuj Tuepixopeijeiv), des Widderfells, * auf dem der zu sühnende
Mörder, der Myste, das Hochzeitspaar, der Orakelsuchende sitzt', des
Kranzes (vgl. auch Harpokrat. s. v. XeuKri* oi rd BaKxiKoi TeXou)Li€voi rrj XeuKri
CTeq)ovTai bid tö xööviov eivai tö qpuTÖv, xööviov he Kai töv xfic TTepceqpö-
vTic Aiövucov), der Verhüllung des Hauptes brauche ich weiter nichts zu
sagen; diese kathartischen Riten sind ganz gewöhnlich, und ich kann
nur auf die reichen Belege verweisen, die Diels kürzlich in den sibylli-
nischen Blättern gegeben hat S. 48, 2; 51, 4; 70 f.; 120 ff. Auch die
vannus mystica, deren Gebrauch die Reinigung versinnbildlicht (statt
XiKjLiäv wird auch technisch KaeapiZ;eiv , KaGaipeiv gebraucht. Blümner
Techn. u. Term. der Gew. u. K. I 9 un d Anm. 5), ist bekannt genug.
Die Einführung des Strepsiades in die neue philosophische und so-
277 phistische Weisheit wird also im Spott als eine Einweihung in Mysterien
vorgeführt. Diese Vorstellung zieht sich durch die ganze Szene, xd
Geia TrpdfiuaTa soll der Neophyte kennen lernen, XeTTTotdiiuv Xripiuv
lepeuc wird Sokrates genannt (v. 359), die Wolken nennen ihn und
seine Genossen mit sakralem Terminus ihre ttpöttoXgi (v. 436). Auf die
KdGapcic folgt die erroTTTeia; der Entsühnte schaut die Göttinnen selbst
(v. 322 ff.). Dann folgt, wollte man die mystische Terminologie anwenden
^ 0
l^r über eine Szene der aristophanischen Wolken \\g
I etwa wie sie Theo von Smyrna gibt (expos. rer. math. ad leg. Plat. ut.
k ed. Hiller p. 14, 25 ff.)^ Trapdbocic xfic TeXeific oder tu)v iliucttipiujv^, die
■ Belehrung über die neuen Weisheitsweihen, und nun soll der Adept in
das Heiligtum des eigentlichen 9PovTicTr|piov eingehen und muß sein
Gewand ablegen; denn t^jlivouc eicievai vo)LiiZ:eTai (v. 498). Auch seine
Schuhe hat er ausziehen müssen wie aus v. 719 und 858 hervorgeht.
Strepsiades verlangt noch einen Opferkuchen ()ue\iTToOTav), wie sie auch
der Myste mitbrachte, und vergleicht spöttisch das Haus des Sokrates
mit der Orakelhöhle des Trophonios (v. 507f.; vgl. bes. Pausan. IX 39,
11). Ob in den Versen 461 ff., was der Chor dem Strepsiades, wenn
er in die neue Weisheit eingeweiht wäre, verheißt töv Tcdvia xpövov
ILiex' i\xo\j ZiriXuJTÖTaTOv ßiov dvGpuuTTUJV bidHeic, ob darin parodische An-
spielung auf die eObaijuovia liegt, welche die Mysterienkulte meist ver-
sprachen (Theo a. a. O., Lobeck Aglaoph. p. 69 ff.; auch die eleusinischen
Göttinnen senden dem Geweihten ins Haus TTXoOtov, 8c dvepiuTTOic
dqpevoc 0vr|Toici bibiuciv, Hom. Hymn. auf Dem. v. 489), mag dahingestellt
bleiben; Parodie ist es sicher, wie schon die Form zeigt (Daktylo-Epitriten).
Die Parabase^ unterbricht den Fortgang dieser Szenen, wenigstens 278
in der uns vorliegenden Diaskeue. Danach nimmt die Prüfung des
Neophyten ihren Fortgang; die Geheimnisse der Metrik, Rhythmik, Gram-
matik werden ihm offenbart: alles Spott auf die Sophistenweisheit,
namentlich die des Prodikos. Strepsiades bringt den Schemel wieder
mit heraus (v. 633, 709) und sitzt während des Folgenden auf dem
Widderfell; auch die merkwürdigen, so zu sagen gymnosophistischen Me-
ditationsübungen, deren spezielle Beziehung uns nicht mehr klar ist, muß
er so anstellen, das Haupt verhüllt. Schließlich zeigt er sich aber so
unbeholfen und vergeßlich, daß er fortgejagt wird.
Man kann sich vom Standpunkte des Atheners kaum etwas Komischeres
denken als die Zusammenstellung der heterogensten Dinge in dieser
Szene: der aufklärerische Sophist weiht seinen Schüler mit dem Ritual
* Vgl. p. 14, 18 ff. Kai yäp aö xi^iv cpiXococpiav jaOriciv qpairi Tic äv öXtiGoOc
TeXeific Kai tüüv övtujv ujc dXri9u)C luucTTipiuuv Trapdöociv. luurjceujc hä |u^pr) ir^vTC.
TÖ |i^v irporiToiJiLievov Kaöapiuöc. out6 fäp äiraci toic ßouXo|Li^voic jueTOUCia ^iucTt]-
piujv ^CTiv, dXX' eiclv oöc aOTiüv eipTecGai irpoaTopeOeTai, oTov toOc x^ipac ^fi
KaGapdc Kai qpuuvi^v dHi5v€T0v IxovTac, Kai aÖTouc bä toOc luf) elpTO|ii^vouc dvdxKii
Ka9ap|LioO tivoc irpÖTepov Tuxetv, jueTd bk Tf\v KdOapciv öeuT^pa kTlv i^ Tf^c TeXe-
TTic irapdbocic, xpirr] bt <i^> ^Trovo|aa2:o|u^vTi k-noTzxda.
' Vgl. Giern. Alexandr. Strom, p. 844: irpö Tfic tujv inucTTipiiwv uapaböceujc
KaGapiLioOc Tivac irpocdTeiv Totc inueTcÖai ja^XXouciv dSioOciv.
» Ob in den Worten des KO|Ll^dTlov an den hineingehenden Strepsiades
auch Parodie von uns unbekannten liturgischen Formeln steckt? eöTuxia t^voito
dvepiütruj, ÖTi ktX. Vgl. Eur. Herakl. 613 Td juucTUiv ö' öpyi' euTvixnc' ibibv.
120 Über eine Szene der aristophanischen Wolken
bakchischer Mysterien in die gottesleugnerische Naturphilosophie, in die
Quisquilien der Synonymik und die Verdrehungskünste der Rhetorik
ein. Erinnert man sich der Darstellung einer der oben beschriebenen
ganz analogen Einweihungsszene, in der ein zottiger Silen das Xikvov
hält (Bull, della comm. arch. a. a. 0. tav. IV. V, 5, auch in Baumeisters
Denkmälern I 449), so kann man sich denken, wie sich Sokrates in
jener Gruppe ausgenommen haben wird. Ihn hat gewiß nicht erst Plato
mit einem Silen verglichen.
Welcher Art aber sind die Mysterien, die hier nachgebildet werden?
Sollte auch wirklich jene Reliefdarstellung auf die eleusinischen Weihen
zu beziehen sein, so ist es doch ganz unmöglich, daß die hochheiligen
Gnadenmittel der großen Göttinnen in komischer Verzerrung zum Ge-
lächter der Menge auf der Bühne vorgeführt wären. Diese Einweihungs-
riten werden aber auch sonst ziemlich ähnlich gewesen sein, wie manche
Darstellungen zeigen, die sich gewiß nicht auf Eleusis beziehen (Bull,
della comm. arch. a. a. 0. tav. IV. V). Aber welcher Art Weihen hat
Aristophanes im einzelnen im Auge gehabt? Wir müssen eine Stelle
noch etwas genauer betrachten.
V. 260, CQ. X€Y€iv YEvricei Tpijuiaa, KpöxaXov, TraiTidXri.
dXX' e'x' dipejuei. CTP. fiid tov Ai' oi> vpeucei fi )ue'
KaTaTTaTTOjaevoc yotp TraiTidXri Yevr|co|uai.
Das Wortspiel ist ja klar: er wird ein geriebener, abgefeimter Mensch,
TTttiTrdXri, werden, und er wird auch wirklich so bestreut, daß er ganz
TraiTrdXri wird. Hören wir noch die Scholiasten, deren Erklärungen ich
ausschreiben muß: laOia be Xetu^v XiGouc cuTKpouei dvujGev aiiroö.
279 Tpi|LA)Lia ouv eiire bid tö TpißecGai touc XiGouc. KpöxaXov be bid tö
KpouecGai auTov. TramdXTi bid xrjv xpaxOxr|xa. eirei iraiTraXa KaXoO|Li€V
xd bucßaxa (das letzte natürlich ganz töricht). dXXuuc* xaOxa Xetujv ctjua
6 CujKpdxrjC XiGouc iTapaxpißiuv mupivouc Kai Kpouujv Trpöc dXXr|Xouc,
cuvaTaYUJV xd dirö xoOxujv Gpaucjuaxa ßdXXei xöv xrpecßuxriv, KaGdirep
xd lepeia xaTc oiiXaTc oi Guovxec, Kai bid xouxo iiailei xoTc ovöjuaci.
xpi)Li|ua |uev xf]v arrö xoOxujv eKTTiTTxoucav XaxuTrr|v kxX. Zum folgenden
Verse noch: irXTipujGeic Tdp, cprici, xoijxujv, Xetu) br\ xujv xpijujudxujv xiuv
XiGuuv Kai xfic XaxuTrric, t^v eqpaiuev iraiTrdXriv KaXeTcGai, fcvricojuai
TraiTrdXTi. Diese bestimmten Angaben können nicht ganz aus der Luft
gegriffen sein, sie müssen auf alter Tradition beruhen. Sokrates reibt
Tuffsteine, Kalk oder Gips (XiGoi irOüpivoi, XaxuTiri) aneinander über dem
Kopf des Verhüllten und schlägt sie aneinander, daß Strepsiades mit
dem weißen Staube, der wie feiner Mehlstaub ixaijrdXri ist, über und
über eine Szene der aristophanischen Wolken 121
über bestreut wird. Das Wortspiel mit dem Tpi|Li|Lia, KpÖTa\ov\ TramdX]i
ist in der Tat so erst vollständig treffend.
Sehen wir uns nach analogen Riten um, so erinnern wir uns zunächst
der Winkelmysterien des Sabazios und dessen was Aischines nach
Demosthenes (Kranzrede § 259 ff.) dabei getan haben soll: Tfj lUTi^pi
TeXoucr] rac ßißXouc dveTiTVUJCKec Kai rdWa cuvecKeiiujpoO, inv juev
vuKia veßpiz:uuv Kai Kpairipi^ijuv Kai KaGaipujv toOc T€\ou|uevouc Kai
ctTTOiudTTUJV Tuj tttiXlu Kai ToTc TTiTupoic Ktti dviCTctc diTÖ ToO KaGap-
)uoO KeXeOujv Xereiv 'I9UT0V KaKÖv, eupov d)aeivov' ktX. Dazu steht
bei Harpokration im Artikel dTrojudTTUJV^: dXXoi be irepiepfÖTepov, oiov
TrepiTrXoTTUJV töv TiriXöv Kai id rriTupa xoTc xeXoujLievoic ujc XeYOjuev
d7TO|adTTec0ai tov dvbpidvia tttiXuj. riXeicpov Tctp tuj Trr|Xuj Kai tuj 280
TTiTijpuj Touc jauou)ievouc, eK|ui|uoiJ)uevoi xd )Liu9oXoTO\j|ueva irap' evi-
oic UJC dpa Ol TiTdvec töv Aiövucov eXu)Lir|vavT0 t^M^uj KaTa-
7TXacd|uevoi iixi tiu |uf] yviupiiuoi TtvecGai. toöto juev ouv t6 eOoc
eKXmeiv," tttiXuj be öcTepov KaTaTrXdTTecGai vo|ui|liou x&piv. Das ist die
Überlieferung der Orphiker vom Tode des Dionysos; sie sind die evioi.
Lobeck hat recht (Aglaoph. p. 654): ^dubitari non potest, quin ritus
mystici, quibus Glaucothea perfuncta est, fabulis Orphicis de industria
accommodati et ex iis tamquam e fönte repetiti sint'. Die Kulte des
Sabazios, der Kotytto, des Adonis und andere ausländische Mysterien,
die gerade in der Zeit des Peloponnesischen Krieges so zahlreich in
Athen Anhänger fanden (Foucart des associations religieuses chez les
Grecs p. 55 ff.), hatten großen Einfluß auf die orphischen Weihen und
umgekehrt; sie waren gerade damals vielfach miteinander vermengt
(besonders verbreitet war der Sabaziosdienst, Aristoph. Lysistr. 386 ff.,
Wesp. 10, fragm. 566; euoi caßoT bei Demosth. a. a. 0. und euai caßaT
in den Bapten des Eupolis fr. 84 K, "Ytic bei Demosth. und in den
Kretern des Apollophanes fr. 7 K, Aristoph. fr. 878). Noch in spätester
Zeit bestreuten sich die bakchischen Mysten mit Gips: Nonnus Dionys.
* KpöxaXov soll bezeichnen einmal ' Plappermaul ' und dann das Klapperblech
oder Becken, wie sie bei solchen Riten gebraucht wurden, hier die Steine, die
aneinandergeschlagen werden.
* dTroiud-rreiv und -n:epi|adTT€iv sind stehende Ausdrücke für mystische Reini-
gung. Harpokration führt a.a.O. aus Sophokles Aixiua\iJÜTi5€c an: crparoO
KaeapxiPic KäiTO|uaT|iidxtJuv löpic (Nauck^ 31). Der mit kqI irdXiv angefügte
Vers beiv6xaxoc diroiLidKxric xe |Li€TdXiJuv cu|Licpopu)v muß aus einem Komiker
sein. — Menand. bei Clem. Alex. p. 844:
irepifiaHdxtucav c' ai YuvaiKec ^v kOkXlu
Kai TrepiGeiuJcdxDUcav, dtrö KpouvOuv xpiAv
öbttTi irepippav', ^lußaXÜJV 6i\ac, qpaKoOc.
Plutarch. de superst. p. 168 D, p. 166 A irepiindKxpia rpaOc.
122 ^^®r ®*"* Szene der aristophanischen Wolken
XXVII 228 eXeuKaivovTo be t^M^^V MuctittöXo) (vgl. v. 204, XXIX
274. XXXIV 144. XLVII 732). Nonnus schließt sich ja hauptsächlich an
orphische Überlieferungen und Bräuche an. Daß sich die orphischen
Adepten darum mit Gips bestrichen hätten, weil so die Titanen den
Dionysos getötet, ist gewiß eine spätere kpoXoTia, die, wie ich glaube^
aus der Bedeutung von Tixavoc Kalk, Gips entstanden ist.^ Jener Brauch
aber, den zu Weihenden beim xaGapjLiöc mit Kalk- oder Gipsstaub zu
bestreuen, ist — das hat sich herausgestellt — bereits im 5. Jahrhundert
in Athen geübt bei den orphischen TeXexai.
Wir wissen nun, wen Aristophanes verspottet. Die Privatmysterien,
die gerade in Athen heimisch waren, die dort eine Vergangenheit, ja
281 eine literarische Vergangenheit hatten, waren die des Orpheus. Lange
zurückgedrängt machten sie damals wieder gewaltiges Aufsehen mit
ihren Kaöapjuoi und TcXetai und rrepippavTripia. Es wird kaum einen
schrofferen Gegensatz gegeben haben als die bildungsstolzen aufgeklärten
Sophisten und die abergläubischen orphischen Winkelpriester, die über
die Sünde und Unreinheit der Menschen Zeter schrieen.^ Beider Treiben
wird nun hier karrikiert in einem Bilde vereinigt, eine Art komischen
Witzes, die am sichersten zu wirken pflegt und auch von Aristophanes
fast in jedem Stücke angewendet ist. Gerade diese Zusammenstellung
aber war damals besonders zeitgemäß, und der einfache improvisierte
KaGapjuöc mit den paar Steinen wird charakteristisch sein für das Ver-
fahren der Sühnepropheten unter dem niederen abergläubischen Volke,
wie man es vielleicht täglich beobachten konnte. Sie zogen etwa mit
einem Widderfell und ein paar Kalk- oder Gipsstücken umher und
^reinigten' jeden, der sich von ihnen einschüchtern ließ, und sie mochten
sich dann wohl auch durch gestohlene Mäntel oder Schuhe, die sie
mit ihrem frommen Hokuspokus wegbugsierten, bezahlt machen. Gegen
die Anhänger der orphischen Sekte, deren es auch unter den Vornehmen
und Gebildeten genug gab, wendet sich gerade damals auch Euripides
im Hippolytos (v. 953 ff., wo auch von ihren Tpa^MctTa iroXXd die Rede
ist), um diese Zeit werden die Kreter gedichtet sein, in denen sie be-
handelt waren (fragm. 472 N^, 414 verspottet Aristophanes in den
^ Vgl. Eustath. zu II. II 735: Tiravov bk xupiujc Tfiv Kovtav cpaiii^v tö ibiuu-
tikOüc XeYÖ|Li€vov äcßecxov, tö ^v XiGoic KeKaujudvoic X'^oAbec XeuKÖv. IkXtiGti bk
oÖTUJC diTÖ TUJv |Liu0iKüüv Tixdviuv, ouc ö ToO luOGou Zeuc KepauvoTc ßaXibv xar-
^qppuYe" bi aiJToiJC yäp Kai tö ^H äyciv iroXXfic Kauceiuc Kai übe oiov elireiv TiTavuü-
öouc biaTpuqpB^v ^v XiGoic Xctttöv TiTavoc ÜJvo|Lidc0ri oTov iroivnc tivoc TiTaviKfjc
"fevo|n^vT]c Kai ^v auTU).
* Für die Ausdehnung ihrer Propaganda in etwas späterer Zeit ist besonders
lehrreich Plat. Rep. p. 364 E.
über eine Szene der aristophanischen Wolken 123
Vögeln ihre kosmogonischen Lehren (v. 693 ff.).^ Wenn hier, in den
Wolken, Xdoc und Aienp CArip), die in diesen orphischen Systemen
fast immer im Anfang vorkommen, neben den NecpeXai angerufen werden
V. 424, 627, so mag auch darin immerhin ein Seitenhieb auf solche
Mystik zu erkennen sein, so klar ja sonst die Beziehung dieser Partien 282
auf bestimmte philosophische Lehren seit den Ausführungen von Diels
festgestellt ist (Verhandlungen der 35. Philologenversammlung zu Stettin).
Jedenfalls aber - und das ist noch ein wertvoller Gewinn der rich-
tigen Erklärung der Szene - ist das Gebet, das Sokrates spricht, während
er den Dasitzenden bestreut und weiht, eine Nachbildung wirklich liturgischer
Hymnen, wie sie die orphischen Telesten damals gebraucht haben.
V. 263 eu9Ti)LieTv xpn töv TrpecßuTriv Kai xfic euxnc urraKoueiv,
(b b^CTTOT dvaH, djueipTix* 'Ar|p, öc ^x^ic Trjv Tnv iLiexeiupov,
XaiUTTpöc t' AiGrip, cejuvai xe Geai NeqpeXai ßpoviriciKepauvoi,
apÖTixe, q)dvr|T', iL beciroivai, tu» qppovxiCTri juereiupoi.
V. 269 eXGere bf\T\ ui ttoXutiilititoi NeqpeXai, Tujb* eic eiribeiHiv.
cTt' eiT* — ^ —
V. 274 diraKOucaie b€Hd)Lievai Ouciav Kai xoic lepoTci xctp^Tcai.
Man kann noch in der uns erhaltenen Sammlung liturgischer or-
phischer Hymnen, wie sie 5 bis 600 Jahre später im Gebrauch waren,
aber in mancher alten Formel, in manchem alten Kultnamen auf ihren
athenischen Ursprung zurtickweisen^ man kann da noch die Ähnlichkeit
mit der parodierten Nachbildung des Aristophanes erkennen. Zuerst
pflegt die Gottheit angerufen zu werden (hier sind es drei, wie es in
den Mysterienkulten meist drei waren), sie solle erscheinen:
Orph. Hymn. XXXI 6 IXGoit' euineveoviec in" eucpriiioici Xotoici
XLIII 10 ^X0€t' in' ei)(pr|)Liouc leXeidc —
LI 17 ^XGcT in' €ii(pr||aoic lepoic KexapnoTi Ouiauj.
XLVI 8 eucppujv, dXGe, |adKap,K€xapiC)Lieva b' lepd beHai.
^ Nicht zufällig wird es sein, daß im Beginne der Parodie orphischer Kos-
mogonie zweimal öpeOjc gebraucht wird, v. 690 iv' dKoucavTcc irdvra irap' i^mliv
öpe&c TT€pi Tüjv |Li€TeU)pu}v qpuciv oiiJUvu)v T^veciv t€ Geiüv iroxa^ojv t' 'ep^ßouc re
Xdouc Te elböxec öp6u)c ktX. So hier. Wölk. 250, ßoOXei rä Geia irpdT^ar' elö^
vai cacpOüc, äxx' ?cxiv öpGwc; (Herwerden will övxtuc schreiben! Später wird
dann das Wort ebenso bei den Christen gebraucht Clem. AI. p. 844 irpoKaGaipeiv
duö xu)v q)auXujv xal juoxGnpwv boTindxiuv 6id xoO Xötou xoö öpGoO). Das mag
ein Schlagwort der Anhänger orphischer Lehre gewesen sein; sie hatten auch
ihre Orthodoxie.
» Vgl. meine Schrift de hymnis Orphicis (Marburg 1891), in der ich auch
die Sammlung als wirklich im Kult gebraucht erwiesen zu haben glaube,
p. 11, 27, 30 <oben S. 76, 89, 91> u. s.
j[24 Über eine Szene der aristophanischen Wolken.
(XVIP 8 xaiP^'^ öcioic Te c€ßac|uoTc, vgl. XVIII Ende u. s.).^
283 Mit kXij0i u. ä. beginnt oft die Anrufung; der Preis der Gottheit wird
meist wie oben (öc e'xeic — ) mit öc vaieic, e'xeic o. dgl. angeknüpft
(XVII 3, XVIII 6, XXIII 5, XXXII 4 u. s.). eucpr^eixe, euqpimia ecTUj be-
gannen ja fast alle heiligen Handlungen, auch das Opfer (Arist. Acharn.
237, 241 und schol., Vögel 959, Wesp. 868, Thesm. 295, Fried. 433,
Frösche 354: eucprijueTv XP^ beginnt der Hierophant seine Tipöppriac,
der dann die Hymnen an Köre, Demeter und lakchos folgen. Vgl. Calli-
mach. hymn. Apoll, v. 17. Dionys. hymn. 1); mit Absicht werden die Wolken-
göttinnen gerade cejuvai Geai genannt (vgl. Hom. Hymn. auf Dem. v. 1,
486; cejuvd Kötvjc Aesch. Edon. 57 N^), wie v. 316 |U€TaXai Geai (vgl.
Pausan. VIII 31, 1. Soph. OC 683, Sauppe Mysterieninschrift von An-
dania S. 43), beides stehende Bezeichnungen für Mysteriengöttinnen.
Auch Ol TToXuTiinTiTOi NeqpeXtti soll an bestimmte liturgische Formeln
anklingen; man vergleiche Stellen wie öecrroiva TroXuxiiimTe Ar||Lir|T€p
q)iXr| Kai OepceqpaiTa in den Thesmoph. v. 286, iu Tröxvia 7ToXuTi|ur|T€
Ar||LiTiTpoc KÖpri in der Nachbildung des eleusinischen Mystenzuges
Frösche 337, und v. 398 in der Nachbildung ihres Liedes an den lak-
chos "laKxe TToXuTijuriTe.
So wird sich noch manche alte sakrale Formel wiedergewinnen
lassen, mancher Rest hieratischer Überlieferung des 5. Jahrhunderts.
Die Szene der Wolken (namentlich von v. 250 bis zu Ende des Gebets
des Sokrates v. 275) ist als parodische Nachbildung orphischer Weihen
und orphischer Hymnen erkannt. Diese alten Hymnen selbst sind ja
alle verloren: die cavibec, xdc 'Opcpeia KareTpaH^e T^P^c, die Euripides
kannte (Alcest. 968), wird nie wieder eines Menschen Auge sehen; sie
sind lange vermodert. Aus den Denkmälern und Überlieferungen später
Jahrhunderte auf die alte Zeit ohne weiteres zu schließen, ist in keinem
Falle erlaubt. Aber es wird doch noch durch Kombination manches
Stück antiker Liturgie des 5. Jahrhunderts zu erschließen sein, wie ich
es versuchte. Gerade in der Komödie und Tragödie ist noch vieles
derart verborgen; das gilt es zu deuten, zu sammeln und zu verwerten.
* Vgl. auch Thesmophor. v. 312 ff. Nachdem der Keryx sein eOqpriiuia ^ctuu
gesagt und die Namen der Gottheiten genannt hat, singt der Chor der Kult-
teilnehmerinnen:
6exö|uec0a Kai Geoiv y^voc
XiT6|uec0a xaicb' kn eOxaic
qpav^vrac ^TTixapfivai.
Die Weise der Anrufung 'kommt, sei es daß ihr da oder da seid' ist ja in
Hymnen an Gottheiten ganz gewöhnlich. (Hier ist die Reihenfolge der genannten
Orte Nord, West, Süd, Ost!)
VI
DIE GÖTTIN MISE^
Auf eine Göttin, die man bisher kaum beachtet hatte, ist durch eine i
Stelle des Herondas allgemeinere Aufmerksamkeit gerichtet worden.
Im ersten Mimiambos wird eine Prozession der Mise, KdGoboc inc Micric
(v. 51), erwähnt, bei der einer eine junge Frau gesehen und sich in
sie verliebt hat. Als Ort dieser Prozession ist nicht Ägypten - denn
dahin ist der Mann der Frau gerade verreist (v. 23) -, gewiß aber
eine nicht zu ferne Gegend gedacht, die auf dem Seewege von Ägypten
erreicht wurde (v. 68).
Wir wußten schon ^ daß die Mise in den orphischen Kultgemeinden
verehrt worden ist; denn wir haben ein Denkmal dieser Verehrung im
42. Liede des uns erhaltenen orphischen Gebetbuchs. Wahrscheinlich
ist diese Sammlung so wie sie vorliegt in oder um Alexandria zu-
sammengestellt und gebraucht.^ In dem Hymnus wird Mise als eine
mannweibliche Gottheit angerufen und in der wüst mischenden Art
dieser Gebete sogar zugleich als Dionysos und lakchos bezeichnet.*
Solche mannweibliche Gottheiten stellten ja die Orphiker mit Vorliebe
in den Anfang ihrer Theogonien, wie die 'Abpacreia apcevöOriXuc (orph.
Frgm. 36 Abel), einen Odvnc als Z^ujov dppevöGTiXu (orph. Frgm. 38, 62,
73) und andere Wesen. Die einzelnen Gottheiten mit allen möglichen 2
andern gleichzusetzen und so jedesmal die einzelnen, die gerade an-
gerufen werden, zu möglichst weltumfassenden Gestalten auszuweiten,
liegt ja in der Eigenart dieser Gebete; und so wird auch hier Mise als
eine Art Weltenmutter gedacht, gerade wie vorher Demeter (Hymn. 40)
und die Mutter Antaia (Hymn. 41) auch, mit denen sie aber durchaus
1 <Philologus LH (N. F. VI) 1893 S. lff.>
' O. Crusius in den Untersuchungen zu Herond. 17f. 128ff. hat bisher die
Stellen für die Mise am vollständigsten.
» S. meine Schrift de hymnis Orphicis p. 24 <oben S. 87> u. f. Daß die
orphischen Hymnen wirklich gebrauchte Kultgebete sind, hoffe ich eben dort
bewiesen zu haben.
* Denn x' v. 3 einzusetzen ist falsch; das Wesen wird Aiövucoc, Micr\ und
dann auch noch 4 Aüceioc 'laKxoc genannt
126 Die Göttin Mise
nicht zufällig zusammensteht. Von der Antaia wird das Abenteuer in
Eleusis erzählt, das Demeter auf der Suche nach Persephone erlebt
haben sollte. Daß die junirip 'Avxairi eigentlich eine chthonische
Gespenstermutter ist, die sonst der Hekate gleichgesetzt zu werden
pflegt, habe ich früher (de hymnis orph. p. 14 sq. <oben S. 79» aus
dem Gebrauche von cuvdvxTijua (Erscheinung, Gespenst), eudvtriToc
usw. zu zeigen gesucht.^
Hier ist sie, auch als eine Allmutter (v. 2), mit den Zügen der De-
meter ausgestattet, die in Eleusis ihr Fasten auf der Suche nach dem
Kinde aufgab (v. 3. 4) und dann endlich kam
€ic 'Aibr|v TTpöc dYtturiv Oepcecpöveiav
dTVOV Traiba AucauXou 6br|Yr|Tf|pa XaxoOca,
|ur|VUTfip'^ dTiujv XeKxpiuv xöoviou Aiöc dYVoO . .
Nun vergleiche man eine Angabe bei Harpokration s. v. AucauXr|c.
Aeivapxoc ev rf] rrepi rrjc lepeiac biabiKacia ei Tvr|Cioc. 'AcKXr|7Tidbr|c
b' dv b' TpaTqjbou|uevujv tov AucauXriv auiöxOova eivai qprici, cuvoi-
Kricavra be Baußoi cxeiv Ttaibac TTpiuTOVoriv^ xe Kai Micav. So ist
also auch die Mise unter jene eleusinischen Gottheiten eingereiht ge-
wesen als Tochter des Dysaules und der Baubo, denn Asklepiades
berichtet natürlich attisch -eleusinische Sage. Es ist nicht zufällig, daß
3 im 42. der orphischen Hymnen, nachdem im 41. von Demeter-Antaia,
von Dysaules usw. erzählt ist, die Mise gefeiert wird; und die Auf-
zählung ihrer Aufenthaltsorte beginnt dort (v. 5):
eir' ev 'GXeucTvoc lepTiri vrjuj 9uöevTi.
In denselben Sagenkreis gehört die Geschichte, die im 4. Buche der
'€Tepoiou|ueva des Nikandros stand (frgm. 56 p. 63 0. Schneider aus
^ Vgl. bes. Hesych. s. v. 'Avxaia- ^vavxia . . . CTiiuaivei b^ Kai bai|Liövia* Kai
TT?iv '6KdTriv bk 'Avxaiav X^youciv dirö toö ^TTiir^jUTreiv aöxd. So ist doch wohl
auch 'Avxaloc, der furchtbare Erdensohn, aufzufassen, und der Name eines
Silens auf einer alten chalkidischen schwarzfigurigen Vase 'Avxiric (Heydemann
Satyr- und Bakchennamen, 5. Hallesches Winckelmannsprogr. 1880, S. 28), ein
sehr passender Name für den schreckend erscheinenden Berg- und Walddämon.
Auch 'Avxdjuv, Vater des Ixion, mag hierher gehören.
^ Daß dies ein bestimmter alter sakraler Terminus ist, mag aus Pausan. I
14, 3 folgen: ("eirri ^öerai) 'Opqp^ujc bk {o<)bä TaOxa 'Opcp^uuc, ^|uoi boKelv övxa)
GOßouXel Kai TpiirxoXeiuLU AucauXriv uax^pa elvai, |ur|vucaci bl cqpici irepl xfjc
Traiböc boGi^vai uapci xf^c Ari|UTixpoc crreTpai xoijc KapiroOc.
' Sollte nicht vielleicht irpuuxoYövriv zu setzen und ein weibliches Gegenbild
des orphischen Protogonos zu verstehen sein, wie es denn in Attika auch einen
Kult der Köpn TrpiuxoYövri gegeben hat, Pausan. I 31,2. Als Micav ist natürlich
das vficav des Paris. D und Palat. E und Kvicav des Vatic. B zu deuten, was
bereits von Müller FHGr II 339 geschehen ist.
Die Göttin Mise 127
Antonin. Liberal. 24 p. 224), daß Demeter in Attika von Misme in
ihrem Hause empfangen und bewirtet worden sei; ihr Sohn Askalabos
wird wegen seines übermütigen Spottes in eine Eidechse verwandelt.
So sehr man an der merkwürdigen Form Misme auch nach dem, was
wir noch über den Namen der Göttin auszuführen haben, Anstoß nehmen
könnte, die Überlieferung ist durch die Übereinstimmung von Antonin.
Lib. und Lactant. Placid. narr. fab. V 7 geschützt^ -, wer kann ernst-
lich diese Misme und jene Mise trennen wollen? Da liegen Aus-
gleichungen und Mischungen vor, die zu enträtseln alles Material fehlt.
So viel ist klar: früher war es lambe, welche die Demeter empfing,
50 im alten Demeterhymnus: die Göttin war dYeXacToc usw. (v. 202 ff.),
TTpiv Y ÖT€ bri x^€iJTic |Liiv Md|ußr| K6bv' eiöma
TToXXd TTapacKiuTTTOuc' eipeijjaTo irÖTviav, dTvrjv,
lueibfjcai T^Xdcai re xai iXaov cxeiv Gujuöv.
Sie wird auch erst aus andern Demeterkulten übernommen sein und
ist als Dienerin ins Haus des Keleos und der Metaneira gesetzt. Später
«rst drang eine ganz andre Gestalt aus den lasziven Kultgebräuchen
der Orphiker - denn für diese wird sie ausschließlich bezeugt (fr. 215,
216 Abel) - auch dort ein als Amme der Demeter oder als Gattin
-des Dysaules, die nun mit ihm das die Göttin aufnehmende Paar bildet.
Wir wissen, was dies Wesen bedeutet: sie ist selbst ursprünglich nichts
anderes als das, was sie der Demeter zur Erheiterung zeigt.^ Die
maskulinische Form dazu ist ßaußu)v, und man könnte sich recht wohl 4
«inen alten phallischen Dämon Baußuüv denken. Begreiflich genug, daß
das nun aus Herondas bekannte Instrument ßaußiuv hieß.^ Wie die
Baußiu später im Dionysoskult fortlebt, zeigt die Inschrift Mitt. d. ath.
Inst. XV 1890 S. 330, wo eine der Mänaden von Theben, die den
^ Vgl. Näke opusc. II 121; R. Förster Raub u. Rückkehr der Perseph. 82.
Nach ihm soll Mic^r] die „Mischerin" bedeuten, was ganz unmöglich ist.
* Hesych. ßaußiw . . . (Crusius S. 128f.) criiuaivei hä Kai KoiXiav uuc irap'
^eiiireboKXeL Merkwürdig genug, daß gerade bei Empedokles, der so manches
aus Geheimkulten schöpfte, ßaußiü vorkam. In der Tat werden diese Dinge uralt sein.
^ Daß ßaußöv nicht 'schlummern, schlafen' heißt, sollte sich von selbst ver-
stehen. Soph. fr. 165 Nauck* ^ bä upouKaXeixö |li€ ßaußäv ^leG' aöxfic, wo
Eust. Od. 1761, 27 Koi^äcGai erklärt, natürlich in dem Sinne, den es ja auch so
■oft hat. Eurip. fr. 694 ßaußu)|Liev eiceXeövrec, diröiuopSai ceGev xa banpua, wo
Antiatt. 85, 1 1 erklärt dvxl toO KaGeOöeiv, wieder in demselben Sinne, den auch
iür KaGeObeiv jedes Lexikon belegt. Beide Frgm. sind aus Satyrspielen, das
des Eur. aus dem Syleus; da wird Herakles die Xenodike, die Tochter des
Syleus, so anreden (so schon Matthiae). Arcad. p. 149, 13 ßaßo)* tö KaGeObiw.
Also auch ßaßav gibt es (Bekker Anecd. 85 ßaßncoiuev aus des Komikers Kan-
tharos Medea FCO I 765 K) wie Baßiü (orph. Frgm. 216). Daß ßoußOjv u. ä. hier-
her gehört, vermutet Crusius S. 129.
128 Die Göttin Mise
Dionysoskult in Magnesia am Mäander begründen sollen, Baußuj heißt;
wie sie in spätem und spätestem Aberglauben nicht vergessen wird,
zeigen Stellen der Zauberrezeptbücher (pap. Paris. 2201. pap. Brit. 46,
493) und der Zauberlieder, wo Hekate z. B. auch diesen Beinamen
bekommt (Abel Orph. 289 hym. III v. 2).^ Schließlich ist sie dann auch,
wie ein Bruchstück des Psellus berichtet (bei Leo Allatius de graecor.
hod. quorund. opinat. epist. p. 139: evecii Ydp ttoii toTc 'OpcpiKoTc eireci
Baßu) TIC 6vo|uaZ;o|U€vr| baijuujv vuKiepivri, eirijuriKric t6 cxn^ua Kai CKid)br|c
Tr]v uTrapHiv), ein unförmliches Nachtgespenst wie Hekate.
Eine dritte Gestalt in dieser Reihe ist die Mise. Sie ist andersher
gekommen und zunächst, wie es scheint, nur angegliedert als Tochter
des Dysaules und der Baubo; so im Zeugnis des Asklepiades, mindestens
also im 4. Jahrh. Später empfängt sie selbst die Demeter (als Misme),
so bei Nicander. Über ihr Wesen im einzelnen erfahren wir nichts,
nur müssen wir annehmen, daß sie jenen Gestalten ähnlich gewesen
ist. Woher mag sie nach Attika gekommen sein?
In der Aufzählung der Kultstätten der Mise fährt der orphische
Hymnus fort (v. 6), nachdem er Eleusis erwähnt,
ehe Kai ev Opufir) cuv jurixepi iLiucTiiroXeijeic.
Man vergleiche damit Hesych s. v. Micaxic (eine Weiterbildung von
5 MicTi s. u.) Micri^ TU)V irepi xfiv juriTepa Tic, fiv Kai Ö)livuovjci. Es
ist kein Zweifel: Mise gehört danach auch in den Kreis der großen
Mutter. Nun vergleiche man die andre Glosse des Hesych Miba Geöc*
Ol UTTÖ 'Miba ßaciXeu0evT6C eceßovTO Kai uj)livuov Tfjv Miba Öeöv,
fiv Tivec jUTiTcpa auToO eKTeTijaficeai Xefouciv. Auf die Ähnlichkeit
der Angaben brauche ich "nicht aufmerksam zu machen. Aber nun
rückt gar eine Göttin Mida neben Midas als seine Mutter? Man wird
sich der Angaben bei Hygin fab. 191 erinnern, wo Midas filius matris
deae, und fab. 274, wo er Cybeles filius, Phryx genannt wird.^ Die
spätere Verwechslung einer alten Sagengestalt Midas und des Königs
Midas ist ja längst erkannt; sie blickt auch im Anfang der Hesychglosse
durch; aber gerade nach dieser Glosse ist eben auch die Mida als die
Mutter des Midas selbst nichts anderes als ein Name der großen Mutter.
Was ist Midas ursprünglich gewesen? Ist er nicht deutlich ein Berg-
^ Wo nicht mit Dilthey Boinßuü zu ändern ist Rh. Mus. 27, 393.
* MicTic ist überliefert; es kann gar nichts anderes als Micri darinstecken.
' Auch Diod. III 59 wird der 'König* Midas in enge Beziehung zur großen
Mutter gesetzt, der er ganz besonders glänzende Feste feiert. Ihren ersten
Tempel in Pessinus hat er erbaut.
Die Göttin Mise 129
und Waldgott, in tierischer Gestalt\ über dessen Eselsohren erst die
lustigen Griechen spotteten?^ Auch die Silene, die Pferdedämonen,
findet man ursprünglich gerade, wo die BpuTec, BeßpuKec und ^puTCc
wohnen, und ihre Namen auf den ältesten Vasen sind charakteristisch
genug "Opeioc "Ittttoc 'iTTTraToc u. dgl.^ Nun, die große Bergmutter ist
die Pein = opein* '\bai^ (ihr] Waldgebirge) und ebendahin gehört es,
daß "iTTTTtt nicht nur eine phrygische Nymphe am Tmolos ist, die Amme
des Bakchos, sondern ein Name der Göttermutter selbst. Der orphische
Hymnus 49 ruft sie an
X0OVIT1 |uf]Tep, ßaciXeia,
€Tt€ cO t' ev Opu^iri Katexeic "Iötic öpoc dTvöv,
fj TfiujXoc TepTrei ce, xaXov AuboTci Oöac|ua.
Ja, eine Inschrift aus Kula lautet: MHTPI ITTTA (= "Itttt«) KAI AIGI 6
C(aßaZ:iiu).^ Diese Andeutungen werden hier genügen, das Wesen der
Gottheiten deutlich zu machen. Midas und Mida gehören zusammen,
und es ist verständlich, wenn ersterer, nachher freilich immer mit dem
König verwechselt, Sohn der großen Mutter heißt. Bald verschmolzen
ja die orgiastischen Kulte der großen Mutter mit dem Dionysoskult in
Kleinasien, Midas wird TrapdciTOc, GiacuuiTic des Dionysos, und es ist
auch in seinem Wesen tief begründet, wenn er luexeTxe toO xdiv caxu-
pujv T^vouc ibc ebriXou xd uixa (Philostr. vit. Apoll. VI 27). So hat er
denn auch in die orphischen Kulte und Mythen seinen Weg gefunden,
Midas heißt ein Schüler des Orpheus ^cui Thracius Orpheus orgia
tradiderat' (Ovid Metam. XI 92 cf. Phot. Bibl. p. 130. Justin XI 7 Clem.
Coh. p. 10 B). Sogar die gewöhnliche Geschichte von Midas als dem
Schiedsrichter zwischen Apollon und Marsyas und der Entstehung seiner
Eselsohren wird aus einer orphischen Theogonie zitiert (Mythogr. Vat.
III 10, 7 Orph. Frgm. 310).
Es wird nach allem diesem sachlich außer Zweifel gesetzt sein, daß
Micn und Miba, die uns beide in gleicher Weise nach Phrygien in den
^ Vgl. Ernst Kuhnert Zs. der deutsch, morgenl. Gesellschaft 40, 549, wo
sogar die Identität des Midas und des Buenos dargetan werden soll.
* Vgl. Erdmannsdörffer, das Zeitalter der Novelle in Hellas 27 f.
» S. Heydemann Satyr- u. Bakchennamen a. a. O. S. 23, 36, 37 (dort wird
auch verglichen Festus p. 182, 30 Müller: Oreos Liber pater).
* O. Crusius Beitr. zur Mythologie 26.
^ MouceTov k. ßißXioGriKri xfic eöarfeX. cxoXnc ^v Cjiiupvr) 3 p. 169 nr. x^ß',
s. F. A. Voigt in Roschers Lex. I 1085. Auch die Hippa spielt bei den Orphikern
noch eine große Rolle. Sie setzt das mit einer Schlange umwundene XCkvov
auf ihr Haupt. '€iT€iT6Tai yäp irpöc tV^v |nr]T^pa xuiv GeiJüv Kai ti^v "Ibriv, d<p' r\c
wäca TU)v i|;uxOüv ceipd. Die Neuplatoniker allegorisieren sie sogar als die Welt-
seele. Orph. Fragm. 207 Abel.
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 9
130 Die Göttin Mise
Kreis der großen Mutter wiesen, dieselbe Gottlieit sind. Kann denn
aber sprachlich Micri und Miba gleichgesetzt werden? Im griechischen
wäre ein solcher Wechsel von b und c wohl kaum denkbar. Es gibt
aber Schreibungen wie Mrixpi Zi^ijurivr) = M. Aivbu)ur|VT) (Laodicea.
Athen. Mitt. XIII 287 n. 9; vgl. Nabiavböc und NaZ:iavZ:6c Philostorg.
histor. eccl. VIII 11)\ wo l gewiß nur den tönenden s-Laut bezeichnen
soll. Jedenfalls sind Miba und Micr) die verschiedenen griechischen
Auffassungen eines fremden Wortes. Midas ist sicher ein fremder
Name; er ist immer ö OpuH und Mibac ist in Athen stets ein Sklaven-
name, ein ausländischer, phrygischer Name.^ Der fremde Laut, den
7 die Griechen einmal durch c, das andremal durch b wiedergaben, wird
tönendem englischen th ähnlich gewesen sein.^ Man kann das ja in
keiner Weise kontrollieren: man kann hier mit dem heutigen Material
keinen Schritt weiter kommen. Das darf uns aber nicht hindern, zu
behaupten, daß Micri und Miba die ursprünglich gleichen Namen einer
Gottheit sind. Ich hoffe es sachlich bewiesen zu haben; zu lautlicher
Erklärung wird sich vielleicht in Zukunft neues Material finden.
Ist also Mida und Mise dieselbe Göttin, so kann man nun auch
besser verstehen, daß in dem orphischen Hymnus gerade die Mise als
mannweibliche Gottheit gefeiert wird wie die große Mutter so oft
(namentlich als Agdistis), und daß sie so parallel neben der Antaia
steht, ^der vielnamigen Mutter der Götter und Menschen', die angefleht
wird (v. 10) eXGew eiidviTiTOC irC euiepiu ceo inucxr); denn Mriirip Geoiv
eudvTrjToc ist der stehende sakrale Name der phrygischen Gottheit
gerade in ihrem Kult im Peiraieus.* Die phrygische Rhea war schon
frühe nach Athen gekommen. Im Demeterhymnus glaubt man deutlich
zu erkennen, wie der neue Kult in die eleusinischen Mysterien ein-
geschoben wird: Peirj wird zu Demeter als freundliche Botin gesandt
(442 ff.), sie betritt dort zum erstenmal die Erde (458). In dem merk-
würdigen Liede der euripideischen Helena (1301 ff.) wird der Haupt-
mythus von Eleusis, das Suchen der apprixoc Kopr), das Ende des
Fastens usw., von der großen Mutter erzählt. Sie wird gar nicht mehr
von der Demeter getrennt. Dem Liede sieht man an, daß es die
1 Bei Kühner- Blaß S. 279 § 67, 5 'ApRadönc Obige Beispiele verdanke
ich Wilhelm Schulze.
=* Mavfic Mibac irXuvfjc CIA II 1327 Mibac mit dem Beisatz \px\(:t6c^ das den
Sklaven bezeichnet. CIA II 3449 u. s.
' Brugmann gr. Gr. § 34, wo er über spirantische Geltung für 8 spricht,
'wobei es zweifelhaft ist, ob c ein ungenauer Ausdruck für ]> war, auf den
Fremde, denen p gegenüber ihrem einheimischen th auffiel, leicht kommen
konnten' usw. * Foucart des assoc. relig. chez les Grecs p. 201 f.
Die Göttin Mise
131
Nachahmung eines eleusinischen Kultgesanges ist.^ Die Aufnahme der
Rhea in Eleusis liegt also deutlich genug vor, und ihre Genossin Mise
ist mit ihr gekommen und eingereiht worden, wie es oben bereits ge-
zeigt wurde. Daß sie unzweifelhaft schon vorher eine besonders
laszive Gestalt geworden war, wird bei einer Göttin des ausschweifenden
Kultes der phrygischen Bergmutter niemanden wundernehmen.^ Der
Übergang in die orphisch- dionysischen Kulte war sowohl in Athen, wie 8
in Kleinasien selbst, nach allem Gesagten ganz natürlich. In Alexandria
blühten diese Kulte in späterer Zeit ganz besonders: da tritt uns die
Mise wieder entgegen als hochverehrte Göttin.
Aber sie wandert noch viel weiter. Plutarch berichtet im Leben
des Cäsar c. 9 bei Gelegenheit des bekannten Skandals am Feste der
Bona Dea ausführlicher über diese Göttin. Ich muß einen Teil dieser
Ausführung hersetzen: ecii he Kai Tujjuaioic Geöc, fiv 'ATaGriv 6vo|Lid-
louciv, ujcTrep "GX\tiv€c fuvaiKeiav. Kai OpuYCC |uev oiKeiouiuevoi
Miba jUTiT^pa toö ßaciXeujc T€vec0ai qpaciv, Tm)LiaToi be NujuqpTiv
Apudba, OaOvuj cuvoiKrjcacav, "€\\r|V€c be tujv Aiovucou luriTepuüv
Tfiv appr|Tov, Ö0€v djUTreXivoic re idc CKr|vdc K\r||uaciv eopxdZioucai
Kaiepeqpouci, xai bpdKiüv lepöc TrapaKaGibpurai rrj 8euj Kaid töv
)Li06ov . . . auiai be KaG' eauidc ai fuvaiKec TroXXd xoic 'Opcpi-
Koic öjLioXoToOvTa bpdv XeTOVxai Trepi rriv lepoupTiav. Da
finden wir eingedrungen in den Kult der Bona Dea und mit ihr ver-
einigt die Miba Oeöc — die Herkunft aus Phrygien wird noch aus-
drücklich betont -, von der Hesychius anführt oi uttö Miba ßaciXeu-
Gevrec eceßovxo Kai ujjuvuov xr]V Miba Geöv, f^v xivec inrixepa auxoO
eKxexijaficGai Xe^ouciv, und man gedenkt des Verses des Mise-
hymnus d^vriv x' euiepöv xe Micriv, dppnxov dvaccav. Plutarch be-
merkt eben nur, was ihm sehr merkwürdig vorkam, daß diese Göttin
die Mutter des Königs Midas sein sollte, von dem die alten Erzählungen
allbekannt waren; den betreffenden Kultnamen nennt er nicht. Möglich
ist, ja wahrscheinlich, daß ihre Kultbezeichnung Miba iir\Tr]p war; das
hieß eben auch „Mutter der Midas". Daran schlössen sich die ganzen
Midasgeschichten und das erschien dem Berichterstatter bemerkenswert.
Ausdrücklich wird gesagt, daß die Frauen „unter sich" es trieben wie
in den orphischen Mysterien; natürlich bezieht sich das auf die obszönen
^ Im übrigen reicht ja der Bau des latiTpuiov vielleicht ins 6. Jh. Pindar
verehrte die große Mutter und setzte sie gelegentlich der Demeter gleich,
Isthm. 6, 3. Vgl. Preller gr. M. 512.
^ Alle solche ursprüngliche Berg- und Walddämonen haben diesen Zug;
man denke nur an die stets phallischen Siiene.
9*
i32 D^® Göttin Mise
Dinge, wie sie in den dionysisch -orphischen Geheimkulten im Schwange
waren. Und die waren nun immer mehr in den Kult der Bona Dea
eingedrungen. Die ausschweifenden bakchischen Orgien, die schon
einmal eine Gefahr für den Staat geworden waren, hatten sich hier
wieder einzuschleichen gewußt, und wir sehen sie von Cicero bis Ju-
venal sich zu frechster Unsittlichkeit steigern. Wie an den Namen der
altrömischen Göttin griechischer Kultgebrauch sich anschloß, ist bekannt.
9 Wie bald gerade die orphischen Mythen eindrangen, ist nun deutlich
zu sehen. Die Geschichte, wie Faunus seiner Tochter, der Bona Dea,
die ihm nicht zu Willen ist, in Gestalt einer Schlange sich gesellt, hat
die genaue Parallele an der orphischen Tradition von Zeus, der die
widerstrebende Rhea oder auch seine Tochter Persephone in Gestalt
einer Schlange vergewaltigt.^ Diese Bona Dea ist ja bald mit Rhea
und Kybele, bald mit Proserpina bei den Römern gleichgesetzt worden,
wie sehr früh schon mit Demeter.^ Damia wird sie ja selbst genannt.^
Die enge Vereinigung der Mysterienkulte all dieser Gottheiten in späterer
Zeit mag statt anderer Zeugnisse eine Inschrift aus Rom zeigen GIG
6206, jetzt Kaibel IGSI 1449:
KeT|aai AiipriXioc 'Avtuüvioc 6 Kai
lepeuc Tdjv[b]e Geiuv irdvTUJV, Trpujxov Bovabiric
eiia )Lir|Tpöc Geujv Kai AiovOcou Kai 'Htciuövoc,
fiYejuüJV ist lakchos und nach Strab. X 468 dpxriT^TTic tOuv |LiucTTipiu)v
TTJc AriiuTiTpoc. Der Priester dieser Gottheiten, dem die Grabschrift
gilt, ist ein Knabe von 7 Jahren. Natürlich war es ein synkretistischer
Kult, dessen Bestandteile uns durchaus verständlich sind. Welche
Bedeutung in jenem zügellosen Geheimdienst der römischen Bona
Dea die Mida gehabt haben mag, kann die Mise von Eleusis erraten
lassen.
Das sind die Spuren, die wir von der Wanderung der seltsamen
Göttin haben. Aber es gibt vielleicht noch andre Anzeichen ihrer
Existenz, die verborgener sind. Weiterbildungen hat die Sprache von
* Macrob. I 12, 24: nee non eandem Fauni filiam dicunt obstitisseque volun-
tati patris in amorem suum lapsi, ut et virga myrtea ab eo verberaretur, cum
desiderio patris nee vino ab eodem pressa cessisset. transfigurasse se tarnen
in serpentem pater creditur et coisse cum filia. Dazu z. B. Athenag. leg. pro
Christ, p. 295 d (fragm. orph. 41): Kai öti (Zeuc) ti^v lurjT^pa P^av diraYopeOoucav
aÖToO TÖv Y^l^ov ^biuüKe* bpaKaivr]c ö' auxfic Y^voiLi^vric Kai auxöc etc bpdtKovxa
^exaßaXiJbv - k^v(Y\ . . . eTG' öti Oepceqpövr) xf^ GuTaxpl ^|uitti, ßiacdiuevoc Kai
xaOxTiv ^v bpdKovxoc cxr^axi . . . Man beachte auch, daß nach der angeführten
Plutarchstelle bpdKiwv iepöc TrapaKaOibpuxai x^ Geip Kaxd xöv |li09ov.
« S. Peter in Roschers Lex. I 791, 943. ^ S. O. Crusius Philol. 49, 675.
Die Göttin Mise 100
MicTi gestaltet wie jenes Micaxic bei Hesychius s. v. Es hat eine ähn-
liche Gestalt bezeichnet, vielleicht auch eine Priesterin der Göttin oder
eine ihr Ergebene. Auf eine andre Bildung hat schon O. Crusius auf-
merksam gemacht. Er verweist (Unters, zu Herondas 130 Anm.) auf
das Kratinfragment:
jLiiCTiTai be T^vaiKec oXicßoici xpncoviai.
'Ist die Vermutung erlaubt, daß Mtcn damit im Zusammenhang steht 10
und eine andre Baubo bezeichnet?' fragt er. Das letztere ist für ge-
wisse Kulte sicher. Aber es gibt noch mehr als diese Kratinstelle und
die Erklärung bei Photius s. v. )Liicr|TTi, nach der es tx\v Kaxacpepfi be-
zeichnet. Das weitere gilt es zunächst vorzulegen.
Aristoph. av. 1620 — Kai judTTobibuj luiCTixia.
Dazu schol. inicriTiav he 01 juev Tiepi 'Apicxocpdvri xr]v eic xd d9pobicia
dKpaciav xai xö 'irepi ctpupöv iraxeTa |Liicr|xfi T^vrj* ouxwc eHriYoOvxai.
)Lir|Troxe juevxoi TCviKUJxepöv ecxiv drcXricxia, o Kai vOv ejucpaivexai.
Aristoph. Plut. 989:
Ktti xaöxa xoivuv oux ev€Kev luicrixiac
aiTcTv \x ^cpacKev, dXXd cpiXiac eiv€Ka.
Dazu schol. oux €V€Ka xoO uTTTipexeiv |liou xrj dceXTCia . . juictixia . . .
xö eic xdc cuvouciac eueTiiqpopov.
Pollux VI 189 gibt außer andern Synonymen epujxojuaviuv Kai ö
|Liicepu)C^ Kai |Liicr|xöv luevxoi 01 kuj|uikoi KaXoöci Kai |Liicr|xriv xf)v
judxXov ... xö be TupdTiLia XaTveiav, dceXTtiav, dKoXaciav,
euxepeiav, luaxXocuvriv, ^xaipriciv, rropveiav, luiCTixiav.
Suidas s. v. |uicr|xr| . xfiv Kaxaqpepf] )Liicrixr|v eXe^ov, ou Tiapd xö
ILiTcoc dXXd irapd xö juicTecGai. Es folgt auch da das Kratinosfragment
und ähnliche Erklärung wie die obige. Etwa das gleiche steht bei
Hesychius s. v. |uicr|XTi.
Will etwa jemand diesen antiken Erklärungen gegenüber im Ernste
behaupten ^icrixöc, i^iCTixri, juicrixia gehöre zu iniceTv 'hassen'? Schon
die alten Grammatiker haben beide scharf getrennt, auch in ihrer
Weise dem so Ausdruck gegeben, daß sie |uicr|xri und juicnxn nach den
beiden Bedeutungen differenzierten.^ Sie wußten und fühlten, daß es
einander völlig fremde Worte seien. Daß ihnen aber die Herkunft des
* ILiicTiv^piuc gab Dindorf. Nach freundlicher Mitteilung Erich Bethes hat
der Falkenburgianus in Salamanca (F), 'der beste und reichste Codex' ^pujxuj-
^ava»v (sie) Kai ö laicepiuc (sie) xal luicriTÖv judvroi . . . Die Umgebung macht
es auch hier schwer, den ersten Bestandteil von ixicipwc zu laiceiv zu stellen.
2 Belege bei Kock a. a. O. Dazu Thom. ecl. p. 617 }jLicr]Ti] xal luicouc dHia
Tuvr\* |Liicr]TT] 6^ ßapuxövujc f) Kaxacpepric
134 Die Göttin Mise
einen Wortes ganz fremd war und sie es nicht zu deuten wußten,
U zeigt, daß sie auf eine Ableitung von )LiiCTec9ai verfielen; und es ist
lehrreich, wie in einigen Handschriften sowohl des Aristophanes als des
Pollux an den betr. Stellen sich ein luicTTixiac, juicYnTiav, juicttittiv
findet.* Ein ixicr]Tia usw. hatte für sie keinen griechischen Klang, wenn
es die Bedeutung haben sollte, die sie doch an den betreffenden Stellen
brauchten. Sollen wir nun wirklich so kühn sein zu behaupten, daß
ILiicnTÖc, juTcTiTri, luicTiTia zu MicTi gehöre? Aber gerade weil Micri für
die Griechen ein fremder Klang und Name war, in dem sie keine
Wurzelbedeutung unmittelbar fühlten, kann eine sonst unmöglich
scheinende Bildung nicht ohne weiteres abgewiesen werden. Und eine
Ausgleichung eines von Mtcrj gebildeten Wortes (Von der Mise er-
griffen, besessen'?) an juicriTÖc von iLiiceiu ist eine in diesem Falle
durchaus wahrscheinliche Annahme. Aber ich bemerke ausdrücklich,
daß ich die formalen Schwierigkeiten nicht verkenne und als sicher
nur hinstellen will, daß jene Worte in jener Bedeutung unmöglich mit
)LiTceu) zusammengestellt werden können und, soviel ich sehe, aus dem
Griechischen überhaupt undeutbar sind.
Wäre aber die angedeutete Ableitung richtig, so würde sich freilich
jener Kratinosvers luicrirai be T^vaiKcc oXicßoici xpncovxai d. h. ßaußüjvec
werden sie benutzen, erst recht verstehen lassen, und die |Liicr|Tai wären
dann so recht die Besessenen von jener Göttin, die gewiß damals schon
nach Athen importiert war. Ja, Kratin könnte hier, wie sonst so
manchmal die Komiker der Zeit den Kotyttokult, die Bapten, die Metra-
gyrten, die Orphiker, die Kybeben (wer kann z. B. auch Kußrißoc er-
klären, das bedeuten soll 6 Kaxexöjuevoc xri ixryTpi tujv OeüuV 0€O(pöpr|Toc ?
Phot. s. V.) und solche fremden Kulte verspotteten, das schlimme Treiben
im Dienste der aus Phrygien im Kreise der großen Mutter gekommenen
Mise brandmarken wollen. Man verlangt doch eigentlich für das
|uicT]Tai in dem Verse eine solche ganz bestimmte Bedeutung. Und
sollte gar Bergk recht haben, der den Vers irepi cqpupov iraxeTa jLucrjTf]
Tuvri mit einigen andern Zeugnissen kombiniert und auf Archilochos
zurückführen wilP, so hätte die Mise auch schon in den obszönen
12 Spöttereien des Demeterkults der Inseln eine Rolle gespielt, auch da
schon eine Genossin oder Stellvertreterin der lambe wie dann zu
Eleusis. Das wäre der Weg von Phrygien nach Attica.^
' Vgl. in dem oben angeführten Plutosscholion: ^iicriTiac- laiHeuuc, cuvacpeiac,
duö Toö liicTiw hä MicYnTia xal Mictixia. * PL II p. 729 (434).
' <Auch bei Herondas scheint der Baubon zu dem Apparat verrufener
Kybele- Demeter- Mysterien zu gehören, wie ich schon Unters. S. 130* an-
Die Göttin Mise J35
Aber das letztere sind nur Vermutungen unsicherster Art. Als ein
weiterer Kultort der Göttin wird im orphischen Hymnus, zu dem wir
so am Ende zurückkehren, außer Ägypten in den letzten Versen, wo
sie zur Tochter der Isis wird, Kypros genannt (v. 7):
fj KOiTpuj xepTrri cuv eucTecpdvtu KuGepeiri.
Es ist ja bekannt, wie sehr die große Mutter mit der kyprischen
Aphrodite verschmolz; und daß die Gestalt der Mise, wie sie sich
später entwickelt, der Aphrodite sich leicht gesellen mochte, ist nur
zu natürlich. Im Kreise der großen Mutter wird sie auch nach Kypros
gekommen und dort mit und neben Aphrodite verehrt sein. Eine
KotGoboc einer solchen Mise -Aphrodite wäre gewiß die passendste, bei
der sich im ersten Mimiambus des Herondas Gryllos in die schöne
junge Frau verlieben könnte. Sollte die Szene des Gedichts in Kypros
gedacht sein? Die Insel stand in der Ptolemäerzeit in engster Be-
ziehung zu Alexandria und war politisch abhängig von Ägypten.^ Jeden-
falls aber werden wir den tiefern Bezug der Herondasstelle, von der
wir ausgingen, nun erst erkennen können. Der Umweg wird nicht zu
weit gewesen sein, wenn wir haben beweisen können, wie der Kult
einer fast verschollenen Göttin durch die antike Welt wandert: Phrygien,
Athen, Alexandria, Rom.
genommen habe; wenigstens stimmt dazu gut 1) die ganz übertriebene Heimlich-
tuerei im sechsten Mimus; 2) V. 30 ff. Kai TaTci yi-f\ bei {= ßeßrjXoic), - 'Abpricxeia;
3) die Bezeichnung des öXicßoc mit ßaußtüv (zu Baußuu); 4) der Name MnTptJÜ
(von der laeTdXri MnxTip), wohl auch KopimO, vgl. Unters. 69*. 0. Cntsius.y
* Eine Prozession von Paphos nach Palaipaphos von ävbpec ö|uoO y^vaiBv
CUVIÖVT6C Kai ^K TU)v äWwv TüöXeuuv erwähnt Strabo p. 683. Kult der Aphrodite
und Isis ist für Kypros mehrfach bezeugt; z. B. für Soloi Strab. 1. c. Gewiß
aber spielt die Szene auf einer der nahen Inseln, und wenn, wie sonst nahe
läge zu vermuten, auf Kos, so kann die Mise auch da an den Aphroditekult
angeschlossen gewesen sein, der dort vorhanden war (z. B. Paton and Hicks
Insc. of Cos 155, 369, 387 u. s.). <Auch Demeter und Kybele sind in Kos vor-
handen; einmal heißt Rhea Geßacrri (119, 6), wie Demeter (411). Kos hat jeden-
falls mehr Chancen. Crusius.>
VII
AISCHYLOS'
1065 Aischylos, des Euphorion Sohn aus Eleusis, der Tragiker. Für das
äußere Leben des A. dienen als Quellen zunächst ein ßioc im Medi-
ceus, in dem Nachrichten aus verschiedenen Quellen und von sehr ver-
schiedenem Werte durch eine nachlässig redigierende Hand vereinigt
sind. Zitiert wird in dem ßioc selbst €k ttic iiiouciKfic iCTopiac (§ 17),
und damit ist wahrscheinlich das Werk des jüngeren Dionysios von
Halikarnassos gemeint; außerdem wird Dikaiarchos angeführt (§ 13).
Anderes mag auf Chamaileon zurückgehen, der rrepi AicxijXou (Athen. I
22a. IX 375 f. X 428 f.), oder auf Herakleides Pontikos, der irepi tOjv rpiOuv
TpaTLuboTToiLuv geschrieben hatte (Laert. Diog. V 88). Eine analoge
Kompilation ist der erhaltene ßioc des Sophokles. Außerdem ist ein
sehr dürftiger Artikel des Suidas vorhanden und vereinzelte Noten bei
den Schriftstellern. Alles das ist zusammengestellt von Fr. Scholl vor
Ritschis Ausgabe der Septem adv. Thebas, Leipz. 1875 (danach die
Zitate). Der ßioc ist auch den meisten Ausgaben beigegeben.
Das Todesjahr allein steht urkundlich fest: Ol. 81, 1 == 456/5, Marm.
Par. ep. 59. Schol. Arist. Acharn. 10. Nach dem Marm. Par. war er
69 Jahre alt, als er starb, und 35, als er bei Marathon mitkämpfte
(ep. 48): das ergibt Ol. 63,4 = 525/4 oder Ol. 64,1 = 524/3 (vgl.
Susemihl index schol. Gryph. Winter 1876/7 S. 4 f.) als Geburtsjahr.
1066 Dazu stimmt Suidas, da man in dem Satze nT^viZiexo b" auröc ev Trj
o' 6Xu)LiTridbi eTUJV ijv Ke' das für 0 emendierte 0 für sicher nehmen
darf; vgl. s. TTpaTivac dvrriTUJviZieTO AicxvjXuj re Kai XoipiXuj em xfic
eßbojUTiKocTfic e' 6Xu|LATTidboc. Dann kann dort auch die Angabe, daß
A. 58 Jahre alt gestorben sei, nur ein Schreibfehler sein (vr|' statt Hn';
so schon G.Hermann opusc. II 161). Dagegen sind die Zahlen der
Vita teils auf jeden Fall unsinnig (§ 3 cuvexpövnce hk TTivbaptu TeToviüc
KttTot Tfiv ja' 6Xu|LiTTidba; ebenso die Angabe in der Sophoklesvita fjv öe
AicxuXou veiuTepoc eieciv V [bcKaeTTid Paris. 2711], wenn Soph. geboren
^ <Real-Encyclopädie von Pauly-Wissowa, Aischylos 13, Band I Sp. 1065 ff. >
Aischylos 1 3-7
sei Ol. oa'), teils unkontrollierbar und jenen oben gegebenen einander
ergänzenden Ansätzen gegenüber immerhin verdächtig (§ 12 eßiuj be
eiTi Ht'), allesamt daher für uns unbrauchbar.
A. war ein geborener Athener aus dem Demos Eleusis. Wie be-
deutsam es war, daß er an der Stätte der Mysterien aufwuchs, in die
er natürlich eingeweiht wurde, deutet auch Aristoph. Frösche 886 f. an:
AniuriTep f] Gpeiiiaca xfiv e|ufiv cppeva eivai |ue tiuv cujv ctHiov luucTTipiiüv.
A. war aus einem Eupatridengeschlecht. Sein Vater hieß Euphorion
(Vit. § 1 u. 10. Herod. II 156 u. s.). Ein Bruder wird Kynegeiros ge-
nannt (Vit. § 1. 4. Suid.), der mit ihm zugleich bei Marathon gekämpft
habe, und da bei Herod. VI 114 ein Kynegeiros, der bei Marathon fällt,
Sohn des Euphorion heißt, wird dies der Bruder des A. sein. Ein
Ameinias, der bei Salamis mitgekämpft habe, wird in der Vita § 4 und
bei Suid. Bruder des A. genannt, aber Herodot (VIII 84 u. 93) nennt
den Ameinias, dessen Taten bei Salamis er erwähnt, TTaXXriveOc. Zu-
dem ist verdächtig, daß eine ältere Schicht der Vita nur den Kynegeiros
nennt (§ 1), und es ist immerhin das wahrscheinlichste, daß ein Bruder
des A. Ameinias hieß und mit dem berühmten Krieger zusammen-
geworfen wurde (so zuerst G. Hermann opusc. II 166); das war bereits
geschehen bei Diod. XI 27, 2. Aelian v. h. V 19 (wo als Kriegstat des
Ameinias bei Salamis erzählt wird, was Kynegeiros bei Marathon getan
hatte). Themistocl. ep. XI 751 Herch. Aristodem. I 3 p. 2 Müller. Ein
Bruder Euphorion, den Suidas zu nennen schien, ist nicht einmal von
diesem irrtümlich angenommen worden; es liegt nur ein Versehen der
Überlieferung vor (AicxOXoc 'A6r|vaToc, xpaTiKÖc, möc |uev Guqpopiuuvoc,
dbeXqpöc b' 'A|Lieiviovj G\jcpopiujvoc Kai Kuvai"f€ipou ... da ist das zweite
Gu90piujvoc wohl törichte Wiederholung des Vaternamens, keinesfalls
kann es einen dritten Bruder bezeichnen sollen). Eine Schwester des
A., deren Name nicht genannt wird, war mit Philopeithes vermählt und
ward die Ahnmutter einer ganzen Tragikergeneration (Schol. Arist.
Vög. 282). Söhne des A. waren Euphorion und Euaion (nach anderen
Hss. Biujv).
An den Hauptschlachten der Perserkriege nahm A. teil. Daß er bei
Marathon mitkämpfte und sich auszeichnete, bezeugt die Grabschrift,
die er selbst verfaßt haben sollte, (Vit. § 10. Paus. I 14, 4. Athen. XIV
627 c) auch Marm. Par. ep. 48. Vita §4. Suid. u. a. Die Teilnahme an
Salamis ist sicher allein durch das Zeugnis des Ion (Schol. Pers. 429);
Artemision ist hinzugefügt bei Paus. I 14, 5; Plataiai gibt nur die Vita
an (§4). Die Vermutung von Blaß Rh. Mus. XXIX (1874) 481 ff., daß 1067
A. 476 mit in Thrakien gewesen sei zur Eroberung von Eion, weil er
138 Aischylos
in den Persern Bekanntschaft mit der Gegend zeige, ist nicht nur nicht
beweisbar, sondern geradezu unwahrscheinlich (s. u.).
Dagegen hat A. mehrere Reisen nach Sizilien gemacht. Wenn man
die Nachricht der Vita (§ 8) eXGiJuv toivuv eic CiKeXiav ' lepwvoc töte
Tf]V AiTvriv KTiZiovTOC errebeiHaTO xdc Alxvaiac oiujviZ^öjuevoc ßiov dfaGöv
ToTc cuvoiKiZiouci xnv TTÖXiv geuau nimmt - und sie wird durch das,
was man sonst von den Aiivaiai weiß, nur bestätigt, — so muß A. dies
Sttick in dem GrOndungsjahr Aitnas Ol. 76,1 == 476/5 oder doch kurz
darauf dort aufgeführt haben. Ol. 76,4 = 472 war A. in Athen und
führte die Perser auf. Zwischen 471 und 469 ist er wieder in Syrakus
gewesen (Christ Sitzungsber. Akad. München 1888 I 371 ff.), und hat
jedenfalls in dieser Zeit die Perser dort zum zweiten Male aufgeführt.
Denn die syrakusische zweite Aufführung bezeugt nicht nur die Vita
(§ 16) 9aciv ijTTÖ 'lepujvoc otHiujGevTa dvabibdHai touc TTepcac, sondern
auch Eratosthenes und Herodikos nach Schol. Arist. Frösche 1084 (der
dasselbe sagt, ohne daß bebibdxöai in dvabebibdxOai zu ändern wäre);
Schönemann Rh. Mus. XLII (1887) 467ff. Sicher ist ferner nach allen
Quellen, daß A. in Gela in Sizilien starb (Ol. 81,1 = 456/5); Ol.
80,2 == 458 hatte er noch in Athen die Orestie aufgeführt. Mehr wissen
wir nicht über die Reisen des A. nach Sizilien (G. Hermann opusc. II
144 ff. behauptet vier Reisen). Die Alten erzählen von den mannig-
fachsten Motiven, warum er Athen verlassen (fast alle nebeneinander
in der Vita). Daß er verbannt sei, weil bei dem Wettkampf mit Pratinas
die iKpia eingestürzt seien Ol. 70,1 = 499 (Suid. s. AicxiiXoc und s.
TTpaTivac), ist ein albernes Histörchen. Daß er nach einer Niederlage gegen
Simonides ev tuj eic xouc ev MapaGuuvi xeGvTiKÖTac eXeYeiuj (Vita § 6)
489 gegangen sei, ist schon deshalb undenkbar, weil ihn zuerst Hieron
einlud, der 478 ans Ruder kam. Eine parallele Tradition gleichen Wertes
(xaid Tivac . . ., jene andere Kaid be eviouc daneben in der Vita § 6)
ist die, daß er Ol. 77,4 = 468, erbittert durch einen Sieg des jungen
Sophokles, gegangen sei, eine Geschichte, die überdies mit der Erzählung
von dem ganz unmöglichen Preisgericht der 10 Feldherren (Suse mihi
a. a. 0. 10 ff.) zusammenhängt. Auch nur eine richtige Tradition über
die Zeit einer Abreise daraus entnehmen zu wollen, würde schon die
Tatsache verbieten, daß A. im folgenden Jahre die ' GiTTd-Trilogie in
Athen aufführte. Weiterhin wird sein Weggang mit einer Anklage
dceßeiac in Zusammenhang gebracht: Aelian v. h. V19: AicxOXoc 6
TpaTtuböc iKpiveio im tivi bpd)LiaTi etc. Auch Aristoteles deutet solches
an Eth. Nicom. III 2 p. 1 1 1 1 a, wo als Beispiel für den Fall, daß jemand
bei einer Handlung nicht das Bewußtsein habe, eine Gesetzesübertretung
Aischylos log
2U begehen, leichthin angeführt wird: n ouk eibevai oxi diröppriTa fjv,
uJCTiep AicxuXoc xct mjCTiKot. Kommentatoren ([Eustratios] zu Arist. a. a. 0.
nach Herakleides Pontikos) und Spätere haben das dann des weiteren
ausgeführt und jedenfalls ausgeschmückt, sie erzählen von einem Auf- 1068
rühr im Theater, bei dem man den A. habe lynchen wollen, von einem
Prozeß vor dem Areopag (Clem. Alex, ström. II 14 . . . dcpeieri eTiibeiHac
auTÖv ^e^uri^ievov; daß aber A. |U€|Liuri|Lievoc war, wissen wir, s. o. Aelian
V. h. V 19). Auch die Stücke wußte man zu nennen, in denen die
Mysterien profaniert gewesen seien; Apsines art. rhet. II 304, 7 Sp.
nennt die Eumenides, über deren Wirkung dann der Biograph (§ 7)
noch abenteuerlicher zu erzählen weiß. Für uns ist in den Eumeniden
keine Profanierung der Mysterien erkennbar (vgl. G. Hermann opusc.
II 163 ff.); ob eine solche in irgendwelcher Aktion bestanden haben
kann (Lob eck Aglaoph. 77 ff.), können wir nicht beurteilen. Wir müssen
aber diese späten Erzählungen beiseite lassen. Auch Aristoteles kann
möglicherweise auf eine vulgäre Tradition anspielen, die darum noch
nicht unbedingt wahr ist, weil sie Aristoteles kennt. Aber es ist immer-
hin durch dies Zeugnis wahrscheinlich, daß A. einmal einen gerichtlichen
Handel hatte, in dem es sich um Mysteriendinge drehte. Mit dem
Fortgang des A. braucht dergleichen darum nicht zusammenzuhängen.
Was brauchte aber auch eine Reise nach Sizilien besondere Gründe
zu haben? Eine Einladung dorthin war Grund genug, und er mochte
auch, als er nach 458 weggereist war, bald haben wiederkommen wollen;
denn von Verstimmung über politische Veränderungen (Welcker Trilog.
521 ff.) ist nichts überiiefert und aus den Eumeniden nichts zu erkennen,
auch nicht, daß er Angriffe auf den Areopag bitter empfunden habe
(v. Wilamowitz Herakles I 16, 24). Wenn der qpeövoc der Athener
den A. wie andere große Männer vertrieben haben soll (z. B. Anth.
Pal. VII 40), so ist das ein späterer Gemeinplatz. Jedenfalls sind alte und
neue Erörterungen Ober Motive der Abreise des A. als wertlos zu beseitigen.
In Gela in Sizilien also starb A. nach allen Gewährsmännern.
Über die Todesart des A. wurde die fabelhafte Geschichte erzählt, daß
ihm ein Adler habe eine Schildkröte auf den kahlen Kopf fallen lassen,
den er für einen Felsen gehalten; ein Orakel sollte dadurch erfüllt
werden (vit. § 9. Suid. Sotades bei Stob, floril. 98, 9. Plin. n. h. X 3.
Valer. Max. IX 12. Aelian. de nat. an. VII 16; weiteres bei Rohde
Jahrb. f. Philol. CXXI 1880, 22 ff. <K1. Sehr. II 209 ff.». Die geschmack-
losesten Deutungen sind versucht worden: es sei eine symbolische
Apotheose der Dichtkunst, die zuerst auf einem Grabrelief dargestellt
gewesen sei, daß die xeXiwvn, testudo = lyra zum Himmel empor-
140 Aischylos
getragen werde, Göttling opusc. 230 ff. Welcker alte Denkm. II 337 ff.;
oder es sei eine Charakteristik der aischyleischen Poesie, die adler-
mäßig kühn, aber schildkrötenhaft schwerfällig sei, W. Teuffei Rh.
Mus. IX (1854) 148 ff.; nicht viel besser wieder Keller Tiere des klass.
Altertums 258; oder daß der Volksglaube, der Adler finde durch den
Genuß von Schildkröten Genesung, jene Sage veranlaßt habe (wie das,
ist mehr als unklar), Bergk gr. L.-G. III 283, 29. Man kann jetzt nur
sagen, daß eine populäre Anekdote oder Fabel, die z. B. Demokrit schon
anführte, als er vom Zufall sprach, später durch irgendwelche witzige
1069 Beziehung auf A. übertragen ist, s. Rohde a. a. O.; eine weitere, mir
unwahrscheinliche Vermutung über die Entstehung des Orakels (durch
Parodie von Versen aus A. YuxaTUJToi fr. 275 N^) bei O. Crusius
Rh. Mus. XXXVII (1882), 308ff. In Athen wurde dem A. wie den
beiden anderen großen Tragikern auf Lykurgs Antrag ein ehernes Stand-
bild im Theater errichtet, Ps.-Plut. vit. X or. p. 841. L. Diog. II 43.
Paus. I 21, 3. Vgl. außerdem Welcker Alte Denkm. I 465 ff. K. Braun
Ruin. u. Mus. Roms 177. E. Kroker 'Gibt es ein Porträt des A.' Berl.
philol. Wochenschr. V (1885) 897ff.
Vgl. außer den griech. Literaturgeschichten (namentlich Müller, Bern-
hardy, Bergk) G. Hermann opusc. II 144ff. Kiehl Mnemosyne I
(1852) 361 ff. R. Dahms De A. vita, Berlin 1860, Fr. Scholl de locis
nonnullis ad Aeschyli vitam et ad histor. trag. Graec. pertinentibus
epistula in der Schrift: Adolf o Schoellio patri opt. diem II Mens. Sept.
ann. 1874 natal. septuag. pie gratulantur R. et Fr. Schoellii, Jena 1876,
viele Vermutungen darin angegriffen von Suse mihi de vita Aeschyli
quaestiones epicriticae im Index schol. Gryphisw. Winter 1876/7. Dar-
auf wieder einige Bemerkungen von Fr. Scholl Rh. Mus. XXXII (1877)
145. Aeschylos Perser, erklärt von Teuf fei, 3. Aufl. von Wecklein,
Einleitung. Vgl. Lee u wen Mnemosyne XVIII 68 ff.
Von der dichterischen Tätigkeit des A. wird berichtet bei Suid.
eTpaipe Kai eXefeia Kai TpaTUJbiac evevrjKovia. Elegien hat A. auch
gedichtet, von denen einiges erhalten ist, s. Bergk PLG* II 240 ff.
Im Wettkampf um die schönste Elegie auf die Gefallenen von Marathon
soll ihn Simonides 489 besiegt haben (s.o. <S. 138>, das ist nicht so un-
glaublich wie Welcker meint, Trilog. 518). Päane hat er gedichtet
nach Athen. VIII 347 e, dagegen abgelehnt zu dichten nach Porphyr, de
abstin. II 18. Früh wandte er sich der Tragödie zu, veoc be fjpHaTO
Tujv TpaTiuöviI'v (Vita § 2), auch wenn die Überiieferung von dem Wett-
kampf mit Pratinas und Choirilos Ol. 70 = 500/497 nicht ganz zu-
verlässig sein sollte (Suid.). Die Zahl der Dramen ist bei Suidas auf
Aischylos j^l
90 angegeben. In der Vita steht (§ 12): . . . eTTOincev öpd|LiaTa o' Kai
^m TouTOic caxupiKd ä^q>\ xct e'. Hinter der Vita steht im Mediceus
ein KaxdXoToc tu)v AicxuXou bpafidxujv (neueste Ausgabe in Weckleins
Aeschylus), der in 4 Kolumnen zu je 18 Reihen in alphabetischer Folge
72 Titel gibt (<t)pijTioi in der ersten Reihe ist Schreibfehler). Eine
Kolumne fehlt am Ende, in welche die übrigen Titel, die wir sicher
kennen, passen: es waren 90 Dramen angegeben. Nun ist jenes diacpi
Td e' auf jeden Fall unmöglich, denn wir kennen ja eine viel größere
Anzahl Satyrspiele (8 sind urkundlich bezeugt, 7 davon stehen in dem
Katalog, wenigstens 5 sind außerdem sicher). Da Vita und Katalog
gewiß von lange her verbunden waren und übereinstimmen mußten,
der Katalog 90 Stücke gab, die Vita 70 Tragödien + x Satyrspiele, so
muß X = 20 sein, ob nun mit Benutzung einer anderen Lesart (in
Jüngern Codices steht dinqpißoXa für ä\i(p\ xd ) caxupiKd k', djuqpißoXa e'
geschrieben oder anderes versucht wird. Jedenfalls kennt unsere in
letzter Linie alexandrinische Überlieferung mit voller Einhelligkeit 90 Dra- 1070
men, 70 Tragödien und 20 Satyrspiele, von denen wir 79 kennen (s. u.),
darunter mindestens 13 Satyrspiele, vgl. Scholl de locis nonnullis 1. c.
Susemihl ind. Gryphisw. 1. c.p. 5, die wie alle anderen die Überlieferung
entweder unvereinbar finden oder mit Gewalt vereinigen; die gegebene
Erklärungist näher begründet von Dieterich Rh. Mus. XLVIII (1893) 143 ff.'
Die Zahl der Siege gibt die Vita (§ 12) auf 13 an, ouk oXirac
hk. )Liexd xeXeuxfjv viKac dirriveTKaxo. Suidas gibt 28, und da müßten
jedenfalls die Siege nach dem Tode mitgezählt sein. Denn nach seinem
Tode gewannen nicht nur vorher noch nicht aufgeführte Stücke des A.
noch den Preis (Suid. s. €ucpopiujv), sondern es durften auch schon
aufgeführte Stücke kraft eines besonderen Volksbeschlusses von neuem
aufgeführt werden, und eine für den jedesmaligen Veranstalter ausgesetzte
Belohnung sollte zu solchen Wiederaufführungen ermuntern, Schol. Aristoph.
Acharn. 10. Philostrat. vit. Apollon. VI 11 p. 220 Kays. Quintil. X 1,66.
Sicher sind folgende Siege des A.: Ol. 73,4 = 484 sein erster Sieg
mit unbekannten Stücken (Marm. Par. ep. 50); Ol. 76,4 = 472 mit der
Persertrilogie (Hypothesis zu den Pers.); Ol. 78,1 == 467 mit der
thebanischen Trilogie (Hypoth.); Ol. 80,2 =458 mit der Orestie (Hypoth.).
Die Angabe der Siegerliste CIA II 971 xpaT^biuv TTepiKXnc XoXapTe[uc
^XOp]n[Tei] AicxOXoc d[bi]bacK€ mag sich auf einen Sieg zwischen 469
und 459 (da bei der Orestie ein anderer Chorege war) beziehen,
(vgl. Leo Rh. Mus. XXXIII (1873) 139 ff.), könnte also von den bekannten
» <Oben S. lllff.)
142 Aischylos
Siegen möglicherweise nur den von 467 bezeichnen. Die Kombinationen
von Öhmichen Anfänge der Wettkämpfe in Athen, Sitz.-Ber. Akad.
München 1889 II 142 ff., der sie auf den Persersieg 472 bezieht, sind
nicht stichhaltig. Besiegt wurde A. Ol. 77,4 = 468 von Sophokles (vit.
§ 6. Marm. Par. ep. 56. Plut. Nie. 8). '
Schon diese fasti scaenici ergeben eine ganz natürliche Teilung
der Wirksamkeit des A. in mehrere Entwicklungsperioden. Die erste
geht bis zu seinem ersten Siege, die zweite ist die, da er die Bühne
beherrscht, die dritte die der gemeinsamen Wirksamkeit mit Sophokles.
Aus der ersten Zeit ist uns kein Stück erhalten, aus der zweiten stammen
Perser und Hiketiden, aus der dritten Septem, Prometheus und die
Orestie. Aber auch diese Stücke lassen in vielem die allmähliche Ent-
wicklung erkennen. Sind die Perser und Hiketiden in gewissem Sinne
fast Kantaten zu vergleichen, da die Stücke ohne eigentliche Handlung
meist in erzählenden lamben und sehr umfangreichen lyrischen Gesängen
einfach verlaufen, so ist im letzten Stücke, der Orestie, die Handlung
mannigfach verknüpft und kunstvoll motiviert und der Chor tritt viel
mehr zurück. Ein Hauptkennzeichen fortschreitender dramatischer Kunst
ist die Zahl der verwendeten Schauspieler. Auch A. hatte im Anfang
noch einen Schauspieler gebraucht, dem höchstens der Chorführer
schon antworten konnte (vgl. Vit. § 13; Kleandros habe dieser sein
erster Schauspieler geheißen). Er selbst fügte zuerst den zweiten hinzu
1071 (nach der Vit. a.a.O. habe dieser Mynniskos geheißen) und ward dadurch der
Schöpfer des Dialogs und damit recht eigentlich des Dramas. So be-
zeichnet auch Aristoteles (poet. 4) die Neuerungen des A. mit den Worten
TÖ T€ Tujv uTTOKpiTUJV TrXfjOoc eH evöc eic buo TTpüuToc AlcxuXoc fiTttfe Kai
rd ToO xopoö ^XdiTuuce Kai töv Xötov TrpujTaTUJViCTf]v TrapecKeuace. In den
Persern und Hiketiden sind denn auch nur 2 Schauspieler nötig, da-
gegen bilden Septem und Prometheus gewissermaßen den Übergang
zu der Zeit, da auch A. den dritten Schauspieler regelmäßig verwendete,
den Sophokles zuerst eingeführt hatte (Vit. § 13 weist auch die Er-
findung des dritten Schauspielers dem A. zu, setzt aber hinzu, daß
Dikaiarchos sie dem Sophokles zugeschrieben habe; Themistios or.
XXVI p. 382 d schien auch dem A. den dritten Schauspieler zuzuweisen,
aber die Stelle ist überzeugend verbessert von Usener Rh. Mus. XXV
1870, 579). Der Schluß der Septem ist ohne einen dritten Schauspieler
unmöglich und der Prolog des Prometheus könnte nur bei Annahme
der seltsamsten Kunstgriffe desselben entraten. In der Orestie sind
dann drei Schauspieler nötig, und in den Choephoren sogar einmal'
noch ein irapaxopnTnMa zur Darstellung eines vierten. Eine ganz kon-
Aischylos J43
fuse und daher unbrauchbare Polluxstelle (IV 110) redet auch von einem
solchen TrapaxopriTTma im Memnon des A. Vgl. K. Fr. Hermann de
distributione personarum inter histriones in trag. Graecis, Marburg 1840.
Jul. Richter Verteilung der Rollen in der griech. Tragödie, Berlin 1842.
Außerdem hat A. vervollkommnet, wenn nicht geschaffen, die tri-
logische (tetralogische) Komposition. Wie sie sich zuerst gestaltet hat,
wissen wir nicht. Es mag sich immerhin früher schon ein viermaliger
Kostümwechsel des Chores festgesetzt haben, wie ja auch in den Einzel-
stücken durch den 3-4maligen Kostümwechsel des Sprechers Ab-
wechslung geschaffen wurde (in den meisten A.-Stücken sind 3 Abschnitte
deutlich, in deren jedem eine andere neue Person auftritt und die
Hauptperson ist); einmal trat der Chor immer als Satyrn auf, und das
wurde als viertes Auftreten stehend (durch Pratinas?). Man strebte
danach, wie auch bei A. noch ersichtlich ist, die Einzelstücke immer
selbständiger auszugestalten. Vgl. v. Wilamowitz Herakles I 89 ff.
Ist aber auch Ober den Ursprung tetralogischer Komposition nichts
Sicheres zu wissen, jedenfalls hat A. die kunstvolle Form der Tetralogie,
wie er sie handhabt, gestaltet. Die drei Stücke zu einer einzigen großen
Handlung, zu einer künstlerischen Einheit zu verbinden, war nicht
durchgehends seine Praxis; denn z. B. in den Persern ist diese Einheit
nicht vorhanden. Urkundlich verbürgt sind übrigens nur vier Tetra-
logien: 1) OiveOc, TTepcai, fXauKOC (TToTVieuc) , TTpoiUTiöeuc (irupKaeuc),
2) Adioc, GibiTTOuc, 'eTTTct im Grißac, CqpiTH, 3) AuKOupTCia, bestehend
aus 'Hbujvoi, Baccapibec, NeavicKOi, AuKoOpToc (Aristoph. Thesmoph.
135 mit Schol.), 4) 'ATa|ae)Livujv, Xor|cpöpoi, €u|Li€vib€c, TTpujT€iJC, 'Ope-
CTeia genannt nach Schol. zu Aristoph. Fröschen 1124. Da das Satyr-
spiel jedenfalls in sehr losem Zusammenhang mit den andern drei Stücken
stand, schwankten die Alten ('ApicTapxoc KarATroXXiuvioc) nach dem Zeug-
nis des angeführten Scholion, ob die drei oder alle Stücke 'Opecieia zu 1072
nennen seien. Was diese Gesamttitel angeht, so dichtete schon Stesi-
choros eine 'Gbucceia, TTipuovTiic, 'Gpecxeia, Korinna z. B. 'GTTxd im
Grißac für einen Jungfrauenchor (fr. 6 Bgk.) u. ä. in mehreren Teilen.
Die thebanische Tetralogie mag Gibiiröbeia geheißen haben, wie auch
das kyklische Epos hieß (Schol. Plat. Apolog. p. 18 b wird eine Tetra-
logie des Meletos Gibmöbeia genannt). Zu jenen vier Tetralogien kommt
mit größter Wahrscheinlichkeit die Prometheustrilogie (TTponneeia?)
TTpo|i. bec^u)TTlc, TTpo|Li. XuöjLievoc, TTpo)i. irupcpöpoc und die Trilogie
'lK€Tibec, AiTUTTTioi, Aavdibec. Außerdem lassen sich wohl hie und da
einige Titel nicht ohne Wahrscheinlichkeit zu einer Trilogie gruppieren
(am wahrscheinlichsten etwa öttXujv Kpicic, Qp^ccai, CaXafiiviai, eine
144 Aischylos
Aiastrilogie, und Mupjuibövec, Nripriiöec, "GKxopoc XuTpa, eine 'AxiXXriic),
aber etwas Sicheres ist um so weniger zu gewinnen, als wir wissen,
daß der ideelle Zusammenhang der einzelnen Stücke durchaus nicht
immer bei A. vorhanden war. Vgl. Welcker Die aeschyl. Trilogie
Prometheus und die Kabirenweihe zu Lemnos, nebst Winken über die
Trilogie des Aeschylus überhaupt, Darmstadt 1824, und Nachtrag Frank-
furt 1826. Welcker Die griech. Tragödien. A. Scholl Gründlicher
Unterricht über die Tetralogien des alten Theaters, Leipzig 1859. West-
phal Prolegomena zu A. Leipzig 1869. Wetzel Quaestiones de tri-
logia Aeschylea, Berlin 1883. Maur. Croiset Revue des et. Grecq. I
(1888) 369 ff. Wecklein Über eine Trilogie des A. und über die
Trilogie überhaupt. Sitzungsber. der Münch. Ak. 1891, 327 ff.
Nur Bruchstücke sind uns erhalten von folgenden Dramen des A.:
'A0d|uac; Ait^tttioi (= 0aXa|uoTTOioi); Aiivaiai (Aixv. Tvncioi u. Aitv.
vöeoi werden in dem Katalog des Med. genannt), aufgef. 476; 'AXK|ur|VTi?;
'A)uij|Liu)VTi, wahrsch. Satyrspiel; 'ApTeToi ('ApTeia will M. Schmidt
Philol. XVI 161); *ApYU), wahrscheinlich Satyrspiel ('ApTiw r\ KUiiraTric
catalog. Med., KiuTreucTr|c Aid., KujireucTai Welcker, wahrscheinlich ist
Kuujuacxai zu schreiben); BdKxai; Baccdpai; fXauKoc (ttövtioc, wahr-
scheinlich Satyrspiel); fXaÖKoc (TToTvieuc, über die beiden 0. Hermann
opusc. II 59 ff.); Aavdibec; AiktuouXkoi; (Aiovucou) xpocpoi, über den
Titel Hippenstiel de graecorum tragicorum principum fabularum no-
minibus, Marburg 1887 p. 12; 'EXeucivioi; 'Gtuitovoi; 'Hbtüvoi; 'HXidbec,
s. G. Hermann opusc. III 130ff. G. Knaack quaest. Phaethont. 17ff.;
'HpttKXeTbai; Geujpoi r| 'lc9|LiiacTai; Gprjccai; Mepeiai; 'IHiujv; 'IcpiTeveia; Kd-
ßeipoi; KaXXiCTU); Kdpec f\ €upiuTrr|, vgl. H. Weil un papyrus inedit de la
bibl. de M. Ambroise Firmin-Didot, Paris 1879 und Blaß Rh. Mus. XXXV
(1880) 86 ff. Bücheier ebda. 94; KepKuwv Satyrsp.; KripuKcc Satyrsp.;
KipKri Satyrsp.; Kpficcai; Adioc; Aeuiv Satyrsp.; AuKoöpfoc Satyrsp.; Me|a-
vujv; Mup)Liiböv€C; Mucoi; NeaviCKOi; Ne|uea; Ntipeibec; Niößri; Zdvipiai;
OlbiTTOuc; "OttXujv Kpicic; 'OcToXÖTOi wahrsch. Satyrsp.; TTaXa|ur|bTic;
TTevOeuc; TTeppaißibec; TTriveXÖTrr) ; TTpojUTieeuc XuöjLievoc; TTpojUTiGeiJC
(TTupKaeuc) Satyrdrama; TTpo|LiTi96iJC irupcpöpoc; TTpOTrojLiTroi; TTpujTeuc
Satyrsp.; laXajuiviai; CejueXTi f) ubpocpöpoi; Cicuqpoc (bpaTreiric) wahrsch.
1073 Satyrsp. ; Cicuqpoc (7T€TpoKuXiCTr|c) ; CcpiTH Satyrsp.; TnXecpoc (vgl. Pilling
quomodo Telephi fabulam et scriptores et artifices veteres tractaverint,
Halle 1886); ToHÖTibec; TvpnruXTi; OiXoKiriTTic; OopKibec Satyrsp. (vgl.
CIA II 973, 31); (t>puTec y\ "Cktopoc Xuipa; YuxaTUiToi (vgl. Valckenaer
Diatr. 286); Yuxocracia; 'QpeiGuia. Nur die Titel kennen wir von den
Stücken: 'AraXdvTTi, Armvioi, Ne)i€a, TToXubeKTTic Ein Kukvoc darf nicht
Aischylos j^g
aus Arist. Frosch. 963 erschlossen werden und OpiJTioi ist ein offenbares
Versehen im Katalog des Mediceus (s. auch Hippenstiel a. a. 0. 4).
Sammlung der Fragmente in A. Naucks Tragicorum graecorum frag-
menta, 2. Aufl. 1889. Im allgemeinen s. Welcker die griech. Trag-
ödien mit Rücksicht auf den epischen Zyklus geordnet 1839 und Kleine
Schriften IV (1861) 180 ff.
Schon ein Überblick über die Titel zeigt, daß A. fast ohne Aus-
nahme 'homerische' Stoffe behandelt hat. Es ist richtig, wenn es heißt,
daß seine Tragödien T€|LidxTi tujv 'Ojuripou ineTaXujv beiTtviuv seien
(Athen. VIII 347 e. Schneidewin Philol. VIII 1853, 736 ff. Hiller Rh.
Mus. XLII 1887, 331ff. v. Wilamowitz Herakles I 94, 59). 'Homer
hat dem Volke ein gewaltiges Mahl zubereitet und A. setzt ihm davon
einzelne Gänge vor', die ionische Rezitation, das dorische Chorlied und
das aeolische Melos kamen in Athen zusammen dem Bocksgesang die
Form zu geben; ihm gab A. die Heldensage zum Inhalt, die bisher im
homerischen Epos besungen war. So ist A. der Erbe Homers und
Schöpfer der attischen Tragödie in ihrer Eigenart (s. namentlich v. Wi-
lamowitz Herakles I 92 ff.). Vgl. auch Kausche Mythologumena Aesch.
Diss. Hai. IX 3, 129 ff.
Von der Gesamtzahl der Stücke des A. sind nur sieben Tragödien
erhalten. Sie stehen in den Hss. gewöhnlich in folgender Ordnung:
TTpo|uri0euc, 'EiiTd, TTepcai, 'Opecreia, 'keiibec (die 'iKeribec müssen
zuletzt gestanden haben, s. v. Wilamowitz Herakles I 195, 148). Die
drei ersten (wenigst schwierigen) Stücke waren die am häufigsten ge-
lesenen und abgeschriebenen. Für die Geschichte der Überlieferung
des Textes vgl. besonders v. Wilamowitz Herakles I 120 ff. Lykurg
hatte in Athen ein offizielles Textbuch für die Schauspieler angeordnet,
das man aber nicht wie einen Archetypus unserer Überlieferung an-
zusehen hat, s. Korn de publico Aesch. Soph. Eur. fabularum exem-
plari Lycurgo auctore confecto, Bonn 1863. Die kritische Arbeit der
Alexandriner stellte den Text fest. Im 2. Jhdt. n. Chr. wurde die
Auswahl der sieben Stücke vorgenommen, die Byzantiner behielten nur
jene ersten drei in ihrer Auswahl. Die Überlieferung, die wir noch
haben, beruht für die sieben Stücke, ebenso wie für die des Sophokles,
vornehmlich auf dem Cod. Mediceus (Laurent. XXXII 9) saec. X oder XI
auf 84 Pergamentblättern. Die acht Blätter des 18. und die sechs
inneren des 19. Quaternio sind schon seit dem 15. Jhdt. verloren und
damit vom Agamemnon v. 311-1066 und 1160-1673 und der Anfang
der Choephoren. Die Korrekturen von zweiter Hand in M (M^) sind
meist ebenso wertvoll wie die erster Hand (M^), weil sie nach dem-
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 10
146 Aischylos
selben zugrunde gelegten Exemplar oder einem sehr ähnlichen nach-
getragen sind. Andere Korrekturen nach späten Hss. sind wertlos.
1074 Ein genauer Abdrucl< des Codex ist gegeben von R. Merkel Aeschyli
quae supersunt e cod. Laur. descripta, Oxon. 1871 fol., dazu praefationis
lineamenta, Quedlinburg 1870, vgl. R. Merkel A. in Italien. Hss. 1868;
die beste Vergleichung ist jetzt die von Vitelli in der Ausgabe von
Weck lein, Berlin 1885. Ob alle andere Überlieferung vom Mediceus
abhängig ist oder nicht, darüber sind immer noch die Meinungen ge-
teilt. Choephoren (wie schon der überall fehlende Anfang beweist)
und Hiketiden beruhen in der Tat nur auf M. Bei Agamemnon und
Eumeniden kann es zweifelhaft sein: möglich wäre wenigstens, daß die
anderen Hss. aus dem (im Agam.) noch vollständigen M geflossen und
einzelne bessere Lesarten durch Konjektur gefunden wären. Daß da-
gegen in Prom. Sept. Pers. die andere (auf ein Grundexemplar zurück-
gehende) Überlieferung nicht aus M kommt, sondern aus einer ähnlichen,
aber in manchem selbständigen und besseren Hs., die nur auf den
gleichen Archetypus wie M zurückzuführen ist, sollte schon das be-
weisen, daß ein unzweifelhaft echter Vers (Sept. 195) nur im Med.
fehlt (merkwürdigerweise genau wie bei Sophokles der unentbehrliche
Vers OR 800 nur in L nicht steht). Andere durchschlagende Diver-
genzen der Überlieferung bestätigen das. Den M als einzige Quelle
aller Hss. erklärte zuerst Burges 1821, dann Cobet,W. Dindorf Philol.
XVIII 55 ff. XX Iff. 385 ff. XXI 193 ff. A. Kirchhoff ebenda IX 161 ff. u.
Ausg. C. Prien Beiträge zur Kritik von A. Sieben, Lübeck 1858, 45 ff.
N. Wecklein in seinen Ausgaben u. s., wieder ausführlich verfochten von
M. Sorot de ratione quae inter eos codd. rec. quibus Aesch. f. Prom. Sept.
Pers. continentur et cod. Laur. intercedat. Diss. Berlin 1882. Der anderen
Ansicht sind G. Hermann, F. Ritschi, F. Heimsöth über die indirekte
Überlief, usw. 5 ff. 176 ff. H. Keck Ausg. des Agam. 198 ff. H. Weil praefat
zur Ausgabe 1884. v.Wilamowitz Herakles I 204; ausführlich A. Reuter
de Prom. Sept. Pers. Aesch. fab. codic. recentioribus, Diss. Rostock 1883.
Die andere Überlieferung außer M ist noch nicht genügend gesichtet. Für
den in M fehlenden Teil des Agam. ist besonders Florent. XXXI 8, saec.
XIV wertvoll, weniger Venet. 616 (XCI 5), saec. XV? Beiden wie noch
anderen fehlt Eumen. 582-644 und 794-823. Agam. 211-348 ent-
hält auch ein besonders wertvoller (M sehr nahe stehender) Kodex des
Bessarion Marcianus 468 (XCI 4) saec. XIII oder XIV.
Unter den Schollen, die sich teils am Rande, teils zwischen den
Zeilen in den Hss. finden, pflegt man die des Mediceus besonders
hervorzuheben. Man glaubt, daß der Grundstock auf Didymos zurück-
Aischylos j^y
geht; die jüngeren byzantinischen Scholien sind besonders ausführlich
zu Prom. Sept. Pers. Die Scholien auch der anderen Hss. neben denen
des M hat zuerst Heimsöth berücksichtigt und ihnen selbständige Be-
deutung zugesprochen. Weitere Andeutungen in dieser Richtung gibt
V. Wilamowitz Hermes XXV (1890) 161 ff. Es sind eingehende Einzel-
untersuchungen nötig. Ausgabe der Scholien von W. Dindorf im
3. Band der A.- Ausgabe; die mediceischen Scholien am besten nach
den neuen Kollationen von Vit eil i in Weckleins Ausg. 1885. Vgl.
Frey de Aesch. scholiis Mediceis, Bonn 1857. F. Heimsöth Über die 1075
indirekte Überlieferung des aeschyl. Textes, Bonn 1862, und de scholiis
in Aesch. Ag. scholiasta Mediceo vetustioribus (die cxöXia -rraXaid des
Farnes.), Bonn 1868. Seelmann de propagatione scholiorum Aeschy-
leorum, Halle 1875. Paley Commentarius in schol. Aesch. Medicea,
Cambr. 1878. Römer Studien zur handschriftlichen Überl. des A. und
zu den alten Erklärern desselben, Sitzungsber. Akad. Münch. 1888 II
231 ff. V. Wilamowitz Hermes a. a. 0. P. N. Papageorgiu KpiiiKot xai
iraXaiOYpaqpiKCi eic tci TraXaid AicxOXou cxöXia Jahrb. f. Philol. Suppl.
XVI (1888) 223ff.
Die erhaltenen Stücke sind in der wahrscheinlichen chronologischen
Ordnung folgende:
TTepcai, wahrscheinlich die älteste erhaltene Tragödie. Das Stück
ist sehr einfach komponiert, beginnt mit der Parodos und entwickelt
sich in drei Hauptabschnitten, in deren jedem eine neue Person auftritt.
Erzählende Partien (namentlich die Erzählung des Boten von der sala-
minischen Schlacht) und sehr umfangreiche lyrische Betrachtungen
wechseln ab. Von den zwei Schauspielern hatte der eine die Rolle
des Boten und des Dareios, der andere die der Atossa und des Xerxes
zu spielen. Im Stoffe war dem A. Phrynichos vorausgegangen, der vier
Jahre vorher die Ooiviccai aufgeführt und darin ebenfalls den Sieg der
Athener bei Salamis dargestellt hatte. Wie die Angabe eines Verses
(durch Glaukos ^v toTc Tiepi AicxuXou jliOGujv nach der Hypoth. der
Pers.) zeigt, hat sich A. zum Teil bis ins einzelne nach dem Vorgänger
gerichtet. Unter dem, was A. änderte (Welcker Kl. Sehr. IV 148 ff.),
mag auch die Einführung der Waffentat auf Psyttaleia und die Herein-
beziehung der Schlacht bei Plataiai dem höheren Ruhme des Aristeides
dienen sollen. Das Stück wurde aufgeführt em Meviwvoc (Hypoth.) d. i. Ol.
76,4 = 472 und wurde wiederholt in Syrakus vor Hieron (s. o.), ohne Zweifel
mit manchen Veränderungen. Wenn auch aus den korrupten Versen
der Frösche 1028 f. (wahrscheinlich ist doch im ersten Verse das Auf-
treten des Dareios gemeint und nicht mit Schönemann Rh. Mus. XLII
10*
148 Aischylos
1887, 467 ff. zu ändern, und mit dem iauoi nur die mannigfachen
Interjektionen in den Persern verspottet) nichts Sicheres zu folgern ist,
so verbieten doch auch schon die zwei Zitate aus den Persern, die sich
in unserem Texte nicht finden, die Angabe des Herodikos (Schol. zu der
Stelle der Frösche) von zwei Bearbeitungen der Perser als eine falsche
Schlußfolgerung aus der Aristophanesstelle zu betrachten. Vgl. bes.
Schönemann a. a. 0. Das Stück ist später nattirlich auch wieder in
Athen aufgeführt, und schon damit ist die Ungenauigkeit bei Aristo-
, phanes, der den A. nach Erwähnung der Septem fortfahren läßt eixa
bibdHac TTepcac jaeid toOto (v. 1026), leicht erklärt. Bei der ersten
attischen Aufführung siegte A. OiveT TTepcaic rXauKtu TTpo|urieei (Hypoth.
Med.). Der fXaÖKOc war gewiß der TToTvieiJc, wie jüngere Hss. angeben,
und nicht der ttövtioc wie Welcker ohne Begründung vermutete (vgl.
Klossowski de Glauco Potniensi, Progr. von Trzemesno 1852, Kolster
Jahrb. f. Philol. 1861, 116 ff.), der TTpojuTiGeiJC unzweifelhaft das von
1076Pollux mehrfach (IX 156. X 64) als TTp. irupKaeuc zitierte Satyrspiel
(für den mutmaßlichen Inhalt besonders wichtig Plut. de util. ex in.
perc. II 86f. Epiph. Ancor. p. 109a). Die Versuche, einen ^trilogischen
Zusammenhang' zwischen den Stücken herzustellen, wie sie besonders
Welcker Trilogie 470ff. Nachtrag 176 ff.; Kl. Sehr. IV 164ff. Gruppe
Ariadne 92ff. 625. Droysen Übers. 157f. 204f. R. Gädechens
Glaukos der Meergott (Gott. 1860) 163 ff. gemacht haben, können als
abgetan angesehen werden; die Verschiedenheit der Stoffe kann nicht
wohl deutlicher sein. Außer den Gesamtausgaben des A. ist das Stück
besonders herausgegeben von C. I. Blomf ield (1814; Leipziger Abdruck
1823. London 1857), E. R. Lange und G. Pinzger (Berlin 1825),
G. C. W. Schneider (Leipz. 1837), C. G. Haupt (Leipzig 1839), A. Mei-
neke (Berlin 1853), R. Merkel (Leipz. 1869), J. Oberdick (Berl.
1876), H. Weil (Paris 1884), W. S. Teuffel-N. Wecklein (Leipz. 1886^),
L. Schiller-C. Conradt (Berlin 1888). Verdeutscht und ergänzt von
Hermann Köchly, Heidelberg 1880 (seine allgemein abgelehnte Mei-
nung von der Lückenhaftigkeit des Schlusses trug er zuerst vor in den
Verhdl. d. Philol. in Innsbruck 1875). Von sachlichen Erläuterungs-
schriften außer den genannten oder für A. überhaupt zu nennenden
sind anzuführen: G. Schütz de Persarum tragoediae Aesch. forma et
consilio, Jena 1791 und Opusc. 29 ff. H. Brentano Über die Perser des
A. mit Vergleichung der Phönissen des Phrynichus, München 1832.
L. Prell er Ausgew. Aufs. 1 ff. Fr. Jacobs Verm. Sehr. V 545 ff. Fr.
Vater Jahrb. f. Philol. Suppl. IX 223ff. G. F. Giljam de fabula A. quae
P. inscribitur, Upsala 1857. Hannak Das Historische in den P. des A.,
Aischylos |4g
Wien 1865. F. van Hoffs de rerum historicarum in A. Pers. tractatione
poetica, Köln (Münster) 1866. F. A. Bülau de A. Pers. Gott. 1866.
C. J. S. Lundmann Pers. A. fab. quo consilio conscripta videatur,
Upsala 1869. Hamacher Die Schlacht bei Salamis nach den Persern
des A., Trier 1870. Ph. Keiper Die Perser des A. als Quelle für pers.
Altertumskunde betrachtet usw., Erlangen 1878, Nachtrag dazu in Jahrb.
f. Philol. 1879, 93ff. Fr. van Hoffs Zu den Persern des A., Emmerich
1880. Über eine gefälschte Hs. der Perser, vgl. F. Ritschi Rh. Mus.
XXVII (1871) 114ff.
Die unzähligen Abhandlungen zur Kritik und Erklärung des ein-
zelnen können hier nicht angegeben werden; dafür ist auf die bereits
mehrfach vorhandenen und am Schlüsse des Artikels bezeichneten
Sammelstellen für diese Literatur zu verweisen.
iKexibec, ein Stück von altertümlich schlichter Anlage und Gliederung
(Rollenverteilung: I Danaos und Herold, 11 König), aber vielfach lücken-
haft und korrupt auf uns gekommen, zumal es in den Hss. zuletzt stand.
Das Stück stammt aus derselben Periode wie die Perser, mit denen
es den Charakter der Altertümlichkeit, die dramaturgische Beschränkung
und das Vorwiegen des lyrischen Elementes gemein hat. Aus der
Häufigkeit der Bilder und Ausdrücke aus dem Seewesen (z. B. v. 407 ff.
440 f. 469 ff. 764 ff.), der hervortretenden Achtung der monarchischen
Regierungsform und den Äußerungen über die Stellung eines Fremden 1077
außerhalb der Heimat (993 ff., vgl. 490 ff.) zu schließen, daß das Stück
in Sizilien abgefaßt und wohl auch aufgeführt sei (vgl. W. Gilbert
Rh. Mus. XXVIII 1873, 480 ff.), ist kaum erlaubt. Ebensowenig gestattet
eine etwa hervortretende Zuneigung für Argos die Hik. in das Jahr
Ol. 76,4 = 461, da ein Bündnis Athens mit Argos damals bestand, zu
setzen; so bes. 0. Müller Eumenid. 123; gr. Lit.- Gesch. I 546. Bücheier
will V. 152 auf den Parthenonbau beziehen und das Stück in 460/59
setzen, Rh. Mus. XL (1885) 628; dagegen v. Wilamowitz Herm. XXI
(1886) 608 Anm. Bisher kann man nichts anderes sicher sagen, als
daß die Hik. zu den ältesten der erhaltenen Tragödien gehören. Sie
waren gewiß das erste Stück einer Trilogie, und als zweites sind mit
großer Wahrscheinlichkeit die Aitutttioi, als drittes die Aavatbec (vgl.
bes. G. Hermann opusc. II 3l9ff., Tittler Ztschr, f. Alt. 1838, 951 ff.)
in Anspruch genommen, vgl. Gruppe Ariadne 74 ff. Welcker Kl. Sehr.
IV 100 ff. Als Mittelstück wollte G. Hermann Abh. d. sächs. Ges. d,
W. IV (1847) 123ff. (vgl. Nitzsch Sagenpoesie S. 563) vielmehr die
0aXa)LioTTOioi betrachten; 0aXa|LiO7TOioi wird nur ein anderer, späterer
Titel der Aitutttioi sein (Welcker Rh. Mus. XIII 1858, ;89ff.), zumal
150 Aischylos
der Titel OaX. im alten Katalog des Mediceus nicht steht und auch
nicht gestanden hat. In Aavdibec wollte Birt Rh. Mus. XXXII (1877)
41 9 ff. die Bezeichnung der ganzen Trilogie sehen; ganz anders wiederum
Westphal Proleg. 4 f. Ob 'Aiuujuajvn das Satyrdrama zu jener Trilogie
war (Droysen Übers. 269), bleibt unsicher. Über die mutmaßlichen
Hauptgedanken und Konflikte der Stücke vgl. bes. Welcker Tril. 399 ff.
Droysen 265 f. O. Müller Lit.- Gesch. II 92. Über den Rechtshandel
in den Hiket. v. Wilamowitz Hermes XXII (1887) 247. 256ff. Sonder-
ausgaben der Hik. von G. Burges (London 1821), C. G. Haupt (Leipzig
1829), Paley (Cambridge 1844. 1852, mit den Choeph. 1883), F. J.
Schwer dt (ex rec. G. Herrn, passim emendata ed. et notis instr. Berlin
1858), C. Kruse (griech. u. deutsch mit Lesarten, Versmaßen u. Kom-
mentar, Stralsund 1861), H. Weil (Gießen 1866), J. Oberdick (nebst
Einl. u. Komm., Berlin 1869), T. G. Tücke r (London 1888).
'e-TTTd eiTi Orißac. Die Schranke der zwei Schauspieler ist in
diesem Stücke bereits einigermaßen durchbrochen, sofern wenigstens
die letzte Szene einen dritten notwendig macht (I Eteokles und Anti-
gone, II Bote und Ismene, III Herold). Die Anlage des Stückes ist in
hohem Grade symmetrisch, namentlich in der langen Szene, in der die
sieben Kämpferpaare geschildert werden; Gruppe Ariadne 584 ff., bes.
F. Ritschi Der Parallelismus der sieben Redenpare in den S. g. Th.
opusc. I 300 ff., vgl. H. Keck Jahrb. f. Philol. LXXXI 809 ff. und dagegen
F. Heimsöth Wiederherstellung d. Dramen d. A. 436ff. Th. Stisser
quid iudicandum sit de Ritschelii sententia etc., Aurich 1872. Auch s.
Conradt Üb. Zahlenverhältn. im Bau der S. g. Th., Schlawe 1874. R.
Klotz Studia Aeschylea, Leipzig 1884. Die beste Charakteristik des
Stückes sind die Worte in den Fröschen des Aristophanes v. 1021 f.
1078 Ini Mittelpunkte des kriegerischen Stückes steht der gewaltige Charakter
des Eteokles, der sich durch den Gegensatz gegen den Chor der ängst-
lichen Jungfrauen um so deutlicher abhebt; auch die sieben Angreifer
sind anschaulich beschrieben, mit offenbarer Vorliebe Amphiaraos
(= Aristeides? vgl. Plut. Aristid. 3). Die Septem sind nach der Didas-
kalie, die J. Franz im Med. entdeckt und herausgegeben hat (die
Didaskalie zu A. Sept., Berlin 1848, vgl. Schneidewin Philol III 348ff.),
aufgeführt Ol. 78,1 = 467 im 0eaT€vibou. eviKa Aoiiu, OibiTTobi, 'Girid
€711 Grißac, CqpiTTi caTupiKf), während Aristias und Polyphradmon, die
Söhne der älteren Kunstgenossen Pratinas und Phrynichos, den zweiten
und dritten Preis erhielten. Durch diese Nachricht sind alle früheren
Vermutungen über die trilogische Stellung des Stückes hinfällig ge-
worden (das Richtige hatte schon A. F. Näke erkannt, s. Ritschi Rh.
Aischylos j5j
Mus. XXXII 1872, 194. 196ff.). Wir wissen jetzt, daß die Trilogie
genau dem sachlichen Zusammenhange des Mythus folgte, in der Weise,
daß das Schlußstück, die 'ETrid, die Motive der beiden vorausgegangenen
Tragödien zusammenfaßt, indem der Kampf zwischen Eteokles und
Polyneikes sich als Folge der Verschuldung von drei Generationen
darstellt, des Ungehorsams des Großvaters Laios gegen das Orakel
(v. 745 ff.) und des Fluches des Oidipus über die von ihm Erzeugten
(v. 772 ff.). Nun hat man aber an dem Schluß des Schlußstückes der
Trilogie Anstoß genommen, der noch eine ungelöste Verwicklung bringt
(Antigone will trotz des Verbotes den Bruder bestatten), und Unecht-
heit oder wenigstens Überarbeitung dieses Schlusses angenommen, vgl.
bes. Oberdic-k de exitu fabulae A. quae S. adv. Th. inscribitur, Arns-
berg 1877. W. Richter quaestiones Aeschyleae. De duplici editione
Sept. fabulae, Berlin 1878. Weck lein Über die Textüberlieferung des
A. und anderer griech. Trag., Sitzb. der Münch. Akad. 1888, 327 ff.,
namentlich auch Bergk Gr. Lit.- Gesch. III 302 ff.
Sonderausgaben der Sept. von Blomfield (Cambridge 1812. 1824.
Leipz. 1823), C. Schwenk (Utrecht 1818), C. G. Haupt (Leipz. 1830),
G. C. W. Schneider (Leipz. 1834), F. Ritschi (cum Schol. Med. Elber-
feld 1853. Leipz. 1875^), J. Davies 1878, A. W. Verrall London 1887
(A.W.Verrall u.Bayfield, London 1888). Außerdem mögen genannt sein
L. Schmidt Über die trilog. Kompos. der S. g. Th., Z. f. Altw. 1856 nr.
49-51. F. Susemihl ebenda 1857, lOOff. Fr. Vater de A.Oedipo, Jahns
Arch.XVI llOff. Welcker Oedipodee und Thebais, Kl. Schriften IV 136 ff.
Waldeyer de A. Oedipodea L Neuß 1863. II. Leobschütz 1873. H. Geist
de fabula Oedipodea, Büdingen 1879-80. A. F. Näkes Einl. im Rh. Mus.
XXVII 196 ff. CxöXia rraXaid eic touc 'GTrid Philol. XX 386 ff. A. Nauck
Über eine griech. Hs. (enthält Find. Ol., Aisch. Prom. u. Sept.) M61.
gr6co-rom. 11 487 ff. Ch. Muff Der Chor in den S. des A., Halle 1882.
TTpo|LinÖ€uc b€C|Liu)TTic. Das Stück hat eine einfache Anlage: es
zerfällt in drei Teile, deren mittlerer die loszene ist. Im Mittelpunkt
steht die Entwicklung des einen großen Charakters, des Prometheus,
welchem abermals ein weiblicher Chor gegenübersteht. Auch die anderen
Personen sind Götter, und die Zeit, in welcher das Ganze spielt, ist der 1079
Anfang von Zeus' Herrschaft. Dieser erscheint zunächst als gewalt-
tätiger Tyrann; das wird sich daraus erklären, daß im Laufe des Stückes
durch die Versöhnung des durch rohe Gewalt zur Herrschaft gelangten
Gottes mit dem weisen menschenfreundlichen Titanen die Gewalt-
herrschaft zum KÖc|Lioc wird. Der TTpo|a. bec^. entfernt sich durch
manches in der Ausdrucksweise, durch entwickelteres Maschinenwesen,
\ 52 Aischylos
durch seine metrische Anlage und Ausführung von der Art der älteren
Stücke des A. und nähert sich mehr der des Sophokles und Euripides.
Ein dritter Schauspieler ist nur in der ersten Szene nötig. Man hat
In dem erhaltenen Stück eine spätere Diaskeuase erkennen wollen (s.
Westphal Proleg. 8 ff. Röhleke Sept. adv. Theb. et Prometh. vinct.
esse fabulas post Aeschylum correctas, Berlin 1882. Heidler de comp,
metr. Prom. fab. Aesch. cap. IV, Breslau 1884), ein Auskunftsmittel, das
hier noch weniger als in den Sept. zu verteidigen ist, bei unserer so
geringen Kenntnis der Entwicklung aischyleischer Kunst im einzelnen.
Zudem wissen wir über die Zeit des Prom. nur, daß er nach Ol. 76,1
= 475 gedichtet sein muß (da fand nach Thukyd. III 116 der berühmte
Ausbruch des Aitna statt, und Prom. v. 367 ff. sind vaticinium ex eventu).
Auch Übereinstimmungen wie Prom. 876 und 883 mit Suppl. 45 und
230 beweisen nichts, noch weniger die angebliche Anspielung Pindars
P. IV 291 auf den Prom. (Christ gr. Lit.-Gesch.^ 185). Man kann
nur sagen, daß der Prom. in die spätere Zeit des A. zu gehören scheint,
zumal er mannigfache Verwandtschaft mit der Orestie zeigt; unmöglich
ist, daß er noch nach der Orestie in Sizilien gedichtet sei (Bergk gr.
L.-G. III 312 ff.; vgl. v. Wilamowitz Hermes XXI 1886, 6 10 f., dessen
nähere Datierung mir unverständlich ist). Man pflegt den TTpo|Li. irupcpöpoc
und den npoiu. Xuöjuevoc mit dem erhaltenen TTpoju. becjuiuTTic zu einer
Trilogie zu verbinden, und es ist sicher, daß auf den becju. der Xuö)a.
folgte (Schol. Prom. vinct. 511). Den TTpo|u. irupcp. stellte Welcker
(Trilog. und Nachtrag) an den Anfang und ließ darin den Feuerdiebstahl
dargestellt sein. Aber diese vorausliegenden Begebenheiten sind in
dem erhaltenen Prometheus so ausführlich erzählt, daß sie unmöglich
in einem vorangegangenen Stück dargestellt sein konnten, und nach
Schol. Prom. vinct. 94 hat Prom. in dem irupcpöpoc gesagt, er sei
30000 Jahre gefesselt gewesen (bebecOai). Letztere Angabe macht
auch Bergks Meinung (gr. L.-G. III 3 18 ff.), daß der Trupqpöpoc das
Satyrspiel sei, sonst TrupKaeuc genannt, unmöglich (319 Anm. 108 ist
eine unhaltbare Erklärung jener Worte). Oder man müßte die Angabe
der Schol. für falsch halten und für den TTupqp. den Xuö|u. einsetzen
wollen, da bei Philodem, iiepi euceß. p. 39 Gomp. steht AicxOXoc ev
Tqj X[uo]|Li^v[uj TTp] ojLir|0eT . . . [u7t]ö Aiöc beb [ecGai]. Sonst hat die
Annahme Westphals Proleg. 207 ff. am meisten für sich, daß der
TTpojLi. Trupqpöpoc das Schlußstück war, in dem die Stiftung der attischen
TTpoiLuiGeTa und des Fackelwettlaufs und die Apotheose des Prometheus
stattfand (zumal Tiupcpöpoc der ^Feuerdieb' kaum heißen kann, wohl
aber typisch den Fackelläufer bezeichnet, Pollux VIII 116 u. zahl-
Aischylos ico
reiche attische Inschriften), vgl. Düntzer Jahrb. f. Philol. CXLIII 1080
737 ff.
Sonderausgaben des Prom. von Blomfield (Cambridge 1812. Leipz.
1822), C. G. Haupt (Leipz. 1826), J. Griff iths (1834), G.G. W.Schneider
(Leipz. 1834), J. Minckwitz (1839), Le Bas u. Th. Fix (1843), G. F.
Schömann (griech. u. deutsch, Greif sw. 1844), A.' Meineke (cum
schol. Medic, Berlin 1853), L. Schmidt (Berlin 1870), F. A. Paley
(1875), N. Wecklein (Leipz. 1878'), H. Weil (Paris 1884), Glacebrook
(London 1887), Xanthopulos (Athen 1888), Plaistowe and Marow
(London 1891). Außerdem seien erwähnt außer Welckers angef.
Schriften und der griech. Götterlehre II 246 ff. A. Feuerbach nachgel.
Sehr. (Braunschweig 1853) IV 129ff. G. Hermann de Prom. Aesch.,
Leipz. 1846. H. Keck Der theolog. Charakter in A. Prom. Tril., Glück-
stadt 1851. Schömann opusc. III 95ff. und Noch ein Wort über A.
Prom., Greifsw. 1859. H. Köchly Akad. Vortr. u. Reden (Zürich 1859)
I 8 ff. W. Vis eher Über die Prometheustragödien des A., Basel 1859.
W. S. Teuf fei Über des A. Promethie u. Orestie, Tübingen 1861, Iff.
W. Mar CO Witz de A. Prom. Düsseid. 1865. J. Caesar Der Prom. des
A., Marburg 1860. P. J. Meyer Prom. quo in loco agi videatur, Bonn
1861. B. Foss de loco in quo Prom. ap. A. vinctus sit, Bonn 1862.
Über die szenische Darstellung s. auch das Progr. von G. F. Müller,
Stade 1871, und W. Otto quaestiones de Prom. re scenica, Berlin 1872.
H. Martin la Prom^theide, Paris 1875. AI. Kolisch der Prom. des A.
nur zu verstehen aus der Eigentümlichkeit seiner Entstehungsweise,
Berlin 1876, u. Wer löst die Fesseln des Prom., Ztschr, f. d. Gymnw.
XXXIII 65 ff. Milchhoefer Befreiung des Prometheus, 42. Winckel-
mannsprogr. 1882.
'OpecTeia oder die Tragödien *ATa|Lie)Livujv XoTiqpöpoi 6ii)Li6vibec
nebst dem nicht erhaltenen Satyrdrama TTpujxeiJc (über den Namen
'GpecTcia s. o. S. 1071 <143>), aufgeführt und mit dem ersten Preise gekrönt
Ol. 80,2 = 458 dpxovTOC OiXokXeouc, exopriTei EevoKXfjc 'Aqpibveuc
(Hypoth.), ist die einzige auf uns gekommene Trilogie. Hier zeigt sich
die vollendetste Kunst des A. in allem, in Komposition und Charakter-
zeichnung, in Sprache und Versbau, auch in der nun erst gewandten
und ausgedehnten Verwendung eines dritten Schauspielers. Die drei
Stücke bilden ein zusammenhängendes Ganzes, dessen einzelne Teile
einander ergänzen und voraussetzen und voneinander nur durch
größere Zwischenräume der Zeit getrennt sind, als sonst Akte desselben.
Dramas. Die Handlung verteilt sich so, daß der Agamemnon die Er-
mordung des Agamemnon durch Klytaimnestra enthält, das zweite Stück
154 Aischylos
deren Ermordung durch ihren Sohn Orestes, das Schlußsttick die Stihnung
des Orestes: Frevel, Rache und Sühne. Die Anlage ist bei allen drei Stücken
wesentlich dieselbe; jedes zerfällt in drei Akte. Aber in der Ausführung ist
der Agamemnon ohne Zweifel das bedeutendste, wohl überhaupt die herr-
lichste Tragödie, die uns aus dem Altertum erhalten ist. Die Choephoren
sind auch dadurch merkwürdig, daß sie Gelegenheit geben, die Art der
drei großen Tragiker an demselben Stoffe zu vergleichen (gegenüber der
1081 Masse unbedeutender Literatur darüber wird immer A. W. S c h 1 e g e 1 Vorles.
über dram. Kunst I 222 ff. seine Bedeutung behalten, vgl. Gruppe
Ariadne Iff. 453ff. Fleischmann Krit. Stud. über die Kunst der
Charakteristik bei A. und Soph., Erlangen 1875. L. Fischer Die Choe-
phoren des A. und die Elektra des Sophokles und Euripides., Feld-
kirch 1875). Im letzten Stücke werden die Satzungen der Blutrache
verklärt zu sittlicher Gerechtigkeit, zu humaner Versöhnung, die blut-
dürstigen Töchter der Nacht werden zu milden Göttinnen der Gnade;
in Athen wird die Rechtsprechung des Areopag gestiftet, die mit dem
Dienst jener Göttinnen verbunden war. Vgl. auch Nägelsbach de
religionibus Orestiam continentibus. Erlangen 1843. Mollwo Darlegung
des innern Gangs der Orestie, Parchim 1862. W. S. Teuf fei Über des
A. Prom. u. Orestie, Tübingen 1861. G. Hermann de re scenica in A.
Orestes, Leipz. 1846 = Ausg. II 648 ff. Weck lein Über den Schauplatz
in A. Eumeniden, Sitz.-Ber. Akad. München 1887 I 62 ff., zum Aga-
memnon vgl. auch Theodor Voigt de Atrei et Thyestae fab., Dissert.
Hai. VI (1886) 307 ff.
Ausgaben der Orestie von J. Franz (gr. u. deutsch, Leipz. 1846),
Theod. Heyse (Halle 1884), N. Wecklein (Leipz. 1888); deutsche
Nachbildung u. Erklärung von Osw. Mar b ach (Leipz. 1874).
Ausgaben des Agamemnon von W. Humboldt (mit Anmerkungen
von G. Hermann 1816), Blomfield (Cambridge 1818. Leipz. 1822),
R. H. Klausen (Gotha 1833; 2. Ausg. von R. Enger Leipz. 1863), C.
G. Haupt (Berlin 1837), G. C. W. Schneider (Leipz. 1839), O. T. W.
Peile (1842^, C. Feiton (Cambridge 1847), Paley (Cambridge 1853),
R. Enger (Leipz. 1855, 2. Aufl. von W.Gilbert, Leipz. 1874), S.Karsten
(Utrecht 1855), Schneidewin (Berlin 1856, 2. Aufl. von 0. Hense,
Berlin 1883), C. F. Nägelsbach (hrsg. von F. List, Erlangen 1863),
K. H. Keck (griech. u. deutsch mit Einl. und Komm. Leipz. 1863), J. A.
C. van Heus de (c. schol. et comm. Haag 1864), C.Weyrauch (Bres-
lau 1868), B. H. Kennedy (Cambridge 1878), Margoliouth (London
1884), U. V. Wilamowitz-Möllendorff (Text u. Übers. Berlin 1885),
A. Sidgwick (Oxford 1888), Verfall (London 1889).
Aischylos jgg
Ausgaben der Choephoren von K. Schwenk (Utrecht 1819), Blom-
field (Cambridge 1824. Leipz. 1824), Klausen (Leipz. 1835), F. Bam-
berger (Göttingen 1840), A. de Jongh (Utrecht 1856), Conington
(1857), Davies (1862), Paley (Cambridge 1883). [Verrall (London
1893).]
Ausgaben der Eumeniden von G. Wakefield (1794), G. Hermann
(1799), K. Schwenk (Bonn 1821), G. Burges (1822), 0. Müller
(Gott. 1833, nebst zwei polemischen Anhängen gegen G. Hermann
und Fritzsche, Gott. 1834), J. Minckwitz (Leipz. 1838), Scholefield
(1843), Linwood (1844), G. F. Schömann (deutsch mit Einl. u. Anm.,
Greifsw. 1845), R. Merkel (Gotha 1857), J. Davies (Dublin 1885), A.
W. Verrall (zuletzt London 1889), A. Sidgwick (Oxford 1887).
Gesamtausgaben des A.: Ed. princ. von Aldus (Venet. 1518). Da-
nach A. Turnebus (Paris 1552), Fr. Robortelli (Ven. 1552), H.
Stephanus (c. schol. locupl. P. Victorii cura, Paris 1557), W. Canterl082
(Antv. 1580), Tho. Stanley (London 1663), cum notis varr. cur. C. de
Pauw (Haag 1745), danach die große Ausg. von S. Butler (Cambr.
1809-1816. 8 voll.), C.G.Schütz (Halle 1782-94, ed. II 1799-1807.
ed. III 1809-21), F. H. Bothe (Leipz. 1805. 1830), A. Well au er (Leipz.
1823), G.H.Schäfer (Leipz. 1827), W. Dindorf (in den poetae scaen.
Leipz. 1830. Oxf. 1851 und 1832-35 in 6 voll. ed. quinta Leipz.
1866-69. Text Leipz. 5 mal 1827-73), bei Didot E. A. J. Ahrens
(Paris 1842), F. A. Paley (Cambr. 1846-51, London 1860. 1870. 1879),
G. Hermann (Leipz. 1852 und Berlin 1859), J. A. Härtung (Leipz.
1852-55), H. Weil (Gießen 1858-67), R.Merkel (Oxford 1871, s.o.),
A. Kirchhoff (Berlin 1880), H. Weil (Textausgabe LeiPz. 1884), N.
Wecklein (cum lection. et schol. cod. Medicei ab Hieron. Vitelli denuo
coUat. Berlin 1885). Apaiuara cujZ:6|Lieva Kai dTToXujXÖTUJV dTrocTrdc|uaTa,
ILierd eHnTTlTiKOüv kqi KpiTiKÜJV CTHueiujceujv Trj cuvepTacia G. Zujjuapibou
^Kbiböiiieva iittö N. Wecklein, Athen 1891.
Von Übersetzungen mag auch hier wenigstens die von Droysen
(mit guten Einleitungen, zuletzt Beriin 1884) genannt sein.
Eine Charakteristik der Kunst des A. kann hier nicht versucht
werden. Es mag wenigstens hingewiesen sein auf die Charakteristik
des A. bei Aristophanes in den Fröschen 914ff., die wichtiger ist, als
alles, was später über A. geschrieben ist. Die Neuerungen und Ände-
rungen, durch die A. der eigentliche Schöpfer und Gesetzgeber der
attischen Tragödie geworden ist, sind oben erwähnt. Außerdem hat er
auch das Äußere der Bühneneinrichtungen, Kostüme etc. prächtiger und
großartiger gestaltet; so hat er zuerst Syrma und Kothurn u. a. in An-
156 Aischylos
Wendung gebracht, in Dekoration vieles verbessert und erfunden, die
Orchestik mannigfach ausgebildet. Die Zeugnisse dafür bei F. Schöü
vor Ritschis Septem 32ff. Seine Bühne war zuerst der einfache
runde Tanzplatz, Einrichtung einer Rückwand scheint erst vor der Orestie
stattgefunden zu haben, v. Wilamowitz Hermes XXI (1886) 598ff.
B. Todt Philologus XLVIII (1889) 505 ff. (außerdem Dörpfeld in
A. Müllers griech. Bühnenaltert. 416ff. und Kawerau in Baumeisters
Denkm. 1732 ff. u. a.).
Die äußere Gliederung der Stücke ist von altertümlicher Strenge
und Einfachheit, symmetrisch oft bis ins einzelne sind auch die Dialog-
partien gebaut. Man hat oft die großen einfachen Linien und den
herben Parallelismus archaischer Kunstwerke treffend verglichen. S. oben
zu den Septem; außerdem H. Weil de la composition symmätrique du
dialogue dans les tragedies d'Eschyle, Paris 1860, und Jahrb. f. Philol.
LXXIX (1859) 721 ff. 835ff. H. Keck ebenda LXXXI (1860) 843ff. und
wieder H. Weil LXXXIII (1861)377ff. Martin de responsionibus diver-
bii ap. A., Berlin 1862. Sudhaus de A. stichomythiis, Treptow 1864,
bes. auch 0. Ribbeck qua A. arte in Prom. fab. diverbia composuerit,
Bern 1859, vgl. auch R. Klotz studia Aeschylea, Leipz. 1884. Über-
sicht von N. Wecklein Philolog. XXXI (1872) 733ff. Im allgemeinen
1083 über symmetr. Bau der trag. Dialogpartien gegen übertriebene An-
nahmen W. Christ Philol. Versamml. 1877, 141 ff. Die metrische Kunst
des A. zeigt bei großer Mannigfaltigkeit stets strenge Gesetzmäßigkeit.
Im Trimeter sind Auflösungen und Anapäste noch sehr beschränkt,
vgl. R. Enger Die Auflösungen im Trimeter des A., Rh. Mus. XI (1856)
444 ff. C. F. Müller de pedibus solutis in dial. senar. A. Soph. Eur.,
Berlin 1866. Rumpel Die Aufl. im Trim. des A. und Soph., Philol. XXV
(1867) 57 ff. G. Engelmann de vario usu trimetri iambici in diverbiis
trag. A. et Soph., Neusohl 1874. Die Chorgesänge sind so streng
ebenmäßig angelegt, daß nicht bloß Silbe um Silbe sich in Strophe
und Gegenstrophe metrisch entspricht, sondern auch dasselbe Wort oft
an derselben Stelle einen neuen Gedanken beginnt, s. Roßbach und
Westphal Griech. Metr. III öfter. Westphal (Prolegom. lOff. 96ff.)
wollte auch hier jedes xopi^öv nach dem terpandrischen Schema in
dpxd, öjnqpaXöc, cqppaTic teilen, s. dagegen bes. R. Arnoldt Der Chor
im Agam. des A., szenisch erläutert, Halle 1881, 40 ff., vgl. Dippe de
canticorum Aesch. compositione, Soest 1886. Außerdem sei besonders
angeführt Reiter de syllabarum in trisemam longitudinem productarum
usu Aeschyleo et Sophocleo, Wien 1887. Die Zahl der Choreuten ist
bei A. in früherer Zeit 12 im einzelnen Stück gewesen (vit. Sophocl.
Aischylos jgy
Suid. s. Cocp.). Sophokles soll die Zahl auf 15 erhöht haben. Sicher
ist außerdem aus Agam. 1299ff. und Eumenid. 585ff., daß der Chor
der Stücke der Orestie 15 betrug. Der mutmaßliche Gang ist der,
daß zunächst dem Tragiker wie dem Dithyrambendichter 50 Choreuten
gegeben wurden, von denen er den 4 Stücken je 12 zuteilte und die
2 übrigen zufügte, wo er wollte. Das muß auch in der Polluxstelle IV
111 stecken, auch wenn sie zum Teil falsch ist: xö be TraXaiöv 6 xpa-
TiKÖc xopoc TTevTriKOvra fjcav, dxpi tujv €i)|uevibuuv AicxuXou. Schon
um 465 werden 60 Choreuten (4x15) festgesetzt sein. Vorher aber
war im einzelnen größere Freiheit, und in den Supplices mag in dem
einen Stücke der ganze Chor oder doch mehr als 12 aufgetreten sein
(s. Wilamowitz Herakl. I 90). Über die Vortragsweise der Chorpartien
ist fast nichts Sicheres überliefert. Darüber, wann der ganze Chor,
wann Einzelchoreuten, wann Reihen desselben, wann Halbchöre, wann
der KopucpaToc das Wort haben, ist fast nur da Sicheres zu wissen,
wenn bestimmte Kriterien im Texte selbst vorliegen. Um so mehr ist
vermutet worden. G. Hermann begann in ausgiebigem Maße mit
solchen Zuteilungen in seinen Ausgaben. Von den zahlreichen Schriften
darüber sind besonders zu erwähnen Bamberger opusc. acad. I Iff.
Arnoldt Der Chor im Ag. des A., Halle 1881; Der Chor in den Sieben
des A., Halle 1882. Muff de choro Persarum fab. A., Halle 1878. Zacher
Philol. Vers. Gera 1879, 64 ff. V^ecklein Über die Technik und den
Vortrag der Chorges. des A. Jahrb. f. Philol. Suppl. XIII (1882).
Über den eigentlichen Stil des A. s. die Urteile der Alten bei
F. Scholl a. a. O. 36 ff. bes. Vita § 5: Kaid be xfiv cijv0eciv xfic Tioiriceujc
lr\koi t6 dbpöv oiei TrXdc|Lia, övojiiaTOTrouaic le Kai eiriOeToic, eii be
juexacpopaic Kai irdci toTc buvajuevoic ötkov ttj (ppdcei 7repi6eTvai xpi^- 1084
JL16V0C ktX., vgl. Frösche 1004 dW iL irpiuToc tOuv '€\Xr|viJuv TiupTtucac
pruLiara ce^ivd Kai Koc|Lir|cac TpaTiKov Xfipov und alles Folgende. Nichts
anderes soll es auch bezeichnen, daß A. laeeuujv seine Tragödien ge-
dichtet habe (Zeugnisse bei F. Scholl a. a. 0. 14ff.), als den besonders
hohen Schwung dieser wahrhaft dionysischen Natur. Der Wahnsinn
des Dionysos, d. h. die Trunkenheit, kommt ja nach ursprünglicher Auf-
fassung Ober jeden Dichter, wenn er dichtet (Athen. IX 406 diro ixiQnc
Kai n Tnc xpaTtubiac Kai f) xfic KUijuujbiac eupecic ev MKapia xfic 'AiTiKfic).
Über die Einzelheiten des aischyleischen Stiles, die Wortwahl, die
Komposita, die Formen, die Präpositionen und Partikeln, die Syntax,
die Metaphern und Bilder, die rhetorischen Figuren u. dgl. ist eine
umfangreiche Literatur, namentlich kleiner Schriften aufgelaufen, die
hier anzuführen nicht angeht, zumal sie an den gleich anzugebenden
158 Aischylos
Orten leicht aufzufinden sind. Lexica: Lex. Aesch. von Well au er,
Leipz. 1830. G. Linwood, London 1843-47. W. Dindorf, Leipz.
1873-76. L. Schmidt Supplementi in lex. Aesch. a Dind. compos.,
Greif fenberg 1875. Über die religiösen Anschauungen des A. ist un-
endlich viel Unbedeutendes und Schiefes gesagt und in Allgemein-
plätzen gesündigt worden. Hier kann um so weniger darauf eingegangen
werden, als gerade für die Theologumena Aeschyli die Einzeluntersuchung
der sakralen Tatsachen und der religiösen Empfindungen und Richtungen
der Zeit noch zu fordern ist. Gerade in dieser Beziehung haben wir
der Phrasen über A. wie über Pindar nun endlich genug. Immer noch
das Tiefste sind die betr. Schriften von Welcker (bes. auch Götter-
lehre II). Nägelsbach nachhom. Theol. mischt zu viel Fremdartiges
ein. Außerdem mögen wenigstens genannt sein R. H. Klausen Theo-
logumena Aesch., Bonn 1829. R. Hagen de rerum divinarum apud A.
condic, Berlin 1843. G. Dronke Die sittl. u. relig. Vorstell, des A.,
Jahrb. f. Philol. Suppl. IV 7 ff. De fato Aeschyleo nach vielen anderen
zuletzt Paul Stengel, Jena 1875. Cipolla della religione di Esch. e
di Pind., Rivista di filol. VL Über die politischen Anschauungen des A.
handelt besonders Dettweiler quid A. de republica Atheniensium
iudicaverit. Gießen 1878.
Die weitere Literatur über A. ist bequem zugänglich durch N.We ek-
le ins Bericht über die aeschyleische Literatur im Philolog. XXXI (1872)
712ff. XXXII (1873) 318ff. XXXIV (1878) 296ff. 317ff. 539ff. und in
Bursian-Müllers Jahresberichten. Außerdem s. R. Klußmann index
commentationum Aeschylearum inde a 1858 maxime in Germania edi-
tarum, Berlin 1878.
VIII
ÜBER DEN URSPRUNG DES SARAPIS'
Die Schöpfung des Sarapis ist die wesentlichste Erscheinung, durch 31
die jene gewaltige Bewegung, die wir Synkretismus nennen, eingeleitet
und schnell ausgebreitet wurde. Von geringen Ansätzen, die sich
vorher zeigen, abgesehen, ist sie deren Ursprung und kann dank aus- 32
gezeichneter Überlieferungen klar analysiert werden. Es ist ein religions-
geschichtlich einzig dastehender Vorgang, daß ein König und sein
Kultusminister im geheimen Kabinett einen Gott gemacht haben. - Die
Erzählungen bei Tacitus und Plutarch stimmen, ohne voneinander ab-
hängig zu sein, ganz überein. In drei Varianten, deren Quellen faßbar
sind, gehen alle Überlieferungen auf. Jene Erzählungen geben die
echte Tempellegende, die ursprüngliche Kulteinführungslegende. -
Sie ist nur zu verstehen, wenn wir alte Legendenmotive in ihr er-
kennen; es ist der alte Mythus von der wunderbaren Götterfahrt
und Götterepiphanie, von der Hyperboreerfahrt mit ihren be-
stimmten Routen und Stationen, unter denen auch Sinope seine Rolle
spielt. Weiter sind Kulteinführungslegenden der gleichen hellenistischen
Epoche (z. B. die des Asklepioskultes nach Rom) zu vergleichen. Aus
den alten mythischen, von selbst wieder wirksamen Motiven und den
in ihr nachgebildeten Legenden anderer Kulte der Zeit ist die Ein-
führungssage des Sarapis zu verstehen. Die gleichen Motive sind
immer wieder wirksam, noch bei den Legenden von Übertragung
mancher Heiligenreliquien bei den romanischen Völkern. Als Inschrift
wird der lepöc Xötoc im Sarapistempel gestanden haben; Timotheos
aus Athen, der Eumolpide, der eleusinische Priester, war ihr
Verfasser.
Schöpfer des Kultbildes war Bryaxis, der berühmte athenische
Künstler dieses Namens. Es wurde gezeigt, daß die Nachrichten von
* <Verhandlungen der 44. Versammlung deutscher Philologen und Schul-
männer in Dresden. Teubner 1897, S. 31 ff.>
150 ^^^^ ^®" Ursprung des Sarapis
ihm zu der Einführung des Sarapiskultes im Anfang der Ptolemäer-
regierung passen.
Weiter wurde die Gleichsetzung des Sarapis mit Osiris Apis be-
sprochen, seine ägyptischen Heiligtümer, seine Namensformen 'OcöpaTric
und CdpaTTic. Eine Anzahl Nachrichten, namentlich eine aus den
Ephemeriden Alexanders zwingt zur Annahme, daß der Name des
Gottes schon in Babylon vorhanden war. Nur mit großer Vorsicht
wurde die Angabe eines babylonischen Götterverzeichnisses angezogen,
wonach der babylonische Unterweltsgott Nergal auch Sarrapu geheißen
hat.^ - Die Hauptelemente der Entstehung, die griechisch sind, bleiben
deutlich erkennbar. Von den Einführungskämpfen des neuen
Kultes, aus denen die memphitischen Papyri kleine Bilder geben, von
den KdTOXOi des Gottes und ihrer Fortsetzung, von Pachomios, dessen
Sarapisdienst jetzt bezeugt ist, dem Gründer der ersten christlichen
33 Cönobien, konnte wegen der drängenden Zeit nur andeutungsweise
gesprochen werden. Die Hauptbedeutung der Einführung des Sarapis
ist die, daß er durch die Initiative eines Mannes als eine höhere
Einheit über die bisher verehrten Hauptgötter gesetzt wird,
die durch ihre plastische Ausgestaltung den Schritt weiterer Ab-
straktion hinderten: der Gott, der zwar einen Namen mitbringt
und als eine Person erscheint, aber durch kein vorhandenes Bild
umgrenzt ist in seinem Wesen, der vor allem mythenlos ist.
Die Gleichsetzung mit Zeus, Helios, Dionysos, Asklepios, Osiris,
Apis hat die mannigfachste Bedeutung, und die Frage, warum Pto-
lemaios diesen Gott einführte, warum er ihn so gestaltete, führt
nicht bloß auf politische, sondern auch auf tief religiöse Motive.
Es ist der Gott, den die Seele der Völker suchte. Sein Kult bahnt
dem 'Synkretismus', bahnt durch ihn dem Glauben an einen Gott
den Weg.
Wie wir für Mithras ein mustergültiges Urkundenbuch besitzen,
brauchen wir solche für Isis, Attis, Sarapis u. a. Ehe wir die
Geschichte des Synkretismus und seiner Kulte genau analysieren
können, ist die große Frage nach der Genesis des Christentums un-
lösbar.
Auf jene Aufgaben unserer Arbeit hinzuweisen, war der Hauptzweck
des Vortrags. Er wird veröffentlicht werden, wenn sich einige Fragen
* Ich wage um so weniger jetzt zu entscheiden, ehe C. F. Lehmann den
Sarapis als (Ea) sar apsi näher begründet hat, Zeitschr. f. Assyriologie
XII 1, 112.
Ober den Ursprung des Sarapis 151
mit Hilfe der Kenner babylonischer und ägyptischer Dinge schärfer und
einwandfreier erledigen lassen.^
^ <Das ist nicht geschehen; auch den Artikel 'Sarapis' in Roschers Lexikon
der griechischen und römischen Mythologie, den er übernommen hatte, hat
Dieterich nicht geschrieben ; er wollte ihn, wie Röscher auf dem Umschlag zur
57. Lieferung mitteilt, seinem Schüler Dr. Weber in Heidelberg übertragen
wissen. Geschrieben ist jener Artikel von C. F. Lehmann -Haupt und H. Ph.
Weitz, Röscher Bd. IV 338 ff. Für einen Teil der von Dieterich versprochenen
Abhandlung bietet Ersatz die Arbeit seines Schülers Ernst Schmidt, Kult-
übertragungen, III. Kapitel: Die Einführung des Sarapis in Alexandria (Rel.
Gesch. Vers. Vorarb. VIII 2, 47 ff.). Ein Punkt des hier wiederabgedruckten Referates
wurde Veranlassung zu einer Polemik mit E. Preuschen, s. die Besprechung
von dessen Buch 'Mönchtum und Sarapiskult', Berl. philol. Wochenschr. 1905, 14.)
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. H
IX
MATRIS CENA^
49 In mancherlei gesuchten Anspielungen antwortete Cicero (Epistulae
IX 16) auf einen inhaltreichen Brief eines genußfreudigen und geist-
reichen Freundes L. Papirius Paetus. Der hatte ihn gewarnt, den mächtigen
Caesar, der damals (46) noch nicht aus Afrika zurück war, durch vor-
witzige Scherze zu reizen, und hatte selbst der ernsten Mahnung eine
Anzahl harmloser launiger Bemerkungen beigefügt. Er habe in letzter
Zeit (durch die Maßregeln Caesars, Verschuldeten aufzuhelfen) so viel
Verluste erlitten, daß er äußerst sparsam leben müsse und den Freund
nur zu ganz frugalen Mahlzeiten bei sich sehen könne, allenfalls zu
einer tyrotarichi patina, einer Schüssel Heringssalat. Cicero antwortet
ernst auf die Warnungen, lustig auf die Scherze (§ 7 ff.: nunc uenio ad
iocationes tuas . . .). Er wünsche ja nicht allzu großen Aufwand, wenn
er komme. (§ 8): nee tarnen eas cenas quaero, ut magnae reliquiae
flant quod erit, magnificum sit et lautum. memini te mihi Phameae
cenam narrare. Phamea war ein verschwenderischer Parvenü, der Diners
im Stile des Trimalchio gegeben haben wird: temperius fiat, cetera
eodem modo, setzt Cicero übermütig hinzu und fährt fort: quod si
perseueras me ad matris tuae cenam reuocare, feram id quoque . . .
aber das wirst Du nicht wagen; Du wirst schon von meiner jetzigen
Üppigkeit gehört haben.
Kann wirklich von Diners, die die Mutter des Paetus gibt, die Rede
sein? Diners, die Cicero nicht gern über sich ergehen lassen will?
Das ist aus manchen Gründen nicht auszudenken. Die nächste Erwägung
ergibt, daß hier eine Anspielung versteckt ist, die einen äußersten Gegen-
satz gegen die cena Phameae, also zu cenam statt der Mutter einen
Namen angibt, der einen solchen Gegensatz bedeutet. Wir haben ja
den Brief des Paetus nicht mehr: hatte er von einem berühmten Ver-
treter frugalster Kost, dem er jetzt folge, gesprochen?
Wer dieser Vermutung entsprechend sucht, hat alsbald gefunden.
Athenaios II p. 44 d : Märpic b* 6 GrißaToc öv eßiuu xpövov oubev kiieiTO
' <Strena Helbigiana, Leipzig Teubner 1900 S. 49f.>
Matris cena J53
f| ^uppivTlC öXiTOv, oivou be Kai tujv äXXiuv Traviiuv direixeTO n\r]v
xjhaToc. Das steht in der Liste der Enthaltsamen und Wassertrinker 50
(OnßaToc ist aus 'Aenvaioc längst verbessert nach Ptolemaios Chennos
bei Photios cod. CXC 148^ wo die entsprechende Angabe steht). Es
ist höchst wahrscheinlich, daß es der gleiche ist mit dem Asianer
(Autor Ttepi öipouc c. 3), dem viinvoTpacpoc, der das eTKuuiniov 'HpaKX^ouc
verfaßte und Quelle Diodors für die Heraklesgeschichte ist (ich weise
nur hin auf Bethes Zusammenstellungen und Ausführungen, Quaestiones
Diodoreae p.41 ff.). Ptolemaios Chennos hatte den Zug, daß der Rhetor Matris
aus Theben ein so strenger Vegetarianer und Wassertrinker gewesen,
nicht erst erfunden; der literaturkundige Paetus konnte mündlich und
brieflich diese Tradition erwähnen und Cicero ihm auf die scherzhafte
Schwärmerei für seinen Matris antworten: quod si perseueras me ad
Matris tui cenam reuocare, feram id quoque (daß tuae für tui geändert
wurde, ist, da man später den Namen weder kannte noch erkennen
konnte, selbstverständlich). So verstärkt sich das Andenken an einen
berühmten Enthaltsamen, sei es, daß er es wirklich gewesen oder nur
im Gerüchte der Nachwelt; und man wird es verzeihlich finden, daß
zur dankbaren Erinnerung an die anregendsten römischen Stunden der
Schatten eines großen Wassertrinkers beschworen ward: die Römer
zitierten ihn auch nur zum Scherz: quod si perseuero te ad Matris
cenam reuocare, feras id quoque.
11
X
DIE WIDMUNQSELEGIE DES LETZTEN BUCHES
DES PROPERTIUS^
1
191 'Alles, was Du hier siehst, Fremdling, wo die gewaltige Roma steht,
war vor dem Phryger Aeneas grasbewachsener Hügel' beginnt der
Dichter, der sich an einem Punkte stehend denkt und sich ganz als
Periegeten einftihrt, der einem Fremden die Herrlichkeiten seiner Stadt
zeigen will. Der hospes wird nicht weiter berücksichtigt, aber die
Anrede an ihn gibt doch das Motiv ab der ganzen Rede, bis dann
(V. 71) dem immer begeisterter schwärmenden Dichter eine zweite
Person ins Wort fällt und ihm ein ganz anderes Bild zeigt, als Properz
es erschauen wollte. Es ist ganz der Wirklichkeit nachgebildet, wenn
der Poet hier wie auch sonst bei Antiquitäten und Aitia oder in natur-
wissenschaftlichen Gedichten den Cicerone spielt, den Exegeten und
Periegeten.^
Das Thema für die nächstfolgenden Verse stellen die beiden ersten.
Die bei den Dichtern gerade damals so häufig verwendete wirksame
Gegenüberstellung des in ganz bestimmten Farben ländlicher und bäuer-
licher Einfachheit ausgemalten Bildes des urzeitlichen Rom und der
strahlenden Gold- und Marmorherrlichkeit der Augustusstadt hier so
scharf herauszuarbeiten, mochte er gerade noch durch Vergils Aeneis
und das fünfte Gedicht im zweiten Tibullbuche angeregt sein (bes.
Aen. VIII 347, 360, namentlich auch was die Einführung Euanders be-
trifft; Tib. II 5, 25). Wie in den beiden ersten Versen wird in nur leise
variierender Formulierung die Pracht der Gegenwart dem einfachen
192 Zustande des Ortes in der Urzeit in bestimmterer Exemplifikation und
engerer Umgrenzung entgegengesetzt. Der Dichter steht auf dem
Palatin: nur von da kann er alles Folgende zeigen - denn er zeigt
wirklich hin: wie im ersten Verse hoc, so V. 5 haec templa, V. 9 ista
' <Rhein. Mus. LV 1900 S. 191ff.>
^ Siehe Sudhaus zum Aetna S. 124 Z. 14 v. u., S. 153 Mitte; S. 206 ff. Die
Anrede (h Heive bei Kallimachos fr. 196 Sehn, ist ebenso zu beurteilen.
Die Widmungselegfie des letzten Buches des Propertius 155
domus -, und nur so sind die mannigfachen Beziehungen auf den
Palatin verständlich. Hier zeigt er denn auch zuerst den heiligen Be-
zirk des Apoll: die Worte Nauali stant sacra Palatia Phoebo bezeichnen
ganz eigentlich die Weihung durch Augustus, die schon 36 vollzogen
ward^; seit 28 stand nun auch der große Tempel geweiht. 'Tönernen
Göttern erwuchsen diese goldenen Tempel!' Gewiß sind im allgemeinen
die Tempel gemeint, die rings zu schauen sind; zunächst auch der
Tempel Apollos, der mit allerhöchster Pracht geschmückt war (die
aurea porticus hat Properz selbst früher schon ausdrücklich erwähnt
II 31, If.). Es hindert uns aber nichts, in fictilibus, das ebenfalls zu-
nächst im allgemeinen die Götter der Urzeit überhaupt meint, denen
man einst, wie der folgende Vers hinzufügt, kunstlose Hütten baute,
strohgedeckte sacella, KaXidbec (eine Anspielung auf die casa Romuli
könnte hier nur ganz leise mit beabsichtigt sein), einen besonderen
Hinweis auf luppiter fictilis zu erkennen; durch ihn kommt der Dichter
Oberhaupt darauf, von dei fictiles verallgemeinernd zu sprechen. Im
Jahre 28 hatte Augustus den Tempel des kapitolinischen Juppiter wieder
hergestellt; impensa grandi refeci sine ulla inscriptione nominis mei,
Mon. Anc. IV 9. Schon nach dem dritten Punischen Kriege war das
Deckengebälk vergoldet worden (Plin. n. h. XXXIII 57), das Dach des
Neubaues, der 69 vollendet war und sich von dem alten Bau nur durch
die größere Pracht der Ausführung unterschied, war mit vergoldeter
Bronze gedeckt (Plin. a. a. 0.), und Vergil meint diesen Schmuck Aen.
,VIII 347: Capitolia . . aurea nunc, olim siluestribus horrida dumis. Vom
Palatin aus sah man das goldene Dach herüberleuchten, wie sich auch
zum Überfluß aus der taciteischen Schilderung der Vitelliuskämpfe er-
gibt (Tac. bist. III 71). Fictilibus creuere deis haec aurea templa!
Das nun folgende Versepaar sagt, daß einst Juppiter der Tarpeische 193
vom nackten Felsen habe donnern müssen und einst sei selbst den
Herden der Tiber ein Fremder gewesen. Der zweite Vers malt nur
das Bild der Urzeit weiter aus, von der im ersten Verse schon deutlich
das gesagt wird, daß es für den donnernden tarpeischen Vater nur
einen Fels ohne Tempel gab: wenn wir wissen, daß Augustus im
Jahre 22 einen Tempel des luppiter ton ans geweiht hatte, so mag der
Tempel bedeutend oder nicht gewesen sein - im Monum. Ancyranum
IV 5 wird er ausdrücklich angeführt aedes in Capitolio louis feretri
* Dio Cass. XLIX 15 töv tottov tiD 'AttöUiuvi iepujc€v, siehe die Stelle und
anderes in Rothsteins Kommentar, dessen Angaben ich nur wiederhole, wo sie
zu meinen Ausführungen notwendig sind. Ich knüpfe an seine Erklärung als
die letzte an, und eben über sie hinauszuführen ist meine Absicht.
156 ^^® Widmungselegie des letzten Buches des Propertius
(den Properz IV 10 behandelte) et louis tonantis^ -, er mag direkt auf
der eigentlichen rupes Tarpea gelegen haben oder nicht, nahe lag er
jedenfalls: Properz hat ihn ohne jeden Zweifel gemeint.^
Auch die beiden folgenden Verse müssen Neues und Altes in Gegen-
satz stellen. Mag man den Hss. (außer dem Neapolitanus, der quod
bietet) folgend lesen quo (qua mit der Konjektur der Itali) gradibus
domus ista Remi se sustulit olim, unus erat fratrum maxima regna
focus, oder mag man, wie seit Lachmann in der Regel (schon Brouk-
husius schlug es vor), die Interpunktion vor olim setzen, immer sind
es zwei Sätze, die auf die gleiche alte Zeit gehen, solange man, wie
es auch Rothstein tut, in dem ersten Verse die casa Romuli und die
scalae Caci wiederfinden will. Die Zeit, da sich 'über' den gradus Mas
Haus der beiden Brüder aufgebaut hat' (so Rothstein) - die casa
wurde ja als Rest höchsten Altertums noch zu Properz' Zeiten gezeigt -,
kann auf keine Weise mit einem olim entgegengesetzt werden der
Zeit, da ein Herd noch der Brüder größtes Reich war; noch irgendwie
umgekehrt. Aber wir dürfen kurz sein: die casa des Romulus lag in
der Nähe der Treppe des Cacus; dieser Tatbestand kann nie so aus-
gedrückt werden: casa gradibus se sustulit. Rothstein hat richtig ge-
fühlt, daß da 'ein römischer Leser zunächst nur einen Prachtbau ver-
stehen' kann, Vie sie in der Zeit des Dichters üblich waren'; es folgen
194 einige Beispiele. Zunächst nur? Überhaupt nur. Der Interpret springt
vom rechten Wege der Erklärung mit seltsamen Worten ab, 'der Aus-
druck ist absichtlich so gehalten, daß er zunächst irreführen muß'.
Wahrlich, eine seltsame Art und eine seltsame Gelegenheit, den Leser irre-
zuführen! Es ist wirklich ein Prachtbau gemeint, der sich auf Stufen erhebt,
wo einst in einer Hütte, gleicher Erde, der eine Herd war: das einst meint
die casa Romuli, das jetzt die domus Augusti. Man weiß, wie Remus be-
liebig für Romulus oder für beide gesetzt wird (auf II 1, 23 regnaue prima
Remi weist auch Rothstein hin; vgl. IV, 6, 80 reddat signa Remi von
den römischen Feldzeichen), und daß Augustus als ein neuer Romulus
nicht nur angesehen, sondern auch so genannt sein wollte (so sollen denn
auch ihm beim Antritt des Konsulats wie dem Romulus zwölf Geier
erschienen sein). Eine Stelle des Dio Cassius (LIII 16) zeigt am besten,
wie Properz zu seinem Ausdrucke gekommen ist: KaXeixai b^ xct ßaci-
^ Weitere Belege bei Mommsen zu der Stelle des Mon. Anc. S. 81.
* Rothstein hätte diese schon mehrfach vor ihm festgestellte Interpretation
nicht wieder wankend machen sollen. Die unsichere Erklärung der vorgehen-
den Verse ist schuld daran. Hier wie namentlich in der Erklärung der folgenden '
Verse hatte Krahner Philologus XXVII (1868) S. 65, 67 ff. den richtigen Weg ge-
wiesen, den man nicht wieder verlassen durfte.
Die Widmungselegrie des letzten Buches des Propertius 157
Xeia TTaXdxiov . . . öti ev t€ tuj TTaXaTiiu 6 KaTcap ujkci ... Kai Tiva
irpöc Tfiv Toö 'PiwmjXou TTpoevoiKTiciv cpriiLiTiv f] oiKia auToO diro toO
TravTÖc öpouc eXaße. Aber schwerlich konnte der Dichter sagen, Vo
dies Remushaus auf Stufen sich erhoben hat, war einst ein Herd der
Brüder größtes Reich'. Die casa Romuli befand sich immerhin oder
hatte sich befunden in etlicher Entfernung von dem Augustuspalast,
nahe dem Abstieg zum Zirkus. Gradibus ohne Zusatz ist nicht wohl
erträglich; es kann kaum 'die Art des Neubaus gegenüber jenem focus',
so nackt gebraucht, bezeichnen. Und man hat ja auch, um so zu er-
klären, die handschriftliche Lesart quo verlassen und zu der alten
Änderung qua greifen müssen. Ich mache es kurz: man gehe von
der Lesart des Neapolitanus quod aus und schreibe
quot gradibus domus ista Remi se sustulit! - olim
unus erat fratrum maxima regna focus.
Es wird sich noch an andern Stellen auch dieses Gedichtes die Über-
lieferung des Neapolitanus vor allen andern bewähren.
In den folgenden Versen wird wieder ganz in der bisherigen Weise
ein Prachtbau der Neuzeit - und wieder bemerken wir sofort, daß es
ein augusteischer Bau ist, die Curia lulia, drüben am Forum, auf dem
Comitium, die, von Cäsar begonnen, 29 von Augustus geweiht ward
(Mon. Anc. IV L Dio LI 22) - den einfachen Einrichtungen der Vor-
zeit gegenübergestellt, für deren Schilderung diesmal noch zwei Verse
mehr verbraucht werden. Es ist nicht der gleiche Platz, auf dem sich
jetzt die glänzende Kurie erhebt, wo die Hundert einst auf dem Wiesen- 195
plan tagten: Properz mag auch an die curiae ueteres auf dem Palatin
gedacht haben.
Der Dichter ist schon ein wenig in die Beschreibung alter Sitten
hineingekommen. Aber doch erwarten wir nach der Erwähnung einer
Reihe so bestimmter Neubauten seiner Zeit, daß auch mit dem negativ
gewendeten Hinweis auf besonders reiche und luxuriöse Theater-
ausstattungen (nee sinuosa cauo pendebant uela theatro etc.) irgend-
welche besondere Veranstaltung augusteischer Regierung gemeint sei.
Man pflegt als Parallelstelle aus dem 18. Gedicht des 3. Buches an-
zuführen aut modo tam pleno fluitantia uela theatro (V. 13), wie es
auch Rothstein tut, ohne etwas Weiteres, zu folgern. Es ist offenbar,
wenn man auch erste Anwendung jener vela schon andern zuschrieb
(Plin. h. n. XIX 23), ein großer Eindruck unerhört prächtigen Luxus-
aufbaues, den die Überdeckung des ganzen Forums für Theaterspiel
durch das Wohlwollen des Kaisers zu Ehren der Spiele des Ädilen
Marcellus gemacht hatte (Dio LIII 31, 2). Das zeigen am deutlichsten
158 Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius
die Worte des Plinius (am eben angef. O.), die er der Angabe eben
dieses unerhörten Unternehmens hinzufügt: quantum mutatis moribus
Catonis censorii qui sternendum quoque forum muricibus censuerat.
So war die Erinnerung an diese Merkwürdigkeit besonders eifrig weiter
Oberliefert; im Jahre 22 - kurz vor dem Tode des Marcellus - war
es geschehen, und dem Properz stand es lebhaft als höchster Beweis
der Luxus- und Machtmittel des augusteischen Rom vor Augen. Und
während all dieser Jahre sah Rom, sah Properz die Bautätigkeit an
dem großen Theater, das erst etliche Jahre nach der Veröffentlichung
auch seines letzten Liederbuches als Theater des Marcellus geweiht
wurde (13 oder 11, s. Gilbert Geschichte und Topographie der Stadt
Rom im Altertum III 327 ff.): es wird immer unter den hauptsächlichsten
Bauten des Augustus genannt (Mon. Anc. IV 23. Suet. Aug. 29), und
Properz konnte recht wohl auf den großen augusteischen Haupttheater-
bau hindeuten wollen, wenn er die Einrichtung des höchsten Theater-
luxus, den er vielleicht auch an diesem Bau vorbereiten sah, im
Gegensatz zur Einfachheit der Urväterzeiten erwähnte, die hier nicht
einmal einen Anfang darbot, der dem Gegensatze hätte dienen können.
Der Dichter verläßt die Schilderung der Bauten; schon die Erwähnung
der neuen Kurie führt ihn ab zur Schilderung ältester Bräuche; er
196 widmet ein paar Worte dem modernen Theaterluxus, er findet den
Übergang zu etwas anderm, den religiösen Festen von einst
und jetzt.
Der Perieget hat einleitend dem Fremdling die Hauptbauten des
augusteischen Rom gezeigt, die durch den dunkeln Hintergrund der
ältesten Zeiten in feinster Kunstwirkung zu hellstem Glänze heraus-
gehoben werden: die Haupttempel des Palatins und Kapitols (Apollo-
tempel und Juppitertempel), insbesondere noch den Tempel des luppiter
tonans, die domus Augustana und die neue Curia lulia, und wenn ich
es nach der Hindeutung am Schlüsse hinzufügen darf, das theatrum
Marcelli. Alle sind bis auf das letztere, das während der Abfassung
des Gedichtes im Bau war, zwischen 30 und 22 vollendet worden. Sie
alle stehen im Monumentum Ancyranum als Hauptbauten verzeichnet —
begreiflicherweise ohne die domus Augustana, mit dieser, hier domus
Palatina genannt, z. B. in d^r Aufzählung der wesentlichsten Bauten
bei Sueton c. 29, wo wiederum nur die Erwähnung des Neubaues der
Kurie fehlt.
2
Über den folgenden Abschnitt sind hier nur wenige Worte nötig.
Ich wiederhole nicht, was zur nächsten Erklärung längst genügend be-
Die Widmung-selegfie des letzten Buches des Propertius 169
reitgestellt ist. Das dürfen wir ohne weiteres für diese nächsten Verse,
in denen von kultischen Begehungen und religiösen Festen die Rede
ist, erwarten, daß irgendeine Beziehung zu den augusteischen Be-
strebungen in dieser Richtung vorhanden sei. Auf die so naheliegende
Reorganisation des Kultes der Lares compitales hat Rothstein wenigstens
noch im Anhang hingewiesen^ und dazu auch die Suetonstelle angeführt
c. 31 non nulla etiam ex antiquis caerimoniis paulatim abolita restituit,
ut . . . . ludos saeculares et compitalicios. Das unmittelbar vor ludos
saeculares stehende sacrum Lupereale führt er nicht mit an. Und doch
liegt es, meine ich, nahe genug, daß so wie die Verse 23 f.:
parua saginati lustrabant compita porci, 197
pastor et ad calamos exta litabat ouis
die Kleinheit der alten Opfer und die Einfachheit des alten Festes
hervorhebt^ im Gegensatze zu irgendwelchen größeren und reicheren
neuen Begehungen, die nicht weiter geschildert werden, ebenso
V. 25 f.
uerbera pellitus saetosa mouebat arator,
unde licens Fabius sacra Lupercus habet
die alte bäuerliche Luperkalienfeier meinen in einem entsprechenden
nicht ausgeführten Gegensatze, hier mit dem besonderen Hinweis auf
Sacra, die gegenwärtig (noch oder wieder) geübt werden (habet). War
die Prozession der Luperci während der Bürgerkriege in Vergessenheit
geraten, im Jahre 44 trat zu Ehren Cäsars zu den Kollegien der luperci
Fabiani und Quintiliani das der luperci lulii hinzu, denen aber die von
Cäsar angewiesene Dotation nach dessen Tode schon wieder genommen
war' — Grund genug eines ganz besonderen Interesses des Augustus
für diese Kulteinrichtungen. Aus Sueton haben wir noch weitere Vor-
schriften einer Neuorganisation, und auch das Monumentum Ancyranum
(IV 2) erwähnt die Herstellung des alten Kultheiligtums, des Lupercal
(vgl. die Erwähnung des Larentempels in summa sacra uia ebenda
IV 7). Lesen wir nun gerade in demselben Suetonkapitel ausdrücklich
^ Er will im Kommentar zu V. 18, daß der Dichter an die Compitalia denke:
dieser Vers gerade bezieht sich nur auf vergangene Bräuche und erregt mit
keinem Worte einen Gedanken an die Feiern der Gegenwart, ja ein solcher
Gedanke müßte diesem Verse seinen zu dem vorhergehenden wohl pointierten
Sinn nehmen. Ebenso wird auch V. 10 der Sühnbrauch des Parilienfestes als
ganz vergangen behandelt.
- Die ludi compitalicii waren zudem seit Cäsar in besonderen Verfall ge-
raten (Ascon. p. 6 K.-Sch. qui ludi sublatis collegiis discussi sunt).
=» Marquardt-Wissowa Rom. Staatsverwaltung HP 441; 446.
170 ^^® Widmungselegie des letzten Buches des Propertius
noch erwähnt eine Hebung des Vestakultes\ so verstehen wir besser,
warum in den beiden, jenen vier angeführten unmittelbar vorhergehen-
den Properzversen die frühere Einfachheit und Dürftigkeit gerade des
Vestafestes hervorgehoben wird:
Vesta coronatis pauper gaudebat asellis^
ducebant macrae uilia sacra boues.
198 Natürlich kann hier so wenig etwa schon an die Aufnahme des Vesta-
kults ins Palatium gedacht sein wie bei den folgenden Versen auf be-
stimmte Organisationen des Laren- und Lupercikults hingewiesen zu
sein braucht (die z. T. erst nach der Abfassung dieses Gedichtes fallen
mögen), aber gewiß sind gerade diese Kulte und Feste nicht ohne
Seitenblick auf die wohlwollende Förderung und Hebung zu neuem
und höherem Glänze durch Augustus genannt, wird gerade ihre einst
so einfache Feier betont. An erster Stelle in dieser ganzen Reihe
wird das jährliche alteinheimische Sühnfest der Parilien mit einem ver-
gleichenden Hinweis auf das auch jetzt übliche lustra novare durch
das Opfer des Oktoberrosses — auch hier wird, ohne daß es mit aus-
drücklichem Zeugnis zu belegen wäre, Augustus den alten Brauch, der
mit dem Vestadienste zusammenhing, wohlwollend gefördert haben -
entgegengesetzt dem externos quaerere divos, an das einst niemand
dachte, als man - und der folgende Vers (18) soll nur einen besonders
einfach bäuerlichen altvaterischen Festbrauch nennen — mit Oscillen
feierte:
nulli cura fuit externos quaerere divos,
cum tremeret patrio pendula turba sacro.
Der erste Vers bildet den bedeutsamen, hier für die Schilderung
der alten Bräuche negativ gefaßten Gegensatz zu all den folgenden
andeutenden Schilderungen, die wiederum nur durch die betonten Bei-
worte der Dürftigkeit und Ärmlichkeit den Gedanken an glänzendere
Gegenbilder erregen. Wenn man gewiß mit Recht unter den externi
* Sacerdotum et numerum et dignitatem sed et commoda auxit, praecipue
Vestalium uirginum. Cumque in demortuae locum aliam capi oporteret, am-
birentque multi ne filias in sortem darent, adiurauit, si cuiusquam neptium sua-
rum competeret aetas, oblaturum se fuisse eam. Dann folgen neben der bloßen
Erwähnung des Salutis augurium und des Diale flaminium nur die Angaben
über die Luperkalien, Säkularspiele und Kompitalien.
^ Ein Kommentar sollte nicht versäumen auf die Illustration dieser Bräuche
durch pompejanische Bilder hinzuweisen, z. B. Museo Borb. VI 51, O. Jahn Arch.
Zeitung 1854 S. 192. In vielen solcher Fälle würde auch dem Kommentar eine •
beigegebene Abbildung in der heute so bequemen und wohlfeilen Zinkographie
die willkommensten Dienste tun.
Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius 171
diui nicht 'die in der Zeit des Dichters eindringenden orientalischen
Götter' versteht, 'sondern die griechischen Götter mit ihren kostbaren
Tempeln und anspruchsvollen Kultusgebräuchen', so kann es gar nicht
anders sein, als daß der Dichter und daß jeder Römer damals an die
große Säkularfeier des Jahres 17 dachte. Ohne Zweifel ist dies Gedicht
zwischen 17 und 15 verfaßt, zu Ende gedichtet, so wie es vorliegt,
und redigiert höchst wahrscheinlich, nachdem auch das letzte Gedicht
des Buches im Jahre 16 gedichtet war. Das große Fest des Jahres 17
war aber nicht nur die Entfaltung höchster ritueller Pracht der neuen
Ära, es galt recht eigentlich dem göttlichen Schirmherrn des neuen
Reiches, der neuen Residenz, dem Apollon. Zu Anfang der dreitägigen 199
Weihung galten die Opfer den alten Staatsgöttern Juppiter und Juno,
am dritten den neuen Göttern auf dem Palatin, und ihr Festritual hatte
die Sibylle gegeben, die eigentliche Repräsentantin des griechischen
Kultes, der externi divi, wie sie hier Properz meint. Ihr Gott ist ja
Apollo, der Gott des strahlendsten Tempels wie des glänzendsten
Festes, von dem der Dichter ausging, als er begann die maxima Roma
seiner Zeit zu preisen und zu vergleichen mit der Einfachheit des
Vergangenen.^
3
Die folgende Versgruppe gibt Veranlassung, auf eine wichtige Einzel-
frage der Überlieferung einzugehen. Denn der allgemeine Sinn der
Verse ist klar. Die Einfachheit der Kriegführung alter Zeit, die ersten
praetoria, die Lucmo im Filzhut errichtete, die Regierung des Tatius
unter seinen Herden - immerhin ist das glänzende Palatium und der
Glanz der augusteischen Regierung der unausgesprochene Gegensatz -
ftihren zu kurzem Überblick über die Entwicklung Roms zu Anfang
seiner Kriegsgeschichte. Aus diesen Anfängen gingen die ersten
Triumphe hervor: gerade von Romulus heißt es, daß er zuerst triumphiert,
und so wird er neben Lucmo und Titus Tatius ganz besonders hervor-
gehoben. Nach bekannten Überlieferungen werden zu den drei Arche-
geten der römischen Geschichte die drei Urtheile des römischen Volkes
parallel gestellt; zu Romulus, Titus Tatius, Lucmo: Ramnes, Tities,
Luceres. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Properz bei den ersten
praetoria, die der etruskische Priesterfürst errichtet, an die Etrusco ritu
* Es sind vorwiegend Sühnfeste {quaerunhir divi zur Sühne), die der
Dichter im einzelnen anführt - mehrmals will er sie als solche bezeichnen
lustra nouantur 20, lustrabant 23 -, das glanzvolle Sühnfest des Jahres 17
schwebt dem Dichter vor Augen und Sinnen, als er den Vers von den externi
diui den folgenden voranstellt.
172 D^® Widmungselegie des letzten Buches des Propertius
(Varro 1. 1. V 143) vollzogene erste Stadtgründung, die Roma quadrata
auf dem Palatin, denkt, und daß hinc noch in erster Linie direkt lokale
Bedeutung hat. Auf dem Palatin steht ja der Perieget, von da ist die
ganze römische Geschichte ausgegangen, von da ist auch Romulus
ausgezogen zum Triumph aufs Kapitol. Eine Anzahl in kurzgefügten
Sätzen angeführter Ortsnamen aus der ältesten römischen Kriegsgeschichte
machen die Kleinheit und Geringfügigkeit der Verhältnisse und Kämpfe
alter Zeit besonders deutlich.
200 Quippe suburbanae paruae minus urbe Bouillae*
Et qui nunc nulli, maxima turba Gabi
Et stetit Alba potens, albae suis omine nata,
Hac ubi Fidenas longe erat isse uia.^
Wie all diesen Versen der Gedanke des Gegensatzes gegen die Welt-
stadt von heute die Pointe gibt^ zeigen recht deutlich die Schlußsätze
dieser Reihe:
Nil patrium nisi nomen habet Romanus alumnus,
Sanguinis altricem non pudet esse lupam.^
Von den Väterzeiten ist nichts mehr übrig als der Name des Römers.
Er braucht sich nicht zu schämen, daß eine Wölfin (die Wölfin des
Mars) es war, die sein Leben genährt hat. Durch Kriege hat sich
seit damals die Stadt bis zur völligen Unähnüchkeit und Unvergleichbar-
keit (zwischen Rom und Rom - nur der Name blieb) verändert.
^ Der Ablativ parua minus urbe würde es unmöglich machen, daß V. 33
und 34 nebeneinander stünden. Der alte Vorschlag paruae gibt erst die not-
wendige Parallelität des Ausdruckes und des Sinnes (s. auch Birt Berl. ph.
Wochenschrift 1898 Nr. 42, S. 1287). - Überliefert ist uiole (uiolae). Die Kon-
jektur der Itali Bouillae muß richtig sein. Apiolae, das in Betracht kommen
könnte, kann kein langes o haben.
* So schreibt und erklärt auch schon Krahner Philologus a. a. O. S. 72.
Es werden die beiden Endpunkte des römischen Eroberungsgebietes genannt,
und gewiß schwebt nicht nur vor, daß Tidenae eine Kolonie von Alba und mit
ihm in Verkehr (Verg. Aen. VI 773 Liv. I 27)' (Krahner) war, sondern auch die
Geschichte von dem Kriege mit Fidenae, da den Albanern, die jenen Weg in
verräterischer Absicht zurücklegten, das Zögern den Untergang brachte. Viel-
leicht daß gar noch eine Anspielung auf Alba longa im Spiele ist; alba ist ja
durch die alba sus im vorhergehenden Verse erklärt.
^ Man würde wohl zu viel tun, wenn man darauf hinwiese, daß Augustus
die Caerimonien des Bundes mit den alten latinischen Städten geflissentlich
erneuerte, wie z. B. Antistius den Auftrag erhielt, den alten Vertrag mit Gabii
wieder herzustellen (s. Gardthausen Augustus I 2, 879). Den Dichter interessieren
diese Altertümer römischer Geschichte nur des Gegensatzes halber. Eher
dürfte man sagen, daß er gerade Bouillae zuerst nennen mag, weil es der
Stammsitz der Julier ist. Ich erinnere an die Weihinschrift des Altars aus
augusteischer Zeit, 'der nach albanischem Ritus' geweiht war.
" Alumnus und altricem sind natürlich in Beziehung aufeinander gesetzt.
Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius 173
Ich wende mich zurück zu V. 31, der (abgesehen von gelegentlichem
Schwanken über Titiens, das überliefert ist, oder Tities mit der not- 201
wendigen Pluralform) nie in einer Ausgabe anders als so geschrieben ist:
Hinc Tities Ramnesque uiri Luceresque coloni.
Die Lesart des Neapolitanus (und mit ihm nach Hosius' Angaben
Rhein. Mus. XLVI 581 einer ganzen Anzahl italienischer Codices) soloni
hat, scheint es, niemanden auch nur zu der Erwägung veranlaßt, ob
sie möglich sei. Seltsam, daß die oft, auch vom neuesten Properz-
erklärer zitierte Stelle des Dionysios von Halikarnaß II 37, 2 nKe hk. auTuj
Tupprivüuv ^TTiKOupiav iKavfiv ctTiuv ek CoXujviou TröXeujc (gewöhnlich ist
OuoXciviou TT. dafür geändert) dvfip bpacxripioc Kai xct iroXeiuia öiacpavf]c
AuKÖjLiujv övo|Lia niemanden hat bemerken lassen, ein wie merkwürdiges
Zusammentreffen es ist, daß bei Dionysios Auköjuuuv kommt eK CoXiuviou
TTÖXeujc, nach N bei Properz die Leute des Lucmo, denn das sind hier
die Luceres, Soloni heißen. Kennen wir sonst diesen Namen? Fünf
Stellen stehen uns zur Verfügung. Die präziseste lokale Auskunft gibt
Cicero de divin. I c. 36. Es ist von einem Begebnis mit dem jungen
Roscius die Rede, das sich zutrug in Solonio, qui est campus agri
Lanuuini. Der gleiche Ort wird bei einer zweiten Erwähnung derselben
Sache noch einmal genannt in derselben Schrift II c. 31, wo eine Be-
merkung hinzugefügt ist, die für den Zustand der Gegend in ciceroni-
scher Zeit charakteristisch sein kann, sed ut in cunis fuerit anguis, non
tarn est mirum, in Solonio praesertim, ubi ad focum angues nundinari
solent. Bei Cicero findet sich noch eine Stelle, in dem dritten Stücke
des zweiten Buches der Atticusbriefe; es ist dort davon die Rede, daß
man politischen Verwicklungen ausweiche und sich ruhig halte quies-
cendum, quod est non dissimile atque ire in Solonium aut Antium:
offenbar beide Villen ziemlich einsam und ziemlich nahe bei Rom ge-
legen, schwerlich sehr weit voneinander. Und so heißt es denn auch
bei Livius VIII 12 Antiates in agrum Ostiensem Ardeatinum Solonium
incursiones fecerunt. Die Lage des ager Solonius ist für uns deutlich
umschrieben, wenn wir zu den angeführten noch die Festusstelle fügen
p. 250 Pomonal est in agro Solonio, via Ostiensi ad duodecimum lapi-
dem deuerticulo a miliario octavo und endlich die Plutarchstelle Marius
c. 35, wo es von Marius, der Rom verlassen hat, heißt eic xi tujv
dTrauXiiuv aiiioO CoXiuviov KaTe9UTe. Von da erreicht er nämlich dann
in Ostia ein Schiff.^
^ Von Acca Larentia erzählt Gate bei Macrobius I 13, 16, sie habe dem römi-
schen Volke hinterlassen agros Turacem Semurium Lintirium et Solinium. Hier
174 Die Widmungseleg-ie des letzten Buches des Propertius
202 Aus diesem ager Solonius wären also nach der Erzählung, die Diony-
sios gibt, Lucumo und die Etrusker dem Romulus zu Hilfe gekommen,
als er mit Titus Tatius kämpfte. Wir stellen am besten neben diese
eine Nachricht, die bei Festus Pauli uns geblieben ist p. 119 Lucereses
et Luceres quae pars tertia populi Romani est distributa a Tatio et Romulo
appellati sunt a Lucero Ardeae rege qui auxilio fuit Romulo adversus
Tatium bellanti. Bald von einem Lucumo, bald von einem Lucerus
werden in den verschiedenen Überlieferungen die Luceres abgeleitet/
Wir wundern uns weniger, daß eine Version der Sage die etruskischen
Luceres von Ardea kommen läßt, wenn wir uns erinnern, daß auch
jene Sage, die den Turnus zum Rutulerfürsten machte, Ardea als etrus-
kische Stadt gedacht hat; uttö PoutovjXujv tOuv Tupprivojv hat Appian
gesagt (Phot. cod. 57 p. 166, 18). Turnus selbst ist etruskischer Lucumo,
Vasall des Mezentius : es ist ja der 'Etrusker' (Tursnus, Tupprivöc bei Dion.Hal.).
Ich brauche hier nicht zu erörtern, was wir von einer etruskischen
Herrschaft in jenen Gegenden südlich von Rom wissen können, und
welche versprengten Zeugnisse und Denkmale uns auch hier die beispiel-
loseste Vernichtung wahrer Traditionen durch römisch -patriotische
Tendenzgeschichte erkennen lassen^ — der Name Tusculum hat ja
immer an dergleichen gemahnt -; genug, daß es eine Version der
Überlieferung gab, nach der die etruskischen Luceres aus dem Gebiet
von Ardea und der nahen solonischen Flur, wie sie noch zu Ciceros
Zeit, wenn auch verödet, benannt wurde, gekommen waren, daß dieser
Überlieferung Properz folgen konnte. Und daß er ihr gefolgt ist und
die Luceres nicht nach der platt verständlich gemachten, gewöhnlichen
Überlieferung coloni, sondern Soloni genannt hat, mag uns nach den
angestellten Erwägungen nun doch wohl die Lesung der besten Hand-
schrift, des Neapolitanus, beglaubigen.
4
203 Der Dichter wendet sich von der ältesten Entwicklung Roms mit
ganz besonderem Nachdruck zu Roms troischem Ursprung. Es braucht
können wir über den Namen und seine Überlieferung nicht urteilen, s. Gilbert
Gesch. und Topogr. der Stadt Rom II 111, vgl. 167 f.; Wissowa in seiner Real-
Encycl. u. Acca.
* Cic. de re publ. II 14 (Romulus) populum et suo et Tatii nomine et Lucu-
monis, qui Romuli socius in Sabino proelio occiderat, in tribus discripserat.
Seruius zu Verg. Aen. V 560 Varro tamen dicit Romulum dimicantem contra
Titum Tatium a Lucumonibus, hoc est Tuscis, auxilia postulasse etc.
* Nachträglich werde ich auf die Abhandlung von Pascal Rendiconti della
R. Acad. d. Lincei ser. V vol. V 149 f. aufmerksam gemacht, der das etruskische
Solonium für das lateinische Lanuuium hält.
Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius 175
ja nicht mehr ausgeführt zu werden, wie er damit die augusteische
National- und Hauslegende kräftig heraushebt und äußerst kunstreich
an ein paar Hauptszenen des Untergangs des ahen Troia den besonderen
Ruhm des neuen Troia anzuknüpfen weiß: er nennt den Cäsar selbst
und seine Göttin Venus. Mit wohlberechneter Emphase ruft er gerade
den lulus an : felix terra tuos cepit, lule, deos. Er weiß das alte Mittel,
Ältestes und Jüngstes zu verbinden, auf das eindrucksvollste zu ver-
wenden: die Propheten und die Weissagungen zu zitieren. Er zitiert
die Weissagung der alten Sibylle von Cumae und weckt damit in
jedermann die Erinnerung an die Sibylle der vergilischen Aeneis, die
eben aller Gemüter erregte; er zitiert die troianische Sibylle, die Kas-
sandra, und wie man aus dem Beisatz Longaeuum ad Priami caput zu
den Worten Pergameae vatis carmina, obwohl die hier angeführten
Worte sich durchaus nicht an Priamus richten, recht wohl schließen
darf, das Gedicht des Lykophron.^ Sehr begreiflich ist es, daß gerade
dies alexandrinische Gedicht, das in längerer Ausführung auf Roms
Größe in der Form der Weissagung hinweist V. 1225 ff., wie nach-
weislich manchem in Rom, so gerade dem Properz bekannt und lieb
war. Um hier der Kassandra eine kurz pointierte Prophezeiung in den
Mund zu legen, hat er es schwerlich nachgeschlagen: er gibt nur sehr
im allgemeinen den Sinn jenes Teiles ihrer Rede bei Lykophron wieder.
Er faßt ihn in eine Warnung an die Danaer zusammen
uertite ecum, Danai! male uincitis: Ilia tellus
uiuet et huic cineri luppiter arma dabit.
Rothstein erklärt, jenes uertite ecum könne nur in ^bildlicher Bedeutung'
gemeint sein, an einen 'Reiterangriff' denke Properz nicht. Birt (a.a.O.)
weist demgegenüber auf die Schlachtwagen und die Rosselenker der
Danai hin, und so, scheint es, haben es bisher die meisten Interpreten,
die sich nicht darüber auszusprechen pflegen, verstanden. Sie werden
alle gefühlt haben, daß uertite ecum das nicht heißen kann; es müßte
mindestens uertite equos stehen.^ Ich übersetze genau und kann nur
das Pferd verstehen, das oben V. 42 schon erwähnt war (abiegni uenter 204
apertus equi).
Nicht nur auf pompejanischen Wandbildern ist Kassandra dargestellt
als warnende Prophetin bei der Szene der Einholung des hölzernen
* S. Rothstein zu der Stelle.
' Der Sieg der Danaer ist doch auch nicht im Angriff der Schlacht erfolgt,
und von dem Sieg ist die Rede (male uincitis). Ilion wird wieder leben, und
die Asche wird wiedererstehen: auf das brennende Troia wird hingewiesen.
176 ^^® Widmungselegie des letzten Buches des Propertius
Pferdes nach Troia^ auch - was hier wichtiger ist - auf der tabula
Iliaca ist dargestellt (auf dem untersten Streifen), wie die erregt warnende
Kassandra aus dem Tore stürzt, als das Roß hineingezogen werden
soll.^ In dieser Illustration' liegt uns die Vulgatüberlieferung auch
gerade für die römischen Dichter jener Zeit vor.^ Auch Vergil (II 245 f.)
führt kurz an, gerade als er die Einholung des Pferdes erzählt:
- et monstrum infelix sacrata sistimus arce.
Tunc etiam fatis aperit Cassandra futuris
ora -.
Die Darstellung einer Gemme, die Winckelmann einst publiziert hat\
welche das Aussteigen der Griechen aus dem Pferde und oben auf
den Zinnen der Burg ein entsetzt zu ihnen herabsehendes Weib zeigt,
das man doch wohl mit Recht als Kassandra erklärt, wage ich nicht
zur Erklärung dessen heranzuziehen, daß bei Properz die Prophetin
gerade die Danai anredet. Properz wollte die Worte als Warnung an
die Feinde der Troianer fassen: wendet das Pferd wieder um! Euer
Sieg ist unheilvoll, Troias Asche wird Juppiter - der Herr der Burg
des neuen Troia - bewaffnet wieder auferstehen lassen.
5
Von den Weissagungen der Vorzeit springt der Poet plötzlich über
zu enthusiastisch preisendem Anruf der Wölfin des Mars, der Nähr-
mutter römischer Größe:
optima nutricum nostris lupa Martia rebus,
qualia creuerunt moenia lacte tuo!
205 Wohl ist deutlich angeknüpft an den Satz, mit dem sechzehn Verse
vorher der Dichter schloß, ehe er zu den troischen Prophezeiungen
überging (V. 38):
sanguinis altricem non pudet esse lupam.
Aber doch wird der plötzliche Anruf, meine ich, erst verständlich, wenn
man sich vorstellt, daß Properz, den jeder Hörer sich auf dem Palatin
stehend oder wandelnd vorstellt (s. o.), die Wölfin anruft, die dort in
der Nähe des Lupercal, der casa Romuli steht, all der Dinge, in deren
Umgebung er sich offenbar befindlich denkt. Dort, wo die Sage von
der Wölfin und den Zwillingen ihren Schauplatz hatte, bei der ficus
' Pulcinella 225ff. - O. Jahn -Michaelis, Bilderchroniken T. 1.
^ Auch stimmen hiermit Hygin p. 98, 5 Seh., vgl. Apollodor Epitome Vatic.
XXI 15 W. und dazu Wagner S. 233; Qu. Smyrnaeus XII 529ff.
* Monum. ined. 140. Auch bei Baumeister I S. 742.
Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius 177
Ruminalis, die jedenfalls, wo sie in diesem Zusammenhang genannt
wird, ebendort auf dem Palatin stehend gedacht ist, dort hatten 295 v.Chr.
Cn. und Qu. Ogulnius die Bilder der Zwillinge unter den Eutern der
Wölfin aus Strafgeldern aufgestellt: ad ficum Ruminalem simulacra in-
fantium conditorum urbis sub uberibus lupae posuerunt (Liv. X 23).^
Sie stand in der Nähe des Weges, der nach dem Zirkus hinunterführte,
wie die casa Romuli nach Dionys. I 79 im xfic irpöc töv iTüTröbpojaov
CTpecpoucnc XttTÖvoc, wo die scalae Caci sich befanden: irepl xfiv eic
TÖV iTTTröbpojLiov TOV jucTav Ik TTaXaxiou KaTotßaciv nach Plutarch Rom. 20.
Es hat für das Verständnis der Properzverse keine Bedeutung, welcher
Art Kunstwerk dort beim Lupercal am Abstieg zum Circus maximus
gestanden und ob es so zweifellos ist, wie heute gelehrt wird, daß es mit
der Wölfin im Konservatorenpalast unmöglich identisch sein könne.
Jedenfalls stand dort ein ehernes Bild der Wölfin, das Properz anreden
oder sich anredend denken konnte. Warum ich es für sehr wahrscheinlich
halte, daß er eben die Wölfin anredet, die wir noch heute auf dem
Kapitol bewundern, will ich mit nur wenigen Worten andeutend be-
gründen.
Wir haben Nachricht von zwei Bildwerken, die die Wölfin dar-
stellten: das eine, von dem Livius berichtet, ist eben jenes bei dem
Lupercal auf dem Palatin, das andre ist eines, das auf dem Kapitol
stand und, wie mehrfach bezeugt ist, im Jahre 65 v. Chr. vom Blitz
getroffen und vom Piedestal geworfen wurde.^ Hier hatte, wie ebenfalls
mehrfach ausdrücklich bezeugt ist, die Wölfin die säugenden Kinder unter
sich. Man hat neuerdings die bestechende Vermutung geäußert, daß206
dies das uns erhaltene Denkmal gewesen sei.^ Dafür würde es sprechen,
wenn wirklich die Verletzungen, die die kapitolinische Wölfin erlitten
hat, wahrscheinlicherweise vom Blitzfeuer herrührten, und wenn der
Stand der Füße 'das ehemalige Vorhandensein der Kinder' verriete
(die heute unter dem Tiere sitzenden Kinder sind ja bekanntlich modern).
Jener Punkt wird genügend erklärt dadurch, daß der Restaurator der
übel zugerichteten Statue die zerstörten Stellen 'stark angeglüht und
mit der Feile geglättet hat, die Fugen vermöge des Lötrohrs zusammen-
geschweißt sind' (Heibig Führer P S. 430); den zweiten Punkt leugne
ich. Die Gestalt ist modelliert ohne die geringste Rücksicht auf säugende
Kinder; diese wären zweifellos mit dem Körper des Tieres irgendwie
' Dazu Verg. Aen. Vlll 90 und Servius zu der Stelle, Liv. 1 4, Ovid fast. II
412, vgl. Gilbert I 53ff.
- Cicero in Cat.UI 8, de diu. 1 19, II 40. Dio Cass. XXXVII 8. lul. Obsequens II 61.
'' E. Petersen Rom. Mitt. IX (1894) p. 291 Anm. 2, 'Vom alten Rom' 17f.
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 12
178 ^^® Widmungselegie des letzten Buches des Propertius
verbunden gewesen und gerade da, wo sich Spuren dieser Verbindung
zeigen müßten, ist das erhaltene Denkmal intakt. Die Stellung der
Beine ist durchaus natürlich für das grimmig den Oberkörper vorwärts-
schiebende und den Gegner zähnefletschend bedräuende Tier. Zudem
kennen wir ja die beiden Typen, in denen das römische Nationaltier
dargestellt zu werden pflegte (Heibig a.a.O.), entweder 'wie sie die
Zwillinge säugt und den Kopf nach diesen zurückwendet oder ohne
die Zwillinge und in drohender Haltung'. Mehrfach zeigen uns Münzen
diese Typen. Dem ersten gehörte jene 65 vom Blitze getroffene Statue
an, dem zweiten die des Palatin; dem zweiten gehört auch die uns
erhaltene.
Gewiß ist die vormals allgemein gebilligte Ansicht auszuschließen,
daß die erhaltene 'identisch sei mit der Wölfin, welche die Ädilen
Gnaeus und Quintus Ogulnius 295 v. Chr. aus Strafgeldern neben dem
ruminalischen Feigenbaum weihten' (Heibig a. a. 0.) und Petersen mag
unser Denkmal mit Recht für ein Werk altionischer Kunst erklären aus
dem sechsten Jahrhundert v. Chr. Denn wo steht es denn überliefert,
daß jene Ädilen 295 v. Chr. die Wölfin geweiht hätten? Die oben
mit Absicht wörtlich angeführte Liviusstelle gestattet nicht bloß, sie
fordert die Interpretation, daß jene Beamten nur die Figuren der
Zwillinge unter der allbekannten Wölfin am ruminalischen Feigenbaum
aufstellten; der Satz könnte so nicht gewendet sein, wenn sie die
Wölfin selbst aufgestelU hätten. Sie stand dort seit lange ohne die
207 Kinder und es ist nur so begreiflich, daß ein griechischer Künstler
einst im 6. Jahrhundert dieses Tierbild geformt hatte.^ 295 v. Chr.
ließ man von den Strafgeldern die Kinder daruntersetzen, weil man
nun die Darstellung der ausgebildeten Nationallegende sehen wollte.
Aus demselben Grunde hat auch die Zeit der Renaissance diese Zutat,
die einst unorganisch angesetzt spurlos verschwunden war, wieder er-
neuern lassen. Ich meine, daß dies die Auffassung sei, die allen über-
lieferten Faktoren, den Schriftstellen und den Denkmälern, am besten
gerecht wird.
* Daß es griechische Sagen gab von der Wölfin, die diesen oder jenen
Heros gesäugt, können Beispiele wie die bei Usener Sintflutsagen 110 angeführten
zeigen. Trotzdem wäre die Schöpfung und der Import des alten Werkes nach
Rom mit den Kindern mehr als unwahrscheinlich. Ich mache hier absichtlich
nicht von der Kenntnis Gebrauch, die ich gesprächsweise erlangt habe von der
Ansicht hervorragender Fachkenner, daß die 'Wölfin' ursprünglich eine Löwin
sei. Meine Erörterung berührt das nicht, denn auch die alten Römer haben
sie für eine Wölfin genommen.
Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius 179
Die Deutung der Properzstelle berührt es nicht, ob diese oder eine
andere Auffassung zu Recht besteht. Properz legt, die Wölfin in immer
höher gesteigerter Begeisterung anredend, das Gelöbnis ab, die Stadt
zu besingen, ihr alles zu weihen, was noch an Dichterkraft in ihm ist.
optima nutricum nostris lupa Martia rebus,
quaüa creuerunt moenia lacte tuo -
Moenia namque pio coner disponere uersu —
was er schaut und dem hospes gezeigt, was ihn geführt zum Blick auf
Roms unscheinbare Anfänge und glanzvollste Gegenwart, auf die herr-
lich erfüllten Weissagungen der Vorzeit — das alles schließt er zusammen
in diesen immer erregteren Gelöbnissen, jetzt seine Kraft dem Vaterlande
zu weihen, ein römischer Kallimachos zu werden, mehr denn Ennius
war. Er weist auch hier auf sein engeres Vaterland und seine Vater-
stadt hin, in diesem Schlüsse des scharf abgegrenzten ersten Teiles
des Gedichtes; er wird das wieder aufnehmen am Schlüsse des ganzen
Gedichtes, um mit feiner Absicht hier sein t^voc an den Anfang des
Buches zu stellen, das er — vielleicht wußte er das - als letztes
herausgab. Diese Verse bedürfen meiner Erklärung nicht mehr; aber
ich möchte darauf nachdrücklich hinweisen, wie gerade, indem er wieder
in erregtesten Worten seinen Plan römischer Elegien verkündigt, das
Folgende im Gedichte vorbereitet wird; der Perieget hat den hospes 208
ganz vergessen, er ruft seinen Mitbürgern zu, sie sollen günstige Vor-
zeichen ihm liefern; auf eine dextera auis kommt es ihm an. Und noch
einmal verkündet er dann sein Programm, das jetzt seiner Dichtung
gesetzt ist, in präzisen Worten: um den Preis soll sein Pferd rennen.
Ob er dies Bild braucht, weil er oben über dem Circus maximus steht,
bei dem Lupercal, der Wölfin im xfic irpöc xöv iTriröbpoinov cipecpou-
CTic XaTÖvoc?
Roma, faue, tibi surgit opus: date Candida, ciueSj
ominay et inceptis dextera cantet auis.
Sacra diesque canam et cognomina prisca locorum:
has meus ad metas sudet oportet ecus.
6
Die ciues hat der Dichter angerufen - ihr Perieget will er ja von
nun an sein, und er läßt den hospes in Gedanken ganz fallen -; er
will von ihnen Candida omina, nach einer Candida auis für seinen Plan
verlangt er: er will, er muß eilend ans Werk, has meus ad metas sudet
oportet ecus. Mag man sich denken, daß er fortstürzt nach diesen
12*
180 Die Widmungseleg-ie des letzten Buches des Propertius
letzten erregten Worten: er stand über dem Abstieg zum Circus: hin-
unter wird ihn der Weg führen. Da hält ihn eine Stimme auf:
Quo ruis imprudens, uage, dicere fata, Properti?
Und alsbald stellt sich der Sprecher auch ausdrücklich vor als Astro-
logen, der bei seinem Instrumente, seinem Horoskope sitzt, der es ver-
steht aerata pila signa mouere, d. h. die Zeichen des Tierkreises, also
den gewöhnlichen Himmelsglobus mit den Fixsternen zu drehen, und
zu verkünden die signa iterata obliquae rotae. Seine sphaera, sein
Planetarium (gewiß kein so kunstvolles wie das des Archimedes), die
Metallkugel, um die ein Reif mit den Darstellungen des Tierkreises lief,
hatte er vor sich. Er weist nachher auf etliche Planeten und etliche
Tierbilder namentlich hin; ihre Beziehungen sind die Grundlage seiner
Weisheit.
Quo ruis imprudens, uage?
ruft der Astrolog dem Properz entgegen und uage^ bestätigt es, daß
209 wir den Dichter herumwandelnd, jetzt weiterschreitend zu denken haben,
in der Bedeutung wie es etwa Statius braucht Silv. IV 6, 2f.:
cum patulis tererem uagus otia Saeptis
iam moriente die, rapuit me cena benigni
Vindicis ...
oder Martial VII 39, Iff.:
Discursus uarios uagumque mane
et fastus et haue potentiorum
cum perferre patique iam negaret,
coepit fingere Caelius podagram.
dicere fata hängt von ruis ab, das nicht nur zunächst in ganz eigent-
licher Bedeutung, sondern nunmehr auch in übertragener Bedeutung
genommen ist, eine Konstruktion wie scire ruunt bei Lucan VII 751.
Properz hat ja in der Tat sich fata verkündet, den Ruhm seiner Vater-
stadt durch ihn, den römischen Kallimachos - er hat nach Candida
omina und einer dextera auis gerufen. Ihm kommt es nicht zu, daraus
^ uage auf 'die ihm gesteckten Grenzen überschreitende und sich über
alles mögliche verbreitende Geschwätzigkeit' (Rothstein) zu beziehen, halte ich
für ganz ausgeschlossen; davon kann in dem scharf disponierten und steigend
voranschreitenden ersten Teil des Gedichtes gar keine Rede sein. Ebensowenig
kann in dem uagus 'eine Kritik des weitschweifigen Stils der Verse 1 — 70' (Birt
a.a.O.) liegen: der Stil ist nicht weitschweifig, und man wird sich auch aus
anderen Gründen schwer entschließen können anzunehmen, daß der Infin. dicere
als nähere Bestimmung zu uage trete. Darin aber hat Birt gegen Rothstein
recht, daß Properti hier Vokativ sein muß.
Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius jgl
fata dicere, meint der Astrolog, und was er sich prophezeien zu können
glaubt, ist falsch. Aber woher kommt so plötzlich dieser merkwürdige
Astrolog? Der stehende Aufenthah dieser Leute war der Circus maxi-
mus und seine Umgebung, de circo astrologi heißen sie direkt bei
Cicero de diu. I 58, 132 \ die gleichen Leute meint Juvenal VI, 588,
wenn er sagt
plebeium in circo positum est et in aggere fatum.
Fügen wir hinzu Horaz sat. 16, 1 1 1 ff.
quacumque libidost
incedo solus, percontor quanti olus ac far,
fallacem circum uespertinumque pererro
saepe forum, adsisto diuinisl
Es sind eben die astrologi, Babylonii (und auch unser Horus be- 210
zeichnet sich ausdrücklich als einen solchen V. 77), Chaldaei, mathe-
matici, und wie sie sich sonst nennen. Properz kommt vom Palatin,
eben stand er noch in der Nähe der Wölfin, er geht, er rennt (ruit)
den Abstieg zum Zirkus herab: ein astrologus, der dort seinen Platz
hat, schreit ihn an: wohin? fata dicere? Jeder Römer verstand es,
wie hier gerade ein Astrologe den Dichter unterbrechen kann, und für
keinen war die Verbindung der beiden Teile unseres Gedichtes unklar.
Erst diese Beobachtung, meine ich, macht auch für uns die Verknüpfung
der beiden Teile voll verständlich. Wie fein ist der Anruf vorbereitet,
er ruft die cives auf zu Candida omina, er will eine dextera auis.
De Circo astrologus ruft ihn an und sagt ihm: es ist nichts mit deinem
Zukunftsbild!
Du erregst nur Tränen des Mitleids; Apoll hat sich von dir ab-
gewendet ^ Nachdem er den uagus Propertius angerufen und durch
seinen ungünstigen Spruch, den er mit ein paar Worten ihm gleich ins
Gesicht wirft, erschreckt hat, beginnt er redselig seine Kunst und deren
Untrüglichkeit anzupreisen. Er stellt sich vor und seine Bücher, die er
^ Die Worte gehören nicht zu dem Enniuszjtat, wie Friedländer in dem
Kommentar zu Juvenal VI 582 angibt; dort wie in der Sittengeschichte II 324
sagt er offenbar auf Grund dieser Stelle, daß die astrologi 'seit alter Zeit',
'seit Jahrhunderten' sich dort aufgehalten hätten.
* divini und divinae sind die Wahrsager und Wahrsagerinnen. Lehrreich
sind die von Kießling z. d. St. angeführten Worte des Max. Tyr. XIX 3. Vgl.
auch Marquardt-Wissowa, Staatsverwaltung III 102.
^ V. 72 ist zu lesen, wie überliefert ist: non sunt a dextro condita fila colo.
Die Lexica geben Beispiele genug für solches a bei Substantiven, denen eine
gewisse Persönlichkeit beigemessen werden kann: a legibus, a natura und viele
andere. Hier steht der Gedanke an die Schicksalsspinnerinnen deutlich genug
dahinter. Ja, es könnte auch rein lokal gemeint sein 'von her'.
182 ^'® Widmungselegie des letzten Buches des Propertius
neben sich liegen hat, er führt an, was er alles deuten und wahrsagen
könne, absichtlich nach der langen Reihe der Objekte und abhängigen
Sätze am Schlüsse das emphatische dicam, und mit voller Absicht setzt
er der Rede vom Untergang des alten Troja und dem Erstehen des
neuen den Hauptsatz all solcher Wahrsagung entgegen.
^Troia cades et Troica Roma resurges';
er zitiert. Man weiß, daß Varro den Astrologen L. Tarutius Firmanus
veranlaßte, der Stadt Rom selbst das Horoskop zu stellen (davon sagt
Cicero de diu. I 44, 198 Romamque, in iugo cum esset luna, natam
esse dicebat nee eins fata canere dubitabat). Diese Dinge beherrscht
auch er, er kann den weltbeherrschenden Städten ihre Schicksale
sicher voraussagen, aber er kann noch viel mehr:
211 Et maris et terrae longa sepulcra canam.
Es wäre sehr seltsam, wenn es so ausgedrückt wäre, daß er die
'Todesfälle' (Rothstein) künden wolle, die im Laufe der Entwicklung
römischer Herrschaft vorgekommen seien. Der Wortlaut führt zwingend
darauf, daß er die longa sepulcra der Erde und des Meeres, d. h. den
Weltuntergang oder vielmehr das Ende dieser Weltperiode verkünden
zu können behauptet.^ Wir haben mancherlei Nachrichten von einem
Weltuntergang durch Feuer oder Wasser im Zusammenhang mit astro-
logischen Dingen. Ich will nicht weiter die Weisheit des Proklos zu
Hesiods Theogonie V. 209 heranziehen (Tixävec Trapd tö TeTdcGai kqi
^HaTrXiuGfivai. r\ öti, ujc Xe^ei omoc dtrö ific bö^r]c toö 'Opqpewc Xa-
ßibv toOto, irdXiv Ti)Liu)pficai ineXXei 6 Kpövoc touc öeouc Kai Xaßeiv Tf)v
ßaciXeiav auToO, fj^ouv irdXiv eTTiKparficai lueXXei xö ckötoc ekcTvo tö
dpxaiÖTttTov touc ZitubiaKOuc kukXouc touc exovTac touc dcTepac) und
auf die Angaben des Censorin c. 18 nur eben hinweisen: est praeterea
annus quem Aristoteles maximum potius quam magnum appellat, quem
solis et lunae uagarumque quinque stellarum orbes conficiunt, cum ad
idem Signum, ubi quondam simul fuerunt, una referuntur; cuius anni
hiemps summa est cataclysmos, quam nostri diluuionem uocant, aestas
autem ecpyrosis, quod est mundi incendium. nam his alternis tem-
poribus mundus tum exignescere tum exaquescere uidetur. (Dann
werden die Weltperiodenzahlen des Aristarchus, Aletes, Heraclitus und
Linus, Dion, Orpheus, Cassander angegeben.) Seneca in den naturales
quaestiones III 29 zitiert für solche Lehren den Berosus: quidam existi-
mant terram quoque concuti et dirupto solo noua fluminum capita de-
^ Ich sehe, daß auch Hertzberg in seinem Kommentar hier schon das Rich-
tige andeutet und etliche einschlagende Stellen zitiert.
Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius \S3
tegere, quae amplius ut e pleno profundant. Berosus, qui Belum
interpretatus est, ait ista cursu siderum fieri. adeo quidem adfirmat,
ut conflagrationi et diluuio tempus adsignet: arsura enim terrena con-
tendit, quando omnia sidera, quae nunc diuersos agunt cursus, in Cancrum
conuenerint sie sub eodem posita uestigio, ut recta linea exire per orbes
omnium possit: inundationem futuram, cum eadem siderum turba in
Capricornum conuenerit/ Daß den Römern jener Zeit die im wesent-
lichen stoische Vorstellung eines zeitweiligen oder auch endgültigen 212
Weltuntergangs nicht ungeläufig war, zeigt ihre Dichtung an nicht
wenigen Stellen. Ich erinnere an die Lucrezverse V 91 ff., wo vom Tage
der Vernichtung für Meere und Länder und der Himmelsgewölbe die
Rede ist, daran, daß Varro um die gleiche Zeit den Untergang der
Welt in einer Satire KociuoTopüvri -rrepi (pOopäc köc|uou (222 B.) behandelt,
und an die Verse Ovids Metamorph. I 256 ff.:
esse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus,
quo mare, quo tellus correptaque regia caeli
ardeat et mundi moles operosa laboret.
Wie bekannt die ganze Vorstellung war, kann vielleicht am besten die ge-
legentliche Anspielung des bekannten Pliniusbriefesüber den Vesuvausbruch
(VI 20) zeigen: multi ad deos manus tollere, plures nusquam iam deos
uUos aetemamque illam et nouissimam noctem mundo interpretabantur.
Und so darf man auch den Vergilvers verstehen Georg. I 468, da wo
erzählt wird, wie beim Tode Cäsars die Sonne ihren Schein verlor:
impiaque aeternam timuerunt saecula noctem.
Properz weist schon durch das Ttvoc des grotesken Propheten auf ba-
bylonische und ägyptische Astrologie hin: Babylonius Orops (gewiß
richtig von Rothstein erklärt = ujpocköttoc) ist sein Vater, er selbst heißt
Horos (die griechische Form Horon ist natürlich gerade hier beabsichtigt).
Allerlei Bücher mystischer Weisheit tragen den Namen des Horos.^
Daß er dann noch als Ahnen sowohl den Mathematiker Archytas als
den Astronomen Konon nennt, soll gewiß darauf hinweisen, wie die be-
rühmtesten Vertreter exakter mathematischer und astronomischer Forschung
ihre untrüglichen Methoden auf ihn vererbt hätten, es soll aber auch,
je sinnloser die Namen gehäuft sind, desto eindrucksvoller die plumpe
' Ober das Buch des Berossos s. Rieß bei Pauly-Wissowa II 1811 und
E. Schwartz ebenda III 316.
' Lukians Hahn c. 17 xäc ßißXouc xdc "Qpou Kai "Iciboc. Briefe der Isis an
Horus heißen oft alchemistische Schriften, Berthelot -Ruelle, Collection des alch.
gr. I 198, Trad. 31 ff. Horus ist ein berühmter xpwcoiroiöc Berthelot, Origines
de Talchimie 168.
184 Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius
Renommage des komischen Männleins schildern, der doch dem Dichter
in seiner Weise die Wahrheit sagt.
7. 8. 9
Nach diesem Anruf, der Vorstellung seiner wichtigen Person und
der Anpreisung seiner erhabenen Kunst erzählt der Astrologe nach der
213 stehenden Art dieser Leute ^ seine Reklamehistorien. Ob in den Ge-
schichten von den Zwillingssöhnen der Arria und der Geburt der Cinara,
die beide auf Bekanntes hinzuweisen scheinen, noch besondere Be-
ziehungen enthalten sind, mag hier beiseite bleiben (s. Bücheier in
dieser Zeitschrift <Rhein. Mus.) 39, 426 Anm.).
Es sind Beispiele der astrologischen Lehre von den Karapxai, über
die mich Franz Boll in München freundlich belehrt. Neben dem Studium
des Geburtsgestirnes, der eigentlichen Genethlialogie, wollte man mit
Hilfe jener Theorie angeben können, ob es rätlich sei, in diesem oder
jenem Momente etwas zu beginnen. In diesem Falle hat der Astrolog
die Stunde für ungünstig erklärt: die beiden sollten nicht ins Feld
ziehen. Seltsam ist die starke Hervorhebung des Pferdes (equi - equo)
bei dem Falle des einen, die Einführung des Legionsadlers bei dem
Falle des andern. Ich halte für sehr wahrscheinlich, was mir Boll als
Vermutung mitteilt, daß die Prophezeiung mit den beiden Sternbildern
Pferd und Adler operiert habe, die auch bei Manilius (V 490 ff. und
637 ff.) kriegerische Bedeutung haben. Der Astrolog würde gesagt
haben: Pferd und Adler stehen an üblem Platz am Himmel, nehmt
euch davor in acht!
Nur bei einem Verse dieses Abschnittes scheint eine Bemerkung
zum Verständnisse des Ganzen nötig. In dem Falle der Cinara, die
nicht zur Geburt kommen kann, erzählt Horos dies von der Untrüglich-
keit seiner Kunst:
Munonis facito uotum impetrabile' dixi:
lila parit, libris est data palma meis.
Daß er die Stunde gewußt und richtig angegeben (doch wohl aus dem
Horoskop der Cinara), muß der Triumph seiner Kunst sein sollen.
Wenn Rothstein sagt, der Rat des Astrologen könne hier nur humo-
ristisch gemeint sein, weil die Anrufung der Juno Lucina in dem hier
geschilderten Fall ohnehin selbstverständlich und allgemein üblich ge-
^ Cic. fam. VI 6, 7 quoniam ut augures et astrologi solent, ego quoque
augur publicus ex meis superioribus praedictis constitui apud te auctoritatem
augurii et diuinationis meae; auch von Rothstein angeführt.
Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius 185
wesen sei, so muß ich betonen, daß doch noch nicht dadurch ein Satz
humoristisch wird, daß er keinen Sinn hat. Nein, Horus hatte mit seinen
Mitteln die Stunde der Geburt richtig berechnet, und als er sagte:
uotum facito impetrabüe, da gebiert sie auch wirklich. Impetrabile ist
betont: jetzt wird euer Votum erhört, jetzt ist es Zeit, es zu tun. 214
Impetrare (dafür von alters üblich in der Sakralsprache impetrire) heißt
geradezu technisch 'etwas durch günstige Wahrzeichen erlangen', und
ein uotum impetrabile ist offenbar ebenso technisch ein uotum, das er-
langt, das erhört wird. Man ziehe zum Vergleich Stellen wie diese:
auibus magnae res impetriri solebant (Cicero de diu. 1 16, 28), impetri-
tum inauguratum est: quouis admittunt aues (Plautus Asin. II 1, 11),
sacris quibusdam et precationibus uel cogi fulmina uel impetrari (Plin.
II 53) oder speziell: Di immortales mihi hunc diem dedistis luculentum!
Ut facilem atque impetrabilem (i. e. quo aliquid impetratum est, Plaut.
Epid. III 2, 6), Immortalitas mihi data est . . . impetrabilior qui uiuat
nullus est (Plaut. Merc. III 4, 20). Es ist kein Zufall, daß das Wort ge-
rade in der alten sacralen Bedeutung fast nur im alten Latein des
Plautus vorkommt.
Der Astrologe läßt seine Beispiele aüsklingen in einen Preis seiner
Kunst gegenüber allen andern Mitteln der Mantik und Zukunftsdeuterei,
geht aber noch einmal zu historiae über. Sein Exemplum ist Calchas,
der mit all seinen Sprüchen die Griechen nicht gerettet hat. Mit feiner
Kunst weiß so der Dichter hier in einem parallelen Abschnitt der
zweiten Hälfte des Gedichtes wie in der ersten auf Troia hinauszukommen,
auf den Untergang der Griechen, und läßt den Propheten enthusiastisch
schließen mit dem Hinweis auf den Frevel an der Kassandra, den die
Vulgatüberlieferung als den Grund des Untergangs der Feinde Troias
anzuführen pflegte. Kassandra war ja auch in dem entsprechenden
Abschnitt des ersten Teiles die Prophetin des Untergangs der Danaer
und des Auferstehens von Neutroia. Und wie dort im darauf folgenden
Abschnitt Properz von sich und seinem Vaterland und seinen Hoffnungen
zu dessen Ruhm durch ihn fata dicit: hier nimmt das Thema ebenso der
Astrologe auf: nach den historiae gilt es durch die Kenntnis der Lebens-
geschicke des Dichters bis zu diesem Tage das Vertrauen zu erwecken,
das der Angeredete in seine Zukunftssprüche setzen soll. Deutlich
weisen diese Verse zurück auf die entsprechenden im ersten Teil (65),
auf jenes: scandentes quisquis cernet de uallibus arces, ingenio muros
aestimet ille meos. Hier heißt es nach ausführlicherer Schilderung des
Vaterlandes (125 f.): scandentisque Asisi consurgit uertice murus, murus
ab ingenio notior ille tuo. Nicht ich erst brauche diesen ganzen Ab-
186 ^'® Widmungselegie des letzten Buches des Propertius
schnitt zu erklären. Aber wie der Dichter mit feinster Kunst die beiden
Teile des Gedichtes ineinander schlingt, muß ich auch hier betonen.
215 Und wie ungezwungen, mit wie bewunderungswürdigem Geschick weiß
er so sein eigenes t^voc im Einführungsgedichte seines neuen Buches
anzubringen.^
10
Den Schluß des Ganzen macht der eigentliche Spruch des Astrologen.
Es ist die ungünstige, abweisende Antwort auf die begeisterten Zukunfts-
hoffnungen des Dichters am Schlüsse des ersten Teiles: er erhält omina,
nach denen er zu den ciues rief, eine auis, aber nicht günstig in dem
Sinne, in dem er dort redete.
At tu finge elegos, fallax opus: haec tua castra!
scribat ut exemplo cetera turba tuo,
so lautet die präzise Mahnung; erst der letzte Vers des Ganzen gibt
den Spruch in astrologischer Fassung. Hier wird er zum Dienst der
Venus zurückverwiesen, zurück von dem labor der kallimacheischen
aiTia- Dichtung:
militiam Veneris blandis patiere sub armis
et Veneris pueris utilis hostis eris.^
Nam tibi uictrices quaecumque labore parasti,
eludet palmas una puella tuas.
Dann folgen die beiden Verse, die, wenn man von noch weiteren kühneren
konjekturalen Eingriffen absieht, in allen Ausgaben, auch der letzten,
so gelesen werden:
et bene cum fixum mento discusseris uncum,
nil erit hoc, rostro te premat ansa suo.
Auch Rothstein redet von dem Haken, an dem die Leichen der hin-
gerichteten Verbrecher aus dem Gefängnis geschleift wurden. Hat das
einen Sinn, den Properz, der die Liebe zu der una puella nicht ab-
schütteln kann, zu vergleichen mit dem Hingerichteten, der - ich
Obernehme Rothsteins erklärende Worte — ^sich recht ordentlich los-
gemacht haben' wird; die Spitze bleibt stecken - es wird * genau so
sein wie vorher!' Die Erinnerung an etliche pompejanische Wandbilder
zeigt uns, aus welcher Sphäre das Bild des Properz genommen ist:
^ Ober den Brauch so ihr t^voc anzubringen und dessen Zusammenhang
mit den wissenschaftlichen Ausgaben, die mit dem Yevoc versehen waren, s.
F. Leo in den Nachrichten der Ges. d. W. zu Göttingen, Phil.-hist. Kl. 1898, ^
Heft 4, S. 2ff.
- Der Dichter denkt gewiß und will erinnern an die Situation von II 29.
Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius 187
Aphrodite selbst oder irgendein Mädchen ist dort angelnd dargestellt, 216
die Fische sind als die Liebhaber gemeint. Auch ist wohl noch ein
Eros dabei, der den Fang beobachtet und seine Freude hat.^ Und wir
gehen nun bei der Erklärung unserer Stelle von dem Text des Nea-
politanus aus und versuchen, ob und welchen Sinn sie uns gibt.
et bene confixum mento discusserit uncum,
nil erit hoc: rostro te premat ansa suo^
*und mag sie auch den in das Kinn festgefügten Haken zerbrochen
haben, das wird nichts helfen: mit seiner Spitze wird dich der Griff
Cjuälen'. Die puella ist die Fischerin, sie hat den Properz an der
Angel fest; und mag sie den Angelhaken abgebrochen haben und er
davonschwimmen können - die Spitze sitzt ihm im Kinn und hört nicht
auf ihn zu quälen. So ist das Bild, und so sind die Worte verständlich.
Weder ist an confixum mit dem Dativ mento (bene zu confixum wie
loris bene caesus u. a.) irgendein Anstoß möglich^^ noch an discusserit
in dieser Bedeutung.* Es ist der potentiale Konjunktiv statt des hypo-
thetischen Satzes '^: recht wohl entspricht im Hauptsatz der Konjunktiv
premat, der oft bei Properz das Futurum ersetzt (s. Rothstein hier und
-ZU I 4, 8). uncus paßt sehr wohl auf den Angelhaken (das adjekt. un-
cus wird ganz eigentlich vom hamus gesagt, von den aera der Angel
u. s.); nicht minder passen ansa und rostrum auf den gesamten Haken,
der packt, und seine äußerste Spitze.^
Das Bild vom Liebesangeln gehört zu dem festen Bestand der ero-217
tischen Poesie von der Komödie an, durch die Elegie bis zum späten
^ Heibig Wandgemälde nr. 346—355; Mus. borb. II 18; IV 4. — Den angelnden
Eros auf einem Vasenbilde stellt mit den Wandbildern zusammen O. Jahn, Über
bemalte Vasen mit Goldschmuck, Festgruß an Eduard Gerhard. Leipzig 1865,
S. 16 f.
^ Ober die Fehler der Überlieferung dieses letzten Halbverses in N freilich
verliere ich kein Wort; sie sind selbstverständlich längst richtig verbessert
(nostro, ausa, tue N).
» Man vergleiche etwa Cäsar b. G. III 13, 4 transtra pedalibus in altitudinem
trabibus confixa clauis ferreis digiti pollicis crassitudine. trabibus ist Dativ,
abhängig von confixa.
* Ähnlich: abbrechen, losbrechen, zerbrechen luv. X 145:
sterilis mala robora ficus (discutiunt saxa).
Ovid a. a. III 29:
femina nee flammas nee saeuos discutit arcus.
' Zum Überfluß mag auf Dräger, Hist. Synt.* II 219, 1315 f. hingewiesen
sein. Beispiele wie Horaz sat. II 3, 292 sind am nützlichsten zu vergleichen.
« rostrum ist die gebogene Spitze aller möglichen Instrumente, Colum. IV
25 falcis uinitoriae pars, quae adunca est, rostrum appellatur. Plin. n. h. XVIII 48
uomer exigua cuspide in rostro. Bei Vitruv werden ansäe ferreae genannt unci
ferrei.
188 Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius
Liebesbrief. Auch die pompejanischen Wandgemälde weisen uns in
das Gebiet der hellenistischen Kunst und Dichtung/ Nicht selten ist
die Anwendung des Bildes von der plautinischen Komödie übernommen;
z. B. Asinaria 178 ff.: quasi piscis itidemst amator lenae.^
Die griechische Anthologie, namentlich aus späteren Dichtern, weist
manches fein ausgeführte Beispiel auf; so sagt Straton A. P. XII 241:
ctTKicxpov TTeTTÖTiKac, e'xeic ixOuv l)xe, t€kvov,
äXK6 }i ÖTTOu ßouXei, jJLX] Tpex€, |ur| ce qpiJTUJ,
oder aus dem entsprechenden Bilde heraus Kapiton V 67:
KdXXoc dveu x^P^tojv repTrei )li6vov, ou xaiexei be,
u)c diep OLYKicxpou vrixöjuevov beXeap,
oder noch anders gewendet V 247:
K€VTpo|uavec b' dTKicxpov ecpu CTÖ|Lia Kai jiie baKÖvra
euGuc ex€i pobeou x^i^^oc eKKpejuea.
Häufig kommt das Bild in den erotischen Briefen des Aristainetos vor^;
keine Stelle kann für uns lehrreicher sein als die im 18. Briefe des
ersten Buches: cuxvöiepov ouv tö beXeap auxrj rrpocaKTeov mv au9ic
TÖ ÖYKiCTpov KaiaTrir), irdXiv dcrraXieiJcuj Kai tö fe Tpixov auxfic dva-
KpoOcuj xriv TEvuv.^ Der Liebeselegie des Ovid ist das Bild wohl-
bekannt a. a. I 47:
qui sustinet hamos,
nouit, quae multo pisce natentur aquae,
III 425 f.:
218 semper tibi pendeat hamus,
quo minime credis gurgite, piscis erit.^
Ja, Properz zeigt selbst schon an einer Stelle seines zweiten Buches,
daß ihm das Bild vom Netzauswerfen im erotischen Sinne geläufig ist
(II 32, 19 f.):
nil agis, insidias in me componis inanes,
tendis iners docto retia nota mihi.
^ Heibig, Untersuchungen über die campanische Wandmalerei S. 84, 117,
334, der merkwürdigerweise hier aus der Literatur keine Beispiele anführt.
* Vgl. Bacchid. 102. Trucul. 34 ff. Diese und einige der oben folgenden
Stellen hat zusammengetragen V. Hölzer in der Marburger Dissertation De poesi
amatoria a comicis atticis exculta, ab elegiacis imitatione expressa, 1899, S. 73f.
^ Vom Liebhaber, der das Mädchen angelt (dYKicxpeOei), auch I 5, vgl. I 7.
II 23.
* Zu einer Stelle des Lukian, die das Bild benutzt, dial. mort. 8, hat Hemster-
huys einiges angemerkt II p. 440.
^ Vgl. I 763. amores I 8, 69 f. remedia amoris 448 f.
Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius jgQ
So lag denn auch hier dem Properz das Bild vom Liebesangeln
nahe genug, um zu sagen, was er auch noch weiter deutlich ausführt:
du wirst von diesem einen Mädchen ganz abhängig sein, sie mag's
mit dir treiben, wie sie will. Das alles steht im fein ausgearbeiteten
Gegensatze zu der Schlußpartie des ersten Teiles - dem Vaterlande
soll alle seine Kraft gehören: Roma, faue, tibi surgit opus - und was
er sonst dort von der Zukunft träumt und gelobt. Die Geliebte wird
lachen seiner Mühen; er wird wieder der erotische Dichter sein, der
Tag und Nacht, mit jedem Tränentropfen nur einem Mädchen dient.
Und als Schluß folgt nun in gehobenem Orakelton der eigentlich
astrologische Spruch des Sterndeuters:
nunc tua uel mediis puppis luctetur in undis
uel licet armatis hostis inermis eas
uel tremefacta cauo tellus diducat hiatum:
octipedis cancri terga sinistra time.
Magst du in die schlimmsten Gefahren kommen, sie werden dir nichts
anhaben, wenn du dich vor dem Krebs hütest. So muß man die Worte
verstehen. Wie hier 'gänzliche Inhaltslosigkeit die Prophezeiung des
Astrologen und seine Persönlichkeit vollends lächerlich machen soll',
ist mir völlig unverständlich. Ich muß auch hier Verwahrung dagegen
einlegen, daß Inhaltslosigkeit an sich ein Mittel des Humors oder der
Komik sei. Und daß die astrologische Bedeutung des Krebses hier
gleichgültig sei (so Rothstein), wäre im Munde des Astrologen, wäre zu
einer Zeit überdies, wo die höchsten und tiefsten Schichten des Volkes
von Rom mit astrologischem Aberglauben sehr bekannt waren, mehr
als seltsam. Ob wir noch präzisieren können, was Properz meint, ist
eine andere Frage. Aber dank der freundlichen Hilfe von Franz Boll
bin ich imstande, die, wie mir scheint, völlig zutreffende Erklärung
zu geben: sie läßt uns verstehen, in wie eigentlicher Bedeutung terga
sinistra gemeint ist. Ich darf Bolls Erklärung hierhersetzen: *Auf dem 219
linken Rücken des Krebses liegt der südliche der zwei Sterne, die man
die beiden Esel nennt. Für diesen Stern gibt Ptolemaios eine Länge
von KapKivou llVs^; für die Zeit des Properz würde man also die
Länge auf Krebs 10^ ansetzen müssen. Auch der übrige Rücken des
Krebses gehörte damals ganz in den L Dekan des Krebses (dieser
wendet nämlich sein Hinterteil gegen die Zwillinge und seinen Kopf
mit den Scheren gegen den Löwen; es geht also sein Hinterteil zuerst
auf und gehört in die ersten 10 Grade oder in den ersten Dekan des
Zeichens)'.
190 Die Widmung-selegie des letzten Buches des Propertius
'Nun ist das ttpöciuttov oder Gesicht (facies) des 1. Dekans des
Krebses die Aphrodite (vgl. z.B. Firmicus 114). Jeder Dekan jedes
Zeichens des Tierkreises hat in dieser Weise ein bestimmtes Gesicht^
nämlich das eines Planeten, der dann in ihm besondere Gewalt hat.
Ferner hat die Venus als öpoi oder fines in dem Zeichen des Krebses
nach der gewöhnlichen ('ägyptisch' genannten) Theorie den 8. bis
13. Grad: wenn also der Astrolog bei den terga sinistra des Krebses
an dessen 8. bis 10. Grad gedacht hat, so wäre diese Gegend in der
Tat zwiefach unter dem Einfluß der Venus.' Der Schicksalsspruch istj
so gemeint, daß sich Properz das Horoskop, das bei seiner Gebui
aufging, den 8. bis 10. Grad des Krebses, gegenwärtig halten soll^
der Einfluß seines Geburtsgestirnes unterwirft ihn der Herrschaft der]
Venus, diesem Schicksal kann er nicht entfliehen, nicht über sein be-]
stimmtes Geschick hinausgehen.
Es ist nicht unmöglich, daß noch eine weitere feine Anspielung iii|
den letzten Worten des Propheten liegt, die mir früher, ehe ich die!
richtige Erklärung kannte, wahrscheinlicher erschien. Ich darf sie am]
Schlüsse wenigstens erwähnen. Wir kennen ein römisches Sprichwort,
das gewiß viel älter ist als der Schriftsteller, der es meines Wissens
allein anwendet, Petron c. 42 anticus amor cancer est^. Und wenn dies
220 Sprichwort allgemein bekannt war, so ließe sich denken, daß der letzte
Vers des Gedichtes zugleich daran erinnern wollte. Der anticus amorj
ist es ja, dem Properz, so sehr er sich müht, nach Schicksalsschluß |
nicht entgehen soll.
Der Dichter läßt sich das alles prophezeien von dem Astrologen,
weil es eingetroffen ist: er ist wieder nach dem vergeblichen Anlauf
der römischen Elegien erotischer Dichter geworden. Es ist nach den
vorangehenden Ausführungen nicht mehr nötig, zu zeigen, wie vortreff-
lich dies Gedicht geeignet ist, ein Buch von Elegien einzuführen, die
zum einen Teil eben das ausführen, was der erste Teil des Gedichtes so be-
geistert verheißt, zum anderen Teil der üblichen erotischen Gattung
angehören: beide fast gleichen Teile des Buches werden durch die
beiden fast gleichen Teile des Gedichtes angekündigt.
^ Hier die Theorie der Karapxai heranzuziehen, wird schon dadurch un-
möglich, wie mir BoU bemerkt, daß dann das 3. Glied des Vordersatzes nicht
stehen könnte — denn das Erdbeben hängt nicht von seinem Willen ab. Zum
ganzen Gedicht paßt ja auch nicht eine Mahnung, die den Dichter bei allem,
was er beginnen werde, vor dem gefährlichen Zeitpunkt des Aufgangs des
Rückens des Krebses warnen sollte.
"^ Vgl. A. Otto, Sprichwörter der Römer 23.
Die Widmungselegfie des letzten Buches des Propertius 191
Es ist von anderen mehrfach ausgeführt, wie planvoll die Gedichte
des letzten Buches geordnet sind: wenn wir künstlichere Ausdeutungen
dieser Ordnung beiseite lassen, so ist für jeden klar, wie absichtlich
die antiquarischen Elegien und die anderen abwechseln, wie eindrucks-
voll in die Mitte die dem Apoll und dem Augustus geweihte Sieges-
elegie von Actium, an das Ende die Trostelegie über das abgeschiedene
geliebte Weib gesetzt ist,
I
II
IV
VII
VIII
III
VI
XI
IX
X
Wir sahen, wie fein beide Teile des Einleitungsgedichtes verknüpft
I sind, wie fein ineinander komponiert. So wird originell das alte von
Properz mehrfach behandelte Motiv entwickelt, daß der Dichter von der
höheren Poesie durch bedeutsamen Zuspruch wieder zur Erotik gerufen
wird. Es mag einem wahrscheinlich dünken können und manche An-
zeichen sprechen dafür \ daß Properz vieles vom ersten Teile dieser 221
Elegie früher als den zweiten Teil gedichtet hat, als er so die römischen
causae und nur sie einleiten wollte. Aber als er den zweiten hinzu-
fügte, um die wenigen Produkte eines aufgegebenen Planes mit etlichen
Gedichten des anderen Stiles zu verbinden, hat er jenen ersten Teil
namentlich gegen Schluß überarbeitet und beide so fein ineinander
komponiert und aufeinander bezogen, zu einem so künstlerisch in fünf
und fünf Abschnitten - ich traue meinen oben gegebenen Eriäuterungen
zu, daß sie diese Tektonik von selbst einleuchtend gemacht haben ^ -
aufgebauten Ganzen ausgearbeitet, daß ich keinem raten möchte, hier
* Namentlich die gesonderte Stellung des zweiten Teils des Gedichtes in
metrischer Beziehung, s. Kirchner, de Propertii libro quinto p. 28 f., 35, 40;
A. Otto, Hermes XX (1885) 568.
- Vielfach läßt sich auch bei Properz eine Zweiteilung der Gedichte be-
obachten, die oft fein in der Beziehung der einzelnen Teile durchgeführt ist.
Hier ist die Zweiteilung durch die beiden Reden der beiden allein auftretenden
Personen ganz augenfällig. Es wäre wünschenswert, daß diese Erscheinung bei
griechischen und römischen Elegikern untersucht würde im Sinne der Bemerkungen
Reitzensteins, Epigramm und Skolion 46, Anm. 2.
192
Die Widmungselegie des letzten Buches des Propertius
den neckenden Fragen einer * höheren Kritik' nachzugehen. So wie
der Dichter das Gedicht verstanden wissen wollte, als er es an den
Anfang des Elegienbuches setzte, das er nicht lange vor seinem Tode
herausgab S glaube ich es nun in allem Wesentlichen zu verstehen.
Wer freilich kann sagen, was alles dem Dichter, der den Astrologen sein
Schicksal sagen und stolzere Hoffnungen halb burlesk, halb melancholisch
zertrümmern ließ, durch die Seele gehen mochte, wenn er den Keim
des Todes schon unaufhaltsam in sich wachsen fühlte? In einen Toi
ergebener Resignation klingt es aus, ein letztes Gedicht vom Schicksal
seines Lebens und seiner Dichtung. Nach diesem hat seine Hand nichl
mehr viele Verse geschrieben.
Das ist ganz sicher; s. bes. A. Otto a. a. O. 570 ff.
XI
eYArreAiCTHC^
Fragliche Spuren des Urchristentums auf den griechischen Inseln 336
hat oben^ S. 87 ff. H. Achelis behandelt. Er nennt die auf S. 88 ab-
gedruckte Inschrift aus Rhodos in Hiller v. Gärtringens Inschriften der
griechischen Inseln (1 1, No. 675) selbst die interessanteste und wichtigste
dieser Gruppe. Ich vermute, daß man bei ihr die Spur des Christentums
für am sichersten aufgewiesen halten und eilend gewichtige Schlüsse
ziehen wird. Deshalb sei mir, so wenig ich die oben angeregten Fragen
überzeugend zu beantworten mich anheischig mache, eine kurze War-
nung gestattet.
Daß der christliche euaTTeXicrrjc im Beginn seiner Grabschrift
Adqpvac Kai 0eoö dpxiepeuc genannt werde, ist strikt unmöglich. Nicht
daß er es gewesen wäre, ist unmöglich, sondern daß man es dem
Christen auf den Grabstein geschrieben haben sollte. Deshalb hilft die
Erinnerung an den früheren Kybelepriester Montanus gar nichts. Achelis
fühlt ja selbst, daß der Vorwurf der Gegner des Montanus in unserem
Falle nichts erklären kann. Hier ist jedes Parlamentieren ausgeschlossen.
Leider scheint die dritte Zeile der Inschrift unrettbar verstümmelt
zu sein. Dagegen ist in der sechsten Zeile jenes OHPOC eiiaTTeXiciric
nicht etwa ö \epöc euaTTeXicirjc oder dergleichen zu lesen, sondern ö
f^pujc euttTT^XicTric.
Man weiß, daß ein Gott und ein Heros €udTTeXoc von Griechen
mannigfach verehrt wurde. Man mag die Belege bei Usener in den
Götternamen S. 268 ff. nachlesen. An die Angabe des Hesychios GiidT-
TcXoc ö '€p|Lific, den angelus bonus der Vibiakatakombe^ den Heros
€udTTeXoc in Ephesos und den Monat GiiaTTeXioc in Smyrna möchte
ich erinnern, besonders aber an den GudYTeXoc, der als Stammvater
des Priestergeschlechts der GuaTT^Xibai am Branchidenheiligtum bei
Milet galt, der wie ein Göttersohn aufwuchs und „Verkündiger der
* <Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft I 1900 S. 336 ff. >
» <s. a. die von Dieterich verfaßte Rezension Deutsche Lit.-Zeit. 1900
Sp. 2914.)
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 13
;[94 EöaTT^XiCTric
1
337 Orakelsprüche " wurde: TroieTiai he auiöv ö Bpa^xoc kqi ctTfeXov tuüv
jaavT€U|LidTuuv €udTT€Xov 6vo|Lidcac (Konon fab. Nr. 44).^ Ich füge hin-
zu, daß in einem inschriftlichen Inventar des Heraion zu Samos (Carl
Curtius, Inschriften und Studien zur Geschichte von Samos, Lübecker
Progr. 1877, Z. 21 u. Z. 37, U. Köhler, Athenische Mitteilungen VII 370)
zu lesen steht Kpr|be)Liva imä' toutujv 'ev r\ GuaTT^Xic e'xei und KiÖujvec
bOo ^vbura Tnc ^va^feXiboc. Ich glaube nicht, daß es sich, wie
Maaß, Indogerm. Forschungen I 162, meint, um eine Statue der GuaTTcXic
handelt, wie eine solche des Hermes dort stand, sondern daß es der
Amtsname der Orakelpriesterin war, der jene Inventarstücke zukamen.
Glaubt man noch, daß das Wort euaTTeXicTrjc „das Christentum"
der Inschrift beweisen könne? Jene Zeugnisse stammen alle aus Klein-
asien und den vorgelagerten Inseln und ich will beifügen, daß die Be-
lege für den parallelen *AtcxOöc axTeXoc und 'ATaGdTTeXoc ebenfalls
alle nach Karlen, Smyrna, jedenfalls Kleinasien weisen (die Belege bei
Usener a. a. 0.).
Daß ein Oberpriester „ der Daphne und des Gottes " als €uaTT€XicTr|c
heroisiert wird, hat nichts Unwahrscheinliches mehr. Von Daphne wird
erzählt, daß sie in Delphi Orakel verfaßt habe, aus denen auch Homer
geschöpft haben solle; sie sei die Tochter des Teiresias gewesen und
auch Sibylle benannt worden (Diodor IV 66). Man weiß, daß die Tochter
des Teiresias sonst Manto heißt, die das berühmte Apollonorakel von
Klaros gestiftet haben soHte, ja, die geradezu zur typischen vorder-
asiatischen Sibylle geworden ist Ich weiß nicht, warum Achelis von
dem Oberpriester in Daphne spricht und vom Heiligtum des Apollon in
Daphne vor den Toren von Antiocheia. Unseres Oberpriesters Kult
war der der Daphne und des Gottes, der in diesem Falle natürlich
Apollon war. Wir können von diesem doch wohl rhodischen Heiligtum
- in Rhodos wurde Apollon viel verehrt, auch ein ^AttöXXiuv TTuGioc
(s. I. Gr. Ins. Nr. 25, 67 und den Index) - nichts sagen, soviel ich
weiß, als das, daß es vermutlich ein apollinisches Orakelheiligtum war,
in dem neben Apollon Daphne eine noch viel größere Rolle spielte als
Manto im analogen Orakelkult von Klaros. Unser dpxiepeuc wird der
„Verkündiger der Orakelsprüche" gewesen sein.
Daß er unter besonderem Namen heroisiert wird, ist nichts Merk-
würdiges. Ich will nicht auf den Aristomachos zurückgreifen, den man
in Marathon als npwc iarpöc verehrte, oder den Sophokles, der zum
* IZeus Euangelios bei Aelius Aristides 11 p. 469, 1 Keil: fjTov oöv öcov
ripivi?)v /m^pav, dXX' oi'av eköc äyeiv Aiöc t€ €i5aTTeXiou Kai 'AcKXirmoO CujTf]poc.
Pergamon, mitgeteilt von Corssen. - IG III 3, 109 (Attica): €i)aTT^Xia eijcui.j
eöarreXicxric 195
f^pujc AeHiujv wurde: die Beispiele aus späterer Zeit, da etwa, um ein
Beispiel zu nennen, Xenophon, der Arzt des Kaisers Claudius, auf Kos
als npujc euepT€TTic verehrt wurde, sind deutlich genug, um den fipu)c338
€iiaTT€XicTr|c verständlich zu machen.
Wenn der Orakelpriester eines Kultes, der analog demjenigen war,
den das Priestergeschlecht der EuaTTe^ibai verwaltete, heroisiert wird
als npuJC euaTTcXicxric, wenn er nur mittels einer anderen Weiterbildung
des in jenen Gegenden Kleinasiens heimischen Gottes- und Heroen-
namens GuoiTT^Xoc benannt wird, will man dann wirklich die Grabschrift
eines urchristlichen Evangelisten zu besitzen glauben, „bis etwa ein
heidnischer Evangelist nachgewiesen ist"? Aber warten wir, was sie
dort aus der Erde graben werden, wo das Christentum zuerst griechisch
redete. Auch die neue „heidnische" Inschrift stammt aus Kleinasien,
in der es vom Geburtstag des cturrip Augustus heißt nP^^v be toi
KÖC|Liiü Tujv bi' auTÖv euaTTcXiuj v.^
<Dittenberger Orientis graeci inscr. sei. no. 458. S. auch Mithraslit. S. 49.)
13'
XII
EIN HESSISCHES ZAUBERBUCH '
5 Vor mir liegt ein kleines Zauberbuch aus Hofheim bei Worms, das
der Vereinigung für hessische Volkskunde eingesandt worden ist. Es
ist jedenfalls in den letzten fünfzig Jahren geschrieben, trägt die Spuren
mannigfachen Gebrauchs, auch den Namen einer Besitzerin auf dem
Pappumschlag. Das Heft enthält 20 verschiedene Zaubersprüche und
dazu noch die Angabe der „unglücklichen" Tage in jedem Monat.^
Wer nicht bereits mit ähnlichen Sprüchen und Segen bekannt ist,
wird erstaunt sein Ober die echt volkstümlichen alten Bannsprüche mit
* ^Blätter für Hessische Volkskunde (nicht zu verwechseln mit den Hessi-
schen Blättern für Volkskunde) II 1900, S. 5 ff.)
' Über den Inhalt mögen die folgenden Überschriften der einzelnen Sprüche
kurz orientieren:
1. Einen Dieb zu bannen, daß er still stehen muß.
2. Wieder Auflößung.
3. Wie der Dieb das gestolene wieder bringen muß.
4. Gewehr und Waffenstellung.
5. So jemand Würmer hat.
6. So ein Mensch die Mundfäule hat, so sprieche man nach folgendes; es
hilft gewiß.
7. Vor Hecksen und Gespenster daß sie des Nachts weder Menschen noch
Vieh Schaden können, an die Bettstadt und in den Stall zu schreiben.
8. Wie verhexte Menschen und Viehe zu helfen.
9. Vor Geschwulst.
10. Vor das Fieber.
11. Vor den Husten.
12. Beinbruch.
13. Eine Kunst Feuer zu löschen ohne Wasser.
14. Vor das Blut stillen.
15. Den Schmerzen zu Jegen.
16. Eine bewerthe Kunst vor das Zahnweh zu vertreiben.
17. Besonderes Stück gestohlene Sachen wieder herzuzwingen.
18. So einer im Frühjahr das erstemahl das Vieh austreibt.
19. Eine Geschwinde Stellung.
20. Einen Stecken zu schneiden, daß man einen damit prügeln kann, soweit
auch derselbe entfernt ist.
Das angehängte Verzeichnis der Unglückstage ist bereits mitgeteiU im
I. Jahrg. der „Blätter" S. 8.
Ein hessisches Zauberbuch \gf
ihren alten Reimen, z. T. Alliterationen, und er wird mit Erstaunen
[immer wieder die seltsamen Reste der alten erzählenden Einleitungen
wiederfinden, die aus den Merseburger Zaubersprüchen jedem bekannt
sind. Nicht mehr Wotan und Phol sind es, die irgend etwas tun, meist
[Jesus und Petrus: aber wenn die nun ausreiten und ausfahren, so sind
es doch die alten Götter unter den neuen Namen.^ Ich setze drei
charakteristische Segen hierher, um die verschiedenen Arten kurz zur
Anschauung zu bringen.
Wie der Dieb das gestolene wiederbringen muß.
Gehe vor Sonnenaufgang zu einem Birn Baum und nim 3 Nägel
aus einer Todten Bahr oder 3 ungebrauchte Hufnägel mit halt dieselbe
gegen der Sonnen Aufgang und sprich:
0 Dieb ich binde dich mit dem ersten Nagel, den ich dir in deine
Stirn und Hirn thu schlagen daß du das gestohlene Gut wieder an
seinen vorigen Ort mußt tragen es soll dir so weh werden nach den
Menschen und nach dem Ort wo du es gestolen hast, als dem Jünger
Judas war, da er Jesum verrathen hatte, den andern Nagel den ich
dir in deine Lung und Leber thu schlagen daß du daß gestolene Gut
wieder an seinen vorigen Ort solst tragen es soll dir so weh nach den
Menschen und nach dem Oort seyn da du es gestohlen hast als dem
Pilato in der Hollenpein, den 3 Nagel den ich dir Dieb in deinen
Fuß thu schlagen, daß du das gestolen Gut wieder an seinen Vorigen
Ort mußt tragen wo du es gestolen hast: 0 Dieb ich binde dich dorch
die Heiligen 3 Nägel die Christum durch seine Heil. Hand und Fuß
sind geschlagen worden daß du das gestolene Gut wieder an seinen
vorigen Ort mußt tragen, da du es gestolen hast XXX Die Nägel
müßen aber mit Armen Sünder Schmalz geschmiret werden.
So jemand Würmer hat.
Peterus und Jesus, führen aus gehn Acker ackerten 3 Furchen,
ackerten auf 3 Würmer der eine weiß, der andere Schwarz, der dritte
Roth, da waren alle Würmer Todt, in Namen XXX sprich diese Worte
3 mal.
Den Schmerzen zu legen.
Unser lieber Herr Jesus Christ, hat viel Beulen und Wunden ge-
habt und doch keine verbunden, sei jähren nicht sie geschwähren nicht,
es gibt auch kein Eiter nicht. Jonas war Blind, sprach ich das himm-
lische Kind, so wahr, die heilige 5 Wunden sein geschlagen, sie grienen
» Vgl. „Blätter für Hessische Volkskunde" I, S. 7.
J98 Ein hessisches Zauberbuch
nicht, daraus nehme ich Wasser und blut, das ist vor aller Wunden Schaden
gut, heilig ist der Mann der alle Schaden und Wunden heilen kann XXX.
Man würde sich täuschen, wenn man glauben sollte, daß diese
Sprüche in langer mündlicher oder auch handschriftlicher Tradition des
hessischen Volkes aus alter Zeit festgehalten wären. Sie finden sich
wieder in den gedruckten Zauberbüchern, die immer aufs neue bis in
die letzten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts gedruckt und verbreitet sind.
So finden sich einzelne Segen unseres Buches wieder in dem Bändchen,
das den Titel trägt „Der wahrhaftige feurige Drachen oder Herrschaft
über die himmlischen und höllischen Geister und über die Mächte der
Erde und Luft" und soweit mir bekannt in einem Druck, der die Angabe
Köln 1723 trägt, oder in den „etlichen fürnehmen und nützlichen Kunst-
stücken, den Stein der Weisen betreffend, welche aus Herrn Theophrasti
Paracelsi von Hohenheim eignen hinterlassenen Handschriften bekommen
und davon abgeschrieben worden sein", - der Druck, den ich besitze,
trägt die Angabe Schwab. Hall, Haspeische Buchhandlung; eine Reihe
finden sich in den verschiedenen Teilen, die als „Albertus Magnus be-
währte und approbirte sympathetische und natürliche egyptische
Geheimnisse für Menschen und Vieh" mit der Angabe des fingierten
Druckorts „Braband" im Buchhandel sind. Aber wir halten diese ver-
schiedenen Produkte nicht mehr für die Quellen des hessischen Büch-
leins, in das sie aus ihnen gesammelt wären, wenn wir bemerken, daß
alle Rezepte sich in dem sog. Romanusbüchlein wiederfinden. Ich
habe zur Hand zwei Ausgaben, die eine mit der Angabe Schwab. Hall,
die andere Berlin 0, Druck von E. Bartels, Blumenstraße 70. Beide
weichen in ihrem Inhalt, in Zahl und Anordnung der Rezepte erheblich
voneinander ab, wenig im Texte der einzelnen in beiden gegebenen
Anweisungen. Unser Zauberbuch steht dem Berliner Druck des Romanus-
büchleins sehr nahe. Wir würden glauben, daß es daraus abgeschrieben
sei — denn auch die Anordnung der Segen ist gruppenweise die gleiche
in beiden -, wenn nicht einige kleine Zusätze und andere Lesarten,
die der Schreiber des hess. Büchleins schwerlich gemacht hat, uns
nötigten, einen andern, aber dem Berliner fast gleichen Druck als Vor-
lage anzunehmen, die immerhin handschriftlich übermittelt sein mag.
Er würde sich leicht auffinden lassen, wenn es der Mühe lohnte. Wir
erkennen ja auch so, was etwa von einiger Bedeutung für die Kenntnis
dieser Literatur ist. Einige Beobachtungen, die man an unserer Hand-
schrift machen kann, mögen nicht ohne ein gewisses Interesse sein.
Gleich der zweite Spruch darin war gänzlich unverständlich. Nach
Ein hessisches Zauberbuch
199
einem Diebesbann steht als „Wiederauflösung": „Ihr Roß und Mann
so ich euch hab beschworen zu dieser Priest, reitet hin in den Namen
Jesu Christ, durch Gottes Wort um Christi Hort! so gehet ihr alle
fort." Im Romanusbüchlein steht die Auflösung nach einem Banne
über „Reiter und Fußknecht", wie es dort bezeichnenderweise heißt.
Davor aber steht jener Diebesbann; das Zwischenstück hat der Ab-
schreiber ausgelassen. Ganz unverständlich ist der Anfang des 6. Spruchs:
„Ich zog über Land, der hat den Staub in seiner Hand, da begegnete
ihm Gott und sprach zu ihm Jakob, warum traurest du so sehr?" usw.
Daß es Stab statt Staub heißen muß, war wohl gleich klar: im Romanus-
büchlein steht denn auch so. Aber das Ich im Anfang? Jakob muß
wohl dort gemeint sein. Job steht im Romanusbüchlein. Offenbar ist
also unsere Handschrift auch aus einer Handschrift abgeschrieben -
da ist diese Verlesung begreiflich. Im 10. Spruche steht „Bete erstlich
früh, alsdann kehre das Hemd um den linken Ermel zuerst und
sprich usw.". Das Romanusbüchlein hat richtig: „ernstlich". „Trotten-
korf" hat unsere Handschrift im Spruch 7, der Druck „Trottenkopf"
(d. i. Trudenkopf, Bezeichnung eines elbischen Wesens). „Es standen
drei Rosen auf des Herr Gottes Gut, die Erste heißt Demuth" usw.
steht Nr. 14 in dem geschriebenen, „Es stehen drei Rosen auf Gottes
Herz, die erste ist gütig" usw. in dem gedruckten Buche. Nr. 8 hat die
Handschrift „Drei falsche Zeigen haben dich geschlossen, drei heilige
Zeigen haben für dich gesprochen" usw., der Druck hat „Zungen";
beides stammt aus einem dort falsch geschriebenen, hier verlesenen
Zeugen, wie man sich leicht vorstellen wird. In demselben Spruche
heißt es noch „so segne Dich Gott und der H, Eyprinan", ohne den
Druck wüßten wir kaum, daß Cyprian, der angeblich so große Zauberer,
gemeint ist. Aber das Heftchen ist es ja kaum wert, daß wir es so
genau ansehen. Nur über einen Zauberspruch mag noch eine Be-
merkung gestattet sein. An letzter Stelle - vor den Unglückstagen,
die im Romanusbüchlein fehlen, aber in andern ähnlichen Texten in
mannigfacher Variation überliefert sind (z. B. Der wahrhaftige feurige
Drache in einem Druck, auf dessen letzter Seite angegeben ist Neu-
Weißensee bei Berlin, Verlagsdruck von E. Bartels, Generalstraße 8,
S. 54), findet sich die folgende Anweisung:
Einen Stecken zu schneiden, daß man einen damit Prüglen
kann, soweit auch derselbe entfernt ist.
Merke wenn der Mond neu wird an einen Dinstag, so gehe vor
der Sonnen auf gang aus tritt zu einen Stecken, den du dir zu vor
200 ^*" hessisches Zauberbuch ^
schon ausersehen hast stelle dich mit deinem Angesicht gegen der
Sonnen aufgang und spreche diese Worde Steck ich greife dich an in
Namen XXX Nimm dein Messer in die Hand und sprich um Steck, ich
schneide dich in Namen XXX das du mir sollst Gehorsam sein welchen
ich prüglen will wann ich einen Namen antrette darnach schneide auf
zwei am Stecken etwas hinweg, damit du kanst diese Worte darauf
schreiben. Stechen oder schneiden: Alia, obia, sabia, lege einen Kittel
auf einen Scherrhaufen schlage mit deinen Stecken auf den Kittel und
nene des Menschen Namen, welchen du prüglen willst und schlage
tapfer zu: so würst du diesen so hart treten, als wenn er selbst
darunter wäre, und doch oft viele Meilen Wegs von dem Ort entfernt
ist. Statt dem Scherrhaufen thuts auch die schwelle unter der thOrr
womit ein Schäfer von Birnek an seinem Edelmann die Probe ge-
macht hat.
Nun würde man ein Birneck oder Berneck vergeblich in Hessen
oder irgendwie in der Umgegend des Ortes suchen, in dem das Zauber-
buch und ja wohl auch diese Vorschrift gebraucht wurde. Wahrschein-
lich ist Berneck in Württemberg, ein Städtchen im Schwarzwaldkreis,
gemeint. Wir müssen bedenken, daß ein großer Teil der Zauberliteratur
der Art, die wir besprachen, von Schwäbisch -Hall aus neu verbreitet
worden ist. Schwäbisch -Hall und Ilmenau, Württemberg und Thüringen
sind, in diesem Jahrhundert wenigstens, die Heimstätten dieser magischen
Druckschriften, die in betriebsamer Kolportage über ganz Deutschland
verbreitet sind. Was nur an handschriftlichen Segen und Zauber-
sprüchen, bis auf geringe Ausnahmen auch alles was nur an Ver-
öffentlichungen solcher Texte bekannt geworden ist, stammt aus diesen
gedruckten Büchlein.^ Daß in letzter Zeit auch eine Winkelbuchhandlung
Berlins an dem Gewinn dieses Handels, der offenbar viel einträglicher
ist als wir ahnen, ihren verhältnismäßig ehrlichen Anteil haben will, ist
nur in der Ordnung.
Seit Jahrhunderten sind ältere Drucke immer wieder durch neue
ersetzt. Über die hauptsächlichsten der Bücher kann man sich belehren
^ Was außer dem Zauberbüchlein noch an Abschriften ähnlicher Texte von
der Vereinigung für Hessische Volkskunde mir übergeben ist, läßt sich fast
alles in gleicher Weise in den vorhandenen Drucken nachweisen. Aber es ist
gerade darum so überaus wünschenswert, daß dergleichen an eine Stelle ein-
geliefert werde, wo das Neue und Unbekannte als solches erkannt werden
kann, alles Wertvolle für die Geschichte und Fortpflanzung der Zauberliteratur
und die Kenntnis des Volksaberglaubens gesammelt und zur Benutzung auf-
bewahrt werden kann.
Ein hessisches Zauberbuch
201
aus Wuttkes deutschem Volksaberglauben, dem wertvollen Buche, das
durch die von Elard Hugo Meyer besorgte dritte Bearbeitung um ein
bedeutendes wertvoller geworden ist. Außer den oben genannten
Schriften ist es namentlich Fausts dreifacher Höllenzwang und das
6. und 7. Buch Mosis, die immer wieder hervortreten. Teile dieser
Schriften sind uralt und haben sich handschriftlich und im Gedächtnis
des Volkes vor den Zeiten des Druckes viele Jahrhunderte durch er-
halten. Außer den Elementen, die der altdeutsche Zauber geschaffen
und weiterüberiiefert, sind es Elemente der hebräischen Kabbala, sind
es auch Elemente des Zaubers der antiken Völker, die übergeleitet
wurden und bis heute lebendig sind. Jene Abracadabra und Ablana-
thanalba, die Adonai, Sebaoth, die Ischyros Theos, Athanatos und eine
Reihe gerade der unsinnigsten Buchstabenkomplexe, die nie wieder ein
Zufall gleich zustande bringen würde, stehen ebenso in den mittelalter-
lichen Zauberbüchem wie in den antiken, die aus den Gräbern Ägyptens
in erstaunlicher Fülle wieder ans Tageslicht gekommen sind. Sie stehen
z. T. ebenso auf den Metalltafeln, die hier und da in Deutschland und
Österreich, bei Badenweiler, bei Gellep am Niederrhein, bei Wien aus-
gegraben sind. Die letzteren sind die Dokumente des Übergangs, sie
stammen von römischen Soldaten oder ihrer Umgebung. Wenn ein
Zauberbuch, das aus einem ägyptischen Grabe stammt und etwa im
zweiten Jahrhundert nach Christus geschrieben ist, den Titel führt
8. und 10. Buch Mosis und genau gleichartigen Inhalt hat wie die
modernsten, heute noch in den Zeitungen angekündigten Bücher mit
dem Titel 6. und 7. Buch Mosis, so zeigt sich ein geradezu unheim-
licher Zusammenhang auf dem Gebiete dieser rätselhaft lebenskräftigen
Literatur des systematischen Aberwitzes. Aber ihre Geschichte zu
schreiben, wäre viel mehr als die Geschichte einer Narrenliteratur zu
liefern. Hier gilt es, zu finden und zu verstehen die unterste Schicht
der Religion, aller und jeder geschichtlichen Religionsentwicklung. Was
heute noch die Religion vieler Völker der Erde ausmacht, nennen wir
Zauberei; das gleiche ist bei allen Völkern aufzudecken als die unterste
Lage aller verschiedenartigen religiösen Gebilde. Es ist noch nicht an
der Zeit, sich über diese wichtigen Erkenntnisse deutlicher auszusprechen.
Aber das soll man wissen, daß es sich hier bei diesen Kleinigkeiten
und Narrheiten um die größten Probleme handelt.
XIII
ABC-DENKMÄLER'
77 Die eben erschienene erste Lieferung des Thesaurus linguae latinae
gibt keinen Artikel ABC, keine Belege der überlieferten Zeichenreihe
des sog. Alphabets. Und doch ist es eine stattliche Anzahl von Denk-
mälern, auf denen das lateinische Alphabet ganz oder zum Teile ge-
schrieben steht. Freilich bilden diese Zeichenreihen kein Wort, aber
doch eine Formel, die keinen Sinn haben mag, aber in irgendeinem
Sinne zu irgendeinem Zwecke verwendet sein muß. Ehe dieser Zweck
untersucht war, konnte eine richtige Aufreihung der Belege nicht ge-
geben werden: und der Zweck der Formel konnte nicht gesucht und
gefunden werden, ehe die hierhergehörigen Belege auch der zahlreichen
griechischen, etruskischen und oskischen Alphabetreihen zum rechten
Überblick vereinigt waren. Diese Untersuchung dürfte sich vielleicht
heute als Nachtrag zum lateinischen und als Vorarbeit zum griechischen
Thesaurus Beachtung erbitten, wenn sie nicht in viel bescheidenem
Gedanken unternommen wäre.
Mancher Herausgeber dieses oder jenes Abcdariums hat den Ur-
sprung seiner Zeichen und deren Eigentümlichkeiten eingehend erörtert,
wenige nur haben sich Sorge darum gemacht, wie man darauf verfallen
konnte, die sinnlose Buchstabenreihe an so mancherlei Orten einzuhauen,
einzuritzen oder aufzumalen. Und wenn man hier oder da einmal ver-
suchte, ein so rätselhaftes Tun zu erklären, konnte schon ein Blick auf
die nächsten gleichartigen Exemplare die Erklärung widerlegen, die auf
sie nicht paßte. Meist hat man angenommen und es immer wieder
vorgebracht, daß Schulknaben diese Übungen aufgeschrieben oder daß,
wenn es sich um Steininschriften handelte, die Steinmetzen zur Übung,
zum Zeitvertreib oder auch als Meisterstück diese Zeichenreihen geliefert
hätten. Man wird erkennen, wie weit diese Erklärung zureichen kann.
Denn das ist klar: eine Erklärung muß für alle gleichartigen Texte^
78 solcher Reihen passen und kann nur so ihre Richtigkeit bewähren,
' <Rhein. Mus. LVI 1901 S. 77 ff.)
ABC -Denkmäler 203
So ist es denn unumgänglich, wenn eine Deutung aus den Texten selbst
sich ergeben und an ihnen die Prüfung bestehen soll, vor allem die
Dokumente zu durchmustern.
1. Am bekanntesten sind eine Anzahl Vasen, auf denen ein archa-
isches griechisches Alphabet geschrieben ist. So steht auf der Basis
des sog Galassischen Gefäßes, das sich heute im Gregorianischen
Museum befindet (Lepsius Annali VIII 1836 p. 186 T. B; Röhl /GA 534,
Kaibel IGSI 2420, 2, Kirchhoff Griech. Alph.'* 135, weitere Literatur bei
Heibig -Reisch Führer I Nr. 1356), ein griechisches sog. chalkidisches
Alphabet. Das kleine Gefäß ist von etruskischer Arbeit, und auf dem
Bauche trägt es ein etruskisches sog. Syllabar von dreizehn Silben-
gruppen zu 4 Silben (im ganzen 52 Silben) bi, ba^ bu, be, gi, ga, gu, ge
usw. Eine Vase, bei Adria gefunden, trägt das Alphabet auf dem Deckel
von A bis N (mit 2 Verstellungen; Lepsius Annali 1836, 194 nach An-
gabe Lanzis).
Aus Etrurien stammt wiederum das Buccherogefäß, das in Formello
entdeckt wurde, nahe dem alten Veji (Mommsen Bulletino dell' inst.
1882, 91; Kaibel IGSI 2420, 1; Kirchhoff* 135). Zwei griechische Al-
phabete sind dort in eigentümlicher Verbindung mit etruskischen Zeichen
eingekratzt. Über der ersten Reihe steht in etruskischen Buchstaben
ur ur. An das erste Alphabet schließt sich direkt an: säur uaszuaz.
Die dritte Reihe beginnt: uararzuaszuauzsy dem Alphabet folgt: ausaz-
suaz usauaszusa. Den Schluß noch zweier Reihen etruskischer Zeichen
bildet zarua zarua zaruas.
Ein ziemlich genau entsprechendes griechisches Alphabet - es ist
nur A bis K geschrieben, die Buchstaben stehen auf dem Kopfe unten
um den Bauch des Gefäßes - findet sich auf einem Topfe aus dunklem,
braunem Ton mit einigen linearen Ornamenten, der im Corridore der
Villa Papa Giulio steht (LVIII 6; publiziert Monumenti antichi IV p. 320).
Dem Alphabet gegenüber steht in der gleichen Weise wie jenes ge-
schrieben APA. Ob der Herausgeber mit Recht an das Wort apd
denkt? Zwei andere griechische Alphabete stehen auf zwei Vasen, die
in Unteritalien gefunden sind, das eine auf einem vasculum cretaceum
(forma della lekane o stamm apulo bei Barnabei, der es veröffentlicht
hat Notizie degli scavi 1885 S. 607 f.; Kaibel /OS/ 2420, 4), das andere
auf einem Gefäß di creta grezza aus Misanello bei Armento in der 79
Basilicata (Robert Bullettino dell' inst. 1875 p. 56; Kaibel IGSI 2420, 6).
Auch aus Griechenland selbst besitzen wir wenigstens eine Vase
mit diesem seltsamen Buchstabenschmuck, die sich in der Vasensammlung
04 ABC -Denkmäler
des athenischen Nationalmuseums befindet. Ihr Fundort ist unbekannt
(Kaiinka, der sie ausführlich besprochen hat Athen. Mitt. 1892, 101 ff.,
weist sie Böotien zu). Es ist das alte epichorische Alphabet und doch
gehören die Buchstabenformen, weit entfernt von archaischer Strenge,
einer jüngeren Zeit an (Kaiinka 103). Dem einen Alphabet folgen noch
zwei Zeichen, in denen der Herausgeber die Zeichen =. Q erkennen
will, die vom ionischen Alphabet hinzugekommen seien, und so wird
ihm die Vase zum Denkmal der Übergangszeit von der alten zur neuen
ionischen Schrift. Sonst aber ist Stellung und Form der Zeichen in
nichts von dem neuen Alphabet infiziert und so soll eben die Vase die
erste Äußerung des beginnenden Ausgleichs zwischen dem altererbten
und dem neu vordringenden Alphabet sein und wird ungefähr dem
ersten Jahrzehnt des vierten Jahrhunderts zugewiesen. Ob man ein so
seltsames Vermittlungsalphabet begreiflich findet, wenn es zum Schmuck
der Vase dienen oder gar einen belehrenden Zweck haben soll (Kaiinka
116 f.)?
Zum Schmuck steht das altertümliche Alphabet gewiß nicht auf einer
Scherbe, die in Korinth südlich von der Burg unter vielen andern ge-
funden ist (Röhl IGA 20, 13; Kirchhoff 103). Die anderen sind sämt-
lich als Votivtäfelchen verwendet, mit der Aufschrift von Götter- oder
Heroennamen, einem dveGriKev mit dem Namen des Weihenden o. ä.
(Röhl n. 20, 1-114). Offenbar ist noch nachträglich ein Stück der
Scherbe abgebrochen, denn das Alphabet beginnt mit e, dreht sich dann
bei X nach rechts unten, |n und v stehen untereinander, dann haben
OTT ihre Längsachse in der horizontalen Zeilenrichtung nach links; die
folgenden Buchstaben bis t stehen nicht ßoucTpocpriböv, sondern wie
P zeigt, mit der Richtung nach rechts.
Wichtiger als der Charakter und die Herkunft des betreffenden
Alphabets ist in allen Fällen, die ich anführte, für die Frage, die hier
gestellt ist, die Provenienz des ganzen Gefäßes. Die Scherbe kommt
für uns nur als Scherbe in Betracht: erst auf die Scherbe ist die Buch-
stabenreihe geschrieben. Wozu dienten jene Vasen? Soweit es genaue
80 Angaben gibt über ihren Fundort, stammen sie aus Gräbern. Ausdrücklich
wird es gesagt von der Galassivase: sie stammt aus einem caeretanischen
Grabe; von der Vase aus Metapont: sie ward in der dortigen Nekropolis
gefunden; von der Vase von Misanello: sie ist im Gräbergebiet aus-
gegraben (s. Robert a. a. O. p. 56 u. 57); von dem Gefäß in der Villa
Papa Giulio: es stammt aus einem Grabe der Nekropole von Narce
(a. a. 0. 320). Es bleibt nur eine Vase außer den bisher Genannten,
auf der sich eine unvollständige Alphabetreihe befindet. Freilich ist es
ABC -Denkmäler
hier ein besonderer Fall. Zwar sind die drei ersten Buchstaben des
Alphabets auf dem Halse des Gefäßes eingeritzt, aber die längere Reihe
A bis 0 steht in wirrem Durcheinander aufgemalt auf dem Schild der
Athena, die auf dem Bild der Vase dargestellt ist. Es ist eine pan-
athenaeische Amphora der Würzburger Sammlung (n. 389, Urlichs Beiträge
zur Kunstgeschichte IV 39 f.). Für unsere Frage haben wir Buchstaben-
zeichen nicht auf einer Vase, sondern auf einem Schilde zu registrieren.
Dann aber müssen wir uns andern Dokumenten zuwenden. Auf
Amorgos steht am rauhen Felsen eingehauen ein Teil eines altertümlichen
Alphabetes (Röhl IGÄ 390). Ebenfalls in Amorgos findet sich auf der
Rückseite einer anderen Inschrift das ionische Alphabet 23 mal nach-
einander eingemeißelt (Ross Inscript. ineditae II n. 127). Genaueres ist
über eine Alphabetinschrift nicht zu ersehen, die Luigi CepoUa 1805 bei
Vaste (prope Bastam ruri quodam dicto Melliche) auf der Calabrischen
Halbinsel ad promunturium lapygium abgeschrieben hat (nach Cepollas
Papieren zuerst bei Mommsen, Unterital. Dialekte 49 Anm. 6, Röhl IGA
546, Kaibel IGSl 2420, 5; Kirchhoff 157). Und hier darf noch seine
Stelle finden das Fragment eines Ziegels 0,10 lang, 0,7 hoch, auf dem
mit schwarzer Farbe „eingeritzt" steht (Archäolog. Anzeiger 1863 S. 92):
ap ßap Tap bap 9 . . .
€p ߀p T^p bep Ge . . .
TIP ßnp Tnp bnp enp M . .
und in dieser Weise weiter bis
UJp ßujp TWp bU)p ÖUJp |Ll . .
Von griechischen Inschriften bleibt zunächst nur noch eine anzuführen
übrig; es ist eine Bleiplatte aus Athen, welche die 28 attischen Zahl-
buchstaben trägt. Lastra irreguläre di piombo lautet ihre Beschreibung
von Pervanoglu (Bullet, dell' inst. 1867, 75), con diverse linee e le 81
lettere delV alfabeto. Eine Angabe über die Herkunft haben wir nicht:
eine attische Bleitafel hat an sich einen beschränkten Kreis des Ge-
brauchs, dem sie gedient haben kann.
Eine Inschrift stelle ich allein. Sie mag den Übergang bilden zu
den lateinischen Dokumenten. Bei der Villa Aldobrandini in Frascati
im Gebiet von Tusculum ist ein Stein gefunden - la lastra servi a
chiudere il loculo sepulcrale di Ponzio (de Rossi Bull, di arch.
crist. 1881, 131) - die, obwohl sie aus später römischer Zeit stammt,
das griechische Alphabet bis M zeigt. Auch der Name des Mannes,
der dort lag, wird in lateinischer Form mit griechischen Buchstaben
gegeben TTONTII.
206 ABC -Denkmäler
2. Eine ganze Reihe von lateinischen Alphabetinschriften schließt
sich den vorgeführten griechischen an. Nur zwei Gefäße weiß ich hier
anzugeben (deren Nachweis ich meinem Kollegen Gundermann verdanke).
Das eine — es ist eine Aschenurne — , das auf dem Hauptsteine zu
Mainz gefunden ist, zeigt ringsum das Alphabet nebst anderen Orna-
menten (Becker, Rom. Inschriften des Museums der Stadt Mainz S. HO
e n. 6). Das andere wurde in Maar bei Trier gefunden, trägt außer
dem auf den Kopf gestellten Alphabet nahe dem Fuße des Kruges die
Worte
artus fututor
art ligo dercomogni fututor
und von späterer Hand eingeritzt aprilis und einige unverständliche
Zeichen (Lehner Westdeutsche Zs. XII 1893, Korrespondenzblatt Nr. 10^|
S. 201 ff.). Bemerkenswert ist, daß das Alphabet mehrfach andere,
scheinbar ältere Formen zeigt als jene anderen Worte. Ich halte die
Deutung Büchelers für schlagend Ärt(um) ligo Dercomognij Artus fututor
(seil, est): ich weihe (zu ligare vergleicht Bücheier Bull, dell* inst. 1860
S. 70 Helenus suom geniom dis inferis mandat , . . ne quis eum sol-
vat nisi nos qui ligamus, und CIL X 8249) den Artus, Sohn des D.
Artus ist fututor. Es handelt sich also um einen Defixionszauber in der
Inschrift und es muß hier ausdrücklich bemerkt werden, daß das Ge-
fäß auf dem römischen Gräberfelde ausgegraben ist. Wir haben schon
oben festgestellt, daß auch die griechischen Alphabetvasen, soweit ein
Fundort nachweisbar ist, aus Gräbern stammen.
Eine merkwürdige Marmortafel ist an der via Latina gefunden.
82 Zweimal stehen da die Zeichen A bis H und G bis Z - das zweite
Mal ist das Z dreimal wiederholt -, dann von A bis Y (mit doppeltem
M), nochmals A bis Q (ohne M), G bis Z (Henzen Bullet, dell' inst.
1862, 29; CIL VI 6831; s. de Rossi Bullett. di arch. crist. 1881, 130).
Parmi facile rendere conto di questa bizarria^ sagt de Rossi (a. a. 0.),
essa ci offre gli esercizi d'un discente d'arte lapidaria. Hat der Stein-
metzlehrling auch die Buchstaben D-M-S am Schluß der letzten Reihe
mitgeübt, die sich ganz regelmäßig anschließen und durchaus nicht ohne
Rücksicht auf die Alphabetreihen später zugefügt scheinen? Wir wissen
ja, daß der Stein aus einem Columbarium stammt: es ist eine Grab-
inschrift, bestehend aus Alphabetreihen und D-M-S.
Einen nicht minder wichtigen Zusatz trägt eine Marmortafel, die
bei Petronell in einem Dolichenusheiligtum gefunden ist (Kaiinka Athen.
Mitt. 1892, 122). Was auch sonst noch auf der Tafel gestanden haben
mag, sie enthält das lateinische Alphabet (mit YZ) und die Formel ex
ABC -Denkmäler 207
VISU.
Zusammen mit dieser Tafel ist z. B. ein Votivstein gefunden,
der dem luppiter optimus maximus Dolichenus geweiht ist pro sal{ute)
impieratoris) Caes(aris) M(arci) Äurielii) Commo(di) Aug{usü). Das
Alphabet der Marmortafel ist auf göttlichen Befehl dem Dolichenus ge-
weiht worden.
Auf einer anderen Marmortafel aus Verona (CIL V 3892 tabula mar-
morea cum foris circularibus , in quibus singulis singulae alphabeti
litterae scriptae sunt, reperta Veronae 1812 cum lyceum factum est.)
steht nichts als folgende in einem von rechts nach links laufenden
ßoucTpo9nööv geschriebenen Buchstabenreihen:
DCBA
EFGH
NMLI
OPQR
In Lambaese ist das Fragment einer Inschrift parmi les matäriaux du
fort byzantin gefunden, ein Steinstück 0,55 m hoch, 0,70 breit {CIL
VIII 3317). Auf einer bereits weggeworfenen Inschriftplatte ist der
untere Rand zu oberst gekehrt, und nun sind in zwei Reihen folgende
Buchstaben darauf geschrieben:
aa bb cc dd
gh klmn
Offenbar in ähnlicher Weise wie die weggeworfene Inschriftplatte hat 83
man das Sttick einer Säule aus Aquileja verwendet, das dort alle Mari-^
gnane in der Nähe des sog. Zirkus gefunden ist, 0,43 m hoch, 1,16 Um-
fang, mit 2 Dtibellöchern. In schlechten Buchstaben ist darauf das
Alphabet von A bis Z eingeritzt (Arch.-epigr. Mitteilungen aus Österreich
1881 p. 124 Nr. 16).
Von Ziegeln, auf denen in großen kursiven Linien das Alphabet
eingeritzt ist, weiß ich vier anzugeben: der eine stammt aus Stein am
Anger in Ungarn, ist jetzt im Museum zu Pest und zeigt in vier Reihen
ein Alphabet bis Z {CIL III p. 962, XXVII Nr. 1); der andere stammt
aus Holledoorn in Holland, hat eine Buchstabenreihe A bis X, die
andere A bis N (Brambach CIRhen. 110); ein dritter stammt aus Car-
nuntum, gibt das Alphabet bis Z neben dem sigillum der leg. XIIII
{CIL III Suppl. 3 Nr. 11 453), der vierte stammt aus Dacien, ist im Museum
von D6va, zeigt drei Alphabetreihen, deren zweite allein vollständig das
Alphabet gibt (Arch.-epigr. Mitt. aus Österreich VIII 46). Es bleibt noch
ein merkwtlrdiger Stein von Trapani, der als forma lapidea bezeichnet
wird, als Matrize, mit der die Buchstaben in weiches Material gedrückt
208 ABC -Denkmäler
worden seien {CIL X 8064, 1; de Rossi Bullett. di archeol. crist. 1881,
136). Die umgekehrte Form der Buchstaben scheint auf diesen Ge-
brauch hinzuweisen.
Ein in seiner Art, soviel ich weiß, einzig dastehendes kleines Denk-
mal mag hier seine Erwähnung finden. Aus Pompei stammt die kleine
Terrakottafigur eines kahlköpfigen phallischen Alten, die als Lampe ge-
dient hat: // suo fallo serve come becco della lucerna. Weiter gibt
Trendelenburg, der Bullet, dell' Inst. 1871, S. 253f. von dem Funde]
Bericht erstattet, an, daß der Alte in den Händen halte un ruotolo\
sviluppato, sul quäle leggonsi le lettere ABfAGZ.
Die gleiche Weise der Anwendung wie die griechischen und lateinischei
Alphabete auf Vasen und auf Stein hat das etruskische Alphabet ge-
funden. Ich darf kurz auf die vorhandenen Dokumente hinweisen: dasl
kleine schmucklose Tongefäß von Bomarzo bei Viterbo (Fabretti n. 2436;]
Mommsen Unterit. Dial. S. 3), die zwei Pateren und den Krug von!
Nola (Fabretti n. 2766, 2767, Mommsen 6 f., 313 f., Müller- Deecke!
Etrusker 11^ Taf. VIII, IX), die zwei clusinischen Kalksteine mit drei Al-|
phabeten (Fabretti Suppl. n. 163-166, tab. V). Auch hier ist es bei den
Vasen wenigstens ohne weiteres anzunehmen, daß sie aus Gräbern,
stammen.
84 3. Unter den griechischen und lateinischen Alphabetinschriften
schließen sich nun diejenigen, die wir bisher nicht berücksichtigt haben \
ganz von selbst zu einer Gruppe zusammen: die geritzten oder gemalten
Aufschriften auf Wänden. Den Alphabetinschriften der Vasen, die
in etruskischen Gräbern gefunden wurden, entspricht die Wandinschrift
eines etruskischen Grabes bei Colle in der Nähe von Siena {Röh\ IGA
535, Kaibel /GS/ 2420, 3; Kirchhoff 135). Außer allerlei rotaufgemalten
etruskischen Inschriften befindet sich dort ein chalkidisches Alphabet
A bis 0 und ein 'Syllabar' |Lia pn |ue juu va vo . . . derselben Art wie
auf dem oben angeführten galassischen Gefäße aus Caere. Ich schließe
gleich hier zwei vereinzelte Wandinschriften an, beide Graffiti, die eine
an einer inneren Türwand des Excubitoriums der vigiles in Trastevere
{CIL VI 3074; Henzen Annali 1874 p. 156, 77), die andere an einer
Wand in den ausgegrabenen Räumen von Carnuntum (Arch.-epigr.
Mitt. aus Österreich VIII 80; das Alphabet geht nur bis R). Eine er-
staunlich große Anzahl angeschriebener Alphabete findet sich aber da,
wo wir die Wände der Häuser einer antiken Stadt heute noch vor Augen
haben, in Pompei. Da finden sich griechische, lateinische und
o Skis che Alphabetreihen. Das griechische Alphabet ist in den mannig-
ABC -Denkmäler 209
fachsten Teilreihen vorhanden von A bis T, A bis €, A bis Z, A bis K,
A bis M oder N, es ist auch nach dem vollständigen Alphabet die
gleiche Reihe rückläufig wiederholt, so daß ein vollständiges Palindrom
entsteht. Man zählt 16 solcher griechischer Reihen (CIL IV p. 164).
Die lateinischen Reihen sind kaum minder mannigfaltig, und man mag
beachten, daß auch die vollständigen Reihen immer nur bis X reichen.
Eine besondere Erscheinung sind die Reihen, in denen zum ersten
Buchstaben jedesmal der letzte gesetzt wird, zum zweiten der vorletzte
usf., so daß eine Buchstabenfolge dieser Art entsteht AXBVCTDSER usf.^
Diese kleinen Dokumente umfassen im CIL IV die Nummern 2514 bis 85
2549 ^ Es sind alles Graf fiten und alle stehen an den unteren Teilen
der Wände; das hat man zum Beweise dessen angeführt, daß wir hier
die Schriftstellerei von Schulknaben wiederzuerkennen hätten. Ich muß
noch zwei oskische Alphabete gleicher Art in Pompei erwähnen {CIL
IV p. 164; Fiorelli Inscr. ose. Pomp. p. 12 tab. X 9-12; Mommsen,
Unterit. Dial. 188; Mau BuUett. dell' instit. 1875, 60 ff.). Wir wollen
uns zugleich darauf aufmerksam machen lassen (Mau a. a. 0. 61), daß
des Schreibers Muttersprache oskisch nicht gewesen sein kann; denn
er schreibt von links nach rechts und einige Buchstaben sehen ganz
gleich den betreffenden lateinischen.
4. Alle Hauptformen des Gebrauches der Alphabetreihen in der
antik -heidnischen Welt* leben weiter innerhalb der antik-christlichen
* Diese Vereinigung der Buchstaben aus der aufsteigenden Hälfte (A— K)
mit den nach Analogie der Monatstage rückwärts gezählten der absteigenden
Reihe (X— M) muß verbreitet gewesen sein. Die Denare des L. Cassius Caei-
cianus sind in der Weise mit Münzzeichen versehen, daß dem Buchstaben der
Vorderseite z. B. A, B, C usw. auf der Rückseite das entsprechende Zeichen der
zweiten Alphabethälfte, also z. B. X, V, T usw. entspricht, demnach A — X oder
B — V usw. je auf einer Münze vereinigt werden, s. E. Babelon, Descr. des
monnaies de la republique romaine 1, 327, Mommsens Rom. Münzwesen S. 561.
* Ich stelle absichtlich nicht in meine Aufzählung der Dokumente einige
Alphabetreihen ein, die sich in Handschriften finden. Berthelot gibt im ersten
Bande der Collection des anciens alchimistes grecs S. 156 nach einem cod.
Marcianus zwei Reihen der seltsamen Zeichen, die dann mit den gewöhnlichen
griechischen Buchstaben in der Alphabetreihenfolge, die darüber geschrieben
sind, erklärt werden. Daneben steht dann in dieser Zeichenschrift mit der Auf-
lösung darüber dXcpdßnToc tu)v fpoi\ji}idTix)v. Außerdem steht dabei ^XivriKd (=
4X\riviKd) und UpoTXuqpixd. Zum Teil genau dieselben Zeichen, in derselben
Weise geschrieben und erklärt, habe ich in einem Neapler Kodex II C 33 fol. 7 v
(unten) gefunden und dabei steht Tpamnaxa iepoTXuqpiKd direp ^v xeixeciv Kai 4v
TT^Tpaic gTpaq)ov ^Xevec (sie). Es handelt sich offenbar um eine Geheimschrift
und ieporXucpiKd — mit 'Hieroglyphen' haben die Zeichen nichts zu tun — soll
wohl nur sagen, daß es heilige Zeichen sind. Aber die Alphabetreihenfolge
hat in dieser Anweisung weiter keine Bedeutung.
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 14
210
ABC -Denkmäler
Welt. Ich gebe die mir bisher bekannten Beispiele. In Karthago hat
auf dem Friedhofe der alten Christen unter den Resten eines Bapti-
steriums Delattre ein Terrakottagefäß entdeckt, das auf dem Halse außer
dem Bilde des Kreuzes und zweier Fische die Zeichen ABC zeigt
(Bullett. di archeol. crist. 1880 Tav. VIII, dazu de Rossi ebenda 1881,
125 ff.). Es ist in der Tat die Annahme de Rossis sehr naheliegend,
daß wir es mit einem beim Taufakte gebrauchten heiligen Gefäß zu
tun haben. Ich darf mit dieser Vase unmittelbar vergleichen einen Kasten,
der oben und unten von Bronzeplatten gedeckt war. Die eine Platte
86 trägt in vier Kreisen geschrieben das stets gleiche lateinische Alphabet,
in der Mitte zwischen je zwei Kreisen steht zu lesen vivas in deo
(Bullett. di archeol. crist. 1880 Tav. VII Fig. 1% dazu p. 172). Gleicher
Art ist eine Bronzescheibe, die ringsherum ebenfalls das Alphabet zeigt
(ebenda Fig. 2 p. 122). Jener Kasten stammt aus Rom und soll etwa
dem 4. Jahrh. angehören. Die Inschrift vivas in deo weist darauf hin,
daß ein Zusammenhang mit Tod und Grab vorliegt. Wir besitzen auch
christliche Inschriftsteine mit dem Alphabete. Ein merkwürdiger Marmor-
block aus dem Circus Flaminius trägt zwischen zwei Kreuzen die Al-
phabetreihe (Bullet, di arch. Christ. 1887, 136), und man darf gerade
hier zu bemerken nicht versäumen, daß auch dieses lateinische Alphabet
nur bis X reicht, obwohl doch die ganze Inschrift ins VI. oder VII. Jahrh.
nach Chr. gehören wird (de Rossi a. a. 0.). Ein anderer christlicher
Inschriftstein trägt nur die griechischen Buchstaben ABf, er ist im
Cimitero ostriano gefunden und diente als Verschlußplatte für das Grab
eines Knaben (de Rossi a. a. 0. 131).
Endlich haben sich auch christliche Wandinschriften gefunden. In
den Katakomben von Bolsena finden sich unter einer Reihe von Kreuzen
außer dem Worte Pax und um das Bild eines Brotes Teile des Alpha-
betes eingeritzt (CIL X 2887, vgl. de Rossi Bullett. di arch. crist. 1881,
132), und Graffiti vom Cimitero di S. Alessandro an der via Nomentana
bei Rom enthalten nicht nur ein ganzes etwas fehlerhaftes Alphabet,
sondern auch jene von den pompeianischen Wänden her uns bekannte
Anordnung der Buchstaben AXBVCT usw. (s. de Rossi a. a. 0. 131).
Diese christlichen ABC -Denkmäler lassen es gar nicht mehr zu, von
bloßen Schreibübüngen der Knaben oder der Steinmetzen zu reden.
Und so hat denn auch de Rossi (a. a. O. 139) eine Erklärung im An-
schluß an die so oft auf entsprechenden Denkmälern vorgefundenen
Zeichen AÖ und die Worte in der Apokalypse des Johannes gesucht
I 8 ifdj eijLii TÖ A Kai tö Q, dpxn Kai teXoc, Xeyei 6 Kupioc (vgl. I 11
XXI 6 XXII 13). Für diese zwei Zeichen soll Vequivalente preciso sein
ABC -Denkmäler 211
das ganze Alphabet, die symbolische Bezeichnung der Grundlehren des
Christentums, ja des ganzen göttlichen Wortes. Es wird ebenso ein-
leuchten, daß diese Erklärung für die vorchristlichen Alphabetinschriften
nichts hilft, als daß eine Erklärung, die richtig sein soll, für alle die
oben zusammengestellten Denkmale, die vorchristlichen wie die christ-
lichen, zutreffen muß. Mag sich auch die Ausdeutung verändert und 87
erweitert haben, wir habön einen Brauch, der durch die Jahrhunderte
des Altertums in gleicher Weise von Heiden und Christen geübt wurde,
nicht erklärt, wenn wir nur sagen, in welcher Auslegung er den Christen
hätte brauchbar sein können. Und nicht einmal das wäre durch das
Offenbarungswort vom A und Q genügend begreiflich zu machen. Aus
der Sicherheit, mit der de Rossi die paar heidnischen Beispiele, die
ihm bekannt sind, in der herkömmlichen Weise den Übungen der
Knaben oder der Steinmetzen zuschreibt (a. a. 0. 130, 136), sehen wir
mit einiger Verwunderung, daß ihm gar keine Möglichkeit in Gedanken
kam, die heidnischen und christlichen ABCdarien zusammenzurücken in
eine geschichtliche Linie des gleichen Brauches. Und doch liegt diese
Notwendigkeit für uns auf der Hand.
5. Es wird denn auch nicht nötig sein, alle Erklärungen, die man
gelegentlich einmal ausgesprochen hat, auf ihre Haltbarkeit durchzuprüfen.
Will man wirklich die Alphabetziegelsteine als Vorlagen beim Schreib-
unterricht mit Wattenbach (Schriftwesen ^91) ansehen und mit Budinszky
(Ausbreitung der lat. Spr. 151) aus den bei Nymwegen gefundenen
Exemplaren 'auf den Bestand einer Elementarschule in dieser Gegend'
schließen? Oder will man sich zur Erklärung der Syllabare der an-
mutigen Deutung erinnern, die man in Bergks Gr. Literaturgeschichte I
352, Anm. 121 gedruckt lesen kann, da wo er von unartikulierten
Liedern ohne Worte spricht, * womit die Ammen Kinder in den Schlaf
zu singen pflegten'? 'Noch ist uns ein solches Lied auf einem Gefäß
aus Caere in Etrurien erhalten: ßi ßa ßu ße fi t« Tu Te usw., auf einem
anderen Gefäße findet sich ein ähnliches Lied m« Mi M^ fiu'. Man wird
mir eine Kritik der Bergkschen Ammen und überhaupt aller ähnlichen
Erklärungsversuche erlassen. Sie passen im besten Falle immer nur
auf einige wenige der zahlreichen gleichartigen Dokumente.
Bevor wir die oben aufgestellte Forderung zu erfüllen suchen, alle
vorgelegten Dokumente zu erklären, dürfen wir einen Blick werfen auf
einige merkwürdige Denkmale genau entsprechender Art außerhalb des
antiken und altchristlichen Kulturkreises. Ich vermag nicht zu sagen,
ob die Runenalphabete, die ich meine, irgendeinen direkten ge-
14*
212 ABC -Denkmäler
schichtlichen Zusammenhang mit jenen antiken Alphabeten haben: daß
es derselbe Gebrauch der Alphabetreihe ist, den wir im germanischen
88 Norden festzustellen haben, wird alsbald einleuchten. Vier sichere Bei-
spiele vermag ich nach Wimmers Buche über die Runenschrift (übers,
von Holthausen, Berlin 1887) anzugeben. Es sind 1. ^ein Bracteat
(d. h. eine dünne Goldplatte, bractea, in Form einer Münze, mit Prägung
auf der einen Seite und mit einer Öse versehen, um als Schmuck-
gehänge benutzt werden zu können), gefunden 1774 bei Vadstena in
Schweden, jetzt im Museum in Stockholm. Der größte Teil der Um-
schrift desselben besteht aus einem Runenalphabet in der ursprünglichen
Reihenfolge der Runen' (Wimmer S. 95); 2. eine Silberspange, ^gefunden
1857 bei Charnay in der Bourgogne in einem Begräbnisplatz aus der
merovingischen Zeit'; ^die oberste Zeile der Inschrift enthält den größten
Teil des Runenalphabets in derselben Anordnung wie der Bracteat von
Vadstena' (Wimmer S. 58 und 75); 3. ^ein Messer oder kleines Schwert,
gefunden 1857 in der Themse (jetzt im British Museum), mit einem
altenglischen Runenalphabete, ebenfalls in der ursprünglichen Anordnung'
(Wimmer S. 75); 4. findet sich ein jüngeres Runenalphabet 'auf einem
kleinen Sandstein, der zu Beginn des Jahres 1882 in Ostermariae sogn
auf Bornholm ausgepflügt wurde und jetzt im altnordischen Museum
zu Kopenhagen bewahrt wird' (Wimmer S. 254 f.). Ich füge dem noch
hinzu die Worte, die Wimmer über einige etwa noch in Betracht kommende
Denkmäler S. 76 f. Anm. sagt: ^Während der Bracteat von Vadstena das
ganze Alphabet mit Ausnahme einer einzigen Rune enthält, finde ich . . .
den Anfang davon (fu{)) auf einem Bracteaten von Schonen . . . Zu-
sammenhang hiermit hat vielleicht auch fünf) auf einem kleinen Amulet (?)
von Granit, das 1866 bei Valby in der Nähe von Kopenhagen gefunden
wurde . . . Daß die Runen fünf) auf diesem Steine ... mit dem Runen-
alphabet in Verbindung stehen können, wird durch einen Stein von
Wermland bestätigt, auf dem sich eben dieselben vier Runen zusammen
mit den 16 Zeichen der jüngeren Runenreihe in der später bekannten
Anordnung finden.' "^Mit diesen Darstellungen vom Runenalphabete oder
von Teilen desselben' verdient ^auch ein in Schonen gefundener
Messingbracteat aus dem Mittelalter (12. Jahrh.?), dessen Umschrift das
lateinische Alphabet von A bis R enthält, womit es aus Mangel an
Raum endet . . ., verglichen zu werden'. Mir ist die Literatur über die
Runen nicht so bekannt, daß ich sagen könnte, ob man Erklärungen
dieser Alphabete versucht hat. Es wird unserer Erklärung, die wir
89 suchen, zur willkommensten Bestätigung dienen, wenn sie auch auf die
gesamten Runenalphabete zutrifft. Und endlich wird sie zutreffen müssen
ABC -Denkmäler 2n
auf eine letzte Anwendung der Alphabetinschrift', die mir bekannt ge-
worden ist: ich meine die auf Glocken. Es genügt, auf die für unseren
Zweck mehr als ausreichende Zusammenstellung hinzuweisen, die Schubart
in der Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst von Spitta
und Smend, 2. Jahrgang, Nr. 1 (April 1897), S. 16 ff. gegeben hatl
Hier habe ich nur hervorzuheben, daß mehrmals ein Alphabet nur bis
X reicht und oft die Buchstaben auf dem Kopfe stehen^; im übrigen
muß ich den Schlußsatz der Abhandlung zur Erbauung des Lesers
wörtlich anführen: 'Wir freuen uns der Vermutung, mit der wir schließen,
die mittelalterliche Kirche könnte auch ihre Glocken für die Kinder ge-
habt und ihnen zur Inschrift gegeben haben, gleichsam als Lobgesang
aus dem Munde der Unmündigen und Kinder, nichts anderes als das
Alphabet: Gott weiß ja wohl draus ein Gebet zu machen.'
Eine Deutung des Brauches, die einer so verschiedenartigen An-
wendung wirklich genügt, wird kaum rechtfertigender Worte bedürfen.
Aber wo ist sie? Es wäre einfach, wenn es ein ausdrückliches Zeug-
nis eines Schriftstellers gäbe. Niemand spricht von den rätselhaften
Alphabetreihen.
6. Zu den griechischen Papyri, die einst durch den Grafen Anastasy
nach Leiden kamen - er hatte sie von Arabern erworben, die sie in
thebanischen Gräbern gefunden -, gehört ein Blatt, das Leemans im
zweiten Bande seiner Papyri graeci musei antiquarii publici Lugduni 90
Batavi, S. 260 ff. als Papyrus Y veröffentlicht hat. Das Blatt ist hoch
0,08, lang 0,90 m. Auf beiden Seiten stand früher ein demotischer
Text; auf der einen Seite ist er fast ganz abgewischt und dann sind
die griechischen Zeichen darüber geschrieben. Nach der Reihe der
Vokale folgen 'Silben' in der Reihenfolge des Alphabets in folgender Art:
^ Nicht hierher gehören die lat. Alphabete auf den Schulmünzen und Rechen-
pfennigen des Mittelalters, über die mich die Herren Riggauer und Habich im
Münchner Münzkabinet freundlich belehrt haben. Über diese 'Pfennige' und
ihre Anwendung geben Auskunft Arbeiten von H. Voigt (nebst Mitteilungen von
Weckerling) in der Zs. für Numismatik XIX 144 ff. und Alfred Nagl in der Wiener
Zs. für Numism. XIX 310 ff.
' Vgl. auch Ottes Glockenkunde* S. 135. Ich verdanke meine Angaben
Edw. Schröder und Joh. Bauer in Marburg.
» v. Drach im Anzeiger f. deutsches Alt. XXIV (zu Zeitschr. XLIV) S. 133
gedenkt einer Glocke zu Wehrda vor den Toren Marburgs 'wo rückläufig und
mit meist auf dem Kopf stehenden Zeichen das (unvollständige) Alphabet
QPONML i KIHGFE vorkommt.' Über die ' Bedeutung' solcher Inschriften er-
klärt auch er, nichts Sicheres beibringen zu können, und erwähnt nur die In-
schriften des Runenfuthark auf Amuletten, Schmuckstücken und Waffen nach
Mitteilung Schröders.
214
ABC -Denkmäler
a
ßa
Ta öa la
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Ktt
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T€ be Z;e
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0u
KU
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ßUJ
TU) buj Ziuj
01JU
KUJ
Tpac
TpuiC
Tpec
bpac
Tpnc
bpec
Tpic
bpnc
Tpoc
bpic
So geht es in 18 Kolumnen weiter bis ipa \\ie ipn usf. Dann folgen
noch als 19. bis 29. Kolumne vierstellige Reihen:
ßpac ßpujc Tpuc
ßpec
ßpnc
ßpic
ßpoc
ßpuc
mit allerlei Versehen und Unordnungen bis zur letzten:
Xpac xpec XPnc XPic Xpoc XP"C XPUJC.
Außer diesem Blatt befindet sich in demselben Leidener Museum auch
eine Holztafel, die auf beiden Seiten das einfache griechische Alphabet
trägt (Leemans Aeg. Monum. II Tafel 236). Daß jenes Papyrusblatt aus
dem Grabe zusammengehört mit den zwei großen Zauberbüchern gleichen
Fundorts, die mit ihm zusammen erworben wurden, darf wahrscheinlich
genannt werden. Und nun bedenken wir, wie vor allem die Vokal-
reihen aeriiouuj in unendlichen Variationen gerade in dem großen Zauber-
buche (W bei Leemans; hinter dem ^Abraxas' von mir herausgegeben)
dieser Fundstätte eine so große Rolle spielen als Zaubersprüche, als
der große mystische Zaubername des höchsten Gottes selbst. Über
diese Vokale in dieser Literatur, in Papyri und Inschriften ist hinreichend
schon früher gehandelt worden (Abraxas 22, 42, Wünsch Seth. Verfl.
77 ff.. Heim Incantamenta mag. 540 Anm., Siebourg Bonn. Jahrb. 103,
140 ff.). Nicht bloß die Vokalreihe, die mannigfachsten Buchstabenreihen,
die so oft augenscheinlich die Sinnlosigkeit suchen, sind jedem bekannt,
der einmal einen Blick in die gewaltige antike Literatur des Zaubers
91 geworfen hat. Alle jene Palindrome von aßXava0avaXßa bis zu den
'Krebsworten' von 59 Buchstaben (Kopp Griech. Exzerptenlit. S. 67,
Pariser Zauberpapyrus S. 31 Wessely), jene Silbenspielereien wie vev-
vava cevvava | 0a0 cpaQ x«0, 0a0a0ax, 0a0aßa0a0, a00a ßa00a - man
findet dergleichen in Menge in Wesselys Zusammenstellung der Ephesia
grammata (Progr. des Franz - Joseph - Gymn. Wien 1886) - sollen die
ABC -Denkmäler 2ic;
zauberische Kraft besitzen, Dämonen abzuwehren und Geister zu zwingen.
Es mag hier noch hingewiesen werden auf Marcellus Empiricus X 70:
scribes in Charta virgine et collo suspendes Uno rudi ligatum tribus
nodis ei, qui profluvio sanguinis laborat: vpa ipe \\tx] ipe ipri ipa ipe. Ohne
daß ich hier in eine Erörterung der mannigfachen Zauberworte und
Zaubernamen eintrete, in denen hebräische und ägyptische, babylonische
und griechische Laute durcheinander wirbeln, eine Sorte gibt es von
acrm« övö^axa (so nennen sie die antiken Kenner selbst), die nur eine
mechanisch immer wiederkehrende Buchstabenreihe oder bestimmt vari-
ierte Silbenfolge darstellen, in der die Zauberkraft beschlossen liegen
soll; ein acimov övo|ia, der bekanntesten eines gibt es, das noch ganz
deutlich den Ursprung aus der Alphabetreihe zur Schau trägt: a&racarfabra
ist nur der nach Analogie geläufiger Palindrome zur rollenden Zauber-
formel gemachte Anfang des lateinischen Alphabets (s. Büchelers Be-
merkung im Thesaurus 1. 1. u. d. W.).
Einem Winke Th. Aufrechts verdanke ich eine wertvolle Analogie
aus indischem Zauber. Es sind zweifellos magische Rituale, die in dem
Catalogus codd. sanscriticorum bibl. Bodleianae p. 93 und p. 94^ aus
einem Kompendium mystischer Weisheit von Aufrecht bekannt gemacht
sind. Ich verdanke deren Verständnis und die Transcription der mir
wichtigen Formeln der freundlichen Hilfe Bartholomaes. p. 93 heißt
der Zauberspruch, mit dem ein Pflock, der aus einem Schakalknochen
besteht, bezaubert wird, damit er geeignet werde, in einem Hause oder
an einer Leichenstätte eingegraben, jemanden besessen zu machen,
also: öm tarn täm tarn tarn tim tim tum tum tem taim töm taum tarn
iah, dann folgt amukam grhna (= faß den NN), den Schluß macht:
hum hum tarn thah. Entsprechend wird ein Pflock, der aus einem
Menschenknochen besteht, zum gleichen Zwecke bösen Zaubers be-
sprochen mit diesen Formeln: om dam dam dim dim dum dum dem
daim dom daum; amukam grhna; hüm dam dah. p. 94^ wird bei
einem Zauber, der gegen die Vetäla, die Leichendämonen, gerichtet
ist, einmal als Beginn der Formel vorgeschrieben skem sphem, weiter- 92
hin aber am ghräm ghrim ghrüm ghraim ghraum ghrah, im um. Die
Verwendung der durchsichtigen Permutationsreihen zum Zauber leidet
hier keinen Zweifel; es sind Formelreihen gleicher Art wie die vorhin
vorgeführten.
Das Blatt von Leiden aus dem ägyptischen Grabe kann kaum etwas
anderes sein als ein qpuXaKiripiov, ein Amulet, das dem Toten wie die
andern Zauberblätter mitgegeben wurde, weil er solchen Schutzes be-
durfte gegen all die bösen Dämonen, die den Weg zum Jenseits um-
216 ABC-Denkmäler
lauern, oder welche Anschauungen es sonst hier oder da gewesen sein
mögen, die seit alter Zeit tiberall die Gräber mit Zaubermitteln und
Amuleten aller Art auszustatten geboten.
Sinnlose Gruppen von geradezu unaussprechbar nebeneinander-
gestellten Buchstabenzeichen zeigt jede Seite der griechischen Zauber-
bücher, sie zeigt auch in Menge jedes der mittelalterlichen und bis
heute in fortwährender Variation wieder neu gedruckten Zauberbticher.
Die bei weitem häufigste Formel, die noch heute bei uns im Volke
angewandt wird, sind die Buchstaben
SATOR
AREPO
TENET
OPERA
ROTAS
Sie werden auf Zetteln dem Vieh gegen Behexung eingegeben, auf
einen Teller geschrieben und ins Feuer geworfen, das sie löschen sollen,
als Amulet umgebunden oder zum Schutz des Hauses unters Dach ge-
legt Es ist Torheit einen Sinn in den Buchstaben suchen zu wollen.
Sie haben niemals Sinn gehabt. Man sieht, wie man die 25 Buch-
staben nach jeder Richtung lesen kann, man beobachtet, daß zugleich
ein Palindrom der bekannten Art vorliegt: Sator arepo tenet opera rotas,;
und daß das alles mit 3 Vokalen und 5 Konsonanten hergestellt wird.
Die vollständigste Zusammenstellung über diese Zeichen, die meist un-
bekannt ist (und auch gerade bei Heim Incant. 530 nicht angegeben
ist), gab Reinhold Köhler in der Zeitschr. für Ethnologie XIII (1881)
301 f f. ^ Wir sehen, daß sie auch in einer griechischen, freilich mittel-
alterlichen Handschrift vorkommen. Die ^befriedigende Deutung', die
am Schluß vermißt wird, gibt es eben überhaupt nicht. In einem
so komplizierten Zeichenspiel einen Sinn zu erwarten, heißt zu viel
verlangen. Ebensowenig ist ein Sinn in den Zeichen, die als Zauber-
93 Spruch für ein Zettelchen vorgeschrieben werden, z. B. in 'des Albertus
Magnus bewährten und approbirten sympathetischen und natürlich
egyptischen Geheimnissen für Menschen und Vieh', III. Teil S. 29:
LbhxPObLOhbmgny oder in den entsprechend verordneten Buchstaben in
dem 'Artztney- Büchlein', das Mogk in Vogts germ. Abhandl. XII S. 109 ff.
(s. S. 116) veröffentlicht hat, oder in den unzähligemale wiederkehrenden
X. X. X. b. X. y. X. X. X. jc. E. H. x. x. x. x und ähnlich, oder den im
Romanusbüchlein (Druck von Bartels, Berlin S. 44) gegen die Pest vor>
^ <K1. Schriften 111 564 ff. Nachgewiesen von O. Weinreich.)>
ABC -Denkmäler 217
n j geschriebenen Z
ll D
J
A
BZHG FBFKS
B
J
Z
S
A
Man sieht mit einiger Heiterkeit, wie in einigen Zauberbüchern die un-
beschreiblich tief geheimnisvolle Formel A-M-V-L-E-T-S auftaucht.
Auf Glocken findet sich eingegossen (Otte Glockenkunde ^ 135):
4- svfsvxrh + nfkxotvs usw. Dieselbe Bewandtnis hat es offenbar mit
den Inschriften der Schwerter, die in der Zs. für Ethnologie XIII S. 86 ff.
vorgelegt werden, dieselbe auch mit einer Reihe antiker Inschriften, die
eben den Vorschriften der Zauberbücher entsprechen. Ich begnüge
mich aber damit einigermaßen an Beispielen gezeigt zu haben, wie die
sinnlose Buchstabenreihe zu den verschiedensten Zeiten als Zauberspruch
gegolten hat.^
Aber es ist die feste Alphabetreihe der Buchstaben, die den
Gruppen des Leidener Papyrusstückes die Anordnung gibt, die als die 94
unabänderliche Formel zugrunde liegt. Ich habe schon früher die Ver-
mutung ausgesprochen, daß die Alphabet -akrosticha von 'religiöser
Geheimliteratur' ausgegangen seien (Abraxas 165, 2). In dem zweiten
Leidener Zauberbuche heißt es (Abraxas 202, 5 f.) nach einer Reihe von
Vokalgruppen lijc ö GeoXöroc 'Opcpeiic Ttape'bujKev bid ty\c irapacTixiboc
Tnc ibiac. In der Anthologie IX 524 und 525 finden sich zwei orphi-
sche Hymnen, deren Epitheta nach dem Alphabet geordnet sind. Nach
einem Einleitungsverse bringt die folgende Zeile vier mit a, die nächste
vier mit ß anhebende usf., wie etwa in dem Pariser Zauberbuch V. 1363 f.
Wessely dveiuaqpeTac ßueoKXövouc TaXnvoßdTac aus alleriei Anrufungen
übrig geblieben ist. Diese Anwendung der alphabetischen dKpocxixic
' Einen angeblich heute noch an der Elz bestehenden Brauch, Blättchen
mit den 24 Buchstaben des Alphabets in ein gesottenes Ei zu zerhacken und
gegen allerlei Übel einzugeben, muß ich beiseite lassen, da ein unkontrollier-
barer und unbestimmbarer Zeitungsausschnitt keine ausreichende Sicherheit
bietet. Ähnliches habe ich anderweit einstweilen nicht in Erfahrung bringen
können. Auch hat eine Umfrage in den 'Blättern für hessische Volkskunde
1900 n. 2, den Alphabetzauber betreffend, nur negative Auskunft, auch von
Kennern deutschen Volksbrauchs, ergeben.
2li8 ABC -Denkmäler
tritt im liturgischen Gebraucli der griechischen Kirche frühe auf; sie
läßt sich verfolgen von Methodios (t311) und Gregor von Nazianz^
bis zu den hymnischen Akklamationen, die sich in den Cärimonien
des Konstantinos Porphyrogennetos finden, z. B. folgender Art^ (1, 83
p. 383 Bonn.):
'AriTTriTUj GeoO Tra\d)ur| ecTecpOriTe, becTröxai, oupavöOev.
BpaßeTov viKric ujcpöriTe, Koc|Lio7r66TiToi euepT€Tai.
fewaioi tucpGriie toTc evaviioic,
AuupoujLievoi ToTc 'Pujjuaioic ZliuTicpöpouc €U€pT€ciac
bis zu dem Schluß
XpiCTÖc cuvecTUü ^KOtCTiu TrepieiTUJV xdc KOpuqpdc cac.
YncpicjuaTi auTUJv KupieOovrec,
'Qc Kupioi Kai becTTOTtti Tujv TrepdTiuv xfic eHouciac.
Ein sehr altes und merkwürdiges Beispiel eines kirchlichen 'Alphabet-
hymnus' finde ich eben, da der neu erschienene Band der Amherst-
Papyri von Grenfell und Hunt in meine Hände kommt. Das Fragment H
gibt einen Hymnus von 25 Zeilen, deren jede aus drei Teilen gleichen
Metrums besteht: jeder der drei Zeilenteile beginnt mit einem der Buch-
staben des Alphabets in der Reihenfolge A bis ß. So heißt Zeile 1 1 :
Aoucd)Li€voc ev Mopbdvr]: Aoucdjuevoc evi tuttoic:
AouTpöv TÖ KaGdpciov e'xei.
Wir kennen die akrostichischen Kompositionen der gleichen Art
95 auch in der hebräischen sakralen Poesie (Psalm 111. 119. 145, Klagel.
Jerem. 1-4, Sprüche 31, 10-31, und die unvollständigen Alphabet-
akrostichen Psalm 9. 10. 25. 34. 37 bis zu dem späten Alphabet-
spruchbuch des Ben Sira, s. Kautzsch Apokryphen u. Pseudepigraphen
I 240 f.). Und dieser Brauch fester Aufreihung der Hymnenverse lebt
in vielen Beispielen weiter, etwa von den versus confessionis de luctu
poenitentiae des Hilarius von Poitiers (Ausg. der Mauriner II p. 530;
Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied I p. 12) bis zu dem ^gülden
ABC, darin gar künstlich begriffen, was einem Menschen zu einem
Erbarn gottseligen Wandel und Leben zuwissen nötig sei', dem noch
heute bekannten Kirchenlied Allein auf Gott setz dein Vertrauen^ dessen
24 Strophen je mit einem Buchstaben des Alphabets beginnen (zuerst
im Greif swalder Gesangbuch von 1597, s. Wackernagel, Deutsches
Kirchenlied V 327 f.). Aber so berechtigt auch die Vermutung erscheinen
^ S. W. Christ, Anthologia graeca carminum Christianorum p. XVII.
* S. Wäschke in der Festschrift des Herzogl. Francisceums in Zerbst zur
Begrüßung der XXXVII. Philologenvers, in Dessau S. 14.
ABC -Denkmäler 21 g
mag, daß der letzte Ursprung der sakralen Alphabetakrostichen dort zu
suchen ist, wo das Alphabet die feste magische Bindung des heiligen
Textes gewährleistet, so daß, wie es bei jedem Zauberspruch erste
Bedingung seiner Kraft und Wirkung ist, kein Teil der 'gebundenen'
Rede verloren werden kann, - wir finden in späteren Ausläufern alten
Brauchs nicht die Aufschlüsse, die wir suchen, und verlieren das
wesentliche Material, das wir zuerst vorgelegt, aus den Augen.
7. Vielmehr ist es Zeit die Deutung, die der Leidener Papyrus un-
mittelbar nahe legte, an den übrigen Gattungen von Alphabetreihen zu
prüfen. Ich will nicht sie alle nochmals durchsprechen; der Leser
1 übersieht leicht, ob die einzelnen als zauberkräftige mystische Zeichen-
reihe aufgefaßt werden können, als Abwehr der Dämonen und üblen
Zaubers oder als wirkungsvoller magischer Geheimspruch. Kann man
es überhaupt anders verstehen, daß diese Reihen auf den Vasen in den
Gräbern immer wieder stehen, entsprechend so vielen apotropäischen
Dingen, die in den Gräbern und an ihrem Schmuck angebracht zu
werden pflegten? Gibt es eine andere Erklärung, die zugleich diesen
Schmuck der antiken Graburnen und des christlichen Reliquienkastens,
des heiligen Taufgefäßes - die Taufhandlung galt ja vor allem der
Austreibung der bösen Dämonen - und der Grabplatte im Columbarium
mit dem Zusatz DM aufhellt? Können wir die etruskischen Silben
des Buccherogefäßes aus Formello, jene immer wiederholten uaz oder
zaruaj die doch keinen sinnvollen etruskischen Text geben können, 96
anders begreifen als durch die Analogie der oben angeführten Zauber-
silben der Papyri, und sind die sogenannten Syllabare, da wo sie
stehen, anders als durch die angegebenen Analogien zu erklären? Auf
antiken Schilden sind wir gewohnt apotropäische Zeichen und Bilder
zu finden; so nur verstehen wir jenen Schild der Athena. Wir be-
greifen die apotropäische Bedeutung der Buchstabenreihe an den
Wänden der Häuser der Lebenden so gut wie an den Wänden
der Totenbehausung. Wir können zweifelhaft sein, ob die Zeichen
der Ziegel in diesem gleichen Sinne gemeint sind oder ob sie
besonders zu irgendeinem magischen Zwecke mit diesem einfachsten
Zauberspruche bedeckt wurden. Denn anders ist die attische Bleiplatte
nicht zu erklären, die keinem andern Zwecke gedient haben kann als
die vielen andern uns bekannten Bleitafeln oder die Inschriftsteine, die,
nachdem sie zertrümmert und weggeworfen, nun erst zum Zauberzwecke
mit den Alphabetzeichen ausgestattet wurden. Apotropäische Zeichen
an einer Lampe erklären sich von selbst. Es bietet keine Schwierigkeit
220 ABC -Denkmäler
mehr, daß die Scherbe von Korinth eben als Scherbe mit den Buch-
staben bemalt wird und unter lauter Votivscherben des Heiligtums sich
findet, daß im Bezirk des Juppiter Dolichenus infolge eines Traum-
gesichts eine Marmortafel mit den heihg- wirkungsvollen Zeichen geweiht
wird. Ich brauche kaum noch zu sagen, daß die Runen auf den Brak-
teaten, die, zum Umhängen eingerichtet, doch wohl als Amulete gedient
haben, auf der Spange aus dem Grabe und auf dem Messer wie auf
den Steinen - die wir ja z. T. direkt als Amulete bezeichnet fanden -,
daß sie alle nichts anderes als Zauberrunen sind.* Und die Glocken-
97 alphabete? Die anderen Inschriften lassen keinen Zweifel, daß es auch
hier sich um den Zauber gegen Blitz und Donner, gegen Dämonen
und böse Geister der Natur handelt. Es ist bekannter Glaube, daß
die Glocke sie bannt und vertreibt (Wuttke-E. H. Meyer, Deutscher
Volksaberglaube S. 142). Inschriften wie Ädonay, Tetragrammaton,
Agios OTheos, ischyros, athanatos (Otte, Glockenkunde 124 f.) sind
genau die Zauberformeln, die in den heute noch umlaufenden ma-
gischen Büchern des Mittelalters unzähligemal vorkommen, z. B. in
Fausts dreifachem Höllenzwang bei Scheible Kloster V 1128. 1135.
1099 usf.
Nun aber ist das eine sehr wichtige Bestätigung dieser Erklärung,
daß die bisher unerklärbaren Seltsamkeiten, die bei einzelnen Alpha-
beten festzustellen waren, allesamt mit einem Male erklärt sind. Vor
der richtigen Erkenntnis standen wir schon bei jener römischen Vase,
auf der der Bindezauber Artum ligo Dercomogni mit dem Alphabet
stand - auf einer Graburne! Das bedarf jetzt keines Wortes der Er-
klärung mehr. Auch das kann uns nicht mehr wundern, daß das
Alphabet andere, ältere Schriftzeichen aufwies als die übrige Inschrift.
* Dem gegenüber ist es erst eine sekundäre Verwendung der Runen, wenn
aus der Art, wie bestimmte Zeichen zusammenkommen, geweissagt wird. Das
ist ja aus dem deutschen Altertum bekannt. Genau so wird heute noch im Volke
mit dem angeschriebenen Alphabet durch Greifen nach den Buchstaben mit
verbundenen Augen der Name des künftigen Geliebten und dergleichen ge-
wahrsagt, s. Wuttke-E. H. Meyer, Deutscher Volksaberglaube S. 233. Und genau
so hat man aus Buchstabenzeichen unter großem magischen Apparat im alten
Byzanz den Namen des künftigen Kaisers gewonnen; Ammian. Marceil. XXIX 29
beschreibt die ganze Aktion sehr ausführlich <vgl. S. 229 Anm. 3>. Wiederum
eine andre Art der Verwendung des Alphabets zum Wahrsagen ist es, wenn auf
Grund einer zusammengestellten Liste der Bedeutung der einzelnen Buchstaben,
wie solche Texte mehrfach publiziert sind, ZfdA. XVII 84, XVlII 81, 297, XXI 189
(worauf mich F. Kluge durch Gundermann freundlich aufmerksam macht; eine
Deutungsliste derselben Art steht auch im Romanusbüchlein, dem heute noch viel
gebrauchten Zauberbuche, Druck von Bartels, Berlin, S. 45), dadurch geweissagt
wird, daß etwa ein Buch aufgeschlagen und so ein bestimmter Buchstabe nach
mannigfachen Angaben getroffen wird.
ABC -Denkmäler 221
Man erinnert sich, daß auch das alte epichorische Alphabet auf der
'boiotischen' Vase, die Kaiinka publiziert hat, Buchstabenformen einer
Jüngern Zeit zeigte, Ja daß an das eine unmodifizierte alte Alphabet
die neuen Zeichen -Q traten und ein Dokument des unmöglichsten
Ausgleichs vor uns lag. Wenn wir aber wissen, daß der Zauber zu
allen Zeiten alte Formen in Zeichen und Wort eifrig und ängstlich
konserviert, daß der Zauberer an sie gebunden bleibt, auch wenn der
Schreiber längst jüngere Formen zu handhaben gewohnt ist, so hat
dieses Kompromißalphabet nichts Seltsames mehr: so mußte es werden,
wenn der Zauberer einer jüngeren Zeit die alten Zeichen schrieb; nur
freilich wird die Zeit dieses Zauberers zu bestimmen sehr viel schwieriger,
sie genau zu bestimmen unmöglich sein. Er konnte auch - das Ver-
fahren wäre jetzt sehr begreiflich - die zwei neuen Zeichen anhängen;
aber ich will nicht verschweigen, daß ich sehr geneigt bin, sie für
Zauberzeichen zu halten von der Art, wie sie so oft in den Zauber- 98
papyri (großer Pariser Papyrus S. 31, S. 67, Pap. XLVI des British
Museum S. 112) und in andern magischen Rezepten (Heim Incantamenta
480, 481, 542, 564) vorgeschrieben werden. Sieht doch namentlich
das zweite dieser Zeichen einem Q verzweifelt wenig, einigen der an-
gegebenen Figuren durchaus ähnlich.^
Eine zweite Schwierigkeit löst sich in der gleichen Weise. Es hat
immer Verlegenheit bereitet, daß die lateinischen pompeianischen Wand-
alphabete alle mit X schließen, obwohl es doch sicher ist, daß die
meisten von ihnen geschrieben wurden, als längst Y und Z im Ge-
brauche waren. Eine seltsame Methode in der Hartköpfigkeit der
pompeianischen Schuljungen, über ein Jahrhundert kein Y und Z zu
acceptieren! Und die Reihe bis Y findet sich ja noch auf einer christ-
lichen Inschrift des VI. oder Vll. Jahrhunderts. Da gibt es keine Aus-
rede mehr von langsamer Aufnahme. Es ist das im Zauber fest-
gebliebene Alphabet, das als eine nur so wirksame magische Formel
zähe festgehalten wird.
Noch ein dritter Punkt verdient kurze Erwähnung. Oben ist die
Veroneser Marmortafel gar nicht etwa früher Zeit wiedergegeben, die
ihre Alphabetreihen rechts beginnt und dann ßoucTpocpnööv in vier
' Ein Amulet mit einem magischen griechischen Texte, das Pellicioni in
den Atti e memorie delle RR. deputazioni di storia patria per le provincie dell'
Emilia N. S. V parte 11 p. 177 ff. besprochen hat, zeigt vor dem deutlichen klop-
KicMÖc eine ganze Reihe ähnlicher Zauberzeichen, und R. Wünsch macht mich
auf eine Bleitafel aus Carpentras im Museum von Avignon aufmerksam, die
buchstabenähnliche Zeichen verwandter Art zeigt. Jullian hat sie sorgfältig be-
handeU in der Revue des 6tudes anciennes 11 136ff.
222 ABC -Denkmäler
Reihen weiterläuft. Wie wollte man das erklären? Wer die Aus-
einandersetzung von Wünsch in der Praefatio der Defixiones atticae
p. IV liest über das eTrapiciepa Tpacpeiv im Zauber und etwa n. 67
seiner Bleitafeln ansieht (im ersten Berliner Papyrus v. 250 steht die
Vorschrift Tpißuuv be auxd ek tu)v beHiuJV eic xd eiiiuvujLia) , der kann
nicht wohl mehr zweifeln, daß jene Alphabetinschrift dem Zauber dienen
sollte, der den Unterirdischen galt. Mehrmals war zu bemerken, daß
die Buchstaben auf dem Kopfe standen, ohne daß das von irgend
jemandem hätte erklärt werden können. Analogien bieten die Zauber-
tafeln, wie n. 96 bei Wünsch Def. tab. att. S. 24 (vgl. dort die Vor-
bemerkung zu n. 96. 97). Am besten erkläre ich das Umdrehen der
99 Zeichen, wenn ich hierhersetze eine Zaubervorschrift der sog. ^Medicina
Plinii' (s. Heim Incant. S. 555f.) c. I 7: Infirmis, sanguis cui currerit
multum et non poterit restringere, scribe de sanguine eins in fronte
ipsius de grano iuris nomen ipsius inversis litteris, apices de-
orsum, et mox stat. Über die oben besprochene forma lapidea aus
Trapani kann ich natürlich, ohne sie zu sehen, nicht urteilen: daß die
umgekehrte Form der Buchstaben nicht allein genügt, den Stein als
* Matrize' zu betrachten, ist jetzt klar.
Auch das, meine ich, wird nun ungezwungen verständlich, daß
mehrfach auf den etruskischen Vasen neben etruskischen Inschriften
die griechische Zeichenreihe erscheint, daß sich vielfach in lateinischem
Gebiete von Leuten, die zweifellos lateinisch sprachen und schrieben^
in diesem Falle das griechische Alphabet angewandt findet, daß sich
an den Wänden Pompeis das griechische Alphabet sehr viel häufiger
findet als es wahrscheinlicherweise von Griechen angeschrieben wurde,
und daß endlich - es ist der bezeichnendste Fall - das oskische
Alphabet geschrieben wurde von einem, der zweifellos lateinisch zu
schreiben gewohnt war und die geläufigen lateinischen Züge unbewußt ein-
mischte (s. 0. S. 85 <209». Das alles erklärt sich nur daraus, daß immer
die fremden Zeichen in der Geheimkunst des Zaubers bevorzugt wurden.
So besitzen wir eine Bleitafel aus Hadrumetum, die einen lateinischen
Zaubertext in griechischen Zeichen gibt (Masp^ro Collections du mus6e
Alaoui, I 1890, S. 57 ff.), eine Bleitafel aus Karthago, auf der innerhalb
des lateinischen Textes gerade die Namen der Dämonen mit griechischen
Buchstaben geschrieben sind (Wünsch, Rh. Mus. LV 260), und ander-
wärts die ausdrückliche Vorschrift, die Zauberbuchstaben griechisch zu
schreiben (Plin. h. n. XXVIII 29 duabus litteris graecis PA chartam
inscriptam habe man als Amulet benutzt).
ABC -Denkmäler 223
8. Ich wüßte nicht, daß irgendeine der vorgelegten Inschriften etwas
darböte, das nicht aus der gegebenen Erklärung verständlich würde.
Ein Fall, der an sich keiner weiteren Worte bedürfte, führt uns noch
zu einigen vielleicht bedeutsamen Zeugnissen. Sowohl Inschriften
j Pompeis als christliche Graffiti vom cimitero di S. Alessandro bei Rom
zeigten die Anordnung der Alphabetbuchstaben, daß auf den ersten der
letzte, auf den zweiten der vorletzte usw. folgte.^ Diese Anordnung
erinnerte an die bei den Hebräern, auch im Alten Testamente, vor- 100
kommende Geheimschrift des sog. Athbasch, in der für einen Buch-
staben der einen Reihe des Alphabets d-n jedesmal der korrespon-
dierende der zweiten Reihe b-n eintrat. Über die Ausdehnung oder
Bedeutung dieser Geheimschrift weiß ich nichts zu sagen, was hierher
gehörte. Dagegen ist von nicht geringem Interesse, was bei Irenaeus
(adv. haereses I 14, 3 1. 1 p. 134 Harvey) über den Simon Magus, dessen
I Leben und Lehren ja so ganz in magischen Künsten aufging, berichtet
wird. Die mystische Gestalt der Göttin 'AXrjGeia wird beschrieben:
KCTriTaTOV t^P auTnv eK tüjv UTrepOev bu)|LidTiuv, iv* ecibrjc auTfjV T^juvriv
Kai KaTa)ud9r|c tö koiXXoc auxfic, dXXot Kai dKOucr)c auirjc XaXoucric Kai
0au)Lidcric tö cppövriiua auific. öpa ouv Ke9aXr)v dvuj tö A Kai tö Q,
Tpdxn^ov be B Kai V, uj)liouc d)Lia x^pci f Kai X, CTriOri A Kai O, bid-
(ppaTMa G Kai Y, vuütov Z Kai T, KOiXiav H Kai C, |Lir|pouc 0 Kai P, YÖvaxa
I Kai TT, Kvr||Liac K Kai 0, ccpupd A Kai H, Tröbac M Kai N. toOtö ecxi
tö ciu|Lia TTic KaTd TÖv ^dTOv *AXr|eeiac. toöto tö cxniLia toö CTOixeiou,
oijTOC 6 xapaKTrip toö Tpd|Li^iaToc. Kai KaXei tö CTOixeiov toöto "AvGpu)-
irov, eivai t€ Trr|Tr|V q)r|civ auTÖ TiavTÖc Xötou ktX.
Daneben stelle ich, was bei Ps. TertuUian adv. omnes haereses 15
(de praescr. haeret. c. 50) zu lesen steht: non defuerunt post hos
Marcus quidam et Calarbasus novam haeresin ex Graecorum alpha-
be to componentes. Negant enim veritatem sine istis posse litteris
inveniri, immo totam plenitudinem et perfectionem veritatis in istis
litteris esse dispositam. Propter hanc enim causam Christum dixisse
'Ego sum A et Q\ . . . Percurrunt isti QYXOYT totum usque ad
BA et computant ogdoadas et decadas. Ich bin weit entfernt in diesem
mystischen Wahnwitz die Erklärung seltsamen Alphabetzaubers zu
suchen, so wenig als etwa in alleriei neupythagoreischen Lehren vom
Alphabet am Himmel, von der Sphärenharmonie als dem Zusammen-
klang der 7 Vokale und 17 Konsonanten (Diels Elementum 44, vgl.
' Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß in anderen Fällen dergleichen
Umstellungen auch zur Übung der Kinder dienen konnten, wie wir bei Hiero-
nymus in lerem. XXV 26, epist. XVH lesen.
224 ABC -Denkmäler
Lobeck Aglaoph. 1340 f.). Aber dergleichen kann illustrieren, in welchen
Kreisen von Menschen und Gedanken jene zunächst so auffälligen Buch-
stabenreihen zu allerlei grotesker Weltmagie ausgedeutet wurden. Wir
sehen in solchem Falle deutlich, daß sie nicht bloß eigne Hirngespinste
101 vorbringen, sondern an altern Zauberglauben anknüpfen. Und wir er-
kennen doch die Auswüchse, wenn auch noch so verschrobene und
groteske, einer seltsam materiellen und körperlichen, ja man möchte
sagen personifizierenden Auffassung der Buchstabenzeichen. Der Doppel-
sinn von cToixeia im Griechischen und elementa im Lateinischen lud
ja schon viel früher zu allerlei gröbern und feineren Parallelen zwischen
Buchstaben und Weltteilen ein (Diels Elementum 19). Eine äußerste
Spitze solcher Spekulationen ist ein koptisches Buch über die ^Mysterien
der griechischen Buchstaben' der Bodleiana in Oxford, das A. Hebbelynck
im Museon (Etudes philologiques, historiques et religieuses n. s. I, 1
p. 16 ff.) begonnen hat zu veröffentlichen. Ich kann über dies sehr
späte Buch nicht urteilen, aber die große Offenbarung besteht nun
eben darin, daß die Buchstaben die Teile und Elemente der Welt in
ihrer Form zeigen: Vune de ces lettres renferme Vimage du ciel et de
la terre; une autre est ecrite pour figurer la terre et le ciel, une autre
pour figurer la terre et Veau etc. (p. 22). Chacune de ces lettres est
appeUe un element (cxoixtTov), comme nous venons maintenant de le
dire. Les lettres sont au nombre de vingt-deux non compris le Hi et
le vpi, que les phüosophes y ont ajoutes dans la suite. Or ces vingt-
deux lettres repondent au nombre des vingt-deux oeuvres que Dieu a
produites dans la creation, ä savoir: La premidre le pr emier ciel; la
terre inferieure au noun (abtme); la troisieme Veau superieure ä la
terre et Veau inferieure (p. 28 f.). So geht es in mannigfachen Varia-
tionen weiter. Wir wissen, daß dies Buch mit seinen verwirrten Sätzen
nicht allein stand. Dem alten Pachomius wird ähnlich mystisches
Zauberspiel zugeschrieben. Hieronymus erzählt in der praefatio ad
regulas s. Pachomii (Migne PL XXIII 65): Aiunt Thebaei quod Pacho-
mio, Cornelio et Syro, qui usque hodie centum et decem annos vivere
dicitur, angelus linguae mysticae scientiam dederit et loqueretur per
alphabetum specialem signis quibusdam et symbolis absconditos sensus
involvens. Und wir haben ja die von Hieronymus übersetzten epistulae
et verba mystica des Pachomius, in denen ein solch mystischer Gebrauch
des Alphabetes vorliegt. Zudem soll Pachomius seine Mönche in
24 Gruppen nach den 24 Buchstaben des Alphabets eingeteih haben,
indem er die in ihrem Charakter und Leben der mystischen Bedeutung
eines Buchstabens entsprechenden Mönche zusammenordnete (weiteres
ABC -Denkmäler 225
bei Grützmacher, Pachomius 124). Nehmen wir etwa hinzu, was wir
bei Gennadius Script eccles. 7 von Pachomius gesagt finden alpha-
betum mysticis tectum sacramentis velut humanae consuetudinis excedens 102
intellegentiam clausit, so erkennen wir ähnliche Alphabetmystik wie
die, welche das spätere koptische Buch offenbart. Dies Buch aber
trägt - wenn auch mit Unrecht, doch, wie mir scheint, deutlich genug
(s. Museon a. a. 0. 8 f.) - als Verfassernamen den eines andern großen
Klostergründers, des h. Sabas. Man mag aus solchen Sätzen und
Büchern wohl sehen, wie das Alphabet selbst als die große Formel
des Zaubers über alles, als der weltumfassende 'Name' gleich jenem
Abraxas (= 365) und so vielen andern großen Namen seitdem in den
magischen Büchern aller Zeiten angesehen und verwandt werden konnte.
Aber die Vorstellung, die in so viel früherer Zeit in Griechenland und
Italien das Alphabet zu zauberischer Wirkung auf Grabgefäße und
Grabsteine, an die Häuser und auf die Schilde schreiben hieß, ist
damit nicht aufgedeckt. Sie muß tiefer liegen und volkstümlich, ein-
fach sein.
Volkstümlich jedenfalls ist der Gebrauch eines hierher gehörenden
Wortes in byzantinischer Zeit in der Bedeutung Verzaubern, beschwören',
des Wortes cToixeioöv. Diels hat einige Stellen besprochen, Elemen-
tum 56. Ist diese Bedeutung wirklich abzuleiten von dem cToixeTov
'Dämon, Gespenst, Geist', auf welche Bedeutung ich bereits im Abraxas
61 f. zur Erklärung der CTOixeia paulinischer Briefe nachdrücklich hin-
gewiesen hatte? cToixeioOv heißt 'aus Elementen bilden' oder aber
^elementa vortragen', eigentlich etwa 'ABC -Unterweisung geben' (Diels
a. a. 0. 40, 2 Usener Theodosius 152 zu 47, 8). Nun kann man ja,
wenn von Apollonius von Tyana bei Codinus erzählt wird eiri irdciic
TTic TTÖXeiuc Tot dfdXinaTa ecToixeiuucaro oder von ehernen Mücken und
Fliegen in Byzanz, die durch ihn ecToixeiuj|ueva waren, eine solche Ab-
leitung des Wortes verstehen. Ist das auch möglich, wenn es bei
Cedrenus von demselben heißt outoc ev BulaviiLu eXediv TrapaKXriOeic
VTTÖ TU)v dvTOTiiwv kioixeiujcev ö(peic juev xai CKOpiriouc )ufi 7rXr|cc€iv,
KUJViuTTac be |ufi Tiapeivai und dann Aukov be töv Troxajaöv ecTOixeiiwcev,
uiCT€ |ufi TrXTiiujuupricavTa tö BuZidvTiov KaTaXujuaivecGai? Es galt ja doch
gerade die bösen Dämonen zu vertreiben, die cxoixeia des Flusses, der
bösen Tiere. Soll es so verstanden werden, daß es Apollonius der ctoi-
Xeiuj)uaTiKÖc durch die cioixeia tat, die ihm gehorchten? Läge es nicht
vielleicht näher, daß croixeioöv 'bezaubern, beschwören' hieße, weil vonl03
- Alters her die cioixeTa als die Buchstaben Zaubermittel und Zauberzeichen
waren? Dann wären freilich cToixeTov und croixeioöv auf verschiedenen
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 15
226 ABC -Denkmäler
Wegen zu jenen byzantinischen und neugriechischen Bedeutungen ge-
langt; so wage ich tiber eine Vermutung nicht hinauszugehen. Ohnehin
werden wir in dieser Spätzeit nimmermehr Aufschluß finden; wir müssen
uns so gut es geht in die ältesten Zeiten zurtickversetzen.
9. Im Anfang aller Literatur war das Zauberzeichen und das Zauber^
lied. Die Verwendung der Buchstaben als Zauberzeichen führt uns an
die Schwelle jener Zeiten, da es eine geheime große Kunst war, die
Schriftzeichen zu handhaben, und zu der volkstümlichen Anschauung^
die jedes Schriftzeichen als ein materiell wirksames ansieht und den
geschnittenen, geritzten Stab, den Buchstaben als einen Zauberspruch
behandelt. Wir sehen hier bisher im Gebiete der germanischen Völker
tiefer als in dem der antiken. Wir wissen es da besser, wie einst der
Zauber geknüpft war an das geheime wunderkräftige Zeichen, und dies
magische Zeichen war die runa, 'die bald Glück bald Unglück brachte,
die gegen alle Widerwärtigkeiten des Lebens schirmte und feite' (Mogk
German. Mythologie 175). Wenn, wie ich nicht zweifle, Edward Schröder
mit seiner Deutung des ahd. und anord. spell (got. spilt) recht hat
(ZfdA. XXXVII 241 ff., namentlich 257 ff.), der als ursprüngliche Be-
deutung 'Zauberformel' darlegt und das Wort mit got spilda (= mva-
Kibiov, nXäh) zusammenstellt - das nichts anderes ist als altengl. speld
Span, Splitter, mhd. spelte^ abgespaltenes Stück Holz, dh. ursprünglich
das Runentäf eichen, der Buchstab (Schröder 264) -, dann besitzen wir
in diesem Worte einen urkundlichen Beleg dafür, daß der Buchstab
ein ältester Zauberspruch ist.
Es ist natürlich, daß feststehende Reihen von Buchstaben die nächsten
Zaubersprüche darstellten, deren Wesen vor allem verlangt, daß
sie unabänderlich gleich bleiben. Und so garantierten ja dann auch,
als das Zauberlied die geheimnisvolle Sinnlosigkeit der Zauber-
zeichen sprengte, die „Stäbe" das immer gleiche Gefüge der ältesten
carmina.
Wir k^önnen über diese uns so fernen Vorgänge, die sich in den
ersten Kulturanfängen der Völker vollziehen, andere deutlicher redende
Zeugnisse nicht haben als die, welche wir besitzen. Die Reste jener
Anschauungen, die wir nur andeutend aufklären können, liegen vor uns
Q in den im Volksbrauch lange festgehaltenen alten Zauberzeichenreihen
in der gefestigten Ordnung des Alphabets. Und eins will ich mir bei
aller Zurückhaltung anzudeuten nicht versagen. Über die Anordnung
der verschiedenen in Betracht kommenden Alphabete zu reden ist nicht
meine Sache und noch weniger über die Übernahme der Reihen von
ABC -Denkmäler
227
einem Volk zum andern oder gar ihren letzten Ursprung und ihre
Heimat. Aber welcher Art war denn das Bedürfnis, das zuerst eine
feste sich immer gleichbleibende Reihe der Buchstaben verlangte? Ich
meine nicht die Gesichtspunkte, die Prinzipien, nach denen eine An-
ordnung so oder so zustande gebracht wurde, sondern den ersten
Wunsch eine solche Reihe zu haben und ihren ursprünglichen
Gebrauch. Konnte es auch in den alten Zeiten, in die uns die
zu Anfang der Erörterung vorgelegten Dokumente zurückgeführt
haben, das Bedürfnis der Lehre und des Unterrichts, der Grammatik sein?
10. Wir blicken in dunkle Zeit und sehen nichts mehr. Ich mag
nicht mit einem unbestimmten Fingerzeig ins Dunkel schließen. Darf
ich den Leser am Schlüsse zurückführen in unsere Gegenwart, um ihm
zu zeigen, wie der Brauch, den wir betrachtet, durch die Jahrtausende
gedauert hat bis heute? Ich fordere ihn auf, die nächste Einweihung
einer römisch-katholischen Kirche mit anzusehen. Er wird sehen, wie
bald nach Beginn der heiligen Handlung, wenn der Bischof in der
Mitte der Kirche angelangt ist, während der liturgischen Gesänge auf
kreuzweisen Aschenstreifen, die vorher genau nach Vorschrift in Kreuzes-
form auf den Boden gestreut sind, - ich rede weiter mit dem Ponti-
ficale Romanum selbst (a Benedicto XIV et Leone XIII pont. max. re-
cognitum et castigatum, Ratisbonae 1891 p. 130) - pontifex acceptis
mitra et baculo pastorali incipiens ab angulo Ecclesiae ad sinistram
intrantis, prout supra lineae factae sunt, cum extremitate baculi
pastoralis scribit super einer es alp habe tum graecum, ita distinctis
litteris ut totum spatium occupent, his videlicet (die Figur gibt genau
die in dem Pont. Rom. beigegebene Anweisung wieder). Deinde simili
228 ABC -Denkmäler
modo incipiens ab angulo ecclesiae ad dexteram intrantis, scribit
alp habe tum latinum super cineres distinctis litteris, his videlicet
(s. die Figur <auf S. 227». Und dann folgen die Exorzismen: Exorcizo te,
creatura salis, in nomine Domini nostri Jesu Christi — ut sanctificeris
ad consecrationem huius ecclesiae et altaris ad expellendas omnes
daemonum tentationes . . . Exorcizo te, creatura aquae, in nomine Dei
Patris et Filii et Spiritus sancti, ut repellas diabolum a termino
105 iustorum, ne sit in umbraculis huius ecclesiae et altaris. Wie die Alpha-
bete offiziell von der Kirche ausgedeutet werden, weiß ich nicht. Ich
denke, wir wissen genug.^
* <Folgenden Nachtrag gab ich im Arch. f. Rel. Wiss. XII 1909 S. 4151.
(s. auch A. Dieterich, Eine Mithrasliturgie * S. 39 und 221):
'Zu Albrecht Dieterichs Aufsatz ABC-Denkmäler (Rhein. Mus. LVI
1901 S. 77 ff.), in dem über die Verwendung der Buchstabenreihe zu Zwecken
des Zaubers gehandelt wird, fand sich in seinem Nachlaß eine Reihe von Nach-
trägen, die ihm von anderer Seite zugegangen waren und die er für die 'Mit-
teilungen und Hinweise' des Archivs bestimmt hatte. Es sind folgende:
Otto Hirschfeld verweist auf CIL III Suppl. p. 2281 zu Nr. 11186 ex visu.
Franz Winter erinnert an eine aus einem Myrinagrabe stammende Terrakotte,
eine schwebende Nike, sur le revers lettres en relief GATBA, BCH VII 219
N. 124; Pottier et Reinach, La N6cropole de Myrina S. 180.
E. Kaiinka teih folgende Stellen mit: Hermes IX 251; Brit. Mus. Inscr. 123;
Arch. epigr. Mitt. 1893 S. 81 f. 15.
E. Fabricius schreibt von einer neuen lateinischen Buchstabenreihe (gefunden
auf einem Hypokaustenpfeiler des Kastells Weißenburg) ; veröffentlicht in der
Publikation des obergerman. raet. Limes Nr. 72 S. 55, abgebildet ebenda
Tafel V Fig. 13.
W. Weyh (München) sendet die Notiz: 'Ein neues ABC -Denkmal, das in mehr-
facher Hinsicht bemerkenswert ist, wurde von Me unier bei seinen Aus-
grabungen in der Nähe von Autr6court, zwischen Chalons und Verdun, ge-
funden. Die betreffende Vase gehört nach Meunier etwa in das Jahr 360
n. Chr. und enthäU das lateinische Alphabet in folgender Gestalt: A B C D E
FGHIKLMNOPQRSTVXYZ, davon E und F in altertümlichen
Formen. Vgl. Meunier, L'6tablissement c6ramique de Lavoye (Meuse): Bull,
archöol. du Comitö des trav. histor. et scient. 1905, p. 137-48.'
Von mir war A. Dieterich aufmerksam gemacht worden auf das Gemälde
im Kaiser Friedrich -Museum zu Berlin unter Nr. 563c, ein Heiligenbild des
Altdeutschen Bernhard Strigel. Da trägst der H. Vitus einen bronzenen Kessel
mit drei Füßen, auf dem Bauch des Kessels befindet sich ein rundumlaufendes
Band, auf dem Teil des Bandes, den der Beschauer sieht, steht ABCDEFG.
Jetzt kann ich noch hinweisen auf Notizie degli Scavi 1908 S. 114.
Welche von diesen Alphabetreihen Zauberzwecken dienen, und welche
profaner Art sind, muß eine neue eingehende Untersuchung zeigen. G.Karo
hat dem Archiv (s. VII 1904 S. 526 <unten 230» eine Abhandlung über die älteren
griechischen ABC-Denkmäler versprochen*.^
XIV
EIN NEUES ABC-DENKMAL^
Ein neues ABC-Den^kmal hat Chr. Hülsen in den Mitteilungen des524
K. D. Archäologischen Instituts, Rom 1903, Bd. XVIII S. 73 ff. ver-
öffentlicht und in diesem Falle wie in einem anderen, s. Beiträge zur
alten Geschichte II 235, und einem dritten, wo zum griechischen Alpha-
bet KeXeOcavToc toö 06oö gesetzt ist, die Buchstabenreihe als „sakralen
Charakters", als „geheimnisvolle Zauberformel" eingeführt. Die ge-
nannten Denkmäler sind mir eine sehr erwünschte Bestätigung meiner
Ausführungen Rhein. Mus. LVI 1901, 77<oben 202>ff., in denen ich zum
ersten Male eine solche Bedeutung erhaltener Alphabetreihen aus-
gesprochen und durch zahlreiche Analogien mystischen Buchstabenzaubers
verschiedener Völker, so tief ich irgend dringen konnte, zu begründen
mich bemüht habe.* Ich habe inzwischen durch viele hilfreiche Leser 525
meines Aufsatzes sehr viel neues Material hinzubekommen^ und muß
bei Gelegenheit den Gegenstand noch einmal behandeln. Hier stehe
einstweilen ein wertvoller Beleg aus neuerem Volksglauben (ein solcher
fehlte mir damals gänzlich), den ich C. Dilthey verdanke: In Sizilien
' <Arch. für Rel. Wiss. VII 1904 S. 524ff.>
' Hülsen vermeidet es, jemals deutlich zu sagen, woher die Erklärung der
„sakralen" Bedeutung des Alphabets stammt; er gruppiert seine Darlegungen
so, daß jedermann den Eindruck haben muß, ich habe zu den tüchtigen Arbeiten
meiner vortrefflichen Vorgänger ein paar Kleinigkeiten und besonders einige
haltlose Willkürlichkeiten hinzugefügt. Dem Verfasser der Auszüge aus Zeit-
schriften in der Berliner Philologischen Wochenschrift 1904 Nr. 20 Sp. 633 kann
ich's wahrlich nicht verdenken, wenn er über Hülsens Aufsatz referiert 'Diete-
richs Behauptung, das Alphabet habe . . ., ist abzulehnen: der „Alphabetzauber"
hat in lateinischer Schrift nicht bestanden, wahrscheinlich auch ebensowenig
auf griechischem Boden'. Und dabei publiziert eben dieser Hülsensche Aufsatz
eine lateinische Inschrift, die von ihm selbst gemäß meiner „Behauptung" als
Alphabetzauber erklärt wird.
» <Vgl. S. 228 Anm.> Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, daß die Am-
mianusstelle, die Alfred Klotz zu meiner Abhandlung nachtragen zu können meinte,
Rhein. Mus. LVI 639, bereits in meinem Aufsatz S. 96 <220> Anm. genannt ist.
Sie kann meinem „Alphabet- zauber" nicht zur Bestätigung dienen, weil es etwas
ganz anderes ist, wenn bei einer magischen Aktion mit Buchstaben agiert wird,
aus denen Worte gewonnen werden, die der Weissagung dienen.
230 Ein neues ABC -Denkmal
legt man dem neonate in die fasciatura das Abbizz6 (so!), ein Büch-
lein von 8 Seiten, bedruckt mit Heiligenbildern u. a., und insbesondere
auf der zweiten Seite, neben einem Kreuz, un po d'alfabeto^ woher
der Name des Ganzen, Pitre Canti pop, sicil. II 362, 3, Usi e costumi
II 149 ff. (Verwirrte oder verstellte Alphabete oder Alphabetteile aus
Zauberformeln, Jahn Hexenwesen und Zauberei in Pommern 148). Ich
möchte hier an die Leser des Archivs die Bitte richten, mir über ihnen
etwa bekannte Zeugnisse freundlich Mitteilung zu machen.
Zugleich wünsche ich aber auch jetzt schon Verwahrung einzulegen
gegen Hülsens oben zitierte weitere Darlegungen, die er mit dem Aus-
spruch krönt, „daß jener supponierte uralte Glaube an die Zauberkraft
des Alphabets wenigstens auf römischem Boden Oberhaupt nicht existiert
hat" — zum gleichen Resultat würde, fügt er hinzu, eine Prüfung der
von mir beigebrachten italischen und griechischen Alphabete führen,
auf die er nicht in gleicher Ausführlichkeit eingehen könne.^ Darauf
einzugehen war nun freilich die absolute Pflicht dessen, der solche
Behauptungen aufstellte. Wie will denn Hülsen die zahlreichen Alphabet-
inschriften der Vasen bei mir S. 78 <203> ff., von denen jedenfalls eine
Anzahl sicher aus Gräbern stammt, erklären, wie will er denn, um nur
einen Fall zu nennen, auf den mich nachträglich Elia Lattes aufmerksam
macht, die Weihung der venetischen Bronzeplatten mit Alphabet und
Syllabaren an eine Göttin, wie gar das einmal zwischen den Buchstaben
stehende dedit libens merito erklären (Pauli Altit. Forsch, III 6 Nr. 11)?
526 Da ist*s doch nichts mit dem Dolichenus, in dessen Inschriften eine
Weihung und ein ex visu neben dem Alphabet auch Hülsen als Beweis
der „sakralen" Bedeutung gelten läßt und dann auch xeXeucavToc toO
Öeou und die neu publizierte „Schlangeninschrift", willkürlich genug,
ebendiesem Gotte zuschreiben will. Jeden freilich, der bei all den
griechischen^ und italischen Alphabeten und „Syllabaren", obgleich
die ganz analogen Reihen im Zauber aus indischer Literatur, aus alt-
nordischem Brauch ^ aus griechischen und römischen Inschriften später
Zeit -- ich meine die auch von Hülsen anerkannten Beispiele -, in
den magischen Papyri, in römischem christlichen Ritus und im deutschen
* Was S. 85 Anm. gesagt wird, bedeutet für das, was zur Frage steht, gar
nichts; der Vorwurf der ersten Zeilen ist nicht richtig. „Andeutung von Schrift
im allgemeinen" ist ohne Zweifel eine äußerst brauchbare und weittragende
Erklärung, „Syllabar" gilt auch ganz beliebig als solche.
* Über die älteren griechischen ABC-Denkmäler wird in einem der nächsten
Hefte dieses Archivs Georg Karo handeln.
* Zu meinen Beispielen aus diesem Gebiete gibt wertvolle Nachträge
C. Lindskog Nordisk Tidskrift 1901, 128ff.
Ein neues ABC -Denkmal 231
Volksbrauch (Glockeninschriften) unbezweifelbar vorliegen, jeden, der
überall, wo er sonst nichts weiß, einfach mit der Annahme von „Schreib-
übungen" oder „ornamentalem Zweck" die Sache erledigt glaubt, kann
ich nicht belehren und gebe das gern auf. Natürlich behaupte ich
aber nicht im mindesten - ich habe mich früher in diesem Punkte
offenbar nicht deutlich genug ausgedrückt -, daß nun bei keinem
Beispiele von denen, die ich anführe, eine andere Erklärung eintreten
könne - ich sondere ja selbst solche Fälle mehrfach aus S. 85 1-
89, 1; 99, 1 <209, 2; 213, 1; 223, 1> -; aber die Forderung, daß einJ
Erklärung für die verschiedenen Gruppen der rätselhaften gleich-
artigen Texte solcher Reihen passen und so ihre Richtigkeit bewähren
müsse, besteht auch heute noch zu Recht.
In der Behandlung lateinischer Alphabete, bei denen Hülsen meine
Erklärung beseitigen zu können selbst glaubt, ist mir am verwunder-
lichsten, wie der Krug aus Maar bei Trier beiseite geschoben wird.
„Es handelt sich um einen Defixionszauber" (wenn nämlich Bücheier
die Textworte neben dem Alphabet richtig erkläri; seine Erklärung ist
m. E. evident, ligo steht ja auf alle Fälle deutlich da) „und es muß
hier ausdrücklich bemerkt werden, daß das Gefäß auf dem römischen
Gräberfeld ausgegraben ist"; diese meine Worte zitiert Hülsen, als ob
er sie anfechte: sie sind unanfechtbar, solange Büchelers Deutung nicht
durch Redensarten von „müßiger Kritzelei" zu eriedigen ist, und so
tadelt denn Hülsen mit Recht nur den Ausdruck Graburne (der Krug
ist zur Aschenurne zu klein), den ich 16 Seiten später in der Erörterung
einmal, allerdings ist das eine Nachlässigkeit, gebrauche, während ich
S. 81 <206>, wo ich den Tatbestand angebe, nur von „Krug" und
„Gefäß" rede. Hülsen durfte nicht tun, als ob an diesem Versehen für
den Hauptpunkt irgend etwas läge: er weiß recht gut, daß es für den
Defixionszauber nur darauf ankommt, daß er in ein Grab gebracht
werde. Und das Alphabet, das mit der Inschrift vor dem Brennen in 527
den nassen Ton eingegraben wurde (Hülsen S. 83)? „Ich kann in der
Inschrift nichts weiter erkennen als die müßige Kritzelei eines Töpfers,
die in einer Linie steht mit den zahlreichen ähnlichen poetischen und
unpoetischen Ergüssen germanischer und dacischer Ziegelstreicher."
Damit ist der Fall allerdings eriedigt, nur daß ich noch fragen würde,
ob das Alphabet bei Ziegelstreichern ein poetischer oder unpoetischer
Erguß ist. Nun aber die Mainzer Urne: sie ist ja „allerdings als Grab-
urne verwendet gewesen" (Hülsen 84); „daß das Alphabet mit seinen
Interpunktionszeichen keinen anderen als ornamentalen Zweck gehabj
hat, scheint mir, bei der Stellung der Schriftzüge, ziemlich gewiß"
232 ^i" neues ABC -Denkmal
(Hülsen 85). Stellung der Schriftzüge? Sie gehen in einer Reihe rings
um das Gefäß. Wie man in solchem Falle aus der Stellung der Schrift-
züge den ornamentalen oder magischen Zweck (die außerdem sehr
wohl beide vereinigt sein können und es nachweisbar oft sind) erkennen
kann, ist mir verborgen. Die Graburne ist nun nicht wegzuleugnen,
aber der ornamentale Zweck „scheint ziemlich gewiß". Frage nicht
weiter, mystischer Grübler!
Gern würde ich z. B. bei Nr. 2 der von Hülsen besprochenen In-
schriften (S. 77) zugeben, daß die Alphabete an dem Kasten nur dem
Sicherheitsschloß dienen (ebenso auch Nr. 3), wenn ich mir das bei
dieser Art der Beschläge praktisch vorstellen könnte. Ich hielt es für
eine Verlegenheitserklärung, als man mit dem Alphabet nichts an-
zufangen wußte. Aber das kann ich allerdings nicht entscheiden wollen,
und wenn ich diesen Fall preisgeben muß, so ändert es an der ganzen
Sache natürlich gar nichts. Ebensowenig, wenn die Platte (Nr. 1 bei
Hülsen S. 76) wirklich nichts mit der Nekropole zu tun hat, in der sie
gefunden ist (CIL VI 2 p. 1023). Auch die schon lädierte Marmorplatte
konnte wieder benutzt sein und ich vermag mir einstweilen nicht vor-
zustellen, daß der Lehrling hinter dem Alphabet D. M. S. geübt habe.^
528 Die „Taufkanne"^ aus Karthago - ich schließe mich ja mit meiner „gänzlich
willkürlichen Annahme" nur de Rossi an^ und berufe mich ausdrücklich
* Ich hatte übersehen, daß im CIL ein Teil des Steines noch dazugekommen
war, ein Versehen, das ich nicht beschönigen will und nur damit entschuldige,
daß das Zitat nach dem CIL zu dem von Henzen Bull. etc. erst in der Korrektur
schnell eingesetzt wurde.
' Hülsen läßt bei der Kritik dieser Benennungen, die für mich ja durchaus
nicht Beweisstücke sind, niemanden merken, daß ich S. 78-95 <203— 218> den Tat-
bestand der Dokumente ausführlich im voraus dargelegt habe. Die Benennungen
S. 95 <219> stehen zusammen in einem Satze, der die verschiedenen Ver-
wendungen der Alphabete überblickt, denen eine Erklärung genügen müsse:
Hülsen nimmt diesen Satz zur Basis seiner Widerlegung und nun erscheint vieles
als haltlose Behauptungen und erschlichene Beweise, worüber vorher — auch über
die „Columbarientafel" (81f. <206», „Taufkanne" (85 <210», „Reliquienkasten"
(86 <210» — die tatsächlichen Angaben und die Begründungen der Benennungen,
ob sie nun richtig sind oder falsch, jedenfalls so weit gegeben sind, daß niemand
im Zweifel sein kann, was gegebene Tatsache und was erst erschlossen ist.
' In anderen Fällen wird die Sache so gewendet, als habe ich das Richtige,
das ich gebe, „nach dem Vorgang" de Rossis gegeben, z. B. in der ganz be-
sonders mißverständlichen Wendung S. 86: „Ein klassisches Beispiel bietet der
(von de Rossi Bull, crist. a.a.O. S. 140-146 ausführlich erläuterte) rituelle Ge-
brauch der Alphabete bei der Einweihung einer Kirche, den auch D. als effekt-
vollen Schluß seines Aufsatzes verwendet hat." Jeder denkt und muß denken,
de Rossi habe a. d. a. O. den Ritus richtig erläutert und ich mir stillschweigend
seine Weisheit angeeignet. In Wirklichkeit hat de Rossi (dessen Größe das ja
doch wohl keinen Eintrag tut) gar keine Ahnung von der tatsächlichen Bedeutung
Ein neues ABC -Denkmal 233
auf die „Annahme de Rossis«^ - wird nun wirklich spielend leicht beiseite
gebracht. Bei dem
Bc
„dachte" (so!) der Töpfer an das
A \^'
Auch der Steinmetz, der auf einem Steintäfelchen aus Metz, auf das
mich mein Kollege von Domaszewski hinweist, so gruppierte!
_._ {Jahrb. der Gesellsch. f. lothring. Gesch. u. Altertumskunde XIV
1902 Tafel XVII Fig. 3)?
Ich kann für jetzt nicht weiter fortfahren. Daß jedes einzelne Bei-
spiel immer wieder genau auf Ursprung und Zweck geprüft wird, auch
wenn dann der eine oder andere meiner Belege sollte ausscheiden
müssen, kann ich nur freudig begrüßen. Daß es aber möglich sein
würde, nach meinen Darlegungen den Alphabetzauber auf den Kult des
Jupiter Dolichenus zu beschränken und damit wieder als ungelöstes
Rätsel zu den Orientalisten abzuschieben (die sich z. T. schon meiner
Lösung eines auch bei ihnen lange ungelösten Rätsels aufrichtig freuen),
hätte ich nicht für möglich gehalten. Aber Hülsen selbst hat ja in den
„Beiträgen zur alten Geschichte" II 236 (nach meinem Aufsatze, den
er zitiert) schon seinerseits eine Erklärung gegeben: „eher scheint es 529
mir dem Charakter der unglaublich schreibfaulen Syrer angemessen,
daß sie die Gepflogenheit hatten, ihrem Ba'al manchmal das Alphabet
inschriftlich zu stiften, woraus sich der Gott dann selbst alle möglichen
Gebete und Wünsche zusammensetzen konnte."^ Man soll sich auch
in dem Verständnis abergläubischer Mystik nicht von der Bahn echter
Nüchternheit abdrängen lassen. Von uraltem Volksglauben zu reden, der bei
mancherlei Völkern zu Hause sei und durch die Jahrhunderte gehe, ist doch
wahrlich überflüssig, wo nichts vorliegt als ein bischen syrische Faulheit.
des Alphabets in diesem Ritus und bringt im Stil der kirchlichen Ausdeutung
solcher Bräuche allerlei Symbolik vor. Ich gestehe, daß der Anblick der Buch-
stabenreihen im Pontificale romanum mir den letzten Anstoß gab, meinen Auf-
satz zu schreiben.
^ der auch Verzierung und Buchstaben auf seine Weise (ABC und neofiti)
mit der Taufhandlung in Zusammenhang bringt und also auch daran denkt, daß
das Gefäß für solchen Zweck gemacht sei. „Unter den Resten" ist von mir
ungenau und mißverständlich angegeben; es ist nur Vermutung de Rossis, daß
das Gefäß, das in der Nähe im Brunnen gefunden war, zu den Geräten des
Baptisteriums gehöre. Sembra congettura naturale, l'orciulo trovato presso un battis-
tero spettare alla suppellettile degli utensili e riti battesimali (Bull, crist. 1881, 129).
« Das ist denn wieder so ziemlich die erbauliche Theologenauslegung der
.Glockenalphabete: „gleichsam als Lobgesang aus dem Munde der Unmündigen
und Kinder, nichts anderes als das Alphabet: Gott weiß ja wohl daraus ein
Gebet zu machen". Ich hatte das in völliger Verkennung der Sachlage nur
zum Scherze angeführt, S. 89 <213>.
XV
HIMMELSBRIEFE ^
Vor kurzem war folgende Nachricht in einigen Zeitungen zu lesen:
Ein eigenartiges Immediatgesuch ist vor einiger Zeit beim Kaiser-
lichen Zivilkabinet eingegangen. Ein biederer Handwerker aus Stangen-
hain in Schlesien übersandte nämlich dem Kaiser einen Original-
es chutzb rief" für die nach China gehenden deutschen Truppen
mit dem dringenden Anheimgeben, den Brief mittels Druckes verviel-
fältigen und jedem Soldaten ein Exemplar zustellen zu lassen. Nach
der Angabe des Bittstellers sei dieser Brief im Jahre 1729 in
Schleswig-Holstein vom Himmel gefallen und schütze seinen
jeweiligen Inhaber nicht nur vor jeder feindlichen Kugel,
sondern auch vor Krankheit und sonstigem Ungemach!
Auch die Vereinigung für hessische Volkskunde besitzt einige Exem-
plare solcher Himmelsbriefe, die im wesentlichen untereinander über-
einstimmen. Ihre Fassung hat mannigfaches Interesse auch neben den
Himmelsbriefen, die anderweitig bekannt gemacht worden sind (z. B.
Wuttke-E. H. Meyer, Deutscher Volksaberglaube S. 178 f.; Strackerjahn,
Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg I, 61; Bartsch,
Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg II, 341; Schweiz.
Archiv für Volkskunde II, 277. III, 52. IV, 189 ff., 341; U. Jahn, Hexen-
wesen und Zauberei in Pommern S. 40 ff.).
Der Text eines Himmelsbriefes, der aus Engelrod stammt, sei zu-
nächst hier wiedergegeben (das Original ist von Herrn Dr. med. F. Haupt
gestiftet):
Himmelsbrief!
Ein Graf hatte einen Diener, denen er tödten lassen wollte für
K. G. eh. Vater der Scharfrichter, der dem Grafen dies nicht ab-
schlagen wollte, vollführte den Befehl, aber o Wunder, das Schwert
tödte den Diener nicht, es verwundete ihn nicht einmal, als der er-
staunte Graf dies sah, befragte er den Diener nach der Ursache,
» <Blätter für Hess. Volksk. III 1901 S. 9-12.>
i Himmelsbriefe 2-^«;
und dieser zeigte ihm einen Brief mit folgenden Buchstaben: „B. J.
H. K. h. h. R. St. K." denen er vom Himmel zu haben erklärte. Als
der Graf diesen Brief sähe, befahl er, daß ihn jeder bei sich tragen
sollte. Wer nun irgend eine blutende Wunde an seinem Körper
hat, der nehme dießen Brief, lege ihn darauf, und das Blut wird ge-
,; stillt und die Wunde wird geheilt sein, wer in den Krieg zieht, und
! den Brief nicht bei sich trägt, der schreibe sich diese Buchstaben
; auf seinen Degen oder auf die Seite seines Gewehres, und er wird
' nicht verwundet werden können solche fünf Buchstaben sind die
heilige fünf Wunden Christi K. h. f. G. K. bist du im Besitz von
diesen Buchstaben, so bist du sicher, daß falsches Urteil nicht ge-
schehen kann h. h. f. f.
Wer diesen Brief bei sich trägt, dem wird weder Donner noch
Blitz, weder Feuer noch Wasser Schaden thun können. Und eine
Frau gebähren will, und die Geburt nicht von ihr will, so gebe mann
ihr diesen Brief in die Hand, und sie wird bald gebähren, und das
(Kind wird sicher glücklich sein. Wahrlich dieser Brief ist besser als
Geld Haus und Schutz -Brief. Im Namen Gottes des Vaters, des
Sohnes und des heiligen Geistes sowie Christus im Oelgarten still
stand, so soll, wo dieser Brief sich befindet, alles Geschütz still stehn,
und des Feindes Waffen ihn nicht treffen können. Weder Diebe noch
Mörder sollen ihm Schaden thun können. Durch den Befehl des
heiligen Geistes einst stille (= stehn stille in andern Texten) alle
sichtbaren und Unsichtbaren: Im Namen Gottes des Vaters, des
Sohnes und des heiligen Geistes spreche ich euch frei und wer es
nicht auf mein Wort glauben will, der hänge diesen Brief einem
Hund um den Hals und schieße ihn und er wird sehen, daß ich
wahr gesprochen habe.
So wahr es ist, daß Jesus Christus gestorben und gen Himmel
gefahren ist, so wahr er auf Erden gewandelt ist, so wahr es ist,
wer diesen Brief besitzt, weder gestochen noch verletzt werden kann,
ich schwöre es bei dem lebendigen Gott des Vaters, des Sohnes und
des heiligen Geistes, er soll unbeschädigt bleiben, ich bitte im Namen
unseres Herrn Jesu Christi Blut, daß mich keine Kugel treffen thut,
sie sei von Gold, Silber oder Blei, Gott im Himmel macht mir alles frei.
Dieser Brief ist im Jahr 1724 in Hollstein gefunden worden. Er
war mit goldenen Buchstaben geschrieben und schwebte über der
Taufe zu Rädergau.
Als mann ihn jedoch ergreifen wollte, wich er zurück, bis im Jahr
1791 Jemand den Gedanken faßte, ihn abzuschreiben und der Welt
236 Himmelsbriefe
mitzutheilen, zu diesem neigte sich der Brief. Unter anderen Lehren
enthielt er folgendes: „Wer am Sonntag arbeitet, der ist von mir
verdammt, denn am Sonntag sollt ihr nicht arbeiten, sondern in die
Kirche gehen und mit Andacht beten. Ich gebiete euch 6 Tage sollt
ihr arbeiten, und am siebenten Tage sollt ihr auf Gottes Wort hören,
thut ihr es nicht, so werde ich euch strafen mit theueren Zeiten,
Pestilenz und Krieg. Ich gebiete euch, daß ihr am Sonnabend nicht
zu spät arbeitet, denn ein jeder, er sei jung oder alt, soll für seine
Sünden beten, daß Sie ihm vergeben werden mögen. Ihr sollt nicht
sein wie die unvernünftigen Thiere. Von eurem Reichthum sollt ihr
den Armen geben, und nun bei Gottes Namen schwören nicht andern
Leuten Gold oder Silber zu nehmen. Ehre Vater und Mutter und
rede nicht falsch Zeugniß wieder deinen Nächsten. Wer diese meine
Gebote hält, dem gebe ich Gesundheit und Frieden, wer es aber
nicht glaubet, der ist von mir verdammt und wird weder Glück noch
Segen haben. Ich sage euch, daß Jesus Christus diesen Brief ge-
schrieben hat, und wer diesem Brief wiederspricht, der wird von mir
keine Hilfe erwarten. Wer diesen Brief besitzt und Ihn nicht offen-
10 baaret, der sei verflucht von der Christlichen Kirche, denn Ihr sollt
Ihn Euch gegenseitig abschreiben; wenn eure Sünden soviel sind als
Sand am Meere und Laub auf den Bäumen sie sollen Euch vergeben
werden, so ihr daran glaubet, wer aber nicht glaubet, der soll des
Todtes sein, und seine Kinder sollen eines bösen Todtes sterben.
Bekehret euch sonst werdet ihr gestraft werden ich werde Euch am
jüngsten Tage verdammen so ihr mir keine Rechenschaft geben
könnt. Haltet diese meine Gebote, welche ich Euch durch meinen
Engel gesand habe Christo Jesu Amen".
Ein anderer Brief — eine Abschrift des Originals wird ebenfalls
Herrn Dr. med. F. Haupt verdankt - zeigt nur geringe Abweichungen.
Er hat richtig gleich im Anfang: Walter der Scharfrichter. Er gibt
bei der gleichen Angabe, daß der Brief in Holstein gefunden sei, die
Zahl, die auch die Zeitungsnotiz gibt: 1729. „Und strebte über der
Tanche flätig (oder: stätig)", gibt die Abschrift, die uns vorliegt. Taufe
ist das richtige; was sich in flätig verbirgt, kann ich nicht sagen.
Ein Haus- und Schutzbrief, der im Romanusbüchlein (Schwab. Hall,
Haspeische Buchhandlung) S. 4 f. steht, lautet folgendermaßen:
Haus- und Schutzbrief.
Im Namen Gottes des Vaters etc. Sowie Christus im Oelgarten
stille stand, so soll alles stille stehen. Wer diesen Brief bei sich
I
■P tl
Himmelsbriefe 217
trägt, dem wird nichts schaden, es wird ihn nichts treffen "
md so fort mit ganz geringen Abweichungen der Text des oben
vorangestellten Briefes von den Worten an: Haus- und Schutz-
)rief. Im Namen Gottes des Vaters, bis zu den Worten:
„Ich bitte im Namen unsers Herrn Jesu Christi Blut,
Daß mich keine Kugel treffen thut
Sie sei von Gold, Silber oder Blei,
Gott im Himmel macht mir alles frei."
(Romanusb.: mich vor alles sicher und frei; im Romanusb.
folgt noch einmal: Im Namen Gottes etc.)
Man sieht, daß in unserem Himmelsbriefe I nach besser als Geld
der Punkt zu setzen ist, und dann mit neuem Titel Haus- und Schutz-
brief ein neues Stück beginnt, ein Sttick, das wir in der entsprechenden
Literatur sehr oft allein verwendet finden. Und daß eben dieser Haus-
und Schutzbrief heute noch umläuft und gebraucht wird, bin ich durch
einen Zufall imstande zu beweisen. In meinem Besitze befindet sich ein
_vergilbtes Blatt, das alle Spuren seines Gebrauches trägt: ich verdanke
der Güte des Herrn Kunstmalers Otto Ubbelohde in Goßfelden, der
\ von einem Soldaten in Obervorschütz bei Fritzlar (Rg.-Bez. Kassel)
•halten hat. Eine höchst unbeholfene Hand hat darauf den folgenden
jxt geschrieben:
Haus- und Schutzbrief!
Im Namen Gottes, des Vaters des Sohnes und des heiligen Geistes,
So wie Christus am Oelberge still stand, so soll alles Geschütz
still stehen, wer dieses geschriebene bei sich hat, dem wird nichts
schaden, es wird Ihnen nicht schaden des Feindes Geschütz und
Waffen, dieselbigen wird Gott bekräftigen, daß er sich nicht fürchte,
vor Dieben und Mörder, es soll ihnen nicht schaden, Geschütze,
Pistolen und alle Gewähre müssen still stehen, alles sichtbare und
unsichtbare durch den Befehl des Engels Michaels. Im Namen
Gottes des Vaters des Sohnes und des heiligen Geistes, Gott mit mir,
wer diesen Brief bei sich hat, der wird vor aller Gefahr beschützt
bleiben, wer dieses nicht glauben will der schreibe es ab binde es
einem Hunde an den Hals, und schieße darnach der wird es sehen
daß es wahr ist, wer dieses hat wird nicht gefangen genommen
werden, noch durch des Feindes getroffen werden Amen. So wahr
als das wahr ist daß Christus gestorben ist und gen Himmel gefahren
ist und so wahr er auf Erden geduldet hat kann nicht gesehen noch
geschossen (Hier hört das Blatt auf.)
238 Himmelsbriefe
(Gesehen ist augenscheinlich aus gestochen verschrieben, wie in
den parallelen Texten zu lesen steht.)
Nur der Reimspruch gegen die Kugel fehlt hier, der auch ursprüng-
lich, vielleicht bis heute noch, als selbständiger Spruch umlief. Im
übrigen ist es fast wörtlich der Brief des Romanusbüchleins. Daß aus
solchen Drucken die Formeln des Zaubers wieder neu im Volke über-
nommen und verbreitet wurden, habe ich früher in diesen Blättern
dargelegt (II. Jahrgang 1900, Nr. 2, S. 5f. <198 f.». In jenem Brief des
Romanusbüchleins folgt dann aber noch die Angabe: dieser Brief ist vom
Himmel gefallen und in Holstein gefunden worden 1724. Er war mit
goldenen Buchstaben geschrieben und schwebte über der Taufe zu
Rendsburg. Wie man ihn ergreifen wollte, wich er zurück, bis 1731 sich
jemand mit dem Gedanken mehrte (so: = näherte), ihn abzuschreiben
und den andern mitzuteilen zu dieser Not". Dann folgt auch hier die Partie
über die Sonntagsheiligung und die Versprechungen und Drohungen
ziemlich genau wie in dem Himmelsbriefe aus Engelrod.
Im wesentlichen gleichartig sind drei weitere Himmelsbriefe, einer
aus Höchst im Odenwald (III), einer aus Nieder -Weisel (IV), und einer
aus Ermenrod (V). Seltsam sind die wechselnden Angaben des Ortes,
wo der Brief in der Kirche geschwebt habe: I über der Taufe zu
Rädergau, II über der Tanche flätig oder stätig, III wie eine
Taube zu Sintmauen, IV über Tausende zu Statagami, V über
der Taufe zu und ohne Lücke weiter wer ihn greifen wollte.
Romanusbüchlein (s. o.): über der Taufe zu Rendsburg^ Daß über-
all über der Taufe das ursprüngliche ist, liegt auf der Hand; aber
welche Namen den unglaublich verschriebenen und immer wieder ab-
geschriebenen Buchstaben in I-IV zugrunde liegen, habe ich nicht aus-
findig machen können. In Holstein soll der Ort liegen, wie in jedem
Exemplare ausdrücklich gesagt wird. Daß die übrigen Namen aus
Rendsburg verschrieben wären, ist unglaublich; solche holsteinische
Ortsnamen, aus denen die der Briefe wahrscheinlicherweise verschrieben
sein könnten, habe ich nicht gefunden. Daß in II stätig und in IV
Statagami auf eine gleiche zugrunde liegende Überlieferung zurückgehen,
ist das einzige, was ich vermuten darf. Mögen Kundigere hier aushelfen.
^ In einem Himmelsbriefe aus Pommern bei U. Jahn a. a. O. S. 44 steht
über der Taufe Magdalenens, in einem andren ebenda 8.47 steht über
der Taufe gehalten zu Redamu, in einem aus Mecklenburg bei Bartsch
a.a.O. II, S. 342 wiederum über der Taufe Magdalenens, in einem anderen
S. 344f. über der Taufe gehalten zu Rudena. Man mag sehen, wie
mannigfaltig sich die Überlieferungen verzweigen ; im übrigen mache ich genaue
Angaben nur über die hessischen Himmelsbriefe, die mir vorliegen.
Himmelsbriefe 230
Wichtiger aber ist, daß wir die einzelnen Teile, aus denen dieser
Typus des Himmelsbriefs sich gebildet hat, deutlich auslösen können.
1. Die Geschichte von dem Grafen und seinem Diener und die Angabe
der Zauberbuchstaben (über die Bedeutung dieser Buchstaben, der
Alphabetreihe oder sinnloser Buchstabengruppen habe ich ausführlich
gehandelt im Rheinischen Museum für Philologie LVI. Jahrg. S. 77 ff.
<202ff.>, was deutschen, bis heute üblichen Aberglauben betrifft, besonders
S.92ff. <216ff.>, über den Runenzauber dieser Art S. 87 f. <221 f.> und
S. 103 <226». 2. Der Haus- und Schutzbrief, dessen besondere Ver-
wendung auch die Übernahme im Romanusbüchlein, die oben erwähnt wurde,
zeigen kann, mit dem gereimten Zauberspruch gegen Kugeln am Schluß:
„Ich bitte im Namen unsers Herrn Jesu Christi Blut
Daß mich keine Kugel treffen thut,
Sie sei von Gold, Silber oder Blei;
Gott im Himmel macht mir alles frei."
Der eigentliche Himmelsbrief, der zuerst in „epischer" Einleitung
Rine Herkunft angibt: dieser Brief ist im Jahre 1724 (so L und
r. und Romanusbüchlein; 1729 IL; 1771 III.; 1774 IV. Abgeschrieben:
791 I. und III. und V.; 791 II.; in IV. fehlt die Zahl, im Romanus-
üchlein 1731: alles sehr durchsichtige Varianten) in Holstein ge-
inden worden usw.
Als Hauptinhalt des Briefes folgt dann überall das Gebot der
onntagsheiligung: je nachdem folgen andere von den zehn Geboten
nd dazu variable Verheißungen und Drohungen»
Die epische Einleitung von dem Grafen findet sich öfter in den ge- U
ruckten Zauberbüchern, so in des Albertus Magnus ägyptischen Ge-
Bimnissen I. Teil (als Druckort Brabant angegeben) S. 32:
„Kräftiges Gebet, wodurch man sich vor Kugel und Degen, vor
sichtbaren und unsichtbaren Feinden, sowie vor allem möglichen
Übel beschützen und bewahren möge.
Graf Philipp von Flandern hatte einen (fehlt offenbar versehentlich
Diener), welcher das Leben verschuldet hatte" usw.
l Der Scharfrichter wird nicht mit Namen genannt. In einem pommer-
Bhen Himmelsbriefe tritt statt des Grafen der Name Philipp Plometrin
uf: er hatte einen Reiter und wollte ihn köpfen lassen usw. (s.UJahn
a. 0., S. 42.) . .
Uns liegt noch ein Himmelsbrief ganz anderer Art vor m emer
t Abschrift des Herrn Pfarrer Schulte. Auch dieser stammt aus Engelrod
240 Himmelsbriefe
und stellt sich als ein Zauberspruch gegen Feuer dar. Derselbe Feuer-
segen findet sich z. B. in dem Romanusbüchlein (Schwab. Hall) S. 33
in etwas weitläufigerer Fassung unter der Überschrift „Ein geistlicher
und wahrhaft approbierter Feuer -Segen von einem alten ägyptischen
Könige", und in ziemlich genau gleichem Text in dem (angeblich?)
Baltimore, Druck und Verlag von Franz Lippe, erschienenen Zauber-
buche: der schwarze Rabe oder das enthüllte Wunderbuch der wichtig-
sten Geheimnisse, S. 24. Dann folgen noch in dem Exemplar aus
Engelrod die Angaben: „Wer diesen Brief in seinem Hause hat, bei
dem wird keine Feuersbrunst entstehen oder auskommen, ingleichen
so eine schwangere Frau diesen Brief bei sich hat, kann weder ihr
noch ihrer Frucht eine Zankerei (ich vermute, daß Zauberei nur so
verlesen und verschrieben ist) noch Gespenst schaden. Auch so je-
mand diesen Brief in seinem Hause hat oder bei sich trägt, das ist
sicher für der leidichen (so) Seuch und Pestilenz fff."
Der Abschreiber macht die Anmerkung, daß in manchen Häusern
Engelrods die Abschrift dieses Briefes unter den Dachziegeln liegt.
Ein weiterer Himmelsbrief, der sich im Besitze der Vereinigung für
hessische Volkskunde befindet, ist wiederum aus ganz anderen Ele-
menten zusammengesetzt, und muß für diesmal beiseite bleiben. Den
Hauptteil des Zauberspruches bildet der so häufig ähnlich verwendete
Anfang des Johannesevangeliums.
Die Himmelsbriefe des oben behandelten Typus sind außerordentlich
weit verbreitet. Auf dem Lande werden sie gegen alles mögliche Übel
am Leibe getragen, gegen Feuer unters Dach gelegt, vor allem aber
machen sie gegen Schuß und Hieb fest, und werden von den Soldaten
mit in den Krieg genommen. Auf den Schlachtfeldern von 1866 und
1870 sind viele dieser Zauberbriefe gefunden worden - an denen,
denen sie nichts geholfen hatten.
Diese Art der Himmelsbriefe ist nach Inhalt und Zusammensetzung
im wesentlichen die gleiche in Pommern und der Schweiz, in Oldenburg
und Österreich, so auch in Hessen. Wir würden ohne weiteres an-
nehmen, wenn wir es nicht wüßten, daß eine lange Tradition des
Aberglaubens seinen letzten heutigen Dokumenten vorausliegt. Es ist
eine ungeahnt lange Tradition. Bald da, bald dort finden wir immer
wieder Nachrichten und Beispiele von Himmelsbriefen in den ver-
gangenen Jahrhunderten. Ja, man kann den Typus von Himmelsbriefen,
den wir kennen lernten, in seinen hauptsächlichsten Zügen im Okzident
bis fast in die Mitte des ersten Jahrtausends nach Christus zurück-
verfolgen, im Orient einstweilen bis an die Grenze des ersten Jahr-
Himmelsbriefe p..
tausends. Es existieren griechische Himmelsbriefe byzantinischer Zeit-
da kommt der Brief vom Himmel und hängt in Kirchen von Jerusalem
und Konstantinopel. Hauptinhalt ist fast immer das Gebot der Sonntags-
heiligung. Ich will aber nicht von den wenigen Spuren und Texten
reden, die mir zufällig bekannt geworden sind. Zwei ausgezeichnete
Kenner der in Betracht kommenden Gebiete, Robert Priebsch in London
und Walther Köhler in Gießen, haben es unternommen, die Geschichte
der Himmelsbriefe uns vorzulegen. Sie werden von diesem einen
Punkte aus auch der Volkskunde weiten Ausblick und große Ziele zeigen
können, und wir werden lernen, was es bedeuten kann, ein vergilbtes
Papier aus Engelrod oder Nieder-Weisel geschichtlich ganz zu verstehen,
- wenn sich zwei Gelehrte die Welt des Himmelsbriefs in Orient und
Okzident teilen, um ein solches Verständnis der Wissenschaft zu er-
schließen.
Ich gebe einstweilen die Erwartung nicht auf, daß sich auch schon
im griechisch-römischen Altertum „Himmelsbriefe" werden aufzeigen
lassen. Und wenn nicht Erwähnungen in irgendeinem Winkel der un-
endlichen antiken Literatur längst vorhanden und nur mir unbekannt
sind, so kann jeden Tag ein 'neuer Fund uns auch hier geben, was
wir in gewissem Sinne erwarten dürfen. Denn alle religiösen Teil-
vorstellungen, die sich zu der komplizierten Vorstellung von dem Himmels-
briefe verbunden haben, sind in kräftiger Wirkung vorhanden gewesen.
Alles vom Himmel Gefallene, zunächst die Meteorsteine und alle die,
von denen man sagte, sie seien vom Himmel gekommen, waren gött-
lich und voll wunderwirkender Kraft, von den Meteorsteinen, die die
Gottheit selbst bedeuteten im Kulte der sog. Großen Mutter oder des
Gottes des Elagabal, dem der Kaiser in Rom alle Welt Untertan machen
wollte, bis zu den kleinen Amuletsteinchen, die man am Halse oder
am Finger trug. Schon Herodot erzählt von den goldenen Werkzeugen
Pflug, Joch, Beil und Schale, die bei den Skythen vom Himmel gefallen
seien, und deren Besitz die Herrschaft verliehen habe. Vom Himmel
gefallene Götterbilder sind im antiken Heidentum wunderkräftig wie im
alten Christentum die vom Himmel gefallenen Christusbilder. Der
Zauberspruch auf der anderen Seite, das Papyrusblatt mit zauber-
kräftigen Zeichen und Sprüchen, als Amulet gegen alle Art Gefahr
getragen oder irgendwo angebracht, ist uns aus dem Altertum heute
nur zu gut bekannt: wir halten sie wieder in Händen, die aus den
Gräbern Ägyptens ans Licht gekommen sind, und wir haben große
Bücher, in denen die Anfertigung solcher Talismane vorgeschrieben ist.
Beides vereinigt ergibt den Himmelsbrief. Und es wäre in der Tat sehr
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 1"
242 Himmelsbriefe
merkwürdig, wenn man nicht von den Zauberzeichen und Sprüchen,
die man auf den zu Amuleten verwendeten Meteorsteinchen anbrachte,
oft behauptet hätte, daß sie der Stein schon getragen habe, als er vom
Himmel fiel; nur ein ausdrückliches Zeugnis fehlt. Überdies haben die
Zaubersprüche und Rezepte mit Vorliebe auch schon die Form des
Briefes. Haben doch auch die Briefe göttlicher, heiliger Personen,
namentlich Jesu Christi \ in den ältesten Zeiten des Christentums wunder-
wirkende Zauberkraft. Den (angeblichen) griechischen Brief Christi an
Abgar haben kürzlich die österreichischen Gelehrten, die Ephesus wieder
ausgraben, eingehauen gefunden unten am Türsturz eines Stadttores;
augenscheinlich um gegen alle Übel und Feinde wunderbar zu helfei
(Jahreshefte des österr. archäol. Instituts 1900. Beiblatt S. 90 ff.).
Ich möchte annehmen, daß da, wo diese Ingredienzien eines Aber-
glaubens so deutlich und weitverbreitet vorhanden sind, die Vorstellungs-
mischung, wie die des Himmelsbriefs, ich will nicht sagen, sich bilden
mußte, aber sich sehr leicht, sogar an verschiedenen Orten zu ver-
schiedener Zeit immer wieder bilden konnte. Man wird auch in dei
Entwicklung, die bekannt ist, vielleicht nicht so scharf fragen dürfen,
an welchem Orte, zu welcher Zeit der erste Himmelsbrief, von dem alle
folgenden abhängen müßten, entstanden sei. Freilich bei einem Typus
ist der geschichtliche Zusammenhang unverkennbar: merkwürdig, daß
es das Gebot der Sonntagsheiligung ist, das der feste Kern dieser
mannigfaltigen Texte bleibt. Diese Eigentümlichkeit hat schwerlich ihren
Ursprung in der antiken Welt, schwerlich, soweit ich urteilen kann, im
Bereiche der ersten Jahrhunderte christlicher Entwicklung. Werden
wir vielleicht noch weiter zu den Juden und in ihre auch in der Alten
Welt weiten Kreise gewiesen? Sind doch die steinernen Gesetzestafeln
in gewissem Sinne eine Art „Himmelsbrief" Gottes an sein Volk, den
Moses empfängt und überbringt. Auch hier müssen Kundigere aushelfen.
Ich schließe mit dieser bescheidenen Frage und möchte ihr eine
desto dringendere Bitte hinzufügen. Wenn auch nicht Ursprung und
12 Entstehung, so doch Wesen, Gebrauch und Verbreitung dieser wunder-
baren Brief literatur zu erkennen, bedarf es dringend der Sammlung
größeren Materials auch der heutigen Überreste des alten Glaubens, damit
es den rechten Briefordnern helfe und nütze. Wir bitten bei der Ver-
einigung für hessische Volkskunde einen Himmelsbriefkasten einzurichten.
* Auch unsere Himmelsbriefe erklären ja mehrfach von Jesus Christus
selbst geschrieben zu sein.
XVI
WEITERE BEOBACHTUNGEN ZU DEN HIMMELS-
BRIEFEN* ;
I
Daß ich die Erwartung noch nicht aufgeben wolle, es würden sich auch 19
schon im griechisch-römischen Altertum Himmelsbriefe aufzeigen lassen,
habe ich in meiner kleinen Abhandlung über Himmelsbriefe in den Blättern
für Hessische Volkskunde, 1901, No. 3, S. 11 <obenS.241> ausgesprochen.
Meine Erwartung hat mich nicht getäuscht, und ich darf vielleicht heute
über eine Anzahl von Beobachtungen berichten, die mir die Hilfe einiger
Freunde^ und eigenes Nachsuchen ermöglicht haben. Sie können auch
denen, die uns die spätere, mittelalterliche und neuere Literatur der
Himmelsbriefe vorlegen werden, nicht gleichgültig und vielleicht behilf-
lich sein, die Frage nach dem Ursprung der so lebenskräftigen Form
alten Aberglaubens richtig zu stellen.
Die judenchristliche Sekte der Elkesaiten berief sich auf ein heiliges
Buch, das nach einer von Eusebius in seiner Kirchengeschichte (VI 38)
gegebenen Überlieferung vom Himmel gefallen sei. Wer auf dies Buch
höre und daran glaube, erhalte Vergebung der Sünden. Kai ßißXov
Tivd 9epouciv, fiv Xe^ouciv il oupavoO KaTaTreTTTUiKevai Kai tov dKriKOÖia
dKeiVTic Kai TTiCTeOovTa acpeciv XrjiyecGai tüjv djuapTrijuaTiuv, dX\r|v ctqpeciv
Trap' Tiv XpicTÖc 'IricoOc dcpfiKev. In anderer Überlieferung steht dieser
Angabe parallel, daß ein Engel von riesiger Größe, dem eine weibliche
Figur zur Seite stand (der heilige Geist), das Buch dem Elxai vom
Himmel gebracht habe (Hippolytos Refutatio omnium haeresium IX 13):
eine auch sonst häufige Form göttlicher Offenbarung. Der Gründer
der Sekte soll unter Trajan aufgetreten sein; ihr heiliges Buch kam
* <Hess. Blätter für Volksk. I 1902 S. 19 ff., s. auch Mithraslit. S. 48 Anrn.)
• WertvolleWinke verdanke ich A. De iß mann in Heidelberg, E.Preuschen
in Darmstadt, L. Radermacher in Bonn, L. Traube in München, R. Wünsch
in Breslau. Manche freundliche Hinweise konnte ich in dem oben eingehaltenen
Zusammenhange nicht benutzen und spare sie für ein andermal auf.
16*
244 Weitere Beobachtungen zu den Himmelsbriefen
im Anfang des 3. Jahrhunderts nach Rom. Wir besitzen in dem
Eusebiusbericht das bisher früheste Zeugnis eines wunderwirkenden
Himmelsbriefes.
Vielleicht haben wir aber doch noch ältere Zeugnisse. Noch gegen
Ende des dritten Jahrhunderts und im zweiten Jahrhundert vor Chr.
schrieb ein Semit aus Gadara in Cölesyrien mit Namen Menippos
satirische Schriften in griechischer Sprache. Prosa wechselte mit Versen
ab, und diese Form, die lange und vielfach nachgeahmt wurde, bekam
20 nach ihm den Namen der Menippeischen Satire. Es ist einer der
häufigen Fälle, daß die Semiten die Formen der satirischen und paro-
dischen Schriftstellerei bestimmen. Als Titel einer Anzahl solcher Pro-
dukte des Menippos ist uns überliefert: Briefe, die sich rühmen, vom
Angesicht der Götter zu kommen (Laertius Diogenes VI 8, 101 emcToXai
KeK0|ui|J6U|uevai dirö tou tujv Geujv TrpociuTTOu). Es mag wohl sein, daß
Lukianos von Samosata, ebenfalls Semit und griechisch schreibender
Satiriker, im zweiten Jahrhundert nach Christus zu seinen Götterbriefen
durch den Vorgang des Menippos angeregt ist. Wie weit freilich seinen
Erfindungen etwa der Briefe des Kronos eine vorhandene Volksvor-
stellung von Himmelsbriefen zur Folie und Erklärung gedient haben
mag, ist für uns schwerlich noch zu beurteilen. Der Titel des Menippos
aber zeigt, meine ich, daß in ihm eine nicht unbekannte Sache genannt
sein muß, und daß es mehr als bei beliebigen Götterbriefen literarischer
Erfindung auf die autoritative Geltung der Briefe vom Angesichte
der Götter ankommen sollte. Was dann auf Grund vorhandenen
Glaubens satirisch oder parodisch vorgeführt sein mag, können wir nicht
wissen. Ob ich recht habe, wenn ich in der griechisch ungewöhnlichen
Ausdrucksweise einen Nachklang semitischer Rede in dem Titel fühlen
möchte? (Vgl. hebr. mip^ne elohim.)
Es ist sehr bemerkenswert, daß die beiden besprochenen Zeugnisse
einen Zusammenhang mit Jüdischem zeigen. Gleich hier möchte ich
darum eine Tradition anreihen, die in der Talmud -Literatur eine große
Rolle spielt. Mehrfach wird angegeben, daß dem Adam vom Himmel
herunter ein Buch gebracht worden sei, durch das ihm die wunder-
barsten Offenbarungen zu Teil wurden (Eisenmenger, Entdecktes
Judentum I 375 f. II 675). In dem Buche Sohar — über dessen ja
vielleicht erst mittelalteriiche Entstehung ich natürlich nicht urteilen
kann - wird folgendes erzähU (Übersetzung bei Eisenmenger I 376):
„Als der Adam in dem Paradies war, gab ihm Gott durch den
Rasiel, den heiligen Engel, welcher über die Geheimnisse der Oberen
gese^t ist, ein Buch, in weldiem die Schriften der Oberen und die heiligen
V/eisheiten geschrieben stunden, und waren die zweiundsiebenzig Gat-
Weitere Beobachtungen zu den Himmelsbriefen 245
tungen der Weisheit von ihm in sedishundertundsiebenzig Schriften der
oberen Weisheiten geteilet, um durch das Mittel selbiges Budis der Schrift
der Weisheit die tausendundßnfhundert Sdilüssel zu wissen, welche den
Obern Heiligen nicht gegeben sind und alle im selbigen Buch verborgen
waren, bis es der Adam bekommen hatte. Nachdem es dem Adam
in die Hände gekommen war, versammelten sidi die oberen Engel, um
zu wissen und zu hören, und sprachen: Erhebe didi Gott über den
Himmel und deine Ehre über die ganze Erde. In derselbigen Stund
kam der Hadamiel, der heilige Engel zu ihm und sprach zu ihm:
Adam, Adam die Herrlichkeit deines Herrn war verborgen, denn den 21
Obern ist die Erlaubnis nicht gegeben, die Herrlichkeit deines Herrn
zu wissen, ausgenommen dir. Selbiges Buch war auch bei dem Adam
verborgen und verwahret, bis er aus dem Paradies ging, und brauchte
er alle Tage die Schäle seines Herrn und wurden ihm die obersten
Geheimnisse kund, welche die oberen Diener nicht wußten. Nachdem
er aber gesündiget und seines Herrn Gebot übertreten hatte, flog solches
Buch von ihm weg, und er schlug an sein Haupt und weinete und ging
an das Wasser des Flusses Gichons bis an sein Genick: und das
Wasser machte seinen Leib rostig und sein Glanz veränderte sich. In
selbiger Z^ii winkte Gott dem Raphael und ließ ihm das Buch wieder
geben. Und der Adam befliß sich darinnen zu lesen und hinterlies es
seinem Sohne Seth, und also haben es alle selbige Geschlechter gemacht,
bis es zum Abraham gekommen ist, welcher in demselben wußte die
Herrlichkeit seines Herrn zu sehen. Also wurde es auch dem Enoch ge-
geben, aus demselbigen die Herrlichkeit seines Herrn zu betrachten."
Ich weiß solche jüdische Überlieferungen nicht weiter zu verfolgen;
aber ich möchte, wenn möglich, durch die gegebene Andeutung Kenner
des Talmuds und der Kabbala zu Mitteilungen veranlassen. Wie stark
die Kabbala noch auf den heute lebendigen Aberglauben gewirkt hat,
ist mannigfach bekannt.
Ich kehre noch einmal zum griechisch-römischen Altertum zurück;
denn ich glaube auch Spuren himmelsbrieflicher Traditionen zu er-
kennen, die nicht auf jüdisches Gebiet hinüberführen. Sollte wirklich
in dem Verse des Juvenal (Satire XI Vers 27) der Ausdruck ^e caelo
descendit tvujGi ceauiöv' nur bildlich bezeichnen, daß der Spruch „Er-
kenne dich selbst" göttliche Offenbarung sei und nicht vielmehr eine
uns sonst unbekannte Überlieferung voraussetzen, daß der Spruch vom
Himmel gefallen sei? Sicheres zu vermuten gestattet noch weniger eme
Notiz bei Servius d. h. in dem Kommentar zu Vergil, wo ein Tiberia-
nus genannt wird, ein Schriftsteller des 4. Jahrhunderts, der emen
Brief anführe, den der Wind von den Antipoden hergetragen habe.
Er trage die Aufschrift „superi inferis salutem" (Servius zu Vergils
Aeneis VI 532). Das dient freilich da, wo es angeführt wird, nur zum
Beweis für die Kugelform der Erde. Aber man kam schwerlich auf
diese eigentümliche Erfindung eines Briefes, wenn es nicht bekannter-
maßen Briefe der superi gab. Ein Beleg aber, den ich geben kann.
246 Weitere Beobachtungen zu den Himmelsbriefen
unterliegt keinerlei Bedenken. Pausanias in dem letzten Kapitel seiner
griechischen Reisebeschreibung (X 38) erzählt von der wunderbaren
Heilung des augenleidenden Phalysios in Naupaktos. „Als dieser
nämlich so an den Augen litt, daß er fast blind war, schickte der Gott
in Epidauros (Asklepios) die Dichterin Anyte mit einem versiegelten
22 Schreiben an ihn; diesen Auftrag erhielt sie mittels eines Traum-
gesichtes, das aber sogleich zur Wirklichkeit wurde: denn beim Er-
wachen fand sie ein gesiegeltes Schreiben in ihren Händen. Sie fuhr
nun nach Naupaktos und forderte den Phalysios auf, das Siegel zu
erbrechen und das Schreiben zu lesen. Dieser hätte es unter andern
' Umständen bei dem Zustande seiner Augen nicht für möglich gehalten,
das Geschriebene zu lesen. Aber er hoffte auf Hilfe durch Asklepios,
erbrach das Siegel und wie er auf die Wachstafel sah, war er gesund
und zahlte der Anyte, wie er durch das Schreiben angewiesen war,
zweitausend Goldstateren". Hier haben wir alle Ingredienzien des echten
Himmelsbriefes: er stammt von einem Gotte, der ihn auf wunderbare
Weise einem Menschen übergibt, und er hat die zauberische Heil-
wirkung. Pausanias schreibt im 2. Jahrhundert n. Chr. Daß es sich
aber in seiner Erzählung um eine volkstümliche Überlieferung viel
älterer Zeit handelt, dürfen wir annehmen. Diese Überlieferung ist echt
griechisch und niemand wird glauben wollen, daß sie in ihrer Art die
einzige gewesen sei.
II
Den Zeugnissen aus dem Ahertum füge ich zwei Zeugnisse späterer
Zeiten, eines aus dem Mittelalter und eines aus dem Jahre 1864 hinzu.
Ich würde mit Nachweisen mittelalterlicher Literatur am wenigsten der
Gelehrsamkeit der künftigen Herausgeber der Himmelsbriefe zu Hilfe
kommen mich anheischig machen, wenn es sich nicht um einen ent-
legenen und zudem nicht ohne weiteres erkennbaren Beleg handelte,
der uns unmittelbar das kräftige Weiterleben des Himmelsbriefglaubens
in unserem Volke veranschaulicht. Und das gleiche wird uns die
Mitteilung aus dem vorigen Jahrhundert lehren, die mir ein günstiger
Zufall zugeführt hat.
Die Kenntnis des Chronicon Windeshemense und des Liber de
reformatione monasteriorum des Augustinerprobstes Johannes Busch in
der Ausgabe von Dr. Karl Grube (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen,
herausgeg. von der Histor. Kommission der Provinz Sachsen XIX. Bd.,
Halle 1886) verdanke ich Herrn Professor Hermann Haupt in Gießen.
Er hat mich auf einige für den Volksaberglauben wichtige Aktenstücke
Weitere Beobachtungen zu den Himmelsbriefen 247
in dem über de Reformatione aufmerksam gemacht. Ich berichte, was
ebendort II c. XIX p. 699 f. lateinisch erzählt wird. In Halle 1451 -
das Stück ist genau datierbar - kam zu dem Verfasser zur Beichte
die Frau oder Tochter eines Soldaten. Er bemerkt, daß etwas in
einem kleinen Beutel an ihrem Halse hängt. Auf seine Frage erhält
er die Antwort: ich habe in dem Beutel ein kleines beschriebenes ^^
Pergamentblatt. Wer es überall bei sich trägt, kann nicht vom Schwerte
verietzt noch vom Wasser ertränkt noch von Feinden gefaßt werden
und hat andere ähnliche Kräfte. Er fragte: „Kann ich es sehen, öffnen
und lesen?" „Ja." Dann löste sie den Beutel von ihrem Halse, zog
den Zettel aus dem Beutel und gab ihn ihm zu lesen. Als er ihn
aufgemacht, fand er darin, daß Papst Leo allen, die ihn trügen, diese
Gnade gegeben, daß sie vom Schwerte nicht verietzt noch vom Feuer
verbrannt noch vom Wasser ertränkt noch gefangen noch vom Feinde
gefaßt werden können und vieles ähnliche. Dann enthielt der Zettel:
Christus siegt, Christus herrscht (Christus vincit, Christus regnat) und
die Namen der Apostel, der drei Könige Balthasar, Melchior, Kaspar
und verschiedene Zeichen und viele Kreuze unter den Namen und
mehrere Buchstaben des Alphabets und wieder Namen von Heiligen
und Buchstaben und mehrere Beschwörungen dazwischen und ähnliche
unbekannte Namen, an die der Pater sich, wie er sagt, nicht mehr er-
innert. Darauf redet ihr der Beichtiger ins Gewissen; er wundert sich,
daß ihr der Teufel den Hals noch nicht gebrochen habe. Was da
geschrieben stehe, sei gegen Gott und den katholischen Glauben, es
sei nicht wahr und nicht vom Papst Leo versprochen. Sie bekommt
Angst und wünscht selbst, daß der Pater den Zettel verbrenne. Das
geschieht, und dabei - das wird besonders bemerkt - passiert
weiter nichts.
Wer die üblichen Texte von Himmelsbriefen - auch der von mir
a. a. 0. herausgegebenen hessischen - kennt, wird ohne weiteres be-
merkt haben, daß die Frau in Halle einen Himmelsbrief am Halse
atte, wie ihn heute noch Männer und Frauen an sich tragen. Die
uberzeichen, die Buchstaben des Alphabets, die unbekannten Namen,
h. die unverständlichen Zauberworte, die Kreuze: all das kennen wir
ch auf den uns bekannten Himmelsbriefen. Verheißungen wie die
_ r gegebenen finden sich immer wieder, z. B. in einem Himmelsbriefe
%us Mecklenburg (Bartsch, Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meck-
lenburg II 341 ff.): wer diesen Brief bei sich trägt, der wird nicht ge-
troffen von dem feindlichen Geschoß und er wird vor Dieben und
Mördern gesichert sein ... dem wird kein Donnerwetter schaden, und
248 Weitere Beobachtungen zu den Himmelsbriefen
ihr sollt vor Feuer und Wasser und aller Gewalt des Feindes behtitet
werden . . . seine Feinde können ihm keinen Schaden zufügen . . (S. 344)
dem kann kein Blitz oder Donner, kein Feuer oder Wasser Schaden
tun. Die Namen Caspar, Melchior und Balthasar kommen unzählige
Male auf entsprechenden Zauberblättern in mannigfachster Verstümme-
lung vor (z.B. U.Jahn, Hexenwesen und Zauberei in Pommern, S. 145
drei Beispiele).
24 Aber ich brauche nicht einzelne Übereinstimmungen des Amulet-
blattes der Frau in Halle 1451 mit uns heute bekannten Himmels-
briefen nachzuweisen. Wir haben den Brief noch, den die Frau trug:
durch einen Zufall ist ein Exemplar in der Schweiz aufgetaucht und
in dem Schweizerischen Archiv für Volkskunde IV (1900) S. 340 f.
veröffentlicht worden. Nur ganz geringe Abweichungen von den An-
gaben des Augustinerprobstes über seinen Befund, wie sie mannigfache
Übertragung und Abschrift des Textes von selbst mit sich bringt, sind
zu beobachten. Im übrigen wird jedermann sofort erkennen, daß wir
denselben Zauberbrief vor uns haben. Er befindet sich auf einem Per-
gamentblatt von 42 cm Länge und 33 cm Breite im Archiv der Familie
Th. V. Stockalper in Brig. Anthonius Owling, der sich als Inhaber
nennt, scheint nach des Herausgebers Imesch Ermittelung im Schweiz.
Archiv a. a. 0. der Kastlan Ant. Owling von Brig gewesen zu sein,
dessen Name von 1467-1528 wiederholt in den Urkunden der Familie
von Stockalper vorkommt. Der Brief ist also wohl dort nicht viel später
in Gebrauch gewesen als in Halle. Wir können einstweilen nicht fest-
stellen, wie weit der Brief überhaupt verbreitet war, woher und wohin
er überliefert worden ist. Von Interesse mag aber sein, daß ein Himmels-
brief, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Schweiz
vorhanden ist (Schweiz. Arch. f. Volkskunde II 277 ff.), in einer spät-
romanischen Bearbeitung die Angabe enthält, daß er in Mademburg in
Prussia, doch wohl in Magdeburg in Preußen, erschienen sei. (Schweiz.
Archiv III, 1900, S. 190 f.)
Der Himmelsbrief aus Brig sagt von sich: Das ist der brieff, den
bapst leo kunig karolo von himel sant und ist bewert wer in by im
treit. Es ist eben das, was Johannes Busch in dem Pergamentblatt
der Frau gelesen hat inveni in ea, quod Leo papa dedit omnibus eam
portantibus hanc gratiam etc. Ich hebe noch einige Stellen aus, die
das gleiche erweisen.
In dem namen got des vatters got des suns und des helgen geists
Und der helgen dreifaltikeit. Ihesus Nazarenus rex ludeorum. Ihesus
von Nazareth der Juden Kunig. Diss sint die siben wort, die unser her
Weitere Beobachtungen zu den Himmelsbriefen 249
am crutz sprach und wer die wort by im treit und altag ansieht in der
hebt gots, der erwurbt dadurch liebi von den luten und schirm vor
sinen fyenden. Er wurd des tags nit vnder gan noch in für noch
in wasser noch in krieg gechlich noch an der des heilig sacrament
sterben. . .
Nach jedem der Worte am Kreuz steht ein f.
Vatter in din hand bevil ich min geist also empfil ich Änthonius
Owling mich in din hand wan du hast mich erlöst. 0 gott der warheit 25
bekör mir alles minen eilend allen meinen presten und ungemach.
Caspar, Melchior, Balthasar ...
Das helf uns der man der den todt an dem helgen crutz nam und
die helgen dry Kinig, die by im in dem himel sindt. Christus regnat.
Christus imperat Cristus (sie) ab omni malo me custodiat. Agios
otheos agios yschyros agios athanatos. Eleyson ymas . . . Des helff mir
der man, der den tod an dem helgen krutz nam Aelli die waffen sy
sigen von eysen oder von Stachel f Caspar f Balthasser f Melchior p p p
spn dia. dit. und sta haev su sla resten lieben worff stewlich . . .
Nachdem Evangelium Johannes I 1-14 in lateinischer Sprache ein-
geschoben ist, geht's mit jener oben angeführten Angabe über den Papst
Leo weiter: . . wer in by im treit und in alltag mit V pater nosterund
ave maria der sol des sicher sin, das im nie mer hertzleid widerfaren
mag er muss zu nemen an lyb und gut an sei und an er mag in keinem
wasser ertrinken noch in keinem für verbrinnen es mag auch kein
falsch urteil über in gan und wa in ein fraw by in treit die enis kinds
in arbeit gat der mag es nit misslingen zu der purd und wo dieser
brieff in ein huss ist da mag das für nit schaden thun und wer in
by im treit den mag kein waffen nit schulden f got der sin heylig
crutz ....
Und behuete dich vor allen fienden das mich des waffen muss miden
an kein messer noch schwert noch waffen müssen mich weder stechen
noch schulden ....
Obergehen mag ich nicht den Satz, der plötzlich dazwischen steht
nun gehelff mir der heilig her sant odins und unmittelbar darauf: als
gut als wie sant maria was da sy ir lieb trut kind genass f . . .
Einige Sprüche von den heiligen Wunden, die behüten sollen zu
allen Stunden vor allen bösen falschen Zungen und vor Wunden mit
siebenmal wiederholtem Kreuzeszeichen zwischen den einzelnen Satzteilen
beenden die Sprüche, die durch mannigfache Wiederholungen zu solcher
Fülle angewachsen sind.
Zu diesem Belege lebendigen Gebrauchs zauberkräftiger Himmels-
briefe aus dem Jahre 1451 - noch ehe von einem Druck solcher
begehrten Zauberzettel die Rede sein konnte -, füge ich nun endlich
noch eine Schilderung aus dem Jahre 1864, die ich Herrn Geh. Bau-
rat Krüger in Erfurt verdanke; durch die Lektüre meines Aufsatzes
über Himmelsbriefe veranlaßt, hat er mir sein Eriebnis freundlichst mit-
teilen lassen, wie folgt:
„Als ich im Jahre 1864 in den Krieg gegen die Dänen zog, wurde
auch mir ein solcher Himmelsbrief angeboten, der mich in den Gefahren
der Schlacht behüten sollte. Ich erinnere mich, daß er die gleichen
250 Weitere Beobachtungen zu den Himmelsbriefen
Wendungen enthielt, wie der erste der von A. D. mitgeteilten. Ich
nahm ihn nicht an, da ich den Aberglauben verachtete, und habe keine
genaueren Erinnerungen.
26 Es wurde aber allgemein gesagt, daß in den Brandenburgischen
Regimentern kein Soldat sich befände, der ohne durch einen Himmels-
brief geschützt zu sein in den Krieg zöge.
Zu Kiel hatte ich am Morgen, wo mein Regiment nordwärts weiter-
marschieren sollte, durch die Unzuverlässigkeit meines Wirtes das
Mißgeschick nicht rechtzeitig aufzuwachen, und mußte eilig aufbrechen,
um meinen Truppenteil einzuholen. An einem Punkt der Straße lieferten
mir viele Papierhülsen, die ich sah, den Beweis, daß der Befehl erteilt
worden war scharf zu laden; man konnte jeden Augenblick auf den
Feind stoßen. Bald nachher fand ich die ganze Straße mit zerrissenen
Spielkarten bedeckt. Es herrscht unter den Soldaten der Glaube, daß
man in der Schlacht keine Karten (Teufelswerk!) bei sich tragen dürfe:
sonst hat Tod und Teufel Macht über einen.**
Man wird auch für die am Ende beigefügte Angabe, die sich nicht
auf Himmelsbriefe bezieht, nicht undankbar sein. War uns ähnliches
nicht unbekannt, hier sehen wir es unmittelbar wirksam in dem Leben,
das unsere Väter umgab. So bald wird es auch im Leben der
kommenden Geschlechter nicht absterben.
III
Zum Schlüsse sei mir noch der Raum verstattet, eine Anfrage aus-
zusenden. Es gab im Mittelalter, schon im 12. Jahrhundert und weiter-
hin immer zahlreicher, Briefe des Teufels. Soviel aus den Bemerkungen
Wattenbachs und den von ihm vorgelegten Texten (Sitzungsberichten
der berl. Akademie, 1892, S. 95 ff.) hervorgeht \ ist alsbald eine
feste literarische Form aus dem „Teufelsbrief** geworden; irgendwelche
Menschen oder öfter ganze Stände werden dadurch gebrandmarkt, daß
man den Teufel an sie einen ihr Treiben belobenden Brief schreiben
läßt. Es liegt nahe zu vermuten, daß der literarischen Form ein volks-
tümlicher Aberglaube den ersten Anstoß gegeben habe. Ich werde in
solcher Annahme bestärkt durch eine Notiz in Tredes eben erschienenem
Buche (aus seinem Nachlasse) „Wunderglaube im Heidentum und in
der alten Kirche**, S. 257, daß in Girgenti sich ein Brief befinde, der
^ Einer Schrift, auf die mich W. Köhler aufmerksam machte, konnte ich
einstweilen nicht habhaft werden: Dissertatio historico-theologica qua de libris
et epistolis caelo et inferno delatis, sub praes. Jo. A. Schmidii, scripsit I. F.
Knorrnn, Helmstadii 1725.
Weitere Beobachtungen zu den Himmelsbriefen 251
fom Satan eigenhändig geschrieben sein solle. Weitere Angaben werden
licht gemacht und gelegentliche Erkundigungen, die ich versuchte,
laben zu keiner Auskunft geführt. Briefe an die Unterirdischen, an
iie Höllenherrscher gab es im Altertum; auf attischen Bleitafeln steht 27
:u lesen: „einen Brief sendend den Dämonen und der Persephone"
iTTicToXnv TrejLiTTUJv bai)aociv Kai Oepcecpüjvr] Nr. 102 bei R. Wünsch
*Defixionum tabellae Atticae) oder „An Hermes und Persephone sende
ch diesen Brief ab" C^piurj Kai Oepcecpövri irivbe eTTiCToXfiv dTTOTreiuTTUj
•^r. 103). Diese Briefe dienen dazu einen Menschen den Höllendämonen
ju denunzieren, zu überantworten. Gab es damals oder später auch
m Volksaberglauben Briefe jener Dämonen und ihrer Herrn an Menschen?
(ch bitte alle Leser dieser Zeilen um freundliche Mitteilung dessen
was ihnen bekannt ist. Dann würde es vielleicht möglich, die Geschichte
nicht bloß der Himmelsbriefe, sondern auch der Höllenbriefe weiter zu
untersuchen.
XVII
DIE RELIGION DES MITHRAS'
26 Unsere Evangelien erzählen in einer wohlbekannten Geschichte von
Magiern aus dem Morgenlande (judToi änö dvaioXüjv Matth. II, 1). Es ist
sehr bedeutsam, daß das Christentum in seinen heiligen Schriften diese
Erinnerung an eine Beziehung zu den Dienern der iranischen, der
persischen Religion hat aufbewahren wollen, und die alte christliche
Tradition ist nicht im Zweifel gewesen, daß im besonderen Diener des
Mithras gemeint seien, des persischen Gottes, der mit Christus über drei
Jahrhunderte um die Weltherrschaft über die Seelen gekämpft hat.
Man weiß von mancherlei Versuchen der Annäherung zwischen dem
persischen und dem christlichen Kult in jenen Zeiten und wir begreifen,
wie wertvoll dem letzteren bei Kampf und Bekehrung die Überlieferung
sein mußte, daß die Mithrasdiener einst aus dem Osten gekommen seien
und sich gebeugt hätten vor dem wahren Gotte. Wer die altchristlichen
Darstellungen dieser Anbetung sah, konnte nichts anderes als eben das
dargestellt erkennen: die 3 Anbetenden waren ausgestattet genau wie
Mithras auf seinen zahlreichen jedem bekannten Denkmälern. Seltsam
genug, daß wir gerade aus dem Jahre 66 n. Chr. ausführliche Berichte
und sehr lebhafte Erinnerungen bei römischen Schriftstellern kennen,
die einen Zug armenischer Magier unter Führung ihres Königs Tiridates
aus dem Osten bis gen Rom erzählen. Sie ziehen zu Lande wie in
einem Triumphzug, machen überall das größte Aufsehen: sie wollen
Nero als den neuen König begrüßen und Tiridates redet ihn in Rom
an: „Ich, mein Herr ... bin dein Knecht; ich bin zu dir gekommen,
meinem Gott, um dich anzubeten wie auch den Mithras" usw. Dio
Cassius (LXIII 1-7) braucht 7 Kapitel zur Schilderung dieser Dinge, die
sehr großen Eindruck hinterlassen haben müssen, Sueton (Nero c. 13
u. 30) versäumt sie nicht zu erwähnen und Plinius (H. N. XXX 16) ver-
zeichnet einiges Merkwürdige von diesen Magi. Wem fällt nicht die
Ähnlichkeit dieser Geschichte mit dem Hauptmotiv der Erzählung des
Matthäus auf? Sie war passiert in den 60 er Jahren, eben damals, als
» <Bonner Jahrbücher Heft 108/9, 1902 S. 26 ff.)
Die Religion des Mithras 253
die erste christlich -griechische Tradition und Literatur sich bildete ^27
Jedenfalls aber war es ein Ereignis, das den Kult des Mithras zum
erstenmal im Abendland weiten Kreisen eindrucksvoll bekannt machte
Denn es war nur eine flüchtige Bekanntschaft gewesen, die etliche
Römer mit der Mithrasreligion im Kriege mit den Seeräubern gemacht
hatten, unter denen sie, wie uns erzählt wird, verbreitet war.
Und nun etwa 150 Jahre nach jener Expedition der Magier nach
Rom! Der Mithraskult beherrscht die weitesten Gegenden des römischen
Reiches, er beherrscht namentlich seine nordischen Grenzen und die
Lager der Legionen; der Kaiser selber ist Mithrasdiener. Der persische
Kult ist Weltreligion geworden und seiner Gläubigen sind, soweit man
dergleichen nach Funden und Zeugnissen abschätzen kann, viel mehr
als der Gläubigen des Christentums. Vornehmlich in unsern deutschen
Landen waren in dieser Zeit zahlreich die Grotten des Mithras im Ge-
brauch des Kultus und man hat z. B. in ihnen lange schon den 25. De-
zember als den Geburtstag wie des „unbesiegten Sonnengottes" so
auch des Mithras festlich begangen, lange ehe die Christen daran
dachten, diesen Tag als den Geburtstag ihres Heilandes zu feiern. Die
bedeutsamsten jener Grotten mit ihren Denkmälern sind an den deutschen
Grenzen wieder ans Licht gekommen und den Rhein entlang von Äugst
bei Basel bis Xanten haben wir die reichsten Spuren des fremden
Götterdienstes. In Straßburg, Mainz und Remagen, in Bonn, Cöln und
Dormagen hatte er seine Stationen. Wer die Geschichte des Mithras-
kultes untersucht, erforscht damit eines der ersten und wichtigsten
Kapitel rheinischer Religionsgeschichte.
Darum muß jeder Altertumsfreund im Rheinlande dem Manne dank-
bar sein, der uns in diesen letzten Jahren die Urkunden und die Ge-
schichte der Religion des Mithras vorgelegt hat. Franz Cumont in
Gent hat in dem einen 1896 zuerst erschienenen zweiten Bande seines
großen Werkes die Texte der Schriftsteller und Inschriften und die Monu-
mente urkundlich vorgelegt, in dem andern (ersten) 1899 vollendeten
diese Quellen kritisch erörtert und eine zusammenfassende Darstellung der
Geschichte und der Einrichtungen des Kultes in 6 Kapiteln hinzugefügt.^
^ Über die Entstehung der Geschichte von den Weisen aus dem Morgenlande
handle ich ausführlicher in der Zeitschrift für die «eutestam Wissenschaü und
Kunde des Urchristentums III (1902) 1 ff. <s. unten XVIII S. 272ff.>. Das Oben-
stehende hatte ich lange vorher, vor nun fast % Jahren geschrieben
^ Textes et monuments figur6s relatifs aux myst^res ^e Mithra pubh6s avec
une introduction critique par Franz Cumont, professeur a ^ ""»^«I^^^^^^^^^^
Tome Premier: Introduction (contenant 14 figures et une carte). Jörne second
Textes et monuments (contenant 493 figures et neuf planches en höhotypie).
Bruxelles, H. Lamertin, 1896 u. 1899.
254 ^'® Religion des Mithras
Wer heute über Hauptdinge der Mithrasmysterien berichten will,
erstattet Bericht über Cumonts Arbeit und kann nur dringend wünschen,
dem ausgezeichneten Buche Leser und Benutzer zuzuführen. Und wenn
ich, obwohl ich nichts anderes zu erreichen wünsche, dies oder jenes
in diesem kurzen Überblicke anders zu beurteilen versuche, so möchte
ich nur die Anregung zu erneuter Forschung weitertragen, die er uns
allen gegeben hat.
28 Wir haben es nun bequem. Seit Lajards unlesbarem und un-
gelesenem Buche gab es keine Zusammenfassung unsers Wissens von
Mithras, nur zahllose Einzeluntersuchungen und -Publikationen. Lajard
konnte etwa 50 Statuen und Reliefs vorlegen, Cumont vereinigt un-
gefähr 400. Das zeigt am besten die Fülle der Entdeckungen der
letzten 50 Jahre. Und wenn wir auch nicht undankbar werden sollen
gegen die, die bisher weitergeführt hatten — nach meinem DafürhaUen
dürfen nach Zoegas Arbeiten die Verdienste Habeis und Georg Wolf fs
um Funde und Erklärungen am wenigsten vergessen werden — , so
haben wir nun für Mithras ein mustergültiges Urkundenbuch : ein Muster
zunächst für eine Reihe anderer Urkundenbücher der Kulte des späteren
Altertums, damit auf solchem Fundamente sich wirklich der Bau einer
Geschichte des Untergangs der antiken Religion erheben könne. Dann
werden wir erst recht wissen, daß sie niemals untergegangen ist bis
auf den heutigen Tag.
Mithra ist uralt. Inder und Iranier haben ihn beide schon in ihr
Sonderleben mitgebracht. In den Veden und im Avesta hat er seine
Stelle. Im Avesta ist er der Gott des himmlischen Lichtes und in sitt-
licher Auffassung der Gott der Wahrheit und Gerechtigkeit. Aber von
diesen Urkunden - von ihrer Entstehungszeit ganz abgesehen; die
Aufstellungen Darm es teters werden von den besten Kennern des
Avesta als völlig haltlos angesehen — ist die hohe Geltung des Mithras
in iranischer Religion nicht ausgegangen und der spätere Mithrasdienst
ist nicht ein Ableger des avestischen Zoroasterdienstes. Das betont
Cumont mit großem Recht. Wir erkennen aus den Inschriften der
Achämeniden, wie seit Artaxerxes Mnemon Mithras neben Anahita her-
vortritt. Die vielen von Mithras gebildeten theophoren Namen unter
dem höchsten Adel bestätigen, welche Rolle der Gott unter den Achä-
menidenherrschern gespielt hat: er war der Protektor der Dynastie und
vor allem auch der Gott der Krieger. Etliche Angaben über den
Gottesdienst der alten Perser, auch griechischer Schriftsteller (Herodot,
Strabo), daß sie Sonne, Mond, Erde, Feuer, Wasser und Winde an-
gebetet hätten, stimmen ja wohl mit dem, was von dem spätem Mithras-
Die Religrion des Mithras 255
dienst bekannt ist. Aber ob unsere Mittel dazu reichen, diesen letztern
im wesentlichen auf die iranische Religion zurückzuführen und ihn eine
Umbildung der alten iranischen Religion zu nennen, die eben dieser
näher stehe als die des Avesta? Ein Faktor der Umbildung ist sehr
deutlich erkennbar, der Sterndienst der Chaldäer und die astrologischen
Lehren, die außerordentlich stark modifizierend eingewirkt haben. Niemand
wird leugnen wollen, daß der Mithraskult, der in die griechisch-römische
Welt übertrat, eine ganze Reihe von Lehren und Bräuchen fest aus-
gebildet hatte. Aber welche und wie sie ausgebildet waren, welche
und wie sie in der andern Welt umgebildet wurden, werden wir nicht
angeben können. Ich möchte diese Umbildung für sehr bedeutend und
weitgreifend halten. Wir wissen ja freilich von seinen Schicksalen in
den Reichen des Pontos, Kommagene, Kappadokien, Armenien fast nichts
und ihre Herrscher knüpften wohl auch hier ausdrücklich an die Ach-
ämenidentraditionen an; die Inschriften und Denkmale, die Antiochos
auf dem Nemrud Dagh, die er dem Zeus, Mithras und Herakles setzt,
sehen nicht danach aus, als sei sein Mithrasglaube dem der späteren 29
Mysterien in mehr als den allerhauptsächlichsten Zügen ähnlich gewesen.
Und er wahrte, wie er sagt, den TiaXaioc vö)uoc. Nicht einmal den
Kult in der Höhle finden wir irgendwo vorgebildet: denn wenn die
alten Perser auf der Höhe und in freier Luft ihren Gottesdienst ver-
richteten, so kann man doch daraus nicht den Grottendienst ableiten
wollen. Durch Kleinasien soll hauptsächlich die Mithraslehre in die
westlichen Länder gedrungen sein? Aber gerade im ganzen vorderen
Kleinasien ist keine Spur des späteren Mithrasdienstes zu konstatieren.
Ich fürchte, daß mit ihm die inaToucaToi und )udToi, die dort zu finden
waren, keinen direkten Zusammenhang hatten. Und bedenklich will es
mir scheinen, die Angaben über solche ludToi oder gar die mathematici
und Chaldaei der späteren Zeit für Mithras zu verwenden: sie dienten
den verschiedensten Verbindungen des Glaubens und Aberglaubens
der Zeit, unter denen der astrologische Aberglaube das stärkste Band
war. Und ein inotToc wie der in Lukians Menippos tut nichts als was
die Zauberer und Wundermänner der verschiedensten Kulte taten,
auch wenn er MiOpoßapCdvric heißt.
Auch die gelehrte Durchmusterung syrischer und armenischer Texte
hat wenig geliefert, das etwa die Vorgeschichte des späteren Mithras-
kultes aufhellen könnte. Das bemerkenswerteste Stück ist ein Hymnus
von der Seele, der in den syrischen Thomasakten eingelegt ist (letzte
Ausgabe von Bevan, The hymn of the soul, Texts and studies V, Cam-
bridge 1897, s. Cumont I 15 f.) und in den griechischen fehlte. Eben
256 Die Religion des Mithras
hat M. Bonnet in den Analecta Bollandiana XX (1901) p. 159 ff. einen
griechischen Text nach einer Bearbeitung des Niketas von Thessalonich
herausgegeben. Es ist eine Allegorie: die Geschichte eines Prinzen,
der aus seinem Vaterland im Osten nach Ägypten geschickt ist, eine
kostbare Perle, die eine Schlange bewacht, zu holen. Wenn es ihm ge-
lingt, soll er des Vaters Reich erben. Ein Trank, den man ihm gibt,
läßt ihn Vaterland und Pflicht vergessen. Ein Brief seines Vaters gibt
ihm Erinnerung und Mut zurück, er erringt die Perle und kommt in
die Heimat, mit Freuden von seinem Vater begrüßt. Das soll den Weg
der Seele und ihre Himmelfahrt bedeuten. Obwohl man gnostischen
Ursprung des Gedichts nicht damit widerlegen kann, daß es nichts
Christliches und damit nichts Gnostisches enthalte - denn es gibt eine
vorchristliche und nichtchristliche Gnosis -, so glaube ich doch, daß
Cumont mit Recht hier ein Lied erkennt wie sie bei den Mithras-
mysterien liturgische Verwendung gefunden haben und im griechischen
Texte könnte dafür sprechen, wie bei der Heimholung = Himmelfahrt
des Ausdruck deiöc gebraucht wird, wenn es nämlich der Kultname
des höchsten Grades der Mithrasmysten ist, die in liturgischer Weihe
sich zum Gotte selbst erheben (s. u.). aiiir] r\ eTriCToXfi cpujc T^Tovev
€V €)Lioi Kai Tüöp Ktti To evöv juoi Z^ujTTUpov ujCTTEp dvdiijaca eic üipoc fjpev
Kai deroö biKriv dvrj^ev ujcirep uTTÖTriepov. Vielleicht fallen auch in
diesem kleinen Stück dem Leser die rhythmischen Klauseln auf, die
mir wenigstens ohrenfällig scheinen, die meist didaktylischen Klauseln,
die zuletzt bei Gelegenheit der Laudatio in miracula Sancti hieromar-
tyris Therapontis von L. Deubner, De incubatione 114 ff. besprochen
30 sind. Ich weiß nicht, ob wir berechtigt sein werden, daraufhin den
griechischen Hymnustext einer bestimmten Zeit zuzuschreiben und ich
kann überhaupt das Verhältnis der syrischen und griechischen Texte
des Liedes nicht aufklären. Nur das möchte ich noch anmerken, daß
ich die Nennung der Länder des Ostens und Ägyptens anders auffasse
als Cumont: jene stellen das Lichtreich dar nach altgewohnter Vor-
stellung, und wer diese Allegorie schrieb (oder wer Ägypten so darin
nannte), des irdische Heimat war Ägypten.^
Wir wissen von Bildung und Umbildung der Mithraslehren in vor-
hellenistischer und hellenistischer Zeit eigentlich nichts. Plötzlich stehen
die fertigen Denkmäler in überraschender Gleichartigkeit vor uns, kaum,
fast gar nicht erläutert durch literarische Texte und Inschriften. Wohl
erhält das Hauptkultbild, das uns allen wohlbekannte, der Gott den
^ Wären christliche Einflüsse denkbar, so müßten uns die Worte unmittelbar
einfallen „aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen" Matth. II 15 (Hosea XI 1).
1
Die Religion des Mithras 257
den Stier niederwerfend und mit dem Schwerte in die Schulter stoßend
der femdhche Skorpion, der hilfreiche Hund, erst Sinn und Erklärung
durch Heranziehung der persischen Lehren: der Archetypus all dieser
Bilder war, wie Cumont fein und durchaus überzeugend darlegt, das
Werk eines hellenischen Künstlers, der der Art und den Traditionen
pergamenischer Kunst nahe stand. Das künstlerische Vorbild war, wie
man längst annahm, die stieropfernde Nike.
Von einer Ausbreitung der Religion des Mithras in der griechisch-
römischen Welt kann vor dem Ende des 1. nachchristlichen Jahrhunderts
nicht die Rede sein. Aber nun geht es auch mit Macht vorwärts. Man
mag wohl dem Gedanken nachgehen, wie Mithras bald den Osten be-
herrscht haben würde, wenn Mithradates seine Pläne ausgeführt hätte,
man mag den Trümmern seiner Heere und Völker große Bedeutung in
der Verbreitung des Kultes zuweisen und man mag die Notiz von dem
Mithraskult der Seeräuber wohl beachten; jener Zug des Tiridates, den
ich anfangs erwähnte, nimmt sich doch wie ein erster Vorläufer des
Siegeszuges seines Gottes aus. Über Italien, Afrika, namentlich an
Rhone, Rhein und Donau hat sich der Kult reißend schnell verbreitet.
Cumont entwirft in seinen abschließenden Kapiteln meisterhafte Bilder
von dieser Verbreitung, vor allem auch von dem Verhältnis dieser Re-
ligion zur kaiserlichen Macht. Unter den Flaviern im Jahre 71 ist zu
Carnuntum (in der Nähe von Wien) ein bedeutendes Heiligtum gegründet
worden und dieses Carnuntum ist geradezu eine heilige Stadt des
Mithras gewesen für alle diese Gegenden und hat im Dienste des Mi-
thras den anderen Orten vorangeleuchtet. Die Soldaten waren die
Träger des Mithrasdienstes, die Soldaten nahmen den unbesiegten Kriegs-
gott von Osten auf und die Legionen trugen ihn über die Länder.
Auch die Veteranen behielten, wo sie sich nach ihrer Entlassung nieder-
ließen, diesen Kult bei. Und nicht am wenigsten haben ihn die kaiser-
lichen Beamten akzeptiert und weitergetragen. Die Postbeamten und
die Steuerbeamten, alle, die zu der Armee des kaiserlichen Verwaltungs-
wesens gehörten - in gewissem Sinne eine internationale Vereinigung, 31
nur durch den einen kaiserlichen Willen verbunden -, sie, die über
die ganze Welt bald dahin, bald dorthin geschleudert wurden, haben
den nun internationalen, den Weltkult des Mithras verbreiten helfen.
Bald setzt nach Ausweis der Inschriften ein kaiserlicher Kassenbeamter
im fernen Kappadokien ein Mithrasdenkmal, bald baut ein Rentmeister
eines Städtchens mitten im Apennin eine zerfallene Grotte wieder auf.
Diese Religion war im Anfang lange eine Religion der Niedrigen und
Geringen, der Sklaven und der Gefangenen. Erst allmählich ist Mithras
Albrecht Dieterich: Kleine Schritten. 17
258 ^*® Relig^ion des Mithras
sozial in die Höhe gekommen, wenn man so sagen darf. Dazu haben
die Kaiser das Wesentlichste beigetragen. Commodus ließ sich aufnehmen;
und ein so verächtlicher, wahnwitziger Kaiser er war, nun werden auch
die Hofräte Mithrasdiener, die Tribunen, Präfekten, Legaten. Septimius
Severus hat bereits sacerdotes domus Augustanae, Mithras -Hofprediger,
und zu seiner Zeit scheint in der Tat der Mithraskult der verbreitetste
aller ähnlichen Kulte gewesen zu sein. Diocletian, Valerius und Gallienus
haben ein Heiligtum des Mithras als des fautor imperii in dem er-
wähnten Carnuntum eingerichtet. „Aber der Bund von Thron und
Altar", so schließt Cumont das Kapitel tiber Mithras und die kaiser-
liche Gewalt, „welchen die Kaiser des 3. Jahrhunderts erstrebt hatten,
ward unter einer anderen Form verwirklicht, und durch eine seltsame
Wendung der Dinge ward die Kirche berufen, das Gebäude zu stützen,
dessen Fundamente sie erschüttert hatte. Das Werk, das die Priester
des Serapis, des Baal und des Mithras vorbereitet hatten, ward ohne
sie und gegen sie vollendet; aber nichtsdestoweniger waren sie die
ersten gewesen, die im Abendlande das Gottesgnadentum der Könige
gepredigt hatten, und sie hatten eine Bewegung eingeleitet, deren Rück-
schläge ins Unendliche sich ausdehnen sollten."
Die höchste Macht des Mithrasdienstes fällt ins dritte Jahrhundert.
Von den Ufern des Schwarzen Meeres bis nach Nordbritannien, vom
Hadrianswall bis an die Grenzen der Sahara, überall sind die Mithras-
heiligtümer angesiedelt. Und doch nicht überall. Vorderasien und
Griechenland, die Gegenden, wo das Christentum blühte und seine Macht
entfaltete, waren frei vom Mithraskult. Denn ein Rest, der im Piräus
gefunden wurde, der Hafenstadt, wo eben alles aus- und einging, kommt
nicht in Betracht. Weder in Korinth noch in Thessalonich, weder in
Philippi noch Ephesus, weder in Smyrna noch Sardes, weder in Perga-
mon noch Laodicea, weder in Galatien noch Bithynien hat sich eine
Spur mithräischen Dienstes gefunden. Ein Blick auf die Cumonts
erstem Bande beigegebene Karte zeigt diesen so überaus lehrreichen
Tatbestand. Die Mithrasreligion und das Christentum haben sich gerade-
zu die Welt geteilt, bis sie namentlich in Rom und in Afrika zum
Entscheidungskampf zusammenstießen. Die eine Tatsache, daß das
Christentum die eigentlich griechischen Gegenden, die Lande griechischer
Kultur erobert hatte, könnte seinen endlichen Sieg erklären.
Die Lehren und Offenbarungen der Mithrasmysterien aus den Relief-
darstellungen wieder zu erschließen, ist eine außerordentlich schwierige
Aufgabe. Denn diese Darstellungen sind für vieles die einzige Quelle,
32 da wir ja sonst fast nur durch die Vermittelung vom Mithras abgefallener
Die Religion des Mithras 259
Christen einige Notizen erhalten: und diese Abtrünnigen werden selten
die höchsten Weihen erlangt und die letzten Geheimnisse der Mithras-
lehren gekannt haben. In fast jeder Religion, in der bildliche Dar-
stellung eine kultische Rolle spielt, heben sich immer wiederkehrende
feste Szenen heraus, wie, wenn ich Christliches vergleichen darf, Maria
mit dem Kinde, der Gekreuzigte, die sog. Pietägruppe. Die Hauptszene
des Mithrasdienstes ist die Tötung des Stieres. Wohl sind mannigfache
Deutungen, namentlich auch astrologische, in den verschiedenen Stufen
der Mysterien gegeben worden: das Wesentliche ist die kosmogonische
Bedeutung. Aus diesem Stiere entsteht alles, Tiere und Pflanzen.
Kaum minder wichtig wird den Mysten die eschatologische Bedeutung
der Stiertötung gewesen sein. Nach persischen Überlieferungen mußte
am Ende der Zeiten wiederum ein Stier geopfert werden, damit die
Menschen erlöst würden. Ein Trank der Unsterblichkeit, der aus dem
Fette des Stieres und der Weintraube gewonnen wird (auf der Rück-
seite des großen Heddernheimer Reliefs reicht nach der Stiertötung Helios
dem Mithras eine große Weintraube), spielt im Kulte eine RoHe. Der
stiertötende Mithras ist Schöpfer und Erlöser. Ich gehe auf die einzelnen
Fragen nicht ein, die Cumont mit größter Umsicht erörtert hat; aber
ein paar rätselhafte Sätze eines Zauberpapyrus (des großen in Paris bei
Wessely Denkschriften der k. k. Akad. d. W. in Wien, 1888, v. 825-828)
kann vielleicht einer meiner Leser deuten. Sie stehen am Schlüsse
mithräischer Texte und haben nicht undeutlichen Zusammenhang mit den
uns bekannten Vorstellungen, dveßn Zeuc eic öpoc (epoc Papyrus) xP^coOv
luöcxov Ix^JV Ktti iLidxaipav dpTupeav. irdciv inepoc eTrebujKev, ajuapa
jaövov ouK ^bu)K€V. €i7T€v H' eHdcpcc o e'xeic Kai t6t€ Xrjvi/ei.^ Es ist
der unverständliche Rest einer epischen Einleitung, wie wir das bei den
Zaubersprüchen alter und neuer Zeit gewohnt sind. Ist Zeus hier =
Ahura-mazda oder = Mithras? Ist der Spruch „gib hin was du hast,
dann wirst du empfangen" ein Kernspruch der Mithrasmysten gewesen?
Die Deutung, daß die Figuren des Löwen, des Kraters und der
Schlange, die sich häufiger unter der Stiertötung finden, die Elemente des
Feuers, des Wassers und der Erde darstellten, mag etwas Einleuchtendes
haben, auch wenn die Zumutung, in den an ganz anderer Stelle, an
den Ecken des Reliefs, angebrachten Köpfen der Windgottheiten die
zugehörige Vertretung des Luftelements zu finden, die Überzeugungskraft
der Dariegung etwas abschwächt. Ich möchte zur Erklärung einen
ägyptischen Hymnus (Abraxas S. 51 u. 97) heranziehen, der beginnt:
<S. Mithrasliturgie « S. 220 f.>
17'
260 ^^® Religion des Mithras
Xctipe bpciKiuv, dKjuaie Xeiuv, (puciKai irupoc dpxai,
Xciip€ ^^ XeuKÖv ubujp Ktti bevbpeov uii^meTTiXov,
dann folgen ägyptische Dinge, auch der Sonnen-Kdv9apoc, zum Schlüsse
heißt es:
veOcov i}ioi, XiTOjuai, öti cujußoXa laucxiKd cppd^u;,
iXaGi |Lioi, TTpoirdiiup, Kai jlioi cGevoc aiiiöc oirdZloic.
Wir wissen, welche Rolle auch der Baum in den Darstellungen der
33 Reliefs spielt, und so nennen die ersten Zeilen in der Tat cij)LißoXa
juucTiKd des Mithrasdienstes. Ich stehe nicht an, das Lied für eine,
ägyptische (gnostische?) Umgestaltung eines Mithrashymnus zu er-
klären.
Wenn Cumont sogar die gelegentlich zusammen auftretenden Dar-
stellungen eines Schwertes, eines flammenden Altars, eines Pilleus und
eines Baumes als Zeichen der Elemente erklären will, so ist hier ein
entschiedener Protest am Platze. Daß das Schwert das Wasser, der
Hut die Luft bedeuten soll, bedarf doch ein wenig seltsamer Umwege.
Wir sehen ja aber alle diese vier Dinge in sehr signifikanten Kultszenen
eine bedeutende Rolle spielen: ein Messer der gleichen Art hält Mithras
der Felsgeborne, auf dem Kopfe trägt er den pilleus, in der anderen
Hand hält er eine Fackel. Mit dem Messer werden die Zweige des
Baumes, des Lichtbaumes, wie ich meine (Abraxas 96 ff. 98,2), in und
aus dem ja auch Mithras gelegentlich erscheint \ abgeschnitten. Die
Zweige spielen eine bedeutsame Rolle in diesem Kult. Der Pilleus ist hinter
dem Stier auf einem Schwerte^ aufgehängt auf der erwähnten Rückseite
des Heddernheimer Reliefs, an einem Baume ist er aufgehängt Fig. 78.
Der Altar ist oft, offenbar mit voller Absicht, der Szene beigegeben,
da Helios und Mithras (bezw. Mithras und ein Myste) sich zum
Bunde die Hand reichen: über dem Altar. Einmal wird gerade
dabei auch das Messer zu heiliger Handlung gebraucht (I 322)» Wir
können also mancherlei vermuten: jedenfalls haben wir die „Symbole"
wichtiger Kulthandlungen vor uns. Ich will eine Vermutung nicht ver-
schweigen: das Schwert könnte die Einweihung des miles unter den
mithräischen Graden bezeichnen und bei dieser Einweihung wurde nach-
weislich ein Schwert gebraucht (I 319), zudem ist es ja das natürliche
Abzeichen der Soldaten; der pilleus würde den Perser bezeichnen, der
* Auf den '€p|Lific Kuqpapicaqpöc und Hillers Erläuterung Hermes XXXVl (1901)
S. 452 ff. möchte ich hier wenigstens hinweisen.
* Daß der Gegenstand, auf dem der Pilleus hängt, sicher ein Schwert sei
(nicht „une perche" nach Cumont) bemerkt mir nach eigner Untersuchung des
Denkmals Herr Dir. Dr. Lehner.
Die Religion des Mithras 261
ihn auch auf der neuen Darstellung des heiligen Mahles aus Bosnien
trägt (I 175, vgl. 317), der Altar einen Kultakt, dessen Vorbilder ich
vorhin erwähnte, und der Baum etwa eine Rückkehr zum Lichtreich,
einen Kultakt, in dem das öe'vbpeov uvpiTieTTiXov eine Rolle spielte!
Vielleicht würden mir weiter unten zu machende Andeutungen das
Recht geben, auch hier von der symbolischen Bezeichnung der Grade
der XeovTcc und der n^iobpö^oi zu reden. So würde dann z. B. mon.
193 Fig. 169 die siebenmal wiederholte Darstellung des Schwertes,
Altars, Pilleus, Baumes die Weihe des Soldaten, Löwen (Feuer, s. bes!
S. 11), Persers, 'HXiobpö)uoc zu bedeuten haben (über die fehlende Dar-
stellung des höchsten Grades s. unten S. 36 <264».
Ich verliere mich in Einzelheiten und ich will denn auch von den
Nebenszenen, die das Hauptrelief so zahlreich und so rätselvoll um-
geben, nicht weiterhin berichten. Die Dadophoren, Cautes und Cauto-
pates (die Namen bleiben dunkel), werden* schlagend erklärt als die
Wiederholung des Mithras selbst. Es ist der dreieinige Mithras, MiGpac
TpmXdcioc, wie es einmal heißt, die aufgehende, leuchtende und nieder- 34
gehende Sonne. Mit feiner Divination wird den Darstellungen des
felsenschießenden Mithras oder der Stierbarke auf der Flut ansprechende
Bedeutung und weitreichende Beziehung abgewonnen.
Drei Szenen und Szenengruppen treten wohl am stärksten unter
den Nebenbildern hervor: die Felsgeburt, die Szenen der Stierjagd und
des Stierfanges, die des Helios und Mithras. Die Gruppe der Geburts-
szene ist künstlerisch so niedrig einzuschätzen, so plump komponiert,
daß sie ebensogut von einem beliebigen Maurermeister erst späterer
Zeit herausgehauen sein kann, als sie etwa schon ein rohes Bildwerk
orientalischer Heimat zum Vorbild haben könnte. Die Herkunft einer
Begleitszene und ihrer Darstellung wäre uns viel wichtiger: denn deut-
lich sind mehrfach Hirten dargestellt, die den neugeborenen Gott an-
beten. Eine an sich in ihrem Zusammenhang sehr wohl verständliche
Legende: im Gebirg wird am Morgen der Gott des Lichts aus dem
Felsen geboren, die Hirten in den Bergen sind die ersten, die vor ihm
niederfallen.
Aus den Darstellungen des stierjagenden, stierfangenden, stiertragenden
Gottes erkennen wir mancherlei Einwirkung griechisch-römischer Le-
genden. Nicht bloß äußerliche Ähnlichkeiten haben die Übernahme von
Motiven der Herakles- und Cacussage, die wir zu konstatieren glauben,
veranlaßt: das mythische Grundmotiv ist das gleiche gewesen. Es ist
der Raub des himmlischen Schatzes, ein Motiv, das in so vielen wech-
selnden Vorstellungen und Bildern der indogermanischen Völker aus-
262 ^*® Religion des Mithras
geprägt ist (vgl. Usener, Sintflutsagen 182ff., 192 f.). Oft ist wie in
jenen griechisch-römischen Legenden der Schatz die Rinderherde, die
geraubt, zur Höhle geführt wird usw.; hier ist es der Himmelsstier, der
Bringer aller Fruchtbarkeit und alles Segens der Erde. Ich wundere
mich, daß Cumont überhaupt gar nicht auf die tiefere mythische Be-
deutung des Stieres eingegangen ist. Man mag es ja bedenklich finden,
durch die Vorstellungen anderer Völker Deutung suchen zu wollen: aber
die Analogien der mythischen Formen, zumal fast aller anderen indo-
germanischen Völker anzuführen, eben nur als Analogien, kann, wie
schon in so vielen Fällen, auch hier nur förderlich sein. Nur darauf
möchte ich mit einem Worte hinweisen, daß der Stier, dessen Schwanz
in eine oder auch mehrere Kornähren ausläuft, doch jeden erinnern
muß an den „Kornstier", den „Vegetationsstier" unseres Volksglaubens
und die parallelen Schöpfungen antiker Völker. Auch er wird gejagt,
getragen, getötet und durch ihn die Flur gesegnet. Mannhardt (Wald-
und Feldkulte II 326 ff.. Mythologische Forschungen 62 ff., 92 ff.) und
neuerdings z.B. Frazer (The golden bough, 2. ed., II 277 ff.) haben
uns diese Gestaltungen erläutert. Ob wir nicht auch bei Mithras in
ähnlichem Glauben den sozusagen volkstümlich -mythischen Grund finden
dürften, auf dem dann in verschiedenen Schichten immer reflektiertere,
immer künstlichere Doktrinen aufgebaut wurden?
Unter den Mithras -Heliosszenen unterscheiden wir als typisch wieder-
kehrende: Helios niedersinkend vor Mithras, von diesem zu ihm empor-
gezogen, auch wohl mit der Strahlenkrone von ihm gekrönt; Mithras
und Helios (oft über einem Altar) sich die Hand reichend; beide zu-
35 sammen gen Himmel fahrend auf dem Wagen des Helios; beide zu-
sammen zum Mahle liegend. Daß die Szenen eines Mythus vorliegen,
in dem Mithras im Bunde mit Helios gedacht ist, liegt am Tage. Es
ist schwer, das Verhältnis der beiden klar zu erkennen: scheint es doch
nach der Hauptkultgruppe, in der ein Rabe dem Mithras Botschaft von
Helios bringt, als stehe der Stiertöter im Dienste des Sonnengottes.
Und hier fällt Helios vor Mithras nieder: bekennt er seinem Abgesandten,
als dieser seine Großtaten getan: du bist größer denn ich? Wie dem
sei, jedenfalls sind diese Szenen zwischen Mithras und Helios die my-
thischen Vorbilder kultischer Begehungen im mithräischen Ritus. Auf
dem Relief aus Bosnien sind es deutlich 2 Mysten, die zu Tische liegen
und von den übrigen niedern Grades, die z. T. ihre Tiermasken aufhaben,
bedient werden (I 176); auch die Szene, da Helios vor Mithras niederfällt,
hat ihre Analogie in Darstellungen, da ein anderer, jedenfalls nicht Helios,
sondern ein Myste, anbetend kniet (einmal ist er nackt, II Fig. 262,
Die Religion des Mithras 263
Fig. 152?, im Ritus von besonderer Bedeutung). Nicht bloß die Szene
des Mahls, das ja, wie wir wissen, eine bedeutsame sakramentale Be-
deutung hatte, alle diese Szenen sind das Prototyp sakramentaler Akte:
Helios ist der Erstling der Eingeweihten, der TTpcuiojaucTTic. Darum
nennt ihn auch in einem mithräischen Papyrustexte, von dem ich gleich
sprechen werde, der Myste seinen Vater: er ist der Traxrip, trägt die
Bezeichnung des ersten Grades der Eingeweihten. Und in eben diesem
Texte muß Helios den zu Mithras aufsteigenden Mysten dem Gotte zu-
erst melden: er ist hier, wie Mithras zwischen dem Menschen und dem
höchsten Lichtgott und dem Ahura-mazda nach älterer Lehre, der Mittler,
der lueciTTic, zwischen dem Menschen und Mithras. Ich möchte nicht so
weit gehen, die einzelnen Ritualszenen als Einweiheszenen in die ein-
zelnen Grade der Mysterien zu deuten: daß die „Löwen" zuerst an
dem heiligen Mahle teilnehmen durften, ist auch sonst wahrscheinlich
(Cumont I 317, 321) und den auf dem Sonnenwagen fahrenden als
fi\iobpö|Lioc Sonnenfahrer (wie mTrobpöjuoc = der Pferderenner), den
zweithöchsten Gradnamen, zu bezeichnen läge nahe. Auf den Dar-
stellungen der oben erwähnten Szene, da Helios oder der Myste vor
dem Gotte niederfällt, hält Mithras gelegentlich einen Pilleus über den
Knienden, mehrfach aber einen Gegenstand, den Cumont als Rhyton
erklärt (I 172)\ Der Pilleus war das Abzeichen des „Persers" (1317),
und wenn wir bei Porphyrios sahen, daß die Perser mit Honig gesalbt
seien (örav bk. tüj TTepcr] TrpocdTiuci \xi\i KTX.)^ so stimmt auch das
dazu, daß wir das Vorbild der Weihe der „Perser" dargestellt erkennen
dürften. Der Bund über dem Altar möchte die Aufnahme unter die 36
Xeovxec darstellen können, die von nun an lueTexoviec waren (1317):
das Feuer (der Löwe ist Sinnbild des Feuers) spielte dabei eine Rolle
und Wasser durfte deshalb bei der Weihe nicht angewendet werden.^
> Der Gegenstand, den Mithras in der Darstellung des Reliefs mon. 235,
c 5<* in der Hand hält (nach Cumont une outre d6gonfl6e), ist ein i&moc
aöcYou nach dem Pariser Papyrus v. 699 f. Wessely. Darüber werde ich m
meiner demnächst erscheinenden Ausgabe des Papyrustextes ausführlicher
handeln <Mithrasliturgie S. 77>.
« Soviel ich sehe, erwähnt Cumont gar nicht, was nach dem Bericht des
Porphyrios de antro nymph. 15 dem Gebrauch des Honigs zugrunde hegt: die
Bienen sind den Alten (auch den Ägyptern) nach bekannter Legende ßourevek:
von besonderer Bedeutung für die Mysten des Mithras.
» Einmal (mon. 16a) hantiert Mithras mit dem Schwert an der Hand des
Gegenüberstehenden: ich möchte nicht vom Blutbund mit e^"«"^,^"^;^«" ^°"^
reden (I 173), sondern vermuten, daß irgendein Mal, eine ccpparic dem Mysten
beigebracht wird.
264 Die Religion des Mithras
Es würden sich nun alle Schwierigkeiten des Wechsels der vorkommenden
Darstellungen überraschend gut erklären lassen; oft finden sich nur
„Anbetung", Mahl, Himmelfahrt: die drei hauptsächlichsten Kultweihen
der Perser, Löwen, 'H\iobpö)noi. Der letzte Grad hat dann begreif-
licherweise keinen bildlichen Ausdruck gefunden, bildeten ihn doch oft
wohl eben nur die „Direktoren" des Kults. Oder aber (da ja nach
gewöhnlicher Reihenfolge die Löwen vor den Persern stehen) man hat
das Mahl, zu dem allerdings zuerst die Löwen zugelassen wurden, als
das höchste Sakrament aufzufassen, das umgeben wird von den Dar-
stellungen der beiden nächsthöhern Weihen. Dazu stimmt vortrefflich,
daß die Darstellung des Mahles mehrfach am Ende der Reihe steht:
es ist dann in jedem Falle das Seligenmahl des zu Mithras eingegangenen
Mysten.
Ich bin damit schon auf die Organisation des Rituals, des Klerus
und der Gläubigen zu sprechen gekommen. Von dem sakramentalen
Mahl ist die Rede gewesen: lustin und Tertullian erwähnen es schon.
Es gab auch eine sakramentale Taufe als Aufnahmeritus. Ein besonderes
Interesse hat die Beobachtung Cumonts (1318 Anm. 11), daß das
Wort sacramentum gerade von Tertullian angewendet wird, wo von
der Einweihung der milites die Rede ist: es bedeutete ja längst den
„Eid" der Soldaten. Von Tertullian an hat die lateinische christliche
Terminologie nucxripiov durch sacramentum wiedergegeben. Das Wort
Sakrament, wie wir es heute brauchen, werden wir in der Tat der
Soldatenreligion des Mithras verdanken. Eine andere Beobachtung,
die Cumont gemacht hat, hätte er noch unbedenklicher weiterführen
können: der erste Tag der 7tägigen Woche war für die Mithrasdiener
der Tag der Sonne; schon eine Stelle des Celsus beweist das
(Cumont I 118 f.). Wann und wodurch ist im römischen Reiche der
Sonntag der Anfang der siebentägigen Woche geworden? Das Christen-
tum durch Konstantin, wie man annimmt, kann es schon deshalb nicht
gewesen sein, weil zwei mit Sol beginnende Wochengöttersteine von
durchaus heidnischem Gepräge aus vorkonstantinischer Zeit vorhanden
sind (s. Gundermann in Kluges Zeitschrift für deutsche Wort-
forschung I, 1900, S. 180f.). Wie hätte vorher das Christentum
Macht und Möglichkeit so weitgreifender allgemeiner Änderung haben
sollen? Ist es nur der theoretische Einfluß der Verehrung des Sol
Invictus als des Reichsgottes gewesen (so Gundermann), oder viel-
mehr die außerordentlich wirksame praktische Einwirkung der zahl-
losen Mithrasgemeinden, die ja unter den Severen und namentlich
wieder unter Diokletian zugleich die höfische, die Reichsreligion ver-
Die Religion des Mithras 265
traten und mindestens seit der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts (wahr- 37
scheinlich schon viel früher) den Sonntag als den Anfang der Woche
und den Tag ihres Herrn feierten?^
Wohl das Wichtigste, was wir von der Organisation des Kultes
wissen, sind die sieben Grade der Eingeweihten und ihre Namen von
den „Raben" und „Verhüllten", die zuerst dem Gotte „dargestellt"
werden (ostendere ist der rituelle Ausdruck), bis zu den „Vätern".
Eines ist mir hier in Cumonts Darlegungen nicht verständlich: die
Porphyriosstelle, de abst. IV 16: ujc touc juev lueiexovxac tujv auiiuv
öpTiojv inOcTac Xeovxac KaXeTv, idc be T^vaiKac uaivac, touc hk iittti-
peioOvTac KÖpaKac. im be täv TraTe'puuv . . . dexoi y^P Kai lepaKec oüiioi
TTpocaTopeuovTai ist gewiß verderbt. Aber darum, weil uns i»aivac
verdächtig scheint (Xeaivac hat man längst vermutet)^ und weil weiter-
hin sicher das festzustellen ist, daß vor deioi einige Worte fehlen ^
die aber den mit deroi Tdp beginnenden Satz ja nicht in dem Sinne
affizieren könnten, den wir erkennen, darum darf man doch nicht auf
die wertvolle Angabe verzichten, die der, wie Cumont mehrfach be-
tont, vorzüglich unterrichtete Porphyrios uns gibt. Und wenn eine
Inschrift aus Lykaonien (Bull. C. Hell. 1886 p. 310, Amer. Papers III
No. 26, Cumont II nr. 549)
AJouKioc dvecTTice TrjXecpov Kai MdpKov Kai CeHTo[v
Ktti] dauTÖv dexöv Kai "A|U|lioukiv Baßöou töv 7r[a -
T€pa] deiöv Tei|Lific x&qiv
die Bezeichnung des deiöc in einer Weise gibt, daß an ihrer rituellen,
der Porphyriosstelle entsprechenden Bedeutung kein Zweifel sein kann
(andere Inschriften eben daher enthalten die Bezeichnung des Xeujv),
so ist doch Erwin Rohdes „explication", der das zuerst konstatiert
hat (Psyche* 679, Anm. 1), nicht bloß „ing6nieuse", sondern in der
Tat „certaine", was Cumont nicht gelten lassen will (II zu Inscr.
nr. 550). In Lykaonien und Isaurien sei bisher keine Weihung an
Mithras gefunden - können denn die Inschriften unecht sein? Ich
* Daß es das Christentum etwa noch früher tat (Cumont I 339, Anm. 5),
ändert an den gegebenen Ausführungen nichts; das blieb fürs allgememe
wirkungslos ^^ haben wir gewiß kein Recht, die Möglichkeit in Abrede zu
stellen, daß in gewissen Kulten bestimmter Gegenden Frauen zugelassen sem
^^""^^Cumont vermutet lul U tOüv uaT^pojv Kai xomÖTa rieevrai övö^aTa. Ich
Würde etrlehn^en ^.l b^ tu,v .«t^p^v övÖMaxa TOcvxai äXXu^v rd.u,v (oder
övönaci xP^vxai äXXwv Zibwv).
266 ^^® Religion des Mithras
denke, wir haben festzustellen, daß die Traiepec, vielleicht in gewissen
Kulten und gewissen Gegenden, auch dexoi oder lepaKec hießen, und
wenn gerade Porphyrios und die asiatischen Inschriften uns diese Be-
zeichnungen überliefern, so werden wir wahrscheinlich die Termini in
Mithraskulten des griechischen Ostens vor uns haben.
Und hier möchte ich sogleich den Anfang eines Stückes des Pariser
Zauberpapyrus zufügen, den Wessely in den Wiener Denkschriften
1888 veröffentlicht hat (s. o. <259», den Cumont kennt und prüft, aber
leider sehr mit Unrecht als ziemlich wertlos für die Kenntnis der
Mithrasmysterien verwirft. Er gibt nur den Anfang und ein paar Reihen
38 wörtlich (II p. 55 f.) und referiert kurz über das übrige. Der auch bei
Cumont in arger Korruption und Sinnlosigkeit gegebene Anfang muß
so heißen: "IXaGi juoi, TTpövoia Kai TOxri» Totbe Tpacpovxi id TrpujTa
TrapdboTtt juucTripia. jhövuj be TeKVUj dGavaciav dHiuj, u) luiJCTai xfic
fiiueTepac buvdjueiuc xauTTic^, t^v 6 )xifac Geöc "HXioc MiOpac eKeXeucev
)uoi juexaboGfivai utto toö dpxaTT^Xou auroö, öttujc I'jOj juövoc airjToc
oupavöv ßaivuu Kai KaTOTrreiJUj irdvia. — air|TÖc setze ich mit voller
Zuversicht für das überlieferte airiTTic (wofür Wessely bi auific,
Cumont bi' auific eic oupavov) und bin der Überzeugung, daß wir hier
die Liturgie der „Adler", d. h. des höchsten Grades der Mithrasmysten
besitzen. Das muß ich nun freilich an anderem Orte näher begründen
und vor allen Dingen den sehr schweren Text hergestellt vorlegen.*
Ohne das ist jede Diskussion nutzlos. Cumont hat sich offenbar
wesenthch gestoßen an den zahlreichen sinnlosen, oft hebräisch
klingenden Zauberworten, die in den Text eingeklemmt sind. Aber
das ist nur die schwarze Brühe, die der Zaubermeister über den ge-
stohlenen Braten ausgegossen hat, um ihn seinem Gesindel schmack-
haft zu machen. Genau so haben sie die liturgischen Hymnen, die
sie zu Zaubergebeten benutzten, mit dem immer gleichen Apparat aus
des Metrums und des Satzes Fugen gesprengt: man hebt sie heraus
und hat die alten fließenden Verse. Wie heute aus Bibel und Gesang-
buch die Zauberer ihre Sprüche machen, so haben jene Magier aus
den liturgischen Texten der ihnen zugänglichen Kulte den geistigen,
den rehgiösen Inhalt ihrer Zauberaktionen gedeckt. Und die gewaltige
kunstreiche Sprache jener Liturgie, wenn das Fremde fortgeschnitten
* Der Zwischensatz nach xaiJTric xp-^ oöv ce, (b GOyoiTep, Xa|ußdveiv x^XoOc
ßoTavuJv Kai elbOüv tCuv ineXövTiuv coi ^v tu) r^Xei toO iepoö luou cuvTCXYiuaroc ist
ein am Rande beigeschriebenes Zauberrezept, das falsch in den Text geraten ist.
2 <S. Eine Mithrasliturgie, erläutert von A. D., Leipzig 1903, zweite Auf-
lage 1910.>
Die Religion des Mithras 267
ist, trägt, hoffe ich, den Beweis in sich, daß diese buntprächtige Perle
religiöser Dichtung die Mißachtung nicht verdient, die ihr Cumont,
der sie ja freilich im Kote versunken sah, zuteil werden läßt. Die
Seele steigt dieser Liturgie gemäß auf durch die Planetensphäre und
durch die Fixsternsphäre zu Helios und dann zu Mithras. Hier mögen
nur 3 Gebete als Probe übersetzt stehen. Der vollständige Text
selber wird erst die Überzeugung begründen können, daß wir hier
eine, die einzige (im wesentlichen) vollständige Liturgie eines antiken
Kuhes haben.
Die erste Anrufung lautet:
„Erster Ursprung meines Ursprungs, Urgrund meines Urgrunds
„erster, Geist meines Geistes Erstling, Feuer, das zu meiner Mischung
„von den Mischungen in mir von Gott gegeben ist, des Feuers in
„mir Erstling, Wasser des Wassers in mir Erstling, Erdstoff des
„Erdstoffes in mir Erstling, mein vollendeter Leib des N. N., Sohnes
„der N. N., fertig gebildet von einem Arme, der an Ehren reich,
„und einer Rechten, die unvergänglich ist, in lichtloser und durch-
„leuchteter Welt, in unbeseelter und beseelter. Wenn es euch denn
„gefallen hat, mich wiederzugeben der Geburt der Unsterblichkeit,
„mich, der ich gehalten werde durch die mir gegebene Natur, damit
„ich nach der gegenwärtigen und mich arg bedrängenden Not 39
„schauen möge den unsterblichen Urgrund mit dem unsterblichen
„Geiste, mit dem unsterblichen Wasser, mit dem Festen und der
„Luft, auf daß ich durch Geist wiedergeboren werde, daß ich ge-
„weiht werde und in mir wehe der heilige Geist, auf daß ich be-
„wundere das heilige Feuer, auf daß ich schaue die Tiefe, des
„Aufgangs schauervolle Flut, und auf mich hört der lebenzeugende
„und ringsumwallende Äther; denn ich soll schauen mit meinen un-
. „sterblichen Augen, sterblich gezeugt aus sterblichem Mutterleibe,
„erhöht von allmächtiger Kraft und unvergänglicher Hand, mit un-
„sterblichem Geiste den unsterblichen Aion und Herrn der Feuer-
„kronen, durch heilige Weihen gereinigt, da unter mir steht auf
„ein kleines die menschliche Seelenkraft, die ich wiedererlangen
„werde nach der gegenwärtigen und mich bedrängenden bitteren
^Notwendigkeit schuldentrückt, ich der N. N., Sohn der N. N., nach
„Gottes unabänderlichem Ratschluß, denn es ist mir nicht erreichbar
„als dem sterblich geborenen mit dem goldnen Flammenglanz der
[^unsterblichen Leuchte in die Höhe zu steigen. Stehe still, ver-
„gängliche Menschennatur, und sogleich laß mich los nach der un-
.erbittlichen und niederdrückenden Not. Denn ich bin der Sohn.
268 D^® Religion des Mithras
Helios wird folgendermaßen angerufen:
„Herr, sei gegrüßt, großmächtiger, hochgewaltiger König, größter
„der Götter, Helios, Herr des Himmels und der Erde, Gott der
„Götter, mächtig ist dein Hauch, mächtig ist deine Kraft, Herr,
„wenn es dir gefällt, melde mich dem höchsten Gotte, der dich er-
„zeugt hat und gemacht; ein Mensch, ich der N. N., Sohn der
„N. N., geworden aus sterblichem Mutterleibe der N. N. und dem
„Lebenssafte des Samens, der heute von dir neugezeugt aus so
„vielen Tausenden zur Unsterblichkeit berufen ist in dieser
„Stunde nach dem Ratschluß des überschwänglich guten Gottes,
„strebt und verlangt dich anzubeten nach all seiner menschlichen
„Kraft."
Das letzte Gebet an Mithras lautet so:
„Herr sei gegrüßt, Herrscher des Wassers; sei gegrüßt, Be-
„gründer der Erde; sei gegrüßt, Gewalthaber des Geistes. Herr,
„wieder geboren verscheide ich, indem ich erhöhet werde, und da
„ich erhöhet bin, sterbe ich; durch die Geburt, die das Leben zeugt,
„geboren, werde ich in den Tod erlöst und gehe den Weg, wie du
„gestiftet hast, wie du zum Gesetze gemacht und geschaffen hast
„das Sakrament."
Die Analogien mit der altchristlichen Taufliturgie und überhaupt
der liturgischen Bildersprache des alten Christentums sind frappant.
Die Erleuchtung, die Wiedergeburt und die Gotteskindschaft sind
auch hier die sakramentalen Bilder, die überall wiederkehren. Hier
wird sich auch der Zusammenhang der späteren Mithraslehren mit
platonischen, besonders auch stoischen Gedanken deutlich erkennen
lassen, den Cumont mit Recht mehrfach betont hat. Doch genug
hiervon.
Es wäre noch so vieles zu berichten, was wir nun durch Cumoat
klar zu übersehen imstande sind, und ich habe von der Einrichtung
40 der Grotten, von den jetzt erst recht verständlichen Bildern des großen
Aion oder Kronos, des Zeitengottes, von den Zodiakal- und Planeten-
bildern, ihrem Dienste und ihrer Deutung, von Helios, Selene, den
Winden und ihrer besonderen Rolle und von vielem anderen gar nicht
gesprochen. Es ist nicht möglich, den Reichtum dieser Dinge auf
wenigen Blättern zu verzeichnen. So mögen denn nur noch einige
Worte dem Kampfe und dem Untergang der Mithrasreligion ge-
widmet sein.
In Rom stieß Mithras zuerst ernstlich mit anderen Göttern zusammen.
Dort war die große Garnison, die Mengen der Veteranen, die un-
Die Religion des Mithras 269
geheuren Massen der orientalischen Sklaven in den Palästen der
Reichen und Vornehmen. In dieser großen Weltherberge kam alles
zusammen; mancher Sklave mag anfangs seinen Herrn zum Mithras-
diener gemacht haben: schließlich waren die Herren, die Aristokraten,
diejenigen, die am zähesten am Mithrasdienst festhielten. Dreißig
Mithräen lassen sich in der Umgegend Roms nachweisen: unter dem
Kapitol und da, wo heute der Vatikan steht, waren Mithrasheiligtümer.
Dort vor allem haben Christus und Mithras um die Weltherrschaft ge-
kämpft. Beide Kulte beginnen weiter über die Länder zu greifen im
1. Jahrhundert, in der Zeit der Flavier, beide dringen zu den Hoch-
stehenden und Gebildeten, beide werden literarisch im 2. Jahrhundert:
Mithras scheint zu siegen im 3. Jahrhundert, er ist bis zur Vernichtung
besiegt am Ende des 4.
Die Christenverfolgung des Diokletian führt, vielleicht nicht unrichtig,
eine Überlieferung auf die Einwirkung der Mithraspriester zurück; nach
Konstantin beginnt die Zerstörung der Mithrasheiligtümer, die Mithras-
verfolgung. Firmicus Maternus ruft Konstantins Nachfolger in glühen-
dem Fanatismus auf, die Tempel des Mithras auszurotten. Aber es
kommt lulian. Er war ein begeisterter Mithrasverehrer, Mithras -Helios
war sein Hauptgott. Und die Mithrasdiener kämpfen wieder kräftig
für ihren Glauben. Im Jahre 361, am 24. Dezember, dem Vor-
abend des großen Mithrasfestes, wollte in Alexandria der Patriarch
Georgios ein Mithrasheiligtum zerstören, um an seiner Stätte eine
christliche Kirche zu erbauen. Die Behörden setzen ihn fest, die
wütende Menge reißt ihn aus dem Gefängnis und lyncht ihn auf
offener Straße.
Ein anderes Bild: im Jahre 377 weiß der Präfekt Gracchus in Rom,
der sich taufen lassen will, kein besseres Mittel, sich oben angenehm
zu machen, als das, daß er eine Mithrasgrotte mit allen Statuen und
all ihrem Inhalt bis auf den letzten Rest vernichtet.
Die letzten, die sich energisch als Mithrasdiener behaupteten, waren
die römischen Aristokraten. Noch 392 wurde durch Nicomachus
Flavianus - es war die kurze Zeit der Usurpation des Eugenius -
eine große nicht geheime Mithrasfeier veranstaltet. Es war die letzte.
Im Jahre 394 bleibt Theodosius, der fanatische Christ, Sieger, nur in
einigen Winkeln bleibt Mithras gerettet. Als die Grenzländer verloren
gehen, in denen er besonderen Halt hatte, da ist es um sein Leben
geschehen. Saarburg in Lothringen mag eins der letzten seiner Heilig-
tümer gewesen sein, dessen grausame Zerstörung, die etwa 395 geschah,
noch unsere Augen sehen können.
270 ^^® Religion des Mithras
Mithras war tot. Aber die Gedanken seiner Religion waren nicht
41 tot; der Manichäismus hat viele aufgenommen und sie noch einmal mit
ungeheurer Kraft in die Welt getragen: viel Blut ist geflossen zum
Zeugnis, daß immer noch mit den Gedanken gekämpft wurde, die das
römische Weltreich fast erobert hätten.
Was das Christentum von dem vernichteten Mithraskult übernommen
und umgebildet hat, wer will es sagen? Die Hauptlehren, die im
Christentum ihre Kraft an den Menschen bewährt haben: von der Er-
lösung durch das Blut Christi, von der Auferstehung des Fleisches
und dem ewigen Leben, die sakramentale Taufe und das sakramentale
Mahl und so manches andere - einiges ist oben angedeutet worden
- haben analoge Lehren und Riten in der Mithrasreligion. Der
Ingrimm der alten Kirchenschriftsteller, wenn sie von der teuflischen
Nachäffung christlicher Bräuche durch die Mithrasleute reden, ist sehr
bedeutsam. Der Gegner war sehr gefährlich.
Wodurch hat das Christentum über den Mithraskult gesiegt? Die
Frage ist viel zu schwer, als daß sie beantwortet werden könnte.
Und der Historiker, der menschlich redet, kann ja in gewissem Sinne
nur äußere Gründe anführen. Cumont tiat mit feinem Sinne mehrere
hervorgehoben. Der Mithraskult hat paktiert mit allen poljrtheistischen
Religionen; er war durchaus transigent, nach allen Seiten konnte er
Verbindungen schließen und Austausch halten. Das Christentum war
immer intransigent; und wenn man aus der Geschichte Lehren dieser
Art entnehmen kann, so mag man sagen: das Intransigente ist immer
das Stärkere, dem von vornherein der Sieg wahrscheinlich ist.
Im Mithraskult haben ferner die Frauen keine Rolle gespielt. Das
mag zusammenhängen mit der soldatischen Verbreitung des Kultes.
Wer es weiß, welche Rolle die Frauen in der Entwicklung des
Christentums und überhaupt in der Verbreitung neuer Religionen ge-
spielt, wird das nicht für einen kleinen Unterschied halten.
Aber ich möchte eins noch andeuten. Hinter dem Christentum
standen Moses und die Propheten, die Psalmen usw., eine ältere
überall wirksame religiöse Literatur: hinter Mithras stand nicht einmal
der Avesta. Aber weiter: ich erinnerte bereits daran, daß das
Christentum das griechische Asien und Griechenland erobert, Mithras
aber dort wenig Ausbreitung gefunden hatte. Dort hat das Christen-
tum die Formen hellenischen Geistes erworben und gewonnen und so
hat in gewissem Sinne das Hellenentum für das Christentum gekämpft.
Nicht bloß Moses und die Propheten, auch Piaton und die Stoiker
haben ihm den Sieg gewinnen helfen. Das ist schon eher ein innerer
Die Religion des Mithras 271
Grund des Sieges. Von seinen innersten Gründen soll hier natürlich
nicht die Rede sein.
Es war der schwerste Kampf des Christentums, der Kampf mit
Mithras, und es war der größte Sieg, den es erfochten hat, der Sieg
über Mithras. Wenn wir die zerschlagenen Denkmäler der Mithräen
an so vielen Orten unserer deutschen Lande sehen, so sehen wir
darin ebensoviel Denkmäler jenes Kampfes und Sieges. Wenn wir
die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenlande wieder hören
und lesen, so wissen wir, was es der alten Kirche bedeutete, daß
sich die Diener des Mithras beugten vor dem neugeborenen Kinde
von Bethlehem.
XVIII
DIE WEISEN AUS DEM MORGENLANDE^
EIN VERSUCH
Die Geschichte von den Magiern, die aus dem
Morgenlande kamen das Jesuskind in Bethlehem
anzubeten, wird nur im zweiten Kapitel des
Matthäusevangeliums erzählt. Wir wissen alle, wie
so seltsam und so unvermittelt dort nach dem
Bericht von der Geburt Jesu die Geschichte an-
hebt (II, Iff.): ToO be Mticoö TevvnOevToc €v BeGXeeiLi
TTJc Noubaiac h fiiuepaic 'Hpiubou toO ßaciXeiuc,
ibou, ludTOi dTTo dvaxoXojv TrapeTevovxo eic 'lepocöXu)Lia. Die Er-
zählung ist in der Form, wie wir sie lesen, verschränkt mit der
Erzählung von des Herodes Kindermord. Zu dem Mordbefehl wird
dem König der Anstoß dadurch gegeben, daß er von den Magiern
hört, es sei ein neuer König der Juden geboren und sein Stern sei
ihnen erschienen. Er forscht seine Schriftgelehrten aus und weist
auf deren Rat die Magier nach Bethlehem. Er weiß, scheint es,
nicht zu erfahren, wen sie gefunden und so reich beschenkt haben.
Denn da sie nicht zu ihm zurückkehren auf des Engels Mahnung, die
so oft in diesen ersten Matthäusgeschichten die Handlung vorwärts
führt, gibt er den bekannten Blutbefehl. Die beiden Erzählungen sind
durch ihre Verklammerung in mehrfachem Betracht in ihrem natürlichen
Fortgange und in ihrer Wahrscheinlichkeit gestört, ja zerstört worden.
Ohne daß ich auf einzelnes hinweise, wird das eine ohne weiteres
einleuchten, daß doch wohl der natürliche Gang des Zuges der Magier
der ist, daß sie der Stern führt, bis er über dem Hause steht, in dem
das Kindlein ist, nicht aber in Jerusalem sein Scheinen sistiert, um
nach der Herodesepisode plötzlich wieder sichtbar zu sein. Die wunder-
bare Leitung des Sterns, auf die es ja gerade ankommt, wird eben
nur darum so eigentümlich unterbrochen, damit die Fremden Mitteilung
2 und Frage an Herodes richten können. Andererseits ist die Herodes-
geschichte nur so natürlich und ursprünglich, wenn irgend ein Wunder-
zeichen zur Befragung der Schriftgelehrten und zu ihrer Auskunft an
' <Zeitschr. für die neutest. Wissensch. III 1902 S. lff.>
Die Weisen aus dem Morgenlande 273
Herodes führt und daraufhin der Mordbefehl erlassen wird. Die so
äußerliche und ungeschickte Verknüpfung beider Erzählungen hat zu
lauter Unwahrscheinlichkeiten, ja Unmöglichkeiten geführt, die schon
D. Fr. Strauß mit zum Teil ganz unwiderleglichen Gründen dargetan
hat. Aber er scheidet nicht, wie wir es müssen, die beiden in sich
organischen Geschichten. Gegen deren historische Möglichkeit des
weitern zu Felde zu ziehen, können wir uns heute füglich erlassen.
Wir sehen zwei unterschiedliche von Anfang selbständige Sagengebilde
vor uns, deren Ursprung keine „Fälschung" oder „Erfindung" gewesen
ist, sondern die unmittelbar schaffende, uralten und alten und neuen
Motiven nachschaffende gläubige Phantasie der erregten Christenseelen
der ersten Zeiten, die ihre heiligen Geschichten immer wieder und
wieder im Innersten lebendig erschauen und das Geschaute hin und
her berichten und sich berichten lassen. Ich will hier nicht darzulegen
suchen, wie heilige Sage und Legende entsteht; wie die von den
Weisen aus dem Morgenlande entstanden ist, möchte ich durch einige
Anhaltspunkte, die mir wichtig erscheinen, erkennen helfen.
I
Zuvor sei noch eine Bemerkung über des Herodes Kindermord ein-
geschaltet. Es ist bereits früher (von Usener Religionsgesch. Unters, 78
und schon von Strauß LJ. l\ 276) auf die merkwürdige Erzählung des
Sueton in der Biographie des Augustus (c. 94) hingewiesen, die dort
auf einen lulius Marathus zurückgeführt wird: auctor est Julius Marathus,
ante paucos quam nasceretur menses prodigium Romae factum publice,
quo denuntiabatur regem P. R. naturam parturire, senatum exterritum
censuisse, ne quis illo anno genitus educaretur. eos qui gravidas uxores
haberent, quod ad se quisque spem traheret, curasse ne senatus con-
sultum ad aerarium deferretur. Das Urteil, daß der Urheber dieser
Erzählung jedenfalls den bethlehemitischen Kindermord in älterer Auf-
lage zu verwerten gewußt habe, nur notdürftig für römische Verhält-
nisse zurechtgestutzt (Usener a. a. 0.), bestätigt unsere oben gegebene
Auffassung einer älteren selbständigen Fassung der Kindermorderzählung:
das Prodigium und seine Deutung bewirkt in der römischen nach-
gebildeten Legende allein die Absicht des Beschlusses. Ich füge eine
noch seltsamere Parallele hinzu. Im Leben des Nero (c. 36) erzählt
Sueton vom Erscheinen eines Kometen Stella crinita, quae summis
potestatibus exitium portendere vulgo putatur, per continuas 3
noctes oriri coeperat. Anxius ea re, ut ex Balbillo astrologo
didicit, solere reges talia ostenta caede aliqua illustri ex-
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 18
274 ^^® Weisen aus dem Morgenlande
piare ... es wird dann beschrieben, wie Nero eine Anzahl Vornehme
als der Verschwörung verdächtig hinrichten läßt und zugefügt: dam-
natorum liberi urbe pulsi enectique veneno aut fame; constat
quosdam cum paedagogis et capsaris uno prandio pariter necatos,
alios diurnum victum prohibitos quaerere. Auch diese Erzählung soll
uns nichts anderes lehren als dies: die Sternerscheinung, die Erkundung
bei den Kundigen und deren Auskunft sind die festen Vorstufen des
Mordbefehls, merkwürdigerweise auch bei der Neroerzählung (die
legendenhaft mindestens ausgeschmückt ist) eines Kindermords. Weder
soll hier dem nachgegangen werden, wie weit etwa das Bild und die
Taten Neros einwirken konnten auf die Auffassung und die Erzählungen
von Herodes, noch soll die Entstehung der Legende von Herodes
Kindermord durch weitere Analogien ihres Motivs in ihrem Ursprung
untersucht werden (Analogien aus der griechischen Sage bei Usener
a. a. 0. 77, die Analogie von Exod. 1. 2 und namentlich die Wendung
der Geschichte, die ihr Josephus Antiqu. II, 9, 2 gibt, von Strauß be-
sprochen LJ, \\ 277). -
Was von dem Zuge der Weisen aus dem Morgenlande unter den
Christen verbreitet wurde, ehe es durch Einsetzung in die Evangelien-
berichte und durch Verknüpfung mit anderen Erzählungen affiziert
worden ist, war etwa dieses (es kommt natürlich nicht auf einzelne
Worte, nur auf den Gang der Handlung an): Als Jesus geboren war,
siehe da erschienen Magier vom Morgenland; sie hatten seinen Stern
gesehen im Osten und waren ausgezogen, den neugeborenen König
anzubeten. Und siehe der Stern zog vor ihnen her, bis er dahin
kam, wo das Kind war: da stand er stille. Und sie traten in das Haus
und sahen das Kind mit seiner Mutter Maria, fielen nieder und beteten
es an, öffneten ihre Schätze und schenkten ihm Gold, Weihrauch und
Myrrhe. Und als sie das getan hatten, kehrten sie wieder heim in
ihr Land.
Wie hat sich eine so überaus merkwürdige Legende gebildet? Nur
für den natürlich gilt ein Versuch der Antwort, der sich eine solche
Frage überhaupt stellt. Mit der ganzen übrigen heiligen Geschichte ist
nicht der geringste Zusammenhang vorhanden. Wie kommt diese Er-
zählung von der sonderbaren Reise der Magier unter die Vorgeschichten
des Matthäusevangeliums und nur dieses einen Evangeliums? Dürfen
wir so heute noch fragen und Antwort erhoffen?
Schon den alten Kirchenvätern machte die Erzählung besondere
4 Schwierigkeiten, die ja gerade die von ihnen bekämpfte Astrologie zu
sanktionieren schien. Aber sie halfen sich: das war das Ende aller
Die Weisen aus dem Morg-enlande 275
Magie durch diesen von Gott einmal besonders geschaffenen Stern.
Ihnen war ^dToi ein geläufiger Ausdruck. Hätte es auch in jener Zeit
schon „Zauberer" im niedrigen Sinne bedeuten können, so waren hcitoi
IH dvaxoXujv die Priester des persischen Gottesdienstes, und wenn sie
als Sternkundige eingeführt werden, so waren es erst recht augen-
scheinlich die chaldäischen oder persischen Magier. So sagen denn
auch fast alle alten kirchlichen Schriftsteller (z. B.Orig. c. CA, 57, Clem.
AI. Strom. I, 15, 71, so Basilius, Chrysostomus, auch die syrische Tra-
dition, Stellen bei de Waal in F. X. Kraus Realenc. d. christl. Altert 348
und die Zusammenstellungen bei Oscar Schade Liber de infantia Mariae
et Christi Salvatoris, Halle 1869, Anm. 206). Deutlicher noch wird,
was sich die alten Christen unter den |udT0i eH dvaioXujv vorstellten,
durch die erhaltenen Denkmäler. Kaum eine andere Szene der evan-
gelischen Geschichte ist früher und häufiger in der altchristlichen Kunst
dargestellt als die der Anbetung der Weisen aus dem Morgenlande.
War es nur darum, um gerade durch diese Szene die Weltbedeutung
des Kindes von Bethlehem zur Anschauung zu bringen? Als sie diese
Gruppe zuerst ausgestalteten, müssen sie noch ein ganz besonderes
Interesse an ihr gehabt haben. Und die Tracht, vor allem der Pilleus
auf dem Kopfe, die Hosen, oft Armelchiton und Mantel zeigen uns,
daß man Perser darstellen, ja, daß man im speziellen Priester des
Mithras erkennen lassen wollte, wie sie das göttliche Kind Jesus an-
beten.^ De Waal schließt seine Angaben über die Tracht der Magier
(a. a. 0.) mit dem Satze: „in derselben Weise haben die heidnischen
Künstler die Mithraspriester dargestellt", und Cumont Textes et
monuments figures relatifs aux mysteres de Mithra, I, 42 stellt mit
Recht fest: suivant Vopinion la plus accreditee, les mages etaient venus
de la Perse, et dans la sculpture chretienne ils portent encore rägu- 5
Mrement le costume qui auparavant avait ete pritä ä Mithra. Die-
* Genügende Angaben findet man z. B. bei Detzel Christliche Ikonographie,
I, 204 ff.; Hennecke, Altchristi. Malerei und altchristl. Literatur, 228 ff. Die
Schwierigkeit der Datierung der Katakombenmalereien ist bekannt. Daß die
frühesten Denkmäler der Magier „Perser" und nach oben gegebener Auf-
fassung Mithrasdiener darstellen, ist unabhängig von Einzelfragen der Datierung.
S. die Statistik bei Liell, Darstellungen der allersel. Jungfrau und Gottesgebärerin
Maria auf den Kunstdenkmälem der Katakomben S. 224ff. (12 Coemeterial-
gemälde, 50 Skulpturwerke), ferner die Listen bei Duchesne et Bayet, Mäm. sur
une mission au mont Athos, p. 284ff., G. Millet, Mosaique de Daphni, Monu-
ments Piot, t. II, p. 198. - Die wichtige Bronzeplaquette (4. Jh.?), die S. 1 <272>
in natürlicher Größe nach einer Photographie reproduziert ist, die ich den Be-
mühungen Dr. L. Deubners verdanke, befindet sich im christlichen Museum des
Vatikan (bisher nach Zeichnungen mangelhaft publiziert, Liell a. a. O. S. 287).
18*
276 ^^® Weisen aus dem Morgenlande
jenigen im Altertum, die so gut die Mithrasdenkmäler kannten mit ihren
Darstellungen des Gottes - und das waren ja bis zum Ende des
4. Jahrhunderts in vielen Gegenden fast alle -, sie konnten gar nicht
anders als in diesen Gestalten Darstellungen des Mithras und seiner
Priester sehen. Man vermag sich vorstellig zu machen, welche Be-
deutung es haben mochte für die alten Christen in dem härtesten
Kampfe, den sie je zu bestehen hatten, daß hier die Diener des Mithras
sich beugten vor dem neugeborenen wahren Gotte, vor dem göttlichen
Kinde. Man weiß von mancherlei Versuchen, die persische Religion
in Beziehung zu setzen zur christlichen: jene hatte, so wollte man
glauben machen, den wahren Heiland geahnt und geweissagt, und ge-
rade auch an das Matthäuskapitel hat sich wieder mancher Versuch
angeschlossen, die Beziehung zwischen der Religion der )udToi Persiens
und dem neuen Evangelium nachzuweisen und auszuerzählen (s. Ernst
Kuhn, Eine zoroastrische Prophezeiung in christlichem Gewände im
Festgruß an Rudolf von Roth 21 7 ff.). Das merkwürdigste Zeugnis ist
die erhaltene Erzählung von dem Gespräch am Hofe des Perserkönigs
(Bratke, Das sogenannte Religionsgespräch am Hofe der Sasaniden,
Texte und Unters, hrsgg. von v. Gebhardt u. Harnack, IV, 3, s. nament-
lich im Texte S. 15, 21 ff., die Perser in dem Gespräch sind Mithras-
diener s. 28, 11 u. sonst). Die Hauptsache ist, wie unter den Göttern
dort im Tempel des Großkönigs der neue Messias durch Zeichen ver-
kündet wird, wie sie alle Christus als ihren Herren grüßen. Ich ver-
weise auf die Ausführungen Cumonts (I, 427) über die Zeugnisse
solcher erstrebten Beziehungen und ich kann mich auch dafür auf ihn
berufen, daß der persische Kult hier überall für die Christen der
griechisch-römischen Welt der Mithrasdienst war. Diese Christen haben
auch in dem Texte der Magiergeschichte ohne weiteres in den ilkxtoi
eH dvaroXaiv, die dem Stern nachziehen, Mithrasdiener bezeichnet
gefunden.
Aber das erklärt die Entstehung der für uns immer noch ebenso
seltsamen Erzählung keineswegs. Wie kommt man auf das Motiv der
Reise der Mithrasdiener nach Westen zur Anbetung eines neuen Königs?
Es gilt, die einzelnen bei der Bildung der Sage wirkenden Motive aus
der vorliegenden Komposition der Erzählung auszulösen, wenn es
möglich ist.
II
Am deutlichsten hebt sich heraus das Motiv der Sternerscheinung
und deren Deutung. Es ist geläufige antike Anschauung, daß mit der
Geburt eines Menschen ein Stern aufgeht, der ihn durchs Leben be-
Die Weisen aus dem Morgenlande 277
gleitet, ein um so hellerer Stern, je bedeutender in der Welt der 6
Neugeborene sein wird. Als bekannte Theorie angeführt finden wir
das bei Plinius in der Naturgeschichte (II, 28) sidera, quae adfixa
diximus mundo, non illa ut exishimat volgus, singulis attributa nobis
et Clara divitibus, minor a pauperibus, obscura defectis ac pro sorte
cuiusque lucentia adnumerata mortälibus, nee cum suo quaeque ho-
mine orta moriuntur nee aliquem exstingui decidua significant (s. Usener
a. a. 0. 76).
Daß Flammenglanz, wenn auch nicht gerade ein Stern, ein Menschen-
kind als Kind eines Gottes und als ein Heil den Sterblichen anzeigt,
ist ein gar nicht selten wiederkehrender Zug in antiken Legenden.
Bekannt sind die Lichterscheinungen etwa um das Haupt des Servius
Tullius (Ovid Fast. VI, 635 f.) oder des lulus (Vergil Aen. II, 682f.).
Dergleichen gehört z. T. in einen anderen Zusammenhang, den ich
früher Nekyia 39 ff. verfolgt habe (vgl. L. Deubner De incubatione 10 f.);
aber nicht bloß des prophetischen Glanzes wegen, von dem auch sie
berichtet, hat eine Geschichte für uns Interesse, die bei Pausanias zu
lesen steht (II, 26, 5). Die Tochter des Phlegyas hat ihr Kind von
ApoUon ausgesetzt, eine Ziege nährt es, ein Hirtenhund bewacht es.
Aresthanas der Hirt vermißt Ziege und Hund und sucht sie überall.
Da er das Kind findet, verlangt ihn es aufzunehmen Kai ibc Itt^jc
^YeveTO, dcTpaTrf)V eibev dxXdiuniacav olttö toO Traiböc, vo|LiicavTa
hk elvai eeiöv xi, ujcirep nv, dTTOTpaTreceai. 6 be auriKa in\ Tnv Kai
edXaccav Tidcav i^tt^XX^to xd re dXXa örroca ßoOXoiro eupi-
CK€iv inx ToTc Kd|uvouci Kaiöii dvicxTici T68v€U)Tac. Der Licht-
glanz um das neugeborene Kind erscheint dem Hirten und nun wird
über alles Land und Meer verkündet von dem antiken Heiland Askle-
pios, daß er allen Kranken Heilung bringen wird und daß die Toten
auferstehen sollen.
Es gibt eine Anzahl von festen sich immer wieder unmittelbar ein-
stellenden mythischen Motiven, die das Leben der hervorragendsten
Männer im Altertum sagenhaft umgeben, der neuen Herrscher großer
Reiche, der Erretter der Völker. Namentlich um Alexander den Großen,
Caesar, Augustus rankt sich die Sage in vielfach gleichen Formen, wie
man denn - um nur ein Beispiel zu geben - von ihrer Zeugung
durch einen Gott mit der irdischen Mutter erzählt oder von der Ver-
dunkelung der Sonne bei ihrem Tode (s. Usener Rhein. Mus. LV, 27 f.);
und vielfach sind die gleichen Motive lebendig, wenn von den großen
Propheten und Priestern, die der Menschheit Heil gebracht, berichtet
wird, von Pythagoras oder Piaton, ja sie übertragen sich fast unbewußt
278 ^'® Weisen aus dem Morgenlande
7 auch auf Geringere wie etwa Karneades oder Proklos. Was das Stern-
motiv angeht, so heißt es z. B. von Mithradates VI., dem Großen, bei
lustinus (XXXVII, 2): nam et quo genitus est anno et eo quo regnare
primum coepit, Stella cometes per utrumque tempus septuaginta diebus
ita luxit, ut caelum omne conflagrare videretur. Nam et magnitudine
sui quartam partem caeli occupaverat et fulgore sui solis nitorem
vicerat; et cum oriretur occumberetque , quattuor spatium horarum
consumebat. Nicht um einen Stern, aber doch um die Erkenntnis und
Vorausverkündigung der Geburt eines Weltherrschers durch die Magier
aus einem leuchtenden Wunderzeichen handelt es sich in der Tradition,
auf die Cicero de divinatione I, 47 anspielt: qua nocte templum Ephe-
siae Dianae deflagravit, eadem constat ex Olympiade natum esse
Alexandrum, atque ubi lucer e coepisset, clamitasse magos pestem
ac perniciem Äsiae proxuma nocte natam. Wie diese Stelle (S. 37),
so hat auch die Nachrichten über das sidus lulium bereits Usener in
den Relig. Untersuchungen (76 f.) herangezogen. Den Kometen, der bei
den Leichenspielen des lulius Caesar sieben Tage (wie der Komet des
Mithradates siebzig) leuchtete, deutete man bald als „Wahrzeichen für
die Größe des künftigen Augustus", bald als „Zeichen des vergött-
lichten lulius". Und auch die merkwürdigste, der in der biblischen
Erzählung verwandteste Verwendung des Sternmotivs ist Usener nicht
entgangen: daß dem Aeneas der Morgenstern voranleuchtet auf seinem
Zuge und erst dann zu scheinen aufhört, als Aeneas zum Ziele gelangt
ist, Servius zu Aen. II, 801: Varro ait hanc stellam Luciferi, quae
Veneris dicitur, ab Aenea, donec ad Laurentum agrum veniret, semper
visam et postquam pervenit videri desiisse. unde et pervenisse se
agnovit (Strauß spricht nur einmal, LJ. l\ 275 von der Stella facem
ducens bei Vergil selbst II, 694, die nur ein Rettung kündendes Wunder-
zeichen ist). Schwerlich ist dies die einzige oder gar erste Verwendung
dieses Motivs in antiker Legende. Das läßt sich immerhin noch aus
solchen nicht ganz vereinzelten Erzählungen erkennen, wie der von
Timoleon, dem ein himmhsches Feuer den Weg übers Meer nach Italien
zeigt und dort sich niederläßt. Plutarch erzählt im Leben des Timo-
leon c. 8: vaOc he Kopiv9iac e'xtüv eiiTd, KepKupaiac be bOo Kai rriv
beKdxriv AeuKabiuuv TrpocTrapacxövTUJV dvr|X0i1. Kai vuktöc e)ußaXujv eic
TÖ TreXaYOc Kai TTveujuaTi KaXuj xpiJ^iuevoc eboHev aiqpvibiujc paTevra
Tov oupavov iiTiep rfic veiuc eKxeai ttoXu Kai Trepiqpavec TiOp.
EK be TOUTOu XajUTrdc dpGeica xaTc juucTiKaic ejucpepfic Kai cu|LiTrapa-
Geouca xöv auTov bp6)uov, f} judXicxa ific 'liaXiac efreixov oi
KußepvfiTai, KaiecKTiH^ev. Man mag aber jene Notiz besonders be-
Die Weisen aus dem Morgenlande 279
achten, in der Varro als Berichterstatter genannt wird; man lernt, daß 8
das Motiv der Leitung durch das himmlische Zeichen gerade im ersten
Jahrhundert v. Chr. noch wohlbekannt und lebendig war und durch die
Erzählungen um Caesar und Augustus nur lebendiger wurde. Welche
Rolle astrologische Dinge überhaupt in jener Zeit spielten, ist genug-
sam bekannt Es mag hier nur noch dies angeführt sein, daß es
nach Sueton Aug. 94, dem Kapitel, in dem fast alle die uns so
bedeutsamen Sagenzüge hintereinander erzählt werden, eine nota ac
vulgata res gewesen ist, daß P. Nigidius, der bekannte Mystiker und
Geheimbündler, als er erfahren, warum Octavius zu spät zur Sitzung
gekommen war, nämlich wegen der Geburt eines Sohnes, nach Fest-
stellung der Geburtsstunde behauptet habe dominum terrarum orbi
natum.
Ich darf hier die bekannte Prophezeiung Bileams {Num. XXIV, 17)
„es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Szepter aus Israel
aufkommen, und wird zerschmettern die Fürsten der Moabiter und ver-
stören alle Kinder Seths" ganz beiseite lassen. Es ist an dieser Stelle
nur in bildlicher Rede ein Mensch gemeint, der plötzlich und mächtig
wirken wird. Der Stern als Begleiter göttlicher Epiphanie ist den
heiligen Büchern Israels fremd, erst späte jüdische Schriften kennen
ähnliches (Strauß, LJ. I^ 272). Jene Weissagung konnte deshalb bei
der Aufnahme des Sternmotivs in die Geburtsgeschichte Christi gar
nicht wirksam sein und Matthäus hätte unfehlbar auf sie hingewiesen,
wenn er schon die Parallele gezogen hätte.
III
Auf ein zweites Moment aber in der Genesis der christlichen Magier-
erzählung weist ein Zug hin, der nicht ohne Beziehung zu alttestament-
lichen Schriften sich eingefügt haben kann. Bei Jesaia LX, 6 heißt es
nach den Septuaginta Traviec eK Caßd nHouciv (pepovrec xpuciov xai
Xißavov oicouciv Kai XiGov Tiiaiov Kai tö cuinpiov Kupiou eiianeXiouviai.
Daß diese Stelle eingewirkt hat, liegt am Tage; und es wird auch die
Stelle in Psalm LXXII, lOf. noch mitgewirkt haben: „die Könige am
Meer und in den Inseln werden Geschenke bringen, die Könige aus dem
Reich Arabien und Saba werden Gaben zuführen, alle Könige werden
ihn anbeten, alle Heiden werden ihm dienen". Jedenfalls ist auch in
der Erklärung der alten Kirchenschriftsteller die vereinzelte Angabe,
daß die Weisen aus Arabien gekommen seien, auf die Erinnerung an
diese Stellen zurückzuführen. Ob nun aber in der Entstehung der Er-
Zählung selbst gleich in den ersten Stadien, die für uns ja immer im
280 D*® Weisen aus dem Morgenlande
einzelnen geheimnisvoll verborgen bleiben müssen, die Prophetenstelle
9 beteiligt gewesen ist und die Angabe, daß die Magier nicht bloß an-
beten, sondern Geschenke und zwar Gold und Weihrauch bringen, bei-
zufügen Veranlassung gegeben hat, oder ob erst in die fertig um-
laufende Erzählung jener Satz eingerückt ist, damit auch hier ein
Prophetenwort „erfüllet würde", das kann und will ich nicht ent-
scheiden. Merkwürdig, daß das Matthäusevangelium, das auf solche
Beziehungen ja geradezu ausgeht, diese „Erfüllung" nicht besonders
anmerkt. Wie dem sei, jedenfalls haben wir einen zweiten Faktor in
der Komposition der Legende festzustellen, aber doch einen Nebenfaktor,
ein Hilfsmotiv.
IV
Mit diesem allen, was bisher erörtert ist, kann die Genesis der
Magiergeschichte noch nicht erklärt scheinen; wo findet das Hauptmotiv
seine Analogie, woher hat es den Anstoß erhalten, das Motiv des Aus-
zugs der Magier gen Westen, den neuen Herrn der Welt anzubeten?
Denn daß bei Matthäus von einem neugebornen König der Juden die
Rede ist, wird man unbedenklich als eine sekundäre Wendung be-
trachten, die durch die oben behandelte Verknüpfung mit der Herodes-
geschichte hauptsächlich veranlaßt ist. Können wir jenes Hauptmotiv
irgendwie in seinem plötzlichen Auftreten in den Traditionen von dem
Kinde in Bethlehem begreiflich machen? Man muß sich mit möglichster
Schärfe darüber Klarheit schaffen, daß das Aufkommen einer Erzählung
von der merkwürdigen Reise der Magier vom Osten, von Persien oder
Babylonien gen Bethlehem, wenn wir davon absehen, darin ein histo-
risches Faktum anzuerkennen, nur das Resultat der Übernahme irgend
welcher parallelen Traditionen oder die Wirkung eines historischen
Ereignisses analoger Art hat sein können. Nur die unmittelbar neu-
schaffende Kraft eines alten Sagenmotivs, das uns schwerlich unbekannt
sein würde, kann hier tätig gewesen sein, oder der mächtige Eindruck
eines Geschehnisses, das an die Analogie der heiligen Tradition an-
knüpfend, gewissermaßen anwachsend die werdende Legende in der
Hauptlinie bestimmte und neu gestaltete.
Ich muß berichten von einem Ereignis des Jahres 66 n. Chr. Dio
Cassius erzählt im 63. Buche (c. 1-7), daß damals, unter dem Kon-
sulate des C. Telesinus und Suetonius Paulinus, Tiridates mit großem
Gefolge nach Rom kam. Er kam aus dem äußersten Osten, aus
Armenien, brachte auch die Söhne der Könige, des Vologaisos, des
Pakoros und Monobazos mit, zog durch alle Länder vom Euphrat her
Die Weisen aus dem Morgenlande 281
in einem Aufzuge, der einem Triumphzuge glich (c. I). Der Zug wird
beschrieben: sein Hofstaat, eine Menge Römer, dreitausend parthische 10
Reiter bilden Gefolgschaft. Die Städte waren köstlich geschmückt, die
Provinzen empfingen ihn unter lautestem und fröhlichstem Jubel, Oberall
wurden ihm alle Bedürfnisse unentgeltlich gegeben, die Staatskasse
rechnete seine Unterhaltung auf zweimal hunderttausend Denare täglich
durch neun Monate; denn so lange war er unterwegs gewesen. Er
kam in Neapel zu Nero (c. 2). Er beugt das Knie vor ihm, nennt ihn
seinen Herrn und betet ihn an (irpocKuvricac). Der gab ihm zunächst
in Puteoli glänzende Spiele (c. 3) und nahm ihn dann mit nach Rom.
Dort wird eine große öffentliche Audienz veranstaltet, verbunden mit
einem Volksfest Alle Häuser waren erleuchtet und mit Guirlanden
geschmückt. Die Straßen waren voll Menschen, am vollsten der Markt.
In der Mitte stand das Volk nach seinen verschiedenen Ständen in
weißer Toga, mit Lorbeer bekränzt, rund umher Soldaten in prächtigster
Rüstung, mit blitzenden Waffen und Feldzeichen. Kein Ziegel auf den
Häusern war zu sehen vor den Menschen, die oben standen. An dem
Haupttage erschien Nero auf dem Markte, in das Triumphgewand ge-
kleidet, von Senat und Leibwache umgeben, und setzte sich auf den
Prachtsessel. Dann erschien Tiridates mit Gefolge, schritt durch die
Spalier bildenden Soldatenreihen: sie traten zu dem Thron und huldigten
wie auch vorher (irpoceKiivTicav c. 4). Das Volk schreit laut, Tiridates
kommt in Verwirrung, endlich aber findet er die Worte, die ich wört-
lich anführe: 'Cfu), becTTora, 'ApcotKou [ikv Iktovoc, OiioXotaicou hh.
Ktti TTttKÖpou Tujv ßaciXeujv dbeXcpöc, cöc b^ boOXöc e\]i\. Kai fjXGöv
T€ 7Tp6c c^ TÖv d|i6v Gcöv 7TpocKUvr|cu)v ce WC Kai Tov MiOpav
Kai ko)Liai toOto öti av cu IttikXOuctjic cu Tap l^oi Kai MoTpa ei Kai
TOxn. Nero antwortet, gibt ihm ein Diadem und das Volk jubelt hoch
au! (c. 5). Dann finden wieder Theatervorstellungen statt, an die sich
allerlei Anekdoten knüpfen (c. 6). Endlich heißt es, daß Tiridates nicht
zurückkehrte auf dem Wege, auf dem er angekommen war durch Illy-
ricum und über den ionischen Meerbusen, sondern von Brundisium aus
nach Dyrrhachium übersetzte, die asiatischen Städte (tote dv 'Aci(}t ttöXeic
ist richtig überiiefert, "^\o.\q. eine überflüssige Konjektur) besuchte und
auch da über die römische Macht erstaunte (c. 7).
Das Ereignis, das bei Dio so ausführiich beschrieben wird, hat den
größten Eindruck auf die Zeitgenossen gemacht und ist lange im Ge-
dächtnis der Menschen sehr lebendig geblieben. Auch bei Sueton Nero
c. 13 werden die Hauptsachen entsprechend der Erzählung Dios be-
richtet und c. 30 werden auch hier die Summen erwähnt, die der Be-
282 ^^® Weisen aus dem Morgenlande
11 such kostete. Bei Plinius aber findet das merkwürdige Ereignis eine
Erwähnung, die uns in manchem Betracht wichtig ist (n. h. XXX, 16):
mag US ad eum (Neronem) Tiridates venerat Ärmeniacum de se
triumphum adferens et ideo provinciis gravis. Navigare noluerai
quoniam exspuere in maria aliisque mortalium necessitatibus
violare naturam eam fas non putant. Magos secum adduxerat,
magicis etiam cenis eum initiaverat; non tamen cum regnum ei
daret hanc ab eo artem accipere valuit Wir lernen hier, daß auch
in der römischen Welt magi der Ausdruck ftir Tiridates und seine
Begleiter war.
Ist das eben geschilderte Ereignis, das so außerordentlich eindrucks-
voll in der damaligen Weh war, ohne Einfluß gewesen auf die Ge-
schichte von dem Zuge der Magier aus dem Morgenlande den neuen
König anzubeten? "HXeojuev irpocKuvficai aiiTUj, sagen auch sie. Wir
vermißten gerade für dies Motiv des Zuges der Magier gen Westen
einen Anstoß, eine Analogie. Es ist in diesem Falle nicht die Ein-
wirkung eines Sagenmotivs, einer mythischen Form, es ist die Wirkung
eines allgemein erregenden und lange bekannten geschichtlichen Er-
eignisses.
Unser Matthäusevangelium ist sicher nicht vor 70 n. Chr. entstanden,
vermutHch um 100 oder um einiges später; die Vorgeschichten der
ersten Kapitel werden wohl noch später ihre jetzige Gestalt gewonnen
haben. Aber ich brauche auf diese Fragen hier nicht einzugehen. Die
allgemeinen Grenzen stehen fest. Ehe eine Erzählung wie die von den
Magiern ihre literarisch feste Form gewinnt und in die heiligen Bücher
ihre Aufnahme findet, zu einer Zeit, da sie schon allgemein geglaubt
wird - und kaum eine andere Erzählung der biblischen Vorgeschichte
Jesu hat von je so „ihre echte Volkstümlichkeit" bewährt (Usener 76) — ,
muß sie vorher in einer längeren Tradition umgelaufen sein und sich
allgemach geformt und feste Gestaltung gewonnen haben. Wir würden
die Jahrzehnte zwischen 60 oder 70 und 100 für einen solchen Prozeß
in diesem Falle von selbst uns zu denken haben. Das Matthäus-
evangelium ist von Anfang an griechisch für Griechen geschrieben.
Daß gerade die Vorgeschichte bei Matthäus „die ganze Sage, die er
fertig vorlegt", auf griechischem Boden entstanden zu sein scheint
(Usener 78), bestätigt sich auch uns an allen Punkten. Sie entstand
zuerst und erwuchs im griechischen Osten zu eben der Zeit, da das
Christentum in diesen Gegenden nicht bloß griechisch zu sprechen,
auch griechisch zu denken begann. Dessen aber wollen wir uns noch
besonders erinnern, daß gerade durch die asiatischen Städte der Zug
Die Weisen aus dem Morgenlande 283
des Tiridates ging. Wo anders als in Kleinasien ist das Matthäus- 12
evangelium in seiner griechischen Fassung entstanden und hat etwaige
Redaktionen oder Umgestaltungen durchgemacht, die Zusätze, die es
noch aufgenommen hat, erhalten?
V
Ich hoffe, nicht mißverstanden zu werden. Der Zug der Magier
zu Nero ist der Anstoß gewesen, daß aus einer allgemeinen Tradition
vom verkündenden Stern, vom „sichtbaren Zeichen, daß etwas Gött-
liches in die Welt getreten sei", sich mit Hilfe des früher oder später
hinzutretenden Nebenmotivs aus dem Propheten von denen, die da
kommen und Gold und Weihrauch bringen, die Legende entwickelt hat
von dem Zuge der Magier zur Anbetung des neuen Herrn und Erretters
der Welt.
In das Sternmotiv wirkte von selbst hinein der Gedanke an die
Sterndeuter des Ostens, die Chaldäer und Perser. Magi hatten auch
Alexanders Geburt prophezeit und die Notiz, die wir darüber noch be-
sitzen, ist wohl nur ein zufälliges Überbleibsel vieler ähnlichen Tradi-
tionen, die bekannt waren.^ Den Stern des Mithradates werden auch
die Diener seines Gottes seinen Völkern gekündet haben: sein Gott
war Mithras. Und je mächtiger in der antiken Welt der Mithraskult
um sich griff, ungefähr gleichzeitig mit der ersten Ausbreitung des
Christentumes in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts, um so
mehr verband man eine Vorstellung von sternkundigen Magiern mit
der von Mithrasgläubigen.
Die seit Cumont uns erst erschlossene tiefere Kenntnis des Mithras-
kultes und seines Gehaltes an religiösen Gedanken wird uns, scheint
es, immer besser verstehen lassen, ein wie gefährlicher Konkurrent im
Kampfe um die Welt und die Herrschaft der Seelen dem Christentum
die Mithrasreligion gewesen ist. Auf welcher Seite auch in vielen ein-
zelnen Lehren und liturgischen Begehungen die Entlehnung sein mochte,
im dritten Jahrhundert haben mehr Menschen im griechisch-römischen
Reiche sich zu den Glaubenssätzen und Kultformen bekannt wie sie
die Priester des Mithras überlieferten als zu den Lehren der christ-
lichen Apostel. Am Ende des vierten Jahrhunderts hatte der Christen-
glaube über den Mithrasglauben gesiegt und war nun auch hier Erbe
des religiösen Besitzes, den die Besiegten bisher gemehrt und gepflegt
hatten und nun ganz von selber dem Sieger zubrachten.
MSen. ep. 58,31: Magi, qui forte Athenis erant, immolaverunt defuncto
(Piatoni), amplioris fuisse sortis quam humanae rati, quia consummasset perfec-
tissimum numerum, quem novem novies multiplicata conponunt.]
284 ^^® Weisen aus dem Morgfenlande
Der Kampf des Mithras und des Christus erzeugte von selber den
brennenden Wunsch der Christen, daß sich der falsche Gott samt seinen
13 Dienern beuge vor dem wahren. Das Bedürfnis der Werbenden und
Bekehrenden, davon erzählen zu können, daß auch diese hartnäckigen
Feinde ihre Knie gebeugt, wie sie es ja, wenn sie die Prophetenworte
schon verwendeten, von den Königen von Saba und Arabien, wie sie
es von allen Heiden erwarteten, mag sehr wohl in Rechnung gestellt
werden. Mancher Mithrasdiener und mancher Mithraspriester wird in
diesen Zeiten übergetreten sein; sie glaubten nun an den Sieg ihres
neuen Gottes. Auch die Mithraslehren kannten eine Anbetung der
Hirten, die in den Bergen das neue Licht, als es geboren wurde, den
Oeoc Ik TTETpac anbeteten. Das hat Cumont aus den Monumenten un-
widerleglich erschlossen (I, 162 f.). Freilich kann niemand etwa eine
Entlehnung von selten des Christentums auch nur wahrscheinlich machen
noch irgendeine Zeit ermitteln wollen, wann die Mithrasdiener ihre
Hirtenlegende von den Christen übernommen oder etwa nur eine
Geschichte von der Anbetung des neugebornen Lichtes danach ein
wenig umgestaltet haben. Wie nahe es immerhin liegen konnte, zumal
bei irgend regen Beziehungen zu Mithrasbekennern oder enger Ver-
bindung mit frühern Mithrasjüngern, eine Anbetung des wahren Gottes,
des wahren Lichtes, das der Welt erschienen, durch bekehrte Diener
des Mithras sich zu ersehntem Bilde zu gestalten, können wir uns
noch einigermaßen vorstellig machen. Solche schon nach Formung
drängende Bekehrungssehnsucht und Siegeshoffnung knüpft sich an die
schon vorhandene hin und her getragene Erzählung von einem Stern,
den Magier gesehen und gedeutet hätten — der verkündende Licht-
glanz, freilich durch den Engel interpretiert, war ja auch in der
Hirtengeschichte ein Hauptmotiv ~; und nun wird hineingetragen die
lebhafte Kunde von der Reise der Magier gen Rom durch die Städte
Kleinasiens. Daß sie sich gerade mit dem Sternmotiv verband, ist
durch das bisher Gesagte verständlich, und durch diese Anknüpfung
ist die Geschichte an den neugebornen Christus gebunden. Gerade
hier war allein Platz für sie; die Tradition war für die weiteren Er-
zählungen von Jesu Leben schon zu gefestigt und die Entwicklung der
schriftlichen Festlegung der Evangelien gestattete wohl gerade noch
das Einrücken in die Form, die wir nun lesen, in die Vorgeschichte bei
Matthäus im 2. Jahrhundert.^
* [S. auch (Pseudo-)Eusebius of Caesarea on the Star, von W. Wright im
Journ. of sacr. Liter, for Oct. 1866 aus dem Syrischen übersetzt. Am Schluß
heißt es nach 16 oder 17 ausradierten Zeilen: *Im zweiten Jahr des Kommens
Die Weisen aus dem Morgenlande 285
Die Kunde des Magierzuges gen Rom war, wie wir ja aus den
Schriftstellern sehen, lange lebendig wirksam, und war einmal jener
Zusammenfluß der Motive in einem kleineren Umkreise geschehen, so
mußte die geschlossene Legende um so schneller Anklang finden und
um so sicherer zum nicht mehr zu ignorierenden Bestand der heiligen
Geschichte werden, als der Mithraskult sich immer bedrohlicher aus- 14
breitete. So angesehen, ist die Geschichte von den Weisen aus dem
Morgenlande in unseren heiligen Schriften ein Dokument der Be-
gegnung des Mithrasdienstes und des Christentums. Sie war einst
eine Verheißung der Überwindung des mächtigsten Feindes, dann ein
triumphierendes Zeugnis des herriichsten Sieges. Wer einer solchen
Sagenbildung, wie wir sie vielleicht schon zu weit ins einzelne
skizziert haben, mit einigem Verständnis nachdenkt, wird nicht noch
weiter nach Ausgestaltung und Umgestaltung der Einzelheiten fragen.
Nicht daß und warum für den Nero des geschichtlichen Magierzuges
Christus eingesetzt wäre oder dergleichen, wird man ausführen wollen;
man wird auch, wenn die Magier zu Nero kommen, kaum eine An-
regung zu dem Besuch der Magier bei Herodes im Matthäus-
evangelium finden, was ja an sich nicht ohne Wahrscheinlichkeit sein
möchte. Zu Nero zogen sie als dem allmächtigen Herrn der Welt;
den Christen, in deren Kreise die Magiergeschichte umging, war der
wahre neugeborene Herr über alles Jesus Christus. Nicht Zug um
Zug wird die einwirkende Erzählung übernommen, nur die stärksten
Hauptmotive treffen und gestalten einen vorhandenen mehr oder
weniger noch formlosen Stoff der heiligen Legende; sonst wäre ja
ihre Wirkung nicht die unbewußte Schöpfung der Sage, bei der
keine „Erfindung", keine „Erdichtung" im gewöhnlichen Sinne be-
teiligt ist.
Echter Sagenbildung kann man nicht ins Innerste sehen. Aber
es ist eine sehr ernste wissenschaftliche Aufgabe, das Werden der Sage,
auch der heiligsten, zu untersuchen und die Komposition ihrer Motive,
soweit es möglich ist, auszulösen. Diese Probleme scheinen heute
unseres Herrn, unter dem Consulat von Caesar und Capito, im Monat Kanun II
kamen diese Magier von Osten, und beteten unsern Herrn an in Bethlehem der
Könige. Und im Jahre 430 (119 p. Chr.) unter der Regierung des Hadrian, dem
Konsulat des Severus und Fulgens und dem Episkopat des Xystus, Bischofs
der Stadt Rom, erhob sich diese Frage unter den Leuten, welche mit der
h. Schrift bekannt sind, und durch Bemühungen großer Männer an verschiedenen
Orten wurde diese Geschichte vorgesucht und gefunden und in der Sprache
derer geschrieben, welche dafür sorgten/ Nestle, Marginalien und Materialien,
Tüb. 1893 S. 72, mitgeteilt von Stade.l
286 ^^® Weisen aus dem Morgenlande
fast vergessen, auch bei denen, die nicht in deren Stellung schon
einen frivolen Aberwitz sehen. Es gereicht der Wissenschaft nicht
zur Ehre, daß sie die gewaltigen Anregungen, die D. Fr. Strauß
gegeben hatte, noch nicht weiter in einem anderen Geiste hat ver-
folgen und in das tiefere Verständnis hat überleiten können, das
Jakob Grimm für Sage und Sagenbildung die Historiker allzumal gelehrt
hat. Dem, der den Versuch solchen Verständnisses in heiliger Schrift
unfromm schilt, antworte ich mit einem vor Jahren einmal gesagten
treffenden Worte: „Echte Sage ist so heilig und rein wie das religiöse
Gefühl, aus dem sie als Blüte hervorbricht. Gegen Ende des Jahr-
hunderts, in welchem die Gebrüder Grimm gewirkt, sollte es nicht nötig
sein Gebildeten das zu sagen."
XIX
ÜBER WESEN UND ZIELE DER VOLKSKUNDE^
VORTRAG
gehalten in der ersten Generalversammlung der Hessischen Vereinigung für
Volkskunde zu Frankfurt am Main am 24. Mai 1902
Vorbemerkung. Manche unter meinen Zuhörern in Frankfurt sprachen 169
mir ihre Überzeugung aus, daß eine Veröffentlichung meines Vortrages, an die
ich nicht gedacht hatte, in weiteren Kreisen aufklärend, anregend und warnend
wirken könnte. Ich habe keinen Grund mich dem Wunsche der Publikation
zu widersetzen und bitte nur meine Leser zu bedenken, daß ich vor einem
mannigfach zusammengesetzten Publikum sprach, dessen einem Teile gerade
die Darlegungen zu umfangreich und eingehend erschienen sein mögen, die
der andere zu knapp und unbedeutend finden konnte.
Die Absicht, umfangreichere Literaturangaben beizufügen, habe ich an-
gesichts der immer reicheren bibliographischen Hilfsmittel in den berührten
Gebieten wieder aufgegeben und dem Vortrage nur einige wenige Hinweise
hinzugesetzt.
Ihr Erscheinen, hochgeehrte Herren, beweist, daß Sie eine neue
Vereinigung für Volkskunde nicht mißbilligen, ja daß manche unter
Ihnen manche Ziele der Volkskunde, für die wir uns verbündet haben,
zu erreichen helfen wollen. Ob wir alle die gleichen Ziele meinen?
Ich glaube es kaum und es ist auch nicht nötig: es kommt darauf
nicht an, den Reichtum der Bestrebungen, den der Name der Volks-
kunde begreift, durch engbindende Zielsetzungen zu beschränken.
Aber freilich, es wäre wohl wünschenswert, daß wir uns über einige
Grundauffassungen und Hauptprobleme verständigten. In kurzer Rede
und Gegenrede wäre das heute schwer zu erreichen. Ich will nur zu
diesem Zwecke beitragen, was ich beitragen kann: ich will meine An-
schauungen vortragen, die ich mir nicht ganz leicht und flüchtig ge- 170
Wonnen habe, da ich seit einer längeren Reihe von Jahren in meiner
wissenschaftlichen Arbeit immer wieder auf Stoffe und Probleme der
Volkskunde zurückgeführt worden bin.
In den letzten Jahren ist bei uns in Deutschland immer mehr von
Volkskunde die Rede gewesen. Gerade in den letzten zehn Jahren
' <Hess. Blätter für Volksk. I 1902 S. 169ff.>
288 ^^®^ Wesen und Ziele der Volkskunde
ist eine lebendige Bewegung in Deutschland immer weiter vorwärts
gertickt, die sich nach der Volkskunde benennt. Eine Reihe von
Gesellschaften und Vereinigungen haben sich zu ihrer Pflege, in den
einzelnen deutschen Landen Schlag auf Schlag, gebildet. 1890 wurde
der Berliner Verein für Volkskunde gegründet; Karl Weinhold war der
Gründer und Leiter. Die Zeitschrift des Vereins für Volkskunde be-
gann als Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprach-
wissenschaft (von Lazarus und Steinthal) 1891 zu erscheinen. Die
schlesische Gesellschaft für Volkskunde wurde 1894 gegründet, die
sächsische 1897, namentlich die erstere heute durch ihre Publikationen,
die Friedrich Vogt leitet, aufs rühmlichste bekannt. In Bayern ist ein
Verein von Würzburg aus tätig, in Baden herrscht lebhafte Tätigkeit,
namentlich von Freiburg aus ins Leben gerufen - 1900 hat Elard
Hugo Meyer ein zusammenfassendes Buch über Badisches Volksleben
im 19. Jahrhundert veröffentlichen können -, in Mecklenburg hat ein
Mann in diesen Zeiten eine umfassende Sammelorganisation und die
verdienstvollsten Publikationen zustande gebracht. Eine Braunschweiger
Volkskunde Hegt seit 1896 (2. Auflage 1901) vor, verfaßt von dem
ausgezeichneten Ethnographen Richard Andree. Der Verein für öster-
reichische Volkskunde ist seit 1895 tätig, Böhmen hat seit 1896 heute
bereits drei Genossenschaften, die für Volkskunde wirken und werben;
die Schweizerische Gesellschaft entfaltet seit 1897 in ihrem Archiv für
Volkskunde und anderen besonderen Veröffentlichungen eine eifrige
Betätigung.
Von 1897 datieren auch die Anfänge einer hessischen Vereinigung,
die seit dem vorigen Jahre in selbständiger Organisation mit über
700 Mitgliedern größeren Zielen zustrebt.
Sie sehen, äußeres Leben und Streben macht sich auf diesem
Gebiete nun endlich auch in Deutschland bemerkbar, und Sie begreifen,
daß es in diesen Jahren nicht an Auseinandersetzungen über Wesen
und Ziele der Volkskunde gefehlt hat. Fast überall in den neu-
171 gegründeten Organen hat man sich prinzipiell geäußert und es zeigt
sich geradezu erschreckend, wie verschieden die verschiedenen Volks-
kundigen über ihre werdende Wissenschaft denken. Wenn nicht bald
größere Klarheit kommt und mehr Übereinstimmung in den Haupt-
sachen, so ist ernste Gefahr im Verzuge.
1
Man pflegt begreiflicherweise aus dem Namen der „Volkskunde"
deren Wesen zu entwickeln: sie sei Kunde vom Volke. Und Volk sei
über Wesen und Ziele der Volkskunde 289
eben hier die Bezeichnung der unteren Schichten des Gesamtvolkes,
vulgus, nicht populus. Das mag richtig sein. Freilich müssen wir
wohl bedenken, daß es sich immer auch um alles das „Volkstüm-
liche" handelt, das in allen Schichten, auch den höchsten Schichten
des populus, hier mehr dort weniger, lebt und wirkt. Wenn wir
„volkstümlich" sagen, verstehen wir noch am besten, was „Volk" hier
bedeuten soll: zunächst alle die, welcTie nicht durch eine bestimmte
Bildung geistig geformt und umgeformt sind, eine Bildung, die ihre
feste Tradition immer weiter zieht und ganze Volkskreise und ganze
Generationen in ihre immer volksfremderen Bahnen mitnimmt und sie
loslöst von der unmittelbaren Anschauung, dem frisch nachwachsenden
unbewußten natürlichen Denken und Empfinden - eben „des Volkes".
Die Grenze bleibt freilich immer fließend, aber sie ist da als eine
mächtige Trennung in der inneren mehr noch als in der äußeren Welt
der Gebildeten und des Volkes. Und daß die „Gebildeten" des
„Volkes", ihres Volkes wieder „kundig" werden, aus dem sie ja doch
alle als aus dem mütterlichen Boden emporgewachsen sind, das ist
desto notwendiger, je mehr sich die Wege der Bildung verirren und
verwirren, von Natur und Leben zu pedantischer Systematik und totem
abstrakten Denken. Wir Leute der Studierstube oder der Aktenstube
und der Bücher mögen uns wohl beklagen, daß wir dem Leben
unseres Volkes so entrückt werden müssen, um unseres Lebens
Aufgaben zu erreichen, freilich sehr oft auch, wo wir es nicht ahnen,
zum innersten Schaden unserer gelehrten wissenschaftlichen Arbeit.
Mir ist unvergeßlich geblieben, wie mich mein Vater, auch ein Mann
der Bücherarbeit, beklagte, daß ich habe in der Stadt, außer Zu-
sammenhang mit dem Volke, aufwachsen müssen: das sei für jeden
Menschen, was er auch werden möge, ein traurig und schädlich Ding.
Wenn wir alle, die Gebildeten und Gebildetsten, wieder fühlen könnten,
daß wir zum Volke mit Leib und Seele gehören, daß das Volk
unserer Heimat Fleisch ist von unserem Fleisch, Blut von unserem 172
Blut, dann fühlten wir es auch, daß aus dem Heimatboden und dem
Heimatvolke jedem Sproß dieser Heimat neue gesunde Kraft kommt:
allein von unten in diesem Sinne konnte von je nur gesunden die
krank gewordene Bildung.
Man meint wohl ähnliche Gedanken, wenn man von der nationalen
oder lieber noch von der sozialen Bedeutung der Volkskunde spricht;
denn das zweite der modernen Hauptschlagwörter hat das erste an
Modernität und an Schlagkraft bereits bedeutend übertroffen. Und
wir sollen gewiß gar manches nicht gering schätzen, was in diesem
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 19
290 ^^®^ Wesen und Ziele der Volkskunde
Falle mit den großen Worten gemeint sein mag. Die treue und ehr-
liche Liebe zur engsten Heimat, deren Boden und Bäume und Wege
und Wiesen und Menschen uns teuer sind, ist die tiefste und festeste
Wurzel echter Vaterlandsliebe, fester als manches Nationalbewußtsein,
das manchem wandernden Bureaukraten, dem weder Ost noch West
eine Heimat ward, ein jammervoll abstraktes Ding geworden ist, und
seinen Kindern, die nirgends von Herzen zu Hause sind, noch viel
blasser und schemenhafter überliefert wird.
Wie sich gefährdete Nationalität bewußt den Bestrebungen der
Volkskunde mit einer ganz eigenen Begeisterung zuwendet, mag man
an den deutschen Böhmen oder den Vlamländern beobachten. Beide
gehörten zu den ersten und eifrigsten, die der Volkskunde Sammel-
stätten schafften, und ihnen gilt es ganz anders als sonst bei ähnlichem
Tun um die Erhaltung und Stärkung des Volkslebens, das sie erkunden.
Die nationalste und zugleich sozialste Aufgabe der Volkskunde
bleibt aber doch immer die, den Riß zwischen Volk und Gebildeten,
zwischen den Ständen eines Volkes zu mildern, den wir mit Recht
immer bewußter beklagen. Und gerade der aristokratisch denkende
und am selbständigsten gebildete Mensch wird dem Volke sich immer
näher fühlen als dem „Bildungspöbel"; der Parvenü ist dem Volke
immer am fernsten. Ich höre noch den alten Rudolf Hildebrand,
einen Meister der echten Volkskunde, von seinem Katheder in der
Leipziger Universität - ich kann es nicht anders ausdrücken —
wimmern und wehklagen über die „Bildung", die etwas dem Leben
des Volkes Entgegengesetztes geworden sei, über die Abstraktion, die
Krankheit unserer Zeit, und dann eben immer wieder über die
Trennung der höheren und unteren Schichten, die keinen Mittelpunkt
mehr hätten. An der Verschmelzung der beiden Mittelpunkte arbeite
173 die Dichtung nun schon lange; die Wissenschaft beginne damit. Ja,
wenn die Volkskunde, würden wir in seinem Sinne fortfahren, den
herrschenden Bureaukraten etwas Verständnis für die Eigenart ihres
Volkes zuerst aufzwingen und allmählich vielleicht gar erwünscht
machen könnte, das wäre ein wunderbarer Erfolg. Denn wahrlich,
über das Volk herrscht doch nur, wer es kennt. Wenn wir aber
auch nur auf die grünen Tische dann und wann einmal ein paar Blätter
von dem so ganz anders grünen Baum des lebendigen Volkslebens
flattern lassen können, so mag*s für einen fröhlichen Anfang genug sein.
Über die Zeit sind wir ja theoretisch wohl hinaus, da der Gebildete
sich bewußt verachtend trennte von allem Treiben des ungebildeten
Ober Wesen und Ziele der Volkskunde 291
Volkes und mitleidsvoll herabsah auf Altweibergeschichten, sinnlose
Bauernsitten oder den unglaublichen, der aufgeklärten Zeiten un-
würdigen Aberglauben: wenigstens gibt es doch heute meist noch
etwas andere Gesichtspunkte demgegentiber als den verächtlichen oder
fanatischen Wunsch der Ausrottung. Wozu aber die Kenntnis, ja die
liebevolle Beobachtung volkstümlicher Bräuche und volkstümlichen
Aberglaubens gut sein soll, das wissen doch wirklich nur recht wenige.
Es bleibt ihnen am Ende, auch wenn sie sich das nicht recht klar
machen, eine Sammlung beliebiger Kuriositäten, je unglaublicher, desto
interessanter. Man kann das vielen nicht einmal verübeln bei der
Fülle des disparaten Stoffes, dem sie die Volkskundigen so oft planlos
und ziellos nachlaufen sehen. Werden sie doch auch selten genug
eine verständliche Antwort auf die Frage „cui bono?" erhalten haben.
Hier helfen doch die nationalen und sozialen Gesichtspunkte nicht, um
zu rechtfertigen und zu begründen.
Nun läßt sich ja wiederum leicht von mancherlei Nutzen der Volks-
kunde für die Gebildeten vieles sagen. Am augenfälligsten z. B. ist
es, daß der Pfarrer auf dem Lande nichts wirken kann, ohne die
religiösen Kräfte des Volkslebens und des Volksdenkens zu kennen.
Ein Geistlicher, der sich täuscht über die, ich möchte sagen, massiven
religiösen Bedürfnisse der Bauernseelen, arbeitet schließlich immer in
den Wind. Die Kirche früherer Zeiten hat es so vielfach meisterhaft
verstanden, die den Völkern eingeborenen Formen religiösen Denkens
umzugestalten zu ihren neuen Bildungen, hat oft genug das Alte unter
neuem Namen zu dulden sich klüglich gezwungen gesehen: heute 174
scheinen solche Umbildungen nur gar selten zu gelingen. Manche
theologische Richtung - sie mag noch so sehr den Beifall Gebildeter
verdienen - würde sich nicht einbilden, das religiöse Empfinden des
Volkes nähren und befriedigen zu können, wenn die abstraktions-
freudigen Herrn der Katheder die geringste wirkliche Volkskunde besäßen.
Der Arzt, der nicht weiß, wie das Volk über Gesundheit und Krankheit
denkt und über die Hilfe des Doktors, läßt sich die wirksamsten Kräfte ent-
gehen, die ihm zu Gebote stehen. Die „Volksmedizin" stößt meist
nur auf die plumpe Entrüstung des gebildeten, aber einsichtslosen
Arztes. Ich will nicht von den einzelnen Fällen reden, in denen der
Jurist das Recht nicht findet, weil er volkstümlicher Kenntnisse bar
ist. Vor kurzem wurde ein Bauer in der Mark, der einen Baum vor
seiner Hofraite angebohrt und mit einem Pflock wieder verstopft hatte,
vor unverdienter Strafe allein dadurch bewahrt, daß der Verteidiger
zufällig von dem Volksbrauch wußte, in einem Baum die Krankheit
19*
292 ^^®^ Wesen und Ziele der Volkskunde
oder aber was mit der Krankheit in Berührung gewesen sein muß
wie den Holzpflock einzubohren, um sie verwachsen, vergehen zu
lassen.^ Die Wichtigkeit der Beziehung zum Volke geht bei den Ge-
setzgebern viel tiefer. Von gelehrten und einsichtsvollen Juristen ist
mir rundweg zugegeben, daß die Zusammenhangslosigkeit, ja Gegen-
sätzlichkeit der Gesetzgebung mit dem Rechtsbewußtsein des Volkes
eine beklagenswerte Tatsache sei, ja daß die Herrn der grünen Tische
sich ganz bewußt um das Volk in unserem Sinne nicht kümmerten.
Daß es etwas Großes wäre, wenn die Volkskunde in solchen
Dingen helfen und Wandel schaffen könnte, leuchtet uns ein. Und
weil ich solche Ziele nicht unterschätzt oder vergessen haben möchte,
habe ich sie mit kurzen Worten erwähnt. Aber das alles sind doch
Nebenziele oder praktische Nebenergebnisse. Wohl uns, wenn wir
sie hier und da mit erreichen durch unsere Tätigkeit. Unsere Haupt-
ziele müssen wissenschaftliche Ziele sein, Ziele der Forschung und der
Erkenntnis.
2
Die Kunde von einem Volke im umfassenden Sinne ist wissen-
schaftlich genommen Philologie; so ist die germanische Philologie die
175 Kunde von den germanischen Völkern in allen ihren geschichtlichen
Äußerungen, die klassische Philologie die Kunde von der Gesamtkultur
der antiken Völker, die semitische Philologie die von den semitischen
Völkern. Philologie, wie wir sie heute verstehen, ist zur Geschichts-
wissenschaft geworden. Jeder Philologe, der ein Gesamtvolksleben
wirklich erfassen will, stößt fortwährend in seiner Forschung, sei es
in Literatur oder Recht oder Religion, auf eine Schicht von Er-
scheinungen, die er nicht dadurch in ihrem Wesen und Werden er-
kennen kann, daß er sie in einzelne Akte geschichtlichen Tuns, in die
Handlungen einzelner Individualitäten zerlegt. Am deutlichsten ist, was
ich sagen will, an der Sprache. Sie ist geworden im Volke; wohl
haben Tausende von Individuen nachgeschaffen — denn das Volk hat
nicht einen Mund, nur die einzelnen haben einen -, keines als eine
bewußt schaffende Individualität in einem historisch faßbaren Akte, so-
lange nicht von den vergleichsweise späten Sprachschöpfungen des
gestaltenden Künstlers die Rede ist. Eine ganze Schicht unmittelbaren
religiösen Denkens, religiöser Vorstellungen und Bräuche hat sich in
der vorgeschichtlichen Epoche jedes Volkslebens ausgebildet, in der
^ Frankfurter Zeitung vom 14. März 1902, Erstes Morgenblatt, unter
„Gerichtszeitung".
Ober Wesen und Ziele der Volkskunde 293
kein Forscher mehr individuelle Formung aufzudecken auch nur ver-
suchen kann. Und nicht anders ist es mit den Gestaltungen in Sitte
und Brauch, mit den ersten sozialen Gliederungen, ja mit einer Reihe
von Schöpfungen in geformtem und gebundenem Worte, die wir Lieder
und Märchen und Sagen nennen. Wir brauchen hier die Frage nicht
weiter aufzuwerfen, in welcher Weise auch an all diesen Schöpfungen
eines für uns ungeschichtlichen Untergrundes der Kultur die Individuen
beteiligt waren; das ist klar, daß es sich hier um eine organisch zu-
sammengehörige Unterschicht alles geschichtlichen Volkslebens handelt,
aus deren Mutterboden alle individuelle Gestaltung und persönliche
Schöpfung herausgewachsen ist, in dessen lebendigem Stoff geformt
und umgeformt. So erwächst erst, jenen eben angedeuteten Haupt-
erscheinungen des vorgeschichtlichen und ungeschichtlichen Lebens
entspringend, geschichtliche Religion durch die große Persönlichkeit,
die Offenbarung erlebt und gibt, die eine Volksreligion reinigt und
umformt; so erst geschichtliche Rechtsformen und Gesetzgebung, ge-
schichtliche Staatsformen, die geschichtlichen Gestaltungen in Literatur
und Kunst.
In jener unteren Schicht des Lebens sehen wir, wie die Sprache
Form und Mittel alles reicheren Werdens ist, wir sehen, wie das
religiöse Denken zunächst überhaupt alles Denken ausmacht, und sich
nur ganz langsam und allmählich z. T. überhaupt erst in geschicht-
lich faßbarer Zeit Sitte und Brauch, soziale Gestaltung und die Formen 176
des Lieds und der fest überlieferten Erzählung aus diesen Gedanken
als selbständigere Erscheinungen loslösen. Mit anderen Worten, Volks-
sitte und Volksbrauch, Volkssage und Volksmärchen und Volkslied
sind eng verbunden mit der Volksreligion. Sie ist darum das Wichtigste
in der Erkenntnis dieses Volkslebens überhaupt. Volk ist eben - das
ist nun ohne weiteres klar - die Bezeichnung der Unterschicht der
Kulturnationen, in dem Sinne, den ich im Anfange meiner Dariegung
zu bestimmen suchte. Volkskunde ist eben Erforschung und Erkennt-
nis der „Unterwelt" der Kultur.
Jede geschichtliche Forschung, die ihre Probleme tiefer faßt, führt
zu diesem Untergrund, jede Philologie, die wirklich nach dem Werden
und der Entwicklung der Religion, der Rechts- und Staatsformen, des
Liedes und der Poesie überhaupt und nach deren ursprünglichsten
Formen fragen will, muß die zu der Kultur, die sie erforscht, ge-
hörige Volkskunde treiben. Je fließender die Grenzen zwischen dem
Gebiete des volkstümlichen Glaubens und Dichtens und der geschicht-
lichen Religion und Poesie sind, desto notwendiger muß jeder Philologe
294 ^^®^ Wesen und Ziele der Volkskunde
die Grenze nach unten überschreiten, die Grenze des unmittelbaren
Volkstums. Es gibt nicht nur eine deutsche Volkskunde, es gibt eine
französische und englische, es gibt eine griechische, eine römische,
eine semitische und eine jüdische, eine indische Volkskunde. Wo ge-
schichtliche Kultur erwachsen ist, erwuchs sie aus dem Mutterboden
des „Volks". Und nicht bloß wo Kultur erwachsen ist, gibt es Volks-
kunde: auch wo keine erwachsen ist aus einem „Volke", ist eben
dieses „Volk" der Kunde nicht minder wert. Die Unterschicht, sozu-
sagen, ist allein da ohne die Oberschicht geschichtlicher Entwicklung
bei den kulturlosen Völkern, die man Naturvölker zu nennen sich ge-
wöhnt hat. Es ist hier nicht der Platz, auseinanderzusetzen, welche
Bedeutung es haben muß, „Volk" zu untersuchen, das nicht durch
eine geschichtliche Kultur in allen Äußerungen seines Lebens affiziert
und modifiziert worden ist.
Diese letzten Studien fallen nun freilich aus dem Rahmen der heute
arbeitenden Philologien heraus. Und wenn es bei der vorher be-
sprochenen Volkskunde nur darauf ankäme, daß jede Philologie die
Volkskunde ihrer Kulturnation erforschte, so könnte man wohl inner-
halb der Aufgaben einer Philologie von der Abteilung der Volkskunde
sprechen - es wäre kein Grund, von einer wissenschaftlichen Volks-
177 künde im allgemeinen zu sprechen. Aber gerade bei allen Äußerungen
unmittelbaren, ungeschichtlichen Volkslebens gilt das Gesetz in ganz
anderem Sinne, als bei den geschichtlichen Produkten einer Kultur,
daß eine Erscheinung nicht aus sich selbst erklärt werden kann, daß
die Erscheinungen eines Volkslebens deren Sinn und Ursprung nur
in den seltensten Fällen erkennen lassen. Aus einem Objekt läßt
sich in diesen Dingen bei aller Anstrengung nicht dessen Wesen und
Inhalt heraussaugen. Den Bau der eigenen Sprache hat niemand je
erkennen können ohne Vergleich fremder Sprachen und überhaupt ist
hier wiederum das schlagendste Beispiel das der Sprachwissenschaft.
Wer da weiß, daß sie nur als eine vergleichende Sprachwissenschaft
ihre gewaltigen Erfolge errungen hat, der wird leicht einsehen, daß
auch die Kunde der anderen unmittelbaren Schöpfungen des Volks-
lebens nur dann zu wirklichen Ergebnissen durchdringen kann, wenn
sie als vergleichende Volkskunde zu arbeiten lernt. Ich drücke mich
für mein Teil gern bescheidener aus: die so häufig unvollständigen
Erscheinungen des Volksdenkens, des Volksglaubens, des Volksbrauchs
sind nur zu erkennen durch die Analogie der Erscheinungen, die
anderswo vollständiger zu beobachten sind. Diese wissenschaftliche
Arbeit mit der Analogie wird ja auch tatsächlich nirgends entbehrt,
über Wesen und Ziele der Volkskunde 295
wo es sich um eine Erkenntnis handelt, die über die äußerliche Kon-
statierung des Tatsächlichen hinausgeht. Wenn aber an der Be-
zeichnung vergleichender Sprachwissenschaft heute auch der
strengste Philologe keinen Anstoß mehr nimmt, weil sie den Erfolg
für sich hat, sollen wir auch den Mut haben, von vergleichender
Volkskunde zu reden, wenn wir wissen, daß die Elemente des Volks-
glaubens und Volksdenkens prinzipiell nur in genau derselben Weise
in Ursprung und Zusammensetzung zu untersuchen sind wie die Ele-
mente der Sprache. Es wird die Zeit kommen, da auch hier der Er-
folg den Widerspruch verstummen macht. Auch hier kommt alles auf
die Leistung selber an - dann fragt niemand mehr nach ihrer
prinzipiellen Berechtigung.
Deshalb mag ich mich auch nicht in Erörterungen darüber ver-
lieren, ob die Volkskunde, wie ich sie verstehe, eine selbständige
Wissenschaft sei oder nicht. Ich bin der Überzeugung, daß sie wissen-
schaftlich nur der treiben kann, der in irgendeiner Philologie, d.h.
in dem Studium einer gesamten Volkskultur, so zu sagen, mit beiden
Füßen steht. Nur er kann die Probleme rückwärts verfolgen von dem
festen Boden geschichtlicher Überlieferung aus. Nur den Sprach-
vergleicher erkennen wir an, der wenigstens eine Sprache genau
kennt und beherrscht. Es haben denn auch semitische und indische, 178
germanistische und klassische Philologen bereits glänzende Erfolge in
dieser Art vergleichender Volkskunde zu verzeichnen. Freilich kann
hier wiederum keine Einzelphilologie das ganze Gebiet bearbeiten und
für sich parat und nutzbar halten. Daß sich gerade der Forschungs-
kreis, den ich zu umschreiben versucht habe, mit Notwendigkeit heute
als eine Einheit wissenschaftlicher Probleme zusammenschließt, das
zeige ich besser als durch prinzipielle Erörterungen durch einen kurzen
Überblick über das Hervortreten und Zusammenwachsen dieser Probleme
selbst im letztverflossenen Jahrhundert.
3
Wie unsere Literatur und die philologische Wissenschaft mit ihr
im 18. Jahrhundert zu neuem Leben erwuchsen, hauptsächlich durch
die Einwirkung der geradezu neu entdeckten Volkspoesie, das ist
jedermann bekannt. Man weiß, wie Goethe durch Herder auf das
Volkslied und auf Ossian hingewiesen wurde. Rückkehr zur Natur
wie zur echten Volkspoesie war ja eine Zeitlang ein vielerstrebtes
Ideal. Die Philologie erwuchs wieder am Studium und am eben durch
die Kenntnis der Volkspoesie vermittelten Verständnis Homers:
296 ^^ß'" Wesen und Ziele der Volkskunde
F. A. Wolfs Prolegomena ad Homerum sind das Dokument der ersten
stärkeren Einwirkung der „Volkskunde" auf die klassische Philologie.
Die griechischen Lyriker wurden unter der gleichen Einwirkung sozu-
sagen neu entdeckt. Man darf gerechterweise nicht verschweigen,
daß die ersten Anregungen zu dieser ganzen Bewegung von England
ausgingen. Auch die erste Sammlung von Volksliedern, die überhaupt
ediert ist, stammt von einem Engländer, dem Dichter Percy, und ist
1765 erschienen; das erste Buch, das in dem neuen Geiste zu reden
anfing, war Woods Schrift über das Originalgenie Homers vom
Jahre 1769.
Ich will nicht allzu Bekanntes wiederholen. Wie sehr Goethe selbst
bis auf das einzelne der Volksbräuche sein Interesse ausdehnte, haben
wir kürzlich gelernt, da die Schrift des Sebastian Grüner über die
ältesten Sitten und Gebräuche der Egerländer aus zwei Handschriften
herausgegeben wurde*: der Ratsherr der Stadt Eger schrieb sie 1825
für Goethe nieder, der ihn auf seinen Fahrten nach Karlsbad kennen
gelernt hatte.
179 Die ersten in wissenschaftlichem Sinne Volkskundigen sind die
Brüder Grimm. Was die Herausgabe der Kinder- und Hausmärchen
1812 bedeutete und noch bedeutet für die Wissenschaft und für das
Leben und Denken jedes einzelnen, brauche ich Ihnen nicht auszu-
führen. Noch heute lernt auch der Verbildetste und Volksfremdeste
durch sie wenigstens ahnen, was Fühlen und Sagen des Volkes sei.
Der Leistung Jakob Grimms in der deutschen Mythologie vom Jahre 1835
ist überhaupt so leicht keine andere wissenschaftliche Tat an die Seite
zu stellen. Dieser Gewaltige unter den Großen der Wissenschaft bleibt
das bis heute unerreichte Vorbild im intuitiven Verständnis des tiefsten
Lebens des Volkes und im Formen und Fassen des bisher Ungekannten,
des Ungeahnten, ja des scheinbar Unfaßbaren zu wissenschaftlicher
Betrachtung und Darstellung. Seine Taten sind riesengroß auf dem
Gebiete der Volkskunde, ich brauche ihr Herold nicht zu sein. Seine
Nachfolger sind gering gegen ihn. Von den vielen, die sich nach
ihm bemüht haben, Volkssagen, Volksüberlieferungen, Volksbräuche
zu sammeln und zu erläutern, will ich nur einen nennen, einen der
Verdienstvollsten und früher am meisten Verkannten; ich meine Wilhelm
Mannhardt. In einem äußerlich gar armen Leben voller Leiden und
Enttäuschungen hat er bewundernswerte Leistungen als Sammler und
Organisator zustande gebracht. Er hat das ganze Gebiet der agrarischen
* Beiträge zur deutsch -böhmischen Volkskunde IV 1, von Alois John,
Prag 1901.
über Wesen und Ziele der Volkskunde 297
Volksgebräuche im weitesten Umfange bearbeitet: 1875 erschienen die
Wald- und Feldkulte. Die „Mythologischen Forschungen", die 1884
aus seinem Nachlasse herausgegeben wurden, beschäftigen sich eben-
falls mit diesem Gebiete, und besonders in ihnen wie im 2. Band der
Wald- und Feldkulte hat er durch die Analogie antiker und germanischer
Agrarbräuche - „Ländliche Bräuche diesseit und antike Kulte jenseit
der Alpen" hatte, Müllenhoff als Titel gewünscht - eine Reihe tiefster
Erkenntnisse gewonnen, die auch heute noch von sehr wenigen ganz
verstanden und gewürdigt werden.
Schon Jakob Grimm hatte mannigfache Analogien anderer Völker
zur Erklärung herangezogen, sehr reiche und verschiedene in den Er-
läuterungen zu den Märchen. Die Berechtigung solcher Analogien für
das Verständnis volkstümlicher Überlieferung aus ebenfalls volkstüm-
lichen Überlieferungen irgendwelcher Völker war für Jakob Grimm
unmittelbar selbstverständlich. Eine bestimmter umrissene Gruppe zu
vergleichender Völker und Kulturen wurde ja in jenen Jahrzehnten
durch die Bekanntschaft mit indischer Sprache und Kultur immer mehr
in den Vordergrund gerückt. Auch über die Sprache hinaus griff die 180
Vergleichung und das Streben, die Urheimat dieser und jener Er-
scheinung aufzuzeigen. Benfeys Untersuchungen über die Wanderungen
der Novellenstoffe von Indien zum Westen hat viel Anregung gegeben,
viel berechtigten Widerspruch erfahren und bis heute wenig ernste
Nachfolge gefunden. Die vergleichende Mythologie, die in ein paar
genialen Hochbauten und einer Menge Strohhütten eilends sich anzu-
siedeln begann, ist zum großen Teil von den Bodenerschütterungen in
der wissenschaftlichen Welt der Folgezeit umgeworfen worden. Ja,
der Name erregt manchem noch ein gelindes Gruseln. Leute wie
Max Müller waren auch gar zu unsolide Baumeister, als daß sie auf
der unsicheren Stätte hätten neu aufbauen können. Der hauptsächliche
Grund des Niedergangs - wenn man das mit einem Wort sagen
kann - war der, daß alles auf die Sprache gebaut war, ehe wirkliche
„Volkskunde" überhaupt die Möglichkeit geschaffen hatte, mit Hilfe der
Sprache Richtiges zu finden.
Alles aber, was von Volkskunde schon durch die Grimms zu so
reichem Leben gediehen war, faßte man nicht als einen in sich zu-
sammengehörigen Studienkreis auf und man bedurfte keiner besonders
zusammenfassenden Bezeichnung dafür. Eine solche ward in England
aufgebracht. Am 27. August 1846^ erschien in der englischen Wochen-
^ [Vielmehr 22. August; verbessert von Fr. Beyschlag, Blätter f. d. Gymn.
schulw. 49, 241.]
298 ^^^^ Wesen und Ziele der Volkskunde
Schrift Athenäum (S. 862/3) ein Artikel, überschrieben „Folklore".
Unterschrieben stand Ambrose Merton, zu welchem Pseudonym sich
dann über Jahresfrist William John Thoms bekannte. Er erklärt,
Folklore umfasse the traditional beliefs, legends and customs, current
among the common people oder weiterhin manners and customs,
observances, superstitions, ballads and proverbs. Was man in England
bezeichne as populär Antiquities or populär Literature, das könne man
passend benennen by a good Saxon Compound, Folk-Lore - the Lore
of the people.^ Der Verfasser nimmt ausdrücklich für sich die Ehre
in Anspruch, die Benennung Folk-Lore einzuführen, as Disraeli, fügt
er charakteristisch erweise hinzu, does of introducing fatherland into
the literature of this country. Der Name bezeichnet also das Wissen,
die Weisheit des Volkes, mündlich fortgepflanzte Volksüberlieferung
(more a Lore than a Literature), was das Volk weiß, nicht die Kunde
181 vom Volke. Der Name fand allgemeinsten Anklang, wie sein Schöpfer
bereits 1847 im Athenäum dankbar und triumphierend verkündet. Und
die Sache, die dieser Name bezeichnet, gewann in England alsbald
große Dimensionen, bis dann im Jahre 1877 die jetzige große Folk-
Lore Society in London gegründet wurde, den mannigfachen Be-
strebungen einen Mittelpunkt zu geben. Eine fruchtreiche Tätigkeit hat
sie entfaltet und lange Reihen von Publikationen - darunter sehr wert-
volle — sind ihr Werk.
Auch in diesen Dingen zeigt sich deutlich, wie das britische
Kolonialreich den wissenschaftlichen Horizont erweitert hat. Von vorn-
herein gehört zum Folklore das Studium der beliefs and customs,
institutions and superstitions der Naturvölker. Die klare Erkenntnis,
daß wir zu verlorenen Stufen der Entwicklung, zu geschichtlich nicht
mehr faßbaren Perioden des Lebens der Menschheit nur vorzudringen
hoffen können durch das Studium der auf den ersten Stufen der Ent-
wicklung, nach gewöhnlichem und nicht mißverständlichem Sprach-
gebrauch „kulturlos" gebliebenen Völker der Erde, ist, ich kann nicht
genau sagen, ob hier zuerst gewonnen und ausgesprochen, jedenfalls
zu einem der treibenden Gedanken in der lebendigen Bewegung der
Folklorebestrebungen geworden.
Der größte Bahnbrecher für diese Gedanken und für das ernste
Studium der Naturvölker überhaupt ist ein Deutscher, der Marburger
Professor Theodor Waitz gewesen, der in einer Umgebung, die ihn
* Ich schöpfe aus Murreys engl. Wörterbuch und aus G. Kossinnas Auf-
satz in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde VI (1896) 188.
Ober Wesen und Ziele der Volkskunde 299
nicht verstand, lange Jahre gelehrt und gelitten hat.^ Ihm kam es ja
mit seiner Anthropologie der Naturvölker zunächst wesentlich darauf
an, „die Vermittlung des naturwissenschaftlichen und des historischen
Teiles unseres Wissens vom Menschen zu erstreben", „gerade an dem
Punkt seines Übergangs aus der Isoliertheit in das gesellschaftliche
Leben" zu erfassen „und die Bedingungen und Folgen seiner Weiter-
entwicklung zu untersuchen"; aber heute noch ist eben durch die
Fülle des fleißig und sorglich zum ersten Male vereinten und gesichteten
Materials sein großes Werk „die Anthropologie der Naturvölker", das
der jetzige Straßburger Geograph Gerland mit hingebender Sorgfalt
zu Ende geführt hat, ein Haupt- und Grundbuch für alle, die wegen
irgendeiner Frage bei den Naturvölkern nachzufragen sich genötigt
sehen, und für uns alle eine eindringliche Mahnung, diesen Reichtum 182
nicht ungefragt zu lassen, wenn es sich um die Probleme der vor-
geschichtlichen Menschheit handelt. Unter dem Namen der Anthro-
pologie sind* seitdem vielfach die Aufgaben befaßt oder mitbefaßt
worden, die wir der Volkskunde stellen. Und gerade in England sind
unter diesem Namen die Probleme einer Forschung nach dem Ur-
sprung und der ersten Entwicklung der Kultur ergriffen und durch
glänzende Leistungen gefördert worden. Wenn ich von den weit-
wirkenden Anschauungen Herbert Spencers und ihrer Bedeutung auch
in diesem Gebiet hier absehe - vornehmlich wegen meiner un-
zureichenden Kenntnis -, so darf ich um so nachdrücklicher die
großen Werke Edward B. Tylors hervorheben, dem vielleicht einmal
eine Volkskunde der Zukunft nächst Jakob Grimm am meisten wird
danken müssen. Namentlich die zwei Bände der Primitive Culture
enthalten fast auf jeder Seite fundamentale Erkenntnisse oder doch
weittragende Anregungen für eine vergleichende Volkskunde. Die
bedeutendste Erscheinung unter denen in England, die sich direkt zu
der Arbeit des Folklore bekennen und sie fördern, ist Andrew Lang.
Er hat den oben aufgestellten Satz von der Art der Verwendung der
Naturvölkerkunde mit Energie zur Geltung gebracht und in seinen
Büchern wie „Custom and Myth", „Myth Ritual and Religion", „The
making of Religion", „Magic and Religion" wird jeder Philologe und
jeder Volkskundige, der sie kennt, wie weit er auch immer der
» Bahnbrechend in anderem Sinne hätte vielleicht auch das 1856 in Riga
erschienene Buch von C. Schirren sein können über „die Wandersagen der
Neuseeländer und den Mauimythus": er hat mit damals unerhörter Bestimmtheit
die Bedeutung der primitiven Völker für Mythenforschung erkannt. Weil das
Buch so vergessen ist, nenne ich's hier.
300 ^^ö*" Wesen und Ziele der Volkskunde
glänzenden Beredsamkeit wird folgen können, die tiefste und ernsteste
Förderung zu verdanken haben. Wenn ich unter der reichen Zahl
eifriger Nachfolger und Mitarbeiter der Genannten, von deren Arbeiten
mir natürlich viele bisher unbekannt geblieben sind, noch einen an-
führen möchte, so bin ich dessen sicher, einen Namen zu nennen, an
den sich schon jetzt gar manches Philologen ehrlicher Dank knüpft.
Unter einem Titel, unter dem man es nicht vermutet, ist uns nun
schon in zweiter Ausgabe in drei Bänden eine wahre Schatzkammer
von wertvollstem Material und klugen Abhandlungen über eine Menge
für uns wesentlicher Probleme geschenkt worden: ich meine The
golden bough, a study in Magic and Religion von J. G. Frazer,
London 1900. Ich. gehe nicht auf die mancherlei Gegensätze und
Streitpunkte bei den Aufstellungen der englischen „Folkloristen" ein,
noch weniger auf den zum größten Teil unbegründeten Argwohn, der
ihnen von deutschen Philologen vielfach entgegengebracht wird. Die
Mängel, die manchen, aber durchaus nicht allen Büchern der genannten
183 Art in England anhaften, sind meist dadurch veranlaßt, daß die Autoren
zu keiner philologischen Forschung und Erkenntnis in rechtem Ver-
hältnis stehen. Aber es ist heute, scheint mir, viel wichtiger, daß die
großen englischen Werke, die ich genannt, gelesen und verwertet,
als daß sie nicht gelesen und verurteilt werden.
Den Anregungen der englischen Folklore -Bestrebungen sind andere
Völker gefolgt, und es ist erfreulich für uns zu beobachten, wie dann
meist, sobald sie tiefer steigen, der gewaltige Schatten Jakob Grimms
beschworen wird, zu helfen und den Weg zu weisen. Amerika hat
seine Gesellschaft und sein Journal of Folklore seit über 10 Jahren.
Frankreich hat schon viel länger seine lange Reihe von Veröffentlichungen,
den Traditions populaires, eröffnet - die Melusine des vortrefflichen
Gaidoz ist leider mit dem 10. Jahrgang zu Ende gegangen -; in
Italien erscheinen die Tradizioni populari, von Pitre begründet, in
Belgien gibt's Veröffentlichungen für wallonische und vlämische Volks-
kunde, in Schweden und Dänemark gibt es bereits achtungswerte
Leistungen, organisierte Vereine und Publikationen soviel ich weiß seit
etwa den letzten 20 Jahren. Ich brauche dergleichen hier nicht weiter
anzuführen: in einer jüngst erschienenen Bibliographie^ findet der
Suchende leicht mehr, als er zu wissen wünscht.
^ In Vollmöllers Jahresbericht über die romanische Philologie IV, Heft 3,
haben Schermann und F. S. Krauß über die allgemeine Methodik der Volks-
kunde und die Erscheinungen 1890-1897 einen reichen Bericht geliefert.
über Wesen und Ziele der Volkskunde 3q1
4
Die Umgrenzung der Volkskunde, meist mit der Bezeichnung als
Folklore \ ist im großen und ganzen in den genannten Ländern über-
nommen und man wandte ja auch in Deutschland bis in die 90 er
Jahre viel häufiger den Ausdruck Folklore, sogar mit den allerdings
abscheulichen Ableitungen Folklorist und Folkloristik an, als eine
andere Bezeichnung. V^ann zuerst das W^ort Volkskunde für einen
entsprechenden bestimmten Studienkreis in Anspruch genommen ist,
weiß ich nicht. Das aber ist eine der seltsamsten Verwandlungen der
Bezeichnung und mit ihr allmählich des Wesens einer Wissenschaft,
daß man mit Volkskunde das englische Folklore zu übersetzen glaubte, 184
und nun statt der Wissenschaft von der Weisheit und den Über-
lieferungen des Volkes eine Wissenschaft, eine Kunde vom Volke
überhaupt hatte. Durch diese seltsame Umdrehung und Umdeutung
des Wortes und Begriffes ist nach meiner Überzeugung die Volks-
kunde auf die bedenklichen Bahnen geraten, die sie heute immer
wilder verfolgt. Ich sehe mit einigem Schrecken die Folgen der Be-
nennung für den Inhalt dieser Studien. Wer eine Definition der Volks-
kunde geben soll, saugt an dem Worte, bis er das große Diktum von
sich gegeben hat: Volkskunde ist die Kunde vom Volke in allen seinen
Lebensäußerungen. Und mit Stolz betont man wohl, daß die Volks-
kunde viel umfassender sei als der Folklore, „sie umfaßt auch die
Kunde des Folklore, aber sie ist nicht selbst Folklore". Sehen wir,
wohin das führt. Weinhold hat 1890^ definiert: „Die Volkskunde hat
die Aufgabe, das Volk, das ist eine bestimmte, geschichtlich und
geographisch abgegrenzte Menschenverbindung von Tausenden oder
Millionen, in allen Lebensäußerungen zu erforschen", und in der
programmatischen Aufstellung der Aufgaben im L Heft seiner Zeit-
schrift zählt er dann in der Tat sogar zunächst die physische Er-
scheinung des Volkes dazu, Knochenbau und Schädelbildung, Muskel-
ausbildung bei Mann und Weib, Gesichtszüge (dabei Farbe der Augen
und Haare), er beginnt die eigentliche Volkskunde mit den äußeren
Zuständen, mit der Volksnahrung einst und jetzt, Bereitung derselben,
dann Tracht und Wohnung; weiter folgen erst die Dinge, von denen
oben immer die Rede gewesen ist. Ich finde am weitesten getrieben
' Das Kapitel von Andrew Lang The Method of Folklore in Custom and
Myth 2. ed. 10 ff. wird am präzisesten die Hauptgesichtspunkte geben, die einst-
weilen fast durchweg dort maßgebend blieben.
« In dem Aufsatz „Was soll die Volkskunde leisten?« im letzten Bande der
Zeitschrift für Völkerpsychologie XX S. 2.
302 ^^®r Wesen und Ziele der Volkskunde
diese Ausweitung der Aufgaben in dem Arbeitsplan, den der sächsische
Verein für Volkskunde gegeben hat: nicht bloß Geologie des Landes,
alles, was man im engeren Sinne Geographie nennt, die Besiedelung,
die gesamte Bevölkerungsstatistik samt Konfessions- und Religions-
statistik, Schulwesen, Kriminalstatistik, Berufsstatistik, ja Besitz und
Einkommen, Natural- und Feldwirtschaft, die ganze Nationalökonomie,
im Ausschnitt für Sachsen, gehören dazu. Man verstehe mich nicht
falsch. Mir fällt gar nicht ein, die Berechtigung all der Aufgaben zu
bestreiten oder auch nur zu verkleinern: aber dies Konglomerat von
Aufgaben ist doch weder eine Wissenschaft, der einheitliche Probleme
feste Gesetze geben, noch ein Forschungsgebiet, dem menschliche
Forscher sich widmen können. Der Einheitspunkt ist in dem letzt-
185 erwähnten Plan nur das Land, für das die verschiedensten Wissen-
schaften und die verschiedensten Gelehrten - so ist ja auch die Zu-
sammenarbeit der verschiedensten Fachleute in Sachsen geplant -
eine „Landeskunde" mannigfaltigsten Wertes liefern können. Nur da-
gegen darf ich Verwahrung einlegen, daß diese Art der „Landeskunde"
wissenschaftliche Volkskunde sei.
Viel eher noch ist es das, was die Kunde vom Volke in allen
seinen Lebensäußerungen umfaßt, aber das ist so allgemein eben die
geschichtliche Philologie, die diesem Volke gilt, und beschränkt man
die Volkskunde, wie zu geschehen pflegt, auf die kulturlose Unter-
schicht, auf vulgus in populo, so ist das wohl äußerlich eine Unter-
abteilung jeder Philologie; andererseits stehen wir wieder einer
grenzenlosen, einstweilen ordnungslosen Fülle der Aufgaben gegenüber,
die mit einer eigenen Bezeichnung besonders abzutrennen ein schwer-
lich berechtigtes Vorgehen wäre. Daß die germanistische Wissenschaft,
wie es die klassische Philologie für die Erforschung der antiken Völker
schon lange getan hat, die Forderung prinzipiell aufstellt, das deutsche
Volk in allen seinen Lebensäußerungen und eben auch das niedere,
das eigentliche Volk in allem Denken und Schaffen und Handeln auf-
zusuchen, ist nur recht und rühmenswert. Und daß unsere Volkskunde
auf jeden Fall in diesem Kreis zu arbeiten hat, in der Erforschung
deutschen Volkes, geleitet von der germanistischen Wissenschaft, ist
nur selbstverständlich. Wenn eine Volkskunde als ein besonderer
Forschungskreis umgrenzt wird, so heißt das noch etwas anderes.
Der Vergleich mit der Sprache redet wieder am deutlichsten: es gibt
eine Wissenschaft der deutschen, der griechischen usw. Sprache
innerhalb der betreffenden Philologie und es gibt eine allgemeine,
eine vergleichende Sprachwissenschaft, die freilich keiner, ohne eine
über Wesen und Ziele der Volkskunde 393
jener spezielleren Wissenschaften zu beherrschen, betreiben kann.
So auch hier. Es gibt eine Kunde von nächst der Sprache unmittel-
barsten Äußerungen des Menschen, Glaube, Sage, Sitte, in jeder
Philologie diejenige von Glaube, Sage, Sitte des betreffenden Volkes,
und es gibt und muß geben eine Forschung, die sich auf Glaube,
Sage, Sitte der verschiedenen Völker, soweit sie die in sicheren Be-
reich ihrer Studien ziehen kann, richtet: die Bezeichnung Folklore ließ
für die Engländer keinen Zweifel, was gemeint war, und sie sind nie
schwankend geworden in den Wesens- und Grenzbestimmungen.
Aber nur für das Gleiche kann der besondere Name einer Volks-
kunde, einer vergleichenden Volkskunde Berechtigung haben, wie ich
sie oben bereits in ihrer selbständigen Bedeutung zu charakterisieren
versucht habe.
Wir müssen zunächst einsehen, daß der Name unglücklich gegriffen 186
ist; die Verwechslungen und falschen Ausdeutungen sind gar nicht zu
vermeiden. Daher auch die endlosen Debatten über das, was Volks-
kunde sei und umfasse. Es ist nun einmal nicht zu ändern; der
Name ist festgewurzelt und zu dem englischen Folklore wollen und
können wir nicht zurückkehren. Aber es ist die höchste Zeit, daß
das Streben nicht auf grenzenlose Erweiterung des Gebiets gehe,
sondern umgekehrt auf straffe Einspannung in die wirklich zusammen-
gehörigen und wirklich einheitlichen wissenschaftlichen Probleme.
Manche, dem nächsten Wortsinn nach ganz mißverständliche oder
nichtssagende allgemeine Benennung einer Wissenschaft (wie z. B. der
Physik), ist durch einfachen Usus auf ein bestimmt umrissenes Gebiet
spezialisiert worden, so daß sie jedermann richtig versteht. Jedenfalls
muß erreicht werden, daß die Kunde vom Denken und Glauben, von
der Sitte und Sage des Menschen ohne Kultur und unter der Kultur
den Kern der Forschung der Volkskunde bildet. Was außerdem
herangezogen werden muß, kommt nur in Betracht, so weit es dieses
Volksdenken, Volksglauben, Volkssagen, Volksbrauch und Volkskunst,
wenn das Wort gestattet ist, erklärt. Das können natürlich auch sehr
materielle Dinge sein - nicht bloß immaterielle (A. Lang) - wie Tracht
und Hausbau, Möbel und Schnitzwerk, die Anfänge einer Kunstübung.
Aber alles dient nur der Erkenntnis jener geistigen Funktionen.
5
Alles einzelne ergibt sich bei der Arbeit selbst. Und so will ich
mich denn auch nicht mit subtilen Grenzregulierungen gegenüber den
Bestrebungen der Anthropologie und Ethnologie abgeben. Diese leiden
304 ^^^^ Wesen und Ziele der Volkskunde
in der Tat wie eine Anzahl ähnlicher noch junger Wissenschaften an
einer unglücklichen Grenzenlosigkeit, ja, wie etwa die Geographie an
einer fast wie es scheint unheilbaren Rückenmarkskrankheit ihres
wissenschaftlichen Organismus. Nicht selten hat in solchen Fällen der
äußere Name den unendlichen Erweiterungsdrang hervorgerufen oder
doch verstärkt. „Anthropologie" als die Wissenschaft vom Menschen
umfaßt ja alle Studien, die sich auf physische Beschaffenheit und auf
geschichtliche Entwicklung des Menschen beziehen und man mag ja
alle Anatomie und Biologie, alle Philologie und Geschichte unter dem
Namen begreifen und sich so die prinzipielle Einheit aller Wissenschaft
187 vom Menschen gegenwärtig halten. Es hätte aber etwas geradezu
herausfordernd Komisches, wenn sich in solchem Sinne ein einzelner
als „Anthropologen" bezeichnen wollte, wenn nicht in der Praxis die
Anthropologie ganz bestimmte engere Gebiete der Menschenforschung,
in freilich bei den einzelnen Forschern noch sehr verschiedener Um-
grenzung und Auffassung, zum Gegenstand ihrer Untersuchungen ge-
macht hätte. Ein namhafter Gelehrter auf dem Gebiete der Ethnologie
oder Völkerkunde hat rundweg die Geschichte eine Hilfswissenschaft
der Völkerkunde genannt, da sie in Wahrheit nichts anderes sei als
historische Völkerkunde; denn die letztere willkürlich auf die Zustände
der Gegenwart zu beschränken, liege kein Grund vor. Sie irgendwie
innerhalb des geradezu allumfassenden Gebietes zu beschränken, liegt
in der Tat nur der eine sehr triftige Grund vor, daß erst dann Ethno-
logie der Name einer zu gesondertem Betriebe berechtigten Wissen-
schaft wird. Das ist er ja tatsächlich längst geworden und ein Blick
in die Literatur und in die Sammlungen der Völkerkunde lehrt ja, daß
Steinthal im großen und ganzen recht hatte, wenn er in der Völker-
kunde die Wissenschaft für das Leben der „ungeschichtlichen" Völker
sehen wollte. Die Erkenntnis der geschichtlichen Entwicklung der
Menschheit, der geschichtlichen Völker war ihm Philologie. Friedrich
Ratzel erkennt die Aufgabe der Völkerkunde darin, die Menschheit,
wie sie heute lebt, in allen ihren Teilen kennen zu lernen. Es treten
aber die Kulturvölker mit ihren geschichtlich begründeten komplizierten
Lebensäußerungen ganz von selbst in den Hintergrund, da eben hier
die Philologien die Schlüssel der Erkenntnis verwahren, die der Völker-
kundige von heute handhaben zu lernen meist verschmäht. Sie wissen
es ja nicht, daß fast immer der einzelne Sterbliche nur mit ihrer einem
wirklich aufzuschließen lernt Pforten wahrer und tiefer Erkenntnis. Am
nächsten steht den Problemen der „Volkskunde" in unserem Sinne,
was die Völkerpsychologie früher öfter denn heute als besondere
Ober Wesen und Ziele der Volkskunde 3O5
Wissenschaft in Anspruch nahm. Für Wilhelm Wundt sind Sprache,
Mythus und Sitte die drei Grundprobleme der Völkerpsychologie und
dieser umfassende Geist geht in der Tat auf seinen eigenen, vielleicht
nur gar zu geraden und direkten Wegen zu den gleichen Zielen, die
einer „Volkskunde" der Zukunft gesteckt sind.
Die Hauptsache für die Philologen und die Ethnologen und Völker-
psychologen ist es aber heute wahrlich nicht, sich durch prinzipielle
Gebietsstreitigkeiten zu entfremden. Es ist zunächst das wichtigste,
daß wir ineinander gerade in den Problemen, die ich hier erörtere, 188
natürliche Bundesgenossen erkennen, und daß wir ernsthaft beginnen,
voneinander lernen zu wollen. Statt immer wieder auf das Un-
methodische und Dilettantische einzelner oder vieler Leistungen der
einen herabzusehen und von der Zurückgebliebenheit und Verknöcherung
der anderen sich verächtlich abzuwenden, sollten beide wissen, daß
so vielfach gerade was ihnen fehlt auf der anderen Seite zu finden
ist. Die Ethnologen können von uns Philologen viel lernen, aber wir
Philologen können auch von ihnen sehr viel lernen, dessen wir zur
Lösung, ja überhaupt zur Stellung vieler großer Probleme gar nicht
entraten können. Es muß sich rächen, wenn unsere Fachgenossen an
so außerordentlich bedeutsamen Schriften wie etwa denen von Heinrich
Schurtz achtlos und ahnungslos vorübergehen. Das letzte Buch von
Schurtz über Altersklassen und Männerbünde gibt eine erste Grund-
lage, die Entwicklung gesellschaftlicher Gestaltungen der Menschheit
nicht mehr bloß zu konstruieren, sondern geschichtlich zu erfassen.^
Ein Buch wie das von dem Nationalökonomen Karl Bücher über „Arbeit
und Rhythmus", eine glänzende Leistung der Volkskunde in dem rechten
Sinne, den wir meinen, hat wieder einmal gezeigt, wie die Verbindung
der Arbeit verschiedener Studienkreise zu den wesentlichsten wissen-
schaftlichen Erkenntnissen führt und es hat - ein seltener Fall - den
Beifall aller beteiligten Zünfte gefunden. Die Ethnologen sollten aber
an ihrem Teile einsehen, daß Philologie nicht nach der Erinnerung an
irgendeinen schlechten Lehrer oder der Begegnung mit irgendeinem
armseligen Wald- und Wiesenphilologen zu beurteilen ist. Wenn sie
wollten, würden sie leicht sehen, wie gerade die klassische Philologie,
die sie für die Toteste der Toten halten, in den letzten Dezennien die
größten, sie würden wohl sagen die modernsten Probleme auf allen
Gebieten geschichtlicher Forschung mit jugendfrischem Mut und glänzen-
» Ich rede absichtlich nicht von Bastians Werken, um nicht die schuldige
Hochachtung vor dem bedeutenden Manne zu verletzen. Englisch kann man
lernen, wenn man's nicht kann; die Sprache Bastians kann man nicht lernen.
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 20
306 ^^^^ Wesen und Ziele der Volkskunde
den Erfolgen, in Wahrheit die Führerin der heutigen Geschichtswissen-
schaft, angegriffen hat. Sie hätten sehen sollen, welch brennendes
Interesse vor Jahren von den Steinens herrliches Buch „Unter den
Zentralvölkern Brasiliens" unter einem Kreise von germanistischen und
klassischen Philologen hervorrief und nach allen Seiten anregend und
aufklärend auf ihre Studien wirkte. Ich muß dann freilich auch des
189 hochverehrten Fachgenossen gedenken, der meinen Abfall vom heiligen
Geiste der Philologie für besiegelt hielt, als ich ihm von der Lektüre
des Steinenschen Buches erzählte.
Wenn wir Philologen wissen, daß wir in etlichen, ja allen Haupt-
gebieten unseres Faches nicht zu wirklich wissenschaftlicher Er-
kenntnis vordringen können, ohne die Analogien zu verwerten, die
eben die Volkskunde liefert, wie ich sie umgrenzt habe, so ist es un-
sittlich, trotzdem bei der Arbeit an eben jenen Problemen auf diese
Analogien in traditionellem Zunftbetrieb verzichten zu wollen. Wer den
Weg zur Wahrheit kennt und geht ihn doch nicht, wenn er zu dieser
Wahrheit will, auch der ist in der Wissenschaft ein erbärmlicher
Wicht.
Die Historiker, die sich über die Bedeutung des Individuums und
der Massen im geschichtlichen Völkerleben streiten, reden Wind, so-
lange sie sich nicht ernsthaft über das Wesen der Vorgänge des un-
mittelbaren Volkslebens in Glauben und Sitte, Recht und sozialen Ge-
staltungen am wirklichen Material belehrt haben. Nur so kann man
im Verständnis der Äußerungen und Schöpfungen der „Massen", bei
denen wohl Individuen beteiligt, aber Individualitäten für geschichtliche
Forschung nicht zu unterscheiden sind, und bei der Entwicklung der
schöpferischen Persönlichkeit aus dem Mutterboden des „Volkes" über
Phrasen und Wortstreitereien hinauskommen.
Darum ist gewiß nicht jeder Philologe oder Historiker verpflichtet,
an der Arbeit für die der Volkskunde im besondern gestellten Probleme
sich zu beteiligen. Die wesentlichen Resultate wird einst jeder von
ihnen, das wage ich vorauszusagen, zu den hauptsächlichsten Funda-
menten seiner Forschung zu rechnen haben. Denn es handelt sich
um nichts weniger als darum, mit induktiv -geschichtlichen Methoden
zu Gesetzen der Entwicklung menschlichen Denkens vorzudringen. Ich
will über diese schwierigen und vielen anstößigen Dinge nur wenige
Worte sagen; das aber kann ich nicht ganz unterlassen. Wenn wir
gewisse Tatsachen des Volksglaubens und der Volksbräuche in den
unteren Schichten unseres Volkes feststellen, da wo wir sie in unseres
eigenen Volkes Leben am sichersten erkunden und in ihren Haupt-
Ober Wesen und Ziele der Volkskunde 397
formen erfassen können, wenn wir die gleichen Tatsachen in eben
diesen klar erkennbaren Hauptformen für das Volksleben eines ge-
schichtlichen Kulturvolkes, also z. B. der Griechen und Römer, als ge-
schichtlich bezeugt vorfinden, und wenn wir endlich die gleichen
Tatsachen in den wiederum klar erkennbaren Hauptformen für sogenannte
Naturvölker an weit voneinander entfernten Punkten der Erde einwand-
frei und zweifellos erforscht, bezeugt und klargestellt bekommen, so 190
stehen wir - falls in eben den vorliegenden Fällen gegenseitige Über-
tragung im gewöhnlichen Sinne mit Sicherheit auszuschließen möglich
ist (und das ist in zahlreichen Fällen möglich) - so stehen wir, sage
ich, vor dem Material zur Erfassung von Gesetzen der Entwicklung
des menschlichen Denkens. In den Fällen, die ich im Auge habe,
handelt es sich um religiöses Denken und dessen Formen. Freilich
wird das primitive Denken in gewissem Sinne immer und überall
„religiös" sein. Ich will nur auf ein Beispiel hinweisen, das ich ein-
mal später in ausführlicher Untersuchung vorzulegen hoffe. Wenn
ganz konkrete Zauberbräuche in allen wesentlichen, sehr leicht kon-
trollierbaren und von jeder Deutung unabhängig festzustellenden Einzel-
heiten (sogar öfter die Hauptformeln und Wendungen der Zaubersprüche)
in unserem Volksbrauch, im Volksbrauch der Alten (von deren Zauber-
büchern wir wieder viele besitzen) und im Brauche etwa der Malayen
von Malakka, der Neger am Kongo, der Indianer von Nordamerika
übereinstimmen, wenn gegenseitige Übernahme bis auf ganz ver-
schwindende Einzelheiten und einige ganz zurücktretende Möglichkeiten
ausgeschlossen ist, (die Übertragung ähnlicher Dinge ist ein sehr
interessantes geschichtliches Problem für sich), so müssen an solchem
Material bestimmte Formen zu erforschen sein, die das menschliche
Denken auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung durchgemacht
hat. Irgendwelche Theorien vom gemeinsamen oder nichtgemeinsamen
Ursprung des Menschengeschlechts ändern an dieser Problemstellung
gar nichts.^ Man meint, das könnte gar niemand abstreiten. Und
wenn es nicht abzustreiten ist, muß dann nicht jeden eine Ahnung
von der Größe der hier gestellten Probleme überkommen?
Sie liegen, so fern sie noch von irgendwelcher Lösung sind, heute
näher als die, von deren Lösung schon jetzt eine optimistische Völker-
^ Im übrigen möchte ich nur aussprechen, daß ich einen Streit darum, ob
man bei solchen Gesetzen, wie ich sie meine, von Naturgesetzen sprechen
dürfe oder nicht, für ganz müßig halte. Wir werden ja erst finden, welcher
Art die Gesetze sind, und es sind eben Gesetze geistiger Entwicklungen, die
anders sind und so viel schwerer zu finden und zu formulieren als die der
Naturvorgänge.
20*
308 ^^®^ Wesen und Ziele der Volkskunde
Psychologie träumt. Die Denkformen der Psyche jedes einzelnen
Volkes in ihrer Verschiedenheit, in ihrer charakteristischen Differen-
zierung wissenschaftlich zu erforschen, ist bis heute eine völlige Utopie,
wie noch so manche ähnliche Fragestellungen, von denen man lesen
und hören kann.
191 Aber weder Utopie noch Phantasterei, sondern eine sehr ge-
bieterische Forderung gerade an die wissenschaftliche Arbeit unserer
Zeit — denn verschiedenen Zeiten sind verschiedene Probleme gestellt
- sind die Aufgaben einer philologisch -psychologischen, vergleichen-
den Volkskunde, wenn ich denn auch einmal ein paar große Worte
zusammensetzen darf.
6
Es handelt sich ganz und gar nicht um eine neu zu gründende
oder neu gegründete Wissenschaft; kein Prophetentum neuer wissen-
schaftlicher Offenbarungen soll getrieben, auch keine neuen Lehrstühle
für Volkskunde sollen gefordert werden. All dergleichen ist mir in
der Seele verhaßt. Es ist mir auch eigentlich im innersten gleich-
gültig, ob man „Volkskunde" als eine selbständige Wissenschaft an-
erkennt oder nicht. Vor Leuten, die nur Volkskunde als ihre Wissen-
schaft betreiben, mag uns der Himmel in Gnaden bewahren. Viel
wichtiger ist es, der namentlich unter Philologen nicht selten geäußerten
Anschauung entgegenzutreten, daß es noch nicht Zeit sei, den oben
skizzierten Aufgaben näher zu treten. Das Material sei noch zu spärlich
und man dürfe zu vergleichen überhaupt erst beginnen, wenn alle
Einzelforschung vollständig getan sei. Die den ersten Grund geltend
machen, zeigen sträfliche Unwissenheit. Wir verfügen bereits, so un-
endlich viel auch noch zu tun bleibt, über ungeheure Mengen ein-
wandfrei vorgelegten Materials sowohl was Deutschland anbetrifft als
auch z. B. was die Naturvölker angeht. Eine ganze Reihe ausgezeichneter,
namentlich englischer Werke (ein Muster in unserer Literatur, das
Werk von den Steinens, nannte ich oben) und reicher Sammlungen,
soweit sie für diese Dinge in Betracht kommen, verdienen absolut
nicht den Verdacht der Ungenauigkeit oder Zweifelhaftigkeit des Be-
richteten. Man darf wohl sagen, daß es höchste Zeit ist, daß neben
dem Sammeln und Sichten des Materials die Aufgaben der wissen-
schaftlichen Verwertung ernsthaft in Angriff genommen werden. Hätten
wir, um das oben gegriffene Beispiel wieder zu verwenden, eine ge-
schichtlich-philologisch, vom Deutschen oder Antiken als philologischen
Fundament ausgehende Untersuchung und Darstellung der Haupt-
Ober Wesen und Ziele der Volkskunde 309
formen des Zauberbrauchs und Zauberspruchs mit einer Art Ur-
kundenbuch aller hauptsächlichen Gestaltungen, so wäre der heute
völligen Planlosigkeit und Zwecklosigkeit der zahllosen Publikationen
von immer wieder demselben Aberglauben und denselben Zauber-
sprüchen an allen möglichen Orten der Literatur sofort abgeholfen. 192
Dann wäre in jedem Falle sogleich zu erkennen, wo neuer Aufschluß
gegeben wird.
Kann man wirklich mit dem Heranziehen von Analogien warten,
bis die einzelnen Tatsachen ganz erforscht sind? Wie oft kann die
Forschung erst wieder durch die Anregung der Analogie weiter gehen.
Gerade durch diese Wechselwirkung wird der Fortschritt so oft bewirkt.
Sollte Erwin Rohde warten, uns den Dionysoskult in seiner tiefsten
Natur ganz verständlich zu machen durch die Analogie etlicher
orientalischer und gewisser Bräuche der Naturvölker, bis die griechische
Religion in allen ihren Einzelheiten erforscht war? Und ich behaupte,
daß wir eben in der antiken „Mythologie" - und wahrlich nicht bloß
der Mythologie! - überall gerade da festsitzen oder falsch fahren,
wo die Volkskunde, wie ich sie meine, nicht weiter hilft. Ist das Ge-
biet hier und da „verschwommen" - nun, alles Gebiet war ver-
schwommen, bis feste Fundamente gelegt und feste Wege gebaut
wurden. Und im Gegenteil: mythologischer Forschung, in der wieder,
von glänzenden Ausnahmen abgesehen, ein wahres Narrentreiben sich
breit macht, kann die ernste Beschäftigung mit den Dingen der Volks-
kunde festere Zucht verleihen. Ein Mann, der mit dem Denken und
Empfinden des „Volkes" innerlich gar keine Fühlung hat, der auch
von Glaube und Brauch seines eigenen Volkes nichts weiß noch wissen
will, kann ebensowenig „Mythologie" treiben oder auch nur irgend-
eine Religion verstehen, wie einer, der gar kein religiöses Empfinden
in seinem Innern besitzt. Es ist ein Gesetz, das keiner ungestraft
übertritt: Fremdes können wir nur verstehen, wenn wir Analoges
in uns und unserem Volke verstehen, wenn es irgendwie verwandt
in unserem eigenen Leben lebt. Dann erst können wir uns weiterhin
durch philologische Arbeit „zum Nachempfinden erziehen" der
Empfindungen längst vergangener Zeiten und Menschen. Freilich
sind dem wissenschaftlichen Arbeiter durch seine Eigenart ver-
schiedene Wege gewiesen. Ich könnte davon reden, daß bei
manchem die Liebe zur engeren Heimat und das Verständnis seines
Volkes mit den höchsten wissenschaftlichen Aufgaben, die scheinbar
damit gar nichts zu tun haben, im innersten wesentlichen Zusammen-
hang steht.
310 Ober Wesen und Ziele der Volkskunde
7
Die Volkskunde, die wir meinen, haben ja in den letzten Jahr-
zehnten gar manche Philologen, namentlich klassische und semitische,
193 in großem Stile und mit glänzendem Erfolge getrieben, ohne viel
Aufhebens davon zu machen, meist auch ohne unsere Bezeichnung zu
gebrauchen. Wir können nicht vermeiden, öffentlich von unseren
Zielen zu sprechen und der gemeinsamen Arbeit einen Namen zu
geben, weil wir eine Vereinigung gegründet haben und sie ausbreiten
wollen. Die eigentlichen höchsten wissenschaftlichen Aufgaben, von
denen ich zuletzt andeutend sprach, werden gewiß nie von Vereinigungen
gelöst werden, sondern von einzelnen. Aber anderes kann der einzelne
nicht leisten, am wenigsten in diesem Gebiete, das so unendlich aus-
gedehnten Materiales bedarf. Für viele Dinge sind Vereine höchst
überflüssig und es kann mit Recht heute ohne weiteres eine frivole
Belästigung der Mitmenschen scheinen, einen neuen Verein zu gründen.
Hier ist Vereinigung notwendig, soll irgendwie ernsthaft ein Ziel er-
reicht werden. Der einzelne kann nur verschwindend wenig sammeln
und selbst kennen lernen, mancher kann das überhaupt nicht, der die
Sammlungen doch braucht und zu brauchen weiß. Sammeln in diesen
Dingen ist viel mehr als ein äußerliches Auffangen und Notieren, was
jeder besorgen könnte, der fragen und sehen kann. Ohne die Eigen-
art des Volkes selbst zu kennen, kann ihm niemand sein Leben ab-
lauschen, meist kann es nur der Sohn dieses Volkes selbst, der in
ihm, in wirklicher Gemeinsamkeit mit ihm aufgewachsen ist. Und es
gehört eine wenn auch nur allgemeine Vorstellung von den Zwecken,
für die gesammelt wird, unmittelbar dazu. Einer muß dem anderen
Verständnis und Interesse vermitteln helfen. Ohne eine fest organisierte
Vereinigung der verschiedensten Elemente läßt sich Material in diesem
Falle nie in der rechten Weise sammeln und für die Forschung parat
legen. Und man soll diese vorbereitende Tätigkeit des Sammeins nicht
gering schätzen; es ist auch eine wissenschaftliche Tätigkeit, und wie
oft ist ein ganzes der Wissenschaft gewidmetes Leben nichts anderes
als ein vorbereitendes Sammeln und ihm wird doch sein Lohn im
Danke der Nachfolger nicht vorenthalten. Ja, es gehört ein gar feiner
Sinn dazu, Sammlungen über Volksbrauch und Volksglauben, Volks-
sitte und Volkssage zu unternehmen. Die Angst vor dem Dilettantismus
ist meist übertrieben, in einer gut organisierten Vereinigung fast über-
flüssig. Der rechte Sinn für das Tatsächliche, für unbestechliche Be-
wahrung des Gehörten und Gesehenen sind die Tugend, die jeder,
der helfen will, vor allem in sich erziehen muß. Vor allem muß jeder
über Wesen und Ziele der Volkskunde 311
gegenwärtig haben, daß zunächst niemand wissen kann, wozu das
Geringste, das einstweilen unverstanden bleibt, später vielleicht helfen 194
wird. Die sogenannte Deutung hat für jeden Sammler zunächst nur
die Gefahr, daß sie unmittelbar die Objektivität der Angaben beeinflußt.
Es handelt sich heute vor allem um Rettung reichen Materials, ehe es
zu spät ist. Wer es weiß oder ahnt, welche Reichtümer gerade in
hessischen Landen verborgen liegen und mit jedem Tage, mit jeder
Stunde geringer werden und verioren gehen, der muß die Verpflichtung
fühlen, an seinem Teile zur Rettung beizutragen und zu mahnen, wenn
er dazu irgendwelchen Beruf hat. Unsere hessische Vereinigung ist
jetzt die letzte und jüngste derer, die sich in Deutschland gebildet
haben. Aber es wäre nicht unnatürlich, wenn das Heimatland Jakob
Grimms im Südwesten Deutschlands, in dem es wenig Anfänge solcher
Organisationen gibt, in der Anregung und Leitung der Rettung unserer
reichen Volksüberiieferungen voran ginge.
Der Name dieses Mannes ohne Gleichen muß wie eine stete
Mahnung über uns sein: in seiner Nachfolge wollen wir die Arbeit tun,
die wir vermögen. Es mag uns wohl stolz machen, aber vor allem
soll es uns verpflichten, daß der größte Philologe und zugleich der
größte Volkskundige des vergangenen Jahrhunderts ein Hesse war.
XX
VOLKSGLAUBE UND VOLKSBRAUCH IN ALTERTUM
UND GEGENWART^
AUSGEWÄHLTE KAPITEL VERGLEICHENDER VOLKSKUNDE«
124 VOLKSGLAUBE UND VOLKSBRAUCH UM GEBURT UND NAMENGEBUNG
In römischem Brauch ^ der nach der Geburt eines Menschen ge-
übt wurde, fällt uns ein Zug besonders auf: das Kind wird auf die
Erde gelegt und muß von der Erde aufgenommen werden. Der recht-
liche Akt der Annahme des Kindes durch den Vater genügt nicht zu
erklären, daß das Neugeborene auf die Erde gelegt werden muß.
Derselbe Brauch wird in manchen Gegenden Deutschlands bis zum
heutigen Tage geübt. Nur wenn das Kind von der Erde aufgenommen
wird, bleibt es am Leben und gesund.
* <Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts zu Frankfurt a. M. 1903
S. 124ff.>
* Nur dem dringenden Wunsche der Redaktion nachgebend, habe ich die
folgenden dürftigen Skizzen niedergeschrieben. Ich mußte mir jede Ausführung
der Beispiele und Zeugnisse versagen und weiß doch, daß ohne sie die aus-
gesprochenen Sätze nicht überzeugen können. Ich bitte jeden Leser die Be-
urteilung des Gesagten auszusetzen, bis die ausgeführten Untersuchungen vor-
liegen. Sie werden zunächst in dem von Ende dieses Jahres ab bei B. G. Teubner
in neuer Organisation erscheinenden „Archiv für vergleichende Religionswissen-
schaft" und dann unter dem Titel „Volksreligion; Versuche über die Grund-
formen religiösen Denkens" vereinigt in die Öffentlichkeit kommen.
' <Diese Skizze ist von Dieterich in seinem Buch *Mutter Erde*, Leipzig
und Berlin 1905 ausgeführt worden, s. namentlich S. 6 ff. Auf dem IL Inter-
nationalen Kongreß für allgemeine Religionsgeschichte in Basel, Ende August 1904,
hielt Dieterich einen Vortrag über 'Die Religion der Mutter Erde", s. die Ver-
handlungen dieses Kongresses, Basel 1905, 73 ff. Am Schluß des Referates
darüber sagte er:
'Es ist von typischer Wichtigkeit, wie bei diesem Problem ineinandergreift
die Erkenntnis der immer gleichen Denkformen, in die das Werden des
Menschen gefaßt wird, und die Kenntnis der Geschichte der Religion im Alter-
tum und in der Kultur, die von ihm abhängt. Es gilt zunächst eine Reihe
solcher paradigmatischer Fälle zu untersuchen, um zur Erforschung der Volks-
religion im tieferen Sinne vorzudringen, ohne die alle höheren und höchsten
geschichtlichen Religionen heute wie längst gar nicht oder falsch verstanden
werden. Es ist Zeit, das ungeheuere Material zu nutzen, das von Tag zu Tag
Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart 313
Zeugnisse des Altertums und Beobachtungen unter Naturvölkern
bestätigen eine weitverbreitete Sitte \ kleine Kinder, die vor einem ge-
wissen Alter sterben, nicht gemäß sonst geltendem Brauche zu ver-
brennen, sondern zu begraben, vielfach in der Erde unter dem Hause
wächst in unabsehbarer Fülle, in unaufhaltsamem Vorwärtsdrängen. Die Mutter
Erde spendet uns die Steine, die da reden, die Papyrusrollen; sie öffnet ihre
Gräber und gibt uns wieder die Gedanken vergangener Geschlechter, die in
ihr begraben waren. Es ist wissenschaftlich das Zeitalter der Religions-
geschichte, in dem wir leben. Das Material, das uns lockt und abschreckt
zugleich, ist nur zu bewältigen mit philologisch -geschichtlicher Forschung -
Philologie, verstanden als die wissenschaftliche Erforschung der Gesamtkultur
eines Volkes. Und diese Erforschung, soweit sie auf Vergangenes geht, beruht
nur auf der Interpretation der Denkmale in Sprache und Kunst, der Texte und
der Monumente. „Ethnologie" ist nach jenem Begriff ebensogut Philologie;
auch die wilden Völker können nur durch solche Philologie wirklich erforscht
werden. Auf den Namen kommt nichts an ; aber das ist für die Zukunft unserer
großen Wissenschaft über alles wichtig: nur wer die ganze Kultur eines Volkes
kennt und im ganzen zu erkennen sucht, kann Religionsgeschichte und ihre
tieferen Probleme fördern. Wer aus einer ganzen Kultur hier nur ein religiöses
Stück oder eine religiöse Literatur kennt, aus einer großen Kultur dort nur
ein paar zufällige Notizen besitzt und nun vergleicht, nützt der Wissenschaft
nichts oder wenig und schadet ihr viel. Religionswissenschaft in diesem Sinne
und Religionshistoriker dieser Art in Reinkultur kann und sollte es nicht geben.
Aber Philologen und Ethnologen, die sie zum Hauptproblem ihres Lebens
machen, muß es immer mehr geben. Und das müssen und sollen wir alle
fordern, daß die wissenschaftlichen Arbeiter, die sich innerhalb der ver-
schiedenen Fachgebiete den religionsgeschichtlichen Aufgaben widmen, gerade
so viel Recht auf einen festen Platz, auf ihren Sitz an der Sonne haben, als
andere, die sich anderen Teilen ihrer Fächer vorwiegend widmen. Wir ent-
behren in Deutschland zumeist des rechten Verständnisses vieler maßgebender
Faktoren für religionsgeschichtliche Forschung. Nicht die Einrichtung religions-
geschichtlicher Professuren auf deutschen Universitäten und erst recht nicht die'
Umwandlung der theologischen in religionsgeschichtliche Fakultäten, von der
eigentlich nur die ernsthaft gesprochen haben, denen dagegen zu reden Be-
dürfnis war, würden die Zuversicht geben, eine echte Religionswissenschaft
der kommenden Generation reifer und reicher und freier zu überliefern. Die
orientalische, indische, klassische und germanische Philologie haben in
Deutschland die Hauptarbeit angefangen , in England namentlich die Ethnologie
(bzw. Anthropologie). Unsere Archegeten im 19. Jahrhundert, Jakob Grimm
und Edward Tylor, das sind die beiden Namen, die immer über uns sein
mögen. In der Vereinigung der Wege, die sie gewiesen, liegt die freie Bahn
zu den großen lockenden Zielen. Nur so werden wir endlich schonungslos
und illusionslos Ernst machen mit dem Gedanken geschichtlicher Entwicklung,
auch in der Geschichte der Religion und der Religionen. Es gibt keine
Wissenschaft des Göttlichen, nur der Entwicklung des menschlichen Denkens
vom Göttlichen. Es gibt wissenschaftlich keine göttliche Offenbarung, sondern
nur Entwicklung menschlichen Denkens von göttlicher Offenbarung. Sollte
ich heute in einem Bilde reden, so meine ich: wir bleiben, wenn wir wissen-
schaftlich untersuchen, wohin uns auch sonst die Erhebung des Glaubens
tragen möge, die Kinder unserer Mutter Erde.'>
* <S. Mutter Erde 21 ff. >
314 Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart
zu begraben; ausgesprochen findet sich der Glaube, daß diese
Kinder dann in dem Hause bei der nächsten Geburt wiedergeboren
werden.
125 Aus dem Altertum und aus heutigem deutschen Volksbrauch wird
die Sitte bezeugt, den Sterbenden (nicht den Gestorbenen) auf die
Erde zu legen.^
Die sehr verschiedenen Anschauungen, die in unserem Volke über
die Herkunft der Kinder lebendig sind, gehen allesamt darin zusammen,
daß die Kinder aus der Erde stammen (sie sind vor der Geburt unter
der Erde, in Quellen, Strömen, Teichen, wachsen aus Steinen,
Bäumen usw.). Dem entspricht der Glaube vieler Naturvölker von der
Mutter aller, der Erde. Zahlreich sind die antiken Zeugnisse von der
Allmutter Erde; Mysterienkulte entstehen daraus, daß der einzelne sich
einer Wiedergeburt aus dieser Mutter versichert: „ich bin ein Kind
der Erde", „ich bin in den Schoß der Herrin eingegangen" sagt er
dann. Mancherlei Anthropogonie läßt den Menschen aus Steinen und
Bäumen, Quellen, Felsen und Höhlen entstehen, „aus Eiche und
Stein".^
Ursprüngliches Denken kann sich eine Entstehung eines vorher
nicht Vorhandenen, die für dies ein Entstehen aus dem Nichts wäre,
nicht vorstellen. V^as neu entsteht, kommt irgend woher, ist vorher
irgendwo anders gewesen. Insofern ist nach solchem Denken das
Leben, die „Seele" präexistent. Die Neugeborenen kommen aus der
Mutter Erde und müssen von ihr entgegengenommen werden, der
Sterbende muß ihr sein Leben wiedergeben, wenn er wiedergeboren
werden soll.^
Kinder, die sicher am Leben bleiben sollen, müssen nach ver-
breitetem deutschem Volksglauben einen mit Erd zusammengesetzten
Namen bekommen z. B. Erdmann.*
Die verschiedensten Bräuche der Namengebung zeigen zumeist,
daß erst durch den Namen das Kind vor unendlichen Gefahren aller
Art geschützt wird. Mit der Namengebung auch bei Naturvölkern
vielfach verbundene Reinigungsriten sind ein Schutzzauber gegen
allerlei Böses. Der Name ist etwas Körperliches, Wesenhaftes, das
Kind wird durch ihn ein neues Wesen oder es wird durch ihn, sozu-
sagen, erst ein Wesen. Der Name wird vielfach bei Naturvölkern
dann gegeben, wenn das Kind gehen oder sprechen lernt. Ein
» <S. Mutter Erde 6ff.> ' <S. ebenda 18ff.>
« <S. ebenda 32 f. > ^ <S. ebenda 10 f.)
Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart 315
stummes Kind bekommt keinen Namen. Der Name ist, in unserer 126
Sprache zu reden, die Seele des Kindes. In einen Kult Neueingeweihte
bekommen einen neuen Namen, Kranke wechseln den Namen, damit
der Tod nicht an ihr „Leben" kann; wer den Namen weiß, hat Leben
und Seele des so Benannten in seiner Zaubergewalt.^
In Brasilien muß der Vater bei der Geburt jedes Kindes einen
neuen Namen annehmen: seine bisherige „Seele" ist nun die des
Kindes. Der vielfache Brauch, daß das Kind den Namen des Groß-
vaters bekommt, ist in manchen Fällen als Glaube an den eigentlichen
Übergang der „Seele" nachzuweisen. Sehr zahlreiche Riten der
Naturvölker bei der Namengebung gehen dahin, durch eine Losprobe
festzustellen, welcher Ahne in dem Kinde neu geboren sei und danach
ihm dessen Namen zu geben.
Das Entstehen geistigen Wesens ist ursprünglichem Denken un-
faßbar. Es wird als eine neue leibliche Geburt aufgefaßt. So glaubt
unser Volk nicht nur an eine Wiedergeburt bei der Taufe im kirch-
lichen Sinne, sondern es hält den Paten für den, der wirklich dem
Kinde wie ein leiblicher Erzeuger seine Eigenschaften vererbe.^
Zusammengefaßt ergeben alle diese Beobachtungen folgende Sätze:
Ein Neuentstehen, eine Neugeburt ist für primitives Denken undenk-
bar; sie ist nur als eine lokale Übertragung, eine Metathese oder eine
Metamorphose zu erfassen; insofern ist die „Seelenwanderung" eine
Anschauungsform ursprünglichen Denkens. Die geistige Entwicklung,
ein Erwachen und Wachsen der Seele ist wiederum nur als eine leib-
liche Geburt, eine Wiedergeburt zu begreifen. So wird stufenweise
das Unbekannte unter dem Bilde des Bekannten sinnlich erfaßt in der
Entwicklung des Denkens.
II
DIE REISE DER SEELEN UND DAS LAND DER TOTEN
Eine Entstehung aus dem Nichts kann menschliches Denken nicht
erfassen, ebensowenig ein Vergehen ins Nichts. Menschliches Denken
verneint den Tod. Auch er wird als Metathese oder Metamorphose
angesehen: der Mensch ist anderswohin gegangen, er lebt anderswo, 127
er lebt in anderer Gestalt fort. Teilung in verschiedene Bestandteile
liegt hier unmittelbar nahe, Leib und Leben, Leib und Seele. Die
Seele ist fortgegangen, fortgereist. Die allgemeinste Vorstellung ist
die der langen, beschwerlichen, gefahrvollen Reise. Diese Reise kann
' <S. Mithrasliturgie 112.) ' <S. Mutter Erde 34f.>
316 Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart
nur nach der Analogie irdischer Reisen vorgestellt werden. Es ist
entweder eine Fußwanderung (sehr vielfach werden Schuhe ins Grab
mitgegeben, Heischuhe u. a.), oder ein Ritt (Totenroß, die Toten reiten)
oder eine Wagenfahrt oder ein Flug (Seelenvogel u. ä.). Weitere Vor-
stellung von der Reise wird bestimmt durch den Glauben an ein Toten-
land: es ist ein Land des Dunkels drunten unter der Erde oder es ist
ein Land des Lichts im fernen Westen (oder Osten oder Norden), ein
wundervoller Göttergarten oder aber es ist droben auf einem Berge
oder in einer lichten Himmelsfeste. Die Vorstellungen gehen neben-
einander her und ineinander über. So kann dann unter der Erde zu-
gleich ein leuchtender Garten und ein finsterer Abgrund sein. Überall
aber, wo die natürliche Grenze des Horizontes der Völker Meer oder
Flüsse sind, geht die Reise der Toten übers Wasser, über den Toten-
strom, ins „Jenseits".
Dadurch ist die Anschauung von der Seelenreise am stärksten be-
einflußt. Die menschlichen Mittel, ein Wasser zu überschreiten finden
wir allesamt, sozusagen, in gesetzmäßiger Reihe in den mythischen
Vorstellungen wieder: Schwimmen, Brücke, Schiff. Den weißen Felsen,
von dem die Seelen herunterspringen, kennt man in Griechenland wie
bei den Völkern der Südsee, das Geldstück wird den Toten mit-
gegeben und als Brückenzoll und Fahrgeld gedeutet bei den aller-
verschiedensten Völkern: ursprünglich ist es nachweisbar Ablösung
des Gesamtbesitzes. Ist das Jenseits drunten, so ist die Seelenreise
ein Abstieg durch Höhlen und Klüfte mit Ungeheuern aller Art, ist es
droben, so ist sie ein Aufstieg auf einen Berg, mittels einer Leiter
oder Treppe, ein Flug oder aber es werden die Mittel der Reise von
der Erde oder dem Wasser übertragen: ein Ritt, eine Fahrt zu Wagen
oder zu Schiff tritt ein. .
128 Das Wichtigste, das alle diese Beobachtungen lehren, ist dies: das
Jenseitige, das Göttliche wird von dem Menschen nie und nimmer
anders erfaßt als im Bilde des Diesseitigen und Menschlichen. Wir
können die Formen sozusagen an den Fingern herzählen, in denen
die Reise der Seele gestaltet werden muß und allein gestaltet werden
kann. Das Irdische wird projiziert ins Überirdische.
III
MARTINSLIEDER
Es gibt eine Reihe Zeugnisse von Volksbräuchen im alten Griechen-
land, nach denen Umzüge von Männern oder meist von Kindern im
Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart 317
Frühjahr oder im Herbst veranstaltet, Gaben gesammelt und Segens-
wünsche gesprochen wurden. Dabei wurde z. B. in Rhodos eine
Schwalbe, in Kolophon eine Krähe herumgetragen, für die die Gaben
gefordert wurden. Wir haben von den Liedern, die diesem Brauche
dienten, eines in volkstümlichem alten vierhebigem Rhythmus, eines in
der homerischen Kunstform, eines in der künstlichen Form hinkender
Jamben, das denn auch auf den Namen eines bestimmten Dichters
geht. Immer gleich bleibt das Heischen der Gaben, der Wunsch des
Segens, der Fülle und Fruchtbarkeit (Plutos selbst kommt mit solchem
Segensspruch ins Haus) oder aber Fluch und Schimpf, wenn die
Bittenden abgewiesen werden.^
Entsprechend in allen Hauptsachen sind vielfach die Umzüge und
die dabei gesungenen Lieder in deutschen Volksbräuchen. Eine ganze
Reihe von Martinsliedern weisen dieselben Hauptbestandteile auf wie
die genannten altgriechischen Lieder. Auch für „Martins Vögelchen"
wird gesammelt. Weiterhin finden an bestimmten Tagen des Frühlings
oder aber zur Zeit der Ernte die entsprechenden Begehungen statt.
Alle mannigfaltigen Termine begreifen sich so, daß irgendein vor-
handener Festtag den Frühjahrs- oder Ernteumzug an sich gezogen
hat. Der Maibaum und der Erntemai sind die bekanntesten Gegen-
stände des deutschen Volksbrauches, mit denen das neue Leben des 129
Frühlings, der verkörperte Frühling selbst oder aber der verkörperte
Erntesegen selbst herumgetragen und jedem Hause gebracht werden
muß. Der Maibaum oder der Erntemai bleiben jedem Hause zu Schutz
und Segen bis zum nächsten Jahre. Die Gaben werden noch vielfach
als deutliche Opfergaben gemeinsam verzehrt. Eichhorn, Kuckuck, Krähe
und Schwalbe spielen auch in den deutschen Bräuchen dieser Art ihre
besondere Rolle.*
Die griechische Eiresione, ein Zweig mit allerlei Früchten und
wollenen Binden, spielt genau die gleiche Rolle: sie bringt den Segen
ins Haus und muß an der Tür hängen bis übers Jahr.^ Zwei antike
Wandbilder aus Ostia, die unbeachtet in der Bibliothek des Vatikans
in Rom hängen, zeigen genau die Umzüge von sammelnden Kindern
mit den behangenen Zweigen und Stäben, wie wir sie aus unserem
Volksleben kennen.*
Wir entnehmen aus dem Beobachteten folgende Tatsachen: Die
Entwicklung der Zeit zu erfassen ist dem Volksdenken unmöglich; die
' <S. ausführlicher unten 341ff.> ' <S. unten 334 f.)
» <S. unten 338ff.> * <S. unten 344ff.>
318 Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart
Zeiträume sind leibliche Wesen, die an bestimmten Zeitwenden sterben
und geboren werden, fortziehen oder aus der Ferne wiederkommen.
Die Fülle der Erscheinungen neuen Zeugens und neuen Wachsens im
Frühling kann die Volksanschauung nur erfassen, indem sie singularisiert:
der erste grünende, blühende Zweig ist der Frühling; die Fülle des
Erntesegens ist die letzte Garbe. Wir könnten von Frühlingsfetischen
und Erntefetischen reden. Jedem Hause wird so der Frühling, der
Erntesegen gebracht; der Zweig segnet das Haus und macht es frucht-
bar und reich. Der Widerspruch stört das ursprüngliche Denken nicht,
daß nun wieder das Göttliche pluralisiert wird: Jedes Haus hat seinen
Erntefetisch, jeder Ort hat ihn, jede Kirche usw. Die genannten Tiere
sind ebenfalls Inkarnationen des Frühlings oder der Ernte selbst, die
in Laub und Stroh verkleideten Menschen ebenfalls der Frühling oder
die Ernte. Die Menschen mit Tiermasken stellen ebenfalls die gött-
lichen, dämonischen Wesen dar. Die Umzüge, aus denen einst in
130 Griechenland ein Höchstes menschlicher Kunst, Tragödie und Komödie,
entstand, haben die Wurzeln in dem gleichen Glauben und Brauche
des Volkes, den wir bei uns noch hier und da in frischem Leben sehen.
IV
DIE FORMEN GÖTTLICHER OFFENBARUNG IM VOLKSGLAUBEN
Für das Denken des Volkes ist Wille Gottes und Zukunft identisch.
Alle Entwicklung der Welt und der Erde und des eigenen Lebens ist
dem ursprünglichen Menschen eine Aufeinanderfolge magischer Akte,
einzelner Handlungen nach dem Bilde seiner eigenen persönlichen
Handlungen. Die magischen Handlungen der göttlichen Wesen kennen
keine Grenze empirischer Möglichkeit. Die Menge der Dämonen, der
göttlichen Wesen, ist jedem Volksglauben unendlich und wird durch
eine akzeptierte, jenem übergeordnete höhere Religion im echten Volks-
bewußtsein nicht beseitigt.
Alles was geschieht, ist Offenbarung dieser Dämonen; was sie
wollen, ist die Zukunft. Ganz allmählich erst wird durch Er-
fahrung der Kreis der magischen Offenbarungen dieser Dämonen ver-
engert.
Jede höhere Entwicklung der Anschauung von mächtigen und guten
Dämonen bis zu der von einem großen Gotte, der alles gemacht hat
und alles regiert, geht darauf aus, den Willen der göttlichen Wesen,
den Willen Gottes zu erfahren, jede tiefere Religiosität geht darauf
aus, den Willen Gottes zu tun: sie muß ihn kennen.
Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart 31 9
Der Gott, der sich nicht offenbart, ist kein Gott. Die Offenbarung
ihrer Götter ist der Mittelpunkt alles Denkens der Naturvölker: die
Offenbarung Gottes ist auch der Mittelpunkt aller Religionen aller
Kulturvölker. Die Religionen als Naturreligionen und Offenbarungs-
religionen zu unterscheiden ist darum grundfalsch.
Wir versuchen im allgemeinen klar zu machen, in welchen Formen
eine Offenbarung an den Menschen durch ein Wesen, das er sich
stets in der Hauptsache ihm analog denkt, vor sich gehen kann.
Die einfachste Form ist, daß Gott erscheint und spricht. Gott
kommt zum Menschen auf die Erde, er kommt zu ihm auf einen Berg. 131
Weiterhin kommt er in Naturerscheinungen, im Feuer, in Luft und
Sturm, im Wasser. Die nächste Stufe ist, daß er nur in einer „Vi-
sion" kommt, daß er im Traume erscheint. Ekstase bedeutet ursprüng-
lich, daß der Mensch aus sich selbst heraus zu Gott und in Gott ein-
geht. Die ursprüngliche Form ist, daß der Mensch wirklich zu Gott
geht, gen Himmel, zum Berge oder auch zur Unterwelt, um dort gött-
liche Offenbarung zu erhalten.
Gott geht in den Menschen ein im Enthusiasmus. Nun spricht
Gott aus dem Menschen, der Mensch spricht als der Gott. Pythien
und Sibyllen, ja viele antike Orakelpriester und -Priesterinnen sind
Beispiele. Die „pneumatischen" Menschen sind es nicht minder, die,
ergriffen vom heiligen Geiste, Göttliches reden.
Eine weitere Stufe ist, daß Mittler zwischen Gott und Menschen
treten, Boten, Engel Gottes, und wiederum erscheinen sie entweder
selbst oder in Visionen, Traumerscheinungen usw. Die „gute Bot-
schaft" für die Offenbarung Gottes ist eine heidnisch -griechische und
christliche, besonders wichtige Bezeichnung.
Menschen, die Göttliches offenbaren, stammen von Gott; Propheten
und Retter der Menschheit sind Söhne Gottes. Sie kommen herab
vom Himmel, sie sind - nach einer bei den Römern stehend und
bildlich gewordenen Redewendung - vom Himmel gefallen.
Vielfach gehören die Zeichen, die die Götter geben, in den an-
gedeuteten Zusammenhang. Die Tiere, die für den Aberglauben des
„Angangs" wichtig sind, müssen vielfach als einst göttliche Tiere
selbst angesehen werden, nicht anders die Tiere, die dem Menschen
den Weg zeigen bei einer Stadt- und Tempelgründung und den gött-
lichen Willen offenbaren. Die Offenbarungen der Inkubation gab einst
die göttliche Erdmutter selbst, dann waren sie nur die Vermittlung der
visionären Epiphanie anderer Götter und noch der heiligen Thekla
oder des heiligen Cosmas und Damian.
320 Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart
Zu der oben angeführten Formenreihe kommt aber nun eine neue
132 Weiterbildung, sobald Vermittlung zwischen Menschen durch die Schrift
bekannt wird. Das nächste ist dann, daß Gott seine Offenbarung auf-
schreibt, und was er geschrieben, fällt vom Himmel. Immer wieder
bricht diese einfachste Vorstellung von christlicher Offenbarung durch,
und das zeigen die zahlreichen „Himmelsbriefe", die noch in unserem
Volksglauben eine so große Rolle spielend Die Fortsetzung der Reihe
ergibt sich nun von selbst: Gott übergibt, was er geschrieben, einem
Menschen. Die Offenbarung des Gesetzes im Pentateuch ist nach
älterer Überlieferung mündlich gegeben, dann schriftlich übermittelt;
der Bauplan der Stiftshütte ist früher mündlich, dann schriftlich ge-
schehen. Weiterhin wird nun das von Gott Geschriebene durch einen
Engel überbracht. Dann schreibt der Mensch nach dem Diktat Gottes,
weiter nach dem Diktat eines Engels. Endlich schreibt der Mensch im
„Enthusiasmus", d. h. nach Eingebung, „Inspiration" des Gottes in ihm.
Die heiligen Männer Gottes schreiben „erfüllt vom heiligen Geiste".
Die Verbalinspiration aber verallgemeinert und verflüchtigt sich immer
mehr; die heilige Schrift bleibt in stehender Formel das „Wort Gottes".
Es ist ein ungeheuerer Schritt in der Religionsgeschichte, wenn
eine Buchoffenbarung an Stelle fließender mündlicher Überlieferung
tritt. Die schriftliche Offenbarung, in einer gewissen Zeit fest und
unveränderlich geworden, duldet keine Streichungen und Interpolationen
mehr; ein Kanon wird entwickelt und nur die Auslegung trägt mit
schweren Mühen dem Wandel der Zeiten Rechnung.
Die skizzierte Entwicklung ist selbstverständlich nicht in der Reihen-
folge der einzelnen Etappen die geschichtlich notwendige. Es ist nur
das menschliche Denkgesetz, in dem sich bald springend, bald stehen
bleibend, bald rückwärts gehend, bald vorauseilend der menschliche
Geist die göttliche Offenbarung gestaltet.
Der Volksglaube und der Glaube der höchsten Religionen ist in
diesen Dingen vielfach kaum zu trennen: die Volksanschauungen dringen
immer wieder aus der Tiefe empor, aber auch die höchste göttliche
Offenbarung zeigt sich gebunden durch die Grenzen menschlichen
Denkens.
V
J33 DIE FORMEN DES ZAUBERBRAUCHS UND DES ZAUBERSPRUCHS
Die uns bekannten Zauberbräuche und Zaubersprüche unseres
heutigen Volksaberglaubens und die massenhaften noch vorhandenen
' <S. oben S. 234ff.>
Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart 32 1
antiken stehen vielfach in direktem geschichtlichem Zusammenhang.
Zum Teil stehen sie nicht in solchem Zusammenhang und sind doch
in Hauptformen analog, analog bis in viele Einzelheiten auch der ma-
gischen Bräuche weit auseinanderliegender und voneinander sicher un-
abhängiger Naturvölker.
Die Religion der Naturvölker besteht vielfach eben in dem, was
wir Zauberbrauch und Zauberglauben nennen; der Ritus ihrer Religion
ist der magische Akt. Die Dämonen zu vertreiben oder anzulocken,
sie zu verscheuchen oder herbeizuzwingen, sich von ihnen zu lösen
oder sich mit ihnen zu vereinigen ist in letzter Linie Zweck alles ihres
religiösen Tuns. Jede Krankheit ist ein Dämon, der ausgetrieben, be-
zwungen werden muß, den Erfolg einer Tat gewährleistet nur die Hilfe
eines mit dem Handelnden vereinigten Dämons. Die Dämonen sind
genau so gierig und neidisch wie der primitive Mensch: man gibt
ihnen zu essen, um sie zu befriedigen, man gibt ihnen Menschen zu
verschlingen und ihr Blut zu trinken; man muß von allem abgeben,
alles von den Göttern durch ein „Opfer", das man auf sich nimmt,
loskaufen.
Der Zauber, der zwischen Menschen geübt wird, ist im engeren
Sinne nicht religiös. Er zeigt aber ebendieselben Formen, wie der
Zauber, der auf göttliche Wesen wirken soll. Der Liebeszauber z. B.
bewirkt die erstrebte Vereinigung zweier Menschen dadurch, daß der
eine irgendetwas vom anderen ißt, an sich trägt, mit sich im eigent-
lichsten Sinne verbindet. Pars pro toto ist ein hier überall waltendes
Gesetz. Hat man nichts anderes, so ist die ausgeschnittene Fußspur
immer noch ein Teil, der das Ganze nachzieht. Der Name, der Wesen
und „Seele" des anderen ist, gibt den ganzen Menschen in die Gewalt
dessen, der nur diesen Namen kennt. Das Bild, die Figur des anderen
tritt ein für diesen selber und was ihnen geschieht, geschieht ihm 134
selbst. Das Bild des Namens, d. h. der geschriebene Name tut die-
selben Dienste. Der Schadenzauber bedient sich genau derselben
Mittel, der Teile des Körpers, des Bildes, des Namens, der Fußspur,
des Schattens. Entscheidende Kraft hat in allem Zauber nicht nur
eigentliche Bindung, auch die Bindung durch das Wort, das ganz
materielle Geltung hat, ja durch den Blick („bösen Blick").
Der Zauberer eint sich mit dem Gotte durch eben das, was zwischen
Menschen eine Einigung herbeiführen kann (durch Essen, durch Liebes-
vereinigung, durch Neugeburt aus dem Gotte usw.); er sagt dann: ich
bin der Gott N. N. Alle Opfer führen auch im Zauberbrauch zur Ver-
einigung mit dem Gotte oder zu dessen Befriedigung und Verscheuchung,
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 21
322 Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart
alle Gebete zur Anlockung (Tierlaute wie schnalzen und pfeifen z. B.
sind die Lockung des tiergestaltigen Gottes) oder Verjagung. Die
Bindung durch Zauberzeichen und Zauberlaute ist Beginn aller Ge-
bete. Zauber und Rhythmus machen Inhalt und Form der ältesten
Lieder.
Zauberbräuche und Zaubersprüche in ihrer seltsamen Ober-
einstimmung bei den verschiedensten Völkern der Erde geben das
Material zu einer Entwicklungsgeschichte primitiven menschlichen
Denkens. Das Kausalitätsbedürfnis kann zunächst nur zusammen-
hangslose magische Einzelhandlungen blind verbinden. Alle causae
sind Dämonen. Als causa und effectus wird zunächst verbunden, was
räumlich und zeitlich nahe zusammen ist. Der Neger betet den Stein
an, auf den er gerade trat, ehe er auf dem Sklavenmarkt losgekauft
wurde: der Stein ist ein Augenblicksfetisch. Nur die Empirie, sozu-
sagen das Experiment, verbesserte ganz allmählich die groben Fehler
falscher Abstraktion, mit der der Eingeweideschauer die umgeklappte
Leber für das „umklappende" Leben des Konsulenten bestimmend
sein, der Medizinmann das gebrochene und wieder zusammen-
gewachsene Bäumchen die Heilung eines gebrochenen Beines er-
zwingen läßt. Bei der Sympathie aller Dinge zwingt das Wort zwei
Dinge aneinander oder nötigt auch z. B. zwei Handlungen dazu, sich
135 nacheinander zu richten. Das Denken beginnt mit falschen synthetischen
Urteilen, mit falscher Abstraktion der akzidentiellen Eigenschaften.
Ein gänzlich willkürliches Sympathiegesetz gilt solchem Zauber wie uns
das Naturgesetz. Bei magischen Aktionen gibt es sozusagen weder
den Begriff der Vergangenheit noch der Identität. Eine vergangene
Tat ist ebenso real wie eine gegenwärtig geschehende: durch die Er-
zählung einer vergangenen Tat, etwa der einer Heilung, zwingt der
Zauberer durch sein bindendes Wort eine Heilaktion gerade so sich
zu vollziehen, wie jene sich vollzogen hat. Eine Handlung, wie auch
ein göttliches Wesen, ist für den Zauber beliebig vielemal da: ein
Gott kann von einem Stamme fortwährend und immer wieder auf-
gegessen werden und ist doch immer wieder da, eine „sakramentale"
Handlung kann so und so oft in gleicher Realität im Zauber vor sich
gehen. Das Bild der vergangenen „Heilstatsache" wird durch das
Wort oder die darstellende Handlung im Abbild wieder hervorgerufen
und wirkt immer wie am ersten Tag.
Im Zauberbrauche erhält sich der Glaube an die ältesten Fetische
z. B. in jedem Amulet, an die göttlichen Tiere in all den angeblichen
Wirkungen der Tierteile, die man verwendet, an die Macht der
Volksglaube und Volksbrauch in Altertum und Gegenwart 323
Seelen in aller Nekromantie und der Bedeutung, die Teile von
Toten und alles was mit ihnen zusammenhängt, in allem Volksbrauch
behalten haben.
Es ist noch lange nicht möglich, aus den in unendlicher Menge
nunmehr zu Gebote stehenden Materialien die Resultate auch nur
anzudeuten, die weitere Untersuchung gewinnen kann und muß. Zu-
nächst gilt es zu lernen, daß hier die Dokumente für eine Ent-
wicklungsgeschichte religiösen Denkens, menschlichen Denkens über-
haupt vorliegen. Den Gedanken geschichtlicher Entwicklung auch
hier rücksichtslos anzuwenden ist die große Aufgabe vergleichender
Volkskun^ie.
21*
XXI
SOMMERTAG'
(Hierzu eine Tafel)
82 Als ich am ersten Sonntage, den ich als Einwohner Heidelbergs
erlebte, durch die Straßen ging, begegneten mir immer häufiger
Kinder, ganz kleine und ganz große, die einen merkwürdigen Stecken
trugen: auf einen geschälten, oben zugespitzten Stab war oben eine
Bretzel fast immer gleicher Form gesteckt, zwischen die Bretzel aus-
geblasene Eier oder Äpfel, und um den ganzen Stecken herum buntes
Papier und bunte Bänder.^ Ich wurde alle Augenblicke von Buben
angelaufen, die in Blechbüchsen Geld schüttelten und dazu immer die-
selben Verse sangen:
Strieh Strah Stroh, der Summerdag is de,
Der Sommer und der Winter
Das sinn Geschwisterkinder,
Summerdag Staab aus
Blost em Winter die Aage aus,
Strieh Strah Stroh, der Summerdag is de.
Ich hör' die Schlisse! klinge,
Was were se uns denn bringe.
Rote Wein un Bretzl drein,
Was noch dazu? Paar neue Schuh,
Strieh Strah Stroh, der Summerdag is do.
Heut übers Johr do sinn mer widr do.
^ < Archiv für Rel. Wiss. VIII 1905 Beiheft, gewidmet Hermann Usener zum
siebzigsten Geburtstage S. 82 ff. Vgl. oben S. 316ff.>
* Die obenstehende Abbildung wird einer Zeichnung von Frau Marie
Dieterich verdankt.
Tafel I
Figr.l
Fig. 2
Albrecht Dielerich: Kleine Schriften.
Sommertag 005
Wer nichts bekam, sang; ^
O du alter Stockfisch,
Wenn mer kommt, do hoscht nix,
Gibscht uns alle Johr nix.
Strich Strah Stroh, der Summerdag is do.
Weiterhin sah ich dann den großen „Sommertagszug", in dem hundert
und aber hundert Kinder mit Stecken, wie ich sie beschrieb, das Lied
singend, das ich angab \ durch Hauptstraße und Anlage zogen. Dieser
Zug am Sonntag Lätare, denn der war es, ist erst im Jahre 1893
wieder neu eingerichtet worden, aber die Hauptzüge des Brauches
sind alt; nachweislich z. B. auch am Ende des 17. Jahrhunderts aus
den Briefen der Liselotte, die ihn mehrfach erwähnt, oder z. B. aus
einem Eintrag in einem Ausgabenbuch des Pfalzgrafen Karl Ludwig:
„Zwei Jungen, welche den Sommer gesungen, 1 Gulden 30 Kreuzer."
In dem Zuge gingen denn auch in einer ganzen Reihe von Exemplaren
der „Sommer" und der „Winter": Jungen, die, darunter versteckt bis
auf die Füße, pyramidenartige Gestelle trugen, mit Stroh umwickelt,
wenn sie den Winter, mit allerlei Tannengrün, wenn sie den Sommer
darstellen sollten. Bis vor kurzem, so erfuhr ich, haben außerdem
noch Kämpferpaare mit hölzernen Schwertern fechtend den Kampf des
Sommers und Winters dargestellt. Das alte Motiv des Kampfes ist
auch dann noch deutlicher zum Ausdruck gebracht, wenn die Knaben
einen hölzernen Degen in der rechten Hand, die Bretzel in der Linken
trugen und nun mit dem Degen den Winter austreiben halfen. So ist
es an anderen Orten der Pfalz noch heute Brauch.^ Dort wird auch
(in der Hinterpfalz) der Sommer mit Efeu umzogen, den erwachsene 84
^ Viel Lehrreiches, auch zur Textgeschichte und Deutung der Verse, die
uns hier weiter nicht beschäftigen, in einem Aufsatz von Karl Christ, Heidel-
berg, in den Mannheimer Geschichtsblättem 1. Jahrg. März 1900, Nr. 3, S. 59ff.
» S. auch L. Grünewald Mitteilungen des histor. Vereins der Pfalz XX (1896)
S. 208. Über die ungemeine Bedeutung und vielfache Ausgestaltung, die dieser
Kampf von Sommer und Winter auch in Riten und Mythen des Altertums hat,
sind wir schon mehrfach durch Usener belehrt worden, z. B. Rhein. Mus.
XXVIII 425, XXX 189ff., LIII 358ff., Archiv f. Religionswiss. VII 297ff. Usener
hat mich auch weiterhin gelegentlich darauf aufmerksam gemacht, daß die
Häufigkeit der Namen Sommer und Winter gar nicht anders zu erklären ist
als dadurch, daß sie an Repräsentanten des Sommers und Winters in vielen
Gemeinden haften blieben, und daß wohl niemand den Namen Tod (der im
nordöstlichen Deutschland, ursprünglich vermutlich da, wo Slawen den ehe-
maligen Untergrund der Bevölkerung bildeten) erhalten konnte, wenn er nicht
durch die Darstellung des am Sommertag ausgetragenen Todes sich bemerk-
lich gemacht hatte. Ich komme oben auf das weitverbreitete und vielbehandelte
„Kampfmotiv" nicht weiter zu sprechen.
326 Sommertag
Burschen morgens in Körben aus dem Walde geholt haben. Mit
Sommer und Winter ziehen wohl auch einher die „Rußebutzen", die
ihrem Namen entsprechend Gesicht und Hände stark überrußt haben.
An manchen Orten — auch an Orten des Odenwaldes und Neckar-
tales - gehen die Mädchen von 6-12 Jahren, mit Kränzen von
Buchsbaum oder Efeu, mit Blumen und Bändern geziert, im Dorfe von
Haus zu Haus und kündigen durch ihren Gesang den Frühling an.
Das Lied, das dabei vielfach gesungen wird, will ich nur in einigen
Wendungen hier wiederholen:
Heut ist Mitten Fasten,
Da leeren die Bauern den Kasten,
Tun sie die Kasten schon leeren,
Gott will was Neues bescheren . . .
Im Sommer da deihen^ die Früchte wohl.
Da kriegen sie Scheuern und Kasten voll . , .
Da schaut ein Herr zum Fenster heraus.
Er schaut hinaus und wieder hinein,
Er schenkt uns was ins Beutelein nein;
Wir wünschen dem Herrn ein goldenen Tisch,
Auf jedem Eck ein backenen Fisch,
Und mitten drein 'nein
Eine Kanne voll Wein,
Da kann der Herr recht lustig sein.'
85 Kurz, ehe mir diese lebendigen Zeugen alten Volksbrauches in den
Weg liefen, hatte ich vielerlei aus Büchern gesammelt, um auch da
aus der Fülle der Erscheinungen, vor allem aus voneinander unab-
hängigen deutschen und antiken Traditionen Grundformen religiösen
Denkens zu begreifen, die zu verschiedensten Zeiten bei den ver-
schiedensten Völkern gleichen Brauch gestalteten. Aber ich würde
kaum dergleichen öffentlich haben auseinandersetzen mögen, nachdem
so viel des Wesentlichen von Wilhelm Mannhardt zusammengestellt
und erklärt und auch die Parallelität deutscher und antiker Bräuche
dieser Art gefunden und untersucht worden war, wenn mir nicht durch
den Anblick des Heidelberger Zuges wie mit einem Male zwei antike
Wandbilder aus Ostia, die mir in Rom in der BibHothek des Vatikans
sehr aufgefallen waren, und deren Photographien ich gerade seit
kurzem durch meines Freundes Walter Amelung Güte besaß, in ihrer
Bedeutung klar geworden wären. Um ihretwillen sind diese Seiten
geschrieben.
^ So ist es gedruckt a. u. a. O. Es ist „denen" = drängen sich.
* Unter den Aufzeichnungen der Frau Auguste Pattberg, die zusammen-
gestellt sind von Reinhold Steig in den Neuen Heidelberger Jahrbüchern VI
(1896) 105. Vgl. Böhme Deutsches Kinderlied und Kinderspiel S. 338.
Sommertag 327
I
Es gibt in deutschen Landen eine unabsehbare Fülle von Beispielen
des Brauches, daß im Frühjahr, sei es am Sonntag Lätare, sei es am
ersten Mai, sei es Ostern, sei es Pfingsten, Knaben und Mädchen,
auch Burschen, selten Männer herumziehen, den Frühling oder den
„Sommer" „ansagen" oder „ansingen". Damit wir uns die wesent-
lichen Züge der Bräuche, auch der dabei gesungenen Verse, einprägen,
will ich einige Beispiele anführen und mich bemühen, entlegenere oder
auch von mir selbst gesammelte zu meinem Zwecke zu verwenden
und dadurch zugleich zu veröffentlichen.
Am Sonntag Lätare ziehen in Gernsheim a. Rh. Scharen von Kindern
von Haus zu Haus und singen auf der Straße folgende Verse:
O Bumbelo, der Summertag is do, Drowe in de Ferschte (Firste) 86
Mer höre die Jungfrau klingele, Do hänge Brotwerschte.
Sie soll uns ebbes bringe, Die große losse mer hange,
Eier oder Speck. Die klane wolle mer fange.
Mer gehn net ehnda weg Fuchs geh ins Hinkelhaus,
Bis mer ebbes hett. Hol all die Bier raus.
Meist erhalten die Kinder nach diesem Gesänge kleine Geschenke
(Backwerk, Pfennige), die unter sie geworfen werden und eine große
Balgerei veranlassen. Erhalten sie nichts, dann singen sie mit laut
erhobener Stimme:
De Geizhals guckt zum Fenster eraus.
Werft uns noch ka Hutzel eraus. ^
Vielfach ist gerade am Sonntag Lätare das Todaustreiben üblich;
in Sachsen ziehen dann auch die Kinder von Haus zu Haus und tragen
entlaubte Bäumchen, die mit Papierstreifen umwickelt sind. Besonders
bezeichnend sind Verse wie diese:
Wir alle, wir alle kommen h'raus
Und tragen heut den Tod hinaus.
Komm Frühling wieder mit uns ins Dorf -
Willkommen, lieber Frühling!*
In einem Sommertagsansingelied aus dem Odenwald heißt es (nach
den Versen, die oben S. 84 <326> als Aufzeichnungen aus der Pfalz
gegeben wurden):
» Lied und Angaben wörtlich nach freundlicher Mitteilung des Herrn
Pfarrers Voffel zu Gernsheim (vom 21. Juli 1902). ^ . .
« S Böhme Deutsches Kinderlied und Kinderspiel S. 334. Das ist auch
schon zu Luthers Zeit gerade so gewesen, der ein Lied „den Papst auszu-
treiben- daraus gemacht hat, Werke VIIl S. 84ff., Berlin, Schwetschke. (Mit-
teilung von Herrn v. Kirchenheim.)
328 Sommertagf
Wir wünschen der Frau eine goldne Wiege,
Damit soll sie ihr Kindlein wiegen.
Wir wünschen der Frau eine goldne Schnur,
Damit bind sie ihr Kindlein zu.
Wir wünschen dem Herrn einen silbernen Wagen,
Damit soll er ins Himmelreich fahren.^
87 In Heftrich bei Idstein im Taunus ist der Pfingstmontag der Tag des
Umzuges.^ Die ältere Schuljugend wählt einen aus ihrer Mitte, der
von Kopf bis zu Fuß mit grünen (Buchen-) Zweigen umflochten wird
und eine Kopfbedeckung aus demselben Materiale erhält. Mit diesem
„Laabmännche" an der Spitze ziehen sie durchs Dorf und singen vor
jedem Haus ein Lied: die Hausfrau verabreicht dann in der Regel ein
Geschenk (meist aus Eiern bestehend). Die Gaben werden in einem
großen Korb gesammelt und am Schluß verteilt. Das Lied ist dies:
Gööge di göhge di Aier (Eier)
Die Hinkel le'e die Aidr
De Madder säuft de Dorre (Dotter) 'raus.
Drei Aier raus, drei Aier raus,
De Korp is noch nit voll.
Mach mer (mir) mol die srewespring.
Mach se (sie) alle stewö (7).
Siesde (Siehst du) wie ich danze kann,
Schöner wie ein Ese(jl,?)mann.'
Si II sa II hop II sa || (Laubmännchen hüpft; j = Pause).
A. (Die Frau gibt eine Gabe.) B. (Die Frau gibt nichts.)
Die Frau hat uns ein Ei gegeben. Die Frau hat uns kein Ei gegeben,
Soll sie auch viel Freud' erleben; Soll ihr's Hemb am A . . . ankleben.
Sie und ihre Kindör, [oder, und wohl modemer:
Sie und ihr Gesinddr. (sie!) Soll sie auch kein Freud erleben.)
In Rinsdorf im Siegerland wird der Maibaum herumgetragen, die
Stange muß von zwei Burschen getragen werden, einer ist ganz in
Busch eingehüllt. Sie singen:
Mai, Mai, gib mir ein Stück Fett oder ein Ei.
Greift in ein Nest,
Wo ein Schilling Eier drin ist.
Gebt uns die dreimal vier.
Die andern, die behaltet ihr.
^ Böhme S. 338.
* Ich verdanke diese Mitteilungen einem Marburger Schüler, Herrn Dr. Ernst
Bieber, jetzt Oberlehrer in Frankfurt a. M.
^ Die Leute konnten nicht bestimmt sagen, ob / oder n richtig ist und
sprechen deutlich Ese . . . mann.
Sommertag 329
Greift an die Stangen, 88
Wo die Bratwürste hangen,
Gebt uns die langen.
Die kurzen laßt ihr hangen . . .
Und so ihr das nicht tut,
So habt ihr kein christlich Blut.^
Von besonderem Interesse können uns die Bräuche sein, die aus
Braunschweig gut bekannt sind.^ Der Maibatim wird herumgetragen;
es wird aber auch die „Maibraut" herumgeftihrt - der zweitjüngste
Bursche wird ganz in Birkenlaub eingekleidet und ist die Maibraut;
der jüngste ist der paias (Hanswurst, Bajazzo) und mit Larve und
Pritsche versehen. Einer der älteren Burschen „betet" beim Umzug:
Ik bringe jüch den lütgen vogt.
Den gröten vogt.
Den pingstemai.
Ik woll jüch bitten um ein half schock eier,
'n stücker fiwe, sesse
Ligget in jüen neste,
'n stücker fiwe, f ofteine
Maket jüe nester reine.
G6wet üsch en stücke kauken.
Da künn we gut na raupen,
GÄwet üsch en stücke schinke,
Da künn we gut na drinken. '■/'
G6wet üsch en stücke speck wie en arm lang,
Dann ward üse eierkauke noch mal sau blank.
Gftwet üsch en enne wost^
Denn fät't we jüe mäkens mal an'n tost.
Göwet üsch en stücke semmele.
Denn fät't we jüe mäkens ok mal an de pemmele.
Gfiwet üsch en paar gröschen geld.
Da komet we ök midde dör de weld,
Pingstemai.
Hierauf sagt die „Maibraut": *
mik 6k en ei!
und der Hanswurst:
süß slä ik schötteln un pötteln entwei!
Es wird auch von Doppelchören von Knaben und Mädchen berichtet;
bei letzteren zieht die Maibraut voran. Dabei wird z. B. gesungen:
^ Mitteilung von Herrn stud. theol. Patt (1902 in Gießen). „ .. . ,„.^
« Ausführlich beschrieben bei Richard Andree Braunschweiger Volkskunde
344ff. Danach die Angaben oben.
330 Sommertag
Güen dag, güen dag!
Wat göwet se usrer maibrüt?
Gßwet se wat, so hat se wat,
Hat se et ganse jär wat usw.
In der Formulierung der Wünsche, die freilich etwas breit aus-
geführt werden, ist ein besonders lehrreiches Beispiel das Lied der
Grebser Pferd ejungen (Mecklenburg) \ die zu Pfingsten herumziehen:
Gewt uns *n por Eier, dei hevvt ji noch wol,
Fif in'n Grapen, fif in'n Schapen, fif in ne Kip,
Denn ward ji selig, un wi ward'n rik.
Stig s'ok in den Wim'n bi dat Speck;
Schnid s'uns 'n Stück von den Schinken
Dor kön'n wi gaut up drinken.
Unserm lieben Herrn Hauswirt wir woll'n wünschen an.
Wir woll'n ihm wünschen einen vergüldeten Tisch,
Auf allen vier Ecken gebratne Hühner und Fisch;
Mitten auf dem Tisch einen Becher mit Wein,
Das soll unserm lieben Herrn Hauswirt sein Labung auch wol sein. —
Unsern Herrn Hauswirt wir wollen lassen stehn
Und wollen zu unserer Hausfrauwirtin hingehn.
Unsrer Hausfrauwirtin wir wolln wünschen an.
Wir wolln ihr wünschen eine vergüldete Krön,
Auf künftig Jahr ein'n jungen Sohn,
90 Ein'n jungen Sohn mit schwarzbraunes Haar,
Daß all ihr Unglück zum Giebel rausfahr.
Wir wünschen ihr auch die Gesundheit dabei.
Daß ihre Lust und Freude sei. —
Unsre Hausfrauwirtin wir wolln lassen stehn
Und wolln nach unserm Hausknechte hingehn.
Unserm Hausknecht wir wolln wünschen an
Auf künftig Jahr ein junge Braut,
Ein junge Braut von achtzehn Jahr,
Daß all ihr Unglück zum Giebel rausfahr.
Wir wünschen ihm auch die Gesundheit dabei.
Daß ihre Lust und Freude sei. —
Unsern Hausknecht wir wolln lassen stehn
Und wolln nach unserm Hausmädchen hingehn.
Unserm Hausmädchen wir wolln wünschen an.
Wir wolln ihm wünschen ein vergüldetes Lamm,
Auf künftig Jahr ein'n Bräutigam,
Ein Bräutigam mit schwarzbraun Haar,
Daß all ihr Unglück zum Giebel rausfahr. —
Unser Hausmädchen wir wolln lassen stehn
Und wolln zu unserm Hauswirt und Frau Wirtin hingehn.
Unserm Hauswirt und Frau Wirtin wir wolln wünschen an,
Wir wolln ihn'n wünschen ein'n vergüldeten Wagen,
Damit solin sie beide nach dem Himmel einfahren.
Nach Bartsch Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg II 276 ff.
Sommertag 33 j
Ach Mudder will ji uns kein Pfingstegeld nich gebn?
Hummel den Bummel wol um den Busk,
Hewt ji kein Eier denn gewt uns Wust,
Lat't uns hier nich lange stan,
Wir mütt'n hüt Abend noch fürder gan.
Gauden Tag!
Hier haben wir eine Bescheerung gekregen,
Der liebe Gott läßt Euch in Frieden leben,
In Frieden leben wohl ein und aus,
Daß alles Unglück fahr aus diesem Haus.
Hier haben wir keinen Schwanz Hiring gekregen,
Der liebe Gott läßt Euch in Unfrieden leben.
In Unfrieden leben wol ein und aus,
Daß alles Unglück fahr in dieses Haus.
Die „Stecken" und „Stäbe" spielen bei außerordentlich vielen 91
dieser Bräuche eine wesentliche Rolle, sie werden mit Kätzchen be-
hängt (München), mit den ersten Kirschen (Mainz), mit Kreppein be-
steckt z. B. in Marburg zu Fastnacht, da heißt es
Und gebt ihr uns kein Kreppel nit,
Dann legen euch die Hühner nit, —
in der Regel aber mit Bretzeln, ausgeblasenen Eiern und Äpfeln. Ein-
mal wird ausdrücklich berichtet, daß die Umziehenden in Westfalen
einen „Spiet" zu tragen pflegen - der Spiet sei eine Stange mit
Querleiste der Form T>
Außer den Bräuchen, die sich um Kampf des Sommers und Winters,
um Austreiben, Töten, Zersägen, Verbrennen des Winters drehen, mag
die Aufstellung des Maipaares der häufigste sein. So ziehen in König-
grätz in Böhmen Maikönig und Maikönigin mit Burschen und Mädchen
als Brautführern und Brautjungfern und mit Kinderscharen umher.
Gaben zu sammeln. Die Königin hat einen Kranz auf dem Kopfe; das
Jüngste Mädchen trägt ihr zwei Kränze auf einem Teller nach. Dann
folgt eine Verurteilung des Königs; die Königin kann ihn aber loskaufen
und setzt ihm ihren Kranz auf.^ Nach einem Brauch der Gemeinde
Wehden, Kreis Lübbeke (Osnabrück), wurde zu Pfingsten das schönste
» Kuhn Westfäl. Sagen II 126, Böhme a. a. 0. 335 Nr. 1719. Von außer-
deutschen Bräuchen will ich nur einen erwähnen, den ich selbst im Jahre 1900
kennen gelernt habe: in Arles in Südfrankreich zogen die Kinder am Sonntag
Lätare mit Stecken umher, die mit kandierten Früchten, Bändern und buntem
Papier ausgestattet waren.
' Mannhardt Wald- und Feldkulte I 422 f.
332 Sommertag
und beliebteste Mädchen von 12-14 Jahren erkoren, ergriffen und
festlich geschmückt; ebenso bemächtigte man sich des beliebtesten
Knaben aus demselben Lebensaher, zierte sein Haupt mit einer hohen,
aus bunten Bändern und Goldpapier gefertigten Krone und führte beide
jubelnd im Dorfe umher.^ Häufig werden auch „Hans und Gretl" als
92 Puppen oder auch als wirkliche Menschen umgeführt im Frühjahr,
wohl auch als Figürchen, die auf dem Maibaume auf einem Wind-
rädchen tanzen. Weiteres von Maigraf und Maigräfin, Pfingstbräutigam
und Pfingstbraut macht nicht deutlicher, was wir längst verstehen: es
ist die neue „Hochzeit", der lepöc t^Ilioc, im letzten Grunde der
Fruchtbarkeitszauber fürs neue Jahr. Es gibt ja im Volksbrauch auch
davon noch verblaßte Reste, daß einstmals die Begattung des Menschen-
paares auf dem Ackerfelde die Erde aufs neue zur fruchtbaren Mutter
machte.^
Jener Stab oder Zweig aber ist nichts anderes als der Frühling
selbst, das neue Leben, das jedem Hause gebracht werden muß; da
bleibt er bis zum nächsten Jahr und wird durch den neuen Stab ab-
gelöst. Wir werden das noch besser verstehen lernen. Daß die Um-
züge an so verschiedenen Terminen stattfinden, begreifen wir schon
jetzt so, daß irgendein vorhandener Festtag den Frühjahrseinzug an
sich gezogen hat. Und nicht anders ist es mit dem Einzug des Herbst-
segens, der Ernte. Denn dem Maibaum steht der Erntemai gegenüber;
wird im Frühjahr etwa der erste grünende Zweig gebracht, so nach
der Ernte das letzte Ährenbündel. In beiden Fällen aber hat der be-
bänderte Stab mit Früchten und Backwerk seine Stelle. Eine Frucht
wie der Apfel mit seinen Kernen repräsentiert Saat und Ernte zugleich.
Auch im Herbste hat eine ganze Reihe benachbarter mächtiger Fest-
tage den Segenseinzug an sich gezogen, und es kommt hier noch
dazu, daß die Wintersonnenwende und weiterhin die Jahreswende ganz
von selbst Begehungen festhalten oder ausgestalten, die den Einzug
der neuen Zeit darstellen. So geht hier beides vielfach ineinander:
der Einzug des neuen Lebens und der Einzug des Segens des Herbstes.
Der Schluß der Ernte selbst, die veränderlichen Erntefeste, dann aber
vor allem der Martinstag, das Weihnachtsfest, Neujahr und Dreikönigs-
93 tag sind die Termine, an denen nun wieder Umzüge stattfinden und
Lieder gesungen werden, die uns ohne weiteres die wesentlichen
Hauptformen und Hauptformeln zeigen, wie die oben angeführten
Bräuche und Verse.
Mannhardt I 423. ^ Weiteres Mutter Erde S. 97 f, u. s.
Sommertag
333
Am reichsten ausgebildet sind, scheint es, die Martinsumzüge mit
den Martinsliedern. Zunächst ein charakteristisches Beispiel eines Lied-
chens ^ aus Bückeburg.
Märten, Märten gaue Mann,
Der üsch wat verteilen kann
Da Appel un da Beren,
Da Nöte mag ek geren,
Gaue Frue:
Gebns üsch wot,
Lat uns nich tau lange stän
Möt noh hen nach Köllen gän,
Köllen is'n wihen Weg.
Dat Himmelreich werd uppedän,
Damöt wie alle ringän.
Von eine bet tweie
Da drüdde kan wol mit üsch gan.
Ek hör da Schlöttels klingen,
Se werd üsch wol wat bringen,
Ek hör da Schlöttels klappern,
Se bringt üsch wol 'n Appel.
Das Obst wurde auf den Flur geschüttet und es begann ein großes
Grapsen. War man zufrieden, so hieß es:
In . . . siner Stuben,
Da sitt twei witte Duben (= Tauben),
Da eine is költ, da anre is warm
. . . holt sine Frue in'n Arm.
War man unzufrieden, so folgten ein paar unflätige Reime. Daneben
mag sogleich ein offenbar etwas durch höhere Bildung geglättetes
Liedchen ^ stehen. Dafür ist es denn auch aus Göttingen. Die alten
volkstümlichen Teile erkennt man gleich an dem stärker beibehaltenen
Dialekt.
Martin ist ein guter Mann,
Schenkt uns Äpfel und Nüsse.
Als sie an dem Tische saßen
Und gebratne Fische aßen.
Da dacht' ich in meinem Sinn,
Seht da wohnt ein Reicher drin.
Der wird sich wohl bedenken
Und wird mir wohl was schenken.
Schenken Se mek en Appel,
Den kann ek gaud verknappein.
Schenken Se mek ne Beeren,
Die kann ek gaud vertehren.
Schenken Se mek 'ne Nuß,
Denn geb ek Se en Kuß.
Man kann sich nun aber leicht mit einer großen Menge von Martins-
liedern aus gedruckten Sammlungen bekannt machen. Ein zierliches
* Nach Mitteilung von Herrn Professor Dr. Karl Fuhr in Berlin.
- Ich verdanke dessen Aufzeichnung der Güte der Frau Qeheimrat Leber
in Heidelberg. ... ^ o ^ •
» Es werde von manchen behauptet, teilt mir die freundliche Spendenn
mit, statt „Polen" müsse es „Köln" heißen. Das vorige Lied sprach ja von
Köllen.
Ich bin ein kleiner Zimmermann,
Ich zimmre alles was ich kann.
Ich bin ein kleiner König,
Geben S' mir nicht zu wenig.
Käs' und Brot mag ich nicht,
Schweinebraten krieg ich nicht,
Meister, gib mir Wurst.
Lat mek gähn, lat mek stahn,
Lat mek nich tau lange stahn,
Ek möt noch hen nach Polen",
Un mek twei Penn'ge holen,
Polen is ne grote Stadt,
Da geb'n mek alle Lüte wat.
94
334 Sommertag
Büchlein, das K. Simrock 1846 anonym und ohne Angabe des Jahres
bei A. Marcus in Bonn herausgegeben hat, ist, so scheint es, wenig
beachtet.^ Es heißt: Martinslieder /hin und wieder /In Deutschland ge-
sungen/Von Alten und von Jungen /Zu Ehren des bescheidnen Manns/
(Bei einer wohlgebratnen Gans) /Mit zweien Vorberichten / Die manches
Dunkle lichten / in / Druck gegeben säuberlich / durch / Anserinum
Gänserich. / Nota bene:/den edlen Martinsfeuern / Will Anserin nicht
steuern /Nein ihren Glanz erneuern. / Bonn gedruckt in diesem Jahr,/
da der Wein geraten war. / Darin finden sich die prächtigsten Bei-
spiele auch für den Typus, der uns hier von einiger Wichtigkeit ist
(z.B. S. 26 aus Bonn, S. 30 aus Coblenz, S. 35 aus Barmen, S. 38
aus Remscheid, S. 41 aus dem Herfordschen, S. 45 aus der Alt-
mark usw.).^
95 Nicht selten wird nun auch einem der Martinsbuben, dem Martins-
männchen, wie es am Rhein heißt, Stroh um Arme, Leib und Beine
gewickelt, je nachdem er ganz zum „Strohmännchen" ausstaffiert
werden soll, wie sein Genosse im Frühjahr zum „Laubmännchen".
Und gerade auch bei den Martinsumzügen spielt ein „Vögelchen" eine
Rolle, für das dann gesammelt wird, z. B. in einem Lied aus dem
Hans -Jochenwinkel der Altmark :^
Martin, Martins Vaegelken
Met diin vergült Snsivelken,
Flöög hoch öövern Wiim (Hühnerleiter),
Morgen is det Märtiin! usw.
Jedenfalls handelt es sich nicht um die Gans, die uns hier nichts an-
geht. Die Krähen werden in einigen Gegenden des Rheins auch
Martinsvögel genannt: möglich, daß hier die Krähe auch gemeint ist,
die die Kinder doch wohl früher wirklich mit herumtrugen. In Früh-
lingsliedern spielt gelegentlich der Kuckuck oder die Schwalbe und
noch andere Tiere ihre Rolle. Am Palmsonntag in Westfalen wurde
gesungen:
* Mir ist es durch Useners Mitteilung bekannt, s. auch Ältgriech. Versbau
64, 3; 83.
* Es wäre natürlich unendlich, die Stellen aufzuführen, wo Martinslieder
gedruckt sind , nur auf Hildebrands Materialien zur Gesch. des deutschen Volks-
lieds S. 142 ff. mag noch hingewiesen sein (vom Martinsfest der Kinder derselbe
und Dähnhardt Volkstümliches aus Sachsen II 156). Eine ganze Reihe ver-
schiedener Liedchen war zusammengestellt in der Unterhaltungsbeilage der
Tägl. Rundschau vom 10. November 1903 von R. Reichhardt.
^ Kuhn Mark. Sagen 344.
Sommertag qqc
Palm, Palm Boschen,
Laßt den Kuckuck roschen.
Lät den Vögel singen,
Lät den Kuckuck springen^;
beim Kölner Frühlingsumzug wurde in der Tat früher ein Eichhorn
herumgetragen und gesungen
roden, roden, Eichhorn,
(= rassele , schnarre)
(die Knaben hatten eine wirkliche Rassel dabei).'
Nur noch ein Beispiel dieser Art: in Oberschlesien auf dem Lande
(Kreis Kreuzburg) zogen Knaben singend und heischend zu Weih- 96
nachten mit dem Kokotek = Hähnchen umher. Sie hatten zwei
Räder mit einer Achse, auf der sich eine Scheibe wagerecht schnell
herumdrehte. Darauf war eine Anzahl von Puppen, die beim Drehen
wie Tänzer sich bewegten, und in ihrer Mitte ein plastisch dargestellter
Hahn.3
Den Martinsbräuchen stehen an Verbreitung beträchtlich nach ent-
sprechende Sitten zu Weihnachten, am Neujahrstag und am Dreikönigs-
tag. Am meisten Ähnlichkeit mit den Martinsgesängen haben vielfach
die Liedchen, die in manchen deutschen Landesteilen beim Umgang
mit dem „Rummelpott" vorgetragen werden. Über einen irdenen Topf
ist eine Blase gebunden, und darin in der Mitte ist ein aufrechtes
Rohr befestigt, das einen Ton etwa wie „rups, rups" von sich gibt,
wenn es mit der feuchten Hand auf und ab gestrichen wird. In manchen
Teilen Schleswig -Holsteins wurde dazu z.B. gesungen:
Rummel, Rummel, Dürtjen! Not sünd ok god.
Gif mir mal'n paar Fürtjen. Smit ik de lütjen Deerns in'n Schoot.
Laat mi hier nich länger staan. Davon wart se grot,
Ik mutt hüt noch wieder gaen. Denn kriegt se'n Mann,
Appel un Beeren, Denn lopt se davon.*
De mag ik gern.
Sonstige Lieder und Sitten, die an Weihnachten, Neujahr und Drei-
königstag sich anknüpfen, geben uns nichts irgendwie hier Bemerkens-
* Böhme a. a. 0. S. 345.
» Böhme S. 343, vgl. W. Wolf Beiträge zur Mythologie I 74.
= Mitteilungen d. Schles. Ges. f. Volkskunde IV Nr. 5 S. 78, 1902.
* Christian Jensen Weihnachtsbräuche in Schleswig -Holstein, Beilage der
Münchner Ällg. Zeitung 1901 Nr. 296, S. 5.
336 Sommertag
wertes \ wenn wir denn, wie billig, von all den Maskierungsbräuchen
um die Wintersonnenwende, der Verkleidung in allerlei Tiere hier ab-
97 sehen (auch der „Maibaum" wird oft als Hahn, Hase, Hund, Kuh aus- >
gestaltet), da sie abseits des Weges dieser Darstellung führen.^ I
Eine nicht zu geringe Anzahl von Bräuchen und Liedern mußten
wir vorlegen, um des immer wieder im wesentlichen Gleichartigen der
Sitten und der Sprüche inne zu werden. Die Lieder selbst enthalten
immer und immer wieder folgende Hauptpunkte:
L Ansage oder aber Bringen des Frühlings, des Segens, des Sommers,
der Ernte;
2. Bitte um Gaben, darunter besonders um Früchte (Äpfel, Birnen
u. dgl), Eier, Würste, Bretzel, Backwerk oder Kuchen, Brot,
Wein oder auch nur noch Geld;
3. Segenssprüche: Reichtum und Fülle soll ins Haus kommen; „das
Unglück soll zum Giebel hinausfahren"; gefüllt soll sein Küche
und Keller, neuer Kindersegen wird gewünscht, der Sohn soll
heiraten, die Tochter soll einen Freier finden, der Knecht eine
Braut, die Magd einen Bräutigam: es ist ein Segen der Frucht-
barkeit;
4. Fluch und Schmähung oder Drohung, wenn die Gabe ver-
weigert wird.
Die Gaben selbst werden noch heute vielfach abends an die Mit-
glieder des Umzuges verteilt, früher in gemeinsamem Opfermahl ver-
zehrt: so werden alle Teilnehmer teilhaftig des neuen göttlichen Lebens.
Auch das tritt deutlich hervor, daß eben das, was als Gabe gespendet
wird, nun im Hause in Fülle vorhanden sein wird; zum Teil sind die
Gaben bekannte Zeichen der Fruchtbarkeit und neuen Lebens. Eben
die werden denn auch auf dem Stabe herumgetragen, der selbst das
neue Leben, den Segen der alles Leben gebärenden Erde repräsentiert,!
Der fruchtbehängte, mit Ei und Bretzeln besteckte Stab oder der
98 frische Zweig, der Maibaum oder die Ähre müssen noch vielfach nach
lebendiger Sitte im Hause den Segen halten bis zum nächsten Jahre,
bis sie durch den neuen Stab oder Zweig ersetzt werden. Die Fülle
der Erscheinungen neuen Zeugens und neuen Wachsens kann die
^ Für die den überblickten Bräuchen und Liedern ähnlichen englischen,
von denen neuerdings Nachricht und Zusammenstellung gegeben ist, sei nur
hingewiesen auf Folklore XIII p. 95, XIV p. 167ff., 175ff., County Folklore III
195 ff., 253 ff.
'■^ Ausgezeichnete Zusammenstellungen bei Hoffmann-Krayer Neufahrsfeier
im alten Basel im Schweiz. Archiv für Volkskunde VII 1903, 102 ff., besonders
die Sammlung der Zeugnisse 187 ff.
Sommertag 337
Volksanschauung nur erfassen, indem sie singularisiert: der erste
grünende blühende Zweig ist der Frühling; die Fülle des Erntesegens
ist die letzte Garbe. Wir könnten von Frühlingsfetischen und Ernte-
fetischen reden. Es sind Augenblicksfetische, es sind aber sozusagen
äiich Jahresfetische. Der Widerspruch stört das ursprüngliche Denken
nicht, daß nun wieder das Göttliche pluralisiert wird. Jedes Haus hat
seinen Erntefetisch, jede Straße hat ihn, jede Kirche. Die vermummten
Gestalten, die Laubmännchen und die geschwärzten oder als Tiere
verkleideten Gestalten sind der Frühling oder Sommer oder Herbst
selber, wenn man will, die Dämonen, die Leben und Segen bringen.
Das Schlagen mit der „Lebensrute" und all die verwandten Bräuche
zeigen es jedem, der es nicht gleich erkennen will.^ Die Tiere, die
herumgetragen werden, Krähe oder Schwalbe oder Hahn, sind auch
„Inkarnationen" des Frühlings oder des Herbstes: darum fordern sie
auch selbst für sich die Opfergaben. Und die Prozession selbst mit
ihren rituellen Handlungen, wie dem Kampf des Sommers gegen den
Winter, der Hochzeit des Maipaares oder auch dem Tanze der „Früh- 99
lingsdämonen", ihrer Vertreter, und endlich auch noch der Umzug
selbst durch die Flur und von Gasse zu Gasse, von Haus zu Haus,
die schafft das neue Leben, den reichen Segen: sie selbst ist
zauberischer Ritus, ist Fruehtbarkeitszauber. Was einst in deutlichen,
wenn man will, rohen Formen als heilige Handlung der Religion des
ganzen Volkes begangen ward, ist nun zu den Kindern, wenn man
einmal so sagen darf, herabgekommen, ein liebliches Kinderfest ge-
worden, das die mächtigen geheimnisvollen Zauberriten der Zeugung
und Fruchtbarkeit im fröhlichen Spiel der Kleinen lieblich verschleiernd
bewahrt hat.
II
Nun sind wir imstande, die vereinzelten Überlieferungen ent-
sprechender antiker Bräuche richtiger einzureihen und zu beurteilen.
» Ich kann hier die Unendlichkeit der Bräuche nicht aufzählen. Mannhardt
gibt jedem, der sich belehren will, Material in Fülle. Das „Schmackostern"
ist hier einer der wesentlichsten übriggebliebenen Riten. In den mythologischen
Forschungen hat Mannhardt auch hier die antiken Parallelen in allem Wesent-
lichen erschöpfend herangezogen. Wer den Begehungen der Fruchtbarkeits-
dämonen" weiter nachdenken will, mag sich die Bemerkungen Useners J^chw
f. Religionswiss. VII 285 f. nicht entgehen lassen; vielleicht wird auch das
VI. Kapitel meiner Mutter Erde vieles der obigen Ausführungen, ohne unmittel-
bar einzugreifen, tiefer verstehen lassen. Man kann "icht immer wiederho^n
was in unzähligen Gestaltungen des Volksbrauches unendlich 'neinandergre ft.
So lasse ich denn auch die „Phallosumzüge" hier beiseite^ «^ /ehr s»e im
Altertum vielfach den Umzügen mit Stecken und Zweig parallel waren und ver-
standen wurden.
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. **
338 Sommertag
Ich könnte auch hier auf Mannhardts in der Hauptsache wahrhaft
glänzende Darlegungen verweisen, wenn ich nicht einzelnes etwas
anders ansehen müßte und einiges Neue hinzufügen wollte. Zu-
sammenstellungeti und Erörterungen mannigfacher einzelner Über-
lieferungen von Prozessionen, auch Kinderprozessionen mit Stäben und
Zweigen, mag man bei Mannhardt nachlesen. In Athen fanden mannig-
fache Begehungen dieser Art statt, so an den Pyanopsien und den
Thargelien. Die Oschophorien (öcxoc* djUTreXou KXdboc KaidKapTroc 6
Ka\ou)Lievoc öcxoc)^ treten besonders hervor und die mannigfachen
Umzüge mit der eipeciiuvTi, dem mit Früchten und wollenen Bändern
behangenen Stab oder Zweig. Mögen die Sätze eines Zeugnisses
auch hier angeführt sein: (eipeciiuvTi) KXdboc iXaiac epioic irepiTreTiXeTinevoic
dvabebejuevoc . . . eHripTTivio be auTou ujpaTa irdvia axpöbpua. Tipö be
100 öupuiv iCTctciv auxfiv eic^ii xai vöv . . .. 66ev eicdii Kai yOv dTreibdv
dviCTUJCi Tov KXdbov, Xe-fouci Taöia*
eipeciujvTi cÖKtt qp^pei Kai movac öprouc
Kai )Li^Xi ^v kotOXt] Kai ^Xaiov dvaipricacGai,
Kai kOXik* eiJZiupow, uic äv |U€0Oouca KaeeObr).
ctXXujc* TTuavevpioic Kai GapTn^ioic 'HXiiu Kai "Qpaic lopidZ^ouciv oi
'AGrivaToi.^ cpepouci be oi TiaTbec touc xe GaXXouc epioic TrepieiXrmevouc
ö0ev eipeciüuvai XeTovrai Kai toutouc upö tujv Gupujv Kpefiiiuciv.
eHripTTivTo be tujv GaXXÜJV ai iLpai. Das ist antike Erklärung zu dem
Verse in Aristophanes Rittern (729), in dem der alte Demos sich be-
klagt, daß sie ihm die Eiresione vor seiner Haustür herabgerissen
haben. In einem Verse der Wespen (398) ist davon die Rede, daß
der alte Philokieon, der an dem Hause herunterklettert, von der
Eiresione getroffen, tiXtitcic xaTc eipeciiuvaic, sich zurückwenden soll:
^ S. Athenaios p. 496 f nach Aristodemos: rote CKeippoic, qpTiciv, 'AQY]vale
dYu»va ^TTiTeXeicGai tujv ^qprißiuv bpöjuou* Tp^x^iv bi ai)TOi)c ?xovTac diinr^Xou
KXdbov KaTdKapTTOv töv KaXoO|uevov «I»cxov.
^ Über diese Angabe (sie stammt aus Theophrast,, vgl. Porphyr, de ahstin.
II 7) urteilt, wie mir scheint, richtig Pfuhl de Atheniensium pompis sacris
86ff. Der Sonne und den Hören galten private Prozessionen, die offizielle
Prozession der Thargelien und Pyanopsien galt dem Apollon. Natürlich ver-
hält sich hier immer die Sache so, daß der volkstümliche Ritus von einem
großen Götterfest attrahiert ward und nun dem großen Gotte gilt. Einen be-
sonderen Zug möchte ich noch meine Leser zu bemerken bitten, der von der
apollinischen Thargelienprozession nur bei Proklos zu Hesiods W. u. T. 767
aufbewahrt ist: sie begehen den Tag festlich ftaqpvTiqpopoOvrec koI tö KavoOv
^TTiCT^qpovTec (dirocTp^cpovTec überl., ^iricTdcpovrec Scaliger) Kai i)|livoövt€c
TÖV Geöv (ein Knabe steckt die Eiresione vor die Türe des Apollotempels;
weitere Zeugnisse Pfuhl a. a. 0. 47).
Sommertag 33^
der Sklave soll ihn damit schlagen KXdboic . . . toTc TTpö ttic oikiqc
sagt das Scholion. Zu einem anderen Aristophanesverse (Plutos 1054),
wo es heißt, daß ein altes Weib von einem Funken in Brand gerät,
wie eine alte Eiresione, geben die antiken Erklärer noch einiges, das
die Analogie deutschen Brauches so deutlich macht, daß ich es nicht
ganz beiseite lassen kann: eipeciuuvTi cTe|Li|uaTa Trpo tuuv ttuXüjv TiepieiXri-
jueva TiXaKOuvTiKoTc tici KoXXOpoic Kai aXXoic toioutotpöttoic
ToTc T€ ujpaioic KapTToTc Ktti eXaiac d7T0Kpe|Lid|ui€va . . . e'xujv dptov 101
eHripTTi)Lievov xai kotuXtiv . . . Kai cOko Kai irdvia xd dfaOd' rauiTiv
be Tf]v eipeciiuvriv -rrpö tujv oiKTiiLidTUJv eTiGevio 01 'AOrivaToi Kai Kai'
exocauxriv nXXaxxov. Der Stab ist mit Kuchenbrezeln besteckt
und mit Früchten. Er bleibt ein Jahr am Hause, bis ihn der nächste
ablöst. Wahrlich, was diesen „Sommertagsstecken" angeht, ist kein
Unterschied zwischen Athen und Heidelberg.^
Es lohnt nicht, bloßen Erwähnungen ähnlicher Umgänge weiter
nachzugehen, drepiioi finden sich in manchen Kulten bis in späte Zeit
erwähnt.^ Aber eine nur durch des Proklos Chrestomathie auf uns
gekommene, wahrhaft erlesene Nachricht von einem Umzug in Theben
darf um so weniger unbeachtet bleiben, als letzthin durch den Fund
von Resten eines neuen pindarischen Liedes auf Papyrus die Aufmerk-
samkeit auf die Proklosstelle hingelenkt worden ist.^
fiK€]i Top ö [AoEliac
Trlp[ö]9puj[v] dGavdxav x^P^"^
GT]ßaic ^TTipeiEuDv
Apollon ist da, über Theben unendlichen Segen zu bringen. Nun will
ich mein Kleid gürten und, ein stolzes Lorbeerreis in der zarten Hand,
feiern des Aioladas und Pagondas altberühmten Hof, von Kränzen um-
blüht das jungfräuliche Haupt. Es redet der Mädchenchor, der zu
Ehren des thebanischen Apollon baqpvriqpöpoc einherzieht und sein Lied 102
singt. Bei Proklos (p. 525ff., Photios ed. Bekker p. 321) wird die
bacpvTicpopia beschrieben. HuXov IXaiac Kaxacxeqpouci bdcpvaic Kai
^ Ich gehe zwar diesmal absichtlich nicht über deutschen und antiken
Brauch hinaus. Aber eine Angabe meines Kollegen Rathgen kann ich doch
nicht unerwähnt lassen: In der Gegend von Tokio in Japan findet sich bei ent-
sprechenden Umzügen wie den unseren eine Art Harken, mit Früchten u. ä.
besteckt, auch unter allen Umständen^mit einem oder mehreren Pilzen, die für
jeden den Phallus bedeuten. Diese Harke wird zu Hause aufgehängt bis zum
nächsten Jahre. „ ,.
» Im Attiskult CIA II 1, 624, s. Fleckeis. Jahrb. XXVI (1880) 423, Hepdmg
AtHs SOf., im Isiskult in Samos Bull, de corr. hell. 1881 p. 484.
» S. Otto Schröder Berl. Philol. Wochenschrift 1904, 19. November, Nr. 47
S. 1476ff.
22*
340 Sommertag-
TTOiKiXoic dtvGeci, Kai in ciKpou |Liev xdkKX] ecpapiuö^eTai cqpaTpa, ex be
Tauxric juiKpoiepac e^apiiucr Kard be tö juecov toO HuXou TiepiGeviec
eXdccova irjc in dKpuj C9aipac KaGdTTiouci Tiopcpupd CT€)Li|LiaTa * xd be
TeXeuxaTa toO HuXou TrepicxeXXouci KpoKiuTUj. ßouXeTai b' auroTc f] juev
dvujTdTiu cqpaTpa töv fiXiov, (h xai töv 'ATTÖXXtuva dvaqpepouciv, f) be
UTroK€i)Lievri iriv ceXr|vr|V, xd hk irpocripTTiiueva tujv ccpaipiujv dcxpa xe
Kai dcrepac, xd be fe crejuiiiaTa töv eviauciov bpöjuov Kai -^e Kai xHe'
TTOioOciv autd.^ apX^i ^^ t^I^ baqpvricpopiac TraTc d|U(pi0aXric Kai ö
ILidXicTa aiiTUj oiKeToc ßacidZ^ei xö KaTecTe|U)LAevov HuXov, ö kiuttüu
KaXoOciv auTÖc be ö baqpvriqpöpoc eTTÖjLievoc xfic bdqpvric eqpdTTTexai,
xdc |Liev KÖjuac Ka0ei)u€voc, xP^coOv be cxeqpavov q)epuüv Kai XajLXirpdv
ecOfixa TTobripTi ecxoXicjuevoc iqpiKpaxibac xe uirobebeiaevoc* tu x^pöc
TrapGevuuv eTraKoXouOei Trpoxeivuuv KXOuvac irpöc kexripiav xujv ujuvujv.
TTapeTrejuTTOV be xrjv bacpvricpopiav eic 'AttöXXuüvoc 1c|ur|viou Kai xaXa^liou.
Die KuuTTU)^ ist hier offenbar ein völliger Mastbaum, den dem iraTc
djuqpiGaXric, der nur oben in das Lorbeergezweig faßt, der nächste
Verwandte tragen muß. Der Knabe hat wallendes Haar, einen goldenen
Kranz und langes priesterliches Kleid und priesterliche Schuhe.
Überblickt man die Zeitangaben, die wir in den Nachrichten über
diese Art der Begehungen noch finden, so wird unmittelbar klar, daß
103 es sich entweder um das Kommen des Frühjahrs, des neuen Lebens
handelt, oder aber, in den meisten Fällen, um die erste Ernte, das
Einbringen der ersten Früchte, oder um die zweite Ernte. Und eben-
so wie in deutschem Brauch werden dann diese alten volkstümlichen
Umgänge von den benachbarten großen Götterfesten angezogen und
von den großen Göttern für sich in Beschlag genommen.
Wir wissen freilich noch viel mehr von solchen Umzügen im Alter-
tum, und wir haben sogar Lieder erhalten, die dabei gesungen wurden.
Vielfach besprochen sind ja die Nachrichten, die Semos von Delos
(Athenaios XIV p. 622 b ff.) über die auxoKdßbaXoi und die iGuqpaXXoi
und cpaXXoqpöpoi gegeben hat. Wir wollen uns erinnern, daß jene
Efeukränze auf dem Kopfe trugen, daß die letztgenannten sich die
Gesichter mit Laubwerk verhüllt hatten und einen Kranz von Veilchen
und Efeu trugen. Sie sangen Schmählieder: ijvjQalov oöc dv Trpo-
eXoivxo. Voran geht ein Phallosträger mit geschwärztem Gesicht.
* Diese Deutungen erinnern mich an eine Erklärung, die mir kürzlich hier
von der Bretzel auf dem Sommertagsstecken gegeben wurde: sie sei ursprüng-
lich ein Kreis gewesen und habe die Sonne bedeutet; in christlicher Zeit habe
man dann das Kreuz in den Kreis hineingesetzt.
- Zu KUiirn capio stellt Schröder a. a. O. S. 1476 das Wort wohl mit Recht.
Sommertag 34 j
Verse, die sie sangen, werden auch angeführt: sie haben nur zum
Teil echt volkstümliches Gepräge und sind ganz in den Kreis der
Phallosprozessionen und des Bakchoskultes gezogen, wie denn auch
diese iGuqpaXXoi in die opxncxpa zu ihrem Sang einziehen. Das ist
vielfach zu erkennen, wie nahe sich diese Dionysoszüge mit den alten
„Sommertagsumzügen" berühren, und es wird unmittelbar einleuchten,
daß der Thyrsosstab, von Weinreben, Efeu und Bändern umzogen,
in einen Pinienzapfen auslaufend, ein echter Bruder des Sommertags-
steckens ist. Der Pinienzapfen spielt die gleiche Rolle wie die Früchte
auf dem Stecken^ und soll schwerlich die Beimischung des Fichten-
harzes zu dem Wein anzeigen, wie wir wohl in Griechenland unter
dem Eindruck des Rezinatweines uns eingeredet haben.
Echt volkstümlich bis in späte Zeit waren in griechischen Landen 104
Umzüge mit Tieren, wie Schwalbe und Krähe. Wir werden nicht im
Zweifel sein, was lo. Chrysostomos in der 35. Homilie zum Matthäus
meint, wenn er sagt, daß die, welche Schwalben herumtrügen, ruß-
geschwärzt und alle Leute schmähend. Gaben bekämen, wenn aber
ein Armer um Brot bitte, bekäme er nichts: es handelt sich ums
Almosengeben ^: Kai 01 x^Xibövac Trepicpepovrec Kai ^cßo\ri|Lievoi Kai
TTotviac KaKTiTOpoövTec juicGöv inc Tepaiiubiac rauTTic \a|ußdvouciv, av
be 7T€VT1C ...
Aus dem neuen Griechenland sind uns Umzüge bezeugt, bei denen
am 1. März eine hölzerne Schwalbe herumgeführt wird und während
des Singens - etwa ähnlich wie bei dem oben <S. 335> erwähnten Brauch aus
Oberschlesien der Hahn - auf einem Zylinder unaufhörlich hin und
her gedreht wird. Das Lied lautet übersetzt":
Schwalbe kommt geflogen an von dem schwarzen Meer her,
Übers Meer kam sie daher und sie fand dort einen Turm,
Setzte nieder sich und sang: März, 0 März, mit deinem Schnee und du nasser
Februar,
Der April, der friedliche, ist nicht weit, wird kommen bald.
^ Auf den Figuren des Sommers habe ich auch Tannenzapfen angebracht
gesehen. Mein Kollege Gothein erzählt mir, daß in Breslau ein Tannenzweig
mit Tannenzapfen als Prozessionsstecken bei den entsprechenden Umzügen gelte.
« Ich bin auf die Stelle durch eine Notiz und Anfrage Eberhard Nestles in
der Berl Philol Wochenschrift, 28. Mai 1904, Nr. 22, S. 700, aufmerksam ge-
worden. Er fragt nach Belegen über gezähmte Schwalben. Ich hoffe, daß
meine Antwort ihm befriedigender erscheint, als eine bezeugte zahme Schwalbe
es sein könnte. «^, j * 1, i/:„h
» Nach Wachsmuth Das alte Griechenland im neuen 36 f., dort nach Kind
Neugriech. Anthologie p. 73, s. Passow Popn/arCarm. Graec. rec Nr. CCOT^^^^
mit direkter Aufforderung an die Hausfrau, Gaben herbeizuschaffen, Anfang
z. B. fjpGev, fjpee xeXiböva -.
342 Sommertag-
Singen doch die Vöglein schon und die Bäume werden grün
Und die Hühner glucken schon, haben Eier auch gelegt
Und die Herden fangen an, wieder auf die Höhn zu ziehn.
Zicklein hüpfen schon herum, fressen junge Blätter ab,
Tiere, Vögel und der Mensch, alles freut von Herzen sich;
S'ist vorbei nun mit dem Frost, mit dem Schnee und mit dem Nord:
März, o März, mit deinem Schnee und du schmutz'ger Februar.
S'nahet schon April, der schöne, fort nun März, fort Februar.
105 Aber wir besitzen ja bekanntlich das Lied, welches einst vor alters
in Rhodos beim dTcipeiv, das in diesem Falle x^^i^oviZieiv hieß
(Athenaios VIII p. 360 b), gesungen wurde. Ich muß den Text hierher
setzen, damit die Ähnlichkeit mit den deutschen besprochenen Liedern
augenfällig werde.^
"H\e' fjXee xeXiöüuv
KaXdc üjpac ÖYOuca
Kai KttXouc ^viauToiJC,
lirl YCiCT^pci XeuKd, 'iri vujra iii^Xavva.
iraXdGav cO TupoKUKXetv ^k movoc oikou
oi'vou xe b^TracTpov, xupüj bk Kdvucrpov.
KttTTupiDva x^^i^iJ^v Kai XeKi6iTav
oiiK dTruuGelTai.
diriuJiLiec f| Xaßiu|Li€6a;
ei fiiv Ti buüceic, ei bk }ir\, ouk ^dco|a€v.
f| Tdv eOpav qp^ptuiuec f| GoOTr^pGupov
f\ Tdv YuvaiKa xdv ^cuu KaGriju^vav.
juiKpd ju^v ^CTi, ^qiöiuic |Liiv oico|uev.
dv bi] qp^prjc Ti, }Jiifa bY\ xi qp^poic.
dvoiy' dvoiYC xdv Gupav X£^i^<^"vi.
Ol) fäp yepovx^c ^C)U€v, dXXd iraibia.
Die Reihen mit dreieinhalb, mit vier Hebungen, die iambische Tetrapodie
und die iambischen Trimeter sind doch nur so zu begreifen, daß einst
das ganze Lied in dem volkstümlichen Vierhebungsvers, der uns seit
Useners Untersuchungen so lebendig vor Augen steht, gestaltet und
nun hier und da, ganz in dem zweiten „Akt", in die inzwischen
künstlerisch ausgebildeten Versmaße gefaßt war.
Ein günstiges Geschick hat uns außer diesem alten Volkslied, das
ahes volkstümliches Maß noch so zäh festgehalten hat, ein ent-
sprechendes Lied in der Form des Epos aufbewahrt, das denn auch,
wie sich von selbst versteht, dem Homer zugeschrieben wurde. Und
endlich ist uns ein wiederum dem Inhalt nach entsprechendes Heische-
106 lied aus hellenistischer Zeit erhalten, das nun in eine künstliche Form
gefaßt ist; es ist in Hinkiamben gedichtet, und der Name des Dichters
^ Nach Usener Ältgriech. Versbau 82 f.
Sommertag ß^o
ist denn auch hier gegeben: Phoinix aus Kolophon. Auch aus der
homerischen Eiresione müssen etliche Verse hier stehen:
Au)^a 7rpoc€TpaTrö|HGc9' dvbpoc ju^ya 6uva)idvoto
öc ^^Ta |u^v bOvarai, lu^ta bä TTp^irei öXßioc alei.
auTtti dvaxXivGcGe eOpar TTXoOtoc tdp gceiciv
iroXXöc, CUV TTXoOxiu bä Kai €u<ppocOvri xeGaXuia,
€ipr]VTi t' dToen- öca 6' ÖTTea iiiecTct fitv eXr],
KupßaiTi ö' aiel luexct KapbÖTiou gpiroi judZa,
vOv |Li^v KpiöaiTiv eOuÜTTiöa ciicaiLiöeccav . . .
Toö uaiööc b^ YVJvi^ Kard öiqppd&a ßricexai ij|li|liiv.
f||uiovoi b' dgouci Kparadrobec ^c xöbe b\jj[ia.
a^rf] b' IcTÖv i)(paivoi Itt' r|^^»<Tptu ßeßauTa.
veöjLiai toi, veö|Liai ^viaOcioc, üjcxe x^Xibibv
^CTr\K kv -rrpoeOpoic \\ii\^ iröbac dXXd cp^p' alij/a . . .
el |Li^v Ti öuüceic- ei b^ |uri, oux kxriEoiLiev.
Ol) yäp cuvoiKricovTec ky/Q&b' fjX9o|uev.
Wir begegneten oben schon einem Stück aus einer eipeciiuvTi ebenfalls
„homerischer" Form; die eipeciiuvri war es dort selbst, die cuKa cpepei
xai TTiovac apTouc. Ich habe nicht nötig, in den oben ausgeschriebenen
Versen die Parallelen zu den deutschen Liedern aufzuzeigen, die jedem
auffallen. Hier ist es ja Plutos selbst, der ins Haus kommt, und der
Segen geht dahin, daß Topf und Trog wohlgefüllt sei, und daß der
Sohn eine Frau bekomme. Die Sänger kommen nur noch wie die
Schwalben alljährlich wieder. Der Schluß klingt fast so wie der in
Deutschland so häufige: Laß uns nicht so lange stehn, wir müssen
heut noch weiter gehn.
Ich muß nun denn auch noch Stücke des Liedes des Phoinix, das
den Namen Koptuviciai führt, anführen. Hier ist es die Krähe wiederum,
die Gaben fordert, und wie der Umzug an ein Apollofest gerückt sein
wird, so ist die Krähe Kind des Apollon: sie war ja schon sein Bote
und Weissagevogel. Weizen oder Gerste, Feigen, Brot, Salz oder
auch ein Geldstück sind die Dinge, die gefordert werden. Plutos 107
selbst ist draußen. Die Tochter soll einen Mann kriegen und bald
dem Vater einen Knaben in den Arm legen und der Mutter ein Mägd-
lein auf die Knie setzen.
'6ceXoi, Kopüüvri x^'ipa "rrpöcboxe KpiG^iuv,
Tfl iraibl ToO 'AiröXXuüvoc, f| Xckoc uupujv
f\ öpxov f| fjiuaieov f\ öxi xic xPri^^^-
6öx', iJÜTttGoi, XI xu)v ?Kacxoc ^v x^pclv
^Xei Koptj&VT)' xäXa Xriipexai xövbpov.
q)iX6i Tdp avTY\ udYX" TaOxa öaivuc8ai.
ö vOv dXac bovc auGi KTipiov bibcei.
(b irai, eupnv ÖYKXive - TTXoOxoc ^Kpouce,
Kai T^ KopuüvT) irapG^voc qpepei cOko.
344 Sommertag-
Geoi, Y^voiTO irdvT' äjaejUTTTOc r] Koupr]
Kdcpveiöv övbpa KUJvojuacTÖv dHeOpoi
Kai TU» Y^povTi Traxpi Koöpov ic x^ipac
Kttl iLiTixpi KoOpT]v eic Tct Yoöva KarGeiTi,
edXoc xp^qpeiv Y^vaiKa toTc KaciYvr|TOic.
tfvj b\ ÖKOU iröbec cp^pouciv, öcp0a\|uoOc
d|U€ißo)aai, Moucaici irpöc Gupac aöuuv
Kai öövTi Kai }xi] bövxi — uXeova toutiu yc . , .
äW {bfaQoi, iTuop^HaG' Ouv |liuxöc irXouxei.
böc, (b ävaH, ööc Kai cO iroWd |uoi, vOjLiqpT].
vö|uoc Kopuüvri x^'ip« öoOv' ^iraiToOcr).
TocaOx' deibiw* böc xi Kai Kaxaxprjcei. ^
In den drei Liedern, die wir hierher gesetzt haben, ist in der ganz
gleichen Weise wie in den deutschen Liedern (wenn auch nicht alles
in jedem einzelnen) vereinigt: 1. Ansagen des Frühlings oder des
Segens, des ttXoOtoc selbst, 2. Segenswünsche der Fülle und Frucht-
barkeit, 3. Heischung der Gaben, 4. Schmähung oder Drohung, wenn
die Gaben verweigert werden. Es sind denkwürdige Dokumente, wie
aus gleichen Grundanschauungen gleicher Brauch und gleiche Motive
und Formen des Liedes erwachsen.
108 III
Ich. bitte meine Leser nunmehr, sich die Tafel anzusehen. Es sind
zwei antike Wandbilder, die im Jahre 1868 bei den Ausgrabungen in
Ostia zutage kamen und heute in der Bibliothek des Vatikan, in dem
Zimmer der aldobrandinischen Hochzeit, hängen. Mein Freund Amelung
in Rom hat es erreicht, daß Photographien der beiden Bilder für mich
gemacht werden konnten. Ich habe nichts, auch nicht durch freund-
liche Bemühung römischer Gelehrter, auffinden können, was über die
Auffindung der Bilder Zeugnis oder Bericht gäbe, nichts, was bisher
zu ihrer Erklärung gesagt wäre.^ Daß sie, wie auf dem Rahmen des
^ Athen. VIII p. 359 e ff., eben wieder neu ediert von Crusius in der 4. Aus-
gabe des Herondas S. 92 f.
^ Nur eine kurze Notiz gab über die Bilder Heydemann in der Archäol.
Zeitung 1868, 108 f. (die starke Versehen enthält, wie z.B. die Angabe, daß
das Schiff auf dem Wagen stehe). G. Körte hatte die große Güte, sich um
meinetwillen noch einmal um die Bilder zu bemühen. Über Zeit und Umstände
der Auffindung, schreibt er, weiß man im Vatikan nichts. Die scavi sind
während ca. 15 Jahren von dem päpstlichen Ministero di agricultura e com-
mercio veranstaltet, dessen Papiere aber bei Annektierung des Kirchenstaates
in das Archiv des ital. Ministeriums gleichen Titels überführt wurden. Eine
Anfrage des Prof. Nogara, scrittore an der BibL Vat. und Direttore del Museo
Egizio ed Etrusco, an das genannte Ministerium ist bisher ohne Antwort ge-
blieben. Bezüglich der Kinderbilder von Ostia stehe weiterhin nur fest, daß
Sommertag 345
einen Bildes steht, dagli scavi di Ostia Vanno 1868 stammen, also
kurz vor dem Concilium Vaticanum und dem Zusammenbruch des
Kirchenstaates in den Vatikan kamen, mag wohl diese Vergessenheit
hinreichend erklären.
Ich kann die mannigfachen Rätsel, die uns diese beiden Bilder
aufgeben, nicht lösen und publiziere sie dennoch, weil ich sie im all- 109
gemeinen in den richtigen Zusammenhang stellen kann und dringend
wünsche, daß andere veranlaßt werden, auf die Rätsel, die ich stehen
lassen muß, die Antwort zu geben. Es ist genug, daß die Bilder
37 Jahre lang vergessen und verschwiegen worden sind.
Das planmäßige Bestreben, die beiden Bilder zu genau entsprechen-
den Gegenstücken zu gestalten, fällt sofort in die Augen. Sehen wir
uns zunächst das obere Bild (Fig. 1) auf der Tafel an. Die Maße des
Originals sind 1,10 x 0,59. Die hellen Gestalten der Kinder heben
sich, wenigstens unter dem jetzigen Zustand der Farben, scharf ab
vom roten Hintergrund (ebenso auf dem zweiten Bilde). Rechts (vom
Beschauer) stehen fünf Kindergestalten, gleicherweise in ihr paenula-
artiges Mäntelchen gehüllt, von denen die erste rechts feststehend,
sich nach links zu den anderen zurückwendet: im linken Arm liegt
ein Füllhorn, von dessen Inhalt man nichts mit Deutlichkeit erkennen
kann, mit der rechten Hand erhebt sie einen Stab, der an der Spitze
ein kleines Querhölzchen erkennen läßt. Die nach links folgende
Figur schreitet vorwärts nach rechts; der etwas erhobene rechte Arm
und die Gebärden der etwas auseinandergestreckten Finger der rechten
Hand, mehr noch die allerdings geringe Öffnung des Mundes, die
noch etwas weniger deutlich bei der vierten und fünften Figur zu er-
kennen ist, aber doch wohl dargestellt sein soll, zeigen, daß sie etwas vor-
trägt, d. h. doch wohl singt. Die erste links gewendete gibt das
Zeichen zum Singen, wie denn das Ausschreiten der zweiten an-
deutet, daß sich die Gruppe der fünf eben in Bewegung zu setzen
im Begriffe ist. Die dritte Figur wendet den Kopf zu der hinter ihr
stehenden zurück, hält in der rechten Hand einen Korb, aus dem
Früchte oder Blätter herausragen, in der linken einen großen Stab,
etwa von der Länge der Figuren, der ein starkes Querholz zeigt, an
Pellegrino Tucci, derselbe, der auch die Odysseebilder abgelöst, sie auf Lein-
wand übertragen hat. Professor O. Marucchi gab an F. von Duhn folgende
Auskunft: Posso dirle perd che essendosi scoperte quelle pitture nel 1868 e
scavandosi in quell' anno fuori la porta laurentina ove si trovauano i noti
sepolcri con altre pitture, una delle quali sia precisamente nella sala delle
nozze aldobrandine, io suppongo che da quel gruppo di sepolcri provengano
pure gli affreschi rappresentanti pompe sacre.
346 Sommertag
dessen beiden Enden zwei Trauben hängen. Über dem Querholz ist
110 ein Köpfchen angebracht, das weiblich zu sein scheint. Ich glaube
noch ganz leise Andeutung von Scheitelung des Haares in der Mitte
des Kopfes zu erkennen; Hals und Brust, soweit sie zu sehen sind,
zeigen keinerlei Spur von Gewand. Die vierte Kinderfigur trägt mit
der rechten Hand oder wohl, was nicht zu sehen, aber schon aus der
seitlichen Anlegung der rechten Hand an den Korb zu erschließen ist,
mit beiden Händen einen Korb, genau der gleichen Art, wie ihn die
vorhergehende Figur trug. Die letzte dieser Gestalten trägt einen
Stock wie die dritte, faßt ihn mit der Rechten fest und läßt ihn im
linken Arm zurückliegen. Der Unterschied der Ausstattung dieses
Stockes von dem der dritten Figur ist nur der, daß hier nur eine
Traube am Hauptstab dicht unter den Querstab befestigt herunterhängt,
und daß das Köpfchen, das über dem Querholz aufsitzt, jugendlich
männliche Züge zeigt, wie ich zu erkennen glaube, und um den Hals
und den Teil der Brust, der dargestellt ist, ein Gewand geschlungen
erscheint. Alle fünf haben kleine, den Fuß eng umschließende, bis
über die Knöchel reichende, offenbar weiche Schuhchen von schmieg-
samem Stoffe an. Weiter links stehen in einer Reihe, im Bilde von
vorn nach hinten, vier Kindergestalten in genau entsprechender
Kleidung, deren jede eine brennende Fackel mehr oder weniger hoch
emporhebt^ zu einem Götterbild, das auf einer zylindrischen platten
Säule, die ein wenig höher als die Kindergestalten selbst ist, unter
einem Joch aus zwei großen Fackeln, die durch einen dünnen Quer-
stab verbunden sind, steht. Es ist eine kleine Figur, etwa halb so
groß als die Kinder, und stellt dar - so dürfen wir nun gleich
sagen - Artemis oder Diana im kurzen Jagdgewand, den Bogen in
Hl der linken vorstreckend, mit der rechten Hand hoch zurückgreifend,
um einen Pfeil aus dem Köcher zu nehmen.^
* Es sind vier Fackeln, die ohne Zweifel den vier Kindern gehören sollen.
Sieht man genau zu, so ist die Hand an der ersten Fackel eine linke, die nur
dem zweiten Kinde gehören könnte, die drei folgenden Hände an den Fackeln
sind rechte Hände, während an diesen Stellen nur noch zwei vorhanden sein
könnten. Der Maler hat unachtsam gearbeitet. Wenn man nicht scharf zusieht,
merkt man nichts davon.
* Ich hatte, namentlich wegen der Kleidung der Kinder, die mir vielfach
unklar blieb, sachkundige Belehrung gesucht. 0. Körte hält die Figuren und
gerade auch die Kleider für stark ritoccate. Er macht zu diesem Bild folgende
Bemerkungen: Die Gruppe der Opfernden: lange weiße Gewänder von un-
klarem, unantikem Schnitt (stark ritoccati). Die folgenden 5 Knaben nach
rechts: alle stark übermalte weißliche Gewänder (vom l.) mit gelbem Reflex
oben. Nr. 5 (am weitesten rechts) trägt im l. Arm eine deutliche dunkelrote
Sommertag 347
Nur sehr schwer aus verschwommenen blassen Spuren^ „erkennt
man zunächst dem Pfeiler mit dem Götterbild zwei hintereinander leb-
haft nach rechts ausschreitende Gestalten, von denen die am weitesten
rechts stehende sich augenscheinlich halb zurückgewandt hat. Beide
müssen beschäftigt gewesen sein, etwas Schweres, Widerstand Leistendes
nach vorn zu ziehen, wahrscheinlich nichts anderes als zwei Opfertiere,
von denen noch vier Vorderbeine weiter links zu erkennen sind. Es
scheinen noch von einer dritten Figur, die man hinter den Tieren
denken müßte, die Beine erkennbar zu sein. Die Tierbeine sind von
einem Hufentier und sehr schlank und hoch".
Es ist klar, daß es sich um eine Huldigung an Diana bzw. Artemis
handelt. Das Bild zeigt im wesentlichen den Typus, in dem die Tifatinall2
und die aricinische Diana dargestellt wurde. Statt der Fackel in der
Hand hat sie die Fackel neben sich - ich erinnere an die Artemis
d|U9i7Tupoc, Hekate biTiupoc u. dgl. - und hält den Bogen. Es ist die
Jägerin mit kurzem Chiton und Köcher. Ich glaube auch als wahr-
scheinlich bezeichnen zu dürfen, daß die Köpfchen auf den T- Stäben
Apollo und Artemis -Diana sein sollen.^ Wir wissen, daß ceXac XajUTidbujv
zu den Requisiten eines Opfers an Artemis gehörte (Eurip. Iphig.
Taur. 1224), wir wissen aber im besonderen von Fackelprozessionen ^
die der Diana von Nemi dargebracht wurden; auch der Tempel der
Diana auf dem Aventin in Rom, der Mittelpunkt des ganzen römischen
Dianendienstes, war eine Filiale des aricinischen Heiligtumes. Bei
Propertius heißt es (II 32, 9):
. . . cum videt accensis devotam currere taedis,
in nemus et Triviae lumina ferre deae.
Amphora (spitz), nicht Keule (Heydemann), im r. Stab mit Krücke. Die Mög-
lichkeit der Überarbeitung, an die weder mir noch Amelung ein Gedanke ge-
kommen war, tritt für mich nun erst in Frage, da ich bereits die Korrektur
dieser Blätter abschließen muüi Ich muß sie nun natürlich dahingestellt sein
lassen,- zumal ich auch von den kundigsten Sachverständigen keinerlei präzise
Angaben besitze. Ich erhoffe von der Bearbeitung der im vatikanischen Besitz
befindlichen Gemälde, die Nogara vorbereiten soll Isie erschien Mailand 1907 in
den CoUezioni archeologiche . . dei Palazzi Apostolici Bd. III, weitere
Lösung dieser Frage. Ich bin aber der festen Zuversicht, daß meine Gesamt-
erklärung der Bilder durch etwa aufzudeckende Retuschen nicht erschüttert
werden kann.
' Die folgenden Angaben habe ich mir vor dem Bilde selbst wörtlich nach
der Formulierung W. Amelungs notiert. G. Körte sagt: die Reste l. von der
Diana ganz unklar, nur daß ein Pferd da war und schwache Reste von (3?)
Figuren, ist sicher. Ich muß aber nach bestimmtester Erinnerung Amelungs
Formulierung dem Pferde gegenüber aufrechterhalten. , ^ ^ „
« Das männliche Köpfchen zeigt das Gewand an Hals und Schultern etwa
so wie der Apoll von Belvedere.
» S. bei Mannhardt II 260 Belege über Fackeln in ähnlichem Brauch.
348 Sommertag-
Bei Ovid fast. III 263 ff. lesen wir:
vallis Aricinae silva praecinctus opaca
est lacus antiqua religione sacer . . .
(269) saepe potens voti frontem redimita coronis
femina lucentes portas ab urbe faces.
Statius sagt silv. III 1, 55:
lamque dies aderat profugis cum regibus aptum
fumat Aricinum Triviae nemus et face multa.
conscius Hippolyti splendet lacus.
In des Grattius Cynegetica steht 484:
spicatasque faces sacrum ad nemorale Dianae
sistimus ac solito catuli velantur honore.
113 Und dann wird das Opfer weiter beschrieben:
(488) tum cadus et viridi fumantia liba feretro
praeveniunt, teneraque extrudens cornua fronte
haedus et ad ramos etiamnum haerentia poma,
lustralis de more sacri, qua tota iuventus
lustraturque deae proque anno reddit honorem.
Der Stiftungstag des aricinischen wie des römischen Tempels und
der Hauptfesttag der Göttin waren die Iden des August. Dazu würden
die Trauben an den Prozessionsstäben der zwei Kinder vortrefflich
passen. Mehr will ich nicht zu schließen wagen, weder daß das Bild
eine Kinderprozession zur aricinischen oder vielmehr zu einer ostiensi-
schen in einem Filialkult der aricinisch- römischen darstelle, noch auch,
wieweit es von griechischen Vorbildern oder Gegenständen abhängig
sei. Hier mögen Kundigere weiteren Aufschluß geben. Die trefflichsten
Kenner solcher Dinge haben mir mehrfach diese beiden Bilder selbst
als etwa in augusteischer Zeit gemacht bezeichnet; andere wollen sie
in beträchtlich spätere Zeit setzen. Mir sind natürlich von besonderer
Wichtigkeit die Stäbe mit den Trauben, und wie ich sie verstehe,
brauche ich nun nicht mehr zu sagen. Was die beiden Körbe an-
betrifft, so fanden wir ja schon einmal <S.338> bemerkenswert die Stelle des
Proklos zu Hesiods Werken und Tagen v. 767, baq)vriq)opoOvTec Kai xö
Kttvouv eTncTeq)0VT6c Kai ujuvouvtec töv Geöv. Es handelt sich dort
um Apollo, und hier tragen auch zwei von den jugendlichen Sängern
einen Korb, der voll ist von Früchten oder aber Blättern; es könnten
Sommertag- 349
Oliven sein (schwerlich Feigen, weil sie den Trauben gegenüber zu
klein sind), oder aber auch Lorbeerblätter. Wie ein Kranz heben sich
die weißen, bald runden, wohl auch etwas länglich erscheinenden
Tüpfelchen um den Rand des einen Korbes. Jedenfalls - das ist auf
alle Fälle sicher - handelt es sich um eine Prozession der Kinder am
Sommertag, die zum Teil den „Sommertagsstecken" tragen und ein
Lied singen (die eben abmarschierenden, den Sang anhebenden 114
Kinder würde ich mir am liebsten auf dem Sprunge zu einem dYepiixöc
vorstellen), zum Teil aber der Göttin einen Fackelzug bringen, in deren
Kultkreis die ganze Prozession eingereiht ist.
Das andere Bild (auf der Tafel Fig. 2), das im Original 0,98 x 0,49
mißt, zeigt wiederum Gruppen von Kindern, und zwar genau wie das
bisher besprochene, im ganzen neun Kinder, wenn man die den
Karren ziehenden zwei Gestalten nicht mitrechnet. Während die
letzteren nur eine Jacke und eine Art Hosen tragen, die bis übers
Knie herunterreichen, sind die anderen reich in Gewänder gekleidet,
eine Art Ärmelröckchen und Mäntelchen; bei der dritten Figur von
rechts (vom Beschauer) zeigt das Ärmelröckchen einen glatt ab-
schneidenden und umsäumten Halsausschnitt. Die Mäntelchen sind
kurz, nur scheinen Figur 1 und 2 von rechts noch ein weiteres
längeres Untergewand zu haben. Alle haben bloße Beine und Füße
vom Ende der Gewänder ab - ohne Zweifel aus rituellem Grunde.
Die erste Figur rechts hält in der linken Hand einen Kranz, offenbar
einen Efeukranz, in der rechten eine Standarte, ich möchte sagen,
eine Prozessionsfahne: das Fahnentuch hängt erst von einem Querholz
herab, wie es bei allen römischen vexilla die Regel war\ und auf
diesem Querholz sitzen in gleichen Abständen, in der Mitte und an
den beiden Enden, wiederum drei Büstchen wie die vorhin betrachteten.
Hier ist für mein Auge keine Möglichkeit, einen Unterschied in den
drei Gesichtern und FigOrchen zu erkennen: höchstens könnte ich als
wahrscheinlich bezeichnen, daß sie alle drei weiblich sein sollten.*
Neben ihnen eine Figur, die in jeder Hand einen glatten Stab trägt 115
(soviel ich sehe, scheint nur an dem Stab in der linken Hand eine
kleine Umbiegung, wie sie viel stärker bei dem Pedum zu sein pflegt,
1 V. Domaszewski, der mich über die Form der römischen vexilla belehrte,
machte mich darauf aufmerksam, daß auch die collegia der Artifices, die m
Ostia so zahlreich gewesen seien, solche vexilla gehabt hätten.
» V. Domaszewski deutete die Möglichkeit an, daß es sich um Büsten von
Personen der kaiserlichen Familie handeln könne, Augustus, Gaius, Lucius
etwa. Götterbilder auf vexilla seien unerhört.
350 Sommertag
erkennbar). Dann folgt eine Gruppe von drei Kindern. Die Figur
rechts mit der durch den geraden Halsausschnitt sich von den übrigen
unterscheidenden Gewandung trägt auf dem durch ein Tuch oder
Gewandteil vom Vorderhaupt nach hinten verhüllten Kopfe unter der
Hülle einen vorn sichtbaren Efeukranz. In der rechten Hand hat sie
einen glatten Stab, in der linken einen Kranz. Die Blätter sind viel
kleiner als die Efeublätter und lanzettförmig. Es wird ein Lorbeer-
kranz sein. Unmittelbar neben dieser Figur steht eine andere, deren
Kopf in ganz gleicher Weise verhüllt und bekränzt ist. Sie trägt in
der rechten Hand einen Stab, der nicht ganz glatt ist, sondern oben
an der Spitze ein ganz kleines Querholz zeigt. Mit der linken Hand
faßt sie an den Rand eines Tellers, den eine gegenüberstehende un-
bekränzte Figur mit zwei Händen ihr hinreicht. In einem kurzen Ab-
stand folgt dann eine Gruppe von vier Kindern, die im Kreise einander
zugekehrt stehen. Das den Beschauern völlig den Rücken kehrende
hält mit der rechten Hand einen Kranz empor, der offenbar Gegen-
stand des eifrigen Gespräches der vier ist. Es scheint mir ein Efeu-
kranz zu sein. Weiter links ziehen die zwei vorhin erwähnten Figuren
einen sehr einfachen Wagen — der einfache Wagenkasten ruht auf
zwei sehr hohen Rädern. Die lange Deichsel hat vorn ein Querholz,
an dem die beiden Leutchen schieben, wie es scheint, mit ziemlicher
Anstrengung. Der Wagen aber ist anscheinend leer. Im Hintergrund
erkennt man Wasser, d. h. Meer, und im Hintergrund links ist ein
Schiff mit Mast, Segel und Takelage, in dem Wasser liegend, zu er-
kennen, vielleicht ganz links noch ein Stück eines zweiten Schiffes.^
116 Der Rätsel sind hier gar zu viele. Und auf viele Fragen gibt es
keine Antwort, und für mancherlei Vermutungen, deren ich manche
durchdacht habe, gibt es keinerlei Sicherung oder Bestätigung. Ich
muß mich also hier fast ganz auf Fragen beschränken, auf die ich
Antwort von anderen erhoffe. Nur eins scheint mir, wenn nicht sicher,
so in hohem Grade wahrscheinlich. Die Gruppen der zwei VerhüUten
und Bekränzten stellen ein Paar dar, das wir „Maibräutigam" und
* Körte schreibt mir folgende Angaben: Köpfe der beiden Ziehenden ver-
schieden von den übrigen Köpfen. Bekleidung unverstanden, sieht aus wie
kurze Hosen. Urspr. wohl Chitone (tunica), Farbe grün. Die folgenden
(rechts 4) Chiton und Mantel, Farbe graublau, die Verzierungen (Stickereien)
wohl sicher modern. Das gilt auch von den 5 nach rechts hin folgenden.
Urspr. haben sie wohl Tunica und Mantel. Nr. 1 (vom) bläulich, 2 weißlich,
3 bläulich, 4 weiß, Chlamys bläulich, 6 weißlich mit bläulichen und gelb-
lichen Tönen.
Sommertag- ocj
„Maibraut" nennen würden/ Die Überreichung des Tellers bringe ich
mit der Stelle bei Hesych zusammen, s. v. AeKavibec* Kepdjueai XoTrdbec
[s. Phot. p. 213, 9 XeKttveTc- Kepa)uea XoTidc- kqi id ^TreiaXa xpußXia]
Kai ev aic dvGpuTTTd (evGpuTTxa corr. Salmasius cf. Jungermann ad
Poll. 6, 77 p. 611, 15) eqpepov toTc veoTd^oic.^
Kränze werden offenbar weiterhin noch an andere verteilt, viel-
leicht die Sieger in irgendeinem Spiel. Es wäre leicht, aus deutschen
Parallelen etwas zu vermuten, aber ohne irgendeinen bestimmteren
Anhalt unterlasse ich es lieber. Soll etwa auf dem Wagen das Paar
zur Prozession in die Stadt gefahren werden? Hegte man die Vor-
stellung, daß das Maipaar übers Meer gekommen wäre wie der
attische Dionysos, der ja auch im BouKoXeTov mit der „Königin" die
heilige Hochzeit begeht? Man verfällt leicht darauf, daß etwas wie
das navigium Isidis, die TiXoiacp^cia dargestellt sein könnte, zumal
wenn man, was so nahe liegt, das Meer mit dem Schiff als den
Hafen von Ostia versteht. In Ostia und Portus war starker Isiskult.MlT
Aber was soll dann dieser Wagen, der dies Schiff schwerlich getragen
haben kann? Und was soll das „Paar"? „Frühlingstag" ist es sicher ^
denn die Efeukränze und Lorbeerkränze müssen um diese Zeit alles
andere ersetzen. Ich würde für wahrscheinlich halten, daß das Paar
wirklich von dem Schiff eben ans Land (sie brauchten in Wirklichkeit
nur auf einer anderen Seite des Hafens abgefahren sein) gesetzt
wurde, ihm die Hochzeitsgaben eben überreicht werden und der Zug
sich zu formieren beginnt. Auf dem freilich für die Kinder sehr ein-
fachen Hochzeitswagen werden „Maikönig" und „Maikönigin" in die
Stadt fahren. Bestimmte Gottheiten sollen durch sie schwerlich
dargestellt sein; man würde das an irgendeinem Attribut erkennen
^ Die „Maibraut" wird wohl auch von einem Knaben dargestellt sein.
Jedenfalls wird damals so wenig wie heute die Maibraut in wirklicher voller
Brauttracht erschienen sein.
' M. Schmidt hat mancherlei Verwirrung angerichtet, namentlich mit den
dOpifmaxa, seiner „lesbischen Glosse".
» v. Domaszewski erinnert mich an die Portunalia in Rom und in Ostia-,
Mommsen nahm für das Fest eine;; Prozession an, in der atria Tiberina eine
Station war (Ovid fast IV 329). Marquardt-Wissowa S. 327 f., 10. Die Portunaha
fallen auf den 17. August. Meinem genannten Kollegen verdanke ich auch
mancherlei Erwägungen über die Neunzahl der Kinder auf den beiden Bildern.
Die Zahl der pontifices und augures ist die gleiche, und ihm schemt auch
möglicherweise die jedesmalige Gruppierung in eine Fünfer- und Vierergruppe
mit der Zusammensetzung aus patrizischen und plebeiischen Priestern zu je
fünf und vier hier bedacht werden zu müssen.
352 Sommertag
Welche Bezeichnungen sie ha4ten, wissen wir nun einmal bis
heute nicht.
„Hinreißenden Zauber" fand einer der sachkundigsten Betrachter
meiner Photographien in den beiden Bildern aus Ostia. Hoffentlich
bezaubern sie unsere gelehrten Archäologen und Philologen so lange,
bis sie uns Antwort auf meine Fragen geben. Vielleicht, daß auch
irgendwo noch heute ein Brauch lebendig ist, der eben den, der in
Ostia oder wo es sonst war, vor zweitausend Jahren von frohen
Kindern im Sonnenlicht des Frühlings und des Sommers geübt wurde,
ins Licht unmittelbarer Erkenntnis rückt. Dazu hat mir der Heidel-
berger Sommertag noch nicht geholfen.
XXII
ENNEAKRUNOS^
Man muß bei den vorstehenden Bemerkungen^ unwillkürlich an die 156
Enneakrunos zu Athen denken. Thukydides sagt freilich II 15 Kai
Tri Kprjvr] ttj vöv )li^v tüuv xupdvvujv outuu CKeuacdvTUJV 'GweaKpouviu
KaXou|U€vri, tö he naXai cpavepüuv tujv tttitAv^ oucujv KaWippör] ujvo-
|aac)H€vr]. Wenn Peisistratos wirklich das Wasser aus neun Röhren
laufen ließ, so geschah das gewiß nicht darum, weil neun Quellen zu
fassen gewesen wären, die auch sicher weder am Ilisos noch am
Westabhang der Burg bei der Dörpfeldschen Enneakrunos vorhanden
gewesen sind. Warum also gerade der „Neunbrunn"? Es wird auch
vor Peisistratos im Volke der Name '€vvedKpouvoc vorhanden gewesen
sein, was anzunehmen durch die Angabe des Thukydides, der ja in
solchen Dingen peisistratischer Zeit auch nur Volkstradition widergeben
kann, nicht verboten ist. In unserem Falle also könnte sich der volks-
tümliche Superlativ der Neunzahl an einem bestimmten Punkte in den
wörtlichen Plural verwandelt haben.^ Oder aber der dem Volke sonst-
her geläufige Name 'GvvedKpouvoc für einen „Überbrunnen" wurde
jetzt die Bezeichnung der gewaltigen peisistrateischen Brunnenanlage.
' <Archiv für Rel.-Wiss. VIII 1905 S. 156.)
' <Bemerkungen von Wellhausen zu dem Negenborn bei Göttingen; 'negen'
(neun) ist in diesem Namen superlativisch gebraucht, er bedeutet 'Überbom'.>
* miTai bedeutet das Gewässer, die Wasserläufe, nicht die „Quellen", s.
v. Wilamowitz Euripides Herakles IP 94.
* Diels erinnert bei Gelegenheit seiner Belege für die heilige Neunzahl
auch „an die zur Lustration verwandte Enneakrunos", Sibyll. Blätter 41, 3.
Der „volkstümliche" und der sakrale Gebrauch der Neunzahl bedingt sich
natürlich fortwährend gegenseitig und hat in ähnlicher Weise gleiche Gründe
wie bei der Dreizahl.
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften.
23
XXIII
HERMANN USENER^
I Hermann Usener ist am 21. Oktober 1905 von uns gegangen. Er
war der Meister und Führer der Wissenschaft, der diese Zeitschrift
dienen will, er war dieses (neugestalteten) Archivs erster Förderer
und erster Mitarbeiter. Der erste Aufsatz, der es eröffnete, war von
ihm geschrieben. Er sagt selbst von diesem Aufsatz in einem Briefe,
am 10. November 1903: „ich will mich nun ganz dem versprochenen
Aufsatz widmen, der mein Testament werden soll." Vor wenigen
Monaten konnten wir ihm noch ein besonderes Heft, nachträglich zum
siebzigsten Geburtstage, überreichen und ihm selbst noch sagen, „daß
wir der Wissenschaft, die dieses Archiv weiter auszubauen helfen will,
in seinem Geiste, in der Treue und dem sittlichen Ernste philologisch-
historischer Arbeit, die er uns gelehrt hat, dienen wollen". Lebhafte
Freude an unserer Gabe sprach noch ein schaffensfroher Brief vom
31. Juli dieses Jahres aus. Die wenigen Zeilen einer Mitteilung, die
nun am Schluß dieses vorliegenden Heftes stehen, sind das letzte
äußere Zeichen seiner Teilnahme an diesem Archiv und gehören zum
Letzten, das er überhaupt geschrieben hat. Möchte das Archiv, nun,
da die einzelnen Hefte, die er stets gespannt erwartete und in freudiger
Teilnahme begrüßte, nicht mehr sein Urteil zu bestehen haben, jenes
Gelöbnis halten können. Es wird ja kaum ein Mitarbeiter sein, der
nicht irgendwie mittelbar ein dankbarer Schüler Hermann Useners ge-
worden wäre, der nicht wüßte, was es heißt: in seinem Geiste, in der
Treue und dem sittlichen Ernste der Arbeit, wie er es uns gelehrt
hat, der Wissenschaft dienen.
Useners religionsgeschichtliche Arbeit wird, so glauben wir, immer
II besser und tiefer verstanden und gewürdigt werden, sie wird ihm
immer neue Schüler gewinnen und in tausend Wirkungen unsterblich
sein. Um so lebhafter wird auch heute und hier ein kurzes Wort der
» <Arch. für Rel.-Wiss. VIII 1905 S. Iff.>
Hermann Usener 355
Erinnerung an den Gang seiner Lebensarbeit, soweit sie das Gebiet
betraf, das an diesem Orte allein in Betracht kommen darf, einen
Platz verlangen.
1868 erschien der erste mythologische Aufsatz Useners („Kallone").
Er hat gelegentlich erzählt, wie es ihm zunächst nur um die Ver-
besserung einer Aristophanesstelle zu tun gewesen sei, wie er aber
durch den Widerspruch Otto Jahns dazu gereizt und gemahnt worden
sei, sich immer tiefer und tiefer in weite mythische Überlieferungen
einzulassen und sie sich mit raschen Griffen zurechtzulegen. Das
nannte er einen „äußeren Zufall": daß er sich unmittelbar darauf, wie
er sich wohl ausdrückte, kopfüber in eine große Vorlesung über Mythologie
stürzte, zeigt uns, wie nun die zurückgedrängten Neigungen, die
Träumereien längstvergangener Jahre, „Religionsgeschichte müsse seine
Lebensaufgabe werden", zu Tat und Gestaltung drängten. Wie wohl-
vorbereitet er war durch die „Umwege", die er im Innersten auch nie
selbst für wirkliche Umwege gehalten hat, fühlte er damals kaum
selbst. Die grammatischen Studien im besonderen, die ihn im An-
schluß an Plautus, in tief bohrender Einzelarbeit hier und da zur Er-
kenntnis von Denkformen geführt hatten, die in anderer Weise im
religiösen Denken wiederkehren, haben ihm neben dem eindringendsten
Studium der antiken Philosophie vieles eingeprägt von der Art, wie
er später die „Formenlehre" der Mythologie forderte. Vielleicht
werden die, die einmal die „Syntax" in ihren über jede andere Ur-
kunde zurückreichenden Dokumenten menschlicher Gedankenbildung
tiefer zu erforschen und auch für das religiöse Denken nutzbar zu
machen beginnen werden, an so manche Bemerkung Useners anzu-
knüpfen wissen, die vorläufig zur „Mythologie" keine Beziehung zu
haben scheint. Die Etymologie war damals die Trägerin der bei
weitem größeren Hoffnungen, und es ist lehrreich, wie Usener sich
mit bitterem Ernste alle Bedingungen wissenschaftlicher Beherrschung III
der Sprachwissenschaft anzueignen suchte und in seinen ersten Bonner
Jahren bei Johannes Schmidt nicht bloß hörte, sondern auch neben
den Studenten, die er oft tatsächlich kurz vorher im Seminar hart an-
gefaßt hatte, in der Schülerbank Sanskrit mit übersetzte und ausdrück-
lich behandelt sein wollte wie jeder Student.
In seiner weiterhin mehrfach wiederholten Mythologievorlesung hat
er zunächst, in einer furchtbaren Kollision der Pflichten, die er Ver-
trauten später zuweilen drastisch schilderte, das Gebiet sich erobert
mit dem Ernst, „den keine Mühe bleichet". Noch schildern es Augen-
und Ohrenzeugen, wie er eines Morgens nach einer fast durcharbeiteten
23*
356 Hermann Usener
Nacht in der Vorlesung die ganze bisher vorgetragene Hauptanschauung
mit der leidenschaftlichen Ehrlichkeit, die das Innerste seines Wesens
war, für irrtümlich erklärte — er hatte den Gedanken, daß aus dem
einen Gott alle die vielen sich entwickelt hätten, zu Ende gedacht und
ihn „dadurch widerlegt". Die kapitale Erkenntnis war da, daß am
Anfang die Vielheit steht, und daß die Geschichte des religiösen
Denkens die Geschichte des menschlichen Denkens überhaupt ist.
Und in dieser so bedeutsamen Vorlesung hat er auch früh mit voller
Schärfe die Erkenntnis ausgesprochen, daß ein System einer Mythologie
geben zu wollen „Unsinn", eine Geschichte der religiösen Vorstellungen
der Alten zu erreichen unmöglich sei, weil sie in den wichtigsten
Punkten auf den Schluß ex silentio gebaut sein würde.
In den ersten Jahren der Bonner Tätigkeit hat Usener mit einer
für einen Professor der klassischen Philologie beispiellosen Kühnheit
große Probleme ergriffen: wer Aufzeichnungen nach seiner Vorlesung
über vergleichende Sitten- und Rechtsgeschichte gesehen hat oder sie
gar selbst hörte, wird voll Bewunderung sein für den Wagemut und
die Weite dieses Geistes, der noch einer Philologengeneration predigte,
die ihn nur in wenigen ihrer Glieder verstand. Sie hat sich denn
IV auch viele Jahre hindurch mit dem Vorwurf der Unklarheit und Kon-
fusion an ihm dafür gerächt, daß ihr diese Art der Denkarbeit so
unbequem und so ungewohnt war. Der Mann, dem man nachrühmte,
daß ein schweres chronologisches Problem nur dann verständlich sei,
wenn es von ihm dargestellt werde, hat auch in diesen der Philologie,
so wie er sie faßte, unmittelbar gestellten Problemen mit der ganzen
Energie seines scharfen Geistes Klarheit erarbeitet, auch wenn die
Fülle der Gedanken, zumal wenn er sprach, sich drängte und nach
der adäquatesten Fassung rang, ohne die sich nicht zu beruhigen es
ihm peinlich ernst war.
Mit unerbittlicher Konsequenz arbeitete er sich in Gebiete ein,
deren selbständige Kenntnis er als nötig zur Lösung seiner großen
Aufgaben erkannt hatte. Nichts ist wohl charakteristischer als die
Riesenarbeit, die er an die Erforschung antiker Kalender gewandt hat:
er hatte sie unternommen, um sicheres Material für griechische
Religionsgeschichte zu bereiten. Ein Buch, voll der mühseligsten,
langwierigsten Berechnungen und der kompliziertesten Kombina-
tionen, ist bei dem Brand der Mommsenschen Bibliothek zugrunde
gegangen.
Im Jahre 1875 zeigte der Aufsatz über „Italische Mythen", wie
ungemein im stillen Useners Bekanntschaft und Verständnis Volkstum-
Hermann Usener
357
lieber Traditionen gewachsen war, und wie er in der Erhellung antiker
Überlieferungen durch die Bräuche der verschiedensten Völker einen
sicheren Takt sich erworben hatte, der auch dort, wo vielleicht die
antiken Zeugnisse nicht ganz so fester Boden waren, wie er annahm, .
zu bleibenden Erkenntnissen geführt haben. Es wird so kommen, daß
gerade, nachdem die Tatsachen der römischen Religion und des
römischen Kultus ohne Seitenblick auf erhellende Analogien bis zu
einem gewissen Grade erforscht sind, die Betrachtungsart Useners in
ihr unbestreitbares Recht tritt und jener alte Aufsatz ein Vorbild wird
für heute neu beginnende Arbeit. In diese Zeit gehen auch die weit-
tragenden Gedanken und umfassenden Vorarbeiten zur vergleichenden V
Rechtsgeschichte zurück, die erst viel später nur in kleinen Proben
ans Licht der Öffentlichkeit traten. Der Aufsatz über „Italische Volks-
justiz" wird ein Kleinod allen denen bleiben, die der immer dringender
auftretenden Erkenntnis, daß alles Strafrecht im religiösen Brauche
wurzelt, nachforschen werden. Wäre Usener zur Ausarbeitung seiner
umfassenden Pläne in dieser Richtung gekommen, er würde in der
Tat gezeigt haben, „daß alles halspeinliche Gerichtsverfahren von
seinen Anfängen an bis zur Zeit der französischen Revolution auf
sakraler Grundlage beruht hat". Er würde Ahnliches von wichtigen
sozialen Organisationen nachgewiesen haben, wie er es von den
„Burschenschaften" in einer glänzenden Skizze getan hat. Nicht ein-
mal die Grundzüge seiner wie immer auf der Fülle des wirklich
durchdrungenen Materials beruhenden Gedanken über Religion und
Sittlichkeit hat er noch ausgesprochen. Er hatte für den religions-
geschichtlichen Kongreß in Basel einen Vortrag darüber angekündigt,
aber er war nachher durch kein Zureden mehr dazu zu bringen,
in allgemeinen Zügen, ohne bestimmte Erscheinungen gründlich vor-
zulegen und durchzusprechen, ein solches Problem öffentlich zu be-
handeln.
Im Jahre 1879 trat er plötzlich mit einem kleinen Büchlein, das
den ganzen wunderbaren Reiz seiner Art der Edierung und Kommen-
tierung zunächst so unscheinbarer Texte zeigt, als fertiger Meister auf
einem Gebiet hervor, das recht eigentlich antike Religionsgeschichte
ist. „Der alte Glaube war unausrottbar und ergoß sich mit der Natur-
notwendigkeit, mit der geschichtliche Wandlungen sich vollziehen, in
die neuen Formen, mochten die Priester es in weiser Politik befördern
oder nur dulden." Der Pelagia, die keine andere ist als die alte
Meeraphrodite, folgte eine ganze Reihe wertvoller Editionen von
Heiligenlegenden. Von ihm haben auch die Jesuiten solche Editionen
358 Hermann Usener
besser zu machen gelernt. Noch in den letzten Monaten hat Usener
an den „sonderbaren Heiligen" gearbeitet, wie er die Ausgabe zweier
VI Heiligenleben benennen wollte, hinter deren einem die antike Aphrodite
. (es sollte die Neubearbeitung der Pelagia sein), hinter deren anderem
der antike Priapos steht. Nicht sehr viele werden wissen, daß Usener
durch eine überlieferte Legende, an der er gearbeitet hatte, sich zu
einer künstlerisch gar fein gestalteten und erzählten Novelle hat an-
regen lassen. Sie heißt „Die Flucht vor dem Weibe" und steht in
Westermanns Monatsheften (1894, Januar, S. 480 ff. <Vorträge und Aufsätze
1907 S. 235 ff.» mit dem Pseudonymen Verfassernamen C. Schaffner.
Mit 1889 beginnen nun die großen religionsgeschichtlichen Werke
ans Licht zu treten. 1887 waren die „Epicurea" erschienen, wahrlich
auch ein religionsgeschichtliches Werk im eminenten Sinne, in einem
Sinne freilich, der hier nicht gedeutet werden soll. „Das Weihnachts-
fest" hat von all den weiteren großen Büchern die unmittelbar stärkste
Wirkung gehabt, vielleicht auch mit darum, weil die Reaktion dagegen
viel stärker war, als man sich heute gemeinhin noch erinnert. Es ist
die erste philologisch -historische, vorbildliche Behandlung eines Stückes
der christlichen heiligen Sage, tiefste religiöse Pietät mit unbestech-
licher Wahrheitsliebe vereinigend. Wer nach religionsgeschichtlicher
Methode fragt in Behandlung der Überlieferungen unserer eigenen
Religion, hier ist sie leibhaftig — ob Einzelheiten fallen, das Ganze
ist ein unerreichtes Meisterwerk, und viele wird gerade das noch lange
bitter schmerzen, daß der zweite Band dieses Werkes nicht mehr von
ihm vollendet werden konnte. Der Aufsatz, der nach seinem Tode
eben jetzt erscheint, zeigt ihn an der Weiterarbeit am Weihnachtsfeste.
Den letzten Abschied nimmt er von uns mit einer Abhandlung über
den „Sol invictus".
Usener selbst hatte viel Hoffnung gesetzt auf die Wirkung seines
Buches „Götternamen", 1896. Es war Kern und Grundlage der
Mythologie, die er in Vorlesungen vorgetragen hatte. Er hat sehr
wohl gefühlt, daß eine Wirkung, wie er sie um des Fortschritts der
VII Forschung willen ersehnt hatte, im wesentlichen ausblieb, und wer
ihm nahestand, wußte, obwohl er es nie aussprach, wie sehr ihn das
geschmerzt hat. Die Äußerung, die man wohl damals unter Philologen
hören konnte, das Buch sei zwanzig Jahre zu spät erschienen, mochte
zutreffen, soweit es sich um Etymologien handelte, die die weiter
geschrittene Sprachwissenschaft nicht mehr gelten ließ; was die Haupt-
sache angeht, kann man mit sehr viel mehr Recht sagen: das Buch
ist zwanzig Jahre zu früh erschienen. Die Erkenntnis von der Ent-
Hermann Usener 359
Wicklung menschlichen Denkens auch in der Religion, von den vielen
durch immer stärkere Abstraktion zum Einen hin, von den Augenblicks-
göttern, von den Sondergöttern zu immer umfassenderen Gottheiten
bis hin zum Monotheismus ist in einem so glänzenden Zuge von in-
einandergreifenden Kapiteln durchgeführt und ein für allemal siegreich
festgestellt, daß es dagegen kaum ins Gewicht fällt, wenn auch um-
fangreichere Einzeldarlegungen sich als unhaltbar erweisen werden.
Zum Teil deshalb, weil die Hauptgedanken längst durch die vielen
Schüler und Hörer herumgetragen und weitergegeben waren, empfand
man nicht die Wirkung des Neuen gegen alle Mythologie vor
Usener, und wenn sich allmählich gerade in den Hauptpunkten der
Wechsel der geltenden Anschauungen so vollzieht, daß man das
eben noch Bekämpfte stillschweigend als selbstverständlich weiter-
führt, so hat man hier den siegreichen Kämpfer um seinen Lohn
betrogen. Man kann es aber bereits spüren, wie dies Buch lang-
sam weiterwirkt und wie bei immer mehreren, die diesen Gedanken-
gängen und dieser Art der Denkarbeit zu folgen fähig werden, gerade
auch außerhalb der klassisch -philologischen Kreise, vieles zur Geltung
kommen wird, was zuvor nur von wenigen ernstlich beachtet zu
werden schien.
Der große Plan, der in dem Vorwort der Götternamen skizziert
ist, auf die Darlegung der religiösen Begriffsbildung die der Vorgänge
der Beseelung (Personifikation) und Verbildlichung (Metapher) folgen
zu lassen und dann die Formen der Symbolik, des Mythus, des Kultus VIII
abzuleiten, ist nicht mehr zur Ausführung gekommen. Unendliche
Arbeit war schon an diese weiteren Aufgaben gewendet worden, aber
selbst wenn große Sammlungen und allerlei Vorläufiges sich vor-
finden werden, so hätte nur er den großen Bau aufführen können.
Usener hat noch versucht an dem Bilde vom Binden und Lösen als
an einem Beispiele wenigstens wesentliche Vorgänge der Beseelung
und Verbildlichung klar zu machen; er hat auch das nicht mehr aus-
geführt.
In rüstiger Weiterarbeit hat er 1899 ein anderes Problem bearbeitet.
Die „Sintflutsage" könnte in den späteren Kapiteln für manches von
dem ergänzend eintreten, was er über Bild, Metapher und Mythus zu
sagen gehabt hätte. Die Kapitel vom „Schiff" und vom „Fisch und
vor allem das von der Vielfältigkeit und Mehrdeutigkeit mythischer
Bilder werden einer künftigen Mythologie, die sich mit den Motiven
und der Ausgestaltung des Mythus im engeren Sinne beschäftigt
(gegenwärtig steht der Ritus im Vordergrund der Forschung), ganz
360 Hermann Usener
unschätzbare Wegeweisung leisten, sollte aber auch schon jetzt der
Ausdeutung und Umdeutung, der „Allegorisierung" des Mythus bis in
seine einzelnen Bestandteile überall ein Ende machen können. Usener
war hier über eigene frühere Vorstellungen selbst weit hinaus-
gekommen.
Die letzte größere Arbeit war die „Dreiheif* 1903. Gerüstet
wiederum mit ungeheurem, scharf gesichtetem Material klopft die
Untersuchung schließlich an die Pforte, hinter der die Anfänge
menschlichen Denkens verborgen liegen. Die Dreizahl war die „ur-
sprüngliche Endzahl der primitiven Menschheit". Und auch diese
Untersuchung wirft in ihren früheren Stationen das hellste Licht auf
eine wichtige Lehre der christlichen Kirche. Die Lehre von der
Dreieinigkeit hat, wer hier zu folgen weiß, endgültig geschichtlich
verstanden.
Wie viel mehr Usener aber auf dem Gebiete, das hier allein zur
IX Betrachtung stand, wirklich geleistet und erarbeitet hat, als in Schriften
und Büchern äußere Gestalt gewann, wird auch dem deutlich geworden
sein, der ihm im Leben ferne gestanden. Wie viel er außer seinen
religionsgeschichtlichen Arbeiten gewirkt und auch der Öffentlichkeit
gegeben hat, muß an diesem Orte übergangen werden. Aber das
soll gerade an diesem Orte nicht übergangen werden, daß er all das
Große, was er als Religionshistoriker geleistet hat, nur als Philologe
erreicht hat. Er war ein wahrhaft gelehrter Gräzist, er lebte im Alter-
tum, im Hellenentum, er beherrschte das wissenschaftliche Rüstzeug,
ein selten Gewappneter unter den Philologen, und er war gerade in
dem, was Grundlage aller Arbeit an Überlieferungen der Vergangenheit
ist, in der philologischen Technik, von unerbittlicher Sorgfalt; im
Kleinsten waltet die Meisterschaft, die die Gewähr gibt, das Größte
zu erreichen. Weil er in der ganzen Kultur des Altertums stand mit
seiner ganzen Lebensarbeit, darum hat er die religiösen Erscheinungen
so tief und so richtig ergründen können. Er hat uns gelehrt, auf
welcher Basis allein Religionsgeschichte getrieben werden kann, und
der ganze Ingrimm seiner leidenschaftlichen Natur konnte über die
hervorbrechen, die unwissend und ungetreu in der notwendigen philo-
logischen Grundlage ihrer Arbeit über Probleme gerade der Religions-
wissenschaft redeten. Von ihm können wir lernen, daß es „Religions-
historiker" nicht geben soll und kann, die nirgends „Philologen" sind.
Wenn man die Worte nicht mißdeuten will, kann man sehr wohl sagen:
Usener war Religionshistoriker, aber er war mehr als das: er war
Philologe. Versteht man die Begriffe anders, so ist es umgekehrt
Hermann Usener 35 j
richtig. Eins seiner schönsten Worte heißt: „Es wäre übel mit
menschlicher Wissenschaft bestellt, wenn, wer im einzelnen forscht,
Fesseln trüge, die ihm verwehrten, zum Ganzen zu streben. Je
tiefer man gräbt, desto mehr wird man durch allgemeinere Erkennt-
nisse belohnt."
Er hat es uns zuerst gelehrt, daß Philologie zur Geschichtswissen-
schaft geworden ist und ihren großen Problemen dient. Erforderte es X
eine geschichtliche Aufgabe, so kannte er keine Grenze des Faches
und schaffte sich in heißer Arbeit die Voraussetzungen zu selbständigem
Urteilen. Und wer innerhalb seines Gebietes einen Teil besonders zu
erforschen sich vornahm, etwa die Religion der Alten wie andere die
Sprache oder das Recht, der sollte, so mahnte er oft, die Verbindung
suchen mit den anderen Wissenschaften und die Analogien sich ge-
winnen, die ihn tiefer führten: wie von vergleichender Sprachwissen*
Schaft, so sprach er im sicheren Bewußtsein wissenschaftlicher Not-
wendigkeit von der vergleichenden Sitten- und Rechtsgeschichte und
der vergleichenden Religionsgeschichte. In den Äußerungen fremden
vergangenen Lebens, das er so tief und so umfassend wie wenige
verstand, empfand er die Analogien seines eigenen reichen innersten
Lebens. Oft hat er sich in dem Sinne ausgesprochen, daß man etwas
nur dann verstehe, wenn eine verwandte Saite in unserem eigenen
Inneren mit schwinge und klinge. „Wenn sie nicht Spiel bleibt, wird
alle Mythenforschung unwillkürlich uns zuletzt auf unser innerstes
Anliegen, die eigene Religion, zurückführen und das Verständnis der-
selben fördern."
Das tiefste Verständnis hatte er für das Leben unseres eigenen
Volkes, und die reinen und echten Empfindungen, die in seiner eigenen
Seele lebten, waren das Geheimnis, daß er das Echte, Ursprüngliche,
das Kindliche und Jugendliche im Leben der Völker so lebhaft, so
fein und zart und wiederum so stark und leidenschaftlich nachempfand.
Er war auch darin der echte Erbe Jacob Grimms.
Hermann Usener ist der npiuc kticttic der modernen Religions-
wissenschaft, nicht bloß in Deutschland. Er ist es und wird es werden;
damit nimmt man einzelnen bahnbrechenden Werken anderer, eines
Erwin Rohde, eines Robertson Smith oder Edward Tylor nicht das
Geringste ihres Ruhmes. Durch seine gesamte Lebensarbeit hat dieser
große Philologe, dem niemand die höchsten Leistungen in seiner philo-
logischen Wissenschaft abstreiten konnte, der philologisch -historischen XI
Religionswissenschaft die Geltung erkämpft, die sie hat. Daß diese
Zeitschrift mit einiger Anerkennung den Zielen dienen kann, denen sie
362 Hermann Usener
dienen will, danken wir seinem Wirken. Es muß uns ein heiliges
Vermächtnis sein, daß wir die festen Grundlagen nicht verlassen, auf
denen eben diese Lebensarbeit sich allein aufgebaut hat. Auf irgend-
welches Einzelne seiner Lehre kommt es nicht an: sein wissenschaft-
liches Leben und Lehren als ein Ganzes kann den Weg zeigen, den
die Religionswissenschaft zu gehen hat, um nicht von den drängenden
Tendenzen des Tages oder den Wogen der Phrase, der Rhetorik und
Sophistik in die Irre getrieben zu werden. „Nur das im Menschen ist
dauernd, was in den Herzen von anderen fortlebt," hat er im vorigen
Jahre an seinem 70. Geburtstage zu uns gesagt. Möchte auch, nach-
dem Hermann Usener nicht mehr unter uns ist, seines freien Geistes
strenge Zucht walten in diesen Blättern und etwas von dem Segen
dieses Lebens voll Feuer und Kraft auf ihnen ruhen, solange sie in
die Welt hinausgehen werden.
XXIV
EURIPIDES^
Euripides aus Athen, der Tragiker. Als Quellen für sein
Leben stehen zunächst einige antike Kompilationen zur Verfügung.
Ein T^voc, das in einigen Hss. erhalten ist, bildet selbst wieder eine 1243
Kompilation mehrerer Kompilationen etwa gleichen Wertes. Aus diesem
yevoc, das damals noch umfangreicher in den Hss. des E. gestanden
haben wird, hat Gellius entweder selbst genommen, was er n. a. XV 20
gibt, oder ein Mittelsmann, den er benutzt (XVII 4, 3 zitiert er für
eine Angabe, die auch das t^voc und Suidas haben, Varro). Endlich
bewahrt Suidas einen parallelen Notizenkomplex. Es wird dem allen
ein Ttvoc zugrunde liegen, das einer Ausgabe von Tragödien des
E. beigegeben war, mindestens schon im 1. Jhdt. v. Chr., wenn Varro
es übernahm (den Stand der Tradition bis zu dieser Zeit zeigt auch
der ßioc des Sophokles), spätestens bis zum 2. Jhdt. n. Chr., da Gellius
es haben konnte. Der Grundstock stammt wohl von einem Alexandriner
des 3. bis 2. Jhdts. (v. Wilamowitz Her. I^ 12 setzt 230-130).
Direkt zitiert werden für bestimmte Angaben Theopomp (Gell. XV 20, 1),
Eratosthenes (Vita p. 3, 3 Schwartz), Philochoros (Vita p. 3, 3. Gell. XV
20, 5. Suidas für drei verschiedene Angaben), Hermippos (Vita p. 5,
14); Verse z. B. des Alexander Aitolos (Gell. XV 20, 8). Der Prozeß des
Zufügens und Auslassens ist natürlich nur sehr allmählich, niemals
ganz bis zu den Überlieferungen, die wir haben, zum Stillstand ge-
kommen. Das Tcvoc ist am besten ediert in der Scholienausgabe von
Eduard Schwartz (s. u.), über die Komposition des ßioc handelt am
schärfsten und eingehendsten Leo Die griech.-röm. Biographie 24ff.
Die einzelnen Notizen, die wir außer den genannten Überlieferungen
in antiker Literatur besitzen, finden sich am vollständigsten in Naucks
Ausführungen De Euripidis vita poesi ingenio vor seiner Ausgabe I
p. Xff. Kurze aktenmäßige Zusammenstellung bei Kirchner Prosopo-
graphia attica I 386 ff. (nr. 5953). Die einschneidendste und wertvollste
<Real.Encyclopädie von Pauly-Wissowa, Euripides 4, Band VI Sp. 1242ff.>
364 Euripides
Behandlung des Lebens des E. ist die v. Wilamowitz Herakles I^ IfL
(weiteres s. u.).
Das T o d e s j a h r des E. ist nach der parischen Chronik Ol. 93, 2 = 407/6.
Die Richtigkeit der Angabe ist zu beweisen. Als die Frösche des
Aristophanes an den Lenaeen 405 (Januar) aufgeführt wurden, war
E. vor kurzem gestorben; er war tot, als Aristophanes den Plan des
Stückes entwarf. Sophokles starb nach E. Am Proagon der Dionysien
406 (März) soll Sophokles zu Ehren des verstorbenen E. den Chor
ohne Kränze haben auftreten lassen; eine durchaus wahrscheinliche
Angabe. Im Winter 407/6 muß E. gestorben sein. Eratosthenes und
Apollodor gaben 406/5 (480 geboren, 75 Jahre alt geworden), s.
Jacob y Apollodors Chronik 250 ff.
Das Geburtsjahr konnte man auch bei E. wie meist im Altertum
nur berechnen, und zwar entweder nach Angaben oder Erinnerungen,
wie alt E. gewesen, als er starb, oder nach dem Datum der ersten
Aufführung 455, indem man schloß, daß er damals mindestens 20 Jahre
alt sein mußte. Man kam so auf approximative Zahlen. Es ist sehr
begreiflich, daß man 480 angab, und nun hatte in demselben Jahr
Aischylos in der Schlacht mitgekämpft, Sophokles den Siegesreigen
getanzt, E. wurde auf Salamis geboren. So gab auch Eratosthenes^
der den E. 75 Jahre alt werden ließ. Wer den E. 455 20 jährig an-
1244 nahm, rechnete 70 Jahre Lebenszeit. So gab Philochoros nicht an^
sondern gegen diese Rechnung betont er, daß E. gestorben sei uirep
Tot eßbo|ur|KovTa tctovojc (Vita p. 3, 3). So viel wird er aus Angaben
von Leuten, die das noch wissen konnten, festgestellt haben. Gibt
nun die parische Chronik 484, so können hier immerhin begründete
Angaben über das Alter des E. bei seinem Tode zugrunde liegen;
jedenfalls halte ich uns nicht für berechtigt, der Zahl der Chronik, die
den Synchronismus von 480 nicht mitmacht, das nachweisbar richtige
Todesjahr gibt, als veranlaßt durch den Ansatz des ersten Sieges des
Aischylos auch nur ,symbolische Bedeutung* beizumessen (v. Wilamowitz
a. a. O. 5, von dem ich nur in diesem Punkte der Beurteilung der
Daten abweiche, vgl. Mendelssohn Acta societ. phil. Lips. II 176 f. 180.
V. Wilamowitz gab Anal. Eurip. 148, 3 das Geburtsjahr 484).
Die Eltern des E. hießen Mnesarchides oder Mnesarchos (ein
häufiger Wechsel der Namensformen bei der gleichen Person) und
Kleito. Die T^voc- Überlieferung gibt an, daß der Vater Höker gewesen
sei, die Mutter Gemüsehändlerin, sie hätten in Boiotien gewohnt, wohin
sie hätten fliehen müssen, dann in Attika als Metoeken; nach einer
Erzählung bei Nikolaos von Damaskos frg. 113, FHG III p. 458 wurde
i
Euripides 355
dem bankerotten und verschuldeten Vater des E. sogar auf dem
Markte der KÖqpivoc aufgesetzt (vgl. Crusius Melanges Weil 87). Es
ist zu beweisen, daß dies alles nicht wahr sein kann, zum Teil be-
zeugtermaßen nicht wahr ist. Bei Suidas ist der Satz erhalten: ouk
aXtiOec hk ujc XaxavÖTTUüXic fjv f) |ar|TTip auToO' xai TOtp tujv ccpöbpa
euTevujv exiJTXavev, ibc dTrobeiKvuci OiXöxopoc. Des Philochoros
Zeugnis gilt: sie war hochadelig. Mnesarchides war aus dem Demos
Phlya der kekropischen Phyle, auch E. heißt ^\ve\)c IG II 973.
992, vgl. Harpokr. Suid. s. OXueia. Nun bezeugt Theophrastos bei
Athen. X 424 e mit ausdrücklicher Berufung auf ein Schriftstück im
baqpvTiqpopeiov in Phlya: GupiTribnc üjvoxöei 'A0r|VTici toTc öpxncraTc
KaXoujLievoic. uipxoövxo be outoi irepi töv toO 'AttöXXuuvoc veüuv toO
AriXiou TUJV TTpuiTUJV övxec 'AÖT^vaiojv. 6 be 'AttöXXuüv outöc ecxiv,
lü xd GapTnXia ötouci. Eine andere Überlieferung in der Vita p. 2, 4
(eine Quelle ist nicht angegeben) besagt von E. Ttveceai be auxov Kai
TTupqpöpov xou Zujcxripiou 'AttöXXujvoc und gibt damit ein anderes
Zeugnis der Beziehung des E. und seines Geschlechtes zum Apollon-
kult. Dies Geschlecht muß mindestens sehr angesehen und altein-
gesessen gewesen sein. Der Vater hatte auch Besitz in Salamis, den
E. ererbte. Von der Grotte, die man späterhin zeigte als den Ort, da
E. gedichtet habe, hatte schon Philochoros gesprochen (Gell. XV 20, 5);
daß E. auf Salamis geboren sei, ist möglich, aber nicht gut bezeugt;
diese Angabe könnte sehr wohl durch den erwähnten Synchronismus
veranlaßt sein. Ist sie aber richtig, so hat der Preis von Salamis
Troad. 799 ff. seine besondere Bedeutung. Eine Grotte pflegt wohl
Geburtsstätte von Göttern und Heroen zu sein, aber schwerlich hat
sich die vornehme, wohlhabende Gutsbesitzersfrau dort von ihrer
Stunde überraschen lassen.
Die für uns so seltsamen üblen Nachreden über die Eltern stammen
zum Teil erkennbar aus den Scherzen und Spöttereien der Komödie; 1245
der stehende Scherz über den Kerbel der Mutter ist schon in den
Acharnern (v. 478) etwas ganz Bekanntes. Solche Schimpfreden würde
erst wirklich erklären helfen eine Untersuchung des dem alten wie
auch noch dem heutigen Griechenvolke gewohnten Brauches, bei der
Schmähung irgendeines dessen Eltern in ganz bestimmten Formeln
zu schmähen, auch wenn man nichts von ihnen weiß. Mancher Krämer
oder Sklave als Vater, manche Hökerin oder auch Hure als Mutter
wird sich in der antiken Literaturgeschichte so erklären, manche
Schmähung in den Komödien wie besonders bei den Rednern wird
erst so verständlich.
366 Euripides
Die Überlieferung, die dem E. Eltern niederen Gewerbes gibt, gibt
ihm zwei Frauen. Zuerst habe er die Melito geheiratet, dann die
Choirile (Chorine), sagt die Vita p. 2, 11, an einer anderen Stelle heißt
es ebenda, er habe die Tochter des Mnesilochos Choirile geheiratet
(p. 5, 4), wiederum an einer anderen Stelle wird von dem Haussklaven
Kephisophon erzählt, der mit dem Weibe des E. Ehebruch getrieben
habe, das an dieser Stelle nicht benannt wird (ifiv oiKeiav TuvaiKa
p. 6, 3). Bei Suidas steht, R habe zuerst die Choirile, die Tochter
des Mnesilochos, geheiratet; nachdem er die habe verstoßen müssen,
habe er eine andere genommen, die gerade so sittenlos gewesen sei.
Bei Gellius endlich steht (XV 20, 6), daß er zwei Weiber zugleich gehabt
habe. Es liegt auf der Hand, daß es sich in dem allem wiederum
um Spott und Schmähung handelt, die aufkamen, weil E. als der erste
weibliche Untreue auf die Bühne brachte und in seinen Stücken von
Weibertugend oft gering geredet ward. Bezeichnenderweise ist in den
Thesmophoriazusen, die alles zum Angriff gegen E. vereinigen, noch
nichts von diesen Dingen auch nur angedeutet, als E. schon 73 Jahre
alt war. Da nun gerade Philochoros die obszöne Bedeutung von
Choirile beobachtet und bewiesen hatte, und zwar in derselben Schrift,
in der er die oben erwähnten Widerlegungen der Nachreden über E.
gab, so ist mit Recht geschlossen worden (v. Wilamowitz Anal.
Eur. 149; Her. P 7), daß dieser letztere nur ein Schmähname der
Melito war und daß Mnesilochos deren Vater, vermutlich ein Ver-
wandter des Mnesarchides, gewesen sein wird. Der Kr|becTr|c der Thesmo-
phoriazusen ist natürlich nicht dieser Mnesilochos (s. Hill er Herm.VIII 449).
E. hatte drei Söhne. Der älteste, Mnesarchides, sei Kaufmann
geworden, der zweite, Mnesilochos, Schauspieler, der dritte, Euripides
(s. N. 5 <Sp. 1281», führte hinterlassene Stücke des Vaters auf.
Dem staatlichen Leben hielt E. sich fern. So ist keine Tatsache
irgendeiner Amtsführung zu berichten. Nur das eine erfahren wir von
öffentlicher Betätigung, daß er Liturgien zu leisten hatte wie jeder,
der einiges Vermögen besaß; er hatte einen Handel durch dvTibocic
mit Hygiainon gehabt (nach 428, dem jüngeren Hippolytos, der voraus-
gesetzt wird, Aristot. Rhet. III 15 p. 1416a 28).
Reisen des E. sind nicht bekannt außer seiner letzten nach
Makedonien. Was hinter der Angabe der Vita 2, 7 f. )li€T6ctti b' ev
1246 MttTvricia xai TipoHevia eTi)nr|0ri xal dxeXeia steckt (eKcTGev sei er
nach Makedonien gekommen), ist nicht mit genügender Sicherheit aus-
zumachen. Stammt sie wirklich nur daher, daß man auf einer Inschrift
entdeckt hatte, E. sei von Magnesia mit Proxenie und Atelie geehrt
I
Euripides 357
worden (v. Wilamowitz Herakl. I^ 11), so braucht er natürlich nicht
dort gewesen zu sein. In Makedonien, am Hofe des Archelaos zu
Pella, war er die letzten etwa IV2 Jahre seines Lebens. 408 hat er
noch den Orest in Athen aufgeführt und im Winter 407/6 ist er ge-
storben (s. Ritschi Opusc. I 428). Von irgend etwas Besonderem
beim Tode des E. weiß Aristophanes in den Fröschen noch nichts,
wo er es sich kaum hätte entgehen lassen. Überhaupt kannte die
ältere Schicht der Tradition, Philochoros u. a., nichts davon. Möglich,
daß bei dem allmählichen Auswachsen der verschiedenen Geschichten
vom Tode durch Hunde oder Weiber das Ende der Götterbeleidiger
Aktaion und namentlich des Pentheus gerade in des E. Bakchen
(v. 731 Kijvec die Mainaden) und die Weiberverfolgung der Thesmo-
phoriazusen eine Rolle gespielt hat (Piccolomini Annali delle uni-
versitä Toscane XVIII, Pisa 1883. W. Nestle Philolog. LVII 134ff.).
Das Grab des E. ward bis in späte Zeit gekannt und besucht.
Von der geistigen Entwicklung des E., antik ausgedrückt von
seinen Lehrern, wissen wir nichts Sicheres. In der Vita, bei Suidas
und Gellius wird E. Schüler oder Hörer genannt des Anaxagoras,
Prodikos, Protagoras, Archelaos (ö qpuciKÖc, vgl. Suid. s. 'ApxeXaoc 01
bk Kai GupiTTibriv [so Küster, eupiTribnc oder e^pmibou Hss.] cpadv
[iLiaGTiTriv]), Sokrates. Den Grad der geistigen Beeinflussung durch
diese Männer können wir nur aus den Werken des E. zu er-
schließen suchen. Daß den E. sein Vater, durch ein mißverstandenes
Orakel veranlaßt, zum Athleten hätte ausbilden lassen, ist eine
Nachricht ohne alle Gewähr, die entstanden ist aus einem be-
kannten novellistischen Wandermotiv (z. B. Herodot IX 33). Wer in
E'. Werken mehr ,malerische* Neigungen zu entdecken glaubt als bei
anderen Dichtern, mag der Nachricht, daß E. früher Maler gewesen
sei, mehr Gewähr zutrauen. Von Lehrern des E. in der Poesie wird
nichts gesagt: daß er von Sophokles »lernte*, ist selbstverständlich.
Daß beide auch späterhin ihr Leben lang neidlos voneinander lernten,
erkennen wir. Eine andere Quelle, die Beziehungen des E. zu Wfssen-
schaft und Kunst seiner Zeit und deren Vertretern zu erkennen, als
seine Tragödien, gibt es nicht, natürlich das eingeschlossen, was aus
Spott und Parodie der Komödie zu entnehmen ist. E. soll eine reiche
Bibliothek besessen haben (Athen. I 3a, vgl. Aristoph. Frösche 943. 1409).
Von der äußeren Physiognomie des E. können wir uns aber
noch nach den erhaltenen antiken Büsten sehr wohl eine Vorstellung
machen. Die Neapler Büste trägt den vollständigen Namen m echter
Unterschrift, in einer Reihe Doppelhermen ist E. mit Sophokles gepaart
368 Euripides
Die erhaltenen Büsten sind besprochen bei Bernoulli Griech. Ikono-
graphie I 148 ff. (dort weitere Literatur).
Das Werk des E. waren seine Tragödien; von anderen Dichtungen
1247 haben wir nur ein paar ganz geringe Spuren. Er soll für die in
Sizilien Gefallenen ein eiriKribeiov gemacht haben (Plut. Nie. c. 17, wo
ein Distichon zitiert wird). Ein emviKiov für den Alkibiades wird bei
Plutarch Alkib. c. 11 mit einigen Versen zitiert, in der Vita des
Demosth. c. 1 heißt es 6 luev fpaii^ac tö e-rri irj viKr) Tfj 'OXujUTTiaci,
iTTTTObpoiLiiac €ic 'A\Kißidbr|v eYKW|uiov €iV €upiTribr|C ujc 6 ttoXOc xpa-
T€T XÖTOC ei'e' exepöc Tic fjv ktX. Ein Epigramm wird ihm noch bei
Athen. II 61b fälschlich zugeschrieben (vgl. Sehen kl Philol. XXIII 349),
s. Bergk FLG II* 265f. Das Grabepigramm bei Kaibel Nr. 21 hat
man dem E. mehrfach zuweisen wollen. Andere als ganz subjektive
Gründe können dafür nicht beigebracht werden.
Über den dichterischen Nachlaß des E. haben wir gute Über-
lieferungen. Die Vita gibt 92 Dramen im ganzen an und genau ebenso
Suidas, der außerdem 22 Aufführungen feststellt. 22 Tetralogien gäben
88 Stücke. Eine Tetralogie war bestritten: die Vita führt ausdrücklich
Tennes, Rhadamanthys, Peirithoos und von den 8 Satyrspielen, die
erhalten gewesen seien, eins als bestritten an: 88 + 4 = 92. Freilich
kann das Gesamtwerk des E. nicht in diese Rechnung aufgehen; denn
innerhalb der Tetralogien stand nicht der Archelaos und nicht die
Andromache (Schol. Androm. 445).
Was in Alexandreia erhalten war, wird genau angegeben. Die
Vita gibt 78-3 unechte (die oben genannten), außerdem rechnet sie
67 erhaltene 4- 3 dvTiXeTÖ|Lieva + 8 Satyrspiele, wovon 1 bestritten.
Je nachdem die 3 und das 1 zugezählt oder weggelassen wurden,
gibt das: alles Bestrittene weggelassen 74, die bestrittenen 3 Tragödien
zugezählt, das bestrittene Satyrspiel weggelassen 77, die bestrittenen
3 Tragödien weggelassen, das bestrittene Satyrspiel zugezählt 75, alles
Bestrittene zugezählt 78. Die letzte Zahl gab die Vita an der erst er-
wähnten Stelle (p. 3. 2), 77 steht bei Suidas, 75 nach Varro bei Gellius
XVII 4, 3. Bei Suidas muß an der betreffenden Stelle eine Verschiebung
der Worte stattgefunden haben; es ist überliefert bpotjuaxa be aiiioO
Kaid )Liev Tivac oe', Kard be dXXouc (;ß', cuj^ovrai be ol'. Wenn die
Überlieferung des t^voc und bei Suidas wirklich auf einen Grundstock
zurückgehen, so müssen die Worte, die möglicherweise schon vor
ihrem Einmünden in das Lexikon durcheinandergelaufen waren, ge-
stellt gewesen sein: bpdjuaxa b^ auioO qß', cwlovim be Kard laev rivac
oe', Kard be dXXouc oZ:'. Die geringe Zahl der Satyrspiele erklärt sich
Euripides 3^0
nicht sowohl daraus, daß andere Stücke für Satyrspiele eintreten
konnten, als daraus, daß schon im Altertum eine Reihe wenig ge-
schätzter Satyrspiele des E. verloren waren, wie das von einigen
direkt angegeben wird (s. Hypoth. zur Medeia und den Phoinissai).
In E.-Hss. mag einst wie in denen des Aischylos^ neben dem revoc
ein KttiaXoTOc toiv bpaiudTujv alphabetisch geordnet gestanden haben.
Aus solchen KardXoToi stammen die inschriftlichen Dramenlisten auf
der Rückseite der Statue des Louvre (Welcker Gr. Trag. 444 f.) und
auf einem Stein des Peiraieus (v. Wilamowitz Anal. Eurip. 139).
Nur fünf Siege des E. werden angegeben (Vita p. 4, 10. Gell. XVII
4, 3), den fünften habe er erst nach seinem Tode davongetragen
(Suid. und Schol. Aristoph. Frösche 67).
Die Fasti scaenici, die durch direkte Oberlieferung sicher stehen, 1248
sind folgende:
455 Peliaden. E. 3. Vita 2, 15.
442 1. Sieg, Marm. Par.
438 Kreterinnen, Alkmeon in Psophis, Telephos, Alkestis. E. 2.
Sophokles 1. (Hypoth. Alk.).
431 Medea, Philoktet, Diktys,Theristai. E.3. Sophokles 2. Euphorion 1.
(Hypoth. Med.).
428 Hippolytos (II cxecpaviac). E. 1. lophon 2. Ion 3. (Hypoth. Hipp.).
415 Alexandros, Palamedes, Troades, Sisyphos. E. 2. Xenokles 1.
Aelian. v. h. II 8.
412 Andromeda, Helena. Schol. Aristoph. Thesmoph. 1060. Schol.
Frösche 53. Schol. Thesmoph. 1012.
408 Orestes. Schol. Orest. 371.
406 (nach dem Tode des E.) Iphigenia in Aulis, Alkmeon in Korinth,
Bakchen. Schol. Arist. Frösche 67.
Wir können noch eine ganze Reihe von Stücken mit größerer oder
geringerer Sicherheit datieren, vielfach in nicht zu weit voneinander
entfernte Termini post quem und ante quem einschließen. Die wesent-
lichsten Hilfsmittel solcher Datierung sind die Parodien und Anspielungen
bei Aristophanes, die Selbstwiederholung des E. in einzelnen Versen
und Wendungen, falls man mit Sicherheit urteilen kann, wo eben die
Wiederholung vorliegt (das Material bei Schröder De iteratis apud
trag, graec, Dissert. Argentor. VI Iff.), die bei E. durchaus nicht seltenen
politischen und zeitgeschichtlichen Anspielungen, ferner in emigen
Fällen das Verhältnis zu Stücken des Sophokles im dramaturgischen
' <S. oben S. 141.)
24
Albrecht DietericH: Kleine Schriften.
370 Euripides
Aufbau, in der Übernahme und Weiterbildung von Motiven, ja einzelnen
Wendungen. Bei E. ist einigemal versteckte Polemik gegen Sophokles
unschwer zu erkennen. Eine sekundäre Bedeutung für die zeitliche
Anordnung der Stücke hat die Beobachtung der metrischen Praxis
sowohl in der freier werdenden Behandlung des Trimeters (Auflösungen,
Anapäste) als in dem von der neuen Musik und Dithyrambik beein-
flußten Aufbau der Chorlieder und Monodien. Man hat sich gewöhnt,
als ungefähres Epochenjahr des Beginns der größeren Laxheit oder
Freiheit das J. 420 gelten zu lassen.
Da es unmöglich ist, alle einzelnen in Betracht kommenden Momente
aller einzelnen Stücke hier zu besprechen, so seien versuchsweise die
bekannten Stücke, soweit es eben möglich ist, zeitlich angeordnet
und so auch die Dramen, die nur in Bruchstücken erhalten sind, an-
geführt. Auch das ist untunlich, diese im einzelnen zu besprechen
und die Versuche ihrer Rekonstruktion zu beurteilen; darum werden
gleich hier einige wesentliche Arbeiten - auf Welckers 2. Bd. der
griech. Tragödien und Naucks TGF wird im einzelnen nicht mehr
hingewiesen - bei den einzelnen Titeln angeführt. Im übrigen muß
ich auf die bekannten Sammelstellen literarischer Nachweise (s. u.)
hinweisen und werde nur zu den erhaltenen Stücken kurz die wesent-
lichsten Fragen herauszuheben suchen. Wir kennen die Titel aller der
67 Tragödien, die die Alexandriner besaßen und die Namen der drei
unechten (Tennes, Rhadamanthys, Peirithoos). Wir kennen 6 Titel
der ihnen erhaltenen Satyrspiele, haben den Anfangsbuchstaben eines
1249 7. (// Stele vom Peiraieus Z. 19, v. Wilamowitz Anal. Eur. 139),
wir kennen den Namen des unechten Satyrspiels (Sisyphos), wir kennen
sogar noch zwei Namen von Satyrspielen, die den Alexandrinern ver-
loren waren (Theristai Hypoth. Med., den echten Sisyphos) und wissen
noch von einem dritten, dessen Titel in der Hypothesis der Phoinissen
ausgefallen ist (. . . . "(oii) cöJleTai). Erhalten sind uns von E. durch
glücklichen Zufall nicht bloß sieben Stücke, sondern achtzehn und zu
ihnen ist in den Hss. ein unechtes gefügt.
Die Handschriften, die uns diese Stücke erhalten haben, stammen
alle, soweit sie irgendwelchen Wert haben, aus dem 10. bis 15. Jhdt.
Wir unterscheiden unter ihnen verschiedenartige Gruppen. Wir be-
sitzen eine Anzahl von Hss., die wenigstens sechs Dramen Hekabe,
Orestes, Phoinissen, Hippolytos, Medeia, Andromache enthalten und
dazu Schollen. Seit Kirchhoff werden einige dieser Hss. benützt,
deren gegenseitiges Verhältnis durch ein Stemma nicht dargestellt
werden kann. Die beste und älteste unter ihnen ist Marcianus 471
h
Euripides 07 <
saec. XII, neben und nächst ihr Paris. 2712 saec. XIII, am wert-
vollsten da, wo Marcianus fehlt (am Schluß des Hippolytos). Wo
beide fehlen, in der Alkestis, tritt ein zweiter Parisinus 2713 (Par. B)
ein. Alkestis, Rhesos, Troerinnen stehen außer jenen sechs Stücken
nur im Vaticanus 909, einer flüchtigen Bombycinhs. des 13. Jhdts.,
die sehr stark beeinflußt ist von der gleich zu besprechenden zweiten
Gruppe von Hss.
Es gibt zwei Hss., in denen 18 Stücke stehen: Laurentianus 32, 2
saec. XIV Anfang und Palatinus 287 (die Hs. ist am genauesten be-
schrieben von Wünsch Rh. Mus. LI 141 f., vor ihm von Kirchhoff ed.
1855 p. VIII, v.Wilamowitz Anal. Eurip. p. 7und Stevenson im Katalog
der gr. Hss. der Bibl. Vat. Pal. 165), zusammen mit dem Laurentianus 172
(früher in der Badia von Florenz) saec. XIV Ende (denn diese beiden bald
nach 1400 zerrissenen Stücke sind Teile einer Hs., Robert Herm. XIII
133 ff.). In beiden Hss. stehen keine Schollen. Im Laurentianus ist
durch vorgesetzte Ziffern folgende Ordnung der Stücke gegeben:
Hekabe, Orestes, Phoinissen, Hippolytos, Medeia, Alkestis, Andromache,
Rhesos, Bakchen, Helena, Elektra, Herakles, Herakliden, Kyklops, Ion,
Hiketiden, Iphigeneia in Taurien, Iphigeneia in Aulis. Die Ziffer 6' der
Bakchen ist auf Rasur geschrieben; sie waren i' und die Troerinnen,
die ausgefallen sind, 6'. Zwei Gruppen sind unter diesen 19 gemein-
sam überiieferten Dramen deutlich: Helena bis Iphigeneia in Aulis, wie
sie im Laurentianus stehen, aus einer alphabetisch geordneten Reihe
von Dramen, Hekabe bis Bakchen die Reihenfolge einer Ausgabe, der
jene erste Gruppe von Hss. folgt. Es stammt also die erste Reihe
lediglich aus einer Ausgabe, wie die war, aus der jene kommentierten
Stücke der ersten Gruppe stammen, wenn auch diese Überlieferung
recht früh abgezweigt ist. Die zweite Reihe stammt aus einer Gesamt-
ausgabe der alphabetisch geordneten Stücke. Einmal hat ein Mann
in den Band der kommentierten Auswahl der 10 Stücke die 9 un-
kommentierten aus einem Band der Gesamtausgabe hinzugeschrieben.
Der Schluß der Iphigeneia in Aulis fehlte: er wurde ergänzt und
Markos Musuros hat ihn eigenhändig in den Palatinus eingetragen. 1250
Ob er ihn verfaßt hat wie den falschen Prolog der Danae (Wünsch
Rh. Mus. LI 138 ff.), ist noch nicht endgültig festgestellt. Musuros war
der Berater des Aldus, als dieser 1503 wesentlich nach dem Palatinus
den E. druckte.
Der Palatinus ist jedenfalls keine Abschrift vom Laurentianus
(schlagende Belege bei Radermacher Gott. Gel. Anz. 1899, 692),
wenn er auch in manchen Stücken nur Wert hat, wo er im Laurentianus
24*
372 Euripides
das verwüstete Ursprüngliche erkennen hilft. Er ist viel flüchtiger ge-
schrieben als der Laurentianus. Er enthält von E.- Stücken die
Andromache, Medea, Hiketiden, Rhesos, Ion, die beiden Iphigenien,
den falschen Anfang der Danae, Hippolytos, Alkestis, Troades, Bakchen,
Kyklops, Herakliden. Der andere Teil der Hs., Laur. 172, enthält von
E. außer den drei ersten Stücken Helena, Elektra, Herakles. Sind
die neun scholienlosen Dramen aus der Vorlage abgeschrieben, die
auch der Laurentianus hatte, so ist für die anderen neben dieser Vor-
lage noch eine Hs. benutzt von der Art etwa des Vaticanus und Pari-
sinus B, und außerdem muß ihm, da die Troerinnen nicht aus dem
Laurentianus stammen können, der sie nicht hat, und da deren Text
von dem der kommentierten Dramengruppen stark abweicht, da er
ferner die Bakchen vollständig hat, die im Laurentianus von v. 756
an fehlen, und in deren Text da, wo auch der Laurentianus vorhanden
ist, vielfach abweicht, noch eine neben dem Laurentianus selbständige
Hs., aber derselben Art, vorgelegen haben. In den verschiedenen
Stücken ist die Abhängigkeit von den verschiedenen Vorlagen ver-
schieden (für einige der berührten Fragen s. namentlich E. Bruhn
Lucubrationes Euripideae, Diss. Kiel 1886, 33 ff., Jahrb. f. Philol. Suppl.
XV 225 ff., dazu v. Wilamowitz Her. I^ 209).
Die gesamte Überlieferung war ursprünglich einheitlich, hatte sich
aber schon im Altertum gespalten. Der Text der Gruppe der 19
hatte sich schon von der übrigen Überlieferung abgezweigt als die
Paraphrase, die in den Rhesosscholien steht, gemacht wurde (v. Wilamo-
witz De Rhesi scholiis, Progr. Greifswald 1877). Weitere Anhalts-
punkte für die Zeit der Entstehung der Ur-Hs. dieser Überlieferungs-
schicht sind kaum zu gewinnen. Die ältesten Zeugen aber eines
Textes überhaupt sind die bereits zahlreichen Papyrusstücke, die
wiedergefunden sind.
Von den Tragikerfragmenten auf ägyptischen Papyri (im weiteren
Sinne) gehören dem E. bisher achtzehn Nummern meist geringen Um-
fangs, die sich dem Alter nach auf ein ganzes Jahrtausend verteilen.
Dementsprechend wechselt das Äußere. Die klassische Chartarolle der
Ptolemäerzeit (opisthograph nr. 1) wird in der spätrömischen und
byzantinischen Epoche durch den Kodex aus Papyrus (nr. 5. 11. 18)
oder Pergament (nr. 4. 17) verdrängt. Ungleich ist auch der Charakter
der Manuskripte. Neben dem regulären Buchhändlerexemplar erscheint
die aufs Verso gebrauchter Papiere angewiesene Privatabschrift, neben
der Vorlagetafel (nr. 8) das stümpernde Schulheft (nr. 2). Nicht immer
handelt es sich um den vollen Text der Dramen, der einmal von
Euripides vjo
Schollen (nr. 16), einmal gar von Noten (nr. 9) begleitet wird. In 1251
zwei Fällen (nr. 6. 18) haben wir bloß die Inhaltsangaben. Mitunter
sind nur Partien ausgehoben, sei es zu Übungszwecken (nr. 2) oder
für Florilegien (nr. 12. 15?). Auf Verszitate (auch aus verlorenen
Tragödien wie Diktys, Phoinix, Skyrioi?, Sthenoboia) beschränkt sich
das Pariser fragmentum de dialectica: 1. v. Chr. 2. Jhdt., Notic. et
Extr. XVIII 2 (1865) nr. 2. Genauere Nachweise über die Publikationen
bis 1897 (Pergamente ausgenommen) bieten C. Haeberlins Griechische
Papyri, Centralbl. f. Bibl.-W. XIV, die neuen Funde werden jeweils im
Archiv f. Papyrusf. verzeichnet (Referent bis 1903 W. Crönert, jetzt
F. Blass). Von den erhaltenen Stücken des E. kommen, chronologisch
geordnet, folgende in Betracht: Medeia: 2. V. 5-12, v. Chr. 2. Jhdt.,
H. Weil Un papyrus in^dit, Paris 1879. 3. V. 710-715, n. Chr.
3. Jhdt., Oxy(rhynchos) P. III 1903 nr. 450. Hippolytos: 4. V. 242-515,
n. Chr. 5./6.? Jhdt., M.-Ber. Akad. Berl. 1881, 982 ff. Andromache:
5. V. 5-48, n. Chr. 3. Jhdt., Oxy. III nr. 449. Elektra: 6. Hypothesis,
n. Chr. 3. Jhdt., Oxy. III nr. 420. Phoinissai: 7. V. 1017-1071, n.
Chr. 3.? Jhdt., Oxy. II 1899 nr. 224. 8. V. 1097-1107. 1126-1137,
n. Chr. 4./5. Jhdt., Holztafel, Mitt. P. Rainer V 1892, 74ff. (vgl. VI 1897,
Iff.: Vorderseite mit der Hekale des Kallimachos). Orestes: 9. V.
330-335, v.Chr. 1. Jhdt., Mitt. P. Rainer V 1892, 65 ff. 10. V. 1062-1090,
n. Chr. 2./3. Jhdt., Rev. de phil. XIX 1895, 105 f. (aus Genf). Rhesos:
11. V. 48-96, n. Chr. 4./5. Jhdt., S.-Ber. Akad. Berl. 1887, 813ff. (in
Paris). Es folgen alphabetisch die Reste sonst verschollener Dramen:
Äntiope: 12. 3 Verse, v. Chr. 3. Jhdt., Cunningh. Mem. VIII 1891 nr. III 1.
13. ca. 127 Verse, v. Chr. 3. Jhdt., ebd. nr. If. Ärchelaos: 14. Frg.
275 N., n. Chr. 2./3. Jhdt., Oxy. III nr. 419. Ino?: 15. ptolem., Cunningh.
Mem. IX 1893 nr. 49 d. Melanippe?: 16. n. Chr. 3. Jhdt., Greek Papyri,
Ser. II 1897 nr. 12. Melanippe \] beciuujTic: 17. n. Chr. 4./5.? Jhdt.,
Äg. Ztschr. 1880, 37 ff. (aus Berlin). Skiron (Satyrspiel): 18. Hypothesis,
n. Chr. 6./7. Jhdt., Amherst. P. II 1901 nr. 17 [I^obperdTTic?: 44 Verse,
enthalten in nr. 2 (s. v. Wilamowitz Her. I' 41)]. nr. 9 (Orestes)
enthält Bruchstücke einer Partitur, vgl. Crusius Philologus LII 174ff.;
Delph. Hymnen 147 ff. Tierfelder ebd. LVI 517.
Der große Wert der Papyrusfunde für die Textrezension besteht
darin, daß wir nun urkundlich sehen, daß eine Trennung der zwei
Hss.-Klassen nicht besteht, z. B. der Rhesospapyrus hat von den zwei
Klassen im wesentlichen das Richtige (v. Wilamowitz Her. I' 214),
und daß wir in denjenigen Stücken, in denen wir die große Anzahl
Hss. haben, aus den Hss. ungefähr den Text konstituieren können.
374 Euripides
den man im 3. und 4. Jhdt. auch hatte, daß also bei diesen Stücken
von der maßlosen Korruption in der Zwischenzeit zu reden Unfug ist.
Sehr geringe Bedeutung für den E.-Text hat die indirekte Über-
lieferung, d. h. Zitate und Anspielungen bei anderen Schriftstellern, in
Florilegien usw. Der späte Cento Xpiciöc Ttdcxujv (Hilberg Wiener
Stud. VIII 282 ff.) kann an ganz wenigen Stellen einmal eine gute Les-
1252 art gerettet haben, gibt z. B. in den Bakchen einiges wenige von dem,
was verloren ist. Die völlige Willkür des Verfassers im Ändern und
Verarbeiten der Verse macht das Stück fast überall ganz wertlos.
Scholien besitzen wir nur zu den Stücken, die in der ersten
Hss.- Gruppe überliefert sind. Wir können sie jetzt in einer vortreff-
lichen Ausgabe benutzen, von E. Schwartz (2 Bde., Berlin 1887.
1891), der in der Praefatio über die Hss., wie sie für die Scholien in
Betracht kommen, Auskunft gibt. Die Quellen unserer Scholien sind
schwer aufzudecken. Wir unterscheiden ohne weiteres alte gelehrte
Angaben und eine fortlaufende paraphrastische Erklärung, die am
breitesten aufgelaufen ist zu Hekabe, Orestes, Phoinissen, der von
den Byzantinern herausgehobenen letzten Auswahl. Weiter weist eine
Subskription zum Orestes: irpöc bidqpopa dvTiTpacpa TrapaTeTpcxTriai
eK ToO Aiovuciou iJTro|uvr|)LiaToc öXocxepüjc Kai tujv jluktüuv, zur Medeia:
TTpöc bidqpopa dvTiYpacpa, Aiovuciou öXocxepec Kai Tiva tüjv Aibu)Liou.
Wir konstatieren also zunächst einen Mann, der nach verschiedenen
Hss. derselben Scholien diesen Komplex zusammengeschrieben hat -
er wird nicht sehr viel älter gewesen sein, als unsere Hss., die wenig
voneinander abweichen -, dann den Dionysios, den wir nicht näher
bestimmen können. Da er ganz übernommen ist, so hat man immer-
hin mit Wahrscheinlichkeit vermutet, daß er die fortlaufende Trivial-
erklärung zusammengestellt habe. Endlich werden wir zu Didymos
gewiesen, der auch sonst mehrfach zitiert und mannigfach kenntlich
ist (v. Wilamowitz Her. V 155 u. bes. 159, 81). Barthold De schol.
in Eur. veterum fontibus, Bonn 1864.
Die uTToGeceic, die vor einer großen Reihe von Stücken stehen,
mehr oder weniger verstümmelt, sind ganz unabhängig von der
Scholienüberlieferung. Sie sind verschiedener Art, bald ausführlichere
Erzählung der dem Stück vorausgehenden Geschehnisse und der
Handlung des Stückes selbst, bald kurze Erzählung der Handlung des
Stückes, bald nur der Ereignisse bis zum Beginn des Stückes (z. B.
Herakles, Ion, Iphig. Taur.; Lücken sind dort nicht anzusetzen). Daran
schließen sich dann bald mehr, bald weniger vollständig die didas-
kalischen Angaben über Zeit der Aufführung, die konkurrierenden
Euripides oyc
Dichter und Stücke, die Konkurrenten, die obsiegten (deshalb kann,
wenn E. beuxepoc war, die Angabe des dritten fehlen und es ist keine
Lücke anzunehmen, so in der Hypothesis der Alkestis), über den Ort
der Handlung, über die Behandlung desselben Stoffes durch die
anderen drei großen Tragiker. Je nachdem steht noch ein ästhetisches
Urteil dabei. Die verschiedenen Arten der Hypotheseis - abgesehen
von den späten und spätesten Machwerken - erheischen eingehendere
Untersuchung, die jetzt durch Auffindung der Hypothesis des Dionys-
alexandros des Kratinos sehr gefördert werden kann, s. vorläufig
A. Körtes Bemerkungen Herm. XXXIX 1904, 494ff. Es ist kaum Zu-
fall, daß in den Stücken, die nicht zur Sylloge der kommentierten ge-
hörten, in der Regel die Erzählung nur der Vorgeschichte des Stückes
vorliegt (auch in der Hypothesis der Helena führt nur ein Satz darüber
hinaus, ähnlich in der zum Kyklops). Aristophanes von Byzanz hat
seiner Ausgabe uTroOeceic beigefügt und mindestens beträchtliche Be- 1253
standteile der uns erhaltenen (welche der verschiedenen Arten war
die seine?) gehen auf ihn zurück.
Gedruckt wurde E. zuerst in den Ausgaben Florenz 1496 (nur
vier Stücke) und der Aldina 1503, die Musuros, und der Ausgabe
von 1545, die Victorius besorgte. Die Gesamtausgabe von Barnes,
Cantabrig. 1694, die mit den Noten Samuel Musgraves (Ausgabe 1778)
von Christian Daniel Beck neu besorgt wurde, Leipzig 1788, hat
noch heute unmittelbaren Wert durch den Index verborum im dritten
Bande. Weitere Hauptstationen sind die Ausgabe Valckenaers der
Phoenissen 1755, des Hippolytos 1758 (seine Diatribe in Eur. perd.
dram. rel. 1767 war von größter Bedeutung für alle Fortschritte der
E.-Studien) und die Ausgaben der Engländer, namentlich von Porson
(Hecuba 1797, Orestes, Phoenissae 1799, Medea 1801) und Elmsley
(Medea 1818, cum adnot. G. Hermann! Leipzig 1822; Herakliden,
Oxford 1813. Bakchen 1821). Lange und viel gebraucht ward die
Ausgabe von L. Dindorf Leipzig 1825. Die Ausgabe von Matthiae
Lpz. 1813-36 enthäh im 10. Bande den Anfang eines E.- Lexikons
a-T (wie die Glasgower Ausgabe von 1821 im 9. Bande einen Index
gibt). G. Hermann gab Separatausgaben der meisten Stücke
{Herakles 1810, Supplices 1811, Bacchae 1823, Ion 1827, Hecuba
1831, Iphigenie in Aulis 1831, Iphigenie in Tauris 1833, Helena 1837,
Andromache 1838, Cyclops 1838, Phoenissae 1840, Orestes 1841).
J. A. Härtung edierte 1848-1853 alle Stücke mit Übersetzungen und
Anmerkungen. Epoche macht die große Ausgabe Kirchhoffs mit
kritischem Apparat, in dem zum erstenmal die Hss. zu werten und
376 Euripides
zu sichten versucht war, Berlin 1855 (kleinere Ausgabe 1867). Kritisch
höchst bedeutsam ist die Textausgabe bei Teubner von A. Nauck 1854;
3. Aufl. 1869-71. Von besonderem Werte durch die feinsinnigen Einlei-
tungen und erklärende Bemerkungen, auch die Rezension des Textes, ist die
Ausgabe der Sept tragedies von Weil, 2. Ausgabe 1879, 3. Ausgabe zu
Ende geführt 1904. Den bisher vollständigsten Apparat bietet die im
J. 1902 fertig gewordene Ausgabe von Prinz-Wecklein (mit den
Rumpelkammern für überflüssige Konjekturen am Schlüsse jedes Stücks).
Die bei weitem größte Förderung in allen E.- Studien so auch im be-
sonderen für Rezension und Erklärung der Stücke verdanken wir
y. Wilamowitz Analecta Euripidea, Berlin 1875 (mit Kollationen der
Stücke der 2. Hss.- Klasse und Ausgabe des Supplices), vor allem die
große Ausgabe des Herakles, 2 Bde., Berlin 1889 (I. Einleitung in die
att. Tragödie; II. E. Herakles, Text u. Kommentar), 2. Ausgabe 1895
(aus dem früheren I. Bd. nur die Partie über die Heraklessage und
der frühere II. Bd.), Hippolytos griech. und deutsch, 1891 (Übersetzung
des Hippolytos, der Hiketiden und des Herakles mit Einleitungen in
den Griechischen Tragödien, übersetzt, I 1899). Andere wichtige oder
meines Erachtens nützliche Ausgaben der einzelnen Stücke werden
bei deren Besprechung unten angeführt. Die genannten Ausgaben
werden nicht im einzelnen wieder genannt. Auch die zahlreichen Aus-
gaben von Wecklein, auch seine Neubearbeitungen der Pflugk-
l254Klotzschen Edition nenne ich nicht weiter im einzelnen. Sog. Schul-
ausgaben werde ich nur anführen, wo ich ihnen einen besonderen
Wert zuschreibe; auf die hübschen, zum Teil sehr brauchbaren Aus-
gaben der Pitt Press Series bes. von Hadley (Hippolyt, Hekabe,
Alkestis), Headlam (Medea, aul. Iphigenie), Pearson (Helena) mache
ich aufmerksam. Um überflüssige Wiederholungen zu vermeiden, sei
hier noch die große, seit 1888 bis zu 3 Bänden bisher gediehene
Ausgabe von Bernardakis genannt (6up. bpdjuara eH €p)ur|veiac Kai
dvaTVUJceiJuc ATi|ur|Tpiou N. BepvapbdKTi), deren 1. Band die Phoenissen,
der 2. Hekabe, Ion, Medea, der 3. Iphigenia Aul. und Taur., Elektra
und Alkestis enthält. Hier muß noch das Lexikon der Tragiker-
fragmente überhaupt genannt werden, das Nauck geliefert hat: Tra-
gicae dictionis index spectans ad trag. Gr. fragmenta ab Aug. Nauck
edita, Petersburg 1892.
Alkestis, 438 als viertes Stück der Tetralogie aufgeführt. Der
Tod der Alkestis, die dadurch ihrem Gatten Admetos das Leben rettet,
und das Erscheinen des Herakles, der dem Thanatos die Alkestis
wieder abringt und dem Gatten wiederbringt, sind die Hauptvorgänge
Euripides nnn
des Stückes. Es ist ebenso sicher, daß das Drama im ganzen sich
nicht als ein Satyrspiel darstellt, wie sie uns bekannt sind, als daß
die Szenen, in denen der Diener von Herakles erzählt und Herakles
selbst mit dem Diener auftritt, weit über das hinausgehen, was wir in
einer Tragödie an burlesken Elementen zu finden gewohnt sind. Das
mit der Tatsache in Beziehung zu setzen, daß das Stück als viertes
statt eines Satyrspieles stand, ist jedenfalls geboten, wie auch immer
die Szenen des Dramas aufgefaßt und begründet werden mögen. Als
sicher glaube ich das eine noch bezeichnen zu müssen, daß die Szene
zwischen Admet und seinem Vater Pheres in keiner Weise komisch
oder parodisch wirken kann. Wir haben einmal zu lernen, wie sehr
verschieden die Zeiten in diesen Fragen, um die sich der uns peinliche,
ja widerliche Disput dreht, denken und sich ausdrücken, dann aber
auch zu erkennen, wie E. auch hier seine gegen die gegebene und
beibehaltene Form der Handlung sich auflehnende Empfindung un-
vermittelt aussprechen läßt und ihm so die Charaktere mißraten (hier
der des Admet). Die Entwicklung der Heraklesfigur auf der Bühne
(s. Dieterich Pulcinella 64ff.) zeigt, daß in dieser Zeit in der eigent-
lichen Tragödie ein Herakles noch keine Stelle hatte. Daß die Alkestis
des E. eine Parodie der Alkestis des Phrynichos gewesen wäre (A.
Schöne Kaisergeburtstagsrede von Kiel 1895) ist schon darum undenkbar,
weil letzteres Stück selbst ein sehr burleskes Satyrspiel war (s. Dieterich
Pulcinella 69, 1). Reiche Nachweise über die bisherige, unendliche
Literatur über die Alkestis und ihre Auffassung bei Lindskog Studien
zum antiken Drama 37 ff. Hadley The Alcestis of Euripides, Boston
1898 p. XXXIIff., XLIIIff. L. Bloch Alkestisstudien, N. Jahrb. IV (1901)
34 u. s. Nestle Euripid. 328, 25. Über den Thanatos in der Alkestis
s. u. a. Robert Thanatos, 39. Berliner Winckelmannsprogr. 1879.
Friedrichs-Wolters Gipsabgüsse nr. 1242f. Benndorf Bull, comun.
1886, 60ff. Robert Arch. Märchen 170ff. H. Ubell Vier Kapitel vom 1255
Thanatos (Abh. des arch. epigr. Sem. der Un. Graz I) 59 ff. Sonderaus-
gabe von Monk Cambridge 1818, cum delect. adnot. potissimum
Monkii acc. emendat. G. Hermanni Leipzig 1824.
Medea, 431 aufgeführt, deutlich außer stofflichem Zusammenhange
mit den anderen Stücken der Tetralogie. Medea, die aus Rache an
dem ihr treulosen Jason seine und ihre Kinder mordet, ist Mittelpunkt
des Dramas. Es war ein ganz neuer Stoff der Tragödie, den aus
verratener Liebe geborenen wilden Haß des barbarischen Weibes dar-
zustellen; ihr Kindermord ist die bewundernswerte Erfindung des E.
Das Altertum wußte das (wie z. B. auch die Anekdote Schol. Med. 10
378 Euripides
zeigt); was an Tradition vorhanden war (die Korinther hatten die
Kinder der Verbannten umgebracht), läßt Schol. zu 273 erkennen (die
Angabe des Parmeniskos, nicht die von Didymos dazu zitierte, für
uns unkontrollierbare Notiz aus einem Kreophylos ist von Wert). Un-
vermittelt bricht das Neue, der Gedanke des Kindermords, in Medeas
Seele nach der Aigeusszene hervor, nachdem sie vorher im früheren
Monolog nur die Rache an dem Brautpaar und Kreon plante. Die
Aigeusszene ist schon von Aristoteles (Poetik c. 25 p. 1461b, 22) ge-
tadelt worden; sie wird allein so zu begreifen sein, daß der edle
attische Heros der korinthischen Teufelin gegenüber den Athenern im
Anfang des Peloponnesischen Krieges nicht frostig vorkam wie dem
Aristoteles und uns. Die Angabe der Hypothesis, daß E. sein Stück
von einem Neophron entlehnt habe, wofür des Dikaiarchos 'GWdboc
ßioc und des Aristoteles uTTOjuvriiLiaTa angeführt werden, hat viele viel-
fach irregeleitet. Die Autorität des Aristoteles ist nicht vorhanden, die
uTTO)uvr|juaTa sind nicht sein Werk, und in der Poetik weiß er nichts
von der seltsamen Entlehnung der Medea. Dikaiarchos hat einer bös-
willigen Nachrede Glauben geschenkt. Die drei Fragmente, die aus
der Medea des Neophron zitiert werden (Nauck^ 730 ff.), sind nach-
weisbar später als des E. Medea. Wenn die neuentdeckten Reste der
Verse auf dem Londoner Papyrus nr. CLXXXVI Brit. Mus. wirklich der
Medea des Neophron gehören (veröffentlicht von W. Crönert Archiv
f. Papyrusf. III 1903, Iff.), so bestätigen auch sie, daß dies Stück eine
Nachahmung des Euripideischen war. Von einer zweiten Bearbeitung
des Euripideischen Stückes ist nichts überliefert und nichts zu er-
schließen. Die verschiedenen ,Dittographien* beweisen nichts derart,
zumal bei den häufigen Neuaufführungen in späterer Zeit mancherlei
Eingriffe der Schauspieler und Regisseure selbstverständlich sind. In
einer Reihe der besprochenen Fragen hat v. Wilamowitz Herm. XV
481 ff. das Richtige verfochten, vgl. v. Arnim Ausgabe der Medea ^
VII ff. Eine Ausgabe von Sakorraphos Athen 1891 und die oben
zitierte v. Arnims in der Weidmannschen Sammlung, 2. Aufl. 1886,
mögen nur außer den oben bezeichneten genannt sein.
Hipp oly tos, 428 aufgeführt. Den der Artemis ergebenen, stolz
unnahbaren Sohn des Theseus liebt seine Stiefmutter Phaidra, siech
vor Leidenschaft. Deren Amme treibt die Handlung und gibt dem
Hippolytos Kunde von der Herrin Sehnsucht. Seine grimmige Ab-
weisung zieht Phaidras Tod, der Fluch des durch ihren verleumdenden
1256 Brief getäuschten Theseus den Tod des Sohnes nach sich. Wie
trozenische Kultelemente und attische Sagenüberlieferungen zu dem
Euripides oyn
alten Novellenmotiv vom keuschen Jüngling sich verbinden, wie E.
das Gegebene gestaltet, erörtert ausgezeichnet v. Wilamowitz im
Vorwort der Ausgabe (s. u.). E. hatte bereits früher (auch vor der
Medea) denselben Stoff behandelt. Der Hauptunterschied, den die
Bezeichnung dieses Hippolytos als KaXuTTTÖjuevoc ausdrückt, war der,
daß Phaidra dem Stiefsohne selbst die Liebe gestand, der sich vor
Entsetzen verhüllte. Diesem Stücke haben Seneca und Ovid nach-
gedichtet (Hiller im Liber miscell. phil. Bonn. 34ff. Kalkmann De
Hippolytis Euripideis quaestiones novae, Bonn. 1882). Man hat kom-
biniert, daß dieser Hippolytos eine Trilogie bildete mit Aigeus und
Theseus (v. Wilamowitz Herm. XV 481 f.). Die Phaidra des Sophokles
kann erst nach dem zweiten Hippolytos des E. gedichtet sein. Ausg.
von Monk Cambridge 1811 (zuletzt Leipzig 1823). v. Wilamowitz
mit Übersetzung und Anmerkungen, Berlin 1891.
Hekabe. Die beiden Tragödien vom Tode der Polyxena und von
der Rache an Polymestor für den Verrat des jüngsten Priamiden
Polydoros wurden nur in eine zusammengeschlossen durch die Person
der Hekabe, des dämonischen Weibes übermenschlicher Schmerzen
und unmenschlicher Rache. Die Polyxenatragödie nahm den Stoff aus
dem Epos (IXiou irepcic), den auch Sophokles in der Polyxena bereits
behandelt hatte (vgl. Schol. Hec. 3). Daß zwischen den wenigen An-
gaben der Ilias von Polydoros und dem Drama des E. eine poetische
Ausgestaltung des Stoffes lag, hat man allein aus der Angabe er-
schlossen, daß Hekabe die Tochter des Kissens sei (bei Homer ist sie
Tochter Dymas des Phrygiers), der hier nicht einmal als thrakischer
Fürst bezeichnet wird, als der er bei Homer erscheint; was für E.
ohne Bedeutung und eine unverständliche Änderung wäre, wenn er
sie vorgenommen, hat einem Vorläufer gedient, die Versendung des
Polydoros nach Thrakien zu motivieren. Denn Polydoros ist auch bei
E. nicht Sohn des Priamos und der Laothoe (II. XXI 85), sondern des
Priamos und der Hekabe (s. Weil Einleitung zur Hekabe in Sept
tragödies^ 207). Die Zeit des Dramas wollte man daraus bestimmen,
daß 458 ff. Delos und sein Fest so gefeiert wird, daß an die Neu-
gestaltung der Delien im Frühjahr 425 (Thukyd. III 104) gedacht sein
müsse (Matthiae hat es schon bemerkt). Da E. nur allgemein von
Liedern und Tänzen der AnXiabec KoOpai redet, die es längst vorher
gab, würde man nur sagen können, daß E. durch die attischen Delien
unwillkürlich veranlaßt worden sei, hier von Deliaden zu reden, mehr
nicht (v. Wilamowitz Herakles P 140ff.). Das aber ist sicher, daß
Hekabe v. 162 in den Wolken des Aristophanes 708 parodiert ist.
380 Euripides
und dieser Vers gehört sehr wahrscheinlich der ersten Gestalt der
Wolken, die 423 aufgeführt wurden, so wird die Hekabe vor 423 ge-
setzt. Die Tatsache, daß die Hekabe vor den Troerinnen (415) auf-
geführt sein müsse, in denen das Opfer der Polyxena absichtlich mit
wenigen Worten übergangen wird, ist dann hier für uns ohne Be-
deutung.
1257 Herakliden. Die Rettung der von lolaos beschützten und ge-
führten Heraklessöhne, die von allen Hellenen ausgestoßen und ver-
lassen sind, vor den Verfolgern Eurystheus und seinem Herold Kopreus
durch das menschenfreundliche Athen und seinen König Demophon
ist der Inhalt. Der Opfertod der Makaria, einer ganz vom Dichter er-
fundenen Gestalt (einer »Vorstudie zur Polyxena*) und das Auftreten
der haß- und racheerfüllten alten Alkmene (einer ,Vorstudie zur Hekabe*)
ragen aus der einfachen Handlung hervor. Doch ist mit Sicherheit
nachgewiesen, daß uns eine Bearbeitung eines Theaterregisseurs des
4. Jhdts. erhalten ist, der ein Epeisodion gestrichen und namentlich
den folgenden Teil (nach 620) so umgeformt hat, daß die Lücke ver-
deckt sein soUte; er hat besonders die jetzt folgende Szene so er-
weitert und das Auftreten der Alkmene, die ursprünglich schon in der
gestrichenen Szene agierte, so gestaltet, wie wir es lesen, die Boten-
rede 790ff. stark erweitert (v. Wilamowitz Herm. XVII 337 ff.; de
Euripidis Heraclidis, Progr. Greifswald S.-S. 1882). Der Zeitbestimmung
des einen Stückes wird durch die Parodie der Aristoph. Wespen 1160
(= Heraklid. 1006) mit Sicherheit als Terminus ante quem 422, durch
die Angabe des Schol. Arist. Ritter 214 TiapLubTice töv ia|ußov eH 'Hpa-
KXeibüüv Güpucibou, auch wenn der Vers in der erhaltenen Bearbeitung
nicht steht, mit Wahrscheinlichkeit als Terminus ante quem 424 ge-
wonnen. Aber viel mehr ergibt das Vaticinium am Schlüsse des
Stückes 1027 ff. Das Grab des Eurystheus in Pallene soll den
Herakliden = Spartanern, wenn sie darüber vordringen wollten, Nieder-
lage bringen. Bei früheren Einfällen haben sie die Gegend noch ge-
schont, 427 ungestraft verwüstet. Vor 427 müssen die Herakliden
aufgeführt sein; v. Wilamowitz Analecta Euripidea 151 ff. Genannt
sei wenigstens Gualt. Schmidt Qua ratione E. res sua aetate gestas
adhibuerit in Heraclidis potissimum quaeritur, Diss. Halle 1881, nach
den Münsterer Dissertationen von Theis (1868), Potthast (1872),
Hoeveler (1878).
Andromache. Schol. Andr. 445 eiXiKpiviuc touc toO bpdjLiaToc
Xpövouc ouK toi XaßeTv ou bibaKiai fäp 'A0r|vriciv* 6 be Ka\Xi)uaxoc
diTiTpacpfivai qprjci irj ipaTUJbia AriiuoKpdTTiv . . . qpaiveiai be TeTpaMMevov
Euripides /jgj
Tö bpä^ia ev dpxrj tou TTeXoTrownciaKoO TToXejuou. Das stimmt zu
allem, was wir aus politischen Anspielungen und der Metrik entnehmen
können (richtig Firnhaber Philol. III 408ff., falsch Zirndorfer De
chronologia fab. E., Marburg 1889, dessen sonst vielfach treffliche
Darlegungen hier ein für allemal zitiert sein mögen, und Bergk
Herrn. XVIII 487 ff., zuletzt Mos i mann Inwieweit hat E. in den Hiket.,
Andromache und den Troerinnen auf polit. Konstellationen seiner Zeit
angespielt, Diss. Bern 1897). Das Stück zerfällt in zwei nur ganz
äußerlich verbundene Dramen. Im ersten wird am Altar Andromache
mit ihrem Kinde von Menelaos und Hermione aufs äußerste bedrängt,
in höchster Todesnot von Peleus befreit, im zweiten Teil wird Hermione
von Orestes entführt, die Ermordung des Neoptolemos berichtet und
seine Leiche gebracht; Thetis offenbart am Schlüsse das Schicksal
des Leibes des Neoptolemos, der Andromache, des Peleus und des 1258
Achilleus. Der erste Teil, der in der Sage keinen Anhalt hatte, ist
ganz analog gebaut dem ersten Teil des Herakles, und eine Reihe von
Versen und Redewendungen zeigen eine nicht zufällige Übereinstimmung
(Dieterich Pulcinella 9 ff.). Erfunden ohne Anlaß in der Sage ist
auch der erste Akt des Herakles. Das natürlichste Vorbild des ,Altar-
motivs*, der zum äußersten steigenden Bedrängnis durch mächtige
Feinde und der plötzlichen Rettung durch einen Befreier, sind Sagen-
stoffe, wie der, den Aischylos schon in den Hiketiden behandelt hat.
Die früheste Verarbeitung dieses Motivs durch E. scheint in den
Herakliden vorzuliegen. Sonderausgabe von L entin g Zutphaniae 1829.
Herakles. Der erste Teil führt die Bedrängnis des Amphitryon
und der Megara mit ihren Kindern durch den Tyrannen Lykos vor
und die Befreiung durch Herakles, der zweite Teil den Kindermord
des in Wahnsinn verfallenen eben heimgekehrten Siegers aller Schrecken
der Erde und des Hades. Über den Herakles der Sage und die Ge-
staltung des Stoffes und der Charaktere bei E. s. die umfassende Dar-
legung von V. W^ilamowitz im 1. Bd. der Ausgabe* 1-134. Über
die Datierung des Dramas ist ebd. ausführlich gehandelt 134 ff. E.
nennt sich selbst repojv, zwischen Hiketiden und Troerinnen rückt die
Gesamtstimmung den Herakles, i\f6foc und e'Traivoc toHötovj ergibt als
wahrscheinlicheGrenze 423-416. Dazu stimmen metrische Beobachtungen.
Man darf ansetzen 420-416. Das Verhältnis zwischen Herakles und
den Trachinierinnen des Sophokles läßt sich sicher dahin bestimmen,
daß Sophokles der Nachahmende war; die Art der Ausführung der
Schlafszene und die Art des Auftretens des tragischen Herakles über-
haupt bleiben der sicherste Beweis (so nach v. Wilamowitz
382 Euripides
Herakles IP 341 ff., etwas ausgeführt und ergänzt von Dieterich Rh.
Mus. XLVI 25<oben S. 48> ff. v. Wilamowitz Herakles I^ 152ff.
Z i e 1 i n s k i s höchst lehrreiche Ausführungen Philologus N. F. IX 632 ff. haben
mich nicht vom Gegenteil überzeugt; vgl. M. L. Earle in den Transactions
and Proceedings of the American Philological Association XXXII 1902)»
Hiketiden. Wie die Mütter der vor Theben gefallenen Sieben
von Theseus, den seine Mutter Aithra dazu bestimmen soll, die Be-
freiung und Bestattung ihrer Söhne auswirken, wird vorgeführt. Be-
sonders bemerkenswert ist der Chor der 15 Mütter, obwohl, wenn
man genau inquiriert, nicht einmal alle sieben gegenwärtig sein können.
Was das Epos und heimische Überlieferungen erzählten (bei Eleusis.
stand ein Grabhügel, der für das Grab der Sieben galt), hatte schon
Aischylos in den '6\€ucivioi zu einem Drama gestaltet, in dem Theseus-
nur durch Vermittlung die Freigebung der Leichen erreicht und die
Beisetzung möglich macht. Die Version, daß das nur durch Waffen-
gewalt zu erreichen war, steht schon unter den festen töttoi athenischer
Doxologie bei Herodot IX 27. Als Szene stärkster Wirkung ist ein-
gelegt, wie Euadne in den Scheiterhaufen des Kapaneus springt, dem
Gatten als treueste der Gattinnen in den Tod, ja in den Fluch der
1259 Vernichtung folgt. Das Ganze ist ein hohes Lied auf die Menschlich-
keit Athens, ein eTKuuiuiov 'AGrivüjv, wie die alte Hypothesis sagt, ein:
Festspiel, in dem die Mahnung zum Frieden als stärkste Tendenz her-
vortritt. Argos wird am Schlüsse verpflichtet, gegen Athen nicht
Krieg zu führen und Athen, wenn es bedroht sei, zu helfen. Nach
der Schlacht von Delion hatten die Thebaner dem Herold der Athener
die Abholung der Leichen geweigert (Thuk. IV 97 ff.), und das ist
augenscheinlich der erste Anlaß der euripideischen Dichtung. Höchst
wahrscheinlich ist sie kurz vor dem Frieden 421 aufgeführt, zusammen
mit dem Erechtheus, in dem auch ein Orakel die Opferung einer
Königstochter verlangte, v. Wilamowitz Einleitung zu der Übersetzung
,der Mütter Bittgang*, Griech. Tragödie I 185 ff.; vieles treffend bei
Lugge Quomodo Euripides in Suppl. tempora sua respexerit, Diss.
Münster 1887 (weitere Literatur dort S. 4). Ausgabe von Markland
Oxford 1811.
Ion. Das Stück ist in Aufbau, Motivierung und Handlung ver-
schieden von allen anderen. Eine Intrigue, die von Apollon selbst
bewegt wird, schaukelt dreimal hin und her; der göttliche Ursprung
und die große Zukunft des Ion, des Tempeldieners in Delphi, ist Ziel-
punkt des Ganzen. Das Paar Xuthos und Kreusa kommen zum delphi-
schen Orakel wegen ihrer Kinderlosigkeit, Xuthos erkennt, durch das
Euripides 003
Orakel getäuscht, in Ion seinen Sohn; Kreusa will den Bastard be-
seitigen; Ion, gerettet, sinnt auf Rache; die bedrängte Kreusa am
Altar, die von Ion zu Tode geführt werden soll, wird erlöst durch die
Botschaft der Pythia selbst, die durch die Erkennungszeichen seiner
Herkunft den Ion als Sohn des Apollon und der Kreusa erweist. Der
Verzweiflung des Ion, welcher der Offenbarungen er glauben soll,
macht Athene, für Apollon eintretend, ein Ende, die die Zukunft des
Ion und der anderen Stammheroen kündet. Zusammenstellungen für
die Frage, was E. übernommen und umgestaltet, bei Ermatinger Die
attische Autochthonensage, Berlin 1897 (alles Wesentliche für die
Motivierung des Dramas scheint Eigentum des E. zu sein: die Liebe
des Apollon und der Kreusa, Ion als Gottesdiener in Delphi, die
Orakelfahrt der Alten). Zur Datierung des Stückes läßt sich nur
sagen, daß es nicht vor den Erechtheus 421 und nicht nach der
Katastrophe 413 fallen kann (neben der Elektra 413 kann es auch
schwerlich stehen), vgl. v. Wilamowitz Herm. XVIII 242. Darin liegt,
wie ich überzeugt bin, zugleich, daß für die Stimmung des E., für
den das attische Reich zerbrochen war, als er die Troerinnen schrieb,
das Stück von da an unmöglich war. Das beweist namentlich der für
Athen und die lonier patriotische hoffnungsfreudige Schluß des Ion.
Die Beobachtungen über die Metrik stellen Ion zu den jüngeren Stücken
(Enthoven De lone fab. Eur., Bonn 1880), schließen aber seine Ab-
fassungszeit ein oder ein paar Jahre vor 415 durchaus nicht aus.
Die Literatur über die ganze Frage findet man angeführt bei Erma-
tinger a. a. 0. 138f. Bemerkt mag nur im einzelnen noch sein, daß
die seit Boeckh (De graec. trag princ. 191) viel vorgebrachte Kom-
bination, daß die im Ion beschriebenen Gemälde der Tempelhalle die
seien, die Athen nach dem Siege von Rhion gelobt habe, schon 1260
darum nicht stichhaltig sein kann, weil jene Halle, wie wir jetzt wissen,
sehr viel älter ist (Köhler Rh. Mus. XLVI 160). Kinesias endlich in
Aristoph. Lysistr. 911 brauchte gewißlich kein literarisches Vorbild, um
die Pansgrotte zum Liebesschlupfwinkel vorzuschlagen. Ausgaben von
Badham, London 1853. van Herwerden, Utrecht 1875. M. A.
Bayfield, London 1889. A. W. Verrall Cambridge 1890.
Troerinnen. 415 aufgeführt mit Alexandros, Palamedes und dem
Satyrspiel Sisyphos. Eine Reihe der erschütterndsten Szenen zeigen
den Zusammenbruch alles Glanzes und aller Hoffnungen Troias und
seines Königsgeschlechts. Hekabe ist die Person, durch die alle
Bilder des Schreckens und der Verzweiflung dramatisch lose ver-
■ bunden sind; die Schreckensbotschaft des Talthybios, die Vernichtung
384 Euripides
der letzten Hoffnung, des Astyanax, die wirkungsvolle Gegenüberstellung
der Hekabe und der Helena, die wieder aus allem Unheil gerettet,
zur Heimat zieht: die gefangenen Troerinnen gehen zu Schiff im An-
gesicht der brennenden zusammenbrechenden Vaterstadt. Und die ab-
ziehenden Achaeer werden von den Göttern heimgesucht werden:
Athene wird die Blitze in ihre Flotte schleudern; Untergang und Ver-
zweiflung ist überall das Ende in diesem Drama des letzten Gerichts
(die Anschauungen der sehr anregenden Abhandlung H. Steigers
Philol. LIX [1902] 362ff. teile ich nur zum Teil). Ausgabe von Burges
1807. Seidler 1813.
Elektra. Das Stück behandelt im allgemeinen denselben Stoff,
den die Choephoren des Aischylos (über die Kritik, die E. an Aischylos
übt, zuletzt Radermacher Rh. Mus. LVIII 546ff.), die Elektra des
Sophokles enthalten; im einzelnen ist aufs stärkste geändert. Seit v.
Wilamowitz Herm. XVIII 214ff. der Euripideischen die Priorität vor
der Sophokleischen zugesprochen hatte, ist die lebhafteste Diskussion
über diese Frage geführt worden (die Literaturangaben findet man in
der letzten bedeutendsten Abhandlung darüber von H. Steiger Philo-
logus LVI 561 ff.); sie kann als dahin entschieden gelten, daß die
Elektra des Sophokles vor die des E. fällt (auch v. Wilamowitz hat
das jetzt zugegeben Herm. XXXIV 57 f., 2). Das Stück des E. ist eine
Auflehnung gegen den Gott, der einen Muttermord befiehlt, und eine
Kritik einer sittlichen Anschauung, die einen Muttermord ohne Reue
und Strafe kennt. E. verurteilt mehrmals ausdrücklich den Gott und
seinen Orakelspruch und fordert für Orestes Sühne und Strafe. Das
ist der Hauptpunkt. Sein Stück ist ein Tendenzstück, das den Mythus,
den es darstellt, selbst verneint und vernichtet. Die hochwandelnden
Gestalten mit den konventionell gewordenen Taten sind mit Absicht in
gewöhnliches Tagesleben hineingerückt: Elektra an einen Bauer ver-
heiratet weiß ihre Mutter durch List in ihre Hütte zu bringen und
hilft selbst sie erschlagen. Sie soll als das schauerlich unmenschliche
Weib, die Teufelin erscheinen, als die Elektra in des Dichters Zeit in
Wahrheit erscheinen würde. Die Revolution gegen die Unsittlichkeit
der Götter und des Mythus hat das Kunstwerk als solches zerstört.
Die Zeit des Stückes ist fest bestimmt; die Helena, die 412 aufgeführt wurde
1261 <s. 0. 369 >, ist v. 1280 direkt angekündigt. Am Schlüsse aber (1347)
ist von der Flotte im sizilischen Meere die Rede und deutlich auf den
geächteten Gottesfrevler Alkibiades hingedeutet, dem die Götter nicht
beistehen konnten, und den frommen Nikias, dem sie nun helfen
werden. Das paßt allein auf 413. Ich will an dieser Stelle das neue
Euripides ggc
Programm des Baseler Gymn. 1905 von Jakob Oeri, E. unter dem
Drucke des Sizilischen und des Dekeleischen Krieges, wenigstens ein-
mal nennen, in dem Elektra, Helena und die beiden Iphigenien zum Teil
wesentlich anders datiert werden. Ich kann fast nirgends folgen.
Ausgaben von Seidler, Leipzig 1813. Camper, Leiden 1831.
Iphigenie in Taurien. Die Priesterin der Artemis im Lande des
Thoas, die alle Fremden der Göttin opfern muß, erkennt in einer der
am kunstreichsten gebauten dvaTviupicic- Szenen des alten Dramas
einen von zwei gefangenen Hellenen als ihren Bruder Orestes; sie be-
werkstelligen nun mit List ihre Flucht samt dem Kultbilde der Artemis;
Athene verhindert den Thoas an der Verfolgung. Wie aus der
epischen Geschichte vom Opfer am Euripos und der Entrückung der
Iphigenie einerseits, durch den Ritus der "Apieiiiic TaupoTröXoc, des
alten Artemiskults und der Tradition von Iphigenie in Brauron ander-
seits die Grundlage der Fabel gewonnen wurde, die nun mit der
Orestessage künstlich verbunden wurde (dadurch, daß die Befreiung
von allen Erinyen erst an die Heimholung des Artemisbildes geknüpft
wurde, obwohl doch der Freispruch auf dem Areshügel so feste
Tradition war), ist am klarsten dargelegt von Bruhn in der Einleitung
zu seiner Ausgabe (Berlin 1894), vgL vorher Robert Archaeol.
Märchen 147. Die Zeit des Stückes wird bestimmt durch den völlig
analogen dramaturgischen Aufbau der Helena (was meines Wissens
zuerst von Firnhaber Ztschr. f. d. Altertumswissensch. VI 1839, Iff.;
Verdächtigungen eurip. Verse 1840, 21 f. erkannt und zum Teil dar-
gelegt ist) und dazu die deutliche Steigerung der Kunstmittel in
etlichen Partien der Iphigenie gegenüber der Helena (namentlich
Iphig. 1 194 ff. '-^ Hei. 129 Iff.): Iphigenie ist vor Helena aufgeführt. Ich
vermute, daß die sakrale Lokaltradition von Halai und Brauron viel
stärkeren Anhalt für E. für den Zug des Orest gab, als wir wissen
können. Die Entführung eines heiligen Bildes aus der Ferne, der
widerspenstige Barbarenkönig, die göttergeleitete glückliche Fahrt u. a.
entsprechen der Art, wie die Kultlegende zu erzählen liebt. Wenn E.
doch wohl durch den Erfolg der Iphigenie veranlaßt war, die Helena
zu konzipieren, er selbst aber in der Elektra 413 die Helena bereits
direkt ankündigt, so muß die Iphigenie auch noch vor die Elektra
fallen, Bruhn a. a. 0. llff. Ausgaben von Markland, London 1771.
Seidler, Leipz. 1813. Badham, London 1851. Bruhn, Berlin 1894
(Neue Bearbeit. von Schöne-Köchly Ausg. Trag, des E. II).
Helena, 412 aufgeführt. Auf der Grundlage, die dem E. die
Stesichoreische Dichtung von dem eibujXov der Helena bot, das nach
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 25
k.
386 Euripides i
Troia entführt, während die echte Helena in Ägypten für Menelaos
aufgehoben worden sei (eine rationalistische Version der Geschichte
1262Herodot II 112ff.), hat der Dichter ein Intriguenstück im wesentlichen
dadurch aufgebaut, daß er den Proteus gestorben sein und seinen
Sohn Theoklymenos die Helena umwerben und bedrängen, die Tochter
Eido-Theonoe als Seherin den Menelaos und dessen Pläne erkennen,
dann aber seine Partei nehmen läßt. Mehr als den Namen (€i5u) s.
Od. IV 365. Aisch. frg. 208, Theonoe xPncTripiov övo|ua, vgl. Plat.
Krat. p. 407 b. Hyg. fab. 150; 0eoK\ujU€voc ist wohl völlig frei hinzu-
gesetzt. Od. XV 182 erklärt nichts) hat er für diese Gestalten schwer-
lich überkommen. Über das Verhältnis von Vorlage und freier Er-
findung des E. findet man die umfangreiche Literatur angegeben bei
v. Premerstein Philolog. LV 640. 647. Ausgaben von Badham (mit
Iphigenie, s. o.), London 1851. Herwerden, Leiden 1895.
Phoenissen. In diesem Stücke häuft der Dichter noch einmal
alle Motive der alten thebanischen Labdakidensagen zu einem großen
,Schauergemälde*, sozusagen einem Panorama der Tragödien des
Oidipusgeschlechts. Die Teichoskopie, die glänzenden Schlachten-
berichte, die Aufopferung des Menoikeus und als höchster Effekt
Oidipus und lokaste, die Uralten (schon im Oidipus hatte er lokaste
im Leben bei dem Gatten ausharren lassen), im Jammer über alles
hereingebrochene Elend und die gefallenen Söhne. lokaste tötet sich,
und der Schmerzensmann Oidipus bleibt allein übrig, der seine toten
Söhne jammernd betastet. Und es fehlt nicht der Konflikt Kreons und
der Antigone wegen der Bestattung des Polyneikes und zuletzt auch
nicht die den Vater ins Elend begleitende Tochter. Die bisherige
Literatur über den vielumstrittenen Schluß bei Lindskog a. a. 0. 149.
Die große letzte Szene hat v. Wilamowitz verständlich gemacht
S.-Ber. Akad. Berl. 1903, 587ff. und 1736ff. als Dublette zu 1710-35
erklärt, die der Verfertiger der Ausgabe in einem anderen Exemplar
fand und zu dem ersten Schlüsse zuschrieb. Nur was den Wider-
spruch zwischen dem Abgang der Antigone und der Bestattung des
Polyneikes betrifft, scheint mir eine andere Auffassung nötig, die hier
nicht begründet werden kann.
Die Zeitbestimmung des Stückes kann sich nur stützen auf Schol.
Arist. Frösche 53 (zu xfiv 'Avbpojuebav) bid ti be juf] dWo ti tüjv irpo
öXiTOu bibaxOevTUJV kqi KaXujv 'YvpittijXtic 0oiviccujv 'Avtiötttic' f\ be
'Avbpojaeba oTböuj ^lei TrpoeicfiXGev. Also zwischen 411 und 408. Wenn
aber irpö oXitou so stark der langen Zeit gegenübergestellt ist, so
muß man schließen, daß 411 und 410 in diesem Gegensatz niemals
Euripides ßgy
Tipö öXiTou heißen würde, und da 408 (Ol. 92, 4) durch den bezeug-
ten Orest ausgeschlossen ist (wir kennen ja die ganze Trilogie, in
denen die Phoinissen standen, Oinomaos und Chrysippos waren die
beiden anderen Stücke), die folgenden Jahre durch die Abwesenheit
des E. in Makedonien, so bleibt 409 (Ol. 92, 3). In der verstümmel-
ten Hypothesis der Phoenissen ist eiri NauciKpaiouc dpxovxoc an-
gegeben; der Name ist für uns unfaßbar. Die Archonten des J. 410
(Ol. 92, 2) waren Mnasilochos (2 Monate), Theopompos (10 Monate),
der Archon des J. 409 (Ol. 92, 3) war Glaukippos; die Möglichkeit,
auch 409 einen zweiten Archon anzunehmen, der Nausikrates geheißen
hätte, fällt dadurch weg, daß durch die Hypothesis des Sophokleischen 1263
Philoktet als festgebender Archon Glaukippos bezeugt wird. Es folgt,
daß NauciKpdTouc ein wie auch immer entstandener falscher Name
und daß rXauKiTTTTOu dagestanden haben muß. Dem allem fügt sich
aufs trefflichste, daß die Hypothesis des Philoktet von Sophokles an-
gibt TTpÄTOc fjv, die Hypothesis der Phoenissen hemepoc €i>pi7ribnc.
Nur Sophokles konnte damals über die Trilogie des E. siegen.
Orestes, 408 aufgeführt. Das Stück ist eine Fortsetzung der
Elektra und zugleich eine Fortsetzung der Kritik der Sophokleischen
Elektra. Eine der glänzendsten Szenen, die E. je geschaffen, zeigt zu
Beginn die Folgen des Muttermords: Orestes, von der Schwester ge-
hütet, liegt krank, gehetzt vom Wahnsinn der Erinyen, er erwacht
vor unseren Augen. Die demokratische Volksversammlung kennt keine
Schonung für sein Vergehen: er soll sterben wie seine Schwester,
Menelaos, der heimkehrt, der listige Spartaner, der Weiberknecht,
tut nichts für ihn. In letzter Verzweiflung wenden sich Orest und
Pylades gegen Helena, die Veranlassung all ihres Jammers; da sie
entkommt, gegen Hermione. Der Schluß, daß Orestes die Hermione
heiraten und, freilich nach langer Büßung, in Argos herrschen soll,
ist blutiger Hohn auf den Mythus und das, was er fordert. Die
inneren Widersprüche des Stückes sind ebenso aufzufassen, wie bei
der Elektra angedeutet wurde (s. bes. H. Steiger Progr. Gymn. Augs-
burg 1898).
Iphigenie in Aulis, nach dem Tode des E. aufgeführt (s.o.<S.369».
Die Handlung dreht sich um das Opfer der Iphigenie, das der
Griechenflotte günstige Fahrt nach Troia schaffen soll. Die außer-
ordentlich verwickelt geschlungenen Motive, daß die unter dem Vor-
wand, dem AchiUeus vermählt zu werden, ins Lager heremgeholte
Iphigenie, der nun Achilleus gegen das Heer Rettung bringen wil,
selbst durch freiwilligen Entschluß sich zu opfern die Lösung schafft,
25'
388 Euripides
geben ein außerordentlich prächtig mannigfaltiges Rührstück. Der Zu-
stand der Anfangspartie und vor allem der Schluß haben alsbald den
Gedanken nahegelegt, daß E. das Stück unvollendet hinterließ und der
jüngere E., der es aufführte, die Ergänzung und Umarbeitung vornahm.
Auf die mannigfaltigste Weise sind die Lösungen dieser Schwierig-
keiten hin und her geschoben worden. Daß es noch einen anderen
Schluß gab, zeigen die Verse bei Aelian. bist. an. VII 39. Ausgaben von
Markland, London 177L Höpfner, Halle 1795. Firnhaber,
Leipz. 184L Vitelli, Florenz 1878. E. B. England, London 1891.
Bakchen. Das Stück ist erst nach seinem Tode aufgeführt (s. o.
<S. 369»; es behandelt den Sieg des gewaltigen Gottes Dionysos über den
Feind Pentheus, den die eigene Mutter im Wahnsinn des Gottes in Stücke
reißt (über Aischylos als Vorgänger des E. s. besonders Bruhn in
der Einleitung der Ausgabe 25). Die Bakchen sind in Makedonien
gedichtet, wo den greisen Dichter der dionysische Gottesdienst mit
seiner ganzen ursprünglichen Wildheit und orgiastischen Macht anzog.
Er suchte sich von den wilden Geistern, die ihn in ihren Taumel rissen,
1264 los zu machen, indem er sie verkörperte (so v. Wilamowitz Her. I^
134, weiteres bes. bei Bruhn a. a. 0. v. Arnim in der Einleitung
seiner Übersetzung, Wien 1903). E. gibt sich dem poetischen Zauber
des Dionysosdienstes einmal ganz gefangen als ein echter Dichter und
hat nicht selbst die Stimmung seines Gedichtes zerstört. Nicht Teiresias
sagt die Meinung des Dichters. Die Sehnsucht nach Frieden, ja das
hier und da hervorbrechende Gefühl, den Frieden gefunden zu haben,
wenn es am Ende auch nur eine Betäubung war, fühlen wir, zumal
in den Liedern, als im Dichter selbst lebendig heraus. Ausgaben von
E. Bruhn (Ausgew. Trag. d. E. I'^) 1891. Sandys 4. ed. London 1904.
Tyrrell zuerst London 1871.
Kyklops. Das Stück ist das einzige uns erhaltene Satyrspiel.
Handlung und Personen sind für das Satyrdrama des E. typisch: der
riesige Unhold Polyphem, in seiner Gefangenschaft Silen und die
Satyrn, dann der kluge Held Odysseus, der sie alle mit List befreit.
Die lustige Person ist recht eigentlich der Silen mit seiner drolligen
Trinklust, Feigheit und Verlogenheit. Man beobachtet, daß E. in einer
Reihe der uns kenntlichen Satyrspiele Unholde ähnlicher Art immer
wieder zum Mittelpunkt machte, Busiris, Skiron, Syleus. Namentlich
im Syleus ist die Ähnlichkeit des Aufbaus noch klar erkennbar. Die
Zeit des Kyklops ist mit einiger Sicherheit nicht zu bestimmen.
Kai bei Herm. XXX 71 ff. wollte den Kyklops über die Alkestis hinaüf-
rücken. Ein von dem Stück abhängiges Vasenbild wird in das letzte
Euripides ogg
Viertel des 5. Jhdts. gesetzt, publiziert von Winter Arch. Jahrb. 1891,
Taf. VI; s. dazu Furtwängler Meisterw. 150" Reisch Z. Vorgesch!
d. att. Trag., Festschr. f. Gomperz 455. Zu Stil und Metrik vgl. Th.
Neumann Quid ex E. Cyclope et ad elocutionem et ad rem metricam
dramatis satyrici accuratius definiendam redundet pluribus explicatur,
Progr. Colbg. 1887. Ausgabe von Höpfner, Leipz. 1789.
Rh es OS. Die homerische AoXiuveia ist dramatisiert. Es ist ein
Nachtstück und Soldatenstück, in dem Griechen und Barbaren als
Gegenrollen wirksam Kontrast machen, Hektor und Dolon, Diomedes
und Odysseus. Die Hypothesis lehrt, daß schon im Altertum das
Stück für unecht erklärt wurde, und daß man zwei verschiedene Pro-
loge hatte. Krates wird im Schol. zu v. 528 angeführt, der einen
astronomischen Irrtum rügt, den E. begangen bid tö veov eii eivai.
Seit Scaliger (Proleg. in Manil. Vif.), Valckenaer Diatribe 88ff. und
G. Hermann Opusc. III 262 kann als ausgemacht gelten, daß der
Rhesos euripideisch nicht sein kann. Eine Reihe der gewichtigsten
Momente (z. B. öfteres Brechen eines Verses unter zwei Personen,
deus ex machina, Verwendung von vier Schauspielern) rücken ihn zu
den späten Tragödien des E., von denen ihn im übrigen nahezu alles
scheidet. Man darf die Ansicht ignorieren, die diesen Rhesos für ein
Jugend werk des E. halten will, auch wenn L. Eysert Rh. im Lichte
des eurip. Sprachgebrauchs, Progr. Böhm. Leipa 1891, gezeigt hat, daß
mit sprachlicher Statistik die Unechtheit nicht zu beweisen ist. In
vielem des Stils und der Metrik ist aber die Nachahmung des Sophokles
fühlbar und auch faßbar. Ich könnte mir allenfalls die Möglichkeit
denken, daß unser Stück eine recht weitgreifende Umarbeitung des 1265
tatsächlich vorhanden gewesenen Rhesos des E. sei (vgl. die ver-
schiedenen Prologe, die vorhanden waren). Nur die Zeit der Dichtung
oder Umarbeitung bleibt unsicher. Daß der Rhesos eine alexandrinische
Tragödie sei, ist unmöglich (G. Hermann), v. Wilamowitz setzt ihn
in die Zeit des zweiten Seebundes (De Rhesi scholiis, Greifswald 1877;
Her. IMI, vgl. Anal. Eur. 142 ff.). Die umfangreiche Literatur s. zu-
sammengestellt bei W. Nestle Eurip. 381, 28 und bei John C. Rolfe
Harvard studies in class. phil. IV (1893) 61ff. Ausgabe von Vater,
Berlin 1837.
Nur Bruchstücke sind uns erhalten von 48 Dramen. Ich zitiere zu
den einzelnen Titeln weder Nauck, dessen Nachweise ich nicht aus-
schreibe, noch Welcker, auch nicht Härtung Euripides restitutus,
Hamburg 1843/46, auf die ich ein für allemal verweise, und gebe
nur über die Aufführungszeit an, was man sicher wissen kann und
390 Euripides
neuere wichtige Arbeiten über die einzelnen Stücke. Ein für allemal
seien auch zwei Hilfsmittel genannt, in denen die Vasenbilder an-
geführt sind, die auch zur Rekonstruktion hier und da nützlich waren
und nützlich werden können, Vogel Szenen eur. Trag, auf Vasen-
bildern und Huddilston Greek Tragedy in the light of Vase Paintings,
London 1898, für Euripides S. 78 ff. und die Listen S. 178 ff. (deutsche
Übersetzung von Maria Hense, Freiburg 1900); vgl. v. Prott Sched.
philol. H. Usenero oblatae 57ff. A. Körte Berl. Phil. Wochenschr. 1898,
1459 ff. Watzinger De vasculis pictis Tarentinis 33 ff.
Aigeus (vor der Medea 431, v. Wilamowitz Herrn. XV 482.
R. Wagner Epit. Vatic. p. 124. M. Mayer De E. mythopoeia 59ff.).
Aiolos.
Alexandros, 415 (Robert Bild und Lied 234ff. Wentzel im
Epithalamium für W. Passow, Göttingen 1890, XXVff.).
Alkmene, vor 405, Aristoph. Frösche 93. 536 (Engelmann Beitr.
zu E. I Alkmene, Progr. Friedr.- Gymn., Berlin 1882; Arch. Studien zu
den Trag. 1900, 52 ff.).
Alkmeon in Psophis 438 (A. Scholl Beitr. z. Kenntn. der trag.
Poesie der Griechen I 132 ff. Bethe Theban. Heldenlieder 137 ff.
V. Wilamowitz De trag, graec. frgm., Ind. lect. aest. Gott. 1893, 12ff.).
Ein kurz nach Aufführung des Stückes gemaltes attisches Vasengemälde
aus Kamarina, jetzt in Syrakus, stellt die feierliche Übergabe des Rache-
schwertes durch Amphiaraos an Alkmeon dar; Orsi Mon. dei Lincei IX
1899, 238; vgl. Rizzo ebd. XIV 1905, mit tav. IV, der aber seinen
Widerspruch nach privater Mitteilung wieder aufgibt.
Alkmeon in Korinth, 406 (Basedow De E. fabula 'A. bia Kopiv0ovj,
Rostock. Diss. 1872. v. Wilamowitz a. a. 0.).
Alope (Matz-v. Duhn Antike Bildwerke in Rom II 2888; vgl.
Robert bei Preller Myth. I^ 589).
Andromeda, 412 (Robert Arch. Ztg. XXXVI 18ff. Johne Die
A. des E., Progr. Landskron 1883. Wecklein S.-Ber. Akad. München
1888, I 87ff. Bethe Arch. Jahrb. 1896, 292ff. Engelmann Arch.
Stud. zu den Trag. 63 ff. Petersen Journ. of Hell. Stud. XXIV
1904, 99 ff.).
1266 Antigone, zwischen 441 und 406 (Vogel Szenen eur. Tragödien
in gr. Vasenb. 50 ff. M. Mayer De E. mythop. 73 ff., vgl. Heydemann
Über eine nacheur. Antig., Berlin 1868. John H. Huddilston Am.
Journ. Arch. 1899, 183 ff.).
Antiope. Schol. Aristoph. Frösche 53 . . . xnv 'Avbpo|Lieöav biet
Ti be )Lifi dXXo Ti Tiuv TTpo öXiTou bibaxOevTUJV xai KaXiuv Tv|ji7tuXtic
Euripides oni
<J)oivicca)v ^AvTiOTTTic- n be 'Avbpojueba OTböiw etei irpoeicfiXeev. Wenn
es richtig ist, daß die Phoenissen mit Oinomaos und Chrysippos 409 auf-
geführt wurden (s.o. <386>zu den Phoenissen), 411 und 410 aber wegen
des TTpö oXiTou kaum möglich ist, so wäre die Antiope 408 neben
den Orest zu setzen (407 war E. fort). Für die Hypsipyle bliebe dann
auch nichts anderes übrig und wir kennten dann die Trilogie von 408
Antiope, Hypsipyle, Orestes (Jahn Arch. Ztg. XI 66 ff. Wecklein
S.-Ber. Akad. München 1878, II 170 ff. Graf Die Antiopesage 29 ff.
Mahaffy Hermathena XVII 38ff.; vgl. v. Wilamowitz Her. I^ 137,
besonders aber Weil Etüde sur le drame antique 1897, 213ff. Ganz
neuerdings A. Taccone Rivista di filol. 1905, 32 ff.).
Archelaos. Vita 2, 8 f. . . eic MaKcboviav Tiapa 'ApxeXaov
T€vö|Lievoc bieTpii|i€ Ktti xapi2^ö|Li€voc auTUj bpäjua 6)liijüvu|liu)c e"fpav|ie.
Auge, zwischen 415 und 405, Aristoph. Frösche 1080 (Wecklein
S.-Ber. Akad. München 1890, Iff. Jahn Telephos u. Troilos 52 ff.
V. Wilamowitz Anal. Eur. 186 ff. Robert Arch. Jahrb. II 246ff., vgl.
22. Hall. Winckelmannsprogr. 1898, 41ff.).
Bellerophon, vor 425, Aristoph. Acharn. 426 (Fischer Bellerophon
50 ff. Wecklein S.-Ber. Akad. München 1888, I 98 ff.).
Chrysippos, 409, Hypothesis zu den Phoenissen (v. Wilamowitz
De trag, graec. frgm. 6 ff.).
Danae, vor 411, Aristoph. Thesmoph. 21 (über den gefälschten
Anfang Wünsch Rh. Mus. LI 138 f.).
Diktys, 431 (Wecklein S.-Ber. Akad. Münch. 1888, I 109ff.).
[Epeios, nur als Titel erhalten auf dem Marmor Albanum, GIG
6047, 25.]
Erechtheus, 421 (Plut. Nik. 8. Hiller v.GaertringenWochenschr.
f. kl. Phil. 1887, 571ff. Wecklein S.-Ber. Akad. Münch. 1890, 8 ff.)
Hippolytos (I KaXuTTTÖnevoc), vor 428 (s. o. <379> zum erhaltenen
Hippolytos), aber auch noch vor 431, s.<393>zum Theseus (M. Mayer
De E. mythopoeia 65 ff.).
Hypsipyle, 408? (s.o.<390> zur Antiope; zu dem Zeitansatz stimmt
es vortrefflich, daß in den Fröschen des Aristophanes die Hypsipyle in
einer Szene stark herangenommen wird (frg. 756 - Ar. Frösche 1322
mit Schol., frg. 769 -Ar. Frösche 1305 mit Schol., s. v. Wilamowitz
Her. IP 115).
Ino, vor 425, Aristoph. Acharn. 435.
Ixion, 410-8, Philochoros bei Diog. Laert. IX 55 (das Datum von
Protagoras' Tod richtig erörtert von Jacoby Apollodors Chronik
268 f.).
392 Euripides
Kadmos (Crusius in Rosch. Lex. II 850).
Kresphontes, Aristoph. TeiupToi frg. 109 K. nach frg. 453. Die
feiüpToi fallen nach 425 und vor 421, s. Kaibel <bei Pauly-Wissowa)
1267Bd. II S. 978 (vgl. Bergk Rh. Mus. XXXV 247). v. Wilamowitz
Her. I^ 39, vgl. Ribbeck Rom. Trag. 186 ff. Vahlen Ind. lect. hib.
Berol. 1888, 16 ff.
Kreter, vor 406, Aristoph. Frösche 849. 1356 (Jahn Arch. Bei-
träge 237 ff. G. Körte Histor. und philol. Aufsätze E. Curtius gewidm.
197ff. Kuhnert Jahrb. f. Philol. Suppl. XV 192ff. Robert Der
Pasiphaesarkophag, 14. Hall. Winckelmannsprogr. 1890. v. Wilamo-
witz De trag, graec frgm. 17 f. R. Holland Die Sage von Daidalos
und Ikaros, Abh. zum Bericht der Thomasschule in Leipzig 1901/2,
Leipzig 1902, bes. S. 7 ff.)
Kreterinnen, 438 (v. Wilamowitz Anal. E. 255).
Likymnios (nach Nauck^ p. 507 bezieht sich darauf Aristoph.
Vögel 1242, dagegen v. Wilamowitz Obs. crit. in com. gr. sei. 12 f.)
Melanippe (n coqpri), vor 411, Aristoph. Lysistr. 1124 mit Schol.
Melanippe (n bec^iuTic. Ribbeck Rom. Trag. 176 ff. Wünsch Rh.
Mus. XLIX 91ff.; vgl. Beloch Herm. XXIX 605ff. v. Wilamowitz
Her. IMO).
Meleagros, vor 415? Aristoph. Vögel 831, jedenfalls vor 406.
Aristoph. Frösche 1238. 1316. 1402 (Ribbeck Rom. Trag. 506 ff,
M.Mayer De E. mythopoeia 77ff., besonders auch Kuhnert bei Röscher
Myth.Lex.II 2598ff. En gel mann Arch. Stud. zu den Trag. 76 ff. Robert
Ant. Sarkophagreliefs III 2, 275 ff.).
Oidipus, jedenfalls nach dem Oidipus des Sophokles (Robert
50. Berl. Winckelmannsprogr. 1890, 76 ff., besonders Bruhn in der Ausg.
des Soph.Oid.54ff., vgl. V. Wilamowitz S.-Ber. Akad. Berl. 1903, 589).
Oineus, vor 425, Arist. Acharn. 418 u. Schol. (vgl. Ribbeck Rom.
Trag. 301 ff. Wecklein S.-Ber. Akad. München 1890, 10 ff.).
Oinomaos, 409 mit Phoenissen und Chrysippos aufgeführt, s. o.
S. 1262 <386>f. (Kram er De Pelopis fabula 23 ff.).
Palamedes, 415 (v. Wilamowitz Her. I^ 115).
Peleus, vor 423? Aristoph. Wolken 1063 (es ist nicht aus-'
zumachen, ob der Vers der ersten oder zweiten Bearbeitung gehört).
Peliades, 455. (Robert Arch. Ztg. 1875, 134ff., vgl. E. Schwartz
De Dionysio Scytobr. 9).
Phaethon (v. Wilamowitz Herm. XVIII 396ff. Blass Diss. de
Phaethontis Eur. frgm. Ciarom., Kiel. Progr. 1885. Wecklein S.-Ber. Akad.
München 1888, I 118 ff., vgl. Knaack bei Röscher Myth. Lex. III 2 184 ff.).
Euripides ^g^
Philoktetes, 431 (Wecklein S.-Ber. Akad. München 1888,
I 127 ff.). *
Phoinix, vor 425, Arist. Acharn. 421 (v. Wilamowitz Her. I^ 38)
Phrixos, vor 406, Arist. Frösche 1225. Ein OpiHoc beuxepoc wird
erwähnt Schol. Aristoph. Frösche 1225. Etym. M. 714, 21. Tzetzes-
schol. 616 Keil, dazu v. Wilamowitz Her. I^ 42.
Pleisthenes, vor 415, Aristoph. Vögel 1232-frg. 628. Die Echt-
heit bezweifelt v. Wilamowitz Herm. XL 1905, 131ff.
Polyidos.
Protesilaos (Max. Mayer Herm. XX lOlff.).
Skyrioi (Robert Bild und Lied 34; Arch. Anz. 1889, 151. Weck-
lein S.-Ber. Akad. MOnch. 1890, 13).
Stheneboia, vor 422, Aristoph. Wespen 711. 1074 (Wecklein 1268
S.-Ber. Akad. München 1888, I 98ff.). Engelmann Annali d.Inst.l874,
35ff. Vogel Szenen eur. Trag. auf Vasenb. 85 f. Engelmann Arch. Stud.
zu den Trag. 85 ff.
Telephos, 438. 0. Jahn Telephos und Troilos 1841. Ribbeck
Rom. Trag. 105ff. Wecklein S.-Ber. Akad. München 1878, 11 198ff.
Vogel a. a. 0. 89 ff. Robert Arch. Jahrb. II 244 ff.; Bild u. Lied 146.
C. Pillin g Quomodo Telephi fabulam et scriptores et artifices veteres
tractaverint, Diss. Halle 1886.
Temenidai, vor 406, Schol. Arist. Frösche 1338.
Temenos.
Theseus, vor 422, Aristoph. Wespen 312 (v. Wilamowitz Anal.
Eur. 171f.); da Theseus mit Aigeus und Hippolytos I eine Trilogie war,
vor 431 (v. Wilamowitz Herm. XV 481ff. Robert Bild und Lied 33.
M. Mayer De E. mythopoeia 62ff. G. Körte Strena Helb. 169, vgl.
aber Robert Journ. of Hell. Stud. XX 94).
Thyestes, vor 425, Aristoph. Acharn. 433.
Bruchstücke sind erhalten von den Satyrspielen (für die ich von
vornherein auf die vortreffliche Abhandlung von Reichenbach Progr.
Znaim 1889 und die dort angeführte Literatur verweise, der ich nur
einiges Wichtigere zu den einzelnen Stücken beizufügen habe; eben
erschien Joh. Schmidt E. Verhältnis zu Komik u. Komödie, 1. Teil
Kap. 1 u. 2. Progr. Grimma 1905, wo S. 4-11 die Satyrspiele, weiter-
hin .komische Elemente* in anderen Stücken des E. behandeh werden)
Autolykos, Busiris (v. Wilamowitz De trag, graec. frgm. 18.
Radermachers Beobachtung Rh. Mus. LVII 278 ff. wäre weiterzuführen
und zu beweisen, daß der Busiris vor dem Orest gedichtet wurde,
was freilich auch so fast selbstverständlich ist), Eurystheus (Lamia
394 Euripides
nur als Titel erwähnt in unsicheren Zeugnissen, vgl. auch M. Mayer
Arch. Ztg. XLIII 119 ff.; Athen. Mitt. XVI 300 f.), Skiron (vgl.
W ernicke Arch. Jahrb. VI! 212, Reste der Hypothesis auf
einem Papyrus, Amherst Papyri II p. 60, s. o. <373X dazu Weil Etudes
de litterature et de rhythmique grecques 8 f.), Syleus, der allein
mit Wahrscheinlichkeit annähernd datiert werden kann, zwischen 438
und 424, v. Wilamowitz Her. I^ 74 (Reichenbach a. a. 0. 7ff.
und V. Wilamowitz a. a. 0. ergeben die fast vollständige Rekon-
struktion).
Der Überblick über die erhaltenen Dramen allein kann auch einige
Stufen der Entwicklung der Dichtung des E. erkennen lassen. Von
dem eigentlichen Werden und ersten Wachsen seiner Kunst freilich
wissen wir nichts; das erste Stück, das wir noch lesen, schrieb er,
als er bereits die otKjLiri des Lebens, das 45. Lebensjahr, überschritten
hatte; die ersten seiner großen Tragödien, die wir noch haben, schrieb
er, als er über 50 Jahre alt war. Wenig helfen uns die paar Daten
und die Fragmente aus der früheren Zeit, die uns wenige Stücke
einigermaßen kenntlich machen (Phaethon). Aber innerhalb der späteren
Zeit können wir einige Perioden nicht schwer unterscheiden. Ich
setze deren fünf an.
1. Die Zeit der neuen, vor allem erotischen Stoffe und Motive.
1269 Es gilt für die gesamte Dichtung des E., daß er lange nicht so wie
die beiden anderen großen Tragiker sich anschließt an homerische,
epische Stoffe. In dieser Zeit zeigt sich besonders, daß er bisher
nicht behandelte Stoffe aufsucht, von denen es heißt oder heißen
könnte Trap' oubeiepiu xeiTai. Er erobert das erotische Motiv für die
tragische Bühne, eine künstlerische Tat von unermeßlichen Folgen:
Hippolytos (den Stoff behandelt er zweimal, vor und nach der Medea)
und Medea sind die ersten uns erhaltenen Stücke, die das Dämonische
der Liebesleidenschaft und der Eifersucht im Drama darstellen. Eine
Reihe anderer Stücke dieser früheren Zeit wie namentlich die Stheneboia
und der Aiolos (der Inzest der Geschwister Makareus und Kanake war
Hauptmotiv) gehören in die Reihe der Darstellungen der gleichen
Probleme; man erkennt wie E. gerade die unheimlich brütenden Leiden-
schaften, schwüle, ja krankhafte Verhältnisse aufsucht. Gerade aber
auch Dramen, in denen die Auflehnung gegenüber der hergebrachten
Religion, der Zweifel an Walten und Dasein der Götter zum Ausdruck
kam, fallen in diese erste, uns bekanntere Epoche. Der Himmel-
stürmer Bellerophon und die Sophistin Melanippe sind die deutlichsten
Typen solcher religiösen Revolutionsdramen.
Euripides 305
2. Die Zeit der politischen und patriotischen Dichtung. Eine Ab-
grenzung dieser beiden ersten Perioden ist zeitlich schwer möglich
und die Werke beider Art gehen mannigfaltig nebeneinander her.
Wie die Stücke der Art, wie ich sie zur ersten Epoche charakterisierte,
bis weit in die 20er Jahre hineinreichen, so gehen Dramen der zweiten
Oruppe jedenfalls bis gegen den Anfang des Peloponnesischen Kriegs
zurück. Attische Stoffe hat E. in allen verschiedenen Perioden auf-
gesucht, bevorzugt gerade in dem ersten Jahrzehnt des Krieges
<Aigeus [sogar vor 431], Theseus, Hippolytos, Ion, Erechtheus [die
Zeit der Alope ist unbekannt]). Die Herakliden und die Hiketiden
sind für uns die Beispiele der Poesie des E., die die Menschlichkeit
Athens und die Herriichkeit seines Vaterlandes preist und in die
politischen Verhältnisse, wie es auch in der Andromeda zu Anfang
des Krieges geschieht, von der Bühne aus hineinspricht. Die Hiketiden,
zugleich mit dem Erechtheus aufgeführt, sind ein Festspiel zum Frieden
421, ein eTKUijLiiov 'AGtivuüv, wie schon die Alten es bezeichneten.
3. Eine Zeit der politischen Verzweiflung und des ,Weltschmerzes*,
wie man nicht ganz treffend sich ausgedrückt hat, läßt sich einiger-
maßen abgrenzen. Man mag über den Herakles subjektiv verschieden
urteilen, ob er bereits der Zeit, da er für sein Vateriand keine Hoffnung
mehr hat, angehört (s. v. Wilamowitz Her. I^ 132ff.). Sicher weist
ihn die ganze Stimmung des Dichters zwischen die Hiketiden und die
Troerinnen. Auch die Vermutung, die v. Wilamowitz ausgesprochen
hat (a. a. 0. 135), daß der Bruch des E. mit allen nationalen Hoffnungen
zusammenhänge mit der Person des Alkibiades, dem er noch 420 (die
Zeit scheint mir sicher) ein Siegeslied gedichtet hat, wird unbeweisbar,
aber wahrscheinlich bleiben. Die troische Trilogie 415 ist erklärlich
in völligster Verzweiflung an allen irdischen Hoffnungen gedichtet,
eine Tragödie des letzten Gerichts über alles Griechentum.
4. Die Zeit des bürgerlichen Schauspiels, des Intrigenstücks, des 1270
phantastischen Rührstücks. Zwar lassen sich die mannigfachen Auf-
gaben, die E., der sich mit Energie aus der weltverachtenden Stimmung
zu rastlosem Schaffen herausreißt, in diesen Jahren bis zu seinem
Abschied von der Vaterstadt sich gestellt hat, nicht unter einen Ge-
sichtspunkt bringen. Am meisten tritt hervor, daß er in einer Reihe
von Stücken Stoffe und Personen des Mythos immer mehr wie Vor-
gänge und Menschen des ihn umgebenden Lebens behandelt, denen
nur eben noch die mythischen Namen hinderiich sind, frei von den
Fesseln der Tradition des dionysischen Festspiels ein bürgeriiches
Schauspiel zu gestalten. In den Phoinissen aber schichtet er noch
396 Euripides
einmal alle Motive der thebanischen Tragödien übereinander, um ein
grandioses Rührstück zu schaffen, das im Altertum seine ungeheure
Wirkung nie verfehlt hat. 408, ehe er geht, entsagt er ausdrücklich
dem TTpaKTiKÖc ßioc in der Antiope.
5. Die Zeit des makedonischen Aufenthalts. Das charakteristische
Stück dieser anderthalb Jahre, das ganz in der neuen Umgebung
wurzelt, sind die Bakchen. Er gibt sich als Dichter dem dionysischen
Rausche ganz hin, er schwelgt in der Stimmung, daß es so schön
wäre, Frieden zu haben vor dem Zweifeln und dem Grübeln - er
starb ohne ihn zu finden. Daß der nahezu SOjährige Dichter dies
Drama schreiben konnte, wird immer ein Wunder bleiben.
Für die Gesamtentwicklung des Euripideischen Dramas ist der
Punkt am wichtigsten, daß der Widerspruch zwischen der Tradition
des Mythos und den künstlerischen Zielen und Problemen des Dichters
immer schärfer wird und schließlich das ganze Kunstwerk auseinander-
sprengt, das nur noch mit den gewaltsamsten Mitteln scheinbar zu-
sammengehalten werden kann. Am Ende dieser Entwicklung stehen
für uns Elektra und Orestes. Der Mythos war der notwendige Stoff
des heiligen Spiels des Dionysos und wie ihn E. auch modifiziert, die
traditionellen Stoffe sind zu fest gefügt als daß er sie ganz sprengen
könnte. Sein religiöses und sittliches Gefühl lehnt sich auf gegen den
Gang und die Tatsachen der alten Geschichten und er kann nicht
anders als es ehrlich auszusprechen: so verneint, verfolgt, vernichtet
er selbst den Mythos, in den schließlich einzumünden er durch die
geheiligten Traditionen seines Theaters gezwungen ist. Die Dar-
stellung der Heldensage auf der attischen Bühne hatte sich, wie jede
Kunstform zu ihrer Zeit, abgelebt, und hatte, wie natürlich, die Adap-
tierung der Heroen an die Menschen der Zeit des Dichters immer-
während Fortschritte gemacht, so war dem E. klar und unabweisbar
der Widerspruch zwischen der Lösung der alten Konflikte, wie ihn
die Sage gab und wie ihn die Sittlichkeit seiner Zeit geben würde
und geben müßte. Da konnte kein Orestes ohne Reue und Strafe
von dannen gehen. So ist sein modernes Drama, das die sozialen
und sittlichen Konflikte seiner Zeit darzustellen drängte, zu innerstem
Zwiespalt verdammt durch die Fesseln einer Tradition, die E. gar
nicht zerbrechen konnte. Was als schärfster Tadel berechtigt scheinen
mußte und objektiv auch berechtigt ist, bleibt für den Dichter selbst
1271 und sein Streben der höchste Ruhm. Der Schritt, die mythischen
Geschichten und Namen abzuwerfen und die Stoffe freizumachen, ist
von der neueren Komödie getan worden, die sich zwar nach dem
Euripides ogy
Spiel des Kratinos und Aristophanes nennt, aber die direkte Fort-
setzung der Tragödie des E. ist. Die Komödie hatte die Freiheit der
Stoffe: so konnte nur unter ihrem Titel ein modernes vom Mythos er-
löstes Drama sich bilden. Freilich waren nun für diese Komödie die
bedeutendsten Probleme der Euripideischen Tragödie nicht mehr mög-
lich. Aber sogar an der Art der Masken dieses neuen bürgerlichen
Schauspiels sieht man, wie es nicht die altattische Komödie weiter-
führt, sondern die Euripideische Tragödie (Dieterich Pulcinella 52).
E. hat in heißem Ringen dem »modernen' Drama die Bahn gebrochen.
Die dramatische Kunst des E. in Kürze darzustellen ist außer-
ordentlich schwierig. Hauptpunkte lehrt am besten die Parodie des
Aristophanes kennen, noch weniger die der Acharner und Thesmo-
phoriazusen als die ausführliche der Frösche, die uns, wenn wir von
Spott und Parteistandpunkt des Komikers und Tendenz des Stückes
abzusehen verstehen, erkennen läßt, was dem Altertume die Haupt-
punkte in der Kunst, eine Tragödie zu schreiben, waren. Spott und
Parodie geht, wie Bruns (Das literar. Porträt 154f. 159ff.) fein gezeigt
hat, nicht auf die Person, sondern auf das Wesen seiner Kunst. Es
sind zunächst ein paar scheinbar nebensächliche Kunstmittel, die für
die dramatische Technik des E. einst wie jetzt besonders charakteristisch
erschienen sind. Die Prologe mit ihrem bald im schematischen
Formalismus erstarrten Aufbau hat man immer wieder zu erklären sich
bemüht, immer wieder in neuer Verwunderung, wie ein solcher Meister
dramaturgischer Ökonomie einer so schalen Technik habe verfallen
können. Zum Besten, was zum Verständnis der Prologe gesagt ist,
gehört auch heute noch, was Lessing Hamb. Dramat. 1. Stück, 49.
und 50. Stück auseinandersetzt. E. ,ließ seine Zuhörer also ohne Be-
denken von der bevorstehenden Handlung eben so viel wissen, als
nur immer ein Gott davon wissen konnte, und versprach sich die
Rührung, die er hervorbringen wollte, nicht sowohl von dem, was ge-
schehen sollte als von der Art, wie es geschehen sollte*. Die Prologe
gaben zum voraus alles an, was zum Verständnis der Handlung zu
wissen notwendig, was dann am nötigsten war, wenn der Dichter die
Voraussetzungen des Mythus änderte und erst spätere gelegentliche
Hinweise falschen Erwartungen und Mißverständnissen nicht sicher vor-
gebeugt hätten. In der Regel kehren mehrere Teile des Prologs wieder:
die redende Person nennt sich und den Ort der Handlung (oft mit
öb€), Früheres wird erzählt, die wesentliche Handlung wird angegeben,
etwa der Furcht oder Hoffnung Ausdruck gegeben. Die Handlung des
Dramas beginnt immer erst nach dem Prolog, oft setzt sich darnach
398 Euripides
noch die Exposition fort. Man erkennt, daß der Prolog sich immer
mehr vom eigentlichen Drama loslöst und daß ihn darum E. sorglos
in rhetorischer Manier behandelt. Ein Bedürfnis, wie das nach dem
1272 Theaterzettel und auch nach einer Kenntnis der Haupthandlung überall da,
wo nicht die Spannung der Neugier des Publikums das Wesentlichste ist,
wird durch diese »Vorrede* befriedigt, und dieser KfjpuH, der das irpöciuTTov
einer oft sehr wenig mit der Handlung des Stückes verknüpften Person
trägt, gehört kaum noch zu dem Kunstwerk selbst (KfjpuH, vgl. Arist.
Acharn. 1 1 mit Schol). Die weitere Entwicklung des Prologs im antiken
Drama zeigt diese Auffassung immer deutlicher (s. bes. Leo Plautin.
Forsch. 170 ff., auch Fabia Les prologues de T^rence 1888, 60 ff.).
Die Technik der Euripideischen Prologe im einzelnen haben nament-
lich erschlossen Klinkenberg De E. prologorum arte et interpolatione,
Bonn 1881 und v. Arnim (derselbe Titel) Greifswald 1882. Gegen die An-
nahme zahlreicher Interpolationen und Erweiterungen, die nach Klinken-
b e r g die Prologe heimgesucht hätten (er schließt anUseners Ausführungen
Rh. Mus. XXIII 158 ff. an), wendet sich die Verteidigung v. Arnims.
Der deus ex machina hat von alters ähnlichen Tadel wie der
Prolog erfahren. Er hängt ersichtlich oft damit zusammen, daß die
Zerstörung des Mythus durch E. und die gänzlich unauflösbar ge-
wordene Handlung eine so gewaltsame Endigung der Handlung er-
zwingen. Nach Schrader Rh. Mus. XXII 544ff. XXIII 103ff., Kuhlen-
beck Der deus ex machina in der griech. Tragöd., Osnabrück 1874,
A. Dühr De deo ex mach. Eurip., Stendal 1875 urteilt bei weitem am
richtigsten Lindskog Studien zum ant. Drama 70 ff. Die Götter-
erscheinung am Schlüsse überhaupt hat E. nicht erfunden, und wenn
sich herausstellt, daß das einzige, was in keiner Schlußszene mit dem
deus ex machina fehlt, die Stiftung irgendeines Kults, die Gründung
einer Stadt, die Prophezeiung von irgend welchen Stammesheroen, die
Erklärung einer Verwandlungssage u. dgl, kurz irgendein aixiov ist, so
wird man annehmen dürfen, daß diese Gottesoffenbarung, die 6eia dTT^^i«»
am Schluß zum Teil noch immer mit dem aitiologischen Element des
heiligen Spieles zusammenhängt, wenn der Mythos z. B. die Einsetzung
eines Kults erklärt und darstellt. (An anderem Orte wird dieser Ge-
sichtspunkt ausführlicher dargelegt werden.)^ Es sind eigentlich nur
sechs Dramen, die ein ,natürHches Ende* haben; denn die Medea
schließt tatsächlich ck lurixavfic, in der Iphig. Aulid. trat ursprünglich
Artemis am Schlüsse auf. Es bleiben Alkestis, Troerinnen, Hekabe,
^ <S. Ericus Mueller De Graecorum deorum partibus tragicis, Rel.-gesch.
Vers. Vorarb. VIII 3.)
Euripides ogg
Herakliden, Phoinissen, Herakles. Die Alkestis nimmt wirklich eine
Sonderstellung ein, in den Troerinnen ist die Götteroffenbarung von
Poseidon und Athene am Anfang statt am Schlüsse gegeben, am
Schluß der Herakliden, der Hekabe und der Phoinissen läßt E. jedes-
mal eine der Personen göttlichen Orakelspruch verkünden oder zitieren.
Nur im Herakles kommt nichts dergleichen vor (wenn man nicht im
Schlüsse das aixiov des ,Herakles in Athen* sehen will). Es ist sehr
bezeichnend, daß E. im Schlüsse fast immer mit besonderem Eifer zu
I der heiligen Legende zurückkehrt, die er so oft selbst zuvor zerstört
I hat, und daß er offenbar bewußt an ältere Kunst (ich erinnere nur
an die Orestie und Promethie des Aischylos) anknüpfend, in für die
Zuhörer besonders reizvoller Weise das Spiel in die Erinnerung an
bekannte oder bestehende heilige Einrichtungen und heilige Traditionen 1273
einmünden läßt.
In den Epeisodien, den Szenen der Dramen, zeigt E. seine Kunst
besonders in dem kunstvollen Aufbau der Reden und Gegenreden bis
zu den kunstvoll pointierten Stichomythien, der pnceic einzelner Personen
bis zu den mit raffinierter Technik aufgebauten Botenreden (nur zwei
treffliche Arbeiten seien aus der Fülle der geringen herausgehoben:
Hirzel De E. in componendis diverbiis arte, Diss. Bonn 1862 und
Adolf Gross Die Stichomythie in der griech. Trag. u. Kom., Berlin 1905).
Der Kampf zweier Personen in Rede und Gegenrede wird in ganz
festen Formen ausgebildet und den Reden beider folgen z. B. regulär
ein paar Chorverse (meist zwei oder auch vier, einzeln drei oder fünf,
nie bloß einer), die den Aufbau der Szene markieren (so die Bemerkung
von v. Wilamowitz Her. 11^ 60). Die Sprache ist immer mehr der
des täglichen Lebens angenähert; das entspricht ganz der Gesamt-
entwicklung der Euripideischen Tragödie, die immer mehr die Realität
des Lebens ihrer Zeit eindringen läßt- Auch hier führt der gerade
Weg weiter zur neueren Komödie. Das eigentlich Charakteristische
aber der Sprache und des Stils der Dialogpartien ist das rhetorische
Element. Der Sophistenschüler ist durch und durch rhetorischer Poet.
Die ciTtuvec und dvTiXoTiai, die äfAiWai Xötujv mit allem rednerischen
Schmuck der XeHic beherrschen seine Stücke. Und zwar finden wir
bei ihm die cxn^axa XeHewc, die wir nach Gorgias zu bezeichnen
pflegen, bereits vor dessen Auftreten in seinen Stücken. 'AviiGeceic,
Trapicujceic, öiuoioTeXeuTa beherrschen z. B. ganz die ä^iiXXa Xötwv
(Med. 546, vgl. [Gorg.] Helena 13) des lason und der Medea in der
Tragödie, die schon vier Jahre vor dem Auftreten des Gorgias m
Athen aufgeführt war (M. Lechner De Euripide rhetorum discipulo,
400 Euripides
Progr. Ansbach 1874. Th. Miller Euripides rhetoricus, Diss. Göttingen
1887. P. Hermannowski De homoeoteleutis quibusdam tragicorum,
Dissert. Berlin 1881. Norden Antike Kunstprosa I 28 f. II 832 f.).
Mag man nun in Thrasymachos den sehen, der den E. im besonderen
angeregt hat (v. Wilamowitz Her. 11^ 61, vgl. E. Seh wart z De Thrasy-
macho Chalced. Programm Rostock 1892), oder sich begnügen, fest-
zustellen, daß die Sophisten schon vor Gorgias jene Kunstmittel und
Schmuckstücke der Rede kannten und handhabten (Norden a. a. 0.
29), jedenfalls zeigt es sich bei E. am deutlichsten, wie Poesie un<
rhetorische Prosa ineinander übergehen: die Sophisten sind TroiriTai
und E. ist coqpiciric. Die wichtige Beobachtung Nordens (a. a. 0.
76) darf aber nicht unerwähnt bleiben, daß die Alkestis noch ,völlig
V, frei von jenen rhetorischen Kunstgriffen* ist, von denen die Medea
wimmelt; also hat ganz akut sophistisch -rhetorischer Einfluß zwischen
438 und 431 bei E. eingesetzt.
Es mag gleich an dieser Stelle der metrischen Praxis des E. in
den Epeisodien, d. h. im Trimeter Erwähnung geschehen. Außer dem
iambischen Trimeter hat nur das der älteren Tragödie wieder entlehnte
trochäische Maß durch E. wieder stärkere Verwendung gefunden und
1274 das immer reichere Repertoir seiner Kunstmittel gesteigert: im Herakles
kommt es zuerst vor (soweit die Stücke erhalten sind; für Meleagros
und Oidipus stellt es v. Wilamowitz fest. Her. F 145), dann in den
Troerinnen und weiterhin immer häufiger (Ion, Helena, beide Iphigenien,
Phoinissen, Orestes, Bakchen, Andromeda, Archelaos, s. v. Wilamo-
witz a. a. 0.). Der iambische Trimeter wird immer beweglicher und
freier und wie die Sprache nähert sich ihre Formung im Dialogvers
immer mehr dem realen Leben an (wegen der außerordentlich fleißigen
Zusammenstellungen nenne ich hier A. Taccone II trimetro giambico
dei frammenti tragici, satireschi e comici, e dell' Alessandra di Lico-
frone, in den Memorie della R. Academia delle Scienze di Torino,
Serie II Bd. 54, 1904). Hier ist das Wichtigste festzustellen, daß die
Auflösungen und Anapäste im Trimeter nicht im mindesten eine saloppere,
laxere Praxis des E. gegen frühere Technik darstellen, sondern ganz
im Gegenteil fein gehandhabte künstlerische Mittel, einer steif werden-
den Manier zu entgehen.
Der Chor spielt bei E. für das eigentliche Drama und seine Hand-
lung eine immer geringere Rolle. Er ist für ihn ein überkommenes
Bühneninstitut, das er dramaturgisch nur noch verwendet, wenn Pausen
auszufüllen, Personen einzuführen, Abschnitte der Diskussion zu markieren
sind, um den »Monologen*, die ohne das unmöglich wären, einen Zu-
Euripides 4qj
hörer zu geben, der doch der Handlung gegenüber völlig unpersön-
licher Statist ist. E. hat feste Typen der Vertreter und Vertreterinnen
des Chors, und die weiblichen Chöre überwiegen stark (v. Wilamo-
witz Her. I^ 116). Die Chöre sind immer mehr nur e|ußö\i|ua und
könnten, ohne das Gewebe der Handlung im geringsten zu lädieren,
herausgenommen werden. Die Verselbständigung der Lieder, ja der
einzelnen Strophen ist immer mehr zu beobachten. Nun wird aber
das überkommene Institut für E. ein Vehikel, seine ganz besondere
Kompositionsbegabung, seine musikalische Kunst in der Tragödie zur
Geltung zu bringen und neben den eigentlichen Chorliedern wachsen
nun immer mehr nicht nur die koiuilioi, viel mehr noch die Monodien
einzelner Schauspieler an Umfang und brillierenden Kunstmitteln. Die
Musik gewinnt in den Bravourarien der einzelnen Sänger die volle
Herrschaft. Wir sehen das am deutlichsten an solchen Künsten, wie
sie Aristophanes verspottet, dem nachgemachten Echo, der Wieder-
holung der gleichen Worte u. dgl. (Thesmophoriazusen und Frösche).
Die Gliederung in Strophen hört auf, die Lieder sind d7ro\eXu|Lieva,
metrisch geradezu frei fortlaufende Potpourris. Diese durchkomponierten
Arien setzen sich fort in der hellenistischen Lyrik und dann in den
Cantica der römischen Komödie (s. Leo Die plautinischen Cantica und
die hellenistische Lyrik, AbhandL Gott. Ges. d. Wiss. N. F. I 7, 1897, zu E.
besonders S. 78 ff.). Der Gipfelpunkt der Euripideischen Arienkomposition
ist das Bravourstück des Phrygers im Orest (für dieses will ich wenigstens
ausdrücklich die Analysen, die v. Wilamowitz Orestie II 258 und Gott.
Nachr. 1896, 218 gegeben hat, notieren; andere Analysen euripideischer
Lieder s. in seinen Kommentaren). Die Parodie einer E.-Arie in den
Fröschen 1331 ff. stellt sich direkt neben ,des Mädchens Klage*. Die
Einführung und Ausgestaltung der Euripideischen Arien ist beeinflußt 1275
durch die neue Musik, die im Dithyrambus und der Kitharodie empor-
blühte. Die Angaben des Altertums, die den Timotheos von Milet mit
E. zusammenbringen, sind zwar auch heute noch unkontrollierbar; wie
die Kunst des E. von der des Timotheos beeinflußt ist, können wir
einigermaßen selbst sehen, wenn wir den Omphalos der neugefundenen
Perser unmittelbar, etwa wie es der erste Herausgeber ausspricht,
mit den Liedern der lokaste und Antigone in den Phoinissen, der
Elektra und des Phrygers im Orestes vergleichen (v. Wilamowitz
Timotheos Perser 100 f., über die Beziehungen von E. und Timotheos 67).
Eine brauchbare Zusammenstellung über die neumusikalische Kunst
des E. gibt das Buch von Esteve Les innovations musicales dans la
trag^die grecque ä l'^poque d'Euripide, Paris 1902.
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 26
402 Euripides
Man pflegt für die freiere Behandlung der Lieder, die immer
stärkere Vermischung verschiedener Versarten ebenso wie für das
stärkere Durchdringen freierer Bewegung des Trimeters als ungefähres
Epochenjahr 420 anzugeben, was jedenfalls, soweit eine solche Zahl
überhaupt etwas Wahres geben kann, zutrifft (die früher viel benutzten
Bücher Arnoldt Die chorische Technik des E., Halle 1878, und Buch-
hol tz Die Tanzkunst des E., Leipzig 1871, mögen auch hier wenigstens
genannt sein, und immerhin auch das Neueste, eine Hallenser Disser-
tation von R. Lohmann Nova Studia Euripidea, Diss. Phil. Hai. XV 1904).
Die Kunst des E. in dem Aufbau und der Ökonomie des Dramas,
also die eigentlich dramaturgische Technik ist noch so wenig
untersucht (neuerdings einiges Wertvolle bei Detscheff De tragoediarum
Graecarum conformatione scaenica ac dramatica, Diss. Gott. 1904), daß
hier nur geringe Andeutungen Platz finden können. Die Trilogie in
einer zusammenhängenden Handlung hat er offenbar nur selten noch
aufgebaut; wir wissen, daß die Stücke der troischen und thebanischen
Trilogie in diesem Zusammenhang standen und es ist erschlossen
worden, daß der erste Hippolytos, Aigeus und Theseus eine Trilogie
bildeten (s.o. zum Hippolytos <S. 379>, und wohl auch Herakliden, Kres-
phontes und Temenos (v. Wilamowitz Herm. XI 301 f. XVII 337 ff.).
Weiteres hierüber wagt zuletzt Paul Girard La trilogie chez Euripide, Revue
d. et. gr. XVII 1904, 149 ff. Man beobachtet dagegen, daß bei einigen Stücken
die Einzeltragödie geradezu in zwei Stücke zerfällt, die nur lose anein-
anderhängen. Freilich muß man unterscheiden, ob die Teile in der Fort-
entwicklung ihrer Handlung aufeinander berechnet sind und der erste Teil
erst die volle Wirkung des zweiten hervorbringt, wie im Herakles, oder ob
wirklich zwei Handlungen ohne innere Einheit aneinander gereiht sind,
damit ein Stück voll werde, wie es in der Andromache der Fall ist.
Solche Anzeichen einer schnellen, sorglosen Komposition der Dramen
finden sich mehrfach gerade in der mittleren Periode der Dichtung
des E. E. ist aber von alters der anerkannte Meister der Schürzung
und Lösung der dramatischen Verwicklung, der Verknüpfung der Motive
der ,verflochtenen* Handlung. Die Peripetie weiß er oft mit raffinierter
1276 Kunst zur höchsten Erschütterung wirksam zu machen, mehrfach ist
ihm dazu das ,Altarmotiv* - Hartbedrängte am Altar werden im Augen-
blick der Not, da sie am höchsten ist, gerettet - das in gleichartigen
Formen benutzte dramaturgische Mittel. Auch hier ist gelegentlich
eine Technik der Spannung gehandhabt, die keinem modernen Drama-
tiker etwas nachgibt. In der Andromache wie im Herakles gestaltet
das Altarmotiv die erste Hälfte des Dramas, im Ion nur eine Szene,
Euripides 4Qß
in den Herakliden und Hiketiden trägt es den ganzen Aufbau. Wie
er dies ältere Motiv zu den stärksten Wirkungen verfeinert, so auch
immer und immer wieder das überkommene Motiv des dvaTviupicinöc,
das in der taurischen Iphigenie seine, soweit wir die Stücke noch
haben, feinste Ausgestaltung durch E. erfahren hat (denn in Elekt'ra
und Helena ist es lange nicht so fein vorbereitet und ausgeführt).
Daß er das erotische Motiv für die Bühne erobert hat, wurde oben
kurz ausgeführt. Dies Motiv hat er in allen Hauptformen, die die
Tragödie aller Folgezeit beherrscht haben, vorgebildet, von der Liebe
der Stiefmutter zum keuschen Stiefsohn, der Eifersucht und Rache
des verlassenen Weibes bis zum Inzest der Geschwister. Zu immer
neuen Gestaltungen hat ihm aber gerade das uralte Motiv des Gpnvoc
gedient, wenn ich so alle Motive der ,Rührung*, über die E. verfügt,
zusammenfassen darf. Eine Häufung von Rührszenen und rührenden
Gestalten charakterisieren geradezu einzelne Stücke, am meisten fielen
aber schon im Altertume auf, wie uns so anschaulich die Parodie der
Acharner zeigt, die mannigfaltigen Jammergestalten: zerlumpte oder
lahme Helden, hinfällige Greise, wimmernde Kinder. Auch in kleinen
Zügen bildet sich eine völlige Typik solcher Figuren aus; über den
Typus des Greises einige Bemerkungen bei v. Wilamowitz Her. 11^
28, 46, 152, über die Kinderrollen bei E. s. Conr. Haym De puero-
rum in re scaenica Graecorum partibus, Diss. phil. Hai. XIII 222 ff. 259 ff.
Zu den Rührmotiven gehört auch das öfter als Nebenmotiv angewandte
Jungfrauenopfer (Herakliden, Hekabe, Erechtheus, aulische Iphigenie,
das Knabenopfer des Menoikeus in den Phoinissen; die Todesweihe
der Euadne in den Hiketiden stellt darüber hinaus noch ein höheres
tragisches Motiv dar). Über eine Reihe, es kurz zu sagen, patho-
logischer Motive verfügt die Kunst des E. Vor allem weiß er ganz
anders als seine Vorgänger den Wahnsinn durchaus realistisch so dar-
zustellen, wie ihn auch die alten Mediziner beschreiben (Dieterich
Rh. Mus. XLVI 30 <oben 53>f. H. Harries Tragici graeci qua arte in
describenda insania usi sint, Diss. Kiel 1891), namentlich im Herakles, der
taurischen Iphigenie und im Orest. Damit ist zweimal verbunden das
Motiv der Schlafszene. Wir wissen nicht, ob es von E. erfunden ist,
denn auch in der Eriphyle des Sophokles kam es in der gleichen
Verbindung vor (frg. 198 Alkmeon schlief), die Szene im Herakles hat
Sophokles in den Trachinierinnen nachgemacht, E. hat im Orest noch
einmal mit den Künsten der neuen Musik alle Wirkungen dieses
Motivs ausgenutzt (Dieterich Rh. Mus. XLVI 25 <oben 48>ff.). Mit dieser
Szene hängt eng zusammen die Verwendung des Motivs des körperlichen
404 Euripides
1277 Schmerzes auf der Bühne, die eine eingehende Untersuchung verdient,
und die stärkste Steigerung dieses Motivs in den Sterbeszenen, die recht
wohl eine Entwicklung erkennen lassen (einige Bemerkungen bei Diete-
rich a. a. 0. 45 <oben 67>f.). Von besonderer Wichtigkeit sind ferner die
Motive des Traums und der Orakel in den Dramen, die bisweilen eine
nebensächliche, oft dramaturgisch eine Hauptrolle spielen. Mit Recht
ist bereits darauf hingewiesen worden, daß die Orakel für die antiken
Dramen durchaus zu den rein menschlichen Motiven gehören, weil sie
für jene Menschen eine Realität sind. Auch wenn mit Untersuchungen
über die Motive, wie ich sie andeute, nicht viel zu »erreichen* ist, wie
man gemeint hat: die Entwicklungsgeschichte der dramatischen Kunst
selbst, speziell der Euripideischen, ist ein viel größeres Problem als
eine einzelne Datierungsfrage. Die Kunst der Charakteristik der Per-
sonen kann nicht in Kurzem geschildert werden, ohne auf Verhand-
lung des einzelnen einzugehen. Das Typische gewisser Personen ist
schon bemerkt worden, wie bei Kindern und Greisen (s. o. <403»,
so besonders bei Herolden, Dienern und Dienerinnen (v. Wilamowitz
Her. I^ 122; über Tyrannen s. ebd. 11^ 61; wenig Förderndes bei
Walther Heim Die Königsgestalten bei den griech. Tragikern, Diss.
Erlangen 1904, 79 ff. u. s. Joh. Schmidt Der Sklave bei Euripides,
Festschrift der Fürstenschule Grimma 1891, 93 ff. und Programm von
Grimma 1892).
Es hätte nun zum Schlüsse noch eine kurze Darlegung der Welt-
anschauung des E. zu folgen. Da sie präzis heute noch nicht ge-
geben werden kann, begnüge ich mich mit einigen Hinweisen auf die
wichtigste Literatur, die diese Fragen gefördert hat. Das Buch von
Wilh. Nestle, E., der Dichter der griechischen Aufklärung* Stuttgart 1901
kann wohl als Zusammenstellung reichen Materials gute Dienste leisten;
richtige Resultate sind von vornherein deshalb unmöglich, weil Nestle in
harmonisierendem Bestreben, aus beliebigen Äußerungen irgend welcher
Personen der Dramen, mit sorgloser Benutzung der Fragmente, ohne
den Grund zu legen durch Untersuchung der Stellen der erhaltenen
Stücke, wo nachweisbar der Dichter aus dem Stücke hinaus spricht,
ein ganz falsches Mosaikbild einer einheitlichen Weltanschauung ge-
winnt (vgl. Zielinski Neue Jahrb. 1902, 635 ff. E. Bruhn Gott. Anz.
1902, 644 ff.). Einige frühere Werke sind in verschiedener Richtung
brauchbar, die besten Decharme Euripide et son theätre, Paris 1893
(dazu namentlich Weil fitudes sur le drame ant. 93 ff.) und Kuiper
Wijsbegeerte en Godsdienst in het drama van E., Haarlem 1888, außer-
dem B erläge Commentatio de E. philosopho, Leiden 1888 und Verall
Euripides 4Q5
E. the rationalist, a study in the history of art and religion, Cambr. 1895.
Am besten aber, im wesentlichen richtiger als die genannten Werke
orientieren die paar Seiten bei Rohde Psyche II* 247ff. und v. Wila-
mowitz Her. P 22ff. (vgl. auch Gomperz Griech. Denker II 8ff.).
Über die politischen Anschauungen des E. orientiert am besten
K. Schenkt Die politischen Anschauungen des E., Ztschr. für österr.
Gymn. XIII 357 ff. 485 ff. (die meisten in Betracht kommenden Stellen,
übersichtlich angeordnet und zusammengestellt), vgl. Haupt Die äußere 1278
Politik des E., Programm Eutin 1870; viele feine, freilich auch viele
übereilte Bemerkungen bei Dümmler Prolegomena zu Piatons Staat,
Rektoratsprogr. Basel 1891. Bei den sozialen Meinungen des E.
kommt insbesondere seine Ansicht über Sklaven und seine Stellung
zum weiblichen Geschlecht in Frage. Seine freien Ansichten über die
»Menschenrechte* der Sklaven sind klar zu erkennen (sehr treffende
Bemerkungen über die sozialen Gedanken des E. über Adlige, Geld,
Sklaven, wie auch über seine politische Stellung in dem Vortrag
Ribbecks über E. und seine Zeit, Bern 1860, jetzt Reden und Vor-
träge 146 ff., der fast 30 Jahre lang das Beste war, was überhaupt
über E. geschrieben war); zum typischen Weiberfeind ist er, der vom
Weibe die tiefste Kenntnis hatte, die sich nicht ohne Erfahrung er-
wirbt, gewiß nur geworden, weil er die Äußerungen gegen die
Weiber, denen mindestens ebenso zahlreiche und ebenso starke für
die Weiber gegenüberstehen, mit so ungewohnter Ungeniertheit auf
seiner Bühne aussprechen läßt und weil der CKuOpaiiröc und aucxripöc
die längste Zeit seines Lebens aller holden Geselligkeit und allem
Weiblichen entfremdet erschien (zuletzt über Euripide et les femmes
Masqueray Revue des ^tudes anciennes V (1903) lOlff. und 234ff.,
besonders ausführlich Decharme a. a. 0. 133ff.; richtiger urteilt
Zuretti Riv. di filol. 1897, 53 ff.).
Die religiösen und philosophischen Anschauungen des E.
sind am schwersten im einzelnen festzustellen. Hier vor allem ist zu
betonen, daß der echte Dichter, der den verschiedensten Strömungen
und Stimmungen seiner Zeit nachgibt, sie fühlt und versteht, die ent-
gegengesetztesten Meinungen in seinen Stücken zu Wort kommen läßt.
Bei dem dramatischen Dichter, der dazu noch bei den rhetorisch-
sophistischen Neigungen seiner Kunst immer wieder zwei entgegen-
gesetzte Meinungen in Rede und Gegenrede vertreten läßt, wird erst
recht nicht in jedem aus dem Zusammenhang gerissenen Stücke seine
Anschauung gesehen werden können. Das tritt aber zu deutlich
immer wieder hervor, wie er mit seinem Zweifel an allem traditionellen
406 Euripides
Götterglauben ringt, wie er am Dasein der Götter selbst und an einer
gerechten Weltordnung irre wird. An ein persönliches Leben nach
dem Tode glaubte er nicht; er spricht öfters von dem Geiste, der in
den Äther, dem Körper, der zur Erde geht, ein Glaube, der damals
verbreitet war, vielleicht mit mystischen Lehren direkten Zusammen-
hang hat (Dieterich Nekyia lOOff. 104. Rohde a.a.O.). Es gibt
Stellen genug, da der Dichter ohne jeden Zweifel selbst seine Meinung
sagt, und vieles zeigt bereits Wahl und Anlage der Stoffe und Motive.
E. ist erfaßt von der ganzen geistigen und sittlichen Revolution seiner
Zeit und er spiegelt sie, ein echter Dichter, in seinen Kunstwerken
wieder. Daß dieses Kunstwerk auf den religiösen Traditionen beruht,
die für ihn vernichtet sind, daß er so die Form des Kunstwerks selbst
zerstört, indem er es mit dem neuen Geiste erfüllt und sprengt, ist
nicht seine Schuld, sondern der Zeit, die sein Leben und seinen Geist
nährte. Und derselbe Dichter kann nicht einmal, sondern öfter, ja
fast ein ganzes Stück hindurch die Stimmung festhalten und sie aus-
1279 sprechen lassen, daß der Friede des Glaubens an die väterlichen
Überlieferungen das Beste sei und nicht übermütig zu rühren an die
Grenzen, die menschlichem Wissen gesteckt seien (oft mit den für die
Tragödie ganz traditionellen Gedanken). Aus seinen formulierbaren
Anschauungen über Welt und Seele kann man am ersten die präzis
aussprechen, daß er einen Dualismus von Geist, Gott, Äther und
andererseits Stoff, Körper, Erde dachte. Manches mag durch An-
regung der Mystik, die zu seiner Zeit so stark hervortrat, an ihn
herangekommen sein, und er kennt die orphischen und ähnliche
Weihen und Verheißungen sehr wohl, wie der Hippolytos zeigt, und
besonders die Kreter, er benutzt den von pythagoreischer Anschauung
durchzogenen Epicharm (zuerst v. Wilamowitz Her. V 29, dazu Di eis
Sibyll. Blätter 34. Kaibel Com. Gr. Fr. I 133. Nestle Unters, über
die philos. Quellen des E. 601 ff., wo noch weitere Literatur verzeichnet
ist. V. Wilamowitz nochmals Textgesch. d. griech. Lyriker, Abh. d.
Gott. Ges. d. W. N. F. IV 3 [1900] 26ff.), aber er hat sich immer wieder
mit Haß von aller Mystik losgemacht und wie er persönlich die Mantik
ablehnt und verachtet, kann man deutlich aus einer Reihe von Stellen
abnehmen (Radermacher Rh. Mus. LIII 500). Die Festlegung be-
stimmter philosophischer boHai ist darum so untunlich, weil der Dichter
nicht die Sätze der Philosophen in Verse bringt und in gar manchen
Aussprüchen der eine dieses Philosophen, der andere jenes Einfluß
oder Anregung heraushört und anzunehmen berechtigt ist. Und keinem
einzigen der Philosophen, die in Betracht kommen, ist er etwa auch
Euripides aqj
nur in dem größeren Teile seiner Weltanschauung gefolgt - vielleicht
je nach der unmittelbaren Einwirkung dem einen mehr als dem
anderen -, aber dergleichen läßt sich vielfach nicht mehr feststellen.
Am meisten in Betracht kommen von Philosophen, die auf ihn Einfluß
übten, Anaxagoras (Valckenaer Diatr. 28ff. v. Wilamowitz Anal.
Eur. 163 ff.; Her. I^ 25. Weil fitudes sur le drame antique 21.
Farmen tier E. et Anaxagore, Paris 1893) und die Sophisten, unter
ihnen vor allem Protagoras (v. Wilamowitz a. a. 0. 26. Diels Fragm.
der Vorsokratiker 518). Schwierig ist es, festzustellen, wie weit der
Eindruck reicht, den E. von Herakleitos empfangen hat (v. Wilamo-
witz Her. I^ 27. 11^ 25. 279; De trag. gr. frg. 7), noch schwieriger,
wie weit etwa Archelaos Einfluß gehabt hat (v. Wilamowitz I^ 24).
Dagegen ist eine ganz sichere Beeinflussung, ja in diesem Falle fast
direkte Entlehnung einer Lehre des Diogenes von Apollonia in den
Troerinnen 884 gefunden worden (von Diels Verh. der 35. Philologen-
vers. Stettin 108; Rh. Mus. XLII 12 ff.; Fragm. der Vors. 354), was
dann ins Unsichere und Falsche übertrieben worden ist (von Dümmler
Akademika 144 ff.; Proleg. zu Piatons Staat 48 ff.); keinesfalls hat die
Einwirkung des Prodikos und auch anderer Sophisten viel zu bedeuten.
E. selbst ist in gewissem Sinne der bedeutendste Sophist, der am aller-
meisten dazu beigetragen hat, die Anschauung der neuen Zeit zu ver-
breiten und die alte Weltanschauung zu vernichten. Seine revolutionäre
Predigt geht in ihrer Wirkung nach Stärke und Dauer unendlich weit
hinaus über alles, was Protagoras und die anderen Sophisten erreicht 1280
haben. Gedanken des Xenophanes hat E. sicher gelegentlich über-
nommen (v. Wilamowitz Her. 11^ 272) und seine Gedanken werden
ihn im ganzen stark gefaßt haben. Als Zusammenfassung des in all
den eben berührten Punkten direkt zur Verfügung stehenden Materials
und dessen bisheriger Behandlung ist sehr nützlich W. Nestles Schrift
Untersuchungen über die philos. Quellen des E., Philol. Ergänzungs-
band VIII 557 ff. Außer den vorhin genannten Philosophen pflegt
noch Sokrates in den Kreis der Erörterung gezogen zu werden. Die
einen sagen, daß sich die beiden, E. und Sokrates, hätten abstoßen
müssen (v. Wilamowitz Her. V 23), und in der Tat gibt es ja auch
kaum tiefer gehende Gegensätze als die Lehre der Sokratik von der
Tugend als Wissen und die Überzeugung des E. von der Schwäche
des Fleisches und der Macht der Leidenschaften gegenüber allem
besseren Wissen; die andern meinen, daß sich die beiden Menschen-
forscher und Menschenerzieher sehr wohl hätten anziehen können,
wenn sie auch Gegenpole waren (Weil a. a. 0. 23f.); jedenfalls lehrt
408 Euripides
uns die eigene Lebenserfahrung und die Geschichte mancher Freund-
schaften ganz entgegengesetzter Naturen, daß man aus allgemeinen
Erwägungen Beziehungen der beiden Männer zu leugnen kein Recht
hat. Ein Vers wie der der Frösche 1491 wäre wohl auch unmöglich
gewesen, wenn in Athen notorisch gewesen wäre, daß Sokrates und
E. nichts miteinander gemein gehabt, ja sich abgestoßen hätten.
Jedenfalls aber darf bei allen Untersuchungen über die Weltanschauung
des E. und ihre Quellen nie verkannt werden, daß es sich um eine
künstlerische Weltanschauung handelt, die immer »eklektisch* ist -
wenn man denn dies Wort, das nur bei Philosophen anwendbar ist
und tadelnden Beigeschmack hat, durchaus anwenden will - und um
einen dramatischen Dichter, der sich in der verschiedensten Personen
Denken hinein versetzt und der sich von so mancher Stimmung,
manchem Zweifel und mancher inneren Qual loszumachen sucht, in-
dem er sie aussprechen läßt und verkörpert. Keines großen Künstlers
Weltanschauung wird sich auf das Prokrustesbett eines philosophischen
Systems, einer politischen Fraktion oder einer theologischen Konfession
zwingen lassen.
Die Nachwirkung der Euripideischen Tragödie (eine Skizze bei
Bergk Griech. Lit.- Gesch. III 565 ff., für die römische Tragödie vieles
bei Ribbeck Die röm. Trag, im Zeitalter der Republik) und die
Schätzung der Kunst des E. bei der Nachwelt kann hier nicht erörtert
werden. Aber eine Äußerung des alten Goethe, die eben in den neu
herausgegebenen Tagebüchern, 1831, 22. Nov., Weimarer Ausgabe
XIII (1903) 176, ans Licht kommt, verdient auch an diesem Orte
wiedergegeben zu werden: ,Mich wundert*s denn doch, daß die Aristo-
kratie der Philologen seine (des E.) Vorzüge nicht begreift, indem sie
ihn mit herkömmlicher Vornehmigkeit seinen Vorgängern subordiniert,
berechtigt durch den Hanswurst Aristophanes. Hat doch E. zu seiner
Zeit ungeheure Wirkung getan, woraus hervorgeht, daß er ein eminenter
Zeitgenosse war, worauf doch alles ankommt. Und haben denn alle
Nationen seit ihm einen Dramatiker gehabt, der nur wert wäre, ihm
1281 die Pantoffeln zu reichen*. So lautet Goethes Tagebuchnotiz, die er
nur wenige Monate vor seinem Tode niederschrieb.
XXV
XMr^
Da ich die richtige Deutung der Zeichen XMf geben zu können
glaube, möchte ich sie nach den Darlegungen Eberhard Nestles in
No. 12 dieser Wochenschrift gegenüber seiner Deutung Xpicxöc Mixar^X
faßpiriX nicht für mich behalten. Die dreimal ausgeschriebene Formel
des Papyrusblattes (die einzelnen Zitate wiederhole ich nicht und ver-
weise auf Nestle), das unzweifelhaft eine Zauberformel geben soll, XC
MAPIA reNNA (in der Mitte MARIA XC rGNNA) fordert Erklärung,
ebenso die in der Grabinschrift der Theodote xpicxou juapia T^wa,
nicht minder die Variante X6 MF. Änderungen wie Xpicxov Mapia
Tevvqi sind natürlich unerlaubt und versagen ja auch bei den anderen
Formen der Formel.
Das Substantiv T^vva ist mir wohlbekannt aus dem Leidener
Papyrus W: in der dort eingelegten Weltschöpfung tritt auch eine
fevva in die Erscheinung, TrdvTUJV KpaxoOca cxropav, bi y\c xd irdvxa
ecTTdpTi (Abraxas 8,17ff.); in dem Papyrus heißt es nach Abr. 174,9f.:
Icxiv Tdp Tevva KÖc^ou Kai nXiou f^pou Tewa 173,22 ist der Auf-
gang des Orion, T^vva CeXnvric ist so Bezeichnung des Neumondes).
XpicxoO Te'vva ist in der alten christlichen Literatur gebräuchlich für
Christi Geburt, auch geradezu für 'Weihnachten'. Der Kürze wegen
kann ich auf die Lexika von Ducange und Sophokles verweisen, wo
sich genügende Belege finden. Tewa heißt Geburt und Gebärerin
(der Titel des apokryphen Buches revva Mapiac ist so viel wie in
früherem Griechisch revoc M.). So allein werden die überlieferten
Formeln deutbar Xpicxöc Mapia Ttvva, Xpicxoö Mapia fevva, Xpicxe
Mapia T€vva (als Anrufung). Wie weit sich bei manchem bei dem
Xpicxöc Mapia Tevva der Gedanke an eine Tevva Trdvxujv KpaxoOca
.CTTopdv unmittelbar mit eingedrängt haben mag, ist eine andere Frage.
^ <Berliner Philol. Wochenschr. 1906 Sp. 510.)
XXVI
OuXoc öveipoc*
147 Ober die Schwierigkeit, die in den Iliasstellen B 6, 8, 22 die Über-
setzung „Unglückstraum", „verderblicher" oder auch „täuschender Traum"
macht, namentlich in der Anrede des Zeus an den "Oveipoc v. 8:
ßdcK' iGi, oö\€ öveipe, 6oäc ^iri v^ac 'AxaiOüv,
kommt man trotz aller Erläuterungsversuche nicht hinweg. Zwar ist
dieser "Oveipoc nicht der Traumgott, der selbst über gute und böse
Träume verfügt, er ist aber göttlicher Bote des Zeus (v. 26 Aiöc be
TOI otTTeXöc ei)Lii, v. 56 Oeioc öveipoc), Zeus sendet ihn und trägt ihm
auf, was er will (A 63 Kai t^P t' övap €k Aiöc ecTiv). Daß er den
Boten, der nach der Vorstellung im B stets in seiner Umgebung zur
Verfügung ist, anrede „verderblicher Traum", weil er ihm dann aufträgt,
dem Agamemnon etwas zu sagen, was diesem Verderben bringt, ist
ebenso unmöglich als die Vorstellung, daß die verschiedenen Träume,
die glückbringenden und die verderbenbringenden, als oiTTeXoi zur Ver-
fügung des Zeus ständen, aus denen er hier einen oder den „verderben-
bringenden" herbeirufe.^ Mit dem orphischen Hymnus 86, der beginnt
kikXtJickuü c€, iLidKop, TavuciTTTCpe, oijXe "Oveipe,
ÖYYeXe |Lie\X6vTUJV, evrixotc xp^c^tu ö^ |li^yict€,
konnte man nur fertig werden, wenn man von „verständnisloser" An-
lehnung an Homer sprach. Verbanden die Dichter und die Hörer gar
keinen Sinn mit oöXe? „Verderblich" wäre hier jedenfalls ganz unsinnig.
So sicher ouXoc an anderen Stellen diese Bedeutung hat (0 536,
£ 717), so ausgeschlossen ist sie hier. Mir scheint von den Bedeutungen,
148 die oöXoc haben kann (s. Brugmann Indogermanische Forschungen XI
1 <Arch. für Rel.-Wiss. IX 1906 S. 147 f.>
' Brugmann will den in der Tat anstößigen Hiat oijXe öveipe dadurch be-
seitigen, daß er oöXi' öveipe in diesen Vers einsetzt. Das ist schon darum un-
wahrscheinlich, weil davor und danach das formelhafte oOXov öveipov, oOXoc
öveipoc steht. Auf diese Weise ist der Hiat nicht zu beseitigen; man müßte zu
der Auskunft Wackernagels {Bezzenb. Beiir. IV 281) greifen ouXoc öveipe (wie
(piXoc Oj Mev^Xoe).
OöXoc öveipoc Air
1900, 266ff.)S bleibt nur eine möglich „kraus, lockig". Man weiß, wie
die Bewohner des Lichtlandes, des Sonnenlandes, des Götterlandes, die
Seligen, typisch den Strahlenkranz und auch lockiges Haar haben (Ne-
kyia 38 ff.). Noch die Seligen der Petrusapokalypse haben es (v. 10)
n T€ Totp KÖ^n auTU)v ouXn fjv. Kennzeichen idealer Schönheit ist es
auch bei Homer l 229 ff. Kcib be KdpriToc ouXac fiKe KÖ|aac (Athene dem
Odysseus, als sie ihm besondere Schönheit verleiht). Die Boten der
Götter bei Traumerscheinungen haben ihre charakteristische Typik, sie
sind als „idealschön" und Boten des Lichtlandes aufgefaßt (s. die Zu-
sammenstellungen bei Deubner De incubatione 12 f.) .^ Die Vorstellung,
die nach Odyssee du 1 1 f . :
irdp 6' icav 'ÖKcavoö re ^oäc xai AeuKciba rtiTpr\v
i\bi Trap* yieXioio irOXac Kai öfj|Liov öveipiwv
Vjicav
vorhanden war, macht, scheint mir, ouXoc „lockig" vom Traum„engel"
besser verständlich. Es ist neben den sonst vorhandenen, so ganz
anderen Vorstellungen von den Träumen (s. t 360 ff. Mutter Erde 60 f.)
geradeso möglich, wie der öveipoc bei Zeus im B überhaupt daneben
(möglich ist. Nicht nur als Bewohner des Lichtlandes irap' neXioio TTuXac,
auch als himmlischer Bote und himmlische Erscheinung von Zeus ist
der „lockige Traumgott" gedacht: eine offenbar festgewordene Wendung,
die sich nur im Anfang des zweiten Buches der Ilias für uns erhalten
ihat, dort gleich dreimal hintereinander.
^ Lukian lupp. trag. 40 (ZeOc) il^ajtaxq. töv 'AyaiLi^iLivova öveipöv riva \\t€.\jbf\
t liriTT^InHiac beweist nicht einmal, daß Lukian oöXov = \\>e\)bf\ verstanden habe,
i Er erzählt ganz einfach, was Ilias B im Anfang geschieht, wie es jeder erzählt,
ob er nun oöXoc so oder so erklärt. Fick {Die hom. Ilias 79) hat durch eine
neue Etymologie (mit lit. privilti „betrügen"; die Bedeutung „täuschend" erlangt,
die ja nach der üblichen Etymologie gar nicht ohne weiteres möglich wäre.
• Der Hesperos ist bei Kallimachos Hymn. auf Delos 302 oöXoc ^Geipaic.
iDa wirken natürlich auch die Strahlen der Sterne auf die Vorstellung ein.
XXVII
AIKA^
159 Michele Jatta hat kürzlich in den Monumenti Antichi Vol. XVI
Tav. III (Erklärung S. 517 ff., S. 29 des Sonderabdruckes, den ich der
Güte des Verfassers verdanke) ein Vasenbild aus Ruvo veröffentlicht,
das wiederum den leierspielenden Orpheus vor den Unterwelts-
gottheiten darstellt. Die sonstigen Gestalten sind z. T. andere als
auf den bisher bekannten Darstellungen dieser Art und zeigen aufs neue,
wieweit hier durch den reichen Typenvorrat Variationen möglich waren.
Die richtige Erklärung dieser Orpheusszene scheint ja nun, nachdem
Furtwängler sie vertreten hat, allgemein zu gelten, dieselbe Erklärung,
die einst, als Kuhnert und ich sie aussprachen, bitter bekämpft wurde.
Wie es so oft geht: was zuerst als Unsinn, dann als gefährlich-mystisch
galt (Milchhöfer kämpfte, als ob es den alten Panofka noch einmal zu
erschlagen gelte), ist nun selbstverständlich. - Eine Gestalt ist von Jatta
schwerlich richtig erklärt, die geflügelte weibliche Figur links oben, die
mit der Hand in die Türe faßt, vor der sie steht. Die Überschrift liest
Jatta AIKA und erklärt das als dorische Form zu 'AiKri (motus, violentus
impetus zu dicciu). Ich halte das für unwahrscheinlich, ja unmöglich
und vermute, daß entweder AIKA dasteht (die Zeichnung ist zu un-
deutlich)^ oder dastand und von dem Maler dieses Bildes falsch als
AIKA nachgepinselt ward. Die Form Aka neben h eKdxa hat nichts
Unwahrscheinliches, nicht einmal neben der links unten sitzenden Aixri
- von der AIKA ganz abgesehen stehen ja h eKdra und Aikti neben-
einander, offenbar nach verschiedenen, nun hier komponierten Teilen
verschiedener Vorlagen, die bald dorische, bald attische Inschriften trugen.
160 Man erinnere sich aber zum Verständnis der türwaltenden AiKn der
I
^ <Arch. für Rel.-Wiss. XI 1908 S. 159f., s. a. E. Harrison, ebenda XII 1909
S. 411.)
' Jatta teih mir freundlichst das Resultat einer Nachprüfung mit. La prima
lettera del nome in parola non presenta nessuna differenza dalV ultima, anzi
a me sembra maggiormente caratterizzatta come Ä, mentre offre una rilevante
differenza col A di AIKH della ftgura sottoposta.
AIKA
413
Verse im Proömium des Parmenides (11 ff. Diels, dazu die Anmerkung
S. 51):
fvGa iruXai Nuktöc xe Kai "H|uaTÖc elci KeXeiiGiuv
KQi cq)ac (m^peupov diucplc ^xei Kai Xdivoc ovbdc
aöral ö* aiG^piai irXfivTai ineYdXoici eup^xpoic.
Tüöv bä AiKTi iroXOiroivoc ^xei KXriibac djmoißouc.
Man hat längst vermutet, daß dies Proömium aus orphischer Literatur
entlehnt sei (Diels a. a. 0. 21; vgl. Mithrasliturgie 197; Dike in orphischer
Doktrin s. besonders Fragm. 125 u. 126 Abel).^ Nun sehen wir, wie
die Torhüterin Dike auch dem hinabgestiegenen Orpheus das Tor öffnet,
durch das er auf dem neuen Vasenbilde offenbar eben hindurch-
geschritten ist.
^ Zum Verständnis der „Dike alata", gegen die mir Jatta Bedenken äußert,
würde es wohl genügen auf Verse wie Arat. Phain. 133 f. (Aikt] . . . luxaG'
öiroupaviri) oder die mannigfache Verwandtschaft mit Erinyengestalten (z. B. bei
Röscher s. v. Erinys S. 1334 ff. mit den Abbildungen) hinzuweisen.
XXVIIP
DIE ENTSTEHUNG DER TRAGÖDIE
163 Die Entstehung der Tragödie ist vor zwei und einem halben Tausend
Jahren zu Athen vor sich gegangen. Mag sich etwas mehr oder weniger
Ähnliches einmal selbständig in Indien oder etwa in Japan oder irgend
sonstwo entwickelt haben, die Tragödie, die ich meine, ist eine Kunst-
form, die damals in Athen geschaffen, in einheitlicher, nie ganz ab-
gerissener Fortentwicklung noch heute lebt, von dichterischen Schöp-
fungen und wechselnden Theorien verschiedenster Zeiten und Kulturen
beeinflußt, unserer einheitlichen europäischen Kultur noch heute als eine
in wesentlichen Merkmalen definierbare Gattung dramatischer Kunst-
schöpfungen erscheint. Keine Zeit der Blüte dramatischer Kunst ist
ohne Spuren in unseren Anschauungen und unserer Dichtung dieser
Art geblieben, der Stempel des Ursprungs aber bleibt ihr kenntlich auf-
geprägt, ob wir ihn erkennen wollen oder nicht.
Auch das Wesen der Tragödie kann nur aus ihrem Werden erkannt
werden: ohne geschichtliches Verständnis des Entstehens kann jegliche
Forschung über das Wesen dbr Tragödie oder des Tragischen höchstens
die Tatsachen des heute bei uns aus der disparatesten geschichtlichen
Erinnerung und verschiedenartigster Theorie beeinflußten Bewußtseins
oder eine Art deduktiv gewonnenen Postulats gewinnen; ihr fehlt die
wissenschaftliche Basis, wenn sie nicht die Wurzeln freilegt, aus denen
164 einst Gewächse zuerst aufschössen, die niemals die Bestimmtheit in
Wesen und Form ihres ersten Wachstums verleugnen können. Theorie
mannigfaltigster Art ist für die Erforschung der weiteren Geschichte
der Tragödie von größter Bedeutung, weil sie vielfach so stark bestimmt
hat, was nach ihr geschaffen ward, aber wer wirklich die Entstehung
der Tragödie begreifen will, hat von den Theorien der Folgezeit ab-
zusehen, sie aus seinen Gedanken radikal zu entfernen, vor allem auch
die des Aristoteles, die erst ein äußerst künstliches Produkt der Zeiten
(
* <Archiv für Rel.-Wiss. XI 1908 S. 163 ff.>
Die Entstehung der Tragödie 415
ist, da die Tragödie der ersten Blütezeit zu Athen vergangen und in
ihrer Entstehung nicht mehr verstanden war.
1
Etwas ganz anderes ist es natürlich mit den tatsächlichen Angaben
des Aristoteles. Sie sind bei jeder Untersuchung über den Ursprung
der Tragödie mit Recht der Ausgangspunkt gewesen. Wir haben ja
neben ihnen nur ganz wenige Nachrichten, die wir nutzen können und
dürfen, außerdem nur eine Anzahl Denkmäler der Kunst und die alten
Tragödien selbst, deren älteste uns die Elemente zeigen müssen, aus
denen wir uns diese Kunstform hervorgegangen denken. Ja, es wird
die Fortführung unserer Fragestellung wesentlich dadurch bestimmt sein,
daß wir gewisse Bestandteile des alten tragischen Spieles als wesentlich
und immer wiederkehrend kennen.
Aristoteles läßt in seiner Poetik (c. 4) die Tragödie ihren Ursprung
nehmen ottö tojv eHapxöviujv tov biBupaiiißov. Schwerlich hat er da-
mit im Sprachgebrauch seiner Zeit, der nun mit dem Worte bi0upa|ußoc
eigentlich alle Chorlyrik umfaßte, nur sagen wollen, daß die Tragödie
in der Chorlyrik ihren Ursprung habe, und daß in dem Hervortreten
von d^ctpxovTec bei solchen Dithyramben der Anfang des tragischen
Dramas zu suchen sei. Wohl haben wir einen „Dithyrambos" des
Bakchylides (Nr. 18 bei Blaß), in dem ein eHdpxuJV gegenüber einem
Chore steht. Dieses Gedicht stammt aber auf jeden Fall aus der Zeit,
als die Tragödie längst in vollendeter Ausbildung vorhanden war, und 165
ich bin noch nicht einmal ganz sicher, daß wir hier ein Beispiel jener
bpaiLiaia TpaTiKd hätten, wie sie Pindar zugeschrieben werden. Ein
seltsames bpä|na, das doch nur als Trpooi|iiov zu irgend etwas anderem
Sinn hatte. Wie dem aber auch sei, so muß uns doch die Existenz
der Archilochosverse (fragm. 72 B*);
d)c Aiuuvucoi' dvaKTOC KaXov eHdpHai ^^Xoc
olba biGupQfißov oivLu cuYKcpauvujeeic (ppevac
immer wieder auf den Gedanken bringen, daß Aristoteles Nachrichten
von einem früheren Dithyrambos hatte und bewußt an die Kunstform
einer älteren Zeit anknüpfen wollte. Wenn bei Archilochos der terminus
technicus eHdpxeiv biGupa^ßov ebenfalls steht wie bei Aristoteles, und
Archilochos also als ein Vorsänger des Dithyrambos dem Chor der
Gemeinde gegenübersteht in der dionysischen ^Kcxacic, so ist doch dort
vor der Entstehung der Tragödie gerade der Anfang des Dramatischen
vorhanden, den Aristoteles meint, vorhanden innerhalb des Dionysos-
416 Die Entstehung der Tragödie
kultes, in dem sich die Tragödie gestaltet hat. Philochoros der Atthi-
dograph hatte die Archilochosverse zitiert mit den Worten u)c oi iraXaioi
CTTevbovrec ouk dei bi0upa)ußoOciv, dXX' öxav CTTevbuuci töv juev Aiövu-
cov ev oiviu Kai jueOr), töv ö' 'ATröXXiuva jueö' f]cuxiac Kai rdHeiuc jueX-
TT0VT6C. 'ApxiXoxoc ToOv q)Ticiv . . . Was da Philochoros hatte und
wußte, hatte und wußte Aristoteles auch. Danach werden also doch
wohl seine eHdpxovxec töv Öi0ijpa)ußov zu beurteilen sein. Das Wort
bieupajLißoc werden wir wohl nie erklären können, wie so vielfach solche
durch seltsame Verwandlungen gegangenen religiösen Gebetsrufe.
9pia)aße bi6upa)Liße steht noch in einem Dionysoslied eines der ältesten
Satyrspieldichter, biGOpaiußoc war auch Dionysos selbst, es ist Anruf
und Begrüßung des Gottes bei seiner Epiphanie, das dionysische Ho-
sianna. Und sollte nicht wirklich die Tragödie des Aischylos, von dem
es heißt jueGuiuv e-rroiei Tdc TpaTUJbiac zur Bezeichnung seines diony-
166sischen Orgiasmus, mehr Zusammenhang, als wir wissen können und
vielleicht auch Aristoteles wußte, mit den Liedern haben, die Archilochos
oTvuj cuTKepauviuGeic cppevac mit seinem Chore anstimmte?
Wie sehr die Tragödie auf der sog. Chorlyrik fußt, ist natürlich
auch ohne das klar und selbstverständlich. Die Chöre der Tragödie
mit ihrer Kunstsprache sind ja das lebendige Zeugnis ihrer Herkunft.
Es ist gut, nicht zu vergessen, wie diese Chorlyrik in mannigfachster
Weise zusammenhängt mit religiösen Begehungen, Götterfesten, Pro-
zessionen und Heroenfesten. Stesichoros besonders verherrlichte die
Heroenfeste des Westens, die Gründer und Gründungsfeste der Städte,
und seine Chorkompositionen haben in besonderem Maße die Helden-
sage übernommen und sie zum Mittelpunkt und wesentlichen Inhalt der
Chorlyrik machen helfen. Wir könnten mit dem Chorlied dieser Pro-
venienz und mit der ionischen pncic, wie sie für Attika in trochäischen
Tetrametern und lamben vor allem Solon ausgebildet hatte, die kon-
stitutiven beiden Elemente der Tragödie hinreichend angegeben glauben.
2
Die zweite Angabe, die die Poetik des Aristoteles (c. 4) über die
ersten Etappen der Entwicklung der Tragödie enthält, mahnt uns, daß
wir wesentliche Faktoren des Ursprungs noch beiseite gelassen haben:
eK XeSeuuc feXoiac bid tö ek caTupiKoO jueTaßaXeTv oipe dTrecejiiviJvGri tö
T€ lueTpov eK TETpaiLieTpou lajußeTov ef^veTO . . . Also die Tragödie ist
erst in einer der weiteren Phasen (öipe) der Entwicklung ernst geworden,
durch eine Umänderung aus dem Satyrartigen (Satyrspielartigen); sie
hat die XeHic re^oia erst verlassen und umgeändert. Das sagt Aristo-
Die Entstehung der Tragödie 417
teles, und wir mit unserem Wissen oder vielmehr Nichtwissen haben
gewiß kein Recht und keine Mittel, ihn zu widerlegen. Aristoteles hat
unmittelbar vorher, nachdem er den Satz über den Ursprung der Trag-
ödie ausgesprochen, den wir oben betrachteten, und den über den 167
Ursprung der Komödie aus den cpaXXiKd daneben gestellt hat, auf die
vielen Verwandlungen der Tragödie hingewiesen Kai iroWac jueraßoXdc
laeiaßaXoOca r\ Tpaytubia eTraOcaio, eirei ecxe Tf)v auific cpOciv. Dann
macht er einige dieser Veränderungen, einige Etappen des Ganges,
namhaft: Kai tö t6 tOuv uttokpitujv tiX^Goc eH evöc eic bOo irpiuToc
AicxuXoc fiTttTe Kai lot toO xopoO nXdiTUJce Kai töv Xötov irpujTaTUJ-
vicifiv TtapecKeuacev, rpeic be Kai CKT^voTpacpiav CoqpoKXfic. eti he tö
lneTeeoc ek iniKpiuv luOemv Kai XeHeiuc YeXoiac bid tö ek caTupiKoO |ueTa-
ßaXeiv öi|;e d7Tece)Livuv0ri. Natürlich sind diese Phasen nicht in zeitlicher
Aufeinanderfolge gegeben. Daß Aischylos schon allein durch das, was
hier angegeben wird, der eigentliche Schöpfer der Tragödie ist, kann
kein überlegsamer Leser verkennen. Was im letzten Satze steht, ist
natürlich vor ihm oder durch ihn geschehen; denn bei ihm ist die
XeHic TeXoia verlassen, aus dem caTupiKÖv umgesetzt und die Erhaben-
heit erreicht: durch ihn f\ TpaTqjbia ecxe ttjv auTfic cpuciv.
Tö caTupiKÖv bezeichnet nicht das Satyrspiel, und Aristoteles sagt
nicht direkt, daß die Tragödie aus dem Satyrspiel hervorgegangen sei;
aber daß die Art des Spieles und Tanzes und die TeXoia XeHic, wie
sie den cdTupoi eigen war, gemeint sind, liegt auf der Hand. Wann
die cdTupoi- Stücke sich in einer bestimmten Eigenart hinter der Trag-
ödie konsolidierten, wissen wir nicht. Daß die Grenzen zwischen den
cdTupoi, d. i. Satyrspielen, und den ältesten Komödien fließend, ja kaum
vorhanden waren, hat man mit Recht mehrfach beobachtet. Es wird
der Titel cdTupoi auch gerade von ältesten Komödien bezeugt, und wie
eine Komödie, vielleicht gerade die ebensolchen Titels, von Ekphantides
dem dionysischen Kreise angehörte, zeigt ein Vers des Kratinos: €ui€
KiccoxaiT' dvaH x«ip'. ^qpacK' 'GKcpavTibric Eine Komödie des Magnes
hieß Aiövucoc. cdTupoi hießen jedenfalls nicht die Böcke als solche,
sondern die vollen und füllenden Dämonen im allgemeinen, die in Tier-
gestalt phallisch nunmehr fast immer im Kreise des Dionysos umgehend 168
gedacht und dargestellt wurden. Die Pferdewesen, die wir auf der
Fran9oisvase mit ihrem Namen bezeugt und auf den über alle Begriffe
herrlichen Bildern der Schalenmaler in ihrem dämonischen, entzückenden
Treiben sehen, waren ciXrivoi; sie konnten auch mit dem allgemeinen
Namen cdTupoi genannt werden wie die dämonischen Gestalten, die
das Prototyp der Schauspieler der alten Komödie waren und sich mit
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 27
418 Die Entstehung der Tragödie
dem KUj|uoc der Tierchöre mannigfachster Art (da waren Strauße, Fische,
Schweine, Hähne, wie noch in der kunstgerechten Komödie die Wespen,
Vögel, Frösche) zu den attischen Kuujuiubiai vereinigten.
Es wäre gar nicht unwahrscheinlich, daß sich erst mit der Aufnahme
der Kiju|uujbiai in die staatliche Organisation, die wir jetzt sehr viel früher
setzen müssen, als wir früher lange es mit Sicherheit tun zu können
glaubten - wohl 489/8 -, diese verschiedenen Gruppen und Gestalten
und Gestaltungen des dramatischen Spieles fester sonderten. Aber auf
alle die einzelnen Möglichkeiten, die hier über Satyrdramen und Bocks-
chöre mannigfach, ja zum Überdruß erörtert sind, einzugehen, sei ferne;
auch das Denkmälermaterial genügt nicht oder doch noch nicht, die
Entwicklung, die gewiß mannigfach hin und her ging, zu durchschauen,
und bloße Kombinationen, denen nur gegenwärtig gerade kein Denk-
mal und keine Überlieferung direkt widerspricht, schaffen uns kein
Wissen, das uns fehlt. Aber folgende Tatsachen sind sicher: xpaYtubia
ist der Gesang der Böcke; das angesichts der wichtigen Denkmäler,
die die Böcke, hier sicher als Böcke verkleidete Menschen, um die
heraufkommende Pandora oder zur Köpr|c dvoboc um die aufsteigende
Göttin Köre oder Persephatta und um den Totenhermes, also am Toten-
feste, dem ahen Dionysosfeste, tanzend zeigen, zu bezweifeln, ist nur
noch einer Skepsis erlaubt, die keiner Urkunde weicht. Dann mag
man xpaTtubia lieber gleich als Speltgesang erklären. Und jene Anrede
169 im Satyrspiel Prometheus TrupKaeuc an den Choreuten als ipdToc, und
jene Erwähnung der Tpayou xKaiva im Kyklops des Euripides mag weg-
erklären, wer glauben kann, daß Pferdegestalten oder wenigstens
Schauspieler mit Pferdeschwanz einmal zum Scherz, wenn sich einer
den Bart zu verbrennen droht, Bock genannt oder wenn sie als Hirten
fungieren müssen, gerade ausdrücklich mit dem Bocksfell ausgestattet
eingeführt werden könnten. Daraus folgt dann allerdings, da auf der
Neapeler Satyrspielvase und einigen Bonner Vasenfragmenten tatsächlich
die Chorspieler den Schurz mit Pferdeschwänzen haben, daß eine Verände-
rung im Laufe des 5. Jahrhunderts vor sich ging. Daß auf der Nea-
peler Vase der Schurz bei den meisten aus Bocksfell gemacht ist, an
dem der Pferdeschwanz hängt, will ich nicht als ein Dokument der
Mischung beider Verkleidungen in Anspruch nehmen. Daß gerade Böcke
und Silene (Pferde) im Satyrspiele sich festsetzten, während sie aus
der Komödie - vermutlich seit der Organisation 489/8 - verschwunden
waren, bestätigt ja auch die zur typischen Verbindung gewordene Bildung
des Chores aus dem Chorführer Silen, dem caxvjpujv TcpaiiaToc, und
den Satyrn, wie sie das Vasenbild und der Kyklops des Euripides zeigen.
I
Die Entstehungf der Tragödie 4I9
TpaTUjbiai hießen jedenfalls die Stücke, die zuerst vom Staate or-
ganisiert und von Bürgern aufgeführt wurden, also da wir diese Zeit-
angabe doch wohl glauben dürfen, 534. Kamen diese Bockschöre
irgendwie von außen oder waren sie altheimisch in Athen? Schon
früher ist vielfach mit guten Gründen verteidigt worden, daß diese Chöre
aus dem Peloponnes kamen, und die Überlieferungen füber Arion
sind herangezogen, die ich hier kurz nach den Angaben bei Suidas
zusammenfasse: XeTeiai Kai TpaTiKoO TpÖTiou euperfic TevecOm Kai TipüjToc
Xopöv CTTicai Kai bi0upa)aßov acai Kai övo)Lidcai tö qtbö|U€vov uttö toO
Xopoö Kai carupouc eiceveTKeiv ^maexpa XeTovxac Diese Überlieferung
hat eine ganz andere Basis erhalten durch die Angabe einer Rhetoren-
handschrift, von der soeben Rabe im Rhein. Mus. (1908, Bd. LXIII 170
S. 150) Nachricht gibt. Da heißt es: rfic be ipaTiubiac irpiuTov bpäjua
'Apiujv 6 Me0u|uvaToc eicr|TaT€v, ujcirep CoXujv ev xaic eiriTpaqpo-
juevaic eXeTeiaic dbibaHe. ApdKUJV be 6 AajLAipaKTivöc bpä|Lid (pr|ci
TipiuTOV 'A6r|VTici bibaxOfjvai Troir|cavToc 0ec7riboc. Wenn Solon in seinen
Elegien gesagt hat - und diese Angabe der Handschrift wird niemand
bezweifeln wollen -, daß Arion die erste Tragödie aufgeführt habe, so
war das mindestens zu seiner Zeit eine begründete Meinung. Sie hätte
Athen diesen Ruhm nicht bestritten, wenn er ihm zuzuweisen gewesen
wäre. Also die erste Etappe der uns erkennbaren Entwicklung: der
Dithyrambos des Arion, von TpdToi aufgeführt oder getanzt, die Verse
sprachen. Wird noch jemand die Überlieferung von den TpaTiKoi xopoi
des Adrastos in Sekyon, die Kleisthenes dem Dionysos dTiebiDKe, auf
„tragische Chöre" im Sinne der ausgebildeten Tragödie und ihrer
tragischen Chöre verstehen wollen und nicht als „Bockschöre"? In
dem, was wir von Arion hören, vereinigt sich, was Aristoteles leider
so kurz hinstellt: er wird als eHdpxujv, ähnlich wie Archilochos, seinem
Chore gegenübergestanden haben, aber der bestand aus xpdToi, mit
allgemeiner Bezeichnung cdxupoi. Thespis führte solches Spiel in Athen
ein - aber hier waren, nach Aristoteles' Anschauung ohne Zweifel,
die XeHic TeXoia und die luOGoi fiiiKpoi. Wie kam nun das ^exaßaXeiv
Ik toO carupiKoO, das dTTOce|LiviJV€c0ai zustande? Ist es denn nicht ein
Wunder, daß aus den Bockssprüngen und Satyrtänzen das höchste
Kunstwerk, die „Tragödie" wird? Wie ist es möglich, daß aus dem
„Bockigen" das „Tragische" wird?
3
Wir haben bisher die Verkleidung in Tiere, die Tiermaske, die
Pferde und die Böcke und all das Ähnliche ohne weiteres hingenommen.
27*
420 ^^® Entstehung der Tragödie
Wie kommt denn solche Verkleidung auf? Ohne Zweifel kennt die
171 antike Komödie auch in ihren ersten Anfängen, so gut wie die Possen
und komischen Vorführungen so vieler anderer Völker, Tierverkleidung
zum Zwecke eben grotesker Komik. Noch die komische Fratze jeglicher
Art bewirkt eben das Fratzenhafte durch irgendwelche Angleichung an
das Tier. Die griechischen Physiognomiker geben davon Zeugnisse
genug, daß die Charakteristik des Gesichts durch Vergleichung mit
Tieren und Tiereigentümlichkeiten gegeben wird. So ist es nur zu
natürlich, daß jegliche Tiervermummung und jegliche Tiermaske zu Zwecken
der Komik verwendet wird.
Aber sowenig solche bloß komisch -mimische Darstellung von Tieren
irgendwo die Entstehung solcher Tiertänze zu begründen scheint, so
wenig wird das im Griechischen der Fall sein. Ein Überblick über die
Verwendung von Masken bei allen möglichen Völkern ist uns durch
mannigfache Zusammenstellungen leicht gemacht; was Andree in seinen
Ethnographischen Parallelen und Vergleichen (Neue Folge II, S. 107 ff.)
in reichen Materialien ausbreitet, zeigt uns, daß solche Masken zumal
bei primitiven Völkern - und da ist ihre eigentliche Funktion am rohesten
und darum am deutlichsten - die Träger zu Göttern, Dämonen, Geistern
(wie wir es nach unserem Sprachgebrauch wechselnd ausdrücken) machen,
die nun in irgendwelcher Begehung religiöser Art, als jene Götter,
Dämonen, Geister irgend etwas bewirken. Nicht anders sind gewisse
Schreckmasken, die Dämonen scheuchen und davor schützen sollen, zu
verstehen - es sind die Masken stärkerer oder doch für jene schreck-
hafter Dämonen. Daneben kommen andere Arten Masken, die die
Dämonen irreführen und so den Träger schützen sollen, kaum in Be-
tracht. Es wird schon jeder solche furchtbaren Masken in unseren
ethnographischen Museen in Menge gesehen haben, sei es aus Ost-
asien, sei es aus Neuseeland, sei es aus Ceylon, sei es von amerika-
nischen oder afrikanischen Völkern - sie wurden zumeist gebraucht
bei allerlei religiösen Tänzen, zumal zauberhaften Fruchtbarkeitstänzen,
172 bei allerlei Heilungszeremonien; sehr häufig stellten sie auch die Toten,
die Geister dar, die z. B. fungieren, wenn einer gestorben ist, um ihn
nun zu den anderen zu holen. Mit den sog. Perchtenmasken, die man
nicht selten in außerordentlich grotesken Exemplaren sieht - z. B. im
Museum zu Salzburg -, ist es nicht anders, und wenn früher bei uns zu Lande
in den zwölf hellen Nächten die Leute in Tiervermummungen herumgingen,
so sollten es auch die Toten sein, die jetzt auf der Oberwelt wandelten.
Primitives wird man zu Primitivem in Analogie setzen dürfen: denn
wenn bei den Griechen der Priester sich als der Gott kleidet und seine
Die Entstehung- der Tragödie 42 j
Maske aufsetzt, so fungiert er als der Gott, und die TopToveia ver-
schiedener Art sind wenig anders zu beurteilen als die Schreckmasken
der rohen Völker. Die Masken in den Gräbern freilich haben mit diesen
Bräuchen nichts zu tun, jedenfalls weder die sog. Gesichtsmasken, die
wenigstens den Kopf oder vielmehr nur die Gesichtsform als etwas
Wesentliches des Menschen, als sein Leben, wir würden sagen, seine
Seele, erhalten wollten, noch die mannigfachen Masken, die man in die
Gräber legte, und die wohl meistens apotropäisch wirken sollten. Allen-
falls hier nicht ganz fernliegend wäre es nur, wenn die Masken von
Gliedern des dionysischen Thiasos ursprünglich hier und da bedeuteten,
daß sie den Toten holen sollten in den Reigen der Seligen zu dem
Gotte.
Die tierischen Tänzer aber um den Gott, die Bockstänzer vor allem,
die wir oben erwähnten, die um den Seelengeleiter Hermes, um die
aus der Unterwelt emporkommende Köre oder Pandora oder Persephassa
tanzten, sind die Geister selbst, die Toten. Daß das Fest, an dem sie
tanzten und umgingen, das Fest der Seelen war, ist am deutlichsten
am alten Dionysosfeste in Athen, den Anthesterien, dem Blumenfest
und zugleich Allerseelen. TTiGoiTia: der Pithos öffnet sich, die Seelen
kommen empor, mundus patet; auf einem Vasenbild zu Jena steht Hermes
mit dem Zauberstaub über dem Pithos und läßt sie heraufflattern; wer
das betrachtet, zweifelt nicht mehr. Xöec: ursprünglich die Spende an 173
die Toten, es ist die iLiiapd f))Liepa, man streicht Teer an die Türen, um
sich gegen böse Seelen zu schützen. Dahin gehört auch die höchst
merkwürdige Geschichte von Orestes, der nach Athen ungesühnt kam
und nun vom König Demophon getrennt von den anderen Athenern
gesetzt wurde, die an einzelnen Tischchen ihre Spende bekamen; leider
wissen wir nicht, wie dann die Sühnung des Orestes gedacht war;
eine Seelensühnung war doch gemeint. Xuipoi: die Hülsenfrüchte werden
den Toten gespendet, man speist und feiert seine Toten, bis es zuletzt
heißt; OupaZie, Knpec, oiiket' dvGecTripia.
Dionysos selbst ist der Herr der Seelen, an seinem Feste gehen sie
um. Sein Thiasos sind eben die Seelen. Wie es einst im Altertum,
auch bei den Athenern in eins gedacht wurde, daß die Erde neu frucht-
bar wird im Frühling, daß neues Leben emporgesendet wird und die
Seelen der Ahnen aufsteigen (etwas anders ist der Glaube an die
TpiTOTTttTopec, die in der Luft umherfliegen und von da in neue Mutter-
leiber eingehen), ist uns sehr wohl bekannt. Dem entspricht es, daß
in dieser Dionysosreligion der Gott der neuen Fruchtbarkeit, des neuen
Lebens zugleich der Gott des Totenreiches und der Seelen ist, daß die
422 ^*® Entstehung der Tragödie
phallischen Fruchtbarkeitsdämonen und die Seelendämonen eins sind.
Wie lange den Athenern diese Einheit bewußt blieb? Bei den
Bockswesen um Hermes, um Pandora, Köre war sie es ihnen doch
wohl noch?
Wie man in Athen die Epiphanie des Gottes beging, wissen wir.
Das nun schon oft besprochene Vasenbild von Bologna zeigt uns, wie
Dionysos und etliche seines Thiasos im Schiff, das auf einen Wagen
gestellt ist, durch die Stadt fuhren: er war übers Meer gekommen aus
dem fernen Lande, alles neu zu beleben. Das wurde aufgeführt: wer
den Gott spielte, mußte des Gottes große Maske aufsetzen, und das ist
der Ursprung der sog. „tragischen" Maske. Dieser erste Schauspieler,
der vor den Chor trat, ist der uTroKpixric, er uTioKpiveTai unter der
174 Maske, unter dem Gotte, wie der uiroqprJTric unter dem Gotte spricht.
Jener carrus navalis, wie man wohl der Kürze halber mit einer späteren
Bezeichnung sagen darf, ist in der Tat, was die Überlieferung als Wagen
des Thespis festgehalten hat. Von Thespis wissen wir nichts sonst;
aber der Satz des Horaz Micitur et plaustris vexisse poemata Thespis'
ist nun doch richtig.
Das wäre also die zweite Etappe, die wir in allem Dunkel unter-
scheiden. Die Einführung der alten rpaTtubia nach Athen, die Arion
anderswo zuerst aufgebracht hatte.
4
Daß an dem jährlichen Feste der Toten eine Totenklage statthaben
mußte, ist selbstverständlich. Und wir wissen ja durch jene Nachricht
des Herodot von den Adrastoschören in Sekyon, die jedenfalls, ob man
nun die TpaTiKoi xopoi als „tragische Chöre" oder Bockschöre ver-
stehen mag, eine dramatisch ausgestattete, jährlich wiederholte Toten-
klage darstellten: rd TidGea eTepaipov. Die Totenklage epischer
Zeit, von der wir wissen, ist so gestaltet, daß ein eHdpxujv die Klage
beginnt und ein Chor den Refrain singt. eHnpxe töoio heißt es in
offensichtlich typischer Wendung in der bekannten Totenklage im letzten
Buche der Ilias. Ein eHdpxujv also vor seinem Chor wie der iHdpxujv
Tov biGupaiußov. Eine andere Form der Totenklage sind Wechsellieder,
zu denen der Chor den Refrain singt; zur Zeit des Epos hat man sie
auch schon den Chören überlassen, die das kunstmäßig verstanden.
Die KOjUjLioi, die Klagelieder der Weiber mit dem Schlagen der Brüste,
sind gewiß auch in Athen sehr alt. Wie ausgebildet die Gesänge durch
die Gegenchöre bei solcher Gelegenheit waren, zeigt auch eine Aus-
führung in Piatons Gesetzen (p. 947^): xeXeuTricaci be TTpoGeceic le Kai
Die Entstehung der Tragödie 433
€K(popdc KQi OriKac biacpöpouc eivai tujv ctXXujv ttoXitiuv XeuKfjv |U€V
xfiv cToXfiv e'xeiv Träcav, 0pr|vu)v xe kqi 6öup|niuv xujpic TiTvecOai,
Kopu)v be xopöv TrevTexaibeKa kqi dppeviuv erepov TrepiicraiLievouc Tf)
KXivri eKtttepouc oiov i)|livov TreiroiTmevov eTraivov eic touc iepeac ev 175
luepei CKaiepouc abeiv, eubai)uovi2:ovTac lijbf] bid rrdcTic Ttic niLiepac.
Man erkennt leicht, was die speziell Platonische Umänderung an fest-
stehenden Bräuchen ist.
Aus der Stelle des Äschyleischen Agamemnon (v. 1547 ff.) Tic b'
eTTiiO^ßiov aivov in' dvbpi Geiiu . . . irovricei - da keiner der nächsten
Angehörigen dazu imstande ist — könnte man allein schließen, daß der
Dichter einen Brauch im Auge hat, nach dem der nächste männliche
Verwandte die „laudatio funebris" zu leisten hat. Die Xötoi emTdcpioi
späterer Zeit haben dagegen in Attika ihre besondere Entwicklung.
Davon, daß an dem Dionysosfeste die Leiden des Dionysos beklagt
worden seien, kann nicht mehr die Rede sein, denn es gab keine. Die
späteren Lehren des orphischen Kultes haben jedenfalls hier keinen
Platz, und das Zerfleischen des tiergestaltigen Gottes, das es ohne
Zweifel an anderen Orten und in anderen Kulten und Riten gab, hat
im alten Athen ebenfalls keine Stelle. Der Gott, der seine Epiphanie
beging und auf dem Schiffskarren in die Stadt einfuhr, soll doch nicht
vorher oder nachher als Stier oder Bock geschlachtet sein. Höchstens
wäre möglich, daß seine Abwesenheit erst beklagt worden wäre, ehe
seine Ankunft bejubelt wurde. Das wären aber kein Opnvoc und keine
KO)a)Lioi, die wir an diesem Feste des Heros Dionysos (eXGeiv fipuj Aiö-
vuce singen die elischen Frauen bei seiner Epiphanie) annehmen müssen.
Toten- und Heroendienst waren hier eins. Haben attische Bürger den
Threnos vorgetragen? Haben sie es in den Tiervermummungen getan,
die so bald nur für heitere Darstellungen verwendbar zu sein schienen?
Wir wollen nicht Entwicklungen konstruieren, die wir nun einmal bei
völligem Mangel von Zeugnissen oder hinreichend aufklärenden Denk-
mälern nicht erkennen können.
Das aber ist ja immer und immer wieder aufgefallen, daß ein ganz
feststehender Bestandteil der Äschyleischen Tragödie der Threnos ist.
Die KOjaiuoi, die Wechsellieder des Chores oder eines eHdpxuiv und des 176
Chores, sind von vornherein in fester Kunstform da, die Dochmien
sind als ein ihnen eigentümliches Versmaß bereits ausgebildet vorhanden
im ersten koju)uöc der ältesten Tragödie (V. 347 ff. der Hiketiden) und
haben weiterhin ihre eigentliche Stelle in der wirklichen Totenklage.
Es ist der einzige Vers, den die Tragödie eigentümlich hat. Sollte er
nicht wie die Totenklage und die KO|ujLioi von jenen epnvoi des Seelen-
424 I^iö Entstehung der Tragödie
festes stammen? Die volle ausgebildete Form des Gpfivoc schließt die
„Sieben gegen Theben", eine Tatsache, die kürzlich wieder scharf be-
leuchtet worden ist. Und ich kann nicht umhin anzuführen, was v. Wila-
mowitz bei Gelegenheit des Opfivoc der „Sieben" ausgeführt hat (Comment.
metr. II p. 32, Gott. 1895): at Bacchica laetitia a naeniis tragicis procul
abest. itaque harum exemplar alibi quaerendum est. quod si planctus
Thebanorum in funere Oedipi filiorum, Xerxis in deplorando exercitus
interitu, Troadum in urbis totius excidio iambis efferri videmus, quod
Choephori et dum sacra ad tumulum deferunt et dum Agamemnonis
acerbum funus describunt, quod Peleus in Euripidis Andromacha ad
corpus Neoptolemi, Orestes et Electra in eiusdem Electra ad matris
corpus iambica cantant, eo adducor, ut legitimos hos numeros in naeniis
Atheniensium fuisse credam. pompas enim funebres maximo cum ap-
paratu et opulentissime et religiosissime antiquitus ab Atheniensibus
institutas esse vascula picta luculenter demonstrant, neque obmutuerunt
naeniae, cum Solonis sapientia nimiam funerum luxuriam recidisset. testi-
monia quidem me deficiunt, sed nescio an ipsae interiectiones aiai itb
iiu TtaTraT ototototoi iambicum numerum testentur haud secus quam
eXeXeO anapaestis convenit, qui exercitibus impetum facientibus accine-
bantur. Die Dochmien stellen sich ganz von selbst neben diese lamben
man denke nur an die Klage des Xerxes in den Persern.
Aber wie kommt denn die Tragödie zur Aufnahme der naenia als
177 eines Hauptstücks ihrer ganzen Komposition? Die einzelnen Totenklagen
muß das jährliche Totenfest durch eine Gesamtnänie der Bürgerschaft
für ihre Toten repräsentiert, zusammengefaßt haben in einem Gpfivoc,
der vielleicht früher mannigfach von einem ausländischen Chormeister
komponiert war, so wie so manche Chorlyriker - ich will wenigstens
wieder Stesichoros ausdrücklich nennen - ihre Dichtungen für die
Heroenfeste der Städte schrieben. Manches derart mochte auch in
Athen in den kukXioi xopoi am Dionysosfeste fortleben.
Das Element des Threnos in der alten Tragödie läßt sich keinesfalls
daraus erklären, daß etwa wie in den Dichtungen des Stesichoros nun
die Heldensage zum Inhalt der Tragödie gemacht wurde. Auch das
ist eben nur dadurch zu begreifen, daß das Spiel am Heroenfest er-
wuchs, und auch, wenn die Heroensage gar nicht der Gegenstand des
Stückes ist, ist es der Öpfivoc, der alles beherrscht. Wie will man die
„Perser" anders verstehen als so, daß der Dichter, der den Sieg der
Athener, den er wohl in einem Lied hätte feiern können, aber nicht in
einer TpaTtubia, die geniale Idee faßt, den Stoff für die Formen seiner
Tragödie so zu gestalten, daß er den Gpfivoc der „Perser" vorführt und
Die Entstehung der Tragödie 425
dadurch die so überaus bewundernswerte Erfindung des indirekten um
so wirksameren Preises der Größe Athens macht? Aber wir vergessen,
daß der Ruhm der ersten Erfindung dieser feinen Motivwendung dem
Phrynichos gehört, der in den „Phoinissai" dem Aischylos vorangegangen
war. Und eben Phrynichos hatte auch schon länger vorher, bald nach
494, einen Versuch gemacht, den man nie wird verstehen können, wenn
man nicht die Grundbedeutung des Threnos für diese alte Tragödie
gewürdigt hat. Er führt die MiXrjxou ctXujcic auf. Man wird doch nicht
mehr reden, als habe Phrynichos plötzlich den Versuch gemacht, eine
historische Tragödie aufzuführen. Alle diese alten Spiele waren noch
gar keine „Dramen", eher Oratorien; überwiegend die Lieder, meist
eben Klagelieder des Chores, und Erzählungen und Berichte. So wird
es mit der Einnahme Milets gewesen sein: Phrynichos hat beim nächsten 178
Totenfeste den epfivoc den Toten von Milet singen lassen: mehr als
die Berichte von dem Furchtbaren und die Klagelieder wird das Stück
schwerlich enthalten haben.
Phrynichos kam in Konflikt mit der Bürgerschaft, so erzählt Herodot ;
sie hätte ihn bestraft, weil er sie an okriia erinnert hätte. Alles sei
in Tränen ausgebrochen. Von den weiteren mannigfachen Überlieferungen
hat wohl nur noch eine gewisse Bedeutung das Sprichwort Opuvixoc
TTxriccei bei Aristophanes' Wespen (1490 s. Schol.), das auf dieselbe
Angelegenheit geht und uns doch wohl auch abhält, diese Überlieferung
ohne weiteres als lauter Schwindel beiseite zu schieben. War das ein
mißlungener Versuch des dTroc€|Livuvec0ai? Jedenfalls war es ein be-
deutsames Experiment in diesen ersten uns so dunklen Entstehungs-
zeiten der Tragödie. Zum Drama war die Tragödie noch ganz und
gar nicht vorgedrungen, sie war in diesen Versuchen, die Phrynichos
mit Phoinissen und MiXniou äXujcic machte, ein epnvoc. Aischylos
siegte zuerst 8 bis 10 Jahre nach der Aufführung der MiXr|Tou aXojcic,
jedenfalls ungefähr 10 Jahre nach dem Ereignis der Einnahme Milets.
Damit hatte sich doch wohl das Neue, Große, das er schuf, durch-
gerungen.
5
Aischylos hat den zweiten Schauspieler eingeführt und dem tragischen
Spiel die Heldensage zum festen Inhalt gegeben. So hat man mit Recht
das bezeichnet, was eigentlich die Schöpfung der attischen Tragödie
ausmacht. Nun mußte ja von selbst das Wesentliche dramatischen Spieles
sich schnell entwickeln, die Aktion sich entgegenstehender Faktoren
sich gestalten, eine Handlung sich abwickeln, die künstlerisch zu einer
426 Die Entstehung- der Tragödie
Einheit und einer „Ganzheit" werden muß, die Anfang, Mitte und Ende
hat. Aber ein Wesentliches, das in der attischen Tragödie alsbald, schon
im ältesten uns erhaltenen Stücke, als fertiges Kunstmittel uns entgegen-
tritt, ist mit der Dialogisierung und Dramatisierung von Teilen der Helden-
179 sage, die zu einem in sich abgeschlossenen Ganzen verbunden werden
können, noch nicht ohne weiteres gegeben. Und doch handelt es sich
hier geradezu um das „tragische Moment" der griechischen Tragödie,
„welches das Wollen des Helden und damit die Handlung durch das
plötzliche Einbrechen eines zwar unvorhergesehenen und überraschenden,
aber in der Anlage der Handlung bereits gegründeten Ereignisses in
einer Richtung forttreibt, welche von der des Anfangs sehr verschieden
ist" (Freytag, Technik des Dramas, S. 90, Ges. Werke, Hirzel 1897,
XIV. Avonianus, Dramatische Handwerkslehre, 2. Aufl., 134 ff.). Es ist
die künstlerische Konzentration des Fortschritts, der Entwicklung einer
Handlung, die tatsächlich zu immer größerer Schärfe und Feinheit
herausgearbeitet, ein Wesentliches der alten Tragödie ausmacht. Bei
Sophokles hat diese Peripetie ganz typische Formen ausgebildet, wenn
möglichst vor dem Umschlag noch einmal die Gegenstimmung aufs
schärfste herausgearbeitet wird, scheinbar Befreiung von aller Angst,
ein dionysisches Tanzlied, und dann mit plötzlicher Wucht der ver-
nichtende Schlag. Jeder weiß, wie im König Oidipus das jubelnde
Liedchen, das der erlöst aufatmende Chor singt, eirrep ifd) ludvTic ei)Lii,
keine hundert Verse absteht von dem furchtbaren Klagelied über Menschen-
elend iu) T€V€ai ßpoTÜuv, nachdem alles am Tage ist. In der antiken
Theorie ist irepiTreTeia schon bei Aristoteles ein streng feststehender Ter-
minus, der dort neben dvaTvujpicjuöc steht, natürlich eine für die antike
Tragödie sehr wesentliche, besonders sorgfältig ausgestaltete Form der
7T€pi7TeT€ia. Zunächst und eigentlich für die ganze Zeit der altattischen
Tragödie bleibt es einerlei, ob die Peripetie vom „Guten zum Bösen"
oder vom „Bösen zum Guten", um es banal, aber kurz auszudrücken,
sich vollzieht, jedenfalls blieben beiderlei TrepiTrexeiai möglich und wurden
beide Arten gehandhabt. Ein Stück wie die Perser hat keine Peripetie;
denn daß die schlimme Nachricht, die vom Anfang vorbereitet ist, nun
180 wirklich hereinbricht, kann man kaum so nennen; in den 'GTird kann
man nur dahin rechnen, daß bis zu allerletzt der Hauptschlag, der
Brudermord, aufgespart und daß der Bote des schwersten Unheils erst
hinter der Meldung von der Rettung der Stadt die furchtbare Meldung
herniederbrechen läßt. Im Prometheus ist der Schluß, das Nieder-
schmettern in die Tiefe, die Peripetie; im Agamemnon ist es der Mord
und in den Choephoren der dvaTVujpic|uöc, in den Eumeniden die Ent-
Die Entstehung der Tragödie 427
Sühnung und Lösung des Orest; die ganze Wandlung der Erinyen zu
den Eumeniden, des Fluches zum Segenslied ist die eindrucksvollste
Peripetie. Da in der antiken Tragödie sich nie oder fast nie irgend-
welche materielle Spannung an die Peripetie knüpft, so ist auch dieses
Hauptmittel der Bewegung der Handlung, dieser Angelpunkt des Dra-
matischen viel mehr sozusagen formal künstlerisch ausgebildet, als die
der antiken nachgemachten Peripetien der Dramen späterer Zeiten.
Am merkwürdigsten ist aber die Peripetie in den Hiketiden des
Aischylos. Die Sage gab an die Hand, daß die nach Argos geflohenen
Danaertöchter doch von den Aigyptossöhnen, die ihnen folgten, in die
Gewalt gebracht und zur Ehe gezwungen wurden. Dann erst kam die
blutige Peripetie der Brautnacht, die für Aischylos natüriich in der
ganzen Trilogie die wesentliche Peripetie war, zuletzt noch die Recht-
fertigung und Freisprechung der Hypermestra. Das Expositionsstück
gestaltet er nun aber so, daß die in höchster Angst den Altar um-
drängenden Danaiden mit dem König der Stadt verhandeln, ob er ihnen
beistehen will — absichtlich muß der König noch einmal in die Stadt
zurück, um das Volk zu fragen (die Einführung dieses demokratischen
Königs hat nur dramatischen Zweck), es wird alles zur höchsten Not
gesteigert, da Danaos die Aigyptossöhne landen sieht, der Herold und
seine Horde bedrängt sie bis zum äußersten Höhepunkt der Not: da
sie gerade zum Schiffe getrieben werden würden, da der Herold mit
seinen Bütteln sie zu packen sich anschickt
KHP, ^XHeiv eoix' iJ|Liac dTTOCTrdcac KÖjaric 181
i-nei oi»K dKOuer' oHu tüuv djuiuv Xötujv
und sie klagen:
biuj\öjuec0' • deXTTT', dvaH, Trdcxoiuev.
der Herold droht:
TToXXoiJC dvaKTttc, TTaibac MtOtttou, xdxa
ÖM^ecee* GapceiT*, ouk epeii' dvapxiav, -
da tritt der König aus der Stadt mit seinen Bewaffneten auf: oijtoc,
Ti TTOieTc, und rettet sie. Sie ziehen dankbar und eriöst in die Stadt.
So schließt das Expositionsstück, obwohl ja das folgende Stück damit
beginnen mußte, daß die Befreiung nur voriäufig war und sie doch in
die Gewalt der Verhaßten kamen. So wird besonders deutlich, wie
solche feste Kunstform der Peripetie vorhanden war, daß hier ein Stoff
danach gestaltet wurde, der ihr widerstrebte. Dieselbe Art Peripetie, das
sog. „Altarmotiv", wie ich es früher einmal <S. 402> genannt habe, geht
dann wie formelhaft in der griechischen Tragödie weiter und wird von
428 ^^® Entstehung der Tragödie
Euripides in Andromache und Herakles als bereitstehendes bequemes
Mittel, die Tragödie auszubauen, gebraucht.
Die Schutzflehenden sind das älteste Stück des Aischylos, vor 480
aufgeführt. Man kann wohl annehmen, daß er das Peripetiemotiv schon
damals so fein und typisch ausgebildet habe, wie es die Hiketiden eine
widerstrebende Handlung umgestaltend und gliedernd zeigen.
. 6
Sollte nicht gerade in diesem Punkte eine Anregung gekommen
sein von Aufführungen, die es bereits vor Aischylos gab? Es ist mir
schon lange seltsam vorgekommen, daß man bei Erörterung des Ur-
sprungs der Tragödie mit keinem Worte mehr der bpuijueva von Eleu-
sis gedenkt. Man hat wohl früher ihrer auch in diesem Zusammenhange
182 Erwähnung getan, aber es scheint die Stimmung, die jeglichen Mysterien
und jeder Betonung des Einflusses von Mysterien Kreuze schlagend aus
dem Wege ging, es scheint mir der Gegenschlag gegen die Verirrungen
von Creuzer bis Panofka daran schuld zu sein. Und doch ist es schon
für allgemeine Erwägung schlechterdings undenkbar, daß das Aufwachsen
der ersten Tragödie ohne jeden Zusammenhang mit der Vorführung,
den bpdjuaTa oder bpuujueva, die so viele gut kannten, vor sich gegangen
sei. Wir wissen ja leider sehr wenig von dem, was in jener Zeit in
Eleusis vorgeführt wurde, aber wir haben den Hymnus auf Demeter,
der doch offensichtlich eine in die Form des Epos transponierte Dar-
stellung der heiligen Aktionen von Eleusis ist. Das Verschwinden der
Köre, das Irren und die Trauer der Demeter, die Tröstung der Demeter,
der KUKeujv, die Rückkehr der Köre u. dgl. kamen sicher vor. Ich will
alles Spätere beiseite lassen, obwohl gewisse Wechsel von Dunkel und
Licht, obwohl gewiß der dumpfe Klang eines ehernen Schallbeckens,
das der Hierophant schlug, wenn sie die Köre anriefen, auch für frühe
Zeit sehr wahrscheinlich sein dürften (Apollodor im Theokritscholion II,
36). Demeter und Köre wurden sicher dargestellt; gewiß ist es, daß
sie von Priestern dargestellt wurden. Aber ob und was sie sprachen,
gehört schon für den ganz Vorsichtigen zum Unsicheren. Sicher sind
nur die Chöre und die Prorrhesis des Hierophanten, also eigentlich
Vorträge in der Art der epirrhematischen Komposition, wie wir in der
alten Komödie uns auszudrücken pflegen. Die irpöppTicic in den Fröschen
mit dem eiicpriiueTv xpn und den lakchosliedern kann doch wirklich nur
nach solchen Mysterien gestaltet sein. Aber ich verfolge nichts von
dem allen weiter. Das eine ist ganz sicher, daß das Wesentliche dieser
bpiu|Li€va der Umschlag von Trauer zur Freude war: die Klage um die
Die Entstehung der Tragödie 429
verschwundene Köre, die Trauer der Demeter — der Jubel über die
Wiedergefundene, die wieder Heraufgekommene.
Diese Peripetie des Dramas von Eleusis war allbekannt. Sie hatte 183
dort religiöse Bedeutung für die Gläubigen, die eben dieselbe Peripetie
erstrebten und in irgendwelcher Weise mit der Peripetie der heiligen
bpw^eva sakramental verknüpft wurden. Wir wissen ja manches davon,
was ich hier nicht zu wiederholen brauche. Der Geist des Kultes der
eleusinischen Mutter alles Lebens, der Menschen und der Erde, deren
Kind auch der wird, der sich ihr weihen läßt, der dort „schaut" und
ein zweites Leben gewinnt, wurzelt vornehmlich in der Peripetie von
Trauer zum Jubel, vom Tod zum neuen Leben. Man sagt nicht zu viel,
wenn man behauptet, daß das in allen ähnlichen bpaj)U€va und bpctjuaia
- bpäv wird in dieser Sphäre nur im Sinne liturgischer Aktion ge-
braucht, bpdiinevov differenziert sich da vom weltlichen bpäjLia - der
immer wiederkehrende Umschwung ist, der dargestellt und dadurch für
die teilnehmenden Geweihten zwingend gemacht wird: vom Verloren
zum Gefunden, von Nacht zum Licht, vom Tod zum Leben. Erinnern
wir uns nur flüchtig der Mysterien des Attis, Adonis, Osiris, Dionysos,
erinnern wir uns des Dramas der christlichen Messe.
Es war und ist das große weltbeherrschende Mysterium. Was wir
von antiken Liturgietexten wissen und noch haben, ist fast alles Aus-
druck dieses Gedankens; eqpuYOv koköv, eijpov ajuewov, — vuinqpie,
XaTpe, veov q)U)c — eupriKajuev cuTxaipoMCV — Gappeire inijCTai toO Oeou
C€cujc|i€vou, kiai TotP ti|liTv ek ttövou cujiripia. Das ist die Peripetie
Ktti' eHoxriv. Und mögen wir von Eleusis und seinem heiligen Drama
noch so wenig wissen, das wissen wir, daß die Peripetie von der Trauer
der Demeter, die die Tochter sucht, zum Jubel der Demeter, die die
Tochter gefunden hat, mit den zugehörigen Klage- und Jubelliedern
dort das Wesentliche war. Daß dies so vielen Athenern Wohlbekannte,
alljähriich Wiederholte ganz ohne Wirkung auf ein in Athen sich ge-
staltendes, ernst werdendes, einen epnvoc von der Totenklage wie auch
immer zum Hauptbestandteil übernehmendes bpä)na hätte bleiben können, 184
werden wohl schon nach diesen allgemeinen Erwägungen wenige be-
haupten wollen, und wohl nur die, die immer noch nicht glauben, daß
wir ganz kühlen und unmystischen Geistes die Bedeutung der antiken,
auch der eleusinischen Mysterien abzuwägen imstande sind.
7
Aischylos, der Schöpfer der attischen Tragödie, war aus
Eleusis.
430 Diö Entstehung der Tragödie
Ihn läßt Aristophanes in den Fröschen, bevor er in den Kampf um
den Vorrang in der tragischen Kunst mit Euripides eintritt, beten (886 f.) :
Ar|jar|Tep r\ Gpeipaca Tf]v ejufiv cppeva
eivai lue tujv cujv dHiov juucrripiujv.
Aristophanes hatte doch irgendeine bestimmte Vorstellung von den Be-
ziehungen des Aischylos zu Eleusis und zu den dortigen Mysterien,
wenn er ihn in diesem Augenblicke so beten läßt, in dem er ihn ja
zu jeder anderen Gottheit beten lassen konnte.
Eine uns bei Athenäus (p. 21 e) erhaltene Notiz sagt: Kai AicxOXoc
be Ol) )Liövov eHeOpe Tf)v ttic cxoXfic euTTpeireiav Kai cejuvÖTTiTa, f\v lr\\w-
cavTCc Ol lepoqpdvxai Kai baboOxoi djucpievvuvTai. Daß es unmöglich
ist, daß die darstellenden Priester in der viel älteren Liturgie von Eleu-
sis ihre Tracht von der Aischyleischen Tragödie übernommen hätten,
braucht man nicht erst darzulegen; es konnte nur umgekehrt sein. Die
CToXr) ist ja ohne Zweifel ursprünglich ein sakrales Gewand. Jedenfalls
aber bezeugt uns diese Angabe, daß die Ähnlichkeit beider Trachten
auffiel. Die Sachkenner pflegen ja zu dem Urteil zu gelangen, daß
Aischylos in allem Wesentlichen die Ausstattung des tragischen Spieles
für die Folgezeit bestimmt habe.
Eine Nachricht, die in mannigfachen Varianten auf uns gekommen
ist, besagt, daß Aischylos angeklagt oder verfolgt sei infolge von Nach-
185 ahmung der Mysterien. Wir können auf alle die einzelnen Erzählungen,
wie im Theater deswegen ein großer Tumult losgebrochen sei und man
den Aischylos beinahe gelyncht hätte, wenn er nicht zum Altar des
Dionysos geflohen wäre, nicht bauen. Aber die Nachrichten allesamt
unter die Fabeln zu verweisen, geht schon deshalb nicht wohl an, weil
schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (III 2, p. IUP) darauf
anspielt. Und keiner hat es auch, soviel ich weiß, wagen mögen, die
Nachrichten so zu behandeln. Man erkennt so viel, daß man auf der
Suche war nach einem Stück, in dem er die Mysterien profaniert haben
könnte, und daß immer wieder andere genannt werden. Das wäre sehr
verständlich, wenn es sich eben nur um die Übernahme gewisser An-
regungen in Form und Aufbau der dramatischen Spiele, vielleicht auch
in der Form der dort stehend gewordenen Gpfivoi und KO|a|uoi, und
etwa in der reichen Festtracht der darstellenden Priester, d. h. nur der
langen Stola, handelte. Ich will nichts zu wissen versuchen, was wir
nun einmal nicht wissen, aber ich frage, ob die Nachrichten, die ich
vorführte, nicht doch in dem Zusammenhange, in den ich sie stellte,
mehr lehren als bisher.
Die Entstehung der Tragödie 43j
Natürlich kann keine Rede davon sein, daß Aischylos dTröppriTa von
Eleusis übernommen hätte. Aber das mag doch kein Zufall sein, wenn
er gerade die tiefste Grundlage eleusinischer Religion, den Glauben an
die alles gebärende, wiederaufnehmende und wiedergebärende Mutter
Erde, öfters ausspricht oder andeutet. Es hat fast einen geheimnisvoll
liturgischen Klang, wenn die schutzflehenden Mädchen in ihrer Not,
zweimal im Refrain, rufen (890 ff., 899 ff.):
Mct rä, )Liä r«, ßoäv
qpoßepöv dTrÖTpeire,
u) ßä, räc Tiai, ZeO,
wenn Elektra betet (Choeph. 178 f.):
Ktti falav auxriv, fi td iravTa TiKTexai,
Qpi\\iacd T auOic Tiuvbe KÜjaa Xaiußdvei.
Aber aus diesen und noch anderen Stellen (Mutter Erde 37 ff.) 186
würde ich um so weniger irgendwelche Forderungen zu ziehen wagen,
als ich ja selbst früher nachgewiesen habe, daß es sich da auch um
allgemeinen attischen Volksglauben handelt.
8
Irgendeine Einwirkung der bestehenden Liturgie von Eleusis auf
die werdende Liturgie des Dionysosfestes hat jedenfalls alle allgemeine
Wahrscheinlichkeit für sich. Die Liturgie des Dionysosfestes - ich
brauche das Wort Liturgie der Kürze halber für ein Ganzes von Hand-
lungen und Gebeten, die im Dienste einer Gottheit ausgeführt werden,
und schließe mich damit unserm Sprachgebrauche an - bestand ja
offenbar aus einer Reihe von verschiedenen Teilen, der Feier der Epi-
phanie des Gottes, den Tiertänzen, der Totenklage und wohl noch einigem
anderen, was uns hier nicht angeht. Die xpaTiubia entwickelt sich ja
eben als die Liturgie. Sie hat sich zum Burlesken gewendet, und erst
in weiterer Entwicklung hat sie sich zum Erhabenen, zum Ernste durch-
gerungen. Zugleich wird sie immer mehr „verweltlicht", nur der
Heroenmythus bleibt weiterhin obligatorisch als Inhalt. Als „Liturgie"
ist sie immer empfunden worden, nur ist natürlich die Freiheit der
Bewegung innerhalb immer weiter gesteckter Grenzen von Euripides
bis zur Zerstörung der Zwecke gesteigert worden, die einst das heilige
Spiel hatten entstehen lassen.
Freilich muß man durch die Vorstellungen primitiver Religion auch
nicht die älteste Tragödie der Griechen verstanden zu haben glauben.
432 ^^® Entstehung der Tragödie
Das wirkliche Wesen der alten Tiertänze im Frühling, die zugleich
Fruchtbarkeits- und Seelentänze sind, versteht man nicht ohne sie, und
gewiß hat die griechische Tragödie insofern dämonischen Ursprung.
Die Elemente, die da am dunkeln Anfang stehen, kehren in der ganzen
Welt immer wieder. Aber nun weiter die griechischen Produkte einer
187 schon weit voran entwickelten Kunst durch bestimmte primitive Vor-
stellungen etwa eines noch dazu so besonders weit - ich meine nicht
bloß räumlich - abgelegenen Volkes wie der Mexikaner aufklären zu
wollen, erweist sich sofort als Hineindeutung gänzlich heterogener Vor-
stellungskreise. Ohne den „dummen Zauberglauben" kann man freilich
auch die hellenische Religion nicht, so wenig wie irgendeine andere,
verstehen, aber mit mexikanischen Phallustänzen und Fruchtbarkeits-
riten hat man wohl auch Analogien zu griechischen Phallustänzen
und Fruchtbarkeitsriten, die wir ja so wie so massenhaft in
der Welt haben, aber sonst nichts, nichts für das Verständnis des
Werdens der griechischen Komödie oder Tragödie. Die Aufführung
der „Liturgie" hat ursprünglich gewiß lange noch die Vorstellung be-
gleitet, daß sie etwas Bestimmtes bewirke, eine sakramentale Wirkung;
bei szenischen Spielen bleibt das merkwürdig lange haften, auch wenn
längst, was gespielt wird, keinen Anhalt mehr für eine solche Vorstellung
gibt. Das ist mir nie klarer geworden als durch eine Mitteilung Snouck
Hurgronjes, des unvergleichlichen Kenners mohammedanischen, im be-
sonderen auch javanischen Lebens. Ist dort z. B. ein Kind krank, so
wird der Mann, der das Schattenspieltheater hat und spieh, gerufen,
er spielt ein Stück, in dem ein Kind geheilt wird (je nachdem aber
auch eins, in dem gar keine Beziehung mehr zu dem vorliegenden
Falle vorkommt), und reicht am Schlüsse dem Vater des Kindes die
Hand: dann geht eine Wirkung über, und man glaubt, daß nun das
kranke Kind gesund werde. Im Altertum war die typische Vorstellung
lange vorhanden, daß die Spiele die Götter besänftigen könnten; eine
pestüenüa war es ja, die in Rom ludi scenici einführte, inter alia cae-
lestis irae placamina , wie Livius sagt (VII, 2). Aber im Athen des
fünften Jahrhunderts hat man schnell die Entwicklung durchlaufen, die
von dem Glauben an die sakramentale Wirkung bis zu einer allgemeinen
Empfindung religiöser Erbauung zu führen pflegt. Eine Wirkung, die
188 religiös war und wir jedenfalls religiös nennen würden, eine Besserung
und „Bekehrung" und Belehrung, sollte die Tragödie immer erreichen,
wenn wir nur den Beigeschmack ins Banalmoralische oder Engkirchliche
uns ersparen könnten, den diese Worte bei uns haben. Die Empörung
gegen Euripides bei allen, die an dem ernst -religiös wirksamen Cha-
Die Entstehung der Tragödie 433
rakter und der Besserung und Erbauung durch das Spiel festhielten,
können wir uns ja nach Aristophanes' Fröschen im einzelnen vorstellen,
wenn wir aus der Komik den Ernst zu empfinden vermögen. Die
Tragödie des Sophokles ist so recht im höchsten Sinne des Wortes ein
frommes Spiel, das die Macht und das Walten der Götter preist, ihre
Wege rechtfertigt, die anders sind als unsere Gedanken, und ihre un-
erforschlichen Ratschlüsse, die wir nicht begreifen können, unter die
wir uns in Ergebung beugen sollen. Wer hoch steht, fällt, wenn die
Gottheit will; wer verflucht ist, kann zu höchstem Segen begnadet werden,
wenn sie es will. Diese Liturgie ist zur dramatischen Doxologie der
Macht und Herrlichkeit der Götter geworden, aber auch zum erschütternden
epfjvoc ober den unauskündbaren Jammer des Menschenschicksals. Das
ehrliche helle Künstlerauge des Sophokles sieht in diese Tiefen, aber
auch wenn es den entsetzlichsten Jammer sieht, nie ist es verdunkelt
auch nur von einem Schatten des Grübelns und Zweifeins, nie von
den Wolken der Mystik. Ein Priester ist er im Leben und als Dichter:
leider wird es uns ja so schwer durch die Entwicklung der ent-
sprechenden Erscheinungen unserer Kultur, dies Wort so hoch und rein
zu empfinden, wie ich es in diesem Falle empfinden und empfunden
wissen möchte. Der Priester des Asklepios war der Dichter der tiefsten
Schmerzen der Menschheit.
Alle die Gedanken echt attischer Frömmigkeit, wie sie schon in
Solons großer Elegie MvrmocOvric Kai Ztivöc 'OXujuttiou d^Xaci xeKva
stehen, werden alsbald auch zum Inhalt der attischen Dionysosliturgie
von der lißpic und der axTi, die bald den, bald jenen trifft, wie sie
Zeus sendet, von der licic des Zeus. Daß sich mancherlei solcher Ge- 189
danken leicht da einfinden, wo von dem Siege des Dionysos über die
Frevler, die sich seinem Dienste entgegenstellten, gedichtet und auf-
geführt wurde, begreift man, und überall hatten sie ihren natürlichen
Ausdruck, wo Walten und Sieg der Gottheit über Menschenvorwitz und
Menschenüberhebung dargestellt wurde.
Es bleibt immer wunderbar, wie schnell sich die Liturgie als freies
Kunstwerk ausgestaltet, und auch als sich dies werdende Kunstwerk
an die schon fest vorhandene dramatische Liturgie von Eleusis in
einigen Punkten angelehnt hat, ist der Gang seiner Befreiung und Ver-
weltlichung nicht unterbrochen worden.
In einem Punkte sieht man immer wieder die Wesensverwandtschaft
mit der alten Liturgie hervorbrechen. Wie sie immer ein aiiiov ist,
das heißt die Handlung, die Heilstatsache, die einst eine sakramentale
Wirkung hervorgebracht hat, zur immer wiederholten wirksamen Dar-
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 28
434 Die Entstehung der Tragödie
Stellung bringt, so führt auch die Tragödie immer und immer wieder
solche aiTia auf die Bühne, die Entstehung, Stiftung irgendeines Kultes,
einer Einrichtung. Die Darstellung muß ins erste Werden umsetzen, was
sie als Einrichtung verherrlichen und was sie dadurch wirksam machen
will. Das einleuchtendste Beispiel ist der Oidipus auf Kolonos: die
Verherrlichung des heiligen segenbringenden Herosgrabes in Sophokles*
Heimat, sein aiiiov. Aber gerade in der älteren Tragödie gehen die
drei Stücke des öfteren auf Stiftung kultischer, heiliger, segenwirkender
Einrichtungen hinaus, wie, um die bekanntesten zu nennen, die Prome-
thie auf die Stiftung des Fackelfestes und vor allem die Orestie auf
die Stiftung des heiligen Blutgerichts vom Areopag. Als die Leute,
die die Stadt Airva gegründet hatten, ein „Festspiel", wie man wohl
zu sagen pflegt, bei ihrer Gründungsweihe brauchten, d. h. eine Gründungs-
liturgie, ein aiTiov, führte ihnen nicht mehr ein Chormeister ein Lied
190 auf, wie sonst im Westen so üblich war an den Heroenfesten, sondern
Aischylos dichtete die Airvai, eine Tragödie, die in der Tat die
Gründungssage zum Gegenstand hatte.
Es ist gewiß schwer, bei den Tragödien des Euripides den Gedanken
an die Festliturgie einigermaßen festzuhalten. An einem Punkte aber
ist es deutlich, wie gerade er, der so oft den Gang der Handlung ganz
revolutionär neue Bahnen geführt hat, am Schluß damit einlenkt, daß
er ein aiiiov gibt: die Stiftung irgendeines Kultes, die Gründung einer
Stadt, die Prophezeiung von irgendwelchen Stammesheroen, die Erklärung
einer Verwandlungsage. Er weiß mit solcher Offenbarung, Geia otTTeXi a
meist buchstäblich durch den öeöc ek lUTixavfic, am Schluß so oft den
Zusammenhang mit den religiösen Urelementen formelhaft zu wahren,
den er tatsächlich fast ganz verloren hat.
Die Liturgie, die im Kulte und Ritus gebunden ist, sozusagen im
praktischen religiösen Gebrauch, bleibt im wesentlichen immer dieselbe;
langsam, in langen Zeiträumen, gehen Veränderungen, Verlust und Zu-
wachs vor sich. Die Umsetzung der Liturgie ins weltliche Kunstwerk
ist die erste Entwicklung der attischen Tragödie. Die werdende Litur-
gie des Dionysosfestes wurde wohl in Athen eben damit, daß fremdes,
als, Dithyrambos freies Kunstwerk hereinkam, was sich an den Namen
des Thespis knüpft, von den unmittelbaren Banden des Kultes befreit
und ist zunächst mit all dem Mummenschanz und Tierkult, den die volks-
tümlichen Bräuche ähnlich auch längst gehabt hatten, beinahe völlig
ins Burleske hinübergetrieben. Andere alte Begehungen des Festes,
wie die Totenklage, machten noch ihr Recht und ihre alte Kraft geltend :
der epfivoc drang ein und gestaltete sich künstlerisch weiter. Und wenn
Die Entstehung der Tragödie 435
wirklich der Schöpfer der Tragödie, der den zweiten Schauspieler ein-
führte, eine wesentliche Anregung zur Ausgestaltung des heiligen Spieles
des Dionysosfestes dem längst fertigen geistlichen Drama von Eleusis
verdankt hätte, so wäre es auch mit der Entstehung eines wirklichen
Dramas in Athen und Griechenland ebenso gegangen, wie es überall
gegangen ist, wo wir von der ersten Entstehung eines Dramas etwas 191
wissen.
9
Es ist sehr bekannt, wie im Mittelalter ein Drama tatsächlich aus
der Liturgie allmählich wieder herausgewachsen ist, wie alle diese
Mysterienspiele, Oster-, Passions- und Fronleichnamsspiele, aus den
liturgischen bpiuineva sich weiter gestalteten, die aus der Klage des Todes
Christi zum Jubel der Auferstehung fortschritten. Die Moralitäten und
Paternosterspiele, und wie sie sonst hießen, sind tatsächlich im Anschluß
an die Liturgie einerseits und die Predigt anderseits zuerst aufgewachsen.
Die Komik hat sich hier ganz allmählich an einzelne Figuren und Situ-
ationen angesetzt und ist ganz langsam zu einigem selbständigen Leben
erwachsen, so ganz anders, beinahe umgekehrt, als in Griechenland.
Das liturgische Drama des Mittelalters entwickelte sich in merkwürdiger
Einheit über das ganze Gebiet mittelalterlich -christlicher Kultur, in
gleichen Formen „vom Mont St. Michel bis Bari, von Silos in Spanien
bis nach Wien".
Es war ja eine Liturgie gleichen Wesens wie die, welche einst auf
das werdende Drama in Athen eingewirkt haben muß, eigentlich die
alte Liturgie, die in ihren Hauptzügen die Mysterienkulte des Altertums
geschaffen haben, mit den außerordentlich triebkräftigen dramatischen
Elementen; mit der erschütternden Peripetie von Nacht zum Licht, Tod
zum Leben, Sterben zum Auferstehen. Sie schuf auch dem Mittelalter
wieder ein Drama, in trägem Gange freilich, und wenn nicht die Ein-
wirkung der fertigen antiken weltlichen Dramen dazugekommen wäre,
hätte es sich schwerlich aus der kirchlichen Sphäre völlig herausarbeiten
können.
Wenn man die Entstehung eines Dramas bei anderen Völkern ver-
gleicht, so stößt man in der Tat überall, wo man überhaupt etwas
wissen kann, auf den religiösen Ursprung. Ich gestehe, daß ich viel
dergleichen Analogien, wie ich meinte, gesammelt habe, um etwas für 192
die Erkenntnis der Entstehung und ersten Entwicklung der griechischen
Tragödie zu gewinnen, und daß ich ganz anderes für das Verständnis
der griechischen Entwicklung gefunden habe, als ich meinte und ur-
28*
436 ^*® Entstehung der Tragödie
Sprünglich hoffte. Bei einer ganzen Reihe von Völkern sehen wir ja
nur so viel, daß aus religiösen Tänzen, denen offenbar zauberhafte
Wirkungen beigelegt wurden (Oldenberg, Literatur des alten Indien,
237), dramatische Spiele entstehen. Was Indien anbetrifft, so will ich
mich in die vorläufig zweck- und resultatlose Erörterung über Beein-
flussung oder Nichtbeeinflussung durch das griechische Drama nicht
einmischen; über die Entwicklung aus den primitiven Tänzen zu der
Stufe, auf der auch dort die Heldensage den Inhalt der Spiele ausmacht,
oder aber burleske Spiele, die man tatsächlich Mimen nennen mag,
können wir doch nichts wissen (Oldenberg 240). Die religiöse Grund-
lage ist auch noch später schon daran deutlich, daß die feierliche
Weihung des Theaterraums und die Gebetssprüche im Anfang unerläß-
lich sind (Oldenberg 245 f.). Beim japanischen Drama ist die Entstehung
der beliebten Pantomime des Dengaku aus orgiastischen Tänzen, scheint
es, evident, und die Ähnlichkeit mit dem Dionysischen Orgiasmus
des Dionysos so frappant, daß auch Florenz in seiner Geschichte der
japanischen Literatur (S. 372) sagt: „Wer denkt dabei nicht an die
Rasereien der griechischen Dionysosfeste? Und die Parallele wird noch
auffallender, wenn wir sehen, daß das Dengaku ein wichtiger Ausgangs-
punkt für das japanische Drama wird, ähnlich wie aus den dithyram-
bischen Gesängen zu Ehren des Dionysos die griechische Tragödie
hervorging." Aber all das gibt nur eine gewisse Analogie zu den
primitiven Tänzen und lehrt nur immer wieder, was wir wissen, daß
die Anfänge des Dramatischen, wie überall, im Kult zu suchen sind;
über die einzige Entwicklung einer Tragödie, wie es die griechische
ward, lehrt uns alles das gar nichts, gibt uns auch nicht die Spur
193 einer greifbaren Analogie. Und fast überall, wo ich irgendein Wissen
aus zweiter oder dritter Hand erlangt habe, sind dramatische Spiele
aus den „liturgischen" nicht zur künstlerischen Freiheit herausgewachsen,
wie - um ein bekannteres Beispiel zu nennen - die persischen Dramen
von den Martern des Hussein ganz in der Sphäre des geistlichen Spieles,
des Passionsspieles, geblieben sind. Hier, wie so lange in den My-
sterienspielen des Abendlandes, sind Priester die Schauspieler.
Ein Beispiel noch eines Volkes des Altertums. Die Ägypter hatten
insbesondere Tänze an der Tür des Grabes, die die bösen Dämonen
von dem Toten fernhalten sollten; es wurden wohl auch Klagegesänge
der Isis und Nephthys, auch wohl der tiergestaltigen Götter - sie
wurden wirklich dargestellt - aufgeführt. Dann aber wird eine heilige
Handlung aufgeführt, „die einst die Verwandten und Genossen des
Osiris nach der Ermordung des Gottes vorgenommen hatten, um der
Die Entstehung der Tragödie 437
zu begrabenden Leiche das Wiederaufleben im Jenseits zu sichern".
„So hoffte man durch die Wiederholung der Handlung zugunsten eines
menschlichen Toten diesem eine entsprechende Neubelebung zu ver-
schaffen" (Wiedemann, Die Anfänge dramatischer Poesie im alten
Ägypten, Melanges Nicole 561 ff.): also eine Liturgie noch mit dem
sakramentalen Endzwecke, der ihr ursprüngliches Wesen ausmacht.
Die Schauspieler sind Priester. Die Ägypter sind auf der untersten
Stufe stehen geblieben, die wir hier wieder in reinster, deutlichster
Gestalt kennen lernen. „Die Ansätze zu höherer Entwicklung waren
vorhanden, es fehlte aber dem ägyptischen Volke der Hauch des Genius,
der aus ihnen das Kunstwerk hätte entstehen lassen" (Wiedemann
a. a. O. 577). Was man auch noch alles von den alten Babyloniern
wissen wird, so viel scheint festgestellt, daß in dem großen wieder-
entdeckten Festspielhause nur heilige Liturgien gespielt wurden. Auch
sie werden in diesem Falle auf der Stufe stehen geblieben sein, auf der
die alten Ägypter standen (Mitteil, der deutschen Orient -Ges. Juni 1907, 194
Nr. 33, S. 14 ff. Zimmern in den Berichten der Sachs. Ges. d. Wiss.
Phil.- bist. Kl. LVIII 126 ff.).
Aus allen Analogien, von denen ich absichtlich nur einige Proben
gegeben habe, können wir nichts schließen für die Einwirkung, die die
entwickelte Liturgie von Eleusis auf die entstehende Tragödie gehabt
haben könnte. Freilich hat dieselbe Liturgie, das Mysterium Kax'
eHoxnv, in einer anderen Weltepoche wieder ein Drama aus sich erzeugt,
und sicher hat das entwickelte Drama wieder zurückgewirkt auf das
)nucTr|piov der griechischen Kirche, so sehr mußten sie sich anziehen
und haben sich angezogen, doch wohl weil sie vom Ursprung her nahe
verwandt waren. Es wird schweriich nur die 'iKovöcracic in der
griechischen Kirche sein, die nachweisbar die übernommene Hinterwand
des griechischen Theaters ist (Holl, Archiv f. Religionswissensch. IX,
365 ff.), die als Zeugin dieser Wechselwirkung zwischen Tragödie und
Liturgie heute noch im griechischen Orient aufrecht steht.
Unser Umblick auf Analogien hat uns aber diesmal, ohne weiteren
wesentlichen Aufschluß zu geben, zur Anerkennung der völligen
Eigenart attischer Entwicklung geführt. Wie sich hier das leuch-
tende Kunstwerk aus der Liturgie, in der die anderen tief stecken
bleiben oder sich nur mühsam und langsam ein bißchen bewegen
lernen, in wenigen Jahrzehnten zu völliger Freiheit und künstlerischer
Herrlichkeit erhebt, auch das ist ohne Beispiel in der Geschichte
der Menschheit. Wollte ich sagen, wozu mich diesmal die „Me-
thode der Analogie" geführt hat, ich müßte selbst zum eHdpx^v
438 ^*® Entstehung der Tragödie
TÖv bi0ijpa)Lißov werden. Es gibt nur einen Gott Dionysos, und es
gibt nur einen Künstler Aischylos.
ANMERKUNG
Die Absicht, die Literatur in Anmerkungen zu dem Vorstehenden, das aus
einem Vortrage entstanden ist, anzuführen, habe ich aufgegeben, da jeder, der
195 sich mit der behandelten Frage beschäftigt hat, leicht sieht, woher ich nehme
oder was ich an Neuem hinzufüge. Um irgendwelche Priorität ist es mir so
wie so nicht zu tun, und ich wollte - und durfte es ja in meinem Vortrage,
dessen Aufbau und zum größten Teil Wortlaut ich beibehalten habe, nicht weg-
lassen - nicht in den Hintergrund treten lassen, was längst klar und sicher
festgestellt ist. Denn ich möchte ganz und gar nicht so verstanden werden, als
wollte ich die Tragödie nun einmal wieder aus etwas anderem herleiten als
andere. Es pflegt in solchen Fragen nichts verhängnisvoller zu sein als die
Neigung, so außerordentlich komplexe Erscheinungen aus einem einzigen Punkte
herzuleiten, während man alle die vielfältigen Wirkungen zu beachten hat, die
wir noch erkennen können. Es liegt mir auch ganz ferne, die Tragödie wie
das Resultat einer unwillkürlichen Entwicklung darzustellen, und es wird hoffent-
lich niemand meinen, ich habe die schöpferische Tat des Aischylos verkleinern
wollen. Darum sind die mannigfachen Anregungen nicht weniger wichtig, die
eine vielgestaltige Entwicklung auf ihn wirken ließ.
Nur ganz kurz habe ich zusammengefaßt, was über Satyrn und Satyrspiele,
Pferde- und Bockschöre in langen Diskussionen hin und her erörtert worden
ist, lange Zeit das einzige, was nach den die weitere Literatur beherrschenden
Darlegungen, die v. Wilamowitz im ersten Bande des Herakles gab, umstritten
wurde. Daß ich P. Hartwigs Aufsatz und Publikation in den Mitteil, des röm.
Instituts XII (1897) 89 ff. (Die Wiederkehr der Kora auf einem Vasenbilde aus
Falerii, mit Tafel IV/V) besonders viel verdanke und K. Wernickes Abhandlung
„Bockschöre und Satyrdrama", Hermes XXXII, 290 ff., in einem wesentlichen
Punkte gefolgt bin, möchte ich ausdrücklich hervorheben. Wie ich zu Reischs
Darlegungen „Zur Vorgeschichte der attischen Tragödie", Festschrift für Th. Gom-
perz S. 451 ff., Stellung nehme, wird, wer will, leicht erkennen. Zu K. Th. Preuß,
„Der dämonische Ursprung des griechischen Dramas", Neue Jahrb. XVIII (1906),
161 ff., durfte ich nicht schweigen. Ich bedaure es sehr, daß der ausgezeichnete
Forscher sich verleiten ließ, über die primitiven Grundlagen hinaus Vergleiche
zu konstruieren, die auf der einen Seite der Proportion ins Bodenlose fallen.
Dinge, wie sie S. 186 über Christus, den Stern usw. ausgeführt sind, dürften
einem Manne wie Preuß, der wirkliche Religionswissenschaft kennt und zu treiben
weiß, nicht mehr aus der Feder fließen. Von Wundts Völkerpsychologie II 1,
S. 495 ff. und sonst, habe ich nicht mehr viel Förderung erfahren, da ich zum
Teil auf die Dinge, die ihm die wichtigsten sind, nicht eingehe, zum Teil er
ignoriert, was mir wichtig ist. Leider wird die Auseinandersetzung über die
antike Tragödie durch eine Reihe tatsächlicher Unrichtigkeiten entstellt (es wird
noch von den Leiden des Dionysos geredet, der Schall wird durch die Resonanz
der Maske verstärkt u. dgl.).
Über den „Threnos" in der alten Tragödie hat meines Wissens zum ersten
196 Male auf Ahnliches, wie es oben ausgeführt ist, hingewiesen Crusius, Preuß.
Jahrb., 74. Band (1893), S. 394. Von dem schwedischen Aufsatz von Martin
P. Nilsson in den Comment. philologae in hon. Joh. Paulson, Göteborg 1905,
kenne ich auch nur das Resum6 im Archiv für Religionswissenschaft IX (1906),
286 f. Endlich kann ich es nicht unterlassen, eines von Erwin Rohdes Cogitata
(Nr. 17, S. 226 bei Crusius) hierher zu setzen, das mir neulich wieder vor Augen
Die Entstehung der Tragödie 439
kam: „Übrigens wäre es eine dankbare Aufgabe, zu untersuchen, ob nicht das
griechische Drama, statt in den üblichen Fabeln vielmehr in der Darstellung
der Mysterien seinen Ursprung habe. Seltsam wäre ja, wenn dem nicht so
wäre, da in dieser Darstellung schon vor Einführung des Bühnendramas eine
vollständig entwickelte dramatische Vorführung fremder Leiden und Taten aus-
gebildet war. - Sollten also die cxrivri aus der Darstellung der Priester, der
Chor aus der schauenden Gemeinde der Mysten hervorgegangen sein, die in
Eleusis wie im Theater nicht ganz müßig war, aber mehr den Stimmungen als
den Taten Verkörperung gab?" Der Gedanke des letzten Satzes ist ja unmög-
lich (die Xaoi waren die gleichen in Eleusis und im athenischen Theater); aber
daß auch Rohde es für seltsam hielt, wenn keine Beziehung zwischen Eleusis
und dem sich entwickelnden Drama vorhanden gewesen wäre, ist mir wichtig.
Aus Rohdes Cogitata sieht man, wie ihn immer wieder von früher Zeit an das
Problem „des Tragischen" beschäftigt hat. Mir liegt es jetzt fern, an diese
tiefen Fragen anders rühren zu wollen, als ich es oben im einfachsten ge-
schichtlichen Sinne getan, aber man wird gern über ein schopenhauerisch be-
fruchtetes Cogitatum Rohdes nachdenken, wie es dieses ist (Nr. 80, S. 250
Crusius): „Woher die große Inbrunst im Mysterienglauben? Die Gottheit tritt,
anders als im gewöhnlichen Glauben und Mythus, als eine leidende auf. Wir
leiden, verzaubert, mit ihr, sie mit uns. Das Leiden der Welt geht in uns ein,
läutert uns von unserem Privatschmerz. Ursprung der Tragödie?"
XXIX
DER RITUS DER VERHÜLLTEN HÄNDE ^
(Hierzu Tafel II)
1
Wer im kapitolinischen Museum in Rom die Statuen in dem Zimmer
des sterbenden Galliers betrachtet hat, wird gewiß wenigstens einen
Augenblick sein Interesse einer unter ihnen zugewandt haben, die ohne
Zweifel auch dem gelehrteren Besucher nicht ohne weiteres verständ-
lich war, ein vielleicht um so lebhafteres Interesse, je rätselhafter die
Figur bei näherer Betrachtung wird. Tritt man vom Korridor aus
in den Saal ein, so steht rechts gerade in der Ecke eine hohe Marmor-
statue, ein Weib, so scheint es, das in feierlichem langsamem Vorwärts-
schreiten offenbar seine Hauptaufgabe darin sucht, ein Gefäß, das sie
mit in den Mantel eingeschlagenen Händen emporhebt, sorgsam und an-
dächtig zu tragen. Aber wir sind mit solcher Erklärung des Eindrucks
der Figur auch darin zu schnell, daß wir sie als eine weibliche auffassen;
der Kopf bestimmt die ganze Auffassung. Dieser Kopf aber ist nicht
zugehörig.^ Ein anderer antiker Frauenkopf ist dem kopflos gefundenen
Torso aufgesetzt. Die Ansatzfurchen lassen sich noch erkennen: genau
da, wo das Gewand aufhört, war Hals und Kopf abgebrochen. Der
aufgesetzte Kopf ist aus feinkörnigem Grechetto, der Körper aus pen-
telischem Marmor. Außerdem ist noch der ganze untere Teil der Figur
^ <Als Vortrag gehalten in Marburg etwa 1896; wiederholt in Basel, s. Ver-
handlungen des II. Internat. Kongr. für Allg. Rel.-Gesch., Basel 1905 S. 322 f.
Hier zum erstenmal gedruckt, Abschnitt 1-3 nach dem Manuskript von 1896;
die in geraden Klammern gesetzten Anmerkungen sind aus Dieterichs Material-
sammlungen zugefügt.^
* S. Heibig Führer I ' S. 405. Einige weitere Angaben beruhen auf eigener
Untersuchung der Statue. Was Heibig darüber sagt, die Angabe, 'daß eine
Bleiröhre aus dem Innern des Gefäßes durch die Figur durchgegangen und
an der Stelle des Rückens, an der gegenwärtig ein modernes Einsatzstück an-
gebracht ist, aus dem Körper herausgetreten sei, lasse sich nach der Restau-
ration der Statue nicht mehr kontrollieren', und daß er die Vermutung ablehnt,
daß es eine Brunnenfigur gewesen sei, ist gewiß durchaus zutreffend. Die
Statue ist als Brunnenfigur ganz unmöglich.
Tafel II
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften.
Der Ritus der verhüllten Hände 44 j
von etwas unter den Knieen an ergänzt^ und endlich der Deckel des
Gefäßes. Der Torso aber, wie er gefunden wurde, ist für eine genauere
Betrachtung nicht der einer weiblichen Figur. Die etwas vortretende
Partie der Brust ist nur veranlaßt durch das Indiehöheheben des
Mantels, mit dem das Gefäß gefaßt wird, und die Falten dieses Ober-
gewandes an diesen Stellen zeigen deutlich, daß es nicht durch eine
weibliche Brust gewölbt ist. Auch die Linien des Gewandes an den
Hüften, die es freilich nur weit und faltenreich umschließt, läßt nicht
im mindesten weibliche Körperformen vermuten. Der Torso ist der
einer männlichen Figur. Über das Untergewand, das ohne Zweifel bis
an die Füße herunter gereicht hat, hat er noch ein merkwürdiges
Obergewand übergezogen, das ohne jede Naht oder Öffnung, außer
der für den Kopf^ die Arme bedeckend etwa bis zu den Knieen reichen
würde, wenn nicht die verhüllten Arme das Gefäß vorn mit dem Mantel
umfassend in die Höhe hielten.
Die Statue ist früher in der Villa d'Este gewesen und 1753 von
Benedict XIV. dem Museum geschenkt. Sie soll gefunden sein in der
Villa des Hadrian zu Tibur.
Wo ist die Erklärung eines solchen Mannes zu suchen, der mit
dem langen Untergewande und dem seltsamen Überwurf ein Gefäß
offenbar sehr kostbaren Inhalts so sorgsam umherträgt?
Offenbar ist die Verhüllung der Hände beim Halten des ehrwürdigen
Gegenstandes das besondere Moment an diesem Torso, das vielleicht
die Erklärung wird liefern können. Wir müssen nach anderen Denk-
mälern oder Zeugnissen für diesen Brauch ausblicken, und so wird
das eigenartige Interesse, das dieser merkwürdige Marmor erregt, zur
Veranlassung, nach der Entstehung und der Entwicklung eines Ritus
oder einer Mode weiter zu fragen.
2
Wer nach weiteren Denkmälern eines solchen Brauches, die Hände
zu verhüllen, weiter fragt, wird sofort von allen Seiten hingewiesen
werden auf eine Fülle altchristlicher Monumente, auf denen mannig-
fache Personen mit sehr absichtlich bedeckten Händen dargestellt sind.
So ist auf einem Sarkophag des Lateran dargestellt, wie Petrus eine
^ Daß der untere Teil nicht zugehörig war, zeigt noch die Art und der
Gang der Falten, die gar nicht zu denen in dem oberen Stücke passen.
' Am Halse und auf der Brust ist keine Andeutung eines Schlitzes im
Gewände zu erkennen. Es wurde also angezogen, indem man es über den
Kopf stülpte.
442 ^®^ ^^^^^ ^®^ verhüllten Hände
Rolle, die Rolle des neuen Gesetzes, von Christus empfängt: er empfängt
sie mit verhüllten Händen. Ein Relief desselben Museums zeigt den
Elisa, der mit bedeckter Hand das Gewand des Elias in Empfang
nimmt. Ein Sarkophag der Kathedrale in Ravenna - der sog. des
S. Rinaldo - zeigt in der Mitte seiner Hauptdarstellung Christus, der
ein aufgeschlagenes Buch mit der verhüllten linken Hand hält. Von
links und von rechts kommt auf ihn zu je ein Mann, der eine eine
Märtyrerkrone, der andere eine ebensolche Krone und ein Kreuz auf
verhüllten Händen tragend. Die Hände sind verhüllt durch ein beson-
deres Tuch, das über beide gebreitet ist - nicht durch das darüber-
gefaßte Gewand. Ganz entsprechende Darstellungen geben eine Reihe
anderer Sarkophage in Ravenna, z. B. wie in der gleichen Weise, wie
es oben erwähnt wurde, Petrus den Schlüssel, Paulus eine Rolle von
Christus empfängt, läßt sich auf einem Sarkophag in S. Apollinare in
Classe feststellen. Ebendort erscheinen noch andere Gestalten mit
zwei in der gleichen Art getragenen Märtyrerkronen. Es gibt eine
große Anzahl von Sarkophagreliefs, auf denen immer wieder das
gleiche Motiv der verhüllten Hände in entsprechender Form wieder-
kehrt. Keine dieser Darstellungen wird wesentlich über das 4. Jahr-
hundert zurückgehen. Das gleiche findet sich auf ungemein zahlreichen
altchristlichen Mosaiken. So empfängt in dem Bilde des Gurtbogens
von S. Vitale in Ravenna Moses in dieser Weise die Gesetzesrolle und
Vitalis von Christus die Märtyrerkrone. Auf einem Bilde in S. Apollinare
nuovo bringen die Weisen ihre Geschenke auf verhüllter Hand dem
Kinde. Vor allem aber muß ich an die Darstellungen ebendort in S.
Apollinare nuovo und dann besonders an die römischen Mosaiken des
Chors von S. Cosma und Damiano, des Triumphbogens in S. Paolo
fuori le mura und des Chors von S. Prassede erinnern, an deren
vielen Gestalten ebendas, daß sie ihre Märtyrerkronen auf verhüllten
Händen empfangen, jedem der sie einmal gesehen, auffallend gewesen
und eben deshalb in Erinnerung geblieben sein wird. Es gibt in großer
Zahl entsprechende Szenen auf Mosaiken bis ins 12. und 13. Jahrhundert
hinein. Die Apostel selbst sind wiederum so, daß sie auf den ver-
hüllten Händen ihre Embleme tragen, oder aber auch einmal Petrus
die Schlüssel, Paulus die Rollen empfangen, in den Baptisterien der
Orthodoxen und in dem der Arianer im Kreis nebeneinander in der
Kuppel gruppiert. Von besonderem Interesse könnte es sein, daß ein
bekanntes Mosaik in S. Vitale den Kaiser Justinian, der in einer Schale
zur Kirche seine Weihegaben bringt, diese Schale wenigstens mit einer
ohne Zweifel absichtlich durch das Gewand verhüllten Hand tragen läßt.
Der Ritus der verhüllten Hände 443
Daß aber solche Szenen, die die Märtyrer, die Apostel und Christus,
die Anbetung der Weisen u. a. darstellen - ich habe oben nur die
hauptsächlichsten kurz angeführt -, immer wieder und wieder in der
Kunst und auch in der Kleinkunst nachgeahmt wurden, ist nur natür-
lich. Wir finden eine Fülle verwandter Darstellungen auf Elfenbein-
kästchen, Ringen, Täfelchen, jedenfalls bis ins 11. und 12. Jahrhundert
und in allerlei Illustrationen der Codices wie im Rossanensis des
6. Jahrhunderts \ so in mittelalterlichen, auch deutschen Evangelien-
büchern späterer Jahrhunderte.
Wir finden also diesen Brauch dargestellt auf den altchristlichen
Denkmälern vom 4. Jahrhundert an und vor allem in aller jener Kunst,
die man 'byzantinisch' zu nennen pflegt, namentlich auch in der Zeit
ihrer Blüte vom 8. bis 11. Jahrhundert und ihrer Neublüte vom 12.
Jahrhundert an bis zu der Zeit, da die neue Kunst Italiens in die Höhe
strebt. Noch die ältesten Reliefs der Domtüre in Pisa stellen auch
diesen Ritus dar, während aber schon ein Relief der Anbetung der Weisen
über der Türe von S. Andrea in Pistoia diesen Ritus nicht kennt.
Während bei Giotto kaum einmal sicher die Darstellung verhüllter
Hände zu erkennen ist, wird auf dem Relief der Rückseite des
Ciboriums von Or San Michele in Florenz, das dem Andrea Orcagna
zugeschrieben wird, Christus am Totenbett seiner Mutter so gebildet,
daß er das Seelchen der Maria in verhüllter Hand hält. Demselben
Orcagna soll ein Bild gehören in der Capeila Strozzi der Kirche S. Maria
Novella in Florenz, auf dem der Maler den Petrus von Christus ein
Buch mit beiden unbedeckten Händen empfangen läßt. Noch hier
und da zeigen ältere Bilder des Trecento und auch noch des Quattrocento
diesen Brauch, aber neben ihnen stehen unzählige, die ihn nicht
kennen. Merkwürdig, daß er noch einmal auf einem Bilde des Luino
Luini und auf einem des Giovanni Bellini auftaucht - sonst hat ihn
diese neue Kunst vergessen und verschmäht. Bei Darstellungen der
Taufe kann man hier und da im Zweifel sein, ob die dienenden Engel
mit verhüllten Händen neben der heiligen Handlung, die an ihrem
Herrn vollzogen wird, stehen oder ihm nur die Gewänder halten, und
man könnte vielleicht zu beobachten glauben, wie sich jener unver-
standene Ritus allmählich in der weiteren Entwicklung der Kunst in
den natürlichen Dienst des Haltens von Gewändern oder auch Hand-
tüchern umsetzt.
^ [Gebhardt-Harnack, Evangeliorum codex graecus purpureus Tat. IV, IX,
X, XV.)
444 Der Ritus der verhüllten Hände
Jene Zeit aber 'byzantinischer' Kunst repräsentiert ohne Zweifel
- soviel ist ohne weiteres einleuchtend - sozusagen die klassische
Periode der Darstellung des Ritus, den wir zu begreifen suchen. Und
hier, aus der Fülle von Denkmälern, können wir seine verschiedenen
Formen am besten erkennen und fester bestimmen.
Es scheiden sich von selbst zwei Gruppen. Einmal verhüllt der
die Hände, der einer geheiligten Person naht, offenbar aus Ehrfurcht
vor dieser Person, da er nicht mit den bloßen, den unreinen Händen
nahen darf. Oder aber ein heiliger Gegenstand wird nur mit der be-
deckten Hand gefaßt, um ihn nicht mit der unreinen zu berühren. In
die erste Gruppe gehören ohne Zweifel alle die Darstellungen, wo einer
heiligen Person irgend etwas dargebracht wird, das an sich gar nicht
verehrungswürdig ist. Wenn Justinian die Schale, die offenbar Geld
enthält, nur mit bedeckter Hand trägt, so wird er das nur darum tun,
weil er ins AUerheiligste, zum Altar sie zu tragen sich anschickt. Beide
Gruppen können sich mischen, etwa da, wo ein Jünger von Christus
die Rolle empfängt - sie wird, wie oft genug auch das heilige Buch,
auch wo sie nicht von einer heiligen Person entgegengenommen wird,
auf den bedeckten Händen getragen.
Daß beide Gruppen auf dieselbe rituelle Vorstellung zurückgehen,
ist ohne weiteres klar: dem Heiligen nicht mit den bloßen unreinen
Händen nahe zu kommen. Und diese Anschauung, die in uralten Vor-
stellungen wurzelt, ist ja auch fernerhin, ist bis heute nicht ausgestorben.
Ohne Zweifel ist sie im Ritus der katholischen Kirche ohne Unter-
brechung fortgepflanzt worden. Wir können es ja noch heute sehen, wie
dem die Messe celebrierenden Priester öfter vor der Elevation ein Tuch
übergehängt wird, mit dem er allein das Sanctissimum anfaßt und erhebt.
Es ist an Mönchen vielfach zu beobachten, wie sie die Hände, sobald
sie sich dem Altar nähern, in den Ärmeln oder unter dem Gewand
verbergen, und es ist das ausdrücklich vorgeschrieben. Der Kardinal,
der den Hut vom Papste empfangen soll, naht dem Stellvertreter Christi
nur mit verhüllten Händen, um das Zeichen seiner Würde zu empfangen.
So sind die verschiedenen Arten des Ritus bis heute erhalten und die
sakrale Vorstellung, die ihnen allen zugrunde liegt, ist bis heute wenig-
stens in ihren Wirkungen noch nicht ausgestorben. Und so mag es
ja immer noch einen Anhalt im heutigen Ritus haben, wenn die neueste
katholisch -kirchliche Malerei der Mönche von Beuron auch diesen
Brauch - freilich wie in allen Dingen auch hier ohne jede Konsequenz
— auch in der Kunst wieder aufleben läßt, in einer 'heiligen' Kunst
freilich, die in Stilmischung und Entfremdung von der Natur geradezu
das Äußerste leistet.
Der Ritus der verhüllten Hände 445
Aber hier kann und soll ja nicht die weitere Entwicklung jenes
Brauchs verfolgt werden, für uns muß die Aufgabe sein, weiter zurück
zu dem Ursprünge des Ritus zu gelangen. Geschaffen hat ihn die alt-
christliche Kunst der Sarkophage und Mosaiken sicherlich nicht. Auch
die Statue des Kapitols kennt ihn ja. Woher kam er, als er etwa im
4. Jahrhundert so überhaus häufig dargestellt wurde?
Ein Silberschild, in Badajoz gefunden S stellt den Kaiser Theodosius
dar mit seinen zwei Söhnen zu beiden Seiten und eine weitere Person,
die sich dem Theodosius nähert, um eine Rolle, die der Kaiser hält,
mit dem Schöße des Gewandes aufzunehmen. Es wird eine Magistrats-
person oder der Gouverneur einer Provinz sein, dem Theodosius das
Gesetzbuch übergibt. Der Schild stammt wahrscheinlich aus dem
Jahre 393. Hier sehen wir den gleichen Brauch in weltlichen Kreisen,
im Hofzeremonieli. Jedenfalls am Hofe des Theodosius war es Mode,
nur mit verhüllten Händen vom allerhöchsten Herrn etwas in Empfang
zu nehmen. In der sogenannten Notitia dignitatum^ dem Verzeichnis
der Hof-, Zivil- und Militärämter, dem Staatshandbuch des Reiches, das
in seiner jetzigen Fassung etwa aus dem Anfang des 5. Jahrhunderts
stammt, sind eine große Anzahl Abbildungen beigegeben, die die tribut-
darbringenden Provinzen darstellen sollen. Diese bringen immer ihre
Schale mit Geld auf verhüllten Händen. Und so wird denn auch noch
in dem großen Buche des Konstantinos Porphyrogennetos über das
Zeremoniell des byzantinischen Hofes ^ angegeben, wie Abgeordnete
der Völker in dem Bausch des Gewandes aufnehmen tö diroKÖnßiov, das
ihnen der Trpaiiöpioc im Auftrag des Kaisers übergibt. Es ist ohne
weitere Belege klar - ich erinnere auch an die Darstellung Justinians
in Ravenna -, daß sowohl im Kirchenritus als im Hofzeremoniell die
Verhüllung der Hände in der Zeit des byzantinischen Kaisertums fort-
1 [Besprochen von Ameth, Sitz. -Ben Kais. Akad. der Wiss. Wien, Phil,
hist. Kl. 1849 S. 220 ff.]
' [ed. Bucking I p. 13, Abbildung von Macedonia und Dacia als tribut-
bringende Frauen, die den Tribut auf dem Gewand tragen; nur die linke Figur
hat die linke Hand frei. S. auch I p.53, II 1 p.Q].
' [De ceremoniis aulae Byzantinae II p. 21 und 28 Bonn. S. a. I 300, 17f.
und 11 307 Reiske.]
446 D®r Ritus der verhüllten Hände
dauernd im Gebrauch war. Kein Zeugnis ist uns bis jetzt begegnet,
das über die Zeit des Theodosios zurückginge. Ein solches vermag
ich zunächst anzuführen, das eine Szene am Hofe des Konstantins
schildert. Es ist derselbe Fall, daß Gesandte von der kaiserlichen
Majestät Geld zu empfangen haben. Als sie feierlich - so erzählt
Ammianus Marcellinus ^ - ins Konsistorium geführt waren, nahm einer
die Gabe nicht wie es Sitte ist (ut moris est) mit der hingehaltenen
Chlamys, sondern mit beiden bloßen Händen entgegen. Der Kaiser
sagt: 'Sich zu nehmen verstehen diese Agenten, aber nicht sich geben zu
lassen.' Die Hofzeremonie war damals ganz gebräuchlich und sie ist
schwerlich von Konstantins eingeführt worden. Rufen wir uns die
vorhergehenden Regierungen zurück, so ist der nächste auf den wir
gleich stoßen Diokletian. Er hat ja — das wissen wir durch die aus-
giebigsten Zeugnisse - ein neues Hofzeremoniell eingeführt. Nicht nur
die Tracht auch des Kaisers änderte er: Gewänder und Schuhe, die mit
Perlen und Edelsteinen geschmückt waren, sollten künftig das Abzeichen
der Kaiserwürde sein. Von allen, die seinem Throne nahten, verlangte
er Anbetung, er verlangte, daß sie niederknieten. Er ließ sich anbeten
extero more, sagt ein Zeugnis. Und in der Tat, es waren die Bräuche
des Orients, die er einführte. Diokletian war der erste, der den eigent-
lichen Sitz der Herrschaft nach dem Osten verlegte: Nikomedien war
seine Residenz. Er war es auch, der zuerst recht eigentlich wie der
orientalische König sich fühlte, als Gott und Herrscher. Er war der
erste Sultan des römischen Kaiserthrons. Es wird, soweit ich weiß,
nirgends ausdrücklich gesagt, daß er auch die Verhüllung der Hände
von denen verlangte, die ihn anbeten mußten, wenn sie ihm nahten.
Aber wenn unmittelbar nachher unter Konstantins mit dem Anbetungs-
zeremoniell Diokletians zusammen dieser Ritus als etwas ganz gebräuch-
liches vorhanden ist, so ist es ein sicherer Schluß, daß Diokletian auch
diese Mode mit einführte oder mit weiterführte.
Entgegengetreten war dem Kaiser der orientalische Hofbrauch be-
sonders während seiner Perserkriege und der Verhandlungen mit dem
mächtigen Feinde. Nach dem Ende der Perserkriege führte er das
neue Hofzeremoniell ein. Es war in den letzten Jahren des dritten
Jahrhunderts. Hat er von den Persern auch den Ritus und die Mode
der verhüllten Hände übernommen?^
^ [XVI 5, 111.
* <Hier endet das erhaltene Manuskript. Der Schluß (4) ist den Baseler
Verhandlungen S. 322 f. entnommen.])
Der Ritus der verhüllten Hände 447
4
Literarische Zeugnisse, die von Gesandten, die mit verhüllten Händen
vor den König treten S aber auch von Tragen der Gottesbilder mit
bedeckten Händen berichten ^ reichen in hellenistische Zeit. Nur ein
Zeugnis, das von Kyros erzählt, der Leute, die mit unverhüllten Händen
zu ihm kamen, hinrichten ließ, reicht weit zurück zu persischem Hof-
brauch.^
Eine andere Gruppe von literarischen und monumentalen Zeugen
ergibt den Brauch der verhüllten Hand als feststehend im hellenistischen,
nicht aber altägyptischen Isiskult: das Allerheiligste, das heilige Wasser
d. i. Osiris, darf nur mit bedeckter Hand gefaßt werden. Eine Statue
im kapitolinischen Museum*, ein pompeianisches Bild^ ein Relief vom
Palazzo Mattei", Stellen des Apuleius^, Lukianos^ u.a. sind Zeugnisse.
So ist denn auch der hellenistische religiöse Ritus früher nach Rom
gekommen, als das entsprechende Hofzeremoniell, das vollständig durch
Diokletian erneuert wurde. Diokletian entlehnte für seine Neuerung
vieles von den Persern. Aus alldem, was wir überblickten, ist einiger-
maßen die Geschichte eines religiösen Ritus und einer weltlichen
Zeremonie klar: von den Persern^ kam der Brauch durch Alexander
den Großen, wie man annehmen muß, zu den hellenistischen Höfen
und Reichen, im hellenistischen Ägypten drang er auch in den Isiskult
ein, weiter wanderte er nach Rom^*^ und nach Byzanz. In den Hand-
^ IPlautus Amphitruo, d.h. eine v^a 'Attiki^ KUüjuiy&ia, v. 256f.: ex urbe ad
nos veniunt flentes principes \ velatis manibus orant, ignoscamus peccatum suom.\
* [Lycophr. 1262.66: -rraTpCu' äfäXiiar ^Yi^ctTOiKieT GeOüv , . . ir^irXoic Ttepicxii^v.]
' jXen. Hell. II .1, 8: KOpoc dir^KTeivev AÖToßoicdKriv Kai Mixpaiov . . . öti
oÖTiu diravTUJVTec ou bi^uucav öict t^c KÖpr^c rdc x^^pac, 8 uoioOci ßaciXel |ixövuj.
i\ b^ KÖpTi kxi luaKpÖTcpov f| xeipic. Vgl. Xen. Cyrup. VIII 3, 10: bieipKÖxec rdc
X€ipac bid T&v Kavbijujv, üjcirep Kai vOv ^ti öieipouciv, örav öpa ßaaXeuc]
* <S. oben S. 440 f. Sie wollte Dieterich also auf einen Isispriester
deuten.)
* <Aus Herculaneum, s. Mau, Pompei in Leben und Kunst* S. 163 mit dem
Bild auf S. 162.)
« < Jetzt im Belvedere des Vatikan, s. Heibig Führer P S. 92; s. Tafel IL)
' lApul. Met. XI 11: gerebat alius felici suo gremio summi numinis vene-
randam efftgiem.]
» <Aus Lukian fand sich im Material nur eine Notiz, Dea Syr. 48, die sich
aber allein auf das Tragen des Wassers bezieht, über die Verhüllung der Hände
nichts aussagt.)
» <Bei den Persern tragen die Priester des Feuers Handschuhe, S. Reinach,
Orpheus, Paris, Picard 1909 S. 98.)
*" <In Rom gab es einen einheimischen Ritus der verhüllten Hand im Kult
der Fides; zu den Stellen bei 0. Wissowa, Religion und Kultus der Römer
S. 123 Anm. 7 kommt noch Mythogr. lat. I 191: Fidei panno velata manu
448 Der Ritus der verhüllten Hände
schuhen der Kaiser und Bischöfe, der höfischen und der kirchlichen
Tracht setzte sich mannigfach im Mittelalter bis heute Ritus ^ und Mode
der verhüllten Hände fort. Für die Geschichte religiöser Bewegungen
sind solche äußeren Dinge oft die sichersten Zeugnisse: es gibt auch
eine Religionsgeschichte des Handschuhs.
sacrificabant, quia fides tecta esse debet — Properz II 6, 44 zur Türe der Ge-
liebten: debitaque occultis vota tuli manibus, nachgewiesen von E. Bethe; das
kann aus der hellenistischen Literatur oder aus dem Isiskult stammen, den
Properz kennt, s. z. B. IV 5, 35. Bittflehende Barbaren mit verhüllten Händen vor
Mark Aurel, Petersen Marcus-Säule Tafel 56, XLIX 10 ff. Im Leben des Aurelian,
Script, hist. aug. 19, 6 wird den Quindecimvirn befohlen velatis {vetanis die Hss.)
manibus libros evolvite. — In den illustrierten Terenzhss. trägt der Prologus
den Zweig in verhüllter linker Hand, s. Harvard Studies XIV 1903 Plate 8, com-
biniert mit 9. Das Original dieser Bilder setzt Bethe etwa ins zweite Jahr-
hundert n. Chr., Terentius, Codex Ambrosianus H 75 inf., Leiden Sijthoff 1903
p. 64. L. Deubner macht auf Plin. Nat. hist. XXIV 103 aufmerksam, vom Sammeln
des Krautes selago: legitur sine ferro, dextra manu per tunicam operia (operta
Mayhoff, quae oder quasi die Hss.) . . . Candida veste pureque lautis nudis
pedibus sacro facto . . . hanc contra pemiciem omnem habendam prodidere
Druidae Gallorum.y
^ [Bei der Kommunion in gallikanischem Ritus, Duchesne Origines du culte
chr4tien ^ p. 214, vgl. Mabillon De liturgia gallicana, Paris 1785 p. 52. Conci-
lium Autissiodorense can. 36 (Canones apost. et conc. rec. Bruns II p. 241): Non
licet mulieri nuda manu eucharistiam accipere. Augustin V (Migne 39) p. 2168,
Append. serm. 229: similiter et mulieres quomodo nitidum exhibent lineolum
ubi corpus Christi accipiant.]
XXX
DER UNTERGANG DER ANTIKEN RELIGION^
EINLEITUNG
Mit einigem Zagen nur versuche ich es, Ihnen den Untergang der
antiken Religion darzustellen. Den Untergang einer Religion! Einer
Religion, die in unendlich mannigfaltigem Wandel in den verschiedensten
Formen, in langem Aufgang und Niedergang in der griechisch-römischen
Kulturwelt - denn nur sie meine ich mit der Bezeichnung ^antik' -
in Geltung gewesen ist. Es ist eine zweitausendjährige Geschichte der
Religion und der Religionen, von dem Götterdienste der Herrscher des
goldreichen Mykene bis zu den Tagen, da die letzten Tempel antiker
Götter von wildgewordenen Christenmönchen zerschlagen und die letzten
hellenischen Philosophen, die noch glaubten an die Ideale ihres Heiden-
tums, vertrieben wurden von dem allerchristlichsten Kaiser Justinian.
Was ist da antike Religion? was ist ihr Untergang, wenn ihre Formen
in unaufhörlichem Wechsel absterben und aufleben? Am Ende müßte
ich zuvörderst fragen, was ist Religion, in welchem Sinne ist Religion
zu verstehen, wenn ich ihren Untergang erzählen will. Ich muß meiner
Darstellung selbst zutrauen, daß sie erkennen lassen wird, wie ich Re-
ligion verstehe und wie ich ihren Untergang verstehe - es gibt auch
hier auf das 'was ist es?' der Forschung nur eine geschichtliche Ant-
wort. Nur die Philosophen, die sich im stolzen Besitze ihrer Apriori-
täten befinden, können Ihnen auf anderem Wege Antwort schaffen -
es gibt auch noch einige lebende Religionsphilosophen. Die Historiker
sind vor der Fülle der wirklichen Erscheinungen bescheiden geworden
' <Als Kolleg gelesen Marburg S. S. 1892, Heidelberg W. S. 1903/04; als
Vortragszyklus in Frankfurt a. M. Anfang 1900, in Salzburg Herbst 1905, in Ham-
burg Ostern 1908. Einleitung und Kapitel I sind wörtlich nach Dieterichs Konzept
der Frankfurter Vorträge gegeben. Die Anmerkungen zu diesem Teil sind,
soweit sie keine Zitate enthalten, Zusätze aus der Heidelberger Vorlesung, die
den Kollegheften seiner Schüler entnommen sind; die übrigen Anmerkungen
sind vom Herausgeber zugesetzt. Kap. II— V versuchen, den Gang der Haupt-
gedanken aus jenen Kollegheften wiederherzustellen.)
Albrecht Dielerich: Kleine Schriften. 29
450 ^^^ Untergangf der antiken Religion
und die philologischen Historiker sind die bescheidensten, die der un-
endlichen Mannigfaltigkeit der Überlieferungen, der Tatsachen, der Rätsel
unbenebelt ins Auge sehn.
Den Untergang einer Religion darzustellen heißt in Wirklichkeit
nichts anderes als die Geschichte dieser Religion darzustellen. Es ist ein
unablässiges Werden, ein fortwährendes Untergehen früherer Formen.
Und gerade der Fortschritt der Religion, die Erhebung der Religiosität
ist immer eine Überwindung früherer Formen, ein Absterben unvoll-
kommenen religiösen Glaubens und Empfindens. So sind auf jeder Stufe
der Entwicklung Fortschritt und Untergang der Religion eins. Welch
ein Untergang religiöser Formen und Anschauungen liegt schon jenseits
der homerischen Gedichte, die uns das erste Denkmal hellenischer
Religion sind. Vom ursprünglichsten Glauben der Griechen erkennen
wir gerade noch einige Rudimente. Wie viel uralte Religion ist schon
untergegangen für diese aufgeklärte Ritterwelt des homerischen Epos!
Und wenn wir bedenken, wie sich aus der unendlichsten Vielheit gött-
licher Wesen im Fortschritte des religiösen Denkens immer mehr Einzel-
gestalten erheben, plastische Gestalten, eine immer geringere Zahl immer
umfassenderer göttlicher Mächte, erkennen wir einen fortwährenden
Untergang von Göttern und Glaubensformen; und wenn wir erkennen,
wie diese Entwicklung schließlich zu mehr oder weniger ausgesprochenem
Monotheismus hindrängt, so wissen wir, daß das die höchste Stufe einer
solchen religiösen Entwicklung, wir wissen aber auch, daß es der
Untergang der antiken Religion ist. -Welche Höhe religiöser Gedanken
hat die Stoa in ihren besten Verkündigern erreicht und doch war es
ein Untergang antiker Religion. Wie hat Piaton das höchste hellenischer
Religion empfunden, wie hat er die religiösesten der Menschen vieler
Jahrhunderte erhoben zu den reinsten Höhen des Glaubens an das
Göttliche und das ewige Licht — er hat das Gebet gebetet so helle-
nisch wie kein anderes, das ich kenne: ^großer Fan gieb mir, daß ich
innerlich schön sei' — und derselbe Plato hat geeifert wie keiner gegen
den unwürdigen Götterglauben seines Volkes, und er hat es seiner
Dichterseele abgerungen, daß das Buch, Mas seinem Volke die Götter
geschaffen', daß Homer aus seinem Idealstaate verbannt wurde. In
diesem Herzen flammte der lichteste Glaube, dessen je ein Hellene teil-
haftig geworden: in demselben Herzen war der Glaube der Väter ge-
storben, getötet.
Sie werden erkennen, wie schwer es ist, von dem Untergang einer
Religion zu berichten und Sie werden nicht erhoffen, daß ich dieses
Problem in seiner Tiefe und Weite würde behandeln können. Wir
Der Untergang der antiken Religion 451
müßten die Geschichte der antiken Religion schon besitzen, die diese
und die folgende Generation uns noch nicht wird geben können. Ich
kann nur eine enger umgrenzte Darlegung versprechen. Zwar, was Sie
vielleicht am ehesten von mir erwartet haben, eine Erzählung der letzten
Schläge, die das erstarkende und siegreiche Christentum ausführt, der
Akte, die den äußeren Tod herbeiführten, darf nur der geringste Teil
der Darstellung sein. Verbotene Opfer, gestürzte Tempel und zerschlagene
Götterbilder machen nicht den Untergang einer Religion aus. Die
Religionen kämpfen in den Menschen um den Sieg und es gilt zu er-
kennen, wie und warum in den Menschen der antiken Welt die alte
Religion untergeht und endlich vor einem neuen Glauben nach schwerem
Kampfe dahinsinkt.
Dieses Kampfes innerste Aktion gilt es wo möglich zu erfassen. Und
am deutlichsten erkennen wir, ehe wir auf von außen andringende
Mächte Rücksicht nehmen, ganz bestimmte innere Kräfte, deren Wirksam-
keit wir als eine Selbstzersetzung der antiken Religion zusammenfassen
dürfen. Es handelt sich zunächst um die oberen Schichten der Völker,
um die sog. Gebildeten, bei denen sich zuerst und am meisten der
Widerspruch zwischen fortschreitender Erkenntnis und den überkommenen
Formen der Religion zu zeigen pflegt. Hier haben wir am leichtesten
die Möglichkeit bestimmte Strömungen zu unterscheiden, welche die
festen Formen der Religion unterwühlen und auflösen, und damit diese
Religion selbst zersetzen. Es sind die Fortschritte des Wissens und der
Erkenntnis, die bei jedem Volke zum Konflikt mit dem Glauben der
Väter führen, ja Etappe für Etappe werden die Formen der überlieferten
Religion zerstört. Es pflegt das erste zu sein, daß die geförderte Er-
kenntnis, daß die erwachte Vernunft Anstoß nimmt an diesem oder jenem
einzelnen Punkt, der ihr widerspricht, der unmöglich scheint; man sucht
der Überlieferung eine vernünftige Deutung abzugewinnen: es ist die
Erscheinung, die wir Rationalismus zu nennen gewohnt sind. Er tötet
immer den eigentlich religiösen Keim und ist recht eigentlich ein Auf-
lösungsprozeß des Religiösen, stets beginnend in den oberen Schichten
der Bevölkerung. In eben den Schichten pflegen oft gerade energischere
Geister Wege vorzuschreiten, das Überlieferte einfach abzulehnen, auf
ein Untersuchen wie auf ein Umdeuten und Retten zu verzichten: es
pflegt dann aber die kraftlose Lehre der Resignierten und Tatenlosen
im Geiste zu sein: der Skeptizismus, wie wir kurz sagen können. Wo
man so zu verzichten vermag, ist das religiöse Bedürfnis tot. Wo es
noch einigermaßen rege ist, beobachtet man eine dritte wichtige Er-
scheinung, die ebenfalls immer von den Gebildeten, ja Gelehrten aus-
29*
452 ^®^ Untergang der antiken Religion
gegangen ist, zu allen Zeiten das Hauptmittel zwischen religiöser Tra-
dition und den Fortschritten des Erkennens Versöhnung und Vermittelung
zu schaffen: die allegorische Umdeutung. Wenn der heiligen Texte ^
Wortlaut nicht mehr zu ändern, zu mindern oder zu mehren war, dann
war die Allegorie im weitesten Sinne des Wortes zu allen Zeiten das
Mittel, mit dem die Gebildeten die Religion ihres Volkes zu erhalten
meinten. Sie legten die reinere Erkenntnis ihrer Zeit den alten Texten
unter, die eben außer dem Wortsinn noch dieses andere sagten: denn
das bedeutet Allegorie. Daß auch hier das religiöse Empfinden, das
eigentlich Religiöse untergeht, werden wir alsbald erkennen. Die drei
angedeuteten Strömungen, die sich in der Entwicklung der antiken
Religionsgeschichte unterscheiden lassen, können wir zusammenfassen
als die Revolution von oben, die dazu hilft, die antike Religion um-
zustürzen - sie ist es, die recht eigentlich den Selbstzersetzungsprozeß
der antiken Religion in Bewegung bringt, von oben immer weiter nach
unten.
Wir werden weiterhin von den gewaltigen Kräften und Mächten
zu berichten haben, die eine Revolution von unten, aus den unteren
und untersten Schichten, aus den Massen gegen die Religion in Be-
wegung setzen, und die mit ihm meist verbündeten Mächte der Revo-
lution von außen — alle neuen religiösen Bildungen pflegen von
unten oder von außen zu kommen und in starkem Drängen nach oben
die oberen Schichten, die da deuten und vermitteln und resignieren,
abzusprengen, wenn die Zeit erfüllet ist.^
ERSTES KAPITEL
DIE REVOLUTION VON OBEN
Der erste eigentliche Stoß in der Richtung von oben ging von der
Bildung loniens aus, von der ionischen Naturwissenschaft. Wir machen
^ Ein Buch, in dem die religiösen Anschauungen kodifiziert gewesen wären,
das kanonische Geltung gehabt hätte, eine Bibel hat das Altertum nie besessen.
Ein einziges Mal wäre es in Hellas beinahe dazu gekommen. Das war im
sechten Jahrhundert, als die orphischen Mysterien weite Kreise eroberten und
sich heilige Bücher schufen, die der Mysten Glaube verehren sollte. Aber die
gewaltigen Taten der Perserkriege haben den Geist der Griechen hoch über
diesen Dunstkreis hinausgehoben.
* Ein dritter Abschnitt soll die Revolution behandeln, welche die griechische
Religion durch Einflüsse von außen erfuhr. Ein viertes Kapitel wird sich mit
dem Synkretismus und der religiösen Erregung der Massen beschäftigen, die
namentlich das zweite Jahrhundert n. Chr. ausfüllen. Das Schlußkapitel soll die
letzten Kämpfe und die Kompromisse zwischen altem und neuem Glauben be-
trachten.
Der Untergang der antiken Religion 453
uns heute, da uns die Philosopheme eines Thaies und seiner nächsten
Nachfolger leicht simpel und kindlich vorkommen mögen, schwer einen
Begriff davon, welchen Riesenfortschritt im Denkprozeß der Menschheit
es bedeutete, wenn ein Grundstoff, ein Grundprinzip aller Erscheinungen
der Welt gesucht wurde. Es ist eine ungeheure Abstraktionskraft des
Denkens gegenüber dem allgemeinen Glauben an die Fülle göttlicher
Kräfte, die die Welt regierten. Aber der Konsequenzen ihrer Lehre
waren sich jene Denker zunächst nicht im mindesten bewußt. Ahnungs-
los erklärte noch der erste unter ihnen, daß alles voll sei von Göttern^ :
er war sich nicht bewußt einer Trennung vom Glauben seiner Volks-
genossen. Ich will hier diese Anfänge einer Revolution der Erkenntnis
gegen den Glauben nicht weiter verfolgen und weder von den folgen-
schweren Gedanken eines Demokrit und der Atomistiker noch eines
Herakleitos sprechen. Aber eine Epoche in diesem Prozesse darf ich
nicht unbezeichnet lassen: so lange jene in ihren Gedanken so kon-
sequenten ionischen Entdecker der Wissenschaft auf der heimischen
Scholle wohnten, in den Tempeln ihrer Götter und an den Gräbern
ihrer Väter opferten, blieb der tiefe Riß verborgen, der ihr Wissen von
dem Glauben ihrer Umgebung lange schon trennte. Als aber die
ionische Kultur Kleinasiens vor dem Ansturm der Perser zusammenbrach,
als die ionischen Verbannten umherirrten in den weiten griechischen
Landen, da hemmt die Überlieferung der Heimat, deren Götter sie ver-
lassen, nicht mehr die völlige Abstraktion auch in religiösen Gedanken.
Einer der revolutionärsten und zugleich wahrhaft religiösesten Geister
spricht es aus: ^Gott ist einer; alles ist eins und dieses eine ist Gott.'^
Xenophanes von Kolophon war mit 25 Jahren ausgestoßen aus seinem
Vaterhause und aus seiner Freundschaft ins Elend; düstern Sinnes warf
er den Volksgenossen ins Gesicht: 'Was unter Menschen Schmach und
Schande ist, das haben Homer und Hesiod den Göttern angedichtet, zu
stehlen, zu ehebrechen und sich zu betrügen.'^ Wir bewundern den,
der schon gegen die anthropomorphe Vorstellung von den Göttern das
denkwürdige Wort findet: 'Wenn die Stiere und Löwen Hände hätten
und malen könnten, würden sie die Götter sich ähnlich malen.'* Er
hat sich auch gegen die gymnastischen Ideale des echten Hellenentums
gewandt: 'besser als Menschen- und Pferdekraft ist unsere Weisheit'^
sagt der verstoßene Flüchtling. Wir sehen wie die tiefsten Schatten
der Verzweiflung über seine suchende Seele fallen. 'Sicherlich war kein
» Thaies 23, Diels Vorsokratiker I ^ S. 10.
« Xenophanes 31, Diels Vorsokratiker P S. 40, 29.
» Frg. 11 Diels. "" Frg. 15 Diels. " Frg. 2, 11 Diels.
454 D®'' Untergang der antiken Religion
Sterblicher je', sagt er, 'noch wird es ihn geben, der die Götter er-
kennt und das All: denn alles umfängt ja der Irrtum.'^ Und doch auch
wieder: 'Gott hat die Erkenntnis nicht auf einmal gegeben, mit der
Zeit suchend finden wir sie.'^ Dort ist es die Stimmung völliger
Skepsis, hier ist es eine vermittelnde Anschauung, die zur Umdeutung
der Überlieferungen die Handhabe bieten konnte und geboten hat.
Das waren, wenn auch noch so aufrührerische Gedanken eines
einzelnen gewaltigen Geistes. Es kam bald eine ganze Epoche geistigen
religiösen Aufruhrs in der Capitale hellenischer Bildung, die Kleinasien
abgelöst hatte. Und es war wieder die Zeit eines politischen Zusammen-
bruchs, des Zusammenbruchs der Herrlichkeit des attischen Reiches.
Der Mann, der die Übersiedelung ionischer Naturwissenschaft nach
Athen geradezu personifiziert, ist der erste, der mit seinen Lehren in
einen äußeren Konflikt mit der Staatsreligion kam. Anaxagoras von
Klazomenä wird um den Beginn des peloponnesischen Krieges der
Religionsstörung angeklagt, nicht weil er von dem wirkenden Welt-
geiste und den wirbelnden Urstoffen große neue Dinge lehrte, sondern
weil er die göttliche Sonne für einen glühenden Klumpen erklärte.^
Das verletzte die allgemeine Religion, er wurde in eine Geldstrafe
verurteilt und verbannt. Es war das erstemal in Europa, daß die an-
erkannte Religion und die Wissenschaft in einen äußeren Konflikt ge-
rieten und Anaxagoras war der erste Vorläufer Galileis. Es folgten in
der gleichen Epoche noch mehrere Inquisitionsprozesse. Der be-
deutendste der Sophisten, die jener Zeit der geistigen Revolution von
oben ihr Gepräge geben, Protagoras ging mit am schärfsten gegen
den überlieferten Glauben mit seinen Schriften vor. Ein Buch hieß
'Die niederwerfenden Reden'.* Der Titel lehnte sich an einen Aus-
druck der Ringschule an, der Inhalt bezog sich auf religiöse Traditionen
und Lehren. Ein besonderes Buch aber über die Götter begann: 'Was
die Götter betrifft, vermag ich nichts sicheres zu wissen weder über
Existenz noch Nichtexistenz. Viele Hindernisse sind dagegen: die
Unwahrnehmbarkeit der Sache und die Kürze des Lebens'.^ Ob es
wahr ist, daß er sein Buch im Hause des Euripides zuerst vorgelesen,
können wir nicht ergründen. Ein gläubiger Kavallerieoffizier Pythodoros
hatte Anzeige gemacht: Protagoras wurde - gerade wegen jenes
Anfangs seiner Schrift heißt es - in die Verbannung geschickt. Seine
Bücher wurden bei den einzelnen Besitzern polizeilich konfisziert und
^ Frg. 34 Diels. * Frg. 18 Diels.
' Anaxagoras 72, Diels Vorsokr. I ^ S. 307.
' Diels Vorsokr. II PS. 536. Diels Vorsokr. UPS. 537, 30.
Der Untergang- der antiken Religion 455
auf dem Markte öffentlich verbrannt. Der Kühnste aber, der augen-
scheinlich den Protagoras überbietend gegen den nationalen Glauben
der Griechen ein Buch schrieb 'Die in den Abgrund werfenden Reden',
Diagoras von Melos, ist als Götterleugner aus der Literatur der Zeit
wohlbekannt/ Es braucht uns nicht zu wundern, daß derselbe Mann
als Dithyrambendichter die frömmsten Sätze schrieb - das gehörte zum
Stile dieser Poesie. Einer Verurteilung wußte er sich durch die Flucht
zu entziehen, aber auf seinen Kopf wurde ein hoher Preis gesetzt.
Auch diesem Diagoras wurde vorgeworfen, daß er neue Götter ein-
führe, genau wie dem Sokrates. Auch dieser wurde ja der Asebie
angeklagt, daß er nicht glaube an die Götter des Staates und neue
Götter einführe. Die Geister der Inquisition wurden immer mächtiger,
je machtloser der politische Staat, je unglücklicher und verzweifelter
die Politik Athens wurde. Hatten sie doch, die Bürger von Athen,
so lange sie übermütig im Glücke waren, gelacht und geulkt über
alle Götter von ganzem Herzen, und der konservative Aristophanes
der ernstlich für Erhaltung der Religion eintritt, reisst die frivolsten
Witze über Zeus und alle Götter in geradezu göttlicher Frechheit, und
ihn hat niemand verklagt. Als die Not wieder beten lehrt, greifen die
ängstlichen, eben noch ungläubigen, jetzt abergläubigen Athener, die
eigene Frivolität zu büßen, einzelne Opfer. Aber es waren nicht ein-
zelne Zweifler oder Ungläubige: wir vermögen tiefer zu sehen. Wenn
der gewaltige Dichter jener geistigen Konfliktszeit, Euripides, die Personen
seiner Stücke - einerlei hier was seine eigene Meinung war - solche
Sätze sagen läßt^•
'Man sagt ja, in dem Himmel seien Götter -
Nein, sag ich, nein, wenn man nicht immer noch
Dem alten törichten Gerede glauben will'
oder*: ^
'Zeus wer du sein magst - nur gerüchtweis' kenn ich dich
wo das von der Bühne gesprochen wurde, war es dem Denken der
Hörer nicht fremd. Wir haben in diesen Bühnenstücken einen Spiegel
der Gedanken der Zeit. Statt weiterer Belege nur noch ein Zeugnis,
das uns erhalten ist aus einem Stücke der Kritias^- 'Es gab eine
Zeit, wo der Menschen Leben ohne Ordnung war und wilde Kraft
regierte, da weder die Wackeren Lohn noch die Bösen Strafe empfingen.
Da haben die Menschen Gesetze erfunden, damit sie Bestraf er wären
' Wellmann bei Pauly-Wissowa u. Diagoras 2.
» Bellerophon frg. 286 Nauck. » Melanippe ^ cocpn frg. 480 Na«ck.
* Sisyphos frg. 1, Nauck S. 771.
456 ^®^ Untergang der antiken Religion
es wurde bestraft, wer nur sündigte. Aber die Gesetze konnten bloß
bestrafen, was offen geschehen war, die Menschen freveUen im Ver-
borgenen: da erfand ein scharfsinniger und kluger Mann die Götter,
damit die Bösen etwas zu fürchten hätten, auch wenn sie heimlich
etwas täten oder sagten oder dächten. Was einer auch im Ver-
borgenen tat, würde den Göttern nicht verborgen bleiben. Mit solchen
Reden brachte er süße Lehre, die jedoch mit Lügen der Wahrheit
das Licht nahm. Das aber hieß er sie glauben, daß die Götter da
wohnten, von wo die meisten Schrecknisse die Menschen erschreckten,
und der meiste Nutzen ihnen käme, dort, woher man die Blitze
kommen sah und das schreckHche Geprassel des Donners, und wo
der Glanz der Sterne leuchtete, wo die Zeit geregelt wird, und von
wo der Regen niederkommt. So flößte er den Leuten Recht ein und
vertilgte den Frevel durch Furcht, den Menschen einredend, daß es
ein Geschlecht der Götter gebe.'
Es ist ein wahres Evangelium des Rationalismus, das Kritias
predigt, der in mehr als einer Beziehung in religiösen oder auch ir-
religiösen Anschauungen ein rechter Typus für seine Zeit ist. Hier ist
die flüchtigste Aufklärung, die von den Gebildeten aus die nationale
Religion des Volkes zerstört - hier ist schon völliger Untergang der
Religion.
Der Rationalismus konnte flacher auch in den folgenden Zeiten
kaum werden. Aber was vorher nur hier und da einsetzte, die ver-
nünftige Umdeutung der Sage - die etwa auch bei Euripides vor-
kommt, daß Herakles den nemeischen Löwen nicht mit den Armen
überwältigt, sondern in Schlingen gefangen habe^, auch da wie so
häufig durch ein etymologisches Wortspiel unterstützt - das ist in ein
System gebracht in der Diadochenzeit, wiederum einer Periode poli-
tischen Umsturzes in der griechischen Welt. Das Handbüchlein eines
Palaiphatos^ das alles 'Unglaubliche' des Mythus natürlich erklärt und
auf jene Zeit zurückgeht, ist uns erhalten. 'Dinge, die nicht heute
auch passieren können, zu glauben, ist albern', das ist der Grundsatz.
Nun ist Skylla ein Piratenschiff, die Chimäre ist ein feuerspeiender Berg,
und Bellerophon kommt auf dem Kriegsschiff Pegasos ihn zu erobern,
die Amazonen waren männliche Krieger mit langen Röcken und immer
rasiert: daher der Irrtum. Es ist charakteristisch genug, daß dies
alberne Buch in Deutschland während des vorigen Jahrhunderts eines
^ Herakl. 153.
* Palaephatus irepl diricTUJv ed. N. Festa, Teubn. 1902.
Der Untergang- der antiken Relig-ion 457
der beliebtesten Schulbücher war: es ist viele Male zu diesem Zwecke
ediert worden; sehr bezeichnend: zum letzten Male 1813. Aber das
eigentliche Haupt- und Grundbuch alles zünftigen Rationalismus war
nicht dieses, sondern ein anderes der gleichen Epoche, die 'heilige
Schrift' des Euhemeros\ eines Günstlings des makedonischen Kassander.
Das Buch hat die äußere Form des Romans, des Reiseromans; aber
das wesentliche ist, daß auf der fernen Insel des indischen Ozeans
Panchaia eine Urkunde erzählt von dem Leben und den Feldzügen der
Götter: des Kronos, des Titan, des Zeus. Zeus ist gestorben, nach-
dem er sein Reich unter Verwandte und Freunde geteilt, und sein
Grab ist auf Kreta zu schauen. Dann erst hat man die großen Könige
als Götter verehrt. Es ist die Deutung, die der Zeitgenosse jener
Übermenschen, die um das Reich des göttlichen Alexandros fochten,
dem Mythus gab: die Götter sind Menschen gewesen, wie wir heute
die Menschen zu Göttern werden sehen. Damals (302) sangen die
Athener dem Demetrios Poliorketes entgegen^:
Sind andre Götter, sei es weit von uns entfernt.
Sei es daß sie taub sind,
Gibts keinen oder kümmern sie sich nicht um uns:
Dich sehen wir gegenwärtig!
Von Holz nicht, nicht von Stein, in Wahrheit sehen wir dich.
Kommen anzubeten.
Zuvörderst Frieden schaffe uns, du Teuerster,
Du bist Herr darüber.
Es ist dieselbe Zeit, in der ein anderer Machthaber von Athen,
Demetrios von Phaleron, einen Theodoros^ der als Götterleugner be-
rühmt geworden ist - er lehrte unter anderem, daß nichts an sich
schlecht sei, nicht Tempelraub und Ehebruch, wenn es nur wirklich
Freude brächte, Aufopferung für das Vaterland sei lächerlich -, als er
der Asebie angeklagt war, von der Verfolgung befreite. Die
Stimmungen der gebildeten Griechen sind ganz andere als hundert
Jahre vorher. Die Zeit der Diadochen Ale>Canders ist nicht eine
grübelnde, zweifelnde, sich auflehnende wie die der Sophisten, es ist
eine satte und matte und blasierte Zeit. Feine Bildung und eleganter
Lebensgenuß sind das höchste Gut der Besten. Die Philosophen sind
zumeist Gecken und Narren geworden, die Köche sind die Vertreter
^ F. Jacoby bei Pauly-Wissowa u. Euemeros 3. ' Ath. VI 253E v. 15ff.
» Diog. Laert. II 8, 101.
458 D®^ Untergang der antiken Religion
um so wichtigerer Probleme. Die erlesensten Meisterstücke einer geist-
reichen Schauspieldichtung entstammen dieser Periode: Bruckstücke der
neuen attischen Komödie zeigen uns die Ideale der Zeit, auch die reli-
giösen. Nach Friede sehnt man sich und nach Ruhe des Genusses.
'Glaubst du' fragt man bei Menander\ Maß die Götter so viel Zeit
haben, jedem Tag für Tag seine Portion Glück und Unglück zuzuteilen?'
'Die Tuxn ist alles' ^ und sie meistert nur der Arm des Gewaltigen
dieser Erde.
'Ich halte nur für wahre Götter diese noch;
Das Silber und das Gold.
Die bete an, wenn du ein Haus dir bauen willst:
Dann hast du alles.' ^
Und das höchste, was in diesen Kreisen - denn nur von bestimmten
Gruppen und Richtungen rede ich — religiösem Empfinden nahe kommt,
scheint etwa dies zu sein*:
'Verehre Gott und glaub an ihn, doch such ihn nicht,
Denn mehr als eben Suchen hast du nicht davon.
Nicht wolle wissen ob er wirklich ist, ob nicht.
Nimm an er sei und sähe dich, und furcht' ihn stets.'
Die 'heilige Schrift' dieser Leute ist die des Euemeros, und seine
Lehre hat mehrmals weite Kreise von Anhängern gewonnen, als sie
der erste römische Dichter, Ennius, übersetzte, so gedankenlos, wie
der arme Schulmeister alles, was gut bezahlt wurde, übersetzte. Er
reichte die reife Frucht der Überkultur den Barbaren, denen sie
schmeckte, wie den russischen Bären die lustigen französischen
Romane. So hat dies Buch schon früh den Rationalismus in Rom
heimisch gemacht. Zuletzt hat es gewirkt noch im 18. Jahrhundert,
wo die französischen Aufklärer den Ausdruck Euhemerismus aufgebracht
haben für alle rationalistische Mythendeutung.
'Gibts keinen oder kümmern sie sich nicht um uns' so singen die
Athener jetzt von den Göttern im Jahre 302. Und das kam auch
praktisch religiös auf dasselbe hinaus. Aber man hört deutlich den
Klang einer Lehre, die seit zwei Jahren in Athen gepredigt wurde: es
gibt Götter, aber sie kümmern sich nicht um uns. Es gilt die Menschen
von der quälenden Furcht vor den Göttern zu befreien. Es war
* Fragm. 174 Kock. * Men. frg. 482 f. Kock. " Men. frg. 537 Kock.
* Philemon frg. 118 Kock.
Der Untergang der antiken Religion 459
Epikuros, der so in Athen zu lehren begann, gerade hundert Jahre
nach dem Sturze des freien Athen. Es ist ein förmlicher Kreuzzug
gegen die Religion, den er eröffnen will: wer die Religion verdrängt,
der ist der wahre Sieger über den schlimmsten Feind, wer die Religion
annimmt, ist ein Gottloser, Und doch leugnet er - ein echter Hellene -
die Existenz der Götter nicht, sie leben in den Zwischenräumen der
Welten und kümmern sich selig um nichts. Höchstens mag der Weise
aus ästhetischem Bedürfnis ihrer Vortrefflichkeit Verehrung darbringen.
Der Gedanke der Befreiung von Götterfurcht ist, wenn nicht der
kräftigste, so doch der bewußteste Stoß gegen den alten Glauben ge-
wesen. Und auch hier ist nichts wieder charakteristischer für das
Bedürfnis auch der Gebildeten nach einer Art religiöser Verehrung
als das, daß sich nicht nur die Angehörigen dieser Lehre wie gewöhn-
lich in den Formen religiöser Gemeinden zusammenschlössen, daß sie
ihren Meister allmonatlich am 20. Tage und an seinem Geburtstag^
als ihren Herrn, ja als ihren Heiland (cuuirip) feierten und ihm Opfer
brachten. Auch die Befreiten dachten in alten Formen. Sie sind zu-
sammengeschlossen in der festen Organisation einer Kirche, diese Be-
kenner der Antitheologie des Epikuros. Und deren waren in den
folgenden Jahrhunderten des Altertums unter den Gebildeten nament-
lich in den Centren zu Athen, zu Alexandria und dann namentlich in
Rom sehr viele. War die Botschaft des Rationalismus schon vom
ersten römischen Dichter nach Rom übertragen, so ward von dem
zweiten großen lateinischen Dichter das Evangelium der Befreiung von
der Götterfurcht mit glühender Begeisterung verkündigt, von T. Lucretius
Carus, mit glänzendem Erfolge. Hier ist ein Zug vordrängender
Propaganda, den wir höchst selten bei den Vertretern der philo-
sophischen Lehre im Altertum antreffen.
Schon vorher kann man beobachten, wie die Schüler Epikurs
nach Alexandria drängen, als es Mittelpunkt der Welt war, und
weiterhin nach Rom. Hegesias^ der in Alexandria zur Zeit des ersten
Ptolemäus noch viel schärfere Konsequenzen aus der Lehre Epikurs
zog als alle anderen, stand jedenfalls in naher Beziehung zu seinem
Kreise. Er ward der ausgesprochenste Pessimist des Altertums. Es
gibt vielmehr Schmerz als Lust, war die Bilanz, die er dem Menschen-
leben zog. Den Schmerzen zu entgehen und sich alles, auch das
Leben gleichgültig sein zu lassen, das ist seiner Weisheit letzter
Schluß. 'Der Hungerselbstmörder' hieß eine Schrift von ihm, in der
* v. Arnim bei Pauly-Wissowa VI 135. * Cic. Tusc, I 83 f.
450 Der Untergang der antiken Religion
einer, der sich freiwillig tothungert, seinen Freunden seine Gründe
erklärt. Den Selbstmordwerber nannte man ihn, weil er viele bewogen
habe, das Leben zu verlassen, und Ptolemaios I in Alexandria unter-
sagte ihm zu lehren.
Und wahrlich kein Herrscher und kein Staat konnten solchen Pro-
pheten freundlich gesinnt sein. Demetrius von Phaleron ist eine Aus-
nahme, wenn er als Staatslenker Athens für einen Götterleugner eintrat
und die brutalen Kraftnaturen unter den Nachfolgern Alexanders, die
außer sich selbst und ihrem Schwerte keinen Gott kannten, sind auch
hier Ausnahmemenschen. Wie immer hat auch die hellenistische und
römische Monarchie alle die geistigen Strömungen perhorresziert, die
irgendwie zerstörend auf die religiösen Umgrenzungen des Volkslebens
wirken und die Schranken wegreißen konnten, die das Volk in er-
wünschter ruhiger Demut hielten; sie hat scharfe Zusammenstöße zwischen
den Mächten des Wissens und des Glaubens zu vermeiden gewünscht
und das war meist im Altertum leicht zu erreichen, solange kein
Stand vorhanden war, der mit der Macht des Glaubens die eigene zu
stärken strebte. Sie hat stets zu vermitteln und zu einigen gesucht und
war vor allem bemüht, auch für die obern Schichten der Völker der Reli-
gion eine Form zu geben und so sie selbst in sittlich-religiöser Zucht zu
halten und die Massen vor der Infizierung von oben zu bewahren. Dem
Volke muß die Religion erhalten bleiben, das war aller derer Grund-
satz, die in weiser Religionspolitik solche Reformen erstrebten - vom
ersten Ptolemäer bis zu Augustus, bis zu den Severen. Ein Monarch
war es auch, der die für die letzten Jahrhunderte des Altertums folgen-
reichste Vermittelung zwischen der vorgeschrittenen Erkenntnis und dem
nationalen Glauben hervorgerufen hat. In der Hofluft ist die Ver-
mittelungsphilosophie und die Vermittelungstheologie entstanden. Als
der König von Makedonien Antigonos Gonatas den Zeno^ berief, der
seine Lehre zuerst in der Halle, der Stoa, zu Athen verkündet hatte,
erhielt er von dem schroffen Alten, der auch mit der Volksreligion nicht
paktiert und einen wirklichen Monotheismus verkündet hatte, eine Ab-
sage. Und doch nicht ganz: zwei Schüler, Persaios und Philonides^
schickte er, und sie, eine Art Hofprediger, begannen den Amalgamierungs-
prozeß zwischen Volksreligion und stoischer Philosophie. Er wird im
weitesten Umfange ermöglicht hauptsächlich durch die Mittel der Alle-
gorie: die Volksreligion wird auf Grund stoischer Gedanken ausgedeutet und,
soweit der Monotheismus nicht bloß scheinbar gewahrt bleibt, wird er
Diog. Laert. VII 1, 6.
Der Untergrang der antiken Religion 45 1
auf Zeus konzentriert. Die Allegorie war an Homer, dem Götter- und
Heldenbuch des hellenischen Volkes, erwachsen und schon der „erste
Homeriker" Theagenes von Rhegion^ hatte sie, wie es scheint durch
Andeutungen des Xenophanes, wie ich sie oben erwähnte, angeregt,
geübt. An Homer hat sie sich immer wieder dokumentieren müssen
und dort wird sehr bezeichnender Weise diese Erklärungsform Apologie
genannt. Wir haben viele Reste solcher Umdeutungen, nichts ist lehr-
reicher als das erhaltene Hand- und Hilfsbüchlein für stoische Mythen-
erklärung, das sich selbst nennt 'Abriß der Überlieferungen nach
hellenischer Theologie'^ von dem Römer Cornutus, das jahrhunderte-
lang in der römisch -griechischen Welt in Gebrauch war. Es ist die
wahnsinnigste allegorisch -dogmatische Exegese, meist mit Hilfe ety-
mologischer Kniffe zu Wege gebracht. Athene ist der feinere Stoff
in der obersten Region, der mit dem Geist zusammenfällt. Wenn
Zeus die Hera umarmt, so umgibt der Äther die Luft und der Xötoc
c7T€p|LiaTiKÖc geht in die Materie über. Wenn ApoUon den Drachen
schlägt, so siegt das Licht über die widrigen Dünste; Hephaistos ist
das Feuer, das irdische Feuer kann zum Fortkommen des Holzes nicht
entbehren, drum braucht er den hölzernen Stab. Herakles bezwingt
Löwen, Eber und Stier, d. h. die Vernunft besiegt die Lüste und Leiden-
schaften, er holt den Cerberus mit den drei Köpfen, d. h. er bringt die
Philosophie mit ihren drei Hauptteilen ans Licht; dort steht es auch
gesagt, daß Apollo die Sonne und Artemis der Mond sei, wie denn in
diesem Büchlein ein gut Teil der Albernheiten moderner Mythologie
schon zu lesen steht, für seine Kleinheit merkwürdig viele. Die Stoa
konnte in ihrem praktischen Bestreben, den Gebildeten Teilnahme an
der überiieferten Religion möglich zu machen, allen Polytheismus auf-
nehmen, ja allen möglichen Aberglauben - sie ist am weitesten den
Massen entgegengekommen, die nach Mystik und Offenbarung lechzten -,
Dinge, von denen ich heute noch nicht zu sprechen habe. Auch darf
ich hier nicht von den plebejischen Brüdern der Stoiker, den viel kon-
sequenteren Gegnern des Volksglaubens, den Kynikern reden. Die
Lehre der Stoa war für Jahrhunderte die Religion der Gebildeten in
der antiken Welt und diese Religion konnte am ersten Freund sein der
neuen Lehre, die aus dem Osten kam. Man darf nicht vergessen, wie die
Stoa besonders mit so starkem Hindrängen zum Monotheismus etwas
Fremdes in die griechische Welt brachte: die Häupter der Stoa waren
^ Susemihl Gesch. der griech. Lit. in der Alex. Zeit II 664 f.
' Cornutus 'embpoinfi tüjv Kaxct ti?iv '6X\tiviki?iv GeoXoTiav irapabebon^vujv
ed. C. Lang Teubn. 188L
462 Der Untergang der antiken Religion
alle Orientalen : Zeno, Kleanthes und Chrysippos, und nicht anders jener
erwähnte Persaios.^ In Rom war sie von der allergrößten Wirkung
und ich brauche nur Namen wie Persius und Seneca, Epiktet und Marc
Aurel zu nennen. Keine anderthalb Jahrhunderte, ehe ein Christ den
Thron der Cäsaren bestieg, saß ein Stoiker darauf. Der Stoizismus
hat in dem Dogmatismus einer orthodoxen Lehre manche Ähnlichkeit
mit dem späteren Staatschristentum und wie manche von den Dogmen
jener Stoa sind von diesem Christentum übernommen!
Wie dieser Dogmatismus bekämpft, verspottet, gehaßt werden mußte
von den Richtungen, die wir bereits betrachtet, ist einleuchtend. All-
gemeiner Skeptizismus kämpfte gegen ihn mit aller Macht, deren das
Negative fähig ist. Ja, die Erben Piatons waren jenen orientalischen
Dogmatikern gegenüber für lange Zeit zu vollendeten Skeptikern ge-
worden. Und die verbreitetste Grundstimmung der Gebildeten in der
griechisch-römischen Welt in den letzten Jahrhunderten war gewiß nicht
die stoische Allegorie -Vermittlung oder Orthodoxie: das war ein schwan-
kender Eklektizismus und eine resignierende Skepsis. Ein Typus ist
Cicero mit seiner Schriftstellerei, die so lange in den entsprechenden
Kreisen wirksam bleibt. Was er in dem Buche über die Natur der
Götter übernimmt, ist im wesentlichen auf Skepsis aufgebaut, nur daß
seine gutmeinende Pantomime natürlich allem die Spitze abbricht und
seine verschwommene Eklektik einen kraftlosen Deismus damit zu ver-
einigen weiß. So ist denn in den Endzeiten des Altertums bei den
Gebildeten ein tiefer Skeptizismus hier und da vereint mit einem flachen
wirkungslosen Deismus. Je weniger die Skepsis je die Kraft hatte
Schüler zu finden, um so mehr beherrschte sie die weitverbreitetsten
Stimmungen. Namentlich auch der Stand der Ärzte ^ pflegte ihnen zu
huldigen und sie zu verbreiten: nur der Empirie rieten sie zu trauen.
Zurückhaltung von jedem Wissen und jedem Glauben, das war das eine
Schlagwort, und Leidenschaftslosigkeit das andere; in diese beiden
Wünsche ging die Philosophie aus, die der Gebildeten Religion in so
mannigfacher Form gewesen war. Die Religion war untergegangen:
^ Die orthodoxe Stoa hat in späterer Zeit durch ihre Wendung zum Praktisch-
Sittlichen einen gewaltigen Einfluß auf die Entwicklung des antiken Staates
besessen. Von solchen stoischen Lehren hat z. B. noch der Jude Philo gelernt:
auch hier haben wir wieder einen Zusammenhang der Stoa mit dem semitischen
Volkstum. Das trifft auch für eine der bedeutendsten Erscheinungen dieser Sekte
zu, Poseidonios von Rhodos, der aus Apamea in Syrien stammte und nament-
lich durch seine zahlreichen bedeutenden Schüler gewirkt hat. Er will eine
positive Weltanschauung verbreiten: das ganze Weltgebäude wird von einem
Gott gelenkt.
* S. Sextus Empiricus.
Der Untergang der antiken Religion 453
das Phlegma war geblieben. Nur sich nicht aufregen und sich nicht
begeistern: das war das Ende und der geistige Tod/
Ein Stück Untergang antiker Religion haben wir beobachtet: ihre
Selbstzersetzung bei den Gebildeten, die Revolution von oben. Wichtiger
wird es nun sein, die Revolution von unten und von außen zu ver-
folgen. Die Rolle aber jener Resignierten in dem letzten Kampfe, wenn
ihnen aus den Kräften von unten und außen der letzte Gegner er-
wachsen ist, mag man leicht ermessen: man stelle sich vor, wie re-
ligiös und sozial revolutionäre Scharen in flammender Begeisterung
empordringen gegen jene höheren Schichten: der Sieg gehörte denen,
^ Eine Wandlung der Dinge hat dann noch Augustus versucht; das Monu-
mentum Ancyranum lehrt deutlich, wie er sich gemüht hat, aus Staatsraison
dem Volke den Glauben der Väter zu erhalten; er ließ Tempel bauen und alte
Volksbräuche wieder aufleben: es ist bezeichnend, daß an seinem Hofe das erste
Infernogedicht entstanden ist: das VI. Buch der Aeneide Vergils. Während der-
gestalt die Religion an der Politik noch eine Stütze findet, kümmert sich die
Wissenschaft der ersten Kaiserzeit wenig mehr um das religiöse Leben. Mit
dem zweiten Jahrhundert ist eben auch die Wissenschaft tot oder fristet doch
nur ein Scheinleben an den Gedanken, welche die vorchristliche Zeit hervor-
gebracht hat. Sieht man von dem matten Stoizismus Mark Aureis ab, so ver-
raten die Kaiser, die es zu einer eigenen Weltanschauung gebracht haben,
schon andere Einflüsse als die, welche die Revolution von oben mit sich bringt.
Hadrian ist zu drei Vierteilen Mystiker, Alexander Severus erschließt sein Herz
allen Religionen, die aus der Fremde kommen. Das wird der Grundzug auch
der späteren: in ihm treffen sich, mögen sie sonst in ihrem Wesen noch so
verschieden sein, Constantin, Julian und Theodosius.
Daß dieser von unten nachdrängende Mystizismus, diese von außen an-
stürmenden Kulte nicht mühelos die antike Religion überrannten, verhinderte
das letzte Bollwerk, das griechischer Geist geschaffen hat. Aus uralten Quellen
schöpfen die Neuplatoniker neues Leben. Pythagoras und Plato sind ihre Ge-
währsmänner, mit ihrer Weltanschauung wird auch ihre Religiosität neu belebt.
Kräftig wirken nun diese Philosophen, die wirklich eine Religion besaßen und
sie auch predigten, eine Religion, die Fühlung mit dem volkstümlichen Glauben
hatte, und sogar dessen Anhängsel, die Wunder, den Aberglauben und die
Zauberei mit übernahm und durch wissenschaftliche Erklärung zu verteidigen
suchte. Es ist diese Lehre ein mächtiger Faktor geworden, mit dem auch das
sonst siegreiche Christentum noch lange zu rechnen und zu kämpfen hatte.
Aber auch diese neue Weltanschauung, mochte sie noch so große Teile
der oberen Schichten sich gewinnen, konnte nicht den Sieg behaupten. Und
zwar schon deshalb nicht, weil die oberen Schichten immer mehr dahinschwanden.
Das sinnlose Wüten gegen die Besitzenden, die Proskriptionen der Adligen um
ihrer Habe willen, hat häufig genug gerade die Besten getroffen. Mit ihrem
Hinsinken vergeht die Kraft des Widerstandes der Oberen gegen das Nachdrängen
von unten. Und wo in solche Lücken ein Ersatz eintritt, kommt er nicht aus
griechischem oder römischem Volkstum. Gerade unter den Höchstgebildeten
machen sich Fremde breit, die, bewußt oder nicht bewußt, orientalischem Wesen
die Pforte öffnen. Lucian, Libanius, Ammianus Marcellinus sind Syrer, Clau-
dianus fühlt sich als Alexandriner.
464 ^®^ Untergang der antiken Religion
die begeistert sind für den Sieg ihres Glaubens. Die wußten nicht
was sie zerstörten, denn es war matt und trübe geworden das leuchtende
Auge des Hellenentums, und die es zum Tode müde brechen sahen,
hatten es nie flammen gesehen wie einst in dem Glänze unaussprechlicher
Schönheit.
ZWEITES KAPITEL
DIE REVOLUTION VON UNTEN
Zerstörer der antiken Religion sind nicht nur von der Oberfläche
aus werktätig gewesen. Von unten her drängen gewaltige religiöse
Kräfte nach oben, die das griechische Volk aus sich selbst erzeugt
oder von nahe verwandten Völkern aufnimmt. Sie erobern sich die
Herzen der Hellenen und treten so mit dem offiziellen Glauben in
Wettbewerb, bis sie gegen das Ende des Altertums sich mit gleichen
Strömungen aus fremder Quelle vereinen, die leise nagend die antike
Religion unterspülen. So haben sie zuletzt, obwohl dem Ursprung
nach selbst griechisch, die griechische Religion dem Gegner aus-
geliefert. Der Unsterblichkeitsglaube und die Sehnsucht nach dem
Jenseits sind die eigenartigsten unter diesen neuen, aus der großen
Menge emporstrebenden Anschauungen: sie haben, um selbst durch-
zudringen, an vielen Stellen die echt hellenische Religion durchbrechen
müssen. So lag in ihnen der Todeskeim des echten Griechentums
verborgen: aber dieser Todeskeim war zugleich der Keim des Lebens
für die kommende Religion, die das Alte stürzte.
Aus der Tiefe steigt, um mit der Götterwelt Homers zu ringen,
die Bewegung des Dionysos -Kultus^ empor. Er hat in den letzten
Jahrhunderten des Heidentums wohl die meisten Anhänger gezählt, er
ist einer der hartnäckigsten Gegner und doch wieder ein geistig naher
Verwandter des vordringenden Christentums gewesen. Wie ein Sturm
ist der Glaube an diesen Gott von Norden hereingebrochen. Er kam
aus Thrazien: dort saßen Stämme desselben Ursprungs wie die Griechen.
Ihnen war Dionysos ein Herr der Seelen und der Geister, und seit
alter Zeit war dieser ihr Glaube mit dem Glauben an die Unsterblich-
keit verbunden; Herodot nennt jene Völker die dGavaTirovrec. Zuerst
in den Bergen Makedoniens werden jenem Gotte ekstatische Kulte ge-
feiert, in der Form, die so oft als einzige unter primitiven Völkern die
Unsterblichkeit des Gottes auszudrücken vermag: sie umjubeln den
^ E. Rohde, Psyche* II Iff.
Der Untergrang der antiken Religion 455
Gegenwärtigen, der dann stirbt und beklagt wird, bis er zum Beweis
der Unsterblichkeit, zur Freude der Seinen wiedergeboren wird. Dieser
Kult greift dann nach Süden über in die griechische Welt, um sie mit
besonderer Kraft bis zu ihrem Ende festzuhalten. Wohl können wir
uns von den Feiern, die ihm galten, noch ein Bild machen. Zwar von
dem Jammer um den Scheidenden wissen wir wenig, aber von der
jubelnden Begrüßung des Neuerscheinenden um so mehr. Im Früh-
jahr, zur Zeit, da die Erde mit ihren Pflanzen zu neuem Leben er-
wacht, begeht man die Epiphanie des Gottes. Nicht überall gleich:
in Athen vermeinte man, er komme zu Schiff über das Meer; so zog
denn ein Bild des Dionysos auf einem Schiffskarren durch die Straßen
der Stadt, umjubelt von der fröhlichen Menge - ein Carrus navalis,
wie er unserem Karneval den Namen gegeben hat. Sonst beging
man auf Bergeshöhen des Gottes Ankunft, nächtlich unter dem Licht
der Fackeln; in den Klang der Becken und Handpauken mischte sich
der sinnbetörende Schall der Flöten. Mancheriei Wunder zeigen die
Parusie des Gottes an: die Erde fließt von Milch und Honig, von
Wasser und Wein. Flammen blitzen auf, das Haupt des Gottes um-
lodern T^iüccai ibc€i TTupöc: so hat ihn der Künstler geschaut, der die
Leidener Dionysosbüste schuf mit ihren nach oben gewellten Haaren,
die sich nur mit Flammenzungen vergleichen lassen. Thyrsos und
Schlangen schwingend drehen sich die Anbetenden in wirbelndem
Reigen: auch der Tanz ist ein Gottesdienst, denn er eint den Menschen
mit dem Gott, indem er die Ekstase bewirkt. "GKcxacic^ aber ist 'das
Heraustreten' der Seele aus dem irdischen Leib, ein Heraustreten zu
Gott hin. Die andere, nicht immer scharf von der Ekstase geschiedene
Form der Gottvereinigung ist der Enthusiasmus; der Mensch wird
^vGeoc, der Gott geht in ihn ein. Im Enthusiasmus oder in der Ek-
stase tanzen die Bakchantinnen; wenn sie Maivdbec, die Rasenden
heißen, so ist Raserei dem antiken Menschen ein 'Besessensein', das
Erfülltsein von einem Gott oder Dämon. Das durch den Wirbelreigen
erzeugte Gefühl der Steigerung über Menschliches hinaus hat noch
öfter den Tanz in der Geschichte der Menschheit eine eigenartige
Rolle spielen lassen, so in den Tanzkrankheiten des Mittelalters oder
unter den tanzenden Derwischen, die heute noch durch wirbelnde
Drehung sich in Ekstase versetzen.
In ihrem Taumel zerrissen die Bakchai junge Zicklein und ver-
zehrten sie roh. Das ist die iw|uo(paTia, von der die Alten reden.
» Mithraslit. 97 ff.
Albrecht Dieterich, Kleine Schriften. 30
456 J^ßf Untergang de^ antiken Religion
Auch sie ist als eine Handlung des Kultus aufzufassen. In das Tier,
das so geopfert wird, ist vorher durch die magische Kraft der Gebete
der Gott selbst hineingezwungen worden; indem sie das Tier ver-
speisen, verzehren sie den Leib des Gottes selbst \ der auf diese
Weise in seine Diener eingeht. So ist die ibjaocpaTia die Vollziehung
der engsten Einigung des Menschen mit dem zur Speise gewordenen
Gotte.
Während vielfach Dionysos allein an diesen Epiphanienfesten ver-
ehrt wird, treten namentlich auf den griechischen Inseln andere gött-
liche Wesen zu ihm hinzu. Da erscheint gleichberechtigt neben dem
männlichen Prinzip das weibliche, neben dem Gott die Göttin, mag sie
nun Ariadne oder Kora heißen. Beide Prinzipe einigen sich in der
heiligen Ehe, dem lepöc ^aiioc, dessen kultische Begehung die Frucht-
barkeit aller Wesen, von Busch und Baum, von Tier und Mensch
segnete. Und wie es so oft bei den Göttergruppen der Alten ge-
gangen ist, die Zweiheit verschiebt sich zur Dreiheit. Semele wird
als Dritte in den Bund aufgenommen: man begeht die dvaTuuTn CeiLieXric,
durch die der Gott seine Mutter zu sich hinaufführt in den Himmel.
Wer da wissen will, was diese Dionysosreligion den Herzen der
Griechen in ihrer besten Zeit gewesen ist, der achte auf den Nieder-
schlag in der Kunst und in der Literatur: in der Kunst hat sie den
Hermes des Praxiteles und den Satyr mit dem Dionysosknäblein ge-
schaffen, Statuen, verständlich durch den Mythos, daß das Götterkind
zu den Nymphen gebracht werden muß, um bei ihnen mit himmlischer
Nahrung aufzuwachsen; in der Literatur hat sie ein Stück von einzig-
artiger Tiefe und Schönheit erzeugt, die BdKxai des Euripides.
Eine Erweiterung hat die dionysische Religion später erfahren, als
sich fremde, aber wesensverwandte Religionen an sie anschlössen.
So finden wir später in ihrem Kreise den Sabazios, der ursprünglich
in Phrygien daheim war. Folgenschwerer aber als seine Rezeption
war die des Orpheus. Auch er ist einmal ein Gott gewesen, hat sich
aber bei der Aufnahme in den bakchischen Thiasos dieser Würde be-
geben: hier ist nur ein Gott, Dionysos, und Orpheus wird sein Prophet.
Fast alle Schriften, die in jenen orphisch- dionysischen Kulten Geltung
haben, nennen Orpheus als Urheber: das zeigt seine Prophetenwürde
deutlich genug. Der Kern dieser ^orphischen' Lehre war: wer dem
Dionysos geweiht ist, wird im Jenseits in einem ewigen seligen
Rausche fortleben; wer die Reinigung zum Dienste des Gottes nicht
Mithraslit. 100.
Der Untergang der antiken Religion 457
an sich erfahren hat, liegt im Jenseits für ewige Zeiten im Schlamme
der Unreinheit. Das ist die erste, noch roh und sinnlich gehaltene
Lehre vom Leben nach dem Tode. Sie ist in Unteritalien von Pytha-
goras und seiner Sekte ausgebildet und verfeinert worden, und hat
von da aus eingewirkt auf die Eschatologie auch eines Plato.
Schon ehe der dionysische Kult in Hellas Anhänger gewann, hatte
sich dort eine andere religiöse Revolution von unten vorbereitet.
Wenn uns diese Vorgänge auch im einzelnen ewig verborgen bleiben,
in ihrem Wesen und ihrem Ziele ist uns jene Bewegung deutlich.
Immer eifriger und inbrünstiger verehrt man die Götter des Toten-
landes, vor allen den König und die Königin der Unterwelt, Hades
und Persephone. Sie werden nun zu hohen, mildherrschenden Wesen,
die dem gnädig waren, der sie in Frömmigkeit verehrte. Das Wort
'man muß länger den Unterirdischen gefallen als den Oberen' hat
Antigone* aus der Oberzeugung ihrer Zeit heraus gesprochen. Dieses
Gefallenwollen suchte nach einem Ausdruck auch im Kulte; es bilden
sich Gemeinschaften zum Dienst der Unterirdischen. Wer in sie auf-
genommen ist und das Mysterium geschaut hat, wird der Gnade teil-
haftig werden, die allen anderen versagt ist. 'Wer geweiht ist, wird
selig werden; wer nicht geweiht ist, wird nicht selig werden' ver-
kündet die seligmachende Kirche zu Eleusis im attischen Lande, die
auf solch chthonischem Kulte beruht. Allgemein ist noch im späteren
Altertum das Streben, zu Eleusis die Weihe zu nehmen und der Ver-
heißung teilhaftig zu werden; noch in den Tagen Konstantins hat dies
Mysterium einen großen Teil der antiken Welt geeinigt.
Das Wesen derartiger Mysterienkulte ist überall dasselbe: der
Mensch soll mit einem Gotte oder einer Göttin in ein nahes, enges
Verhältnis gebracht werden. In Eleusis war es eine Göttin, und zwar
zu Anfang die uralte Mutter Er de.^ Sie ist den Attikern die Mutter
der Götter und der Menschen, in Athen stand das ihr geweihte Heilig-
tum des Metroon. Später hat Persephone, die Unterweltskönigin, zu
Eleusis den Thron der Erdmutter eingenommen. Aber der Ritus der
Rezeption in die Mysterien galt ursprünglich der Gaia. Ein sakramentaler
Akt macht den Neophyten zum Kind der Erde, und diese Mutter ge-
biert das Kind von neuem, nun als Eingeweihten, in einer Wieder-
geburt zur geistigen Erkenntnis. Aus Unteritalien haben wir Zeugen
für solche sakramentale Riten; aus den Gräbern von Thurii und Petelia
sind Goldtäf eichen ans Licht gekommen*, Totenpässe, die dem Ver-
Soph. Ant. 74f. * Mutter Erde 55ff. ' Nekyia 84ff.
30
468 ^^^ Untergang der antiken Religion
storbenen gute Aufnahme bei den Unterirdischen sicherten. AecTToivric
UTTÖ köXttov ibvv steht da zu lesen: 'ich bin eingegangen in den Schoß
der Herrin'. Damit wird die heilige Handlung bezeichnet, die vor-
genommen wurde, damit die symbolische Wiedergeburt durch die
Göttin angedeutet werden konnte. Nun wird die Göttin den neu an-
kommenden Toten als ihr Kind erkennen und ihm seine Treue lohnen;
auch der Spruch, mit dem sie ihm die Seligkeit verkündet, steht auf
jener Tafel.
So wie die Schreiber dieser unteritalischen Sprüche haben die
Tausende empfunden, die nach Eleusis pilgerten, um sich durch die
Weihe die ewige Seligkeit zu sichern. Dabei haben die Mysterien
dort ursprünglich keine eigentliche Propaganda gemacht; dieser Zug
wird an ihnen erst erkennbar, als sie unter den Einfluß der Orphiker
kamen. Deutlich sehen wir, daß allmählich orphisch- dionysische Lehre
und Mysterienglaube sich gegenseitig durchdringen. Das hängt mit
dem Anwachsen der orphischen Bewegung zusammen, die wir in
Attika für das sechste Jahrhundert feststellen können. Zur Zeit des
Peisistratos sehen wir die Orphiker dort mit dem Bestreben erfüllt,
ihre Lehre zu kodifizieren, eine Buchoffenbarung zu schaffen, zunächst,
um die Eingeweihten in ihrem Glauben zu stärken, dann aber auch,
um neue Anhänger zu gewinnen. Onomakritos^ hat sich bereit finden
assen, die Dichtungen des Orpheus zusammenzustellen: so hat er
orakelhafte Sprüche von Erlösung und Strafe gesammelt. Aber das
waren Fälschungen, die in Athen über den Großtaten der Perserkriege
vergessen wurden; mochten sie in Unteritalien allgemein gläubige
Hörer finden: in Hellas selbst wehte zu Beginn des fünften Jahrhunderts
eine freiere Luft, und die Stimmung der oberen Schichten war etwa
die des Xenophanes oder neigte zu unverhohlener Skepsis. Anders
allerdings war es wohl auch damals in den unteren Klassen der Ge-
sellschaft, bei den Armen im Geiste: ihnen waren solche Sprüche
etwas, hielten sie doch, in Not und Drang dahinlebend, an dem
Mysterienglauben als dem Retter aus den Bedrängnissen des irdischen
Lebens fest. Und als nun das griechische Leben wieder in seinen
Grundfesten erschüttert wird, als die Gefahren des peloponnesischen
Krieges beten lehren, da dringt dieser Glaube, von orphischem Munde
gepredigt, aus den unteren Schichten mächtig nach oben empor. In
den 'Gesetzen' schildert Plato^ wie Sühnepriester und Propheten von
Tür zu Tür ziehen und den Menschen zurufen: 'Laßt euch reinigen
^ Nekyia 75. « Buch II p. 364 B ff.
Der Untergangr der antiken Religion 459
von euren Sünden, auf daß ihr den ewigen Strafen der Unterwelt
entfliehen möget.' Das ist derselbe Warnungsruf, der heute der Heils-
armee die Proselyten zuführt und auch damals die Hörer zu Bekehrten
gemacht hat. Der Glaube an die Vergeltung im Jenseits zeitigt nun-
mehr Hoffnung und Furcht, die Furcht erweckt Buße und Entsagung.
So bringt die neue Zuversicht auf das Leben nach dem Tode eine
ungeheure Umwälzung in den Anschauungen hervor, die auch auf das
Leben im Diesseits bestimmend einwirkt. Anders empfanden diese
Generationen als die Vorzeit. Die homerische Welt strahlte von froher
Lebensenergie, die sich ganz verzehrte unter dem Lichte dieser Sonne:
wenn das Auge brach, war der Rest Nebel und Nichtigkeit; der
Schatten des Achilleus will lieber auf Erden der ärmste Tagelöhner
sein, als unter der Erde König im Reiche der Abgeschiedenen.^ Ganz
im Gegensatz zu dieser Wertung des Jenseits erblickt der gläubige
Myste im irdischen Leben die Vorbereitung auf ein anderes Dasein,
das entweder ewige Seligkeit oder ewige Qual birgt.
Die Vorstellungen von der Art der Seligkeit und der Qual haben
sich aus bestimmten Anschauungen entwickelt, die sich bei vielen
Völkern in ganz ähnlicher Art ausgebildet finden. Für das erste ist
das Bild des Ortes, an dem man sich die Götter weilend denkt, die
Grundlage; er hat schon frühe die Phantasie auch der Hellenen be-
schäftigt und ist von ihr mit allen denkbaren idealen Eigenschaften
ausgestattet worden. Es ist ein hoher Berg^ oder ein glänzender
Garten, in dem die Unsterblichen ein glänzendes Dasein führen: ewig
leuchtet hier das Licht der Sonne, in den glänzenden Farben Weiß
und Rot prangen alle Dinge. Wer unter den Menschen gottähnlich
gewesen ist, verfäUt nicht dem Hades, sondern wird in jenes Licht-
reich entrückt: ein Lichtschein umgibt ihn, in derselben Art, wie sich
das Mittelalter die Könige und die Heiligen mit Nimbus und Strahlen-
kranz umgeben denkt.
Diesem Reiche des Lichtes, in das einzugehen der Güter höchstes
ist, nach dem der Mensch sich sehnt mit seiner ganzen Seele, dessen
er würdig zu werden sucht durch ein Leben frei von Vergehungen,
steht gegenüber ein Reich der Finsternis.^ Diese Vorstellung entsteht
mit Naturnotwendigkeit da, wo der tote Leib der dunkeln Erde Ober-
antwortet wird. In der finsteren Tiefe verzehrt sich der Leichnam;
so wird der Schlund der Erde selbst als Fleischfresser geschaut, als
capKocpdToc. Dies Wort ist erst später vom hüllenden Boden auf den
Od. XI 489ff. ' Nekyia 19ff. ' Nekyia 46ff.
470 ^®'" Unterg-ang der antiken Religion
Behälter der Leiche übertragen worden; das Wort 'Sarg' ist ja seiner
Etymologie nach nur eine Verkürzung von Sarkophag. Daneben ent-
wickelt sich der Glaube an andere fleischfressende Dämonen der
Tiefe; einer von ihnen ist Kerberos, der sich später zum fleisch-
fressenden Höllenhund auswächst. Außer ihm bewachen noch andere
furchtbare Gestalten, Schlangen und Gespenster, den Weg zur Unter-
welt; an ihnen vorüber führt die Reise der abgeschiedenen Seele.
Neben der Anschauung vom Totenland in der Tiefe der Erde steht
unvermittelt die andere volkstümliche Vorstellung vom Seelenreich am
Rande der Welt: da, wo die Sonne in die Nacht versinkt, weilen auch
die dem nächtlichen Dunkel des Todes verfallenen Menschen. Dies
Reich ist jenseits des Meeres: ein Kompromiß dieser Vorstellung mit
dem Glauben an den unterirdischen Hades gibt das trennende Wasser
auch der Unterwelt. So müssen alle Seelen über einen See hinüber,
ehe sie das 'Jenseits' erreichen.
Im Hades selbst führen nach älterem Glauben die Seelen der ge-
wöhnlichen Sterblichen, einerlei ob gut oder böse, eine grau in grau
gemalte, schattenhafte Existenz. Doch kennen die homerischen Gedichte
bereits Heroen, die zum Sitze der Götter entrückt sind, und andere,
die für besonders schwere Freveltaten auch besonders schwere Bußen
erleiden: Tantalus wird von ewigem Durste geplagt, Sisyphos wälzt in
ewig unfruchtbarer Arbeit den Stein die Höhe hinan. Das steht in
der Nekyia, die nicht frei ist von späteren Zudichtungen der Orphiker.
Eine ähnliche Vorstellung haftet an den Töchtern des Danaos^; weil
sie in der Brautnacht ihre Verlobten erschlagen, müssen sie ewig in
durchlöcherten Krügen Wasser schöpfen. Dieses Märchen ist in seiner
Entstehung noch klar. Nach griechischer Vorstellung ist die Ehe ein
TeXoc, eine Weihe, der teilhaftig zu werden Aufgabe eines jeden
Menschen ist. Wer das versäumt, ist nicht reif für die Unterwelt, und
muß dort für seine Unterlassung büßen. So müssen jene Jungfrauen
das Wasser für ein Brautbad holen, das nie zu Ende bereitet wird.
In all diesen Hadesstrafen aber liegt der Kern, um den sich der
Glaube an Bußen schloß, die im Jenseits für Vergehungen im Dies-
seits auferlegt werden.
Aber auch für ein verdiensthches Leben kennt das Jenseits eine
Vergeltung mit verdientem Lohn: eben jene Entrückung an den Ort
des Lichtes, wo Götter und Heroen weilen. Dies Reich betritt nur,
wer da rein ist an Leib und Seele, denn nur er darf sich den Über-
^ Nekyia 70.
Der Untergang der antiken Religion 47 j
menschlichen nahen. So muß er schon auf Erden an seiner Reinheit
schaffen: er muß zum wenigsten die Sünde meiden, damit er nicht im
Hades dem Ort der Buße verfällt.
Diese volkstümlichen, von orphisch- dionysischen Sekten auf-
genommenen Gedanken sind durch Pythagoras und seine Anhänger
weiter ausgebildet worden. Was bisher nur in den Winkelmysterien
geraunt wurde, erwächst dadurch zu größerer Bedeutung für die
Öffentlichkeit. Im dorischen Unteritalien wird eine religiöse Sekte
durch den lonier Pythagoras^ gestiftet, den großen Reformator des
sechsten Jahrhunderts vor Christo. Sein Orden sieht das einzige Heil
für die menschliche Seele im Jenseits. Damit sie dort vor allen
Strafen bewahrt bleibt, muß sie sich in dieser Welt durch Askese
von dem irdischen Leibe befreien. Wer ihm folgend das erstrebend
sich bemüht, dessen Seele geht in das Lichtland ein, wer nicht, der
ist der Finsternis verfallen. Dies Programm steht in engem Zusammenhange
mit der bei Pythagoras ziemlich unvermittelt auftauchenden Lehre von
der Seelenwanderung. In ihr ist die Anschauung von der Präexistenz
der Seelen vor ihrer Inkarnation im menschlichen Leibe fortgebildet,
eine Anschauung, die nicht, wie man vielfach annimmt, aus Indien
stammen muß, die vielmehr sehr wohl sich selbständig aus ein-
heimischem Volksglauben fortgebildet haben kann. Auch unser
deutsches Volk erzählt von den Seelen der ungeborenen Kinder, die
in Bäumen und Teichen, oder unter der Erde in Felsen und Quellen
verborgen harren. Dazu ist auf griechischem Boden nun die andere
Vorstellung getreten: die Seele ist vor der Fleischwerdung im Menschen
bereits in anderen Körpern existent gewesen. Namentlich in Tieren;
auf solchem Volksglauben beruht der Weiberspiegel des Semonides
von Amorgos, wenn er schildert, wie Zeus die verschiedenen Gattungen
der Frauen aus verschiedenen Tieren umschafft, aus Füchsen, Affen
und Bienen. Und wie die Wandlung vom Tier zu Menschen, so ist
auch die Metempsychose vom Menschen zum Tiere nicht unerhört, lo
wird zur Kuh, Kallisto zur Bärin. So wandert denn dieselbe Seele
von einem Leib zum anderen; stirbt der eine Leib ab, so wird sie in
einem neuen wiedergeboren. Bevor aber die Seele in diesen Kreis
der Geburten eintrat, war sie ein Gott im Reiche des Lichtes. Doch
dieser göttliche Geist ließ sich anziehen von der irdischen Materie,
und erfuhr in der Berührung mit ihr einen Sündenfall, den zu sühnen
sie auf zehntausend Jahre in irdische Leiber gebannt wird. So hat
» Nekyia 84 ff.
472 D®^ Untergangs der antiken Religion
die Seele in ihrer irdischen Wanderung zugleich einen Läuterungs-
prozeß durchzumachen, den zu fördern jeder mit Ernst bestrebt sein
muß. Die Erinnerung an den göttlichen Ursprung, die 'Avd)LivTicic,
führt sie in das Lichtreich zurück, während das Vergessen die Seele
im Kerker des Leibes festhält. Jedesmal nach dem Tode steigt die
Seele hinab zum Hades, um hier vor der neuen Geburt ein Zwischen-
stadium durchzumachen, etwa dem Fegefeuer vergleichbar. Am Ende
der Wanderung erfährt sie, gleichfalls im Hades, ein jüngstes Gericht:
je nach dem Schiedsspruch hat sie sich in der Unterwelt rechts oder
links zu begeben, in die Seligkeit des Lichtreiches oder in die Qual
der ewigen Ausstoßung. Das Symbol \ mit dem die Pythagoreer diese
Lehre kurz bezeichneten, war das Y; der neutrale grade Strich be-
zeichnete den Weg bis zum Urteil, die beiden Arme die sodann mög-
lichen Wege.
Durch Jahrhunderte hindurch hat diese Lehre in hoher Blüte ge-
standen, und noch im ersten und zweiten nachchristlichen Säkulum
hat sie durch die wohlbekannten Neupythagoreer weite Kreise in ihr
Bereich zu ziehen vermocht. Aber auch für die älteren Zeiten fließen
die Quellen für ihre Kenntnis reichlich. So ist das Lehrgedicht des
Empedokles stark mit pythagoreischen Anschauungen durchsetzt. Je-
doch nicht nur den tiefsinnigen Dichterpropheten hören wir, auch aus
den unteren Schichten des Pythagoreertums vernehmen wir noch die
redenden Zeugen. Wieder sind es jene auf Gold geritzten Totenpässe
Unteritaliens.^ Sie enthalten die Formeln orphisch- pythagoreischen
Glaubens, die der Tote bei der endgültigen Ankunft in der Unterwelt
zu der Herrscherin drunten zu sprechen hat: ^Ich komme aus der
Gemeinde der Reinen, eine gereinigte Seele, ich bin von eurem
himmlischen Geschlecht. Die Buße für meine Sünden habe ich ab-
gebüßt, ich komme nun flehend zu Persephoneia, daß sie mich
freundlich aufnehme und mich sende zu den Sitzen der Heiligen: ich
bin entronnen aus dem schmerzensreichen Kreis der Seelenwanderung.'
Die Antwort, die ihm werden wird, steht gleich dabei: 'Seliger und
Gebenedeiter, du wirst nicht mehr sterblich, sondern ein Gott sein.'
Eine andere Tafel schildert den Weg, den der Tote zu nehmen hat.
Dreimal bietet sich, das hören wir am anderen Ort, ihm ein Trank:
Mischtrank, Milchtrank, Wassertrank. Vom letzten sagt die Tafel: 'Du
wirst finden im Hause des Hades zur Linken eine Quelle: der nahe
dich nicht. Aber du wirst eine andere Quelle finden (sie war mit
' Nekyia 192. * Nekyia 84ff.
Der Untergang- der antiken Religion 473
einem Namen genannt, von dem nur noch e . . oiac lesbar ist; man
möchte am liebsten Eiivoiac ergänzen), kaltes Wasser ergießend aus
dem See der Erinnerung - sprich: Ich bin ein Kind der Erde und
des gestirnten Himmels; der Himmel ist meine Heimat, gebt mir zu
trinken von dem See der Erinnerung. Und sie werden dir zu trinken
geben von der göttlichen Quelle und dann wirst du dort herrschen
mit den anderen Seligen.' Kunstvolle Verse sind das im Original,
von einem wirklichen Dichter geschmiedet, und darum offenbar einem
größeren Gedichte entnommen. Das wird ein heiliges Lied Vom
Hinabgang zum Hades' gewesen sein - die erste griechische Apoka-
lypse. Wie verbreitet sie war, lehrt ein Täfelchen aus Kreta des
zweiten Jahrhunderts n. Chr. - jene unteritalischen sind ein halbes
Jahrtausend älter - das manche jener Formeln genau ebenso enthält.
Und noch auf späten römischen Grabsteinen wird das 'kalte Wasser'
der Unterwelt gepriesen, wie in dem unteritalischen Texte. Und wenn
bei Dante im Purgatorium^ als Name eines Flusses Eunoe erscheint,
so mag der durch viele Mittelinstanzen zuletzt aus der €uvoiac Kprivt]
jener heidnischen Apokalypse hergeholt sein.
Gleichfalls aus diesen Gräbern Unteritaliens und ebenso aus dem
vierten Jahrhundert v. Chr. stammen Vasen ^ mit Darstellungen der
Unterwelt bemalt. Da sehen wir die Herrscher über die Toten im
Hades thronen, sterbliche Ankömmlinge nahen sich ihnen. Zwischen
Göttern und Menschen vermittelt Orpheus, er empfiehlt die Toten der
göttlichen Gnade. Orpheus in der Nachbarschaft jener Täfelchen zu
sehen verwundert nicht: wir wissen ja, wie eng Pythagoreisches und
Orphisches zusammengehört. Im Kreise solcher Gemeinden gilt
Orpheus, von dessen Hadesfahrt der Mythos erzählte, zugleich als
Prototyp der Wiedergeburt zu neuem Leben. So ist der Erstling
derer, die wiedergeboren sind, hinabgestiegen in den Hades, wie
Christus, der Erste der Erstandenen, niedergefahren ist zur Hölle.
Ein gewichtiger Zeuge für diese orphisch - pythagoreische Escha-
tologie ist Plato. An vier Stellen redet er in deren Sinne von dem
Schicksal der Seele, im Phaidros und im Phaidon, im Gorgias und in
der Republik.^ Das Wichtigste steht an der letzten Stelle. Hier will
Plato, an weithin sichtbarem Ort, wo er ein Werk von zehn Büchern
abschließt, auch wenn er sich der Form des Mythos bedient, nicht
wie sonst mythische, d. h. poetische Gedanken geben, sondern hier ist
» XXVIII 131, XXXIII 127; s. J. E. Harrison, Class. Rev. 1903 S. 58.
« Nekyia 128. ' Nekyia 113ff.
474 ^^^ Untergang der antiken Religion
er, wie Empedokles, der Prophet, der predigt von Dingen, deren
Wahrheit ihm heiliger Ernst ist. Offenbar ist er im späteren Alter
dieser Mystik mit Herz und Sinn ergeben gewesen: die aus den
unteren Schichten stammende Revolution der Anschauungen hatte auch
ihn ergriffen. Er läßt einen Menschen reden, der scheintot und dessen
Seele während dem in das Jenseits entrückt gewesen ist: da hat er
geschaut das jüngste Gericht über die Seelen der Toten, die Feuer-
pein der Unheilbaren, die Heilbaren weilend in einem Fegefeuer, die
Frommen den Lohn genießend. Auch Plato hat also geglaubt an die
himmlische Heimat und den Sündenfall, an die Wanderung der Seele
und ihre Erlösung; die Lehre von der dvd|uvTicic ist von ihm philo-
sophisch auf die eigene Lehre bezogen worden: es ist die Erinnerung
an das Reich der Ideen. Diese Kenntnis orphisch- dionysischer Mystik,
die ihm bei seinem sizilischen Aufenthalt von Unteritalien aus zu-
gegangen sein wird, haben ihn zu einem wahren AiovucoTtXdTujv
gemacht.
Die gewaltige Wucht, die in jener Schilderung Piatos liegt, hat auf
seine Schule nur geringe Wirkung geübt. Die Akademie hat sich
von solchen Höllenphantasien völlig ferngehalten, Xenokrates hielt da-
für, daß eine Hölle nur im diesseitigen Leben möglich sei; bei dem
Stoiker Poseidonios^ merkt man das Streben, diese Vorstellungen,
weil sie ihm zu kraß erscheinen, auf alle Weise zu mildern. Erst in
der letzten Zeit vor Christo gewinnen solche Anschauungen wieder an
Boden. Am Hof des Augustus, unter den Augen des Kaisers, entsteht
die Aeneis, deren sechstes Buch die Hadesfahrt des Helden schildert:
da ist eine voll entwickelte Hölle neben einem Paradies der Seligen
beschrieben. Außer Homers Nekyia und den platonischen Mythen hat
Vergil hier aus einer orphischen Kaiaßacic geschöpft.^ Daß dann
später diese selben Gedanken wieder mächtiger aus der Tiefe nach
oben drängten, zeigt Plutarch, der in seiner Traktätchenschriftstellerei
des öfteren auf sie Bezug nimmt, zeigt der geniale Spötter Lukianos
von Samosata, der den nichtigen Volksglauben an das Leben nach
dem Tode verspottet und bekämpft. Zuletzt haben die Kirchenväter
gelegentlich gegen derartige Gedanken ernstlich Front gemacht.
Aber auch abseits der großen Literatur fehlt es nicht an Zeugen
für das Fortwirken jener Ideen. Am stärksten haben sie den Osten
erschüttert, das pontische Reich, die Küstenstriche Kleinasiens, die grie-
chische Inselwelt, und Ägypten. Dort wissen die Steine seit dem zweiten
Nekyia 144ff. ^ Nekyia 150.
Der Untergang der antiken Religion 475
Jahrhundert v. Chr. von organisierten religiösen Gemeinden, orphisch-
pythagoreischen Gemeinden zu reden; nicht unmöglich, daß aus ihrem
Schöße die neupythagoreische Lehre hervorgegangen ist. Für das
Rom der späteren Zeit sind die Stuckreliefs der Casa Farnesina ein
wichtiges Zeugnis, ihrem Kern nach Szenen der Einweihung in diony-
sische Mysterien. Auch die italischen Campanareliefs stellen mehr-
fach Szenen aus dem dionysischen Kreis dar, die für den Eingeweihten
eine tiefere Bedeutung gehabt haben werden. Daß aber diese Bewegung
verhältnismäßig früh von Unteritalien nach Norden gedrungen ist, lehrt
das berühmte Senatus consultum de Bacchanalibus (186 v. Chr.),^ ein
wichtiges Dokument des Konfliktes einer religiösen Bewegung mit der
Staatsraison. Aus Livius^ erfahren wir seine Vorgeschichte. Ein rö-
mischer Jüngling wollte sich in diese damals auch zu Rom verbreiteten
Mysterien einweihen lassen; seine Geliebte warnte ihn wegen der von
diesem Thiasos geübten Verbrechen, von denen sie Kenntnis zu haben
vorgab. Wegen dieser Kenntnis brachte man sie vor den Konsul: dort
gab sie den Mysten schuld an Unzucht, Testamentsfälschung, Morden.
Harmlos mögen diese Konventikel ja nicht gewesen sein, aber solche
Vorwürfe wird man für übertrieben halten, wenn man sieht, daß sie
später in ganz ähnlicher Weise auch bei anderen Geheimkulten erhoben
werden, daß auch Juden und Christen unter ihnen zu leiden haben.
Der römische Staat aber hat jenen Anschuldigungen geglaubt; jahrelang
ist damals gegen die Bacchae mit Einkerkerung und Hinrichtung ge-
wütet worden.
Die Organisation jener Gemeinden, von denen eben die Rede war,
ist uns einigermaßen bekannt. Wir haben die Namen einzelner Priester-
tümer^ da gab es ßouKÖXoi 'Stierpfleger', dpxißouKÖXoi 'Erzstierpfleger':
Bezeichnungen, die man als Erzeugnisse der Dionysosreligion versteht,
wenn man sich erinnert, daß Dionysos in alter Zeit als Stier vorgestellt
wird - der uralte Gesang der elischen Weiber ruft den npujc Aiövucoc
an: aHie raupe Die Träger der heiligen Geräte, die zur Ausübung des
mystischen Kultes dienen, heißen XiKvocpöpoi und Kicrocpöpoi, der litur-
gische Vorsteher ist der ujuvobibdcKaXoc. Denn diese Gemeinden hatten
ihre i)|livoi, eines ihrer Gesangbücher halten wir in den 'orphischen
Hymnen' noch heute in Händen: es sind Anrufungen der einzelnen
Götter, planvoll geordnet, wohl von einem Bukolos für die am Gottes-
dienst teilnehmenden Laien vorgebetet. Wahrscheinlich sind diese
Lieder erst spät aus dem Gebrauch gekommen; mancher Christ, der
Fontes iur. Rom. ant.^ S. 164 ff. « XXXIX 8 ff. » S. 0. S. 71 ff.
476 ^®f Untergang der antiken Religion
die Rezitation der Psalmen hörte, mag bei ihr an den verwandten
Vortrag orphischer Hymnen gedacht haben, dem er in seiner Jugend
gelauscht hatte. Eine solche Erinnerung mag auch darin liegen, daß
das Bild des Orpheus mit der Leier öfter in christlichen Katakomben
erscheint.'
Ein anderes heiliges Buch dieser Gemeinden enthielt die Offenbarung
ihrer Weltanschauung: das war die Theogonie.^ Wir kennen ihren
Inhalt aus Zusammenstellungen, die in nachchristlicher Zeit gemacht
worden sind. Am Anfang der Dinge waren Chronos, Aion und Chaos.
Aus dem Weltenei geht der erstzeugende, der erstgeborene hervor,
Phanes Protogonos. Im weiteren Verlauf mündet die orphische Götter-
reihe in die seit Hesiods Theogonie geläufige Stammtafel der Götter ein.
An ihrem Ende steht Dionysos Zagreus. Za^peijc ist der 'Erzjäger',
vielleicht ein Gott, der nach Art des wilden Jägers Seelen treibend ge-
dacht wird. Dieser Dionysos ist Sohn des Zeus und der Persephone,
von der Mutter ein Gott der Unterwelt und vom Vater schon als Kind
ein Weltenkönig. Ihn bedrängen die Feinde, die bösen Titanen. Er
verwandelt sich in verschiedene Gestalten, um ihnen zu entgehen; als
er Stier ist, überwältigen sie ihn, um ihn zu zerreißen und zu ver-
schlingen. Nur das Herz wird von Athena gerettet und von Zeus
verzehrt. Nun erzeugt Zeus mit Semele einen neuen Dionysos, der
doch mit dem Sohne der Persephone eins ist. Die Titanen aber werden
vom himmlischen Blitz vernichtet und verbrennen zu Asche. Aus diesem
Staub, der sich mit Blut und Feuer gemischt hat, entstehen die Menschen:
so will es die orphische Anthropogonie. Da nun die Titanen den Dio-
nysos verzehrt hatten, ist mit ihrer Asche ein Teilchen des Gottes in
jeden Menschen eingegangen. Wiedervereinigung dieses Teils mit dem
Gotte im Lichtreich ist das Ziel des menschlichen Lebens: die Gnade
des Gottes muß erwirkt werden, daß er seinen Dienern Teil an sich
und seinem Reiche vergönnt. Das ist der Kern der in diesen Gemeinden
ausgebildeten Dionysosreligion, der tief in den Herzen der Griechen
gewurzelt und lange dem Christentum widerstanden hat.
Neben dieser heiligen Schrift, die Weltschöpfung und Erlösung um-
spannt, hat eine Apokalypse gestanden, selbständig und frühzeitig aus-
gebildet. Es war eine Offenbarung über die Dinge im Jenseits, ge-
kleidet in die Form der Erzählung von dem Hinabstieg eines Heros in
den Hades.^ Dabei steht das Eschatologische ganz im Vordergrund.
Weniger hören wir von dem Lohn, der die Guten erwartet, mehr von
' Nekyia 229. » Orphica rec. E. Abel S. 156 ff. » Nekyia 128ff.
Der Untergang der antiken Religion 477
den Strafen derer, die Böses getan haben. Gerade in diesen Kulten
und ihrer Literatur hat sich der Hades zur Hölle entwickelt. Diese ist
somit griechischen Ursprungs; wohl hat sich der bessere Teil des helle-
nischen Volkes mit Schaudern von der Vorstellung ewiger Qual ab-
gewendet, aber die unteren Schichten haben darin geradezu geschwelgt.
Die gewöhnlichste dieser Höllenstrafen ist das Feuer.^ Volkstümliche
Vorstellung kennt das Feuer zunächst als Mittel der Reinigung und
Entsühnung: darum werden widernatürliche Dinge, repaia, verbrannt,
darum werden die Seelen der Heilbaren bei Plato durch das 'Fegefeuer'
geläutert und erscheinen bei Vergil die Elemente als Reinigungsmittel
der Seelen. Allmählich aber bricht der Gedanke durch, daß das Feuer
zum Quälen der Sünder dienen soll. Die meisten der anderen Strafen
beruhen auf dem aus dem profanen Kriminalrecht übernommenen Jus
talionis, der Wiedervergeltung von Gleichem durch Gleiches, und manche
Pein schlimmster Art ist darunter, die auf Erden nur gegen Sklaven
angewendet werden durfte: Quälen mit Schwefel und Pech, Aufhängen
an Beinen oder Zunge. Das verrät die Kreise, die solche Phantasien
ersonnen haben.
Ganz bestimmte Sünden sind es, die solche Strafen erheischen.*
Als schwerster Sünder gilt, wer Vater oder Mutter erschlagen hat.
Bereits im fünften Jahrhundert v. Chr. hat Polygnot in der Lesche der
Knidier zu Delphi die Unterwelt gemalt und in ihr den Schatten eines
Menschen, der seinen Vater erschlagen hatte und darum von dessen
Schatten gewürgt wird - zugleich ein klassisches Beispiel der Talio.
Ahnlich sind schwerer Strafe verfallen Meineidige und Tempelräuber,
Mörder und Selbstmörder; die Ehebrecher sind erst verhältnismäßig
spät auf diese Liste gekommen. Alle diese werden je nach der Art des
Vergehens in Schlamm oder Blut oder in siedendem JVIetall gefoltert;
andere werden von strafenden Dämonen durch Dornengestrüpp gerissen.
Strafgeister gibt es also in dieser Hölle, den christlichen Teufeln ver-
gleichbar; sie haben sich aus den Seelen der Geschädigten entwickelt,
die nun im Jenseits ihre Rache kühlen: das zeigt der Würgegeist
Polygnots. Auch die strafenden Erinyen sind zunächst nur die rächenden
Seelen der Ermordeten, die Bluthunde, die den Verbrecher hetzen: so
hat man sie noch zur Zeit des Aischylos und seiner Eumeniden auf-
gefaßt.
Daß die Vorstellung von diesen Strafen im Hades immer mehr Boden
gewann, zeigt wieder Vergils sechstes Buch und Plutarch an mehreren
Nekyia 196ff. ' Nekyia 163ff.
478 ^^^ Untergang der antiken Religion
Stellen. Auch die Grabschriften beweisen, wie das Denken der Menschen
sich mehr und mehr auf das Jenseits richtet, eben unter dem Einfluß
dieser Religion, die als einzige vor dem Kommen des Christentums
bestimmte Vorstellungen von dem Schicksal der Seele im Jenseits ge-
habt hat. Und wenn auch diese Religion von den Christen erst be-
kämpft, dann überwunden ist, so sind doch mit ihrer Niederlage nicht
auch ihre Gedanken untergegangen. Vielmehr sind deren einige christlich
geworden: das Ergebnis des Kampfes zwischen der Antike und dem
Christentum ist hier wie so oft eine Mischung beider Elemente gewesen.
So wie die alten Orphiker ihren Toten die eschatologischen Texte der
Goldtafeln mitgaben, hat man im Grabe eines Christen eine christliche
Apokalypse gefunden, deren Vorstellungen dem Griechischen mit leiser
Umwendung entnommen sind. Das ist die aus Ägypten stammende
Apokalypse des Pseudopetrus, ein Stück des sog. Evangelium Petri.^
Da werden die Qualen der Unterwelt enthüllt; vierzehn Typen von
Sündern sind mit besonderen Strafen bedacht. Bei der einen Hälfte
dieser Typen könnte man den Einfluß auch jüdischer Vorstellungen an-
nehmen, aber die andere Hälfte ist rein griechisch. Die Grund-
anschauung also und ein großer Teil der Details ist in diese christliche
Apokalypse aus dem Hellenischen gekommen; der Fundort des Petrus-
buches führt darauf, daß diese Übernahme in Ägypten erfolgt ist.
Daß es zu einer solchen Rezeption kommen konnte, begreift man leicht.
Gerade in den orphischen und dionysischen Konventikeln wird die
christliche Werbung mitunter Erfolg gehabt haben, denn hier war eine
tiefe, der christlichen verwandte Religiosität vorhanden. Wenn aber die
Mysten von Dionysos zu Christus übergingen, so streiften sie ihre
alten Anschauungen nicht sämtlich ab, sondern nahmen manches mit
hinüber in die neue Religion. Erst die Kirchenväter haben in der Ab-
sicht, völlig mit dem Heidentum zu brechen, die tiefe Kluft zwischen
Hellenischem und Christlichem befestigt.
Auch sonst zeigen mancherlei Spuren, daß die Religion der Orphiker
auf das ältere Christentum von Einfluß gewesen ist. Nicht umsonst
kehrt ja des Orpheus Bild in den christlichen Katakomben wieder.^
Im ersten Brief an die Korinther XV 23 spricht Paulus davon, daß in
der christlichen Gemeinde von Korinth einige sich taufen ließen für die
Toten. Dazu lese man Plato in der Republik II p. 364 C: 'Sie aber
zeigen einen Schwärm Bücher von Musaios und Orpheus vor, den
Sprossen der Selene und der Musen, wie sie sagen, an deren Hand
^ Nekyia 1 ff. » Nekyia 229.
Der Untergang der antiken Religion 479
sie ihr Werk treiben und nicht allein einzelne, sondern auch ganze
Staaten überreden, daß es Erlösungen und Reinigungen von Sünden
gibt durch Opfer und heitere Feier, nicht nur für die Lebenden, sondern
auch für die Toten. Das nennen sie 'die Weihen' (TeXeidc), die uns
von dem Übel im Jenseits erlösen; die aber, die nicht opfern, erwartet
Unheil.' Ferner sagt ein Bruchstück^ aus einem orphischen Buch —
es gab eines, das den Titel TeXeiai führte -: 'und Feiern werden sie
begehen, strebend nach unheiliger Vorfahren Erlösung'. Da liegt di-
rekter Übergang von Orphischem zum Christlichen vor: die Anschauung,
daß der Lebende den Toten erlösen könne, ist in beiden Mysterien
dieselbe, nur verwendet jedes seine eigene reXeiri. Wenn gleichfalls
in Korinth das fXujcQoXdkeiv so sehr im Schwange war, so mag das
ein letzter Rest des Enthusiasmos im Dienste des Dionysos gewesen
sein, der früher <465> geschildert worden ist.
Die Apokalypse des Petrus war nicht die einzige, die von den Strafen
der Hölle erzählte, sie war nur eine unter vielen. So hat die la-
teinische Paulusapokalypse den Katalog der Qualen noch weiter aus-
gedehnt. Das katholische Mittelalter hat diese Literatur noch vollständiger
besessen als wir; Dante hat sein Inferno offenbar auf solch einer la-
teinischen Apokalypse aufgebaut, wenn wir auch heute nicht mehr sagen
können, welche es gewesen ist.
Diese Gedanken der orphischen Sekten haben so ihre Gewalt auf
die Gemüter der Menschen ausgeübt durch nahezu zwanzig Jahrhunderte.
Sie zeigt sich zuerst im sechsten Jahrhundert v. Chr., breitet sich aus
nach Alexander dem Großen und erweist sich als besonders kräftig
im zweiten bis vierten nachchristlichen Säkulum. Auf diese Entwicklung
ist der Gang der Weltgeschichte nicht ohne Einfluß gewesen. Alexander
hat, indem er die beengenden Schranken des Hellenentums durchbrach,
dem Griechen sein irdisches Vaterland genommen: die Heimatlosen
suchten einen Ersatz im Jenseits. Überhaupt ist ja diese Bewegung
hervorgegangen aus der Sehnsucht nach dem Frieden, den nur eine
andere Welt geben kann. So entsteht die Jenseitshoffnung, die das
Sündenbewußtsein im Gefolge hat. Die Prediger der dionysischen Re-
ligion sind ja aufgetreten mit dem Rufe: 'Lasset euch reinigen, daß ihr
den ewigen Strafen der Unterwelt entgeht.' Und später riefen die
Apostel des Christentums: 'Tuet Buße, denn das Himmelreich ist nahe
herbeigekommen.' Diese Rufe sind einander so ähnlich, daß für die
Orphiker der Übergang zum Christentum ein Wechsel nur des Namens,
Frgm. 208 Abel; s. S. Reinach, Cultes, mythes et religions I 312 ff.
480 ^®^ Untergang der antiken Religion
nicht der Grundanschauung wurde. Durch diesen Übergang ist die
antike Religion zerstört, und doch auch wieder in einzelnen Glaubens-
sätzen gerettet worden.
Herbeigeführt wurde der Untergang durch jene mächtige Revolution
religiösen Denkens, die aus den tiefsten Schichten aufsteigend auch
die höheren erobert. Die Revolution von unten ist zugleich aber
auch eine Revolution von innen. Nicht von außen her sind diese Ge-
danken an das Griechentum herangetragen worden, nicht etwa aus dem
semitischen Orient \ wie man wohl gemeint hat. Denn der Glaube an
eine Fortdauer der Seele, der Auferstehungsglaube, ist kein Erzeugnis
des Judentums. Die Stellen des Alten Testaments, an denen er an-
klingt, enthalten nichts Urprüngliches; Henoch und Elias sind vereinzelte
Erscheinungen. Die Juden haben ihre Ideale immer auf das Diesseits
gestellt. Erst um 100 v. Chr. beginnen auch bei ihnen eschatologische
Gedanken zu wirken: in jener Zeit aber stand das Judentum mit dem
Hellenentum bereits in näherer Berührung.
DRITTES KAPITEL
DIE REVOLUTION VON AUSSEN
Die Revolutionen von außen gehen aus von den Religionen fremder
Völker. Schon frühe haben die Kulte des Orients in Griechenland
Eingang gefunden; den Einlaß gewährten die Hafenstädte, in denen
Menschen aller Nationen und jeglichen Glaubens zusammenströmten;
wir mögen für Athen an das Völkergemisch denken, das den Piräus
erfüllte. Dort lernten die unteren Schichten der eingeborenen Bevölkerung
die Götter der Fremden kennen und wurden nach und nach mit ihnen
vertraut. Wenn dann eine große Not das griechische Volk heimsuchte,
wenn Pest und Krieg in den heimischen Gefilden wüteten, und die
Hilfe der 0eoi Trarpiuoi nicht mehr auszureichen schien, dann wendete
man sich im Drang nach Erlösung und Frieden an die Götter der
Fremden. Es ist beinahe ein Gesetz, daß jede große Volksnot zu einem
mächtigen fremden Gotte beten lehrt, dessen Glaube und Kult so nach
Beendigung der Not in der antiken Religion Wurzel faßt. Am deut-
lichsten ist das in Rom, wo die Einführung der großen Göttermutter
aus Phrygien in der Not des zweiten Punischen Krieges, die Auf-
nahme des Griechen Asklepios bei einer Pest zu Beginn des dritten
Jahrhunderts erfolgte. In ähnlicher Not ist der Kult des hellenischen
^ Nekyia 214 ff.
Der Untergang der antiken Religion 4g|
Apollo und sind mit ihm die sibyllinischen Bücher nach Rom gekommen;
bei solcher Gelegenheit werden den Göttern Spiele gelobt, und zur
Lösung dieses Gelübdes zum ersten Mal griechische Dramen, eine Tra-
gödie und eine Komödie, in lateinischer Sprache zu Rom aufgeführt.
Diese Rezeption zeigt deutlich, daß man das Alte und Einheimische
nicht mehr als hinreichend empfindet, um den Zorn der Überirdischen
zu beschwichtigen: vielmehr verlangt alles nach Neuem, von außen
Kommendem. Diese Rezeptionen, die mit der Zeit Alexanders des
Großen zuerst deutlich erkennbar wurden, zu der Zeit, da die Schranken
zwischen Hellenentum und Barbarentum fallen, werden immer häufiger,
je mehr die Religion der Väter sich der Auflösung nähert. In der Not
des Krieges hat noch zuletzt Kaiser Konstantin sich an die Hilfe eines
fremden Gottes gewendet: es war der Gott der Christen.
In der Art der Aufnahme sind mehrere Stufen erkennbar. Die
ältere Zeit vergleicht den fremden Gott mit den Angehörigen des ein-
heimischen Pantheons und ruht nicht, bis sie dort ein göttliches Wesen
gefunden hat, dem sie den Fremdling gleichsetzen kann. Das ist bei
den Griechen der Standpunkt zur Zeit Herodots, der in den altägyptischen
Göttern nur Bekannte wiederfindet: ihm ist Isis gleich Demeter, Neith
gleich Athene, die Göttin von Buto gleich Leto.^ Dabei braucht der
Grund der Identifikation keineswegs im genau gleichen inneren Wesen
beider Gottheiten zu liegen; so ist die Gleichung Osiris und Dionysos
nur partiell richtig, nur insoweit beide ihren Gläubigen ein günstiges
Los im Jenseits verbürgen. Ähnlich setzt noch Tacitus die Götter der
Germanen durchweg mit römischen gleich, wenn er etwa deren göttliches
Brüderpaar Kastor und Pollux nennt, interpretatione Romana? Gerade
durch diese Art der Interpretation ist ja die älteste einheimische Re-
ligion der Römer so vollständig verschüttet worden: als man den
römischen Juppiter und den griechischen Zeus in eins schaute, sind
mancherlei griechische Züge in das ursprüngliche Bild des Capitolinus
hineingetragen worden, die reinlich auszuscheiden schwerlich je gelingen
wird. Nicht anders steht es mit Diana, deren italische Eigenart durch
Artemis, mit Ceres, die durch Demeter verdunkelt ist. Erst eine spätere
Zeit schreitet dazu fort, solche doch nie ganz stimmende Identifikationen
aufzugeben, und läßt den Fremden ihre Namen. Attis und Mithras sind
nicht mehr mit Griechen und Römern verbunden worden; sie dringen
in fast rein gehaltener Eigenart durch, und vor ihnen stirbt der alte, ein-
heimische Kult allmählich ab.
^ II 59. « Germ. 43.
Albrecht Dieterich, Kleine Schriften. 31
482 ^®^ Untergang der antiken Religion
Wenn aber vielfach der antike Mensch seine eigenen Götter und
die der Barbaren als dieselben geschaut hat, so zeigt das, wie verkehrt
es wäre anzunehmen, die Alten hätten nicht an die Götter der Fremden
geglaubt, sie etwa für Fabelwesen gehalten. Vielmehr waren ihnen
das sehr reale Kräfte, deren Macht sich deutlich in der Blüte des
Volkes offenbarte, das sie verehrte. Höchstens dazu gelangte man,
daß man die Ausländer nicht ganz für gleichwertig mit den Olympiern
hielt und eher geneigt war, ihnen den untergeordneten Rang von
Dämonen zuzuweisen. Das ist dann auch die Anschauung der ältesten
Christen gewesen; noch die Kirchenväter verneinen keineswegs die
Existenz der heidnischen Götter, sondern erklären sie für böse Dä-
monen, für Teufel.^
Wenn derart das religiöse Bedürfnis seine Befriedigung in neuen,
von außen bezogenen Formen fand, so war es ebensogut möglich, daß
der Inhalt, den diese neue Form barg, bereits in der antiken Religion
vorhanden war, als auch daß jene andere Form einen anderen Inhalt
barg. Nicht immer ist heute eine Entscheidung darüber möglich, welcher
Fall bei der Aufnahme eines fremden Kultes in Wirklichkeit eingetreten
ist. Um ein Beispiel für den ersten Fall zu geben, so waren durch die
Revolution von unten in der Antike die Jenseitshoffnung und das
Sündenbewußtsein bereits vorhanden und brauchten nicht erst aus
anderen Kulten hineingetragen zu werden. Wo daher Kulte mit escha-
tologischer Tendenz rezipiert wurden, war der Inhalt im wesentlichen
bereits vorhanden. Aber die Form, die aufgenommen wurde, ist ver-
schieden gewesen: je nach der Eigenart der später einströmenden Re-
ligion finden jene Seelenstimmungen ihre Befriedigung durch den
Glauben entweder an eine Vereinigung mit Gott oder an eine Erlösung
oder an das Kommen des Reiches Gottes.
Faßbar wird uns dieser Prozeß religiöser Amalgamierung eben in
jener Zeit, die man den Hellenismus nennt. Und zwar ist da Alexan-
dreia der Hauptstapelplatz aller Religionen, die sich sämtlich der größten
Freiheit ihrer Begehungen erfreuten - Intoleranz eines Glaubens anderen
gegenüber ist nicht antik. Die Stadt war erfüllt von Kultgemeinden
und Kultorten; Ägypter und Griechen, Inder und Perser, jeder verehrte
seinen Gott und nahm Anteil, wenn andere die eigene Religion be-
tätigten. Heute schaute die aus allen Konfessionen bunt zusammen-
gewürfelte Menge einem Zeusopfer zu, morgen einer Isisprozession;
dann kam ein Mithrasfest, oder der Tag Jahvehs wurde geheiligt, und
' Z. B. Min. Fei. Oct. 27.
Der Untergang der antiken Religion 433
die Frage, ob ein neuer Apis gefunden sei, wird nicht die Ägypter allein
erregt haben. Gerade die große Masse, die Alexandreia als Hafen-
stadt, als wichtigster Platz des Exportes und Importes für einen großen
Teil der antiken Welt beherbergte, hat den lebendigen Äußerungen
der Religion ihren Anteil geschenkt. Eben in den unteren Schichten
war die Hoffnung auf ein besseres Los im Jenseits, auf eine Erlösung
aus den Mühen und der Unruhe des Tages besonders stark. Wohl
war dasselbe Alexandreia auch ein Zentrum des geistigen Lebens,
der Kunst und der Literatur; dort erhoben sich die großen Bibliotheken,
dort das Museion, bevölkert von Bibliothekaren und Professoren. Aber
sie standen der Religion mit kühler Miene gegenüber: ihre Lebens-
anschauung war eine eklektische Philosophie, welche die Götter des
Volkes skeptisch verneinte. Nur dann gewannen jene Bibliothekare
Fühlung mit der Religion, wenn sie einmal ein Werk über Kultus-
altertümer zu registrieren und einzustellen hatten. Sonst aber drang
in die stillen Studierräume keine Welle religiösen Empfindens und
Handelns: die wogte draußen auf den Straßen und brandete an den
Tempeln und Kapellen.
Alexandreia war eine griechische Gründung, und die Griechen mit
ihrer heimischen Religion waren kulturell der wichtigste Teil der Be-
völkerung. Aber Alexandreia lag in Ägypten, und ein starker Zusatz
von Ägyptern war selbstverständlich. Diese Vereinigung von Helle-
nistischem und Ägyptischem hat eine eigene Kultur erzeugt, die von
Einfluß auch auf das Abendland gewesen ist. Ihre Erzeugnisse wurden
nach Italien exportiert, wie die Funde der Hafenstadt Pompei lehren,
damals sind die Fabrikate des Nillandes in ganz ähnlicher Weise Lieb-
linge der Mode gewesen, wie heute die Erzeugnisse von China und
Japan. Viele haben jene Kultur auch an Ort und Stelle kennen gelernt,
in der Kaiserzeit ist Ägypten das Reiseziel der vornehmen Welt;
griechische Inschriften sind in großer Zahl von europäischen Besuchern
an der Memnonssäule eingeritzt worden, und Kaiser Hadrian hat einen
Teil seiner Villa bei Tibur mit Reiseerinnerungen aus Ägypten ge-
schmückt - alles Beziehungen, die den Übertragungen auch religiöser
Gedanken die Wege ebneten.
Die ägyptische Religion ist in hohem Grade konservativ. Wohl hat
sie eine Entwicklung insofern, als neue Formen des Glaubens entstehen
und zur Blüte kommen, aber neben den neuen sterben die alten Formen
nicht ab, sondern bestehen in Ruhe weiter; niemand hat es als un-
gereimt empfunden, daß in demselben Volke rohester Fetischismus und
Tierkult neben einer Gottesverehrung von hoher Vollkommenheit der
31*
484 ^®'" Unterg-ang der antiken Religion
Gedanken herging. Der uralte Kult des Sonnengottes Amon Rä hat noch
unter Alexander dem Großen eine neue Ausbildung erfahren; eine
drohende Störung in der Verehrung des Stiergottes Apis^ hat unter
Hadrian Unruhen erzeugt, und noch unter Julian hören wir von der
Einführung eines neuen Apisstieres. Alexander der Große und Titus
haben in diesem, den antiken Menschen so völlig unverständlichen
Kulte eines Tieres geopfert. Daran mögen wir ermessen, welchen Ein-
fluß die ägyptische Religion auch auf griechische und römische Gemüter
zu erlangen wußte.
Nach Amon Rä und Apis genossen die größte Verehrung die Götter
des Osiriskreises. Es sind Osiris und Isis^ die Ehegatten, die sich
mit dem Sohne Horus zu einer Götterdreiheit zusammenschließen.
Ihnen steht als Feind Seth oder Typhon gegenüber. Selbst diesen
schadenbringenden Gott hat die Antike rezipiert. Zeugnis dafür geben
eine Serie von Bleitafeln ^ die in einem Grabe der Via Appia bei Rom
gefunden wurden. Sie waren im fünften Jahrhundert n. Chr. be-
schrieben worden und enthiehen Flüche von Wagenlenkern gegen
Konkurrenten, denen auf diese Weise der Sieg genommen werden
sollte. Der Gott, der den Fluch vollzieht, der den Mitbewerber hemmt,
ist aber Typhon -Seth; sein Bild ist auf den Tafeln eingeritzt, und es
ist, wie in Ägypten, eselsköpfig. Der Zaubertext, der das Bild des
Seth begleitet, scheint beeinflußt von den Lehren einer gnostischen
Sekte, die von ihrem Hauptgott den Namen der Sethianer führte. In
deren Spekulation war nun der ägyptische Seth zusammengeflossen
mit dem hebräischen Seth, dem Sohne Adams, und dieser Adamssohn
hatte nach ihrem Dogma in Jesus eine neue Verkörperung gefunden.
So war ihnen Typhon -Seth wesensgleich mit dem Erlöser geworden,
und so erklärt es sich, daß sie ihren Christus eselsköpfig darstellen
konnten. In einem Gemache des Palatin, das wohl Pagen oder
Sklaven zum Aufenthalt gedient hat, ist in den Stuck der Wand ein
Kreuz eingeritzt, an das ein Mann mit Eselskopf angeschlagen ist.
Dabei steht geschrieben 'AXeHaiuevoc ceßexai Geöv. Das hat man
früher als Spott aufgefaßt und jene Zeichnung das Spottkruzifix ge-
tauft. Aber es ist genau so ernst zu nehmen wie die Inschrift 'AXeHa-
ILievöc fideliSy die sich im selben Räume befindet und als Verhöhnung
nicht verständlich ist. Auch befindet sich neben dem mit Unrecht so
genannten Spottkruzifix ein Y, und dasselbe Zeichen kehrt als geheimes
^ Pietschmann bei Pauly-Wissowa u. Apis 5.
' Drexler in Roschers Myth. Lex. II 360 ff.
* Wünsch, Sethianische Verfluchungstafeln 8. 86 ff.
Der Untergang der antiken Religion 435
Symbol - wir kennen seine Bedeutung aus der Lehre der Pytha-
goreer^ - auf jenen Tafeln von der Via Appia wieder: auch seine
Hinzufügung wäre bei einer Verspottung kaum erklärlich, wird aber
sofort verständlich, wenn wir jene Zeichnung als ernst gemeintes Doku-
ment einer Lehre auffassen, in der Griechisches und Christliches, Jü-
disches und Ägyptisches sich seltsam mischte.
In der Osirisreligion erschlägt und zerreißt Typhon den Osiris.
Isis beweint den getöteten Gatten, bis der Horusknabe herangewachsen
ist und den Gegner, der die Gestalt eines Untiers angenommen hat,
überwindet. Als die Erzählung vom Kampfe des Horus gegen Typhon-
Seth zu den Griechen kam, floß sie diesen mit dem Mythos vom
Kampf des Apollon mit dem Drachen Python zusammen. Das Motiv
dieses Drachenkampfes, den auch die Kunst des öfteren dargestellt
hat, wirkte in christlichen Kreisen weiter, wo nun Michael oder St. Georg
als Drachentöter erscheinen. Überhaupt erinnert manche christliche
Darstellung an Motive aus der Osirisreligion: die Gruppe der ^Pietä'
an Isis, die den Osiris beklagt ^ Maria mit Jesuskind an die Darstellung
der Isis mit dem Horusknäblein. Und von großer Bedeutung ist es
gewesen, daß auch die Osirisreligion ihre eigene Unsterblichkeitslehre
gehabt hat.
Die bedeutendste Figur des Osiriskreises ist Isis. Ihr Kult hat
lange gekämpft, ehe er unterlegen ist: noch im Jahre 451 ist sie in
Philae verehrt worden, über 70 Jahre nach dem Edikt des Theodosios,
der die Verehrung auch der ägyptischen Götter untersagt hatte. Weite
Verbreitung hat die Religion der Isis in der hellenischen Welt gehabt:
wir sehen sie nach Athen und Delos, nach Malta und Sizilien vor-
dringen. Einheimische Kulte hatten ihr den Weg geebnet. Wie
Osiris durch Dionysos, so wurde Isis durch Demeter angezogen, eine
jener Muttergöttinnen, an denen primitive Religionen reich zu sein
pflegen. So ist Isis den Griechen zunächst die nährende Mutter und
die schmerzensreiche Mutter, eine Mater dolorosa wie eben die ein-
heimische Demeter; ferner ist sie die Herrin des Meeres und die
Mondgöttin, die zu dem Sonnengotte Osiris gehört. Darum dient ihr
auf Bildern die Mondsichel als Hauptschmuck oder Schemel der Füße.
Das letztere kennen wir von den Bildern der Himmelskönigin Maria,
die auch hier an Isis erinnert. Nicht überall, wo wir von einer gött-
lichen Mupia hören, ist das ein Verschreiben für Mapia, sondern mit-
unter ist Mupia nur die 'Icic |Liupiiüvu|uoc.
Oben S. 472. * Abraxas 104 Anm. 1.
486 ^®'" Untergang der antiken Religion
Mit den römischen Waffen ist Isis sodann über die Alpen ge-
kommen; in der Schweiz, in Süddeutschland, ja auch am Niederrhein
hat sie Verehrer gefunden. Zunächst nur in den unteren Schichten
des Volkes, das zufrieden war, wenn es der verehrten Göttin ein be-
scheidenes Tempelchen errichten konnte. Äußeren Glanz erhielt der
Isiskult mit der Zeit, da Vespasian ihm die kaiserliche Gunst zuwandte:
er hat in Rom das prächtige Iseum und Serapeum erbaut. Damit
wurde diese Religion auch für die oberen Schichten modern. Kurz
vorher, sechzehn Jahre vor dem großen Ausbruch des Vesuvs, ist
der Isistempel von Pompei restauriert worden; leider lehren uns die
Geheimtreppen und Vertiefungen dieses Baues nur, daß im Gottes-
dienst Kulthandlungen stattgefunden haben, nicht aber, welcher Art
sie waren.
Zahlreich waren die Isispriester damals in der antiken Welt, so
zahlreich, daß sie sich zu bestimmten großen Kollegien vereinigten; von
dem übrigen Kultpersonal seien die Pastophoren genannt, deren Dienst
es war, bei den Prozessionen die Kapellchen mit den Götterbildern zu
tragen. Die Tracht der Priester war das lange Gewand aus weißem
Linnen, auffällig an ihnen die Tonsur, vielleicht das Vorbild der
Tonsur christlicher Priester. Der Ruf dieser Isiaci ist, namentlich in
der ersten Kaiserzeit, nicht fein gewesen, wenigstens nach den
Schilderungen der Dichter.^ Sie waren oft nicht besser als Kuppler,
trieben sich vielfach in den Boudoirs der römischen Damen herum,
denen sie als Beichtväter allerhand Bußen für ihre Sünden aufzuerlegen
wußten, auf den Knien rutschen, eiskalte Bäder nehmen, u. a. m.
Mit dem zweiten Jahrhundert wird der Ton in diesen Kreisen besser
und höher: man richtet sich nach dem Beispiel des Kaiserhauses, das
die Isisreligion ernst nimmt. Der Kaiser Commodus hat selbst an
den großen Prozessionen teilgenommen, und Caracalla schritt in einer
solchen mit, die Maske des Anubis auf dem Haupt, des Gottes, der
im Osiriskreis die Funktion des Götterboten hatte.
Eine solche Isisprozession vermögen wir uns noch lebhaft vorzu-
stellen; Apuleius hat sie am Schluß seiner Metamorphosen geschildert.^
Der Beginn des Zuges ist ganz im Karnevalsstil gehalten. Masken
schreiten voran, gekleidet als Soldaten und Jäger, als Modedamen
oder als Philosophen mit Mantel, Pantoffeln, Stab und Bocksbart; ein
zahmer Bär als Dame verkleidet wird auf einem Stuhl getragen, ein
Affchen spielt den Ganymedes, mit phrygischer Mütze und einem
^ luv. VI 532 ff.; s. Wissowa Rel. u. Kult, der Römer 293. ' XI 8.
Der Untergang der antiken Religion 437
orangefarbenen Kleidchen, den goldenen Becher in der Hand; ein ge-
brechlicher alter Mann und ein Esel mit angesetzten Flügeln stellen
zum Ergötzen der Menge Bellerophon und Pegasus dar. Nach diesem
Maskenvorspiel beginnt die eigentliche Pompa. Bekränzte Frauen,
Dienerinnen der Isis, streuen Blumen, Scharen mit Lampen und Fackeln
folgen. Unter den Tönen von Flöten schreiten die Eingeweihten daher,
in weißem Kleide, gesalbt, die Männer geschoren, mit der eigentüm-
lichen Isisklapper, dem Sistrum, rasselnd. Es kommen die Priester:
der oberste unter ihnen trägt eine goldene Urne, die mit Wasser ge-
füllt ist. Dies Wasser, ursprünglich aus dem Nil geschöpft, ist Gott
Osiris selbst. Die Prozession zieht ans Meer: mit vielen Zeremonien
wird hier das 'Schiff der Isis' in die Fluten gelassen, als Zeichen, daß
die Schiffahrt, die über Winter geruht hat, wieder eröffnet ist. Die
Kalender verzeichnen dies Fest als Navigium Isidis am 5. März.
Offenbar ist die hier vorliegende Verbindung von Maskenzug und einem
Schiffskarren, wie er einst die Epiphanie des Dionysos angekündet
hatte, der Ursprung des deutschen Karnevals; die Möglichkeit der Über-
tragung war gegeben, da Isis auch am Niederrhein verehrt wurde.
Allerdings hat er seinen festen Platz im Kalender aufgegeben und muß
nun wandern - aus Rücksicht auf das bewegliche Osterfest und die
davor gebotenen Fasten.
Wie eine Vesper im Isiskult aussah, zeigt ein kampanisches Wand-
bild. Aus dem Tempel tritt der Priester heraus und häh mit verhüllten
Händen das Gefäß, den Andächtigen, die in zwei Chöre verteilt vor
dem Tempel stehen, den im heiligen Wasser anwesenden Gott zeigend.
Rechts und links schütteln zwei Diener das Sistrum: das erinnert an
das Klingeln beim Meßopfer.^
Die Hauptfeste dieser Religion waren ähnlich wie im Dionysosdienst
und wie in anderen Mysterienreligionen des Altertums, die dann im
zweiten nachchristlichen Jahrhundert untereinander sich den Rang be-
streiten, das Fest der Klage um den toten Osiris, die von Heulen und
Brustschlagen begleitet war, und das Wiederfinden des Gottes. Laut
ertönte dann der Jubelruf eupriKajuev cuTXaipo|Li^^- sie freuen sich mit
ihm, weil sie für sich auf ein neues Leben hoffen, wie der Gott Wiederauf-
leben wird. Die das glauben, nennen sich MciaKoi und 'OcipiaKoi,
weil sie diesen Göttern geweiht sind, wie die dem Christusglauben Ge-
weihten XpiCTiavoi. Aufgenommen werden sie in die Gemeinschaft der
Gläubigen durch eine besondere Einweihung: bei dieser wurden als
^ Mau,^.Pompei in Leben und Kunst* 162.
488 ^®^ Untergang der antiken Religion
Symbol für das Schicksal des Neophyten die Schrecknisse der Finster-
nis und des Todes dargestellt^: durch sie hindurch schritt er zu Licht
und Verklärung. Angedeutet wurde damit ein Sterben, eine Wieder-
geburt, bei welcher der Priester als Vater, Isis als Mutter gedacht
wurde, und eine Himmelfahrt. Auch von einer einweihenden Waschung
hören wir, einem Brauch, welcher der christlichen Taufe ähnlich sah.
Tertullian (de Bapt. 5) klagt über sie; die Christen sahen in diesem
Ritus des Isismysteriums eine Nachahmung ihrer eigenen Gebräuche.
Ob und wie bei diesen Festen das höchste Ziel aller Mysterien, die
Vereinigung des Mysten mit dem Gotte, erreicht wurde, wissen wir
nicht. Man könnte sich vorstellen, daß es der Priester erzielte, indem
er von dem heiligen Wasser trank und damit den Gott leibhaftig in
sich aufnahm. Eine Einzelheit des Gebetes im Isiskult erwähnt
Apuleius^: am Schlüsse des Kirchengebetes für den Kaiser, den Senat,
die Ritter, das Volk, für Schiffe und Schiffende sprach der Priester
aoia ecpecia. Davon ist aoia eine psalmodierend vorgetragene Kom-
bination griechischer Vokale, wie wir solche aus magischen Texten zur
Genüge als zauberkräftig kennen; solche Kombinationen gelten als
icpeaa Tpa^naxa, d. h. Zaubersprüche. Durch den Zusatz ecpecia sollen
jene Vokale eben als Zauberspruch bezeichnet werden, sie vertraten
im Isiskult die Stelle des Amen.
Neben der Mutter Isis verlangte das kultische Bedürfnis auch nach
einem Vater. Und so erscheint in späterer Zeit als ihr Gemahl an
des Osiris Stelle Sarapis.^ Es ist ein eigenartiger Gott: ein König
hat ihn mit seinem Minister zusammen ausgedacht. Daß man das
sagen darf, verdankt man den ausführlichen Berichten des Tacitus
und des Clemens Alexandrinus, die beide auf eine gewichtige alte
Quelle, die echte Kultlegende des Serapeums, zurückgehen, und die
so ausführlich berichten, weil Sarapis in aller Welt so ungeheures
Ansehen genoß. Danach erschien dem ersten Ptolemäus, als er in
Alexandreia Tempel und Kulte errichtete, im Traume ein herrlicher
Jüngling und befahl ihm, sein Bild vom Pontus holen zu lassen. Darauf
fuhr die Erscheinung, von Feuer umlodert, gen Himmel. Der König
berief zunächst die ägyptischen Priester, das Traumgesicht zu deuten,
aber sie vermochten es nicht. Die Lösung brachte ein Grieche, der
Eumolpide Timotheos von Eleusis: es sei eine Epiphanie des Gottes
gewesen, der in Sinope am Pontus verehrt werde. Der König sendet
' Mithraslit. 162f. ' Met. XI 17; s. Mithraslit. 38.
^ S. o. S. 159 und die S. 161 Anm. angeführte Literatur.
Der Untergang- der antiken Religion 489
nun Boten an den Herrscher von Sinope, Skydrothemis. Dieser Name
zeigt, daß uns hier eine Legende erzählt wird, denn er widerspricht
der Geschichte. Unterwegs befragen die Gesandten den delphischen
Apollon; ihr Schiff wird, wie Plutarch erzählt, Von einem Delphin in
den Hafen von Kirra geleitet. Apollon antwortet, sie sollten das Kult-
bild von Sinope mit heimbringen. Skydrothemis empfängt die Ge-
sandten freundlich, weiß aber der Bitte um das Kultbild lange auszu-
weichen, bis nach drei Jahren ein Traumgesicht ihn zur Auslieferung
zwingt. Nach einer wunderbaren Fahrt von drei Tagen kommt das
Schiff mit dem Gotte in Alexandreia an. Timotheos und der Ägypter
Manetho erkennen in ihm den Gott Sarapis.
Diese Erzählung ist also eine Legende. Komponiert ist sie aus
den uralten Motiven von der Epiphanie des Gottes, von der Fahrt ins
Hyperboreerland, woher der Gott geholt wird, wie das Bild der Artemis
Taurica oder das goldene Vließ, von dem geleitenden Delphin des
Apollon, den bereits der homerische Hymnus kennt. In ganz ähnlicher
Weise sind auch die sonstigen antiken Legenden abgefaßt, welche von
der Übertragung eines Kults erzählen, so die Berichte über die Ein-
holung des Asklepios von Epidauros und der Magna Mater von Pessinus
nach Rom. Und nicht anders sehen später die christlichen Translations-
legenden aus, die des H. Marcus nach Venedig, des H. Jago nach
Compostella.
Die Sarapislegende ist sicher von eben jenem Eumolpiden Timotheos
verfaßt worden, der in ihr so bedeutsam hervortritt: er schuf dem
neuen Gotte den lepöc Xötoc, den er noch nicht besaß. Und wenn
man in späterer Zeit diese Legende noch auszuschreiben vermochte,
so war dies wohl mit dem Umstand zu verdanken, daß sie in Stein
gemeißelt auf der Tempelwand zu lesen war.
Das Kultbild des Sarapeions hat Bryaxis geschaffen, ein griechischer
Künstler, der Ende des vierten Jahrhunderts in Seleukeia lebte. Seine
Statue galt als Meisterwerk. Sie war von dunkeler Farbe, lang wallten
dem Gotte die Haare in die Stirn herab, neben ihm kauerte ein drei-
köpfiger Hund. Durch alles das wurde Sarapis als Unterweltsgott
charakterisiert. Und doch nicht als furchtbarer Herrscher über die
Toten, sondern eher als gütiger Vater, der die Seelen durch sanftes
Zureden im Jenseits festhält. Zugleich aber wird Sarapis, wo man
von ihm rodet, als mächtiger Weltengott gefaßt. Es ist bezeichnend
für das Sehnen der Zeit, daß sie als wichtigsten Zug im Wesen des
Götterkönigs sein Verhältnis zu den Seelen der Toten ansah. Und
betrachtet man alle Eigenschaften, die Sarapis beigelegt werden, so
490 ^®^ Untergang der antiken Religion
erkennt man, daß er Zeus den Weltenherrscher, Osiris und Dionysos,
die Herrn der Seelen, und Asklepios, den milden, väterlichen Arzt, in
sich aufgenommen hat. Gerade deshalb mußte er einen neuen Namen
erhalten, einen Namen, frei von aller mythologischen Tradition. Nun
erst konnte man sagen: der neue Gott ist Zeus und Dionysos und
Asklepios und Osiris zugleich. Das war ein mächtiger Schritt zum
Monotheismus hin: in einem Gotte waren die größten unter den
Göttern des Pantheons aufgegangen.
Wie der Name Sarapis zu erklären ist, muß unsicher bleiben.
Dem nahe liegenden Gedanken, er sei aus Osiris Apis entstanden,
scheinen sprachliche Schwierigkeiten entgegenzustehen. Möglich wäre
die Herleitung aus dem Babylonischen. Arrian berichtet nach den
Ephemeriden Alexanders, daß es in Babylon einen Gott dieses Namens
gegeben hat. In der Tat kennt die Religion Mesopotamiens einen
Sarapsi und einen Sarapu; von diesen ist Sarapu Unterweltsgott.
Mehr aber als Namen und chthonisches Wesen ist keinenfalls von
dorther übernommen worden; alles andere ist Neuschöpfung des
Ptolemaios.
Mit der Erschaffung des Sarapis hat der hellenistische König
Ägyptens zunächst einen politischen Zweck verfolgt: einen Kult zu
konstituieren, in dem sich Ägypter und Griechen einigen konnten,
eine Religion, die allmählich die Unterworfenen hinüberziehen sollte zu
den Siegern. Das hat die ägyptische Priesterschaft deutlich empfunden
und ist deshalb dem wesentlich hellenischen Gotte gegenüber renitent
gewesen. Papyri aus Memphis, die Augenblicksbilder aus dem Leben
im Sarapeion geben, lehren uns das. Viel ist dort die Rede von den
Kdxoxoi^ des Sarapis. Kdxoxoc bedeutet den, der von dem Gott er-
griffen ist und festgehalten wird; das kann entweder psychisch ge-
wendet werden (^Besessen') oder körperlich CEingeschlossen'). Hier
ist meist an das letztere gedacht; wir erfahren, daß diese Kdroxoi in
bestimmten Räumen des Tempels wie in einer Haft lebten. Vieles ist
an diesen ältesten Klausnern noch unklar, nur war sicher ihre Auf-
gabe, den neugeschaffenen Kultus nach besten Kräften zu fördern.
In der Tat hat die Sarapisreligion rasche Ausbreitung gefunden, des-
halb hauptsächlich, weil sie dem religiösen Bedürfnis der Zeit entgegen
kam. Sarapis trat zur Isis, zur Weltenmutter der Weltenvater, der
zugleich im Jenseits der Seele ein milder Herr war; wir wissen ja, wie
hoch damals die Jenseitshoffnungen gestiegen waren, wie sehr man
S. A. Dieterich, Berl. philol. Wochenschr. 1905, 13 ff.
Der Untergang der antiken Religion 491
die Macht der Unterirdischen verehrte. So ist Sarapis nach Norden
und Westen gedrungen. Er besaß bald Kultstätten in Malta und
Sizilien, und ist über Pompei und Puteoli in Italien eingewandert. Bis
zum Ende des vierten Jahrhunderts ist er ein starker und mächtiger
Gott gewesen.
Schließlich hat der hellenistische Isiskult auch den rein ägyptischen
Apis in seine Kreise gezogen.^ Vielfach haben sich kleine Stiere
von Bronze gefunden, starke prächtige Tiere voll stolzer Kraft, in
Frankreich, Süddeutschland, der Schweiz und Italien, so in Pompei
neben dem Tempel der Isis. An ihnen fällt ein Loch auf, das sich
zwischen den Hörnern befindet. Hier muß etwas eingesetzt gewesen
sein; was es war, lehrt ein pompeianisches Bild: die Sichel des Halb-
mondes, das Symbol der Isis. Dadurch ist die Deutung auf einen
ägyptischen heiligen Stier, also den Apis, gesichert. Dessen altertüm-
licher, absonderlicher Kult muß auf die Gemüter der antiken Menschen
einen großen Reiz ausgeübt haben. Sie haben ihn rezipiert, aber mit
einer gewissen Umgestaltung; im ägyptischen Kult trug der Apis
zwischen den Hörnern die von Uräusschlangen umwundene Sonnen-
scheibe. So bilden ihn die Münzen des memphitischen Gaues und
die Darstellungen nationalägyptischer Kunst ab. Diese Änderung geht
wohl aus von dem Merkmal, das jeder echte Apis haben mußte, auf
der rechten Seite einen weißen Fleck in Gestalt einer Mondsichel.
Auch der Mythos bildet sich mit diesem Vordringen des Mondes aus.
Herodot^ erzählt, der Apis werde erzeugt von einem Lichtstrahl, der
vom Himmel in eine Kuh niederfahre, die nicht mehr imstande sei,
ein anderes Kalb zu empfangen: das soll wohl heißen, daß die Kuh
nach jungfräulicher Geburt Jungfrau bleibt. Plutarch" setzt sodann an
Stelle des Lichtstrahles den zeugungskräftigen Mondstrahl. Wenn be-
richtet wird, daß der Apis auf dem Rücken das Bild eines Adlers
trage, so stimmen dazu die Funde, die gelegentlich einen Adler auf
dem Nacken des Apis aufgesetzt zeigen. Eigenartig ist es, daß in
einzelnen Provinzen versucht wird, das Bild des Apis nach heimischen
Anschauungen auszugestalten. So finden sich in Frankreich Stiere mit
drei Hörnern, ein Erzeugnis keltischer Vorstellungen. Derart ist sogar
dieser fremde Tierkult vom Hellenismus aufgenommen und bis in die
Grenzlande antiker Kultur getragen worden.
Nächst der ägyptischen Religion ist semitischer Glaube und Brauch
von Bedeutung für die Zersetzung der antiken Religion gewesen.
1 A. Furtwängler, Bonner Jahrb. 107 (1901) 37 ff.
2 III 28. ' Is. et Os. c. 43 p. 368 C.
492 ^®^ Untergang der antiken Religion
Doch sind hier die Einzelheiten der Rezeption sehr viel schwerer zu
fassen, und zwar deswegen, weil die semitischen Kulte, ehe sie in
den Hellenismus eindrangen — vielfach wird auch das gerade zu
Alexandreia geschehen sein -, vorher an anderer Stelle sich bereits
mit fremden Kulten gemischt hatten. So hat der Kult der Astarte
sicherlich schon früh manches angenommen, was den Religionen der
großen Mutter entstammte, die in Phrygien und Lydien zu Hause
waren. Daher sollen auch diese hier im Zusammenhang betrachtet
werden.
Bevor der Einfluß des semitischen Polytheismus auf die Antike dar-
gestellt wird, sei einiges wenige über die Berührungen mit dem jüdischen
Monotheismus gesagt. Nach Alexander dem Großen war das Land der
Israeliten zeitweise dem Herrscherhaus der Seleukiden botmäßig.
Deren Versuche, Palästina mit Gewalt zu hellenisieren, haben eine An-
näherung zwischen semitischer und griechischer Kultur und Religion
nicht herbeigeführt. Anders war es außerhalb der Grenzen Judäas,
da, wo jüdische Kaufleute friedlich in der hellenischen Diaspora saßen.
Da hörten die Griechen von der Weisheit, die in den Synagogen redete,
die Juden von den Lehren der griechischen Philosophie. Hier ent-
standen Kompromisse der Weltanschauung, wie sie etwa aus dem pseudo-
phokylideischen Gedicht oder aus den Lehren der Therapeuten und
Essener^ zu uns reden. Lebhafte Beziehungen zwischen Griechentum
und der jüdischen Religion bekundet auch die Tatsache, daß die heilige
Schrift der Hebräer in griechische Sprache übersetzt wurde. Wo uns
auf Inschriften eine Verehrung des 6e6c Oipicroc^ begegnet, wird es
ein Gott sein, der jüdische und griechische Anbeter hatte, und sowohl
als Zeus wie als Jahveh aufgefaßt werden konnte. Vielfach sind
Griechen, später auch Römer, wie Juvenal^ spottend berichtet, Proselyten
des Judentums geworden. Solche Übertritte haben das Ihrige zum
Untergang der antiken Religion beigetragen. Als Ganzes von außen
in die antike Religion aufgenommen werden konnte der jüdische Mono-
theismus nicht, denn Jahveh duldet keine anderen Götter neben sich.
Der semitische Polytheismus kennt überall zwei oberste Gottheiten,
einen männlichen, zeugenden Gott, und eine weibliche, empfangende
Göttin. Der männliche Gott heißt durchweg Baal (BadX, BnXoc)*. Das
ist nur ein Titel, denn das Wort heißt 'Herr', Servius bemerkt richtig:
lingua Punica Baal deus dicitur. Wenn Baal aber den Gott schlecht-
» Abraxas 143 ff.; Nekyia 221 f.
' F. Cumont, Hypsistos, Suppl. Rev. instr. publ. en Belgique 1897.
8 VI 542 ff.; XIV 101 ff. * S. Cumont bei Pauly-Wissowa u. Baal.
Der Untergang- der antiken Religion 493
hin bezeichnet, so mußte eine nähere Bezeichnung hinzutreten, sobald
ein bestimmter Gott gemeint war. Dazu wählt man meist den Namen
des Ortes, über den er gebietet, in dem er hauptsächlich verehrt wird.
Werden die Namen ins Griechische übertragen, so wird der Name der
Kultstätte entweder mit übernommen, oder es wird davon abstrahiert.
Das erste ist üblich, nur der Bei von Babylon heißt ohne Zusatz BnXoc.
Oder es begegnet ein rein griechischer Name; der Gott, der zu Pal-
myra als Oeöc Traipiuoc verehrt wird, ist ein Bei gewesen. Und zwar
war er aus Babylon dorthin gekommen, wie denn überhaupt der baby-
lonische Gott nur durch Vermittelung der Semitischen Religion auf die
griechisch-römische Welt gewirkt hat. Dagegen sind syrisch-phönikische
Baalim häufig genug von Griechen verehrt worden, seien es die einer
einzelnen Gemeinde - so die von Hierapolis, Palmyra, Heliopolis,
Tarsus - oder eines einzelnen Ortes, wie der Baal vom Berge Karmel.
In diese Reihe gehört auch der wohlbekannte Beelzebub \ wörtlich
übersetzt 'der Fliegenbaal', ursprünglich der Gott der Stadt Aqqaron
im Philisterlande. Rein griechisch heißt er Zeuc (xttojuijioc: die Gleich-
setzung mit Zeus war für den höchsten Gott eines Stammes von selbst
gegeben. Diesen Rang aber hat Bee\Z:eßoij\ nicht überall behauptet;
wie so oft ist auch er, der Gott eines fremden Stammes, bei der Über-
nahme ein Dämon geworden. So erscheint er im Neuen Testament,
so kennen die griechischen Zauberpapyri und Inschriften den Dämon
Am wichtigsten sind für die antike Religion der Baal von Doliche
und der Baal von Emesa geworden. Zeuc AoXixnvöc, Juppiter Doli-
chenus^ ist ursprünglich Herr des kleinen Städtchens Doliche in
Kommagene, heute Tell-Dulük genannt, d. h. Hügel von Doliche. Von
hier aus hat sich sein Kult in alle Welt verbreitet; zunächst durch Asien,
wo sich ein Denkmal seiner Verehrung in Antiochia am Taurus gefunden
hat. Intensiver werden die Beziehungen zum Abendland seit 71 n. Chr.,
dem Jahr, in dem das Königtum Kommagene durch Vespasian dem römischen
Reich einverleibt wurde; die älteste datierbare Kultinschrift des Doli-
chenus ist unter Hadrian gesetzt. Die Blütezeit seiner Verehrung be-
ginnt unter den Severen; diese Kaiser reihen ihn unter die Heeres-
gottheiten ein; von nun an sorgen die Legionen für seine Verbreitung.
Daneben haben die Syrer, die als Sklaven und Freigelassene, als
Kaufleute und Beamte der kaiserlichen Verwaltung tiberall hinkamen,
* S. Cumont ebenda u. Beelzebub.
' S. Ed. Meyer bei Röscher und Cumont bei Pauly-Wissowa u. Dolichenus;
V. Domaszewski, Abb. zur röm. Rel. 209.
494 Dß^ Untergang der antiken Religion
ihren Gott bis in die fernsten Grenzprovinzen getragen. In Rom be-
saß er außerhalb des Pomeriums zwei Heiligtümer, auf dem Aventin
und auf dem Esquilin; das esquilinische Sacellum ist 191 n, Chr. von
Commodus restauriert und prachtvoll erweitert worden. Auch sonst
hat Italien Kultstätten aufzuweisen; in Afrika ist Lambaesis, an der
Donau Carnuntum Hauptsitz seiner Verehrung; am Limes entlang ziehen
sich seine Kapellen und Votivsteine von Pforzheim über Heddernheim,
Saalburg, Remagen und Bonn nach Köln, bis an den Hadrianswall sind
sie gedrungen. Der letzte datierbare Stein dieser Art stammt aus der
Zeit von 244-250.
Die Bildwerke, die wir vom dolichenischen Juppiter besitzen, zeigen
ihn als Mann in römischer Bewaffnung — die trug er als römischer deus
militaris; ein orientalisches Relief stellt ihn in persischer Tracht dar -
mit phrygischer Mütze, Blitz und Donnerkeil in der linken, die Doppel-
axt in der rechten Hand; er steht auf einem Stier, der nach rechts
schreitet. Diese Kombination erklärt sich daraus, daß sich hier an
einen älteren Stierkult die Verehrung eines menschengestaltigen Gottes
angeschlossen hat: die Verbindung beider wird im Bilde dadurch aus-
gedrückt, daß sich der Mensch auf das Tier stellt. Nicht etwa setzt:
auch Apollo sitzt nicht etwa auf dem Thron von Amyklai, sondern steht
auf ihm, zum Zeichen, daß zuerst der Kult des leeren Thrones vor-
handen war, ehe der des Gottes hinzukam. Wenn sich die Bilder des
Dolichenus auf dreieckigen Bronzeplatten finden, so liegt in dieser
eigentümlichen Form vielleicht eine Erinnerung an einen alten Fetisch-
kult, die Verehrung eines spitzzulaufenden Steines. Neben dem Baal
von Doliche steht ein weibliches Gegenbild, neben dem Könige eine
Königin, eine Juno regina, wie sie die Inschriften nennen. Auch ihre
Verehrung hängt mit altem Tierkult zusammen: sie steht in ihren Bildern
auf einer Kuh oder einer Löwin oder einer Hindin.
Vielleicht kann man aus dem Bilde des Dolichenus noch eine
weitere Vorstufe seines Kultes erschließen. Eine Bronzepyramide läßt
ihn in einer Hand eine Rosette halten und stellt ihn auf zwei halbe
Stiere, deren Leiber durch eine Rosette verbunden sind. Nun kennen
wir aus Mykenä^ den Stierkopf mit der Rosette, die Doppelaxt zwischen
den Hörnern, aus Knossos auf Kreta die Doppelaxt, wie sie der Doli-
chenus in der Hand trägt, als Fetisch: das kretische Labyrinth war
wohl nur das Haus der Xdßpuc, d. i. eben der Doppelaxt. Im Labyrinth
haust der Minotauros: das ist eine Vermenschlichung späterer Gene-
' S. Karo, Arch. für Rel.-Wiss. VII 1904, 124ff.
Der Untergang der antiken Religion 495
rationen; die Urzeit hat hier einen Stier als Himmelsgott verehrt. Von
Kreta aus hat die Verehrung der Doppelaxt nach Kleinasien, also in
der Richtung auf Kommagene, herübergegriffen; in Karien trägt der
Gott von Labranda, der Zeuc Xaßpduvboc, die Doppelaxt als Beigabe;
an den Namen der Xdßpuc erinnert die Epiklese des Zeus auf Kypros:
Labranios. So hat sich also von Kreta die Verehrung des Stieres
und des Fetischs der Doppelaxt verbreitet, um in Vereinigung mit dem
menschengestahigen Baal des fernen Doliche später den Juppiter Doli-
chenus zu schaffen.
Noch bedeutsamer ist für die antike Religion der Baal vonEmesa^
geworden. Daß es dahin kam, dazu lag der Grund in der Ehe, die
Septimius Severus mit einer Syrerin einging. Sie hieß von Hause aus
Martha, 'die Herrin'; als Römerin hat sie sich Julia Domna genannt.
Sie war eine hervorragende Frau, begabt namentlich mit großer Willens-
kraft, dabei ihrer heimischen Religion - sie war Priesterin des Zeus
von Emesa - fanatisch ergeben. So hat sie auch seine Verehrung in
Italien gefördert, und damit einen Kult in Rom eingeführt, in dem tiefe
Mystik und wilde Obszönität unvermittelt nebeneinander standen. Mit
seiner Rezipierung hatte die semitische Religion ihren stärksten Einfluß
auf die antike gewonnen. Die Blüte dieses Kultes führte Heliogabalus
herauf, der Enkel der Julia Domna. Als im Jahre 217 die Legionen
ihn, den jugendlich schönen Priester des Sonnengottes seiner syrischen
Heimat, auf den Thron der Cäsaren gehoben hatten, brachte er das
Bild seines Gottes mit sich nach Rom und blieb dort sein Priester.
Der Gott hieß Elagabal, und sein Priester wurde ebenso genannt.
Weil man aber den Gott als Sonnengott kannte, verdrehte man den
Namen zu Heliogabalus. Der vierzehnjährige Syrerknabe, der sich als
Herr der Welt fühlte, hat seine Allmacht völlig in den Dienst seines
Gottes gestellt. In der Kurie des römischen Senats wurde der semi-
tische Baal aufgestellt — ein Schlag in das Gesicht aller römischen
Tradition. Auf dem Palatin wurde ein Tempel errichtet, und dorthin
aller anderen Götter Bilder gebracht, damit sie dem großen Himmels-
könig Untertan seien, dem Gott, der in sich das Wesen und die Macht
aller anderen Götter vereinigte. In einer Karikatur wiederholt sich
hier, was Ptolemaeus durch die Schöpfung des Sarapis erreicht hatte:
ein Gott nimmt eine Reihe anderer in sich auf. Dort waren es wenige,
hier sind es alle: die Annäherung an den Monotheismus ist noch größer
geworden, seitdem der Dienst des einen großen Sonnengottes prokla-
Die Grabschrift des Aberkios 28 ff.
496 ^^^ Untergang der antiken Religion
miert ist. Nahezu vier Jahre hat dieser das römische Reich und damit
ein gut Teil antiker Religion beherrscht, dann kam der Sturz des
kaiserlichen Priesters, dem die Erniedrigung des Gottes folgte.
Während seiner Regierung hat Elagabal alljährlich eine große
Prozession aufführen lassen, bei denen sich sein Baal leibhaftig den
Römern zeigte. Und zwar war es ein Stein, seine Religion also ein
primitiver Fetischkult. Bei jenen Umzügen stand der Stein auf einem
Wagen, die Zügel waren um ihn herumgeschlungen, der Gott selbst
lenkte sein Gespann. Und nun kam Elagabal auf den Gedanken,
diesen seinen Fetisch zu verheiraten. So wahnwitzig das klingt, es
birgt sich hier doch der tief religiöse Gedanke von der Ehe des
Götterkönigs mit der Götterkönigin, die sich zum Segen der Welt im
lepöc Ta|uoc einigen. Diese Königin fand er in der großen Göttin von
Karthago, die bald Juno, bald Virgo caelestis heißt; sie führte aber
auch einfach den Namen Regina. Ihre prachtvolle Bildsäule kam nach
Rom und war die Braut in dem riesenhaften Hochzeitsfest, das
Elagabal feiern ließ.
Für dies Fest besitzen wir noch ein merkwürdiges Zeugnis, eine
Inschrift im Lateran, die der Sultan dem Papst geschenkt hat. Es ist
das Bruchstück einer auch literarisch erhaltenen Grabschrift, die
Aberkios von Hierapolis sich selbst bei Lebzeiten kurz nach 216 n.
Chr. gesetzt hat. Er nennt sich Jünger des reinen Hirten, der da
weidet der Schafe Herden auf Bergen und Fluren, der Augen hat ge-
waltig, die überall niederschauen. Damit ist ohne Frage Attis gemeint.
Dieser, d. h. der Kultverein des Attis, hat den Aberkios nach Rom
gesandt, einen König zu schauen und eine Königin zu sehen mit
goldnem Gewand und goldnen Sandalen; und in Rom sah Aberkios
einen Stein mit leuchtendem Gepräge. In dem König und der Königin
hat man mit Unrecht den Bischof von Rom und die dortige christliche
Gemeinde sehen wollen; auch der Kaiser und die Kaiserin können
unmöglich gemeint sein. BaciXeuc und BaciXicca sind der Baal von
Emesa und seine Gemahlin, die Regina caelestis, der Stein mit dem
leuchtenden Gepräge ist der Fetisch Elagabals, Herodian berichtet aus-
drücklich, daß dieser eHoxdc Tivac Kai tOttouc besaß, offenbar glänzende,
edelsteinartige Erhöhungen. So sendet die Attisgemeinde einer phry-
gischen Stadt zu jenem großen Götterfest ihren Vertreter nach Rom;
der große Sonnengott Attis war zumal in jener Zeit der Göttermischung,
der Mischung zu einem großen Sonnengott, dem Sol Elagabal nahe
verwandt. Der eine Gott schickt seinen Diener, den anderen zu
schauen, denn es ist die Herrlichkeit seines eigenen Kultus, die sich
Der Untergang der antiken Religion 497
in dem des Verwandten, des orientalischen Sonnengottes, in Rom
offenbart. Diese Sendung war das Hauptereignis im Leben des
Aberkios, darum hat er die Erwähnung dieser Ehrentage in seine
Grabschrift aufgenommen. Dabei vergißt er nicht, der heiligen
kultischen Mahle zu gedenken, wie sie die Attisgemeinden begehen:
'Nahrung war überall ein Fisch vom Quellwasser, gar groß und rein,
den gefangen hatte eine reine Jungfrau. Den gewährte sie den
Genossen immer zu essen und spendete Wein in guter Mischung
mit Brot'.
Aber wir wenden uns der Religion des Attis selbst zu. Die
neuesten Untersuchungen, namentlich das Buch von H. Hepding, Attis,
seine Mythen und sein Kult^ gestatten uns, die Entwicklung dieser
Religion zu übersehen. Attis ist in Asien zu Hause und begegnet
zuerst in Phrygien, wo er in enger Verbindung mit der Großen
Mutter erscheint, jener Göttin, deren Steinfetisch sich die Römer am
Ende des dritten Jahrhunderts aus Pessinus geholt haben. Sie führt
dort den Namen Mä und hat neben sich einen männlichen Gott, der
Papas heißt, aber auch Attes genannt wird. Dieses phrygische Götter-
paar erfuhr eine Ausgestaltung, als vom Balkan herüber eine thrakische
Einwanderung stattfand, die ihren orgiastischen Dionysoskult mitbrachte.
Sie setzten ihre Göttin Kotys der Mä gleich, und mit Attes ihren
höchsten Gott Dionysos -Sabazios. Zugleich kam damit die in der
Dionysosreligion so lebendige Lehre von der Unsterblichkeit der Seele
nach Phrygien. Auf thrakischem Einfluß beruht auch die Verehrung
der Fichte im Attiskult, die wie der Gott beklagt wird. Ursprünglich
ist sie selbst ein Gott, genau wie der Aiövucoc bevbpiTtic oder evbev-
bpoc, dem vor allen Bäumen die Pinie heilig ist. Auch werden im
Dionysoskult von den Mysten Fichtenschößlinge getragen. Die von
den Dionysosverehrern begangenen dvacpavicjuoi und dvaßiujceic werden
auch dem Attis gefeiert. Sein Priester heißt Attis, wie die des Bakchos
BdKxoi. Femer erscheinen unter dem Kultpersonal Hastiferi, die ge-
legentlich Pastores heißen; diese 'Hirten' werden den dionysischen
BouKÖXoi nahe verwandt sein. Nach dem thrakischen hat der Attiskult
noch semitischen Einfluß erfahren. Namentlich zeigt sich dieses in der
Entmannung der Priester, die für den Kult der semitischen Astarten
bezeugt ist; daß sie später eingeführt wurde, ist wohl daraus zu
schließen, daß Herodot sie nicht erwähnt, also wohl auch nicht kennt.
Wie im Dienst der syrischen Göttin man eine ätiologische Legende zu
^ Rel.-gesch. Vers, und Vorarbeiten I 1903, namentlich S. 211 ff.
Albrecht Dielerich: Kleine Schriften. 32
498 D®^ Untergang der antiken Religion
erzählen wußte von Kombabos, der sich zuerst entmannt habe, so
werden nun auch verschiedene Erzählungen von Attis erfunden, der
als erster sich der Kastration unterzogen habe, etwa daß er der Großen
Mutter einer Nymphe wegen untreu geworden sei, deshalb zur Strafe
in Raserei versetzt wird und sich nun selbst entmannt. Diese Er-
zählung arbeitet mit ganz bekannten Märchenmotiven, wie sie auch
die Sage von Daphnis kennt, den die Nymphe wegen seiner Untreue
blendet. Durch dergleichen Mythen aber geht Attis allmählich seiner
göttlichen Natur verlustig und wird zu einer jener schönen Jünglings-
gestalten, die, obwohl Götterlieblinge, eines frühen Todes sterben und
beklagt werden, wie Adonis und Hyakinthos, Hylas und Linos, oder
in deutscher Sage Balder und Siegfried.
Aber das ist der Weg, den Attis nur in der Volkserzählung und im
Volkslied geht. In der Religion ist er denselben Pfad gewandelt, wie
viele männliche Gottheiten in der Zeit des ausgehenden Altertums: er
ist der große Sonnengott geworden, der Heiland seiner Gläubigen,
der selbst wiedererstanden ist, und mit dem sich die erlösungs-
bedürftigen Menschen zu vereinigen suchen, um sich die eigene
Wiedererstehung zu sichern. Wer die Entwicklung des Attiskultes
übersieht, kann sie von der Verehrung alter Steinfetische über den
Baumkult bis zu dem tief innerlichen Glauben an einen erlösenden All-
gott durch alle Etappen der Entwicklung, deren ein solcher Kult über-
haupt fähig ist, verfolgen.
Auch nach Rom ist der Kult des Attis gedrungen. Auf dem Pala-
tin hatte er seinen Sitz, nicht fern von der Stelle, wo sich die kaiser-
lichen Paläste erhoben. Kaiser Claudius hat ihn in die Reihe der
Staatskulte aufgenommen, damit aber nur sanktioniert, was inoffiziell
schon lange geschehen war. Das Hauptfest fand in der zweiten Hälfte
des März statt. Es begann mit einer Vorfeier am 15. März; an diesem
Tage trugen die Kannophoren Schilf zum Tempel auf dem Palatin.
Welche Bedeutung dies Schilf für den Ritus hatte, steht nicht fest;
irgend welcher Mythos muß den Attis in Beziehung zum Wasser gesetzt
haben, Catulls Galliamben, die wohl dem Kallimachos nachgedichtet
sind, verlegen die Klage des Attis ans Ufer des Meeres. Das Haupt-
fest fing am 24. März an, es war eine Trauerfeier, die den Gläubigen
bestimmtes Fasten und geschlechtliche Enthaltung vorschrieb. In einer
Prozession wurde die Fichte getragen, unter der Attis sich den Tod
gegeben haben sollte; ihre Zweige waren mit Veilchenkränzen um-
wunden und der Stamm wie eine Leiche mit Wollbinden umgeben -
ursprünglich war eben die Fichte der Gott selbst. In feierlichem Zug
Der Untergang der antiken Religion 499
brachten die Dendrophoroi, die Baumträger, jene Pinie zum Tempel
des Palatin: dort wurde sie aufgerichtet und nun von den Gläubigen
wie der gestorbene Gott unter Jammern und Klagen beweint. Ihren
Gipfel erreichten die Äußerungen des Schmerzes am 24. März, dem
dies sanguinis, so genannt, weil an diesem Tage die Verschnittenen
des Gottes in ekstatischer Raserei sich selbst verwundeten, um das
eigene Blut dem Gotte als Totenopfer zu bringen. Dann erfolgt jäh
der Übergang zur ausgelassenen Freude; der 25. März heißt von
seinem heiteren Charakter Hilaria: man feierte den Gott als Wieder-
erstandenen. Ein lustiger, karnevalistischer Umzug am 27. März be-
schloß die Feier; das Kultbild und die Sacra der Großen Mutter wurden
zum Bache Almo gefahren, dort gebadet und wieder in den Tempel
zurückgebracht. Dazu sang die mitziehende Menge ausgelassene Lieder
selbst obszönen Inhalts.
In diesen Formen hat sich der Kult des Attis gehalten bis zum
Ausgang des vierten Jahrhunderts; noch im Jahre 350 fand der Zug
der Dendrophoren zum Palatin statt, erst Theodosius hat ihm ein Ende
gemacht: 390 bezeugt eine Inschrift das Vorhandensein des Attiskultes,
der noch im Jahre 394 im Carmen adversus paganos befehdet wird.
Und nicht nur oben auf dem Palatin hatte er seinen Sitz; auch da, wo
heute der Vatikan sich erhebt, war einst eine hochheilige Stätte der
Großen Mutter. Diese gewaltige Lebenskraft besaß jene Religion durch
den Jenseitsglauben, der sie durchzog. Wir wissen mehr davon durch
Firmicus Maternus, der in seinem Büchlein De errore profanarum
religionum^ davon erzählt, mit guter Sachkenntnis: hatte er doch selbst,
ehe er Christ wurde, die Weihe bei verschiedenen andern Kulten ge-
nommen. Er erzählt, wie in einer Nacht - gemeint ist offenbar die
vom 24. auf den 25. März - die Mysten versammelt sind und um den
toten Gott klagen, dessen Leichnam auf der Bahre liegt. Plötzlich er-
scheint ein Licht; nun salbt der Priester die Kehlen der Mysten und
spricht dazu: GappeTie laücxai toO 0eoö cecuucjLievou * | ecrai Kai r\}Xiv
€K TTÖvujv ciuTTipia. Das Heil der Mysten hängt an der Rettung des
Gottes; wie er auferstanden ist, werden auch sie wiedererstehen. Bei
dieser nächtlichen Feier wird man an die ganz ähnlichen Begehungen
der griechischen Kirche erinnert, in der Nacht vor Ostersonntag beim
Übergang von der Trauer um den gestorbenen Christus zur Freude
über den Wiederauferstandenen.
Auch die Liturgie des Attismysteriums hat uns Firmicus^ erhalten.
Ganz ähnlich berichtet sie Clemens Alexandrinus. Der Myste wird
' Kap. XXII; s. Mithraslit. 174. * Kap. XVIII; s. Mithraslit. 103 ff.
32*
500 ^®'" Untergang der antiken Religion
dabei als homo moriturus bezeichnet, das deutet wohl auf einen sym-
bolisch dargestellten Tod des alten Menschen, dem dann eine Wieder-
geburt des gottgeweihten folgte. Damit er ins Allerheiligste eintreten
kann, sagt er: €K TujuTrdvou ßeßpuuKa, eK KujußdXou TreirujKa, feYOva |u\JCTric
"AxTeujc. Das zeigt, daß jene Wiedergeburt zum Mysten des Attis
durch eine sakramentale Speise erfolgte, die den Menschen mit dem
Gott vereinte. Wenn Firmicus widerlegend fortfährt, daß gerade dieser
Speise der Tod folge, und als wahre Speise das Brot und den Becher
Christi empfiehlt, so weiß er, daß die Attisdiener in der Tat eine
magische Speise des Lebens aus ihren Kultgeräten zu essen meinten.
Ahnliche Bedeutung muß Trank und Speise in den Mysterien der großen
Götter von Samothrake gehabt haben, wenn man einer Inschrift von
Tomi und ihrer Ergänzung trauen darf: der Priester, 7Tap[eH€i tö 7T€|U|u]a
cxicac Kai eTX^^i [tö ttotov toT]c juijciaic. Zu dem Symbolon des
Firmicus fügt Clemens noch hinzu: eKcpvoqpöprica, ijttö töv iracTov
ijTTebuov^ Der Kepvoc war ein Tongefäß, das, mit allen möglichen
Körnern gefüllt, zu jener Speisezeremonie herbeigetragen wurde. Der
zweite Teil des Zusatzes bedeutet ^ich bin ins Brautgemach einge-
gangen'. Das weist hin auf einen Ritus, in dem man die Vereinigung
des Menschen mit Gott unter dem Bilde der Hochzeit der menschlichen
Seele mit dem himmlischen Bräutigam darstellte. Organisiert sind diese
Mysten in Kultgemeinden, deren Mitglieder sich selbst als Brüder be-
zeichnen; ihr gemeinschaftlicher Vater ist der Gott, und an seiner
Statt steht der Priester, den die Inschriften dTTTuäc oder irarrip nennen.
Vieles ist hier dem Christentum so ungeheuer ähnlich, daß man wohl
versteht, wie zum Christlichen neigende Gnostiker ihre Lehre mit
Sätzen des Attisglaubens vermengen, und wie einer seiner Apologeten,
den Namen des Gottes mit einer Benennung nach der phrygischen
Mütze umschreibend, sagen konnte: Et ipse püeatus Christus est.
Und noch in anderer Weise haben die Jünger des Attis sich die
geistige Wiedergeburt zu sichern gewußt: durch das Taurobolium^.
Der Myste birgt sich in einer Grube, über ihm wird ein Stier ge-
schlachtet, dessen herabrinnendes heiliges Blut ihn berieselt und mit
neuer Lebenskraft durchdringt. Dankbar^ bekennen sie auf ihren Votiv-
steinen, daß sie taurobolio renati sunt, meist heißt es auf zwanzig
Jahre, einmal in aeternum. Diese selbe Wiedergeburt zur Gemein-
schaft mit dem Gott wird auch durch das Kriobolium erreicht: auch
da werden wir wieder an Christliches erinnert, an das Lamm, das ge-
Mithraslit. 126. ' Mithraslit. 163.
Der Untergang der antiken Religion 501
schlachtet ist zur Vergebung der Sünden. Diese Bräuche gehören in
den großen Zusammenhang der Blutriten, wie sie bei den Semiten
noch heute, z. T. aus ältester Zeit bestehen; S. J. Curtiss, Ursemitische
Religion im Volksleben des heutigen Orients \ hat sie gesammelt und
beschrieben. Endlich haben wir noch ein Zeugnis über die Verwendung
von Milch im Kulte des Attis; Sallustius irepi Geiuv^ nennt unter diesen
Mysterien auch die TaXctKioc xpocpfi ujcirep dvaYevviu|ueviuv. Milch als
Speise wie der leiblich, so der geistig Neugeborenen: denselben Ver-
gleich finden wir bei Clemens von Alexandreia, der Milch und Honig
als sakramentale Speise nach der Wiedergeburt in Christo kennt, als
erstes Abendmahl der Täuflinge.
Neben diesen ursprünglich phrygischen Kulten darf noch kurz
der Karische des Zeus Panamaros^ erwähnt werden. Auch hier wurde
ein altes Götterpaar zusammen verehrt, ursprünglich wohl ein Amaros
und eine Amara. Die Griechen haben den Kult rezipiert und ihn zu
einem Zeus Pan- Amaros, sie zu einer Hera ausgestaltet. Es scheint,
als ob wir von der Kultlegende dieser Religion noch ein Stückchen
besitzen. Es steht in einem griechischen Zauberpapyrus, der in
Ägypten gefunden ist, ein Zeugnis dafür, und es ist wichtig, daß der
Synkretismus der ägyptischen Griechen auch ein karisches Element in
sich aufgenommen hatte. Dort heißt es 'Zeus stieg auf den Berg mit
einem goldenen Kalb und einem silbernen Messer. Allen gab er ihr
Teil, nur der Amara nicht, sondern sprach: Gib weg was du hast, so
wirst du empfangen'. Darin kann sehr wohi das Aition des Hauptfestes
liegen, das wir kennen und das auf einem Berge bei Stratonikeia unter
Verteilung von Essen und Trinken gefeiert wurde, und wo bei be-
stimmten Begehungen die Frauen ausgeschlossen waren.
Wie die Götterkönige der Asiaten, so sind auch ihre Götterköniginnen
von den antiken Menschen mit Verehrung bedacht worden. Zu ihnen
gehört die Astarte, so hieß griechisch die Astarot^ die alte Herrin
von Tyrus und Sidon, deren Kult weit über Palästina verbreitet war
und von Salomo in Jerusalem gepflegt wurde. Ihr nahe verwandt ist
die berühmte 'Herrin von Byblos', aber doch nicht dieselbe. Vielmehr
unterscheiden sich diese semitischen Göttinnen in derselben Art wie
ihre männlichen Gegenbilder, die Baalim: jeder Stamm hat seine eigene
große Himmelsherrscherin, die von ihren Schwestern an andern Orten
^ Deutsche Ausgabe, Leipzig 1903, S. 206ff.
» Kap. 4; Mithraslit. 163.
» Höfer bei Röscher u. Panamaros; Mithraslit. *220 zu 21.
* Cumont bei Pauly-Wissowa u. Astarte 2.
502 Der Untergang- der antiken Religion
durch Einzelheiten des Glaubens und des Kultes verschieden ist. Die
Griechen, die nur die große Ähnlichkeit, nicht aber die kleinen Unter-
schiede sahen, haben alle diese semitischen Göttinnen Astarten oder
mit eigenem Namen Aphroditen genannt. Die viel angebetete Aphrodite
von Paphos auf Cypern ist eine auch von Hellenen verehrte Astarte
gewesen. In ihrem griechischen Kult wird diese höchste Göttin vor
allem als Weib gefaßt, im semitischen tritt mehr die Herrscherin her-
vor, namentlich die Himmelsgöttin: so können die Römer eine solche
Astarte als Juno caelestis anrufen. Von Legenden, die sich an diesen
Kult angeschlossen haben, hören wir nur die Erzählung: der Himmels-
gott habe sich in einen Stier verwandelt, um die Astarte nach Kreta
zu entführen; das ist dieselbe Sage, die in Griechenland als Mythos
von Zeus und Europa begegnet. Von Kultübungen hat im Dienste der
Astarte wohl die Prostitution ihrer Hierodulen eine Stelle gehabt, die
an einzelnen Orten, wo sich auf semitischem Urgrund basierte Aphro-
ditekulte finden, auch in die antike Welt eingedrungen ist, so in Cypern
und auf dem Berge Eryx in Sizilien.
Einen andern Typus der höchsten Göttin haben die kleinasiatischen
Völker den Griechen und Römern übermittelt. Namentlich in Phrygien
und Lydien begegnet in verschiedenen Gestalten dasselbe Wesen: die
große Mutter vom Berge. Als Mutter bezeichnen sie die einheim-
ischen Benennungen Mct^ und 'A)U|udc, die griechischen Epikleseis jueTaXri
MriTTip und Mriirip eeujv. Als Berggöttin heißt sie schlicht 'Opeia
|ur|Tr|p, oder mit Beiworten von bestimmten Bergeshöhen Aivbu)ur|VTi
BepeKuvTia CnruXrivri 'Ibaia. Auch die AeuKocppurivri , die Göttin vom
Hügel Leukophrys bei Magnesia am Mäander, wird in diesen Kreis
gehören; und vielleicht sind in den Namen "Atöictic und KußeXri, wie
die Große Mutter sonst auch heißt, alte Bergnamen verborgen.
Der Charakter dieses Kultes ist ein stürmisch orgiastischer. Das
will es schon besagen, wenn der Wagen, auf dem die Göttin durch
die Lande fährt, von Löwen gezogen wird. Deshalb gibt ihr der
Mythos als Kultträger die Korybanten, dämonische, mit lauten Rufen die
Göttin wildschwärmend begleitende Gesellen. Auch die menschlichen
Diener der Großen Mutter ziehen in lärmender Ekstase daher, um-
rauscht vom Klingen der Flöten und vom Tönen der Zymbeln. Es ist
eine Religion ähnlich wie die dionysische, die auch glaubte, daß der
Gott, von Satyrn und Mänaden umgeben, durch die Lande rase. Ver-
wandt ist auch die Vorstellung von Artemis oder Hekate, die, von einem
' Rapp u. Kybele, Drexler u. Ma bei Röscher; Jessen u. Ammas bei Pauly-
Wissowa.
Der Untergang der antiken Religion 5O3
Gespensterschwarm geleitet, durch die Lüfte braust. Und wie der
Mensch, der unberufen dies wilde Heer geschaut hat, von Wahnsinn
ergriffen wird\ so wird der, welcher dem Zug der Großen Mutter be-
gegnet, lUTiTpöXn^TOc: Kybele erfüllt ihn mit heiligem Wahnsinn, daß
er ihr Diener werden und an ihrem Orgiasmus teilnehmen muß.
Die älteste Verehrung der Großen Mutter hat sich an Steinfetische
oder primitive Holzbilder gewendet. Verehrung von Steinen als weib-
licher Gottheiten ist in jenen Gegenden nicht unerhört, auch die Aphro-
dite von Kypros war ursprünglich ein solcher Fetisch. Die Holzbilder
haben später, dem barbarischen Geschmack dieser Länder entsprechend,
eigenartige Ausgestaltungen erfahren: eine von diesen erkennen wir
noch im Bilde der ephesischen Diana. Der alte Mittelpunkt des Mutter-
kultes ist Pessinus in Phrygien gewesen: das lag nicht fern vom Din-
dymos am Fuß des Agdos. Dort war das ä-idkixa buTreTec der Göttin
zu schauen, bis sich die Römer im Jahre 204 den Stein holten; dort
zeigte man das Grab des Attis, des Geliebten der Großen Mutter, dort
wohnte der Oberpriester des Kultes, der gleichfalls Attis hieß, und
grade dort hören wir auch mehr von dem untergeordneten männlichen
Kultpersonal. In späterer Zeit, als semitischer Einfluß sich bereits
geltend gemacht hatte, sind diese Diener Verschnittene: es sind die be-
rüchtigten rdWoi der Großen Mutter, von denen bereits die alexandri-
nische Poesie erzählte.
Monumente mancher Art erinnern auch sonst an den Kult der
Göttermutter. Das gewaltige Bild am Abhang des Sipylos, das schon
früh als die versteinerte Niobe erklärt wurde, ist ein Relief der Kybele.
Auf dem Gipfel des Sipylos ist ein Thron in den Fels gehauen: dieser
Thron des Tantalos, wie man ihn nennt, war wohl in alter Zeit der
Sitz der Mriinp öpeir|. In Sardes stehen noch zwei riesige Säulen als
Reste eines Kybeletempels, wohl des größten, den wir in Lydien kennen,
nach Phrygien dem klassischen Lande des Kultes der Bergmutter.
Nach Griechenland ist diese Religion im fünften Jahrhundert ge-
kommen; Euripides kennt sie, ein berühmtes Fragment ^ der Kreter
enthält die Worte: luriTpi t' opeiuj babac dvacxujv Kai Kouprirmv ßdKXOC
dKXriGnv öciiueeic. Die Aufnahme in Attika ging um so leichter vor sich,
als dort ja seit uralter Zeit der Kult einer göttlichen Mutter bestand
- davon ist bei den eleusinischen Mysterien gesprochen worden^ -,
an den sich die Verehrung dieser Mutter anschließen konnte. Seit
dem vierten Jahrhundert treten als Zeugen der Rezeption Inschriften
» Wünsch, Jb. für klass. Phil. Suppl. XXVII 117.
« 472, 13 Nauck. ' S. oben 465.
504 ^®^ Unterg-ang der antiken Religion
aus dem Piraeus hinzu, die von einem Orgeonenverein phrygischer
Observanz gesetzt sind. Daß in Rom die Mater Pessinuntia durch
sechs Jahrhunderte von der Höhe des Palatin aus geherrscht hat,
wissen wir^
Die uralten semitischen Götter sind, ehe sie sich in die antike Welt
verbreiten, Götter einzelner Stämme, lokal verehrte allmächtige Wesen.
Und wenn auch die Gebete, welche die antike Religion seit der Über-
nahme an sie gerichtet hat, längst verklungen sind, im Orient gibt es
Nachfahren der Baalim und Astarten noch heutigen Tages. In Syrien
hat jedes Araberdorf seinen eigenen Heiligen mit Heiligtum *. An diesen
Heiligen wendet man sich in jeder Not um Hilfe, und zwar nicht nur
die Mohammedaner, sondern auch Christen, Juden und Sekten jeglicher
Art. Gerade diese interkonfessionelle Verehrung zeigt aber, daß jene
Heiligen nicht erst im Mittelalter durch eine der jüngeren Religionen
eingeführt sind, sondern uralt semitisches, von allen gleichmäßig über-
nommenes Erbteil. ^Augenscheinlich' meint Curtiss ^bildet beim Kult
dieser Heiligen der alte Semitismus das einigende Band. Er verbindet
seine Anhänger mehr als ihre äußere Religion sie trennt. Die Heilig-
tümer des Mär Dschirdschis und der Mär Thekla üben in dieser Hin-
sicht größeren Einfluß aus als die Kirche des Heiligen Grabes'.
Während alle diese Religionen in Ländern heimisch sind, die nach
Alexander dem Großen unter hellenistischen Herrschern standen und
dadurch der Vermischung mit dem Griechentum ausgesetzt waren, hat
sich die Religion des Mithras in den von den Hellenen unabhängigen
Reichen des Ostens ausgebildet. Für seinen Kult besitzen wir das
grundlegende Werk von Franz Cumont, Textes et monuments ftguräs
relatifs aux mystäres de Mithra.^ Sie dringen verhältnismäßig spät
in die antike Welt ein, sind aber dann die bedeutsamsten von allen
geworden.
Mit Mithras betreten wir wieder arisches Gebiet. Er ist Iranier und
gehört nach Persien. Aber nicht den heiligen Schriften des Avesta
verdankt er seine Gemeinden; nicht die offizielle Religion, sondern eine
volkstümliche Strömung hat ihn emporgetragen. Der Name selbst ist
uralt, wie sein Vorkommen bei Indern und Iraniern beweist; lange Zeit
war er ein Gott der Soldaten und des niederen Volkes, wohl als
Mittler für die Armen und Unterdrückten beim höchsten Gotte, bis er
unter der Dynastie der Achämeniden zu größerer Bedeutung gelangt.
Mancherlei Veränderungen muß dieser Kult erlitten haben, als er all-
' S. oben 480; 499. ' Curtiss, Ursem. Rel. 102 ff.
' Bruxelles 1 1899, 11 1896.
Der Untergang der antiken Religion 505
mählich nach Westen vordrang. Über die Art dieser Verwandlung ist
trotz mancher Vermutung noch keine Sicherheit erreicht. Wir sehen
nur seine Wanderung, wie er an den Pontus vordringt und im Reich
des Mithradates - schon der Name des Königs lehrt das - Wurzel
faßt. Die Seeräuber, mit denen Pompeius kämpfte, waren Mithrasdiener:
das ist die erste Berührung dieser Religion mit dem Abendlande. Die
Ausbreitung dort erfolgt langsam; ein Markstein ist es, daß im Jahre
66 n. Chr. Tiridates aus Armenien mit großem Gefolge durch Asien
nach Rom zog, um vor Nero das Knie zu beugen und ihn als seinen
Mithras anzubeten.* Sichtbar nimmt nun der Mithraskult im Abendland
zu, namentlich im zweiten Jahrhundert, zunächst wieder in den unteren
Schichten der Bevölkerung. Aber nur in der römischen Hälfte des
Reiches: in Hellas und Kleinasien ist nichts davon zu spüren. Und
das versteht man wohl: war doch die griechische Bevölkerung jener
Landstriche damals schon zum großen Teil christianisiert. Im Westen
aber ist Mithras durch die Severe hoffähig geworden und mit den
Legionen bis zu den fernsten Grenzen gedrungen. Überall finden sich
dort seine Denkmäler, außer den Inschriften meist Höhlen und kleine
Tempel mit monumentalen Reliefs: in Ostia ebensogut wie in Carnun-
tum und im westlichen Deutschland (Karlsruhe, Neuenheim, Heddern-
heim, Friedberg).
Die Deutung jener Reliefs wird durch literarische Überlieferung
leider nicht unterstützt, sie müssen für sich selbst sprechen. Die
Hauptfigur ist eben Mithras, der den Stier niederwirft: ein jugendlicher
Gott mit gelocktem Haar, mit fliegendem Mäntelchen, persischen Hosen
und phrygischer Mütze; die ganze Haltung ist aus dem Typus einer
griechischen Siegesgöttin abgeleitet. Dem niedergeworfenen Stier greift
ein Skorpion in die Hoden, der Schwanz des Stieres läuft in drei
Kornähren aus. Der Schlachtung dieses Stieres liegt der Gedanke zu-
grunde, daß der Lebenskeim, den er in sich birgt, im Blute heraus-
tritt und alles erzeugt. Auf die kosmogonische Bedeutung des Stieres
weisen auch jene drei Ähren hin; der deutsche Volksglaube kennt
ähnlich Korndämonen in Rindsgestalt.^ So wie dieser Stier bei der
Schaffung der Welt, wird auch am Ende der Tage ein Stier getötet
werden ^ Mithras wird unter den von den Toten erweckten Menschen
die Guten aussondern und mit ihnen ein Mahl halten, bei dem er den
Seinen durch einen Becher voll Wein und Stierfett die Unsterblichkeit
verleiht.
1 s, 0 s. 281. ' W. Mannhardt, Wald- und Feldkulte II 326. 333.
8 Cumont, Mithras II 311.
506 D^^ Untergang der antiken Religion
Die Hauptdarstellung der Reliefs in den Mithreen ist häufig von
kleineren Reliefs umgeben, deren Deutung noch vielfach unsicher
ist. Oft ist die Geburt des Mithras dargestellt, der Sage nach wurde
er CK. TTETpac geboren. Oder der eben Geborene wird von Hirten an-
gebetet, die an ihren Stäben deutlich erkennbar sind. Weiter verfolgt
oder raubt Mithras einen Stier, wohl eine besondere Fassung des ver-
breiteten Mythos vom Raube des himmlischen Schatzes. Endlich er-
scheint Mithras mit Helios zusammen: Helios reicht Mithras die Hand,
beide fahren im Sonnenwagen gen Himmel oder sind beim heiligen
Mahle vereinigt.
Von Tatsachen des Kultes ist bekannt, daß seine Diener durch
einen besondern Akt der Rezeption eingeweiht wurden. Bei diesem
erhielten sie Brot und einen Becher Wasser \ über deren sakramentale
Wirkung weiter nichts berichtet wird. Dagegen wissea wir, daß die
Mysten nach verschiedenen Rangstufen gesondert warenl Die höhere
Stufe wurde wohl durch Bußübungen, durch Ertragen von Durst und
Kälte erreicht. Die einzelnen Grade sind nach verschiedenen Gesichts-
punkten benannt: nach Tieren KÖpaKec, Xeoviec, deioi, nach Verwandt-
schaftsgraden pater und fratres; außerdem gab es noch Kpucpioi, müitesj
TTepcai und nXiobpöjuoi. Diese Verschiedenheit in der Art der Be-
nennung darf man als Beweis dafür ansehen, daß der Mithraskult eine
lange Entwicklung durchlaufen und sich mit verschiedenen Mysterien
vermischt hat, von denen jedes seine eigene Nomenklatur der Mysten-
klassen besaß. Die Benennung nach den Tieren sieht recht ursprüng-
lich aus; über die Bedeutung der Verwandtschaftsnamen ist zum Attis-
kult gesprochen worden^; Kpuqpioi sind die noch Uneingeweihten
gegenüber den 'Teilnehmenden'; die 'Soldaten' sind als 'dienende
Truppe' in einer Militärreligion wohl verständlich; TTepcai weist auf eine
Zeit hin, die den eingeweihten Fremdling zum Perser werden ließ, wie die
Juden ihre Proselyten Juden werden ließen. Allein stehen die fiXiobpöjaoi,
wohl ursprünglich Angehörige des höchsten Grades: Sterbliche, welche
mit der Sonne zum Himmel fahren, um sich mit Gott zu einigen.
Welche kultische Handlungen die Mithrasdiener begangen haben,
läßt sich im einzelnen nicht feststellen. Wir sehen nur so viel, auch
ihre Religion hat den Schwerpunkt im Jenseits, sie kennt Himmel und
Hölle als Lohn der Guten und Strafe der Bösen, sie sucht daher Er-
lösung von den Sünden. Die Wiedergeburt der Seele wird erreicht
durch sakramentale Handlungen; auch im Mithraskult^ haben Taurobolien
' Mithraslit. 102 f. ^ Mithraslit. 150 f.
» S. oben 500. ^ S. oben 500.
Der Untergang der antiken Religion 5Q7
stattgefunden, die durch die sühnende Kraft des Blutes die Vergehungen
hinwegnahmen. Andere ihrer Handlungen werden direkt sacramenta
genannt und von den christlichen Schriftstellern als teuflische Nach-
ahmung bezeichnet. Es soll auch gar nicht geleugnet werden, daß
etwa auf jene Konsekration von Brot und Wasser bei der Weihe der
Eintretenden Christliches schon mit eingewirkt hat.
Von Einzelheiten wissen wir noch, daß der einzuweihende miles
einen Eid zu leisten hattet die Übertragung dorthin vom Fahneneid
des Soldaten ist leicht verständlich. Ferner haben die Mithrasdiener
den Tag der Sonne als den ihres Gottes für den heiligsten und ersten
der Woche gehalten ^- durch sie hat der Sonntag seine Bedeutung als
geheiligter Wochenanfang erhalten. Wohl mögen die Christen schon
früher ähnliche Vorstellungen gehabt haben; daß sie sich im Kalender
durchsetzten, verdanken sie der gleichen Anschauung der Mithras-
diener.
Die Liturgie, wie sie im Kult dieser Gemeinden benutzt wurde, ist
wenigstens für einen Punkt faßbar geworden durch ein Rezept des
großen Pariser Zauberpapyrus.^ Es ist eine Anweisung für den Zauberer,
Offenbarung zu erhalten, 'die der große Gott Helios Mithras ihm hat
geben lassen von seinem Erzengel, auf daß er allein, ein Adler, den
Himmel beschreite, und erschaue alles'. Der Zauberer spricht ein
erstes Gebet und fühlt sich hinaufgehoben in den Himmel; er betet
zum zweiten Male, da öffnet sich die Sonnenscheibe und er erblickt
einen unendlichen Kreis und feurige Tore, die abgeschlossen sind.
Auf ein drittes Gebet erscheint ein jugendlicher Gott, mit feurigen
Locken, in scharlachrotem Mantel und mit einem feurigen Kranze. Er
wird als Helios begrüßt und gebeten, die zum Himmel gefahrene
Seele dem höchsten Gott zu melden. Auf dem Wege zu diesem er-
scheinen sieben Jungfrauen mit Schlangengesichtern, des Himmels
Schicksalsgöttinnen, und sieben Götter mit Gesichtern schwarzer Stiere,
die Polherrscher des Himmels. Wenn sie sich in der Ordnung auf-
gestellt haben, erscheint der höchste Gott, jung, mit goldenem Haupt-
haar, in weißem Gewände, mit goldenem Kranze, in weiten Bein-
kleidern - die persische Tracht zeigt, das ist Mithras. Und nun
spricht die Seele ihr letztes Gebet: 'Herr sei gegrüßt, Herrscher des
Wassers; sei gegrüßt, Begründer der Erde; sei gegrt\ßt, Gewalthaber
des Geistes. Herr, wiedergeboren verscheide ich, indem ich erhöhet
werde, und da ich erhöhet bin, sterbe ich; durch die Geburt, die das
1 Cumont, Mithras I 318. * Cumont, Mithras I 119.
» Mithraslit. Iff.
508 Der Untergang der antiken Religion
Leben zeugt, geboren, werde ich in den Tod erlöst und gehe den
Weg, den du gestiftet hast, wie du zum Gesetze gemacht hast und
gestiftet das Sakrament.' Es war vorhin^ von den fiXiobpöjLioi die
Rede, die zum Himmel fahren, um sich mit Gott zu einigen — das
Rezept, das hier im Zauber angewendet erscheint, war ursprünglich
die Liturgie, die vorgetragen wurde bei einer solchen Himmelfahrt der
Seele. Agiert wurde dies Mysterium wohl in einer der Grotten^ wie
sie für den Mithraskult typisch sind: durch sie schritt der Myste hin
zu dem Gott, dessen Bild im Hintergrund stand. Hauptmittel der
Inszenierung war die Beleuchtung; Lampen und Fackeln hat man in
diesen Heiligtümern gefunden. Zuletzt wurde das bisher verdeckte
Mithrasbild enthüllt, Inschriften und Denkmäler beweisen das Vor-
handensein eines Vorhangs vor dem Kultbilde. Der lichtbestrahlte
Gott erschien: das war das Letzte und das Höchste.
Merkwürdig ist, wie in diesem Text die rein mithrischen Vorstellungen
von Elementen ägyptischer Anschauung durchsetzt sind. Dahin gehören
die Erscheinungen der Himmelsjungfrauen und Polherrscher.^ Das
lehrt, daß der Mithraskult auch in Ägypten bekannt war, und daß er
die Fähigkeit besaß, mit fremden Lehren Kompromisse zu schließen.
Ein Wort ist auch noch über die Rolle des Helios in diesem Mysterium
zu sagen. Durch ihn kommt der Myste zu Mithras, er ist also Mittler
zwischen Gott und dem Menschen. Dann aber heißt in unserem
Papyrus Helios der Sohn des Mithras, und an anderer Stelle ist der
höchste Gott Helios und Mithras in einer Person. Also Vater und Sohn
sind eins, und der Sohn ist der Mittler. Das kann aus dem Empfinden
der Mithrasdiener hervorgegangen sein, es können aber auch christliche
Einflüsse gewirkt haben. Zwischen diesen beiden Religionen laufen
mancherlei Fäden hin und her. Der Kampf des Mithras und des
Christus erzeugte bei den Christen den Wunsch, daß sich der falsche
Gott mit seinen Dienern beuge vor dem wahren."* Darum erzählten sie,
daß die Magier gekommen seien, das Kind anzubeten, die Magier aber
waren Diener des Mithras. Und ehe die Christen den Geburtstag
ihres Heilandes am 25. Dezember feierten, begingen die Mithras-
gläubigen an demselben Tag ein Hauptfest, den Geburtstag ihres un-
besiegten Sonnengottes.
'Des unbesiegten Gottes': darin liegt ausgesprochen, daß die Re-
ligion des Mithras sich des Gegensatzes zu anderen Religionen bewußt
war, daß sie mit ihnen in einem Kampfe um die Weltherrschaft stand
^ S. 0. 506. 2 Mithraslit. 85.
^ Mithraslit. 69. '^ S. o. 284.
Der Untergang der antiken Religion 5Q9
und die feste Zuversicht hatte, in diesem Kampf Sieger zu bleiben.
Jahrzehntelang hatte es den Anschein, als ob diese Hoffnung sich er-
füllen würde. Das dritte Jahrhundert hat eine hohe Blüte des Mithras-
kultes geschaut. Durch die kaiserlichen Beamten, die zum Post- und
Steuerwesen gehörten, wurde er in alle Welt getragen. Auch sozial
stieg er allmählich in die Höhe, gerade die Aristokraten haben später
am Zähesten an ihm festgehalten. Im Jahre 307 hat Diocletian mit
seinen Mitregenten zu Carnuntum dem Mithras fautori imperii sui einen
Tempel geweiht^; in der Christenverfolgung des Galerius erblickte man
wohl mit Recht eine Äußerung der Macht, welche der Klerus des
Mithras damals besaß. Man wird bei diesen Tatsachen an das Wort
von Renan erinnert: 'Man kann wohl sagen, daß, wenn das Christen-
tum durch irgendeine Krankheit an seinem Wachstum gehindert wäre,
die Welt dem Mithras gehört hätte.' Doch begann unter Konstantin
und Konstantius der Rückgang dieser Macht; damals predigt auch
Firmicus Maternus gegen diese Religion, der er selbst früher angehört
hatte. Einmal erhob sie sich noch unter der Restauration Julians, der
ein glühender Verehrer des Mithraskultes war. Er versuchte sogar
ihn in der östlichen Hälfte des Reiches, so in Konstantinopel, einzu-
führen. Unter seinem Regiment hatte der Patriarch von Alexandria,
Georgios, auf den Trümmern eines Mithreums eine christliche Kirche
aufführen wollen; der Pöbel lynchte ihn, am Vorabend des großen
Mithrasfestes, am 24. Dezember 361. Dann aber kam der Rückschlag.
377 ließ der Stadtpräfekt Gracchus eine Mithrasgrotte in Rom un-
gestraft zerstören, 394 brachte der Sieg des Theodosius auch dieser
Religion im römischen Weltreich den unaufhaltsamen Untergang. Im
Orient ist sie später durch den Islam verdrängt worden, nur wenige
Trümmer mithrischer Lehre haben sich in den Manichäismus gerettet.
Solange er lebte, war der Mithraskult der stärkste Gegner, aber auch
der stärkste Wegebereiter des Christentums, das sich auf seinen
Trümmern erhob, wie in Rom die Basilica S. demente auf den Resten
eines Mithreums. Die Gründe, die dem Christentum den Sieg ver-
schafften, sind, abgesehen von seinem tieferen Gedankeninhalt, äußere
gewesen. Einmal hatte die christliche Lehre bereits die griechischen
Provinzen des römischen Reiches gewonnen, ehe die Kunde von
Mithras dorthin drang. Ferner war das Christentum damals energischer,
intransigenter als die Mithraslehre, die in jenem Kampf zu paktieren
suchte und sich dadurch selbst zersetzte. Und endlich war Mithras
Cumont, Mithras I 281. 344 ff.
510 D®^ Untergang- der antiken Religion
ein Gott allein der Männer, während Christus auch die Frauen in seine
Gemeinde aufnahm. Alles das führte das Christentum zu einem Siege,
den es mit Recht für seinen größten gehalten hat. Es hat seinen
Triumph auch ausgenutzt: der Mithrasdienst wurde so völlig unter-
drückt, daß auch kein Restchen blieb, das den Schwachen hätte An-
stoß geben können.
Das sind etwa die wesentlichsten Kulte, die im Lauf der Jahr-
hunderte Eingang in die antike Religion gefunden und, von außen
kommend, Revolutionen in ihr hervorgerufen haben. Welche Folgen
haben diese Rezeptionen für die Entwicklung allgemeiner religiöser
Gedanken gehabt? Zunächst ist auffällig, wie viele unter den rezipierten
Göttern den Charakter des Sonnengottes besitzen: die Baalim, nament-
lich der von Emesa, Attis, Mithras. Die Folge ist, daß gegen Ende
des Altertums der Kult der Sonnengötter in den Vordergrund tritt.
Wie nun neben jenen männhchen Göttern meist eine Göttin steht,
erblickt man in diesem weiblichen Gegenbild mit Vorliebe eine Mond-
göttin, zu Helios tritt Selene. Das sind jene Virgines caelestes,
Himmelsköniginnen, die den Mond unter ihrem Fuße haben. Und
diese Himmelsgötter werden den meisten anderen Göttern gleichgesetzt.
Bezeichnend ist für die männlichen Gottheiten des Kaisers Julian Rede
€ic TÖv ßaciXea "HXiov, in der die Einheit des Helios mit Zeus und
Apollon erwiesen wird; für die weiblichen Gottheiten das Gebet des
Apuleius\ ^Himmelskönigin, sei es daß du Ceres oder die himmlische
Venus oder die Schwester des Phoebus oder die dreigestaltige
Proserpina bist'. So gehen also die verschiedenen Götter in einem
umfassenden höheren Gott auf: eine Abstraktion von älterem Glauben,
die wieder einen bedeutenden Schritt zum Monotheismus hin bedeutet.
Alles drängt jetzt auf den einen großen Weltgott zu. Deutlicher als
an einzelnen Zeugnissen wird das durch die Tatsache, daß unter
Aurelian dieser Gott zum Reichsgott erhoben wird; an Stelle der
Gebete an viele Götter tritt das Anflehen des Einen, des Sol Invictus.
Das ist ein neugeschaffener Gott, der mit dem Sol Invictus Mithras
zunächst nur den Namen, nicht aber das Aussehen gemein hat. Denn wie
man ihn sich dachte, zeigen die Münzen, die ihn in zwei Typen dar-
stellen, einmal in einem Brustbild als jugendlichen Sonnengott, dann,
dem Beinamen des ^Unbesiegten' entsprechend, als streitenden Gott in
ganzer Figur, in einem Typus, der dem Apollo von Belvedere nach-
gebildet ist. Bis 323 läßt sich die Prägung solcher Münzen und
\
1 Metam. XI 2.
Der Untergang der antiken Religion 511
damit der offizielle Kult dieses Reichsgottes verfolgen. Daß man die
Feste dieses Kultes auf die bereits dem Sonnengott geweihten Tage
legte, auf den 25. Dezember und die Sonntage, ist begreiflich. Später
hat Gott Christus dieses Erbe angetreten, der 25. Dezember ist sein
Geburtstag, der Sonntag der Tag des Herrn geworden. Noch in
anderer Beziehung hat der Sonnenkult Aurelians dem Christentum die
Wege geebnet. Er bricht mit dem Prinzip des nationalen Gottes, er
ist kosmopolitisch, als Gott des römischen Reiches, d. h. der Welt ge-
dacht. Der Kult dieses Gottes will eine Weltreligion werden, und
sollte dies Ziel auch nur durch Kampf zu erreichen sein.
Wir sehen an dieser Neuschöpfung, daß ein starker Drang nach
Umbildung der Religion durch die Welt geht, daß nach neuen Aus-
drucksformen für die Vorstellung vom Überirdischen gesucht wird.
Und vor allem geht dies Drängen auf Beseitigung der Schranken
zwischen den einzelnen Religionen, Gleichsetzungen und Mischungen
finden in großer Zahl statt, alle mit dem einen mehr oder weniger
deutlich erkannten Ziel, zu dem einen Gotte zu gelangen, und alle
durchdrungen von dem einen Sehnen - das zeigen die Sakramente
in den Kulten der Isis, des Attis, des Mithras -, sich mit diesem Gotte
zu einigen und durch ihn die Gewißheit der Seligkeit zu erlangen.
Das sind dieselben Gedanken, die im ältesten Christentum wirksam
waren; das besagen im 6. Kapitel des Johannisevangeliums die Ver-
heißungen Christi: ^Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der
hat das ewige Leben', oder die Lehre der paulinischen Briefe vom
Sterben und Auferstehen mit Christo.^
Das siegreiche Christentum ist der Universalerbe der durch die
verschiedenartigen Revolutionen umgestalteten antiken Religion ge-
worden. Vieles von Gedanken und Formen hat es sich aus diesem
Erbe angeeignet. Vor allem eine Vorstellung ist hier wie dort das
Fundament: nicht das irdische Leben, sondern das Jenseits fordert die
wichtigsten Sorgen des menschlichen Herzens.
VIERTES KAPITEL
DIE RELIGIÖSE ERREGUNG DER MASSEN
In den Nöten des täglichen Lebens, die in manchen Zeiten durch
Krieg, Seuche oder Mißwachs ins Unerträgliche gesteigert worden sind,
versagten gar oft die Götter der Väter ihre Hilfe und ihre Gnade.
Wie das die Veranlassung werden konnte, den Göttern des Auslandes
^ Ep. ad Coloss. 3.
512 Der Unterg-ang der antiken Religion
einen Dienst zu weilien, sahen wir. Aber nicht alle haben, von einem
Gott verlassen, ihren Trost bei einem anderen gefunden; nur allzu viele
aus der großen Masse haben sich überhaupt einer Gottesverehrung,
die den Namen Religion verdient, abgewendet und sich dem, was
man gemeinhin Aberglauben nennt, in die Arme geworfen. So entsteht
eine antike Götterdämmerung, die immer tiefer in das Dunkel der
Nacht hineinführt. Es beginnt ein Abwenden von den offiziellen Gott-
heiten, ein verzweifeltes Suchen nach Hilfe bei allem, was irgendwie
in seinen Äußerungen sich den Anschein übermenschlicher Macht gibt.
Immer stärker wird die Verzweiflung, immer erregter das Suchen der
Menschen, in deren Seelen Gestalten und Erscheinungen im wilden
Knäuel miteinander ringen. Das Ergebnis dieser Vorgänge ist eine tief-
gehende Erregung der Massen: das Interesse des Tages ist überall
auf religiöse Dinge konzentriert und betätigt sich einer jeden neuen
Erscheinung gegenüber mit fanatischer Energie. In ihren Anfängen läßt
sich diese Bewegung seit Alexander dem Großen erkennen, sie wächst
noch unter Augustus und erreicht den Gipfel der höchsten Erregung
im zweiten und dritten Jahrhundert. Erst als das Christentum sich
durchsetzt, tritt allmählich die Beruhigung ein.
Auch diese Erregung beginnt in der Tiefe der Menschheit. Die
oberen Schichten haben dieser Massensuggestion keinen Widerstand
geleistet. Zuerst waren sie zu gleichgültig, später zu sehr dezimiert,
um etwas auszurichten. Und vielfach haben sich auch geistig Hoch-
stehende hineinreißen lassen in die Flut, die in diesem Hexenkessel
des Aberglaubens brodelte.
Wo der Aberglaube in schweren Zeiten an das Licht des Tages
tritt, ist er immer ein Zeichen der Zersetzung bestehenden Glaubens.
Seinem Wesen nach ist er immer selbst einmal Glaube gewesen, ein
Überlebsei überwundener primitiver Formen der Religion. Darum sollten
wir Heutigen nicht auf den Aberglauben unseres Volkes verachtend
herabsehen, sondern ihn zu verstehen suchen: er wird uns reiche Be-
lehrung über die früheren Stufen religiöser Vorstellungen gewähren. Auch
bei anderen Völkern sehen wir, durch besondere Umstände begünstigt,
dergleichen Überbleibsel aus den unteren Schichten, in denen sie ein
verborgenes Dasein geführt haben, plötzlich wieder an die Oberfläche
kommen. Aber in dieser Fülle von Formen, und so bis in die Ober-
schichten der Gesellschaft hinein, wie am Ausgang des Altertums,
kennen wir es sonst nirgends. Es sind die Fieberphantasien des ab-
sterbenden antiken Glaubens; es ist als ob die Religion wahnsinnig
geworden und dem Tode nahe sei, ihr Empfinden und ihre Vor-
Der Untergang- der antiken Religion 51 3
Stellungen neigen sich der tiefsten Stufe zu. Und zwar werden sich
die Völker dessen schaudernd selbst bewußt und suchen nach dem
Retter aus dieser Not des Geistes. Stets erwacht in den Zeiten der
höchsten abergläubischen Verwirrung die Hoffnung auf einen Heiland,
der all diesen Hexenspuk zu bannen vermag.
Der Aberglaube führt notwendig zur Magie: sie ist praktischer
Aberglaube. Auch die Magie hat, wie die Religion, zum Objekt das
Verhältnis des Menschen zu Gott. Nur daß nach ihr nicht der Mensch,
sondern der Gott der abhängige Teil ist. Sind die olympischen Götter
zu hoch in die Wolken entrückt, daß menschliches Flehen sie nicht
mehr zu erreichen vermag, so hat die Magie ihre Dämonen, die der
menschlichen Stimme gehorchen, und dem Zauberer, der die rechten
Formeln weiß, alles gewähren und verschaffen, was sein Herz begehrt.
Diese rechten Formeln hat man frühzeitig aufgeschrieben und die
verschiedenen magischen Rezepte zu Büchern vereinigt. Solche hat man
schon im alten Ägypten gekannt, die Totenbücher gehören in diese
Kategorie; im hellenisierten Ägypten haben sie ihre Fortsetzer gefunden.
Dorther stammt das Dutzend Zauberpapyri, das wir noch haben: ihre
Vorlagen sind in den ersten christlichen Jahrhunderten zusammen-
gestellt, in der Zeit höchster religiöser Erregung. Viel ist in ihren
Rezepten von der tvüjcic die Rede: die Menschen müssen den richtigen
Namen des Dämons kennen, der gezwungen werden soll, die richtige
Formel kennen, die allein wirksam ist. Diese magische tväcic ist
eine Verwandte der religiösen Gnosis, die um dieselbe Zeit geblüht
hat: auch sie lehrt, ähnlich dem ägyptischen Totenbuch, die Formeln,
welche die Seele kennen muß, um die Reise zum Himmel ungehindert
zurückzulegen.
Dieses Dutzend Zauberpapyri ist nur ein winziger Bruchteil der
ganzen gewaltigen Zauberliteratur. Die Apostelgeschichte erzählt S daß
zu Ephesus auf einmal dergleichen Schriften im Wert von 50000
Drachmen verbrannt wurden. Nicht alles, was hierher gehört, sind
direkt Zauberrezepte. Verwandter Art sind die Bücher, die von den
geheimen Kräften von Steinen, Pflanzen und Tieren berichten, z.T.
dicke Lexika in alphabetischer Ordnung, bestimmt, die richtige Ver-
wendung dieser Dinge zum Zauber oder in der Mediana popularis zu
lehren. Diese Literatur ist in niemals abreißender Tradition durch das
Mittelalter fortgepflanzt worden; sie enthielt in ihrem Schöße die Keime
zu den Wissenschaften der Mineralogie, Botanik, Zoologie: aber in dem
' XIX 19.
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 33
514 Der Untergangf der antiken Religion
Dunkel, das sie umgab, sind sie zur Entwicklung nicht gelangt. Und
ebenso bergen sich die Anfänge der wissenschaftlichen Chemie in den
Büchern der Alchemisten, deren älteste in die Antike zurückreichen: von
ihren zauberischen Fähigkeiten ist der Stein der Weisen, die vergebliche
Kunst, Gold zu machen, bekannt, die bis in die Neuzeit immer wieder
Adepten gefunden hat. Endlich gehört in den Kreis dieser Literatur
auch die astrologische, die der wissenschaftlichen Schriftstellerei der
Astronomen benachbart ist. Die Heimat des uralten Aberglaubens, daß
der Lauf der Sterne den Lebenslauf des einzelnen Menschen bestimmt,
und daß man aus der Konstellation zur Stunde der Geburt den ganzen
Lebenslauf voraussagen kann, ist Babylon. Schon früh sind von dort
aus die Chaldäer als Propheten der Astrologie in den Okzident ge-
wandert; später haben Griechen und Römer selbst astrologische
Literatur geschaffen: Horoskope, Anweisungen zur Deutung der Kon-
stellationen, Verteidigungen der Kunst gegen Angriffe der Philosophie.
Eine große Masse von Büchern ist das gewesen, die im Mittelalter
einen gewaltigen Niederschlag hinterlassen hat. Um die astrologischen
Traktate, die allein in Florenz liegen, nur zu registrieren, waren 75 Druck-
seiten nötig.^ So unendlich vieler Anhänger hat sich die Astrologie
erfreut, weil sie gestützt wurde durch den weitverbreiteten Glauben an
das Fatum, an das Schicksal, das dem Menschen bei seiner Geburt
bestimmt wird, und dem er auf keine Weise zu entrinnen vermag.
Die Rezepte, die in jenen Zauberbüchern enthalten waren, haben
keineswegs nur auf dem Papier gestanden. Unendlich oft hat sich
jene abergläubische Zeit ihrer wirklich bedient und ist mit ihrer Hilfe
in die Welt der Dämonen eingetreten. Ganze Klassen antiker Monu-
mente geben davon Zeugnis. Da sind einmal die Defixionen^, Blei-
tafeln, auf denen man den Namen von verhaßten Gegnern einritzt, um
sie zu verfluchen. Diese Tafeln werden in Gräbern geborgen, und somit
dem Bereich der Unterwelt übergeben: die Dämonen der Tiefe werden
jene Texte lesen und den Verfluchten zu sich herabziehen. Damit
man ganz sicher ist, daß der Fluch sein Ziel nicht verfehle, werden
alle Glieder des Betroffenen einzeln anf gezählt: seine Zunge, sein Kinn,
sein Hals, seine Brust sollen getroffen werden, Gliederlisten, die das
Mittelalter übernommen hat.^ Wenn der Gegner nicht getötet, so soll
er wenigstens an Wort und Werk gehindert, in seinen Bewegungen
gebunden werden: darum heißen diese Tafeln griechisch Kaidbecinoi.
^ Gatalogus codicum astrologorum graecorum I, Bruxellis 1898.
* AudoUent, Defixionum tabellae, Paris 1904, Vorrede.
' Pradel, Griech. Gebete des Mittelalters, Rel.-gesch. Vers. Vorarb. III 353.
Der Untergang der antiken Religion 51 5
Es ist ein Binde-, ein Bannzauber, wie ihn auch andere Völker kennen.
Die meisten seiner Dokumente stammen aus jenen Zeiten des Aber-
glaubens, sie richten sich gegen Wagenlenker, die durch eine solche
Hemmung im Zirkus nicht den Sieg gewinnen, oder gegen Männer,
die so lange von den Dämonen gequält werden sollen, bis sie der
Fluchenden ihre Liebe zuwenden. Meist führen uns diese Texte ein
in das Leben und Treiben der unteren Schichten. Aber sie haben
auch die Höchststehenden bedroht; Tacitus erzählt S daß man mit Blei-
tafelzauber dem Germanicus nach dem Leben getrachtet hat.
Nicht nur die Hilfe der Dämonen suchte man durch solchen Zauber,
noch öfter galt es, sich der Dämonen, die ein anderer geschickt hatte,
oder die aus eigener Tücke den Menschen überfielen, zu erwehren.
Dazu dienten die Amulette, die auch in großer Zahl wiedergefunden
sind. Meist sind es Teile von zauberkräftigen Pflanzen oder Tieren
gewesen, die man am Leibe angebunden trug. Aber mehr lehren uns
Steine und Metalle, in die man die wirksamen Bilder und Formeln ein-
geritzt hatte. In den meisten Fällen kehren hier dieselben Namen und
Sprüche wieder, die von den Zauberpapyri vorgeschrieben sind. Be-
sonders beliebt waren Gemmen mit Bildern von allerhand Dämonen,
die namentlich den synkretistischen Systemen der Gnosis geläufig waren;
man pflegt sie deshalb gnostische Gemmen zu nennen. Von den
Metallen galten als prophylaktisch namentlich Silber und Gold: ein
silbernes Täfelchen mit 'gnostischem' Text ist in Badenweiler, ein
goldenes zu Gellep in der Rheinprovinz ^ gefunden worden. So weit hinein
nach Germanien ist dieser Aberglaube getragen worden; seine Pioniere
waren die römischen Legionare, die Vorboten der römischen Kolonisa-
tion. Er hat sich in Deutschland gehalten bis auf unsere Tage; noch
im vorigen Jahrhundert glaubte man an die apotropäische Kraft von
Papierzetteln, die mit bestimmten, z. T. auf die Antike zurückgehenden
Formeln beschrieben waren.
Das wenigste unter dem Gewälsch jener Texte ist altgriechisches
Gut. Zum Teil sind es Buchstabenreihen, in denen die Magier ein
mystisches Spiel trieben: Abracadabra verbindet den Vokal a mit den
ersten Konsonanten bcd^ Ablanathanalba ist zauberkräftig, weil es sich
gleich bleibt, ob man es von vorne oder von hinten liest. Anderes
ist aus fremden Religionen übernommen worden; starke Anleihen
» Ann. II 69. „ i u u mo
» M. Siebourg, Ein gnostisches Goldamulett aus Gellep, Bonner Jahrb. iw
(1898) 123ff.
' S. oben S. 215.
33*
516 ^®^ Untergang der antiken Religion
werden namentlich bei der jüdischen gemacht, deren Kabbala so ins
Heidentum verschleppt wird. Auch Hellenen haben sich des 'Schlüssels
Salomonis' bedient; ein Zauberpapyrus trägt den Titel ^: BißXoc lepd
€TriKaXoujLievri Movac f| ÖTbör) Mujuceujc Trepi xoO 6v6|uaTOc toO dTiou.
Das setzt die Existenz eines magischen sechsten und siebenten Buches
Mosis voraus. Angerufen wird in solchen Texten oft genug der Jao
— das ist die griechische Transskription des jüdischen Jahveh — oder
Abraham und andere Heroen des israelitischen Volkes. Unter dem
Gemurmel solcher Zauberformeln wendet sich die Welt von den alten
zu den neuen Göttern.
Daß diese ersten nachchristlichen Jahrhunderte die klassische Zeit
des Aberglaubens und der Magie gewesen sind, zeigen deren Reflexe
in der Literatur. Die Stoffe, aus denen Goethe seine 'Braut von
Korinth' und den 'Zauberlehrling' geformt hat, hegen uns zuerst in den
Schriften des zweiten Jahrhunderts vor, bei Phlegon von Tralles^ und
Lukian.^ Etwas jünger, aus der Zeit des Übergangs zum Christentum,
ist die Sage von Theophilos, der seine Seele dem Teufel verschreibt,
das Vorbild des Doctor Faust. Solche Dinge aber konnte man nur
dann erzählen, wenn man sicher war, daß der Leser ihnen Verständnis
und Teilnahme entgegenbrachte. Allgemein also herrschten damals
derartige Meinungen so stark, daß niemand jene Jahrhunderte zu ver-
stehen vermag, der den Aberglauben nicht kennt. Alle suchen damals
durch seine Hilfe zu erlangen, was nur auf dieser Welt erstrebenswert
ist: Reichtum und Gesundheit, Macht und Ehre, Schönheit und Weis-
heit, Freude des Herzens und ewiges Leben. Wenn die intellektuelle
Oberschicht eines Volkes sein Verstand genannt werden kann, so hatte
die antike Gesellschaft ihren Verstand verloren. Denn auch die, die
man zur Aristokratie des Geistes rechnen muß, waren von der Super-
stition gepackt. Die höchste Bildung bewirkt keine Ausnahme von
dem Gesetz, daß da, wo der Glaube verschwunden ist, der Aberglaube
einzieht. Nirgends hört man heutzutage mehr von Aberglauben als
unter den zivilisiertesten Menschen der Welt, den Parisern.
Für das Altertum findet sich die Kompatibilität von Bildung und
Superstition am deutlichsten bei den Kaisern. Augustus, der Typus
des feingebildeten Römers, kümmert sich um Haruspizin und Vogelflug
und glaubt an Vorzeichen : eine schlimme Vorbedeutung hatte es, wenn
er morgens den Schuh an den falschen Fuß gezogen hatte, gute, wenn
er am Morgen der Reise Tau auf den Gräsern sah. Auch das Aus-
^ Abraxas 167. * Ret. nat. Script, ed. O. Keller I p. 57.
' Philops. 34.
Der Untergang der antiken Religion 5I7
schlagen der saftlosen Äste einer Eiche in Capri betrachtete er als
gutes Omen. Auf Träume, eigene und fremde, nahm er in gleicher
Weise Rücksicht. Alljährlich stellte er sich an bestimmtem Orte zu
bestimmter Zeit als Bettler auf und ließ sich von den Vorübergehenden
Kupfermünzen in die offene Hand drücken^; sichtlich war er hierbei
von dem Aberglauben beherrscht, Selbsterniedrigung zähme den Neid
der Götter.
Auch Nero, religionum usque quaque contemptor\ hat noch kurz
vor seinem Tode Eingeweideschau geübt. Eine Zeitlang war er dem
Dienst der syrischen Göttin ergeben; dann beschimpfte er sogar ihr
Bild, als er etwas Besseres gefunden hatte: ein Mann aus dem Volke
hatte ihm ein Amulett geschenkt, das ihm die Zukunft weissagte, und
das er dreimal am Tage als 'höchsten Gott' mit Opfern ehrte.
Vespasian ließ bei der Grundsteinlegung zum Neubau des kapitoli-
nischen Tempels im J. 70 n. Chr. nur die Soldaten eintreten quis
fausta nomina.^ Derselbe Kaiser bewunderte mit seinen Söhnen und
Offizieren die Zauberkünste des jüdischen Hexenmeisters Eleazar: dieser
heilte einen Besessenen, indem er ihm einen durch salomonischen
Zauber geweihten Ring vor die Nase hielt und so den Dämon heraus-
zog; zum Zeichen aber, daß der unsaubere Geist wahrhaftig ausge-
fahren sei, hieß er ihn ein Gefäß mit Wasser umwerfen, was der
Dämon auch wirklich tat.'' Hadrian hat dem Traumdeuter und Toten-
beschwörer Pachrates in Anerkennung seiner Kunst ein hohes Jahres-
gehalt verliehen.^ SeptimiusSeverus gab viel auf astrologische
Prophezeiungen*', Caracalla hat Tote beschworen ^ und Didius
Julianus, der im J. 193 den Thron der Cäsaren usurpierte, hat
durch Knaben, die mit verbundenen Augen in einen Spiegel schauen
mußten, die Zukunft erforschen lassen.^
Aber auch die Philosophen sind mit dem Aberglauben verbunden,
wenn auch in etwas anderer Form. Wohl haben auch sie in späterer
Zeit den Volksglauben rezipiert und ihn mit allen Konsequenzen des
Aberglaubens und der Magie verteidigt; ergötzliche Typen dieser
Philosophie, die an Ammenmärchen ernsthaft glaubt, hat Lukian in
seinem Philopseudes gezeichnet. Namentlich Neuplatoniker und Neu-
pythagoreer erkennen Heroen und Dämonen als wirklich existierend
und zu Machtäußerungen befähigt an; der Philosoph aber ist imstande.
» Suet. Aug. 91. ' Suet. Nero 56. ' Tac. hist. IV 53.
* los. ant. VIll 2, 5. ^ Pap. Par. 2447, Wiener Denkschr. XXXVI 106.
« E. Maass, Tagesgötter 144ff. ' Dio Cass. 77, 15.
» Vit. Did. Jul. VII 10.
518 Der Unterg-ang der antiken Religion
sich diese höheren Wesen zu unterwerfen und ihre Kraft in seinen
Dienst zu zwingen. Und hierdurch entsteht das Neue, was die Philo-
sophen auf diesem Boden von den Kaisern unterscheidet: sie sugge-
rieren der großen Menge die Meinung, daß sie tatsächlich den dämo-
nischen Mächten zu gebieten und durch ihre Hilfe Übermenschliches
zu leisten vermögen. So entsteht der Glaube an die göttliche Macht
des Philosophen; man zollt ihm die Verehrung, die man dem öeToc
dvrip schuldig ist. Von Wunderdingen strotzen ihre Biographien^:
Jamblichos erhob sich in der Ekstase zehn Ellen über den Boden,
Proklos gebot dem Wetter und rühmte sich, daß Geister und Götter
ihm erschienen.
Daß man derart an die Wundermacht von Philosophen glaubte, ist
aber zugleich eine Form der überall zu beobachtenden Erscheinung,
daß in schweren Zeiten das Volk sich nach einem Retter sehnt, den
es sich als Magier oder Göttersohn denkt, jedenfalls als Mann, der
alles vermag, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist,
der die bösen Dämonen, die unsauberen Geister vertreibt, denen sonst
alles preisgegeben ist, welche sonst die ganze Menschheit in fortwährender
Angst erhalten. Diese Angst ist nie so groß gewesen wie damals,
wo der Dämonenglaube so hoch gestiegen war; mit der Angst aber
wuchs die Sehnsucht nach dem Starken, dem Herrn, der die Macht
hat, jene Geister zu verscheuchen. Ganz naturgemäß richtete diese
Sehnsucht ihren Blick zunächst auf die Mächtigen dieser Welt. Schon
zu König Pyrrhos kamen die Kranken und Bresthaften — Kranksein aber
ist dem primitiven Menschen das Besessensein vom Krankheitsdämon
— und er heilte sie, indem er seinen Fuß auf sie setzte.^ Als Vespasian
zu Alexandreia weilte, brachten sie einen Blinden und einen Gelähmten
zu ihm, daß er sie heile. Der Kaiser rieb die Augen des Blinden mit
seinem Speichel ein und berührte den Gelähmten: beide gingen geheilt
von dannen.^ Wo solcher Glaube sich an die Kraft der Könige an-
setzte, folgte die Legendenbildung bald nach: wunderbare Geschichten
erzählte man sich, durch die solche Helden durch ihr ganzes Leben
als Lieblinge und Machtverwalter der Götter legitimiert wurden. Das
beginnt mit der Zeugung: der menschliche Vater ist nicht imstande,
dem Sohn übernatürliche Kraft mitzugeben, so wird der Held als Sohn
eines Gottes gedacht. Alexander der Große wird zum Sohn des
Juppiter Ammon^ Zeus ging als Blitzstrahl in den Schoß der Olympias
* Eunapii Vit. philos. ed. Boissonade, Par. 1849; Marini Vita Prodi im
Diog. Laert. von Cobet, Par. 1850. » Plut. Pyrrh. 3.
« Tac. hist. IV 81; Suet. Vesp. 7. * z. B. Gurt. Ruf. IV 7.
Der Untergang der antiken Religion 5J9
ein.^ Der Atia naht ein Drache: Äugustum nahm mense decimo et
ob hoc Äpoüinis filium existimatum.^ Bei dem Tode Caesars verlor
die Sonne ihren Schein ^ und ein Komet leuchtete, der die Größe des
künftigen Augustus weissagte.^ Daß die Magier den Nero anbeten,
weil sie in ihm ihren Mithras sehen, sahen wir.^ Alles Züge, die uns
aus dem Neuen Testament vertraut sind; selbst eine Parallele zum
bethlehemitischen Kindermord findet sich in den Legenden, die sich
um Augustus gerankt haben.^
So sieht die antike Welt vielfach in Königen und Kaisern den
Gottgesandten und den Erretter. Es ist dieselbe Anschauung, die in
früheren Zeiten andere religiöse Vorstellungen erzeugt hat: die orien-
talische Gottkönigsidee und den hellenischen Heroenglauben. Diese
beiden Gedanken sind aber zugleich die Wurzeln eines Kultes, den
das römische Kaisertum neu geschaffen hat, des Kultes des lebenden
Kaisers l Ursprünglich werden in Griechenland heroische Ehren, die
namentlich im Kultus am Grabe bestehen, nur Verstorbenen zu teil.
Auf Lebende ist das erst um 400 v. Chr. übertragen worden: damals
erhielt Lysander bei Lebzeiten wie ein Gott Altäre und Opfer, Päane
und Festtage. Als dann Alexander der Große das Perserreich unter-
wirft, verehren ihn die neugewonnenen Untertanen nach orientalischer
Weise als Inkarnation eines göttlichen Wesens; zu gleicher Zeit er-
weisen auch einige Griechengemeinden dem noch lebenden Könige
dieselben Ehren, die sie für Lysander beschlossen hatten: so treffen
in der Verehrung des lebenden Alexander orientalische und griechische
Anschauung zusammen. Dieser Kult Alexanders ist für die Diadochen
vorbildlich gewesen. Ptolemaios Philadelphos hat den Schritt getan,
die göttliche Verehrung des lebenden Herrschers offiziell und von
Staats wegen einzuführen. Ahnlich wie in Ägypten haben sich die Dinge
in Syrien entwickelt; hier war es Antiochos 11 mit dem Beinamen
Theos, der zuerst die göttliche Verehrung seiner Person heischte. Unter
seinen Nachfolgern tritt der Gedanke, daß der König ein Gott ist, be-
sonders klar hervor; hier in Syrien waren jene orientalischen Vor-
stellungen eben am mächtigsten. Dagegen die Attaliden von Pergamon
haben sich mit dem Kult der verstorbenen Fürsten und Fürstinnen begnügt.
Als in Rom durch Julius Caesar die Monarchie entstand, sah es
zunächst so aus, als ob mit der neuen Staatsform auch die extreme
» Plut. Alex. 2 f. * Suet Aug. 94.
» H. Usener, Rhein. Mus. LV 1900, 286 ff.
* S. oben 278. * Oben S. 505. * S. oben 273.
' E. Kornemann, Zur Geschichte der antiken Herrscherkulte, Klio I 1901 51 ff.
520 ^^^ Untergang der antiken Religion
Form der Vergöttlichung des lebenden Herrschers von den Ptolemäern
und Seleukiden übernommen werden sollte. Caesars Statue wird in
allen Tempeln aufgestellt, Feste und Priester werden ihm beschlossen,
man geht damit um, ihn Jupiter Julius zu nennen. Der 15. März 44
brachte die Reaktion dagegen. Selbst nun, da er verstorben ist, wird
er nicht vollends zum Gotte; er wird nur divus, nicht deus Julius,
Octavianus nimmt nur den Beinamen Äugustus an, der ihn wohl den
Göttern nähert, aber nicht unter die Unsterblichen erhebt. Tiberius
ist völlig gegen allen Weihrauch gewesen. Erst Claudius ist wieder
in die Bahnen eingebogen, in die Caesar gedrängt worden war. Seit
den Flaviern findet sich dann an der Peripherie des Reiches der staat-
liche Kult des lebenden Imperators: am Ende des dritten Jahrhunderts
ist das Vorbild der Seleukiden erreicht, und der Kaiser ein deus schon
auf Erden.
In diesem Kulte offenbart sich der Gedanke an ein Gottmenschen-
tum, der die letzte Epoche der antiken Welt beherrscht. Es ist die
Vorstellung vom Oeioc avGpiuTTOc, wie sie die Theologie etwa der her-
metischen Bücher in den Mythos vom Gotte "AvepiuTroc gekleidet hat.^
Göttliches und Menschliches rücken einander seit der hellenistischen
Zeit näher: Alexander ist als Mensch zu den Göttern gegangen, Euhe-
meros machte die Götter zu Menschen.
Durch den Kaiserkult knüpft sich im römischen Reiche ein enges
Band zwischen Kirche und Staat. Das weltliche Oberhaupt ist von der
Kirche als Objekt des Kultus anerkannt; wer gegen diesen ist, lehnt
sich zugleich gegen den Staat auf. Solche Auflehnung hatte das
Judentum in den Zeiten der Makkabäer gegen das Gottkönigtum der
Seleukiden begangen: in ungeahnter Weise hatten dessen Forderungen
die müde messianische Hoffnung neu belebt. Und Ahnliches geschah,
als das Christentum sich weigerte, dem Kaiserkult sich zu beugen: das
Blut der Märtyrer befestigte den Glauben der übrigen. Und doch ist
auch dieser Kult nicht ganz ohne Einfluß auf die christliche Kirche
geblieben: sie hat für ihre Konzilien und Priester die äußeren Formen,
Namen und Abzeichen nicht zum geringsten Teil dem provinziellen
Kaiserkult entlehnt, der im dritten Jahrhundert das Wahrzeichen der
römischen Reichseinheit war im Osten und Westen. Und auch das ist
von Bedeutung gewesen, daß der Kaiserkult eine zentrale Religion war,
die ihren Mittelpunkt in einer lebenden Person besaß, ihre Augen des-
halb stets auf dieses lebenden Gottes Wohnsitz, d. h. nach Rom, ge-
R. Reitzenstein, Poimandres S. 81 ff.
Der Untergang der antiken Religion 521
richtet hatte. Dadurch erlangt Rom eine Sonderstellung unter den
Städten der Menschen, die es während des ganzen Mittelalters behalten
hat. Als Konstantin nach Byzanz zog, nahm er diesen Primat nicht
von dort mit, sondern überließ ihn seinem geistlichen Nachfolger: die
Stadt des Kaisers wurde die Stadt des Papstes.
Aber nicht nur die Ftlrsten sind OeToi dvepiuTroi gewesen: mit noch
größerer Inbrunst hat sich der Glaube der Menge an die Propheten
und Wundermänner angeschlossen. Und der Glaube war so stark, daß
er sich von ausgesprochenen Schwindlern irre führen ließ. Zu diesen
gehört Alexandros von Abonuteichos.^ Er errichtete den Kult eines
Gottes, den er selbst geschaffen hatte - eine junge Schlange fand
sich in einem Gänseei unter den Fundamenten eines Tempels, von
Alexandros wohlweislich erst dorthin versteckt. Diesem Gott weihte er
sich selbst als Priester, nicht ohne sich durch eine Weissagung als
Göttersproß legitimiert zu haben. Er spendete Orakel, erweckte Tote
und tat sonst Wunder. Von allen Seiten kamen Hilfesuchende nach
Kleinasien, aus Rom die höchstgestellten Personen. Ein Konsular
rechnete es sich als Gnade an, die Tochter dieses Schwindlers heiraten
zu dürfen; Kaiser Mark Aurel schickte auf ein Orakel des Gauklers
zwei Löwen in die Donau, um gegen die Quaden glücklich zu sein.
Nichts ist charakteristischer für den Erfolg des Betrügers und für das
Bedürfnis der Zeit, betrogen zu werden, als daß sein Kult sich über
ein Jahrhundert am Leben hielt, trotz der bittersten Satire des Lukian.^
Eine ähnliche Erscheinung ist Simon, mit dem Beinamen der Magier.^
Ihn kennt bereits die Apostelgeschichte VIII 9 als Zauberer, der das
Volk von Samaria erregt, 'dem alle anhingen, hoch und niedrig, und
sie sprachen: Dieser ist die große Kraft Gottes'. Ihn hat die christ-
liche Kirche später als ihren ersten Ketzer bezeichnet, und mit beispiel-
losem Haß verfolgt.* Sein Evangelium ist die Magie, deren Kenntnis
ihm aus Alexandreia zugekommen sein soll. Diese Magie erfordert
eine besondere Gnosis, eine gnostische Sekte hat später in Simon ihren
Stifter verehrt. Mit sich hatte er eine Begleiterin Helena, wie er 'die
große Kraft Gottes', so war sie 'der Gedanke Gottes'. Sie hatten
nebeneinander ihren Kult, als Zeus und Athene, das war zugleich eine
jener gemeinschaftlichen Verehrungen eines Sonnengottes und einer
* Lukian 'AX^Eavöpoc f\ ni€u66|LiavTic.
* F. Cumont, Alexandre d' Abonotichos, M6m. cour. publ. par l'Acad. roy.
de Belg. 1887, S. 42 des S. A.
» H. Waitz, Simon Magus in der altchristlichen Literatur, Ztschr. f. neut.
Wiss. V 1904 S. 121 ff. * Hippol. ref. VI 7ff.
522 ^^^ Untergang der antiken Religion
Mondgöttin; den Gott sollte die Mutter in jungfräulicher Empfängnis
geboren haben. Die apokryphen Apostelakten lassen ihn nach Rom
kommen und dort einen Wettstreit im Wundertun mit Petrus beginnen/
Er verwandelt sich in eine Tiergestalt, wälzt sich in Feuer und versucht
auf einem Wagen mit einem feurigen Viergespann gen Himmel zu
fahren. Zuletzt ließ er sich begraben und versprach am dritten Tage
aufzuerstehen; aber er ist im Grabe geblieben.
Einen anderen Werdegang hat Peregrinus genommen, mit dem
Zunamen Proteus; auch er hat dem zweiten Jahrhundert als Wunder-
mann gegolten. Er ist nach Lukians Bericht^ Christ gewesen: ^er war
der Christen Prophet und Vorsteher und legte ihnen ihre Schriften
aus, schrieb auch einige selbst und sie verehrten ihn als Gott und
Gesetzgeber'. Später aber wurde er Kyniker, und ahmte den Tod des
Schutzpatrons der kynischen Sekte nach. Wie Herakles auf dem öta,
verbrannte er sich lebend zu Olympia. Ganz Griechenland war Zeuge,
und so groß war der Glaube an die Göttlichkeit dieses Mannes, daß
Lukian sich den Spaß machen konnte, zu erzählen, beim Tode des
Proteus habe die Erde gebebt, und aus den Flammen sei ein Geier
gen Himmel gefahren. Und es gab Menschen, die den Geier gesehen
und den auferstandenen Proteus in weißem Gewand umhergehend
geschaut haben wollten.
Die bedeutendste unter diesen Erscheinungen ist Apollonios von
Tyana.^ Er gehört dem Ende des ersten Jahrhunderts an, doch
stammt die Hauptquelle über sein Leben erst aus späterer Zeit. Das
ist der Bios, den Philostratos verfaßt hat, und zwar auf Anregung der
Julia Domna, jener Tochter des syrischen Sonnenpriesters, die der
Afrikaner Septimius geheiratet hatte: trotz ihres Sonnenkultes und seiner
Astrologie bedurften sie noch des irdischen Wundertäters, um sich an
seinem Wirken zu erbauen. Philostratos will als Hauptquelle die Auf-
zeichnungen des Damis aus Ninive benutzt haben, der des Apollonios
Jtinger war. Danach hatte der Meister sein Leben auf weiten Reisen
zugebracht, in Babylonien, Indien und Ägypten, als Apostel der Sitt-
lichkeit, überall bessernd und belehrend. Er spricht alle Sprachen,
ohne sie gelernt zu haben, und unterhält sich mit den Toten. Aller-
orts tut er die erstaunlichsten Wunder, er treibt Dämonen aus und
erweckt Gestorbene, im Gefängnis entledigt er sich ohne Mühe der
angelegten Ketten. Dem Kaiser Domitian tritt er mutvoll entgegen
^ Acta apost. apocr. ed. Lipsius-Bonnet I 45 ff.
' De morte Peregrini IL
' J. Miller bei Pauly-Wissowa u. Apollonios 98.
Der Untergang der antiken Religion 523
und als dieser ihn foltern will, wird er aus Rom entrückt an den Golf
von Neapel. In seiner Erscheinung hatte er sich Pythagoras zum Vor-
bild genommen; die Haare wallten auf die Schultern herab, sein Ge-
wand war aus Linnen, seine Schuhe aus Pflanzenteilen. Er berührte
keinen Wein; was er sprach, war belebend und wohltuend; menschlich
und gerecht zu sein war sein Ideal. Mit der Zeichnung seines Bildes
hat die antike Religion noch einmal versucht, sich durch eine ethische
Vertiefung zu reformieren. Vielleicht ist dieser Versuch durch die
Bekanntschaft mit dem Christentum veranlaßt. Denn es ist nicht aus-
geschlossen, daß jene Vita des Apollonios mit Benutzung christlicher
Bücher geschrieben ist. Später ist dieser heidnische Wundermann
geradezu in Parallele mit Jesus gesetzt worden; Alexander Severus
hatte in seinem Lararium außer den Büsten von Abraham und Orpheus
auch die von Apollonios und Christus.^
Dasselbe Sehnen der Zeit, welches das Idealbild des Apollonios
schuf, hat auch die OeToi dvbpec der Vorzeit, Pythagoras und Plato,
neubelebt. Ihre Lehre wird in den Kreisen der Neupythagoreer und
Neuplatoniker aufgenommen, und die Häupter dieser Sekten bilden
einen bestimmten Typus, den des wundertätigen, friedfertigen Lehrers
und Propheten. Pythagoras, ihr Vorbild, ist ihnen Inkarnation der
Gottheit, des Apollo, der alles Übel abwehrt; ähnlich wird Apollonios
von Tyana als Sohn des Zeus, als Herakles Alexikakos verehrt.^ In
dieser Verehrung göttlicher Menschen als Erretter von dem Übel zeigt
sich ein höheres religiöses Empfinden, eine antike Messiashoffnung,
die nach Erfüllung sucht, das Streben einer Welt, die empfindet, daß
sie den Dämonen verfallen ist, weil der Glaube an die alten Götter
sich zum Grabe neigt. Was von Religionen damals noch lebt, gewährt
alles in ähnlicher Weise die Hoffnung auf eine Erlösung vom Übel und
zugleich die Aussicht auf ein glückliches Leben im Jenseits: die Religion
des Attis, des Dionysos und Osiris, Religionen, deren Stifter durch den
Tod zur Auferstehung durchgedrungen sind und durch ihr Blut die
Erlösung der Gläubigen besiegelt haben. Dies erregte, fieberhafte
Suchen der Massen nach einem Erlöser, einem Friedebringer ist am
stärksten im zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert: weil
Christus und seine Lehre den Frieden brachte, wurden sie so freudig
aufgenommen. Schon der Gruß 'Friede sei mit Euch' klang den
Suchenden wie eine Erlösung.
Eine ähnliche Zeit des Friedebedürfnisses waren aber auch die
Jahre, in denen Christus geboren wurde. Es ist die Epoche der
' Vit. Alex. Sev. XXIX 2. ' Lact. div. inst. V 3.
524 ^6^ Untergang- der antiken Religion
blutigen Bürgerkriege, die das römische Reich verwüsteten, und des
sozialen Elends und der Unsicherheit in ihrem Gefolge. Als dann
Augustus die Monarchie fest begründete, hat die Menschheit in ihm
den erhofften Friedebringer, den Heiland sehen müssen. Nach dem
Frieden von Brundisium hat Vergil die vierte Ekloge geschrieben. Es
ist eine messianische Weissagung: es wird eines Menschen Sohn ge-
boren werden, der zugleich ein Göttersproß ist. Der wird das goldene
Zeitalter heraufführen, Krieg und Laster werden vergehen, Friede und
Seligkeit wird in der Welt herrschen. Man versteht, daß dies Gedicht
im Mittelalter als eine Prophezeiung auf Christus gefaßt worden ist.
Im Jahre 17 v. Chr. hat dann Augustus das Säkularfest gefeiert, dessen
Akten auf Stein uns noch erhalten sind, zu dem Horaz den Festchoral
gedichtet hat. Dies Fest kam dem Bedürfnis der Massen nach Er-
lösung von dem Übel entgegen, deutlich spricht aus den Gebeten, die
damals zum Himmel gestiegen sind, der Wunsch, mit Hilfe der Götter
ein altes sündhaftes Säkulum abzutun und ein neues, von Schuld und
Vergehung reines, friedliches Zeitalter zu beginnen. Hauptsächlich an
Apollo richtet sich der Hymnus des Horaz: dieser übelabwendende
Gott, den der Kaiser zu seinem Schutzheiligen erkoren hatte, soll der
Herrscher und Beschützer der neuen Zeit sein. Tuus iam regnat
Apollo hatte Vergil in dichterischer Prophezeiung gesungen.^
Wie sehr man in Augustus damals den Weltheiland schaute, zeigt
am deutlichsten eine Inschrift von Priene.^ Sie ist neun Jahre vor
Christi Geburt verfaßt. Zu Ehren des Kaisers soll von nun an das
Jahr mit Kaisers Geburtstag beginnen, das wird begründet durch das,
was Augustus der Welt ist: 'nachdem die Vorsehung, die alles in
unserm Leben geordnet, nach so viel Wohltaten zuletzt uns den höchsten
Herrn gebracht, den sie zur Wohltat der Menschen mit Kraft erfüllt
hat, und uns und denen, die nach uns kommen, den Heiland geschenkt
hat, der den Krieg zwingt aufzuhören und der alles ordnet, der die
Hoffnung erfüllt hat, der die Wohltäter, die vor ihm waren, übertroffen
hat und in Zukunft nicht übertroffen werden kann; es brachte aber
für die Welt das Evangelium von ihm der Tag der Geburt des Gottes.'
Auf diesem Stein ist das Wort Cuuirip sicher ergänzt, das Wort
eiittTTt^iov steht wirklich da, und Augustus heißt nachdrücklich der
Gott, der die Hoffnung erfüllt und den Krieg beendet. Also nicht nur
vorhanden ist die Hoffnung auf den Erlöser, sie hat bereits ganz feste
Formen des Ausdrucks gefunden. Das ist eben der Kaiser Augustus,
1 Ecl. IV 10.
" Dittenberger, Orientis graeci inscr. sei. no. 458. Vgl. oben S. 195.
Der Untergang- der antiken Religion 525
unter dem die Zeit erfüllet war, daß der Heiland kommen mußte. Es
blieb nur die bange Frage: 'Bist du es, der da kommen soll, oder
sollen wir eines anderen warten?'^
FÜNFTES KAPITEL
DER KAMPF ZWISCHEN DER ANTIKEN RELIGION UND DEM
CHRISTENTUM. DIE LETZTEN KOMPROMISSE
Die Lehre Jesu von Nazareth ist der hellenistischen Welt durch
Paulus vermittelt worden, der selbst, ehe er Christ wurde, in Tarsos
den orientalischen Kulten und der griechischen Bildung nahe gestanden
hatte. Mit dem Namen des Paulus ist auch die Übertragung des von ihm
ausgebildeten Christentums nach Rom verknüpft. Hier inRom^ fand die erste
nachhaltige Berührung der neuen Lehre mit der antiken Religion statt.
Sie ist eine feindliche gewesen. Die geringe Zahl Anhänger, die das
Christentum zunächst besaß, brachte es mit sich, daß es die unter-
liegende, verfolgte Partei war. Die erste Zeit des Kampfes ist die der
Christenverfolgungen. Sie setzt ein mit dem Brand Roms unter Nero
64 n. Chr.; damals benutzt der Kaiser das Gerücht, daß unter den
Brandstiftern Christen gewesen seien, um gegen die Mitglieder dieser
Religionsgenossenschaft zu wüten. Er traf darin mit dem Instinkt des
hauptstädtischen Pöbels zusammen, der die Christen haßte. Sie waren
das odium generis humani, sagt Tacitus, der sie an derselben Stelle
seiner Annalen (XV 44) per flagitia invisos nennt. In jenem Odium
liegt das Rassenvorurteil des Ariers gegen den Semiten, denn damals
hat man die Christen noch vielfach mit den Juden verwechselt; das
ist erst anders geworden nach der Zerstörung des Tempels von Jeru-
salem, als man nun die in alle Welt zerstreuten Juden überall besser
kennen lernte. Die Freveltaten aber, die man den Christen vorwarf,
sind Inzest und Kindermord, oder, wie die Schriftsteller es nennen,
die ödipodeischen Verbindungen und die thyestischen Mahle - Vor-
würfe, die jede von der Außenwelt sich abschließende Genossenschaft
sich hat gefallen lassen müssen. Auch sonst war ihre Lehre dem
antiken Menschen unsympathisch: ihnen war das Diesseits mit seinen
Freuden wertlos, sie hatten kein irdisches Vaterland, sie verboten sich
die Teilnahme am öffentlichen Leben; die Götter des Staates, in dem
» Matth. XI 3.
« Die Belege für das zunächst Folgende finden sich bei Th. Keim, Rom
und das Christentum; V. Schultze, Geschichte des Untergangs des griechisch-
römischen Heidentums; G. Boissier, La fin du paganisme; J.R6ville, La religion
ä Rome sous les S6veres.
526 ^®^ Untergang- der antiken Religion
sie lebten, erkannten sie nicht an und waren deshalb in den Augen
der anderen oiGeoi. Dem Staate aber waren sie verdächtig durch ihre
sozialen Lehren: sie predigten das Abgeben der äußeren Habe und
die Gütergemeinschaft und sie harrten auf das Kommen des Reiches
Gottes, ein Reich ganz anderer Art als das römische Weltreich. So
galten sie als Umstürzler des Staates und der Staatsreligion, weit mehr
als die Sekten mit verwandten Tendenzen. Denn die Mithrasdiener
verehrten immerhin einen greifbaren Gott, der sich sogar mit einem
römischen Gotte, dem Sol, zur Deckung bringen ließ, und auch von
den Juden war bekannt, daß sie zu Jerusalem einen Gotteskult besaßen.
Auch machten die Juden nur geringe Propaganda, während im Gegen-
satz zu ihnen die Christen eine große Werbetätigkeit entfalteten. So
kam es, daß die Juden, sobald man sie von den Christen unterschied,
von Staats wegen eine leidlich geachtete Stellung und sogar weitgehende
Privilegien errangen, während die Christen als verdächtige Elemente
galten. Die Feindschaft zwischen dem Heidentum und der neuen Lehre
steigerte sich sodann mit dem Aufkommen des Kaiserkultes unter den
Flaviern. Dem zu genügen haben die Christen sich geweigert und
heftigen Widerstand gegen die Forderung geleistet, den lebenden
Kaiser als Gott zu verehren. Wer sich aber dessen weigerte, machte
sich des crimen laesae maiestatis schuldig und wurde gestraft.
Solche Strafen schürten den Haß der Christen gegen das Imperium
und erweckten in ihm den Wunsch des Kampfes. Das Manifest dieser
Kriegsbereitschaft ist die Apokalypse Johannis.
Jedoch in der nächsten Zeit nach Nero ist äußerlich der Frieden
gewahrt worden. Langsam greift das Christentum um sich und steigt
in die höheren Schichten empor. Ein Menschenalter später sind zwei
Mitglieder des Kaiserhauses mit der römischen Gemeinde in nähere
Beziehung getreten, Flavius Clemens und Flavia Domitilla: ihnen wurde
der Prozeß wegen Götterlosigkeit gemacht. Aus der Zeit Trajans
haben wir den wichtigen Bericht des Plinius über die christlichen
Gemeinden in Bithynien (Ep. Plin. et Trai. 96) und seine Frage, wie
er sich gegen sie verhalten solle. Traian antwortet (Ep. 97), eine
feste Norm für das Vorgehen gegen Christen gebe es nicht. Zu be-
strafen seien nur die, welche angeklagt und überwiesen würden. Wer
seinen Glauben durch ein Opfer an die römischen Götter abschwöre,
sei zu entlassen; aufzuspüren oder- auf Grund anonymer Anzeigen zu
verhaften seien sie nicht. Das war eine Praxis, die im wesentlichen
die Christen unbehelligt ließ. Sie wurde durchgeführt bis zur Mitte
des dritten Jahrhunderts. Um 250 setzt die erste systematisch ge-
Der Untergang der antiken Religion 527
dachte Verfolgung ein, die Kaiser Decius durch ein förmliches Edikt
gut hieß.^ Diese Heimsuchung brachte der christlichen Kirche eine
furchtbare Erschütterung; es erfolgte ein gewaltiger Abfall der un-
sicheren Elemente, aber zugleich wurden die andern durch den Hin-
blick auf den Mut der Blutzeugen in ihrem Glauben gestärkt.
Inzwischen hatte der Kampf zwischen der antiken und christ-
lichen Religion eine andere Gestalt angenommen. Er beschränkte sich
nicht mehr darauf, daß man die Christen mit der Kraft der Fäuste
bekämpfte, man griff nun auch zu den geistigen Waffen. Durch jenen
Kampf war die antike Bildung auch den aus den ungebildeten Schichten
aufsteigenden Christianern bekannt geworden, und sie suchten nun selbst
ihrer teilhaftig zu werden, in der richtigen Erkenntnis, daß in ihr zum
großen Teil die geistige Überlegenheit des Heidentums beruhe. In ihr
fanden sie das Rüstzeug, das sie befähigte, den literarischen Kampf
aufzunehmen.
Der erste von ihnen scheint Justinus Martyr^ gewesen zu sein, der,
vielleicht durch eine Brandschrift des bekannten Redners Cornelius
Fronto gereizt ^ unter Mark Aurel seine dtTroXoTiai uirep Xpicxiavwv
schrieb. Um 180 erfolgte dann ein starker Vorstoß der Antike gegen
die Christen, als der Platoniker Celsus seinen dXriGfic Xötoc verfaßte,
eine Streitschrift, in der das Christentum als barbarisch und aber-
gläubisch, als eine ungesetzliche, heimliche Verbindung dargestellt war.
Überhaupt sind es gerade die Neuplatoniker, die gegen die christliche
Anschauung gefochten haben: das rührt von der engen Verbindung
her, in der ihre Philosophie mit der Religion stand. Die großartigste
Schrift, die aus ihren Kreisen hervorging, muß des Porphyrios Werk
KttTci XpicTiavüuv in 15 Büchern gewesen sein. Welchen Erfolg es hatte,
beweisen die zahlreichen Gegenschriften, die es hervorrief, und die Art,
wie es in der patristischen Literatur erwähnt wird. Das Buch selbst
lesen wir heute nicht mehr, das siegreiche Christentum hat es ver-
nichtet. Am Ende dieser Literatur stehen die Schriften des Kaisers
Julian, drei Bücher gegen die Christen, die wir gleichfalls nur aus den
Zitaten der Gegner kennen, eine Kritik der christlichen Dogmen und
Traditionen von platonischem Standpunkt aus.
Allen diesen Angriffen ist, wie das Angeführte bereits zeigte, die
Verteidigung gefolgt. In der Nachfolge Justins hat sich ein bestimmter
Typus christlicher Literaten entwickelt, die man die Apologeten nennt.
» Eus. bist. eccl. VI 41, 10.
* Zum Folgenden s. Harnack, Gesch. der altchristl. Literatur.
» Min. Fei. Oct. IX 6. . .
528 ^^^ Untergang der antiken Religion
An ihnen offenbart sich ein merkbarer Wandel der christlichen Ge-
danken nach den Ideen der griechischen Zeitbildung. Die ursprünglich
eine Religion der Armen im Geiste gewesen war, nimmt immer mehr
die literarische Erudition an. Mit der Verteidigung der eigenen Stellung
paart sich der Angriff auf den Gegner, und dieser wird durchgeführt
mit Waffen, die dem Feinde entlehnt sind. Man greift zurück auf die
philosophische Polemik gegen die homerische Auffassung, die den
Göttern menschliche Laster beilegt, man benutzt die Erklärung des
Euhemeros, der in den Göttern der griechischen Religion nur ver-
storbene Menschen sah. Um solche Waffen zu finden, haben die
Christen sich mit der antiken Literatur vertraut gemacht; so waren die
Klassiker der Patristik in den profanen Büchern sehr belesen; im
Orient Clemens, dessen Stromateis noch für uns eine Fundgrube antiker
Verse sind, Origenes, der des Celsus Vahres Wort' widerlegte und ein
wahrer Polyhistor gewesen ist, im Abendland Tertullian, der Schöpfer
des lateinischen Kirchengedichtes, und Lactanz, der Lehrer der Bered-
samkeit und der Vertreter eines bis ins kleine ausgefeilten Stiles.
Auch im Abendlande also schließt das Christentum mit der heidnischen
Bildung seine Kompromisse.
Überblickt man die Zeit vom Ende des dritten Jahrhunderts bis
zum Ausgang des vierten, so erkennt man drei Phasen des Kampfes,
die an die Namen dreier Kaiser gebunden sind: Diokletian, Konstantin,
Julian.
Diokletian ist unter den römischen Kaisern eine seltene Er-
scheinung, denn er war ein großartiger, zielbewußter Staatsmann. Er
hat den Staat, soweit es ging, zu reformieren gesucht; er hat das
letzte Säkularfest gefeiert, zum letztenmal durch sakrale Handlungen
die alte böse Zeit zu beenden und eine glückselige neue Zeit herauf-
zuführen übernommen. Mit diesen Reformplänen hängt das Vorgehen
gegen verdächtige Religionsübungen zusammen. 296 erging ein
flammendes Edikt gegen die Manichäer, sieben Jahre später ein solches
gegen die Christen.* Es war darin das Prinzip ausgesprochen, das
Heidentum müsse das Christentum vernichten, um dem Umsturz des
Staates zuvorzukommen. Ein furchtbares Prinzip, wenn man bedenkt,
wie verbreitet diese Religion damals war. Die Frauen der kaiserlichen
Familie sympathisierten mit den Christen; in der Umgebung des Im-
perators war mehr als einer, der die Teilnahme an den heidnischen
Opfern verweigerte; Christen waren in den Beamtenstellen, Christen in
* Eusebius bist. eccl. VIII 2, 4 ; Lactanz de mort. persec. XIII.
Der Untergang der antiken Religion 529
der Armee. Sie traf jetzt Degradation, die Hartnäckigeren wurden des
Matyriums teilhaftig. Die Versammlungen der Gemeinde wurden ver-
boten, die Kirchen zerstört, die heiligen Bücher verbrannt. Die Folter
erpreßte Geständnisse, die den Grund zur Hinrichtung abgaben. Besonders
fahndete man auf die Priester, weil man ihnen den stärksten Einfluß
auf die Gemeinde zutraute - ein Beweis, wie fest begründet damals
bereits die hierarchische Organisation der Kirche war. Das Kriterium,
das die Verhaftung herbeiführte, war die Verweigerung der Anteil-
nahme am heidnischen Opfer, und viele sind standhaft bei dieser
Weigerung geblieben.
Eine Verschärfung der Maßnahmen fand im Jahre 304 statt, in
Wahrheit geradezu das Todesurteil des Christentums. Aber so rasch
war das nicht zu vollziehen. Als Diokletian 305 die Krone niederiegte,
dauerte das Wüten noch an. War jenes geistige Ringen beider Reli-
gionen ein großartiges Schauspiel gewesen, so bietet der staatliche
Kampf nur eine Reihe von grauenhaften Henkerszenen.
Ganz anders ist das Bild, das uns die Regierung Konstantins^
zeigt. Zum Alleinherrscher ist er 312 durch die Schlacht an der
Mulvischen Brücke geworden, in deren Not er den neuen Gott um
Hilfe angerufen hatte. Dem Siege folgten alsbald die Toleranzedikte
von Rom und Mailand, von 312 und 313, in denen er den Gläubigen
des Gottes, der ihm beigestanden hatte, die ungestörte Ausübung ihrer
Religion gestattete. Dabei ist er dann auch stehen geblieben; er hat
sich nicht dazu bewegen lassen, nun vielmehr den heidnischen Kultus
zu ächten. Noch die Jahre 319 und 321 brachten Edikte, in denen
er die antike Religion als zu rechte bestehend anerkennt. Konstantin
hat politisch auf dem Standpunkt des völligen Indifferentismus den
Religionen gegenüber gestanden. Auf dem Triumphbogen, den ihm
die Römer bei seinem siegreichen Einzüge gesetzt haben, rühmen sie,
daß er seine Taten instinctu divino vollbracht habe. Das konnte nach
Bedarf christlich oder heidnisch gedeutet werden; der Kaiser wird mit
der Farblosigkeit dieser Formel sehr zufrieden gewesen sein.
Konstantin hat in seinem Leben viel Glück gehabt und auch einen
Nachruhm hinterlassen, der ihn den 'Großen' nennt und seine Verdienste
um das Christentum preist. Er ist sicher ein großartig angelegter Mensch
gewesen, eine dämonische Natur, aber sein Verhältnis zum Christentum
war kein inneriiches. An dem Tod seines Sohnes und seiner Gattin
gab man ihm die Schuld, seinem Mitregenten Licinius hat er den Eid
^ Jak. Burckhardt, Die Zeit Konstantins des Großen,^ 1898.
Albrecht Dieterich: Kleine Schriften. 34
530 ^®^ Untergang der antiken Religion
gebrochen, und die Taufe soll er erst auf dem Totenbett empfangen
haben, in den Pfingsttagen 337. Zeit seines Lebens blieb er Pontifex
maximus, und als er Byzanz neu gründete, war er um den Kult einer
Tyche dieser Stadt besorgt; die Münzen zeigen noch die Gestalt des
Sonnengottes. Das Labarum, das Kreuzeszeichen als Fahne des Heeres,
erscheint erst im Jahre 330, obwohl die fromme Sage die Traum-
erscheinung, die das In hoc signo vinces verkündete, 312 geschehen
sein läßt; erst später hat er sich entschlossen, christliche Bischöfe zu
Erziehern der Söhne zu machen. Daraus allerdings haben Christen
und Heiden geschlossen, daß Konstantin in seinem Herzen Christ ge-
worden sei; die Christen haben es ihm gedankt, indem sie seine keines-
wegs sündlose Person zu einem Engel des Lichtes verklärten, die
Heiden, indem sie eine merkwürdige Vorgeschichte für jene Bekehrung
erzählten: Konstantin habe seine Philosophen gebeten, ihn für Mord
und Eidbruch zu entsündigen; als ihm diese erwiderten, für solche Misse-
taten gebe es keine Sühne, habe er sich dem Christentum in die Arme
geworfen, im festen Glauben, daß dieses von allen Sünden zu reinigen
vermöge.
Das Bild Julians richtig zu zeichnen ist äußerst schwer. Seiner
Denkart nach ihn einen echten Hellenen zu nennen, geht nicht wohl
an, aber man tut ihm auch unrecht, wenn man ihn als beschränkt und
einseitig schildert. Seine Lebensanschauung sah in einer Regeneration
des Heidentums die Rettung der antiken Welt. Dieses Reformheiden-
tum sollte sich vor allem der Sittlichkeit befleißigen; das Programm
trägt stark moralische Züge, die offenbar aus der Theologie der Neu-
platoniker entlehnt sind: Einfachheit, Mäßigkeit und Keuschheit werden
vorgeschrieben. Gebet und Kulthandlungen hat er als Oberpriester
sehr ernst genommen, sich auch für die Würde von Tempelgesang
und Mysterienfeiern interessiert. Auch predigte er Mildtätigkeit und
beförderte die Errichtung von Armenhäusern. Alles das zeigt, daß ihm
seine Reformation eine heilige Sache war. Allerdings sollte sie auf
dem Boden der heidnischen Religion vollzogen werden; Julians eigene
Religion war ein solarer Monotheismus, Mithras oder Helios war ihm
der höchste; das zeigen seine Deklamationen, unter denen die eic tov
ßaciXea "HXiov die merkwürdigste ist. Dieser religiöse Standpunkt
machte ihn ganz von selbst zum Gegner der Christen; daß er ihre
Lehre literarisch befehdet hat, sagten wir bereits. Auch sah er deut-
lich, wie gefährlich die Christen geworden waren, seitdem sie sich der
Waffe antiker Literatur bedienten. So ging er damit um, ihnen die
Lektüre heidnischer Bücher zu verbieten.
Der Untergang der antiken Religion 53 j
Am 23. Juni 363 fiel Julian nach kurzer Regierung im Kampfe
gegen die Perser. Die heidnische Tradition läßt ihn als echten Philo-
sophen sterben, unter Gesprächen über die Unsterblichkeit der Seele.
Vielleicht ahnte er, daß sein Werk vergebens war; die Bestimmung
des Nachfolgers, der es hätte weiterführen können, lehnte er ab. Die
Christen haben ihn weidlich gehaßt, so daß die Legende aufkommen
konnte, Christus selbst habe ihn getötet. Dem Sterbenden legte man
die Worte in den Mund: 'Du hast gesiegt, Galiläer.' Ein wahres
Wort, denn durch Julians Tod war der Untergang des Heidentums
besiegelt.
Für die einjährige Regierung Jovians, 363 auf 364, ist es bezeich-
nend, daß er den vertriebenen Bischof von Alexandreia, Athanasios,
wieder in seine Rechte einsetzte. Er hatte überhaupt die Absicht, für
die Christen den Status quo wieder einzuführen. Nach seinen Tode
aber begann unter Valentinian und Valens der Sieg des Christentums.
Zunächst erreichte es die volle Gleichberechtigung. Von Valentinian
gibt es ein Edikt, das den Richtern verbot, Christen zum Dienst in
heidnischen Tempeln zu zwingen. Doch hat er auch andererseits den
Heiden freie Religionsübung zugesichert: sein Prinzip war die allge-
meine Toleranz.
Es ist ein Zeichen der Zeit, daß wir nun überall unter den Bischöfen
die großen Männer ungestört ihres Amtes walten sehen. Im Orient
außer Athanasios Gregor von Nazianz und Basilios von Caesarea, im
Abendland den Bischof von Mailand, Ambrosius, der dem Kaiser Theo-
dosius den Eintritt in die Kirche versagte, und der den Augustinus,
den späteren Bischof von Hippo, bekehrte. Das geistige Leben in
diesen großen Zentren christianisiert sich unter ihrem Einfluß mehr
und mehr; das Heidentum hält sich nur noch in den dörflichen Be-
zirken, den pagi; paganus wird nun der Ausdruck für 'Heide'.
Lange genug hatte das Christentum den Druck der antiken Religion
ausgehalten, nun übte es den Gegendruck. Statt der Christenverfolgung
gab es nun eine Heidenverfolgung. Eingeleitet wird diese Zeit im
Westen durch Gratian und Valentinian IL, und stärker noch im Osten
durch Theodosius. Dieser hatte im J. 379 den Purpur angelegt; bereits im
folgenden Jahre machte sein Edikt der Parität der Religionen ein Ende.
Allein der Kirche nicänischen Bekenntnisses wird die Wahrheit und
das Recht zugesprochen; alle Andersgläubigen sind Toren und Wahn-
sinnige; die allein wahre Religion anzunehmen befiehlt der Kaiser allen
Völkern, die sein mildes Zepter regiere. Mit diesem Erfaß war dem
fanatischen Glaubenseifer nicht genug geschehen, im folgenden Jahr
34*
532 ^6^ Untergang der antiken Religion
verbot ein Erlaß die heidnischen Tag- und Nachtopfer, und die Be-
fragung des göttlichen Willens durch Divination.
Ähnlich ging es im Westen. Valentinian I. war noch nach seinem
Tode als Divus konsekriert worden; Gratian lehnt 375 den Titel des
Oberpriesters ab. Zuerst übte dieser Kaiser noch die Toleranz, in der
ihn sein Lehrer, der bekannte Dichter Ausonius, erzogen hatte; später
aber machte sich der Einfluß des intransigenten Bischofs Ambrosius
von Mailand geltend. So begann Gratian 382 die Güter der heid-
nischen Tempel einzuziehen und verwendete sie zu Stiftungen für
christliche Priester. Der Übertritt zum Heidentum wurde mit schweren
Strafen belegt: wer sich so verging, verlor die Fähigkeit, ein Testament
zu machen; was etwa im Testament vermacht war, verfiel dem Fiskus.
Opfer darzubringen war bei Strafe untersagt, ein überwiesener Heide
war vogelfrei. Kaiserliche Truppen und fanatische Mönche durchzogen
die Städte, zerstörten die Tempel und marterten die Priester. Beredt
schildert dies Treiben die Verteidigungsrede, die der Redner Libanius
den alten Göttern und ihren Tempeln gehalten hat\* *Jene Mönche
stürmen zu den Tempeln mit Holz beladen oder mit Steinen und
Schwertern bewaffnet, einzelne auch ohne diese Dinge, bloß mit Händen
und Füßen. Dann, als ob es herrenloses Gut wäre, reißen sie die
Dächer nieder, stürzen die Mauern um, zerschlagen die Götterbilder,
zertrümmern die Altäre. Den Priestern aber bleibt nur die Wahl
zwischen Schweigen und Tod. Ist der erste Tempel zerstört, so eilen
sie zu dem zweiten und dem dritten und häufen Trophäen zu Tro-
phäen, dem Gesetz zum Spott. Auch in den Städten wagen sie das,
noch mehr aber auf dem Lande. Hier sammeln sie sich nach ihren
Schandtaten und legen einander Rechenschaft ab; es gilt für schimpf-
lich, nicht möglichst viel Übels getan zu haben. Wie Bergströme über-
schwemmen sie die Erde und zerstören nicht allein die Tempel, sondern
das Land.'
Das wichtigste aber in der Reihe der kaiserlichen Edikte war das
vom 10. November 392. Es ist aus Mailand diktiert und atmet den
Geist des Ambrosius. Seine Hauptbestimmungen lauten^: 'Niemand,
welchen Standes und welchen Berufes er auch sein mag, darf an
irgend einem Orte oder in irgend einer Stadt den sinnlosen Götter-
bildern ein unschuldiges Opfertier schlachten oder durch geheimeres Ver-
gehen etwa seinen Lar durch ein Feuer, seinen Genius durch Wein,
seine Penaten durch Wohlgerüche verehren oder Lichter anzünden.
> Gr. XXX 6, Vol. III p. 91 Förster. » Cod. Theodos. XVI 10, 12.
Der Untergang der antiken Religion 533
Weihrauch streuen und Kränze aufhängen.' Dann folgen ausführliche
Einzelbestimmungen. Erstens: 'Wenn jemand ein Tier opfert oder die
dampfenden Eingeweide befragt, soll er wie ein des Majestätsverbrechens
Schuldiger angesehen werden, auch wenn seine Zukunftsfragen sich
nicht auf die Fürsten beziehen. Denn es genügt zum Vollmaß des
Verbrechens, wenn man die Gesetze der Natur selbst zerreißt. Un-
erlaubtes erforscht, das Verschlossene auf tut, Untersagtes wagt, das
Ende eines fremden Lebens sucht und die Hoffnung auf den Unter-
gang eines anderen weckt.' Zweitens: 'Wenn jemand die von Menschen-
hand gemachten, vergänglichen Götterbilder mit Weihrauch oder auch
einen mit Binden geschmückten Baum oder auch einen aus Rasen ge-
bauten Altar verehrt, der soll als ein der Religionsverletzung Schuldiger
mit dem Verlust des Hauses oder Besitztums, in welchem er den
Göttern gedient hat, bestraft werden. Denn alle Orte, welche wirklich
von Weihrauch gedampft haben, die sind, bestimmen wir, wenn sie
Eigentum der Räuchernden sind, unserm Fiskus verfallen.' Drittens:
'Wenn aber jemand in öffentlichen Tempeln und Heiligtümern oder in
fremden Häusern und auf fremden Äckern eine solche Art Opfer aus-
zuführen wagen sollte, so verfällt der Besitzer, wenn es ohne sein
Wissen geschehen ist, einer Strafe von 25 Pfund Gold; wenn er da-
gegen Mitwisser des Verbrechens ist, trifft ihn dieselbe Strafe wie den
Opfernden.'
Am meisten Widerstand hat die Durchführung dieses Opferverbotes
in Rom selbst gefunden. Dort hat das konservative Element der vor-
nehmen Kreise noch lange an den alten, überlieferten Formen der
Religionsübung festgehalten. Dieselben Männer, die auf dem Gebiet
des Kultus reaktionär sich zeigten, haben auch in der Literatur eine
Reaktion hervorgerufen: ihnen verdanken die Klassiker der auguste-
ischen Zeit, die lange unter minderer Beachtung zu leiden gehabt
hatten, eine Renaissance. Daß ihnen diese zu Teil wurde, lag an dem
Programm jener Adligen: wenn das Beste der Vorzeit neu belebt
werden sollte, mußten die besten Schriftsteller des goldenen Lateins
als die edelsten Zeugen der alten Römergröße wieder zum Lichte
erstehen.
Auf religiösem Gebiet verteidigten diese letzten Römer mit beson-
derer Hartnäckigkeit den Kult der Siegesgöttin, derjenigen unter den
Himmlischen, durch deren Gnade Rom das caput mundi geworden war
und auch bleiben sollte. Seit Augustus stand im Sitzungssaal des
Senates ein Altar der Victoria als Symbol der römischen Weltherrschaft.
Vor jeder Sitzung wurden ihr Weihrauchkörner gestreut, ein Opfer,.
534 ^®^ Untergang der antiken Religion
das den christlichen Senatoren stets ein Ärgernis war. Als Konstantin
in Rom weilte, wurde der Altar entfernt, aber unter Julian kam er
wieder zurück. Unter Gratian setzten die Christen seine Entfernung
von neuem durch. Die Aufregung der Heiden darüber war ungeheuer,
und es ging eine Gesandtschaft zum Kaiser nach Mailand. Deren
Sprecher war Q. Aurelius Symmachus, ein Mitglied jenes konservativen
Kreises, ein glänzender Stilist und Redner, trotz seiner Freundschaft
mit einzelnen Christen beharrlich in den großen heidnischen Traditionen
seiner Familie und seines Volkes, und deshalb ein patriotischer Schwär-
mer für die Größe des alten Rom. Aber schon bevor Symmachus
nach Mailand kam, war vom Papst Damasus aus Rom eine Botschaft
an Ambrosius geschickt worden, und Gratian empfing den Abgesandten
der Heiden nicht.
' Im Sommer 383 wurde Gratian ermordet, Valentinian II. folgte ihm.
Nun beschloß man diesem das Gesuch vorzulegen, das sein Vorgänger
nicht hatte hören wollen. Symmachus sprach nachdrücklich und
wirkungsvoll, die Rede ist unter seinen Schriften enthalten.^ Besonders
ergreifend ist der Appell, den die von ihm redend eingeführte Göttin
Roma an die Bedränger ihrer Religion richtet. *Edle Fürsten, Väter
des Vaterlandes, habt Ehrfurcht vor meinem Alter, auf dessen Höhe
mich diese heilige Religion geführt hat. Laßt mich fürder verharren in
meinem Glauben, denn ich habe mein Genügen darin. Laßt mich
leben nach meiner Weise, denn ich bin eine Freie. Diese Religion
ist es, die mir den Erdkreis zu Füßen gelegt, die Hannibal von meinen
Mauern, die Gallier vom Kapitol zurückgeschlagen hat. Es ist schimpf-
lich, an meinem Greisenalter Neuerungen zu versuchen.' — Und dann
im Gedanken an die neue Religion: 'Zu denselben Sternen blicken wir
empor, ein Himmel überspannt uns, eine Erde trägt uns ... es führt
mehr als ein Weg zu dem großen Geheimnis.'
Valentinian war damals 13 Jahre alt, als Symmachus diese Rede
im kaiserlichen Konsistorium hielt. Erfolg hatte er nicht, Ambrosius
erfuhr von allem und machte seine Worte unwirksam. So wurde die
Partei des Symmachus abschlägig beschieden und damit das Ansehen
des Senates von einem Knaben vernichtet, den ein Bischof regierte.
Restauriert wurde der Altar im Jahre 392 durch Eugenius, der
gegen Valentinian aufgestanden war. Für drei Monate triumphierte
damals in Rom die antike Religion. Aber Theodosius, der allerchrist-
lichste Kaiser des Morgenlandes, brachte nun auch die Westhälfte des
» Relat. III.
Der Untergangs der antiken Religion 535
Reiches unter sein Scepter und vernichtete das Heidentum der Römer.
Ein alter Kult nach dem andern verschwand, so auch der Kult der
Vesta. Dieser hatte bis zuletzt in höchster Achtung gestanden, und
das Heiligtum der Vestalinnen war sogar ein Schutz gegen die heiden-
verfolgende Gesetzgebung gewesen. Den ersten Schritt gegen die
heiligen Jungfrauen unternahm Gratian, indem er ihnen die regelmäßigen
Einkünfte entzog. Aber noch immer blieb im alten Heiligtum der Vesta
das Palladium der römischen Herrschaft bewahrt. Und in den Tagen
der Restauration ist Vettius Agorius Praetextatus, der Stadtpräfekt, ein
Freund und Gesinnungsgenosse des Symmachus, zugleich Oberpriester
der Vesta. Im J. 380 hören wir von der letzten Vestalenoberin; der
Name ihrer Vorgängerin ist auf dem Stein, der ihn trug, vernichtet -
war sie Christin geworden? Für immer geschlossen wurde das Heilig-
tum der Vesta durch Theodosius. Ein ergreifendes Bild aus jenen
Tagen der sterbenden antiken Religion hat Zosimus festgehalten^: als
die Gemahlin des Stilicho von einer Statue der Magna Mater ein kost-
bares Halsband abnimmt, erscheint plötzlich eine verstoßene Vestalin,
um der Tempelräuberin den Fluch der Götter ins Gesicht zu schleudern:
der alten ohnmächtig gewordenen Religion war als Waffe nur der Fluch
geblieben.
Auch in den andern Großstädten brachten jene Jahre das Ende
der antiken Kulte. In Alexandreia war damals Theophilos Bischof,
ein herrschsüchtiger Fanatiker voll kluger Berechnung. Mit Erlaubnis
des Theodosius ist er rücksichtslos gegen das Heidentum vorgegangen.
Die alten Tempel, so der des Dionysos, wurden in Kirchen verwandelt,
die Statuen und Kultsymbole ausgestellt, damit die Christenmenge sie
verhöhne. Das erregte bei denen, die Heiden geblieben waren, Er-
bitterung, und es kam zu blutigen Straßenkämpfen. Sie konzentrierten
sich schließlich beim Sarapeion, dort, unter dem Schutze ihres Gottes,
hatten sich die in die Enge getriebenen Heiden verschanzt. Nach
einer regelrechten Belagerung wurde der Tempel erobert, und die
Äxte und Brecheisen der Mönche begannen zu wirken. In banger Er-
wartung harrte die Menge, was dem heiligen Bilde des Sarapis wider-
fahren würde. Da befahl Theophilos, die Statue mit dem Beil zu zer-
schlagen. Es geschah; kein Blitzstrahl traf den Frevler, das Bild zeigte
sein hohles Innere, aus dem Scharen von Mäusen ausfuhren. Das
Haupt des Sarapis wurde im Triumph durch die Stadt getragen und
im Amphitheater verbrannt. Theophilos triumphierte über das Ende
V 38.
^36 ^®^ Untergang der antiken Religion
des törichten Aberglaubens und der Sarapislüge. Alle Denkmäler dieses
Kultes ließ er zerstören, nur ein Anubisbild behielt er, um ein Objekt
der Verspottung zu haben. Die Nilschwelle, deren Ausbleiben sonst den
Zorn der Götter verkündete, war in diesem Jahre reicher als je und
sicherte dem Lande eine fruchtbare Ernte. Auf der Stelle des Sara-
peions erhob sich eine christliche Kirche; berechtigt war der Jubelruf
'Sarapis ist Christ geworden'.
Um diese Zeit - etwa 390 n. Chr. - spielten sich ähnliche Szenen
in Byzanz und Antiochien ab, so daß die Nachwelt dort keinen Tempel
und keinen Altar mehr sah. In Karthago erfolgte die Schließung und
Zerstörung der Kultgebäude am 19. März 399. Zu Gaza in Palästina
war Porphyrios die Seele der Bewegung gegen das Heidentum, das
dort, in dem Hauptkultorte des mächtigen Gottes Marnas, eine feste
Burg hatte. Durch Gesandtschaften nach Byzanz setzte Porphyrios
durch, daß 398 Kaiser Arkadios die Schließung des Marneion anordnete.
Aber das genügte dem eifrigen Bischof nicht, und als 401 in Byzanz
dem Kaiser ein Sohn getauft wurde, überreichte er bei der Taufe eine
erneute Bittschrift. Nun befahl der Kaiser die Zerstörung des Marnas-
tempels. Ein kaiserlicher Beamter traf mit einer Abteilung Soldaten in
Gaza ein. In zehn Tagen waren die sieben anderen Tempel der Stadt,
darunter einer des Helios, der Aphrodite, des Apollo, der Kora, der
Hekate, dem Boden gleich gemacht; das von den Heiden befestigte
Marneion widerstand am längsten. Endlich nahm man auch diesen
Tempel auf die Weissagung eines Kindes hin durch Feuer. Auch hier
kam der Triumph des Christentums rein äußerlich dadurch zum Aus-
druck, daß auf den Trümmern eine Kirche erbaut wurde.
In derselben Weise vollzog sich die letzte Phase des Kampfes auch
im Westen. Hier war vor allem Martin von Tours tätig, der seit 375
Bischof von Cäsarodunum im Gebiet der gallischen Turonen war.
Seine Biographien schildern ihn als großen Wundermann; Visionen
erschienen ihm, die Gestalten von Juppiter, Mercurius und Venus, die
er jedoch bald als Maskierung des Teufels erkannte. Gegen diesen
Teufelsspuk ging er an, indem er an der Spitze von Pöbelmassen und
Mönchsscharen seine Diözese durchzog, die Tempel niederriß und ohne
Schonung die Altäre und die Götzenbilder zertrat. Das ging nicht
ohne Widerstand der Bauernschaft ab; noch lange sind diese Pagani
die Schützer des Heidentums gewesen. Noch im sechsten Jahrhundert
war überall auf dem Lande die antike Religion in den Herzen der
Menschen mächtig; unter Justinian konnte sich ein Missionar rühmen, im
Laufe seinerWirksamkeit 70 000 Menschen aus der Provinz getauft zu haben.
Der Unterg-ang" der antiken Religion 537
In den großen Städten dagegen fristen nach dem Ende des vierten Jahr-
hunderts nur noch wenige Reste des alten Kultes ihr Dasein. Noch
ums Jahr 470 werden in Rom die uralten Luperkalien gefeiert und
erst dann, auf Betreiben des Papstes Gelasius, untersagt. Den letzten
Schlag gegen antikes Glauben und Denken führte Justinian im J. 529:
er zog das Vermögen der platonischen Akademie ein und verbot,
an der Universität Athen weiter antike Philosophie zu lehren. Ihre
sieben letzten Lehrer verließen Griechenland und fanden eine Zuflucht
in Persien.
Mit der Zeit Justinians ist das Christentum offiziell die allein-
herrschende Staatsreligion geworden; der römische Staat ist zu Ende,
der christliche beginnt. Der Gegner, das Heidentum, ist scheinbar ver-
nichtet, die Siegesruhe zieht in das Gemüt der Ecclesia triumphans
ein. Die alte revolutionäre Tendenz gegen die bestehende soziale
Ordnung ist verschwunden, seitdem nicht nur die Armen im Geiste,
die Arbeiter, Fischer und Teppichweber das Evangelium haben: das
Christentum ist Eigentum der gesetzten Bürger und damit friedlich ge-
worden. So hat es auch den Besiegten keineswegs aus seiner Mitte
ausgeschlossen, vielmehr sind die Tore, durch welche die antike Reli-
gion unbemerkt hereinzieht, weit geöffnet. Für viele, die sich äußer-
lich Christen nannten, blieb innerlich alles wie es gewesen war, die
Formalität der Taufe hatte keineswegs die alten religiösen Denkformen aus
den Köpfen der Masse gerissen. Allmählich dringt der Polytheismus ins
Christentum ein; ein großartiger Prozeß der Assimilation heidnischer
Gedanken an christliche beginnt.
Zunächst die oberen Schichten pflegten ein Christentum, neben dem
philosophische und religiöse Anschauungen der Antike ihren Platz be-
hielten. Ihre klassische Bildung hatte ihnen ein heimliches Gemach
geschaffen, in das sich ihre Seele flüchtete, wenn sie müde war, äußer-
lich das Christentum zu bekennen. Dieser Art ist Boethius aus dem
Anfange des sechsten Jahrhunderts, in dessen Schriftstellerei christlich-
dogmatische Untersuchungen und heidnisch -philosophische Traktate
unvermittelt nebeneinander stehen; sein berühmtestes Werk, de consola-
tione philosophiae, schöpft den Trost in den Wechselfällen des mensch-
lichen Lebens nicht aus dem Glauben an Christum, sondern aus dem
Nachweis der antiken Philosophie, daß alles Irdische eitel ist.
Ferner zeigt der Kampf mit den Häresien, daß nicht alles Heiden-
tum beseitigt ist. Es ist der Krieg des siegreichen Dogmas gegen
andere Anschauungsweisen, die älteren Ursprungs sind und alle das
gemeinsam haben, daß sie schon früher mit ganz bestimmten Richtungen
538 ^^^ Untergang der antiken Religion
des Heidentums Kompromisse eingegangen sind. So hat der Mon-
tanismus die phrygische Ekstase aus dem Kult der Großen Mutter und
des Attis rezipiert; in dem Manichäismus stecken Elemente der Mithras-
religion, die Gnosis endlich ist ein Synkretismus von hellenischer Philo-
sophie, Religion und Magie mit christlichen Elementen. Im Kampfe
mit diesen Sekten haben sich die Dogmen der katholischen Kirche
gefestigt. Aber viele Sätze auch ihrer Lehre entsprechen heidnischen Vor-
stellungen. Die jungfräuliche Geburt ist ein durchaus antiker Gedanke \
das Wesen Christi erinnert an die Göttersöhne der Griechen ^ die
Dreieinigkeit entspricht den tiberall nachweisbaren Götterdreiheiten^, im
Marienkult erinnert vieles an die große Mutter Isis^, deren Kult auch
in seinen äußeren Formen dem Ritus der Messe gleich sieht.^ Noch
stärker tritt das Fortleben der Antike in gewissen Mischkulten hervor,
an denen es innerhalb des Christentums nicht gefehlt hat: auf orphi-
schen Einschlag deutet das Bild des Orpheus in den Katakomben^; in
der Katakombe der Vibia nennt sich Vincentius einen antistes numinis
Sabazis^f jenes mit den dionysischen Unsterblichkeitsmysterien ver-
knüpften Gottes.^ Und bei Aberkios^ hat man streiten können, ob er
Attisdiener oder Christ war.
Solange ein Volk lebt, sind seine Götter unsterblich. Der alte
Polytheismus saß tief in den Seelen der Menschen und war nicht ohne
einen Vernichtungskampf, den man scheute, auszurotten. Aber er besaß
auch die Fähigkeit, sich in neue Formen zu ftigen. Diese benutzte man, um
in kluger Umdeutung den alten Göttern die Objekte der christlichen Ver-
ehrung zu substituieren. Das zeigen die heiligen Orte und Zeiten. Für die
Zeiten ist oben das Beispiel des Sonntags und des Geburtstags Christi
gegeben worden ^^ der Tag des Herren ist in beiden Fällen an die Stelle
der Feier des Helios getreten. Analoge Fälle ließen sich noch zahl-
reich aus dem kirchlichen Kalender anführen. Für die Orte mögen
ein paar Beispiele aus Rom genügen. Im sechsten Jahrhundert wird
das Templum Sacrae Urbis und das Templum Romuli zur Kirche der
Heiligen Kosmas und Damian, der Tempel der Ceres und Proserpina
wird zur Kirche S. Maria in Cosmedin. Im Jahre 604 wird das Pan-
theon geweiht der S. Maria ad Martyres; die Kirche S. Maria sopra
Minerva trägt in ihrem Namen die Geschichte ihrer Entstehung. Bei
* Fehrle, Kultische Keuschheit, Rel.-gesch. Vers. Vorarb. VI 20.
« S. oben 519. » H. Usener, Dreiheit, Rhein. Mus. LVIII 1903, 4 ff.
* S. oben 485. « S. oben 488. « S. oben 478.
' E. Rohde, Psyche II 400 Anm. 1. « S. oben 466.
* S. oben 496. >• S. oben 507. 508.
I
Der Untergang der antiken Religion 539
anderen christlichen Heiligen bietet ihre Art und ihre Legende die
Möglichkeit, sie an Wesen der antiken Religion anzuknüpfen. Die heilige
Pelagia oder Marina ist an Stelle der 'Acppobixa TreXaTia oder der
Venus Marina getreten \ sie ist der Legende nach zuerst ein buhle-
risches Weib, dessen Zeichnung aber mit Zügen aus dem Bilde der
Isis und asiatischer Naturgottheiten ausgestattet ist. Die Legende des
h. Lukianos von Antiochia hat Züge aus der Dionysossage aufgenommen;
er wird auf dem Rücken eines Delphins ans Land gebracht, in der-
selben Art und zur selben Jahreszeit wie der antike Gott.^ Sogar eine
priapische Gestalt des antiken Pantheons lebt weiter, in der Gestalt
des h. Tychon.^ Und wo die Verehrung solcher Heiligen sich mit Jahr-
tausende altem Volksglauben durchsetzt und verbindet, entsteht eine
Religion, in welcher das heidnische Element vielleicht ebenso stark ist
als das christliche. Das kann man besonders gut in Süditalien beob-
achten, wo sich die Vorstellungen der Antike in großer Menge gehalten
haben bis zum heutigen Tage^, und wo man sieht, wie die heidnischen
Anschauungen und die christliche Lehre in gegenseitiger Durchdringung
einen neuen, eigenartigen Glauben geschaffen haben.
So ist denn der Untergang der antiken Religion zugleich die Genesis
des Christentums, unserer eigenen Religion geworden, und dadurch, daß
das Christentum Teile des Alten in sich aufgenommen hat, ist auch
auf diesem Gebiet unsere Zeit die Erbin der Antike geworden. Man
darf sagen: vieles ist im Christentum vorhanden, ohne daß es Christus
gelehrt hat, ohne daß es aus dem Judentum übernommen ist, und das
alles stammt aus der Religion der Griechen und der Römer. Das ist eine
Erkenntnis, die von der üblichen Auffassung des Christentums ab-
weicht. Sie ist nicht bestimmt, den zu stören, der anderen Anschau-
ungen lebt, sie ist nicht darum in der Welt, um den Glauben anderer anzu-
tasten, aber sie will nicht da glauben, wo man wissen kann, und sie
5011 dem dienen, dem es Bedürfnis ist, auch die religiöse Welt, die
ihn umgibt, geschichtlich zu verstehen. Wahrhafte geistige Befreiung
auch aus den religiösen Fesseln und Nöten der Zeit wird dem wissen-
schaftlich Gebildeten nicht durch Negation oder Position, durch Ver-
mittlung oder Umdeutung gewonnen, sondern allein durch geschicht-
liche Erkenntnis.
^ H. Usener, Legenden der Pelagia, Bonn 1879.
* H. Usener, Sintflutsagen 168ff.
» H. Usener, Der heilige Tychon, Teubner 1907.
* Th. Trede, Das Heidentum in der römischen Kirche, Bd. I-IV.
REGISTER
VON OTTO WEINREICH
(Die Zahlen nach dem Komma bezeichnen die Anmerkungen; A. verweist auf eine von der
vorhergehenden Seite überhangende Anmerkung.)
ABC-Denkmäler202ff. 229ff.
- christliche 209 ff. 227 ff.
232, 2.
- etruskische 203. 208.222.
~ germanische 211 f. 228.
230.
- griechische 203 ff. 208 f.
- indische 215. [222.
- italienische 229 f.
- lateinische 206 ff. 228.
- liturgische 217 ff. 227 f.
- oskische 208 f. 222.
- zauberkräftig 213 ff.
219 ff.
- Zweck 202. 206. 210 f.
Aberglaube 512 ff. [231 f.
Aberkiosinschrift 496. 538.
Ablanathanalba 515.
Abracadabra 515.
Abraxas 225.
Accius,Epinausimache68,2.
Adler, vgl. dexöc
Adonis 498.
Adoptionsritus 98.
Aeneas 278.
dexöc 255. 265 f. 506.
Agathodaimon 20.
Agdistis 502.
ärreXoc draeöc 194.
AIKA CAiKn?) 412.
Aion 18. 476.
Aischylos 69. 136ff. 417.
425 ff.
- Anklage dceßeiac 138 f.
430 f.
- Dramen: Agamemnon
153 f. 426.
- AiyOtitioi 112. 116.
144. 149. .
Aitnai 138. 434.
Alkmene 114. 144.
- Choephoren 142.
153 f.
- Eumenidenl39.153f.
426.
rXauKOC 112.144. 148.
Hepta 142f. 150f.
424. 426.
Hiketiden 142f. 149f.
427.
Aischylos, Dramen: Kyk-
nos 112. 114. 116. 144.
Orestie 138. 142f.
153 ff.
Perser 138. 142f.
147f. 424. 426.
- Phoenissen 426.
- Prometheus 112.
142 f. 151 ff. 426.
- 0aXa|LioTTOioi 112.
116. 144. 149.
- Elegien 140.
- KaxdXoYoc Tujv 6pa|LidTuuv
111 ff. 141.
- Kunst 155 ff.
- Metrik 156.
- Mysterienprofanation
430 f. vgl. 138f.
- Paeane 140.
- Religion 158.
- Satyrspiele 115 f. 141.
- Schollen 146 f.
- Threnos 423 ff.
- Tod 139f.
~ Überlieferung 145 f.
- Zahl der Dramen 111 ff.
140 f.
Akademie geschlossen 537.
Albertus Magnus 6. 41. 198.
Alchemie 42 f. 514.
'AXriGeia 223.
Alexander d. Gr. 277 f. 283.
518f.
Alexander von Abonutei-
chos 521.
Alexandreia, Kulte 482 ff.
492. 535 f.
Allegorie 452. 461.
Alphabete 202 ff. 229 ff. vgl.
ABC -Denkmäler.
- am Himmel 223.
- ßoucTpo(pr|6öv 221 f.
- in religiöser Literatur
217f.
Alphabetmystik 223 ff.
Alphabetzauber 515.
Altar der Victoria 533 f.
Altarmotiv 381. 402. 427.
Amara 501.
Amaros 501.
Ambrosius von Mailand
532. 534.
Ameinias 137.
Amen 488.
'A|Li|udc 502.
Ammon 20. 484.
Amulete 21. 23. 103. 212.
213,3. 215f. 217. 220.
221,1. 241 f. 322. 514.
517.
dvaYvujpic|a6c 403. 426.
dvd|uvricic 472. 474.
Anaxagoras 10. 407. 454.
angelus bonus 193.
'Avraia 79. 84. 125f. 130.
Antaios 63,2.
Anthesterien 421.
Anthropogonie, orphische
73 f. 476.
Anthropomorphismus 453.
"Avepuuiroc 520.
dvTidveipoi 105 f.
'AvTiric 126,1.
•AvTiiuv 126,1.
Anubis 20f. 40,5. 536.
Anubismaske 486.
Aß 210 f. 223. 233.
dujpoc 47,2. 75,3.
Aphrodite von Kypros 135.
- von Paphos 502. [503.
Apis 160. 484. 491.
Apokalypse, christliche
- orphische 476 f. [478 f.
'AiroXXuüßTiS 5.
Apollon 28. 194. 338,2. 343.
347 f. 523 f.
- baqpvriqpöpoc 339.
- Sminthios 72,3.
Apollontempel, auguste-
ischer 165. 171.
Apollonios von Tyana 225.
- und Christus 523. [522.
Apologeten, christliche
diroiidTTeiv 121. [527 f.
dTTTTÖC 500.
dpxißaccdpa 71.
dpxißouKÖXoc 71 f. 74. 75, 1.
77 f. 475.
Archilochos 41 5 f.
dpxiMvicTTic 71. 77.
Arion 419. 422.
A ristophanes 671. 1 1 6 ff . 455.
ÄpKTOl 72.
Artemis 346 f.
Asche 75. 476.
Astarot 501.
Astarte 492. 497. 501 f.
Astrolog^ie 43 f. 180 ff. 279.
514.
Attis 339,2. 481. 496 ff.
499f. 503. 538.
- und Christus 500.
Augenblicksgötter 359.
Augustus 164ff. 169. 172,3.
175. 195. 277. 463,1.
516. 524 f.
— Sohn ApoUons 518.
Ausonius 532.
Baal 492 f. 501.
— von Doliche 493 ff,
- von Emesa 493. 495 f.
ßaßav 127,3.
BaßO) 128.
Bad des Götterbildes 499.
BdKxoi 497.
Barfüßigkeit, rituelle 349.
BaciXeOc 496.
Basilios von Caesarea 531.
Bacaicca 496.
BacKttvia 106 f.
BdcKQvoc 6a(|iu;v 106 f.
ßaußäv 127,3.
Baubo 126 f.
ßaußiOv 127. 134.
Baußuüv 127.
Baumkult 497 f.
Beelzebub 493.
Benfey 297.
BepeKuvTia 502.
Bf]\oc 492 f.
Berossos 182 f.
Besessenheit 53 f.
Biene 263,2.
Bindezauber 514.
Bindung, magische 321.
Bitys 6.
Blei 44.
Bleitafeln 205. 219. 251.
Blick, böser 321.
Blut der Titanen 73.
Blutriten 501.
Boethius 537.
Bohnen im Zauber 39,4.
Bolus von Mende 5A.
Boiaßtü 128, 1.
Bona Dea 131 f.
ßoußujv 127,3.
BouKoXibric 76, 1.
BouKoXößpac 76, 1.
Register
I BouKöXoi des Kratinos 76.
i ßouKÖXoc 70ff. 74 ff. 99. 103.
! ßoOc 71. (475. 497.
I ßourac 76.
i Brief Christi 242.
I Briefe der Götter 244.
' - des Teufels 250 f.
Briefform der Zauber-
bücher 10. 43,3. 242.
i - von alchemistischen
I Schriften 183,2.
I Bryaxis 159. 489.
I Buchstaben, umgekehrte
Form 212.
Buchstabenmystik 223 f.
'[ Buchstabenzauber 220, 1.
j 226. 239. 515. vgl. AB C-
! Denkmäler.
Bücher vom Himmel ge-
fallen 243.
Bukoleion 77.
Buzygen 76.
Caesar 277. 279.
Cancer 190.
Carinondas (Charondas ?) 9.
carrus navalis 422. 465.
casa Romuli 165 ff. 176 f.
Caspar Melchior Balthasar
cautes 261. [247 f. 249.
cautopates 261.
Celsus 527.
Ceres 481.
Chairemon 9f.
Chaos 476.
XaXKiöirii 102.
XaXKÖTTouc 102.
XaXKocdvbaXoc 102.
XMr 409.
XÖ€C 421.
Chor der Tragödie 156 f.
Christenverfolgungen525ff.
Christi Geburt 508. 511.538.
XpiCTÖc "Avoußic 21.
XpicTÖc TTdcxujv 374.
Chronos 476.
XpucocdvbaXoc 101 f.
xOrpoi 421.
Cicero 162. 462.
Clemens' Stromateis 528.
compitalia 169,1. 170,1.
Cornutus 461.
curia Julia 167 f.
curiae veteres 167.
Cyprian 199.
Dämonen 90. 105. 321. 417f.
~ ausgetrieben 517.
— tiergestaltige 417 f.
Dämonenglaube 517 f.
541
Dadophoren 261.
Damia 132.
Damigeron 9. 11. 23,10.41f.
Damis 522.
Danaiden 470.
Dante 473. 479.
Daphne 193 f.
baqpvrjqpopia 339 f.
Dardanus magus 3. 6.
Defixionen 44. 206. 231. 514.
Delphin, weisendes Tier
489. 539. [137.
Demeter 126f. 132. 135,1.
Demeterhymnus 126 f. 130.
Demetrius von Phaleron
457. 460.
Demokrit 3. 4 f. 10. 11,8.
41,2. 43.
Dendrophoroi 499.
Diagoras 455.
Diana 346 f. 481.
— Aricina 347 f.
— Tifatina 347 f.
Diebessegen 197. 199.
Aka 412.
Dikte 88.
Diktos 88.
Diktynna 88.
Aiv5u|urivr] 502.
Diokletian 446. 528 f.
Dionysos 476.
— auf Schiff 422. 465.
— öev&piTr]C 497.
— EtpaqpiiJÜTr]c 96.
— gvbevbpoc 497.
— Epiphanie 422.465.487.
— *Ep{q)ioc 96.
— *'Epi(poc 96.
— Herr der Seelen 421 f.
— Oü|LiTiCTrip 107. [464.
— Sminthios 72,4.
Dionysoskult, unteritali-
scher 475.
Dithyrambus 76. 41 5 f.
divini, divinae, Wahrsager'
181,2.
Dochmien, Charakter des
Verses 50f. 58. 66 f. 423 f.
Dolichenus 206 f. 220. 230.
493 ff.
domus Äugusti 166. 168.
Doppelaxt 494.
Drachentöter 485.
bp&ixa, bpav, 6piii|Lievov 429.
Drama des Mittelalters 435.
öpdinaxa xpaTiKd 415.
Dreieinigkeit 360.
Dreizahl 197. 199. 360, 489.
6pu[)|ieva 428 f. [538.
Dysaules 126 ff.
542
Reg^ister
Ekstase 319. 465.
Elagabal 495 f.
Elemente 86. 259.
elementum 224 f.
Eleusis 126«. 137. 428«.
Eidechse 40,2. [467 f.
Eileithyia 79 f.
EipaqpiÜJTnc 96.
Eiresione 317. 338«. 343.
Emesa, Religion von495f.
Empedokles 10. 127,2. 472.
Empusa 102. [474.
gveipoi 106.
Enneakrunos 353.
Ennius 458.
Enthusiasmus 31 9 f. 465.
Entmannung 497 f.
Ephesia Grammata 21. 33.
Epikur 459. [488.
Epilepsie 53 f.
Epimenides 10.
iizo-axeia 118. [312.
Erde, Kinder auf E. gelegt
— Sterbende auf E. ge-
legt 314.
Erinyen 477.
Ipiqpoc ^c ^aX* lTreTOv95ff.
Erntefest 332.
Erntemai 317. 332.
Eros 85.
Erz 102.
Essener 492.
iT£ha 89.
Etrusker und Römer 171 ff.
eöatrjc 95.
eCiarr^Xia 194,1. 195.
EuarreXiöai 193. 195.
eöafY^Xiov 524.
e<)aff^ic 194.
eöoTYe^iCTric 193«.
— 6 f^piwc eöa^rf€XicTnc 193.
€ÖdTT€Xoc 193. 195.
€ÖdvTT)Toc 7 8 f. 126. 130.
Euhemeros 457 f.
Eövoia 473.
Euphorion 137.
Euripides 76. 363 ff. 454 f.
— Ausgaben 375. [456.
— Chor 400 f. [434.
— Deus ex machina 398.
— Dichtungen 368 ff. [402.
~ Dramaturgische Technik
~ Dramen: Alkestis 376 f.
Andromache 380 f.
— Bakchen 388. 466.
— Elektra 384.
— Hekabe 379 f.
— Helena 385 f.
— Herakles 48 ff. 58.
60 ff. 381 f.
Euripides Dramen:
Herakliden 380.
— Hiketiden 382.
— Hippolytos 67. 378 f.
— Ion 382 f.
— Iphigenie in Aulis
387 f.
— Iphigenie in Tauris
385.
— Kyklops 388. 418.
— Medea 377 f.
— Orestes 56 ff. 387.
-- Phoenissen 396 ff.
— Rhesos 389.
— Troerinnen 383 f.
— verlorene 390«.
— Epeisodien 399.
— Erotische Motive 394.
— Fasti scaenici 369. [403.
— Handschriften und Pa-
pyri 370«.
— Hypotheseis 374 f.
— Metrik 400.
— Motive 394. 403.
— Musikalische Kunst 401.
— Perioden künstlerischen
Schaffens 394 ff.
— Porträts 367 f.
— Prologe 397 f.
— Satyrspiele 368 f. 393 f.
— Schollen 374.
— Stellung zum Mythos
396. 398 f. 434.
~ Stichomythie 399.
— Tod 367.
— Trilogie 402.
— Typik einzelner Figuren
[403 f.
— undAischylos 370.
— Anaxagoras 407.
— Aristophanes 397.
— Diogenes von Apol-
lonia 407.
— Heraklit 407.
— Rhetorik 399 f.
— Sokrates 407.
— - Sophisten 407.
— Sophokles 48 ff. 370.
— Timotheos 401.
— Vasenbilder 390.
— Xenophanes 407.
— Weltanschauung 404 f.
— Zahl der Dramen 368 ff.
ex visu 207. 230.
I2dpx€iv TÖv 6i90pa|aßov
415. 422.
Fackel 260. 346.
Fasten 498.
fata dicere 180 f.
Faunus 131 f.
Feuer 477.
— vom Himmel 278.
Feuersegen 240.
Fetischismus 318.321.337.
483. 496. 503.
Fichte 497 f.
ficus Ruminalis 177 f.
Fluch 514.
Folklore 298 ff.
Formeln, liturgische 95 ff.
119,3. 121. 123f.
fratres 506.
Frauen, vom Kult ausge-
geschlossen 265,2. 270.
510.
Fresser der Unterwelt 106 f.
Fruchtbarkeitszauber 337.
Frühlingsumzüge 324 ff.
Fußspur 321.
TdXa 97.
YaXaEiac 97.
rdXXoi 503.
Gans 40,6.
Geburt, Bräuche bei 312.
-— des Asklepios 276 f.
— jungfräuliche 538.
rdvva 409.
"f^voc des Dichters 186,1.
Geschlechtliche Enthaltung
Giganten 62. [498.
Gips 120ff.
Glockeninschriften 21 3.21 7.
TXu)CcoXaXeiv 479. [231.
Gluck, Iphigenie 59.
YvOücic 17. 513.
Gnostisches If. 9. 17 ff. 35.
37. 43,3. 109. 256. 515.
521. 538.
Goethe 296. 516.
— und Aristophanes 59,3.
— und Euripides 58 f. 408.
Götter einander gleichge-
setzt 481.
Gold 44. 102.
Goldblättchen, unteritali-
sche 91 ff. 467 f. 472.
Goldene Buchstaben 235.
•fopToveia 421. [238.
Gottvereinigung 98. 321.
466 f. 500.
Gratian 532. 534 f.
Gregor von Nazianz 531.
J. Grimm 286. 296 f. 311.
313A.
Große Mutter 128ff. 502ff.
vgl. Magna Mater.
Guymond, Iphigenie 59.
Hades 467. 470.
Hände verhüllt 440 ff. 487.
Hände verhüllt, christlicher
Brauch 441«. 448.
— hellenistischer 447. 487.
— höfischer 445 f.
— persischer 4461.
— römischer 447,10.
Hahn 40,5.
Halbmond 491.
'AiLiapTiai 106.
Handschuh 448.
Harpokrates 20. 24. 40,6.
Haruspizin 517 f.
hastiferi 497.
Hegesias 459 f.
Heiligenkult, semitischer
Heilungswunder 518. [504.
Heilzauber 321 f.
Hekate 79. 88,2. 101 ff. 126.
— xOovia 106. [128. 502.
— kosmische 80.
— TTepcia 88,2.
— TTpoGupaia 80.
— capKoqpdtoc 107.
— TapTttpoOxoc 101.
'EKdrric öeiirva 107.
Helena 521.
i^Xio6pö|Lioi 261. 263 f. 506.
Heliogabal 495 f. [508.
Helios 510. 530.
— u.Mithras 261 f. 506.508.
Herakles Alexikakos 523.
— auf der Bühne 377.
— - komische Figur 55,2.
63,2. 127,3.
— ^aivö|U€voc 54.
Hermanubis 20.
Hermes 5 f. 10 f. 37 f. 45.
— Seelengeleiter 421. [106.
'EpILlOO TTT^pOC 11. 23,6.
Herodes' Kindermord 272 ff.
Heroenkult 193 ff. [519.
Herondas 125. 127. 135.
Herrscherkult 519.
UpCKcc 265 f.
i€pöc Tti^oc 332. 466. 496.
Hilaria 499. [500.
Himmelfahrt 256. 488. 508.
522.
Himmelsbriefe 234 ff. 243 ff.
— antike 241. 243 ff. [320.
— Bestandteile 239. 243.
— byzantinische 241.
— goldene Buchstaben 235.
— jüdische 244. [238.
— orientalische 239. 242.
"Itma 129.
Hippokrates 54.
Höhlenkult 255. 508.
Hölle 477.
Homerverse im Zauber 28,3.
Register
Honig 263.
"OpKoi 106.
Horos 20. 25.75,3.183.485.
"ßpou öcT^ov 36. [190.
Horoskop 180. 182. 184 f.
öcioi luOcrai 77; vgl. 94. 101.
Hostanes, s. Ostanes.
Hymnen, Alphabethymnen
217 ff.
— christliche 109 f. 218.
— in Zauberpapyri 29 ff.
104. 106f.
— kotA TTÖXeic geordnete
Sammlungen 69.
— liturgische nachgeahmt
123.
— orphische 33. 69 ff. 92 ff.
109ff. 123. 217. 475f.
— Anordnung 78 f.
— Entstehung 33. 87f.
— und Zauberpapyri 28 ff.
75. 104. 106f.
— unteritalische 92 ff.
Hymnus von der Seele 255 f.
ujLivujöoi, 6|LivobiödcKa\oi 74.
78. 475.
öiroKÖXiTioc 98.
i»TroKpiTr|c 422.
lambe 127. 134.
lambres 9.
lannes 9 f.
lao 516.
Mbaia 502.
iKovöcracic 437.
impetrare, impetrire, im-
petrabilis 185.
Inkubation 319.
Inspiration 320.
Ionische Philosophie 452 f.
Iphigenie in der Dichtung
58 f.
Isis 20. 23. 26f. 75,3. 135.
183,2. 339,2. 351. 447
481. 484ff.
— und Maria 485.
Isispriester 486 f.
— mit verhüllten Händen
447,4. 448.
Isisprozession 486 f.
Isisvesper 487.
Jenseitsglauben 499.
Jenseitshoffnung 523.
Jenseitsvorstellungen 469f f .
Julia Domna 495. 522.
Julian 509. 527. 530 f.
Juno 496.
— caelesHs 502.
— Lucina 184.
543
Juno regina 494.
Jupiter Capitolinus 165.
— Dolichenus 493 ff.
— ftctilis 165.
— tonans 165 f.
— Typhon 105.
ius talionis 477.
Justinian 537.
Justinus Martyr 527.
Kabbala 516.
Kaiserkult 519 f.
Kassandra 175 f. 185.
Kaxdßacic, orphische 473 f.
KttTdöeciLioi 514.
Kataloge von Zaubermitteln
36 ff. 513.
Kaxapxai 184. 190,1.
KttBapiLioi 121 ff.
Kdeapcic 118.
Kdxoxoi 160. 490.
Kerberos 470.
K^pvoc 600.
Kind auf Erde gelegt 312.
— Herkunft derKinder314.
Kind im Haus begraben
313 f.
Kindermord , betblehemi-
tischer 272 ff. 519.
Kirchen, christliche über
antiken Kultstätten 538 f.
Kicxatpöpoc 71. 475.
KÖXiroc 97 f.
Kombabos 498.
Komet 273. 278. 519.
KO|Li|noi 422 f.
KUü|iiu6ia 418.
Konstantin 529 f.
KUJiruü 340.
Kora 418. 421 f. 466.
K6paK6c 506.
Korybanten 502.
Kosmogonie, mithrische
~ orphische 123. [258.
Kotys 497.
Krähe 334. 341. 343.
Krankheit verpflockt 291 f.
Krebs, Sternbild 189 f.
Kriobolien 500.
Kritias 455.
KpOqpioi 506.
Kultübertragungen 480.
- Asklepios 480. [488f.
- Magna Mater 480. 503.
Kureten 83. 89.
KÖßrißoc 134.
Kybele 128 ff. 135,1. 502 f.
kOkXoc xf|c Yev^ceujc 93.
Kynegeiros 137.
KuvoK^<pa\oc 40,1.
544
Register
Labarum 530.
Xdßpuc 494.
Lactantius 528.
Land der Toten 315 f.
Xaoi (Laien) 78.
Lares compitales 169 f.
Legfendenmotive 159. 277 f.
Xdovxec, X^aivai 72. 261 f.
263 f. 265. 506.
A€UKO(ppurivri 502.
Libanios 532.
Lichtbaum 260 f. (284.
Lichterscheinungen 277.
Liebesangeln, poetisches
Bild 186 ff.
Liebeszauber 321.
XiKvaqpöpoc 71. 475.
XiKvov 118. 120.
Links im Zauber 199. 222.
Liturgie 431 ff.
XÖToc 17.
Luceres 171. 174.
Lucmo 171. 173f.
Lucretius 459.
Lupercalia 169 f. 537.
Lykomiden 69. 91.
Lykophron 175.
Ma 497. 502.
Magie 513 ff. 521.
Magier 24, 6. 252. 255. 272 ff.
282. 508. 519.
Magna Mater 128 ff. 497.
499. 502 ff. 538.
Mahl, sakramentales 261.
263 ff. 270. 505. [336.
Maibaum 317. 328f. 332.
Maibraut und -bräutigam
329. 350 ff. 1331 f.
Maikönig und -königin
Manetho 6. 8. 10.
Manichäismus 538.
Mannhardt 296 f.
Maria und Isis 485. 538.
Marnas 536.
Martin von Tours 536.
Martinslieder 316 ff. 333 f.
Martinsvogel 334.
Masken 420 f.
Matthäusevangelium 272 ff.
— Entstehungszeit 282 f.
Matris 162 f.
Menander 458.
Menippos 244.
Messias 523 f.
Meteorsteine 241.
"MriTTip 96d)v 20.
lüiriTpöXriTTTOC 503.
Mida 128 ff.
Midas 128ff.
- Sklavenname 130.
Milch 501.
-- und Honig 97. 501.
Milchstraße 97.
miles 260 f. 506 f.
Micaxlc 128. 133.
ILiicriTn 133 f.
ILiicriTia 133 f.
ILiicriTÖc 133 f.
Mise 84. 125 ff.
Misme 127.
Mithradates 278. 283. 505.
Mithras 20. 24. 275 f. 281.
283 ff. 481. 504 ff. 519.
530. 538.
- Darstellungen 258 ff.
- TpnrXdcioc 261. [505 f.
- und Christus 508.
Mithraskult 72. 252 ff. 275 ff.
- Ausbreitung 253 ff. 268 ff.
509 f.
- Frauen im Kult 265,2.
270. 510.
- Kultbilder 256 f. 258 f.
- Symbole 259 f.
- und Christentum 264 f.
268 ff. 275 f. 283 ff. 509 f.
Mithrasliturgie 266 ff. 507 f.
Miepoßap2:dvr]C 255.
Monotheismus 160. 492.
Montanismus 538. [516.
Moses 7f. 9 f. 11. 24. 201.
Mutter Erde 314. 332. 431.
Mupia 485. [467 f.
Mysterien 69. 77. 91 ff. 120.
122. 131 f. 137. 256 ff.
428 ff. 439. 467 f. 475.
487 f. 499 f.
ILiucrripiov 264.
Mystik 463, 1.
Mythologie 309. 355 ff.
Nacktheit 119. 262f.
Nägel im Zauber 197,
Naiuüv 89.
Ndioc 89.
Name 314 f. 321.
navigium Isidis 351. 487.
Nechepso 9 f. 43,5.
Neid der Götter 517.
Neith 481.
Nekromantie 323.
Nektanebos 9.
Nemesis 90.
v€0|LiucTai 77.
v€09dvTai 77.
Nephotes 8. 10.
Nephthys 27,4.
Nero 273 f. 281. 285. 518.
Neumond 199.
Neunzahl 283, 1.351, 3. 353.
Nigidius Figulus 279.
vöcoc tepd 53 f. 59.
Offenbarung 318 ff.
Oktoberroß 170.
lijjLiocpdYoi 106 f. 465!.
(b)Lioc i^öcxou 263, 1.
"Oveipoi 106.
Onomakritos 468.
Ophitenhymnus 109.
Orakelmotiv 404.
*Opeia luriTrip 502 f.
Origenes 528.
Orpheus 6. 28 ff. 33. 69.93.
100. 103. 126,2. 129.
182.217.466ff.473.538.
- leierspielend 412. 476.
- AiOiKd 41. [478.
- und Christus 110.
Orphik 69ff. 121. 452,1.
466 ff.
- und Christentum 110.
478 f.
öpeojc, orphischerTerminus
öcxoqpöpia 338. [123,1.
oscilla 170»
Osiridis planta 36.
Osiris 20. 25 ff. 40,6. 75,3.
160. 481. 484 f.
Osiris Apis 490.
'OcöpaTTic 160.
Ostanes 4. 10 f.
Ostern 499.
Osthanes, vgl. Ostanes.
oöXoc öveipoc 410 f.
Pachomius 224 f.
Pachrates 35. 517.
paganus 531. 536.
iranrdXri 120.
Palaiphatos 456.
Pamphilus irepi ßoraviiiv
Pan 81. [36 ff.
iravdpGTOC ßißXoc 7.
Pandora 418. 421 f.
Pantia 81.
Papas 497.
Paracelsus 197.
Parmenides 413.
Pasiphae 88.
Pastophoren 486.
pastores 497.
TTttT^pec 265 f. 500. 506.
Paulus 525.
Pelagia 357 f. 539.
Peregrinus Proteus 522.
Tr€pi|udTTeiv 121,2.
Peripetie im Drama 426 f.
- in Eleusis 428 f.
TTepcai im Mithraskult 506.
Persaios 460. 462.
Persephone 467.
Petosiris 9 f. 43,5.
Petrus 522.
— und Jesus im Zauber-
segen 197.
Pferd, trojanisches 175 f.
Pflanzen, im Zauber 35 ff.
(paXXiKd 417.
Phallophorien 337,1. 340f.
Phamea 162f.
Phanes 476.
Philologie 292 ff. 306. 313 A.
Philonides 460. [360 f.
Philosophen, wundertuend
518.
Philosophie und Religion
Philostratos 522. [452 ff.
Phoinix von Kolophon343.
Phrynichos 63,2. 147. 425.
Physiologus 41.
Physis 81.
Pibeches 8.
pilleus 260 f. 263. 275.
Pinienzapfen 341.
TTICTIC 18.
irieoiTia 421.
Pitys 6. 10.
Piaton 450. 467. 473 f. 477.
nXoiaqp^cia 351. [523.
TToXOavbpoc 108.
noXubaijuiuv 107f.
Polygnot 477.
Porphyrios 527. 536.
Portunalia 351,3.
Poseidonios 462,1. 474.
praetoria 171.
Priapos 358. 539.
Properz 164ff.
— Codex Neapolitanusl66f.
173 f. 187.
— letztes Buch, Disposition
191.
— und Lykophron 175.
Prostitution, sakrale 502.
Protagoras 454 f.
TTpuJTOYÖvr] 126,3.
TTpojTÖTovoc 80f. 126,3. 476.
iTpuJTO|uOcTai 77.
Pseudophokylides 492.
Pyanopsia 338.
Pyrrhos heilt Kranke 518.
Pythagoras 10. 97. 471. 523.
Ramnes 171.
Rationalismus, antiker456ff.
Raub des himmlischen
Schatzes 261 f. 506.
Rechts 222. 472.
Regina caelestis 496.
Register
Reinigung 121.
Reise der Seele 31 5 f. 470.
Remus 166f.
'PriHixeujv 108.
Rhea 129f. 132. 135,1.
Ring 517.
Rom, Topographie 164ff.
172. 176f. 181.
— und Troja 174ff. 185.
Romanusbüchlein 198. 216.
220,1. 236f. 238f.
Romulus 166f. 171 f.
Rot 197.
Runen 211 f. 220,1. 226. 239.
Sabazios 76. 84,6. 98. 121.
129. 466. 497. 538.
sacramentum 264. 507.
Sagenbildung 285 f.
Salomo 8. 10. 43,3.
Samothrakische Gottheiten
Sandale, eherne 102. [500.
— goldene 102.
Sarapis 20. 159ff. 488ff.
— Kultbild 489.
— Kultlegende 488 f.
— Name 490.
— Ursprung 159 ff.
Sarapsi 490.
Sarapu 490.
capKoqpdYoc 469 f.
Sator-arepo Formel 216.
cdxupoi 417. 438.
Satyrspiel 417ff. 438.
Schauspieler in der Tra-
gödie 142. 156 f.
Schemel, heiliger 117f.
Schilf im Ritus 498.
Schlafszenen in der Tragö-
die 48ff. 403.
Schlag mit Lebensrute 337.
Schlange 98. 131 f.
Schmackostern 337,1.
Schmerz, körperlicher dar-
gestellt 55. 67. 403 f.
Schuh 119. 316. 516.
Schutzbriefe 234ff. 247.
Schwalbe 341 f. [249 f.
Schwarz 197.
Schwein 40,3.
Schwert 260 f. 263,3.
Seele in Felsen und Quellen
in Tieren 471. [471.
Seelenfest 421.
Seelenvogel 316.
Seelenwanderung 93 ff. 315.
Segen 196ff. [471.
— gegen Diebe 197.199.
_ Feuer 240.
_ Schmerzen 197f.
_ Würmer 197.
Albrechl Dieterich: Kleine Schriften.
545
Semele 466. 476.
Semonides 471.
Seth 20. 26. 484.
sidus Juliwn 278.
Siebenzahl 19. 265.
Silber 44.
Silene 129. 131,2.417.438.
Simon Magus 223. 521.
CiTTuXrivri 502.
Sisyphos 470.
Skeptizismus, antiker 462.
CKi|LiTrouc iepöc 117 f. [468.
Sminthios 72,3. [116f.
Sokrates bei Aristophanes
Sol invictus 253. 264. 510.
Soloni 173f.
Solonius ager 173 f.
Sommer und Winter 325.
Sommertag 31 7. 324 ff. [337.
Sondergötter 359.
Sonnenfinsternis 519.
Sonnengott 498. 510. 521.
Sonntag 264f. 506. 511. 538.
Sophokles 142. 364. 367.
— Philoktet55f. [379.433.
— Trachinierinnen48ff. 55.
CuuTrip 524. [58. 60 ff.
cqpaipai 43. 180. [481.
Spiele zauberkräftig 432.
Spielkarten, Schaden
bringend 250.
Spottcrucifix 484.
Springwurzel 39.
Steinbücher 41.
Steine im Zauber 41 ff.
— von Riesen geschleudert
53,2.
Steinfetische 503.
Steinkult 496.
Steinwurf in Schlaf ver-
senkend 53.
CTecpavoc 95. [68. 404.
Sterbeszenen der Tragödie
Stern der Weisen 272.
Sternbilder 184. 189f.
Sternerscheinung als Omen
273 f. 276 ff. 283.
Stier 258. 262. 505.
Stierkult 494.
Stieropfer 500.
Stoa 450. 460 ff.
Stoisches in orphischen
Hymnen 87.
CTOixeiov 224 f.
CTOixeioOv 225.
Strauß, D. F. 286.
Sühnfeste, römische 171,1.
Sündenbewußtsein 479. 482.
Symmachos 534.
Sympathie 322.
cuvdvTriiLia 79. 126.
35
546
Register
Tage, unglückliche 196. 199.
Talion 477.
Tantalos 470.
Tarentinus senarius 99.
Tcipixoc 44,2.
Tarmoendas 9.
Tdpxapa 29,4.
TapTOpoOxoc 101. 103.
Taube 40,7.
Tauf riten 264. 268. 270. 488.
Taurobolien 500. 506.
TttOpoi 72.
Technopägnien 11,8.
TeXerai 479.
Tetralogie 143 f.
Teufelsbriefe 250 f.
Thaies 453.
Thargelia 338.
theatmm Marcelli 167 i.
eeioc övrip 518. 523.
ävGpuüTTOc 520 ff.
Theodoros der Gottesleug-
ner 457.
Theodosius 531 f. 534f.
Theogonie, orphische 74.
81 f. 476.
Theophilos, Bischof von
Alexandreia 535 f.
Geöc üvjiicTOC 492.
Therapeuten 492.
Thespis 419.
Thespiskarren 422.
Thoth 6. 20. 27.
Gcpri 8. 10.
Threnos 403. 423 ff. 438.
Thyrsosstab 341.
Tierchöre 418.
Tierdämonen 318.
Tiere im Zauber 39 ff.
— weisende 319.
Tierkult 483.
Tiermaske 419 ff.
Timoleon 278.
Timotheos, Perser 401.
Timotheos von Athen 159.
488. 1280 ff. 505.
Tiridates 24,6. 252. 257.
Titanen 71. 73 f. 83. 106.
121 f. 182. 476.
Tixavoc 73. 122.
Tities 171. 173.
Titus Tatius 171. 174.
Tod 315.
— als Name 325,2.
Todaustreiben 325,2. 327.
Tonsur 486.
Totenbeschwörung 517.
Totenklage 422 ff.
xpaTUJÖia 418 f.
Tragödie, aixia enthaltend
433 f.
j Tragödie, Aristoteles'
i Theorie 415 f.
— Entstehung 41 4f f. 435ff.
— in Ägypten 436f.
— in Japan 414. 436.
— in Indien 414. 436.
I — und Chorlyrik 416.
j— und Dionysoskult 415ff.
— und Dithyrambos 41 5f.
' - und Mysterien 428 ff. 439.
' - und Satyrspiel 416 ff.
|- und Tänze, primitive 432.
! - und Threnos 423 ff.
!- und Wirkungen 432 f.
xpciTOi 72. 418 ff.
Traum 517.
I Traummotiv 404.
Trilogie 143 f. 148.
I Tritopatores 90 f. 421.
: Trudenkopf 199.
i TOxai 18,8.
i Tyche 90. 458.
' Tychon 539.
I Typhon 20. 26. 103 ff. 484 f.
I Tucpujvoc öcx^ov 36.
i Unsterblichkeitsglaube
I 464 ff.
I Untergang der antiken Re-
! ligion 449 ff. [471 ff.
i Unteritalische Orphik 91 ff.
I Unterwelt 93 ff. 470 ff.
: Unterweltsdarstellungen,
I unteritalische 100. 473.
Unverwundbarkeit 234 ff.
Usener 354 ff. [247.
I Valentinian 534.
I Vegetarianer, antike 163.
j Vespasian heilt Kranke 518.
j Vesta 170. 535.
i vexilla 349.
! Victoria 533 f.
I Virgo caelestis 496. 510.
i Vision 319.
I Volkskunde 287 ff. 301 ff.
— und Anthropologie 303ff.
! - und Ethnographie 303ff.
I - und Philologie 292 ff.
302 ff.
! - vergleichende 295. 309.
I Volksmedizin 291.
j Votivtafeln 204.
I Wahnsinn 53 f. 403. 503.
i Wandgemälde aus Ostia
317. 344 ff.
I Wasser im Isiskult 487 f.
1 Weisen aus dem Morgen-
land 272 ff.
I Weiss 197.
Welt, Glieder Gottes 31 f.
Weltuntergang 182 f.
Widderfell 117 f. 122.
Wiedergeburt 315. 468. 488.
500. 506. [178, 1.
Wölfin, Heroen säugende
- römische 172. 176 ff.
Wunder 518.
Wundertäter 518. 520 ff.
Xenokrates 474.
Xenophanes 453 f. 461. 468.
Y, Symbol derPythagoreer
472. 484 f.
Zagreus 476.
Zahlenmystik 22.
Zamolxis 10.
Zauber 1 ff . 47,2. 196 ff.
213ff. 217,1. 226f. 239.
247. 320 ff. 51 3 ff.
Zauberbücher 3 f. 513 ff.
- antike 241. 266.
- hessische 196 ff.
- Titel: Albertus Magnus
198. 216. 239.
- Fausts Höllen-
zwang 201. 230.
- Feuriger Drache
198f.
- 6. und 7. Buch
Mosis 201.
- Romanusbüchlein
189. 216. 220. 236 f.
Zaubermittel 35 f. [238f.
Zauberpapyri Iff. 201.213f.
- Ägyptisches 75 ff. [513f.
- Christliches 18.
- Gnostisches 17 ff. 35.
- Jüdisches 20. 24.
- Orphisches 28 ff. 75.
- Quellen, angebliche 3 ff.
- Sprachliches 17.
- Zeit 34 ff. 87.
Zauberspruch 196ff. 309
- Allitteration 197. [320 ff.
- Reim 197.
Zauberworte 21 ff. 200 f.
21 4f. 220. 247.
Zenon 460. 462. [528 f.
Zeugung, übernatürliche
Zeus 'AiTO|Liuioc 493.
- Euangelios 194, 1.
- Labranios 495.
- Xaßpduvboc 495.
- Ndtioc 89.
- Panamaros 501.
Zoroaster 8. 10. 254.
Druck von B. G. Teubner in Dresden.
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin.
Eine Mlthrasliturgie. Erläutert v. Albrecht Dieterich. 2. Aufl. besorgt v.
Richard Wünsch. Geh. JC 6.—, geb. Ji. 7.—
„Der größte und unmittelbarBte Gewinn, den aneh der außerhalb der geheiligten
Schranken der Mysterienkunde Stehende von dem Buche haben wird, ist die aus demselben
gewonnene Möglichkeit, einen verständnisvollen Blick in diese ihm sonst verschlossene
Welt hinein zu werfen . . . Wir scheiden von dem hochinteressanten Buch mit dem auf-
richtigsten Dank ftlr die reiche Belehrung und vielfache Anregung, die es uns geboten
hat, und empfehlen seine Lektüre allen, die sich mit religionswissenschaftlichen Studien
befassen, aufs angelegentlichste." (Wochensehrift für klassische Philologie.)
Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion von Albrecht Dieterich.
Geh. JL 3.20, geb. JL 3.80.
„. . .Dies in Ktlnse der Inhalt des großzügigen Buches, das natürlich auch nebenher
eine Menge wertvoller Hinweise und Andeutungen gibt. Aber seine Bedeutung liegt nicht
in den einzelnen Erkenntnissen, die es gewinnt, sondern in der Anschauung, von der es
getragen ist. ... In Dieterichs letzten Arbeiten finden wir das konsequente Bestreben, die
alte Volksreligion selbst wiederzugewinnen, und ^Mutter Erde» führt gerade zu dem, was
wir Mythologie zu nennen pflegten, zurück, erfüllt es aber mit neuem Inhalt durch be-
sonnene Anwendung der vergleichenden Methode, gegen die in dieser Form kaum jemand
etwas einzuwenden haben wird." (Deutsche Literatarzeitnng.)
Sommertag. Von Albrecht Dieterich. Mit 3 Abbildungen im Text
und auf 1 Tafel. Geh. JL\.—
Von dem Kinderfest des Sommertages ausgehend, zeigt der Verfasser, wie das, „was
einst in deutlichen, wenn man will, rohen Formen als heilige Handlung der Beligion des
ganzen Volkes begangen ward, nun zu den Kindern, wenn man einmal so sagen darf,
herabgekommen, ein liebUches Kinderfest geworden ist, das die mächtigen geheimnisvollen
Zauberriten der Zeugung und Fruchtbarkeit im fröhlichen Spiel der Kleinen lieblich ver-
schleiernd bewahrt hat". Er zeigt, daß nicht nur bei unseren germanischen Vorfahren,
sondern auch im klassischen Altertum gleiche Gebräuche bestanden haben, und zwar be-
sonders an zwei nach sachkundigem Urteil „hinreißenden Zauber« auf den Betrachter
ausübenden Bildern aus Ostia, die einen ganz ähnlichen Aufzug von Kindern darstellen,
wie ihn unser „Sommertag" heute bietet.
Vorträge nnd Aufsätze. Von Hermann Usener. Mit einem Bilde
üseners. Geh. JL h. — , geb. JL ^. —
Aus den noch nicht veröffentlichten kleineren Schriften Useners ist hier eine
Auswahl von Vorträgen und Aufsätzen zusammengesetzt, die für einen weiten Leserkreis
bestimmt sind. Sie sollen „denen, die für geschichtUche Wissenschaft Verständnis und
TeUnahme haben, insbesondere aber jungen Philologen Anregung und Erhebung bringen
und ihnen ein Bild geben von der Höhe und Weite der wissenschaftlichen Ziele dieses
großen dahingegangenen Meisters und dieser Philologie«. Den Inhalt bilden die Abhand-
lungen: Phüologie und Geschichtswissenschaft, Mythologie, Organisation der wissenschaft-
lichen Arbeit, über vergleichende Sitten- und Bechtsgeschichte, Geburt und Kindheit
Christi; Pelagia, die Perle (aus der Geschichte eines Bildes). Als Anhang beigefügt ist
die Novelle „Die Flucht vor dem Weibe", die als Bearbeitung einer altchristlichen
Legende sich ungezwungen anschließt.
„Daß Albrecht Dieterich, der U. persönlich wie wissenschaftlich besonders »a>f find
in der vorüegenden schönen Sammlung einem Plane von U. selbst folgend zunächst die
für einen weiteren Leserkreis geeigneten Stücke vereinigt hat, ist um «»."»f ^ ^^^«»^^f^^'''
als in ihnen die Sonderart des Menschen und des Gelehrten in harmonischer Vereinigung
S^beSS^al"' """"^ ''" Ferneratehenden einen Begriff YLU^erTrifctTz^n'^a^lilalt.)
Der heilige Tychon. (Sonderbare Heilige. Texte und Untersuchungen I.)
Von Hermann üsener. Geh. JL h.—, geb. JC ^.—
Auf Grund der zum TeU bisher unveröffentlichten Texte von zwei heU«ni8chen
Göttern, die man nicht im christlichen Himmel «"'"^en soUte von Priapos und Aphro
dite, wird gezeigt, daß sie tatsächUch von der «^nstlichen Kirche übernommon^nd z^^^
Heiligen umgebUdet worden sind. Die Untersuchung über das leider ««>^^ ^^^f«^^
haltene Leben des heiligen Tychon ist verknüpft mit sprachlichen, rhythmischen una
literarhistorischen Erörterungen. /a„i^i„o«^Voif nnrl
„Die großartigen Eigenschaften Useners, «eine tiefgründige Geehrs^^^^^^
glänzende Kombinationsgabe, seine vorbUdUche Sauberkeit und Exaktheit in der philo
logischen Technik treten auch in diesem P°«*^^°^«^ J^^^^^^ p^^^j^^^^^^ Wochenschrift.)
Dieterich, Kleine Schriften.
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin.
Foimandres. Studien zur griechisch -ägyptischen und frühchristlichen
Literatur. Yon Richard Beitzenstein. Geh. JL 12.—, geb. M.\h.—
Das Buch ist bestimmt, die religiösen Neubildungen, welche das Eindringen des
Griechentums im Orient hervorrief, auf einem engen Gebiet zu verfolgen. Es nimmt zur
Grundlage die von der Theologie wie Philologie gleichmäßig vernachlässigten Hermetischen
Schriften und sucht zunächst deren Grundcharakter, Zusammenhänge mit den Zauber-
papyri und Verhältnis zur altägyptischen Keligiqn zu bestimmen. Es ergibt sich, daß
mindestens seit Beginn unserer Zeitrechnung in Ägypten eine Fülle kleinerer Gemeinden
bestehen, deren Gründer nationale Traditionen, uralte Anschauungen, die zum Teil nur
noch im Zauber und Volksglauben fortleben, mit neuen Gedanken, wie den Grundlehren
der astrologischen Beligion oder babylonischen bzw. persischen Mythen, verbinden und
ihr System in die Formeln und Begriffe der griechischen Philosophie kleiden.
Die Wirkung dieser weit über Ägypten hinaus verbreiteten hellenistischen
Literatur von Visionserzählungen, Predigten und Lehrschriften zeigt sich einerseits in
dem Judentum, und zwar hier etwa von neutestamentlicher Zelt bis ins Mittelalter
hinein, andererseits in der frühchristlichen Literatur. Aber zahlreich scheinen die Ent-
lehnungen einzelner literarischer Typen, Bilder, Begriffe und Formeln, z. B. in dem
Hirten des Hermas, dem Martyrium Petri, den Logia Jesu, aber schwächer auch schon
in einzelnen Teilen der Apokalypse, des vierten Evangeliums und der paulinischen Briefe.
Die Kenntnis dieser hellenistischen Propheten läßt uns ferner Persönlichkeiten wie Philo
in schärferem Lichte erscheinen und verhilft vielleicht zu einer genaueren Kenntnis der
Geschichte des Piatonismus im Orient.
Hellenistisclie Wundererzählungen. Yon Richard Keitzenstein. Geh.
JC. h.—^ geb. JC 7.—
Das Buch soll nicht eine erschöpfende Aufzählung der hellenistischen Wunder-
erzählungen bieten, sondern zunächst ihren literarischen Charakter, ihre Technik und die
zugrunde liegenden ästhetischen Theorien an ausgewählten Beispielen erläutern und die phan-
tastische Erzählung durch die verschiedenen Literaturzweige (Satire, philosophische Memora-
bilien usw.) verfolgen. Das Ziel war dabei eine möglichst scharfe Scheidung der verschie-
denen Arten hellenistischer Erzählung und besonders die Sonderung der "Wundererzählung
von dem Koman. Der kürzere, zweite Teil ist dieser Literatur allein gewidmet und sucht
an zwei den Thomas- Akten entlehnten Beispielen die Stärke der literarischen Abhängigkeit
der frühchristlichen von den gleichzeitigen heidnischen Erzählungen zu erweisen und
zugleich aus dieser volkstümlichen Literatur Schlüsse auf die Anschauungen breiter
heidenchristlicher Kreise zu ziehen.
Die hellenistischen Mysterienreligionen, ihre Grundgedanken und
Wirkungen. Von Kichard Beitzenstein. Geh. JL^.—^ geb. Ji 4.80.
Das Buch möchte eine Ergänzung zu A. Dieterichs „Mithrasliturgie" bieten. Aus-
gehend von der Tatsache, daß Paulus die Scheidung der Menschen in Pneumatiker und
Psychiker den hellenistischen Mysterienreligionen entnommen hat, andrerseits der Beob-
achtung, daß wir die theologischen Abschnitte des XI. Buches der Metamorphosen des
Apuleius nur ins Griechische zurück zu übertragen brauchen, um die Grundbegriffe und
technischen Worte auch zahlreicher anderer Mysterien in ihrem ursprünglichen Zusammen-
hang wiederzufinden, hebt es einerseits die GrundvorsteUung schärfer hervor, aus der die
dort erklärten Kulturgebräuche und Büder hervorwachsen, andererseits schildert es die
Verinnerlichung der Mysterien von der rohen Zauberhandlujig zur schriftlichen Darstellung
rein seelischer Erlebnisse. Sodann weist der Verfasser die Bedeutung des hellenistischen,
der Mysterienfrömmigkeit entlehnten Elementes neben dem jüdischen in der Theologie
des Apostels Paulus nach und zeigt an einzelnen Beispielen, was die Wortgeschichte zum Ver-
ständnis des Werdeganges des Apostels beitragen kann. Endlich bietet er noch philologische
Beiträge zur Beantwortung der Frage nach dem Wesen des christlichen Gnostizismus.
Priester und Tempel im hellenistischen Ägypten. Ein Beitrag zur
Kulturgeschichte des Hellenismus von Walter Otto. 2 Bände. Geh.
je JC. 14.—, geb. je .^17.—
Das Buch will vor allem von der Organisation der Priesterschaft, von der Laufbahn
der einzelnen Priester, ihrer sozialen und staatsrechtlichen Stellung, sowie von den inneren
Zuständen der Tempel, ihrem Besitz, ihren Einnahmen und Ausgaben und ihrer Verwaltung
ein anschauliches Büd entwerfen und im Anschluß hieran das Verhältnis von Staat und
Kirche im hellenistischen Ägypten untersuchen. Dabei wird versucht, soweit als möglich die
Entwicklung der einzelnen behandelten Institutionen zu zeichnen und Feststellungen über
ihren ägyptischen, griechischen oder hellenistischen Ursprung zu treffen. Außer der altägyp-
tischen Kirche sind auch die anderen damals in Ägypten bestehenden heidnischen Kult-
gemeinschaften berücksichtigt worden. Die Darstellung baut sich vor allem auf den uns
durch die griechischen Papyri, Inschriften und Ostraka gelieferten reichhaltigen Angaben auf.
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin.
JC 12.—
Griechische Feste von religiöser Bedeutung mit Ausschluß der
attischen. Untersucht von Martin P. Nilsson. Geh.
geb. JC Ib. —
„Die Untersuchung der griecUsohen Feste durch N. ist also ein höchst verdienst-
liches Unternehmen auch in ihrer Beschränkung auf die nicht attischen Feste. Er be-
herrscht den einschlägigen Stoff und die zugehörige Literatur in hervorragender "Weise:
er dient uns mit Parallelen aus dem Kultus der Inder, Ostjaken, Bussen, Semiten u. a.
und ist zu Hause in den grundlegenden Werken von FameU, Frazer, Harrison, Mann-
hardt, Usener usw." (Berliner Philologische Wochenschrift.)
Opferbräuche der Griechen. Von Paul Stengel. Mit Abbildungen.
Geh. .iC 6.—, geb. JC 7.—
• In diesem Bande hat Paul Stengel auf vielfachen Wiinsch seine bisher in ver-
schiedenen Zeitschriften verstreuten Aufsätze zum griechischen Sakralwesen in erweiterter
und vielfach umgestalteter Form gesammelt. Neben Untersuchungen über einzelne Kult-
begriffe wie -d^vriXai und -d-vkinuatay ^vtiv und ■d-vta&ai, ovlai, ^ägviip, xaTaQ/fo^at
iväp/eod^ai, inäfj^aad^ai ätnäfaatv u. ä. werden allgemeine Kultfragen, wie „die Speiseopfer
bei Homer", „chthonischer und Totenkult", „der Kult der Winde", „Opferspenden", „Wild-
und Fischopfer", „Buphonien" u. a. behandelt. Von der Erkenntnis ausgehend, daß die
sicheren Tatsachen, die der zäh sich erhaltende Kultus uns überliefert, der zuverlässigste
Führer zum Verständnis antiker Religiosität sind, darf der Verfasser wohl den Anspruch
erheben, unser Wissen nicht nur in Einzelheiten berichtigt und geklärt, sondern auch
tiefere und umfassendere Zusammenhänge in helleres Licht gerückt und so einen beachtens-
werten Beitrag zur Geschichte der antiken Beligion geliefert zu haben.
Abhandlungen zur römischen Beligion. Von Alfred von Domaszewski.
Mit 26 Abbildungen und 1 Tafel. Geh. J^. 6.~, geb. JCl.—
In diesem, dem Andenken A. Dieterichs gewidmeten Buche vereinigt D. seine weit
verstreuten und deshalb bisher schwer zugänglichen Abhandlungen zur römischen Beligion,
die mit Erfolg manchen bisher dunklen Punkt unserer Kenntnis der Entwicklungsgeschichte
der römischen Religion, wie ihrer Wirkungen auf die Geschichte und die staatlichen Insti-
tutionen aufhellen. So behandelt D., indem er methodisch neben den Berichten der Schrift-
steller Denkmäler aller Art, wie Bildwerke, Inschriften, Münzen usw. als unmittelbare
Zeugnisse religiöser Vorstellungen verwendet , u. a. : „Die TierbUder der Signa", „Die
politische Bedeutung des Traiansbogens in Benevent", „Silvanus auf lateinischen In-
schriften", „Die Familie des Augustus auf der Ära Pacis", „Die Schutzgötter von Mainz",
„Die Festzyklen des altrömischen Kalenders", „Die politische Bedeutung der Religion von
Emesa", „Die Triumphstraße auf dem Marsfelde". So verschiedenartig der Inhalt dieser
Abhandlungen ist, so dxirchzieht sie alle als einigendes Band der Gedanke, daß die schöpfe-
rischen Ideen, welche die älteste Religion der Römer erzeugt haben, im Laufe vieler Jahr-
hunderte immer wieder tätig waren, neue Formen zu entwickeln, und daß somit die
Gebilde, wie sie unter dem Einfluß fremder Kulte in so bunter Fülle entstanden, die
Möglichkeit bieten, die Entstehung der ältesten Formen zu erkennen.
Die orientalischen Eeligionen im römischen Heidentum. Von Franz
Cumont. Autorisierte deutsche Ausgabe von Georg Gehrich.
Geh. JC 5.—, geb. JC &.—
„Das Werk eines Meisters über eine Reihe brennender Fragen zu lesen, ist immer
eine Freude. Die Freude wird dem zuteil, der sich in die vorliegende Schrift Cumonts
vertieft Bei Cumonts religionsgeschichtlicher Darstellung hat man das angenehme
Bewußtsein, eine Stoffauswahl zu erhalten, die nicht im Dienste einer bestimmten religions-
geschichtlichen Qesamtanschauung steht. Gerade darum ist Cumont ein guter Wegweiser
füt den, der das Verhältnis des Urchristentums zu seiner reUgiösen Umwelt verstehen
will « (Theolog. Literaturblatt.)
Mysterien des M ithra. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der römischen
Kaiserzeit. Von Franz Cumont. Autorisierte deutsche Übersetzung
von Georg Gehrich. 2. Auflage. Mit 9 Abbildungen im Text und
auf 2 Tafeln, sowie 1 Karte. Geh. ca. .ä: 5.— , geb. ca. JCb.&O.
„Durch das ganze Buch geht derselbe streng kritische, sich selbst bescheidende,
historische Zug, der dem großen Werke Cumonts die verdiente ^^^l'^^'''^']'°-f^^'',^j^^^
eingetragen hat. Wie dieses sicherlich die Einzelforschung noch 1*°«« <^*^®^*tr^Jj"
Feststellung mithrischer Elemente in nicht ausgesprochen mithrischen ^^^^l"") ^^l^^
wird, so wird auch dieser gelungene Auszug in dem ihm bestimmten ^«^*«5«f^ ^/X^,".^;
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin.
Zwei griechische Apologeten von Johannes Gefifcken. Geh. JC 10.—,
geb. c/^ 11.—
Das Buch gibt zunächst eine kurze Geschichte der Anfänge der Apologetik bis auf
Aristides (Streit der Philosophen über den Polytheismus, über Opfer und Götterbilder, An-
schauungen der Jüdischen Hellenisten, apologetische Kämpfe gegen die Griechen), dann
folgt eine Ausgabe des Aristides und der dazu gehörige Kommentar, eine kurze Würdi-
gung Justins und Tatians, dann wieder eine Ausgabe des Athenagoras mit Kommentar,
zum Schlüsse wird noch die weitere Entwicklung der Apologetik und der literarische
Kampf zwischen Christen und Heiden bis zum 6- Jahrhundert geschildert. Neben der Er-
kenntnis der einzelnen Streitmittel und Motire wurde besonders versucht, das Bild der
hervorragenden Kämpfer in beiden Lagern plastisch herauszuarbeiten. Das Buch kann
somit als eine Art Geschichte der altchristlichen Apologetik dienen.
Die Beligionsphilosophie Kaiser Julians In seinen Reden auf König
Helios und die Göttermulter. Mit einer Übersetzung der beiden
Reden. Von Georg Mau. Geh. Jf 6 . — , geb. JC "l .—
„Diese Beden Julians, die wie kaum eine andere Schrift die Yormischung der reli-
giösen Bestrebungen der Zeit, insbesondere der Helios - Mithras - Beligion, mit der neu-
platonischen Philosophie kennen lehren, bieten doch dem Verständnis außerordentliche
Schwierigkeiten. Eine genaue Kenntnis der Terminologie des Neuplatonismus ist dafür
unerläßlich. Und nach dieser Seite liegt auch der Hauptwert der hier gebotenen Er-
klärungen. Eine umfassende Belesenheit in der neuplatonischen Literatur setzt den Ver-
fasser in den Stand, die Geschichte der einzelnen Begriffe innerhalb dieser Schule, oft
mit Bückblicken bis auf Aristoteles und Plato, zu verfolgen. Damit bietet das Buch
eigentlich mehr, als der Titel anzudeuten scheint. Keiner, der sich mit dem Neuplatonis-
mus beschäftigt, wird an den hier gegebenen Untersuchungen über einzelne Begriffe oder
philosophische Lehren vorübergehen können.** (Kantstudien.)
Mystik in Heidentum und Gliristentum. Von Edyard Lehmann. Vom
Verfasser durchgesehene Übersetzung von Anna Grundtvig geb.
Quittenbaum. Geh. Ml. — , geb. JC l.'lh
Verfolgt in glänzender Darstellung die Erscheinungen der Mystik, „dieses Mensch-
heitweines, der da erquickt, aber auch berauscht und erniedrigt", von der primitivsten
Kulturstufe durch die orientalischen Beligionen bis zur griechischen Mystik, erörtert dann
eingehend die mystischen Phänomene in den griechischen Kirchen und versucht die Mystik
in der griechischen wie in der römischen Kirche, bei Luther und den Quietisten, wie ihren
Einfluß auf die Bomantiker zu schildern.
Geburt, Hochzeit und Tod. Beiträge zur vergleichenden Volkskunde
von Ernst Samter. Mit 7 Abbildungen im Text und auf 3 Tafeln.
Geh. J^ 6.— , geb. J^ 7.50.
Das Buch, ein Beitrag zur „vergleichenden Volkskunde" im Sinne von A. Diete-
rich, behandelt die verschiedenartigen Bräuche und Riten, die sich bei allen Völkern
primitiver Kulturstufen vor allem an die wichtigsten Ereignisse des Lebens, an Geburt,
Hochzeit und Tod anknüpfen, und sucht die Bedeutung dieser Biten durch genauere
Untersuchungen und Vergleichungen im einzelnen zu ermitteln. Dabei werden neben
modernen Volksbräuchen und den Bräuchen der „Naturvölker" insbesondere zahlreiche
Biten der Griechen und Bömer behandelt, so daß das Buch neben seinem allgemein volks-
kundlich interessanten Inhalt mancherlei beachtenswerte Beiträge zum Verständnis der
antiken Beligion liefert.
Himmelsbild und Weltanschauung im Wandel der Zeiten. Von
Troels-Lund. Autorisierte, vom Verfasser durchgesehene Übersetzung
von Leo Bloch. 3. Auflage. Geb. JC ö. —
Das Neue in der Ansicht des Verfassers und das, was dem Buche vor allem seinen
hohen Wert verleiht, kommt in dem genialen Versuch zum Ausdruck, den treibenden Ge-
danken in der bisherigen Entwicklung des menschlichen Geistes zu zeigen. Die Fragen,
welche nach Troels-Lund immer von dem Menschengeschlecht zu beantworten versucht
worden sind, sind dieselben, welche das Dasein immer aufs neue stellt: Was sind Licht
und Dunkel, Tag und Nacht, und wie weit ist's von der Erde bis zum Himmel ? — In-
dem uns der Verfasser die ganze Kulturentwicklung als entsprossen aus den auf jene
Fragen gegebenen Antworten zeigt, stellt er nicht nur vieles von dem bisher Bekannten
in ungewohntes und eigentümliches Licht, sondern eröffnet auch ganz neue und über-
raschende Aussichten. Sein Nachweis der Übereinstimmung zwischen den natürlichen
Verhältnissen der Länder und der dort entsprossenen Beligion, zwischen der Lebensansicht
eines Buddha, eines Jesus von Nazareth und der sie umgebenden Natur gehört zu dem
Tiefsten und Schönsten, was je darüber gesagt worden^ist.
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Dieterich, Albrecht
Kleine Schriften
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