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Full text of "Kleine Schriften"

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ALBRECHT  DIETERICH 
KLEINE  SCHRIFTEN 

MIT  EINEM  BILDNIS  UND  ZWEI  TAFELN 


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VERLAG  VON  B.G.TEUBNER  IN  LEIPZIG  UND  BERLIN  1911 


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Di- 


ALLE  RECHTE 
EINSCHLIESSLICH  DES  ÜBERSETZUNGSRECHTS  VORBEHALTEN 


VORWORT 

Nach  Albrecht  Dieterichs  Tode,  noch  im  Sommer  1908,  wurde  der 
Wunsch  laut  nach  einer  Zusammenfassung  seiner  kleinen  Schriften,  die 
vielfach  zerstreut  erst  als  Ganzes  ein  Bild  von  dem  Menschen  geben 
können,  der  sie  schuf. 

Diese  Sammlung  erscheint  spät,  weil  ich  erst  den  umfangreichen 
Nachlaß  Dieterichs  an  Manuskripten  und  Notizzetteln  durchsehen  wollte, 
ob  etwas  davon  sich  zur  posthumen  Veröffentlichung  eignete.  In  der 
Tat  haben  sich  zwei  Abhandlungen  gefunden,  die  hier  zum  erstenmal 
dem  Druck  übergeben  werden,  über  den  Ritus  der  verhüllten  Hände 
(XXIX)  und  der  Untergang  der  antiken  Religion  (XXX). 

Den  ersten  Aufsatz  hatte  Dieterich  kurz  vor  seinem  Tode  als  druck- 
fertig bezeichnet.  Er  war  auf  fünf  Abschnitte  berechnet,  aber  es  fand 
sich  das  Manuskript  nur  der  ersten  drei,  und  ohne  Anmerkungen. 
Diese  habe  ich  aus  Dieterichs  Notizen  zugefügt,  soweit  das  möglich 
war;  viele  der  Monumente,  die  in  jenen  Abschnitten  besprochen  werden, 
kannte  er  im  Original  und  gibt  daher  ihre  Beschreibung  nach  eigener 
Anschauung,  nicht  nach  älterer  Literatur,  die  zitiert  werden  müßte. 
Dieterich  hatte  vor,  diesem  Aufsatz  eine  Reihe  von  Abbildungen  bei- 
zugeben; ausdrücklich  bezeichnet  hatte  er  dafür  nur  eine  einzige,  die 
als  Tafel  II  aufgenommen  wurde.  Die  fehlenden  Abschnitte  konnten, 
wenigstens  in  ihren  wichtigsten  Gedanken,  nach  dem  R^sume  eines  in 
Basel  gehaltenen  Vortrags  gegeben  werden. 

Der  Untergang  der  antiken  Religion  sollte  nach  Dieterichs  Angabe 
im  Herbst  1908  gedruckt  werden,  das  Werk  war,  als  er  im  Mai  jenes 
Jahres  starb,  in  seinem  Innern  ausgereift.  Aber  es  kann  hier  nicht  in 
der  Form  erscheinen,  die  ihm  der  Verfasser  selbst  gegeben  hätte. 
Die  Einleitung  und  der  erste  Abschnitt  sind  zwar  nach  Dieterichs  eigener 
Niederschrift  gedruckt,  aber  diese  Niederschrift  stammt  aus  seinen 
früheren  Jahren;  später  hätte  er  mehr  als  eine  Einzelheit  daran  selbst 
geändert.  In  Abschnitt  II -V  habe  ich  versucht,  die  Hauptgedanken 
aus  Kollegheften^  und  den  Stichworten,  die  Dieterich  selbst  sich  für 
die  Vorlesungen  aufgezeichnet  hatte,  zu  rekonstruieren.  Daß  dieser  Ver- 

'  Ich  danke  Dieterichs  Schülern  R.  Ebner,  E.  Fehde,  H.  Ostern,  R.  Rot- 
heimer  für  die  freundliche  Überlassung  ihrer  Nachschriften. 


lY  Vorwort 

such  in  Inhalt  und  Form  weit  hinter  dem  gesprochenen  Wort  zurück- 
bleiben mußte,  lag  in  seiner  Natur.  Aber  auch  wenn  er  besser  ge- 
lungen wäre,  hätte  ein  Buch  von  Dieterich  ihn  übertroffen.  Denn  er 
würde  manches  straffer  zusammengezogen,  anderes  ausführlicher  be- 
gründet haben,  als  er  es  in  den  Vorträgen  getan  hat,  und  einiges  hätte 
er  sicher  nicht  so  formuliert.  Wohl  habe  ich  bei  der  Unvollkommen- 
heit  des  Entwurfes,  der  hier  geboten  wird,  daran  gedacht,  ihn  nicht 
zu  drucken.  Aber  den  Ausschlag  gab  der  mündlich  geäußerte  Wunsch 
Dieterichs,  daß  gerade  die  Gedanken,  die  er  über  dieses  Thema  vor- 
getragen hatte,  nicht  verloren  gehen  möchten. 

Im  Texte  des  ^Untergangs'  habe  ich  nichts  geändert,  weder  zugesetzt 
noch  gestrichen,  und  habe  mich  auch  da,  wo  ich  anderer  Meinung  bin, 
an  das  vorhandene  Material  gehalten.  Nur  wo  es  mich  im  Stiche  ließ, 
mußte  ich  hier  und  da  einen  verbindenden  Gedanken  zusetzen,  um  die 
Lücke  zu  füllen.  Mit  Anmerkungen  konnte  ich  bei  allgemeiner  be- 
kannten Dingen  sparsam  sein,  nur  die  wichtigsten  Quellen  sind  zitiert, 
und  nicht  jedesmal  wieder  für  eine  Einzelheit,  die  dorther  entnommen 
ist.  Da  in  Kap.  II -V  dieser  Abhandlung  keine  Anmerkung  von  Dieterich 
selbst  herrührt,  waren  keine'unterscheidenden  Zeichen  nötig;  in  den  übrigen 
Teilen  der  Sammlung  bedeuten,  wenn  nichts  anderes  bemerkt  ist,  recht- 
winklige Klammern,  daß  die  Anmerkung  nachträglich  von  Dieterich  in 
seinem  Handexemplar  notiert  war:  an  diesen  Anmerkungen  ist  höchstens 
die  Form  geändert,  um  sie  ihrer  Umgebung  anzupassen;  spitzwinklige 
Klammern  sind  Zusätze  des  Herausgebers.  Und  zwar  habe  ich  mich 
darauf  beschränkt,  Verweise  auf  andere  Stellen  von  Dieterichs  Schriften 
anzubringen,  die  zu  dem  kommentierten  Ort  etwas  Neues  sagen.  Zu- 
sätze aus  den  Werken  anderer  sind  nur  als  Ergänzungen  zu  Nachträgen 
Dieterichs  gegeben  worden. 

Ein  Verzeichnis  der  von  Dieterich  selbst  in  den  Druck  gegebenen 
Aufsätze  steht  am  Schluß  des  Nekrologes,  den  ich  zuerst  im  Band  CXLV  B 
des  Jahresberichts  für  Altertumswissenschaft  veröffentlicht  habe  und  den 
ich  hier  (S.  IX  ff.)  mit  der  freundlichen  Erlaubnis  des  Redakteurs  W.  Kroll 
wieder  abdrucke.  In  diesem  Lebensabriß  habe  ich  versucht,  den  einzelnen 
Abhandlungen  ihre  Stelle  im  Entwicklungsgang  Dieterichs    anzuweisen. 

Nicht  aufgenommen  sind  die  Rezensionen  Dieterichs.  Zwar  sind  sie 
für  ihn  charakteristisch,  weil  aus  ihnen  die  Liebe  zur  Sache  und  bei 
aller  Kampfesfreude  die  Achtung  vor  der  Person  des  Gegners  besonders 
deutlich  spricht,  aber  sie  enthalten  auch  vielfach  Referate  und  Einzel- 
bemerkungen, die  man  sehr  gut  an  der  Stelle  der  ersten  Veröffent- 
lichung nachlesen  kann. 


Vorwort  y 

Bekannt  geworden  sind  mir  folgende  Besprechungen: 

1.  K.  Wessely,  Zu  den  griechischen  Papyri  des  Louvre  und  der 
bibliotheque  nationale.  S.  A.  Jahresbericht  des  k.  k.  Staatsgymn. 
Hernais  1888/89.     Berl.  philol.  Wochenschr.  1891,  9.  10. 

2.  Karl  Buresch,  Klaros.  Leipzig,  Teubner  1889.  Berl.  philol. 
Wochenschr.  1891,  625-630. 

3.  Ernst  Rieß,  Nechepsonis  et  Petosiridis  fragmenta  magica.  Diss. 
Bonn  1890.     Berl.  philol.  Wochenschr.  1891,  819-822. 

4.  Albrecht  Wirth,  Danae  in  christlichen  Legenden.  Wien,  Prag, 
Leipzig  (Tempsky  und  Freitag)  1892.  Zeitschrift  für  Kirchen- 
geschichte XIII,  1892,  420  f. 

5.  Paul  Decharme,  Euripide  et  Tesprit  de  son  theätre,  Paris,  Garnier 
frdres  1892.     Deutsche  Lit.  Zeit.  1894,  361-363. 

6.  Friedrich  Weber,  Platonische  Notizen  über  Orpheus.  Progr. 
Luitpold-Gymn.  1898.  München,  Lindl  1899.  Deutsche  Lit.  Zeit. 
1900,  864.  65. 

7.  Carl  Maria  Kaufmann,  Die  sepulcralen  Jenseitsdenkmäler  der 
Antike  und  des  Urchristentums.  Mainz,  Franz  Kirchheim  1900. 
Deutsche  Lit.  Zeit.  1900,  2909-15. 

8.  Hock,  Stefan,  Die  Vampyrsagen  und  ihre  Verwertung  in  der 
deutschen  Literatur.  Berlin,  A.  Duncker  1900.  Zeitschr.  für 
franz.  Sprache  und  Litt.  XXIII,  1901,  2,  119-121. 

9.  Deißmann,  Adolf,  Ein  Originaldokument  aus  der  Diokletianischen 
Christenverfolgung.  Tübingen  und  Leipzig,  J.  C.  B.  Mohr 
(P,  Siebeck)  1902.     Gott,  gel  Anz.  1903,  550-555.' 

10.  Erwin  Preuschen,  Mönchtum  und  Sarapiskult,  2.  Aufl.,  Gießen  1903, 
Ricker  (A.  Töpelmann).    Berl.  philol.  Wochenschr.  1905,  13-19. 

11.  H.  Gunkel,  Zum  religionsgeschichtlichen  Verständnis  des  Neuen 
Testaments,  Forschungen  zur  Religion  und  Literatur  des  Alten 
und  Neuen  Testaments.  Heft  I,  Göttingen,  Vandenhoeck  und 
Ruprecht  1903.     Archiv  für  Rel.-wiss.  VII,  1904,  278  f. 

12.  Bericht  über  griechische  und  römische  Religion  (1903)  1904, 
1905.     Archiv  für  Rel.-wiss.  VIII  1905,  474-510. 

Aber  eine  Probe  des  Stils,  den  Dieterich  als  Rezensent  schrieb, 
möchte  ich  doch  geben.  Zu  diesem  Zweck,  nicht,  um  alten  Streit  neu 
anzufachen,  wähle  ich  ein  Stück  aus  der  Besprechung  Nr.  7.  Hier 
werden  antike  Parallelen  zu  dem  christlichen  Ängelus  aufgeführt,  und 
dann  heißt  es: 


'  A.  Deißmann  hat  hierauf  geantwortet  in  der  'Studierstube'  1 1903,  Dezember- 
Heft:  'Der  Brief  des  Psenosiris'. 


VI 


Vorwort 


^Aber  freilich  würde  ja  K.  dergleichen  Material  kaum  haben  ver- 
wenden wollen  noch  können.  Ihm  „fehlt  jede  profane  Analogie".  Seine 
Anschauung  läßt  ihn  alles  wirklich  oder  vermeintlich  Christliche,  so- 
weit es  nur  irgend  geht  und  noch  viel  weiter  isoliren,  wo  andere  un- 
leugbare Entwicklung  zu  sehen  meinen.  Manchmal  könnten  sich  ja 
beide  einigen  auf  Wendungen  von  der  äußeren  Form  und  dem  Sinne, 
meist  stehen  sich  eben  verschiedene  Anschauungen  von  geschichtlicher 
Forschung  gegenüber,  die  unvereinbar  sind.  Das  gewaltige  Problem 
der  Genesis  des  Christentums  kennt  K.  natürlich  nicht:  nicht  als  ob 
die,  welche  ihm  dienen  wollen,  alles  Christliche  als  schon  dagewesen 
erweisen  wollten.  Darauf  kommt  es  nicht  an  und  noch  weniger  wollen 
sie  mit  plumper  Hand  das  Geheimniß  der  persönlichen  Wirkung  Christi 
antasten;  aber  alles  was  in  irdischen  Formen  wird  und  wächst,  muß 
auch  hier  in  seiner  geschichtlichen  Entwicklung  verstanden  werden. 

Wer  zu  dem  Resultat  kommen  kann,  daß  „abgesehen  von  der 
äußeren  meist  indifferenten  Form,  in  die  fast  jedes  Volk  bestimmte 
Begriffe  kleidet,  die  christlichen  Jenseitsdenkmäler  nichts  von  der  An- 
tike ererbt  haben",  muß  allerdings  jenen  Bestrebungen  ganz  fremd  und 
blind  gegenüberstehen;  und  ich  verstehe  es  ja  sehr  gut,  daß  Jemandem, 
der  in  gewissen  religiösen  und  theologischen  Lehren  und  Traditionen 
fest  gewurzelt  ist,  eben  jene  Bestrebungen  absolut  unverständlich  sind 
oder  gar  frivol  erscheinen.  Um  so  mehr  muß  es  ausdrücklich  anerkannt 
werden,  daß  K.  in  der  Polemik  gegen  die,  welche  in  anderen  Grund- 
anschauungen leben  und  arbeiten,  immer  maaßvoU  und  sachlich  bleibt 
und  sich  in  seinen  Formen  von  manchen  Schriftstellern  auf  beiden  Seiten 
sehr  vorteilhaft  unterscheidet. 

Wir  „anderen"  müssen  uns  ruhig  sagen,  daß  Vieles  für  K.  und 
viele  niemals  bewiesen  werden  kann,  was  darum  nach  unserer  An- 
schauung nicht  weniger  sicher  ist.  Aktenstücke  pflegen  wir  ja  nicht 
präsentiren  zu  können,  daß  am  so  und  so  vielten  des  und  des  Jahres 
die  und  die  Vorstellung  übertragen  sei.  Religionsge schichte  im  tiefern 
Sinne  -  ich  nehme  den  Mund  nicht  so  voll,  daß  ich  von  „vergleichender 
Religionswissenschaft"  rede  -  wird  K.  nicht  treiben  und  schreiben 
können,  vielleicht  eher  „monumentale  Theologie".  Und  das  soll  nicht 
ungesagt  bleiben,  daß  wir  ihm  stets  dankbar  sein  werden  für  Erörte- 
rungen altchristlicher  Denkmäler.' 

Auch  die  kleineren  Artikel  über  die  antiken  Dramatiker,  die  Dieterich 
für  die  Realencyclopädie  des  classischen  Altertums  von  Pauly-Wissowa 
verfaßt  hat,  sind  nicht  mit  abgedruckt.     Wer  diese  Dokumente  treuer 


Vorwort  yU 

philologischer  Kleinarbeit  nachlesen  will,  findet  das  Verzeichnis  der 
Stichworte  in  der  Anmerkung/  Aufgenommen  wurden,  mit  der  freund- 
lichen Erlaubnis  des  Redakteurs  der  Realencyclopädie,  W.  Kroll,  die 
großen  Artikel  Aischylos  und  Euripides.  Der  Versuch,  in  diesen  Artikeln 
durch  das  Verweisen  der  Zitate  in  Anmerkungen  den  Text  rein  heraus- 
zuheben, war  leider  nicht  durchführbar. 

Weggelassen  sind  ferner  diejenigen  Schriften,  die  Dieterich  als  selb- 
ständige Bücher  und  Broschüren  hat  erscheinen  lassen.  Sie  sind 
sämtlich  von  Teubner  verlegt:  Abraxas  1891,  Nekyia  1893,  Die  Grab- 
schrift des  Aberkios  1896,  Pulcinella  1897,  Eine  Mithrasliturgie  1903 
(zweite  Auflage  1910),  Mutter  Erde  1905. 

Die  Anordnung  der  aufgenommenen  kleinen  Schriften  ist  die  chrono- 
logische. An  zwei  Stellen,  nach  XIII  und  XV,  ist  sie  aufgegeben,  um 
Zusammengehöriges  nicht  zu  trennen.  -  Am  Rande  sind  durchweg  die 
Seitenzahlen  der  ersten  Veröffentlichung  beigefügt. 

Dieterichs  Schüler  Otto  Weinreich  hat  mich  beim  Lesen  der  Kor- 
rekturen freundlichst  unterstützt.  Auch  für  die  Anfertigung  des  Registers 
sei  ihm  herzlich  Dank  gesagt. 

Königsberg  5.  August  1911. 

RICHARD  WÜNSCH 


^  Aemilius  21,  Agathon  13,  Aiantides  3,  Akestor4,  Alexandros  83,  Alkaios  11, 
Alkimenes  4,  Amphianus,'AvaTvu;cTiKoi,Antiphanes  14,  Antiphon  12,Apollodoros  56, 
ApoUonios  25,  Archestratos  12,  Aristarchos  21,  Aristias  2,  Aristippos  6,  Ariston  49, 
Asklepiodotos  11,  Astydamas  1.  2,  Athenion  7,  Auleas,  Bion  4.  5,  Biotos,  Chai- 
remon  5,  Chares  12,  Charilaos  3,  Choirilos  3,  Datis  2,  Demetrios  73,  Demonax2, 
Dikaiogenes  2,  Diogenes  36.37,  Diognetos  14,  Dionysiades  1,  Dionysios  l  Schluß, 
Dorillos,  Dorotheos  14,  Dymas  5,  Epigenes  12,  Euaion  2,  Euandridas,  Euaretos, 
Euetes  1,  Ezechiel. 


INHALTSVERZEICHNIS 

Seite 

Albrecht  Dieterich IX 

—  I.  Papyrus  magica,  Prolegomena 1 

II.  Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne 48 

~  III.  De  hymnis  Orphicis 69 

IV.  Die  Zahl  der  Dramen  des  Aischylos 111 

V,  Über  eine  Szene  der  aristophanischen  Wolken 117 

VI.  Die  Göttin  Mise 125 

VII.  Aischylos .136 

— ■  VIII.  Über  den  Ursprung  des  Sarapis 159 

IX.  Matris  cena 162 

X.  Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Properz 164 

XI.  6\)aff€KiCTr\c 193 

XII.  Ein  hessisches  Zauberbuch 196 

XIII.  ABC-Denkmäler 202 

XIV.  Ein  neues  ABC-Denkmal 229 

XV.  Himmelsbriefe 234 

XVI.  Weitere  Beobachtungen  zu  den  Himmelsbriefen 243 

- — XVII.  Die  Religion  des  Mithras 252 

XVIII.  Die  Weisen  aus  dem  Morgenlande 272 

XIX.  Ober  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 287 

XX.  Volksglaube  und  Volksbrauch  in  Altertum  und  Gegenwart    .    .     .  312 

XXI.  Sommertag 324 

-^XXII.  Enneakrunos 353 

XXIII.  Hermann  Usener       354 

XXIV.  Euripides 363 

XXV.  XMr 409 

XXVI.  OöXoc  öveipoc 410 

XXVII.  AIKA 412 

XXVIII.  Die  Entstehung  der  Tragödie 414 

-XXIX.  Der  Ritus  der  verhüllten  Hände ...  440 

XXX.  Der  Untergang  der  antiken  Religion 449 

Register.    Von  Otto  Weinreich 540 


ALBRECHT  DIETERICH  ^ 

Albrecht  Dieterich  wurde  am  2.  Mai  1866  zu  Hersfeld  im  Kur- 
fürstentum Hessen  geboren.^  Sein  Vater  Albrecht  war  Lehrer '  am 
dortigen  Gymnasium  und  verheiratet  mit  Henriette  Münscher,  der  Tochter 
des  Direktors.  Dreizehn  Jahre  war  die  Ehe  kinderlos  geblieben,  ehe 
die  Geburt  des  Sohnes  den  heißen  Wunsch  der  Eltern  erfüllte;  sie 
haben  den  Dank  dafür  durch  liebevolle  Sorgfalt  in  Pflege  und  Erziehung 
abgetragen,  die  Mutter  in  Fröhlichkeit,  der  Vater  in  Strenge.  Das 
lag  im  Wesen  dieser  grundverschiedenen  Naturen.  Die  Mutter  war 
in  einem  Hause  aufgewachsen,  in  dem  die  Freude  an  den  schönen  und 
guten  Gaben  des  Lebens  daheim  war,  und  wo  sorglos  weitgehende 
Gastlichkeit  gepflegt  wurde.  Diesen  Ton  gab  ihr  Vater  an;  Direktor 
Münscher,  Sohn  eines  Marburger  Professors  der  Theologie,  war  aber 
nicht  nur  ein  weltfreudiger  Mann,  sondern  auch  ein  vielseitiger  Ge- 
lehrter und  guter  Pädagog,  über  die  Schulräume  hinaus  und  weit  über 
die  Grenzen  der  Stadt  verehrt  und  beliebt.  Ein  Teil  dieser  Liebe 
kam  auch  den  Seinigen  zugute.  So,  von  Freundlichkeit  umgeben,  war 
die  Tochter  herangewachsen,  frohen  und  heiteren  Geistes,  mit  offenem 
Sinn  für  die  Kunst  und  ihre  Schönheit,  aber  auch  fähig  und  bereit, 
sich  den  ernsten  Anforderungen  des  Tages  anzupassen.  Und  gerade 
diese  Eigenschaft  war  notwendig,  um  ihre  Ehe  harmonisch  zu  gestalten. 
Albrecht   Dieterich    dem    Vater,    gleichfalls    einem   Hessen,   war   keine 


^  Abgedruckt  aus  dem  Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  CXLV  B 
1910,  mit  geringen  Änderungen;  dazu  gehören  drei  Berichtigungen,  für  die  ich 
O.  Crusius,  L.  Deubner,  A.  Elter,  C.  Hosius,  und  zwei  Zusätze,  für  die 
ich  F.  BoU  verpflichtet  bin. 

*  Um  einen  Lebensabriß  von  Albrecht  Dieterich  geben  zu  können,  bedurfte 
ich  der  Angaben  für  seine  Jugendzeit  bis  zum  Abgang  von  der  Universität. 
Frau  Marie  Dieterich  sandte  mir  des  Dahingeschiedenen  Tagebücher  und 
Aufzeichnungen  und  stellte  mir  zur  Verfügung,  was  sie  nach  seinen  Erzählungen 
aufgeschrieben  hatte.  Von  Freunden  aus  der  Gymnasialzeit  schickte  F.  Wachen- 
feld, Professor  in  Rostock,  seine  Erinnerungen;  R.  Homburg,  Oberlehrer  in 
Kassel,  sammelte  außerdem  Beiträge  von  Bekannten  aus  der  Jugendzeit. 
Ihnen  allen  sei  hiermit  herzlich  gedankt.  Herbst  1889  machte  ich  selbst  die 
Bekanntschaft  Albrecht  Dieterichs;  mit  dem  Oktober  1890  beginnen  seine 
Briefe  an  mich,  in  denen  er  niederlegte,  was  er  erlebte  und  was  ihn  beschäftigte. 


)(  Albrecht  Dieterich 

frohe  Jugend  beschieden  gewesen;  noch  als  Mann  hat  er  mit  den 
Sorgen  des  täglichen  Lebens  zu  kämpfen  gehabt.  Sein  Weltauffassung 
war  darüber  ernst  geworden.  Sie  gründete  sich  auf  einen  strengen 
evangelischen  Glauben,  der  für  Denken  und  Handeln  die  alleinige  Richt- 
schnur war;  irgendwelche  Zweifel  sind  ihm  trotz  eines  scharfen  Ver- 
standes und  eines  ausgebreiteten  Wissens  nicht  gekommen.  Ebenso 
fest  an  der  alten  Sitte  hielt  er  auch  als  Staatsbürger;  dem  letzten 
Kurfürsten  von  Hessen  hat  er  in  seinem  Herzen  stets  die  Treue  ge- 
halten, in  herber  Ablehnung  der  neu  entstandenen  Verhältnisse. 

Diesen  beiden  so  verschieden  gearteten  Menschen  verdankte  der 
Sohn  die  wesentlichen  Züge,  die  ihn  als  Mann  auszeichneten.  Er  hatte 
von  der  Mutter  die  sonnige  Lebensfreude  und  die  Fähigkeit,  Werke 
der  Kunst  rein  zu  genießen;  vom  Vater  das  stark  ausgeprägte  Denk- 
vermögen, den  kraftvollen  Willen,  den  heiligen  Ernst  in  den  großen 
Fragen  des  Lebens.  Er  hat  das  später  selbst  empfunden  und  glaubte 
zu  fühlen,  wie  mit  den  Jahren  das  Wesen  des  Vaters  in  ihm  das 
Stärkere  wurde. 

Der  Grund  zu  diesem  nachhaltigen  Einfluß  ist  in  Albrecht  Dieterichs 
Jugendzeit  gelegt  worden.  Seine  Mutter  starb  früh;  der  Knabe  war 
damals  sieben  Jahre  alt,  der  Schmerz  über  ihren  Verlust  zitterte  noch 
lange  in  seinem  empfänglichen  Herzen  nach.  Seine  Erziehung  ging 
nun  ganz  an  den  Vater  über,  der  bei  aller  Strenge  volles  Verständnis 
für  die  anders  gearteten  Züge  im  Wesen  seines  Sohnes  besaß  und 
seiner  Entwicklung  mehr  Freiheit  ließ,  als  er  sich  selbst  zugestand. 
Als  der  Junge  in  das  Gymnasium  der  Vaterstadt  eingetreten  war,  be- 
durfte er  zur  Arbeit  keines  Spornes.  Der  Vater  erzählte  gern,  wie 
freudig  er  lerne,  im  gemeinsamen  Arbeitszimmer,  stolz  auf  seinen 
eigenen  Tisch  und  seine  eigene  Lampe.  „Es  steckt  ein  Münscher  in 
ihm",  pflegte  er  zu  sagen.  Dieses  Verhältnis  ging  aber  über  das  Ab- 
hören der  täglichen  Pensa  hinaus;  es  wurde  ein  wirkliches  Füreinander- 
leben. Der  Vater  wurde  der  Vertraute  des  Sohnes;  er  suchte  das 
Kind  der  Lebensauffassung  zuzuführen,  die  er  selbst  besaß;  dieselbe 
kirchliche  Anschauung,  dieselbe  Liebe  zum  angestammten  Landesherrn 
sollten  in  der  Seele  des  Knaben  Wurzel  schlagen.  Auch  weckte  der 
Vater  in  ihm  die  Erkenntnis  vom  Wesen  wissenschaftlicher  Arbeit  und 
die  Freude  an  den  Werken  der  deutschen  Dichtkunst. 

In  den  oberen  Klassen  kam  die  Freundschaft  mit  gleichstrebenden 
Schulfreunden  hinzu,  die  dem  etwas  einseitigen  Ernst  der  väterlichen 
Erziehung  erfolgreich  entgegenarbeiteten.  Wohin  die  Neigungen  des 
kleinen  Kreises  gingen,  zeigt  der  Name  „Sonnengötter",  den  die  Klasse 


Albrecht  Dieterich  XI 

für  die  vier  Teilnehmer  erfand;  man  las  viel  miteinander,  namentlich 
mythologische,  poetische  und  philosophische  Bücher  und  disputierte 
eifrig  über  den  Wert  des  Gelesenen.  Von  Sekunda  an  hat  Dieterich 
sich  auch  als  Dichter  versucht;  die  erhaltenen  Poesien,  die  zum  Teil 
in  der  Unterhaltungsecke  hessischer  Lokalblätter  Abdruck  gefunden 
haben,  zeigen  bei  aller  Jugendlichkeit  Formgewandtheit  und  Gestaltungs- 
gabe und  die  Fähigkeit,  sich  für  ein  Ideal  zu  begeistern.  Zum  großen 
Teil  sind  es  Balladen;  sein  Vorbild  ist  vor  allem  Uhland,  hin  und 
wieder  Heine;  Motive  aus  dem  Ahertum  sind  selten,  es  dominiert  die 
nordische  Heldensage.  In  anderen  Gedichten  kommt  das  eigene  starke 
Empfinden  zum  Ausdruck;  sie  gelten  der  verstorbenen  Mutter,  den 
Freunden  und  dem  Vaterland.  In  den  patriotischen  Liedern  klingen 
die  Anschauungen  des  Vaters  wider;  ein  Hesse  will  er  bleiben,  dem 
Hessenlande  will  er  seine  Lieder  und  sein  Leben  weihen,  und  weh- 
mütig berührt  es,  wenn  der  Siebzehnjährige  sich  ein  Grab  in  hessischer 
Erde  wünscht. 

Ostern  1884  verließ  Dieterich  das  Gymnasium,  um  die  Hochschule 
zu  beziehen.  Auch  den  Vater  fesselte  jetzt  nichts  mehr  an  Hersfeld; 
er  legte  das  Amt,  das  er  35  Jahre  verwaltet  hatte,  nieder  und  zog 
Ostern  1885  in  seine  engere  Heimat  zurück.  In  Kirchditmold  bei 
Kassel  erwarb  er  ein  kleines  Haus,  in  dem  er  selbst  seinen  Studien 
lebte,  und  das  für  den  Sohn  das  ersehnte  Ziel  wurde,  dem  er  in  den 
Ferien  zueilte. 

Zunächst  ging  Dieterich  nach  Leipzig.  Dort  wollte  er,  dem 
Wunsche  seines  Vaters  entsprechend,  Theologie  studieren.  Er  hat  denn 
auch  theologische  Vorlesungen  gehört,  und  die  Probleme  des  Neuen 
Testaments  und  der  Kirchengeschichte  haben  ihn  stark  angeregt,  aber 
dennoch  haben  sie  nicht  vermocht,  ihn  zum  Theologen  zu  machen. 
Andere  Neigungen  waren  stärker;  die  Nachschriften  und  Exzerpte  der 
Leipziger  Zeit  drehen  sich  um  philosophische  Probleme,  namentlich 
religions- philosophischer  Art,  und  um  deutsche  Literatur;  das  Interesse 
am  eigenen  Land  und  Volk,  das  bereits  aus  seinen  Hessenliedern  spricht, 
gewinnt  an  Umfang  und  Vertiefung.  Auch  die  klassische  Philologie 
tritt  jetzt  in  seinen  Gesichtskreis,  er  hat  bei  G.  Curtius,  Crusius, 
Lipsius,  Ribbeck  gehört  und  ist  ein  Semester  lang  außerordentliches 
Mitglied  des  philologischen  Seminars  gewesen.  Seine  Seminararbeit 
handelte  über  den  Schluß  der  Phönissen  des  Euripides.  Es  war  die 
erste  Berührung  mit  einem  Dichter,  der  ihn  dann  nicht  wieder  los- 
gelassen hat.  In  persönliche  Beziehungen  ist  er  damals  wohl  nur  zu 
Crusius   und   Rudolf  Hirzel  getreten;  dem   letzteren  spricht  er  in  der 


XII  Albrecht  Dieterich 

Vita  seiner  Dissertation  einen  besonderen  Dank  aus.  Studentischen 
Verkehr  hatte  er  teils  mit  alten  Hersfelder  Freunden,  teils  in  dem 
„Philologischen  Verein",  dem  er  beigetreten  war.  In  diesem  Verein 
war  das  Hauptinteresse  auf  antike  Dichter  gerichtet;  im  Sommer  1885 
las  man  gemeinschaftlich  Aristophanes,  den  Dieterich  bei  seiner  Empfäng- 
lichkeit für  Witz  und  Humor  besonders  geliebt  hat.  Auch  die  eigene 
dichterische  Tätigkeit  wurde  fortgesetzt.  Als  der  Philologische  Verein 
im  Dezember  1885  seinen  Stiftungstag  feierte,  dichtete  er  das  Festlied. 
„Wir  setzen  ein  des  Lebens  Kraft,  Nur  einen  Stein  emporzuheben 
Zum  stolzen  Bau  der  Wissenschaft.  Schnell  wird  das  Leben  uns  ver- 
rinnen. Doch  jener  Bau  wird  ewig  stehn." 

Ostern  1886  kam  Dieterich  nach  Bonn,  entschlossen,  Philologie  zu 
studieren,  aber  noch  unsicher,  ob  er  den  Nachdruck  auf  germanische 
oder  klassische  Philologie  legen  sollte.  Die  erste  Vorlesung,  die  er  bei 
Hermann  Usener  hörte,  entschied  diesen  Zweifel.  Er  erzählte  selbst, 
es  habe  ihn  da  wie  ein  Blitz  durchzuckt:  „Hier  liegen  die  großen 
Probleme,  denen  du  dein  Leben  widmen  mußt."  So  wurde  er  klas- 
sischer Philologe,  Schüler  von  Bücheier,  Lübbert,  Usener.  Auch 
Archäologie  bei  Kekulä  hat  er  gehört,  teils  um  die  Kunstwerke  eben 
als  Kunstwerke  zu  genießen,  teils  um  durch  sie  das  Verständnis  der 
schriftlichen  Tradition  zu  vertiefen.  Das  Wichtigste  waren  ihm  Kolleg 
und  Seminar  bei  Bücheier  und  Usener;  freudig  genoß  er  die  wunder- 
vollen Stunden,  in  denen  die  Arbeit  nicht  dumpfe  Pflichterfüllung, 
sondern  seelisches  Erleben  war,  jene  Übungen,  die  nicht  nur  das  Wissen 
des  Schülers  mehrten,  sondern  ihn  auch  zum  Manne  erzogen  in  Ehr- 
lichkeit gegen  sich  selbst,  in  der  Überzeugung  von  der  Unzulänglich- 
keit der  eigenen  Kenntnisse,  in  dem  kategorischen  Imperativ,  daß  in 
wissenschaftlichen  Dingen  nichts  um  der  Person,  um  der  Sache  willen 
alles  zu  geschehen  habe. 

Dieterich  nahm  drei  Semester  am  philologischen  Seminar  teil, 
während  eines  Semesters  war  er  Senior.  Von  Franz  Bücheier  hat  er 
viel  gelernt,  und  im  Gespräch  oft  dankbar  anerkannt,  wie  viel  er  ge- 
rade Bücheier  verdankte.  Aber  mächtiger  zogen  ihn  die  religions- 
geschichtlichen Probleme  an,  die  Hermann  Usener  beschäftigten;  es 
waren  die  Jahre,  in  denen  das  „Weihnachtsfest"  heranreifte.  Für  jene 
Fragen  war  Dieterichs  Gemüt  besonders  empfänglich;  er  hatte  an 
seinem  Vater  gesehen,  was  die  Religion  dem  einzelnen  Menschen  be- 
deuten kann;  er  hatte  in  Leipzig  gelernt,  wie  die  Religion  in  der  Ge- 
schichte gewirkt  hat.  Am  liebsten  hätte  er,  der  sich  nun  zu  eigener 
wissenschaftlicher  Arbeit    reif   fühlte,    ein   rein   religionsgeschichtliches 


Albrecht  Dieterich 


XIII 


Thema  angefaßt.  Doch  Usener,  der  scharf  in  das  unklare  Gären  des 
jugendlichen  Feuerkopfes  hineinsah,  wehrte  es  ihm  und  drang  darauf, 
daß  zunächst  die  philologischen  Fundamente  fester  gelegt  wurden. 
Darum  stellte  er  für  eine  Preisarbeit  ein  Thema  zur  Kritik  des  Aichylos; 
er  war  überzeugt,  daß  es  niemand  anders  als  Dieterich,  und  dieser 
gut,  lösen  würde.  Diese  Erwartung  trog  nicht.  Und  als  dann  Bücheier 
eine  rehgionsgeschichtliche  Aufgabe  stellte,  griff  Dieterich  mit  beiden 
Händen  zu.  Für  den  in  Leyden  liegenden  griechischen  Zauberpapyrus 
J  384  sollten  Textverbesserungen  und  Eriäuterungen  eingereicht 
werden.  Dieterichs  Arbeit  erhielt  auch  hier  den  Preis,  und  aus  dieser 
Preisarbeit  erwuchs  die  Dissertation,  die  dann  in  erweiterter  Form  er- 
schien unter  dem  Titel:  Papyrus  magica  Musei  Lugdunensis  Batavi, 
denuo  edidit  commentario  critico  instruxit  prolegomena  scripsit  A.  D. 
Um  diese  Ausgabe  machen  zu  können,  hatte  Dieterich  den  Papyrus 
an  Ort  und  Stelle  noch  einmal  verglichen.  Es  war  nicht  leicht,  den 
Vater  zu  bewegen,  daß  er  diese  Reise  nach  Leyden  erlaubte.  Denn 
durch  die  rein  philologische  Arbeit,  die  dadurch  gefördert  wurde,  er- 
klärte der  Sohn  endgültig  seine  Abkehr  von  der  Theologie.  Aber  der 
Vater  fügte  sich,  obwohl  er  seinen  Lieblingswunsch  scheitern  sah;  die 
Dissertation  ist  Patri  et  praeceptoribus  gewidmet. 

Dieterichs  erste  Arbeit  zeigt  deutlich  die  Schule  Useners.  Den 
abstrusen  Unsinn,  den  die  Zauberpapyri  auf  den  ersten  Anblick  bieten, 
sucht  er  geschichtlich  zu  verstehen.  Namentlich  kommt  es  ihm  darauf 
an  zu  zeigen,  daß  in  diesem  Trümmerhaufen  Goldkörner  alter  religiöser 
Vorstellungen  verschüttet  liegen,  daß  die  Zauberformeln  zum  Teil  um- 
geformt sind  aus  wirklichen  Gebeten  und  Hymnen  der  Religionen  und 
Mysterien  des  Altertums.  So  wies  er  in  der  Vorrede  besonders  auf 
gnostische,  ägyptische  und  orphische  Nachklänge  hin,  Reste  aus  einem 
orphischen  Hymnenbuch  werden  herausgeschält  und  gesäubert.  Die 
Ausgabe  selbst  zeigt,  daß  er  die  Technik  der  Edition  anzuwenden 
gelernt  hat,  ein  grammatisches  Register  beweist,  daß  er  sich  der  Be- 
deutung dieses  Textes  auch  für  die  Geschichte  der  griechischen  Sprache 
bewußt  ist. 

Das  Doktorexamen  bestand  Dieterich  insigni  cum  laude,  die  Pro- 
motion fand  im  August  1888  statt.  Die  Thesen,  die  er  verteidigte, 
weisen  auf  intensive  Beschäftigung  mit  den  griechischen  Tragikern  hin; 
auch  Aristophanes  ist  mit  einer  Konjektur  bedacht.  Opponenten  waren 
Freunde  aus  dem  Philologischen  Verein,  dem  Dieterich  auch  in  Bonn 
beigetreten  war.  Eine  ganze  Reihe  der  engsten  Beziehungen,  die  das 
Leben    hindurch    gehalten    haben,    hat    er  gerade  mit  seinen  Vereins- 


XIV  Albrecht  Dieterich 

brüdern  in  Bonn  geknüpft.  Sie  alle  einte  zunächst  das  ehrliche 
Arbeiten  an  der  Wissenschaft;  in  kühnem  Wagemut  werden  von  den 
Lesekränzchen  die  schwersten  Autoren  in  Angriff  genommen  und  in  den 
Vorträgen  die  schwierigsten  Themata  behandelt.  Aber  neben  dem  Ernst 
behielt  die  Freude  ihr  Recht;  die  Bonner  Bierzeitungsmappe  bewahrt 
aus  jenen  Tagen  manches  Gedicht  Dieterichs  und  seiner  Freunde,  das 
von  Lebensfrische  und  köstlichem  Übermute  strahlt. 

Nach  bestandenem  Doktorexamen  kehrte  Dieterich  in  das  stille 
Haus  von  Kirchditmold  zurück,  um  sich  zur  Staatsprüfung  vorzubereiten 
und  das  Zusammensein  mit  dem  Vater  zu  genießen.  Seine  philosophische 
Staatsexamensarbeit  hatte  das  Thema:  „Was  wissen  wir  über  Piatons 
Theismus  oder  Pantheismus?"  Die  Frage  ist  deutlich  mit  Rücksicht 
auf  seine  religionsgeschichtlichen  Neigungen  gestellt  worden.  Man 
fühlt,  wenn  man  die  Arbeit  liest,  mit  welcher  Freude,  mit  welch 
heiligem  Eifer  sie  geschrieben  ist.  Sie  ringt  mit  Piatos  Worten,  um 
ihnen  die  Entwicklung  seiner  Auffassung  abzugewinnen;  eine  innere 
Wärme  durchzieht  die  Stellen,  die  vom  Wesen  dieses  Einzigartigen 
handeln. 

Das  Staatsexamen  bestand  Dieterich  im  Mai  1889  und  trat  dann 
sein  Probejahr  am  Gymnasium  zu  Elberfeld  an.  Die  Lust,  das  päda- 
gogische Können  zu  erproben,  das  ihm  im  Blute  saß,  war  groß,  und 
mächtig  die  Freude,  wenn  es  gelang,  den  Gegenstand  des  Unterrichts 
anschaulich  zu  gestalten,  die  Stunde  zu  beleben.  Die  Autorität,  die 
der  Lehrer  braucht,  hatte  er  sich  gleich  in  der  ersten  Stunde  durch 
energisches  Eingreifen  gesichert. 

In  diese  erste  Lehrzeit  hinein  fiel  der  Tod  des  Vaters.  Er  starb 
unerwartet  im  September  1889.  Sein  Scheiden  hinterließ  eine  Lücke 
im  Leben  des  Sohnes,  die  sich  nur  langsam  schloß.  Das  Haus  in 
Kirchditmold  konnte  er  sich  lange  nicht  entschließen  zu  verkaufen;  er 
sah  wohl  auch  voraus,  daß  er  diesen  ruhigen  Winkel  noch  brauchen 
werde.  Denn  so  gern  er  an  der  Schule  unterrichtete,  sein  letztes  Ziel 
war  doch  ein  anderes.  Er  wollte  für  seine  wissenschaftliche  Arbeit 
mehr  Bewegungsfreiheit,  als  sie  die  Anforderungen  des  Gymnasiums 
gewähren  können.  So  faßte  er  nach  Ablauf  des  Probejahres  die  Habili- 
tation, die  ihm  lange  vorgeschwebt  hatte,  ernstlich  ins  Auge.  An  Stoff 
zur  Arbeit  fehlte  es  nicht.  Das  Museum  von  Leyden  barg  außer  jenem 
griechischen  Zauberpapyrus,  von  dem  die  Dissertation  handelte,  noch 
einen  zweiten  (J  395);  dem  wandte  Dieterich  sich  jetzt  zu.  In  der 
Stille  von  Kirchditmold  begann  die  kritische  und  kommentierende  Tätig- 
keit.    Doch  bald  stellten  sich  die  Zweifel  ein,   ob  gerade  diese  Arbeit 


Albrecht  Dieterich  vy 

für  eine  Habilitationsschrift  sich  eignen  werde.  Es  existierte  damals 
noch  die  Ansicht,  daß  philologische  Arbeit,  an  einem  Texte  geleistet, 
der  nicht  der  Kunstliteratur  angehörte,  nicht  genüge,  um  den  Verfasser 
als  Philologen  auszuweisen.  Deshalb  wählte  Dieterich  für  die  Habili- 
tationsschrift aus  seiner  umfassenden  Arbeit  einen  Abschnitt  aus,  der 
weniger  weit  von  der  gebahnten  Straße  der  Philologie  ablag:  die 
orphischen  Hymnen.  Mit  diesen  hatte  er  schon  in  der  Dissertation 
Fühlung  gewonnen,  ihre  Doktrin  hatte  auch  im  zweiten  Leydener 
Papyrus  Spuren  hinterlassen,  und  mit  ihnen  durfte  man  sich  abgeben, 
da  sie  namentlich  durch  Gottfried  Hermann  in  das  Bereich  der  klassisch- 
philologischen Studien  einbezogen  waren.  Ihnen  gilt  Dieterichs  Ab- 
handlung De  hymnis  Orphicis  capitula  quinque,  die  in  kurzen  Zügen 
die  einzelnen  Etappen  auf  dem  Wege  festzustellen  suchte,  den  diese 
Sammlung  sakraler  Gesänge  zurückgelegt  hat.  Einzelnen  Hymnen  sind 
besondere  Bemerkungen  gewidmet;  namentlich  haben  ihn  diejenigen  an- 
gezogen, die  sich  an  chthonische  Gottheiten  richten.  Ihnen  gilt  Kap.  V, 
der  Vorläufer  späterer  Untersuchungen  über  die  religionsgeschichtlich 
so  wichtigen  griechischen  Vorstellungen  von  der  Unterwelt. 

Das  übrige,  was  Dieterich  zum  zweiten  Leydener  Papyrus  zu  sagen 
hatte,  vereinigte  er  in  seinem  Abraxas.  Der  Name  versinnbildlicht 
das  bunte  Gemenge  sonderbarer  Glaubensvorstellungen,  das  in  jener 
Papyrus  magica  vereinigt  war  und  analysiert  werden  mußte.  Die  Unter- 
suchung ist  eindringender  geführt  als  in  der  Dissertation,  fruchtbar 
namentlich  der  Hinweis,  daß  auch  stoische  Elemente  in  diesen  Syn- 
kretismus hineingezogen  sind;  damit  war  der  Erkenntnis  von  dem  be- 
deutenden Einfluß  der  populären  Philosophie  eines  Poseidonios  der 
Weg  geebnet.  Wie  nach  rückwärts,  wird  auch  nach  vorwärts  von  den 
religiösen  Vorstellungen  des  Papyrus  aus  die  Brücke  geschlagen. 
Wenn  der  uralte  Mythos  vom  drachentötenden  Lichtgott  in  die  Visionen 
der  Johannesapokalypse  und  in  die  Sage  vom  heiligen  Georg  hinein 
verfolgt  wird,  so  zeigt  sich  hier  Useners  Mitarbeiter  an  der  Frage  nach 
der  Entstehung  des  Christentums. 

Die  Arbeit  am  Abraxas  und  an  den  orphischen  Hymnen  nahm 
von  der  Mitte  1890  an  etwa  ein  Jahr  in  Anspruch.  Nebenher  fielen 
ein  paar  kleine  Aufsätze  zu  'den  geliebten  attischen  Dramatikern  ab 
(Rhein.  Mus.  48):  über  die  Zahl  der  Dramen  des  Aischylos,  über  die 
Einwirkung  des  Mysterienwesens  auf  eine  Szene  bei  Aristophanes.  Im 
Winter  hat  Dieterich  auch  einige  Wochen  in  Göttingen  zugebracht.  Es 
trieb  ihn,  die  dortigen  Philologen  kennen  zu  lernen,  C.  Dilthey,  F.Leo, 
Ü.    V.    Wilamowitz-Möllendorff.       Wie    sein    Sinn    hauptsächlich    auf 


XVI  Albrecht  Dieterich 

griechische  Religion  und  griechische  Dichtung  gerichtet  war,  zog  es  ihn 
vor  allem  zu  Wilamowitz.  Dessen  „Herakles"  war  1889  erschienen 
und  hatte  auf  Dieterich  einen  tiefen  Eindruck  gemacht;  ein  kleiner 
Aufsatz  Dieterichs  über  eine  technische  Einzelheit  der  attischen  Tragiker 
(Rhein.  Mus.  46),  der  unter  der  unmittelbaren  Wirkung  jener  Lektüre 
geschrieben  ist,  klingt  in  einen  Hymnus  voll  ehrlicher  Begeisterung  auf 
dies  Buch  aus.  Was  für  Dieterich  die  Vorlesungen  von  Wilamowitz, 
in  denen  er  hospitierte,  und  der  persönliche  Verkehr  mit  ihm  gewesen 
sind,  zeigte  sich  darin,  daß  er  andere  bestimmte,  in  gleicher  Weise 
für  einige  Zeit  nach  Göttingen  zu  gehen:  „So  etwas  darf  der  Philologe 
sich  nicht  entgehen  lassen." 

Im  Sommer  1891  wurde  der  „Abraxas"  Usener  zur  Feier  seiner 
fünfundzwanzigjährigen  Lehrtätigkeit  an  der  Bonner  Universität  vom 
dortigen  Philologischen  Verein  dargebracht;  es  war  zugleich  ein  Dank, 
den  der  Schüler  dem  Lehrer  abstattete.  Zur  selben  Zeit  vollzog 
Dieterich  seine  Habilitation.  Daß  er  sich  in  Marburg  niederlassen 
könnte,  wünschte  er  als  Hesse  von  Herzen;  das  verständnisvolle  Ent- 
gegenkommen namentlich  von  Georg  Wissowa  erleichterte  ihm  die  Er- 
füllung seines  Wunsches.  Seine  Antrittsvorlesung  hielt  er  im  Oktober 
1891  über  die  Entwicklung  des  Epitaphios  und  der  Laudatio  funebris, 
ein  Thema  aus  der  Literaturgeschichte,  das  mit  seinen  Studien  über 
die  antiken  Vorstellungen  von  den  Dingen  nach  dem  Tode  im  Zusammen- 
hang steht. 

Mit  dieser  Vorlesung  begann  Dieterichs  akademische  Tätigkeit. 
Die  Kollegia  umspannten  nach  und  nach  die  Hauptzweige  griechischer 
Dichtung:  Lyrik,  Komödie  und  Tragödie.  In  das  Gebiet  der  römischen 
Literatur  greift  eine  Vorlesung  über  das  Wesen  der  Satire  ein;  es 
reizte  ihn,  die  Beziehungen  von  Witz  und  Spott  dieser  Literaturgattung 
zu  den  verschiedenen  Arten  des  Lustspiels  zu  verfolgen,  und  seine 
eigene  Anlage  zu  Humor  und  Satire,  wie  sie  sich  in  den  Scherzen  der 
Bonner  Jahre  betätigt  hatte,  verstärkte  seine  Neigung  für  dies  Thema. 
Die  Grammatik  ist  mit  einer  Vorlesung  über  griechische  Syntax  ver- 
treten; in  besonderen  Übungen  wurde  philologische  Methode  gepflegt. 
Von  Kollegia  aus  seinem  Lieblingsgebiet  erscheinen  zwei.  Die  Vor- 
lesung über  griechische  Mythologie  betrachtete  er  zugleich  als  heilsamen 
Zwang,  sich  die  Tatsachen  der  griechischen  Göttersage  in  den  Zu- 
sammenhang geordneten  Erkennens  zu  bringen.  Die  „Geschichte  des 
Untergangs  der  antiken  Religion"  sollte  ihm  zugleich  Material  sammeln 
für  die  Entstehung  des  Christentums,  eine  Frage,  die  ihn  immer  leb- 
hafter beschäftigte.     Das  erkennt  man  aus  seinem  nächsten  Buch,  der 


Albrecht  Dieterich 


xvn 


„Nekyia",  die  den  Untertitel  trägt  „Beiträge  zur  Erklärung  der  neu- 
entdeckten Petrusapokalypse".  Dies  in  einem  Grabe  von  Akhmim  ent- 
deckte Pergamentbruchstück  enthält  Schilderungen  vom  Ort  der  Seligen 
und  vom  Ort  der  Verdammten,  die  sonst  in  der  christlichen  Literatur 
nicht  nachgewiesen  waren.  Die  Aufgabe,  hier  den  Ursprungsnachweis 
zu  führen,  mußte  Dieterich  ganz  besonders  reizen,  da  er  in  seinen  Vor- 
arbeiten über  die  Jenseitsvorstellungen  der  Griechen  den  Schlüssel  des 
Rätsels  besaß.  Aber  wenn  auch  jene  apokalyptischen  Vorstellungen 
hellenisch  waren,  so  stammten  sie  doch  nicht  aus  der  staatlich  ge- 
pflegten Religion,  sondern  aus  einer  Unterschicht  religiöser  Vorstellungen, 
die  im  Volke  lebendig  geblieben  war;  von  hier  ab  wird  der  „Volks- 
glaube" ein  wichtiger  Faktor  für  Dieterich.  Nächst  dem  griechischen 
Volksglauben  vom  Totenreich  sind  für  ihn  die  Mysterien  von  Bedeutung; 
sie  entwickeln  die  Lehre,  daß  im  Jenseits  den  Eingeweihten  ewige 
Trunkenheit,  den  Nichtgeweihten  der  Schlammpfuhl  erwarte.  Damit 
legen  sie  den  Grund  zu  den  Anschauungen  von  Orten  ewiger  Seligkeit 
und  ewiger  Qual,  die  dann  durch  Vermittlung  orphischer  Lehren  auch 
dem  Christentum  bekannt  werden. 

In  der  Vorrede  zur  Nekyia  dankt  Dieterich  seinem  verehrten 
Lehrer  Hermann  Usener  für  die  Beihilfe,  die  hauptsächlich  wohl  den 
religionsgeschichtlichen  Teilen  zugute  gekommen  ist.  Wilhelm  Schulze 
hatte  für  sprachliche,  Adolf  Jülicher  für  theologische  Fragen  freund- 
liche Unterstützung  geleistet.  Der  Beistand  dieser  beiden  Marburger 
Kollegen  ist  Beleg  dafür,  daß  Dieterich  den  Wert  der  Universitas 
literarum  zu  schätzen  wußte.  Die  Religion  der  Griechen  und  Römer 
sollte  der  klassische  Philologe  nicht  isoliert  betreiben,  sondern  gefördert 
von  der  Sprachwissenschaft  und  der  Theologie. 

Auch  die  literargeschichtliche  Arbeit  hat  Dieterich  in  diesen  Jahren 
nicht  vernachlässigt.  Georg  Wissowa,  zu  dem  er  bald  in  ein  freund- 
schaftliches Verhältnis  getreten  war,  hatte  ihn  als  Bearbeiter  der 
griechischen  Tragödie  für  die  neue  Auflage  der  Paulyschen  Real- 
enzyklopädie angeworben.  Eine  Menge  kleiner  Artikel  hat  Dieterich 
dafür  im  Laufe  der  Jahre  fertiggestellt;  unter  den  älteren  ragt  durch 
die  Klarheit,  mit  der  das  umfangreiche  Material  geordnet  und  gesichtet 
ist,  der  große  Artikel  „Aischylos"  hervor,  der  1894  erschien.  In  den 
schweren  Wolken  der  bibliographischen  Zeugnisse  blitzt  hier  und  da 
ein  Gedanke  auf,  der  beweist,  wie  Dieterich  bemüht  gewesen  ist,  diesem 
Größten  unter  den  Großen  innerlich  nahe  zu  kommen. 

Im  März  1894  trat  Dieterich  die  lange  geplante  Reise  nach  den 
Stätten   klassischer  Kultur   an,   die   ihm   vergönnen   sollte,  in   eigenes 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schritten.  b 


XVIII  Albrecht  Dieterich 

Schauen  und  Erleben  umzusetzen,  was  bis  dahin  Buchweisheit  gewesen 
war.  Ober  Triest  ging  es  nach  Korfu,  wo  die  südliche  Frühlingspracht 
und  das  damals  noch  leichter  zu  beobachtende  Volksleben  tiefen  Ein- 
druck auf  ihn  machten.  Dann  an  einem  sonnenklaren  Tag  am  Korinthi- 
schen Meerbusen  entlang  nach  Athen;  am  späten  Nachmittag  wurde 
die  Akropolis  in  der  Ferne  sichtbar.  Noch  am  selben  Abend  stieg  er 
zum  Parthenon  empor  und  verweilte  lange  bei  den  mondbeglänzten 
Trümmern;  eine  alte  Sehnsucht  war  ihm  hier  zur  Wirklichkeit  ge- 
worden. 

In  den  nächsten  Wochen  erschlossen  sich  die  Ruinen  und  Museen 
Athens,  meist  durch  W.  Dörpfeld  und  P.  Wolters,  an  deren  Giri  er 
teilnahm.  Am  liebsten  weilte  er  allein  mit  den  Denkmälern  der  Antike. 
Dann  wurden  die  geliebten  Dichter  in  ihm  lebendig,  und  die  Gestalten, 
die  einst  über  die  Orchestra  im  Theater  des  Dionysos  geschritten  waren, 
gewannen  Blut  und  Bewegung.  Nun  glaubte  er  das  klassische  fünfte 
Jahrhundert  zu  verstehen.  „Es  ist,  als  wäre  man  vorher  nur  ein 
Zehntel  von  einem  Philologen  gewesen"  war  sein  Eindruck  der  neu 
einströmenden  Erkenntnis  gegenüber.  Und  es  drängte  ihn,  andere  an 
seiner  Freude  über  diese  gewaltigen  Eindrücke  teilnehmen  zu  lassen. 
Manche  attische  Nacht  schwand  zu  ihrem  größeren  Teile  bei  griechi- 
schem Wein  in  gleichgestimmtem  Kreise.  Meist  beherrschte  Dieterich 
das  Gespräch,  das  vielfach  mit  einer  gleichgültigen  Einzelheit  anhob, 
um  mit  einem  Dithyrambus  auf  antike  Schönheit  oder  auf  die  Wissen- 
schaft, die  ihm  vor  allem  teuer  war,  zu  schließen. 

Von  Athen  aus  beteiligte  sich  Dieterich  auch  an  den  größeren 
Reisen  des  Instituts.  Der  Peloponnesgiro  war  über  Korinth  nach 
der  Argolis  gerichtet  und  durchquerte  dann  Arkadien.  Ein  paar 
Stunden  vor  Olympia  ging  der  Pfad  durch  einen  Hohlweg,  dessen  Rand 
von  Bäumen  bestanden  war.  Ein  starker  Ast  warf  Dieterich  von  seinem 
hochbeinigen  Maultier  auf  die  spitzen  Steine  des  Weges,  wo  er  zum 
furchtbaren  Schrecken  der  Mitreisenden  zuerst  bewußtlos  liegen  blieb. 
Allmählich  erholte  er  sich  so  weit,  daß  er  nach  Olympia  transportiert 
werden  konnte.  Man  fürchtete  eine  schwere  innere  Verletzung.  Dieterich 
selbst  glaubte  nicht,  daß  er  mit  dem  Leben  davonkommen  würde. 
Doch  er  genas  rasch,  dank  seiner  kräftigen  Natur.  Diese  Stunden,  die 
er  für  seine  letzten  gehalten  hat,  haben  ihn  noch  dankbarer  gemacht 
für  alles  Große  und  Schöne,  was  ihm  die  Reise  und  das  ganze  spätere 
Leben  beschert  haben. 

Von  antiken  Trümmerstätten  sagten  ihm  Delos,  das  er  mit  der 
Inselreise    des    Instituts    besuchte,    und   Delphi,    wo    Th.  Homolle    ihn 


Albrecht  Dieterich 


XIX 


freundlich  aufnahm,  besonders  viel,  die  beiden  Sitze  des  Gottes,  der  ihm 
nach  Dionysos  der  nächste  war.  Das  moderne  Griechenland  fesselte 
ihn  namentlich  durch  die  kirchliche  und  volkstümliche  Feier  des  Oster- 
festes, das  er  in  Athen  veriebte,  allerdings  nicht  ganz  ungestört,  da  ge- 
rade damals  Attika  wochenlang  durch  Erdbeben  heimgesucht  wurde. 

Ende  Mai  veriieß  Dieterich  Athen;  von  Smyrna  aus  wurde  Pergamon, 
Sardes,  Ephesus  und  Magnesia  am  Mäander  besucht.  Hier  war  er  bei 
C.  Humann  zu  Gaste,  der  ihm  in  bereitwilliger  Führung  das  wechselnde 
Schicksal  dieser  Griechenstadt  aus  den  Denkmälern  erschloß.  Starke 
Eindrücke  bot  sodann  Troja,  wo  W.  Dörpfeld  gerade  damals  den  Nord- 
ostturm der  sechsten  Stadt  freilegte.  Was  Dieterich  in  den  Ruinen  und 
bei  den  Ritten  durch  die  schöne  Landschaft  der  Troas  in  sich  auf- 
genommen hatte,  sollte  später  seinem  Homerkolleg  zugute  kommen. 

In  Konstantinopel  wurden  die  Reste  byzantinischer  Zeit  als  Vermittler 
zwischen  Altertum  und  Gegenwart  gewürdigt  und  die  prächtigen  Er- 
werbungen des  Tschinilikiosk,  namentlich  der  noch  nicht  lange  bekannte 
Alexandersarkophag  bewundert.  Daneben  kam  auch  die  herrliche  Um- 
gebung und  das  bunte  orientalische  Leben  zu  seinem  Rechte;  das  Treiben 
des  Bazars  lehrte  die  antike  Agora  verstehen,  der  Besuch  bei  den  tan- 
zenden und  heulenden  Derwischen  warf  helles  Licht  auf  das  Wesen  der 
dionysischen  Ekstase. 

Der  Juni  ging  zu  Ende,  als  Dieterich  in  Neapel  eintraf,  um  an  den 
Vorträgen  teilzunehmen,  die  A.  Mau  in  Pompei  hielt.  In  den  Stunden, 
welche  die  Führungen  frei  ließen,  suchte  er  auf  seine  eigene  Art  den 
Denkmälern  der  kampanischen  Stadt  nahe  zu  kommen.  Es  reizte  ihn, 
auch  hier  die  stummen  Monumente  über  das  Leben,  das  sie  einst  ge- 
schaut hatten,  zum  Reden  zu  bringen,  vornehmlich  solche,  die  von  Re- 
ligion und  Drama  zu  erzählen  wußten.  Damals  zuerst  hat  er  sich  um 
die  Deutung  der  Bühnenbilder  unter  den  Wandgemälden  abgemüht. 

Nach  dem  Aufenthalt  in  Pompei  wurde  Neapel  besucht,  dann  durch- 
streifte er  Sizilien.  Nun  begannen  auch  die  Studien  in  den  Bibliotheken. 
In  Palermo  fand  Dieterich  auf  der  Suche  nach  altchristlichen  Schriften 
die  Apokalypse  der  Anastasia.  Er  hat  seinen  Fund  nicht  selbst  be- 
arbeitet, sondern  seinem  Schulfreund  R.  Homburg  anvertraut,  der  ihn 
herausgegeben  hat  (Apocalypsis  Anastasiae,  Bibl.  Teubn.  1903). 

Mit  dem  September  zog  Dieterich  nach  Rom.  Er  kam  mit  der  Be- 
sorgnis, nach  dem  griechischen  Sommer  werde  ihm  der  römische  Winter 
nichts  zu  sagen  haben,  und  den  vom  hellenischen  Urbild  der  antiken 
Kultur  Begeisterten  werde  die  römische  Kopie  enttäuschen.  Aber  diese 
Besorgnis  war  grundlos.     Rom  ist  ihm  für  das,  was  er   bis  dahin  ge- 

b* 


j(j(  Albrecht  Dieterich 

sehen  hatte,  der  Schlußstein  geworden,  und  mit  besonderer  Freude  hat 
er  später  gerade  an  die  römische  Zeit  zurückgedacht.  Er  hätte  nicht 
Albrecht  Dieterich  sein  müssen,  wenn  er  der  ewigen  Stadt  und  ihren 
unendlichen  Schätzen  nicht  hätte  gerecht  werden  wollen.  Die  hohe  Kultur 
der  römischen  Kaiserzeit  ist  ihm  hier  aufgegangen  und  hat  ihm  zugleich 
die  Klassiker  jener  Epoche  näher  gebracht;  mit  dem  Wesen  der  Renais- 
sance, ihrer  geistigen  und  künstlerischen  Bedeutung  ist  er  erst  hier 
näher  vertraut  geworden.  Das  italienische  Volksleben  zog  ihn  an,  nament- 
lich wegen  der  Fortdauer  alter  religiöser  und  dramatischer  Formen,  die 
er  hier  vermutete.  Den  Leitern  des  archäologischen  Instituts,  E.  Petersen 
und  Chr.  Hülsen,  ferner  A.  Mau  und  W.  Heibig  hatte  er  manche  Förde- 
rung seiner  Studien  zu  danken.  Der  Kreis  gleichstrebender  Jugend, 
der  sich  jeden  Winter  um  das  archäologische  Institut  zu  schließen  pflegt, 
war  damals  besonders  glücklich  zusammengesetzt  und  hatte  menschlich 
und  wissenschaftlich  viel  zu  geben.  „Dem  römischen  Freundeskreise 
des  Winters  1894/95  in  Erinnerung  an  frohe  Tage"  ist  eine  der  nächsten 
Schriften  gewidmet. 

Mit  längeren  Stationen  in  Toskana,  die  dem  Genuß  der  italienischen 
Kunst,  namentlich  der  Malerei  gewidmet  waren,  ging  es  im  Frühjahr 
1895  nach  Marburg  zurück.  Das  Sommersemester  fand  Dieterich  bereit, 
die  Vorlesungen  aufzunehmen,  mit  frischen  Augen  und  verstärkter  Kraft. 
Die  Kollegia  der  nächsten  Zeit  weisen  schon  in  der  Wahl  des  Stoffes 
auf  den  Einfluß  des  Wanderjahres.  Die  römische  Literatur  ist  ihm  näher 
gekommen;  es  werden  Ciceros  Briefe  gelesen,  um  daran  das  Leben 
jener  Jahrzehnte  anzuknüpfen;  Tacitus  wird  als  Interpret  der  Kaiserzeit 
erfaßt.  Das  monumentale  Material  der  Überlieferung  tritt  in  den  Vorder- 
grund; aus  eigener  Anschauung  -  Dieterich  ist  in  der  Folge  noch  öfter 
im  Süden  gewesen  -  werden  Rom  und  Pompei  in  ihren  Denkmälern 
geschildert.  Neu  ist  auch  eine  Vorlesung  über  den  vorchristlichen  Un- 
sterblichkeitsglauben; sie  war  veranlaßt  durch  Erwin  Rohdes  Psyche 
(Seelenkult  und  Unsterblichkeitsglaube  bei  den  Griechen),  die  1894  er- 
schienen war.  Dies  Buch  hat  einen  tiefen  Eindruck  auf  Dieterich  ge- 
macht, tiefer  noch  als  auf  die  meisten,  die  sein  Erscheinen  mit  Ver- 
ständnis erlebt  haben.  War  es  doch  eine  Antwort  auf  Fragen,  die  er  selbst 
in  der  Nekyia  gestreift  hatte.  „Manches  habe  ich  mir  ähnlich  gedacht, 
und  doch  fühle  ich  mich  Rohde  gegenüber  als  Bettler",  war  seine  ehrliche 
Meinung.  Wie  sehr  die  Psyche  Dieterichs  Gedanken  immer  wieder  auf 
sich  gezogen  hat,  zeigen  einzelne  Bemerkungen  auch  seiner  letzten  Schriften. 

Äußerlich  trat  in  Dieterichs  akademischer  Tätigkeit  eine  Änderung 
ein,  als  er  im  Sommer  1895  zum  außerordentlichen  Professor  ernannt 


Albrecht  Dieterich  vvi 

wurde.  Damit  erhielt  er  zugleich  Anteil  an  der  Leitung  des  philo- 
logischen Seminars.  In  dessen  Sitzungen  hat  er  zum  erstenmal  Properz 
behandelt,  und  zwar  dessen  viertes  Buch,  im  besonderen  das  einleitende 
Gedicht. 

Auch  in  den  Publikationen  der  nächsten  Jahre  klingen  die  An- 
regungen der  Römerreisen  nach.  1896  erschien  die  „Grabschrift  des 
Aberkios",  „Johannes  Bauer,  dem  treuen  Genossen  zweier  Romfahrten 
zur  Erinnerung  an  herrliche  Reisetage"  gewidmet.  Veranlassung  zu 
diesem  Büchlein  hat  das  Bruchstück  einer  Inschrift  im  Lateran  gegeben, 
der  Rest  der  Grabschrift  eines  phrygischen  Bischofs,  die  sonderbare 
Angaben  über  religiöse  Dinge  des  dritten  Jahrhunderts  enthält.  Diete- 
rich schlug  eine  neue,  geistreiche  Lösung  der  hier  liegenden  Rätsel  vor 
und  versetzte  mit  ihr  den  Text  aus  der  christlichen  Sphäre  in  die  des 
Heidentums.  Auch  diese  Schrift  war  als  Beitrag  zur  Entstehung  des 
Christentums  gedacht. 

Im  Jahre  1897  erschien  ein  größeres  Werk:  „Pulcinella,  Pompeia- 
nische  Wandbilder  und  römische  Satyrspiele."  Angeregt  zu  diesem  Buch 
hatten  ihn  die  Studien  an  den  Bildern,  die  der  Untertitel  nennt.  Es  ist 
ein  Versuch,  die  Geschichte  der  lustigen  Person  im  Drama  von  den 
komisch  wirkenden  Figuren  griechischer  Tragödien  über  die  römische 
Dichtung  hinweg  zu  verfolgen  bis  zur  Gegenwart,  in  der  als  letzter, 
heute  noch  lebender  Nachkomme  Pulcinella  seine  Italiener  erfreut.  Zum 
letzten  Kapitel,  das  die  lustige  Figur  auch  in  Nordeuropa  behandelt,  hatte 
der  Germanist  Edward  Schröder,  schon  damals  in  Marburg  mit  Dieterich 
eng  befreundet,  Material  beigesteuert.  Auch  an  klassische  Philologen 
richtet  die  Vorrede  ihren  Dank:  an  Franz  Skutsch  in  Breslau,  mit  dem 
Dieterich  durch  gemeinsame  Beziehungen  zum  Bonner  Verein  verknüpft 
war,  sowie  an  Theodor  Birt  und  Ernst  Maaß,  die  beiden  Marburger 
Ordinarien.  Dieterich  hatte  also  unter  den  dortigen  Kollegen  festen  Fuß 
gefaßt,  das  kollegiale  Verhältnis  hatte  sich  in  ein  menschliches  umgewandelt, 
und  namentlich  das  zu  Theodor  Birt  sollte  sich  in  der  Folgezeit  noch 
enger  gestalten.  Und  Dieterich  war  es  eine  herzliche  Freude,  wenn 
die  so  gewonnenen  Beziehungen  sich  fruchtbar  auch  für  die  Wissenschaft 
erwiesen. 

Während  die  ersten  Arbeiten  ziemlich  günstig  beurteilt  worden  waren, 
erhob  sich  gegen  Aberkios  und  Pulcinella  lebhafter  Widerspruch.  Man 
bestritt  den  heidnischen  Charakter  jener  Inschrift,  man  sah  am  Pul- 
cinella weniger  das  Neue  und  Gute,  als  daß  man  sachlich  Unrichtiges, 
schiefgezogene  Entwicklungslinien  und  allzu  kühne  Konstruktionen  tadelte. 
Soweit  die  Einwände  sachlich  begründet  waren,  hat  Dieterich  sich  mit 


XXn  Albrecht  Dieterich 

Fleiß  bemüht,  ihre  Beweiskraft  anzuerkennen.  Aber  einiges  in  den  Re- 
zensionen war  im  Ton  vergriffen,  und  Dieterich  fühlte  sich  dadurch  ge- 
kränkt. Die  Freude  an  der  wissenschaftlichen  Produktion  war  ihm  auf 
Jahre  hinaus  gelähmt,  seitdem  er  zu  sehen  glaubte,  daß  man  in  ihm 
nicht  einmal  den  ehrlichen  Arbeiter  anerkenne.  „Allen  Tadel,  der  ver- 
dient ist,  nehme  ich  um  so  lieber  auf  mich,  je  mehr  die  Sache  dabei 
gewinnt.  Denn  ich  weiß  den  Tadel,  der  erzieht  und  fördert,  sehr  wohl 
von  dem  zu  unterscheiden,  der  beleidigt  und  im  Innersten  verletzt."  Diese 
Sätze  aus  dem  Vorwort  der  „Mithrasliturgie"  sind  Zeugnis  über  das,  was 
damals  in  seinem  Innern  vorgegangen  ist. 

Ostern  1897  erhielt  Dieterich  einen  Ruf  als  ordentlicher  Professor 
nach  Gießen,  als  Nachfolger  von  E.  Schwartz.  Der  Abschied  von  Mar- 
burg wurde  ihm  nicht  leicht;  zahlreiche  freundschaftliche  Beziehungen 
wurden  dadurch  gelockert.  Außer  den  Fachkollegen  war  es  ein  Kreis 
meist  gleichaltriger  Dozenten  und  Bibliothekare,  in  dem  Dieterich  seine 
nächsten  Freunde  gefunden  hatte,  ein  Kreis,  von  dem  ein  Teil  auch  durch 
die  gemeinschaftliche  Mittagstafel  Gelegenheit  zu  anregender  Aussprache 
fand.  Was  ihnen  Dieterich  gewesen  ist,  hat  Johannes  Bauer  pietätvoll 
bezeugt,  wenn  er  seine  „Ungedruckten  Predigten  Schleiermachers"  (Leipzig 
1909)  gewidmet  hat  „Albrecht  Dieterich  zum  Gedächtnis  und  den  ge- 
meinsamen Freunden". 

Aber  Gießen  war  ja  nahe,  und  wenn  die  Zusammenkünfte  auch  nicht 
mehr  so  zahlreich  waren  wie  bisher,  so  brauchten  sie  darum  nicht  ganz 
aufzuhören  und  haben  auch  nie  ganz  aufgehört,  soweit  Dieterichs  freie 
Zeit  es  ermöglichte.  Diese  war  allerdings  in  Gießen  nicht  allzureich 
bemessen.  Die  hessische  Landesuniversität  besaß  für  klassische  Philo- 
logie nur  zwei  Dozenten  -  G.  Gundermann  war  damals  der  andere  -, 
die  ihre  Vorlesungen  und  Übungen  so  einzurichten  hatten,  daß  die  Hörer 
während  ihrer  Studienzeit  einen  Überblick  über  das  gesamte  Gebiet  der 
klassischen  Philologie  erhielten,  und  daß  die  Seminare  jedem  einzelnen 
die  Gelegenheit  boten,  wissenschaftlich  arbeiten  zu  lernen.  Dabei  wuchs 
die  Zahl  der  Studenten  mit  jedem  Semester  und  damit  die  Aufgabe, 
ihnen  allen  gerecht  zu  werden.  Da  auch  neue  große  Vorlesungen  aus- 
zuarbeiten waren,  wurden  hier  an  Dieterich  Anforderungen  gestellt,  die 
selbst  seine  starke  Arbeitskraft  aufs  äußerste  anstrengten.  Von  diesen 
neuen  Vorlesungen  haben  ihm  besonders  diejenigen  Freude  gemacht,  in 
denen  er  die  Erfahrungen  seiner  Reisen  verwerten  konnte:  so  die  Vor- 
lesung über  Homer.  Zu  den  topographischen  Kollegia  über  Rom  und 
Pompei  trat  ein  solches  über  Athen  hinzu:  Gießen  war  damals  eine  der 
wenigen   Universitäten,   die    dem   Philologen  für  solche  Zwecke   einen 


Albrecht  Dieterich  XX\\\ 

Lichtbilderapparat  zur  Verfügung  stellten.  Römische  Erinnerungen  belebten 
die  Vorlesung  über  die  Dichter  der  augusteischen  Zeit.  Die  griechische 
Literatur  wurde  über  die  klassische  Epoche  ausgedehnt:  im  Seminar 
wurde  Kallimachos,  Lukian,  Plutarch  behandelt;  ein  Kolleg  umfaßte  die 
griechische  Literatur  nach  Augustus.  Auch  Properz  erscheint  wieder  in 
den  Seminarübungen;  aus  der  wiederholten  Beschäftigung  mit  diesem 
Dichter  ist  der  Aufsatz  „Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des 
Properz"  hervorgegangen,  der  1900  erschien  (Rhein.  Mus.  LV  191  ff.), 
ein  schönes  Beispiel  seines  Vermögens,  eine  Interpretation  sachlich  genau 
und  doch  in  anschaulicher  Darstellung  und  künstlerischer  Form  zu  geben. 
Die  alte  Vorlesung  über  Mythologie  erhielt  den  Titel  „Antike  Religion 
in  ihren  Grundzügen";  sie  war  also  auf  eine  erheblich  breitere  Basis 
gestellt  worden.  An  Stelle  des  Registrierens  mythologischer  Varianten 
war  die  Frage  nach  der  Herkunft  der  mythischen  Vorstellungen  getreten. 
Diese  hat  ihn  sodann  auf  die  Entstehung  der  religiösen  Denkformen 
überhaupt  geführt.  Er  erkannte,  daß  die  höchsten  Gedanken  der  Re- 
ligion sich  aus  primitiven  Vorstellungen  entwickelt  hatten,  deren  Reste 
er  in  den  mehr  volkstümlichen  Vorstellungen  der  einzelnen  Stämme  sah. 
So  wandte  er  sein  Studium  der  volkstümlichen  Unterschicht  religiösen 
Denkens  zu.  Auch  sah  er,  wie  das  Begreifen  derartiger  Vorstellungen 
bei  Hellenen  und  Italikern  erleichtert  wurde  durch  den  Vergleich  mit 
entsprechenden  Anschauungen  anderer  Völker.  Er  begann  daher,  sich 
in  die  wissenschaftliche  Literatur  der  Ethnographie  einzuarbeiten.  Doch 
lag  ihm  dabei  die  deutsche,  besonders  die  hessische  Volkskunde  durch 
seinen  eigenen  Werdegang  besonders  nahe;  deren  Kenntnis  wurde  nun 
an  der  Hand  von  Jakob  Grimm  und  Wilhelm  Mannhardt  vertieft.  Mit 
kleinen  Aufsätzen:  „Ein  hessisches  Zauberbuch",  „Himmelsbriefe",  ver- 
sucht er  in  die  Denkweise  des  eigenen  Volkes  einzudringen.  Regen  An- 
teil nahm  Dieterich  an  der  Bewegung,  die  damals  in  Gießen  unter  der 
Führung  von  Adolf  Strack  zur  Begründung  der  „Hessischen  Vereinigung 
für  Volkskunde"  führte.  Was  diese  ihm  verdankte,  haben  H.  Hepding 
und  K.  Helm  in  den  „Hessischen  Blättern  für  Volkskunde"  (VII,  1908, 
S.  115  ff.)  ausgesprochen:  „Wesentlich  seinem  Einfluß  ist  es  gewiß  zu 
danken,  daß  sie  den  Namen  , Hessische  Vereinigung  für  Volkskunde* 
trägt,  womit  ausgedrückt  sein  soll,  daß  sie  nicht  nur  die  hessischen 
Volksüberlieferungen  sammeln  will,  sondern  sich  auch  der  großen  Auf- 
gaben einer  philosophisch -psychologischen,  vergleichenden  Volkskunde 
bewußt  ist."  Man  versteht,  daß  unter  den  Vorlesungen  nun  auch  ein 
Kolleg  erscheint  „Die  Volkskunde  und  ihre  wissenschaftlichen  Aufgaben". 
Aus  einem  Vortrag,  der  auf  der  ersten  Generalversammlung  jener  hes- 


XXIV  Albrecht  Dieterich 

sischen  Vereinigung  im  Sommer  1902  gehalten  wurde,  ist  der  Aufsatz 
„Über  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde"  hervorgegangen  (Hess.  Blätter  I^ 
1902,  S.  177  ff.),  in  dem  von  vornherein  dem  Dilettantismus,  der  diesen 
Bestrebungen  zum  Teil  anhaftet,  entgegengetreten  wird.  „Ich  bin  der 
Überzeugung,  daß  sie  wissenschaftlich  nur  der  treiben  kann,  der  in 
irgendeiner  Philologie,  d.  h.  dem  Studium  einer  gesamten  Volkskultur, 
sozusagen  mit  beiden  Füßen  steht."  Aber  über  dieser  einen  Kultur  darf 
er  nicht  den  Vergleich  mit  den  anderen  unterlassen.  „Kann  man  wirk- 
lich mit  den  Analogien  warten,  bis  die  einzelnen  Tatsachen  ganz  erforscht 
sind?  Wie  oft  kann  die  Forschung  erst  wieder  durch  die  Anregung 
der  Analogie  weitergehen!  Gerade  durch  diese  Wechselwirkung  wird  der 
Fortschritt  so  oft  bewirkt.  Sollte  Erwin  Rohde  warten,  uns  den  Dionysos- 
kult in  seiner  tiefsten  Natur  verständlich  zu  machen  durch  die  Analogie 
etlicher  orientalischer  und  gewisser  Bräuche  der  Naturvölker,  bis  die 
griechische  Religion  in  allen  ihren  Einzelheiten  erforscht  war?"  Mit 
Hilfe  solcher  Analogien  soll  die  psychologische  Erklärung  einzelner  Vor- 
stellungen errungen  werden,  und  dabei  handelt  es  sich  „um  nichts 
Wenigeres  als  darum,  mit  induktiv-geschichtlichen  Methoden  zu  Gesetzen 
der  Entwicklung  menschlichen  Denkens  vorzudringen",  soweit  nämlich 
die  Forschung  ergeben  wird,  daß  die  Hauptformen  ursprünglichen  Denkens 
bei  den  meisten  primitiven  Völkern  dieselben  sind,  nicht  allein  durch 
Übertragung  der  Kultur,  sondern  vielfach  als  gesetzmäßige  Entwicklung 
aus  den  überall  gleichartigen  Verhältnissen  kulturlosen  Lebens.  In  den 
Dienst  dieser  Gedanken  stellte  Dieterich  auch  eine  Reihe  von  Vorträgen, 
die  er  im  folgenden  Winter  am  Freien  Deutschen  Hochstift  zu  Frankfurt 
am  Main  gehalten  hat.  Sie  handelten  über  Volksglauben  und  Volksbrauch 
in  Altertum  und  Gegenwart,  soweit  er  sich  an  Geburt  und  Namengebung, 
Tod  und  Bestattung  oder  einzelne  Feste  anschließt:  ferner  über  die  Formen 
des  Zauberbrauchs,  des  Zauberspruchs  und  der  göttlichen  Offenbarung. 
Neben  diesem  neuerwachten  Streben  zum  volkskundlichen  Urgrund 
hin  äußern  sich  die  archäologischen  und  literarischen  Interessen  immer 
seltener,  die  religionsgeschichtlichen  Forschungen  dagegen  werden  da- 
durch neu  befruchtet.  Ein  Beitrag  zur  Kenntnis  des  antiken  Zaubers 
ist  der  Aufsatz  „ABC -Denkmäler"  (Rhein.  Mus.  LVI,  1901,  S.  77 ff.), 
der  eine  Menge  von  Alphabetreihen,  griechische  und  lateinische,  sammelt 
und  erklärt  „als  zauberkräftige  mystische  Zeichenreihe,  als  Abwehr  der 
Dämonen  und  üblen  Zaubers  oder  als  wirkungsvollen  magischen  Ge- 
heimspruch". Eine  Episode  in  der  Entstehung  des  Christentums  beleuchten 
„Die  Weisen  aus  dem  Morgenlande"  (Zeitschr.  für  neut.  Wiss.,  III,  1902, 
S.  1  ff.);  dort  wird  die  Erzählung  von  den  Magiern,  die  das  Jesuskind 


Albrecht  Dieterich  vvy 

anbeteten,  als  Abglanz  eines  historischen  Faktums  aufgefaßt,  der  Reise 
des  Parthers  Tiridates,  der  im  Jahre  66  aus  dem  Morgenlande  nach 
Rom  kam,  um  den  Kaiser  Nero  zu  verehren.  Wie  Dieterich  für  die  Er- 
kenntnis des  werdenden  Christentums  die  Erforschung  des  späten  heid- 
nischen Synkretismus  als  Voraussetzung  forderte,  so  hat  ihn  das  monu- 
mentale Werk  von  F.  Cumont  über  den  Mithraskult  (Textes  et  monuments 
figures  relatifs  aux  mysteres  de  Mithra,  1896,  99)  stark  beschäftigt 
und  gefördert.  Was  er  über  das  Buch  zu  sagen  hatte,  verdichtete  sich 
zu  einem  Aufsatz  „Die  Religion  des  Mithras"  (Bonner  Jahrb.  108/9, 
1902,  S.  26  ff.).  In  einem  Punkt  betont  Dieterich  seine  Abweichung  von 
Cumont:  in  der  Schätzung  des  Pariser  Zauberpapyrus,  der  unter  anderem 
eine  alte,  auf  den  Mithrasdienst  bezügliche  Liturgie  enthalte;  daß  der- 
artige Reste  reUgiöser  Urkunden  sich  in  den  Rezepten  der  Zauberer  be- 
finden, hatte  Dieterich  wiederholt  betont.  „Die  gewaltige,  kunstvolle 
Sprache  jener  Liturgie,  wenn  das  Fremde  fortgeschnitten  ist,  trägt,  hoffe 
ich,  den  Beweis  in  sich,  daß  diese  buntprächtige  Perle  religiöser  Dichtung 
die  Mißachtung  nicht  verdient." 

Seitdem  er  Ordinarius  geworden  war,  hatte  Dieterich  mehr  Gelegen- 
heit, seine  Zuhörer  anzuregen,  zu  ihrer  wissenschaftlichen  Erstlingsarbeit 
eines  der  zahlreichen  Themata  aus  der  Religionsgeschichte  zu  nehmen. 
Eine  ganze  Reihe  tüchtiger  Dissertationen  dieser  Art  ist  unter  seiner 
Leitung  in  Gießen  entstanden.  So  L.  Deubners  De  incubatione  capita 
quattuor,  die  bei  Teubner  1900  als  besonderes  Buch  erschienen;  hier 
war  der  antike  Brauch  des  orakelwirkenden  Tempelschlafs  bis  in  die 
christlichen  Kirchen  hinein  verfolgt.  Deubner  hatte  sich  sein  Thema 
selbst  gewählt;  die  Probleme,  die  Dieterich  stellte,  kennzeichnen  seinen 
Blick  für  die  Fragen,  die  eine  Behandlung  bereits  vertrugen,  und  sein 
pädagogisches  Geschick,  den  richtigen  Mann  an  die  richtige  Arbeit  zu 
stellen.  Im  26.  Supplementband  der  Jahrbücher  für  klassische  Philologie 
stehen  zwei  Arbeiten  von  seinen  Schülern:  Fr.  Adami,  De  poetis  scae- 
nicis  graecis  hymnorum  sacrorum  imitatoribus,  eine  Untersuchung  der 
Beziehungen  von  Religion  zum  Drama,  wie  es  auch  Dieterichs  Aristophanes- 
aufsatz  war,  und  C.  Ausfeld,  De  Graecorwn  precationibus  quaestioneSy 
über  das  Schema,  nach  dem  die  Gebete  der  Griechen  aufgebaut  sind, 
in  einen  Vergleich  mit  den  Bitten  des  „Vaterunsers"  endigend. 

Nachdem  jene  Supplementbände  aufgehört  hatten,  zu  erscheinen,  lag 
der  Gedanke  nahe,  ein  eigenes  Organ  zu  schaffen,  in  dem  für  die  Zu- 
kunft derartige  Abhandlungen  Aufnahme  finden  konnten.  Durch  freund- 
liches Entgegenkommen  des  Verlagsbuchhändlers  Alfred  Töpelmann  in 
Gießen  wurde  es  möglich,  die  „Religionsgeschichtlichen  Versuche  und 


XXVI  Albrecht  Dieterich 

Vorarbeiten"  zu  begründen.  Der  Eröffnungsband  erschien  1903:  H.  Hep- 
dings  grundlegende  Untersuchung  „Attis,  seine  Mythen  und  sein  Kult", 
ein  Urkundenbuch  zur  Geschichte  des  Synkretismus.  Auch  der  zweite 
Band  enthält  noch  Dissertationen  von  Dieterichs  Schülern  aus  der  Gießener 
Zeit:  L.  Ruhl,  De  mortuorum  iudicio,  eine  Ergänzung  zur  „Nekyia", 
L.  Fahz,  De  poetarum  Romanorum  doctrina  magica,  eine  Arbeit,  welche 
die  Zauberpapyri  zur  Interpretation  der  hohen  Literatur  heranzieht, 
G.  Blecher,  De  extispicio,  wichtig  durch  den  mit  Analogien  primitiver  Re- 
ligionen gestützten  Gedanken,  daß  die  Eingeweide  des  Opfertieres  darum 
vorbedeutend  werden,  weil  der  Gott  Besitz  von  seinem  Opfer  ergriffen  hat. 
Auch  die  Abhandlung  von  W.  Schmidt,  Geburtstag  im  Altertum  (VII,  1), 
ist  aus  einer  von  Dieterich  damals  angeregten  Dissertation  hervorgegangen. 
Die  Ferien  zwischen  den  arbeitsreichen  Gießener  Semestern  sahen 
Dieterich  vielfach  auf  Reisen.  So  besuchte  er  im  Herbst  1897  die  vier- 
undvierzigste Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner  in 
Dresden.  Er  hatte  selbst  einen  Vortrag  angekündigt  „über  den  Ursprung 
des  Sarapis"  (s.  in  den  Verhandlungen  jener  Versammlung  S.  92  f.).  Die 
Lektüre  des  Tacitus  hatte  ihn  auf  diese  „wesentliche  Erscheinung,  durch 
die  jene  gewaltige  Bewegung,  die  wir  Synkretismus  nennen,  eingeleitet 
und  schnell  ausgebreitet  wurde",  aufmerksam  gemacht;  er  hatte  in  den 
Erzählungen  von  der  Einführung  jenes  Kultes  die  echte  Tempellegende 
wieder  erkannt,  zusammengesetzt  aus  uralten  legendarischen  Motiven  von 
der  Hyperboreerfahrt  und  der  Götterepiphanie;  er  sah  die  Bedeutung 
dieses  Kultes,  den  ein  Ptolemäer  künstlich  geschaffen  hat,  darin,  daß 
Sarapis  als  höhere  Einheit  über  die  bisher  verehrten  Götter  gesetzt 
wurde;  das  bahnte  dem  Glauben  an  einen  Gott  den  Weg.  Dieterich 
forderte  ein  Urkundenbuch  für  Sarapis,  wie  es  Cumont  für  den  Mithras 
geschaffen  hatte,  als  weiteren  Beitrag  zum  Synkretismus  und  seiner  Ge- 
schichte; denn  ehe  wir  diese  „genau  analysieren  können,  ist  die  große 
Frage  nach  der  Genesis  des  Christentums  unlösbar".  -  Leider  hat  dieser 
Vortrag  keine  besondere  Wirkung  geübt,  da  die  Zeit  zum  Reden  zu  knapp 
bemessen  war  und  Dieterich  nur  einen  rasch  zusammengestrichenen 
Auszug  geben  konnte.  Er  hatte  zwar  in  Aussicht  gestellt,  das  Ganze 
zu  veröffentlichen,  sobald  die  Frage  nach  dem  Ursprung  des  Namens 
Sarapis  mit  Hilfe  der  Kenner  babylonischer  und  ägyptischer  Dinge  sicher- 
gestellt sei.  Aber  diese  Sicherheit  hat  er  nicht  mehr  erhalten  und  des- 
halb die  Abhandlung  über  Sarapis  nicht  mehr  druckfertig  gemacht. 
Wie  er  selbst  zuletzt  über  diese  Fragen  dachte,  zeigt  die  von  ihm  an- 
geregte Dissertation  von  E.  Schmidt,  „Kultübertragungen"  (Rel.-gesch. 
Vers.  Vorarb.  VIII,  2)  im  dritten  Kapitel. 


Albrecht  Dieterich  XXVII 

Auf  einer  anderen  Reise,  im  Jahre  1898,  verlobte  er  sich  in  München 
mit  Marie  Usener,  der  Tochter  seines  Lehrers;  im  Frühjahr  darauf  führte 
er  sie  heim  nach  Gießen.  Diese  beiden  Naturen  haben  miteinander 
harmoniert,  wie  es  selten  begegnet.  Frau  Marie  Dieterich  hatte  von 
ihrem  Vater  her  das  Verständnis  für  das,  was  des  Gatten  Leben  ausfüllte, 
für  seinen  Lehrberuf  und  seine  wissenschaftlichen  Ziele.  Ihrer  Vorliebe 
für  die  Malerei,  die  sie  auch  ausübend  betätigte,  kam  Dieterichs  Neigung 
für  dieselbe  Kunst  entgegen.  Das  ermöglichte  beiden,  sich  ein  Heim 
zu  schaffen,  in  dem  der  Ernst  der  Gelehrtenstube  durch  heiteren  künst- 
lerischen Schmuck  verklärt  wurde.  In  ihren  traulichen  Räumen  waren 
ihnen  Jahre  reinen  Füreinanderlebens  beschieden.  Nicht  immer  waren 
die  Tage  ungetrübt;  Frau  Marie  wurde  wiederholt  von  Krankheit  heim- 
gesucht. Aber  das  brachte  beide  noch  inniger  zusammen.  Zum  neuen 
Jahre  1900  schrieb  Dieterich:  „Erst  die  letzten  Wochen  haben  wir  wieder 
im  gewöhnlichen  Sinne  glückliche  Tage  gehabt,  denn  im  übergewöhn- 
lichen Sinne  sind  auch  die  schwersten  Tage  glücklich.  Im  Leiden  lieben 
sich  die  Menschen  erst,  wie  es  keine  Seele  vorher  ahnt,  über  alles,  ich 
möchte  sagen,  irdische  Verstehen."  Vollendet  wurde  das  Glück  dieser 
Ehe,  als  im  Januar  1902  der  erste  Sohn  geboren  wurde,  der  nach  Vater 
und  Großvater  den  Namen  Hermann  Albrecht  erhielt.  Ihm  folgte  einige 
Jahre  später  noch  ein  Bruder,  Hermann  genannt. 

Ein  wunderbares  Zusammentreffen  war  es,  daß  nun  Usener  und 
Dieterich  auch  persönlich  zueinander  in  die  engste,  nie  unterbrochene 
Beziehung  traten.  Sooft  es  sich  in  den  Ferien  einrichten  ließ,  sind  sie 
zusammen  gewesen  und  haben  miteinander  die  Fragen,  die  sie  beide 
gleich  bewegten,  in  idealem  CuincpiXoXoTeTv  der  Lösung  genähert.  Die 
Briefe  Dieterichs  strahlen,  wenn  er  von  diesem  Zusammensein  erzählt. 
Usener  erschloß  seine  ganze  Tiefe;  er  hatte  den  Erben  gefunden,  dem 
er  sein  Vermächtnis  anvertrauen  wollte.  Dieterichs  ferneren  Arbeiten  ist 
dieser  klärende  Gedankenaustausch  zum  Segen  geworden.  Wie  ein- 
gehend er  alles  mit  Usener  besprach,  zeigen  die  Zettel  von  Useners 
Hand,  die  sich  bei  Dieterichs  nicht  ausgeführten  Entwürfen  fanden.  Man 
sieht  dabei,  wie  der  Jüngere  am  eigenen  Material  sich  das  Ergebnis  er- 
arbeitet und  dies  dem  Älteren  zur  Prüfung  vorlegt,  der  dann  aus  dem 
eigenen  Schatz  beisteuert,  was  er  an  entlegenen  Zitaten  in  langen  Jahren 
gesammelt  hatte. 

Der  großen  akademischen  Geselligkeit,  die  in  Gießen  recht  lebhaft 
zu  sein  pflegt,  konnten  sich  Dieterichs  nur  mit  Pausen  hingeben.  Sie 
waren  auch  mehr  die  Menschen  des  kleinen  vertrauten  Kreises,  in  dem 
sich   der  einzelne   rückhaltlos  gibt  und  offener   von  dem  spricht,  was 


XXVIII  Albrecht  Dieterich 

sein  Inneres  bewegt,  als  es  sonst  möglich  ist.  Ein  Teil  der  Kollegen, 
die  zu  diesem  Kreis  gehörten,  war  mit  Dieterich  bereits  in  Marburg 
zusammengewesen;  die  Gelegenheit,  die  alte  Freundschaft  fortzusetzen,, 
wurde  freudig  benutzt.  Wohlgelitten  war  Dieterich  auch  in  dem  treff- 
lichen Institut  des  „Sonderbundes",  der  sämtliche  Dozenten  zu  wissen- 
schaftlichen Abenden  und  behaglichem  Zusammensein  vereinigte.  Diete- 
rieh  war  zuletzt  Sekretär  dieser  Gesellschaft,  und  es  war  prächtig,  wie 
er  in  Versen,  die  tiefes  Gefühl  und  ironischen  Humor  zu  gleichen  Teilen 
enthielten,  als  Sekretär  sich  selbst  als  ^,  dem  scheidenden  Mitglied  die 
Abschiedsrede  hielt. 

Der  Abschied  von  Gießen  fiel  in  das  Frühjahr  1903.  Dieterich 
hatte  einen  Ruf  nach  Heidelberg  als  Nachfolger  von  0.  Crusius  erhalten; 
daß  er  ihn  annehmen  würde,  stand  ihm  sofort  fest.  Schon  daß  er  nun 
denselben  Lehrstuhl  bestieg,  den  einst  Erwin  Rohde  innegehabt  hatte,, 
wäre  durchschlagend  gewesen.  Es  kam  hinzu,  daß  er  in  Baden  Mit- 
glied des  Oberschulrats  werden  sollte  und  dadurch  wieder  in  Fühlung 
mit  dem  Gymnasium  kam;  das  Fehlen  einer  solchen  Beziehung  hatte 
er  bis  dahin  als  Mangel  empfunden;  er  wollte  wissen,  wie  die  Schule 
ihm  die  Schüler  vorbereitete,  und  was  sie  von  denen  erwartete,  die  er 
für  die  Schule  ausbildete.  In  Heidelberg  war  bald  ein  hübsches  Haus 
in  der  Vorstadt  Neuenheim  behaglich  eingerichtet;  zwei  große,  luftige 
Zimmer,  die  den  Eindruck  eines  einzigen  machten,  mit  dem  Blick  auf 
das  Grün  des  eigenen  Gartens  waren  sein  Tuskulum.  So  begann  in 
einem  herrlichen  Sommer  die  glänzendste  Zeit  im  Leben  Albrecht 
Dieterichs. 

Die  Vorlesungen,  die  er  in  Heidelberg  gehalten  hat,  waren  im  wesent- 
lichen dieselben  wie  in  Gießen.  Nur  von  der  griechischen  Poesie,  die 
er  bis  dahin  in  Längsschnitten  behandelt  hatte,  gibt  er  nun  auch  einen 
Querschnitt,  indem  er  „Griechische  Literatur  des  V.  Jahrhunderts"  liest. 
Neu  erscheint  Plato;  er  erklärte  das  Symposion,  zu  dem  er  von  jeher 
ein  tiefes  innerliches  Verhältnis  hatte.  „Es  ist  mir  wie  ein  Evangelium", 
sagte  er.  Von  öffentlichen  Vorlesungen  machten  den  Hörern  besonderen 
Eindruck  seine  Vorträge  über  die  „Hauptprobleme  der  Religionswissen- 
schaft". An  ihnen  hing  ja  auch  sein  Herz  am  innigsten,  zu  ihrer  Lösung 
beizutragen  hielt  er  seit  der  Bonner  Zeit  in  immer  steigendem  Maße 
für  seinen  wahren  Beruf.  Die  Arbeiten  der  Heidelberger  Zeit  bewegen 
sich  denn  auch  fast  alle  in  dieser  Richtung.  Nur  die  Beiträge  an  der 
Realenzyklopädie  von  Wissowa  gehen  daneben  weiter;  1905  wurde  der 
Euripides  fertig,  ein  Seitenstück  zu  dem  so  viel  früher  verfaßten  Aischylos, 
nur  vielleicht  noch  mehr  als  dieser  aus  dem  Vollen  geschöpft. 


Albrecht  Dieterich  XXIX 

Das  Buch  „Eine  Mithrasliturgie"  wurde  im  Frühjahr  1903  ab- 
geschlossen. Es  ist  im  ersten  Teil  eine  Ausführung  des  Gedankens,  den 
er  in  seiner  „Religion  des  Mithras"  ausgesprochen  hatte.  Der  Passus 
des  Pariser  Papyrus,  der  dort  erwähnt  war,  wird  kritisch  und  mit  einer 
deutschen  Übersetzung  versehen  ediert;  dann  wird  der  Nachweis  an- 
getreten, daß  dies  Stück,  das  durchsetzt  ist  von  ägyptischen  und  sto- 
ischen Gedanken,  die  auf  Poseidonios  zurückgehen,  ursprünglich  wirklich 
eine  antike  Liturgie  ist,  bestimmt  in  einem  Mithrasmysterium  bei  der 
Himmelfahrt  der  gläubigen  Seele  und  ihrer  Vereinigung  mit  Gott  verwendet 
zu  werden.  Diese  Art  der  Verwendung  leitet  über  zu  dem  wichtigsten 
Teile  des  Buches,  den  liturgischen  Bildern  des  Mithrasmysteriums.  Dort 
werden  die  verschiedenen  Formen,  in  denen  der  primitive  Mensch  sich 
die  Vereinigung  mit  der  Gottheit  vorstellt,  analysiert:  das  Essen  des  Gottes, 
die  Liebesvereinigung  des  Menschen  mit  dem  Gotte,  die  Gotteskindschaft, 
die  Wiedergeburt,  die  Himmelfahrt  der  Seele  zu  Gott.  Es  ist  die  erste 
durchgeführte  Untersuchung  bestimmter  primitiver  Denkformen;  über 
solche  hatte  Dieterich  bereits  in  seinem  Aufsatz  über  „Wesen  und  Ziele 
der  Volkskunde"  gesprochen.  Das  Buch  hat  trotz  mancher  Ablehnung 
-  namentlich  die  Bezeichnung  des  Papyrustextes  als  „Mithrasliturgie" 
ist  angegriffen  worden  -  Erfolg  gehabt;  es  ist,  was  man  einem  solchen 
Werk  nicht  zu  prophezeien  gewagt  hätte,  bereits  in  einer  zweiten  Auf- 
lage (1910)  erschienen.  Gewidmet  ist  die  Mithrasliturgie  Franz  Cumont, 
ein  Zeichen  der  Erkenntlichkeit  für  dessen  Mithra;  in  der  Vorrede  ge- 
denkt Dieterich  auch  hier  dankbar  seiner  alten  Freunde,  die  ihr  Wissen 
in  seinen  Dienst  gestellt  haben:  Siegfried  Sudhaus  namentlich  für  die 
Textrezension,  Paul  Wendland  für  die  Partien  des  Kommentars,  die  an 
der  Grenze  zwischen   Christentum,  Judentum  und  Hellenismus  liegen. 

Andere  Arbeiten  dieser  Zeit  hängen  mit  den  Vorträgen  zusammen, 
die  Dieterich  in  Frankfurt  gehalten  hatte.  Aus  den  Gedanken  über  den 
Volksglauben,  der  sich  an  die  Geburt  des  Menschen  anknüpft,  entstand 
das  Buch  „Mutter  Erde,  ein  Versuch  über  Volksreligion".  Ausgehend 
von  drei  merkwürdigen  römischen  Riten  bei  Geburt  und  Tod  zeigt  er, 
daß  sie  und  alle  verwandten  Bräuche  bei  anderen  Völkern  nur  verstanden 
werden  können  aus  der  einen  Grundvorstellung  (S.  32):  „Die  Erde  ist 
die  Mutter  aller  Menschen,  aus  der  sie  hervorkommen,  und  in  die  sie 
zurückgehen,  um  aus  diesem  Mutterschoß  wieder  zu  neuem  Leben  ge- 
boren zu  werden."  Daran  schließt  er  einen  Überblick  über  die  Haupt- 
phasen, „in  denen  sich  der  mächtige  Glaube  an  eine  Mutter  Erde 
innerhalb  der  geschichtlichen  Entwicklung  antiker  Religionen  mannigfach 
wirksam  erwiesen  und  immer  wieder  aus  den  unerschöpflichen  Tiefen 


XXX  Albrecht  Dieterich 

der  Volksreligion  emporgedrängt  hat"  (S.  91),  dies  zum  Teil  in  Be- 
rührung mit  V.  Wilamowitz  und  dem  Vorwort  seiner  Übersetzung  der 
Eumeniden  des  Aischylos;  Dieterich  hat  dankbar  anerkannt,  daß  dieses 
ihm  „wesentlich  dazu  geholfen  hat,  die  Bedeutung  der  Religion  der 
Mutter  für  die  Griechen  zu  verstehen"  (S.  43,  Anm.  2).  Auch  hier  fehlt 
zum  Abschluß  nicht  der  Ausblick  auf  das  Fortleben  jener  Vorstellungen 
in  der  Zeit  des  Christentums.  Gedacht  war  das  Ganze  als  erster  Teil 
eines  Buches  über  „Volksreligion,  Versuche  über  die  Grundformen  reli- 
giösen Denkens";  dem  sollten  sich  als  weitere  Kapitel  anschließen:  „Die 
Formen  des  Zauberritus",  „Die  Formen  göttlicher  Offenbarung",  „Die 
Formen  der  Vereinigung  des  Menschen  mit  Gott",  dies  letztere  als  Neu- 
bearbeitung des  zweiten  Teiles  der  Mithrasliturgie.  Dieterich  war  sich 
damit  über  die  wichtigsten  Punkte  klar  geworden,  die  schon  jetzt  mit 
seiner  Methode  erreichbar  schienen.  Daß  er  auf  diesem  Wege  mit 
Usener  zusammenging,  bekräftigte  er  dadurch,  daß  er  ihm  die  „Mutter 
Erde"  zum  70.  Geburtstag,  zum  24.  Oktober  1904  widmete.  Zu  Ehren 
desselben  Tages  erschien  als  Festgabe  einiger  Schüler  Useners  ein  Bei- 
heft des  „Archivs  für  Religionswissenschaft";  auch  zu  diesem  hatte 
Dieterich  beigesteuert,  und  zwar  den  Aufsatz  „Sommertag",  von  Marie 
Dieterich  mit  einer  hübschen  Vignette  verziert.  Hier  wurden  mit  einem 
Heidelberger  Volksbrauch  deutsche  und  griechische  Heischelieder  zu- 
sammengestellt und  gezeigt,  „wie  aus  gleichen  Grundanschauungen  gleicher 
Brauch  und  gleiche  Motive  und  Formen  des  Liedes  erwachsen".  Ein  solcher 
Beweis  war  für  Dieterich  wichtig;  denn  erst  dann,  wenn  gezeigt  ist,  daß 
gleiche  Riten  und  Mythen  auch  ohne  Übertragung  bei  verschiedenen  Völkern 
entstehen  können,  darf  man  von  allgemein  menschlichen  Denkformen  reden. 

Dieterichs  letzter  Aufsatz  „Die  Entstehung  der  Tragödie"  (Archiv 
für  Rel.-wiss.  XI,  1908,  S.  163  ff.)  spricht  der  attischen  Totenklage  am 
alljährlichen  Totenfeste  und  den  ApuujLieva  der  eleusinischen  Mysterien 
einen  starken  Einfluß  auf  das  Werden  des  Dramas  zu.  Sein  Geschick, 
Literatur  und  Religion  in  ihren  Wechselwirkungen  zu  erfassen,  zeigt 
sich  hier  noch  einmal  in  glänzender  Weise;  das  warme  Empfinden  für 
die  Sache  ist  durch  kühles  Reflektieren  temperiert.  Vorgetragen  hat  er 
diese  Gedanken  zuerst  im  Eranos,  einer  Vereinigung,  die  aus  den  religions- 
geschichtlich interessierten  Kollegen  in  Heidelberg  bestand.  Dieterich  hatte 
bei  ihrer  Gründung  mitgewirkt  und  den  Austausch  der  Meinungen  häufig 
in  lebhafter  Diskussion  gefördert. 

Auch  in  der  Heidelberger  Zeit  legen  die  Dissertationen  Zeugnis 
davon  ab,  wie  starke  Anregungen  Dieterich  seinen  Schülern  gab.  Mit 
seinen  eigenen  Studien  über  die  typischen  Figuren  des  Dramas  hängt 


Albrecht  Dieterich 


XXXI 


die  Arbeit  von  Franz  Bertram  zusammen:  „Die  Timonlegende,  eine  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Misanthropentypus  in  der  antiken  Literatur". 
Die  meisten  Doktorarbeiten  sind  in  die  Religionsgeschichtlichen  Versuche 
und  Vorarbeiten  aufgenommen:  Fried.  Pfister,  „Der  Reliquienkult  im  Alter- 
tum" (Bd.  V,  erste  Hälfte  erschienen),  Eugen  Fehrle,  „Kultische  Keusch- 
heit" (Bd.  VI),  Otto  Weinreich  „Antike  Heilungswunder"  (VIII,  1); 
Ernst  Schmidts  „Kultübertragungen"  sind  bereits  genannt  worden.  Man 
erkennt,  daß  hinter  diesen  Aufgaben  der  Plan  steht,  die  wichtigsten 
Äußerungen  religiösen  Denkens  vom  Boden  der  klassischen  Philologie 
aus  sammeln  und  erklären  zu  lassen.  Einzelne  Arbeiten  verfolgen  die 
heidnischen  Anschauungen  bis  in  die  späteren  Zeiten  hinein  und  werden 
dadurch  Beiträge  zur  Entstehung  des  Christentums. 

Neben  den  Anforderungen,  die  der  Lehrberuf  an  Dieterich  stellte, 
standen  die  Verpflichtungen,  die  ihm  die  Mitgliedschaft  des  Oberschul- 
rates auferlegte.  In  dieser  Eigenschaft  hospitierte  er  im  Gymnasial- 
unterricht, wohnte  den  Abiturientenprüfungen  bei  und  nahm  teil  an  den 
Staatsexamina  der  badischen  Kandidaten  für  das  höhere  Lehramt.  Diesen 
Aufgaben  unterzog  sich  Dieterich  mit  Freude;  des  Vaters  und  des  Großvaters 
Neigungen  wurden  in  ihm  wach.  In  den  Gymnasien  verhielt  er  sich  meist 
zuhörend,  bestrebt,  für  die  eigene  pädagogische  Technik  zu  lernen;  wo  er 
eingriff,  tat  er  es  in  einer  schonenden  Weise,  die  immer  nur  auf  die  Sache 
selbst  ging  und  jedermann  von  dieser  Sachlichkeit  zu  überzeugen  versuchte. 

Zu  all  dieser  Tätigkeit,  die  hingereicht  hätte,  die  normale  Arbeits- 
zeit eines  Menschen  ganz  auszufüllen,  übernahm  Dieterich  gleich  zu 
Beginn  seiner  Heidelberger  Zeit  eine  neue  Verpflichtung.  Das  „Archiv 
für  Religionswissenschaft",  das  Thomas  Achelis  im  Jahre  1898  begründet 
hatte,  war  aus  dem  Verlag  von  Paul  Siebeck  in  den  von  B.  G.Teubner 
übergegangen.  Teubner  suchte  einen  zweiten  geschäftsführenden  Re- 
dakteur, und  seine  Wahl  fiel  auf  Dieterich.  Dieser  hat  sich  lange  be- 
sonnen, ehe  er  zugriff.  Er  wußte  wohl,  wieviel  kostbare  Zeit  gerade 
der  besten  Jahre,  die  er  der  eignen  Produktion  hätte  widmen  können, 
die  Redaktionsführung  mit  ihrer  nicht  immer  erquicklichen  Korrespondenz 
und  ihren  rein  äußerlichen  Geschäften  verschlingen  würde.  Aber  das 
Gefühl  der  Verpflichtung  der  Sache  gegenüber  siegte.  1904  erschien 
der  erste,  von  A.  Dieterich  und  Th.  Achelis  gemeinsam  redigierte  Band, 
der  siebente  der  ganzen  Reihe.  Er  enthielt  zu  Beginn  das  Programm 
des  neugestalteten  Archivs. 

Es  sollte  ein  Zentralorgan  sein  für  alle  historische,  mit  philologischen 
Mitteln  arbeitende  Erforschung  der  verschiedenen  Religionen,  bestimmt, 
die  Hauptfortschritte  der  einzelnen  Philologien  von  der  einen  zur  anderen 


XXXII  Albrecht  Dieterich 

mitzuteilen.  Diese  Erforschung  sollte  sich  zunächst  weniger  auf  die  ge- 
schichtlichen, von  einzelnen  Persönlichkeiten  bestimmten  religiösen  Ent- 
wicklungen richten.  Nicht  etwa,  weil  Dieterich  für  die  Persönlichkeit 
und  ihr  Verhältnis  zur  Religion  kein  Verständnis  gehabt  hätte  —  dagegen 
spricht  seine  eigene  Hinneigung  zu  Aischylos  und  Piaton.  Aber  er 
wollte  die  zerstreute  religionsgeschichtliche  Arbeit  auf  das  Gebiet  kon- 
zentrieren, dessen  Erforschung  ihm  die  Vorbedingung  zu  jeder  weiteren 
ersprießlichen  Arbeit  schien,  auf  die  volkstümliche  Unterschicht,  die 
Volksreligion.  Da  diese  durch  die  Analogien  aus  dem  Leben  der  Natur- 
und  Kulturvölker  aufgeklärt  werden  sollten,  so  empfahl  er  den  Philo- 
logien ein  enges  Bündnis  mit  Ethnologie  und  Volkskunde.  Als  weiteres 
wichtiges  Ziel,  dem  das  Archiv  zunächst  dienen  sollte,  wurde  die  Er- 
kenntnis von  der  Genesis  des  Christentums  genannt,  vom  Untergang 
der  antiken  und  vom  Werden  der  neuen  Religion,  ein  Problem,  zu  dessen 
Lösung  er  sich  die  Mitarbeit  der  wissenschaftlichen  Theologie  erbat. 
Dabei  schwebte  ihm  nicht  nur  das  Ziel  der  theoretischen  Erkenntnis 
vor,  sondern  er  hoffte,  daß  die  Arbeit  des  Archivs  auch  praktisch  dem 
einzelnen  in  seinem  Ringen  um  die  Weltanschauung  zugute  kommen 
sollte:  „wahre  geistige  Befreiung  auch  aus  den  religiösen  Fesseln  und 
Nöten  der  Zeit  wird  dem  wissenschaftlich  Gebildeten  nicht  durch  Nega- 
tion oder  Position,  durch  Vermittelung  oder  Umdeutung  gewonnen,  sondern 
allein  durch  geschichtliche  Erkenntnis." 

Eine  glückliche  Änderung  war  es,  daß  das  Archiv  die  neu  er- 
schienenen Bücher  nicht  mehr  in  einzelnen  Rezensionen  zerstreut  behandelte, 
sondern  in  zusammenhängenden  Berichten,  die  alles,  was  auf  dem  Ge- 
biet einer  bestimmten  Religion  innerhalb  von  zwei  oder  drei  Jahren  er- 
schienen war,  zusammenfaßten;  durch  sie  trat  die  Entwicklung  der  reli- 
gionsgeschichtlichen Forschung  in  ein  helleres  Licht.  Den  ersten  Bericht 
über  die  antiken  Religionen  in  den  Jahren  1903-1905  hat  Dieterich 
selbst  angefertigt  (Arch.  VIII,  1905,  S.  474  ff.).  Mit  Freude  konnte  er 
feststellen,  wie  das  Bestreben,  die  Unterschicht  des  religiösen  Denkens 
zu  erkennen,  im  Wachsen  begriffen  war,  wie  die  Anregungen  der  Eth- 
nologie und  Volkskunde  sich  immer  stärker  geltend  machten,  so  stark, 
daß  Dieterich  warnen  mußte:  es  drohe  „eine  Modeform  der  Vergleichung 
einzelner  herausgehobener  Züge  sich  auszubilden,  die  eine  naturgemäß 
langsam  vorschreitende  notwendige  Arbeit  nur  hindert  und  diskreditiert". 
Ferner  stellte  er  freudig  das  Wachsen  der  Erkenntnis  des  Synkretismus 
jener  Vorbedingung  zur  Erforschung  des  Werdens  des  Christentums,  fest, 
die  namentlich  durch  Reitzensteins  „Poimandres"  gefördert  war.  Ihm 
sprach  er  das  große  Verdienst  zu,  „es  energisch  versucht  zu  haben,  den 


Albrecht  Dieterich  XXXIII 

ägyptischen  Einschlag  in  dem  bunten  Riesengewebe  späterer  antiker 
Religion  auszulösen."  Gerade  mit  Reitzenstein,  der  im  nahen  Straßburg 
lehrte,  hat  Dieterich  während  der  letzten  Jahre  in  regem  Austausch  über 
die  Fragen  des  Synkretismus  gestanden.  -  Aber  trotz  der  Freude  an 
den  Fortschritten  im  einzelnen  ist  Dieterichs  energischer  Natur  die 
Entwicklung  der  Forschung  nicht  vielseitig  genug.  Der  Bericht  endet 
mit  der  Mahnung:  Messis  quidem  multa,  operarn  autem  pauci.  Den- 
selben Spruch  hatte  er  unter  die  Titelvignette  der  „Hessischen  Blätter 
für  Volkskunde"  geschrieben,  die,  von  der  Hand  seines  Freundes  O.Ubbe- 
lohde  gezeichnet,  ein  Kornfeld  darstellt,  durch  das  ein  einsamer  Schnitter 
schreitet. 

Vom  VIII.  Band  ab  führte  Dieterich  allein  die  Geschäfte  des  Archivs, 
Th.  Achelis  war  zurückgetreten.  Dagegen  blieben  die  Mitredakteure, 
die  seit  der  Neugestaltung  des  Archivs  ihm  helfend  zur  Seite  standen, 
H.  Oldenberg  für  das  Indische,  C.  Bezold  für  das  Babylonisch-Semitische, 
K.  Th.  Preuß  für  das  Gebiet  der  Naturvölker.  Für  das  klassische  Alter- 
tum hat  zuerst  Usener  noch  mitberaten.  Aber  er  starb  im  Oktober  1905. 
Es  war  ein  schwerer  Schlag  für  Dieterich;  selbst  wenn  man  weiß,  was 
ihm  der  Schwiegervater  als  Mensch  und  Gelehrter  gewesen  ist,  kann 
man  kaum  die  Größe  des  Verlustes  ermessen.  Seinem  Andenken  hat 
Dieterich  im  Archiv  einen  tief  empfundenen  Nachruf  gewidmet,  der  in 
kurzem  Abriß  das  Lebenswerk  des  Religionshistorikers  Hermann  Usener 
erschließt.  Manches  darin  ist  zugleich  Selbstbekenntnis;  ein  solches 
klingt  heraus  aus  dem  Hinweis  auf  das  schöne  Wort  Useners,  daß  alle 
Mythenforschung  unwillkürlich  uns  zuletzt  auf  unser  innerstes  Anliegen, 
die  eigene  Religion  zurückführen  und  das  Verständnis  derselben  fördern 
müsse,  oder  aus  der  Betonung  von  Useners  tiefem  Verständnis  für  das 
Leben  des  eigenen  Volkes. 

Dieterich  hatte  es  als  eine  Pflicht  der  Pietät  empfunden,  zum  Ge- 
dächtnis an  den  Meister  eine  ausführliche  Biographie  zu  schreiben.  Um 
sich  dafür  den  Grund  zu  legen,  las  er  ein  besonderes  Kolleg:  „Ge- 
schichte der  klassischen  Philologie  im  19.  Jahrhundert".  Er  war  be- 
geistert, als  ihm  von  hier  aus  nach  und  nach  die  einzelnen  Züge  in 
Useners  Bild  verständlich  wurden;  die  Darstellung  gewann  in  seinem 
Innern  Umriß  und  Gliederung.  Er  freute  sich,  daß  ihm  alles  so  pla- 
stisch vor  Augen  stehe,  daß  er  es  nur  niederzuschreiben  brauche.  Aber 
geschrieben  worden  ist  keine  Zeile. 

Auf  den  Reisen,  die  Dieterich  von  Heidelberg  aus,  meist  mit  der 
Gattin  zusammen,  unternahm,  fand  teils  seine  alte  Sehnsucht  nach  Natur 
und  Kunst  und  sein  Bedürfnis  neuer  wissenschaftlicher  Eindrücke  ihre 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  C 


XXXIV  Albrecht  Dieterich 

Befriedigung,  teils  war  er  im  Dienste  der  religionsgeschichtlichen  Studien 
tätig.  Im  Herbst  1904  nahm  er  an  dem  zweiten  internationalen  Kongreß 
für  allgemeine  Religionsgeschichte  in  Basel  teil  und  sprach  dort  in  einer 
Plenarsitzung  über  die  Religion  der  Mutter  Erde,  in  einer  Sektionssitzung 
über  den  Ritus  der  verhüllten  Hände.  Der  letzte  Vortrag  war  bis  jetzt 
nur  in  einem  Auszug  bekannt  (Verh.  des  Bas.  Kongr.  S.  322  f.),  unten 
S.  440  ff.  wird  das  vollständige  Manuskript,  so  weit  es  noch  vorhanden 
ist,  veröffentlicht. 

Im  Herbst  1905  sprach  Dieterich  auf  den  „Salzburger  Hochschul-* 
kursen"  über  das  Thema  „Der  Untergang  der  antiken  Religion".  Seine 
Vorträge  müssen,  nach  den  Zeitungsberichten  zu  urteilen,  hinreißend  ge- 
wirkt haben.  Dieselben  Vorträge  hat  Dieterich  noch  einmal,  im  Frühjahr 
1908,  vor  einer  großen  Zuhörerschaft  in  Hamburg  gehalten. 

Zwischendurch,  im  Sommer  1907,  erhielt  Dieterich  einen  Ruf  an  die 
Universität  Halle.  Er  hat  ernstlich  geschwankt,  ob  er  ihn  nicht  annehmen 
solle.  Namentlich  die  Freundschaft  für  Georg  Wissowa,  der  dort  wirkte, 
fiel  stark  ins  Gewicht;  im  preußischen  Kultusministerium  zeigte  man  das 
weitestgehende  Entgegenkommen.  Aber  es  war  nicht  leicht,  die  bis- 
herige ideale  Wirksamkeit,  die  selbst  Halle  nicht  bieten  konnte,  aufzugeben. 
Den  Ausschlag  gab  der  Gedanke,  daß  er  in  Baden  auch  dem  höheren 
Schulwesen  noch  nützen  könne.  Es  war  Dieterichs  Art,  solche  Fragen 
vom  Standpunkt  des  sachlichen,  nicht  des  persönlichen  Vorteils  zu  ent- 
scheiden. Mit  Genugtuung  erfüllte  es  ihn,  daß  man  ihm  für  sein  Bleiben 
dankbar  war.  „Ich  kann  Dir  sagen,  daß  mir  eine  solche  Lebensfreude 
noch  nie  geworden  ist.  Studenten,  Kollegen,  Gymnasiallehrer, Regierung: 
«s  war  für  mich  persönlich  beschämend  und  überwältigend.  Du  wirst  mir 
glauben,  daß  es  nicht  die  schönen  Worte  waren,  die  sie  mir  sagten,  die 
ich  meine",  so  schrieb  er  im  Juni  1907.  Auf  einem  Kommers,  mit  dem 
man  ihn  damals  feierte,  sagte  er  scherzend,  er  werde  keinen  Ruf  mehr 
annehmen,  „bis  der  letzte  Ruf  kommt,  den  niemand  ablehnen  kann". 
Wohl  keiner,  der  ihn  das  in  blühender  Kraft  und  voller  Gesundheit 
sagen  hörte,  ahnte,  wie  bald  dieser  Ruf  an  ihn  ergehen  sollte. 

Im  April  1908  hatte  Dieterich  auf  der  Hamburger  Reise  sich  eine 
Influenza  zugezogen,  die  gründlich  auszuheilen  er  sich  nicht  die  Zeit 
nahm.  Den  nach  Hause  Zurückgekehrten  beanspruchten  die  Berufs- 
pflichten, Dienstreisen  und  Examina  stärker  als  sonst.  Dann  kamen  die 
Vorbereitungen  zum  Semester,  die  seine  geschwächten  Kräfte  weiter 
aufrieben.  Dienstag  den  5.  Mai  wollte  er  morgens  seine  Vorlesung  über 
das  attische  Drama  beginnen.  Vor  dem  Kolleg  hatte  er  sich  noch  längere 
;;^eit  im  Sprechzimmer  wie  sonst  mit  einem  befreundeten  Kollegen  unter- 


Albrecht  Dieterich  XXXV 

halten.  Er  stand  ganz  unter  dem  frischen  Eindruck  vom  Tode  seines 
Lehrers  Franz  Bücheier.  Er  schilderte  in  feinsinniger  Weise  Büchelers 
Wesen  und  Wirken,  in  bewundernder  Anerkennung  des  seltenen  Mannes. 
„Das  werde  ich  auch  meinen  Studenten  sagen.  Nicht  am  Anfang  der 
Stunde,  denn  sie  sollen  freudig  beginnen.  Aber  zum  Abschluß."  - 
Das  Erscheinen  Dieterichs  im  Auditorium  wurde  jubelnd  begrüßt.  Er 
begann  zu  sprechen,  den  Plan  seiner  Voriesung  zu  entwickeln.  Aber 
nach  den  ersten  Sätzen  wurde  seine  Sprache  langsamer,  er  fing  an,  nach 
den  Worten  zu  suchen.  Schließlich  stockte  er  ganz.  Die  Zuhörer 
halfen  ihm,  das  Zimmer  zu  verlassen.  Draußen  brach  er  zusammen: 
ein  Gehirnschlag  hatte  ihn  getroffen.  Man  brachte  ihn  auf  das  Zimmer 
des  Dieners  im  archäologischen  Institut  und  bettete  ihn  dort.  Noch 
diesen  Tag  und  die  folgende  Nacht  hat  er  so  fast  ganz  bewußtlos  ge- 
legen. Gattin  und  Freunde  weilten  bei  ihm.  Am  Morgen  des  6.  Mai 
hatte  er  ausgelitten. 

Am  Abend  dieses  Mittwoch  fand  an  der  Bahre  für  die  Nächsten 
eine  schlichte  Leichenfeier  statt;  Fr.  Scholl  als  Fachgenosse  und  Freund 
sprach  ergreifende  Worte.  Die  Beisetzung  auf  dem  Friedhof  am  8.  Mai 
war  eine  Feier  wirklich  inniger,  allgemeiner  Trauer.  Auch  von  weither 
waren  die  Schüler  und  Freunde  gekommen.  Die  Worte,  die  in  der 
Friedhofskapelle  am  Sarg  gesprochen  wurden,  waren  tief  empfunden, 
schmerzlich  bewegt  von  der  Trennung,  die  sich  hier  vollzog,  durch- 
drungen von  der  Erkenntnis,  was  hier  für  immer  verloren  war.  Es 
war  die  Totenklage  um  den  herrlichen  Menschen,  dem  auch  an  dieser 
letzten  Stätte  seines  Wirkens  die  Herzen  freudig  entgegengeschlagen 
hatten.  Draußen  war  ein  südlicher  Frühlingstag,  die  Sonne  glühte  wie 
im  Hochsommer.  Unter  Blumen  und  Blüten  bewegte  sich  der  Zug  der 
Trauernden  zum  Ort  der  Feuerbestattung.  Es  war  eine  Stimmung  in 
der  Natur  wie  zu  der  Zeit,  da  die  Frauen  von  Hellas  um  Adonis  klag- 
ten, den  göttlichen  Jüngling,  den  plötzlicher  Tod  an  einem  Sommertag 
gefällt  hatte. 

Mit  Albrecht  Dieterich  sind  große  Pläne  und  kühn  gedachte  Entwürfe 
zu  Grabe  gegangen.  Man  darf  sich  nicht  vorstellen  wollen,  was  er  der 
Wissenschaft  geworden  wäre,  wenn  ihm  das  Schicksal  noch  ein  oder 
zwei  Jahrzehnte  gegönnt  hätte,  ihm,  der  mit  jeder  Arbeit  die  Erkennt- 
nis, oft  an  einem  entscheidenden  Punkte,  förderte  und  selbst  da,  wo  er 
irrte,  Anregung  gab.  Sein  Nachlaß  enthielt  große  Mengen  von  Notizen, 
Zeugen  seiner  Teilnahme  an  allen  Bewegungen  religiösen  Lebens  im 
Altertum  und  an  den  Analogien  anderer  Völker,  die  er  in  langen  Jahren 
zusammengetragen  hatte.    Leider  ist  das  meiste  dieser  Kollektaneen  für 


XXXVI  Albrecht  Dieterich 

niemand  anders  verwendbar;  meist  ein  Zitat,  dazu  ein  kurzes,  nur  ihm 
vertrautes  Stichwort  -  das  ist  alles.  Für  einige  Materien  sind  die 
Notizen  ausführlicher  und  zu  Gruppen  geordnet  (z.  B.  für  Abendmahl, 
Angeloi,  Himmelfahrt,  Fax,  heilige  Quellen,  Traum).  Alle  diese  Sammlungen 
hat  Frau  Marie  Dieterich  sich  entschlossen  dem  in  Bonn  gegründeten 
Usenerarchiv  zu  überweisen  und  damit  allen  zugänglich  zu  machen. 

Nicht  beendet  ist  von  größeren  Arbeiten  eine  Ausgabe  der  Legende 
des  heiligen  Theophilos,  die  Dieterich  durch  die  Beziehung  des  Zaubers 
zur  Legende  lockte,  und  eine  Edition  der  orphischen  Hymnen,  die  er 
nie  aus  den  Augen  verloren  hatte.  Sie  sollte  zusammen  mit  anderen 
Resten  orphischer  und  mystischer  Poesie  im  zweiten  Band  der  Samm- 
lung Poetarum  Graecorum  fragmenta  erscheinen,  die  U.  von  Wilamowitz 
redigiert.  Beide  Arbeiten  sollen  von  Freunden  Dieterichs  zu  Ende  ge- 
führt werden.  Ebenso  wird  die  Redaktion  der  „Religionsgeschichtlichen 
Versuche  und  Vorarbeiten"  und  des  „Archivs  für  Religionswissenschaft" 
im  Sinne  Dieterichs  von  befreundeter  Hand  weiter  geleitet. 

Das  geplante  Buch  über  „Volksreligion"  ist  nicht  mehr  geschrieben 
worden.  Es  sind  jedoch  die  Vorarbeiten  vorhanden,  umfangreiche  und 
geordnete  Materialsammlungen.  Wer  sich  berufen  fühlt,  jenen  Plan 
Dieterichs  auszuführen,  wird  diesen  seinen  Stoff  mit  Ertrag  benutzen 
können.  Von  dem  „Untergang  der  antiken  Religion"  gibt  es  Auf- 
zeichnungen von  seiner  Hand  und  Nachschriften  seiner  Schüler,  die 
eine   ungefähre  Wiederherstellung  möglich  machten  (unten  S.  449  ff.). 

Dieterich  ahnte,  daß  er  nicht  alt  werden  würde.  Das  hätte  ihm 
Schonung  auferlegen  sollen.  Aber  die  kannte  er  nicht  und  wollte  sie 
trotz  aller  besorgten  Zureden  nicht  kennen.  War  ihm  ein  Problem 
klar  geworden,  so  setzte  er  die  Nächte  daran,  um  seine  Gedanken  in 
einem  Zug  niederzuschreiben,  unbekümmert  darum,  welches  die  An- 
forderungen des  Tages  sein  würden.  Vor  die  Wahl  gestellt  zwischen 
einem  kurzen  Leben  in  Tätigkeit  oder  einem  langen  Leben  in  Untätig- 
keit, hätte  er  gewählt  wie  Achilleus.  Nur  das  bewirkte  die  Vorahnung 
von  seinem  frühen  Ende,  daß  er  seine  Arbeiten  auf  bestimmte  Ziele 
konzentrierte;  das  hat  er  selbst  ausgesprochen.  Dies  ist  der  Grund, 
weshalb  er  die  mehr  philologischen  Fragen,  die  ihn  doch  früher  ge- 
reizt hatten,  in  den  letzten  Jahren  bewußt  zurücktreten  ließ.  Wohl 
schrieb  oder  sprach  er  gelegentlich  freudig  von  Stellen  der  Dichter, 
die  zu  heilen  oder  zu  erklären  ihm  gelungen  sei,  oder  von  literarischen 
Zusammenhängen,  die  ihm  aufgegangen  seien.  Aber  verarbeitet  hat  er 
davon  nichts,  unbeirrt  dadurch,  daß  ihn  Fernerstehende  nicht  mehr  als 
Philologen  rechneten,  und  trotz  des  mahnenden  Zuredens  von  Usener, 


Albrecht  Dieterich  XXXVII 

dem  kein  Religionsforscher  genug  Philologe  sein  konnte.  Dieterich  ging 
seine  eigenen  Wege,  weil  ihm  andere  Dinge  mehr  auf  dem  Herzen  brannten. 
Zunächst  wollte  er  den  „Untergang  der  antiken  Religion"  fertig  stellen. 
„Und  dann  kommt  die  »Genesis  des  Christentums*  und  das  , Leben  Jesu*. 
Zuerst  natürlich  die  Biographie  (Üseners),  die  ich  mir  vorgenommen  und 
gestern  eingehend  disponiert  habe"  schrieb  er  im  August  1907  an  seine 
Frau.  Diese  Werke  sollten  seine  religionsgeschichtlichen  Untersuchungen 
in  der  Höhe  krönen,  wie  das  Buch  über  Volksreligion  in  der  Tiefe  das 
Fundament  sein  sollte.  „Ist  es  mir  vergönnt,  das  alles  noch  zu  voll- 
enden, dann  will  ich  mit  meinem  Leben  zufrieden  sein",  sagte  er  kurz 
vor  seinem  Tode.  Es  war  ihm  nicht  beschieden;  er  wurde  abgerufen, 
ehe  sein  Lebenswerk  auch  nur  halb  vollendet  war.  Und  vieles  davon 
wird  für  alle  Zeiten  unvollendet  bleiben. 

Aber  nicht  verloren  ist  das,  was  er  seinen  Schülern  eingepflanzt 
hat.  Er  erinnerte  gern  an  das  schöne  Wort  Useners:  „Nur  das  im 
Menschen  ist  dauernd,  was  in  den  Herzen  anderer  fortlebt."  Auch  Die- 
terich versuchte  das,  was  er  seinen  Schülern  gab,  so  eindringlich  zu 
gestalten,  daß  es  wirklich  zu  Herzen  ging.  Und  nicht  nur  eindringlich, 
sondern  auch  wissenschaftlich  ehrlich  wollte  er  seinen  Vortrag.  Darum 
bereitete  er  sich  für  Kollegia  und  Übungen  stets  sorgfältig  vor;  lieber 
kürzte  er  den  Schlaf,  als  daß  er  sich  mit  dem  Schein  einer  Lösung  zu- 
frieden gegeben  hätte.  Die  Vorlesungen  arbeitete  er  in  der  späteren 
Zeit  nicht  mehr  wörtlich  aus,  sondern  zeichnete  nur  einzelne  Stichworte 
auf,  so  daß  er,  wenn  er  dieselbe  Vorlesung  von  neuem  las,  auch  die 
Mühe  des  neuen  Durchdenkens  hatte.  So  war  sein  Vortrag  vor  dem 
Kleben  am  Manuskript  bewahrt;  er  sprach  fast  völlig  frei,  mit  starkem 
Temperament,  getragen  von  dem  Glauben  an  die  eigene  Sache.  Auch 
improvisierte  er,  wenn  ihn  der  Gegenstand  fortriß  und  ihm  neue  Ge- 
danken zuführte.  Er  konnte  das  wagen,  da  ihm  die  Worte  leicht  flössen 
und  sich  von  selbst  zu  prägnanten  Wendungen  und  treffenden  Bildern 
gestalteten.  Unterstützt  wurde  sein  Vortrag  von  einer  melodischen  Stimme, 
die  jedem  Affekte  gehorchte;  es  war  unmöglich,  mit  dieser  Stimme  et- 
was Langweiliges  zu  sagen.  Am  glänzendsten  war  sein  Vortrag,  wenn 
er  nach  Abschluß  einer  Interpretation  die  erklärte  Stelle  in  seiner  eigenen 
Übersetzung  vorlas;  die  dichterische  Veranlagung  befähigte  ihn,  die  wirk- 
same Form  zu  finden  und  sie  mit  dem  heiligen  Ernste  des  Aischylos  ebenso 
zu  erfüllen  wie  mit  dem  frechen  Spott  des  Aristophanes.  Und  wie  Dieterich 
sprach,  so  schrieb  er  auch:  innerlich  überzeugt,  anschaulich,  packend.  Nur 
sprudeln  in  den  ersten  Büchern  die  Worte  noch  jugendlich  empor, 
während  sie  in  den  späteren  Werken  klarer  und  ruhiger  dahinfließen. 


XXXVIII  Albrecht  Dieterich 

Den  Fehler,  mit  diesen  rednerischen  und  stilistischen  Vorzügen 
glänzen  zu  wollen,  hat  Dieterich  sich  stets  gemüht  zu  meiden;  es  lag 
ihm  daran,  nicht  der  äußeren  Form  die  innere  Sachlichkeit  preiszugeben. 
Stets  hat  er  auch  an  sich  gearbeitet,  von  der  unwillkürlichen  Neigung 
seines  Temperaments  freizukommen,  daß  er  in  der  Freude  über  eine 
glänzende  Kombination  die  Gegeninstanzen  gering  achtete;  wer  die  Ar- 
beitsweise seiner  Bücher  verfolgt,  wird  wahrnehmen,  wie  er  mit  den 
Jahren  vorsichtiger  und  umsichtiger  geworden  ist.  Wie  er  gegen  sich 
selbst  streng  war,  so  verlangte  er  auch  von  seinen  Zuhörern  strenge 
Schulung  des  eigenen  Denkens  und  Wollens  zu  rücksichtsloser  wissen- 
schaftlicher Ehrlichkeit.  Immer  wieder  wies  er  auf  die  Notwendigkeit 
genauen  und  vollständigen  Verständnisses  der  Texte  hin,  wie  es  nur  bei 
solidem  grammatischem  Wissen  und  sorgfältiger  philologischer  Inter- 
pretation möglich  ist;  das  waren  ihm  die  Grundlagen,  ohne  die  ihm 
eine  wissenschaftliche  Betätigung  überhaupt  nicht  denkbar  war.  Den 
Schülern,  die  das  Wohltätige  dieser  Zucht  anerkannten  und  sich  ihm 
voll  Vertrauen  anschlössen,  stellte  er  sich  mit  allem,  was  er  ihnen  geben 
konnte,  zur  Verfügung:  mit  seinem  Rat,  nicht  nur  in  wissenschaftlichen 
Dingen,  und  mit  seiner  Zeit.  Für  seine  Schüler  war  er  stets  zu  haben, 
freundlich  empfing  er  sie,  auch  wenn  sie  unangesagt  zu  stundenlanger 
Besprechung  kamen  und  er  deshalb  eine  lang  geplante  Erholung  auf- 
geben mußte.  Gerne  zog  er  sie  in  sein  gastfreies  Haus.  „Erst  werden 
dreimal  Studenten  eingeladen,  dann  einmal  die  anderen"  war  sein 
Grundsatz.  Hier  im  Hause  suchte  er  ihnen  das  Heim  zu  ersetzen,  das 
viele  während  des  Semesters  entbehren  mußten.  Ungezwungen  gab 
er  sich  den  soviel  Jüngeren  hin;  die  Anrede  „Herr  Geheimrat**, 
die  ihm  in  der  letzten  Zeit  von  Titels  wegen  zukam,  war  verpönt.  Er 
wußte  seine  Gäste  zum  offenen  Plaudern  zu  bringen  und  war  fröhlich 
mit  den  Fröhlichen.  Dabei  klang  im  Gespräch  doch  der  ideale  Ton 
durch,  auf  den  er  das  Verhältnis  zwischen  Lehrer  und  Schüler  gestimmt 
wissen  wollte;  zusammen  sollten  sie  ein  epavoc  nach  platonischem  Vor- 
bild sein,  geeint  im  ernsten  Streben  nach  edelster  wissenschaftlicher 
Erkenntnis.  Die  Begeisterung,  mit  der  Dieterich  diese  seine  Auffassung 
von  der  Aufgabe  des  Lehrers  vertrat,  ist  vielleicht  das  Beste  gewesen, 
was  er  den  Philologen,  die  durch  seine  Schule  gingen,  mitgegeben  hat; 
wer  dafür  offenes  Gehör  hatte,  der  ist  auch  seinen  Schülern  wieder 
ein  guter  Lehrer  geworden.  Was  sie  Dieterich  verdankten,  wußten  die 
Heidelberger  Studenten  wohl.  „Es  ist,  als  wäre  uns  der  Vater  ge- 
storben**, war  ihre  Stimmung  in  jenen  Maitagen;  für  einen  Lehrer  die 
schönste  Grabschrift.    Sie  haben  es  ihm  auch  später  durch  eine  ergrei- 


Albrecht  Dieterich  XXXIX 

fende  Trauerfeier  gedankt,  bei  der  Aischylos  Agamemnon  aufgeführt 
wurde.  Der  Schluß  war  als  Threnos  gestaltet;  die  Klage  um  den 
gefallenen  Fürsten  mit  ihrer  sich  von  selbst  einstellenden  Beziehung 
wirkte  erschütternd. 

Wo  Albrecht  Dieterich  hinkam,  erwarb  er  sich  Freunde:  auf  der 
Schule,  als  Student,  im  Süden,  unter  den  Dozenten,  deren  Kollege  er 
war.  Seine  freundliche,  ungezwungene  Art,  sein  sonniges  Lachen  ge- 
wann sofort  die  Herzen.  Die  heitere,  humorvolle  Überlegenheit  über 
die  Kleinlichkeiten  des  Daseins,  seine  starke  Lebensfreude  machte  den 
Gleichgesinnten  bald  mit  ihm  vertraut.  Seine  Begeisterung  für  alles 
Schöne  und  Große  riß  mit  sich  fort,  sein  Ringen  mit  den  höchsten  und 
letzten  Problemen  der  Menschenseele  erweckte  den  Drang  zu  gleich- 
gerichteter Mitarbeit.  Wo  Dieterich  solche  Empfindungen  fand,  hat  er 
sie  reich  erwidert;  es  war  ihm  Bedürfnis,  Freunde  zu  haben.  Wer 
sich  Dieterichs  Freund  nennen  durfte,  wird  nie  vergessen,  was  er  ihm 
verdankt  für  wissenschaftliche  Erkenntnis  und  Durchbildung  des  inneren 
Menschen.  Wie  für  die  Studenten,  war  Dieterich  auch  für  die  Freunde 
von  treuer  Aufopferung;  mochte  er  noch  so  bedrängt  von  Pflichten  sein, 
er  suchte  doch  noch  die  Zeit,  einen  Dienst  zu  erweisen,  um  den  er  ge- 
beten war.  Am  herrlichsten  aber  waren  die  Stunden,  wenn  Albrecht 
Dieterich  in  vertraulicher  Zwiesprache,  über  Raum  und  Zeit  erhaben» 
sein  Inneres  erschloß  und  alles,  was  dort  webte  und  wogte,  in  un- 
erschöpflicher Fülle  zutage  drängte;  das  war  wie  eine  Art  dionysischer 
Ekstase.  Sie  erinnerte  an  die  herrlichste  antike  Darstellung  des  Dio- 
nysos in  solcher  Begeisterung,  an  das  Marmorbild  in  Leyden;  das 
kannte  Dieterich  im  Original  und  liebte  es  mehr  als  alle  antike  Plastik. 
Darum  schien  es  der  richtige  Schmuck  für  das  Titelblatt  diese  Buches 
zu  sein. 

Aber  nicht  pflegte  Dieterich  Freundschaft  in  jenem  schwächlichen 
Sinne,  daß  er  um  jeden  Preis  mit  aller  Welt  hätte  gut  Freund  sein 
.mögen.  Wo  er  selbstgefälligen  Wissensdünkel,  unehrliches  Herumreden 
um  das,  was  ihm  als  Wahrheit  galt,  zu  sehen  glaubte,  war  er  mit  der 
Ablehnung  rasch  bei  der  Hand,  und  seine  Kritik  konnte  sehr  scharfe 
Formen  annehmen.  Auch  da,  wo  er  sich  selbst  und  seine  Sache  an- 
. gegriffen  sah,  hat  er  nicht  immer  sanft  erwidert.  Stets  aber  war  er 
darauf  bedacht,  die  Person  des  Gegners  zu  schonen.  Ebenso  die  Ge- 
fühle Andersdenkender,  was  bei  seinen  Untersuchungen  auf  dem  Gebiete 
der  Religion  nicht  immer  leicht  war.  Aber  als  Sohn  seines  Vaters 
hatte  er  vor  dem  Glauben  anderer  hohe  Achtung.  Nur  das  veriangte 
er,  daß  man  Glauben  und  Wissen  scharf  voneinander  trennte;  die  histo- 


XL  Albrecht  Dieterich 

Tische  Untersuchung  durfte  keine  Rücksicht  auf  das  religiöse  Dogma 
nehmen.  Erst  wenn  durch  die  Forschung  sicherer  Grund  gelegt  war> 
sollte  auf  diesem  Grund  der  einzelne  seine  gefestigte  und  geläuterte 
Weltanschauung  aufbauen.  Eine  solche  sich  selbst  zu  gewinnen,  war 
er  unermüdlich  an  der  Arbeit.  Während  er  nach  außen  im  reichsten, 
tätigsten  Leben  stand,  suchte  er  im  Innern  die  harmonische  Eukosmie 
der  Seele.  Sein  Wahlspruch  waren  die  schlichten  Schlußworte  des 
platonischen  Phaidros;  dort  lautet  das  Gebet  des  Sokrates:  Oeoi,  boitiie 
jLioi  KaXuj  Y^vecGai  ToivboGev. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS 
Von  Rezensionen  und  Artikeln  der  Realencyclopädie   sind  nur  die  wichtigsten 

aufgenommen. 

1888 
Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi,  quam  C.  Leemans  edidit 
in  papyrorum  Graecarum  tomo  II  (V),  denuo  edidit,  commentario 
critico  instruxit,  prolegomena  scripsit  A.  D.  Erweiterte  Dissertation, 
Jahrbücher  für  klass.  Philol.  Suppl.  Bd.  XVI  749-830.  Die  Prole- 
gomena s.  unten  als  Nr.  I. 

1891 
Schlafszenen  auf  attischer  Bühne,  Rhein.  Mus.  XL  VI  25-46.  Unten  Nr.  IL 
De  hymnis  Orphicis  capitula  quinque,  Habilitationsschrift,  Marburg,  Elwert, 

57  S.     Unten  Nr.  IIL 
Abraxas,  Studien  zur  Religionsgeschichte  des  späteren  Altertums.  Teubner, 

221  S. 

1893 
Die  Zahl   der   Dramen   des  Aischylos,   Rhein.  Mus.  XLVIII,    141-146. 

Unten  Nr.  IV. 
Über   eine   Szene    der   aristophanischen  Wolken,   Rhein.  Mus.  XLVIII, 

275-283.     Unten  Nr.  V. 
Nekyia,  Beiträge  zur  Erklärung   der  neuentdeckten   Petrusapokalypse. 

Teubner,  238  S. 
Die  Göttin  Mise.     Philol.  LH  1-12.    Unten  Nr.  VL 

1894 
Aischylos  13,  Realencyclopädie  I  1065-1084.    Unten  Nr.  VIL 


Albrecht  Dieterich  j^i  i 

1896 
Die  Grabschrift  des  Aberkios.     Teubner,  55  S. 

1897 

Pulcinella,  Pompeianische  Wandgemälde  und  römische  Satyrspiele.  Teub- 
ner, 307  S. 

Über  den  Ursprung  des  Sarapis.  Verh.  der  44.  Versammlung  deutscher 
Philologen  und  Schulmänner  S.  31  ff.     Unten  Nr.  VIII. 

1900 
Matris  cena.     In  der  Strena  Helbigiana,  S.  49-50.     Unten  Nr.  IX. 
Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius,  Rhein.  Mus.  LV, 

191-221.     Unten  Nr.  X. 
eOttTTeXiCTric,  Zeitschr.  für  die  neut.  Wiss.  I,  336-338.     Unten  Nr.  XI. 
Ein  hessisches  Zauberbuch,  Blätter  für  Hess.  Volksk.,  II,  5-7.     Unten 
Nr.  XII. 

1901 
ABC -Denkmäler,  Rhein.  Mus.  LVI,  77-105.     Unten  Nr.  XIII. 
Himmelsbriefe,  Blätter  für  Hess.  Volksk.  III,  9-12.     Unten  Nr.  XV. 

1902 
Die  Religion  desMithras,  Bonner  Jahrbücher  108/9,  26-41.  Unten  Nr.  XVII. 
Die  Weisen  aus  dem  Morgenlande,  Ztschr.  für  die  neut.  Wiss.  III,  1-14. 

Unten  Nr.  XVIII. 
Weitere  Beobachtungen  zu  den  Himmelsbriefen,  Hess.  Blätter  für  Volksk.  I, 

19-27.     Unten  Nr.  XVI. 
Über  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde,  Hess.  Blätter  für  Volksk.  I,  169-194. 

Unten  Nr.  XIX. 

1903 
Eine  Mithrasliturgie.     Teubner,  230  S.     2.  Auflage  1910. 
Adolf  Deißmann,  Ein  Originaldokument  aus  der  diokletianischen  Christen- 
verfolgung.    Besprochen  Göttinger  gel.  Anz.,  S.  550-555. 
Volksglaube   und  Volksbrauch   in   Altertum   und   Gegenwart.     Jahrbuch 

des  Freien   Deutschen   Hochstifts   zu   Frankfurt   a.  M.,    124-135. 

Unten  Nr.  XX. 

1904 
Gunkel,   Zum  religionsgeschichtlichen  Verständnis  des  N.T.,   Archiv  für 

Rel.-wiss.  VII,  278  f. 
Ein    neues  ABC -Denkmal,   Archiv  für  Rel.-wiss.  VII,  524-529.     Unten 

Nr.  XIV. 

1905 
Mutter  Erde.     Teubner,  123  S. 

Albrecht  Dielerich:  Kleine  Schriften.  C* 


XLII  Albrecht  Dieterich 

Griechische  und  römische  Religion  (1903)  1904,  1905,  Archiv  für  Rel- 

wiss.  Vm,  474-510. 
Sommertag,  Archiv  für  Rel.-wiss.  VIII,  Beiheft,  38  S.     Unten  Nr.  XXI. 
Enneakrunos,  Archiv  für  Rel.-wiss.  VIII,  156.     Unten  Nr.  XXII. 
Hermann  Usener,  Archiv  für  Rel.-wiss.  VIII,  I-XI.     Unten  Nr.  XXIII. 
Euripides  4,  Realencylcopädie  VI,  1242-1281.     Unten  Nr.  XXIV. 
E.  Preuschen,  Mönchtum  und  Sarapiskult.     Besprochen  Berl.  philolog. 

Wochenschr.,  Sp.  13-20. 

1906 
XMr,  Berl.  philol.  V^ochenschr.,  510.     Unten  Nr.  XXV. 
OöXoc  oveipoc,  Archiv  für  Rel.-wiss.  IX,  147-148.     Unten  Nr.  XXVI. 

1908 
AIKA,  Archiv  für  Rel.-wiss.  XI,  159-160.     Unten  Nr.  XXVII. 
Die  Entstehung  der  Tragödie,  Archiv  für  Rel.-wiss.  XI,  163-198.    Unten 
Nr.  XXVIII. 

Inedita 
Der  Ritus  der  verhüllten  Hände.     Unten  Nr.  XXIX. 
Der  Untergang  der  antiken  Religion.     Unten  Nr.  XXX. 


I 
PAPYRUS  MAGICA  MUSEI  LUGDUNENSIS  BATAVI 

PROLEGOMENA^  749 

Terra  mater  in  dies  plures  prodit  thensauros  filiis  philologis.  Aegyp- 
tiorum  sepülcra  minus  exspectata  quam  multa  plane  inexspectata  ad 
lucem  misere. 

Libri  magici  graeci  in  papyris  scripti,  quorum  primi  anno  1865  editi 
sunt,  nunc  iam  octo  prostant,  postquam  Carolus  Wessely  hoc  ipso  anno 
quattuor  huiusmodi  Chartas  publici  iuris  fecit:  plane  nouum  litterarum 
genus. 

Hae  sunt  papyri: 
pap.  Berolinensis  I  ed.  G.  Parthey  in   act.  acad.  litter.  Berol.  1865  p. 

120  sqq. 
pap.  Berolinensis  II  ib.  p.  150  sqq. 
pap.  mus.  Lugdun.  Bataui  J  384  (V)  ed.  C.  Leemans   in   pap.  graec. 

mus.  Lugd.  Bat.  II  1885  p.  10  sqq. 
pap.  mus.  Lugd.  Bat.  J  395  (W)  ib.  p.  82  sqq. 
pap.  Parisina  (biblioth.  nation.)  ed.  Carolus  Wessely  in:  'Denkschriften 

der  kaiserl.  Acad.  der  Wissensch.  zu  Wien'.    Phil.-hist.  Classe.  XXXVI. 

1888  p.  44  sqq. 
pap.  mus.  britann.  XLVL  ib.  p.  127  sqq. 
pap.  Mimaut  du  Louvre  2391  ib.  p.  139  sqq. 
pap.  mus.  britann.  XLVII.  ib.  p.  149  sqq.* 

Permultum  adferunt  nouae  scientiae  haec  monumenta,  quae  omnia 
quin   gnostica  sint   i.  e.   doctrinam  ac  philosophiam  illam  quam  uocare 

*  <  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  quam  C.  Leemans  edidit 
in  papyrorum  Graecarum  tomo  II  (V).  Denuo  edidit  commentario  critico  instruxit 
prolegomena  scripsit  A.  D.  phil.  dr.,  Jahrbücher  für  klass.  Philol.  Suppl.  Bd.  XVI 
S.  749-830.  Nur  die  Vorrede,  bis  S.  792,  ist  hier  abgedruckt;  die  eigentliche 
Ausgabe  soll  demnächst  durch  die  Revision  von  K.  Preisendanz  in  den  bei 
B.  G.  Teubner  erscheinenden  'Griechischen  Zauberpapyri*  ersetzt  werden.> 

'  Quod  lias  quattuor  papyros  statim  typis  expressas  adhibere  mihi  licuit  ad 
mea  studia,  debeo  Vseneri  benignitati. 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  1 


2  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

solemus  gnosin  sapiant  iam  dubitari  nequit.  discendum  est  ex  his  papyris 
solis  qualem  re  uera  se  praebuerit  gnosis  ut  ita  dicam  uolgaris;  in- 
tellegendum  quanta  ac  qualis  fuerit  deorum  ac  religionum  commixtio 
illis  saeculis.  ac  fundamento  sint  oportet  hae  chartae,  si  quis  de  natura 
atque  historia  superstitionum  antiquarum  quaerere  uelit.  accedit  quod 
ad  linguam  graecam  huius  aetatis  pernoscendam  adhuc  misere  neglectam 
permulta  insunt  utilissima. 

Nee  uero  ulla  res  iam  consummata  est,  dum  incipit:  attamen  in- 
cipienda  est. 

Papyrus  musei  Lugdun.  Bat,  J  384  digna  est  quae  seorsum  tractetur. 
750  quam  emendandam  et  explicandam  proposuit  proximo  anno  ordo  philo- 
sophorum  Bonnensium.  praemium  merui.  ac  papyrum  editurus  emen- 
datam  ut  certiore  uterer  fundamento,  ipse  denuo  contuli  in  museo 
Lugdunensi  Batauo,  ubi  Chartas  liberrime  adhibere  Leemansii  singulari 
benignitate  mihi  licuit. 

Sane  non  est  obliuiscendum  Leemansii,  Aegyptologi  celeberrjmi, 
egregie  de  hoc  monumento  meriti,  qui  primus  papyri  litteras  legit  atque 
enucleauit.  retractare  multo  facilius,  sed  hoc  esse  retractandum  uix 
quisquam  negabit  homo  philologus. 

Hac  quidem  papyro  usus  exemplo  ac  protypo  id  egi,  ut  illustrarem 
omne  hoc  litterarum  genus,  ut  historiam  ac  naturam  librorum  magicorum 
eorumque  originem  patefacerem.  nee  non  uolui  quo  modo  cum  aliis 
libris  ac  monumentis  haec  coniuncta  sint  adumbrare  ac  notis  grammaticis 
subiunctis  aliisque  indiculis  parare  ad  usum  utilem  hoc  quidem  monu- 
mentum.  quantum  fructus  ad  singulas  res  superstitiosas  antiquas  per- 
noscendas  hinc  capiendum  esset,  primo  impetu  congerere  non  potui. 
nee  in  ea  quae  tractanda  sunt  Aegyptologis  -  optime  hanc  quidem 
prouinciam  Leemansius  adnotationibus  editioni  adsertis  administrare 
coepit  -  inquirere  potui;  pauca  adnotaui  quamuis  manca,  ne  necessaria 
omitterem. 

Papyrus  musei  Lugdunensis  Bataui  J  384  uidetur  inuenta  esse  in 
sepulcro  Thebano.  quam  J.  d'Anastasy,  qui  legati  Suedici  munere  funge- 
batur  Alexandriae,  acceptam  olim  ab  Arabibus  postea  tradidit  Batauis 
una  cum  aliis  papyris;  quo  factum  est,  ut  prior  pars  chartae  usque 
ad  p.VII  anno  1828,  posterior  anno  1830  transueherentur  Leidam,  ubi  nunc 
utraque  pars  inter  tabulas  uitreas  pressa  diligentissime  seruatur.  quoniam 
pap.  J  383  Thebis  inuentam  esse  constat,  ibidem  positam  fuisse  et  hanc 
apparet,   cuius   fragmenta   cum   illa   coniuncta   ac   mixta    deferebantur.^ 


*  Cf.  Leemans.  pap.  graec.  II  p.  6. 


Papyrus  magfica  musei  Lug-dunensis  Batavi  3 

ac  sl  reputabimus,  ubinam  maiores  quidem  chartae  in  Aegypto  inueniri 
soleant,  statuere  licebit  in  sepulcro  positam  fuisse  papyrum.  memineris 
uerborum  Plinii  de  Democrito  dictorum,  qui  Dardani  magi  uolumina  ex 
eius  sepulcro  petiisse  fertur.* 

Tredecim  plenae  paginae  graecae  scriptae  sunt  in  papyro,  praemissae 
uero  duae,  adnexae  quattuor  demoticae,  quibus  fragmenta  graeca  nimis 
lacera  inserta  sunt,  de  demoticis  quae  neglego  uide  Leemansii  monum. 
Aegypt.  II,  tab.  CCXXVI  et  CCXXVII 


I  DE  PAPYRORUM  MAGICARUM  NATURA  ATQUE  HISTORIA        751 
1  DE  UBRIS  PSEUDEPIGRAPHIS 

Papyrus  est  über  magicus.  formulis  uero  magicis  et  incantationibus 
alchymica  et  astrologica  inserta  sunt  fragmenta  ita  ut  quam  arte 
coniunctae  fuerint  olim  hae  artes  superstitiosae  uideamus*  quorum 
librorum  magicorum  indolem  ac  naturam  luculentius  perspiciemus,  si 
de  scriptis  hisce  et  scriptoribus  nonnulla  antiquitus  tradita  conscrip- 
serimus. 

Magicos  libros  et  Lucianus  memorat  ut  in  Philops.  par.  39,  ubi 
dicentem  facit  magum  Upd  xiva  ^k  ßißXou  TraXaiäc  6vö|LiaTa  eTrrd  — 
et  ib.  57,  ubi  incantator  rdc  ßißXouc  Xaßibv  addit:  eici  be  luoi  AiTUTTTiai 
ludXa  TToXXai  Trepi  täv  toioutujv.  Paulus  in  sentent.  libr.  V  tit.  XXIII 
statuit,  ne  quis  apud  se  habeat  'libros  magicae  artis'.  postea 
Ammianus  Marcellinus  XXIX  1,  cum  anno  371  sub  Valente  a  Christianis 
magos  uexatos  et  caesos  esse  tradat,  addit  haec:  'congesti  innumeri 
Codices  et  acerui  uoluminum  multi  sub  conspectu  iudicum  concremati 
sunt  e  domibus  eruti  uariis  ut  illiciti  ad  leniendam  caesorum  inuidiam' 
et  tum:  Mnde  factum  est  per  orientales  prouincias  ut  omnes  metu 
similium  exurerent  libraria  omnia:  tantus  uniuersos  inuaserat  terror'. 
nee  obliuiscaris  narrari  iam  in  act.  apostol.  19,  19  christianos  Ephesios  con- 
cremasse  magorum  xdc  ßißXouc,  quae  pretio  aequasse  L  milia  drachmarum 
feruntur. 

Tales  Codices  seruatos  nunc  habemus  similesque  putes,  quos  Dio- 
cletianum    maximam   partem    alchymicos   in   Aegypto   cremari    iussisse 


*  Hie  sensus  sit  oportet  loci  libr.  XXX  9,  quamquam  libri  plerique 
tradunt  'uoluminibus  Dardani  in  sepulcrum  eius  petitis',  unus  tantum  codex 
'a  sepulcro*. 

*  Cf.  Vsener,  'De  Stephano  Alex/  ind.  lect.  Bonn.  aest.  1879  p.  9. 


4  Papyrus  magica  musei  Lugd'uneiisis  Batavi 

tradunt  Suidas  aliique.^  multi  uero  Codices  eiusmodi  chemici  adhuc 
seruantur  in  bibliothecis,  plurimi  nondum  publici  iuris  facti. 

Permulti  magici  argumenti  libri  apud  scriptores  commemorati,  qui 
modo  maxime  uario  inscribuntur,  attribuuntur  scriptorum  nominibus 
siue  ignotis  siue  notissimis.  ac  quoniam  partes  papyrorum  ipsarum 
uidemus  adscriptas  huiusce  generis  auctoribus,  nonnulla  colligantur,  ut 
quid  de  hac  re  iudicandum  sit,  intellegamus.  incipiamus  a  nominibus, 
quae  in  pap.  V  occurrunt. 

p.  VI  16  figura  in  linteolo  delineanda  est  kqt'  'OcrdvTiv.  permultis 
752locis  commemoratur  ille  Ostanes  uel  Osthanes  uel  Hostanes  apud 
scriptores  posterioris  aeui  ut  Plinium  Apuleium  Suidam,  medicos  auc- 
tores  et  ecclesiasticos^  qui  fuerit  summus  magus,  qui  primus  de  magica 
arte  sit  commentatus,  qui  libros  non  modo  magicos  sed  etiam  chemicos^ 
et  astrologicos  scripserit.  quasi  dux  habetur  et  archegetes  artis  prae- 
cipue  magicae.  nee  quidquam  ualet,  quod  alterum  Ostanem  tradunt 
Xerxem  comitatum  uelut  semina  artis  portentosae  insparsisse  Graeciae, 
alterum  Ostanem  Alexandrum  magnum  secutum  orbem  terrarum  pera- 
grasse  et  artem  propagasse.'^  uides  enim,  quomodo  et  Graeci  et  barbari 
clarissimum  magum  sibi  magistrum  acquisiuerint.  notandum  est  praeterea 
in  pap.  Paris,  u.  2006  praecepta  magica  ornata  esse  titulo  ßaciXei  'OcTctvri 
TTiTuc  xaipeiv.    iam  rex  est  hariolator! 

Praeceptor  erat  Ostanes  Democriti^  cuius  fama  paene  aequauit 
praeceptorem.  cui  in  pap.  V  (p.  XI  1)  adscribitur  C9aTpa  illa  iatro- 
mathematica:  ttpotvujctiköv  lu)r\c  xai  Gavarou.  clarissimum  uero  Abderitam 
non  licere  in  hanc  nebulonum  societatem  deducere  intellexerunt.  etenim 
iam  ante  Plinii  aetatem  coepit  Democriti  nomen  adscribi  libellis  super- 
stitiosis":  impostores  haud  pauci  primis  p.  Chr.  saeculis  opera  sua  cele- 
brato  nomine  ornarunt  magi  astrologi  medici  geoponici  imprimis  chemici; 

*  Vid.  Kopp,  'Beiträge  zur  Gesch.  der  Chemie'  p.  87. 

'  Contulit  locos  Wessely  ad  pap.  Parisin.  1.  c.  p.  95.  praeterea  nonnulla  apud 
Diltheyum  M.  Rh.  27  p.  386  et  in  iis  quae  Berthelot  disseruit  in:  'Journal  des 
Savants.  Sept.  1884'  p.  525  sqq.  de  Democrito  et  alchymia.  apud  Herodotum 
VII  63  iam  Ostanem  nominari  ineptum  est  dicere.  'Kicciuuv  bi  fjpxe  'Avdqpric 
6  'Oxdveuj'  cf.  61.  hoc  simile  nomen  illic  memoratum  ansam  dedisse  famae  illi 
de  Ostane  Xerxis  comite  qui  suspicatur,  ineptit. 

'  Vide  imprimis  quae  Kopp,  Beitr.  p.  407  sqq.  disseruit. 

*  Vtramque  narratiunculam  prolatam  habes  apud  Plinium  h.  n.  XXX  8  et  11. 
'^  Synes.  in  epist.  ad  Dioscorum.     Fabric.  bibl.  graec.  (pr.  ed.)  VlII  p.  233: 

[AniuiÖKpiTOcl  ^|LiucTaYi«Ti1Öil  irapa  toö  jaeYoiXou  'Ocrdvou  ^v  tiu  iepiu  rfic  M^iucpeiuc. 

*  Antiqui  ipsi  doctiores  fraudem  diuinarunt:  uide  Gell.  X  12:  'his  praestigiis 
atque  portentis  a  Plinio  secundo  scriptis  non  dignum  esse  cognomen  Democriti 
puto*.  —  'multa  autem  uidentur  ab  hominibus  istis  male  sollertibus  huiuscemodi 
commenta   in  Democriti  nomen   data  nobilitatis  auctoritatisque    eins   perfugio 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  c 

quasi  Über  librorum  erat  AninoKpiTou  9uciKd  Kai  iliuctikoi.^  utrum  et 
Laertii  Diogenis  indicem  librorum  philosophi  iam  irrepserit  fama  mendosa 
uix  diiudices:  dicitur  scripsisse  de  lapidibus,  herbis,  de  liquoribus 
(Tiepi  X^MiI^v),  qualia  et  postea  ei  supposuerunt.  forti  tribuas,  quod 
apud  Diogenem  ei  über  ttpötvujcic  inter  medica  scripta  (IX  43)  uindicatur. 
nolo  uero  actam  rem  agere  post  ea  quae  Kopp^  et  Berthelot ^  compo- 
suere  nisi  quod  fortius  affirmo  in  bis  farraginibus  nil  esse  Democriti753 
neque  ueteris  neque  recentis  nisi  uanum  nomen,  in  quod  fortasse  in- 
cidere,  quod  clari  philosophi  libri  similiter  inscripti  innotuerant. 

In  pap.  p.  IV  15  öveipoTTOinTTLu  adduntur  uerba:  toutuj  Kai  'AttoWuu- 
ßnH  expäio.  Plinius  uero  (1.  XXX  9)  tradit:  'Democritus  Apollobechen 
Coptiten  -  inlustrauit  — '.  idem  nomen,  quod  nunc  in  Plinio  coniec- 
tandi  cupidis  ereptum  est,  aliunde  non  notum.  neque  alia  quae  in 
pap.  V  citantur  magorum  nomina  occurrunt,  quod  sciam,  in  aliis  aut 
chartis  aut  libris.  nisi  forte  'ATaöoKXfic,  cui  et  ipsi  p.  IV  1  öveipo- 
Tro)Li7TÖc  tribuitur,  idem  uidetur  qui  ap.  Varr.  R.  R.  11  et  ap.  Colum. 
R.  R.  I  1  memoratur  geoponicus.^  tertius  qui  oveipoTroiuTToO  auctor 
esse  dicitur  p.  IV  15  ZiuTvic  Tentyrita  plane  ignotus  itemque  OupßiKoO, 
qui  TUJ  ^€TaXtu  Ouqpiup  ^xpa^o  (p.  X  6),  gloria  nos  latet.  nee  minus 
'HjLiepiou  (p.  III  23),  qui  quomodo  atramenti  genus  quoddam  parandum 
esset  docuit,  exstincta  est  memoria,  uix  enim  'l)uepiov  quendam  subesse 
licet  suspicari. 

Sed  sunt  nomina  in  ceteris  papyris,  quae  notissima  et  in  his  rebus 
utique  sint  celeberrima.  quid  quod  legis  in  pap.  Paris,  u.  886:  xd 
ovöfiata,  ä  Ifpavi^ev  ev  'HXiouTTÖXei  6  Tpic|neTicToc  '€p|ufic  lepo- 
•fXucpiKoTc  Tpam^ctciv?  ac  si  addideris  Plutarchi  uerba  in  libro  de  Is. 
et  Os.  c.  61  ev  be  xaTc  *Gp|LioO  XeTOfnevaic  ßißXoic  icxopoOci  TeTpaqpÖai 
TTcpi  xOuv  i€pu)v  6vo|udxu)v,  intelleges  eundem  citari  libellum.  aliud  uero 
citatur  opus  in  pap.  Leid.  W  I  12:  eK  be  xauxric  xnc  ßißXou  'GpMnc 
KXevi/ac  xd  ^7Ti0u)Liaxa  irpocecpiüvricev  ^auxoO  lepa  ßOßXtu  diriKaXoujuevr) 
TTxe'puTi.  praeterea  paene  innumera  Hermetis  scripta  apud  scriptores 
adducuntur,    quae   non   iuuat   hie    repetere^;    memineris    tantum    quod 

utentibus.'  cf.  Columell.  VII  5:  'Aegyptiae  gentis  auctor  memorabilis,  Bolus 
Mendesius,  cuius  commenta,  quae  appellantur  graece  ÖTro|iivri)uaTa,  sub  nomine 
Democriti  falso  produntur/ 

»  Cf.Vsener,  M.Rh.  26  p.  157. 

*  Beitr.  p.  108  sqq. 

*  Journ  des  Sav.  Sept.  1884.  'Les  origines  de  l'alchimie  et  des  oeuvres 
attribu6es  ä  D6mocrite  d'Abdöre'  p.  517  sqq. 

*  Agathocles  uarios  uide  apud  Fabricium  in  bibl.  gr.  (ed.  Harles.)  III  p.  459. 
^  Vide  Parthey   ad   Plut.  Is.  et  Os.   p.  255  et  Pietschmann,   Hermes  tris- 

megistus.   Leipzig  1875  p.  34 sqq.  et  41  sqq.   Kopp,  Beitr.  p.  367  sqq. 


^  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

lamblichus  de  myster.  8,  1  Manethonem  tradit  numerasse  dei  36  525 
opera,  quem  numerum  ad  chronologiam  pertinere  optime  illustrauit 
Boeckhius.^  iam  enim  constat  iudicium  de  hoc  scriptore  calami  acer- 
rimi:  imprimis  a  2  p.  Chr.  saeculo  impostores  in  Aegypto^  ubi  Hermes, 
qui  Graecis  et  ipse  magorum  patronus  colebatur,  erat  Thoth  litterarum 
deus,  aduocabant  auctorem  diuinum  suis  misellis  farraginibus:  nee  pudet 
referre  etiam  Arabes  et  postea  medii  aeui  homines  doctos  ut  Albertum 
magnum  scripta  Hermetica  memorasse.'^ 

Non  defuere  qui  interpretes  exsisterent  dei  scriptoris  uelut  Bituc 
Trpo<pr|TTic  (lambl.  de  myst.  8,  5  et  10,  7)-  quem  alioquin  ignotum  esse 
censet  Parthey  (ad  lambl.  8,  5).  immo  vero  Bithus  etsi  apud  Plinium 
754uocatur  Durrachenus  (28,  82),  idem  esse  uidetur.  nunc  licet  apponere 
pap.  Parisinae  locos;  u.  2140  TTixuoc  0€cca\ou  dvotKpicic,  u.  1928 
(XTUüYn  TTiTuoc  ßaciXeujc,  u.  2006  TTituoc  öTUJTri'  ßaciXei  'Ocxdvr]  TTituc 
X«ipeiv:  sunt  tituli  praeceptorum  magicorum.  ac  si  dubitari  nequit 
quin  idem  sit  numen,  eo  luculentius  uides  minime  certis  circumscriptos 
esse  finibus  illos  auctores.  adde  insuper,  quod  Eusebius  (I  200)  Bitem 
raemorat  Aegypti  regem  antiquissimum. 

Similia  atque  Hermae  adscribuntur  opera  Orpheo,  interdum  eadem 
et  Hermae  et  Orpheo.*  notanda  pap.  Leid.  W  uerba  p.  XXI  u.  21 : 
ujc  6  0eoXÖTOc  'Opq)€uc  TrapebujKev  biet  Tfjc  irapacTixiboc  ibiac.  atque 
in  pag.  eadem  u.  34  citantur  Erotyli  aliunde  ignoti  Orphica.  plurimis 
sCriptorum  locis  occurrit  Orpheus  magicus  scriptor^  praeterea  notum 
est,  quanta  operum  multitudo  Orpheo  adscripta  fuerit:  congessere  Lo- 
beckius  in  Aglaophamo,  G.  Hermannus  et  E.  Abelius  in  Orphicis.^  quae 
Orphica  quam  arte  coniuncta  sint  cum  his  schedis  magicis,  postea 
docendum;  ac  fortasse  iam  sentis,  quid  adferri  possit  utilitatis  illis 
Orphicis  diiudicandis  ex  his  studiis. 

Et  alia  nomina  graecae  originis  inueniuntur.  pap.  Paris.  1716  Hi(poc 
Aapbdvou'  TTpäSic  x]  KaXou|uevT)  Hicpoc.  satis  sit  aduocare  Plinium 
(30,  9),  qui  Dardani  magi  uolumina  a  Democrito  illustrata  esse  docet; 
quin  ^Dardaniae  artes'  sunt  artes  magicae  ap.  Columellam  (R.  R.  X  358).^ 
€urivoc,  cuius  dTro|avii)Liov€U|LiaTa  laudantur  in  pap.  Leid.  W  p.  22,    16, 


^  Manetho  p.  17.  *  Pietschmann  1.  c.  p.  35. 

'  Pietschmann  1.  c.  p.  47  et  58. 

*  Cf.  Parthey  ad  pap.  Berol.  I  u.  305  et  308. 

^  Imprimis  ap.  Plinium  h.  n.  7,  203;  20,  32;  25,  12  (de  herbis);  28,  34  et  43; 
34,  7.  Tzetza  eidem  Orpheo  scripta  astrologica  magica  epodica  et  hymnos 
attribuit.    cf.  Abel,  Lithica  p.  2. 

®  Chemica  quaedam  tradi  sub  Orphei  nomine  adnot.   Kopp,  Beitr.  p.  387. 

'  Cf.  Dilthey,  M.  Rh.  27  p.  386  sqq. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  7 

non  potest  comparari  cum  Eueno  ullo  aliunde  noto^  nee  non  ignotus 
'€TTacppöbiToc,  qui  citatur  in  pap.  Par.  u.  2429.^  si  uero  in  diffuso 
papyri  W  loco  (p.  XXII  31)  scriptum  fuisse  legimus  ev  rrj  e'  tiuv 
TTToXnaiKUJV,  plus  proficimus;  scimus  Ptolemaeo  VH  Physcöni  (Euer- 
getae  II)  uTTO^vr^aia  uiginti  quattuor  librorum  attributa  esse,  quibus 
miracula  naturae  tractabantur^;  fuerat  enim  rex  ille  Verum  mirabilium 
curiosissimus  inuestigator'.*  mirum  quod  statim  post  illa  uerba  citatur 
TravdpeTOc  ßißXoc^  (23,  1),  quo  titulo  inscribitur  apud  scriptores 755 
ecclesiasticos  über  qui  inscribi  solet  'cocpia  Cipdx'.  Siraci  libellus  uor- 
tebatur  in  graecum  sermonem  in  Aegypto  regente  Ptolemaeo  Euergeta®: 
notus  erat  haud  dubie  in  Aegypto  aeque  ac  uersio  LXX  uirorum  (cf. 
infra).  itaque  etsi  non  illum  ipsum  librum  respexit  compilator  super- 
stitiosus,  tamen  titulum  usurpauit  auctoritate  ornatum. 

Ac  multo  clariores  aduocauere  Hebraeorum  scriptores:  papyri  W 
prima  pars  inscribitur  ßißXoc  lepd  erriKaXoujLievri  Movdc  x]  dfhox] 
Moüceuuc  (I  1).  mirentur  theologi.  qui  liber  saepius  adhibetur: 
p.  VIII  30:  Movdba  ßißXov,  f\v  oubeic  icxuce  |Lie0ep)nTiveOcai  f|  ixpätai 
et  p.  XVI  28:  Moüce'ujc  Movdc  ti'  Kai  u7TÖ|uvTi|ua  dmKaXou)LidvTi  eixTälijjvoc 
et  XVI  35:  Moücecüc  drrÖKpuqpoc  r]'.  multaque  alia  scripta  tribuere 
prophetae  ludaeo,  quae  uocantur  *ApxaTT€XiKri  (W  22,  22),  CeXr]viaKri 
(W  25,  13),  d7TÖKpu(poc  r\  beKdin  (W  25,  33)"  nee  uidentur  non  ad 
Mosen  esse  referenda  uerba  (W  22,  27)  ev  tuj  Nojuiu  -  dßpaicTi. 
longe  uero  omnium  saepissime  citatur  libellus  qui  uocatur  KXeic 
(W  I  19.  29.  34,  II  16,  VI  17,  IX  39,  X  41,  XVI  41).  idem  Moses 
celebratur  ut  alchymista  librosque  chemicos  composuisse  fertur.^  iuuat 
referre  eadem  scripta  Mosis  citari  in  libris  saeculi  XVI  theodiscis,  qui 

»  Faüric,  Bibl.  gr.  (ed.  Harl.)  IV  p.  474.        «  Ibid.  V  p.  65. 

"  Apud  Athenaeum  plurimis  locis:  XIV  654^,  II  43 e,  VI  229d  et  al.  uide 
Hommel  in  libro  qui  inscribitur  'die  äthiopische  Übersetzung  des  Physiologus'. 
Ups.  1877  p.  XII  et  XXXII.        ^  Pitra  spicileg.  Solesm.  III  p.  LV. 

^  Sunt  uerba  haece:  üjc  b^  ^v  t^  e'  tujv  TlToXiLialLKiJuv  ||  ^v  Kai  xö  iräv  ^iri- 
Tpaq)ön€vov  uavap^xtu  ßißXiu  irepi^xei  ktX.  Estne  quintus  Ptolemaicorum  liber 
idem  ac  TTavdperoc  an  non?  locus  paene  desperatus.  placetne  scribere:  ^v  vi] 
€'  TÜJv  TTToX|LiaiKOüv  Kai  ^v  ttJ  ^iriTpacpoiLidvT^  TTavap.  ßißXtu.  an  mauis:  —  ||,  ^v  — 
Kai  TÖ  TTäv  tmypa(p6pL€vov  —  TTavap^xiu  ßißXiu  (cf.  modum  citandi  p.  W22,  9)? 
an  aliud  inest,  si  reputas  philosophum  illum,  cui  Ptolemaeus  Euergetes  annua 
XIl  talenta  dedit,  nomine  usum  esse  Panareto  (Athenaeus  XII  552  c)?  uix  credo. 
[ibc  bt  iv  xfi  e'  tüjv  TTToXeiuaiKuiv  <Tfi>  tö  gv  xai  Träv  ^TriTpaqpoia^vTi  iravap^TUJ 
(oder  besser  TTavaperou)  ßißXuj  Häberlin,  Deutsche  Lit.  Zeit.  1889,  1822.1 

•  Vide  uerba  prologi  Siraci  iunioris:  ^v  fäp  tüj  öfböw  Kai  TpiaKocxOi  Ixei 
^ttI  toö  60€pT^TOU  ßaciX^iuc  irapaTevnOelc  eic  Aitutttov  Kai  cuTXPOvicac  ktX. 

'  Legendum  dtrÖKpuqpoc  1^  beKäxt],  non  n'  ^e^.  uel  fi  uel  i'. 

*  Kopp,  Beitr.  p.  396  sqq. 


g  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

uocantur  *Fausts  höllenzwang' :  'aus  dem  VI-  und  VII.  Buch  Mosis  bibliae 
magicae'.^  quid  mirum,  quod  etSalomonis  regis  sapientissimi  nomen 
hie  occurrit?  CoXo|liOuvoc  xaTaTTTOJCic  xai  im  iTaibiuv  Kai  reXeiiuv  ttoi- 
oOca  inscribitur  pap.  Parisinae  particula  (u.  850).  paullo  autem  alio 
modo  recurrit  in  u.  3040:  öpKiZ:iJu  ce  Kaxa  xfic  ccppaTiöoc  fic  €06X0 
CoXojLiiuv  eTTi  xfjv  f^üjccav  xoO  'Iripejuiou!  nee  alibi  exstineta  est  me- 
moria Salomonis  magi,  euius  formulis  utentes  apud  losephum  (ant.  8, 
2,  5)  ineantant.^  adnotare  liceat  regem  simili  modo  rerum  mirabilium 
seriptorem  aduoeari  in  physiologo  quodam.^ 

Nee  uero  solum  ludaeorum  uiri  sapientes  admouentur,  etiam 
Zujpodcxpric  ö  TTepcric  (W  p.  22,  19),  Parsorum  arehegeta.  qui  qui- 
dem  haud  raro  rerum  magiearum  —  saepissime  apud  Plinium  -  geo- 
poniearum  (Geopon.  I  p.  LXXIV  ed.  Nielas)  aliarum  auetor  eommemoratur. 
apud  Lueianum  in  neeyom.  e.  6  prodit  aliquis  xüuv  ludTUJV  xujv  Zujpo- 
756acxpou  juaGrixüJV  Kai  biaböxtuv.^  de  quo  quanta  hariolati  sint  |docet 
Plut.  de  Is.  et  Os.  e.  46:  Ziupodcxpric  6  jidtoc,  öv  irevxaKicxiXioic  execi 
Tujv  TpuiKiüv  T^TOvevai  TTpecßuxepov  kxopoOciv.  atque  aliorum  librorum 
relieta  est  memoria:  Prodieiani  gnostiei  gloriabantur  se  habere  Zoroastris 
Apoealypses,  opus  astrologieum  et  theurgieum^;  Proelus  ad  Plat.  rem 
publ.  laudat  eiusdem  irepi  cpuceuuc  IV  libros  ad  Cyrum  regem.^ 

Minus  autem  noti  Aegyptii  sunt  qui  laudem  in  his  rebus  sibi  eom- 
pararunt.  in  pap.  W  22,  9  eitatur  Ocpfi  lepoTpaniLiaxeuc  —  ev  xrj  TTpöc 
'ßxov  ßaciXea,  in  pap.  Paris-  154  Neqpiuxric  YajuinTixixtu  ßaciXei.  neuter 
aliunde  innotuit.  sed  si  papyro  Par.  inde  a  u.  3007  insertum  est  irpoc 
bai|LioviZ:o)U€Vouc  TTißrixeiuc  bÖKi|Liov,  TTißnxnc  non  dubium  quin  idem 
Sit  ae  TTißrixioc  uel  'Girißrixioc,  qui  persaepe  laudatur  inter  auetores 
ehemieos.'  ne  MaveGuuc  quidem  effugit  impostores:  pap.  W  1,  21: 
xaOxa  be  6  MaveGübc  IXeyev  ibia  ßißXuj.  et  astrologi  et  ehemiei  eum 
aduoeauere*:  quot  autem  tituli  librorum  Manethonis^,  qui  eitantur, 
genuini   sint,    quot   hue    dueendi    -   suspieiosa  mihi  lepd  ßißXoc,   irepi 


*  Vide  ap.  Wuttke  'Der  deutsche  Volksaberglaube*  p.  176  adn.  1. 

'  Anno  1850  prodiit  liber  nefarius  magicus,  qui  excerptus  esse  affirmatur 
'aus  dem  grossen  buche  Sälomos'  Wuttke  1.  c.  p.  178  adn.  1.  quanta  uanitatis 
assiduitas! 

'  In  physiologo  island.  apud  Hommel.  1.  c.  p.  101  sqq. 

*  Cf.  paene  eadem  uerba  apud  Plut.  rrepi  tOüv  ^KXeXoiirÖTtjüv  xpncTrjpiwv  c.  X. 

*  Vid.  Matter,  Histoire  du  gnosticisme.    II  p.  263. 

«Ed.  R.  Schoell  in  Anecd.  var.  graec.  et  lat.  edd.  R.  Schoell  et  G.  Stude- 
mund.    II.    Berol.  1886.    p.  59,  32. 

'  Vide  quae  collegit  Kopp,  Beitr.  p.  188.  p.  47  nominis  formae  TTißrixioc  — 
TTiß/ixic  —  TTißrixnc  alia  ex  alia  ortae  esse  uidentur.        *  Kopp,  Beitr.  p.  50. 

»  Vide  catalogum  ap.  Parthey.   ad  Plut.  Is.  et  Os.  p.  180. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  9 

KaiacKeufic   Kuqpiujv    -   non  uelim  diiudicare,  quoniam  et  Boeckhius  se 
nunquam  rem  tractasse  fatetur  hac  confusiorem.^ 

Habes  auctores  magicos,  qui  in  papyris  occurrunt.  magnus  praeterea 
numerus  congeri  potest  nominum  passim  citatorum.  notissimi  sunt 
fabulosi  illi  Nechepso  et  Petosiris,  notus  Damigeron^;  et  Chaeremonis 
nomen  arripuere,  qui  stoicus  erat  philosophus^:  in  Plin.  h.  n.  XXXVI, 
89  uocatur  Chaeremon  spado  Necthebis,  qui  ipse  est  celeberrimus  ille 
rex  Necta^ebus^  cuius  nomen  et  restituas  epistolae  illi  Porphyrii, 
quae  praemissa  Pseud.-Iamblichi  libro  de  mysteriis  uulgo  tribuitur  Ane- 
boni  cuidam.  ^  Mosi  interdum  adnectuntur  lannes  et  lambres  scriptores, 
qui  iam  in  Paul.  ep.  ad  Timoth.  II  3,  8  occurrunt:  lannes  recurrit  apud 
Plinium  (XXX  11)"  et  Apuleium  de  mag  c.  90,  lanni  et  lambri  liber757 
adscribitur  in  Orig.  tract.  in  Matth.  35  p.  193.  sed  quid  iuuat  nomina 
plura  conferre?  cui  bono  referam  nomina  (multa  semel  incertis  litteris 
tradita)  nisi  quid  obseruari  potest?  uelut  adnotare  liceat  illum  Tar- 
moendam  ap.  Plin.  XXX  5  et  Carinondam'  ap.  Apul.  de  mag.  c.  90  et 
fortasse  Parmoenem,  qui  fertur  ad  Traianum  imperatorem  de  rebus 
superstitiosis  epistolam  dedisse^  eundem  esse  hominem  mihi  uideri. . 

Iam  satis  multa  collecta  sunt,  ut  iudicium  possimus  proferre  de  hac 
re  memorabili.  primis  post  Christum  saeculis  in  Aegypto  compilatores 
superstitiosi  nomina  congessere  celebrata  ex  omni  orbe  terrarum,  ut 
auctoritate  fucata  probarent  misella  ipsorum  opera  plebi  nimis  credulae. 
apparet  igitur  ne  frustulum  quidem  genuinum  esse  nee  unum  ex  illis 
homuncionibus  re  uera  usum  fuisse  tali  nomine. 

Ac  reputandum  quantopere  gnostici  illa  aetate  Graecorum  et  Aegyp- 
tiorum,  ludaeorum  et  Parthorum  religiones  congesserint  ac  docendum 

*  Manetho  p.  10. 

'  Geoponicorum  lapidarii  aliorum  auctor.    cf.  M.  Rh.  27,  386. 

'  Vix  discerni  potest,  quot  tituli  allati  ueri  quot  mystici  sint.  uide  Zelleri 
dissert.  in  Herma  XI  430  —  433,  qui  omnia  eidem  Chaeremoni  philosopho  re 
uera  imputare  uult. 

*  Cf.  M.  Rh.  27,  387.  lÜber  Nectanebus  vgl.  Pseudo-Callisthenes  <Ad.  Aus- 
feld, Der  griech.  Alexanderroman  30ff.>.    Auch  Jul.  Valer.  cap.  4.) 

'  Cf.  Euseb.  pr.  eu.  14,  10:  duö  Tfic  irpöc  NeKxaveßüj  töv  AItOtttiov  ^iricroXfic 
TTopqpupiou.    uide  adnot.  Partheyi  ad  locum  in  editione  lamblichi. 

*  Verba  Plinii:  'factio  a  Mose  et  lanne  et  Lotapea  ludaeis  pendens*.  paene 
ueri  similiter  Hildebrand,  ad  Apul.  II  p.  615  uoci  Lotapea  a  codd.  uario  modo 
traditae  subesse  censet  'lambre'.  sed  cauendum  est.  nondum  omnes  papyri 
ad  lucem  protractae  sunt! 

'  [Ob  Charondas?  Gesetzgeber  mit  Zaleukos,  siebentes  Jahrhundert,  aus 
Katana,  gab  den  chalkidischen  Pflanzstädten  Siziliens  und  Italiens  Gesetze  <Niese 
bei  Pauly-Wissowa  III  2180ff.;  s.  jetzt  Abt,  Die  Apologie  des  Apuleius,  Rel.- 
gesch. Vers. Vorarb.  IV  2,  244f.>l 

*  Pitra  analecta  sacra  spicilegio  Solesmensi  parata.   tom.  II  p.  647. 


fQ  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

erit  ex  omnibus  illis  et  sententias  et  uerba  manasse  in  hasce  papyros. 
insuper  notum  est  homines  et  Graecos  et  ludaeos  aliosque  multos 
conuenisse  in  Aegyptum,  qui  sua  quisque  et  tenuerint  et  propagarint. 
*est  et  alia  magices  factio  a  Mose  et  lanne  et  Lotapea  ludaeis  pendens' 
tradit  Plinius  (XXX  11):  ludaei  maximam  auctoritatem  Mosi  et  Salomoni, 
Graeci  Hermae  Orpheo  Democrito,  Parthi  Zoroastri,  Aegyptii  Nechepsoni 
Petosiridi  Manethoni  aliis  tribuere.  atque  obseruare  poteris  pap.  Leid. 
W  magis  ludaeorum,  papyros  Berol.  et  fortasse  Leid.  V  magis  niti 
auctoritate  Graecorum.  ac  si  in  propatulo  est  ludaeos  summo  ipsorum 
prophetae,  Parthos  religionis  conditori,  Graecos  Hermae  adscribere 
uoluisse  illa,  ueri  est  simile  philosophos  illos  Democritum  Chaeremonem 
-  et  Pythagoras  Zamolxis^  Epimenides^  Empedocles  Anaxagoras^  alii 
occurrunt  -  ideo  aduocatos  esse,  quod  docuerant  uel  scripserant  quae 
re  plane  alia,  specie  ac  titulo  similia  erant.  quo  quis  erat  antiquior, 
eo  honoratior,  quo  quis  longius  arcessitus,  eo  exoptatior  et  clarior:  et 
nonnullos  qui  feruntur  antiquissimi  Aegyptiorum  reges  fuisse  deiecerunt 
in  hanc  rancidam  colluuiem. 

Nee  uero  praetermittas  in  bis  scriptoribus  illustrandis  animaduertere 
quam  arte  bis  temporibus  omnes  coniunctae  fuerint  artes  superstitiosae: 
namque  omnes  paene  illi  et  magici  et  chemici  et  astrologi  et  medici  et 
geoponici  sunt. 

Nunciam  de  forma  atque  indole  illorum  librorum  magicorum  pseud- 
epigraphorum  quae  possunt  inuestiganda  sunt:  nam  si  quomodo  nomina 
singulis  librorum  partibus  praeposita  sint  reputaueris,  intelleges  sae- 
758pissime  formam  simulari  epistularum.  pap.  Par.  154  Necpuüxric  Ya|Li)nri- 
Tixuj  ßaciXei  AitOtttou  aiiuvoßitü  xci^P^i'^*»  u.  2006  ßaciXei  'OcTdvr] 
TTiTuc  x«ip€iv,  pap.  W  22,  9:  ^v  Trj  irpöc  ^Qxov  ßaciXea  -  uttö  Gqpfi 
iepoTpa|Li|uaTeu)c  multaque  alia  similia.  atque  obseruare  licet  in  aliis 
papyrorum  locis  epistolographi  mores  adhiberi:  sie  in  pap.  Berol.  I  u. 
51:  dTr€7r6|iv|;a  xrivbe  xfiv  ßißXov,  iv'  eK|Lideric.  nee  non  in  pap.  V 
seruata  sunt  uerba  quae  priorem  formam  diuinari  iubeant:  p.  I  u.  27: 
Tpd[q)uj]  be  coi  Kar'  eiboc  dcpGövuJC,  iv'  eibric  Kai  |Lir|bev  emZ^riTTJc. 
etenim  haec  scribendi  ratio  propria  uidetur  esse  huic  librorum  generi: 
e.  c.  in  codice  Cauensi,  cuius  nuper  nouas  partes  Pitra  (1.  c.)  public! 
iuris  fecit,  nonnulla  huiuscemodi  inueniuntur  de  lapidibus  magicis  scripta: 


*  [Ol  T&c  ZajLiöXHiöoc  ^irtuöotc  BpuXoövxec  lulian.  Conviv.  (Caesares)  p.  309  C-l 

*  Apul.  de  mag.  c.  26.  27. 

*  Psellus  de  lapidum  uirtutibus  ed.  Bemard.  p.  38. 

*  <s.  die  Besprechung  von  E.  Rieß,   Nechepsonis  et  Petosiridis  fragmenta, 
Berl.  philol  Wochenschr.  1891,  820  und  Abrax.  161ff.> 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  i\ 

libellus  regis  Aegyptiorum  missus  ad  Octabiano  Augusto  (sie)  p.  641, 
Feramus  rex  ad  Adrianum  imperatorem  p.  647,  epistola  Parmoenis 
ad  Traianum  imperatorem  p.  647;  et  in  Damigeronte  qui  dicitur 
latino:  Euax  Arabiae  rex  Tiberio  imperatori  salutem/  nee  rarius 
talia  inueniuntur  in  rebus  alehymicis:  Ostanes  seribit  ad  Petesium 
Trepi  Tfic  lepäc  rauxric  Kai  Geiac  xexvnc^;  permulta  inter  ea,  quae  Kopp 
de  collectionibus  alchymieis  eomposuit^:  philosophi  cuiusdam  ad  Theo- 
dosium  magnum  imperatorem*,  Stephani  ad  Heraelium  magnum  imperato- 
rem^  Heliodori  ad  Theodosium  imperatorem''  aliaque  ereberrima.  elucet 
ex  bis  plerumque  fingi  epistolas  ad  regem  quendam  uel  imperatorem.' 
omnino  uero  e  natura  et  indole  est  artium  harum  non  publiearum,  ut 
semper  ab  uno  ad  unum  tradantur.  legas  enim  papyri  Berol.  I  uerba 
u.  192  TaÖTtt  ouv  iLiribevi  irapabibou  ei  )ir\  |uöviu  .  .  .  icxivuj  vm  cou 
dHioövTi  Tct  (irap'  fi)|au)v  pr|0€VTa  ev€p(Tri)|aaTa  (ef.  p.  V  III  20);  uelut 
et  inter  nostrates  hariolos  semper  ab  uno  uiro  ad  unam  mulierem  uel 
ab  una  muliere  ad  unum  uirum  solere  deferri  ars  magica  dicitur. 

Quae  cum  ita  sint,  liceat  proferre  sententiam  quo  modo  orti  sint 
libri  illi.  primum  quidem  uidentur  singula  praecepta  incantationes 
precationes  alia  ornata  esse  quasi  epistolae  illis  nominibus.  quae 
tabulae  (iriTraKia)  magis  magisque  consarcinantur  titulis  modo  omissis 
modo  seruatis  libeliique  nouis  ornantur  titulis  ut  KXeic  Mujüceiuc,  ^€p]Lioö 
TTxepuH'^  alia.  iterum  autem  atque  iterum  cum  describerentur  denuo 
partes  e  chartis  diuersis,  nouae  exstiterunt  farragines  e  partibus  prio- 
rum  uelut  pap.  Berol.  I  (u.  46)  [eK]  ßißXoic  inupiaic  (sie)  cuviaTiua  esse 
prae  se  fert.  itaque  tot  nomina  partibus  quibus  seruata  sunt  appo-759 
nuntur,  tot  libri  citantur.  ac  quoniam  sie  partium  hinc  illine  colla- 
tarum  particulae'  per  annorum  decursum  etiam  atque  etiam  describe- 
bantur,  orta  sunt  tandem  uolumina,  quäle  est  pap.  Parisina  uersuum  3274. 


^  Abel,  Lithica  p.  162. 

'  E  cod.  Vindobon.  prolatum  in  progr.  gymn.  Franc- los.  Vindob.  1886  p.  4 
a  C.  Wessely. 

'  Beitr.  inde  a  p.  249.      *  Kopp  1.  c.  p.  249  no.  8.      ^  Kopp  1.  c.  p.  249  no.  1 1. 

•  Kopp  1.  c.  p.  259  no.  8. 

'  Quin  qui  reges  esse  alias  non  dicuntur,  ut  titulus  exsistat  solitus,  efferun- 
tur  ad  Ihronum:  ßaciXel  'Ocxdvri  TTixuc  pap.  Paris,  u.  2006. 

^  ['€p|Lioö  irrdpuS,  cqpaTpa  Ari|LioKpiTou  kommen  zugleich  als  Titel  von  Tech- 
nopägnien  vor,  formell  von  den  Zauberbüchern  beeinflußt  nach  Crusius,  Woch. 
f.  class.  Philol.  1888  S.  1095,  inhaltlich  davon  emanzipiert,  Häberlin,  Deutsche 
Litt.  Zeit  1889,  1822;  s.  ebenda  über  Simias  und  den  Altar  des  lulius  Vestinus.j 

®  Fortasse  in  pap.  V  e  siglis  et  compendiis  quae  usurpantur  (pro  uocibus 
övo^a,  b€Tva,  Geöc,  üjpa,  xpr]iidricov ,  lfx<)pva  etc.)  maxime  uario  modo,  colligi 
potest  partes  e  diuersis  libris  exscriptas  esse.    e.  c.  in  ea  parte  quae  Oeofidv- 


\2  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

2  DE  TRADITARUM  PAPYRORUM  HISTORIA 

Non  solum  traditas  esse  papyrorum  partes  sed  etiam  ualde  corruptas 
elucet.  et  amputatae  et  amplificatae  eaedem  partes  propagabantur: 
uidemus  in  pap.  W  res  iam  prolatas  inde  a  p.  IX  paene  omnes  am- 
pliore  stilo  repeti.  satis  uero  illa  illustrare  possumus  papyro  V.  frag- 
menta  uides  amputata  uelut  in  initio,  ubi  TrpäEic,  qua  Köpr)  cogitur,  iam 
affertur  incantationibus  et  precationibus  quae  solent  praecedere  omissis; 
uides  in  p.  VI  a  u.  7  usque  ad  u.  17  immissas  duas  particulas,  quarum 
prior  initio  posterior  fine  caret.  quae  utrum  iam  antea  e  continuatione 
recta  ereptae  an  huc  demum  e  schedula  quasi  in  fronte  et  in  tergo 
lacerata  delatae  sint  uix  diiudices.  Nee  mirum  quod  homines  imae 
plebis  in  usum  describentes  menda  plurima  uerbis  intulerunt  atque 
insaniam  ipsam  insaniorem  reddiderunt- 

Repetitio  aberranti  oculo  tribuenda  occurrit  p.  VII  u.  9  sqq.:  u»  tojv 
(pavepiuv  KaXuTTTai,  (b  tujv  Nejiieceujv  tijuv  cuv  u)liiv  biaTpißoucüuv  xrjv 
TTäcav  ujpav  KußepvfjTai  — ,  u.  12  u)  tiuv  d7T0KeKpu)Li|aeviJuv  qpavepiuTai, 
d)  Tiuv  Nejueceujv  cuv  ujuTv  biaxpißouvTuuv  xriv  Träcav  ujpav  irdXiv  Kußep- 
vfJTtti.  apparet  enim  conscribendum  esse  u»  täv  qpavepojv  KaXuTTrai 
et  u)  Tüuv  dTroKeKpu|U|ueviJuv  q)av6piJUTai:  scriba  uero  alterum  omissum 
postea  adserens  illa  de  Nemesibus  leui  calamo  iterauit  et  irdXiv  ipse 
addidit.  namque  quo  modo  mutarint  ipsi  scribae,  uides  in  p.  VII  u.  2: 
certe  in  u.  3  tradebatur  eTTiGue,  quod  quoniam  iam  in  u.  2  aberrante 
oculo  scripserat,  mutauit  ^mGucac  in  anteced.  uers.:  sie  enim  correctum 
est  in  hac  ipsa  papyro.  praeterea  interdum  suo  loco  mota  sunt  quae- 
dam  ut  ea  quae  de  sculptura  anuli  p.  VIII  20  adseruntur,  uidentur 
trahenda  esse  ad  descriptionem  sequentem  alterius  anuli,  quoniam  de 
altero  iam  eadem  dicta  sunt  VI  30  sqq. 

Nee  desunt  menda  litterarum,  qualia  in  omnibus  codicibus  inueniun- 
tur.  p.  III  u.  9:  iropeuöeic  Trdvxa  töttov  Kai  Trdcav  okiav  — .  scriben- 
dum:  TTOpeuGeic  eic  rrdvia  töttov  ktX.  (cf.  p.  IV  25,  29  al.).  p.  I  24 
7T3ir|cac  TÖv  epujxa  im  TparreZ^Tic  ktX.  scribendum :  eiriGriceic  ktX. 
760  (TTOiricac  iam  in  eodem  uersu  legitur).  p.  VII  30  eXeOcerai,  scribendum 
eXiccexai.  p.  VII  11  eirixdKTai:  scrib.  uTTOidKTai.  p.  IX  22  x^jp^iv: 
scr.  x^pu^v.  p.  V  15  legitur  Tevecöiu  ßaTrXajuri  aurn:  iam  ßaTiXaiurj  uox 
magica  habebatur:  legas  pap.  Paris,  u.  970  TCvecGiü  cpiöc  TuXdroc  ßdGoc 
^flKoc  Ov|;oc  auTn-  Alia  permulta  docebit  editio  ipsa.  uides  quanta 
stoliditate  scribae  prouinciam  administrauerint. 

Tiov  appellatur,  paene  nulla  sigia,  in  iis,  quae  öveipotroimtroi  uocantur,  permulta 
leguntur;  praeterquam  quod  modo  hoc  modo  illud  compendium  eidem  uoci 
adhibetur. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 


13 


Itaque  saepe  redintegrare  plane  non  possumus  quae  originitus  scri- 
bebantur.  optime  uero  sarcinandi  et  discerpendi  rationem  illustrare 
possumus,  quoniam  compluriens  eaedem  partes  uario  modo  propagatae 
in  duabus  papyris  occurrunt.     exemplis  igitur  docere  liceat. 


Pap.  Leid.  V  p.  HI  u.  6a  sqq. 
'  *tü  r|  Tiäca  kticic   uirÖKeiTai 

^  enl  ToO  XuJToO  KaOrjiLievoc 
Ktti  XajLiTTupibujv  xrjv  öXt^v 
olKoufLievriv 

'  dpu6pä[c]  OaXdccTic 
^  ö  ixiuv  jiopcpnv 

^  cu    €?   6   Vr|7TlOC 
***dv       be      TOIC      TTpOC      VÖTOV 

^^p€Clv 


^^  KaQllr)  TCip  KOpKo6€iXo€ibr|C 
^^^bpdKUiv  €l  TTiepoeibric 

**  &c  Top  ^«pwc  iq  dXnöeia 

^2  nKe    ^01,    KXOei    ^01    (im 

rrjvbe  tt]v  xP^^"^) 
^*  lidticxe 


^^  ifd)  cim  6  cuvTiviricac  uttö 
TÖ  i€pöv  öpoc  Ktti  dbujpricuj 


Pap.  Berol.  II  u.  101  sqq. 
C€  KaXiu  TÖv  iLieTctv  ev  öupaviu,  depoeibf], 
auTeEovjciov,  d)  ■üTieT&fx]  iräca  9ucic, 
uic  (scr.  öc)  KttTOiKeTc  xriv  öXr|v  oiKou)Lievr|V 
bopuqpopoöciv  Ol  bexa^H  fiTavTec  eiri 
XujTUJ  Ka9ri)nevoc  Kai  XaiuTTupitiuv 
Tf|v  6Xr|v  oiKoujLievTiv  ö  KaiabeiHac 
[im  TTic  Tnc]  Z^uJtt,  o\j  tö  lepov  öpveov 
^Xeic  ev  Tri  cioXr)  ev  t[oTc  iT]pöc  dir- 
TiXiiuTTiv  fuepeci  Tfjc  dpuOpdc    GaXdccnc 

tue  [t ?IX€ic   dv  Toic  TTpöc  ßoppd 

juepeci    )Liopq)f]V    vtittiou    Traiböc    dirl 
XujTUj    KttOrijuevoc    dvToXeö    7roXuiüvu)Lie 
cecevY€v  ßapcpapaTTHC  dv  be  toTc  irpöc 
VÖTOV   juepeci  iiiopcpnv  exeic  toö  dTiou 
lepaKOC,    bi*    f)c    TrejuTTeic    Tfjv    eic    depa 
TTupwciv,    Tnv    Ttvo|Lievnv    XepGeH    avaE 
dv  bi  ToTc  Trpöc  Xißa  inepeci  )Liop(pr)v  ^X^JV 
KOpKobiXou  oupdv  öqpeujc,  ev0ev  d9iujv 
ueTouc  Ktti  xiövac.    dv  be  toic  irpoc  dir- 
r|Xiu)TTiv  inepeci  bpdKOVTa  ex€ic  TTTepo- 
cpufi  ßaciXeiov  ex^v  depoeibfi,  lü  Ka[Ta]- 
KpaTeic  ToO  uTi'  oiipavoö  Kai  im  thc 
eic    Mujüceuj    cu    dp'    dcpdvnc    Trj    dXn- 
Geia      ----------- 

kXöGi  )Lioi,  jidTiCTC  0ee,  Ko|a|aric,  Tf]V 
fijuepav  (pwiil^v  vaO|Lia|LiaiJuO  6  vr|7Tioc 
dvaTeXXujv  juaipaxaxGa  öXov  ttöXov  bi- 
[objeuiüv  GapKaxaxav  6  eauTtu  cuvtivö- 
inevoc  Kai  buvaiuoujLievoc  irpocauHfiTa  Kai 
TToXucpuuTicTa  cecevTev  ßapcpaparrnc  'J^«" 
Tujv  9epiCTe  Gee,  ko|li)liti 

6  )Li€TiCTOC  Kai  icxupöc  Geöc  i^di  ei^i  6  761 
beiva  ocTic  coi  dirrivTiica  Kai  biljpöv  MOi 


14 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 


fiOl  Tf|V  TOÖ  6v(6|LiaTOC)   cou 

Tvoiciv  Tiv  Ktti  TT]pr|CLU  ktX. 
-  ö  Iwv  0€Öc   (cf.  Pap.  Paris. 

1038.  1563.  859.  956) 
^  uoces  magicae  et  praecepta 

peculiaria  III  u.  6  -  1 1 
•''  opKii^u)    ce    Kttx'    Off iou    Kai 

ktX. 
®^T€vec6uj   Tobe  npäfixa   r]br] 

ß' 

^  6  eK   Tiüv    b'    iLiepujv    touc 
dvejLiouc  cuvceituv 


^bLuprjciu  Trjv  toö  ineticTOu  cou  övö- 
ILittToc  Tvujciv  ou  T]  ^ifiqpoc  0p.  ir)  le  la 
lari   —    —   —    —    —    —    —    —    —    —    —    — 


ILiepiuv 
1 


Neque  alteram  ex  altera  neque  utramque  ex  uno  fönte  sie  de- 
scriptam  esse  incantationem  apparet;  per  satis  diuturnum  tempus  denuo 
iterum  atque  iterum  describebant  uariabant  amputabant  addebant,  ut 
tandem  talia  prodirent;  quibus  tarnen  origo  eadem  est  sine  ulla  dubi- 
tatione.  uide  insanas  corruptelas:  6  ^x^v  luopcpriv  in  cod.  Leid.  — 
cuius?  iam  non  additur;  epuBpäc  ÖaXdccric:  —  unde  pendeat  omittitur. 
formarum  uero  dei  et  regionum  caeli  enumeratarum  quam  misella 
fragmenta  relicta  sunt  in  pap.  V,  quae  sola  non  intellegantur!  ^ev  be 
Tok  Ttpöc  vÖTov  juepeci'  desumpsere  -  tum  omnia  omisere;  sed  quae 
postea  tribuuntur  regioni  orientis  'bpotKovia  e'xeic  -mepocpuf]'  -  ad- 
scripsere:  'bpdKiüv  ei  Triepoeibric'.  atque  in  pap.  V  etiam  partes  ser- 
uantur  in  p.  Berol.  omissae  (2,  4,  5,  6^  8),  quae  formulae  ex  parte  addi 
potuerunt  a  scribis  ipsis:  uocum  magicarum  plus  minusue  hie  iüic  inter- 
posuere. 

Probantur    quae  obseruamus  altero  quod  in  promptu  est  exemplo: 


Pap.  V 
p.  VII  u.  27-33. 
beöpö  jLioi  ö  eK  tiuv  b'  dveiuiuv, 
6  TravTOKpdTUjp  0eöc, 
6  ^vcpucricac  TTveujuaTa 
dv0piuTroic  eic  J^ujr|v, 

beCTTOTtt    TU)V    €V    KOCJUIU    KttXuJV 

errdKOucöv  jliou,  Kupie, 


Pap.  W 
p.  XXII  u.  14-27. 

beOpÖ    ]UOl    6    ^K    TOIV    b'    dV€|LlU)V, 

6  TravTOKpdxujp, 

6  evcpucricac  Ttveujua 

dv0piJU7Toic  eic  Z^ujrjv, 


^  Numeros   adieci  singulis   particuüs   dispositis ,   ut   pap.  Leid,  partes  quo- 
modo  se  excipiant  intellegeretur. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 


15 


OU   ^CTIV  t6   KpUTTTÖV   övofna 
dppTlTOV, 


ö  Ol  baijLiovec  dKoucavxec 

TTTOOÖVTai 

OU   Kttl   6   fiXioc 


ßapßapeix 


apceMcpe)Li(pu)0 


OU  TÖ  övo]Lia,  ov  r\  tn  (XKOucaca 
dXiccexai,  ö  ö.br{c  dKouuuv  ra- 
pdccetai,  TTOTa^oi,  edXacca,  Xi^- 
vai,  TTTiTtti,  dKOuoucai  TniTuviai,  ai 
TTexpai  dKoucacai  priYuvxai  (sie) 

Kai  oupavöc  }ikv  KCcpaXfi, 

aiOfip  be  cuj|Lia, 

Tn  TTÖbec, 

xö  be  Trepi  ce  (ibujp  lUKeavoc 

dTaeöc  bai|Liujv 

CU    61    KUplOC 

6  T€vvüuv  Kai  xpeqpujv 
Kai  auHujv  xd  irdvxa 


oij  ecxiv  x6  kputtxov  övojua 

Kai  dppiixov 

ev  dvGpiuTToic,  xö  )udvxi   (sie)*   Xa- 

XriGfjvai  ou  buvaxai, 
oij  Kai  Ol  baijLiovec  dKOuovxec  762 

xö  övojua  TTxoüjvxai  (sie) 
ou  ö  fiXioc 
apveßouax  ßoXXox 
ßapßapix 

ßßaaXa  a^riv  TTxibaiou  apveßouax 
Kai  ceXrivri 
apcev  irev  TipujouO 
ßapßapa  lujvri  ocpap  jaejuipexei 
öcpöaXjioi  eiciv  dKdjLiaxoi 
XdjUTTovxec  dv  xaTc  KÖpaic 

XUJV    dvGptUTTUJV 


(Ij  oupavöc  Keq)aXr|, 

aiGrip  be  cujjua, 

Tn  be  TTÖbec, 

xö  be  Trepi  cöv  ubiup 

6  dTaGobaijLiujv 

cu  ei  ö  ujKeavöc 

ö  Y^vvujv  dyaGd  Kai  xpoqwjuv 

xr]v  oiKOU)nevr]V. 


Nonnulla  tantum  adnotabo:  in  pap.  V  quid  sit  ^oij  Kai  ö  fiXioc\ 
intellegitur  eomparato  loeo  pap.  W,  ubi  non  modo  plures  uoces  magi- 
cae  adscriptae  sunt  sed  etiam  sententiae  conexus  multo  plenior  ser- 
uatur.  intereiderunt  enim  in  pap.  V,  quae  seribenda  erant  post  ^oij  Kai 
6  fiXioc',  quae  uerba  nune  e  similium  sententiarum  eonexu  (oupavöc 
^ev  KeqpaXf]  kxX.)  erepta  interposita  sunt  in  alius  sensus  continuationem 
(ou  Ol  bai|Liovec  —  irxoouvxai  kxX.).  —  uideas  uerba  in  loeorum  finibus 
perturbata:  elueet  illius  membrorum  dei  deseriptionis  ultimo  enuntiato 
dieendum  fuisse  oceanum  esse  zonam  dei:  scriptum   erat  ut  puto;  xö 


^  <dvepiÜTTOu  cTÖjuaTi  corr.  L.  Radermacher  Rh.  M.  55,  150.> 


15  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

be  TrepiZ^ujjua  ujKeavöc.  cu  ei  otTaGoc  bai.uuuv,  cu  ei  Kupioc  — .^  utrius 
papyri  locus  prius  descriptus  uel  utra  papyrus  ex  utra  sit  deriuata 
uana  quaestio.  nemo  hercle  diuinat  quotiens  nouae  ex  antecedentibus 
tales  precationes  uariatae  et  confertae  sint.  papyri  V  incantationis  sane 
fons  erat  recensio,  in  qua  etiam  uersus  illi  quattuordecim  (p.  VII  33- 
763  VIII  5),  quos  primus  compilator  sententiis  exhaustis  ipsos  insuper  ad- 
scripsisse  uidetur,  seruati  erant  quamuis  laceri  (cf.  infra). 

Quae  secuntur  sententiae  post  illas  tractatas  et  ipsae  in  pap.  V  et 
W  (V:  VIII  5-10;  W:  XVII  27-43)  paene  sunt  eaedem;  sed  quoniam 
non  satis  mulium  utilitatis  adferunt,  non  appono.  neque  uero  piget 
adnotare  legi  in  totius  imprecationis  clausula  in  pap.  V,  VIII  10:  oö  tö 
övojna  t6  evboHov  oi  aj-feKoi  ujuvoöciv,  in  pap.  W,  XVII  40:  oij  ai 
lioöcai  ujLivoöciv  tö  ^vboHov  övojua.  iam  diuinamus  hoc  fluxisse  e 
recensione  quae  magis  religionem  Graecam  sapere  uidebatur,  illud  e 
recensione  magis  ut  ita  dicam  ludaica.  sed  omnia  iam  tum  mixta 
fuere:  si  quis  in  harum  formularum  compositionibus  innumeris  uaria- 
tionibus  uariatis  auctis  corruptis  dilaceratis,  quibus  magis  insaniam  quam 
rationem  captare  e  re  erat  — ,  si  quis  certos  fontium  riuulos  detegere 
conaretur,  certe  quidem  fluctus  congereret  in  cribrum  ac  sibi  quaereret 
elleborum,  quo  opus  erat  nebulonibus  illis  magicis. 

Sed  postea  magis  magisque  id  egere,  ut  quae  tum  scripta  essent, 
diligenter  seruarentur.  namque  proprium  est  uocibus  et  incantationibus 
magicis,  ut  eadem  semper  uox  ac  littera  proferri  debeat.  itaque  legi- 
mus  unam  recensionem  rectam  esse  affirmari  in  papyro  ipsa  p.  X  8: 
toOto  Top  ^CTiv  t6  d\r|6ec,  rd  be  ctWa  öca  qpeperai  bid  jiiaKpujv 
eipeubriTÖpTiTai  iiifiKOC  ekaTov  Trepiexovxa.  atque  in  aliis  papyris  cum 
diligentia  saepe  sine  dubio  fucata  uariae  lectiones  adnotantur:  dXXiuc 
-   Ol  be  -  et  similia.^ 

Sed  si  haec  omnia  reputauimus,  difficillimum  est  statuere  quo  modo 
edendus  et  emendandus  sit  papyri  contextus,  eo  difficilius,  quod  qui 
descripserunt  et  ipsi  mutarunt;  nee  dignosci  saepe  potest,  quid  ei  qui 
postremus  descripsit  tribuendum  sit,  quid  prioribus,  quid  auctori. 

Igitur  nisi  certi  quid  diuinari  potest  de  prioribus  enuntiatorum  formis, 
seruemus  tradita,  praesertim  cum  rationis  leges  saepe  non  item  atque 
alias  hie  obseruatae  sint.  quid  uero  statuas,  quo  modo  in  rebus  sin- 
gulis  grammaticis  et  orthographicis  edenda  sint  uerba  papyri?    quoniam 


*  Cf.  fragm.  orph.  123  u.  30  (Abel):  la^ccn  bk  Idjvr]  Trepinx^oc  olöiuia  eaXdccTic. 
fortasse  in  altera  recensione  legebatur  tö  bk  TrepiZuüjLia  ö6u)p,  in  altera  tö  bä 
irepiZuu^a  ibneavöc,  unde  orta  perturbatio. 

*  Cf.  Wessely,  Stud.  Vind.  VIII  p.  188  et  in  '  denkschriften '  1.  c.  p.  36. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  17 

saepe  uix  diiudices,  quae  stoliditati  quae  rationi  tribuenda  sint.  nil 
seruaui  nisi  quae  certa  ratione  grammatica  nituntur,  ut  papyrum  re  uera 
emendatam  ederem.  ipsi  illi  scribae  non  ignorabant  sua  emendanda 
esse  et  haud  raro  emendabant:  pap.  W  9,  35:  dTTOKeuecGai  corr.  diro- 
TeuecGai,  p.  W  8,  3:  GupiToc  com  Gupiboc,  p.  W  10,  14:  TiXucidrov 
corr.  TrXncidZiov,  p.  W  11,  16:  niuvei  corr.  üjuvei,  p.  W  16,  32:  tvujti 
com  TvOuGi,  p.  W  24,  32:  qpOXov  com  cpuXXov,  p.  W  9,  42:  xiou  com 
Giou  (=  Geiou).  ac  formae  illae  aiTuiTTidZlovjcai  singillatim  tantum 
occurrunt,  sed  solent  eadem  uerba  scribi  modo  solito.  non  est  dia- 
lectus  certis  legibus  circumscripta,  sed  graecitatis  corruptio  certo  more 
propagata.  ne  tamen  corruptionis  Aegyptiae  uestigia  plane  oblitterarem  764 
-  non  minimum  quidem  horum  monumentorum  pretium  est,  ut  illius 
sermonis  Graeci  Aegyptii  formas  ac  uoces  ab  hominibus  plebeis  usur- 
patas  accipiamus  -,  omnia  haec  orthographica  et  grammatica  collegi 
in  indice  grammatico. 

11.  DE  ORIGINE  AC  FONTIBUS  PAPYRI  LUGDUNENSIS  BATAUI 

J  384 
1  GNOSTICA 
Primo  obtutu  nunc  apparet  omnes  hasce  papyros  esse  confectas  ab 
hominibus  gnosticis,  quae  res  Partheyo  pap.  Berolinenses  edenti  non- 
dum  certa  uidebatur  esse  (p.  116).  ac  si  non  tota  sententiarum  et 
precationum  natura  se  praestaret  gnosticam,  certissimis  papyrorum 
uerbis  doceremur:  in  pap.  Mimaut  d.  L.  u.  290  sqq.:  iva  ce  vor|cuj|U6v 
XÖTOv,  i'va  c€  eTriKaXecuj|Li€v  fvüuciv.  nee  in  pap.  V  ipsa  deest  uox 
TvAcic  (III  20):  Kai  ^bujpr|cu)  rriv  xoö  ineTiCTOu  övö)LiaTÖc  cou  fviuciv. 
sed  si  certam  certi  cuiusdam  philosophi  gnostici  doctrinam  requirere 
conamur,  nil  proficimus:  hie  enim  non  habemus  philosophica  monu- 
menta,  sed  mystica  ac  superstitiosa,  non  doctorum  doctrinam,  sed 
hariolationes  inferiorum  hominum.  quomodo  enim  plebis  multitudo 
suum  in  usum  acquisiuerit  philosophorum  placita,  simili  modo  hie  uide- 
mus  atque  in  Cabbalae  ludibriis,  quae  e  ludaeorum  philosophia  petita 
sunt.^  reputandum  praeterea  gnosin  originem  duxisse  non  tam  e  sen- 
tentiis  philosophorum  quam  ex  hariolatorum  inuentis  superstitiosis  uisam 
esse  iam  antiquissimis  ecclesiasticis  scriptoribus.^  neque  uero  negabis 
in  papyris  iam  adeo  certa  uestigia  esse  gnoseos  ipsius,  ut  e  Valen- 

^  Cf.  Wiedemann  in  'Jahrbücher  des  Vereins  von  altertumsfreunden  im  Rhein- 
lande' 1885  p.  233. 

'  Placuit  Adolfo  Harnack  'zur  quellenkritik  der  geschichte  des  gnosticismus ' 
p.  29  sqq.    cf.  Baudissin,  'Studien  zur  semitischen   religionsgeschichte '  p.  252. 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  2 


18  Papyrus  magica  musei  Lugfdunensis  Batavi 

tini,  qui  in  Aegypto  permultum  ualebat,  eiusque  discipulorum  placitis  ea 
manasse  eluceat.  nil  amplius  pro  certo  habeas:  nisi  forte  praecipue 
Marcum,  quem  de  numeris  mysticis  multa  excogitasse  tradit  Hippolytus, 
tales  res  excitasse  putas.*  quae  praeterea  certam  significare  uidentur 
sectam,  fallunt.^ 
765  Ne  christianae  quidem  religionis  multa  adsunt  uestigia:  etsi  noui 
testamenti  haec  illa  scripta  non  ignorari  uidentur  (cf.  infra  p.  766),  etsi 
nomen  'Incoöc  Xpiciöc  aduocatur  (p.  V  VI  17,  pap.  Paris.  1233,  3019), 
tarnen  appellatur  6  0ۅc  tujv  ^ۧpaiujv.  uerine  est  simile  Signum  iliud 
A,  quod  scribitur  p.  IV  32,  esse  monogramma  notissimum  Christi? 
quod  certe  iam  antiquiore  quam  Constantini  aetate"'  in  usu  erat,  sae- 
pius  uero  commiscebatur  cum  signo  Aegyptio  ^,  quod  in  manibus  de- 
orum  Aegyptiorum  pictum  significabat  uitam.*  nonne  hie  talia  statuenda? 
sed  quoniam  j^  in  papyris  saepius  alias  significat  res,  potest  et  hie 
alio  explicari  modo.^ 

Iam  ut  quantum  ualeat  in  papyro  gnosis  intellegamus,  componamus 
breui  uoces  ac  dicta  certe  gnostica: 

aiiuv.  aiüjvec.  VII  35.  uox  gnosticis  tritissima.  Matter  bist, 
du  gnost.  II  111  (de  Valentini  aeonibus). 

TT  i  CT  IC.  ifd)  f]  TTiCTic  cic  dvGptuTTouc  eKpuGeictt  VII  17.  non  minus 
iis  usitata:  uide  librum  'Pistis  Sophia'  ^  et  in  Hippolyti  refut.  omn.  haer.  VI  30. ' 

dTTÖppoia.  ou  ai  dTaOai  dtröppoiai  tiuv  dcxepujv  eiciv  baijuovec 
Kai  Tuxai*  Ktti  jioipai  VIII  7.     notae  sunt  dTTÖppoiai,  emanationes,  irpo- 

*  AÖYoc  (incantatio)  in  pap.  Paris,  u.  3084  dicitur  (pu\acc6|Lievoc  irapct  Kaea- 
potc  dvbpdciv.  Wessely  in  indice  p.  178  adnotat  in  uncis:  'Essener*,  minime: 
si  certi  homines  significantur,  Nouatiani  dicuntur,  qui  KaOapoi  uocabantur  qui 
inde  a  med.  tert.  saec.  p.  Chr.  et  Alexandriae  floruere.    Irecte  Wessely.] 

'  'Abujvaioc  'Accaqpaioc  traduntur  fuisse  numina  ophitarum  (e.  c.  Orig.  c.  Cels. 
VI  31):  a6a)vai€  legitur  VIII  17,  IX  5.  acrpacpaiov  IX  8  (cf.  VI  11).  caue  ne 
imbrem  congeras  in  cribrum. 

^  Apud.  Ross.  inscr.  Graec.  ined.  III  n.  246 ^  p.  8  legitur,  qui  titulus  2.  p.  Chr. 
saeculo  attribuitur.   cf.  Herzog, '  realencyclop.  für  protest.  theologie*.  IX,  p.  738  sqq. 

*  Letronne  exam.  arch6ol.  de  deux  questions  sur  la  croix  ans6e  6gyptienne 
p.  285  sqq.  in  'osuvres  choisies.    III.  serie.   tom.  2*  p.  133  sqq. 

*  XPnci|iiov?  sie  iam  Wessely  uoluit  intellegi  in  pap.  britann.  XL  VI  97.  'denk- 
schriften'  1.  c,  p.  39.    pap.  britann.  XLVI  399,  406  ^  =  xpu». 

*  Opus  gnosticum  Valentine  adiudicatum  e  cod.  manuscr.  coptico  Londinensi 
descripsit  et  lat.  uertit  Schwartze.   ed.  Petermann.    Berol.  1851. 

'Edd.  Duncker  et  Schneidewin.   Gott.  1859. 

*  l'Tuxai  sind  deutlich  die  Schicksalsfrauen  wie  im  Mittel-  und  Neugriechi- 
schen. ,  .  .  Damit  erledigt  sich  die  Stelle  von  den  ^tttci  rOxai  toö  oOpavoö  der 
Ephesia  grammata'.  Zuschrift  von  O.  Crusius  vom  4.  I.  1889.  Ephesia  gram- 
mata  ^von  Karl  Wessely,  Jahresber.  des  Franz -Joseph -Gymnasiums  für  1885/86)> 
p.  17  no.  Ä5  <S.  A.  Dieterich,  Eine  Mithrasliturgie  *  S.  70>.] 


Papyrus  magica  musei  Lug:clunensis  Batavi  \g 

ßoXai  gnosticorum.    sescentiens  legimus  in  Pist.  Soph.  'magna  diröppoia 

luminis'  (p.  76,  82,  83,  84  etc   etc.). 

ctTTeXoi.     baiiuovec     TTveO)uaTa.     IX  10.   VIII  14.   V  7.  VIII  14. 

de   angelis   gnosticorum  uide  Lipsii  notas  in  'Ersch  und  Gruber,  ency- 

clop/  .1.  sect.  pars  71   p.  237.     baijuövia  in  Pist.  Soph.  saepe  uocantur 

(p.  134,  237  etc.). 

TTveOiua.     nKOucGri    jnou    tö    TTveöjiia   -    utto  irveuiuaToc  X  12  sqq.^ 
äyiov  TTV€u^a.     Hippol.  VI  31  de  spiritu  säncto  in  Valentini  doc- 

trina. 

TTpOTldTUip.       VII    20.      TTaVTOKpdTUJp    VII    27.      VIII  3    TrpoTTdTujp 

saepe  in  Pist.  Soph.  p.  13,  17,  29  (dTevriToc  -  auTOTCvriToc  etc.). 
döparoc  p.  117,  136  etc.  cf.  VII  19  öv  oubeic  6pa  oube  ttpottctOjc  övo- 
^dZ^ei.  -  apud  Marcum:  Hippol.  VI  43.  irairip  dtewriToc  dcpGapToc  ap- 
Valent.  Hippol.  VI  29.     Irenaei  c.  haer.  I  1,  1. 

ö  TTupivoc  Oeöc  IV  9:  sie  apud  Naassenos  (Ophitas)  appellabatur 766 
briiuioupTÖc  secundum  Hippol.  V  7.^ 

ILiucxripiov  sescentiens  in  libro  Pist.  Soph.  inuenitur  (uel  in  prima 
pagina  noniens).     cf.  iam  Matthaei  13,  11  Tvoivai  rd  inucTrjpia. 

irappncia  VI  12.  tritissima  uox  in  Pist.  Soph.  p.  7,  p.  19  tef, 
p.  20,  84,  86  etc.  etc 

övo)Lia  67rTaYpd)Li)LiaTOV  —  dpjnoviav  tujv  enra  qpOÖTTiuv  exöv- 
Tuuv  (pujvdc  VIII  6.  Pist.  Soph.  p.  3  *septem  (puJvaC.  de  septem  uoca- 
libus  ap.  Marcum  gnosticum  uid.  Hippol.  VI  48. 

öcpeoTTpöcujTroc  6eöc  V  19  in  memoriam  reuocat  Ocov  öqpiöinopcpov 
Ophitarum.     cf.  Lipsium  1.  c.  p.  279. 

TÖv  kukXov  |Lif|  Tivu)CKU)v  ToO  aTiou  KttvGdpou  11  5.  est  formula 
dicendi  gnostica-  Matter  bist,  du  gnost.  I  223,  Reuvens  lettres  ä  Le- 
tronne  I  p.  14.  cf.  Evang.  lohann.  I  10:  6  b^  K6c^oc  auxov  ouk  ifvw. 
epist.  I  ad  Corinth.  1,  21:  ouk  ctvu)  6  köcjuoc  bid  rfic  cocpiac  töv  Oeov. 

TCvecOu)  ßdGoc  TrXdxoc  infiKoc  autn  V  17.  memineris  uerborum 
geneseos  T^vecGuü  (piIic,  unde  fortasse  illud  sumpsere  gnostici.  insuper 
in  memoriam  uocatur  locus  ep.  ad  Ephes.  3,  18:  iva  eHicxucTixe  Kaxa- 
XaßecÖai  cuv  irdci  toic  drioic,  xi  xö  TrXdxoc  Kai  iiifiKOC  Kai  ßdOoc  xal 
livpoc,  Tvujvai  xe  xriv  uTtepßdXXoucav  xfic  Tvuuceujc  kxX.  (cf.  LXX  lob. 
XI  7,  8,  9);   unde  illa   uerba   huc   deportata    esse   per   gnosticos   non 


1  »< 


'6v  TU)  K€vuj  1Tveu^aTl  in  formula  deuotiua  et  ipsum  uidetur  huc  trahendum : 
nil  inueni  prorsus  simile. 

*  Ed.  Duncker  et  Schneid,  p.  146  toj  Taiirric  rnc  Kxiceiuc  6n|iiioupT«4'  laXöaßaiwe, 
eeö»  iTUpivui,  dplG^öv  TCTapriu-  oötujc  TOp  tov  briM^o^PTÖv  Kai  irax^pa  toO  iÖikoO 
KÖciuou  KaXoöciv,     cf.  V  26. 

2* 


20  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

modo  conicio  sed  affirmo:  namque  Hippolytus  in  describenda  Valentini 
doctrina  citat  haec  ipsa  uerba  et  quomodo  ille  explicarit  locum  adnotat 
(VI  34)/  Pist.  Soph.  p.  146:  "homines  qui  cognouerint  uerbum  illud 
cognituros  esse  scientiam  uerborum  omnium,  quae  dixi  uobis,  quod 
ßdGoc  et  quod  altitudinem,  quod  longitudinem  et  quod  latitudinem' 
etc. 

6  evcpucrjcac  7TV€U|LiaTa  dv0pu)7Toic  eic  Z^ujtjv  VII  27.  eadem 
uia  huc  delata  esse  uidentur,  si  legimus  uerba  geneseos  (II  7)  et  ipsa 
ab  Hippolyto  in  enarrandis  Valentini  sententiis  adscripta:  Kai  evecpucricev 
€ic  TÖ  TTpöcuiTTOV  auToö  Trvof]v  lvjf[c  (VI  34). 

8v  KaXoOci  BaXxom  V  11.  nonne  est  Bileam  {^^^^y  BaXad|Li),  de 
quo  mago  ac  deuotore  narratur  in  4.  libr.  Mos.  c.  XXII  5  sqq.?  a  quo 
nomen  duxisse  Nicolaitae  gnostici  (2.  saec.  p.  Chr.)  uidebantur  nonnullis 
theologis.  (cf.  imprimis  apocal.  loh.  II  14,  15  et  Langii  notas  in  commen- 
tario  apocal.  (1871)  p.  84.) 

Videmus  haud  pauca  et  a  ludaeis  petita  esse."  sed  nee  cum  aliis 
767illis  nee  cum  Graecorum  et  Aegyptiorum  religionibus  commixta  esse 
potuere  unquam  nisi  tum  a  gnosticis.  neque  enim  unquam  deorum 
ac  religionum  conturbatio  in  orbe  terrarum  uisa  est  tanta,  quantam  illic 
uidemus.  omnium  paene  religionum,  quae  dilabi  atque  infringi  coepere, 
ruinae  ac  fragmenta  corruere  in  ingentum  superstitionum  molem  in 
Aegypto  maxime  coaceruatam.  nunc  demum  papyri  haece  docent,  quo 
processerint  in  his  rebus  illa  aetate,  et  qualis  re  uera  fuerit  gnosis 
uolgaris.  habes  adscriptos,  quales  deos  ac  numina  adorarint  uel  no- 
minarint: 

'ATttGobaiiuuiv^  "A)n|uijuv,  ''Avoußic,  'ApTroKpdTTic,  ^Epiudvoußic,  GtüG, 
"Icic,  ''Ocipic,  CdpaTTic,  CriG,  Tucpuiv,  '^Qpoc. 

'Aßpad|u,  1cdK,  'laKÜuß,  '!cpar|X  f  Iduj  CaßatOG),  'Iricoöc  XpiCTÖc  6  tujv 
'Gßpaiujv  Geöc. 

Miöpac,  MeXiKepxric,  luriiriP  Öeüuv. 

'Aörivd,  '"'Aibric,  'AttöXXujv,  "Apr|c,  ''ApreiiAic,  ^'AqppobiTTi,  Aiövucoc, 
'€KdTTi,  'Epivvuec,  ' Epjufic,  "Gpujc,  Zeuc,  "^RXioc, '^Hcpaicroc,  Kpövoc,  Mrivri, 
TTepceqpdcca  et  TTepcecpövri,  CeXr|vri. 


^  VI  34:  iva  lEicxOcriTe  vofjcai,  xi  xö  ßdGoc,  öcirep  ^cxiv  6  TraxT^p  tujv  öXiuv, 
Kai  x(  TÖ  irXdxoc,  öirep  Icxiv  ö  cxaupöc,  ö  öpoc  xoO  nXripiüiuaTOC,  f\  ti  tö  iht^koc, 
TouT^CTi  t6  Tr\ripU)|Lia  tu)v  aiuüvujv. 

^  De  nominibus  harum  papyrorum  ludaeis  nonnulla  se  dixisse  adnotat 
Wessely  (denkschr.  1.  c.  p.  35)  in  actis  anglicis  'The  Expositor'  III  no.  13  p.  194, 
quae  bibliothecae  non  suppeditarunt. 

*  Numeros  non  opus  adscribere;  facile  quaeres  in  indice  uerborum,  quem 
Wessely  adseruit  editioni  pap.  Paris,  et  Lond.  denkschr.  1.  c.  p.  154  sqq. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  21 

AittKÖc,  'AKTttiri,  'AXkuövti,  'AX\r|KTUj,  'Aiucpidpaoc  xöövioc,  "AipoTTOc, 
'Axepiuv  xöövioc,  Bpi)nu),  Kepßepoc,  KXuuGu),  Adxecic,  MoOcai,  Nejueceic, 
Tdpiapoc  xöovioc,  Tr|6\jc,  Tixdv,  Xdpujv  xöövioc.^ 

Lucidissimum  in  ipsa  pap.  V  est  exemplum  deorum  mixtorum  p.  VII 
inde  a  u.  20,  cuius  rei  nouum  testimonium  efficio  ipse  in  p.  VI  17 
XpicToc  "Avoulßic].^ 

lam  nomina  illa  hie  illic  composita  inuenta  erant  in  gemmis  gnosti- 
cis,  quae  quin  omnia  amuleta  magica  fuerint,  uix  dubium  est.^  iam 
didicimus,  quantopere  superstitiones  gnosticae  peruolgatae  fuerint  per 
omnes  fere  imperii  Romani  prouincias;  in  Aegypto,  in  Syria,  in  Hi- 
spania,  quin  etiam  ad  Rhenum'*  inuenta  sunt  illa  amuleta.  aliquando 
historia  erit  conscribenda  superstitionis  illius,  ubi  quomodo  quando 
propagata  fuerit.^ 

Ac  si  nomina  magica  eodem  modo  inuenimus  in  papyris  ac  gemmis, 
quis  negabit  re  uera  papyros  esse  commentarium  et  quasi  clavem  ad- 
hibendam  frustulis  illis  lapidariis?  reuera  inuenimus  nomina  arcana  illa 
ritissima  lauu  Caßauie  abujvai  aßpaHac  etc.  in  gemmis  innumeris^;  re-768 
perimus  et  uoces  magicas  papyrorum  c€|U€ciXa)a,  cecevTev  ßapcpapaTTnc, 
dßXavaGavaXßa  dKpa|Li)LiaxaMapi '  et  alia  multa,  quae  conferre  inutile 
est. 

Neque  uero  hoc  genus  uocum  magicarum  a  gnosticis  inuentum  est 
iam  Aegyptii  antiquissimis  temporibus  —  inter  annos  1500  et  1000  a. 
Chr.  n.  -  talibus  litterarum  compositionibus  formidulosis  se  deos  cogere 
posse  opinabantur^i  iam  Graeci  antiquiore  aetate  utebantur  ^ephesiis 
litteris'''  ac  Romanos  iam  priscos  talia  adhibuisse  docet  Varro  de  r.  r. 

^  Alia  addi  possunt  e  papyris  demoticis  et  copticis  magicis  uelut  in  pap. 
copt.,  quam  ed.  L.  Stern  in  'ägypt.  zeitschr.'  1883  p.  43  inuocantur  Christus, 
Immanuel,  Maria. 

'  Cf.  imaginem  explicatam  in  Kingii  libro  'the  gnostics  and  their  remains, 
p.  91  sqq. 

'  Baudissin,  'Studien  zur  semit.  religionsgesch."   Ups.  1876.    I  p.  187. 

*  Tabula  argentea  gnostica  inuenta  est  prope  Badenweiler,  de  qua  egit 
Wiedemann  'jahrb.  des  Vereins  von  altertumsfreunden  im  rheinland'.    1885. 

'^  In  libellis  magicis  medii  aeui  eaedem  occurrunt  uoces:  Zebaoth  Adonay  etc. 
cf.  Wuttke,  'der  deutsche  volksaberglaube'  p.  177  adn.  nenne  et  multarum  rerum, 
quae  nunc  magicae  seruantur,  uUimi  fontes  sunt  illa  inuenta  gnostica? 

•^  Contulit  Baudissin  1.  c.  p.  189  sqq.,  qui  historiam  uocis  Mduu  (sie  acuen- 
dum  esse  docuit  p.  252)  instituit  ibid.  inde  a  p.  201. 

'  Cf.  Wiedemann  1.  c.  p.  220,  222,  225,  226.  Kopp,  Palaeogr.  crit.  III  p.  664, 
671,  681  etc. 

«  Vid.  Ed.  Meyer,  'gesch.  des  alten  Aegyptens'.  1887.  p.  275.  iam  legun- 
tur  talia  in  papyro  quae  uocatur  pap.  Harris. 

*  Cf.  Hesych.  s.  u.  fp&pL}xaTa.  Clem.  Alex.  Strom.  V  8.  Lobeckii  Aglaopham. 
p.  1163,  1330. 


22  Papyrus  magica  musei  Lug-dunensis  Batavi 

1,  2,  34  et  alias,  omnes  fere,  ut  puto,  populi  in  his  rebus  usurpabant 
uoces,  quae  quo  obscuriores  eo  diuiniores  uidebantur. 

Sed  illa  sunt  perpauca  ac  pusilla,  si  nunc  in  papyris  uidemus,  quan- 
tam  uocum  magicarum  incredibilem  molem  congesserint  gnostici,  qui 
primi  haud  dubie  haec  collegerunt  ac  cumularunt.^ 

Possuntne  haec  intellegi  atque  explicari?  ipsi  scriptores  adscribunt 
interdum  singulis  uocibus  eWrivicii  -  dßpaicTi  -  aiTUTTTicii  talia. 
Atque  eo  modo,  quo  haud  raro  sapiunt  illa  uerba  linguam  graecam  ut 
V  35 :  acxpaßov,  OecKepauve,  jueYaXovo .  riXio,  irepavo,  KOC|LioXa)UTrpoßTi\o 
ktX.,  quamquam  non  plane  graeca  sunt,  et  in  aegyptiis  hebraeis  aliis 
talia  interdum  subesse  concedo.^  sed  caue  ne  explicare  tibi  uidearis, 
quae  omni  ratione  carent.  rectissime  Wiedemannus,  uir  in  his  uersa- 
tissimus,  1.  c.^  de  nonnullis  usitatissimis  uerbis  iudicauit  ea  nil  esse  nisi 
lusum  litterarum,  alia  certo  quidem  modo  explicari  non  posse/  iam 
antiqui  ipsi  nonnulli  intellexere  ovöiuara  esse  dcrma.^  etsi  nemo  nisi 
qui  omnes  linguas,  quibus  uti  potuere,  probe  sciat  rem  diiudicare  pot- 
ent, tamen  certum  est  explicari  eo  modo,  quo  Zuendel^  Bergk' 
Kopp"*  alii  uoluere,  non  licere.  tamen  caue,  ne  af firmes  omnes  has 
769  uoculas  sensu  carere:  litterarum  complexiones  non  modo  saepe  recur- 
runt  eaedem  (cf.  ßaivxtuujx,  cecevTev  ßapcpapaßaTT^c) '^  sed  etiam  in 
similibus  incantationibus  uelut  epecxiTaX  itüepßTiö  iu)7TaKepßr,8  ktX. 
uidentur  adhiberi  in  formulis  deuouentibus.^^  haec  aliis  explicanda  re- 
mitto.  uerum  permulta  iam  nunc  uidemus  esse  uanos  numerorum  uel 
litterarum  lusus.  sie  aßpacaH  =  365",  ajuriv  =  99*^  intellegendum,  ac 
multa  certe  non  extricari  possunt,  si  reputamus  quanti  numerorum  ludi 


*  Laminae  illae  plumbeae:  CIGr.  III  5858  b  et  imprimis  quae  edita  est  a 
Lenormant,  M.  Rh.  IX  370  sqq.,  ubi  plurimae  similes  uoces  occurrunt,  postea 
demum  confectae  sunt,  altera  Alexandriae  reperta  3.  p.  Chr.  saec.  adtri- 
buenda. 

'  E.  c.  plana  sunt  illa  xpuße  Kpuße  X  10.  ßißiou  ßißiou  ccpri  C9T1  3,  6.  quae 
idem  significant  ac  raxv  ra^i»  r{br]  i\br]  (II  4,  IIl  13,  V  3).  [KpOße  KpOße  graeca 
sunt.) 

«  p.  222,  225,  228. 

*  Cf.  Wessely,  Stud.  Vindob.  VIII  182  sqq. 

^  Lucian  necyom.  c.  469.    lamblich.  de  myst.  VII  4,  5.    Origen.  c.  Cels.  I  24. 
«  M.  Rh.  XIX  p.  481  sqq.  '  Philologus  XXI  (1864)  p.  585  sqq. 

*  Palaeogr.  crit.  III  permultis  locis. 

''  Wessely  'ephesia  grammata'  in  progr.  gymn.  Franc- loseph.  Vindob.  1886. 
p.  20  et  22. 

'"  Cf.  XI  20,  XV  28.  cf.  Wessely  1.  c.  p.  23,  ubi  talia  plura  colligere  potes. 
cf.  et  infra,  ubi  tractantur  defixiones. 

^'  Pap.  Leid.  W  4,  30:  cü  ei  ö  dpiGiuöc  toö  ^viauToö  'AßpacaH. 

"  Vide  quae  contulit  Wessely  in  'mitteilungen  aus  der  Sammlung  der  pap. 
erzherz.  Rainer'.    Vind.  1887.    I  p.  113. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  23 

gnosticis  adscripti  sint\  qui  saepe  uoces  dissoluerunt  in  numeros  ac 
rursus  his  uario  modo  computatis  alia  uerba  effecerunt.^  at  quis  non 
intellegit  meros  ludos  litterarum  prima  uocis  littera  mutata  effici  in  his 
uerbis:  vevvava  cevvava  IV  6;  caßauue  TaßauuG  III  7;  GaG  cpaG  xaQ' 
IX  12;  acTpacpai  lacxpacpai  VI  1 1  et  in  aliis?  praeterea  innumeros 
effinxere  iraXivbpöiaouc,  qui  uocantur,  quales  detexerunt  Wessely*  et 
Kopp^  et  quales  pauci  in  pap.  V  inueniuntur:  dßXavaGavaXßa®  sae- 
pissime,  }io}i^o}i  IV  10,  GaG  IX  12,  xaOaGix  IV  7  fortasse  erat  xaöaöax. 
GaGaßaGaG  XII  5.  fortasse  constitutae  erant  uocales'  VI  14  hoc  modo: 
uuoueriujriiju  j  ujriuui^eoua». 

namque  quis  illas  nugas  miseras  explicare  poterit,  quae  a  scribis  in- 
numeris  misere  corruptae*  traduntur.'^ 

Quibus  adnotatis  restat,  ut  alia  gnoseos  testimonia  in  papyro  lu- 
culentissima  adferamus.  namque  anuli  illi,  qui  describuntur  VI  28  sq. 
et  VIII  29  sq.  uere  gnostici  sunt,  lapides,  quibus  serpentes  oupoßöpoi 
insculpuntur  et  Isis^^  cornibus  ornata  uel  KdvGapoc  et  sol,  et  quibus 
laiu  caßamG  aßpaHac  inscribitur,  haud  pauci  seruantur  adhuc";  quales  770 
ipse  uidi  in  museis  Cassellano  et  Leidensi. 


^  Cf.  simiilimas  mysticas  particulas  libri  Pistis  Soph.  p.  80,  201,  225,  234. 
cf.  Hippolyt.  VI  44  sqq.    Iren.  c.  haer.  I  14,  5  sqq.        *  Cf.  Wessely  1.  c. 

^  I6ae  <pae  xciO:  es  wechseln  die  anlautenden  Aspiraten,  caßatOG  raßatüG:  es 
wechseln  aufeinander  folgende  Buchstaben.    Skutsch.I 

*  In  stud.  Vindob.  VIU  189  et  194.  cf.  181  de  titulo  CIGr.  I  5858  b.  cf.  prae- 
terea pap.  Paris,  p.  55  (paene  incredibiles  litterarum  compositiones  iraXivbponoi!) 
pap.  W  p.  V  11/12,  18-20. 

*  Arthur  Kopp,  'beitr.  zur  griech.  excerptenlitteratur'  p.  65. 

*  IHaben  die  Carmina  figurata  in  solchen  magischen  Liedern  ihre  Vor- 
gänger? 'Wie  in  den  Zauberformeln  Ablanathanalba  u.  ä.  die  Niederschrift 
trrepuToeibOjc  gehalten  war,  so  vermute  ich,  daß  auch  '€p|Lioö  TrxepuS  u.  ä.  mit 
der  Form  der  Niederschrift  in  Zusammenhang  stand.'  0.  Crusius  4.  I.  89.  Vgl. 
Wessely,  Eph.  gramm.,  Crusius  Woch.  für  class.  Philol.  1888,  1095.  <s.  den 
Zusatz  oben  S.  1 1  Anm.  8  und  Abrax.  S.  199  zu  Z.  6.>1 

'  Vocales  imprimis  ad  lusus  maxime  uarios  aduocabant,  praecipue  gnostici 
Marciani.    cf.  Baudissin  1.  c.  p.  196,  Kopp,  Palaeogr.  crit.  III  300. 

»  Cf.  quae  supra  de  ßairXann  dixi.  —  in  pap.  V  p.  IV  23  et  27  eadem  sex 
nomina  mystica  bis  repetuntur:  uide  quot  litteras  mutauerint. 

^  Omnia  papyrorum  gemmarum  laminarum  ephesia  grammata  bene  collegit 
Wessely  in  progr.  gymn.  Franc- los.   Vindob.  1886. 

*"  VI  29  scribendum:  Kai  dui.uecov  toO  bpdKovxolc  'Iciv  b]vo  dcx^pac  Ixovcaw 
^irl  Tujv  buo  Kcpdxujv.  cf.  cod.  Ambros.  A  95  (e  Damigeronte  graeco)  in  Abel. 
Lith.  p.  168  in  lapide  describendo:  K^eue  dödinavTi  rXuqpnvai  KdvGapov  elra  elc 
tViv  KoiXiav  auToö  kxOucav  ^Iciv  kxX.  cf.  quae  alia  Abel,  attulit  et  Parthey  ad  Plut. 
Is.  et  Os.  p.  151. 

"  Kopp,  Pal.  crit.  IV  104,  156,  180,  312.  King,  the  gnostics  and  their  re- 
mains.   Lond.  1864.   tab.  prim.  fig.  3,  II  7.   Matter,  hist.  du  gnost.  II.  planch.  IIB 


24  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

Ac  Jlujbiov  illud  dvGpujTToeibec,  quod  describitur  IV  16-22,  uidemus 
plane  eodem  modo  depictum  esse  in  gemmis  gnosticis.  alas  quattuor, 
corollam,  bracchium  curuatum,  manus  porrectas^  digitos  curuatos, 
quorum  unus  adponitur  CTOjudxqj  KeKXeicjuevuj,  TruTnv  TriepiuTriv,  dKxe- 
TttTineva  etsi  non  Hiqpri  tarnen  duas  hastas  reperimus  et  illic^:  est  Har- 
pocrates,  qui  gestu  digiti  cirnv  gnosticis  tarn  honoratam  significat^. 
quo  referendum  sit  Ziujbiov  illud,  quod  pap.  exhibet  depictum  in  p.  XII,  nescio. 

lam  multa  a  ludaeis  desumpta  esse  in  papyro  non  modo  in  uocibus 
magicis  sed  etiam  in  sententiis  atque  enuntiatis  demonstrauimus:  licet 
unum  addere:  et^  ei|ui  6  cuvriviricac  utto  tö  lepöv  öpoc  xai  ebujpricuj 
rfiv  ToO  ovöiuaTÖc  cou  tvwciv*  (III  19):  elucet  e  pap.  Berol.  II,  ubi 
(u.  126)  paene  idem  occurrit,  non  montem  Thabor,  ut  Reuvensio  uide- 
batur^  sed  montem  Mosis  (Sinai)  significari:  paulo  ante  in  pap. 
Berol.  II  u.  115  legitur:  €ic  Moüceiu  cu  ap'  eqpdvric  xf)  aXTiOeiot.  atque 
addiscendum  hanc  de  monte  sententiae  quasi  formam  ad  Graecos  pro- 
pagatam  esse  uario  modo  uelut  apud  lamblich.  uit.  Pyth.  c.  28  Aglao- 
phamus  Pythagoram  in  monte  Pangaeo  docuisse  fertur. 

Nee  uero  praetermittendum  et  TTdpeouc  memorari  in  pap.  VIII  18: 
Kaxd  be  TTdpBouc  ouep  .  .  .  TravTobuvdcia:  nil  amplius  e  litteris  elici 
potest.'^ 

Num  quae  referenda  sint  ad  Mithram  in  pap.  uix  certum  est:  paene 
ueri  est  simile  quae  IV  34 -V  2  de  cane,  qui  Kpdrea  deuoret,  dicun- 
tur  recte  comparari  cum  monumentis  Mithriacis.' 

flg.  3.  et  apud  scriptores  talia  amuleta  praescribuntur  cf.  Pitra,  Analecta  sacra 
II  p.  676  sqq.  Galen,  de  simpl.  med.  IV  2,  19,  IX  26  (ubi  Nechepso  citatur), 
Marc.  Empir.  20  p.  115  b.   Aet.  tetrab.  IX  c.  26. 

^  Cf.  Pap.  Paris.  924:  rdc  x^tpac  ^ul  tüüv  y\outu)v  ^Krexaia^vac.  cf.  ad  haec 
lahn,  'berichte  der  sächs.  ges.  der  wiss.'  1855  p.  102. 

«  Kopp,  Pal.  crit.  III  p.  136,  IV  305.  Matter,  hist.  du  gnost.  II  planch.  IE 
fig.  7,  8,  9,  10,  11,  12,  13.  cf.  quae  exposuit  lahn  1.  c.  p.  81.  et  Harpocrates  ktiX 
ToO  XwToö  KaOfiiLievoc  III  14  saepissime  inuenitur:  1.  c.  Kopp,  Pal.  crit.  III  p.  684, 
IV  p.  33,  82,  305.    King,  the  gnost.  and  their  rem.  tab.  Vli  4. 

^  Cf.  Plut.  Is.  et  Os.  c.  68.  Aegyptii  olim  infantem  digitum  sugentem  fingere 
uolebant;  postea  gestum  ciTnc  perperam  intellexere. 

*  Leemans  legens  ovcou  de  Aegyptiorum  deo  Chonsu  uerba  fecit. 

*  Lettr.  ä  M.  Letronne  p.  159. 

*  Parthos  exercuisse  artes  magicas  docet  et  Plin.  h.  n.  XXX  14,  qui  narrat 
Tiridatem  regem  Parthorum  cum  magis  Romam  profectum  Neronem  artibus  illis 
initiasse. 

'  Reuvens.  lettr.  p.  19  adn.  c.  cf.  Zoega,  'abhandlungen'  ed.  Welcker  p.  157. 
J.  Burckhardt,  'zeit  Constantins  des  Grossen'  p.  228.  ad  uocem  Kpdrea  cf.  uo- 
cem  'uires'  usurpatam  in  taurobolii  ritu  ('uires  excipere').  ib.  p.  223.  uid.  quae 
contulit  Wolff  de  sacellis  Mithriacis  in  'Zeitschrift  für  hessische  geschichte'. 
VIII.  supplem.  Cassellis  1882.  <S.  A.  Dieterich,  Eine  Mitrasliturgie  *,  namentlich 
S.  29ff.> 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  25 

2  AEGYPTIACA^  771 

Quod  haud  pauca  in  pap.  ex  Aegyptiorum  religione  ac  superstitione 
petita  sunt,  cui  mirum?  etenim  nusquam  terrarum  artes  magicae  magis 
floruere,  quam  apud  Aegyptios  iam  antiquissimos.  quibus  iam  in 
monumentis  multis  saeculis  Christo  n.  antiquioribus  omnia  paene 
impleta  sunt;  Osiridis  uero  religio  ipsa  paene  magia  est.^  iam  Ramse  II 
rege,  qui  aetate  Mosis  uixit,  homo  quidam  supplicio  affectus  est,  qui 
magicis  artibus  regem  e  medio  tollere  uoluerat.^  magicae  sunt  in- 
scriptiones  pyramidum*,  magicae  papyri  hieraticae,  permultae  demoticae 
et  copticae.  quae  quantopere  graecis  coniunctae  ac  similes  fuerint, 
pap.  ipsa  V  prae  se  fert,  cui  6  paginae  demoticae  magicae  adsertae 
sunt.^  longe  simillima  est  pap.  demotica  no.  65  Leidensis,  cuius  partes 
a  Revillout."  et  Maspero'  uersas  ad  emendandum  quidem  pap.  V  ad- 
hibui.     fragmenta  coptica  exposuere  Stern  ^  et  Erman.^ 

Mutuo  modo  desumpsere  alii  ab  aliis:  qui  composuere  libros 
gnosticos,  uetere  Aegyptiorum  superstitione  utebantur;  qui  conglutina- 
runt  in  usum  imae  plebis  libros  demoticos  et  copticos,  desumpsere  illos.*® 

Nee  superuacaneum  breui  significare,  quae  in  pap.  V  redoleant 
mythos  Aegyptiacos. 

pag.  II  4  e(peac€  tö  Tröp"  ktX.     haud  dubie  est  mythus^^  de  Osi-772 

'  Summa  comitate  Wiedemannus  me  adiuuit  ita,  ut  haec  quidem  pauca 
congerere  potuerim  in  usum  non  aegyptologorum  sed  eorum  qui  papyris  illis 
intellegendis  operam  sunt  nauaturi. 

•  Cf.  Erman,  'Aegypten  und  ägyptisches  leben'  II.  1888  p.  471  sqq.  Meyer, 
'geschiente  des  alten  Aegyptens'  p.  87  sqq. 

'  Cf.  Revillout  in  'revue  6gyptologique'  I  p.  165  sqq. 

*  Recueil  de  traveaux  relatifs  ä  phil.  et  arch.  6g.  III  cf.  papyr.  Ebers 
prooem.  p.  16. 

*  De  quibus  nil  facere  potui,  quia  adhuc  nondum  uersa  edita  sunt. 

•  'Revue  6gyptol.'  I  p.  167  sqq.       ''  'Recueil  de  traveaux  relat.'  I  p.  20 sqq. 
"  'Aegyptische  Zeitschrift'  1885  p.  42. 

®  'Aegyptische  Zeitschrift'  1884  p.  93  sqq. 

'®  Vide  memorabile  praeceptum  in  pap.  demot.  apud  Maspero:  recueil  de 
trav.  1  p.  36  'tu  r^cites  l'^vocation  sur  sa  töte,  tu  tiens  sur  sa  töte  Tövocation 
enlanguegrecque'.  uidentur igitur  primo  quidem hae res graece scriptae f uisse. 

"  Mythi  de  mundo  igne  deleto  reliquias  apud  Aegyptios  inuestigauit  benigne 
Wiedemannus  meum  in  usum:  pap.  Ebers  69,  3  'mein  sehn  Horus,  es  brennt 
im  lande,  wasser  sei  dort,  wo  kein  wasser  ist.  der  Nil  eile  herbei,  um  das 
teuer  zu  löschen',  ib.  69,  6:  'mein  söhn  Horus,  es  brennt  im  lande;  kein  wasser 
ist  dort,  kein  retter  ist  dort,  bringe  mir  wasser  über  die  ufer  der  flut  (also  die 
Überschwemmung  des  Nils),  um  zu  löschen  das  teuer'. 

Metternich- Stele  (aeui  Ptolem.):  'teuer  das  herauskam  aus  dem  hause  der 
göttin  User-A  (i.  e.  'die  mächtige'  sicut  deae  complures  uocabantur).  nicht  ist 
wasser  dort  um  es  (das  teuer)  zu  löschen',    cf.  Plato  Timaeus  22. 

"  Praeponitur  incantationi  mythus  quidam  apud  permultas  gentes:  apud 
Aegyptios  antiquissimos  cf.  Erman,  'äg.  zeitschr.'  1883  p.  104  sqq.  et  'Aegypten 


26  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

ridis,  qui  quasi  solis  deus  (mvOapoc,  Oiupei)^  describitur,  bia|LieXic)Liiu - 
per  Typhonem,  qui  rröp  uocatur^,  effecto.  similem  rem  spectat  II  16  sqq.: 
edv  be  )Liou  TrapaKOucrjc  ktX.* 

p.  XI  22  sqq.  judxnv  -  ujc  eixov  Tuqpwv  Kai^Ocipic  ktX.  in  mythum 
eundem  spectat. 

p.  VII  23  eTiJu  ei)ui  "Ocipic  ö  KaXoujuevoc  libiup.  conferas  Plut.  Is. 
et  Os.  c.  33:  ''Ocipiv  |uev  dTiXÜJC  äiracav  ifiv  utpottoiöv  dpxnv  kqi  bO- 
vajLiiv  et  Hippolyti,  qui  narrat  Osiridis  et  Isidis  mysteria  apud  Naassenos 
multa  ualuisse,  uerba  V  7  p.  142:  ''Ocipiv  be  XeTOuciv  ubuup. 

Ibid.  *lcic  f]  KaXou|aevr|  bpöcoc.  explicare  nequeo.  Plutarchus 
terram  esse  Isin  docet. 

p.  VII  16  efu)  cpuTÖv  övojLia  ßaic,  e^Oj  dTröppoia  aijuaxoc  d-rrö  Tf\c 
ToO  jLieTdXou  xacpfic  tüjv  ^diix)v.  Tacprj  hie  est  ^arcula  uel  loculus' 
Osiridis  lacerati  ut  in  pap.  biling.  J  383,  8  u.  25,  26:  ßacrd^uj  xrjv 
Tttcpfiv  Toö  'Ocipiboc.'^  praeterea  cf.  Wiedemann.,  ^Sammlung  altägyp- 
tischer Wörter,  welche  von  klassischen  autoren  umschrieben  oder  über- 
setzt worden  sind'.  Lips.  1883  p.  16  s.  u.  ßdi  =  ipuxri  (Horapoll.  I  7) 
et  ßdic  =  *palmbaum'  (Chaerem.  ap.  Porphyr,  de  abstin.  IV  7).  nil 
amen  certi  efficere  possum. 

p.  IV  32,  XI  17  sqq.,  24,  XV  21  aduocatur  uariis  incantationibus 
CtiiÖ -TOqpujv,  malus  Aegyptiorum  deus.'' 

p.  III  5  sqq.  cO  ei  6  vrjTTioc  ktX.  secuntur  dei  formae  pro  regioni- 
bus  caeli  enumeratae.  cf.  pap.  Berol.  II  101  quae  supra  composui. 
numen  solis  sie  in  diuersis  coeli  regionibus  animalium  figuris  diuersis 
uti  dicebatur:  infantis,  serpentis,  crocodili  etc.' 

p.  III  15  6  em  toö  XujtoO  KaGrijuevoc  Kai  XaiuiTupibiJuv  ifiv  öXtiv 
oiKou)Lievr|V:  formula  antiquissima  monumentorum  Aegyptiorum^  nee  alia 
illa  TÖv  iv  Tfj  KaXri  Koiir]  (II  1). 

u.  äg.  leben'  p.  471.  Maspero  1.  c.  p.  40.  apud  Indos  et  Germanos:  uide  quae 
comparauit  A.  Kuhn  KZ.  13  p.  49  sqq.  et  113  sqq.  *  Cf.  Leemansii  adnotat. 

*  Cf.  Plut.  de  Is.  et  Os.  c.  11  et  18.  tö  iu^yictov  koI  ^vboHov  aöroO  KaTexpn- 
cavTo  in  pap.:  nonne  referendum  ad  Osiridis  genitalia  abscissa?  Plut.  de  Is.  et 
Os.  c.  18.    Hippolyt.  V  7  p.  142. 

'  Typhonem  ignem  esse  putari  docet  E.  Meyer.  'Set-Typhon'.  Lips.  1875  p.41. 

*  ^äv  irapttKoucric  (cf.  IV  34)  paene  legitima  formula  esse  uidetur  harum 
dtreiXuüv  ßiacTiKU)v  cf.  Lucan.  Pharsal.  VI  492.  Psell.  de  op.  daemon.  p.  26 
(Boissonade).    Reuvens  lettr.  p.  19.     lamblich.  de  myster.  VI  5  et  6. 

'"  Cf.  Leemansii  adnotat. 

•^  Cf.  Meyer,  'Set-Typhon'. 

'  Brugsch,  'religion  und  mythologie  der  alten  Aegypter'  I  p.  160  et  241. 
cuius  libri  quod  uolumen  secundum  nuper  editum  nondum  inspicere  potui  ualde 
doleo. 

»  Brugsch  1.  c.  p.  168  et  121. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  27 

jx.  IF  19    -    TTOiricavToc    xd    reccapa   0e|LieXia    Kai   laiHavxoc  xouc  b' 773 
dvenouc.    opinio  Aegyptiorum  antiquissima  est  mundum  exstructum  esse 
a    deo    in   quattuor   columnis.      iam   in   monumento,    quod    adscribitur 
aetati  Ramsis  VI.,  legitur:  'der  himmel  ruht  fest  auf  seinen  4  pfeilern'/ 

p.  III  29  cu  ei  xö  ujöv  dTto  Xoxiac  — .  finxerant  Aegyptii  mundum 
ortum  esse  ex  ouo  et  solebant  deum  solis  uel  deum  summum  fabulari 
ex  ouo  ortum  esse  uel  ipsum  ouum  esse.^  cf.  Orphicum  woTevfi  in 
hymn.  VI  2  (Abel.). 

p.  V  5  .  .  .  nv  öp(e)öv  ißiOTTpöcu)7rov.  quo  modo  lacuna  supplenda 
est?  postea  u.  8.  sequitur:  xaxd  xoö  iraxpöc  cou  'Ocipiboc  xai  "Iciboc 
jf\c  jUTiTpöc  cou:  est  Horus.^  ißioTTpöcujiroc  uero  nemo  esse  potest  nisi 
öu>6,  graece  'Cpjufic,  quem  in  hac  deorum  mixtione  et  filium  Osiridis 
et  Isidis  uocari  potuisse  ueri  est  simile.  scribendum  est  <,'Ep|Li>fiv 
öp[0]öv  ißiOTTpöcujTTOv:  quod  me  docuit  Wiedemann. 

p.  VII  24  ifd)  €i)Lii  Hceveqpuc  x]  KaXou|Lievri  eap.*  inesse  debet 
Neq)0uc  dea^  quae  saepius  inuocatur  in  demoticis  et  copticis  papyris.® 

9 
in   papyro   coptica'   lego:   ceceveßGiu,   quid   iudicandum  sit,  uideant  alii. 

p.  VII  25  ifdi)  ei|Lii  cOxoc.  nomen  est  aegyptium  crocodili,  quod 
Leemansius  ad  locum  adnotauit.     deus  KpoKobeiXo€ibr|c  est  Sebak. 

p.  VI  5  xö  xfic  opTfic  ovojua  xveuj)Li.  de  uoce  xveajju  ne  Leemansius 
quidem  certi  quid  attulit. 

Denique  notatum  sit  formulas  illas  ifd)  eijLii  Geöc  -  et  talia  (III  1, 
VI  13,  VII  18  sqq.)  iam  proprias  esse  ueteris  Aegyptiorum  superstitionis.^ 

'  Brugsch  uertit  1.  c.  p.  201.  cf,  p.  209:  'er  hob  empor  den  himmel  auf 
seine  4  Säulen '.    de  4  zonis  Aegyptiorum  multa  collegit  Reuvens.   lettr.  p.  28  sqq. 

*  Brugsch  1.  c.  p.  161,  168,  169  sqq.  cf.  codicis  graeci  uerba  in  Berthelot, 
'collection  des  alchimistes  grecs'  1  'texte  grec'  p.  20:  övoiuaTouoiia  toO  ii;oö- 
aiLJTÖ  Tdp  ^CTiv  TÖ  iLiucxripiov  xfic  x^x^nc  (1)  xö  iJüöv  ^KdXecav  xexpdcxoixov  b\ä  xö 
elvai  auxö  köci^ou  ^i|lhiciv  rrepi^xo"^  fd  x^ccapa  cxoixe^a  ^v  ^auTUj. 

'  Cf.  pap.  Paris,  u.  1075  'Öpoc  —  uiöc  "Iciboc  Kai  'Ocipetuc. 

^  Cf.  Plut.  de  Is.  et  Os.  c.  69  xö  5'  lap  nepcepövriv:  potestne  Nephtys  cum 
Persephone  comparari?  [Brugsch,  Rel.  der  alten  Ägypter  S.  252  zu  einem  kos; 
mologischen  Bild,  das  unterhalb  des  westlichen  Auges  (der  Herbstgleiche)  die 
Isis,  unterhalb  des  östlichen  Auges  (der  Frühlingsgleiche)  die  Nephthys  dar- 
stellt, 'sei  noch  bemerkt,  daß  ohne  Ausnahme  das  Bild  der  Göttin  Isis  sich 
unter  dem  westlichen  Auge,  das  der  Nephthys  sich  unter  dem  östlichen  befindet. 
Man  versteht  hiemach  die  merkwürdige  Angabe  eines  griechisch -ägyptischen 
Papyrus,  wonach  die  Esenephys  d.  i.  Nephthys  genannte  Göttin  den  Frühling 
darstellt'.]        "  De  qua  Plut.  de  Is.  et  Os.  c.  12  et  14. 

•*  E.  c.  uide  Maspero  1.  c.  p.  21.        '  Erman,  'aeg.  zeitschr.'  1.  c.  p.  161. 

*  Simili  modo  mortui  iam  in  pyram.  inscriptionibus  ipsi  uocantur:  'hie 
Osiris  N.  N.*  Meyer,  'geschichte  des  alten  Aegyptens'  p.  88.  et  in  libro  mor- 
tuorum  leguntur:  'ich  bin  Ra,  Horus'  etc.   Meyer,  'Set -Typhon'  p.  11. 


28  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

iam  legis  in  pap.  mag.  Harris  8,  5:  *ich  bin  Ammon,  ich  bin  Anhor  — 
ich  bin  der  fürst,  der  herr  des  Schwertes'  etc.^ 
774       Haec  tantum^  sint  de  fontibus  Aegyptiacis  adnotata,  ut  diuines  qui- 
dem,   quantum  in  papyris  hisce  ualeat  superstitio  antiqua  Aegyptiorum. 
ignoscas,  quod  mea  nimis  manca  sunt,     aliis  hie  habitandum  erit. 

3  ORPHICA 

Multa  sunt,  quae  e  fontibus  graecis  petierunt,  praeterquam  quod 
graeca  numina  saepe  inuocantur. 

Si  in  p.  II.  u.  34  legimus  cu  ei  6  irepiexujv  xdc  x^piTac  ev  rrj  Kopuqprj 
XaiLiTTpfj,  nonne  id  graece  dictumst  de  Apolline?  nonne  iam  uerborum 
coliocatione  diuinare  iubemur  e  uersu  quodam  sie  discerpta  esse  uerba? 
legis  et  in  hymno  Apollinis  pap.  Berol.  II  6:  cfic  lepfic  Kopucpfic  ktX., 
legis  in  pap.  mus.  britann.  XLVII.  u.  10  ^v  Kopucpjfjci  ttoXutttuxou 
vjv|iTi\o[To,  in  pap.  Berol.  II  140:  Mouciuv  'AttöXXujv.  potest  fuisse  uersus, 
quem  dilacerarunt,  hie: 

6c  t'  ^v  er)  Kopuqprj  Xa)Li7Tpr|  x^PiTac  Trepitcxeic. 

ipsi  uersus^  quattuordecim  etsi  corrupti  seruantur  in  papyri  p.  VII.  et 
VIII.  atque  in  iis,  quae  antecedunt  et  quae  conscripsi  in  p.  761,  sen- 
tentiae  atque  enuntiata  inueniuntur  simillima.  iam  antea  erant  in  pap. 
Berol.  inuenta  hymnorum  fragmenta  et  iam  Diltheyus  in  iis,  quae  de 
hymnis  a  Millero  editis  disputauit  in  M.  Rh.  XXVII  p.  375  sqq.,  illustrare 
coepit,  quo  modo  illi,  qui  libros  magicos  graecos  in  Aegypto  olim  primi 
conglutina^sent,  sententias  formasque  precationum  repetissent  e  copia 
hymnorum  uel  carminum,  quae  solent  appellari  Orphica.  demonstrare 
uero  nunc  licet  exemplis  lucidissimis  sententias  *Orphicas'  huc  manasse 
et  in  omnes  fere  libros  magicos  delatas  esse. 

In  p.  VII.  uerbis,  quae  supra  adscripsi,  duae  sententiarum  quasi 
series  conseruntur: 

I  omnia  contremiscere  ac  turbari  audito  nomine  dei  sacro; 
II  omnes  mundi  partes  esse  dei  summi  membra. 


*  Vertit  Erman,  'Aegypten  und  ägyptisches  leben'  II  p.  472.  cf.  Lenormant 
'la  magie  chez  les  Chald6ens'.  Paris.  1874  p.  87.  hie  mos  ortus  esse  uidetur 
mihi  ita,  ut  mythus  olim  de  deo  narratus,  quo  modo  ille  eadem  arte  magica 
effecerit,  quod  nunc  efficiendum  sit,  postea  correptus  sit  in  formulam:  kf\b  ei)ui 
Geöc  etc.    <Anders  Mithrasliturgie  *  S.  112.> 

'  Non  adhibui  fragmenta  illa  inde  a  p.  XIV.  contextui  demotico  interposita, 
quia  nimis  incerta  sunt.  p.  XVI.  u.  19  ßdpic  solis  dei  commemorari  uidetur  (cf. 
Wiedemann  1.  c.  p.  17). 

3  Et  uersus  Homerici  adhibentur  ad  incantationes  magicas  e.  c.  in  pap.  Paris, 
u.  469—474  Septem  uersus  e  uariis  Homeri  locis  conscripti  sunt,  nonnulla 
collegit  Wessely  in  stud.  Vindob.  VIII  p.  117. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  29 

nee    uero    latet    in    uersibus    illis    quattuordeeim    sententias     reperiri 
easdem. 

Vnde  hae,  quas  legimus,  sententiae  sumptae  sint,  quaeritur.  quae 
de  caelo  et  terra  et  omni  mundo,  quo  modo  perturbata  sint,  dicuntur 
conscripta  has  fere  praebent  sententias:  (övo|Lia)  ö  oi  bai|uov€c  dKou- 
cavT€c  TTTOOÖVTtti,  oij  To  övo|Lia  f]  Tn  dKoucaca  ^Xiccexai,  6  &br]c  (xkouujv 
Tapdcceiai,  TTOiaiLioi  GdXacca  \i|Livai  irriTai  dKoOoucai  TrrJTVuvTai,  ai  ire- 
Tpai  dKoucacai  priTvuvxai.  uide  quam  sint  similes  uersus  7-10  (uide 
p.  779).  maxime  uolgatae  fuere  huius  rei  depictiones  in  libris  carmini- 
busque  magicis. 

Pap.  V  p.  IV  u.  12:  öv  Tide  Oeöc  TrpocKuveT  xai  Tide  bai)Liujv  q)piccei.775 

Pap.  W  19,  35  sqq.:  etriKaXoöiLiai  cou  tö  övo)Lia  tö  |lI€tictov  ev 
Geoic,  ö  edv  emix)  xeXeiov,  ecrai  ceic|uöc,  6  fiXioc  cxricexai  xai  r\  ceXrjVTi 
€V9oßoc  Icxai  Ktti  ai  Tteipai  xai  xd  öpt]  Kai  r\  GdXacca  xai  oi  Troxaiuol 
Kai  Trdv  iifpöv  i)7T0TT€xpujGr|C€xai,  6  k6c)lioc  öXoc  cuvxuGr|cexai. 

Pap.  Berol.  I  273:  9uXaKxr|piov,  dv  ip  irdvxec  urroxdccovxai  Kai 
GdXacca  Kai  xrexpai  cppiccouci  Kai  bai)Liov€c  kxX. 

Pap.  Paris,  u.  356  sqq.:  ce  ihopKilvj  Kaxd  xoö  övö|aaxoc  xoö  cpoße- 
poO  Kai  xpo)Li€poO,  ou  r\  fr\  dKoOcaca  xoO  6vö|Liaxoc  dvoiTncexai,  ov  oi 
bai)Liov€c  dKoucavxec  xoö  6vö)Liaxoc  evqpoßoi  (poßr]Gr|covxai,  ou  oi  iroxa- 
jaoi  Kai  ai  irexpai  dKoOcavxec  xö  övojLia  q)piccovxai  -. 

Pap.  Paris,  u.  372:  öv  xpcjuei  f^wa  Tiupöc  Kai  cpXÖTCc  TTepicpXoTiZ^ouci 
Kai  cibripoc  XaKa  Kai  irdv  öpoc  eK  GeiueXiou  9oßeTxai,  ö^kHw  ce  Tidv 
TTveö^ia  bai)Liöviov  —  Kai  TTOioövxa  cKxpoina  xd  GefiieXia  auxfic  (seil. 
TTic)  KXX. 

Hymni,  qui  insertus  est  papyro  primae  Berol.,  uersus  est  hie:  Ttdca 
q)ucic  xpo|Lie€i  ce  Trdxep  köc|lioio,  hymni  magici  a  Millerp  e  papyro 
Paris,  editi  hie  (ap.  Abel.  V  30):  baijuovec  f\\  cppiccouci  Kai  dGdvaxoi 
xpo|ueouci.  hymni  Dianae  in  pap.  Paris,  (u.  2533)  hi  sunt  uersiculi 
emendati:  KXaTTflc  cfic  diovxa^  xd  KOCjuiKd  irdvxa  boveixai  ||  vepxepiai^ 
xe    TTuXai    Kai    XriG^c    lepöv   libuup  ||  Kai    x^oc    dpxaiov^   Kai    xdpxapa*, 


*  dKoOovxa  pap.  cuvUvxa  Wessely  1.  c.  p.  30  et  Herwerden  in  Mnemosyne 
1888  p.  16.    ad  diovxa,  quod  scripsi,  cf.  et  Argon.  Orph.  u.  436  (Abel). 

'  Herwerdeni  (1.  c.)  emendatio  palmaris.   v€Kxdpiai  pap. 

'  Sic  restituo.  pap.  apxexaov  e.  i.  dpxaixaxov,  quod  in  uersu  Aegyptiorum 
more  recitato  ferri  potuit  (dpxexaxov).  in  hymno  antea  conscripto  legebatur 
haud  dubie  dpxaiov  cf.  Arg.  Orph.  u.  12:  dpxaiou  —  x<ieoc  et  idem  u.  421. 
Wessely  et  Herwerden  dpx^rovoc. 

*  Ci.  Wess.  Tapxdpou  pap.  [Cf.  Schmidt,  Volksleben  der  Neugriechen  p.235: 
'xd  Tdprapa  Unterwelt,  wie  schon  in  der  alten  Sprache'.] 


30  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

Xacjüia  cpaevjov}  \\  f\v  0eoi  dGdvaTOi^  TrdvTec  GvriToi  t'  dvöpuiTroi,  | 
oupea  dcTepöevTtt  vd-rrai  Kai  bevbpea  irdvia  ||  Kai  Troxaiuoi  KeXaboövxec^ 
ä^'*  dTpuTCTÖc  T€  GdXacca  ||  iix^  epr|)uaiii  Kai  baijuovec  oi  Kaid  köcjliov  | 
qppiccouciv^  ce,  fidKaipa,  dKOuovrec®  öira  b€ivr|V. 

Vides  quanta  constantia  propagata  sit  in  libris  magicis  haec  eadem 
sententia:    quam    ipsam   mireris    quod   et    scriptores    in   rebus    magicis 
enarrandis  testantur:  in  Vergil.  Aen.  IV  489  dicitur  de   sacerdote  in- 
cantatrice,  quae  ^carminibus  promittat': 
776  ^sistere  aquam  fluuiis  et  uertere  sidera  retro, 

nocturnosque  mouet  Manis;  mugire  uidebis 
sub  pedibus  terram,  et  descendere  montibus  ornos.' 
Ovid.    Metamorph.  VII  204  de  Medea: 

'uiuaque  saxa  sua  conuulsaque  robora  terrae 
et  siluas  moneo  iubeoque  tremescere  montes 
et  mugire  solum'  - . 
Lucan.    Pharsal.  VI  463: 

*Torpuit  et  praeceps  audito  carmine  mundus, 
axibus  et  rapidis  impulsos  luppiter  urguens 
miratur  non  ire  polos.' 
472:  *de  rupe  pependit 

abscissa  fixus  torrens;  amnisque  cucurrit 
non  qua  pronus  erat.     Nilum  non  extulit  aestas, 
Maeander  direxit  aquas  Rhodanumque  morantem 
praecipitauit  Arar:  submisso  uertice  montes 
explicuere  iugum.' 

*  cpaeivöv  Herwerdenus  1.  c.  in  suspicionem  uocauit,  quod  Soph.  Ai.  u.  395 
Ipeßoc  u»  (paewÖTttTov  defendere  non  potest.  quae  Herwerdenus  scripsit  X''^<^}^<^ 
t'  deivujv  aut  xäc|LiaT'  de(va)  nolo  accipere.  malim  quod  non  uult  KeXaivöv. 
<(paeivöv  wird  von  Dieterich  selbst  verteidigt  Abrax.  S.  35;  vgl.  dazu  Nek.  201.) 

"^  Sic  emendo  codicis  uerba  9\v  udvTec  dedvaxai.  Wess.:  Kai  rravTec  Öeoi 
nb^  Geai. 

*  [Apoll.  Rhod.  III  531  de  Medeae  veneficiis 

TOlCl   Kttl   dKa|LldTOlO   TTUpÖC   jLlGlXlCCeT '  duT|ar]v, 

Kai  -rroTaiLiouc  icxriciv  dqpap  KeXabeivd  ^^ovxac, 
äcTpa  xe  Kai  Mrivr^c  iepnc  ^iT^bric€  KeXeüeouc] 

*  (ä)n'  Wess.  Y\b*  pap. 
^  [Theocr.  II  13 

T^  XQoviq.  9'  '€KdTa,  xdv  Kai  CKÜXaKec  xpoin^ovTi 
^pXO|u^vav  veKijuüv  dvd  t'  r\pia  Kai  iii^Xav  aT|na. 

'Eine  Reminiszenz  aus  dem   Millerschen  Hekatehymnus'  0.  Crusius  4.  I.  89. 

<Dazu  s.  R.  Reitzenstein,   Inedita  poetarum    Graecorum   fragmenta   HI,    Progr. 

Rost.  1892/3  p.  28.>I 

•*  l^dKaip'  ^iraKoOovtec  Wess.   papyrum  defendit  Herwerden. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  31 

527:  'omne  netas  superi  prima  iam  uoce  precantis 
concedunt  carmenque  timent  audire  secundum.' 
Quintilian.     in   declamatione   X  illa  'magica':  in  incantatione  ipsa 
magi    c  XV:    'magis    mihi   laborandum   est   quam    cum   sidera  mundo 
reuelluntur,  cum  iubentur  hiberni  fluuiorum  stare  decursus'  etc/ 

Iam  uero  unde  desumpta  sint  illa,  doceat  fragmentum  Orphicum 
238,  3  (Abel):  baijuovec,  öv  cppiccovjci  Kai  dGdvaxoi  Tpo|Lieouciv.  si 
quaerere  pergis,  adest  apud  Lactantium  de  ira  23,  12  Apollinis  Milesii 
oraculum  e  Porphyrio  desumptum^: 

^c  be  6€Öv  ßaciXea  Kai  €C  T^vexfipa  TrpoTrdvxujv, 
öv  Tpojueei  Kai  Tctia  Kai  oupavöc  ^be  GdXacca 
rapidpioi  xe  fnuxoi  Kai  bai|Liovec  eKcppiccouciv.^ 
Alteram  illam  sententiam,  qua  mundi  partes  tamquam  membra  dei 
commemorantur,  sie  fere  componam:  oö  Kai  tiXioc  Kai  ceXr|vr|  öqpGaXiiioi 
eiciv  dKd)Liaxoi  -  Kai  oupavoc  |li€v  KeqpaXrj,  aiGfip  be  cujjna,  Tn  ^^  TTÖbec, 
xö  be  7repiJ^uj)Lia  ujKeavöc. 

Similem  habemus  sententiarum  nexum  in  hymn.  mag.  pap.  Berol. 
(Abel  19): 

öpKiIuj  KeqpaXriv  ce  0€oO  öuep  kxiv  ''OXu)LiTroc, 
bpKilw  ccppaTiba  Oeoö  ÖTiep  kxiv  öpacic, 
öpKiZiuj  xepa  beHixepriv  fj  köc|liov  eTTicxeiC* 
Vt  uero  uideri  possit,  quo  modo  apud  Orphicos,  unde  desumpsere  777 
magici,   magis    magisque    exculta   atque    ad   pusilla   excogitata   sit  illa 
numinis  diuini  descriptio,  hos  uersus  statim  adscribam  alios  post  alios: 
Fragm.  orph.  ap.  Macrob.  Sat.  1,  20: 

ei)Lil  0eöc  xoicibe  inaGeTv  olöv  f  ctuj  eiTTiu 
oupdvioc  KÖc)Lioc  KeqpaXf),  Tacxfip  hk.  GdXacca, 
Taia  be  ^oi  TTÖbec  eici,  xd  b'  ouax*  ev  aiGepi  KcTxai, 
6\x}ia  xe  xriXauT^c  XainTipöv  cpdoc  n^Xioio. 
Fragm.  orph.   123,  13  (Euseb.  praep.  eu.  III  9.     Stob.  ecl.  phys. 
I  1,  23): 

'  [Apul.  Met.  I  3.    III  15.1        *  Cf.  Dilthey,  M.  Rh.  27,  p.  417. 

»  Nescio  an  quid  de  talis  sententiae  historia  concludi  possit  ex  eo  quod 
simillima  inueniuntur  ad  Dianam  celebrandam  dicta  in  hymn.  Homer.  XXVil  6: 
xpoiLidei  U  Kdpnva  |  C»vi;riXOüv  öp^ujv  laxei  5'  ^iri  ödcKioc  v\r]  \  öeivöv  Otto  K\affi]C 
eripu)v  (ppiccei  U  xe  Taia  |  ttövtoc  t*  Ixeuöeic.  an  quid  utilitatis  paratur  e  uerb. 
epist  lacobi  I  cap.  2,  u.  19:  —  xd  öai^övia  TriCTeuouci  Kai  (ppiccouci,  quae 
e  libris  hebraicis  hausta  esse  (cf.  lesaiae  c.  XIV,  u.  9)  uerisimile,  unde  plura 
et  huc  manauere  (e  LXX)?  <Hierzu  hatte  Dieterich  eine  Menge  Parallelen 
notiert,  die  dann  Abrax.  S.  140  f.  verwertet  sind.  S.  auch  die  Besprechung  von 
Buresch's  Klaros,  Berl.  philol.  Wochenschr.  1891,  629.) 

*  Correxit  Schenkelius.  pap.  ^\v  köc|iioc  ^ir^cxec. 


32  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

ToO  hx]  TOI  KecpaXri  juev  ibeiv  Kai  KaXd  -rrpöccuTra 
oupavöc  ai^Xri^ic,  öv  xP^ceai  djuqpic  eöeipai 
dcxpiuv  jLiapuapeiuv  rrepiKaWeec  iiepeGoviai. 
Taupea  b'  djaqpoxepiuöe  buo  xp^ceia  Kepaia 
dvToXiti  T€  bOcic  T€,  Geiuv  öboi  oupaviiuvujv, 
ö|Li|LiaTa  h'  r\i\\oc  Kai  iraiucpavötuca  ceXr|vr| 
ouc  be  Ol  dvpeubec  ßaciXrjiov  dqpGiTOc  aiGrjp, 
dj  br\  Trdvxa  kXOci  Kai  (ppalerav  ovbe  Tic  ecTiv  — . 

u.  26:  uJjuoi  jLiev  Kai  CTepva  Kai  eupea  vujTa  GeoTo 
df]p  eupußiric  TTTeputec  be  oi  eHecpOovTo, 
Taic  em  irdvTa  iroTäG*'  kpr]  be  oi  eirXeTO  vrjbuc 
Tctia  Te  TraiLiuriTeip',  öpeujv  t    aiireivd  Kdpr|va, 
iLidcca  be  Z;ijuvti  ßapunx^oc  o?b|ua  GaXdccr|c 
Kai  7TÖVT0U*  TTUjudTTi  be  ßdcic  xöovöc  IvboGi  pilai 
TdpTapd  t'  eupujevTa  Kai  ecxaTa  ireipaTa  Tainc 
Huc  et  ducenda  uidentur  illa  papyri  V  (p.  VIII  5) :  coO  bk  t6  devvaov 
KUJ)LiacTr|piov  dvuj  dcpibpuTai  et  in  pap.  Mimaut  d.  L  u.  129:  il)  6  oupavöc 
eTevcTO  Kiü^acTripiov/ 

luuat  adnotare  simillimam  mundi  figurationem  et  posterioris  aeui 
philosophis  placuisse:  depingitur  mundus  quasi  animal,  cuius  oculi  sint 
stellae,  sei  cor,  iecur  luna,  stomachus  uero  et  nares  terra  ac  mare, 
apud  Plut.  de  fac.  lun.  15.  Pythagoreis  autem  illis  posteris  mundus 
uidebatur  speciem  praebere  corporis  humani  (Epiphan.  c.  haer.  1,  5). 

Sententias  uero  illas  uersuum  fragmenti  orphici  1-6  et  11-14  (uid. 
p.  778  sq.)  et  simillimas  uerborum  in  papyro  antecedentium  esse  re  uera 
^Orphicas'  ut  probem,  locorum  copiam  aduoco  tantum,  ne  in  his  nimis 
longus  sim:  hymn.  0.  XVIII  17,  XVII  [2]  7,  XXIX  10,  LV  6.  fr.  0.  164. 
fr.  7.  fr.  5,  9;  6,  10.  h.  V  36,  IV  5  in  appendice  Abelii.  h.  11,  10;  13, 
5.  20,  5;  73,  2.  fr.  238/39. 
778  Apparet  illa  papyrorum  enuntiata  quae  in  p.  761  sq.  composui  et 
omnia  quae  hie  attuli  similia  e  uersibus  in  pedestrem  sermonem  discerpta 
esse,  nee  minus  ueri  simile  esse  uidetur  uersus  illos  quattuordecim  sie 
conglutinatos  esse  e  carmine  maiore,  quod  siue  ipsum  fons  erat  enun- 
tiatorum  illorum  siue  simillimum  erat  fonti.  uideas  apud  Diltheyum  1.  c. 
p.  376  et  77,  quo  modo  hymnus  triginta  uersuum  a  scriptore  magico 
redactus  sit  in  hymnum  duodecim  uersuum.    hos  uero  uersus  dilacerantes 

*  Adiungas  simillimae  sententiae  Hebraeorum  simplicissimam  formam,  unde 
nescio  an  quid  huc  manarit:  lesaiae  cap.  LXVI  1  apud  LXX:  6  oupavöc  mou  ö 
ep6voc,  1^  bä  yf]  i)Troirö6iov  tOuv  ttoöüjv  |hou  (cf.  Matthaei  eu.  c.  V  34  et  35.  XUI  22. 
Actorum  VII  49). 


Papyrus  mag-ica  musei  Lugdunensis  Batavi  33 

quomodo  rem  egerint  magici  Uli  homunciones  perspicuum  est.  alium 
enim  uerborum  ordinem  constituerunt,  haec  eiecerunt  sensus  ratione 
uix  habita,  illa  addiderunt,  quae  eis  aliunde  in  promptu  erant  -  inter- 
posuerunt  tum  plura  tum  pauciora  'ephesia  grammata'.  etiam  atque 
etiam  parta  sunt  innumera  apographa:  -  ut  ita  dicam  -  stoliditate  et 
leuitate  obstetricibus/ 

Si  quis  quando  has  res  denuo  tractare  uelit,  multa  noua  fortasse 
statuere  poterit  de  Orphicis,  praesertim  postquam  sex  noui  hymni  - 
inter  quos  iambici  -  a  Wesselyo  in  papyris  Paris,  et  Lond.  1.  c.  nuper 
editi  sunt.^  multo  enim  quam  putant  artiore  uinculo  hymni  illi  cum 
rebus  magicis  coniuncti  sunt;  re  uera  carmina  illa  in  sacrificiis  recitata 
esse  quis  illis  quae  exposui  probatis  negabit?^  ac  sacrificia  magica 
illa  ad  similitudinem  illorum  sacrorum  efficta  esse  perfacile  est  ad  demon- 
strandum, in  Aegypto  composita  esse  carmina  Orphica  paene  nunc 
elucet*,  sed  multo  priore  aetate  quam  Nonnus  eiusque  sectatores  floruere.^ 
si  recta  sunt,  quae  de  papyri  tempore  statuemus  (p.  779  sq.),  iam  ca. 
annum  200.  p.  Chr.  hymnorum  thensauros  ad  manus  fuisse  compila- 
toribus  magicis  certum  est. 

Hymni  fragmentum 

p.  VII  33  -  VIII  5  editur  restitutum.*^ 
TIC  iLiopcpdc  ZIjJüujv  ^TüXacev;  Tic  b'  eöpe  KeXeuOouc;* 
TIC  KapTTUJV  TCveTTic;  Tic  b'  oupea  uipöc'  €T€ip€v; 
TIC  b*  dv€)Liouc  ^KcXeucev  ex^iv  eviaucia  ^'pTct; 

1  £TrXac€  P  €Tr\aT€  L<eemansius>  legit  be  P  quales  KeXeOGouc?  hiat 
poema  [♦  lacunam  significat]  <aber  s.  unten  Anm.  6  Ende)  2  T€vvnTT]c  P  ?T«pev 
Herwerdenus  in  Mnemos.  1888  p.  31  3  be  P  ad  hiatus  illos  oöpea  viipöc'  — 
u.  2  et  Kttl  (ibaxi  u.  14  cf.  GHermannus  de  hiatu  in  Orphicis  impr.  p.  725 

'  Cf.  Dilthey  1.  c.  p.  383. 

'  De  quibus  egit  Herwerdenus  in  Mnemosyne  1888  p.  2  sqq.,  qui  iam  tria 
carmina  addidit.     permulta  uersuum  frustula  in  pap.  Parisina  adhuc  latent. 

'^  Cf.  quae  plane  alia  ratiocinatione  adductus  adumbrauit  R.  Schoell  in  satura 
philologa  Hermanne  Sauppio  oblata.     Berol.  1879  p.  178. 

*  Dilthey  1.  c.  p.  382. 

''  Ca.  Nonni  tempora  putat  composita  esse  Dilthey  1.  c. 

«  Omnia  mea  parata  erant,  cum  Herwerdeni  animaduersiones  et  in  hunc 
hymnum  in  Mnemosynes  uolumine  ultimo  (p.  31  sqq.)  prodierunt.  edidi  sicut 
iäm  antea  ordini  philosophorum  Bonn,  tradidi  praeterquam  quod  in  u.  2  Her- 779 
werdeni  Irtip^v  recepi;  cuius  tamen  adscripsi  nonnullas  coniecturas.  optuma 
iam  adumbrauerat  anonym,  in  annal.  Fleckeis.  1886,  quem  Herw.  neglexit. 
[rursus  edidit  versus  Wilamowitzius  in  ind.  lect.  Gotting.  1889  p.  30.  uu.  10  et 
1 1  eicit  nee  non  u.  13.  interpungit  vero  post  TTveuMaxa.  praeterea  xai  <C6>  Tpf- 
iLiouciv  dedit  et  'epica  qualia  poeta  uoluerat\  in  u.  1  de  Zi^bioic  dici  egregie 
animadvertit.    sed   neque  rpoM^ouciv  falsum   neque   interpunctionem    mutandam 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  3 


34  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

779  TIC  ö'  aiüuv  aiüuva  rpeqpujv  aiüuciv  dvdccei; 

5  elc  0eöc  aOavaioc  ttoivtiüv  Y^veriup  cu  irecpuKac 

Kai  TTCiciv  vpuxdc  cii  v€)ueic  Kai  Travia  Kpaiuveic, 

aiijuvujv  ßaciXeO  Kai  Kupie.  —     —     — 

—       —       —       —       —       —       —      Kai    TpO|U€OUClV 

oupea  CUV  rrebioic  tttitojv  TTOxajuujv  xe  xd  p€T0pa 
Kai  ßuccoi  TttiTic  Kai  irveiJiuaxa  rrdvxa  xd  qpuvxa* 

10  oupavöc  uiyiqparic  ce  xpejaci  Kai  irdca  ödXacca 
Kijpie  TravxoKpdxiup  ctTioc  Kai  becrroxa  Trdvxiuv 
er)  buvdjuei  cxoixeia  ireXei  Kai  cpOeG*  dTiavxa* 
TieXiou  jLirivTic  xe  öpöjuoc  vuktoc  xe  Kai  iioOc* 

14  depi  Kai  Totia  Kai  ubaxi  Kai  rrupöc  dxjuuj. 

III  DE  TEMPORE  PAPYRI 

De  tempore,  quo  papyrus  V  confecta  sit,  breuiter  adnotemus,  quae 
ex  iis,  quae  disputauimus,  colligi  possunt. 

Scripta  est  haec  papyrus,  quantum  e  re  palaeographica  collegere  uiri 
peritissimi,  inter  annos  300.  et  350.  p.  Chr.\*  certus  igitur  terminus  ante  quem. 

4  aitüvaiva  P  aiOüva  Iva  L.  aiOüv'  dvacxpeqpuuv  L.  ci.  cf.  anonym,  in  annal. 
Fleckeisen.  1886  p.  113.  cf.  pap.  W  13,  36;  23,  3;  pap.  Paris.  1169;  2196  Tic  b' 
alCbva  tpicpwv   aiojciv   <^lc   aUv)>   dvdccei;   Herw.  1.  c.   p.  32  5   Yevvr)Tuup   P 

7  Tpeiaouciv  P  Tp.ejuouciv  L.  legit.  hiat  oratio,  caue  ne  c^  (Herwerd.  1.  c.)  uel 
potius  6v  Tpo|u^ouciv  corrigas!  8  iraibioic  P  iraibioic  ttht^v  L.  explicauit: 

'fonticulis'  hebraismum  statuens!  pi9pa  P  TroTaiuujv  re  j!)^e9pa  Herwerd.  1.  c. 
9  ßucuccac  P  ßuccoi  L.  [Klal  L.  [Orph.  hymn.  58,  6  irveOinaTa  iravTOY^veGXa,  Orph. 
frg.  22  Herrn.:  irveOiuaTa  .  .  irdvT  ^x^Kvujce  Kpovoc.  —  Kai  uveOinaTa ,  irdvTa^xd 
(pOvra?  oder  auch  irdvxa  xe  cpOvxa.j  10  i»i|;i(pavr]c  L.  11  ä-^ie  P  dTiuüxaxe 
b^cTToxa  TT.  Herwerd.  1.  c.  fÖYie  muß  man  stehen  lassen.  Vgl.  die  Prosodie 
der  engverwandten  Orakel  in  dem  meinem  Klaros  angehängten  Anekdoton' 
Buresch  <Woch.  f.  klass.  Phil.  1890,  876ff.>,  der  gegen  Wilamowitz  das  übrige 
verteidigt.]  12  cr|  öuvaiuicxuxeia  P  er]  6uva|uiccxuxeia  L.  legit.  cpuexai  iravxa  L. 
non  rectum,  etsi  linguae  Aegyptiorum  aptum.  cpuexairavxa  et  Herwerd.  legit. 
13  f:  iHNHC  P  fissura  deletae  partes  litterarum  }x  et  y].  lavricxai  L.  legit.  öiuvricxai! 
L.  ci.    cf.  anon.  in  annal.  Fleckeis.  p.  113  [K]ai  L  14  aepei  P  I<^v>  öbaxi 

Wilam.  1.  c]  axjuuj  P  ayiuijü  LI  dKiurj  Lc  cf.  anon.  1.  c.  p.  113.  Ultimos  uersus 
Herwerd.  sie  constituit: 

crj  buvdjuei  cxoixeTa  nrdXei  Kai  qpijpeO'  ÖTiavxa 

r\ipi  Kai  YCiiri  Kai  libaxi  Kai  trupöc  dxjLiiu. 

******* 

^eXiou  iLirivric  xe  bpö|uoc  vukxöc  xe  Kai  rjoOc. 
de  conexu  uersuum  cf.  quae  adnotaui  in  p.  778  sq. 

esse  concedo.   conferas  exempla  in  p.  776,  imprimis  oraculum  Porphyrii,  ubi 
xpo|Li^€i  ....  cf.  frgm.  orph.  238,  3  baiiuovec  .  .  xpoiu^ouciv  et  alia  p.  775.  —  xic 
luiopqpdc  2lüujv  ^irXacev;  xic  5'  eupe  KeXeüGouc  |  rieXiou  iJiY\vr\c  xe  bpöjuouc  vukxöc  xe 
Kai  riouc;  <Dieterich  zog  also  der  Athetese  von  V.  13  eine  Umstellung  vor.)] 
*  Wessely  in  ed.  pap.  Paris,  et  Lond.  prooem.  p.  36  et  stud.  Vind.  VIII  188. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  35 

Ex  iis  quae  de  libris  magicis  ac  nominibus  auctorum  composuimus, 
nil  effici  potest,  nisi  confectas  esse  has  papyros,  postquam  illi  uixere 
uelut  post  Hadriani  tempora.  neque  uero  licet  ex  ea  historiola,  quae  780 
in  pap.  Paris.  2446  sq.  de  Pachrate  et  Hadriano  narratur,  concludere  has 
farragines  circa  Hadriani  tempora  confectas  esse.^  quiuis,  ut  puto,  ex  iis, 
quae  disseruimus,intellexerit,quanta  fides  habendasit  talibus  historiolis  fabu- 
losis,  quibus  nomina  magis  antiquiorum  hominum  intulere  quam  recentiorum. 

Ea  uero,  quae  de  tradito  papyrorum  contextu  explicauimus ,  docent 
iam  per  tempus  haud  breue  haec  propagata  ac  mutata  sint*  oportere, 
ut  faciem  praebeant  tarn  rugosam  ac  quasi  senilem,  itaque  iam  ante 
annum  ca.  250.  componi  coepisse  fit  ueri  simile. 

At  Parthey  ex  eo,  quod  in  pap.  Berol.  I  u.  26  is,  qui  aduocaretur 
dyaee  feujpTe,  esset  sanctus  Qeorgius,  cui  dies  constituta  esset  23.  apr 
anno  303.  p.  Chr.,  hunc  ipsum  annum  esse  terminum  a  quo  collegit.* 
iam  uero  Baudissin.^  suspicabatur  TeujpTe  esse  deriuandum  ab  adiectiuo 
TeujpTÖc:  quod  rectum  puto.  nee  obstat  quam  Parthey  attulit  inuocationem 
dTa0ou  T€u)pToO  in  tabula  lignea  Aegyptiaca  (p.  140)  satis  mutila:  uide 
modo  u.  6  vuKTi  jueXaivr]  xopTdcjuaciv  eTri|uebo . . .  v.^ 

Ne  minimum  quidem  utilitatis  ad  hanc  rem  afferre  potest  lingua 
papyrorum,  quoniam  scribae  suas  quisque  formas  intulere  nequedum  in 
his  obseruationibus  tantum  effectum  est,  ut  certiori  aetati  formas  ac 
uoces  adtribuere  possimus. 

Ex  iis  uero,  quae  de  uocibus  ac  sententiis  gnosticis  hie  relictis 
statuimus,  sequitur,  ut  post  Valentini  uel  Marci  tempora  demum  haec 
sie  confici  potuerint.^  ac  cum  Valentinus  floruerit  ca.  annum  150 
(mortuus  est  anno  160.  in  Cypro  insula)  et  Marcus  ca.  170.,  iam  abripimur 
in  angustiorem  annorum  gyrum. 

Omnia  si  reputamus,  statuere  licet  haud  sine  summa  probabilitate 
has  quidem  papyros  atque  imprimis  pap.  V  confectam  esse  ca.  annum 
200.  p.  Chr.,  etsi  nemo,  quando  prima  incrementa  ac  frustula  talis  ar- 
gumenti  conscribi  coeperint,  audebit  affirmare. 

IV  ANALECTA  DE  PARTIBUS  QUIBUSDAM  PAPYRI 
1.  Quo  usque   iam   culta  atque   elaborata  fuerit   disciplina  occulta, 
prae  se  fert  index  ille  plantar  um  aliarumque  rerum  magicarum,  qui 

1  Wessely,  Stud.  Vindob.  VIII  p.  189,  Menkschriften'  1.  c.  p.  37. 

*  Cf.  Wessely,  Stud.  Vind.  VIII  188,  'denkschriften'  1.  c.  p.  36. 
'  In  edit.  pap.  Berol.  ad  loc.  et  in  prooem.  p.  117. 

*  'Studien  zur  semitischen  religionsgeschichte'  p.  119  adn.  1.     "  im^r\b6߀vov? 

*  <Die  Ansetzung  nach  den  großen  Gnostikern  wird  als  falsch  bezeichnet 
Abrax.  133  Anm.  2.) 

3* 


36  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

inscribitur  ep)Liriv€iJ,uaTa  €k  tujv  lepüjv  |U€8r|p|Liriv€vj|ueva,  oic  ixpijjvjo  o\ 
lepoi  Tpa^Mareic.  iam  componebant  lexica  rerum  in  usu  magico  tritarum : 
781  namque  secundum  litterarum  ordinem  indicis  altera  columna  disposita 
est  uel  potius  erat:  inde  a  p.  XIII.  tantum  uersibus  10.  et  11.  series 
alphabetica  interrumpitur\  quoniam  in  u.  18.  post  Kebpiac  superioris 
uersus  T^üucca  supplendum  est  uelut  interdum  non  priores  sed  alterae 
nominum  uoces  litterarum  ordinem  seruant.^  nee  uero  latet  haec  frustula 
desumpta  esse  e  libello  quodam,  cui  nomina  ita  inserta  erant,  ut  ac- 
cusatiui  essent  positi:  XII  30  ttötiv,  XIII  7  dKCKaWiba,  14  deröv^,  23 
TÖvov.  interdum  XeT^i  apponitur  (XII 25.  XIII 20, 25)  et  nominatiuo  (XIII 25). 
Hoc  uero  nominum  mysticorum  genus  et  aliunde  notum:  ut  apud 
Plut.  de  Is.  et  Os.  c.  37  x^vöcipic  i.  e.  planta  Osiridis  =  kiccöc  (cf.  Parthey 
ad  loc.  p.  230),  c.  62  cibripixic  XiGoc  =  ocxeov  "Qpou,  cibripoc  =  öcTeov 
Tuqpujvoc.  permulta  similia  inueniuntur  apud  Dioscoridem,  quae  bene 
comparauit  Berthelot.^  unde  apparet  quam  sit  fucata  haec  doctrina: 
nam  nominibus  plantarum  mysticis  alia  apponuntur  uera,  ueris  alia 
mystica:  non  re  uera  haec  in  usu  fuere,  sed  alius  alia  finxit:  omnia 
nil  nisi  fraudes  ac  tenebrae.^  plenus  talibus  rebus  est  libellus  Me  her- 
barum  uirtutibus',  qui  adscribitur  Apuleio^;  multa  apud  Plinium  et  in 
scriptis  medicis  occurrunt. 

Vnde  haec  omnia  orta  sunt?  iam  uiri  docti  quoniam  in  Apulei  opus- 
culo  inueniuntur  quae  neque  apud  Dioscoridem  neque  apud  Plinium 
occurrunt  fontem  antiquiorem  communem  quaerebant.'  praesto  erat 
Pamphilus  qui  opus  irepi  ßoiaviuv  scripsisse  traditur.  uide  quae  de  eo 
dixerit  Galenus  in  operis  Tiepi  Kpdceujc  Kai  buvd)Li€UJc  tujv  dirXujv  cpap- 
ludKUJV  libro  VII.  =  editionis  Kuehn.  XI  792:  Kai  ^evroi  Kai  xfiv  rdHiv 
auTUüV  (seil.  TUJV  q)UTU)v)  Tf]c  fpa(pf[c  €TVujv  XP^'vai  KaTd  CTOixeiov 
TTOiricacGai ,  ....  outiu  bx]  Kai  TTd)Liq)iXoc  erroiricaTO  Tf]V  irepi  tüjv 
ßoTavujv  TTpaT|uaT€iav.  dXX'  eKeivoc  ^^v  eic  tc  iliOöouc  TpctOuv 
Tivac  dH€Tpd7T€T0 .  Kai  Tivac  TorjTeiac  AiTUTTTiac  Xripuübeic  djiia  ticiv 
^TTiubaTc,  de  dvaipoujuevoi  Tdc  ßoTdvac  e-rriXeTOuciv.    Kai  br\  KexpnTai 

^  V.  14  oceXXeßei  non  intellego:  corruptum  uidetur. 

'  Sic  elementorum  ordinem  obseruandum  esse  me  monuit  Buecheler. 

^  Nisi  deroö  scribendum  et  ai|aa  supplendum. 

"  In  'Journ.  des  Sav.'  apr.  1886,  ubi  papyros  a  Leemansio  editas  tractauit, 
p.  215  sqq.  et  XoUection  des  alchimistes  grecs'.     Paris.  1887.     I  p.  10  sq. 

*  Tarnen  et  apud  nostrates  huius  generis  nominum  exempla  seruantur: 
'Ochsenzunge',  'teufelsbart',  'gaensefusz',' Igelsamen',  'teufelsdreck',  'löwenzahn'. 
cf.  Berthelot,  Xoll.  des  alch.'  p.  11  c.  adn.  6.  (cf.  'odinskopf"  Wuttke,  'deutscher 
Volksaberglaube'  p.  92.) 

®  Cf.  imprimis  c.  10. 

'  Cf.  Wiedemann,  'Sammlung  altägyptischer  Wörter  etc.'  p.  3  sqq. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  37 

TTpöc   TrepiaTTTtt  koi  ctXXac  iuaYTaveiac  ou  TiepiepTOuc  jliövov,   oub' 

e'Hu)   Tfic   iaxpiKfic   xexvnc   dWct  Kai  lyeubeTc  dTrdcac  p.  793:  6  be 

T€  TTdMcpiXoc  6  xd  irepl  tOjv  ßoiaviuv  cuvGelc  eubriXöc  eciiv  KdH  auxujv 
iLv  Tpdqpei  Tpa|a)LiaxiK6c  uuv  Kai  juriG'  euupaKiuc  xdc  ßoxdvac  uTiep  iLv  782 
biTiTeixai  )ur|xe  xnc  buvd^€lüc  auxujv  TTeireipaiuevoc,  dXXd  xoTc  irpo 
auxoO  TeTpatpdciv  dTtaciv  dveu  ßacdvou  TreTTicxeuKiuc.  ouxoc 
^ev  'eH  eTpavpe^  ßißXia,  TiXfieoc  övo)Lidxu)v  eq)'  €Kdcxr)  ßoxdvri  |udxriv 
TTpocxiOeic,  ele'  dHnc  ei  xic  auxuiv  eH  dvepiiuTrou  juexeiiiopcpiüeTi  biTiTOUjue- 
voc,  eixa  exriubdc  Kai  CTTOvbdc  br|  xivac  Kai  eujuidimaxa  xaic  em  xoO- 
xuuv  eK  xfic  Tnc  dvaipececi  irpocTpdqpujv,  ^xepac  be  TOtiTci  ac  xoiaOxac 

Xripuubeic.  öbe  'AvaZiapßeuc  AiocKOupibric p.  794:  xaOxd  xe  ouv  dva- 

TITVUJCK6IV    xpn    TÖv   einTTCipov   TevecGai    liXnc   ßouXö|aevov,   ^xi  xe  irpöc 

xovjxoic  xd  0'  ^HpaKXeibou  xoO  Tapavxivou  Kai  Kpaxeua  Kai  Mavxiou 

ujcG'  öxuj  cxoXf)  xPnci)Lioic  6)LiiXeiv  ßißXioic  irepi  cpapindKuv  TeTpa|Li|Lievoic 
^X€i  TToXXd  Kai  xujv  iraXaioJV  iiiev,  u)c  eiprixai,  Kai  xu)v  vecuxepujv 
hl  ouK  oXifa  luexpi  Kai  xujv  Txepi  TTd)Liq)iX6v  xe  Kai  'ApxiT^vriv.  —  ..... 
TTajicpiXou  xoö  |uir|b'  övap  ^lupaKÖxoc  iroxe  xdc  ßoxdvac,  iLvxdcib^ac 
e7Tix€ipeT  Tpdq)eiv  '. 

p.  797:  Tpdq)Ovxoc  diriubdc  Kai  |uexa)Liop(pujceic  Kai  beKaviuv 
Kai  baijuövujv  lepdc  ßoxdvac  dvdcxoix'  dv;  öxi  ydp  TÖriTec  dvGpuu- 
TTOi  ^K7rXr|xxeiv  xöv  ttoXuv  öxXov  IpTOV  TreTioiTmevoi  xd  xoiaOxa  cuv- 
eGecav  dH  auxiliv  ^vecxi  coi  ^vujvai  xoO  TTa)Li(piXou  ßißXiiuv,  oc  Trpüjxov 
)Liev  ev  xaTc  ßoxdvaic  l^pa\\tey/  dßpöxovov,  diraciv  fiiuiv  TVubpijLiov  xut- 
Xdvoucav,  eiG'  llf\c  dyvov,  iKavüuc  Kai  xoöxo  TVu>piHov  Gdjuvov,  eix' 
dTpiwcxiv,  oube  xoTc  ibiuixaic  drvuücxov  iiöav,  eix'  dfxo^cav,  ^v  oube 
auxfiv  dTvoei  xic,  ÜJCTiep  ouv  oube  xö  dbiavxov  ecpeEnc  auxfj  ye-fpaiu- 
fLievov.  dv  ^^v  bfi  xouxoic  oubev  luv  iC|Liev  Ttepixxöxepov  Ypdcpei.  juexd 
be  xaöxa  ßoxdvric  |Lie)LiVTixai  KaXou|uevTic,  ujc  auxöc  cpriciv,  dexoö,  irepi 
Y]c  öiuoXoTeT  juribeva  xüuv  '6XXr|VUJV  eipT]K€vai  \ir\hiy,  dXX'  ev  xivi  xijüv 
eic  'GpiLifiv  xöv  AifUTixiov  dvacpepOjLievuuv  ßißXiuuv  exTeTpdcpGai 
Tiepiexovxi  xdc  X^'  xüüv  u)pocKÖ7ru)v  lepdc  ßoxdvac,  di  eubriXov 
ÖTi  TTCtcai  Xfjpöc  eici  Kai  ixXdcjuaxa  xoO  cuvGevxoc,  öfnoiöxaxa  xoTc  'Ocpio- 
viKOic  xoic  KoTX^ctKÖTX^ot-' 

Haec  omnia  adscripsi,  ut  appareat  Pamphili  opus  et  ipsum  prorsus 
superstitiosum  simillimum  fuisse  indici  isti  in  papyro  seruato.  et  gno- 
stica  inerant:  uide  apud  Galenum  beKavuJv  Kai  bai^övujv  lepdc  ßoxdvac. 
compositum  erat  Kaxd  cxoixeTov:  recensentur  primae  herbae  a  Galeno 

*  iU'rpa\\s€  traditur.  correxit  Lobeck,  Agflaoph.  p.  610. 
'  Cf.  Vsener,   Mus.  Rhen.  XXVIII  640  (cf.  411)   et   E.  Rhode,   'griechischer 
roman'  p.  219. 


38  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

sie:  dßpOTOvoc,  ayvoc,  octpiajctic,  ctTXO^ca,  dbiaviov,  dexöc.^  sex 
erant  libri  quos  titulo  usos  esse  suspicor  eiKÖvec  iiuv  ßoiavOuv,  quamuis 
783  contra  disputatum  sit.^  apud  Suidam  TTd|Li(piXoc,  'AilkpittoXittic,  f\  Cikvj- 
d)vioc,  f|  NiKOTToXiTric,  cpiXöcoqpoc -^  traditur  eiKÖvac  xard  cioixeTov  scrip- 
sisse.  iam  Petrus  Lambecius  in  comment.  de  bibliotheca  Vindob.  lib.  II 
c.  7  tAv  ßoTavuJv  inseruit.  cf.  Galen,  xdc  ßoxdvac  ojv  xdc  ibeac  diri- 
xeipeT  Tpdqpeiv.  nil  aliud  significat  ac  in  titulo  indicis  plantarum  papyr.  V 
p.  XII  20  eic  Geujv  eibujXa  eireTpaiiJev. 

Quae  de  planta  dexöc  uocata  adduxerit  Pamphilus  inuenisse  eum 
tradit  Galenus  Iv  xivixüjv  eic  '€p)Lifiv  xöv  Aituttxiov  dvaqpepojLievujv 
ßißXiuuv  —  Tiepiexovxi  xdc  X<;'  xüuv  ujpocKÖTTUJV  lepdc  ßoxdvac  kxX. 
nonne  plane  eiusdem  generis  est  indiculus  iste  papyri  qui  inscribitur: 
'EpjUTiveujuaxa  eK  xoiv  lepOuv  |U€6r|p|Lir|veu|ueva,  oic  expijuvxo  oi 
lepoi  Tpam^aTeTc.  (22:  —  xdc  Xvjceic  iiyd^oiuev  eK  xüjv  ttoXXüjv  dvxiYpd- 
cpujv  Ktti  Kpu(pi|Liu)v  irdvxujv.)    et  dexöc  re  uera  exstat  in  papyro  (p.  XIII  14). 

In  huius  igitur  papyri  illa  particula  (p.  XII  17  et  XIII)  seruatur  spe- 
cimen  libellorum  iam  xaxd  cxoixeTov  conscriptorum,  unde  Pamphilus 
aliique,  qui  Dioscoridi  Plinio  Apuleio  aliis  ad  manus  fuere,  doctrinam 
superstitiosam  sumpserunt.  quid  iuuat  Dioscoridis  et  aliorum  unum 
fontem  quaerere?  neque  enim  Pamphilus  solus  talia  compilauit:  apud 
Galenum  nonnulla  nomina  adsunt,  apud  Plinium  citatur  Apion  quidam: 
*quaerat  aliquis  quae  sint  mentiti  ueteres  magi,  cum  adulescentibus  nobis 
uisus  Apion  grammaticae  artis*  prodiderit  cynocephaliam  herbam  (kuvo- 
KecpdXou  nomen  inter  papyri  plantas  saepius  occurrit,  in  pap.  XLVI 
mus.  brit.  adhibent  KuvoxecpaXov  ßoxdvriv)  quae  in  Aegypto  uocaretur 
osiritis  diuinam  et  contra  omnia  ueneficia,  sed  si  tota  erueretur,  statim 
eum  qui  eruisset  mori  etc.'  sed  quod  plus  ualet  quam  uana  unius 
nominis  umbra  -:  patefacta  est  uia,  qua  e  tenebris  magicis  per  Pam- 
phili  aliorum  compilationes  deriuatae  sunt  scientiae  botanicae  ad  scrip- 
tores  rei  medicae  et  omnes  sequioris  aeui  homunciones,  qui  Tiepi  ßoxa- 
viuv  opuscula  conglutinabant.^ 

*  Cf.  Schoenemann,  De  lexicographis  antiquis  qui  rerum  ordinem  secuti 
sunt  quaestiones  praecursoriae.    diss.  Bonn.  Hannover.  1886  p.  113,  adn.  3. 

*  Eruditorum  sententias  nuperrime  recensuit  Schoenemann  1.  c.  p.  62  sqq. 

ipse  uoluit  scribere  e'iKÖvac irepi  ßoxavAv  k.  ct.    [Häberlin,  Deutsche  Lit.- 

Zeit.  1889,  1823  schlägt  einen  Doppeltitel  vor,  wie  ihn  die  Satiren  des  Varro 
tragen:  eiKÖvec,  irepl  ßoravojv.]     <(S.  Abrax.  142  Anm.  l.> 

'  Pamphilos  diuersos  pertractauit  Schoenemann  1.  c.  p.  64  sqq.  grammaticum 
fuisse  eundem  ac  scriptorem  irepl  ßoravuiv  censuit. 

*  Obserues  et  hunc  grammaticum  fuisse  aeque  ac  uidetur  Pamphilus  cf. 
supra  adn.  3. 

^  De  nonnullis  egit  Valentinus  Rose  in  Hermae  uol.  VIII.  p.  37. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  39 

Nec  uero  hie  praetermitto  simili  modo  atque  in  papyro  plantas  collecta 
esse  chemiae  incrementa  similibus  nominibus  ornata:  uide  glossas  che- 
micas  (XeHiKov  Kaid  cTOixeTov  Tnc  xP^coTroiiac)  a  Bernardo  editioni 
Palladii  libelli  de  febribus^  adsertas^:  d^ppobiiric  CTiepina  ecTiv  avGoc 
XaXKOÖ.  -  d7T0C7T6p)LiaTic)Liöc  bpdKOVTÖc  ecTiv  ubpdpTupoc.  -  fdXa  ßoöc 
ILieXaivTic  ecTiv  ubpdpTupoc  diiö  Geiou.  -  Tiidvöc  kiiv  dcßecToc  -  alia. 

Multum    antiquitus    ualebant   in   re  magica  plantae^:   adhibentur  in  784 
Omnibus  libellis  superstitiosis. 

Et  aliis  papyri  locis  plantae  memorantur:  iam  I  1  exiuv  öcirpiiuv 
eTTieTiüv'^,  I  21  TravToTa  Tevn  KapTTuuv,  crpoßiXouc  I  22^  I  23  \xr\ka  cpoiviKia. 
Xn  14  dicitur  qui  piZiav  TraciGeav  f\  dpiejuiciav  secum  habeat  errixapic 
Ktti  TTpocqpiXfic  KQi  eau)nacTÖc  toTc  öpujci  ktX.:  huiusmodi  radicibus  semper 
summa  uis  adscribebatur  usque  ad  hunc  diem:  quam  dicunt  ^spreng- 
wurzel'  iam  eodem  modo  describit  Plinius  h.  n.  X  18;  XXV  4,  quo  nunc 
laudant  superstitiosi.''  ac  papyri  Parisinae  locus  docet,  quali  ritu  piZ^o- 
TÖ|uoi  quaesiuerint  atque  incantarint  radices  magicas;  ubi  quoniam  oc- 
currunt  nomina  generis  tractati  liceat  apponere  nonnulla:  u.  2982:  cu  f] 
bpöcoc  fi  TÜuv  Geujv  TidvTUJV,  ci>  f)  Kttpbia  toö  '€p)uoO,  cu  ei  tö  crrepiua 
Tujv  TTpofövujv  Oeüjv,  cu  €1  ö  6q)6aX|aöc  toO  fjXiou,  cu  e?  tö  cpijuc  xfic 
ceXrivric,  cu  ei  r\  ciroubfi'  tou  'Ocipeujc.  —  u.  2988:  t6  TTveujua  tou 
"Amnuivoc.  —  u.  2994:  cou  xd  ävQr\  ecfiv  6  6cp0aX)Liöc  tou  "Qpou,  tö 
cöv  CTrepiLia  tou  TTdvöc  dcTiv  CTrepina  ktX. 

2.  Inter  plantas   etiam  animalia^  quaedam  nominantur  uelut  öcpic, 


'  Lugd.  Batau.  1745. 

'  Nuper  iterum  editas  in  opere  'collection  des  alchimistes  grecs  publice 
par  M.  Berthelot'  I.  'texte  grec'  p.  4  sqq. 

'  Cf.  Welcker,  'kleine  schritten'  III  p.  20  sqq.  nonnulla  et  de  his  rebus 
collegit  Dale  'dissertationes  de  origine  ac  progressu  idololatriae  et  superstitionum '. 
Amstelod.  1696  p.  603  sqq.  de  tali  medii  aeui  superstitione  cf.  Meyer,  'der  aber- 
glaube  [des  mittelalters'.  Basel  1884.  p.  60  sqq.  herbas  et  nunc  creberrime 
ad  has  res  adhiberi  docet  Wuttke  1.  c.  p.  92  sqq.  Grimm ,  mytholog.  ed.  I.  ap- 
pend.  p.  CLX. 

*  Fabae  saepius  ad  res  magicas  adhibentur.  pap.  Paris,  u.  769,  2682.  cf. 
Lemuriorum  Romanorum  ritus:  Ovid.  fast.  V436:  et  nigras  accipit  ore  fabas  | 
auersusque  iacit.  sed  dum  iacit  'haec  ego  mitto,  |  his'  inquit  'redimo  meque 
meosque  fabis'.  cf.  Petron.  135  (in  actione  magica).  cf.  Plut.  de  Is.  et  Os.  c.65. 
Herod.  II  37. 

*  Cf.  pap.  Berol.  II  245,  47,  25.     pap.  W  23,  33. 

*  Wuttke  1.  c.  p.  96. 

'  CTTOAH  (=  cTro6id-6oc)  'cineres'  correxit  Buecheler. 

*  Nonnulla  de  bestiolis  magicis  collegit  O.  Jahn  in  'berichte  der  sächs.  ges. 
der  wiss.'  1.  c.  p.  97  sqq. 


40  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

786KuvoK€q)aXoc\  ißic,  xoipOTP^XXoc,  KaXaßiUTric-  (=  dcKaXaßujXTic),  xo^poc, 
XOlpiblov•^  xnvaXtÜTTTiH*  etc.  atque  alia  occurrunt  in  pap.  animalia  ad 
sacrificia  uel  actiones  adhibita:  aXcKTpuiuv  (I  30,  VII  2,  IX  31)  ^ 
Xnv  (VII  2)^',  TrepiCTepd  (I  31,  VII  2)\  tö  lepöv  öpveov  (poiviE"^ 
(VII  20),    rpuTtüV    (I   31)-',  öpiuH  (I  30) ^^    aiXoupoc    (IV  2)^\    vuKxepic 

^  Imprimis  KuvoKcqpaXov  Aegyptii  uenerabantur.  cum  Selene  et  Mercurio  quo- 
dammodo  coniunctae  fuisse  uidentur  simiae.  Parthey  ad  Plut.  Is.  et  Os.  p.  261. 
in  gemmis  gnosticis  figuratae  inueniuntur.    Kopp,  pal.  crit.  IV  p.  80.    cf.  omnino 

0.  Keller,  'tiere  des  classischen  altertums'.  Innsbruck.  1887  p.  1  sqq.  quae  in 
cippis  funerariis  sculptae  fuerant  et  in  sepulcris  argilla  fictae  reperiuntur,  non 
lusus  causa  factae  sunt,  quod  Keller  p.  6  (c.  adn.  74)  putat.  memineris  lege 
Pompeia  homines  cum  simiis  coniunctos  ad  supplicium  deportatos  esse  (Keller 
p.  6)  certe  haud  sine  causa  mystica.  uide  uerba  Modestini  Digest.  48,  9,  9: 
culleo  insuatur  cum  cane,  gallo  gallinaceo  et  uipera  et  simia  etc. 

*  Lacertas  magi  omnibus  temporibus  adhibebant.  cf.  Theocrit.  II  58.  Pausan. 
VI  2,  2.  Plin.  XXX  15;  VIII  31,  49.  Lenz,  '  Zoologie  der  griechen  u.  römer'. 
Gotha  1856  p.  429.  Jahn  1.  c.  p.  37  et  imprimis  p.  99.  C.  Meyer,  '  aberglaube 
des  mittelalters'  p.  79 sqq.    Wuttke,  'deutscher  Volksaberglaube'  p.  112. 

^  Sues  ab  Aegyptiis  nulli  deo  nisi  CeXrivr)  et  Aiovucuj  sacrificatas  esse  tradit 
Herod.  II  47.  Aelian.  de  nat.  anim.  10,  16  fert  Athenienses  in  mysteriis  sacri- 
ficasse  sues.  *  Cf.  Keller  1.  c.  p.  287. 

^  In  omnibus  fere  sacrificiis  magicis  adhibentur.  pap.  Berol.  II  25,  pap. 
Paris.  35,  2190  (fere  semper  albi  coloris:  ärcixov  h^  lu^Xavoc  pap.  V  IX  31);  cf. 
Jahn  1.  c.  p.  79  c.  adn.  204  et  p.  98.    et  nocti  et  laribus  mactabantur  Ovid.  Fast. 

1,  455;  luuenal.  13,  233.  in  gemmis  gnosticis  saepe  occurunt  Kopp  III  p.  217. 
IV  p.  2  et  8,  168,  198,  236,  249,  293,  362.  Plut.  de  Is.  c.  61:  Anubidi  sacrari 
gallos  albos  aut  croceos.  cf.  Lucian.  gall.  c.  28.  C.  Meyer  1.  c.  p.  284.  Wuttke 
1.  c.  p.  112. 

*  Osiridi  et  Harpocrati  anseres  sacri  erant.  inueniuntur  picti  in  cippis,  fi- 
gurati  aurei  in  sepulcris  (cf.  'archeol.  zeitung'  1877,  178),  in  epulis  funereis 
fruebantur  anseribus  (CIL  V  7906).  Hercyna  (Orci  dea)  in  templo  Lebadeensi 
tenebat  anserem  in  manu  nee  non  huc  referendum,  quod  in  tot  monumentis  an- 
seres strangulantur.  [Journ.  of  hell.  Stud.  1885  p.  XLIX:  eine  vierflügelige  Me- 
duse hält  Schwäne  am  Halse  gepackt,  Baumeister  III  1953.J  nonne  haec  docent 
anseres  rei  aliquid  habuisse  cum  Orco,  quod  Kellero  non  uidetur  1.  c.  p.  291? 
vTi  Töv  xnva:  diceret  Socrates  legem  Rhadamantis  secutus.    cf.  Wuttke  p.  113. 

'  Cf.  B.  Lorentz,  'die  taube  im  altertum'.  progr.  Würzen.  1886,  quid  docet 
columbas  apud  Germanos  antiquitus  habitas  esse  aues  infaustas,  apud  Gothos 
etiam  funebres.    cf.  Wuttke  p.  113. 

^  Cf.  Keller  p.  253.  Hommel,  'äthiopische  Übersetzung  des  physiologus'  p.  XXXIX. 

*  Cf.  pap.  Paris,  u.  2305.  pap.  Mimaut.  u.  204.  cuius  carne  sacerdotibus 
Aegyptiis  non  licebat  frui.    Porphyr,  de  abst.  IV  7  Wuttke  1.  c.  p.  113. 

^^  Cf.  V  5  ai'iLiaTi  öpxuYiou.  Plin.  h.  n.  X  69:  '  coturnicibus  ueneni  semen 
gratissimus  cibus  quam  ab  causam  eas  damnauere  mensae  simulque  comitialem 
propter  morbum  despui  suetum.'    cf.  Wuttke  p.  117. 

'^  Pap.  Mimaut.  15,  219;  pap.  Paris.  1648,  2137.    apud  Aegyptios  sanctissi- 

.   mae  erant  feles.    Parthey  ad  Is.  et  Os.  p.  263.    Leemanns  ad  Horapoll.  1,  10 

p.  166.  Herod.  II  67.  —  Roug6  in  'revue  arch6ol.'  I  p.  373.    cf.  C.  Meyer  1.  c. 

p.  74.   Wuttke  p.  120.   imprimis  utuntur  nigris  felibus  (cf.  IV  2  aTXoupov  dXo|u^- 

Xava). 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  4| 

(XI 26)'  alia.  Quae  omnia  -  uide  adnotationes  -  in  usu  erant  superstitioso. 
ac  sicut  de  plantarum  uiribus  egerunt  peculiaribus  libellis,  sie  et  animalium 
qualitates  ac  uires  iam  antea  conscripsere  ^  ita,  ut  hoc  modo  —  ut 
puto  -  orirentur  'physiologi'  quos  uocamus.  in  iis  uero  paene  semper786 
omnes  illae  bestiolae  recurrunt.  iam  persuasum  est  uiris  doctis  primum 
physiologum  in  Aegypto  prope  Alexandriam  ab  hominibus  nondum 
Christianis  confectum  esse,  qui  postea  ad  christianas  sententias  atque 
allegorias  mutatus  propagabatur  ad  omnes  fere  gentes.^  primum  om- 
nium  quos  habemus  physiologum  graecum  edidit  Pitra  in  spicil.  Solesm. 
III  p.  338  sqq.,  ubi  legis  irepi  cpoiviKOc  TTereivoO,  irepi  vuKTiKopaKoc 
Tiepi  ipuTÖvoc,  Tiepi  öqpeuuc,  irepi  TrepicrepOuv,  Trepi  Tßeojc  etc. 

Vides  quibus  e  tenebris  mysticis  ortae  sint  disciplinae  quas  uocamus 
botanicam  et  zoologiam. 

3.  Nee  uero  aliis  ex  originibus  prodiit  mineralogia  quae  uoeatur. 
ingentem  numerum  librorum  de  lapidibus  mystieorum  conseripsere : 
habemus  Orphei  Lithica  (saec.  IV.?),  Aetium  (saec.  VI.),  Pselli  libellum 
(saee.  IX.),  seruatur  Damigero  qui  uoeatur  latinus,  eui  nuper  multa  noua 
addidit  e  codice  Cauensi  3.  (saee.  ca.  XI.)  Pitra  in  anal.  sacr.  II 
p.  641  sqq.,  anonymi  Christiani  'Opq)eujc  XiGiKct  KripuTiuaxa  alii.  pri- 
mus,  quod  sciamus,  libellus  de  hisee  rebus  uoeatur  Damigero  graecus, 
cuius  fragmenta  tantum  enueleari  possunt  -  nondum  postremi  Marbodi 
Rhenani  (f  1123)  poema  de  lapidibus  et  Vineentii  Bellouaeensis  (t  1264), 
Arnoldi  Saxonis  (f  1220)  excerpta  et  Alberti  magni  opus  *de  rebus 
metallicis':  et  francogallica  et  germanica  lapidaria*  haud  pauea  postea 

VPap.   Paris.  2943  sqq.    cf.  Plin.  XXX  15.    Geoponica  XIV  2,  5.    XII  8,  8. 
XIII  1,  4.   Lucian.  Luc.  p.  580.    medii  aeui  temporibus  Passouiae  uendebantur 
ut  amuleta   'mit  dem  blute  von  fledermäusen'  bemalte  zeddel'   C.  Meyer  1.  c. 
p.  277.    cf.  Wuttke  p.  117.    Grimm,  mythol.  ed.  1  p.  LIV: 
'auch  treibt  man  mit  der  Fledermuss 
menig  tewschlich  spil.' 

'  Huiusmodi  multa  collecta  sunt  in  iis  libellis,  quos  irepl  dvTmaeeiOüv  Kai 
cu)Lnra9€iu)v  conglutinabant:  'AvaxoXiou  irepi  tujv  xaTOt  dvriTrdeeiav  Kai  cu|Litrde€iav 
ed.  in  Fabr.  bibl.  gr.  IV  p.  295  sqq.  (prior,  ed.):  ArmoKpiTou  irepi  cuiuiraeeiüjv 
Kai  dvTma0€iu)v  cum  notis  Rendtorfii  ib.  IV  p.  333.  eiusdem  generis  sunt,  quae 
apud  Aelianum  N.  A.  I  35-37,  Geopon.  XV  1  et  al.  prostant. 

ä  Haec  exposuit  Hommel,  'die  äthiop.  übers,  des  physiologus'  p.  XI  sqq. 
cf.  Pitra  in  spicil.  Solesm.  HI  p.  XLVII-LXXX  historiam  physiologorum  adum- 
brauit.  C.  Meyer,  'der  aberglaube  des  mittelalters'  p.  71  sqq.  imprimis  cf.  Carus, 
'geschiente  der  Zoologie'  p.  109 sqq.,  ubi  plura  inuenies.  quales  tractarentur 
bestiolae  in  octo  physiologis  docuit  indiculo  in  p.  137. 

*  'Das  steinbuch,  ein  altdeutsches  gedieht  von  Volmar'.  ed.  H.  Lambel. 
Heilbronn  1877.  (XIll.  saec?)  et  lapidarium  illud,  quod  dicitur  'S.  Florianer 
steinbuch'  (XV.  saec.)  et  alia.  L6on  Pannier  edidit:  'les  lapidaires  fran9aises  au 
12.  et  13.  siecle.'    omnino  cf.  C.  Meyer,  'der  aberglaube  des  mittelalters'  p.  55  sqq. 


42  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

occurrunt.  ueteres  uero  libellos  ex  parte  collegit  Eugenius  Abel  in 
Lithicis  (Berol.  1881)  \  tractauit  et  disposuit  Valentinus  Rose  in  Hermae 
uol.  IX.  p.  472  sqq. 

Quam  arte  ea  quae  in  pap.  de  iaspi  lapide  et  heliotropio  anulis 
infigendis  (VI  27  sqq.  et  VIII  24  sqq.)  deque  uiribus  eorum  (VIII  30  sqq. 
IX  21  sqq.)  dicuntur,  coniuncta  sint  cum  iis,  quae  in  libellis  istis  collecta 
patent,  si  adumbraueris,  docebis  quanta  constantia  haec  eadem  frustula 
ex  his  uetustissimis  fontibus  desumpta  propagata  sint  ad  illas  collec- 
tiones.  Ea  uero  doctrina  non  minus  fucata  quam  in  plantarum  indicibus: 
falleris,  si  putas  semper  easdem  uires  eisdem  lapidibus  adscribi  ac 
falluntur,  qui  haec  mutando  et  transponendo  efficere  uoluerunt:  miselli 
illi  auctores  eisdem  semper  incrementis  usi  omnia  miscent. 
787  Ad  VII  27:  in  cod.  Ambros.  A  95  (e  Damigeronte  graeco;  Abel, 
Lith.  p.  168,  7):  XiGoc  cjudpaTboc  6  koiXXictoc  xai  ttoXutijuoc  bOvaiuiv 
e'xei  Tipöc  iräcav  irpäHiv  Kai  eirixuxiav  ev  Tidcri  TrpdHei. 

Ad  VIII  24  et  32:  Damig.  lat.  p.  172*  (Abel):  'gratissimos  facit 
portantes  illum  et  facundos,  etiam  amabiles  et  idoneos'  etc.  'Opcp.  Xi6 
KTip.  p.  144^*^:  eil  be  Kai  Trpöc  TidvTac  emxapiTOuc  euTieiGeTc  Trapa- 
CK€ud2ei  Touc  cpopouvrac  auxöv  Kai  euojuiXouc  iroieT. 

Ad  IX  1  (iTOieT  be  Kai  Tipöc  bai|uoviOTrXr|KTOuc) :  Damig.  lat.  p.  187*^: 
^facit  ad  lymphaticos  et  ad  daemoniacos'. 

Ad  VIII  31  (ö  dv  Tivi  eiTTrjc  7TiCT€u9r|cr]  -).  Lith.  627:  Kai  GeXHeic 
Hu6oici  ßpoTOic.  'Opqp.  XiG.  Ktip.  p.  143^:  prjTOpiKiuTepov  iroieT  cf. 
p.  144,  11  et  21.  Damig.  1.  168^:  'persuasionem  habet  in  omni  negotio'. 
p.  177^^:  'facundum  et  potentem  et  gratum  et  suadentem  facit'. 

Ad  VI  27  ([Trpöc]  ßaciXeic  Kai  fiTejaövac  Xiav  evepTec)  et  VIII  31 
(1x1  be  ßaciXeuuv  opTdc  Kai  becrroTOJV  TraOei).  Damig.  1.  p.  164'^:  ^iras 
quoque  potentium  summe  delinit  gestatus'.  p.  169^:  ^maximum  autem 
tutamentum  aduersus  iras  dominorum  insculptum  nomen'  etc.,  ubi  uide 
Damig.  graec.  Trpöc  opTnv  becTTÖiou.  p.  172^:  'nee  non  ad  omnes  minas 
et  iras  regum  et  dominorum  portatus  obsistit'.  p.  176,  2:  'aptus  est 
autem  ad  potentiores'  etc.    cf.  Lith.  u.  226;  'Opcp.  X.  k.  p.  139'';  148^'. 

lam  ex  his  exemplis  addisces  quo  uinculo  coniuncta  sint  lapidaria  illa 
cum  papyro.  sed  utrum  papyri  uerba  desumpta  sint  ex  eiusmodi  libellis 
an  frustula  haec  postea  demum  conquisita  ac  conferta  sint,  uix  diiudicem. 

4.  Duae  praeterea  sunt  in  pap.  particulae,  quae  et  ipsae  quasi  frag- 
menta  sunt  e  magnis  librorum  thensauris. 

Neque  uero  in  profunda  chemicae  scientiae  mysteria  altius  de- 

^  Cf.  Pitra  spicil.  Solesm.  lli  p.  324  et  anal.  sacr.  II     1.  c. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  43 

scendi  quam  ad  uerba  VI  18-26  restituenda  necesse  erat,  quod  mihi 
uideor  effecisse.  quot  opera  postea  confecta  sint  alchymica  docet  Kopp 
in  libro  qui  inscribitur:  'beitrage  zur  geschichte  der  chemie'.  omnium 
uero  quae  seruantur  uetustissima  sunt  pap.  X  Lugd.  Bat.^  et  hoc 
papyri  V  frustulum,  quod  etsi  non  e  papyro  X  desumptum  tamen  eius 
partibus  simillimum  est.  eo  minus  has  res  equidem  fusius  tractare 
uelim,  quod  Berthelot,  qui  iam  multa  bene  adnotauerat",  nuper  edere 
coepit  opus,  quod  inscribitur  'collection  des  alchimistes  grecs'  'premidre 
livraison'  Paris.  1887:  in  prooemio  tractantur  peculiariter  'les  papyrus 
de  Leide'  et  fragmentum  papyri  V  p.  13  sqq.  et  papyrus  X  p.  19  sqq. 
(uertitur  inde  a  p.  28).  über  est  summi  pretii;  multa  explicantur  in  prolego- 
menis:  signa  et  instrumenta  alchymica,  metalla;  alia  nonnulla  obseruantur 
de  historia  librorum  alchymicorum  (p.  200  sqq.);  multa  e  codicibus  graecis  788 
eduntur  (e.  c.  Democriti  cpuciKd  kqi  luuciiKd,  Synesii  commentarius,  Olym- 
piodori  scripta)  adiutore  Ch.-Em.  Ruelle.  aegre  fero  quod  hoc  opere  uti 
sero  mihi  licuit,  cum  pars  commentationis  meae  prelo  iam  subiecta  esset.^ 
cqpaTpa  Atijliokpitou  (p.  XI)  e  superstitione  astrologica  petita 
est.  similes  cqpaipac  commemorare  uidetur  Proclus  ad  Plat.  rem.  publ. 
p.  103,  26  (ed.  Schoell):  xai  yop  niiieic  eveiuxoinev  cqpaipaic  ßapßapi- 
KttTc  AItutttiiuv  xai  XaXbaiujv  Kaict  tcic  inoipac  toö  ZiujbiaKOÖ  ictc  tujv 
ßiujv  biaqpopctc  juerpoOcaic.  cf.  Horapoll.  I  38.  Berthelot  et  de  his  re- 
bus disseruit  in  opere  'collection  des  alchimistes  grecs'  I  p.  86  'la 
Sphäre  de  D^mocrite  et  les  m^decins  astrologues'.^  affert  e  bibliothecis 
Parisiensibus  duas  cqpaipac  uel  potius  'kvjkXouc'  similis  argumenti  non- 
dum    editos,    qui    Petosiridi   adscribuntur.^     similiora   sunt,   quae  edidit 

^  Leemans  pap.  graec.  tom.  II  p.  199  sqq.    cf.  Kopp  1.  c.  p.  97  sqq. 

*  Journ.  des  Sav.  (avril)  1886  p.  218  sqq.   (mai)  p.  263  sq.  (juin)  p.  335  sqq. 
'  Index  scriptorum  mysticorum  (övöinaxa  tujv  cpiXocöcpujv  xfic  eeiac  kmcd\iir]c 

Kai  T^xvnc)  e  codice  Veneto  editus  (p.  111,  cf.  'texte  grec'  p.  25)  utilis  est  ad 
illustranda  ea  quae  inde  a  p.  757  exposui.  uocantur  auctores  non  solum  notis- 
simi,  sed  etiam  e.  c.  EevoKpdxric,  AouKdc,  Aiot^vtic,  Mapia,  'Hcibujpoc  (=  Mcibiüpoc), 
ea\Y\c  (sie),  'HpdKXeixoc,  'louXmvri  etc.  -  /lr\piOKphov  ßißXoc  e'  upocqpujvrieeTca 
AeuKiirutu  editur  'texte  grec'  p.  53  sqq.;  libelli,  quos  "Icic  irpöc  töv  ulöv  aOrnc 
"ßpov  dedit,  prostant  ib.  inde  a  p.  28  et  33:  adscribas  iis  quae  in  p.  758  notaui. 
-  XaßüpivGoc  f^virep  CoXo^ujv  iTCKTrivaTo  deformata  est  in  p.  157  (cf.  'texte  grec' 
p.  39):  addas  in  p.  755.  -  Erotyli  nomen,  quem  aliunde  ignotum  esse  dixi  in 
p.754,  oceurrit  et  inter  auctores  alchymicos  (p.  17). -quae  uerba  e  codicibus  graecis 
prolatasunt  'texte  grec' p.  21  et  22  de  serpente  oöpoßöptu  bene  illustrant,  quae  in 
p.  769  adnotaui.  -  cosmologiam  gnosticam  in  pap.  Leid.  W  seruatam,  de  qua  Ber- 
helot  in  p.  18  nonnulla  uerba  fecit,  spero  me  haud  sine  fructu  mox  tractaturum  esse 
<Abraxas  p.  3  sqq.>.  <:»      oia 

*  Iam  nonnulla  adumbrauerat  in:  'Journ.  des  Savants.  avril  1886    p.  213  sqq. 

*  Alter  inscribitur:  HeTocipou  iLiaeimaxiKoO  irpöc  Nexeiiiib  töv  ßaciX^a.    cf.  ad 
p.  756. 


44  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

Paul  Tannery  in  ^notices  et  extraits  des  manuscrits  de  la  bibliothdque 
nationale',  t.  XXXI.  1885.  una  tabula  inscribitur:  Vn^oc  ^ßbofnaxiKr] 
fmepOuv  biaTvocTiKf]  Z^ujfic  Kai  eavdiou'.  neque  uero  ego  innumera 
astrologiae  opera  perquisiui  —  perscrutatus  sum  dies  aegyptiacas  collec- 
tas^  sine  fructu,  quod  aliis  legibus  compositae  sunt;  an  quod  parum 
mathematicus  sum? 

5.  Quibus  adnotatis  liceat  de  artis  magicae  parte  quadam  pauca 
proferre,  cuius  testimonia  exstant  monumenta  integra  antiqua.  cum 
alia  de  superstitione  magica  colligenda  dissipata  sint  in  scriptorum 
operibus,  tarnen  hie  certissimae  artis  ipsius  atque  usus  reliquiae  ser- 
uantur.  defixiones  dico  uel  deuotiones.  notissimae  enim  sunt  la- 
minae  litteratae  quibus  seruatis  gaudemus. 

Tabellae  uel  laminae  (TrivaKibec,  TTixidKia,  TreiaXa)  in  papyris  passim 
789  memorantur  cuiusuis  materiae:  TreiaXov  xp^coöv  pap.  Paris.  1218,  1812. 
ev  xp\icf}  Xerribi  ib.  2226.  eic  Xeiriba  dpTupäv  ib.  258,  TreiaXov  dpyu- 
poOv  ib.  2705.  cibripoöv  xpiKov  pap.  britann.  XLVI  u.  308,  em  Xaiiiviou  Kacci- 
xepivou  pap.  Par.3014,  eiri  rrXaKi  Kaccirepivri  ib.  2212,  TrXdxuiujua  iiioXußoöv 
ib.  329,  KaXTidcou  cpuXXov  ib.  2050,  cpuXXa  bdqpvrjc  pap.  britann.  XLVI  u. 
384.  pap.  Par.  2206.  cpuXXa  juupcivric  ib.  2232.  Xdjuva  ex  xaiviou  ib. 
2239.  öcxpaKOV  dirö  6aXdccr|c  ib.  2218.  xapixou  ocxpaKov  P  V  11, 
16  ^  TTixxdKiov  lepaxiKÖv  pap.  Par.  3142.  cf.  2068.  2513.  ßuccivov 
pdKoc'^  P  V  5,  5.     öGöviov  KaBapöv  P  V  4,   16. 

Ac  quales  ex  bis  tabellis  in  terra  obrutae  per  saecula  seruari  po- 
tuerunt,  seruantur.  praeterquam  quod  papyrus  huius  argumenti  super- 
stes  est  adscribenda  quarto  ante  Chr.  saeculo*  ac  schedulae  quaedam 
papyraceae^  habemus  aureas  argenteas  plumbeas  laminas. 

Aureas  huius  argumenti  bratteolas  collegit  Wessely  in  stud.  Vind. 
VIII  p.  176  et  178  sqq.^  argenteam  edidit  Froehner  in  philologo  XXII 
(1865)  p.  546,  aliam  tractauit  Wiedemann  in  ^Jahrbücher  des  Vereins 
von  altertumsfreunden  im  rheinland'  1885  1.  c,  plumbeas  permultas 
et  graecas   et  latinas   composuit  Wachsmuth  in  M.  Rh.  18  p.  560  sqq.; 

»  CIL  I.  in  M.  Rh.  Guilelmus  Schmitz  composuit  22,  203;  23,  520  et  665; 
29,  171;  31,  295.     cf.  et  C.  Meyer  'abergl.  des  mittelalters'  p.  210. 

*  rdpixoc  hie  interpretandum  'mumie'  quod  nos  dicimus.  notissimum  est 
semper  permultum  ualuisse  in  re  magica  quae  e  mortuis  desumpta  essent. 

*  Linteo  adscribebatur  uis  religiosa.  sacerdotes  Aegyptii  uestiebantur  linteo. 
Herod.  II  81.  Plut.  de  Is.  et  Os.  c.  3  adn.  Partheyi  p.  157,  158;  item  philosophi 
b'equioris  aeui  cf.  Lucian.  Philops.  10.  Friedländer  'römische  Sittengeschichte' 
I  p.  352.    linteae  scidulae  litteratae  prodiere  e  sepulcris  Aegyptiis. 

*  Papyrus  quae  uocatur  Artemisiae.  'Petrettini  papiri  greco-egizj.'  Vindob. 
1826.  Blass,  Philol.  1882  p.  746.  Wessely  in  progr.  gymn.  Franc.  los.  Vind. 
1885  p.4sqq.       ^  Cf.  Parthey  ad  pap.  Berol.  p.  138.        '^  Cf.  O.  Jahn  1.  c.  p.43. 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 


45 


addas  quam  tractauit  ib.  24  p.  474  et  quae  Buechelerus  adnotauit  in 
'oskische  bleitafel'  p.  3/  iam  Indi  utebantur  amuletis  aureis  (Weber, 
'indische  Studien'  IV  p.  430)  et  plumbeis  (ib.  p.  409)  nee  non  apud 
Germanos  haec  metalla  in  usu  sunt  superstitioso  (cf.  Wuttke  1.  c.  p.  92  et  223). 

Sed  ea  mittamus.  inspiciamus  quam  tenacem  ac  diligenter  pro- 
pagatam  se  praebeat  haec  superstitio  in  inscriptionibus  lamellarum:  quae 
in  papyris  praescribuntur,  seruantur  in  monumentis. 

Formulae  deuotiuae,  qualis  exstat  in  papyri  V  p.  XI  17,  conuocanda 
tria  simillima  exempla,  quae  quomodo  uariata  sint  uideas: 


Pap.  Leid.  V  XI  17  sqq. 
eTriKaXoO)Liai  ce 
TÖv  em  Kevuj  TTV€u)LiaTi 
beivöv  döpaxov 
ILieTav  Oeöv 

TÖV  TraTCtHavTa  fr\y  Km  ceiavöiaTOV 

KÖC^OV 

ö  q)iXujv  Tapaxdc 
Ktti  mcu»v  eucxaöeiac 
Km    CKOpTTiZ^ujv    Toic    v€(p€Xac    an* 
dXXr|Xujv. 


Pap.  Leid.  V  XV  21  sqq. 
d7TiKaXoO)nm  c€ 
TÖV  iy  TLU  Kevuj  irveujuaTi - 
beivöv^  döpaTov 

Oeöv  qpOopOTTOiöv  Km  epninoTTOiöv 


)Liicu»VTa  oiKiav  eucTaeoöcav 


790 


KttTtUTlOV  TTpaccovTa. 

Pap.  mus.  britann. 
XLVI  122  sqq. 
drriKaXoOinai  ce 
TÖV  ^v  Tqj  Kevu»  TTveOfLiaTi 
beivöv  Km  döpaTOV  Geöv. 


Pap.  Leid,  biling.  J  383 
(Reuvens  Lettr.  p.  39)  p.  X. 
£7TiKaXoö)Liai  ce 

TÖv  dv  Tuj  Keveu)  (sie!)  TrveuMaTi* 
beivöv  döpaTOV 
TiavTOKpdTopa  0eöv  Oeujv 

(pOopOTTOlÖV    Kttl    dprmÖTTOlOV 

ö  ^icujv  oiKiav  eucTaOoöcav. 

n  aliis  uero  formulis  solent  aduocari  Orci  numina  graeca: 

'Gpunc  xöövioc  Oepcetpövn  CIGr.  I  538  (Wachsmuth  M.  Rh.  18 
p.  560  A),  bai^ovi  xöoviuj  Km  Tfj  xöovict  Km  toTc  xöovioic  rrdci  CIGr.  I 
1034  (Wachsm.  1.  c.  p.  561  C).  Ad^aTpi  Km  KoOpa  Km  GeoTc  toTc  rrapd 
Ad^aTpl  Km  Koupa  uel  Km  toTc  dXXoic  Geok  uel  Km  toTc  ttpottöXoic 
solent   inscribi  lamellae  in  sacello  Cereris  Cnidio  inuentae  (Wachsm.  1. 

»  Cf.  ephem.  epigr.  V  p.  317.  Buecheler,  M.  Rh.  41  p.  160.  libellum  gnosti- 
cum  foliis  plumbeis  compositum  descripsit  King  1.  c.  p.  147. 

'  TTVCDUaTa  Tl  P.  **  öiov  P. 

*  iTveuMaxa  n  Reuvens.  irveÖMaTi  Brunet  du  Presle  'd'aprds  le  texte  de  fac- 
sim.'     cf.  Revue  6gypt  I  1880  p.  168. 


46  Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi 

c.  p.  568  sqq.).  tabula  osca  inscripta  est;  Keri  arentik[ai]  (Cereri 
ultrici),  valaimas  puklu  (dis  manibus),  ulas  leginei  (sepulcri  potestati)': 
sie  enim  Buechelerus  interpretatus  est  1.  c.  p.  76. 

In  titulo  Alexandrino  (Lenormant,  M.  Rh.  IX  p.  370.  Wachsm.  1.  c. 
p.  563  E)  legis:  'Gpiun  xöövie  -  TTXoutujv  üece|U|uiTabuJV  )napxa|Lia  Kai 
Köpri  epecxiTCtX  [ZaßapßJaGoux  Kai  Oepceqpövr]  ktX.  adponas  papyri 
Paris,  uersus  inde  a  328,  ubi  praescribitur  Xaßibv  TiXaiu^ua  jaoXußoöv 
Tpaipov  Tov  XÖTOV:  u.  335;  OeoTc  xöovioic  üecejuiTabujv  Kai  Koupr]  TTep- 
ceq)övri  epecxiT«^  Kai 'Abuuvibi  tlu  ßapßapiöa '€p|urj  KaTaxOoviuj.^  u.  341; 
Kai  baijuoci  KaiaxÖGvioic. 

In  u.  345  pergitur  öpKiZiuj  TrdvTac  baifiovac  touc  dv  tuj  töttlu  toutlu 
et  postea:  öctic  ttot'  ei  eixe  dppnv  eixe  GfiXuc  ktX.  comparanda  defixio 
79lCumana  CIGr.  III  5858^  (Wachsm.  1.  c.  p.  562  D);  baiiuovec  Kai  irveu- 
ILiaia  Ol  ev  [tuj  tö]ttuj  toOtuj  ötiXukOuv  Kai  dppevi[KUJv]  ktX. 

lam  uero  comparare  pergas  tabellae  illius  Alexandrinae  uerba  et 
papyrorum ; 


Pap.  Paris,  u.  338  sqq.' 
'€p)Lir]    KaxaxOoviuj    öujouG    9ujk€v- 
aepxÖaOouiuicouKTai. 

Pap.  Par.  Leid.  V  IX  10  sqq. 
TÖv  )LiacKeXXei,  töv  )uacKeXXu)0,  töv 
cpvou,  TÖV  KevTaßaujG,  töv  öpeo- 
ßaZ^aTpa,     töv     ittttoxGujv,     töv 
prjCixGujv,  TÖV  TTUpnrriTavuH. 


Tab.  Alexandr.  (sequor  edit. 

Wachsmuthii  1.  c.  p.  563). 

'€p|ufi     xöövie     dpxebdjua     Oujxev 

en;euca 
pepTaGouiLiicov  Kai  kt.  Kai  TTXoutujv. 
Idem  in  tab.  u.  15  et  32  legitur. 

Tab.  Alexandr. 
28  .  .  •  acKeXXuj  evou 
KevTap .  uj  opeoßaZia 
priHixGuiv  iTTTTOxGiuv 
TTUpiTiriYa * 


Cf.  pap.  Paris.  3175  sqq.;  jaacKeXXi  juacKeXXuj  q)vouKevTa  ßauj  opeo 
ßataTpa  pnHixGujv  ittttoxGujv  TTUpirrriTavijH.  ibid.  2753:  luacKeXXi  juac- 
KcXXuj   qpvouKevTaßaouG  opeoßaZiaTpa  pr|HixGujv   ittttoxGujv  opeoTrriTavuH. 

Non  opus  haec  singillatim  tractare.  hoc  exemplo  discas  luculen- 
tissimo  quanta  fuerit  in  uitae  usu  uis  librorum  illorum.  nonnulla  addam  alia: 

KaTabuj  usurpatur  sollemniter  in  titulis:  uide  KaTabecjueiJUJ  pap. 
britann.  XLVI  325.  ib.  317  KaTabeGr|TUj  -;  in  pap.  Paris,  u.  335:  Ttapa- 
KttTaTiGejuai   ujliTv   toOtov   töv   KaTdbecfuov ,    in  tit.   apud  Wachsm.  1.  c» 

^  Cf.  veKubaiiLiuiv  in  papyris. 

*  In  u.  341  scribitur  tuj  rac  KXelbac  ^xovti  tOüv  Ka0'  äbov.  cf.  apocalyps.  I 
18:  ix^  Tdc  KXeic  xoO  i^bov.  *  Vbi  lamina  plumbea  praescribitur. 

*  Trupi7rriTci(H:ouca)  supplere  uoluit  Wachsmuthius !  [^r]lixQov,  irupKpeTT^c,  oö- 
pecicpoiToc  wird  Dionysos  angerufen,  Hymn.  Orph.  52,  Qf.j 


Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi  47 

p.  561  C  (CIGr.  I  1034):  TrapaKaxaTiGeiuai.  ac  simillima  inter  se  quae 
de  deuotis  fieri  uoluerunt:  biaxtupicGrivai  pap.  V  XV  26;  5idKoii;ov  XV 
30  (cf.  bittKOTTÖc  XI);  eKTTupujcai  V  17,  11;  Kaöcov  17,  22.  pap.  65 
p.  10:  KardßaXe  pixei  Kai  TTupetuj.i  -  unum  uotum  paene  semper  idem 
inicitur:  in  pap.  britann.  XLVI  u.  317  in  xdpTnv  lepaiiKÖv  r\  juoXußoOv 
TTeraXov  kqi  cibtipouv  KpiKov  scribi  iubetur:  KaiabeGriTaj  auioö  r\  cppövri- 
cic.  —  u.  325:  )Lin  XaXricdiuj,  jix]  avTiCTraxu)  ktX.  in  titul.  ap.  Wachsm. 
1.  c.  p.  559,  no.  76:  töv  vöov  kqi  rfiv  T^iuccav  louiei  KaiaTpacptu. 
in  Cumanudis  tit.  sepulcr.  n.  2585:  f]  ^XiJucca  autujv  Kai  n  lyuxn  inöXuß- 
boc  TcvoiTO  Kai  fuf)  buvaixo  cpGeTT^cGai  .urjbe  voficai  ktX.  in  titul.  lat. 
ap.  Wachsm.  1.  c.  p.  564  F  CIL.  I  n.  818:  '-  nee  loqui  nee  sermonare 
possit.'  cf.  p.  565''  in  tab.  ose.  (bullet.  Neap.  p.  100):  'nep  deicum  nep792 
fatium  putiad  nep  memnim  nep  ulam  sifei  heriiad'  (nee  loqui  nee  fari 
possit  nee  memoriam  nee  ollam  sibi  habeat).  in  pap.  Paris.  354:  iva 
juf)  buvriGrj  x]  A  )ur|T€  ttcTv  (sie)  )Lir|T€  9a'feTv.  -  372:  Kaxdcxec  auific 
Tfjv  ßpojciv  Kai  xfiv  TTÖciv.  in  tab.  ose.  ed.  Bueeheler.  p.  76:  'nip 
putiad  edum  nip   menvum  limu'  (ne  possit  edere  nee  minuere  famem). 

lam  satis  sit.  sed  quod  in  pap.  Londin.  XLVI  u.  336  de  lamina 
plumbea  confeeta  fieri  iubetur,  ualde  dignum,  quod  obseruetur:  eiia 
dTreve^Kac  auxö  eic  duupou^  [|avfi]|ua  öpuHov  kxX.  u.  242:  eixa  xiA)cac 
dTTepxou.     reuera  seis  tabellas  illas  repertas  esse  in  sepuleris. 

Videmus  leges  papyrorum  magieas  in  usu  uere  fuisse  atque  intel- 
legimus  adhibendas  esse  papyros  hasee  ad  omnes  artis  magieae  reli- 
quias  —  non  tantum  herele  antiquas  -  explieandas.  permulta  traetanda 
et  eonquirenda  nunc  quidem  relinquo  -  papyrum  V  perquirentes  doeebit 
index  magiearum  rerum  - :  quantum  ualeant  papyri  in  historia  artium  oe- 
eultarum  ac  quanta  fides  eis  tribuenda  sit  in  bis  mysteriis  fallaeibus,  iam 
pellucet  comparatis  similibus  artis  superstitiosae  monumentis  et  libellis. 

*  Correxit  Wachsmuth.  1.  c.  p.  567.    legerunt  irupeiiu. 

*  Vox  duüpoc  iis  uerbis  magicis  solitis  apponenda  est,  quae  Dilthey,  M.  Rh. 
27  p.  387,  adn.  3  et  p.  388,  adn.  1  adnotauit.  paene  idem  atque  Ärvaioc  signi- 
ficat:  saepissime  in  papyris  legitur.  iraiöec  äujpoi  ad  multas  res  magieas  ad- 
hibentur  et  in  papyris  (cf.  Horat.  epod.  5.  C.  Meyer  1.  c.  282,  284  et  al.  Grimm, 
mythol.  ed.  I  p.  LX,  LXIII,  LXIV,  CVII).  et  saepius  occurrit  in  his  ßioedvaxoc, 
ßiaioGdvaxoc,  ßiaioc  (cf.  pap.  V  IV  2).  cf.  Jahn  1.  c.  p.  95  c.  adn.  277  et  78.  Fried- 
länder, 'römische  Sittengeschichte'  III  640.  Alex.  Trall.  I  15  fiXoc  kxaupuju^vou 
adhibetur  amuleti  instar,  ibid.  |Liovo|udxou  cqpaT^vxoc  -  ^dKoc  i^^a^^ivov.  ad- 
hibetur  'culter  quo  gladiator  iugulatus  sit'  Scribonius  Largus  cap.  13  fin.  ibid. 
c.  2,  17:  'ex  iecinore  gladiatoris  iugulati  particulam  aliquam  nouies  datum  con- 
sumant' (homines  epilepsia  afflicti).  Serv.  ad.  Aen.4,386:  'biothanatorumanimae'. 
Luc.  Philops.  c.  17  et  29.  B.  Schmidt,  'volksieben  der  Neugriechen'  p.  169,  173. 
apud  Wuttkium  1.  c.  p.  125  sq.,  et  128  sqq.  uideas  easdem  duas  res  plane  idem 
in  superstitione  Germanorum  ualere. 


SCHLAFSZENEN  AUF  DER  ATTISCHEN  BÜHNE' 

25  'Vielleicht  läßt  sich  beweisen,  daß  die  Trachinierinnen  430  oder 
429  abgefaßt  worden  sind'  hat  noch  neulich  Wecklein  gesagt^;  und 
wenn  auch  dem  Beweis,  ehe  er  geboren  wird,  schon  mehr  als  eine 
Leichenrede  gehalten  ist,  so  höre  und  lese  ich  doch',  daß  man  zumeist 
das  noch  für  unentschieden  hält,  ob  der  euripideische  Herakles  oder 
die  Trachinierinnen  des  Sophokles  zuerst  aufgeführt  seien.  Und  es  ist 
wahr:  daß  in  den  Stellen,  die  in  dem  neuen  herrlichen  Buche  über 
den  Herakles  (das  Vel  laudare  ambitiosum  esset,  nam  videremur  aesti- 
mare  velle  quae  utinam  satis  intellegeremus!')  kurz  notiert  sind,  Sophokles 
der  Nachahmer  gewesen,  braucht  keiner  zu  glauben.  Wer  braucht  zu 
glauben,  daß  roidb'  'HpaKXfic  .  .  oiKoOpi'  dvTeTTeiuvpe  toö  juaKpoO  xpovou 
(Trach.  542)  umgebildet  sei  nach  inaKpdc  biavxXoOc'  ev  bö|uoic  oiKOupiac 
(Her.  1373)?  -  oiKoupeiv,  oiKoupnina  kommt  von  Äschylus  an  vor,  und 
merkwürdig  ist  höchstens  das  neutr.  oixoupia  bei  Sophokles.  Muß  wirk- 
lich dXXuJv  T€  )Liöx6ujv  iLiupiujv  dT€ucd)LiTiv  (Trach.  1101)  gemacht  sein 
nach  dxdp  hr\  ^öxOtuv  )uupiujv  ereucdiLiTiv  (Her.  1353),  kommt  doch  das- 
selbe Bild  schon  in  der  Antigone  vor  KaKiuv  dTeucroc  aiiuv  (582) 
und  sagt  doch  schon  Pindar  (Nem.  VI  28)  ttovujv  eTeücavTO^?  Muß 
die  Beschreibung  der  Kentauren  bicpu^  djuiKTov  iTr-rroßdinova  cTpaxöv 
0T1PÜJV  ußpicTfjv  dvo|Liov  uTiepoxov  ßiav  (Trach.  1096)  zum  Vorbild  haben 
das  euripideische  TexpacKeXec  0'  ußpiciaa  Kevxaupujv  ^evoc  (Her.  181)? 
Ein  übermütig  Volk  sind  die  Kentauren  längst  vorher  gewesen  (z.  B. 
Pindar.  P.  2,42   uTrepqpiaXov    tövov)    und    etwas  Besonderes   wäre    nur 


^  <Rhein.  Mus.  XLVI,  1891,  S.  25ff.> 

'  Berl.  philol.  Wochenschr.  1890,  Nr.  29/30,  p.  941. 

'^  z.  B.  bei  Christ,  Gr.  Literaturgesch.,  2.  Aufl.  1890,  p.  209. 

*  So  dann  auch  bei  Eurip.  öfter:  Hec.  375  TewecGai  KaK&v,  Ale.  1069  Tr^veouc 
ToObe  TC'Joiiai  iriKpoO.  Schröder,  De  iteratis  ap.  trag.  gr.  p.  113.  Was  hat  es 
für  Gewicht,  daß  das  ganz  gewöhnliche  Bild  bei  Soph.  nur  einmal  in  dieser 
Form  vorkommt? 


Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne  49 

ußpic^ia.  Und  die  Klage  über  Hellas,  das  einen  solchen  Mann  verliert 
w  TXfJMOV  *€XXdc,  TTevGoc  oiov  eicopuu  eHoucav  dvbpöc  Toöbe  t'  ei  ccpa-  26 
Xriceiai  (Trach.  1112)  und  lueXeoc  XXXdc,  a  töv  euepTexav  dTioßaXeTc 
(Her.  877)  -  wenn  da  Nachahmung  wäre,  will  man  entscheiden,  wer 
nachgemacht  hat?  Aus  solchen  Anspielungen  einzelner  Worte  und  Sätze 
ist  nun  einmal  nichts  zu  beweisen,  wenn  die  Ähnlichkeit  nicht  ganz 
anders  hervortritt.  Wie  viel  Formelhaftes  bildete  sich  in  der  tragischen 
Sprache,  wie  oft  wurden  ähnliche  Dinge  dargestellt,  wie  oft  auch  in 
ähnliche  Gedanken  und  Worte  gefaßt!  Der  'Stil'  der  Tragödie  bekam 
je  länger  je  mehr  feste  Wendungen  -  das  würde  uns  ganz  anders 
klar,  hätten  wir  von  den  vielen  'kleinen'  Tragikern  Stücke  erhalten: 
so  haben  wir  nur  Werke  der  drei  Führer,  der  originellsten  Geister.  In 
Fällen  von  dieser  Sorte  können  wir  meist  weder  wissen,  ob  es  nötig 
ist,  Anlehnungen  anzunehmen,  noch  ob  sie  gewollt  oder  zufällig  ist, 
und  am  wenigsten,  wer  nachgemacht  hat.  Trach.  78  steht  id  TioTa, 
lafiiep;  TÖV  XÖTOv  Tdp  dTVOuj  und  Phoen.  707  xd  TroTa  raOra;  töv  Xötov 
Tdp  dTvoiI).  Will  man  da  etwas  schließen?  Med.  523  heißt  es  ujct€ 
vaöc  Kebvöv  oiaKocTpöqpov ,  in  Reminiszenz,  es  mag  sein,  an  Aesch. 
Sept.  62:  cu  b*  ujcT€  vaöc  kcövöc  oiaKocTpöcpoc.  Die  Stücke  liegen 
36  Jahre  auseinander!  Kurz,  jene  Beweismethode,  die  meist  nur  äußer- 
liches Wortefangen  ist,  hat  keine  Kraft:  sie  findet  eitel  ungläubige 
Herzen. 

Ich  glaube  also  nicht,  daß  die  Trachinierinnen  nach  dem  Herakles 
aufgeführt  sind?  Allerdings  glaube  ich  es  und  ich  müßte  mich  schämen 
wenn  ich  sagte,  daß  der  Verfasser  des  Herakleskommentars  nach  dem 
Äußerlichen  und  dem  Buchstaben  geurteilt  hätte;  sein  sicheres  Gefühl 
und  seine  subjektive  Überzeugung  kommt  aus  dem  Geist  und  dem 
Ganzen. 

Aber  es  kann  unumstößlich  bewiesen  werden,  daß  die  Trachinierinnen 
nach  dem  Herakles,  durch  ihn  unmittelbar  angeregt,  aufgeführt  sind  - 
ich  will  es  beweisen,  und  es  soll  mir,  hoffe  ich,  jeder  glauben. 

Die  bewegteste,  kunstvollste  Szene  des  Herakles  ist  die  'Schlaf- 
szene' -  sie  ist  umtönt  von  all  dem  glänzenden  virtuosen  Rhythmen- 
spiel der  neuen  Musik.  Der  Bote  hat  erzählt,  daß  Herakles  Weib  und 
Kinder  ermordet  hat  und  endlich,  durch  den  Steinwurf  der  Athena  in 
Schlaf  versenkt,  an  die  Säule  gelehnt  drinnen  liege 

eübei  b'  6  TXr|)Liu)v  üttvov  ouk  €i>bai)Liova. 
Dann  die  jammernde  Klage  des  Chors  (1016ff.),  Dochmien  mit  Jamben 
gemischt;  'womit  kann  ich  die  grause  Tat  vergleichen,  wie  soll  ich  Klage  27 
erheben?'     Das  Ekkyklema  rollt  hervor;  der  Chor  beschreibt  es:  die 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  4 


50  Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne 

Leichen  der  Kinder  -  der  Schlafende  angebunden  -  hinterher  wankt 
der  TTpecßuc  Amphitruo  ucrepLu  irobi.  Es  folgt  das  wechselvolle  Duett 
des  Alten  und  des  Chores.     Angstvoll  leise  mahnt  der  Vater: 

Ka5)U€ioi  yepovTec,  ou  cTt«  ciya  töv  uttviu  Trap€i)Lievov 
edcex'  eK\a6ec0ai  KaKUJv;  (1042  f.) 

Der  Chor  bejammert  ihn  in  seinem  Entsetzen. 

eKacrepu)  TTpößaTC,  bittet  der  Alte  wieder, 

)ulf]    KT\J7TeiT€,    jLlfl    ßodie,    |Lir| 

TÖV  eijhi    iauovO*  urrviiubed  T^euväc  eYeipeie. 

Der  Chor  klagt,  der  Greis  warnt  in  aufgeregtem  Wechsel 

ouK  dTp€)Liaia  Gpfjvov  aidHex',  lu  TtpovTec,  — 

er  wird  erwachen  und  alles  zertrümmern,  aber  dbuvax'  dbuvaxd  |noi  - 
dem  Chor  ist's  unmöglich,  sich  zu  fassen.  —  Alles  in  den  stoßweisen 
zitternden  Dochmien  mit  jambischen  und  enoplischen  Stücken.  Und 
nun  die  dochmischen  Monometer  und  dann  die  katalektischen  jambischen 
Dimeter  -  wie  malen  sie!    Der  Vater  beugt  sich  über  den  Sohn 

cTt«,  TTVodc  ILldölU' 

q)epe  irpöc  oijc  ßdXuj. 

€Öb€i;  —  vai,  eiibei 

UTTVOV  UTTVOV  6\ö|Lievov    -    (1058  f.) 

und  so  fort  -  wechselnd  hervorgestoßene  abgerissene  Töne  der  Angst 
und  des  Jammers.  Der  Schlafende  regt  sich  —  soll  ich  fliehen?  - 
sei  ruhig,  vuH  e'xei  ßXeqpapa  iraibi  cui  -  seht,  seht,  er  wird  mich  töten 
-  0  wärst  du  längst  tot!  -  flieht,  (peuTexe  ludpyov  dvbp'  eTteTeipöjaevov, 
er  wird  Mord  zu  Mord  fügen  und  toben  durch  die  Kadmeerstadt.  Der 
Chor  schließt: 

iw  ZeO,  XI  Traib'  fjxOripac  iLb'  uTT€pKÖxu)c 
xov  cöv,  KttKiDv  b€  ireXaToc  ec  xöb'  TJtaTec; 

Herakles  erwacht:  ea.  Er  weiß  nicht,  wo  er  ist,  glaubt  noch  im  Hades 
zu  sein.  Das  schnelle  Wechselgespräch  mit  Amphitruo  klärt  ihn  über 
das  Entsetzliche  auf  -  es  ist  ein  Erwachen,  das  bis  zur  Verzweiflung 
führt 

oT|Lior  XI  bfixa  qpeiboiuai  i|iuxfic  €|Lific;  (1146). 

Da  rettet  ihn  Theseus. 

Das  ist  eine  Szene  des  höchsten  Bühneneffekts.  Man  muß  sich 
nur  zu  all  den  wechselnden  Stimmungen,  zu  dem  leisen  Warnen  und 
dem  schrillen  Klagen,  der  zitternden  Angst  und  dem  jähen  Entsetzen, 


Schlaf  Szenen  auf  der  attischen  Bühne  51 

dem  lautlosen  Schlaf  und  der  lautesten  Verzweiflung  die  Musik  hinzu-  28 
denken  -  man  glaubt  sie  zu  hören,  wenn  man  die  Verse  liest.     Man 
denke  sich  den  gewaltigen  Helden  schlafend  daliegen  auf  der  Bühne 
inmitten  der  Leichen  -  die  Klage  weckt  ihn  -  er  regt  sich  -  er  er- 
wacht ganz  -  wird  er  alles  töten  und  zertrümmern?  -  er  erhebt  sich 

-  und  endlich  steht  der  Gewaltige  da,  vernichtet  von  der  furchtbarsten 
Verzweiflung.  Welche  Kontraste,  welche  Spannung  und  welche  Stei- 
gerung! 

Und  nun  lesen  wir  die  Szene  der  Trachinierinnen,  die  mit  v.  947 
anfängt.  Die  tpocpöc  hat  berichtet,  daß  sich  Deianira  das  Leben  ge- 
nommen. Der  Chor  ist  entsetzt:  'worüber  soll  ich  zuerst  Klage  erheben 
in  all  dem  Unheil?'  Ein  Zug  naht  sich  still  und  lautlos.  Der  Chor 
beschreibt  ihn: 

Hevujv  Totp  ^Hö|Lu\oc  r\be  Tic  ßdcic. 

Tta  b'  au  (popeT  viv;  ujc  cpiXou 

TTpoKTibojueva  ßapeiav 

dipoqpov  q)ep€i  ßdciv. 

aiai,  6h'  dvaubaioc  (pepexai. 

Ti  xpn  OavövTa  viv  f|  KaG' 

U7TV0V  övTtt  Kpivai; 

Die  Klage  bewegt  sich  in  Dochmien  mit  jambischen  und  daktylischen 
Teilen.     Neben  dem  Schlafenden  jammert  sein  Sohn  Hyllos 

OljiOl    €TÜJ    coö, 

TTdxep,  oT|aoi  i'^uj  coO  iiieXeoc  — 

als  der  Zug  heranschreitet,  geht  der  Rhythmus  in  Anapästen  über. 
Den  Sohn  mahnt  ein  Trpecßuc  -  wo  kommt  der  irpecßuc  her? 

ciTa,  T€KVOv,  ixx]  Kivr|cric 
dtpictv  öbuvriv  iraTpoc  uj|uÖ9povoc" 
li}  tap  TTpOTTerrjC-  dW  €CX€  baKibv 
CTÖ|na  cöv. 

-  ist  er  tot  oder  schläft  er?  - 

ou  |LiTi  dH€T€peTc  töv  uttvuu  Kdxoxov 
KdKKivrjceic  KdvacTrjceic 
90iTdba  beivriv 

VÖCOV,    UJ    T€KVOV; 

Er  kann  nicht  ruhig  sein;  denn  ihm  ^MMCMOvev  cppnv.     Darüber  regt 

sich  Herakles 

4* 


52  Schlafszenen  auf  der  attischen  Bahne 

a»  Zeö, 

TTOl    yÖLC    flKlU;    TTapd    TOTCI    ßpOTUJV 

KeTjLiai  TreiTovriiLievoc  dXXr|KTOic 
öbuvaic;  - 
29  er  weiß  nicht,  wo  er  ist. 

dp"  €Hr|br|c0',  sagt  der  Alte,  öcov  ^v  icepboc 
ciYrj  K€u0eiv  Kai  ^x]  CKcbdcai 
T(f>b*  ÖLTiö  Kpaxöc 
ßXecpdpujv  6'  U7TV0V, 

Hyllos  kann  seinen  Schmerz  nicht  bemeistern: 
ou  T«P  €xuj  TTÜJC  dv 

CTepHaijui  xaKÖv  tobe  Xeuccujv. 
Herakles  erwacht  ganz  -  a>  ZeO 

oiav  yi'  dp  eOou  Xiüßav,  oiav 

und  nun  steigert  sich  sein  Schmerz  bis  zum  entsetzlichen  Wut-  und 
Jammergeheul  -  er  will  den  Tod  (1013 ff.): 

Kttl    VÖV    eTTl    TÜjbe    VOCOÖVTt 

ou  TTUp,  oiiK  ^TXOC  TIC  övrjcijiov  ouK  dtriTpeiiiei; 
l  l 

oub'  dTTttpdHai  Kpäxa  ßiou  6eXei 
ILioXibv  ToO  CTUT€poO;  (peO,  cpeu. 
(1031)  iui  TtaT, 

TÖv  9\JcavT'  oiKTip',  dveiricpOovov  eipucov  Itxoc. 
TiaTcov  djLidc  UTTÖ  KXrjboc.  — 

Der  Chor  schließt: 

kXuouc'  ecppiHa  xdcbe  cu|U(popdc,  cpiXai, 
dvaKToc,  oiaic  oioc  u)v  dXauvexai. 

Ich  brauche  keine  Worte  weiter  dartiber  zu  verlieren,  wie  ähnlich 
bis  ins  einzelnste  die  Szene  der  Trachinierinnen  der  des  Herakles  ist. 
Es  ist  dieselbe;  es  ist  derselbe  Bühneneffekt.  Die  Steigerung  des 
schlafenden,  allmählich  erwachenden,  endlich  in  lautestem  Schmerz 
verzweifelnden  Heros;  der  Kontrast  des  schlafenden  Gewaltigen,  der 
schrillen  Klagen  der  Umgebung  und  der  leise  ängstlichen  Mahnung  des 
Alten  -  ein  irpecßuc  ist  sogar  in  den  Trachinierinnen  ganz  unvermittelt 
eingeführt  nach  dem  euripideischen  Amphitruo. 

Halt!  Nach  dem  euripideischen  Amphitruo?  das  muß  ich  erst  be- 
weisen. Es  könnte  ja  ebensogut  Euripides  der  Nachfolger  des  Sophokles 
gewesen   sein,   zumal  die  Szene  bei  Sophokles,   besonders   metrisch, 


Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne  53 

einen  einfacheren  Eindruck  macht:  der  Komponist  älteren  Stils  hat  noch 
nicht  all  die  Künste  der  Zukunftsmusik  adoptiert. 

Daß   Herakles,  der  Wahnsinnige,  nachdem   er  die  Kinder  getötet, 
von  Athene  durch  einen  Steinwurf  in  Schlaf  versenkt  und  dadurch  vom 
Wahnsinn  geheilt  wird,  ist  mehr  oder  weniger  alte  Sage.    Die  Verse  30 
im  Herakles   1002 ff.: 

dXX*  fjXOev  €iKU)v,  ibc  öpäv  dcpaiveTo, 

TTaXXdc  Kpabaivouc'  Ifxoc  im  XÖ9UJ  x^pi 

Kctppiipe  TTCTpov  crepvov  eic  'HpaKXeouc, 

öc  viv  q)övou  )LiapTu»vT*  eirecxe  Kdc  uirvov 

KaefJKe*  TTiTvei  b*  eic  trebov  - 

lassen  gar  nicht  zweifeln,  daß  nach  solcher  Sage  Euripides  diese 
Szene  gedichtet  hat\  mag  er  die  Sage  genommen  haben,  woher  er 
will.  Pausanias  erzählt  ja  auch  (IX,  11,  1),  daß  die  Thebaner  einen 
XiGoc  cu)(ppovicTr|p  gehabt  hätten,  durch  den  Athene  den  Rasenden  in 
Schlaf  gebracht.*  Was  will  man  mehr?  Durch  die  paar  ganz  neben- 
sächlichen Verse  des  Euripides  ist  das  doch  nicht  aufgekommen.  Wir 
wissen  ja  von  all  den  Heraklesdichtungen,  die  es  gab,  nichts,  fast  gar 
nichts.  Diese  Geschichte  kann  sehr  alt  sein  -  sie  hat  jedenfalls  den 
Euripides  angeregt,  den  Herakles  durch  den  Schlaf  zur  Vernunft  kommen 
zu  lassen,  den  Schlafenden  auf  die  Bühne  zu  bringen,  die  effektvolle 
Schlaf-  und  Erwachensszene  zu  dichten  und  zu  komponieren. 

Der  Wahnsinn  des  Helden  ist  bald,  und  in  der  Volksvorstellung^ 
sobald  sie  die  einzelnen  Vorgänge  genauer  ausmalte,  gewiß  sehr  frühe 
als  i€pd  vöcoc,  als  Epilepsie,  aufgefaßt.  Es  ist  bekannt,  daß  die  Epi- 
leptischen immer  nach  einem  Anfall  in  langen  tiefen  Schlaf  sinken, 
nach  dem  dann  alles  vorüber  ist.  Wahnsinn  (jnavia)  und  Epilepsie 
waren  überhaupt  in  der  Vorstellung  der  Alten  ziemlich  gleich,  beide 
waren  Oeiai  vöcoi.  Hippokrates  erklärt  Grund  und  Äußerung  beider 
fast  gleich.  Die  Epileptischen  und  Wahnsinnigen  sind,  solange  antike 
Auffassung  dauert,  Gottgeschlagene;  sie  werden  zu  'Besessenen'  bai- 
IhoviötiXtiktoi  u.  ä.  (so  im  N.  T.  und  weiterhin),  als  die  alten  Götter 
sich   in   böse   Geister   verwandeln.     Die  Schilderung   des   Schlafs   bei 

*  V.  Wilamowitz,  Herakles  I  p.  352. 

'  Es  gibt  auch  hierzulande  solche  Steine,  merkwürdige  Felsblöcke,  von 
denen  sich  das  Volk  von  alters  eine  Geschichte  erzählt:  der  Riese  hat  nach 
jenem  damit  geworfen,  als  usw.  So  mag  auch  das  Volk  in  Theben  sich  von 
irgendeinem  auffallenden  Felsstück ,  als  im  übrigen  die  Sage  vorhanden  war, 
erzählt  haben:  das  hat  Athene  nach  dem  Herakles  geworfen,  als  er  seine  Kinder 
erschlagen  hatte.  Einen  auch  auf  Herakles  von  dem  Riesen  Alkyoneus  ge- 
schleuderten Stein  zeigte  man  auf  dem  Isthmos  (schol.  Find.  Isthm.  IV  25). 


"54  Schlaf  Szenen  auf  der  attischen  Bühne 

Euripides   mag  sich   auch   in  Einzelheiten  nach  Erfahrungen   und  Vor- 

31  Stellungen  jener  Art  gerichtet  haben  -  es  ist  recht  eigentlich  die 
lepd,  Geia  vöcoc  -  die  Göttin  sendet  ihre  Botin  Avjcca.  Das  Röcheln 
(cL  Her.  V.  1058  und  1092)  ist  ein  Charakteristikum  dieses  Schlafs 
und  die  daraus  Erwachenden  pflegen  nicht  zu  wissen,  was  sie  getan 
noch  wo  sie  sind.     Man  muß  mit  den  Versen  867  ff. 

f|V  iboO  Kai  hx]  Tivdccei  Kpäxa  ßaXßibujv  otTTO 
Ktti  biacTpöcpouc  eXiccei  ciTa  toPT^JUttouc  KÖpac, 
diLiTTVodc  b'  ou  cuuqppoviZ^ei,  TaOpoc  luc  ec  ejußoXriv, 
beivd  fnuKaxai  be  Kf]pac  dvaKaXujv  xdc  Tapxdpou 

die  Beschreibung  in  dem  Büchlein  des  Hippokrates^  irepi  lepfic  voucou 
-vergleichen  z.  B.  c.  VI:  ctcpujvöc  xe  fivexai  Kai  irvifexai  Kai  dqppöc  eK 
xoO  cx6)Liaxoc  CKpeei  Kai  oi  öbövxec  cuvripKaci  Kai  ai  x^ipec  cucTiiuvxai 
Kai  xd  ö|Li)uaxa  biacxpeq)0vxai  Kai  oubev  cppoveouciv.  c.  IV  Kr|v  ßXri- 
Xwvxai  Kr|v  beHid  CTTUJVxai  — ,  fjv  be  öHOxepov  Kai  eiixovibxepov  q)9eTTi1- 
xai  —  r|V  be  dqppov  eK  xoO  cxöjiiaxoc  dcpir)  Kai  xoici  ttoci  XaKxi2[ri  (vgl. 
TTobujv  CKipxriiuaxa  Her.  836).  Später  sprechen  die  Mediziner  aus- 
drücklich von  der  Epilepsie  des  Herakles  und  von  dem  heilenden 
Schlafe,  und  die  Komiker  machen  ihre  Witze  darüber.  Sie  wollen  den 
ehrwürdigen  Heros  mit  Klystieren  heilen.^ 

Auch  die  Kunst  hat  den  Wahnsinnigen  dargestellt;  das  späte  unter- 
italische Vasenbild  des  Asteas  könnte  nach  einer  späteren  Tragödie 
gemacht  sein;  mit  der  des  Euripides  hat  es  im  einzelnen  nichts  zu  tun.^ 
Daß  auch  Maler  an  dem  rasenden  Helden  ähnliche  Züge  der  heiligen 
Krankheit  dargestellt  haben,  wie  wir  sie  erwähnt,  kann  die  Schilderung 
zeigen,  die  Philostratos"^  von  einem  Gemälde  des  'HpaKXfjc  )Liaivö|uevoc 
gibt:  aiixiij  (dem  Herakles)  aicOricic  luev  auxujv  oubeiuia,  dvappiTixei  be 
xouc  TTpociövxac  Kai  cujUTraxeT,  ixoXu  )nev  xoO  dq)poö  bieKTTxOujv,  )Lieibiiuv 
be   ßXocupöv   Kai  Hevov   Kai  xoTc   6cp0aX|uoTc   dxeviZ^iuv  eic  auxd,   d  bpa, 

32  xf)v   be  xoO  ßXejLijuaxoc  evvoiav  dTidTtuv  eic  d  eHr|Trdxr|xai.    ßpuxdxai  be 


^  Die  ungemein  lehrreiche  Schrift,  durch  die  ein  freier  wissenschaftlicher 
Zug  hindurchgeht  gegen  allen  Aberglauben  (man  soll  heilen  äveu  KaGapjuüjv  Kai 
|aaY€U)LidTU)v  Kai  udcric  äX\r\c  ßavauciric  Toiauxric  ist  der  Schluß,  vorher  z.  B.  dXXä 
irdvTa  Geia  Kai  dvepuümva)  gehört  doch  jedenfalls  zu  den  ältesten  des  hippokra- 
tischen  Corpus. 

*  Von  Epicharm  gab  es  auch  einen  'HpaKXfic  Trapaqpopoc. 

'  Mavia,  'AXK)Lirivri ,  'löXaoc  sind  Zuschauer.  Man  könnte  fast  versucht  sein, 
hinter  dem  Bilde  die  ältere  Form  der  Kindermordgeschichte  zu  suchen.  Theseus 
trat  ja  bei  Euripides  nur  an  lolaos'  Stelle.  Die  ganze  Komposition  des  Bildes 
ist  aber  sehr  töricht. 

*  eiKÖvec  II  23. 


Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne 


55 


x]  qpdpuYH  kt\.  Daß  auch  der  Schlafende  nach  dem  Rasen  dargestellt 
wäre,  kann  ich  nicht  entdecken;  wie  Nearchus  'Herculem  tristem  in- 
saniae  paenitentia'^  gemalt  hat,  kann  man  nicht  wissen.^ 

Wir  brauchen  auch  nicht  weiter  abzuschweifen.  Worauf  ich  hinaus 
wollte,  ist  klar:  der  Schlaf  ist  ein  alter  Bestandteil  des  irdeoc  des 
Herakles  in  Sage  und  Vorstellung,  wie  er  zur  lepd  vöcoc  gehört,  die 
im  Altertum  sehr  verbreitet  war,  die  jeder  kannte.  So  wurde  aus  Sage, 
Volksvorstellung  und  Erfahrung  die  Schlafszene  im  Herakles,  da  ist  sie 
sozusagen  organisch.  Ist  es  ebenso  mit  der  Schlafszene  in  den  Tra- 
chinierinnen?  O  nein,  da  ist  es  ganz  anders.  Was  sollte  der  Tod- 
wunde sich  nach  Trachis  tragen  lassen?  Um  Deianira  zu  strafen  -  der 
Sterbende!  Und  wenn  er  denn  auf  die  Szene  sollte,  ohne  daß  der 
Schauplatz  geändert  wurde,  kann  der  von  den  Flammen  des  unheil- 
vollen Gewandes  zerfressene  Leib,  kann  der  Gewaltige,  der  in  maß- 
losem Schmerz  und  in  unbändiger  Wut  sich  gegen  den  Tod  auflehnt, 
kann  er  schlafen?  Sophokleische  Kunst  hat  es  bewirkt,  daß  wir  die 
UnWahrscheinlichkeiten  nicht  sehr  stark  fühlen  -  aber  in  der  Sage 
war  natürlich  nichts  davon.  Es  liegt  auf  der  Hand:  hier  ist  die  Nach- 
ahmung. Wie,  wenn  Sophokles  überhaupt  dieses  wehevolle  Finale 
seinem  Stück  anhing,  um  mit  der  wirksamen  Schlafszene,  der  Steigerung 
von  leisem  Schlaf  zu  donnerndem  Wutgeheul  denselben  Beifall  zu 
ernten,  den  Euripides  kurz  vorher  mit  der  Szene  seines  Herakles  ge- 
erntet hatte?  Die  Schlaf szene  der  Trachinierinnen  ist  dramatisch  und 
musikalisch  eine  Nachbildung  der  Schlafszene  des  Herakles  gewesen: 
das  kann  gar  nicht  bezweifelt  werden. 

Wir  mögen  uns  denken,  welchen  Beifall  die  entzückten  Athener 
diesen  Szenen  im  Dionysostheater  gespendet  haben,  wenn  wir  sehen, 
daß  dasselbe  Effektmittel  des  dramatischen  Repertoirs  nach  einer 
Reihe  von  Jahren  wieder  auf  die  Bühne  gebracht  wird. 

Auch  Philoktet  schläft  auf  der  Bühne  -  und  auch  da  hat  nicht 
allein  die  Ökonomie  des  Dramas,  das  auch  dadurch  eine  bedeutsame 
Ähnlichkeit  mit  den  Trachinierinnen  hat,  daß  der  körperliche  Schmerz  33 
des  Helden  zur  Darstellung  gebracht  wird,  sie  hat  nicht  allein  die 
Schlafszene  veranlaßt  -  mag  diese  auch  mit  dazu  da  sein,  die  red- 
liche Gesinnung  des  Neoptolemos  zum  Durchbruch  zu  bringen.  Vers  822 
beginnt's: 


'  Plin.  n.  h.  35,  142. 

'  Es  gibt  allerlei  Darstellungen  eines  schlafenden  oder  ruhenden  Herakles 
-  aber  das  gehört,  soviel  ich  sehe,  alles  in  einen  viel  heiterern  Zusammenhang 
und  geht  auf  Satyrspiel  und  Komödie  zurück. 


55  Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne 

TÖv  avbp*  €OiK€V  uTTVoc  ou  jiaKpoö  xpovou 

'eHiw  Kotpa  yäp  vmxdleTai  TÖbe. 

ibpuuc  fe  Toivuv  ttäv  KaxacTdZlei  heiiac  — 

Ein  leises  Schlummerlied  erklingt  über  dem  Schlafenden  (827  f.) 

"Yttv'  öbOvac  dbar|c,  "Yirve  h\  dXTeiuv 
€uaf|c  fiiLiTv  IXOoic, 
euaiujv,  euaiujv,  ibvoE  — 

dann  erregt,  halblaut  die  Mahnung  an  Neoptolemos,  mit  dem  Bogen 
den  Schlafenden  im  Stiche  zu  lassen.  In  feierlich  heroischem  Maße 
mit  lauter,  fester  Stimme  weist  der  Jüngling  die  Versuchung  ab.  Der 
Chor  mahnt  ihn  ängstlich  leise  zu  reden 

ßaidv  )Lioi,  ßaidv,  ui  t€kvov, 

TrejiTTe  Xötu)v  (pd|Liav 

u)c  TTdvTiuv  iv  vöcLu  cubpaKrjc 

UTTVOC    duTTVOC    \€UCC€IV       - 

Dann  aber  ermuntert  ihn  der  Chor  in  leichtem,  frischem  Ton:  ^der 
günstige  Fahrwind  ist  da,  es  säuseln  die  Winde,  geschwinde,  ge- 
schwinde!' —  in  leichten  Daktylen  und  Trochäen  wiegt  sich  die  Strophe- 
Nun  mahnt  Neoptolemos  -  denn  Philoktet  regt  sich  (865  f.) 

ciTdv  xeXeuu)  jurjb*  dqpecxdvai  cppevujv, 
KiveT  fäp  dvrip  öjujua  xdvdTCi  Kdpa. 

Der  Leidende  erwacht: 

ui  cpetTOC  UTTVOU  bidboxov  xö  x'  ^Xiribiuv 
dTTicxov  oiKOupr|)Lia  xujvbe  xujv  Hevujv. 

Er  ist  gerührt  über  das  treue  Ausharren  des  jungen  Freundes.  Weiter 
geht  dann  die  Steigerung  vom  Erwachen  bis  zu  dem  Schrecken  und 
Jammer  des  Philoktet,  als  er  hört,  welcher  Trug  ihn  umgibt. 

Was  jenen  andern  in  dieser  Szene  ähnlich  ist,  was  nicht,  brauche 
ich  nicht  zu  sagen  —  daß  es  dasselbe  dramatische  Kunststück  ist, 
sieht  jeder.  Das  war  409  (Ol.  92,  3).  Und  siehe  da,  an  den  folgenden 
Dionysien  (408.  Ol.  92,  4)  bietet  Euripides  seine  ganze  Kunst  auf,  die 
vorjährige  Leistung  seines  großen  Nebenbuhlers  und  alle  die  ähnlichen 
frühern  durch  eine  neue  Schlafszene  zu  übertreffen.  Als  das  neue 
Stück  beginnt,  liegt  Orestes  schlafend  auf  einem  Lager  auf  der  Bühne, 
34  seiner  wartet  die  sorgsame  Schwester.  Nach  dem  Prolog,  den  sie 
spricht,  und  einem  Dialog,  den  sie  mit  Helena  hat,  mahnt  sie  den 
Chor  (Orest.  136 f.): 


Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne  §7 

Ol  (piXxaTai  T^vaiKec,  ncuxiu  Trobi 

XU)peiT€,  [iX]  iiiocpeixe  ^r]b'  Ictu)  ktuttoc. 

(piXia  Toip  n  cf|  TTpeuiuevnc  |Liev,  dXX'  i^oi 

TÖvb'  eHcTeipai  cu)Liq)opd  T^vricexai. 
Der  Chor  stimmt  zu 

ciTa,  ciTa,  Xctttöv  ixvoc  dpßuXnc 

TiOere,  )Lif|  KTüTreite  — 
und  Elektra: 

diroTTpo  ßdx*  eKcTc*,  dTroirpö  fnoi  Koixac. 

Sie  ermahnt  leise  zu  singen  und  der  Chor: 

Tb*,  dipeiLiaTov  die  uTTÖpocpov  qpepu) 

ßodv. 
Elektra: 

-  TTpöciO'  dTpe'iLiac,  dipeimac  T0i 

und  so  fort.     Wie  steht's  mit  ihm?  fragt  der  Chor. 

exi  \iiv  dfLiTTVcei,  ßpaxO  be  dvacxevei. 

xi  qpric,  o»  xdXac;  fragen  lauter  die  Ängstlichen. 

dXeic,  ei  ßXeqpapa  Kivr|ceic 

U7TV0U  TXuKuxdxav  qpepoineviu  xapiv. 
Beide  klagen  —  da  regt  sich  Orest  (v.  166). 

öpqic;  ev  ttcttXoici  Kivei  bejuac. 

cu  TOp  viv,  vj  xdXaiva 

Ou)uHac*  ^ßaXec  eH  uttvou 

wirft  Elektra  dem  Chor  vor.  'Willst  du  nicht  fortgehen  und  vom  Ge- 
sang ablassen?'  -  'Er  schläft  ja  fest.'  Und  nun  das  herrliche  Gebet 
der  Elektra  an  die  Nacht  (v.  174 ff.):  'hehre,  heilige  Nacht,  die  du 
Schlaf  spendest  den  vielgeplagten  Sterblichen,  aus  der  Tiefe  steig  auf, 
komm,  komm,  senke  den  FlQgel  tlber  Agamemnons  Haus.  Denn  unter 
Schmerzen  und  Leiden  schwinden  wir  hin  und  vergehn  wir  -  kxuttov 
nrarex'  bricht  sie  ab. 

ouxi  ciT«,  ciT«  cpuXaccojLieva 

cxö|Liaxoc  dvoKcXabov  dtrö  Xexeoc  f^- 

cuxov  uTTVOu  x«piv  irapeHeic,  q)iXa; 
sie  klagen  weiter,  sie  ängstigen  sich  -   wird  er  sterben?  —  er  er- 
wacht (211): 

u)  q)iXov  uTTVOu  OeXTTixpov,  eiriKOupov  vöcou 

ujc  f)bu  ^101  7TpocfjX0€c  iv  bcovxi  T€  — ^ 

*  Dazu  muß   man  noch  besonders  beachten  Philokt.  867:  <b  cptTToc  öirvo" 


58  Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne 

35  (215)  TTÖOev  ttot'  fjXöov  beOpo;  ttujc  b'  dqpiKÖjuriv; 

d]uvr|)uovu)  T^p  tiuv  irpiv  dTro\eiq)9eic  q)pevÜLJV. 

Die  Schwester  hilft  dann  dem  Bruder  und  unterstützt  ihn  wie  in  den 
Trachinierinnen  der  Sohn  den  Vater,  im  Philoktet  Neoptolemos  den 
Kranken:  es  ist  immer  dieselbe  Gruppe.  Hier  im  Orest  steigert  sich 
dann  das  Erwachen  noch  bis  zum  entsetzensvollen  Schauen  der  Erin- 
nyen  (260  f.,  268  ff.).  Man  darf  auch  die  Ausdrücke  wie  ö)U)aa  cöv  Ta- 
pdccexai,  xaxOc  be  fLiereGou  Xuccav,  dpxi  ciucppovujv  (v.  253),  die  Bitte 
Orests  (v.  2 19  f.)  ex  b'  ö|uopHov  dOXiou  CTÖjiiaTOC  dcppiiubri  ireXavov 
6|Li)LidTujv  t'  ejuuuv  u.  ä.  nicht  übersehen,  um  zu  erkennen,  daß  auch 
hier  die  Vorstellungen,  von  denen  die  Rede  war,  eingewirkt  haben. 
Die  Orestszene  ist  in  denselben  Dochmien  und  'enoplischen  Dochmien' 
gedichtet  wie  die  Heraklesszene:  dieselbe  oder  noch  viel  mehr  musi- 
kalische Kunst  ist  aufgewendet.  Hauptsächlich  hat  der  Dichter  sich 
selber  nachgeahmt,  hier  und  da  ist  die  Einwirkung  des  Philoktet  zu  er- 
kennen, ein  wenig  auch  die  der  Trachinierinnen. 

Wir  haben  die  klare  Entwicklung  eines  dramatischen  Kunstgriffs,  eines 
Bühneneffekts  vor  Augen:  wir  tun  einen  Blick  in  die  Praxis  der  großen 
alten  Theatermeister  und  ihre,  wenn  man  will,  äußere  dramatische  Technik. 
Mag  vielleicht  zwischen  Herakles -Trachinierinnen  und  Philoktet -Orest  ein 
Zwischenglied  gewesen  sein,  von  dem  wir  nichts  mehr  wissen;  das  ist 
sicher:  Euripides  hat  diese  'Schlaf szene'  und  ihre  Wirkung  erfunden;  So- 
phokles hat's  in  seiner  Weise  nachgemacht  -  er  hat  Musik  und  Rhythmen 
nicht  so  wechselvoll  angewendet,  wie  der  Vertreter  der  modernen  Musik 
(mehr  schon  im  Philoktet  als  in  den  Trachinierinnen),  endlich  hat  Eu- 
ripides noch  einmal  den  Nachahmer  und  sich  selbst  überboten  im  Orest. 

Und  sie  geht  noch  weiter,  die  Geschichte  der  Schlafszene.  Wer 
kennt  nicht  den  wahnsinnigen,  schlafenden  und  genesenden  Orest  auf 
unserer  Bühne?  Wo  hätte  Goethe  die  Anregung  zu  dieser  Szene  her? 
Aus  der  taurischen  Iphigenie  des  Euripides  kann  er  sie  nicht  haben; 
da  wird  zwar  ein  Anfall  des  Orest  erzählt 

(282)  ecTTi  Kdpa  xe  biexivaH'  dvuu  Kdxiu 

xdvecxevaHev  uiXevac  xpejuujv  oiKpac, 
juaviaic  dXaivujv  Kai  ßoot  KuvaTÖc  ujc  - 

(307)  TTiTTxei  be  juaviac  irixuXov*  6  Hevoc  )ie6eic, 

36  cxdtu)v  dqppuj  T€veiov  — 

(310)  ctxepoc  be  xoTv  Hevoiv 

d(ppöv  x'  dTrei};Ti 

^  Dasselbe  Bild  von  derselben  Sache  Herakl.  1189:  |uaivo|ii^viu  mrOXqj  irXaTXÖeic. 


Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne  59 

Stellen,  die  es  lehrreich  ist  mit  den  berührten  Schilderungen  der 
Äußerung  der  Oeia  vöcoc  zu  vergleichen.  Die  Eumeniden  hatte  Goethe 
gelesen:  da  ist  nichts  von  jenem  Schlafe,  der  dem  Furiengejagten  erst 
408  durch  Euripides  beschieden  war.  Wir  wissen  auch,  daß  Goethe 
den  Hygin  benutzt  hat  -  da  fand  er  auch  kein  Wort  davon.  In  Glucks 
Oper  'Iphigenie  in  Tauris'  ist  eine  Szene  (II.  Akt  3.  Szene),  die  noch 
mehr  an  jene  antike  erinnert.  Nach  längeren  Klagen  'schläft  Orestes 
entkräftet  ein'  -  'Furien  und  Dämonen  steigen  empor  und  umringen 
den  Schlafenden'  und  singen:  'bestraft  des  Frevlers  Taten,  vollstreckt 
der  Götter  Zorn'  usw.  Der  Geist  Klytämnestras  erscheint  -  die  Angst 
des  Erwachten  steigert  sich  bis  zum  höchsten  Entsetzen  -  der  Musik 
der  Stelle  bei  Gluck'  mag  in  gewissem  Sinne  die  antike  ähnlich  ge- 
wesen sein.  Der  Text  ist  von  einem  gewissen  Guillard  (1758-1814). 
Die  Oper  erschien  1779  -  in  demselben  Jahre,  in  dem  Goethe  die 
Iphigenie  dichtete  -,  also  daraus  konnte  er  auch  nichts  nehmen.  Jener 
Guillard  ist  einer  Iphigenie  en  Tauride  eines  Claude  Guymond  de  la 
Touche  (1719-1760)  gefolgt,  die  lange  in  großer  Gunst  gestanden  hat, 
aber,  soviel  ich  finde,  nicht  mehr  vorhanden  ist.  Darin  wird  also  jene 
Szene  ähnlich  gewesen  sein,  und  Guymond  wird  sie  direkt  oder  in- 
direkt nach  Euripides'  Orest  gemacht  haben.^  Goethe  hätte  also  das 
Stück  des  Guymond  gekannt.  Oder  hatte  er  den  Orest  des  Euripides 
gelesen?^ 


^  In  einer  Einleitung  in  die  Oper  von  Mendel  lese  ich:  'soll  in  dem  er- 
schütternden Charaktergemälde  dieser  Figur  (Orest)  auf  einzelnes  noch  besonders 
aufmerksam  gemacht  werden,  so  ist  es  der  Monolog  (II.  Akt  3.  Sz.),  die  ent- 
setzliche Furienszene  (11.  Akt  4.  Sz.),  und  der  Dialog  mit  Iphig.  (5.  Sz.),  die  als 
das  Ergreifendste  in  allen  Einzelheiten,  bis  auf  den  Akzent  des  Wortes  herab, 
zu  nennen  sind,  was  die  musikalische  Feder  je  niedergeschrieben  hat.' 

'  Racine  hat  bloß  den  Plan  zum  1.  Akt  einer  Iphig6nie  en  Tauride  hinter- 
lassen. 

'  Das  ist  mir  eigentlich  wahrscheinlicher.  Goethe  hat  mehr  Griechen  ge- 
lesen als  man  glaubt.  So  fand  ich  neulich  zufällig,  daß  im  Triumph  der  Emp- 
findsamkeit' II.  Akt  (gegen  Schluß),  was  Merkulo  singt: 

Du  gedrechselte  Laterne 

Oberleuchtest  alle  Sterne, 

Und  an  deiner  kühlen  Schnuppe  37 

Trägst  du  der  Sonne  mildesten  Glanz 
übersetzt  ist  nach  Aristophanes  Ekklesiaz.  v.  Iff.: 

(h  Xaiuirpöv  ö|Li|Lia  toO  TpoxtiXdxou  Xuxvow 

KdXXicr'  ^v  eOcKÖTTOiciv  IHripxriii^vov, 

yovdc  Te  Tcip  cdc  Kai  rOxac  5nXi£)C0|iev. 

TpoxuJ  rdp  ^^aöeic  Kepa^iKilc  i5)iJ|uiic  ärto 

luuKTTipci  XaiLiTTpac  i^Xiou  Ti|ncic  äx^\c. 
Die   übersetzten  Verse  sind  aus  derselben  Zeit,   da  Goethe  die  Vögel  dichtete 


^  Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne 

37  Aber  ich  will  mich  nicht  in  Dinge  verlieren,  die  uns  jetzt  nichts 
angehen;  zurück  zur  Sache!  Denn  ich  möchte  nicht  dies  kleine  Kapitel 
aus  der  Bühnengeschichte  abschließen,  ohne  das  äußere  Hauptresultat, 
auf  das  ich  im  Anfang  gleich  hinaussteuerte,  gehörig  auszunutzen.  Ich 
möchte  gern  die  Untersuchung  über  das  Verhältnis  von  Herakles  und 
Trachinierinnen,  soweit  ich  kann,  abschließen.  Denn  nachdem  es  be- 
wiesen, daß  Sophokles  dem  Euripides  gefolgt  ist,  sehen  wir  noch  viel 
mehr;  jetzt  bedeuten  jene  zu  Anfang  aufgeführten  Stellen  auch  mehr. 
Aber  wir  brauchen  gar  nicht  hier  und  da  die  Worte  zusammenzutragen. 
Lesen  wir  nur  in  den  Trachinierinnen  weiter,  wo  wir  vorhin  aufhörten, 
also  die  größere  Rede  des  Herakles:  wir  werden  fortwährend  an  Stellen 
des  euripideischen  Herakles  erinnert:  1058  TnTCvfic  cTpaxöc  TiTavxujv 
erinnert  an  Her.  178  toTci  xnc  ßXacTrmaci  TiTaci.^  1061  faiav  KaGai- 
pu)v  und  dazu  noch  aus  der  vorhergehenden  Szene  1009  TröOev  ^ct\ 
ui  irdvTwv  'GXXdvuJv  dbiKiuxaToi  dvepec,  ouc  hx]  TToXXd  juiev  ^v 
TTÖVTLu  Kaxd  T6  bpitt  TrdvTtt  Ka0aipu)v  dbXeKÖjuav  6  xdXac,  Kai  vOv 
im  Tujbe  vocoOvTi  ou  irOp,  ouk  Itxoc  tic  övr|ci)Liov  ouk  eiriTpeij/ei; 
vergleiche  man  mit  Her.  222  f. 

oub*  '€XXdb'  ijvec*  —  KaKiciriv  Xa|Lißdvu)v  de  traib'  djnöv 
fiv  xP^iv  veoccoTc  roicbe  irOp  Xö^x^tc  ÖTrXa 
(pepoucav  dXGeiv,  irovriiuv  KaBapjudxujv 
Xepcou  t'  djLioißdc,  u)v  djLiöxOTicev  Tratrip. 

Es  ist  dieselbe  Vorstellung,  teilweise  dieselben  Worte  von  dem,   der 

38  die  Erde  von  Ungeheuern  gereinigt,  dem  Wohltäter,  gegen  den  Griechen- 
land undankbar  ist,  hier  weil  es  den  verlassenen  Kindern,  dort  weil  es 
dem  Todwunden  nicht  Hilfe  bringt  -  irOp  und  öirXa.     Weiter: 

(1071)  —  öcTic  ujcxe  TtapGevoc 

ßeßpuxa  KXaiu)V  Kai  TÖb*  oub*  dv  eic  ttotc 
TÖvb'  dvbpa  qpaiTi  rrpöcG'  ibeiv  bebpaKÖia, 
dXX'  dcxevaKTOC  ai^v  ei7TÖjur|v  KaKoic. 
vOv  b*  eK  ToiouTOU  OfiXuc  Tiupr||iai  jdXac. 

Wenn  man  vergleicht  Her.  1354 


und  sich  für  die  attische  Komödie  interessierte.  Der  Triumph  der  Empf.  ist 
1778  Jan.  aufgeführt,  1780  Sommer  sind  die  Vögel  geschrieben.  Ich  weiß  nicht, 
ob  jenes  schon  erkannt  ist,  bekannt  ist's  gewiß  nicht.  Und  wenn's  auch  eigent- 
lich nicht  hierher  gehört,  so  interessiert  so  etwas  uns  Philologen  doch  nicht 
am  wenigsten. 

'  Auf  diese  und  eine  Anzahl  der  folgenden  Stellen  hat  mich  mein  Freund 
Dr.  Carl  Hosius  aufmerksam  gemacht. 


Schlaf  Szenen  auf  der  attischen  Bühne  51 

(ttövujv)  u)v  out'  dTreiTTov  oubev  out*  (xtt*  ö^^dTlJuv 
^CTttHa  TTTiTac  oub'  av  djöjLinv  ttote 
eic  Toöe'  iKcceai  bdKpu*  an'  ö)U)ndTujv  ßaXeiv 
(1412)  ei  c'  öipeTai  Tic  GfiXuv  övt'  ouk  aivecei, 

so  erkennt  man,  daß  es  dasselbe  wirkungsvolle  Motiv  ist,  den  einst 
so  gewaltigen  Helden,  der  nie  gedacht,  daß  es  so  weit  mit  ihm  kommen 
würde,  Tränen  vergießen  zu  lassen  wie  ein  Weib.  Nun  werden  wir 
mit  anderm  Gefühl  bei  dem 

blCpufj    t'    dfLllKTOV    iTTTTOßdlLlOVa    CTpttTOV 

etipuiv  ußpicTTiv  dvojuov  uTiepoxov  ßiav  (1095  f.) 
an   das  TCTpacKeXec  üßpiciaa  KevTaOpwv  t^voc  (Her.  181)  denken  und 
wir  werden  ein  Gleiches  meinen,  wenn  wir  zu  dem  Folgenden 

TÖv  e'  UTTÖ  xöovöc 

"Aibou  TpiKpavov  ckOXok 

d7Tp6c|naxov  Te'pac  (1097  f.) 
die  Verse  des  Herakles  (1277  u.  611)  halten: 

"Aibou  TTuXujpöv  Kuva  TpiKpavov  -  eiipa  TpiKpavov.^ 
Wir  werden  vielleicht  auch  den  Anstoß  zu  Wendungen  wie  dies  dirpöc- 
Maxov    und   das   diiXaTov   Opemna   KdirpocriTopov,   das    1093  von  dem 
Löwen  gesagt  wird,   finden  in  dem  diiXaTov  des  Her.  369,  wenn  wir 
die  dort  folgenden  Verse 

TÖV  T6  xpv^ceiuv 

bpQKOVTQ  |Lir|Xuv  cpuXaK    dir*  kxdTOic  töttoic 
zu  Her.  395 ff.  stellen:  -  xP^ceov  ircTdXujv 

diTo  |LiTiXo9Öpu)v  x^pi  KapTTÖv  d^epHujv, 

bpdKOVTQ    TTUpCÖVUJTOV,    ÖC    C9'    ClTlXaTOV    d^iq)- 

€Xikt6c  ^XiK*  dq)poupei  KTaviuv. 
Nun  lesen  wir  auch  gerade  hier  das  ctXXujv  Te  )liöx6ujv  ^upiwv  e^ev-  39 
cd^nv  (1101)  und  gleich  darauf  die  Klage  des  Chors  (1112) 

iJu  tXtiiliov  'GXXdc,  TidvOoc  oiov  eicopuu 

^Houcav  dvbpöc  ToObe  t*  ei  c(paXr|C€Tai 
vgl.  Her.  875  dTTOKcipeTai  cöv  ctvGoc  iröXeoc  —  d  tov  euepteTav  diro- 
ßaXeic  und  137  '€XXdc,  tu  ^umudxouc  oiouc  oiouc  öXecaca  Toucb*  diro- 
cTeprjcr).  Ich  wiederhole,  daß  ich  auf  jede  einzelne  Stelle  gar  kein 
Gewicht  lege,  daß  ich  den  Einfluß  des  Herakles  in  jeder  einzelnen 
Stelle  mir  abstreiten  lasse,  wie  ich  ihn  ja  selbst  im  einzelnen  abstreiten 

*  Das  Wort  rpiKpavoc  kommt  in  dieser  Form,  wie  es  scheint,  nur  noch  vor 
CIQr  4121,  wo  es  gar  nicht  ganz  sicher  ist.  Aber  djLiqpiKpavoc  und  andere  Kom- 
posita gibt's  ja  noch. 


52  Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne 

wollte  -  so  läßt  sich  ja  bei  manchem  des  Angeführten  das  Triftigste 
einwenden:  TnTeveujv  dvbpujv  -  titövtujv  heißt  es  schon  in  der  Ba- 
trachomyomachie  (v.  7)\  wo  es  natürlich  nach  stehender  alter  Formel 
gesagt  ist,  und  es  ist  ja  uralte  Vorstellung.  Die  Auffassung  des  Herakles, 
der  Sand  und  Meer  gefegt  von  Ungetümen,  steht  mit  ganz  ähnlichen 
Worten  schon  bei  Pindar  (Nem.  1,  62)  öccouc  juev  ev  x^pciu  Ktaviuv, 
öccouc  5e  TTÖVTLU  efipac  dibpobiKac,  hat  doch  auch  Sophokles  in  der 
Anführung  der  Kämpfe  zwar  nur  solche,  welche  auch  Euripides  aus- 
gewählt hatte  ^  -  außer  dem  erymantischen  Eber  (Tr.  1092),  den 
Euripides  nicht  hat  -,  aber  es  könnte  doch  alle  Ähnlichkeit  beider  nur 
daher  kommen,  daß  beide  aus  den  vorhandenen  Gedanken  und  Formen 
der  Heraklesdichtung  schöpften.  Das  würde  ich  alles  gern  zugeben  und 
gebe  es  für  manches  zu:  aber  wenn  von  der  Schlafszene  an  so  vieles, 
die  ganze  Szenerie,  Reden  des  Heros,  die  Hereinziehung  seiner  Taten 
in  so  ähnlichen  Wendungen,  wenn  so  vieles  des  verschiedensten  Inhalts 
in  Wort  und  Auffassung  übereinstimmt  -  und  wenn  wir  bewiesen  haben, 
daß  die  Trachinierinnen  nach  dem  Herakles  und  ohne  Zweifel  bald 
danach  aufgeführt  sind  -  dann  hört  doch  wahrhaftig  der  Zufall  auf. 
Es  ist  auch  kein  Zufall,  daß  gerade  in  diesem  Teil  des  Stückes  die 
Übereinstimmungen,  eine  hinter  der  andern,  zu  finden  sind,  während 
in  der  eigentlichen  Deianiratragödie  fast  nichts  zu  finden  ist.  v.  177 
schon  wird  Herakles  irdviiuv  dpicToc  cpijuc  genannt  wie  Her.  150^  das 
40  oiKoupia,  von  dem  die  Rede  war,  steht  Tr.  542;  man  könnte  auch 
zwischen  dem  Gedanken  von  Tr.  114 f.: 
d\X*  em  TTTiiLia  Kai  xapäv 
TTotci  kukXoOciv  aiev  dp- 
KTOu  cTpoqpdbec  xeXeuGoi 
und  Her.  101  f.: 

Kd|Livouci  fdp  TOI  Kai  ßpOToTc  ai  cuincpopai 
Kai  TTveu)LiaT'  dve)Liujv  ouk  dei  pCuinTiv  €X€i 
Ol  t'  euTuxoOvrec  öid  xeXouc  ouk  euruxeic  — 

eine  gewisse  Verwandtschaft  finden  und  man  wird  weniger  fehlgehen, 
wenn  man  Tr.  919^  (baKpuiuv  Gepjud  vdjLiaTa)  den  Gebrauch  von  vdjuiaTa^ 


*  Auch  später  in  den  Phoenissen,  in  Arist.  Aves  und  sonst  heißen  die  Gi- 
ganten so. 

*  V.  Wilamowitz,  Herakles  II  p.  121  über  die  Taten,  die  Euripides  auswählt 
'  In  dem   Eöen  stand  schon   t^kvov  öpicTov  ZeOc  ^x^Kvtuce  von  Herakles. 

dvöpOüv  öpicToc  heißt  er  auch  im  'HpaKXfic  yajLiiJüv  des  Archippos  Keck  I  p.  680 
no.8. 

"  Auch  diese  und  die  vorhergehenden  Stellen  notiert  mir  Hosius. 

^  Ober  väiLia  v.  Wilamowitz  a.  a.  0.  II  166. 


Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne 


63 


bei  Tränen,  der  sonst,  soviel  ich  sehe,  nie  vorkommt,  auf  Her.  625 
vd^iax'  ociujv  zurückführt/  Aber  das  ist  nicht  viel,  vielleicht  nichts. 
Was  sind  diese  gegen  jene  Anklänge!  Es  ist  also  ausgemacht:  die 
Heraklesdichtung  des  Euripides,  die  bei  den  Athenern  begeisterten 
Beifall  gefunden,  hat  den  älteren  Dichter,  der,  um  zeitgemäß  zu  dra- 
matisieren und  zu  komponieren,  immer  mehr  von  dem  Jüngern  annahm, 
angeregt,  den  Herakles  auch  auf  die  Bühne  zu  bringen,  ihn  am  Schluß 
seiner  Deianiratragödie  so  auf  die  Bühne  zu  bringen,  wie  Euripides 
zum  Entzücken  der  Schauer  und  Hörer  es  getan  hatte.  Die  ganze 
Auffassung  und  Darstellung  des  Helden  als  tragischer  Figur  hat  er  im 
Ganzen  und  vielem  Einzelnen  entlehnt.  Man  wird  nicht  mehr  bezweifeln 
wollen,  daß  das  Stück  des  Euripides  zuerst  den  Herakles  in  ernstem 
Spiel  auftreten  ließ^  und  daß  nichts  natürlicher  ist,  als  daß  Sophokles  41 
die  Art,  wie  das  zustande  gebracht  war,  beibehalten  mußte,  und  wie 
die  Schlafszene  zeigt,  auch  die  neuen  Effektmittel,  mit  denen  Euripides 
das  erste  Auftreten  des  tragischen  Herakles  begleitet  hatte,  verwenden 
wollte. 

Nun  aber  dürfen  wir  der  Schlußfrage  nicht  aus  dem  Wege  gehen: 
wann  sind  denn  die  Trachinierinnen  aufgeführt?  Nun,  kurz  nach  dem 
Herakles;  denn  es  ist  doch  von  selbst  einleuchtend,  daß  eine  so  starke  An- 
lehnung nur  kurz  nach  dem  Stücke,  das  so  starke  Anregung  gab,  ge- 
dacht werden  kann.  Wann  ist  also  der  Herakles  aufgeführt?  421  bis 
415  setzt  V.  Wilamowitz  an.  Der  t^'pujv  doiböc  hat  ihn  gedichtet,  nicht 
vor  424,  und  der  vpÖToc  und  eTraivoc  toHötou  paßt  doch  gewiß  am 
besten  nicht  sehr  lange  nach  Delion  und  Sphakteria.  Die  Auflösungen 
im    Trimeter   weisen    ebendahin.      Härtung    hat    seinerzeit   allerlei  be- 

^  Eine  andere  vielleicht  nicht  so  ganz  zufällige  Übereinstimmung  Tr.  1148 
liidTTiv  dKoiTiv  —  Her.  339  indTtiv  ö|LiöYaMov.  17  indxriv  iröciv  gehört  in  die  spätere 
Partie.  Solche  Wendungen  sind  gerade  auch  echt  sophokleisch,  obwohl  ich  hier 
etwas  ganz  Ähnliches  bei  ihm  nicht  kenne. 

*  Man  hat  dagegen  gesagt,  daß  doch  Herakles  im  Antaios  des  Phrynichos 
vorgekommen  sei  und  daß  das  doch  eine  ernste  Tragödie  gewesen  sein  könne. 
Wir  wissen  von  dem  Antaios  nur,  was  im  Schol.  zu  Ar.  Fröschen  688  steht, 
ö  TpaxiKÖc  Opuvixoc  ^v  'Avxaiui  öpdjiiaTi  'Tr€pi  iraXaiciidTUJv  iroWd  bieEfiXGev  —  das 
wird  ein  Entzücken  der  turnkundigen  Athener  gewesen  sein.  Also  der  Ringkampf 
des  Herakles  und  des  Antaios  wird  dargestellt  -  diese  Balgerei  wird  wohl  in 
einem  Satyrspiel  gewesen  sein,  so  gut  wie  der  Antaios  des  Aristeas,  von  dem 
wir  hören,  ein  Satyrspiel  war.  Und  wenn  wir  wissen,  daß  Herakles  in  Satyr- 
spiel und  Komödie  von  alters  mit  die  beliebteste  Figur  war,  aber  kein  Wörtchen 
aufzutreiben  ist  von  einem  tragischen  Herakles,  und  alles  dafür  spricht,  daß  der 
des  Euripides  der  erste  auf  der  tragischen  Bühne  war  -  so  ist  doch  damit 
nichts  widerlegt,  daß  er  schon  bei  Phrynichos  vorgekommen  sei.  Ich  hoffe  in 
Kürze  das  Satyrspiel  im  Zusammenhang  zu  behandeln,  wodurch  wohl  auch  auf 
diese  Dinge  noch  deutlicheres  Licht  fällt  <Pulcinella  S.  64ff.>. 


54  Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne 

ziehen  wollen  auf  die  von  Theben  verbannte  demokratische  Partei, 
deren  Haupt  ein  gewisser  Ptoiodoros  war,  und  auf  die  gewalttätigen 
Aristokraten,  die  in  Theben  am  Ruder  waren.  Mit  Hilfe  Athens  hatten 
die  Demokraten  wieder  zur  Herrschaft  kommen  wollen,  aber  der  An- 
schlag klappte  nicht,  Hippokrates  und  Demosthenes  verfehlten  den  An- 
schluß, mit  Delion  war  es  vorbei.  Wir  wissen  von  diesen  Dingen  aus 
Thukydides  IV  26!.;  aber  es  kann  doch  auch  nach  Delion  allerlei  der- 
gleichen noch  gespielt  haben,  und  mit  Theben  ist  doch  um  die  Zeit 
des  Nikiasfriedens  und  bald  nachher  auch  manches  im  Werke  gewesen.^ 
Die  Verse  im  Her.  588 — 92  reden  von  den  bettelhaften  Oligarchen, 
die  an  der  cxdcic  schuld  seien,  biiuXecav  ttöXiv  und  sich  bereichert 
haben.  Sie  gehören  zu  den  Versen,  die  so  sehr  aus  dem  Zusammen- 
hang fallen,  daß  sie  eine  beabsichtigte  Anspielung  enthalten  müssen, 
die  wir  in  diesem  Falle  nicht  mehr  recht  fassen  können.  Aber  gewiß 
dürfen  wir  die  Verse  nicht  für  unecht  erklären.^  Und  ob  nicht  für  die 
Athener  in  der  Figur  des  Lykos  mehr  Beziehungen  steckten  als  für 
uns?  'Ein  naives  Publikum  wird  an  dieser  Figur  und  ihrer  Bestrafung 
42  seine  Freude  haben,  damit  hat  aber  Euripides  nur  für  das  Parterre, 
z.  T.  nur  für  die  Gallerie  gearbeitet'  sagt  v.  Wilamowitz.^  Ob  da  nicht 
bestimmte  politische  Beziehungen  und  Personen  dahintersteckten?  Und 
es  ist  schwer,  die  Worte  des  Theseus,  als  er  zu  Hilfe  herbeigeeilt  ist, 
und  überhaupt  die  Einladung  des  Herakles  nach  Athen  ohne  politische 
Nebenbedeutung  zu  fassen.  Das  ist  ja  nun  freilich  das  alte  eyKuumov 
'AOrivoiv,  das  allen  Bedrängten  und  Unglücklichen  selbstlos,  edelmütig 
zu  Hilfe  kommt.  Der  Herakles  steht  denn  auch  den  Supplices  sehr 
nahe^  und  ich  kann  es  nicht  empfinden,  daß  zwischen  Supplices  und 
Herakles  die  Lebenserfahrungen  liegen  sollen  und  die  Verbitterung  des 
Euripides  eingetreten  sei,  die  seine  späteren  Stücke  und  so  sehr  die 
iroische  Tetralogie  charakterisieren  —  auch  im  Herakles  nimmt  er  noch 
regen  Teil  an  der  Politik.  Ich  bilde  mir  gewiß  nicht  ein,  die  Aus- 
führungen V.  Wilamowitz,  die  ich  bewundere,  korrigieren  zu  können: 
aber  ich  habe  die  subjektive  Anschauung,  daß  der  Herakles  422  oder 
421  aufgeführt  ist.  Ich  halte  es  für  gar  nicht  unwahrscheinlich,  daß 
Herakles,  Hiketiden,  Erechtheus  zusammen  gegeben  wurden:  Theseus, 
der  den  Herakles  aus  Theben  nach  Athen  führt,  daß  er  dort  ganz  ge- 

*  Thuk.  V  32  u.  sonst.  *  wie  v.  Wilamowitz  II  160  tut.  ""  I  360. 

*  Daß  sie  421  aufgeführt  sind,  ist  wohl  sicher,  v.  Wilamowitz  I  349  Anm. 
F.  Giles  meint  in  der  Classical  Review  IV  95  f.,  in  der  Rede  des  Adrastos  857  ff. 
trete  das  Bestreben  hervor,  die  Partei  des  Nikias  zu  verherrlichen.  Das  ist  sehr 
wahrscheinlich. 


Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne  55 

nese,  Theseus,  der  die  Leichen  der  Argiver  von  den  gottlosen  The- 
banern  einfordert,  wie  die  Athener  nach  der  Schlacht  von  Delion  es 
getan,  am  Schluß  aus  Göttermund  die  Mahnung  an  Athen  und  Argos 
sich  zu  verbünden  —  in  beiden  Stücken  ganz  dieselbe  Animosität  gegen 
Theben*  — ;  Erechtheus,  der  den  feindlichen  Einfall  siegreich  zurück- 
weist, seines  Kindes  Blut  hochherzig  fürs  Vaterland  hingibt  —  und 
darin  das  herrliche  Friedenslied,  das  man  in  Athen  auf  allen  Gassen 
sang*  -  drei  Stücke,  ein  großes  eTKuuimov  'AGrivüuv:  im  Jahre  des 
Nikiasfriedens. 

Die  Trachinierinnen  sind  also  ein,  zwei/  drei  Jahre  danach  auf- 
geführt, und  es  mag  denn  auch  kein  Zufall  sein,  daß  ein  Vers  (416)  43 
Xet'  ei  Ti  XPTl^^tic-  Ktti  fäp  ou  ciTn^oc  €i  bis  auf  ein  Wort  (dort  ßouXei 
für  xp^^eic)  mit  einem  Supplicesverse  (567)  gleich  ist.  Wenn  sie  419 
aufgeführt  sind,  könnte  man  sich  ausmalen,  daß  die  Athener,  als  sie 
hörten,  die  'Weiber  von  Trachis'  würden  gegeben,  mit  ganz  besonderem 
Interesse  ins  Theater  strömten:  denn  im  letzten  Winter  war  eine  noch 
nicht  lange  an  Stelle  des  alten  Trachis  gegründete  Stadt  Heraklea  in 
Trachis  das  Tagesgespräch  gewesen,  sie  hatte  mit  thessalischen  Stämmen 
fortwährend  im  Kriege  gelegen,  und  gerade  im  Frühjahr  419  war  sie 
im  Mittelpunkt  des  Interesses  -  die  Böoter  hatten  Heraklea  eingenommen 
und  befestigt  Mn  'A0r|vaToi  Xdßujci^:  also  die  Athener  hatten  ihre  Augen 
dahin  gerichtet  und  würden  sich  auch  damals  besonders  für  die  Sagen 
der  Heraklesstadt  interessiert  haben.  Doch  das  mag  Phantasterei  sein, 
die  ich  mich  hüten  will,  weiter  auszuführen.  Wichtiger  ist,  daß  auch 
die  metrischen  Beobachtungen  die  Trachinierinnen  in  dieselbe  Zeit 
weisen:  näher  dem  Philoktet  und  Oed.  Col.*  Die  Auflösungen  ergeben 
auch   ungefähr   ein   solches   Verhältnis.^     Diese    metrischen   Dinge,   in 


'  Die  zuweilen  nicht  recht  übereinstimmende  Behandlung  Thebens  kann  man 
nur  verstehen,  wenn  man  an  die  Parteien  denkt,  von  denen  ich  eben  sprach: 
die  eine  verhaßte,  die  in  Theben  herrscht  und  jetzt  die  thebanische  Politik  ver- 
tritt, die  andere  vertriebene,  auf  die  man  hofft. 

*  Plutarch.  Nik.  c.  9.  '  Thukyd.  V  51  u.  52. 

*  Schmalfeld,  Zeitschr.  f.  Gymn.  XIII  1859  S.  383. 

■'  z.  B.  Wulff  hinter  der  Ausg.  der  Elektra  3.  Aufl.  p.  123.  Abweichend 
sind  genauere  Zählungen  meines  Freundes  Hosius,  die  mir  seine  Güte  zur  Ver- 
fügung stellt: 

Ai.  77  =  einmal  in  137^  Versen,  El.  50-22'/, 

CR  85-14;  OC82-15V, 

Ant.  43-21  y, ;  Trach.  60-16;  Phil.  128-87,. 

Auffallend  wäre  Aias  und  OR;  genau  weiß  man  ja  auch  gar  nichts  über  die  Zeit 

des  OR.    Durch  Weglassen  der  Eigennamen  und  gewisser  besonderer  Arten 

von  Auflösungen  wird  das  Verhältnis  ganz  anders.    Von  den  Auflösungen  des 

Aias  sind  etwa   15  nur  Eigennamen.     Es  ist  eben  aus  Zahlen  allem  nichts  zu 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  5 


56  Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne 

44  denen  ja  gewiß  etwas  von  physischer  Notwendigkeit  liegt,  können  und 
sollen  ja  nur  andere  Momente  unterstützen  —  das  Fehlen  der  Parodos, 
die  stichische  Anwendung  des  Hexameters,  die  gebrochenen  Anapäste, 
eine  sehr  starke  Lizenz  \  die  enoplischdochmischen  Metren  879- 95  ^ 
alles  das  weist  in  späte,  nicht  späteste  Zeit  und  kann  bestätigen:  kurz 
nach  420.  Und  wie  deutlich  gibt  das  ganze  Stück  den  Einfluß  euripi- 
deischer  Kunst  zu  erkennen:  ein  erotisches  Sujet,  wie  sie  Euripides  auf 
die  Bühne  gebracht,  ein  Prolog  nach  seiner  Manier,  auch  eine  Anklage 
des  Zeus  in  seinem  Stile,  auch  eine  rpocpöc  und  ein,  wie  wir  sahen, 
nach  der  Szene  des  Herakles  ganz  mechanisch,  unvermittelt  eingeführter 
Ttpecßuc  —  Gestalten,  die  das  euripideische  Drama  geschaffen.^ 

Man  wird  mir  nun  erlassen,  mit  all  den  andern  Ansichten,  die  das 
Stück  fast  durch  die  ganze  Arena  der  Lebenszeit  des  Dichters  gejagt 


schließen.    Über  die  Verteilung  des  Trimeters  unter  mehrere  Personen  notiert 
mir  Hosius  dies: 


Verteilung 

an  2 

an  3 

an  4  Personen 

Aias 

8 

— 

— 

El. 

27 

1 

— 

OR 

10 

2 

— 

OC 

47 

1 

(1) 

Ant 

— 

— 

Trach. 

4 





Phil. 

27 

3 

1 

Man  sieht,  was  dergleichen  hilft  -  denn  in  den  Trachinierinnen  sind  die  Ana- 
päste zwischen  mehrere  Personen  verteilt;  das  hat  ein  ganz  anderes  Gewicht 
und  ist  zum  Teil  unerhört,  vgl.  oben.  Eine  genaue  Tabelle  über  einsilbigen 
Versschluß  steht  mir  ebenfalls  durch  Hosius'  Freundschaft  zu  Gebote.  Ich  setze 
nur  die  Schlußzahlen  her  (Enklitika  sind  mitgezählt): 

Aias      64  mal.    Einmal  in  16   Senaren. 


El. 

91 

OR 

121 

OC 

125 

Ant. 

58 

Phil. 

103 

Tract 

i.   74 

12%  „ 
10 

10  V,    „ 

15  V5     „ 

10  V,    „ 

13         „ 

Weitere  Betrachtungen  mag  daran  knüpfen,  wer  damit  etwas  ausrichten  zu  können 
meint.  Uns  genügt  es  hier  zu  sehen,  daß  auch  diese  Rechnungen  unserer  Be- 
weisführung nichts  in  den  Weg  legen  können. 

*  V.  Wilamowitz,  Anal.  Eur.  p.  196  u.  98. 

*  Vgl.  V.  Wilamowitz,  Herakles  1  352  über  diese  Verse. 

'  Ein  ähnlicher  up^cßuc  (oder  uaibaYuuTÖc)  kommt  in  den  erhaltenen  Stücken 
vor  in  Eur.  Medea,  Ion,  El.,  Phon.,  Iph.  Aulid.;  bei  Soph.  nur  in  der  Elektra. 
Eine  Tpocpöc  bei  Eur.  in  Hippol.  und  Androm.;  in  den  Trachin.  Tpoqpöc  und 
TTp^cßuc. 


Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne  57 

haben,  abzurechnen.  Auch  die  Ansicht  von  Kalkmann  ^  und  Hense, 
daß  die  Chorverse  des  Hippolytos  v.  545  ff.  bewiesen,  daß  die  Trachi- 
nierinnen  vorhergegangen  sein  müßten,  hat  nichts  zu  bedeuten^:  es  steht 
ja  nichts  da,  als  daß  Herakles  Oichalia  zerstörte,  um  lole  zu  gewinnen  45 
-  nichts  von  Folgen  und  andern  Verwicklungen:  OixaXiac  äXujcic  war 
ja  da  und  wie  viel  Heraklesdichtung!  In  etwas  anderm  freilich  ist  eine 
Ähnlichkeit  mit  diesem  Stück  da:  die  Sterbeszene  des  Hippolytos  ist 
recht  ähnlich  der  des  sophokleischen  Herakles,  besonders  auch  die 
Todesklage  beider,  mehr  im  ganzen  als  im  einzelnen.  Im  einzelnen^ 
kann  man  etwa  Hipp.  1387 

€i8€  lue  Koiiiiceie  tov  bucbaijuov'  "Aibou 

^eXaiva  vuKtepöc  t'  dvdfKa 
und  Trach.  1040  vergleichen  —  tu  t^ukuc  "Aibac  - 

euvacov  euvacov  iLKux^pa  |uöpuj 

TÖv  ineXeov  cpOicac    (vgl.  Hipp.  1376    Kaxd   t    euväcai   töv 

e)Li6v  ßiov) 
und  dann  ist  es  dieselbe  Gruppe,  die  wir  kennen:  der  Vater  Theseus 
unterstützt  den  sterbenden  Sohn  (1445),  steht  sorgend  neben  ihm.  Es 
gehört  der  Hippolytos  in  die  Reihe  der  Stücke,  die  den  körperlichen 
Schmerz  auf  die  Bühne  brachten,  freilich  noch  lange  nicht  so  drastisch 
so  naturalistisch  wie  in  den  Trachinierinnen  und  dem  Philoktet.  In 
diesen  Zusammenhang  muß  auch  die  Schlußszene  der  Acharner  ge- 
rückt werden,  die  495  gedichtet  ist:  Lamachos  wird  verwundet  auf  die 
Bühne  geführt,  gerade  wie  Hippolytos,  nachdem  sein  Unglück  von  einem 
Boten  erzählt  ist  mit  allerlei  Parodie  solcher  Berichte  in  der  Tragödie 
Und  nun  jammert  Lamachos  in  schlotternden  Dochmien  -  es  ist  ganz 
Parodie,  freilich  nicht  auf  Trachinierinnen  oder  Herakles  -  da  fände 
nichts  auch  wer  es  suchte  -  wohl  aber  auf  Hippolytos  z.  B.  Ach.  v.  1215 

Xd߀c6e  )Liou  Xd߀C0e  xoö  CKeXouc  Trarrai 

TTpocXdßecO'  uj  qpiXoi 
auf  Hipp.  1359  f. 

b|UU)€C    XPOOC    eXKlubOUC    d7TT€C0e 

X€poTv  usw. 
Dikaiopolis  verhöhnt  noch  die  Worte  auf  seine  Weise: 

*  Daß  cpiXTpa  in  beiden  Stücken  erwähnt  werden,  hilft  doch  hier  nichts 
(Kalkmann,  De  Hipp.  Eur.  p.  9 f.).  Dergleichen  uralte  Dinge  des  Volkslebens 
braucht  doch  nicht  erst  ein  Dichter  im  Theater  sagen  zu  lassen,  damit's  ein 
anderer  auch  tun  kann. 

'  Vgl.  auch  V.  Wilamowitz,  Hermes  18, 244  Anm.  7. 

»  Mehr  stellt  zusammen  Kalkmann  a.  a.  O.  p.  9  ff.  Doch  die  Worte  sind 
kaum  ähnlich  und  die  Gedanken  kehren  ähnlich  so  oft  wieder. 

5* 


58  Schlafszenen  auf  der  attischen  Bühne 

ejuoö  be  TC  cqpuj  xoO  tteouc  ajLiq)uj  )uecou 

TTpocXdßecG'  m  qpiXai 
es  ist  eine  Verhöhnung  jener  Gruppe,  die  wir  in  der  Tragödie  so  oft 
wiederkehren  sahen.  Auch  Ach.  1191  und  Hipp.  1347  ff.  sind  sich 
46  ähnlich  und  die  Anrufung  des  Paian  Ach.  1212  und  1373.^  Aber  das 
eigentliche  Ziel  des  Hohns  mag  doch  ein  andres  Stück  gewesen  sein, 
und  man  hatte  gewiß  schon  mehr  solche  Szenen  auf  der  tragischen 
Bühne  gesehen.^  Wir  wissen,  daß  auch  in  den  Niptren  des  Sophokles 
dergleichen  vorkam,  in  denen  der  verwundete  und  sterbende  Odysseus 
dargestellt  war  -  an  Telephos  kann  man  auch  denken  -  der  Prome- 
theus mag  vielleicht  das  erste  Stück  in  dieser  Reihe  gewesen  sein. 
Sterbeszenen  sind  jedenfalls  sehr  alt  auf  der  Bühne  -  es  wäre  ein 
noch  viel  interessanteres  Stück  Bühnengeschichte,  die  Entwicklung  der 
Sterbeszenen  in  weiterm  Umfange  zu  untersuchen.  Wir  wollen  uns 
für  diesmal  begnügen,  aus  der  Entwicklung  der  Schlafszenen  auf  der 
attischen  Bühne  einige  Resultate  gewonnen  zu  haben,  und  wenn 
wenigstens  das  Resultat,  daß  die  Trachinierinnen  nach  dem  Herakles 
gedichtet  sind  -  zwischen  422  und  415,  denn  die  nähern  Datierungen 
will  ich  nicht  für  bewiesen  ausgeben  -  unumstößlich  feststeht,  so  habe 
ich  diese  Zeilen  nicht  umsonst  geschrieben,  wenn  ich  auch  nur  ein 
Pünktlein  nachgetragen  habe  zu  dem  Buche,  das  uns  neulich  die  Sage  von 
dem  alten  Dorergott  und  die  Dichtung  des  großen  Atheners  vermittelt  hat. 
Während  ich  dies  schreibe,  kann  ich  aufsehen  zu  der  Kolossalstatue 
des  farnesischen  Herkules,  die  oben  auf  dem  Wilhelmshöher  Berge  steht: 
das  ist  auch  ein  Stück  Geschichte  der  Auffassung  des  alten  Gottes  - 
nach  der  Statue  aus  der  späten  Zeit,  die  nur  den  kraftprotzenden 
Athleten  sah,  ein  Kupferbild  auf  ein  eckiges  Riesengebäu,  in  dem  das 
Wasser  für  allerlei  Wasserkunst  gesammelt  wird,  hinaufgestellt  in  einer 
Zeit  (1717),  der  die  Antike  nur  ein  ergötzliches  Ornament  für  Lust- 
gärten und  Fürstenschlösser  war  -  das  Volk  nannte  den  alten  Helden 
den  ^großen  Christoffel'!  Wir  aber  können  heute  wieder  den  Ge- 
waltigen verstehn,  der  Schlafende  ist  ganz  erweckt  durch  seinen 
deutschen  Hypopheten,  xriveXXa  KaXXiviKe. 

^  Kalkmann  hat  diese  Stelle  schon  notiert  a.  a.  O.  p.  10  Anm.  1. 

*  Bei  Cic.  Tusc.  II  21  werden  Stellen  aus  der  Bearbeitung  des  Pacuvius  an- 
geführt. Da  war  auch  der  Gegensatz  des  einst  Gewaltigen  und  jetzt  Gebrochenen 
benutzt:  nimis  paene  animo  es  molli,  qui  consuetus  in  armis  aevom  agere-.  Von 
cap.  7  an  bespricht  Cicero  mehrere  solche  Szenen.  Ähnliches  kam  in  der  Epinau- 
simache  des  Accius  vor.  Sie  wird  wohl  auch  nicht  selbständig  nach  Homer,  sondern 
nach  dramatischen  Vorbildern  gemacht  sein.  Vgl.  die  Notiz  von  einem  Eurypylos 
eines  unbekannten  Dichters  bei  Nauck  fr.  tr.  gr.  *  p.  838.  Auch  bei  Aristoteles 
cap.  23  wird  ein  Eurypylos  erwähnt. 


I 


De  hymnis  Orphicis  59 

III 

DE  HYMNIS  ORPHICIS 
CAPITULA  QUINQUE^ 

€1  6'  'Opcp^uuc  laoi  T\u)cca  Kai  la^Xoc  irapnv! 

Eurip.  Ale.  357. 

EXORDIUM 

Quae  hierophanta  Eleusinius  olim  in  mysteriis  sacerrimis  cantauerit  1 
nemo  imquam  non  ignorabit.  uix  unquam  ullus  lapis  in  lucem  prodibit 
uel  Ulla  Charta  ubi  legatur  antiquae  illius  aetatis  hymnus  mysticus. 
quamquam  nuUus  fuisse  uidetur  in  Graecia  deorum  cultus  neque  publi- 
cus  neque  secretus  cui  carmina  non  adhiberentur,  tarnen  hymni  sacri 
graeci  paene  omnes  sunt  perditi;  et  qui  in  Alexandrinorum  bibliotheca 
seruabantur  precationum  thensauri  Kard  ttöXcic  dispositarum  ^  ne  nobis 
perierint  in  aeternum  uereor. 

carminum  uero  in  mysteriis  usitatorum  auctor  paene  diuinus  antiquitus 
credebatur  Orpheus  uates  Thracius.  'Opcpeuc  juev  ydp  TeXexdc  fiiuTv 
KQTebeiHe,  inquit  Aeschylus  Aristophaneus^  inde  a  sexto  saeculo  Or- 
phicam  quam  dicunt  theologiam  Athenis  floruisse  ne  dicam  ortam  esse 
satis  constat.  nee  negandum  est  multum  et  in  rebus  Eleusiniis  ualuisse 
poetae  uenerandi  sacra  praecepta.  quid  quod  Lycomidae  Attici  mysteria 
quaedam  gentis  propria  agentes  cantasse  feruntur  louc  'Opcpeuuc  u|livouc^? 
an  miraris  quod  posteriore  aetate  omnium  fere  cum  Apoliinis  tum  Bac- 
chi  mysteriorum  sollemnia  aucta  et  celebrata  esse  permulti  testantur 
scriptores  iis  uersibus  quos  paene  omnes  adscribebant  celeberrimo  sa- 
crorum  praeconi,  filio  deorum  -  quem  Aristoteles  nunquam  re  uera 
uixisse  primus  profiteri  non  dubitauit.  omnium  illorum  uersuum  nobis 
nil  relictum  est;  diu,  pro  dolor,  putredine  consumptae  sunt  cavibec  illae» 
TOic  'Opcpeia  KaicTpaipe  ^f\f)\)c  (Eur.  Ale.  968).  itane  uero?  immo  ex-  2 
stant  'Opcpeiuc  qui  inscribuntur  Ö)livoi.  qui  quin  posterioribus  uel  adeo 
postremis  antiquitatis  adscribendi  sint  saeculis  nemini  iam  licet  dubitare, 
iis  saeculis,  quibus  religionis  graecae  lucidissimus  olim  splendor  in  dies 
magis  philosophorum  inuentis  obscurari  aliarumque  gentium  mythis  ma- 

*  <Ad  veniam  legendi  in  universitate  Philippina  Marpurgensi  a  philosophorum 
ordine  impetrandam  scripsit  A.  D.  Marpurgi  Cattorum,  impensis  Elwerti  biblio- 
polae  academici,  1891. > 

'  cf.  Gruppium,  culte  und  mythen  p.  547. 

•'  ran.  1032.    cf.  Eurip.  Rhes.  944.  *  Pausan.  IX  30,  12. 


70  De  hymnis  Orphicis 

culari  coeptus  »erat,  attamen  summi  sane  pretii  est  inuestigare  quid  de 
horum  hymnorum  origine  forma  compositione  iudicandum  sit,  quos  si 
mysticae  Graecorum  poeseos  genuinas  esse  reliquias  demonstrari  poterit, 
fortasse  et  priorum  temporum  nonnulla  fragmenta  indagare  licebit,  et 
cum  postrema  aetas  paullo  liberalius  frustula  quaedam  reliquerit,  lucem 
quandam  adferre  hymnorum  mysticorum  graecorum  historiae. 

I 
DE  'BUBULCIS'  ORPHICIS 

3  Hymnorum  Orphicorum  libellus  qui  seruatur  utrum  deberetur  ingenio 
poetae  cuiusdam  uel  potius  philosophi  qui  'animi  causa  ut  ostenderet 
quid  Orpheus  si  uoluisset  optimam  precandi  rationem  tradere'*  haec 
composuisset,  an  in  cultu  ac  religione  certorum  hominum  in  usu  fuisset 
ita  ut  has  precum  formulas  re  uera  recitarent  in  sacris  mystarum  coe- 
tibus,  ambigebant  uiri  docti  usque  ad  hunc  diem.  etsi  nonnulli  uiri  et 
ii  doctissimi  nuper  sensere  illam  olim  omnium  sententiam  qua  hymnos 
ut  legerentur  fictos  esse  putabant  minus  ueram  esse,  nuperrime  exstitit 
qui  Stoicum  quendam  illa  consarcinasse  et  quae  Orphicam  doctrinam 
saperent  interpolata  tantum  esse  non  modo  putauit  sed  etiam  publicauit^. 
neque  uero  sensibus  et  coniectamentis  indulgere  licet  ubi  demonstrari 
potest.  atque  eo  minus  illis  nouissimis  studiis  uenia  concedenda  est, 
quoniam  iam  ante  hos  duodecim  annos  Rudolf us  Schoell,  uir  insignis 
in  satura  philologa  Hermanno  Sauppio  oblata  paucis  pagellis  (p.  176  sqq.) 
nouis  titulis  aduocatis  etsi  neque  satis  demonstrauit  et  explicauit  neque 
amplius  prosecutus  est,  tamen  adumbrauit  cur  de  imprecationum  Orphi- 
carum  origine  et  usu  uix  iam  dubitari  posset.  nolo  autem  inculpare 
neque  rixari,  sed  ipse  demonstrare. 

in  eiixri  irpöc  Moucaiov  hymnis  praemissa,  cuius   in  fine  Hecatam 

aduocant,  legitur  (u.  9  sq.): 

Xicco|nevoic  KoOpriv  TeXeraic  öcirici  Ttapeivai 
ßouKÖXtu^  eu|uev€oucav  dei  Kexapnoii  Gujuiu, 

atque  in  Curetum  hymno  (XXXI  6  sq.): 

cXÖoit'  eu|a€V€0VTec  in    €ucpr|)Lioici  XÖTOici 
ßouKÖXuj  eOdvTriTOi  äei  KexapriÖTi  0u|uuj. 

4  non  iam  ignoramus  quid  in  his  uersibus,  qui  certae  formulae  precatiuae 


^  haec  erat  Lobeckii  sententia,  Aglaoph.  p.  395. 
'  Otto  Kernius  in  Hermae  uol.  XXIV  p.  498  sqq. 


'  [u.  Buresch,  Aus  Lydien  n.  8, 10  dpxißoOKoXoc  [rfic  crrleipric.  <(aus  H.  Useners 
Handexemplar.» 


De  hymnis  Ofphicis  yj 

speciem  praebent,  sit  ßouKÖXoc.  an  etiam  nunc  sunt  qui  putent  eum 
qui  hymnos  finxerit  se  magis  bubulcum  quam  poetam  appellari  ipsum 
uoluisse?  etsi  enim  tituli  non  essent  inuenti,  iam  Lucianus  nos  edocere 
potuit  quid  essent  illi  ßouKÖXoi.  qui  tradit^  choros  Bacchicos  maxime 
agi  in  Jonia  et  in  Ponto  ibique  adeo  homines  his  rebus  deditos  esse, 
ut  per  totos  dies  contemplarentur  Titanes  et  Satyros  et  ßouKÖXouc. 
quorum  partes  agere  saltando  nobilissimum  quemque.  uides  ministros 
ac  cultores  Bacchi  dei  summi,  dHiou  xaupou  quem  antiquitus  uocabant, 
fuisse  ßouKÖXouc  eodem  modo  quo  Corybantes  (et  Curetes)  et  Satyri 
deum  custodivisse  et  coluisse,  Titanes  uero  eum  puerum  misere  lace- 
rauisse  ipsis  Orphicorum  effatis  notissimis  dicebantur.  quas  res  illic 
saltantes  agebant  atque  imitabantur.  in  illis  autem  ipsis  regionibus,  de 
quibus  dicit  Lucianus,  inuenti  sunt  lapides,  eiusdem  rei  testes  sinceris- 
sumi.     Pergami  inuenerunt  titulum^  qui  praebet  haec  uerba: 

Ol  ßouKÖXoi  ^Tei|UTicav  ZujTfipa 'ApTeiuibiupov  töv  dpxißouKÖXov 
bid  Toö  euceßujc  Kai  dHiwc  toö  KaGtiTtluövoc  AiovOcou  irpoiCTacOai 
Tujv  0eiujv  ^ucTTipiujv.  eiciv  be  oi  ßouKÖXoi  —  secuntur  nomina 
—  u)LivobibdcKaXoi  —   c€iXr|Vioi  —  xop^TÖc. 

in  lapide  qui  Apolloniae  ad  Pontum^  in  lucem  prodiit,  non  modo  Xik- 
vacpöpoc,  Kicxacpöpoc,  dpxi|LUJCTTic,  dpxißaccdpa  memorantur,  sed  etiam 
ßouKÖXoc.  ad  senatum  et  populum  Iliensium  rex  Pergamenus  dedit 
epistulam  quam  lapidi  incidendam  curarunt*:  se  iam  antea  donauisse 
commemorat  rdc  xe  ßoOc  xai  xoOc  ßouKÖXouc.  quid  igitur?  suntne 
ai  ßöec  uerae  boues  an  potius  eaedem  ac  ßaccdpai?  memineris,  quaeso, 

^  Trepi  öpxnceuuc,  in  cap.  79:  i^  lu^v  ye  BaKXiKi^i  öpxricic  ev  Mujvia  ladXicxa 
Kai  ^v  TTövxuj  cirouöaZ[o|LievTi  kqixoi  caxupiKiri  oöca  oöxuu  KexeipujTai  touc 
dvBpuüTTOuc  xoOc  ^K€i  üjcxe  Kaxä  xöv  xexaYM^vov  ^Kacxoi  xaipöv  ÖTrdvTUJv  ^iri- 
XaOöiiievoi  tu)v  öXXujv  KaGfjvxai  bi'  fm^pac  Tixävac  kqI  Kopußavxac  xai  caxOpouc 
Kttl  ßouKÖXouc  öpu)vx€C.  Kttl  öpxoüvxai  f€.  xaOxa  oi  euyev^cxaxoi  Kai  -rrpujxeiiovxec 
^v  ^Kdcxr)  xüüv  TTÖXeiuv  oux  öttuuc  aiboij|H€voi  dXXd  xai  )LX^f  a  cppovoOxec  ^iri  xA  irpaY- 
^axi  inöXXov  fjirep  ^ir'  €\}feveiaic  Kai  Xeixoupfiaic  Kai  d5iuj|Liaci  irpoYOviKoic.  <S. 
auch  Nek.  148.) 

*  edidit  C.  Curtius  in  Herrn.  III  39.  cf.  MouceTov  Kai  ßißXioGfjKTi  xfic  cöaTT«- 
XiKnc  cxoXfic  ^v  CinüpvT)  1875/76,  p.  4,  ubi  idem  lapis  iterum  publicatus  est. 

»  CIGr  2052. 

*  CIGr  3604  .  .  .  oc  'IXi^ftüv]  xf|  ßouX^  Kai  xii»  6r||auj  x«piv,  i^v  ^x^J^v  öiaxeXu) 
i)liiv  iv  travxi  KaipOu  irepi  xfic  irpöc  xö  öelov  eöceßeiac  Kai  ladXicxa  irpöc  xViv 
'AOr^vdv  ^K  xfic  upöxepov  Ypacpeicric  eiricxoXfic  irpöc  u|uäc  ueiTeiciuai  udci  cpavepöv 
7re(puK€vai,  KaÖ'  ^v  xdc  xe  ßoöc  Kai  xouc  ßouKÖXouc  dvexi[6l€iv.  Kai  vOv  b^ 
xuupav  riTÖpa[Ka ...  agi  de  rebus  sacris,  non  pecuariis  uerba  ipsa  prae  se  ferunt. 
e  quibus  minume  sequitur  ut  boues  et  bubulci  donati  sint  in  Mineruae  usum. 
priore  epistula  rex  de  his  bubulcis  dixerat,  sacerdotes  uel  ministras  donauerat, 
nunc  agrum  emit  ubi  templum  exstrueretur  uel  ubi  mystae  deos  suos,  inter 
quos  Bacchus  haud  dubie  putandus  est  summus,  rite  celebrarent. 


72  De  hymnis  Orphicis 

Dianae  ministras  uocatas  esse  apKTouc,  Bacchi  et  xpötTouc,  postea  mystas 
Mithrae,  cui  saepe  ut  solis  deo  leoninam  attribuebant  faciem,  Xeoviac 
et  Xeaivac^  nee  inutile  est  comparare  apud  Ephesios  eos  adulescentes 
qui  festo  Neptuni  die  potum  ministrarent  laupouc  esse  adpellatos^  sumas 
uero  si  coniectando  pauxillum  indulgeas  feminas  Eleas  quae  illud  aHie 
TttOpe  cantitabant  implorantes  Dionysum,  ut  ueniat  tuj  ßoeuj  irobi  Guiuv, 
iam  nomine  ßoüuv  fuisse  ornatas.  sed  ßouKÖXiuv  adscribenda  sunt  alia 
6  testimonia:  Polemo^  narrauit  de  dpxißouKÖXiu,  qui  in  Troade  habitauit,  sed 
quod  mirum  est  Apollinis  sacerdos  fuisse  uidetur.  an  putandum  est  in 
illis  regionibus  cultus  Bacchici  tantam  fuisse  uim  et  auctoritatem,  ut  ad 
eius  exemplar  aliorum  sacrorum  instituta  uel  certe  nomina  quaedam 
constituerentur?'^  unus  uero  titulus  graecus  quem  olim  Cyriacus  Anco- 
nitanus  legit  Perinthi,  in  urbe  ad  Propontidem  sita,  dignissimus  est 
quem  hie  acrius  examinemus.     ediderunt  eum  uiri  docti  hoc  modo'': 

euTuxeiTe.  xp^^inöc  CißuXXrjc. 

errdv  b*  6  BotKxoc  eudcac  TrXr)c[0r|c]€Ta[i], 

TÖie  ai|aa  xai  iröp  xai  kövic  )niTr|ceTai. 
CTieXXioc  Gur|0ic  dpxißouKÖXoc 
'HpaKXeiboi;  'AXeHdvbpou  dpxiMucTOÖVTOC. 

quo  minus  iamborum  sensum  intelleges,  eo  lubentius  ut  puto  mihi  con- 
cedes  ut  paullo  fusius   de  eis  disseram,   ac  lux  quaedam  fortasse  ad- 


^  cf.  CIL  VI  744  et  quos  Henzenus  conuocauit  testes.  addas  locum  Porphyrii 
de  abstin.  IV  16:  uüc  xouc  |u^v  |U€T^xovTac  tuuv  auTUJv  öpyiuiv  jaOcxac  Xeovxac 
KaXeTv,  xac  M  Y^vaiKac  Xeaivac,  xoijc  bi  UTrr]pexoOvxac  KÖpaKac  kxX.  cf.  CIL 
III  3415.  «  Athenaeus  X  p.  425  C. 

^  fragm.  31  Preller.  (schol.  Ven.  in  Iliad.  139):  CiuivGioc  yäp  xöttoc  xfjc  Tpuj- 
döoc,  ^v  öj  iepöv  'AiröXXujvoc  CjuivGiou  dirö  alxiac  xfjcbe.  €v  XpOcr],  tröXei  xf^c 
Muciac,  Kpivic  xic  iepeuc  fjv  xoO  kgiGi  'AttöWuuvoc.  xouxtu  öpYicöeic  ö  Geöc  ^ireinnjev 
auxoö  xoic  dYpoic  juiiac  oixivec  xouc  KapTrouc  ^\u|uaivovxo.  ßouXr]e€ic  öe  Troxe  ö 
6€Öc  auxiju  KaxaXXaTfjvai  irpöc  "Opör^v  xov  dpxißouKÖXov  aOxoO  Trap€Y^v€xo,  irap' 
dj  Hevicöeic  ö  Geöc  uuecxexo  xOjv  kükOjv  d-rraXXdSeiv  Kai  6ri  Trapaxpni^ci  xoEeOcac 
xouc  inuc  öieq)G€ipev.  dTraXXaccöjuevoc  ^vexeiXexo  xr^v  ^mcpdveiav  auxou  brjXüJcai  xuj 
Kpivibi.  ou  Yevo|Li^vou  ö  Kpivic  iepöv  iöpucaxo  xuJ  Geuj  CjuivG^a  auxöv  irpocaYopeucac, 
eiT€ibri  Kttxd  xriv  eYXii'Piov  auxujv  bidXcKxov  oi  jLiuec  CjuivGoi  KaXouvxai.  rj  icxopia 
napd  TToX^iuiwvi.  —  auxou  i.  e.  lep^ujc.  minime  credo  hie  dici  uerum  bubulcum 
sacerdotis  ministrum  qui  boues  Apollini  mactandos  administrauerit.  est  dpxißou- 
KÖXoc et  uir  magni  honoris,  sed  minoris  quam  iepeuc. 

*  fortasse  Aiövucoc  CiaivGioc  in  memoriam  reuocandus  est  et  suspicandum 
'AttöXXujvoc  C|uivGiou  et  Aiovücou  C|uivGiou  cultum  illic  fuisse  coniunctum.  modo 
uideo  Tuempelii  adnotationes  de  Baccho  Sminthio  in  Philologi  nouissimo  fasci- 
culo  (XLIX,  3,  p.  573  sq.),  quas  tarnen  non  prorsus  probo. 

"  proposuerunt  enim  iam  hi :  Dumontius ,  inscriptions  et  monuments  figures 
de  la  Thrace  1876  p.  38.  Mommsenus  in  ephem.  epigr.  III  (1877)  236,  Kaibelius 
in  mus.  rhen.  XXXIV  211.    SchoelHus  1.  c.  p.  179. 


De  hymnis  Orphicis  73 

fulgebit  mysteriorum  horum  tenebris.  traditur  enim  in  fine  prioris  uersus 
et  insequentis  initio  TTAHCTATTOYe  unde  unum  quidem  TÖre  recte  elicuit 
Wilamowitzius;  sed  quae  de  reliquis  litteris  nXricTai  fecerunt  critici  TrXricr] 
TTÖXiv,  TrXavrjceTai  probari  non  possunt  nee  magis  TiXTicGricexai.  quem 
tandem  sensum  uerbis  inesse  putauere?  unus  Schoellius  respondit  'nihil 
nisi  apparatum  sacrificii  mystis  furore  Bacchico  satiatis  faciundi  per 
imaginem'  praescribi.  ubi  gentium  tale  tali  modo  sacrificium  praescri- 
bitur?  atque  in  priore  uersu  non  de  mystis  sed  de  Baccho  ipso  res 
est.  sed  ne  longus  sim:  nonne  scis  ubi  cineres  et  sanguis  et  ignis  ut 
fiat  res  sane  summi  momenti  miscenda  fuerint,  nonne  recordaris  illius 
grauissimi  de  hominum  origine  placiti  uere  Orphici?  uersibus  illis  prae- 
betur  uaticinium  Sibyllinum  ut  par  est  obscurum  de  anthropogonia. 
Toö  Tujv  Tirdviuv  ai'inaTÖc  €C)li€v  n^ieicS  sie  professi  sunt  Orphei  ad- 
seelae,  toutouc  ö  Zeuc  eKepa\Jvu)ce  Kai  ek  Tfjc  aiOdXric  tujv  diiiiuv 
Tüjv  dvabo6€VTUJV  eH  autiuv  üXr|c  Tcvecöai  toOc  dvGpuüTroucl  e  Xu- 
6pu)  i.  e.  eruore  eum  puluere  eommixto  orti  sumus^  atque  id  quod 
summum  est:  etiam  Bacehi  ipsius  sanguis  nobis  inest  ujc  toö  cuujLiaToc 
fiiaujv  AiovuciaKOu  övtoc,  juepoc  ydp  auToO  ec)Liev,  eiye  ex  Tfic  aiGdXric 
TÜJV  TiTdvujv  cuTKei|ae0a  Y€uca|uevujv  tujv  capKÜJV  toutou*.  inde  effulsit 
illis  mystis  eertissima  immortalitatis  spes,  quod  in  cuiusque  et  animö 
et  eorpore  partieula  dei  tam  misere  lacerati  inesset,  eius  sanguinem 
sibi  inesse  putabant  eo  quod  Titanum  filii  essent  qui  Dionysi  partieulas 
eomedissent,  igne  uero  eaelitus  misso  Juppiter  animas  hominum  ereauit 
Titanes  eomburens  in  eineres  eo  modo,  quo  iam  antiquitus  anima  ipsa 
ex  igne  eaelesti  deuenisse  putabatur^,  TiTavov  be  Kupiwc  Tfiv  Koviav 
cpaiLiev  TÖ  ibiujTiKOuc  XeTÖ)Li€vov  dcßecTOv,  tö  ev  XiGoic  KeKaujuevoic 
Xvotubec  XeuKÖv.  exXriOri  be  oijtujc  dirö  tujv  ijuGikujv  TiTdvuJv,  oöc  ö  toO 
jLiuGou  Zeuc  KtpauvoTc  ßaXiuv  KaTeqppufe  *  bi  auTOuc  Tdp  Kai  t6  dH  d^av 
TToXXfic  Kavjceu)c  xai  ibc  oiov  eiTreiv  TiTavujbouc  biaTpuqpGev  ev  XiGoic 
XeiTTÖv  TiTavoc  oJVO^dcGri  oiov  iroivfic  tivoc  TiTaviKnc  Tevojaevric  Kai  ev 
auTuj*'.  ne  igitur  mireris,  quod  in  illo  uatieinio  de  hominibus  oriundis 
Orphico  nil  de  Titanibus  inuenitur,  sed  de  Baeeho  solo;  'hune'  enim 
'potissimum  finem  speetant'  Orphiei,  'ut  ex  Baeehi  illa  eaede  genus 
hominum  ortum  suum  eepisse  appareat  et  ut  Baeehus  eum  in  modum 
trucidatus    -    palingenesiae  et  immortalitatis    Sponsor  et  uindex  eer- 

»  Die  Chrysost.  orat.  XXX  10.         '  cf.  Lobeckii  Aglaoph.  p.  566. 

'  Oppian.  halieut.  V  9. 

*  Olympiodor.  ad  Piatonis  Phaedr.  p.  61 C.  cf.  Luebberti  commenta  in  in- 
dice  lect.  Bonnensi  hibern.  1888/89,  ubi  de  Pindaro  theologiae  Orphicae  censore 
disseruit,  p.  10.  '^  cf.  Kuhnii  librum  die  herabkunft  des  feuers,  p.  69  sqq. 

«  Eustath.  ad  Iliad.  II  735. 


74  De  hymnis  Orphicis 

tissimus   informetür'^      quid    igitur    illud    TTAHCTAI?      adscribo    nunc 

8  Himerii  locum  quo  de  ea  ipsa  Bacchi  caede  agit:  Aiövucoc  eVeiTO  |uev, 
oI)Liai,  TrXriTeic  Kai  Tf]v  ttXtiy^IV  icvevalev^  .  .  .  denique  propono  uersus 
emendatos: 

eTTCtv  b'  ö  BotKXOC  eudcac  TiXriYnceTai, 
TÖTE  ai|Lia  Ktti  TTup  Ktti  Kovic  juiTncexail 

quod  si  uerum  est  iam  intellegimus  quo  modo  Sibyllarum  effata  et 
oraculorum  sententiae  commixta  sint  cum  bis  litteris,  sed  etiam  id  quod 
hie  nostra  interest,  in  mysteriis  illis  culta  esse  placita  Orphica  ac 
ßouKÖXouc  fuisse  Bacchi  praecipue  Orphici  ministros.  eadem  uero  dog- 
mata  et  in  carminum  Orphei  Hbello  testatur,  ut  de  aliis  locis  nunc 
taceam,  iam  illa  Titanum  imprecatio:  fuLieiepiuv  rrpÖTOVoi  TTaiepiuv  (hymn. 
XXXVII  2).  nullus  enim  uidetur  fuisse  coetus  huiusmodi  sacer  quin 
haberet  propriam  lepdv  ßißXov,  in  qua  theogonia  et  anthropogonia  ex- 
plicarentur,  et  peculiarem  carminum  libellum.  neque  iam  dubites,  quin 
u)Livujboi  et  uiuvobibdcKttXoi,  qui  in  illis  titulis  atque  aliis*  a  mystis 
positis  ut  certi  administri  memorantur,  docuerint  ac  recitarint  qualia 
nobis  praebent  'Opqpeiuc  üjuvoi  qui  inscribuntur  -  qua  inscriptione 
omnes  has  singulas  similium  mysteriorum  collectiones  ornatas  fuisse 
ueri  est  simile. 

nee  uero  solum  in  illis  regionibus  -  Pergami,  in  Troade,  Apollo- 
niae,  Perinthi  -  ßouKÖXouc  Bacchi  fuisse  scimus,  sed  etiam,  quod 
minime  miramur,  RomaCy  posteriore  quidem  imperatorum  aeuo.    praeter 

9  lapidem  urbis  Romae,  cui  nil  nisi  haec  duo  uerba  graece  insculpta 
sunt:  TPO(t)IMOC  BOYKOAOC^,  haud  raro  uiri  nobilissimi  praeter  alios 
sacros   honores    in   eos    cumulatos   appellantur   etiam   'archibucoli  dei 


^  Luebberti  uerba  1.  1.  p.  3. 

*  Himer.  erat.  IX  4.  uerba  insequentia  sunt  haec:  ä|LiTre\oc  bä  r\v  KaTr](pric 
Kai  CKuBpuuTTÖc  oTvoc  Kai  ßörpuc  üjcirep  baKpüuuv  Kai  BdtKXOc  oökcti  cqpupöv  eic  ti^v 
Kivr]civ  elxev  eudpiiiocTov.  dXX'  oö  5iä  t^Xouc  tö  bdKpuov  ou5^  iroXeiLtiujv  tö  xpö- 
iraiov.  6  ycip  Zeuc  ^TroirTeOujv  kdjpa  iravTa  Kai  töv  Aiövucov  iyeipac,  duc  Xötoc, 
TiTävac  ^iroiei  irapd  tiuv  |ui36uuv  ^XauvecGai. 

'  nonnulli  tradunt  Bacchum  Titanes  inebriatum  occidisse  (uelut  mythogr. 
Vaticanus  III  12.  fragm.  Orph.  206  Abel.),  sed  neminem  spero  ex  hac  parte  redi- 
turum  esse  ad  -rrXricericeTai.  nam  si  litterarum  hastas  et  compendia  epigraphica 
et  insuper  Cyriaci  oculos  reputauimus,  nullo  alio  modo  illud  TTAHCTAI  effici 
potuisse  pellucet  nisi  TTAHrHCCTAI  fuerit. 

*  CIGr  2052.  uide  Herm.  IV  228.  CIGr  1720  Nicodemiae  (Bithyniae).  Oiuviu- 
hoi  ab  Hadriano  instituuntur  Smymae  CIGr  3148.  3170.  3199.  3348:  Hadrianopoli 
(Bithyniae)  3883. 

^  nunc  apud  Kaibelium,  inscriptiones  graecae  Italiae  et  Siciliae  etc.  2045. 


De  hymnis  Orphicis  75 

Liberi  }     quae   inscriptiones  paene  omnes  quarto  p.  Chr.  saeculo  sunt 
adsignandae. 

unum  addo  testimonium,  idem  posteriorum  temporum  sed  plane 
alius  generis,  quod  nescio  an  singularis  cuiusdam  sit  momenti.  repe- 
tendum  est  ex  Aegypto,  in  papyro  Parisina '"*  magicis  precibus  et  car- 
minibus  impleta  leguntur  in  fine  imprecationis  cuiusdam  (u.  2434  sqq.) 
haec:  ö  Xötoc  outoc  xfic  TrpdHeujc.  Xajußdviu  ce  Trapd  ßouKÖXov  töv 
exovia  TTiv  eirauXiv  Tipöc  Xißa,  Xaiußdviu  ce  irj  x^P«  Kai  tuj  öpcpaviu^ 
böc  jLioi  oOv  xapiv  epfaciav  eic  Tamr]v  jliou  Tf]V  irpäHiv.  cpepe  |uai 
dpTupia,  XP^cöv,  ijaaTicinöv,  ttXoötov  TToXuoXßov  eir'  dTaOuj.  quibus 
uerbis,  etiamsi  non  satis  plana  sint,  tarnen  constat  ßouKoXov,  cuius  aula  10 
uel  sacellum  ad  orientem  uersus  situm  est,  rerum  magicarum  esse 
antistitem  et  quasi  sacerdotem.  scimus  autem  quam  arto  uinculo  hae 
papyri  coniunclae  sint  cum  hymnis  Orphicis:  primus  nos  edocuit  Carolus 
Dilthey^  permulta  illa  carmina  quae  libris  magicis  inserta  sint  re  uera 
esse  Orphica  et  desumpta  esse  ex  hymnorum  collectionibus,  e  quibus 
una  aetatem  tulit.  nonne  in  propatulo  est  illos  compilatores  superstitiosos 
sua  quaesiuisse  non  e  poetarum  uel  philosophorum  figmentis  sed  ex 
usu   ipso   sacro?   insuper  nunc   uides   non   solum   poemata  sed   etiam 


^  CIL  VI  510:  Dis  magnis  matri  deum  et  Attidi  Sextilius  Agesilaus  Aedesius 
V.  c.  causarum  non  ignobilis  Africani  tribunalis  orator  et  in  consistorio  principum 
item  magister  libellor.  et  Cognition,  sacrarum  magister  epistular.  magister 
memoriae  uicarius  praesector.  per  Hispanias  uice  s.  c.  pater  patrum  dei  solis 
inuicti  Mithrae  hierofanta  Hecatae  dei  Liberiarchibucolus  taurobolio  crio- 
bolioque  in  aeternum  renatus  aram  sacrauit  dd.  nn.  Valente  V.  et  Valentiniano 
iun.  Augg.  conss.  idib.  Augustis.    CIL  VI  500  (Romae  ca.  a.  300  p.  Chr.): 

ARCBDEILIBXVVIROSF 
iam  uides  'archibucolus  dei  Liberi'  primis  inesse  litteris,  sicut  saepius  SDL 
scribitur  i.  e.  sacerdos  dei  Liberi.  CIL  VI  604  (Romae  a.  376  p.  Chr.):  Dis 
magnis  Ulpius  Egnatius  Fauentinus  v.  c.  Augur.  P.  V.  P.  R.  Q.  pater  et  hiero- 
ceryx  di  solis  inu.  Mithrae  archibucolus  dei  Liberi  hierofanta  Hecatae 
sacerdos  Isidis  percepto  taurobolio  criobolioque.  [Bull,  dell'  inst,  di  corr.  arch. 
1884  p.  56:  .  .  patri  sacrorum  summi  invicti  Mitre  hierofante  Aecatae  arcibucylo 
dei  Liberi  XV  viro  s.  f.  tauroboliato  deum  matris  pontifici.l 

*  edidit  Carolus  Wessely,  denkschriften  der  kaiserl.  kön.  akad.  der  wiss. 
zu  Wien.  phil.  bist  classe.  1888. 

•'•  TT]  xapct  Kai  TUü  opqpovxri  traditur  in  papyro.  quin  recte  emendauerim  non 
dubitabis  si  locum  papyri  Parisinae  quae  uocatur  Mimaut  contuleris,  u.  235  (ed. 
Wessely  I.e.):  iroincöv  inoi  xö  A  (=b€iva)  irpäTlua,  ^|aol  tu*  ttic  xr\pac  öp(pavuj. 
neque  uero  explicare  possum  has  formulas  nimis  mysticas.  an  de  Iside  et 
Horo  cogitandum  est  Osiride  necato  orbatis?  an  uiduis  ut  saepius  in  plebis 
superstitionibus  et  orbis  sicut  iraiciv  (ctiupoic  plerumque)  in  rebus  magicis  singu- 
laris quaedam  auctoritas  attribuebatur? 

*  in  mus.  rhen.  XXVII  p.  375  sqq. 


75  De  hymnis  Orphicis 

ipsa    instituta    ac    nomina    acquisiuisse     illos     e    mysteriis     Bacchicis 
Orphicis  \ 

nunc  uero  paullulum  redeamus  ad  aetatem  multo  uetustiorem.   nonne 
iam  in  mentem  uenit  uersus  ille  uesparum  Aristophaneus  (u.  10): 
TÖv  auTÖv  ap'  i^oi  ßouKoXeic  Caßdliov, 

quod  idem  fere  est  atque  'eundem  colis  Sabazium'?^  Cratinus  uero 
composuerat  fabulam  quae  inscripta  erat  BouköXoi,  cui  cum  rebus 
Bacchicis  aliquid  fuisse  docet  Hesychius  s.  u.  irupTTepeTXei  (?):  Kparivoc 
dirö  bi0upd|nßou  ev  BouköXoic  dpHdjuevoc^  multo  luculentius  fit  quid 
iam  tunc  fuerit  ßouKÖXoc  duobus  Antiopae  Euripidiae  uersiculis  per-^ 
dementem  Alexandrinum  seruatis*: 

evbov  be  8aXd|Lioic  ßouKÖXov 
KOiLituvTa  kicclD  ctöXov  euioi)  GeoO. 

sed  longe  omnium  clarissimum  testimonium  praebetur  Cretensium,  qua 
tabula  Euripidem  de  mysteriis  Orphicis  egisse  notum  est,  his  uersibus 
quos  Porphyrius  tradit^: 
.11  QYVÖv  be  ßiov  xeivujv  eH  ov 

Aiöc  'Ibaiou  fLiucxac  Yevö)Lir|v 
Ktti  vuKTiTTÖXou  ZttTpewc  ßoUTttC^ 
Touc   uj|LiocpdYOuc   baiiac   reXecac 


ßdxxoc    eKXr|0r|v    öciujGeic. 

ßouTttc  plane  idem  significare  atque  illis  aliis  locis  ßouKÖXoc  satis  apparet. 
quid  quod  eodem  nomine  utitur  BoOiac  Bouidöiuv,  generis  Attici  auctor, 
cui  cum  rebus  Bacchicis  et  mythis  Thracicis  aliquid  fuisse  haud  igno- 
ramus'?  sed  de  his  rebus  item  ac  de  BouIutwv  sacris  quae  a  cultu 
Eleusinio  haud  prorsus  aliena  fuisse  magis  coniectari  quam  scire  possis^ 
si  certa  efficere  uellem,  multum  exspatiari  deberem;  nam  permulta  hie 
aduocanda  essent  quae   quin  a  Baccho   eiusque  sacerdotiis  alienissima 

^  hie  adnotare  iuuat  magi  nomen  esse  BouKoXößpac  in  Photii  biblioth. 
XXVII  19.  Euphorbus  uenator  rerum  magicarum  peritissimus  dicitur  Bouko- 
Xibr|c  in  Lithic.  Orphic.  u.  463. 

*  in  eccles.  u.  81  idem  uerbum  respicit  Argum,  qui  custodiam  lonis  in  bouem 
mutatae  suscepit  -  sed  altera  uerbi  significatione  reputata  fortasse  etiam  plus 
salis  in  illo  uersu  inesse  sentimus  d|Li(picßTiTriTuuc  prolato. 

^  fragm.  18  Kock.  cf.  Crusium  in  philolog.  XLVII  37. 

*  stromat.  I  p.  418.  fragm.  Eur.  203  Nauck  \ 
"  de  abstin.  IV  19.  fragm.  Eur.  472  Nauck  *. 

^  perperam  traditur  ßpovroic.    praeclare  emendauit  Dielesius. 
'  cf.  loannem  Toepfferum,  attische  genealogie,  p.  113  sqq. 

*  cf.  Toepfferi  eundem  librum,  p.  140  sqq. 


De  hymnis  Orphicis  77 

sint  longe  abest,  ut  dubitauerim.  unum  uero  addere  liceat:  ei  ipsi 
religioni  neque  alii  cuidam  ßouTp09ia  certe  destinatum  fuisse  BouköXiov 
illud  prope  arcem  Athenarum  situm  iam  probatur  ut  alia  mittam  loco 
Aristotelico  praeclari  de  re  publica  Atheniensium  libelli  nuper  felicis- 
simo  casu  reperti,  cap.  3  (p.  7  Kenyon)^:  dXX'  6  )aev  ßaciXeuc  eixe  t6 
vöv  KaXou|U€vov  BouKoXeTov  TrXriciov  toO  TTpuxaveiou.  criiLieTov  öe' 
eil  Ktti  vöv  Top  TTic  Toö  ßaciXeujc  T^vaiKÖc  r\  cij|a|LieiHic  dvxaOGa  Tivexai 
Tuj  Aiovucuj  Ktti  6  Td|uoc.  hoc  igitur  certum  efficitur  illarum  opinio- 
num,  unde  sumpsere  ßouKÖXujv  nomen  ac  notionem,  quasi  radices  fuisse 
in  Atticis  sacris  haud  dubie  uetustissimis. 

redeundum  est  ad  carmina  Orphica.  quid  illic  sibi  uult  nomen 
ßouKÖXou?  sicut  caerimoniae  ipsae  uocantur  otYvd  iLiucxripia  (h.  XLIV  9), 
TeXcTtti  öciai  (XLIII  10),  Giacoc  (LIV  4)  et  sim.,  ita  qui  eorum  participes 
sunt,  appellantur  plerumque  luOcxai  uel  etiam  öcioi  iLiucxai^,  cuius  no- 
minis  sollemni  honore  homines  Orphicos  antiquitus  esse  usos  constat^?  12 
inter  quos  satis  aperte  discernuntur  veoiuOcxai  uel  veoqpdvxai^.  quibus 
uocibus  quin  certi  initiationis  gradus  constituantur  uix  dubites,  si  et  in 
lapide  mysteriorum  Andaniae  peculiariter  nonnulla  decreta  esse  de 
T^puJxo^\JCxalc  reputaueris^  simili  modo  in  urnae^  opere  caelato  cuius 
imagines  spectant  ad  res  Eleusinias,  effictos  uides  tres  quasi  mystarum 
gradus:  qui  hostiam  adferens  primo  adgreditur  (ttpujxoilujcxtic  uel  veo- 
(pdvxTic)  -  qui  iam  mysta  sacerrimis  ritibus  initiatur  -  qui  iam  altiore 
sapientia  dignatus  ipsum  Bacchi  sacrum  serpentem  colit  uel  nutrit 
(^TTÖTüxric).  ßouKÖXoc  igitur  etsi  non  ipse  dei  sacerdos  tamen  is  est  qui 
magis  ad  Bacchi  cultum  quasi  cotidianum  aduocatus  sit  quam  i^ucxai 
et  veoMucxai.  insuper  si  in  titulis  supra  tractatis  uidemus  hie  ßouKÖXujv 
nomina  praeter  mystas  adscripta,  illic  dpxißouKÖXov  subditum  fuisse 
imperio  dpxiMOcxou^  iam  efficitur  ßouKÖXouc,  quibus  praepositus  erat 
dpxißouKÖXoc,  coUegium  fuisse  e  reliquis  mystis  electum,  cui  mandatum 
erat  ut  lepOTTOioic  summo  sacerdoti  (dpxiiuucxri)  additis  deum  non  modo 


*  p.  2,  25  sqq.  in  editione  Kaibelii  et  Wilamowitzii. 

«  innumeris  locis  VlII  20,  XVIIl  19,  XXV  10,  XXXIV  27,  XXXVI  13,  XLI  10, 
XLIV  11,  L  10,  LI!  13,  LXXI  12,  LXXIV  10,  LXXVI  11,  LXXVII  9,  LXXVIII  9.  öcioi 
liucxai  LXXXIV  3. 

'  e.  c.  Plat.  rep.  II  p.  363  C.  cf.  Erwinum  Rohde  in  libro  qui  inscnbitur 
Psyche,  p.  265  adn.  2. 

*  veo^ücTtti  XLIII  10.     veoqpdvxai  IV  9. 

*  cf.  Sauppium,  die  mysterieninschrift  von  Andania,  Gottingae  1860,  u.  15, 
40,  70.    ceteroquin  idem  uerbum  nisi  apud  Achillem  Tatium  III  22  non  occurrit. 

*  urna  publici  iuris  facta  est  in  bulletino  della  comm.  archeol.  com,  vol. 
VII  p.  5  sqq.    cf.  Stengelium  griechische  kultusaltertümer,  p.  122  et  tab.  IV,  fig.  3. 

'  cf.  lapidem  Perinthi  p.  6  et  locum  Polemonis  p.  5  sq. 


78  De  hymnis  Orphicis 

rite  uenerandum  curare  sed  etiam  bpaiuaioupTiac  et  saltationes  Bacchicas 
agere,  siquidem  loci  Lucianei  memineris  et  hymni  Orphici  Curetum 
(XXXI),  ubi  qui  eos  qui  CKipTriiai  evÖTiXia  ßr^aia  ponunt,  dei  summi 
comites  et  custodes,  imitatur  haud  forte  ßouxöXov  se  ipse  appellat.  neque 
uero  certum  munerum  ordinem  efficies:  nam  archibucolum  saepius  in 
lapidibus  praesertim  Romanis  summum  significare  sacerdotem  sentio  nee 
ueri   est   dissimile    ßouxöXov,   qui    hymnum    Orphicum    recitat    primum, 

13  ujLiviuböv  fuisse  et  ujuvobibdcKaXov  uel  certe  carminum  recitatorem, 
siquidem  unum  pro  omnibus  uersus  pios  elocutum  esse  luculentissime 
docet  hymni  XXXIV  u.  10: 

kXuGi  ^eu  ei»xo|Lievou  Xaujv  ÜTiep  euqppovi  0u|lhju. 
olim  iam  Xaoi  uocabantur  non  modo  qui  in  contionem  (cKKXriciav)  ^  et 
qui  in  theatrum  Bacchi  Atheniense  ad  fabulas  spectandas  conuenerant", 
sed  etiam  qui  choris  mysticis  bacchantes  deum  celebrabant^  praeterea 
ludaeos  in  ueteris  testamenti  uersione  graeca  haud  raro  appellari  Xaouc 
ita  ut  opponantur  hominibus  ethnicis  nee  aliter  in  nouo  testamento 
Christianos  notum  est.  iam  uero  si  in  sodaliciis  Orphicis  Xaüuv  uTiep 
exclusis  omnibus  ßeßrjXoic  unum  quendam  e  piorum  grege  electum 
preces  effari  apparet,  ipse  sentis  quomodo  huiusce  uoculae  notio  propa- 
gata  Sit,  ut  tandem  fere  idem  insit  quod  nostrates  usque  ad  hunc  diem 
dicunt  ^laien.  iam  tunc  in  Orphicorum  sacello  XaOuv  ürrep  preces  ac 
uota  misit  ad  numina  diuina  Bacchi  ßouxöXoc 

II 
DE  HYMNORUM  ORPHICORUM  FORMA  ORDINE  ORIGINE 

14  Satis  superque  dictum  est  de  bubulcis.  attamen  ut  de  hymnorum 
et  indole  et  origine  eo  clarius  edoceamur,  acrius  inquirendum  est  in 
totius  libelli  formam  et  compositionem.  primo  enim  obtutu  elucet  non 
modo  in  exordio  uniuscuiusque  TeXeTfjc  -  nam  leXeiai  rrpöc  Moucaiov 
appellantur  hymni  in  nonnullis  codicibus  -  suffimenta  superadscribi 
quae  re  uera  a  precantibus  obferantur,  sed  etiam  in  fine  deorum  nu- 
mina ut  ueniant  sacrisque  mystarum  intersint  formulis  certis  implo- 
rari  item  atque  in  hymnis  magicis*  quos  adhibitos  esse  in  usu  reli- 
gioso  uel  superstitioso  nemo  negabit.  ut  de  una  clausula  soUemni 
pauca   dicam:    petunt  saepissime    ut  numen   sibi    occurrat    eudvinrov  l 

^  Aristoph.  eq.  163.        *  Aristoph.  ran.  676.        '  ibid.  219. 
*  uide  clausulas  eorum  hymnorum  quos  Abelius  adnexuit  Orphicorum  edi- 
tioni  et  quos  Carolus  Wessely  praemisit  papyris  Parisinis  et  Britannicis. 
'  uelut  h.  II  5,  III  13,  XXXI  7  et  saepissime. 


De  hymnis  Orphicis  yg 

adpono  lapidis  uerba  graeca:  TToXuvikti  Mocxiiuvoc  0iXd5ou  Tuvf]  Mrixpi 
Geoiv  euavrriTUj  iaipeivr)  e\)xr\y\  et  hymni  magici  uersus  apud  Hippo- 
lytum  IV  35  p.  102  (ed.  Duncker.-Schneidewin.)  seruatos: 

fopTÜJ  Kai  Mopiuuj  Ktti  Mrivri  TToiKiXöiuopcpe  ^ 

eXOoic  eudvTTiToc  ecp'  fmeiepria  OuriXaTc, 
et  papyri  Lugdunensis^:  kqi  o\j  Kaxicxucei  ixe  ctTraca  CtuH*  kivouju€vti, 
ouK  dvTiTd£€Tai  jLioi  TTdv  7TveO)ua,  ou  baiiuöviov,  ou  cuvdvTTijLia  oiiöe 
ctXXo  Ti  Tüuv  Ka0'  "Aibou  irovripujv.  quibus  comparanda  est  Hesychii 
nota  I  p.  209:  dvTaia.  evavTia,  iKecioc  AicxuXoc  CeiueXr).  crunaivei  15 
he  Ktti  öaijuövia^.  Kai  Tf|v  'GKdiiiv  be  dviaiav  Xetouciv  dirö  xoö  eiri- 
7T€^7T€iv  auid^.  ccce  quantam  ritus  et  religionis  antiquitatem  redolet 
Hymnus  Orph.  XLI  'Aviaiac,  quam  imprecantur  ^XGeiv  eudviTiiov  eix' 
euieptu   ceo  |hucti;i". 

neque  uero  solum  sie  parum  definite  numina  diuina  sibi  benigna 
appropinquare  cupiunt,  sed  etiam  ad  singulos  deos  singulas  emittunt 
preces  qua  quemque  maxime  pollere  putant  potentia.  sanitatem  petunt, 
uitam  iucundam  et  quietam,  diuitias,  bonam  messem,  faustum  nauium 
cursum';  quin  etiam  lujfiv  öcinv  uel  dTaGnv  bidvoiav  (cf.  LXI  10  sq.) 
quam  maxime  desiderant.  quid  quod  in  primo  omnium  hymno  Hecatae 
€iX€iOuia  supplicant  pro  fausta  progenie  (u.  13): 

bibou  be  Yovdc  dirapujToc  eoOca  Kai  cwV  —  — 
et  in  ultimo  omnium  Morti  ipsi  pro  felici  uitae  fine  (u.  10  sqq.): 
^aKpoici  xpovoic  lwx]c  ce  neXaleiv 
aiToöiLiai,  Oucirici  Kai  euxujXaic  Xixaveuuiv, 
ibc  av  Ir)  T€pac  kGXöv  ^v  dvGpüuTroici  tö  ttiP^c. 

*  apud  Foucartum,  des  associations  religieuses  chez  les  Grecs  p.  199,  no.  14 
(^cprm.  dpx-  no.  2589). 

'  traditur  kqI  TroXO|Liop(p€.  emendauit  Wilamowitzius  in  indice  lect.  Gott.  aest. 
1889  p.  29. 

'  in  mea  papyri  editione,  quae  addita  est  libro  Abraxas,  Studien  zur  reli- 
gionsgeschichte  des  spätem  altertums,  p.  196,  19  sqq. 

*  a-rracbpaH  traditur.    emendaui.  ^  5a{|Liova  codd.  correxit  Lobeckius. 

*  cf.  Etymologicum  magnum  p.  111,  49:  dvTaia  Kai  i\  'GKarri  d-meeTiKOK:. 
AioT€V€iavöc,  iKkioc.  -  dvTair]  öai|uujv  et  alias  occurrit:  schol.  ad  Apoll.  Rhod. 
III  861. 

'  cf.  hymn.  LXXI  MeiXivör^c: 

u.  6:    11   BvriTOuc  |aa(v€i  qpavrdciLiaav  fiepioiciv 


u.  9:    dvraiaic  ^cpöboici  Kaxd  Zoqpoeiöda  vOKxa. 
"  antiquitus  mystae  se  a  deis  suis  in  procellis  maritimis  seruari  credebant, 
imprimis  magnorum  Samothraces  deorum  ministri.    Aristoph.  pac.  u.  278.    cf. 
Usenerum  in  mus.  rhen.  XXIII  329.    (hymn.  Orph.  LXXV  5,  Palaemonis:  cüj^eiv 
^lJCTac  Kaxd  xe  xG<^va  xal  xaxd  irövxov). 


80  De  hymnis  Orphicis 

nonne  iam  suspicaris  omnia  carmina  ex  ordine  quodam  collocata  esse? 
itaque  ut  imprecationum  seriem  perscrutari  exordiamur,  primum  summis 
laudibus  tollunt  Hecatam  quam  uocare  licet  ^cosmicam',  omnium  reginam, 
eodem  plane  modo,  quo  iam  eadem  dea  celebratur  in  interpolata  qui- 
dem  sed  satis  antiqua  theogoniae  Hesiodiae  parte  \  qui  uersus  minime 
16  sunt  separandi  a  prooemio  quod  uocatur  euxn  Trpoc  MoucaTov:  iam  huic 
ipsi  subiungitur  summae  deae  adoratio.  primo  autem  carmine  implo- 
ratur  'Gkoitti  TTpoeupaia  €iXeieuia.  quid?  siquidem  notum  est  eiusdem 
simulacra  saepe  posita  esse  in  portis  et  in  templorum  uestibulis',  nonne 
et  horum  mysteriorum  sacellum  mystas  intrantes  primum  quidem  öedv 
KXrjboOxov  (u.  5)  contemplatos  uel  certe  ueneratos  esse  pones?  tum 
legitur  NuKTÖc,  omnium  matris,  gloria,  qua  par  erat  inaugurari  vuKTiq)afi 
öpTia  (h.  LIV  10).  iam  uero  deorum  quorum  secuntur  laudes  ordinem 
adscribere  liceat  ita: 

III  ^  NuH  IV  Oupavöc 

V  Alerip 

VI  TTpuiTÖTOvoc 

tboTevric  (u.  2) 

VII  "AcTpa  VIII  "HXioc  IX  CeXnvri 

X  OOcic  XI  TTäv 

XII  ^HpaKXnc 

(xpövou  TTttirip  u.  3) 

XIII  Kpövoc  XIV  'Pia 

XV    Zeuc  XVI  "Hpa 

XVII  noceibiuv 

XVIII  nXouTUJV 

quid  igitur?  hie  in  libelli  exordiis  principia  quaedam  theogonica  cumu- 

lata  esse  et  inde  ab  h.  XIII -XVIII  deorum  genera  certo  ordine  laudari 

^  u.  413-449.  -  u.  413  sq.: 

ILioipav  äx^iv  yair]c  t€  Kai  arpuT^TOio  eaXdccric 

r\b^  Kai  dcT€pöevTOc  du   oöpavoO  ^|Li|Liope  Ti|uf|c 

hymn.  Orph.  I  2: 

oöpaviTiv  xöoviriv  xe  Kai  6ivaXiT]v 
cf.  de  '€KdTri  ^TKocjuitu  fragm.  Orph.  201  (Abel). 

^  saepe  culta  est  Hecata  quippe  quae  portas  custodiret  cf.  Prelleri-Roberti 
mythol.  graec.  p.  322.  Hesych.  s.u.  irpoTruXaia.  Ilithyiam  constitutam  esse  Argis 
in  porta  tradit  Pausan.  II  18,  3,  eiusdem  sacellum  fuisse  Hermionae  in  ipsa  porta 
quod  nemini  licuit  intueri  nisi  sacerdotibus  II  35.  Olympiae  adorabatur  ut  quae 
aluisset  Sosipolim  daemonem  in  illius  templi  uestibulo  Pausan.  IV  20,  2.  cf. 
hymn.  u.  14:  del  cuixeipa  dirdvTujv.   cf.  Roscheri  lexic.  mythol.  I  p.  1220,  1895,2906. 

*  quamquam  TTpoeupaiac  hymnum  primum  esse  censeo,  Noctis  secundum  etc., 
tarnen  editionis  Abelianae  numeros  hie  mutare  nolui.  j'GKdTri  xaiv  ßaciXeiujv 
TTpöboiuoc  |U€\depujv  Aesch.  frg.  388  N  *  est  irpoGupaia.I 


De  hymnis  Orphicis  gj 

nemo,  ut  puto,  non  uidit.^  uerum  enim  uero  certa  subest  theogonia. 
noctem  et  caelum  iam  ueteres  theologos  Orphicos  omnibus  aliis  prae- 
posuisse  quin  doceat  Aristoteles  metaphys.  p.  1091  b*  nemo  sanus  dubitat: 
apxeiv  (paciv  .  .  .  vuKxa  Kai  oijpavöv.^  atque  si  quidem  aiGrip  in  pla- 
citis  orphicis  theogonicis  nocti  aut  chao  adponitur'^,  hie  quod  noctem 
et  caelum  sequitur  nil  mirum.  quomodo  ouum  et  ex  ouo  TTpuüxcTovoc, 
qui  dicitur,  u.  2  uJOTevr|c,  uel  'HpiKa-rraToc  (u.  4)  uel  <^ävr]c  (u.  8)  orti 
sint  satis  notum  est.  nee  quisquam  offendet  in  septem  mundi  rectori- 
bus  (^TTxacpaeic  Ituvac  ecpopou^evoi)*  una  cum  Sole  et  Luna^  celebratis. 
secuntur  <1>ucic  et  TTäv,  qui  qua  ratiocinatione  sint  coniuncti  iam  uidebis, 
si  TTäva  aWriTopiKÜuc  et  Stoicorum  more  omnium  quasi  regem,  cuius 
membra  sint  mundi  partes,  et  Ouciv  Tra|Li|Lir|T6ipav  Gedv  uocari  obser- 
uaueris''  nee  non  reete  legeris  uersum  h.  X  20  de  Oucei  dictum: 

7TavT0T€xvec,  TrXdcxeipa,  TroXuKxixe,  TTdvxia  baT)Liov. 
non   minus   pellueet  hoc   inesse   in  iravxoia  quod  traditur^   quam  hanc 
femininam  formam  effietam  esse,  ut  TTavi  masculino,  uniuersi  deo,  quasi 
uxor   adnecteretur.^      quae    numina    etiam    in    poesi    theogonica  locum 
habuisse  ut  probem  adnoto  Damaseii  uerba:  xauxric  öe  xfic  xpixric  xpid- 
boc  xov  xpixov  Geöv  Kai  r\be  f]  öeoXoTia  TTpujxÖTOvov  dvujLivei  Kai  Aia 
KttXei  irdvTUJV   biaxdKXOpa  Kai  öXou  xoO  köcjuovj   biö  Kai  TTdva  KaXeT-  18 
cöai^    sequitur  Hercules  qui  hie  xpovou  Tiaxrip  dicitur  (u.  3),  sed  eadem 
ratione  qua  in  theogonia  Hieronymiana  xpovoc  simul  appellatur  Hercules, 
ipse  est  xpovoc,  si  quidem  praeter  alios  hos  respexeris  uersus  (11  sqq.): 
öc  Txepi  Kpdxi  qpopeic  r\6j  Kai  vuKxa  jueXaivav 
biubeK'  dir'  dvxoXiiüv  dxpi  buc|aujv  dOXa  biepTiiuv 
dOdvaxoc,  TToXuTreipoc,  dTreipixoc,  dcxuqpeXiKxoc. 
dein   inde   a  Kpövuj,   qui   et   ipse   ut   xpo^o^   deus  explicatur,  deorum 
genera  et  caeli  maris  orei  dei  fraterni  subiunguntur  satis  noti. 


*  nee  latuit  Petersenum,  uirum  de  bis  hymnis  longe  optime  meritum,  Philo!. 
XXVII  (1868)  p.  384,  quem  mirum  quantum  neglexerunt  qui  post  eum  Orphica 
tractabant. 

'  caelum  post  noctem  ponitur  in  generibus  theogonicis  saepius,  fragm. 
Orph.  85  (Abel.),  aether  iuxta  caelum  apud  Proclum  in  Plat.  Tim.  II  95  E.  fragm. 
121.  122.  "  Kern  de  theogoniis  p.  4  sqq. 

*  cf.  fragm.  theogon.  Orph.  79-82  (Abel.) 
^  cf.  fragm.  theogon.  Orph.  127  (Abel.) 

«  TTäv  et  iiinTrip  e€U)v  iam  prioribus  temporibus  alio  modo  coniungebantur 
cf.  Usenerum,  der  heilige  Theodosius,  p.  185.  '  coniecere  uö-rvia. 

*  cf.  schol.  ad  Demosth.  orat.  XXI  9  ubi  traditur  ut  deae  nomen  TTdvTia,  sed 
peruerse  explicatur  ita  ut  idem  sit  at  TTavbia  (deriuandum  a  irdvTore  öieivai!). 

»  theogoniae  Orph.  fragm.  37  (Abel.),  de  Oucei  cf.  fragm.  83.  -  Häv  '- 
hymni  u.  12  uocatur  ä\r]ei]c  ZeOc  ö  Kepacxric. 

Albrechl  Dieterich:  Kleine  Schriften.  6 


m 


g2  De  hymnis  Orphicis 

non  puto  fore  qui  mihi  opponat  theogoniam  talem  qualis  in  hym- 
norum  ordine  uestigia  subesse  demonstraui  traditam  non  esse,  an 
nescis  quantam  deorum  generationum  uarietatem  Orphici  tradiderint? 
multarum  enim  habemus  theogoniarum  fragmenta  quae  inter  se  maxime 
differunt^  atque  hie  satis  erat  demonstrare  huius  principiorum  uel  deo- 
rum in  hymnis  ordinis  et  singula  membra  et  totum  conexum  originem 
carte  duxisse  ex  Orphei  quae  dicitur  theologia.  nee  quod  in  earminibus 
ipsis  interdum  numina  laudibus  ornantur,  quae  aliena  esse  uidentur  ab 
ordine  eonstituto  -  uelut  si  Saturnus  uoeatur  (u.  6)  ßXdcxrma  ^n^  kcxi 
oupavoö  uel  si  omnium  deorum  patres  uel  matres  fuisse  dieuntur  haud 
pauea  numina  (Physis,  Saturnus,  Rhea  ete.),  uexat  nostram  argumen- 
tationem:  nam  probe  seimus  quantopere  e  more  fuerit  istorum  poetarum 
eum  quem  modo  laudent  deum  omnibus  extollere  epithetis  et  unum- 
quemque  reddere  uniuersi  deum.  pro  eerto  igitur  pronuntiamus:  in  eo 
saero  sodalieio  Orphieo,  ubi  illa  eantabant,  utebantur  OeoTOviot  quadam 
ut  lepa  ßißXtu,  ad  euius  normam  ordinem  quidem  disponebant  earminum, 
etsi  uersus  ipsos  plerosque  aliunde  iam  eos  aeeepisse  sumas. 
19        iam  transeundum  est  ad  hymnos  sequentes: 

XIX  Kepauvöc^  XX  Zeuc  'AcTpaireOc  XXI  Necpri 

XXII  edXXacca  XXIII  Nnpeijc  XXIV  Nripri"iö6c  XXV  npiuteuc 

XXVI  rn  XXVII  Mninp  eeiuv. 

(yaiav  ^x^i^  u.  6) 
apparet  earmina  eadem  ratione  eonstituta  esse  qua  iam  indicantur   in 
prooemio  (u.  32  sqq.)  bai)Liov€c  oiipdvioi,  depioi,  evubpioi,   x^övioi  ita  ut 
qui  louis  regno  adseribuntur  primo  loeo  altero  qui  Neptuni,  tertio  qui 
in  terra  ipsa  habitant  deineeps  eonstituti  sint.     seeuntur  uero: 
XXVIII  '€pMf|c  XXIX  OepcecpövTi  XXX  Aiovucoc^ 
|Lir)Trip  €ußou\f)oc  EOßouXeüc 

pergunt  enim  deorum  genera  persequi  ae  primum  quidem  adseruntur 
ii  qui  uTTOxOövioi  Plutonis  regionum  ineolae  sunt  et  qui  simul  summi 
mysteriorum  dei  sunt,     aecedunt  alii: 

XXXI  Koupniec  XXXII  ^AGtivd  XXXIII  Nikt] 

*  iam  constat  post  Gruppii  {die  rhapsodische  theogonie  und  ihre  bedeutung 
innerhalb  der  orphischen  literatur  in  suppl.  XVII  ann.  philol.)  et  Susemihlii 
(dissertatio  de  theogoniae  Orph.  forma  antiquissima,  Gryphiae  1890)  curas.  nunc 
cf.  libri  mei  Abraxas  p.  126  sqq. 

*  Kepauvoö  inscribitur  Carmen  in  codd.  etsi  Zeüc  ipse  aduocatur,  non  licet 
cognomen  dei  haud  dubie  antiquissimum  mutare.  Kepauvöc  et  hominum  nomen 
erat,  filii  Clearchi  Flut.  Alex.  II  5,  Ptolemaei  cognomen  Paus.  X  19,  7.  [u.  H. 
Usener,  Götternamen  p.  286.]  —  cf.  apud  Romanos  luppiter  Fulgur. 

'  et  hie  subesse  doctrinam  de  Baccho  nato  Orphicam  patefacit  hymn.  XXXVI 6: 
—  Aiöc  Kai  Oepceqpoveiac  dppriToici  y^^Moic  TeKvtüGeic  (Aiovuroc).  cf.  h.  XXIX  7. 
spectant  ad  Bacchum  serpentiformem  Proserpinam  adeuntem. 


De  hymnis  Orphicis  33 

XXXIV  'AttöWiuv  XXXV  ArjTiu  XXXVI  "Apxemc 
cur  hie  collocati   sint   de  Curetibus   uersus   bene  docet  Proclus  qui  in 
theogonia   illa  Orphica   quam  legit  iuniorum  deorum  primam  Mineruam 
fuisse  tradere  uidetur\  atque  idem  addit^:  Kai  Tap  01  TTpiuxicToi  Kou- 
pfjTec  idTC  aXXa  irj  idHei  xfic  'A0r|väc  dveiviai  ktX.  et  alio  loco^:  rriv 
ouv    €upu0|uov   xopeictv*   bid  Tfjc  Kivriceujc  \j7T0(paiv€i  (fi  'AGrivä)  fic  Kai 
laexebujKe   irpiuTTi  )nev  irj  KoupriiiKrj  idHei,  beuiepiuc  be  Kai  toTc  dWoic 
9eoic'   toi  Tap  ri  0eöc  Kaxd  lauxriv  Tf)v  buva|uiv,  f]fe|Liujv  tOjv  Kou- 
pr|TUJV,   ujc  q)Ticiv  'OpcpeOc.     ibidem  nonnulla  legis  de  Diana  fragm. 
137  sqq.     sex   summi  Olympii  dei    hoc   modo   subiuncti  sunt,    adsertis  20 
denique  Titanibus  qui  uocantur  njueiepuuv  irpoTÖvoi  uaTepiuv  (u.  2)  et  u.4: 
dpxai  Kttl  TTriTtti  irdviiuv  ÖvrjTiJV  7ro\u|uöx0ujv, 
u.  6:    eE  i)|H€UJV  Tap  Trdca  rreXei  Teveri  Kaxd  köc|uov 

deductae  sunt  genealogiae  usque  ad  ipsorum  hominum  originem.  quae 
nunc  secuntur  dedicata  sunt  honoribus  eorum  qui  mysteriorum  horum 
Bacchicorum  et  Orphicorum  proprii  sunt  praesides  et  fautores  qui  pro- 
oemio  indicantur  BdKxou  cuveuacifipec  dTraviec  (u.  34): 

XXXVIII  Koupfiiec 

XXXIX  Kopußac  XL  Ar||ur|TTip  'GXeucivia 
XLI  MriTTip  'Aviaia  XLII  Micn 
€v)ßouXov  T^Haca  u.  8 

XLIII  'ßpai  XLIV  CeiueXn 

}Jir\rr]p  Aiovucou  u.  3 
XLV  Aiövvjcoc  Baccapeuc  rpiexripiKoc    XLVI  Aikvittic 

XLVII  TTepiKiövioc 
XLVIII  Caßdrioc   XLIX  "Itttto 
BdKXOV  jariPMJ  BdKXOu 

^vKaTapdv|;acu.2sq.         xpoqpöc  u.  1. 
L  Aucioc  Arivaioc    LI  NOiucpai 

BdKxoio  Tpocpoi  u,  3 
LH  Tpi€TTipiKÖc    LIII  'A)H(pi6Tr|C    LIV  CeiXnvöc  Cdiupoc  BdKxai 
LV  'AcppobiTTi         LVl  "Abuuvic         LVII  '€p)ufic  xöövioc 
C€^vf\  BdKxoio  €i)ßou\eO  u.  3  ßoKxexöpoio  Aiovücou 

■rrdpebpe  u.  7  Kuirpiöoc  TXuK€pöv  Y^veGXov  Kai  'Acppo- 

edXoc  u.  8  öiTTic  u.  3  sq. 

iterum  praedicantur  Curetes,  qui  tamen  hie  ev  Ca)uo0paKri  dvaKTCC  di- 
cuntur;  saepius  enim  Curetes  et  Corybantes  (u.  20  KoupnTec  KopußavTec) 

*  fragm.  131,  132.    Procl.  in  Plat.  Tim.  p.  52  B,  51  D. 

*  fragm.  133.    Procl.  ad  Polit.  p.  387. 

»  fragm.  132.    Procl.  ad  Cratyl.  p.  118. 

*  lu.  E.  Maaß,  Orpheus  p.  62  sqq.l 


84  De  hymnis  Orphicis 

et  Cabiri  plane  commiscentur^;  praeterea  hie  primi  sacrorum  magistri 
et  aduectores  fuisse  putantur,  u.  6: 

uiLieTc  Kai  leXerriv  TipiuToi  ^epÖTiecciv  eGecGe. 

Kopußac  eos  excipit  ac  si  legeris  u.  7  (h.  XXXIX): 

ArioOc  öc  Tvuj|Liriciv  iyr\\\alac  be^xac  otYvöv 
GripoTUTTOV  6€juevoc  )uopqpr]V  bvocpepoTo  bpdKovTOC, 

21  iam  intellegis  cur  adiungatur  Cereri  Eleusiniae  Bpo)Liioio  cuvecxiiu  (u.  10), 
cui  est  simillima  |ur|Tr|p  'Avxaia  (XLI)^,  GußouXov  reHaca  0eöv  (u.  8); 
de  Micri  nil  certi  affirmare  ausim:  est  simul  apcriv  Kai  öfiXuc,  simul 
GeciLioqpöpoc  Aiövucoc  (u.  1),  Avjceioc  "laKXOC  (u.  4)  et  Micr|  ävaccal 
Horae  autem  quantum  ualuerint  in  cultu  Bacchico  ostendit  non  solum 
uersus  Simonideus  (fr.  148  Bergk.),  ubi  uocantur  Aiovucidbec*,  et 
Aiovucou  öpGoö  ara  Atheniensis  in  Horarum  sacro  posita  (Philochor. 
apud  Athen.  II  p.  38  c),  sed  etiam  multorum  monumentorum  imagines, 
ubi  dei  thiaso  intersunt.^  nee  forte  factum  est,  ut  primum  deae  uernae 
celebrarentur,  dein  ipiexripiKÖc  deus,  tum  Aikvittic,  postea  demum  Aucioc 
ArivaToc  etc.  de  reliquis  uix  quidquam  addendum  est.^  Bacchi  enim 
matribus  nutricibus  comitibus  choreutis  percensitis  iam  adnectuntur 
Venus,  summa  eius  Trdpebpoc,  et  Adonis,  deae  filius  et  ipse  GußouXeuc, 
et  Mercurius  chthonius,  Bacchi  et  Veneris  progenies.  disponamus  igitur 
nunc  reliquorum  carminum  ordinem: 

*  cf.  Lobeckium  in  Aglaoph.  p.  1111  sqq. 
2  et  de  Antaea  ipsa  dicitur,  u.  3  sqq.: 

r\  uoT€  luacTeuouca  TroXuirXdYKTUJ  ^v  ävü] 

vrjCTeiTiv  Kar^Traucac  '€\€ucivoc  YudXoiciv  ktX. 
'  Misam  re  uera  in  horum  numinum  societatem  referendam  esse  docet 
Harpocratio  s.  u.  AucauXric,  qui  et  in  rebus  Eleusiniis  locum  habuit  et  in  scriptis 
Orphicis  cf.  fragm.  Orph.  215  et  217  (Abel.),  et  hymni  Misae  antecedentis  uersum 
6,  ubi  praeclara  Hermanni  emendatione  e  bucaYvoc  recuparatus  est  AucauXric. 
Misa  uero  maxime  in  Aegypto  honorata  esse  uidetur,  u.  8: 

r\  Kai  iTupoq)öpoic  Trebioic  ^iraYäXXeai  ÖYVotc 

CUV  er)  |ur|Tpi  eea  lueXavriqpopuj  "Icibi  ccjuvr), 

AiYUTTTOU  Trapct  xeO^ci  cuv  djuqpmöXoici  riGrivaic. 
nunc  scimus  Alexandriae  <von  Dieterich  berichtigt  unten  VI  zu  Anfang)  fuisse 
KdGobov  Tf\c  MicTic,  Herodas  mimiamb.  I  56  (u.  mus.  rhen.  1891  p.  635). 

*  [et  fragmentum  Pindari  dithyrambicum  <75,  14  Schröder.  Aus  H.  Useners 
Handexemplar>.I 

^  plura  adlata  sunt  a  Rappio  in  Roscheri  lex.  myth.  I  p.  2719  sq. 

®  Sabazium  et  Hippam  non  temere  conligatos  esse  simili  modo  ac  Kopußavxa 
et  Cererem  iam  uides  in  hymno  Sabazii  (qui  Bacchi  pater  est,  u.  2  sq.),  u.  4. 
de  Hippa  conferas  fragm.  Orph.  207  (Abel.)  et  Luebberti  commentariolum  de 
Pindaro  theologiae  Orphicae  censore  indici  lect.  Bonnensi  ann.  87/88  hib.  prae- 
missum  p.  XX. 


De  hymnis  Orphicis  gg 

LVIIl  "Gpujc    LIX  Moipai    LX  Xdpixec 

LXI  Neinecic    LXII  Aikti    LXIII  AiKaiocuvn    LXIV  Nöjaoc 

LXV  "Apnc    LXVI  "HcpaicToc    LXVII  'AckXtittiöc    LXVIII    YTieia     22 

LXIX  'Gpivvuec    LXX  Guiuevibec    LXXI  MeiXivön 

LXXII  Tuxn    LXXIII  AaiiLiujv 

LXXIV  AeuKoeea    LXXV  HaXaiiLiiuv 

LXXVI  MoOcai    LXXVII  Myt^ocuvti 

LXXVIII    Hiüc 

LXXIX     0e)Liic 

LXXX  Bopeac    LXXXI  Zecpupoc    LXXXII  Nötoc^ 

LXXXIII  ^QKeavöc 

LXXXIV    ecTia 

LXXXV  "Yttvoc  LXXXVI  "Oveipoc  LXXXVII  edvatoc 
etsi  extricari  possit  cur  Amoris  post  Mercurium  gloria  instituatur,  quo- 
niam  et  in  monumentis  hi  dei  una  effinguntur^  et  e.  c.  apud  Ciceronem 
(de  natura  deorum  XXIII  6)  ex  antiquissimo  mytho  Amor  Mercurii  et 
Dianae  chthoniae  filius  dicitur,  tarnen  hie  res  est  de  Amore  cosmogo- 
nico  qui  TrdvTuuv  xXriTbac  e'xei,  u.  4  sq. : 

aiOepoc  oupaviou,  ttövtou,  xöovöc  r\b'  öca  OvrixoTc 
7TV€U|LiaTa  TTavTOTeveeXa  Ged^  ßöcKei  x^oÖKapTroc 
r\h'  öca  Tdpxapoc  eupuc  exei,  ttövtoc  ö'  dXiöouTTOc, 
ILioOvoc  xdp  TOUTiuv  TTdvTUJV  oiTiKa  Kpaiuveic. 
eundem  Amorem  iam  uetustissima  aetate  Lycomidas  Atticos  laudauisse 
hymnis   quos   composuissent   Orpheus    et  Pamphos,   tradidit  Pausanias 
IIX  27,  3):  eundem  nouissima  aetate  Lucianus  (am.  cap.  31)  praedicat 
lepoqpdvTTiv  luucxnpiujv.    nee  uero  latet  quo  uinculo  coniunctus  ille  fuerit 
cum  Gratiis  -   saepe  Parcis  simillimis  -  iam  in  antiquissima  religione, 
uelut   in  Elide  Gratiarum   et  Amoris   statuae   in  eadem  basi  constitutae 
erant  (Pausan.  VII  24,  6).     quod   uero  Moeris   subiunctae  sunt  Nemesis 
lustitia   Lex,   nullo   eget   commentario.     inde   ab  Amore  nouam  aliorum  23 
numinum  seriem  incipere  suspiceris  notionis  cuiusdam  uniuersaüs  et  a 
sensibus  quasi  abductae.     quid  uero,  quaeris,  hie  Mars  et  Volcanus  et 
Aesculapius?   sed   a   primo   nil  aliud  petunt  nisi  pacem  (cf.  imprimis  h. 

^  bene  iudicauit  Gruppius,  die  rhapsodische  theogonie,  p.  731  adn.  1,  hymni 
austri  initium  intercisum  esse  nee  non  intellexit  haud  sine  bona  causa  Euri  lau- 
dem  esse  omissam.  cf.  Hesiod.  theog.  u.  378  et  Rappium  in  Roscheri  lex.  I 
p.  1255. 

'  in  herma,  apud  Gerhardum,  antike  bildwerke,  tab.  41,  inter  Samothraces 
deos  Mercurio  Amor  adpositus  est. 

'  eed  quod  traditur  restituendum  est.  accepit  Abelius  Wielii  coniecturam 
peruersam  'P^a;  sed  Proserpina  uel  Ceres  dicitur. 


35  De  hymnis  Orphicis 

LXV  6  sqq.),  ab  altero  qui  Travia  oikov  e'xei,  Tiacav  ttöXiv,  e'Gvea  irdvia 
(LXVI  8)  ut  hominum  opera  laeta  bene  adiuuet  (u.  11),  a  tertio  item 
atque  ab  Hygia  ut  sanitatem  demittat  morbosque  malos  depellat.  iam 
omnia  clarescunt;  nam  MeiXivörj  quidquid  de  ea  iudicandum  est,  vujucpri 
xeovia  esse  dicitur  (u.  1)  neque  Furiis  est  dissimilis.  itaque  se  ex- 
cipiunt  qui  uitam  regunt,  qui  iustas  constituunt  leges,  qui  malos  ulcis- 
cuntur,  praemio  donantur  bonos  —  qui  pacem  artes  sanitatem,  res 
maritimas,  res  musicas  curant'  -  tandem  quae  epTwv  f^yriTeipa,  ßiou 
TTpÖTToXoc  6vriToici,  quae  iräciv  epfaciiuov  ßioTov  0vr|ToTci  TtopiZ^ei  (LXXVIII 
6  et  12),  ut  juucTaic  lepöv  cpdoc  auHoi  (u.  13),  imploratur  ipsa  diua  Au- 
rora quasi  ujbrj  dujOivf]  quales  postea  in  sodaliciis  christianis  uetustissimis 
cantari  solebant.^  multo  luculentius  est  Themin  hie  intellegendam  esse 
ut  TctiTic  deam  (u.  2)^  Aquilonem  Zephyrum  Austrum  aeris  deos, 
Oceanum  aquae^,  Vestam  ignis^  elementa  enim  quattuor  adorantur 
sicut  in  prooemio  iam  legebatur  (u.  39):  köc^ou  le  ^epri  xeipa- 
24  Kiovoc  aubu).  denique  quod  in  totius  libelli  fine*'  fratres  illi  "Yttvoc 
"Oveipoc  Gdvaioc  locum  habent  nemo  mirabitur. 

nunc  hymnis  omnibus  percursis  fidentissime  confirmo:  conlecta  sunt 
carmina  certo  quodam  ordine,  ex  parte  quidem  ad  normam  theogoniae 
cuiusdam  Orphicae';  oriunda  enim  sunt  ex  ipso  mystarum  usu,  qui  in 
sacello  suo  quaecunque  animis  gestiebant  hisqe  carminibus  recitatis  a 
deis  expetebant,  euruxwc  XP^  exaipe  superadscribitur  in  nonnullis  co- 

*  fortasse  collocati  erant  antea  hymni  ita  ut  h.  LXIX  -  LXXIII  Legis  hymnum 
LXIV  sequerentur,  deinde  proferrentur  singulae  rerum  humanarum  preces. 

*  horum  hymnorum  ordini  fortasse  ratio  subest  paullo  obscurior:  Athenis 
olim  vriqpdXia  (i.  e.  sacrificia  chthonia  qualia  propria  erant  mysteriis)  obferebantur 
Mnemosynae,  Musis,  Aurorae,  Soli,  Lunae,  Nymphis.  cf.  Polemonis  fragm. 
74  (Preller)  =  schol.  Soph.  Oed.  Col.  100.  Soli  et  Mnemosynae  -rrÖTrava  tri- 
buuntur  CIA  II  1  651.  hie  uero  Musae  Mnemosyna  Aurora  uersibus  deinceps 
sequentibus  celebrantur,  et  Aurorae  cum  uentis  fuisse  consuetudinem  constat 
(cf.  Rappium  in  Roscheri  lex.  I  1255  sq.),  uentis  uero  et  ipsis  Athenis  danda 
erant  sacrificia  chthonia  (cf.  Stengelium,  Herm.  XVI  346  sqq.) 

"  quae  oracula  docuit  Apollinem  et  Pythiam  sedem  priscis  temporibus  occu- 
pauit  (u.  3  et  6).    Terra  erat  ipsa. 

^  u.  4  sq.:  i^  ouirep  TrctvTec  uoraiuoi  kqI  Ttäca  edXacca 
Kai  xöövioi  yair]c  trriYÖppuTOi  iKiudbec  ÖTvai. 

*  u.  2:  11  iLi^cov  oTkov  exeic  irupöc  devdoio. 

*  quem  huc  transtulere  Martis  hymnum  ex  Homericis  ihde  ab  Hermanno 
sane  Orphicus  est,  sed  plane  alius  generis  et  certe  ab  hoc  collectionis  loco 
alienissimus. 

'  etsi  non  affirmo  in  singulis  ex  ea  quam  adumbrare  conatus  sum  ratioci- 
natione  sie  dispositos  esse  hymnos  nee  nego  hie  illic  nonnulla  perturbata  uel 
omissaesse,  tamen  certum  efficere  uoluisse  ordinem  compilatores  demonstrasse 
mihi  uideor.  quorum  rationes  quam  maxime  inquirere  magis  e  re  erat  quam 
si  quid  minus  processit  coniectamentis  indulgere. 


De  hymnis  Orphicis  gy 

dicibus,  quoniam  ut  fieri  solet  in  his  litteris  pseudepigraphis  libri  pro- 
oemium  ab  Orpheo  ad  Musaeum  datum  esse  prae  se  fert.  a  certi  thiasi 
Bacchici  Orphici  sodalibus  adhibebatur  libellus. 

qui  ubi  ortus  uel  potius  redactus  sit  si  quaeris,  ex  iis  quae  supra 
exposuimus  respondeo:  in  Äsiae  minoris  oris  maritimis  et  Aegypti 
prope  Alexandriam;  cui  opinioni  egregrie  fauet  quod  permulta  rei 
maritimae  numina  adorantur/  in  Aegypto  maxime  hanc  hymnorum 
mysticorum  poesin  excultam  et  propagatam  esse  patebit  fortasse  postea 
singulis  quibusdam  rebus  reputatis.^  apte  quadrat  quod  de  hymnorum 
aetate  iudicandum  est. 

quando  enim  conlecti  sint  non  opus  est  noua  quaestione.  iam 
sentimus,  etsi  non  demonstrassent  uiri  docti^  fieri  non  potuisse  ante  25 
Stoicorum  doctrinas  atque  allegorias  ut  hymni  sie  instituerentur.*  accedit 
quod  papyrorum  magicarum  auctores  Aegyptiaci  e  talibus  carminibus 
conlectis  sua  desumpsisse  constat',  unde  sequitur  ut  antea  constituta 
sint  hymnorum  uolumina.  postea  magis  magisque  dei  commiscentur 
et  imae  aetatis  numina  uelut  Serapis,  Osiris,  Isis,  Mithras,  lao,  Sabaoth 
etc.  saepissime  occurrunt  in  papyrorum  uersibus.  uerum  ille  libellus 
nescio  an  paucis  saeculis  ante  confectus  sit  i.  e.  inde  ab  anno  c.  200 
a  Chr.  usque  ad  ca.  Christum  natum.^   quae  cum  satis  probata  sint  iam 

*  cf.  quae  de  Nereidis  dicuntur,  h.  XXIV  10: 

0|Lieic  fäp  irpüJTai  TcXeTriv  dveöeiSaxe  C6|Livriv 
€Üi^pou  BdKXoio  Kai  äyv^c  TTepaqpoveiric 
KaXXiÖTTT)  cijv  |Lir|Tpi  Kai  'AttöWujvi  övokti 
(Calliopa  et  Apollo  Orphei  parentes  sunt!) 
'  e.  21,  adn.,  p.  2  et  adn.,  p.  9. 

''  Petersenus  haec  optime  explicauit  1.  c,  et  Kernius  1.  c.  qui  hymnos  uere 
stoicos  originitus  fuisse  putat  quamuis  peruersa  opinione  (quam  optime  profli- 
gauit  Gruppius,  die  rhapsodische  theogonie,  p.  728  sqq.),  tamen  bonus  est  testis 
quantum  in  illis  carminibus  ualeant  Stoicorum  placita. 

*  de  Stoicorum  doctrina  ad  posteriorum  temporum  religiones  propagata 
fusius  egi  in  libro  qui  inscribitur  Abraxas,  Studien  zur  religionsgeschichte  des 
spätem  altertums,  1891,  impr.  p.  83 sqq. 

^  inde  ab  anno  100  uel  150  p.  Chr.  cf.  quae  exposui  in  prolegomenis  papyri 
magicae  a  me  editae  in  suppl.  ann.  philol.  XVI  p.  779  <supra  p.  34>  sqq.  sed  paullo 
priore  aetate  quam  illic  uolui  similes  libros  iam  conscribi  coeptos  esse  conce- 
dendum  est. 

*  eo  magis  elucet  hanc  poesin  non  modo  traditam  sed  etiam  auctam  et 
mutatam  esse  si  reputaueris  sacrorum  illorum  socios  nobilissimos  et  eruditissimos 
fuisse  uiros,  ad  quos  ne  imperatores  quidem  non  dederunt  epistulas.  prooemio 
ipso  euincitur  aut  antea  hoc  in  uolumine  plures  conlectos  esse  hymnos  aut 
prooemium  ipsum  ex  simili  opere  praefixum  esse,  ibi  memorantur  quae  non 
hymnis  ipsis  celebrantur  numina:  "Hßri  (u.  13),  €uc6ßeia  (u.  14),  'eviauTÖc(u.  18), 
(Aiujvri,  u.  19),  Clbaioi  0eoi,  u.  22),  Hicric  (u.  25),  (06cno6ÖT€ipa,  u.  26),  ^AxXac 
(u.28),  Aiuüv  (u.  28),  CtuH  (u.  29),  Hpövoia  (u.30),  ('AöpdcTeia,  u.  36),  Bpovrai  (u.  39), 
Miiv  (U.40),  'Apxn  et  n^pac  (u.  42).    quorum  plurima  posterius  aeuum  sapiunt. 


88  De  hymnis  Orphicis 

sentis  cur  illi  homines  iterum  atque  iterum  orent  ac  rogitent,  ut  pax 
sibi  praebeatur^  nam  tum  cum  illis  post  Alexandrum  magnum  saeculis 
duces  ac  reges  bellicosissimi  orbem  terrarum  paene  quotannis  et  ferro 
et  igni  uexabant  et  deuastabant,  iam  pii  deorum  cultores  id  agere  coe- 
perunt  ne  huiusce  mundi  incolae  essent  sed  sperarent  fore  ut  uita 
aerumnosissima  pie  absoluta  patriae  cuiusdam  caelestis  fierent  ciues  a 
regnorum  corruentium  turbis  longe  remoti. 

III 

OBSERUATIONUM  SINGULARUM  DODECAS 

26  Hic  subiungere  liceat  paucissimis  uerbis  obseruationem  singularum 
dodecadem,  quibus  nonnulla  hymnorum  Orphicorum  uerba  tradita  aut 
defendantur  aut  si  dis  placeat  emendentur. 

1.  VIII  HAIOY,  u.  12  seruandum  est  qpuuccpöpoc,  aioXööiKre  -, 
damnandum  Hermann!  aioXöbeiKTe  et  Wielii  Abeliique  aioXöjLUKxe.  Aiktti 
nympha  est  a  qua  mons  Dictaeus  nomen  duxisse  dicitur  (Seru.  ad  Verg. 
Aen.  III  171).  cui  formae  adponenda  mascula  Aiktoc,  quo  nomine 
mons  Cretensis  utitur  apud  Aratum  in  Phaen.  u.  33.  Aiktuc  idem  nomen 
est  alius  suffixi  opera  formatum;  nomen  femininum  AiKxuvva.  quas 
formas  non  abiKTuov  sed  a  radice  biK(beiKvu)Lii)  lllustrare'  (cf.  GupuöiKTi, 
AaoöiKTi  etc.)  esse  deriuandas  me  edocuit  Usenerus.  quantam  igitur 
antiquitatem  sapit  epitheton  illud  sollemne!  statim  similis  sensus  nomen 
diuinum  uindicari  poterit.  h.  XXXVI  APTeMlAOC,  u.  3  scribendus  est: 
TTacicpdri,  babouxe,  0ed  AiKxuvva,  Xoxeir). 

Traciqparic  codd.  comparare  iuuat  uersus  ad  Lunam  emissos  magicos 
papyri  Parisinae  (apud  Carolum  Wessely  1.  c),  u.  2301: 

Ktti  Trap0€v'  eivobia  cu  Kai  TaupobpdKaiva  viJ|U(pr| 
iTTTTOC  KÖpri  bpaKttivd  Te  Mivuuiri  Kparair). 

ceteroquin  TTaci9dTi  uetustissimum  deae  Lucis  nomen  esse  notum  est 
(cf.  Pausan.  III  26).  et  Aiktou  et  TTacKpdric  nomina  ad  antiquitates  Cre- 
tenses  sunt  referenda!^ 


'  X30  XIV  13  XV  10, 11  XVII  10  XIX  22  XXIII  8  XXIX  18  XXXII  16  XXXVI 
15  XL  19  XLIII  9.  hymno  LXV  Marti  supplicant,  ut  terris  pacatis  se  uertat  eic 
epYtt  Tct  Ar]oOc. 

*  TTepcia  Hecata  dicitur  in  Orph.  h.  1 4,  de  cuius  nominis  origine  cf.  Usenerum 
mus.  rhen.  XXIII  p.  352.  pap.  Par.  2271  Luna  uocatur  TTepcia,  No|nia  (?  voiitea 
traditur.  Noiaiac  pater  erat  Auxdujv  Pausan.  X 31,  10),  'AXKuövri,  ibid.  278P 
Hecata:  'AXxuia  Oed,  NcKuia,  TTepcia.  scis  quid  de  Perseo  et  Dictyo  iudicandum 
Sit.    hic  uero  haec  omnia  nomina  sacra  antiquissima  tractare  non  licet. 


De  hymnis  Orphicis  89 

2.  XII  HPAKAGOYC,  u.  10  traditur:  27 

TTpujTOTÖvoic  CTpavpac  ßoXiciv  |LieTaXu)vu)Li€  vaiuuv. 
ßoXiciv  pro  (poXiciv  iam  dudum  emendauit  Lennepius.  Pro  vaiujv  pro- 
posuere  scribenda  baT|Liov,  TTaiiuv,  alia.  nescio  an  Naiujv  tenendum  sit. 
Hercules  item  atque  luppiter  ipse  celebratur,  qui  anni  tempora  dirigat 
(e.  c.  u.  3  xpovou  Trarep),  qui  mittat  ttpujtgtövouc  ßoXibac.  nonne  Zeuc 
uocatur  Ndioc?  (cf.  Prelleri  et  Roberti  mythol.  graec.  p.  123,  adn.  3). 
nuper  etiam  Athenis  olim  cultum  esse  louem  Ndiov  lapide  a  LoUingio 
publicato  edocti  sumus  (dpxaioXoTiKOV  beXTiov,  Sept.  1890).  an  dubitas 
formam  Naiujv  idem  significare  posse  de  loue  uel  Hercule,  quoniam  et 
eum  ipsum  fontium  deum  fuisse  non  latet  (cf.  Prelleri  mythol.  graec. 
II  274  sq.).  hominis  nomen  Naiujv  inuenitur  CIGr  II  3064,  31.  fortasse 
alia  prodibunt  testimonia,  ut  minus  dubitanter  de  hoc  loco  agere  liceat. 
discendum  tamen  quantopere  hie  abstinendum  sit  temere  mutando. 

3.  XXXII  A0HNAC,  u.  4  traditur: 

Y\  bioiT€ic  öx6u)V  uv|iTixeac  dKpujpeiac. 
pessime  Abelius  Karexeic  post  Wielium  accepit.    (Hermannus  nie  bidic- 
ceic  uipauxevac   dKpujpeiac),   sed   e   AIOIFGIC  eliciendum  est  AI6TT6IC 
=  bieireic. 

4.  XXXVIII  KOYPHTON,  u.  21  uocantur  Curetes  -  öfiioO  Aiöc 
KÖpoi  auToi.  Zrivöc  KÖpoi  editores.  Aiöc  cktovoi  (cf.  XXXII  1)  melius 
esset,  rectum  uero  sine  dubio  est:  -  ömoO  KoOpoi  Aiöc  au  toi. 

5.  U\  TPieiHPIKOY,  u.  1  traditur: 

KiKXriCKUJ  ce,  fudKap,  7ToXuiuvu|ue,  jiiaviKe  BaKxeO  - 
post  Hermannum  scripserunt  inaivöXa.     restituas: 

KiKXriCKU)  ce  |udKap,  fiiaviKÖc,  iroXuuJVuiae  BaKxeO. 
hoc  aeuo  nominatiuum  poni  solere  pro  uocatiuo  probe  scimus.    ignorat 
Abelius  qui  huius  generis  nominatiuos  saepius  mutauit. 

6.  LIV  CIAHNOY  CATYPOY  BAKXQN,  u.  5  scribendus  est: 

euacTric,  9iXdTpuTTv\  evalwv  oici  ciXrivoTc, 

Naici  Kai  BdKxaic  fiY0\3|aeve  Kiccocpöpoici. 
traditur   (piXdTpuirve   vedriuv   oici   ciXnvoTc.     inde   ab   Hermanno  edi-  28 
derunt  Doruillii  coniecturam:  cpiXdTpuTive  cuv  eiJ^:mvoici  Ti0r|vaic.     scri- 
berem  aici  xiGrivaic,  nisi  censerem  in  illius  aetatis  carminibus  uocalis  i 
in  ciXnvoTc  correptionem  tolerari  posse. 

7.  XLI  MHTPOC  ANTAIAC,  u.  8  tenendum  est:  EußouXov  reEaca 
eeöv,  minime  cum  Abelio  scribendum  eußouXna  xeKoOca  Ged.  lieHa 
aoristus  eiusque  formae  saepius  leguntur  apud  posteros  scriptores  cf. 
Lobeckii  Phrynich.  p.  743.  iam  sermonis  Attici  plebei  uidentur  fuisse: 
Aristoph.  Lysistr.  u.  553  evxeHri. 


90  De  hymnis  Orphicis 

8.  LXI  NGMeceQC,  u.  4: 

dWdccouca  Xötov  ttoXuttoikiXov,  dcraiov  aiei. 
non  recte  intellexere  editores  qui  post  Wielium  dW  exöouca  uoluerunt. 
nuper  W.  H.  Roscherus  (Berliner  philol.  Wochenschrift  1891,  n.  16, 
p.  501)  proposuit  dW  dcToöca  speciose  quidem,  sed  tarnen  male,  an 
ignorant  Nemesin  quae  fortunam  moderetur  animi  esse  inconstantis,  cui 
rota  adponi  solet  ab  artificibus:  r\  be  iroWd  TToWdKic  bivou|uevr|  kqi 
jueTarnTTTOuca  Neiuecic  (in  Luciani  libello  qui  inscribitur  AoOkioc  f|  övoc, 
cap.  35).  plura  uide  apud  Posnanskyum,  Nemesis  und  Ädrasteia,  Vra- 
tislau.  1890,  p.  50  sqq.  inde  et  in  re  amatoria  multa  ualuit,  de  qua  re 
disputauit  Baumeisterus  in  denkmäler  des  class.  altertums,  p.  1008  et 
Albrechtus  Dieterich  in  libello  de  Tibulli  amoribus  Marburgi  anno  1844 
edito.  dXXdccouca  igitur  recte  traditur,  sed  nescio  an  pro  Xötov  scribas 
vöov  necesse  sit.  quod  hie  uersus  non  satis  quadrare  uidetur  ad  alia 
quae  de  dea  iustissima  proferuntur,  nil  mirum  inter  epitheta  persaepe 
et  contraria  sine  certa  ratione  cumulata.  insuper  illis  uocibus  dcTaxov 
aiei,  quae  nisi  de  deae  ipsius  mente  dicuntur  inepte  dici  sentiendum 
est,  me  recte  esse  argumentatum  probatur. 

9.  LXIII  AIKAIOCYNHC,  u.  11  traditur: 

ev  coi  Tdp  cocpiTi  dpeific  xeXoc  öXXov  kdvei. 
pro  cocpiTic  iam  Hermannus  restituit  cocpin.  pro  öXXov  ediderunt  ecOXöv, 
edendum  erat  öXßov.    oXßoc  enim  est  leXoc  dperfic,  quo  sapientia  tendit. 
cf.  h.  XVIII  10.  LXXXIV  8.  Lithic.  Orph.  u.  63  sqq. 
29         10.     LXXII  AAIMONOC,  u.  1  legitur  in  codicibus: 

Aai]uova  KiKXrjCKuu  juefotXavriYriTopa  (sie)  cppiKTÖv. 
dTttGr]  Tuxn   saepissime   coniuncta  est  cum   dTaGuj  Aai^ovi;   locos  ad- 
scripsit  permultos  L.  de  Sybel  in  Roscheri  lex.  myth.  I  p.  939.    hymni 
Tuxnc  antecedentis  (LXXII)  primus  uersus  hie  est: 

Aeupo,  TuxTi,  KaXeuu  c'  dyaOilv,  Kpdvieipav  eir'  epYOic 
illum  igitur  Aaijuovoc  imprecationis  primum  uersum,  quem  Hermannus 
sie    edidit:    Aaijuova   KiKXricKU)    juexav    euriTr|Top«   cppiKTÖv,    Abelius   et 
Wielius  Aaijuova  KiKXricKiu  TreXdcai  fiYntopa  qppiKTÖv,   fidenter  restituo 
hoc  modo: 

Aaijuova  KiKXrjCKO)  c'  dYaOöv,  jueyaXriTopa,  qppiKiöv. 

11.     LXXXI  ZG0YPOY,  u.  1  sqq.  sie  seruandi  sunt: 
Aöpai  TravTOTeveTc  Zecpupixibec,  riepöqpoiTOi, 
'HbuTTVOOi,  vjJiGupai,  Gavdxou  dvdTrauciv  e'xoucai. 
minime  scribere  licet  TrovTOTeveTc  et  Kajudxou.    cf.  h.  XXXVIII  3  ZIlüotövoi 
TTvoiai  et  u.  22  Tivoiai  devaoi,  njuxoxpöqpoi.    an  ignoras  xpixorrdxopac 


De  hymnis  Orphicis  gi 

dve^ouc  quos  rogabant  non  modo  Athenienses,  sed  etiam  Orphici  uTiep 
T6vec€ujc  TTaibujv?    aixioi  erant  Teveceuuc.    cf.  fragm.  Orph.  240  (Abel.) 

(0iXöxopoc  be  ToOc  xpiTOTTdiopac  TrdvTUiv  T€Tovevai  TTpuuTouc 

ev  be  ToTc  'OpcpiKoTc  dve'iuujv  Traibac.     Suid.  et  Phot.  s.  u-  TpiioirdTiup) 
schol.  Od.  K  2  p.  331.      cf.  Luebbertum  de   Pindaro   dogmatis  de  mi- 
gratione  animarum  cultore,  ind.  Bonn.  hib.  1887/88  p.  IX  sq. 
12.     LXXXVII  0ANATOY,  u.  3: 

cöc  Tdp  uTTVoc  ipuxriv  Opaüei  xai  du.uaxoc  öXköv. 
quid  ÖXköv?  intellegi  nequit.     inest  in   OAKON   övkov  uel  ötkov,  quae 
uox  de  externa  corporis  facie  et  dignitate  usitata  est. 

IV 
DE  HYMNO  QUODAM  ORPHICO  PYTHAGOREO 

Poeseos  quam  tractamus  Orphicae  sacrae  primordia  et  origines  redu-  30 
cendas  esse  ad  Athenienses  nemo  negabit.  compluriens  religionum  plerum- 
que  Atticarum  uestigia  uetustissimarum  in  hymnorum  corpore  posteriore 
aeuo  conglutinato  monstrare  quidem  digito  potuimus.  qua  re  apparet 
quanta  constantia  inter  nouissima  postea  addita  seruauerint  formulas 
rituales  deorumque  epitheta  sacra  etiam  in  hac  uerae  religionis  graecae 
ruina.  sed  dum  haec  diligenter  enodata  sint  et  demonstrata,  ita  ut  si 
uaniori  spei  indulgere  liceat  usque  ad  Onomacriti  uersus  et  Lycomi- 
darum  hymnos  Orphicos  horum  carminum  historia  redintegrata  sit,  multo 
opus  erit  sudore  et  amplissima  multarum  rerum  explicatione.  tanta 
nunc  non  molimur.  sed  haud  ita  multo  post  quam  Athenis  res  Orphi- 
cae maxime  floruerunt,  in  aliis  regionibus  illa  mysteria  ulterius  usque 
progrediebantur.  nam  postquam  Pythagoras,  religionis  paene  nouae 
antistes  et  auctor,  in  Italiam  inferiorem  demigrauit  et  per  multa  oppida 
suum  Toö  ßiou  ipÖTrov  propagauit  inde  a  quinto  fere  medio  saeculo\ 
paullo  post  Orphicorum  placita  atque  effata  ad  Pythagoreos  translata  et 
utramque  doctrinam  plane  commixtam  esse  scimus.  iam  uero  sodalicia 
Orphica  Pythagorea  permulta  in  illa  terra  instituta  sunt,  ecce,  hodie 
illorum  hominum  uersus  prodiere  e  sepulcris  Thuriensibus  et  Petelinis. 
quid  quod  Thuriis,  in  ipsa  illa  urbe  quam  anno  443  Athenienses  maxime 
condidere,  hae  de  quibus  dicam  lamminae  aureae  inuentae  sunt?^  sed 


*  uixisse  fertur  Crotone  et  Metaponti,  uenisse  in  Italiam  a.  438,  si  sequimur 
Ciceronis  auctores  (de  re  publ.  II  15,  Tusc.  I  16).  quales  numeri  quamuis  sint 
incerti  uel  falsi,  tarnen  magis  sunt  probabiles,  quam  alii  postea  ad  altiorem 
antiquitatem  redacti.    <Nekyia  S.  84.) 

*  Thuriis  Bacchum  cultum  esse  et  ex  eo  sequitur  quod  una  oppidi  pars 
statim  uocitabatur  Aiovucidc,  Diodor.  XII  10. 


92 


De  hymnis  Orphicis 


statim  adscribo  inscriptionum  trium  uerba,  quibus  uerum  hymnum^  effici 
non  latebit,  hoc  modo: 
31  A.  B.  C. 

epxo)Liai  ex  Ka0apujv  KaGapd,  xöo-  epxo)aai  ck  KaOapiuv  Ka0apd, 
viiuv  ßaciXeia  XÖovituv  ßaciXeia, 

€uKXfjc  GußouXeiJC  re  Kai  dOdvaxoi  EÖKXe  Kai  GußouXeö  Kai  06oi 
0601  dXXoi"  öcoi  baijuovec  dXXor 

Kai  Tdp  eTUJV  ujuiliv  t^voc  öXßiov  Kai  ydp  efujv  ujliuüv  y^voc  eu- 


euxojuai  eijuiev, 


5  dXXd  }ie  laoip'  ebd)Liacce  Kai  dcTC- 
poßXfiTa  Kepauvujv 


XOjuai  öXßlov  eivai, 
TTOivdv   b'   avTaTTeieica  lpTU)v 

ev€Ka  oÖTi  öiKaiiüV, 
eiT€   )Li6  iLioTpa   ebdjLiaccev   €it'  5 

dcTepoTTfixa  KepauvAv. 
vOv  b'  iKexric  tiku)  Tiap'  dTvf]V 

Oepcecpöveiav, 

ujc  |Li€  7rpöq)pujv  Tre|Livjir)  ^bpac 

k  euaTeiüv. 
kukXou    b'   eEeTTxav    ßapu7Tev0eoc 

dpYaXeoio, 
i)LiepToO  b'  eireßav  crecpdvou  ttoci 

KapTraXijLioici, 
10  becTToivac   be   uttö   köXttov    ebuv 

X0oviac  ßaciXeiac. 
'öXßie  Kai  laaKapicxe,  0eöc  b'  ecrii 

dvTi  ßpOTOio'. 

^plCpOC    ec   f&y   €7T€T0V. 

1  <S.  Nekyia  S.  85ff.> 

Tres  lammellae  ABC  inuentae  sunt  in  agro  Thuriensi  prope  uicum  Cori- 
gliano.  Fiorelli  notizie  degli  scavi,  1880,  p.  155,  tab.  VI.  Comparetti  Journal  of 
hellenic  studies  III  p.  114  sqq.  sed  uide  nunc  omnia  accuratissime  administrata 
apud  Kaibelium,  inscriptiones  graecae  Italiae  et  Siciliae  641,  cuius  apparatum 
criticum  non  describo  nisi  si  quid  corrigendum  esse  censeo. 

A.    5  acTepoßXTira  Kepauvov  traditur.  B.  C.    in  unum  conscripsi  B  et  C 

kot'  dcrepoßXfiTa  Kepauvov  Buechelerus  quoniam  uix  inter  se  differunt.  2  kqi 
in  mus.  rhen.  XXXVI  p.  334.  Kepauvöc 
mauult  emendare  Kaibelius,  'ut  poeta 
nominatiuum  dcxepoßXfiTa  formauerit  sicut 
apud  Hom.  Kuavoxaixa  linTÖTa  sim.  extant'. 
ex  parte  quidem  recte.  acTepourixi  Kpau- 
vuDvB  exepoTüiiTiKTi  KCpauvo,  postea  spatium 
litterae  N  bene  sufficiens  C.  äcTepoirrixfic 
louis  epitheton  Hom.  II.  I  580, 609.  VII  443. 
XII  275.  scribendum:  dcxepoirfjxa  (nee 
äcxepoßXfjTQ  A  damnare  licet)  KepauvAv. 


Geoi  bai|ao[vl6[cl  aWoi  B.  5  eba- 
inacaxo  B,  non  legitur  in  C.  cetero- 
quin  ad  u.  5  cf.  A. 


De  hymnis  Orphicis  93 

etiamsi  non  pro  certo  affirmauerim  horum  uersuum  tres  uel  potius  duos  32 
quasi  Codices  sie  contaminandos  esse  in  unum  contextus  progressum, 
tarnen  hoc  modo  scripsi  ut  unum  subesse  Carmen  eluceret,  cui  hie  illic 
uersum  postea  desumptum  uel  additum  esse  non  negauerim.  sed  quid 
sibi  uelint  hi  uersus  bene  perspicis,  si  quos  in  dextra  et  in  sinistra 
pagella  posui  coniunxeris,  ita  ut  undecim  uersuum  Carmen  oriatur. 
supplicatio  est  mystae  ad  Inferorum  reginam  regesque  facta,  ut  se  ex- 
cipiat  in  pratis  beatorum.  iam  uersu  undecimo  iudicium  fert  regina: 
beate,  deus  eris.  u.  12  continentur  uoces  mysticae  metro  solutae,  adhuc 
editoribus  obscurissimae.  at  proferamus  nunc  quae  habemus  ad  hoc 
precum  Carmen  sepulcrale  acrius  intellegendum. 

primum    quidem    ex    eo    dogmate,    quod    de    migratione    animarum 
constituerant,  dicta  esse  notandum  est  haec: 

kukXou  b'  dHeiTTav  ßapuTrevGeoc  dpfaXeoio. 

omnia  enim  clarescunt  iis  quae  Laertius  Diogenes  VIII  14  tradit  de  Pytha- 
gora:  TTpuJTÖv  xe  (paciv  toötov  diroqpfivai  xfiv  ipuxriv  kukXov  dvdtTKTic 
djLieißoucav  dWoie  dXXoic  evb€Tc0ai  Z^üjoic.  eodem  modo  memoratur 
apud  Proclum  ad  Tim.  p.  330  A:  kvjkXgc  ific  reveceujc.  dv  tuj  xfic 
€\^ap|ievric  .  .  .  TpoxuJ»  dicitur  apud  Simplicium  ad  Aristot.  de  caelo 
p.  168  b  (ed.  Karsten.),  ubi  pergitur  ouirep  dbuvarov  dTraXXaTnvai  Kaxd 
TÖv  'Opcpea  |Lin  Touc  Oeouc  iXeuucdinevov,  oic  eireTaHev  6  Zeuc 

kukXou  t'  dXXöcai  Kai  dvaijjuHai  KttKÖiriTOC 
idc    dvepujTTivac    vi^uxac,    illo    autem    Prodi   loco   adduntur  haecce:    (n 
Tiepioboc)  TTdcav  ...  xfiv  ^lufiv  änö  inc  irepi  Tr)v   T^veciv  TrXdvnc, 
fic  Kai  Ol  uap'  'OpqpeT  tu)  AiovOcuj  Kai  xf)  Köpr]  xeXoOinevoi  xu- 
Xeiv  euxovxai, 

kukXov  x'  dv  XnHai  Kai  dvaixveOcai  KaKÖxr|xoc.* 
satis  perspicue  uerba  docent,  cur  quod  effugerit  circulum  fatalem  lae-  33 
tetur  poeta  Thuriensis,  Pythagorae  et  Orphei  discipulus.     eodem  refe- 
rendum  quod  addit: 

TTOivdv  b'  dvxairexic'  ^pTU)V  eveK'  ouxi  biKaiuJV. 
omnes   enim   ex  illorum  placitis  poenam  luunt  non  modo  scelerum  et 
male   factorum,   sed   etiam   culpae  cuiusdam  primigeniae;  inde  factum 
est,  ut  haec  terrestris  uita  ipsa  poena  esset  rraXaioö  rreveeoc,  quae  iam 


»  plura  de  his  rebus  conlegit  Luebbertus,  de  Pindaro  dogmatis  de  migra- 
tione animarum  cultore,  1.  c.  p.  VII  sqq.  de  kOkXiu  nonnuUa  Orphica  adnotasse 
O.  Kernium  modo  uideo  in  libro,  qui  inscribitur  Aus  der  Änomia,  p.  86  sqq. 
{Orphischer  totenkult)  et  adponas  Procl.  ad  Plat.  remp.  p.  116  (ed.  Schoell.): 


94  De  hymnis  Orphicis 

Plato  (in  Cratylo  p.  400  C)  Orphicis  imputat.    nee  facere  possum,  quin 

ad  duos  Pindari  locos  te  mittam: 

oici  be  Oepceqpöva  iroivctv  TiaXaiou  TrevGeoc 
beHexai  ec  tov  urrepöev  äXiov  Keivuuv  evaioi  erei 
dvbiboi  ijjuxac  rrdXiv,  .  .  .  ec  be  töv  Xoittöv  fipuuec  ayvoi 
Trpöc  dv6pui7TUJv  KaXeöviai.-^ 

ubi  tarnen  de  animis,  qui  iterum  ad  lucem  emittuntur,  sermo  est  item 
atque  in  eiusdem  Pindari  od.  Ol.  II  63: 

oibev  t6  lueXXov, 

ÖTi  GavövTUJV  ju^v  evGdb'  auriK'  diraXaiuvoi  cppe'vec, 

TTOivdc  ericav,  xd  b'  ev  xabe  Aiöc  dpxa 

dXixpd  Kttxd  Y«c  biKd^ei  xic  exGpd 

Xöyov  q)pdcaic  dvdYKa.^ 

sed  qui  —  uel  potius  eins  anima,  quae  illos  lammellae  uersus  clamat, 
plane  ex  omni  funesta  migratione  quod  erepta  sit  exsultat:  omnem 
poenam  soluit  et  rediit,  unde  olim  profecta  est,  ad  diuinos  honores; 
34  generis  deorum  est  unde  deciderat  (ujuüuv  Tevoc  öXßiov  euxoiuai  eivai).^ 
adloquitur  Euclum  i.  e.  Orcum  ipsum*  et  Eubuleum  et  ante  omnes  In- 
ferorum  reginam  Proserpinam  primo  illo  uersu  epxojuai  ex  Ka0apujv 
KttGapd  (seil,  vjjuxn),  XÖoviujv  ßaciXeia  -  i.  e.  mysta  sum,  mysteriorum 
Orphicorum  particeps  sum.  nam  oi  KaOapoi  iidem  sunt  atque  ol  öcioi^, 
qua  uoce  significantur  'puri'.^    statim  igitur  contendit,  ut  dea  se  mittat 


oüveK'  d|Li€ißo|Li^vn  ipuxvi  KttTct  kOkAo  xpövoio 
dvGpuuTTOU  2tüoici  laeT^pxexai  äXXoGev  dXXoc  ktX. 

et  Verg.  Aen.  VI  748  sqq.: 

has  omnes,  ubi  mille  rotam  uoluere  per  annos 
Lethaeum  ad  fluuium  deus  euocat  agmine  magno, 
scilicet  immemores  supera  ut  conuexa  reuisant 
rursus  et  incipiant  in  corpora  uelle  reuerti. 

*  threni  fragmentum  in  Menone  Piatonis  p.  81  B  traditum  (in  Bergkii  lyr. 
gr.  I  \  428).    cf.  Luebbertum  1.  c. 

*  singula  ea  quae  a  nostra  re  aliena  sunt  explicat  Luebbertus  1.  c.  p.  XVII. 
et  in  Orco  animae  committunt  peccata,  quorum  poenas  in  terra  soluunt. 

»  in  simillimi  argumenti  lammella  (apud  Kaibelium  no.  438)  legitur:  auxctp 
eiLioi  Y^voc  oupdviov. 

*  sie  explicauit  Buechelerus  in  mus.  rhen.  uol.  XXXVI  333  ex  Hesychii  glossa 
EukXtic'  "Aibric.  ^  cf.  supra  p.  11  <77>. 

*  cf.  Rohdeum,  Psyche,  p.  265  (öciai  X€tp€c  etc.  öciouv:  ßdKxoc  öcnjuGeic 
Eurip.  fr.  472).  praeterea  kexric  KaOapöc  Aesch.  Eumen.  474.  Soph.  OC  548. 
Eurip.  Ion.  1334  e  linguae  sacrae  formulis  depromptum  est.  etiam  saeculo  post 
Chr.  IV.  Nouatiani  Christiani  proprie  appellabantur  oi  KaGapof. 


De  hymnis  Orphicis  95 

ebpac  ec  euareujv.     uoculae  euaTnc  mysticae  historiae  quasi  terminos 
duos  habes,  si  hymni  Homerici  ad  Cererem  legeris  u.  273  sq.: 
öpTia  b'  auTf]  erdiv  UTüoer|co|Liai,  djc  otv  eTreiia 
euafeiuc  epbovTec  e^öv  vöov  iXacKOicOe.^ 
et  Synesii   philosophi   Platonici,   sacerdotis    Cyrenaici,    hymnorum,    qui 
quantum    ex    orgiorum    antiquorum    formis    desumpserit    facile    est   ad 
demonstrandum,  hos  uersus: 

h.  III,  u.  394  sqq.:  Ö0€V  eKirpoqpuTÜJV 
biupoici  reoic 
cxeqpoc  euaTeuuv 
OtTTÖ  Xeiiuiuvujv 
coi  TOÖTO  TrXeKuj  —  .^ 

praeterea  satis  nota  sunt  inde  ab  Homero  prata  illa,  quae  uocat  alius  35 
tabulae  Thuriensis  uersus  6  (apud  Kaibelium  n.  642):  Xeiiuujvdc  6'  lepoOc 
et  aXcea  Oepceqpoveiac.     eodem  spectat  si  exsultat  anima: 
ijuepTOÖ  eireßav  ciecpdvou  ttoci  KapTraXijuoici. 

nam  cie'qpavoc  est  qui  cingit  loca  beatorum  uel  prata  illa  ipsa  desiderata. 
simili  notione  uox  cieqpavoc  usurpatur  in  Orphicorum  Argonauticorum 
uersu  761  sq.: 

auTiKa  Ol  creqpavoc  Kai  xeixoc  epujuvöv 
Air|T6U)  Kaxeqpaive  kqI  dXcea.^ 
iam  uero  illud  epiqpoc  €c  -^cüC  eireTov^  quid  sibi  uelit  quaeris.  quod 
paene  desperatum  uidetur.  inspicias  uelim  quae  Clemens  Alexandrinus, 
protrept.  III  15,  de  Cereris  aliisque  mysteriis  refert:  xd  c\j)ußoXa  xfic 
|Liur|C6ujc  eK  irepiouciac  TrapaxeGevxa  oib'  öxi  Kivncei  Te^u^^a  Kdv  ixx] 
TeXaceiouciv  u)uiv  bid  xouc  dXeTXOuc  €k  xujUTrdvou  eqpaTov  ek  ku|u- 
ßdXou  CTTiov  exepvoqpöprica*  uttö  xov  Ttacxöv  uTrebuov.  *xaOxa 
oux  ußpic  xd  cij|LißoXa;  ou  x^^^n  Tct  |Liucxr|pia;  quibus  subiungo  quae 
idem   uir  Alexandrinus   de  mysteriis  Eleusinüs  tradif,  ib.  21:  Kdcxi  xö 


*  cf.  eiusdem  hymni  u.  370. 

*  cf.  VlIQ  Kai  ö^xvuco  inouciKütv  !  ^S  evafiiuv  ^leXAv.  VIII  39:  öciov  ö^  ecp^iroi 
XÖTOC  i  uavaKripaTOv  euar^c  |  dbiKOic  äßaxov  ttöGoic.  46:  cuv  b'  evaf^ixjv  xöpoic  j 
u^vouc  dvdteiv  bihov.  addendum  est  fragmentum  Orph.  151  Abel.  (ap.  Procl.  in 
Plat.  remp.  p.  696),  quod  iam  Kernius  aduocauit  1.  c:  oi  lu^v  evay^^uciv  utt' 
auTcic  ri^Xioio  aöxic  diroqpeiiLievoi  |ua\aKUÜTepov  oTxov  ^xo^civ  i  ev  KaXuj  XeimiJvi 
ßaeOppoov  d|a<p'  ^Axepovxa.  formula  ipsa  Sacra  inuenitur  satis  antiqua  in  Theo- 
criti  carmine  quod  uocatur  Afjvai  f|  BdKxai,  XXVI  30:  auxöc  5'  euar^oi^i 
Kai  euoT^ecciv  äboxpn  et  in  Callimachi  hymno  in  Del.  98:  euayeujv  bk  Kai 
€uaY^€cci  jueXoijuriv. 

'  cf.  Argon,  u.  895.  ttöXioc  cxeqpavoc,  Anacr.  fragm.  72.  Find.  Ol.  8,  42 
(Troiae  moenia).    Eurip.  Heracl.  839.        ^  <S.  Mithrasliturgie  S.  214.) 


95  De  hymnis  Orphicis 

cuvöriiua  'GXeuciviiuv  luucxripiuuv  evricxeuca'  eiriov  xov  KUKeujva* 
eXaßov  ex  KiCTr]C"  €TT€ucd)Lievoc  dTreGejuriv  eic  KdXaGov  Kai  eK 
KttXdGou  eic  KiCTTiv.  KttXd  fe  id  Gedjuaxa  xai  0ea  TupeTTOvia.  plus  his  tene- 
bris  lucis  adfert  Firmicus  Maternus,  qui  de  eadem  re  scribit  18,  1  p.  102, 14: 
in  quodam  templo,  ut  in  interioribus  partibus  homo  introiturus 
possit  admitti  dicit:  de  tympano  manducaui,  de  cymbalo  bibi  et 
religionis  secreta  perdidici,  quod  graeco  sermone  dicitur  —  (secuntur 
lere  eadem,  quae  leguntur  apud  dementem),  quid  igitur  uolunt  ista 
mystice  et  consulto  obscurissime  dicta?  signa  sunt  et  symbola  sociorum, 
quibus  inter  se  agnoscunt,  quibus  auditis  excipiuntur  in  adytis  profanis 
Omnibus  reclusis.  significare  uidentur  omnibus  his  formulis  se  accepisse 
summam  sapientiam  ac  felicitatem  uel  intimam  dei  consuetudinem. 
36  nonne  eiusdem  generis  est  illud  epicpoc  ec  f&y  eireTov?  an  miraris 
quod  in  fine  tabulae  a  uersibus  separatum  adscribitur  mysteriorum  illo- 
rum  symbolum,  quo  pronuntiato  anima  mortui  in  Orco  agnoscatur  ^ut 
homo  introiturus  possit  admitti'  in  euaTeuuv  sedes  interiores?  maxime 
necessarium  uidebatur,  ut  hoc  adponeretur  mortuo,  cuius  in  manibus 
positae  fuisse  uidentur  tabellae.^  at  nondum  hercle  nobis  quiescendum 
est.  an  sensu  plane  carere  illud  effatum  concedere  licet?  minume.  apud 
Hesychium  legitur  "Gpicpoc*  Aiövucoc  et  ab  eiusdem  Bacchi  nominis 
stirpe  deriuandum  esse  et  epitheton  eppacpeuuiac  in  AI  cm  an  is  fragm.  90 
et  eipacpiLUTTic  in  hymn.  Homer.  XXXIV  2  optime  animaduertit  Wieselerus.^ 
addo  oraculi  imperatorum  aeuo  conscripti,  Pergami  inuenti,  uersum  (in 
Kaibelii  epigr.  graec.  1035,  u.  7sq.): 

TU)v  f]  )uev  Kpovibr|V  u^vuui,  ]xm  b'  €ipaq)iiJUT[riv 

.  .  .  [laeXiplni 
nee  non  hymni  Orphici  XLVIII  u.  1  sq.: 

CaßdJlie,  Kubijue  Koöpe, 

öc  BdKXOv,  Aiovucov,  epißpo|uov,  GipacpiiüTriv 

|Lir|puj  eYKaxepaipac,  öttiuc  — . 

praeterea  apud  Hesychium  legitur  s.  u.  EipaqpiuÜTrjc  "Gpiqpoc  rrapd 
AdKUJciv,  apud  Stephanum  uero  Byzantinum  (s.  u.  'AKpujpeia)  nota  ex 
Apollodoro  desumpta:  Aiövucoc*  'Gpicpioc  irapd  MeTaTTOVTivoic. 
patet  religionis  et  nominis  historia:  a  Doriensibus,  inter  quos  iam 
Alcman  testis  est,  translata  est  in  Italiam,  unde  propagata  est  ad  po- 
sterioris  aeui  cultus  Bacchicos  (et  Asiae  minoris).    ecce  in  illa  ipsa  Italiae 

^  cf.  Comparettium  1.  c. 

'  Philol.  1855,  p.  701.   cf.  F.  A.  Voigtii  optimam  de  Dionyso  commentationem 
in  Roscheri  lex.  myth.  I  p.  1059. 


De  hymnis  Orphicis  gy 

regione,  ubi  uersamur,  Bacchus  rite  colebatur  "Epicpoc  nee  nobis  mirum, 
quod  eius  ministri  epicpoi  se  appellasse  uidentur.  quid  uero  quod  di- 
cunt  'haedus  ad  lac  uenit'?  lac,  primum  atque  Optimum  hominum 
nutrimentum,  donat  suis  Bacchus: 

ö  ö'  eHapxoc  'Bpö^ioc  euoT', 

p€i  he  TaXttKTi  Tiebov  (Eur.  Bacch.  u.  141.  cf.  u.  706). 
fontes  ubique  emergunt  lactis,  si  chorus  Bacchicus  appropinquat,  nee  37 
non  mellis.^  omnia  fluxere  lactis  et  mellis  aurea  aetate^  fluent  prata 
beatorum.  unum  accedit:  erant  qui  putarent  ^akaBav  i.  e.  uiam  lacteam 
caelestem  esse  beatorum  domicilium.^  unum  promo  locum,  quo  statim 
unde  haec  sumpserint  edocemur.  Porphyrius  enim  refert  de  antr.  nymph. 
cap.  28:  hf\yioc  be  öveipujv  Kard  TTuGaTÖpav  ai  ipuxai,  ac  cuv- 
dTecGai  cpriciv  eic  töv  faXaHiav  töv  outuj  TrpocaTopeuöjaevov  otTTÖ 
Tijuv  TöXaKTi  Tpe(po)uevtuv,  örav  eic  T^veciv  ttecujciv.  biö  Kai  CTievbeiv 
auTttic  T01JC  vjiuxaTUJTOuc  |LieXi  xeKpajuevov  töXcikti  ujc  av  bi*  fibovnc  eic 
Te'veciv  juejueXeiriKuiaic  epxecGai,  aic  cuTKueTcGai  tö  YdXa  irecpuKev.  nonne 
patet  sacrificia  illa  lactis  et  mellis,  quae  oblata  esse  mortuis  nemo  ne- 
scit,  originitus  instituta  esse  quibus  animae  fruerentur  ut  cibo?  sed  iam 
intellegis  illud  epiqpoc  ec  xaX'  eTrerov.  lepidissime  sane  dicitur  et  hae- 
dulum  nunc  domum  rediisse  ad  matris  lactea  ubera  et  Dionysi  ministrum 
et  mystam,  nunc  et  ipsum  deum,  qui  uttö  köXttov  Ibv  Oepceqpoveiac, 
adiisse  ad  beatae  uitae  prata  lactea.^ 

attamen  unum  restat  strenuo  interpreti:  '' 

becTTOivac  b'  utto  köXttov  ebuv  xöoviac  ßaciXeiac 

iam  a  dea  benigne  receptus  exsultauit  mysta.    etsi  modo  intellegere  38 
omnia  tibi  uisus  es,  tamen  est  quod  acrius  quaeramus.     scimus  enim 

*  e.  c.  Plat.  Ion.  p.  534  A:  al  ßdKxai  dpOrovrai  ^k  tOjv  irorairnjuv  |li^\i  kqI  xciXa. 
cf.  Phaedr.  p.  253.  Horat.  carm.  II  19,  9.    plura  apud  Voigtium  1.  c.  p.  1042. 

'  e.  c.  Ovid.  metam.  I  111.  has  opiniones  multis  communes  esse  populis 
non  opus  est  ut  persequar. 

'  Cic.  somn.  Scip.  cap.  16.  Manil.  1786:  an  fontes  animae  huc  (in  faXaliav) 
migrant  ex  orbe.  Plac.  gloss.  Mai  coli.  Vat.  III  481:  lacteus  circulus  quem  alii 
dicunt  animis  heroum  antiquorum  refertum  et  merito  resplendere.  cf.  Bergkii 
opusc.  II  708,  Lobeckii  Aglaoph.  p.  935,  Gottholdi  Ettig  Acheruntica  (in  stud. 
Lipsiens.  XIII),  p.  348.    eadem  opinio  apud  permultas  gentes  inuenitur. 

*  simillima  sunt  quae  fn  quarta  tabula  prope  uicum  Carigliano  inuenta  (apud 
Kaibelium  642)  leguntur.  inter  hexametros,  quorum  secundus  desperandus  esse 
uidetur,  et  unum  trimetrum  interponuntur  haec:  ^t^vou  Qeöc  kS.  dvGpiIjTrou,  Epiqpoc 
ic  fdy  ?TT€Tec.  hie  alius  illo  symbolo  utitur  mystam  salutans.  quod  haud  dubie 
non  inter  uersus  ipsos  antea  sie  scriptum  erat,  pro  illo  ^y^vou  Geöc  il  dvGpUiTrou 
olim  lectum  esse  e.  c: 

9eöc  6'  eic  dvxi  ßpoTOio 

puto,  quos  uersus  postea  magis  magisque  dissoluebant. 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  7 


98  De  hymnis  Orphicis 

uetustam  adoptionis  formam  talem  fuisse  qualem  Diodorus  IV  39  narrat 
de  Hercule:  lunonem  ascendisse  torum  genialem,  Herculem  in  sinum 
adsumpsisse  et  ex  uestimento  deiecisse.  sie  eum  factum  esse  eius 
filium.  quem  adoptionis  modum  ait  Diodorus  apud  exteras  nationes  et 
tunc  usitatum  esse/  sed  aliud  ne  neglegamus:  quid  significet  ^accipere 
in  sinum'  illustrat  quod  Pausanias  narrat  de  Attidis  rebus  (VII  17,  5): 
OuTttiepa  toö  CaTTapiou  TTOTajuoö  XaßeTv  toO  KapiroO  (djuuYÖdXric).  ec- 
0€|uevr|C  be  ec  töv  köXttov  Kapiröc  juev  eK6Tvoc  fjv  dcpavfic  auTiKa, 
ami]  be  eKuei.^  sie  louem  uel  Sabazium  serpentem  faetum  eic  Kopric 
köXttov  intrasse  tradunt  Orphici  et  hoc  modo  generasse  Bacehum.  ita- 
que  mystae  anguem  illum,  qui  quantum  ualuerit  in  rebus  Bacchieis 
nemo  neseit,  adnominabant  töv  biet  köXttou  Öeöv.  bpdKoiv  be  ecxi  xai 
ouToc,  inquit  Clemens  Alex,  protrept.  II  76,  bieXKÖ)uevoc  toO  köXttou  tOuv 
T€Xou|uevu)v^  et  in  hymno  Orph.  LH  11  ineantant  deum:  uiTOKÖXTrie. 
quibus  disputatis  effulget  illum  qui  dicat  beciroivac  uttö  köXttov  ebuv 
uelle  profiteri  non  modo  se  ab  inferorum  dea  ut  liberum  acceptum 
et  quasi  adoptatum  esse^  sed  etiam  ex  altera  parte  se  intima  consue- 
39  tudine  coniunctum  esse  cum  Proserpina  regina  eadem  unione  mystica 
qua  olim  ipse  deus  se  illi  miscuit.  iam  uero  sumas  homines  illos 
Thurienses,  si  bpaiuaxa  sacra  agentes  nee  non  per  initiatorum  sinus 
serpentes  uetustissimo  ritu  trahentes  res  uitae  beatae  futuras  sibi  ante 
oculos  posuerint,  hoc  preeum  ad  patronos  summos  Carmen  recitasse. 
cui  sententiae  fauet  quod  eiusdem  rei  testimonio: 

xaOpoc  bpdKOVTOc  Kai  iraTrip  raupou  bpdKiuv, 

^  cf.  Hesychium  s.  u.  6euTepöiTOT|uoc,  et  Prellerum   in  mythol.  graec.  p.  550. 

^  plura  apud  Voigtium  1.  c.  p.  1087.    addas  quod  de  lunone  flore  grauidata 

dicitur  apud  Ouid.  in  fast.  V  256 :  tangitur  et  tacto  concipit  illa  sinu.  cf .  Usenerum 

mus.  rhen.  XXX  216.    in  KaTabecjutu  amatorio  legitur  (in  Abelii  Orphicis  p.  290, 

u.  19): 

el  be  Tiv'  äXKov  ^Xoic  fev  köXttoic  öc  KardKeixai 

K61V0V   dTTUJcdceuj.     dc   utero   usurpatur   et   köXttoi   saepissime    et 
köXttoc  Sext.  Emp.  adu.  math.  V  62.  Poll.  II  222. 

^  cf.  Arnob.  V  21 :  aureus  coluber  in  sinum  dimittitur  consecratis  et  eximitur 
rursus  ab  inferioribus  partibus  atque  imis.  cf.  Foucartum,  des  associations 
religieuses  chez  les  Grecs,  p.  77;  Rivillium,  la  religion  ä  Rome  sous  les  Sä- 
veres,  p.  61. 

^  praeterquam  quod  de  ualle  Eleusinia  cogitat,  tamen  et  ad  ea  quae  supra 
adduxi  adludit,  si  quid  sapio,  Sophocles  in  Antigonae  choro  Bacchico  u.  1115  sqq. 

TToXu(JÜvu|ue  Ka6|U€iac 

vOjuqpac  äYaX|ua  Kai  Aioc  ßapußpejuexa 

Y^voc,  kXutoiv  8c  djuqp^'ireic  'IxaXiav,  |u^beic  bk 

uaTKOivoic  '€Xeuciviac 

AtioOc  ev  köXttoic, 

\h  BaKxeO  kxX. 


De  hymnis  Orphicis  99 

quo  effato  patris  et  filii  unitas  affirmatur,  addit  Clemens  (protrept.  II  16) 
uersum,  cuius  uerba  corrupta  esse  uidentur,  sensus  tarnen  non  pror- 
sus  latet: 

ev  öpei  TÖ  Kpucpiov  ßouKÖXoc  t6  xevTpov  (KevTpiov?), 

et  Arnobius  idem  placitum  adpellat  'Tarentinum  notumque  senarium, 
quem  antiquitas  canit'.  colligimus  enim  magnae  Graeciae  sodalicia 
Orphica  eodem  modo  instituta  esse  atque  ea  de  quibus  primo  capite 
diximus  ibique  mythos  illos  de  deorum  generatione  sacros  et  actis  et 
dictis  a  'bubulcis'  celebratos  esse,  quid  uero  de  Tarento?^  an  nescis 
illic  maxime  non  modo  Pythagorae  disciplinam,  sed  etiam  Bacchi  secreta 
floruisse?  adeas  Liuium,  qui  celeberrimis  capitibus  (XXXIX,  8-19)  ex- 
plicat,  quantopere  in  illis  Italiae  inferioris  oppidis  Bacchanalia  aucta  et 
extensa  et  posteriore  tempore  magis  magisque  sceleribus  libidinibusque 
deprauata  sint,  dum  senatus  Romanus  emisit  consultum  illud  de  Bac- 
chanalibus,  cuius  unum  descriptum  inuentum  est  in  agro  Teurano  Brutti- 
orum.  innumeros  homines  poenis  persecuti  sunt,  multos  occiderunt  ita 
ut  complures  annos  continuo  persequerentur  bacchos  sceleribus  correptos: 
in  Äpulia  usque  ad  annum  181,  Tarenti  usque  ad  annum  184^  ^quo  40 
anno  L.  Postumius  praetor,  cui  Tarentum  prouincia  euenerat,  magnas 
pastorum  coniuraiiones  uindicauit  et  reliquias  Bacchanalium  quaesti- 
onis  cum  cura  exsecutus  est'  (Liu.  XXXIX  41).  sie  enim  editur.  quid 
quod  in  uno  codice  legitur  ^reliquas  Bacchanalium  quaestiones'? 
nonne  paene  cogimur  pastorum  coniurationes  ad  eandem  rem  referre 
et  putare  Liuium  uel  eum,  e  cuius  libro  descripsit  -  nam  fortasse  et 
haec  uerba  sicut  antecedentia  e  Valerii  Antiatis  fallacibus  thensauris 
desumpta  sunt  -  e  graeco  uertisse,  ubi  tradebatur  de  ßouKÖXoic,  sed 
aut  ipsum  non  recte  intellexisse  aut  certe  librarios?^ 

uerum  utut  hoc  quidem  se  habet,  satis  multa  collecta  sunt,  ut  lucem 
adspergamus  illis  Italiae  mysteriis  Bacchicis  Orphicis  Pythagoreis.   unum 


^  an  'Tarentinum  senarium'  referre  mauis  ad  Rinthonem  poetam  cum 
Crusio  (mus.  rhen.  XLV267sqq.)?  immo  uero,  etsi  a  demente  citatur  uoiriTyic 
€i6iü\iKÖc,  tamen  primus  uersus  Taöpoc  -  bpdKuuv  ab  eo  ipso  aliunde  citatus  erat. 

*  Liu.  XL  19.  cf.  Zellerum,  philosophie  der  griechen,  III 2,  p.  80  sqq.  153, 
299  sqq.  et  Prelleri  myth.  rom. »  II  363  sq. 

*  res  tamen  non  plane  certa  est:  iam  cap.  29  de  L.  Postumio  et  pastorum 
coniuratione  traditur;  sed  fortasse  ea  omnia  quae  plane  eadem  esse  uidentur 
ac  quae  cap.  41  traduntur  peruersa  sunt,  potuere  a  scriptoribus  posterioris 
aetatis  Romanis  genuini  pastores  de  quibus  cap.  29  dictum  est  et  ßouKÖXoi,  de 
quibus  c.  41,  commisceri  et  fortasse  ideo  Liuius  eandem  rem  bis  narrare  uidetur, 
quod  certe  non  fecit  auctor  primus,  quoniam  illic  nil  de  bacchanalibus,  hie  nil 
de  ueris  pastoribus  et  latronibus  adscripsit. 


100  ^®  hymnis  Orphicis 

addere  liceat:  multa  in  illis  Apuliae  et  Calabriae  regionibus  inuenta  sunt 
uasa  pulcherrima,  quae  facta  et  picta  erant,  ut  in  sacellis  sepulcralibus 
constituerentur.  nemo  negat  picturarum  quasi  caput  esse  quae  in  me- 
diis  tabulis  efficta  sunt:  Orpheus  qui  citharam  tenens  implorat  Orcum 
et  Proserpinam  ^  in  templo  quodam  sedentes.  alias  figuras  Hecatam, 
Mercurium,  Erinyas,  Theseum,  Herculem,  Aeacum.  Rhadamanthum,  Tripto- 
lemum  alios  nunc  non  curamus,  quamuis  magni  sint  momenti,  neque 
illos  quos  mortuos  Orcum  modo  ingressos  esse  paene  constat.* 
41  quid?  effecimus  cultum  Orphicum  maxime  floruisse  inde  ab  anno  fere 
400  usque  ad  annum  fere  200  —  uasa  illa  sepulcralia  adscribenda  sunt 
tertio  maxime  saeculo^  —  Carmen  sepulcrale*  iam  qui  litterarum  formam 
respexerunt  reuocarunt  ad  saec.  IV  uel  III  (uide  Kaibelium  ad  no.  641). 
quorum  omnium  quasi  scaena  est  eadem.  fac  in  eodem  sepulcro  ad- 
stitisse  illa  uasa,  in  eodem  mystae  mortui  manu  frigida  contineri  lammellam 
illam  auream.  —  nonne  ea  inter  se  cohaerent?  nonne  ipse  Orpheus 
pictus  animarum  descendentium  quasi  praesul  Proserpinam  sie  adloqui 
tibi  uidetur: 

epxojuai  eK  KaGapiuv  Ka9apd,  x^oviiuv  ßaciXeia  ktX. 

hercle  non  hariolamur,  sed  res  ipsae  clamant  et  pro  nobis  interpretantur.^ 


^  maxime  Proserpinam  eum  adorare  in  nonnullis  uasibus  perspicuum  est 
sicut  memoratur  apud  Diodorum  IV  25,  4,  apud  Ovidium  met.  X  15.  cf.  Wink- 
lerum,  die  darstellungen  der  Unterwelt  auf  unteritalischen  vasen,  in  comment. 
philol.  Vratislau.,  III  5  p.  39. 

*  cf.  Winklerum  p.  77. 
3  cf.  Winklerum  p.  82. 

*  alios  uersus  lamminae  Petelinae  et  quartae  Thuriensis  (apud  Kaibel.  638 
et  642)  nunc  non  fusius  tracto,  quoniam  hymnos  esse  non  affirmauerim.  sed  ne 
eos  quidem  uersus  excerptos  esse  e  maioris  poematis  procursu  feie  "Aiöou  Kaxd- 
ßacic  uel  sim.)  iam  illa  prae  se  fert  tabula,  ubi  hexametris  trimeter  insertus  est. 
rectius  iudicare  mihi  uidentur  qui  oracula  esse  ea  putabant;  certe  quidem  ora- 
culorum  formam  induerunt  (dW  öiröxav  — ,  €upr|C€ic  h^  —).  de  uersibus  Pete- 
linis  nunc  nil  addo  (ap.  Kaibel.  638).  de  Mnemosynes  ac  Lethes  fontibus  multa 
dicenda  essent.  uia  animae  descendentis  describitur  et  quasi  itinerarium  Drei 
mortuis  traditur.  summa  est  similitudo  argumenti  inter  illa  et  ea  quae  insunt 
in  libris  sepulcralibus  (uocari  solent:  'totenhuch')  Aegyptiorum.  sed  me  ipse 
cohibeo.  Pythagorei  item  atque  Aegyptii  corpora  inhumata  seruari  uoluerunt, 
non  igne  deleri.    (cf.  Rohdeum,  Psyche  p.  209). 

^  maxime  nunc  tendunt  archaeologi  et  philologi,  ne  quid  ad  'mysteria' 
referant,  saepissime  quidem  recte.  Winklerus  quamquam  de  Pythagoreorum 
palingenesia  et  metempsychosi  ipse  cogitat,  tamen  addit:  'soweit  ich  auch  von 
der  alten  erklärungsweise  entfernt  bin  um  an  mysterien  und  verwandtes  zu 
denken'  (1.  c.  p.  79).  sed  caueamus  ne  Creuzerum  Charybdin  fugientes  abripi- 
amur  ad  Nicolaium  Scyllam.  quae  supra  adumbraui,  si  quid  scio,  certissima 
sunt;  non  modo  quid  nos  uideamus  sed  etiam  quid  quibus  illa  picta  erant 
homines  antiqui  uidere  sibi  uisi  sint  nostrum  est  interpretari. 


De  hymnis  Orphicis  101 

V 
DE  HECATAE  TYPHONIS  INFERORUM  HYMNORUM  FRAGMENTIS 

QUIBUSDAM 

Lucis  quasi  unus  radius  paullum  illustrat  hymnorum  historiae  quos  42 
inuestigamus  fuscas  per  multa  saecula  tenebras.  redeundum  est  ad 
eiusdem  generis  carmina  a  quibus  ut  par  erat  exorsi  sumus.  alia  enim 
carmina  uere  mystica  in  rebus  sacris  cantabantur  postremis  quod  sciamus 
antiquitatis  temporibus  ea  quae  magica  uocamus.  quae  desumpta  esse  e 
libellis  Orphicis  non  demonstrandum  sed  demonstratum  est\  et  quae  ipsi 
magi  postea  conglutinabant  ad  eorum  normam  excutiebant.  et  in  magorum 
sacris  exstitisse  ßouKÖXouc  iam  adnotatum  est  (p.  23  sq.).  addo  quibus 
uerbis  salutet  suos  sacerdos  magicus  (in  pap.  Paris,  u.  1136):  x^^ip^Te  oic 
Xaipeiv  ev  eiiXoTia  biboiai  döeXcpoic  Kai  dbeXcpaic  ocioic  Kai  öciaic 
an  mirum  quod  etiam  poeseos  Orphicae  thensauri  huc  deportati  sunt? 
hymnis  qui  nunc  e  papyris  Aegyptiacis  et  ex  Hippolyto  recuperati  sunt 
longe  plurimis  Hecatam  celebrant,  summam  mundi  reginam  et  maxime 
Tapxapoöxov.  quos  et  hexametris  et  trimetris  et  octonariis  uersibus 
compositos  si  singillatim  tractare  uellem,  nouus  mihi  conscribendus  esset 
libellus,  sed  unius  imprecationis  Hecatae  fragmentum  inter  praecepta 
magica  lectum  in  Marcelli  Empirici  de  medicamentis  libro  nuper  nouis 
curis  ab  Helmreichio  edito  (apud  Teubnerum,  1890),  hymnis  uindicare 
in  animo  est.  nunc  legitur  I.  c.  p.  149,5:  'remedium  ualde  certum  et 
utile  faucium  doloribus  sie.     scribes  in  Charta  haec: 

elbov  Tpi|Li€pfi  xP^ceov  xoavabov 

Kai  xapTapoOxou  xaKeciv  xoucavabov 

cujcöv  |Li6  c€)Live,  vepiepujv  uTrepTaxe.^ 
quam  chartam  in  phoenicio  obuolutam  lino  conligabis  colloque  suspendes  43 
meminerisque  ut  mundus  haec  facias  et  ne  tertia  manu  scriptura  tanga- 
tur'.  quae  cirumscripsere  nebulones  superstitiosi  neglegenda  sunt, 
quippe  qui  prorsus  aliunde  suis  inseruerint  iambos  tres  adhuc  misere 
corruptos.  statim  uero  aduoco  Porphyrium,  cuius  seruauit  Eusebius  in 
praep.  euang.  III  11,  32  hanc  doctrinam:  '^KaxTi  he  x]  ceXr|VTi  TidXiv  xfjc 
TTepi  auxfiv  MexacxnMaTicemc  Kai  Kaxd  xouc  cxn^axicuouc  buvd^emc. 
biöxpi^opcpocf]  buvaiLiic,  xiic  |Liev  vou^Tlviac  cpepouca  xfjv  Xeuxeinova 
Kai  xpucocdvbaXov  Kai  xdc  Xainirdbac  fimuevac,  6  be  KdXaGoc  öv  eiri 
xoic  )i€xeu)poic  (pepei  xnc  xiuv  KapTTUiv  KaxepTaciac  ouc  dvaxpecpei  Kaxd 


*  cf.  Diltheyum  in  mus.  rhen.  XXVII  p.  382. 

*  traditur   1  xpiiiiepuxpoiceov    2  Toucavabovrec   3  cujuv|ne  cenvepveprepov  urep- 
ßoT€,  bene  haec  quidem  correcta  sunt. 


102  De  hymnis  Orphicis 

xriv  ToO  cpuuTÖc  irapaijHriav,  xfic  b'  au  iravceXrivou  x]  xa^-KOcdvbaXoc 
cujußoXov.  quid  XP^cocdvbaXoc  sibi  uelit  satis  apparet;  quid  uero  xakKo- 
cdvbaXoc  paullo  acrius  extricare  iuuat.  nosti  Tartari  xa^^eov  ouböv 
(Hom.  II.  VIII  15;  Hes.  theog.  811)  eodemque  uellem  retulissent  inter- 
pretes  quod  Sophocles  de  loco  prope  Furiarum  nemus  sito  dicit  (OC.  57): 

XOovöc  KaXeiiai  Triebe  xö^köttouc  oboc, 
praesertim  cum  Oedipus  postea  ingrediatur  leti  ianuam  per  tov  Kaxap- 
pdKxriv  oböv  xci^KoTc  ßdOpoici  T^lOev  eppiZ^ujjuevov  (u.  1590  sq.). 
'Gpivuc  est  ipsa  xa^^ÖTTOuc  (Soph.  El.  492),  uti  solet  irXdcxiTTi  xo^^^^n- 
Xdxuj.  nee  latet  cuius  originis  sit  XaXKiÖTrric  nomen,  quam  fuisse 
filiam  GupuTrOXou  i.  e.  Orci  ipsius  tradit  Apollonius  Rhod.  III  688 ^ 
iam  memoria  redeat  uersuum  Aristophaneorum  ran.  u.  294  sq.,  ubi  de 
Empusa,  quam  haud  raro  paene  ipsam  Hecatam  esse  scimus,  leguntur: 
AION.  "GiLiTTouca  xoivuv  ecxi.  ZAN.  irupi  toöv  Xd^Tiexai  dirav  x6 
44  TtpöciuTrov.  AION.  Kai  cKtXoc  xa\KO\jv  e'xei.  eiusdem  rei  testis 
est  Etymologicum  magnum,  in  quo  Empusae  nomen  quamuis  absurde 
deriuatur  dirö  xoö  exepov  iröba  xa^Koöv  e'xeiv'-.  insuper  alium  de 
Hecata  uersum  adscribo  e  papyro  Parisina,  u.  2334  sq.  eliciendum: 

dpuj  CTiiueTov  x^^^^ov  x6  cdvbaXov 

xfic  Tapxapouxou  .  .  .^ 
nunc  denique  eos  uersus,   a  quibus  degressi  sumus  corruptis,  promo 
emendatos: 

eiböv  ce  xpijuepfi'    xP^ceov  xö  cdvbaXov 

Kai  Tapxapovjxou  xa^^eov  x6  cdvbaXov, 

cüjcöv  )LA€,  cejLive,  vepxepujv  uTrepxaxe. 

intellegimus  sie  oupaviav  et  xapxapoOxov  deam  significari  duobus  sanda- 
liis  et  aereo  et  aureo.  hymni  exstitit  fragmentum:  si  quid  uideo  car- 
minis  sunt  uersus  Ultimi,  quoniam  illud  cüucov  kxX.  plane  e  more 
Orphico  conscriptum  est.  etsi  uersus  ipsi  sunt  posterioris  aeui,  tarnen 
symbola  illa  ipsa  iam  ueterum  Atheniensium  fuisse  patefecimus. 

in  hymnis  uero  Orphicis  prae  ceteris  deis  Hecatam  ueneratos  esse 
supra  monendum  erat,     magis  magisque  haec  Hecatae  et  Bacchi  my- 


^  xaXKGia  in  sacrificiis  chthoniis  et  magicis  adhibentur:  xaXKavGoc  et  x&\- 
Kijuoc  sacrificantur  Hecatae,  Orph.  Argon,  u.  908  sqq.  xaXKeTov  cIytoc  pap.  Paris. 
223,  TTorripiov  3247,  xaXKeia  YpacpeTa  259,  3255  etc.  de  aeris  usu  in  multorum 
gentium  moribus  et  religionibus  multa  collegit  Friedreichius,  Symbolik  und 
mythologie  der  natur,  p.  152.  de  Germanorum  superstitionibus  cf.  Wuttkium, 
der  deutsche  volksaberglaube  p.  122,  143  et  al. 

'  <Zusätze  hierzu  Nekyia  49  Anm.  2.> 

"  cf.  eiusdem  papyri  uerba  ad  Hecatam  dicta,  u.  2292:  toOto  ydp  cou  c\!>|n- 
ßoXov  TÖ  cdvbaXöv  cou  ^Kp\}x\ta  kolI  K\eTöa  KpaTÜJ  ktX. 


De  hymnis  Orphicis  103 

steria  coniuncta  sunt,  non  modo  in  Asia  minore,  ubi  iam  diu  illius  deae 
initia  floruere,  sed  etiam  e.  c.  Aeginetas  omnium  deorum  maxime  Heca- 
tam  coluisse  Pausanias  fert  11  30,2^:  xai  xeXexriv  dTouciv  dvd  rräv 
exoc  'GKaxTic,  'Opqpea  C(pici  xov  GpaKa  KaxacxricacGai  xfiv  xeXe- 
xf]v  XeTOvxec;  postea  uero  Romae  utraque  initia  haud  raro  consociata 
fuisse  docti  sumus  illis  uirorum  nobilissimorum  honoribus:  uccantur 
simul  et  hierofanta  Hecatae  et  sacerdos  uel  archibucolus  dei  Liberi. 
anni  377  p.  Chr.  est  lapis  cuius  litteras  modo  euoluo  in  Kaibelii  nouis 
thensauris,  1019: 

cujußoXov  eiittTeuDv  xeXexujv  dve0r|Ke  Caßiva 

"Axxei  Kai  'Peir]  ßuujuöv  dTripdciov, 

AajUTrabiou  Öufdxrip  |LieYaXr|xopoc  öpYiocArioOc  45 

Ktti  qpoßepdc  '€Kdxr|C  vuKxac  eTricxajuevTi^ 

quid  testimonia  colligam?  unam  inspicias  quaeso  lamminam  aeream 
paruulam  quae  publicata  est  in  Instituti  annalibus  (1850  tab.  M)^:  ex- 
sculptam  enim  uidemus  Hecatam,  cuius  simplici  corpori  imposita  sunt 
tria  capita,  adposita  sex  bracchia;  haec  mucronibus  flagellis  facibus, 
illa  calathis  instructa  sunt,  in  utraque  parte  cista  animaduertitur  serpen- 
tibus  cincta;  a  sinistra  stat  uir  quidam  et  saltans  et  adorans,  qui  tergo 
culeum,  manu  autem  pedum  tenet.  in  tabella  uersa  ostenditur  Bacchus 
et  mulier  bacchans.  quid  igitur?  quid  uir  pedo  ornatus?  est  ßouKÖXoc. 
an  pulchrius  ipsis  antiquitatis  reliquiis  illustrari  poterit  ille  primi  Orphici 
hymni  u.  9,  quo  illam  ipsam  Hecatam  triformem  (oupavinv  xöovinv 
eivaXiTiv  u.  2)  precantur: 

xeXexaTc  ocirici  irapeTvai 
ßouKÖXtu  €U|Lieveoucdv  dei  Kexapriöxi  Gujlilu. 

tabella  uero  illa  sine  ulla  dubitatione  amuletum  est  magicum.  aper- 
tissimum  est  quo  deductae  sint  initiorum  Bacchicorum  et  Orphicorum 
reliquiae. 

sed  cum  Hecata  facta  esset  f]  TapxapoOxoc,  non  defuit  ö  Tapxap- 
oöxoc.  uersus  magici  qui  non  ad  illam  uel  etiam  ad  solis  uniuersalem 
deum  directi  sunt,  hunc  maxime  adeunt  tremendum  regem,  Typhona 
dico.     hymnus   Orphicus  XVIII,   quem   dicunt  Plutonis  esse,  inscribitur 


»  alia  earum  rerum  testimonia  conlegit  Steudingius  in  Roscheri  lex.  I 
p.  1085  sqq. 

*  latine  subscribitur:  D(omino)  N(ostro)  Gratiano  Aug(usto)  IUI  et  Fl(auio) 
Merobaude  coss. 

'  repetitam.  uides  imaginem  apud  Baumeisterum,  denkmäler^  I  p.  633. 


JQ4  De  hymnis  Orphicis 

in  Omnibus  codicibus  eic  Tucpujva.    an  expellere  licet  testimonium  eius 

dei  sie  maxime  in  Aegypto  exculti^: 

u.  1:  iB  Tov  uTTOxOöviov  vaiujv  bö|uov,  ößpijuöGujue, 
Tapxdpiov  XeijLiuJva  ßa6ucKiov  r\be  XmauTH» 
ZeO  xöovie,  CKTiTrioöxe,  Tab'  lepd  beSo  Trpo0ij|Liu)C, 
TTXouTuuv,  öc  Kttiexeic  Yctinc  KXr|Tbac  otTrdcric. 

adscribo  enim  quae  in  uersu  179  papyri  Parisinae  leguntur: 
46  Kparaie  Tu(piuv  xfic  ctviü  cktitttouxicic 

CKrjTTToOxe  Kai  buvdcra  Gee  öeiuv  dvaH  ktX. 

unum  uero  nunc  eiusdem  dei  hymnum  adhuc  papyri  Parisinae  miseris 

sordibus   obuolutum^   (u.  261   sqq.)    editurus    sum.     hie  erat  nondum 

corruptus: 

ce  KttXeuj  TÖv  irpüjTa  Öeujv  köcjuov  bierrovia, 

ce  TÖV  eiToupaviujv  CKfjirTpov  ßaciXeiov  exovTa, 

ce  lueceövTUJV  tujv  dcTpiuv  Tucpiuva  buvdcTiiv, 

c€  TÖV  dviu  em  tuj  CT€peiJU|üiaTi  beivöv  dvaKTa, 

5  ce  KaXeuj  qpoßepöv,  Tpojuepöv  Kai  qppiKTÖv  eövTa, 

ce  TÖV  beivöv,  djurixavov,  juicoirövripov, 

ce  KaXeiu  Tuqpujv'  ujpaic  dvöjLioic  dfiieTpriTOic, 

ce  TÖV  err'  dcßecTiu  ßeßr|KÖTi  Tiupi  XiTeitu, 

ce  TÖV  dviu  xio"vu^v,  KdTiu  be  irdTOuc  CKOTeeivoO, 

10  ce  TÖV  eTieuKTaiiuv  Moipüuv  ßaciXeiov  ^xo^t«- 

KXrilu),  TravTOKpdTUJp,  iva  )lioi  Tioirjc  ä  c'  epiUTUJ, 

euGiJc  eTrevve\jcr]c  juoi  eTriTpeipric  tc  T^vecGai. 

1  c^  in  uersus  cuiusque  initio  acri  pronuntiatione  productum  esse  patet. 
opYiXov  bie-TTovra  Pap.  öpYiXov  uetatur  (legitur  de  Baccho,  Anthol.  IX  524,  16). 
postulatur  substantiuum.  nulluni  relinquitur  nisi  köc|liov,  cuius  litterae  haud  ita 
longe  absunt  a  traditis.  3  ce  tov  avo)  luecovxujv  acxpujv  xucpujva  buvacxriv  4  ce 
TOV  eui  TU)  cxepeuuiLiaTi  beivov  avaxTa  Pap.  aviw  inferiori  uersui  uindicaui,  lueceov- 
Tiuv  restitui  et  postea  uocem  tuuv  addidi.  5  ce  tov  qpoßepöv  xai  Tpo|uepov  koi 
qppiKTov  eovTa  Pap.  restitui.  6  ce  tov  briXov  ajurixavov  Pap.  AHAON  tolerari  nullo 
modo  potest.  AEINON  subesse  (una  tantum  hastula  adpingenda  est)  putaui, 
quamquam  in  u.  4  beivöv  ävaKTa  legitur.  quod  nullius  momenti  est  in  huius 
aetatis  hymnis:  saepissime  fit,  ut  magi  talia  adhibentes  uersus  intermittant.  — 
praeterea  conferas  CIGr5950:  Aai)iovi  TTepceir)  iroXuiuöpcpuj  iLieicoirovripiu,  quod 
statuae  triformi  subscribitur.  nonne  Typhon  est  Hecatae  quasi  maritus  et  regni 
conlega?  7  lupaicavoYvoic  aiueTpriToic  Pap.  suspicor  in  papyro  ipsa  scriptum 
esse  ANOMOIC,  non  Wesselyi  ANOfNOlC.  9  ckotivou  Pap.  correxi.  11  iroiTicric 
a  ce  epujTuu  Pap.  emendaui.  12  Kai  euGuc  emveucric  luoi  eiriTpeipTic  5e  YevecGai 
Pap.  recuperaui  formas  genuinas. 

*  et  ex  hac  re  colligere  licet  hymnorum  corpusculum  in  Aegypto  redactum 
quidem  esse. 

*  Wesselyus  editor  plane  nil  addidit  nisi  'die  anrufung  Schwingt  sich  zu 
hexametrischen  anklängen  empof.    ne  litterulam  quidem  correxit. 


De  hymnis  Orphicis  IQ5 

quoniam  res  est  de  Typhone,  locum  libri  memorialis  Ampeliani 
(VIII  3)  ibc  ev  TTapööuj  emendare  liceat  adhuc  desperatum:  (Argis  in  47 
Epiro)  'louis  templum  hyphonis  unde  est  ad  inferos  descensus 
ad  tollendas  sortes:  in  quo  loco  dicuntur  ii  qui  descenderunt  louem 
ipsum  uidere'^  deum  illum  serpentiformem  se  oculis  praebuisse  apparet 
sicut  omnia  oraculorum  numina  hanc  formam  induere  solebant.^  ne 
Apollo  quidem  ipse  qui  draconem  Pythium  terrae  filium,  pristinum  ora- 
culi  possessorem,  uicit,  tarnen  ipse  'forma  draconina'  emergere  non 
aspernatus  est.  similis  est  louis  illius  infernalis  condicio  et  Typhonis, 
quem  et  prioribus  temporibus  apud  Graecos  uim  habuisse  infernam 
uestigia  nonnuUa  exstant^  formae  draconinae  permulta.  uocatur  in 
hymno  Orphico  u.  3  Zeö  xöövie  nee  iam  ignoramus  ad  quantos  cae- 
lestes  honores  eum  postea  promouerint.  ergo  templum  illud  unde  ad 
inferos  descendebatur  erat  louis  Typhonis,  nee  quidquam  impedit 
quin  posteriore  demum  aeuo  sie  adnominatum  esse  sumas. 

ipsi  uero  descendamus  ad  inferos  paullo  altius.  ad  eos  enim  in 
dies  magis  delata  sunt  Orphicae  poeseos  olim  splendidissimae  fragmenta 
macerrima.  iam  non  aureas  adimus  tabulas  sed  plumbeas.  nam  ante 
hos  paucos  dies  publici  iuris  facta  sunt  quae  leguntur  in  septendecim 
lamminis  plumbeis  a  muliercula  sane  doctissima  britannica^  diris  com- 
pletae  sunt  et  deuotionibus;  quas  nunc  non  curamus,  quamuis  multa 
desiderent  non  criticam,  sed  criticum.  sed  tabellarum  ad  unam  omnium 
precibus  praemittuntur  quattuor  uersus  hexametri  compluriens  pleni 
seruati,  plerumque  praeter  nonnullas  litteras  deleti  aut  non  satis  expli- 
cati.  hymni  mystici  fragmentum  tenemus.  atque  cum  reperta  sint  haec 
monumenta  plumbea  in  Cypro  (prope  Curium  oppidum,  haud  procul 
ab  agro  Paphiaco),  quae  insula  Ptolemaeorum  regno  addicta  erat,  dum 
Romanorum  signa  et  illuc  delata  sunt,  a  uero  uix  ne  aberrem  uereor  48 
arbitratus  hosce  uersus  eidem  generi  carminum  Orphicorum  uel  magi- 
corum  adscribendos  esse,  quod  in  Aegypto  maxime  floruisse  perspicuum 
est.  ipsa  uero  inspicias  uerba,  quantum  potui,  emendata: 
Aai)Liov€C  Ol  Kaxd  fr\v  koX  Öai|i0vec  oWivec  ^cie 
Ktti  TTttiepec  TraTepuiv  Kai  juritepec  dviieveipor^ 


*  desperauit  etiam  Rohdeus,  Psyche  p.  1 12.    antea  tentauere  Trophonii'  pro 
'hyphonis'.  '  cf.  Rohdeum  1.  c. 

"  apud  Aristoph.  ran.  847  sq.  ei  agnus  niger  immolandus  dicitur. 

*  edidit  'Miss  Macdonald'  in  'proceedings  of  the  society  of  biblical  archaeo- 
logy\  vol.  XIII,  part.  4,  1891.   p.  160-190. 

*  [Luc.  de  motte  Peregr.  36:  6ai|uov€c  lunTpiuoi  koI  iraxpqJoi,  hilacQi  ne  eöjxe- 
vöc]    <1.  dvTiöveipoi,  ut  dvTiiraic  al.    Usener  in  seinem  Handexemplar.) 


106  ^®  hymnis  Orphicis 

oiTivec  ev0db€  KeTc0e  Kai  oixivec  evGa  Ka0fic9e 

0u|uöv  otTTÖ  Kpabir|c  TToXuKiibea  irpöcGe  Xiiröviec  — . 

^  bejuovec  —  k€  bejuovec  in  tab.  2  Ke  bis  in  tab.  avxievipioi  tradi  dicitur. 
dvTidveipoi  coniectari  uidetur  quae  edidit;  sie  quidem  uertit.  cassum  est.  hoc 
mihi  meditanti  unum  relinquitur:  evepoi  sunt  Inferi,  quae  uox  deriuatur  a  vep, 
evep  (cf.  ^V€p9e  etc.).  veprepoi,  evepxepoi  Inferi.  veipöc*  ^cxaToc,  KaTiuTaroc  Hesych. 
(cf.  ev  X0OVÖC  veipoic  juuxoic  Lycophr.  896).  nil  obstat  quominus  eveipoi  formam 
accipiamus.  sed  de  forma  dvxieveipoi,  quam  seruare  paene  cog-imur,  ipse  de- 
spero.  an  inest  aliquid  quod  simile  sit  illis  dvTioic  uel  dvxaioic  ita  ut  jurirepec 
dvxaiai  essent  et  öai|u6via  eveipa?  cf.  p.  21  <(oben  S.  84>.  3  k€oitiv€C  evGabe 
KicGe  Ke  oiTivec  €v0a6e  KaOecxe  in  tab.  4  irpocGe  Xaßovxec  compluriens  legitur, 
semel  in  tab.  XI  Xaßovxec  Xiirovxec.  puto  Xaßovxec  errore  scriptum  esse,  quoniam 
sequi  solent  haec:  irapaXdßexe  xoö  .  .  .  xöv  6u)liöv. 

ipsas   mortuorum   immo   patrum    et    matrum  animas   et  omnes    inferos- 

imprecantur.     de    hac   animarum    aduocatione,    quae    auxiliarentur   uel 

potius  malum  inferrent  hominibus  deuotis  eosque  perterrerent  et  inter- 

ficerent,  nunc  diligenter  agere   uelle   audacis   esset  ^     quam  hie  satis 

habeo    demonstrasse    uere    Orphicam    esse.      Titanes    enim,   hominuni 

generis  auctores  nunc  Tartarum  percolentes,  aduocantur  in  hymn.  XXXVII 7 

his  precibus: 

xjjjLäc  KiKXricKuu  jufiviv  xa^CT^nv  dtTTOTrejUTreiv 

€1   TIC   dlTÖ   XÖOViuJV   TTpOYÖVUUV   OIKOICI   7TeXdc0Ti. 

sane  habent  cur  talia  petant;  sciunt  enim  quibus  artibus  sibi  admittant 
daemonas  inimici.  namque  praeter  maiorum  animas  ingentem  daemonum 
gregem  in  terrae  uel  Tartari  profundis  uersari  opinabantur  homines  illi 
magis  ridiculi  quam  religiosi.  paullulum  subsistamus  in  hoc  papyri 
Parisinae  catalogo  uere  Acheruntico  (u.  1443  sqq.):  '€pjufi  xöovie  Kai 
49  'GKdxri  xöovia  Kai  'Axepujv  xöövie  Kai  'Q|uoq)dYoi  xöövioi  Kai  0ee  xöövie 
Ktti  "Hpujec  xöovioi  Kai  'Ajucpidpae  xöövie  Kai  'AjLicpiTToXoi  x^ovioi  Kai 
TTveujuara  xöövia  Kai  'Ajuapriai  xöoviai  Kai  "Oveipoi  xöövioi  Kai  "OpKOi 
X0ÖVIOI  Kai  'ApiCTri  x^ovia  Kai  Tdpiape  xöövie  Kai  BacKavia  x^o^ioc, 
Xdpu)v  xöövie  Kai  'Oirdovec  x^övioi  Kai  veKuec  Kai  oi  baijuovec  Kai 
ipuxai  dvGpiüTriuv  TrdvTiuv  .  .  .  MoTpai  Kai  'AvdTKri  .  .  .  .  öti  dmKaXoOiuai 
Xdoc  dpx€Tovov,  "Gpeßoc  q)piKT6v,  Ciufoc  Obuup,  vdjuaTa  Ar|0r|C  dxe- 
poOcid  Te  Xijuvri  "Aibou,  'EKdir)  Kai  TTXovjieO  Kai  Koupa,  'Gp|ufi  x^övie,. 
Moipai  Kai  TToivai,  'Axepujv  Kai  AiaKe  TiuXujpe  KXei0pujv  tüjv  dibiujv. 
uix  respiramus  Tartari  terroribus  paene  oppressi.  sed  ne  hie  quidem 
melioris  aeui  memoria  plane  oblitterata  est,  uersuum  dico,  quos  elicias: 
Kai  xaoc  dpxeyovov,  "Gpeßoc  cppiKiov,  Ctutöc  ubuup, 
Tr|v  t'  "Aiboc  Xijuvtiv,  dxepoucia  vdjuaxa  Ar|0r]c. 


^  cf.  nunc  Rohdei  librum,  Psyche^  passim. 


De  hymnis  Orphicis  jQy 

nil  nunc  de  aliis  Orci  administratoribus,  de  'ßjuocpdToic,  quibus  haud 
dubie  comparandus  Aiövucoc  ujjuTiCTrip  et  Hecata  capKocpdtToc  (in  hymno 
lunae  p.  295  u.  54  Abel.),  nil  de  fascinationis  dea  (BacKavia  xöovia), 
cui  bene  adscriberetur  ipsius  Mortis  deus  ö  ßdcKavoc  baijucuv,  qui  oc- 
currit  in  carminibus  sepulcralibus/  nee  desunt  BacKdvioi  "Aibou  (in 
Kaibelii  epigr.  n.  381): 

-  evödbe  KeTjLiai 

dpTTa[x]66i[c'  'Aibeuj]  BacKavioic. 
[ßJacKaivei  enim  toic  dTa0oT[c  'Aiönc],   quem   uersum  (Kaibel.  ep.  496) 
sie  recte  restitutum  esse  a  Buechelero  iam  elucet.     ne  ab  bis  quidem 
horridis   mostellis   absterrentur  poetae   magici   Orphici;  legitur  in  pap. 
Paris,  u.  1399  sqq.: 

Moipaic,  'AvdTKttic,  BacKOcOvaic,  Aoimjj,  (1>0övuj, 

q)6i)Lievoic  dtupoic  ßiojuöpoic  TrejUTriu  Tpocpdc, 

TpiKdpave  vuxia,  ßopßopoqpöpßa  TTapGeve, 

KXeiboöxe  TTepceqpdcca,  Tapxdpou  KÖpri   -.^ 

si  adsumas  ex  antecedentibus  rpocpdc  illas  esse  dirö  toO  aprou,  ou  50 
ecGieic  öXiyov  kqI  KXdcac  ttoiticov  eic  eTrrd  iijujjuouc  Kai  eXGibv  öirou 
fipuuec  eccpaTncav  ktX.,  iam  perspicuum  est  hie  seruari  uetustissimum 
'GKdTTic  beiTTVUJV  ritum  religiosum,  qui  simillimus  est  Xurpujv  Atticorum 
caerimoniis  sacris.  Aristophanes  dixisse  fertur  tujv  fipujujv  eivai  id 
TTiTTTovia^  ne  alia  addam:  unde  talia  manauerint  et  certis  quasi  legibus 
sint  circumscripta,  iam  doceat  Laert.  Diog.  VIII  34  et  Suidas,  qui  ad- 
notant  illud  xd  irecövra  dTTÖ  TpaireZiTic  |ufi  dvaipeicGai  symbolum  esse 
Pythagoreum,  quod  olim  iam  Crotoniatis  traditum  sit*.  sed  ea  mittamus 
contenti  quod  in  uno  exemplo  originem  Pythagoream  et  si  addere 
liceat  Orphicam  enucleasse  contigit.  quod  difficillimum  est  in  bis  rude- 
ribus.  nee  tamen  non  sunt  in  his  farraginibus  quae  ualeant  ad  hymnos 
Orphicos  recte  intellegendos.  uelut  in  Typhonis  hymni  XVIII  u.  U: 
8c  Kpaieeic  GvriTÜuv  Gavdrou  x^piv,  ui  iroXubaTjLXOV. 


1  in  Kaibelii  epigr.  graec.  345.  348  ((pGovepöc  bai^ijuv).  569.  579  (BdcKavoc 
f|  00ÖVOC).  satanas  etiam  a  poeta  christiano  uocatur  BdcKavoc  1140,  4.  cf.  Flut, 
uirt.  mul.  XVII:  BacKdvou  rdcpoc  (uüc  ßacKdvtu  Tivi  rOxri  -n^v  TToXuKpixnv  (pBovr)- 
GeTcav  diroXaöcai  tOjv  niaOuv).  cf.  quae  de  hoc  daemone  et  Romanorum  Inuidia 
adnotauit  Eduardus  Schwartz  in  ind.  lect.  Rostoch.  aest.  1889,  p.  10  sqq. 

'  constituit  uersus  Herwerdenus  in  Mnemosynes  uol.  XVI,  1888,  p.  5.  non 
amplius  haec  tracto,  quoniam  multa  essent  exponenda,  quibus  nil  est  cum 
hymnis  Orphicis. 

8  fragm.  305  Kock.  praeterea  cf.  Athen.  X  427  E  (Euripides*in  Bellerophonte 
similia  memorauit).    Plin.  nat.  hist.  XXVIII  §  27. 

*  Jamblich.  uit.  Pyth.  126.  cf.  Rohdeum,  Psyche,  p.  224  adn.  1,  Prellerum 
et  Robertum  in  myth.  graec,  p.  325  adn.,  Voigtium  in  Roscheri  lex.  I  p.  1073. 


jQg  De  hymnis  Orphicis 

ne  Ruhnkenio  quidem  et  Hermanno  licuit  mutare  in  TioXubeTiuov,  quam- 
nis  recte  de  eo  monerent.  memorantur  in  tabulis  Cypricis  baijuovec 
TToXudvbpioi.  TToXudvbpiov  est  locus  sepulcrorum^  nee  dubium  quin 
TToXuavbpoc  unum  fuerit  ex  illis  nominibus  quibus  ornauerint  deum 
potentissimum  illum,  qui  omnium  regum  sane  ditissimus  imperat  plurimis 
uiris,  qui  TioXudvbpioi  uocari  possunt.  TToXijavbpoc  nomen  est  hominis 
CIGr  1705.  num  alius  est  TToXubai|uujv  ac  TToXiJavbpoc,  praesertim  cum 
avbpac  mortuos  uocari  baijuovac  minime  lateat?  Polydaemon  est  homi- 
nis nomen  apud  Ouidium  metam.  V  84  (-  ^Semiramis  Polydaemona 
sanguine  cretum'). 

unum  uero  luculentissimum  superest  testimonium,  quo  probetur 
51  homunciones  illos  magicos  re  uera  fuisse  poetarum  Orphicorum  discipulos 
quamuis  degeneros  et  stolidos.  et  in  Cypricis  tabellis  (tab.  I)  aduocatur 
'PriHixOujv  (traditur  'PticixOuüv),  quod  nomen  haud  raro  inter  papyrorum 
litteras  dignoscebatur.  en,  et  TtiHixöövti  (trad.  'Pr|cix6övri)  in  eadem 
lammella  occurrit.  sed  ne  longus  sim;  haec  comparanda  remitto: 
hymn.  Orph.  LII  (AiovOcou)  u.  9  sq.  tab.  plumb.  Alexand.* 

'PriHixOtuv  TTupicpefTec  .  ,  opeoßaZla  'Pr|Hixöujv 

oupecicpoiToc  TTupiTiriTa 

pap.  Leid.  V  9,  10  sq.  =  pap.  Par.  3175  sq. 
TÖv  opeoßaZiaTpct  -  'PriHixÖuJV 
TÖv  TTupiTTTiTavuH 
ecce  historiola  quaedam  in  nuce  uersuum  mysticorum;   uides  poeseos 
sacrae    ruinas    et    discerptiones.      äbripimur   ad    insaniae    lusus    atque 
inuenta  stupiditatis,   quas   persequi  taedet.     de  hymnis  nobis  agendum 
erat:   adumbrauimus  quomodo  propagati  sint  ad  magorum  sodalicia  ac 
uigilias,  quo  intrandum  est  ei  qui  carminum  mysticorum  fragmenta  omnia 
conlecturus  est;   his   in   tenebris    postremae  reliquiae   indagandae  sunt 
Orphicae  poeseos  olim  illustrissimae.     nam  sicut  fit  in  litterarum  histo- 
ria:   multa  quae  olim  erant  splendidissima  ac  pulcherrima,  nobis  alta 
nocte  obuoluta  sunt;   quae  sordida  et  tenebrosa,  nimium  quantum  illu- 
cescunt.     attamen  tenebras  conlustrare  philologi  est. 

EPILOGUS 
DE  HYMNORUM  MYSTICORUM  GRAECORUM  MEMORIA  PROPAGATA 

52  Haec  proponere  uolui  de  carminum  Orphicorum  reliquiis.    liceat  in 

fine  commentationis  a  limine  salutare  sequentia  eiusdem  poeseos  fata. 

^  Dion.  Halic.  I  14  et  saepius. 

^  apud  Wachsmuthium ,  mus.  rhen.  XVIII  563.  de  tabularum  plumbearum 
et  papyrorum  consuetudine  iam  dixi  in  prolegomenis  papyri  magicae  a  me  editae 
in  suppl.  ann.  philol.  XVI,  p.  791  <oben  S.  46>. 


De  hymnis  Orphicis  jQg 

in  Aegypto  uerisimile  est  hymnorum  Orphicorum  librum  redactum 
esse.  Bacchi  profecto  cultus  Alexandriae  maxime  floruit.  Alexandrum 
enim  ipsum  ad  Bacchi  honores  efferebant,  Ptolemaeum  appellabant  veov 
Aiovucov.  pompam  dei  magnificentissimam  omnibus  signis  mysticis 
omatam  descripsit  Callixenus  Rhodius  in  libro  de  urbe  ipsa  edito  (unde 
Athen.  V  25-33).  sicuti  Alexandrum  mundum  expugnare  uiderant,  nunc 
Bacchi  expeditionem  imprimis  Indicam  celebrabant  poetae  inde  ab 
Euphorione  Chalcidensi  quod  sciamus.^  Dionysius  BaccapiKd  edidit 
omniumque  clarissimus  Nonnus  ingentem  panxit  librum  Bacchicum,  qui 
permultis  Orphicorum  placitis  et  narratis  perspicuus  est  (cf.  Abelii  Or- 
phica  p.  224  sqq.).  quin  etiam  hymni  haud  dubie  Orphici  insunt  (XL 
369-410  Herculis,  XLIV  191-199  Lunae,  cf.  Diltheyum  in  mus.  rhen. 
XVII  p.  383).  et  Orphei  ipsius  iter  infernum  tractabant.  Hermesianactem 
(Athen.  XIII  8  p.  597)  uidetur  postea  imitatus   esse  Lucanus  Romanus. 

carmina  uero  Gnosticorum  quin  ad  exemplar  hymnorum  antiquorum 
mysticorum  i.  e.  Orphicorum  composita  sint  uix  est  quod  dubites.  papyri 
enim  quae  carminibus  Orphicis  scatent  prima  sunt  gnoseos  documenta.^ 
Alexandriae  hymnos  sacros  panxerunt  Basilides  Valentinus  Naasseni. 
Naassenorum  psalmum  metris  antiquis  ^liturgicis'  —  sit  uenia  uerbo  - 
compositum  esse  egregie  demonstrauit  Usenerus.^  quid  uero  de  Ophitarum 
sexstrophis,  quasOrigenes  in  libro  contra  Celsum  VI  31  tradit,  iudicandum  53 
est?  'in  graecis  uerbis',  inquit  Christius,  'nee  metricarum  nee  rhythmi- 
carum  legum  uola  aut  uestigium  indagari  potest'.*  itane  uero?  licet 
alii  uersus  plane  deleti  sint,  ultimus  uersus  compluriens  sie  legitur: 

f)  xcipic  cuvecTiu  jLioi,  vai,  irdtep,  cuvecTiu. 
quid  quod  Sotadeus  est  uersus?  quas  res  sane  sudore  dignas  nunc 
mittamus.  gnosticis  quos  constat  hymni  christiani  quasi  patres  fuisse 
licuit  haurire  e  fontibus  poeseos  Graecae  mysticae  nobis,  pro  dolor, 
reclusis.  inde  hausit  Nepos,  Aegyptius  episcopus,  Arius,  presbyter 
Alexandrinus.^  uerum  eos  omnes  eiecit  ecclesia  catholica  uictrix  eorum- 
que  musica  blandimenta.  iam  coeperunt  nil  aliud  cantare  homines 
christiani  nisi  ludaeorum  psalmos.  quae  fuerint  whai  et  ö^voi,  de 
quibus  dicit  Paulus  apostolus  nescimus  (Ephes.  V  18;  Col.  lU  16),  nee 
magis  quae  Christiani  Bithynii  cantauerint  Christo  quasi  deo  (Plin.  epist. 
X  96).    contra  uidemus  ipsi  nonnullas  uetustas  cantuum  ecclesiasticorum 

*  Icf.  E.  Maass,  Aratea  1892,  ubi  de  Neoptolemo  Pariano  p.  204  sqq.,  im- 
primis 207.]  *  cf.  quae  exposui  Äbraxas  p.  133,  152  et  al. 

^  aligriechischer  versbau,  p.  90  et  94. 

*  in  anthologia  graeca  carminum  christianorum  ed.  Christ  et  Paranikas,  p.  XVI. 
5  Euseb.  hist.  eccles.  VII  24, 4.    cf.  Buhlium  der  griechische  kircheng esang 

bis  zur  zeit  des  Chrysosiomus,  in  annal.  hist.  theol.  XVIII  p.  207  sqq. 


wo  De  hymnis  Orphicis 

reliquias.  psalterium  illud  Salomonis  quod  paullo  post  Hierosolymam 
deletam  confictum  esse  constat',  carmina  sunt  ecclesiae  in  apocal. 
loannisl  4-8,  V  9,  XI  15-19,  XXI  3-8,  dein  apud  Lucam  I  46-55, 
68—79,  II  29-32  (quae  omnia  in  parte  euangelii  postea  adserta  legun- 
tur),  postea  in  act.  apost.  IV  24-31,  quae  omnia  nil  sunt  nisi  centones 
e  psalmis  aliisque  Hebraeorum  libris  sacris  confecti.  inter  ea  cantica 
quae  ueteris  testamenti  uersioni  graecae  in  codice  saec.  V.  Alexandrino 
subiuncta  sunt,  quippe  quae  cantarentur  a  Christianis,  praeter  psalmos 
nonnullosque  alios  ueteris  testamenti  locos  nil  legitur  nisi  illae  ipsae 
54  psalmodiae  in  Lucae  libello  traditae.  euanuit  antiquae  precum  formae 
memoria,  quin  etiam  damnata  erat,  nondum  prorsus  euanuisse  a.  340 
docemur  narratiuncula  de  Apollinaribus,  seniore  presbytero  et  iuniore 
lectore  ecclesiae,  seruata,  quos  Epiphanium  sophistam,  qui  hymnum  in 
Bacchi  honorem  confectum  recitasset  omnesque  touc  djuur|Touc  et  ßeßri- 
Xouc  ex  more  abire  iussisset,  non  fugisse  traditur.  quam  ob  rem  Theo- 
dotus  qui  Laodiceae  munere  episcopi  fungebatur  iis  interdixit  usu  sa- 
crorum.^  eadem  in  urbe  patres  ad  concilium  conuocati  uetuerunt  ne 
quid  aliud  in  ecclesia  cantaretur  nisi  psalmi  traditi  (concil.  Laodic.  canon 
LIX).  sie  iam  Hebraeorum  poeseos  amnis  grande  aestuans  quasi  inun- 
dauerat  campos  antea  uersicolores.  tamen  Orphei  ne  tum  quidem  obliti 
sunt:  in  coemeteriis  enim  Romanis  qua  forma  Christum  lubentius  orna- 
bant  quam  Orphei  omnia  carminibus  permulcentis!^  an  putas  mero 
casu  hoc  factum  esse,  ut  hunc  celeberrimum  cantorem  eligerent,  si 
legeris  saepissime  illo  aeuo  Christum  et  Orpheum  opponi  aut  ut  dam- 
narent  falsae  religionis  antistitem  et  poetam  aut  ut  nonnuUa  ueritatis 
christianae  iam  praesagiuisse  prophetam  mysticum  affirmarent. 

hisce  quae  leuissimo  stilo  circumscripsi  de  hymnorum  illorum  memoria 
magis  magisque  euanescente  ueniam  peto.  sed  quanto  luculentius  fit 
iisdem  saeculis  quibus  carminum  unus  iste  libellus  uere  in  rebus  sacris 
antiquis  recitatorum  nobis  traditus  confectus  uel  certe  redactus  sit, 
paullo  post  Dauidis  libris  eiecta  esse  carmina  Orphei  et  plane  obliuioni 
tradita,  tanto  magis  discendum  est,  quo  studio  tractandae  sint  quas 
temporum   inuidia  nobis  non   ademit  reliquias   hymnorum  Orphicorum. 

^  cf.  Schuereri  librum,  neutestamentliche  Zeitgeschichte,  p.  140  sqq.  illud 
psalterium  cum  litteris  apocalypticis  ualde  coniunctum  esse  docet  quod  Baruchi 
apocal.  c.  V  paene  idem  est  ac  psalm.  Salom.  XI. 

^  Sozomen.  hist.  eccles.  VI  25. 

^  cf.  Piperum,  mythologie  der  christlichen  kunst,  p.  121  sqq.  F.  X.  Kraus, 
Roma  sotteranea,  die  römischen  katakomben,  p.  195  sqq.  adnotare  iuuat  simil- 
limas  Orphei  imagines  antea  imprimis  in  numis  Alexandrinis  (Marci  Aurelii, 
Antonini)  inueniri,  cf.  Piperum  1.  c,  Friedlaenderum  et  Salletum,  das  königliche 
münzkabinety  p.  221,  n.  869. 


IV 
DIE  ZAHL  DER  DRAMEN  DES  AISCHYLOS^ 

Man  pflegt  die  überlieferten  Zahlen  der  Dramen  des  Aischylos  ent- 141 
weder  als  unvereinbare  verschiedene  Angaben  nebeneinander  stehen  zu 
lassen  oder  durch  gewaltsame  Änderung  und  ebenso  künstliche  als 
unwahrscheinliche  Kombination  zur  Übereinstimmung  zu  zwingen.^  Je 
überflüssiger  es  wäre,  eine  neue  ähnliche  Rechnungskünstelei  vorzulegen, 
um  so  nützlicher  wird  es  sein,  wenn  sich  in  jenen  Zahlen  durch  eine 
einfache  Beobachtung  vollkommen  übereinstimmende,  beste  alte  Tradition 
erkennen  läßt.  Wir  haben  ja  bei  Euripides  gelernt,  wie  sich  noch  viel 
mannigfaltigere  Zahlenangaben  als  solche  Überlieferung  erwiesen. 

Dies  ist  der  Tatbestand  unsrer  Nachrichten  über  die  Dramenzahl  des 
Aischylos:  Suidas  s.v.  eTpavye  be  Kai  eXeTcTa  Kai  xpaTtubiac  evevriKOvra, 
Vita  Aesch.  Medic.  (§  12  bei  F.  Scholl  vor  Ritschis  Ausg.  der  Septem) 
€Troir|cev  bpdjuaxa^  o'  Kai  erri  toutoic  carupiKa  djuqpi  xd  e'  (2  codd.  recc. 
djucpißoXa  e').  Hinter  der  Vita  folgt  in  der  mediceischen  Hs.  ein  Katd- 
XoTOC  Tüuv  AicxOXou  bpaiudioiv,  der  73  Titel  gibt  (nach  neuester  Kol- 
lation von  Vitelli  in  Weckleins  Aischylosausg.  Berlin  1885,  S.  471). 
In  Wirklichkeit  sind  es  72:  denn  in  der  untersten  Reihe  der  ersten 
Kolumne  kann  ^puTioi  nichts  anderes  sein  als  versehentliche  Ditto- 
graphie  aus  dem  folgenden  OpuTec.  Das  zeigt  sich  auch  darin,  daß 
der  Schreiber,  der  nun  mit  der  Reihe  infolge  dieses  Versehens  nicht 
auskam,  einen  Titel  noch  unter  die  zweite  Kolumne  schrieb,  die  so 
allein  19  Titel  hat,  während  die  anderen  deren  18  haben. 

Es  sind  also  4  Kolumnen  mit  18  Titeln,  die  von  links  nach  rechts  142 
durchgehend  alphabetisch  geordnet  sind.  Es  fehlen  aber  Titel  in  diesem 
Katalog,  die  wir  sonsther  kennen.  Es  fehlt  z.  B.  auch  der  Oiveuc,  den 
doch  dieselbe  Mediceerhs.  in  der  Hypothesis  der  Perser  angibt:  den 
mußte  doch  der  Verfertiger  des  Katalogs  kennen.  Nur  den  rXaöKoc 
iTÖvTioc,   jedenfalls   Satyrspiel,   verzeichnet   er,   den  TXaOKOc  TTotvieuc, 

»  <Rhein.  Mus.  XLVIII  1893  S.  141ff.> 

*  z  B  F  Scholl  de  locis  nonnullis  ad  Aesch.  vitam  et  ad  historiam  tragoed. 
graec.  pertin.  epistula  Jenae  1876.  Susemihl  de  vita  Aeschyli  quaestiones  epi- 
criticae,  ind.  schol.  Gryph.  Winter  1876/77,  S.  5  ff.  u.  a.  o      •*  n-    • 

»  bpduaxa  bezeichnet  öfter  ungenau  die  Tragödien  allein  z.  B  vit.  Eunp. 
ciLZexai  h^  aOTOÖ  öpd^xaT«  2c;'  .  .  .  .,  carupiKd  b^  n'.  TpaTH^biai  bei  Suid  meint 
natürlich  die  Satyrspiele  mit,  was  nicht  'ungenau',  sondern  sehr  richtig  und 
eigentlich  gesagt  ist. 


112  Die  Zahl  der  Dramen  des  Aischylos 

das  dritte  Stück  der  Perser,  aber  nicht.^  Den  TTaXajuribric  nennt  das 
Schol.  des  Med.  zu  Prom.  v.  473,  der  Katalog  des  Med.  hat  ihn  nicht. 
Kurz,  es  ist  das  Fehlen  solcher  Titel  in  der  sonst  so  sorgfältigen  Liste 
des  Med.  nur  durch  äußeres  Versehen  erklärbar,  durch  einen  Verlust, 
den  dieselbe  im  Laufe  der  Zeit  erlitten  hat. 

Sollte  eine  Kolumne  oder  ein  Teil  der  Kolumne  ausgefallen  sein?^ 
Falls  nicht  schon  weitere  Verwirrungen  nach  diesem  Verluste  eingetreten 
sind,  müssen  sich  die  übrigen  bekannten  Titel  bei  der  Art  der  alpha- 
betischen Ordnung  des  Katalogs  in  eine  Kolumne  gruppieren.  Übrigens 
ist  die  alphabetische  Ordnung  natürlich  wie  bei  allen  diesen  Listen  nur 
im  ersten  Buchstaben  genau  (hier:  eujaevibec  eiriTovoi  eXeucivioi,  i(piTe- 
veia  iHiuJV  iKexibec,  KipKr)  xripuKec  Käpec,  ToHöxibec  iriXecpoc  xpoqpoi  u.  a.). 
Machen  wir  also  mit  jenen  Titeln  die  Probe.  fXaÖKOc  TToTvieuc  läßt 
sich  in  eine  5.  Kolumne  als  3.  Reihe  rechts  neben  fXaÖKoc  TTövtioc 
setzen,  s.  den  nebenstehenden  Katalog;  'kpeiai  paßt  in  dieselbe  Kolumne 
rechts  neben  '  IcpiTeveia,  TTaXa|ur|bTic  richtig  in  dieselbe  neben  'OctoXötoi, 
und  man  sehe,  wie  sich  TTpo^nÖeiJC  TTupKaeuc,  das  richtig  neben  den 
TTupcpöpoc  zu  stehen  kommt ^  und  Cicucpoc  TrerpoKuXicTric,  der  ebenso 
144  neben  den  bpaireTTic  kommt,  wie  sich  <t>iveijc  und  'QpeiGuia  nun  von 
selbst  einordnen.     Ist  das  Zufall?     Gewiß  nicht. 

Aber  ich  habe  noch  3  Titel,  die  man  nennt,  beiseite  gelassen.  Ein- 
mal die  GaXajLioTToioi.  Man  nimmt  sie  seit  Hermann  (Abh.  der  sächs. 
Ges.  d.  W.  IV,  1847,  S.  123  ff.,  Ausg.  I  329)  und  Welcker  (Rh.  Mus.  XIII 
189  ff.)  wohl  meist  identisch  mit  den  AitOtttioi  an,  und  diese  nennt 
der  Katalag  schon  in  der  3.  Kolumne  oben.  Diese  Annahme  wird  nun 
sicher,  wenn  unsre  Deutung  des  Katalogs  richtig  ist.  Das  Stück  ist  in 
irgendeiner  späteren  Überlieferung  Aitutttioi  f|  GaXajuoTTOioi  genannt 
worden.  Ferner  wäre  noch  der  Kukvoc  vorhanden,  aber  'huius  nomine 
inscriptam  fuisse  fabulam  non  licet  affirmare',  sagt  Nauck  trag,  fragm.^ 
p.  39.     Man  darf  nicht  aus  dem  Verse  der  Frösche  963  oiib'  eHeTrXriT- 


^  In  der  Hypothesis  des  M.  steht  nur  rXaOKoc,  in  den  anderen  Hss.  aber 
rXaöKoc  TToTvieOc;  das  ist  nicht  wertlose,  sondern  richtige  Überlieferung.  Mögen 
beide  Stücke  ursprünglich  nur  fXaöKoc  gebeißen  haben,  das  Stück  der  Perser- 
trilogie  war  der  TToTvieOc,  wie  wohl  jetzt  ziemlich  allgemein  angenommen  wird, 
s.  auch  V.  Wilamowitz  Herakles  I  204,  Anm.  167. 

*  Den  Gedanken  hat,  soviel  ich  sehe,  nur  Bergk  einmal  in  einer  Anmerkung 
der  gr.  Litgesch.  III  282,  Anm.  35  hingeworfen,  aber  ihn  weder  begründet,  noch 
die  Konsequenzen  gezogen,  noch  mit  den  sonst  erhaltenen  Titeln  die  Probe  gemacht. 

*  Den  TTpo|uyi0euc  irupKaeuc  halte  ich  für  sicher  als  Satyrspiel  der  Perser- 
trilogie.  Ursprünglich  hat  es  natürlich  nur  TTpoiuTieeOc  geheißen.  TT.  irupK.  ist 
aber  bezeugt  durch  Pollux  IX  156,  X  64,  ein  Satyrspiel  Prom.  außerdem  sicher 
durch  Plutarch  de  util.  ex  in.  perc.  II  p.  86  f  (s.  Trag,  graec.  fragm.  ed.  Nauck  *  p.69). 


Die  Zahl  der  Dramen  des  Aischylos  113 

143 


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5  Q.  Ö 


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Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  " 


1J4  D^®  Zahl  der  Dramen  des  Aischylos 

Tov  auToOc  KuKVOuc  TTOiujv  Kai  Me|uvovac  KobiuvoqpaXapOTTuuXouc  ein 
Stück  KuKvoc  folgern;  der  Unhold,  sei  es  der  Aressohn,  den  Herakles 
bezwang,  sei  es  der  Poseidonsohn,  den  Achilleus  erschlug,  kann  in  gar 
manchem  andern  Stück  vorgekommen  sein/  Es  bleibt  noch  übrig  die 
'A\K|Lir|vr|.  Sie  wird  nur  einmal  genannt  bei  Hesychius  I  p.  258.  Ai- 
cxuXoc  1c9juiacTaic  Kai  'AXKjurivr).  Man  hat  daraufhin,  da  sonst  nie  etwas 
davon  erwähnt  wird,  eine  Alkmene  des  Aischylos  nicht  annehmen  wollen 
und  entweder  'AjuujuOuvr]  geändert  oder  ein  Elipittiötic  oder  einen  andern 
Namen  vor  'AXK)ur|vr]  als  ausgefallen  betrachtet.  Auch  wir  stehen  hier 
vor  der  Schwierigkeit,  daß  wir  zwischen  Aiivaiai  Tvncioi  und  vöGoi 
nicht  werden  'AXKjurjvri  gesetzt  denken  wollen.  Es  mag  hier  schon  nach 
Verlust  der  letzten  Kolumne  wieder  Veränderung  zugegangen  sein,  und 
es  ist  ja  ganz  natürlich,  daß  zu  den  AlxvaTai  Tvricioi  die  Airvaiai 
145v6öoi,  falls  sie  mit  der  Kolumne  in  Wegfall  geraten  waren,  wieder  zu- 
gesetzt werden  mußten.  Zwischen  AiTvaiai  und  'A|uu|uiuvri  würde  dann 
gerade  'AXK)ur|vr|  passen,  auch  nach  der  schärferen  alphabetischen 
Ordnung,  die  gerade  bei  den  8  A-Stücken  beobachtet  worden  ist,  und 
wäre  in  dem  schon  verstümmelten  Katalog  durch  die  wiedereingesetzten 
AiTvaiai  vöGoi  verdrängt.  Doch  wage  ich  hier,  da  eine  Verwirrung  vor- 
liegen mag  und  die  'AXKjurjvri  nicht  einmal  sicher  ist,  ganz  und  gar  nicht 
zu  entscheiden. 

Aber  ich  denke,  es  ist  zwingend:  wenn  der  gelehrte,  so  sorgfältig 
geordnete  Katalog  Stücke  nicht  hat,  die  der  Verfasser  unzweifelhaft 
kennen  mußte,  wenn  also  dieses  Fehlen  nur  durch  äußern  Verlust  der 
Überlieferung  erklärbar  ist,  wenn  die  Probe,  ob  diesen  Verlust  die 
schon  in  Kolumnen  geordnete  Liste  durch  Abhandenkommen  einer  Ko- 
lumne erlitten  hat,  so  vollständig  gelingt,  daß  sich  7  der  sonst  genannten 
Titel  in  eine  5.  Kolumne  am  rechten  äußern  Rand  des  Blattes  fügen 
und  nur  gerade  die  (2  bzw.  3)  Titel  nicht  passen,  die  auch  sonst  schon 
die  zweifelhaftesten  waren,  so  hat  eben  der  Katalog  bei  einem  Vorfahr 


^  z.  B.  glaube  ich  wohl  wahrscheinlich  machen  zu  können,  daß  er  in  den 
Mucoi,  die  verschieden  vom  TriXecpoc  sind,  vorkam.  Kyknos  fiel  am  Kaikos 
(Sen.  Troad.  237,  Agam.  216).    Vgl.  Fragm.  der  Mucoi  144  N  ^: 

TTOTainoO  KaiKOU  x^^'^P^  irpOuroc  öpYeuOv, 

ei»xaic  bk.  cujZioic  beciröxac  iraiuüviaic. 

Ein  Grieche  fordert  den  Priester  auf,  für  seine  Herren  zu  beten,  denen  der  Un- 
hold Verderben  droht;  Achilles  rettet  dann  alle.  Weicker  sagt  'ein  Diener  spricht 
für  seinen  Herrn,  den  leidenden  Telephos',  aber  es  heißt  ja  becTröxac!  Ich 
wüßte  die  Verse  nicht  anders  als  auf  Kyknos  zu  deuten.  Doch  müßte  ich  noch 
weiteres  über  die  Möglichkeiten  für  TrjXecpoc,  Mucoi  und  auch  TTa\a|uf]6Tic  (auch 
Sophokles  TToiin^vec)  sagen,  was  hier  zu  weit  führen  würde. 


b 


Die  Zahl  der  Dramen  des  Aischylos  115 


des  cod.  M.  noch  5  Kolumnen  gehabt.  Die  5.  Kolumne  gab  auch 
18  Titel,  denn  Qpeieuia  gehört  in  die  unterste  Reihe.  Also  gab  der 
ganze  Katalog  90  Titel:  dieselbe  Zahl,  die  auch  Suidas  angibt. 

Das  ist  die  gute  alte  Überlieferung.  Die  Alexandriner  werden  die 
90  Stücke  nicht  mehr  sämtlich  gehabt  haben,  aber  90  Titel  kannten  sie 
aus  den  Didaskalien.  Der  Katalog  bewahrte  diese  wertvolle  alexandri- 
nische  Tradition.  Jedenfalls  glaubte  man  damit  alle  Dramen  zu  kennen: 
l'ipa\\)e  TpaYLubiac  ^vevriKovra  heißt  es. 

Nun  aber  steht  in  der  Vita  zu  lesen,  daß  Aischylos  70  Tragödien 
gemacht  habe  und  Satyrspiele  ungefähr  5.  Daß  die  letztere  Angabe 
falsch  ist,  hat  jedermann  angenommen,  und  es  liegt  in  der  Tat  auf  der 
Hand.  Wir  kennen  acht  als  solche  bezeugte  Satyrdramen  (KepKuiuv 
KripuKEC  KipKri  Aeiuv  AuKoOpTOC  npo)uri6euc  (TTupKaeuc)  TTpuuTeuc  CqpiTH), 
die  außer  dem  TTpo|UTieeiJc  alle  auch  in  dem  versttimmelten  Kataloge 
stehen,  wenn  auch  nur  die  KipKTi  den  Beisatz  caiupiKri  hat.  Außerdem 
kann  man  noch  5  sicher  als  Satyrspieltitel  annehmen  fAjuujuujvri  fXauKoc 
TTÖVTioc  'OcToXÖTOi  Cicuqpoc  bpaTreiric  OopKiöec),  also  im  ganzen  wenig- 
stens 13.  Auf  keinen  Fall  kann  jenes  kqi  im  toutoic  carupiKd  djucpi 
Tci  e'  richtig  sein. 

Der  Bioc  und  der  KaiaXoToc  gehören  ja  zusammen  und  sind  gewiß  146 
von  lange  her  verbunden  überliefert.  Natürlich  stimmten  sie  miteinander 
überein;  wir  haben  beide  als  eine  einheitliche  Überlieferung  anzusehen. 
Der  Katalog  gibt  90  Titel,  darunter  die  Satyrspiele.  Der  Bioc  gibt  die 
Zahlen  für  Tragödien  und  Satyrspiele  im  einzelnen.  Die  Zahl  70  für 
die  Tragödien  ist  durchaus  nicht  anzufechten,  im  Gegenteil,  sie  ist  von 
vornherein  sehr  wahrscheinlich,  da  wir  ja  66  Tragödientitel  noch  haben 
außer  den  13  Satyrspieltiteln.^  Dann  ist  aber,  so  gewiß  in70  +  x  =  90 
X  =  20  ist,  als  Zahl  der  Satyrspiele  20  ursprünglich  angegeben  gewesen. 
Auch  dieser  Schluß  scheint  mir  zwingend. 

Weniger  sicher  ist,  wie  man  sich  die  Verderbnis  zu  denken  hat. 
Ich  würde  sie  mir  am  liebsten  so  erklären:  nach  der  Verstümmelung 
des  Katalogs  wollte  man  die  Zahl,  die  viel  zu  hoch  schien,  nicht  mehr 
stehen  lassen;  man  hatte  nur  noch  die  72  (oder  schon  versehentlich 
73)  Titel.  Man  wollte  nicht  weit  darüber  hinausgehen.  Merkwürdiger- 
weise konnte  man  vielleicht,  wenn  man  KipKn  caiupiKrj,  das  einzige  in 
der  Liste  als  Satyrspiel  bezeichnete  Stück,  und  die  Aiivaiai  vöGoi  ab- 
zog, gerade  die  70  Tragödien  angegeben  glauben.  Oder  aber  einer, 
der  in  seiner  Hs.   die  7  Tragödien   und  vielleicht  noch  die  TTroeeceic 

*  Natürlich  kann  ja  noch  ein  oder  der  andere  Titel  einem  Satyrspiel  gehören. 
Aber  die  Möglichkeit  ist  wohl  nur  noch  für  'AtpuO  und  'ßpeOuia  vorhanden. 

8* 


115  D^®  Z^^^  ^^^  Dramen  des  Aischylos 

dazu  hatte,  in  denen  für  5  Tetralogien  5  Satyrspiele  angegeben  waren, 
mochte  gerade  deshalb  diese  Zahl  setzen  und  seiner  sonstigen  Un- 
sicherheit und  Unwissenheit  durch  das  djucpi  Ausdruck  geben.  Aber 
ob  man  nun  mit  Heranziehung  der  Lesart  jüngerer  Hss.  schreiben  will 
caxupiKd  k''  djLiqpißoXa  e'  (Bergk  schreibt  caxupiKd  k',  ojv  djuqpißoXa  e'. 
Wachsmuth  Symbol,  phil.  Bonn.  149:  caxupiKd*'  d)U(pißo\a  e'  will  die 
Zahl  im  ungewissen  lassen:  sie  ist  das  einzige,  was  ich  für  ganz  sicher 
halte)  oder  ob  man  etwa  in  dem  d|Licpi  xd  e'  den  Rest  eines  dfucpi  xd 
eiKociv  entdecken  wollte;  es  ist  jedenfalls  sicher,  daß  die  Zahl  20  ur- 
sprünglich für  die  Satyrspiele  angegeben  war. 

Also  man  kannte  in  Alexandria  wenigstens  dem  Titel  nach  (leider 
wissen  wir  nichts  von  cuiZ;exai)  von  Aischylos  90  Dramen,  darunter 
70  Tragödien  und  20  Satyrspiele.^  Wir  kennen  79  Dramen,  darunter  etwa 
66  Tragödien  und  13  Satyrspiele.  Es  fehlen  uns  nur  11  Titel.  Viel- 
leicht kann  einmal  weitere  Kombination  diese  oder  jene  Lücke  unseres 
Katalogs  ausfüllen,  für  jetzt  ist  es  auch  ein  Gewinn  bei  der  gegebenen 
Deutung  der  Überlieferung,  daß  wir  ein  Stück  0aXa|uo7roioi  neben  den 
AiTUTTxioi  gegenüber  allen  Hypothesen,  die  immer  wieder  in  dieser 
Richtung  aufgestellt  sind,  und  ebenso  KOkvoc  als  Titel  eines  Dramas 
endgültig  beseitigen  können. 

^  Weitere  Berechnung  nach  Tetralogien  ist  unstatthaft.  Denn  Aischylos 
wird  früher  nicht  nur  Einzeltragödien,  sondern  auch  Einzelsatyrdramen  auf- 
geführt haben. 


V 

ÜBER  EINE  SZENE  DER  ARISTOPHANISCHEN 

WOLKEN^ 

Strepsiades  will  sich  von  Sokrates  in  die  neue  Weisheit  einführen  275 
lassen.  Der  in  seinen  Spekulationen  gestörte  Denker  läßt  sich  endlich 
mit  dem  Bittenden  ein.  ßoOXei  toi  0eTa  irpaYinaT*  eibevai  cacpOuc, 
fragt  er  (v.  250);  willst  du  die  Wolken  sehen,  mit  ihnen  Worte  tauschen, 
die  unsere  Göttinnen  sind?  Er  wünscht  es  und  muß  sich  nun  zuerst 
auf  einen  heiligen  Schemel,  lepöc  ckijuttouc,  niedersetzen.  Dann  muß 
er  einen  Kranz  aufsetzen  und  wird  von  Sokrates,  da  er  ängstlich  einer 
Situation  des  sophokleischen  Athamas  gedenkt  und  fürchtet,  er  solle 
wie  jener  geopfert  werden,  mit  den  Worten  getröstet  dXXd  xauTa  Tidvia 
Touc  T€Xou|Lievouc  Troioö)Liev.  Er  soll  stillhalten,  mahnt  ihn  der  geheim- 
nisvolle Lehrer  v.  261,  und  was  er  über  sich  ergehen  lassen  soll, 
deuten  die  Worte  des  erstaunten  Schülers  an  KaxaTraTTÖiuevoc  yctp  i^ai- 
TrdXr)  Ytvrico|Liai.  Er  wird  bestreut  und  wird  wie  lauter  Mehlstaub. 
Sokrates  spricht  dann  feierliche  Gebetsworte  an  'Ar|p,  AiGrip  und  die 
NecpeXai;  die  Wolken  sollen  erscheinen.  |ur|Truj  |ur)7TUj  ye,  ruft  Strepsiades 
irpiv  dv  TOUTi  TTTVjHiujaai  d.  h.  bevor  ich  mir  mein  i|udTiov  über  den  Kopf 
gezogen  habe  (vgl.  auch  die  Schollen).  piX]  KaxaßpexOuJ  setzt  er  scherzend 
hinzu.  Es  folgen  dann  weitere  Anrufungen  der  Wolken  durch  Sokrates, 
die  Gesänge  des  Wolkenchors  selbst  und  endlich  die  längeren  Be- 
lehrungsversuche des  schwerfälligen  und  zuletzt  ganz  unbrauchbaren 
Schülers.  -  Zunächst  also  sitzt  Strepsiades  auf  einem  ckiiuttguc,  den 
Mantel  über  den  Kopf  gezogen,  und  Sokrates  steht  bei  ihm  und  bestreut 
ihn  mit  etwas  Mehlartigem.  Daß  über^  den  Schemel  noch  ein  Widder- 
fell gebreitet  ist,  auf  dem  er  sitzt  und  auf  das  er  sich  dann  später  zum 
cppovTiZ:eiv  hinlegt,  scheint  aus  v.  730  hervorzugehen  (xic  dv  hf\T  em- 
ßdXoi  eH  dpvaKibuJv  tvu)]ut]v  dTrocTepriTpiba;  auch  da  wird  er  wieder 
ermahnt  sich  zu  verhüllen,  v.  727  und  735). 

Was  diese  merkwürdige  Gruppe  auf  der  Bühne  soll,  erklärt  ein  Blick  276 
auf  das  von  Ersilia  Lovatelli  im  Bulletino  della  commissione  archeologica 


'  <Rhein.  Mus.  XLVIII  1893  S.  275  ff.> 


118  Ü^ßr  6^"ö  Szene  der  aristophanischen  Wolken 

comunale  di  Roma  1879  VII  2,  tav.  I — III  publizierte  Relief  einer  Aschen- 
urne. Die  mittlere  der  drei  Gruppen  stellt  einen  Mann  dar,  der  auf 
einem  ckijuttouc  dasitzt,  und  diesen  Schemel  bedeckt  ein  Widderfell  (wie 
das  Widderhorn  zwischen  den  Füßen  des  Sitzenden  deutlich  macht); 
das  Haupt  und  der  ganze  Körper  bis  auf  den  rechten  Arm  und  einen 
Teil  der  Brust  sind  vom  Gewände  verhüllt,  die  Linke  hält,  wie  es  scheint, 
eine  Fackel.  Hinter  ihm  steht  eine  Frau  und  hält  über  das  Haupt  des 
Sitzenden  eine  Getreideschwinge  (Xikvov),  die  sie,  wie  schon  die  Haltung 
der   Hände  zeigt,   schüttelt.     Sie  bestreut  also  daraus  den  Verhüllten, 

Das  ganze  Relief  steUt  Riten  bakchischer  Mysterien  dar.  In  der 
ersten  Gruppe  rechts  steht  ein  Einzuweihender,  in  der  rechten  Hand 
das  Opferferkel,  in  der  linken  Opferkuchen,  vor  einem  Priester,  der 
Wasser  über  das  Ferkel  gießt.  In  der  dritten  Gruppe  sitzt  Demeter, 
die  Fackel  in  der  Hand,  von  einer  Schlange  umwunden;  neben  ihr  steht 
Köre,  ebenfalls  mit  der  Fackel,  auf  der  anderen  Seite  der  Myste,  der 
die  Schlange  liebkost.  Die  mittlere  Gruppe  ist  die  oben  beschriebene. 
Es  ist  die  Reihenfolge  der  Einweihungszeremonien:  das  Opfer,  die 
KttGapcic  und  die  e-rroTTTeia. 

Über  die  Bedeutung  des  heiligen  Schemels  (vgl.  die  Opöviucic  in  der 
Weihe  der  Korybanten  Fiat.  Euthyd.  p.  277  D;  Dio  Chrysost.  or.  XII  p.387 
eiiuOaciv  ev  tuj  KaXoujuevLU  öpovicjULu  KaGicavTec  touc  jiiuoujuevouc  oi  te- 
\oövT€c  kOkXuj  Tuepixopeijeiv),  des  Widderfells,  *  auf  dem  der  zu  sühnende 
Mörder,  der  Myste,  das  Hochzeitspaar,  der  Orakelsuchende  sitzt',  des 
Kranzes  (vgl.  auch  Harpokrat.  s.  v.  XeuKri*  oi  rd  BaKxiKoi  TeXou)Li€voi  rrj  XeuKri 
CTeq)ovTai  bid  tö  xööviov  eivai  tö  qpuTÖv,  xööviov  he  Kai  töv  xfic  TTepceqpö- 
vTic  Aiövucov),  der  Verhüllung  des  Hauptes  brauche  ich  weiter  nichts  zu 
sagen;  diese  kathartischen  Riten  sind  ganz  gewöhnlich,  und  ich  kann 
nur  auf  die  reichen  Belege  verweisen,  die  Diels  kürzlich  in  den  sibylli- 
nischen  Blättern  gegeben  hat  S.  48,  2;  51,  4;  70  f.;  120  ff.  Auch  die 
vannus  mystica,  deren  Gebrauch  die  Reinigung  versinnbildlicht  (statt 
XiKjLiäv  wird  auch  technisch  KaeapiZ;eiv  ,  KaGaipeiv  gebraucht.  Blümner 
Techn.  u.  Term.  der  Gew.  u.  K.  I  9  un  d  Anm.  5),  ist  bekannt  genug. 

Die  Einführung  des  Strepsiades  in  die  neue  philosophische  und  so- 
277  phistische  Weisheit  wird  also  im  Spott  als  eine  Einweihung  in  Mysterien 
vorgeführt.  Diese  Vorstellung  zieht  sich  durch  die  ganze  Szene,  xd 
Geia  TrpdfiuaTa  soll  der  Neophyte  kennen  lernen,  XeTTTotdiiuv  Xripiuv 
lepeuc  wird  Sokrates  genannt  (v.  359),  die  Wolken  nennen  ihn  und 
seine  Genossen  mit  sakralem  Terminus  ihre  ttpöttoXgi  (v.  436).  Auf  die 
KdGapcic  folgt  die  erroTTTeia;  der  Entsühnte  schaut  die  Göttinnen  selbst 
(v.  322  ff.).   Dann  folgt,  wollte  man  die  mystische  Terminologie  anwenden 


^  0 

l^r  über  eine  Szene  der  aristophanischen  Wolken  \\g 

I       etwa  wie  sie  Theo  von  Smyrna  gibt  (expos.  rer.  math.  ad  leg.  Plat.  ut. 

k  ed.  Hiller  p.  14,  25  ff.)^  Trapdbocic  xfic  TeXeific  oder  tu)v  iliucttipiujv^,  die 
■  Belehrung  über  die  neuen  Weisheitsweihen,  und  nun  soll  der  Adept  in 
das  Heiligtum  des  eigentlichen  9PovTicTr|piov  eingehen  und  muß  sein 
Gewand  ablegen;  denn  t^jlivouc  eicievai  vo)LiiZ:eTai  (v.  498).  Auch  seine 
Schuhe  hat  er  ausziehen  müssen  wie  aus  v.  719  und  858  hervorgeht. 
Strepsiades  verlangt  noch  einen  Opferkuchen  ()ue\iTToOTav),  wie  sie  auch 
der  Myste  mitbrachte,  und  vergleicht  spöttisch  das  Haus  des  Sokrates 
mit  der  Orakelhöhle  des  Trophonios  (v.  507f.;  vgl.  bes.  Pausan.  IX  39, 
11).  Ob  in  den  Versen  461  ff.,  was  der  Chor  dem  Strepsiades,  wenn 
er  in  die  neue  Weisheit  eingeweiht  wäre,  verheißt  töv  Tcdvia  xpövov 
ILiex'  i\xo\j  ZiriXuJTÖTaTOv  ßiov  dvGpuuTTUJV  bidHeic,  ob  darin  parodische  An- 
spielung auf  die  eObaijuovia  liegt,  welche  die  Mysterienkulte  meist  ver- 
sprachen (Theo  a.  a.  O.,  Lobeck  Aglaoph.  p.  69 ff.;  auch  die  eleusinischen 
Göttinnen  senden  dem  Geweihten  ins  Haus  TTXoOtov,  8c  dvepiuTTOic 
dqpevoc  0vr|Toici  bibiuciv,  Hom.  Hymn.  auf  Dem.  v.  489),  mag  dahingestellt 
bleiben;  Parodie  ist  es  sicher,  wie  schon  die  Form  zeigt  (Daktylo-Epitriten). 

Die  Parabase^  unterbricht  den  Fortgang  dieser  Szenen,  wenigstens  278 
in  der  uns  vorliegenden  Diaskeue.  Danach  nimmt  die  Prüfung  des 
Neophyten  ihren  Fortgang;  die  Geheimnisse  der  Metrik,  Rhythmik,  Gram- 
matik werden  ihm  offenbart:  alles  Spott  auf  die  Sophistenweisheit, 
namentlich  die  des  Prodikos.  Strepsiades  bringt  den  Schemel  wieder 
mit  heraus  (v.  633,  709)  und  sitzt  während  des  Folgenden  auf  dem 
Widderfell;  auch  die  merkwürdigen,  so  zu  sagen  gymnosophistischen  Me- 
ditationsübungen, deren  spezielle  Beziehung  uns  nicht  mehr  klar  ist,  muß 
er  so  anstellen,  das  Haupt  verhüllt.  Schließlich  zeigt  er  sich  aber  so 
unbeholfen  und  vergeßlich,  daß  er  fortgejagt  wird. 

Man  kann  sich  vom  Standpunkte  des  Atheners  kaum  etwas  Komischeres 
denken  als  die  Zusammenstellung  der  heterogensten  Dinge  in  dieser 
Szene:  der  aufklärerische  Sophist  weiht  seinen  Schüler  mit  dem  Ritual 

*  Vgl.  p.  14,  18  ff.  Kai  yäp  aö  xi^iv  cpiXococpiav  jaOriciv  qpairi  Tic  äv  öXtiGoOc 
TeXeific  Kai  tüüv  övtujv  ujc  dXri9u)C  luucTTipiuuv  Trapdöociv.  luurjceujc  hä  |u^pr)  ir^vTC. 
TÖ  |i^v  irporiToiJiLievov  Kaöapiuöc.  out6  fäp  äiraci  toic  ßouXo|Li^voic  jueTOUCia  ^iucTt]- 
piujv  ^CTiv,  dXX'  eiclv  oöc  aOTiüv  eipTecGai  irpoaTopeOeTai,  oTov  toOc  x^ipac  ^fi 
KaGapdc  Kai  qpuuvi^v  dHi5v€T0v  IxovTac,  Kai  aÖTouc  bä  toOc  luf)  elpTO|ii^vouc  dvdxKii 
Ka9ap|LioO  tivoc  irpÖTepov  Tuxetv,  jueTd  bk  Tf\v  KdOapciv  öeuT^pa  kTlv  i^  Tf^c  TeXe- 
TTic  irapdbocic,  xpirr]  bt  <i^>  ^Trovo|aa2:o|u^vTi  k-noTzxda. 

'  Vgl.  Giern.  Alexandr.  Strom,  p.  844:  irpö  Tfic  tujv  inucTTipiiwv  uapaböceujc 
KaGapiLioOc  Tivac  irpocdTeiv  Totc  inueTcÖai  ja^XXouciv  dSioOciv. 

»  Ob  in  den  Worten  des  KO|Ll^dTlov  an  den  hineingehenden  Strepsiades 
auch  Parodie  von  uns  unbekannten  liturgischen  Formeln  steckt?  eöTuxia  t^voito 
dvepiütruj,  ÖTi  ktX.    Vgl.  Eur.  Herakl.  613  Td  juucTUiv  ö'  öpyi'  euTvixnc'   ibibv. 


120  Über  eine  Szene  der  aristophanischen  Wolken 

bakchischer  Mysterien  in  die  gottesleugnerische  Naturphilosophie,  in  die 
Quisquilien  der  Synonymik  und  die  Verdrehungskünste  der  Rhetorik 
ein.  Erinnert  man  sich  der  Darstellung  einer  der  oben  beschriebenen 
ganz  analogen  Einweihungsszene,  in  der  ein  zottiger  Silen  das  Xikvov 
hält  (Bull,  della  comm.  arch.  a.  a.  0.  tav.  IV.  V,  5,  auch  in  Baumeisters 
Denkmälern  I  449),  so  kann  man  sich  denken,  wie  sich  Sokrates  in 
jener  Gruppe  ausgenommen  haben  wird.  Ihn  hat  gewiß  nicht  erst  Plato 
mit  einem  Silen  verglichen. 

Welcher  Art  aber  sind  die  Mysterien,  die  hier  nachgebildet  werden? 
Sollte  auch  wirklich  jene  Reliefdarstellung  auf  die  eleusinischen  Weihen 
zu  beziehen  sein,  so  ist  es  doch  ganz  unmöglich,  daß  die  hochheiligen 
Gnadenmittel  der  großen  Göttinnen  in  komischer  Verzerrung  zum  Ge- 
lächter der  Menge  auf  der  Bühne  vorgeführt  wären.  Diese  Einweihungs- 
riten werden  aber  auch  sonst  ziemlich  ähnlich  gewesen  sein,  wie  manche 
Darstellungen  zeigen,  die  sich  gewiß  nicht  auf  Eleusis  beziehen  (Bull, 
della  comm.  arch.  a.  a.  0.  tav.  IV.  V).  Aber  welcher  Art  Weihen  hat 
Aristophanes  im  einzelnen  im  Auge  gehabt?  Wir  müssen  eine  Stelle 
noch  etwas  genauer  betrachten. 

V.  260,  CQ.  X€Y€iv  YEvricei  Tpijuiaa,  KpöxaXov,  TraiTidXri. 

dXX'  e'x'  dipejuei.  CTP.  fiid  tov  Ai'  oi>  vpeucei  fi  )ue' 
KaTaTTaTTOjaevoc  yotp  TraiTidXri  Yevr|co|uai. 

Das  Wortspiel  ist  ja  klar:  er  wird  ein  geriebener,  abgefeimter  Mensch, 
TTttiTrdXri,  werden,  und  er  wird  auch  wirklich  so  bestreut,  daß  er  ganz 
TraiTrdXri  wird.  Hören  wir  noch  die  Scholiasten,  deren  Erklärungen  ich 
ausschreiben  muß:  laOia  be  Xetu^v  XiGouc  cuTKpouei  dvujGev  aiiroö. 
279  Tpi|LA)Lia  ouv  eiire  bid  tö  TpißecGai  touc  XiGouc.  KpöxaXov  be  bid  tö 
KpouecGai  auTov.  TramdXTi  bid  xrjv  xpaxOxr|xa.  eirei  iraiTraXa  KaXoO|Li€V 
xd  bucßaxa  (das  letzte  natürlich  ganz  töricht).  dXXuuc*  xaOxa  Xetujv  ctjua 
6  CujKpdxrjC  XiGouc  iTapaxpißiuv  mupivouc  Kai  Kpouujv  Trpöc  dXXr|Xouc, 
cuvaTaYUJV  xd  dirö  xoOxujv  Gpaucjuaxa  ßdXXei  xöv  xrpecßuxriv,  KaGdirep 
xd  lepeia  xaTc  oiiXaTc  oi  Guovxec,  Kai  bid  xouxo  iiailei  xoTc  ovöjuaci. 
xpi)Li|ua  |uev  xf]v  arrö  xoOxujv  eKTTiTTxoucav  XaxuTrr|v  kxX.  Zum  folgenden 
Verse  noch:  irXTipujGeic  Tdp,  cprici,  xoijxujv,  Xetu)  br\  xujv  xpijujudxujv  xiuv 
XiGuuv  Kai  xfic  XaxuTrric,  t^v  eqpaiuev  iraiTrdXriv  KaXeTcGai,  fcvricojuai 
TraiTrdXTi.  Diese  bestimmten  Angaben  können  nicht  ganz  aus  der  Luft 
gegriffen  sein,  sie  müssen  auf  alter  Tradition  beruhen.  Sokrates  reibt 
Tuffsteine,  Kalk  oder  Gips  (XiGoi  irOüpivoi,  XaxuTiri)  aneinander  über  dem 
Kopf  des  Verhüllten  und  schlägt  sie  aneinander,  daß  Strepsiades  mit 
dem  weißen  Staube,  der  wie  feiner  Mehlstaub  ixaijrdXri  ist,  über  und 


über  eine  Szene  der  aristophanischen  Wolken  121 

über  bestreut  wird.    Das  Wortspiel  mit  dem  Tpi|Li|Lia,  KpÖTa\ov\  TramdX]i 
ist  in  der  Tat  so  erst  vollständig  treffend. 

Sehen  wir  uns  nach  analogen  Riten  um,  so  erinnern  wir  uns  zunächst 
der  Winkelmysterien  des  Sabazios  und  dessen  was  Aischines  nach 
Demosthenes  (Kranzrede  §  259  ff.)  dabei  getan  haben  soll:  Tfj  lUTi^pi 
TeXoucr]  rac  ßißXouc  dveTiTVUJCKec  Kai  rdWa  cuvecKeiiujpoO,  inv  juev 
vuKia  veßpiz:uuv  Kai  Kpairipi^ijuv  Kai  KaGaipujv  toOc  T€\ou|uevouc  Kai 
ctTTOiudTTUJV  Tuj  tttiXlu  Kai  ToTc  TTiTupoic  Ktti  dviCTctc  diTÖ  ToO  KaGap- 
)uoO  KeXeOujv  Xereiv  'I9UT0V  KaKÖv,  eupov  d)aeivov'  ktX.  Dazu  steht 
bei  Harpokration  im  Artikel  dTrojudTTUJV^:  dXXoi  be  irepiepfÖTepov,  oiov 
TrepiTrXoTTUJV  töv  TiriXöv  Kai  id  rriTupa  xoTc  xeXoujLievoic  ujc  XeYOjuev 
d7TO|adTTec0ai  tov  dvbpidvia  tttiXuj.  riXeicpov  Tctp  tuj  Trr|Xuj  Kai  tuj  280 
TTiTijpuj  Touc  jauou)ievouc,  eK|ui|uoiJ)uevoi  xd  )Liu9oXoTO\j|ueva  irap'  evi- 
oic  UJC  dpa  Ol  TiTdvec  töv  Aiövucov  eXu)Lir|vavT0  t^M^uj  KaTa- 
7TXacd|uevoi  iixi  tiu  |uf]  yviupiiuoi  TtvecGai.  toöto  juev  ouv  t6  eOoc 
eKXmeiv,"  tttiXuj  be  öcTepov  KaTaTrXdTTecGai  vo|ui|liou  x&piv.  Das  ist  die 
Überlieferung  der  Orphiker  vom  Tode  des  Dionysos;  sie  sind  die  evioi. 
Lobeck  hat  recht  (Aglaoph.  p.  654):  ^dubitari  non  potest,  quin  ritus 
mystici,  quibus  Glaucothea  perfuncta  est,  fabulis  Orphicis  de  industria 
accommodati  et  ex  iis  tamquam  e  fönte  repetiti  sint'.  Die  Kulte  des 
Sabazios,  der  Kotytto,  des  Adonis  und  andere  ausländische  Mysterien, 
die  gerade  in  der  Zeit  des  Peloponnesischen  Krieges  so  zahlreich  in 
Athen  Anhänger  fanden  (Foucart  des  associations  religieuses  chez  les 
Grecs  p.  55  ff.),  hatten  großen  Einfluß  auf  die  orphischen  Weihen  und 
umgekehrt;  sie  waren  gerade  damals  vielfach  miteinander  vermengt 
(besonders  verbreitet  war  der  Sabaziosdienst,  Aristoph.  Lysistr.  386  ff., 
Wesp.  10,  fragm.  566;  euoi  caßoT  bei  Demosth.  a.  a.  0.  und  euai  caßaT 
in  den  Bapten  des  Eupolis  fr.  84  K,  "Ytic  bei  Demosth.  und  in  den 
Kretern  des  Apollophanes  fr.  7  K,  Aristoph.  fr.  878).  Noch  in  spätester 
Zeit  bestreuten  sich  die  bakchischen  Mysten  mit  Gips:  Nonnus  Dionys. 


*  KpöxaXov  soll  bezeichnen  einmal  '  Plappermaul '  und  dann  das  Klapperblech 
oder  Becken,  wie  sie  bei  solchen  Riten  gebraucht  wurden,  hier  die  Steine,  die 
aneinandergeschlagen  werden. 

*  dTroiud-rreiv  und  -n:epi|adTT€iv  sind  stehende  Ausdrücke  für  mystische  Reini- 
gung. Harpokration  führt  a.a.O.  aus  Sophokles  Aixiua\iJÜTi5€c  an:  crparoO 
KaeapxiPic  KäiTO|uaT|iidxtJuv  löpic  (Nauck^  31).  Der  mit  kqI  irdXiv  angefügte 
Vers  beiv6xaxoc  diroiLidKxric  xe  |Li€TdXiJuv  cu|Licpopu)v  muß  aus  einem  Komiker 
sein.  —  Menand.  bei  Clem.  Alex.  p.  844: 

irepifiaHdxtucav  c'  ai  YuvaiKec  ^v  kOkXlu 
Kai  TrepiGeiuJcdxDUcav,  dtrö  KpouvOuv  xpiAv 
öbttTi  irepippav',  ^lußaXÜJV  6i\ac,  qpaKoOc. 
Plutarch.  de  superst.  p.  168  D,  p.  166  A  irepiindKxpia  rpaOc. 


122  ^^®r  ®*"*  Szene  der  aristophanischen  Wolken 

XXVII  228  eXeuKaivovTo  be  t^M^^V  MuctittöXo)  (vgl.  v.  204,  XXIX 
274.  XXXIV  144.  XLVII  732).  Nonnus  schließt  sich  ja  hauptsächlich  an 
orphische  Überlieferungen  und  Bräuche  an.  Daß  sich  die  orphischen 
Adepten  darum  mit  Gips  bestrichen  hätten,  weil  so  die  Titanen  den 
Dionysos  getötet,  ist  gewiß  eine  spätere  kpoXoTia,  die,  wie  ich  glaube^ 
aus  der  Bedeutung  von  Tixavoc  Kalk,  Gips  entstanden  ist.^  Jener  Brauch 
aber,  den  zu  Weihenden  beim  xaGapjLiöc  mit  Kalk-  oder  Gipsstaub  zu 
bestreuen,  ist  —  das  hat  sich  herausgestellt  —  bereits  im  5.  Jahrhundert 
in  Athen  geübt  bei  den  orphischen  TeXexai. 

Wir  wissen  nun,  wen  Aristophanes  verspottet.  Die  Privatmysterien, 
die  gerade  in  Athen  heimisch  waren,  die  dort  eine  Vergangenheit,  ja 
281  eine  literarische  Vergangenheit  hatten,  waren  die  des  Orpheus.  Lange 
zurückgedrängt  machten  sie  damals  wieder  gewaltiges  Aufsehen  mit 
ihren  Kaöapjuoi  und  TcXetai  und  rrepippavTripia.  Es  wird  kaum  einen 
schrofferen  Gegensatz  gegeben  haben  als  die  bildungsstolzen  aufgeklärten 
Sophisten  und  die  abergläubischen  orphischen  Winkelpriester,  die  über 
die  Sünde  und  Unreinheit  der  Menschen  Zeter  schrieen.^  Beider  Treiben 
wird  nun  hier  karrikiert  in  einem  Bilde  vereinigt,  eine  Art  komischen 
Witzes,  die  am  sichersten  zu  wirken  pflegt  und  auch  von  Aristophanes 
fast  in  jedem  Stücke  angewendet  ist.  Gerade  diese  Zusammenstellung 
aber  war  damals  besonders  zeitgemäß,  und  der  einfache  improvisierte 
KaGapjuöc  mit  den  paar  Steinen  wird  charakteristisch  sein  für  das  Ver- 
fahren der  Sühnepropheten  unter  dem  niederen  abergläubischen  Volke, 
wie  man  es  vielleicht  täglich  beobachten  konnte.  Sie  zogen  etwa  mit 
einem  Widderfell  und  ein  paar  Kalk-  oder  Gipsstücken  umher  und 
^reinigten'  jeden,  der  sich  von  ihnen  einschüchtern  ließ,  und  sie  mochten 
sich  dann  wohl  auch  durch  gestohlene  Mäntel  oder  Schuhe,  die  sie 
mit  ihrem  frommen  Hokuspokus  wegbugsierten,  bezahlt  machen.  Gegen 
die  Anhänger  der  orphischen  Sekte,  deren  es  auch  unter  den  Vornehmen 
und  Gebildeten  genug  gab,  wendet  sich  gerade  damals  auch  Euripides 
im  Hippolytos  (v.  953  ff.,  wo  auch  von  ihren  Tpa^MctTa  iroXXd  die  Rede 
ist),  um  diese  Zeit  werden  die  Kreter  gedichtet  sein,  in  denen  sie  be- 
handelt waren   (fragm.  472  N^,   414  verspottet  Aristophanes   in   den 


^  Vgl.  Eustath.  zu  II.  II  735:  Tiravov  bk  xupiujc  Tfiv  Kovtav  cpaiii^v  tö  ibiuu- 
tikOüc  XeYÖ|Li€vov  äcßecxov,  tö  ^v  XiGoic  KeKaujudvoic  X'^oAbec  XeuKÖv.  IkXtiGti  bk 
oÖTUJC  diTÖ  TUJv  |Liu0iKüüv  Tixdviuv,  ouc  ö  ToO  luOGou  Zeuc  KepauvoTc  ßaXibv  xar- 
^qppuYe"  bi  aiJToiJC  yäp  Kai  tö  ^H  äyciv  iroXXfic  Kauceiuc  Kai  übe  oiov  elireiv  TiTavuü- 
öouc  biaTpuqpB^v  ^v  XiGoic  Xctttöv  TiTavoc  ÜJvo|Lidc0ri  oTov  iroivnc  tivoc  TiTaviKfjc 
"fevo|n^vT]c  Kai  ^v  auTU). 

*  Für  die  Ausdehnung  ihrer  Propaganda  in  etwas  späterer  Zeit  ist  besonders 
lehrreich  Plat.  Rep.  p.  364  E. 


über  eine  Szene  der  aristophanischen  Wolken  123 

Vögeln  ihre  kosmogonischen  Lehren  (v.  693  ff.).^  Wenn  hier,  in  den 
Wolken,  Xdoc  und  Aienp  CArip),  die  in  diesen  orphischen  Systemen 
fast  immer  im  Anfang  vorkommen,  neben  den  NecpeXai  angerufen  werden 
V.  424,  627,  so  mag  auch  darin  immerhin  ein  Seitenhieb  auf  solche 
Mystik  zu  erkennen  sein,  so  klar  ja  sonst  die  Beziehung  dieser  Partien  282 
auf  bestimmte  philosophische  Lehren  seit  den  Ausführungen  von  Diels 
festgestellt  ist  (Verhandlungen  der  35.  Philologenversammlung  zu  Stettin). 
Jedenfalls  aber  -  und  das  ist  noch  ein  wertvoller  Gewinn  der  rich- 
tigen Erklärung  der  Szene  -  ist  das  Gebet,  das  Sokrates  spricht,  während 
er  den  Dasitzenden  bestreut  und  weiht,  eine  Nachbildung  wirklich  liturgischer 
Hymnen,  wie  sie  die  orphischen  Telesten  damals  gebraucht  haben. 
V.  263    eu9Ti)LieTv  xpn  töv  TrpecßuTriv  Kai  xfic  euxnc  urraKoueiv, 

(b  b^CTTOT    dvaH,  djueipTix*  'Ar|p,  öc  ^x^ic  Trjv  Tnv  iLiexeiupov, 
XaiUTTpöc  t'  AiGrip,  cejuvai  xe  Geai  NeqpeXai  ßpoviriciKepauvoi, 
apÖTixe,  q)dvr|T',  iL  beciroivai,  tu»  qppovxiCTri  juereiupoi. 

V.  269    eXGere  bf\T\  ui  ttoXutiilititoi  NeqpeXai,  Tujb*  eic  eiribeiHiv. 

cTt' eiT*  —  ^  — 

V.  274  diraKOucaie  b€Hd)Lievai  Ouciav  Kai  xoic  lepoTci  xctp^Tcai. 
Man  kann  noch  in  der  uns  erhaltenen  Sammlung  liturgischer  or- 
phischer  Hymnen,  wie  sie  5  bis  600  Jahre  später  im  Gebrauch  waren, 
aber  in  mancher  alten  Formel,  in  manchem  alten  Kultnamen  auf  ihren 
athenischen  Ursprung  zurtickweisen^  man  kann  da  noch  die  Ähnlichkeit 
mit  der  parodierten  Nachbildung  des  Aristophanes  erkennen.  Zuerst 
pflegt  die  Gottheit  angerufen  zu  werden  (hier  sind  es  drei,  wie  es  in 
den  Mysterienkulten  meist  drei  waren),  sie  solle  erscheinen: 
Orph.  Hymn.  XXXI  6  IXGoit'  euineveoviec  in"  eucpriiioici  Xotoici 
XLIII  10  ^X0€t'  in'  ei)(pr|)Liouc  leXeidc  — 

LI  17  ^XGcT  in'  €ii(pr||aoic  lepoic  KexapnoTi  Ouiauj. 
XLVI  8  eucppujv,  dXGe,  |adKap,K€xapiC)Lieva  b' lepd  beHai. 

^  Nicht  zufällig  wird  es  sein,  daß  im  Beginne  der  Parodie  orphischer  Kos- 
mogonie  zweimal  öpeOjc  gebraucht  wird,  v.  690  iv'  dKoucavTcc  irdvra  irap'  i^mliv 
öpe&c  TT€pi  Tüjv  |Li€TeU)pu}v  qpuciv  oiiJUvu)v  T^veciv  t€  Geiüv  iroxa^ojv  t'  'ep^ßouc  re 
Xdouc  Te  elböxec  öp6u)c  ktX.  So  hier.  Wölk.  250,  ßoOXei  rä  Geia  irpdT^ar'  elö^ 
vai  cacpOüc,  äxx'  ?cxiv  öpGwc;  (Herwerden  will  övxtuc  schreiben!  Später  wird 
dann  das  Wort  ebenso  bei  den  Christen  gebraucht  Clem.  AI.  p.  844  irpoKaGaipeiv 
duö  xu)v  q)auXujv  xal  juoxGnpwv  boTindxiuv  6id  xoO  Xötou  xoö  öpGoO).  Das  mag 
ein  Schlagwort  der  Anhänger  orphischer  Lehre  gewesen  sein;  sie  hatten  auch 
ihre  Orthodoxie. 

»  Vgl.  meine  Schrift  de  hymnis  Orphicis  (Marburg  1891),  in  der  ich  auch 
die  Sammlung  als  wirklich  im  Kult  gebraucht  erwiesen  zu  haben  glaube, 
p.  11,  27,  30  <oben  S.  76,  89,  91>  u.  s. 


j[24  Über  eine  Szene  der  aristophanischen  Wolken. 

(XVIP  8  xaiP^'^  öcioic  Te  c€ßac|uoTc,  vgl.  XVIII  Ende  u.  s.).^ 
283  Mit  kXij0i  u.  ä.  beginnt  oft  die  Anrufung;  der  Preis  der  Gottheit  wird 
meist  wie  oben  (öc  e'xeic  — )  mit  öc  vaieic,  e'xeic  o.  dgl.  angeknüpft 
(XVII  3,  XVIII  6,  XXIII  5,  XXXII  4  u.  s.).  eucpr^eixe,  euqpimia  ecTUj  be- 
gannen ja  fast  alle  heiligen  Handlungen,  auch  das  Opfer  (Arist.  Acharn. 
237,  241  und  schol.,  Vögel  959,  Wesp.  868,  Thesm.  295,  Fried.  433, 
Frösche  354:  eucprijueTv  XP^  beginnt  der  Hierophant  seine  Tipöppriac, 
der  dann  die  Hymnen  an  Köre,  Demeter  und  lakchos  folgen.  Vgl.  Calli- 
mach.  hymn.  Apoll,  v.  17.  Dionys.  hymn.  1);  mit  Absicht  werden  die  Wolken- 
göttinnen gerade  cejuvai  Geai  genannt  (vgl.  Hom.  Hymn.  auf  Dem.  v.  1, 
486;  cejuvd  Kötvjc  Aesch.  Edon.  57  N^),  wie  v.  316  |U€TaXai  Geai  (vgl. 
Pausan.  VIII  31,  1.  Soph.  OC  683,  Sauppe  Mysterieninschrift  von  An- 
dania  S.  43),  beides  stehende  Bezeichnungen  für  Mysteriengöttinnen. 
Auch  Ol  TToXuTiinTiTOi  NeqpeXtti  soll  an  bestimmte  liturgische  Formeln 
anklingen;  man  vergleiche  Stellen  wie  öecrroiva  TroXuxiiimTe  Ar||Lir|T€p 
q)iXr|  Kai  OepceqpaiTa  in  den  Thesmoph.  v.  286,  iu  Tröxvia  7ToXuTi|ur|T€ 
Ar||LiTiTpoc  KÖpri  in  der  Nachbildung  des  eleusinischen  Mystenzuges 
Frösche  337,  und  v.  398  in  der  Nachbildung  ihres  Liedes  an  den  lak- 
chos "laKxe  TToXuTijuriTe. 

So  wird  sich  noch  manche  alte  sakrale  Formel  wiedergewinnen 
lassen,  mancher  Rest  hieratischer  Überlieferung  des  5.  Jahrhunderts. 
Die  Szene  der  Wolken  (namentlich  von  v.  250  bis  zu  Ende  des  Gebets 
des  Sokrates  v.  275)  ist  als  parodische  Nachbildung  orphischer  Weihen 
und  orphischer  Hymnen  erkannt.  Diese  alten  Hymnen  selbst  sind  ja 
alle  verloren:  die  cavibec,  xdc  'Opcpeia  KareTpaH^e  T^P^c,  die  Euripides 
kannte  (Alcest.  968),  wird  nie  wieder  eines  Menschen  Auge  sehen;  sie 
sind  lange  vermodert.  Aus  den  Denkmälern  und  Überlieferungen  später 
Jahrhunderte  auf  die  alte  Zeit  ohne  weiteres  zu  schließen,  ist  in  keinem 
Falle  erlaubt.  Aber  es  wird  doch  noch  durch  Kombination  manches 
Stück  antiker  Liturgie  des  5.  Jahrhunderts  zu  erschließen  sein,  wie  ich 
es  versuchte.  Gerade  in  der  Komödie  und  Tragödie  ist  noch  vieles 
derart  verborgen;  das  gilt  es  zu  deuten,  zu  sammeln  und  zu  verwerten. 

*  Vgl.  auch  Thesmophor.  v.  312  ff.  Nachdem  der  Keryx  sein  eOqpriiuia  ^ctuu 
gesagt  und  die  Namen  der  Gottheiten  genannt  hat,  singt  der  Chor  der  Kult- 
teilnehmerinnen: 

6exö|uec0a  Kai  Geoiv  y^voc 

XiT6|uec0a  xaicb'  kn   eOxaic 

qpav^vrac  ^TTixapfivai. 
Die  Weise   der  Anrufung  'kommt,  sei   es   daß  ihr  da  oder  da  seid'  ist  ja  in 
Hymnen  an  Gottheiten  ganz  gewöhnlich.   (Hier  ist  die  Reihenfolge  der  genannten 
Orte  Nord,  West,  Süd,  Ost!) 


VI 
DIE  GÖTTIN  MISE^ 

Auf  eine  Göttin,  die  man  bisher  kaum  beachtet  hatte,  ist  durch  eine  i 
Stelle  des  Herondas  allgemeinere  Aufmerksamkeit  gerichtet  worden. 
Im  ersten  Mimiambos  wird  eine  Prozession  der  Mise,  KdGoboc  inc  Micric 
(v.  51),  erwähnt,  bei  der  einer  eine  junge  Frau  gesehen  und  sich  in 
sie  verliebt  hat.  Als  Ort  dieser  Prozession  ist  nicht  Ägypten  -  denn 
dahin  ist  der  Mann  der  Frau  gerade  verreist  (v.  23)  -,  gewiß  aber 
eine  nicht  zu  ferne  Gegend  gedacht,  die  auf  dem  Seewege  von  Ägypten 
erreicht  wurde  (v.  68). 

Wir  wußten  schon  ^  daß  die  Mise  in  den  orphischen  Kultgemeinden 
verehrt  worden  ist;  denn  wir  haben  ein  Denkmal  dieser  Verehrung  im 
42.  Liede  des  uns  erhaltenen  orphischen  Gebetbuchs.  Wahrscheinlich 
ist  diese  Sammlung  so  wie  sie  vorliegt  in  oder  um  Alexandria  zu- 
sammengestellt und  gebraucht.^  In  dem  Hymnus  wird  Mise  als  eine 
mannweibliche  Gottheit  angerufen  und  in  der  wüst  mischenden  Art 
dieser  Gebete  sogar  zugleich  als  Dionysos  und  lakchos  bezeichnet.* 
Solche  mannweibliche  Gottheiten  stellten  ja  die  Orphiker  mit  Vorliebe 
in  den  Anfang  ihrer  Theogonien,  wie  die  'Abpacreia  apcevöOriXuc  (orph. 
Frgm.  36  Abel),  einen  Odvnc  als  Z^ujov  dppevöGTiXu  (orph.  Frgm.  38,  62, 
73)  und  andere  Wesen.  Die  einzelnen  Gottheiten  mit  allen  möglichen  2 
andern  gleichzusetzen  und  so  jedesmal  die  einzelnen,  die  gerade  an- 
gerufen werden,  zu  möglichst  weltumfassenden  Gestalten  auszuweiten, 
liegt  ja  in  der  Eigenart  dieser  Gebete;  und  so  wird  auch  hier  Mise  als 
eine  Art  Weltenmutter  gedacht,  gerade  wie  vorher  Demeter  (Hymn.  40) 
und  die  Mutter  Antaia  (Hymn.  41)  auch,  mit  denen  sie  aber  durchaus 


1  <Philologus  LH  (N.  F.  VI)  1893  S.  lff.> 

'  O.  Crusius  in  den  Untersuchungen  zu  Herond.  17f.  128ff.  hat  bisher  die 
Stellen  für  die  Mise  am  vollständigsten. 

»  S.  meine  Schrift  de  hymnis  Orphicis  p.  24  <oben  S.  87>  u.  f.  Daß  die 
orphischen  Hymnen  wirklich  gebrauchte  Kultgebete  sind,  hoffe  ich  eben  dort 
bewiesen  zu  haben. 

*  Denn  x'  v.  3  einzusetzen  ist  falsch;  das  Wesen  wird  Aiövucoc,  Micr\  und 
dann  auch  noch  4  Aüceioc  'laKxoc  genannt 


126  Die  Göttin  Mise 

nicht  zufällig  zusammensteht.  Von  der  Antaia  wird  das  Abenteuer  in 
Eleusis  erzählt,  das  Demeter  auf  der  Suche  nach  Persephone  erlebt 
haben  sollte.  Daß  die  junirip  'Avxairi  eigentlich  eine  chthonische 
Gespenstermutter  ist,  die  sonst  der  Hekate  gleichgesetzt  zu  werden 
pflegt,  habe  ich  früher  (de  hymnis  orph.  p.  14  sq.  <oben  S.  79»  aus 
dem  Gebrauche  von  cuvdvxTijua  (Erscheinung,  Gespenst),  eudvtriToc 
usw.  zu  zeigen  gesucht.^ 

Hier  ist  sie,  auch  als  eine  Allmutter  (v.  2),  mit  den  Zügen  der  De- 
meter ausgestattet,  die  in  Eleusis  ihr  Fasten  auf  der  Suche  nach  dem 
Kinde  aufgab  (v.  3.  4)  und  dann  endlich  kam 

€ic  'Aibr|v  TTpöc  dYtturiv  Oepcecpöveiav 
dTVOV  Traiba  AucauXou  6br|Yr|Tf|pa  XaxoOca, 
|ur|VUTfip'^  dTiujv  XeKxpiuv  xöoviou  Aiöc  dYVoO  .  . 

Nun  vergleiche  man  eine  Angabe  bei  Harpokration  s.  v.  AucauXr|c. 
Aeivapxoc  ev  rf]  rrepi  rrjc  lepeiac  biabiKacia  ei  Tvr|Cioc.  'AcKXr|7Tidbr|c 
b'  dv  b'  TpaTqjbou|uevujv  tov  AucauXriv  auiöxOova  eivai  qprici,  cuvoi- 
Kricavra  be  Baußoi  cxeiv  Ttaibac  TTpiuTOVoriv^  xe  Kai  Micav.  So  ist 
also  auch  die  Mise  unter  jene  eleusinischen  Gottheiten  eingereiht  ge- 
wesen als  Tochter  des  Dysaules  und  der  Baubo,  denn  Asklepiades 
berichtet  natürlich  attisch -eleusinische  Sage.  Es  ist  nicht  zufällig,  daß 
3  im  42.  der  orphischen  Hymnen,  nachdem  im  41.  von  Demeter-Antaia, 
von  Dysaules  usw.  erzählt  ist,  die  Mise  gefeiert  wird;  und  die  Auf- 
zählung ihrer  Aufenthaltsorte  beginnt  dort  (v.  5): 
eir'  ev  'GXeucTvoc  lepTiri  vrjuj  9uöevTi. 
In  denselben  Sagenkreis  gehört  die  Geschichte,  die  im  4.  Buche  der 
'€Tepoiou|ueva   des  Nikandros   stand  (frgm.  56  p.  63   0.  Schneider  aus 


^  Vgl.  bes.  Hesych.  s.  v.  'Avxaia-  ^vavxia  .  .  .  CTiiuaivei  b^  Kai  bai|Liövia*  Kai 
TT?iv  '6KdTriv  bk  'Avxaiav  X^youciv  dirö  toö  ^TTiir^jUTreiv  aöxd.  So  ist  doch  wohl 
auch  'Avxaloc,  der  furchtbare  Erdensohn,  aufzufassen,  und  der  Name  eines 
Silens  auf  einer  alten  chalkidischen  schwarzfigurigen  Vase  'Avxiric  (Heydemann 
Satyr-  und  Bakchennamen,  5.  Hallesches  Winckelmannsprogr.  1880,  S.  28),  ein 
sehr  passender  Name  für  den  schreckend  erscheinenden  Berg-  und  Walddämon. 
Auch  'Avxdjuv,  Vater  des  Ixion,  mag  hierher  gehören. 

^  Daß  dies  ein  bestimmter  alter  sakraler  Terminus  ist,  mag  aus  Pausan.  I 
14,  3  folgen:  ("eirri  ^öerai)  'Opqp^ujc  bk  {o<)bä  TaOxa  'Opcp^uuc,  ^|uoi  boKelv  övxa) 
GOßouXel  Kai  TpiirxoXeiuLU  AucauXriv  uax^pa  elvai,  |ur|vucaci  bl  cqpici  irepl  xfjc 
Traiböc  boGi^vai  uapci  xf^c  Ari|UTixpoc  crreTpai  xoijc  KapiroOc. 

'  Sollte  nicht  vielleicht  irpuuxoYövriv  zu  setzen  und  ein  weibliches  Gegenbild 
des  orphischen  Protogonos  zu  verstehen  sein,  wie  es  denn  in  Attika  auch  einen 
Kult  der  Köpn  TrpiuxoYövri  gegeben  hat,  Pausan.  I  31,2.  Als  Micav  ist  natürlich 
das  vficav  des  Paris.  D  und  Palat.  E  und  Kvicav  des  Vatic.  B  zu  deuten,  was 
bereits  von  Müller  FHGr  II  339  geschehen  ist. 


Die  Göttin  Mise  127 

Antonin.  Liberal.  24  p.  224),    daß   Demeter   in   Attika   von   Misme    in 
ihrem  Hause  empfangen  und  bewirtet  worden  sei;  ihr  Sohn  Askalabos 
wird  wegen  seines  übermütigen  Spottes  in  eine  Eidechse  verwandelt. 
So  sehr  man  an  der  merkwürdigen  Form  Misme  auch  nach  dem,  was 
wir  noch  über  den  Namen  der  Göttin  auszuführen  haben,  Anstoß  nehmen 
könnte,  die  Überlieferung  ist  durch  die  Übereinstimmung  von  Antonin. 
Lib.  und  Lactant.  Placid.  narr.  fab.  V  7  geschützt^  -,  wer  kann  ernst- 
lich   diese   Misme    und   jene   Mise   trennen   wollen?     Da   liegen   Aus- 
gleichungen und  Mischungen  vor,  die  zu  enträtseln  alles  Material  fehlt. 
So  viel  ist  klar:  früher  war  es  lambe,  welche  die  Demeter  empfing, 
50  im  alten  Demeterhymnus:  die  Göttin  war  dYeXacToc  usw.  (v.  202 ff.), 
TTpiv  Y  ÖT€  bri  x^€iJTic  |Liiv  Md|ußr|  K6bv'  eiöma 
TToXXd  TTapacKiuTTTOuc'  eipeijjaTo  irÖTviav,  dTvrjv, 
lueibfjcai  T^Xdcai  re  xai  iXaov  cxeiv  Gujuöv. 

Sie  wird  auch  erst  aus  andern  Demeterkulten  übernommen  sein  und 
ist  als  Dienerin  ins  Haus  des  Keleos  und  der  Metaneira  gesetzt.  Später 
«rst  drang  eine  ganz  andre  Gestalt  aus  den  lasziven  Kultgebräuchen 
der  Orphiker  -  denn  für  diese  wird  sie  ausschließlich  bezeugt  (fr.  215, 
216  Abel)  -  auch  dort  ein  als  Amme  der  Demeter  oder  als  Gattin 
-des  Dysaules,  die  nun  mit  ihm  das  die  Göttin  aufnehmende  Paar  bildet. 
Wir  wissen,  was  dies  Wesen  bedeutet:  sie  ist  selbst  ursprünglich  nichts 
anderes  als  das,  was  sie  der  Demeter  zur  Erheiterung  zeigt.^  Die 
maskulinische  Form  dazu  ist  ßaußu)v,  und  man  könnte  sich  recht  wohl  4 
«inen  alten  phallischen  Dämon  Baußuüv  denken.  Begreiflich  genug,  daß 
das  nun  aus  Herondas  bekannte  Instrument  ßaußiuv  hieß.^  Wie  die 
Baußiu  später  im  Dionysoskult  fortlebt,  zeigt  die  Inschrift  Mitt.  d.  ath. 
Inst.  XV  1890  S.  330,   wo   eine   der   Mänaden  von  Theben,  die   den 

^  Vgl.  Näke  opusc.  II  121;  R.  Förster  Raub  u.  Rückkehr  der  Perseph.  82. 
Nach  ihm  soll  Mic^r]  die  „Mischerin"  bedeuten,  was  ganz  unmöglich  ist. 

*  Hesych.  ßaußiw  .  .  .  (Crusius  S.  128f.)  criiuaivei  hä  Kai  KoiXiav  uuc  irap' 
^eiiireboKXeL  Merkwürdig  genug,  daß  gerade  bei  Empedokles,  der  so  manches 
aus  Geheimkulten  schöpfte,  ßaußiü  vorkam.  In  der  Tat  werden  diese  Dinge  uralt  sein. 

^  Daß  ßaußöv  nicht  'schlummern,  schlafen'  heißt,  sollte  sich  von  selbst  ver- 
stehen. Soph.  fr.  165  Nauck*  ^  bä  upouKaXeixö  |li€  ßaußäv  ^leG'  aöxfic,  wo 
Eust.  Od.  1761,  27  Koi^äcGai  erklärt,  natürlich  in  dem  Sinne,  den  es  ja  auch  so 
■oft  hat.  Eurip.  fr.  694  ßaußu)|Liev  eiceXeövrec,  diröiuopSai  ceGev  xa  banpua,  wo 
Antiatt.  85,  1 1  erklärt  dvxl  toO  KaGeOöeiv,  wieder  in  demselben  Sinne,  den  auch 
iür  KaGeObeiv  jedes  Lexikon  belegt.  Beide  Frgm.  sind  aus  Satyrspielen,  das 
des  Eur.  aus  dem  Syleus;  da  wird  Herakles  die  Xenodike,  die  Tochter  des 
Syleus,  so  anreden  (so  schon  Matthiae).  Arcad.  p.  149,  13  ßaßo)*  tö  KaGeObiw. 
Also  auch  ßaßav  gibt  es  (Bekker  Anecd.  85  ßaßncoiuev  aus  des  Komikers  Kan- 
tharos  Medea  FCO  I  765  K)  wie  Baßiü  (orph.  Frgm.  216).  Daß  ßoußOjv  u.  ä.  hier- 
her gehört,  vermutet  Crusius  S.  129. 


128  Die  Göttin  Mise 

Dionysoskult  in  Magnesia  am  Mäander  begründen  sollen,  Baußuj  heißt; 
wie  sie  in  spätem  und  spätestem  Aberglauben  nicht  vergessen  wird, 
zeigen  Stellen  der  Zauberrezeptbücher  (pap.  Paris.  2201.  pap.  Brit.  46, 
493)  und  der  Zauberlieder,  wo  Hekate  z.  B.  auch  diesen  Beinamen 
bekommt  (Abel  Orph.  289  hym.  III  v.  2).^  Schließlich  ist  sie  dann  auch, 
wie  ein  Bruchstück  des  Psellus  berichtet  (bei  Leo  Allatius  de  graecor. 
hod.  quorund.  opinat.  epist.  p.  139:  evecii  Ydp  ttoii  toTc  'OpcpiKoTc  eireci 
Baßu)  TIC  6vo|uaZ;o|U€vr|  baijuujv  vuKiepivri,  eirijuriKric  t6  cxn^ua  Kai  CKid)br|c 
Tr]v  uTrapHiv),  ein  unförmliches  Nachtgespenst  wie  Hekate. 

Eine  dritte  Gestalt  in  dieser  Reihe  ist  die  Mise.  Sie  ist  andersher 
gekommen  und  zunächst,  wie  es  scheint,  nur  angegliedert  als  Tochter 
des  Dysaules  und  der  Baubo;  so  im  Zeugnis  des  Asklepiades,  mindestens 
also  im  4.  Jahrh.  Später  empfängt  sie  selbst  die  Demeter  (als  Misme), 
so  bei  Nicander.  Über  ihr  Wesen  im  einzelnen  erfahren  wir  nichts, 
nur  müssen  wir  annehmen,  daß  sie  jenen  Gestalten  ähnlich  gewesen 
ist.     Woher  mag  sie  nach  Attika  gekommen  sein? 

In  der  Aufzählung  der  Kultstätten  der  Mise  fährt  der  orphische 
Hymnus  fort  (v.  6),  nachdem  er  Eleusis  erwähnt, 

ehe  Kai  ev  Opufir)  cuv  jurixepi  iLiucTiiroXeijeic. 

Man  vergleiche  damit  Hesych  s.  v.  Micaxic  (eine  Weiterbildung  von 
5  MicTi  s.  u.)  Micri^  TU)V  irepi  xfiv  juriTepa  Tic,  fiv  Kai  Ö)livuovjci.  Es 
ist  kein  Zweifel:  Mise  gehört  danach  auch  in  den  Kreis  der  großen 
Mutter.  Nun  vergleiche  man  die  andre  Glosse  des  Hesych  Miba  Geöc* 
Ol  UTTÖ  'Miba  ßaciXeu0evT6C  eceßovTO  Kai  uj)livuov  Tfjv  Miba  Öeöv, 
fiv  Tivec  jUTiTcpa  auToO  eKTeTijaficeai  Xefouciv.  Auf  die  Ähnlichkeit 
der  Angaben  brauche  ich  "nicht  aufmerksam  zu  machen.  Aber  nun 
rückt  gar  eine  Göttin  Mida  neben  Midas  als  seine  Mutter?  Man  wird 
sich  der  Angaben  bei  Hygin  fab.  191  erinnern,  wo  Midas  filius  matris 
deae,  und  fab.  274,  wo  er  Cybeles  filius,  Phryx  genannt  wird.^  Die 
spätere  Verwechslung  einer  alten  Sagengestalt  Midas  und  des  Königs 
Midas  ist  ja  längst  erkannt;  sie  blickt  auch  im  Anfang  der  Hesychglosse 
durch;  aber  gerade  nach  dieser  Glosse  ist  eben  auch  die  Mida  als  die 
Mutter  des  Midas  selbst  nichts  anderes  als  ein  Name  der  großen  Mutter. 
Was  ist  Midas  ursprünglich  gewesen?     Ist  er  nicht  deutlich  ein  Berg- 


^  Wo  nicht  mit  Dilthey  Boinßuü  zu  ändern  ist  Rh.  Mus.  27,  393. 

*  MicTic  ist  überliefert;  es  kann  gar  nichts  anderes  als  Micri  darinstecken. 

'  Auch  Diod.  III  59  wird  der  'König*  Midas  in  enge  Beziehung  zur  großen 
Mutter  gesetzt,  der  er  ganz  besonders  glänzende  Feste  feiert.  Ihren  ersten 
Tempel  in  Pessinus  hat  er  erbaut. 


Die  Göttin  Mise  129 

und  Waldgott,  in  tierischer  Gestalt\  über  dessen  Eselsohren  erst  die 
lustigen  Griechen  spotteten?^  Auch  die  Silene,  die  Pferdedämonen, 
findet  man  ursprünglich  gerade,  wo  die  BpuTec,  BeßpuKec  und  ^puTCc 
wohnen,  und  ihre  Namen  auf  den  ältesten  Vasen  sind  charakteristisch 
genug  "Opeioc  "Ittttoc  'iTTTraToc  u.  dgl.^  Nun,  die  große  Bergmutter  ist 
die  Pein  =  opein*  '\bai^  (ihr]  Waldgebirge)  und  ebendahin  gehört  es, 
daß  "iTTTTtt  nicht  nur  eine  phrygische  Nymphe  am  Tmolos  ist,  die  Amme 
des  Bakchos,  sondern  ein  Name  der  Göttermutter  selbst.  Der  orphische 
Hymnus  49  ruft  sie  an 

X0OVIT1  |uf]Tep,  ßaciXeia, 
€Tt€  cO  t'  ev  Opu^iri  Katexeic  "Iötic  öpoc  dTvöv, 
fj  TfiujXoc  TepTrei  ce,  xaXov  AuboTci  Oöac|ua. 
Ja,   eine  Inschrift  aus  Kula  lautet:   MHTPI  ITTTA  (=  "Itttt«)  KAI  AIGI  6 
C(aßaZ:iiu).^    Diese  Andeutungen  werden  hier  genügen,  das  Wesen  der 
Gottheiten  deutlich  zu  machen.     Midas  und  Mida  gehören  zusammen, 
und  es  ist  verständlich,  wenn  ersterer,  nachher  freilich  immer  mit  dem 
König  verwechselt,  Sohn  der  großen  Mutter  heißt.    Bald  verschmolzen 
ja  die  orgiastischen  Kulte  der  großen  Mutter  mit  dem  Dionysoskult  in 
Kleinasien,  Midas  wird  TrapdciTOc,   GiacuuiTic  des  Dionysos,  und  es  ist 
auch  in  seinem  Wesen  tief  begründet,  wenn  er  luexeTxe  toO  xdiv  caxu- 
pujv  T^vouc  ibc  ebriXou  xd  uixa  (Philostr.  vit.  Apoll.  VI  27).     So  hat  er 
denn  auch  in  die  orphischen  Kulte  und  Mythen  seinen  Weg  gefunden, 
Midas   heißt   ein   Schüler  des   Orpheus   ^cui   Thracius  Orpheus  orgia 
tradiderat'  (Ovid  Metam.  XI  92  cf.  Phot.  Bibl.  p.  130.    Justin  XI  7  Clem. 
Coh.  p.  10  B).     Sogar  die   gewöhnliche  Geschichte  von  Midas  als  dem 
Schiedsrichter  zwischen  Apollon  und  Marsyas  und  der  Entstehung  seiner 
Eselsohren  wird  aus  einer  orphischen  Theogonie  zitiert  (Mythogr.  Vat. 
III  10,  7  Orph.  Frgm.  310). 

Es  wird  nach  allem  diesem  sachlich  außer  Zweifel  gesetzt  sein,  daß 
Micn  und  Miba,  die  uns  beide  in  gleicher  Weise  nach  Phrygien  in  den 

^  Vgl.  Ernst  Kuhnert  Zs.  der  deutsch,  morgenl.  Gesellschaft  40,  549,  wo 
sogar  die  Identität  des  Midas  und  des  Buenos  dargetan  werden  soll. 

*  Vgl.  Erdmannsdörffer,  das  Zeitalter  der  Novelle  in  Hellas  27  f. 

»  S.  Heydemann  Satyr-  u.  Bakchennamen  a.  a.  O.  S.  23,  36,  37  (dort  wird 
auch  verglichen  Festus  p.  182,  30  Müller:  Oreos  Liber  pater). 

*  O.  Crusius  Beitr.  zur  Mythologie  26. 

^  MouceTov  k.  ßißXioGriKri  xfic  eöarfeX.  cxoXnc  ^v  Cjiiupvr)  3  p.  169  nr.  x^ß', 
s.  F.  A.  Voigt  in  Roschers  Lex.  I  1085.  Auch  die  Hippa  spielt  bei  den  Orphikern 
noch  eine  große  Rolle.  Sie  setzt  das  mit  einer  Schlange  umwundene  XCkvov 
auf  ihr  Haupt.  '€iT€iT6Tai  yäp  irpöc  tV^v  |nr]T^pa  xuiv  GeiJüv  Kai  ti^v  "Ibriv,  d<p'  r\c 
wäca  TU)v  i|;uxOüv  ceipd.  Die  Neuplatoniker  allegorisieren  sie  sogar  als  die  Welt- 
seele.    Orph.  Fragm.  207  Abel. 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  9 


130  Die  Göttin  Mise 

Kreis  der  großen  Mutter  wiesen,  dieselbe  Gottlieit  sind.  Kann  denn 
aber  sprachlich  Micri  und  Miba  gleichgesetzt  werden?  Im  griechischen 
wäre  ein  solcher  Wechsel  von  b  und  c  wohl  kaum  denkbar.  Es  gibt 
aber  Schreibungen  wie  Mrixpi  Zi^ijurivr)  =  M.  Aivbu)ur|VT)  (Laodicea. 
Athen.  Mitt.  XIII  287  n.  9;  vgl.  Nabiavböc  und  NaZ:iavZ:6c  Philostorg. 
histor.  eccl.  VIII  11)\  wo  l  gewiß  nur  den  tönenden  s-Laut  bezeichnen 
soll.  Jedenfalls  sind  Miba  und  Micr)  die  verschiedenen  griechischen 
Auffassungen  eines  fremden  Wortes.  Midas  ist  sicher  ein  fremder 
Name;  er  ist  immer  ö  OpuH  und  Mibac  ist  in  Athen  stets  ein  Sklaven- 
name, ein  ausländischer,  phrygischer  Name.^  Der  fremde  Laut,  den 
7  die  Griechen  einmal  durch  c,  das  andremal  durch  b  wiedergaben,  wird 
tönendem  englischen  th  ähnlich  gewesen  sein.^  Man  kann  das  ja  in 
keiner  Weise  kontrollieren:  man  kann  hier  mit  dem  heutigen  Material 
keinen  Schritt  weiter  kommen.  Das  darf  uns  aber  nicht  hindern,  zu 
behaupten,  daß  Micri  und  Miba  die  ursprünglich  gleichen  Namen  einer 
Gottheit  sind.  Ich  hoffe  es  sachlich  bewiesen  zu  haben;  zu  lautlicher 
Erklärung  wird  sich  vielleicht  in  Zukunft  neues  Material  finden. 

Ist  also  Mida  und  Mise  dieselbe  Göttin,  so  kann  man  nun  auch 
besser  verstehen,  daß  in  dem  orphischen  Hymnus  gerade  die  Mise  als 
mannweibliche  Gottheit  gefeiert  wird  wie  die  große  Mutter  so  oft 
(namentlich  als  Agdistis),  und  daß  sie  so  parallel  neben  der  Antaia 
steht,  ^der  vielnamigen  Mutter  der  Götter  und  Menschen',  die  angefleht 
wird  (v.  10)  eXGew  eiidviTiTOC  irC  euiepiu  ceo  inucxr);  denn  Mriirip  Geoiv 
eudvTrjToc  ist  der  stehende  sakrale  Name  der  phrygischen  Gottheit 
gerade  in  ihrem  Kult  im  Peiraieus.*  Die  phrygische  Rhea  war  schon 
frühe  nach  Athen  gekommen.  Im  Demeterhymnus  glaubt  man  deutlich 
zu  erkennen,  wie  der  neue  Kult  in  die  eleusinischen  Mysterien  ein- 
geschoben wird:  Peirj  wird  zu  Demeter  als  freundliche  Botin  gesandt 
(442  ff.),  sie  betritt  dort  zum  erstenmal  die  Erde  (458).  In  dem  merk- 
würdigen Liede  der  euripideischen  Helena  (1301  ff.)  wird  der  Haupt- 
mythus von  Eleusis,  das  Suchen  der  apprixoc  Kopr),  das  Ende  des 
Fastens  usw.,  von  der  großen  Mutter  erzählt.  Sie  wird  gar  nicht  mehr 
von   der  Demeter   getrennt.    Dem  Liede  sieht  man   an,   daß   es   die 


1  Bei  Kühner- Blaß  S.  279  §  67,  5  'ApRadönc  Obige  Beispiele  verdanke 
ich  Wilhelm  Schulze. 

=*  Mavfic  Mibac  irXuvfjc  CIA  II  1327  Mibac  mit  dem  Beisatz  \px\(:t6c^  das  den 
Sklaven  bezeichnet.    CIA  II  3449  u.  s. 

'  Brugmann  gr.  Gr.  §  34,  wo  er  über  spirantische  Geltung  für  8  spricht, 
'wobei  es  zweifelhaft  ist,  ob  c  ein  ungenauer  Ausdruck  für  ]>  war,  auf  den 
Fremde,  denen  p  gegenüber  ihrem  einheimischen  th  auffiel,  leicht  kommen 
konnten'  usw.         *  Foucart  des  assoc.  relig.  chez  les  Grecs  p.  201  f. 


Die  Göttin  Mise 


131 


Nachahmung  eines  eleusinischen  Kultgesanges  ist.^  Die  Aufnahme  der 
Rhea  in  Eleusis  liegt  also  deutlich  genug  vor,  und  ihre  Genossin  Mise 
ist  mit  ihr  gekommen  und  eingereiht  worden,  wie  es  oben  bereits  ge- 
zeigt wurde.  Daß  sie  unzweifelhaft  schon  vorher  eine  besonders 
laszive  Gestalt  geworden  war,  wird  bei  einer  Göttin  des  ausschweifenden 
Kultes  der  phrygischen  Bergmutter  niemanden  wundernehmen.^  Der 
Übergang  in  die  orphisch- dionysischen  Kulte  war  sowohl  in  Athen,  wie  8 
in  Kleinasien  selbst,  nach  allem  Gesagten  ganz  natürlich.  In  Alexandria 
blühten  diese  Kulte  in  späterer  Zeit  ganz  besonders:  da  tritt  uns  die 
Mise  wieder  entgegen  als  hochverehrte  Göttin. 

Aber  sie  wandert  noch  viel  weiter.  Plutarch  berichtet  im  Leben 
des  Cäsar  c.  9  bei  Gelegenheit  des  bekannten  Skandals  am  Feste  der 
Bona  Dea  ausführlicher  über  diese  Göttin.  Ich  muß  einen  Teil  dieser 
Ausführung  hersetzen:  ecii  he  Kai  Tujjuaioic  Geöc,  fiv  'ATaGriv  6vo|Lid- 
louciv,  ujcTrep  "GX\tiv€c  fuvaiKeiav.  Kai  OpuYCC  |uev  oiKeiouiuevoi 
Miba  jUTiT^pa  toö  ßaciXeujc  T€vec0ai  qpaciv,  Tm)LiaToi  be  NujuqpTiv 
Apudba,  OaOvuj  cuvoiKrjcacav,  "€\\r|V€c  be  tujv  Aiovucou  luriTepuüv 
Tfiv  appr|Tov,  Ö0€v  djUTreXivoic  re  idc  CKr|vdc  K\r||uaciv  eopxdZioucai 
Kaiepeqpouci,  xai  bpdKiüv  lepöc  TrapaKaGibpurai  rrj  8euj  Kaid  töv 
)Li06ov  .  .  .  auiai  be  KaG'  eauidc  ai  fuvaiKec  TroXXd  xoic  'Opcpi- 
Koic  öjLioXoToOvTa  bpdv  XeTOVxai  Trepi  rriv  lepoupTiav.  Da 
finden  wir  eingedrungen  in  den  Kult  der  Bona  Dea  und  mit  ihr  ver- 
einigt die  Miba  Oeöc  —  die  Herkunft  aus  Phrygien  wird  noch  aus- 
drücklich betont  -,  von  der  Hesychius  anführt  oi  uttö  Miba  ßaciXeu- 
Gevrec  eceßovxo  Kai  ujjuvuov  xr]V  Miba  Geöv,  f^v  xivec  inrixepa  auxoO 
eKxexijaficGai  Xe^ouciv,  und  man  gedenkt  des  Verses  des  Mise- 
hymnus  d^vriv  x'  euiepöv  xe  Micriv,  dppnxov  dvaccav.  Plutarch  be- 
merkt eben  nur,  was  ihm  sehr  merkwürdig  vorkam,  daß  diese  Göttin 
die  Mutter  des  Königs  Midas  sein  sollte,  von  dem  die  alten  Erzählungen 
allbekannt  waren;  den  betreffenden  Kultnamen  nennt  er  nicht.  Möglich 
ist,  ja  wahrscheinlich,  daß  ihre  Kultbezeichnung  Miba  iir\Tr]p  war;  das 
hieß  eben  auch  „Mutter  der  Midas".  Daran  schlössen  sich  die  ganzen 
Midasgeschichten  und  das  erschien  dem  Berichterstatter  bemerkenswert. 
Ausdrücklich  wird  gesagt,  daß  die  Frauen  „unter  sich"  es  trieben  wie 
in  den  orphischen  Mysterien;  natürlich  bezieht  sich  das  auf  die  obszönen 


^  Im  übrigen  reicht  ja  der  Bau  des  latiTpuiov  vielleicht  ins  6.  Jh.  Pindar 
verehrte  die  große  Mutter  und  setzte  sie  gelegentlich  der  Demeter  gleich, 
Isthm.  6,  3.    Vgl.  Preller  gr.  M.  512. 

^  Alle  solche  ursprüngliche  Berg-  und  Walddämonen  haben  diesen  Zug; 
man  denke  nur  an  die  stets  phallischen  Siiene. 

9* 


i32  D^®  Göttin  Mise 

Dinge,  wie  sie  in  den  dionysisch -orphischen  Geheimkulten  im  Schwange 
waren.  Und  die  waren  nun  immer  mehr  in  den  Kult  der  Bona  Dea 
eingedrungen.  Die  ausschweifenden  bakchischen  Orgien,  die  schon 
einmal  eine  Gefahr  für  den  Staat  geworden  waren,  hatten  sich  hier 
wieder  einzuschleichen  gewußt,  und  wir  sehen  sie  von  Cicero  bis  Ju- 
venal  sich  zu  frechster  Unsittlichkeit  steigern.  Wie  an  den  Namen  der 
altrömischen  Göttin  griechischer  Kultgebrauch  sich  anschloß,  ist  bekannt. 
9  Wie  bald  gerade  die  orphischen  Mythen  eindrangen,  ist  nun  deutlich 
zu  sehen.  Die  Geschichte,  wie  Faunus  seiner  Tochter,  der  Bona  Dea, 
die  ihm  nicht  zu  Willen  ist,  in  Gestalt  einer  Schlange  sich  gesellt,  hat 
die  genaue  Parallele  an  der  orphischen  Tradition  von  Zeus,  der  die 
widerstrebende  Rhea  oder  auch  seine  Tochter  Persephone  in  Gestalt 
einer  Schlange  vergewaltigt.^  Diese  Bona  Dea  ist  ja  bald  mit  Rhea 
und  Kybele,  bald  mit  Proserpina  bei  den  Römern  gleichgesetzt  worden, 
wie  sehr  früh  schon  mit  Demeter.^  Damia  wird  sie  ja  selbst  genannt.^ 
Die  enge  Vereinigung  der  Mysterienkulte  all  dieser  Gottheiten  in  späterer 
Zeit  mag  statt  anderer  Zeugnisse  eine  Inschrift  aus  Rom  zeigen  GIG 
6206,  jetzt  Kaibel  IGSI  1449: 

KeT|aai  AiipriXioc  'Avtuüvioc  6  Kai 

lepeuc  Tdjv[b]e  Geiuv  irdvTUJV,  Trpujxov  Bovabiric 

eiia  )Lir|Tpöc  Geujv  Kai  AiovOcou  Kai  'Htciuövoc, 

fiYejuüJV  ist  lakchos  und  nach  Strab.  X  468  dpxriT^TTic  tOuv  |LiucTTipiu)v 
TTJc  AriiuTiTpoc.  Der  Priester  dieser  Gottheiten,  dem  die  Grabschrift 
gilt,  ist  ein  Knabe  von  7  Jahren.  Natürlich  war  es  ein  synkretistischer 
Kult,  dessen  Bestandteile  uns  durchaus  verständlich  sind.  Welche 
Bedeutung  in  jenem  zügellosen  Geheimdienst  der  römischen  Bona 
Dea  die  Mida  gehabt  haben  mag,  kann  die  Mise  von  Eleusis  erraten 
lassen. 

Das  sind  die  Spuren,  die  wir  von  der  Wanderung  der  seltsamen 
Göttin  haben.  Aber  es  gibt  vielleicht  noch  andre  Anzeichen  ihrer 
Existenz,  die  verborgener  sind.     Weiterbildungen  hat  die  Sprache  von 


*  Macrob.  I  12,  24:  nee  non  eandem  Fauni  filiam  dicunt  obstitisseque  volun- 
tati  patris  in  amorem  suum  lapsi,  ut  et  virga  myrtea  ab  eo  verberaretur,  cum 
desiderio  patris  nee  vino  ab  eodem  pressa  cessisset.  transfigurasse  se  tarnen 
in  serpentem  pater  creditur  et  coisse  cum  filia.  Dazu  z.  B.  Athenag.  leg.  pro 
Christ,  p.  295  d  (fragm.  orph.  41):  Kai  öti  (Zeuc)  ti^v  lurjT^pa  P^av  diraYopeOoucav 
aÖToO  TÖv  Y^l^ov  ^biuüKe*  bpaKaivr]c  ö'  auxfic  Y^voiLi^vric  Kai  auxöc  etc  bpdtKovxa 
^exaßaXiJbv  -  k^v(Y\  .  .  .  eTG'  öti  Oepceqpövr)  xf^  GuTaxpl  ^|uitti,  ßiacdiuevoc  Kai 
xaOxTiv  ^v  bpdKovxoc  cxr^axi  .  .  .  Man  beachte  auch,  daß  nach  der  angeführten 
Plutarchstelle  bpdKiwv  iepöc   TrapaKaOibpuxai  x^  Geip  Kaxd  xöv  |li09ov. 

«  S.  Peter  in  Roschers  Lex.  I  791,  943.  ^  S.  O.  Crusius  Philol.  49,  675. 


Die  Göttin  Mise  100 

MicTi  gestaltet  wie  jenes  Micaxic  bei  Hesychius  s.  v.  Es  hat  eine  ähn- 
liche Gestalt  bezeichnet,  vielleicht  auch  eine  Priesterin  der  Göttin  oder 
eine  ihr  Ergebene.  Auf  eine  andre  Bildung  hat  schon  O.  Crusius  auf- 
merksam gemacht.  Er  verweist  (Unters,  zu  Herondas  130  Anm.)  auf 
das  Kratinfragment: 

jLiiCTiTai  be  T^vaiKec  oXicßoici  xpncoviai. 
'Ist  die  Vermutung  erlaubt,   daß  Mtcn  damit  im  Zusammenhang  steht  10 
und  eine  andre  Baubo  bezeichnet?'  fragt  er.     Das  letztere  ist  für  ge- 
wisse Kulte  sicher.    Aber  es  gibt  noch  mehr  als  diese  Kratinstelle  und 
die  Erklärung  bei  Photius  s.  v.  )Liicr|TTi,  nach  der  es  tx\v  Kaxacpepfi  be- 
zeichnet.    Das  weitere  gilt  es  zunächst  vorzulegen. 

Aristoph.  av.   1620   —  Kai  judTTobibuj  luiCTixia. 
Dazu  schol.  inicriTiav  he  01  juev  Tiepi  'Apicxocpdvri  xr]v  eic  xd  d9pobicia 
dKpaciav   xai  xö  'irepi   ctpupöv  iraxeTa  |Liicr|xfi   T^vrj*  ouxwc   eHriYoOvxai. 
)Lir|Troxe  juevxoi  TCviKUJxepöv  ecxiv  drcXricxia,  o  Kai  vOv  ejucpaivexai. 

Aristoph.  Plut.  989: 

Ktti  xaöxa  xoivuv  oux  ev€Kev  luicrixiac 
aiTcTv  \x    ^cpacKev,  dXXd  cpiXiac  eiv€Ka. 
Dazu  schol.  oux  €V€Ka  xoO  uTTTipexeiv  |liou  xrj  dceXTCia  .  .  juictixia  .  .  . 
xö  eic  xdc  cuvouciac  eueTiiqpopov. 

Pollux  VI  189  gibt  außer  andern  Synonymen  epujxojuaviuv  Kai  ö 
|Liicepu)C^  Kai  |Liicr|xöv  luevxoi  01  kuj|uikoi  KaXoöci  Kai  |Liicr|xriv  xf)v 
judxXov  ...  xö  be  TupdTiLia  XaTveiav,  dceXTtiav,  dKoXaciav, 
euxepeiav,  luaxXocuvriv,  ^xaipriciv,  rropveiav,  luiCTixiav. 

Suidas  s.  v.  |uicr|xr|  .  xfiv  Kaxaqpepf]  )Liicrixr|v  eXe^ov,  ou  Tiapd  xö 
ILiTcoc  dXXd  irapd  xö  juicTecGai.  Es  folgt  auch  da  das  Kratinosfragment 
und  ähnliche  Erklärung  wie  die  obige.  Etwa  das  gleiche  steht  bei 
Hesychius  s.  v.  |uicr|XTi. 

Will  etwa  jemand  diesen  antiken  Erklärungen  gegenüber  im  Ernste 
behaupten  ^icrixöc,  i^iCTixri,  juicrixia  gehöre  zu  iniceTv  'hassen'?  Schon 
die  alten  Grammatiker  haben  beide  scharf  getrennt,  auch  in  ihrer 
Weise  dem  so  Ausdruck  gegeben,  daß  sie  |uicr|xri  und  juicnxn  nach  den 
beiden  Bedeutungen  differenzierten.^  Sie  wußten  und  fühlten,  daß  es 
einander  völlig  fremde  Worte  seien.    Daß  ihnen  aber  die  Herkunft  des 


*  ILiicTiv^piuc  gab  Dindorf.  Nach  freundlicher  Mitteilung  Erich  Bethes  hat 
der  Falkenburgianus  in  Salamanca  (F),  'der  beste  und  reichste  Codex'  ^pujxuj- 
^ava»v  (sie)  Kai  ö  laicepiuc  (sie)  xal  luicriTÖv  judvroi  .  .  .  Die  Umgebung  macht 
es  auch  hier  schwer,   den   ersten  Bestandteil  von  ixicipwc  zu  laiceiv  zu  stellen. 

2  Belege  bei  Kock  a.  a.  O.  Dazu  Thom.  ecl.  p.  617  }jLicr]Ti]  xal  luicouc  dHia 
Tuvr\*  |Liicr]TT]  6^  ßapuxövujc  f)  Kaxacpepric 


134  Die  Göttin  Mise 

einen  Wortes  ganz  fremd  war  und  sie  es  nicht  zu  deuten  wußten, 
U  zeigt,  daß  sie  auf  eine  Ableitung  von  )LiiCTec9ai  verfielen;  und  es  ist 
lehrreich,  wie  in  einigen  Handschriften  sowohl  des  Aristophanes  als  des 
Pollux  an  den  betr.  Stellen  sich  ein  luicTTixiac,  juicYnTiav,  juicttittiv 
findet.*  Ein  ixicr]Tia  usw.  hatte  für  sie  keinen  griechischen  Klang,  wenn 
es  die  Bedeutung  haben  sollte,  die  sie  doch  an  den  betreffenden  Stellen 
brauchten.  Sollen  wir  nun  wirklich  so  kühn  sein  zu  behaupten,  daß 
ILiicnTÖc,  juTcTiTri,  luicTiTia  zu  MicTi  gehöre?  Aber  gerade  weil  Micri  für 
die  Griechen  ein  fremder  Klang  und  Name  war,  in  dem  sie  keine 
Wurzelbedeutung  unmittelbar  fühlten,  kann  eine  sonst  unmöglich 
scheinende  Bildung  nicht  ohne  weiteres  abgewiesen  werden.  Und  eine 
Ausgleichung  eines  von  Mtcrj  gebildeten  Wortes  (Von  der  Mise  er- 
griffen, besessen'?)  an  juicriTÖc  von  iLiiceiu  ist  eine  in  diesem  Falle 
durchaus  wahrscheinliche  Annahme.  Aber  ich  bemerke  ausdrücklich, 
daß  ich  die  formalen  Schwierigkeiten  nicht  verkenne  und  als  sicher 
nur  hinstellen  will,  daß  jene  Worte  in  jener  Bedeutung  unmöglich  mit 
)LiTceu)  zusammengestellt  werden  können  und,  soviel  ich  sehe,  aus  dem 
Griechischen  überhaupt  undeutbar  sind. 

Wäre  aber  die  angedeutete  Ableitung  richtig,  so  würde  sich  freilich 
jener  Kratinosvers  luicrirai  be  T^vaiKcc  oXicßoici  xpncovxai  d.  h.  ßaußüjvec 
werden  sie  benutzen,  erst  recht  verstehen  lassen,  und  die  |Liicr|Tai  wären 
dann  so  recht  die  Besessenen  von  jener  Göttin,  die  gewiß  damals  schon 
nach  Athen  importiert  war.  Ja,  Kratin  könnte  hier,  wie  sonst  so 
manchmal  die  Komiker  der  Zeit  den  Kotyttokult,  die  Bapten,  die  Metra- 
gyrten,  die  Orphiker,  die  Kybeben  (wer  kann  z.  B.  auch  Kußrißoc  er- 
klären, das  bedeuten  soll  6  Kaxexöjuevoc  xri  ixryTpi  tujv  OeüuV  0€O(pöpr|Toc  ? 
Phot.  s.  V.)  und  solche  fremden  Kulte  verspotteten,  das  schlimme  Treiben 
im  Dienste  der  aus  Phrygien  im  Kreise  der  großen  Mutter  gekommenen 
Mise  brandmarken  wollen.  Man  verlangt  doch  eigentlich  für  das 
|uicT]Tai  in  dem  Verse  eine  solche  ganz  bestimmte  Bedeutung.  Und 
sollte  gar  Bergk  recht  haben,  der  den  Vers  irepi  cqpupov  iraxeTa  jLucrjTf] 
Tuvri  mit  einigen  andern  Zeugnissen  kombiniert  und  auf  Archilochos 
zurückführen  wilP,  so  hätte  die  Mise  auch  schon  in  den  obszönen 
12  Spöttereien  des  Demeterkults  der  Inseln  eine  Rolle  gespielt,  auch  da 
schon  eine  Genossin  oder  Stellvertreterin  der  lambe  wie  dann  zu 
Eleusis.     Das  wäre  der  Weg  von  Phrygien  nach  Attica.^ 


'  Vgl.  in  dem  oben  angeführten  Plutosscholion:  ^iicriTiac-  laiHeuuc,  cuvacpeiac, 
duö  Toö  liicTiw  hä  MicYnTia  xal  Mictixia.  *  PL  II  p.  729  (434). 

'  <Auch  bei  Herondas  scheint  der  Baubon  zu  dem  Apparat  verrufener 
Kybele- Demeter- Mysterien    zu   gehören,   wie   ich   schon   Unters.   S.  130*  an- 


Die  Göttin  Mise  J35 

Aber  das  letztere  sind  nur  Vermutungen  unsicherster  Art.  Als  ein 
weiterer  Kultort  der  Göttin  wird  im  orphischen  Hymnus,  zu  dem  wir 
so  am  Ende  zurückkehren,  außer  Ägypten  in  den  letzten  Versen,  wo 
sie  zur  Tochter  der  Isis  wird,  Kypros  genannt  (v.  7): 

fj  KOiTpuj  xepTrri  cuv  eucTecpdvtu  KuGepeiri. 

Es  ist  ja  bekannt,  wie  sehr  die  große  Mutter  mit  der  kyprischen 
Aphrodite  verschmolz;  und  daß  die  Gestalt  der  Mise,  wie  sie  sich 
später  entwickelt,  der  Aphrodite  sich  leicht  gesellen  mochte,  ist  nur 
zu  natürlich.  Im  Kreise  der  großen  Mutter  wird  sie  auch  nach  Kypros 
gekommen  und  dort  mit  und  neben  Aphrodite  verehrt  sein.  Eine 
KotGoboc  einer  solchen  Mise -Aphrodite  wäre  gewiß  die  passendste,  bei 
der  sich  im  ersten  Mimiambus  des  Herondas  Gryllos  in  die  schöne 
junge  Frau  verlieben  könnte.  Sollte  die  Szene  des  Gedichts  in  Kypros 
gedacht  sein?  Die  Insel  stand  in  der  Ptolemäerzeit  in  engster  Be- 
ziehung zu  Alexandria  und  war  politisch  abhängig  von  Ägypten.^  Jeden- 
falls aber  werden  wir  den  tiefern  Bezug  der  Herondasstelle,  von  der 
wir  ausgingen,  nun  erst  erkennen  können.  Der  Umweg  wird  nicht  zu 
weit  gewesen  sein,  wenn  wir  haben  beweisen  können,  wie  der  Kult 
einer  fast  verschollenen  Göttin  durch  die  antike  Welt  wandert:  Phrygien, 
Athen,  Alexandria,  Rom. 


genommen  habe;  wenigstens  stimmt  dazu  gut  1)  die  ganz  übertriebene  Heimlich- 
tuerei im  sechsten  Mimus;  2)  V.  30  ff.  Kai  TaTci  yi-f\  bei  {=  ßeßrjXoic),  -  'Abpricxeia; 
3)  die  Bezeichnung  des  öXicßoc  mit  ßaußtüv  (zu  Baußuu);  4)  der  Name  MnTptJÜ 
(von  der  laeTdXri  MnxTip),  wohl  auch  KopimO,  vgl.  Unters.  69*.    0.  Cntsius.y 

*  Eine  Prozession  von  Paphos  nach  Palaipaphos  von  ävbpec  ö|uoO  y^vaiBv 
CUVIÖVT6C  Kai  ^K  TU)v  äWwv  TüöXeuuv  erwähnt  Strabo  p.  683.  Kult  der  Aphrodite 
und  Isis  ist  für  Kypros  mehrfach  bezeugt;  z.  B.  für  Soloi  Strab.  1.  c.  Gewiß 
aber  spielt  die  Szene  auf  einer  der  nahen  Inseln,  und  wenn,  wie  sonst  nahe 
läge  zu  vermuten,  auf  Kos,  so  kann  die  Mise  auch  da  an  den  Aphroditekult 
angeschlossen  gewesen  sein,  der  dort  vorhanden  war  (z.  B.  Paton  and  Hicks 
Insc.  of  Cos  155,  369,  387  u.  s.).  <Auch  Demeter  und  Kybele  sind  in  Kos  vor- 
handen; einmal  heißt  Rhea  Geßacrri  (119,  6),  wie  Demeter  (411).  Kos  hat  jeden- 
falls mehr  Chancen.     Crusius.> 


VII 
AISCHYLOS' 

1065  Aischylos,  des  Euphorion  Sohn  aus  Eleusis,  der  Tragiker.  Für  das 
äußere  Leben  des  A.  dienen  als  Quellen  zunächst  ein  ßioc  im  Medi- 
ceus,  in  dem  Nachrichten  aus  verschiedenen  Quellen  und  von  sehr  ver- 
schiedenem Werte  durch  eine  nachlässig  redigierende  Hand  vereinigt 
sind.  Zitiert  wird  in  dem  ßioc  selbst  €k  ttic  iiiouciKfic  iCTopiac  (§  17), 
und  damit  ist  wahrscheinlich  das  Werk  des  jüngeren  Dionysios  von 
Halikarnassos  gemeint;  außerdem  wird  Dikaiarchos  angeführt  (§  13). 
Anderes  mag  auf  Chamaileon  zurückgehen,  der  rrepi  AicxijXou  (Athen.  I 
22a.  IX  375 f.  X  428 f.),  oder  auf  Herakleides  Pontikos,  der  irepi  tOjv  rpiOuv 
TpaTLuboTToiLuv  geschrieben  hatte  (Laert.  Diog.  V  88).  Eine  analoge 
Kompilation  ist  der  erhaltene  ßioc  des  Sophokles.  Außerdem  ist  ein 
sehr  dürftiger  Artikel  des  Suidas  vorhanden  und  vereinzelte  Noten  bei 
den  Schriftstellern.  Alles  das  ist  zusammengestellt  von  Fr.  Scholl  vor 
Ritschis  Ausgabe  der  Septem  adv.  Thebas,  Leipz.  1875  (danach  die 
Zitate).     Der  ßioc  ist  auch  den  meisten  Ausgaben  beigegeben. 

Das  Todesjahr  allein  steht  urkundlich  fest:  Ol.  81,  1  ==  456/5,  Marm. 
Par.  ep.  59.  Schol.  Arist.  Acharn.  10.  Nach  dem  Marm.  Par.  war  er 
69  Jahre  alt,  als  er  starb,  und  35,  als  er  bei  Marathon  mitkämpfte 
(ep.  48):  das  ergibt  Ol.  63,4  =  525/4  oder  Ol.  64,1  =  524/3  (vgl. 
Susemihl  index  schol.  Gryph.  Winter  1876/7  S.  4 f.)  als  Geburtsjahr. 

1066 Dazu  stimmt  Suidas,  da  man  in  dem  Satze  nT^viZiexo  b"  auröc  ev  Trj 
o'  6Xu)LiTridbi  eTUJV  ijv  Ke'  das  für  0  emendierte  0  für  sicher  nehmen 
darf;  vgl.  s.  TTpaTivac  dvrriTUJviZieTO  AicxvjXuj  re  Kai  XoipiXuj  em  xfic 
eßbojUTiKocTfic  e'  6Xu|LATTidboc.  Dann  kann  dort  auch  die  Angabe,  daß 
A.  58  Jahre  alt  gestorben  sei,  nur  ein  Schreibfehler  sein  (vr|'  statt  Hn'; 
so  schon  G.Hermann  opusc.  II  161).  Dagegen  sind  die  Zahlen  der 
Vita  teils  auf  jeden  Fall  unsinnig  (§  3  cuvexpövnce  hk  TTivbaptu  TeToviüc 
KttTot  Tfiv  ja'  6Xu|LiTTidba;  ebenso  die  Angabe  in  der  Sophoklesvita  fjv  öe 
AicxuXou  veiuTepoc  eieciv  V  [bcKaeTTid  Paris.  2711],  wenn  Soph.  geboren 

^  <Real-Encyclopädie  von  Pauly-Wissowa,  Aischylos  13,  Band  I  Sp.  1065  ff. > 


Aischylos  1 3-7 

sei  Ol.  oa'),  teils  unkontrollierbar  und  jenen  oben  gegebenen  einander 
ergänzenden  Ansätzen  gegenüber  immerhin  verdächtig  (§  12  eßiuj  be 
eiTi  Ht'),  allesamt  daher  für  uns  unbrauchbar. 

A.  war  ein  geborener  Athener  aus  dem  Demos  Eleusis.  Wie  be- 
deutsam es  war,  daß  er  an  der  Stätte  der  Mysterien  aufwuchs,  in  die 
er  natürlich  eingeweiht  wurde,  deutet  auch  Aristoph.  Frösche  886 f.  an: 
AniuriTep  f]  Gpeiiiaca  xfiv  e|ufiv  cppeva  eivai  |ue  tiuv  cujv  ctHiov  luucTTipiiüv. 
A.  war  aus  einem  Eupatridengeschlecht.  Sein  Vater  hieß  Euphorion 
(Vit.  §  1  u.  10.  Herod.  II  156  u.  s.).  Ein  Bruder  wird  Kynegeiros  ge- 
nannt (Vit.  §  1.  4.  Suid.),  der  mit  ihm  zugleich  bei  Marathon  gekämpft 
habe,  und  da  bei  Herod.  VI  114  ein  Kynegeiros,  der  bei  Marathon  fällt, 
Sohn  des  Euphorion  heißt,  wird  dies  der  Bruder  des  A.  sein.  Ein 
Ameinias,  der  bei  Salamis  mitgekämpft  habe,  wird  in  der  Vita  §  4  und 
bei  Suid.  Bruder  des  A.  genannt,  aber  Herodot  (VIII  84  u.  93)  nennt 
den  Ameinias,  dessen  Taten  bei  Salamis  er  erwähnt,  TTaXXriveOc.  Zu- 
dem ist  verdächtig,  daß  eine  ältere  Schicht  der  Vita  nur  den  Kynegeiros 
nennt  (§  1),  und  es  ist  immerhin  das  wahrscheinlichste,  daß  ein  Bruder 
des  A.  Ameinias  hieß  und  mit  dem  berühmten  Krieger  zusammen- 
geworfen wurde  (so  zuerst  G.  Hermann  opusc.  II  166);  das  war  bereits 
geschehen  bei  Diod.  XI  27,  2.  Aelian  v.  h.  V  19  (wo  als  Kriegstat  des 
Ameinias  bei  Salamis  erzählt  wird,  was  Kynegeiros  bei  Marathon  getan 
hatte).  Themistocl.  ep.  XI  751  Herch.  Aristodem.  I  3  p.  2  Müller.  Ein 
Bruder  Euphorion,  den  Suidas  zu  nennen  schien,  ist  nicht  einmal  von 
diesem  irrtümlich  angenommen  worden;  es  liegt  nur  ein  Versehen  der 
Überlieferung  vor  (AicxOXoc  'A6r|vaToc,  xpaTiKÖc,  möc  |uev  Guqpopiuuvoc, 
dbeXqpöc  b'  'A|Lieiviovj  G\jcpopiujvoc  Kai  Kuvai"f€ipou  ...  da  ist  das  zweite 
Gu90piujvoc  wohl  törichte  Wiederholung  des  Vaternamens,  keinesfalls 
kann  es  einen  dritten  Bruder  bezeichnen  sollen).  Eine  Schwester  des 
A.,  deren  Name  nicht  genannt  wird,  war  mit  Philopeithes  vermählt  und 
ward  die  Ahnmutter  einer  ganzen  Tragikergeneration  (Schol.  Arist. 
Vög.  282).  Söhne  des  A.  waren  Euphorion  und  Euaion  (nach  anderen 
Hss.  Biujv). 

An  den  Hauptschlachten  der  Perserkriege  nahm  A.  teil.  Daß  er  bei 
Marathon  mitkämpfte  und  sich  auszeichnete,  bezeugt  die  Grabschrift, 
die  er  selbst  verfaßt  haben  sollte,  (Vit.  §  10.  Paus.  I  14,  4.  Athen.  XIV 
627  c)  auch  Marm.  Par.  ep.  48.  Vita  §4.  Suid.  u.  a.  Die  Teilnahme  an 
Salamis  ist  sicher  allein  durch  das  Zeugnis  des  Ion  (Schol.  Pers.  429); 
Artemision  ist  hinzugefügt  bei  Paus.  I  14,  5;  Plataiai  gibt  nur  die  Vita 
an  (§4).  Die  Vermutung  von  Blaß  Rh.  Mus.  XXIX  (1874)  481  ff.,  daß  1067 
A.  476  mit  in  Thrakien  gewesen  sei  zur  Eroberung  von  Eion,  weil  er 


138  Aischylos 

in  den  Persern  Bekanntschaft  mit  der  Gegend  zeige,  ist  nicht  nur  nicht 
beweisbar,  sondern  geradezu  unwahrscheinlich  (s.  u.). 

Dagegen  hat  A.  mehrere  Reisen  nach  Sizilien  gemacht.  Wenn  man 
die  Nachricht  der  Vita  (§  8)  eXGiJuv  toivuv  eic  CiKeXiav  '  lepwvoc  töte 
Tf]V  AiTvriv  KTiZiovTOC  errebeiHaTO  xdc  Alxvaiac  oiujviZ^öjuevoc  ßiov  dfaGöv 
ToTc  cuvoiKiZiouci  xnv  TTÖXiv  geuau  nimmt  -  und  sie  wird  durch  das, 
was  man  sonst  von  den  Aiivaiai  weiß,  nur  bestätigt,  —  so  muß  A.  dies 
Sttick  in  dem  GrOndungsjahr  Aitnas  Ol.  76,1  ==  476/5  oder  doch  kurz 
darauf  dort  aufgeführt  haben.  Ol.  76,4  =  472  war  A.  in  Athen  und 
führte  die  Perser  auf.  Zwischen  471  und  469  ist  er  wieder  in  Syrakus 
gewesen  (Christ  Sitzungsber.  Akad.  München  1888  I  371  ff.),  und  hat 
jedenfalls  in  dieser  Zeit  die  Perser  dort  zum  zweiten  Male  aufgeführt. 
Denn  die  syrakusische  zweite  Aufführung  bezeugt  nicht  nur  die  Vita 
(§  16)  9aciv  ijTTÖ  'lepujvoc  otHiujGevTa  dvabibdHai  touc  TTepcac,  sondern 
auch  Eratosthenes  und  Herodikos  nach  Schol.  Arist.  Frösche  1084  (der 
dasselbe  sagt,  ohne  daß  bebibdxöai  in  dvabebibdxOai  zu  ändern  wäre); 
Schönemann  Rh.  Mus.  XLII  (1887)  467ff.  Sicher  ist  ferner  nach  allen 
Quellen,  daß  A.  in  Gela  in  Sizilien  starb  (Ol.  81,1  =  456/5);  Ol. 
80,2  ==  458  hatte  er  noch  in  Athen  die  Orestie  aufgeführt.  Mehr  wissen 
wir  nicht  über  die  Reisen  des  A.  nach  Sizilien  (G.  Hermann  opusc.  II 
144 ff.  behauptet  vier  Reisen).  Die  Alten  erzählen  von  den  mannig- 
fachsten Motiven,  warum  er  Athen  verlassen  (fast  alle  nebeneinander 
in  der  Vita).  Daß  er  verbannt  sei,  weil  bei  dem  Wettkampf  mit  Pratinas 
die  iKpia  eingestürzt  seien  Ol.  70,1  =  499  (Suid.  s.  AicxiiXoc  und  s. 
TTpaTivac),  ist  ein  albernes  Histörchen.  Daß  er  nach  einer  Niederlage  gegen 
Simonides  ev  tuj  eic  xouc  ev  MapaGuuvi  xeGvTiKÖTac  eXeYeiuj  (Vita  §  6) 
489  gegangen  sei,  ist  schon  deshalb  undenkbar,  weil  ihn  zuerst  Hieron 
einlud,  der  478  ans  Ruder  kam.  Eine  parallele  Tradition  gleichen  Wertes 
(xaid  Tivac  .  .  .,  jene  andere  Kaid  be  eviouc  daneben  in  der  Vita  §  6) 
ist  die,  daß  er  Ol.  77,4  =  468,  erbittert  durch  einen  Sieg  des  jungen 
Sophokles,  gegangen  sei,  eine  Geschichte,  die  überdies  mit  der  Erzählung 
von  dem  ganz  unmöglichen  Preisgericht  der  10  Feldherren  (Suse mihi 
a.  a.  0.  10  ff.)  zusammenhängt.  Auch  nur  eine  richtige  Tradition  über 
die  Zeit  einer  Abreise  daraus  entnehmen  zu  wollen,  würde  schon  die 
Tatsache  verbieten,  daß  A.  im  folgenden  Jahre  die  ' GiTTd-Trilogie  in 
Athen  aufführte.  Weiterhin  wird  sein  Weggang  mit  einer  Anklage 
dceßeiac  in  Zusammenhang  gebracht:  Aelian  v.  h.  V19:  AicxOXoc  6 
TpaTtuböc  iKpiveio  im  tivi  bpd)LiaTi  etc.  Auch  Aristoteles  deutet  solches 
an  Eth.  Nicom.  III  2  p.  1 1 1 1  a,  wo  als  Beispiel  für  den  Fall,  daß  jemand 
bei  einer  Handlung  nicht  das  Bewußtsein  habe,  eine  Gesetzesübertretung 


Aischylos  log 

2U  begehen,  leichthin  angeführt  wird:  n  ouk  eibevai  oxi  diröppriTa  fjv, 
uJCTiep  AicxuXoc  xct  mjCTiKot.  Kommentatoren  ([Eustratios]  zu  Arist.  a.  a.  0. 
nach  Herakleides  Pontikos)  und  Spätere  haben  das  dann  des  weiteren 
ausgeführt  und  jedenfalls  ausgeschmückt,  sie  erzählen  von  einem  Auf- 1068 
rühr  im  Theater,  bei  dem  man  den  A.  habe  lynchen  wollen,  von  einem 
Prozeß  vor  dem  Areopag  (Clem.  Alex,  ström.  II 14  .  .  .  dcpeieri  eTiibeiHac 
auTÖv  ^e^uri^ievov;  daß  aber  A.  |U€|Liuri|Lievoc  war,  wissen  wir,  s.  o.  Aelian 
V.  h.  V 19).  Auch  die  Stücke  wußte  man  zu  nennen,  in  denen  die 
Mysterien  profaniert  gewesen  seien;  Apsines  art.  rhet.  II  304,  7  Sp. 
nennt  die  Eumenides,  über  deren  Wirkung  dann  der  Biograph  (§  7) 
noch  abenteuerlicher  zu  erzählen  weiß.  Für  uns  ist  in  den  Eumeniden 
keine  Profanierung  der  Mysterien  erkennbar  (vgl.  G.  Hermann  opusc. 
II  163 ff.);  ob  eine  solche  in  irgendwelcher  Aktion  bestanden  haben 
kann  (Lob eck  Aglaoph.  77 ff.),  können  wir  nicht  beurteilen.  Wir  müssen 
aber  diese  späten  Erzählungen  beiseite  lassen.  Auch  Aristoteles  kann 
möglicherweise  auf  eine  vulgäre  Tradition  anspielen,  die  darum  noch 
nicht  unbedingt  wahr  ist,  weil  sie  Aristoteles  kennt.  Aber  es  ist  immer- 
hin durch  dies  Zeugnis  wahrscheinlich,  daß  A.  einmal  einen  gerichtlichen 
Handel  hatte,  in  dem  es  sich  um  Mysteriendinge  drehte.  Mit  dem 
Fortgang  des  A.  braucht  dergleichen  darum  nicht  zusammenzuhängen. 
Was  brauchte  aber  auch  eine  Reise  nach  Sizilien  besondere  Gründe 
zu  haben?  Eine  Einladung  dorthin  war  Grund  genug,  und  er  mochte 
auch,  als  er  nach  458  weggereist  war,  bald  haben  wiederkommen  wollen; 
denn  von  Verstimmung  über  politische  Veränderungen  (Welcker  Trilog. 
521  ff.)  ist  nichts  überiiefert  und  aus  den  Eumeniden  nichts  zu  erkennen, 
auch  nicht,  daß  er  Angriffe  auf  den  Areopag  bitter  empfunden  habe 
(v.  Wilamowitz  Herakles  I  16,  24).  Wenn  der  qpeövoc  der  Athener 
den  A.  wie  andere  große  Männer  vertrieben  haben  soll  (z.  B.  Anth. 
Pal.  VII  40),  so  ist  das  ein  späterer  Gemeinplatz.  Jedenfalls  sind  alte  und 
neue  Erörterungen  Ober  Motive  der  Abreise  des  A.  als  wertlos  zu  beseitigen. 
In  Gela  in  Sizilien  also  starb  A.  nach  allen  Gewährsmännern. 
Über  die  Todesart  des  A.  wurde  die  fabelhafte  Geschichte  erzählt,  daß 
ihm  ein  Adler  habe  eine  Schildkröte  auf  den  kahlen  Kopf  fallen  lassen, 
den  er  für  einen  Felsen  gehalten;  ein  Orakel  sollte  dadurch  erfüllt 
werden  (vit.  §  9.  Suid.  Sotades  bei  Stob,  floril.  98,  9.  Plin.  n.  h.  X  3. 
Valer.  Max.  IX  12.  Aelian.  de  nat.  an.  VII  16;  weiteres  bei  Rohde 
Jahrb.  f.  Philol.  CXXI  1880,  22  ff.  <K1.  Sehr.  II  209  ff.».  Die  geschmack- 
losesten Deutungen  sind  versucht  worden:  es  sei  eine  symbolische 
Apotheose  der  Dichtkunst,  die  zuerst  auf  einem  Grabrelief  dargestellt 
gewesen    sei,    daß    die   xeXiwvn,    testudo  =  lyra  zum  Himmel  empor- 


140  Aischylos 

getragen  werde,  Göttling  opusc.  230 ff.  Welcker  alte  Denkm.  II  337 ff.; 
oder  es  sei  eine  Charakteristik  der  aischyleischen  Poesie,  die  adler- 
mäßig kühn,  aber  schildkrötenhaft  schwerfällig  sei,  W.  Teuffei  Rh. 
Mus.  IX  (1854)  148 ff.;  nicht  viel  besser  wieder  Keller  Tiere  des  klass. 
Altertums  258;  oder  daß  der  Volksglaube,  der  Adler  finde  durch  den 
Genuß  von  Schildkröten  Genesung,  jene  Sage  veranlaßt  habe  (wie  das, 
ist  mehr  als  unklar),  Bergk  gr.  L.-G.  III  283,  29.  Man  kann  jetzt  nur 
sagen,  daß  eine  populäre  Anekdote  oder  Fabel,  die  z.  B.  Demokrit  schon 
anführte,  als  er  vom  Zufall  sprach,  später  durch  irgendwelche  witzige 
1069 Beziehung  auf  A.  übertragen  ist,  s.  Rohde  a.  a.  O.;  eine  weitere,  mir 
unwahrscheinliche  Vermutung  über  die  Entstehung  des  Orakels  (durch 
Parodie  von  Versen  aus  A.  YuxaTUJToi  fr.  275  N^)  bei  O.  Crusius 
Rh.  Mus.  XXXVII  (1882),  308ff.  In  Athen  wurde  dem  A.  wie  den 
beiden  anderen  großen  Tragikern  auf  Lykurgs  Antrag  ein  ehernes  Stand- 
bild im  Theater  errichtet,  Ps.-Plut.  vit.  X  or.  p.  841.  L.  Diog.  II  43. 
Paus.  I  21,  3.  Vgl.  außerdem  Welcker  Alte  Denkm.  I  465  ff.  K.  Braun 
Ruin.  u.  Mus.  Roms  177.  E.  Kroker  'Gibt  es  ein  Porträt  des  A.'  Berl. 
philol.  Wochenschr.  V  (1885)  897ff. 

Vgl.  außer  den  griech.  Literaturgeschichten  (namentlich  Müller,  Bern- 
hardy,  Bergk)  G.  Hermann  opusc.  II  144ff.  Kiehl  Mnemosyne  I 
(1852)  361  ff.  R.  Dahms  De  A.  vita,  Berlin  1860,  Fr.  Scholl  de  locis 
nonnullis  ad  Aeschyli  vitam  et  ad  histor.  trag.  Graec.  pertinentibus 
epistula  in  der  Schrift:  Adolf o  Schoellio  patri  opt.  diem  II  Mens.  Sept. 
ann.  1874  natal.  septuag.  pie  gratulantur  R.  et  Fr.  Schoellii,  Jena  1876, 
viele  Vermutungen  darin  angegriffen  von  Suse  mihi  de  vita  Aeschyli 
quaestiones  epicriticae  im  Index  schol.  Gryphisw.  Winter  1876/7.  Dar- 
auf wieder  einige  Bemerkungen  von  Fr.  Scholl  Rh.  Mus.  XXXII  (1877) 
145.  Aeschylos  Perser,  erklärt  von  Teuf  fei,  3.  Aufl.  von  Wecklein, 
Einleitung.     Vgl.  Lee u wen  Mnemosyne  XVIII  68 ff. 

Von  der  dichterischen  Tätigkeit  des  A.  wird  berichtet  bei  Suid. 
eTpaipe  Kai  eXefeia  Kai  TpaTUJbiac  evevrjKovia.  Elegien  hat  A.  auch 
gedichtet,  von  denen  einiges  erhalten  ist,  s.  Bergk  PLG*  II  240 ff. 
Im  Wettkampf  um  die  schönste  Elegie  auf  die  Gefallenen  von  Marathon 
soll  ihn  Simonides  489  besiegt  haben  (s.o.  <S.  138>,  das  ist  nicht  so  un- 
glaublich wie  Welcker  meint,  Trilog.  518).  Päane  hat  er  gedichtet 
nach  Athen.  VIII  347  e,  dagegen  abgelehnt  zu  dichten  nach  Porphyr,  de 
abstin.  II  18.  Früh  wandte  er  sich  der  Tragödie  zu,  veoc  be  fjpHaTO 
Tujv  TpaTiuöviI'v  (Vita  §  2),  auch  wenn  die  Überiieferung  von  dem  Wett- 
kampf mit  Pratinas  und  Choirilos  Ol.  70  =  500/497  nicht  ganz  zu- 
verlässig sein  sollte  (Suid.).     Die  Zahl  der  Dramen   ist  bei  Suidas  auf 


Aischylos  j^l 

90  angegeben.  In  der  Vita  steht  (§  12):  .  .  .  eTTOincev  öpd|LiaTa  o'  Kai 
^m  TouTOic  caxupiKd  ä^q>\  xct  e'.  Hinter  der  Vita  steht  im  Mediceus 
ein  KaxdXoToc  tu)v  AicxuXou  bpafidxujv  (neueste  Ausgabe  in  Weckleins 
Aeschylus),  der  in  4  Kolumnen  zu  je  18  Reihen  in  alphabetischer  Folge 
72  Titel  gibt  (<t)pijTioi  in  der  ersten  Reihe  ist  Schreibfehler).  Eine 
Kolumne  fehlt  am  Ende,  in  welche  die  übrigen  Titel,  die  wir  sicher 
kennen,  passen:  es  waren  90  Dramen  angegeben.  Nun  ist  jenes  diacpi 
Td  e'  auf  jeden  Fall  unmöglich,  denn  wir  kennen  ja  eine  viel  größere 
Anzahl  Satyrspiele  (8  sind  urkundlich  bezeugt,  7  davon  stehen  in  dem 
Katalog,  wenigstens  5  sind  außerdem  sicher).  Da  Vita  und  Katalog 
gewiß  von  lange  her  verbunden  waren  und  übereinstimmen  mußten, 
der  Katalog  90  Stücke  gab,  die  Vita  70  Tragödien  +  x  Satyrspiele,  so 
muß  X  =  20  sein,  ob  nun  mit  Benutzung  einer  anderen  Lesart  (in 
Jüngern  Codices  steht  dinqpißoXa  für  ä\i(p\  xd  )  caxupiKd  k',  djuqpißoXa  e' 
geschrieben  oder  anderes  versucht  wird.  Jedenfalls  kennt  unsere  in 
letzter  Linie  alexandrinische  Überlieferung  mit  voller  Einhelligkeit  90  Dra- 1070 
men,  70  Tragödien  und  20  Satyrspiele,  von  denen  wir  79  kennen  (s.  u.), 
darunter  mindestens  13  Satyrspiele,  vgl.  Scholl  de  locis  nonnullis  1.  c. 
Susemihl  ind.  Gryphisw.  1.  c.p.  5,  die  wie  alle  anderen  die  Überlieferung 
entweder  unvereinbar  finden  oder  mit  Gewalt  vereinigen;  die  gegebene 
Erklärungist  näher  begründet  von  Dieterich  Rh.  Mus.  XLVIII  (1893)  143 ff.' 

Die  Zahl  der  Siege  gibt  die  Vita  (§  12)  auf  13  an,  ouk  oXirac 
hk.  )Liexd  xeXeuxfjv  viKac  dirriveTKaxo.  Suidas  gibt  28,  und  da  müßten 
jedenfalls  die  Siege  nach  dem  Tode  mitgezählt  sein.  Denn  nach  seinem 
Tode  gewannen  nicht  nur  vorher  noch  nicht  aufgeführte  Stücke  des  A. 
noch  den  Preis  (Suid.  s.  €ucpopiujv),  sondern  es  durften  auch  schon 
aufgeführte  Stücke  kraft  eines  besonderen  Volksbeschlusses  von  neuem 
aufgeführt  werden,  und  eine  für  den  jedesmaligen  Veranstalter  ausgesetzte 
Belohnung  sollte  zu  solchen  Wiederaufführungen  ermuntern,  Schol.  Aristoph. 
Acharn.  10.  Philostrat.  vit.  Apollon.  VI  11  p.  220  Kays.  Quintil.  X  1,66. 

Sicher  sind  folgende  Siege  des  A.:  Ol.  73,4  =  484  sein  erster  Sieg 
mit  unbekannten  Stücken  (Marm.  Par.  ep.  50);  Ol.  76,4  =  472  mit  der 
Persertrilogie  (Hypothesis  zu  den  Pers.);  Ol.  78,1  ==  467  mit  der 
thebanischen  Trilogie  (Hypoth.);  Ol.  80,2  =458  mit  der  Orestie  (Hypoth.). 
Die  Angabe  der  Siegerliste  CIA  II  971  xpaT^biuv  TTepiKXnc  XoXapTe[uc 
^XOp]n[Tei]  AicxOXoc  d[bi]bacK€  mag  sich  auf  einen  Sieg  zwischen  469 
und  459  (da  bei  der  Orestie  ein  anderer  Chorege  war)  beziehen, 
(vgl.  Leo  Rh.  Mus.  XXXIII  (1873)  139 ff.),  könnte  also  von  den  bekannten 


»  <Oben  S.  lllff.) 


142  Aischylos 

Siegen  möglicherweise  nur  den  von  467  bezeichnen.  Die  Kombinationen 
von  Öhmichen  Anfänge  der  Wettkämpfe  in  Athen,  Sitz.-Ber.  Akad. 
München  1889  II  142  ff.,  der  sie  auf  den  Persersieg  472  bezieht,  sind 
nicht  stichhaltig.  Besiegt  wurde  A.  Ol.  77,4  =  468  von  Sophokles  (vit. 
§  6.  Marm.  Par.  ep.  56.  Plut.  Nie.  8).      ' 

Schon  diese  fasti  scaenici  ergeben  eine  ganz  natürliche  Teilung 
der  Wirksamkeit  des  A.  in  mehrere  Entwicklungsperioden.  Die  erste 
geht  bis  zu  seinem  ersten  Siege,  die  zweite  ist  die,  da  er  die  Bühne 
beherrscht,  die  dritte  die  der  gemeinsamen  Wirksamkeit  mit  Sophokles. 
Aus  der  ersten  Zeit  ist  uns  kein  Stück  erhalten,  aus  der  zweiten  stammen 
Perser  und  Hiketiden,  aus  der  dritten  Septem,  Prometheus  und  die 
Orestie.  Aber  auch  diese  Stücke  lassen  in  vielem  die  allmähliche  Ent- 
wicklung erkennen.  Sind  die  Perser  und  Hiketiden  in  gewissem  Sinne 
fast  Kantaten  zu  vergleichen,  da  die  Stücke  ohne  eigentliche  Handlung 
meist  in  erzählenden  lamben  und  sehr  umfangreichen  lyrischen  Gesängen 
einfach  verlaufen,  so  ist  im  letzten  Stücke,  der  Orestie,  die  Handlung 
mannigfach  verknüpft  und  kunstvoll  motiviert  und  der  Chor  tritt  viel 
mehr  zurück.  Ein  Hauptkennzeichen  fortschreitender  dramatischer  Kunst 
ist  die  Zahl  der  verwendeten  Schauspieler.  Auch  A.  hatte  im  Anfang 
noch  einen  Schauspieler  gebraucht,  dem  höchstens  der  Chorführer 
schon  antworten  konnte  (vgl.  Vit.  §  13;  Kleandros  habe  dieser  sein 
erster  Schauspieler  geheißen).  Er  selbst  fügte  zuerst  den  zweiten  hinzu 
1071  (nach  der  Vit.  a.a.O.  habe  dieser  Mynniskos  geheißen)  und  ward  dadurch  der 
Schöpfer  des  Dialogs  und  damit  recht  eigentlich  des  Dramas.  So  be- 
zeichnet auch  Aristoteles  (poet.  4)  die  Neuerungen  des  A.  mit  den  Worten 
TÖ  T€  Tujv  uTTOKpiTUJV  TrXfjOoc  eH  evöc  eic  buo  TTpüuToc  AlcxuXoc  fiTttfe  Kai 
rd  ToO  xopoö  ^XdiTuuce  Kai  töv  Xötov  TrpujTaTUJViCTf]v  TrapecKeuace.  In  den 
Persern  und  Hiketiden  sind  denn  auch  nur  2  Schauspieler  nötig,  da- 
gegen bilden  Septem  und  Prometheus  gewissermaßen  den  Übergang 
zu  der  Zeit,  da  auch  A.  den  dritten  Schauspieler  regelmäßig  verwendete, 
den  Sophokles  zuerst  eingeführt  hatte  (Vit.  §  13  weist  auch  die  Er- 
findung des  dritten  Schauspielers  dem  A.  zu,  setzt  aber  hinzu,  daß 
Dikaiarchos  sie  dem  Sophokles  zugeschrieben  habe;  Themistios  or. 
XXVI  p.  382  d  schien  auch  dem  A.  den  dritten  Schauspieler  zuzuweisen, 
aber  die  Stelle  ist  überzeugend  verbessert  von  Usener  Rh.  Mus.  XXV 
1870,  579).  Der  Schluß  der  Septem  ist  ohne  einen  dritten  Schauspieler 
unmöglich  und  der  Prolog  des  Prometheus  könnte  nur  bei  Annahme 
der  seltsamsten  Kunstgriffe  desselben  entraten.  In  der  Orestie  sind 
dann  drei  Schauspieler  nötig,  und  in  den  Choephoren  sogar  einmal' 
noch  ein  irapaxopnTnMa  zur  Darstellung  eines  vierten.   Eine  ganz  kon- 


Aischylos  J43 

fuse  und  daher  unbrauchbare  Polluxstelle  (IV  110)  redet  auch  von  einem 
solchen  TrapaxopriTTma  im  Memnon  des  A.  Vgl.  K.  Fr.  Hermann  de 
distributione  personarum  inter  histriones  in  trag.  Graecis,  Marburg  1840. 
Jul.  Richter  Verteilung  der  Rollen  in  der  griech.  Tragödie,  Berlin  1842. 
Außerdem  hat  A.  vervollkommnet,  wenn  nicht  geschaffen,  die  tri- 
logische  (tetralogische)  Komposition.  Wie  sie  sich  zuerst  gestaltet  hat, 
wissen  wir  nicht.  Es  mag  sich  immerhin  früher  schon  ein  viermaliger 
Kostümwechsel  des  Chores  festgesetzt  haben,  wie  ja  auch  in  den  Einzel- 
stücken durch  den  3-4maligen  Kostümwechsel  des  Sprechers  Ab- 
wechslung geschaffen  wurde  (in  den  meisten  A.-Stücken  sind  3  Abschnitte 
deutlich,  in  deren  jedem  eine  andere  neue  Person  auftritt  und  die 
Hauptperson  ist);  einmal  trat  der  Chor  immer  als  Satyrn  auf,  und  das 
wurde  als  viertes  Auftreten  stehend  (durch  Pratinas?).  Man  strebte 
danach,  wie  auch  bei  A.  noch  ersichtlich  ist,  die  Einzelstücke  immer 
selbständiger  auszugestalten.  Vgl.  v.  Wilamowitz  Herakles  I  89 ff. 
Ist  aber  auch  Ober  den  Ursprung  tetralogischer  Komposition  nichts 
Sicheres  zu  wissen,  jedenfalls  hat  A.  die  kunstvolle  Form  der  Tetralogie, 
wie  er  sie  handhabt,  gestaltet.  Die  drei  Stücke  zu  einer  einzigen  großen 
Handlung,  zu  einer  künstlerischen  Einheit  zu  verbinden,  war  nicht 
durchgehends  seine  Praxis;  denn  z.  B.  in  den  Persern  ist  diese  Einheit 
nicht  vorhanden.  Urkundlich  verbürgt  sind  übrigens  nur  vier  Tetra- 
logien: 1)  OiveOc,  TTepcai,  fXauKOC  (TToTVieuc) ,  TTpoiUTiöeuc  (irupKaeuc), 
2)  Adioc,  GibiTTOuc,  'eTTTct  im  Grißac,  CqpiTH,  3)  AuKOupTCia,  bestehend 
aus  'Hbujvoi,  Baccapibec,  NeavicKOi,  AuKoOpToc  (Aristoph.  Thesmoph. 
135  mit  Schol.),  4)  'ATa|ae)Livujv,  Xor|cpöpoi,  €u|Li€vib€c,  TTpujT€iJC,  'Ope- 
CTeia  genannt  nach  Schol.  zu  Aristoph.  Fröschen  1124.  Da  das  Satyr- 
spiel jedenfalls  in  sehr  losem  Zusammenhang  mit  den  andern  drei  Stücken 
stand,  schwankten  die  Alten  ('ApicTapxoc  KarATroXXiuvioc)  nach  dem  Zeug- 
nis des  angeführten  Scholion,  ob  die  drei  oder  alle  Stücke  'Opecieia  zu  1072 
nennen  seien.  Was  diese  Gesamttitel  angeht,  so  dichtete  schon  Stesi- 
choros  eine  'Gbucceia,  TTipuovTiic,  'Gpecxeia,  Korinna  z.  B.  'GTTxd  im 
Grißac  für  einen  Jungfrauenchor  (fr.  6  Bgk.)  u.  ä.  in  mehreren  Teilen. 
Die  thebanische  Tetralogie  mag  Gibiiröbeia  geheißen  haben,  wie  auch 
das  kyklische  Epos  hieß  (Schol.  Plat.  Apolog.  p.  18  b  wird  eine  Tetra- 
logie des  Meletos  Gibmöbeia  genannt).  Zu  jenen  vier  Tetralogien  kommt 
mit  größter  Wahrscheinlichkeit  die  Prometheustrilogie  (TTponneeia?) 
TTpo|i.  bec^u)TTlc,  TTpo|Li.  XuöjLievoc,  TTpo)i.  irupcpöpoc  und  die  Trilogie 
'lK€Tibec,  AiTUTTTioi,  Aavdibec.  Außerdem  lassen  sich  wohl  hie  und  da 
einige  Titel  nicht  ohne  Wahrscheinlichkeit  zu  einer  Trilogie  gruppieren 
(am  wahrscheinlichsten  etwa  öttXujv  Kpicic,     Qp^ccai,  CaXafiiviai,  eine 


144  Aischylos 

Aiastrilogie,  und  Mupjuibövec,  Nripriiöec,  "GKxopoc  XuTpa,  eine  'AxiXXriic), 
aber  etwas  Sicheres  ist  um  so  weniger  zu  gewinnen,  als  wir  wissen, 
daß  der  ideelle  Zusammenhang  der  einzelnen  Stücke  durchaus  nicht 
immer  bei  A.  vorhanden  war.  Vgl.  Welcker  Die  aeschyl.  Trilogie 
Prometheus  und  die  Kabirenweihe  zu  Lemnos,  nebst  Winken  über  die 
Trilogie  des  Aeschylus  überhaupt,  Darmstadt  1824,  und  Nachtrag  Frank- 
furt 1826.  Welcker  Die  griech.  Tragödien.  A.  Scholl  Gründlicher 
Unterricht  über  die  Tetralogien  des  alten  Theaters,  Leipzig  1859.  West- 
phal  Prolegomena  zu  A.  Leipzig  1869.  Wetzel  Quaestiones  de  tri- 
logia  Aeschylea,  Berlin  1883.  Maur.  Croiset  Revue  des  et.  Grecq.  I 
(1888)  369 ff.  Wecklein  Über  eine  Trilogie  des  A.  und  über  die 
Trilogie  überhaupt.  Sitzungsber.  der  Münch.  Ak.  1891,  327  ff. 

Nur  Bruchstücke  sind  uns  erhalten  von  folgenden  Dramen  des  A.: 
'A0d|uac;  Ait^tttioi  (=  0aXa|uoTTOioi);  Aiivaiai  (Aixv.  Tvncioi  u.  Aitv. 
vöeoi  werden  in  dem  Katalog  des  Med.  genannt),  aufgef.  476;  'AXK|ur|VTi?; 
'A)uij|Liu)VTi,  wahrsch.  Satyrspiel;  'ApTeToi  ('ApTeia  will  M.  Schmidt 
Philol.  XVI  161);  *ApYU),  wahrscheinlich  Satyrspiel  ('ApTiw  r\  KUiiraTric 
catalog.  Med.,  KiuTreucTr|c  Aid.,  KujireucTai  Welcker,  wahrscheinlich  ist 
Kuujuacxai  zu  schreiben);  BdKxai;  Baccdpai;  fXauKoc  (ttövtioc,  wahr- 
scheinlich Satyrspiel);  fXaÖKoc  (TToTvieuc,  über  die  beiden  0.  Hermann 
opusc.  II  59 ff.);  Aavdibec;  AiktuouXkoi;  (Aiovucou)  xpocpoi,  über  den 
Titel  Hippenstiel  de  graecorum  tragicorum  principum  fabularum  no- 
minibus,  Marburg  1887  p.  12;  'EXeucivioi;  'Gtuitovoi;  'Hbtüvoi;  'HXidbec, 
s.  G.  Hermann  opusc.  III  130ff.  G.  Knaack  quaest.  Phaethont.  17ff.; 
'HpttKXeTbai;  Geujpoi  r|  'lc9|LiiacTai;  Gprjccai;  Mepeiai;  'IHiujv;  'IcpiTeveia;  Kd- 
ßeipoi;  KaXXiCTU);  Kdpec  f\  €upiuTrr|,  vgl. H.  Weil  un  papyrus  inedit  de  la 
bibl.  de  M.  Ambroise  Firmin-Didot,  Paris  1879  und  Blaß  Rh. Mus.  XXXV 
(1880)  86 ff.  Bücheier  ebda.  94;  KepKuwv  Satyrsp.;  KripuKcc  Satyrsp.; 
KipKri  Satyrsp.;  Kpficcai;  Adioc;  Aeuiv  Satyrsp.;  AuKoöpfoc  Satyrsp.;  Me|a- 
vujv;  Mup)Liiböv€C;  Mucoi;  NeaviCKOi;  Ne|uea;  Ntipeibec;  Niößri;  Zdvipiai; 
OlbiTTOuc;  "OttXujv  Kpicic;  'OcToXÖTOi  wahrsch.  Satyrsp.;  TTaXa|ur|bTic; 
TTevOeuc;  TTeppaißibec;  TTriveXÖTrr) ;  TTpojUTieeuc  XuöjLievoc;  TTpojUTiGeiJC 
(TTupKaeuc)  Satyrdrama;  TTpo|LiTi96iJC  irupcpöpoc;  TTpOTrojLiTroi;  TTpujTeuc 
Satyrsp.;  laXajuiviai;  CejueXTi  f)  ubpocpöpoi;  Cicuqpoc  (bpaTreiric)  wahrsch. 
1073  Satyrsp. ;  Cicuqpoc  (7T€TpoKuXiCTr|c) ;  CcpiTH  Satyrsp.;  TnXecpoc  (vgl.  Pilling 
quomodo  Telephi  fabulam  et  scriptores  et  artifices  veteres  tractaverint, 
Halle  1886);  ToHÖTibec;  TvpnruXTi;  OiXoKiriTTic;  OopKibec  Satyrsp.  (vgl. 
CIA  II  973,  31);  (t>puTec  y\  "Cktopoc  Xuipa;  YuxaTUiToi  (vgl.  Valckenaer 
Diatr.  286);  Yuxocracia;  'QpeiGuia.  Nur  die  Titel  kennen  wir  von  den 
Stücken:  'AraXdvTTi,  Armvioi,  Ne)i€a,  TToXubeKTTic    Ein  Kukvoc  darf  nicht 


Aischylos  j^g 

aus  Arist.  Frosch.  963  erschlossen  werden  und  OpiJTioi  ist  ein  offenbares 
Versehen  im  Katalog  des  Mediceus  (s.  auch  Hippenstiel  a.  a.  0.  4). 
Sammlung  der  Fragmente  in  A.  Naucks  Tragicorum  graecorum  frag- 
menta,  2.  Aufl.  1889.  Im  allgemeinen  s.  Welcker  die  griech.  Trag- 
ödien mit  Rücksicht  auf  den  epischen  Zyklus  geordnet  1839  und  Kleine 
Schriften  IV  (1861)  180  ff. 

Schon  ein  Überblick  über  die  Titel  zeigt,  daß  A.  fast  ohne  Aus- 
nahme 'homerische'  Stoffe  behandelt  hat.  Es  ist  richtig,  wenn  es  heißt, 
daß  seine  Tragödien  T€|LidxTi  tujv  'Ojuripou  ineTaXujv  beiTtviuv  seien 
(Athen.  VIII  347 e.  Schneidewin  Philol.  VIII  1853,  736 ff.  Hiller  Rh. 
Mus.  XLII  1887,  331ff.  v.  Wilamowitz  Herakles  I  94,  59).  'Homer 
hat  dem  Volke  ein  gewaltiges  Mahl  zubereitet  und  A.  setzt  ihm  davon 
einzelne  Gänge  vor',  die  ionische  Rezitation,  das  dorische  Chorlied  und 
das  aeolische  Melos  kamen  in  Athen  zusammen  dem  Bocksgesang  die 
Form  zu  geben;  ihm  gab  A.  die  Heldensage  zum  Inhalt,  die  bisher  im 
homerischen  Epos  besungen  war.  So  ist  A.  der  Erbe  Homers  und 
Schöpfer  der  attischen  Tragödie  in  ihrer  Eigenart  (s.  namentlich  v.  Wi- 
lamowitz Herakles  I  92 ff.).  Vgl.  auch  Kausche  Mythologumena  Aesch. 
Diss.  Hai.  IX  3,  129  ff. 

Von  der  Gesamtzahl  der  Stücke  des  A.  sind  nur  sieben  Tragödien 
erhalten.  Sie  stehen  in  den  Hss.  gewöhnlich  in  folgender  Ordnung: 
TTpo|uri0euc,  'EiiTd,  TTepcai,  'Opecreia,  'keiibec  (die  'iKeribec  müssen 
zuletzt  gestanden  haben,  s.  v.  Wilamowitz  Herakles  I  195,  148).  Die 
drei  ersten  (wenigst  schwierigen)  Stücke  waren  die  am  häufigsten  ge- 
lesenen und  abgeschriebenen.  Für  die  Geschichte  der  Überlieferung 
des  Textes  vgl.  besonders  v.  Wilamowitz  Herakles  I  120 ff.  Lykurg 
hatte  in  Athen  ein  offizielles  Textbuch  für  die  Schauspieler  angeordnet, 
das  man  aber  nicht  wie  einen  Archetypus  unserer  Überlieferung  an- 
zusehen hat,  s.  Korn  de  publico  Aesch.  Soph.  Eur.  fabularum  exem- 
plari  Lycurgo  auctore  confecto,  Bonn  1863.  Die  kritische  Arbeit  der 
Alexandriner  stellte  den  Text  fest.  Im  2.  Jhdt.  n.  Chr.  wurde  die 
Auswahl  der  sieben  Stücke  vorgenommen,  die  Byzantiner  behielten  nur 
jene  ersten  drei  in  ihrer  Auswahl.  Die  Überlieferung,  die  wir  noch 
haben,  beruht  für  die  sieben  Stücke,  ebenso  wie  für  die  des  Sophokles, 
vornehmlich  auf  dem  Cod.  Mediceus  (Laurent.  XXXII  9)  saec.  X  oder  XI 
auf  84  Pergamentblättern.  Die  acht  Blätter  des  18.  und  die  sechs 
inneren  des  19.  Quaternio  sind  schon  seit  dem  15.  Jhdt.  verloren  und 
damit  vom  Agamemnon  v.  311-1066  und  1160-1673  und  der  Anfang 
der  Choephoren.  Die  Korrekturen  von  zweiter  Hand  in  M  (M^)  sind 
meist   ebenso   wertvoll  wie   die   erster  Hand  (M^),  weil  sie  nach  dem- 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  10 


146  Aischylos 

selben  zugrunde  gelegten  Exemplar  oder  einem  sehr  ähnlichen  nach- 
getragen sind.  Andere  Korrekturen  nach  späten  Hss.  sind  wertlos. 
1074 Ein  genauer  Abdrucl<  des  Codex  ist  gegeben  von  R.  Merkel  Aeschyli 
quae  supersunt  e  cod.  Laur.  descripta,  Oxon.  1871  fol.,  dazu  praefationis 
lineamenta,  Quedlinburg  1870,  vgl.  R.  Merkel  A.  in  Italien.  Hss.  1868; 
die  beste  Vergleichung  ist  jetzt  die  von  Vitelli  in  der  Ausgabe  von 
Weck  lein,  Berlin  1885.  Ob  alle  andere  Überlieferung  vom  Mediceus 
abhängig  ist  oder  nicht,  darüber  sind  immer  noch  die  Meinungen  ge- 
teilt. Choephoren  (wie  schon  der  überall  fehlende  Anfang  beweist) 
und  Hiketiden  beruhen  in  der  Tat  nur  auf  M.  Bei  Agamemnon  und 
Eumeniden  kann  es  zweifelhaft  sein:  möglich  wäre  wenigstens,  daß  die 
anderen  Hss.  aus  dem  (im  Agam.)  noch  vollständigen  M  geflossen  und 
einzelne  bessere  Lesarten  durch  Konjektur  gefunden  wären.  Daß  da- 
gegen in  Prom.  Sept.  Pers.  die  andere  (auf  ein  Grundexemplar  zurück- 
gehende) Überlieferung  nicht  aus  M  kommt,  sondern  aus  einer  ähnlichen, 
aber  in  manchem  selbständigen  und  besseren  Hs.,  die  nur  auf  den 
gleichen  Archetypus  wie  M  zurückzuführen  ist,  sollte  schon  das  be- 
weisen, daß  ein  unzweifelhaft  echter  Vers  (Sept.  195)  nur  im  Med. 
fehlt  (merkwürdigerweise  genau  wie  bei  Sophokles  der  unentbehrliche 
Vers  OR  800  nur  in  L  nicht  steht).  Andere  durchschlagende  Diver- 
genzen der  Überlieferung  bestätigen  das.  Den  M  als  einzige  Quelle 
aller  Hss.  erklärte  zuerst  Burges  1821,  dann  Cobet,W.  Dindorf  Philol. 
XVIII  55 ff.  XX  Iff.  385 ff.  XXI  193 ff.  A.  Kirchhoff  ebenda  IX  161  ff.  u. 
Ausg.  C.  Prien  Beiträge  zur  Kritik  von  A.  Sieben,  Lübeck  1858,  45 ff. 
N.  Wecklein  in  seinen  Ausgaben  u.  s.,  wieder  ausführlich  verfochten  von 
M.  Sorot  de  ratione  quae  inter  eos  codd.  rec.  quibus  Aesch.  f.  Prom.  Sept. 
Pers.  continentur  et  cod.  Laur.  intercedat.  Diss.  Berlin  1882.  Der  anderen 
Ansicht  sind  G.  Hermann,  F.  Ritschi,  F.  Heimsöth  über  die  indirekte 
Überlief,  usw.  5 ff.  176 ff.  H.  Keck  Ausg.  des  Agam.  198 ff.  H.  Weil  praefat 
zur  Ausgabe  1884.  v.Wilamowitz  Herakles  I  204;  ausführlich  A.  Reuter 
de  Prom.  Sept.  Pers.  Aesch.  fab.  codic.  recentioribus,  Diss.  Rostock  1883. 
Die  andere  Überlieferung  außer  M  ist  noch  nicht  genügend  gesichtet.  Für 
den  in  M  fehlenden  Teil  des  Agam.  ist  besonders  Florent.  XXXI  8,  saec. 
XIV  wertvoll,  weniger  Venet.  616  (XCI  5),  saec.  XV?  Beiden  wie  noch 
anderen  fehlt  Eumen.  582-644  und  794-823.  Agam.  211-348  ent- 
hält auch  ein  besonders  wertvoller  (M  sehr  nahe  stehender)  Kodex  des 
Bessarion  Marcianus  468  (XCI  4)  saec.  XIII  oder  XIV. 

Unter  den  Schollen,  die  sich  teils  am  Rande,  teils  zwischen  den 
Zeilen  in  den  Hss.  finden,  pflegt  man  die  des  Mediceus  besonders 
hervorzuheben.    Man  glaubt,  daß  der  Grundstock  auf  Didymos  zurück- 


Aischylos  j^y 

geht;  die  jüngeren  byzantinischen  Scholien  sind  besonders  ausführlich 
zu  Prom.  Sept.  Pers.  Die  Scholien  auch  der  anderen  Hss.  neben  denen 
des  M  hat  zuerst  Heimsöth  berücksichtigt  und  ihnen  selbständige  Be- 
deutung zugesprochen.  Weitere  Andeutungen  in  dieser  Richtung  gibt 
V.  Wilamowitz  Hermes  XXV  (1890)  161  ff.  Es  sind  eingehende  Einzel- 
untersuchungen nötig.  Ausgabe  der  Scholien  von  W.  Dindorf  im 
3.  Band  der  A.- Ausgabe;  die  mediceischen  Scholien  am  besten  nach 
den  neuen  Kollationen  von  Vit  eil  i  in  Weckleins  Ausg.  1885.  Vgl. 
Frey  de  Aesch.  scholiis  Mediceis,  Bonn  1857.  F.  Heimsöth  Über  die  1075 
indirekte  Überlieferung  des  aeschyl.  Textes,  Bonn  1862,  und  de  scholiis 
in  Aesch.  Ag.  scholiasta  Mediceo  vetustioribus  (die  cxöXia  -rraXaid  des 
Farnes.),  Bonn  1868.  Seelmann  de  propagatione  scholiorum  Aeschy- 
leorum,  Halle  1875.  Paley  Commentarius  in  schol.  Aesch.  Medicea, 
Cambr.  1878.  Römer  Studien  zur  handschriftlichen  Überl.  des  A.  und 
zu  den  alten  Erklärern  desselben,  Sitzungsber.  Akad.  Münch.  1888  II 
231  ff.  V.  Wilamowitz  Hermes  a.  a.  0.  P.  N.  Papageorgiu  KpiiiKot  xai 
iraXaiOYpaqpiKCi  eic  tci  TraXaid  AicxOXou  cxöXia  Jahrb.  f.  Philol.  Suppl. 
XVI  (1888)  223ff. 

Die  erhaltenen  Stücke  sind  in  der  wahrscheinlichen  chronologischen 
Ordnung  folgende: 

TTepcai,  wahrscheinlich  die  älteste  erhaltene  Tragödie.  Das  Stück 
ist  sehr  einfach  komponiert,  beginnt  mit  der  Parodos  und  entwickelt 
sich  in  drei  Hauptabschnitten,  in  deren  jedem  eine  neue  Person  auftritt. 
Erzählende  Partien  (namentlich  die  Erzählung  des  Boten  von  der  sala- 
minischen  Schlacht)  und  sehr  umfangreiche  lyrische  Betrachtungen 
wechseln  ab.  Von  den  zwei  Schauspielern  hatte  der  eine  die  Rolle 
des  Boten  und  des  Dareios,  der  andere  die  der  Atossa  und  des  Xerxes 
zu  spielen.  Im  Stoffe  war  dem  A.  Phrynichos  vorausgegangen,  der  vier 
Jahre  vorher  die  Ooiviccai  aufgeführt  und  darin  ebenfalls  den  Sieg  der 
Athener  bei  Salamis  dargestellt  hatte.  Wie  die  Angabe  eines  Verses 
(durch  Glaukos  ^v  toTc  Tiepi  AicxuXou  jliOGujv  nach  der  Hypoth.  der 
Pers.)  zeigt,  hat  sich  A.  zum  Teil  bis  ins  einzelne  nach  dem  Vorgänger 
gerichtet.  Unter  dem,  was  A.  änderte  (Welcker  Kl.  Sehr.  IV  148 ff.), 
mag  auch  die  Einführung  der  Waffentat  auf  Psyttaleia  und  die  Herein- 
beziehung der  Schlacht  bei  Plataiai  dem  höheren  Ruhme  des  Aristeides 
dienen  sollen.  Das  Stück  wurde  aufgeführt  em  Meviwvoc  (Hypoth.)  d.  i.  Ol. 
76,4  =  472  und  wurde  wiederholt  in  Syrakus  vor  Hieron  (s.  o.),  ohne  Zweifel 
mit  manchen  Veränderungen.  Wenn  auch  aus  den  korrupten  Versen 
der  Frösche  1028  f.  (wahrscheinlich  ist  doch  im  ersten  Verse  das  Auf- 
treten des  Dareios  gemeint  und  nicht  mit  Schönemann  Rh.  Mus.  XLII 

10* 


148  Aischylos 

1887,  467 ff.  zu  ändern,  und  mit  dem  iauoi  nur  die  mannigfachen 
Interjektionen  in  den  Persern  verspottet)  nichts  Sicheres  zu  folgern  ist, 
so  verbieten  doch  auch  schon  die  zwei  Zitate  aus  den  Persern,  die  sich 
in  unserem  Texte  nicht  finden,  die  Angabe  des  Herodikos  (Schol.  zu  der 
Stelle  der  Frösche)  von  zwei  Bearbeitungen  der  Perser  als  eine  falsche 
Schlußfolgerung  aus  der  Aristophanesstelle  zu  betrachten.  Vgl.  bes. 
Schönemann  a.  a.  0.  Das  Stück  ist  später  nattirlich  auch  wieder  in 
Athen  aufgeführt,  und  schon  damit  ist  die  Ungenauigkeit  bei  Aristo- 
,  phanes,  der  den  A.  nach  Erwähnung  der  Septem  fortfahren  läßt  eixa 
bibdHac  TTepcac  jaeid  toOto  (v.  1026),  leicht  erklärt.  Bei  der  ersten 
attischen  Aufführung  siegte  A.  OiveT  TTepcaic  rXauKtu  TTpo|urieei  (Hypoth. 
Med.).  Der  fXaÖKOc  war  gewiß  der  TToTvieiJc,  wie  jüngere  Hss.  angeben, 
und  nicht  der  ttövtioc  wie  Welcker  ohne  Begründung  vermutete  (vgl. 
Klossowski  de  Glauco  Potniensi,  Progr.  von  Trzemesno  1852,  Kolster 
Jahrb.  f.  Philol.  1861,  116  ff.),  der  TTpojuTiGeiJC  unzweifelhaft  das  von 
1076Pollux  mehrfach  (IX  156.  X  64)  als  TTp.  irupKaeuc  zitierte  Satyrspiel 
(für  den  mutmaßlichen  Inhalt  besonders  wichtig  Plut.  de  util.  ex  in. 
perc.  II  86f.  Epiph.  Ancor.  p.  109a).  Die  Versuche,  einen  ^trilogischen 
Zusammenhang'  zwischen  den  Stücken  herzustellen,  wie  sie  besonders 
Welcker  Trilogie  470ff.  Nachtrag  176 ff.;  Kl.  Sehr.  IV  164ff.  Gruppe 
Ariadne  92ff.  625.  Droysen  Übers.  157f.  204f.  R.  Gädechens 
Glaukos  der  Meergott  (Gott.  1860)  163 ff.  gemacht  haben,  können  als 
abgetan  angesehen  werden;  die  Verschiedenheit  der  Stoffe  kann  nicht 
wohl  deutlicher  sein.  Außer  den  Gesamtausgaben  des  A.  ist  das  Stück 
besonders  herausgegeben  von  C.  I.  Blomf  ield  (1814;  Leipziger  Abdruck 
1823.  London  1857),  E.  R.  Lange  und  G.  Pinzger  (Berlin  1825), 
G.  C.  W.  Schneider  (Leipz.  1837),  C.  G.  Haupt  (Leipzig  1839),  A.  Mei- 
neke  (Berlin  1853),  R.  Merkel  (Leipz.  1869),  J.  Oberdick  (Berl. 
1876),  H.  Weil  (Paris  1884),  W.  S.  Teuffel-N.  Wecklein  (Leipz.  1886^), 
L.  Schiller-C.  Conradt  (Berlin  1888).  Verdeutscht  und  ergänzt  von 
Hermann  Köchly,  Heidelberg  1880  (seine  allgemein  abgelehnte  Mei- 
nung von  der  Lückenhaftigkeit  des  Schlusses  trug  er  zuerst  vor  in  den 
Verhdl.  d.  Philol.  in  Innsbruck  1875).  Von  sachlichen  Erläuterungs- 
schriften außer  den  genannten  oder  für  A.  überhaupt  zu  nennenden 
sind  anzuführen:  G.  Schütz  de  Persarum  tragoediae  Aesch.  forma  et 
consilio,  Jena  1791  und  Opusc.  29  ff.  H.  Brentano  Über  die  Perser  des 
A.  mit  Vergleichung  der  Phönissen  des  Phrynichus,  München  1832. 
L.  Prell  er  Ausgew.  Aufs.  1  ff.  Fr.  Jacobs  Verm.  Sehr.  V  545  ff.  Fr. 
Vater  Jahrb.  f.  Philol.  Suppl.  IX  223ff.  G.  F.  Giljam  de  fabula  A.  quae 
P.  inscribitur,  Upsala  1857.    Hannak  Das  Historische  in  den  P.  des  A., 


Aischylos  |4g 

Wien  1865.  F.  van  Hoffs  de  rerum  historicarum  in  A.  Pers.  tractatione 
poetica,  Köln  (Münster)  1866.  F.  A.  Bülau  de  A.  Pers.  Gott.  1866. 
C.  J.  S.  Lundmann  Pers.  A.  fab.  quo  consilio  conscripta  videatur, 
Upsala  1869.  Hamacher  Die  Schlacht  bei  Salamis  nach  den  Persern 
des  A.,  Trier  1870.  Ph.  Keiper  Die  Perser  des  A.  als  Quelle  für  pers. 
Altertumskunde  betrachtet  usw.,  Erlangen  1878,  Nachtrag  dazu  in  Jahrb. 
f.  Philol.  1879,  93ff.  Fr.  van  Hoffs  Zu  den  Persern  des  A.,  Emmerich 
1880.  Über  eine  gefälschte  Hs.  der  Perser,  vgl.  F.  Ritschi  Rh.  Mus. 
XXVII  (1871)  114ff. 

Die  unzähligen  Abhandlungen  zur  Kritik  und  Erklärung  des  ein- 
zelnen können  hier  nicht  angegeben  werden;  dafür  ist  auf  die  bereits 
mehrfach  vorhandenen  und  am  Schlüsse  des  Artikels  bezeichneten 
Sammelstellen  für  diese  Literatur  zu  verweisen. 

iKexibec,  ein  Stück  von  altertümlich  schlichter  Anlage  und  Gliederung 
(Rollenverteilung:  I  Danaos  und  Herold,  11  König),  aber  vielfach  lücken- 
haft und  korrupt  auf  uns  gekommen,  zumal  es  in  den  Hss.  zuletzt  stand. 
Das  Stück  stammt  aus  derselben  Periode  wie  die  Perser,  mit  denen 
es  den  Charakter  der  Altertümlichkeit,  die  dramaturgische  Beschränkung 
und  das  Vorwiegen  des  lyrischen  Elementes  gemein  hat.  Aus  der 
Häufigkeit  der  Bilder  und  Ausdrücke  aus  dem  Seewesen  (z.  B.  v.  407  ff. 
440 f.  469 ff.  764 ff.),  der  hervortretenden  Achtung  der  monarchischen 
Regierungsform  und  den  Äußerungen  über  die  Stellung  eines  Fremden  1077 
außerhalb  der  Heimat  (993  ff.,  vgl.  490  ff.)  zu  schließen,  daß  das  Stück 
in  Sizilien  abgefaßt  und  wohl  auch  aufgeführt  sei  (vgl.  W.  Gilbert 
Rh.  Mus.  XXVIII  1873,  480  ff.),  ist  kaum  erlaubt.  Ebensowenig  gestattet 
eine  etwa  hervortretende  Zuneigung  für  Argos  die  Hik.  in  das  Jahr 
Ol.  76,4  =  461,  da  ein  Bündnis  Athens  mit  Argos  damals  bestand,  zu 
setzen;  so  bes.  0.  Müller  Eumenid.  123;  gr.  Lit.- Gesch.  I  546.  Bücheier 
will  V.  152  auf  den  Parthenonbau  beziehen  und  das  Stück  in  460/59 
setzen,  Rh.  Mus.  XL  (1885)  628;  dagegen  v.  Wilamowitz  Herm.  XXI 
(1886)  608  Anm.  Bisher  kann  man  nichts  anderes  sicher  sagen,  als 
daß  die  Hik.  zu  den  ältesten  der  erhaltenen  Tragödien  gehören.  Sie 
waren  gewiß  das  erste  Stück  einer  Trilogie,  und  als  zweites  sind  mit 
großer  Wahrscheinlichkeit  die  Aitutttioi,  als  drittes  die  Aavatbec  (vgl. 
bes.  G.  Hermann  opusc.  II  3l9ff.,  Tittler  Ztschr,  f.  Alt.  1838,  951  ff.) 
in  Anspruch  genommen,  vgl.  Gruppe  Ariadne  74 ff.  Welcker  Kl.  Sehr. 
IV  100 ff.  Als  Mittelstück  wollte  G.  Hermann  Abh.  d.  sächs.  Ges.  d, 
W.  IV  (1847)  123ff.  (vgl.  Nitzsch  Sagenpoesie  S.  563)  vielmehr  die 
0aXa)LioTTOioi  betrachten;  0aXa|LiO7TOioi  wird  nur  ein  anderer,  späterer 
Titel  der  Aitutttioi  sein  (Welcker  Rh.  Mus.  XIII  1858,  ;89ff.),  zumal 


150  Aischylos 

der  Titel  OaX.  im  alten  Katalog  des  Mediceus  nicht  steht  und  auch 
nicht  gestanden  hat.  In  Aavdibec  wollte  Birt  Rh.  Mus.  XXXII  (1877) 
41 9 ff.  die  Bezeichnung  der  ganzen  Trilogie  sehen;  ganz  anders  wiederum 
Westphal  Proleg.  4 f.  Ob  'Aiuujuajvn  das  Satyrdrama  zu  jener  Trilogie 
war  (Droysen  Übers.  269),  bleibt  unsicher.  Über  die  mutmaßlichen 
Hauptgedanken  und  Konflikte  der  Stücke  vgl.  bes.  Welcker  Tril.  399  ff. 
Droysen  265 f.  O.  Müller  Lit.- Gesch.  II  92.  Über  den  Rechtshandel 
in  den  Hiket.  v.  Wilamowitz  Hermes  XXII  (1887)  247.  256ff.  Sonder- 
ausgaben der  Hik.  von  G.  Burges  (London  1821),  C.  G.  Haupt  (Leipzig 
1829),  Paley  (Cambridge  1844.  1852,  mit  den  Choeph.  1883),  F.  J. 
Schwer  dt  (ex  rec.  G.  Herrn,  passim  emendata  ed.  et  notis  instr.  Berlin 
1858),  C.  Kruse  (griech.  u.  deutsch  mit  Lesarten,  Versmaßen  u.  Kom- 
mentar, Stralsund  1861),  H.  Weil  (Gießen  1866),  J.  Oberdick  (nebst 
Einl.  u.  Komm.,  Berlin  1869),  T.  G.  Tücke  r  (London  1888). 

'e-TTTd  eiTi  Orißac.  Die  Schranke  der  zwei  Schauspieler  ist  in 
diesem  Stücke  bereits  einigermaßen  durchbrochen,  sofern  wenigstens 
die  letzte  Szene  einen  dritten  notwendig  macht  (I  Eteokles  und  Anti- 
gone,  II  Bote  und  Ismene,  III  Herold).  Die  Anlage  des  Stückes  ist  in 
hohem  Grade  symmetrisch,  namentlich  in  der  langen  Szene,  in  der  die 
sieben  Kämpferpaare  geschildert  werden;  Gruppe  Ariadne  584 ff.,  bes. 
F.  Ritschi  Der  Parallelismus  der  sieben  Redenpare  in  den  S.  g.  Th. 
opusc.  I  300 ff.,  vgl.  H.  Keck  Jahrb.  f.  Philol.  LXXXI  809 ff.  und  dagegen 
F.  Heimsöth  Wiederherstellung  d.  Dramen  d.  A.  436ff.  Th.  Stisser 
quid  iudicandum  sit  de  Ritschelii  sententia  etc.,  Aurich  1872.  Auch  s. 
Conradt  Üb.  Zahlenverhältn.  im  Bau  der  S.  g.  Th.,  Schlawe  1874.  R. 
Klotz  Studia  Aeschylea,  Leipzig  1884.  Die  beste  Charakteristik  des 
Stückes  sind  die  Worte  in  den  Fröschen  des  Aristophanes  v.  1021  f. 
1078  Ini  Mittelpunkte  des  kriegerischen  Stückes  steht  der  gewaltige  Charakter 
des  Eteokles,  der  sich  durch  den  Gegensatz  gegen  den  Chor  der  ängst- 
lichen Jungfrauen  um  so  deutlicher  abhebt;  auch  die  sieben  Angreifer 
sind  anschaulich  beschrieben,  mit  offenbarer  Vorliebe  Amphiaraos 
(=  Aristeides?  vgl.  Plut.  Aristid.  3).  Die  Septem  sind  nach  der  Didas- 
kalie,  die  J.  Franz  im  Med.  entdeckt  und  herausgegeben  hat  (die 
Didaskalie  zu  A.  Sept.,  Berlin  1848,  vgl.  Schneidewin  Philol  III  348ff.), 
aufgeführt  Ol.  78,1  =  467  im  0eaT€vibou.  eviKa  Aoiiu,  OibiTTobi,  'Girid 
€711  Grißac,  CqpiTTi  caTupiKf),  während  Aristias  und  Polyphradmon,  die 
Söhne  der  älteren  Kunstgenossen  Pratinas  und  Phrynichos,  den  zweiten 
und  dritten  Preis  erhielten.  Durch  diese  Nachricht  sind  alle  früheren 
Vermutungen  über  die  trilogische  Stellung  des  Stückes  hinfällig  ge- 
worden (das  Richtige  hatte  schon  A.  F.  Näke  erkannt,  s.  Ritschi  Rh. 


Aischylos  j5j 

Mus.  XXXII  1872,  194.  196ff.).  Wir  wissen  jetzt,  daß  die  Trilogie 
genau  dem  sachlichen  Zusammenhange  des  Mythus  folgte,  in  der  Weise, 
daß  das  Schlußstück,  die  'ETrid,  die  Motive  der  beiden  vorausgegangenen 
Tragödien  zusammenfaßt,  indem  der  Kampf  zwischen  Eteokles  und 
Polyneikes  sich  als  Folge  der  Verschuldung  von  drei  Generationen 
darstellt,  des  Ungehorsams  des  Großvaters  Laios  gegen  das  Orakel 
(v.  745  ff.)  und  des  Fluches  des  Oidipus  über  die  von  ihm  Erzeugten 
(v.  772 ff.).  Nun  hat  man  aber  an  dem  Schluß  des  Schlußstückes  der 
Trilogie  Anstoß  genommen,  der  noch  eine  ungelöste  Verwicklung  bringt 
(Antigone  will  trotz  des  Verbotes  den  Bruder  bestatten),  und  Unecht- 
heit  oder  wenigstens  Überarbeitung  dieses  Schlusses  angenommen,  vgl. 
bes.  Oberdic-k  de  exitu  fabulae  A.  quae  S.  adv.  Th.  inscribitur,  Arns- 
berg 1877.  W.  Richter  quaestiones  Aeschyleae.  De  duplici  editione 
Sept.  fabulae,  Berlin  1878.  Weck  lein  Über  die  Textüberlieferung  des 
A.  und  anderer  griech.  Trag.,  Sitzb.  der  Münch.  Akad.  1888,  327  ff., 
namentlich  auch  Bergk  Gr.  Lit.- Gesch.  III  302 ff. 

Sonderausgaben  der  Sept.  von  Blomfield  (Cambridge  1812.  1824. 
Leipz.  1823),  C.  Schwenk  (Utrecht  1818),  C.  G.  Haupt  (Leipz.  1830), 
G.  C.  W.  Schneider  (Leipz.  1834),  F.  Ritschi  (cum  Schol.  Med.  Elber- 
feld  1853.  Leipz.  1875^),  J.  Davies  1878,  A.  W.  Verrall  London  1887 
(A.W.Verrall  u.Bayfield,  London  1888).  Außerdem  mögen  genannt  sein 
L.  Schmidt  Über  die  trilog.  Kompos.  der  S.  g.  Th.,  Z.  f.  Altw.  1856  nr. 
49-51.  F.  Susemihl  ebenda  1857,  lOOff.  Fr. Vater  de  A.Oedipo,  Jahns 
Arch.XVI  llOff.  Welcker  Oedipodee  und  Thebais,  Kl.  Schriften  IV  136 ff. 
Waldeyer  de  A.  Oedipodea  L  Neuß  1863.  II.  Leobschütz  1873.  H.  Geist 
de  fabula  Oedipodea,  Büdingen  1879-80.  A.  F.  Näkes  Einl.  im  Rh.  Mus. 
XXVII  196 ff.  CxöXia  rraXaid  eic  touc  'GTrid  Philol.  XX  386 ff.  A.  Nauck 
Über  eine  griech.  Hs.  (enthält  Find.  Ol.,  Aisch.  Prom.  u.  Sept.)  M61. 
gr6co-rom.  11  487 ff.  Ch.  Muff  Der  Chor  in  den  S.  des  A.,  Halle  1882. 

TTpo|LinÖ€uc  b€C|Liu)TTic.  Das  Stück  hat  eine  einfache  Anlage:  es 
zerfällt  in  drei  Teile,  deren  mittlerer  die  loszene  ist.  Im  Mittelpunkt 
steht  die  Entwicklung  des  einen  großen  Charakters,  des  Prometheus, 
welchem  abermals  ein  weiblicher  Chor  gegenübersteht.  Auch  die  anderen 
Personen  sind  Götter,  und  die  Zeit,  in  welcher  das  Ganze  spielt,  ist  der  1079 
Anfang  von  Zeus'  Herrschaft.  Dieser  erscheint  zunächst  als  gewalt- 
tätiger Tyrann;  das  wird  sich  daraus  erklären,  daß  im  Laufe  des  Stückes 
durch  die  Versöhnung  des  durch  rohe  Gewalt  zur  Herrschaft  gelangten 
Gottes  mit  dem  weisen  menschenfreundlichen  Titanen  die  Gewalt- 
herrschaft zum  KÖc|Lioc  wird.  Der  TTpo|a.  bec^.  entfernt  sich  durch 
manches  in  der  Ausdrucksweise,  durch  entwickelteres  Maschinenwesen, 


\  52  Aischylos 

durch  seine  metrische  Anlage  und  Ausführung  von  der  Art  der  älteren 
Stücke  des  A.  und  nähert  sich  mehr  der  des  Sophokles  und  Euripides. 
Ein  dritter  Schauspieler  ist  nur  in  der  ersten  Szene  nötig.  Man  hat 
In  dem  erhaltenen  Stück  eine  spätere  Diaskeuase  erkennen  wollen  (s. 
Westphal  Proleg.  8 ff.  Röhleke  Sept.  adv.  Theb.  et  Prometh.  vinct. 
esse  fabulas  post  Aeschylum  correctas,  Berlin  1882.  Heidler  de  comp, 
metr.  Prom.  fab.  Aesch.  cap.  IV,  Breslau  1884),  ein  Auskunftsmittel,  das 
hier  noch  weniger  als  in  den  Sept.  zu  verteidigen  ist,  bei  unserer  so 
geringen  Kenntnis  der  Entwicklung  aischyleischer  Kunst  im  einzelnen. 
Zudem  wissen  wir  über  die  Zeit  des  Prom.  nur,  daß  er  nach  Ol.  76,1 
=  475  gedichtet  sein  muß  (da  fand  nach  Thukyd.  III  116  der  berühmte 
Ausbruch  des  Aitna  statt,  und  Prom.  v.  367  ff.  sind  vaticinium  ex  eventu). 
Auch  Übereinstimmungen  wie  Prom.  876  und  883  mit  Suppl.  45  und 
230  beweisen  nichts,  noch  weniger  die  angebliche  Anspielung  Pindars 
P.  IV  291  auf  den  Prom.  (Christ  gr.  Lit.-Gesch.^  185).  Man  kann 
nur  sagen,  daß  der  Prom.  in  die  spätere  Zeit  des  A.  zu  gehören  scheint, 
zumal  er  mannigfache  Verwandtschaft  mit  der  Orestie  zeigt;  unmöglich 
ist,  daß  er  noch  nach  der  Orestie  in  Sizilien  gedichtet  sei  (Bergk  gr. 
L.-G.  III  312 ff.;  vgl.  v.  Wilamowitz  Hermes  XXI  1886,  6 10 f.,  dessen 
nähere  Datierung  mir  unverständlich  ist).  Man  pflegt  den  TTpo|Li.  irupcpöpoc 
und  den  npoiu.  Xuöjuevoc  mit  dem  erhaltenen  TTpoju.  becjuiuTTic  zu  einer 
Trilogie  zu  verbinden,  und  es  ist  sicher,  daß  auf  den  becju.  der  Xuö)a. 
folgte  (Schol.  Prom.  vinct.  511).  Den  TTpo|u.  irupcp.  stellte  Welcker 
(Trilog.  und  Nachtrag)  an  den  Anfang  und  ließ  darin  den  Feuerdiebstahl 
dargestellt  sein.  Aber  diese  vorausliegenden  Begebenheiten  sind  in 
dem  erhaltenen  Prometheus  so  ausführlich  erzählt,  daß  sie  unmöglich 
in  einem  vorangegangenen  Stück  dargestellt  sein  konnten,  und  nach 
Schol.  Prom.  vinct.  94  hat  Prom.  in  dem  irupcpöpoc  gesagt,  er  sei 
30000  Jahre  gefesselt  gewesen  (bebecOai).  Letztere  Angabe  macht 
auch  Bergks  Meinung  (gr.  L.-G.  III  3 18 ff.),  daß  der  Trupqpöpoc  das 
Satyrspiel  sei,  sonst  TrupKaeuc  genannt,  unmöglich  (319  Anm.  108  ist 
eine  unhaltbare  Erklärung  jener  Worte).  Oder  man  müßte  die  Angabe 
der  Schol.  für  falsch  halten  und  für  den  TTupqp.  den  Xuö|u.  einsetzen 
wollen,  da  bei  Philodem,  iiepi  euceß.  p.  39  Gomp.  steht  AicxOXoc  ev 
Tqj  X[uo]|Li^v[uj  TTp]  ojLir|0eT  .  .  .  [u7t]ö  Aiöc  beb  [ecGai].  Sonst  hat  die 
Annahme  Westphals  Proleg.  207  ff.  am  meisten  für  sich,  daß  der 
TTpojLi.  Trupqpöpoc  das  Schlußstück  war,  in  dem  die  Stiftung  der  attischen 
TTpoiLuiGeTa  und  des  Fackelwettlaufs  und  die  Apotheose  des  Prometheus 
stattfand  (zumal  Tiupcpöpoc  der  ^Feuerdieb'  kaum  heißen  kann,  wohl 
aber    typisch    den    Fackelläufer    bezeichnet,   Pollux  VIII  116   u.  zahl- 


Aischylos  ico 

reiche    attische    Inschriften),    vgl.  Düntzer    Jahrb.    f.   Philol.    CXLIII 1080 
737  ff. 

Sonderausgaben  des  Prom.  von  Blomfield  (Cambridge  1812.  Leipz. 
1822),  C.  G.  Haupt  (Leipz.  1826),  J.  Griff iths  (1834),  G.G. W.Schneider 
(Leipz.  1834),  J.  Minckwitz  (1839),  Le  Bas  u.  Th.  Fix  (1843),  G.  F. 
Schömann  (griech.  u.  deutsch,  Greif sw.  1844),  A.'  Meineke  (cum 
schol.  Medic,  Berlin  1853),  L.  Schmidt  (Berlin  1870),  F.  A.  Paley 
(1875),  N.  Wecklein  (Leipz.  1878'),  H.  Weil  (Paris  1884),  Glacebrook 
(London  1887),  Xanthopulos  (Athen  1888),  Plaistowe  and  Marow 
(London  1891).  Außerdem  seien  erwähnt  außer  Welckers  angef. 
Schriften  und  der  griech.  Götterlehre  II  246 ff.  A.  Feuerbach  nachgel. 
Sehr.  (Braunschweig  1853)  IV  129ff.  G.  Hermann  de  Prom.  Aesch., 
Leipz.  1846.  H.  Keck  Der  theolog.  Charakter  in  A.  Prom.  Tril.,  Glück- 
stadt 1851.  Schömann  opusc.  III  95ff.  und  Noch  ein  Wort  über  A. 
Prom.,  Greifsw.  1859.  H.  Köchly  Akad.  Vortr.  u.  Reden  (Zürich  1859) 
I  8  ff.  W.  Vis  eher  Über  die  Prometheustragödien  des  A.,  Basel  1859. 
W.  S.  Teuf  fei  Über  des  A.  Promethie  u.  Orestie,  Tübingen  1861,  Iff. 
W.  Mar  CO  Witz  de  A.  Prom.  Düsseid.  1865.  J.  Caesar  Der  Prom.  des 
A.,  Marburg  1860.  P.  J.  Meyer  Prom.  quo  in  loco  agi  videatur,  Bonn 
1861.  B.  Foss  de  loco  in  quo  Prom.  ap.  A.  vinctus  sit,  Bonn  1862. 
Über  die  szenische  Darstellung  s.  auch  das  Progr.  von  G.  F.  Müller, 
Stade  1871,  und  W.  Otto  quaestiones  de  Prom.  re  scenica,  Berlin  1872. 
H.  Martin  la  Prom^theide,  Paris  1875.  AI.  Kolisch  der  Prom.  des  A. 
nur  zu  verstehen  aus  der  Eigentümlichkeit  seiner  Entstehungsweise, 
Berlin  1876,  u.  Wer  löst  die  Fesseln  des  Prom.,  Ztschr,  f.  d.  Gymnw. 
XXXIII  65 ff.  Milchhoefer  Befreiung  des  Prometheus,  42.  Winckel- 
mannsprogr.  1882. 

'OpecTeia  oder  die  Tragödien  *ATa|Lie)Livujv  XoTiqpöpoi  6ii)Li6vibec 
nebst  dem  nicht  erhaltenen  Satyrdrama  TTpujxeiJc  (über  den  Namen 
'GpecTcia  s.  o.  S.  1071  <143>),  aufgeführt  und  mit  dem  ersten  Preise  gekrönt 
Ol.  80,2  =  458  dpxovTOC  OiXokXeouc,  exopriTei  EevoKXfjc  'Aqpibveuc 
(Hypoth.),  ist  die  einzige  auf  uns  gekommene  Trilogie.  Hier  zeigt  sich 
die  vollendetste  Kunst  des  A.  in  allem,  in  Komposition  und  Charakter- 
zeichnung, in  Sprache  und  Versbau,  auch  in  der  nun  erst  gewandten 
und  ausgedehnten  Verwendung  eines  dritten  Schauspielers.  Die  drei 
Stücke  bilden  ein  zusammenhängendes  Ganzes,  dessen  einzelne  Teile 
einander  ergänzen  und  voraussetzen  und  voneinander  nur  durch 
größere  Zwischenräume  der  Zeit  getrennt  sind,  als  sonst  Akte  desselben. 
Dramas.  Die  Handlung  verteilt  sich  so,  daß  der  Agamemnon  die  Er- 
mordung des  Agamemnon  durch  Klytaimnestra  enthält,  das  zweite  Stück 


154  Aischylos 

deren  Ermordung  durch  ihren  Sohn  Orestes,  das  Schlußsttick  die  Stihnung 
des  Orestes:  Frevel,  Rache  und  Sühne.  Die  Anlage  ist  bei  allen  drei  Stücken 
wesentlich  dieselbe;  jedes  zerfällt  in  drei  Akte.  Aber  in  der  Ausführung  ist 
der  Agamemnon  ohne  Zweifel  das  bedeutendste,  wohl  überhaupt  die  herr- 
lichste Tragödie,  die  uns  aus  dem  Altertum  erhalten  ist.  Die  Choephoren 
sind  auch  dadurch  merkwürdig,  daß  sie  Gelegenheit  geben,  die  Art  der 
drei  großen  Tragiker  an  demselben  Stoffe  zu  vergleichen  (gegenüber  der 
1081  Masse  unbedeutender  Literatur  darüber  wird  immer  A.  W.  S  c  h  1  e  g e  1  Vorles. 
über  dram.  Kunst  I  222 ff.  seine  Bedeutung  behalten,  vgl.  Gruppe 
Ariadne  Iff.  453ff.  Fleischmann  Krit.  Stud.  über  die  Kunst  der 
Charakteristik  bei  A.  und  Soph.,  Erlangen  1875.  L.  Fischer  Die  Choe- 
phoren des  A.  und  die  Elektra  des  Sophokles  und  Euripides.,  Feld- 
kirch 1875).  Im  letzten  Stücke  werden  die  Satzungen  der  Blutrache 
verklärt  zu  sittlicher  Gerechtigkeit,  zu  humaner  Versöhnung,  die  blut- 
dürstigen Töchter  der  Nacht  werden  zu  milden  Göttinnen  der  Gnade; 
in  Athen  wird  die  Rechtsprechung  des  Areopag  gestiftet,  die  mit  dem 
Dienst  jener  Göttinnen  verbunden  war.  Vgl.  auch  Nägelsbach  de 
religionibus  Orestiam  continentibus.  Erlangen  1843.  Mollwo  Darlegung 
des  innern  Gangs  der  Orestie,  Parchim  1862.  W.  S.  Teuf  fei  Über  des 
A.  Prom.  u.  Orestie,  Tübingen  1861.  G.  Hermann  de  re  scenica  in  A. 
Orestes,  Leipz.  1846  =  Ausg.  II  648  ff.  Weck  lein  Über  den  Schauplatz 
in  A.  Eumeniden,  Sitz.-Ber.  Akad.  München  1887  I  62 ff.,  zum  Aga- 
memnon vgl.  auch  Theodor  Voigt  de  Atrei  et  Thyestae  fab.,  Dissert. 
Hai.  VI  (1886)  307  ff. 

Ausgaben  der  Orestie  von  J.  Franz  (gr.  u.  deutsch,  Leipz.  1846), 
Theod.  Heyse  (Halle  1884),  N.  Wecklein  (Leipz.  1888);  deutsche 
Nachbildung  u.  Erklärung  von  Osw.  Mar b ach  (Leipz.  1874). 

Ausgaben  des  Agamemnon  von  W.  Humboldt  (mit  Anmerkungen 
von  G.  Hermann  1816),  Blomfield  (Cambridge  1818.  Leipz.  1822), 
R.  H.  Klausen  (Gotha  1833;  2.  Ausg.  von  R.  Enger  Leipz.  1863),  C. 
G.  Haupt  (Berlin  1837),  G.  C.  W.  Schneider  (Leipz.  1839),  O.  T.  W. 
Peile  (1842^,  C.  Feiton  (Cambridge  1847),  Paley  (Cambridge  1853), 
R. Enger  (Leipz.  1855,  2.  Aufl. von  W.Gilbert,  Leipz.  1874),  S.Karsten 
(Utrecht  1855),  Schneidewin  (Berlin  1856,  2.  Aufl.  von  0.  Hense, 
Berlin  1883),  C.  F.  Nägelsbach  (hrsg.  von  F.  List,  Erlangen  1863), 
K.  H.  Keck  (griech.  u.  deutsch  mit  Einl.  und  Komm.  Leipz.  1863),  J.  A. 
C.  van  Heus  de  (c.  schol.  et  comm.  Haag  1864),  C.Weyrauch  (Bres- 
lau 1868),  B.  H.  Kennedy  (Cambridge  1878),  Margoliouth  (London 
1884),  U.  V.  Wilamowitz-Möllendorff  (Text  u.  Übers.  Berlin  1885), 
A.  Sidgwick  (Oxford  1888),  Verfall  (London  1889). 


Aischylos  jgg 

Ausgaben  der  Choephoren  von  K.  Schwenk  (Utrecht  1819),  Blom- 
field  (Cambridge  1824.  Leipz.  1824),  Klausen  (Leipz.  1835),  F.  Bam- 
berger (Göttingen  1840),  A.  de  Jongh  (Utrecht  1856),  Conington 
(1857),  Davies  (1862),  Paley  (Cambridge  1883).  [Verrall  (London 
1893).] 

Ausgaben  der  Eumeniden  von  G.  Wakefield  (1794),  G.  Hermann 
(1799),  K.  Schwenk  (Bonn  1821),  G.  Burges  (1822),  0.  Müller 
(Gott.  1833,  nebst  zwei  polemischen  Anhängen  gegen  G.  Hermann 
und  Fritzsche,  Gott.  1834),  J.  Minckwitz  (Leipz.  1838),  Scholefield 
(1843),  Linwood  (1844),  G.  F.  Schömann  (deutsch  mit  Einl.  u.  Anm., 
Greifsw.  1845),  R.  Merkel  (Gotha  1857),  J.  Davies  (Dublin  1885),  A. 
W.  Verrall  (zuletzt  London  1889),  A.  Sidgwick  (Oxford  1887). 

Gesamtausgaben  des  A.:  Ed.  princ.  von  Aldus  (Venet.  1518).  Da- 
nach A.  Turnebus  (Paris  1552),  Fr.  Robortelli  (Ven.  1552),  H. 
Stephanus  (c.  schol.  locupl.  P.  Victorii  cura,  Paris  1557),  W.  Canterl082 
(Antv.  1580),  Tho.  Stanley  (London  1663),  cum  notis  varr.  cur.  C.  de 
Pauw  (Haag  1745),  danach  die  große  Ausg.  von  S.  Butler  (Cambr. 
1809-1816.  8  voll.),  C.G.Schütz  (Halle  1782-94,  ed.  II  1799-1807. 
ed.  III  1809-21),  F.  H.  Bothe  (Leipz.  1805.  1830),  A.  Well  au  er  (Leipz. 
1823),  G.H.Schäfer  (Leipz.  1827),  W.  Dindorf  (in  den  poetae  scaen. 
Leipz.  1830.  Oxf.  1851  und  1832-35  in  6  voll.  ed.  quinta  Leipz. 
1866-69.  Text  Leipz.  5  mal  1827-73),  bei  Didot  E.  A.  J.  Ahrens 
(Paris  1842),  F.  A.  Paley  (Cambr.  1846-51,  London  1860.  1870.  1879), 
G.  Hermann  (Leipz.  1852  und  Berlin  1859),  J.  A.  Härtung  (Leipz. 
1852-55),  H.  Weil  (Gießen  1858-67),  R.Merkel  (Oxford  1871,  s.o.), 
A.  Kirchhoff  (Berlin  1880),  H.  Weil  (Textausgabe  LeiPz.  1884),  N. 
Wecklein  (cum  lection.  et  schol.  cod.  Medicei  ab  Hieron.  Vitelli  denuo 
coUat.  Berlin  1885).  Apaiuara  cujZ:6|Lieva  Kai  dTToXujXÖTUJV  dTrocTrdc|uaTa, 
ILierd  eHnTTlTiKOüv  kqi  KpiTiKÜJV  CTHueiujceujv  Trj  cuvepTacia  G.  Zujjuapibou 
^Kbiböiiieva  iittö  N.  Wecklein,  Athen  1891. 

Von  Übersetzungen  mag  auch  hier  wenigstens  die  von  Droysen 
(mit  guten  Einleitungen,  zuletzt  Beriin  1884)  genannt  sein. 

Eine  Charakteristik  der  Kunst  des  A.  kann  hier  nicht  versucht 
werden.  Es  mag  wenigstens  hingewiesen  sein  auf  die  Charakteristik 
des  A.  bei  Aristophanes  in  den  Fröschen  914ff.,  die  wichtiger  ist,  als 
alles,  was  später  über  A.  geschrieben  ist.  Die  Neuerungen  und  Ände- 
rungen, durch  die  A.  der  eigentliche  Schöpfer  und  Gesetzgeber  der 
attischen  Tragödie  geworden  ist,  sind  oben  erwähnt.  Außerdem  hat  er 
auch  das  Äußere  der  Bühneneinrichtungen,  Kostüme  etc.  prächtiger  und 
großartiger  gestaltet;  so  hat  er  zuerst  Syrma  und  Kothurn  u.  a.  in  An- 


156  Aischylos 

Wendung  gebracht,  in  Dekoration  vieles  verbessert  und  erfunden,  die 
Orchestik  mannigfach  ausgebildet.  Die  Zeugnisse  dafür  bei  F.  Schöü 
vor  Ritschis  Septem  32ff.  Seine  Bühne  war  zuerst  der  einfache 
runde  Tanzplatz,  Einrichtung  einer  Rückwand  scheint  erst  vor  der  Orestie 
stattgefunden  zu  haben,  v.  Wilamowitz  Hermes  XXI  (1886)  598ff. 
B.  Todt  Philologus  XLVIII  (1889)  505 ff.  (außerdem  Dörpfeld  in 
A.  Müllers  griech.  Bühnenaltert.  416ff.  und  Kawerau  in  Baumeisters 
Denkm.  1732  ff.  u.  a.). 

Die  äußere  Gliederung  der  Stücke  ist  von  altertümlicher  Strenge 
und  Einfachheit,  symmetrisch  oft  bis  ins  einzelne  sind  auch  die  Dialog- 
partien gebaut.  Man  hat  oft  die  großen  einfachen  Linien  und  den 
herben  Parallelismus  archaischer  Kunstwerke  treffend  verglichen.  S.  oben 
zu  den  Septem;  außerdem  H.  Weil  de  la  composition  symmätrique  du 
dialogue  dans  les  tragedies  d'Eschyle,  Paris  1860,  und  Jahrb.  f.  Philol. 
LXXIX  (1859)  721  ff.  835ff.  H.  Keck  ebenda  LXXXI  (1860)  843ff.  und 
wieder  H.  Weil  LXXXIII  (1861)377ff.  Martin  de  responsionibus  diver- 
bii  ap.  A.,  Berlin  1862.  Sudhaus  de  A.  stichomythiis,  Treptow  1864, 
bes.  auch  0.  Ribbeck  qua  A.  arte  in  Prom.  fab.  diverbia  composuerit, 
Bern  1859,  vgl.  auch  R.  Klotz  studia  Aeschylea,  Leipz.  1884.  Über- 
sicht von  N.  Wecklein  Philolog.  XXXI  (1872)  733ff.  Im  allgemeinen 
1083  über  symmetr.  Bau  der  trag.  Dialogpartien  gegen  übertriebene  An- 
nahmen W.  Christ  Philol.  Versamml.  1877,  141  ff.  Die  metrische  Kunst 
des  A.  zeigt  bei  großer  Mannigfaltigkeit  stets  strenge  Gesetzmäßigkeit. 
Im  Trimeter  sind  Auflösungen  und  Anapäste  noch  sehr  beschränkt, 
vgl.  R.  Enger  Die  Auflösungen  im  Trimeter  des  A.,  Rh.  Mus.  XI  (1856) 
444 ff.  C.  F.  Müller  de  pedibus  solutis  in  dial.  senar.  A.  Soph.  Eur., 
Berlin  1866.  Rumpel  Die  Aufl.  im  Trim.  des  A.  und  Soph.,  Philol.  XXV 
(1867)  57 ff.  G.  Engelmann  de  vario  usu  trimetri  iambici  in  diverbiis 
trag.  A.  et  Soph.,  Neusohl  1874.  Die  Chorgesänge  sind  so  streng 
ebenmäßig  angelegt,  daß  nicht  bloß  Silbe  um  Silbe  sich  in  Strophe 
und  Gegenstrophe  metrisch  entspricht,  sondern  auch  dasselbe  Wort  oft 
an  derselben  Stelle  einen  neuen  Gedanken  beginnt,  s.  Roßbach  und 
Westphal  Griech.  Metr.  III  öfter.  Westphal  (Prolegom.  lOff.  96ff.) 
wollte  auch  hier  jedes  xopi^öv  nach  dem  terpandrischen  Schema  in 
dpxd,  öjnqpaXöc,  cqppaTic  teilen,  s.  dagegen  bes.  R.  Arnoldt  Der  Chor 
im  Agam.  des  A.,  szenisch  erläutert,  Halle  1881,  40  ff.,  vgl.  Dippe  de 
canticorum  Aesch.  compositione,  Soest  1886.  Außerdem  sei  besonders 
angeführt  Reiter  de  syllabarum  in  trisemam  longitudinem  productarum 
usu  Aeschyleo  et  Sophocleo,  Wien  1887.  Die  Zahl  der  Choreuten  ist 
bei  A.  in  früherer  Zeit  12  im  einzelnen  Stück  gewesen  (vit.  Sophocl. 


Aischylos  jgy 

Suid.  s.  Cocp.).  Sophokles  soll  die  Zahl  auf  15  erhöht  haben.  Sicher 
ist  außerdem  aus  Agam.  1299ff.  und  Eumenid.  585ff.,  daß  der  Chor 
der  Stücke  der  Orestie  15  betrug.  Der  mutmaßliche  Gang  ist  der, 
daß  zunächst  dem  Tragiker  wie  dem  Dithyrambendichter  50  Choreuten 
gegeben  wurden,  von  denen  er  den  4  Stücken  je  12  zuteilte  und  die 
2  übrigen  zufügte,  wo  er  wollte.  Das  muß  auch  in  der  Polluxstelle  IV 
111  stecken,  auch  wenn  sie  zum  Teil  falsch  ist:  xö  be  TraXaiöv  6  xpa- 
TiKÖc  xopoc  TTevTriKOvra  fjcav,  dxpi  tujv  €i)|uevibuuv  AicxuXou.  Schon 
um  465  werden  60  Choreuten  (4x15)  festgesetzt  sein.  Vorher  aber 
war  im  einzelnen  größere  Freiheit,  und  in  den  Supplices  mag  in  dem 
einen  Stücke  der  ganze  Chor  oder  doch  mehr  als  12  aufgetreten  sein 
(s.  Wilamowitz  Herakl.  I  90).  Über  die  Vortragsweise  der  Chorpartien 
ist  fast  nichts  Sicheres  überliefert.  Darüber,  wann  der  ganze  Chor, 
wann  Einzelchoreuten,  wann  Reihen  desselben,  wann  Halbchöre,  wann 
der  KopucpaToc  das  Wort  haben,  ist  fast  nur  da  Sicheres  zu  wissen, 
wenn  bestimmte  Kriterien  im  Texte  selbst  vorliegen.  Um  so  mehr  ist 
vermutet  worden.  G.  Hermann  begann  in  ausgiebigem  Maße  mit 
solchen  Zuteilungen  in  seinen  Ausgaben.  Von  den  zahlreichen  Schriften 
darüber  sind  besonders  zu  erwähnen  Bamberger  opusc.  acad.  I  Iff. 
Arnoldt  Der  Chor  im  Ag.  des  A.,  Halle  1881;  Der  Chor  in  den  Sieben 
des  A.,  Halle  1882.  Muff  de  choro  Persarum  fab.  A.,  Halle  1878.  Zacher 
Philol.  Vers.  Gera  1879,  64 ff.  V^ecklein  Über  die  Technik  und  den 
Vortrag  der  Chorges.  des  A.  Jahrb.  f.  Philol.  Suppl.  XIII  (1882). 

Über  den  eigentlichen  Stil  des  A.  s.  die  Urteile  der  Alten  bei 
F.  Scholl  a.  a.  O.  36 ff.  bes.  Vita  §  5:  Kaid  be  xfiv  cijv0eciv  xfic  Tioiriceujc 
lr\koi  t6  dbpöv  oiei  TrXdc|Lia,  övojiiaTOTrouaic  le  Kai  eiriOeToic,  eii  be 
juexacpopaic  Kai  irdci  toTc  buvajuevoic  ötkov  ttj  (ppdcei  7repi6eTvai  xpi^- 1084 
JL16V0C  ktX.,  vgl.  Frösche  1004  dW  iL  irpiuToc  tOuv  '€\Xr|viJuv  TiupTtucac 
pruLiara  ce^ivd  Kai  Koc|Lir|cac  TpaTiKov  Xfipov  und  alles  Folgende.  Nichts 
anderes  soll  es  auch  bezeichnen,  daß  A.  laeeuujv  seine  Tragödien  ge- 
dichtet habe  (Zeugnisse  bei  F.  Scholl  a.  a.  0.  14ff.),  als  den  besonders 
hohen  Schwung  dieser  wahrhaft  dionysischen  Natur.  Der  Wahnsinn 
des  Dionysos,  d.  h.  die  Trunkenheit,  kommt  ja  nach  ursprünglicher  Auf- 
fassung Ober  jeden  Dichter,  wenn  er  dichtet  (Athen.  IX  406  diro  ixiQnc 
Kai  n  Tnc  xpaTtubiac  Kai  f)  xfic  KUijuujbiac  eupecic  ev  MKapia  xfic  'AiTiKfic). 
Über  die  Einzelheiten  des  aischyleischen  Stiles,  die  Wortwahl,  die 
Komposita,  die  Formen,  die  Präpositionen  und  Partikeln,  die  Syntax, 
die  Metaphern  und  Bilder,  die  rhetorischen  Figuren  u.  dgl.  ist  eine 
umfangreiche  Literatur,  namentlich  kleiner  Schriften  aufgelaufen,  die 
hier  anzuführen  nicht  angeht,  zumal  sie  an  den  gleich  anzugebenden 


158  Aischylos 

Orten  leicht  aufzufinden  sind.  Lexica:  Lex.  Aesch.  von  Well  au  er, 
Leipz.  1830.  G.  Linwood,  London  1843-47.  W.  Dindorf,  Leipz. 
1873-76.  L.  Schmidt  Supplementi  in  lex.  Aesch.  a  Dind.  compos., 
Greif fenberg  1875.  Über  die  religiösen  Anschauungen  des  A.  ist  un- 
endlich viel  Unbedeutendes  und  Schiefes  gesagt  und  in  Allgemein- 
plätzen gesündigt  worden.  Hier  kann  um  so  weniger  darauf  eingegangen 
werden,  als  gerade  für  die  Theologumena  Aeschyli  die  Einzeluntersuchung 
der  sakralen  Tatsachen  und  der  religiösen  Empfindungen  und  Richtungen 
der  Zeit  noch  zu  fordern  ist.  Gerade  in  dieser  Beziehung  haben  wir 
der  Phrasen  über  A.  wie  über  Pindar  nun  endlich  genug.  Immer  noch 
das  Tiefste  sind  die  betr.  Schriften  von  Welcker  (bes.  auch  Götter- 
lehre II).  Nägelsbach  nachhom.  Theol.  mischt  zu  viel  Fremdartiges 
ein.  Außerdem  mögen  wenigstens  genannt  sein  R.  H.  Klausen  Theo- 
logumena Aesch.,  Bonn  1829.  R.  Hagen  de  rerum  divinarum  apud  A. 
condic,  Berlin  1843.  G.  Dronke  Die  sittl.  u.  relig.  Vorstell,  des  A., 
Jahrb.  f.  Philol.  Suppl.  IV  7  ff.  De  fato  Aeschyleo  nach  vielen  anderen 
zuletzt  Paul  Stengel,  Jena  1875.  Cipolla  della  religione  di  Esch.  e 
di  Pind.,  Rivista  di  filol.  VL  Über  die  politischen  Anschauungen  des  A. 
handelt  besonders  Dettweiler  quid  A.  de  republica  Atheniensium 
iudicaverit.  Gießen  1878. 

Die  weitere  Literatur  über  A.  ist  bequem  zugänglich  durch  N.We ek- 
le ins  Bericht  über  die  aeschyleische  Literatur  im  Philolog.  XXXI  (1872) 
712ff.  XXXII  (1873)  318ff.  XXXIV  (1878)  296ff.  317ff.  539ff.  und  in 
Bursian-Müllers  Jahresberichten.  Außerdem  s.  R.  Klußmann  index 
commentationum  Aeschylearum  inde  a  1858  maxime  in  Germania  edi- 
tarum,  Berlin  1878. 


VIII 
ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  SARAPIS' 

Die  Schöpfung  des  Sarapis  ist  die  wesentlichste  Erscheinung,  durch  31 
die  jene  gewaltige  Bewegung,  die  wir  Synkretismus  nennen,  eingeleitet 
und  schnell  ausgebreitet  wurde.  Von  geringen  Ansätzen,  die  sich 
vorher  zeigen,  abgesehen,  ist  sie  deren  Ursprung  und  kann  dank  aus-  32 
gezeichneter  Überlieferungen  klar  analysiert  werden.  Es  ist  ein  religions- 
geschichtlich einzig  dastehender  Vorgang,  daß  ein  König  und  sein 
Kultusminister  im  geheimen  Kabinett  einen  Gott  gemacht  haben.  -  Die 
Erzählungen  bei  Tacitus  und  Plutarch  stimmen,  ohne  voneinander  ab- 
hängig zu  sein,  ganz  überein.  In  drei  Varianten,  deren  Quellen  faßbar 
sind,  gehen  alle  Überlieferungen  auf.  Jene  Erzählungen  geben  die 
echte  Tempellegende,  die  ursprüngliche  Kulteinführungslegende.  - 
Sie  ist  nur  zu  verstehen,  wenn  wir  alte  Legendenmotive  in  ihr  er- 
kennen; es  ist  der  alte  Mythus  von  der  wunderbaren  Götterfahrt 
und  Götterepiphanie,  von  der  Hyperboreerfahrt  mit  ihren  be- 
stimmten Routen  und  Stationen,  unter  denen  auch  Sinope  seine  Rolle 
spielt.  Weiter  sind  Kulteinführungslegenden  der  gleichen  hellenistischen 
Epoche  (z.  B.  die  des  Asklepioskultes  nach  Rom)  zu  vergleichen.  Aus 
den  alten  mythischen,  von  selbst  wieder  wirksamen  Motiven  und  den 
in  ihr  nachgebildeten  Legenden  anderer  Kulte  der  Zeit  ist  die  Ein- 
führungssage des  Sarapis  zu  verstehen.  Die  gleichen  Motive  sind 
immer  wieder  wirksam,  noch  bei  den  Legenden  von  Übertragung 
mancher  Heiligenreliquien  bei  den  romanischen  Völkern.  Als  Inschrift 
wird  der  lepöc  Xötoc  im  Sarapistempel  gestanden  haben;  Timotheos 
aus  Athen,  der  Eumolpide,  der  eleusinische  Priester,  war  ihr 
Verfasser. 

Schöpfer  des  Kultbildes  war  Bryaxis,   der  berühmte   athenische 
Künstler  dieses  Namens.    Es  wurde  gezeigt,  daß  die  Nachrichten  von 


*  <Verhandlungen  der  44.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schul- 
männer in  Dresden.    Teubner  1897,  S.  31  ff.> 


150  ^^^^  ^®"  Ursprung  des  Sarapis 

ihm  zu  der  Einführung  des  Sarapiskultes  im  Anfang  der  Ptolemäer- 
regierung  passen. 

Weiter  wurde  die  Gleichsetzung  des  Sarapis  mit  Osiris  Apis  be- 
sprochen, seine  ägyptischen  Heiligtümer,  seine  Namensformen  'OcöpaTric 
und  CdpaTTic.  Eine  Anzahl  Nachrichten,  namentlich  eine  aus  den 
Ephemeriden  Alexanders  zwingt  zur  Annahme,  daß  der  Name  des 
Gottes  schon  in  Babylon  vorhanden  war.  Nur  mit  großer  Vorsicht 
wurde  die  Angabe  eines  babylonischen  Götterverzeichnisses  angezogen, 
wonach  der  babylonische  Unterweltsgott  Nergal  auch  Sarrapu  geheißen 
hat.^  -  Die  Hauptelemente  der  Entstehung,  die  griechisch  sind,  bleiben 
deutlich  erkennbar.  Von  den  Einführungskämpfen  des  neuen 
Kultes,  aus  denen  die  memphitischen  Papyri  kleine  Bilder  geben,  von 
den  KdTOXOi  des  Gottes  und  ihrer  Fortsetzung,  von  Pachomios,  dessen 
Sarapisdienst  jetzt  bezeugt  ist,  dem  Gründer  der  ersten  christlichen 
33  Cönobien,  konnte  wegen  der  drängenden  Zeit  nur  andeutungsweise 
gesprochen  werden.  Die  Hauptbedeutung  der  Einführung  des  Sarapis 
ist  die,  daß  er  durch  die  Initiative  eines  Mannes  als  eine  höhere 
Einheit  über  die  bisher  verehrten  Hauptgötter  gesetzt  wird, 
die  durch  ihre  plastische  Ausgestaltung  den  Schritt  weiterer  Ab- 
straktion hinderten:  der  Gott,  der  zwar  einen  Namen  mitbringt 
und  als  eine  Person  erscheint,  aber  durch  kein  vorhandenes  Bild 
umgrenzt  ist  in  seinem  Wesen,  der  vor  allem  mythenlos  ist. 
Die  Gleichsetzung  mit  Zeus,  Helios,  Dionysos,  Asklepios,  Osiris, 
Apis  hat  die  mannigfachste  Bedeutung,  und  die  Frage,  warum  Pto- 
lemaios  diesen  Gott  einführte,  warum  er  ihn  so  gestaltete,  führt 
nicht  bloß  auf  politische,  sondern  auch  auf  tief  religiöse  Motive. 
Es  ist  der  Gott,  den  die  Seele  der  Völker  suchte.  Sein  Kult  bahnt 
dem  'Synkretismus',  bahnt  durch  ihn  dem  Glauben  an  einen  Gott 
den  Weg. 

Wie  wir  für  Mithras  ein  mustergültiges  Urkundenbuch  besitzen, 
brauchen  wir  solche  für  Isis,  Attis,  Sarapis  u.  a.  Ehe  wir  die 
Geschichte  des  Synkretismus  und  seiner  Kulte  genau  analysieren 
können,  ist  die  große  Frage  nach  der  Genesis  des  Christentums  un- 
lösbar. 

Auf  jene  Aufgaben  unserer  Arbeit  hinzuweisen,  war  der  Hauptzweck 
des  Vortrags.    Er  wird  veröffentlicht  werden,  wenn  sich  einige  Fragen 


*  Ich  wage  um  so  weniger  jetzt  zu  entscheiden,  ehe  C.  F.  Lehmann  den 
Sarapis  als  (Ea)  sar  apsi  näher  begründet  hat,  Zeitschr.  f.  Assyriologie 
XII  1,  112. 


Ober  den  Ursprung  des  Sarapis  151 

mit  Hilfe  der  Kenner  babylonischer  und  ägyptischer  Dinge  schärfer  und 
einwandfreier  erledigen  lassen.^ 

^  <Das  ist  nicht  geschehen;  auch  den  Artikel  'Sarapis'  in  Roschers  Lexikon 
der  griechischen  und  römischen  Mythologie,  den  er  übernommen  hatte,  hat 
Dieterich  nicht  geschrieben ;  er  wollte  ihn,  wie  Röscher  auf  dem  Umschlag  zur 
57.  Lieferung  mitteilt,  seinem  Schüler  Dr.  Weber  in  Heidelberg  übertragen 
wissen.  Geschrieben  ist  jener  Artikel  von  C.  F.  Lehmann -Haupt  und  H.  Ph. 
Weitz,  Röscher  Bd.  IV  338  ff.  Für  einen  Teil  der  von  Dieterich  versprochenen 
Abhandlung  bietet  Ersatz  die  Arbeit  seines  Schülers  Ernst  Schmidt,  Kult- 
übertragungen, III.  Kapitel:  Die  Einführung  des  Sarapis  in  Alexandria  (Rel. 
Gesch.  Vers.  Vorarb.  VIII  2, 47  ff.).  Ein  Punkt  des  hier  wiederabgedruckten  Referates 
wurde  Veranlassung  zu  einer  Polemik  mit  E.  Preuschen,  s.  die  Besprechung 
von  dessen  Buch  'Mönchtum  und  Sarapiskult',  Berl.  philol.  Wochenschr.  1905, 14.) 


Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  H 


IX 
MATRIS  CENA^ 

49  In  mancherlei  gesuchten  Anspielungen  antwortete  Cicero  (Epistulae 
IX  16)  auf  einen  inhaltreichen  Brief  eines  genußfreudigen  und  geist- 
reichen Freundes  L.  Papirius  Paetus.  Der  hatte  ihn  gewarnt,  den  mächtigen 
Caesar,  der  damals  (46)  noch  nicht  aus  Afrika  zurück  war,  durch  vor- 
witzige Scherze  zu  reizen,  und  hatte  selbst  der  ernsten  Mahnung  eine 
Anzahl  harmloser  launiger  Bemerkungen  beigefügt.  Er  habe  in  letzter 
Zeit  (durch  die  Maßregeln  Caesars,  Verschuldeten  aufzuhelfen)  so  viel 
Verluste  erlitten,  daß  er  äußerst  sparsam  leben  müsse  und  den  Freund 
nur  zu  ganz  frugalen  Mahlzeiten  bei  sich  sehen  könne,  allenfalls  zu 
einer  tyrotarichi  patina,  einer  Schüssel  Heringssalat.  Cicero  antwortet 
ernst  auf  die  Warnungen,  lustig  auf  die  Scherze  (§  7  ff.:  nunc  uenio  ad 
iocationes  tuas  . . .).  Er  wünsche  ja  nicht  allzu  großen  Aufwand,  wenn 
er  komme.  (§  8):  nee  tarnen  eas  cenas  quaero,  ut  magnae  reliquiae 
flant  quod  erit,  magnificum  sit  et  lautum.  memini  te  mihi  Phameae 
cenam  narrare.  Phamea  war  ein  verschwenderischer  Parvenü,  der  Diners 
im  Stile  des  Trimalchio  gegeben  haben  wird:  temperius  fiat,  cetera 
eodem  modo,  setzt  Cicero  übermütig  hinzu  und  fährt  fort:  quod  si 
perseueras  me  ad  matris  tuae  cenam  reuocare,  feram  id  quoque  . . . 
aber  das  wirst  Du  nicht  wagen;  Du  wirst  schon  von  meiner  jetzigen 
Üppigkeit  gehört  haben. 

Kann  wirklich  von  Diners,  die  die  Mutter  des  Paetus  gibt,  die  Rede 
sein?  Diners,  die  Cicero  nicht  gern  über  sich  ergehen  lassen  will? 
Das  ist  aus  manchen  Gründen  nicht  auszudenken.  Die  nächste  Erwägung 
ergibt,  daß  hier  eine  Anspielung  versteckt  ist,  die  einen  äußersten  Gegen- 
satz gegen  die  cena  Phameae,  also  zu  cenam  statt  der  Mutter  einen 
Namen  angibt,  der  einen  solchen  Gegensatz  bedeutet.  Wir  haben  ja 
den  Brief  des  Paetus  nicht  mehr:  hatte  er  von  einem  berühmten  Ver- 
treter frugalster  Kost,  dem  er  jetzt  folge,  gesprochen? 

Wer  dieser  Vermutung  entsprechend  sucht,  hat  alsbald  gefunden. 
Athenaios  II  p.  44  d :  Märpic  b*  6  GrißaToc  öv  eßiuu  xpövov  oubev  kiieiTO 

'  <Strena  Helbigiana,  Leipzig  Teubner  1900  S.  49f.> 


Matris  cena  J53 

f|  ^uppivTlC  öXiTOv,  oivou  be  Kai  tujv  äXXiuv  Traviiuv  direixeTO  n\r]v 
xjhaToc.  Das  steht  in  der  Liste  der  Enthaltsamen  und  Wassertrinker  50 
(OnßaToc  ist  aus  'Aenvaioc  längst  verbessert  nach  Ptolemaios  Chennos 
bei  Photios  cod.  CXC  148^  wo  die  entsprechende  Angabe  steht).  Es 
ist  höchst  wahrscheinlich,  daß  es  der  gleiche  ist  mit  dem  Asianer 
(Autor  Ttepi  öipouc  c.  3),  dem  viinvoTpacpoc,  der  das  eTKuuiniov  'HpaKX^ouc 
verfaßte  und  Quelle  Diodors  für  die  Heraklesgeschichte  ist  (ich  weise 
nur  hin  auf  Bethes  Zusammenstellungen  und  Ausführungen,  Quaestiones 
Diodoreae  p.41  ff.).  Ptolemaios  Chennos  hatte  den  Zug,  daß  der  Rhetor  Matris 
aus  Theben  ein  so  strenger  Vegetarianer  und  Wassertrinker  gewesen, 
nicht  erst  erfunden;  der  literaturkundige  Paetus  konnte  mündlich  und 
brieflich  diese  Tradition  erwähnen  und  Cicero  ihm  auf  die  scherzhafte 
Schwärmerei  für  seinen  Matris  antworten:  quod  si  perseueras  me  ad 
Matris  tui  cenam  reuocare,  feram  id  quoque  (daß  tuae  für  tui  geändert 
wurde,  ist,  da  man  später  den  Namen  weder  kannte  noch  erkennen 
konnte,  selbstverständlich).  So  verstärkt  sich  das  Andenken  an  einen 
berühmten  Enthaltsamen,  sei  es,  daß  er  es  wirklich  gewesen  oder  nur 
im  Gerüchte  der  Nachwelt;  und  man  wird  es  verzeihlich  finden,  daß 
zur  dankbaren  Erinnerung  an  die  anregendsten  römischen  Stunden  der 
Schatten  eines  großen  Wassertrinkers  beschworen  ward:  die  Römer 
zitierten  ihn  auch  nur  zum  Scherz:  quod  si  perseuero  te  ad  Matris 
cenam  reuocare,  feras  id  quoque. 


11 


X 

DIE  WIDMUNQSELEGIE  DES  LETZTEN  BUCHES 
DES  PROPERTIUS^ 

1 

191  'Alles,  was  Du  hier  siehst,  Fremdling,  wo  die  gewaltige  Roma  steht, 
war  vor  dem  Phryger  Aeneas  grasbewachsener  Hügel'  beginnt  der 
Dichter,  der  sich  an  einem  Punkte  stehend  denkt  und  sich  ganz  als 
Periegeten  einftihrt,  der  einem  Fremden  die  Herrlichkeiten  seiner  Stadt 
zeigen  will.  Der  hospes  wird  nicht  weiter  berücksichtigt,  aber  die 
Anrede  an  ihn  gibt  doch  das  Motiv  ab  der  ganzen  Rede,  bis  dann 
(V.  71)  dem  immer  begeisterter  schwärmenden  Dichter  eine  zweite 
Person  ins  Wort  fällt  und  ihm  ein  ganz  anderes  Bild  zeigt,  als  Properz 
es  erschauen  wollte.  Es  ist  ganz  der  Wirklichkeit  nachgebildet,  wenn 
der  Poet  hier  wie  auch  sonst  bei  Antiquitäten  und  Aitia  oder  in  natur- 
wissenschaftlichen Gedichten  den  Cicerone  spielt,  den  Exegeten  und 
Periegeten.^ 

Das  Thema  für  die  nächstfolgenden  Verse  stellen  die  beiden  ersten. 
Die  bei  den  Dichtern  gerade  damals  so  häufig  verwendete  wirksame 
Gegenüberstellung  des  in  ganz  bestimmten  Farben  ländlicher  und  bäuer- 
licher Einfachheit  ausgemalten  Bildes  des  urzeitlichen  Rom  und  der 
strahlenden  Gold-  und  Marmorherrlichkeit  der  Augustusstadt  hier  so 
scharf  herauszuarbeiten,  mochte  er  gerade  noch  durch  Vergils  Aeneis 
und  das  fünfte  Gedicht  im  zweiten  Tibullbuche  angeregt  sein  (bes. 
Aen.  VIII  347,  360,  namentlich  auch  was  die  Einführung  Euanders  be- 
trifft; Tib.  II  5,  25).  Wie  in  den  beiden  ersten  Versen  wird  in  nur  leise 
variierender  Formulierung   die   Pracht    der   Gegenwart  dem    einfachen 

192  Zustande  des  Ortes  in  der  Urzeit  in  bestimmterer  Exemplifikation  und 
engerer  Umgrenzung  entgegengesetzt.  Der  Dichter  steht  auf  dem 
Palatin:  nur  von  da  kann  er  alles  Folgende  zeigen  -  denn  er  zeigt 
wirklich  hin:  wie  im  ersten  Verse  hoc,  so  V.  5  haec  templa,  V.  9  ista 

'  <Rhein.  Mus.  LV  1900  S.  191ff.> 

^  Siehe  Sudhaus  zum  Aetna  S.  124  Z.  14  v.  u.,  S.  153  Mitte;  S.  206 ff.  Die 
Anrede  (h  Heive  bei  Kallimachos  fr.  196  Sehn,  ist  ebenso  zu  beurteilen. 


Die  Widmungselegfie  des  letzten  Buches  des  Propertius  155 

domus  -,  und  nur  so  sind  die  mannigfachen  Beziehungen  auf  den 
Palatin  verständlich.  Hier  zeigt  er  denn  auch  zuerst  den  heiligen  Be- 
zirk des  Apoll:  die  Worte  Nauali  stant  sacra  Palatia  Phoebo  bezeichnen 
ganz  eigentlich  die  Weihung  durch  Augustus,  die  schon  36  vollzogen 
ward^;  seit  28  stand  nun  auch  der  große  Tempel  geweiht.  'Tönernen 
Göttern  erwuchsen  diese  goldenen  Tempel!'  Gewiß  sind  im  allgemeinen 
die  Tempel  gemeint,  die  rings  zu  schauen  sind;  zunächst  auch  der 
Tempel  Apollos,  der  mit  allerhöchster  Pracht  geschmückt  war  (die 
aurea  porticus  hat  Properz  selbst  früher  schon  ausdrücklich  erwähnt 
II  31,  If.).  Es  hindert  uns  aber  nichts,  in  fictilibus,  das  ebenfalls  zu- 
nächst im  allgemeinen  die  Götter  der  Urzeit  überhaupt  meint,  denen 
man  einst,  wie  der  folgende  Vers  hinzufügt,  kunstlose  Hütten  baute, 
strohgedeckte  sacella,  KaXidbec  (eine  Anspielung  auf  die  casa  Romuli 
könnte  hier  nur  ganz  leise  mit  beabsichtigt  sein),  einen  besonderen 
Hinweis  auf  luppiter  fictilis  zu  erkennen;  durch  ihn  kommt  der  Dichter 
Oberhaupt  darauf,  von  dei  fictiles  verallgemeinernd  zu  sprechen.  Im 
Jahre  28  hatte  Augustus  den  Tempel  des  kapitolinischen  Juppiter  wieder 
hergestellt;  impensa  grandi  refeci  sine  ulla  inscriptione  nominis  mei, 
Mon.  Anc.  IV  9.  Schon  nach  dem  dritten  Punischen  Kriege  war  das 
Deckengebälk  vergoldet  worden  (Plin.  n.  h.  XXXIII  57),  das  Dach  des 
Neubaues,  der  69  vollendet  war  und  sich  von  dem  alten  Bau  nur  durch 
die  größere  Pracht  der  Ausführung  unterschied,  war  mit  vergoldeter 
Bronze  gedeckt  (Plin.  a.  a.  0.),  und  Vergil  meint  diesen  Schmuck  Aen. 
,VIII  347:  Capitolia  .  .  aurea  nunc,  olim  siluestribus  horrida  dumis.  Vom 
Palatin  aus  sah  man  das  goldene  Dach  herüberleuchten,  wie  sich  auch 
zum  Überfluß  aus  der  taciteischen  Schilderung  der  Vitelliuskämpfe  er- 
gibt (Tac.  bist.  III  71).     Fictilibus  creuere  deis  haec  aurea  templa! 

Das  nun  folgende  Versepaar  sagt,  daß  einst  Juppiter  der  Tarpeische  193 
vom  nackten  Felsen  habe  donnern  müssen  und  einst  sei  selbst  den 
Herden  der  Tiber  ein  Fremder  gewesen.  Der  zweite  Vers  malt  nur 
das  Bild  der  Urzeit  weiter  aus,  von  der  im  ersten  Verse  schon  deutlich 
das  gesagt  wird,  daß  es  für  den  donnernden  tarpeischen  Vater  nur 
einen  Fels  ohne  Tempel  gab:  wenn  wir  wissen,  daß  Augustus  im 
Jahre  22  einen  Tempel  des  luppiter  ton  ans  geweiht  hatte,  so  mag  der 
Tempel  bedeutend  oder  nicht  gewesen  sein  -  im  Monum.  Ancyranum 
IV  5  wird   er   ausdrücklich   angeführt  aedes   in   Capitolio   louis   feretri 


*  Dio  Cass.  XLIX  15  töv  tottov  tiD  'AttöUiuvi  iepujc€v,  siehe  die  Stelle  und 
anderes  in  Rothsteins  Kommentar,  dessen  Angaben  ich  nur  wiederhole,  wo  sie 
zu  meinen  Ausführungen  notwendig  sind.  Ich  knüpfe  an  seine  Erklärung  als 
die  letzte  an,  und  eben  über  sie  hinauszuführen  ist  meine  Absicht. 


156  ^^®  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

(den  Properz  IV  10  behandelte)  et  louis  tonantis^  -,  er  mag  direkt  auf 
der  eigentlichen  rupes  Tarpea  gelegen  haben  oder  nicht,  nahe  lag  er 
jedenfalls:  Properz  hat  ihn  ohne  jeden  Zweifel  gemeint.^ 

Auch  die  beiden  folgenden  Verse  müssen  Neues  und  Altes  in  Gegen- 
satz stellen.  Mag  man  den  Hss.  (außer  dem  Neapolitanus,  der  quod 
bietet)  folgend  lesen  quo  (qua  mit  der  Konjektur  der  Itali)  gradibus 
domus  ista  Remi  se  sustulit  olim,  unus  erat  fratrum  maxima  regna 
focus,  oder  mag  man,  wie  seit  Lachmann  in  der  Regel  (schon  Brouk- 
husius  schlug  es  vor),  die  Interpunktion  vor  olim  setzen,  immer  sind 
es  zwei  Sätze,  die  auf  die  gleiche  alte  Zeit  gehen,  solange  man,  wie 
es  auch  Rothstein  tut,  in  dem  ersten  Verse  die  casa  Romuli  und  die 
scalae  Caci  wiederfinden  will.  Die  Zeit,  da  sich  'über'  den  gradus  Mas 
Haus  der  beiden  Brüder  aufgebaut  hat'  (so  Rothstein)  -  die  casa 
wurde  ja  als  Rest  höchsten  Altertums  noch  zu  Properz'  Zeiten  gezeigt  -, 
kann  auf  keine  Weise  mit  einem  olim  entgegengesetzt  werden  der 
Zeit,  da  ein  Herd  noch  der  Brüder  größtes  Reich  war;  noch  irgendwie 
umgekehrt.  Aber  wir  dürfen  kurz  sein:  die  casa  des  Romulus  lag  in 
der  Nähe  der  Treppe  des  Cacus;  dieser  Tatbestand  kann  nie  so  aus- 
gedrückt werden:  casa  gradibus  se  sustulit.  Rothstein  hat  richtig  ge- 
fühlt, daß  da  'ein  römischer  Leser  zunächst  nur  einen  Prachtbau  ver- 
stehen' kann,  Vie  sie  in  der  Zeit  des  Dichters  üblich  waren';  es  folgen 
194  einige  Beispiele.  Zunächst  nur?  Überhaupt  nur.  Der  Interpret  springt 
vom  rechten  Wege  der  Erklärung  mit  seltsamen  Worten  ab,  'der  Aus- 
druck ist  absichtlich  so  gehalten,  daß  er  zunächst  irreführen  muß'. 
Wahrlich,  eine  seltsame  Art  und  eine  seltsame  Gelegenheit,  den  Leser  irre- 
zuführen! Es  ist  wirklich  ein  Prachtbau  gemeint,  der  sich  auf  Stufen  erhebt, 
wo  einst  in  einer  Hütte,  gleicher  Erde,  der  eine  Herd  war:  das  einst  meint 
die  casa  Romuli,  das  jetzt  die  domus  Augusti.  Man  weiß,  wie  Remus  be- 
liebig für  Romulus  oder  für  beide  gesetzt  wird  (auf  II  1,  23  regnaue  prima 
Remi  weist  auch  Rothstein  hin;  vgl.  IV,  6,  80  reddat  signa  Remi  von 
den  römischen  Feldzeichen),  und  daß  Augustus  als  ein  neuer  Romulus 
nicht  nur  angesehen,  sondern  auch  so  genannt  sein  wollte  (so  sollen  denn 
auch  ihm  beim  Antritt  des  Konsulats  wie  dem  Romulus  zwölf  Geier 
erschienen  sein).  Eine  Stelle  des  Dio  Cassius  (LIII  16)  zeigt  am  besten, 
wie  Properz  zu  seinem  Ausdrucke  gekommen  ist:  KaXeixai  b^  xct  ßaci- 

^  Weitere  Belege  bei  Mommsen  zu  der  Stelle  des  Mon.  Anc.  S.  81. 

*  Rothstein  hätte  diese  schon  mehrfach  vor  ihm  festgestellte  Interpretation 
nicht  wieder  wankend  machen  sollen.    Die  unsichere  Erklärung  der  vorgehen- 
den Verse  ist  schuld  daran.    Hier  wie  namentlich  in  der  Erklärung  der  folgenden ' 
Verse  hatte  Krahner  Philologus  XXVII  (1868)  S.  65,  67  ff.  den  richtigen  Weg  ge- 
wiesen, den  man  nicht  wieder  verlassen  durfte. 


Die  Widmungselegrie  des  letzten  Buches  des  Propertius  157 

Xeia  TTaXdxiov  .  .  .  öti  ev  t€  tuj  TTaXaTiiu  6  KaTcap  ujkci  ...  Kai  Tiva 
irpöc  Tfiv  Toö  'PiwmjXou  TTpoevoiKTiciv  cpriiLiTiv  f]  oiKia  auToO  diro  toO 
TravTÖc  öpouc  eXaße.  Aber  schwerlich  konnte  der  Dichter  sagen,  Vo 
dies  Remushaus  auf  Stufen  sich  erhoben  hat,  war  einst  ein  Herd  der 
Brüder  größtes  Reich'.  Die  casa  Romuli  befand  sich  immerhin  oder 
hatte  sich  befunden  in  etlicher  Entfernung  von  dem  Augustuspalast, 
nahe  dem  Abstieg  zum  Zirkus.  Gradibus  ohne  Zusatz  ist  nicht  wohl 
erträglich;  es  kann  kaum  'die  Art  des  Neubaus  gegenüber  jenem  focus', 
so  nackt  gebraucht,  bezeichnen.  Und  man  hat  ja  auch,  um  so  zu  er- 
klären, die  handschriftliche  Lesart  quo  verlassen  und  zu  der  alten 
Änderung  qua  greifen  müssen.  Ich  mache  es  kurz:  man  gehe  von 
der  Lesart  des  Neapolitanus  quod  aus  und  schreibe 

quot  gradibus  domus  ista  Remi  se  sustulit!  -  olim 
unus  erat  fratrum  maxima  regna  focus. 
Es  wird  sich  noch  an  andern  Stellen  auch  dieses  Gedichtes  die  Über- 
lieferung des  Neapolitanus  vor  allen  andern  bewähren. 

In  den  folgenden  Versen  wird  wieder  ganz  in  der  bisherigen  Weise 
ein  Prachtbau  der  Neuzeit  -  und  wieder  bemerken  wir  sofort,  daß  es 
ein  augusteischer  Bau  ist,  die  Curia  lulia,  drüben  am  Forum,  auf  dem 
Comitium,  die,  von  Cäsar  begonnen,  29  von  Augustus  geweiht  ward 
(Mon.  Anc.  IV  L  Dio  LI  22)  -  den  einfachen  Einrichtungen  der  Vor- 
zeit gegenübergestellt,  für  deren  Schilderung  diesmal  noch  zwei  Verse 
mehr  verbraucht  werden.  Es  ist  nicht  der  gleiche  Platz,  auf  dem  sich 
jetzt  die  glänzende  Kurie  erhebt,  wo  die  Hundert  einst  auf  dem  Wiesen- 195 
plan  tagten:  Properz  mag  auch  an  die  curiae  ueteres  auf  dem  Palatin 
gedacht  haben. 

Der  Dichter  ist  schon  ein  wenig  in  die  Beschreibung  alter  Sitten 
hineingekommen.  Aber  doch  erwarten  wir  nach  der  Erwähnung  einer 
Reihe  so  bestimmter  Neubauten  seiner  Zeit,  daß  auch  mit  dem  negativ 
gewendeten  Hinweis  auf  besonders  reiche  und  luxuriöse  Theater- 
ausstattungen (nee  sinuosa  cauo  pendebant  uela  theatro  etc.)  irgend- 
welche besondere  Veranstaltung  augusteischer  Regierung  gemeint  sei. 
Man  pflegt  als  Parallelstelle  aus  dem  18.  Gedicht  des  3.  Buches  an- 
zuführen aut  modo  tam  pleno  fluitantia  uela  theatro  (V.  13),  wie  es 
auch  Rothstein  tut,  ohne  etwas  Weiteres,  zu  folgern.  Es  ist  offenbar, 
wenn  man  auch  erste  Anwendung  jener  vela  schon  andern  zuschrieb 
(Plin.  h.  n.  XIX  23),  ein  großer  Eindruck  unerhört  prächtigen  Luxus- 
aufbaues, den  die  Überdeckung  des  ganzen  Forums  für  Theaterspiel 
durch  das  Wohlwollen  des  Kaisers  zu  Ehren  der  Spiele  des  Ädilen 
Marcellus  gemacht  hatte  (Dio  LIII  31,  2).     Das  zeigen  am  deutlichsten 


158  Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

die  Worte  des  Plinius  (am  eben  angef.  O.),  die  er  der  Angabe  eben 
dieses  unerhörten  Unternehmens  hinzufügt:  quantum  mutatis  moribus 
Catonis  censorii  qui  sternendum  quoque  forum  muricibus  censuerat. 
So  war  die  Erinnerung  an  diese  Merkwürdigkeit  besonders  eifrig  weiter 
Oberliefert;  im  Jahre  22  -  kurz  vor  dem  Tode  des  Marcellus  -  war 
es  geschehen,  und  dem  Properz  stand  es  lebhaft  als  höchster  Beweis 
der  Luxus-  und  Machtmittel  des  augusteischen  Rom  vor  Augen.  Und 
während  all  dieser  Jahre  sah  Rom,  sah  Properz  die  Bautätigkeit  an 
dem  großen  Theater,  das  erst  etliche  Jahre  nach  der  Veröffentlichung 
auch  seines  letzten  Liederbuches  als  Theater  des  Marcellus  geweiht 
wurde  (13  oder  11,  s.  Gilbert  Geschichte  und  Topographie  der  Stadt 
Rom  im  Altertum  III  327 ff.):  es  wird  immer  unter  den  hauptsächlichsten 
Bauten  des  Augustus  genannt  (Mon.  Anc.  IV  23.  Suet.  Aug.  29),  und 
Properz  konnte  recht  wohl  auf  den  großen  augusteischen  Haupttheater- 
bau hindeuten  wollen,  wenn  er  die  Einrichtung  des  höchsten  Theater- 
luxus, den  er  vielleicht  auch  an  diesem  Bau  vorbereiten  sah,  im 
Gegensatz  zur  Einfachheit  der  Urväterzeiten  erwähnte,  die  hier  nicht 
einmal  einen  Anfang  darbot,  der  dem  Gegensatze  hätte  dienen  können. 
Der  Dichter  verläßt  die  Schilderung  der  Bauten;  schon  die  Erwähnung 
der  neuen  Kurie  führt  ihn  ab  zur  Schilderung  ältester  Bräuche;  er 
196  widmet  ein  paar  Worte  dem  modernen  Theaterluxus,  er  findet  den 
Übergang  zu  etwas  anderm,  den  religiösen  Festen  von  einst 
und  jetzt. 

Der  Perieget  hat  einleitend  dem  Fremdling  die  Hauptbauten  des 
augusteischen  Rom  gezeigt,  die  durch  den  dunkeln  Hintergrund  der 
ältesten  Zeiten  in  feinster  Kunstwirkung  zu  hellstem  Glänze  heraus- 
gehoben werden:  die  Haupttempel  des  Palatins  und  Kapitols  (Apollo- 
tempel und  Juppitertempel),  insbesondere  noch  den  Tempel  des  luppiter 
tonans,  die  domus  Augustana  und  die  neue  Curia  lulia,  und  wenn  ich 
es  nach  der  Hindeutung  am  Schlüsse  hinzufügen  darf,  das  theatrum 
Marcelli.  Alle  sind  bis  auf  das  letztere,  das  während  der  Abfassung 
des  Gedichtes  im  Bau  war,  zwischen  30  und  22  vollendet  worden.  Sie 
alle  stehen  im  Monumentum  Ancyranum  als  Hauptbauten  verzeichnet  — 
begreiflicherweise  ohne  die  domus  Augustana,  mit  dieser,  hier  domus 
Palatina  genannt,  z.  B.  in  d^r  Aufzählung  der  wesentlichsten  Bauten 
bei  Sueton  c.  29,  wo  wiederum  nur  die  Erwähnung  des  Neubaues  der 
Kurie  fehlt. 

2 

Über  den  folgenden  Abschnitt  sind  hier  nur  wenige  Worte  nötig. 
Ich  wiederhole  nicht,  was  zur  nächsten  Erklärung  längst  genügend  be- 


Die  Widmung-selegfie  des  letzten  Buches  des  Propertius  169 

reitgestellt  ist.  Das  dürfen  wir  ohne  weiteres  für  diese  nächsten  Verse, 
in  denen  von  kultischen  Begehungen  und  religiösen  Festen  die  Rede 
ist,  erwarten,  daß  irgendeine  Beziehung  zu  den  augusteischen  Be- 
strebungen in  dieser  Richtung  vorhanden  sei.  Auf  die  so  naheliegende 
Reorganisation  des  Kultes  der  Lares  compitales  hat  Rothstein  wenigstens 
noch  im  Anhang  hingewiesen^  und  dazu  auch  die  Suetonstelle  angeführt 
c.  31  non  nulla  etiam  ex  antiquis  caerimoniis  paulatim  abolita  restituit, 
ut  .  .  .  .  ludos  saeculares  et  compitalicios.  Das  unmittelbar  vor  ludos 
saeculares  stehende  sacrum  Lupereale  führt  er  nicht  mit  an.  Und  doch 
liegt  es,  meine  ich,  nahe  genug,  daß  so  wie  die  Verse  23 f.: 

parua  saginati  lustrabant  compita  porci,  197 

pastor  et  ad  calamos  exta  litabat  ouis 

die  Kleinheit  der  alten  Opfer  und  die  Einfachheit  des  alten  Festes 
hervorhebt^  im  Gegensatze  zu  irgendwelchen  größeren  und  reicheren 
neuen  Begehungen,  die  nicht  weiter  geschildert  werden,  ebenso 
V.  25  f. 

uerbera  pellitus  saetosa  mouebat  arator, 

unde  licens  Fabius  sacra  Lupercus  habet 

die  alte  bäuerliche  Luperkalienfeier  meinen  in  einem  entsprechenden 
nicht  ausgeführten  Gegensatze,  hier  mit  dem  besonderen  Hinweis  auf 
Sacra,  die  gegenwärtig  (noch  oder  wieder)  geübt  werden  (habet).  War 
die  Prozession  der  Luperci  während  der  Bürgerkriege  in  Vergessenheit 
geraten,  im  Jahre  44  trat  zu  Ehren  Cäsars  zu  den  Kollegien  der  luperci 
Fabiani  und  Quintiliani  das  der  luperci  lulii  hinzu,  denen  aber  die  von 
Cäsar  angewiesene  Dotation  nach  dessen  Tode  schon  wieder  genommen 
war'  —  Grund  genug  eines  ganz  besonderen  Interesses  des  Augustus 
für  diese  Kulteinrichtungen.  Aus  Sueton  haben  wir  noch  weitere  Vor- 
schriften einer  Neuorganisation,  und  auch  das  Monumentum  Ancyranum 
(IV  2)  erwähnt  die  Herstellung  des  alten  Kultheiligtums,  des  Lupercal 
(vgl.  die  Erwähnung  des  Larentempels  in  summa  sacra  uia  ebenda 
IV  7).    Lesen  wir  nun  gerade  in  demselben  Suetonkapitel  ausdrücklich 


^  Er  will  im  Kommentar  zu  V.  18,  daß  der  Dichter  an  die  Compitalia  denke: 
dieser  Vers  gerade  bezieht  sich  nur  auf  vergangene  Bräuche  und  erregt  mit 
keinem  Worte  einen  Gedanken  an  die  Feiern  der  Gegenwart,  ja  ein  solcher 
Gedanke  müßte  diesem  Verse  seinen  zu  dem  vorhergehenden  wohl  pointierten 
Sinn  nehmen.  Ebenso  wird  auch  V.  10  der  Sühnbrauch  des  Parilienfestes  als 
ganz  vergangen  behandelt. 

-  Die  ludi  compitalicii  waren  zudem  seit  Cäsar  in  besonderen  Verfall  ge- 
raten (Ascon.  p.  6  K.-Sch.  qui  ludi  sublatis  collegiis  discussi  sunt). 

=»  Marquardt-Wissowa  Rom.  Staatsverwaltung  HP  441;  446. 


170  ^^®  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

noch  erwähnt  eine  Hebung  des  Vestakultes\  so  verstehen  wir  besser, 
warum  in  den  beiden,  jenen  vier  angeführten  unmittelbar  vorhergehen- 
den Properzversen  die  frühere  Einfachheit  und  Dürftigkeit  gerade  des 
Vestafestes  hervorgehoben  wird: 

Vesta  coronatis  pauper  gaudebat  asellis^ 

ducebant  macrae  uilia  sacra  boues. 
198  Natürlich  kann  hier  so  wenig  etwa  schon  an  die  Aufnahme  des  Vesta- 
kults  ins  Palatium  gedacht  sein  wie  bei  den  folgenden  Versen  auf  be- 
stimmte Organisationen  des  Laren-  und  Lupercikults  hingewiesen  zu 
sein  braucht  (die  z.  T.  erst  nach  der  Abfassung  dieses  Gedichtes  fallen 
mögen),  aber  gewiß  sind  gerade  diese  Kulte  und  Feste  nicht  ohne 
Seitenblick  auf  die  wohlwollende  Förderung  und  Hebung  zu  neuem 
und  höherem  Glänze  durch  Augustus  genannt,  wird  gerade  ihre  einst 
so  einfache  Feier  betont.  An  erster  Stelle  in  dieser  ganzen  Reihe 
wird  das  jährliche  alteinheimische  Sühnfest  der  Parilien  mit  einem  ver- 
gleichenden Hinweis  auf  das  auch  jetzt  übliche  lustra  novare  durch 
das  Opfer  des  Oktoberrosses  —  auch  hier  wird,  ohne  daß  es  mit  aus- 
drücklichem Zeugnis  zu  belegen  wäre,  Augustus  den  alten  Brauch,  der 
mit  dem  Vestadienste  zusammenhing,  wohlwollend  gefördert  haben  - 
entgegengesetzt  dem  externos  quaerere  divos,  an  das  einst  niemand 
dachte,  als  man  -  und  der  folgende  Vers  (18)  soll  nur  einen  besonders 
einfach  bäuerlichen  altvaterischen  Festbrauch  nennen  —  mit  Oscillen 
feierte: 

nulli  cura  fuit  externos  quaerere  divos, 

cum  tremeret  patrio  pendula  turba  sacro. 
Der  erste  Vers  bildet  den  bedeutsamen,  hier  für  die  Schilderung 
der  alten  Bräuche  negativ  gefaßten  Gegensatz  zu  all  den  folgenden 
andeutenden  Schilderungen,  die  wiederum  nur  durch  die  betonten  Bei- 
worte der  Dürftigkeit  und  Ärmlichkeit  den  Gedanken  an  glänzendere 
Gegenbilder  erregen.     Wenn  man  gewiß  mit  Recht  unter  den  externi 


*  Sacerdotum  et  numerum  et  dignitatem  sed  et  commoda  auxit,  praecipue 
Vestalium  uirginum.  Cumque  in  demortuae  locum  aliam  capi  oporteret,  am- 
birentque  multi  ne  filias  in  sortem  darent,  adiurauit,  si  cuiusquam  neptium  sua- 
rum  competeret  aetas,  oblaturum  se  fuisse  eam.  Dann  folgen  neben  der  bloßen 
Erwähnung  des  Salutis  augurium  und  des  Diale  flaminium  nur  die  Angaben 
über  die  Luperkalien,  Säkularspiele  und  Kompitalien. 

^  Ein  Kommentar  sollte  nicht  versäumen  auf  die  Illustration  dieser  Bräuche 
durch  pompejanische  Bilder  hinzuweisen,  z.  B.  Museo  Borb.  VI  51,  O.  Jahn  Arch. 
Zeitung  1854  S.  192.    In  vielen  solcher  Fälle  würde  auch  dem  Kommentar  eine  • 
beigegebene  Abbildung  in  der  heute  so  bequemen  und  wohlfeilen  Zinkographie 
die  willkommensten  Dienste  tun. 


Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius  171 

diui  nicht  'die  in  der  Zeit  des  Dichters  eindringenden  orientalischen 
Götter'  versteht,  'sondern  die  griechischen  Götter  mit  ihren  kostbaren 
Tempeln  und  anspruchsvollen  Kultusgebräuchen',  so  kann  es  gar  nicht 
anders  sein,  als  daß  der  Dichter  und  daß  jeder  Römer  damals  an  die 
große  Säkularfeier  des  Jahres  17  dachte.  Ohne  Zweifel  ist  dies  Gedicht 
zwischen  17  und  15  verfaßt,  zu  Ende  gedichtet,  so  wie  es  vorliegt, 
und  redigiert  höchst  wahrscheinlich,  nachdem  auch  das  letzte  Gedicht 
des  Buches  im  Jahre  16  gedichtet  war.  Das  große  Fest  des  Jahres  17 
war  aber  nicht  nur  die  Entfaltung  höchster  ritueller  Pracht  der  neuen 
Ära,  es  galt  recht  eigentlich  dem  göttlichen  Schirmherrn  des  neuen 
Reiches,  der  neuen  Residenz,  dem  Apollon.  Zu  Anfang  der  dreitägigen  199 
Weihung  galten  die  Opfer  den  alten  Staatsgöttern  Juppiter  und  Juno, 
am  dritten  den  neuen  Göttern  auf  dem  Palatin,  und  ihr  Festritual  hatte 
die  Sibylle  gegeben,  die  eigentliche  Repräsentantin  des  griechischen 
Kultes,  der  externi  divi,  wie  sie  hier  Properz  meint.  Ihr  Gott  ist  ja 
Apollo,  der  Gott  des  strahlendsten  Tempels  wie  des  glänzendsten 
Festes,  von  dem  der  Dichter  ausging,  als  er  begann  die  maxima  Roma 
seiner  Zeit  zu  preisen  und  zu  vergleichen  mit  der  Einfachheit  des 
Vergangenen.^ 

3 

Die  folgende  Versgruppe  gibt  Veranlassung,  auf  eine  wichtige  Einzel- 
frage der  Überlieferung  einzugehen.  Denn  der  allgemeine  Sinn  der 
Verse  ist  klar.  Die  Einfachheit  der  Kriegführung  alter  Zeit,  die  ersten 
praetoria,  die  Lucmo  im  Filzhut  errichtete,  die  Regierung  des  Tatius 
unter  seinen  Herden  -  immerhin  ist  das  glänzende  Palatium  und  der 
Glanz  der  augusteischen  Regierung  der  unausgesprochene  Gegensatz  - 
ftihren  zu  kurzem  Überblick  über  die  Entwicklung  Roms  zu  Anfang 
seiner  Kriegsgeschichte.  Aus  diesen  Anfängen  gingen  die  ersten 
Triumphe  hervor:  gerade  von  Romulus  heißt  es,  daß  er  zuerst  triumphiert, 
und  so  wird  er  neben  Lucmo  und  Titus  Tatius  ganz  besonders  hervor- 
gehoben. Nach  bekannten  Überlieferungen  werden  zu  den  drei  Arche- 
geten  der  römischen  Geschichte  die  drei  Urtheile  des  römischen  Volkes 
parallel  gestellt;  zu  Romulus,  Titus  Tatius,  Lucmo:  Ramnes,  Tities, 
Luceres.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  Properz  bei  den  ersten 
praetoria,  die  der  etruskische  Priesterfürst  errichtet,  an  die  Etrusco  ritu 

*  Es  sind  vorwiegend  Sühnfeste  {quaerunhir  divi  zur  Sühne),  die  der 
Dichter  im  einzelnen  anführt  -  mehrmals  will  er  sie  als  solche  bezeichnen 
lustra  nouantur  20,  lustrabant  23  -,  das  glanzvolle  Sühnfest  des  Jahres  17 
schwebt  dem  Dichter  vor  Augen  und  Sinnen,  als  er  den  Vers  von  den  externi 
diui  den  folgenden  voranstellt. 


172  D^®  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

(Varro  1.  1.  V  143)  vollzogene  erste  Stadtgründung,  die  Roma  quadrata 
auf  dem  Palatin,  denkt,  und  daß  hinc  noch  in  erster  Linie  direkt  lokale 
Bedeutung  hat.  Auf  dem  Palatin  steht  ja  der  Perieget,  von  da  ist  die 
ganze  römische  Geschichte  ausgegangen,  von  da  ist  auch  Romulus 
ausgezogen  zum  Triumph  aufs  Kapitol.  Eine  Anzahl  in  kurzgefügten 
Sätzen  angeführter  Ortsnamen  aus  der  ältesten  römischen  Kriegsgeschichte 
machen  die  Kleinheit  und  Geringfügigkeit  der  Verhältnisse  und  Kämpfe 
alter  Zeit  besonders  deutlich. 
200  Quippe  suburbanae  paruae  minus  urbe  Bouillae* 

Et  qui  nunc  nulli,  maxima  turba  Gabi 
Et  stetit  Alba  potens,  albae  suis  omine  nata, 
Hac  ubi  Fidenas  longe  erat  isse  uia.^ 
Wie  all  diesen  Versen  der  Gedanke  des  Gegensatzes  gegen  die  Welt- 
stadt von  heute  die  Pointe  gibt^  zeigen  recht  deutlich  die  Schlußsätze 
dieser  Reihe: 

Nil  patrium  nisi  nomen  habet  Romanus  alumnus, 
Sanguinis  altricem  non  pudet  esse  lupam.^ 
Von  den  Väterzeiten  ist  nichts  mehr  übrig  als  der  Name  des  Römers. 
Er  braucht  sich  nicht  zu  schämen,  daß  eine  Wölfin  (die  Wölfin  des 
Mars)  es  war,  die  sein  Leben  genährt  hat.  Durch  Kriege  hat  sich 
seit  damals  die  Stadt  bis  zur  völligen  Unähnüchkeit  und  Unvergleichbar- 
keit (zwischen  Rom  und  Rom  -  nur  der  Name  blieb)  verändert. 


^  Der  Ablativ  parua  minus  urbe  würde  es  unmöglich  machen,  daß  V.  33 
und  34  nebeneinander  stünden.  Der  alte  Vorschlag  paruae  gibt  erst  die  not- 
wendige Parallelität  des  Ausdruckes  und  des  Sinnes  (s.  auch  Birt  Berl.  ph. 
Wochenschrift  1898  Nr.  42,  S.  1287).  -  Überliefert  ist  uiole  (uiolae).  Die  Kon- 
jektur der  Itali  Bouillae  muß  richtig  sein.  Apiolae,  das  in  Betracht  kommen 
könnte,  kann  kein  langes  o  haben. 

*  So  schreibt  und  erklärt  auch  schon  Krahner  Philologus  a.  a.  O.  S.  72. 
Es  werden  die  beiden  Endpunkte  des  römischen  Eroberungsgebietes  genannt, 
und  gewiß  schwebt  nicht  nur  vor,  daß  Tidenae  eine  Kolonie  von  Alba  und  mit 
ihm  in  Verkehr  (Verg.  Aen.  VI  773  Liv.  I  27)'  (Krahner)  war,  sondern  auch  die 
Geschichte  von  dem  Kriege  mit  Fidenae,  da  den  Albanern,  die  jenen  Weg  in 
verräterischer  Absicht  zurücklegten,  das  Zögern  den  Untergang  brachte.  Viel- 
leicht daß  gar  noch  eine  Anspielung  auf  Alba  longa  im  Spiele  ist;  alba  ist  ja 
durch  die  alba  sus  im  vorhergehenden  Verse  erklärt. 

^  Man  würde  wohl  zu  viel  tun,  wenn  man  darauf  hinwiese,  daß  Augustus 
die  Caerimonien  des  Bundes  mit  den  alten  latinischen  Städten  geflissentlich 
erneuerte,  wie  z.  B.  Antistius  den  Auftrag  erhielt,  den  alten  Vertrag  mit  Gabii 
wieder  herzustellen  (s.  Gardthausen  Augustus  I  2,  879).  Den  Dichter  interessieren 
diese  Altertümer  römischer  Geschichte  nur  des  Gegensatzes  halber.  Eher 
dürfte  man  sagen,  daß  er  gerade  Bouillae  zuerst  nennen  mag,  weil  es  der 
Stammsitz  der  Julier  ist.  Ich  erinnere  an  die  Weihinschrift  des  Altars  aus 
augusteischer  Zeit,  'der  nach  albanischem  Ritus'  geweiht  war. 

"  Alumnus  und  altricem  sind  natürlich  in  Beziehung  aufeinander  gesetzt. 


Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius  173 

Ich  wende  mich  zurück  zu  V.  31,  der  (abgesehen  von  gelegentlichem 
Schwanken  über  Titiens,   das  überliefert  ist,  oder  Tities  mit  der  not- 201 
wendigen  Pluralform)  nie  in  einer  Ausgabe  anders  als  so  geschrieben  ist: 
Hinc  Tities  Ramnesque  uiri  Luceresque  coloni. 

Die  Lesart  des  Neapolitanus  (und  mit  ihm  nach  Hosius'  Angaben 
Rhein.  Mus.  XLVI  581  einer  ganzen  Anzahl  italienischer  Codices)  soloni 
hat,  scheint  es,  niemanden  auch  nur  zu  der  Erwägung  veranlaßt,  ob 
sie  möglich  sei.  Seltsam,  daß  die  oft,  auch  vom  neuesten  Properz- 
erklärer  zitierte  Stelle  des  Dionysios  von  Halikarnaß  II  37,  2  nKe  hk.  auTuj 
Tupprivüuv  ^TTiKOupiav  iKavfiv  ctTiuv  ek  CoXujviou  TröXeujc  (gewöhnlich  ist 
OuoXciviou  TT.  dafür  geändert)  dvfip  bpacxripioc  Kai  xct  iroXeiuia  öiacpavf]c 
AuKÖjLiujv  övo|Lia  niemanden  hat  bemerken  lassen,  ein  wie  merkwürdiges 
Zusammentreffen  es  ist,  daß  bei  Dionysios  Auköjuuuv  kommt  eK  CoXiuviou 
TTÖXeujc,  nach  N  bei  Properz  die  Leute  des  Lucmo,  denn  das  sind  hier 
die  Luceres,  Soloni  heißen.  Kennen  wir  sonst  diesen  Namen?  Fünf 
Stellen  stehen  uns  zur  Verfügung.  Die  präziseste  lokale  Auskunft  gibt 
Cicero  de  divin.  I  c.  36.  Es  ist  von  einem  Begebnis  mit  dem  jungen 
Roscius  die  Rede,  das  sich  zutrug  in  Solonio,  qui  est  campus  agri 
Lanuuini.  Der  gleiche  Ort  wird  bei  einer  zweiten  Erwähnung  derselben 
Sache  noch  einmal  genannt  in  derselben  Schrift  II  c.  31,  wo  eine  Be- 
merkung hinzugefügt  ist,  die  für  den  Zustand  der  Gegend  in  ciceroni- 
scher  Zeit  charakteristisch  sein  kann,  sed  ut  in  cunis  fuerit  anguis,  non 
tarn  est  mirum,  in  Solonio  praesertim,  ubi  ad  focum  angues  nundinari 
solent.  Bei  Cicero  findet  sich  noch  eine  Stelle,  in  dem  dritten  Stücke 
des  zweiten  Buches  der  Atticusbriefe;  es  ist  dort  davon  die  Rede,  daß 
man  politischen  Verwicklungen  ausweiche  und  sich  ruhig  halte  quies- 
cendum,  quod  est  non  dissimile  atque  ire  in  Solonium  aut  Antium: 
offenbar  beide  Villen  ziemlich  einsam  und  ziemlich  nahe  bei  Rom  ge- 
legen, schwerlich  sehr  weit  voneinander.  Und  so  heißt  es  denn  auch 
bei  Livius  VIII  12  Antiates  in  agrum  Ostiensem  Ardeatinum  Solonium 
incursiones  fecerunt.  Die  Lage  des  ager  Solonius  ist  für  uns  deutlich 
umschrieben,  wenn  wir  zu  den  angeführten  noch  die  Festusstelle  fügen 
p.  250  Pomonal  est  in  agro  Solonio,  via  Ostiensi  ad  duodecimum  lapi- 
dem  deuerticulo  a  miliario  octavo  und  endlich  die  Plutarchstelle  Marius 
c.  35,  wo  es  von  Marius,  der  Rom  verlassen  hat,  heißt  eic  xi  tujv 
dTrauXiiuv  aiiioO  CoXiuviov  KaTe9UTe.  Von  da  erreicht  er  nämlich  dann 
in  Ostia  ein  Schiff.^ 


^  Von  Acca  Larentia  erzählt  Gate  bei  Macrobius  I  13,  16,  sie  habe  dem  römi- 
schen Volke  hinterlassen  agros  Turacem  Semurium  Lintirium  et  Solinium.    Hier 


174  Die  Widmungseleg-ie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

202  Aus  diesem  ager  Solonius  wären  also  nach  der  Erzählung,  die  Diony- 
sios  gibt,  Lucumo  und  die  Etrusker  dem  Romulus  zu  Hilfe  gekommen, 
als  er  mit  Titus  Tatius  kämpfte.  Wir  stellen  am  besten  neben  diese 
eine  Nachricht,  die  bei  Festus  Pauli  uns  geblieben  ist  p.  119  Lucereses 
et  Luceres  quae  pars  tertia  populi  Romani  est  distributa  a  Tatio  et  Romulo 
appellati  sunt  a  Lucero  Ardeae  rege  qui  auxilio  fuit  Romulo  adversus 
Tatium  bellanti.  Bald  von  einem  Lucumo,  bald  von  einem  Lucerus 
werden  in  den  verschiedenen  Überlieferungen  die  Luceres  abgeleitet/ 
Wir  wundern  uns  weniger,  daß  eine  Version  der  Sage  die  etruskischen 
Luceres  von  Ardea  kommen  läßt,  wenn  wir  uns  erinnern,  daß  auch 
jene  Sage,  die  den  Turnus  zum  Rutulerfürsten  machte,  Ardea  als  etrus- 
kische  Stadt  gedacht  hat;  uttö  PoutovjXujv  tOuv  Tupprivojv  hat  Appian 
gesagt  (Phot.  cod.  57  p.  166,  18).  Turnus  selbst  ist  etruskischer  Lucumo, 
Vasall  des  Mezentius :  es  ist  ja  der  'Etrusker'  (Tursnus,  Tupprivöc  bei  Dion.Hal.). 

Ich  brauche  hier  nicht  zu  erörtern,  was  wir  von  einer  etruskischen 
Herrschaft  in  jenen  Gegenden  südlich  von  Rom  wissen  können,  und 
welche  versprengten  Zeugnisse  und  Denkmale  uns  auch  hier  die  beispiel- 
loseste Vernichtung  wahrer  Traditionen  durch  römisch -patriotische 
Tendenzgeschichte  erkennen  lassen^  —  der  Name  Tusculum  hat  ja 
immer  an  dergleichen  gemahnt  -;  genug,  daß  es  eine  Version  der 
Überlieferung  gab,  nach  der  die  etruskischen  Luceres  aus  dem  Gebiet 
von  Ardea  und  der  nahen  solonischen  Flur,  wie  sie  noch  zu  Ciceros 
Zeit,  wenn  auch  verödet,  benannt  wurde,  gekommen  waren,  daß  dieser 
Überlieferung  Properz  folgen  konnte.  Und  daß  er  ihr  gefolgt  ist  und 
die  Luceres  nicht  nach  der  platt  verständlich  gemachten,  gewöhnlichen 
Überlieferung  coloni,  sondern  Soloni  genannt  hat,  mag  uns  nach  den 
angestellten  Erwägungen  nun  doch  wohl  die  Lesung  der  besten  Hand- 
schrift, des  Neapolitanus,  beglaubigen. 

4 

203  Der  Dichter  wendet  sich  von  der  ältesten  Entwicklung  Roms  mit 
ganz  besonderem  Nachdruck  zu  Roms  troischem  Ursprung.    Es  braucht 


können  wir  über  den  Namen  und  seine  Überlieferung  nicht  urteilen,  s.  Gilbert 
Gesch.  und  Topogr.  der  Stadt  Rom  II  111,  vgl.  167 f.;  Wissowa  in  seiner  Real- 
Encycl.  u.  Acca. 

*  Cic.  de  re  publ.  II  14  (Romulus)  populum  et  suo  et  Tatii  nomine  et  Lucu- 
monis,  qui  Romuli  socius  in  Sabino  proelio  occiderat,  in  tribus  discripserat. 
Seruius  zu  Verg.  Aen.  V  560  Varro  tamen  dicit  Romulum  dimicantem  contra 
Titum  Tatium  a  Lucumonibus,  hoc  est  Tuscis,  auxilia  postulasse  etc. 

*  Nachträglich  werde  ich  auf  die  Abhandlung  von  Pascal  Rendiconti  della 
R.  Acad.  d.  Lincei  ser.  V  vol.  V  149 f.  aufmerksam  gemacht,  der  das  etruskische 
Solonium  für  das  lateinische  Lanuuium  hält. 


Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius  175 


ja  nicht  mehr  ausgeführt  zu  werden,  wie  er  damit  die  augusteische 
National-  und  Hauslegende  kräftig  heraushebt  und  äußerst  kunstreich 
an  ein  paar  Hauptszenen  des  Untergangs  des  ahen  Troia  den  besonderen 
Ruhm  des  neuen  Troia  anzuknüpfen  weiß:  er  nennt  den  Cäsar  selbst 
und  seine  Göttin  Venus.  Mit  wohlberechneter  Emphase  ruft  er  gerade 
den  lulus  an :  felix  terra  tuos  cepit,  lule,  deos.  Er  weiß  das  alte  Mittel, 
Ältestes  und  Jüngstes  zu  verbinden,  auf  das  eindrucksvollste  zu  ver- 
wenden: die  Propheten  und  die  Weissagungen  zu  zitieren.  Er  zitiert 
die  Weissagung  der  alten  Sibylle  von  Cumae  und  weckt  damit  in 
jedermann  die  Erinnerung  an  die  Sibylle  der  vergilischen  Aeneis,  die 
eben  aller  Gemüter  erregte;  er  zitiert  die  troianische  Sibylle,  die  Kas- 
sandra,  und  wie  man  aus  dem  Beisatz  Longaeuum  ad  Priami  caput  zu 
den  Worten  Pergameae  vatis  carmina,  obwohl  die  hier  angeführten 
Worte  sich  durchaus  nicht  an  Priamus  richten,  recht  wohl  schließen 
darf,  das  Gedicht  des  Lykophron.^  Sehr  begreiflich  ist  es,  daß  gerade 
dies  alexandrinische  Gedicht,  das  in  längerer  Ausführung  auf  Roms 
Größe  in  der  Form  der  Weissagung  hinweist  V.  1225  ff.,  wie  nach- 
weislich manchem  in  Rom,  so  gerade  dem  Properz  bekannt  und  lieb 
war.  Um  hier  der  Kassandra  eine  kurz  pointierte  Prophezeiung  in  den 
Mund  zu  legen,  hat  er  es  schwerlich  nachgeschlagen:  er  gibt  nur  sehr 
im  allgemeinen  den  Sinn  jenes  Teiles  ihrer  Rede  bei  Lykophron  wieder. 
Er  faßt  ihn  in  eine  Warnung  an  die  Danaer  zusammen 

uertite  ecum,  Danai!  male  uincitis:  Ilia  tellus 
uiuet  et  huic  cineri  luppiter  arma  dabit. 

Rothstein  erklärt,  jenes  uertite  ecum  könne  nur  in  ^bildlicher  Bedeutung' 
gemeint  sein,  an  einen  'Reiterangriff'  denke  Properz  nicht.  Birt  (a.a.O.) 
weist  demgegenüber  auf  die  Schlachtwagen  und  die  Rosselenker  der 
Danai  hin,  und  so,  scheint  es,  haben  es  bisher  die  meisten  Interpreten, 
die  sich  nicht  darüber  auszusprechen  pflegen,  verstanden.  Sie  werden 
alle  gefühlt  haben,  daß  uertite  ecum  das  nicht  heißen  kann;  es  müßte 
mindestens  uertite  equos  stehen.^  Ich  übersetze  genau  und  kann  nur 
das  Pferd  verstehen,  das  oben  V.  42  schon  erwähnt  war  (abiegni  uenter  204 
apertus  equi). 

Nicht  nur  auf  pompejanischen  Wandbildern  ist  Kassandra  dargestellt 
als  warnende   Prophetin   bei   der  Szene   der  Einholung  des  hölzernen 


*  S.  Rothstein  zu  der  Stelle. 

'  Der  Sieg  der  Danaer  ist  doch  auch  nicht  im  Angriff  der  Schlacht  erfolgt, 
und  von  dem  Sieg  ist  die  Rede  (male  uincitis).  Ilion  wird  wieder  leben,  und 
die  Asche  wird  wiedererstehen:  auf  das  brennende  Troia  wird  hingewiesen. 


176  ^^®  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

Pferdes  nach  Troia^  auch  -  was  hier  wichtiger  ist  -  auf  der  tabula 
Iliaca  ist  dargestellt  (auf  dem  untersten  Streifen),  wie  die  erregt  warnende 
Kassandra  aus  dem  Tore  stürzt,  als  das  Roß  hineingezogen  werden 
soll.^  In  dieser  Illustration'  liegt  uns  die  Vulgatüberlieferung  auch 
gerade  für  die  römischen  Dichter  jener  Zeit  vor.^  Auch  Vergil  (II  245  f.) 
führt  kurz  an,  gerade  als  er  die  Einholung  des  Pferdes  erzählt: 

-  et  monstrum  infelix  sacrata  sistimus  arce. 

Tunc  etiam  fatis  aperit  Cassandra  futuris 

ora  -. 
Die  Darstellung  einer  Gemme,  die  Winckelmann  einst  publiziert  hat\ 
welche  das  Aussteigen  der  Griechen  aus  dem  Pferde  und  oben  auf 
den  Zinnen  der  Burg  ein  entsetzt  zu  ihnen  herabsehendes  Weib  zeigt, 
das  man  doch  wohl  mit  Recht  als  Kassandra  erklärt,  wage  ich  nicht 
zur  Erklärung  dessen  heranzuziehen,  daß  bei  Properz  die  Prophetin 
gerade  die  Danai  anredet.  Properz  wollte  die  Worte  als  Warnung  an 
die  Feinde  der  Troianer  fassen:  wendet  das  Pferd  wieder  um!  Euer 
Sieg  ist  unheilvoll,  Troias  Asche  wird  Juppiter  -  der  Herr  der  Burg 
des  neuen  Troia  -  bewaffnet  wieder  auferstehen  lassen. 

5 
Von  den  Weissagungen  der  Vorzeit  springt  der  Poet  plötzlich  über 
zu   enthusiastisch  preisendem  Anruf  der  Wölfin  des  Mars,   der  Nähr- 
mutter römischer  Größe: 

optima  nutricum  nostris  lupa  Martia  rebus, 

qualia  creuerunt  moenia  lacte  tuo! 
205  Wohl   ist   deutlich  angeknüpft  an   den  Satz,  mit   dem  sechzehn  Verse 
vorher   der  Dichter  schloß,   ehe   er  zu  den  troischen  Prophezeiungen 
überging  (V.  38): 

sanguinis  altricem  non  pudet  esse  lupam. 
Aber  doch  wird  der  plötzliche  Anruf,  meine  ich,  erst  verständlich,  wenn 
man  sich  vorstellt,  daß  Properz,  den  jeder  Hörer  sich  auf  dem  Palatin 
stehend  oder  wandelnd  vorstellt  (s.  o.),  die  Wölfin  anruft,  die  dort  in 
der  Nähe  des  Lupercal,  der  casa  Romuli  steht,  all  der  Dinge,  in  deren 
Umgebung  er  sich  offenbar  befindlich  denkt.  Dort,  wo  die  Sage  von 
der  Wölfin   und   den  Zwillingen  ihren  Schauplatz  hatte,   bei  der  ficus 


'  Pulcinella  225ff.         -  O.  Jahn -Michaelis,  Bilderchroniken  T.  1. 
^  Auch  stimmen  hiermit  Hygin  p.  98,  5  Seh.,  vgl.  Apollodor  Epitome  Vatic. 
XXI  15  W.  und  dazu  Wagner  S.  233;  Qu.  Smyrnaeus  XII  529ff. 
*  Monum.  ined.  140.    Auch  bei  Baumeister  I  S.  742. 


Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius  177 

Ruminalis,  die  jedenfalls,  wo  sie  in  diesem  Zusammenhang  genannt 
wird,  ebendort  auf  dem  Palatin  stehend  gedacht  ist,  dort  hatten  295  v.Chr. 
Cn.  und  Qu.  Ogulnius  die  Bilder  der  Zwillinge  unter  den  Eutern  der 
Wölfin  aus  Strafgeldern  aufgestellt:  ad  ficum  Ruminalem  simulacra  in- 
fantium  conditorum  urbis  sub  uberibus  lupae  posuerunt  (Liv.  X  23).^ 
Sie  stand  in  der  Nähe  des  Weges,  der  nach  dem  Zirkus  hinunterführte, 
wie  die  casa  Romuli  nach  Dionys.  I  79  im  xfic  irpöc  töv  iTüTröbpojaov 
CTpecpoucnc  XttTÖvoc,  wo  die  scalae  Caci  sich  befanden:  irepl  xfiv  eic 
TÖV  iTTTröbpojLiov  TOV  jucTav  Ik  TTaXaxiou  KaTotßaciv  nach  Plutarch  Rom.  20. 
Es  hat  für  das  Verständnis  der  Properzverse  keine  Bedeutung,  welcher 
Art  Kunstwerk  dort  beim  Lupercal  am  Abstieg  zum  Circus  maximus 
gestanden  und  ob  es  so  zweifellos  ist,  wie  heute  gelehrt  wird,  daß  es  mit 
der  Wölfin  im  Konservatorenpalast  unmöglich  identisch  sein  könne. 
Jedenfalls  stand  dort  ein  ehernes  Bild  der  Wölfin,  das  Properz  anreden 
oder  sich  anredend  denken  konnte.  Warum  ich  es  für  sehr  wahrscheinlich 
halte,  daß  er  eben  die  Wölfin  anredet,  die  wir  noch  heute  auf  dem 
Kapitol  bewundern,  will  ich  mit  nur  wenigen  Worten  andeutend  be- 
gründen. 

Wir  haben  Nachricht  von  zwei  Bildwerken,  die  die  Wölfin  dar- 
stellten: das  eine,  von  dem  Livius  berichtet,  ist  eben  jenes  bei  dem 
Lupercal  auf  dem  Palatin,  das  andre  ist  eines,  das  auf  dem  Kapitol 
stand  und,  wie  mehrfach  bezeugt  ist,  im  Jahre  65  v.  Chr.  vom  Blitz 
getroffen  und  vom  Piedestal  geworfen  wurde.^  Hier  hatte,  wie  ebenfalls 
mehrfach  ausdrücklich  bezeugt  ist,  die  Wölfin  die  säugenden  Kinder  unter 
sich.  Man  hat  neuerdings  die  bestechende  Vermutung  geäußert,  daß206 
dies  das  uns  erhaltene  Denkmal  gewesen  sei.^  Dafür  würde  es  sprechen, 
wenn  wirklich  die  Verletzungen,  die  die  kapitolinische  Wölfin  erlitten 
hat,  wahrscheinlicherweise  vom  Blitzfeuer  herrührten,  und  wenn  der 
Stand  der  Füße  'das  ehemalige  Vorhandensein  der  Kinder'  verriete 
(die  heute  unter  dem  Tiere  sitzenden  Kinder  sind  ja  bekanntlich  modern). 
Jener  Punkt  wird  genügend  erklärt  dadurch,  daß  der  Restaurator  der 
übel  zugerichteten  Statue  die  zerstörten  Stellen  'stark  angeglüht  und 
mit  der  Feile  geglättet  hat,  die  Fugen  vermöge  des  Lötrohrs  zusammen- 
geschweißt sind'  (Heibig  Führer  P  S.  430);  den  zweiten  Punkt  leugne 
ich.  Die  Gestalt  ist  modelliert  ohne  die  geringste  Rücksicht  auf  säugende 
Kinder;    diese  wären  zweifellos  mit  dem  Körper  des  Tieres  irgendwie 


'  Dazu  Verg.  Aen.  Vlll  90  und  Servius  zu  der  Stelle,  Liv.  1  4,  Ovid  fast.  II 
412,  vgl.  Gilbert  I  53ff. 

-  Cicero  in  Cat.UI  8,  de  diu.  1 19,  II  40.  Dio  Cass.  XXXVII 8.  lul.  Obsequens  II 61. 
''  E.  Petersen  Rom.  Mitt.  IX  (1894)  p.  291  Anm.  2,  'Vom  alten  Rom'  17f. 
Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  12 


178  ^^®  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

verbunden  gewesen  und  gerade  da,  wo  sich  Spuren  dieser  Verbindung 
zeigen  müßten,  ist  das  erhaltene  Denkmal  intakt.  Die  Stellung  der 
Beine  ist  durchaus  natürlich  für  das  grimmig  den  Oberkörper  vorwärts- 
schiebende und  den  Gegner  zähnefletschend  bedräuende  Tier.  Zudem 
kennen  wir  ja  die  beiden  Typen,  in  denen  das  römische  Nationaltier 
dargestellt  zu  werden  pflegte  (Heibig  a.a.O.),  entweder  'wie  sie  die 
Zwillinge  säugt  und  den  Kopf  nach  diesen  zurückwendet  oder  ohne 
die  Zwillinge  und  in  drohender  Haltung'.  Mehrfach  zeigen  uns  Münzen 
diese  Typen.  Dem  ersten  gehörte  jene  65  vom  Blitze  getroffene  Statue 
an,  dem  zweiten  die  des  Palatin;  dem  zweiten  gehört  auch  die  uns 
erhaltene. 

Gewiß  ist  die  vormals  allgemein  gebilligte  Ansicht  auszuschließen, 
daß  die  erhaltene  'identisch  sei  mit  der  Wölfin,  welche  die  Ädilen 
Gnaeus  und  Quintus  Ogulnius  295  v.  Chr.  aus  Strafgeldern  neben  dem 
ruminalischen  Feigenbaum  weihten'  (Heibig  a.  a.  0.)  und  Petersen  mag 
unser  Denkmal  mit  Recht  für  ein  Werk  altionischer  Kunst  erklären  aus 
dem  sechsten  Jahrhundert  v.  Chr.  Denn  wo  steht  es  denn  überliefert, 
daß  jene  Ädilen  295  v.  Chr.  die  Wölfin  geweiht  hätten?  Die  oben 
mit  Absicht  wörtlich  angeführte  Liviusstelle  gestattet  nicht  bloß,  sie 
fordert  die  Interpretation,  daß  jene  Beamten  nur  die  Figuren  der 
Zwillinge  unter  der  allbekannten  Wölfin  am  ruminalischen  Feigenbaum 
aufstellten;  der  Satz  könnte  so  nicht  gewendet  sein,  wenn  sie  die 
Wölfin  selbst  aufgestelU  hätten.  Sie  stand  dort  seit  lange  ohne  die 
207  Kinder  und  es  ist  nur  so  begreiflich,  daß  ein  griechischer  Künstler 
einst  im  6.  Jahrhundert  dieses  Tierbild  geformt  hatte.^  295  v.  Chr. 
ließ  man  von  den  Strafgeldern  die  Kinder  daruntersetzen,  weil  man 
nun  die  Darstellung  der  ausgebildeten  Nationallegende  sehen  wollte. 
Aus  demselben  Grunde  hat  auch  die  Zeit  der  Renaissance  diese  Zutat, 
die  einst  unorganisch  angesetzt  spurlos  verschwunden  war,  wieder  er- 
neuern lassen.  Ich  meine,  daß  dies  die  Auffassung  sei,  die  allen  über- 
lieferten Faktoren,  den  Schriftstellen  und  den  Denkmälern,  am  besten 
gerecht  wird. 


*  Daß  es  griechische  Sagen  gab  von  der  Wölfin,  die  diesen  oder  jenen 
Heros  gesäugt,  können  Beispiele  wie  die  bei  Usener  Sintflutsagen  110  angeführten 
zeigen.  Trotzdem  wäre  die  Schöpfung  und  der  Import  des  alten  Werkes  nach 
Rom  mit  den  Kindern  mehr  als  unwahrscheinlich.  Ich  mache  hier  absichtlich 
nicht  von  der  Kenntnis  Gebrauch,  die  ich  gesprächsweise  erlangt  habe  von  der 
Ansicht  hervorragender  Fachkenner,  daß  die  'Wölfin'  ursprünglich  eine  Löwin 
sei.  Meine  Erörterung  berührt  das  nicht,  denn  auch  die  alten  Römer  haben 
sie  für  eine  Wölfin  genommen. 


Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius  179 

Die  Deutung  der  Properzstelle  berührt  es  nicht,  ob  diese  oder  eine 
andere  Auffassung  zu  Recht  besteht.  Properz  legt,  die  Wölfin  in  immer 
höher  gesteigerter  Begeisterung  anredend,  das  Gelöbnis  ab,  die  Stadt 
zu  besingen,  ihr  alles  zu  weihen,  was  noch  an  Dichterkraft  in  ihm  ist. 

optima  nutricum  nostris  lupa  Martia  rebus, 
quaüa  creuerunt  moenia  lacte  tuo  - 
Moenia  namque  pio  coner  disponere  uersu  — 

was  er  schaut  und  dem  hospes  gezeigt,  was  ihn  geführt  zum  Blick  auf 
Roms  unscheinbare  Anfänge  und  glanzvollste  Gegenwart,  auf  die  herr- 
lich erfüllten  Weissagungen  der  Vorzeit  —  das  alles  schließt  er  zusammen 
in  diesen  immer  erregteren  Gelöbnissen,  jetzt  seine  Kraft  dem  Vaterlande 
zu  weihen,  ein  römischer  Kallimachos  zu  werden,  mehr  denn  Ennius 
war.  Er  weist  auch  hier  auf  sein  engeres  Vaterland  und  seine  Vater- 
stadt hin,  in  diesem  Schlüsse  des  scharf  abgegrenzten  ersten  Teiles 
des  Gedichtes;  er  wird  das  wieder  aufnehmen  am  Schlüsse  des  ganzen 
Gedichtes,  um  mit  feiner  Absicht  hier  sein  t^voc  an  den  Anfang  des 
Buches  zu  stellen,  das  er  —  vielleicht  wußte  er  das  -  als  letztes 
herausgab.  Diese  Verse  bedürfen  meiner  Erklärung  nicht  mehr;  aber 
ich  möchte  darauf  nachdrücklich  hinweisen,  wie  gerade,  indem  er  wieder 
in  erregtesten  Worten  seinen  Plan  römischer  Elegien  verkündigt,  das 
Folgende  im  Gedichte  vorbereitet  wird;  der  Perieget  hat  den  hospes  208 
ganz  vergessen,  er  ruft  seinen  Mitbürgern  zu,  sie  sollen  günstige  Vor- 
zeichen ihm  liefern;  auf  eine  dextera  auis  kommt  es  ihm  an.  Und  noch 
einmal  verkündet  er  dann  sein  Programm,  das  jetzt  seiner  Dichtung 
gesetzt  ist,  in  präzisen  Worten:  um  den  Preis  soll  sein  Pferd  rennen. 
Ob  er  dies  Bild  braucht,  weil  er  oben  über  dem  Circus  maximus  steht, 
bei  dem  Lupercal,  der  Wölfin  im  xfic  irpöc  xöv  iTriröbpoinov  cipecpou- 
CTic  XaTÖvoc? 

Roma,  faue,  tibi  surgit  opus:  date  Candida,  ciueSj 

ominay  et  inceptis  dextera  cantet  auis. 

Sacra  diesque  canam  et  cognomina  prisca  locorum: 

has  meus  ad  metas  sudet  oportet  ecus. 

6 

Die  ciues  hat  der  Dichter  angerufen  -  ihr  Perieget  will  er  ja  von 
nun  an  sein,  und  er  läßt  den  hospes  in  Gedanken  ganz  fallen  -;  er 
will  von  ihnen  Candida  omina,  nach  einer  Candida  auis  für  seinen  Plan 
verlangt  er:  er  will,  er  muß  eilend  ans  Werk,  has  meus  ad  metas  sudet 
oportet  ecus.     Mag  man   sich   denken,   daß   er  fortstürzt  nach  diesen 

12* 


180  Die  Widmungseleg-ie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

letzten   erregten  Worten:  er  stand  über  dem  Abstieg  zum  Circus:   hin- 
unter wird  ihn  der  Weg  führen.     Da  hält  ihn  eine  Stimme  auf: 

Quo  ruis  imprudens,  uage,  dicere  fata,  Properti? 
Und  alsbald  stellt  sich  der  Sprecher  auch  ausdrücklich  vor  als  Astro- 
logen, der  bei  seinem  Instrumente,  seinem  Horoskope  sitzt,  der  es  ver- 
steht aerata  pila  signa  mouere,  d.  h.  die  Zeichen  des  Tierkreises,  also 
den  gewöhnlichen  Himmelsglobus  mit  den  Fixsternen  zu  drehen,  und 
zu  verkünden  die  signa  iterata  obliquae  rotae.  Seine  sphaera,  sein 
Planetarium  (gewiß  kein  so  kunstvolles  wie  das  des  Archimedes),  die 
Metallkugel,  um  die  ein  Reif  mit  den  Darstellungen  des  Tierkreises  lief, 
hatte  er  vor  sich.  Er  weist  nachher  auf  etliche  Planeten  und  etliche 
Tierbilder  namentlich  hin;  ihre  Beziehungen  sind  die  Grundlage  seiner 
Weisheit. 

Quo  ruis  imprudens,  uage? 
ruft  der  Astrolog  dem  Properz  entgegen  und  uage^  bestätigt  es,  daß 
209  wir  den  Dichter  herumwandelnd,  jetzt  weiterschreitend  zu  denken  haben, 
in  der  Bedeutung  wie  es  etwa  Statius  braucht  Silv.  IV  6,  2f.: 

cum  patulis  tererem  uagus  otia  Saeptis 

iam  moriente  die,  rapuit  me  cena  benigni 

Vindicis  ... 
oder  Martial  VII  39,  Iff.: 

Discursus  uarios  uagumque  mane 

et  fastus  et  haue  potentiorum 

cum  perferre  patique  iam  negaret, 

coepit  fingere  Caelius  podagram. 
dicere  fata  hängt  von  ruis  ab,  das  nicht  nur  zunächst  in  ganz  eigent- 
licher Bedeutung,  sondern  nunmehr  auch  in  übertragener  Bedeutung 
genommen  ist,  eine  Konstruktion  wie  scire  ruunt  bei  Lucan  VII  751. 
Properz  hat  ja  in  der  Tat  sich  fata  verkündet,  den  Ruhm  seiner  Vater- 
stadt durch  ihn,  den  römischen  Kallimachos  -  er  hat  nach  Candida 
omina  und  einer  dextera  auis  gerufen.   Ihm  kommt  es  nicht  zu,  daraus 


^  uage  auf  'die  ihm  gesteckten  Grenzen  überschreitende  und  sich  über 
alles  mögliche  verbreitende  Geschwätzigkeit'  (Rothstein)  zu  beziehen,  halte  ich 
für  ganz  ausgeschlossen;  davon  kann  in  dem  scharf  disponierten  und  steigend 
voranschreitenden  ersten  Teil  des  Gedichtes  gar  keine  Rede  sein.  Ebensowenig 
kann  in  dem  uagus  'eine  Kritik  des  weitschweifigen  Stils  der  Verse  1 — 70'  (Birt 
a.a.O.)  liegen:  der  Stil  ist  nicht  weitschweifig,  und  man  wird  sich  auch  aus 
anderen  Gründen  schwer  entschließen  können  anzunehmen,  daß  der  Infin.  dicere 
als  nähere  Bestimmung  zu  uage  trete.  Darin  aber  hat  Birt  gegen  Rothstein 
recht,  daß  Properti  hier  Vokativ  sein  muß. 


Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius  jgl 

fata  dicere,  meint  der  Astrolog,  und  was  er  sich  prophezeien  zu  können 
glaubt,  ist  falsch.  Aber  woher  kommt  so  plötzlich  dieser  merkwürdige 
Astrolog?  Der  stehende  Aufenthah  dieser  Leute  war  der  Circus  maxi- 
mus  und  seine  Umgebung,  de  circo  astrologi  heißen  sie  direkt  bei 
Cicero  de  diu.  I  58,  132  \  die  gleichen  Leute  meint  Juvenal  VI,  588, 
wenn  er  sagt 

plebeium  in  circo  positum  est  et  in  aggere  fatum. 
Fügen  wir  hinzu  Horaz  sat.  16,  1 1 1  ff. 

quacumque  libidost 

incedo  solus,  percontor  quanti  olus  ac  far, 

fallacem  circum  uespertinumque  pererro 

saepe  forum,  adsisto  diuinisl 
Es  sind  eben  die  astrologi,  Babylonii  (und  auch  unser  Horus  be-  210 
zeichnet  sich  ausdrücklich  als  einen  solchen  V.  77),  Chaldaei,  mathe- 
matici,  und  wie  sie  sich  sonst  nennen.  Properz  kommt  vom  Palatin, 
eben  stand  er  noch  in  der  Nähe  der  Wölfin,  er  geht,  er  rennt  (ruit) 
den  Abstieg  zum  Zirkus  herab:  ein  astrologus,  der  dort  seinen  Platz 
hat,  schreit  ihn  an:  wohin?  fata  dicere?  Jeder  Römer  verstand  es, 
wie  hier  gerade  ein  Astrologe  den  Dichter  unterbrechen  kann,  und  für 
keinen  war  die  Verbindung  der  beiden  Teile  unseres  Gedichtes  unklar. 
Erst  diese  Beobachtung,  meine  ich,  macht  auch  für  uns  die  Verknüpfung 
der  beiden  Teile  voll  verständlich.  Wie  fein  ist  der  Anruf  vorbereitet, 
er  ruft  die  cives  auf  zu  Candida  omina,  er  will  eine  dextera  auis. 
De  Circo  astrologus  ruft  ihn  an  und  sagt  ihm:  es  ist  nichts  mit  deinem 
Zukunftsbild! 

Du  erregst  nur  Tränen  des  Mitleids;  Apoll  hat  sich  von  dir  ab- 
gewendet ^  Nachdem  er  den  uagus  Propertius  angerufen  und  durch 
seinen  ungünstigen  Spruch,  den  er  mit  ein  paar  Worten  ihm  gleich  ins 
Gesicht  wirft,  erschreckt  hat,  beginnt  er  redselig  seine  Kunst  und  deren 
Untrüglichkeit  anzupreisen.    Er  stellt  sich  vor  und  seine  Bücher,  die  er 

^  Die  Worte  gehören  nicht  zu  dem  Enniuszjtat,  wie  Friedländer  in  dem 
Kommentar  zu  Juvenal  VI  582  angibt;  dort  wie  in  der  Sittengeschichte  II  324 
sagt  er  offenbar  auf  Grund  dieser  Stelle,  daß  die  astrologi  'seit  alter  Zeit', 
'seit  Jahrhunderten'  sich  dort  aufgehalten  hätten. 

*  divini  und  divinae  sind  die  Wahrsager  und  Wahrsagerinnen.  Lehrreich 
sind  die  von  Kießling  z.  d.  St.  angeführten  Worte  des  Max.  Tyr.  XIX  3.  Vgl. 
auch  Marquardt-Wissowa,  Staatsverwaltung  III 102. 

^  V.  72  ist  zu  lesen,  wie  überliefert  ist:  non  sunt  a  dextro  condita  fila  colo. 
Die  Lexica  geben  Beispiele  genug  für  solches  a  bei  Substantiven,  denen  eine 
gewisse  Persönlichkeit  beigemessen  werden  kann:  a  legibus,  a  natura  und  viele 
andere.  Hier  steht  der  Gedanke  an  die  Schicksalsspinnerinnen  deutlich  genug 
dahinter.    Ja,  es  könnte  auch  rein  lokal  gemeint  sein  'von  her'. 


182  ^'®  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

neben  sich  liegen  hat,  er  führt  an,  was  er  alles  deuten  und  wahrsagen 
könne,  absichtlich  nach  der  langen  Reihe  der  Objekte  und  abhängigen 
Sätze  am  Schlüsse  das  emphatische  dicam,  und  mit  voller  Absicht  setzt 
er  der  Rede  vom  Untergang  des  alten  Troja  und  dem  Erstehen  des 
neuen  den  Hauptsatz  all  solcher  Wahrsagung  entgegen. 

^Troia  cades  et  Troica  Roma  resurges'; 
er  zitiert.  Man  weiß,  daß  Varro  den  Astrologen  L.  Tarutius  Firmanus 
veranlaßte,  der  Stadt  Rom  selbst  das  Horoskop  zu  stellen  (davon  sagt 
Cicero  de  diu.  I  44,  198  Romamque,  in  iugo  cum  esset  luna,  natam 
esse  dicebat  nee  eins  fata  canere  dubitabat).  Diese  Dinge  beherrscht 
auch  er,  er  kann  den  weltbeherrschenden  Städten  ihre  Schicksale 
sicher  voraussagen,  aber  er  kann  noch  viel  mehr: 
211  Et  maris  et  terrae  longa  sepulcra  canam. 

Es  wäre  sehr  seltsam,  wenn  es  so  ausgedrückt  wäre,  daß  er  die 
'Todesfälle'  (Rothstein)  künden  wolle,  die  im  Laufe  der  Entwicklung 
römischer  Herrschaft  vorgekommen  seien.  Der  Wortlaut  führt  zwingend 
darauf,  daß  er  die  longa  sepulcra  der  Erde  und  des  Meeres,  d.  h.  den 
Weltuntergang  oder  vielmehr  das  Ende  dieser  Weltperiode  verkünden 
zu  können  behauptet.^  Wir  haben  mancherlei  Nachrichten  von  einem 
Weltuntergang  durch  Feuer  oder  Wasser  im  Zusammenhang  mit  astro- 
logischen Dingen.  Ich  will  nicht  weiter  die  Weisheit  des  Proklos  zu 
Hesiods  Theogonie  V.  209  heranziehen  (Tixävec  Trapd  tö  TeTdcGai  kqi 
^HaTrXiuGfivai.  r\  öti,  ujc  Xe^ei  omoc  dtrö  ific  bö^r]c  toö  'Opqpewc  Xa- 
ßibv  toOto,  irdXiv  Ti)Liu)pficai  ineXXei  6  Kpövoc  touc  öeouc  Kai  Xaßeiv  Tf)v 
ßaciXeiav  auToO,  fj^ouv  irdXiv  eTTiKparficai  lueXXei  xö  ckötoc  ekcTvo  tö 
dpxaiÖTttTov  touc  ZitubiaKOuc  kukXouc  touc  exovTac  touc  dcTepac)  und 
auf  die  Angaben  des  Censorin  c.  18  nur  eben  hinweisen:  est  praeterea 
annus  quem  Aristoteles  maximum  potius  quam  magnum  appellat,  quem 
solis  et  lunae  uagarumque  quinque  stellarum  orbes  conficiunt,  cum  ad 
idem  Signum,  ubi  quondam  simul  fuerunt,  una  referuntur;  cuius  anni 
hiemps  summa  est  cataclysmos,  quam  nostri  diluuionem  uocant,  aestas 
autem  ecpyrosis,  quod  est  mundi  incendium.  nam  his  alternis  tem- 
poribus  mundus  tum  exignescere  tum  exaquescere  uidetur.  (Dann 
werden  die  Weltperiodenzahlen  des  Aristarchus,  Aletes,  Heraclitus  und 
Linus,  Dion,  Orpheus,  Cassander  angegeben.)  Seneca  in  den  naturales 
quaestiones  III  29  zitiert  für  solche  Lehren  den  Berosus:  quidam  existi- 
mant  terram  quoque  concuti  et  dirupto  solo  noua  fluminum  capita  de- 


^  Ich  sehe,  daß  auch  Hertzberg  in  seinem  Kommentar  hier  schon  das  Rich- 
tige andeutet  und  etliche  einschlagende  Stellen  zitiert. 


Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius  \S3 

tegere,  quae  amplius  ut  e  pleno  profundant.  Berosus,  qui  Belum 
interpretatus  est,  ait  ista  cursu  siderum  fieri.  adeo  quidem  adfirmat, 
ut  conflagrationi  et  diluuio  tempus  adsignet:  arsura  enim  terrena  con- 
tendit,  quando  omnia  sidera,  quae  nunc  diuersos  agunt  cursus,  in  Cancrum 
conuenerint  sie  sub  eodem  posita  uestigio,  ut  recta  linea  exire  per  orbes 
omnium  possit:  inundationem  futuram,  cum  eadem  siderum  turba  in 
Capricornum  conuenerit/  Daß  den  Römern  jener  Zeit  die  im  wesent- 
lichen stoische  Vorstellung  eines  zeitweiligen  oder  auch  endgültigen  212 
Weltuntergangs  nicht  ungeläufig  war,  zeigt  ihre  Dichtung  an  nicht 
wenigen  Stellen.  Ich  erinnere  an  die  Lucrezverse  V  91  ff.,  wo  vom  Tage 
der  Vernichtung  für  Meere  und  Länder  und  der  Himmelsgewölbe  die 
Rede  ist,  daran,  daß  Varro  um  die  gleiche  Zeit  den  Untergang  der 
Welt  in  einer  Satire  KociuoTopüvri  -rrepi  (pOopäc  köc|uou  (222  B.)  behandelt, 
und  an  die  Verse  Ovids  Metamorph.  I  256  ff.: 

esse  quoque  in  fatis  reminiscitur  adfore  tempus, 

quo  mare,  quo  tellus  correptaque  regia  caeli 

ardeat  et  mundi  moles  operosa  laboret. 
Wie  bekannt  die  ganze  Vorstellung  war,  kann  vielleicht  am  besten  die  ge- 
legentliche Anspielung  des  bekannten  Pliniusbriefesüber  den  Vesuvausbruch 
(VI  20)  zeigen:  multi  ad  deos  manus  tollere,  plures  nusquam  iam  deos 
uUos  aetemamque  illam  et  nouissimam  noctem  mundo  interpretabantur. 
Und  so  darf  man  auch  den  Vergilvers  verstehen  Georg.  I  468,  da  wo 
erzählt  wird,  wie  beim  Tode  Cäsars  die  Sonne  ihren  Schein  verlor: 

impiaque  aeternam  timuerunt  saecula  noctem. 
Properz  weist  schon  durch  das  Ttvoc  des  grotesken  Propheten  auf  ba- 
bylonische und  ägyptische  Astrologie  hin:  Babylonius  Orops  (gewiß 
richtig  von  Rothstein  erklärt  =  ujpocköttoc)  ist  sein  Vater,  er  selbst  heißt 
Horos  (die  griechische  Form  Horon  ist  natürlich  gerade  hier  beabsichtigt). 
Allerlei  Bücher  mystischer  Weisheit  tragen  den  Namen  des  Horos.^ 
Daß  er  dann  noch  als  Ahnen  sowohl  den  Mathematiker  Archytas  als 
den  Astronomen  Konon  nennt,  soll  gewiß  darauf  hinweisen,  wie  die  be- 
rühmtesten Vertreter  exakter  mathematischer  und  astronomischer  Forschung 
ihre  untrüglichen  Methoden  auf  ihn  vererbt  hätten,  es  soll  aber  auch, 
je  sinnloser  die  Namen  gehäuft  sind,  desto  eindrucksvoller  die  plumpe 

'  Ober  das  Buch  des  Berossos  s.  Rieß  bei  Pauly-Wissowa  II  1811  und 
E.  Schwartz  ebenda  III  316. 

'  Lukians  Hahn  c.  17  xäc  ßißXouc  xdc  "Qpou  Kai  "Iciboc.  Briefe  der  Isis  an 
Horus  heißen  oft  alchemistische  Schriften,  Berthelot -Ruelle,  Collection  des  alch. 
gr.  I  198,  Trad.  31  ff.  Horus  ist  ein  berühmter  xpwcoiroiöc  Berthelot,  Origines 
de  Talchimie  168. 


184  Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

Renommage  des  komischen  Männleins  schildern,  der  doch  dem  Dichter 
in  seiner  Weise  die  Wahrheit  sagt. 

7.  8.  9 

Nach  diesem  Anruf,  der  Vorstellung  seiner  wichtigen  Person  und 
der  Anpreisung  seiner  erhabenen  Kunst  erzählt  der  Astrologe  nach  der 
213  stehenden  Art  dieser  Leute  ^  seine  Reklamehistorien.  Ob  in  den  Ge- 
schichten von  den  Zwillingssöhnen  der  Arria  und  der  Geburt  der  Cinara, 
die  beide  auf  Bekanntes  hinzuweisen  scheinen,  noch  besondere  Be- 
ziehungen enthalten  sind,  mag  hier  beiseite  bleiben  (s.  Bücheier  in 
dieser  Zeitschrift  <Rhein.  Mus.)  39,  426  Anm.). 

Es  sind  Beispiele  der  astrologischen  Lehre  von  den  Karapxai,  über 
die  mich  Franz  Boll  in  München  freundlich  belehrt.  Neben  dem  Studium 
des  Geburtsgestirnes,  der  eigentlichen  Genethlialogie,  wollte  man  mit 
Hilfe  jener  Theorie  angeben  können,  ob  es  rätlich  sei,  in  diesem  oder 
jenem  Momente  etwas  zu  beginnen.  In  diesem  Falle  hat  der  Astrolog 
die  Stunde  für  ungünstig  erklärt:  die  beiden  sollten  nicht  ins  Feld 
ziehen.  Seltsam  ist  die  starke  Hervorhebung  des  Pferdes  (equi  -  equo) 
bei  dem  Falle  des  einen,  die  Einführung  des  Legionsadlers  bei  dem 
Falle  des  andern.  Ich  halte  für  sehr  wahrscheinlich,  was  mir  Boll  als 
Vermutung  mitteilt,  daß  die  Prophezeiung  mit  den  beiden  Sternbildern 
Pferd  und  Adler  operiert  habe,  die  auch  bei  Manilius  (V  490 ff.  und 
637  ff.)  kriegerische  Bedeutung  haben.  Der  Astrolog  würde  gesagt 
haben:  Pferd  und  Adler  stehen  an  üblem  Platz  am  Himmel,  nehmt 
euch  davor  in  acht! 

Nur  bei  einem  Verse  dieses  Abschnittes  scheint  eine  Bemerkung 
zum  Verständnisse  des  Ganzen  nötig.  In  dem  Falle  der  Cinara,  die 
nicht  zur  Geburt  kommen  kann,  erzählt  Horos  dies  von  der  Untrüglich- 
keit seiner  Kunst: 

Munonis  facito  uotum  impetrabile'  dixi: 
lila  parit,  libris  est  data  palma  meis. 

Daß  er  die  Stunde  gewußt  und  richtig  angegeben  (doch  wohl  aus  dem 
Horoskop  der  Cinara),  muß  der  Triumph  seiner  Kunst  sein  sollen. 
Wenn  Rothstein  sagt,  der  Rat  des  Astrologen  könne  hier  nur  humo- 
ristisch gemeint  sein,  weil  die  Anrufung  der  Juno  Lucina  in  dem  hier 
geschilderten  Fall  ohnehin  selbstverständlich  und  allgemein  üblich  ge- 


^  Cic.  fam.  VI  6,  7  quoniam  ut  augures  et  astrologi  solent,  ego  quoque 
augur  publicus  ex  meis  superioribus  praedictis  constitui  apud  te  auctoritatem 
augurii  et  diuinationis  meae;  auch  von  Rothstein  angeführt. 


Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius  185 

wesen  sei,  so  muß  ich  betonen,  daß  doch  noch  nicht  dadurch  ein  Satz 
humoristisch  wird,  daß  er  keinen  Sinn  hat.  Nein,  Horus  hatte  mit  seinen 
Mitteln  die  Stunde  der  Geburt  richtig  berechnet,  und  als  er  sagte: 
uotum  facito  impetrabüe,  da  gebiert  sie  auch  wirklich.  Impetrabile  ist 
betont:  jetzt  wird  euer  Votum  erhört,  jetzt  ist  es  Zeit,  es  zu  tun.  214 
Impetrare  (dafür  von  alters  üblich  in  der  Sakralsprache  impetrire)  heißt 
geradezu  technisch  'etwas  durch  günstige  Wahrzeichen  erlangen',  und 
ein  uotum  impetrabile  ist  offenbar  ebenso  technisch  ein  uotum,  das  er- 
langt, das  erhört  wird.  Man  ziehe  zum  Vergleich  Stellen  wie  diese: 
auibus  magnae  res  impetriri  solebant  (Cicero  de  diu.  1 16,  28),  impetri- 
tum  inauguratum  est:  quouis  admittunt  aues  (Plautus  Asin.  II  1,  11), 
sacris  quibusdam  et  precationibus  uel  cogi  fulmina  uel  impetrari  (Plin. 
II  53)  oder  speziell:  Di  immortales  mihi  hunc  diem  dedistis  luculentum! 
Ut  facilem  atque  impetrabilem  (i.  e.  quo  aliquid  impetratum  est,  Plaut. 
Epid.  III  2,  6),  Immortalitas  mihi  data  est  .  .  .  impetrabilior  qui  uiuat 
nullus  est  (Plaut.  Merc.  III  4,  20).  Es  ist  kein  Zufall,  daß  das  Wort  ge- 
rade in  der  alten  sacralen  Bedeutung  fast  nur  im  alten  Latein  des 
Plautus  vorkommt. 

Der  Astrologe  läßt  seine  Beispiele  aüsklingen  in  einen  Preis  seiner 
Kunst  gegenüber  allen  andern  Mitteln  der  Mantik  und  Zukunftsdeuterei, 
geht  aber  noch  einmal  zu  historiae  über.  Sein  Exemplum  ist  Calchas, 
der  mit  all  seinen  Sprüchen  die  Griechen  nicht  gerettet  hat.  Mit  feiner 
Kunst  weiß  so  der  Dichter  hier  in  einem  parallelen  Abschnitt  der 
zweiten  Hälfte  des  Gedichtes  wie  in  der  ersten  auf  Troia  hinauszukommen, 
auf  den  Untergang  der  Griechen,  und  läßt  den  Propheten  enthusiastisch 
schließen  mit  dem  Hinweis  auf  den  Frevel  an  der  Kassandra,  den  die 
Vulgatüberlieferung  als  den  Grund  des  Untergangs  der  Feinde  Troias 
anzuführen  pflegte.  Kassandra  war  ja  auch  in  dem  entsprechenden 
Abschnitt  des  ersten  Teiles  die  Prophetin  des  Untergangs  der  Danaer 
und  des  Auferstehens  von  Neutroia.  Und  wie  dort  im  darauf  folgenden 
Abschnitt  Properz  von  sich  und  seinem  Vaterland  und  seinen  Hoffnungen 
zu  dessen  Ruhm  durch  ihn  fata  dicit:  hier  nimmt  das  Thema  ebenso  der 
Astrologe  auf:  nach  den  historiae  gilt  es  durch  die  Kenntnis  der  Lebens- 
geschicke des  Dichters  bis  zu  diesem  Tage  das  Vertrauen  zu  erwecken, 
das  der  Angeredete  in  seine  Zukunftssprüche  setzen  soll.  Deutlich 
weisen  diese  Verse  zurück  auf  die  entsprechenden  im  ersten  Teil  (65), 
auf  jenes:  scandentes  quisquis  cernet  de  uallibus  arces,  ingenio  muros 
aestimet  ille  meos.  Hier  heißt  es  nach  ausführlicherer  Schilderung  des 
Vaterlandes  (125 f.):  scandentisque  Asisi  consurgit  uertice  murus,  murus 
ab  ingenio  notior  ille  tuo.     Nicht  ich  erst  brauche  diesen  ganzen  Ab- 


186  ^'®  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

schnitt  zu  erklären.  Aber  wie  der  Dichter  mit  feinster  Kunst  die  beiden 
Teile  des  Gedichtes  ineinander  schlingt,  muß  ich  auch  hier  betonen. 
215  Und  wie  ungezwungen,  mit  wie  bewunderungswürdigem  Geschick  weiß 
er  so  sein  eigenes  t^voc  im  Einführungsgedichte  seines  neuen  Buches 
anzubringen.^ 

10 

Den  Schluß  des  Ganzen  macht  der  eigentliche  Spruch  des  Astrologen. 
Es  ist  die  ungünstige,  abweisende  Antwort  auf  die  begeisterten  Zukunfts- 
hoffnungen des  Dichters  am  Schlüsse  des  ersten  Teiles:  er  erhält  omina, 
nach  denen  er  zu  den  ciues  rief,  eine  auis,  aber  nicht  günstig  in  dem 
Sinne,  in  dem  er  dort  redete. 

At  tu  finge  elegos,  fallax  opus:  haec  tua  castra! 

scribat  ut  exemplo  cetera  turba  tuo, 
so  lautet  die  präzise  Mahnung;  erst  der  letzte  Vers  des  Ganzen  gibt 
den  Spruch  in  astrologischer  Fassung.     Hier  wird  er  zum  Dienst  der 
Venus   zurückverwiesen,  zurück  von   dem  labor   der  kallimacheischen 
aiTia- Dichtung: 

militiam  Veneris  blandis  patiere  sub  armis 

et  Veneris  pueris  utilis  hostis  eris.^ 

Nam  tibi  uictrices  quaecumque  labore  parasti, 

eludet  palmas  una  puella  tuas. 
Dann  folgen  die  beiden  Verse,  die,  wenn  man  von  noch  weiteren  kühneren 
konjekturalen  Eingriffen  absieht,  in  allen  Ausgaben,  auch  der  letzten, 
so  gelesen  werden: 

et  bene  cum  fixum  mento  discusseris  uncum, 

nil  erit  hoc,  rostro  te  premat  ansa  suo. 
Auch  Rothstein  redet  von  dem  Haken,  an  dem  die  Leichen  der  hin- 
gerichteten Verbrecher  aus  dem  Gefängnis  geschleift  wurden.  Hat  das 
einen  Sinn,  den  Properz,  der  die  Liebe  zu  der  una  puella  nicht  ab- 
schütteln kann,  zu  vergleichen  mit  dem  Hingerichteten,  der  -  ich 
Obernehme  Rothsteins  erklärende  Worte  —  ^sich  recht  ordentlich  los- 
gemacht haben'  wird;  die  Spitze  bleibt  stecken  -  es  wird  *  genau  so 
sein  wie  vorher!'  Die  Erinnerung  an  etliche  pompejanische  Wandbilder 
zeigt  uns,  aus  welcher  Sphäre  das  Bild  des  Properz  genommen  ist: 

^  Ober  den  Brauch   so   ihr  t^voc  anzubringen  und  dessen  Zusammenhang 
mit  den  wissenschaftlichen  Ausgaben,   die  mit  dem  Yevoc  versehen  waren,  s. 
F.  Leo   in  den  Nachrichten   der   Ges.  d.  W.  zu   Göttingen,  Phil.-hist.  Kl.  1898,  ^ 
Heft  4,  S.  2ff. 

-  Der  Dichter  denkt  gewiß  und  will  erinnern  an  die  Situation  von  II  29. 


Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius  187 

Aphrodite  selbst  oder  irgendein  Mädchen  ist  dort  angelnd  dargestellt,  216 
die  Fische   sind   als  die  Liebhaber  gemeint.     Auch  ist  wohl  noch  ein 
Eros  dabei,  der  den  Fang  beobachtet  und  seine  Freude  hat.^    Und  wir 
gehen  nun  bei  der  Erklärung  unserer  Stelle  von  dem  Text  des  Nea- 
politanus  aus  und  versuchen,  ob  und  welchen  Sinn  sie  uns  gibt. 

et  bene  confixum  mento  discusserit  uncum, 

nil  erit  hoc:  rostro  te  premat  ansa  suo^ 
*und  mag  sie  auch  den  in  das  Kinn  festgefügten  Haken  zerbrochen 
haben,  das  wird  nichts  helfen:  mit  seiner  Spitze  wird  dich  der  Griff 
Cjuälen'.  Die  puella  ist  die  Fischerin,  sie  hat  den  Properz  an  der 
Angel  fest;  und  mag  sie  den  Angelhaken  abgebrochen  haben  und  er 
davonschwimmen  können  -  die  Spitze  sitzt  ihm  im  Kinn  und  hört  nicht 
auf  ihn  zu  quälen.  So  ist  das  Bild,  und  so  sind  die  Worte  verständlich. 
Weder  ist  an  confixum  mit  dem  Dativ  mento  (bene  zu  confixum  wie 
loris  bene  caesus  u.  a.)  irgendein  Anstoß  möglich^^  noch  an  discusserit 
in  dieser  Bedeutung.*  Es  ist  der  potentiale  Konjunktiv  statt  des  hypo- 
thetischen Satzes '^:  recht  wohl  entspricht  im  Hauptsatz  der  Konjunktiv 
premat,  der  oft  bei  Properz  das  Futurum  ersetzt  (s.  Rothstein  hier  und 
-ZU  I  4,  8).  uncus  paßt  sehr  wohl  auf  den  Angelhaken  (das  adjekt.  un- 
cus  wird  ganz  eigentlich  vom  hamus  gesagt,  von  den  aera  der  Angel 
u.  s.);  nicht  minder  passen  ansa  und  rostrum  auf  den  gesamten  Haken, 
der  packt,  und  seine  äußerste  Spitze.^ 

Das  Bild  vom  Liebesangeln  gehört  zu  dem  festen  Bestand  der  ero-217 
tischen  Poesie  von  der  Komödie  an,  durch  die  Elegie  bis  zum  späten 

^  Heibig  Wandgemälde  nr.  346—355;  Mus.  borb.  II 18;  IV  4.  —  Den  angelnden 
Eros  auf  einem  Vasenbilde  stellt  mit  den  Wandbildern  zusammen  O.  Jahn,  Über 
bemalte  Vasen  mit  Goldschmuck,  Festgruß  an  Eduard  Gerhard.  Leipzig  1865, 
S.  16  f. 

^  Ober  die  Fehler  der  Überlieferung  dieses  letzten  Halbverses  in  N  freilich 
verliere  ich  kein  Wort;  sie  sind  selbstverständlich  längst  richtig  verbessert 
(nostro,  ausa,  tue  N). 

»  Man  vergleiche  etwa  Cäsar  b.  G.  III  13,  4  transtra  pedalibus  in  altitudinem 
trabibus  confixa  clauis  ferreis  digiti  pollicis  crassitudine.  trabibus  ist  Dativ, 
abhängig  von  confixa. 

*  Ähnlich:  abbrechen,  losbrechen,  zerbrechen  luv.  X  145: 
sterilis  mala  robora  ficus  (discutiunt  saxa). 
Ovid  a.  a.  III  29: 

femina  nee  flammas  nee  saeuos  discutit  arcus. 

'  Zum  Überfluß  mag  auf  Dräger,  Hist.  Synt.*  II  219,  1315  f.  hingewiesen 
sein.    Beispiele  wie  Horaz  sat.  II 3,  292  sind  am  nützlichsten  zu  vergleichen. 

«  rostrum  ist  die  gebogene  Spitze  aller  möglichen  Instrumente,  Colum.  IV 
25  falcis  uinitoriae  pars,  quae  adunca  est,  rostrum  appellatur.  Plin.  n.  h.  XVIII 48 
uomer  exigua  cuspide  in  rostro.  Bei  Vitruv  werden  ansäe  ferreae  genannt  unci 
ferrei. 


188  Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

Liebesbrief.  Auch  die  pompejanischen  Wandgemälde  weisen  uns  in 
das  Gebiet  der  hellenistischen  Kunst  und  Dichtung/  Nicht  selten  ist 
die  Anwendung  des  Bildes  von  der  plautinischen  Komödie  übernommen; 
z.  B.  Asinaria  178 ff.:  quasi  piscis  itidemst  amator  lenae.^ 

Die  griechische  Anthologie,  namentlich  aus  späteren  Dichtern,  weist 
manches  fein  ausgeführte  Beispiel  auf;  so  sagt  Straton  A.  P.  XII  241: 

ctTKicxpov  TTeTTÖTiKac,  e'xeic  ixOuv  l)xe,  t€kvov, 
äXK6  }i    ÖTTOu  ßouXei,  jJLX]  Tpex€,  |ur|  ce  qpiJTUJ, 

oder  aus  dem  entsprechenden  Bilde  heraus  Kapiton  V  67: 

KdXXoc  dveu  x^P^tojv  repTrei  )li6vov,  ou  xaiexei  be, 
u)c  diep  OLYKicxpou  vrixöjuevov  beXeap, 

oder  noch  anders  gewendet  V  247: 

K€VTpo|uavec  b'  dTKicxpov  ecpu  CTÖ|Lia  Kai  jiie  baKÖvra 
euGuc  ex€i  pobeou  x^i^^oc  eKKpejuea. 

Häufig  kommt  das  Bild  in  den  erotischen  Briefen  des  Aristainetos  vor^; 
keine  Stelle  kann  für  uns  lehrreicher  sein  als  die  im  18.  Briefe  des 
ersten  Buches:  cuxvöiepov  ouv  tö  beXeap  auxrj  rrpocaKTeov  mv  au9ic 
TÖ  ÖYKiCTpov  KaiaTrir),  irdXiv  dcrraXieiJcuj  Kai  tö  fe  Tpixov  auxfic  dva- 
KpoOcuj  xriv  TEvuv.^  Der  Liebeselegie  des  Ovid  ist  das  Bild  wohl- 
bekannt a.  a.  I  47: 

qui  sustinet  hamos, 

nouit,  quae  multo  pisce  natentur  aquae, 
III  425  f.: 
218  semper  tibi  pendeat  hamus, 

quo  minime  credis  gurgite,  piscis  erit.^ 
Ja,  Properz  zeigt  selbst  schon  an  einer  Stelle  seines  zweiten  Buches, 
daß  ihm  das  Bild  vom  Netzauswerfen  im  erotischen  Sinne  geläufig  ist 
(II  32,  19  f.): 

nil  agis,  insidias  in  me  componis  inanes, 

tendis  iners  docto  retia  nota  mihi. 


^  Heibig,  Untersuchungen  über  die  campanische  Wandmalerei  S.  84,  117, 
334,  der  merkwürdigerweise  hier  aus  der  Literatur  keine  Beispiele  anführt. 

*  Vgl.  Bacchid.  102.  Trucul.  34 ff.  Diese  und  einige  der  oben  folgenden 
Stellen  hat  zusammengetragen  V.  Hölzer  in  der  Marburger  Dissertation  De  poesi 
amatoria  a  comicis  atticis  exculta,  ab  elegiacis  imitatione  expressa,  1899,  S.  73f. 

^  Vom  Liebhaber,  der  das  Mädchen  angelt  (dYKicxpeOei),  auch  I  5,  vgl.  I  7. 
II  23. 

*  Zu  einer  Stelle  des  Lukian,  die  das  Bild  benutzt,  dial.  mort.  8,  hat  Hemster- 
huys  einiges  angemerkt  II  p.  440. 

^  Vgl.  I  763.  amores  I  8,  69  f.  remedia  amoris  448  f. 


Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius  jgQ 

So  lag  denn  auch  hier  dem  Properz  das  Bild  vom  Liebesangeln 
nahe  genug,  um  zu  sagen,  was  er  auch  noch  weiter  deutlich  ausführt: 
du  wirst  von  diesem  einen  Mädchen  ganz  abhängig  sein,  sie  mag's 
mit  dir  treiben,  wie  sie  will.  Das  alles  steht  im  fein  ausgearbeiteten 
Gegensatze  zu  der  Schlußpartie  des  ersten  Teiles  -  dem  Vaterlande 
soll  alle  seine  Kraft  gehören:  Roma,  faue,  tibi  surgit  opus  -  und  was 
er  sonst  dort  von  der  Zukunft  träumt  und  gelobt.  Die  Geliebte  wird 
lachen  seiner  Mühen;  er  wird  wieder  der  erotische  Dichter  sein,  der 
Tag  und  Nacht,  mit  jedem  Tränentropfen  nur  einem  Mädchen  dient. 

Und  als  Schluß  folgt  nun  in  gehobenem  Orakelton  der  eigentlich 
astrologische  Spruch  des  Sterndeuters: 

nunc  tua  uel  mediis  puppis  luctetur  in  undis 
uel  licet  armatis  hostis  inermis  eas 
uel  tremefacta  cauo  tellus  diducat  hiatum: 
octipedis  cancri  terga  sinistra  time. 

Magst  du  in  die  schlimmsten  Gefahren  kommen,  sie  werden  dir  nichts 
anhaben,  wenn  du  dich  vor  dem  Krebs  hütest.  So  muß  man  die  Worte 
verstehen.  Wie  hier  'gänzliche  Inhaltslosigkeit  die  Prophezeiung  des 
Astrologen  und  seine  Persönlichkeit  vollends  lächerlich  machen  soll', 
ist  mir  völlig  unverständlich.  Ich  muß  auch  hier  Verwahrung  dagegen 
einlegen,  daß  Inhaltslosigkeit  an  sich  ein  Mittel  des  Humors  oder  der 
Komik  sei.  Und  daß  die  astrologische  Bedeutung  des  Krebses  hier 
gleichgültig  sei  (so  Rothstein),  wäre  im  Munde  des  Astrologen,  wäre  zu 
einer  Zeit  überdies,  wo  die  höchsten  und  tiefsten  Schichten  des  Volkes 
von  Rom  mit  astrologischem  Aberglauben  sehr  bekannt  waren,  mehr 
als  seltsam.  Ob  wir  noch  präzisieren  können,  was  Properz  meint,  ist 
eine  andere  Frage.  Aber  dank  der  freundlichen  Hilfe  von  Franz  Boll 
bin  ich  imstande,  die,  wie  mir  scheint,  völlig  zutreffende  Erklärung 
zu  geben:  sie  läßt  uns  verstehen,  in  wie  eigentlicher  Bedeutung  terga 
sinistra  gemeint  ist.  Ich  darf  Bolls  Erklärung  hierhersetzen:  *Auf  dem 219 
linken  Rücken  des  Krebses  liegt  der  südliche  der  zwei  Sterne,  die  man 
die  beiden  Esel  nennt.  Für  diesen  Stern  gibt  Ptolemaios  eine  Länge 
von  KapKivou  llVs^;  für  die  Zeit  des  Properz  würde  man  also  die 
Länge  auf  Krebs  10^  ansetzen  müssen.  Auch  der  übrige  Rücken  des 
Krebses  gehörte  damals  ganz  in  den  L  Dekan  des  Krebses  (dieser 
wendet  nämlich  sein  Hinterteil  gegen  die  Zwillinge  und  seinen  Kopf 
mit  den  Scheren  gegen  den  Löwen;  es  geht  also  sein  Hinterteil  zuerst 
auf  und  gehört  in  die  ersten  10  Grade  oder  in  den  ersten  Dekan  des 
Zeichens)'. 


190  Die  Widmung-selegie  des  letzten  Buches  des  Propertius 

'Nun   ist   das   ttpöciuttov   oder   Gesicht   (facies)   des  1.  Dekans  des 
Krebses  die  Aphrodite  (vgl.  z.B.  Firmicus  114).     Jeder  Dekan  jedes 
Zeichens   des  Tierkreises  hat  in  dieser  Weise  ein  bestimmtes  Gesicht^ 
nämlich   das   eines  Planeten,   der   dann   in  ihm  besondere  Gewalt  hat. 
Ferner  hat  die  Venus  als  öpoi  oder  fines  in  dem  Zeichen  des  Krebses 
nach  der  gewöhnlichen  ('ägyptisch'  genannten)  Theorie   den  8.  bis 
13.  Grad:  wenn  also  der  Astrolog  bei  den  terga  sinistra  des  Krebses 
an  dessen  8.  bis  10.  Grad  gedacht  hat,  so  wäre  diese  Gegend  in  der 
Tat  zwiefach  unter  dem  Einfluß  der  Venus.'     Der  Schicksalsspruch  istj 
so  gemeint,   daß   sich  Properz   das  Horoskop,   das   bei   seiner   Gebui 
aufging,   den   8.  bis  10.  Grad    des  Krebses,   gegenwärtig   halten  soll^ 
der  Einfluß  seines  Geburtsgestirnes  unterwirft  ihn  der  Herrschaft  der] 
Venus,  diesem  Schicksal  kann  er  nicht  entfliehen,  nicht  über  sein  be-] 
stimmtes  Geschick  hinausgehen. 

Es  ist  nicht  unmöglich,  daß  noch  eine  weitere  feine  Anspielung  iii| 
den  letzten  Worten  des  Propheten  liegt,  die  mir  früher,  ehe  ich  die! 
richtige  Erklärung  kannte,  wahrscheinlicher  erschien.  Ich  darf  sie  am] 
Schlüsse  wenigstens  erwähnen.  Wir  kennen  ein  römisches  Sprichwort, 
das  gewiß  viel  älter  ist  als  der  Schriftsteller,  der  es  meines  Wissens 
allein  anwendet,  Petron  c.  42  anticus  amor  cancer  est^.  Und  wenn  dies 
220  Sprichwort  allgemein  bekannt  war,  so  ließe  sich  denken,  daß  der  letzte 
Vers  des  Gedichtes  zugleich  daran  erinnern  wollte.  Der  anticus  amorj 
ist  es  ja,  dem  Properz,  so  sehr  er  sich  müht,  nach  Schicksalsschluß | 
nicht  entgehen  soll. 

Der  Dichter  läßt  sich  das  alles  prophezeien  von  dem  Astrologen, 
weil  es  eingetroffen  ist:  er  ist  wieder  nach  dem  vergeblichen  Anlauf 
der  römischen  Elegien  erotischer  Dichter  geworden.  Es  ist  nach  den 
vorangehenden  Ausführungen  nicht  mehr  nötig,  zu  zeigen,  wie  vortreff- 
lich dies  Gedicht  geeignet  ist,  ein  Buch  von  Elegien  einzuführen,  die 
zum  einen  Teil  eben  das  ausführen,  was  der  erste  Teil  des  Gedichtes  so  be- 
geistert verheißt,  zum  anderen  Teil  der  üblichen  erotischen  Gattung 
angehören:  beide  fast  gleichen  Teile  des  Buches  werden  durch  die 
beiden  fast  gleichen  Teile  des  Gedichtes  angekündigt. 


^  Hier  die  Theorie  der  Karapxai  heranzuziehen,  wird  schon  dadurch  un- 
möglich, wie  mir  BoU  bemerkt,  daß  dann  das  3.  Glied  des  Vordersatzes  nicht 
stehen  könnte  —  denn  das  Erdbeben  hängt  nicht  von  seinem  Willen  ab.  Zum 
ganzen  Gedicht  paßt  ja  auch  nicht  eine  Mahnung,  die  den  Dichter  bei  allem, 
was  er  beginnen  werde,  vor  dem  gefährlichen  Zeitpunkt  des  Aufgangs  des 
Rückens  des  Krebses  warnen  sollte. 

"^  Vgl.  A.  Otto,  Sprichwörter  der  Römer  23. 


Die  Widmungselegfie  des  letzten  Buches  des  Propertius  191 

Es  ist  von  anderen  mehrfach  ausgeführt,  wie  planvoll  die  Gedichte 
des  letzten  Buches  geordnet  sind:  wenn  wir  künstlichere  Ausdeutungen 
dieser  Ordnung  beiseite  lassen,  so  ist  für  jeden  klar,  wie  absichtlich 
die  antiquarischen  Elegien  und  die  anderen  abwechseln,  wie  eindrucks- 
voll in  die  Mitte  die  dem  Apoll  und  dem  Augustus  geweihte  Sieges- 
elegie von  Actium,  an  das  Ende  die  Trostelegie  über  das  abgeschiedene 
geliebte  Weib  gesetzt  ist, 

I 


II 
IV 


VII 
VIII 


III 


VI 


XI 


IX 
X 


Wir  sahen,  wie  fein  beide  Teile  des  Einleitungsgedichtes  verknüpft 
I  sind,  wie  fein  ineinander  komponiert.  So  wird  originell  das  alte  von 
Properz  mehrfach  behandelte  Motiv  entwickelt,  daß  der  Dichter  von  der 
höheren  Poesie  durch  bedeutsamen  Zuspruch  wieder  zur  Erotik  gerufen 
wird.  Es  mag  einem  wahrscheinlich  dünken  können  und  manche  An- 
zeichen sprechen  dafür  \  daß  Properz  vieles  vom  ersten  Teile  dieser  221 
Elegie  früher  als  den  zweiten  Teil  gedichtet  hat,  als  er  so  die  römischen 
causae  und  nur  sie  einleiten  wollte.  Aber  als  er  den  zweiten  hinzu- 
fügte, um  die  wenigen  Produkte  eines  aufgegebenen  Planes  mit  etlichen 
Gedichten  des  anderen  Stiles  zu  verbinden,  hat  er  jenen  ersten  Teil 
namentlich  gegen  Schluß  überarbeitet  und  beide  so  fein  ineinander 
komponiert  und  aufeinander  bezogen,  zu  einem  so  künstlerisch  in  fünf 
und  fünf  Abschnitten  -  ich  traue  meinen  oben  gegebenen  Eriäuterungen 
zu,  daß  sie  diese  Tektonik  von  selbst  einleuchtend  gemacht  haben  ^  - 
aufgebauten  Ganzen  ausgearbeitet,  daß  ich  keinem  raten  möchte,  hier 


*  Namentlich  die  gesonderte  Stellung  des  zweiten  Teils  des  Gedichtes  in 
metrischer  Beziehung,  s.  Kirchner,  de  Propertii  libro  quinto  p.  28 f.,  35,  40; 
A.  Otto,  Hermes  XX  (1885)  568. 

-  Vielfach  läßt  sich  auch  bei  Properz  eine  Zweiteilung  der  Gedichte  be- 
obachten, die  oft  fein  in  der  Beziehung  der  einzelnen  Teile  durchgeführt  ist. 
Hier  ist  die  Zweiteilung  durch  die  beiden  Reden  der  beiden  allein  auftretenden 
Personen  ganz  augenfällig.  Es  wäre  wünschenswert,  daß  diese  Erscheinung  bei 
griechischen  und  römischen  Elegikern  untersucht  würde  im  Sinne  der  Bemerkungen 
Reitzensteins,  Epigramm  und  Skolion  46,  Anm.  2. 


192 


Die  Widmungselegie  des  letzten  Buches  des  Propertius 


den  neckenden  Fragen  einer  *  höheren  Kritik'  nachzugehen.  So  wie 
der  Dichter  das  Gedicht  verstanden  wissen  wollte,  als  er  es  an  den 
Anfang  des  Elegienbuches  setzte,  das  er  nicht  lange  vor  seinem  Tode 
herausgab  S  glaube  ich  es  nun  in  allem  Wesentlichen  zu  verstehen. 
Wer  freilich  kann  sagen,  was  alles  dem  Dichter,  der  den  Astrologen  sein 
Schicksal  sagen  und  stolzere  Hoffnungen  halb  burlesk,  halb  melancholisch 
zertrümmern  ließ,  durch  die  Seele  gehen  mochte,  wenn  er  den  Keim 
des  Todes  schon  unaufhaltsam  in  sich  wachsen  fühlte?  In  einen  Toi 
ergebener  Resignation  klingt  es  aus,  ein  letztes  Gedicht  vom  Schicksal 
seines  Lebens  und  seiner  Dichtung.  Nach  diesem  hat  seine  Hand  nichl 
mehr  viele  Verse  geschrieben. 


Das  ist  ganz  sicher;  s.  bes.  A.  Otto  a.  a.  O.  570 ff. 


XI 

eYArreAiCTHC^ 

Fragliche  Spuren  des  Urchristentums  auf  den  griechischen  Inseln  336 
hat  oben^  S.  87  ff.  H.  Achelis  behandelt.  Er  nennt  die  auf  S.  88  ab- 
gedruckte Inschrift  aus  Rhodos  in  Hiller  v.  Gärtringens  Inschriften  der 
griechischen  Inseln  (1 1,  No.  675)  selbst  die  interessanteste  und  wichtigste 
dieser  Gruppe.  Ich  vermute,  daß  man  bei  ihr  die  Spur  des  Christentums 
für  am  sichersten  aufgewiesen  halten  und  eilend  gewichtige  Schlüsse 
ziehen  wird.  Deshalb  sei  mir,  so  wenig  ich  die  oben  angeregten  Fragen 
überzeugend  zu  beantworten  mich  anheischig  mache,  eine  kurze  War- 
nung gestattet. 

Daß  der  christliche  euaTTeXicrrjc  im  Beginn  seiner  Grabschrift 
Adqpvac  Kai  0eoö  dpxiepeuc  genannt  werde,  ist  strikt  unmöglich.  Nicht 
daß  er  es  gewesen  wäre,  ist  unmöglich,  sondern  daß  man  es  dem 
Christen  auf  den  Grabstein  geschrieben  haben  sollte.  Deshalb  hilft  die 
Erinnerung  an  den  früheren  Kybelepriester  Montanus  gar  nichts.  Achelis 
fühlt  ja  selbst,  daß  der  Vorwurf  der  Gegner  des  Montanus  in  unserem 
Falle  nichts  erklären  kann.   Hier  ist  jedes  Parlamentieren  ausgeschlossen. 

Leider  scheint  die  dritte  Zeile  der  Inschrift  unrettbar  verstümmelt 
zu  sein.  Dagegen  ist  in  der  sechsten  Zeile  jenes  OHPOC  eiiaTTeXiciric 
nicht  etwa  ö  \epöc  euaTTeXicirjc  oder  dergleichen  zu  lesen,  sondern  ö 
f^pujc  euttTT^XicTric. 

Man  weiß,  daß  ein  Gott  und  ein  Heros  €udTTeXoc  von  Griechen 
mannigfach  verehrt  wurde.  Man  mag  die  Belege  bei  Usener  in  den 
Götternamen  S.  268  ff.  nachlesen.  An  die  Angabe  des  Hesychios  GiidT- 
TcXoc  ö  '€p|Lific,  den  angelus  bonus  der  Vibiakatakombe^  den  Heros 
€udTTeXoc  in  Ephesos  und  den  Monat  GiiaTTeXioc  in  Smyrna  möchte 
ich  erinnern,  besonders  aber  an  den  GudYTeXoc,  der  als  Stammvater 
des  Priestergeschlechts  der  GuaTT^Xibai  am  Branchidenheiligtum  bei 
Milet  galt,  der  wie   ein   Göttersohn   aufwuchs   und    „Verkündiger  der 

*  <Zeitschrift  für  die  neutestamentliche  Wissenschaft  I  1900  S.  336 ff. > 
»  <s.  a.    die    von   Dieterich   verfaßte  Rezension  Deutsche  Lit.-Zeit.   1900 
Sp.  2914.) 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  13 


;[94  EöaTT^XiCTric 


1 


337  Orakelsprüche "  wurde:  TroieTiai  he  auiöv  ö  Bpa^xoc  kqi  ctTfeXov  tuüv 
jaavT€U|LidTuuv  €udTT€Xov  6vo|Lidcac  (Konon  fab.  Nr.  44).^  Ich  füge  hin- 
zu, daß  in  einem  inschriftlichen  Inventar  des  Heraion  zu  Samos  (Carl 
Curtius,  Inschriften  und  Studien  zur  Geschichte  von  Samos,  Lübecker 
Progr.  1877,  Z.  21  u.  Z.  37,  U.  Köhler,  Athenische  Mitteilungen  VII  370) 
zu  lesen  steht  Kpr|be)Liva  imä'  toutujv  'ev  r\  GuaTT^Xic  e'xei  und  KiÖujvec 
bOo  ^vbura  Tnc  ^va^feXiboc.  Ich  glaube  nicht,  daß  es  sich,  wie 
Maaß,  Indogerm.  Forschungen  I  162,  meint,  um  eine  Statue  der  GuaTTcXic 
handelt,  wie  eine  solche  des  Hermes  dort  stand,  sondern  daß  es  der 
Amtsname  der  Orakelpriesterin  war,  der  jene  Inventarstücke  zukamen. 

Glaubt  man  noch,  daß  das  Wort  euaTTeXicTrjc  „das  Christentum" 
der  Inschrift  beweisen  könne?  Jene  Zeugnisse  stammen  alle  aus  Klein- 
asien und  den  vorgelagerten  Inseln  und  ich  will  beifügen,  daß  die  Be- 
lege für  den  parallelen  *AtcxOöc  axTeXoc  und  'ATaGdTTeXoc  ebenfalls 
alle  nach  Karlen,  Smyrna,  jedenfalls  Kleinasien  weisen  (die  Belege  bei 
Usener  a.  a.  0.). 

Daß  ein  Oberpriester  „  der  Daphne  und  des  Gottes "  als  €uaTT€XicTr|c 
heroisiert  wird,  hat  nichts  Unwahrscheinliches  mehr.  Von  Daphne  wird 
erzählt,  daß  sie  in  Delphi  Orakel  verfaßt  habe,  aus  denen  auch  Homer 
geschöpft  haben  solle;  sie  sei  die  Tochter  des  Teiresias  gewesen  und 
auch  Sibylle  benannt  worden  (Diodor  IV  66).  Man  weiß,  daß  die  Tochter 
des  Teiresias  sonst  Manto  heißt,  die  das  berühmte  Apollonorakel  von 
Klaros  gestiftet  haben  soHte,  ja,  die  geradezu  zur  typischen  vorder- 
asiatischen Sibylle  geworden  ist  Ich  weiß  nicht,  warum  Achelis  von 
dem  Oberpriester  in  Daphne  spricht  und  vom  Heiligtum  des  Apollon  in 
Daphne  vor  den  Toren  von  Antiocheia.  Unseres  Oberpriesters  Kult 
war  der  der  Daphne  und  des  Gottes,  der  in  diesem  Falle  natürlich 
Apollon  war.  Wir  können  von  diesem  doch  wohl  rhodischen  Heiligtum 
-  in  Rhodos  wurde  Apollon  viel  verehrt,  auch  ein  ^AttöXXiuv  TTuGioc 
(s.  I.  Gr.  Ins.  Nr.  25,  67  und  den  Index)  -  nichts  sagen,  soviel  ich 
weiß,  als  das,  daß  es  vermutlich  ein  apollinisches  Orakelheiligtum  war, 
in  dem  neben  Apollon  Daphne  eine  noch  viel  größere  Rolle  spielte  als 
Manto  im  analogen  Orakelkult  von  Klaros.  Unser  dpxiepeuc  wird  der 
„Verkündiger  der  Orakelsprüche"  gewesen  sein. 

Daß  er  unter  besonderem  Namen  heroisiert  wird,  ist  nichts  Merk- 
würdiges. Ich  will  nicht  auf  den  Aristomachos  zurückgreifen,  den  man 
in  Marathon  als  npwc  iarpöc  verehrte,  oder  den  Sophokles,  der  zum 

*  IZeus  Euangelios  bei  Aelius  Aristides  11  p.  469,  1  Keil:  fjTov  oöv  öcov 
ripivi?)v  /m^pav,  dXX'  oi'av  eköc  äyeiv  Aiöc  t€  €i5aTTeXiou  Kai  'AcKXirmoO  CujTf]poc. 
Pergamon,  mitgeteilt  von  Corssen.  -  IG  III 3,  109  (Attica):  €i)aTT^Xia  eijcui.j 


eöarreXicxric  195 

f^pujc  AeHiujv  wurde:  die  Beispiele  aus  späterer  Zeit,  da  etwa,  um  ein 
Beispiel  zu  nennen,  Xenophon,  der  Arzt  des  Kaisers  Claudius,  auf  Kos 
als  npujc  euepT€TTic  verehrt  wurde,  sind  deutlich  genug,  um  den  fipu)c338 
€iiaTT€XicTr|c  verständlich  zu  machen. 

Wenn  der  Orakelpriester  eines  Kultes,  der  analog  demjenigen  war, 
den  das  Priestergeschlecht  der  EuaTTe^ibai  verwaltete,  heroisiert  wird 
als  npuJC  euaTTcXicxric,  wenn  er  nur  mittels  einer  anderen  Weiterbildung 
des  in  jenen  Gegenden  Kleinasiens  heimischen  Gottes-  und  Heroen- 
namens GuoiTT^Xoc  benannt  wird,  will  man  dann  wirklich  die  Grabschrift 
eines  urchristlichen  Evangelisten  zu  besitzen  glauben,  „bis  etwa  ein 
heidnischer  Evangelist  nachgewiesen  ist"?  Aber  warten  wir,  was  sie 
dort  aus  der  Erde  graben  werden,  wo  das  Christentum  zuerst  griechisch 
redete.  Auch  die  neue  „heidnische"  Inschrift  stammt  aus  Kleinasien, 
in  der  es  vom  Geburtstag  des  cturrip  Augustus  heißt  nP^^v  be  toi 
KÖC|Liiü  Tujv  bi'  auTÖv  euaTTcXiuj v.^ 


<Dittenberger  Orientis  graeci  inscr.  sei.  no.  458.   S.  auch  Mithraslit.  S.  49.) 


13' 


XII 
EIN  HESSISCHES  ZAUBERBUCH ' 

5  Vor  mir  liegt  ein  kleines  Zauberbuch  aus  Hofheim  bei  Worms,  das 
der  Vereinigung  für  hessische  Volkskunde  eingesandt  worden  ist.  Es 
ist  jedenfalls  in  den  letzten  fünfzig  Jahren  geschrieben,  trägt  die  Spuren 
mannigfachen  Gebrauchs,  auch  den  Namen  einer  Besitzerin  auf  dem 
Pappumschlag.  Das  Heft  enthält  20  verschiedene  Zaubersprüche  und 
dazu  noch  die  Angabe  der  „unglücklichen"  Tage  in  jedem  Monat.^ 

Wer  nicht  bereits  mit  ähnlichen  Sprüchen  und  Segen  bekannt  ist, 
wird  erstaunt  sein  Ober  die  echt  volkstümlichen  alten  Bannsprüche  mit 

*  ^Blätter  für  Hessische  Volkskunde  (nicht  zu  verwechseln  mit  den  Hessi- 
schen Blättern  für  Volkskunde)  II  1900,  S.  5 ff.) 

'  Über  den  Inhalt  mögen  die  folgenden  Überschriften  der  einzelnen  Sprüche 
kurz  orientieren: 

1.  Einen  Dieb  zu  bannen,  daß  er  still  stehen  muß. 

2.  Wieder  Auflößung. 

3.  Wie  der  Dieb  das  gestolene  wieder  bringen  muß. 

4.  Gewehr  und  Waffenstellung. 

5.  So  jemand  Würmer  hat. 

6.  So  ein  Mensch  die  Mundfäule  hat,  so  sprieche  man  nach  folgendes;  es 

hilft  gewiß. 

7.  Vor  Hecksen  und  Gespenster  daß  sie  des  Nachts  weder  Menschen  noch 

Vieh  Schaden  können,  an  die  Bettstadt  und  in  den  Stall  zu  schreiben. 

8.  Wie  verhexte  Menschen  und  Viehe  zu  helfen. 

9.  Vor  Geschwulst. 

10.  Vor  das  Fieber. 

11.  Vor  den  Husten. 

12.  Beinbruch. 

13.  Eine  Kunst  Feuer  zu  löschen  ohne  Wasser. 

14.  Vor  das  Blut  stillen. 

15.  Den  Schmerzen  zu  Jegen. 

16.  Eine  bewerthe  Kunst  vor  das  Zahnweh  zu  vertreiben. 

17.  Besonderes  Stück  gestohlene  Sachen  wieder  herzuzwingen. 

18.  So  einer  im  Frühjahr  das  erstemahl  das  Vieh  austreibt. 

19.  Eine  Geschwinde  Stellung. 

20.  Einen  Stecken  zu  schneiden,  daß  man  einen  damit  prügeln  kann,  soweit 

auch  derselbe  entfernt  ist. 
Das  angehängte   Verzeichnis    der   Unglückstage   ist   bereits   mitgeteiU   im 
I.  Jahrg.  der  „Blätter"  S.  8. 


Ein  hessisches  Zauberbuch  \gf 

ihren  alten  Reimen,  z.  T.  Alliterationen,  und  er  wird  mit  Erstaunen 
[immer  wieder  die  seltsamen  Reste  der  alten  erzählenden  Einleitungen 
wiederfinden,  die  aus  den  Merseburger  Zaubersprüchen  jedem  bekannt 
sind.  Nicht  mehr  Wotan  und  Phol  sind  es,  die  irgend  etwas  tun,  meist 
[Jesus  und  Petrus:  aber  wenn  die  nun  ausreiten  und  ausfahren,  so  sind 
es  doch  die  alten  Götter  unter  den  neuen  Namen.^  Ich  setze  drei 
charakteristische  Segen  hierher,  um  die  verschiedenen  Arten  kurz  zur 
Anschauung  zu  bringen. 

Wie  der  Dieb  das  gestolene  wiederbringen  muß. 

Gehe  vor  Sonnenaufgang  zu  einem  Birn  Baum  und  nim  3  Nägel 
aus  einer  Todten  Bahr  oder  3  ungebrauchte  Hufnägel  mit  halt  dieselbe 
gegen  der  Sonnen  Aufgang  und  sprich: 

0  Dieb  ich  binde  dich  mit  dem  ersten  Nagel,  den  ich  dir  in  deine 
Stirn  und  Hirn  thu  schlagen  daß  du  das  gestohlene  Gut  wieder  an 
seinen  vorigen  Ort  mußt  tragen  es  soll  dir  so  weh  werden  nach  den 
Menschen  und  nach  dem  Ort  wo  du  es  gestolen  hast,  als  dem  Jünger 
Judas  war,  da  er  Jesum  verrathen  hatte,  den  andern  Nagel  den  ich 
dir  in  deine  Lung  und  Leber  thu  schlagen  daß  du  daß  gestolene  Gut 
wieder  an  seinen  vorigen  Ort  solst  tragen  es  soll  dir  so  weh  nach  den 
Menschen  und  nach  dem  Oort  seyn  da  du  es  gestohlen  hast  als  dem 
Pilato  in  der  Hollenpein,  den  3  Nagel  den  ich  dir  Dieb  in  deinen 
Fuß  thu  schlagen,  daß  du  das  gestolen  Gut  wieder  an  seinen  Vorigen 
Ort  mußt  tragen  wo  du  es  gestolen  hast:  0  Dieb  ich  binde  dich  dorch 
die  Heiligen  3  Nägel  die  Christum  durch  seine  Heil.  Hand  und  Fuß 
sind  geschlagen  worden  daß  du  das  gestolene  Gut  wieder  an  seinen 
vorigen  Ort  mußt  tragen,  da  du  es  gestolen  hast  XXX  Die  Nägel 
müßen  aber  mit  Armen  Sünder  Schmalz  geschmiret  werden. 

So  jemand  Würmer  hat. 
Peterus   und   Jesus,  führen   aus   gehn   Acker  ackerten  3  Furchen, 
ackerten  auf  3  Würmer  der  eine  weiß,  der  andere  Schwarz,  der  dritte 
Roth,  da  waren  alle  Würmer  Todt,  in  Namen  XXX  sprich  diese  Worte 

3  mal. 

Den  Schmerzen  zu  legen. 
Unser  lieber  Herr  Jesus  Christ,  hat  viel  Beulen  und  Wunden  ge- 
habt und  doch  keine  verbunden,  sei  jähren  nicht  sie  geschwähren  nicht, 
es  gibt  auch  kein  Eiter  nicht.    Jonas  war  Blind,  sprach  ich  das  himm- 
lische Kind,  so  wahr,  die  heilige  5  Wunden  sein  geschlagen,  sie  grienen 

»  Vgl.  „Blätter  für  Hessische  Volkskunde"  I,  S.  7. 


J98  Ein  hessisches  Zauberbuch 

nicht,  daraus  nehme  ich  Wasser  und  blut,  das  ist  vor  aller  Wunden  Schaden 
gut,  heilig  ist  der  Mann  der  alle  Schaden  und  Wunden  heilen  kann  XXX. 

Man  würde  sich  täuschen,  wenn  man  glauben  sollte,  daß  diese 
Sprüche  in  langer  mündlicher  oder  auch  handschriftlicher  Tradition  des 
hessischen  Volkes  aus  alter  Zeit  festgehalten  wären.  Sie  finden  sich 
wieder  in  den  gedruckten  Zauberbüchern,  die  immer  aufs  neue  bis  in 
die  letzten  Jahrzehnte  dieses  Jahrhunderts  gedruckt  und  verbreitet  sind. 
So  finden  sich  einzelne  Segen  unseres  Buches  wieder  in  dem  Bändchen, 
das  den  Titel  trägt  „Der  wahrhaftige  feurige  Drachen  oder  Herrschaft 
über  die  himmlischen  und  höllischen  Geister  und  über  die  Mächte  der 
Erde  und  Luft"  und  soweit  mir  bekannt  in  einem  Druck,  der  die  Angabe 
Köln  1723  trägt,  oder  in  den  „etlichen  fürnehmen  und  nützlichen  Kunst- 
stücken, den  Stein  der  Weisen  betreffend,  welche  aus  Herrn  Theophrasti 
Paracelsi  von  Hohenheim  eignen  hinterlassenen  Handschriften  bekommen 
und  davon  abgeschrieben  worden  sein",  -  der  Druck,  den  ich  besitze, 
trägt  die  Angabe  Schwab.  Hall,  Haspeische  Buchhandlung;  eine  Reihe 
finden  sich  in  den  verschiedenen  Teilen,  die  als  „Albertus  Magnus  be- 
währte und  approbirte  sympathetische  und  natürliche  egyptische 
Geheimnisse  für  Menschen  und  Vieh"  mit  der  Angabe  des  fingierten 
Druckorts  „Braband"  im  Buchhandel  sind.  Aber  wir  halten  diese  ver- 
schiedenen Produkte  nicht  mehr  für  die  Quellen  des  hessischen  Büch- 
leins, in  das  sie  aus  ihnen  gesammelt  wären,  wenn  wir  bemerken,  daß 
alle  Rezepte  sich  in  dem  sog.  Romanusbüchlein  wiederfinden.  Ich 
habe  zur  Hand  zwei  Ausgaben,  die  eine  mit  der  Angabe  Schwab.  Hall, 
die  andere  Berlin  0,  Druck  von  E.  Bartels,  Blumenstraße  70.  Beide 
weichen  in  ihrem  Inhalt,  in  Zahl  und  Anordnung  der  Rezepte  erheblich 
voneinander  ab,  wenig  im  Texte  der  einzelnen  in  beiden  gegebenen 
Anweisungen.  Unser  Zauberbuch  steht  dem  Berliner  Druck  des  Romanus- 
büchleins sehr  nahe.  Wir  würden  glauben,  daß  es  daraus  abgeschrieben 
sei  —  denn  auch  die  Anordnung  der  Segen  ist  gruppenweise  die  gleiche 
in  beiden  -,  wenn  nicht  einige  kleine  Zusätze  und  andere  Lesarten, 
die  der  Schreiber  des  hess.  Büchleins  schwerlich  gemacht  hat,  uns 
nötigten,  einen  andern,  aber  dem  Berliner  fast  gleichen  Druck  als  Vor- 
lage anzunehmen,  die  immerhin  handschriftlich  übermittelt  sein  mag. 
Er  würde  sich  leicht  auffinden  lassen,  wenn  es  der  Mühe  lohnte.  Wir 
erkennen  ja  auch  so,  was  etwa  von  einiger  Bedeutung  für  die  Kenntnis 
dieser  Literatur  ist.  Einige  Beobachtungen,  die  man  an  unserer  Hand- 
schrift machen  kann,  mögen  nicht  ohne  ein  gewisses  Interesse  sein. 
Gleich    der   zweite    Spruch    darin   war   gänzlich    unverständlich.     Nach 


Ein  hessisches  Zauberbuch 


199 


einem  Diebesbann  steht  als  „Wiederauflösung":  „Ihr  Roß  und  Mann 
so  ich  euch  hab  beschworen  zu  dieser  Priest,  reitet  hin  in  den  Namen 
Jesu  Christ,  durch  Gottes  Wort  um  Christi  Hort!  so  gehet  ihr  alle 
fort."  Im  Romanusbüchlein  steht  die  Auflösung  nach  einem  Banne 
über  „Reiter  und  Fußknecht",  wie  es  dort  bezeichnenderweise  heißt. 
Davor  aber  steht  jener  Diebesbann;  das  Zwischenstück  hat  der  Ab- 
schreiber ausgelassen.  Ganz  unverständlich  ist  der  Anfang  des  6.  Spruchs: 
„Ich  zog  über  Land,  der  hat  den  Staub  in  seiner  Hand,  da  begegnete 
ihm  Gott  und  sprach  zu  ihm  Jakob,  warum  traurest  du  so  sehr?"  usw. 
Daß  es  Stab  statt  Staub  heißen  muß,  war  wohl  gleich  klar:  im  Romanus- 
büchlein steht  denn  auch  so.  Aber  das  Ich  im  Anfang?  Jakob  muß 
wohl  dort  gemeint  sein.  Job  steht  im  Romanusbüchlein.  Offenbar  ist 
also  unsere  Handschrift  auch  aus  einer  Handschrift  abgeschrieben  - 
da  ist  diese  Verlesung  begreiflich.  Im  10.  Spruche  steht  „Bete  erstlich 
früh,  alsdann  kehre  das  Hemd  um  den  linken  Ermel  zuerst  und 
sprich  usw.".  Das  Romanusbüchlein  hat  richtig:  „ernstlich".  „Trotten- 
korf"  hat  unsere  Handschrift  im  Spruch  7,  der  Druck  „Trottenkopf" 
(d.  i.  Trudenkopf,  Bezeichnung  eines  elbischen  Wesens).  „Es  standen 
drei  Rosen  auf  des  Herr  Gottes  Gut,  die  Erste  heißt  Demuth"  usw. 
steht  Nr.  14  in  dem  geschriebenen,  „Es  stehen  drei  Rosen  auf  Gottes 
Herz,  die  erste  ist  gütig"  usw.  in  dem  gedruckten  Buche.  Nr.  8  hat  die 
Handschrift  „Drei  falsche  Zeigen  haben  dich  geschlossen,  drei  heilige 
Zeigen  haben  für  dich  gesprochen"  usw.,  der  Druck  hat  „Zungen"; 
beides  stammt  aus  einem  dort  falsch  geschriebenen,  hier  verlesenen 
Zeugen,  wie  man  sich  leicht  vorstellen  wird.  In  demselben  Spruche 
heißt  es  noch  „so  segne  Dich  Gott  und  der  H,  Eyprinan",  ohne  den 
Druck  wüßten  wir  kaum,  daß  Cyprian,  der  angeblich  so  große  Zauberer, 
gemeint  ist.  Aber  das  Heftchen  ist  es  ja  kaum  wert,  daß  wir  es  so 
genau  ansehen.  Nur  über  einen  Zauberspruch  mag  noch  eine  Be- 
merkung gestattet  sein.  An  letzter  Stelle  -  vor  den  Unglückstagen, 
die  im  Romanusbüchlein  fehlen,  aber  in  andern  ähnlichen  Texten  in 
mannigfacher  Variation  überliefert  sind  (z.  B.  Der  wahrhaftige  feurige 
Drache  in  einem  Druck,  auf  dessen  letzter  Seite  angegeben  ist  Neu- 
Weißensee  bei  Berlin,  Verlagsdruck  von  E.  Bartels,  Generalstraße  8, 
S.  54),  findet  sich  die  folgende  Anweisung: 

Einen   Stecken   zu   schneiden,   daß  man  einen  damit  Prüglen 
kann,  soweit  auch  derselbe  entfernt  ist. 
Merke  wenn  der  Mond  neu  wird  an  einen  Dinstag,  so   gehe  vor 
der  Sonnen   auf  gang  aus  tritt  zu   einen  Stecken,  den   du  dir  zu  vor 


200  ^*"  hessisches  Zauberbuch  ^ 

schon  ausersehen  hast  stelle  dich  mit  deinem  Angesicht  gegen  der 
Sonnen  aufgang  und  spreche  diese  Worde  Steck  ich  greife  dich  an  in 
Namen  XXX  Nimm  dein  Messer  in  die  Hand  und  sprich  um  Steck,  ich 
schneide  dich  in  Namen  XXX  das  du  mir  sollst  Gehorsam  sein  welchen 
ich  prüglen  will  wann  ich  einen  Namen  antrette  darnach  schneide  auf 
zwei  am  Stecken  etwas  hinweg,  damit  du  kanst  diese  Worte  darauf 
schreiben.  Stechen  oder  schneiden:  Alia,  obia,  sabia,  lege  einen  Kittel 
auf  einen  Scherrhaufen  schlage  mit  deinen  Stecken  auf  den  Kittel  und 
nene  des  Menschen  Namen,  welchen  du  prüglen  willst  und  schlage 
tapfer  zu:  so  würst  du  diesen  so  hart  treten,  als  wenn  er  selbst 
darunter  wäre,  und  doch  oft  viele  Meilen  Wegs  von  dem  Ort  entfernt 
ist.  Statt  dem  Scherrhaufen  thuts  auch  die  schwelle  unter  der  thOrr 
womit  ein  Schäfer  von  Birnek  an  seinem  Edelmann  die  Probe  ge- 
macht hat. 

Nun  würde  man  ein  Birneck  oder  Berneck  vergeblich  in  Hessen 
oder  irgendwie  in  der  Umgegend  des  Ortes  suchen,  in  dem  das  Zauber- 
buch und  ja  wohl  auch  diese  Vorschrift  gebraucht  wurde.  Wahrschein- 
lich ist  Berneck  in  Württemberg,  ein  Städtchen  im  Schwarzwaldkreis, 
gemeint.  Wir  müssen  bedenken,  daß  ein  großer  Teil  der  Zauberliteratur 
der  Art,  die  wir  besprachen,  von  Schwäbisch -Hall  aus  neu  verbreitet 
worden  ist.  Schwäbisch -Hall  und  Ilmenau,  Württemberg  und  Thüringen 
sind,  in  diesem  Jahrhundert  wenigstens,  die  Heimstätten  dieser  magischen 
Druckschriften,  die  in  betriebsamer  Kolportage  über  ganz  Deutschland 
verbreitet  sind.  Was  nur  an  handschriftlichen  Segen  und  Zauber- 
sprüchen, bis  auf  geringe  Ausnahmen  auch  alles  was  nur  an  Ver- 
öffentlichungen solcher  Texte  bekannt  geworden  ist,  stammt  aus  diesen 
gedruckten  Büchlein.^  Daß  in  letzter  Zeit  auch  eine  Winkelbuchhandlung 
Berlins  an  dem  Gewinn  dieses  Handels,  der  offenbar  viel  einträglicher 
ist  als  wir  ahnen,  ihren  verhältnismäßig  ehrlichen  Anteil  haben  will,  ist 
nur  in  der  Ordnung. 

Seit  Jahrhunderten  sind  ältere  Drucke  immer  wieder  durch  neue 
ersetzt.    Über  die  hauptsächlichsten  der  Bücher  kann  man  sich  belehren 


^  Was  außer  dem  Zauberbüchlein  noch  an  Abschriften  ähnlicher  Texte  von 
der  Vereinigung  für  Hessische  Volkskunde  mir  übergeben  ist,  läßt  sich  fast 
alles  in  gleicher  Weise  in  den  vorhandenen  Drucken  nachweisen.  Aber  es  ist 
gerade  darum  so  überaus  wünschenswert,  daß  dergleichen  an  eine  Stelle  ein- 
geliefert werde,  wo  das  Neue  und  Unbekannte  als  solches  erkannt  werden 
kann,  alles  Wertvolle  für  die  Geschichte  und  Fortpflanzung  der  Zauberliteratur 
und  die  Kenntnis  des  Volksaberglaubens  gesammelt  und  zur  Benutzung  auf- 
bewahrt werden  kann. 


Ein  hessisches  Zauberbuch 


201 


aus  Wuttkes  deutschem  Volksaberglauben,  dem  wertvollen  Buche,  das 
durch  die  von  Elard  Hugo  Meyer  besorgte  dritte  Bearbeitung  um  ein 
bedeutendes  wertvoller  geworden  ist.  Außer  den  oben  genannten 
Schriften  ist  es  namentlich  Fausts  dreifacher  Höllenzwang  und  das 
6.  und  7.  Buch  Mosis,  die  immer  wieder  hervortreten.  Teile  dieser 
Schriften  sind  uralt  und  haben  sich  handschriftlich  und  im  Gedächtnis 
des  Volkes  vor  den  Zeiten  des  Druckes  viele  Jahrhunderte  durch  er- 
halten. Außer  den  Elementen,  die  der  altdeutsche  Zauber  geschaffen 
und  weiterüberiiefert,  sind  es  Elemente  der  hebräischen  Kabbala,  sind 
es  auch  Elemente  des  Zaubers  der  antiken  Völker,  die  übergeleitet 
wurden  und  bis  heute  lebendig  sind.  Jene  Abracadabra  und  Ablana- 
thanalba,  die  Adonai,  Sebaoth,  die  Ischyros  Theos,  Athanatos  und  eine 
Reihe  gerade  der  unsinnigsten  Buchstabenkomplexe,  die  nie  wieder  ein 
Zufall  gleich  zustande  bringen  würde,  stehen  ebenso  in  den  mittelalter- 
lichen Zauberbüchem  wie  in  den  antiken,  die  aus  den  Gräbern  Ägyptens 
in  erstaunlicher  Fülle  wieder  ans  Tageslicht  gekommen  sind.  Sie  stehen 
z.  T.  ebenso  auf  den  Metalltafeln,  die  hier  und  da  in  Deutschland  und 
Österreich,  bei  Badenweiler,  bei  Gellep  am  Niederrhein,  bei  Wien  aus- 
gegraben sind.  Die  letzteren  sind  die  Dokumente  des  Übergangs,  sie 
stammen  von  römischen  Soldaten  oder  ihrer  Umgebung.  Wenn  ein 
Zauberbuch,  das  aus  einem  ägyptischen  Grabe  stammt  und  etwa  im 
zweiten  Jahrhundert  nach  Christus  geschrieben  ist,  den  Titel  führt 
8.  und  10.  Buch  Mosis  und  genau  gleichartigen  Inhalt  hat  wie  die 
modernsten,  heute  noch  in  den  Zeitungen  angekündigten  Bücher  mit 
dem  Titel  6.  und  7.  Buch  Mosis,  so  zeigt  sich  ein  geradezu  unheim- 
licher Zusammenhang  auf  dem  Gebiete  dieser  rätselhaft  lebenskräftigen 
Literatur  des  systematischen  Aberwitzes.  Aber  ihre  Geschichte  zu 
schreiben,  wäre  viel  mehr  als  die  Geschichte  einer  Narrenliteratur  zu 
liefern.  Hier  gilt  es,  zu  finden  und  zu  verstehen  die  unterste  Schicht 
der  Religion,  aller  und  jeder  geschichtlichen  Religionsentwicklung.  Was 
heute  noch  die  Religion  vieler  Völker  der  Erde  ausmacht,  nennen  wir 
Zauberei;  das  gleiche  ist  bei  allen  Völkern  aufzudecken  als  die  unterste 
Lage  aller  verschiedenartigen  religiösen  Gebilde.  Es  ist  noch  nicht  an 
der  Zeit,  sich  über  diese  wichtigen  Erkenntnisse  deutlicher  auszusprechen. 
Aber  das  soll  man  wissen,  daß  es  sich  hier  bei  diesen  Kleinigkeiten 
und  Narrheiten  um  die  größten  Probleme  handelt. 


XIII 
ABC-DENKMÄLER' 

77  Die  eben  erschienene  erste  Lieferung  des  Thesaurus  linguae  latinae 
gibt  keinen  Artikel  ABC,  keine  Belege  der  überlieferten  Zeichenreihe 
des  sog.  Alphabets.  Und  doch  ist  es  eine  stattliche  Anzahl  von  Denk- 
mälern, auf  denen  das  lateinische  Alphabet  ganz  oder  zum  Teile  ge- 
schrieben steht.  Freilich  bilden  diese  Zeichenreihen  kein  Wort,  aber 
doch  eine  Formel,  die  keinen  Sinn  haben  mag,  aber  in  irgendeinem 
Sinne  zu  irgendeinem  Zwecke  verwendet  sein  muß.  Ehe  dieser  Zweck 
untersucht  war,  konnte  eine  richtige  Aufreihung  der  Belege  nicht  ge- 
geben werden:  und  der  Zweck  der  Formel  konnte  nicht  gesucht  und 
gefunden  werden,  ehe  die  hierhergehörigen  Belege  auch  der  zahlreichen 
griechischen,  etruskischen  und  oskischen  Alphabetreihen  zum  rechten 
Überblick  vereinigt  waren.  Diese  Untersuchung  dürfte  sich  vielleicht 
heute  als  Nachtrag  zum  lateinischen  und  als  Vorarbeit  zum  griechischen 
Thesaurus  Beachtung  erbitten,  wenn  sie  nicht  in  viel  bescheidenem 
Gedanken  unternommen  wäre. 

Mancher  Herausgeber  dieses  oder  jenes  Abcdariums  hat  den  Ur- 
sprung seiner  Zeichen  und  deren  Eigentümlichkeiten  eingehend  erörtert, 
wenige  nur  haben  sich  Sorge  darum  gemacht,  wie  man  darauf  verfallen 
konnte,  die  sinnlose  Buchstabenreihe  an  so  mancherlei  Orten  einzuhauen, 
einzuritzen  oder  aufzumalen.  Und  wenn  man  hier  oder  da  einmal  ver- 
suchte, ein  so  rätselhaftes  Tun  zu  erklären,  konnte  schon  ein  Blick  auf 
die  nächsten  gleichartigen  Exemplare  die  Erklärung  widerlegen,  die  auf 
sie  nicht  paßte.  Meist  hat  man  angenommen  und  es  immer  wieder 
vorgebracht,  daß  Schulknaben  diese  Übungen  aufgeschrieben  oder  daß, 
wenn  es  sich  um  Steininschriften  handelte,  die  Steinmetzen  zur  Übung, 
zum  Zeitvertreib  oder  auch  als  Meisterstück  diese  Zeichenreihen  geliefert 
hätten.  Man  wird  erkennen,  wie  weit  diese  Erklärung  zureichen  kann. 
Denn    das    ist   klar:    eine  Erklärung  muß   für  alle   gleichartigen  Texte^ 

78  solcher  Reihen   passen    und    kann    nur  so   ihre  Richtigkeit   bewähren, 


'  <Rhein.  Mus.  LVI  1901  S.  77  ff.) 


ABC -Denkmäler  203 

So  ist  es  denn  unumgänglich,  wenn  eine  Deutung  aus  den  Texten  selbst 
sich  ergeben  und  an  ihnen  die  Prüfung  bestehen  soll,  vor  allem  die 
Dokumente  zu  durchmustern. 

1.  Am  bekanntesten  sind  eine  Anzahl  Vasen,  auf  denen  ein  archa- 
isches griechisches  Alphabet  geschrieben  ist.  So  steht  auf  der  Basis 
des  sog  Galassischen  Gefäßes,  das  sich  heute  im  Gregorianischen 
Museum  befindet  (Lepsius  Annali  VIII  1836  p.  186  T.  B;  Röhl  /GA  534, 
Kaibel  IGSI  2420,  2,  Kirchhoff  Griech.  Alph.'*  135,  weitere  Literatur  bei 
Heibig -Reisch  Führer  I  Nr.  1356),  ein  griechisches  sog.  chalkidisches 
Alphabet.  Das  kleine  Gefäß  ist  von  etruskischer  Arbeit,  und  auf  dem 
Bauche  trägt  es  ein  etruskisches  sog.  Syllabar  von  dreizehn  Silben- 
gruppen zu  4  Silben  (im  ganzen  52  Silben)  bi,  ba^  bu,  be,  gi,  ga,  gu,  ge 
usw.  Eine  Vase,  bei  Adria  gefunden,  trägt  das  Alphabet  auf  dem  Deckel 
von  A  bis  N  (mit  2  Verstellungen;  Lepsius  Annali  1836,  194  nach  An- 
gabe Lanzis). 

Aus  Etrurien  stammt  wiederum  das  Buccherogefäß,  das  in  Formello 
entdeckt  wurde,  nahe  dem  alten  Veji  (Mommsen  Bulletino  dell'  inst. 
1882,  91;  Kaibel  IGSI  2420,  1;  Kirchhoff*  135).  Zwei  griechische  Al- 
phabete sind  dort  in  eigentümlicher  Verbindung  mit  etruskischen  Zeichen 
eingekratzt.  Über  der  ersten  Reihe  steht  in  etruskischen  Buchstaben 
ur  ur.  An  das  erste  Alphabet  schließt  sich  direkt  an:  säur  uaszuaz. 
Die  dritte  Reihe  beginnt:  uararzuaszuauzsy  dem  Alphabet  folgt:  ausaz- 
suaz  usauaszusa.  Den  Schluß  noch  zweier  Reihen  etruskischer  Zeichen 
bildet  zarua  zarua  zaruas. 

Ein  ziemlich  genau  entsprechendes  griechisches  Alphabet  -  es  ist 
nur  A  bis  K  geschrieben,  die  Buchstaben  stehen  auf  dem  Kopfe  unten 
um  den  Bauch  des  Gefäßes  -  findet  sich  auf  einem  Topfe  aus  dunklem, 
braunem  Ton  mit  einigen  linearen  Ornamenten,  der  im  Corridore  der 
Villa  Papa  Giulio  steht  (LVIII  6;  publiziert  Monumenti  antichi  IV  p.  320). 
Dem  Alphabet  gegenüber  steht  in  der  gleichen  Weise  wie  jenes  ge- 
schrieben APA.  Ob  der  Herausgeber  mit  Recht  an  das  Wort  apd 
denkt?  Zwei  andere  griechische  Alphabete  stehen  auf  zwei  Vasen,  die 
in  Unteritalien  gefunden  sind,  das  eine  auf  einem  vasculum  cretaceum 
(forma  della  lekane  o  stamm  apulo  bei  Barnabei,  der  es  veröffentlicht 
hat  Notizie  degli  scavi  1885  S.  607  f.;  Kaibel /OS/  2420,  4),  das  andere 
auf  einem  Gefäß  di  creta  grezza  aus  Misanello  bei  Armento  in  der  79 
Basilicata  (Robert  Bullettino  dell'  inst.  1875  p.  56;  Kaibel  IGSI  2420,  6). 

Auch  aus  Griechenland  selbst  besitzen  wir  wenigstens  eine  Vase 
mit  diesem  seltsamen  Buchstabenschmuck,  die  sich  in  der  Vasensammlung 


04  ABC -Denkmäler 

des  athenischen  Nationalmuseums  befindet.  Ihr  Fundort  ist  unbekannt 
(Kaiinka,  der  sie  ausführlich  besprochen  hat  Athen.  Mitt.  1892,  101  ff., 
weist  sie  Böotien  zu).  Es  ist  das  alte  epichorische  Alphabet  und  doch 
gehören  die  Buchstabenformen,  weit  entfernt  von  archaischer  Strenge, 
einer  jüngeren  Zeit  an  (Kaiinka  103).  Dem  einen  Alphabet  folgen  noch 
zwei  Zeichen,  in  denen  der  Herausgeber  die  Zeichen  =.  Q  erkennen 
will,  die  vom  ionischen  Alphabet  hinzugekommen  seien,  und  so  wird 
ihm  die  Vase  zum  Denkmal  der  Übergangszeit  von  der  alten  zur  neuen 
ionischen  Schrift.  Sonst  aber  ist  Stellung  und  Form  der  Zeichen  in 
nichts  von  dem  neuen  Alphabet  infiziert  und  so  soll  eben  die  Vase  die 
erste  Äußerung  des  beginnenden  Ausgleichs  zwischen  dem  altererbten 
und  dem  neu  vordringenden  Alphabet  sein  und  wird  ungefähr  dem 
ersten  Jahrzehnt  des  vierten  Jahrhunderts  zugewiesen.  Ob  man  ein  so 
seltsames  Vermittlungsalphabet  begreiflich  findet,  wenn  es  zum  Schmuck 
der  Vase  dienen  oder  gar  einen  belehrenden  Zweck  haben  soll  (Kaiinka 
116  f.)? 

Zum  Schmuck  steht  das  altertümliche  Alphabet  gewiß  nicht  auf  einer 
Scherbe,  die  in  Korinth  südlich  von  der  Burg  unter  vielen  andern  ge- 
funden ist  (Röhl  IGA  20,  13;  Kirchhoff  103).  Die  anderen  sind  sämt- 
lich als  Votivtäfelchen  verwendet,  mit  der  Aufschrift  von  Götter-  oder 
Heroennamen,  einem  dveGriKev  mit  dem  Namen  des  Weihenden  o.  ä. 
(Röhl  n.  20,  1-114).  Offenbar  ist  noch  nachträglich  ein  Stück  der 
Scherbe  abgebrochen,  denn  das  Alphabet  beginnt  mit  e,  dreht  sich  dann 
bei  X  nach  rechts  unten,  |n  und  v  stehen  untereinander,  dann  haben 
OTT  ihre  Längsachse  in  der  horizontalen  Zeilenrichtung  nach  links;  die 
folgenden  Buchstaben  bis  t  stehen  nicht  ßoucTpocpriböv,  sondern  wie 
P  zeigt,  mit  der  Richtung  nach  rechts. 

Wichtiger  als  der  Charakter  und  die  Herkunft  des  betreffenden 
Alphabets  ist  in  allen  Fällen,  die  ich  anführte,  für  die  Frage,  die  hier 
gestellt  ist,  die  Provenienz  des  ganzen  Gefäßes.  Die  Scherbe  kommt 
für  uns  nur  als  Scherbe  in  Betracht:  erst  auf  die  Scherbe  ist  die  Buch- 
stabenreihe geschrieben.  Wozu  dienten  jene  Vasen?  Soweit  es  genaue 
80  Angaben  gibt  über  ihren  Fundort,  stammen  sie  aus  Gräbern.  Ausdrücklich 
wird  es  gesagt  von  der  Galassivase:  sie  stammt  aus  einem  caeretanischen 
Grabe;  von  der  Vase  aus  Metapont:  sie  ward  in  der  dortigen  Nekropolis 
gefunden;  von  der  Vase  von  Misanello:  sie  ist  im  Gräbergebiet  aus- 
gegraben (s.  Robert  a.  a.  O.  p.  56  u.  57);  von  dem  Gefäß  in  der  Villa 
Papa  Giulio:  es  stammt  aus  einem  Grabe  der  Nekropole  von  Narce 
(a.  a.  0.  320).  Es  bleibt  nur  eine  Vase  außer  den  bisher  Genannten, 
auf  der  sich  eine  unvollständige  Alphabetreihe  befindet.    Freilich  ist  es 


ABC -Denkmäler 

hier  ein  besonderer  Fall.  Zwar  sind  die  drei  ersten  Buchstaben  des 
Alphabets  auf  dem  Halse  des  Gefäßes  eingeritzt,  aber  die  längere  Reihe 
A  bis  0  steht  in  wirrem  Durcheinander  aufgemalt  auf  dem  Schild  der 
Athena,  die  auf  dem  Bild  der  Vase  dargestellt  ist.  Es  ist  eine  pan- 
athenaeische  Amphora  der  Würzburger  Sammlung  (n.  389,  Urlichs  Beiträge 
zur  Kunstgeschichte  IV  39  f.).  Für  unsere  Frage  haben  wir  Buchstaben- 
zeichen nicht  auf  einer  Vase,  sondern  auf  einem  Schilde  zu  registrieren. 
Dann  aber  müssen  wir  uns  andern  Dokumenten  zuwenden.  Auf 
Amorgos  steht  am  rauhen  Felsen  eingehauen  ein  Teil  eines  altertümlichen 
Alphabetes  (Röhl  IGÄ  390).  Ebenfalls  in  Amorgos  findet  sich  auf  der 
Rückseite  einer  anderen  Inschrift  das  ionische  Alphabet  23  mal  nach- 
einander eingemeißelt  (Ross  Inscript.  ineditae  II  n.  127).  Genaueres  ist 
über  eine  Alphabetinschrift  nicht  zu  ersehen,  die  Luigi  CepoUa  1805  bei 
Vaste  (prope  Bastam  ruri  quodam  dicto  Melliche)  auf  der  Calabrischen 
Halbinsel  ad  promunturium  lapygium  abgeschrieben  hat  (nach  Cepollas 
Papieren  zuerst  bei  Mommsen,  Unterital.  Dialekte  49  Anm.  6,  Röhl  IGA 
546,  Kaibel  IGSl  2420,  5;  Kirchhoff  157).  Und  hier  darf  noch  seine 
Stelle  finden  das  Fragment  eines  Ziegels  0,10  lang,  0,7  hoch,  auf  dem 
mit  schwarzer  Farbe  „eingeritzt"  steht  (Archäolog.  Anzeiger  1863  S.  92): 
ap  ßap  Tap  bap  9  .  .  . 
€p   ߀p  T^p   bep  Ge  .  .  . 

TIP  ßnp  Tnp  bnp  enp  M  .  . 
und  in  dieser  Weise  weiter  bis 

UJp  ßujp  TWp   bU)p   ÖUJp  |Ll  .   . 

Von  griechischen  Inschriften  bleibt  zunächst  nur  noch  eine  anzuführen 
übrig;  es  ist  eine  Bleiplatte  aus  Athen,  welche  die  28  attischen  Zahl- 
buchstaben trägt.  Lastra  irreguläre  di  piombo  lautet  ihre  Beschreibung 
von  Pervanoglu  (Bullet,  dell'  inst.  1867,  75),  con  diverse  linee  e  le  81 
lettere  delV  alfabeto.  Eine  Angabe  über  die  Herkunft  haben  wir  nicht: 
eine  attische  Bleitafel  hat  an  sich  einen  beschränkten  Kreis  des  Ge- 
brauchs, dem  sie  gedient  haben  kann. 

Eine  Inschrift  stelle  ich  allein.  Sie  mag  den  Übergang  bilden  zu 
den  lateinischen  Dokumenten.  Bei  der  Villa  Aldobrandini  in  Frascati 
im  Gebiet  von  Tusculum  ist  ein  Stein  gefunden  -  la  lastra  servi  a 
chiudere  il  loculo  sepulcrale  di  Ponzio  (de  Rossi  Bull,  di  arch. 
crist.  1881,  131)  -  die,  obwohl  sie  aus  später  römischer  Zeit  stammt, 
das  griechische  Alphabet  bis  M  zeigt.  Auch  der  Name  des  Mannes, 
der  dort  lag,  wird  in  lateinischer  Form  mit  griechischen  Buchstaben 
gegeben  TTONTII. 


206  ABC -Denkmäler 

2.  Eine  ganze  Reihe  von  lateinischen  Alphabetinschriften  schließt 
sich  den  vorgeführten  griechischen  an.  Nur  zwei  Gefäße  weiß  ich  hier 
anzugeben  (deren  Nachweis  ich  meinem  Kollegen  Gundermann  verdanke). 
Das  eine  —  es  ist  eine  Aschenurne  — ,  das  auf  dem  Hauptsteine  zu 
Mainz  gefunden  ist,  zeigt  ringsum  das  Alphabet  nebst  anderen  Orna- 
menten (Becker,  Rom.  Inschriften  des  Museums  der  Stadt  Mainz  S.  HO 
e  n.  6).  Das  andere  wurde  in  Maar  bei  Trier  gefunden,  trägt  außer 
dem  auf  den  Kopf  gestellten  Alphabet  nahe  dem  Fuße  des  Kruges  die 

Worte 

artus  fututor 

art  ligo  dercomogni  fututor 
und  von  späterer  Hand  eingeritzt  aprilis  und  einige  unverständliche 
Zeichen  (Lehner  Westdeutsche  Zs.  XII  1893,  Korrespondenzblatt  Nr.  10^| 
S.  201  ff.).  Bemerkenswert  ist,  daß  das  Alphabet  mehrfach  andere, 
scheinbar  ältere  Formen  zeigt  als  jene  anderen  Worte.  Ich  halte  die 
Deutung  Büchelers  für  schlagend  Ärt(um)  ligo  Dercomognij  Artus  fututor 
(seil,  est):  ich  weihe  (zu  ligare  vergleicht  Bücheier  Bull,  dell*  inst.  1860 
S.  70  Helenus  suom  geniom  dis  inferis  mandat  ,  .  .  ne  quis  eum  sol- 
vat  nisi  nos  qui  ligamus,  und  CIL  X  8249)  den  Artus,  Sohn  des  D. 
Artus  ist  fututor.  Es  handelt  sich  also  um  einen  Defixionszauber  in  der 
Inschrift  und  es  muß  hier  ausdrücklich  bemerkt  werden,  daß  das  Ge- 
fäß auf  dem  römischen  Gräberfelde  ausgegraben  ist.  Wir  haben  schon 
oben  festgestellt,  daß  auch  die  griechischen  Alphabetvasen,  soweit  ein 
Fundort  nachweisbar  ist,  aus  Gräbern  stammen. 

Eine  merkwürdige  Marmortafel  ist  an  der  via  Latina  gefunden. 
82  Zweimal  stehen  da  die  Zeichen  A  bis  H  und  G  bis  Z  -  das  zweite 
Mal  ist  das  Z  dreimal  wiederholt  -,  dann  von  A  bis  Y  (mit  doppeltem 
M),  nochmals  A  bis  Q  (ohne  M),  G  bis  Z  (Henzen  Bullet,  dell'  inst. 
1862,  29;  CIL  VI  6831;  s.  de  Rossi  Bullett.  di  arch.  crist.  1881,  130). 
Parmi  facile  rendere  conto  di  questa  bizarria^  sagt  de  Rossi  (a.  a.  0.), 
essa  ci  offre  gli  esercizi  d'un  discente  d'arte  lapidaria.  Hat  der  Stein- 
metzlehrling auch  die  Buchstaben  D-M-S  am  Schluß  der  letzten  Reihe 
mitgeübt,  die  sich  ganz  regelmäßig  anschließen  und  durchaus  nicht  ohne 
Rücksicht  auf  die  Alphabetreihen  später  zugefügt  scheinen?  Wir  wissen 
ja,  daß  der  Stein  aus  einem  Columbarium  stammt:  es  ist  eine  Grab- 
inschrift, bestehend  aus  Alphabetreihen  und  D-M-S. 

Einen  nicht  minder  wichtigen  Zusatz  trägt  eine  Marmortafel,  die 
bei  Petronell  in  einem  Dolichenusheiligtum  gefunden  ist  (Kaiinka  Athen. 
Mitt.  1892,  122).  Was  auch  sonst  noch  auf  der  Tafel  gestanden  haben 
mag,  sie  enthält  das  lateinische  Alphabet  (mit  YZ)  und  die  Formel  ex 


ABC -Denkmäler  207 


VISU. 


Zusammen  mit  dieser  Tafel  ist  z.  B.  ein  Votivstein  gefunden, 
der  dem  luppiter  optimus  maximus  Dolichenus  geweiht  ist  pro  sal{ute) 
impieratoris)  Caes(aris)  M(arci)  Äurielii)  Commo(di)  Aug{usü).  Das 
Alphabet  der  Marmortafel  ist  auf  göttlichen  Befehl  dem  Dolichenus  ge- 
weiht worden. 

Auf  einer  anderen  Marmortafel  aus  Verona  (CIL  V  3892  tabula  mar- 
morea  cum  foris  circularibus ,  in  quibus  singulis  singulae  alphabeti 
litterae  scriptae  sunt,  reperta  Veronae  1812  cum  lyceum  factum  est.) 
steht  nichts  als  folgende  in  einem  von  rechts  nach  links  laufenden 
ßoucTpo9nööv  geschriebenen  Buchstabenreihen: 

DCBA 

EFGH 

NMLI 

OPQR 

In  Lambaese  ist  das  Fragment  einer  Inschrift  parmi  les  matäriaux  du 
fort  byzantin  gefunden,  ein  Steinstück  0,55  m  hoch,  0,70  breit  {CIL 
VIII  3317).  Auf  einer  bereits  weggeworfenen  Inschriftplatte  ist  der 
untere  Rand  zu  oberst  gekehrt,  und  nun  sind  in  zwei  Reihen  folgende 
Buchstaben  darauf  geschrieben: 

aa  bb  cc  dd 
gh  klmn 

Offenbar  in  ähnlicher  Weise  wie  die  weggeworfene  Inschriftplatte  hat  83 
man  das  Sttick  einer  Säule  aus  Aquileja  verwendet,  das  dort  alle  Mari-^ 
gnane  in  der  Nähe  des  sog.  Zirkus  gefunden  ist,  0,43  m  hoch,  1,16  Um- 
fang, mit  2  Dtibellöchern.  In  schlechten  Buchstaben  ist  darauf  das 
Alphabet  von  A  bis  Z  eingeritzt  (Arch.-epigr.  Mitteilungen  aus  Österreich 
1881  p.  124  Nr.  16). 

Von  Ziegeln,  auf  denen  in  großen  kursiven  Linien  das  Alphabet 
eingeritzt  ist,  weiß  ich  vier  anzugeben:  der  eine  stammt  aus  Stein  am 
Anger  in  Ungarn,  ist  jetzt  im  Museum  zu  Pest  und  zeigt  in  vier  Reihen 
ein  Alphabet  bis  Z  {CIL  III  p.  962,  XXVII  Nr.  1);  der  andere  stammt 
aus  Holledoorn  in  Holland,  hat  eine  Buchstabenreihe  A  bis  X,  die 
andere  A  bis  N  (Brambach  CIRhen.  110);  ein  dritter  stammt  aus  Car- 
nuntum,  gibt  das  Alphabet  bis  Z  neben  dem  sigillum  der  leg.  XIIII 
{CIL  III  Suppl.  3  Nr.  11  453),  der  vierte  stammt  aus  Dacien,  ist  im  Museum 
von  D6va,  zeigt  drei  Alphabetreihen,  deren  zweite  allein  vollständig  das 
Alphabet  gibt  (Arch.-epigr.  Mitt.  aus  Österreich  VIII  46).  Es  bleibt  noch 
ein  merkwtlrdiger  Stein  von  Trapani,  der  als  forma  lapidea  bezeichnet 
wird,  als  Matrize,  mit  der  die  Buchstaben  in  weiches  Material  gedrückt 


208  ABC -Denkmäler 

worden  seien  {CIL  X  8064,  1;  de  Rossi  Bullett.  di  archeol.  crist.  1881, 
136).  Die  umgekehrte  Form  der  Buchstaben  scheint  auf  diesen  Ge- 
brauch hinzuweisen. 

Ein  in  seiner  Art,  soviel  ich  weiß,  einzig  dastehendes  kleines  Denk- 
mal mag  hier  seine  Erwähnung  finden.  Aus  Pompei  stammt  die  kleine 
Terrakottafigur  eines  kahlköpfigen  phallischen  Alten,  die  als  Lampe  ge- 
dient hat:  //  suo  fallo  serve  come  becco  della  lucerna.  Weiter  gibt 
Trendelenburg,  der  Bullet,  dell'  Inst.  1871,  S.  253f.  von  dem  Funde] 
Bericht  erstattet,  an,  daß  der  Alte  in  den  Händen  halte  un  ruotolo\ 
sviluppato,  sul  quäle  leggonsi  le  lettere  ABfAGZ. 

Die  gleiche  Weise  der  Anwendung  wie  die  griechischen  und  lateinischei 
Alphabete  auf  Vasen  und  auf  Stein  hat  das  etruskische  Alphabet  ge- 
funden.    Ich  darf  kurz  auf  die  vorhandenen  Dokumente  hinweisen:  dasl 
kleine  schmucklose  Tongefäß  von  Bomarzo  bei  Viterbo  (Fabretti  n.  2436;] 
Mommsen  Unterit.   Dial.  S.  3),   die   zwei   Pateren    und    den   Krug  von! 
Nola  (Fabretti  n.  2766,  2767,   Mommsen    6 f.,   313 f.,   Müller- Deecke! 
Etrusker  11^  Taf.  VIII,  IX),  die  zwei  clusinischen  Kalksteine  mit  drei  Al-| 
phabeten  (Fabretti  Suppl.  n.  163-166,  tab.  V).  Auch  hier  ist  es  bei  den 
Vasen  wenigstens   ohne  weiteres   anzunehmen,   daß   sie  aus    Gräbern, 
stammen. 

84  3.  Unter  den  griechischen  und  lateinischen  Alphabetinschriften 
schließen  sich  nun  diejenigen,  die  wir  bisher  nicht  berücksichtigt  haben  \ 
ganz  von  selbst  zu  einer  Gruppe  zusammen:  die  geritzten  oder  gemalten 
Aufschriften  auf  Wänden.  Den  Alphabetinschriften  der  Vasen,  die 
in  etruskischen  Gräbern  gefunden  wurden,  entspricht  die  Wandinschrift 
eines  etruskischen  Grabes  bei  Colle  in  der  Nähe  von  Siena  {Röh\  IGA 
535,  Kaibel /GS/ 2420,  3;  Kirchhoff  135).  Außer  allerlei  rotaufgemalten 
etruskischen  Inschriften  befindet  sich  dort  ein  chalkidisches  Alphabet 
A  bis  0  und  ein  'Syllabar'  |Lia  pn  |ue  juu  va  vo  .  .  .  derselben  Art  wie 
auf  dem  oben  angeführten  galassischen  Gefäße  aus  Caere.  Ich  schließe 
gleich  hier  zwei  vereinzelte  Wandinschriften  an,  beide  Graffiti,  die  eine 
an  einer  inneren  Türwand  des  Excubitoriums  der  vigiles  in  Trastevere 
{CIL  VI  3074;  Henzen  Annali  1874  p.  156,  77),  die  andere  an  einer 
Wand  in  den  ausgegrabenen  Räumen  von  Carnuntum  (Arch.-epigr. 
Mitt.  aus  Österreich  VIII  80;  das  Alphabet  geht  nur  bis  R).  Eine  er- 
staunlich große  Anzahl  angeschriebener  Alphabete  findet  sich  aber  da, 
wo  wir  die  Wände  der  Häuser  einer  antiken  Stadt  heute  noch  vor  Augen 
haben,  in  Pompei.  Da  finden  sich  griechische,  lateinische  und 
o Skis  che  Alphabetreihen.   Das  griechische  Alphabet  ist  in  den  mannig- 


ABC -Denkmäler  209 

fachsten  Teilreihen  vorhanden  von  A  bis  T,  A  bis  €,  A  bis  Z,  A  bis  K, 
A  bis  M  oder  N,  es  ist  auch  nach  dem  vollständigen  Alphabet  die 
gleiche  Reihe  rückläufig  wiederholt,  so  daß  ein  vollständiges  Palindrom 
entsteht.  Man  zählt  16  solcher  griechischer  Reihen  (CIL  IV  p.  164). 
Die  lateinischen  Reihen  sind  kaum  minder  mannigfaltig,  und  man  mag 
beachten,  daß  auch  die  vollständigen  Reihen  immer  nur  bis  X  reichen. 
Eine  besondere  Erscheinung  sind  die  Reihen,  in  denen  zum  ersten 
Buchstaben  jedesmal  der  letzte  gesetzt  wird,  zum  zweiten  der  vorletzte 
usf.,  so  daß  eine  Buchstabenfolge  dieser  Art  entsteht  AXBVCTDSER  usf.^ 
Diese  kleinen  Dokumente  umfassen  im  CIL  IV  die  Nummern  2514  bis  85 
2549  ^  Es  sind  alles  Graf  fiten  und  alle  stehen  an  den  unteren  Teilen 
der  Wände;  das  hat  man  zum  Beweise  dessen  angeführt,  daß  wir  hier 
die  Schriftstellerei  von  Schulknaben  wiederzuerkennen  hätten.  Ich  muß 
noch  zwei  oskische  Alphabete  gleicher  Art  in  Pompei  erwähnen  {CIL 
IV  p.  164;  Fiorelli  Inscr.  ose.  Pomp.  p.  12  tab.  X  9-12;  Mommsen, 
Unterit.  Dial.  188;  Mau  BuUett.  dell'  instit.  1875,  60  ff.).  Wir  wollen 
uns  zugleich  darauf  aufmerksam  machen  lassen  (Mau  a.  a.  0.  61),  daß 
des  Schreibers  Muttersprache  oskisch  nicht  gewesen  sein  kann;  denn 
er  schreibt  von  links  nach  rechts  und  einige  Buchstaben  sehen  ganz 
gleich  den  betreffenden  lateinischen. 

4.  Alle  Hauptformen  des  Gebrauches  der  Alphabetreihen  in  der 
antik -heidnischen  Welt*  leben  weiter  innerhalb  der  antik-christlichen 

*  Diese  Vereinigung  der  Buchstaben  aus  der  aufsteigenden  Hälfte  (A— K) 
mit  den  nach  Analogie  der  Monatstage  rückwärts  gezählten  der  absteigenden 
Reihe  (X— M)  muß  verbreitet  gewesen  sein.  Die  Denare  des  L.  Cassius  Caei- 
cianus  sind  in  der  Weise  mit  Münzzeichen  versehen,  daß  dem  Buchstaben  der 
Vorderseite  z.  B.  A,  B,  C  usw.  auf  der  Rückseite  das  entsprechende  Zeichen  der 
zweiten  Alphabethälfte,  also  z.  B.  X,  V,  T  usw.  entspricht,  demnach  A  — X  oder 
B — V  usw.  je  auf  einer  Münze  vereinigt  werden,  s.  E.  Babelon,  Descr.  des 
monnaies  de  la  republique  romaine  1,  327,  Mommsens  Rom.  Münzwesen  S.  561. 

*  Ich  stelle  absichtlich  nicht  in  meine  Aufzählung  der  Dokumente  einige 
Alphabetreihen  ein,  die  sich  in  Handschriften  finden.  Berthelot  gibt  im  ersten 
Bande  der  Collection  des  anciens  alchimistes  grecs  S.  156  nach  einem  cod. 
Marcianus  zwei  Reihen  der  seltsamen  Zeichen,  die  dann  mit  den  gewöhnlichen 
griechischen  Buchstaben  in  der  Alphabetreihenfolge,  die  darüber  geschrieben 
sind,  erklärt  werden.  Daneben  steht  dann  in  dieser  Zeichenschrift  mit  der  Auf- 
lösung darüber  dXcpdßnToc  tu)v  fpoi\ji}idTix)v.  Außerdem  steht  dabei  ^XivriKd  (= 
4X\riviKd)  und  UpoTXuqpixd.  Zum  Teil  genau  dieselben  Zeichen,  in  derselben 
Weise  geschrieben  und  erklärt,  habe  ich  in  einem  Neapler  Kodex  II  C  33  fol.  7  v 
(unten)  gefunden  und  dabei  steht  Tpamnaxa  iepoTXuqpiKd  direp  ^v  xeixeciv  Kai  4v 
TT^Tpaic  gTpaq)ov  ^Xevec  (sie).  Es  handelt  sich  offenbar  um  eine  Geheimschrift 
und  ieporXucpiKd  —  mit  'Hieroglyphen'  haben  die  Zeichen  nichts  zu  tun  —  soll 
wohl  nur  sagen,  daß  es  heilige  Zeichen  sind.  Aber  die  Alphabetreihenfolge 
hat  in  dieser  Anweisung  weiter  keine  Bedeutung. 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  14 


210 


ABC -Denkmäler 


Welt.  Ich  gebe  die  mir  bisher  bekannten  Beispiele.  In  Karthago  hat 
auf  dem  Friedhofe  der  alten  Christen  unter  den  Resten  eines  Bapti- 
steriums  Delattre  ein  Terrakottagefäß  entdeckt,  das  auf  dem  Halse  außer 
dem  Bilde  des  Kreuzes  und  zweier  Fische  die  Zeichen  ABC  zeigt 
(Bullett.  di  archeol.  crist.  1880  Tav.  VIII,  dazu  de  Rossi  ebenda  1881, 
125  ff.).  Es  ist  in  der  Tat  die  Annahme  de  Rossis  sehr  naheliegend, 
daß  wir  es  mit  einem  beim  Taufakte  gebrauchten  heiligen  Gefäß  zu 
tun  haben.  Ich  darf  mit  dieser  Vase  unmittelbar  vergleichen  einen  Kasten, 
der  oben  und  unten  von  Bronzeplatten  gedeckt  war.  Die  eine  Platte 
86  trägt  in  vier  Kreisen  geschrieben  das  stets  gleiche  lateinische  Alphabet, 
in  der  Mitte  zwischen  je  zwei  Kreisen  steht  zu  lesen  vivas  in  deo 
(Bullett.  di  archeol.  crist.  1880  Tav.  VII  Fig.  1%  dazu  p.  172).  Gleicher 
Art  ist  eine  Bronzescheibe,  die  ringsherum  ebenfalls  das  Alphabet  zeigt 
(ebenda  Fig.  2  p.  122).  Jener  Kasten  stammt  aus  Rom  und  soll  etwa 
dem  4.  Jahrh.  angehören.  Die  Inschrift  vivas  in  deo  weist  darauf  hin, 
daß  ein  Zusammenhang  mit  Tod  und  Grab  vorliegt.  Wir  besitzen  auch 
christliche  Inschriftsteine  mit  dem  Alphabete.  Ein  merkwürdiger  Marmor- 
block aus  dem  Circus  Flaminius  trägt  zwischen  zwei  Kreuzen  die  Al- 
phabetreihe (Bullet,  di  arch.  Christ.  1887,  136),  und  man  darf  gerade 
hier  zu  bemerken  nicht  versäumen,  daß  auch  dieses  lateinische  Alphabet 
nur  bis  X  reicht,  obwohl  doch  die  ganze  Inschrift  ins  VI.  oder  VII.  Jahrh. 
nach  Chr.  gehören  wird  (de  Rossi  a.  a.  0.).  Ein  anderer  christlicher 
Inschriftstein  trägt  nur  die  griechischen  Buchstaben  ABf,  er  ist  im 
Cimitero  ostriano  gefunden  und  diente  als  Verschlußplatte  für  das  Grab 
eines  Knaben  (de  Rossi  a.  a.  0.  131). 

Endlich  haben  sich  auch  christliche  Wandinschriften  gefunden.  In 
den  Katakomben  von  Bolsena  finden  sich  unter  einer  Reihe  von  Kreuzen 
außer  dem  Worte  Pax  und  um  das  Bild  eines  Brotes  Teile  des  Alpha- 
betes eingeritzt  (CIL  X  2887,  vgl.  de  Rossi  Bullett.  di  arch.  crist.  1881, 
132),  und  Graffiti  vom  Cimitero  di  S.  Alessandro  an  der  via  Nomentana 
bei  Rom  enthalten  nicht  nur  ein  ganzes  etwas  fehlerhaftes  Alphabet, 
sondern  auch  jene  von  den  pompeianischen  Wänden  her  uns  bekannte 
Anordnung  der  Buchstaben  AXBVCT  usw.  (s.  de  Rossi  a.  a.  0.  131). 

Diese  christlichen  ABC -Denkmäler  lassen  es  gar  nicht  mehr  zu,  von 
bloßen  Schreibübüngen  der  Knaben  oder  der  Steinmetzen  zu  reden. 
Und  so  hat  denn  auch  de  Rossi  (a.  a.  O.  139)  eine  Erklärung  im  An- 
schluß an  die  so  oft  auf  entsprechenden  Denkmälern  vorgefundenen 
Zeichen  AÖ  und  die  Worte  in  der  Apokalypse  des  Johannes  gesucht 
I  8  ifdj  eijLii  TÖ  A  Kai  tö  Q,  dpxn  Kai  teXoc,  Xeyei  6  Kupioc  (vgl.  I  11 
XXI  6  XXII  13).    Für  diese  zwei  Zeichen  soll  Vequivalente  preciso  sein 


ABC -Denkmäler  211 

das  ganze  Alphabet,  die  symbolische  Bezeichnung  der  Grundlehren  des 
Christentums,  ja  des  ganzen  göttlichen  Wortes.  Es  wird  ebenso  ein- 
leuchten, daß  diese  Erklärung  für  die  vorchristlichen  Alphabetinschriften 
nichts  hilft,  als  daß  eine  Erklärung,  die  richtig  sein  soll,  für  alle  die 
oben  zusammengestellten  Denkmale,  die  vorchristlichen  wie  die  christ- 
lichen, zutreffen  muß.  Mag  sich  auch  die  Ausdeutung  verändert  und  87 
erweitert  haben,  wir  habön  einen  Brauch,  der  durch  die  Jahrhunderte 
des  Altertums  in  gleicher  Weise  von  Heiden  und  Christen  geübt  wurde, 
nicht  erklärt,  wenn  wir  nur  sagen,  in  welcher  Auslegung  er  den  Christen 
hätte  brauchbar  sein  können.  Und  nicht  einmal  das  wäre  durch  das 
Offenbarungswort  vom  A  und  Q  genügend  begreiflich  zu  machen.  Aus 
der  Sicherheit,  mit  der  de  Rossi  die  paar  heidnischen  Beispiele,  die 
ihm  bekannt  sind,  in  der  herkömmlichen  Weise  den  Übungen  der 
Knaben  oder  der  Steinmetzen  zuschreibt  (a.  a.  0.  130,  136),  sehen  wir 
mit  einiger  Verwunderung,  daß  ihm  gar  keine  Möglichkeit  in  Gedanken 
kam,  die  heidnischen  und  christlichen  ABCdarien  zusammenzurücken  in 
eine  geschichtliche  Linie  des  gleichen  Brauches.  Und  doch  liegt  diese 
Notwendigkeit  für  uns  auf  der  Hand. 

5.  Es  wird  denn  auch  nicht  nötig  sein,  alle  Erklärungen,  die  man 
gelegentlich  einmal  ausgesprochen  hat,  auf  ihre  Haltbarkeit  durchzuprüfen. 
Will  man  wirklich  die  Alphabetziegelsteine  als  Vorlagen  beim  Schreib- 
unterricht mit  Wattenbach  (Schriftwesen  ^91)  ansehen  und  mit  Budinszky 
(Ausbreitung  der  lat.  Spr.  151)  aus  den  bei  Nymwegen  gefundenen 
Exemplaren  'auf  den  Bestand  einer  Elementarschule  in  dieser  Gegend' 
schließen?  Oder  will  man  sich  zur  Erklärung  der  Syllabare  der  an- 
mutigen Deutung  erinnern,  die  man  in  Bergks  Gr.  Literaturgeschichte  I 
352,  Anm.  121  gedruckt  lesen  kann,  da  wo  er  von  unartikulierten 
Liedern  ohne  Worte  spricht,  *  womit  die  Ammen  Kinder  in  den  Schlaf 
zu  singen  pflegten'?  'Noch  ist  uns  ein  solches  Lied  auf  einem  Gefäß 
aus  Caere  in  Etrurien  erhalten:  ßi  ßa  ßu  ße  fi  t«  Tu  Te  usw.,  auf  einem 
anderen  Gefäße  findet  sich  ein  ähnliches  Lied  m«  Mi  M^  fiu'.  Man  wird 
mir  eine  Kritik  der  Bergkschen  Ammen  und  überhaupt  aller  ähnlichen 
Erklärungsversuche  erlassen.  Sie  passen  im  besten  Falle  immer  nur 
auf  einige  wenige  der  zahlreichen  gleichartigen  Dokumente. 

Bevor  wir  die  oben  aufgestellte  Forderung  zu  erfüllen  suchen,  alle 
vorgelegten  Dokumente  zu  erklären,  dürfen  wir  einen  Blick  werfen  auf 
einige  merkwürdige  Denkmale  genau  entsprechender  Art  außerhalb  des 
antiken  und  altchristlichen  Kulturkreises.  Ich  vermag  nicht  zu  sagen, 
ob  die  Runenalphabete,   die  ich   meine,   irgendeinen  direkten  ge- 

14* 


212  ABC -Denkmäler 

schichtlichen  Zusammenhang  mit  jenen  antiken  Alphabeten  haben:  daß 
es  derselbe  Gebrauch  der  Alphabetreihe  ist,  den  wir  im  germanischen 

88  Norden  festzustellen  haben,  wird  alsbald  einleuchten.  Vier  sichere  Bei- 
spiele vermag  ich  nach  Wimmers  Buche  über  die  Runenschrift  (übers, 
von  Holthausen,  Berlin  1887)  anzugeben.  Es  sind  1.  ^ein  Bracteat 
(d.  h.  eine  dünne  Goldplatte,  bractea,  in  Form  einer  Münze,  mit  Prägung 
auf  der  einen  Seite  und  mit  einer  Öse  versehen,  um  als  Schmuck- 
gehänge benutzt  werden  zu  können),  gefunden  1774  bei  Vadstena  in 
Schweden,  jetzt  im  Museum  in  Stockholm.  Der  größte  Teil  der  Um- 
schrift desselben  besteht  aus  einem  Runenalphabet  in  der  ursprünglichen 
Reihenfolge  der  Runen'  (Wimmer  S.  95);  2.  eine  Silberspange,  ^gefunden 
1857  bei  Charnay  in  der  Bourgogne  in  einem  Begräbnisplatz  aus  der 
merovingischen  Zeit';  ^die  oberste  Zeile  der  Inschrift  enthält  den  größten 
Teil  des  Runenalphabets  in  derselben  Anordnung  wie  der  Bracteat  von 
Vadstena'  (Wimmer  S.  58  und  75);  3.  ^ein  Messer  oder  kleines  Schwert, 
gefunden  1857  in  der  Themse  (jetzt  im  British  Museum),  mit  einem 
altenglischen  Runenalphabete,  ebenfalls  in  der  ursprünglichen  Anordnung' 
(Wimmer  S.  75);  4.  findet  sich  ein  jüngeres  Runenalphabet  'auf  einem 
kleinen  Sandstein,  der  zu  Beginn  des  Jahres  1882  in  Ostermariae  sogn 
auf  Bornholm  ausgepflügt  wurde  und  jetzt  im  altnordischen  Museum 
zu  Kopenhagen  bewahrt  wird'  (Wimmer  S.  254 f.).  Ich  füge  dem  noch 
hinzu  die  Worte,  die  Wimmer  über  einige  etwa  noch  in  Betracht  kommende 
Denkmäler  S.  76  f.  Anm.  sagt:  ^Während  der  Bracteat  von  Vadstena  das 
ganze  Alphabet  mit  Ausnahme  einer  einzigen  Rune  enthält,  finde  ich  . . . 
den  Anfang  davon  (fu{))  auf  einem  Bracteaten  von  Schonen  .  .  .  Zu- 
sammenhang hiermit  hat  vielleicht  auch  fünf)  auf  einem  kleinen  Amulet  (?) 
von  Granit,  das  1866  bei  Valby  in  der  Nähe  von  Kopenhagen  gefunden 
wurde  . . .  Daß  die  Runen  fünf)  auf  diesem  Steine  ...  mit  dem  Runen- 
alphabet in  Verbindung  stehen  können,  wird  durch  einen  Stein  von 
Wermland  bestätigt,  auf  dem  sich  eben  dieselben  vier  Runen  zusammen 
mit  den  16  Zeichen  der  jüngeren  Runenreihe  in  der  später  bekannten 
Anordnung  finden.'  "^Mit  diesen  Darstellungen  vom  Runenalphabete  oder 
von  Teilen  desselben'  verdient  ^auch  ein  in  Schonen  gefundener 
Messingbracteat  aus  dem  Mittelalter  (12.  Jahrh.?),  dessen  Umschrift  das 
lateinische  Alphabet  von  A  bis  R  enthält,  womit  es  aus  Mangel  an 
Raum  endet  .  .  .,  verglichen  zu  werden'.  Mir  ist  die  Literatur  über  die 
Runen  nicht  so  bekannt,  daß  ich  sagen  könnte,  ob  man  Erklärungen 
dieser  Alphabete  versucht   hat.     Es   wird   unserer  Erklärung,   die   wir 

89  suchen,  zur  willkommensten  Bestätigung  dienen,  wenn  sie  auch  auf  die 
gesamten  Runenalphabete  zutrifft.   Und  endlich  wird  sie  zutreffen  müssen 


ABC -Denkmäler  2n 

auf  eine  letzte  Anwendung  der  Alphabetinschrift',  die  mir  bekannt  ge- 
worden ist:  ich  meine  die  auf  Glocken.  Es  genügt,  auf  die  für  unseren 
Zweck  mehr  als  ausreichende  Zusammenstellung  hinzuweisen,  die  Schubart 
in  der  Monatsschrift  für  Gottesdienst  und  kirchliche  Kunst  von  Spitta 
und  Smend,  2.  Jahrgang,  Nr.  1  (April  1897),  S.  16  ff.  gegeben  hatl 
Hier  habe  ich  nur  hervorzuheben,  daß  mehrmals  ein  Alphabet  nur  bis 
X  reicht  und  oft  die  Buchstaben  auf  dem  Kopfe  stehen^;  im  übrigen 
muß  ich  den  Schlußsatz  der  Abhandlung  zur  Erbauung  des  Lesers 
wörtlich  anführen:  'Wir  freuen  uns  der  Vermutung,  mit  der  wir  schließen, 
die  mittelalterliche  Kirche  könnte  auch  ihre  Glocken  für  die  Kinder  ge- 
habt und  ihnen  zur  Inschrift  gegeben  haben,  gleichsam  als  Lobgesang 
aus  dem  Munde  der  Unmündigen  und  Kinder,  nichts  anderes  als  das 
Alphabet:  Gott  weiß  ja  wohl  draus  ein  Gebet  zu  machen.' 

Eine  Deutung  des  Brauches,  die  einer  so  verschiedenartigen  An- 
wendung wirklich  genügt,  wird  kaum  rechtfertigender  Worte  bedürfen. 
Aber  wo  ist  sie?  Es  wäre  einfach,  wenn  es  ein  ausdrückliches  Zeug- 
nis eines  Schriftstellers  gäbe.  Niemand  spricht  von  den  rätselhaften 
Alphabetreihen. 

6.  Zu  den  griechischen  Papyri,  die  einst  durch  den  Grafen  Anastasy 
nach  Leiden  kamen  -  er  hatte  sie  von  Arabern  erworben,  die  sie  in 
thebanischen  Gräbern  gefunden  -,  gehört  ein  Blatt,  das  Leemans  im 
zweiten  Bande  seiner  Papyri  graeci  musei  antiquarii  publici  Lugduni  90 
Batavi,  S.  260  ff.  als  Papyrus  Y  veröffentlicht  hat.  Das  Blatt  ist  hoch 
0,08,  lang  0,90  m.  Auf  beiden  Seiten  stand  früher  ein  demotischer 
Text;  auf  der  einen  Seite  ist  er  fast  ganz  abgewischt  und  dann  sind 
die  griechischen  Zeichen  darüber  geschrieben.  Nach  der  Reihe  der 
Vokale  folgen  'Silben'  in  der  Reihenfolge  des  Alphabets  in  folgender  Art: 


^  Nicht  hierher  gehören  die  lat.  Alphabete  auf  den  Schulmünzen  und  Rechen- 
pfennigen des  Mittelalters,  über  die  mich  die  Herren  Riggauer  und  Habich  im 
Münchner  Münzkabinet  freundlich  belehrt  haben.  Über  diese  'Pfennige'  und 
ihre  Anwendung  geben  Auskunft  Arbeiten  von  H.  Voigt  (nebst  Mitteilungen  von 
Weckerling)  in  der  Zs.  für  Numismatik  XIX  144  ff.  und  Alfred  Nagl  in  der  Wiener 
Zs.  für  Numism.  XIX  310  ff. 

'  Vgl.  auch  Ottes  Glockenkunde*  S.  135.  Ich  verdanke  meine  Angaben 
Edw.  Schröder  und  Joh.  Bauer  in  Marburg. 

»  v.  Drach  im  Anzeiger  f.  deutsches  Alt.  XXIV  (zu  Zeitschr.  XLIV)  S.  133 
gedenkt  einer  Glocke  zu  Wehrda  vor  den  Toren  Marburgs  'wo  rückläufig  und 
mit  meist  auf  dem  Kopf  stehenden  Zeichen  das  (unvollständige)  Alphabet 
QPONML  i  KIHGFE  vorkommt.'  Über  die  '  Bedeutung'  solcher  Inschriften  er- 
klärt auch  er,  nichts  Sicheres  beibringen  zu  können,  und  erwähnt  nur  die  In- 
schriften des  Runenfuthark  auf  Amuletten,  Schmuckstücken  und  Waffen  nach 
Mitteilung  Schröders. 


214 


ABC -Denkmäler 

a 

ßa 

Ta    öa    la 

0a 

Ktt 

€ 

߀ 

T€    be    Z;e 

Ge 

Ke 

n 

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Tn    ön    Ir] 

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l 

ßl 

Yi    bi    z;i 

Gl 

Kl 

0 

ßo 

TO    bo    lo 

00 

KO 

u 

ßu 

TU    bu    ^u 

0u 

KU 

uu 

ßUJ 

TU)   buj   Ziuj 

01JU 

KUJ 

Tpac 

TpuiC 

Tpec 

bpac 

Tpnc 

bpec 

Tpic 

bpnc 

Tpoc 

bpic 

So   geht  es  in  18  Kolumnen  weiter  bis  ipa  \\ie  ipn  usf.     Dann  folgen 
noch  als  19.  bis  29.  Kolumne  vierstellige  Reihen: 

ßpac     ßpujc     Tpuc 

ßpec 

ßpnc 

ßpic 

ßpoc 

ßpuc 

mit  allerlei  Versehen  und  Unordnungen  bis  zur  letzten: 
Xpac  xpec  XPnc  XPic  Xpoc  XP"C  XPUJC. 
Außer  diesem  Blatt  befindet  sich  in  demselben  Leidener  Museum  auch 
eine  Holztafel,  die  auf  beiden  Seiten  das  einfache  griechische  Alphabet 
trägt  (Leemans  Aeg.  Monum.  II  Tafel  236).  Daß  jenes  Papyrusblatt  aus 
dem  Grabe  zusammengehört  mit  den  zwei  großen  Zauberbüchern  gleichen 
Fundorts,  die  mit  ihm  zusammen  erworben  wurden,  darf  wahrscheinlich 
genannt  werden.  Und  nun  bedenken  wir,  wie  vor  allem  die  Vokal- 
reihen aeriiouuj  in  unendlichen  Variationen  gerade  in  dem  großen  Zauber- 
buche (W  bei  Leemans;  hinter  dem  ^Abraxas'  von  mir  herausgegeben) 
dieser  Fundstätte  eine  so  große  Rolle  spielen  als  Zaubersprüche,  als 
der  große  mystische  Zaubername  des  höchsten  Gottes  selbst.  Über 
diese  Vokale  in  dieser  Literatur,  in  Papyri  und  Inschriften  ist  hinreichend 
schon  früher  gehandelt  worden  (Abraxas  22,  42,  Wünsch  Seth.  Verfl. 
77  ff..  Heim  Incantamenta  mag.  540  Anm.,  Siebourg  Bonn.  Jahrb.  103, 
140  ff.).  Nicht  bloß  die  Vokalreihe,  die  mannigfachsten  Buchstabenreihen, 
die  so  oft  augenscheinlich  die  Sinnlosigkeit  suchen,  sind  jedem  bekannt, 
der  einmal  einen  Blick  in  die  gewaltige  antike  Literatur  des  Zaubers 
91  geworfen  hat.  Alle  jene  Palindrome  von  aßXava0avaXßa  bis  zu  den 
'Krebsworten'  von  59  Buchstaben  (Kopp  Griech.  Exzerptenlit.  S.  67, 
Pariser  Zauberpapyrus  S.  31  Wessely),  jene  Silbenspielereien  wie  vev- 
vava  cevvava  |  0a0  cpaQ  x«0,  0a0a0ax,  0a0aßa0a0,  a00a  ßa00a  -  man 
findet  dergleichen  in  Menge  in  Wesselys  Zusammenstellung  der  Ephesia 
grammata  (Progr.  des  Franz  -  Joseph  -  Gymn.  Wien  1886)  -  sollen  die 


ABC -Denkmäler  2ic; 

zauberische  Kraft  besitzen,  Dämonen  abzuwehren  und  Geister  zu  zwingen. 
Es  mag  hier  noch  hingewiesen  werden  auf  Marcellus  Empiricus  X  70: 
scribes  in  Charta  virgine  et  collo  suspendes  Uno  rudi  ligatum  tribus 
nodis  ei,  qui  profluvio  sanguinis  laborat:  vpa  ipe  \\tx]  ipe  ipri  ipa  ipe.  Ohne 
daß  ich  hier  in  eine  Erörterung  der  mannigfachen  Zauberworte  und 
Zaubernamen  eintrete,  in  denen  hebräische  und  ägyptische,  babylonische 
und  griechische  Laute  durcheinander  wirbeln,  eine  Sorte  gibt  es  von 
acrm«  övö^axa  (so  nennen  sie  die  antiken  Kenner  selbst),  die  nur  eine 
mechanisch  immer  wiederkehrende  Buchstabenreihe  oder  bestimmt  vari- 
ierte Silbenfolge  darstellen,  in  der  die  Zauberkraft  beschlossen  liegen 
soll;  ein  acimov  övo|ia,  der  bekanntesten  eines  gibt  es,  das  noch  ganz 
deutlich  den  Ursprung  aus  der  Alphabetreihe  zur  Schau  trägt:  a&racarfabra 
ist  nur  der  nach  Analogie  geläufiger  Palindrome  zur  rollenden  Zauber- 
formel gemachte  Anfang  des  lateinischen  Alphabets  (s.  Büchelers  Be- 
merkung im  Thesaurus  1. 1.  u.  d.  W.). 

Einem  Winke  Th.  Aufrechts  verdanke  ich  eine  wertvolle  Analogie 
aus  indischem  Zauber.  Es  sind  zweifellos  magische  Rituale,  die  in  dem 
Catalogus  codd.  sanscriticorum  bibl.  Bodleianae  p.  93  und  p.  94^  aus 
einem  Kompendium  mystischer  Weisheit  von  Aufrecht  bekannt  gemacht 
sind.  Ich  verdanke  deren  Verständnis  und  die  Transcription  der  mir 
wichtigen  Formeln  der  freundlichen  Hilfe  Bartholomaes.  p.  93  heißt 
der  Zauberspruch,  mit  dem  ein  Pflock,  der  aus  einem  Schakalknochen 
besteht,  bezaubert  wird,  damit  er  geeignet  werde,  in  einem  Hause  oder 
an  einer  Leichenstätte  eingegraben,  jemanden  besessen  zu  machen, 
also:  öm  tarn  täm  tarn  tarn  tim  tim  tum  tum  tem  taim  töm  taum  tarn 
iah,  dann  folgt  amukam  grhna  (=  faß  den  NN),  den  Schluß  macht: 
hum  hum  tarn  thah.  Entsprechend  wird  ein  Pflock,  der  aus  einem 
Menschenknochen  besteht,  zum  gleichen  Zwecke  bösen  Zaubers  be- 
sprochen mit  diesen  Formeln:  om  dam  dam  dim  dim  dum  dum  dem 
daim  dom  daum;  amukam  grhna;  hüm  dam  dah.  p.  94^  wird  bei 
einem  Zauber,  der  gegen  die  Vetäla,  die  Leichendämonen,  gerichtet 
ist,  einmal  als  Beginn  der  Formel  vorgeschrieben  skem  sphem,  weiter-  92 
hin  aber  am  ghräm  ghrim  ghrüm  ghraim  ghraum  ghrah,  im  um.  Die 
Verwendung  der  durchsichtigen  Permutationsreihen  zum  Zauber  leidet 
hier  keinen  Zweifel;  es  sind  Formelreihen  gleicher  Art  wie  die  vorhin 
vorgeführten. 

Das  Blatt  von  Leiden  aus  dem  ägyptischen  Grabe  kann  kaum  etwas 
anderes  sein  als  ein  qpuXaKiripiov,  ein  Amulet,  das  dem  Toten  wie  die 
andern  Zauberblätter  mitgegeben  wurde,  weil  er  solchen  Schutzes  be- 
durfte gegen  all  die  bösen  Dämonen,  die  den  Weg  zum  Jenseits  um- 


216  ABC-Denkmäler 

lauern,  oder  welche  Anschauungen  es  sonst  hier  oder  da  gewesen  sein 
mögen,  die  seit  alter  Zeit  tiberall  die  Gräber  mit  Zaubermitteln  und 
Amuleten  aller  Art  auszustatten  geboten. 

Sinnlose  Gruppen  von  geradezu  unaussprechbar  nebeneinander- 
gestellten Buchstabenzeichen  zeigt  jede  Seite  der  griechischen  Zauber- 
bücher, sie  zeigt  auch  in  Menge  jedes  der  mittelalterlichen  und  bis 
heute  in  fortwährender  Variation  wieder  neu  gedruckten  Zauberbticher. 
Die  bei  weitem  häufigste  Formel,  die  noch  heute  bei  uns  im  Volke 
angewandt  wird,  sind  die  Buchstaben 

SATOR 
AREPO 
TENET 
OPERA 
ROTAS 

Sie  werden  auf  Zetteln  dem  Vieh  gegen  Behexung  eingegeben,  auf 
einen  Teller  geschrieben  und  ins  Feuer  geworfen,  das  sie  löschen  sollen, 
als  Amulet  umgebunden  oder  zum  Schutz  des  Hauses  unters  Dach  ge- 
legt Es  ist  Torheit  einen  Sinn  in  den  Buchstaben  suchen  zu  wollen. 
Sie  haben  niemals  Sinn  gehabt.  Man  sieht,  wie  man  die  25  Buch- 
staben nach  jeder  Richtung  lesen  kann,  man  beobachtet,  daß  zugleich 
ein  Palindrom  der  bekannten  Art  vorliegt:  Sator  arepo  tenet  opera  rotas,; 
und  daß  das  alles  mit  3  Vokalen  und  5  Konsonanten  hergestellt  wird. 
Die  vollständigste  Zusammenstellung  über  diese  Zeichen,  die  meist  un- 
bekannt ist  (und  auch  gerade  bei  Heim  Incant.  530  nicht  angegeben 
ist),  gab  Reinhold  Köhler  in  der  Zeitschr.  für  Ethnologie  XIII  (1881) 
301  f f. ^  Wir  sehen,  daß  sie  auch  in  einer  griechischen,  freilich  mittel- 
alterlichen Handschrift  vorkommen.  Die  ^befriedigende  Deutung',  die 
am  Schluß  vermißt  wird,  gibt  es  eben  überhaupt  nicht.  In  einem 
so  komplizierten  Zeichenspiel  einen  Sinn  zu  erwarten,  heißt  zu  viel 
verlangen.  Ebensowenig  ist  ein  Sinn  in  den  Zeichen,  die  als  Zauber- 
93  Spruch  für  ein  Zettelchen  vorgeschrieben  werden,  z.  B.  in  'des  Albertus 
Magnus  bewährten  und  approbirten  sympathetischen  und  natürlich 
egyptischen  Geheimnissen  für  Menschen  und  Vieh',  III.  Teil  S.  29: 
LbhxPObLOhbmgny  oder  in  den  entsprechend  verordneten  Buchstaben  in 
dem  'Artztney- Büchlein',  das  Mogk  in  Vogts  germ.  Abhandl.  XII  S.  109 ff. 
(s.  S.  116)  veröffentlicht  hat,  oder  in  den  unzähligemale  wiederkehrenden 
X.  X.  X.  b.  X.  y.  X.  X.  X.  jc.  E.  H.  x.  x.  x.  x  und  ähnlich,  oder  den  im 
Romanusbüchlein  (Druck  von  Bartels,  Berlin  S.  44)  gegen  die  Pest  vor> 

^  <K1.  Schriften  111  564 ff.    Nachgewiesen  von  O.  Weinreich.)> 


ABC -Denkmäler  217 

n  j  geschriebenen  Z 

ll  D 

J 

A 
BZHG      FBFKS 

B 

J 

Z 

S 

A 
Man  sieht  mit  einiger  Heiterkeit,  wie  in  einigen  Zauberbüchern  die  un- 
beschreiblich tief  geheimnisvolle  Formel  A-M-V-L-E-T-S  auftaucht. 
Auf  Glocken  findet  sich  eingegossen  (Otte  Glockenkunde  ^  135): 
4-  svfsvxrh  +  nfkxotvs  usw.  Dieselbe  Bewandtnis  hat  es  offenbar  mit 
den  Inschriften  der  Schwerter,  die  in  der  Zs.  für  Ethnologie  XIII  S.  86  ff. 
vorgelegt  werden,  dieselbe  auch  mit  einer  Reihe  antiker  Inschriften,  die 
eben  den  Vorschriften  der  Zauberbücher  entsprechen.  Ich  begnüge 
mich  aber  damit  einigermaßen  an  Beispielen  gezeigt  zu  haben,  wie  die 
sinnlose  Buchstabenreihe  zu  den  verschiedensten  Zeiten  als  Zauberspruch 
gegolten  hat.^ 

Aber  es  ist  die  feste  Alphabetreihe  der  Buchstaben,  die  den 
Gruppen  des  Leidener  Papyrusstückes  die  Anordnung  gibt,  die  als  die  94 
unabänderliche  Formel  zugrunde  liegt.  Ich  habe  schon  früher  die  Ver- 
mutung ausgesprochen,  daß  die  Alphabet -akrosticha  von  'religiöser 
Geheimliteratur'  ausgegangen  seien  (Abraxas  165,  2).  In  dem  zweiten 
Leidener  Zauberbuche  heißt  es  (Abraxas  202,  5 f.)  nach  einer  Reihe  von 
Vokalgruppen  lijc  ö  GeoXöroc  'Opcpeiic  Ttape'bujKev  bid  ty\c  irapacTixiboc 
Tnc  ibiac.  In  der  Anthologie  IX  524  und  525  finden  sich  zwei  orphi- 
sche  Hymnen,  deren  Epitheta  nach  dem  Alphabet  geordnet  sind.  Nach 
einem  Einleitungsverse  bringt  die  folgende  Zeile  vier  mit  a,  die  nächste 
vier  mit  ß  anhebende  usf.,  wie  etwa  in  dem  Pariser  Zauberbuch  V.  1363  f. 
Wessely  dveiuaqpeTac  ßueoKXövouc  TaXnvoßdTac  aus  alleriei  Anrufungen 
übrig  geblieben  ist.     Diese  Anwendung  der  alphabetischen  dKpocxixic 


'  Einen  angeblich  heute  noch  an  der  Elz  bestehenden  Brauch,  Blättchen 
mit  den  24  Buchstaben  des  Alphabets  in  ein  gesottenes  Ei  zu  zerhacken  und 
gegen  allerlei  Übel  einzugeben,  muß  ich  beiseite  lassen,  da  ein  unkontrollier- 
barer und  unbestimmbarer  Zeitungsausschnitt  keine  ausreichende  Sicherheit 
bietet.  Ähnliches  habe  ich  anderweit  einstweilen  nicht  in  Erfahrung  bringen 
können.  Auch  hat  eine  Umfrage  in  den  'Blättern  für  hessische  Volkskunde 
1900  n.  2,  den  Alphabetzauber  betreffend,  nur  negative  Auskunft,  auch  von 
Kennern  deutschen  Volksbrauchs,  ergeben. 


2li8  ABC -Denkmäler 

tritt  im  liturgischen  Gebraucli  der  griechischen  Kirche  frühe  auf;  sie 
läßt  sich  verfolgen  von  Methodios  (t311)  und  Gregor  von  Nazianz^ 
bis  zu  den  hymnischen  Akklamationen,  die  sich  in  den  Cärimonien 
des  Konstantinos  Porphyrogennetos  finden,  z.  B.  folgender  Art^  (1,  83 
p.  383  Bonn.): 

'AriTTriTUj  GeoO  Tra\d)ur|  ecTecpOriTe,  becTröxai,  oupavöOev. 

BpaßeTov  viKric  ujcpöriTe,  Koc|Lio7r66TiToi  euepT€Tai. 

fewaioi  tucpGriie  toTc  evaviioic, 

AuupoujLievoi  ToTc  'Pujjuaioic  ZliuTicpöpouc  €U€pT€ciac 

bis  zu  dem  Schluß 

XpiCTÖc  cuvecTUü  ^KOtCTiu  TrepieiTUJV  xdc  KOpuqpdc  cac. 

YncpicjuaTi  auTUJv  KupieOovrec, 

'Qc  Kupioi  Kai  becTTOTtti  Tujv  TrepdTiuv  xfic  eHouciac. 

Ein  sehr  altes  und  merkwürdiges  Beispiel  eines  kirchlichen  'Alphabet- 
hymnus'  finde  ich  eben,  da  der  neu  erschienene  Band  der  Amherst- 
Papyri  von  Grenfell  und  Hunt  in  meine  Hände  kommt.  Das  Fragment  H 
gibt  einen  Hymnus  von  25  Zeilen,  deren  jede  aus  drei  Teilen  gleichen 
Metrums  besteht:  jeder  der  drei  Zeilenteile  beginnt  mit  einem  der  Buch- 
staben des  Alphabets  in  der  Reihenfolge  A  bis  ß.  So  heißt  Zeile  1 1 : 
Aoucd)Li€voc  ev  Mopbdvr]:  Aoucdjuevoc  evi  tuttoic: 
AouTpöv  TÖ  KaGdpciov  e'xei. 
Wir  kennen  die  akrostichischen  Kompositionen  der  gleichen  Art 
95  auch  in  der  hebräischen  sakralen  Poesie  (Psalm  111.  119.  145,  Klagel. 
Jerem.  1-4,  Sprüche  31,  10-31,  und  die  unvollständigen  Alphabet- 
akrostichen Psalm  9.  10.  25.  34.  37  bis  zu  dem  späten  Alphabet- 
spruchbuch des  Ben  Sira,  s.  Kautzsch  Apokryphen  u.  Pseudepigraphen 
I  240  f.).  Und  dieser  Brauch  fester  Aufreihung  der  Hymnenverse  lebt 
in  vielen  Beispielen  weiter,  etwa  von  den  versus  confessionis  de  luctu 
poenitentiae  des  Hilarius  von  Poitiers  (Ausg.  der  Mauriner  II  p.  530; 
Wackernagel,  Das  deutsche  Kirchenlied  I  p.  12)  bis  zu  dem  ^gülden 
ABC,  darin  gar  künstlich  begriffen,  was  einem  Menschen  zu  einem 
Erbarn  gottseligen  Wandel  und  Leben  zuwissen  nötig  sei',  dem  noch 
heute  bekannten  Kirchenlied  Allein  auf  Gott  setz  dein  Vertrauen^  dessen 
24  Strophen  je  mit  einem  Buchstaben  des  Alphabets  beginnen  (zuerst 
im  Greif swalder  Gesangbuch  von  1597,  s.  Wackernagel,  Deutsches 
Kirchenlied  V  327  f.).    Aber  so  berechtigt  auch  die  Vermutung  erscheinen 


^  S.  W.  Christ,  Anthologia  graeca  carminum  Christianorum  p.  XVII. 
*  S.  Wäschke  in  der  Festschrift  des  Herzogl.  Francisceums  in  Zerbst  zur 
Begrüßung  der  XXXVII.  Philologenvers,  in  Dessau  S.  14. 


ABC -Denkmäler  21  g 

mag,  daß  der  letzte  Ursprung  der  sakralen  Alphabetakrostichen  dort  zu 
suchen  ist,  wo  das  Alphabet  die  feste  magische  Bindung  des  heiligen 
Textes  gewährleistet,  so  daß,  wie  es  bei  jedem  Zauberspruch  erste 
Bedingung  seiner  Kraft  und  Wirkung  ist,  kein  Teil  der  'gebundenen' 
Rede  verloren  werden  kann,  -  wir  finden  in  späteren  Ausläufern  alten 
Brauchs  nicht  die  Aufschlüsse,  die  wir  suchen,  und  verlieren  das 
wesentliche  Material,  das  wir  zuerst  vorgelegt,  aus  den  Augen. 

7.  Vielmehr  ist  es  Zeit  die  Deutung,  die  der  Leidener  Papyrus  un- 
mittelbar nahe  legte,  an  den  übrigen  Gattungen  von  Alphabetreihen  zu 
prüfen.  Ich  will  nicht  sie  alle  nochmals  durchsprechen;  der  Leser 
1  übersieht  leicht,  ob  die  einzelnen  als  zauberkräftige  mystische  Zeichen- 
reihe aufgefaßt  werden  können,  als  Abwehr  der  Dämonen  und  üblen 
Zaubers  oder  als  wirkungsvoller  magischer  Geheimspruch.  Kann  man 
es  überhaupt  anders  verstehen,  daß  diese  Reihen  auf  den  Vasen  in  den 
Gräbern  immer  wieder  stehen,  entsprechend  so  vielen  apotropäischen 
Dingen,  die  in  den  Gräbern  und  an  ihrem  Schmuck  angebracht  zu 
werden  pflegten?  Gibt  es  eine  andere  Erklärung,  die  zugleich  diesen 
Schmuck  der  antiken  Graburnen  und  des  christlichen  Reliquienkastens, 
des  heiligen  Taufgefäßes  -  die  Taufhandlung  galt  ja  vor  allem  der 
Austreibung  der  bösen  Dämonen  -  und  der  Grabplatte  im  Columbarium 
mit  dem  Zusatz  DM  aufhellt?  Können  wir  die  etruskischen  Silben 
des  Buccherogefäßes  aus  Formello,  jene  immer  wiederholten  uaz  oder 
zaruaj  die  doch  keinen  sinnvollen  etruskischen  Text  geben  können,  96 
anders  begreifen  als  durch  die  Analogie  der  oben  angeführten  Zauber- 
silben der  Papyri,  und  sind  die  sogenannten  Syllabare,  da  wo  sie 
stehen,  anders  als  durch  die  angegebenen  Analogien  zu  erklären?  Auf 
antiken  Schilden  sind  wir  gewohnt  apotropäische  Zeichen  und  Bilder 
zu  finden;  so  nur  verstehen  wir  jenen  Schild  der  Athena.  Wir  be- 
greifen die  apotropäische  Bedeutung  der  Buchstabenreihe  an  den 
Wänden  der  Häuser  der  Lebenden  so  gut  wie  an  den  Wänden 
der  Totenbehausung.  Wir  können  zweifelhaft  sein,  ob  die  Zeichen 
der  Ziegel  in  diesem  gleichen  Sinne  gemeint  sind  oder  ob  sie 
besonders  zu  irgendeinem  magischen  Zwecke  mit  diesem  einfachsten 
Zauberspruche  bedeckt  wurden.  Denn  anders  ist  die  attische  Bleiplatte 
nicht  zu  erklären,  die  keinem  andern  Zwecke  gedient  haben  kann  als 
die  vielen  andern  uns  bekannten  Bleitafeln  oder  die  Inschriftsteine,  die, 
nachdem  sie  zertrümmert  und  weggeworfen,  nun  erst  zum  Zauberzwecke 
mit  den  Alphabetzeichen  ausgestattet  wurden.  Apotropäische  Zeichen 
an  einer  Lampe  erklären  sich  von  selbst.    Es  bietet  keine  Schwierigkeit 


220  ABC -Denkmäler 

mehr,  daß  die  Scherbe  von  Korinth  eben  als  Scherbe  mit  den  Buch- 
staben bemalt  wird  und  unter  lauter  Votivscherben  des  Heiligtums  sich 
findet,  daß  im  Bezirk  des  Juppiter  Dolichenus  infolge  eines  Traum- 
gesichts eine  Marmortafel  mit  den  heihg- wirkungsvollen  Zeichen  geweiht 
wird.  Ich  brauche  kaum  noch  zu  sagen,  daß  die  Runen  auf  den  Brak- 
teaten,  die,  zum  Umhängen  eingerichtet,  doch  wohl  als  Amulete  gedient 
haben,  auf  der  Spange  aus  dem  Grabe  und  auf  dem  Messer  wie  auf 
den  Steinen  -  die  wir  ja  z.  T.  direkt  als  Amulete  bezeichnet  fanden  -, 
daß  sie  alle  nichts  anderes  als  Zauberrunen  sind.*  Und  die  Glocken- 
97  alphabete?  Die  anderen  Inschriften  lassen  keinen  Zweifel,  daß  es  auch 
hier  sich  um  den  Zauber  gegen  Blitz  und  Donner,  gegen  Dämonen 
und  böse  Geister  der  Natur  handelt.  Es  ist  bekannter  Glaube,  daß 
die  Glocke  sie  bannt  und  vertreibt  (Wuttke-E.  H.  Meyer,  Deutscher 
Volksaberglaube  S.  142).  Inschriften  wie  Ädonay,  Tetragrammaton, 
Agios  OTheos,  ischyros,  athanatos  (Otte,  Glockenkunde  124 f.)  sind 
genau  die  Zauberformeln,  die  in  den  heute  noch  umlaufenden  ma- 
gischen Büchern  des  Mittelalters  unzähligemal  vorkommen,  z.  B.  in 
Fausts  dreifachem  Höllenzwang  bei  Scheible  Kloster  V  1128.  1135. 
1099  usf. 

Nun  aber  ist  das  eine  sehr  wichtige  Bestätigung  dieser  Erklärung, 
daß  die  bisher  unerklärbaren  Seltsamkeiten,  die  bei  einzelnen  Alpha- 
beten festzustellen  waren,  allesamt  mit  einem  Male  erklärt  sind.  Vor 
der  richtigen  Erkenntnis  standen  wir  schon  bei  jener  römischen  Vase, 
auf  der  der  Bindezauber  Artum  ligo  Dercomogni  mit  dem  Alphabet 
stand  -  auf  einer  Graburne!  Das  bedarf  jetzt  keines  Wortes  der  Er- 
klärung mehr.  Auch  das  kann  uns  nicht  mehr  wundern,  daß  das 
Alphabet  andere,  ältere  Schriftzeichen  aufwies  als  die  übrige  Inschrift. 

*  Dem  gegenüber  ist  es  erst  eine  sekundäre  Verwendung  der  Runen,  wenn 
aus  der  Art,  wie  bestimmte  Zeichen  zusammenkommen,  geweissagt  wird.  Das 
ist  ja  aus  dem  deutschen  Altertum  bekannt.  Genau  so  wird  heute  noch  im  Volke 
mit  dem  angeschriebenen  Alphabet  durch  Greifen  nach  den  Buchstaben  mit 
verbundenen  Augen  der  Name  des  künftigen  Geliebten  und  dergleichen  ge- 
wahrsagt, s.  Wuttke-E.  H.  Meyer,  Deutscher  Volksaberglaube  S.  233.  Und  genau 
so  hat  man  aus  Buchstabenzeichen  unter  großem  magischen  Apparat  im  alten 
Byzanz  den  Namen  des  künftigen  Kaisers  gewonnen;  Ammian.  Marceil.  XXIX  29 
beschreibt  die  ganze  Aktion  sehr  ausführlich  <vgl.  S.  229  Anm.  3>.  Wiederum 
eine  andre  Art  der  Verwendung  des  Alphabets  zum  Wahrsagen  ist  es,  wenn  auf 
Grund  einer  zusammengestellten  Liste  der  Bedeutung  der  einzelnen  Buchstaben, 
wie  solche  Texte  mehrfach  publiziert  sind,  ZfdA.  XVII  84,  XVlII  81,  297,  XXI  189 
(worauf  mich  F.  Kluge  durch  Gundermann  freundlich  aufmerksam  macht;  eine 
Deutungsliste  derselben  Art  steht  auch  im  Romanusbüchlein,  dem  heute  noch  viel 
gebrauchten  Zauberbuche,  Druck  von  Bartels,  Berlin,  S.  45),  dadurch  geweissagt 
wird,  daß  etwa  ein  Buch  aufgeschlagen  und  so  ein  bestimmter  Buchstabe  nach 
mannigfachen  Angaben  getroffen  wird. 


ABC -Denkmäler  221 

Man  erinnert  sich,  daß  auch  das  alte  epichorische  Alphabet  auf  der 
'boiotischen'  Vase,  die  Kaiinka  publiziert  hat,  Buchstabenformen  einer 
Jüngern  Zeit  zeigte,  Ja  daß  an  das  eine  unmodifizierte  alte  Alphabet 
die  neuen  Zeichen  -Q  traten  und  ein  Dokument  des  unmöglichsten 
Ausgleichs  vor  uns  lag.  Wenn  wir  aber  wissen,  daß  der  Zauber  zu 
allen  Zeiten  alte  Formen  in  Zeichen  und  Wort  eifrig  und  ängstlich 
konserviert,  daß  der  Zauberer  an  sie  gebunden  bleibt,  auch  wenn  der 
Schreiber  längst  jüngere  Formen  zu  handhaben  gewohnt  ist,  so  hat 
dieses  Kompromißalphabet  nichts  Seltsames  mehr:  so  mußte  es  werden, 
wenn  der  Zauberer  einer  jüngeren  Zeit  die  alten  Zeichen  schrieb;  nur 
freilich  wird  die  Zeit  dieses  Zauberers  zu  bestimmen  sehr  viel  schwieriger, 
sie  genau  zu  bestimmen  unmöglich  sein.  Er  konnte  auch  -  das  Ver- 
fahren wäre  jetzt  sehr  begreiflich  -  die  zwei  neuen  Zeichen  anhängen; 
aber  ich  will  nicht  verschweigen,  daß  ich  sehr  geneigt  bin,  sie  für 
Zauberzeichen  zu  halten  von  der  Art,  wie  sie  so  oft  in  den  Zauber-  98 
papyri  (großer  Pariser  Papyrus  S.  31,  S.  67,  Pap.  XLVI  des  British 
Museum  S.  112)  und  in  andern  magischen  Rezepten  (Heim  Incantamenta 
480,  481,  542,  564)  vorgeschrieben  werden.  Sieht  doch  namentlich 
das  zweite  dieser  Zeichen  einem  Q  verzweifelt  wenig,  einigen  der  an- 
gegebenen Figuren  durchaus  ähnlich.^ 

Eine  zweite  Schwierigkeit  löst  sich  in  der  gleichen  Weise.  Es  hat 
immer  Verlegenheit  bereitet,  daß  die  lateinischen  pompeianischen  Wand- 
alphabete alle  mit  X  schließen,  obwohl  es  doch  sicher  ist,  daß  die 
meisten  von  ihnen  geschrieben  wurden,  als  längst  Y  und  Z  im  Ge- 
brauche waren.  Eine  seltsame  Methode  in  der  Hartköpfigkeit  der 
pompeianischen  Schuljungen,  über  ein  Jahrhundert  kein  Y  und  Z  zu 
acceptieren!  Und  die  Reihe  bis  Y  findet  sich  ja  noch  auf  einer  christ- 
lichen Inschrift  des  VI.  oder  Vll.  Jahrhunderts.  Da  gibt  es  keine  Aus- 
rede mehr  von  langsamer  Aufnahme.  Es  ist  das  im  Zauber  fest- 
gebliebene Alphabet,  das  als  eine  nur  so  wirksame  magische  Formel 
zähe  festgehalten  wird. 

Noch  ein  dritter  Punkt  verdient  kurze  Erwähnung.  Oben  ist  die 
Veroneser  Marmortafel  gar  nicht  etwa  früher  Zeit  wiedergegeben,  die 
ihre  Alphabetreihen   rechts   beginnt   und    dann   ßoucTpocpnööv   in   vier 

'  Ein  Amulet  mit  einem  magischen  griechischen  Texte,  das  Pellicioni  in 
den  Atti  e  memorie  delle  RR.  deputazioni  di  storia  patria  per  le  provincie  dell' 
Emilia  N.  S.  V  parte  11  p.  177  ff.  besprochen  hat,  zeigt  vor  dem  deutlichen  klop- 
KicMÖc  eine  ganze  Reihe  ähnlicher  Zauberzeichen,  und  R.  Wünsch  macht  mich 
auf  eine  Bleitafel  aus  Carpentras  im  Museum  von  Avignon  aufmerksam,  die 
buchstabenähnliche  Zeichen  verwandter  Art  zeigt.  Jullian  hat  sie  sorgfältig  be- 
handeU  in  der  Revue  des  6tudes  anciennes  11  136ff. 


222  ABC -Denkmäler 

Reihen  weiterläuft.  Wie  wollte  man  das  erklären?  Wer  die  Aus- 
einandersetzung von  Wünsch  in  der  Praefatio  der  Defixiones  atticae 
p.  IV  liest  über  das  eTrapiciepa  Tpacpeiv  im  Zauber  und  etwa  n.  67 
seiner  Bleitafeln  ansieht  (im  ersten  Berliner  Papyrus  v.  250  steht  die 
Vorschrift  Tpißuuv  be  auxd  ek  tu)v  beHiuJV  eic  xd  eiiiuvujLia) ,  der  kann 
nicht  wohl  mehr  zweifeln,  daß  jene  Alphabetinschrift  dem  Zauber  dienen 
sollte,  der  den  Unterirdischen  galt.  Mehrmals  war  zu  bemerken,  daß 
die  Buchstaben  auf  dem  Kopfe  standen,  ohne  daß  das  von  irgend 
jemandem  hätte  erklärt  werden  können.  Analogien  bieten  die  Zauber- 
tafeln, wie  n.  96  bei  Wünsch  Def.  tab.  att.  S.  24  (vgl.  dort  die  Vor- 
bemerkung zu  n.  96.  97).  Am  besten  erkläre  ich  das  Umdrehen  der 
99  Zeichen,  wenn  ich  hierhersetze  eine  Zaubervorschrift  der  sog.  ^Medicina 
Plinii'  (s.  Heim  Incant.  S.  555f.)  c.  I  7:  Infirmis,  sanguis  cui  currerit 
multum  et  non  poterit  restringere,  scribe  de  sanguine  eins  in  fronte 
ipsius  de  grano  iuris  nomen  ipsius  inversis  litteris,  apices  de- 
orsum,  et  mox  stat.  Über  die  oben  besprochene  forma  lapidea  aus 
Trapani  kann  ich  natürlich,  ohne  sie  zu  sehen,  nicht  urteilen:  daß  die 
umgekehrte  Form  der  Buchstaben  nicht  allein  genügt,  den  Stein  als 
*  Matrize'  zu  betrachten,  ist  jetzt  klar. 

Auch  das,  meine  ich,  wird  nun  ungezwungen  verständlich,  daß 
mehrfach  auf  den  etruskischen  Vasen  neben  etruskischen  Inschriften 
die  griechische  Zeichenreihe  erscheint,  daß  sich  vielfach  in  lateinischem 
Gebiete  von  Leuten,  die  zweifellos  lateinisch  sprachen  und  schrieben^ 
in  diesem  Falle  das  griechische  Alphabet  angewandt  findet,  daß  sich 
an  den  Wänden  Pompeis  das  griechische  Alphabet  sehr  viel  häufiger 
findet  als  es  wahrscheinlicherweise  von  Griechen  angeschrieben  wurde, 
und  daß  endlich  -  es  ist  der  bezeichnendste  Fall  -  das  oskische 
Alphabet  geschrieben  wurde  von  einem,  der  zweifellos  lateinisch  zu 
schreiben  gewohnt  war  und  die  geläufigen  lateinischen  Züge  unbewußt  ein- 
mischte (s.  0.  S.  85  <209».  Das  alles  erklärt  sich  nur  daraus,  daß  immer 
die  fremden  Zeichen  in  der  Geheimkunst  des  Zaubers  bevorzugt  wurden. 
So  besitzen  wir  eine  Bleitafel  aus  Hadrumetum,  die  einen  lateinischen 
Zaubertext  in  griechischen  Zeichen  gibt  (Masp^ro  Collections  du  mus6e 
Alaoui,  I  1890,  S.  57  ff.),  eine  Bleitafel  aus  Karthago,  auf  der  innerhalb 
des  lateinischen  Textes  gerade  die  Namen  der  Dämonen  mit  griechischen 
Buchstaben  geschrieben  sind  (Wünsch,  Rh.  Mus.  LV  260),  und  ander- 
wärts die  ausdrückliche  Vorschrift,  die  Zauberbuchstaben  griechisch  zu 
schreiben  (Plin.  h.  n.  XXVIII  29  duabus  litteris  graecis  PA  chartam 
inscriptam  habe  man  als  Amulet  benutzt). 


ABC -Denkmäler  223 

8.  Ich  wüßte  nicht,  daß  irgendeine  der  vorgelegten  Inschriften  etwas 
darböte,  das  nicht  aus  der  gegebenen  Erklärung  verständlich  würde. 
Ein  Fall,  der  an  sich  keiner  weiteren  Worte  bedürfte,  führt  uns  noch 
zu    einigen    vielleicht    bedeutsamen    Zeugnissen.      Sowohl    Inschriften 

j  Pompeis  als  christliche  Graffiti  vom  cimitero  di  S.  Alessandro  bei  Rom 
zeigten  die  Anordnung  der  Alphabetbuchstaben,  daß  auf  den  ersten  der 
letzte,  auf  den  zweiten  der  vorletzte  usw.  folgte.^  Diese  Anordnung 
erinnerte  an  die  bei  den  Hebräern,  auch  im  Alten  Testamente,  vor- 100 
kommende  Geheimschrift  des  sog.  Athbasch,  in  der  für  einen  Buch- 
staben der  einen  Reihe  des  Alphabets  d-n  jedesmal  der  korrespon- 
dierende der  zweiten  Reihe  b-n  eintrat.  Über  die  Ausdehnung  oder 
Bedeutung  dieser  Geheimschrift  weiß  ich  nichts  zu  sagen,  was  hierher 
gehörte.  Dagegen  ist  von  nicht  geringem  Interesse,  was  bei  Irenaeus 
(adv.  haereses  I  14,  3  1. 1  p.  134  Harvey)  über  den  Simon  Magus,  dessen 

I  Leben  und  Lehren  ja  so  ganz  in  magischen  Künsten  aufging,  berichtet 
wird.  Die  mystische  Gestalt  der  Göttin  'AXrjGeia  wird  beschrieben: 
KCTriTaTOV  t^P  auTnv  eK  tüjv  UTrepOev  bu)|LidTiuv,  iv*  ecibrjc  auTfjV  T^juvriv 
Kai  KaTa)ud9r|c  tö  koiXXoc  auxfic,  dXXot  Kai  dKOucr)c  auirjc  XaXoucric  Kai 
0au)Lidcric  tö  cppövriiua  auific.  öpa  ouv  Ke9aXr)v  dvuj  tö  A  Kai  tö  Q, 
Tpdxn^ov  be  B  Kai  V,  uj)liouc  d)Lia  x^pci  f  Kai  X,  CTriOri  A  Kai  O,  bid- 
(ppaTMa  G  Kai  Y,  vuütov  Z  Kai  T,  KOiXiav  H  Kai  C,  |Lir|pouc  0  Kai  P,  YÖvaxa 
I  Kai  TT,  Kvr||Liac  K  Kai  0,  ccpupd  A  Kai  H,  Tröbac  M  Kai  N.  toOtö  ecxi 
tö  ciu|Lia  TTic  KaTd  TÖv  ^dTOv  *AXr|eeiac.  toöto  tö  cxniLia  toö  CTOixeiou, 
oijTOC  6  xapaKTrip  toö  Tpd|Li^iaToc.  Kai  KaXei  tö  CTOixeiov  toöto  "AvGpu)- 
irov,  eivai  t€  Trr|Tr|V  q)r|civ  auTÖ  TiavTÖc  Xötou  ktX. 

Daneben  stelle  ich,  was  bei  Ps.  TertuUian  adv.  omnes  haereses  15 
(de  praescr.  haeret.  c.  50)  zu  lesen  steht:  non  defuerunt  post  hos 
Marcus  quidam  et  Calarbasus  novam  haeresin  ex  Graecorum  alpha- 
be to  componentes.  Negant  enim  veritatem  sine  istis  posse  litteris 
inveniri,  immo  totam  plenitudinem  et  perfectionem  veritatis  in  istis 
litteris  esse  dispositam.  Propter  hanc  enim  causam  Christum  dixisse 
'Ego  sum  A  et  Q\  .  .  .  Percurrunt  isti  QYXOYT  totum  usque  ad 
BA  et  computant  ogdoadas  et  decadas.  Ich  bin  weit  entfernt  in  diesem 
mystischen  Wahnwitz  die  Erklärung  seltsamen  Alphabetzaubers  zu 
suchen,  so  wenig  als  etwa  in  alleriei  neupythagoreischen  Lehren  vom 
Alphabet  am  Himmel,  von  der  Sphärenharmonie  als  dem  Zusammen- 
klang der  7  Vokale   und    17  Konsonanten   (Diels  Elementum  44,   vgl. 

'  Es  ist  natürlich  nicht  ausgeschlossen,  daß  in  anderen  Fällen  dergleichen 
Umstellungen  auch  zur  Übung  der  Kinder  dienen  konnten,  wie  wir  bei  Hiero- 
nymus  in  lerem.  XXV  26,  epist.  XVH  lesen. 


224  ABC -Denkmäler 

Lobeck  Aglaoph.  1340  f.).  Aber  dergleichen  kann  illustrieren,  in  welchen 
Kreisen  von  Menschen  und  Gedanken  jene  zunächst  so  auffälligen  Buch- 
stabenreihen zu  allerlei  grotesker  Weltmagie  ausgedeutet  wurden.  Wir 
sehen  in  solchem  Falle  deutlich,  daß  sie  nicht  bloß  eigne  Hirngespinste 
101  vorbringen,  sondern  an  altern  Zauberglauben  anknüpfen.  Und  wir  er- 
kennen doch  die  Auswüchse,  wenn  auch  noch  so  verschrobene  und 
groteske,  einer  seltsam  materiellen  und  körperlichen,  ja  man  möchte 
sagen  personifizierenden  Auffassung  der  Buchstabenzeichen.  Der  Doppel- 
sinn von  cToixeia  im  Griechischen  und  elementa  im  Lateinischen  lud 
ja  schon  viel  früher  zu  allerlei  gröbern  und  feineren  Parallelen  zwischen 
Buchstaben  und  Weltteilen  ein  (Diels  Elementum  19).  Eine  äußerste 
Spitze  solcher  Spekulationen  ist  ein  koptisches  Buch  über  die  ^Mysterien 
der  griechischen  Buchstaben'  der  Bodleiana  in  Oxford,  das  A.  Hebbelynck 
im  Museon  (Etudes  philologiques,  historiques  et  religieuses  n.  s.  I,  1 
p.  16  ff.)  begonnen  hat  zu  veröffentlichen.  Ich  kann  über  dies  sehr 
späte  Buch  nicht  urteilen,  aber  die  große  Offenbarung  besteht  nun 
eben  darin,  daß  die  Buchstaben  die  Teile  und  Elemente  der  Welt  in 
ihrer  Form  zeigen:  Vune  de  ces  lettres  renferme  Vimage  du  ciel  et  de 
la  terre;  une  autre  est  ecrite  pour  figurer  la  terre  et  le  ciel,  une  autre 
pour  figurer  la  terre  et  Veau  etc.  (p.  22).  Chacune  de  ces  lettres  est 
appeUe  un  element  (cxoixtTov),  comme  nous  venons  maintenant  de  le 
dire.  Les  lettres  sont  au  nombre  de  vingt-deux  non  compris  le  Hi  et 
le  vpi,  que  les  phüosophes  y  ont  ajoutes  dans  la  suite.  Or  ces  vingt- 
deux  lettres  repondent  au  nombre  des  vingt-deux  oeuvres  que  Dieu  a 
produites  dans  la  creation,  ä  savoir:  La  premidre  le  pr emier  ciel;  la 
terre  inferieure  au  noun  (abtme);  la  troisieme  Veau  superieure  ä  la 
terre  et  Veau  inferieure  (p.  28  f.).  So  geht  es  in  mannigfachen  Varia- 
tionen weiter.  Wir  wissen,  daß  dies  Buch  mit  seinen  verwirrten  Sätzen 
nicht  allein  stand.  Dem  alten  Pachomius  wird  ähnlich  mystisches 
Zauberspiel  zugeschrieben.  Hieronymus  erzählt  in  der  praefatio  ad 
regulas  s.  Pachomii  (Migne  PL  XXIII  65):  Aiunt  Thebaei  quod  Pacho- 
mio,  Cornelio  et  Syro,  qui  usque  hodie  centum  et  decem  annos  vivere 
dicitur,  angelus  linguae  mysticae  scientiam  dederit  et  loqueretur  per 
alphabetum  specialem  signis  quibusdam  et  symbolis  absconditos  sensus 
involvens.  Und  wir  haben  ja  die  von  Hieronymus  übersetzten  epistulae 
et  verba  mystica  des  Pachomius,  in  denen  ein  solch  mystischer  Gebrauch 
des  Alphabetes  vorliegt.  Zudem  soll  Pachomius  seine  Mönche  in 
24  Gruppen  nach  den  24  Buchstaben  des  Alphabets  eingeteih  haben, 
indem  er  die  in  ihrem  Charakter  und  Leben  der  mystischen  Bedeutung 
eines  Buchstabens  entsprechenden  Mönche  zusammenordnete  (weiteres 


ABC -Denkmäler  225 

bei  Grützmacher,  Pachomius  124).  Nehmen  wir  etwa  hinzu,  was  wir 
bei  Gennadius  Script  eccles.  7  von  Pachomius  gesagt  finden  alpha- 
betum  mysticis  tectum  sacramentis  velut  humanae  consuetudinis  excedens  102 
intellegentiam  clausit,  so  erkennen  wir  ähnliche  Alphabetmystik  wie 
die,  welche  das  spätere  koptische  Buch  offenbart.  Dies  Buch  aber 
trägt  -  wenn  auch  mit  Unrecht,  doch,  wie  mir  scheint,  deutlich  genug 
(s.  Museon  a.  a.  0.  8  f.)  -  als  Verfassernamen  den  eines  andern  großen 
Klostergründers,  des  h.  Sabas.  Man  mag  aus  solchen  Sätzen  und 
Büchern  wohl  sehen,  wie  das  Alphabet  selbst  als  die  große  Formel 
des  Zaubers  über  alles,  als  der  weltumfassende  'Name'  gleich  jenem 
Abraxas  (=  365)  und  so  vielen  andern  großen  Namen  seitdem  in  den 
magischen  Büchern  aller  Zeiten  angesehen  und  verwandt  werden  konnte. 
Aber  die  Vorstellung,  die  in  so  viel  früherer  Zeit  in  Griechenland  und 
Italien  das  Alphabet  zu  zauberischer  Wirkung  auf  Grabgefäße  und 
Grabsteine,  an  die  Häuser  und  auf  die  Schilde  schreiben  hieß,  ist 
damit  nicht  aufgedeckt.  Sie  muß  tiefer  liegen  und  volkstümlich,  ein- 
fach sein. 

Volkstümlich  jedenfalls  ist  der  Gebrauch  eines  hierher  gehörenden 
Wortes  in  byzantinischer  Zeit  in  der  Bedeutung  Verzaubern,  beschwören', 
des  Wortes  cToixeioöv.  Diels  hat  einige  Stellen  besprochen,  Elemen- 
tum  56.  Ist  diese  Bedeutung  wirklich  abzuleiten  von  dem  cToixeTov 
'Dämon,  Gespenst,  Geist',  auf  welche  Bedeutung  ich  bereits  im  Abraxas 
61  f.  zur  Erklärung  der  CTOixeia  paulinischer  Briefe  nachdrücklich  hin- 
gewiesen hatte?  cToixeioOv  heißt  'aus  Elementen  bilden'  oder  aber 
^elementa  vortragen',  eigentlich  etwa  'ABC -Unterweisung  geben'  (Diels 
a.  a.  0.  40,  2  Usener  Theodosius  152  zu  47,  8).  Nun  kann  man  ja, 
wenn  von  Apollonius  von  Tyana  bei  Codinus  erzählt  wird  eiri  irdciic 
TTic  TTÖXeiuc  Tot  dfdXinaTa  ecToixeiuucaro  oder  von  ehernen  Mücken  und 
Fliegen  in  Byzanz,  die  durch  ihn  ecToixeiuj|ueva  waren,  eine  solche  Ab- 
leitung des  Wortes  verstehen.  Ist  das  auch  möglich,  wenn  es  bei 
Cedrenus  von  demselben  heißt  outoc  ev  BulaviiLu  eXediv  TrapaKXriOeic 
VTTÖ  TU)v  dvTOTiiwv  kioixeiujcev  ö(peic  juev  xai  CKOpiriouc  )ufi  7rXr|cc€iv, 
KUJViuTTac  be  |ufi  Tiapeivai  und  dann  Aukov  be  töv  Troxajaöv  ecTOixeiiwcev, 
uiCT€  |ufi  TrXTiiujuupricavTa  tö  BuZidvTiov  KaTaXujuaivecGai?  Es  galt  ja  doch 
gerade  die  bösen  Dämonen  zu  vertreiben,  die  cxoixeia  des  Flusses,  der 
bösen  Tiere.  Soll  es  so  verstanden  werden,  daß  es  Apollonius  der  ctoi- 
Xeiuj)uaTiKÖc  durch  die  cioixeia  tat,  die  ihm  gehorchten?  Läge  es  nicht 
vielleicht  näher,  daß  croixeioöv  'bezaubern,  beschwören'  hieße,  weil  vonl03 
-  Alters  her  die  cioixeTa  als  die  Buchstaben  Zaubermittel  und  Zauberzeichen 
waren?    Dann  wären  freilich  cToixeTov  und  croixeioöv  auf  verschiedenen 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  15 


226  ABC -Denkmäler 

Wegen  zu  jenen  byzantinischen  und  neugriechischen  Bedeutungen  ge- 
langt; so  wage  ich  tiber  eine  Vermutung  nicht  hinauszugehen.  Ohnehin 
werden  wir  in  dieser  Spätzeit  nimmermehr  Aufschluß  finden;  wir  müssen 
uns  so  gut  es  geht  in  die  ältesten  Zeiten  zurtickversetzen. 

9.  Im  Anfang  aller  Literatur  war  das  Zauberzeichen  und  das  Zauber^ 
lied.  Die  Verwendung  der  Buchstaben  als  Zauberzeichen  führt  uns  an 
die  Schwelle  jener  Zeiten,  da  es  eine  geheime  große  Kunst  war,  die 
Schriftzeichen  zu  handhaben,  und  zu  der  volkstümlichen  Anschauung^ 
die  jedes  Schriftzeichen  als  ein  materiell  wirksames  ansieht  und  den 
geschnittenen,  geritzten  Stab,  den  Buchstaben  als  einen  Zauberspruch 
behandelt.  Wir  sehen  hier  bisher  im  Gebiete  der  germanischen  Völker 
tiefer  als  in  dem  der  antiken.  Wir  wissen  es  da  besser,  wie  einst  der 
Zauber  geknüpft  war  an  das  geheime  wunderkräftige  Zeichen,  und  dies 
magische  Zeichen  war  die  runa,  'die  bald  Glück  bald  Unglück  brachte, 
die  gegen  alle  Widerwärtigkeiten  des  Lebens  schirmte  und  feite'  (Mogk 
German.  Mythologie  175).  Wenn,  wie  ich  nicht  zweifle,  Edward  Schröder 
mit  seiner  Deutung  des  ahd.  und  anord.  spell  (got.  spilt)  recht  hat 
(ZfdA.  XXXVII  241  ff.,  namentlich  257 ff.),  der  als  ursprüngliche  Be- 
deutung 'Zauberformel'  darlegt  und  das  Wort  mit  got  spilda  (=  mva- 
Kibiov,  nXäh)  zusammenstellt  -  das  nichts  anderes  ist  als  altengl.  speld 
Span,  Splitter,  mhd.  spelte^  abgespaltenes  Stück  Holz,  dh.  ursprünglich 
das  Runentäf eichen,  der  Buchstab  (Schröder  264)  -,  dann  besitzen  wir 
in  diesem  Worte  einen  urkundlichen  Beleg  dafür,  daß  der  Buchstab 
ein  ältester  Zauberspruch  ist. 

Es  ist  natürlich,  daß  feststehende  Reihen  von  Buchstaben  die  nächsten 
Zaubersprüche  darstellten,  deren  Wesen  vor  allem  verlangt,  daß 
sie  unabänderlich  gleich  bleiben.  Und  so  garantierten  ja  dann  auch, 
als  das  Zauberlied  die  geheimnisvolle  Sinnlosigkeit  der  Zauber- 
zeichen sprengte,  die  „Stäbe"  das  immer  gleiche  Gefüge  der  ältesten 
carmina. 

Wir  k^önnen  über  diese  uns  so  fernen  Vorgänge,  die  sich  in  den 
ersten  Kulturanfängen  der  Völker  vollziehen,  andere  deutlicher  redende 
Zeugnisse  nicht  haben  als  die,  welche  wir  besitzen.  Die  Reste  jener 
Anschauungen,  die  wir  nur  andeutend  aufklären  können,  liegen  vor  uns 
Q  in  den  im  Volksbrauch  lange  festgehaltenen  alten  Zauberzeichenreihen 
in  der  gefestigten  Ordnung  des  Alphabets.  Und  eins  will  ich  mir  bei 
aller  Zurückhaltung  anzudeuten  nicht  versagen.  Über  die  Anordnung 
der  verschiedenen  in  Betracht  kommenden  Alphabete  zu  reden  ist  nicht 
meine  Sache  und  noch  weniger  über  die  Übernahme  der  Reihen  von 


ABC -Denkmäler 


227 


einem  Volk  zum  andern  oder  gar  ihren  letzten  Ursprung  und  ihre 
Heimat.  Aber  welcher  Art  war  denn  das  Bedürfnis,  das  zuerst  eine 
feste  sich  immer  gleichbleibende  Reihe  der  Buchstaben  verlangte?  Ich 
meine  nicht  die  Gesichtspunkte,  die  Prinzipien,  nach  denen  eine  An- 
ordnung so  oder  so  zustande  gebracht  wurde,  sondern  den  ersten 
Wunsch  eine  solche  Reihe  zu  haben  und  ihren  ursprünglichen 
Gebrauch.  Konnte  es  auch  in  den  alten  Zeiten,  in  die  uns  die 
zu  Anfang  der  Erörterung  vorgelegten  Dokumente  zurückgeführt 
haben,  das  Bedürfnis  der  Lehre  und  des  Unterrichts,  der  Grammatik  sein? 

10.  Wir  blicken  in  dunkle  Zeit  und  sehen  nichts  mehr.  Ich  mag 
nicht  mit  einem  unbestimmten  Fingerzeig  ins  Dunkel  schließen.  Darf 
ich  den  Leser  am  Schlüsse  zurückführen  in  unsere  Gegenwart,  um  ihm 
zu  zeigen,  wie  der  Brauch,  den  wir  betrachtet,  durch  die  Jahrtausende 
gedauert  hat  bis  heute?  Ich  fordere  ihn  auf,  die  nächste  Einweihung 
einer  römisch-katholischen  Kirche  mit  anzusehen.  Er  wird  sehen,  wie 
bald  nach  Beginn  der  heiligen  Handlung,  wenn  der  Bischof  in  der 
Mitte  der  Kirche  angelangt  ist,  während  der  liturgischen  Gesänge  auf 
kreuzweisen  Aschenstreifen,  die  vorher  genau  nach  Vorschrift  in  Kreuzes- 
form auf  den  Boden  gestreut  sind,  -  ich  rede  weiter  mit  dem  Ponti- 
ficale  Romanum  selbst  (a  Benedicto  XIV  et  Leone  XIII  pont.  max.  re- 
cognitum  et  castigatum,  Ratisbonae  1891  p.  130)  -  pontifex  acceptis 
mitra  et  baculo  pastorali  incipiens  ab  angulo  Ecclesiae  ad  sinistram 
intrantis,  prout  supra  lineae  factae  sunt,  cum  extremitate  baculi 
pastoralis  scribit  super  einer  es  alp  habe  tum  graecum,  ita  distinctis 
litteris  ut  totum  spatium  occupent,  his  videlicet  (die  Figur  gibt  genau 
die  in  dem  Pont.  Rom.  beigegebene  Anweisung  wieder).    Deinde  simili 


228  ABC -Denkmäler 

modo  incipiens  ab  angulo  ecclesiae  ad  dexteram  intrantis,  scribit 
alp  habe  tum  latinum  super  cineres  distinctis  litteris,  his  videlicet 
(s.  die  Figur  <auf  S.  227».  Und  dann  folgen  die  Exorzismen:  Exorcizo  te, 
creatura  salis,  in  nomine  Domini  nostri  Jesu  Christi  —  ut  sanctificeris 
ad  consecrationem  huius  ecclesiae  et  altaris  ad  expellendas  omnes 
daemonum  tentationes  .  .  .  Exorcizo  te,  creatura  aquae,  in  nomine  Dei 
Patris  et  Filii  et  Spiritus  sancti,  ut  repellas  diabolum  a  termino 
105  iustorum,  ne  sit  in  umbraculis  huius  ecclesiae  et  altaris.  Wie  die  Alpha- 
bete offiziell  von  der  Kirche  ausgedeutet  werden,  weiß  ich  nicht.  Ich 
denke,  wir  wissen  genug.^ 

*  <Folgenden  Nachtrag  gab  ich  im  Arch.  f.  Rel.  Wiss.  XII  1909  S.  4151. 
(s.  auch  A.  Dieterich,  Eine  Mithrasliturgie  *  S.  39  und  221): 

'Zu  Albrecht  Dieterichs  Aufsatz  ABC-Denkmäler  (Rhein.  Mus.  LVI 
1901  S.  77 ff.),  in  dem  über  die  Verwendung  der  Buchstabenreihe  zu  Zwecken 
des  Zaubers  gehandelt  wird,  fand  sich  in  seinem  Nachlaß  eine  Reihe  von  Nach- 
trägen, die  ihm  von  anderer  Seite  zugegangen  waren  und  die  er  für  die  'Mit- 
teilungen und  Hinweise'  des  Archivs  bestimmt  hatte.    Es  sind  folgende: 
Otto  Hirschfeld  verweist  auf  CIL  III  Suppl.  p.  2281  zu  Nr.  11186  ex  visu. 
Franz  Winter  erinnert  an  eine  aus  einem  Myrinagrabe  stammende  Terrakotte, 
eine  schwebende  Nike,  sur  le  revers  lettres  en  relief  GATBA,  BCH  VII  219 
N.  124;  Pottier  et  Reinach,  La  N6cropole  de  Myrina  S.  180. 
E.  Kaiinka  teih  folgende  Stellen  mit:    Hermes  IX  251;    Brit.  Mus.  Inscr.  123; 

Arch.  epigr.  Mitt.  1893  S.  81  f.  15. 
E.  Fabricius  schreibt  von  einer  neuen  lateinischen  Buchstabenreihe  (gefunden 
auf  einem  Hypokaustenpfeiler  des  Kastells  Weißenburg) ;  veröffentlicht  in  der 
Publikation   des   obergerman.  raet.  Limes  Nr.  72  S.  55,   abgebildet  ebenda 
Tafel  V  Fig.  13. 
W.  Weyh  (München)  sendet  die  Notiz:  'Ein  neues  ABC -Denkmal,  das  in  mehr- 
facher Hinsicht  bemerkenswert  ist,  wurde   von   Me unier  bei  seinen  Aus- 
grabungen in  der  Nähe  von  Autr6court,  zwischen  Chalons  und  Verdun,  ge- 
funden.   Die  betreffende  Vase  gehört  nach  Meunier  etwa  in  das  Jahr  360 
n.  Chr.  und  enthäU  das  lateinische  Alphabet  in  folgender  Gestalt:  A  B  C  D  E 
FGHIKLMNOPQRSTVXYZ,  davon  E  und  F  in  altertümlichen 
Formen.    Vgl.  Meunier,  L'6tablissement  c6ramique  de  Lavoye  (Meuse):  Bull, 
archöol.  du  Comitö  des  trav.  histor.  et  scient.     1905,  p.  137-48.' 
Von  mir  war  A.  Dieterich  aufmerksam  gemacht  worden  auf  das  Gemälde 
im  Kaiser   Friedrich -Museum  zu  Berlin  unter  Nr.  563c,  ein  Heiligenbild  des 
Altdeutschen  Bernhard  Strigel.    Da  trägst  der  H.  Vitus  einen  bronzenen  Kessel 
mit  drei  Füßen,  auf  dem  Bauch  des  Kessels  befindet  sich  ein  rundumlaufendes 
Band,  auf  dem  Teil  des  Bandes,  den  der  Beschauer  sieht,  steht  ABCDEFG. 
Jetzt  kann  ich  noch  hinweisen  auf  Notizie  degli  Scavi  1908  S.  114. 

Welche  von  diesen  Alphabetreihen  Zauberzwecken  dienen,  und  welche 
profaner  Art  sind,  muß  eine  neue  eingehende  Untersuchung  zeigen.  G.Karo 
hat  dem  Archiv  (s.  VII  1904  S.  526  <unten  230»  eine  Abhandlung  über  die  älteren 
griechischen  ABC-Denkmäler  versprochen*.^ 


XIV 
EIN  NEUES  ABC-DENKMAL^ 

Ein  neues  ABC-Den^kmal  hat  Chr.  Hülsen  in  den  Mitteilungen  des524 
K.  D.  Archäologischen  Instituts,  Rom  1903,  Bd.  XVIII  S.  73 ff.  ver- 
öffentlicht und  in  diesem  Falle  wie  in  einem  anderen,  s.  Beiträge  zur 
alten  Geschichte  II  235,  und  einem  dritten,  wo  zum  griechischen  Alpha- 
bet KeXeOcavToc  toö  06oö  gesetzt  ist,  die  Buchstabenreihe  als  „sakralen 
Charakters",  als  „geheimnisvolle  Zauberformel"  eingeführt.  Die  ge- 
nannten Denkmäler  sind  mir  eine  sehr  erwünschte  Bestätigung  meiner 
Ausführungen  Rhein.  Mus.  LVI  1901,  77<oben  202>ff.,  in  denen  ich  zum 
ersten  Male  eine  solche  Bedeutung  erhaltener  Alphabetreihen  aus- 
gesprochen und  durch  zahlreiche  Analogien  mystischen  Buchstabenzaubers 
verschiedener  Völker,  so  tief  ich  irgend  dringen  konnte,  zu  begründen 
mich  bemüht  habe.*  Ich  habe  inzwischen  durch  viele  hilfreiche  Leser  525 
meines  Aufsatzes  sehr  viel  neues  Material  hinzubekommen^  und  muß 
bei  Gelegenheit  den  Gegenstand  noch  einmal  behandeln.  Hier  stehe 
einstweilen  ein  wertvoller  Beleg  aus  neuerem  Volksglauben  (ein  solcher 
fehlte  mir  damals  gänzlich),  den  ich  C.  Dilthey  verdanke:    In  Sizilien 

'  <Arch.  für  Rel.  Wiss.  VII  1904  S.  524ff.> 

'  Hülsen  vermeidet  es,  jemals  deutlich  zu  sagen,  woher  die  Erklärung  der 
„sakralen"  Bedeutung  des  Alphabets  stammt;  er  gruppiert  seine  Darlegungen 
so,  daß  jedermann  den  Eindruck  haben  muß,  ich  habe  zu  den  tüchtigen  Arbeiten 
meiner  vortrefflichen  Vorgänger  ein  paar  Kleinigkeiten  und  besonders  einige 
haltlose  Willkürlichkeiten  hinzugefügt.  Dem  Verfasser  der  Auszüge  aus  Zeit- 
schriften in  der  Berliner  Philologischen  Wochenschrift  1904  Nr.  20  Sp.  633  kann 
ich's  wahrlich  nicht  verdenken,  wenn  er  über  Hülsens  Aufsatz  referiert  'Diete- 
richs Behauptung,  das  Alphabet  habe  .  .  .,  ist  abzulehnen:  der  „Alphabetzauber" 
hat  in  lateinischer  Schrift  nicht  bestanden,  wahrscheinlich  auch  ebensowenig 
auf  griechischem  Boden'.  Und  dabei  publiziert  eben  dieser  Hülsensche  Aufsatz 
eine  lateinische  Inschrift,  die  von  ihm  selbst  gemäß  meiner  „Behauptung"  als 
Alphabetzauber  erklärt  wird. 

»  <Vgl.  S.  228  Anm.>  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  bemerkt,  daß  die  Am- 
mianusstelle,  die  Alfred  Klotz  zu  meiner  Abhandlung  nachtragen  zu  können  meinte, 
Rhein.  Mus.  LVI  639,  bereits  in  meinem  Aufsatz  S.  96  <220>  Anm.  genannt  ist. 
Sie  kann  meinem  „Alphabet-  zauber"  nicht  zur  Bestätigung  dienen,  weil  es  etwas 
ganz  anderes  ist,  wenn  bei  einer  magischen  Aktion  mit  Buchstaben  agiert  wird, 
aus  denen  Worte  gewonnen  werden,  die  der  Weissagung  dienen. 


230  Ein  neues  ABC -Denkmal 

legt  man  dem  neonate  in  die  fasciatura  das  Abbizz6  (so!),  ein  Büch- 
lein von  8  Seiten,  bedruckt  mit  Heiligenbildern  u.  a.,  und  insbesondere 
auf  der  zweiten  Seite,  neben  einem  Kreuz,  un  po  d'alfabeto^  woher 
der  Name  des  Ganzen,  Pitre  Canti  pop,  sicil.  II  362,  3,  Usi  e  costumi 
II  149  ff.  (Verwirrte  oder  verstellte  Alphabete  oder  Alphabetteile  aus 
Zauberformeln,  Jahn  Hexenwesen  und  Zauberei  in  Pommern  148).  Ich 
möchte  hier  an  die  Leser  des  Archivs  die  Bitte  richten,  mir  über  ihnen 
etwa  bekannte  Zeugnisse  freundlich  Mitteilung  zu  machen. 

Zugleich  wünsche  ich  aber  auch  jetzt  schon  Verwahrung  einzulegen 
gegen  Hülsens  oben  zitierte  weitere  Darlegungen,  die  er  mit  dem  Aus- 
spruch krönt,  „daß  jener  supponierte  uralte  Glaube  an  die  Zauberkraft 
des  Alphabets  wenigstens  auf  römischem  Boden  Oberhaupt  nicht  existiert 
hat"  —  zum  gleichen  Resultat  würde,  fügt  er  hinzu,  eine  Prüfung  der 
von  mir  beigebrachten  italischen  und  griechischen  Alphabete  führen, 
auf  die  er  nicht  in  gleicher  Ausführlichkeit  eingehen  könne.^  Darauf 
einzugehen  war  nun  freilich  die  absolute  Pflicht  dessen,  der  solche 
Behauptungen  aufstellte.  Wie  will  denn  Hülsen  die  zahlreichen  Alphabet- 
inschriften der  Vasen  bei  mir  S.  78  <203>  ff.,  von  denen  jedenfalls  eine 
Anzahl  sicher  aus  Gräbern  stammt,  erklären,  wie  will  er  denn,  um  nur 
einen  Fall  zu  nennen,  auf  den  mich  nachträglich  Elia  Lattes  aufmerksam 
macht,  die  Weihung  der  venetischen  Bronzeplatten  mit  Alphabet  und 
Syllabaren  an  eine  Göttin,  wie  gar  das  einmal  zwischen  den  Buchstaben 
stehende  dedit  libens  merito  erklären  (Pauli  Altit.  Forsch,  III  6  Nr.  11)? 
526  Da  ist*s  doch  nichts  mit  dem  Dolichenus,  in  dessen  Inschriften  eine 
Weihung  und  ein  ex  visu  neben  dem  Alphabet  auch  Hülsen  als  Beweis 
der  „sakralen"  Bedeutung  gelten  läßt  und  dann  auch  xeXeucavToc  toO 
Öeou  und  die  neu  publizierte  „Schlangeninschrift",  willkürlich  genug, 
ebendiesem  Gotte  zuschreiben  will.  Jeden  freilich,  der  bei  all  den 
griechischen^  und  italischen  Alphabeten  und  „Syllabaren",  obgleich 
die  ganz  analogen  Reihen  im  Zauber  aus  indischer  Literatur,  aus  alt- 
nordischem Brauch  ^  aus  griechischen  und  römischen  Inschriften  später 
Zeit  --  ich  meine  die  auch  von  Hülsen  anerkannten  Beispiele  -,  in 
den  magischen  Papyri,  in  römischem  christlichen  Ritus  und  im  deutschen 


*  Was  S.  85  Anm.  gesagt  wird,  bedeutet  für  das,  was  zur  Frage  steht,  gar 
nichts;  der  Vorwurf  der  ersten  Zeilen  ist  nicht  richtig.  „Andeutung  von  Schrift 
im  allgemeinen"  ist  ohne  Zweifel  eine  äußerst  brauchbare  und  weittragende 
Erklärung,    „Syllabar"  gilt  auch  ganz  beliebig  als  solche. 

*  Über  die  älteren  griechischen  ABC-Denkmäler  wird  in  einem  der  nächsten 
Hefte  dieses  Archivs  Georg  Karo  handeln. 

*  Zu  meinen  Beispielen  aus  diesem  Gebiete  gibt  wertvolle  Nachträge 
C.  Lindskog  Nordisk  Tidskrift  1901,  128ff. 


Ein  neues  ABC -Denkmal  231 

Volksbrauch  (Glockeninschriften)  unbezweifelbar  vorliegen,  jeden,  der 
überall,  wo  er  sonst  nichts  weiß,  einfach  mit  der  Annahme  von  „Schreib- 
übungen" oder  „ornamentalem  Zweck"  die  Sache  erledigt  glaubt,  kann 
ich  nicht  belehren  und  gebe  das  gern  auf.  Natürlich  behaupte  ich 
aber  nicht  im  mindesten  -  ich  habe  mich  früher  in  diesem  Punkte 
offenbar  nicht  deutlich  genug  ausgedrückt  -,  daß  nun  bei  keinem 
Beispiele  von  denen,  die  ich  anführe,  eine  andere  Erklärung  eintreten 
könne  -  ich  sondere  ja  selbst  solche  Fälle  mehrfach  aus  S.  85  1- 
89,  1;  99,  1  <209,  2;  213,  1;  223,  1>  -;  aber  die  Forderung,  daß  einJ 
Erklärung  für  die  verschiedenen  Gruppen  der  rätselhaften  gleich- 
artigen Texte  solcher  Reihen  passen  und  so  ihre  Richtigkeit  bewähren 
müsse,  besteht  auch  heute  noch  zu  Recht. 

In  der  Behandlung  lateinischer  Alphabete,  bei  denen  Hülsen  meine 
Erklärung  beseitigen  zu  können  selbst  glaubt,  ist  mir  am  verwunder- 
lichsten, wie  der  Krug  aus  Maar  bei  Trier  beiseite  geschoben  wird. 
„Es  handelt  sich  um  einen  Defixionszauber"  (wenn  nämlich  Bücheier 
die  Textworte  neben  dem  Alphabet  richtig  erkläri;  seine  Erklärung  ist 
m.  E.  evident,  ligo  steht  ja  auf  alle  Fälle  deutlich  da)  „und  es  muß 
hier  ausdrücklich  bemerkt  werden,  daß  das  Gefäß  auf  dem  römischen 
Gräberfeld  ausgegraben  ist";  diese  meine  Worte  zitiert  Hülsen,  als  ob 
er  sie  anfechte:  sie  sind  unanfechtbar,  solange  Büchelers  Deutung  nicht 
durch  Redensarten  von  „müßiger  Kritzelei"  zu  eriedigen  ist,  und  so 
tadelt  denn  Hülsen  mit  Recht  nur  den  Ausdruck  Graburne  (der  Krug 
ist  zur  Aschenurne  zu  klein),  den  ich  16  Seiten  später  in  der  Erörterung 
einmal,  allerdings  ist  das  eine  Nachlässigkeit,  gebrauche,  während  ich 
S.  81  <206>,  wo  ich  den  Tatbestand  angebe,  nur  von  „Krug"  und 
„Gefäß"  rede.  Hülsen  durfte  nicht  tun,  als  ob  an  diesem  Versehen  für 
den  Hauptpunkt  irgend  etwas  läge:  er  weiß  recht  gut,  daß  es  für  den 
Defixionszauber  nur  darauf  ankommt,  daß  er  in  ein  Grab  gebracht 
werde.  Und  das  Alphabet,  das  mit  der  Inschrift  vor  dem  Brennen  in  527 
den  nassen  Ton  eingegraben  wurde  (Hülsen  S.  83)?  „Ich  kann  in  der 
Inschrift  nichts  weiter  erkennen  als  die  müßige  Kritzelei  eines  Töpfers, 
die  in  einer  Linie  steht  mit  den  zahlreichen  ähnlichen  poetischen  und 
unpoetischen  Ergüssen  germanischer  und  dacischer  Ziegelstreicher." 
Damit  ist  der  Fall  allerdings  eriedigt,  nur  daß  ich  noch  fragen  würde, 
ob  das  Alphabet  bei  Ziegelstreichern  ein  poetischer  oder  unpoetischer 
Erguß  ist.  Nun  aber  die  Mainzer  Urne:  sie  ist  ja  „allerdings  als  Grab- 
urne verwendet  gewesen"  (Hülsen  84);  „daß  das  Alphabet  mit  seinen 
Interpunktionszeichen  keinen  anderen  als  ornamentalen  Zweck  gehabj 
hat,  scheint  mir,  bei  der  Stellung  der  Schriftzüge,  ziemlich  gewiß" 


232  ^i"  neues  ABC -Denkmal 

(Hülsen  85).  Stellung  der  Schriftzüge?  Sie  gehen  in  einer  Reihe  rings 
um  das  Gefäß.  Wie  man  in  solchem  Falle  aus  der  Stellung  der  Schrift- 
züge den  ornamentalen  oder  magischen  Zweck  (die  außerdem  sehr 
wohl  beide  vereinigt  sein  können  und  es  nachweisbar  oft  sind)  erkennen 
kann,  ist  mir  verborgen.  Die  Graburne  ist  nun  nicht  wegzuleugnen, 
aber  der  ornamentale  Zweck  „scheint  ziemlich  gewiß".  Frage  nicht 
weiter,  mystischer  Grübler! 

Gern  würde  ich  z.  B.  bei  Nr.  2  der  von  Hülsen  besprochenen  In- 
schriften (S.  77)  zugeben,  daß  die  Alphabete  an  dem  Kasten  nur  dem 
Sicherheitsschloß  dienen  (ebenso  auch  Nr.  3),  wenn  ich  mir  das  bei 
dieser  Art  der  Beschläge  praktisch  vorstellen  könnte.  Ich  hielt  es  für 
eine  Verlegenheitserklärung,  als  man  mit  dem  Alphabet  nichts  an- 
zufangen wußte.  Aber  das  kann  ich  allerdings  nicht  entscheiden  wollen, 
und  wenn  ich  diesen  Fall  preisgeben  muß,  so  ändert  es  an  der  ganzen 
Sache  natürlich  gar  nichts.  Ebensowenig,  wenn  die  Platte  (Nr.  1  bei 
Hülsen  S.  76)  wirklich  nichts  mit  der  Nekropole  zu  tun  hat,  in  der  sie 
gefunden  ist  (CIL  VI  2  p.  1023).  Auch  die  schon  lädierte  Marmorplatte 
konnte  wieder  benutzt  sein  und  ich  vermag  mir  einstweilen  nicht  vor- 
zustellen, daß  der  Lehrling  hinter  dem  Alphabet  D.  M.  S.  geübt  habe.^ 
528  Die  „Taufkanne"^  aus  Karthago  -  ich  schließe  mich  ja  mit  meiner  „gänzlich 
willkürlichen  Annahme"  nur  de  Rossi  an^  und  berufe  mich  ausdrücklich 


*  Ich  hatte  übersehen,  daß  im  CIL  ein  Teil  des  Steines  noch  dazugekommen 
war,  ein  Versehen,  das  ich  nicht  beschönigen  will  und  nur  damit  entschuldige, 
daß  das  Zitat  nach  dem  CIL  zu  dem  von  Henzen  Bull.  etc.  erst  in  der  Korrektur 
schnell  eingesetzt  wurde. 

'  Hülsen  läßt  bei  der  Kritik  dieser  Benennungen,  die  für  mich  ja  durchaus 
nicht  Beweisstücke  sind,  niemanden  merken,  daß  ich  S.  78-95  <203— 218>  den  Tat- 
bestand der  Dokumente  ausführlich  im  voraus  dargelegt  habe.  Die  Benennungen 
S.  95  <219>  stehen  zusammen  in  einem  Satze,  der  die  verschiedenen  Ver- 
wendungen der  Alphabete  überblickt,  denen  eine  Erklärung  genügen  müsse: 
Hülsen  nimmt  diesen  Satz  zur  Basis  seiner  Widerlegung  und  nun  erscheint  vieles 
als  haltlose  Behauptungen  und  erschlichene  Beweise,  worüber  vorher  —  auch  über 
die  „Columbarientafel"  (81f.  <206»,  „Taufkanne"  (85  <210»,  „Reliquienkasten" 
(86  <210»  —  die  tatsächlichen  Angaben  und  die  Begründungen  der  Benennungen, 
ob  sie  nun  richtig  sind  oder  falsch,  jedenfalls  so  weit  gegeben  sind,  daß  niemand 
im  Zweifel  sein  kann,  was  gegebene  Tatsache  und  was  erst  erschlossen  ist. 

'  In  anderen  Fällen  wird  die  Sache  so  gewendet,  als  habe  ich  das  Richtige, 
das  ich  gebe,  „nach  dem  Vorgang"  de  Rossis  gegeben,  z.  B.  in  der  ganz  be- 
sonders mißverständlichen  Wendung  S.  86:  „Ein  klassisches  Beispiel  bietet  der 
(von  de  Rossi  Bull,  crist.  a.a.O.  S.  140-146  ausführlich  erläuterte)  rituelle  Ge- 
brauch der  Alphabete  bei  der  Einweihung  einer  Kirche,  den  auch  D.  als  effekt- 
vollen Schluß  seines  Aufsatzes  verwendet  hat."  Jeder  denkt  und  muß  denken, 
de  Rossi  habe  a.  d.  a.  O.  den  Ritus  richtig  erläutert  und  ich  mir  stillschweigend 
seine  Weisheit  angeeignet.  In  Wirklichkeit  hat  de  Rossi  (dessen  Größe  das  ja 
doch  wohl  keinen  Eintrag  tut)  gar  keine  Ahnung  von  der  tatsächlichen  Bedeutung 


Ein  neues  ABC -Denkmal  233 

auf  die  „Annahme  de  Rossis«^  -  wird  nun  wirklich  spielend  leicht  beiseite 
gebracht.     Bei  dem 


Bc 


„dachte"  (so!)  der  Töpfer  an  das 


A  \^' 


Auch  der  Steinmetz,  der  auf  einem  Steintäfelchen  aus  Metz,  auf  das 
mich  mein  Kollege  von  Domaszewski  hinweist,  so  gruppierte! 

_._  {Jahrb.  der  Gesellsch.  f.  lothring.  Gesch.  u.  Altertumskunde  XIV 
1902  Tafel  XVII  Fig.  3)? 

Ich  kann  für  jetzt  nicht  weiter  fortfahren.  Daß  jedes  einzelne  Bei- 
spiel immer  wieder  genau  auf  Ursprung  und  Zweck  geprüft  wird,  auch 
wenn  dann  der  eine  oder  andere  meiner  Belege  sollte  ausscheiden 
müssen,  kann  ich  nur  freudig  begrüßen.  Daß  es  aber  möglich  sein 
würde,  nach  meinen  Darlegungen  den  Alphabetzauber  auf  den  Kult  des 
Jupiter  Dolichenus  zu  beschränken  und  damit  wieder  als  ungelöstes 
Rätsel  zu  den  Orientalisten  abzuschieben  (die  sich  z.  T.  schon  meiner 
Lösung  eines  auch  bei  ihnen  lange  ungelösten  Rätsels  aufrichtig  freuen), 
hätte  ich  nicht  für  möglich  gehalten.  Aber  Hülsen  selbst  hat  ja  in  den 
„Beiträgen  zur  alten  Geschichte"  II  236  (nach  meinem  Aufsatze,  den 
er  zitiert)  schon  seinerseits  eine  Erklärung  gegeben:  „eher  scheint  es  529 
mir  dem  Charakter  der  unglaublich  schreibfaulen  Syrer  angemessen, 
daß  sie  die  Gepflogenheit  hatten,  ihrem  Ba'al  manchmal  das  Alphabet 
inschriftlich  zu  stiften,  woraus  sich  der  Gott  dann  selbst  alle  möglichen 
Gebete  und  Wünsche  zusammensetzen  konnte."^  Man  soll  sich  auch 
in  dem  Verständnis  abergläubischer  Mystik  nicht  von  der  Bahn  echter 
Nüchternheit  abdrängen  lassen.  Von  uraltem  Volksglauben  zu  reden,  der  bei 
mancherlei  Völkern  zu  Hause  sei  und  durch  die  Jahrhunderte  gehe,  ist  doch 
wahrlich  überflüssig,  wo  nichts  vorliegt  als  ein  bischen  syrische  Faulheit. 

des  Alphabets  in  diesem  Ritus  und  bringt  im  Stil  der  kirchlichen  Ausdeutung 
solcher  Bräuche  allerlei  Symbolik  vor.  Ich  gestehe,  daß  der  Anblick  der  Buch- 
stabenreihen im  Pontificale  romanum  mir  den  letzten  Anstoß  gab,  meinen  Auf- 
satz zu  schreiben. 

^  der  auch  Verzierung  und  Buchstaben  auf  seine  Weise  (ABC  und  neofiti) 
mit  der  Taufhandlung  in  Zusammenhang  bringt  und  also  auch  daran  denkt,  daß 
das  Gefäß  für  solchen  Zweck  gemacht  sei.  „Unter  den  Resten"  ist  von  mir 
ungenau  und  mißverständlich  angegeben;  es  ist  nur  Vermutung  de  Rossis,  daß 
das  Gefäß,  das  in  der  Nähe  im  Brunnen  gefunden  war,  zu  den  Geräten  des 
Baptisteriums  gehöre.  Sembra  congettura  naturale,  l'orciulo  trovato  presso  un  battis- 
tero  spettare  alla  suppellettile  degli  utensili  e  riti  battesimali  (Bull,  crist.  1881, 129). 

«  Das  ist  denn  wieder  so  ziemlich  die  erbauliche  Theologenauslegung  der 
.Glockenalphabete:  „gleichsam  als  Lobgesang  aus  dem  Munde  der  Unmündigen 
und  Kinder,  nichts  anderes  als  das  Alphabet:  Gott  weiß  ja  wohl  daraus  ein 
Gebet  zu  machen".  Ich  hatte  das  in  völliger  Verkennung  der  Sachlage  nur 
zum  Scherze  angeführt,  S.  89  <213>. 


XV 
HIMMELSBRIEFE  ^ 

Vor  kurzem  war  folgende  Nachricht  in  einigen  Zeitungen  zu  lesen: 
Ein  eigenartiges  Immediatgesuch  ist  vor  einiger  Zeit  beim  Kaiser- 
lichen Zivilkabinet  eingegangen.  Ein  biederer  Handwerker  aus  Stangen- 
hain in  Schlesien   übersandte   nämlich   dem   Kaiser  einen   Original- 
es chutzb  rief"   für   die   nach  China  gehenden   deutschen  Truppen 
mit  dem  dringenden  Anheimgeben,  den  Brief  mittels  Druckes  verviel- 
fältigen und  jedem  Soldaten  ein  Exemplar  zustellen  zu  lassen.    Nach 
der  Angabe   des  Bittstellers   sei   dieser  Brief  im  Jahre  1729  in 
Schleswig-Holstein  vom  Himmel  gefallen  und  schütze  seinen 
jeweiligen  Inhaber  nicht  nur  vor  jeder  feindlichen  Kugel, 
sondern  auch  vor  Krankheit  und  sonstigem  Ungemach! 
Auch  die  Vereinigung  für  hessische  Volkskunde  besitzt  einige  Exem- 
plare solcher  Himmelsbriefe,  die  im  wesentlichen  untereinander  über- 
einstimmen.   Ihre  Fassung  hat  mannigfaches  Interesse  auch  neben  den 
Himmelsbriefen,  die  anderweitig  bekannt  gemacht  worden  sind   (z.  B. 
Wuttke-E.  H.  Meyer,  Deutscher  Volksaberglaube  S.  178 f.;  Strackerjahn, 
Aberglaube  und  Sagen  aus  dem  Herzogtum  Oldenburg  I,  61;  Bartsch, 
Sagen,  Märchen   und   Gebräuche    aus   Mecklenburg  II,   341;   Schweiz. 
Archiv  für  Volkskunde  II,  277.  III,  52.  IV,  189  ff.,  341;  U.  Jahn,  Hexen- 
wesen und  Zauberei  in  Pommern  S.  40  ff.). 

Der  Text  eines  Himmelsbriefes,  der  aus  Engelrod  stammt,  sei  zu- 
nächst hier  wiedergegeben  (das  Original  ist  von  Herrn  Dr.  med.  F.  Haupt 
gestiftet): 

Himmelsbrief! 
Ein  Graf  hatte  einen  Diener,  denen  er  tödten  lassen  wollte  für 
K.  G.  eh.  Vater  der  Scharfrichter,  der  dem  Grafen  dies  nicht  ab- 
schlagen wollte,  vollführte  den  Befehl,  aber  o  Wunder,  das  Schwert 
tödte  den  Diener  nicht,  es  verwundete  ihn  nicht  einmal,  als  der  er- 
staunte Graf  dies  sah,  befragte   er  den  Diener  nach   der  Ursache, 


»  <Blätter  für  Hess.  Volksk.  III  1901  S.  9-12.> 


i  Himmelsbriefe  2-^«; 

und  dieser  zeigte  ihm  einen  Brief  mit  folgenden  Buchstaben:  „B.  J. 
H.  K.  h.  h.  R.  St.  K."  denen  er  vom  Himmel  zu  haben  erklärte.    Als 
der  Graf  diesen  Brief  sähe,  befahl  er,  daß  ihn  jeder  bei  sich  tragen 
sollte.     Wer  nun   irgend   eine   blutende  Wunde  an  seinem  Körper 
hat,  der  nehme  dießen  Brief,  lege  ihn  darauf,  und  das  Blut  wird  ge- 
,;      stillt  und  die  Wunde  wird  geheilt  sein,  wer  in  den  Krieg  zieht,  und 
!      den  Brief  nicht  bei  sich  trägt,  der  schreibe  sich  diese  Buchstaben 
;      auf  seinen  Degen  oder  auf  die  Seite  seines  Gewehres,  und  er  wird 
'      nicht   verwundet   werden   können   solche   fünf  Buchstaben   sind   die 
heilige   fünf  Wunden   Christi  K.  h.  f.  G.  K.  bist  du  im  Besitz  von 
diesen  Buchstaben,  so  bist  du  sicher,  daß  falsches  Urteil  nicht  ge- 
schehen kann  h.  h.  f.  f. 

Wer  diesen  Brief  bei  sich  trägt,  dem  wird  weder  Donner  noch 
Blitz,  weder  Feuer  noch  Wasser  Schaden  thun  können.  Und  eine 
Frau  gebähren  will,  und  die  Geburt  nicht  von  ihr  will,  so  gebe  mann 
ihr  diesen  Brief  in  die  Hand,  und  sie  wird  bald  gebähren,  und  das 

(Kind  wird  sicher  glücklich  sein.  Wahrlich  dieser  Brief  ist  besser  als 
Geld  Haus  und  Schutz -Brief.  Im  Namen  Gottes  des  Vaters,  des 
Sohnes  und  des  heiligen  Geistes  sowie  Christus  im  Oelgarten  still 
stand,  so  soll,  wo  dieser  Brief  sich  befindet,  alles  Geschütz  still  stehn, 
und  des  Feindes  Waffen  ihn  nicht  treffen  können.  Weder  Diebe  noch 
Mörder  sollen  ihm  Schaden  thun  können.  Durch  den  Befehl  des 
heiligen  Geistes  einst  stille  (=  stehn  stille  in  andern  Texten)  alle 
sichtbaren  und  Unsichtbaren:  Im  Namen  Gottes  des  Vaters,  des 
Sohnes  und  des  heiligen  Geistes  spreche  ich  euch  frei  und  wer  es 
nicht  auf  mein  Wort  glauben  will,  der  hänge  diesen  Brief  einem 
Hund  um  den  Hals  und  schieße  ihn  und  er  wird  sehen,  daß  ich 
wahr  gesprochen  habe. 

So  wahr  es  ist,  daß  Jesus  Christus  gestorben  und  gen  Himmel 
gefahren  ist,  so  wahr  er  auf  Erden  gewandelt  ist,  so  wahr  es  ist, 
wer  diesen  Brief  besitzt,  weder  gestochen  noch  verletzt  werden  kann, 
ich  schwöre  es  bei  dem  lebendigen  Gott  des  Vaters,  des  Sohnes  und 
des  heiligen  Geistes,  er  soll  unbeschädigt  bleiben,  ich  bitte  im  Namen 
unseres  Herrn  Jesu  Christi  Blut,  daß  mich  keine  Kugel  treffen  thut, 
sie  sei  von  Gold,  Silber  oder  Blei,  Gott  im  Himmel  macht  mir  alles  frei. 
Dieser  Brief  ist  im  Jahr  1724  in  Hollstein  gefunden  worden.  Er 
war  mit  goldenen  Buchstaben  geschrieben  und  schwebte  über  der 
Taufe  zu  Rädergau. 

Als  mann  ihn  jedoch  ergreifen  wollte,  wich  er  zurück,  bis  im  Jahr 
1791  Jemand  den  Gedanken  faßte,  ihn  abzuschreiben  und  der  Welt 


236  Himmelsbriefe 

mitzutheilen,  zu  diesem  neigte  sich  der  Brief.    Unter  anderen  Lehren 
enthielt  er   folgendes:    „Wer  am  Sonntag  arbeitet,  der  ist  von  mir 
verdammt,  denn  am  Sonntag  sollt  ihr  nicht  arbeiten,  sondern  in  die 
Kirche  gehen  und  mit  Andacht  beten.    Ich  gebiete  euch  6  Tage  sollt 
ihr  arbeiten,  und  am  siebenten  Tage  sollt  ihr  auf  Gottes  Wort  hören, 
thut  ihr  es  nicht,  so  werde   ich   euch  strafen  mit  theueren  Zeiten, 
Pestilenz  und  Krieg.     Ich  gebiete  euch,  daß  ihr  am  Sonnabend  nicht 
zu  spät  arbeitet,  denn  ein  jeder,  er  sei  jung  oder  alt,  soll  für  seine 
Sünden  beten,  daß  Sie  ihm  vergeben  werden  mögen.    Ihr  sollt  nicht 
sein  wie  die  unvernünftigen  Thiere.    Von  eurem  Reichthum  sollt  ihr 
den  Armen  geben,  und  nun  bei  Gottes  Namen  schwören  nicht  andern 
Leuten  Gold   oder  Silber  zu  nehmen.    Ehre  Vater  und  Mutter  und 
rede  nicht  falsch  Zeugniß  wieder  deinen  Nächsten.   Wer  diese  meine 
Gebote  hält,  dem  gebe  ich  Gesundheit   und  Frieden,  wer  es  aber 
nicht  glaubet,  der  ist  von  mir  verdammt  und  wird  weder  Glück  noch 
Segen  haben.     Ich  sage  euch,  daß  Jesus  Christus  diesen  Brief  ge- 
schrieben hat,  und  wer  diesem  Brief  wiederspricht,  der  wird  von  mir 
keine  Hilfe  erwarten.    Wer  diesen  Brief  besitzt  und  Ihn  nicht  offen- 
10       baaret,  der  sei  verflucht  von  der  Christlichen  Kirche,  denn  Ihr  sollt 
Ihn  Euch  gegenseitig  abschreiben;  wenn  eure  Sünden  soviel  sind  als 
Sand  am  Meere  und  Laub  auf  den  Bäumen  sie  sollen  Euch  vergeben 
werden,  so  ihr  daran  glaubet,  wer  aber  nicht  glaubet,  der  soll  des 
Todtes  sein,   und   seine  Kinder  sollen  eines  bösen  Todtes  sterben. 
Bekehret  euch  sonst  werdet  ihr  gestraft  werden  ich  werde  Euch  am 
jüngsten   Tage   verdammen   so   ihr   mir   keine   Rechenschaft   geben 
könnt.     Haltet  diese  meine  Gebote,  welche  ich  Euch  durch  meinen 
Engel  gesand  habe  Christo  Jesu  Amen". 
Ein    anderer  Brief   —    eine   Abschrift  des   Originals  wird  ebenfalls 
Herrn  Dr.  med.  F.  Haupt  verdankt  -  zeigt  nur  geringe  Abweichungen. 
Er  hat  richtig  gleich  im  Anfang:  Walter  der  Scharfrichter.    Er  gibt 
bei  der  gleichen  Angabe,  daß  der  Brief  in  Holstein  gefunden  sei,  die 
Zahl,   die   auch   die  Zeitungsnotiz   gibt:    1729.     „Und  strebte  über  der 
Tanche  flätig  (oder:  stätig)",  gibt  die  Abschrift,  die  uns  vorliegt.   Taufe 
ist  das  richtige;  was  sich  in  flätig  verbirgt,  kann  ich  nicht  sagen. 

Ein  Haus-  und  Schutzbrief,  der  im  Romanusbüchlein  (Schwab.  Hall, 
Haspeische  Buchhandlung)  S.  4 f.  steht,  lautet  folgendermaßen: 

Haus-  und  Schutzbrief. 
Im  Namen  Gottes  des  Vaters  etc.    Sowie  Christus  im  Oelgarten 
stille   stand,   so   soll   alles   stille  stehen.     Wer  diesen  Brief  bei  sich 


I 

■P  tl 


Himmelsbriefe  217 


trägt,   dem   wird   nichts   schaden,  es  wird  ihn  nichts  treffen " 

md  so  fort  mit  ganz  geringen  Abweichungen  der  Text  des  oben 
vorangestellten  Briefes  von  den  Worten  an:  Haus-  und  Schutz- 
)rief.     Im  Namen  Gottes  des  Vaters,  bis  zu  den  Worten: 

„Ich  bitte  im  Namen  unsers  Herrn  Jesu  Christi  Blut, 

Daß  mich  keine  Kugel  treffen  thut 

Sie  sei  von  Gold,  Silber  oder  Blei, 

Gott  im  Himmel  macht  mir  alles  frei." 

(Romanusb.:   mich  vor  alles  sicher  und  frei;  im  Romanusb. 
folgt  noch  einmal:  Im  Namen  Gottes  etc.) 

Man  sieht,  daß  in  unserem  Himmelsbriefe  I  nach  besser  als  Geld 
der  Punkt  zu  setzen  ist,  und  dann  mit  neuem  Titel  Haus-  und  Schutz- 
brief ein  neues  Stück  beginnt,  ein  Sttick,  das  wir  in  der  entsprechenden 
Literatur  sehr  oft  allein  verwendet  finden.    Und  daß  eben  dieser  Haus- 
und Schutzbrief  heute  noch  umläuft  und  gebraucht  wird,  bin  ich  durch 
einen  Zufall  imstande  zu  beweisen.    In  meinem  Besitze  befindet  sich  ein 
_vergilbtes  Blatt,  das  alle  Spuren  seines  Gebrauches  trägt:  ich  verdanke 
der  Güte  des  Herrn  Kunstmalers  Otto  Ubbelohde  in  Goßfelden,  der 
\  von  einem  Soldaten  in  Obervorschütz  bei  Fritzlar  (Rg.-Bez.  Kassel) 
•halten  hat.    Eine  höchst  unbeholfene  Hand  hat  darauf  den  folgenden 
jxt  geschrieben: 

Haus-  und  Schutzbrief! 
Im  Namen  Gottes,  des  Vaters  des  Sohnes  und  des  heiligen  Geistes, 
So  wie  Christus  am  Oelberge  still  stand,  so  soll  alles  Geschütz 
still  stehen,  wer  dieses  geschriebene  bei  sich  hat,  dem  wird  nichts 
schaden,  es  wird  Ihnen  nicht  schaden  des  Feindes  Geschütz  und 
Waffen,  dieselbigen  wird  Gott  bekräftigen,  daß  er  sich  nicht  fürchte, 
vor  Dieben  und  Mörder,  es  soll  ihnen  nicht  schaden,  Geschütze, 
Pistolen  und  alle  Gewähre  müssen  still  stehen,  alles  sichtbare  und 
unsichtbare  durch  den  Befehl  des  Engels  Michaels.  Im  Namen 
Gottes  des  Vaters  des  Sohnes  und  des  heiligen  Geistes,  Gott  mit  mir, 
wer  diesen  Brief  bei  sich  hat,  der  wird  vor  aller  Gefahr  beschützt 
bleiben,  wer  dieses  nicht  glauben  will  der  schreibe  es  ab  binde  es 
einem  Hunde  an  den  Hals,  und  schieße  darnach  der  wird  es  sehen 
daß  es  wahr  ist,  wer  dieses  hat  wird  nicht  gefangen  genommen 
werden,  noch  durch  des  Feindes  getroffen  werden  Amen.  So  wahr 
als  das  wahr  ist  daß  Christus  gestorben  ist  und  gen  Himmel  gefahren 
ist  und  so  wahr  er  auf  Erden  geduldet  hat  kann  nicht  gesehen  noch 
geschossen  (Hier  hört  das  Blatt  auf.) 


238  Himmelsbriefe 

(Gesehen  ist  augenscheinlich  aus  gestochen  verschrieben,  wie  in 
den  parallelen  Texten  zu  lesen  steht.) 

Nur  der  Reimspruch  gegen  die  Kugel  fehlt  hier,  der  auch  ursprüng- 
lich, vielleicht  bis  heute  noch,  als  selbständiger  Spruch  umlief.  Im 
übrigen  ist  es  fast  wörtlich  der  Brief  des  Romanusbüchleins.  Daß  aus 
solchen  Drucken  die  Formeln  des  Zaubers  wieder  neu  im  Volke  über- 
nommen und  verbreitet  wurden,  habe  ich  früher  in  diesen  Blättern 
dargelegt  (II.  Jahrgang  1900,  Nr.  2,  S.  5f.  <198  f.».  In  jenem  Brief  des 
Romanusbüchleins  folgt  dann  aber  noch  die  Angabe:  dieser  Brief  ist  vom 
Himmel  gefallen  und  in  Holstein  gefunden  worden  1724.  Er  war  mit 
goldenen  Buchstaben  geschrieben  und  schwebte  über  der  Taufe  zu 
Rendsburg.  Wie  man  ihn  ergreifen  wollte,  wich  er  zurück,  bis  1731  sich 
jemand  mit  dem  Gedanken  mehrte  (so:  =  näherte),  ihn  abzuschreiben 
und  den  andern  mitzuteilen  zu  dieser  Not".  Dann  folgt  auch  hier  die  Partie 
über  die  Sonntagsheiligung  und  die  Versprechungen  und  Drohungen 
ziemlich  genau  wie  in  dem  Himmelsbriefe  aus  Engelrod. 

Im  wesentlichen  gleichartig  sind  drei  weitere  Himmelsbriefe,  einer 
aus  Höchst  im  Odenwald  (III),  einer  aus  Nieder -Weisel  (IV),  und  einer 
aus  Ermenrod  (V).  Seltsam  sind  die  wechselnden  Angaben  des  Ortes, 
wo  der  Brief  in  der  Kirche  geschwebt  habe:  I  über  der  Taufe  zu 
Rädergau,  II  über  der  Tanche  flätig  oder  stätig,  III  wie  eine 
Taube  zu  Sintmauen,  IV  über  Tausende  zu  Statagami,  V  über 
der  Taufe  zu  und  ohne  Lücke  weiter  wer  ihn  greifen  wollte. 
Romanusbüchlein  (s.  o.):  über  der  Taufe  zu  Rendsburg^  Daß  über- 
all über  der  Taufe  das  ursprüngliche  ist,  liegt  auf  der  Hand;  aber 
welche  Namen  den  unglaublich  verschriebenen  und  immer  wieder  ab- 
geschriebenen Buchstaben  in  I-IV  zugrunde  liegen,  habe  ich  nicht  aus- 
findig machen  können.  In  Holstein  soll  der  Ort  liegen,  wie  in  jedem 
Exemplare  ausdrücklich  gesagt  wird.  Daß  die  übrigen  Namen  aus 
Rendsburg  verschrieben  wären,  ist  unglaublich;  solche  holsteinische 
Ortsnamen,  aus  denen  die  der  Briefe  wahrscheinlicherweise  verschrieben 
sein  könnten,  habe  ich  nicht  gefunden.  Daß  in  II  stätig  und  in  IV 
Statagami  auf  eine  gleiche  zugrunde  liegende  Überlieferung  zurückgehen, 
ist  das  einzige,  was  ich  vermuten  darf.    Mögen  Kundigere  hier  aushelfen. 

^  In  einem  Himmelsbriefe  aus  Pommern  bei  U.  Jahn  a.  a.  O.  S.  44  steht 
über  der  Taufe  Magdalenens,  in  einem  andren  ebenda  8.47  steht  über 
der  Taufe  gehalten  zu  Redamu,  in  einem  aus  Mecklenburg  bei  Bartsch 
a.a.O.  II,  S.  342  wiederum  über  der  Taufe  Magdalenens,  in  einem  anderen 
S.  344f.  über  der  Taufe  gehalten  zu  Rudena.  Man  mag  sehen,  wie 
mannigfaltig  sich  die  Überlieferungen  verzweigen ;  im  übrigen  mache  ich  genaue 
Angaben  nur  über  die  hessischen  Himmelsbriefe,  die  mir  vorliegen. 


Himmelsbriefe  230 

Wichtiger  aber  ist,  daß  wir  die  einzelnen  Teile,  aus  denen  dieser 
Typus  des  Himmelsbriefs  sich  gebildet  hat,  deutlich  auslösen  können. 
1.  Die  Geschichte  von  dem  Grafen  und  seinem  Diener  und  die  Angabe 
der  Zauberbuchstaben  (über  die  Bedeutung  dieser  Buchstaben,  der 
Alphabetreihe  oder  sinnloser  Buchstabengruppen  habe  ich  ausführlich 
gehandelt  im  Rheinischen  Museum  für  Philologie  LVI.  Jahrg.  S.  77  ff. 
<202ff.>,  was  deutschen,  bis  heute  üblichen  Aberglauben  betrifft,  besonders 
S.92ff.  <216ff.>,  über  den  Runenzauber  dieser  Art  S.  87  f.  <221  f.>  und 
S.  103  <226».  2.  Der  Haus-  und  Schutzbrief,  dessen  besondere  Ver- 
wendung auch  die  Übernahme  im  Romanusbüchlein,  die  oben  erwähnt  wurde, 
zeigen  kann,  mit  dem  gereimten  Zauberspruch  gegen  Kugeln  am  Schluß: 

„Ich  bitte  im  Namen  unsers  Herrn  Jesu  Christi  Blut 
Daß  mich  keine  Kugel  treffen  thut, 
Sie  sei  von  Gold,  Silber  oder  Blei; 
Gott  im  Himmel  macht  mir  alles  frei." 

Der  eigentliche  Himmelsbrief,  der  zuerst  in  „epischer"  Einleitung 
Rine  Herkunft  angibt:  dieser  Brief  ist  im  Jahre  1724  (so  L  und 
r.  und  Romanusbüchlein;  1729  IL;  1771  III.;  1774  IV.  Abgeschrieben: 
791  I.  und  III.  und  V.;  791  II.;  in  IV.  fehlt  die  Zahl,  im  Romanus- 
üchlein  1731:  alles  sehr  durchsichtige  Varianten)  in  Holstein  ge- 
inden  worden  usw. 

Als  Hauptinhalt  des  Briefes  folgt  dann  überall  das  Gebot  der 
onntagsheiligung:  je  nachdem  folgen  andere  von  den  zehn  Geboten 
nd  dazu  variable  Verheißungen  und  Drohungen» 

Die  epische  Einleitung  von  dem  Grafen  findet  sich  öfter  in  den  ge-  U 
ruckten  Zauberbüchern,  so  in  des  Albertus  Magnus  ägyptischen  Ge- 
Bimnissen  I.  Teil  (als  Druckort  Brabant  angegeben)  S.  32: 

„Kräftiges  Gebet,  wodurch  man  sich  vor  Kugel  und  Degen,  vor 
sichtbaren  und  unsichtbaren  Feinden,  sowie  vor  allem  möglichen 
Übel  beschützen  und  bewahren  möge. 

Graf  Philipp  von  Flandern  hatte  einen  (fehlt  offenbar  versehentlich 
Diener),  welcher  das  Leben  verschuldet  hatte"  usw. 

l  Der  Scharfrichter  wird  nicht  mit  Namen  genannt.  In  einem  pommer- 
Bhen  Himmelsbriefe  tritt  statt  des  Grafen  der  Name  Philipp  Plometrin 
uf:  er  hatte  einen  Reiter  und  wollte  ihn  köpfen  lassen  usw.   (s.UJahn 

a.  0.,  S.  42.)  .      . 

Uns   liegt   noch   ein  Himmelsbrief  ganz  anderer  Art  vor  m  emer 
t  Abschrift  des  Herrn  Pfarrer  Schulte.    Auch  dieser  stammt  aus  Engelrod 


240  Himmelsbriefe 

und  stellt  sich  als  ein  Zauberspruch  gegen  Feuer  dar.  Derselbe  Feuer- 
segen findet  sich  z.  B.  in  dem  Romanusbüchlein  (Schwab.  Hall)  S.  33 
in  etwas  weitläufigerer  Fassung  unter  der  Überschrift  „Ein  geistlicher 
und  wahrhaft  approbierter  Feuer -Segen  von  einem  alten  ägyptischen 
Könige",  und  in  ziemlich  genau  gleichem  Text  in  dem  (angeblich?) 
Baltimore,  Druck  und  Verlag  von  Franz  Lippe,  erschienenen  Zauber- 
buche: der  schwarze  Rabe  oder  das  enthüllte  Wunderbuch  der  wichtig- 
sten Geheimnisse,  S.  24.  Dann  folgen  noch  in  dem  Exemplar  aus 
Engelrod  die  Angaben:  „Wer  diesen  Brief  in  seinem  Hause  hat,  bei 
dem  wird  keine  Feuersbrunst  entstehen  oder  auskommen,  ingleichen 
so  eine  schwangere  Frau  diesen  Brief  bei  sich  hat,  kann  weder  ihr 
noch  ihrer  Frucht  eine  Zankerei  (ich  vermute,  daß  Zauberei  nur  so 
verlesen  und  verschrieben  ist)  noch  Gespenst  schaden.  Auch  so  je- 
mand diesen  Brief  in  seinem  Hause  hat  oder  bei  sich  trägt,  das  ist 
sicher  für  der  leidichen  (so)  Seuch  und  Pestilenz  fff." 

Der  Abschreiber  macht  die  Anmerkung,  daß  in  manchen  Häusern 
Engelrods  die  Abschrift  dieses  Briefes  unter  den  Dachziegeln  liegt. 

Ein  weiterer  Himmelsbrief,  der  sich  im  Besitze  der  Vereinigung  für 
hessische  Volkskunde  befindet,  ist  wiederum  aus  ganz  anderen  Ele- 
menten zusammengesetzt,  und  muß  für  diesmal  beiseite  bleiben.  Den 
Hauptteil  des  Zauberspruches  bildet  der  so  häufig  ähnlich  verwendete 
Anfang  des  Johannesevangeliums. 

Die  Himmelsbriefe  des  oben  behandelten  Typus  sind  außerordentlich 
weit  verbreitet.  Auf  dem  Lande  werden  sie  gegen  alles  mögliche  Übel 
am  Leibe  getragen,  gegen  Feuer  unters  Dach  gelegt,  vor  allem  aber 
machen  sie  gegen  Schuß  und  Hieb  fest,  und  werden  von  den  Soldaten 
mit  in  den  Krieg  genommen.  Auf  den  Schlachtfeldern  von  1866  und 
1870  sind  viele  dieser  Zauberbriefe  gefunden  worden  -  an  denen, 
denen  sie  nichts  geholfen  hatten. 

Diese  Art  der  Himmelsbriefe  ist  nach  Inhalt  und  Zusammensetzung 
im  wesentlichen  die  gleiche  in  Pommern  und  der  Schweiz,  in  Oldenburg 
und  Österreich,  so  auch  in  Hessen.  Wir  würden  ohne  weiteres  an- 
nehmen, wenn  wir  es  nicht  wüßten,  daß  eine  lange  Tradition  des 
Aberglaubens  seinen  letzten  heutigen  Dokumenten  vorausliegt.  Es  ist 
eine  ungeahnt  lange  Tradition.  Bald  da,  bald  dort  finden  wir  immer 
wieder  Nachrichten  und  Beispiele  von  Himmelsbriefen  in  den  ver- 
gangenen Jahrhunderten.  Ja,  man  kann  den  Typus  von  Himmelsbriefen, 
den  wir  kennen  lernten,  in  seinen  hauptsächlichsten  Zügen  im  Okzident 
bis  fast  in  die  Mitte  des  ersten  Jahrtausends  nach  Christus  zurück- 
verfolgen, im  Orient  einstweilen  bis  an  die  Grenze  des  ersten  Jahr- 


Himmelsbriefe  p.. 

tausends.  Es  existieren  griechische  Himmelsbriefe  byzantinischer  Zeit- 
da  kommt  der  Brief  vom  Himmel  und  hängt  in  Kirchen  von  Jerusalem 
und  Konstantinopel.  Hauptinhalt  ist  fast  immer  das  Gebot  der  Sonntags- 
heiligung. Ich  will  aber  nicht  von  den  wenigen  Spuren  und  Texten 
reden,  die  mir  zufällig  bekannt  geworden  sind.  Zwei  ausgezeichnete 
Kenner  der  in  Betracht  kommenden  Gebiete,  Robert  Priebsch  in  London 
und  Walther  Köhler  in  Gießen,  haben  es  unternommen,  die  Geschichte 
der  Himmelsbriefe  uns  vorzulegen.  Sie  werden  von  diesem  einen 
Punkte  aus  auch  der  Volkskunde  weiten  Ausblick  und  große  Ziele  zeigen 
können,  und  wir  werden  lernen,  was  es  bedeuten  kann,  ein  vergilbtes 
Papier  aus  Engelrod  oder  Nieder-Weisel  geschichtlich  ganz  zu  verstehen, 
-  wenn  sich  zwei  Gelehrte  die  Welt  des  Himmelsbriefs  in  Orient  und 
Okzident  teilen,  um  ein  solches  Verständnis  der  Wissenschaft  zu  er- 
schließen. 

Ich  gebe  einstweilen  die  Erwartung  nicht  auf,  daß  sich  auch  schon 
im  griechisch-römischen  Altertum  „Himmelsbriefe"  werden  aufzeigen 
lassen.  Und  wenn  nicht  Erwähnungen  in  irgendeinem  Winkel  der  un- 
endlichen antiken  Literatur  längst  vorhanden  und  nur  mir  unbekannt 
sind,  so  kann  jeden  Tag  ein  'neuer  Fund  uns  auch  hier  geben,  was 
wir  in  gewissem  Sinne  erwarten  dürfen.  Denn  alle  religiösen  Teil- 
vorstellungen, die  sich  zu  der  komplizierten  Vorstellung  von  dem  Himmels- 
briefe verbunden  haben,  sind  in  kräftiger  Wirkung  vorhanden  gewesen. 
Alles  vom  Himmel  Gefallene,  zunächst  die  Meteorsteine  und  alle  die, 
von  denen  man  sagte,  sie  seien  vom  Himmel  gekommen,  waren  gött- 
lich und  voll  wunderwirkender  Kraft,  von  den  Meteorsteinen,  die  die 
Gottheit  selbst  bedeuteten  im  Kulte  der  sog.  Großen  Mutter  oder  des 
Gottes  des  Elagabal,  dem  der  Kaiser  in  Rom  alle  Welt  Untertan  machen 
wollte,  bis  zu  den  kleinen  Amuletsteinchen,  die  man  am  Halse  oder 
am  Finger  trug.  Schon  Herodot  erzählt  von  den  goldenen  Werkzeugen 
Pflug,  Joch,  Beil  und  Schale,  die  bei  den  Skythen  vom  Himmel  gefallen 
seien,  und  deren  Besitz  die  Herrschaft  verliehen  habe.  Vom  Himmel 
gefallene  Götterbilder  sind  im  antiken  Heidentum  wunderkräftig  wie  im 
alten  Christentum  die  vom  Himmel  gefallenen  Christusbilder.  Der 
Zauberspruch  auf  der  anderen  Seite,  das  Papyrusblatt  mit  zauber- 
kräftigen Zeichen  und  Sprüchen,  als  Amulet  gegen  alle  Art  Gefahr 
getragen  oder  irgendwo  angebracht,  ist  uns  aus  dem  Altertum  heute 
nur  zu  gut  bekannt:  wir  halten  sie  wieder  in  Händen,  die  aus  den 
Gräbern  Ägyptens  ans  Licht  gekommen  sind,  und  wir  haben  große 
Bücher,  in  denen  die  Anfertigung  solcher  Talismane  vorgeschrieben  ist. 
Beides  vereinigt  ergibt  den  Himmelsbrief.   Und  es  wäre  in  der  Tat  sehr 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  1" 


242  Himmelsbriefe 

merkwürdig,  wenn  man  nicht  von  den  Zauberzeichen  und  Sprüchen, 
die  man  auf  den  zu  Amuleten  verwendeten  Meteorsteinchen  anbrachte, 
oft  behauptet  hätte,  daß  sie  der  Stein  schon  getragen  habe,  als  er  vom 
Himmel  fiel;  nur  ein  ausdrückliches  Zeugnis  fehlt.  Überdies  haben  die 
Zaubersprüche  und  Rezepte  mit  Vorliebe  auch  schon  die  Form  des 
Briefes.  Haben  doch  auch  die  Briefe  göttlicher,  heiliger  Personen, 
namentlich  Jesu  Christi  \  in  den  ältesten  Zeiten  des  Christentums  wunder- 
wirkende Zauberkraft.  Den  (angeblichen)  griechischen  Brief  Christi  an 
Abgar  haben  kürzlich  die  österreichischen  Gelehrten,  die  Ephesus  wieder 
ausgraben,  eingehauen  gefunden  unten  am  Türsturz  eines  Stadttores; 
augenscheinlich  um  gegen  alle  Übel  und  Feinde  wunderbar  zu  helfei 
(Jahreshefte  des  österr.  archäol.  Instituts  1900.     Beiblatt  S.  90  ff.). 

Ich  möchte  annehmen,  daß  da,  wo  diese  Ingredienzien  eines  Aber- 
glaubens so  deutlich  und  weitverbreitet  vorhanden  sind,  die  Vorstellungs- 
mischung, wie  die  des  Himmelsbriefs,  ich  will  nicht  sagen,  sich  bilden 
mußte,  aber  sich  sehr  leicht,  sogar  an  verschiedenen  Orten  zu  ver- 
schiedener Zeit  immer  wieder  bilden  konnte.  Man  wird  auch  in  dei 
Entwicklung,  die  bekannt  ist,  vielleicht  nicht  so  scharf  fragen  dürfen, 
an  welchem  Orte,  zu  welcher  Zeit  der  erste  Himmelsbrief,  von  dem  alle 
folgenden  abhängen  müßten,  entstanden  sei.  Freilich  bei  einem  Typus 
ist  der  geschichtliche  Zusammenhang  unverkennbar:  merkwürdig,  daß 
es  das  Gebot  der  Sonntagsheiligung  ist,  das  der  feste  Kern  dieser 
mannigfaltigen  Texte  bleibt.  Diese  Eigentümlichkeit  hat  schwerlich  ihren 
Ursprung  in  der  antiken  Welt,  schwerlich,  soweit  ich  urteilen  kann,  im 
Bereiche  der  ersten  Jahrhunderte  christlicher  Entwicklung.  Werden 
wir  vielleicht  noch  weiter  zu  den  Juden  und  in  ihre  auch  in  der  Alten 
Welt  weiten  Kreise  gewiesen?  Sind  doch  die  steinernen  Gesetzestafeln 
in  gewissem  Sinne  eine  Art  „Himmelsbrief"  Gottes  an  sein  Volk,  den 
Moses  empfängt  und  überbringt.  Auch  hier  müssen  Kundigere  aushelfen. 
Ich  schließe  mit  dieser  bescheidenen  Frage  und  möchte  ihr  eine 
desto  dringendere  Bitte  hinzufügen.  Wenn  auch  nicht  Ursprung  und 
12  Entstehung,  so  doch  Wesen,  Gebrauch  und  Verbreitung  dieser  wunder- 
baren Brief literatur  zu  erkennen,  bedarf  es  dringend  der  Sammlung 
größeren  Materials  auch  der  heutigen  Überreste  des  alten  Glaubens,  damit 
es  den  rechten  Briefordnern  helfe  und  nütze.  Wir  bitten  bei  der  Ver- 
einigung für  hessische  Volkskunde  einen  Himmelsbriefkasten  einzurichten. 

*  Auch   unsere  Himmelsbriefe   erklären   ja   mehrfach   von   Jesus  Christus 
selbst  geschrieben  zu  sein. 


XVI 

WEITERE  BEOBACHTUNGEN  ZU  DEN  HIMMELS- 
BRIEFEN* ; 

I 

Daß  ich  die  Erwartung  noch  nicht  aufgeben  wolle,  es  würden  sich  auch  19 
schon  im  griechisch-römischen  Altertum  Himmelsbriefe  aufzeigen  lassen, 
habe  ich  in  meiner  kleinen  Abhandlung  über  Himmelsbriefe  in  den  Blättern 
für  Hessische  Volkskunde,  1901,  No.  3,  S.  11  <obenS.241>  ausgesprochen. 
Meine  Erwartung  hat  mich  nicht  getäuscht,  und  ich  darf  vielleicht  heute 
über  eine  Anzahl  von  Beobachtungen  berichten,  die  mir  die  Hilfe  einiger 
Freunde^  und  eigenes  Nachsuchen  ermöglicht  haben.  Sie  können  auch 
denen,  die  uns  die  spätere,  mittelalterliche  und  neuere  Literatur  der 
Himmelsbriefe  vorlegen  werden,  nicht  gleichgültig  und  vielleicht  behilf- 
lich sein,  die  Frage  nach  dem  Ursprung  der  so  lebenskräftigen  Form 
alten  Aberglaubens  richtig  zu  stellen. 

Die  judenchristliche  Sekte  der  Elkesaiten  berief  sich  auf  ein  heiliges 
Buch,  das  nach  einer  von  Eusebius  in  seiner  Kirchengeschichte  (VI  38) 
gegebenen  Überlieferung  vom  Himmel  gefallen  sei.  Wer  auf  dies  Buch 
höre  und  daran  glaube,  erhalte  Vergebung  der  Sünden.  Kai  ßißXov 
Tivd  9epouciv,  fiv  Xe^ouciv  il  oupavoO  KaTaTreTTTUiKevai  Kai  tov  dKriKOÖia 
dKeiVTic  Kai  TTiCTeOovTa  acpeciv  XrjiyecGai  tüjv  djuapTrijuaTiuv,  dX\r|v  ctqpeciv 
Trap'  Tiv  XpicTÖc  'IricoOc  dcpfiKev.  In  anderer  Überlieferung  steht  dieser 
Angabe  parallel,  daß  ein  Engel  von  riesiger  Größe,  dem  eine  weibliche 
Figur  zur  Seite  stand  (der  heilige  Geist),  das  Buch  dem  Elxai  vom 
Himmel  gebracht  habe  (Hippolytos  Refutatio  omnium  haeresium  IX  13): 
eine  auch  sonst  häufige  Form  göttlicher  Offenbarung.  Der  Gründer 
der  Sekte   soll   unter  Trajan  aufgetreten  sein;   ihr  heiliges  Buch  kam 


*  <Hess.  Blätter  für  Volksk.  I  1902  S.  19  ff.,  s.  auch  Mithraslit.  S.  48  Anrn.) 

•  WertvolleWinke  verdanke  ich  A.  De  iß  mann  in  Heidelberg,  E.Preuschen 
in  Darmstadt,  L.  Radermacher  in  Bonn,  L.  Traube  in  München,  R.  Wünsch 
in  Breslau.  Manche  freundliche  Hinweise  konnte  ich  in  dem  oben  eingehaltenen 
Zusammenhange  nicht  benutzen  und  spare  sie  für  ein  andermal  auf. 

16* 


244  Weitere  Beobachtungen  zu  den  Himmelsbriefen 

im  Anfang  des  3.  Jahrhunderts  nach  Rom.  Wir  besitzen  in  dem 
Eusebiusbericht  das  bisher  früheste  Zeugnis  eines  wunderwirkenden 
Himmelsbriefes. 

Vielleicht  haben  wir  aber  doch  noch  ältere  Zeugnisse.  Noch  gegen 
Ende  des  dritten  Jahrhunderts  und  im  zweiten  Jahrhundert  vor  Chr. 
schrieb  ein  Semit  aus  Gadara  in  Cölesyrien  mit  Namen  Menippos 
satirische  Schriften  in  griechischer  Sprache.  Prosa  wechselte  mit  Versen 
ab,  und  diese  Form,  die  lange  und  vielfach  nachgeahmt  wurde,  bekam 
20  nach  ihm  den  Namen  der  Menippeischen  Satire.  Es  ist  einer  der 
häufigen  Fälle,  daß  die  Semiten  die  Formen  der  satirischen  und  paro- 
dischen  Schriftstellerei  bestimmen.  Als  Titel  einer  Anzahl  solcher  Pro- 
dukte des  Menippos  ist  uns  überliefert:  Briefe,  die  sich  rühmen,  vom 
Angesicht  der  Götter  zu  kommen  (Laertius  Diogenes  VI  8,  101  emcToXai 
KeK0|ui|J6U|uevai  dirö  tou  tujv  Geujv  TrpociuTTOu).  Es  mag  wohl  sein,  daß 
Lukianos  von  Samosata,  ebenfalls  Semit  und  griechisch  schreibender 
Satiriker,  im  zweiten  Jahrhundert  nach  Christus  zu  seinen  Götterbriefen 
durch  den  Vorgang  des  Menippos  angeregt  ist.  Wie  weit  freilich  seinen 
Erfindungen  etwa  der  Briefe  des  Kronos  eine  vorhandene  Volksvor- 
stellung von  Himmelsbriefen  zur  Folie  und  Erklärung  gedient  haben 
mag,  ist  für  uns  schwerlich  noch  zu  beurteilen.  Der  Titel  des  Menippos 
aber  zeigt,  meine  ich,  daß  in  ihm  eine  nicht  unbekannte  Sache  genannt 
sein  muß,  und  daß  es  mehr  als  bei  beliebigen  Götterbriefen  literarischer 
Erfindung  auf  die  autoritative  Geltung  der  Briefe  vom  Angesichte 
der  Götter  ankommen  sollte.  Was  dann  auf  Grund  vorhandenen 
Glaubens  satirisch  oder  parodisch  vorgeführt  sein  mag,  können  wir  nicht 
wissen.  Ob  ich  recht  habe,  wenn  ich  in  der  griechisch  ungewöhnlichen 
Ausdrucksweise  einen  Nachklang  semitischer  Rede  in  dem  Titel  fühlen 
möchte?     (Vgl.  hebr.  mip^ne  elohim.) 

Es  ist  sehr  bemerkenswert,  daß  die  beiden  besprochenen  Zeugnisse 
einen  Zusammenhang  mit  Jüdischem  zeigen.  Gleich  hier  möchte  ich 
darum  eine  Tradition  anreihen,  die  in  der  Talmud -Literatur  eine  große 
Rolle  spielt.  Mehrfach  wird  angegeben,  daß  dem  Adam  vom  Himmel 
herunter  ein  Buch  gebracht  worden  sei,  durch  das  ihm  die  wunder- 
barsten Offenbarungen  zu  Teil  wurden  (Eisenmenger,  Entdecktes 
Judentum  I  375  f.  II  675).  In  dem  Buche  Sohar  —  über  dessen  ja 
vielleicht  erst  mittelalteriiche  Entstehung  ich  natürlich  nicht  urteilen 
kann  -  wird  folgendes  erzähU  (Übersetzung  bei  Eisenmenger  I  376): 
„Als  der  Adam  in  dem  Paradies  war,  gab  ihm  Gott  durch  den 
Rasiel,  den  heiligen  Engel,  welcher  über  die  Geheimnisse  der  Oberen 
gese^t  ist,  ein  Buch,  in  weldiem  die  Schriften  der  Oberen  und  die  heiligen 
V/eisheiten  geschrieben  stunden,  und  waren  die  zweiundsiebenzig  Gat- 


Weitere  Beobachtungen  zu  den  Himmelsbriefen  245 

tungen  der  Weisheit  von  ihm  in  sedishundertundsiebenzig  Schriften  der 
oberen  Weisheiten  geteilet,  um  durch  das  Mittel  selbiges  Budis  der  Schrift 
der  Weisheit  die  tausendundßnfhundert  Sdilüssel  zu  wissen,  welche  den 
Obern  Heiligen  nicht  gegeben  sind  und  alle  im  selbigen  Buch  verborgen 
waren,  bis  es  der  Adam  bekommen  hatte.  Nachdem  es  dem  Adam 
in  die  Hände  gekommen  war,  versammelten  sidi  die  oberen  Engel,  um 
zu  wissen  und  zu  hören,  und  sprachen:  Erhebe  didi  Gott  über  den 
Himmel  und  deine  Ehre  über  die  ganze  Erde.  In  derselbigen  Stund 
kam  der  Hadamiel,  der  heilige  Engel  zu  ihm  und  sprach  zu  ihm: 
Adam,  Adam  die  Herrlichkeit  deines  Herrn  war  verborgen,  denn  den  21 
Obern  ist  die  Erlaubnis  nicht  gegeben,  die  Herrlichkeit  deines  Herrn 
zu  wissen,  ausgenommen  dir.  Selbiges  Buch  war  auch  bei  dem  Adam 
verborgen  und  verwahret,  bis  er  aus  dem  Paradies  ging,  und  brauchte 
er  alle  Tage  die  Schäle  seines  Herrn  und  wurden  ihm  die  obersten 
Geheimnisse  kund,  welche  die  oberen  Diener  nicht  wußten.  Nachdem 
er  aber  gesündiget  und  seines  Herrn  Gebot  übertreten  hatte,  flog  solches 
Buch  von  ihm  weg,  und  er  schlug  an  sein  Haupt  und  weinete  und  ging 
an  das  Wasser  des  Flusses  Gichons  bis  an  sein  Genick:  und  das 
Wasser  machte  seinen  Leib  rostig  und  sein  Glanz  veränderte  sich.  In 
selbiger  Z^ii  winkte  Gott  dem  Raphael  und  ließ  ihm  das  Buch  wieder 
geben.  Und  der  Adam  befliß  sich  darinnen  zu  lesen  und  hinterlies  es 
seinem  Sohne  Seth,  und  also  haben  es  alle  selbige  Geschlechter  gemacht, 
bis  es  zum  Abraham  gekommen  ist,  welcher  in  demselben  wußte  die 
Herrlichkeit  seines  Herrn  zu  sehen.  Also  wurde  es  auch  dem  Enoch  ge- 
geben, aus  demselbigen  die  Herrlichkeit  seines  Herrn  zu  betrachten." 

Ich  weiß  solche  jüdische  Überlieferungen  nicht  weiter  zu  verfolgen; 
aber  ich  möchte,  wenn  möglich,  durch  die  gegebene  Andeutung  Kenner 
des  Talmuds  und  der  Kabbala  zu  Mitteilungen  veranlassen.  Wie  stark 
die  Kabbala  noch  auf  den  heute  lebendigen  Aberglauben  gewirkt  hat, 
ist  mannigfach  bekannt. 

Ich  kehre  noch  einmal  zum  griechisch-römischen  Altertum  zurück; 
denn  ich  glaube  auch  Spuren  himmelsbrieflicher  Traditionen  zu  er- 
kennen, die  nicht  auf  jüdisches  Gebiet  hinüberführen.  Sollte  wirklich 
in  dem  Verse  des  Juvenal  (Satire  XI  Vers  27)  der  Ausdruck  ^e  caelo 
descendit  tvujGi  ceauiöv'  nur  bildlich  bezeichnen,  daß  der  Spruch  „Er- 
kenne dich  selbst"  göttliche  Offenbarung  sei  und  nicht  vielmehr  eine 
uns  sonst  unbekannte  Überlieferung  voraussetzen,  daß  der  Spruch  vom 
Himmel  gefallen  sei?  Sicheres  zu  vermuten  gestattet  noch  weniger  eme 
Notiz  bei  Servius  d.  h.  in  dem  Kommentar  zu  Vergil,  wo  ein  Tiberia- 
nus  genannt  wird,  ein  Schriftsteller  des  4.  Jahrhunderts,  der  emen 
Brief  anführe,  den  der  Wind  von  den  Antipoden  hergetragen  habe. 
Er  trage  die  Aufschrift  „superi  inferis  salutem"  (Servius  zu  Vergils 
Aeneis  VI  532).  Das  dient  freilich  da,  wo  es  angeführt  wird,  nur  zum 
Beweis  für  die  Kugelform  der  Erde.  Aber  man  kam  schwerlich  auf 
diese  eigentümliche  Erfindung  eines  Briefes,  wenn  es  nicht  bekannter- 
maßen Briefe   der  superi  gab.     Ein  Beleg  aber,  den  ich  geben  kann. 


246  Weitere  Beobachtungen  zu  den  Himmelsbriefen 

unterliegt  keinerlei  Bedenken.  Pausanias  in  dem  letzten  Kapitel  seiner 
griechischen  Reisebeschreibung  (X  38)  erzählt  von  der  wunderbaren 
Heilung  des  augenleidenden  Phalysios  in  Naupaktos.  „Als  dieser 
nämlich  so  an  den  Augen  litt,  daß  er  fast  blind  war,  schickte  der  Gott 
in  Epidauros  (Asklepios)  die  Dichterin  Anyte  mit  einem  versiegelten 
22  Schreiben  an  ihn;  diesen  Auftrag  erhielt  sie  mittels  eines  Traum- 
gesichtes, das  aber  sogleich  zur  Wirklichkeit  wurde:  denn  beim  Er- 
wachen fand  sie  ein  gesiegeltes  Schreiben  in  ihren  Händen.  Sie  fuhr 
nun  nach  Naupaktos  und  forderte  den  Phalysios  auf,  das  Siegel  zu 
erbrechen  und  das  Schreiben  zu  lesen.  Dieser  hätte  es  unter  andern 
'  Umständen  bei  dem  Zustande  seiner  Augen  nicht  für  möglich  gehalten, 
das  Geschriebene  zu  lesen.  Aber  er  hoffte  auf  Hilfe  durch  Asklepios, 
erbrach  das  Siegel  und  wie  er  auf  die  Wachstafel  sah,  war  er  gesund 
und  zahlte  der  Anyte,  wie  er  durch  das  Schreiben  angewiesen  war, 
zweitausend  Goldstateren".  Hier  haben  wir  alle  Ingredienzien  des  echten 
Himmelsbriefes:  er  stammt  von  einem  Gotte,  der  ihn  auf  wunderbare 
Weise  einem  Menschen  übergibt,  und  er  hat  die  zauberische  Heil- 
wirkung. Pausanias  schreibt  im  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  Daß  es  sich 
aber  in  seiner  Erzählung  um  eine  volkstümliche  Überlieferung  viel 
älterer  Zeit  handelt,  dürfen  wir  annehmen.  Diese  Überlieferung  ist  echt 
griechisch  und  niemand  wird  glauben  wollen,  daß  sie  in  ihrer  Art  die 
einzige  gewesen  sei. 

II 

Den  Zeugnissen  aus  dem  Ahertum  füge  ich  zwei  Zeugnisse  späterer 
Zeiten,  eines  aus  dem  Mittelalter  und  eines  aus  dem  Jahre  1864  hinzu. 
Ich  würde  mit  Nachweisen  mittelalterlicher  Literatur  am  wenigsten  der 
Gelehrsamkeit  der  künftigen  Herausgeber  der  Himmelsbriefe  zu  Hilfe 
kommen  mich  anheischig  machen,  wenn  es  sich  nicht  um  einen  ent- 
legenen und  zudem  nicht  ohne  weiteres  erkennbaren  Beleg  handelte, 
der  uns  unmittelbar  das  kräftige  Weiterleben  des  Himmelsbriefglaubens 
in  unserem  Volke  veranschaulicht.  Und  das  gleiche  wird  uns  die 
Mitteilung  aus  dem  vorigen  Jahrhundert  lehren,  die  mir  ein  günstiger 
Zufall  zugeführt  hat. 

Die  Kenntnis  des  Chronicon  Windeshemense  und  des  Liber  de 
reformatione  monasteriorum  des  Augustinerprobstes  Johannes  Busch  in 
der  Ausgabe  von  Dr.  Karl  Grube  (Geschichtsquellen  der  Provinz  Sachsen, 
herausgeg.  von  der  Histor.  Kommission  der  Provinz  Sachsen  XIX.  Bd., 
Halle  1886)  verdanke  ich  Herrn  Professor  Hermann  Haupt  in  Gießen. 
Er  hat  mich  auf  einige  für  den  Volksaberglauben  wichtige  Aktenstücke 


Weitere  Beobachtungen  zu  den  Himmelsbriefen  247 

in  dem  über  de  Reformatione  aufmerksam  gemacht.  Ich  berichte,  was 
ebendort  II  c.  XIX  p.  699  f.  lateinisch  erzählt  wird.  In  Halle  1451  - 
das  Stück  ist  genau  datierbar  -  kam  zu  dem  Verfasser  zur  Beichte 
die  Frau  oder  Tochter  eines  Soldaten.  Er  bemerkt,  daß  etwas  in 
einem  kleinen  Beutel  an  ihrem  Halse  hängt.  Auf  seine  Frage  erhält 
er  die  Antwort:  ich  habe  in  dem  Beutel  ein  kleines  beschriebenes  ^^ 
Pergamentblatt.  Wer  es  überall  bei  sich  trägt,  kann  nicht  vom  Schwerte 
verietzt  noch  vom  Wasser  ertränkt  noch  von  Feinden  gefaßt  werden 
und  hat  andere  ähnliche  Kräfte.  Er  fragte:  „Kann  ich  es  sehen,  öffnen 
und  lesen?"  „Ja."  Dann  löste  sie  den  Beutel  von  ihrem  Halse,  zog 
den  Zettel  aus  dem  Beutel  und  gab  ihn  ihm  zu  lesen.  Als  er  ihn 
aufgemacht,  fand  er  darin,  daß  Papst  Leo  allen,  die  ihn  trügen,  diese 
Gnade  gegeben,  daß  sie  vom  Schwerte  nicht  verietzt  noch  vom  Feuer 
verbrannt  noch  vom  Wasser  ertränkt  noch  gefangen  noch  vom  Feinde 
gefaßt  werden  können  und  vieles  ähnliche.  Dann  enthielt  der  Zettel: 
Christus  siegt,  Christus  herrscht  (Christus  vincit,  Christus  regnat)  und 
die  Namen  der  Apostel,  der  drei  Könige  Balthasar,  Melchior,  Kaspar 
und  verschiedene  Zeichen  und  viele  Kreuze  unter  den  Namen  und 
mehrere  Buchstaben  des  Alphabets  und  wieder  Namen  von  Heiligen 
und  Buchstaben  und  mehrere  Beschwörungen  dazwischen  und  ähnliche 
unbekannte  Namen,  an  die  der  Pater  sich,  wie  er  sagt,  nicht  mehr  er- 
innert. Darauf  redet  ihr  der  Beichtiger  ins  Gewissen;  er  wundert  sich, 
daß  ihr  der  Teufel  den  Hals  noch  nicht  gebrochen  habe.  Was  da 
geschrieben  stehe,  sei  gegen  Gott  und  den  katholischen  Glauben,  es 
sei  nicht  wahr  und  nicht  vom  Papst  Leo  versprochen.  Sie  bekommt 
Angst  und  wünscht  selbst,  daß  der  Pater  den  Zettel  verbrenne.  Das 
geschieht,  und  dabei  -  das  wird  besonders  bemerkt  -  passiert 
weiter  nichts. 

Wer  die  üblichen  Texte  von  Himmelsbriefen  -  auch  der  von  mir 
a.  a.  0.  herausgegebenen  hessischen  -  kennt,  wird  ohne  weiteres  be- 
merkt haben,  daß  die  Frau  in  Halle  einen  Himmelsbrief  am  Halse 
atte,  wie  ihn  heute  noch  Männer  und  Frauen  an  sich  tragen.  Die 
uberzeichen,  die  Buchstaben  des  Alphabets,  die  unbekannten  Namen, 
h.  die  unverständlichen  Zauberworte,  die  Kreuze:  all  das  kennen  wir 
ch  auf  den  uns  bekannten  Himmelsbriefen.  Verheißungen  wie  die 
_  r  gegebenen  finden  sich  immer  wieder,  z.  B.  in  einem  Himmelsbriefe 
%us  Mecklenburg  (Bartsch,  Sagen,  Märchen  und  Gebräuche  aus  Meck- 
lenburg  II  341  ff.):  wer  diesen  Brief  bei  sich  trägt,  der  wird  nicht  ge- 
troffen von  dem  feindlichen  Geschoß  und  er  wird  vor  Dieben  und 
Mördern  gesichert  sein  ...  dem  wird  kein  Donnerwetter  schaden,  und 


248  Weitere  Beobachtungen  zu  den  Himmelsbriefen 

ihr  sollt  vor  Feuer  und  Wasser  und  aller  Gewalt  des  Feindes  behtitet 
werden  . . .  seine  Feinde  können  ihm  keinen  Schaden  zufügen  . .  (S.  344) 
dem  kann  kein  Blitz  oder  Donner,  kein  Feuer  oder  Wasser  Schaden 
tun.  Die  Namen  Caspar,  Melchior  und  Balthasar  kommen  unzählige 
Male  auf  entsprechenden  Zauberblättern  in  mannigfachster  Verstümme- 
lung vor  (z.B.  U.Jahn,  Hexenwesen  und  Zauberei  in  Pommern,  S.  145 
drei  Beispiele). 
24  Aber  ich  brauche  nicht  einzelne  Übereinstimmungen  des  Amulet- 
blattes  der  Frau  in  Halle  1451  mit  uns  heute  bekannten  Himmels- 
briefen nachzuweisen.  Wir  haben  den  Brief  noch,  den  die  Frau  trug: 
durch  einen  Zufall  ist  ein  Exemplar  in  der  Schweiz  aufgetaucht  und 
in  dem  Schweizerischen  Archiv  für  Volkskunde  IV  (1900)  S.  340  f. 
veröffentlicht  worden.  Nur  ganz  geringe  Abweichungen  von  den  An- 
gaben des  Augustinerprobstes  über  seinen  Befund,  wie  sie  mannigfache 
Übertragung  und  Abschrift  des  Textes  von  selbst  mit  sich  bringt,  sind 
zu  beobachten.  Im  übrigen  wird  jedermann  sofort  erkennen,  daß  wir 
denselben  Zauberbrief  vor  uns  haben.  Er  befindet  sich  auf  einem  Per- 
gamentblatt von  42  cm  Länge  und  33  cm  Breite  im  Archiv  der  Familie 
Th.  V.  Stockalper  in  Brig.  Anthonius  Owling,  der  sich  als  Inhaber 
nennt,  scheint  nach  des  Herausgebers  Imesch  Ermittelung  im  Schweiz. 
Archiv  a.  a.  0.  der  Kastlan  Ant.  Owling  von  Brig  gewesen  zu  sein, 
dessen  Name  von  1467-1528  wiederholt  in  den  Urkunden  der  Familie 
von  Stockalper  vorkommt.  Der  Brief  ist  also  wohl  dort  nicht  viel  später 
in  Gebrauch  gewesen  als  in  Halle.  Wir  können  einstweilen  nicht  fest- 
stellen, wie  weit  der  Brief  überhaupt  verbreitet  war,  woher  und  wohin 
er  überliefert  worden  ist.  Von  Interesse  mag  aber  sein,  daß  ein  Himmels- 
brief, der  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  in  der  Schweiz 
vorhanden  ist  (Schweiz.  Arch.  f.  Volkskunde  II  277 ff.),  in  einer  spät- 
romanischen  Bearbeitung  die  Angabe  enthält,  daß  er  in  Mademburg  in 
Prussia,  doch  wohl  in  Magdeburg  in  Preußen,  erschienen  sei.  (Schweiz. 
Archiv  III,  1900,  S.  190  f.) 

Der  Himmelsbrief  aus  Brig  sagt  von  sich:  Das  ist  der  brieff,  den 
bapst  leo  kunig  karolo  von  himel  sant  und  ist  bewert  wer  in  by  im 
treit.  Es  ist  eben  das,  was  Johannes  Busch  in  dem  Pergamentblatt 
der  Frau  gelesen  hat  inveni  in  ea,  quod  Leo  papa  dedit  omnibus  eam 
portantibus  hanc  gratiam  etc.  Ich  hebe  noch  einige  Stellen  aus,  die 
das  gleiche  erweisen. 

In  dem  namen  got  des  vatters  got  des  suns  und  des  helgen  geists 
Und  der  helgen  dreifaltikeit.  Ihesus  Nazarenus  rex  ludeorum.  Ihesus 
von  Nazareth  der  Juden  Kunig.   Diss  sint  die  siben  wort,  die  unser  her 


Weitere  Beobachtungen  zu  den  Himmelsbriefen  249 

am  crutz  sprach  und  wer  die  wort  by  im  treit  und  altag  ansieht  in  der 
hebt  gots,  der  erwurbt  dadurch  liebi  von  den  luten  und  schirm  vor 
sinen  fyenden.  Er  wurd  des  tags  nit  vnder  gan  noch  in  für  noch 
in  wasser  noch  in  krieg  gechlich  noch  an  der  des  heilig  sacrament 
sterben.  .  . 

Nach  jedem  der  Worte  am  Kreuz  steht  ein  f. 
Vatter  in  din   hand  bevil  ich  min  geist  also  empfil  ich  Änthonius 
Owling  mich  in  din  hand  wan  du  hast  mich  erlöst.  0  gott  der  warheit  25 
bekör  mir  alles   minen   eilend  allen   meinen  presten  und   ungemach. 
Caspar,  Melchior,  Balthasar  ... 

Das  helf  uns  der  man  der  den  todt  an  dem  helgen  crutz  nam  und 
die  helgen  dry  Kinig,  die  by  im  in  dem  himel  sindt.  Christus  regnat. 
Christus  imperat  Cristus  (sie)  ab  omni  malo  me  custodiat.  Agios 
otheos  agios  yschyros  agios  athanatos.  Eleyson  ymas  .  .  .  Des  helff  mir 
der  man,  der  den  tod  an  dem  helgen  krutz  nam  Aelli  die  waffen  sy 
sigen  von  eysen  oder  von  Stachel  f  Caspar  f  Balthasser  f  Melchior  p  p  p 
spn  dia.  dit.  und  sta  haev  su  sla  resten  lieben  worff  stewlich  .  .  . 

Nachdem  Evangelium  Johannes  I  1-14  in  lateinischer  Sprache  ein- 
geschoben ist,  geht's  mit  jener  oben  angeführten  Angabe  über  den  Papst 
Leo  weiter:  .  .  wer  in  by  im  treit  und  in  alltag  mit  V  pater  nosterund 
ave  maria  der  sol  des  sicher  sin,  das  im  nie  mer  hertzleid  widerfaren 
mag  er  muss  zu  nemen  an  lyb  und  gut  an  sei  und  an  er  mag  in  keinem 
wasser  ertrinken  noch  in  keinem  für  verbrinnen  es  mag  auch  kein 
falsch  urteil  über  in  gan  und  wa  in  ein  fraw  by  in  treit  die  enis  kinds 
in  arbeit  gat  der  mag  es  nit  misslingen  zu  der  purd  und  wo  dieser 
brieff  in  ein  huss  ist  da  mag  das  für  nit  schaden  thun  und  wer  in 
by  im  treit  den  mag  kein  waffen  nit  schulden  f  got  der  sin  heylig 
crutz  .... 

Und  behuete  dich  vor  allen  fienden  das  mich  des  waffen  muss  miden 
an  kein  messer  noch  schwert  noch  waffen  müssen  mich  weder  stechen 
noch  schulden  .... 

Obergehen  mag  ich  nicht  den  Satz,  der  plötzlich  dazwischen  steht 
nun  gehelff  mir  der  heilig  her  sant  odins  und  unmittelbar  darauf:  als 
gut  als  wie  sant  maria  was  da  sy  ir  lieb  trut  kind  genass  f  .  .  . 

Einige   Sprüche  von  den  heiligen  Wunden,  die  behüten  sollen  zu 
allen   Stunden  vor  allen  bösen  falschen  Zungen  und  vor  Wunden  mit 
siebenmal  wiederholtem  Kreuzeszeichen  zwischen  den  einzelnen  Satzteilen 
beenden  die  Sprüche,  die  durch  mannigfache  Wiederholungen  zu  solcher 
Fülle  angewachsen  sind. 
Zu  diesem  Belege  lebendigen  Gebrauchs  zauberkräftiger  Himmels- 
briefe  aus   dem   Jahre  1451    -  noch   ehe  von   einem  Druck  solcher 
begehrten  Zauberzettel  die  Rede  sein  konnte  -,  füge  ich  nun  endlich 
noch  eine  Schilderung  aus  dem  Jahre  1864,  die  ich  Herrn  Geh.  Bau- 
rat Krüger  in  Erfurt  verdanke;   durch   die  Lektüre  meines  Aufsatzes 
über  Himmelsbriefe  veranlaßt,  hat  er  mir  sein  Eriebnis  freundlichst  mit- 
teilen lassen,  wie  folgt: 

„Als  ich  im  Jahre  1864  in  den  Krieg  gegen  die  Dänen  zog,  wurde 
auch  mir  ein  solcher  Himmelsbrief  angeboten,  der  mich  in  den  Gefahren 
der  Schlacht  behüten  sollte.     Ich  erinnere  mich,  daß  er  die  gleichen 


250  Weitere  Beobachtungen  zu  den  Himmelsbriefen 

Wendungen  enthielt,  wie  der  erste  der  von  A.  D.  mitgeteilten.  Ich 
nahm  ihn  nicht  an,  da  ich  den  Aberglauben  verachtete,  und  habe  keine 
genaueren  Erinnerungen. 
26  Es  wurde  aber  allgemein  gesagt,  daß  in  den  Brandenburgischen 
Regimentern  kein  Soldat  sich  befände,  der  ohne  durch  einen  Himmels- 
brief geschützt  zu  sein  in  den  Krieg  zöge. 

Zu  Kiel  hatte  ich  am  Morgen,  wo  mein  Regiment  nordwärts  weiter- 
marschieren sollte,  durch  die  Unzuverlässigkeit  meines  Wirtes  das 
Mißgeschick  nicht  rechtzeitig  aufzuwachen,  und  mußte  eilig  aufbrechen, 
um  meinen  Truppenteil  einzuholen.  An  einem  Punkt  der  Straße  lieferten 
mir  viele  Papierhülsen,  die  ich  sah,  den  Beweis,  daß  der  Befehl  erteilt 
worden  war  scharf  zu  laden;  man  konnte  jeden  Augenblick  auf  den 
Feind  stoßen.  Bald  nachher  fand  ich  die  ganze  Straße  mit  zerrissenen 
Spielkarten  bedeckt.  Es  herrscht  unter  den  Soldaten  der  Glaube,  daß 
man  in  der  Schlacht  keine  Karten  (Teufelswerk!)  bei  sich  tragen  dürfe: 
sonst  hat  Tod  und  Teufel  Macht  über  einen.** 

Man  wird  auch  für  die  am  Ende  beigefügte  Angabe,  die  sich  nicht 
auf  Himmelsbriefe  bezieht,  nicht  undankbar  sein.  War  uns  ähnliches 
nicht  unbekannt,  hier  sehen  wir  es  unmittelbar  wirksam  in  dem  Leben, 
das  unsere  Väter  umgab.  So  bald  wird  es  auch  im  Leben  der 
kommenden  Geschlechter  nicht  absterben. 

III 

Zum  Schlüsse  sei  mir  noch  der  Raum  verstattet,  eine  Anfrage  aus- 
zusenden. Es  gab  im  Mittelalter,  schon  im  12.  Jahrhundert  und  weiter- 
hin immer  zahlreicher,  Briefe  des  Teufels.  Soviel  aus  den  Bemerkungen 
Wattenbachs  und  den  von  ihm  vorgelegten  Texten  (Sitzungsberichten 
der  berl.  Akademie,  1892,  S.  95 ff.)  hervorgeht \  ist  alsbald  eine 
feste  literarische  Form  aus  dem  „Teufelsbrief**  geworden;  irgendwelche 
Menschen  oder  öfter  ganze  Stände  werden  dadurch  gebrandmarkt,  daß 
man  den  Teufel  an  sie  einen  ihr  Treiben  belobenden  Brief  schreiben 
läßt.  Es  liegt  nahe  zu  vermuten,  daß  der  literarischen  Form  ein  volks- 
tümlicher Aberglaube  den  ersten  Anstoß  gegeben  habe.  Ich  werde  in 
solcher  Annahme  bestärkt  durch  eine  Notiz  in  Tredes  eben  erschienenem 
Buche  (aus  seinem  Nachlasse)  „Wunderglaube  im  Heidentum  und  in 
der  alten  Kirche**,  S.  257,   daß  in  Girgenti  sich  ein  Brief  befinde,  der 


^  Einer  Schrift,  auf  die  mich  W.  Köhler  aufmerksam  machte,  konnte  ich 
einstweilen  nicht  habhaft  werden:  Dissertatio  historico-theologica  qua  de  libris 
et  epistolis  caelo  et  inferno  delatis,  sub  praes.  Jo.  A.  Schmidii,  scripsit  I.  F. 
Knorrnn,  Helmstadii  1725. 


Weitere  Beobachtungen  zu  den  Himmelsbriefen  251 

fom  Satan  eigenhändig  geschrieben  sein  solle.  Weitere  Angaben  werden 
licht  gemacht  und  gelegentliche  Erkundigungen,  die  ich  versuchte, 
laben  zu  keiner  Auskunft  geführt.  Briefe  an  die  Unterirdischen,  an 
iie  Höllenherrscher  gab  es  im  Altertum;  auf  attischen  Bleitafeln  steht  27 
:u  lesen:  „einen  Brief  sendend  den  Dämonen  und  der  Persephone" 
iTTicToXnv  TrejLiTTUJv  bai)aociv  Kai  Oepcecpüjvr]  Nr.  102  bei  R.  Wünsch 
*Defixionum  tabellae  Atticae)  oder  „An  Hermes  und  Persephone  sende 
ch  diesen  Brief  ab"  C^piurj  Kai  Oepcecpövri  irivbe  eTTiCToXfiv  dTTOTreiuTTUj 
•^r.  103).  Diese  Briefe  dienen  dazu  einen  Menschen  den  Höllendämonen 
ju  denunzieren,  zu  überantworten.  Gab  es  damals  oder  später  auch 
m  Volksaberglauben  Briefe  jener  Dämonen  und  ihrer  Herrn  an  Menschen? 
(ch  bitte  alle  Leser  dieser  Zeilen  um  freundliche  Mitteilung  dessen 
was  ihnen  bekannt  ist.  Dann  würde  es  vielleicht  möglich,  die  Geschichte 
nicht  bloß  der  Himmelsbriefe,  sondern  auch  der  Höllenbriefe  weiter  zu 
untersuchen. 


XVII 
DIE  RELIGION  DES  MITHRAS' 

26  Unsere  Evangelien  erzählen  in  einer  wohlbekannten  Geschichte  von 
Magiern  aus  dem  Morgenlande  (judToi  änö  dvaioXüjv  Matth.  II,  1).  Es  ist 
sehr  bedeutsam,  daß  das  Christentum  in  seinen  heiligen  Schriften  diese 
Erinnerung  an  eine  Beziehung  zu  den  Dienern  der  iranischen,  der 
persischen  Religion  hat  aufbewahren  wollen,  und  die  alte  christliche 
Tradition  ist  nicht  im  Zweifel  gewesen,  daß  im  besonderen  Diener  des 
Mithras  gemeint  seien,  des  persischen  Gottes,  der  mit  Christus  über  drei 
Jahrhunderte  um  die  Weltherrschaft  über  die  Seelen  gekämpft  hat. 
Man  weiß  von  mancherlei  Versuchen  der  Annäherung  zwischen  dem 
persischen  und  dem  christlichen  Kult  in  jenen  Zeiten  und  wir  begreifen, 
wie  wertvoll  dem  letzteren  bei  Kampf  und  Bekehrung  die  Überlieferung 
sein  mußte,  daß  die  Mithrasdiener  einst  aus  dem  Osten  gekommen  seien 
und  sich  gebeugt  hätten  vor  dem  wahren  Gotte.  Wer  die  altchristlichen 
Darstellungen  dieser  Anbetung  sah,  konnte  nichts  anderes  als  eben  das 
dargestellt  erkennen:  die  3  Anbetenden  waren  ausgestattet  genau  wie 
Mithras  auf  seinen  zahlreichen  jedem  bekannten  Denkmälern.  Seltsam 
genug,  daß  wir  gerade  aus  dem  Jahre  66  n.  Chr.  ausführliche  Berichte 
und  sehr  lebhafte  Erinnerungen  bei  römischen  Schriftstellern  kennen, 
die  einen  Zug  armenischer  Magier  unter  Führung  ihres  Königs  Tiridates 
aus  dem  Osten  bis  gen  Rom  erzählen.  Sie  ziehen  zu  Lande  wie  in 
einem  Triumphzug,  machen  überall  das  größte  Aufsehen:  sie  wollen 
Nero  als  den  neuen  König  begrüßen  und  Tiridates  redet  ihn  in  Rom 
an:  „Ich,  mein  Herr  ...  bin  dein  Knecht;  ich  bin  zu  dir  gekommen, 
meinem  Gott,  um  dich  anzubeten  wie  auch  den  Mithras"  usw.  Dio 
Cassius  (LXIII  1-7)  braucht  7  Kapitel  zur  Schilderung  dieser  Dinge,  die 
sehr  großen  Eindruck  hinterlassen  haben  müssen,  Sueton  (Nero  c.  13 
u.  30)  versäumt  sie  nicht  zu  erwähnen  und  Plinius  (H.  N.  XXX  16)  ver- 
zeichnet einiges  Merkwürdige  von  diesen  Magi.  Wem  fällt  nicht  die 
Ähnlichkeit  dieser  Geschichte  mit  dem  Hauptmotiv  der  Erzählung  des 
Matthäus  auf?    Sie  war  passiert  in  den  60  er  Jahren,  eben  damals,  als 

»  <Bonner  Jahrbücher  Heft  108/9,  1902  S.  26  ff.) 


Die  Religion  des  Mithras  253 

die  erste  christlich -griechische  Tradition  und  Literatur  sich  bildete  ^27 
Jedenfalls  aber  war  es  ein  Ereignis,  das  den  Kult  des  Mithras  zum 
erstenmal  im  Abendland  weiten  Kreisen  eindrucksvoll  bekannt  machte 
Denn  es  war  nur  eine  flüchtige  Bekanntschaft  gewesen,  die  etliche 
Römer  mit  der  Mithrasreligion  im  Kriege  mit  den  Seeräubern  gemacht 
hatten,  unter  denen  sie,  wie  uns  erzählt  wird,  verbreitet  war. 

Und  nun  etwa  150  Jahre  nach  jener  Expedition  der  Magier  nach 
Rom!  Der  Mithraskult  beherrscht  die  weitesten  Gegenden  des  römischen 
Reiches,  er  beherrscht  namentlich  seine  nordischen  Grenzen  und  die 
Lager  der  Legionen;  der  Kaiser  selber  ist  Mithrasdiener.  Der  persische 
Kult  ist  Weltreligion  geworden  und  seiner  Gläubigen  sind,  soweit  man 
dergleichen  nach  Funden  und  Zeugnissen  abschätzen  kann,  viel  mehr 
als  der  Gläubigen  des  Christentums.  Vornehmlich  in  unsern  deutschen 
Landen  waren  in  dieser  Zeit  zahlreich  die  Grotten  des  Mithras  im  Ge- 
brauch des  Kultus  und  man  hat  z.  B.  in  ihnen  lange  schon  den  25.  De- 
zember als  den  Geburtstag  wie  des  „unbesiegten  Sonnengottes"  so 
auch  des  Mithras  festlich  begangen,  lange  ehe  die  Christen  daran 
dachten,  diesen  Tag  als  den  Geburtstag  ihres  Heilandes  zu  feiern.  Die 
bedeutsamsten  jener  Grotten  mit  ihren  Denkmälern  sind  an  den  deutschen 
Grenzen  wieder  ans  Licht  gekommen  und  den  Rhein  entlang  von  Äugst 
bei  Basel  bis  Xanten  haben  wir  die  reichsten  Spuren  des  fremden 
Götterdienstes.  In  Straßburg,  Mainz  und  Remagen,  in  Bonn,  Cöln  und 
Dormagen  hatte  er  seine  Stationen.  Wer  die  Geschichte  des  Mithras- 
kultes  untersucht,  erforscht  damit  eines  der  ersten  und  wichtigsten 
Kapitel  rheinischer  Religionsgeschichte. 

Darum  muß  jeder  Altertumsfreund  im  Rheinlande  dem  Manne  dank- 
bar sein,  der  uns  in  diesen  letzten  Jahren  die  Urkunden  und  die  Ge- 
schichte der  Religion  des  Mithras  vorgelegt  hat.  Franz  Cumont  in 
Gent  hat  in  dem  einen  1896  zuerst  erschienenen  zweiten  Bande  seines 
großen  Werkes  die  Texte  der  Schriftsteller  und  Inschriften  und  die  Monu- 
mente urkundlich  vorgelegt,  in  dem  andern  (ersten)  1899  vollendeten 
diese  Quellen  kritisch  erörtert  und  eine  zusammenfassende  Darstellung  der 
Geschichte  und  der  Einrichtungen  des  Kultes  in  6  Kapiteln  hinzugefügt.^ 

^  Über  die  Entstehung  der  Geschichte  von  den  Weisen  aus  dem  Morgenlande 
handle  ich  ausführlicher  in  der  Zeitschrift  für  die  «eutestam  Wissenschaü  und 
Kunde  des  Urchristentums  III  (1902)  1  ff.  <s.  unten  XVIII  S.  272ff.>.  Das  Oben- 
stehende hatte  ich  lange  vorher,  vor  nun  fast  %  Jahren  geschrieben 

^  Textes  et  monuments  figur6s  relatifs  aux  myst^res  ^e  Mithra  pubh6s  avec 
une  introduction  critique  par  Franz  Cumont,  professeur  a  ^  ""»^«I^^^^^^^^^^ 
Tome  Premier:  Introduction  (contenant  14  figures  et  une  carte).   Jörne  second 
Textes  et  monuments  (contenant  493  figures  et  neuf  planches  en  höhotypie). 
Bruxelles,  H.  Lamertin,  1896  u.  1899. 


254  ^'®  Religion  des  Mithras 

Wer  heute  über  Hauptdinge  der  Mithrasmysterien  berichten  will, 
erstattet  Bericht  über  Cumonts  Arbeit  und  kann  nur  dringend  wünschen, 
dem  ausgezeichneten  Buche  Leser  und  Benutzer  zuzuführen.  Und  wenn 
ich,  obwohl  ich  nichts  anderes  zu  erreichen  wünsche,  dies  oder  jenes 
in  diesem  kurzen  Überblicke  anders  zu  beurteilen  versuche,  so  möchte 
ich  nur  die  Anregung  zu  erneuter  Forschung  weitertragen,  die  er  uns 
allen  gegeben  hat. 
28  Wir  haben  es  nun  bequem.  Seit  Lajards  unlesbarem  und  un- 
gelesenem  Buche  gab  es  keine  Zusammenfassung  unsers  Wissens  von 
Mithras,  nur  zahllose  Einzeluntersuchungen  und  -Publikationen.  Lajard 
konnte  etwa  50  Statuen  und  Reliefs  vorlegen,  Cumont  vereinigt  un- 
gefähr 400.  Das  zeigt  am  besten  die  Fülle  der  Entdeckungen  der 
letzten  50  Jahre.  Und  wenn  wir  auch  nicht  undankbar  werden  sollen 
gegen  die,  die  bisher  weitergeführt  hatten  —  nach  meinem  DafürhaUen 
dürfen  nach  Zoegas  Arbeiten  die  Verdienste  Habeis  und  Georg  Wolf  fs 
um  Funde  und  Erklärungen  am  wenigsten  vergessen  werden  — ,  so 
haben  wir  nun  für  Mithras  ein  mustergültiges  Urkundenbuch :  ein  Muster 
zunächst  für  eine  Reihe  anderer  Urkundenbücher  der  Kulte  des  späteren 
Altertums,  damit  auf  solchem  Fundamente  sich  wirklich  der  Bau  einer 
Geschichte  des  Untergangs  der  antiken  Religion  erheben  könne.  Dann 
werden  wir  erst  recht  wissen,  daß  sie  niemals  untergegangen  ist  bis 
auf  den  heutigen  Tag. 

Mithra  ist  uralt.  Inder  und  Iranier  haben  ihn  beide  schon  in  ihr 
Sonderleben  mitgebracht.  In  den  Veden  und  im  Avesta  hat  er  seine 
Stelle.  Im  Avesta  ist  er  der  Gott  des  himmlischen  Lichtes  und  in  sitt- 
licher Auffassung  der  Gott  der  Wahrheit  und  Gerechtigkeit.  Aber  von 
diesen  Urkunden  -  von  ihrer  Entstehungszeit  ganz  abgesehen;  die 
Aufstellungen  Darm  es  teters  werden  von  den  besten  Kennern  des 
Avesta  als  völlig  haltlos  angesehen  —  ist  die  hohe  Geltung  des  Mithras 
in  iranischer  Religion  nicht  ausgegangen  und  der  spätere  Mithrasdienst 
ist  nicht  ein  Ableger  des  avestischen  Zoroasterdienstes.  Das  betont 
Cumont  mit  großem  Recht.  Wir  erkennen  aus  den  Inschriften  der 
Achämeniden,  wie  seit  Artaxerxes  Mnemon  Mithras  neben  Anahita  her- 
vortritt. Die  vielen  von  Mithras  gebildeten  theophoren  Namen  unter 
dem  höchsten  Adel  bestätigen,  welche  Rolle  der  Gott  unter  den  Achä- 
menidenherrschern  gespielt  hat:  er  war  der  Protektor  der  Dynastie  und 
vor  allem  auch  der  Gott  der  Krieger.  Etliche  Angaben  über  den 
Gottesdienst  der  alten  Perser,  auch  griechischer  Schriftsteller  (Herodot, 
Strabo),  daß  sie  Sonne,  Mond,  Erde,  Feuer,  Wasser  und  Winde  an- 
gebetet hätten,  stimmen  ja  wohl  mit  dem,  was  von  dem  spätem  Mithras- 


Die  Religrion  des  Mithras  255 

dienst  bekannt  ist.  Aber  ob  unsere  Mittel  dazu  reichen,  diesen  letztern 
im  wesentlichen  auf  die  iranische  Religion  zurückzuführen  und  ihn  eine 
Umbildung  der  alten  iranischen  Religion  zu  nennen,  die  eben  dieser 
näher  stehe  als  die  des  Avesta?  Ein  Faktor  der  Umbildung  ist  sehr 
deutlich  erkennbar,  der  Sterndienst  der  Chaldäer  und  die  astrologischen 
Lehren,  die  außerordentlich  stark  modifizierend  eingewirkt  haben.  Niemand 
wird  leugnen  wollen,  daß  der  Mithraskult,  der  in  die  griechisch-römische 
Welt  übertrat,  eine  ganze  Reihe  von  Lehren  und  Bräuchen  fest  aus- 
gebildet hatte.  Aber  welche  und  wie  sie  ausgebildet  waren,  welche 
und  wie  sie  in  der  andern  Welt  umgebildet  wurden,  werden  wir  nicht 
angeben  können.  Ich  möchte  diese  Umbildung  für  sehr  bedeutend  und 
weitgreifend  halten.  Wir  wissen  ja  freilich  von  seinen  Schicksalen  in 
den  Reichen  des  Pontos,  Kommagene,  Kappadokien,  Armenien  fast  nichts 
und  ihre  Herrscher  knüpften  wohl  auch  hier  ausdrücklich  an  die  Ach- 
ämenidentraditionen  an;  die  Inschriften  und  Denkmale,  die  Antiochos 
auf  dem  Nemrud  Dagh,  die  er  dem  Zeus,  Mithras  und  Herakles  setzt, 
sehen  nicht  danach  aus,  als  sei  sein  Mithrasglaube  dem  der  späteren  29 
Mysterien  in  mehr  als  den  allerhauptsächlichsten  Zügen  ähnlich  gewesen. 
Und  er  wahrte,  wie  er  sagt,  den  TiaXaioc  vö)uoc.  Nicht  einmal  den 
Kult  in  der  Höhle  finden  wir  irgendwo  vorgebildet:  denn  wenn  die 
alten  Perser  auf  der  Höhe  und  in  freier  Luft  ihren  Gottesdienst  ver- 
richteten, so  kann  man  doch  daraus  nicht  den  Grottendienst  ableiten 
wollen.  Durch  Kleinasien  soll  hauptsächlich  die  Mithraslehre  in  die 
westlichen  Länder  gedrungen  sein?  Aber  gerade  im  ganzen  vorderen 
Kleinasien  ist  keine  Spur  des  späteren  Mithrasdienstes  zu  konstatieren. 
Ich  fürchte,  daß  mit  ihm  die  inaToucaToi  und  )udToi,  die  dort  zu  finden 
waren,  keinen  direkten  Zusammenhang  hatten.  Und  bedenklich  will  es 
mir  scheinen,  die  Angaben  über  solche  ludToi  oder  gar  die  mathematici 
und  Chaldaei  der  späteren  Zeit  für  Mithras  zu  verwenden:  sie  dienten 
den  verschiedensten  Verbindungen  des  Glaubens  und  Aberglaubens 
der  Zeit,  unter  denen  der  astrologische  Aberglaube  das  stärkste  Band 
war.  Und  ein  inotToc  wie  der  in  Lukians  Menippos  tut  nichts  als  was 
die  Zauberer  und  Wundermänner  der  verschiedensten  Kulte  taten, 
auch  wenn  er  MiOpoßapCdvric  heißt. 

Auch  die  gelehrte  Durchmusterung  syrischer  und  armenischer  Texte 
hat  wenig  geliefert,  das  etwa  die  Vorgeschichte  des  späteren  Mithras- 
kultes  aufhellen  könnte.  Das  bemerkenswerteste  Stück  ist  ein  Hymnus 
von  der  Seele,  der  in  den  syrischen  Thomasakten  eingelegt  ist  (letzte 
Ausgabe  von  Bevan,  The  hymn  of  the  soul,  Texts  and  studies  V,  Cam- 
bridge 1897,  s.  Cumont  I  15  f.)  und  in  den  griechischen  fehlte.    Eben 


256  Die  Religion  des  Mithras 

hat  M.  Bonnet  in  den  Analecta  Bollandiana  XX  (1901)  p.  159  ff.  einen 
griechischen  Text  nach  einer  Bearbeitung  des  Niketas  von  Thessalonich 
herausgegeben.  Es  ist  eine  Allegorie:  die  Geschichte  eines  Prinzen, 
der  aus  seinem  Vaterland  im  Osten  nach  Ägypten  geschickt  ist,  eine 
kostbare  Perle,  die  eine  Schlange  bewacht,  zu  holen.  Wenn  es  ihm  ge- 
lingt, soll  er  des  Vaters  Reich  erben.  Ein  Trank,  den  man  ihm  gibt, 
läßt  ihn  Vaterland  und  Pflicht  vergessen.  Ein  Brief  seines  Vaters  gibt 
ihm  Erinnerung  und  Mut  zurück,  er  erringt  die  Perle  und  kommt  in 
die  Heimat,  mit  Freuden  von  seinem  Vater  begrüßt.  Das  soll  den  Weg 
der  Seele  und  ihre  Himmelfahrt  bedeuten.  Obwohl  man  gnostischen 
Ursprung  des  Gedichts  nicht  damit  widerlegen  kann,  daß  es  nichts 
Christliches  und  damit  nichts  Gnostisches  enthalte  -  denn  es  gibt  eine 
vorchristliche  und  nichtchristliche  Gnosis  -,  so  glaube  ich  doch,  daß 
Cumont  mit  Recht  hier  ein  Lied  erkennt  wie  sie  bei  den  Mithras- 
mysterien  liturgische  Verwendung  gefunden  haben  und  im  griechischen 
Texte  könnte  dafür  sprechen,  wie  bei  der  Heimholung  =  Himmelfahrt 
des  Ausdruck  deiöc  gebraucht  wird,  wenn  es  nämlich  der  Kultname 
des  höchsten  Grades  der  Mithrasmysten  ist,  die  in  liturgischer  Weihe 
sich  zum  Gotte  selbst  erheben  (s.  u.).  aiiir]  r\  eTriCToXfi  cpujc  T^Tovev 
€V  €)Lioi  Kai  Tüöp  Ktti  To  evöv  juoi  Z^ujTTUpov  ujCTTEp  dvdiijaca  eic  üipoc  fjpev 
Kai  deroö  biKriv  dvrj^ev  ujcirep  uTTÖTriepov.  Vielleicht  fallen  auch  in 
diesem  kleinen  Stück  dem  Leser  die  rhythmischen  Klauseln  auf,  die 
mir  wenigstens  ohrenfällig  scheinen,  die  meist  didaktylischen  Klauseln, 
die  zuletzt  bei  Gelegenheit  der  Laudatio  in  miracula  Sancti  hieromar- 
tyris  Therapontis  von  L.  Deubner,  De  incubatione  114 ff.  besprochen 
30  sind.  Ich  weiß  nicht,  ob  wir  berechtigt  sein  werden,  daraufhin  den 
griechischen  Hymnustext  einer  bestimmten  Zeit  zuzuschreiben  und  ich 
kann  überhaupt  das  Verhältnis  der  syrischen  und  griechischen  Texte 
des  Liedes  nicht  aufklären.  Nur  das  möchte  ich  noch  anmerken,  daß 
ich  die  Nennung  der  Länder  des  Ostens  und  Ägyptens  anders  auffasse 
als  Cumont:  jene  stellen  das  Lichtreich  dar  nach  altgewohnter  Vor- 
stellung, und  wer  diese  Allegorie  schrieb  (oder  wer  Ägypten  so  darin 
nannte),  des  irdische  Heimat  war  Ägypten.^ 

Wir  wissen  von  Bildung  und  Umbildung  der  Mithraslehren  in  vor- 
hellenistischer und  hellenistischer  Zeit  eigentlich  nichts.  Plötzlich  stehen 
die  fertigen  Denkmäler  in  überraschender  Gleichartigkeit  vor  uns,  kaum, 
fast  gar  nicht  erläutert  durch  literarische  Texte  und  Inschriften.  Wohl 
erhält   das  Hauptkultbild,   das   uns   allen  wohlbekannte,   der  Gott   den 

^  Wären  christliche  Einflüsse  denkbar,  so  müßten  uns  die  Worte  unmittelbar 
einfallen  „aus  Ägypten  habe  ich  meinen  Sohn  gerufen"  Matth.  II 15  (Hosea  XI 1). 


1 


Die  Religion  des  Mithras  257 

den  Stier  niederwerfend  und  mit  dem  Schwerte  in  die  Schulter  stoßend 
der  femdhche  Skorpion,  der  hilfreiche  Hund,  erst  Sinn  und  Erklärung 
durch  Heranziehung  der  persischen  Lehren:  der  Archetypus  all  dieser 
Bilder  war,  wie  Cumont  fein  und  durchaus  überzeugend  darlegt,  das 
Werk  eines  hellenischen  Künstlers,  der  der  Art  und  den  Traditionen 
pergamenischer  Kunst  nahe  stand.  Das  künstlerische  Vorbild  war,  wie 
man  längst  annahm,  die  stieropfernde  Nike. 

Von  einer  Ausbreitung  der  Religion  des  Mithras  in  der  griechisch- 
römischen Welt  kann  vor  dem  Ende  des  1.  nachchristlichen  Jahrhunderts 
nicht  die  Rede  sein.  Aber  nun  geht  es  auch  mit  Macht  vorwärts.  Man 
mag  wohl  dem  Gedanken  nachgehen,  wie  Mithras  bald  den  Osten  be- 
herrscht haben  würde,  wenn  Mithradates  seine  Pläne  ausgeführt  hätte, 
man  mag  den  Trümmern  seiner  Heere  und  Völker  große  Bedeutung  in 
der  Verbreitung  des  Kultes  zuweisen  und  man  mag  die  Notiz  von  dem 
Mithraskult  der  Seeräuber  wohl  beachten;  jener  Zug  des  Tiridates,  den 
ich  anfangs  erwähnte,  nimmt  sich  doch  wie  ein  erster  Vorläufer  des 
Siegeszuges  seines  Gottes  aus.  Über  Italien,  Afrika,  namentlich  an 
Rhone,  Rhein  und  Donau  hat  sich  der  Kult  reißend  schnell  verbreitet. 
Cumont  entwirft  in  seinen  abschließenden  Kapiteln  meisterhafte  Bilder 
von  dieser  Verbreitung,  vor  allem  auch  von  dem  Verhältnis  dieser  Re- 
ligion zur  kaiserlichen  Macht.  Unter  den  Flaviern  im  Jahre  71  ist  zu 
Carnuntum  (in  der  Nähe  von  Wien)  ein  bedeutendes  Heiligtum  gegründet 
worden  und  dieses  Carnuntum  ist  geradezu  eine  heilige  Stadt  des 
Mithras  gewesen  für  alle  diese  Gegenden  und  hat  im  Dienste  des  Mi- 
thras den  anderen  Orten  vorangeleuchtet.  Die  Soldaten  waren  die 
Träger  des  Mithrasdienstes,  die  Soldaten  nahmen  den  unbesiegten  Kriegs- 
gott von  Osten  auf  und  die  Legionen  trugen  ihn  über  die  Länder. 
Auch  die  Veteranen  behielten,  wo  sie  sich  nach  ihrer  Entlassung  nieder- 
ließen, diesen  Kult  bei.  Und  nicht  am  wenigsten  haben  ihn  die  kaiser- 
lichen Beamten  akzeptiert  und  weitergetragen.  Die  Postbeamten  und 
die  Steuerbeamten,  alle,  die  zu  der  Armee  des  kaiserlichen  Verwaltungs- 
wesens gehörten  -  in  gewissem  Sinne  eine  internationale  Vereinigung,  31 
nur  durch  den  einen  kaiserlichen  Willen  verbunden  -,  sie,  die  über 
die  ganze  Welt  bald  dahin,  bald  dorthin  geschleudert  wurden,  haben 
den  nun  internationalen,  den  Weltkult  des  Mithras  verbreiten  helfen. 
Bald  setzt  nach  Ausweis  der  Inschriften  ein  kaiserlicher  Kassenbeamter 
im  fernen  Kappadokien  ein  Mithrasdenkmal,  bald  baut  ein  Rentmeister 
eines  Städtchens  mitten  im  Apennin  eine  zerfallene  Grotte  wieder  auf. 
Diese  Religion  war  im  Anfang  lange  eine  Religion  der  Niedrigen  und 
Geringen,  der  Sklaven  und  der  Gefangenen.    Erst  allmählich  ist  Mithras 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schritten.  17 


258  ^*®  Relig^ion  des  Mithras 

sozial  in  die  Höhe  gekommen,  wenn  man  so  sagen  darf.  Dazu  haben 
die  Kaiser  das  Wesentlichste  beigetragen.  Commodus  ließ  sich  aufnehmen; 
und  ein  so  verächtlicher,  wahnwitziger  Kaiser  er  war,  nun  werden  auch 
die  Hofräte  Mithrasdiener,  die  Tribunen,  Präfekten,  Legaten.  Septimius 
Severus  hat  bereits  sacerdotes  domus  Augustanae,  Mithras -Hofprediger, 
und  zu  seiner  Zeit  scheint  in  der  Tat  der  Mithraskult  der  verbreitetste 
aller  ähnlichen  Kulte  gewesen  zu  sein.  Diocletian,  Valerius  und  Gallienus 
haben  ein  Heiligtum  des  Mithras  als  des  fautor  imperii  in  dem  er- 
wähnten Carnuntum  eingerichtet.  „Aber  der  Bund  von  Thron  und 
Altar",  so  schließt  Cumont  das  Kapitel  tiber  Mithras  und  die  kaiser- 
liche Gewalt,  „welchen  die  Kaiser  des  3.  Jahrhunderts  erstrebt  hatten, 
ward  unter  einer  anderen  Form  verwirklicht,  und  durch  eine  seltsame 
Wendung  der  Dinge  ward  die  Kirche  berufen,  das  Gebäude  zu  stützen, 
dessen  Fundamente  sie  erschüttert  hatte.  Das  Werk,  das  die  Priester 
des  Serapis,  des  Baal  und  des  Mithras  vorbereitet  hatten,  ward  ohne 
sie  und  gegen  sie  vollendet;  aber  nichtsdestoweniger  waren  sie  die 
ersten  gewesen,  die  im  Abendlande  das  Gottesgnadentum  der  Könige 
gepredigt  hatten,  und  sie  hatten  eine  Bewegung  eingeleitet,  deren  Rück- 
schläge ins  Unendliche  sich  ausdehnen  sollten." 

Die  höchste  Macht  des  Mithrasdienstes  fällt  ins  dritte  Jahrhundert. 
Von  den  Ufern  des  Schwarzen  Meeres  bis  nach  Nordbritannien,  vom 
Hadrianswall  bis  an  die  Grenzen  der  Sahara,  überall  sind  die  Mithras- 
heiligtümer  angesiedelt.  Und  doch  nicht  überall.  Vorderasien  und 
Griechenland,  die  Gegenden,  wo  das  Christentum  blühte  und  seine  Macht 
entfaltete,  waren  frei  vom  Mithraskult.  Denn  ein  Rest,  der  im  Piräus 
gefunden  wurde,  der  Hafenstadt,  wo  eben  alles  aus-  und  einging,  kommt 
nicht  in  Betracht.  Weder  in  Korinth  noch  in  Thessalonich,  weder  in 
Philippi  noch  Ephesus,  weder  in  Smyrna  noch  Sardes,  weder  in  Perga- 
mon  noch  Laodicea,  weder  in  Galatien  noch  Bithynien  hat  sich  eine 
Spur  mithräischen  Dienstes  gefunden.  Ein  Blick  auf  die  Cumonts 
erstem  Bande  beigegebene  Karte  zeigt  diesen  so  überaus  lehrreichen 
Tatbestand.  Die  Mithrasreligion  und  das  Christentum  haben  sich  gerade- 
zu die  Welt  geteilt,  bis  sie  namentlich  in  Rom  und  in  Afrika  zum 
Entscheidungskampf  zusammenstießen.  Die  eine  Tatsache,  daß  das 
Christentum  die  eigentlich  griechischen  Gegenden,  die  Lande  griechischer 
Kultur  erobert  hatte,  könnte  seinen  endlichen  Sieg  erklären. 

Die  Lehren  und  Offenbarungen  der  Mithrasmysterien  aus  den  Relief- 
darstellungen wieder  zu  erschließen,  ist  eine  außerordentlich  schwierige 
Aufgabe.  Denn  diese  Darstellungen  sind  für  vieles  die  einzige  Quelle, 
32  da  wir  ja  sonst  fast  nur  durch  die  Vermittelung  vom  Mithras  abgefallener 


Die  Religion  des  Mithras  259 

Christen  einige  Notizen  erhalten:  und  diese  Abtrünnigen  werden  selten 
die  höchsten  Weihen  erlangt  und  die  letzten  Geheimnisse  der  Mithras- 
lehren  gekannt  haben.  In  fast  jeder  Religion,  in  der  bildliche  Dar- 
stellung eine  kultische  Rolle  spielt,  heben  sich  immer  wiederkehrende 
feste  Szenen  heraus,  wie,  wenn  ich  Christliches  vergleichen  darf,  Maria 
mit  dem  Kinde,  der  Gekreuzigte,  die  sog.  Pietägruppe.  Die  Hauptszene 
des  Mithrasdienstes  ist  die  Tötung  des  Stieres.  Wohl  sind  mannigfache 
Deutungen,  namentlich  auch  astrologische,  in  den  verschiedenen  Stufen 
der  Mysterien  gegeben  worden:  das  Wesentliche  ist  die  kosmogonische 
Bedeutung.  Aus  diesem  Stiere  entsteht  alles,  Tiere  und  Pflanzen. 
Kaum  minder  wichtig  wird  den  Mysten  die  eschatologische  Bedeutung 
der  Stiertötung  gewesen  sein.  Nach  persischen  Überlieferungen  mußte 
am  Ende  der  Zeiten  wiederum  ein  Stier  geopfert  werden,  damit  die 
Menschen  erlöst  würden.  Ein  Trank  der  Unsterblichkeit,  der  aus  dem 
Fette  des  Stieres  und  der  Weintraube  gewonnen  wird  (auf  der  Rück- 
seite des  großen  Heddernheimer  Reliefs  reicht  nach  der  Stiertötung  Helios 
dem  Mithras  eine  große  Weintraube),  spielt  im  Kulte  eine  RoHe.  Der 
stiertötende  Mithras  ist  Schöpfer  und  Erlöser.  Ich  gehe  auf  die  einzelnen 
Fragen  nicht  ein,  die  Cumont  mit  größter  Umsicht  erörtert  hat;  aber 
ein  paar  rätselhafte  Sätze  eines  Zauberpapyrus  (des  großen  in  Paris  bei 
Wessely  Denkschriften  der  k.  k.  Akad.  d.  W.  in  Wien,  1888,  v.  825-828) 
kann  vielleicht  einer  meiner  Leser  deuten.  Sie  stehen  am  Schlüsse 
mithräischer  Texte  und  haben  nicht  undeutlichen  Zusammenhang  mit  den 
uns  bekannten  Vorstellungen,  dveßn  Zeuc  eic  öpoc  (epoc  Papyrus)  xP^coOv 
luöcxov  Ix^JV  Ktti  iLidxaipav  dpTupeav.  irdciv  inepoc  eTrebujKev,  ajuapa 
jaövov  ouK  ^bu)K€V.  €i7T€v  H'  eHdcpcc  o  e'xeic  Kai  t6t€  Xrjvi/ei.^  Es  ist 
der  unverständliche  Rest  einer  epischen  Einleitung,  wie  wir  das  bei  den 
Zaubersprüchen  alter  und  neuer  Zeit  gewohnt  sind.  Ist  Zeus  hier  = 
Ahura-mazda  oder  =  Mithras?  Ist  der  Spruch  „gib  hin  was  du  hast, 
dann  wirst  du  empfangen"  ein  Kernspruch  der  Mithrasmysten  gewesen? 
Die  Deutung,  daß  die  Figuren  des  Löwen,  des  Kraters  und  der 
Schlange,  die  sich  häufiger  unter  der  Stiertötung  finden,  die  Elemente  des 
Feuers,  des  Wassers  und  der  Erde  darstellten,  mag  etwas  Einleuchtendes 
haben,  auch  wenn  die  Zumutung,  in  den  an  ganz  anderer  Stelle,  an 
den  Ecken  des  Reliefs,  angebrachten  Köpfen  der  Windgottheiten  die 
zugehörige  Vertretung  des  Luftelements  zu  finden,  die  Überzeugungskraft 
der  Dariegung  etwas  abschwächt.  Ich  möchte  zur  Erklärung  einen 
ägyptischen  Hymnus  (Abraxas  S.  51  u.  97)  heranziehen,  der  beginnt: 


<S.  Mithrasliturgie  «  S.  220  f.> 

17' 


260  ^^®  Religion  des  Mithras 

Xctipe  bpciKiuv,  dKjuaie  Xeiuv,  (puciKai  irupoc  dpxai, 
Xciip€  ^^  XeuKÖv  ubujp  Ktti  bevbpeov  uii^meTTiXov, 

dann  folgen  ägyptische  Dinge,  auch  der  Sonnen-Kdv9apoc,  zum  Schlüsse 
heißt  es: 

veOcov  i}ioi,  XiTOjuai,  öti  cujußoXa  laucxiKd  cppd^u;, 
iXaGi  |Lioi,  TTpoirdiiup,  Kai  jlioi  cGevoc  aiiiöc  oirdZloic. 
Wir  wissen,  welche  Rolle  auch  der  Baum  in  den  Darstellungen  der 
33  Reliefs  spielt,  und  so  nennen  die  ersten  Zeilen  in  der  Tat  cij)LißoXa 
juucTiKd  des  Mithrasdienstes.  Ich  stehe  nicht  an,  das  Lied  für  eine, 
ägyptische  (gnostische?)  Umgestaltung  eines  Mithrashymnus  zu  er- 
klären. 

Wenn  Cumont  sogar  die  gelegentlich  zusammen  auftretenden  Dar- 
stellungen eines  Schwertes,  eines  flammenden  Altars,  eines  Pilleus  und 
eines  Baumes  als  Zeichen  der  Elemente  erklären  will,  so  ist  hier  ein 
entschiedener  Protest  am  Platze.  Daß  das  Schwert  das  Wasser,  der 
Hut  die  Luft  bedeuten  soll,  bedarf  doch  ein  wenig  seltsamer  Umwege. 
Wir  sehen  ja  aber  alle  diese  vier  Dinge  in  sehr  signifikanten  Kultszenen 
eine  bedeutende  Rolle  spielen:  ein  Messer  der  gleichen  Art  hält  Mithras 
der  Felsgeborne,  auf  dem  Kopfe  trägt  er  den  pilleus,  in  der  anderen 
Hand  hält  er  eine  Fackel.  Mit  dem  Messer  werden  die  Zweige  des 
Baumes,  des  Lichtbaumes,  wie  ich  meine  (Abraxas  96  ff.  98,2),  in  und 
aus  dem  ja  auch  Mithras  gelegentlich  erscheint  \  abgeschnitten.  Die 
Zweige  spielen  eine  bedeutsame  Rolle  in  diesem  Kult.  Der  Pilleus  ist  hinter 
dem  Stier  auf  einem  Schwerte^  aufgehängt  auf  der  erwähnten  Rückseite 
des  Heddernheimer  Reliefs,  an  einem  Baume  ist  er  aufgehängt  Fig.  78. 
Der  Altar  ist  oft,  offenbar  mit  voller  Absicht,  der  Szene  beigegeben, 
da  Helios  und  Mithras  (bezw.  Mithras  und  ein  Myste)  sich  zum 
Bunde  die  Hand  reichen:  über  dem  Altar.  Einmal  wird  gerade 
dabei  auch  das  Messer  zu  heiliger  Handlung  gebraucht  (I  322)»  Wir 
können  also  mancherlei  vermuten:  jedenfalls  haben  wir  die  „Symbole" 
wichtiger  Kulthandlungen  vor  uns.  Ich  will  eine  Vermutung  nicht  ver- 
schweigen: das  Schwert  könnte  die  Einweihung  des  miles  unter  den 
mithräischen  Graden  bezeichnen  und  bei  dieser  Einweihung  wurde  nach- 
weislich ein  Schwert  gebraucht  (I  319),  zudem  ist  es  ja  das  natürliche 
Abzeichen  der  Soldaten;  der  pilleus  würde  den  Perser  bezeichnen,  der 

*  Auf  den  '€p|Lific  Kuqpapicaqpöc  und  Hillers  Erläuterung  Hermes  XXXVl  (1901) 
S.  452  ff.  möchte  ich  hier  wenigstens  hinweisen. 

*  Daß  der  Gegenstand,  auf  dem  der  Pilleus  hängt,  sicher  ein  Schwert  sei 
(nicht  „une  perche"  nach  Cumont)  bemerkt  mir  nach  eigner  Untersuchung  des 
Denkmals  Herr  Dir.  Dr.  Lehner. 


Die  Religion  des  Mithras  261 

ihn  auch  auf  der  neuen  Darstellung  des  heiligen  Mahles  aus  Bosnien 
trägt  (I  175,  vgl.  317),  der  Altar  einen  Kultakt,  dessen  Vorbilder  ich 
vorhin  erwähnte,  und  der  Baum  etwa  eine  Rückkehr  zum  Lichtreich, 
einen  Kultakt,  in  dem  das  öe'vbpeov  uvpiTieTTiXov  eine  Rolle  spielte! 
Vielleicht  würden  mir  weiter  unten  zu  machende  Andeutungen  das 
Recht  geben,  auch  hier  von  der  symbolischen  Bezeichnung  der  Grade 
der  XeovTcc  und  der  n^iobpö^oi  zu  reden.  So  würde  dann  z.  B.  mon. 
193  Fig.  169  die  siebenmal  wiederholte  Darstellung  des  Schwertes, 
Altars,  Pilleus,  Baumes  die  Weihe  des  Soldaten,  Löwen  (Feuer,  s.  bes! 
S.  11),  Persers,  'HXiobpö)uoc  zu  bedeuten  haben  (über  die  fehlende  Dar- 
stellung des  höchsten  Grades  s.  unten  S.  36  <264». 

Ich  verliere  mich  in  Einzelheiten  und  ich  will  denn  auch  von  den 
Nebenszenen,  die  das  Hauptrelief  so  zahlreich  und  so  rätselvoll  um- 
geben, nicht  weiterhin  berichten.  Die  Dadophoren,  Cautes  und  Cauto- 
pates  (die  Namen  bleiben  dunkel),  werden*  schlagend  erklärt  als  die 
Wiederholung  des  Mithras  selbst.  Es  ist  der  dreieinige  Mithras,  MiGpac 
TpmXdcioc,  wie  es  einmal  heißt,  die  aufgehende,  leuchtende  und  nieder-  34 
gehende  Sonne.  Mit  feiner  Divination  wird  den  Darstellungen  des 
felsenschießenden  Mithras  oder  der  Stierbarke  auf  der  Flut  ansprechende 
Bedeutung  und  weitreichende  Beziehung  abgewonnen. 

Drei  Szenen  und  Szenengruppen  treten  wohl  am  stärksten  unter 
den  Nebenbildern  hervor:  die  Felsgeburt,  die  Szenen  der  Stierjagd  und 
des  Stierfanges,  die  des  Helios  und  Mithras.  Die  Gruppe  der  Geburts- 
szene ist  künstlerisch  so  niedrig  einzuschätzen,  so  plump  komponiert, 
daß  sie  ebensogut  von  einem  beliebigen  Maurermeister  erst  späterer 
Zeit  herausgehauen  sein  kann,  als  sie  etwa  schon  ein  rohes  Bildwerk 
orientalischer  Heimat  zum  Vorbild  haben  könnte.  Die  Herkunft  einer 
Begleitszene  und  ihrer  Darstellung  wäre  uns  viel  wichtiger:  denn  deut- 
lich sind  mehrfach  Hirten  dargestellt,  die  den  neugeborenen  Gott  an- 
beten. Eine  an  sich  in  ihrem  Zusammenhang  sehr  wohl  verständliche 
Legende:  im  Gebirg  wird  am  Morgen  der  Gott  des  Lichts  aus  dem 
Felsen  geboren,  die  Hirten  in  den  Bergen  sind  die  ersten,  die  vor  ihm 
niederfallen. 

Aus  den  Darstellungen  des  stierjagenden,  stierfangenden,  stiertragenden 
Gottes  erkennen  wir  mancherlei  Einwirkung  griechisch-römischer  Le- 
genden. Nicht  bloß  äußerliche  Ähnlichkeiten  haben  die  Übernahme  von 
Motiven  der  Herakles-  und  Cacussage,  die  wir  zu  konstatieren  glauben, 
veranlaßt:  das  mythische  Grundmotiv  ist  das  gleiche  gewesen.  Es  ist 
der  Raub  des  himmlischen  Schatzes,  ein  Motiv,  das  in  so  vielen  wech- 
selnden Vorstellungen  und  Bildern  der  indogermanischen  Völker  aus- 


262  ^*®  Religion  des  Mithras 

geprägt  ist  (vgl.  Usener,  Sintflutsagen  182ff.,  192  f.).  Oft  ist  wie  in 
jenen  griechisch-römischen  Legenden  der  Schatz  die  Rinderherde,  die 
geraubt,  zur  Höhle  geführt  wird  usw.;  hier  ist  es  der  Himmelsstier,  der 
Bringer  aller  Fruchtbarkeit  und  alles  Segens  der  Erde.  Ich  wundere 
mich,  daß  Cumont  überhaupt  gar  nicht  auf  die  tiefere  mythische  Be- 
deutung des  Stieres  eingegangen  ist.  Man  mag  es  ja  bedenklich  finden, 
durch  die  Vorstellungen  anderer  Völker  Deutung  suchen  zu  wollen:  aber 
die  Analogien  der  mythischen  Formen,  zumal  fast  aller  anderen  indo- 
germanischen Völker  anzuführen,  eben  nur  als  Analogien,  kann,  wie 
schon  in  so  vielen  Fällen,  auch  hier  nur  förderlich  sein.  Nur  darauf 
möchte  ich  mit  einem  Worte  hinweisen,  daß  der  Stier,  dessen  Schwanz 
in  eine  oder  auch  mehrere  Kornähren  ausläuft,  doch  jeden  erinnern 
muß  an  den  „Kornstier",  den  „Vegetationsstier"  unseres  Volksglaubens 
und  die  parallelen  Schöpfungen  antiker  Völker.  Auch  er  wird  gejagt, 
getragen,  getötet  und  durch  ihn  die  Flur  gesegnet.  Mannhardt  (Wald- 
und  Feldkulte  II  326 ff..  Mythologische  Forschungen  62  ff.,  92  ff.)  und 
neuerdings  z.B.  Frazer  (The  golden  bough,  2.  ed.,  II  277  ff.)  haben 
uns  diese  Gestaltungen  erläutert.  Ob  wir  nicht  auch  bei  Mithras  in 
ähnlichem  Glauben  den  sozusagen  volkstümlich -mythischen  Grund  finden 
dürften,  auf  dem  dann  in  verschiedenen  Schichten  immer  reflektiertere, 
immer  künstlichere  Doktrinen  aufgebaut  wurden? 

Unter  den  Mithras -Heliosszenen  unterscheiden  wir  als  typisch  wieder- 
kehrende: Helios  niedersinkend  vor  Mithras,  von  diesem  zu  ihm  empor- 
gezogen, auch  wohl  mit  der  Strahlenkrone  von  ihm  gekrönt;  Mithras 
und  Helios  (oft  über  einem  Altar)  sich  die  Hand  reichend;  beide  zu- 
35  sammen  gen  Himmel  fahrend  auf  dem  Wagen  des  Helios;  beide  zu- 
sammen zum  Mahle  liegend.  Daß  die  Szenen  eines  Mythus  vorliegen, 
in  dem  Mithras  im  Bunde  mit  Helios  gedacht  ist,  liegt  am  Tage.  Es 
ist  schwer,  das  Verhältnis  der  beiden  klar  zu  erkennen:  scheint  es  doch 
nach  der  Hauptkultgruppe,  in  der  ein  Rabe  dem  Mithras  Botschaft  von 
Helios  bringt,  als  stehe  der  Stiertöter  im  Dienste  des  Sonnengottes. 
Und  hier  fällt  Helios  vor  Mithras  nieder:  bekennt  er  seinem  Abgesandten, 
als  dieser  seine  Großtaten  getan:  du  bist  größer  denn  ich?  Wie  dem 
sei,  jedenfalls  sind  diese  Szenen  zwischen  Mithras  und  Helios  die  my- 
thischen Vorbilder  kultischer  Begehungen  im  mithräischen  Ritus.  Auf 
dem  Relief  aus  Bosnien  sind  es  deutlich  2  Mysten,  die  zu  Tische  liegen 
und  von  den  übrigen  niedern  Grades,  die  z.  T.  ihre  Tiermasken  aufhaben, 
bedient  werden  (I  176);  auch  die  Szene,  da  Helios  vor  Mithras  niederfällt, 
hat  ihre  Analogie  in  Darstellungen,  da  ein  anderer,  jedenfalls  nicht  Helios, 
sondern  ein  Myste,  anbetend  kniet  (einmal  ist  er  nackt,   II  Fig.  262, 


Die  Religion  des  Mithras  263 

Fig.  152?,  im  Ritus  von  besonderer  Bedeutung).  Nicht  bloß  die  Szene 
des  Mahls,  das  ja,  wie  wir  wissen,  eine  bedeutsame  sakramentale  Be- 
deutung hatte,  alle  diese  Szenen  sind  das  Prototyp  sakramentaler  Akte: 
Helios  ist  der  Erstling  der  Eingeweihten,  der  TTpcuiojaucTTic.  Darum 
nennt  ihn  auch  in  einem  mithräischen  Papyrustexte,  von  dem  ich  gleich 
sprechen  werde,  der  Myste  seinen  Vater:  er  ist  der  Traxrip,  trägt  die 
Bezeichnung  des  ersten  Grades  der  Eingeweihten.  Und  in  eben  diesem 
Texte  muß  Helios  den  zu  Mithras  aufsteigenden  Mysten  dem  Gotte  zu- 
erst melden:  er  ist  hier,  wie  Mithras  zwischen  dem  Menschen  und  dem 
höchsten  Lichtgott  und  dem  Ahura-mazda  nach  älterer  Lehre,  der  Mittler, 
der  lueciTTic,  zwischen  dem  Menschen  und  Mithras.  Ich  möchte  nicht  so 
weit  gehen,  die  einzelnen  Ritualszenen  als  Einweiheszenen  in  die  ein- 
zelnen Grade  der  Mysterien  zu  deuten:  daß  die  „Löwen"  zuerst  an 
dem  heiligen  Mahle  teilnehmen  durften,  ist  auch  sonst  wahrscheinlich 
(Cumont  I  317,  321)  und  den  auf  dem  Sonnenwagen  fahrenden  als 
fi\iobpö|Lioc  Sonnenfahrer  (wie  mTrobpöjuoc  =  der  Pferderenner),  den 
zweithöchsten  Gradnamen,  zu  bezeichnen  läge  nahe.  Auf  den  Dar- 
stellungen der  oben  erwähnten  Szene,  da  Helios  oder  der  Myste  vor 
dem  Gotte  niederfällt,  hält  Mithras  gelegentlich  einen  Pilleus  über  den 
Knienden,  mehrfach  aber  einen  Gegenstand,  den  Cumont  als  Rhyton 
erklärt  (I  172)\  Der  Pilleus  war  das  Abzeichen  des  „Persers"  (1317), 
und  wenn  wir  bei  Porphyrios  sahen,  daß  die  Perser  mit  Honig  gesalbt 
seien  (örav  bk.  tüj  TTepcr]  TrpocdTiuci  \xi\i  KTX.)^  so  stimmt  auch  das 
dazu,  daß  wir  das  Vorbild  der  Weihe  der  „Perser"  dargestellt  erkennen 
dürften.  Der  Bund  über  dem  Altar  möchte  die  Aufnahme  unter  die  36 
Xeovxec  darstellen  können,  die  von  nun  an  lueTexoviec  waren  (1317): 
das  Feuer  (der  Löwe  ist  Sinnbild  des  Feuers)  spielte  dabei  eine  Rolle 
und  Wasser  durfte  deshalb  bei  der  Weihe  nicht  angewendet  werden.^ 


>  Der  Gegenstand,  den  Mithras  in  der  Darstellung  des  Reliefs  mon.  235, 
c  5<*  in  der  Hand  hält  (nach  Cumont  une  outre  d6gonfl6e),  ist  ein  i&moc 
aöcYou  nach  dem  Pariser  Papyrus  v.  699  f.  Wessely.  Darüber  werde  ich  m 
meiner  demnächst  erscheinenden  Ausgabe  des  Papyrustextes  ausführlicher 
handeln  <Mithrasliturgie  S.  77>. 

«  Soviel  ich  sehe,  erwähnt  Cumont  gar  nicht,  was  nach  dem  Bericht  des 
Porphyrios  de  antro  nymph.  15  dem  Gebrauch  des  Honigs  zugrunde  hegt:  die 
Bienen  sind  den  Alten  (auch  den  Ägyptern)  nach  bekannter  Legende  ßourevek: 
von  besonderer  Bedeutung  für  die  Mysten  des  Mithras. 

»  Einmal  (mon.  16a)  hantiert  Mithras  mit  dem  Schwert  an  der  Hand  des 
Gegenüberstehenden:  ich  möchte  nicht  vom  Blutbund  mit  e^"«"^,^"^;^«"  ^°"^ 
reden  (I  173),  sondern  vermuten,  daß  irgendein  Mal,  eine  ccpparic  dem  Mysten 
beigebracht  wird. 


264  Die  Religion  des  Mithras 

Es  würden  sich  nun  alle  Schwierigkeiten  des  Wechsels  der  vorkommenden 
Darstellungen  überraschend  gut  erklären  lassen;  oft  finden  sich  nur 
„Anbetung",  Mahl,  Himmelfahrt:  die  drei  hauptsächlichsten  Kultweihen 
der  Perser,  Löwen,  'H\iobpö)noi.  Der  letzte  Grad  hat  dann  begreif- 
licherweise keinen  bildlichen  Ausdruck  gefunden,  bildeten  ihn  doch  oft 
wohl  eben  nur  die  „Direktoren"  des  Kults.  Oder  aber  (da  ja  nach 
gewöhnlicher  Reihenfolge  die  Löwen  vor  den  Persern  stehen)  man  hat 
das  Mahl,  zu  dem  allerdings  zuerst  die  Löwen  zugelassen  wurden,  als 
das  höchste  Sakrament  aufzufassen,  das  umgeben  wird  von  den  Dar- 
stellungen der  beiden  nächsthöhern  Weihen.  Dazu  stimmt  vortrefflich, 
daß  die  Darstellung  des  Mahles  mehrfach  am  Ende  der  Reihe  steht: 
es  ist  dann  in  jedem  Falle  das  Seligenmahl  des  zu  Mithras  eingegangenen 
Mysten. 

Ich  bin  damit  schon  auf  die  Organisation  des  Rituals,  des  Klerus 
und  der  Gläubigen  zu  sprechen  gekommen.  Von  dem  sakramentalen 
Mahl  ist  die  Rede  gewesen:  lustin  und  Tertullian  erwähnen  es  schon. 
Es  gab  auch  eine  sakramentale  Taufe  als  Aufnahmeritus.  Ein  besonderes 
Interesse  hat  die  Beobachtung  Cumonts  (1318  Anm.  11),  daß  das 
Wort  sacramentum  gerade  von  Tertullian  angewendet  wird,  wo  von 
der  Einweihung  der  milites  die  Rede  ist:  es  bedeutete  ja  längst  den 
„Eid"  der  Soldaten.  Von  Tertullian  an  hat  die  lateinische  christliche 
Terminologie  nucxripiov  durch  sacramentum  wiedergegeben.  Das  Wort 
Sakrament,  wie  wir  es  heute  brauchen,  werden  wir  in  der  Tat  der 
Soldatenreligion  des  Mithras  verdanken.  Eine  andere  Beobachtung, 
die  Cumont  gemacht  hat,  hätte  er  noch  unbedenklicher  weiterführen 
können:  der  erste  Tag  der  7tägigen  Woche  war  für  die  Mithrasdiener 
der  Tag  der  Sonne;  schon  eine  Stelle  des  Celsus  beweist  das 
(Cumont  I  118 f.).  Wann  und  wodurch  ist  im  römischen  Reiche  der 
Sonntag  der  Anfang  der  siebentägigen  Woche  geworden?  Das  Christen- 
tum durch  Konstantin,  wie  man  annimmt,  kann  es  schon  deshalb  nicht 
gewesen  sein,  weil  zwei  mit  Sol  beginnende  Wochengöttersteine  von 
durchaus  heidnischem  Gepräge  aus  vorkonstantinischer  Zeit  vorhanden 
sind  (s.  Gundermann  in  Kluges  Zeitschrift  für  deutsche  Wort- 
forschung I,  1900,  S.  180f.).  Wie  hätte  vorher  das  Christentum 
Macht  und  Möglichkeit  so  weitgreifender  allgemeiner  Änderung  haben 
sollen?  Ist  es  nur  der  theoretische  Einfluß  der  Verehrung  des  Sol 
Invictus  als  des  Reichsgottes  gewesen  (so  Gundermann),  oder  viel- 
mehr die  außerordentlich  wirksame  praktische  Einwirkung  der  zahl- 
losen Mithrasgemeinden,  die  ja  unter  den  Severen  und  namentlich 
wieder  unter  Diokletian  zugleich   die  höfische,  die  Reichsreligion  ver- 


Die  Religion  des  Mithras  265 

traten   und   mindestens   seit  der  2.  Hälfte   des   2.  Jahrhunderts  (wahr-  37 
scheinlich  schon  viel  früher)  den  Sonntag  als  den  Anfang  der  Woche 
und  den  Tag  ihres  Herrn  feierten?^ 

Wohl  das  Wichtigste,  was  wir  von  der  Organisation  des  Kultes 
wissen,  sind  die  sieben  Grade  der  Eingeweihten  und  ihre  Namen  von 
den  „Raben"  und  „Verhüllten",  die  zuerst  dem  Gotte  „dargestellt" 
werden  (ostendere  ist  der  rituelle  Ausdruck),  bis  zu  den  „Vätern". 
Eines  ist  mir  hier  in  Cumonts  Darlegungen  nicht  verständlich:  die 
Porphyriosstelle,  de  abst.  IV  16:  ujc  touc  juev  lueiexovxac  tujv  auiiuv 
öpTiojv  inOcTac  Xeovxac  KaXeTv,  idc  be  T^vaiKac  uaivac,  touc  hk  iittti- 
peioOvTac  KÖpaKac.  im  be  täv  TraTe'puuv  .  .  .  dexoi  y^P  Kai  lepaKec  oüiioi 
TTpocaTopeuovTai  ist  gewiß  verderbt.  Aber  darum,  weil  uns  i»aivac 
verdächtig  scheint  (Xeaivac  hat  man  längst  vermutet)^  und  weil  weiter- 
hin sicher  das  festzustellen  ist,  daß  vor  deioi  einige  Worte  fehlen ^ 
die  aber  den  mit  deroi  Tdp  beginnenden  Satz  ja  nicht  in  dem  Sinne 
affizieren  könnten,  den  wir  erkennen,  darum  darf  man  doch  nicht  auf 
die  wertvolle  Angabe  verzichten,  die  der,  wie  Cumont  mehrfach  be- 
tont, vorzüglich  unterrichtete  Porphyrios  uns  gibt.  Und  wenn  eine 
Inschrift  aus  Lykaonien  (Bull.  C.  Hell.  1886  p.  310,  Amer.  Papers  III 
No.  26,  Cumont  II  nr.  549) 

AJouKioc  dvecTTice  TrjXecpov  Kai  MdpKov  Kai  CeHTo[v 
Ktti]  dauTÖv  dexöv  Kai  "A|U|lioukiv  Baßöou  töv  7r[a  - 
T€pa]  deiöv  Tei|Lific  x&qiv 

die  Bezeichnung  des  deiöc  in  einer  Weise  gibt,  daß  an  ihrer  rituellen, 
der  Porphyriosstelle  entsprechenden  Bedeutung  kein  Zweifel  sein  kann 
(andere  Inschriften  eben  daher  enthalten  die  Bezeichnung  des  Xeujv), 
so  ist  doch  Erwin  Rohdes  „explication",  der  das  zuerst  konstatiert 
hat  (Psyche*  679,  Anm.  1),  nicht  bloß  „ing6nieuse",  sondern  in  der 
Tat  „certaine",  was  Cumont  nicht  gelten  lassen  will  (II  zu  Inscr. 
nr.  550).  In  Lykaonien  und  Isaurien  sei  bisher  keine  Weihung  an 
Mithras  gefunden   -   können   denn  die  Inschriften  unecht  sein?    Ich 


*  Daß   es  das  Christentum  etwa  noch  früher  tat  (Cumont  I  339,  Anm.  5), 
ändert   an   den   gegebenen   Ausführungen   nichts;   das   blieb   fürs   allgememe 

wirkungslos  ^^  haben  wir  gewiß  kein  Recht,  die  Möglichkeit  in  Abrede  zu 
stellen,  daß  in  gewissen  Kulten  bestimmter  Gegenden  Frauen  zugelassen  sem 

^^""^^Cumont  vermutet  lul  U  tOüv  uaT^pojv  Kai  xomÖTa  rieevrai  övö^aTa.  Ich 
Würde  etrlehn^en  ^.l  b^  tu,v  .«t^p^v  övÖMaxa  TOcvxai  äXXu^v  rd.u,v  (oder 
övönaci  xP^vxai  äXXwv  Zibwv). 


266  ^^®  Religion  des  Mithras 

denke,  wir  haben  festzustellen,  daß  die  Traiepec,  vielleicht  in  gewissen 
Kulten  und  gewissen  Gegenden,  auch  dexoi  oder  lepaKec  hießen,  und 
wenn  gerade  Porphyrios  und  die  asiatischen  Inschriften  uns  diese  Be- 
zeichnungen überliefern,  so  werden  wir  wahrscheinlich  die  Termini  in 
Mithraskulten  des  griechischen  Ostens  vor  uns  haben. 

Und  hier  möchte  ich  sogleich  den  Anfang  eines  Stückes  des  Pariser 
Zauberpapyrus  zufügen,  den  Wessely  in  den  Wiener  Denkschriften 
1888  veröffentlicht  hat  (s.  o.  <259»,  den  Cumont  kennt  und  prüft,  aber 
leider  sehr  mit  Unrecht  als  ziemlich  wertlos  für  die  Kenntnis  der 
Mithrasmysterien  verwirft.  Er  gibt  nur  den  Anfang  und  ein  paar  Reihen 
38  wörtlich  (II  p.  55  f.)  und  referiert  kurz  über  das  übrige.  Der  auch  bei 
Cumont  in  arger  Korruption  und  Sinnlosigkeit  gegebene  Anfang  muß 
so  heißen:  "IXaGi  juoi,  TTpövoia  Kai  TOxri»  Totbe  Tpacpovxi  id  TrpujTa 
TrapdboTtt  juucTripia.  jhövuj  be  TeKVUj  dGavaciav  dHiuj,  u)  luiJCTai  xfic 
fiiueTepac  buvdjueiuc  xauTTic^,  t^v  6  )xifac  Geöc  "HXioc  MiOpac  eKeXeucev 
)uoi  juexaboGfivai  utto  toö  dpxaTT^Xou  auroö,  öttujc  I'jOj  juövoc  airjToc 
oupavöv  ßaivuu  Kai  KaTOTrreiJUj  irdvia.  —  air|TÖc  setze  ich  mit  voller 
Zuversicht  für  das  überlieferte  airiTTic  (wofür  Wessely  bi  auific, 
Cumont  bi'  auific  eic  oupavov)  und  bin  der  Überzeugung,  daß  wir  hier 
die  Liturgie  der  „Adler",  d.  h.  des  höchsten  Grades  der  Mithrasmysten 
besitzen.  Das  muß  ich  nun  freilich  an  anderem  Orte  näher  begründen 
und  vor  allen  Dingen  den  sehr  schweren  Text  hergestellt  vorlegen.* 
Ohne  das  ist  jede  Diskussion  nutzlos.  Cumont  hat  sich  offenbar 
wesenthch  gestoßen  an  den  zahlreichen  sinnlosen,  oft  hebräisch 
klingenden  Zauberworten,  die  in  den  Text  eingeklemmt  sind.  Aber 
das  ist  nur  die  schwarze  Brühe,  die  der  Zaubermeister  über  den  ge- 
stohlenen Braten  ausgegossen  hat,  um  ihn  seinem  Gesindel  schmack- 
haft zu  machen.  Genau  so  haben  sie  die  liturgischen  Hymnen,  die 
sie  zu  Zaubergebeten  benutzten,  mit  dem  immer  gleichen  Apparat  aus 
des  Metrums  und  des  Satzes  Fugen  gesprengt:  man  hebt  sie  heraus 
und  hat  die  alten  fließenden  Verse.  Wie  heute  aus  Bibel  und  Gesang- 
buch die  Zauberer  ihre  Sprüche  machen,  so  haben  jene  Magier  aus 
den  liturgischen  Texten  der  ihnen  zugänglichen  Kulte  den  geistigen, 
den  rehgiösen  Inhalt  ihrer  Zauberaktionen  gedeckt.  Und  die  gewaltige 
kunstreiche  Sprache  jener  Liturgie,  wenn   das  Fremde   fortgeschnitten 


*  Der  Zwischensatz  nach  xaiJTric  xp-^  oöv  ce,  (b  GOyoiTep,  Xa|ußdveiv  x^XoOc 
ßoTavuJv  Kai  elbOüv  tCuv  ineXövTiuv  coi  ^v  tu)  r^Xei  toO  iepoö  luou  cuvTCXYiuaroc  ist 
ein  am  Rande  beigeschriebenes  Zauberrezept,  das  falsch  in  den  Text  geraten  ist. 

2  <S.  Eine  Mithrasliturgie,  erläutert  von  A.  D.,  Leipzig  1903,  zweite  Auf- 
lage 1910.> 


Die  Religion  des  Mithras  267 

ist,  trägt,  hoffe  ich,  den  Beweis  in  sich,  daß  diese  buntprächtige  Perle 
religiöser  Dichtung  die  Mißachtung  nicht  verdient,  die  ihr  Cumont, 
der  sie  ja  freilich  im  Kote  versunken  sah,  zuteil  werden  läßt.  Die 
Seele  steigt  dieser  Liturgie  gemäß  auf  durch  die  Planetensphäre  und 
durch  die  Fixsternsphäre  zu  Helios  und  dann  zu  Mithras.  Hier  mögen 
nur  3  Gebete  als  Probe  übersetzt  stehen.  Der  vollständige  Text 
selber  wird  erst  die  Überzeugung  begründen  können,  daß  wir  hier 
eine,  die  einzige  (im  wesentlichen)  vollständige  Liturgie  eines  antiken 
Kuhes  haben. 

Die  erste  Anrufung  lautet: 

„Erster  Ursprung  meines  Ursprungs,  Urgrund  meines  Urgrunds 
„erster,  Geist  meines  Geistes  Erstling,  Feuer,  das  zu  meiner  Mischung 
„von  den  Mischungen  in  mir  von  Gott  gegeben  ist,  des  Feuers  in 
„mir  Erstling,  Wasser  des  Wassers  in  mir  Erstling,  Erdstoff  des 
„Erdstoffes  in  mir  Erstling,  mein  vollendeter  Leib  des  N.  N.,  Sohnes 
„der  N.  N.,  fertig  gebildet  von  einem  Arme,  der  an  Ehren  reich, 
„und  einer  Rechten,  die  unvergänglich  ist,  in  lichtloser  und  durch- 
„leuchteter  Welt,  in  unbeseelter  und  beseelter.  Wenn  es  euch  denn 
„gefallen  hat,  mich  wiederzugeben  der  Geburt  der  Unsterblichkeit, 
„mich,  der  ich  gehalten  werde  durch  die  mir  gegebene  Natur,  damit 
„ich  nach  der  gegenwärtigen  und  mich  arg  bedrängenden  Not  39 
„schauen  möge  den  unsterblichen  Urgrund  mit  dem  unsterblichen 
„Geiste,  mit  dem  unsterblichen  Wasser,  mit  dem  Festen  und  der 
„Luft,  auf  daß  ich  durch  Geist  wiedergeboren  werde,  daß  ich  ge- 
„weiht  werde  und  in  mir  wehe  der  heilige  Geist,  auf  daß  ich  be- 
„wundere  das  heilige  Feuer,  auf  daß  ich  schaue  die  Tiefe,  des 
„Aufgangs  schauervolle  Flut,  und  auf  mich  hört  der  lebenzeugende 
„und  ringsumwallende  Äther;  denn  ich  soll  schauen  mit  meinen  un- 
.  „sterblichen  Augen,  sterblich  gezeugt  aus  sterblichem  Mutterleibe, 
„erhöht  von  allmächtiger  Kraft  und  unvergänglicher  Hand,  mit  un- 
„sterblichem  Geiste  den  unsterblichen  Aion  und  Herrn  der  Feuer- 
„kronen,  durch  heilige  Weihen  gereinigt,  da  unter  mir  steht  auf 
„ein  kleines  die  menschliche  Seelenkraft,  die  ich  wiedererlangen 
„werde  nach  der  gegenwärtigen  und  mich  bedrängenden  bitteren 
^Notwendigkeit  schuldentrückt,  ich  der  N.  N.,  Sohn  der  N.  N.,  nach 
„Gottes  unabänderlichem  Ratschluß,  denn  es  ist  mir  nicht  erreichbar 
„als  dem  sterblich  geborenen  mit  dem  goldnen  Flammenglanz  der 
[^unsterblichen  Leuchte  in  die  Höhe  zu  steigen.  Stehe  still,  ver- 
„gängliche  Menschennatur,  und  sogleich  laß  mich  los  nach  der  un- 
.erbittlichen  und  niederdrückenden  Not.    Denn  ich  bin  der  Sohn. 


268  D^®  Religion  des  Mithras 

Helios  wird  folgendermaßen  angerufen: 

„Herr,  sei  gegrüßt,  großmächtiger,  hochgewaltiger  König,  größter 
„der  Götter,  Helios,  Herr  des  Himmels  und  der  Erde,  Gott  der 
„Götter,  mächtig  ist  dein  Hauch,  mächtig  ist  deine  Kraft,  Herr, 
„wenn  es  dir  gefällt,  melde  mich  dem  höchsten  Gotte,  der  dich  er- 
„zeugt  hat  und  gemacht;  ein  Mensch,  ich  der  N.  N.,  Sohn  der 
„N.  N.,  geworden  aus  sterblichem  Mutterleibe  der  N.  N.  und  dem 
„Lebenssafte  des  Samens,  der  heute  von  dir  neugezeugt  aus  so 
„vielen  Tausenden  zur  Unsterblichkeit  berufen  ist  in  dieser 
„Stunde  nach  dem  Ratschluß  des  überschwänglich  guten  Gottes, 
„strebt  und  verlangt  dich  anzubeten  nach  all  seiner  menschlichen 
„Kraft." 
Das  letzte  Gebet  an  Mithras  lautet  so: 

„Herr  sei  gegrüßt,  Herrscher  des  Wassers;  sei  gegrüßt,  Be- 
„gründer  der  Erde;  sei  gegrüßt,  Gewalthaber  des  Geistes.  Herr, 
„wieder  geboren  verscheide  ich,  indem  ich  erhöhet  werde,  und  da 
„ich  erhöhet  bin,  sterbe  ich;  durch  die  Geburt,  die  das  Leben  zeugt, 
„geboren,  werde  ich  in  den  Tod  erlöst  und  gehe  den  Weg,  wie  du 
„gestiftet  hast,  wie  du  zum  Gesetze  gemacht  und  geschaffen  hast 
„das  Sakrament." 

Die  Analogien  mit  der  altchristlichen  Taufliturgie  und  überhaupt 
der  liturgischen  Bildersprache  des  alten  Christentums  sind  frappant. 
Die  Erleuchtung,  die  Wiedergeburt  und  die  Gotteskindschaft  sind 
auch  hier  die  sakramentalen  Bilder,  die  überall  wiederkehren.  Hier 
wird  sich  auch  der  Zusammenhang  der  späteren  Mithraslehren  mit 
platonischen,  besonders  auch  stoischen  Gedanken  deutlich  erkennen 
lassen,  den  Cumont  mit  Recht  mehrfach  betont  hat.  Doch  genug 
hiervon. 

Es  wäre  noch  so  vieles  zu  berichten,  was  wir  nun  durch  Cumoat 
klar  zu  übersehen  imstande  sind,  und  ich  habe  von  der  Einrichtung 
40  der  Grotten,  von  den  jetzt  erst  recht  verständlichen  Bildern  des  großen 
Aion  oder  Kronos,  des  Zeitengottes,  von  den  Zodiakal-  und  Planeten- 
bildern, ihrem  Dienste  und  ihrer  Deutung,  von  Helios,  Selene,  den 
Winden  und  ihrer  besonderen  Rolle  und  von  vielem  anderen  gar  nicht 
gesprochen.  Es  ist  nicht  möglich,  den  Reichtum  dieser  Dinge  auf 
wenigen  Blättern  zu  verzeichnen.  So  mögen  denn  nur  noch  einige 
Worte  dem  Kampfe  und  dem  Untergang  der  Mithrasreligion  ge- 
widmet sein. 

In  Rom  stieß  Mithras  zuerst  ernstlich  mit  anderen  Göttern  zusammen. 
Dort   war   die   große  Garnison,   die  Mengen   der  Veteranen,   die  un- 


Die  Religion  des  Mithras  269 

geheuren  Massen  der  orientalischen  Sklaven  in  den  Palästen  der 
Reichen  und  Vornehmen.  In  dieser  großen  Weltherberge  kam  alles 
zusammen;  mancher  Sklave  mag  anfangs  seinen  Herrn  zum  Mithras- 
diener  gemacht  haben:  schließlich  waren  die  Herren,  die  Aristokraten, 
diejenigen,  die  am  zähesten  am  Mithrasdienst  festhielten.  Dreißig 
Mithräen  lassen  sich  in  der  Umgegend  Roms  nachweisen:  unter  dem 
Kapitol  und  da,  wo  heute  der  Vatikan  steht,  waren  Mithrasheiligtümer. 
Dort  vor  allem  haben  Christus  und  Mithras  um  die  Weltherrschaft  ge- 
kämpft. Beide  Kulte  beginnen  weiter  über  die  Länder  zu  greifen  im 
1.  Jahrhundert,  in  der  Zeit  der  Flavier,  beide  dringen  zu  den  Hoch- 
stehenden und  Gebildeten,  beide  werden  literarisch  im  2.  Jahrhundert: 
Mithras  scheint  zu  siegen  im  3.  Jahrhundert,  er  ist  bis  zur  Vernichtung 
besiegt  am  Ende  des  4. 

Die  Christenverfolgung  des  Diokletian  führt,  vielleicht  nicht  unrichtig, 
eine  Überlieferung  auf  die  Einwirkung  der  Mithraspriester  zurück;  nach 
Konstantin  beginnt  die  Zerstörung  der  Mithrasheiligtümer,  die  Mithras- 
verfolgung.  Firmicus  Maternus  ruft  Konstantins  Nachfolger  in  glühen- 
dem Fanatismus  auf,  die  Tempel  des  Mithras  auszurotten.  Aber  es 
kommt  lulian.  Er  war  ein  begeisterter  Mithrasverehrer,  Mithras -Helios 
war  sein  Hauptgott.  Und  die  Mithrasdiener  kämpfen  wieder  kräftig 
für  ihren  Glauben.  Im  Jahre  361,  am  24.  Dezember,  dem  Vor- 
abend des  großen  Mithrasfestes,  wollte  in  Alexandria  der  Patriarch 
Georgios  ein  Mithrasheiligtum  zerstören,  um  an  seiner  Stätte  eine 
christliche  Kirche  zu  erbauen.  Die  Behörden  setzen  ihn  fest,  die 
wütende  Menge  reißt  ihn  aus  dem  Gefängnis  und  lyncht  ihn  auf 
offener  Straße. 

Ein  anderes  Bild:  im  Jahre  377  weiß  der  Präfekt  Gracchus  in  Rom, 
der  sich  taufen  lassen  will,  kein  besseres  Mittel,  sich  oben  angenehm 
zu  machen,  als  das,  daß  er  eine  Mithrasgrotte  mit  allen  Statuen  und 
all  ihrem  Inhalt  bis  auf  den  letzten  Rest  vernichtet. 

Die  letzten,  die  sich  energisch  als  Mithrasdiener  behaupteten,  waren 
die  römischen  Aristokraten.  Noch  392  wurde  durch  Nicomachus 
Flavianus  -  es  war  die  kurze  Zeit  der  Usurpation  des  Eugenius  - 
eine  große  nicht  geheime  Mithrasfeier  veranstaltet.  Es  war  die  letzte. 
Im  Jahre  394  bleibt  Theodosius,  der  fanatische  Christ,  Sieger,  nur  in 
einigen  Winkeln  bleibt  Mithras  gerettet.  Als  die  Grenzländer  verloren 
gehen,  in  denen  er  besonderen  Halt  hatte,  da  ist  es  um  sein  Leben 
geschehen.  Saarburg  in  Lothringen  mag  eins  der  letzten  seiner  Heilig- 
tümer gewesen  sein,  dessen  grausame  Zerstörung,  die  etwa  395  geschah, 
noch  unsere  Augen  sehen  können. 


270  ^^®  Religion  des  Mithras 

Mithras   war  tot.     Aber   die  Gedanken  seiner  Religion  waren  nicht 

41  tot;  der  Manichäismus  hat  viele  aufgenommen  und  sie  noch  einmal  mit 

ungeheurer  Kraft   in   die  Welt   getragen:   viel  Blut   ist  geflossen   zum 

Zeugnis,  daß  immer  noch  mit  den  Gedanken  gekämpft  wurde,  die  das 

römische  Weltreich  fast  erobert  hätten. 

Was  das  Christentum  von  dem  vernichteten  Mithraskult  übernommen 
und  umgebildet  hat,  wer  will  es  sagen?  Die  Hauptlehren,  die  im 
Christentum  ihre  Kraft  an  den  Menschen  bewährt  haben:  von  der  Er- 
lösung durch  das  Blut  Christi,  von  der  Auferstehung  des  Fleisches 
und  dem  ewigen  Leben,  die  sakramentale  Taufe  und  das  sakramentale 
Mahl  und  so  manches  andere  -  einiges  ist  oben  angedeutet  worden 
-  haben  analoge  Lehren  und  Riten  in  der  Mithrasreligion.  Der 
Ingrimm  der  alten  Kirchenschriftsteller,  wenn  sie  von  der  teuflischen 
Nachäffung  christlicher  Bräuche  durch  die  Mithrasleute  reden,  ist  sehr 
bedeutsam.     Der  Gegner  war  sehr  gefährlich. 

Wodurch  hat  das  Christentum  über  den  Mithraskult  gesiegt?  Die 
Frage  ist  viel  zu  schwer,  als  daß  sie  beantwortet  werden  könnte. 
Und  der  Historiker,  der  menschlich  redet,  kann  ja  in  gewissem  Sinne 
nur  äußere  Gründe  anführen.  Cumont  tiat  mit  feinem  Sinne  mehrere 
hervorgehoben.  Der  Mithraskult  hat  paktiert  mit  allen  poljrtheistischen 
Religionen;  er  war  durchaus  transigent,  nach  allen  Seiten  konnte  er 
Verbindungen  schließen  und  Austausch  halten.  Das  Christentum  war 
immer  intransigent;  und  wenn  man  aus  der  Geschichte  Lehren  dieser 
Art  entnehmen  kann,  so  mag  man  sagen:  das  Intransigente  ist  immer 
das  Stärkere,  dem  von  vornherein  der  Sieg  wahrscheinlich  ist. 

Im  Mithraskult  haben  ferner  die  Frauen  keine  Rolle  gespielt.  Das 
mag  zusammenhängen  mit  der  soldatischen  Verbreitung  des  Kultes. 
Wer  es  weiß,  welche  Rolle  die  Frauen  in  der  Entwicklung  des 
Christentums  und  überhaupt  in  der  Verbreitung  neuer  Religionen  ge- 
spielt, wird  das  nicht  für  einen  kleinen  Unterschied  halten. 

Aber  ich  möchte  eins  noch  andeuten.  Hinter  dem  Christentum 
standen  Moses  und  die  Propheten,  die  Psalmen  usw.,  eine  ältere 
überall  wirksame  religiöse  Literatur:  hinter  Mithras  stand  nicht  einmal 
der  Avesta.  Aber  weiter:  ich  erinnerte  bereits  daran,  daß  das 
Christentum  das  griechische  Asien  und  Griechenland  erobert,  Mithras 
aber  dort  wenig  Ausbreitung  gefunden  hatte.  Dort  hat  das  Christen- 
tum die  Formen  hellenischen  Geistes  erworben  und  gewonnen  und  so 
hat  in  gewissem  Sinne  das  Hellenentum  für  das  Christentum  gekämpft. 
Nicht  bloß  Moses  und  die  Propheten,  auch  Piaton  und  die  Stoiker 
haben  ihm  den  Sieg  gewinnen  helfen.    Das  ist  schon  eher  ein  innerer 


Die  Religion  des  Mithras  271 

Grund   des  Sieges.     Von  seinen  innersten  Gründen  soll  hier  natürlich 
nicht  die  Rede  sein. 

Es  war  der  schwerste  Kampf  des  Christentums,  der  Kampf  mit 
Mithras,  und  es  war  der  größte  Sieg,  den  es  erfochten  hat,  der  Sieg 
über  Mithras.  Wenn  wir  die  zerschlagenen  Denkmäler  der  Mithräen 
an  so  vielen  Orten  unserer  deutschen  Lande  sehen,  so  sehen  wir 
darin  ebensoviel  Denkmäler  jenes  Kampfes  und  Sieges.  Wenn  wir 
die  Geschichte  von  den  Weisen  aus  dem  Morgenlande  wieder  hören 
und  lesen,  so  wissen  wir,  was  es  der  alten  Kirche  bedeutete,  daß 
sich  die  Diener  des  Mithras  beugten  vor  dem  neugeborenen  Kinde 
von  Bethlehem. 


XVIII 
DIE  WEISEN  AUS  DEM  MORGENLANDE^ 

EIN  VERSUCH 

Die  Geschichte  von  den  Magiern,  die  aus  dem 
Morgenlande  kamen  das  Jesuskind  in  Bethlehem 
anzubeten,  wird  nur  im  zweiten  Kapitel  des 
Matthäusevangeliums  erzählt.  Wir  wissen  alle,  wie 
so  seltsam  und  so  unvermittelt  dort  nach  dem 
Bericht  von  der  Geburt  Jesu  die  Geschichte  an- 
hebt (II,  Iff.):  ToO  be  Mticoö  TevvnOevToc  €v  BeGXeeiLi 
TTJc  Noubaiac  h  fiiuepaic  'Hpiubou  toO  ßaciXeiuc, 
ibou,  ludTOi  dTTo  dvaxoXojv  TrapeTevovxo  eic  'lepocöXu)Lia.  Die  Er- 
zählung ist  in  der  Form,  wie  wir  sie  lesen,  verschränkt  mit  der 
Erzählung  von  des  Herodes  Kindermord.  Zu  dem  Mordbefehl  wird 
dem  König  der  Anstoß  dadurch  gegeben,  daß  er  von  den  Magiern 
hört,  es  sei  ein  neuer  König  der  Juden  geboren  und  sein  Stern  sei 
ihnen  erschienen.  Er  forscht  seine  Schriftgelehrten  aus  und  weist 
auf  deren  Rat  die  Magier  nach  Bethlehem.  Er  weiß,  scheint  es, 
nicht  zu  erfahren,  wen  sie  gefunden  und  so  reich  beschenkt  haben. 
Denn  da  sie  nicht  zu  ihm  zurückkehren  auf  des  Engels  Mahnung,  die 
so  oft  in  diesen  ersten  Matthäusgeschichten  die  Handlung  vorwärts 
führt,  gibt  er  den  bekannten  Blutbefehl.  Die  beiden  Erzählungen  sind 
durch  ihre  Verklammerung  in  mehrfachem  Betracht  in  ihrem  natürlichen 
Fortgange  und  in  ihrer  Wahrscheinlichkeit  gestört,  ja  zerstört  worden. 
Ohne  daß  ich  auf  einzelnes  hinweise,  wird  das  eine  ohne  weiteres 
einleuchten,  daß  doch  wohl  der  natürliche  Gang  des  Zuges  der  Magier 
der  ist,  daß  sie  der  Stern  führt,  bis  er  über  dem  Hause  steht,  in  dem 
das  Kindlein  ist,  nicht  aber  in  Jerusalem  sein  Scheinen  sistiert,  um 
nach  der  Herodesepisode  plötzlich  wieder  sichtbar  zu  sein.  Die  wunder- 
bare Leitung  des  Sterns,  auf  die  es  ja  gerade  ankommt,  wird  eben 
nur  darum  so  eigentümlich  unterbrochen,  damit  die  Fremden  Mitteilung 
2  und  Frage  an  Herodes  richten  können.  Andererseits  ist  die  Herodes- 
geschichte  nur  so  natürlich  und  ursprünglich,  wenn  irgend  ein  Wunder- 
zeichen zur  Befragung  der  Schriftgelehrten  und  zu  ihrer  Auskunft  an 


'  <Zeitschr.  für  die  neutest.  Wissensch.  III  1902  S.  lff.> 


Die  Weisen  aus  dem  Morgenlande  273 

Herodes  führt  und  daraufhin  der  Mordbefehl  erlassen  wird.  Die  so 
äußerliche  und  ungeschickte  Verknüpfung  beider  Erzählungen  hat  zu 
lauter  Unwahrscheinlichkeiten,  ja  Unmöglichkeiten  geführt,  die  schon 
D.  Fr.  Strauß  mit  zum  Teil  ganz  unwiderleglichen  Gründen  dargetan 
hat.  Aber  er  scheidet  nicht,  wie  wir  es  müssen,  die  beiden  in  sich 
organischen  Geschichten.  Gegen  deren  historische  Möglichkeit  des 
weitern  zu  Felde  zu  ziehen,  können  wir  uns  heute  füglich  erlassen. 
Wir  sehen  zwei  unterschiedliche  von  Anfang  selbständige  Sagengebilde 
vor  uns,  deren  Ursprung  keine  „Fälschung"  oder  „Erfindung"  gewesen 
ist,  sondern  die  unmittelbar  schaffende,  uralten  und  alten  und  neuen 
Motiven  nachschaffende  gläubige  Phantasie  der  erregten  Christenseelen 
der  ersten  Zeiten,  die  ihre  heiligen  Geschichten  immer  wieder  und 
wieder  im  Innersten  lebendig  erschauen  und  das  Geschaute  hin  und 
her  berichten  und  sich  berichten  lassen.  Ich  will  hier  nicht  darzulegen 
suchen,  wie  heilige  Sage  und  Legende  entsteht;  wie  die  von  den 
Weisen  aus  dem  Morgenlande  entstanden  ist,  möchte  ich  durch  einige 
Anhaltspunkte,  die  mir  wichtig  erscheinen,  erkennen  helfen. 

I 
Zuvor  sei  noch  eine  Bemerkung  über  des  Herodes  Kindermord  ein- 
geschaltet. Es  ist  bereits  früher  (von  Usener  Religionsgesch.  Unters,  78 
und  schon  von  Strauß  LJ.  l\  276)  auf  die  merkwürdige  Erzählung  des 
Sueton  in  der  Biographie  des  Augustus  (c.  94)  hingewiesen,  die  dort 
auf  einen  lulius  Marathus  zurückgeführt  wird:  auctor  est  Julius  Marathus, 
ante  paucos  quam  nasceretur  menses  prodigium  Romae  factum  publice, 
quo  denuntiabatur  regem  P.  R.  naturam  parturire,  senatum  exterritum 
censuisse,  ne  quis  illo  anno  genitus  educaretur.  eos  qui  gravidas  uxores 
haberent,  quod  ad  se  quisque  spem  traheret,  curasse  ne  senatus  con- 
sultum  ad  aerarium  deferretur.  Das  Urteil,  daß  der  Urheber  dieser 
Erzählung  jedenfalls  den  bethlehemitischen  Kindermord  in  älterer  Auf- 
lage zu  verwerten  gewußt  habe,  nur  notdürftig  für  römische  Verhält- 
nisse zurechtgestutzt  (Usener  a.  a.  0.),  bestätigt  unsere  oben  gegebene 
Auffassung  einer  älteren  selbständigen  Fassung  der  Kindermorderzählung: 
das  Prodigium  und  seine  Deutung  bewirkt  in  der  römischen  nach- 
gebildeten Legende  allein  die  Absicht  des  Beschlusses.  Ich  füge  eine 
noch  seltsamere  Parallele  hinzu.  Im  Leben  des  Nero  (c.  36)  erzählt 
Sueton  vom  Erscheinen  eines  Kometen  Stella  crinita,  quae  summis 
potestatibus  exitium  portendere  vulgo  putatur,  per  continuas  3 
noctes  oriri  coeperat.  Anxius  ea  re,  ut  ex  Balbillo  astrologo 
didicit,  solere  reges  talia  ostenta  caede  aliqua  illustri  ex- 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  18 


274  ^^®  Weisen  aus  dem  Morgenlande 

piare  ...  es  wird  dann  beschrieben,  wie  Nero  eine  Anzahl  Vornehme 
als  der  Verschwörung  verdächtig  hinrichten  läßt  und  zugefügt:  dam- 
natorum  liberi  urbe  pulsi  enectique  veneno  aut  fame;  constat 
quosdam  cum  paedagogis  et  capsaris  uno  prandio  pariter  necatos, 
alios  diurnum  victum  prohibitos  quaerere.  Auch  diese  Erzählung  soll 
uns  nichts  anderes  lehren  als  dies:  die  Sternerscheinung,  die  Erkundung 
bei  den  Kundigen  und  deren  Auskunft  sind  die  festen  Vorstufen  des 
Mordbefehls,  merkwürdigerweise  auch  bei  der  Neroerzählung  (die 
legendenhaft  mindestens  ausgeschmückt  ist)  eines  Kindermords.  Weder 
soll  hier  dem  nachgegangen  werden,  wie  weit  etwa  das  Bild  und  die 
Taten  Neros  einwirken  konnten  auf  die  Auffassung  und  die  Erzählungen 
von  Herodes,  noch  soll  die  Entstehung  der  Legende  von  Herodes 
Kindermord  durch  weitere  Analogien  ihres  Motivs  in  ihrem  Ursprung 
untersucht  werden  (Analogien  aus  der  griechischen  Sage  bei  Usener 
a.  a.  0.  77,  die  Analogie  von  Exod.  1.  2  und  namentlich  die  Wendung 
der  Geschichte,  die  ihr  Josephus  Antiqu.  II,  9,  2  gibt,  von  Strauß  be- 
sprochen LJ,  \\  277).  - 

Was  von  dem  Zuge  der  Weisen  aus  dem  Morgenlande  unter  den 
Christen  verbreitet  wurde,  ehe  es  durch  Einsetzung  in  die  Evangelien- 
berichte und  durch  Verknüpfung  mit  anderen  Erzählungen  affiziert 
worden  ist,  war  etwa  dieses  (es  kommt  natürlich  nicht  auf  einzelne 
Worte,  nur  auf  den  Gang  der  Handlung  an):  Als  Jesus  geboren  war, 
siehe  da  erschienen  Magier  vom  Morgenland;  sie  hatten  seinen  Stern 
gesehen  im  Osten  und  waren  ausgezogen,  den  neugeborenen  König 
anzubeten.  Und  siehe  der  Stern  zog  vor  ihnen  her,  bis  er  dahin 
kam,  wo  das  Kind  war:  da  stand  er  stille.  Und  sie  traten  in  das  Haus 
und  sahen  das  Kind  mit  seiner  Mutter  Maria,  fielen  nieder  und  beteten 
es  an,  öffneten  ihre  Schätze  und  schenkten  ihm  Gold,  Weihrauch  und 
Myrrhe.  Und  als  sie  das  getan  hatten,  kehrten  sie  wieder  heim  in 
ihr  Land. 

Wie  hat  sich  eine  so  überaus  merkwürdige  Legende  gebildet?  Nur 
für  den  natürlich  gilt  ein  Versuch  der  Antwort,  der  sich  eine  solche 
Frage  überhaupt  stellt.  Mit  der  ganzen  übrigen  heiligen  Geschichte  ist 
nicht  der  geringste  Zusammenhang  vorhanden.  Wie  kommt  diese  Er- 
zählung von  der  sonderbaren  Reise  der  Magier  unter  die  Vorgeschichten 
des  Matthäusevangeliums  und  nur  dieses  einen  Evangeliums?  Dürfen 
wir  so  heute  noch  fragen  und  Antwort  erhoffen? 

Schon  den   alten   Kirchenvätern   machte   die  Erzählung  besondere 

4  Schwierigkeiten,  die  ja  gerade  die  von  ihnen  bekämpfte  Astrologie  zu 

sanktionieren   schien.     Aber  sie   halfen   sich:   das  war  das  Ende  aller 


Die  Weisen  aus  dem  Morg-enlande  275 

Magie  durch  diesen  von  Gott  einmal  besonders  geschaffenen  Stern. 
Ihnen  war  ^dToi  ein  geläufiger  Ausdruck.  Hätte  es  auch  in  jener  Zeit 
schon  „Zauberer"  im  niedrigen  Sinne  bedeuten  können,  so  waren  hcitoi 
IH  dvaxoXujv  die  Priester  des  persischen  Gottesdienstes,  und  wenn  sie 
als  Sternkundige  eingeführt  werden,  so  waren  es  erst  recht  augen- 
scheinlich die  chaldäischen  oder  persischen  Magier.  So  sagen  denn 
auch  fast  alle  alten  kirchlichen  Schriftsteller  (z.  B.Orig.  c.  CA,  57,  Clem. 
AI.  Strom.  I,  15,  71,  so  Basilius,  Chrysostomus,  auch  die  syrische  Tra- 
dition, Stellen  bei  de  Waal  in  F.  X.  Kraus  Realenc.  d.  christl.  Altert  348 
und  die  Zusammenstellungen  bei  Oscar  Schade  Liber  de  infantia  Mariae 
et  Christi  Salvatoris,  Halle  1869,  Anm.  206).  Deutlicher  noch  wird, 
was  sich  die  alten  Christen  unter  den  |udT0i  eH  dvaioXujv  vorstellten, 
durch  die  erhaltenen  Denkmäler.  Kaum  eine  andere  Szene  der  evan- 
gelischen Geschichte  ist  früher  und  häufiger  in  der  altchristlichen  Kunst 
dargestellt  als  die  der  Anbetung  der  Weisen  aus  dem  Morgenlande. 
War  es  nur  darum,  um  gerade  durch  diese  Szene  die  Weltbedeutung 
des  Kindes  von  Bethlehem  zur  Anschauung  zu  bringen?  Als  sie  diese 
Gruppe  zuerst  ausgestalteten,  müssen  sie  noch  ein  ganz  besonderes 
Interesse  an  ihr  gehabt  haben.  Und  die  Tracht,  vor  allem  der  Pilleus 
auf  dem  Kopfe,  die  Hosen,  oft  Armelchiton  und  Mantel  zeigen  uns, 
daß  man  Perser  darstellen,  ja,  daß  man  im  speziellen  Priester  des 
Mithras  erkennen  lassen  wollte,  wie  sie  das  göttliche  Kind  Jesus  an- 
beten.^ De  Waal  schließt  seine  Angaben  über  die  Tracht  der  Magier 
(a.  a.  0.)  mit  dem  Satze:  „in  derselben  Weise  haben  die  heidnischen 
Künstler  die  Mithraspriester  dargestellt",  und  Cumont  Textes  et 
monuments  figures  relatifs  aux  mysteres  de  Mithra,  I,  42  stellt  mit 
Recht  fest:  suivant  Vopinion  la  plus  accreditee,  les  mages  etaient  venus 
de  la  Perse,  et  dans  la  sculpture  chretienne  ils  portent  encore  rägu-  5 
Mrement  le  costume  qui  auparavant  avait  ete  pritä  ä  Mithra.    Die- 


*  Genügende  Angaben  findet  man  z.  B.  bei  Detzel  Christliche  Ikonographie, 
I,  204 ff.;  Hennecke,  Altchristi.  Malerei  und  altchristl.  Literatur,  228 ff.  Die 
Schwierigkeit  der  Datierung  der  Katakombenmalereien  ist  bekannt.  Daß  die 
frühesten  Denkmäler  der  Magier  „Perser"  und  nach  oben  gegebener  Auf- 
fassung Mithrasdiener  darstellen,  ist  unabhängig  von  Einzelfragen  der  Datierung. 
S.  die  Statistik  bei  Liell,  Darstellungen  der  allersel.  Jungfrau  und  Gottesgebärerin 
Maria  auf  den  Kunstdenkmälem  der  Katakomben  S.  224ff.  (12  Coemeterial- 
gemälde,  50  Skulpturwerke),  ferner  die  Listen  bei  Duchesne  et  Bayet,  Mäm.  sur 
une  mission  au  mont  Athos,  p.  284ff.,  G.  Millet,  Mosaique  de  Daphni,  Monu- 
ments Piot,  t.  II,  p.  198.  -  Die  wichtige  Bronzeplaquette  (4.  Jh.?),  die  S.  1  <272> 
in  natürlicher  Größe  nach  einer  Photographie  reproduziert  ist,  die  ich  den  Be- 
mühungen Dr.  L.  Deubners  verdanke,  befindet  sich  im  christlichen  Museum  des 
Vatikan  (bisher  nach  Zeichnungen  mangelhaft  publiziert,  Liell  a.  a.  O.  S.  287). 

18* 


276  ^^®  Weisen  aus  dem  Morgenlande 

jenigen  im  Altertum,  die  so  gut  die  Mithrasdenkmäler  kannten  mit  ihren 
Darstellungen  des  Gottes  -  und  das  waren  ja  bis  zum  Ende  des 
4.  Jahrhunderts  in  vielen  Gegenden  fast  alle  -,  sie  konnten  gar  nicht 
anders  als  in  diesen  Gestalten  Darstellungen  des  Mithras  und  seiner 
Priester  sehen.  Man  vermag  sich  vorstellig  zu  machen,  welche  Be- 
deutung es  haben  mochte  für  die  alten  Christen  in  dem  härtesten 
Kampfe,  den  sie  je  zu  bestehen  hatten,  daß  hier  die  Diener  des  Mithras 
sich  beugten  vor  dem  neugeborenen  wahren  Gotte,  vor  dem  göttlichen 
Kinde.  Man  weiß  von  mancherlei  Versuchen,  die  persische  Religion 
in  Beziehung  zu  setzen  zur  christlichen:  jene  hatte,  so  wollte  man 
glauben  machen,  den  wahren  Heiland  geahnt  und  geweissagt,  und  ge- 
rade auch  an  das  Matthäuskapitel  hat  sich  wieder  mancher  Versuch 
angeschlossen,  die  Beziehung  zwischen  der  Religion  der  )udToi  Persiens 
und  dem  neuen  Evangelium  nachzuweisen  und  auszuerzählen  (s.  Ernst 
Kuhn,  Eine  zoroastrische  Prophezeiung  in  christlichem  Gewände  im 
Festgruß  an  Rudolf  von  Roth  21 7  ff.).  Das  merkwürdigste  Zeugnis  ist 
die  erhaltene  Erzählung  von  dem  Gespräch  am  Hofe  des  Perserkönigs 
(Bratke,  Das  sogenannte  Religionsgespräch  am  Hofe  der  Sasaniden, 
Texte  und  Unters,  hrsgg.  von  v.  Gebhardt  u.  Harnack,  IV,  3,  s.  nament- 
lich im  Texte  S.  15,  21  ff.,  die  Perser  in  dem  Gespräch  sind  Mithras- 
diener  s.  28,  11  u.  sonst).  Die  Hauptsache  ist,  wie  unter  den  Göttern 
dort  im  Tempel  des  Großkönigs  der  neue  Messias  durch  Zeichen  ver- 
kündet wird,  wie  sie  alle  Christus  als  ihren  Herren  grüßen.  Ich  ver- 
weise auf  die  Ausführungen  Cumonts  (I,  427)  über  die  Zeugnisse 
solcher  erstrebten  Beziehungen  und  ich  kann  mich  auch  dafür  auf  ihn 
berufen,  daß  der  persische  Kult  hier  überall  für  die  Christen  der 
griechisch-römischen  Welt  der  Mithrasdienst  war.  Diese  Christen  haben 
auch  in  dem  Texte  der  Magiergeschichte  ohne  weiteres  in  den  ilkxtoi 
eH  dvaroXaiv,  die  dem  Stern  nachziehen,  Mithrasdiener  bezeichnet 
gefunden. 

Aber  das  erklärt  die  Entstehung  der  für  uns  immer  noch  ebenso 
seltsamen  Erzählung  keineswegs.  Wie  kommt  man  auf  das  Motiv  der 
Reise  der  Mithrasdiener  nach  Westen  zur  Anbetung  eines  neuen  Königs? 
Es  gilt,  die  einzelnen  bei  der  Bildung  der  Sage  wirkenden  Motive  aus 
der  vorliegenden  Komposition  der  Erzählung  auszulösen,  wenn  es 
möglich  ist. 

II 

Am  deutlichsten  hebt  sich  heraus  das  Motiv  der  Sternerscheinung 
und  deren  Deutung.  Es  ist  geläufige  antike  Anschauung,  daß  mit  der 
Geburt  eines  Menschen  ein  Stern  aufgeht,  der  ihn  durchs  Leben  be- 


Die  Weisen  aus  dem  Morgenlande  277 

gleitet,  ein  um  so  hellerer  Stern,  je  bedeutender  in  der  Welt  der  6 
Neugeborene  sein  wird.  Als  bekannte  Theorie  angeführt  finden  wir 
das  bei  Plinius  in  der  Naturgeschichte  (II,  28)  sidera,  quae  adfixa 
diximus  mundo,  non  illa  ut  exishimat  volgus,  singulis  attributa  nobis 
et  Clara  divitibus,  minor a  pauperibus,  obscura  defectis  ac  pro  sorte 
cuiusque  lucentia  adnumerata  mortälibus,  nee  cum  suo  quaeque  ho- 
mine  orta  moriuntur  nee  aliquem  exstingui  decidua  significant  (s.  Usener 
a.  a.  0.  76). 

Daß  Flammenglanz,  wenn  auch  nicht  gerade  ein  Stern,  ein  Menschen- 
kind als  Kind  eines  Gottes  und  als  ein  Heil  den  Sterblichen  anzeigt, 
ist  ein  gar  nicht  selten  wiederkehrender  Zug  in  antiken  Legenden. 
Bekannt  sind  die  Lichterscheinungen  etwa  um  das  Haupt  des  Servius 
Tullius  (Ovid  Fast.  VI,  635 f.)  oder  des  lulus  (Vergil  Aen.  II,  682f.). 
Dergleichen  gehört  z.  T.  in  einen  anderen  Zusammenhang,  den  ich 
früher  Nekyia  39 ff.  verfolgt  habe  (vgl.  L.  Deubner  De  incubatione  10 f.); 
aber  nicht  bloß  des  prophetischen  Glanzes  wegen,  von  dem  auch  sie 
berichtet,  hat  eine  Geschichte  für  uns  Interesse,  die  bei  Pausanias  zu 
lesen  steht  (II,  26,  5).  Die  Tochter  des  Phlegyas  hat  ihr  Kind  von 
ApoUon  ausgesetzt,  eine  Ziege  nährt  es,  ein  Hirtenhund  bewacht  es. 
Aresthanas  der  Hirt  vermißt  Ziege  und  Hund  und  sucht  sie  überall. 
Da  er  das  Kind  findet,  verlangt  ihn  es  aufzunehmen  Kai  ibc  Itt^jc 
^YeveTO,  dcTpaTrf)V  eibev  dxXdiuniacav  olttö  toO  Traiböc,  vo|LiicavTa 
hk  elvai  eeiöv  xi,  ujcirep  nv,  dTTOTpaTreceai.  6  be  auriKa  in\  Tnv  Kai 
edXaccav  Tidcav  i^tt^XX^to  xd  re  dXXa  örroca  ßoOXoiro  eupi- 
CK€iv  inx  ToTc  Kd|uvouci  Kaiöii  dvicxTici  T68v€U)Tac.  Der  Licht- 
glanz um  das  neugeborene  Kind  erscheint  dem  Hirten  und  nun  wird 
über  alles  Land  und  Meer  verkündet  von  dem  antiken  Heiland  Askle- 
pios,  daß  er  allen  Kranken  Heilung  bringen  wird  und  daß  die  Toten 
auferstehen  sollen. 

Es  gibt  eine  Anzahl  von  festen  sich  immer  wieder  unmittelbar  ein- 
stellenden mythischen  Motiven,  die  das  Leben  der  hervorragendsten 
Männer  im  Altertum  sagenhaft  umgeben,  der  neuen  Herrscher  großer 
Reiche,  der  Erretter  der  Völker.  Namentlich  um  Alexander  den  Großen, 
Caesar,  Augustus  rankt  sich  die  Sage  in  vielfach  gleichen  Formen,  wie 
man  denn  -  um  nur  ein  Beispiel  zu  geben  -  von  ihrer  Zeugung 
durch  einen  Gott  mit  der  irdischen  Mutter  erzählt  oder  von  der  Ver- 
dunkelung der  Sonne  bei  ihrem  Tode  (s.  Usener  Rhein.  Mus.  LV,  27 f.); 
und  vielfach  sind  die  gleichen  Motive  lebendig,  wenn  von  den  großen 
Propheten  und  Priestern,  die  der  Menschheit  Heil  gebracht,  berichtet 
wird,  von  Pythagoras  oder  Piaton,  ja  sie  übertragen  sich  fast  unbewußt 


278  ^'®  Weisen  aus  dem  Morgenlande 

7  auch  auf  Geringere  wie  etwa  Karneades  oder  Proklos.  Was  das  Stern- 
motiv angeht,  so  heißt  es  z.  B.  von  Mithradates  VI.,  dem  Großen,  bei 
lustinus  (XXXVII,  2):  nam  et  quo  genitus  est  anno  et  eo  quo  regnare 
primum  coepit,  Stella  cometes  per  utrumque  tempus  septuaginta  diebus 
ita  luxit,  ut  caelum  omne  conflagrare  videretur.  Nam  et  magnitudine 
sui  quartam  partem  caeli  occupaverat  et  fulgore  sui  solis  nitorem 
vicerat;  et  cum  oriretur  occumberetque ,  quattuor  spatium  horarum 
consumebat.  Nicht  um  einen  Stern,  aber  doch  um  die  Erkenntnis  und 
Vorausverkündigung  der  Geburt  eines  Weltherrschers  durch  die  Magier 
aus  einem  leuchtenden  Wunderzeichen  handelt  es  sich  in  der  Tradition, 
auf  die  Cicero  de  divinatione  I,  47  anspielt:  qua  nocte  templum  Ephe- 
siae  Dianae  deflagravit,  eadem  constat  ex  Olympiade  natum  esse 
Alexandrum,  atque  ubi  lucer e  coepisset,  clamitasse  magos  pestem 
ac  perniciem  Äsiae  proxuma  nocte  natam.  Wie  diese  Stelle  (S.  37), 
so  hat  auch  die  Nachrichten  über  das  sidus  lulium  bereits  Usener  in 
den  Relig.  Untersuchungen  (76  f.)  herangezogen.  Den  Kometen,  der  bei 
den  Leichenspielen  des  lulius  Caesar  sieben  Tage  (wie  der  Komet  des 
Mithradates  siebzig)  leuchtete,  deutete  man  bald  als  „Wahrzeichen  für 
die  Größe  des  künftigen  Augustus",  bald  als  „Zeichen  des  vergött- 
lichten  lulius".  Und  auch  die  merkwürdigste,  der  in  der  biblischen 
Erzählung  verwandteste  Verwendung  des  Sternmotivs  ist  Usener  nicht 
entgangen:  daß  dem  Aeneas  der  Morgenstern  voranleuchtet  auf  seinem 
Zuge  und  erst  dann  zu  scheinen  aufhört,  als  Aeneas  zum  Ziele  gelangt 
ist,  Servius  zu  Aen.  II,  801:  Varro  ait  hanc  stellam  Luciferi,  quae 
Veneris  dicitur,  ab  Aenea,  donec  ad  Laurentum  agrum  veniret,  semper 
visam  et  postquam  pervenit  videri  desiisse.  unde  et  pervenisse  se 
agnovit  (Strauß  spricht  nur  einmal,  LJ.  l\  275  von  der  Stella  facem 
ducens  bei  Vergil  selbst  II,  694,  die  nur  ein  Rettung  kündendes  Wunder- 
zeichen ist).  Schwerlich  ist  dies  die  einzige  oder  gar  erste  Verwendung 
dieses  Motivs  in  antiker  Legende.  Das  läßt  sich  immerhin  noch  aus 
solchen  nicht  ganz  vereinzelten  Erzählungen  erkennen,  wie  der  von 
Timoleon,  dem  ein  himmhsches  Feuer  den  Weg  übers  Meer  nach  Italien 
zeigt  und  dort  sich  niederläßt.  Plutarch  erzählt  im  Leben  des  Timo- 
leon c.  8:  vaOc  he  Kopiv9iac  e'xtüv  eiiTd,  KepKupaiac  be  bOo  Kai  rriv 
beKdxriv  AeuKabiuuv  TrpocTrapacxövTUJV  dvr|X0i1.  Kai  vuktöc  e)ußaXujv  eic 
TÖ  TreXaYOc  Kai  TTveujuaTi  KaXuj  xpiJ^iuevoc  eboHev  aiqpvibiujc  paTevra 
Tov  oupavov  iiTiep  rfic  veiuc  eKxeai  ttoXu  Kai  Trepiqpavec  TiOp. 
EK  be  TOUTOu  XajUTrdc  dpGeica  xaTc  juucTiKaic  ejucpepfic  Kai  cu|LiTrapa- 
Geouca  xöv  auTov  bp6)uov,  f}  judXicxa  ific  'liaXiac  efreixov  oi 
KußepvfiTai,  KaiecKTiH^ev.    Man  mag  aber  jene  Notiz  besonders  be- 


Die  Weisen  aus  dem  Morgenlande  279 

achten,  in  der  Varro  als  Berichterstatter  genannt  wird;  man  lernt,  daß  8 
das  Motiv  der  Leitung  durch  das  himmlische  Zeichen  gerade  im  ersten 
Jahrhundert  v.  Chr.  noch  wohlbekannt  und  lebendig  war  und  durch  die 
Erzählungen  um  Caesar  und  Augustus  nur  lebendiger  wurde.  Welche 
Rolle  astrologische  Dinge  überhaupt  in  jener  Zeit  spielten,  ist  genug- 
sam bekannt  Es  mag  hier  nur  noch  dies  angeführt  sein,  daß  es 
nach  Sueton  Aug.  94,  dem  Kapitel,  in  dem  fast  alle  die  uns  so 
bedeutsamen  Sagenzüge  hintereinander  erzählt  werden,  eine  nota  ac 
vulgata  res  gewesen  ist,  daß  P.  Nigidius,  der  bekannte  Mystiker  und 
Geheimbündler,  als  er  erfahren,  warum  Octavius  zu  spät  zur  Sitzung 
gekommen  war,  nämlich  wegen  der  Geburt  eines  Sohnes,  nach  Fest- 
stellung der  Geburtsstunde  behauptet  habe  dominum  terrarum  orbi 
natum. 

Ich  darf  hier  die  bekannte  Prophezeiung  Bileams  {Num.  XXIV,  17) 
„es  wird  ein  Stern  aus  Jakob  aufgehen  und  ein  Szepter  aus  Israel 
aufkommen,  und  wird  zerschmettern  die  Fürsten  der  Moabiter  und  ver- 
stören  alle  Kinder  Seths"  ganz  beiseite  lassen.  Es  ist  an  dieser  Stelle 
nur  in  bildlicher  Rede  ein  Mensch  gemeint,  der  plötzlich  und  mächtig 
wirken  wird.  Der  Stern  als  Begleiter  göttlicher  Epiphanie  ist  den 
heiligen  Büchern  Israels  fremd,  erst  späte  jüdische  Schriften  kennen 
ähnliches  (Strauß,  LJ.  I^  272).  Jene  Weissagung  konnte  deshalb  bei 
der  Aufnahme  des  Sternmotivs  in  die  Geburtsgeschichte  Christi  gar 
nicht  wirksam  sein  und  Matthäus  hätte  unfehlbar  auf  sie  hingewiesen, 
wenn  er  schon  die  Parallele  gezogen  hätte. 

III 
Auf  ein  zweites  Moment  aber  in  der  Genesis  der  christlichen  Magier- 
erzählung weist  ein  Zug  hin,  der  nicht  ohne  Beziehung  zu  alttestament- 
lichen  Schriften  sich  eingefügt  haben  kann.  Bei  Jesaia  LX,  6  heißt  es 
nach  den  Septuaginta  Traviec  eK  Caßd  nHouciv  (pepovrec  xpuciov  xai 
Xißavov  oicouciv  Kai  XiGov  Tiiaiov  Kai  tö  cuinpiov  Kupiou  eiianeXiouviai. 
Daß  diese  Stelle  eingewirkt  hat,  liegt  am  Tage;  und  es  wird  auch  die 
Stelle  in  Psalm  LXXII,  lOf.  noch  mitgewirkt  haben:  „die  Könige  am 
Meer  und  in  den  Inseln  werden  Geschenke  bringen,  die  Könige  aus  dem 
Reich  Arabien  und  Saba  werden  Gaben  zuführen,  alle  Könige  werden 
ihn  anbeten,  alle  Heiden  werden  ihm  dienen".  Jedenfalls  ist  auch  in 
der  Erklärung  der  alten  Kirchenschriftsteller  die  vereinzelte  Angabe, 
daß  die  Weisen  aus  Arabien  gekommen  seien,  auf  die  Erinnerung  an 
diese  Stellen  zurückzuführen.  Ob  nun  aber  in  der  Entstehung  der  Er- 
Zählung  selbst  gleich  in  den  ersten  Stadien,  die  für  uns  ja  immer  im 


280  D*®  Weisen  aus  dem  Morgenlande 

einzelnen  geheimnisvoll  verborgen  bleiben  müssen,  die  Prophetenstelle 
9  beteiligt  gewesen  ist  und  die  Angabe,  daß  die  Magier  nicht  bloß  an- 
beten, sondern  Geschenke  und  zwar  Gold  und  Weihrauch  bringen,  bei- 
zufügen Veranlassung  gegeben  hat,  oder  ob  erst  in  die  fertig  um- 
laufende Erzählung  jener  Satz  eingerückt  ist,  damit  auch  hier  ein 
Prophetenwort  „erfüllet  würde",  das  kann  und  will  ich  nicht  ent- 
scheiden. Merkwürdig,  daß  das  Matthäusevangelium,  das  auf  solche 
Beziehungen  ja  geradezu  ausgeht,  diese  „Erfüllung"  nicht  besonders 
anmerkt.  Wie  dem  sei,  jedenfalls  haben  wir  einen  zweiten  Faktor  in 
der  Komposition  der  Legende  festzustellen,  aber  doch  einen  Nebenfaktor, 
ein  Hilfsmotiv. 

IV 

Mit  diesem  allen,  was  bisher  erörtert  ist,  kann  die  Genesis  der 
Magiergeschichte  noch  nicht  erklärt  scheinen;  wo  findet  das  Hauptmotiv 
seine  Analogie,  woher  hat  es  den  Anstoß  erhalten,  das  Motiv  des  Aus- 
zugs der  Magier  gen  Westen,  den  neuen  Herrn  der  Welt  anzubeten? 
Denn  daß  bei  Matthäus  von  einem  neugebornen  König  der  Juden  die 
Rede  ist,  wird  man  unbedenklich  als  eine  sekundäre  Wendung  be- 
trachten, die  durch  die  oben  behandelte  Verknüpfung  mit  der  Herodes- 
geschichte  hauptsächlich  veranlaßt  ist.  Können  wir  jenes  Hauptmotiv 
irgendwie  in  seinem  plötzlichen  Auftreten  in  den  Traditionen  von  dem 
Kinde  in  Bethlehem  begreiflich  machen?  Man  muß  sich  mit  möglichster 
Schärfe  darüber  Klarheit  schaffen,  daß  das  Aufkommen  einer  Erzählung 
von  der  merkwürdigen  Reise  der  Magier  vom  Osten,  von  Persien  oder 
Babylonien  gen  Bethlehem,  wenn  wir  davon  absehen,  darin  ein  histo- 
risches Faktum  anzuerkennen,  nur  das  Resultat  der  Übernahme  irgend 
welcher  parallelen  Traditionen  oder  die  Wirkung  eines  historischen 
Ereignisses  analoger  Art  hat  sein  können.  Nur  die  unmittelbar  neu- 
schaffende Kraft  eines  alten  Sagenmotivs,  das  uns  schwerlich  unbekannt 
sein  würde,  kann  hier  tätig  gewesen  sein,  oder  der  mächtige  Eindruck 
eines  Geschehnisses,  das  an  die  Analogie  der  heiligen  Tradition  an- 
knüpfend, gewissermaßen  anwachsend  die  werdende  Legende  in  der 
Hauptlinie  bestimmte  und  neu  gestaltete. 

Ich  muß  berichten  von  einem  Ereignis  des  Jahres  66  n.  Chr.  Dio 
Cassius  erzählt  im  63.  Buche  (c.  1-7),  daß  damals,  unter  dem  Kon- 
sulate des  C.  Telesinus  und  Suetonius  Paulinus,  Tiridates  mit  großem 
Gefolge  nach  Rom  kam.  Er  kam  aus  dem  äußersten  Osten,  aus 
Armenien,  brachte  auch  die  Söhne  der  Könige,  des  Vologaisos,  des 
Pakoros  und  Monobazos  mit,  zog  durch  alle  Länder  vom  Euphrat  her 


Die  Weisen  aus  dem  Morgenlande  281 

in  einem  Aufzuge,  der  einem  Triumphzuge  glich  (c.  I).  Der  Zug  wird 
beschrieben:  sein  Hofstaat,  eine  Menge  Römer,  dreitausend  parthische  10 
Reiter  bilden  Gefolgschaft.  Die  Städte  waren  köstlich  geschmückt,  die 
Provinzen  empfingen  ihn  unter  lautestem  und  fröhlichstem  Jubel,  Oberall 
wurden  ihm  alle  Bedürfnisse  unentgeltlich  gegeben,  die  Staatskasse 
rechnete  seine  Unterhaltung  auf  zweimal  hunderttausend  Denare  täglich 
durch  neun  Monate;  denn  so  lange  war  er  unterwegs  gewesen.  Er 
kam  in  Neapel  zu  Nero  (c.  2).  Er  beugt  das  Knie  vor  ihm,  nennt  ihn 
seinen  Herrn  und  betet  ihn  an  (irpocKuvricac).  Der  gab  ihm  zunächst 
in  Puteoli  glänzende  Spiele  (c.  3)  und  nahm  ihn  dann  mit  nach  Rom. 
Dort  wird  eine  große  öffentliche  Audienz  veranstaltet,  verbunden  mit 
einem  Volksfest  Alle  Häuser  waren  erleuchtet  und  mit  Guirlanden 
geschmückt.  Die  Straßen  waren  voll  Menschen,  am  vollsten  der  Markt. 
In  der  Mitte  stand  das  Volk  nach  seinen  verschiedenen  Ständen  in 
weißer  Toga,  mit  Lorbeer  bekränzt,  rund  umher  Soldaten  in  prächtigster 
Rüstung,  mit  blitzenden  Waffen  und  Feldzeichen.  Kein  Ziegel  auf  den 
Häusern  war  zu  sehen  vor  den  Menschen,  die  oben  standen.  An  dem 
Haupttage  erschien  Nero  auf  dem  Markte,  in  das  Triumphgewand  ge- 
kleidet, von  Senat  und  Leibwache  umgeben,  und  setzte  sich  auf  den 
Prachtsessel.  Dann  erschien  Tiridates  mit  Gefolge,  schritt  durch  die 
Spalier  bildenden  Soldatenreihen:  sie  traten  zu  dem  Thron  und  huldigten 
wie  auch  vorher  (irpoceKiivTicav  c.  4).  Das  Volk  schreit  laut,  Tiridates 
kommt  in  Verwirrung,  endlich  aber  findet  er  die  Worte,  die  ich  wört- 
lich anführe:  'Cfu),  becTTora,  'ApcotKou  [ikv  Iktovoc,  OiioXotaicou  hh. 
Ktti  TTttKÖpou  Tujv  ßaciXeujv  dbeXcpöc,  cöc  b^  boOXöc  e\]i\.  Kai  fjXGöv 
T€  7Tp6c  c^  TÖv  d|i6v  Gcöv  7TpocKUvr|cu)v  ce  WC  Kai  Tov  MiOpav 
Kai  ko)Liai  toOto  öti  av  cu  IttikXOuctjic  cu  Tap  l^oi  Kai  MoTpa  ei  Kai 
TOxn.  Nero  antwortet,  gibt  ihm  ein  Diadem  und  das  Volk  jubelt  hoch 
au!  (c.  5).  Dann  finden  wieder  Theatervorstellungen  statt,  an  die  sich 
allerlei  Anekdoten  knüpfen  (c.  6).  Endlich  heißt  es,  daß  Tiridates  nicht 
zurückkehrte  auf  dem  Wege,  auf  dem  er  angekommen  war  durch  Illy- 
ricum  und  über  den  ionischen  Meerbusen,  sondern  von  Brundisium  aus 
nach  Dyrrhachium  übersetzte,  die  asiatischen  Städte  (tote  dv  'Aci(}t  ttöXeic 
ist  richtig  überiiefert,  "^\o.\q.  eine  überflüssige  Konjektur)  besuchte  und 
auch  da  über  die  römische  Macht  erstaunte  (c.  7). 

Das  Ereignis,  das  bei  Dio  so  ausführiich  beschrieben  wird,  hat  den 
größten  Eindruck  auf  die  Zeitgenossen  gemacht  und  ist  lange  im  Ge- 
dächtnis der  Menschen  sehr  lebendig  geblieben.  Auch  bei  Sueton  Nero 
c.  13  werden  die  Hauptsachen  entsprechend  der  Erzählung  Dios  be- 
richtet und  c.  30  werden  auch  hier  die  Summen  erwähnt,  die  der  Be- 


282  ^^®  Weisen  aus  dem  Morgenlande 

11  such  kostete.  Bei  Plinius  aber  findet  das  merkwürdige  Ereignis  eine 
Erwähnung,  die  uns  in  manchem  Betracht  wichtig  ist  (n.  h.  XXX,  16): 
mag  US  ad  eum  (Neronem)  Tiridates  venerat  Ärmeniacum  de  se 
triumphum  adferens  et  ideo  provinciis  gravis.  Navigare  noluerai 
quoniam  exspuere  in  maria  aliisque  mortalium  necessitatibus 
violare  naturam  eam  fas  non  putant.  Magos  secum  adduxerat, 
magicis  etiam  cenis  eum  initiaverat;  non  tamen  cum  regnum  ei 
daret  hanc  ab  eo  artem  accipere  valuit  Wir  lernen  hier,  daß  auch 
in  der  römischen  Welt  magi  der  Ausdruck  ftir  Tiridates  und  seine 
Begleiter  war. 

Ist  das  eben  geschilderte  Ereignis,  das  so  außerordentlich  eindrucks- 
voll in  der  damaligen  Weh  war,  ohne  Einfluß  gewesen  auf  die  Ge- 
schichte von  dem  Zuge  der  Magier  aus  dem  Morgenlande  den  neuen 
König  anzubeten?  "HXeojuev  irpocKuvficai  aiiTUj,  sagen  auch  sie.  Wir 
vermißten  gerade  für  dies  Motiv  des  Zuges  der  Magier  gen  Westen 
einen  Anstoß,  eine  Analogie.  Es  ist  in  diesem  Falle  nicht  die  Ein- 
wirkung eines  Sagenmotivs,  einer  mythischen  Form,  es  ist  die  Wirkung 
eines  allgemein  erregenden  und  lange  bekannten  geschichtlichen  Er- 
eignisses. 

Unser  Matthäusevangelium  ist  sicher  nicht  vor  70  n.  Chr.  entstanden, 
vermutHch  um  100  oder  um  einiges  später;  die  Vorgeschichten  der 
ersten  Kapitel  werden  wohl  noch  später  ihre  jetzige  Gestalt  gewonnen 
haben.  Aber  ich  brauche  auf  diese  Fragen  hier  nicht  einzugehen.  Die 
allgemeinen  Grenzen  stehen  fest.  Ehe  eine  Erzählung  wie  die  von  den 
Magiern  ihre  literarisch  feste  Form  gewinnt  und  in  die  heiligen  Bücher 
ihre  Aufnahme  findet,  zu  einer  Zeit,  da  sie  schon  allgemein  geglaubt 
wird  -  und  kaum  eine  andere  Erzählung  der  biblischen  Vorgeschichte 
Jesu  hat  von  je  so  „ihre  echte  Volkstümlichkeit"  bewährt  (Usener  76)  — , 
muß  sie  vorher  in  einer  längeren  Tradition  umgelaufen  sein  und  sich 
allgemach  geformt  und  feste  Gestaltung  gewonnen  haben.  Wir  würden 
die  Jahrzehnte  zwischen  60  oder  70  und  100  für  einen  solchen  Prozeß 
in  diesem  Falle  von  selbst  uns  zu  denken  haben.  Das  Matthäus- 
evangelium ist  von  Anfang  an  griechisch  für  Griechen  geschrieben. 
Daß  gerade  die  Vorgeschichte  bei  Matthäus  „die  ganze  Sage,  die  er 
fertig  vorlegt",  auf  griechischem  Boden  entstanden  zu  sein  scheint 
(Usener  78),  bestätigt  sich  auch  uns  an  allen  Punkten.  Sie  entstand 
zuerst  und  erwuchs  im  griechischen  Osten  zu  eben  der  Zeit,  da  das 
Christentum  in  diesen  Gegenden  nicht  bloß  griechisch  zu  sprechen, 
auch  griechisch  zu  denken  begann.  Dessen  aber  wollen  wir  uns  noch 
besonders  erinnern,  daß  gerade  durch  die  asiatischen  Städte  der  Zug 


Die  Weisen  aus  dem  Morgenlande  283 

des   Tiridates   ging.     Wo   anders   als  in  Kleinasien  ist  das  Matthäus-  12 
evangelium  in  seiner  griechischen  Fassung  entstanden  und  hat  etwaige 
Redaktionen  oder  Umgestaltungen  durchgemacht,  die  Zusätze,  die  es 
noch  aufgenommen  hat,  erhalten? 

V 

Ich  hoffe,  nicht  mißverstanden  zu  werden.  Der  Zug  der  Magier 
zu  Nero  ist  der  Anstoß  gewesen,  daß  aus  einer  allgemeinen  Tradition 
vom  verkündenden  Stern,  vom  „sichtbaren  Zeichen,  daß  etwas  Gött- 
liches in  die  Welt  getreten  sei",  sich  mit  Hilfe  des  früher  oder  später 
hinzutretenden  Nebenmotivs  aus  dem  Propheten  von  denen,  die  da 
kommen  und  Gold  und  Weihrauch  bringen,  die  Legende  entwickelt  hat 
von  dem  Zuge  der  Magier  zur  Anbetung  des  neuen  Herrn  und  Erretters 
der  Welt. 

In  das  Sternmotiv  wirkte  von  selbst  hinein  der  Gedanke  an  die 
Sterndeuter  des  Ostens,  die  Chaldäer  und  Perser.  Magi  hatten  auch 
Alexanders  Geburt  prophezeit  und  die  Notiz,  die  wir  darüber  noch  be- 
sitzen, ist  wohl  nur  ein  zufälliges  Überbleibsel  vieler  ähnlichen  Tradi- 
tionen, die  bekannt  waren.^  Den  Stern  des  Mithradates  werden  auch 
die  Diener  seines  Gottes  seinen  Völkern  gekündet  haben:  sein  Gott 
war  Mithras.  Und  je  mächtiger  in  der  antiken  Welt  der  Mithraskult 
um  sich  griff,  ungefähr  gleichzeitig  mit  der  ersten  Ausbreitung  des 
Christentumes  in  der  zweiten  Hälfte  des  ersten  Jahrhunderts,  um  so 
mehr  verband  man  eine  Vorstellung  von  sternkundigen  Magiern  mit 
der  von  Mithrasgläubigen. 

Die  seit  Cumont  uns  erst  erschlossene  tiefere  Kenntnis  des  Mithras- 
kultes  und  seines  Gehaltes  an  religiösen  Gedanken  wird  uns,  scheint 
es,  immer  besser  verstehen  lassen,  ein  wie  gefährlicher  Konkurrent  im 
Kampfe  um  die  Welt  und  die  Herrschaft  der  Seelen  dem  Christentum 
die  Mithrasreligion  gewesen  ist.  Auf  welcher  Seite  auch  in  vielen  ein- 
zelnen Lehren  und  liturgischen  Begehungen  die  Entlehnung  sein  mochte, 
im  dritten  Jahrhundert  haben  mehr  Menschen  im  griechisch-römischen 
Reiche  sich  zu  den  Glaubenssätzen  und  Kultformen  bekannt  wie  sie 
die  Priester  des  Mithras  überlieferten  als  zu  den  Lehren  der  christ- 
lichen Apostel.  Am  Ende  des  vierten  Jahrhunderts  hatte  der  Christen- 
glaube über  den  Mithrasglauben  gesiegt  und  war  nun  auch  hier  Erbe 
des  religiösen  Besitzes,  den  die  Besiegten  bisher  gemehrt  und  gepflegt 
hatten  und  nun  ganz  von  selber  dem  Sieger  zubrachten. 

MSen.  ep.  58,31:  Magi,  qui  forte  Athenis  erant,  immolaverunt  defuncto 
(Piatoni),  amplioris  fuisse  sortis  quam  humanae  rati,  quia  consummasset  perfec- 
tissimum  numerum,  quem  novem  novies  multiplicata  conponunt.] 


284  ^^®  Weisen  aus  dem  Morgfenlande 

Der  Kampf  des  Mithras  und  des  Christus  erzeugte  von  selber  den 
brennenden  Wunsch  der  Christen,  daß  sich  der  falsche  Gott  samt  seinen 
13  Dienern  beuge  vor  dem  wahren.  Das  Bedürfnis  der  Werbenden  und 
Bekehrenden,  davon  erzählen  zu  können,  daß  auch  diese  hartnäckigen 
Feinde  ihre  Knie  gebeugt,  wie  sie  es  ja,  wenn  sie  die  Prophetenworte 
schon  verwendeten,  von  den  Königen  von  Saba  und  Arabien,  wie  sie 
es  von  allen  Heiden  erwarteten,  mag  sehr  wohl  in  Rechnung  gestellt 
werden.  Mancher  Mithrasdiener  und  mancher  Mithraspriester  wird  in 
diesen  Zeiten  übergetreten  sein;  sie  glaubten  nun  an  den  Sieg  ihres 
neuen  Gottes.  Auch  die  Mithraslehren  kannten  eine  Anbetung  der 
Hirten,  die  in  den  Bergen  das  neue  Licht,  als  es  geboren  wurde,  den 
Oeoc  Ik  TTETpac  anbeteten.  Das  hat  Cumont  aus  den  Monumenten  un- 
widerleglich erschlossen  (I,  162  f.).  Freilich  kann  niemand  etwa  eine 
Entlehnung  von  selten  des  Christentums  auch  nur  wahrscheinlich  machen 
noch  irgendeine  Zeit  ermitteln  wollen,  wann  die  Mithrasdiener  ihre 
Hirtenlegende  von  den  Christen  übernommen  oder  etwa  nur  eine 
Geschichte  von  der  Anbetung  des  neugebornen  Lichtes  danach  ein 
wenig  umgestaltet  haben.  Wie  nahe  es  immerhin  liegen  konnte,  zumal 
bei  irgend  regen  Beziehungen  zu  Mithrasbekennern  oder  enger  Ver- 
bindung mit  frühern  Mithrasjüngern,  eine  Anbetung  des  wahren  Gottes, 
des  wahren  Lichtes,  das  der  Welt  erschienen,  durch  bekehrte  Diener 
des  Mithras  sich  zu  ersehntem  Bilde  zu  gestalten,  können  wir  uns 
noch  einigermaßen  vorstellig  machen.  Solche  schon  nach  Formung 
drängende  Bekehrungssehnsucht  und  Siegeshoffnung  knüpft  sich  an  die 
schon  vorhandene  hin  und  her  getragene  Erzählung  von  einem  Stern, 
den  Magier  gesehen  und  gedeutet  hätten  —  der  verkündende  Licht- 
glanz, freilich  durch  den  Engel  interpretiert,  war  ja  auch  in  der 
Hirtengeschichte  ein  Hauptmotiv  ~;  und  nun  wird  hineingetragen  die 
lebhafte  Kunde  von  der  Reise  der  Magier  gen  Rom  durch  die  Städte 
Kleinasiens.  Daß  sie  sich  gerade  mit  dem  Sternmotiv  verband,  ist 
durch  das  bisher  Gesagte  verständlich,  und  durch  diese  Anknüpfung 
ist  die  Geschichte  an  den  neugebornen  Christus  gebunden.  Gerade 
hier  war  allein  Platz  für  sie;  die  Tradition  war  für  die  weiteren  Er- 
zählungen von  Jesu  Leben  schon  zu  gefestigt  und  die  Entwicklung  der 
schriftlichen  Festlegung  der  Evangelien  gestattete  wohl  gerade  noch 
das  Einrücken  in  die  Form,  die  wir  nun  lesen,  in  die  Vorgeschichte  bei 
Matthäus  im  2.  Jahrhundert.^ 


*  [S.  auch  (Pseudo-)Eusebius  of  Caesarea  on  the  Star,  von  W.  Wright  im 
Journ.  of  sacr.  Liter,  for  Oct.  1866  aus  dem  Syrischen  übersetzt.  Am  Schluß 
heißt  es  nach  16  oder  17  ausradierten  Zeilen:  *Im  zweiten  Jahr  des  Kommens 


Die  Weisen  aus  dem  Morgenlande  285 

Die  Kunde  des  Magierzuges  gen  Rom  war,  wie  wir  ja  aus  den 
Schriftstellern  sehen,  lange  lebendig  wirksam,  und  war  einmal  jener 
Zusammenfluß  der  Motive  in  einem  kleineren  Umkreise  geschehen,  so 
mußte  die  geschlossene  Legende  um  so  schneller  Anklang  finden  und 
um  so  sicherer  zum  nicht  mehr  zu  ignorierenden  Bestand  der  heiligen 
Geschichte  werden,  als  der  Mithraskult  sich  immer  bedrohlicher  aus-  14 
breitete.  So  angesehen,  ist  die  Geschichte  von  den  Weisen  aus  dem 
Morgenlande  in  unseren  heiligen  Schriften  ein  Dokument  der  Be- 
gegnung des  Mithrasdienstes  und  des  Christentums.  Sie  war  einst 
eine  Verheißung  der  Überwindung  des  mächtigsten  Feindes,  dann  ein 
triumphierendes  Zeugnis  des  herriichsten  Sieges.  Wer  einer  solchen 
Sagenbildung,  wie  wir  sie  vielleicht  schon  zu  weit  ins  einzelne 
skizziert  haben,  mit  einigem  Verständnis  nachdenkt,  wird  nicht  noch 
weiter  nach  Ausgestaltung  und  Umgestaltung  der  Einzelheiten  fragen. 
Nicht  daß  und  warum  für  den  Nero  des  geschichtlichen  Magierzuges 
Christus  eingesetzt  wäre  oder  dergleichen,  wird  man  ausführen  wollen; 
man  wird  auch,  wenn  die  Magier  zu  Nero  kommen,  kaum  eine  An- 
regung zu  dem  Besuch  der  Magier  bei  Herodes  im  Matthäus- 
evangelium finden,  was  ja  an  sich  nicht  ohne  Wahrscheinlichkeit  sein 
möchte.  Zu  Nero  zogen  sie  als  dem  allmächtigen  Herrn  der  Welt; 
den  Christen,  in  deren  Kreise  die  Magiergeschichte  umging,  war  der 
wahre  neugeborene  Herr  über  alles  Jesus  Christus.  Nicht  Zug  um 
Zug  wird  die  einwirkende  Erzählung  übernommen,  nur  die  stärksten 
Hauptmotive  treffen  und  gestalten  einen  vorhandenen  mehr  oder 
weniger  noch  formlosen  Stoff  der  heiligen  Legende;  sonst  wäre  ja 
ihre  Wirkung  nicht  die  unbewußte  Schöpfung  der  Sage,  bei  der 
keine  „Erfindung",  keine  „Erdichtung"  im  gewöhnlichen  Sinne  be- 
teiligt ist. 

Echter  Sagenbildung  kann  man  nicht  ins  Innerste  sehen.  Aber 
es  ist  eine  sehr  ernste  wissenschaftliche  Aufgabe,  das  Werden  der  Sage, 
auch  der  heiligsten,  zu  untersuchen  und  die  Komposition  ihrer  Motive, 
soweit   es   möglich   ist,   auszulösen.     Diese  Probleme   scheinen  heute 


unseres  Herrn,  unter  dem  Consulat  von  Caesar  und  Capito,  im  Monat  Kanun  II 
kamen  diese  Magier  von  Osten,  und  beteten  unsern  Herrn  an  in  Bethlehem  der 
Könige.  Und  im  Jahre  430  (119  p.  Chr.)  unter  der  Regierung  des  Hadrian,  dem 
Konsulat  des  Severus  und  Fulgens  und  dem  Episkopat  des  Xystus,  Bischofs 
der  Stadt  Rom,  erhob  sich  diese  Frage  unter  den  Leuten,  welche  mit  der 
h.  Schrift  bekannt  sind,  und  durch  Bemühungen  großer  Männer  an  verschiedenen 
Orten  wurde  diese  Geschichte  vorgesucht  und  gefunden  und  in  der  Sprache 
derer  geschrieben,  welche  dafür  sorgten/  Nestle,  Marginalien  und  Materialien, 
Tüb.  1893  S.  72,  mitgeteilt  von  Stade.l 


286  ^^®  Weisen  aus  dem  Morgenlande 

fast  vergessen,  auch  bei  denen,  die  nicht  in  deren  Stellung  schon 
einen  frivolen  Aberwitz  sehen.  Es  gereicht  der  Wissenschaft  nicht 
zur  Ehre,  daß  sie  die  gewaltigen  Anregungen,  die  D.  Fr.  Strauß 
gegeben  hatte,  noch  nicht  weiter  in  einem  anderen  Geiste  hat  ver- 
folgen und  in  das  tiefere  Verständnis  hat  überleiten  können,  das 
Jakob  Grimm  für  Sage  und  Sagenbildung  die  Historiker  allzumal  gelehrt 
hat.  Dem,  der  den  Versuch  solchen  Verständnisses  in  heiliger  Schrift 
unfromm  schilt,  antworte  ich  mit  einem  vor  Jahren  einmal  gesagten 
treffenden  Worte:  „Echte  Sage  ist  so  heilig  und  rein  wie  das  religiöse 
Gefühl,  aus  dem  sie  als  Blüte  hervorbricht.  Gegen  Ende  des  Jahr- 
hunderts, in  welchem  die  Gebrüder  Grimm  gewirkt,  sollte  es  nicht  nötig 
sein  Gebildeten  das  zu  sagen." 


XIX 
ÜBER  WESEN  UND  ZIELE  DER  VOLKSKUNDE^ 

VORTRAG 

gehalten   in   der  ersten  Generalversammlung  der  Hessischen  Vereinigung  für 
Volkskunde  zu  Frankfurt  am  Main  am  24.  Mai  1902 

Vorbemerkung.  Manche  unter  meinen  Zuhörern  in  Frankfurt  sprachen  169 
mir  ihre  Überzeugung  aus,  daß  eine  Veröffentlichung  meines  Vortrages,  an  die 
ich  nicht  gedacht  hatte,  in  weiteren  Kreisen  aufklärend,  anregend  und  warnend 
wirken  könnte.  Ich  habe  keinen  Grund  mich  dem  Wunsche  der  Publikation 
zu  widersetzen  und  bitte  nur  meine  Leser  zu  bedenken,  daß  ich  vor  einem 
mannigfach  zusammengesetzten  Publikum  sprach,  dessen  einem  Teile  gerade 
die  Darlegungen  zu  umfangreich  und  eingehend  erschienen  sein  mögen,  die 
der  andere  zu  knapp  und  unbedeutend  finden  konnte. 

Die  Absicht,  umfangreichere  Literaturangaben  beizufügen,  habe  ich  an- 
gesichts der  immer  reicheren  bibliographischen  Hilfsmittel  in  den  berührten 
Gebieten  wieder  aufgegeben  und  dem  Vortrage  nur  einige  wenige  Hinweise 
hinzugesetzt. 

Ihr  Erscheinen,  hochgeehrte  Herren,  beweist,  daß  Sie  eine  neue 
Vereinigung  für  Volkskunde  nicht  mißbilligen,  ja  daß  manche  unter 
Ihnen  manche  Ziele  der  Volkskunde,  für  die  wir  uns  verbündet  haben, 
zu  erreichen  helfen  wollen.  Ob  wir  alle  die  gleichen  Ziele  meinen? 
Ich  glaube  es  kaum  und  es  ist  auch  nicht  nötig:  es  kommt  darauf 
nicht  an,  den  Reichtum  der  Bestrebungen,  den  der  Name  der  Volks- 
kunde begreift,  durch  engbindende  Zielsetzungen  zu  beschränken. 
Aber  freilich,  es  wäre  wohl  wünschenswert,  daß  wir  uns  über  einige 
Grundauffassungen  und  Hauptprobleme  verständigten.  In  kurzer  Rede 
und  Gegenrede  wäre  das  heute  schwer  zu  erreichen.  Ich  will  nur  zu 
diesem  Zwecke  beitragen,  was  ich  beitragen  kann:  ich  will  meine  An- 
schauungen vortragen,  die  ich  mir  nicht  ganz  leicht  und  flüchtig  ge- 170 
Wonnen  habe,  da  ich  seit  einer  längeren  Reihe  von  Jahren  in  meiner 
wissenschaftlichen  Arbeit  immer  wieder  auf  Stoffe  und  Probleme  der 
Volkskunde  zurückgeführt  worden  bin. 

In  den  letzten  Jahren  ist  bei  uns  in  Deutschland  immer  mehr  von 
Volkskunde   die  Rede   gewesen.     Gerade  in  den  letzten  zehn  Jahren 

'  <Hess.  Blätter  für  Volksk.  I  1902  S.  169ff.> 


288  ^^®^  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 

ist  eine  lebendige  Bewegung  in  Deutschland  immer  weiter  vorwärts 
gertickt,  die  sich  nach  der  Volkskunde  benennt.  Eine  Reihe  von 
Gesellschaften  und  Vereinigungen  haben  sich  zu  ihrer  Pflege,  in  den 
einzelnen  deutschen  Landen  Schlag  auf  Schlag,  gebildet.  1890  wurde 
der  Berliner  Verein  für  Volkskunde  gegründet;  Karl  Weinhold  war  der 
Gründer  und  Leiter.  Die  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  be- 
gann als  Neue  Folge  der  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprach- 
wissenschaft (von  Lazarus  und  Steinthal)  1891  zu  erscheinen.  Die 
schlesische  Gesellschaft  für  Volkskunde  wurde  1894  gegründet,  die 
sächsische  1897,  namentlich  die  erstere  heute  durch  ihre  Publikationen, 
die  Friedrich  Vogt  leitet,  aufs  rühmlichste  bekannt.  In  Bayern  ist  ein 
Verein  von  Würzburg  aus  tätig,  in  Baden  herrscht  lebhafte  Tätigkeit, 
namentlich  von  Freiburg  aus  ins  Leben  gerufen  -  1900  hat  Elard 
Hugo  Meyer  ein  zusammenfassendes  Buch  über  Badisches  Volksleben 
im  19.  Jahrhundert  veröffentlichen  können  -,  in  Mecklenburg  hat  ein 
Mann  in  diesen  Zeiten  eine  umfassende  Sammelorganisation  und  die 
verdienstvollsten  Publikationen  zustande  gebracht.  Eine  Braunschweiger 
Volkskunde  Hegt  seit  1896  (2.  Auflage  1901)  vor,  verfaßt  von  dem 
ausgezeichneten  Ethnographen  Richard  Andree.  Der  Verein  für  öster- 
reichische Volkskunde  ist  seit  1895  tätig,  Böhmen  hat  seit  1896  heute 
bereits  drei  Genossenschaften,  die  für  Volkskunde  wirken  und  werben; 
die  Schweizerische  Gesellschaft  entfaltet  seit  1897  in  ihrem  Archiv  für 
Volkskunde  und  anderen  besonderen  Veröffentlichungen  eine  eifrige 
Betätigung. 

Von  1897  datieren  auch  die  Anfänge  einer  hessischen  Vereinigung, 
die  seit  dem  vorigen  Jahre  in  selbständiger  Organisation  mit  über 
700  Mitgliedern  größeren  Zielen  zustrebt. 

Sie  sehen,  äußeres  Leben  und  Streben  macht  sich  auf  diesem 
Gebiete  nun  endlich  auch  in  Deutschland  bemerkbar,  und  Sie  begreifen, 
daß  es  in  diesen  Jahren  nicht  an  Auseinandersetzungen  über  Wesen 
und  Ziele  der  Volkskunde  gefehlt  hat.  Fast  überall  in  den  neu- 
171  gegründeten  Organen  hat  man  sich  prinzipiell  geäußert  und  es  zeigt 
sich  geradezu  erschreckend,  wie  verschieden  die  verschiedenen  Volks- 
kundigen über  ihre  werdende  Wissenschaft  denken.  Wenn  nicht  bald 
größere  Klarheit  kommt  und  mehr  Übereinstimmung  in  den  Haupt- 
sachen, so  ist  ernste  Gefahr  im  Verzuge. 

1 

Man  pflegt  begreiflicherweise  aus  dem  Namen  der  „Volkskunde" 
deren  Wesen  zu  entwickeln:  sie  sei  Kunde  vom  Volke.    Und  Volk  sei 


über  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde  289 

eben  hier  die  Bezeichnung  der  unteren  Schichten  des  Gesamtvolkes, 
vulgus,   nicht   populus.     Das   mag  richtig  sein.     Freilich   müssen  wir 
wohl   bedenken,   daß   es   sich   immer  auch   um  alles   das   „Volkstüm- 
liche"   handelt,   das   in  allen  Schichten,   auch  den  höchsten  Schichten 
des    populus,    hier   mehr   dort   weniger,   lebt   und   wirkt.     Wenn   wir 
„volkstümlich"  sagen,  verstehen  wir  noch  am  besten,  was  „Volk"  hier 
bedeuten   soll:   zunächst   alle   die,  welcTie  nicht  durch  eine  bestimmte 
Bildung   geistig   geformt   und   umgeformt  sind,   eine  Bildung,  die  ihre 
feste  Tradition   immer  weiter  zieht   und   ganze  Volkskreise  und  ganze 
Generationen   in   ihre  immer  volksfremderen  Bahnen  mitnimmt  und  sie 
loslöst  von  der  unmittelbaren  Anschauung,  dem  frisch  nachwachsenden 
unbewußten  natürlichen  Denken  und  Empfinden  -  eben  „des  Volkes". 
Die  Grenze    bleibt   freilich   immer   fließend,   aber  sie  ist  da  als  eine 
mächtige  Trennung  in  der  inneren  mehr  noch  als  in  der  äußeren  Welt 
der    Gebildeten    und    des   Volkes.     Und    daß    die    „Gebildeten"    des 
„Volkes",  ihres  Volkes  wieder  „kundig"  werden,  aus  dem  sie  ja  doch 
alle   als   aus   dem   mütterlichen  Boden   emporgewachsen  sind,   das  ist 
desto   notwendiger,  je  mehr  sich  die  Wege  der  Bildung  verirren  und 
verwirren,  von  Natur  und  Leben  zu  pedantischer  Systematik  und  totem 
abstrakten  Denken.    Wir  Leute   der  Studierstube  oder  der  Aktenstube 
und    der   Bücher    mögen   uns   wohl   beklagen,    daß   wir   dem   Leben 
unseres   Volkes    so    entrückt   werden   müssen,    um   unseres   Lebens 
Aufgaben  zu  erreichen,  freilich  sehr  oft  auch,  wo  wir  es  nicht  ahnen, 
zum    innersten   Schaden    unserer    gelehrten  wissenschaftlichen  Arbeit. 
Mir  ist  unvergeßlich  geblieben,  wie  mich  mein  Vater,   auch  ein  Mann 
der  Bücherarbeit,   beklagte,   daß    ich    habe   in   der  Stadt,   außer  Zu- 
sammenhang mit   dem  Volke,   aufwachsen   müssen:   das  sei  für  jeden 
Menschen,  was  er  auch  werden  möge,  ein  traurig  und  schädlich  Ding. 
Wenn  wir  alle,  die  Gebildeten  und  Gebildetsten,  wieder  fühlen  könnten, 
daß    wir    zum   Volke    mit   Leib    und    Seele   gehören,    daß   das   Volk 
unserer  Heimat  Fleisch   ist  von   unserem  Fleisch,  Blut  von  unserem  172 
Blut,   dann  fühlten  wir  es  auch,   daß  aus  dem  Heimatboden  und  dem 
Heimatvolke   jedem  Sproß   dieser  Heimat  neue   gesunde  Kraft  kommt: 
allein  von   unten   in   diesem  Sinne  konnte  von  je  nur  gesunden  die 
krank  gewordene  Bildung. 

Man  meint  wohl  ähnliche  Gedanken,  wenn  man  von  der  nationalen 
oder  lieber  noch  von  der  sozialen  Bedeutung  der  Volkskunde  spricht; 
denn  das  zweite  der  modernen  Hauptschlagwörter  hat  das  erste  an 
Modernität  und  an  Schlagkraft  bereits  bedeutend  übertroffen.  Und 
wir  sollen   gewiß   gar  manches   nicht  gering  schätzen,  was  in  diesem 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  19 


290  ^^®^  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 

Falle  mit  den  großen  Worten  gemeint  sein  mag.  Die  treue  und  ehr- 
liche Liebe  zur  engsten  Heimat,  deren  Boden  und  Bäume  und  Wege 
und  Wiesen  und  Menschen  uns  teuer  sind,  ist  die  tiefste  und  festeste 
Wurzel  echter  Vaterlandsliebe,  fester  als  manches  Nationalbewußtsein, 
das  manchem  wandernden  Bureaukraten,  dem  weder  Ost  noch  West 
eine  Heimat  ward,  ein  jammervoll  abstraktes  Ding  geworden  ist,  und 
seinen  Kindern,  die  nirgends  von  Herzen  zu  Hause  sind,  noch  viel 
blasser  und  schemenhafter  überliefert  wird. 

Wie  sich  gefährdete  Nationalität  bewußt  den  Bestrebungen  der 
Volkskunde  mit  einer  ganz  eigenen  Begeisterung  zuwendet,  mag  man 
an  den  deutschen  Böhmen  oder  den  Vlamländern  beobachten.  Beide 
gehörten  zu  den  ersten  und  eifrigsten,  die  der  Volkskunde  Sammel- 
stätten schafften,  und  ihnen  gilt  es  ganz  anders  als  sonst  bei  ähnlichem 
Tun  um  die  Erhaltung  und  Stärkung  des  Volkslebens,  das  sie  erkunden. 

Die  nationalste  und  zugleich  sozialste  Aufgabe  der  Volkskunde 
bleibt  aber  doch  immer  die,  den  Riß  zwischen  Volk  und  Gebildeten, 
zwischen  den  Ständen  eines  Volkes  zu  mildern,  den  wir  mit  Recht 
immer  bewußter  beklagen.  Und  gerade  der  aristokratisch  denkende 
und  am  selbständigsten  gebildete  Mensch  wird  dem  Volke  sich  immer 
näher  fühlen  als  dem  „Bildungspöbel";  der  Parvenü  ist  dem  Volke 
immer  am  fernsten.  Ich  höre  noch  den  alten  Rudolf  Hildebrand, 
einen  Meister  der  echten  Volkskunde,  von  seinem  Katheder  in  der 
Leipziger  Universität  -  ich  kann  es  nicht  anders  ausdrücken  — 
wimmern  und  wehklagen  über  die  „Bildung",  die  etwas  dem  Leben 
des  Volkes  Entgegengesetztes  geworden  sei,  über  die  Abstraktion,  die 
Krankheit  unserer  Zeit,  und  dann  eben  immer  wieder  über  die 
Trennung  der  höheren  und  unteren  Schichten,  die  keinen  Mittelpunkt 
mehr  hätten.  An  der  Verschmelzung  der  beiden  Mittelpunkte  arbeite 
173  die  Dichtung  nun  schon  lange;  die  Wissenschaft  beginne  damit.  Ja, 
wenn  die  Volkskunde,  würden  wir  in  seinem  Sinne  fortfahren,  den 
herrschenden  Bureaukraten  etwas  Verständnis  für  die  Eigenart  ihres 
Volkes  zuerst  aufzwingen  und  allmählich  vielleicht  gar  erwünscht 
machen  könnte,  das  wäre  ein  wunderbarer  Erfolg.  Denn  wahrlich, 
über  das  Volk  herrscht  doch  nur,  wer  es  kennt.  Wenn  wir  aber 
auch  nur  auf  die  grünen  Tische  dann  und  wann  einmal  ein  paar  Blätter 
von  dem  so  ganz  anders  grünen  Baum  des  lebendigen  Volkslebens 
flattern  lassen  können,  so  mag*s  für  einen  fröhlichen  Anfang  genug  sein. 

Über  die  Zeit  sind  wir  ja  theoretisch  wohl  hinaus,  da  der  Gebildete 
sich   bewußt  verachtend   trennte  von   allem  Treiben   des  ungebildeten 


Ober  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde  291 

Volkes  und  mitleidsvoll  herabsah  auf  Altweibergeschichten,  sinnlose 
Bauernsitten  oder  den  unglaublichen,  der  aufgeklärten  Zeiten  un- 
würdigen Aberglauben:  wenigstens  gibt  es  doch  heute  meist  noch 
etwas  andere  Gesichtspunkte  demgegentiber  als  den  verächtlichen  oder 
fanatischen  Wunsch  der  Ausrottung.  Wozu  aber  die  Kenntnis,  ja  die 
liebevolle  Beobachtung  volkstümlicher  Bräuche  und  volkstümlichen 
Aberglaubens  gut  sein  soll,  das  wissen  doch  wirklich  nur  recht  wenige. 
Es  bleibt  ihnen  am  Ende,  auch  wenn  sie  sich  das  nicht  recht  klar 
machen,  eine  Sammlung  beliebiger  Kuriositäten,  je  unglaublicher,  desto 
interessanter.  Man  kann  das  vielen  nicht  einmal  verübeln  bei  der 
Fülle  des  disparaten  Stoffes,  dem  sie  die  Volkskundigen  so  oft  planlos 
und  ziellos  nachlaufen  sehen.  Werden  sie  doch  auch  selten  genug 
eine  verständliche  Antwort  auf  die  Frage  „cui  bono?"  erhalten  haben. 
Hier  helfen  doch  die  nationalen  und  sozialen  Gesichtspunkte  nicht,  um 
zu  rechtfertigen  und  zu  begründen. 

Nun  läßt  sich  ja  wiederum  leicht  von  mancherlei  Nutzen  der  Volks- 
kunde für  die  Gebildeten  vieles  sagen.  Am  augenfälligsten  z.  B.  ist 
es,  daß  der  Pfarrer  auf  dem  Lande  nichts  wirken  kann,  ohne  die 
religiösen  Kräfte  des  Volkslebens  und  des  Volksdenkens  zu  kennen. 
Ein  Geistlicher,  der  sich  täuscht  über  die,  ich  möchte  sagen,  massiven 
religiösen  Bedürfnisse  der  Bauernseelen,  arbeitet  schließlich  immer  in 
den  Wind.  Die  Kirche  früherer  Zeiten  hat  es  so  vielfach  meisterhaft 
verstanden,  die  den  Völkern  eingeborenen  Formen  religiösen  Denkens 
umzugestalten  zu  ihren  neuen  Bildungen,  hat  oft  genug  das  Alte  unter 
neuem  Namen  zu  dulden  sich  klüglich  gezwungen  gesehen:  heute  174 
scheinen  solche  Umbildungen  nur  gar  selten  zu  gelingen.  Manche 
theologische  Richtung  -  sie  mag  noch  so  sehr  den  Beifall  Gebildeter 
verdienen  -  würde  sich  nicht  einbilden,  das  religiöse  Empfinden  des 
Volkes  nähren  und  befriedigen  zu  können,  wenn  die  abstraktions- 
freudigen Herrn  der  Katheder  die  geringste  wirkliche  Volkskunde  besäßen. 
Der  Arzt,  der  nicht  weiß,  wie  das  Volk  über  Gesundheit  und  Krankheit 
denkt  und  über  die  Hilfe  des  Doktors,  läßt  sich  die  wirksamsten  Kräfte  ent- 
gehen, die  ihm  zu  Gebote  stehen.  Die  „Volksmedizin"  stößt  meist 
nur  auf  die  plumpe  Entrüstung  des  gebildeten,  aber  einsichtslosen 
Arztes.  Ich  will  nicht  von  den  einzelnen  Fällen  reden,  in  denen  der 
Jurist  das  Recht  nicht  findet,  weil  er  volkstümlicher  Kenntnisse  bar 
ist.  Vor  kurzem  wurde  ein  Bauer  in  der  Mark,  der  einen  Baum  vor 
seiner  Hofraite  angebohrt  und  mit  einem  Pflock  wieder  verstopft  hatte, 
vor  unverdienter  Strafe  allein  dadurch  bewahrt,  daß  der  Verteidiger 
zufällig  von  dem  Volksbrauch  wußte,  in  einem  Baum  die  Krankheit 

19* 


292  ^^®^  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 

oder  aber  was  mit  der  Krankheit  in  Berührung  gewesen  sein  muß 
wie  den  Holzpflock  einzubohren,  um  sie  verwachsen,  vergehen  zu 
lassen.^  Die  Wichtigkeit  der  Beziehung  zum  Volke  geht  bei  den  Ge- 
setzgebern viel  tiefer.  Von  gelehrten  und  einsichtsvollen  Juristen  ist 
mir  rundweg  zugegeben,  daß  die  Zusammenhangslosigkeit,  ja  Gegen- 
sätzlichkeit der  Gesetzgebung  mit  dem  Rechtsbewußtsein  des  Volkes 
eine  beklagenswerte  Tatsache  sei,  ja  daß  die  Herrn  der  grünen  Tische 
sich  ganz  bewußt  um  das  Volk  in  unserem  Sinne  nicht  kümmerten. 

Daß  es  etwas  Großes  wäre,  wenn  die  Volkskunde  in  solchen 
Dingen  helfen  und  Wandel  schaffen  könnte,  leuchtet  uns  ein.  Und 
weil  ich  solche  Ziele  nicht  unterschätzt  oder  vergessen  haben  möchte, 
habe  ich  sie  mit  kurzen  Worten  erwähnt.  Aber  das  alles  sind  doch 
Nebenziele  oder  praktische  Nebenergebnisse.  Wohl  uns,  wenn  wir 
sie  hier  und  da  mit  erreichen  durch  unsere  Tätigkeit.  Unsere  Haupt- 
ziele müssen  wissenschaftliche  Ziele  sein,  Ziele  der  Forschung  und  der 
Erkenntnis. 

2 

Die  Kunde  von  einem  Volke  im  umfassenden  Sinne  ist  wissen- 
schaftlich genommen  Philologie;  so  ist  die  germanische  Philologie  die 
175  Kunde  von  den  germanischen  Völkern  in  allen  ihren  geschichtlichen 
Äußerungen,  die  klassische  Philologie  die  Kunde  von  der  Gesamtkultur 
der  antiken  Völker,  die  semitische  Philologie  die  von  den  semitischen 
Völkern.  Philologie,  wie  wir  sie  heute  verstehen,  ist  zur  Geschichts- 
wissenschaft geworden.  Jeder  Philologe,  der  ein  Gesamtvolksleben 
wirklich  erfassen  will,  stößt  fortwährend  in  seiner  Forschung,  sei  es 
in  Literatur  oder  Recht  oder  Religion,  auf  eine  Schicht  von  Er- 
scheinungen, die  er  nicht  dadurch  in  ihrem  Wesen  und  Werden  er- 
kennen kann,  daß  er  sie  in  einzelne  Akte  geschichtlichen  Tuns,  in  die 
Handlungen  einzelner  Individualitäten  zerlegt.  Am  deutlichsten  ist,  was 
ich  sagen  will,  an  der  Sprache.  Sie  ist  geworden  im  Volke;  wohl 
haben  Tausende  von  Individuen  nachgeschaffen  —  denn  das  Volk  hat 
nicht  einen  Mund,  nur  die  einzelnen  haben  einen  -,  keines  als  eine 
bewußt  schaffende  Individualität  in  einem  historisch  faßbaren  Akte,  so- 
lange nicht  von  den  vergleichsweise  späten  Sprachschöpfungen  des 
gestaltenden  Künstlers  die  Rede  ist.  Eine  ganze  Schicht  unmittelbaren 
religiösen  Denkens,  religiöser  Vorstellungen  und  Bräuche  hat  sich  in 
der  vorgeschichtlichen  Epoche  jedes  Volkslebens  ausgebildet,   in  der 

^  Frankfurter  Zeitung  vom  14.  März  1902,  Erstes  Morgenblatt,  unter 
„Gerichtszeitung". 


Ober  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde  293 

kein  Forscher  mehr  individuelle  Formung  aufzudecken  auch  nur  ver- 
suchen kann.  Und  nicht  anders  ist  es  mit  den  Gestaltungen  in  Sitte 
und  Brauch,  mit  den  ersten  sozialen  Gliederungen,  ja  mit  einer  Reihe 
von  Schöpfungen  in  geformtem  und  gebundenem  Worte,  die  wir  Lieder 
und  Märchen  und  Sagen  nennen.  Wir  brauchen  hier  die  Frage  nicht 
weiter  aufzuwerfen,  in  welcher  Weise  auch  an  all  diesen  Schöpfungen 
eines  für  uns  ungeschichtlichen  Untergrundes  der  Kultur  die  Individuen 
beteiligt  waren;  das  ist  klar,  daß  es  sich  hier  um  eine  organisch  zu- 
sammengehörige Unterschicht  alles  geschichtlichen  Volkslebens  handelt, 
aus  deren  Mutterboden  alle  individuelle  Gestaltung  und  persönliche 
Schöpfung  herausgewachsen  ist,  in  dessen  lebendigem  Stoff  geformt 
und  umgeformt.  So  erwächst  erst,  jenen  eben  angedeuteten  Haupt- 
erscheinungen des  vorgeschichtlichen  und  ungeschichtlichen  Lebens 
entspringend,  geschichtliche  Religion  durch  die  große  Persönlichkeit, 
die  Offenbarung  erlebt  und  gibt,  die  eine  Volksreligion  reinigt  und 
umformt;  so  erst  geschichtliche  Rechtsformen  und  Gesetzgebung,  ge- 
schichtliche Staatsformen,  die  geschichtlichen  Gestaltungen  in  Literatur 
und  Kunst. 

In  jener  unteren  Schicht  des  Lebens  sehen  wir,  wie  die  Sprache 
Form  und  Mittel  alles  reicheren  Werdens  ist,  wir  sehen,  wie  das 
religiöse  Denken  zunächst  überhaupt  alles  Denken  ausmacht,  und  sich 
nur  ganz  langsam  und  allmählich  z.  T.  überhaupt  erst  in  geschicht- 
lich faßbarer  Zeit  Sitte  und  Brauch,  soziale  Gestaltung  und  die  Formen  176 
des  Lieds  und  der  fest  überlieferten  Erzählung  aus  diesen  Gedanken 
als  selbständigere  Erscheinungen  loslösen.  Mit  anderen  Worten,  Volks- 
sitte und  Volksbrauch,  Volkssage  und  Volksmärchen  und  Volkslied 
sind  eng  verbunden  mit  der  Volksreligion.  Sie  ist  darum  das  Wichtigste 
in  der  Erkenntnis  dieses  Volkslebens  überhaupt.  Volk  ist  eben  -  das 
ist  nun  ohne  weiteres  klar  -  die  Bezeichnung  der  Unterschicht  der 
Kulturnationen,  in  dem  Sinne,  den  ich  im  Anfange  meiner  Dariegung 
zu  bestimmen  suchte.  Volkskunde  ist  eben  Erforschung  und  Erkennt- 
nis der  „Unterwelt"  der  Kultur. 

Jede  geschichtliche  Forschung,  die  ihre  Probleme  tiefer  faßt,  führt 
zu  diesem  Untergrund,  jede  Philologie,  die  wirklich  nach  dem  Werden 
und  der  Entwicklung  der  Religion,  der  Rechts-  und  Staatsformen,  des 
Liedes  und  der  Poesie  überhaupt  und  nach  deren  ursprünglichsten 
Formen  fragen  will,  muß  die  zu  der  Kultur,  die  sie  erforscht,  ge- 
hörige Volkskunde  treiben.  Je  fließender  die  Grenzen  zwischen  dem 
Gebiete  des  volkstümlichen  Glaubens  und  Dichtens  und  der  geschicht- 
lichen Religion  und  Poesie  sind,  desto  notwendiger  muß  jeder  Philologe 


294  ^^®^  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 

die  Grenze  nach  unten  überschreiten,  die  Grenze  des  unmittelbaren 
Volkstums.  Es  gibt  nicht  nur  eine  deutsche  Volkskunde,  es  gibt  eine 
französische  und  englische,  es  gibt  eine  griechische,  eine  römische, 
eine  semitische  und  eine  jüdische,  eine  indische  Volkskunde.  Wo  ge- 
schichtliche Kultur  erwachsen  ist,  erwuchs  sie  aus  dem  Mutterboden 
des  „Volks".  Und  nicht  bloß  wo  Kultur  erwachsen  ist,  gibt  es  Volks- 
kunde: auch  wo  keine  erwachsen  ist  aus  einem  „Volke",  ist  eben 
dieses  „Volk"  der  Kunde  nicht  minder  wert.  Die  Unterschicht,  sozu- 
sagen, ist  allein  da  ohne  die  Oberschicht  geschichtlicher  Entwicklung 
bei  den  kulturlosen  Völkern,  die  man  Naturvölker  zu  nennen  sich  ge- 
wöhnt hat.  Es  ist  hier  nicht  der  Platz,  auseinanderzusetzen,  welche 
Bedeutung  es  haben  muß,  „Volk"  zu  untersuchen,  das  nicht  durch 
eine  geschichtliche  Kultur  in  allen  Äußerungen  seines  Lebens  affiziert 
und  modifiziert  worden  ist. 

Diese  letzten  Studien  fallen  nun  freilich  aus  dem  Rahmen  der  heute 
arbeitenden  Philologien  heraus.  Und  wenn  es  bei  der  vorher  be- 
sprochenen Volkskunde  nur  darauf  ankäme,  daß  jede  Philologie  die 
Volkskunde  ihrer  Kulturnation  erforschte,  so  könnte  man  wohl  inner- 
halb der  Aufgaben  einer  Philologie  von  der  Abteilung  der  Volkskunde 
sprechen  -  es  wäre  kein  Grund,  von  einer  wissenschaftlichen  Volks- 
177  künde  im  allgemeinen  zu  sprechen.  Aber  gerade  bei  allen  Äußerungen 
unmittelbaren,  ungeschichtlichen  Volkslebens  gilt  das  Gesetz  in  ganz 
anderem  Sinne,  als  bei  den  geschichtlichen  Produkten  einer  Kultur, 
daß  eine  Erscheinung  nicht  aus  sich  selbst  erklärt  werden  kann,  daß 
die  Erscheinungen  eines  Volkslebens  deren  Sinn  und  Ursprung  nur 
in  den  seltensten  Fällen  erkennen  lassen.  Aus  einem  Objekt  läßt 
sich  in  diesen  Dingen  bei  aller  Anstrengung  nicht  dessen  Wesen  und 
Inhalt  heraussaugen.  Den  Bau  der  eigenen  Sprache  hat  niemand  je 
erkennen  können  ohne  Vergleich  fremder  Sprachen  und  überhaupt  ist 
hier  wiederum  das  schlagendste  Beispiel  das  der  Sprachwissenschaft. 
Wer  da  weiß,  daß  sie  nur  als  eine  vergleichende  Sprachwissenschaft 
ihre  gewaltigen  Erfolge  errungen  hat,  der  wird  leicht  einsehen,  daß 
auch  die  Kunde  der  anderen  unmittelbaren  Schöpfungen  des  Volks- 
lebens nur  dann  zu  wirklichen  Ergebnissen  durchdringen  kann,  wenn 
sie  als  vergleichende  Volkskunde  zu  arbeiten  lernt.  Ich  drücke  mich 
für  mein  Teil  gern  bescheidener  aus:  die  so  häufig  unvollständigen 
Erscheinungen  des  Volksdenkens,  des  Volksglaubens,  des  Volksbrauchs 
sind  nur  zu  erkennen  durch  die  Analogie  der  Erscheinungen,  die 
anderswo  vollständiger  zu  beobachten  sind.  Diese  wissenschaftliche 
Arbeit  mit  der  Analogie  wird  ja  auch   tatsächlich  nirgends   entbehrt, 


über  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde  295 

wo  es  sich  um  eine  Erkenntnis  handelt,  die  über  die  äußerliche  Kon- 
statierung des  Tatsächlichen  hinausgeht.  Wenn  aber  an  der  Be- 
zeichnung vergleichender  Sprachwissenschaft  heute  auch  der 
strengste  Philologe  keinen  Anstoß  mehr  nimmt,  weil  sie  den  Erfolg 
für  sich  hat,  sollen  wir  auch  den  Mut  haben,  von  vergleichender 
Volkskunde  zu  reden,  wenn  wir  wissen,  daß  die  Elemente  des  Volks- 
glaubens und  Volksdenkens  prinzipiell  nur  in  genau  derselben  Weise 
in  Ursprung  und  Zusammensetzung  zu  untersuchen  sind  wie  die  Ele- 
mente der  Sprache.  Es  wird  die  Zeit  kommen,  da  auch  hier  der  Er- 
folg den  Widerspruch  verstummen  macht.  Auch  hier  kommt  alles  auf 
die  Leistung  selber  an  -  dann  fragt  niemand  mehr  nach  ihrer 
prinzipiellen  Berechtigung. 

Deshalb  mag  ich  mich  auch  nicht  in  Erörterungen  darüber  ver- 
lieren, ob  die  Volkskunde,  wie  ich  sie  verstehe,  eine  selbständige 
Wissenschaft  sei  oder  nicht.  Ich  bin  der  Überzeugung,  daß  sie  wissen- 
schaftlich nur  der  treiben  kann,  der  in  irgendeiner  Philologie,  d.h. 
in  dem  Studium  einer  gesamten  Volkskultur,  so  zu  sagen,  mit  beiden 
Füßen  steht.  Nur  er  kann  die  Probleme  rückwärts  verfolgen  von  dem 
festen  Boden  geschichtlicher  Überlieferung  aus.  Nur  den  Sprach- 
vergleicher erkennen  wir  an,  der  wenigstens  eine  Sprache  genau 
kennt  und  beherrscht.  Es  haben  denn  auch  semitische  und  indische,  178 
germanistische  und  klassische  Philologen  bereits  glänzende  Erfolge  in 
dieser  Art  vergleichender  Volkskunde  zu  verzeichnen.  Freilich  kann 
hier  wiederum  keine  Einzelphilologie  das  ganze  Gebiet  bearbeiten  und 
für  sich  parat  und  nutzbar  halten.  Daß  sich  gerade  der  Forschungs- 
kreis, den  ich  zu  umschreiben  versucht  habe,  mit  Notwendigkeit  heute 
als  eine  Einheit  wissenschaftlicher  Probleme  zusammenschließt,  das 
zeige  ich  besser  als  durch  prinzipielle  Erörterungen  durch  einen  kurzen 
Überblick  über  das  Hervortreten  und  Zusammenwachsen  dieser  Probleme 
selbst  im  letztverflossenen  Jahrhundert. 

3 

Wie  unsere  Literatur  und  die  philologische  Wissenschaft  mit  ihr 
im  18.  Jahrhundert  zu  neuem  Leben  erwuchsen,  hauptsächlich  durch 
die  Einwirkung  der  geradezu  neu  entdeckten  Volkspoesie,  das  ist 
jedermann  bekannt.  Man  weiß,  wie  Goethe  durch  Herder  auf  das 
Volkslied  und  auf  Ossian  hingewiesen  wurde.  Rückkehr  zur  Natur 
wie  zur  echten  Volkspoesie  war  ja  eine  Zeitlang  ein  vielerstrebtes 
Ideal.  Die  Philologie  erwuchs  wieder  am  Studium  und  am  eben  durch 
die     Kenntnis     der    Volkspoesie     vermittelten    Verständnis    Homers: 


296  ^^ß'"  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 

F.  A.  Wolfs  Prolegomena  ad  Homerum  sind  das  Dokument  der  ersten 
stärkeren  Einwirkung  der  „Volkskunde"  auf  die  klassische  Philologie. 
Die  griechischen  Lyriker  wurden  unter  der  gleichen  Einwirkung  sozu- 
sagen neu  entdeckt.  Man  darf  gerechterweise  nicht  verschweigen, 
daß  die  ersten  Anregungen  zu  dieser  ganzen  Bewegung  von  England 
ausgingen.  Auch  die  erste  Sammlung  von  Volksliedern,  die  überhaupt 
ediert  ist,  stammt  von  einem  Engländer,  dem  Dichter  Percy,  und  ist 
1765  erschienen;  das  erste  Buch,  das  in  dem  neuen  Geiste  zu  reden 
anfing,  war  Woods  Schrift  über  das  Originalgenie  Homers  vom 
Jahre  1769. 

Ich  will  nicht  allzu  Bekanntes  wiederholen.  Wie  sehr  Goethe  selbst 
bis  auf  das  einzelne  der  Volksbräuche  sein  Interesse  ausdehnte,  haben 
wir  kürzlich  gelernt,  da  die  Schrift  des  Sebastian  Grüner  über  die 
ältesten  Sitten  und  Gebräuche  der  Egerländer  aus  zwei  Handschriften 
herausgegeben  wurde*:  der  Ratsherr  der  Stadt  Eger  schrieb  sie  1825 
für  Goethe  nieder,  der  ihn  auf  seinen  Fahrten  nach  Karlsbad  kennen 
gelernt  hatte. 
179  Die  ersten  in  wissenschaftlichem  Sinne  Volkskundigen  sind  die 
Brüder  Grimm.  Was  die  Herausgabe  der  Kinder-  und  Hausmärchen 
1812  bedeutete  und  noch  bedeutet  für  die  Wissenschaft  und  für  das 
Leben  und  Denken  jedes  einzelnen,  brauche  ich  Ihnen  nicht  auszu- 
führen. Noch  heute  lernt  auch  der  Verbildetste  und  Volksfremdeste 
durch  sie  wenigstens  ahnen,  was  Fühlen  und  Sagen  des  Volkes  sei. 
Der  Leistung  Jakob  Grimms  in  der  deutschen  Mythologie  vom  Jahre  1835 
ist  überhaupt  so  leicht  keine  andere  wissenschaftliche  Tat  an  die  Seite 
zu  stellen.  Dieser  Gewaltige  unter  den  Großen  der  Wissenschaft  bleibt 
das  bis  heute  unerreichte  Vorbild  im  intuitiven  Verständnis  des  tiefsten 
Lebens  des  Volkes  und  im  Formen  und  Fassen  des  bisher  Ungekannten, 
des  Ungeahnten,  ja  des  scheinbar  Unfaßbaren  zu  wissenschaftlicher 
Betrachtung  und  Darstellung.  Seine  Taten  sind  riesengroß  auf  dem 
Gebiete  der  Volkskunde,  ich  brauche  ihr  Herold  nicht  zu  sein.  Seine 
Nachfolger  sind  gering  gegen  ihn.  Von  den  vielen,  die  sich  nach 
ihm  bemüht  haben,  Volkssagen,  Volksüberlieferungen,  Volksbräuche 
zu  sammeln  und  zu  erläutern,  will  ich  nur  einen  nennen,  einen  der 
Verdienstvollsten  und  früher  am  meisten  Verkannten;  ich  meine  Wilhelm 
Mannhardt.  In  einem  äußerlich  gar  armen  Leben  voller  Leiden  und 
Enttäuschungen  hat  er  bewundernswerte  Leistungen  als  Sammler  und 
Organisator  zustande  gebracht.    Er  hat  das  ganze  Gebiet  der  agrarischen 

*  Beiträge   zur   deutsch -böhmischen   Volkskunde   IV    1,   von   Alois   John, 
Prag  1901. 


über  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde  297 

Volksgebräuche  im  weitesten  Umfange  bearbeitet:  1875  erschienen  die 
Wald-  und  Feldkulte.  Die  „Mythologischen  Forschungen",  die  1884 
aus  seinem  Nachlasse  herausgegeben  wurden,  beschäftigen  sich  eben- 
falls mit  diesem  Gebiete,  und  besonders  in  ihnen  wie  im  2.  Band  der 
Wald-  und  Feldkulte  hat  er  durch  die  Analogie  antiker  und  germanischer 
Agrarbräuche  -  „Ländliche  Bräuche  diesseit  und  antike  Kulte  jenseit 
der  Alpen"  hatte,  Müllenhoff  als  Titel  gewünscht  -  eine  Reihe  tiefster 
Erkenntnisse  gewonnen,  die  auch  heute  noch  von  sehr  wenigen  ganz 
verstanden  und  gewürdigt  werden. 

Schon  Jakob  Grimm  hatte  mannigfache  Analogien  anderer  Völker 
zur  Erklärung  herangezogen,  sehr  reiche  und  verschiedene  in  den  Er- 
läuterungen zu  den  Märchen.  Die  Berechtigung  solcher  Analogien  für 
das  Verständnis  volkstümlicher  Überlieferung  aus  ebenfalls  volkstüm- 
lichen Überlieferungen  irgendwelcher  Völker  war  für  Jakob  Grimm 
unmittelbar  selbstverständlich.  Eine  bestimmter  umrissene  Gruppe  zu 
vergleichender  Völker  und  Kulturen  wurde  ja  in  jenen  Jahrzehnten 
durch  die  Bekanntschaft  mit  indischer  Sprache  und  Kultur  immer  mehr 
in  den  Vordergrund  gerückt.  Auch  über  die  Sprache  hinaus  griff  die  180 
Vergleichung  und  das  Streben,  die  Urheimat  dieser  und  jener  Er- 
scheinung aufzuzeigen.  Benfeys  Untersuchungen  über  die  Wanderungen 
der  Novellenstoffe  von  Indien  zum  Westen  hat  viel  Anregung  gegeben, 
viel  berechtigten  Widerspruch  erfahren  und  bis  heute  wenig  ernste 
Nachfolge  gefunden.  Die  vergleichende  Mythologie,  die  in  ein  paar 
genialen  Hochbauten  und  einer  Menge  Strohhütten  eilends  sich  anzu- 
siedeln begann,  ist  zum  großen  Teil  von  den  Bodenerschütterungen  in 
der  wissenschaftlichen  Welt  der  Folgezeit  umgeworfen  worden.  Ja, 
der  Name  erregt  manchem  noch  ein  gelindes  Gruseln.  Leute  wie 
Max  Müller  waren  auch  gar  zu  unsolide  Baumeister,  als  daß  sie  auf 
der  unsicheren  Stätte  hätten  neu  aufbauen  können.  Der  hauptsächliche 
Grund  des  Niedergangs  -  wenn  man  das  mit  einem  Wort  sagen 
kann  -  war  der,  daß  alles  auf  die  Sprache  gebaut  war,  ehe  wirkliche 
„Volkskunde"  überhaupt  die  Möglichkeit  geschaffen  hatte,  mit  Hilfe  der 
Sprache  Richtiges  zu  finden. 

Alles  aber,  was  von  Volkskunde  schon  durch  die  Grimms  zu  so 
reichem  Leben  gediehen  war,  faßte  man  nicht  als  einen  in  sich  zu- 
sammengehörigen Studienkreis  auf  und  man  bedurfte  keiner  besonders 
zusammenfassenden  Bezeichnung  dafür.  Eine  solche  ward  in  England 
aufgebracht.    Am  27.  August  1846^  erschien  in  der  englischen  Wochen- 

^  [Vielmehr  22.  August;  verbessert  von  Fr.  Beyschlag,  Blätter  f.  d.  Gymn. 
schulw.  49,  241.] 


298  ^^^^  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 

Schrift  Athenäum  (S.  862/3)  ein  Artikel,  überschrieben  „Folklore". 
Unterschrieben  stand  Ambrose  Merton,  zu  welchem  Pseudonym  sich 
dann  über  Jahresfrist  William  John  Thoms  bekannte.  Er  erklärt, 
Folklore  umfasse  the  traditional  beliefs,  legends  and  customs,  current 
among  the  common  people  oder  weiterhin  manners  and  customs, 
observances,  superstitions,  ballads  and  proverbs.  Was  man  in  England 
bezeichne  as  populär  Antiquities  or  populär  Literature,  das  könne  man 
passend  benennen  by  a  good  Saxon  Compound,  Folk-Lore  -  the  Lore 
of  the  people.^  Der  Verfasser  nimmt  ausdrücklich  für  sich  die  Ehre 
in  Anspruch,  die  Benennung  Folk-Lore  einzuführen,  as  Disraeli,  fügt 
er  charakteristisch  erweise  hinzu,  does  of  introducing  fatherland  into 
the  literature  of  this  country.  Der  Name  bezeichnet  also  das  Wissen, 
die  Weisheit  des  Volkes,  mündlich  fortgepflanzte  Volksüberlieferung 
(more  a  Lore  than  a  Literature),  was  das  Volk  weiß,  nicht  die  Kunde 
181  vom  Volke.  Der  Name  fand  allgemeinsten  Anklang,  wie  sein  Schöpfer 
bereits  1847  im  Athenäum  dankbar  und  triumphierend  verkündet.  Und 
die  Sache,  die  dieser  Name  bezeichnet,  gewann  in  England  alsbald 
große  Dimensionen,  bis  dann  im  Jahre  1877  die  jetzige  große  Folk- 
Lore  Society  in  London  gegründet  wurde,  den  mannigfachen  Be- 
strebungen einen  Mittelpunkt  zu  geben.  Eine  fruchtreiche  Tätigkeit  hat 
sie  entfaltet  und  lange  Reihen  von  Publikationen  -  darunter  sehr  wert- 
volle —  sind  ihr  Werk. 

Auch  in  diesen  Dingen  zeigt  sich  deutlich,  wie  das  britische 
Kolonialreich  den  wissenschaftlichen  Horizont  erweitert  hat.  Von  vorn- 
herein gehört  zum  Folklore  das  Studium  der  beliefs  and  customs, 
institutions  and  superstitions  der  Naturvölker.  Die  klare  Erkenntnis, 
daß  wir  zu  verlorenen  Stufen  der  Entwicklung,  zu  geschichtlich  nicht 
mehr  faßbaren  Perioden  des  Lebens  der  Menschheit  nur  vorzudringen 
hoffen  können  durch  das  Studium  der  auf  den  ersten  Stufen  der  Ent- 
wicklung, nach  gewöhnlichem  und  nicht  mißverständlichem  Sprach- 
gebrauch „kulturlos"  gebliebenen  Völker  der  Erde,  ist,  ich  kann  nicht 
genau  sagen,  ob  hier  zuerst  gewonnen  und  ausgesprochen,  jedenfalls 
zu  einem  der  treibenden  Gedanken  in  der  lebendigen  Bewegung  der 
Folklorebestrebungen  geworden. 

Der  größte  Bahnbrecher  für  diese  Gedanken  und  für  das  ernste 
Studium  der  Naturvölker  überhaupt  ist  ein  Deutscher,  der  Marburger 
Professor  Theodor  Waitz  gewesen,  der  in  einer  Umgebung,  die  ihn 


*  Ich  schöpfe  aus  Murreys   engl.  Wörterbuch   und   aus  G.  Kossinnas  Auf- 
satz in  der  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  VI  (1896)  188. 


Ober  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde  299 

nicht  verstand,  lange  Jahre  gelehrt  und  gelitten  hat.^  Ihm  kam  es  ja 
mit  seiner  Anthropologie  der  Naturvölker  zunächst  wesentlich  darauf 
an,  „die  Vermittlung  des  naturwissenschaftlichen  und  des  historischen 
Teiles  unseres  Wissens  vom  Menschen  zu  erstreben",  „gerade  an  dem 
Punkt  seines  Übergangs  aus  der  Isoliertheit  in  das  gesellschaftliche 
Leben"  zu  erfassen  „und  die  Bedingungen  und  Folgen  seiner  Weiter- 
entwicklung zu  untersuchen";  aber  heute  noch  ist  eben  durch  die 
Fülle  des  fleißig  und  sorglich  zum  ersten  Male  vereinten  und  gesichteten 
Materials  sein  großes  Werk  „die  Anthropologie  der  Naturvölker",  das 
der  jetzige  Straßburger  Geograph  Gerland  mit  hingebender  Sorgfalt 
zu  Ende  geführt  hat,  ein  Haupt-  und  Grundbuch  für  alle,  die  wegen 
irgendeiner  Frage  bei  den  Naturvölkern  nachzufragen  sich  genötigt 
sehen,  und  für  uns  alle  eine  eindringliche  Mahnung,  diesen  Reichtum  182 
nicht  ungefragt  zu  lassen,  wenn  es  sich  um  die  Probleme  der  vor- 
geschichtlichen Menschheit  handelt.  Unter  dem  Namen  der  Anthro- 
pologie sind*  seitdem  vielfach  die  Aufgaben  befaßt  oder  mitbefaßt 
worden,  die  wir  der  Volkskunde  stellen.  Und  gerade  in  England  sind 
unter  diesem  Namen  die  Probleme  einer  Forschung  nach  dem  Ur- 
sprung und  der  ersten  Entwicklung  der  Kultur  ergriffen  und  durch 
glänzende  Leistungen  gefördert  worden.  Wenn  ich  von  den  weit- 
wirkenden Anschauungen  Herbert  Spencers  und  ihrer  Bedeutung  auch 
in  diesem  Gebiet  hier  absehe  -  vornehmlich  wegen  meiner  un- 
zureichenden Kenntnis  -,  so  darf  ich  um  so  nachdrücklicher  die 
großen  Werke  Edward  B.  Tylors  hervorheben,  dem  vielleicht  einmal 
eine  Volkskunde  der  Zukunft  nächst  Jakob  Grimm  am  meisten  wird 
danken  müssen.  Namentlich  die  zwei  Bände  der  Primitive  Culture 
enthalten  fast  auf  jeder  Seite  fundamentale  Erkenntnisse  oder  doch 
weittragende  Anregungen  für  eine  vergleichende  Volkskunde.  Die 
bedeutendste  Erscheinung  unter  denen  in  England,  die  sich  direkt  zu 
der  Arbeit  des  Folklore  bekennen  und  sie  fördern,  ist  Andrew  Lang. 
Er  hat  den  oben  aufgestellten  Satz  von  der  Art  der  Verwendung  der 
Naturvölkerkunde  mit  Energie  zur  Geltung  gebracht  und  in  seinen 
Büchern  wie  „Custom  and  Myth",  „Myth  Ritual  and  Religion",  „The 
making  of  Religion",  „Magic  and  Religion"  wird  jeder  Philologe  und 
jeder   Volkskundige,    der    sie    kennt,    wie    weit    er  auch   immer   der 


»  Bahnbrechend  in  anderem  Sinne  hätte  vielleicht  auch  das  1856  in  Riga 
erschienene  Buch  von  C.  Schirren  sein  können  über  „die  Wandersagen  der 
Neuseeländer  und  den  Mauimythus":  er  hat  mit  damals  unerhörter  Bestimmtheit 
die  Bedeutung  der  primitiven  Völker  für  Mythenforschung  erkannt.  Weil  das 
Buch  so  vergessen  ist,  nenne  ich's  hier. 


300  ^^ö*"  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 

glänzenden  Beredsamkeit  wird  folgen  können,  die  tiefste  und  ernsteste 
Förderung  zu  verdanken  haben.  Wenn  ich  unter  der  reichen  Zahl 
eifriger  Nachfolger  und  Mitarbeiter  der  Genannten,  von  deren  Arbeiten 
mir  natürlich  viele  bisher  unbekannt  geblieben  sind,  noch  einen  an- 
führen möchte,  so  bin  ich  dessen  sicher,  einen  Namen  zu  nennen,  an 
den  sich  schon  jetzt  gar  manches  Philologen  ehrlicher  Dank  knüpft. 
Unter  einem  Titel,  unter  dem  man  es  nicht  vermutet,  ist  uns  nun 
schon  in  zweiter  Ausgabe  in  drei  Bänden  eine  wahre  Schatzkammer 
von  wertvollstem  Material  und  klugen  Abhandlungen  über  eine  Menge 
für  uns  wesentlicher  Probleme  geschenkt  worden:  ich  meine  The 
golden  bough,  a  study  in  Magic  and  Religion  von  J.  G.  Frazer, 
London  1900.  Ich.  gehe  nicht  auf  die  mancherlei  Gegensätze  und 
Streitpunkte  bei  den  Aufstellungen  der  englischen  „Folkloristen"  ein, 
noch  weniger  auf  den  zum  größten  Teil  unbegründeten  Argwohn,  der 
ihnen  von  deutschen  Philologen  vielfach  entgegengebracht  wird.  Die 
Mängel,  die  manchen,  aber  durchaus  nicht  allen  Büchern  der  genannten 
183  Art  in  England  anhaften,  sind  meist  dadurch  veranlaßt,  daß  die  Autoren 
zu  keiner  philologischen  Forschung  und  Erkenntnis  in  rechtem  Ver- 
hältnis stehen.  Aber  es  ist  heute,  scheint  mir,  viel  wichtiger,  daß  die 
großen  englischen  Werke,  die  ich  genannt,  gelesen  und  verwertet, 
als  daß  sie  nicht  gelesen  und  verurteilt  werden. 

Den  Anregungen  der  englischen  Folklore -Bestrebungen  sind  andere 
Völker  gefolgt,  und  es  ist  erfreulich  für  uns  zu  beobachten,  wie  dann 
meist,  sobald  sie  tiefer  steigen,  der  gewaltige  Schatten  Jakob  Grimms 
beschworen  wird,  zu  helfen  und  den  Weg  zu  weisen.  Amerika  hat 
seine  Gesellschaft  und  sein  Journal  of  Folklore  seit  über  10  Jahren. 
Frankreich  hat  schon  viel  länger  seine  lange  Reihe  von  Veröffentlichungen, 
den  Traditions  populaires,  eröffnet  -  die  Melusine  des  vortrefflichen 
Gaidoz  ist  leider  mit  dem  10.  Jahrgang  zu  Ende  gegangen  -;  in 
Italien  erscheinen  die  Tradizioni  populari,  von  Pitre  begründet,  in 
Belgien  gibt's  Veröffentlichungen  für  wallonische  und  vlämische  Volks- 
kunde, in  Schweden  und  Dänemark  gibt  es  bereits  achtungswerte 
Leistungen,  organisierte  Vereine  und  Publikationen  soviel  ich  weiß  seit 
etwa  den  letzten  20  Jahren.  Ich  brauche  dergleichen  hier  nicht  weiter 
anzuführen:  in  einer  jüngst  erschienenen  Bibliographie^  findet  der 
Suchende  leicht  mehr,  als  er  zu  wissen  wünscht. 


^  In  Vollmöllers  Jahresbericht  über  die  romanische  Philologie  IV,  Heft  3, 
haben  Schermann  und  F.  S.  Krauß  über  die  allgemeine  Methodik  der  Volks- 
kunde und  die  Erscheinungen  1890-1897  einen  reichen  Bericht  geliefert. 


über  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde  3q1 

4 
Die  Umgrenzung  der  Volkskunde,  meist  mit  der  Bezeichnung  als 
Folklore  \  ist  im  großen  und  ganzen  in  den  genannten  Ländern  über- 
nommen und  man  wandte  ja  auch  in  Deutschland  bis  in  die  90  er 
Jahre  viel  häufiger  den  Ausdruck  Folklore,  sogar  mit  den  allerdings 
abscheulichen  Ableitungen  Folklorist  und  Folkloristik  an,  als  eine 
andere  Bezeichnung.  V^ann  zuerst  das  W^ort  Volkskunde  für  einen 
entsprechenden  bestimmten  Studienkreis  in  Anspruch  genommen  ist, 
weiß  ich  nicht.  Das  aber  ist  eine  der  seltsamsten  Verwandlungen  der 
Bezeichnung  und  mit  ihr  allmählich  des  Wesens  einer  Wissenschaft, 
daß  man  mit  Volkskunde  das  englische  Folklore  zu  übersetzen  glaubte,  184 
und  nun  statt  der  Wissenschaft  von  der  Weisheit  und  den  Über- 
lieferungen des  Volkes  eine  Wissenschaft,  eine  Kunde  vom  Volke 
überhaupt  hatte.  Durch  diese  seltsame  Umdrehung  und  Umdeutung 
des  Wortes  und  Begriffes  ist  nach  meiner  Überzeugung  die  Volks- 
kunde auf  die  bedenklichen  Bahnen  geraten,  die  sie  heute  immer 
wilder  verfolgt.  Ich  sehe  mit  einigem  Schrecken  die  Folgen  der  Be- 
nennung für  den  Inhalt  dieser  Studien.  Wer  eine  Definition  der  Volks- 
kunde geben  soll,  saugt  an  dem  Worte,  bis  er  das  große  Diktum  von 
sich  gegeben  hat:  Volkskunde  ist  die  Kunde  vom  Volke  in  allen  seinen 
Lebensäußerungen.  Und  mit  Stolz  betont  man  wohl,  daß  die  Volks- 
kunde viel  umfassender  sei  als  der  Folklore,  „sie  umfaßt  auch  die 
Kunde  des  Folklore,  aber  sie  ist  nicht  selbst  Folklore".  Sehen  wir, 
wohin  das  führt.  Weinhold  hat  1890^  definiert:  „Die  Volkskunde  hat 
die  Aufgabe,  das  Volk,  das  ist  eine  bestimmte,  geschichtlich  und 
geographisch  abgegrenzte  Menschenverbindung  von  Tausenden  oder 
Millionen,  in  allen  Lebensäußerungen  zu  erforschen",  und  in  der 
programmatischen  Aufstellung  der  Aufgaben  im  L  Heft  seiner  Zeit- 
schrift zählt  er  dann  in  der  Tat  sogar  zunächst  die  physische  Er- 
scheinung des  Volkes  dazu,  Knochenbau  und  Schädelbildung,  Muskel- 
ausbildung bei  Mann  und  Weib,  Gesichtszüge  (dabei  Farbe  der  Augen 
und  Haare),  er  beginnt  die  eigentliche  Volkskunde  mit  den  äußeren 
Zuständen,  mit  der  Volksnahrung  einst  und  jetzt,  Bereitung  derselben, 
dann  Tracht  und  Wohnung;  weiter  folgen  erst  die  Dinge,  von  denen 
oben   immer  die  Rede  gewesen  ist.     Ich  finde  am  weitesten  getrieben 


'  Das  Kapitel  von  Andrew  Lang  The  Method  of  Folklore  in  Custom  and 
Myth  2.  ed.  10 ff.  wird  am  präzisesten  die  Hauptgesichtspunkte  geben,  die  einst- 
weilen fast  durchweg  dort  maßgebend  blieben. 

«  In  dem  Aufsatz  „Was  soll  die  Volkskunde  leisten?«  im  letzten  Bande  der 
Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  XX  S.  2. 


302  ^^®r  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 

diese  Ausweitung  der  Aufgaben  in  dem  Arbeitsplan,  den  der  sächsische 
Verein  für  Volkskunde  gegeben  hat:  nicht  bloß  Geologie  des  Landes, 
alles,  was  man  im  engeren  Sinne  Geographie  nennt,  die  Besiedelung, 
die  gesamte  Bevölkerungsstatistik  samt  Konfessions-  und  Religions- 
statistik, Schulwesen,  Kriminalstatistik,  Berufsstatistik,  ja  Besitz  und 
Einkommen,  Natural-  und  Feldwirtschaft,  die  ganze  Nationalökonomie, 
im  Ausschnitt  für  Sachsen,  gehören  dazu.  Man  verstehe  mich  nicht 
falsch.  Mir  fällt  gar  nicht  ein,  die  Berechtigung  all  der  Aufgaben  zu 
bestreiten  oder  auch  nur  zu  verkleinern:  aber  dies  Konglomerat  von 
Aufgaben  ist  doch  weder  eine  Wissenschaft,  der  einheitliche  Probleme 
feste  Gesetze  geben,  noch  ein  Forschungsgebiet,  dem  menschliche 
Forscher  sich  widmen  können.  Der  Einheitspunkt  ist  in  dem  letzt- 
185  erwähnten  Plan  nur  das  Land,  für  das  die  verschiedensten  Wissen- 
schaften und  die  verschiedensten  Gelehrten  -  so  ist  ja  auch  die  Zu- 
sammenarbeit der  verschiedensten  Fachleute  in  Sachsen  geplant  - 
eine  „Landeskunde"  mannigfaltigsten  Wertes  liefern  können.  Nur  da- 
gegen darf  ich  Verwahrung  einlegen,  daß  diese  Art  der  „Landeskunde" 
wissenschaftliche  Volkskunde  sei. 

Viel  eher  noch  ist  es  das,  was  die  Kunde  vom  Volke  in  allen 
seinen  Lebensäußerungen  umfaßt,  aber  das  ist  so  allgemein  eben  die 
geschichtliche  Philologie,  die  diesem  Volke  gilt,  und  beschränkt  man 
die  Volkskunde,  wie  zu  geschehen  pflegt,  auf  die  kulturlose  Unter- 
schicht, auf  vulgus  in  populo,  so  ist  das  wohl  äußerlich  eine  Unter- 
abteilung jeder  Philologie;  andererseits  stehen  wir  wieder  einer 
grenzenlosen,  einstweilen  ordnungslosen  Fülle  der  Aufgaben  gegenüber, 
die  mit  einer  eigenen  Bezeichnung  besonders  abzutrennen  ein  schwer- 
lich berechtigtes  Vorgehen  wäre.  Daß  die  germanistische  Wissenschaft, 
wie  es  die  klassische  Philologie  für  die  Erforschung  der  antiken  Völker 
schon  lange  getan  hat,  die  Forderung  prinzipiell  aufstellt,  das  deutsche 
Volk  in  allen  seinen  Lebensäußerungen  und  eben  auch  das  niedere, 
das  eigentliche  Volk  in  allem  Denken  und  Schaffen  und  Handeln  auf- 
zusuchen, ist  nur  recht  und  rühmenswert.  Und  daß  unsere  Volkskunde 
auf  jeden  Fall  in  diesem  Kreis  zu  arbeiten  hat,  in  der  Erforschung 
deutschen  Volkes,  geleitet  von  der  germanistischen  Wissenschaft,  ist 
nur  selbstverständlich.  Wenn  eine  Volkskunde  als  ein  besonderer 
Forschungskreis  umgrenzt  wird,  so  heißt  das  noch  etwas  anderes. 
Der  Vergleich  mit  der  Sprache  redet  wieder  am  deutlichsten:  es  gibt 
eine  Wissenschaft  der  deutschen,  der  griechischen  usw.  Sprache 
innerhalb  der  betreffenden  Philologie  und  es  gibt  eine  allgemeine, 
eine  vergleichende  Sprachwissenschaft,  die  freilich  keiner,  ohne  eine 


über  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde  393 

jener  spezielleren  Wissenschaften  zu  beherrschen,  betreiben  kann. 
So  auch  hier.  Es  gibt  eine  Kunde  von  nächst  der  Sprache  unmittel- 
barsten Äußerungen  des  Menschen,  Glaube,  Sage,  Sitte,  in  jeder 
Philologie  diejenige  von  Glaube,  Sage,  Sitte  des  betreffenden  Volkes, 
und  es  gibt  und  muß  geben  eine  Forschung,  die  sich  auf  Glaube, 
Sage,  Sitte  der  verschiedenen  Völker,  soweit  sie  die  in  sicheren  Be- 
reich ihrer  Studien  ziehen  kann,  richtet:  die  Bezeichnung  Folklore  ließ 
für  die  Engländer  keinen  Zweifel,  was  gemeint  war,  und  sie  sind  nie 
schwankend  geworden  in  den  Wesens-  und  Grenzbestimmungen. 
Aber  nur  für  das  Gleiche  kann  der  besondere  Name  einer  Volks- 
kunde, einer  vergleichenden  Volkskunde  Berechtigung  haben,  wie  ich 
sie  oben  bereits  in  ihrer  selbständigen  Bedeutung  zu  charakterisieren 
versucht  habe. 

Wir  müssen  zunächst  einsehen,  daß  der  Name  unglücklich  gegriffen  186 
ist;  die  Verwechslungen  und  falschen  Ausdeutungen  sind  gar  nicht  zu 
vermeiden.  Daher  auch  die  endlosen  Debatten  über  das,  was  Volks- 
kunde sei  und  umfasse.  Es  ist  nun  einmal  nicht  zu  ändern;  der 
Name  ist  festgewurzelt  und  zu  dem  englischen  Folklore  wollen  und 
können  wir  nicht  zurückkehren.  Aber  es  ist  die  höchste  Zeit,  daß 
das  Streben  nicht  auf  grenzenlose  Erweiterung  des  Gebiets  gehe, 
sondern  umgekehrt  auf  straffe  Einspannung  in  die  wirklich  zusammen- 
gehörigen und  wirklich  einheitlichen  wissenschaftlichen  Probleme. 
Manche,  dem  nächsten  Wortsinn  nach  ganz  mißverständliche  oder 
nichtssagende  allgemeine  Benennung  einer  Wissenschaft  (wie  z.  B.  der 
Physik),  ist  durch  einfachen  Usus  auf  ein  bestimmt  umrissenes  Gebiet 
spezialisiert  worden,  so  daß  sie  jedermann  richtig  versteht.  Jedenfalls 
muß  erreicht  werden,  daß  die  Kunde  vom  Denken  und  Glauben,  von 
der  Sitte  und  Sage  des  Menschen  ohne  Kultur  und  unter  der  Kultur 
den  Kern  der  Forschung  der  Volkskunde  bildet.  Was  außerdem 
herangezogen  werden  muß,  kommt  nur  in  Betracht,  so  weit  es  dieses 
Volksdenken,  Volksglauben,  Volkssagen,  Volksbrauch  und  Volkskunst, 
wenn  das  Wort  gestattet  ist,  erklärt.  Das  können  natürlich  auch  sehr 
materielle  Dinge  sein  -  nicht  bloß  immaterielle  (A.  Lang)  -  wie  Tracht 
und  Hausbau,  Möbel  und  Schnitzwerk,  die  Anfänge  einer  Kunstübung. 
Aber  alles  dient  nur  der  Erkenntnis  jener  geistigen  Funktionen. 

5 
Alles  einzelne  ergibt  sich  bei  der  Arbeit  selbst.    Und  so  will  ich 
mich   denn  auch  nicht  mit  subtilen  Grenzregulierungen  gegenüber  den 
Bestrebungen  der  Anthropologie  und  Ethnologie  abgeben.    Diese  leiden 


304  ^^^^  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 

in  der  Tat  wie  eine  Anzahl  ähnlicher  noch  junger  Wissenschaften  an 
einer  unglücklichen  Grenzenlosigkeit,  ja,  wie  etwa  die  Geographie  an 
einer  fast  wie  es  scheint  unheilbaren  Rückenmarkskrankheit  ihres 
wissenschaftlichen  Organismus.  Nicht  selten  hat  in  solchen  Fällen  der 
äußere  Name  den  unendlichen  Erweiterungsdrang  hervorgerufen  oder 
doch  verstärkt.  „Anthropologie"  als  die  Wissenschaft  vom  Menschen 
umfaßt  ja  alle  Studien,  die  sich  auf  physische  Beschaffenheit  und  auf 
geschichtliche  Entwicklung  des  Menschen  beziehen  und  man  mag  ja 
alle  Anatomie  und  Biologie,  alle  Philologie  und  Geschichte  unter  dem 
Namen  begreifen  und  sich  so  die  prinzipielle  Einheit  aller  Wissenschaft 
187  vom  Menschen  gegenwärtig  halten.  Es  hätte  aber  etwas  geradezu 
herausfordernd  Komisches,  wenn  sich  in  solchem  Sinne  ein  einzelner 
als  „Anthropologen"  bezeichnen  wollte,  wenn  nicht  in  der  Praxis  die 
Anthropologie  ganz  bestimmte  engere  Gebiete  der  Menschenforschung, 
in  freilich  bei  den  einzelnen  Forschern  noch  sehr  verschiedener  Um- 
grenzung und  Auffassung,  zum  Gegenstand  ihrer  Untersuchungen  ge- 
macht hätte.  Ein  namhafter  Gelehrter  auf  dem  Gebiete  der  Ethnologie 
oder  Völkerkunde  hat  rundweg  die  Geschichte  eine  Hilfswissenschaft 
der  Völkerkunde  genannt,  da  sie  in  Wahrheit  nichts  anderes  sei  als 
historische  Völkerkunde;  denn  die  letztere  willkürlich  auf  die  Zustände 
der  Gegenwart  zu  beschränken,  liege  kein  Grund  vor.  Sie  irgendwie 
innerhalb  des  geradezu  allumfassenden  Gebietes  zu  beschränken,  liegt 
in  der  Tat  nur  der  eine  sehr  triftige  Grund  vor,  daß  erst  dann  Ethno- 
logie der  Name  einer  zu  gesondertem  Betriebe  berechtigten  Wissen- 
schaft wird.  Das  ist  er  ja  tatsächlich  längst  geworden  und  ein  Blick 
in  die  Literatur  und  in  die  Sammlungen  der  Völkerkunde  lehrt  ja,  daß 
Steinthal  im  großen  und  ganzen  recht  hatte,  wenn  er  in  der  Völker- 
kunde die  Wissenschaft  für  das  Leben  der  „ungeschichtlichen"  Völker 
sehen  wollte.  Die  Erkenntnis  der  geschichtlichen  Entwicklung  der 
Menschheit,  der  geschichtlichen  Völker  war  ihm  Philologie.  Friedrich 
Ratzel  erkennt  die  Aufgabe  der  Völkerkunde  darin,  die  Menschheit, 
wie  sie  heute  lebt,  in  allen  ihren  Teilen  kennen  zu  lernen.  Es  treten 
aber  die  Kulturvölker  mit  ihren  geschichtlich  begründeten  komplizierten 
Lebensäußerungen  ganz  von  selbst  in  den  Hintergrund,  da  eben  hier 
die  Philologien  die  Schlüssel  der  Erkenntnis  verwahren,  die  der  Völker- 
kundige von  heute  handhaben  zu  lernen  meist  verschmäht.  Sie  wissen 
es  ja  nicht,  daß  fast  immer  der  einzelne  Sterbliche  nur  mit  ihrer  einem 
wirklich  aufzuschließen  lernt  Pforten  wahrer  und  tiefer  Erkenntnis.  Am 
nächsten  steht  den  Problemen  der  „Volkskunde"  in  unserem  Sinne, 
was    die   Völkerpsychologie    früher    öfter    denn    heute   als   besondere 


Ober  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde  3O5 

Wissenschaft  in  Anspruch  nahm.  Für  Wilhelm  Wundt  sind  Sprache, 
Mythus  und  Sitte  die  drei  Grundprobleme  der  Völkerpsychologie  und 
dieser  umfassende  Geist  geht  in  der  Tat  auf  seinen  eigenen,  vielleicht 
nur  gar  zu  geraden  und  direkten  Wegen  zu  den  gleichen  Zielen,  die 
einer  „Volkskunde"  der  Zukunft  gesteckt  sind. 

Die  Hauptsache  für  die  Philologen  und  die  Ethnologen  und  Völker- 
psychologen ist  es  aber  heute  wahrlich  nicht,  sich  durch  prinzipielle 
Gebietsstreitigkeiten  zu  entfremden.  Es  ist  zunächst  das  wichtigste, 
daß  wir  ineinander  gerade  in  den  Problemen,  die  ich  hier  erörtere,  188 
natürliche  Bundesgenossen  erkennen,  und  daß  wir  ernsthaft  beginnen, 
voneinander  lernen  zu  wollen.  Statt  immer  wieder  auf  das  Un- 
methodische und  Dilettantische  einzelner  oder  vieler  Leistungen  der 
einen  herabzusehen  und  von  der  Zurückgebliebenheit  und  Verknöcherung 
der  anderen  sich  verächtlich  abzuwenden,  sollten  beide  wissen,  daß 
so  vielfach  gerade  was  ihnen  fehlt  auf  der  anderen  Seite  zu  finden 
ist.  Die  Ethnologen  können  von  uns  Philologen  viel  lernen,  aber  wir 
Philologen  können  auch  von  ihnen  sehr  viel  lernen,  dessen  wir  zur 
Lösung,  ja  überhaupt  zur  Stellung  vieler  großer  Probleme  gar  nicht 
entraten  können.  Es  muß  sich  rächen,  wenn  unsere  Fachgenossen  an 
so  außerordentlich  bedeutsamen  Schriften  wie  etwa  denen  von  Heinrich 
Schurtz  achtlos  und  ahnungslos  vorübergehen.  Das  letzte  Buch  von 
Schurtz  über  Altersklassen  und  Männerbünde  gibt  eine  erste  Grund- 
lage, die  Entwicklung  gesellschaftlicher  Gestaltungen  der  Menschheit 
nicht  mehr  bloß  zu  konstruieren,  sondern  geschichtlich  zu  erfassen.^ 
Ein  Buch  wie  das  von  dem  Nationalökonomen  Karl  Bücher  über  „Arbeit 
und  Rhythmus",  eine  glänzende  Leistung  der  Volkskunde  in  dem  rechten 
Sinne,  den  wir  meinen,  hat  wieder  einmal  gezeigt,  wie  die  Verbindung 
der  Arbeit  verschiedener  Studienkreise  zu  den  wesentlichsten  wissen- 
schaftlichen Erkenntnissen  führt  und  es  hat  -  ein  seltener  Fall  -  den 
Beifall  aller  beteiligten  Zünfte  gefunden.  Die  Ethnologen  sollten  aber 
an  ihrem  Teile  einsehen,  daß  Philologie  nicht  nach  der  Erinnerung  an 
irgendeinen  schlechten  Lehrer  oder  der  Begegnung  mit  irgendeinem 
armseligen  Wald-  und  Wiesenphilologen  zu  beurteilen  ist.  Wenn  sie 
wollten,  würden  sie  leicht  sehen,  wie  gerade  die  klassische  Philologie, 
die  sie  für  die  Toteste  der  Toten  halten,  in  den  letzten  Dezennien  die 
größten,  sie  würden  wohl  sagen  die  modernsten  Probleme  auf  allen 
Gebieten  geschichtlicher  Forschung  mit  jugendfrischem  Mut  und  glänzen- 

»  Ich  rede  absichtlich  nicht  von  Bastians  Werken,  um  nicht  die  schuldige 
Hochachtung  vor  dem  bedeutenden  Manne  zu  verletzen.    Englisch  kann  man 
lernen,  wenn  man's  nicht  kann;  die  Sprache  Bastians  kann  man  nicht  lernen. 
Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  20 


306  ^^^^  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 

den  Erfolgen,  in  Wahrheit  die  Führerin  der  heutigen  Geschichtswissen- 
schaft, angegriffen  hat.  Sie  hätten  sehen  sollen,  welch  brennendes 
Interesse  vor  Jahren  von  den  Steinens  herrliches  Buch  „Unter  den 
Zentralvölkern  Brasiliens"  unter  einem  Kreise  von  germanistischen  und 
klassischen  Philologen  hervorrief  und  nach  allen  Seiten  anregend  und 
aufklärend  auf  ihre  Studien  wirkte.  Ich  muß  dann  freilich  auch  des 
189  hochverehrten  Fachgenossen  gedenken,  der  meinen  Abfall  vom  heiligen 
Geiste  der  Philologie  für  besiegelt  hielt,  als  ich  ihm  von  der  Lektüre 
des  Steinenschen  Buches  erzählte. 

Wenn  wir  Philologen  wissen,  daß  wir  in  etlichen,  ja  allen  Haupt- 
gebieten unseres  Faches  nicht  zu  wirklich  wissenschaftlicher  Er- 
kenntnis vordringen  können,  ohne  die  Analogien  zu  verwerten,  die 
eben  die  Volkskunde  liefert,  wie  ich  sie  umgrenzt  habe,  so  ist  es  un- 
sittlich, trotzdem  bei  der  Arbeit  an  eben  jenen  Problemen  auf  diese 
Analogien  in  traditionellem  Zunftbetrieb  verzichten  zu  wollen.  Wer  den 
Weg  zur  Wahrheit  kennt  und  geht  ihn  doch  nicht,  wenn  er  zu  dieser 
Wahrheit  will,  auch  der  ist  in  der  Wissenschaft  ein  erbärmlicher 
Wicht. 

Die  Historiker,  die  sich  über  die  Bedeutung  des  Individuums  und 
der  Massen  im  geschichtlichen  Völkerleben  streiten,  reden  Wind,  so- 
lange sie  sich  nicht  ernsthaft  über  das  Wesen  der  Vorgänge  des  un- 
mittelbaren Volkslebens  in  Glauben  und  Sitte,  Recht  und  sozialen  Ge- 
staltungen am  wirklichen  Material  belehrt  haben.  Nur  so  kann  man 
im  Verständnis  der  Äußerungen  und  Schöpfungen  der  „Massen",  bei 
denen  wohl  Individuen  beteiligt,  aber  Individualitäten  für  geschichtliche 
Forschung  nicht  zu  unterscheiden  sind,  und  bei  der  Entwicklung  der 
schöpferischen  Persönlichkeit  aus  dem  Mutterboden  des  „Volkes"  über 
Phrasen  und  Wortstreitereien  hinauskommen. 

Darum  ist  gewiß  nicht  jeder  Philologe  oder  Historiker  verpflichtet, 
an  der  Arbeit  für  die  der  Volkskunde  im  besondern  gestellten  Probleme 
sich  zu  beteiligen.  Die  wesentlichen  Resultate  wird  einst  jeder  von 
ihnen,  das  wage  ich  vorauszusagen,  zu  den  hauptsächlichsten  Funda- 
menten seiner  Forschung  zu  rechnen  haben.  Denn  es  handelt  sich 
um  nichts  weniger  als  darum,  mit  induktiv -geschichtlichen  Methoden 
zu  Gesetzen  der  Entwicklung  menschlichen  Denkens  vorzudringen.  Ich 
will  über  diese  schwierigen  und  vielen  anstößigen  Dinge  nur  wenige 
Worte  sagen;  das  aber  kann  ich  nicht  ganz  unterlassen.  Wenn  wir 
gewisse  Tatsachen  des  Volksglaubens  und  der  Volksbräuche  in  den 
unteren  Schichten  unseres  Volkes  feststellen,  da  wo  wir  sie  in  unseres 
eigenen  Volkes  Leben  am  sichersten  erkunden  und  in  ihren  Haupt- 


Ober  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde  397 

formen  erfassen  können,  wenn  wir  die  gleichen  Tatsachen  in  eben 
diesen  klar  erkennbaren  Hauptformen  für  das  Volksleben  eines  ge- 
schichtlichen Kulturvolkes,  also  z.  B.  der  Griechen  und  Römer,  als  ge- 
schichtlich bezeugt  vorfinden,  und  wenn  wir  endlich  die  gleichen 
Tatsachen  in  den  wiederum  klar  erkennbaren  Hauptformen  für  sogenannte 
Naturvölker  an  weit  voneinander  entfernten  Punkten  der  Erde  einwand- 
frei und  zweifellos  erforscht,  bezeugt  und  klargestellt  bekommen,  so  190 
stehen  wir  -  falls  in  eben  den  vorliegenden  Fällen  gegenseitige  Über- 
tragung im  gewöhnlichen  Sinne  mit  Sicherheit  auszuschließen  möglich 
ist  (und  das  ist  in  zahlreichen  Fällen  möglich)  -  so  stehen  wir,  sage 
ich,  vor  dem  Material  zur  Erfassung  von  Gesetzen  der  Entwicklung 
des  menschlichen  Denkens.  In  den  Fällen,  die  ich  im  Auge  habe, 
handelt  es  sich  um  religiöses  Denken  und  dessen  Formen.  Freilich 
wird  das  primitive  Denken  in  gewissem  Sinne  immer  und  überall 
„religiös"  sein.  Ich  will  nur  auf  ein  Beispiel  hinweisen,  das  ich  ein- 
mal später  in  ausführlicher  Untersuchung  vorzulegen  hoffe.  Wenn 
ganz  konkrete  Zauberbräuche  in  allen  wesentlichen,  sehr  leicht  kon- 
trollierbaren und  von  jeder  Deutung  unabhängig  festzustellenden  Einzel- 
heiten (sogar  öfter  die  Hauptformeln  und  Wendungen  der  Zaubersprüche) 
in  unserem  Volksbrauch,  im  Volksbrauch  der  Alten  (von  deren  Zauber- 
büchern wir  wieder  viele  besitzen)  und  im  Brauche  etwa  der  Malayen 
von  Malakka,  der  Neger  am  Kongo,  der  Indianer  von  Nordamerika 
übereinstimmen,  wenn  gegenseitige  Übernahme  bis  auf  ganz  ver- 
schwindende Einzelheiten  und  einige  ganz  zurücktretende  Möglichkeiten 
ausgeschlossen  ist,  (die  Übertragung  ähnlicher  Dinge  ist  ein  sehr 
interessantes  geschichtliches  Problem  für  sich),  so  müssen  an  solchem 
Material  bestimmte  Formen  zu  erforschen  sein,  die  das  menschliche 
Denken  auf  einer  bestimmten  Stufe  der  Entwicklung  durchgemacht 
hat.  Irgendwelche  Theorien  vom  gemeinsamen  oder  nichtgemeinsamen 
Ursprung  des  Menschengeschlechts  ändern  an  dieser  Problemstellung 
gar  nichts.^  Man  meint,  das  könnte  gar  niemand  abstreiten.  Und 
wenn  es  nicht  abzustreiten  ist,  muß  dann  nicht  jeden  eine  Ahnung 
von  der  Größe  der  hier  gestellten  Probleme  überkommen? 

Sie  liegen,  so  fern  sie  noch  von  irgendwelcher  Lösung  sind,  heute 
näher  als  die,  von  deren  Lösung  schon  jetzt  eine  optimistische  Völker- 

^  Im  übrigen  möchte  ich  nur  aussprechen,  daß  ich  einen  Streit  darum,  ob 
man  bei  solchen  Gesetzen,  wie  ich  sie  meine,  von  Naturgesetzen  sprechen 
dürfe  oder  nicht,  für  ganz  müßig  halte.  Wir  werden  ja  erst  finden,  welcher 
Art  die  Gesetze  sind,  und  es  sind  eben  Gesetze  geistiger  Entwicklungen,  die 
anders  sind  und  so  viel  schwerer  zu  finden  und  zu  formulieren  als  die  der 
Naturvorgänge. 

20* 


308  ^^®^  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 

Psychologie  träumt.  Die  Denkformen  der  Psyche  jedes  einzelnen 
Volkes  in  ihrer  Verschiedenheit,  in  ihrer  charakteristischen  Differen- 
zierung wissenschaftlich  zu  erforschen,  ist  bis  heute  eine  völlige  Utopie, 
wie  noch  so  manche  ähnliche  Fragestellungen,  von  denen  man  lesen 
und  hören  kann. 
191  Aber  weder  Utopie  noch  Phantasterei,  sondern  eine  sehr  ge- 
bieterische Forderung  gerade  an  die  wissenschaftliche  Arbeit  unserer 
Zeit  —  denn  verschiedenen  Zeiten  sind  verschiedene  Probleme  gestellt 
-  sind  die  Aufgaben  einer  philologisch -psychologischen,  vergleichen- 
den Volkskunde,  wenn  ich  denn  auch  einmal  ein  paar  große  Worte 
zusammensetzen  darf. 

6 

Es  handelt  sich  ganz  und  gar  nicht  um  eine  neu  zu  gründende 
oder  neu  gegründete  Wissenschaft;  kein  Prophetentum  neuer  wissen- 
schaftlicher Offenbarungen  soll  getrieben,  auch  keine  neuen  Lehrstühle 
für  Volkskunde  sollen  gefordert  werden.  All  dergleichen  ist  mir  in 
der  Seele  verhaßt.  Es  ist  mir  auch  eigentlich  im  innersten  gleich- 
gültig, ob  man  „Volkskunde"  als  eine  selbständige  Wissenschaft  an- 
erkennt oder  nicht.  Vor  Leuten,  die  nur  Volkskunde  als  ihre  Wissen- 
schaft betreiben,  mag  uns  der  Himmel  in  Gnaden  bewahren.  Viel 
wichtiger  ist  es,  der  namentlich  unter  Philologen  nicht  selten  geäußerten 
Anschauung  entgegenzutreten,  daß  es  noch  nicht  Zeit  sei,  den  oben 
skizzierten  Aufgaben  näher  zu  treten.  Das  Material  sei  noch  zu  spärlich 
und  man  dürfe  zu  vergleichen  überhaupt  erst  beginnen,  wenn  alle 
Einzelforschung  vollständig  getan  sei.  Die  den  ersten  Grund  geltend 
machen,  zeigen  sträfliche  Unwissenheit.  Wir  verfügen  bereits,  so  un- 
endlich viel  auch  noch  zu  tun  bleibt,  über  ungeheure  Mengen  ein- 
wandfrei vorgelegten  Materials  sowohl  was  Deutschland  anbetrifft  als 
auch  z.  B.  was  die  Naturvölker  angeht.  Eine  ganze  Reihe  ausgezeichneter, 
namentlich  englischer  Werke  (ein  Muster  in  unserer  Literatur,  das 
Werk  von  den  Steinens,  nannte  ich  oben)  und  reicher  Sammlungen, 
soweit  sie  für  diese  Dinge  in  Betracht  kommen,  verdienen  absolut 
nicht  den  Verdacht  der  Ungenauigkeit  oder  Zweifelhaftigkeit  des  Be- 
richteten. Man  darf  wohl  sagen,  daß  es  höchste  Zeit  ist,  daß  neben 
dem  Sammeln  und  Sichten  des  Materials  die  Aufgaben  der  wissen- 
schaftlichen Verwertung  ernsthaft  in  Angriff  genommen  werden.  Hätten 
wir,  um  das  oben  gegriffene  Beispiel  wieder  zu  verwenden,  eine  ge- 
schichtlich-philologisch, vom  Deutschen  oder  Antiken  als  philologischen 
Fundament    ausgehende    Untersuchung    und    Darstellung    der    Haupt- 


Ober  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde  309 

formen  des  Zauberbrauchs  und  Zauberspruchs  mit  einer  Art  Ur- 
kundenbuch  aller  hauptsächlichen  Gestaltungen,  so  wäre  der  heute 
völligen  Planlosigkeit  und  Zwecklosigkeit  der  zahllosen  Publikationen 
von  immer  wieder  demselben  Aberglauben  und  denselben  Zauber- 
sprüchen an  allen  möglichen  Orten  der  Literatur  sofort  abgeholfen.  192 
Dann  wäre  in  jedem  Falle  sogleich  zu  erkennen,  wo  neuer  Aufschluß 
gegeben  wird. 

Kann  man  wirklich  mit  dem  Heranziehen  von  Analogien  warten, 
bis  die  einzelnen  Tatsachen  ganz  erforscht  sind?  Wie  oft  kann  die 
Forschung  erst  wieder  durch  die  Anregung  der  Analogie  weiter  gehen. 
Gerade  durch  diese  Wechselwirkung  wird  der  Fortschritt  so  oft  bewirkt. 
Sollte  Erwin  Rohde  warten,  uns  den  Dionysoskult  in  seiner  tiefsten 
Natur  ganz  verständlich  zu  machen  durch  die  Analogie  etlicher 
orientalischer  und  gewisser  Bräuche  der  Naturvölker,  bis  die  griechische 
Religion  in  allen  ihren  Einzelheiten  erforscht  war?  Und  ich  behaupte, 
daß  wir  eben  in  der  antiken  „Mythologie"  -  und  wahrlich  nicht  bloß 
der  Mythologie!  -  überall  gerade  da  festsitzen  oder  falsch  fahren, 
wo  die  Volkskunde,  wie  ich  sie  meine,  nicht  weiter  hilft.  Ist  das  Ge- 
biet hier  und  da  „verschwommen"  -  nun,  alles  Gebiet  war  ver- 
schwommen, bis  feste  Fundamente  gelegt  und  feste  Wege  gebaut 
wurden.  Und  im  Gegenteil:  mythologischer  Forschung,  in  der  wieder, 
von  glänzenden  Ausnahmen  abgesehen,  ein  wahres  Narrentreiben  sich 
breit  macht,  kann  die  ernste  Beschäftigung  mit  den  Dingen  der  Volks- 
kunde festere  Zucht  verleihen.  Ein  Mann,  der  mit  dem  Denken  und 
Empfinden  des  „Volkes"  innerlich  gar  keine  Fühlung  hat,  der  auch 
von  Glaube  und  Brauch  seines  eigenen  Volkes  nichts  weiß  noch  wissen 
will,  kann  ebensowenig  „Mythologie"  treiben  oder  auch  nur  irgend- 
eine Religion  verstehen,  wie  einer,  der  gar  kein  religiöses  Empfinden 
in  seinem  Innern  besitzt.  Es  ist  ein  Gesetz,  das  keiner  ungestraft 
übertritt:  Fremdes  können  wir  nur  verstehen,  wenn  wir  Analoges 
in  uns  und  unserem  Volke  verstehen,  wenn  es  irgendwie  verwandt 
in  unserem  eigenen  Leben  lebt.  Dann  erst  können  wir  uns  weiterhin 
durch  philologische  Arbeit  „zum  Nachempfinden  erziehen"  der 
Empfindungen  längst  vergangener  Zeiten  und  Menschen.  Freilich 
sind  dem  wissenschaftlichen  Arbeiter  durch  seine  Eigenart  ver- 
schiedene Wege  gewiesen.  Ich  könnte  davon  reden,  daß  bei 
manchem  die  Liebe  zur  engeren  Heimat  und  das  Verständnis  seines 
Volkes  mit  den  höchsten  wissenschaftlichen  Aufgaben,  die  scheinbar 
damit  gar  nichts  zu  tun  haben,  im  innersten  wesentlichen  Zusammen- 
hang steht. 


310  Ober  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde 

7 
Die  Volkskunde,   die   wir   meinen,   haben   ja   in   den   letzten  Jahr- 
zehnten gar  manche  Philologen,  namentlich  klassische  und  semitische, 
193  in    großem    Stile    und    mit   glänzendem   Erfolge   getrieben,    ohne   viel 
Aufhebens  davon  zu  machen,  meist  auch  ohne  unsere  Bezeichnung  zu 
gebrauchen.     Wir    können    nicht   vermeiden,    öffentlich   von   unseren 
Zielen    zu    sprechen   und    der   gemeinsamen    Arbeit    einen    Namen   zu 
geben,  weil  wir  eine  Vereinigung  gegründet  haben  und  sie  ausbreiten 
wollen.     Die   eigentlichen   höchsten  wissenschaftlichen   Aufgaben,  von 
denen  ich  zuletzt  andeutend  sprach,  werden  gewiß  nie  von  Vereinigungen 
gelöst  werden,  sondern  von  einzelnen.    Aber  anderes  kann  der  einzelne 
nicht  leisten,  am  wenigsten  in  diesem  Gebiete,  das  so  unendlich  aus- 
gedehnten Materiales    bedarf.     Für   viele   Dinge   sind  Vereine   höchst 
überflüssig  und   es   kann   mit  Recht   heute   ohne  weiteres  eine  frivole 
Belästigung  der  Mitmenschen  scheinen,  einen  neuen  Verein  zu  gründen. 
Hier  ist  Vereinigung  notwendig,   soll   irgendwie  ernsthaft  ein  Ziel  er- 
reicht werden.     Der  einzelne  kann  nur  verschwindend  wenig  sammeln 
und  selbst  kennen  lernen,  mancher  kann  das  überhaupt  nicht,  der  die 
Sammlungen  doch  braucht  und  zu  brauchen  weiß.    Sammeln  in  diesen 
Dingen  ist  viel  mehr  als  ein  äußerliches  Auffangen  und  Notieren,  was 
jeder  besorgen  könnte,  der  fragen  und  sehen  kann.    Ohne  die  Eigen- 
art  des  Volkes   selbst  zu   kennen,  kann  ihm  niemand  sein  Leben  ab- 
lauschen,  meist  kann   es  nur  der  Sohn   dieses  Volkes  selbst,   der  in 
ihm,  in  wirklicher  Gemeinsamkeit   mit  ihm  aufgewachsen  ist.     Und  es 
gehört   eine  wenn  auch  nur  allgemeine  Vorstellung  von  den  Zwecken, 
für  die  gesammelt  wird,   unmittelbar  dazu.     Einer  muß  dem  anderen 
Verständnis  und  Interesse  vermitteln  helfen.    Ohne  eine  fest  organisierte 
Vereinigung  der  verschiedensten  Elemente  läßt  sich  Material  in  diesem 
Falle  nie  in  der  rechten  Weise  sammeln  und  für  die  Forschung  parat 
legen.    Und  man  soll  diese  vorbereitende  Tätigkeit  des  Sammeins  nicht 
gering  schätzen;   es  ist  auch  eine  wissenschaftliche  Tätigkeit,   und  wie 
oft  ist  ein  ganzes  der  Wissenschaft  gewidmetes  Leben  nichts  anderes 
als   ein   vorbereitendes  Sammeln   und   ihm   wird    doch   sein  Lohn  im 
Danke  der  Nachfolger  nicht  vorenthalten.    Ja,  es  gehört  ein  gar  feiner 
Sinn   dazu,   Sammlungen   über  Volksbrauch  und  Volksglauben,   Volks- 
sitte und  Volkssage  zu  unternehmen.    Die  Angst  vor  dem  Dilettantismus 
ist  meist  übertrieben,  in  einer  gut  organisierten  Vereinigung  fast  über- 
flüssig.    Der  rechte  Sinn  für  das  Tatsächliche,   für  unbestechliche  Be- 
wahrung des   Gehörten   und   Gesehenen   sind   die  Tugend,   die  jeder, 
der  helfen  will,  vor  allem  in  sich  erziehen  muß.    Vor  allem  muß  jeder 


über  Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde  311 

gegenwärtig  haben,  daß  zunächst  niemand  wissen  kann,  wozu  das 
Geringste,  das  einstweilen  unverstanden  bleibt,  später  vielleicht  helfen  194 
wird.  Die  sogenannte  Deutung  hat  für  jeden  Sammler  zunächst  nur 
die  Gefahr,  daß  sie  unmittelbar  die  Objektivität  der  Angaben  beeinflußt. 
Es  handelt  sich  heute  vor  allem  um  Rettung  reichen  Materials,  ehe  es 
zu  spät  ist.  Wer  es  weiß  oder  ahnt,  welche  Reichtümer  gerade  in 
hessischen  Landen  verborgen  liegen  und  mit  jedem  Tage,  mit  jeder 
Stunde  geringer  werden  und  verioren  gehen,  der  muß  die  Verpflichtung 
fühlen,  an  seinem  Teile  zur  Rettung  beizutragen  und  zu  mahnen,  wenn 
er  dazu  irgendwelchen  Beruf  hat.  Unsere  hessische  Vereinigung  ist 
jetzt  die  letzte  und  jüngste  derer,  die  sich  in  Deutschland  gebildet 
haben.  Aber  es  wäre  nicht  unnatürlich,  wenn  das  Heimatland  Jakob 
Grimms  im  Südwesten  Deutschlands,  in  dem  es  wenig  Anfänge  solcher 
Organisationen  gibt,  in  der  Anregung  und  Leitung  der  Rettung  unserer 
reichen  Volksüberiieferungen  voran  ginge. 

Der  Name  dieses  Mannes  ohne  Gleichen  muß  wie  eine  stete 
Mahnung  über  uns  sein:  in  seiner  Nachfolge  wollen  wir  die  Arbeit  tun, 
die  wir  vermögen.  Es  mag  uns  wohl  stolz  machen,  aber  vor  allem 
soll  es  uns  verpflichten,  daß  der  größte  Philologe  und  zugleich  der 
größte  Volkskundige  des  vergangenen  Jahrhunderts  ein  Hesse  war. 


XX 

VOLKSGLAUBE  UND  VOLKSBRAUCH  IN  ALTERTUM 
UND  GEGENWART^ 

AUSGEWÄHLTE  KAPITEL  VERGLEICHENDER  VOLKSKUNDE« 

124    VOLKSGLAUBE  UND  VOLKSBRAUCH  UM  GEBURT  UND  NAMENGEBUNG 

In  römischem  Brauch  ^  der  nach  der  Geburt  eines  Menschen  ge- 
übt wurde,  fällt  uns  ein  Zug  besonders  auf:  das  Kind  wird  auf  die 
Erde  gelegt  und  muß  von  der  Erde  aufgenommen  werden.  Der  recht- 
liche Akt  der  Annahme  des  Kindes  durch  den  Vater  genügt  nicht  zu 
erklären,  daß  das  Neugeborene  auf  die  Erde  gelegt  werden  muß. 
Derselbe  Brauch  wird  in  manchen  Gegenden  Deutschlands  bis  zum 
heutigen  Tage  geübt.  Nur  wenn  das  Kind  von  der  Erde  aufgenommen 
wird,  bleibt  es  am  Leben  und  gesund. 

*  <Jahrbuch  des  Freien  Deutschen  Hochstifts  zu  Frankfurt  a.  M.  1903 
S.  124ff.> 

*  Nur  dem  dringenden  Wunsche  der  Redaktion  nachgebend,  habe  ich  die 
folgenden  dürftigen  Skizzen  niedergeschrieben.  Ich  mußte  mir  jede  Ausführung 
der  Beispiele  und  Zeugnisse  versagen  und  weiß  doch,  daß  ohne  sie  die  aus- 
gesprochenen Sätze  nicht  überzeugen  können.  Ich  bitte  jeden  Leser  die  Be- 
urteilung des  Gesagten  auszusetzen,  bis  die  ausgeführten  Untersuchungen  vor- 
liegen. Sie  werden  zunächst  in  dem  von  Ende  dieses  Jahres  ab  bei  B.  G.  Teubner 
in  neuer  Organisation  erscheinenden  „Archiv  für  vergleichende  Religionswissen- 
schaft" und  dann  unter  dem  Titel  „Volksreligion;  Versuche  über  die  Grund- 
formen religiösen   Denkens"  vereinigt  in  die  Öffentlichkeit  kommen. 

'  <Diese  Skizze  ist  von  Dieterich  in  seinem  Buch  *Mutter  Erde*,  Leipzig 
und  Berlin  1905  ausgeführt  worden,  s.  namentlich  S.  6 ff.  Auf  dem  IL  Inter- 
nationalen Kongreß  für  allgemeine  Religionsgeschichte  in  Basel,  Ende  August  1904, 
hielt  Dieterich  einen  Vortrag  über  'Die  Religion  der  Mutter  Erde",  s.  die  Ver- 
handlungen dieses  Kongresses,  Basel  1905,  73 ff.  Am  Schluß  des  Referates 
darüber  sagte  er: 

'Es  ist  von  typischer  Wichtigkeit,  wie  bei  diesem  Problem  ineinandergreift 
die  Erkenntnis  der  immer  gleichen  Denkformen,  in  die  das  Werden  des 
Menschen  gefaßt  wird,  und  die  Kenntnis  der  Geschichte  der  Religion  im  Alter- 
tum und  in  der  Kultur,  die  von  ihm  abhängt.  Es  gilt  zunächst  eine  Reihe 
solcher  paradigmatischer  Fälle  zu  untersuchen,  um  zur  Erforschung  der  Volks- 
religion im  tieferen  Sinne  vorzudringen,  ohne  die  alle  höheren  und  höchsten 
geschichtlichen  Religionen  heute  wie  längst  gar  nicht  oder  falsch  verstanden 
werden.    Es  ist  Zeit,  das  ungeheuere  Material  zu  nutzen,  das  von  Tag  zu  Tag 


Volksglaube  und  Volksbrauch  in  Altertum  und  Gegenwart  313 

Zeugnisse  des  Altertums  und  Beobachtungen  unter  Naturvölkern 
bestätigen  eine  weitverbreitete  Sitte  \  kleine  Kinder,  die  vor  einem  ge- 
wissen Alter  sterben,  nicht  gemäß  sonst  geltendem  Brauche  zu  ver- 
brennen, sondern  zu  begraben,  vielfach  in  der  Erde  unter  dem  Hause 

wächst  in  unabsehbarer  Fülle,  in  unaufhaltsamem  Vorwärtsdrängen.  Die  Mutter 
Erde  spendet  uns  die  Steine,  die  da  reden,  die  Papyrusrollen;  sie  öffnet  ihre 
Gräber  und  gibt  uns  wieder  die  Gedanken  vergangener  Geschlechter,  die  in 
ihr  begraben  waren.  Es  ist  wissenschaftlich  das  Zeitalter  der  Religions- 
geschichte, in  dem  wir  leben.  Das  Material,  das  uns  lockt  und  abschreckt 
zugleich,  ist  nur  zu  bewältigen  mit  philologisch -geschichtlicher  Forschung  - 
Philologie,  verstanden  als  die  wissenschaftliche  Erforschung  der  Gesamtkultur 
eines  Volkes.  Und  diese  Erforschung,  soweit  sie  auf  Vergangenes  geht,  beruht 
nur  auf  der  Interpretation  der  Denkmale  in  Sprache  und  Kunst,  der  Texte  und 
der  Monumente.  „Ethnologie"  ist  nach  jenem  Begriff  ebensogut  Philologie; 
auch  die  wilden  Völker  können  nur  durch  solche  Philologie  wirklich  erforscht 
werden.  Auf  den  Namen  kommt  nichts  an ;  aber  das  ist  für  die  Zukunft  unserer 
großen  Wissenschaft  über  alles  wichtig:  nur  wer  die  ganze  Kultur  eines  Volkes 
kennt  und  im  ganzen  zu  erkennen  sucht,  kann  Religionsgeschichte  und  ihre 
tieferen  Probleme  fördern.  Wer  aus  einer  ganzen  Kultur  hier  nur  ein  religiöses 
Stück  oder  eine  religiöse  Literatur  kennt,  aus  einer  großen  Kultur  dort  nur 
ein  paar  zufällige  Notizen  besitzt  und  nun  vergleicht,  nützt  der  Wissenschaft 
nichts  oder  wenig  und  schadet  ihr  viel.  Religionswissenschaft  in  diesem  Sinne 
und  Religionshistoriker  dieser  Art  in  Reinkultur  kann  und  sollte  es  nicht  geben. 
Aber  Philologen  und  Ethnologen,  die  sie  zum  Hauptproblem  ihres  Lebens 
machen,  muß  es  immer  mehr  geben.  Und  das  müssen  und  sollen  wir  alle 
fordern,  daß  die  wissenschaftlichen  Arbeiter,  die  sich  innerhalb  der  ver- 
schiedenen Fachgebiete  den  religionsgeschichtlichen  Aufgaben  widmen,  gerade 
so  viel  Recht  auf  einen  festen  Platz,  auf  ihren  Sitz  an  der  Sonne  haben,  als 
andere,  die  sich  anderen  Teilen  ihrer  Fächer  vorwiegend  widmen.  Wir  ent- 
behren in  Deutschland  zumeist  des  rechten  Verständnisses  vieler  maßgebender 
Faktoren  für  religionsgeschichtliche  Forschung.  Nicht  die  Einrichtung  religions- 
geschichtlicher Professuren  auf  deutschen  Universitäten  und  erst  recht  nicht  die' 
Umwandlung  der  theologischen  in  religionsgeschichtliche  Fakultäten,  von  der 
eigentlich  nur  die  ernsthaft  gesprochen  haben,  denen  dagegen  zu  reden  Be- 
dürfnis war,  würden  die  Zuversicht  geben,  eine  echte  Religionswissenschaft 
der  kommenden  Generation  reifer  und  reicher  und  freier  zu  überliefern.  Die 
orientalische,  indische,  klassische  und  germanische  Philologie  haben  in 
Deutschland  die  Hauptarbeit  angefangen ,  in  England  namentlich  die  Ethnologie 
(bzw.  Anthropologie).  Unsere  Archegeten  im  19.  Jahrhundert,  Jakob  Grimm 
und  Edward  Tylor,  das  sind  die  beiden  Namen,  die  immer  über  uns  sein 
mögen.  In  der  Vereinigung  der  Wege,  die  sie  gewiesen,  liegt  die  freie  Bahn 
zu  den  großen  lockenden  Zielen.  Nur  so  werden  wir  endlich  schonungslos 
und  illusionslos  Ernst  machen  mit  dem  Gedanken  geschichtlicher  Entwicklung, 
auch  in  der  Geschichte  der  Religion  und  der  Religionen.  Es  gibt  keine 
Wissenschaft  des  Göttlichen,  nur  der  Entwicklung  des  menschlichen  Denkens 
vom  Göttlichen.  Es  gibt  wissenschaftlich  keine  göttliche  Offenbarung,  sondern 
nur  Entwicklung  menschlichen  Denkens  von  göttlicher  Offenbarung.  Sollte 
ich  heute  in  einem  Bilde  reden,  so  meine  ich:  wir  bleiben,  wenn  wir  wissen- 
schaftlich untersuchen,  wohin  uns  auch  sonst  die  Erhebung  des  Glaubens 
tragen  möge,  die  Kinder  unserer  Mutter  Erde.'> 
*  <S.  Mutter  Erde  21  ff. > 


314  Volksglaube  und  Volksbrauch  in  Altertum  und  Gegenwart 

zu  begraben;  ausgesprochen  findet  sich  der  Glaube,  daß  diese 
Kinder  dann  in  dem  Hause  bei  der  nächsten  Geburt  wiedergeboren 
werden. 
125  Aus  dem  Altertum  und  aus  heutigem  deutschen  Volksbrauch  wird 
die  Sitte  bezeugt,  den  Sterbenden  (nicht  den  Gestorbenen)  auf  die 
Erde  zu  legen.^ 

Die  sehr  verschiedenen  Anschauungen,  die  in  unserem  Volke  über 
die  Herkunft  der  Kinder  lebendig  sind,  gehen  allesamt  darin  zusammen, 
daß  die  Kinder  aus  der  Erde  stammen  (sie  sind  vor  der  Geburt  unter 
der  Erde,  in  Quellen,  Strömen,  Teichen,  wachsen  aus  Steinen, 
Bäumen  usw.).  Dem  entspricht  der  Glaube  vieler  Naturvölker  von  der 
Mutter  aller,  der  Erde.  Zahlreich  sind  die  antiken  Zeugnisse  von  der 
Allmutter  Erde;  Mysterienkulte  entstehen  daraus,  daß  der  einzelne  sich 
einer  Wiedergeburt  aus  dieser  Mutter  versichert:  „ich  bin  ein  Kind 
der  Erde",  „ich  bin  in  den  Schoß  der  Herrin  eingegangen"  sagt  er 
dann.  Mancherlei  Anthropogonie  läßt  den  Menschen  aus  Steinen  und 
Bäumen,  Quellen,  Felsen  und  Höhlen  entstehen,  „aus  Eiche  und 
Stein".^ 

Ursprüngliches  Denken  kann  sich  eine  Entstehung  eines  vorher 
nicht  Vorhandenen,  die  für  dies  ein  Entstehen  aus  dem  Nichts  wäre, 
nicht  vorstellen.  V^as  neu  entsteht,  kommt  irgend  woher,  ist  vorher 
irgendwo  anders  gewesen.  Insofern  ist  nach  solchem  Denken  das 
Leben,  die  „Seele"  präexistent.  Die  Neugeborenen  kommen  aus  der 
Mutter  Erde  und  müssen  von  ihr  entgegengenommen  werden,  der 
Sterbende  muß  ihr  sein  Leben  wiedergeben,  wenn  er  wiedergeboren 
werden  soll.^ 

Kinder,  die  sicher  am  Leben  bleiben  sollen,  müssen  nach  ver- 
breitetem deutschem  Volksglauben  einen  mit  Erd  zusammengesetzten 
Namen  bekommen  z.  B.  Erdmann.* 

Die  verschiedensten  Bräuche  der  Namengebung  zeigen  zumeist, 
daß  erst  durch  den  Namen  das  Kind  vor  unendlichen  Gefahren  aller 
Art  geschützt  wird.  Mit  der  Namengebung  auch  bei  Naturvölkern 
vielfach  verbundene  Reinigungsriten  sind  ein  Schutzzauber  gegen 
allerlei  Böses.  Der  Name  ist  etwas  Körperliches,  Wesenhaftes,  das 
Kind  wird  durch  ihn  ein  neues  Wesen  oder  es  wird  durch  ihn,  sozu- 
sagen, erst  ein  Wesen.  Der  Name  wird  vielfach  bei  Naturvölkern 
dann    gegeben,    wenn    das   Kind    gehen    oder    sprechen    lernt.     Ein 


»  <S.  Mutter  Erde  6ff.>        '  <S.  ebenda  18ff.> 
«  <S.  ebenda  32  f. >        ^  <S.  ebenda  10  f.) 


Volksglaube  und  Volksbrauch  in  Altertum  und  Gegenwart  315 

stummes   Kind   bekommt  keinen  Namen.     Der  Name  ist,    in  unserer  126 
Sprache  zu  reden,  die  Seele  des  Kindes.    In  einen  Kult  Neueingeweihte 
bekommen   einen  neuen  Namen,  Kranke  wechseln  den  Namen,  damit 
der  Tod  nicht  an  ihr  „Leben"  kann;  wer  den  Namen  weiß,  hat  Leben 
und  Seele  des  so  Benannten  in  seiner  Zaubergewalt.^ 

In  Brasilien  muß  der  Vater  bei  der  Geburt  jedes  Kindes  einen 
neuen  Namen  annehmen:  seine  bisherige  „Seele"  ist  nun  die  des 
Kindes.  Der  vielfache  Brauch,  daß  das  Kind  den  Namen  des  Groß- 
vaters bekommt,  ist  in  manchen  Fällen  als  Glaube  an  den  eigentlichen 
Übergang  der  „Seele"  nachzuweisen.  Sehr  zahlreiche  Riten  der 
Naturvölker  bei  der  Namengebung  gehen  dahin,  durch  eine  Losprobe 
festzustellen,  welcher  Ahne  in  dem  Kinde  neu  geboren  sei  und  danach 
ihm  dessen  Namen  zu  geben. 

Das  Entstehen  geistigen  Wesens  ist  ursprünglichem  Denken  un- 
faßbar. Es  wird  als  eine  neue  leibliche  Geburt  aufgefaßt.  So  glaubt 
unser  Volk  nicht  nur  an  eine  Wiedergeburt  bei  der  Taufe  im  kirch- 
lichen Sinne,  sondern  es  hält  den  Paten  für  den,  der  wirklich  dem 
Kinde  wie  ein  leiblicher  Erzeuger  seine  Eigenschaften  vererbe.^ 

Zusammengefaßt  ergeben  alle  diese  Beobachtungen  folgende  Sätze: 
Ein  Neuentstehen,  eine  Neugeburt  ist  für  primitives  Denken  undenk- 
bar; sie  ist  nur  als  eine  lokale  Übertragung,  eine  Metathese  oder  eine 
Metamorphose  zu  erfassen;  insofern  ist  die  „Seelenwanderung"  eine 
Anschauungsform  ursprünglichen  Denkens.  Die  geistige  Entwicklung, 
ein  Erwachen  und  Wachsen  der  Seele  ist  wiederum  nur  als  eine  leib- 
liche Geburt,  eine  Wiedergeburt  zu  begreifen.  So  wird  stufenweise 
das  Unbekannte  unter  dem  Bilde  des  Bekannten  sinnlich  erfaßt  in  der 
Entwicklung  des  Denkens. 

II 

DIE  REISE  DER  SEELEN  UND  DAS  LAND  DER  TOTEN 

Eine  Entstehung  aus  dem  Nichts  kann  menschliches  Denken  nicht 
erfassen,  ebensowenig  ein  Vergehen  ins  Nichts.  Menschliches  Denken 
verneint  den  Tod.  Auch  er  wird  als  Metathese  oder  Metamorphose 
angesehen:  der  Mensch  ist  anderswohin  gegangen,  er  lebt  anderswo,  127 
er  lebt  in  anderer  Gestalt  fort.  Teilung  in  verschiedene  Bestandteile 
liegt  hier  unmittelbar  nahe,  Leib  und  Leben,  Leib  und  Seele.  Die 
Seele  ist  fortgegangen,  fortgereist.  Die  allgemeinste  Vorstellung  ist 
die  der  langen,  beschwerlichen,  gefahrvollen  Reise.    Diese  Reise  kann 


'  <S.  Mithrasliturgie  112.)        '  <S.  Mutter  Erde  34f.> 


316  Volksglaube  und  Volksbrauch  in  Altertum  und  Gegenwart 

nur  nach  der  Analogie  irdischer  Reisen  vorgestellt  werden.  Es  ist 
entweder  eine  Fußwanderung  (sehr  vielfach  werden  Schuhe  ins  Grab 
mitgegeben,  Heischuhe  u.  a.),  oder  ein  Ritt  (Totenroß,  die  Toten  reiten) 
oder  eine  Wagenfahrt  oder  ein  Flug  (Seelenvogel  u.  ä.).  Weitere  Vor- 
stellung von  der  Reise  wird  bestimmt  durch  den  Glauben  an  ein  Toten- 
land: es  ist  ein  Land  des  Dunkels  drunten  unter  der  Erde  oder  es  ist 
ein  Land  des  Lichts  im  fernen  Westen  (oder  Osten  oder  Norden),  ein 
wundervoller  Göttergarten  oder  aber  es  ist  droben  auf  einem  Berge 
oder  in  einer  lichten  Himmelsfeste.  Die  Vorstellungen  gehen  neben- 
einander her  und  ineinander  über.  So  kann  dann  unter  der  Erde  zu- 
gleich ein  leuchtender  Garten  und  ein  finsterer  Abgrund  sein.  Überall 
aber,  wo  die  natürliche  Grenze  des  Horizontes  der  Völker  Meer  oder 
Flüsse  sind,  geht  die  Reise  der  Toten  übers  Wasser,  über  den  Toten- 
strom, ins  „Jenseits". 

Dadurch  ist  die  Anschauung  von  der  Seelenreise  am  stärksten  be- 
einflußt. Die  menschlichen  Mittel,  ein  Wasser  zu  überschreiten  finden 
wir  allesamt,  sozusagen,  in  gesetzmäßiger  Reihe  in  den  mythischen 
Vorstellungen  wieder:  Schwimmen,  Brücke,  Schiff.  Den  weißen  Felsen, 
von  dem  die  Seelen  herunterspringen,  kennt  man  in  Griechenland  wie 
bei  den  Völkern  der  Südsee,  das  Geldstück  wird  den  Toten  mit- 
gegeben und  als  Brückenzoll  und  Fahrgeld  gedeutet  bei  den  aller- 
verschiedensten  Völkern:  ursprünglich  ist  es  nachweisbar  Ablösung 
des  Gesamtbesitzes.  Ist  das  Jenseits  drunten,  so  ist  die  Seelenreise 
ein  Abstieg  durch  Höhlen  und  Klüfte  mit  Ungeheuern  aller  Art,  ist  es 
droben,  so  ist  sie  ein  Aufstieg  auf  einen  Berg,  mittels  einer  Leiter 
oder  Treppe,  ein  Flug  oder  aber  es  werden  die  Mittel  der  Reise  von 
der  Erde  oder  dem  Wasser  übertragen:  ein  Ritt,  eine  Fahrt  zu  Wagen 
oder  zu  Schiff  tritt  ein.  . 
128  Das  Wichtigste,  das  alle  diese  Beobachtungen  lehren,  ist  dies:  das 
Jenseitige,  das  Göttliche  wird  von  dem  Menschen  nie  und  nimmer 
anders  erfaßt  als  im  Bilde  des  Diesseitigen  und  Menschlichen.  Wir 
können  die  Formen  sozusagen  an  den  Fingern  herzählen,  in  denen 
die  Reise  der  Seele  gestaltet  werden  muß  und  allein  gestaltet  werden 
kann.    Das  Irdische  wird  projiziert  ins  Überirdische. 

III 

MARTINSLIEDER 

Es  gibt  eine  Reihe  Zeugnisse  von  Volksbräuchen  im  alten  Griechen- 
land, nach   denen  Umzüge  von  Männern   oder  meist  von  Kindern  im 


Volksglaube  und  Volksbrauch  in  Altertum  und  Gegenwart  317 

Frühjahr  oder  im  Herbst  veranstaltet,  Gaben  gesammelt  und  Segens- 
wünsche gesprochen  wurden.  Dabei  wurde  z.  B.  in  Rhodos  eine 
Schwalbe,  in  Kolophon  eine  Krähe  herumgetragen,  für  die  die  Gaben 
gefordert  wurden.  Wir  haben  von  den  Liedern,  die  diesem  Brauche 
dienten,  eines  in  volkstümlichem  alten  vierhebigem  Rhythmus,  eines  in 
der  homerischen  Kunstform,  eines  in  der  künstlichen  Form  hinkender 
Jamben,  das  denn  auch  auf  den  Namen  eines  bestimmten  Dichters 
geht.  Immer  gleich  bleibt  das  Heischen  der  Gaben,  der  Wunsch  des 
Segens,  der  Fülle  und  Fruchtbarkeit  (Plutos  selbst  kommt  mit  solchem 
Segensspruch  ins  Haus)  oder  aber  Fluch  und  Schimpf,  wenn  die 
Bittenden  abgewiesen  werden.^ 

Entsprechend  in  allen  Hauptsachen  sind  vielfach  die  Umzüge  und 
die  dabei  gesungenen  Lieder  in  deutschen  Volksbräuchen.  Eine  ganze 
Reihe  von  Martinsliedern  weisen  dieselben  Hauptbestandteile  auf  wie 
die  genannten  altgriechischen  Lieder.  Auch  für  „Martins  Vögelchen" 
wird  gesammelt.  Weiterhin  finden  an  bestimmten  Tagen  des  Frühlings 
oder  aber  zur  Zeit  der  Ernte  die  entsprechenden  Begehungen  statt. 
Alle  mannigfaltigen  Termine  begreifen  sich  so,  daß  irgendein  vor- 
handener Festtag  den  Frühjahrs-  oder  Ernteumzug  an  sich  gezogen 
hat.  Der  Maibaum  und  der  Erntemai  sind  die  bekanntesten  Gegen- 
stände des  deutschen  Volksbrauches,  mit  denen  das  neue  Leben  des  129 
Frühlings,  der  verkörperte  Frühling  selbst  oder  aber  der  verkörperte 
Erntesegen  selbst  herumgetragen  und  jedem  Hause  gebracht  werden 
muß.  Der  Maibaum  oder  der  Erntemai  bleiben  jedem  Hause  zu  Schutz 
und  Segen  bis  zum  nächsten  Jahre.  Die  Gaben  werden  noch  vielfach 
als  deutliche  Opfergaben  gemeinsam  verzehrt.  Eichhorn,  Kuckuck,  Krähe 
und  Schwalbe  spielen  auch  in  den  deutschen  Bräuchen  dieser  Art  ihre 
besondere  Rolle.* 

Die  griechische  Eiresione,  ein  Zweig  mit  allerlei  Früchten  und 
wollenen  Binden,  spielt  genau  die  gleiche  Rolle:  sie  bringt  den  Segen 
ins  Haus  und  muß  an  der  Tür  hängen  bis  übers  Jahr.^  Zwei  antike 
Wandbilder  aus  Ostia,  die  unbeachtet  in  der  Bibliothek  des  Vatikans 
in  Rom  hängen,  zeigen  genau  die  Umzüge  von  sammelnden  Kindern 
mit  den  behangenen  Zweigen  und  Stäben,  wie  wir  sie  aus  unserem 
Volksleben  kennen.* 

Wir  entnehmen  aus  dem  Beobachteten  folgende  Tatsachen:  Die 
Entwicklung  der  Zeit  zu  erfassen  ist  dem  Volksdenken  unmöglich;  die 


'  <S.  ausführlicher  unten  341ff.>        '  <S.  unten  334 f.) 
»  <S.  unten  338ff.>        *  <S.  unten  344ff.> 


318  Volksglaube  und  Volksbrauch  in  Altertum  und  Gegenwart 

Zeiträume  sind  leibliche  Wesen,  die  an  bestimmten  Zeitwenden  sterben 
und  geboren  werden,  fortziehen  oder  aus  der  Ferne  wiederkommen. 
Die  Fülle  der  Erscheinungen  neuen  Zeugens  und  neuen  Wachsens  im 
Frühling  kann  die  Volksanschauung  nur  erfassen,  indem  sie  singularisiert: 
der  erste  grünende,  blühende  Zweig  ist  der  Frühling;  die  Fülle  des 
Erntesegens  ist  die  letzte  Garbe.  Wir  könnten  von  Frühlingsfetischen 
und  Erntefetischen  reden.  Jedem  Hause  wird  so  der  Frühling,  der 
Erntesegen  gebracht;  der  Zweig  segnet  das  Haus  und  macht  es  frucht- 
bar und  reich.  Der  Widerspruch  stört  das  ursprüngliche  Denken  nicht, 
daß  nun  wieder  das  Göttliche  pluralisiert  wird:  Jedes  Haus  hat  seinen 
Erntefetisch,  jeder  Ort  hat  ihn,  jede  Kirche  usw.  Die  genannten  Tiere 
sind  ebenfalls  Inkarnationen  des  Frühlings  oder  der  Ernte  selbst,  die 
in  Laub  und  Stroh  verkleideten  Menschen  ebenfalls  der  Frühling  oder 
die  Ernte.  Die  Menschen  mit  Tiermasken  stellen  ebenfalls  die  gött- 
lichen, dämonischen  Wesen  dar.  Die  Umzüge,  aus  denen  einst  in 
130  Griechenland  ein  Höchstes  menschlicher  Kunst,  Tragödie  und  Komödie, 
entstand,  haben  die  Wurzeln  in  dem  gleichen  Glauben  und  Brauche 
des  Volkes,  den  wir  bei  uns  noch  hier  und  da  in  frischem  Leben  sehen. 

IV 

DIE  FORMEN  GÖTTLICHER  OFFENBARUNG  IM  VOLKSGLAUBEN 

Für  das  Denken  des  Volkes  ist  Wille  Gottes  und  Zukunft  identisch. 
Alle  Entwicklung  der  Welt  und  der  Erde  und  des  eigenen  Lebens  ist 
dem  ursprünglichen  Menschen  eine  Aufeinanderfolge  magischer  Akte, 
einzelner  Handlungen  nach  dem  Bilde  seiner  eigenen  persönlichen 
Handlungen.  Die  magischen  Handlungen  der  göttlichen  Wesen  kennen 
keine  Grenze  empirischer  Möglichkeit.  Die  Menge  der  Dämonen,  der 
göttlichen  Wesen,  ist  jedem  Volksglauben  unendlich  und  wird  durch 
eine  akzeptierte,  jenem  übergeordnete  höhere  Religion  im  echten  Volks- 
bewußtsein nicht  beseitigt. 

Alles  was  geschieht,  ist  Offenbarung  dieser  Dämonen;  was  sie 
wollen,  ist  die  Zukunft.  Ganz  allmählich  erst  wird  durch  Er- 
fahrung der  Kreis  der  magischen  Offenbarungen  dieser  Dämonen  ver- 
engert. 

Jede  höhere  Entwicklung  der  Anschauung  von  mächtigen  und  guten 
Dämonen  bis  zu  der  von  einem  großen  Gotte,  der  alles  gemacht  hat 
und  alles  regiert,  geht  darauf  aus,  den  Willen  der  göttlichen  Wesen, 
den  Willen  Gottes  zu  erfahren,  jede  tiefere  Religiosität  geht  darauf 
aus,  den  Willen  Gottes  zu  tun:  sie  muß  ihn  kennen. 


Volksglaube  und  Volksbrauch  in  Altertum  und  Gegenwart  31 9 

Der  Gott,  der  sich  nicht  offenbart,  ist  kein  Gott.  Die  Offenbarung 
ihrer  Götter  ist  der  Mittelpunkt  alles  Denkens  der  Naturvölker:  die 
Offenbarung  Gottes  ist  auch  der  Mittelpunkt  aller  Religionen  aller 
Kulturvölker.  Die  Religionen  als  Naturreligionen  und  Offenbarungs- 
religionen zu  unterscheiden  ist  darum  grundfalsch. 

Wir  versuchen  im  allgemeinen  klar  zu  machen,  in  welchen  Formen 
eine  Offenbarung  an  den  Menschen  durch  ein  Wesen,  das  er  sich 
stets  in  der  Hauptsache  ihm  analog  denkt,  vor  sich  gehen  kann. 

Die  einfachste  Form  ist,  daß  Gott  erscheint  und  spricht.  Gott 
kommt  zum  Menschen  auf  die  Erde,  er  kommt  zu  ihm  auf  einen  Berg.  131 
Weiterhin  kommt  er  in  Naturerscheinungen,  im  Feuer,  in  Luft  und 
Sturm,  im  Wasser.  Die  nächste  Stufe  ist,  daß  er  nur  in  einer  „Vi- 
sion" kommt,  daß  er  im  Traume  erscheint.  Ekstase  bedeutet  ursprüng- 
lich, daß  der  Mensch  aus  sich  selbst  heraus  zu  Gott  und  in  Gott  ein- 
geht. Die  ursprüngliche  Form  ist,  daß  der  Mensch  wirklich  zu  Gott 
geht,  gen  Himmel,  zum  Berge  oder  auch  zur  Unterwelt,  um  dort  gött- 
liche Offenbarung  zu  erhalten. 

Gott  geht  in  den  Menschen  ein  im  Enthusiasmus.  Nun  spricht 
Gott  aus  dem  Menschen,  der  Mensch  spricht  als  der  Gott.  Pythien 
und  Sibyllen,  ja  viele  antike  Orakelpriester  und  -Priesterinnen  sind 
Beispiele.  Die  „pneumatischen"  Menschen  sind  es  nicht  minder,  die, 
ergriffen  vom  heiligen  Geiste,  Göttliches  reden. 

Eine  weitere  Stufe  ist,  daß  Mittler  zwischen  Gott  und  Menschen 
treten,  Boten,  Engel  Gottes,  und  wiederum  erscheinen  sie  entweder 
selbst  oder  in  Visionen,  Traumerscheinungen  usw.  Die  „gute  Bot- 
schaft" für  die  Offenbarung  Gottes  ist  eine  heidnisch -griechische  und 
christliche,  besonders  wichtige  Bezeichnung. 

Menschen,  die  Göttliches  offenbaren,  stammen  von  Gott;  Propheten 
und  Retter  der  Menschheit  sind  Söhne  Gottes.  Sie  kommen  herab 
vom  Himmel,  sie  sind  -  nach  einer  bei  den  Römern  stehend  und 
bildlich  gewordenen  Redewendung  -  vom  Himmel  gefallen. 

Vielfach  gehören  die  Zeichen,  die  die  Götter  geben,  in  den  an- 
gedeuteten Zusammenhang.  Die  Tiere,  die  für  den  Aberglauben  des 
„Angangs"  wichtig  sind,  müssen  vielfach  als  einst  göttliche  Tiere 
selbst  angesehen  werden,  nicht  anders  die  Tiere,  die  dem  Menschen 
den  Weg  zeigen  bei  einer  Stadt-  und  Tempelgründung  und  den  gött- 
lichen Willen  offenbaren.  Die  Offenbarungen  der  Inkubation  gab  einst 
die  göttliche  Erdmutter  selbst,  dann  waren  sie  nur  die  Vermittlung  der 
visionären  Epiphanie  anderer  Götter  und  noch  der  heiligen  Thekla 
oder  des  heiligen  Cosmas  und  Damian. 


320  Volksglaube  und  Volksbrauch  in  Altertum  und  Gegenwart 

Zu  der  oben  angeführten  Formenreihe  kommt  aber  nun  eine  neue 
132  Weiterbildung,  sobald  Vermittlung  zwischen  Menschen  durch  die  Schrift 
bekannt  wird.  Das  nächste  ist  dann,  daß  Gott  seine  Offenbarung  auf- 
schreibt, und  was  er  geschrieben,  fällt  vom  Himmel.  Immer  wieder 
bricht  diese  einfachste  Vorstellung  von  christlicher  Offenbarung  durch, 
und  das  zeigen  die  zahlreichen  „Himmelsbriefe",  die  noch  in  unserem 
Volksglauben  eine  so  große  Rolle  spielend  Die  Fortsetzung  der  Reihe 
ergibt  sich  nun  von  selbst:  Gott  übergibt,  was  er  geschrieben,  einem 
Menschen.  Die  Offenbarung  des  Gesetzes  im  Pentateuch  ist  nach 
älterer  Überlieferung  mündlich  gegeben,  dann  schriftlich  übermittelt; 
der  Bauplan  der  Stiftshütte  ist  früher  mündlich,  dann  schriftlich  ge- 
schehen. Weiterhin  wird  nun  das  von  Gott  Geschriebene  durch  einen 
Engel  überbracht.  Dann  schreibt  der  Mensch  nach  dem  Diktat  Gottes, 
weiter  nach  dem  Diktat  eines  Engels.  Endlich  schreibt  der  Mensch  im 
„Enthusiasmus",  d.  h.  nach  Eingebung,  „Inspiration"  des  Gottes  in  ihm. 
Die  heiligen  Männer  Gottes  schreiben  „erfüllt  vom  heiligen  Geiste". 
Die  Verbalinspiration  aber  verallgemeinert  und  verflüchtigt  sich  immer 
mehr;  die  heilige  Schrift  bleibt  in  stehender  Formel  das  „Wort  Gottes". 

Es  ist  ein  ungeheuerer  Schritt  in  der  Religionsgeschichte,  wenn 
eine  Buchoffenbarung  an  Stelle  fließender  mündlicher  Überlieferung 
tritt.  Die  schriftliche  Offenbarung,  in  einer  gewissen  Zeit  fest  und 
unveränderlich  geworden,  duldet  keine  Streichungen  und  Interpolationen 
mehr;  ein  Kanon  wird  entwickelt  und  nur  die  Auslegung  trägt  mit 
schweren  Mühen  dem  Wandel  der  Zeiten  Rechnung. 

Die  skizzierte  Entwicklung  ist  selbstverständlich  nicht  in  der  Reihen- 
folge der  einzelnen  Etappen  die  geschichtlich  notwendige.  Es  ist  nur 
das  menschliche  Denkgesetz,  in  dem  sich  bald  springend,  bald  stehen 
bleibend,  bald  rückwärts  gehend,  bald  vorauseilend  der  menschliche 
Geist  die  göttliche  Offenbarung  gestaltet. 

Der  Volksglaube  und  der  Glaube  der  höchsten  Religionen  ist  in 
diesen  Dingen  vielfach  kaum  zu  trennen:  die  Volksanschauungen  dringen 
immer  wieder  aus  der  Tiefe  empor,  aber  auch  die  höchste  göttliche 
Offenbarung  zeigt  sich  gebunden  durch  die  Grenzen  menschlichen 
Denkens. 

V 

J33         DIE  FORMEN  DES  ZAUBERBRAUCHS  UND  DES  ZAUBERSPRUCHS 

Die    uns    bekannten    Zauberbräuche    und    Zaubersprüche    unseres 
heutigen  Volksaberglaubens   und   die   massenhaften   noch  vorhandenen 
'  <S.  oben  S.  234ff.> 


Volksglaube  und  Volksbrauch  in  Altertum  und  Gegenwart  32 1 

antiken  stehen  vielfach  in  direktem  geschichtlichem  Zusammenhang. 
Zum  Teil  stehen  sie  nicht  in  solchem  Zusammenhang  und  sind  doch 
in  Hauptformen  analog,  analog  bis  in  viele  Einzelheiten  auch  der  ma- 
gischen Bräuche  weit  auseinanderliegender  und  voneinander  sicher  un- 
abhängiger Naturvölker. 

Die  Religion  der  Naturvölker  besteht  vielfach  eben  in  dem,  was 
wir  Zauberbrauch  und  Zauberglauben  nennen;  der  Ritus  ihrer  Religion 
ist  der  magische  Akt.  Die  Dämonen  zu  vertreiben  oder  anzulocken, 
sie  zu  verscheuchen  oder  herbeizuzwingen,  sich  von  ihnen  zu  lösen 
oder  sich  mit  ihnen  zu  vereinigen  ist  in  letzter  Linie  Zweck  alles  ihres 
religiösen  Tuns.  Jede  Krankheit  ist  ein  Dämon,  der  ausgetrieben,  be- 
zwungen werden  muß,  den  Erfolg  einer  Tat  gewährleistet  nur  die  Hilfe 
eines  mit  dem  Handelnden  vereinigten  Dämons.  Die  Dämonen  sind 
genau  so  gierig  und  neidisch  wie  der  primitive  Mensch:  man  gibt 
ihnen  zu  essen,  um  sie  zu  befriedigen,  man  gibt  ihnen  Menschen  zu 
verschlingen  und  ihr  Blut  zu  trinken;  man  muß  von  allem  abgeben, 
alles  von  den  Göttern  durch  ein  „Opfer",  das  man  auf  sich  nimmt, 
loskaufen. 

Der  Zauber,  der  zwischen  Menschen  geübt  wird,  ist  im  engeren 
Sinne  nicht  religiös.  Er  zeigt  aber  ebendieselben  Formen,  wie  der 
Zauber,  der  auf  göttliche  Wesen  wirken  soll.  Der  Liebeszauber  z.  B. 
bewirkt  die  erstrebte  Vereinigung  zweier  Menschen  dadurch,  daß  der 
eine  irgendetwas  vom  anderen  ißt,  an  sich  trägt,  mit  sich  im  eigent- 
lichsten Sinne  verbindet.  Pars  pro  toto  ist  ein  hier  überall  waltendes 
Gesetz.  Hat  man  nichts  anderes,  so  ist  die  ausgeschnittene  Fußspur 
immer  noch  ein  Teil,  der  das  Ganze  nachzieht.  Der  Name,  der  Wesen 
und  „Seele"  des  anderen  ist,  gibt  den  ganzen  Menschen  in  die  Gewalt 
dessen,  der  nur  diesen  Namen  kennt.  Das  Bild,  die  Figur  des  anderen 
tritt  ein  für  diesen  selber  und  was  ihnen  geschieht,  geschieht  ihm  134 
selbst.  Das  Bild  des  Namens,  d.  h.  der  geschriebene  Name  tut  die- 
selben Dienste.  Der  Schadenzauber  bedient  sich  genau  derselben 
Mittel,  der  Teile  des  Körpers,  des  Bildes,  des  Namens,  der  Fußspur, 
des  Schattens.  Entscheidende  Kraft  hat  in  allem  Zauber  nicht  nur 
eigentliche  Bindung,  auch  die  Bindung  durch  das  Wort,  das  ganz 
materielle  Geltung  hat,  ja  durch  den  Blick  („bösen  Blick"). 

Der  Zauberer  eint  sich  mit  dem  Gotte  durch  eben  das,  was  zwischen 
Menschen  eine  Einigung  herbeiführen  kann  (durch  Essen,  durch  Liebes- 
vereinigung, durch  Neugeburt  aus  dem  Gotte  usw.);  er  sagt  dann:  ich 
bin  der  Gott  N.  N.  Alle  Opfer  führen  auch  im  Zauberbrauch  zur  Ver- 
einigung mit  dem  Gotte  oder  zu  dessen  Befriedigung  und  Verscheuchung, 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  21 


322  Volksglaube  und  Volksbrauch  in  Altertum  und  Gegenwart 

alle  Gebete  zur  Anlockung  (Tierlaute  wie  schnalzen  und  pfeifen  z.  B. 
sind  die  Lockung  des  tiergestaltigen  Gottes)  oder  Verjagung.  Die 
Bindung  durch  Zauberzeichen  und  Zauberlaute  ist  Beginn  aller  Ge- 
bete. Zauber  und  Rhythmus  machen  Inhalt  und  Form  der  ältesten 
Lieder. 

Zauberbräuche  und  Zaubersprüche  in  ihrer  seltsamen  Ober- 
einstimmung bei  den  verschiedensten  Völkern  der  Erde  geben  das 
Material  zu  einer  Entwicklungsgeschichte  primitiven  menschlichen 
Denkens.  Das  Kausalitätsbedürfnis  kann  zunächst  nur  zusammen- 
hangslose magische  Einzelhandlungen  blind  verbinden.  Alle  causae 
sind  Dämonen.  Als  causa  und  effectus  wird  zunächst  verbunden,  was 
räumlich  und  zeitlich  nahe  zusammen  ist.  Der  Neger  betet  den  Stein 
an,  auf  den  er  gerade  trat,  ehe  er  auf  dem  Sklavenmarkt  losgekauft 
wurde:  der  Stein  ist  ein  Augenblicksfetisch.  Nur  die  Empirie,  sozu- 
sagen das  Experiment,  verbesserte  ganz  allmählich  die  groben  Fehler 
falscher  Abstraktion,  mit  der  der  Eingeweideschauer  die  umgeklappte 
Leber  für  das  „umklappende"  Leben  des  Konsulenten  bestimmend 
sein,  der  Medizinmann  das  gebrochene  und  wieder  zusammen- 
gewachsene Bäumchen  die  Heilung  eines  gebrochenen  Beines  er- 
zwingen läßt.  Bei  der  Sympathie  aller  Dinge  zwingt  das  Wort  zwei 
Dinge  aneinander  oder  nötigt  auch  z.  B.  zwei  Handlungen  dazu,  sich 
135  nacheinander  zu  richten.  Das  Denken  beginnt  mit  falschen  synthetischen 
Urteilen,  mit  falscher  Abstraktion  der  akzidentiellen  Eigenschaften. 
Ein  gänzlich  willkürliches  Sympathiegesetz  gilt  solchem  Zauber  wie  uns 
das  Naturgesetz.  Bei  magischen  Aktionen  gibt  es  sozusagen  weder 
den  Begriff  der  Vergangenheit  noch  der  Identität.  Eine  vergangene 
Tat  ist  ebenso  real  wie  eine  gegenwärtig  geschehende:  durch  die  Er- 
zählung einer  vergangenen  Tat,  etwa  der  einer  Heilung,  zwingt  der 
Zauberer  durch  sein  bindendes  Wort  eine  Heilaktion  gerade  so  sich 
zu  vollziehen,  wie  jene  sich  vollzogen  hat.  Eine  Handlung,  wie  auch 
ein  göttliches  Wesen,  ist  für  den  Zauber  beliebig  vielemal  da:  ein 
Gott  kann  von  einem  Stamme  fortwährend  und  immer  wieder  auf- 
gegessen werden  und  ist  doch  immer  wieder  da,  eine  „sakramentale" 
Handlung  kann  so  und  so  oft  in  gleicher  Realität  im  Zauber  vor  sich 
gehen.  Das  Bild  der  vergangenen  „Heilstatsache"  wird  durch  das 
Wort  oder  die  darstellende  Handlung  im  Abbild  wieder  hervorgerufen 
und  wirkt  immer  wie  am  ersten  Tag. 

Im  Zauberbrauche  erhält  sich  der  Glaube  an  die  ältesten  Fetische 
z.  B.  in  jedem  Amulet,  an  die  göttlichen  Tiere  in  all  den  angeblichen 
Wirkungen    der    Tierteile,    die    man    verwendet,    an    die    Macht    der 


Volksglaube  und  Volksbrauch  in  Altertum  und  Gegenwart  323 

Seelen  in  aller  Nekromantie  und  der  Bedeutung,  die  Teile  von 
Toten  und  alles  was  mit  ihnen  zusammenhängt,  in  allem  Volksbrauch 
behalten  haben. 

Es  ist  noch  lange  nicht  möglich,  aus  den  in  unendlicher  Menge 
nunmehr  zu  Gebote  stehenden  Materialien  die  Resultate  auch  nur 
anzudeuten,  die  weitere  Untersuchung  gewinnen  kann  und  muß.  Zu- 
nächst gilt  es  zu  lernen,  daß  hier  die  Dokumente  für  eine  Ent- 
wicklungsgeschichte religiösen  Denkens,  menschlichen  Denkens  über- 
haupt vorliegen.  Den  Gedanken  geschichtlicher  Entwicklung  auch 
hier  rücksichtslos  anzuwenden  ist  die  große  Aufgabe  vergleichender 
Volkskun^ie. 


21* 


XXI 
SOMMERTAG' 

(Hierzu  eine  Tafel) 

82  Als  ich  am  ersten  Sonntage,  den  ich  als  Einwohner  Heidelbergs 
erlebte,  durch  die  Straßen  ging,  begegneten  mir  immer  häufiger 
Kinder,  ganz  kleine  und  ganz  große,  die  einen  merkwürdigen  Stecken 
trugen:  auf  einen  geschälten,  oben  zugespitzten  Stab  war  oben  eine 
Bretzel  fast  immer  gleicher  Form  gesteckt,  zwischen  die  Bretzel  aus- 
geblasene Eier  oder  Äpfel,  und  um  den  ganzen  Stecken  herum  buntes 
Papier  und  bunte  Bänder.^  Ich  wurde  alle  Augenblicke  von  Buben 
angelaufen,  die  in  Blechbüchsen  Geld  schüttelten  und  dazu  immer  die- 
selben Verse  sangen: 

Strieh  Strah  Stroh,  der  Summerdag  is  de, 

Der  Sommer  und  der  Winter 

Das  sinn  Geschwisterkinder, 

Summerdag  Staab  aus 

Blost  em  Winter  die  Aage  aus, 

Strieh  Strah  Stroh,  der  Summerdag  is  de. 

Ich  hör'  die  Schlisse!  klinge, 

Was  were  se  uns  denn  bringe. 

Rote  Wein  un  Bretzl  drein, 

Was  noch  dazu?    Paar  neue  Schuh, 

Strieh  Strah  Stroh,  der  Summerdag  is  do. 

Heut  übers  Johr  do  sinn  mer  widr  do. 


^  < Archiv  für  Rel.  Wiss.  VIII  1905  Beiheft,  gewidmet  Hermann  Usener  zum 
siebzigsten  Geburtstage  S.  82 ff.    Vgl.  oben  S.  316ff.> 

*  Die  obenstehende  Abbildung  wird  einer  Zeichnung  von  Frau  Marie 
Dieterich  verdankt. 


Tafel  I 


Figr.l 


Fig.  2 


Albrecht  Dielerich:  Kleine  Schriften. 


Sommertag  005 

Wer  nichts  bekam,  sang;  ^ 

O  du  alter  Stockfisch, 

Wenn  mer  kommt,  do  hoscht  nix, 

Gibscht  uns  alle  Johr  nix. 

Strich  Strah  Stroh,  der  Summerdag  is  do. 

Weiterhin  sah  ich  dann  den  großen  „Sommertagszug",  in  dem  hundert 
und  aber  hundert  Kinder  mit  Stecken,  wie  ich  sie  beschrieb,  das  Lied 
singend,  das  ich  angab  \  durch  Hauptstraße  und  Anlage  zogen.  Dieser 
Zug  am  Sonntag  Lätare,  denn  der  war  es,  ist  erst  im  Jahre  1893 
wieder  neu  eingerichtet  worden,  aber  die  Hauptzüge  des  Brauches 
sind  alt;  nachweislich  z.  B.  auch  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  aus 
den  Briefen  der  Liselotte,  die  ihn  mehrfach  erwähnt,  oder  z.  B.  aus 
einem  Eintrag  in  einem  Ausgabenbuch  des  Pfalzgrafen  Karl  Ludwig: 
„Zwei  Jungen,  welche  den  Sommer  gesungen,  1  Gulden  30  Kreuzer." 
In  dem  Zuge  gingen  denn  auch  in  einer  ganzen  Reihe  von  Exemplaren 
der  „Sommer"  und  der  „Winter":  Jungen,  die,  darunter  versteckt  bis 
auf  die  Füße,  pyramidenartige  Gestelle  trugen,  mit  Stroh  umwickelt, 
wenn  sie  den  Winter,  mit  allerlei  Tannengrün,  wenn  sie  den  Sommer 
darstellen  sollten.  Bis  vor  kurzem,  so  erfuhr  ich,  haben  außerdem 
noch  Kämpferpaare  mit  hölzernen  Schwertern  fechtend  den  Kampf  des 
Sommers  und  Winters  dargestellt.  Das  alte  Motiv  des  Kampfes  ist 
auch  dann  noch  deutlicher  zum  Ausdruck  gebracht,  wenn  die  Knaben 
einen  hölzernen  Degen  in  der  rechten  Hand,  die  Bretzel  in  der  Linken 
trugen  und  nun  mit  dem  Degen  den  Winter  austreiben  halfen.  So  ist 
es  an  anderen  Orten  der  Pfalz  noch  heute  Brauch.^  Dort  wird  auch 
(in   der  Hinterpfalz)   der  Sommer  mit  Efeu   umzogen,   den  erwachsene  84 


^  Viel  Lehrreiches,  auch  zur  Textgeschichte  und  Deutung  der  Verse,  die 
uns  hier  weiter  nicht  beschäftigen,  in  einem  Aufsatz  von  Karl  Christ,  Heidel- 
berg, in  den  Mannheimer  Geschichtsblättem  1.  Jahrg.   März  1900,  Nr.  3,  S.  59ff. 

»  S.  auch  L.  Grünewald  Mitteilungen  des  histor.  Vereins  der  Pfalz  XX  (1896) 
S.  208.  Über  die  ungemeine  Bedeutung  und  vielfache  Ausgestaltung,  die  dieser 
Kampf  von  Sommer  und  Winter  auch  in  Riten  und  Mythen  des  Altertums  hat, 
sind  wir  schon  mehrfach  durch  Usener  belehrt  worden,  z.  B.  Rhein.  Mus. 
XXVIII  425,  XXX  189ff.,  LIII  358ff.,  Archiv  f.  Religionswiss.  VII  297ff.  Usener 
hat  mich  auch  weiterhin  gelegentlich  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die 
Häufigkeit  der  Namen  Sommer  und  Winter  gar  nicht  anders  zu  erklären  ist 
als  dadurch,  daß  sie  an  Repräsentanten  des  Sommers  und  Winters  in  vielen 
Gemeinden  haften  blieben,  und  daß  wohl  niemand  den  Namen  Tod  (der  im 
nordöstlichen  Deutschland,  ursprünglich  vermutlich  da,  wo  Slawen  den  ehe- 
maligen Untergrund  der  Bevölkerung  bildeten)  erhalten  konnte,  wenn  er  nicht 
durch  die  Darstellung  des  am  Sommertag  ausgetragenen  Todes  sich  bemerk- 
lich gemacht  hatte.  Ich  komme  oben  auf  das  weitverbreitete  und  vielbehandelte 
„Kampfmotiv"  nicht  weiter  zu  sprechen. 


326  Sommertag 

Burschen  morgens  in  Körben  aus  dem  Walde  geholt  haben.  Mit 
Sommer  und  Winter  ziehen  wohl  auch  einher  die  „Rußebutzen",  die 
ihrem  Namen  entsprechend  Gesicht  und  Hände  stark  überrußt  haben. 
An  manchen  Orten  —  auch  an  Orten  des  Odenwaldes  und  Neckar- 
tales -  gehen  die  Mädchen  von  6-12  Jahren,  mit  Kränzen  von 
Buchsbaum  oder  Efeu,  mit  Blumen  und  Bändern  geziert,  im  Dorfe  von 
Haus  zu  Haus  und  kündigen  durch  ihren  Gesang  den  Frühling  an. 
Das  Lied,  das  dabei  vielfach  gesungen  wird,  will  ich  nur  in  einigen 
Wendungen  hier  wiederholen: 

Heut  ist  Mitten  Fasten, 

Da  leeren  die  Bauern  den  Kasten, 

Tun  sie  die  Kasten  schon  leeren, 

Gott  will  was  Neues  bescheren  .  .  . 

Im  Sommer  da  deihen^  die  Früchte  wohl. 

Da  kriegen  sie  Scheuern  und  Kasten  voll  .  ,  . 

Da  schaut  ein  Herr  zum  Fenster  heraus. 

Er  schaut  hinaus  und  wieder  hinein, 

Er  schenkt  uns  was  ins  Beutelein  nein; 

Wir  wünschen  dem  Herrn  ein  goldenen  Tisch, 

Auf  jedem  Eck  ein  backenen  Fisch, 

Und  mitten  drein  'nein 

Eine  Kanne  voll  Wein, 

Da  kann  der  Herr  recht  lustig  sein.' 

85  Kurz,  ehe  mir  diese  lebendigen  Zeugen  alten  Volksbrauches  in  den 
Weg  liefen,  hatte  ich  vielerlei  aus  Büchern  gesammelt,  um  auch  da 
aus  der  Fülle  der  Erscheinungen,  vor  allem  aus  voneinander  unab- 
hängigen deutschen  und  antiken  Traditionen  Grundformen  religiösen 
Denkens  zu  begreifen,  die  zu  verschiedensten  Zeiten  bei  den  ver- 
schiedensten Völkern  gleichen  Brauch  gestalteten.  Aber  ich  würde 
kaum  dergleichen  öffentlich  haben  auseinandersetzen  mögen,  nachdem 
so  viel  des  Wesentlichen  von  Wilhelm  Mannhardt  zusammengestellt 
und  erklärt  und  auch  die  Parallelität  deutscher  und  antiker  Bräuche 
dieser  Art  gefunden  und  untersucht  worden  war,  wenn  mir  nicht  durch 
den  Anblick  des  Heidelberger  Zuges  wie  mit  einem  Male  zwei  antike 
Wandbilder  aus  Ostia,  die  mir  in  Rom  in  der  BibHothek  des  Vatikans 
sehr  aufgefallen  waren,  und  deren  Photographien  ich  gerade  seit 
kurzem  durch  meines  Freundes  Walter  Amelung  Güte  besaß,  in  ihrer 
Bedeutung  klar  geworden  wären.  Um  ihretwillen  sind  diese  Seiten 
geschrieben. 


^  So  ist  es  gedruckt  a.  u.  a.  O.    Es  ist  „denen"  =  drängen  sich. 

*  Unter  den  Aufzeichnungen  der  Frau  Auguste  Pattberg,  die  zusammen- 
gestellt sind  von  Reinhold  Steig  in  den  Neuen  Heidelberger  Jahrbüchern  VI 
(1896)  105.    Vgl.  Böhme  Deutsches  Kinderlied  und  Kinderspiel  S.  338. 


Sommertag  327 

I 

Es  gibt  in  deutschen  Landen  eine  unabsehbare  Fülle  von  Beispielen 
des  Brauches,  daß  im  Frühjahr,  sei  es  am  Sonntag  Lätare,  sei  es  am 
ersten  Mai,  sei  es  Ostern,  sei  es  Pfingsten,  Knaben  und  Mädchen, 
auch  Burschen,  selten  Männer  herumziehen,  den  Frühling  oder  den 
„Sommer"  „ansagen"  oder  „ansingen".  Damit  wir  uns  die  wesent- 
lichen Züge  der  Bräuche,  auch  der  dabei  gesungenen  Verse,  einprägen, 
will  ich  einige  Beispiele  anführen  und  mich  bemühen,  entlegenere  oder 
auch  von  mir  selbst  gesammelte  zu  meinem  Zwecke  zu  verwenden 
und  dadurch  zugleich  zu  veröffentlichen. 

Am  Sonntag  Lätare  ziehen  in  Gernsheim  a.  Rh.  Scharen  von  Kindern 
von  Haus  zu  Haus  und  singen  auf  der  Straße  folgende  Verse: 

O  Bumbelo,  der  Summertag  is  do,  Drowe  in  de  Ferschte  (Firste)  86 

Mer  höre  die  Jungfrau  klingele,  Do  hänge  Brotwerschte. 

Sie  soll  uns  ebbes  bringe,  Die  große  losse  mer  hange, 

Eier  oder  Speck.  Die  klane  wolle  mer  fange. 

Mer  gehn  net  ehnda  weg  Fuchs  geh  ins  Hinkelhaus, 

Bis  mer  ebbes  hett.  Hol  all  die  Bier  raus. 

Meist    erhalten    die   Kinder  nach   diesem   Gesänge   kleine   Geschenke 

(Backwerk,  Pfennige),  die  unter  sie  geworfen  werden  und  eine  große 

Balgerei  veranlassen.     Erhalten  sie  nichts,  dann  singen  sie  mit  laut 

erhobener  Stimme: 

De  Geizhals  guckt  zum  Fenster  eraus. 
Werft  uns  noch  ka  Hutzel  eraus.  ^ 

Vielfach  ist  gerade  am  Sonntag  Lätare  das  Todaustreiben  üblich; 
in  Sachsen  ziehen  dann  auch  die  Kinder  von  Haus  zu  Haus  und  tragen 
entlaubte  Bäumchen,  die  mit  Papierstreifen  umwickelt  sind.  Besonders 
bezeichnend  sind  Verse  wie  diese: 

Wir  alle,  wir  alle  kommen  h'raus 
Und  tragen  heut  den  Tod  hinaus. 
Komm  Frühling  wieder  mit  uns  ins  Dorf  - 
Willkommen,  lieber  Frühling!* 

In  einem  Sommertagsansingelied  aus  dem  Odenwald  heißt  es  (nach 
den  Versen,  die  oben  S.  84  <326>  als  Aufzeichnungen  aus  der  Pfalz 
gegeben  wurden): 

»  Lied  und  Angaben  wörtlich  nach  freundlicher  Mitteilung  des  Herrn 
Pfarrers  Voffel  zu  Gernsheim  (vom  21.  Juli  1902).  ^      .  . 

«  S  Böhme  Deutsches  Kinderlied  und  Kinderspiel  S.  334.  Das  ist  auch 
schon  zu  Luthers  Zeit  gerade  so  gewesen,  der  ein  Lied  „den  Papst  auszu- 
treiben- daraus  gemacht  hat,  Werke  VIIl  S.  84ff.,  Berlin,  Schwetschke.  (Mit- 
teilung  von  Herrn  v.  Kirchenheim.) 


328  Sommertagf 

Wir  wünschen  der  Frau  eine  goldne  Wiege, 

Damit  soll  sie  ihr  Kindlein  wiegen. 

Wir  wünschen  der  Frau  eine  goldne  Schnur, 

Damit  bind  sie  ihr  Kindlein  zu. 

Wir  wünschen  dem  Herrn  einen  silbernen  Wagen, 

Damit  soll  er  ins  Himmelreich  fahren.^ 

87  In  Heftrich  bei  Idstein  im  Taunus  ist  der  Pfingstmontag  der  Tag  des 
Umzuges.^  Die  ältere  Schuljugend  wählt  einen  aus  ihrer  Mitte,  der 
von  Kopf  bis  zu  Fuß  mit  grünen  (Buchen-) Zweigen  umflochten  wird 
und  eine  Kopfbedeckung  aus  demselben  Materiale  erhält.  Mit  diesem 
„Laabmännche"  an  der  Spitze  ziehen  sie  durchs  Dorf  und  singen  vor 
jedem  Haus  ein  Lied:  die  Hausfrau  verabreicht  dann  in  der  Regel  ein 
Geschenk  (meist  aus  Eiern  bestehend).  Die  Gaben  werden  in  einem 
großen  Korb  gesammelt  und  am  Schluß  verteilt.     Das  Lied  ist  dies: 

Gööge  di  göhge  di  Aier  (Eier) 

Die  Hinkel  le'e  die  Aidr 

De  Madder  säuft  de  Dorre  (Dotter)  'raus. 

Drei  Aier  raus,  drei  Aier  raus, 

De  Korp  is  noch  nit  voll. 

Mach  mer  (mir)  mol  die  srewespring. 
Mach  se  (sie)  alle  stewö  (7). 
Siesde  (Siehst  du)  wie  ich  danze  kann, 
Schöner  wie  ein  Ese(jl,?)mann.' 
Si  II  sa  II  hop  II  sa  ||  (Laubmännchen  hüpft;  j  =  Pause). 


A.  (Die  Frau  gibt  eine  Gabe.)  B.  (Die  Frau  gibt  nichts.) 

Die  Frau  hat  uns  ein  Ei  gegeben.  Die  Frau  hat  uns  kein  Ei  gegeben, 

Soll  sie  auch  viel  Freud'  erleben;  Soll  ihr's  Hemb  am  A  .  .  .  ankleben. 

Sie  und  ihre  Kindör,  [oder,  und  wohl  modemer: 

Sie  und  ihr  Gesinddr.  (sie!)  Soll  sie  auch  kein  Freud  erleben.) 

In    Rinsdorf    im   Siegerland    wird  der   Maibaum    herumgetragen,    die 

Stange   muß   von  zwei  Burschen  getragen   werden,   einer  ist  ganz  in 


Busch  eingehüllt.     Sie  singen: 


Mai,  Mai,  gib  mir  ein  Stück  Fett  oder  ein  Ei. 

Greift  in  ein  Nest, 

Wo  ein  Schilling  Eier  drin  ist. 

Gebt  uns  die  dreimal  vier. 

Die  andern,  die  behaltet  ihr. 


^  Böhme  S.  338. 

*  Ich  verdanke  diese  Mitteilungen  einem  Marburger  Schüler,  Herrn  Dr.  Ernst 
Bieber,  jetzt  Oberlehrer  in  Frankfurt  a.  M. 

^  Die  Leute  konnten  nicht  bestimmt  sagen,  ob  /  oder  n  richtig  ist  und 
sprechen  deutlich  Ese  .  .  .  mann. 


Sommertag  329 

Greift  an  die  Stangen,  88 

Wo  die  Bratwürste  hangen, 

Gebt  uns  die  langen. 

Die  kurzen  laßt  ihr  hangen  .  .  . 

Und  so  ihr  das  nicht  tut, 

So  habt  ihr  kein  christlich  Blut.^ 

Von  besonderem  Interesse  können  uns  die  Bräuche  sein,  die  aus 
Braunschweig  gut  bekannt  sind.^  Der  Maibatim  wird  herumgetragen; 
es  wird  aber  auch  die  „Maibraut"  herumgeftihrt  -  der  zweitjüngste 
Bursche  wird  ganz  in  Birkenlaub  eingekleidet  und  ist  die  Maibraut; 
der  jüngste  ist  der  paias  (Hanswurst,  Bajazzo)  und  mit  Larve  und 
Pritsche  versehen.     Einer  der  älteren  Burschen  „betet"  beim  Umzug: 

Ik  bringe  jüch  den  lütgen  vogt. 

Den  gröten  vogt. 

Den  pingstemai. 

Ik  woll  jüch  bitten  um  ein  half  schock  eier, 

'n  stücker  fiwe,  sesse 

Ligget  in  jüen  neste, 

'n  stücker  fiwe,  f ofteine 

Maket  jüe  nester  reine. 

G6wet  üsch  en  stücke  kauken. 

Da  künn  we  gut  na  raupen, 

GÄwet  üsch  en  stücke  schinke, 

Da  künn  we  gut  na  drinken.  '■/' 

G6wet  üsch  en  stücke  speck  wie  en  arm  lang, 

Dann  ward  üse  eierkauke  noch  mal  sau  blank. 

Gftwet  üsch  en  enne  wost^ 

Denn  fät't  we  jüe  mäkens  mal  an'n  tost. 

Göwet  üsch  en  stücke  semmele. 

Denn  fät't  we  jüe  mäkens  ok  mal  an  de  pemmele. 

Gfiwet  üsch  en  paar  gröschen  geld. 

Da  komet  we  ök  midde  dör  de  weld, 

Pingstemai. 

Hierauf  sagt  die  „Maibraut":  * 

mik  6k  en  ei! 

und  der  Hanswurst: 

süß  slä  ik  schötteln  un  pötteln  entwei! 

Es  wird   auch  von  Doppelchören  von  Knaben  und  Mädchen  berichtet; 
bei  letzteren  zieht  die  Maibraut  voran.    Dabei  wird  z.  B.  gesungen: 


^  Mitteilung  von  Herrn  stud.  theol.  Patt  (1902  in  Gießen).  „  ..  .  ,„.^ 

«  Ausführlich  beschrieben  bei  Richard  Andree  Braunschweiger  Volkskunde 
344ff.    Danach  die  Angaben  oben. 


330  Sommertag 

Güen  dag,  güen  dag! 
Wat  göwet  se  usrer  maibrüt? 
Gßwet  se  wat,  so  hat  se  wat, 
Hat  se  et  ganse  jär  wat  usw. 

In  der  Formulierung  der  Wünsche,  die  freilich  etwas  breit  aus- 
geführt werden,  ist  ein  besonders  lehrreiches  Beispiel  das  Lied  der 
Grebser  Pferd ejungen   (Mecklenburg) \   die  zu   Pfingsten  herumziehen: 

Gewt  uns  *n  por  Eier,  dei  hevvt  ji  noch  wol, 
Fif  in'n  Grapen,  fif  in'n  Schapen,  fif  in  ne  Kip, 
Denn  ward  ji  selig,  un  wi  ward'n  rik. 
Stig  s'ok  in  den  Wim'n  bi  dat  Speck; 
Schnid  s'uns  'n  Stück  von  den  Schinken 
Dor  kön'n  wi  gaut  up  drinken. 

Unserm  lieben  Herrn  Hauswirt  wir  woll'n  wünschen  an. 
Wir  woll'n  ihm  wünschen  einen  vergüldeten  Tisch, 
Auf  allen  vier  Ecken  gebratne  Hühner  und  Fisch; 
Mitten  auf  dem  Tisch  einen  Becher  mit  Wein, 
Das  soll  unserm  lieben  Herrn  Hauswirt  sein  Labung  auch  wol  sein.  — 
Unsern  Herrn  Hauswirt  wir  wollen  lassen  stehn 
Und  wollen  zu  unserer  Hausfrauwirtin  hingehn. 
Unsrer  Hausfrauwirtin  wir  wolln  wünschen  an. 
Wir  wolln  ihr  wünschen  eine  vergüldete  Krön, 
Auf  künftig  Jahr  ein'n  jungen  Sohn, 
90  Ein'n  jungen  Sohn  mit  schwarzbraunes  Haar, 

Daß  all  ihr  Unglück  zum  Giebel  rausfahr. 
Wir  wünschen  ihr  auch  die  Gesundheit  dabei. 
Daß  ihre  Lust  und  Freude  sei.  — 
Unsre  Hausfrauwirtin  wir  wolln  lassen  stehn 
Und  wolln  nach  unserm  Hausknechte  hingehn. 
Unserm  Hausknecht  wir  wolln  wünschen  an 
Auf  künftig  Jahr  ein  junge  Braut, 
Ein  junge  Braut  von  achtzehn  Jahr, 
Daß  all  ihr  Unglück  zum  Giebel  rausfahr. 
Wir  wünschen  ihm  auch  die  Gesundheit  dabei. 
Daß  ihre  Lust  und  Freude  sei.  — 
Unsern  Hausknecht  wir  wolln  lassen  stehn 
Und  wolln  nach  unserm  Hausmädchen  hingehn. 
Unserm  Hausmädchen  wir  wolln  wünschen  an. 
Wir  wolln  ihm  wünschen  ein  vergüldetes  Lamm, 
Auf  künftig  Jahr  ein'n  Bräutigam, 
Ein  Bräutigam  mit  schwarzbraun  Haar, 
Daß  all  ihr  Unglück  zum  Giebel  rausfahr.  — 
Unser  Hausmädchen  wir  wolln  lassen  stehn 
Und  wolln  zu  unserm  Hauswirt  und  Frau  Wirtin  hingehn. 
Unserm  Hauswirt  und  Frau  Wirtin  wir  wolln  wünschen  an, 
Wir  wolln  ihn'n  wünschen  ein'n  vergüldeten  Wagen, 
Damit  solin  sie  beide  nach  dem  Himmel  einfahren. 


Nach  Bartsch  Sagen,  Märchen  und  Gebräuche  aus  Mecklenburg  II  276 ff. 


Sommertag  33  j 

Ach  Mudder  will  ji  uns  kein  Pfingstegeld  nich  gebn? 
Hummel  den  Bummel  wol  um  den  Busk, 
Hewt  ji  kein  Eier  denn  gewt  uns  Wust, 
Lat't  uns  hier  nich  lange  stan, 
Wir  mütt'n  hüt  Abend  noch  fürder  gan. 
Gauden  Tag! 

Hier  haben  wir  eine  Bescheerung  gekregen, 
Der  liebe  Gott  läßt  Euch  in  Frieden  leben, 
In  Frieden  leben  wohl  ein  und  aus, 
Daß  alles  Unglück  fahr  aus  diesem  Haus. 


Hier  haben  wir  keinen  Schwanz  Hiring  gekregen, 
Der  liebe  Gott  läßt  Euch  in  Unfrieden  leben. 
In  Unfrieden  leben  wol  ein  und  aus, 
Daß  alles  Unglück  fahr  in  dieses  Haus. 

Die    „Stecken"    und    „Stäbe"    spielen    bei    außerordentlich    vielen  91 
dieser  Bräuche   eine  wesentliche  Rolle,   sie  werden   mit  Kätzchen  be- 
hängt (München),   mit   den   ersten  Kirschen  (Mainz),  mit  Kreppein  be- 
steckt z.  B.  in  Marburg  zu  Fastnacht,  da  heißt  es 

Und  gebt  ihr  uns  kein  Kreppel  nit, 
Dann  legen  euch  die  Hühner  nit,  — 

in  der  Regel  aber  mit  Bretzeln,  ausgeblasenen  Eiern  und  Äpfeln.  Ein- 
mal wird  ausdrücklich  berichtet,  daß  die  Umziehenden  in  Westfalen 
einen  „Spiet"  zu  tragen  pflegen  -  der  Spiet  sei  eine  Stange  mit 
Querleiste  der  Form  T> 

Außer  den  Bräuchen,  die  sich  um  Kampf  des  Sommers  und  Winters, 
um  Austreiben,  Töten,  Zersägen,  Verbrennen  des  Winters  drehen,  mag 
die  Aufstellung  des  Maipaares  der  häufigste  sein.  So  ziehen  in  König- 
grätz  in  Böhmen  Maikönig  und  Maikönigin  mit  Burschen  und  Mädchen 
als  Brautführern  und  Brautjungfern  und  mit  Kinderscharen  umher. 
Gaben  zu  sammeln.  Die  Königin  hat  einen  Kranz  auf  dem  Kopfe;  das 
Jüngste  Mädchen  trägt  ihr  zwei  Kränze  auf  einem  Teller  nach.  Dann 
folgt  eine  Verurteilung  des  Königs;  die  Königin  kann  ihn  aber  loskaufen 
und  setzt  ihm  ihren  Kranz  auf.^  Nach  einem  Brauch  der  Gemeinde 
Wehden,  Kreis  Lübbeke  (Osnabrück),  wurde  zu  Pfingsten  das  schönste 


»  Kuhn  Westfäl.  Sagen  II  126,  Böhme  a.  a.  0.  335  Nr.  1719.  Von  außer- 
deutschen Bräuchen  will  ich  nur  einen  erwähnen,  den  ich  selbst  im  Jahre  1900 
kennen  gelernt  habe:  in  Arles  in  Südfrankreich  zogen  die  Kinder  am  Sonntag 
Lätare  mit  Stecken  umher,  die  mit  kandierten  Früchten,  Bändern  und  buntem 
Papier  ausgestattet  waren. 

'  Mannhardt  Wald-  und  Feldkulte  I  422  f. 


332  Sommertag 

und  beliebteste  Mädchen  von  12-14  Jahren  erkoren,  ergriffen  und 
festlich  geschmückt;  ebenso  bemächtigte  man  sich  des  beliebtesten 
Knaben  aus  demselben  Lebensaher,  zierte  sein  Haupt  mit  einer  hohen, 
aus  bunten  Bändern  und  Goldpapier  gefertigten  Krone  und  führte  beide 
jubelnd   im  Dorfe  umher.^     Häufig  werden  auch  „Hans  und  Gretl"  als 

92  Puppen  oder  auch  als  wirkliche  Menschen  umgeführt  im  Frühjahr, 
wohl  auch  als  Figürchen,  die  auf  dem  Maibaume  auf  einem  Wind- 
rädchen tanzen.  Weiteres  von  Maigraf  und  Maigräfin,  Pfingstbräutigam 
und  Pfingstbraut  macht  nicht  deutlicher,  was  wir  längst  verstehen:  es 
ist  die  neue  „Hochzeit",  der  lepöc  t^Ilioc,  im  letzten  Grunde  der 
Fruchtbarkeitszauber  fürs  neue  Jahr.  Es  gibt  ja  im  Volksbrauch  auch 
davon  noch  verblaßte  Reste,  daß  einstmals  die  Begattung  des  Menschen- 
paares auf  dem  Ackerfelde  die  Erde  aufs  neue  zur  fruchtbaren  Mutter 
machte.^ 

Jener  Stab  oder  Zweig  aber  ist  nichts  anderes  als  der  Frühling 
selbst,  das  neue  Leben,  das  jedem  Hause  gebracht  werden  muß;  da 
bleibt  er  bis  zum  nächsten  Jahr  und  wird  durch  den  neuen  Stab  ab- 
gelöst. Wir  werden  das  noch  besser  verstehen  lernen.  Daß  die  Um- 
züge an  so  verschiedenen  Terminen  stattfinden,  begreifen  wir  schon 
jetzt  so,  daß  irgendein  vorhandener  Festtag  den  Frühjahrseinzug  an 
sich  gezogen  hat.  Und  nicht  anders  ist  es  mit  dem  Einzug  des  Herbst- 
segens, der  Ernte.  Denn  dem  Maibaum  steht  der  Erntemai  gegenüber; 
wird  im  Frühjahr  etwa  der  erste  grünende  Zweig  gebracht,  so  nach 
der  Ernte  das  letzte  Ährenbündel.  In  beiden  Fällen  aber  hat  der  be- 
bänderte Stab  mit  Früchten  und  Backwerk  seine  Stelle.  Eine  Frucht 
wie  der  Apfel  mit  seinen  Kernen  repräsentiert  Saat  und  Ernte  zugleich. 
Auch  im  Herbste  hat  eine  ganze  Reihe  benachbarter  mächtiger  Fest- 
tage den  Segenseinzug  an  sich  gezogen,  und  es  kommt  hier  noch 
dazu,  daß  die  Wintersonnenwende  und  weiterhin  die  Jahreswende  ganz 
von  selbst  Begehungen  festhalten  oder  ausgestalten,  die  den  Einzug 
der  neuen  Zeit  darstellen.  So  geht  hier  beides  vielfach  ineinander: 
der  Einzug  des  neuen  Lebens  und  der  Einzug  des  Segens  des  Herbstes. 
Der  Schluß  der  Ernte  selbst,  die  veränderlichen  Erntefeste,  dann  aber 
vor  allem  der  Martinstag,  das  Weihnachtsfest,  Neujahr  und  Dreikönigs- 

93  tag  sind  die  Termine,  an  denen  nun  wieder  Umzüge  stattfinden  und 
Lieder  gesungen  werden,  die  uns  ohne  weiteres  die  wesentlichen 
Hauptformen  und  Hauptformeln  zeigen,  wie  die  oben  angeführten 
Bräuche  und  Verse. 


Mannhardt  I  423.        ^  Weiteres  Mutter  Erde  S.  97  f,  u.  s. 


Sommertag 


333 


Am  reichsten  ausgebildet  sind,  scheint  es,  die  Martinsumzüge  mit 
den  Martinsliedern.  Zunächst  ein  charakteristisches  Beispiel  eines  Lied- 
chens ^  aus  Bückeburg. 


Märten,  Märten  gaue  Mann, 
Der  üsch  wat  verteilen  kann 
Da  Appel  un  da  Beren, 
Da  Nöte  mag  ek  geren, 
Gaue  Frue: 
Gebns  üsch  wot, 
Lat  uns  nich  tau  lange  stän 
Möt  noh  hen  nach  Köllen  gän, 
Köllen  is'n  wihen  Weg. 


Dat  Himmelreich  werd  uppedän, 
Damöt  wie  alle  ringän. 
Von  eine  bet  tweie 
Da  drüdde  kan  wol  mit  üsch  gan. 
Ek  hör  da  Schlöttels  klingen, 
Se  werd  üsch  wol  wat  bringen, 
Ek  hör  da  Schlöttels  klappern, 
Se  bringt  üsch  wol  'n  Appel. 


Das  Obst  wurde  auf  den  Flur  geschüttet  und  es  begann  ein  großes 
Grapsen.     War  man  zufrieden,  so  hieß  es: 

In  .  .  .  siner  Stuben, 
Da  sitt  twei  witte  Duben  (=  Tauben), 
Da  eine  is  költ,  da  anre  is  warm 
.  .  .  holt  sine  Frue  in'n  Arm. 

War  man  unzufrieden,  so  folgten  ein  paar  unflätige  Reime.  Daneben 
mag  sogleich  ein  offenbar  etwas  durch  höhere  Bildung  geglättetes 
Liedchen  ^  stehen.  Dafür  ist  es  denn  auch  aus  Göttingen.  Die  alten 
volkstümlichen  Teile  erkennt  man  gleich  an  dem  stärker  beibehaltenen 
Dialekt. 


Martin  ist  ein  guter  Mann, 
Schenkt  uns  Äpfel  und  Nüsse. 
Als  sie  an  dem  Tische  saßen 
Und  gebratne  Fische  aßen. 
Da  dacht'  ich  in  meinem  Sinn, 
Seht  da  wohnt  ein  Reicher  drin. 
Der  wird  sich  wohl  bedenken 
Und  wird  mir  wohl  was  schenken. 
Schenken  Se  mek  en  Appel, 
Den  kann  ek  gaud  verknappein. 
Schenken  Se  mek  ne  Beeren, 
Die  kann  ek  gaud  vertehren. 
Schenken  Se  mek  'ne  Nuß, 
Denn  geb  ek  Se  en  Kuß. 

Man  kann  sich  nun  aber  leicht  mit  einer  großen  Menge  von  Martins- 
liedern  aus   gedruckten  Sammlungen  bekannt  machen.    Ein  zierliches 

*  Nach  Mitteilung  von  Herrn  Professor  Dr.  Karl  Fuhr  in  Berlin. 

-  Ich  verdanke  dessen  Aufzeichnung  der  Güte  der  Frau  Qeheimrat  Leber 

in  Heidelberg.  ...  ^    o       ^    • 

»  Es  werde  von  manchen  behauptet,  teilt  mir  die  freundliche  Spendenn 
mit,  statt  „Polen"  müsse  es  „Köln"  heißen.  Das  vorige  Lied  sprach  ja  von 
Köllen. 


Ich  bin  ein  kleiner  Zimmermann, 
Ich  zimmre  alles  was  ich  kann. 
Ich  bin  ein  kleiner  König, 
Geben  S'  mir  nicht  zu  wenig. 
Käs'  und  Brot  mag  ich  nicht, 
Schweinebraten  krieg  ich  nicht, 
Meister,  gib  mir  Wurst. 
Lat  mek  gähn,  lat  mek  stahn, 
Lat  mek  nich  tau  lange  stahn, 
Ek  möt  noch  hen  nach  Polen", 
Un  mek  twei  Penn'ge  holen, 
Polen  is  ne  grote  Stadt, 
Da  geb'n  mek  alle  Lüte  wat. 


94 


334  Sommertag 

Büchlein,  das  K.  Simrock  1846  anonym  und  ohne  Angabe  des  Jahres 
bei  A.  Marcus  in  Bonn  herausgegeben  hat,  ist,  so  scheint  es,  wenig 
beachtet.^  Es  heißt:  Martinslieder /hin  und  wieder /In  Deutschland  ge- 
sungen/Von Alten  und  von  Jungen /Zu  Ehren  des  bescheidnen  Manns/ 
(Bei  einer  wohlgebratnen  Gans) /Mit  zweien  Vorberichten / Die  manches 
Dunkle  lichten  /  in  /  Druck  gegeben  säuberlich  /  durch  /  Anserinum 
Gänserich.  /  Nota  bene:/den  edlen  Martinsfeuern  /  Will  Anserin  nicht 
steuern /Nein  ihren  Glanz  erneuern.  /  Bonn  gedruckt  in  diesem  Jahr,/ 
da  der  Wein  geraten  war.  /  Darin  finden  sich  die  prächtigsten  Bei- 
spiele auch  für  den  Typus,  der  uns  hier  von  einiger  Wichtigkeit  ist 
(z.B.  S.  26  aus  Bonn,  S.  30  aus  Coblenz,  S.  35  aus  Barmen,  S.  38 
aus  Remscheid,  S.  41  aus  dem  Herfordschen,  S.  45  aus  der  Alt- 
mark usw.).^ 
95  Nicht  selten  wird  nun  auch  einem  der  Martinsbuben,  dem  Martins- 
männchen, wie  es  am  Rhein  heißt,  Stroh  um  Arme,  Leib  und  Beine 
gewickelt,  je  nachdem  er  ganz  zum  „Strohmännchen"  ausstaffiert 
werden  soll,  wie  sein  Genosse  im  Frühjahr  zum  „Laubmännchen". 
Und  gerade  auch  bei  den  Martinsumzügen  spielt  ein  „Vögelchen"  eine 
Rolle,  für  das  dann  gesammelt  wird,  z.  B.  in  einem  Lied  aus  dem 
Hans -Jochenwinkel  der  Altmark  :^ 

Martin,  Martins  Vaegelken 

Met  diin  vergült  Snsivelken, 

Flöög  hoch  öövern  Wiim  (Hühnerleiter), 

Morgen  is  det  Märtiin!  usw. 

Jedenfalls  handelt  es  sich  nicht  um  die  Gans,  die  uns  hier  nichts  an- 
geht. Die  Krähen  werden  in  einigen  Gegenden  des  Rheins  auch 
Martinsvögel  genannt:  möglich,  daß  hier  die  Krähe  auch  gemeint  ist, 
die  die  Kinder  doch  wohl  früher  wirklich  mit  herumtrugen.  In  Früh- 
lingsliedern spielt  gelegentlich  der  Kuckuck  oder  die  Schwalbe  und 
noch  andere  Tiere  ihre  Rolle.  Am  Palmsonntag  in  Westfalen  wurde 
gesungen: 


*  Mir  ist  es  durch  Useners  Mitteilung  bekannt,  s.  auch  Ältgriech.  Versbau 
64,  3;  83. 

*  Es  wäre  natürlich  unendlich,  die  Stellen  aufzuführen,  wo  Martinslieder 
gedruckt  sind ,  nur  auf  Hildebrands  Materialien  zur  Gesch.  des  deutschen  Volks- 
lieds S.  142  ff.  mag  noch  hingewiesen  sein  (vom  Martinsfest  der  Kinder  derselbe 
und  Dähnhardt  Volkstümliches  aus  Sachsen  II  156).  Eine  ganze  Reihe  ver- 
schiedener Liedchen  war  zusammengestellt  in  der  Unterhaltungsbeilage  der 
Tägl.  Rundschau  vom  10.  November  1903  von  R.  Reichhardt. 

^  Kuhn  Mark.  Sagen  344. 


Sommertag  qqc 

Palm,  Palm  Boschen, 

Laßt  den  Kuckuck  roschen. 


Lät  den  Vögel  singen, 

Lät  den  Kuckuck  springen^; 

beim   Kölner  Frühlingsumzug  wurde   in   der  Tat  früher  ein  Eichhorn 
herumgetragen  und  gesungen 

roden,  roden,  Eichhorn, 
(=  rassele ,  schnarre) 
(die  Knaben  hatten  eine  wirkliche  Rassel  dabei).' 

Nur  noch  ein  Beispiel  dieser  Art:  in  Oberschlesien  auf  dem  Lande 
(Kreis  Kreuzburg)  zogen  Knaben  singend  und  heischend  zu  Weih-  96 
nachten  mit  dem  Kokotek  =  Hähnchen  umher.  Sie  hatten  zwei 
Räder  mit  einer  Achse,  auf  der  sich  eine  Scheibe  wagerecht  schnell 
herumdrehte.  Darauf  war  eine  Anzahl  von  Puppen,  die  beim  Drehen 
wie  Tänzer  sich  bewegten,  und  in  ihrer  Mitte  ein  plastisch  dargestellter 
Hahn.3 

Den  Martinsbräuchen  stehen  an  Verbreitung  beträchtlich  nach  ent- 
sprechende Sitten  zu  Weihnachten,  am  Neujahrstag  und  am  Dreikönigs- 
tag. Am  meisten  Ähnlichkeit  mit  den  Martinsgesängen  haben  vielfach 
die  Liedchen,  die  in  manchen  deutschen  Landesteilen  beim  Umgang 
mit  dem  „Rummelpott"  vorgetragen  werden.  Über  einen  irdenen  Topf 
ist  eine  Blase  gebunden,  und  darin  in  der  Mitte  ist  ein  aufrechtes 
Rohr  befestigt,  das  einen  Ton  etwa  wie  „rups,  rups"  von  sich  gibt, 
wenn  es  mit  der  feuchten  Hand  auf  und  ab  gestrichen  wird.  In  manchen 
Teilen  Schleswig -Holsteins  wurde  dazu  z.B.  gesungen: 

Rummel,  Rummel,  Dürtjen!  Not  sünd  ok  god. 

Gif  mir  mal'n  paar  Fürtjen.  Smit  ik  de  lütjen  Deerns  in'n  Schoot. 

Laat  mi  hier  nich  länger  staan.  Davon  wart  se  grot, 

Ik  mutt  hüt  noch  wieder  gaen.  Denn  kriegt  se'n  Mann, 

Appel  un  Beeren,  Denn  lopt  se  davon.* 

De  mag  ik  gern. 

Sonstige  Lieder  und  Sitten,  die  an  Weihnachten,  Neujahr  und  Drei- 
königstag sich  anknüpfen,  geben  uns  nichts  irgendwie  hier  Bemerkens- 


*  Böhme  a.  a.  0.  S.  345. 

»  Böhme  S.  343,  vgl.  W.  Wolf  Beiträge  zur  Mythologie  I  74. 

=  Mitteilungen  d.  Schles.  Ges.  f.  Volkskunde  IV  Nr.  5  S.  78,  1902. 

*  Christian  Jensen  Weihnachtsbräuche  in  Schleswig -Holstein,  Beilage  der 
Münchner  Ällg.  Zeitung  1901  Nr.  296,  S.  5. 


336  Sommertag 

wertes \  wenn  wir  denn,   wie  billig,  von  all  den  Maskierungsbräuchen 
um  die  Wintersonnenwende,  der  Verkleidung  in  allerlei  Tiere  hier  ab- 

97  sehen  (auch  der  „Maibaum"  wird  oft  als  Hahn,  Hase,  Hund,  Kuh  aus-    > 
gestaltet),  da  sie  abseits  des  Weges  dieser  Darstellung  führen.^  I 

Eine   nicht  zu   geringe  Anzahl   von  Bräuchen   und  Liedern  mußten 

wir  vorlegen,  um  des  immer  wieder  im  wesentlichen  Gleichartigen  der 

Sitten   und   der  Sprüche  inne  zu  werden.     Die  Lieder  selbst  enthalten 

immer  und  immer  wieder  folgende  Hauptpunkte: 

L  Ansage  oder  aber  Bringen  des  Frühlings,  des  Segens,  des  Sommers, 

der  Ernte; 

2.  Bitte  um  Gaben,  darunter  besonders  um  Früchte  (Äpfel,  Birnen 
u.  dgl),  Eier,  Würste,  Bretzel,  Backwerk  oder  Kuchen,  Brot, 
Wein  oder  auch  nur  noch  Geld; 

3.  Segenssprüche:  Reichtum  und  Fülle  soll  ins  Haus  kommen;  „das 
Unglück  soll  zum  Giebel  hinausfahren";  gefüllt  soll  sein  Küche 
und  Keller,  neuer  Kindersegen  wird  gewünscht,  der  Sohn  soll 
heiraten,  die  Tochter  soll  einen  Freier  finden,  der  Knecht  eine 
Braut,  die  Magd  einen  Bräutigam:  es  ist  ein  Segen  der  Frucht- 
barkeit; 

4.  Fluch  und  Schmähung  oder  Drohung,  wenn  die  Gabe  ver- 
weigert wird. 

Die  Gaben  selbst  werden  noch  heute  vielfach  abends  an  die  Mit- 
glieder des  Umzuges  verteilt,  früher  in  gemeinsamem  Opfermahl  ver- 
zehrt: so  werden  alle  Teilnehmer  teilhaftig  des  neuen  göttlichen  Lebens. 
Auch  das  tritt  deutlich  hervor,  daß  eben  das,  was  als  Gabe  gespendet 
wird,  nun  im  Hause  in  Fülle  vorhanden  sein  wird;  zum  Teil  sind  die 
Gaben  bekannte  Zeichen  der  Fruchtbarkeit  und  neuen  Lebens.  Eben 
die  werden  denn  auch  auf  dem  Stabe  herumgetragen,  der  selbst  das 
neue  Leben,  den  Segen  der  alles  Leben  gebärenden  Erde  repräsentiert,! 
Der    fruchtbehängte,    mit   Ei    und   Bretzeln    besteckte    Stab    oder   der 

98  frische  Zweig,  der  Maibaum  oder  die  Ähre  müssen  noch  vielfach  nach 
lebendiger  Sitte  im  Hause  den  Segen  halten  bis  zum  nächsten  Jahre, 
bis  sie  durch  den  neuen  Stab  oder  Zweig  ersetzt  werden.  Die  Fülle 
der   Erscheinungen    neuen   Zeugens    und    neuen    Wachsens    kann    die 

^  Für  die  den  überblickten  Bräuchen  und  Liedern  ähnlichen  englischen, 
von  denen  neuerdings  Nachricht  und  Zusammenstellung  gegeben  ist,  sei  nur 
hingewiesen  auf  Folklore  XIII  p.  95,  XIV  p.  167ff.,  175ff.,  County  Folklore  III 
195  ff.,  253  ff. 

'■^  Ausgezeichnete  Zusammenstellungen  bei  Hoffmann-Krayer  Neufahrsfeier 
im  alten  Basel  im  Schweiz.  Archiv  für  Volkskunde  VII  1903,  102  ff.,  besonders 
die  Sammlung  der  Zeugnisse  187  ff. 


Sommertag  337 

Volksanschauung  nur  erfassen,  indem  sie  singularisiert:  der  erste 
grünende  blühende  Zweig  ist  der  Frühling;  die  Fülle  des  Erntesegens 
ist  die  letzte  Garbe.  Wir  könnten  von  Frühlingsfetischen  und  Ernte- 
fetischen reden.  Es  sind  Augenblicksfetische,  es  sind  aber  sozusagen 
äiich  Jahresfetische.  Der  Widerspruch  stört  das  ursprüngliche  Denken 
nicht,  daß  nun  wieder  das  Göttliche  pluralisiert  wird.  Jedes  Haus  hat 
seinen  Erntefetisch,  jede  Straße  hat  ihn,  jede  Kirche.  Die  vermummten 
Gestalten,  die  Laubmännchen  und  die  geschwärzten  oder  als  Tiere 
verkleideten  Gestalten  sind  der  Frühling  oder  Sommer  oder  Herbst 
selber,  wenn  man  will,  die  Dämonen,  die  Leben  und  Segen  bringen. 
Das  Schlagen  mit  der  „Lebensrute"  und  all  die  verwandten  Bräuche 
zeigen  es  jedem,  der  es  nicht  gleich  erkennen  will.^  Die  Tiere,  die 
herumgetragen  werden,  Krähe  oder  Schwalbe  oder  Hahn,  sind  auch 
„Inkarnationen"  des  Frühlings  oder  des  Herbstes:  darum  fordern  sie 
auch  selbst  für  sich  die  Opfergaben.  Und  die  Prozession  selbst  mit 
ihren  rituellen  Handlungen,  wie  dem  Kampf  des  Sommers  gegen  den 
Winter,  der  Hochzeit  des  Maipaares  oder  auch  dem  Tanze  der  „Früh-  99 
lingsdämonen",  ihrer  Vertreter,  und  endlich  auch  noch  der  Umzug 
selbst  durch  die  Flur  und  von  Gasse  zu  Gasse,  von  Haus  zu  Haus, 
die  schafft  das  neue  Leben,  den  reichen  Segen:  sie  selbst  ist 
zauberischer  Ritus,  ist  Fruehtbarkeitszauber.  Was  einst  in  deutlichen, 
wenn  man  will,  rohen  Formen  als  heilige  Handlung  der  Religion  des 
ganzen  Volkes  begangen  ward,  ist  nun  zu  den  Kindern,  wenn  man 
einmal  so  sagen  darf,  herabgekommen,  ein  liebliches  Kinderfest  ge- 
worden, das  die  mächtigen  geheimnisvollen  Zauberriten  der  Zeugung 
und  Fruchtbarkeit  im  fröhlichen  Spiel  der  Kleinen  lieblich  verschleiernd 
bewahrt  hat. 

II 
Nun  sind  wir  imstande,  die  vereinzelten  Überlieferungen  ent- 
sprechender antiker  Bräuche  richtiger  einzureihen  und  zu  beurteilen. 
»  Ich  kann  hier  die  Unendlichkeit  der  Bräuche  nicht  aufzählen.  Mannhardt 
gibt  jedem,  der  sich  belehren  will,  Material  in  Fülle.  Das  „Schmackostern" 
ist  hier  einer  der  wesentlichsten  übriggebliebenen  Riten.  In  den  mythologischen 
Forschungen  hat  Mannhardt  auch  hier  die  antiken  Parallelen  in  allem  Wesent- 
lichen erschöpfend  herangezogen.  Wer  den  Begehungen  der  Fruchtbarkeits- 
dämonen" weiter  nachdenken  will,  mag  sich  die  Bemerkungen  Useners  J^chw 
f.  Religionswiss.  VII  285 f.  nicht  entgehen  lassen;  vielleicht  wird  auch  das 
VI.  Kapitel  meiner  Mutter  Erde  vieles  der  obigen  Ausführungen,  ohne  unmittel- 
bar einzugreifen,  tiefer  verstehen  lassen.  Man  kann  "icht  immer  wiederho^n 
was  in  unzähligen  Gestaltungen  des  Volksbrauches  unendlich  'neinandergre  ft. 
So  lasse  ich  denn  auch  die  „Phallosumzüge"  hier  beiseite^  «^  /ehr  s»e  im 
Altertum  vielfach  den  Umzügen  mit  Stecken  und  Zweig  parallel  waren  und  ver- 
standen  wurden. 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  ** 


338  Sommertag 

Ich  könnte  auch  hier  auf  Mannhardts  in  der  Hauptsache  wahrhaft 
glänzende  Darlegungen  verweisen,  wenn  ich  nicht  einzelnes  etwas 
anders  ansehen  müßte  und  einiges  Neue  hinzufügen  wollte.  Zu- 
sammenstellungeti  und  Erörterungen  mannigfacher  einzelner  Über- 
lieferungen von  Prozessionen,  auch  Kinderprozessionen  mit  Stäben  und 
Zweigen,  mag  man  bei  Mannhardt  nachlesen.  In  Athen  fanden  mannig- 
fache Begehungen  dieser  Art  statt,  so  an  den  Pyanopsien  und  den 
Thargelien.  Die  Oschophorien  (öcxoc*  djUTreXou  KXdboc  KaidKapTroc  6 
Ka\ou)Lievoc  öcxoc)^  treten  besonders  hervor  und  die  mannigfachen 
Umzüge  mit  der  eipeciiuvTi,  dem  mit  Früchten  und  wollenen  Bändern 
behangenen  Stab  oder  Zweig.  Mögen  die  Sätze  eines  Zeugnisses 
auch  hier  angeführt  sein:  (eipeciiuvTi)  KXdboc  iXaiac  epioic  irepiTreTiXeTinevoic 
dvabebejuevoc  .  .  .  eHripTTivio  be  auTou  ujpaTa  irdvia  axpöbpua.  Tipö  be 
100  öupuiv  iCTctciv  auxfiv  eic^ii  xai  vöv  .  .  ..  66ev  eicdii  Kai  yOv  dTreibdv 
dviCTUJCi  Tov  KXdbov,  Xe-fouci  Taöia* 

eipeciujvTi  cÖKtt  qp^pei  Kai  movac  öprouc 
Kai  )Li^Xi  ^v  kotOXt]  Kai  ^Xaiov  dvaipricacGai, 
Kai  kOXik*  eiJZiupow,  uic  äv  |U€0Oouca  KaeeObr). 

ctXXujc*  TTuavevpioic  Kai  GapTn^ioic  'HXiiu  Kai  "Qpaic  lopidZ^ouciv  oi 
'AGrivaToi.^  cpepouci  be  oi  TiaTbec  touc  xe  GaXXouc  epioic  TrepieiXrmevouc 
ö0ev  eipeciüuvai  XeTovrai  Kai  toutouc  upö  tujv  Gupujv  Kpefiiiuciv. 
eHripTTivTo  be  tujv  GaXXÜJV  ai  iLpai.  Das  ist  antike  Erklärung  zu  dem 
Verse  in  Aristophanes  Rittern  (729),  in  dem  der  alte  Demos  sich  be- 
klagt, daß  sie  ihm  die  Eiresione  vor  seiner  Haustür  herabgerissen 
haben.  In  einem  Verse  der  Wespen  (398)  ist  davon  die  Rede,  daß 
der  alte  Philokieon,  der  an  dem  Hause  herunterklettert,  von  der 
Eiresione  getroffen,   tiXtitcic  xaTc  eipeciiuvaic,   sich  zurückwenden  soll: 


^  S.  Athenaios  p.  496  f  nach  Aristodemos:  rote  CKeippoic,  qpTiciv,  'AQY]vale 
dYu»va  ^TTiTeXeicGai  tujv  ^qprißiuv  bpöjuou*  Tp^x^iv  bi  ai)TOi)c  ?xovTac  diinr^Xou 
KXdbov  KaTdKapTTOv  töv  KaXoO|uevov  «I»cxov. 

^  Über  diese  Angabe  (sie  stammt  aus  Theophrast,,  vgl.  Porphyr,  de  ahstin. 
II  7)  urteilt,  wie  mir  scheint,  richtig  Pfuhl  de  Atheniensium  pompis  sacris 
86ff.  Der  Sonne  und  den  Hören  galten  private  Prozessionen,  die  offizielle 
Prozession  der  Thargelien  und  Pyanopsien  galt  dem  Apollon.  Natürlich  ver- 
hält sich  hier  immer  die  Sache  so,  daß  der  volkstümliche  Ritus  von  einem 
großen  Götterfest  attrahiert  ward  und  nun  dem  großen  Gotte  gilt.  Einen  be- 
sonderen Zug  möchte  ich  noch  meine  Leser  zu  bemerken  bitten,  der  von  der 
apollinischen  Thargelienprozession  nur  bei  Proklos  zu  Hesiods  W.  u.  T.  767 
aufbewahrt  ist:  sie  begehen  den  Tag  festlich  ftaqpvTiqpopoOvrec  koI  tö  KavoOv 
^TTiCT^qpovTec  (dirocTp^cpovTec  überl.,  ^iricTdcpovrec  Scaliger)  Kai  i)|livoövt€c 
TÖV  Geöv  (ein  Knabe  steckt  die  Eiresione  vor  die  Türe  des  Apollotempels; 
weitere  Zeugnisse  Pfuhl  a.  a.  0.  47). 


Sommertag  33^ 

der  Sklave  soll  ihn  damit  schlagen  KXdboic  .  .  .  toTc  TTpö  ttic  oikiqc 
sagt  das  Scholion.  Zu  einem  anderen  Aristophanesverse  (Plutos  1054), 
wo  es  heißt,  daß  ein  altes  Weib  von  einem  Funken  in  Brand  gerät, 
wie  eine  alte  Eiresione,  geben  die  antiken  Erklärer  noch  einiges,  das 
die  Analogie  deutschen  Brauches  so  deutlich  macht,  daß  ich  es  nicht 
ganz  beiseite  lassen  kann:  eipeciuuvTi  cTe|Li|uaTa  Trpo  tuuv  ttuXüjv  TiepieiXri- 
jueva  TiXaKOuvTiKoTc  tici  KoXXOpoic  Kai  aXXoic  toioutotpöttoic 
ToTc  T€  ujpaioic  KapTToTc  Ktti  eXaiac  d7T0Kpe|Lid|ui€va  .  .  .  e'xujv  dptov  101 
eHripTTi)Lievov  xai  kotuXtiv  .  .  .  Kai  cOko  Kai  irdvia  xd  dfaOd'  rauiTiv 
be  Tf]v  eipeciiuvriv  -rrpö  tujv  oiKTiiLidTUJv  eTiGevio  01  'AOrivaToi  Kai  Kai' 
exocauxriv  nXXaxxov.  Der  Stab  ist  mit  Kuchenbrezeln  besteckt 
und  mit  Früchten.  Er  bleibt  ein  Jahr  am  Hause,  bis  ihn  der  nächste 
ablöst.  Wahrlich,  was  diesen  „Sommertagsstecken"  angeht,  ist  kein 
Unterschied  zwischen  Athen  und  Heidelberg.^ 

Es  lohnt  nicht,  bloßen  Erwähnungen  ähnlicher  Umgänge  weiter 
nachzugehen,  drepiioi  finden  sich  in  manchen  Kulten  bis  in  späte  Zeit 
erwähnt.^  Aber  eine  nur  durch  des  Proklos  Chrestomathie  auf  uns 
gekommene,  wahrhaft  erlesene  Nachricht  von  einem  Umzug  in  Theben 
darf  um  so  weniger  unbeachtet  bleiben,  als  letzthin  durch  den  Fund 
von  Resten  eines  neuen  pindarischen  Liedes  auf  Papyrus  die  Aufmerk- 
samkeit auf  die  Proklosstelle  hingelenkt  worden  ist.^ 

fiK€]i  Top  ö  [AoEliac 
Trlp[ö]9puj[v]  dGavdxav  x^P^"^ 
GT]ßaic  ^TTipeiEuDv 

Apollon  ist  da,  über  Theben  unendlichen  Segen  zu  bringen.  Nun  will 
ich  mein  Kleid  gürten  und,  ein  stolzes  Lorbeerreis  in  der  zarten  Hand, 
feiern  des  Aioladas  und  Pagondas  altberühmten  Hof,  von  Kränzen  um- 
blüht das  jungfräuliche  Haupt.  Es  redet  der  Mädchenchor,  der  zu 
Ehren  des  thebanischen  Apollon  baqpvriqpöpoc  einherzieht  und  sein  Lied  102 
singt.  Bei  Proklos  (p.  525ff.,  Photios  ed.  Bekker  p.  321)  wird  die 
bacpvTicpopia    beschrieben.      HuXov    IXaiac    Kaxacxeqpouci    bdcpvaic    Kai 

^  Ich  gehe  zwar  diesmal  absichtlich  nicht  über  deutschen  und  antiken 
Brauch  hinaus.  Aber  eine  Angabe  meines  Kollegen  Rathgen  kann  ich  doch 
nicht  unerwähnt  lassen:  In  der  Gegend  von  Tokio  in  Japan  findet  sich  bei  ent- 
sprechenden Umzügen  wie  den  unseren  eine  Art  Harken,  mit  Früchten  u.  ä. 
besteckt,  auch  unter  allen  Umständen^mit  einem  oder  mehreren  Pilzen,  die  für 
jeden  den  Phallus  bedeuten.  Diese  Harke  wird  zu  Hause  aufgehängt  bis  zum 
nächsten  Jahre.  „     ,. 

»  Im  Attiskult  CIA  II  1,  624,  s.  Fleckeis.  Jahrb.  XXVI  (1880)  423,  Hepdmg 
AtHs  SOf.,  im  Isiskult  in  Samos  Bull,  de  corr.  hell.  1881  p.  484. 

»  S.  Otto  Schröder  Berl.  Philol.  Wochenschrift  1904,  19.  November,  Nr.  47 
S.  1476ff. 

22* 


340  Sommertag- 

TTOiKiXoic  dtvGeci,  Kai  in  ciKpou  |Liev  xdkKX]  ecpapiuö^eTai  cqpaTpa,  ex  be 
Tauxric  juiKpoiepac  e^apiiucr  Kard  be  tö  juecov  toO  HuXou  TiepiGeviec 
eXdccova  irjc  in  dKpuj  C9aipac  KaGdTTiouci  Tiopcpupd  CT€)Li|LiaTa  *  xd  be 
TeXeuxaTa  toO  HuXou  TrepicxeXXouci  KpoKiuTUj.  ßouXeTai  b'  auroTc  f]  juev 
dvujTdTiu  cqpaTpa  töv  fiXiov,  (h  xai  töv  'ATTÖXXtuva  dvaqpepouciv,  f)  be 
UTroK€i)Lievri  iriv  ceXr|vr|V,  xd  hk  irpocripTTiiueva  tujv  ccpaipiujv  dcxpa  xe 
Kai  dcrepac,  xd  be  fe  crejuiiiaTa  töv  eviauciov  bpöjuov  Kai  -^e  Kai  xHe' 
TTOioOciv  autd.^  apX^i  ^^  t^I^  baqpvricpopiac  TraTc  d|U(pi0aXric  Kai  ö 
ILidXicTa  aiiTUj  oiKeToc  ßacidZ^ei  xö  KaTecTe|U)LAevov  HuXov,  ö  kiuttüu 
KaXoOciv  auTÖc  be  ö  baqpvriqpöpoc  eTTÖjLievoc  xfic  bdqpvric  eqpdTTTexai, 
xdc  |Liev  KÖjuac  Ka0ei)u€voc,  xP^coOv  be  cxeqpavov  q)epuüv  Kai  XajLXirpdv 
ecOfixa  TTobripTi  ecxoXicjuevoc  iqpiKpaxibac  xe  uirobebeiaevoc*  tu  x^pöc 
TrapGevuuv  eTraKoXouOei  Trpoxeivuuv  KXOuvac  irpöc  kexripiav  xujv  ujuvujv. 
TTapeTrejuTTOV  be  xrjv  bacpvricpopiav  eic  'AttöXXuüvoc  1c|ur|viou  Kai  xaXa^liou. 
Die  KuuTTU)^  ist  hier  offenbar  ein  völliger  Mastbaum,  den  dem  iraTc 
djuqpiGaXric,  der  nur  oben  in  das  Lorbeergezweig  faßt,  der  nächste 
Verwandte  tragen  muß.  Der  Knabe  hat  wallendes  Haar,  einen  goldenen 
Kranz  und  langes  priesterliches  Kleid  und  priesterliche  Schuhe. 

Überblickt  man  die  Zeitangaben,  die  wir  in  den  Nachrichten  über 
diese  Art  der  Begehungen  noch  finden,  so  wird  unmittelbar  klar,  daß 
103  es  sich  entweder  um  das  Kommen  des  Frühjahrs,  des  neuen  Lebens 
handelt,  oder  aber,  in  den  meisten  Fällen,  um  die  erste  Ernte,  das 
Einbringen  der  ersten  Früchte,  oder  um  die  zweite  Ernte.  Und  eben- 
so wie  in  deutschem  Brauch  werden  dann  diese  alten  volkstümlichen 
Umgänge  von  den  benachbarten  großen  Götterfesten  angezogen  und 
von  den  großen  Göttern  für  sich  in  Beschlag  genommen. 

Wir  wissen  freilich  noch  viel  mehr  von  solchen  Umzügen  im  Alter- 
tum, und  wir  haben  sogar  Lieder  erhalten,  die  dabei  gesungen  wurden. 
Vielfach  besprochen  sind  ja  die  Nachrichten,  die  Semos  von  Delos 
(Athenaios  XIV  p.  622  b  ff.)  über  die  auxoKdßbaXoi  und  die  iGuqpaXXoi 
und  cpaXXoqpöpoi  gegeben  hat.  Wir  wollen  uns  erinnern,  daß  jene 
Efeukränze  auf  dem  Kopfe  trugen,  daß  die  letztgenannten  sich  die 
Gesichter  mit  Laubwerk  verhüllt  hatten  und  einen  Kranz  von  Veilchen 
und  Efeu  trugen.  Sie  sangen  Schmählieder:  ijvjQalov  oöc  dv  Trpo- 
eXoivxo.      Voran    geht    ein    Phallosträger    mit    geschwärztem    Gesicht. 


*  Diese  Deutungen  erinnern  mich  an  eine  Erklärung,  die  mir  kürzlich  hier 
von  der  Bretzel  auf  dem  Sommertagsstecken  gegeben  wurde:  sie  sei  ursprüng- 
lich ein  Kreis  gewesen  und  habe  die  Sonne  bedeutet;  in  christlicher  Zeit  habe 
man  dann  das  Kreuz  in  den  Kreis  hineingesetzt. 

-  Zu  KUiirn  capio  stellt  Schröder  a.  a.  O.  S.  1476  das  Wort  wohl  mit  Recht. 


Sommertag  34  j 

Verse,  die  sie  sangen,  werden  auch  angeführt:  sie  haben  nur  zum 
Teil  echt  volkstümliches  Gepräge  und  sind  ganz  in  den  Kreis  der 
Phallosprozessionen  und  des  Bakchoskultes  gezogen,  wie  denn  auch 
diese  iGuqpaXXoi  in  die  opxncxpa  zu  ihrem  Sang  einziehen.  Das  ist 
vielfach  zu  erkennen,  wie  nahe  sich  diese  Dionysoszüge  mit  den  alten 
„Sommertagsumzügen"  berühren,  und  es  wird  unmittelbar  einleuchten, 
daß  der  Thyrsosstab,  von  Weinreben,  Efeu  und  Bändern  umzogen, 
in  einen  Pinienzapfen  auslaufend,  ein  echter  Bruder  des  Sommertags- 
steckens ist.  Der  Pinienzapfen  spielt  die  gleiche  Rolle  wie  die  Früchte 
auf  dem  Stecken^  und  soll  schwerlich  die  Beimischung  des  Fichten- 
harzes zu  dem  Wein  anzeigen,  wie  wir  wohl  in  Griechenland  unter 
dem  Eindruck  des  Rezinatweines  uns  eingeredet  haben. 

Echt  volkstümlich  bis  in  späte  Zeit  waren  in  griechischen  Landen  104 
Umzüge  mit  Tieren,  wie  Schwalbe  und  Krähe.  Wir  werden  nicht  im 
Zweifel  sein,  was  lo.  Chrysostomos  in  der  35.  Homilie  zum  Matthäus 
meint,  wenn  er  sagt,  daß  die,  welche  Schwalben  herumtrügen,  ruß- 
geschwärzt und  alle  Leute  schmähend.  Gaben  bekämen,  wenn  aber 
ein  Armer  um  Brot  bitte,  bekäme  er  nichts:  es  handelt  sich  ums 
Almosengeben  ^:  Kai  01  x^Xibövac  Trepicpepovrec  Kai  ^cßo\ri|Lievoi  Kai 
TTotviac   KaKTiTOpoövTec   juicGöv  inc  Tepaiiubiac  rauTTic  \a|ußdvouciv,    av 

be   7T€VT1C    ... 

Aus  dem  neuen  Griechenland  sind  uns  Umzüge  bezeugt,  bei  denen 
am  1.  März  eine  hölzerne  Schwalbe  herumgeführt  wird  und  während 
des  Singens  -  etwa  ähnlich  wie  bei  dem  oben  <S.  335>  erwähnten  Brauch  aus 
Oberschlesien  der  Hahn  -  auf  einem  Zylinder  unaufhörlich  hin  und 
her  gedreht  wird.    Das  Lied  lautet  übersetzt": 

Schwalbe  kommt  geflogen  an  von  dem  schwarzen  Meer  her, 

Übers  Meer  kam  sie  daher  und  sie  fand  dort  einen  Turm, 

Setzte  nieder  sich  und  sang:  März,  0  März,  mit  deinem  Schnee  und  du  nasser 

Februar, 
Der  April,  der  friedliche,  ist  nicht  weit,  wird  kommen  bald. 


^  Auf  den  Figuren  des  Sommers  habe  ich  auch  Tannenzapfen  angebracht 
gesehen.  Mein  Kollege  Gothein  erzählt  mir,  daß  in  Breslau  ein  Tannenzweig 
mit  Tannenzapfen  als  Prozessionsstecken  bei  den  entsprechenden  Umzügen  gelte. 

«  Ich  bin  auf  die  Stelle  durch  eine  Notiz  und  Anfrage  Eberhard  Nestles  in 
der  Berl  Philol  Wochenschrift,  28.  Mai  1904,  Nr.  22,  S.  700,  aufmerksam  ge- 
worden. Er  fragt  nach  Belegen  über  gezähmte  Schwalben.  Ich  hoffe,  daß 
meine  Antwort  ihm  befriedigender  erscheint,  als  eine  bezeugte  zahme  Schwalbe 

es  sein  könnte.  «^,     j    *        1,  i/:„h 

»  Nach  Wachsmuth  Das  alte  Griechenland  im  neuen  36  f.,  dort  nach  Kind 
Neugriech.  Anthologie  p.  73,  s.  Passow  Popn/arCarm.  Graec.  rec  Nr.  CCOT^^^^ 
mit  direkter  Aufforderung  an  die  Hausfrau,  Gaben  herbeizuschaffen,  Anfang 
z.  B.  fjpGev,  fjpee  xeXiböva  -. 


342  Sommertag- 

Singen  doch  die  Vöglein  schon  und  die  Bäume  werden  grün 
Und  die  Hühner  glucken  schon,  haben  Eier  auch  gelegt 
Und  die  Herden  fangen  an,  wieder  auf  die  Höhn  zu  ziehn. 
Zicklein  hüpfen  schon  herum,  fressen  junge  Blätter  ab, 
Tiere,  Vögel  und  der  Mensch,  alles  freut  von  Herzen  sich; 
S'ist  vorbei  nun  mit  dem  Frost,  mit  dem  Schnee  und  mit  dem  Nord: 
März,  o  März,  mit  deinem  Schnee  und  du  schmutz'ger  Februar. 
S'nahet  schon  April,  der  schöne,  fort  nun  März,  fort  Februar. 

105  Aber  wir  besitzen  ja  bekanntlich  das  Lied,  welches  einst  vor  alters 
in  Rhodos  beim  dTcipeiv,  das  in  diesem  Falle  x^^i^oviZieiv  hieß 
(Athenaios  VIII  p.  360  b),  gesungen  wurde.  Ich  muß  den  Text  hierher 
setzen,  damit  die  Ähnlichkeit  mit  den  deutschen  besprochenen  Liedern 
augenfällig  werde.^ 

"H\e'  fjXee  xeXiöüuv 

KaXdc  üjpac  ÖYOuca 

Kai  KttXouc  ^viauToiJC, 

lirl  YCiCT^pci  XeuKd,  'iri  vujra  iii^Xavva. 

iraXdGav  cO  TupoKUKXetv  ^k  movoc  oikou 

oi'vou  xe  b^TracTpov,  xupüj  bk  Kdvucrpov. 

KttTTupiDva  x^^i^iJ^v  Kai  XeKi6iTav 

oiiK  dTruuGelTai. 

diriuJiLiec  f|  Xaßiu|Li€6a; 
ei  fiiv  Ti  buüceic,  ei  bk  }ir\,  ouk  ^dco|a€v. 
f|  Tdv  eOpav  qp^ptuiuec  f|  GoOTr^pGupov 
f\  Tdv  YuvaiKa  xdv  ^cuu  KaGriju^vav. 
juiKpd  ju^v  ^CTi,  ^qiöiuic  |Liiv  oico|uev. 

dv  bi]  qp^prjc  Ti,  }Jiifa  bY\  xi  qp^poic. 
dvoiy'  dvoiYC  xdv  Gupav  X£^i^<^"vi. 
Ol)  fäp  yepovx^c  ^C)U€v,  dXXd  iraibia. 

Die  Reihen  mit  dreieinhalb,  mit  vier  Hebungen,  die  iambische  Tetrapodie 
und  die  iambischen  Trimeter  sind  doch  nur  so  zu  begreifen,  daß  einst 
das  ganze  Lied  in  dem  volkstümlichen  Vierhebungsvers,  der  uns  seit 
Useners  Untersuchungen  so  lebendig  vor  Augen  steht,  gestaltet  und 
nun  hier  und  da,  ganz  in  dem  zweiten  „Akt",  in  die  inzwischen 
künstlerisch  ausgebildeten  Versmaße  gefaßt  war. 

Ein  günstiges  Geschick  hat  uns  außer  diesem  alten  Volkslied,  das 
ahes  volkstümliches  Maß  noch  so  zäh  festgehalten  hat,  ein  ent- 
sprechendes Lied  in  der  Form  des  Epos  aufbewahrt,  das  denn  auch, 
wie  sich  von  selbst  versteht,  dem  Homer  zugeschrieben  wurde.  Und 
endlich  ist  uns  ein  wiederum  dem  Inhalt  nach  entsprechendes  Heische- 

106  lied  aus  hellenistischer  Zeit  erhalten,  das  nun  in  eine  künstliche  Form 
gefaßt  ist;  es  ist  in  Hinkiamben  gedichtet,  und  der  Name  des  Dichters 


^  Nach  Usener  Ältgriech.  Versbau  82  f. 


Sommertag  ß^o 

ist  denn  auch  hier  gegeben:  Phoinix  aus  Kolophon.  Auch  aus  der 
homerischen  Eiresione  müssen  etliche  Verse  hier  stehen: 

Au)^a  7rpoc€TpaTrö|HGc9'  dvbpoc  ju^ya  6uva)idvoto 
öc  ^^Ta  |u^v  bOvarai,  lu^ta  bä  TTp^irei  öXßioc  alei. 
auTtti  dvaxXivGcGe  eOpar     TTXoOtoc  tdp  gceiciv 
iroXXöc,  CUV  TTXoOxiu  bä  Kai  €u<ppocOvri  xeGaXuia, 
€ipr]VTi  t'  dToen-  öca  6'  ÖTTea  iiiecTct  fitv  eXr], 
KupßaiTi  ö'  aiel  luexct  KapbÖTiou  gpiroi  judZa, 
vOv  |Li^v  KpiöaiTiv  eOuÜTTiöa  ciicaiLiöeccav  .  .  . 
Toö  uaiööc  b^  YVJvi^  Kard  öiqppd&a  ßricexai  ij|li|liiv. 
f||uiovoi  b'  dgouci  Kparadrobec  ^c  xöbe  b\jj[ia. 
a^rf]  b'  IcTÖv  i)(paivoi  Itt'  r|^^»<Tptu  ßeßauTa. 
veöjLiai  toi,  veö|Liai  ^viaOcioc,  üjcxe  x^Xibibv 
^CTr\K    kv  -rrpoeOpoic  \\ii\^  iröbac  dXXd  cp^p'  alij/a  .  .  . 
el  |Li^v  Ti  öuüceic-  ei  b^  |uri,  oux  kxriEoiLiev. 
Ol)  yäp  cuvoiKricovTec  ky/Q&b'  fjX9o|uev. 

Wir  begegneten  oben  schon  einem  Stück  aus  einer  eipeciiuvTi  ebenfalls 
„homerischer"  Form;  die  eipeciiuvri  war  es  dort  selbst,  die  cuKa  cpepei 
xai  TTiovac  apTouc.  Ich  habe  nicht  nötig,  in  den  oben  ausgeschriebenen 
Versen  die  Parallelen  zu  den  deutschen  Liedern  aufzuzeigen,  die  jedem 
auffallen.  Hier  ist  es  ja  Plutos  selbst,  der  ins  Haus  kommt,  und  der 
Segen  geht  dahin,  daß  Topf  und  Trog  wohlgefüllt  sei,  und  daß  der 
Sohn  eine  Frau  bekomme.  Die  Sänger  kommen  nur  noch  wie  die 
Schwalben  alljährlich  wieder.  Der  Schluß  klingt  fast  so  wie  der  in 
Deutschland  so  häufige:  Laß  uns  nicht  so  lange  stehn,  wir  müssen 
heut  noch  weiter  gehn. 

Ich  muß  nun  denn  auch  noch  Stücke  des  Liedes  des  Phoinix,  das 
den  Namen  Koptuviciai  führt,  anführen.  Hier  ist  es  die  Krähe  wiederum, 
die  Gaben  fordert,  und  wie  der  Umzug  an  ein  Apollofest  gerückt  sein 
wird,  so  ist  die  Krähe  Kind  des  Apollon:  sie  war  ja  schon  sein  Bote 
und  Weissagevogel.  Weizen  oder  Gerste,  Feigen,  Brot,  Salz  oder 
auch  ein  Geldstück  sind  die  Dinge,  die  gefordert  werden.  Plutos  107 
selbst  ist  draußen.  Die  Tochter  soll  einen  Mann  kriegen  und  bald 
dem  Vater  einen  Knaben  in  den  Arm  legen  und  der  Mutter  ein  Mägd- 
lein auf  die  Knie  setzen. 

'6ceXoi,  Kopüüvri  x^'ipa  "rrpöcboxe  KpiG^iuv, 
Tfl  iraibl  ToO  'AiröXXuüvoc,  f|  Xckoc  uupujv 
f\  öpxov  f|  fjiuaieov  f\  öxi  xic  xPri^^^- 
6öx',  iJÜTttGoi,  XI  xu)v  ?Kacxoc  ^v  x^pclv 
^Xei  Koptj&VT)'  xäXa  Xriipexai  xövbpov. 
q)iX6i  Tdp  avTY\  udYX"  TaOxa  öaivuc8ai. 
ö  vOv  dXac  bovc  auGi  KTipiov  bibcei. 
(b  irai,  eupnv  ÖYKXive  -  TTXoOxoc  ^Kpouce, 
Kai  T^  KopuüvT)  irapG^voc  qpepei  cOko. 


344  Sommertag- 

Geoi,  Y^voiTO  irdvT'  äjaejUTTTOc  r]  Koupr] 

Kdcpveiöv  övbpa  KUJvojuacTÖv  dHeOpoi 

Kai  TU»  Y^povTi  Traxpi  Koöpov  ic  x^ipac 

Kttl  iLiTixpi  KoOpT]v  eic  Tct  Yoöva  KarGeiTi, 

edXoc  xp^qpeiv  Y^vaiKa  toTc  KaciYvr|TOic. 

tfvj  b\  ÖKOU  iröbec  cp^pouciv,  öcp0a\|uoOc 

d|U€ißo)aai,  Moucaici  irpöc  Gupac  aöuuv 

Kai  öövTi  Kai  }xi]  bövxi  —  uXeova  toutiu  yc  .  ,  . 

äW  {bfaQoi,  iTuop^HaG'  Ouv  |liuxöc  irXouxei. 
böc,  (b  ävaH,  ööc  Kai  cO  iroWd  |uoi,  vOjLiqpT]. 
vö|uoc  Kopuüvri  x^'ip«  öoOv'  ^iraiToOcr). 
TocaOx'  deibiw*  böc  xi  Kai  Kaxaxprjcei.  ^ 

In  den  drei  Liedern,  die  wir  hierher  gesetzt  haben,  ist  in  der  ganz 
gleichen  Weise  wie  in  den  deutschen  Liedern  (wenn  auch  nicht  alles 
in  jedem  einzelnen)  vereinigt:  1.  Ansagen  des  Frühlings  oder  des 
Segens,  des  ttXoOtoc  selbst,  2.  Segenswünsche  der  Fülle  und  Frucht- 
barkeit, 3.  Heischung  der  Gaben,  4.  Schmähung  oder  Drohung,  wenn 
die  Gaben  verweigert  werden.  Es  sind  denkwürdige  Dokumente,  wie 
aus  gleichen  Grundanschauungen  gleicher  Brauch  und  gleiche  Motive 
und  Formen  des  Liedes  erwachsen. 

108  III 

Ich.  bitte  meine  Leser  nunmehr,  sich  die  Tafel  anzusehen.  Es  sind 
zwei  antike  Wandbilder,  die  im  Jahre  1868  bei  den  Ausgrabungen  in 
Ostia  zutage  kamen  und  heute  in  der  Bibliothek  des  Vatikan,  in  dem 
Zimmer  der  aldobrandinischen  Hochzeit,  hängen.  Mein  Freund  Amelung 
in  Rom  hat  es  erreicht,  daß  Photographien  der  beiden  Bilder  für  mich 
gemacht  werden  konnten.  Ich  habe  nichts,  auch  nicht  durch  freund- 
liche Bemühung  römischer  Gelehrter,  auffinden  können,  was  über  die 
Auffindung  der  Bilder  Zeugnis  oder  Bericht  gäbe,  nichts,  was  bisher 
zu  ihrer  Erklärung  gesagt  wäre.^    Daß  sie,  wie  auf  dem  Rahmen  des 


^  Athen.  VIII  p.  359  e ff.,  eben  wieder  neu  ediert  von  Crusius  in  der  4.  Aus- 
gabe des  Herondas  S.  92  f. 

^  Nur  eine  kurze  Notiz  gab  über  die  Bilder  Heydemann  in  der  Archäol. 
Zeitung  1868,  108 f.  (die  starke  Versehen  enthält,  wie  z.B.  die  Angabe,  daß 
das  Schiff  auf  dem  Wagen  stehe).  G.  Körte  hatte  die  große  Güte,  sich  um 
meinetwillen  noch  einmal  um  die  Bilder  zu  bemühen.  Über  Zeit  und  Umstände 
der  Auffindung,  schreibt  er,  weiß  man  im  Vatikan  nichts.  Die  scavi  sind 
während  ca.  15  Jahren  von  dem  päpstlichen  Ministero  di  agricultura  e  com- 
mercio  veranstaltet,  dessen  Papiere  aber  bei  Annektierung  des  Kirchenstaates 
in  das  Archiv  des  ital.  Ministeriums  gleichen  Titels  überführt  wurden.  Eine 
Anfrage  des  Prof.  Nogara,  scrittore  an  der  BibL  Vat.  und  Direttore  del  Museo 
Egizio  ed  Etrusco,  an  das  genannte  Ministerium  ist  bisher  ohne  Antwort  ge- 
blieben.   Bezüglich   der  Kinderbilder  von  Ostia  stehe  weiterhin  nur  fest,   daß 


Sommertag  345 

einen  Bildes  steht,  dagli  scavi  di  Ostia  Vanno  1868  stammen,  also 
kurz  vor  dem  Concilium  Vaticanum  und  dem  Zusammenbruch  des 
Kirchenstaates  in  den  Vatikan  kamen,  mag  wohl  diese  Vergessenheit 
hinreichend  erklären. 

Ich  kann  die  mannigfachen  Rätsel,  die  uns  diese  beiden  Bilder 
aufgeben,  nicht  lösen  und  publiziere  sie  dennoch,  weil  ich  sie  im  all- 109 
gemeinen  in  den  richtigen  Zusammenhang  stellen  kann  und  dringend 
wünsche,  daß  andere  veranlaßt  werden,  auf  die  Rätsel,  die  ich  stehen 
lassen  muß,  die  Antwort  zu  geben.  Es  ist  genug,  daß  die  Bilder 
37  Jahre  lang  vergessen  und  verschwiegen  worden  sind. 

Das  planmäßige  Bestreben,  die  beiden  Bilder  zu  genau  entsprechen- 
den Gegenstücken  zu  gestalten,  fällt  sofort  in  die  Augen.  Sehen  wir 
uns  zunächst  das  obere  Bild  (Fig.  1)  auf  der  Tafel  an.  Die  Maße  des 
Originals  sind  1,10  x  0,59.  Die  hellen  Gestalten  der  Kinder  heben 
sich,  wenigstens  unter  dem  jetzigen  Zustand  der  Farben,  scharf  ab 
vom  roten  Hintergrund  (ebenso  auf  dem  zweiten  Bilde).  Rechts  (vom 
Beschauer)  stehen  fünf  Kindergestalten,  gleicherweise  in  ihr  paenula- 
artiges  Mäntelchen  gehüllt,  von  denen  die  erste  rechts  feststehend, 
sich  nach  links  zu  den  anderen  zurückwendet:  im  linken  Arm  liegt 
ein  Füllhorn,  von  dessen  Inhalt  man  nichts  mit  Deutlichkeit  erkennen 
kann,  mit  der  rechten  Hand  erhebt  sie  einen  Stab,  der  an  der  Spitze 
ein  kleines  Querhölzchen  erkennen  läßt.  Die  nach  links  folgende 
Figur  schreitet  vorwärts  nach  rechts;  der  etwas  erhobene  rechte  Arm 
und  die  Gebärden  der  etwas  auseinandergestreckten  Finger  der  rechten 
Hand,  mehr  noch  die  allerdings  geringe  Öffnung  des  Mundes,  die 
noch  etwas  weniger  deutlich  bei  der  vierten  und  fünften  Figur  zu  er- 
kennen ist,  aber  doch  wohl  dargestellt  sein  soll,  zeigen,  daß  sie  etwas  vor- 
trägt, d.  h.  doch  wohl  singt.  Die  erste  links  gewendete  gibt  das 
Zeichen  zum  Singen,  wie  denn  das  Ausschreiten  der  zweiten  an- 
deutet, daß  sich  die  Gruppe  der  fünf  eben  in  Bewegung  zu  setzen 
im  Begriffe  ist.  Die  dritte  Figur  wendet  den  Kopf  zu  der  hinter  ihr 
stehenden  zurück,  hält  in  der  rechten  Hand  einen  Korb,  aus  dem 
Früchte  oder  Blätter  herausragen,  in  der  linken  einen  großen  Stab, 
etwa  von  der  Länge  der  Figuren,   der  ein  starkes  Querholz  zeigt,   an 

Pellegrino  Tucci,  derselbe,  der  auch  die  Odysseebilder  abgelöst,  sie  auf  Lein- 
wand übertragen  hat.  Professor  O.  Marucchi  gab  an  F.  von  Duhn  folgende 
Auskunft:  Posso  dirle  perd  che  essendosi  scoperte  quelle  pitture  nel  1868  e 
scavandosi  in  quell'  anno  fuori  la  porta  laurentina  ove  si  trovauano  i  noti 
sepolcri  con  altre  pitture,  una  delle  quali  sia  precisamente  nella  sala  delle 
nozze  aldobrandine,  io  suppongo  che  da  quel  gruppo  di  sepolcri  provengano 
pure  gli  affreschi  rappresentanti  pompe  sacre. 


346  Sommertag 

dessen  beiden  Enden  zwei  Trauben  hängen.  Über  dem  Querholz  ist 
110  ein  Köpfchen  angebracht,  das  weiblich  zu  sein  scheint.  Ich  glaube 
noch  ganz  leise  Andeutung  von  Scheitelung  des  Haares  in  der  Mitte 
des  Kopfes  zu  erkennen;  Hals  und  Brust,  soweit  sie  zu  sehen  sind, 
zeigen  keinerlei  Spur  von  Gewand.  Die  vierte  Kinderfigur  trägt  mit 
der  rechten  Hand  oder  wohl,  was  nicht  zu  sehen,  aber  schon  aus  der 
seitlichen  Anlegung  der  rechten  Hand  an  den  Korb  zu  erschließen  ist, 
mit  beiden  Händen  einen  Korb,  genau  der  gleichen  Art,  wie  ihn  die 
vorhergehende  Figur  trug.  Die  letzte  dieser  Gestalten  trägt  einen 
Stock  wie  die  dritte,  faßt  ihn  mit  der  Rechten  fest  und  läßt  ihn  im 
linken  Arm  zurückliegen.  Der  Unterschied  der  Ausstattung  dieses 
Stockes  von  dem  der  dritten  Figur  ist  nur  der,  daß  hier  nur  eine 
Traube  am  Hauptstab  dicht  unter  den  Querstab  befestigt  herunterhängt, 
und  daß  das  Köpfchen,  das  über  dem  Querholz  aufsitzt,  jugendlich 
männliche  Züge  zeigt,  wie  ich  zu  erkennen  glaube,  und  um  den  Hals 
und  den  Teil  der  Brust,  der  dargestellt  ist,  ein  Gewand  geschlungen 
erscheint.  Alle  fünf  haben  kleine,  den  Fuß  eng  umschließende,  bis 
über  die  Knöchel  reichende,  offenbar  weiche  Schuhchen  von  schmieg- 
samem Stoffe  an.  Weiter  links  stehen  in  einer  Reihe,  im  Bilde  von 
vorn  nach  hinten,  vier  Kindergestalten  in  genau  entsprechender 
Kleidung,  deren  jede  eine  brennende  Fackel  mehr  oder  weniger  hoch 
emporhebt^  zu  einem  Götterbild,  das  auf  einer  zylindrischen  platten 
Säule,  die  ein  wenig  höher  als  die  Kindergestalten  selbst  ist,  unter 
einem  Joch  aus  zwei  großen  Fackeln,  die  durch  einen  dünnen  Quer- 
stab verbunden  sind,  steht.  Es  ist  eine  kleine  Figur,  etwa  halb  so 
groß  als  die  Kinder,  und  stellt  dar  -  so  dürfen  wir  nun  gleich 
sagen  -  Artemis  oder  Diana  im  kurzen  Jagdgewand,  den  Bogen  in 
Hl  der  linken  vorstreckend,  mit  der  rechten  Hand  hoch  zurückgreifend, 
um  einen  Pfeil  aus  dem  Köcher  zu  nehmen.^ 


*  Es  sind  vier  Fackeln,  die  ohne  Zweifel  den  vier  Kindern  gehören  sollen. 
Sieht  man  genau  zu,  so  ist  die  Hand  an  der  ersten  Fackel  eine  linke,  die  nur 
dem  zweiten  Kinde  gehören  könnte,  die  drei  folgenden  Hände  an  den  Fackeln 
sind  rechte  Hände,  während  an  diesen  Stellen  nur  noch  zwei  vorhanden  sein 
könnten.  Der  Maler  hat  unachtsam  gearbeitet.  Wenn  man  nicht  scharf  zusieht, 
merkt  man  nichts  davon. 

*  Ich  hatte,  namentlich  wegen  der  Kleidung  der  Kinder,  die  mir  vielfach 
unklar  blieb,  sachkundige  Belehrung  gesucht.  0.  Körte  hält  die  Figuren  und 
gerade  auch  die  Kleider  für  stark  ritoccate.  Er  macht  zu  diesem  Bild  folgende 
Bemerkungen:  Die  Gruppe  der  Opfernden:  lange  weiße  Gewänder  von  un- 
klarem, unantikem  Schnitt  (stark  ritoccati).  Die  folgenden  5  Knaben  nach 
rechts:  alle  stark  übermalte  weißliche  Gewänder  (vom  l.)  mit  gelbem  Reflex 
oben.    Nr.  5  (am  weitesten  rechts)  trägt  im  l.  Arm  eine  deutliche  dunkelrote 


Sommertag  347 

Nur  sehr  schwer  aus  verschwommenen  blassen  Spuren^  „erkennt 
man  zunächst  dem  Pfeiler  mit  dem  Götterbild  zwei  hintereinander  leb- 
haft nach  rechts  ausschreitende  Gestalten,  von  denen  die  am  weitesten 
rechts  stehende  sich  augenscheinlich  halb  zurückgewandt  hat.  Beide 
müssen  beschäftigt  gewesen  sein,  etwas  Schweres,  Widerstand  Leistendes 
nach  vorn  zu  ziehen,  wahrscheinlich  nichts  anderes  als  zwei  Opfertiere, 
von  denen  noch  vier  Vorderbeine  weiter  links  zu  erkennen  sind.  Es 
scheinen  noch  von  einer  dritten  Figur,  die  man  hinter  den  Tieren 
denken  müßte,  die  Beine  erkennbar  zu  sein.  Die  Tierbeine  sind  von 
einem  Hufentier  und  sehr  schlank  und  hoch". 

Es  ist  klar,  daß  es  sich  um  eine  Huldigung  an  Diana  bzw.  Artemis 
handelt.  Das  Bild  zeigt  im  wesentlichen  den  Typus,  in  dem  die  Tifatinall2 
und  die  aricinische  Diana  dargestellt  wurde.  Statt  der  Fackel  in  der 
Hand  hat  sie  die  Fackel  neben  sich  -  ich  erinnere  an  die  Artemis 
d|U9i7Tupoc,  Hekate  biTiupoc  u.  dgl.  -  und  hält  den  Bogen.  Es  ist  die 
Jägerin  mit  kurzem  Chiton  und  Köcher.  Ich  glaube  auch  als  wahr- 
scheinlich bezeichnen  zu  dürfen,  daß  die  Köpfchen  auf  den  T- Stäben 
Apollo  und  Artemis -Diana  sein  sollen.^  Wir  wissen,  daß  ceXac  XajUTidbujv 
zu  den  Requisiten  eines  Opfers  an  Artemis  gehörte  (Eurip.  Iphig. 
Taur.  1224),  wir  wissen  aber  im  besonderen  von  Fackelprozessionen ^ 
die  der  Diana  von  Nemi  dargebracht  wurden;  auch  der  Tempel  der 
Diana  auf  dem  Aventin  in  Rom,  der  Mittelpunkt  des  ganzen  römischen 
Dianendienstes,    war    eine   Filiale    des    aricinischen   Heiligtumes.     Bei 

Propertius  heißt  es  (II  32,  9): 

.  .  .  cum  videt  accensis  devotam  currere  taedis, 
in  nemus  et  Triviae  lumina  ferre  deae. 


Amphora  (spitz),  nicht  Keule  (Heydemann),  im  r.  Stab  mit  Krücke.  Die  Mög- 
lichkeit der  Überarbeitung,  an  die  weder  mir  noch  Amelung  ein  Gedanke  ge- 
kommen war,  tritt  für  mich  nun  erst  in  Frage,  da  ich  bereits  die  Korrektur 
dieser  Blätter  abschließen  muüi  Ich  muß  sie  nun  natürlich  dahingestellt  sein 
lassen,-  zumal  ich  auch  von  den  kundigsten  Sachverständigen  keinerlei  präzise 
Angaben  besitze.  Ich  erhoffe  von  der  Bearbeitung  der  im  vatikanischen  Besitz 
befindlichen  Gemälde,  die  Nogara  vorbereiten  soll  Isie  erschien  Mailand  1907  in 
den  CoUezioni  archeologiche  .  .  dei  Palazzi  Apostolici  Bd. III,  weitere 
Lösung  dieser  Frage.  Ich  bin  aber  der  festen  Zuversicht,  daß  meine  Gesamt- 
erklärung der  Bilder  durch  etwa  aufzudeckende  Retuschen  nicht  erschüttert 
werden  kann. 

'  Die  folgenden  Angaben  habe  ich  mir  vor  dem  Bilde  selbst  wörtlich  nach 
der  Formulierung  W.  Amelungs  notiert.  G.  Körte  sagt:  die  Reste  l.  von  der 
Diana  ganz  unklar,  nur  daß  ein  Pferd  da  war  und  schwache  Reste  von  (3?) 
Figuren,  ist  sicher.  Ich  muß  aber  nach  bestimmtester  Erinnerung  Amelungs 
Formulierung  dem  Pferde  gegenüber  aufrechterhalten.  ,  ^  ^  „ 

«  Das  männliche  Köpfchen  zeigt  das  Gewand  an  Hals  und  Schultern  etwa 
so  wie  der  Apoll  von  Belvedere. 

»  S.  bei  Mannhardt  II  260  Belege  über  Fackeln  in  ähnlichem  Brauch. 


348  Sommertag- 

Bei  Ovid  fast.  III  263  ff.  lesen  wir: 

vallis  Aricinae  silva  praecinctus  opaca 
est  lacus  antiqua  religione  sacer  .  .  . 
(269)  saepe  potens  voti  frontem  redimita  coronis 
femina  lucentes  portas  ab  urbe  faces. 

Statius  sagt  silv.  III  1,  55: 

lamque  dies  aderat  profugis  cum  regibus  aptum 
fumat  Aricinum  Triviae  nemus  et  face  multa. 
conscius  Hippolyti  splendet  lacus. 

In  des  Grattius  Cynegetica  steht  484: 

spicatasque  faces  sacrum  ad  nemorale  Dianae 
sistimus  ac  solito  catuli  velantur  honore. 

113  Und  dann  wird  das  Opfer  weiter  beschrieben: 

(488)  tum  cadus  et  viridi  fumantia  liba  feretro 

praeveniunt,  teneraque  extrudens  cornua  fronte 
haedus  et  ad  ramos  etiamnum  haerentia  poma, 
lustralis  de  more  sacri,  qua  tota  iuventus 
lustraturque  deae  proque  anno  reddit  honorem. 

Der  Stiftungstag  des  aricinischen  wie  des  römischen  Tempels  und 
der  Hauptfesttag  der  Göttin  waren  die  Iden  des  August.  Dazu  würden 
die  Trauben  an  den  Prozessionsstäben  der  zwei  Kinder  vortrefflich 
passen.  Mehr  will  ich  nicht  zu  schließen  wagen,  weder  daß  das  Bild 
eine  Kinderprozession  zur  aricinischen  oder  vielmehr  zu  einer  ostiensi- 
schen  in  einem  Filialkult  der  aricinisch- römischen  darstelle,  noch  auch, 
wieweit  es  von  griechischen  Vorbildern  oder  Gegenständen  abhängig 
sei.  Hier  mögen  Kundigere  weiteren  Aufschluß  geben.  Die  trefflichsten 
Kenner  solcher  Dinge  haben  mir  mehrfach  diese  beiden  Bilder  selbst 
als  etwa  in  augusteischer  Zeit  gemacht  bezeichnet;  andere  wollen  sie 
in  beträchtlich  spätere  Zeit  setzen.  Mir  sind  natürlich  von  besonderer 
Wichtigkeit  die  Stäbe  mit  den  Trauben,  und  wie  ich  sie  verstehe, 
brauche  ich  nun  nicht  mehr  zu  sagen.  Was  die  beiden  Körbe  an- 
betrifft, so  fanden  wir  ja  schon  einmal  <S.338>  bemerkenswert  die  Stelle  des 
Proklos  zu  Hesiods  Werken  und  Tagen  v.  767,  baq)vriq)opoOvTec  Kai  xö 
Kttvouv  eTncTeq)0VT6c  Kai  ujuvouvtec  töv  Geöv.  Es  handelt  sich  dort 
um  Apollo,  und  hier  tragen  auch  zwei  von  den  jugendlichen  Sängern 
einen  Korb,  der  voll  ist  von  Früchten  oder  aber  Blättern;  es  könnten 


Sommertag-  349 

Oliven  sein  (schwerlich  Feigen,  weil  sie  den  Trauben  gegenüber  zu 
klein  sind),  oder  aber  auch  Lorbeerblätter.  Wie  ein  Kranz  heben  sich 
die  weißen,  bald  runden,  wohl  auch  etwas  länglich  erscheinenden 
Tüpfelchen  um  den  Rand  des  einen  Korbes.  Jedenfalls  -  das  ist  auf 
alle  Fälle  sicher  -  handelt  es  sich  um  eine  Prozession  der  Kinder  am 
Sommertag,  die  zum  Teil  den  „Sommertagsstecken"  tragen  und  ein 
Lied  singen  (die  eben  abmarschierenden,  den  Sang  anhebenden  114 
Kinder  würde  ich  mir  am  liebsten  auf  dem  Sprunge  zu  einem  dYepiixöc 
vorstellen),  zum  Teil  aber  der  Göttin  einen  Fackelzug  bringen,  in  deren 
Kultkreis  die  ganze  Prozession  eingereiht  ist. 

Das  andere  Bild  (auf  der  Tafel  Fig.  2),  das  im  Original  0,98  x  0,49 
mißt,  zeigt  wiederum  Gruppen  von  Kindern,  und  zwar  genau  wie  das 
bisher  besprochene,  im  ganzen  neun  Kinder,  wenn  man  die  den 
Karren  ziehenden  zwei  Gestalten  nicht  mitrechnet.  Während  die 
letzteren  nur  eine  Jacke  und  eine  Art  Hosen  tragen,  die  bis  übers 
Knie  herunterreichen,  sind  die  anderen  reich  in  Gewänder  gekleidet, 
eine  Art  Ärmelröckchen  und  Mäntelchen;  bei  der  dritten  Figur  von 
rechts  (vom  Beschauer)  zeigt  das  Ärmelröckchen  einen  glatt  ab- 
schneidenden und  umsäumten  Halsausschnitt.  Die  Mäntelchen  sind 
kurz,  nur  scheinen  Figur  1  und  2  von  rechts  noch  ein  weiteres 
längeres  Untergewand  zu  haben.  Alle  haben  bloße  Beine  und  Füße 
vom  Ende  der  Gewänder  ab  -  ohne  Zweifel  aus  rituellem  Grunde. 
Die  erste  Figur  rechts  hält  in  der  linken  Hand  einen  Kranz,  offenbar 
einen  Efeukranz,  in  der  rechten  eine  Standarte,  ich  möchte  sagen, 
eine  Prozessionsfahne:  das  Fahnentuch  hängt  erst  von  einem  Querholz 
herab,  wie  es  bei  allen  römischen  vexilla  die  Regel  war\  und  auf 
diesem  Querholz  sitzen  in  gleichen  Abständen,  in  der  Mitte  und  an 
den  beiden  Enden,  wiederum  drei  Büstchen  wie  die  vorhin  betrachteten. 
Hier  ist  für  mein  Auge  keine  Möglichkeit,  einen  Unterschied  in  den 
drei  Gesichtern  und  FigOrchen  zu  erkennen:  höchstens  könnte  ich  als 
wahrscheinlich  bezeichnen,  daß  sie  alle  drei  weiblich  sein  sollten.* 
Neben  ihnen  eine  Figur,  die  in  jeder  Hand  einen  glatten  Stab  trägt  115 
(soviel  ich  sehe,  scheint  nur  an  dem  Stab  in  der  linken  Hand  eine 
kleine  Umbiegung,  wie  sie  viel  stärker  bei  dem  Pedum  zu  sein  pflegt, 


1  V.  Domaszewski,  der  mich  über  die  Form  der  römischen  vexilla  belehrte, 
machte  mich  darauf  aufmerksam,  daß  auch  die  collegia  der  Artifices,  die  m 
Ostia  so  zahlreich  gewesen  seien,  solche  vexilla  gehabt  hätten. 

»  V.  Domaszewski  deutete  die  Möglichkeit  an,  daß  es  sich  um  Büsten  von 
Personen  der  kaiserlichen  Familie  handeln  könne,  Augustus,  Gaius,  Lucius 
etwa.    Götterbilder  auf  vexilla  seien  unerhört. 


350  Sommertag 

erkennbar).  Dann  folgt  eine  Gruppe  von  drei  Kindern.  Die  Figur 
rechts  mit  der  durch  den  geraden  Halsausschnitt  sich  von  den  übrigen 
unterscheidenden  Gewandung  trägt  auf  dem  durch  ein  Tuch  oder 
Gewandteil  vom  Vorderhaupt  nach  hinten  verhüllten  Kopfe  unter  der 
Hülle  einen  vorn  sichtbaren  Efeukranz.  In  der  rechten  Hand  hat  sie 
einen  glatten  Stab,  in  der  linken  einen  Kranz.  Die  Blätter  sind  viel 
kleiner  als  die  Efeublätter  und  lanzettförmig.  Es  wird  ein  Lorbeer- 
kranz sein.  Unmittelbar  neben  dieser  Figur  steht  eine  andere,  deren 
Kopf  in  ganz  gleicher  Weise  verhüllt  und  bekränzt  ist.  Sie  trägt  in 
der  rechten  Hand  einen  Stab,  der  nicht  ganz  glatt  ist,  sondern  oben 
an  der  Spitze  ein  ganz  kleines  Querholz  zeigt.  Mit  der  linken  Hand 
faßt  sie  an  den  Rand  eines  Tellers,  den  eine  gegenüberstehende  un- 
bekränzte  Figur  mit  zwei  Händen  ihr  hinreicht.  In  einem  kurzen  Ab- 
stand folgt  dann  eine  Gruppe  von  vier  Kindern,  die  im  Kreise  einander 
zugekehrt  stehen.  Das  den  Beschauern  völlig  den  Rücken  kehrende 
hält  mit  der  rechten  Hand  einen  Kranz  empor,  der  offenbar  Gegen- 
stand des  eifrigen  Gespräches  der  vier  ist.  Es  scheint  mir  ein  Efeu- 
kranz zu  sein.  Weiter  links  ziehen  die  zwei  vorhin  erwähnten  Figuren 
einen  sehr  einfachen  Wagen  —  der  einfache  Wagenkasten  ruht  auf 
zwei  sehr  hohen  Rädern.  Die  lange  Deichsel  hat  vorn  ein  Querholz, 
an  dem  die  beiden  Leutchen  schieben,  wie  es  scheint,  mit  ziemlicher 
Anstrengung.  Der  Wagen  aber  ist  anscheinend  leer.  Im  Hintergrund 
erkennt  man  Wasser,  d.  h.  Meer,  und  im  Hintergrund  links  ist  ein 
Schiff  mit  Mast,  Segel  und  Takelage,  in  dem  Wasser  liegend,  zu  er- 
kennen, vielleicht  ganz  links  noch  ein  Stück  eines  zweiten  Schiffes.^ 
116  Der  Rätsel  sind  hier  gar  zu  viele.  Und  auf  viele  Fragen  gibt  es 
keine  Antwort,  und  für  mancherlei  Vermutungen,  deren  ich  manche 
durchdacht  habe,  gibt  es  keinerlei  Sicherung  oder  Bestätigung.  Ich 
muß  mich  also  hier  fast  ganz  auf  Fragen  beschränken,  auf  die  ich 
Antwort  von  anderen  erhoffe.  Nur  eins  scheint  mir,  wenn  nicht  sicher, 
so  in  hohem  Grade  wahrscheinlich.  Die  Gruppen  der  zwei  VerhüUten 
und   Bekränzten   stellen   ein  Paar   dar,   das   wir  „Maibräutigam"    und 


*  Körte  schreibt  mir  folgende  Angaben:  Köpfe  der  beiden  Ziehenden  ver- 
schieden von  den  übrigen  Köpfen.  Bekleidung  unverstanden,  sieht  aus  wie 
kurze  Hosen.  Urspr.  wohl  Chitone  (tunica),  Farbe  grün.  Die  folgenden 
(rechts  4)  Chiton  und  Mantel,  Farbe  graublau,  die  Verzierungen  (Stickereien) 
wohl  sicher  modern.  Das  gilt  auch  von  den  5  nach  rechts  hin  folgenden. 
Urspr.  haben  sie  wohl  Tunica  und  Mantel.  Nr.  1  (vom)  bläulich,  2  weißlich, 
3  bläulich,  4  weiß,  Chlamys  bläulich,  6  weißlich  mit  bläulichen  und  gelb- 
lichen Tönen. 


Sommertag-  ocj 

„Maibraut"  nennen  würden/  Die  Überreichung  des  Tellers  bringe  ich 
mit  der  Stelle  bei  Hesych  zusammen,  s.  v.  AeKavibec*  Kepdjueai  XoTrdbec 
[s.  Phot.  p.  213,  9  XeKttveTc-  Kepa)uea  XoTidc-  kqi  id  ^TreiaXa  xpußXia] 
Kai  ev  aic  dvGpuTTTd  (evGpuTTxa  corr.  Salmasius  cf.  Jungermann  ad 
Poll.  6,  77  p.  611,  15)  eqpepov  toTc  veoTd^oic.^ 

Kränze  werden  offenbar  weiterhin  noch  an  andere  verteilt,  viel- 
leicht die  Sieger  in  irgendeinem  Spiel.  Es  wäre  leicht,  aus  deutschen 
Parallelen  etwas  zu  vermuten,  aber  ohne  irgendeinen  bestimmteren 
Anhalt  unterlasse  ich  es  lieber.  Soll  etwa  auf  dem  Wagen  das  Paar 
zur  Prozession  in  die  Stadt  gefahren  werden?  Hegte  man  die  Vor- 
stellung, daß  das  Maipaar  übers  Meer  gekommen  wäre  wie  der 
attische  Dionysos,  der  ja  auch  im  BouKoXeTov  mit  der  „Königin"  die 
heilige  Hochzeit  begeht?  Man  verfällt  leicht  darauf,  daß  etwas  wie 
das  navigium  Isidis,  die  TiXoiacp^cia  dargestellt  sein  könnte,  zumal 
wenn  man,  was  so  nahe  liegt,  das  Meer  mit  dem  Schiff  als  den 
Hafen  von  Ostia  versteht.  In  Ostia  und  Portus  war  starker  Isiskult.MlT 
Aber  was  soll  dann  dieser  Wagen,  der  dies  Schiff  schwerlich  getragen 
haben  kann?  Und  was  soll  das  „Paar"?  „Frühlingstag"  ist  es  sicher ^ 
denn  die  Efeukränze  und  Lorbeerkränze  müssen  um  diese  Zeit  alles 
andere  ersetzen.  Ich  würde  für  wahrscheinlich  halten,  daß  das  Paar 
wirklich  von  dem  Schiff  eben  ans  Land  (sie  brauchten  in  Wirklichkeit 
nur  auf  einer  anderen  Seite  des  Hafens  abgefahren  sein)  gesetzt 
wurde,  ihm  die  Hochzeitsgaben  eben  überreicht  werden  und  der  Zug 
sich  zu  formieren  beginnt.  Auf  dem  freilich  für  die  Kinder  sehr  ein- 
fachen Hochzeitswagen  werden  „Maikönig"  und  „Maikönigin"  in  die 
Stadt  fahren.  Bestimmte  Gottheiten  sollen  durch  sie  schwerlich 
dargestellt   sein;   man   würde    das    an   irgendeinem   Attribut  erkennen 


^  Die  „Maibraut"  wird  wohl  auch  von  einem  Knaben  dargestellt  sein. 
Jedenfalls  wird  damals  so  wenig  wie  heute  die  Maibraut  in  wirklicher  voller 
Brauttracht  erschienen  sein. 

'  M.  Schmidt  hat  mancherlei  Verwirrung  angerichtet,  namentlich  mit  den 
dOpifmaxa,  seiner  „lesbischen  Glosse". 

»  v.  Domaszewski  erinnert  mich  an  die  Portunalia  in  Rom  und  in  Ostia-, 
Mommsen  nahm  für  das  Fest  eine;; Prozession  an,  in  der  atria  Tiberina  eine 
Station  war  (Ovid  fast  IV  329).  Marquardt-Wissowa  S.  327  f.,  10.  Die  Portunaha 
fallen  auf  den  17.  August.  Meinem  genannten  Kollegen  verdanke  ich  auch 
mancherlei  Erwägungen  über  die  Neunzahl  der  Kinder  auf  den  beiden  Bildern. 
Die  Zahl  der  pontifices  und  augures  ist  die  gleiche,  und  ihm  schemt  auch 
möglicherweise  die  jedesmalige  Gruppierung  in  eine  Fünfer-  und  Vierergruppe 
mit  der  Zusammensetzung  aus  patrizischen  und  plebeiischen  Priestern  zu  je 
fünf  und  vier  hier  bedacht  werden  zu  müssen. 


352  Sommertag 

Welche    Bezeichnungen     sie     ha4ten,     wissen     wir     nun     einmal    bis 
heute  nicht. 

„Hinreißenden  Zauber"  fand  einer  der  sachkundigsten  Betrachter 
meiner  Photographien  in  den  beiden  Bildern  aus  Ostia.  Hoffentlich 
bezaubern  sie  unsere  gelehrten  Archäologen  und  Philologen  so  lange, 
bis  sie  uns  Antwort  auf  meine  Fragen  geben.  Vielleicht,  daß  auch 
irgendwo  noch  heute  ein  Brauch  lebendig  ist,  der  eben  den,  der  in 
Ostia  oder  wo  es  sonst  war,  vor  zweitausend  Jahren  von  frohen 
Kindern  im  Sonnenlicht  des  Frühlings  und  des  Sommers  geübt  wurde, 
ins  Licht  unmittelbarer  Erkenntnis  rückt.  Dazu  hat  mir  der  Heidel- 
berger Sommertag  noch  nicht  geholfen. 


XXII 
ENNEAKRUNOS^ 

Man  muß  bei  den  vorstehenden  Bemerkungen^  unwillkürlich  an  die  156 
Enneakrunos  zu  Athen  denken.  Thukydides  sagt  freilich  II  15  Kai 
Tri  Kprjvr]  ttj  vöv  )li^v  tüuv  xupdvvujv  outuu  CKeuacdvTUJV  'GweaKpouviu 
KaXou|U€vri,  tö  he  naXai  cpavepüuv  tujv  tttitAv^  oucujv  KaWippör]  ujvo- 
|aac)H€vr].  Wenn  Peisistratos  wirklich  das  Wasser  aus  neun  Röhren 
laufen  ließ,  so  geschah  das  gewiß  nicht  darum,  weil  neun  Quellen  zu 
fassen  gewesen  wären,  die  auch  sicher  weder  am  Ilisos  noch  am 
Westabhang  der  Burg  bei  der  Dörpfeldschen  Enneakrunos  vorhanden 
gewesen  sind.  Warum  also  gerade  der  „Neunbrunn"?  Es  wird  auch 
vor  Peisistratos  im  Volke  der  Name  '€vvedKpouvoc  vorhanden  gewesen 
sein,  was  anzunehmen  durch  die  Angabe  des  Thukydides,  der  ja  in 
solchen  Dingen  peisistratischer  Zeit  auch  nur  Volkstradition  widergeben 
kann,  nicht  verboten  ist.  In  unserem  Falle  also  könnte  sich  der  volks- 
tümliche Superlativ  der  Neunzahl  an  einem  bestimmten  Punkte  in  den 
wörtlichen  Plural  verwandelt  haben.^  Oder  aber  der  dem  Volke  sonst- 
her  geläufige  Name  'GvvedKpouvoc  für  einen  „Überbrunnen"  wurde 
jetzt  die  Bezeichnung  der  gewaltigen  peisistrateischen  Brunnenanlage. 

'  <Archiv  für  Rel.-Wiss.  VIII  1905  S.  156.) 

'  <Bemerkungen  von  Wellhausen  zu  dem  Negenborn  bei  Göttingen;  'negen' 
(neun)  ist  in  diesem  Namen  superlativisch  gebraucht,  er  bedeutet  'Überbom'.> 

*  miTai  bedeutet  das  Gewässer,  die  Wasserläufe,  nicht  die  „Quellen",  s. 
v.  Wilamowitz  Euripides  Herakles  IP  94. 

*  Diels  erinnert  bei  Gelegenheit  seiner  Belege  für  die  heilige  Neunzahl 
auch  „an  die  zur  Lustration  verwandte  Enneakrunos",  Sibyll.  Blätter  41,  3. 
Der  „volkstümliche"  und  der  sakrale  Gebrauch  der  Neunzahl  bedingt  sich 
natürlich  fortwährend  gegenseitig  und  hat  in  ähnlicher  Weise  gleiche  Gründe 
wie  bei  der  Dreizahl. 


Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften. 


23 


XXIII 
HERMANN  USENER^ 

I  Hermann  Usener  ist  am  21.  Oktober  1905  von  uns  gegangen.  Er 
war  der  Meister  und  Führer  der  Wissenschaft,  der  diese  Zeitschrift 
dienen  will,  er  war  dieses  (neugestalteten)  Archivs  erster  Förderer 
und  erster  Mitarbeiter.  Der  erste  Aufsatz,  der  es  eröffnete,  war  von 
ihm  geschrieben.  Er  sagt  selbst  von  diesem  Aufsatz  in  einem  Briefe, 
am  10.  November  1903:  „ich  will  mich  nun  ganz  dem  versprochenen 
Aufsatz  widmen,  der  mein  Testament  werden  soll."  Vor  wenigen 
Monaten  konnten  wir  ihm  noch  ein  besonderes  Heft,  nachträglich  zum 
siebzigsten  Geburtstage,  überreichen  und  ihm  selbst  noch  sagen,  „daß 
wir  der  Wissenschaft,  die  dieses  Archiv  weiter  auszubauen  helfen  will, 
in  seinem  Geiste,  in  der  Treue  und  dem  sittlichen  Ernste  philologisch- 
historischer  Arbeit,  die  er  uns  gelehrt  hat,  dienen  wollen".  Lebhafte 
Freude  an  unserer  Gabe  sprach  noch  ein  schaffensfroher  Brief  vom 
31.  Juli  dieses  Jahres  aus.  Die  wenigen  Zeilen  einer  Mitteilung,  die 
nun  am  Schluß  dieses  vorliegenden  Heftes  stehen,  sind  das  letzte 
äußere  Zeichen  seiner  Teilnahme  an  diesem  Archiv  und  gehören  zum 
Letzten,  das  er  überhaupt  geschrieben  hat.  Möchte  das  Archiv,  nun, 
da  die  einzelnen  Hefte,  die  er  stets  gespannt  erwartete  und  in  freudiger 
Teilnahme  begrüßte,  nicht  mehr  sein  Urteil  zu  bestehen  haben,  jenes 
Gelöbnis  halten  können.  Es  wird  ja  kaum  ein  Mitarbeiter  sein,  der 
nicht  irgendwie  mittelbar  ein  dankbarer  Schüler  Hermann  Useners  ge- 
worden wäre,  der  nicht  wüßte,  was  es  heißt:  in  seinem  Geiste,  in  der 
Treue  und  dem  sittlichen  Ernste  der  Arbeit,  wie  er  es  uns  gelehrt 
hat,  der  Wissenschaft  dienen. 

Useners  religionsgeschichtliche  Arbeit  wird,  so  glauben  wir,  immer 

II  besser  und  tiefer  verstanden  und  gewürdigt  werden,  sie  wird  ihm 
immer  neue  Schüler  gewinnen  und  in  tausend  Wirkungen  unsterblich 
sein.    Um  so  lebhafter  wird  auch  heute  und  hier  ein  kurzes  Wort  der 


»  <Arch.  für  Rel.-Wiss.  VIII  1905  S.  Iff.> 


Hermann  Usener  355 

Erinnerung  an  den  Gang  seiner  Lebensarbeit,  soweit  sie  das  Gebiet 
betraf,  das  an  diesem  Orte  allein  in  Betracht  kommen  darf,  einen 
Platz  verlangen. 

1868  erschien  der  erste  mythologische  Aufsatz  Useners  („Kallone"). 
Er  hat  gelegentlich  erzählt,  wie  es  ihm  zunächst  nur  um  die  Ver- 
besserung einer  Aristophanesstelle  zu  tun  gewesen  sei,  wie  er  aber 
durch  den  Widerspruch  Otto  Jahns  dazu  gereizt  und  gemahnt  worden 
sei,  sich  immer  tiefer  und  tiefer  in  weite  mythische  Überlieferungen 
einzulassen  und  sie  sich  mit  raschen  Griffen  zurechtzulegen.  Das 
nannte  er  einen  „äußeren  Zufall":  daß  er  sich  unmittelbar  darauf,  wie 
er  sich  wohl  ausdrückte,  kopfüber  in  eine  große  Vorlesung  über  Mythologie 
stürzte,  zeigt  uns,  wie  nun  die  zurückgedrängten  Neigungen,  die 
Träumereien  längstvergangener  Jahre,  „Religionsgeschichte  müsse  seine 
Lebensaufgabe  werden",  zu  Tat  und  Gestaltung  drängten.  Wie  wohl- 
vorbereitet er  war  durch  die  „Umwege",  die  er  im  Innersten  auch  nie 
selbst  für  wirkliche  Umwege  gehalten  hat,  fühlte  er  damals  kaum 
selbst.  Die  grammatischen  Studien  im  besonderen,  die  ihn  im  An- 
schluß an  Plautus,  in  tief  bohrender  Einzelarbeit  hier  und  da  zur  Er- 
kenntnis von  Denkformen  geführt  hatten,  die  in  anderer  Weise  im 
religiösen  Denken  wiederkehren,  haben  ihm  neben  dem  eindringendsten 
Studium  der  antiken  Philosophie  vieles  eingeprägt  von  der  Art,  wie 
er  später  die  „Formenlehre"  der  Mythologie  forderte.  Vielleicht 
werden  die,  die  einmal  die  „Syntax"  in  ihren  über  jede  andere  Ur- 
kunde zurückreichenden  Dokumenten  menschlicher  Gedankenbildung 
tiefer  zu  erforschen  und  auch  für  das  religiöse  Denken  nutzbar  zu 
machen  beginnen  werden,  an  so  manche  Bemerkung  Useners  anzu- 
knüpfen wissen,  die  vorläufig  zur  „Mythologie"  keine  Beziehung  zu 
haben  scheint.  Die  Etymologie  war  damals  die  Trägerin  der  bei 
weitem  größeren  Hoffnungen,  und  es  ist  lehrreich,  wie  Usener  sich 
mit  bitterem  Ernste  alle  Bedingungen  wissenschaftlicher  Beherrschung  III 
der  Sprachwissenschaft  anzueignen  suchte  und  in  seinen  ersten  Bonner 
Jahren  bei  Johannes  Schmidt  nicht  bloß  hörte,  sondern  auch  neben 
den  Studenten,  die  er  oft  tatsächlich  kurz  vorher  im  Seminar  hart  an- 
gefaßt hatte,  in  der  Schülerbank  Sanskrit  mit  übersetzte  und  ausdrück- 
lich behandelt  sein  wollte  wie  jeder  Student. 

In  seiner  weiterhin  mehrfach  wiederholten  Mythologievorlesung  hat 
er  zunächst,  in  einer  furchtbaren  Kollision  der  Pflichten,  die  er  Ver- 
trauten  später  zuweilen  drastisch  schilderte,  das  Gebiet  sich  erobert 
mit  dem  Ernst,  „den  keine  Mühe  bleichet".  Noch  schildern  es  Augen- 
und  Ohrenzeugen,  wie  er  eines  Morgens  nach  einer  fast  durcharbeiteten 

23* 


356  Hermann  Usener 

Nacht  in  der  Vorlesung  die  ganze  bisher  vorgetragene  Hauptanschauung 
mit  der  leidenschaftlichen  Ehrlichkeit,  die  das  Innerste  seines  Wesens 
war,  für  irrtümlich  erklärte  —  er  hatte  den  Gedanken,  daß  aus  dem 
einen  Gott  alle  die  vielen  sich  entwickelt  hätten,  zu  Ende  gedacht  und 
ihn  „dadurch  widerlegt".  Die  kapitale  Erkenntnis  war  da,  daß  am 
Anfang  die  Vielheit  steht,  und  daß  die  Geschichte  des  religiösen 
Denkens  die  Geschichte  des  menschlichen  Denkens  überhaupt  ist. 
Und  in  dieser  so  bedeutsamen  Vorlesung  hat  er  auch  früh  mit  voller 
Schärfe  die  Erkenntnis  ausgesprochen,  daß  ein  System  einer  Mythologie 
geben  zu  wollen  „Unsinn",  eine  Geschichte  der  religiösen  Vorstellungen 
der  Alten  zu  erreichen  unmöglich  sei,  weil  sie  in  den  wichtigsten 
Punkten  auf  den  Schluß  ex  silentio  gebaut  sein  würde. 

In  den  ersten  Jahren  der  Bonner  Tätigkeit  hat  Usener  mit  einer 
für  einen  Professor  der  klassischen  Philologie  beispiellosen  Kühnheit 
große  Probleme  ergriffen:  wer  Aufzeichnungen  nach  seiner  Vorlesung 
über  vergleichende  Sitten-  und  Rechtsgeschichte  gesehen  hat  oder  sie 
gar  selbst  hörte,  wird  voll  Bewunderung  sein  für  den  Wagemut  und 
die  Weite  dieses  Geistes,  der  noch  einer  Philologengeneration  predigte, 
die  ihn  nur  in  wenigen  ihrer  Glieder  verstand.  Sie  hat  sich  denn 
IV  auch  viele  Jahre  hindurch  mit  dem  Vorwurf  der  Unklarheit  und  Kon- 
fusion an  ihm  dafür  gerächt,  daß  ihr  diese  Art  der  Denkarbeit  so 
unbequem  und  so  ungewohnt  war.  Der  Mann,  dem  man  nachrühmte, 
daß  ein  schweres  chronologisches  Problem  nur  dann  verständlich  sei, 
wenn  es  von  ihm  dargestellt  werde,  hat  auch  in  diesen  der  Philologie, 
so  wie  er  sie  faßte,  unmittelbar  gestellten  Problemen  mit  der  ganzen 
Energie  seines  scharfen  Geistes  Klarheit  erarbeitet,  auch  wenn  die 
Fülle  der  Gedanken,  zumal  wenn  er  sprach,  sich  drängte  und  nach 
der  adäquatesten  Fassung  rang,  ohne  die  sich  nicht  zu  beruhigen  es 
ihm  peinlich  ernst  war. 

Mit  unerbittlicher  Konsequenz  arbeitete  er  sich  in  Gebiete  ein, 
deren  selbständige  Kenntnis  er  als  nötig  zur  Lösung  seiner  großen 
Aufgaben  erkannt  hatte.  Nichts  ist  wohl  charakteristischer  als  die 
Riesenarbeit,  die  er  an  die  Erforschung  antiker  Kalender  gewandt  hat: 
er  hatte  sie  unternommen,  um  sicheres  Material  für  griechische 
Religionsgeschichte  zu  bereiten.  Ein  Buch,  voll  der  mühseligsten, 
langwierigsten  Berechnungen  und  der  kompliziertesten  Kombina- 
tionen, ist  bei  dem  Brand  der  Mommsenschen  Bibliothek  zugrunde 
gegangen. 

Im  Jahre  1875  zeigte  der  Aufsatz  über  „Italische  Mythen",  wie 
ungemein  im  stillen  Useners  Bekanntschaft  und  Verständnis  Volkstum- 


Hermann  Usener 


357 


lieber  Traditionen  gewachsen  war,  und  wie  er  in  der  Erhellung  antiker 
Überlieferungen  durch  die  Bräuche  der  verschiedensten  Völker  einen 
sicheren  Takt  sich  erworben  hatte,  der  auch  dort,  wo  vielleicht  die 
antiken  Zeugnisse  nicht  ganz  so  fester  Boden  waren,  wie  er  annahm,  . 
zu  bleibenden  Erkenntnissen  geführt  haben.  Es  wird  so  kommen,  daß 
gerade,  nachdem  die  Tatsachen  der  römischen  Religion  und  des 
römischen  Kultus  ohne  Seitenblick  auf  erhellende  Analogien  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  erforscht  sind,  die  Betrachtungsart  Useners  in 
ihr  unbestreitbares  Recht  tritt  und  jener  alte  Aufsatz  ein  Vorbild  wird 
für  heute  neu  beginnende  Arbeit.  In  diese  Zeit  gehen  auch  die  weit- 
tragenden Gedanken  und  umfassenden  Vorarbeiten  zur  vergleichenden  V 
Rechtsgeschichte  zurück,  die  erst  viel  später  nur  in  kleinen  Proben 
ans  Licht  der  Öffentlichkeit  traten.  Der  Aufsatz  über  „Italische  Volks- 
justiz"  wird  ein  Kleinod  allen  denen  bleiben,  die  der  immer  dringender 
auftretenden  Erkenntnis,  daß  alles  Strafrecht  im  religiösen  Brauche 
wurzelt,  nachforschen  werden.  Wäre  Usener  zur  Ausarbeitung  seiner 
umfassenden  Pläne  in  dieser  Richtung  gekommen,  er  würde  in  der 
Tat  gezeigt  haben,  „daß  alles  halspeinliche  Gerichtsverfahren  von 
seinen  Anfängen  an  bis  zur  Zeit  der  französischen  Revolution  auf 
sakraler  Grundlage  beruht  hat".  Er  würde  Ahnliches  von  wichtigen 
sozialen  Organisationen  nachgewiesen  haben,  wie  er  es  von  den 
„Burschenschaften"  in  einer  glänzenden  Skizze  getan  hat.  Nicht  ein- 
mal die  Grundzüge  seiner  wie  immer  auf  der  Fülle  des  wirklich 
durchdrungenen  Materials  beruhenden  Gedanken  über  Religion  und 
Sittlichkeit  hat  er  noch  ausgesprochen.  Er  hatte  für  den  religions- 
geschichtlichen Kongreß  in  Basel  einen  Vortrag  darüber  angekündigt, 
aber  er  war  nachher  durch  kein  Zureden  mehr  dazu  zu  bringen, 
in  allgemeinen  Zügen,  ohne  bestimmte  Erscheinungen  gründlich  vor- 
zulegen und  durchzusprechen,  ein  solches  Problem  öffentlich  zu  be- 
handeln. 

Im  Jahre  1879  trat  er  plötzlich  mit  einem  kleinen  Büchlein,  das 
den  ganzen  wunderbaren  Reiz  seiner  Art  der  Edierung  und  Kommen- 
tierung zunächst  so  unscheinbarer  Texte  zeigt,  als  fertiger  Meister  auf 
einem  Gebiet  hervor,  das  recht  eigentlich  antike  Religionsgeschichte 
ist.  „Der  alte  Glaube  war  unausrottbar  und  ergoß  sich  mit  der  Natur- 
notwendigkeit, mit  der  geschichtliche  Wandlungen  sich  vollziehen,  in 
die  neuen  Formen,  mochten  die  Priester  es  in  weiser  Politik  befördern 
oder  nur  dulden."  Der  Pelagia,  die  keine  andere  ist  als  die  alte 
Meeraphrodite,  folgte  eine  ganze  Reihe  wertvoller  Editionen  von 
Heiligenlegenden.     Von  ihm  haben  auch  die  Jesuiten  solche  Editionen 


358  Hermann  Usener 

besser  zu  machen  gelernt.  Noch  in  den  letzten  Monaten  hat  Usener 
an  den  „sonderbaren  Heiligen"  gearbeitet,  wie  er  die  Ausgabe  zweier 
VI  Heiligenleben  benennen  wollte,  hinter  deren  einem  die  antike  Aphrodite 
.  (es  sollte  die  Neubearbeitung  der  Pelagia  sein),  hinter  deren  anderem 
der  antike  Priapos  steht.  Nicht  sehr  viele  werden  wissen,  daß  Usener 
durch  eine  überlieferte  Legende,  an  der  er  gearbeitet  hatte,  sich  zu 
einer  künstlerisch  gar  fein  gestalteten  und  erzählten  Novelle  hat  an- 
regen lassen.  Sie  heißt  „Die  Flucht  vor  dem  Weibe"  und  steht  in 
Westermanns  Monatsheften  (1894,  Januar,  S.  480  ff.  <Vorträge  und  Aufsätze 
1907  S.  235  ff.»  mit  dem  Pseudonymen  Verfassernamen  C.  Schaffner. 

Mit  1889  beginnen  nun  die  großen  religionsgeschichtlichen  Werke 
ans  Licht  zu  treten.  1887  waren  die  „Epicurea"  erschienen,  wahrlich 
auch  ein  religionsgeschichtliches  Werk  im  eminenten  Sinne,  in  einem 
Sinne  freilich,  der  hier  nicht  gedeutet  werden  soll.  „Das  Weihnachts- 
fest" hat  von  all  den  weiteren  großen  Büchern  die  unmittelbar  stärkste 
Wirkung  gehabt,  vielleicht  auch  mit  darum,  weil  die  Reaktion  dagegen 
viel  stärker  war,  als  man  sich  heute  gemeinhin  noch  erinnert.  Es  ist 
die  erste  philologisch -historische,  vorbildliche  Behandlung  eines  Stückes 
der  christlichen  heiligen  Sage,  tiefste  religiöse  Pietät  mit  unbestech- 
licher Wahrheitsliebe  vereinigend.  Wer  nach  religionsgeschichtlicher 
Methode  fragt  in  Behandlung  der  Überlieferungen  unserer  eigenen 
Religion,  hier  ist  sie  leibhaftig  —  ob  Einzelheiten  fallen,  das  Ganze 
ist  ein  unerreichtes  Meisterwerk,  und  viele  wird  gerade  das  noch  lange 
bitter  schmerzen,  daß  der  zweite  Band  dieses  Werkes  nicht  mehr  von 
ihm  vollendet  werden  konnte.  Der  Aufsatz,  der  nach  seinem  Tode 
eben  jetzt  erscheint,  zeigt  ihn  an  der  Weiterarbeit  am  Weihnachtsfeste. 
Den  letzten  Abschied  nimmt  er  von  uns  mit  einer  Abhandlung  über 
den  „Sol  invictus". 

Usener  selbst  hatte  viel  Hoffnung  gesetzt  auf  die  Wirkung  seines 
Buches  „Götternamen",  1896.  Es  war  Kern  und  Grundlage  der 
Mythologie,  die  er  in  Vorlesungen  vorgetragen  hatte.  Er  hat  sehr 
wohl  gefühlt,  daß  eine  Wirkung,  wie  er  sie  um  des  Fortschritts  der 
VII  Forschung  willen  ersehnt  hatte,  im  wesentlichen  ausblieb,  und  wer 
ihm  nahestand,  wußte,  obwohl  er  es  nie  aussprach,  wie  sehr  ihn  das 
geschmerzt  hat.  Die  Äußerung,  die  man  wohl  damals  unter  Philologen 
hören  konnte,  das  Buch  sei  zwanzig  Jahre  zu  spät  erschienen,  mochte 
zutreffen,  soweit  es  sich  um  Etymologien  handelte,  die  die  weiter 
geschrittene  Sprachwissenschaft  nicht  mehr  gelten  ließ;  was  die  Haupt- 
sache angeht,  kann  man  mit  sehr  viel  mehr  Recht  sagen:  das  Buch 
ist  zwanzig  Jahre  zu   früh   erschienen.    Die  Erkenntnis  von  der  Ent- 


Hermann  Usener  359 

Wicklung  menschlichen  Denkens  auch  in  der  Religion,  von  den  vielen 
durch  immer  stärkere  Abstraktion  zum  Einen  hin,  von  den  Augenblicks- 
göttern, von  den  Sondergöttern  zu  immer  umfassenderen  Gottheiten 
bis  hin  zum  Monotheismus  ist  in  einem  so  glänzenden  Zuge  von  in- 
einandergreifenden Kapiteln  durchgeführt  und  ein  für  allemal  siegreich 
festgestellt,  daß  es  dagegen  kaum  ins  Gewicht  fällt,  wenn  auch  um- 
fangreichere Einzeldarlegungen  sich  als  unhaltbar  erweisen  werden. 
Zum  Teil  deshalb,  weil  die  Hauptgedanken  längst  durch  die  vielen 
Schüler  und  Hörer  herumgetragen  und  weitergegeben  waren,  empfand 
man  nicht  die  Wirkung  des  Neuen  gegen  alle  Mythologie  vor 
Usener,  und  wenn  sich  allmählich  gerade  in  den  Hauptpunkten  der 
Wechsel  der  geltenden  Anschauungen  so  vollzieht,  daß  man  das 
eben  noch  Bekämpfte  stillschweigend  als  selbstverständlich  weiter- 
führt, so  hat  man  hier  den  siegreichen  Kämpfer  um  seinen  Lohn 
betrogen.  Man  kann  es  aber  bereits  spüren,  wie  dies  Buch  lang- 
sam weiterwirkt  und  wie  bei  immer  mehreren,  die  diesen  Gedanken- 
gängen und  dieser  Art  der  Denkarbeit  zu  folgen  fähig  werden,  gerade 
auch  außerhalb  der  klassisch -philologischen  Kreise,  vieles  zur  Geltung 
kommen  wird,  was  zuvor  nur  von  wenigen  ernstlich  beachtet  zu 
werden  schien. 

Der  große  Plan,  der  in  dem  Vorwort  der  Götternamen  skizziert 
ist,  auf  die  Darlegung  der  religiösen  Begriffsbildung  die  der  Vorgänge 
der  Beseelung  (Personifikation)  und  Verbildlichung  (Metapher)  folgen 
zu  lassen  und  dann  die  Formen  der  Symbolik,  des  Mythus,  des  Kultus  VIII 
abzuleiten,  ist  nicht  mehr  zur  Ausführung  gekommen.  Unendliche 
Arbeit  war  schon  an  diese  weiteren  Aufgaben  gewendet  worden,  aber 
selbst  wenn  große  Sammlungen  und  allerlei  Vorläufiges  sich  vor- 
finden werden,  so  hätte  nur  er  den  großen  Bau  aufführen  können. 
Usener  hat  noch  versucht  an  dem  Bilde  vom  Binden  und  Lösen  als 
an  einem  Beispiele  wenigstens  wesentliche  Vorgänge  der  Beseelung 
und  Verbildlichung  klar  zu  machen;  er  hat  auch  das  nicht  mehr  aus- 
geführt. 

In  rüstiger  Weiterarbeit  hat  er  1899  ein  anderes  Problem  bearbeitet. 
Die  „Sintflutsage"  könnte  in  den  späteren  Kapiteln  für  manches  von 
dem  ergänzend  eintreten,  was  er  über  Bild,  Metapher  und  Mythus  zu 
sagen  gehabt  hätte.  Die  Kapitel  vom  „Schiff"  und  vom  „Fisch  und 
vor  allem  das  von  der  Vielfältigkeit  und  Mehrdeutigkeit  mythischer 
Bilder  werden  einer  künftigen  Mythologie,  die  sich  mit  den  Motiven 
und  der  Ausgestaltung  des  Mythus  im  engeren  Sinne  beschäftigt 
(gegenwärtig    steht  der  Ritus   im  Vordergrund   der  Forschung),    ganz 


360  Hermann  Usener 

unschätzbare  Wegeweisung  leisten,  sollte  aber  auch  schon  jetzt  der 
Ausdeutung  und  Umdeutung,  der  „Allegorisierung"  des  Mythus  bis  in 
seine  einzelnen  Bestandteile  überall  ein  Ende  machen  können.  Usener 
war  hier  über  eigene  frühere  Vorstellungen  selbst  weit  hinaus- 
gekommen. 

Die  letzte  größere  Arbeit  war  die  „Dreiheif*  1903.  Gerüstet 
wiederum  mit  ungeheurem,  scharf  gesichtetem  Material  klopft  die 
Untersuchung  schließlich  an  die  Pforte,  hinter  der  die  Anfänge 
menschlichen  Denkens  verborgen  liegen.  Die  Dreizahl  war  die  „ur- 
sprüngliche Endzahl  der  primitiven  Menschheit".  Und  auch  diese 
Untersuchung  wirft  in  ihren  früheren  Stationen  das  hellste  Licht  auf 
eine  wichtige  Lehre  der  christlichen  Kirche.  Die  Lehre  von  der 
Dreieinigkeit  hat,  wer  hier  zu  folgen  weiß,  endgültig  geschichtlich 
verstanden. 

Wie  viel  mehr  Usener  aber  auf  dem  Gebiete,  das  hier  allein  zur 
IX  Betrachtung  stand,  wirklich  geleistet  und  erarbeitet  hat,  als  in  Schriften 
und  Büchern  äußere  Gestalt  gewann,  wird  auch  dem  deutlich  geworden 
sein,  der  ihm  im  Leben  ferne  gestanden.  Wie  viel  er  außer  seinen 
religionsgeschichtlichen  Arbeiten  gewirkt  und  auch  der  Öffentlichkeit 
gegeben  hat,  muß  an  diesem  Orte  übergangen  werden.  Aber  das 
soll  gerade  an  diesem  Orte  nicht  übergangen  werden,  daß  er  all  das 
Große,  was  er  als  Religionshistoriker  geleistet  hat,  nur  als  Philologe 
erreicht  hat.  Er  war  ein  wahrhaft  gelehrter  Gräzist,  er  lebte  im  Alter- 
tum, im  Hellenentum,  er  beherrschte  das  wissenschaftliche  Rüstzeug, 
ein  selten  Gewappneter  unter  den  Philologen,  und  er  war  gerade  in 
dem,  was  Grundlage  aller  Arbeit  an  Überlieferungen  der  Vergangenheit 
ist,  in  der  philologischen  Technik,  von  unerbittlicher  Sorgfalt;  im 
Kleinsten  waltet  die  Meisterschaft,  die  die  Gewähr  gibt,  das  Größte 
zu  erreichen.  Weil  er  in  der  ganzen  Kultur  des  Altertums  stand  mit 
seiner  ganzen  Lebensarbeit,  darum  hat  er  die  religiösen  Erscheinungen 
so  tief  und  so  richtig  ergründen  können.  Er  hat  uns  gelehrt,  auf 
welcher  Basis  allein  Religionsgeschichte  getrieben  werden  kann,  und 
der  ganze  Ingrimm  seiner  leidenschaftlichen  Natur  konnte  über  die 
hervorbrechen,  die  unwissend  und  ungetreu  in  der  notwendigen  philo- 
logischen Grundlage  ihrer  Arbeit  über  Probleme  gerade  der  Religions- 
wissenschaft redeten.  Von  ihm  können  wir  lernen,  daß  es  „Religions- 
historiker" nicht  geben  soll  und  kann,  die  nirgends  „Philologen"  sind. 
Wenn  man  die  Worte  nicht  mißdeuten  will,  kann  man  sehr  wohl  sagen: 
Usener  war  Religionshistoriker,  aber  er  war  mehr  als  das:  er  war 
Philologe.     Versteht    man   die  Begriffe   anders,    so   ist   es   umgekehrt 


Hermann  Usener  35  j 

richtig.  Eins  seiner  schönsten  Worte  heißt:  „Es  wäre  übel  mit 
menschlicher  Wissenschaft  bestellt,  wenn,  wer  im  einzelnen  forscht, 
Fesseln  trüge,  die  ihm  verwehrten,  zum  Ganzen  zu  streben.  Je 
tiefer  man  gräbt,  desto  mehr  wird  man  durch  allgemeinere  Erkennt- 
nisse belohnt." 

Er  hat  es  uns  zuerst  gelehrt,  daß  Philologie  zur  Geschichtswissen- 
schaft geworden  ist  und  ihren  großen  Problemen  dient.  Erforderte  es  X 
eine  geschichtliche  Aufgabe,  so  kannte  er  keine  Grenze  des  Faches 
und  schaffte  sich  in  heißer  Arbeit  die  Voraussetzungen  zu  selbständigem 
Urteilen.  Und  wer  innerhalb  seines  Gebietes  einen  Teil  besonders  zu 
erforschen  sich  vornahm,  etwa  die  Religion  der  Alten  wie  andere  die 
Sprache  oder  das  Recht,  der  sollte,  so  mahnte  er  oft,  die  Verbindung 
suchen  mit  den  anderen  Wissenschaften  und  die  Analogien  sich  ge- 
winnen, die  ihn  tiefer  führten:  wie  von  vergleichender  Sprachwissen* 
Schaft,  so  sprach  er  im  sicheren  Bewußtsein  wissenschaftlicher  Not- 
wendigkeit von  der  vergleichenden  Sitten-  und  Rechtsgeschichte  und 
der  vergleichenden  Religionsgeschichte.  In  den  Äußerungen  fremden 
vergangenen  Lebens,  das  er  so  tief  und  so  umfassend  wie  wenige 
verstand,  empfand  er  die  Analogien  seines  eigenen  reichen  innersten 
Lebens.  Oft  hat  er  sich  in  dem  Sinne  ausgesprochen,  daß  man  etwas 
nur  dann  verstehe,  wenn  eine  verwandte  Saite  in  unserem  eigenen 
Inneren  mit  schwinge  und  klinge.  „Wenn  sie  nicht  Spiel  bleibt,  wird 
alle  Mythenforschung  unwillkürlich  uns  zuletzt  auf  unser  innerstes 
Anliegen,  die  eigene  Religion,  zurückführen  und  das  Verständnis  der- 
selben fördern." 

Das  tiefste  Verständnis  hatte  er  für  das  Leben  unseres  eigenen 
Volkes,  und  die  reinen  und  echten  Empfindungen,  die  in  seiner  eigenen 
Seele  lebten,  waren  das  Geheimnis,  daß  er  das  Echte,  Ursprüngliche, 
das  Kindliche  und  Jugendliche  im  Leben  der  Völker  so  lebhaft,  so 
fein  und  zart  und  wiederum  so  stark  und  leidenschaftlich  nachempfand. 
Er  war  auch  darin  der  echte  Erbe  Jacob  Grimms. 

Hermann  Usener  ist  der  npiuc  kticttic  der  modernen  Religions- 
wissenschaft, nicht  bloß  in  Deutschland.  Er  ist  es  und  wird  es  werden; 
damit  nimmt  man  einzelnen  bahnbrechenden  Werken  anderer,  eines 
Erwin  Rohde,  eines  Robertson  Smith  oder  Edward  Tylor  nicht  das 
Geringste  ihres  Ruhmes.  Durch  seine  gesamte  Lebensarbeit  hat  dieser 
große  Philologe,  dem  niemand  die  höchsten  Leistungen  in  seiner  philo- 
logischen Wissenschaft  abstreiten  konnte,  der  philologisch -historischen  XI 
Religionswissenschaft  die  Geltung  erkämpft,  die  sie  hat.  Daß  diese 
Zeitschrift  mit  einiger  Anerkennung  den  Zielen  dienen  kann,  denen  sie 


362  Hermann  Usener 

dienen  will,  danken  wir  seinem  Wirken.  Es  muß  uns  ein  heiliges 
Vermächtnis  sein,  daß  wir  die  festen  Grundlagen  nicht  verlassen,  auf 
denen  eben  diese  Lebensarbeit  sich  allein  aufgebaut  hat.  Auf  irgend- 
welches Einzelne  seiner  Lehre  kommt  es  nicht  an:  sein  wissenschaft- 
liches Leben  und  Lehren  als  ein  Ganzes  kann  den  Weg  zeigen,  den 
die  Religionswissenschaft  zu  gehen  hat,  um  nicht  von  den  drängenden 
Tendenzen  des  Tages  oder  den  Wogen  der  Phrase,  der  Rhetorik  und 
Sophistik  in  die  Irre  getrieben  zu  werden.  „Nur  das  im  Menschen  ist 
dauernd,  was  in  den  Herzen  von  anderen  fortlebt,"  hat  er  im  vorigen 
Jahre  an  seinem  70.  Geburtstage  zu  uns  gesagt.  Möchte  auch,  nach- 
dem Hermann  Usener  nicht  mehr  unter  uns  ist,  seines  freien  Geistes 
strenge  Zucht  walten  in  diesen  Blättern  und  etwas  von  dem  Segen 
dieses  Lebens  voll  Feuer  und  Kraft  auf  ihnen  ruhen,  solange  sie  in 
die  Welt  hinausgehen  werden. 


XXIV 
EURIPIDES^ 

Euripides  aus  Athen,  der  Tragiker.  Als  Quellen  für  sein 
Leben  stehen  zunächst  einige  antike  Kompilationen  zur  Verfügung. 
Ein  T^voc,  das  in  einigen  Hss.  erhalten  ist,  bildet  selbst  wieder  eine  1243 
Kompilation  mehrerer  Kompilationen  etwa  gleichen  Wertes.  Aus  diesem 
yevoc,  das  damals  noch  umfangreicher  in  den  Hss.  des  E.  gestanden 
haben  wird,  hat  Gellius  entweder  selbst  genommen,  was  er  n.  a.  XV  20 
gibt,  oder  ein  Mittelsmann,  den  er  benutzt  (XVII  4,  3  zitiert  er  für 
eine  Angabe,  die  auch  das  t^voc  und  Suidas  haben,  Varro).  Endlich 
bewahrt  Suidas  einen  parallelen  Notizenkomplex.  Es  wird  dem  allen 
ein  Ttvoc  zugrunde  liegen,  das  einer  Ausgabe  von  Tragödien  des 
E.  beigegeben  war,  mindestens  schon  im  1.  Jhdt.  v.  Chr.,  wenn  Varro 
es  übernahm  (den  Stand  der  Tradition  bis  zu  dieser  Zeit  zeigt  auch 
der  ßioc  des  Sophokles),  spätestens  bis  zum  2.  Jhdt.  n.  Chr.,  da  Gellius 
es  haben  konnte.  Der  Grundstock  stammt  wohl  von  einem  Alexandriner 
des  3.  bis  2.  Jhdts.  (v.  Wilamowitz  Her.  I^  12  setzt  230-130). 
Direkt  zitiert  werden  für  bestimmte  Angaben  Theopomp  (Gell.  XV  20,  1), 
Eratosthenes  (Vita  p.  3,  3  Schwartz),  Philochoros  (Vita  p.  3,  3.  Gell.  XV 
20,  5.  Suidas  für  drei  verschiedene  Angaben),  Hermippos  (Vita  p.  5, 
14);  Verse  z.  B.  des  Alexander  Aitolos  (Gell.  XV  20,  8).  Der  Prozeß  des 
Zufügens  und  Auslassens  ist  natürlich  nur  sehr  allmählich,  niemals 
ganz  bis  zu  den  Überlieferungen,  die  wir  haben,  zum  Stillstand  ge- 
kommen. Das  Tcvoc  ist  am  besten  ediert  in  der  Scholienausgabe  von 
Eduard  Schwartz  (s.  u.),  über  die  Komposition  des  ßioc  handelt  am 
schärfsten  und  eingehendsten  Leo  Die  griech.-röm.  Biographie  24ff. 
Die  einzelnen  Notizen,  die  wir  außer  den  genannten  Überlieferungen 
in  antiker  Literatur  besitzen,  finden  sich  am  vollständigsten  in  Naucks 
Ausführungen  De  Euripidis  vita  poesi  ingenio  vor  seiner  Ausgabe  I 
p.  Xff.  Kurze  aktenmäßige  Zusammenstellung  bei  Kirchner  Prosopo- 
graphia  attica  I  386  ff.  (nr.  5953).    Die  einschneidendste  und  wertvollste 


<Real.Encyclopädie  von  Pauly-Wissowa,  Euripides  4,  Band  VI  Sp.  1242ff.> 


364  Euripides 

Behandlung  des  Lebens  des  E.  ist  die  v.  Wilamowitz  Herakles  I^  IfL 
(weiteres  s.  u.). 

Das  T  o  d  e  s  j  a  h  r  des  E.  ist  nach  der  parischen  Chronik  Ol.  93, 2  =  407/6. 
Die  Richtigkeit  der  Angabe  ist  zu  beweisen.  Als  die  Frösche  des 
Aristophanes  an  den  Lenaeen  405  (Januar)  aufgeführt  wurden,  war 
E.  vor  kurzem  gestorben;  er  war  tot,  als  Aristophanes  den  Plan  des 
Stückes  entwarf.  Sophokles  starb  nach  E.  Am  Proagon  der  Dionysien 
406  (März)  soll  Sophokles  zu  Ehren  des  verstorbenen  E.  den  Chor 
ohne  Kränze  haben  auftreten  lassen;  eine  durchaus  wahrscheinliche 
Angabe.  Im  Winter  407/6  muß  E.  gestorben  sein.  Eratosthenes  und 
Apollodor  gaben  406/5  (480  geboren,  75  Jahre  alt  geworden),  s. 
Jacob y  Apollodors  Chronik  250 ff. 

Das  Geburtsjahr  konnte  man  auch  bei  E.  wie  meist  im  Altertum 
nur  berechnen,  und  zwar  entweder  nach  Angaben  oder  Erinnerungen, 
wie  alt  E.  gewesen,  als  er  starb,  oder  nach  dem  Datum  der  ersten 
Aufführung  455,  indem  man  schloß,  daß  er  damals  mindestens  20  Jahre 
alt  sein  mußte.  Man  kam  so  auf  approximative  Zahlen.  Es  ist  sehr 
begreiflich,  daß  man  480  angab,  und  nun  hatte  in  demselben  Jahr 
Aischylos  in  der  Schlacht  mitgekämpft,  Sophokles  den  Siegesreigen 
getanzt,  E.  wurde  auf  Salamis  geboren.  So  gab  auch  Eratosthenes^ 
der  den  E.  75  Jahre  alt  werden  ließ.  Wer  den  E.  455  20 jährig  an- 
1244 nahm,  rechnete  70  Jahre  Lebenszeit.  So  gab  Philochoros  nicht  an^ 
sondern  gegen  diese  Rechnung  betont  er,  daß  E.  gestorben  sei  uirep 
Tot  eßbo|ur|KovTa  tctovojc  (Vita  p.  3,  3).  So  viel  wird  er  aus  Angaben 
von  Leuten,  die  das  noch  wissen  konnten,  festgestellt  haben.  Gibt 
nun  die  parische  Chronik  484,  so  können  hier  immerhin  begründete 
Angaben  über  das  Alter  des  E.  bei  seinem  Tode  zugrunde  liegen; 
jedenfalls  halte  ich  uns  nicht  für  berechtigt,  der  Zahl  der  Chronik,  die 
den  Synchronismus  von  480  nicht  mitmacht,  das  nachweisbar  richtige 
Todesjahr  gibt,  als  veranlaßt  durch  den  Ansatz  des  ersten  Sieges  des 
Aischylos  auch  nur  ,symbolische Bedeutung*  beizumessen  (v.  Wilamowitz 
a.  a.  O.  5,  von  dem  ich  nur  in  diesem  Punkte  der  Beurteilung  der 
Daten  abweiche,  vgl.  Mendelssohn  Acta  societ.  phil.  Lips.  II  176 f.  180. 
V.  Wilamowitz  gab  Anal.  Eurip.  148,  3  das  Geburtsjahr  484). 

Die  Eltern  des  E.  hießen  Mnesarchides  oder  Mnesarchos  (ein 
häufiger  Wechsel  der  Namensformen  bei  der  gleichen  Person)  und 
Kleito.  Die  T^voc- Überlieferung  gibt  an,  daß  der  Vater  Höker  gewesen 
sei,  die  Mutter  Gemüsehändlerin,  sie  hätten  in  Boiotien  gewohnt,  wohin 
sie  hätten  fliehen  müssen,  dann  in  Attika  als  Metoeken;  nach  einer 
Erzählung  bei  Nikolaos  von  Damaskos  frg.  113,  FHG  III  p.  458  wurde 


i 


Euripides  355 

dem  bankerotten  und  verschuldeten  Vater  des  E.  sogar  auf  dem 
Markte  der  KÖqpivoc  aufgesetzt  (vgl.  Crusius  Melanges  Weil  87).  Es 
ist  zu  beweisen,  daß  dies  alles  nicht  wahr  sein  kann,  zum  Teil  be- 
zeugtermaßen  nicht  wahr  ist.  Bei  Suidas  ist  der  Satz  erhalten:  ouk 
aXtiOec  hk  ujc  XaxavÖTTUüXic  fjv  f)  |ar|TTip  auToO'  xai  TOtp  tujv  ccpöbpa 
euTevujv  exiJTXavev,  ibc  dTrobeiKvuci  OiXöxopoc.  Des  Philochoros 
Zeugnis  gilt:  sie  war  hochadelig.  Mnesarchides  war  aus  dem  Demos 
Phlya  der  kekropischen  Phyle,  auch  E.  heißt  ^\ve\)c  IG  II  973. 
992,  vgl.  Harpokr.  Suid.  s.  OXueia.  Nun  bezeugt  Theophrastos  bei 
Athen.  X  424  e  mit  ausdrücklicher  Berufung  auf  ein  Schriftstück  im 
baqpvTiqpopeiov  in  Phlya:  GupiTribnc  üjvoxöei  'A0r|VTici  toTc  öpxncraTc 
KaXoujLievoic.  uipxoövxo  be  outoi  irepi  töv  toO  'AttöXXuuvoc  veüuv  toO 
AriXiou  TUJV  TTpuiTUJV  övxec  'AÖT^vaiojv.  6  be 'AttöXXuüv  outöc  ecxiv, 
lü  xd  GapTnXia  ötouci.  Eine  andere  Überlieferung  in  der  Vita  p.  2,  4 
(eine  Quelle  ist  nicht  angegeben)  besagt  von  E.  Ttveceai  be  auxov  Kai 
TTupqpöpov  xou  Zujcxripiou  'AttöXXujvoc  und  gibt  damit  ein  anderes 
Zeugnis  der  Beziehung  des  E.  und  seines  Geschlechtes  zum  Apollon- 
kult.  Dies  Geschlecht  muß  mindestens  sehr  angesehen  und  altein- 
gesessen gewesen  sein.  Der  Vater  hatte  auch  Besitz  in  Salamis,  den 
E.  ererbte.  Von  der  Grotte,  die  man  späterhin  zeigte  als  den  Ort,  da 
E.  gedichtet  habe,  hatte  schon  Philochoros  gesprochen  (Gell.  XV  20,  5); 
daß  E.  auf  Salamis  geboren  sei,  ist  möglich,  aber  nicht  gut  bezeugt; 
diese  Angabe  könnte  sehr  wohl  durch  den  erwähnten  Synchronismus 
veranlaßt  sein.  Ist  sie  aber  richtig,  so  hat  der  Preis  von  Salamis 
Troad.  799  ff.  seine  besondere  Bedeutung.  Eine  Grotte  pflegt  wohl 
Geburtsstätte  von  Göttern  und  Heroen  zu  sein,  aber  schwerlich  hat 
sich  die  vornehme,  wohlhabende  Gutsbesitzersfrau  dort  von  ihrer 
Stunde  überraschen  lassen. 

Die  für  uns  so  seltsamen  üblen  Nachreden  über  die  Eltern  stammen 
zum  Teil  erkennbar  aus  den  Scherzen  und  Spöttereien  der  Komödie;  1245 
der  stehende  Scherz  über  den  Kerbel  der  Mutter  ist  schon  in  den 
Acharnern  (v.  478)  etwas  ganz  Bekanntes.  Solche  Schimpfreden  würde 
erst  wirklich  erklären  helfen  eine  Untersuchung  des  dem  alten  wie 
auch  noch  dem  heutigen  Griechenvolke  gewohnten  Brauches,  bei  der 
Schmähung  irgendeines  dessen  Eltern  in  ganz  bestimmten  Formeln 
zu  schmähen,  auch  wenn  man  nichts  von  ihnen  weiß.  Mancher  Krämer 
oder  Sklave  als  Vater,  manche  Hökerin  oder  auch  Hure  als  Mutter 
wird  sich  in  der  antiken  Literaturgeschichte  so  erklären,  manche 
Schmähung  in  den  Komödien  wie  besonders  bei  den  Rednern  wird 
erst  so  verständlich. 


366  Euripides 

Die  Überlieferung,  die  dem  E.  Eltern  niederen  Gewerbes  gibt,  gibt 
ihm  zwei  Frauen.  Zuerst  habe  er  die  Melito  geheiratet,  dann  die 
Choirile  (Chorine),  sagt  die  Vita  p.  2,  11,  an  einer  anderen  Stelle  heißt 
es  ebenda,  er  habe  die  Tochter  des  Mnesilochos  Choirile  geheiratet 
(p.  5,  4),  wiederum  an  einer  anderen  Stelle  wird  von  dem  Haussklaven 
Kephisophon  erzählt,  der  mit  dem  Weibe  des  E.  Ehebruch  getrieben 
habe,  das  an  dieser  Stelle  nicht  benannt  wird  (ifiv  oiKeiav  TuvaiKa 
p.  6,  3).  Bei  Suidas  steht,  R  habe  zuerst  die  Choirile,  die  Tochter 
des  Mnesilochos,  geheiratet;  nachdem  er  die  habe  verstoßen  müssen, 
habe  er  eine  andere  genommen,  die  gerade  so  sittenlos  gewesen  sei. 
Bei  Gellius  endlich  steht  (XV  20,  6),  daß  er  zwei  Weiber  zugleich  gehabt 
habe.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  es  sich  in  dem  allem  wiederum 
um  Spott  und  Schmähung  handelt,  die  aufkamen,  weil  E.  als  der  erste 
weibliche  Untreue  auf  die  Bühne  brachte  und  in  seinen  Stücken  von 
Weibertugend  oft  gering  geredet  ward.  Bezeichnenderweise  ist  in  den 
Thesmophoriazusen,  die  alles  zum  Angriff  gegen  E.  vereinigen,  noch 
nichts  von  diesen  Dingen  auch  nur  angedeutet,  als  E.  schon  73  Jahre 
alt  war.  Da  nun  gerade  Philochoros  die  obszöne  Bedeutung  von 
Choirile  beobachtet  und  bewiesen  hatte,  und  zwar  in  derselben  Schrift, 
in  der  er  die  oben  erwähnten  Widerlegungen  der  Nachreden  über  E. 
gab,  so  ist  mit  Recht  geschlossen  worden  (v.  Wilamowitz  Anal. 
Eur.  149;  Her.  P  7),  daß  dieser  letztere  nur  ein  Schmähname  der 
Melito  war  und  daß  Mnesilochos  deren  Vater,  vermutlich  ein  Ver- 
wandter des  Mnesarchides,  gewesen  sein  wird.  Der  Kr|becTr|c  der  Thesmo- 
phoriazusen ist  natürlich  nicht  dieser  Mnesilochos  (s.  Hill  er  Herm.VIII  449). 

E.  hatte  drei  Söhne.  Der  älteste,  Mnesarchides,  sei  Kaufmann 
geworden,  der  zweite,  Mnesilochos,  Schauspieler,  der  dritte,  Euripides 
(s.  N.  5  <Sp.  1281»,  führte  hinterlassene  Stücke  des  Vaters  auf. 

Dem  staatlichen  Leben  hielt  E.  sich  fern.  So  ist  keine  Tatsache 
irgendeiner  Amtsführung  zu  berichten.  Nur  das  eine  erfahren  wir  von 
öffentlicher  Betätigung,  daß  er  Liturgien  zu  leisten  hatte  wie  jeder, 
der  einiges  Vermögen  besaß;  er  hatte  einen  Handel  durch  dvTibocic 
mit  Hygiainon  gehabt  (nach  428,  dem  jüngeren  Hippolytos,  der  voraus- 
gesetzt wird,  Aristot.  Rhet.  III  15  p.  1416a  28). 

Reisen  des  E.  sind  nicht  bekannt  außer  seiner  letzten  nach 
Makedonien.  Was  hinter  der  Angabe  der  Vita  2,  7 f.  )li€T6ctti  b'  ev 
1246  MttTvricia  xai  TipoHevia  eTi)nr|0ri  xal  dxeXeia  steckt  (eKcTGev  sei  er 
nach  Makedonien  gekommen),  ist  nicht  mit  genügender  Sicherheit  aus- 
zumachen. Stammt  sie  wirklich  nur  daher,  daß  man  auf  einer  Inschrift 
entdeckt  hatte,  E.  sei   von  Magnesia   mit  Proxenie   und  Atelie   geehrt 


I 


Euripides  357 

worden  (v.  Wilamowitz  Herakl.  I^  11),  so  braucht  er  natürlich  nicht 
dort  gewesen  zu  sein.  In  Makedonien,  am  Hofe  des  Archelaos  zu 
Pella,  war  er  die  letzten  etwa  IV2  Jahre  seines  Lebens.  408  hat  er 
noch  den  Orest  in  Athen  aufgeführt  und  im  Winter  407/6  ist  er  ge- 
storben (s.  Ritschi  Opusc.  I  428).  Von  irgend  etwas  Besonderem 
beim  Tode  des  E.  weiß  Aristophanes  in  den  Fröschen  noch  nichts, 
wo  er  es  sich  kaum  hätte  entgehen  lassen.  Überhaupt  kannte  die 
ältere  Schicht  der  Tradition,  Philochoros  u.  a.,  nichts  davon.  Möglich, 
daß  bei  dem  allmählichen  Auswachsen  der  verschiedenen  Geschichten 
vom  Tode  durch  Hunde  oder  Weiber  das  Ende  der  Götterbeleidiger 
Aktaion  und  namentlich  des  Pentheus  gerade  in  des  E.  Bakchen 
(v.  731  Kijvec  die  Mainaden)  und  die  Weiberverfolgung  der  Thesmo- 
phoriazusen  eine  Rolle  gespielt  hat  (Piccolomini  Annali  delle  uni- 
versitä  Toscane  XVIII,  Pisa  1883.  W.  Nestle  Philolog.  LVII  134ff.). 
Das  Grab  des  E.  ward  bis  in  späte  Zeit  gekannt  und  besucht. 

Von  der  geistigen  Entwicklung  des  E.,  antik  ausgedrückt  von 
seinen  Lehrern,  wissen  wir  nichts  Sicheres.  In  der  Vita,  bei  Suidas 
und  Gellius  wird  E.  Schüler  oder  Hörer  genannt  des  Anaxagoras, 
Prodikos,  Protagoras,  Archelaos  (ö  qpuciKÖc,  vgl.  Suid.  s.  'ApxeXaoc  01 
bk  Kai  GupiTTibriv  [so  Küster,  eupiTribnc  oder  e^pmibou  Hss.]  cpadv 
[iLiaGTiTriv]),  Sokrates.  Den  Grad  der  geistigen  Beeinflussung  durch 
diese  Männer  können  wir  nur  aus  den  Werken  des  E.  zu  er- 
schließen suchen.  Daß  den  E.  sein  Vater,  durch  ein  mißverstandenes 
Orakel  veranlaßt,  zum  Athleten  hätte  ausbilden  lassen,  ist  eine 
Nachricht  ohne  alle  Gewähr,  die  entstanden  ist  aus  einem  be- 
kannten novellistischen  Wandermotiv  (z.  B.  Herodot  IX  33).  Wer  in 
E'.  Werken  mehr  ,malerische*  Neigungen  zu  entdecken  glaubt  als  bei 
anderen  Dichtern,  mag  der  Nachricht,  daß  E.  früher  Maler  gewesen 
sei,  mehr  Gewähr  zutrauen.  Von  Lehrern  des  E.  in  der  Poesie  wird 
nichts  gesagt:  daß  er  von  Sophokles  »lernte*,  ist  selbstverständlich. 
Daß  beide  auch  späterhin  ihr  Leben  lang  neidlos  voneinander  lernten, 
erkennen  wir.  Eine  andere  Quelle,  die  Beziehungen  des  E.  zu  Wfssen- 
schaft  und  Kunst  seiner  Zeit  und  deren  Vertretern  zu  erkennen,  als 
seine  Tragödien,  gibt  es  nicht,  natürlich  das  eingeschlossen,  was  aus 
Spott  und  Parodie  der  Komödie  zu  entnehmen  ist.  E.  soll  eine  reiche 
Bibliothek  besessen  haben  (Athen.  I  3a,  vgl.  Aristoph.  Frösche  943.  1409). 
Von  der  äußeren  Physiognomie  des  E.  können  wir  uns  aber 
noch  nach  den  erhaltenen  antiken  Büsten  sehr  wohl  eine  Vorstellung 
machen.  Die  Neapler  Büste  trägt  den  vollständigen  Namen  m  echter 
Unterschrift,  in  einer  Reihe  Doppelhermen  ist  E.  mit  Sophokles  gepaart 


368  Euripides 

Die  erhaltenen  Büsten  sind  besprochen  bei  Bernoulli  Griech.  Ikono- 
graphie I  148  ff.  (dort  weitere  Literatur). 

Das  Werk  des  E.  waren  seine  Tragödien;  von  anderen  Dichtungen 
1247  haben  wir  nur  ein  paar  ganz  geringe  Spuren.  Er  soll  für  die  in 
Sizilien  Gefallenen  ein  eiriKribeiov  gemacht  haben  (Plut.  Nie.  c.  17,  wo 
ein  Distichon  zitiert  wird).  Ein  emviKiov  für  den  Alkibiades  wird  bei 
Plutarch  Alkib.  c.  11  mit  einigen  Versen  zitiert,  in  der  Vita  des 
Demosth.  c.  1  heißt  es  6  luev  fpaii^ac  tö  e-rri  irj  viKr)  Tfj  'OXujUTTiaci, 
iTTTTObpoiLiiac  €ic  'A\Kißidbr|v  eYKW|uiov  €iV  €upiTribr|C  ujc  6  ttoXOc  xpa- 
T€T  XÖTOC  ei'e'  exepöc  Tic  fjv  ktX.  Ein  Epigramm  wird  ihm  noch  bei 
Athen.  II  61b  fälschlich  zugeschrieben  (vgl.  Sehen  kl  Philol.  XXIII  349), 
s.  Bergk  FLG  II*  265f.  Das  Grabepigramm  bei  Kaibel  Nr.  21  hat 
man  dem  E.  mehrfach  zuweisen  wollen.  Andere  als  ganz  subjektive 
Gründe  können  dafür  nicht  beigebracht  werden. 

Über  den  dichterischen  Nachlaß  des  E.  haben  wir  gute  Über- 
lieferungen. Die  Vita  gibt  92  Dramen  im  ganzen  an  und  genau  ebenso 
Suidas,  der  außerdem  22  Aufführungen  feststellt.  22  Tetralogien  gäben 
88  Stücke.  Eine  Tetralogie  war  bestritten:  die  Vita  führt  ausdrücklich 
Tennes,  Rhadamanthys,  Peirithoos  und  von  den  8  Satyrspielen,  die 
erhalten  gewesen  seien,  eins  als  bestritten  an:  88  +  4  =  92.  Freilich 
kann  das  Gesamtwerk  des  E.  nicht  in  diese  Rechnung  aufgehen;  denn 
innerhalb  der  Tetralogien  stand  nicht  der  Archelaos  und  nicht  die 
Andromache  (Schol.  Androm.  445). 

Was  in  Alexandreia  erhalten  war,  wird  genau  angegeben.  Die 
Vita  gibt  78-3  unechte  (die  oben  genannten),  außerdem  rechnet  sie 
67  erhaltene  4-  3  dvTiXeTÖ|Lieva  +  8  Satyrspiele,  wovon  1  bestritten. 
Je  nachdem  die  3  und  das  1  zugezählt  oder  weggelassen  wurden, 
gibt  das:  alles  Bestrittene  weggelassen  74,  die  bestrittenen  3  Tragödien 
zugezählt,  das  bestrittene  Satyrspiel  weggelassen  77,  die  bestrittenen 
3  Tragödien  weggelassen,  das  bestrittene  Satyrspiel  zugezählt  75,  alles 
Bestrittene  zugezählt  78.  Die  letzte  Zahl  gab  die  Vita  an  der  erst  er- 
wähnten Stelle  (p.  3.  2),  77  steht  bei  Suidas,  75  nach  Varro  bei  Gellius 
XVII  4,  3.  Bei  Suidas  muß  an  der  betreffenden  Stelle  eine  Verschiebung 
der  Worte  stattgefunden  haben;  es  ist  überliefert  bpotjuaxa  be  aiiioO 
Kaid  )Liev  Tivac  oe',  Kard  be  dXXouc  (;ß',  cuj^ovrai  be  ol'.  Wenn  die 
Überlieferung  des  t^voc  und  bei  Suidas  wirklich  auf  einen  Grundstock 
zurückgehen,  so  müssen  die  Worte,  die  möglicherweise  schon  vor 
ihrem  Einmünden  in  das  Lexikon  durcheinandergelaufen  waren,  ge- 
stellt gewesen  sein:  bpdjuaxa  b^  auioO  qß',  cwlovim  be  Kard  laev  rivac 
oe',  Kard  be  dXXouc  oZ:'.    Die  geringe  Zahl  der  Satyrspiele  erklärt  sich 


Euripides  3^0 

nicht  sowohl  daraus,  daß  andere  Stücke  für  Satyrspiele  eintreten 
konnten,  als  daraus,  daß  schon  im  Altertum  eine  Reihe  wenig  ge- 
schätzter Satyrspiele  des  E.  verloren  waren,  wie  das  von  einigen 
direkt  angegeben  wird  (s.  Hypoth.  zur  Medeia  und  den  Phoinissai). 
In  E.-Hss.  mag  einst  wie  in  denen  des  Aischylos^  neben  dem  revoc 
ein  KttiaXoTOc  toiv  bpaiudTujv  alphabetisch  geordnet  gestanden  haben. 
Aus  solchen  KardXoToi  stammen  die  inschriftlichen  Dramenlisten  auf 
der  Rückseite  der  Statue  des  Louvre  (Welcker  Gr.  Trag.  444 f.)  und 
auf  einem  Stein  des  Peiraieus  (v.  Wilamowitz  Anal.  Eurip.  139). 
Nur  fünf  Siege  des  E.  werden  angegeben  (Vita  p.  4,  10.  Gell.  XVII 
4,  3),  den  fünften  habe  er  erst  nach  seinem  Tode  davongetragen 
(Suid.  und  Schol.  Aristoph.  Frösche  67). 

Die  Fasti  scaenici,  die  durch  direkte  Oberlieferung  sicher  stehen,  1248 
sind  folgende: 

455  Peliaden.    E.  3.    Vita  2,  15. 

442  1.  Sieg,  Marm.  Par. 

438  Kreterinnen,    Alkmeon    in    Psophis,    Telephos,    Alkestis.     E.   2. 
Sophokles  1.    (Hypoth.  Alk.). 

431  Medea,  Philoktet,  Diktys,Theristai.  E.3.  Sophokles  2.  Euphorion  1. 
(Hypoth.  Med.). 

428  Hippolytos  (II  cxecpaviac).   E.  1.   lophon  2.   Ion  3.   (Hypoth.  Hipp.). 

415  Alexandros,    Palamedes,    Troades,    Sisyphos.    E.  2.    Xenokles  1. 
Aelian.  v.  h.  II  8. 

412  Andromeda,    Helena.   Schol.   Aristoph.   Thesmoph.    1060.    Schol. 
Frösche  53.    Schol.  Thesmoph.  1012. 

408  Orestes.  Schol.  Orest.  371. 

406  (nach  dem  Tode  des  E.)  Iphigenia  in  Aulis,  Alkmeon  in  Korinth, 
Bakchen.  Schol.  Arist.  Frösche  67. 
Wir  können  noch  eine  ganze  Reihe  von  Stücken  mit  größerer  oder 
geringerer  Sicherheit  datieren,  vielfach  in  nicht  zu  weit  voneinander 
entfernte  Termini  post  quem  und  ante  quem  einschließen.  Die  wesent- 
lichsten Hilfsmittel  solcher  Datierung  sind  die  Parodien  und  Anspielungen 
bei  Aristophanes,  die  Selbstwiederholung  des  E.  in  einzelnen  Versen 
und  Wendungen,  falls  man  mit  Sicherheit  urteilen  kann,  wo  eben  die 

Wiederholung  vorliegt   (das  Material  bei  Schröder  De  iteratis  apud 
trag,  graec,  Dissert.  Argentor.  VI  Iff.),  die  bei  E.  durchaus  nicht  seltenen 

politischen    und    zeitgeschichtlichen    Anspielungen,    ferner    in    emigen 

Fällen   das  Verhältnis  zu  Stücken   des  Sophokles  im  dramaturgischen 


'  <S.  oben  S.  141.) 

24 

Albrecht  DietericH:  Kleine  Schriften. 


370  Euripides 

Aufbau,  in  der  Übernahme  und  Weiterbildung  von  Motiven,  ja  einzelnen 
Wendungen.  Bei  E.  ist  einigemal  versteckte  Polemik  gegen  Sophokles 
unschwer  zu  erkennen.  Eine  sekundäre  Bedeutung  für  die  zeitliche 
Anordnung  der  Stücke  hat  die  Beobachtung  der  metrischen  Praxis 
sowohl  in  der  freier  werdenden  Behandlung  des  Trimeters  (Auflösungen, 
Anapäste)  als  in  dem  von  der  neuen  Musik  und  Dithyrambik  beein- 
flußten Aufbau  der  Chorlieder  und  Monodien.  Man  hat  sich  gewöhnt, 
als  ungefähres  Epochenjahr  des  Beginns  der  größeren  Laxheit  oder 
Freiheit  das  J.  420  gelten  zu  lassen. 

Da  es  unmöglich  ist,  alle  einzelnen  in  Betracht  kommenden  Momente 
aller  einzelnen  Stücke  hier  zu  besprechen,  so  seien  versuchsweise  die 
bekannten  Stücke,  soweit  es  eben  möglich  ist,  zeitlich  angeordnet 
und  so  auch  die  Dramen,  die  nur  in  Bruchstücken  erhalten  sind,  an- 
geführt. Auch  das  ist  untunlich,  diese  im  einzelnen  zu  besprechen 
und  die  Versuche  ihrer  Rekonstruktion  zu  beurteilen;  darum  werden 
gleich  hier  einige  wesentliche  Arbeiten  -  auf  Welckers  2.  Bd.  der 
griech.  Tragödien  und  Naucks  TGF  wird  im  einzelnen  nicht  mehr 
hingewiesen  -  bei  den  einzelnen  Titeln  angeführt.  Im  übrigen  muß 
ich  auf  die  bekannten  Sammelstellen  literarischer  Nachweise  (s.  u.) 
hinweisen  und  werde  nur  zu  den  erhaltenen  Stücken  kurz  die  wesent- 
lichsten Fragen  herauszuheben  suchen.  Wir  kennen  die  Titel  aller  der 
67  Tragödien,  die  die  Alexandriner  besaßen  und  die  Namen  der  drei 
unechten  (Tennes,  Rhadamanthys,  Peirithoos).  Wir  kennen  6  Titel 
der  ihnen  erhaltenen  Satyrspiele,   haben  den  Anfangsbuchstaben  eines 

1249  7.  (// Stele  vom  Peiraieus  Z.  19,  v.  Wilamowitz  Anal.  Eur.  139), 

wir  kennen  den  Namen  des  unechten  Satyrspiels  (Sisyphos),  wir  kennen 
sogar  noch  zwei  Namen  von  Satyrspielen,  die  den  Alexandrinern  ver- 
loren waren  (Theristai  Hypoth.  Med.,  den  echten  Sisyphos)  und  wissen 
noch  von  einem  dritten,  dessen  Titel  in  der  Hypothesis  der  Phoinissen 
ausgefallen  ist  (.  .  .  .  "(oii)  cöJleTai).  Erhalten  sind  uns  von  E.  durch 
glücklichen  Zufall  nicht  bloß  sieben  Stücke,  sondern  achtzehn  und  zu 
ihnen  ist  in  den  Hss.  ein  unechtes  gefügt. 

Die  Handschriften,  die  uns  diese  Stücke  erhalten  haben,  stammen 
alle,  soweit  sie  irgendwelchen  Wert  haben,  aus  dem  10.  bis  15.  Jhdt. 
Wir  unterscheiden  unter  ihnen  verschiedenartige  Gruppen.  Wir  be- 
sitzen eine  Anzahl  von  Hss.,  die  wenigstens  sechs  Dramen  Hekabe, 
Orestes,  Phoinissen,  Hippolytos,  Medeia,  Andromache  enthalten  und 
dazu  Schollen.  Seit  Kirchhoff  werden  einige  dieser  Hss.  benützt, 
deren  gegenseitiges  Verhältnis  durch  ein  Stemma  nicht  dargestellt 
werden   kann.     Die   beste   und   älteste   unter  ihnen  ist  Marcianus  471 


h 


Euripides  07  < 

saec.  XII,  neben  und  nächst  ihr  Paris.  2712  saec.  XIII,  am  wert- 
vollsten da,  wo  Marcianus  fehlt  (am  Schluß  des  Hippolytos).  Wo 
beide  fehlen,  in  der  Alkestis,  tritt  ein  zweiter  Parisinus  2713  (Par.  B) 
ein.  Alkestis,  Rhesos,  Troerinnen  stehen  außer  jenen  sechs  Stücken 
nur  im  Vaticanus  909,  einer  flüchtigen  Bombycinhs.  des  13.  Jhdts., 
die  sehr  stark  beeinflußt  ist  von  der  gleich  zu  besprechenden  zweiten 
Gruppe  von  Hss. 

Es  gibt  zwei  Hss.,  in  denen  18  Stücke  stehen:  Laurentianus  32,  2 
saec.  XIV  Anfang  und  Palatinus  287  (die  Hs.  ist  am  genauesten  be- 
schrieben von  Wünsch  Rh.  Mus.  LI  141  f.,  vor  ihm  von  Kirchhoff  ed. 
1855  p.  VIII,  v.Wilamowitz  Anal.  Eurip.  p.  7und  Stevenson  im  Katalog 
der  gr.  Hss.  der  Bibl.  Vat.  Pal.  165),  zusammen  mit  dem  Laurentianus  172 
(früher  in  der  Badia  von  Florenz)  saec.  XIV  Ende  (denn  diese  beiden  bald 
nach  1400  zerrissenen  Stücke  sind  Teile  einer  Hs.,  Robert  Herm.  XIII 
133  ff.).  In  beiden  Hss.  stehen  keine  Schollen.  Im  Laurentianus  ist 
durch  vorgesetzte  Ziffern  folgende  Ordnung  der  Stücke  gegeben: 
Hekabe,  Orestes,  Phoinissen,  Hippolytos,  Medeia,  Alkestis,  Andromache, 
Rhesos,  Bakchen,  Helena,  Elektra,  Herakles,  Herakliden,  Kyklops,  Ion, 
Hiketiden,  Iphigeneia  in  Taurien,  Iphigeneia  in  Aulis.  Die  Ziffer  6'  der 
Bakchen  ist  auf  Rasur  geschrieben;  sie  waren  i'  und  die  Troerinnen, 
die  ausgefallen  sind,  6'.  Zwei  Gruppen  sind  unter  diesen  19  gemein- 
sam überiieferten  Dramen  deutlich:  Helena  bis  Iphigeneia  in  Aulis,  wie 
sie  im  Laurentianus  stehen,  aus  einer  alphabetisch  geordneten  Reihe 
von  Dramen,  Hekabe  bis  Bakchen  die  Reihenfolge  einer  Ausgabe,  der 
jene  erste  Gruppe  von  Hss.  folgt.  Es  stammt  also  die  erste  Reihe 
lediglich  aus  einer  Ausgabe,  wie  die  war,  aus  der  jene  kommentierten 
Stücke  der  ersten  Gruppe  stammen,  wenn  auch  diese  Überlieferung 
recht  früh  abgezweigt  ist.  Die  zweite  Reihe  stammt  aus  einer  Gesamt- 
ausgabe der  alphabetisch  geordneten  Stücke.  Einmal  hat  ein  Mann 
in  den  Band  der  kommentierten  Auswahl  der  10  Stücke  die  9  un- 
kommentierten aus  einem  Band  der  Gesamtausgabe  hinzugeschrieben. 
Der  Schluß  der  Iphigeneia  in  Aulis  fehlte:  er  wurde  ergänzt  und 
Markos  Musuros  hat  ihn  eigenhändig  in  den  Palatinus  eingetragen.  1250 
Ob  er  ihn  verfaßt  hat  wie  den  falschen  Prolog  der  Danae  (Wünsch 
Rh.  Mus.  LI  138  ff.),  ist  noch  nicht  endgültig  festgestellt.  Musuros  war 
der  Berater  des  Aldus,  als  dieser  1503  wesentlich  nach  dem  Palatinus 
den  E.  druckte. 

Der  Palatinus  ist  jedenfalls  keine  Abschrift  vom  Laurentianus 
(schlagende  Belege  bei  Radermacher  Gott.  Gel.  Anz.  1899,  692), 
wenn  er  auch  in  manchen  Stücken  nur  Wert  hat,  wo  er  im  Laurentianus 

24* 


372  Euripides 

das  verwüstete  Ursprüngliche  erkennen  hilft.  Er  ist  viel  flüchtiger  ge- 
schrieben als  der  Laurentianus.  Er  enthält  von  E.- Stücken  die 
Andromache,  Medea,  Hiketiden,  Rhesos,  Ion,  die  beiden  Iphigenien, 
den  falschen  Anfang  der  Danae,  Hippolytos,  Alkestis,  Troades,  Bakchen, 
Kyklops,  Herakliden.  Der  andere  Teil  der  Hs.,  Laur.  172,  enthält  von 
E.  außer  den  drei  ersten  Stücken  Helena,  Elektra,  Herakles.  Sind 
die  neun  scholienlosen  Dramen  aus  der  Vorlage  abgeschrieben,  die 
auch  der  Laurentianus  hatte,  so  ist  für  die  anderen  neben  dieser  Vor- 
lage noch  eine  Hs.  benutzt  von  der  Art  etwa  des  Vaticanus  und  Pari- 
sinus B,  und  außerdem  muß  ihm,  da  die  Troerinnen  nicht  aus  dem 
Laurentianus  stammen  können,  der  sie  nicht  hat,  und  da  deren  Text 
von  dem  der  kommentierten  Dramengruppen  stark  abweicht,  da  er 
ferner  die  Bakchen  vollständig  hat,  die  im  Laurentianus  von  v.  756 
an  fehlen,  und  in  deren  Text  da,  wo  auch  der  Laurentianus  vorhanden 
ist,  vielfach  abweicht,  noch  eine  neben  dem  Laurentianus  selbständige 
Hs.,  aber  derselben  Art,  vorgelegen  haben.  In  den  verschiedenen 
Stücken  ist  die  Abhängigkeit  von  den  verschiedenen  Vorlagen  ver- 
schieden (für  einige  der  berührten  Fragen  s.  namentlich  E.  Bruhn 
Lucubrationes  Euripideae,  Diss.  Kiel  1886,  33  ff.,  Jahrb.  f.  Philol.  Suppl. 
XV  225  ff.,  dazu  v.  Wilamowitz  Her.  I^  209). 

Die  gesamte  Überlieferung  war  ursprünglich  einheitlich,  hatte  sich 
aber  schon  im  Altertum  gespalten.  Der  Text  der  Gruppe  der  19 
hatte  sich  schon  von  der  übrigen  Überlieferung  abgezweigt  als  die 
Paraphrase,  die  in  den  Rhesosscholien  steht,  gemacht  wurde  (v.  Wilamo- 
witz De  Rhesi  scholiis,  Progr.  Greifswald  1877).  Weitere  Anhalts- 
punkte für  die  Zeit  der  Entstehung  der  Ur-Hs.  dieser  Überlieferungs- 
schicht sind  kaum  zu  gewinnen.  Die  ältesten  Zeugen  aber  eines 
Textes  überhaupt  sind  die  bereits  zahlreichen  Papyrusstücke,  die 
wiedergefunden  sind. 

Von  den  Tragikerfragmenten  auf  ägyptischen  Papyri  (im  weiteren 
Sinne)  gehören  dem  E.  bisher  achtzehn  Nummern  meist  geringen  Um- 
fangs,  die  sich  dem  Alter  nach  auf  ein  ganzes  Jahrtausend  verteilen. 
Dementsprechend  wechselt  das  Äußere.  Die  klassische  Chartarolle  der 
Ptolemäerzeit  (opisthograph  nr.  1)  wird  in  der  spätrömischen  und 
byzantinischen  Epoche  durch  den  Kodex  aus  Papyrus  (nr.  5.  11.  18) 
oder  Pergament  (nr.  4.  17)  verdrängt.  Ungleich  ist  auch  der  Charakter 
der  Manuskripte.  Neben  dem  regulären  Buchhändlerexemplar  erscheint 
die  aufs  Verso  gebrauchter  Papiere  angewiesene  Privatabschrift,  neben 
der  Vorlagetafel  (nr.  8)  das  stümpernde  Schulheft  (nr.  2).  Nicht  immer 
handelt   es    sich   um   den   vollen   Text  der  Dramen,    der  einmal  von 


Euripides  vjo 

Schollen  (nr.  16),  einmal  gar  von  Noten  (nr.  9)  begleitet  wird.  In  1251 
zwei  Fällen  (nr.  6.  18)  haben  wir  bloß  die  Inhaltsangaben.  Mitunter 
sind  nur  Partien  ausgehoben,  sei  es  zu  Übungszwecken  (nr.  2)  oder 
für  Florilegien  (nr.  12.  15?).  Auf  Verszitate  (auch  aus  verlorenen 
Tragödien  wie  Diktys,  Phoinix,  Skyrioi?,  Sthenoboia)  beschränkt  sich 
das  Pariser  fragmentum  de  dialectica:  1.  v.  Chr.  2.  Jhdt.,  Notic.  et 
Extr.  XVIII  2  (1865)  nr.  2.  Genauere  Nachweise  über  die  Publikationen 
bis  1897  (Pergamente  ausgenommen)  bieten  C.  Haeberlins  Griechische 
Papyri,  Centralbl.  f.  Bibl.-W.  XIV,  die  neuen  Funde  werden  jeweils  im 
Archiv  f.  Papyrusf.  verzeichnet  (Referent  bis  1903  W.  Crönert,  jetzt 
F.  Blass).  Von  den  erhaltenen  Stücken  des  E.  kommen,  chronologisch 
geordnet,  folgende  in  Betracht:  Medeia:  2.  V.  5-12,  v.  Chr.  2.  Jhdt., 
H.  Weil  Un  papyrus  in^dit,  Paris  1879.  3.  V.  710-715,  n.  Chr. 
3.  Jhdt.,  Oxy(rhynchos)  P.  III  1903  nr.  450.  Hippolytos:  4.  V.  242-515, 
n.  Chr.  5./6.?  Jhdt.,  M.-Ber.  Akad.  Berl.  1881,  982  ff.  Andromache: 
5.  V.  5-48,  n.  Chr.  3.  Jhdt.,  Oxy.  III  nr.  449.  Elektra:  6.  Hypothesis, 
n.  Chr.  3.  Jhdt.,  Oxy.  III  nr.  420.  Phoinissai:  7.  V.  1017-1071,  n. 
Chr.  3.?  Jhdt.,  Oxy.  II  1899  nr.  224.  8.  V.  1097-1107.  1126-1137, 
n.  Chr.  4./5.  Jhdt.,  Holztafel,  Mitt.  P.  Rainer  V  1892,  74ff.  (vgl.  VI  1897, 
Iff.:  Vorderseite  mit  der  Hekale  des  Kallimachos).  Orestes:  9.  V. 
330-335,  v.Chr.  1.  Jhdt.,  Mitt. P. Rainer  V  1892,  65 ff.  10.  V.  1062-1090, 
n.  Chr.  2./3.  Jhdt.,  Rev.  de  phil.  XIX  1895,  105  f.  (aus  Genf).  Rhesos: 
11.  V.  48-96,  n.  Chr.  4./5.  Jhdt.,  S.-Ber.  Akad.  Berl.  1887,  813ff.  (in 
Paris).  Es  folgen  alphabetisch  die  Reste  sonst  verschollener  Dramen: 
Äntiope:  12.  3  Verse,  v.  Chr.  3.  Jhdt.,  Cunningh.  Mem.  VIII  1891  nr.  III  1. 
13.  ca.  127  Verse,  v.  Chr.  3.  Jhdt.,  ebd.  nr.  If.  Ärchelaos:  14.  Frg. 
275  N.,  n.  Chr.  2./3.  Jhdt.,  Oxy.  III  nr.  419.  Ino?:  15.  ptolem.,  Cunningh. 
Mem.  IX  1893  nr.  49 d.  Melanippe?:  16.  n.  Chr.  3.  Jhdt.,  Greek  Papyri, 
Ser.  II  1897  nr.  12.  Melanippe  \]  beciuujTic:  17.  n.  Chr.  4./5.?  Jhdt., 
Äg.  Ztschr.  1880,  37 ff.  (aus  Berlin).  Skiron  (Satyrspiel):  18.  Hypothesis, 
n.  Chr.  6./7.  Jhdt.,  Amherst.  P.  II  1901  nr.  17  [I^obperdTTic?:  44  Verse, 
enthalten  in  nr.  2  (s.  v.  Wilamowitz  Her.  I'  41)].  nr.  9  (Orestes) 
enthält  Bruchstücke  einer  Partitur,  vgl.  Crusius  Philologus  LII  174ff.; 
Delph.  Hymnen  147 ff.     Tierfelder  ebd.  LVI  517. 

Der  große  Wert  der  Papyrusfunde  für  die  Textrezension  besteht 
darin,  daß  wir  nun  urkundlich  sehen,  daß  eine  Trennung  der  zwei 
Hss.-Klassen  nicht  besteht,  z.  B.  der  Rhesospapyrus  hat  von  den  zwei 
Klassen  im  wesentlichen  das  Richtige  (v.  Wilamowitz  Her.  I'  214), 
und  daß  wir  in  denjenigen  Stücken,  in  denen  wir  die  große  Anzahl 
Hss.   haben,    aus  den  Hss.  ungefähr  den   Text  konstituieren  können. 


374  Euripides 

den  man  im  3.  und  4.  Jhdt.  auch  hatte,  daß  also  bei  diesen  Stücken 
von   der  maßlosen  Korruption  in  der  Zwischenzeit  zu  reden  Unfug  ist. 

Sehr  geringe  Bedeutung  für  den  E.-Text  hat  die  indirekte  Über- 
lieferung, d.  h.  Zitate  und  Anspielungen  bei  anderen  Schriftstellern,  in 
Florilegien  usw.  Der  späte  Cento  Xpiciöc  Ttdcxujv  (Hilberg  Wiener 
Stud.  VIII  282  ff.)  kann  an  ganz  wenigen  Stellen  einmal  eine  gute  Les- 
1252  art  gerettet  haben,  gibt  z.  B.  in  den  Bakchen  einiges  wenige  von  dem, 
was  verloren  ist.  Die  völlige  Willkür  des  Verfassers  im  Ändern  und 
Verarbeiten  der  Verse  macht  das  Stück  fast  überall  ganz  wertlos. 

Scholien  besitzen  wir  nur  zu  den  Stücken,  die  in  der  ersten 
Hss.- Gruppe  überliefert  sind.  Wir  können  sie  jetzt  in  einer  vortreff- 
lichen Ausgabe  benutzen,  von  E.  Schwartz  (2  Bde.,  Berlin  1887. 
1891),  der  in  der  Praefatio  über  die  Hss.,  wie  sie  für  die  Scholien  in 
Betracht  kommen,  Auskunft  gibt.  Die  Quellen  unserer  Scholien  sind 
schwer  aufzudecken.  Wir  unterscheiden  ohne  weiteres  alte  gelehrte 
Angaben  und  eine  fortlaufende  paraphrastische  Erklärung,  die  am 
breitesten  aufgelaufen  ist  zu  Hekabe,  Orestes,  Phoinissen,  der  von 
den  Byzantinern  herausgehobenen  letzten  Auswahl.  Weiter  weist  eine 
Subskription  zum  Orestes:  irpöc  bidqpopa  dvTiTpacpa  TrapaTeTpcxTriai 
eK  ToO  Aiovuciou  iJTro|uvr|)LiaToc  öXocxepüjc  Kai  tujv  jluktüuv,  zur  Medeia: 
TTpöc  bidqpopa  dvTiYpacpa,  Aiovuciou  öXocxepec  Kai  Tiva  tüjv  Aibu)Liou. 
Wir  konstatieren  also  zunächst  einen  Mann,  der  nach  verschiedenen 
Hss.  derselben  Scholien  diesen  Komplex  zusammengeschrieben  hat  - 
er  wird  nicht  sehr  viel  älter  gewesen  sein,  als  unsere  Hss.,  die  wenig 
voneinander  abweichen  -,  dann  den  Dionysios,  den  wir  nicht  näher 
bestimmen  können.  Da  er  ganz  übernommen  ist,  so  hat  man  immer- 
hin mit  Wahrscheinlichkeit  vermutet,  daß  er  die  fortlaufende  Trivial- 
erklärung zusammengestellt  habe.  Endlich  werden  wir  zu  Didymos 
gewiesen,  der  auch  sonst  mehrfach  zitiert  und  mannigfach  kenntlich 
ist  (v.  Wilamowitz  Her.  V  155  u.  bes.  159,  81).  Barthold  De  schol. 
in  Eur.  veterum  fontibus,  Bonn  1864. 

Die  uTToGeceic,  die  vor  einer  großen  Reihe  von  Stücken  stehen, 
mehr  oder  weniger  verstümmelt,  sind  ganz  unabhängig  von  der 
Scholienüberlieferung.  Sie  sind  verschiedener  Art,  bald  ausführlichere 
Erzählung  der  dem  Stück  vorausgehenden  Geschehnisse  und  der 
Handlung  des  Stückes  selbst,  bald  kurze  Erzählung  der  Handlung  des 
Stückes,  bald  nur  der  Ereignisse  bis  zum  Beginn  des  Stückes  (z.  B. 
Herakles,  Ion,  Iphig.  Taur.;  Lücken  sind  dort  nicht  anzusetzen).  Daran 
schließen  sich  dann  bald  mehr,  bald  weniger  vollständig  die  didas- 
kalischen    Angaben    über   Zeit    der   Aufführung,    die    konkurrierenden 


Euripides  oyc 

Dichter  und  Stücke,  die  Konkurrenten,  die  obsiegten  (deshalb  kann, 
wenn  E.  beuxepoc  war,  die  Angabe  des  dritten  fehlen  und  es  ist  keine 
Lücke  anzunehmen,  so  in  der  Hypothesis  der  Alkestis),  über  den  Ort 
der  Handlung,  über  die  Behandlung  desselben  Stoffes  durch  die 
anderen  drei  großen  Tragiker.  Je  nachdem  steht  noch  ein  ästhetisches 
Urteil  dabei.  Die  verschiedenen  Arten  der  Hypotheseis  -  abgesehen 
von  den  späten  und  spätesten  Machwerken  -  erheischen  eingehendere 
Untersuchung,  die  jetzt  durch  Auffindung  der  Hypothesis  des  Dionys- 
alexandros  des  Kratinos  sehr  gefördert  werden  kann,  s.  vorläufig 
A.  Körtes  Bemerkungen  Herm.  XXXIX  1904,  494ff.  Es  ist  kaum  Zu- 
fall, daß  in  den  Stücken,  die  nicht  zur  Sylloge  der  kommentierten  ge- 
hörten, in  der  Regel  die  Erzählung  nur  der  Vorgeschichte  des  Stückes 
vorliegt  (auch  in  der  Hypothesis  der  Helena  führt  nur  ein  Satz  darüber 
hinaus,  ähnlich  in  der  zum  Kyklops).  Aristophanes  von  Byzanz  hat 
seiner  Ausgabe  uTroOeceic  beigefügt  und  mindestens  beträchtliche  Be- 1253 
standteile  der  uns  erhaltenen  (welche  der  verschiedenen  Arten  war 
die  seine?)  gehen  auf  ihn  zurück. 

Gedruckt  wurde  E.  zuerst  in  den  Ausgaben  Florenz  1496  (nur 
vier  Stücke)  und  der  Aldina  1503,  die  Musuros,  und  der  Ausgabe 
von  1545,  die  Victorius  besorgte.  Die  Gesamtausgabe  von  Barnes, 
Cantabrig.  1694,  die  mit  den  Noten  Samuel  Musgraves  (Ausgabe  1778) 
von  Christian  Daniel  Beck  neu  besorgt  wurde,  Leipzig  1788,  hat 
noch  heute  unmittelbaren  Wert  durch  den  Index  verborum  im  dritten 
Bande.  Weitere  Hauptstationen  sind  die  Ausgabe  Valckenaers  der 
Phoenissen  1755,  des  Hippolytos  1758  (seine  Diatribe  in  Eur.  perd. 
dram.  rel.  1767  war  von  größter  Bedeutung  für  alle  Fortschritte  der 
E.-Studien)  und  die  Ausgaben  der  Engländer,  namentlich  von  Porson 
(Hecuba  1797,  Orestes,  Phoenissae  1799,  Medea  1801)  und  Elmsley 
(Medea  1818,  cum  adnot.  G.  Hermann!  Leipzig  1822;  Herakliden, 
Oxford  1813.  Bakchen  1821).  Lange  und  viel  gebraucht  ward  die 
Ausgabe  von  L.  Dindorf  Leipzig  1825.  Die  Ausgabe  von  Matthiae 
Lpz.  1813-36  enthäh  im  10.  Bande  den  Anfang  eines  E.- Lexikons 
a-T  (wie  die  Glasgower  Ausgabe  von  1821  im  9.  Bande  einen  Index 
gibt).  G.  Hermann  gab  Separatausgaben  der  meisten  Stücke 
{Herakles  1810,  Supplices  1811,  Bacchae  1823,  Ion  1827,  Hecuba 
1831,  Iphigenie  in  Aulis  1831,  Iphigenie  in  Tauris  1833,  Helena  1837, 
Andromache  1838,  Cyclops  1838,  Phoenissae  1840,  Orestes  1841). 
J.  A.  Härtung  edierte  1848-1853  alle  Stücke  mit  Übersetzungen  und 
Anmerkungen.  Epoche  macht  die  große  Ausgabe  Kirchhoffs  mit 
kritischem  Apparat,   in   dem  zum   erstenmal   die   Hss.  zu  werten  und 


376  Euripides 

zu  sichten  versucht  war,  Berlin  1855  (kleinere  Ausgabe  1867).  Kritisch 
höchst  bedeutsam  ist  die  Textausgabe  bei  Teubner  von  A.  Nauck  1854; 
3.  Aufl.  1869-71.  Von  besonderem  Werte  durch  die  feinsinnigen  Einlei- 
tungen und  erklärende  Bemerkungen,  auch  die  Rezension  des  Textes,  ist  die 
Ausgabe  der  Sept  tragedies  von  Weil,  2.  Ausgabe  1879,  3.  Ausgabe  zu 
Ende  geführt  1904.  Den  bisher  vollständigsten  Apparat  bietet  die  im 
J.  1902  fertig  gewordene  Ausgabe  von  Prinz-Wecklein  (mit  den 
Rumpelkammern  für  überflüssige  Konjekturen  am  Schlüsse  jedes  Stücks). 
Die  bei  weitem  größte  Förderung  in  allen  E.- Studien  so  auch  im  be- 
sonderen für  Rezension  und  Erklärung  der  Stücke  verdanken  wir 
y.  Wilamowitz  Analecta  Euripidea,  Berlin  1875  (mit  Kollationen  der 
Stücke  der  2.  Hss.- Klasse  und  Ausgabe  des  Supplices),  vor  allem  die 
große  Ausgabe  des  Herakles,  2  Bde.,  Berlin  1889  (I.  Einleitung  in  die 
att.  Tragödie;  II.  E.  Herakles,  Text  u.  Kommentar),  2.  Ausgabe  1895 
(aus  dem  früheren  I.  Bd.  nur  die  Partie  über  die  Heraklessage  und 
der  frühere  II.  Bd.),  Hippolytos  griech.  und  deutsch,  1891  (Übersetzung 
des  Hippolytos,  der  Hiketiden  und  des  Herakles  mit  Einleitungen  in 
den  Griechischen  Tragödien,  übersetzt,  I  1899).  Andere  wichtige  oder 
meines  Erachtens  nützliche  Ausgaben  der  einzelnen  Stücke  werden 
bei  deren  Besprechung  unten  angeführt.  Die  genannten  Ausgaben 
werden  nicht  im  einzelnen  wieder  genannt.  Auch  die  zahlreichen  Aus- 
gaben von  Wecklein,  auch  seine  Neubearbeitungen  der  Pflugk- 
l254Klotzschen  Edition  nenne  ich  nicht  weiter  im  einzelnen.  Sog.  Schul- 
ausgaben werde  ich  nur  anführen,  wo  ich  ihnen  einen  besonderen 
Wert  zuschreibe;  auf  die  hübschen,  zum  Teil  sehr  brauchbaren  Aus- 
gaben der  Pitt  Press  Series  bes.  von  Hadley  (Hippolyt,  Hekabe, 
Alkestis),  Headlam  (Medea,  aul.  Iphigenie),  Pearson  (Helena)  mache 
ich  aufmerksam.  Um  überflüssige  Wiederholungen  zu  vermeiden,  sei 
hier  noch  die  große,  seit  1888  bis  zu  3  Bänden  bisher  gediehene 
Ausgabe  von  Bernardakis  genannt  (6up.  bpdjuara  eH  €p)ur|veiac  Kai 
dvaTVUJceiJuc  ATi|ur|Tpiou  N.  BepvapbdKTi),  deren  1.  Band  die  Phoenissen, 
der  2.  Hekabe,  Ion,  Medea,  der  3.  Iphigenia  Aul.  und  Taur.,  Elektra 
und  Alkestis  enthält.  Hier  muß  noch  das  Lexikon  der  Tragiker- 
fragmente überhaupt  genannt  werden,  das  Nauck  geliefert  hat:  Tra- 
gicae  dictionis  index  spectans  ad  trag.  Gr.  fragmenta  ab  Aug.  Nauck 
edita,  Petersburg  1892. 

Alkestis,  438  als  viertes  Stück  der  Tetralogie  aufgeführt.  Der 
Tod  der  Alkestis,  die  dadurch  ihrem  Gatten  Admetos  das  Leben  rettet, 
und  das  Erscheinen  des  Herakles,  der  dem  Thanatos  die  Alkestis 
wieder  abringt  und  dem  Gatten  wiederbringt,  sind  die  Hauptvorgänge 


Euripides  nnn 

des  Stückes.  Es  ist  ebenso  sicher,  daß  das  Drama  im  ganzen  sich 
nicht  als  ein  Satyrspiel  darstellt,  wie  sie  uns  bekannt  sind,  als  daß 
die  Szenen,  in  denen  der  Diener  von  Herakles  erzählt  und  Herakles 
selbst  mit  dem  Diener  auftritt,  weit  über  das  hinausgehen,  was  wir  in 
einer  Tragödie  an  burlesken  Elementen  zu  finden  gewohnt  sind.  Das 
mit  der  Tatsache  in  Beziehung  zu  setzen,  daß  das  Stück  als  viertes 
statt  eines  Satyrspieles  stand,  ist  jedenfalls  geboten,  wie  auch  immer 
die  Szenen  des  Dramas  aufgefaßt  und  begründet  werden  mögen.  Als 
sicher  glaube  ich  das  eine  noch  bezeichnen  zu  müssen,  daß  die  Szene 
zwischen  Admet  und  seinem  Vater  Pheres  in  keiner  Weise  komisch 
oder  parodisch  wirken  kann.  Wir  haben  einmal  zu  lernen,  wie  sehr 
verschieden  die  Zeiten  in  diesen  Fragen,  um  die  sich  der  uns  peinliche, 
ja  widerliche  Disput  dreht,  denken  und  sich  ausdrücken,  dann  aber 
auch  zu  erkennen,  wie  E.  auch  hier  seine  gegen  die  gegebene  und 
beibehaltene  Form  der  Handlung  sich  auflehnende  Empfindung  un- 
vermittelt aussprechen  läßt  und  ihm  so  die  Charaktere  mißraten  (hier 
der  des  Admet).  Die  Entwicklung  der  Heraklesfigur  auf  der  Bühne 
(s.  Dieterich  Pulcinella  64ff.)  zeigt,  daß  in  dieser  Zeit  in  der  eigent- 
lichen Tragödie  ein  Herakles  noch  keine  Stelle  hatte.  Daß  die  Alkestis 
des  E.  eine  Parodie  der  Alkestis  des  Phrynichos  gewesen  wäre  (A. 
Schöne  Kaisergeburtstagsrede  von  Kiel  1895)  ist  schon  darum  undenkbar, 
weil  letzteres  Stück  selbst  ein  sehr  burleskes  Satyrspiel  war  (s.  Dieterich 
Pulcinella  69,  1).  Reiche  Nachweise  über  die  bisherige,  unendliche 
Literatur  über  die  Alkestis  und  ihre  Auffassung  bei  Lindskog  Studien 
zum  antiken  Drama  37 ff.  Hadley  The  Alcestis  of  Euripides,  Boston 
1898  p.  XXXIIff.,  XLIIIff.  L.  Bloch  Alkestisstudien,  N.  Jahrb.  IV  (1901) 
34  u.  s.  Nestle  Euripid.  328,  25.  Über  den  Thanatos  in  der  Alkestis 
s.  u.  a.  Robert  Thanatos,  39.  Berliner  Winckelmannsprogr.  1879. 
Friedrichs-Wolters  Gipsabgüsse  nr.  1242f.  Benndorf  Bull,  comun. 
1886,  60ff.  Robert  Arch.  Märchen  170ff.  H.  Ubell  Vier  Kapitel  vom  1255 
Thanatos  (Abh.  des  arch.  epigr.  Sem.  der  Un.  Graz  I)  59  ff.  Sonderaus- 
gabe von  Monk  Cambridge  1818,  cum  delect.  adnot.  potissimum 
Monkii  acc.  emendat.  G.  Hermanni  Leipzig  1824. 

Medea,  431  aufgeführt,  deutlich  außer  stofflichem  Zusammenhange 
mit  den  anderen  Stücken  der  Tetralogie.  Medea,  die  aus  Rache  an 
dem  ihr  treulosen  Jason  seine  und  ihre  Kinder  mordet,  ist  Mittelpunkt 
des  Dramas.  Es  war  ein  ganz  neuer  Stoff  der  Tragödie,  den  aus 
verratener  Liebe  geborenen  wilden  Haß  des  barbarischen  Weibes  dar- 
zustellen; ihr  Kindermord  ist  die  bewundernswerte  Erfindung  des  E. 
Das  Altertum  wußte  das  (wie  z.  B.  auch  die  Anekdote  Schol.  Med.  10 


378  Euripides 

zeigt);  was  an  Tradition  vorhanden  war  (die  Korinther  hatten  die 
Kinder  der  Verbannten  umgebracht),  läßt  Schol.  zu  273  erkennen  (die 
Angabe  des  Parmeniskos,  nicht  die  von  Didymos  dazu  zitierte,  für 
uns  unkontrollierbare  Notiz  aus  einem  Kreophylos  ist  von  Wert).  Un- 
vermittelt bricht  das  Neue,  der  Gedanke  des  Kindermords,  in  Medeas 
Seele  nach  der  Aigeusszene  hervor,  nachdem  sie  vorher  im  früheren 
Monolog  nur  die  Rache  an  dem  Brautpaar  und  Kreon  plante.  Die 
Aigeusszene  ist  schon  von  Aristoteles  (Poetik  c.  25  p.  1461b,  22)  ge- 
tadelt worden;  sie  wird  allein  so  zu  begreifen  sein,  daß  der  edle 
attische  Heros  der  korinthischen  Teufelin  gegenüber  den  Athenern  im 
Anfang  des  Peloponnesischen  Krieges  nicht  frostig  vorkam  wie  dem 
Aristoteles  und  uns.  Die  Angabe  der  Hypothesis,  daß  E.  sein  Stück 
von  einem  Neophron  entlehnt  habe,  wofür  des  Dikaiarchos  'GWdboc 
ßioc  und  des  Aristoteles  uTTOjuvriiLiaTa  angeführt  werden,  hat  viele  viel- 
fach irregeleitet.  Die  Autorität  des  Aristoteles  ist  nicht  vorhanden,  die 
uTTO)uvr|juaTa  sind  nicht  sein  Werk,  und  in  der  Poetik  weiß  er  nichts 
von  der  seltsamen  Entlehnung  der  Medea.  Dikaiarchos  hat  einer  bös- 
willigen Nachrede  Glauben  geschenkt.  Die  drei  Fragmente,  die  aus 
der  Medea  des  Neophron  zitiert  werden  (Nauck^  730  ff.),  sind  nach- 
weisbar später  als  des  E.  Medea.  Wenn  die  neuentdeckten  Reste  der 
Verse  auf  dem  Londoner  Papyrus  nr.  CLXXXVI  Brit.  Mus.  wirklich  der 
Medea  des  Neophron  gehören  (veröffentlicht  von  W.  Crönert  Archiv 
f.  Papyrusf.  III  1903,  Iff.),  so  bestätigen  auch  sie,  daß  dies  Stück  eine 
Nachahmung  des  Euripideischen  war.  Von  einer  zweiten  Bearbeitung 
des  Euripideischen  Stückes  ist  nichts  überliefert  und  nichts  zu  er- 
schließen. Die  verschiedenen  ,Dittographien*  beweisen  nichts  derart, 
zumal  bei  den  häufigen  Neuaufführungen  in  späterer  Zeit  mancherlei 
Eingriffe  der  Schauspieler  und  Regisseure  selbstverständlich  sind.  In 
einer  Reihe  der  besprochenen  Fragen  hat  v.  Wilamowitz  Herm.  XV 
481  ff.  das  Richtige  verfochten,  vgl.  v.  Arnim  Ausgabe  der  Medea ^ 
VII ff.  Eine  Ausgabe  von  Sakorraphos  Athen  1891  und  die  oben 
zitierte  v.  Arnims  in  der  Weidmannschen  Sammlung,  2.  Aufl.  1886, 
mögen  nur  außer  den  oben  bezeichneten  genannt  sein. 

Hipp oly tos,  428  aufgeführt.  Den  der  Artemis  ergebenen,  stolz 
unnahbaren  Sohn  des  Theseus  liebt  seine  Stiefmutter  Phaidra,  siech 
vor  Leidenschaft.  Deren  Amme  treibt  die  Handlung  und  gibt  dem 
Hippolytos  Kunde  von  der  Herrin  Sehnsucht.  Seine  grimmige  Ab- 
weisung zieht  Phaidras  Tod,  der  Fluch  des  durch  ihren  verleumdenden 
1256  Brief  getäuschten  Theseus  den  Tod  des  Sohnes  nach  sich.  Wie 
trozenische   Kultelemente    und   attische   Sagenüberlieferungen   zu   dem 


Euripides  oyn 

alten  Novellenmotiv  vom  keuschen  Jüngling  sich  verbinden,  wie  E. 
das  Gegebene  gestaltet,  erörtert  ausgezeichnet  v.  Wilamowitz  im 
Vorwort  der  Ausgabe  (s.  u.).  E.  hatte  bereits  früher  (auch  vor  der 
Medea)  denselben  Stoff  behandelt.  Der  Hauptunterschied,  den  die 
Bezeichnung  dieses  Hippolytos  als  KaXuTTTÖjuevoc  ausdrückt,  war  der, 
daß  Phaidra  dem  Stiefsohne  selbst  die  Liebe  gestand,  der  sich  vor 
Entsetzen  verhüllte.  Diesem  Stücke  haben  Seneca  und  Ovid  nach- 
gedichtet (Hiller  im  Liber  miscell.  phil.  Bonn.  34ff.  Kalkmann  De 
Hippolytis  Euripideis  quaestiones  novae,  Bonn.  1882).  Man  hat  kom- 
biniert, daß  dieser  Hippolytos  eine  Trilogie  bildete  mit  Aigeus  und 
Theseus  (v.  Wilamowitz  Herm.  XV  481  f.).  Die  Phaidra  des  Sophokles 
kann  erst  nach  dem  zweiten  Hippolytos  des  E.  gedichtet  sein.  Ausg. 
von  Monk  Cambridge  1811  (zuletzt  Leipzig  1823).  v.  Wilamowitz 
mit  Übersetzung  und  Anmerkungen,  Berlin  1891. 

Hekabe.  Die  beiden  Tragödien  vom  Tode  der  Polyxena  und  von 
der  Rache  an  Polymestor  für  den  Verrat  des  jüngsten  Priamiden 
Polydoros  wurden  nur  in  eine  zusammengeschlossen  durch  die  Person 
der  Hekabe,  des  dämonischen  Weibes  übermenschlicher  Schmerzen 
und  unmenschlicher  Rache.  Die  Polyxenatragödie  nahm  den  Stoff  aus 
dem  Epos  (IXiou  irepcic),  den  auch  Sophokles  in  der  Polyxena  bereits 
behandelt  hatte  (vgl.  Schol.  Hec.  3).  Daß  zwischen  den  wenigen  An- 
gaben der  Ilias  von  Polydoros  und  dem  Drama  des  E.  eine  poetische 
Ausgestaltung  des  Stoffes  lag,  hat  man  allein  aus  der  Angabe  er- 
schlossen, daß  Hekabe  die  Tochter  des  Kissens  sei  (bei  Homer  ist  sie 
Tochter  Dymas  des  Phrygiers),  der  hier  nicht  einmal  als  thrakischer 
Fürst  bezeichnet  wird,  als  der  er  bei  Homer  erscheint;  was  für  E. 
ohne  Bedeutung  und  eine  unverständliche  Änderung  wäre,  wenn  er 
sie  vorgenommen,  hat  einem  Vorläufer  gedient,  die  Versendung  des 
Polydoros  nach  Thrakien  zu  motivieren.  Denn  Polydoros  ist  auch  bei 
E.  nicht  Sohn  des  Priamos  und  der  Laothoe  (II.  XXI  85),  sondern  des 
Priamos  und  der  Hekabe  (s.  Weil  Einleitung  zur  Hekabe  in  Sept 
tragödies^  207).  Die  Zeit  des  Dramas  wollte  man  daraus  bestimmen, 
daß  458 ff.  Delos  und  sein  Fest  so  gefeiert  wird,  daß  an  die  Neu- 
gestaltung der  Delien  im  Frühjahr  425  (Thukyd.  III  104)  gedacht  sein 
müsse  (Matthiae  hat  es  schon  bemerkt).  Da  E.  nur  allgemein  von 
Liedern  und  Tänzen  der  AnXiabec  KoOpai  redet,  die  es  längst  vorher 
gab,  würde  man  nur  sagen  können,  daß  E.  durch  die  attischen  Delien 
unwillkürlich  veranlaßt  worden  sei,  hier  von  Deliaden  zu  reden,  mehr 
nicht  (v.  Wilamowitz  Herakles  P  140ff.).  Das  aber  ist  sicher,  daß 
Hekabe   v.   162    in   den   Wolken   des  Aristophanes   708   parodiert  ist. 


380  Euripides 

und  dieser  Vers  gehört  sehr  wahrscheinlich  der  ersten  Gestalt  der 
Wolken,  die  423  aufgeführt  wurden,  so  wird  die  Hekabe  vor  423  ge- 
setzt. Die  Tatsache,  daß  die  Hekabe  vor  den  Troerinnen  (415)  auf- 
geführt sein  müsse,  in  denen  das  Opfer  der  Polyxena  absichtlich  mit 
wenigen  Worten  übergangen  wird,  ist  dann  hier  für  uns  ohne  Be- 
deutung. 
1257  Herakliden.  Die  Rettung  der  von  lolaos  beschützten  und  ge- 
führten Heraklessöhne,  die  von  allen  Hellenen  ausgestoßen  und  ver- 
lassen sind,  vor  den  Verfolgern  Eurystheus  und  seinem  Herold  Kopreus 
durch  das  menschenfreundliche  Athen  und  seinen  König  Demophon 
ist  der  Inhalt.  Der  Opfertod  der  Makaria,  einer  ganz  vom  Dichter  er- 
fundenen Gestalt  (einer  »Vorstudie  zur  Polyxena*)  und  das  Auftreten 
der  haß-  und  racheerfüllten  alten  Alkmene  (einer  ,Vorstudie  zur  Hekabe*) 
ragen  aus  der  einfachen  Handlung  hervor.  Doch  ist  mit  Sicherheit 
nachgewiesen,  daß  uns  eine  Bearbeitung  eines  Theaterregisseurs  des 
4.  Jhdts.  erhalten  ist,  der  ein  Epeisodion  gestrichen  und  namentlich 
den  folgenden  Teil  (nach  620)  so  umgeformt  hat,  daß  die  Lücke  ver- 
deckt sein  soUte;  er  hat  besonders  die  jetzt  folgende  Szene  so  er- 
weitert und  das  Auftreten  der  Alkmene,  die  ursprünglich  schon  in  der 
gestrichenen  Szene  agierte,  so  gestaltet,  wie  wir  es  lesen,  die  Boten- 
rede 790ff.  stark  erweitert  (v.  Wilamowitz  Herm.  XVII  337 ff.;  de 
Euripidis  Heraclidis,  Progr.  Greifswald  S.-S.  1882).  Der  Zeitbestimmung 
des  einen  Stückes  wird  durch  die  Parodie  der  Aristoph.  Wespen  1160 
(=  Heraklid.  1006)  mit  Sicherheit  als  Terminus  ante  quem  422,  durch 
die  Angabe  des  Schol.  Arist.  Ritter  214  TiapLubTice  töv  ia|ußov  eH  'Hpa- 
KXeibüüv  Güpucibou,  auch  wenn  der  Vers  in  der  erhaltenen  Bearbeitung 
nicht  steht,  mit  Wahrscheinlichkeit  als  Terminus  ante  quem  424  ge- 
wonnen. Aber  viel  mehr  ergibt  das  Vaticinium  am  Schlüsse  des 
Stückes  1027  ff.  Das  Grab  des  Eurystheus  in  Pallene  soll  den 
Herakliden  =  Spartanern,  wenn  sie  darüber  vordringen  wollten,  Nieder- 
lage bringen.  Bei  früheren  Einfällen  haben  sie  die  Gegend  noch  ge- 
schont, 427  ungestraft  verwüstet.  Vor  427  müssen  die  Herakliden 
aufgeführt  sein;  v.  Wilamowitz  Analecta  Euripidea  151  ff.  Genannt 
sei  wenigstens  Gualt.  Schmidt  Qua  ratione  E.  res  sua  aetate  gestas 
adhibuerit  in  Heraclidis  potissimum  quaeritur,  Diss.  Halle  1881,  nach 
den  Münsterer  Dissertationen  von  Theis  (1868),  Potthast  (1872), 
Hoeveler  (1878). 

Andromache.  Schol.  Andr.  445  eiXiKpiviuc  touc  toO  bpdjLiaToc 
Xpövouc  ouK  toi  XaßeTv  ou  bibaKiai  fäp  'A0r|vriciv*  6  be  Ka\Xi)uaxoc 
diTiTpacpfivai  qprjci  irj  ipaTUJbia  AriiuoKpdTTiv  . .  .  qpaiveiai  be  TeTpaMMevov 


Euripides  /jgj 

Tö  bpä^ia  ev  dpxrj  tou  TTeXoTrownciaKoO  TToXejuou.  Das  stimmt  zu 
allem,  was  wir  aus  politischen  Anspielungen  und  der  Metrik  entnehmen 
können  (richtig  Firnhaber  Philol.  III  408ff.,  falsch  Zirndorfer  De 
chronologia  fab.  E.,  Marburg  1889,  dessen  sonst  vielfach  treffliche 
Darlegungen  hier  ein  für  allemal  zitiert  sein  mögen,  und  Bergk 
Herrn.  XVIII  487 ff.,  zuletzt  Mos i mann  Inwieweit  hat  E.  in  den  Hiket., 
Andromache  und  den  Troerinnen  auf  polit.  Konstellationen  seiner  Zeit 
angespielt,  Diss.  Bern  1897).  Das  Stück  zerfällt  in  zwei  nur  ganz 
äußerlich  verbundene  Dramen.  Im  ersten  wird  am  Altar  Andromache 
mit  ihrem  Kinde  von  Menelaos  und  Hermione  aufs  äußerste  bedrängt, 
in  höchster  Todesnot  von  Peleus  befreit,  im  zweiten  Teil  wird  Hermione 
von  Orestes  entführt,  die  Ermordung  des  Neoptolemos  berichtet  und 
seine  Leiche  gebracht;  Thetis  offenbart  am  Schlüsse  das  Schicksal 
des  Leibes  des  Neoptolemos,  der  Andromache,  des  Peleus  und  des  1258 
Achilleus.  Der  erste  Teil,  der  in  der  Sage  keinen  Anhalt  hatte,  ist 
ganz  analog  gebaut  dem  ersten  Teil  des  Herakles,  und  eine  Reihe  von 
Versen  und  Redewendungen  zeigen  eine  nicht  zufällige  Übereinstimmung 
(Dieterich  Pulcinella  9 ff.).  Erfunden  ohne  Anlaß  in  der  Sage  ist 
auch  der  erste  Akt  des  Herakles.  Das  natürlichste  Vorbild  des  ,Altar- 
motivs*,  der  zum  äußersten  steigenden  Bedrängnis  durch  mächtige 
Feinde  und  der  plötzlichen  Rettung  durch  einen  Befreier,  sind  Sagen- 
stoffe, wie  der,  den  Aischylos  schon  in  den  Hiketiden  behandelt  hat. 
Die  früheste  Verarbeitung  dieses  Motivs  durch  E.  scheint  in  den 
Herakliden  vorzuliegen.  Sonderausgabe  von  L entin g  Zutphaniae  1829. 
Herakles.  Der  erste  Teil  führt  die  Bedrängnis  des  Amphitryon 
und  der  Megara  mit  ihren  Kindern  durch  den  Tyrannen  Lykos  vor 
und  die  Befreiung  durch  Herakles,  der  zweite  Teil  den  Kindermord 
des  in  Wahnsinn  verfallenen  eben  heimgekehrten  Siegers  aller  Schrecken 
der  Erde  und  des  Hades.  Über  den  Herakles  der  Sage  und  die  Ge- 
staltung des  Stoffes  und  der  Charaktere  bei  E.  s.  die  umfassende  Dar- 
legung von  V.  W^ilamowitz  im  1.  Bd.  der  Ausgabe*  1-134.  Über 
die  Datierung  des  Dramas  ist  ebd.  ausführlich  gehandelt  134  ff.  E. 
nennt  sich  selbst  repojv,  zwischen  Hiketiden  und  Troerinnen  rückt  die 
Gesamtstimmung  den  Herakles,  i\f6foc  und  e'Traivoc  toHötovj  ergibt  als 
wahrscheinlicheGrenze  423-416.  Dazu  stimmen  metrische  Beobachtungen. 
Man  darf  ansetzen  420-416.  Das  Verhältnis  zwischen  Herakles  und 
den  Trachinierinnen  des  Sophokles  läßt  sich  sicher  dahin  bestimmen, 
daß  Sophokles  der  Nachahmende  war;  die  Art  der  Ausführung  der 
Schlafszene  und  die  Art  des  Auftretens  des  tragischen  Herakles  über- 
haupt    bleiben     der     sicherste    Beweis     (so    nach    v.  Wilamowitz 


382  Euripides 

Herakles  IP  341  ff.,  etwas  ausgeführt  und  ergänzt  von  Dieterich  Rh. 
Mus.  XLVI  25<oben  S.  48>  ff.  v.  Wilamowitz  Herakles  I^  152ff. 
Z  i  e  1  i n  s  k  i  s  höchst  lehrreiche  Ausführungen  Philologus  N.  F.  IX  632  ff.  haben 
mich  nicht  vom  Gegenteil  überzeugt;  vgl.  M.  L.  Earle  in  den  Transactions 
and  Proceedings  of  the  American  Philological  Association  XXXII  1902)» 
Hiketiden.  Wie  die  Mütter  der  vor  Theben  gefallenen  Sieben 
von  Theseus,  den  seine  Mutter  Aithra  dazu  bestimmen  soll,  die  Be- 
freiung und  Bestattung  ihrer  Söhne  auswirken,  wird  vorgeführt.  Be- 
sonders bemerkenswert  ist  der  Chor  der  15  Mütter,  obwohl,  wenn 
man  genau  inquiriert,  nicht  einmal  alle  sieben  gegenwärtig  sein  können. 
Was  das  Epos  und  heimische  Überlieferungen  erzählten  (bei  Eleusis. 
stand  ein  Grabhügel,  der  für  das  Grab  der  Sieben  galt),  hatte  schon 
Aischylos  in  den  '6\€ucivioi  zu  einem  Drama  gestaltet,  in  dem  Theseus- 
nur  durch  Vermittlung  die  Freigebung  der  Leichen  erreicht  und  die 
Beisetzung  möglich  macht.  Die  Version,  daß  das  nur  durch  Waffen- 
gewalt zu  erreichen  war,  steht  schon  unter  den  festen  töttoi  athenischer 
Doxologie  bei  Herodot  IX  27.  Als  Szene  stärkster  Wirkung  ist  ein- 
gelegt, wie  Euadne  in  den  Scheiterhaufen  des  Kapaneus  springt,  dem 
Gatten  als  treueste  der  Gattinnen  in  den  Tod,  ja  in  den  Fluch  der 
1259  Vernichtung  folgt.  Das  Ganze  ist  ein  hohes  Lied  auf  die  Menschlich- 
keit Athens,  ein  eTKuuiuiov  'AGrivüjv,  wie  die  alte  Hypothesis  sagt,  ein: 
Festspiel,  in  dem  die  Mahnung  zum  Frieden  als  stärkste  Tendenz  her- 
vortritt. Argos  wird  am  Schlüsse  verpflichtet,  gegen  Athen  nicht 
Krieg  zu  führen  und  Athen,  wenn  es  bedroht  sei,  zu  helfen.  Nach 
der  Schlacht  von  Delion  hatten  die  Thebaner  dem  Herold  der  Athener 
die  Abholung  der  Leichen  geweigert  (Thuk.  IV  97  ff.),  und  das  ist 
augenscheinlich  der  erste  Anlaß  der  euripideischen  Dichtung.  Höchst 
wahrscheinlich  ist  sie  kurz  vor  dem  Frieden  421  aufgeführt,  zusammen 
mit  dem  Erechtheus,  in  dem  auch  ein  Orakel  die  Opferung  einer 
Königstochter  verlangte,  v.  Wilamowitz  Einleitung  zu  der  Übersetzung 
,der  Mütter  Bittgang*,  Griech.  Tragödie  I  185 ff.;  vieles  treffend  bei 
Lugge  Quomodo  Euripides  in  Suppl.  tempora  sua  respexerit,  Diss. 
Münster  1887  (weitere  Literatur  dort  S.  4).  Ausgabe  von  Markland 
Oxford  1811. 

Ion.  Das  Stück  ist  in  Aufbau,  Motivierung  und  Handlung  ver- 
schieden von  allen  anderen.  Eine  Intrigue,  die  von  Apollon  selbst 
bewegt  wird,  schaukelt  dreimal  hin  und  her;  der  göttliche  Ursprung 
und  die  große  Zukunft  des  Ion,  des  Tempeldieners  in  Delphi,  ist  Ziel- 
punkt des  Ganzen.  Das  Paar  Xuthos  und  Kreusa  kommen  zum  delphi- 
schen Orakel  wegen  ihrer  Kinderlosigkeit,   Xuthos  erkennt,   durch  das 


Euripides  003 

Orakel  getäuscht,  in  Ion  seinen  Sohn;  Kreusa  will  den  Bastard  be- 
seitigen; Ion,  gerettet,  sinnt  auf  Rache;  die  bedrängte  Kreusa  am 
Altar,  die  von  Ion  zu  Tode  geführt  werden  soll,  wird  erlöst  durch  die 
Botschaft  der  Pythia  selbst,  die  durch  die  Erkennungszeichen  seiner 
Herkunft  den  Ion  als  Sohn  des  Apollon  und  der  Kreusa  erweist.  Der 
Verzweiflung  des  Ion,  welcher  der  Offenbarungen  er  glauben  soll, 
macht  Athene,  für  Apollon  eintretend,  ein  Ende,  die  die  Zukunft  des 
Ion  und  der  anderen  Stammheroen  kündet.  Zusammenstellungen  für 
die  Frage,  was  E.  übernommen  und  umgestaltet,  bei  Ermatinger  Die 
attische  Autochthonensage,  Berlin  1897  (alles  Wesentliche  für  die 
Motivierung  des  Dramas  scheint  Eigentum  des  E.  zu  sein:  die  Liebe 
des  Apollon  und  der  Kreusa,  Ion  als  Gottesdiener  in  Delphi,  die 
Orakelfahrt  der  Alten).  Zur  Datierung  des  Stückes  läßt  sich  nur 
sagen,  daß  es  nicht  vor  den  Erechtheus  421  und  nicht  nach  der 
Katastrophe  413  fallen  kann  (neben  der  Elektra  413  kann  es  auch 
schwerlich  stehen),  vgl.  v.  Wilamowitz  Herm.  XVIII  242.  Darin  liegt, 
wie  ich  überzeugt  bin,  zugleich,  daß  für  die  Stimmung  des  E.,  für 
den  das  attische  Reich  zerbrochen  war,  als  er  die  Troerinnen  schrieb, 
das  Stück  von  da  an  unmöglich  war.  Das  beweist  namentlich  der  für 
Athen  und  die  lonier  patriotische  hoffnungsfreudige  Schluß  des  Ion. 
Die  Beobachtungen  über  die  Metrik  stellen  Ion  zu  den  jüngeren  Stücken 
(Enthoven  De  lone  fab.  Eur.,  Bonn  1880),  schließen  aber  seine  Ab- 
fassungszeit ein  oder  ein  paar  Jahre  vor  415  durchaus  nicht  aus. 
Die  Literatur  über  die  ganze  Frage  findet  man  angeführt  bei  Erma- 
tinger a.  a.  0.  138f.  Bemerkt  mag  nur  im  einzelnen  noch  sein,  daß 
die  seit  Boeckh  (De  graec.  trag  princ.  191)  viel  vorgebrachte  Kom- 
bination, daß  die  im  Ion  beschriebenen  Gemälde  der  Tempelhalle  die 
seien,  die  Athen  nach  dem  Siege  von  Rhion  gelobt  habe,  schon  1260 
darum  nicht  stichhaltig  sein  kann,  weil  jene  Halle,  wie  wir  jetzt  wissen, 
sehr  viel  älter  ist  (Köhler  Rh.  Mus.  XLVI  160).  Kinesias  endlich  in 
Aristoph.  Lysistr.  911  brauchte  gewißlich  kein  literarisches  Vorbild,  um 
die  Pansgrotte  zum  Liebesschlupfwinkel  vorzuschlagen.  Ausgaben  von 
Badham,  London  1853.  van  Herwerden,  Utrecht  1875.  M.  A. 
Bayfield,  London  1889.     A.  W.  Verrall  Cambridge  1890. 

Troerinnen.  415  aufgeführt  mit  Alexandros,  Palamedes  und  dem 
Satyrspiel  Sisyphos.  Eine  Reihe  der  erschütterndsten  Szenen  zeigen 
den  Zusammenbruch  alles  Glanzes  und  aller  Hoffnungen  Troias  und 
seines  Königsgeschlechts.  Hekabe  ist  die  Person,  durch  die  alle 
Bilder  des  Schreckens  und  der  Verzweiflung  dramatisch  lose  ver- 
■   bunden  sind;  die  Schreckensbotschaft  des  Talthybios,  die  Vernichtung 


384  Euripides 

der  letzten  Hoffnung,  des  Astyanax,  die  wirkungsvolle  Gegenüberstellung 
der  Hekabe  und  der  Helena,  die  wieder  aus  allem  Unheil  gerettet, 
zur  Heimat  zieht:  die  gefangenen  Troerinnen  gehen  zu  Schiff  im  An- 
gesicht der  brennenden  zusammenbrechenden  Vaterstadt.  Und  die  ab- 
ziehenden Achaeer  werden  von  den  Göttern  heimgesucht  werden: 
Athene  wird  die  Blitze  in  ihre  Flotte  schleudern;  Untergang  und  Ver- 
zweiflung ist  überall  das  Ende  in  diesem  Drama  des  letzten  Gerichts 
(die  Anschauungen  der  sehr  anregenden  Abhandlung  H.  Steigers 
Philol.  LIX  [1902]  362ff.  teile  ich  nur  zum  Teil).  Ausgabe  von  Burges 
1807.     Seidler  1813. 

Elektra.  Das  Stück  behandelt  im  allgemeinen  denselben  Stoff, 
den  die  Choephoren  des  Aischylos  (über  die  Kritik,  die  E.  an  Aischylos 
übt,  zuletzt  Radermacher  Rh.  Mus.  LVIII  546ff.),  die  Elektra  des 
Sophokles  enthalten;  im  einzelnen  ist  aufs  stärkste  geändert.  Seit  v. 
Wilamowitz  Herm.  XVIII  214ff.  der  Euripideischen  die  Priorität  vor 
der  Sophokleischen  zugesprochen  hatte,  ist  die  lebhafteste  Diskussion 
über  diese  Frage  geführt  worden  (die  Literaturangaben  findet  man  in 
der  letzten  bedeutendsten  Abhandlung  darüber  von  H.  Steiger  Philo- 
logus  LVI  561  ff.);  sie  kann  als  dahin  entschieden  gelten,  daß  die 
Elektra  des  Sophokles  vor  die  des  E.  fällt  (auch  v.  Wilamowitz  hat 
das  jetzt  zugegeben  Herm.  XXXIV  57  f.,  2).  Das  Stück  des  E.  ist  eine 
Auflehnung  gegen  den  Gott,  der  einen  Muttermord  befiehlt,  und  eine 
Kritik  einer  sittlichen  Anschauung,  die  einen  Muttermord  ohne  Reue 
und  Strafe  kennt.  E.  verurteilt  mehrmals  ausdrücklich  den  Gott  und 
seinen  Orakelspruch  und  fordert  für  Orestes  Sühne  und  Strafe.  Das 
ist  der  Hauptpunkt.  Sein  Stück  ist  ein  Tendenzstück,  das  den  Mythus, 
den  es  darstellt,  selbst  verneint  und  vernichtet.  Die  hochwandelnden 
Gestalten  mit  den  konventionell  gewordenen  Taten  sind  mit  Absicht  in 
gewöhnliches  Tagesleben  hineingerückt:  Elektra  an  einen  Bauer  ver- 
heiratet weiß  ihre  Mutter  durch  List  in  ihre  Hütte  zu  bringen  und 
hilft  selbst  sie  erschlagen.  Sie  soll  als  das  schauerlich  unmenschliche 
Weib,  die  Teufelin  erscheinen,  als  die  Elektra  in  des  Dichters  Zeit  in 
Wahrheit  erscheinen  würde.  Die  Revolution  gegen  die  Unsittlichkeit 
der  Götter  und  des  Mythus  hat  das  Kunstwerk  als  solches  zerstört. 
Die  Zeit  des  Stückes  ist  fest  bestimmt;  die  Helena,  die  412  aufgeführt  wurde 
1261  <s.  0.  369 >,  ist  v.  1280  direkt  angekündigt.  Am  Schlüsse  aber  (1347) 
ist  von  der  Flotte  im  sizilischen  Meere  die  Rede  und  deutlich  auf  den 
geächteten  Gottesfrevler  Alkibiades  hingedeutet,  dem  die  Götter  nicht 
beistehen  konnten,  und  den  frommen  Nikias,  dem  sie  nun  helfen 
werden.    Das  paßt  allein  auf  413.     Ich  will  an  dieser  Stelle  das  neue 


Euripides  ggc 

Programm  des  Baseler  Gymn.  1905  von  Jakob  Oeri,  E.  unter  dem 
Drucke  des  Sizilischen  und  des  Dekeleischen  Krieges,  wenigstens  ein- 
mal nennen,  in  dem  Elektra,  Helena  und  die  beiden  Iphigenien  zum  Teil 
wesentlich  anders  datiert  werden.  Ich  kann  fast  nirgends  folgen. 
Ausgaben  von  Seidler,  Leipzig  1813.     Camper,  Leiden  1831. 

Iphigenie  in  Taurien.  Die  Priesterin  der  Artemis  im  Lande  des 
Thoas,  die  alle  Fremden  der  Göttin  opfern  muß,  erkennt  in  einer  der 
am  kunstreichsten  gebauten  dvaTviupicic- Szenen  des  alten  Dramas 
einen  von  zwei  gefangenen  Hellenen  als  ihren  Bruder  Orestes;  sie  be- 
werkstelligen nun  mit  List  ihre  Flucht  samt  dem  Kultbilde  der  Artemis; 
Athene  verhindert  den  Thoas  an  der  Verfolgung.  Wie  aus  der 
epischen  Geschichte  vom  Opfer  am  Euripos  und  der  Entrückung  der 
Iphigenie  einerseits,  durch  den  Ritus  der  "Apieiiiic  TaupoTröXoc,  des 
alten  Artemiskults  und  der  Tradition  von  Iphigenie  in  Brauron  ander- 
seits die  Grundlage  der  Fabel  gewonnen  wurde,  die  nun  mit  der 
Orestessage  künstlich  verbunden  wurde  (dadurch,  daß  die  Befreiung 
von  allen  Erinyen  erst  an  die  Heimholung  des  Artemisbildes  geknüpft 
wurde,  obwohl  doch  der  Freispruch  auf  dem  Areshügel  so  feste 
Tradition  war),  ist  am  klarsten  dargelegt  von  Bruhn  in  der  Einleitung 
zu  seiner  Ausgabe  (Berlin  1894),  vgL  vorher  Robert  Archaeol. 
Märchen  147.  Die  Zeit  des  Stückes  wird  bestimmt  durch  den  völlig 
analogen  dramaturgischen  Aufbau  der  Helena  (was  meines  Wissens 
zuerst  von  Firnhaber  Ztschr.  f.  d.  Altertumswissensch.  VI  1839,  Iff.; 
Verdächtigungen  eurip.  Verse  1840,  21  f.  erkannt  und  zum  Teil  dar- 
gelegt ist)  und  dazu  die  deutliche  Steigerung  der  Kunstmittel  in 
etlichen  Partien  der  Iphigenie  gegenüber  der  Helena  (namentlich 
Iphig.  1 194 ff. '-^  Hei.  129 Iff.):  Iphigenie  ist  vor  Helena  aufgeführt.  Ich 
vermute,  daß  die  sakrale  Lokaltradition  von  Halai  und  Brauron  viel 
stärkeren  Anhalt  für  E.  für  den  Zug  des  Orest  gab,  als  wir  wissen 
können.  Die  Entführung  eines  heiligen  Bildes  aus  der  Ferne,  der 
widerspenstige  Barbarenkönig,  die  göttergeleitete  glückliche  Fahrt  u.  a. 
entsprechen  der  Art,  wie  die  Kultlegende  zu  erzählen  liebt.  Wenn  E. 
doch  wohl  durch  den  Erfolg  der  Iphigenie  veranlaßt  war,  die  Helena 
zu  konzipieren,  er  selbst  aber  in  der  Elektra  413  die  Helena  bereits 
direkt  ankündigt,  so  muß  die  Iphigenie  auch  noch  vor  die  Elektra 
fallen,  Bruhn  a.  a.  0.  llff.  Ausgaben  von  Markland,  London  1771. 
Seidler,  Leipz.  1813.  Badham,  London  1851.  Bruhn,  Berlin  1894 
(Neue  Bearbeit.  von  Schöne-Köchly  Ausg.  Trag,  des  E.  II). 

Helena,  412  aufgeführt.  Auf  der  Grundlage,  die  dem  E.  die 
Stesichoreische  Dichtung  von  dem  eibujXov  der  Helena  bot,  das  nach 


Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  25 


k. 


386  Euripides  i 

Troia  entführt,  während  die  echte  Helena  in  Ägypten  für  Menelaos 
aufgehoben  worden  sei  (eine  rationalistische  Version  der  Geschichte 
1262Herodot  II  112ff.),  hat  der  Dichter  ein  Intriguenstück  im  wesentlichen 
dadurch  aufgebaut,  daß  er  den  Proteus  gestorben  sein  und  seinen 
Sohn  Theoklymenos  die  Helena  umwerben  und  bedrängen,  die  Tochter 
Eido-Theonoe  als  Seherin  den  Menelaos  und  dessen  Pläne  erkennen, 
dann  aber  seine  Partei  nehmen  läßt.  Mehr  als  den  Namen  (€i5u)  s. 
Od.  IV  365.  Aisch.  frg.  208,  Theonoe  xPncTripiov  övo|ua,  vgl.  Plat. 
Krat.  p.  407  b.  Hyg.  fab.  150;  0eoK\ujU€voc  ist  wohl  völlig  frei  hinzu- 
gesetzt. Od.  XV  182  erklärt  nichts)  hat  er  für  diese  Gestalten  schwer- 
lich überkommen.  Über  das  Verhältnis  von  Vorlage  und  freier  Er- 
findung des  E.  findet  man  die  umfangreiche  Literatur  angegeben  bei 
v.  Premerstein  Philolog.  LV  640.  647.  Ausgaben  von  Badham  (mit 
Iphigenie,  s.  o.),  London  1851.     Herwerden,  Leiden  1895. 

Phoenissen.  In  diesem  Stücke  häuft  der  Dichter  noch  einmal 
alle  Motive  der  alten  thebanischen  Labdakidensagen  zu  einem  großen 
,Schauergemälde*,  sozusagen  einem  Panorama  der  Tragödien  des 
Oidipusgeschlechts.  Die  Teichoskopie,  die  glänzenden  Schlachten- 
berichte, die  Aufopferung  des  Menoikeus  und  als  höchster  Effekt 
Oidipus  und  lokaste,  die  Uralten  (schon  im  Oidipus  hatte  er  lokaste 
im  Leben  bei  dem  Gatten  ausharren  lassen),  im  Jammer  über  alles 
hereingebrochene  Elend  und  die  gefallenen  Söhne.  lokaste  tötet  sich, 
und  der  Schmerzensmann  Oidipus  bleibt  allein  übrig,  der  seine  toten 
Söhne  jammernd  betastet.  Und  es  fehlt  nicht  der  Konflikt  Kreons  und 
der  Antigone  wegen  der  Bestattung  des  Polyneikes  und  zuletzt  auch 
nicht  die  den  Vater  ins  Elend  begleitende  Tochter.  Die  bisherige 
Literatur  über  den  vielumstrittenen  Schluß  bei  Lindskog  a.  a.  0.  149. 
Die  große  letzte  Szene  hat  v.  Wilamowitz  verständlich  gemacht 
S.-Ber.  Akad.  Berl.  1903,  587ff.  und  1736ff.  als  Dublette  zu  1710-35 
erklärt,  die  der  Verfertiger  der  Ausgabe  in  einem  anderen  Exemplar 
fand  und  zu  dem  ersten  Schlüsse  zuschrieb.  Nur  was  den  Wider- 
spruch zwischen  dem  Abgang  der  Antigone  und  der  Bestattung  des 
Polyneikes  betrifft,  scheint  mir  eine  andere  Auffassung  nötig,  die  hier 
nicht  begründet  werden  kann. 

Die  Zeitbestimmung  des  Stückes  kann  sich  nur  stützen  auf  Schol. 
Arist.  Frösche  53  (zu  xfiv  'Avbpojuebav)  bid  ti  be  juf]  dWo  ti  tüjv  irpo 
öXiTOu  bibaxOevTUJV  kqi  KaXujv  'YvpittijXtic  0oiviccujv  'Avtiötttic'  f\  be 
'Avbpojaeba  oTböuj  ^lei  TrpoeicfiXGev.  Also  zwischen  411  und  408.  Wenn 
aber  irpö  oXitou  so  stark  der  langen  Zeit  gegenübergestellt  ist,  so 
muß  man   schließen,   daß   411    und  410  in  diesem  Gegensatz  niemals 


Euripides  ßgy 

Tipö  öXiTou  heißen  würde,  und  da  408  (Ol.  92,  4)  durch  den  bezeug- 
ten Orest  ausgeschlossen  ist  (wir  kennen  ja  die  ganze  Trilogie,  in 
denen  die  Phoinissen  standen,  Oinomaos  und  Chrysippos  waren  die 
beiden  anderen  Stücke),  die  folgenden  Jahre  durch  die  Abwesenheit 
des  E.  in  Makedonien,  so  bleibt  409  (Ol.  92,  3).  In  der  verstümmel- 
ten Hypothesis  der  Phoenissen  ist  eiri  NauciKpaiouc  dpxovxoc  an- 
gegeben; der  Name  ist  für  uns  unfaßbar.  Die  Archonten  des  J.  410 
(Ol.  92,  2)  waren  Mnasilochos  (2  Monate),  Theopompos  (10  Monate), 
der  Archon  des  J.  409  (Ol.  92,  3)  war  Glaukippos;  die  Möglichkeit, 
auch  409  einen  zweiten  Archon  anzunehmen,  der  Nausikrates  geheißen 
hätte,  fällt  dadurch  weg,  daß  durch  die  Hypothesis  des  Sophokleischen  1263 
Philoktet  als  festgebender  Archon  Glaukippos  bezeugt  wird.  Es  folgt, 
daß  NauciKpdTouc  ein  wie  auch  immer  entstandener  falscher  Name 
und  daß  rXauKiTTTTOu  dagestanden  haben  muß.  Dem  allem  fügt  sich 
aufs  trefflichste,  daß  die  Hypothesis  des  Philoktet  von  Sophokles  an- 
gibt TTpÄTOc  fjv,  die  Hypothesis  der  Phoenissen  hemepoc  €i>pi7ribnc. 
Nur  Sophokles  konnte  damals  über  die  Trilogie  des  E.  siegen. 

Orestes,  408  aufgeführt.  Das  Stück  ist  eine  Fortsetzung  der 
Elektra  und  zugleich  eine  Fortsetzung  der  Kritik  der  Sophokleischen 
Elektra.  Eine  der  glänzendsten  Szenen,  die  E.  je  geschaffen,  zeigt  zu 
Beginn  die  Folgen  des  Muttermords:  Orestes,  von  der  Schwester  ge- 
hütet, liegt  krank,  gehetzt  vom  Wahnsinn  der  Erinyen,  er  erwacht 
vor  unseren  Augen.  Die  demokratische  Volksversammlung  kennt  keine 
Schonung  für  sein  Vergehen:  er  soll  sterben  wie  seine  Schwester, 
Menelaos,  der  heimkehrt,  der  listige  Spartaner,  der  Weiberknecht, 
tut  nichts  für  ihn.  In  letzter  Verzweiflung  wenden  sich  Orest  und 
Pylades  gegen  Helena,  die  Veranlassung  all  ihres  Jammers;  da  sie 
entkommt,  gegen  Hermione.  Der  Schluß,  daß  Orestes  die  Hermione 
heiraten  und,  freilich  nach  langer  Büßung,  in  Argos  herrschen  soll, 
ist  blutiger  Hohn  auf  den  Mythus  und  das,  was  er  fordert.  Die 
inneren  Widersprüche  des  Stückes  sind  ebenso  aufzufassen,  wie  bei 
der  Elektra  angedeutet  wurde  (s.  bes.  H.  Steiger  Progr.  Gymn.  Augs- 
burg 1898). 

Iphigenie  in  Aulis,  nach  dem  Tode  des  E.  aufgeführt  (s.o.<S.369». 
Die  Handlung  dreht  sich  um  das  Opfer  der  Iphigenie,  das  der 
Griechenflotte  günstige  Fahrt  nach  Troia  schaffen  soll.  Die  außer- 
ordentlich verwickelt  geschlungenen  Motive,  daß  die  unter  dem  Vor- 
wand, dem  AchiUeus  vermählt  zu  werden,  ins  Lager  heremgeholte 
Iphigenie,  der  nun  Achilleus  gegen  das  Heer  Rettung  bringen  wil, 
selbst   durch   freiwilligen  Entschluß  sich  zu  opfern  die  Lösung  schafft, 

25' 


388  Euripides 

geben  ein  außerordentlich  prächtig  mannigfaltiges  Rührstück.  Der  Zu- 
stand der  Anfangspartie  und  vor  allem  der  Schluß  haben  alsbald  den 
Gedanken  nahegelegt,  daß  E.  das  Stück  unvollendet  hinterließ  und  der 
jüngere  E.,  der  es  aufführte,  die  Ergänzung  und  Umarbeitung  vornahm. 
Auf  die  mannigfaltigste  Weise  sind  die  Lösungen  dieser  Schwierig- 
keiten hin  und  her  geschoben  worden.  Daß  es  noch  einen  anderen 
Schluß  gab,  zeigen  die  Verse  bei  Aelian.  bist.  an.  VII  39.  Ausgaben  von 
Markland,  London  177L  Höpfner,  Halle  1795.  Firnhaber, 
Leipz.  184L  Vitelli,  Florenz  1878.  E.  B.  England,  London  1891. 
Bakchen.  Das  Stück  ist  erst  nach  seinem  Tode  aufgeführt  (s.  o. 
<S.  369»;  es  behandelt  den  Sieg  des  gewaltigen  Gottes  Dionysos  über  den 
Feind  Pentheus,  den  die  eigene  Mutter  im  Wahnsinn  des  Gottes  in  Stücke 
reißt  (über  Aischylos  als  Vorgänger  des  E.  s.  besonders  Bruhn  in 
der  Einleitung  der  Ausgabe  25).  Die  Bakchen  sind  in  Makedonien 
gedichtet,  wo  den  greisen  Dichter  der  dionysische  Gottesdienst  mit 
seiner  ganzen  ursprünglichen  Wildheit  und  orgiastischen  Macht  anzog. 
Er  suchte  sich  von  den  wilden  Geistern,  die  ihn  in  ihren  Taumel  rissen, 
1264 los  zu  machen,  indem  er  sie  verkörperte  (so  v.  Wilamowitz  Her.  I^ 
134,  weiteres  bes.  bei  Bruhn  a.  a.  0.  v.  Arnim  in  der  Einleitung 
seiner  Übersetzung,  Wien  1903).  E.  gibt  sich  dem  poetischen  Zauber 
des  Dionysosdienstes  einmal  ganz  gefangen  als  ein  echter  Dichter  und 
hat  nicht  selbst  die  Stimmung  seines  Gedichtes  zerstört.  Nicht  Teiresias 
sagt  die  Meinung  des  Dichters.  Die  Sehnsucht  nach  Frieden,  ja  das 
hier  und  da  hervorbrechende  Gefühl,  den  Frieden  gefunden  zu  haben, 
wenn  es  am  Ende  auch  nur  eine  Betäubung  war,  fühlen  wir,  zumal 
in  den  Liedern,  als  im  Dichter  selbst  lebendig  heraus.  Ausgaben  von 
E.  Bruhn  (Ausgew.  Trag.  d.  E.  I'^)  1891.  Sandys  4.  ed.  London  1904. 
Tyrrell  zuerst  London  1871. 

Kyklops.  Das  Stück  ist  das  einzige  uns  erhaltene  Satyrspiel. 
Handlung  und  Personen  sind  für  das  Satyrdrama  des  E.  typisch:  der 
riesige  Unhold  Polyphem,  in  seiner  Gefangenschaft  Silen  und  die 
Satyrn,  dann  der  kluge  Held  Odysseus,  der  sie  alle  mit  List  befreit. 
Die  lustige  Person  ist  recht  eigentlich  der  Silen  mit  seiner  drolligen 
Trinklust,  Feigheit  und  Verlogenheit.  Man  beobachtet,  daß  E.  in  einer 
Reihe  der  uns  kenntlichen  Satyrspiele  Unholde  ähnlicher  Art  immer 
wieder  zum  Mittelpunkt  machte,  Busiris,  Skiron,  Syleus.  Namentlich 
im  Syleus  ist  die  Ähnlichkeit  des  Aufbaus  noch  klar  erkennbar.  Die 
Zeit  des  Kyklops  ist  mit  einiger  Sicherheit  nicht  zu  bestimmen. 
Kai  bei  Herm.  XXX  71  ff.  wollte  den  Kyklops  über  die  Alkestis  hinaüf- 
rücken.     Ein   von   dem  Stück  abhängiges  Vasenbild  wird  in  das  letzte 


Euripides  ogg 

Viertel  des  5.  Jhdts.  gesetzt,  publiziert  von  Winter  Arch.  Jahrb.  1891, 
Taf.  VI;  s.  dazu  Furtwängler  Meisterw.  150"  Reisch  Z.  Vorgesch! 
d.  att.  Trag.,  Festschr.  f.  Gomperz  455.  Zu  Stil  und  Metrik  vgl.  Th. 
Neumann  Quid  ex  E.  Cyclope  et  ad  elocutionem  et  ad  rem  metricam 
dramatis  satyrici  accuratius  definiendam  redundet  pluribus  explicatur, 
Progr.  Colbg.  1887.     Ausgabe  von  Höpfner,  Leipz.  1789. 

Rh  es  OS.  Die  homerische  AoXiuveia  ist  dramatisiert.  Es  ist  ein 
Nachtstück  und  Soldatenstück,  in  dem  Griechen  und  Barbaren  als 
Gegenrollen  wirksam  Kontrast  machen,  Hektor  und  Dolon,  Diomedes 
und  Odysseus.  Die  Hypothesis  lehrt,  daß  schon  im  Altertum  das 
Stück  für  unecht  erklärt  wurde,  und  daß  man  zwei  verschiedene  Pro- 
loge hatte.  Krates  wird  im  Schol.  zu  v.  528  angeführt,  der  einen 
astronomischen  Irrtum  rügt,  den  E.  begangen  bid  tö  veov  eii  eivai. 
Seit  Scaliger  (Proleg.  in  Manil.  Vif.),  Valckenaer  Diatribe  88ff.  und 
G.  Hermann  Opusc.  III  262  kann  als  ausgemacht  gelten,  daß  der 
Rhesos  euripideisch  nicht  sein  kann.  Eine  Reihe  der  gewichtigsten 
Momente  (z.  B.  öfteres  Brechen  eines  Verses  unter  zwei  Personen, 
deus  ex  machina,  Verwendung  von  vier  Schauspielern)  rücken  ihn  zu 
den  späten  Tragödien  des  E.,  von  denen  ihn  im  übrigen  nahezu  alles 
scheidet.  Man  darf  die  Ansicht  ignorieren,  die  diesen  Rhesos  für  ein 
Jugend  werk  des  E.  halten  will,  auch  wenn  L.  Eysert  Rh.  im  Lichte 
des  eurip.  Sprachgebrauchs,  Progr.  Böhm.  Leipa  1891,  gezeigt  hat,  daß 
mit  sprachlicher  Statistik  die  Unechtheit  nicht  zu  beweisen  ist.  In 
vielem  des  Stils  und  der  Metrik  ist  aber  die  Nachahmung  des  Sophokles 
fühlbar  und  auch  faßbar.  Ich  könnte  mir  allenfalls  die  Möglichkeit 
denken,  daß  unser  Stück  eine  recht  weitgreifende  Umarbeitung  des  1265 
tatsächlich  vorhanden  gewesenen  Rhesos  des  E.  sei  (vgl.  die  ver- 
schiedenen Prologe,  die  vorhanden  waren).  Nur  die  Zeit  der  Dichtung 
oder  Umarbeitung  bleibt  unsicher.  Daß  der  Rhesos  eine  alexandrinische 
Tragödie  sei,  ist  unmöglich  (G.  Hermann),  v.  Wilamowitz  setzt  ihn 
in  die  Zeit  des  zweiten  Seebundes  (De  Rhesi  scholiis,  Greifswald  1877; 
Her.  IMI,  vgl.  Anal.  Eur.  142 ff.).  Die  umfangreiche  Literatur  s.  zu- 
sammengestellt bei  W.  Nestle  Eurip.  381,  28  und  bei  John  C.  Rolfe 
Harvard  studies  in  class.  phil.  IV  (1893)  61ff.  Ausgabe  von  Vater, 
Berlin  1837. 

Nur  Bruchstücke  sind  uns  erhalten  von  48  Dramen.  Ich  zitiere  zu 
den  einzelnen  Titeln  weder  Nauck,  dessen  Nachweise  ich  nicht  aus- 
schreibe, noch  Welcker,  auch  nicht  Härtung  Euripides  restitutus, 
Hamburg  1843/46,  auf  die  ich  ein  für  allemal  verweise,  und  gebe 
nur   über   die  Aufführungszeit  an,  was   man  sicher  wissen  kann  und 


390  Euripides 

neuere  wichtige  Arbeiten  über  die  einzelnen  Stücke.  Ein  für  allemal 
seien  auch  zwei  Hilfsmittel  genannt,  in  denen  die  Vasenbilder  an- 
geführt sind,  die  auch  zur  Rekonstruktion  hier  und  da  nützlich  waren 
und  nützlich  werden  können,  Vogel  Szenen  eur.  Trag,  auf  Vasen- 
bildern und  Huddilston  Greek  Tragedy  in  the  light  of  Vase  Paintings, 
London  1898,  für  Euripides  S.  78  ff.  und  die  Listen  S.  178  ff.  (deutsche 
Übersetzung  von  Maria  Hense,  Freiburg  1900);  vgl.  v.  Prott  Sched. 
philol.  H. Usenero  oblatae  57ff.  A.  Körte  Berl.  Phil.  Wochenschr.  1898, 
1459 ff.    Watzinger  De  vasculis  pictis  Tarentinis  33 ff. 

Aigeus  (vor  der  Medea  431,  v.  Wilamowitz  Herrn.  XV  482. 
R.  Wagner  Epit.  Vatic.  p.  124.     M.  Mayer  De  E.  mythopoeia  59ff.). 

Aiolos. 

Alexandros,  415  (Robert  Bild  und  Lied  234ff.  Wentzel  im 
Epithalamium  für  W.  Passow,  Göttingen  1890,  XXVff.). 

Alkmene,  vor  405,  Aristoph.  Frösche  93.  536  (Engelmann  Beitr. 
zu  E.  I  Alkmene,  Progr.  Friedr.- Gymn.,  Berlin  1882;  Arch.  Studien  zu 
den  Trag.  1900,  52  ff.). 

Alkmeon  in  Psophis  438  (A.  Scholl  Beitr.  z.  Kenntn.  der  trag. 
Poesie  der  Griechen  I  132 ff.  Bethe  Theban.  Heldenlieder  137 ff. 
V.  Wilamowitz  De  trag,  graec.  frgm.,  Ind.  lect.  aest.  Gott.  1893,  12ff.). 
Ein  kurz  nach  Aufführung  des  Stückes  gemaltes  attisches  Vasengemälde 
aus  Kamarina,  jetzt  in  Syrakus,  stellt  die  feierliche  Übergabe  des  Rache- 
schwertes durch  Amphiaraos  an  Alkmeon  dar;  Orsi  Mon.  dei  Lincei  IX 
1899,  238;  vgl.  Rizzo  ebd.  XIV  1905,  mit  tav.  IV,  der  aber  seinen 
Widerspruch  nach  privater  Mitteilung  wieder  aufgibt. 

Alkmeon  in  Korinth,  406  (Basedow  De  E.  fabula  'A.  bia  Kopiv0ovj, 
Rostock.     Diss.  1872.     v.  Wilamowitz  a.  a.  0.). 

Alope  (Matz-v.  Duhn  Antike  Bildwerke  in  Rom  II  2888;  vgl. 
Robert  bei  Preller  Myth.  I^  589). 

Andromeda,  412  (Robert  Arch.  Ztg.  XXXVI  18ff.  Johne  Die 
A.  des  E.,  Progr.  Landskron  1883.  Wecklein  S.-Ber.  Akad.  München 
1888,  I  87ff.  Bethe  Arch.  Jahrb.  1896,  292ff.  Engelmann  Arch. 
Stud.  zu  den  Trag.  63 ff.  Petersen  Journ.  of  Hell.  Stud.  XXIV 
1904,  99  ff.). 
1266  Antigone,  zwischen  441  und  406  (Vogel  Szenen  eur.  Tragödien 
in  gr.  Vasenb.  50 ff.  M.  Mayer  De  E.  mythop.  73 ff.,  vgl.  Heydemann 
Über  eine  nacheur.  Antig.,  Berlin  1868.  John  H.  Huddilston  Am. 
Journ.  Arch.  1899,  183  ff.). 

Antiope.  Schol.  Aristoph.  Frösche  53  .  .  .  xnv  'Avbpo|Lieöav  biet 
Ti   be   )Lifi   dXXo   Ti  Tiuv  TTpo  öXiTou  bibaxOevTUJV  xai  KaXiuv  Tv|ji7tuXtic 


Euripides  oni 

<J)oivicca)v  ^AvTiOTTTic-  n  be  'Avbpojueba  OTböiw  etei  irpoeicfiXeev.  Wenn 
es  richtig  ist,  daß  die  Phoenissen  mit  Oinomaos  und  Chrysippos  409  auf- 
geführt wurden  (s.o.  <386>zu  den  Phoenissen),  411  und  410  aber  wegen 
des  TTpö  oXiTou  kaum  möglich  ist,  so  wäre  die  Antiope  408  neben 
den  Orest  zu  setzen  (407  war  E.  fort).  Für  die  Hypsipyle  bliebe  dann 
auch  nichts  anderes  übrig  und  wir  kennten  dann  die  Trilogie  von  408 
Antiope,  Hypsipyle,  Orestes  (Jahn  Arch.  Ztg.  XI  66 ff.  Wecklein 
S.-Ber.  Akad.  München  1878,  II  170 ff.  Graf  Die  Antiopesage  29 ff. 
Mahaffy  Hermathena  XVII  38ff.;  vgl.  v.  Wilamowitz  Her.  I^  137, 
besonders  aber  Weil  Etüde  sur  le  drame  antique  1897,  213ff.  Ganz 
neuerdings  A.  Taccone  Rivista  di  filol.  1905,  32 ff.). 

Archelaos.  Vita  2,  8 f.  .  .  eic  MaKcboviav  Tiapa  'ApxeXaov 
T€vö|Lievoc  bieTpii|i€  Ktti  xapi2^ö|Li€voc  auTUj  bpäjua  6)liijüvu|liu)c  e"fpav|ie. 

Auge,  zwischen  415  und  405,  Aristoph.  Frösche  1080  (Wecklein 
S.-Ber.  Akad.  München  1890,  Iff.  Jahn  Telephos  u.  Troilos  52 ff. 
V.  Wilamowitz  Anal.  Eur.  186 ff.  Robert  Arch.  Jahrb.  II  246ff.,  vgl. 
22.  Hall.  Winckelmannsprogr.  1898,  41ff.). 

Bellerophon,  vor  425,  Aristoph.  Acharn.  426  (Fischer  Bellerophon 
50 ff.     Wecklein  S.-Ber.  Akad.  München  1888,  I  98 ff.). 

Chrysippos,  409,  Hypothesis  zu  den  Phoenissen  (v. Wilamowitz 
De  trag,  graec.  frgm.  6  ff.). 

Danae,  vor  411,  Aristoph.  Thesmoph.  21  (über  den  gefälschten 
Anfang  Wünsch  Rh.  Mus.  LI  138 f.). 

Diktys,  431  (Wecklein  S.-Ber.  Akad.  Münch.  1888,  I  109ff.). 
[Epeios,  nur  als  Titel  erhalten  auf  dem  Marmor  Albanum,  GIG 
6047,  25.] 

Erechtheus,  421  (Plut.  Nik.  8.   Hiller v.GaertringenWochenschr. 

f.  kl.  Phil.  1887,   571ff.     Wecklein   S.-Ber.  Akad.  Münch.  1890,  8  ff.) 

Hippolytos  (I  KaXuTTTÖnevoc),  vor  428  (s.  o.  <379>  zum  erhaltenen 

Hippolytos),  aber  auch  noch  vor  431,  s.<393>zum  Theseus  (M.  Mayer 

De  E.  mythopoeia  65  ff.). 

Hypsipyle,  408?  (s.o.<390>  zur  Antiope;  zu  dem  Zeitansatz  stimmt 
es  vortrefflich,  daß  in  den  Fröschen  des  Aristophanes  die  Hypsipyle  in 
einer  Szene  stark  herangenommen  wird  (frg.  756  -  Ar.  Frösche  1322 
mit  Schol.,  frg.  769 -Ar.  Frösche  1305  mit  Schol.,  s.  v.  Wilamowitz 
Her.  IP  115). 

Ino,  vor  425,  Aristoph.  Acharn.  435. 

Ixion,  410-8,  Philochoros  bei  Diog.  Laert.  IX  55  (das  Datum  von 
Protagoras'  Tod  richtig  erörtert  von  Jacoby  Apollodors  Chronik 
268  f.). 


392  Euripides 

Kadmos  (Crusius  in  Rosch.  Lex.  II  850). 

Kresphontes,   Aristoph.   TeiupToi   frg.  109  K.  nach  frg.  453.     Die 

feiüpToi  fallen  nach  425  und  vor  421,  s.  Kaibel  <bei  Pauly-Wissowa) 

1267Bd.  II   S.  978    (vgl.  Bergk    Rh.  Mus.  XXXV   247).      v.  Wilamowitz 

Her.  I^   39,   vgl.  Ribbeck   Rom.  Trag.  186 ff.      Vahlen    Ind.  lect.  hib. 

Berol.  1888,  16  ff. 

Kreter,  vor  406,  Aristoph.  Frösche  849.  1356  (Jahn  Arch.  Bei- 
träge 237  ff.  G.  Körte  Histor.  und  philol.  Aufsätze  E.  Curtius  gewidm. 
197ff.  Kuhnert  Jahrb.  f.  Philol.  Suppl.  XV  192ff.  Robert  Der 
Pasiphaesarkophag,  14.  Hall.  Winckelmannsprogr.  1890.  v.  Wilamo- 
witz De  trag,  graec  frgm.  17 f.  R.  Holland  Die  Sage  von  Daidalos 
und  Ikaros,  Abh.  zum  Bericht  der  Thomasschule  in  Leipzig  1901/2, 
Leipzig  1902,  bes.  S.  7  ff.) 

Kreterinnen,  438  (v.  Wilamowitz  Anal.  E.  255). 

Likymnios  (nach  Nauck^  p.  507  bezieht  sich  darauf  Aristoph. 
Vögel  1242,    dagegen   v.  Wilamowitz  Obs.  crit.  in  com.  gr.  sei.  12 f.) 

Melanippe    (n  coqpri),   vor  411,  Aristoph.  Lysistr.  1124   mit  Schol. 

Melanippe  (n  bec^iuTic.  Ribbeck  Rom. Trag.  176 ff.  Wünsch  Rh. 
Mus.  XLIX  91ff.;  vgl.  Beloch  Herm.  XXIX  605ff.  v.  Wilamowitz 
Her.  IMO). 

Meleagros,  vor  415?  Aristoph.  Vögel  831,  jedenfalls  vor  406. 
Aristoph.  Frösche  1238.  1316.  1402  (Ribbeck  Rom.  Trag.  506 ff, 
M.Mayer  De  E. mythopoeia  77ff.,  besonders  auch  Kuhnert  bei  Röscher 
Myth.Lex.II  2598ff.  En  gel  mann  Arch.  Stud.  zu  den  Trag.  76  ff.  Robert 
Ant.  Sarkophagreliefs  III  2,  275  ff.). 

Oidipus,  jedenfalls  nach  dem  Oidipus  des  Sophokles  (Robert 
50. Berl. Winckelmannsprogr.  1890,  76 ff.,  besonders  Bruhn  in  der  Ausg. 
des  Soph.Oid.54ff.,  vgl.  V.  Wilamowitz  S.-Ber.  Akad.  Berl.  1903,  589). 

Oineus,  vor  425,  Arist.  Acharn.  418  u.  Schol.  (vgl.  Ribbeck  Rom. 
Trag.  301  ff.     Wecklein  S.-Ber.  Akad.  München  1890,  10 ff.). 

Oinomaos,  409  mit  Phoenissen  und  Chrysippos  aufgeführt,  s.  o. 
S.  1262  <386>f.  (Kram er  De  Pelopis  fabula  23 ff.). 

Palamedes,  415  (v.  Wilamowitz  Her.  I^  115). 

Peleus,  vor  423?  Aristoph.  Wolken  1063  (es  ist  nicht  aus-' 
zumachen,   ob   der  Vers   der  ersten  oder  zweiten  Bearbeitung  gehört). 

Peliades,  455.  (Robert  Arch.  Ztg.  1875,  134ff.,  vgl.  E.  Schwartz 
De  Dionysio  Scytobr.  9). 

Phaethon  (v.  Wilamowitz  Herm.  XVIII  396ff.  Blass  Diss.  de 
Phaethontis  Eur.  frgm.  Ciarom.,  Kiel.  Progr.  1885.  Wecklein  S.-Ber.  Akad. 
München  1888,  I  118 ff.,  vgl.  Knaack  bei  Röscher  Myth.  Lex.  III  2 184 ff.). 


Euripides  ^g^ 

Philoktetes,  431  (Wecklein  S.-Ber.  Akad.  München  1888, 
I   127  ff.).  * 

Phoinix,  vor  425,  Arist.  Acharn.  421  (v.  Wilamowitz  Her.  I^  38) 

Phrixos,  vor  406,  Arist.  Frösche  1225.  Ein  OpiHoc  beuxepoc  wird 
erwähnt  Schol.  Aristoph.  Frösche  1225.  Etym.  M.  714,  21.  Tzetzes- 
schol.  616  Keil,  dazu  v.  Wilamowitz  Her.  I^  42. 

Pleisthenes,  vor  415,  Aristoph.  Vögel  1232-frg.  628.  Die  Echt- 
heit bezweifelt  v.  Wilamowitz  Herm.  XL  1905,  131ff. 

Polyidos. 

Protesilaos  (Max.  Mayer  Herm.  XX  lOlff.). 

Skyrioi  (Robert  Bild  und  Lied  34;  Arch.  Anz.  1889,  151.  Weck- 
lein S.-Ber.  Akad.  MOnch.  1890,  13). 

Stheneboia,   vor  422,  Aristoph.  Wespen  711.   1074  (Wecklein  1268 
S.-Ber. Akad. München  1888,  I  98ff.).    Engelmann  Annali  d.Inst.l874, 
35ff.  Vogel  Szenen  eur.  Trag. auf  Vasenb.  85 f.  Engelmann  Arch.  Stud. 
zu  den  Trag.  85  ff. 

Telephos,  438.  0.  Jahn  Telephos  und  Troilos  1841.  Ribbeck 
Rom.  Trag.  105ff.  Wecklein  S.-Ber.  Akad.  München  1878,  11  198ff. 
Vogel  a.  a.  0.  89 ff.  Robert  Arch.  Jahrb.  II  244 ff.;  Bild  u.  Lied  146. 
C.  Pillin g  Quomodo  Telephi  fabulam  et  scriptores  et  artifices  veteres 
tractaverint,  Diss.  Halle  1886. 

Temenidai,  vor  406,  Schol.  Arist.  Frösche  1338. 

Temenos. 

Theseus,  vor  422,  Aristoph.  Wespen  312  (v.  Wilamowitz  Anal. 
Eur.  171f.);  da  Theseus  mit  Aigeus  und  Hippolytos  I  eine  Trilogie  war, 
vor  431  (v.  Wilamowitz  Herm.  XV  481ff.  Robert  Bild  und  Lied  33. 
M.  Mayer  De  E.  mythopoeia  62ff.  G.  Körte  Strena  Helb.  169,  vgl. 
aber  Robert  Journ.  of  Hell.  Stud.  XX  94). 

Thyestes,  vor  425,  Aristoph.  Acharn.  433. 

Bruchstücke  sind  erhalten  von  den  Satyrspielen  (für  die  ich  von 
vornherein  auf  die  vortreffliche  Abhandlung  von  Reichenbach  Progr. 
Znaim  1889  und  die  dort  angeführte  Literatur  verweise,  der  ich  nur 
einiges  Wichtigere  zu  den  einzelnen  Stücken  beizufügen  habe;  eben 
erschien  Joh.  Schmidt  E.  Verhältnis  zu  Komik  u.  Komödie,  1.  Teil 
Kap.  1  u.  2.  Progr.  Grimma  1905,  wo  S.  4-11  die  Satyrspiele,  weiter- 
hin .komische  Elemente*  in  anderen  Stücken  des  E.  behandeh  werden) 
Autolykos,  Busiris  (v.  Wilamowitz  De  trag,  graec.  frgm.  18. 
Radermachers  Beobachtung  Rh.  Mus.  LVII  278 ff.  wäre  weiterzuführen 
und  zu  beweisen,  daß  der  Busiris  vor  dem  Orest  gedichtet  wurde, 
was   freilich   auch  so  fast  selbstverständlich  ist),  Eurystheus  (Lamia 


394  Euripides 

nur  als  Titel  erwähnt  in  unsicheren  Zeugnissen,  vgl.  auch  M.  Mayer 
Arch.  Ztg.  XLIII  119 ff.;  Athen.  Mitt.  XVI  300 f.),  Skiron  (vgl. 
W  ernicke  Arch.  Jahrb.  VI!  212,  Reste  der  Hypothesis  auf 
einem  Papyrus,  Amherst  Papyri  II  p.  60,  s.  o.  <373X  dazu  Weil  Etudes 
de  litterature  et  de  rhythmique  grecques  8 f.),  Syleus,  der  allein 
mit  Wahrscheinlichkeit  annähernd  datiert  werden  kann,  zwischen  438 
und  424,  v.  Wilamowitz  Her.  I^  74  (Reichenbach  a.  a.  0.  7ff. 
und  V.  Wilamowitz  a.  a.  0.  ergeben  die  fast  vollständige  Rekon- 
struktion). 

Der  Überblick  über  die  erhaltenen  Dramen  allein  kann  auch  einige 
Stufen  der  Entwicklung  der  Dichtung  des  E.  erkennen  lassen.  Von 
dem  eigentlichen  Werden  und  ersten  Wachsen  seiner  Kunst  freilich 
wissen  wir  nichts;  das  erste  Stück,  das  wir  noch  lesen,  schrieb  er, 
als  er  bereits  die  otKjLiri  des  Lebens,  das  45.  Lebensjahr,  überschritten 
hatte;  die  ersten  seiner  großen  Tragödien,  die  wir  noch  haben,  schrieb 
er,  als  er  über  50  Jahre  alt  war.  Wenig  helfen  uns  die  paar  Daten 
und  die  Fragmente  aus  der  früheren  Zeit,  die  uns  wenige  Stücke 
einigermaßen  kenntlich  machen  (Phaethon).  Aber  innerhalb  der  späteren 
Zeit  können  wir  einige  Perioden  nicht  schwer  unterscheiden.  Ich 
setze  deren  fünf  an. 

1.  Die  Zeit  der  neuen,  vor  allem  erotischen  Stoffe  und  Motive. 
1269  Es  gilt  für  die  gesamte  Dichtung  des  E.,  daß  er  lange  nicht  so  wie 
die  beiden  anderen  großen  Tragiker  sich  anschließt  an  homerische, 
epische  Stoffe.  In  dieser  Zeit  zeigt  sich  besonders,  daß  er  bisher 
nicht  behandelte  Stoffe  aufsucht,  von  denen  es  heißt  oder  heißen 
könnte  Trap'  oubeiepiu  xeiTai.  Er  erobert  das  erotische  Motiv  für  die 
tragische  Bühne,  eine  künstlerische  Tat  von  unermeßlichen  Folgen: 
Hippolytos  (den  Stoff  behandelt  er  zweimal,  vor  und  nach  der  Medea) 
und  Medea  sind  die  ersten  uns  erhaltenen  Stücke,  die  das  Dämonische 
der  Liebesleidenschaft  und  der  Eifersucht  im  Drama  darstellen.  Eine 
Reihe  anderer  Stücke  dieser  früheren  Zeit  wie  namentlich  die  Stheneboia 
und  der  Aiolos  (der  Inzest  der  Geschwister  Makareus  und  Kanake  war 
Hauptmotiv)  gehören  in  die  Reihe  der  Darstellungen  der  gleichen 
Probleme;  man  erkennt  wie  E.  gerade  die  unheimlich  brütenden  Leiden- 
schaften, schwüle,  ja  krankhafte  Verhältnisse  aufsucht.  Gerade  aber 
auch  Dramen,  in  denen  die  Auflehnung  gegenüber  der  hergebrachten 
Religion,  der  Zweifel  an  Walten  und  Dasein  der  Götter  zum  Ausdruck 
kam,  fallen  in  diese  erste,  uns  bekanntere  Epoche.  Der  Himmel- 
stürmer Bellerophon  und  die  Sophistin  Melanippe  sind  die  deutlichsten 
Typen  solcher  religiösen  Revolutionsdramen. 


Euripides  305 

2.  Die  Zeit  der  politischen  und  patriotischen  Dichtung.  Eine  Ab- 
grenzung dieser  beiden  ersten  Perioden  ist  zeitlich  schwer  möglich 
und  die  Werke  beider  Art  gehen  mannigfaltig  nebeneinander  her. 
Wie  die  Stücke  der  Art,  wie  ich  sie  zur  ersten  Epoche  charakterisierte, 
bis  weit  in  die  20er  Jahre  hineinreichen,  so  gehen  Dramen  der  zweiten 
Oruppe  jedenfalls  bis  gegen  den  Anfang  des  Peloponnesischen  Kriegs 
zurück.  Attische  Stoffe  hat  E.  in  allen  verschiedenen  Perioden  auf- 
gesucht, bevorzugt  gerade  in  dem  ersten  Jahrzehnt  des  Krieges 
<Aigeus  [sogar  vor  431],  Theseus,  Hippolytos,  Ion,  Erechtheus  [die 
Zeit  der  Alope  ist  unbekannt]).  Die  Herakliden  und  die  Hiketiden 
sind  für  uns  die  Beispiele  der  Poesie  des  E.,  die  die  Menschlichkeit 
Athens  und  die  Herriichkeit  seines  Vaterlandes  preist  und  in  die 
politischen  Verhältnisse,  wie  es  auch  in  der  Andromeda  zu  Anfang 
des  Krieges  geschieht,  von  der  Bühne  aus  hineinspricht.  Die  Hiketiden, 
zugleich  mit  dem  Erechtheus  aufgeführt,  sind  ein  Festspiel  zum  Frieden 
421,  ein  eTKUijLiiov  'AGtivuüv,  wie  schon  die  Alten  es  bezeichneten. 

3.  Eine  Zeit  der  politischen  Verzweiflung  und  des  ,Weltschmerzes*, 
wie  man  nicht  ganz  treffend  sich  ausgedrückt  hat,  läßt  sich  einiger- 
maßen abgrenzen.  Man  mag  über  den  Herakles  subjektiv  verschieden 
urteilen,  ob  er  bereits  der  Zeit,  da  er  für  sein  Vateriand  keine  Hoffnung 
mehr  hat,  angehört  (s.  v.  Wilamowitz  Her.  I^  132ff.).  Sicher  weist 
ihn  die  ganze  Stimmung  des  Dichters  zwischen  die  Hiketiden  und  die 
Troerinnen.  Auch  die  Vermutung,  die  v.  Wilamowitz  ausgesprochen 
hat  (a.  a.  0.  135),  daß  der  Bruch  des  E.  mit  allen  nationalen  Hoffnungen 
zusammenhänge  mit  der  Person  des  Alkibiades,  dem  er  noch  420  (die 
Zeit  scheint  mir  sicher)  ein  Siegeslied  gedichtet  hat,  wird  unbeweisbar, 
aber  wahrscheinlich  bleiben.  Die  troische  Trilogie  415  ist  erklärlich 
in  völligster  Verzweiflung  an  allen  irdischen  Hoffnungen  gedichtet, 
eine  Tragödie  des  letzten  Gerichts  über  alles  Griechentum. 

4.  Die  Zeit  des  bürgerlichen  Schauspiels,    des   Intrigenstücks,   des  1270 
phantastischen   Rührstücks.     Zwar  lassen  sich   die  mannigfachen  Auf- 
gaben, die  E.,  der  sich  mit  Energie  aus  der  weltverachtenden  Stimmung 

zu  rastlosem  Schaffen  herausreißt,  in  diesen  Jahren  bis  zu  seinem 
Abschied  von  der  Vaterstadt  sich  gestellt  hat,  nicht  unter  einen  Ge- 
sichtspunkt bringen.  Am  meisten  tritt  hervor,  daß  er  in  einer  Reihe 
von  Stücken  Stoffe  und  Personen  des  Mythos  immer  mehr  wie  Vor- 
gänge und  Menschen  des  ihn  umgebenden  Lebens  behandelt,  denen 
nur  eben  noch  die  mythischen  Namen  hinderiich  sind,  frei  von  den 
Fesseln  der  Tradition  des  dionysischen  Festspiels  ein  bürgeriiches 
Schauspiel  zu   gestalten.     In  den   Phoinissen  aber  schichtet  er  noch 


396  Euripides 

einmal  alle  Motive  der  thebanischen  Tragödien  übereinander,  um  ein 
grandioses  Rührstück  zu  schaffen,  das  im  Altertum  seine  ungeheure 
Wirkung  nie  verfehlt  hat.  408,  ehe  er  geht,  entsagt  er  ausdrücklich 
dem  TTpaKTiKÖc  ßioc  in  der  Antiope. 

5.  Die  Zeit  des  makedonischen  Aufenthalts.  Das  charakteristische 
Stück  dieser  anderthalb  Jahre,  das  ganz  in  der  neuen  Umgebung 
wurzelt,  sind  die  Bakchen.  Er  gibt  sich  als  Dichter  dem  dionysischen 
Rausche  ganz  hin,  er  schwelgt  in  der  Stimmung,  daß  es  so  schön 
wäre,  Frieden  zu  haben  vor  dem  Zweifeln  und  dem  Grübeln  -  er 
starb  ohne  ihn  zu  finden.  Daß  der  nahezu  SOjährige  Dichter  dies 
Drama  schreiben  konnte,  wird  immer  ein  Wunder  bleiben. 

Für  die  Gesamtentwicklung  des  Euripideischen  Dramas  ist  der 
Punkt  am  wichtigsten,  daß  der  Widerspruch  zwischen  der  Tradition 
des  Mythos  und  den  künstlerischen  Zielen  und  Problemen  des  Dichters 
immer  schärfer  wird  und  schließlich  das  ganze  Kunstwerk  auseinander- 
sprengt, das  nur  noch  mit  den  gewaltsamsten  Mitteln  scheinbar  zu- 
sammengehalten werden  kann.  Am  Ende  dieser  Entwicklung  stehen 
für  uns  Elektra  und  Orestes.  Der  Mythos  war  der  notwendige  Stoff 
des  heiligen  Spiels  des  Dionysos  und  wie  ihn  E.  auch  modifiziert,  die 
traditionellen  Stoffe  sind  zu  fest  gefügt  als  daß  er  sie  ganz  sprengen 
könnte.  Sein  religiöses  und  sittliches  Gefühl  lehnt  sich  auf  gegen  den 
Gang  und  die  Tatsachen  der  alten  Geschichten  und  er  kann  nicht 
anders  als  es  ehrlich  auszusprechen:  so  verneint,  verfolgt,  vernichtet 
er  selbst  den  Mythos,  in  den  schließlich  einzumünden  er  durch  die 
geheiligten  Traditionen  seines  Theaters  gezwungen  ist.  Die  Dar- 
stellung der  Heldensage  auf  der  attischen  Bühne  hatte  sich,  wie  jede 
Kunstform  zu  ihrer  Zeit,  abgelebt,  und  hatte,  wie  natürlich,  die  Adap- 
tierung der  Heroen  an  die  Menschen  der  Zeit  des  Dichters  immer- 
während Fortschritte  gemacht,  so  war  dem  E.  klar  und  unabweisbar 
der  Widerspruch  zwischen  der  Lösung  der  alten  Konflikte,  wie  ihn 
die  Sage  gab  und  wie  ihn  die  Sittlichkeit  seiner  Zeit  geben  würde 
und  geben  müßte.  Da  konnte  kein  Orestes  ohne  Reue  und  Strafe 
von  dannen  gehen.  So  ist  sein  modernes  Drama,  das  die  sozialen 
und  sittlichen  Konflikte  seiner  Zeit  darzustellen  drängte,  zu  innerstem 
Zwiespalt  verdammt  durch  die  Fesseln  einer  Tradition,  die  E.  gar 
nicht  zerbrechen  konnte.  Was  als  schärfster  Tadel  berechtigt  scheinen 
mußte  und  objektiv  auch  berechtigt  ist,  bleibt  für  den  Dichter  selbst 
1271  und  sein  Streben  der  höchste  Ruhm.  Der  Schritt,  die  mythischen 
Geschichten  und  Namen  abzuwerfen  und  die  Stoffe  freizumachen,  ist 
von   der  neueren  Komödie   getan  worden,    die   sich   zwar  nach   dem 


Euripides  ogy 

Spiel  des  Kratinos  und  Aristophanes  nennt,  aber  die  direkte  Fort- 
setzung der  Tragödie  des  E.  ist.  Die  Komödie  hatte  die  Freiheit  der 
Stoffe:  so  konnte  nur  unter  ihrem  Titel  ein  modernes  vom  Mythos  er- 
löstes  Drama  sich  bilden.  Freilich  waren  nun  für  diese  Komödie  die 
bedeutendsten  Probleme  der  Euripideischen  Tragödie  nicht  mehr  mög- 
lich. Aber  sogar  an  der  Art  der  Masken  dieses  neuen  bürgerlichen 
Schauspiels  sieht  man,  wie  es  nicht  die  altattische  Komödie  weiter- 
führt, sondern  die  Euripideische  Tragödie  (Dieterich  Pulcinella  52). 
E.  hat  in  heißem  Ringen  dem  »modernen'  Drama  die  Bahn  gebrochen. 
Die  dramatische  Kunst  des  E.  in  Kürze  darzustellen  ist  außer- 
ordentlich schwierig.  Hauptpunkte  lehrt  am  besten  die  Parodie  des 
Aristophanes  kennen,  noch  weniger  die  der  Acharner  und  Thesmo- 
phoriazusen  als  die  ausführliche  der  Frösche,  die  uns,  wenn  wir  von 
Spott  und  Parteistandpunkt  des  Komikers  und  Tendenz  des  Stückes 
abzusehen  verstehen,  erkennen  läßt,  was  dem  Altertume  die  Haupt- 
punkte in  der  Kunst,  eine  Tragödie  zu  schreiben,  waren.  Spott  und 
Parodie  geht,  wie  Bruns  (Das  literar.  Porträt  154f.  159ff.)  fein  gezeigt 
hat,  nicht  auf  die  Person,  sondern  auf  das  Wesen  seiner  Kunst.  Es 
sind  zunächst  ein  paar  scheinbar  nebensächliche  Kunstmittel,  die  für 
die  dramatische  Technik  des  E.  einst  wie  jetzt  besonders  charakteristisch 
erschienen  sind.  Die  Prologe  mit  ihrem  bald  im  schematischen 
Formalismus  erstarrten  Aufbau  hat  man  immer  wieder  zu  erklären  sich 
bemüht,  immer  wieder  in  neuer  Verwunderung,  wie  ein  solcher  Meister 
dramaturgischer  Ökonomie  einer  so  schalen  Technik  habe  verfallen 
können.  Zum  Besten,  was  zum  Verständnis  der  Prologe  gesagt  ist, 
gehört  auch  heute  noch,  was  Lessing  Hamb.  Dramat.  1.  Stück,  49. 
und  50.  Stück  auseinandersetzt.  E.  ,ließ  seine  Zuhörer  also  ohne  Be- 
denken von  der  bevorstehenden  Handlung  eben  so  viel  wissen,  als 
nur  immer  ein  Gott  davon  wissen  konnte,  und  versprach  sich  die 
Rührung,  die  er  hervorbringen  wollte,  nicht  sowohl  von  dem,  was  ge- 
schehen sollte  als  von  der  Art,  wie  es  geschehen  sollte*.  Die  Prologe 
gaben  zum  voraus  alles  an,  was  zum  Verständnis  der  Handlung  zu 
wissen  notwendig,  was  dann  am  nötigsten  war,  wenn  der  Dichter  die 
Voraussetzungen  des  Mythus  änderte  und  erst  spätere  gelegentliche 
Hinweise  falschen  Erwartungen  und  Mißverständnissen  nicht  sicher  vor- 
gebeugt hätten.  In  der  Regel  kehren  mehrere  Teile  des  Prologs  wieder: 
die  redende  Person  nennt  sich  und  den  Ort  der  Handlung  (oft  mit 
öb€),  Früheres  wird  erzählt,  die  wesentliche  Handlung  wird  angegeben, 
etwa  der  Furcht  oder  Hoffnung  Ausdruck  gegeben.  Die  Handlung  des 
Dramas   beginnt  immer  erst  nach  dem  Prolog,   oft  setzt  sich  darnach 


398  Euripides 

noch  die  Exposition  fort.  Man  erkennt,  daß  der  Prolog  sich  immer 
mehr  vom  eigentlichen  Drama  loslöst  und  daß  ihn  darum  E.  sorglos 
in  rhetorischer  Manier  behandelt.  Ein  Bedürfnis,  wie  das  nach  dem 
1272  Theaterzettel  und  auch  nach  einer  Kenntnis  der  Haupthandlung  überall  da, 
wo  nicht  die  Spannung  der  Neugier  des  Publikums  das  Wesentlichste  ist, 
wird  durch  diese  »Vorrede*  befriedigt,  und  dieser  KfjpuH,  der  das  irpöciuTTov 
einer  oft  sehr  wenig  mit  der  Handlung  des  Stückes  verknüpften  Person 
trägt,  gehört  kaum  noch  zu  dem  Kunstwerk  selbst  (KfjpuH,  vgl.  Arist. 
Acharn.  1 1  mit  Schol).  Die  weitere  Entwicklung  des  Prologs  im  antiken 
Drama  zeigt  diese  Auffassung  immer  deutlicher  (s.  bes.  Leo  Plautin. 
Forsch.  170 ff.,  auch  Fabia  Les  prologues  de  T^rence  1888,  60 ff.). 

Die  Technik  der  Euripideischen  Prologe  im  einzelnen  haben  nament- 
lich erschlossen  Klinkenberg  De  E.  prologorum  arte  et  interpolatione, 
Bonn  1881  und  v.  Arnim  (derselbe  Titel)  Greifswald  1882.  Gegen  die  An- 
nahme zahlreicher  Interpolationen  und  Erweiterungen,  die  nach  Klinken- 
b e r g  die  Prologe  heimgesucht  hätten  (er  schließt  anUseners  Ausführungen 
Rh.  Mus.  XXIII  158 ff.  an),  wendet  sich  die  Verteidigung  v.  Arnims. 

Der  deus  ex  machina  hat  von  alters  ähnlichen  Tadel  wie  der 
Prolog  erfahren.  Er  hängt  ersichtlich  oft  damit  zusammen,  daß  die 
Zerstörung  des  Mythus  durch  E.  und  die  gänzlich  unauflösbar  ge- 
wordene Handlung  eine  so  gewaltsame  Endigung  der  Handlung  er- 
zwingen. Nach  Schrader  Rh.  Mus.  XXII  544ff.  XXIII  103ff.,  Kuhlen- 
beck Der  deus  ex  machina  in  der  griech.  Tragöd.,  Osnabrück  1874, 
A.  Dühr  De  deo  ex  mach.  Eurip.,  Stendal  1875  urteilt  bei  weitem  am 
richtigsten  Lindskog  Studien  zum  ant.  Drama  70  ff.  Die  Götter- 
erscheinung am  Schlüsse  überhaupt  hat  E.  nicht  erfunden,  und  wenn 
sich  herausstellt,  daß  das  einzige,  was  in  keiner  Schlußszene  mit  dem 
deus  ex  machina  fehlt,  die  Stiftung  irgendeines  Kults,  die  Gründung 
einer  Stadt,  die  Prophezeiung  von  irgend  welchen  Stammesheroen,  die 
Erklärung  einer  Verwandlungssage  u.  dgl,  kurz  irgendein  aixiov  ist,  so 
wird  man  annehmen  dürfen,  daß  diese  Gottesoffenbarung,  die  6eia  dTT^^i«» 
am  Schluß  zum  Teil  noch  immer  mit  dem  aitiologischen  Element  des 
heiligen  Spieles  zusammenhängt,  wenn  der  Mythos  z.  B.  die  Einsetzung 
eines  Kults  erklärt  und  darstellt.  (An  anderem  Orte  wird  dieser  Ge- 
sichtspunkt ausführlicher  dargelegt  werden.)^  Es  sind  eigentlich  nur 
sechs  Dramen,  die  ein  ,natürHches  Ende*  haben;  denn  die  Medea 
schließt  tatsächlich  ck  lurixavfic,  in  der  Iphig.  Aulid.  trat  ursprünglich 
Artemis   am   Schlüsse   auf.     Es   bleiben  Alkestis,   Troerinnen,   Hekabe, 

^  <S.  Ericus  Mueller  De  Graecorum  deorum  partibus  tragicis,  Rel.-gesch. 
Vers.  Vorarb.  VIII  3.) 


Euripides  ogg 

Herakliden,  Phoinissen,  Herakles.  Die  Alkestis  nimmt  wirklich  eine 
Sonderstellung  ein,  in  den  Troerinnen  ist  die  Götteroffenbarung  von 
Poseidon  und  Athene  am  Anfang  statt  am  Schlüsse  gegeben,  am 
Schluß  der  Herakliden,  der  Hekabe  und  der  Phoinissen  läßt  E.  jedes- 
mal eine  der  Personen  göttlichen  Orakelspruch  verkünden  oder  zitieren. 
Nur  im  Herakles  kommt  nichts  dergleichen  vor  (wenn  man  nicht  im 
Schlüsse  das  aixiov  des  ,Herakles  in  Athen*  sehen  will).  Es  ist  sehr 
bezeichnend,  daß  E.  im  Schlüsse  fast  immer  mit  besonderem  Eifer  zu 
I  der  heiligen  Legende  zurückkehrt,  die  er  so  oft  selbst  zuvor  zerstört 
I  hat,  und  daß  er  offenbar  bewußt  an  ältere  Kunst  (ich  erinnere  nur 
an  die  Orestie  und  Promethie  des  Aischylos)  anknüpfend,  in  für  die 
Zuhörer  besonders  reizvoller  Weise  das  Spiel  in  die  Erinnerung  an 
bekannte  oder  bestehende  heilige  Einrichtungen  und  heilige  Traditionen  1273 
einmünden  läßt. 

In  den  Epeisodien,  den  Szenen  der  Dramen,  zeigt  E.  seine  Kunst 
besonders  in  dem  kunstvollen  Aufbau  der  Reden  und  Gegenreden  bis 
zu  den  kunstvoll  pointierten  Stichomythien,  der  pnceic  einzelner  Personen 
bis  zu  den  mit  raffinierter  Technik  aufgebauten  Botenreden  (nur  zwei 
treffliche  Arbeiten  seien  aus  der  Fülle  der  geringen  herausgehoben: 
Hirzel  De  E.  in  componendis  diverbiis  arte,  Diss.  Bonn  1862  und 
Adolf  Gross  Die  Stichomythie  in  der  griech.  Trag.  u.  Kom.,  Berlin  1905). 
Der  Kampf  zweier  Personen  in  Rede  und  Gegenrede  wird  in  ganz 
festen  Formen  ausgebildet  und  den  Reden  beider  folgen  z.  B.  regulär 
ein  paar  Chorverse  (meist  zwei  oder  auch  vier,  einzeln  drei  oder  fünf, 
nie  bloß  einer),  die  den  Aufbau  der  Szene  markieren  (so  die  Bemerkung 
von  v.  Wilamowitz  Her.  11^  60).  Die  Sprache  ist  immer  mehr  der 
des  täglichen  Lebens  angenähert;  das  entspricht  ganz  der  Gesamt- 
entwicklung der  Euripideischen  Tragödie,  die  immer  mehr  die  Realität 
des  Lebens  ihrer  Zeit  eindringen  läßt-  Auch  hier  führt  der  gerade 
Weg  weiter  zur  neueren  Komödie.  Das  eigentlich  Charakteristische 
aber  der  Sprache  und  des  Stils  der  Dialogpartien  ist  das  rhetorische 
Element.  Der  Sophistenschüler  ist  durch  und  durch  rhetorischer  Poet. 
Die  ciTtuvec  und  dvTiXoTiai,  die  äfAiWai  Xötujv  mit  allem  rednerischen 
Schmuck  der  XeHic  beherrschen  seine  Stücke.  Und  zwar  finden  wir 
bei  ihm  die  cxn^axa  XeHewc,  die  wir  nach  Gorgias  zu  bezeichnen 
pflegen,  bereits  vor  dessen  Auftreten  in  seinen  Stücken.  'AviiGeceic, 
Trapicujceic,  öiuoioTeXeuTa  beherrschen  z.  B.  ganz  die  ä^iiXXa  Xötwv 
(Med.  546,  vgl.  [Gorg.]  Helena  13)  des  lason  und  der  Medea  in  der 
Tragödie,  die  schon  vier  Jahre  vor  dem  Auftreten  des  Gorgias  m 
Athen   aufgeführt  war  (M.  Lechner  De  Euripide  rhetorum   discipulo, 


400  Euripides 

Progr.  Ansbach  1874.  Th.  Miller  Euripides  rhetoricus,  Diss.  Göttingen 
1887.  P.  Hermannowski  De  homoeoteleutis  quibusdam  tragicorum, 
Dissert.  Berlin  1881.  Norden  Antike  Kunstprosa  I  28 f.  II  832 f.). 
Mag  man  nun  in  Thrasymachos  den  sehen,  der  den  E.  im  besonderen 
angeregt  hat  (v.  Wilamowitz  Her.  11^  61,  vgl.  E.  Seh  wart  z  De  Thrasy- 
macho  Chalced.  Programm  Rostock  1892),  oder  sich  begnügen,  fest- 
zustellen, daß  die  Sophisten  schon  vor  Gorgias  jene  Kunstmittel  und 
Schmuckstücke  der  Rede  kannten  und  handhabten  (Norden  a.  a.  0. 
29),  jedenfalls  zeigt  es  sich  bei  E.  am  deutlichsten,  wie  Poesie  un< 
rhetorische  Prosa  ineinander  übergehen:  die  Sophisten  sind  TroiriTai 
und  E.  ist  coqpiciric.  Die  wichtige  Beobachtung  Nordens  (a.  a.  0. 
76)   darf   aber  nicht   unerwähnt  bleiben,   daß  die  Alkestis  noch  ,völlig 

V,  frei  von  jenen  rhetorischen  Kunstgriffen*  ist,  von  denen  die  Medea 
wimmelt;  also  hat  ganz  akut  sophistisch -rhetorischer  Einfluß  zwischen 
438  und  431  bei  E.  eingesetzt. 

Es  mag  gleich  an  dieser  Stelle  der  metrischen  Praxis  des  E.  in 
den  Epeisodien,  d.  h.  im  Trimeter  Erwähnung  geschehen.  Außer  dem 
iambischen  Trimeter  hat  nur  das  der  älteren  Tragödie  wieder  entlehnte 
trochäische  Maß   durch  E.   wieder  stärkere  Verwendung  gefunden  und 

1274 das  immer  reichere  Repertoir  seiner  Kunstmittel  gesteigert:  im  Herakles 
kommt  es  zuerst  vor  (soweit  die  Stücke  erhalten  sind;  für  Meleagros 
und  Oidipus  stellt  es  v.  Wilamowitz  fest.  Her.  F  145),  dann  in  den 
Troerinnen  und  weiterhin  immer  häufiger  (Ion,  Helena,  beide  Iphigenien, 
Phoinissen,  Orestes,  Bakchen,  Andromeda,  Archelaos,  s.  v.  Wilamo- 
witz a.  a.  0.).  Der  iambische  Trimeter  wird  immer  beweglicher  und 
freier  und  wie  die  Sprache  nähert  sich  ihre  Formung  im  Dialogvers 
immer  mehr  dem  realen  Leben  an  (wegen  der  außerordentlich  fleißigen 
Zusammenstellungen  nenne  ich  hier  A.  Taccone  II  trimetro  giambico 
dei  frammenti  tragici,  satireschi  e  comici,  e  dell'  Alessandra  di  Lico- 
frone,  in  den  Memorie  della  R.  Academia  delle  Scienze  di  Torino, 
Serie  II  Bd.  54,  1904).  Hier  ist  das  Wichtigste  festzustellen,  daß  die 
Auflösungen  und  Anapäste  im  Trimeter  nicht  im  mindesten  eine  saloppere, 
laxere  Praxis  des  E.  gegen  frühere  Technik  darstellen,  sondern  ganz 
im  Gegenteil  fein  gehandhabte  künstlerische  Mittel,  einer  steif  werden- 
den Manier  zu  entgehen. 

Der  Chor  spielt  bei  E.  für  das  eigentliche  Drama  und  seine  Hand- 
lung eine  immer  geringere  Rolle.  Er  ist  für  ihn  ein  überkommenes 
Bühneninstitut,  das  er  dramaturgisch  nur  noch  verwendet,  wenn  Pausen 
auszufüllen,  Personen  einzuführen,  Abschnitte  der  Diskussion  zu  markieren 
sind,   um  den  »Monologen*,   die  ohne  das  unmöglich  wären,   einen  Zu- 


Euripides  4qj 

hörer  zu  geben,  der  doch  der  Handlung  gegenüber  völlig  unpersön- 
licher Statist  ist.  E.  hat  feste  Typen  der  Vertreter  und  Vertreterinnen 
des  Chors,  und  die  weiblichen  Chöre  überwiegen  stark  (v.  Wilamo- 
witz  Her.  I^  116).  Die  Chöre  sind  immer  mehr  nur  e|ußö\i|ua  und 
könnten,  ohne  das  Gewebe  der  Handlung  im  geringsten  zu  lädieren, 
herausgenommen  werden.  Die  Verselbständigung  der  Lieder,  ja  der 
einzelnen  Strophen  ist  immer  mehr  zu  beobachten.  Nun  wird  aber 
das  überkommene  Institut  für  E.  ein  Vehikel,  seine  ganz  besondere 
Kompositionsbegabung,  seine  musikalische  Kunst  in  der  Tragödie  zur 
Geltung  zu  bringen  und  neben  den  eigentlichen  Chorliedern  wachsen 
nun  immer  mehr  nicht  nur  die  koiuilioi,  viel  mehr  noch  die  Monodien 
einzelner  Schauspieler  an  Umfang  und  brillierenden  Kunstmitteln.  Die 
Musik  gewinnt  in  den  Bravourarien  der  einzelnen  Sänger  die  volle 
Herrschaft.  Wir  sehen  das  am  deutlichsten  an  solchen  Künsten,  wie 
sie  Aristophanes  verspottet,  dem  nachgemachten  Echo,  der  Wieder- 
holung der  gleichen  Worte  u.  dgl.  (Thesmophoriazusen  und  Frösche). 
Die  Gliederung  in  Strophen  hört  auf,  die  Lieder  sind  d7ro\eXu|Lieva, 
metrisch  geradezu  frei  fortlaufende  Potpourris.  Diese  durchkomponierten 
Arien  setzen  sich  fort  in  der  hellenistischen  Lyrik  und  dann  in  den 
Cantica  der  römischen  Komödie  (s.  Leo  Die  plautinischen  Cantica  und 
die  hellenistische  Lyrik,  AbhandL  Gott.  Ges.  d.  Wiss.  N.  F.  I  7,  1897,  zu  E. 
besonders  S.  78  ff.).  Der  Gipfelpunkt  der  Euripideischen  Arienkomposition 
ist  das  Bravourstück  des  Phrygers  im  Orest  (für  dieses  will  ich  wenigstens 
ausdrücklich  die  Analysen,  die  v.  Wilamowitz  Orestie  II  258  und  Gott. 
Nachr.  1896,  218  gegeben  hat,  notieren;  andere  Analysen  euripideischer 
Lieder  s.  in  seinen  Kommentaren).  Die  Parodie  einer  E.-Arie  in  den 
Fröschen  1331  ff.  stellt  sich  direkt  neben  ,des  Mädchens  Klage*.  Die 
Einführung  und  Ausgestaltung  der  Euripideischen  Arien  ist  beeinflußt  1275 
durch  die  neue  Musik,  die  im  Dithyrambus  und  der  Kitharodie  empor- 
blühte. Die  Angaben  des  Altertums,  die  den  Timotheos  von  Milet  mit 
E.  zusammenbringen,  sind  zwar  auch  heute  noch  unkontrollierbar;  wie 
die  Kunst  des  E.  von  der  des  Timotheos  beeinflußt  ist,  können  wir 
einigermaßen  selbst  sehen,  wenn  wir  den  Omphalos  der  neugefundenen 
Perser  unmittelbar,  etwa  wie  es  der  erste  Herausgeber  ausspricht, 
mit  den  Liedern  der  lokaste  und  Antigone  in  den  Phoinissen,  der 
Elektra  und  des  Phrygers  im  Orestes  vergleichen  (v.  Wilamowitz 
Timotheos  Perser  100  f.,  über  die  Beziehungen  von  E.  und  Timotheos  67). 
Eine  brauchbare  Zusammenstellung  über  die  neumusikalische  Kunst 
des  E.  gibt  das  Buch  von  Esteve  Les  innovations  musicales  dans  la 
trag^die  grecque  ä  l'^poque  d'Euripide,  Paris  1902. 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  26 


402  Euripides 

Man  pflegt  für  die  freiere  Behandlung  der  Lieder,  die  immer 
stärkere  Vermischung  verschiedener  Versarten  ebenso  wie  für  das 
stärkere  Durchdringen  freierer  Bewegung  des  Trimeters  als  ungefähres 
Epochenjahr  420  anzugeben,  was  jedenfalls,  soweit  eine  solche  Zahl 
überhaupt  etwas  Wahres  geben  kann,  zutrifft  (die  früher  viel  benutzten 
Bücher  Arnoldt  Die  chorische  Technik  des  E.,  Halle  1878,  und  Buch- 
hol tz  Die  Tanzkunst  des  E.,  Leipzig  1871,  mögen  auch  hier  wenigstens 
genannt  sein,  und  immerhin  auch  das  Neueste,  eine  Hallenser  Disser- 
tation von  R.  Lohmann  Nova  Studia  Euripidea,  Diss.  Phil.  Hai.  XV  1904). 
Die  Kunst  des  E.  in  dem  Aufbau  und  der  Ökonomie  des  Dramas, 
also  die  eigentlich  dramaturgische  Technik  ist  noch  so  wenig 
untersucht  (neuerdings  einiges  Wertvolle  bei  Detscheff  De  tragoediarum 
Graecarum  conformatione  scaenica  ac  dramatica,  Diss.  Gott.  1904),  daß 
hier  nur  geringe  Andeutungen  Platz  finden  können.  Die  Trilogie  in 
einer  zusammenhängenden  Handlung  hat  er  offenbar  nur  selten  noch 
aufgebaut;  wir  wissen,  daß  die  Stücke  der  troischen  und  thebanischen 
Trilogie  in  diesem  Zusammenhang  standen  und  es  ist  erschlossen 
worden,  daß  der  erste  Hippolytos,  Aigeus  und  Theseus  eine  Trilogie 
bildeten  (s.o. zum  Hippolytos  <S. 379>,  und  wohl  auch  Herakliden,  Kres- 
phontes  und  Temenos  (v.  Wilamowitz  Herm.  XI  301  f.  XVII  337 ff.). 
Weiteres  hierüber  wagt  zuletzt  Paul  Girard  La  trilogie  chez  Euripide,  Revue 
d.  et.  gr.  XVII 1904, 149  ff.  Man  beobachtet  dagegen,  daß  bei  einigen  Stücken 
die  Einzeltragödie  geradezu  in  zwei  Stücke  zerfällt,  die  nur  lose  anein- 
anderhängen.  Freilich  muß  man  unterscheiden,  ob  die  Teile  in  der  Fort- 
entwicklung ihrer  Handlung  aufeinander  berechnet  sind  und  der  erste  Teil 
erst  die  volle  Wirkung  des  zweiten  hervorbringt,  wie  im  Herakles,  oder  ob 
wirklich  zwei  Handlungen  ohne  innere  Einheit  aneinander  gereiht  sind, 
damit  ein  Stück  voll  werde,  wie  es  in  der  Andromache  der  Fall  ist. 
Solche  Anzeichen  einer  schnellen,  sorglosen  Komposition  der  Dramen 
finden  sich  mehrfach  gerade  in  der  mittleren  Periode  der  Dichtung 
des  E.  E.  ist  aber  von  alters  der  anerkannte  Meister  der  Schürzung 
und  Lösung  der  dramatischen  Verwicklung,  der  Verknüpfung  der  Motive 
der  ,verflochtenen*  Handlung.  Die  Peripetie  weiß  er  oft  mit  raffinierter 
1276 Kunst  zur  höchsten  Erschütterung  wirksam  zu  machen,  mehrfach  ist 
ihm  dazu  das  ,Altarmotiv*  -  Hartbedrängte  am  Altar  werden  im  Augen- 
blick der  Not,  da  sie  am  höchsten  ist,  gerettet  -  das  in  gleichartigen 
Formen  benutzte  dramaturgische  Mittel.  Auch  hier  ist  gelegentlich 
eine  Technik  der  Spannung  gehandhabt,  die  keinem  modernen  Drama- 
tiker etwas  nachgibt.  In  der  Andromache  wie  im  Herakles  gestaltet 
das  Altarmotiv   die   erste  Hälfte   des  Dramas,   im  Ion   nur  eine  Szene, 


Euripides  4Qß 

in  den  Herakliden  und  Hiketiden  trägt  es  den  ganzen  Aufbau.  Wie 
er  dies  ältere  Motiv  zu  den  stärksten  Wirkungen  verfeinert,  so  auch 
immer  und  immer  wieder  das  überkommene  Motiv  des  dvaTviupicinöc, 
das  in  der  taurischen  Iphigenie  seine,  soweit  wir  die  Stücke  noch 
haben,  feinste  Ausgestaltung  durch  E.  erfahren  hat  (denn  in  Elekt'ra 
und  Helena  ist  es  lange  nicht  so  fein  vorbereitet  und  ausgeführt). 
Daß  er  das  erotische  Motiv  für  die  Bühne  erobert  hat,  wurde  oben 
kurz  ausgeführt.  Dies  Motiv  hat  er  in  allen  Hauptformen,  die  die 
Tragödie  aller  Folgezeit  beherrscht  haben,  vorgebildet,  von  der  Liebe 
der  Stiefmutter  zum  keuschen  Stiefsohn,  der  Eifersucht  und  Rache 
des  verlassenen  Weibes  bis  zum  Inzest  der  Geschwister.  Zu  immer 
neuen  Gestaltungen  hat  ihm  aber  gerade  das  uralte  Motiv  des  Gpnvoc 
gedient,  wenn  ich  so  alle  Motive  der  ,Rührung*,  über  die  E.  verfügt, 
zusammenfassen  darf.  Eine  Häufung  von  Rührszenen  und  rührenden 
Gestalten  charakterisieren  geradezu  einzelne  Stücke,  am  meisten  fielen 
aber  schon  im  Altertume  auf,  wie  uns  so  anschaulich  die  Parodie  der 
Acharner  zeigt,  die  mannigfaltigen  Jammergestalten:  zerlumpte  oder 
lahme  Helden,  hinfällige  Greise,  wimmernde  Kinder.  Auch  in  kleinen 
Zügen  bildet  sich  eine  völlige  Typik  solcher  Figuren  aus;  über  den 
Typus  des  Greises  einige  Bemerkungen  bei  v.  Wilamowitz  Her.  11^ 
28,  46,  152,  über  die  Kinderrollen  bei  E.  s.  Conr.  Haym  De  puero- 
rum  in  re  scaenica  Graecorum  partibus,  Diss.  phil.  Hai.  XIII  222  ff.  259  ff. 
Zu  den  Rührmotiven  gehört  auch  das  öfter  als  Nebenmotiv  angewandte 
Jungfrauenopfer  (Herakliden,  Hekabe,  Erechtheus,  aulische  Iphigenie, 
das  Knabenopfer  des  Menoikeus  in  den  Phoinissen;  die  Todesweihe 
der  Euadne  in  den  Hiketiden  stellt  darüber  hinaus  noch  ein  höheres 
tragisches  Motiv  dar).  Über  eine  Reihe,  es  kurz  zu  sagen,  patho- 
logischer Motive  verfügt  die  Kunst  des  E.  Vor  allem  weiß  er  ganz 
anders  als  seine  Vorgänger  den  Wahnsinn  durchaus  realistisch  so  dar- 
zustellen, wie  ihn  auch  die  alten  Mediziner  beschreiben  (Dieterich 
Rh.  Mus.  XLVI  30  <oben  53>f.  H.  Harries  Tragici  graeci  qua  arte  in 
describenda  insania  usi  sint,  Diss.  Kiel  1891),  namentlich  im  Herakles,  der 
taurischen  Iphigenie  und  im  Orest.  Damit  ist  zweimal  verbunden  das 
Motiv  der  Schlafszene.  Wir  wissen  nicht,  ob  es  von  E.  erfunden  ist, 
denn  auch  in  der  Eriphyle  des  Sophokles  kam  es  in  der  gleichen 
Verbindung  vor  (frg.  198  Alkmeon  schlief),  die  Szene  im  Herakles  hat 
Sophokles  in  den  Trachinierinnen  nachgemacht,  E.  hat  im  Orest  noch 
einmal  mit  den  Künsten  der  neuen  Musik  alle  Wirkungen  dieses 
Motivs  ausgenutzt  (Dieterich  Rh. Mus. XLVI  25  <oben  48>ff.).  Mit  dieser 
Szene  hängt  eng  zusammen  die  Verwendung  des  Motivs  des  körperlichen 


404  Euripides 

1277  Schmerzes  auf  der  Bühne,  die  eine  eingehende  Untersuchung  verdient, 
und  die  stärkste  Steigerung  dieses  Motivs  in  den  Sterbeszenen,  die  recht 
wohl  eine  Entwicklung  erkennen  lassen  (einige  Bemerkungen  bei  Diete- 
rich a.  a.  0.  45  <oben  67>f.).  Von  besonderer  Wichtigkeit  sind  ferner  die 
Motive  des  Traums  und  der  Orakel  in  den  Dramen,  die  bisweilen  eine 
nebensächliche,  oft  dramaturgisch  eine  Hauptrolle  spielen.  Mit  Recht 
ist  bereits  darauf  hingewiesen  worden,  daß  die  Orakel  für  die  antiken 
Dramen  durchaus  zu  den  rein  menschlichen  Motiven  gehören,  weil  sie 
für  jene  Menschen  eine  Realität  sind.  Auch  wenn  mit  Untersuchungen 
über  die  Motive,  wie  ich  sie  andeute,  nicht  viel  zu  »erreichen*  ist,  wie 
man  gemeint  hat:  die  Entwicklungsgeschichte  der  dramatischen  Kunst 
selbst,  speziell  der  Euripideischen,  ist  ein  viel  größeres  Problem  als 
eine  einzelne  Datierungsfrage.  Die  Kunst  der  Charakteristik  der  Per- 
sonen kann  nicht  in  Kurzem  geschildert  werden,  ohne  auf  Verhand- 
lung des  einzelnen  einzugehen.  Das  Typische  gewisser  Personen  ist 
schon  bemerkt  worden,  wie  bei  Kindern  und  Greisen  (s.  o.  <403», 
so  besonders  bei  Herolden,  Dienern  und  Dienerinnen  (v.  Wilamowitz 
Her.  I^  122;  über  Tyrannen  s.  ebd.  11^  61;  wenig  Förderndes  bei 
Walther  Heim  Die  Königsgestalten  bei  den  griech.  Tragikern,  Diss. 
Erlangen  1904,  79  ff.  u.  s.  Joh.  Schmidt  Der  Sklave  bei  Euripides, 
Festschrift  der  Fürstenschule  Grimma  1891,  93  ff.  und  Programm  von 
Grimma  1892). 

Es  hätte  nun  zum  Schlüsse  noch  eine  kurze  Darlegung  der  Welt- 
anschauung des  E.  zu  folgen.  Da  sie  präzis  heute  noch  nicht  ge- 
geben werden  kann,  begnüge  ich  mich  mit  einigen  Hinweisen  auf  die 
wichtigste  Literatur,  die  diese  Fragen  gefördert  hat.  Das  Buch  von 
Wilh.  Nestle,  E.,  der  Dichter  der  griechischen  Aufklärung*  Stuttgart  1901 
kann  wohl  als  Zusammenstellung  reichen  Materials  gute  Dienste  leisten; 
richtige  Resultate  sind  von  vornherein  deshalb  unmöglich,  weil  Nestle  in 
harmonisierendem  Bestreben,  aus  beliebigen  Äußerungen  irgend  welcher 
Personen  der  Dramen,  mit  sorgloser  Benutzung  der  Fragmente,  ohne 
den  Grund  zu  legen  durch  Untersuchung  der  Stellen  der  erhaltenen 
Stücke,  wo  nachweisbar  der  Dichter  aus  dem  Stücke  hinaus  spricht, 
ein  ganz  falsches  Mosaikbild  einer  einheitlichen  Weltanschauung  ge- 
winnt (vgl.  Zielinski  Neue  Jahrb.  1902,  635 ff.  E.  Bruhn  Gott.  Anz. 
1902,  644  ff.).  Einige  frühere  Werke  sind  in  verschiedener  Richtung 
brauchbar,  die  besten  Decharme  Euripide  et  son  theätre,  Paris  1893 
(dazu  namentlich  Weil  fitudes  sur  le  drame  ant.  93 ff.)  und  Kuiper 
Wijsbegeerte  en  Godsdienst  in  het  drama  van  E.,  Haarlem  1888,  außer- 
dem B erläge  Commentatio  de  E.  philosopho,  Leiden  1888  und  Verall 


Euripides  4Q5 

E.  the  rationalist,  a  study  in  the  history  of  art  and  religion,  Cambr.  1895. 
Am  besten  aber,  im  wesentlichen  richtiger  als  die  genannten  Werke 
orientieren  die  paar  Seiten  bei  Rohde  Psyche  II*  247ff.  und  v.  Wila- 
mowitz  Her.  P  22ff.  (vgl.  auch  Gomperz  Griech.  Denker  II  8ff.). 

Über  die  politischen  Anschauungen  des  E.  orientiert  am  besten 
K.  Schenkt  Die  politischen  Anschauungen  des  E.,  Ztschr.  für  österr. 
Gymn.  XIII  357 ff.  485 ff.  (die  meisten  in  Betracht  kommenden  Stellen, 
übersichtlich  angeordnet  und  zusammengestellt),  vgl.  Haupt  Die  äußere  1278 
Politik  des  E.,  Programm  Eutin  1870;  viele  feine,  freilich  auch  viele 
übereilte  Bemerkungen  bei  Dümmler  Prolegomena  zu  Piatons  Staat, 
Rektoratsprogr.  Basel  1891.  Bei  den  sozialen  Meinungen  des  E. 
kommt  insbesondere  seine  Ansicht  über  Sklaven  und  seine  Stellung 
zum  weiblichen  Geschlecht  in  Frage.  Seine  freien  Ansichten  über  die 
»Menschenrechte*  der  Sklaven  sind  klar  zu  erkennen  (sehr  treffende 
Bemerkungen  über  die  sozialen  Gedanken  des  E.  über  Adlige,  Geld, 
Sklaven,  wie  auch  über  seine  politische  Stellung  in  dem  Vortrag 
Ribbecks  über  E.  und  seine  Zeit,  Bern  1860,  jetzt  Reden  und  Vor- 
träge 146  ff.,  der  fast  30  Jahre  lang  das  Beste  war,  was  überhaupt 
über  E.  geschrieben  war);  zum  typischen  Weiberfeind  ist  er,  der  vom 
Weibe  die  tiefste  Kenntnis  hatte,  die  sich  nicht  ohne  Erfahrung  er- 
wirbt, gewiß  nur  geworden,  weil  er  die  Äußerungen  gegen  die 
Weiber,  denen  mindestens  ebenso  zahlreiche  und  ebenso  starke  für 
die  Weiber  gegenüberstehen,  mit  so  ungewohnter  Ungeniertheit  auf 
seiner  Bühne  aussprechen  läßt  und  weil  der  CKuOpaiiröc  und  aucxripöc 
die  längste  Zeit  seines  Lebens  aller  holden  Geselligkeit  und  allem 
Weiblichen  entfremdet  erschien  (zuletzt  über  Euripide  et  les  femmes 
Masqueray  Revue  des  ^tudes  anciennes  V  (1903)  lOlff.  und  234ff., 
besonders  ausführlich  Decharme  a.  a.  0.  133ff.;  richtiger  urteilt 
Zuretti  Riv.  di  filol.  1897,  53 ff.). 

Die  religiösen  und  philosophischen  Anschauungen  des  E. 
sind  am  schwersten  im  einzelnen  festzustellen.  Hier  vor  allem  ist  zu 
betonen,  daß  der  echte  Dichter,  der  den  verschiedensten  Strömungen 
und  Stimmungen  seiner  Zeit  nachgibt,  sie  fühlt  und  versteht,  die  ent- 
gegengesetztesten Meinungen  in  seinen  Stücken  zu  Wort  kommen  läßt. 
Bei  dem  dramatischen  Dichter,  der  dazu  noch  bei  den  rhetorisch- 
sophistischen Neigungen  seiner  Kunst  immer  wieder  zwei  entgegen- 
gesetzte Meinungen  in  Rede  und  Gegenrede  vertreten  läßt,  wird  erst 
recht  nicht  in  jedem  aus  dem  Zusammenhang  gerissenen  Stücke  seine 
Anschauung  gesehen  werden  können.  Das  tritt  aber  zu  deutlich 
immer  wieder  hervor,  wie  er  mit  seinem  Zweifel  an  allem  traditionellen 


406  Euripides 

Götterglauben  ringt,  wie  er  am  Dasein  der  Götter  selbst  und  an  einer 
gerechten  Weltordnung  irre  wird.  An  ein  persönliches  Leben  nach 
dem  Tode  glaubte  er  nicht;  er  spricht  öfters  von  dem  Geiste,  der  in 
den  Äther,  dem  Körper,  der  zur  Erde  geht,  ein  Glaube,  der  damals 
verbreitet  war,  vielleicht  mit  mystischen  Lehren  direkten  Zusammen- 
hang hat  (Dieterich  Nekyia  lOOff.  104.  Rohde  a.a.O.).  Es  gibt 
Stellen  genug,  da  der  Dichter  ohne  jeden  Zweifel  selbst  seine  Meinung 
sagt,  und  vieles  zeigt  bereits  Wahl  und  Anlage  der  Stoffe  und  Motive. 
E.  ist  erfaßt  von  der  ganzen  geistigen  und  sittlichen  Revolution  seiner 
Zeit  und  er  spiegelt  sie,  ein  echter  Dichter,  in  seinen  Kunstwerken 
wieder.  Daß  dieses  Kunstwerk  auf  den  religiösen  Traditionen  beruht, 
die  für  ihn  vernichtet  sind,  daß  er  so  die  Form  des  Kunstwerks  selbst 
zerstört,  indem  er  es  mit  dem  neuen  Geiste  erfüllt  und  sprengt,  ist 
nicht  seine  Schuld,  sondern  der  Zeit,  die  sein  Leben  und  seinen  Geist 
nährte.  Und  derselbe  Dichter  kann  nicht  einmal,  sondern  öfter,  ja 
fast  ein  ganzes  Stück  hindurch  die  Stimmung  festhalten  und  sie  aus- 
1279  sprechen  lassen,  daß  der  Friede  des  Glaubens  an  die  väterlichen 
Überlieferungen  das  Beste  sei  und  nicht  übermütig  zu  rühren  an  die 
Grenzen,  die  menschlichem  Wissen  gesteckt  seien  (oft  mit  den  für  die 
Tragödie  ganz  traditionellen  Gedanken).  Aus  seinen  formulierbaren 
Anschauungen  über  Welt  und  Seele  kann  man  am  ersten  die  präzis 
aussprechen,  daß  er  einen  Dualismus  von  Geist,  Gott,  Äther  und 
andererseits  Stoff,  Körper,  Erde  dachte.  Manches  mag  durch  An- 
regung der  Mystik,  die  zu  seiner  Zeit  so  stark  hervortrat,  an  ihn 
herangekommen  sein,  und  er  kennt  die  orphischen  und  ähnliche 
Weihen  und  Verheißungen  sehr  wohl,  wie  der  Hippolytos  zeigt,  und 
besonders  die  Kreter,  er  benutzt  den  von  pythagoreischer  Anschauung 
durchzogenen  Epicharm  (zuerst  v.  Wilamowitz  Her.  V  29,  dazu  Di  eis 
Sibyll.  Blätter  34.  Kaibel  Com.  Gr.  Fr.  I  133.  Nestle  Unters,  über 
die  philos.  Quellen  des  E.  601  ff.,  wo  noch  weitere  Literatur  verzeichnet 
ist.  V.  Wilamowitz  nochmals  Textgesch.  d.  griech.  Lyriker,  Abh.  d. 
Gott.  Ges.  d.  W.  N.  F.  IV  3  [1900]  26ff.),  aber  er  hat  sich  immer  wieder 
mit  Haß  von  aller  Mystik  losgemacht  und  wie  er  persönlich  die  Mantik 
ablehnt  und  verachtet,  kann  man  deutlich  aus  einer  Reihe  von  Stellen 
abnehmen  (Radermacher  Rh.  Mus.  LIII  500).  Die  Festlegung  be- 
stimmter philosophischer  boHai  ist  darum  so  untunlich,  weil  der  Dichter 
nicht  die  Sätze  der  Philosophen  in  Verse  bringt  und  in  gar  manchen 
Aussprüchen  der  eine  dieses  Philosophen,  der  andere  jenes  Einfluß 
oder  Anregung  heraushört  und  anzunehmen  berechtigt  ist.  Und  keinem 
einzigen   der  Philosophen,   die   in  Betracht  kommen,   ist  er  etwa  auch 


Euripides  aqj 

nur  in  dem  größeren  Teile  seiner  Weltanschauung  gefolgt  -  vielleicht 
je  nach  der  unmittelbaren  Einwirkung  dem  einen  mehr  als  dem 
anderen  -,  aber  dergleichen  läßt  sich  vielfach  nicht  mehr  feststellen. 
Am  meisten  in  Betracht  kommen  von  Philosophen,  die  auf  ihn  Einfluß 
übten,  Anaxagoras  (Valckenaer  Diatr.  28ff.  v.  Wilamowitz  Anal. 
Eur.  163 ff.;  Her.  I^  25.  Weil  fitudes  sur  le  drame  antique  21. 
Farmen tier  E.  et  Anaxagore,  Paris  1893)  und  die  Sophisten,  unter 
ihnen  vor  allem  Protagoras  (v.  Wilamowitz  a.  a.  0.  26.  Diels  Fragm. 
der  Vorsokratiker  518).  Schwierig  ist  es,  festzustellen,  wie  weit  der 
Eindruck  reicht,  den  E.  von  Herakleitos  empfangen  hat  (v.  Wilamo- 
witz Her.  I^  27.  11^  25.  279;  De  trag.  gr.  frg.  7),  noch  schwieriger, 
wie  weit  etwa  Archelaos  Einfluß  gehabt  hat  (v.  Wilamowitz  I^  24). 
Dagegen  ist  eine  ganz  sichere  Beeinflussung,  ja  in  diesem  Falle  fast 
direkte  Entlehnung  einer  Lehre  des  Diogenes  von  Apollonia  in  den 
Troerinnen  884  gefunden  worden  (von  Diels  Verh.  der  35.  Philologen- 
vers. Stettin  108;  Rh.  Mus.  XLII  12 ff.;  Fragm.  der  Vors.  354),  was 
dann  ins  Unsichere  und  Falsche  übertrieben  worden  ist  (von  Dümmler 
Akademika  144 ff.;  Proleg.  zu  Piatons  Staat  48 ff.);  keinesfalls  hat  die 
Einwirkung  des  Prodikos  und  auch  anderer  Sophisten  viel  zu  bedeuten. 
E.  selbst  ist  in  gewissem  Sinne  der  bedeutendste  Sophist,  der  am  aller- 
meisten dazu  beigetragen  hat,  die  Anschauung  der  neuen  Zeit  zu  ver- 
breiten und  die  alte  Weltanschauung  zu  vernichten.  Seine  revolutionäre 
Predigt  geht  in  ihrer  Wirkung  nach  Stärke  und  Dauer  unendlich  weit 
hinaus  über  alles,  was  Protagoras  und  die  anderen  Sophisten  erreicht  1280 
haben.  Gedanken  des  Xenophanes  hat  E.  sicher  gelegentlich  über- 
nommen (v.  Wilamowitz  Her.  11^  272)  und  seine  Gedanken  werden 
ihn  im  ganzen  stark  gefaßt  haben.  Als  Zusammenfassung  des  in  all 
den  eben  berührten  Punkten  direkt  zur  Verfügung  stehenden  Materials 
und  dessen  bisheriger  Behandlung  ist  sehr  nützlich  W.  Nestles  Schrift 
Untersuchungen  über  die  philos.  Quellen  des  E.,  Philol.  Ergänzungs- 
band VIII  557  ff.  Außer  den  vorhin  genannten  Philosophen  pflegt 
noch  Sokrates  in  den  Kreis  der  Erörterung  gezogen  zu  werden.  Die 
einen  sagen,  daß  sich  die  beiden,  E.  und  Sokrates,  hätten  abstoßen 
müssen  (v.  Wilamowitz  Her.  V  23),  und  in  der  Tat  gibt  es  ja  auch 
kaum  tiefer  gehende  Gegensätze  als  die  Lehre  der  Sokratik  von  der 
Tugend  als  Wissen  und  die  Überzeugung  des  E.  von  der  Schwäche 
des  Fleisches  und  der  Macht  der  Leidenschaften  gegenüber  allem 
besseren  Wissen;  die  andern  meinen,  daß  sich  die  beiden  Menschen- 
forscher und  Menschenerzieher  sehr  wohl  hätten  anziehen  können, 
wenn   sie   auch  Gegenpole  waren  (Weil  a.  a.  0.  23f.);  jedenfalls  lehrt 


408  Euripides 

uns  die  eigene  Lebenserfahrung  und  die  Geschichte  mancher  Freund- 
schaften ganz  entgegengesetzter  Naturen,  daß  man  aus  allgemeinen 
Erwägungen  Beziehungen  der  beiden  Männer  zu  leugnen  kein  Recht 
hat.  Ein  Vers  wie  der  der  Frösche  1491  wäre  wohl  auch  unmöglich 
gewesen,  wenn  in  Athen  notorisch  gewesen  wäre,  daß  Sokrates  und 
E.  nichts  miteinander  gemein  gehabt,  ja  sich  abgestoßen  hätten. 
Jedenfalls  aber  darf  bei  allen  Untersuchungen  über  die  Weltanschauung 
des  E.  und  ihre  Quellen  nie  verkannt  werden,  daß  es  sich  um  eine 
künstlerische  Weltanschauung  handelt,  die  immer  »eklektisch*  ist  - 
wenn  man  denn  dies  Wort,  das  nur  bei  Philosophen  anwendbar  ist 
und  tadelnden  Beigeschmack  hat,  durchaus  anwenden  will  -  und  um 
einen  dramatischen  Dichter,  der  sich  in  der  verschiedensten  Personen 
Denken  hinein  versetzt  und  der  sich  von  so  mancher  Stimmung, 
manchem  Zweifel  und  mancher  inneren  Qual  loszumachen  sucht,  in- 
dem er  sie  aussprechen  läßt  und  verkörpert.  Keines  großen  Künstlers 
Weltanschauung  wird  sich  auf  das  Prokrustesbett  eines  philosophischen 
Systems,  einer  politischen  Fraktion  oder  einer  theologischen  Konfession 
zwingen  lassen. 

Die  Nachwirkung  der  Euripideischen  Tragödie  (eine  Skizze  bei 
Bergk  Griech.  Lit.- Gesch.  III  565 ff.,  für  die  römische  Tragödie  vieles 
bei  Ribbeck  Die  röm.  Trag,  im  Zeitalter  der  Republik)  und  die 
Schätzung  der  Kunst  des  E.  bei  der  Nachwelt  kann  hier  nicht  erörtert 
werden.  Aber  eine  Äußerung  des  alten  Goethe,  die  eben  in  den  neu 
herausgegebenen  Tagebüchern,  1831,  22.  Nov.,  Weimarer  Ausgabe 
XIII  (1903)  176,  ans  Licht  kommt,  verdient  auch  an  diesem  Orte 
wiedergegeben  zu  werden:  ,Mich  wundert*s  denn  doch,  daß  die  Aristo- 
kratie der  Philologen  seine  (des  E.)  Vorzüge  nicht  begreift,  indem  sie 
ihn  mit  herkömmlicher  Vornehmigkeit  seinen  Vorgängern  subordiniert, 
berechtigt  durch  den  Hanswurst  Aristophanes.  Hat  doch  E.  zu  seiner 
Zeit  ungeheure  Wirkung  getan,  woraus  hervorgeht,  daß  er  ein  eminenter 
Zeitgenosse  war,  worauf  doch  alles  ankommt.  Und  haben  denn  alle 
Nationen  seit  ihm  einen  Dramatiker  gehabt,  der  nur  wert  wäre,  ihm 
1281  die  Pantoffeln  zu  reichen*.  So  lautet  Goethes  Tagebuchnotiz,  die  er 
nur  wenige  Monate  vor  seinem  Tode  niederschrieb. 


XXV 

XMr^ 

Da  ich  die  richtige  Deutung  der  Zeichen  XMf  geben  zu  können 
glaube,  möchte  ich  sie  nach  den  Darlegungen  Eberhard  Nestles  in 
No.  12  dieser  Wochenschrift  gegenüber  seiner  Deutung  Xpicxöc  Mixar^X 
faßpiriX  nicht  für  mich  behalten.  Die  dreimal  ausgeschriebene  Formel 
des  Papyrusblattes  (die  einzelnen  Zitate  wiederhole  ich  nicht  und  ver- 
weise auf  Nestle),  das  unzweifelhaft  eine  Zauberformel  geben  soll,  XC 
MAPIA  reNNA  (in  der  Mitte  MARIA  XC  rGNNA)  fordert  Erklärung, 
ebenso  die  in  der  Grabinschrift  der  Theodote  xpicxou  juapia  T^wa, 
nicht  minder  die  Variante  X6  MF.  Änderungen  wie  Xpicxov  Mapia 
Tevvqi  sind  natürlich  unerlaubt  und  versagen  ja  auch  bei  den  anderen 
Formen  der  Formel. 

Das  Substantiv  T^vva  ist  mir  wohlbekannt  aus  dem  Leidener 
Papyrus  W:  in  der  dort  eingelegten  Weltschöpfung  tritt  auch  eine 
fevva  in  die  Erscheinung,  TrdvTUJV  KpaxoOca  cxropav,  bi  y\c  xd  irdvxa 
ecTTdpTi  (Abraxas  8,17ff.);  in  dem  Papyrus  heißt  es  nach  Abr.  174,9f.: 
Icxiv  Tdp  Tevva  KÖc^ou  Kai  nXiou  f^pou  Tewa  173,22  ist  der  Auf- 
gang des  Orion,  T^vva  CeXnvric  ist  so  Bezeichnung  des  Neumondes). 
XpicxoO  Te'vva  ist  in  der  alten  christlichen  Literatur  gebräuchlich  für 
Christi  Geburt,  auch  geradezu  für  'Weihnachten'.  Der  Kürze  wegen 
kann  ich  auf  die  Lexika  von  Ducange  und  Sophokles  verweisen,  wo 
sich  genügende  Belege  finden.  Tewa  heißt  Geburt  und  Gebärerin 
(der  Titel  des  apokryphen  Buches  revva  Mapiac  ist  so  viel  wie  in 
früherem  Griechisch  revoc  M.).  So  allein  werden  die  überlieferten 
Formeln  deutbar  Xpicxöc  Mapia  Ttvva,  Xpicxoö  Mapia  fevva,  Xpicxe 
Mapia  T€vva  (als  Anrufung).  Wie  weit  sich  bei  manchem  bei  dem 
Xpicxöc  Mapia  Tevva  der  Gedanke  an  eine  Tevva  Trdvxujv  KpaxoOca 
.CTTopdv  unmittelbar  mit  eingedrängt  haben  mag,  ist  eine  andere  Frage. 


^  <Berliner  Philol.  Wochenschr.  1906  Sp.  510.) 


XXVI 

OuXoc  öveipoc* 

147  Ober  die  Schwierigkeit,  die  in  den  Iliasstellen  B  6,  8,  22  die  Über- 
setzung „Unglückstraum",  „verderblicher"  oder  auch  „täuschender  Traum" 
macht,  namentlich  in  der  Anrede  des  Zeus  an  den  "Oveipoc  v.  8: 

ßdcK'  iGi,  oö\€  öveipe,  6oäc  ^iri  v^ac  'AxaiOüv, 

kommt  man  trotz  aller  Erläuterungsversuche  nicht  hinweg.  Zwar  ist 
dieser  "Oveipoc  nicht  der  Traumgott,  der  selbst  über  gute  und  böse 
Träume  verfügt,  er  ist  aber  göttlicher  Bote  des  Zeus  (v.  26  Aiöc  be 
TOI  otTTeXöc  ei)Lii,  v.  56  Oeioc  öveipoc),  Zeus  sendet  ihn  und  trägt  ihm 
auf,  was  er  will  (A  63  Kai  t^P  t'  övap  €k  Aiöc  ecTiv).  Daß  er  den 
Boten,  der  nach  der  Vorstellung  im  B  stets  in  seiner  Umgebung  zur 
Verfügung  ist,  anrede  „verderblicher  Traum",  weil  er  ihm  dann  aufträgt, 
dem  Agamemnon  etwas  zu  sagen,  was  diesem  Verderben  bringt,  ist 
ebenso  unmöglich  als  die  Vorstellung,  daß  die  verschiedenen  Träume, 
die  glückbringenden  und  die  verderbenbringenden,  als  oiTTeXoi  zur  Ver- 
fügung des  Zeus  ständen,  aus  denen  er  hier  einen  oder  den  „verderben- 
bringenden" herbeirufe.^    Mit  dem  orphischen  Hymnus  86,  der  beginnt 

kikXtJickuü  c€,  iLidKop,  TavuciTTTCpe,  oijXe  "Oveipe, 
ÖYYeXe  |Lie\X6vTUJV,  evrixotc  xp^c^tu  ö^  |li^yict€, 

konnte  man  nur  fertig  werden,  wenn  man  von  „verständnisloser"  An- 
lehnung an  Homer  sprach.  Verbanden  die  Dichter  und  die  Hörer  gar 
keinen  Sinn  mit  oöXe?  „Verderblich"  wäre  hier  jedenfalls  ganz  unsinnig. 
So  sicher  ouXoc  an  anderen  Stellen  diese  Bedeutung  hat  (0  536, 
£  717),  so  ausgeschlossen  ist  sie  hier.  Mir  scheint  von  den  Bedeutungen, 

148  die  oöXoc  haben  kann  (s.  Brugmann  Indogermanische  Forschungen  XI 

1  <Arch.  für  Rel.-Wiss.  IX  1906  S.  147  f.> 

'  Brugmann  will  den  in  der  Tat  anstößigen  Hiat  oijXe  öveipe  dadurch  be- 
seitigen, daß  er  oöXi'  öveipe  in  diesen  Vers  einsetzt.  Das  ist  schon  darum  un- 
wahrscheinlich, weil  davor  und  danach  das  formelhafte  oOXov  öveipov,  oOXoc 
öveipoc  steht.  Auf  diese  Weise  ist  der  Hiat  nicht  zu  beseitigen;  man  müßte  zu 
der  Auskunft  Wackernagels  {Bezzenb.  Beiir.  IV  281)  greifen  ouXoc  öveipe  (wie 
(piXoc  Oj  Mev^Xoe). 


OöXoc  öveipoc  Air 

1900,  266ff.)S  bleibt  nur  eine  möglich  „kraus,  lockig".  Man  weiß,  wie 
die  Bewohner  des  Lichtlandes,  des  Sonnenlandes,  des  Götterlandes,  die 
Seligen,  typisch  den  Strahlenkranz  und  auch  lockiges  Haar  haben  (Ne- 
kyia  38  ff.).  Noch  die  Seligen  der  Petrusapokalypse  haben  es  (v.  10) 
n  T€  Totp  KÖ^n  auTU)v  ouXn  fjv.  Kennzeichen  idealer  Schönheit  ist  es 
auch  bei  Homer  l  229  ff.  Kcib  be  KdpriToc  ouXac  fiKe  KÖ|aac  (Athene  dem 
Odysseus,  als  sie  ihm  besondere  Schönheit  verleiht).  Die  Boten  der 
Götter  bei  Traumerscheinungen  haben  ihre  charakteristische  Typik,  sie 
sind  als  „idealschön"  und  Boten  des  Lichtlandes  aufgefaßt  (s.  die  Zu- 
sammenstellungen bei  Deubner  De  incubatione  12  f.) .^  Die  Vorstellung, 
die  nach  Odyssee  du  1 1  f . : 

irdp  6'  icav  'ÖKcavoö  re  ^oäc  xai  AeuKciba  rtiTpr\v 
i\bi  Trap*  yieXioio  irOXac  Kai  öfj|Liov  öveipiwv 
Vjicav 

vorhanden  war,  macht,  scheint  mir,  ouXoc  „lockig"  vom  Traum„engel" 
besser  verständlich.  Es  ist  neben  den  sonst  vorhandenen,  so  ganz 
anderen  Vorstellungen  von  den  Träumen  (s.  t  360  ff.  Mutter  Erde  60  f.) 
geradeso  möglich,  wie  der  öveipoc  bei  Zeus  im  B  überhaupt  daneben 
(möglich  ist.  Nicht  nur  als  Bewohner  des  Lichtlandes  irap'  neXioio  TTuXac, 
auch  als  himmlischer  Bote  und  himmlische  Erscheinung  von  Zeus  ist 
der  „lockige  Traumgott"  gedacht:  eine  offenbar  festgewordene  Wendung, 
die  sich  nur  im  Anfang  des  zweiten  Buches  der  Ilias  für  uns  erhalten 
ihat,  dort  gleich  dreimal  hintereinander. 


^  Lukian  lupp.  trag.  40  (ZeOc)  il^ajtaxq.  töv  'AyaiLi^iLivova  öveipöv  riva  \\t€.\jbf\ 
t  liriTT^InHiac  beweist  nicht  einmal,  daß  Lukian  oöXov  =  \\>e\)bf\  verstanden  habe, 
i  Er  erzählt  ganz  einfach,  was  Ilias  B  im  Anfang  geschieht,  wie  es  jeder  erzählt, 
ob  er  nun  oöXoc  so  oder  so  erklärt.  Fick  {Die  hom.  Ilias  79)  hat  durch  eine 
neue  Etymologie  (mit  lit.  privilti  „betrügen";  die  Bedeutung  „täuschend"  erlangt, 
die  ja  nach  der  üblichen  Etymologie  gar  nicht  ohne  weiteres  möglich  wäre. 

•  Der  Hesperos   ist  bei  Kallimachos  Hymn.  auf  Delos  302  oöXoc  ^Geipaic. 
iDa  wirken  natürlich  auch  die  Strahlen  der  Sterne  auf  die  Vorstellung  ein. 


XXVII 

AIKA^ 

159  Michele  Jatta  hat  kürzlich  in  den  Monumenti  Antichi  Vol.  XVI 
Tav.  III  (Erklärung  S.  517  ff.,  S.  29  des  Sonderabdruckes,  den  ich  der 
Güte  des  Verfassers  verdanke)  ein  Vasenbild  aus  Ruvo  veröffentlicht, 
das  wiederum  den  leierspielenden  Orpheus  vor  den  Unterwelts- 
gottheiten darstellt.  Die  sonstigen  Gestalten  sind  z.  T.  andere  als 
auf  den  bisher  bekannten  Darstellungen  dieser  Art  und  zeigen  aufs  neue, 
wieweit  hier  durch  den  reichen  Typenvorrat  Variationen  möglich  waren. 
Die  richtige  Erklärung  dieser  Orpheusszene  scheint  ja  nun,  nachdem 
Furtwängler  sie  vertreten  hat,  allgemein  zu  gelten,  dieselbe  Erklärung, 
die  einst,  als  Kuhnert  und  ich  sie  aussprachen,  bitter  bekämpft  wurde. 
Wie  es  so  oft  geht:  was  zuerst  als  Unsinn,  dann  als  gefährlich-mystisch 
galt  (Milchhöfer  kämpfte,  als  ob  es  den  alten  Panofka  noch  einmal  zu 
erschlagen  gelte),  ist  nun  selbstverständlich.  -  Eine  Gestalt  ist  von  Jatta 
schwerlich  richtig  erklärt,  die  geflügelte  weibliche  Figur  links  oben,  die 
mit  der  Hand  in  die  Türe  faßt,  vor  der  sie  steht.  Die  Überschrift  liest 
Jatta  AIKA  und  erklärt  das  als  dorische  Form  zu  'AiKri  (motus,  violentus 
impetus  zu  dicciu).  Ich  halte  das  für  unwahrscheinlich,  ja  unmöglich 
und  vermute,  daß  entweder  AIKA  dasteht  (die  Zeichnung  ist  zu  un- 
deutlich)^ oder  dastand  und  von  dem  Maler  dieses  Bildes  falsch  als 
AIKA  nachgepinselt  ward.  Die  Form  Aka  neben  h  eKdxa  hat  nichts 
Unwahrscheinliches,  nicht  einmal  neben  der  links  unten  sitzenden  Aixri 
-  von  der  AIKA  ganz  abgesehen  stehen  ja  h  eKdra  und  Aikti  neben- 
einander, offenbar  nach  verschiedenen,  nun  hier  komponierten  Teilen 
verschiedener  Vorlagen,  die  bald  dorische,  bald  attische  Inschriften  trugen. 

160  Man  erinnere   sich   aber  zum  Verständnis   der   türwaltenden  AiKn   der 


I 


^  <Arch.  für  Rel.-Wiss.  XI  1908  S.  159f.,  s.  a.  E.  Harrison,  ebenda  XII  1909 
S.  411.) 

'  Jatta  teih  mir  freundlichst  das  Resultat  einer  Nachprüfung  mit.  La  prima 
lettera  del  nome  in  parola  non  presenta  nessuna  differenza  dalV  ultima,  anzi 
a  me  sembra  maggiormente  caratterizzatta  come  Ä,  mentre  offre  una  rilevante 
differenza  col  A  di  AIKH  della  ftgura  sottoposta. 


AIKA 


413 


Verse  im  Proömium  des  Parmenides  (11  ff.  Diels,  dazu  die  Anmerkung 

S.  51): 

fvGa  iruXai  Nuktöc  xe  Kai  "H|uaTÖc  elci  KeXeiiGiuv 
KQi  cq)ac  (m^peupov  diucplc  ^xei  Kai  Xdivoc  ovbdc 
aöral  ö*  aiG^piai  irXfivTai  ineYdXoici  eup^xpoic. 
Tüöv  bä  AiKTi  iroXOiroivoc  ^xei  KXriibac  djmoißouc. 

Man  hat  längst  vermutet,  daß  dies  Proömium  aus  orphischer  Literatur 
entlehnt  sei  (Diels  a.  a.  0.  21;  vgl.  Mithrasliturgie  197;  Dike  in  orphischer 
Doktrin  s.  besonders  Fragm.  125  u.  126  Abel).^  Nun  sehen  wir,  wie 
die  Torhüterin  Dike  auch  dem  hinabgestiegenen  Orpheus  das  Tor  öffnet, 
durch  das  er  auf  dem  neuen  Vasenbilde  offenbar  eben  hindurch- 
geschritten ist. 


^  Zum  Verständnis  der  „Dike  alata",  gegen  die  mir  Jatta  Bedenken  äußert, 
würde  es  wohl  genügen  auf  Verse  wie  Arat.  Phain.  133  f.  (Aikt]  .  .  .  luxaG' 
öiroupaviri)  oder  die  mannigfache  Verwandtschaft  mit  Erinyengestalten  (z.  B.  bei 
Röscher  s.  v.  Erinys  S.  1334  ff.  mit  den  Abbildungen)  hinzuweisen. 


XXVIIP 
DIE  ENTSTEHUNG  DER  TRAGÖDIE 

163  Die  Entstehung  der  Tragödie  ist  vor  zwei  und  einem  halben  Tausend 
Jahren  zu  Athen  vor  sich  gegangen.  Mag  sich  etwas  mehr  oder  weniger 
Ähnliches  einmal  selbständig  in  Indien  oder  etwa  in  Japan  oder  irgend 
sonstwo  entwickelt  haben,  die  Tragödie,  die  ich  meine,  ist  eine  Kunst- 
form, die  damals  in  Athen  geschaffen,  in  einheitlicher,  nie  ganz  ab- 
gerissener Fortentwicklung  noch  heute  lebt,  von  dichterischen  Schöp- 
fungen und  wechselnden  Theorien  verschiedenster  Zeiten  und  Kulturen 
beeinflußt,  unserer  einheitlichen  europäischen  Kultur  noch  heute  als  eine 
in  wesentlichen  Merkmalen  definierbare  Gattung  dramatischer  Kunst- 
schöpfungen erscheint.  Keine  Zeit  der  Blüte  dramatischer  Kunst  ist 
ohne  Spuren  in  unseren  Anschauungen  und  unserer  Dichtung  dieser 
Art  geblieben,  der  Stempel  des  Ursprungs  aber  bleibt  ihr  kenntlich  auf- 
geprägt, ob  wir  ihn  erkennen  wollen  oder  nicht. 

Auch  das  Wesen  der  Tragödie  kann  nur  aus  ihrem  Werden  erkannt 
werden:  ohne  geschichtliches  Verständnis  des  Entstehens  kann  jegliche 
Forschung  über  das  Wesen  dbr  Tragödie  oder  des  Tragischen  höchstens 
die  Tatsachen  des  heute  bei  uns  aus  der  disparatesten  geschichtlichen 
Erinnerung  und  verschiedenartigster  Theorie  beeinflußten  Bewußtseins 
oder  eine  Art  deduktiv  gewonnenen  Postulats  gewinnen;  ihr  fehlt  die 
wissenschaftliche  Basis,  wenn  sie  nicht  die  Wurzeln  freilegt,  aus  denen 

164  einst  Gewächse  zuerst  aufschössen,  die  niemals  die  Bestimmtheit  in 
Wesen  und  Form  ihres  ersten  Wachstums  verleugnen  können.  Theorie 
mannigfaltigster  Art  ist  für  die  Erforschung  der  weiteren  Geschichte 
der  Tragödie  von  größter  Bedeutung,  weil  sie  vielfach  so  stark  bestimmt 
hat,  was  nach  ihr  geschaffen  ward,  aber  wer  wirklich  die  Entstehung 
der  Tragödie  begreifen  will,  hat  von  den  Theorien  der  Folgezeit  ab- 
zusehen, sie  aus  seinen  Gedanken  radikal  zu  entfernen,  vor  allem  auch 
die  des  Aristoteles,  die  erst  ein  äußerst  künstliches  Produkt  der  Zeiten 


( 


*  <Archiv  für  Rel.-Wiss.  XI  1908  S.  163  ff.> 


Die  Entstehung  der  Tragödie  415 

ist,  da  die  Tragödie   der  ersten  Blütezeit  zu  Athen  vergangen  und  in 
ihrer  Entstehung  nicht  mehr  verstanden  war. 


1 

Etwas  ganz  anderes  ist  es  natürlich  mit  den  tatsächlichen  Angaben 
des  Aristoteles.  Sie  sind  bei  jeder  Untersuchung  über  den  Ursprung 
der  Tragödie  mit  Recht  der  Ausgangspunkt  gewesen.  Wir  haben  ja 
neben  ihnen  nur  ganz  wenige  Nachrichten,  die  wir  nutzen  können  und 
dürfen,  außerdem  nur  eine  Anzahl  Denkmäler  der  Kunst  und  die  alten 
Tragödien  selbst,  deren  älteste  uns  die  Elemente  zeigen  müssen,  aus 
denen  wir  uns  diese  Kunstform  hervorgegangen  denken.  Ja,  es  wird 
die  Fortführung  unserer  Fragestellung  wesentlich  dadurch  bestimmt  sein, 
daß  wir  gewisse  Bestandteile  des  alten  tragischen  Spieles  als  wesentlich 
und  immer  wiederkehrend  kennen. 

Aristoteles  läßt  in  seiner  Poetik  (c.  4)  die  Tragödie  ihren  Ursprung 
nehmen  ottö  tojv  eHapxöviujv  tov  biBupaiiißov.  Schwerlich  hat  er  da- 
mit im  Sprachgebrauch  seiner  Zeit,  der  nun  mit  dem  Worte  bi0upa|ußoc 
eigentlich  alle  Chorlyrik  umfaßte,  nur  sagen  wollen,  daß  die  Tragödie 
in  der  Chorlyrik  ihren  Ursprung  habe,  und  daß  in  dem  Hervortreten 
von  d^ctpxovTec  bei  solchen  Dithyramben  der  Anfang  des  tragischen 
Dramas  zu  suchen  sei.  Wohl  haben  wir  einen  „Dithyrambos"  des 
Bakchylides  (Nr.  18  bei  Blaß),  in  dem  ein  eHdpxuJV  gegenüber  einem 
Chore  steht.  Dieses  Gedicht  stammt  aber  auf  jeden  Fall  aus  der  Zeit, 
als  die  Tragödie  längst  in  vollendeter  Ausbildung  vorhanden  war,  und  165 
ich  bin  noch  nicht  einmal  ganz  sicher,  daß  wir  hier  ein  Beispiel  jener 
bpaiLiaia  TpaTiKd  hätten,  wie  sie  Pindar  zugeschrieben  werden.  Ein 
seltsames  bpä|na,  das  doch  nur  als  Trpooi|iiov  zu  irgend  etwas  anderem 
Sinn  hatte.  Wie  dem  aber  auch  sei,  so  muß  uns  doch  die  Existenz 
der  Archilochosverse  (fragm.  72  B*); 

d)c  Aiuuvucoi'  dvaKTOC  KaXov  eHdpHai  ^^Xoc 
olba  biGupQfißov  oivLu  cuYKcpauvujeeic  (ppevac 

immer  wieder  auf  den  Gedanken  bringen,  daß  Aristoteles  Nachrichten 
von  einem  früheren  Dithyrambos  hatte  und  bewußt  an  die  Kunstform 
einer  älteren  Zeit  anknüpfen  wollte.  Wenn  bei  Archilochos  der  terminus 
technicus  eHdpxeiv  biGupa^ßov  ebenfalls  steht  wie  bei  Aristoteles,  und 
Archilochos  also  als  ein  Vorsänger  des  Dithyrambos  dem  Chor  der 
Gemeinde  gegenübersteht  in  der  dionysischen  ^Kcxacic,  so  ist  doch  dort 
vor  der  Entstehung  der  Tragödie  gerade  der  Anfang  des  Dramatischen 
vorhanden,  den  Aristoteles  meint,  vorhanden  innerhalb  des  Dionysos- 


416  Die  Entstehung  der  Tragödie 

kultes,  in  dem  sich  die  Tragödie  gestaltet  hat.  Philochoros  der  Atthi- 
dograph  hatte  die  Archilochosverse  zitiert  mit  den  Worten  u)c  oi  iraXaioi 
CTTevbovrec  ouk  dei  bi0upa)ußoOciv,  dXX'  öxav  CTTevbuuci  töv  juev  Aiövu- 
cov  ev  oiviu  Kai  jueOr),  töv  ö'  'ATröXXiuva  jueö'  f]cuxiac  Kai  rdHeiuc  jueX- 
TT0VT6C.  'ApxiXoxoc  ToOv  q)Ticiv  .  .  .  Was  da  Philochoros  hatte  und 
wußte,  hatte  und  wußte  Aristoteles  auch.  Danach  werden  also  doch 
wohl  seine  eHdpxovxec  töv  Öi0ijpa)ußov  zu  beurteilen  sein.  Das  Wort 
bieupajLißoc  werden  wir  wohl  nie  erklären  können,  wie  so  vielfach  solche 
durch  seltsame  Verwandlungen  gegangenen  religiösen  Gebetsrufe. 
9pia)aße  bi6upa)Liße  steht  noch  in  einem  Dionysoslied  eines  der  ältesten 
Satyrspieldichter,  biGOpaiußoc  war  auch  Dionysos  selbst,  es  ist  Anruf 
und  Begrüßung  des  Gottes  bei  seiner  Epiphanie,  das  dionysische  Ho- 
sianna. Und  sollte  nicht  wirklich  die  Tragödie  des  Aischylos,  von  dem 
es  heißt  jueGuiuv  e-rroiei  Tdc  TpaTUJbiac  zur  Bezeichnung  seines  diony- 
166sischen  Orgiasmus,  mehr  Zusammenhang,  als  wir  wissen  können  und 
vielleicht  auch  Aristoteles  wußte,  mit  den  Liedern  haben,  die  Archilochos 
oTvuj  cuTKepauviuGeic  cppevac  mit  seinem  Chore  anstimmte? 

Wie  sehr  die  Tragödie  auf  der  sog.  Chorlyrik  fußt,  ist  natürlich 
auch  ohne  das  klar  und  selbstverständlich.  Die  Chöre  der  Tragödie 
mit  ihrer  Kunstsprache  sind  ja  das  lebendige  Zeugnis  ihrer  Herkunft. 
Es  ist  gut,  nicht  zu  vergessen,  wie  diese  Chorlyrik  in  mannigfachster 
Weise  zusammenhängt  mit  religiösen  Begehungen,  Götterfesten,  Pro- 
zessionen und  Heroenfesten.  Stesichoros  besonders  verherrlichte  die 
Heroenfeste  des  Westens,  die  Gründer  und  Gründungsfeste  der  Städte, 
und  seine  Chorkompositionen  haben  in  besonderem  Maße  die  Helden- 
sage übernommen  und  sie  zum  Mittelpunkt  und  wesentlichen  Inhalt  der 
Chorlyrik  machen  helfen.  Wir  könnten  mit  dem  Chorlied  dieser  Pro- 
venienz und  mit  der  ionischen  pncic,  wie  sie  für  Attika  in  trochäischen 
Tetrametern  und  lamben  vor  allem  Solon  ausgebildet  hatte,  die  kon- 
stitutiven beiden  Elemente  der  Tragödie  hinreichend  angegeben  glauben. 

2 
Die  zweite  Angabe,  die  die  Poetik  des  Aristoteles  (c.  4)  über  die 
ersten  Etappen  der  Entwicklung  der  Tragödie  enthält,  mahnt  uns,  daß 
wir  wesentliche  Faktoren  des  Ursprungs  noch  beiseite  gelassen  haben: 
eK  XeSeuuc  feXoiac  bid  tö  ek  caTupiKoO  jueTaßaXeTv  oipe  dTrecejiiviJvGri  tö 
T€  lueTpov  eK  TETpaiLieTpou  lajußeTov  ef^veTO  .  .  .  Also  die  Tragödie  ist 
erst  in  einer  der  weiteren  Phasen  (öipe)  der  Entwicklung  ernst  geworden, 
durch  eine  Umänderung  aus  dem  Satyrartigen  (Satyrspielartigen);  sie 
hat  die  XeHic  re^oia  erst  verlassen  und  umgeändert.     Das  sagt  Aristo- 


Die  Entstehung  der  Tragödie  417 

teles,  und  wir  mit  unserem  Wissen  oder  vielmehr  Nichtwissen  haben 
gewiß  kein  Recht  und  keine  Mittel,  ihn  zu  widerlegen.  Aristoteles  hat 
unmittelbar  vorher,  nachdem  er  den  Satz  über  den  Ursprung  der  Trag- 
ödie ausgesprochen,  den  wir  oben  betrachteten,  und  den  über  den  167 
Ursprung  der  Komödie  aus  den  cpaXXiKd  daneben  gestellt  hat,  auf  die 
vielen  Verwandlungen  der  Tragödie  hingewiesen  Kai  iroWac  jueraßoXdc 
laeiaßaXoOca  r\  Tpaytubia  eTraOcaio,  eirei  ecxe  Tf)v  auific  cpOciv.  Dann 
macht  er  einige  dieser  Veränderungen,  einige  Etappen  des  Ganges, 
namhaft:  Kai  tö  t6  tOuv  uttokpitujv  tiX^Goc  eH  evöc  eic  bOo  irpiuToc 
AicxuXoc  fiTttTe  Kai  lot  toO  xopoO  nXdiTUJce  Kai  töv  Xötov  irpujTaTUJ- 
vicifiv  TtapecKeuacev,  rpeic  be  Kai  CKT^voTpacpiav  CoqpoKXfic.  eti  he  tö 
lneTeeoc  ek  iniKpiuv  luOemv  Kai  XeHeiuc  YeXoiac  bid  tö  ek  caTupiKoO  |ueTa- 
ßaXeiv  öi|;e  d7Tece)Livuv0ri.  Natürlich  sind  diese  Phasen  nicht  in  zeitlicher 
Aufeinanderfolge  gegeben.  Daß  Aischylos  schon  allein  durch  das,  was 
hier  angegeben  wird,  der  eigentliche  Schöpfer  der  Tragödie  ist,  kann 
kein  überlegsamer  Leser  verkennen.  Was  im  letzten  Satze  steht,  ist 
natürlich  vor  ihm  oder  durch  ihn  geschehen;  denn  bei  ihm  ist  die 
XeHic  TeXoia  verlassen,  aus  dem  caTupiKÖv  umgesetzt  und  die  Erhaben- 
heit erreicht:  durch  ihn  f\  TpaTqjbia  ecxe  ttjv  auTfic  cpuciv. 

Tö  caTupiKÖv  bezeichnet  nicht  das  Satyrspiel,  und  Aristoteles  sagt 
nicht  direkt,  daß  die  Tragödie  aus  dem  Satyrspiel  hervorgegangen  sei; 
aber  daß  die  Art  des  Spieles  und  Tanzes  und  die  TeXoia  XeHic,  wie 
sie  den  cdTupoi  eigen  war,  gemeint  sind,  liegt  auf  der  Hand.  Wann 
die  cdTupoi- Stücke  sich  in  einer  bestimmten  Eigenart  hinter  der  Trag- 
ödie konsolidierten,  wissen  wir  nicht.  Daß  die  Grenzen  zwischen  den 
cdTupoi,  d.  i.  Satyrspielen,  und  den  ältesten  Komödien  fließend,  ja  kaum 
vorhanden  waren,  hat  man  mit  Recht  mehrfach  beobachtet.  Es  wird 
der  Titel  cdTupoi  auch  gerade  von  ältesten  Komödien  bezeugt,  und  wie 
eine  Komödie,  vielleicht  gerade  die  ebensolchen  Titels,  von  Ekphantides 
dem  dionysischen  Kreise  angehörte,  zeigt  ein  Vers  des  Kratinos:  €ui€ 
KiccoxaiT'  dvaH  x«ip'.  ^qpacK'  'GKcpavTibric  Eine  Komödie  des  Magnes 
hieß  Aiövucoc.  cdTupoi  hießen  jedenfalls  nicht  die  Böcke  als  solche, 
sondern  die  vollen  und  füllenden  Dämonen  im  allgemeinen,  die  in  Tier- 
gestalt phallisch  nunmehr  fast  immer  im  Kreise  des  Dionysos  umgehend  168 
gedacht  und  dargestellt  wurden.  Die  Pferdewesen,  die  wir  auf  der 
Fran9oisvase  mit  ihrem  Namen  bezeugt  und  auf  den  über  alle  Begriffe 
herrlichen  Bildern  der  Schalenmaler  in  ihrem  dämonischen,  entzückenden 
Treiben  sehen,  waren  ciXrivoi;  sie  konnten  auch  mit  dem  allgemeinen 
Namen  cdTupoi  genannt  werden  wie  die  dämonischen  Gestalten,  die 
das  Prototyp  der  Schauspieler  der  alten  Komödie  waren  und  sich  mit 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  27 


418  Die  Entstehung  der  Tragödie 

dem  KUj|uoc  der  Tierchöre  mannigfachster  Art  (da  waren  Strauße,  Fische, 
Schweine,  Hähne,  wie  noch  in  der  kunstgerechten  Komödie  die  Wespen, 
Vögel,  Frösche)  zu  den  attischen  Kuujuiubiai  vereinigten. 

Es  wäre  gar  nicht  unwahrscheinlich,  daß  sich  erst  mit  der  Aufnahme 
der  Kiju|uujbiai  in  die  staatliche  Organisation,  die  wir  jetzt  sehr  viel  früher 
setzen  müssen,  als  wir  früher  lange  es  mit  Sicherheit  tun  zu  können 
glaubten  -  wohl  489/8  -,  diese  verschiedenen  Gruppen  und  Gestalten 
und  Gestaltungen  des  dramatischen  Spieles  fester  sonderten.  Aber  auf 
alle  die  einzelnen  Möglichkeiten,  die  hier  über  Satyrdramen  und  Bocks- 
chöre mannigfach,  ja  zum  Überdruß  erörtert  sind,  einzugehen,  sei  ferne; 
auch  das  Denkmälermaterial  genügt  nicht  oder  doch  noch  nicht,  die 
Entwicklung,  die  gewiß  mannigfach  hin  und  her  ging,  zu  durchschauen, 
und  bloße  Kombinationen,  denen  nur  gegenwärtig  gerade  kein  Denk- 
mal und  keine  Überlieferung  direkt  widerspricht,  schaffen  uns  kein 
Wissen,  das  uns  fehlt.  Aber  folgende  Tatsachen  sind  sicher:  xpaYtubia 
ist  der  Gesang  der  Böcke;  das  angesichts  der  wichtigen  Denkmäler, 
die  die  Böcke,  hier  sicher  als  Böcke  verkleidete  Menschen,  um  die 
heraufkommende  Pandora  oder  zur  Köpr|c  dvoboc  um  die  aufsteigende 
Göttin  Köre  oder  Persephatta  und  um  den  Totenhermes,  also  am  Toten- 
feste, dem  ahen  Dionysosfeste,  tanzend  zeigen,  zu  bezweifeln,  ist  nur 
noch  einer  Skepsis  erlaubt,  die  keiner  Urkunde  weicht.  Dann  mag 
man  xpaTtubia  lieber  gleich  als  Speltgesang  erklären.  Und  jene  Anrede 
169  im  Satyrspiel  Prometheus  TrupKaeuc  an  den  Choreuten  als  ipdToc,  und 
jene  Erwähnung  der  Tpayou  xKaiva  im  Kyklops  des  Euripides  mag  weg- 
erklären, wer  glauben  kann,  daß  Pferdegestalten  oder  wenigstens 
Schauspieler  mit  Pferdeschwanz  einmal  zum  Scherz,  wenn  sich  einer 
den  Bart  zu  verbrennen  droht,  Bock  genannt  oder  wenn  sie  als  Hirten 
fungieren  müssen,  gerade  ausdrücklich  mit  dem  Bocksfell  ausgestattet 
eingeführt  werden  könnten.  Daraus  folgt  dann  allerdings,  da  auf  der 
Neapeler  Satyrspielvase  und  einigen  Bonner  Vasenfragmenten  tatsächlich 
die  Chorspieler  den  Schurz  mit  Pferdeschwänzen  haben,  daß  eine  Verände- 
rung im  Laufe  des  5.  Jahrhunderts  vor  sich  ging.  Daß  auf  der  Nea- 
peler Vase  der  Schurz  bei  den  meisten  aus  Bocksfell  gemacht  ist,  an 
dem  der  Pferdeschwanz  hängt,  will  ich  nicht  als  ein  Dokument  der 
Mischung  beider  Verkleidungen  in  Anspruch  nehmen.  Daß  gerade  Böcke 
und  Silene  (Pferde)  im  Satyrspiele  sich  festsetzten,  während  sie  aus 
der  Komödie  -  vermutlich  seit  der  Organisation  489/8  -  verschwunden 
waren,  bestätigt  ja  auch  die  zur  typischen  Verbindung  gewordene  Bildung 
des  Chores  aus  dem  Chorführer  Silen,  dem  caxvjpujv  TcpaiiaToc,  und 
den  Satyrn,  wie  sie  das  Vasenbild  und  der  Kyklops  des  Euripides  zeigen. 


I 


Die  Entstehungf  der  Tragödie  4I9 

TpaTUjbiai  hießen  jedenfalls  die  Stücke,  die  zuerst  vom  Staate  or- 
ganisiert und  von  Bürgern  aufgeführt  wurden,  also  da  wir  diese  Zeit- 
angabe doch  wohl  glauben  dürfen,  534.  Kamen  diese  Bockschöre 
irgendwie  von  außen  oder  waren  sie  altheimisch  in  Athen?  Schon 
früher  ist  vielfach  mit  guten  Gründen  verteidigt  worden,  daß  diese  Chöre 
aus  dem  Peloponnes  kamen,  und  die  Überlieferungen  füber  Arion 
sind  herangezogen,  die  ich  hier  kurz  nach  den  Angaben  bei  Suidas 
zusammenfasse:  XeTeiai  Kai  TpaTiKoO  TpÖTiou  euperfic  TevecOm  Kai  TipüjToc 
Xopöv  CTTicai  Kai  bi0upa)aßov  acai  Kai  övo)Lidcai  tö  qtbö|U€vov  uttö  toO 
Xopoö  Kai  carupouc  eiceveTKeiv  ^maexpa  XeTovxac  Diese  Überlieferung 
hat  eine  ganz  andere  Basis  erhalten  durch  die  Angabe  einer  Rhetoren- 
handschrift,  von  der  soeben  Rabe  im  Rhein.  Mus.  (1908,  Bd.  LXIII 170 
S.  150)  Nachricht  gibt.  Da  heißt  es:  rfic  be  ipaTiubiac  irpiuTov  bpäjua 
'Apiujv  6  Me0u|uvaToc  eicr|TaT€v,  ujcirep  CoXujv  ev  xaic  eiriTpaqpo- 
juevaic  eXeTeiaic  dbibaHe.  ApdKUJV  be  6  AajLAipaKTivöc  bpä|Lid  (pr|ci 
TipiuTOV  'A6r|VTici  bibaxOfjvai  Troir|cavToc  0ec7riboc.  Wenn  Solon  in  seinen 
Elegien  gesagt  hat  -  und  diese  Angabe  der  Handschrift  wird  niemand 
bezweifeln  wollen  -,  daß  Arion  die  erste  Tragödie  aufgeführt  habe,  so 
war  das  mindestens  zu  seiner  Zeit  eine  begründete  Meinung.  Sie  hätte 
Athen  diesen  Ruhm  nicht  bestritten,  wenn  er  ihm  zuzuweisen  gewesen 
wäre.  Also  die  erste  Etappe  der  uns  erkennbaren  Entwicklung:  der 
Dithyrambos  des  Arion,  von  TpdToi  aufgeführt  oder  getanzt,  die  Verse 
sprachen.  Wird  noch  jemand  die  Überlieferung  von  den  TpaTiKoi  xopoi 
des  Adrastos  in  Sekyon,  die  Kleisthenes  dem  Dionysos  dTiebiDKe,  auf 
„tragische  Chöre"  im  Sinne  der  ausgebildeten  Tragödie  und  ihrer 
tragischen  Chöre  verstehen  wollen  und  nicht  als  „Bockschöre"?  In 
dem,  was  wir  von  Arion  hören,  vereinigt  sich,  was  Aristoteles  leider 
so  kurz  hinstellt:  er  wird  als  eHdpxujv,  ähnlich  wie  Archilochos,  seinem 
Chore  gegenübergestanden  haben,  aber  der  bestand  aus  xpdToi,  mit 
allgemeiner  Bezeichnung  cdxupoi.  Thespis  führte  solches  Spiel  in  Athen 
ein  -  aber  hier  waren,  nach  Aristoteles'  Anschauung  ohne  Zweifel, 
die  XeHic  TeXoia  und  die  luOGoi  fiiiKpoi.  Wie  kam  nun  das  ^exaßaXeiv 
Ik  toO  carupiKoO,  das  dTTOce|LiviJV€c0ai  zustande?  Ist  es  denn  nicht  ein 
Wunder,  daß  aus  den  Bockssprüngen  und  Satyrtänzen  das  höchste 
Kunstwerk,  die  „Tragödie"  wird?  Wie  ist  es  möglich,  daß  aus  dem 
„Bockigen"  das  „Tragische"  wird? 

3 

Wir   haben   bisher   die  Verkleidung   in   Tiere,   die   Tiermaske,    die 
Pferde  und  die  Böcke  und  all  das  Ähnliche  ohne  weiteres  hingenommen. 

27* 


420  ^^®  Entstehung  der  Tragödie 

Wie   kommt   denn    solche  Verkleidung  auf?     Ohne  Zweifel   kennt   die 

171  antike  Komödie  auch  in  ihren  ersten  Anfängen,  so  gut  wie  die  Possen 
und  komischen  Vorführungen  so  vieler  anderer  Völker,  Tierverkleidung 
zum  Zwecke  eben  grotesker  Komik.  Noch  die  komische  Fratze  jeglicher 
Art  bewirkt  eben  das  Fratzenhafte  durch  irgendwelche  Angleichung  an 
das  Tier.  Die  griechischen  Physiognomiker  geben  davon  Zeugnisse 
genug,  daß  die  Charakteristik  des  Gesichts  durch  Vergleichung  mit 
Tieren  und  Tiereigentümlichkeiten  gegeben  wird.  So  ist  es  nur  zu 
natürlich,  daß  jegliche  Tiervermummung  und  jegliche  Tiermaske  zu  Zwecken 
der  Komik  verwendet  wird. 

Aber  sowenig  solche  bloß  komisch -mimische  Darstellung  von  Tieren 
irgendwo  die  Entstehung  solcher  Tiertänze  zu  begründen  scheint,  so 
wenig  wird  das  im  Griechischen  der  Fall  sein.  Ein  Überblick  über  die 
Verwendung  von  Masken  bei  allen  möglichen  Völkern  ist  uns  durch 
mannigfache  Zusammenstellungen  leicht  gemacht;  was  Andree  in  seinen 
Ethnographischen  Parallelen  und  Vergleichen  (Neue  Folge  II,  S.  107  ff.) 
in  reichen  Materialien  ausbreitet,  zeigt  uns,  daß  solche  Masken  zumal 
bei  primitiven  Völkern  -  und  da  ist  ihre  eigentliche  Funktion  am  rohesten 
und  darum  am  deutlichsten  -  die  Träger  zu  Göttern,  Dämonen,  Geistern 
(wie  wir  es  nach  unserem  Sprachgebrauch  wechselnd  ausdrücken)  machen, 
die  nun  in  irgendwelcher  Begehung  religiöser  Art,  als  jene  Götter, 
Dämonen,  Geister  irgend  etwas  bewirken.  Nicht  anders  sind  gewisse 
Schreckmasken,  die  Dämonen  scheuchen  und  davor  schützen  sollen,  zu 
verstehen  -  es  sind  die  Masken  stärkerer  oder  doch  für  jene  schreck- 
hafter Dämonen.  Daneben  kommen  andere  Arten  Masken,  die  die 
Dämonen  irreführen  und  so  den  Träger  schützen  sollen,  kaum  in  Be- 
tracht. Es  wird  schon  jeder  solche  furchtbaren  Masken  in  unseren 
ethnographischen  Museen  in  Menge  gesehen  haben,  sei  es  aus  Ost- 
asien, sei  es  aus  Neuseeland,  sei  es  aus  Ceylon,  sei  es  von  amerika- 
nischen oder  afrikanischen  Völkern  -  sie  wurden  zumeist  gebraucht 
bei  allerlei  religiösen  Tänzen,  zumal  zauberhaften  Fruchtbarkeitstänzen, 

172  bei  allerlei  Heilungszeremonien;  sehr  häufig  stellten  sie  auch  die  Toten, 
die  Geister  dar,  die  z.  B.  fungieren,  wenn  einer  gestorben  ist,  um  ihn 
nun  zu  den  anderen  zu  holen.  Mit  den  sog.  Perchtenmasken,  die  man 
nicht  selten  in  außerordentlich  grotesken  Exemplaren  sieht  -  z.  B.  im 
Museum  zu  Salzburg  -,  ist  es  nicht  anders,  und  wenn  früher  bei  uns  zu  Lande 
in  den  zwölf  hellen  Nächten  die  Leute  in  Tiervermummungen  herumgingen, 
so  sollten  es  auch  die  Toten  sein,  die  jetzt  auf  der  Oberwelt  wandelten. 

Primitives  wird  man  zu  Primitivem  in  Analogie  setzen  dürfen:  denn 
wenn  bei  den  Griechen  der  Priester  sich  als  der  Gott  kleidet  und  seine 


Die  Entstehung-  der  Tragödie  42  j 

Maske  aufsetzt,  so  fungiert  er  als  der  Gott,  und  die  TopToveia  ver- 
schiedener Art  sind  wenig  anders  zu  beurteilen  als  die  Schreckmasken 
der  rohen  Völker.  Die  Masken  in  den  Gräbern  freilich  haben  mit  diesen 
Bräuchen  nichts  zu  tun,  jedenfalls  weder  die  sog.  Gesichtsmasken,  die 
wenigstens  den  Kopf  oder  vielmehr  nur  die  Gesichtsform  als  etwas 
Wesentliches  des  Menschen,  als  sein  Leben,  wir  würden  sagen,  seine 
Seele,  erhalten  wollten,  noch  die  mannigfachen  Masken,  die  man  in  die 
Gräber  legte,  und  die  wohl  meistens  apotropäisch  wirken  sollten.  Allen- 
falls hier  nicht  ganz  fernliegend  wäre  es  nur,  wenn  die  Masken  von 
Gliedern  des  dionysischen  Thiasos  ursprünglich  hier  und  da  bedeuteten, 
daß  sie  den  Toten  holen  sollten  in  den  Reigen  der  Seligen  zu  dem 
Gotte. 

Die  tierischen  Tänzer  aber  um  den  Gott,  die  Bockstänzer  vor  allem, 
die  wir  oben  erwähnten,  die  um  den  Seelengeleiter  Hermes,  um  die 
aus  der  Unterwelt  emporkommende  Köre  oder  Pandora  oder  Persephassa 
tanzten,  sind  die  Geister  selbst,  die  Toten.  Daß  das  Fest,  an  dem  sie 
tanzten  und  umgingen,  das  Fest  der  Seelen  war,  ist  am  deutlichsten 
am  alten  Dionysosfeste  in  Athen,  den  Anthesterien,  dem  Blumenfest 
und  zugleich  Allerseelen.  TTiGoiTia:  der  Pithos  öffnet  sich,  die  Seelen 
kommen  empor,  mundus  patet;  auf  einem  Vasenbild  zu  Jena  steht  Hermes 
mit  dem  Zauberstaub  über  dem  Pithos  und  läßt  sie  heraufflattern;  wer 
das  betrachtet,  zweifelt  nicht  mehr.  Xöec:  ursprünglich  die  Spende  an  173 
die  Toten,  es  ist  die  iLiiapd  f))Liepa,  man  streicht  Teer  an  die  Türen,  um 
sich  gegen  böse  Seelen  zu  schützen.  Dahin  gehört  auch  die  höchst 
merkwürdige  Geschichte  von  Orestes,  der  nach  Athen  ungesühnt  kam 
und  nun  vom  König  Demophon  getrennt  von  den  anderen  Athenern 
gesetzt  wurde,  die  an  einzelnen  Tischchen  ihre  Spende  bekamen;  leider 
wissen  wir  nicht,  wie  dann  die  Sühnung  des  Orestes  gedacht  war; 
eine  Seelensühnung  war  doch  gemeint.  Xuipoi:  die  Hülsenfrüchte  werden 
den  Toten  gespendet,  man  speist  und  feiert  seine  Toten,  bis  es  zuletzt 
heißt;  OupaZie,  Knpec,  oiiket'  dvGecTripia. 

Dionysos  selbst  ist  der  Herr  der  Seelen,  an  seinem  Feste  gehen  sie 
um.  Sein  Thiasos  sind  eben  die  Seelen.  Wie  es  einst  im  Altertum, 
auch  bei  den  Athenern  in  eins  gedacht  wurde,  daß  die  Erde  neu  frucht- 
bar wird  im  Frühling,  daß  neues  Leben  emporgesendet  wird  und  die 
Seelen  der  Ahnen  aufsteigen  (etwas  anders  ist  der  Glaube  an  die 
TpiTOTTttTopec,  die  in  der  Luft  umherfliegen  und  von  da  in  neue  Mutter- 
leiber eingehen),  ist  uns  sehr  wohl  bekannt.  Dem  entspricht  es,  daß 
in  dieser  Dionysosreligion  der  Gott  der  neuen  Fruchtbarkeit,  des  neuen 
Lebens  zugleich  der  Gott  des  Totenreiches  und  der  Seelen  ist,  daß  die 


422  ^*®  Entstehung  der  Tragödie 

phallischen  Fruchtbarkeitsdämonen  und  die  Seelendämonen  eins  sind. 
Wie  lange  den  Athenern  diese  Einheit  bewußt  blieb?  Bei  den 
Bockswesen  um  Hermes,  um  Pandora,  Köre  war  sie  es  ihnen  doch 
wohl  noch? 

Wie  man  in  Athen  die  Epiphanie  des  Gottes  beging,  wissen  wir. 
Das  nun  schon  oft  besprochene  Vasenbild  von  Bologna  zeigt  uns,  wie 
Dionysos  und  etliche  seines  Thiasos  im  Schiff,  das  auf  einen  Wagen 
gestellt  ist,  durch  die  Stadt  fuhren:  er  war  übers  Meer  gekommen  aus 
dem  fernen  Lande,  alles  neu  zu  beleben.  Das  wurde  aufgeführt:  wer 
den  Gott  spielte,  mußte  des  Gottes  große  Maske  aufsetzen,  und  das  ist 
der  Ursprung  der  sog.  „tragischen"  Maske.  Dieser  erste  Schauspieler, 
der  vor  den  Chor  trat,  ist  der  uTroKpixric,  er  uTioKpiveTai  unter  der 
174  Maske,  unter  dem  Gotte,  wie  der  uiroqprJTric  unter  dem  Gotte  spricht. 
Jener  carrus  navalis,  wie  man  wohl  der  Kürze  halber  mit  einer  späteren 
Bezeichnung  sagen  darf,  ist  in  der  Tat,  was  die  Überlieferung  als  Wagen 
des  Thespis  festgehalten  hat.  Von  Thespis  wissen  wir  nichts  sonst; 
aber  der  Satz  des  Horaz  Micitur  et  plaustris  vexisse  poemata  Thespis' 
ist  nun  doch  richtig. 

Das  wäre  also  die  zweite  Etappe,  die  wir  in  allem  Dunkel  unter- 
scheiden. Die  Einführung  der  alten  rpaTtubia  nach  Athen,  die  Arion 
anderswo  zuerst  aufgebracht  hatte. 

4 
Daß  an  dem  jährlichen  Feste  der  Toten  eine  Totenklage  statthaben 
mußte,  ist  selbstverständlich.  Und  wir  wissen  ja  durch  jene  Nachricht 
des  Herodot  von  den  Adrastoschören  in  Sekyon,  die  jedenfalls,  ob  man 
nun  die  TpaTiKoi  xopoi  als  „tragische  Chöre"  oder  Bockschöre  ver- 
stehen mag,  eine  dramatisch  ausgestattete,  jährlich  wiederholte  Toten- 
klage darstellten:  rd  TidGea  eTepaipov.  Die  Totenklage  epischer 
Zeit,  von  der  wir  wissen,  ist  so  gestaltet,  daß  ein  eHdpxujv  die  Klage 
beginnt  und  ein  Chor  den  Refrain  singt.  eHnpxe  töoio  heißt  es  in 
offensichtlich  typischer  Wendung  in  der  bekannten  Totenklage  im  letzten 
Buche  der  Ilias.  Ein  eHdpxujv  also  vor  seinem  Chor  wie  der  iHdpxujv 
Tov  biGupaiußov.  Eine  andere  Form  der  Totenklage  sind  Wechsellieder, 
zu  denen  der  Chor  den  Refrain  singt;  zur  Zeit  des  Epos  hat  man  sie 
auch  schon  den  Chören  überlassen,  die  das  kunstmäßig  verstanden. 
Die  KOjUjLioi,  die  Klagelieder  der  Weiber  mit  dem  Schlagen  der  Brüste, 
sind  gewiß  auch  in  Athen  sehr  alt.  Wie  ausgebildet  die  Gesänge  durch 
die  Gegenchöre  bei  solcher  Gelegenheit  waren,  zeigt  auch  eine  Aus- 
führung in  Piatons  Gesetzen  (p.  947^):  xeXeuTricaci  be  TTpoGeceic  le  Kai 


Die  Entstehung  der  Tragödie  433 

€K(popdc  KQi  OriKac  biacpöpouc  eivai  tujv  ctXXujv  ttoXitiuv  XeuKfjv  |U€V 
xfiv  cToXfiv  e'xeiv  Träcav,  0pr|vu)v  xe  kqi  6öup|niuv  xujpic  TiTvecOai, 
Kopu)v  be  xopöv  TrevTexaibeKa  kqi  dppeviuv  erepov  TrepiicraiLievouc  Tf) 
KXivri  eKtttepouc  oiov  i)|livov  TreiroiTmevov  eTraivov  eic  touc  iepeac  ev  175 
luepei  CKaiepouc  abeiv,  eubai)uovi2:ovTac  lijbf]  bid  rrdcTic  Ttic  niLiepac. 
Man  erkennt  leicht,  was  die  speziell  Platonische  Umänderung  an  fest- 
stehenden Bräuchen  ist. 

Aus  der  Stelle  des  Äschyleischen  Agamemnon  (v.  1547  ff.)  Tic  b' 
eTTiiO^ßiov  aivov  in'  dvbpi  Geiiu  .  .  .  irovricei  -  da  keiner  der  nächsten 
Angehörigen  dazu  imstande  ist  —  könnte  man  allein  schließen,  daß  der 
Dichter  einen  Brauch  im  Auge  hat,  nach  dem  der  nächste  männliche 
Verwandte  die  „laudatio  funebris"  zu  leisten  hat.  Die  Xötoi  emTdcpioi 
späterer  Zeit  haben  dagegen  in  Attika  ihre  besondere  Entwicklung. 

Davon,  daß  an  dem  Dionysosfeste  die  Leiden  des  Dionysos  beklagt 
worden  seien,  kann  nicht  mehr  die  Rede  sein,  denn  es  gab  keine.  Die 
späteren  Lehren  des  orphischen  Kultes  haben  jedenfalls  hier  keinen 
Platz,  und  das  Zerfleischen  des  tiergestaltigen  Gottes,  das  es  ohne 
Zweifel  an  anderen  Orten  und  in  anderen  Kulten  und  Riten  gab,  hat 
im  alten  Athen  ebenfalls  keine  Stelle.  Der  Gott,  der  seine  Epiphanie 
beging  und  auf  dem  Schiffskarren  in  die  Stadt  einfuhr,  soll  doch  nicht 
vorher  oder  nachher  als  Stier  oder  Bock  geschlachtet  sein.  Höchstens 
wäre  möglich,  daß  seine  Abwesenheit  erst  beklagt  worden  wäre,  ehe 
seine  Ankunft  bejubelt  wurde.  Das  wären  aber  kein  Opnvoc  und  keine 
KO)a)Lioi,  die  wir  an  diesem  Feste  des  Heros  Dionysos  (eXGeiv  fipuj  Aiö- 
vuce  singen  die  elischen  Frauen  bei  seiner  Epiphanie)  annehmen  müssen. 
Toten-  und  Heroendienst  waren  hier  eins.  Haben  attische  Bürger  den 
Threnos  vorgetragen?  Haben  sie  es  in  den  Tiervermummungen  getan, 
die  so  bald  nur  für  heitere  Darstellungen  verwendbar  zu  sein  schienen? 
Wir  wollen  nicht  Entwicklungen  konstruieren,  die  wir  nun  einmal  bei 
völligem  Mangel  von  Zeugnissen  oder  hinreichend  aufklärenden  Denk- 
mälern nicht  erkennen  können. 

Das  aber  ist  ja  immer  und  immer  wieder  aufgefallen,  daß  ein  ganz 
feststehender  Bestandteil  der  Äschyleischen  Tragödie  der  Threnos  ist. 
Die  KOjaiuoi,  die  Wechsellieder  des  Chores  oder  eines  eHdpxuiv  und  des  176 
Chores,  sind  von  vornherein  in  fester  Kunstform  da,  die  Dochmien 
sind  als  ein  ihnen  eigentümliches  Versmaß  bereits  ausgebildet  vorhanden 
im  ersten  koju)uöc  der  ältesten  Tragödie  (V.  347  ff.  der  Hiketiden)  und 
haben  weiterhin  ihre  eigentliche  Stelle  in  der  wirklichen  Totenklage. 
Es  ist  der  einzige  Vers,  den  die  Tragödie  eigentümlich  hat.  Sollte  er 
nicht  wie  die  Totenklage  und  die  KO|ujLioi  von  jenen  epnvoi  des  Seelen- 


424  I^iö  Entstehung  der  Tragödie 

festes  stammen?  Die  volle  ausgebildete  Form  des  Gpfivoc  schließt  die 
„Sieben  gegen  Theben",  eine  Tatsache,  die  kürzlich  wieder  scharf  be- 
leuchtet worden  ist.  Und  ich  kann  nicht  umhin  anzuführen,  was  v.  Wila- 
mowitz  bei  Gelegenheit  des  Opfivoc  der  „Sieben"  ausgeführt  hat  (Comment. 
metr.  II  p.  32,  Gott.  1895):  at  Bacchica  laetitia  a  naeniis  tragicis  procul 
abest.  itaque  harum  exemplar  alibi  quaerendum  est.  quod  si  planctus 
Thebanorum  in  funere  Oedipi  filiorum,  Xerxis  in  deplorando  exercitus 
interitu,  Troadum  in  urbis  totius  excidio  iambis  efferri  videmus,  quod 
Choephori  et  dum  sacra  ad  tumulum  deferunt  et  dum  Agamemnonis 
acerbum  funus  describunt,  quod  Peleus  in  Euripidis  Andromacha  ad 
corpus  Neoptolemi,  Orestes  et  Electra  in  eiusdem  Electra  ad  matris 
corpus  iambica  cantant,  eo  adducor,  ut  legitimos  hos  numeros  in  naeniis 
Atheniensium  fuisse  credam.  pompas  enim  funebres  maximo  cum  ap- 
paratu  et  opulentissime  et  religiosissime  antiquitus  ab  Atheniensibus 
institutas  esse  vascula  picta  luculenter  demonstrant,  neque  obmutuerunt 
naeniae,  cum  Solonis  sapientia  nimiam  funerum  luxuriam  recidisset.  testi- 
monia  quidem  me  deficiunt,  sed  nescio  an  ipsae  interiectiones  aiai  itb 
iiu  TtaTraT  ototototoi  iambicum  numerum  testentur  haud  secus  quam 
eXeXeO  anapaestis  convenit,  qui  exercitibus  impetum  facientibus  accine- 
bantur.  Die  Dochmien  stellen  sich  ganz  von  selbst  neben  diese  lamben 
man  denke  nur  an  die  Klage  des  Xerxes  in  den  Persern. 

Aber  wie  kommt  denn  die  Tragödie  zur  Aufnahme  der  naenia  als 
177  eines  Hauptstücks  ihrer  ganzen  Komposition?  Die  einzelnen  Totenklagen 
muß  das  jährliche  Totenfest  durch  eine  Gesamtnänie  der  Bürgerschaft 
für  ihre  Toten  repräsentiert,  zusammengefaßt  haben  in  einem  Gpfivoc, 
der  vielleicht  früher  mannigfach  von  einem  ausländischen  Chormeister 
komponiert  war,  so  wie  so  manche  Chorlyriker  -  ich  will  wenigstens 
wieder  Stesichoros  ausdrücklich  nennen  -  ihre  Dichtungen  für  die 
Heroenfeste  der  Städte  schrieben.  Manches  derart  mochte  auch  in 
Athen  in  den  kukXioi  xopoi  am  Dionysosfeste  fortleben. 

Das  Element  des  Threnos  in  der  alten  Tragödie  läßt  sich  keinesfalls 
daraus  erklären,  daß  etwa  wie  in  den  Dichtungen  des  Stesichoros  nun 
die  Heldensage  zum  Inhalt  der  Tragödie  gemacht  wurde.  Auch  das 
ist  eben  nur  dadurch  zu  begreifen,  daß  das  Spiel  am  Heroenfest  er- 
wuchs, und  auch,  wenn  die  Heroensage  gar  nicht  der  Gegenstand  des 
Stückes  ist,  ist  es  der  Öpfivoc,  der  alles  beherrscht.  Wie  will  man  die 
„Perser"  anders  verstehen  als  so,  daß  der  Dichter,  der  den  Sieg  der 
Athener,  den  er  wohl  in  einem  Lied  hätte  feiern  können,  aber  nicht  in 
einer  TpaTtubia,  die  geniale  Idee  faßt,  den  Stoff  für  die  Formen  seiner 
Tragödie  so  zu  gestalten,  daß  er  den  Gpfivoc  der  „Perser"  vorführt  und 


Die  Entstehung  der  Tragödie  425 

dadurch  die  so  überaus  bewundernswerte  Erfindung  des  indirekten  um 
so  wirksameren  Preises  der  Größe  Athens  macht?  Aber  wir  vergessen, 
daß  der  Ruhm  der  ersten  Erfindung  dieser  feinen  Motivwendung  dem 
Phrynichos  gehört,  der  in  den  „Phoinissai"  dem  Aischylos  vorangegangen 
war.  Und  eben  Phrynichos  hatte  auch  schon  länger  vorher,  bald  nach 
494,  einen  Versuch  gemacht,  den  man  nie  wird  verstehen  können,  wenn 
man  nicht  die  Grundbedeutung  des  Threnos  für  diese  alte  Tragödie 
gewürdigt  hat.  Er  führt  die  MiXrjxou  ctXujcic  auf.  Man  wird  doch  nicht 
mehr  reden,  als  habe  Phrynichos  plötzlich  den  Versuch  gemacht,  eine 
historische  Tragödie  aufzuführen.  Alle  diese  alten  Spiele  waren  noch 
gar  keine  „Dramen",  eher  Oratorien;  überwiegend  die  Lieder,  meist 
eben  Klagelieder  des  Chores,  und  Erzählungen  und  Berichte.  So  wird 
es  mit  der  Einnahme  Milets  gewesen  sein:  Phrynichos  hat  beim  nächsten  178 
Totenfeste  den  epfivoc  den  Toten  von  Milet  singen  lassen:  mehr  als 
die  Berichte  von  dem  Furchtbaren  und  die  Klagelieder  wird  das  Stück 
schwerlich  enthalten  haben. 

Phrynichos  kam  in  Konflikt  mit  der  Bürgerschaft,  so  erzählt  Herodot ; 
sie  hätte  ihn  bestraft,  weil  er  sie  an  okriia  erinnert  hätte.  Alles  sei 
in  Tränen  ausgebrochen.  Von  den  weiteren  mannigfachen  Überlieferungen 
hat  wohl  nur  noch  eine  gewisse  Bedeutung  das  Sprichwort  Opuvixoc 
TTxriccei  bei  Aristophanes'  Wespen  (1490  s.  Schol.),  das  auf  dieselbe 
Angelegenheit  geht  und  uns  doch  wohl  auch  abhält,  diese  Überlieferung 
ohne  weiteres  als  lauter  Schwindel  beiseite  zu  schieben.  War  das  ein 
mißlungener  Versuch  des  dTroc€|Livuvec0ai?  Jedenfalls  war  es  ein  be- 
deutsames Experiment  in  diesen  ersten  uns  so  dunklen  Entstehungs- 
zeiten der  Tragödie.  Zum  Drama  war  die  Tragödie  noch  ganz  und 
gar  nicht  vorgedrungen,  sie  war  in  diesen  Versuchen,  die  Phrynichos 
mit  Phoinissen  und  MiXniou  äXujcic  machte,  ein  epnvoc.  Aischylos 
siegte  zuerst  8  bis  10  Jahre  nach  der  Aufführung  der  MiXr|Tou  aXojcic, 
jedenfalls  ungefähr  10  Jahre  nach  dem  Ereignis  der  Einnahme  Milets. 
Damit  hatte  sich  doch  wohl  das  Neue,  Große,  das  er  schuf,  durch- 
gerungen. 

5 
Aischylos  hat  den  zweiten  Schauspieler  eingeführt  und  dem  tragischen 
Spiel  die  Heldensage  zum  festen  Inhalt  gegeben.  So  hat  man  mit  Recht 
das  bezeichnet,  was  eigentlich  die  Schöpfung  der  attischen  Tragödie 
ausmacht.  Nun  mußte  ja  von  selbst  das  Wesentliche  dramatischen  Spieles 
sich  schnell  entwickeln,  die  Aktion  sich  entgegenstehender  Faktoren 
sich  gestalten,  eine  Handlung  sich  abwickeln,  die  künstlerisch  zu  einer 


426  Die  Entstehung-  der  Tragödie 

Einheit  und  einer  „Ganzheit"  werden  muß,  die  Anfang,  Mitte  und  Ende 
hat.  Aber  ein  Wesentliches,  das  in  der  attischen  Tragödie  alsbald,  schon 
im  ältesten  uns  erhaltenen  Stücke,  als  fertiges  Kunstmittel  uns  entgegen- 
tritt, ist  mit  der  Dialogisierung  und  Dramatisierung  von  Teilen  der  Helden- 

179  sage,  die  zu  einem  in  sich  abgeschlossenen  Ganzen  verbunden  werden 
können,  noch  nicht  ohne  weiteres  gegeben.  Und  doch  handelt  es  sich 
hier  geradezu  um  das  „tragische  Moment"  der  griechischen  Tragödie, 
„welches  das  Wollen  des  Helden  und  damit  die  Handlung  durch  das 
plötzliche  Einbrechen  eines  zwar  unvorhergesehenen  und  überraschenden, 
aber  in  der  Anlage  der  Handlung  bereits  gegründeten  Ereignisses  in 
einer  Richtung  forttreibt,  welche  von  der  des  Anfangs  sehr  verschieden 
ist"  (Freytag,  Technik  des  Dramas,  S.  90,  Ges.  Werke,  Hirzel  1897, 
XIV.  Avonianus,  Dramatische  Handwerkslehre,  2.  Aufl.,  134  ff.).  Es  ist 
die  künstlerische  Konzentration  des  Fortschritts,  der  Entwicklung  einer 
Handlung,  die  tatsächlich  zu  immer  größerer  Schärfe  und  Feinheit 
herausgearbeitet,  ein  Wesentliches  der  alten  Tragödie  ausmacht.  Bei 
Sophokles  hat  diese  Peripetie  ganz  typische  Formen  ausgebildet,  wenn 
möglichst  vor  dem  Umschlag  noch  einmal  die  Gegenstimmung  aufs 
schärfste  herausgearbeitet  wird,  scheinbar  Befreiung  von  aller  Angst, 
ein  dionysisches  Tanzlied,  und  dann  mit  plötzlicher  Wucht  der  ver- 
nichtende Schlag.  Jeder  weiß,  wie  im  König  Oidipus  das  jubelnde 
Liedchen,  das  der  erlöst  aufatmende  Chor  singt,  eirrep  ifd)  ludvTic  ei)Lii, 
keine  hundert  Verse  absteht  von  dem  furchtbaren  Klagelied  über  Menschen- 
elend iu)  T€V€ai  ßpoTÜuv,  nachdem  alles  am  Tage  ist.  In  der  antiken 
Theorie  ist  irepiTreTeia  schon  bei  Aristoteles  ein  streng  feststehender  Ter- 
minus, der  dort  neben  dvaTvujpicjuöc  steht,  natürlich  eine  für  die  antike 
Tragödie  sehr  wesentliche,  besonders  sorgfältig  ausgestaltete  Form  der 
7T€pi7TeT€ia.  Zunächst  und  eigentlich  für  die  ganze  Zeit  der  altattischen 
Tragödie  bleibt  es  einerlei,  ob  die  Peripetie  vom  „Guten  zum  Bösen" 
oder  vom  „Bösen  zum  Guten",  um  es  banal,  aber  kurz  auszudrücken, 
sich  vollzieht,  jedenfalls  blieben  beiderlei  TrepiTrexeiai  möglich  und  wurden 
beide  Arten  gehandhabt.  Ein  Stück  wie  die  Perser  hat  keine  Peripetie; 
denn  daß  die  schlimme  Nachricht,  die  vom  Anfang  vorbereitet  ist,  nun 

180  wirklich  hereinbricht,  kann  man  kaum  so  nennen;  in  den  'GTird  kann 
man  nur  dahin  rechnen,  daß  bis  zu  allerletzt  der  Hauptschlag,  der 
Brudermord,  aufgespart  und  daß  der  Bote  des  schwersten  Unheils  erst 
hinter  der  Meldung  von  der  Rettung  der  Stadt  die  furchtbare  Meldung 
herniederbrechen  läßt.  Im  Prometheus  ist  der  Schluß,  das  Nieder- 
schmettern in  die  Tiefe,  die  Peripetie;  im  Agamemnon  ist  es  der  Mord 
und  in  den  Choephoren  der  dvaTVujpic|uöc,  in  den  Eumeniden  die  Ent- 


Die  Entstehung  der  Tragödie  427 

Sühnung  und  Lösung  des  Orest;  die  ganze  Wandlung  der  Erinyen  zu 
den  Eumeniden,  des  Fluches  zum  Segenslied  ist  die  eindrucksvollste 
Peripetie.  Da  in  der  antiken  Tragödie  sich  nie  oder  fast  nie  irgend- 
welche materielle  Spannung  an  die  Peripetie  knüpft,  so  ist  auch  dieses 
Hauptmittel  der  Bewegung  der  Handlung,  dieser  Angelpunkt  des  Dra- 
matischen viel  mehr  sozusagen  formal  künstlerisch  ausgebildet,  als  die 
der  antiken  nachgemachten  Peripetien  der  Dramen  späterer  Zeiten. 

Am  merkwürdigsten  ist  aber  die  Peripetie  in  den  Hiketiden  des 
Aischylos.  Die  Sage  gab  an  die  Hand,  daß  die  nach  Argos  geflohenen 
Danaertöchter  doch  von  den  Aigyptossöhnen,  die  ihnen  folgten,  in  die 
Gewalt  gebracht  und  zur  Ehe  gezwungen  wurden.  Dann  erst  kam  die 
blutige  Peripetie  der  Brautnacht,  die  für  Aischylos  natüriich  in  der 
ganzen  Trilogie  die  wesentliche  Peripetie  war,  zuletzt  noch  die  Recht- 
fertigung und  Freisprechung  der  Hypermestra.  Das  Expositionsstück 
gestaltet  er  nun  aber  so,  daß  die  in  höchster  Angst  den  Altar  um- 
drängenden Danaiden  mit  dem  König  der  Stadt  verhandeln,  ob  er  ihnen 
beistehen  will  —  absichtlich  muß  der  König  noch  einmal  in  die  Stadt 
zurück,  um  das  Volk  zu  fragen  (die  Einführung  dieses  demokratischen 
Königs  hat  nur  dramatischen  Zweck),  es  wird  alles  zur  höchsten  Not 
gesteigert,  da  Danaos  die  Aigyptossöhne  landen  sieht,  der  Herold  und 
seine  Horde  bedrängt  sie  bis  zum  äußersten  Höhepunkt  der  Not:  da 
sie  gerade  zum  Schiffe  getrieben  werden  würden,  da  der  Herold  mit 
seinen  Bütteln  sie  zu  packen  sich  anschickt 

KHP,  ^XHeiv  eoix'  iJ|Liac  dTTOCTrdcac  KÖjaric  181 

i-nei  oi»K  dKOuer'  oHu  tüuv  djuiuv  Xötujv 

und  sie  klagen: 

biuj\öjuec0' •  deXTTT',  dvaH,  Trdcxoiuev. 
der  Herold  droht: 

TToXXoiJC  dvaKTttc,  TTaibac  MtOtttou,  xdxa 
ÖM^ecee*  GapceiT*,  ouk  epeii'  dvapxiav,  - 
da  tritt  der  König  aus  der  Stadt  mit  seinen  Bewaffneten  auf:  oijtoc, 
Ti  TTOieTc,  und  rettet  sie.  Sie  ziehen  dankbar  und  eriöst  in  die  Stadt. 
So  schließt  das  Expositionsstück,  obwohl  ja  das  folgende  Stück  damit 
beginnen  mußte,  daß  die  Befreiung  nur  voriäufig  war  und  sie  doch  in 
die  Gewalt  der  Verhaßten  kamen.  So  wird  besonders  deutlich,  wie 
solche  feste  Kunstform  der  Peripetie  vorhanden  war,  daß  hier  ein  Stoff 
danach  gestaltet  wurde,  der  ihr  widerstrebte.  Dieselbe  Art  Peripetie,  das 
sog.  „Altarmotiv",  wie  ich  es  früher  einmal  <S.  402>  genannt  habe,  geht 
dann  wie  formelhaft  in  der  griechischen  Tragödie  weiter  und  wird  von 


428  ^^®  Entstehung  der  Tragödie 

Euripides  in  Andromache  und  Herakles  als  bereitstehendes  bequemes 
Mittel,  die  Tragödie  auszubauen,  gebraucht. 

Die  Schutzflehenden  sind  das  älteste  Stück  des  Aischylos,  vor  480 
aufgeführt.  Man  kann  wohl  annehmen,  daß  er  das  Peripetiemotiv  schon 
damals  so  fein  und  typisch  ausgebildet  habe,  wie  es  die  Hiketiden  eine 
widerstrebende  Handlung  umgestaltend  und  gliedernd  zeigen. 

.       6 

Sollte  nicht  gerade  in  diesem  Punkte  eine  Anregung  gekommen 
sein  von  Aufführungen,  die  es  bereits  vor  Aischylos  gab?  Es  ist  mir 
schon  lange  seltsam  vorgekommen,  daß  man  bei  Erörterung  des  Ur- 
sprungs der  Tragödie  mit  keinem  Worte  mehr  der  bpuijueva  von  Eleu- 
sis  gedenkt.  Man  hat  wohl  früher  ihrer  auch  in  diesem  Zusammenhange 
182  Erwähnung  getan,  aber  es  scheint  die  Stimmung,  die  jeglichen  Mysterien 
und  jeder  Betonung  des  Einflusses  von  Mysterien  Kreuze  schlagend  aus 
dem  Wege  ging,  es  scheint  mir  der  Gegenschlag  gegen  die  Verirrungen 
von  Creuzer  bis  Panofka  daran  schuld  zu  sein.  Und  doch  ist  es  schon 
für  allgemeine  Erwägung  schlechterdings  undenkbar,  daß  das  Aufwachsen 
der  ersten  Tragödie  ohne  jeden  Zusammenhang  mit  der  Vorführung, 
den  bpdjuaTa  oder  bpuujueva,  die  so  viele  gut  kannten,  vor  sich  gegangen 
sei.  Wir  wissen  ja  leider  sehr  wenig  von  dem,  was  in  jener  Zeit  in 
Eleusis  vorgeführt  wurde,  aber  wir  haben  den  Hymnus  auf  Demeter, 
der  doch  offensichtlich  eine  in  die  Form  des  Epos  transponierte  Dar- 
stellung der  heiligen  Aktionen  von  Eleusis  ist.  Das  Verschwinden  der 
Köre,  das  Irren  und  die  Trauer  der  Demeter,  die  Tröstung  der  Demeter, 
der  KUKeujv,  die  Rückkehr  der  Köre  u.  dgl.  kamen  sicher  vor.  Ich  will 
alles  Spätere  beiseite  lassen,  obwohl  gewisse  Wechsel  von  Dunkel  und 
Licht,  obwohl  gewiß  der  dumpfe  Klang  eines  ehernen  Schallbeckens, 
das  der  Hierophant  schlug,  wenn  sie  die  Köre  anriefen,  auch  für  frühe 
Zeit  sehr  wahrscheinlich  sein  dürften  (Apollodor  im  Theokritscholion  II, 
36).  Demeter  und  Köre  wurden  sicher  dargestellt;  gewiß  ist  es,  daß 
sie  von  Priestern  dargestellt  wurden.  Aber  ob  und  was  sie  sprachen, 
gehört  schon  für  den  ganz  Vorsichtigen  zum  Unsicheren.  Sicher  sind 
nur  die  Chöre  und  die  Prorrhesis  des  Hierophanten,  also  eigentlich 
Vorträge  in  der  Art  der  epirrhematischen  Komposition,  wie  wir  in  der 
alten  Komödie  uns  auszudrücken  pflegen.  Die  irpöppTicic  in  den  Fröschen 
mit  dem  eiicpriiueTv  xpn  und  den  lakchosliedern  kann  doch  wirklich  nur 
nach  solchen  Mysterien  gestaltet  sein.  Aber  ich  verfolge  nichts  von 
dem  allen  weiter.  Das  eine  ist  ganz  sicher,  daß  das  Wesentliche  dieser 
bpiu|Li€va  der  Umschlag  von  Trauer  zur  Freude  war:  die  Klage  um  die 


Die  Entstehung  der  Tragödie  429 

verschwundene   Köre,   die  Trauer  der  Demeter  —  der  Jubel  über  die 
Wiedergefundene,  die  wieder  Heraufgekommene. 

Diese  Peripetie  des  Dramas  von  Eleusis  war  allbekannt.  Sie  hatte  183 
dort  religiöse  Bedeutung  für  die  Gläubigen,  die  eben  dieselbe  Peripetie 
erstrebten  und  in  irgendwelcher  Weise  mit  der  Peripetie  der  heiligen 
bpw^eva  sakramental  verknüpft  wurden.  Wir  wissen  ja  manches  davon, 
was  ich  hier  nicht  zu  wiederholen  brauche.  Der  Geist  des  Kultes  der 
eleusinischen  Mutter  alles  Lebens,  der  Menschen  und  der  Erde,  deren 
Kind  auch  der  wird,  der  sich  ihr  weihen  läßt,  der  dort  „schaut"  und 
ein  zweites  Leben  gewinnt,  wurzelt  vornehmlich  in  der  Peripetie  von 
Trauer  zum  Jubel,  vom  Tod  zum  neuen  Leben.  Man  sagt  nicht  zu  viel, 
wenn  man  behauptet,  daß  das  in  allen  ähnlichen  bpaj)U€va  und  bpctjuaia 
-  bpäv  wird  in  dieser  Sphäre  nur  im  Sinne  liturgischer  Aktion  ge- 
braucht, bpdiinevov  differenziert  sich  da  vom  weltlichen  bpäjLia  -  der 
immer  wiederkehrende  Umschwung  ist,  der  dargestellt  und  dadurch  für 
die  teilnehmenden  Geweihten  zwingend  gemacht  wird:  vom  Verloren 
zum  Gefunden,  von  Nacht  zum  Licht,  vom  Tod  zum  Leben.  Erinnern 
wir  uns  nur  flüchtig  der  Mysterien  des  Attis,  Adonis,  Osiris,  Dionysos, 
erinnern  wir  uns  des  Dramas  der  christlichen  Messe. 

Es  war  und  ist  das  große  weltbeherrschende  Mysterium.  Was  wir 
von  antiken  Liturgietexten  wissen  und  noch  haben,  ist  fast  alles  Aus- 
druck dieses  Gedankens;  eqpuYOv  koköv,  eijpov  ajuewov,  —  vuinqpie, 
XaTpe,  veov  q)U)c  —  eupriKajuev  cuTxaipoMCV  —  Gappeire  inijCTai  toO  Oeou 
C€cujc|i€vou,  kiai  TotP  ti|liTv  ek  ttövou  cujiripia.  Das  ist  die  Peripetie 
Ktti'  eHoxriv.  Und  mögen  wir  von  Eleusis  und  seinem  heiligen  Drama 
noch  so  wenig  wissen,  das  wissen  wir,  daß  die  Peripetie  von  der  Trauer 
der  Demeter,  die  die  Tochter  sucht,  zum  Jubel  der  Demeter,  die  die 
Tochter  gefunden  hat,  mit  den  zugehörigen  Klage-  und  Jubelliedern 
dort  das  Wesentliche  war.  Daß  dies  so  vielen  Athenern  Wohlbekannte, 
alljähriich  Wiederholte  ganz  ohne  Wirkung  auf  ein  in  Athen  sich  ge- 
staltendes, ernst  werdendes,  einen  epnvoc  von  der  Totenklage  wie  auch 
immer  zum  Hauptbestandteil  übernehmendes  bpä)na  hätte  bleiben  können,  184 
werden  wohl  schon  nach  diesen  allgemeinen  Erwägungen  wenige  be- 
haupten wollen,  und  wohl  nur  die,  die  immer  noch  nicht  glauben,  daß 
wir  ganz  kühlen  und  unmystischen  Geistes  die  Bedeutung  der  antiken, 
auch  der  eleusinischen  Mysterien  abzuwägen  imstande  sind. 

7 
Aischylos,     der     Schöpfer     der     attischen     Tragödie,     war     aus 
Eleusis. 


430  Diö  Entstehung  der  Tragödie 

Ihn  läßt  Aristophanes  in  den  Fröschen,  bevor  er  in  den  Kampf  um 
den  Vorrang  in  der  tragischen  Kunst  mit  Euripides  eintritt,  beten  (886  f.) : 

Ar|jar|Tep  r\  Gpeipaca  Tf]v  ejufiv  cppeva 
eivai  lue  tujv  cujv  dHiov  juucrripiujv. 

Aristophanes  hatte  doch  irgendeine  bestimmte  Vorstellung  von  den  Be- 
ziehungen des  Aischylos  zu  Eleusis  und  zu  den  dortigen  Mysterien, 
wenn  er  ihn  in  diesem  Augenblicke  so  beten  läßt,  in  dem  er  ihn  ja 
zu  jeder  anderen  Gottheit  beten  lassen  konnte. 

Eine  uns  bei  Athenäus  (p.  21  e)  erhaltene  Notiz  sagt:  Kai  AicxOXoc 
be  Ol)  )Liövov  eHeOpe  Tf)v  ttic  cxoXfic  euTTpeireiav  Kai  cejuvÖTTiTa,  f\v  lr\\w- 
cavTCc  Ol  lepoqpdvxai  Kai  baboOxoi  djucpievvuvTai.  Daß  es  unmöglich 
ist,  daß  die  darstellenden  Priester  in  der  viel  älteren  Liturgie  von  Eleu- 
sis ihre  Tracht  von  der  Aischyleischen  Tragödie  übernommen  hätten, 
braucht  man  nicht  erst  darzulegen;  es  konnte  nur  umgekehrt  sein.  Die 
CToXr)  ist  ja  ohne  Zweifel  ursprünglich  ein  sakrales  Gewand.  Jedenfalls 
aber  bezeugt  uns  diese  Angabe,  daß  die  Ähnlichkeit  beider  Trachten 
auffiel.  Die  Sachkenner  pflegen  ja  zu  dem  Urteil  zu  gelangen,  daß 
Aischylos  in  allem  Wesentlichen  die  Ausstattung  des  tragischen  Spieles 
für  die  Folgezeit  bestimmt  habe. 

Eine  Nachricht,  die  in  mannigfachen  Varianten  auf  uns  gekommen 
ist,  besagt,  daß  Aischylos  angeklagt  oder  verfolgt  sei  infolge  von  Nach- 
185  ahmung  der  Mysterien.  Wir  können  auf  alle  die  einzelnen  Erzählungen, 
wie  im  Theater  deswegen  ein  großer  Tumult  losgebrochen  sei  und  man 
den  Aischylos  beinahe  gelyncht  hätte,  wenn  er  nicht  zum  Altar  des 
Dionysos  geflohen  wäre,  nicht  bauen.  Aber  die  Nachrichten  allesamt 
unter  die  Fabeln  zu  verweisen,  geht  schon  deshalb  nicht  wohl  an,  weil 
schon  Aristoteles  in  der  Nikomachischen  Ethik  (III  2,  p.  IUP)  darauf 
anspielt.  Und  keiner  hat  es  auch,  soviel  ich  weiß,  wagen  mögen,  die 
Nachrichten  so  zu  behandeln.  Man  erkennt  so  viel,  daß  man  auf  der 
Suche  war  nach  einem  Stück,  in  dem  er  die  Mysterien  profaniert  haben 
könnte,  und  daß  immer  wieder  andere  genannt  werden.  Das  wäre  sehr 
verständlich,  wenn  es  sich  eben  nur  um  die  Übernahme  gewisser  An- 
regungen in  Form  und  Aufbau  der  dramatischen  Spiele,  vielleicht  auch 
in  der  Form  der  dort  stehend  gewordenen  Gpfivoi  und  KO|a|uoi,  und 
etwa  in  der  reichen  Festtracht  der  darstellenden  Priester,  d.  h.  nur  der 
langen  Stola,  handelte.  Ich  will  nichts  zu  wissen  versuchen,  was  wir 
nun  einmal  nicht  wissen,  aber  ich  frage,  ob  die  Nachrichten,  die  ich 
vorführte,  nicht  doch  in  dem  Zusammenhange,  in  den  ich  sie  stellte, 
mehr  lehren  als  bisher. 


Die  Entstehung  der  Tragödie  43j 

Natürlich  kann  keine  Rede  davon  sein,  daß  Aischylos  dTröppriTa  von 
Eleusis  übernommen  hätte.  Aber  das  mag  doch  kein  Zufall  sein,  wenn 
er  gerade  die  tiefste  Grundlage  eleusinischer  Religion,  den  Glauben  an 
die  alles  gebärende,  wiederaufnehmende  und  wiedergebärende  Mutter 
Erde,  öfters  ausspricht  oder  andeutet.  Es  hat  fast  einen  geheimnisvoll 
liturgischen  Klang,  wenn  die  schutzflehenden  Mädchen  in  ihrer  Not, 
zweimal  im  Refrain,  rufen  (890  ff.,  899  ff.): 

Mct  rä,  )Liä  r«,  ßoäv 
qpoßepöv  dTrÖTpeire, 
u)  ßä,  räc  Tiai,  ZeO, 

wenn  Elektra  betet  (Choeph.  178 f.): 

Ktti  falav  auxriv,  fi  td  iravTa  TiKTexai, 
Qpi\\iacd  T    auOic  Tiuvbe  KÜjaa  Xaiußdvei. 

Aber   aus   diesen   und   noch   anderen   Stellen   (Mutter  Erde  37  ff.)  186 
würde  ich  um  so  weniger  irgendwelche  Forderungen  zu  ziehen  wagen, 
als  ich  ja  selbst  früher  nachgewiesen  habe,  daß  es  sich  da  auch  um 
allgemeinen  attischen  Volksglauben  handelt. 

8 

Irgendeine  Einwirkung  der  bestehenden  Liturgie  von  Eleusis  auf 
die  werdende  Liturgie  des  Dionysosfestes  hat  jedenfalls  alle  allgemeine 
Wahrscheinlichkeit  für  sich.  Die  Liturgie  des  Dionysosfestes  -  ich 
brauche  das  Wort  Liturgie  der  Kürze  halber  für  ein  Ganzes  von  Hand- 
lungen und  Gebeten,  die  im  Dienste  einer  Gottheit  ausgeführt  werden, 
und  schließe  mich  damit  unserm  Sprachgebrauche  an  -  bestand  ja 
offenbar  aus  einer  Reihe  von  verschiedenen  Teilen,  der  Feier  der  Epi- 
phanie  des  Gottes,  den  Tiertänzen,  der  Totenklage  und  wohl  noch  einigem 
anderen,  was  uns  hier  nicht  angeht.  Die  xpaTiubia  entwickelt  sich  ja 
eben  als  die  Liturgie.  Sie  hat  sich  zum  Burlesken  gewendet,  und  erst 
in  weiterer  Entwicklung  hat  sie  sich  zum  Erhabenen,  zum  Ernste  durch- 
gerungen. Zugleich  wird  sie  immer  mehr  „verweltlicht",  nur  der 
Heroenmythus  bleibt  weiterhin  obligatorisch  als  Inhalt.  Als  „Liturgie" 
ist  sie  immer  empfunden  worden,  nur  ist  natürlich  die  Freiheit  der 
Bewegung  innerhalb  immer  weiter  gesteckter  Grenzen  von  Euripides 
bis  zur  Zerstörung  der  Zwecke  gesteigert  worden,  die  einst  das  heilige 
Spiel  hatten  entstehen  lassen. 

Freilich  muß  man  durch  die  Vorstellungen  primitiver  Religion  auch 
nicht  die  älteste  Tragödie  der  Griechen  verstanden  zu  haben  glauben. 


432  ^^®  Entstehung  der  Tragödie 

Das  wirkliche  Wesen  der  alten  Tiertänze  im  Frühling,  die  zugleich 
Fruchtbarkeits-  und  Seelentänze  sind,  versteht  man  nicht  ohne  sie,  und 
gewiß  hat  die  griechische  Tragödie  insofern  dämonischen  Ursprung. 
Die  Elemente,  die  da  am  dunkeln  Anfang  stehen,  kehren  in  der  ganzen 
Welt  immer  wieder.     Aber  nun  weiter  die  griechischen  Produkte  einer 

187  schon  weit  voran  entwickelten  Kunst  durch  bestimmte  primitive  Vor- 
stellungen etwa  eines  noch  dazu  so  besonders  weit  -  ich  meine  nicht 
bloß  räumlich  -  abgelegenen  Volkes  wie  der  Mexikaner  aufklären  zu 
wollen,  erweist  sich  sofort  als  Hineindeutung  gänzlich  heterogener  Vor- 
stellungskreise. Ohne  den  „dummen  Zauberglauben"  kann  man  freilich 
auch  die  hellenische  Religion  nicht,  so  wenig  wie  irgendeine  andere, 
verstehen,  aber  mit  mexikanischen  Phallustänzen  und  Fruchtbarkeits- 
riten hat  man  wohl  auch  Analogien  zu  griechischen  Phallustänzen 
und  Fruchtbarkeitsriten,  die  wir  ja  so  wie  so  massenhaft  in 
der  Welt  haben,  aber  sonst  nichts,  nichts  für  das  Verständnis  des 
Werdens  der  griechischen  Komödie  oder  Tragödie.  Die  Aufführung 
der  „Liturgie"  hat  ursprünglich  gewiß  lange  noch  die  Vorstellung  be- 
gleitet, daß  sie  etwas  Bestimmtes  bewirke,  eine  sakramentale  Wirkung; 
bei  szenischen  Spielen  bleibt  das  merkwürdig  lange  haften,  auch  wenn 
längst,  was  gespielt  wird,  keinen  Anhalt  mehr  für  eine  solche  Vorstellung 
gibt.  Das  ist  mir  nie  klarer  geworden  als  durch  eine  Mitteilung  Snouck 
Hurgronjes,  des  unvergleichlichen  Kenners  mohammedanischen,  im  be- 
sonderen auch  javanischen  Lebens.  Ist  dort  z.  B.  ein  Kind  krank,  so 
wird  der  Mann,  der  das  Schattenspieltheater  hat  und  spieh,  gerufen, 
er  spielt  ein  Stück,  in  dem  ein  Kind  geheilt  wird  (je  nachdem  aber 
auch  eins,  in  dem  gar  keine  Beziehung  mehr  zu  dem  vorliegenden 
Falle  vorkommt),  und  reicht  am  Schlüsse  dem  Vater  des  Kindes  die 
Hand:  dann  geht  eine  Wirkung  über,  und  man  glaubt,  daß  nun  das 
kranke  Kind  gesund  werde.  Im  Altertum  war  die  typische  Vorstellung 
lange  vorhanden,  daß  die  Spiele  die  Götter  besänftigen  könnten;  eine 
pestüenüa  war  es  ja,  die  in  Rom  ludi  scenici  einführte,  inter  alia  cae- 
lestis  irae  placamina ,  wie  Livius  sagt  (VII,  2).  Aber  im  Athen  des 
fünften  Jahrhunderts  hat  man  schnell  die  Entwicklung  durchlaufen,  die 
von  dem  Glauben  an  die  sakramentale  Wirkung  bis  zu  einer  allgemeinen 
Empfindung  religiöser  Erbauung  zu  führen  pflegt.     Eine  Wirkung,  die 

188  religiös  war  und  wir  jedenfalls  religiös  nennen  würden,  eine  Besserung 
und  „Bekehrung"  und  Belehrung,  sollte  die  Tragödie  immer  erreichen, 
wenn  wir  nur  den  Beigeschmack  ins  Banalmoralische  oder  Engkirchliche 
uns  ersparen  könnten,  den  diese  Worte  bei  uns  haben.  Die  Empörung 
gegen  Euripides  bei  allen,  die  an  dem  ernst -religiös  wirksamen  Cha- 


Die  Entstehung  der  Tragödie  433 

rakter  und  der  Besserung  und  Erbauung  durch  das  Spiel  festhielten, 
können  wir  uns  ja  nach  Aristophanes'  Fröschen  im  einzelnen  vorstellen, 
wenn  wir  aus  der  Komik  den  Ernst  zu  empfinden  vermögen.  Die 
Tragödie  des  Sophokles  ist  so  recht  im  höchsten  Sinne  des  Wortes  ein 
frommes  Spiel,  das  die  Macht  und  das  Walten  der  Götter  preist,  ihre 
Wege  rechtfertigt,  die  anders  sind  als  unsere  Gedanken,  und  ihre  un- 
erforschlichen  Ratschlüsse,  die  wir  nicht  begreifen  können,  unter  die 
wir  uns  in  Ergebung  beugen  sollen.  Wer  hoch  steht,  fällt,  wenn  die 
Gottheit  will;  wer  verflucht  ist,  kann  zu  höchstem  Segen  begnadet  werden, 
wenn  sie  es  will.  Diese  Liturgie  ist  zur  dramatischen  Doxologie  der 
Macht  und  Herrlichkeit  der  Götter  geworden,  aber  auch  zum  erschütternden 
epfjvoc  ober  den  unauskündbaren  Jammer  des  Menschenschicksals.  Das 
ehrliche  helle  Künstlerauge  des  Sophokles  sieht  in  diese  Tiefen,  aber 
auch  wenn  es  den  entsetzlichsten  Jammer  sieht,  nie  ist  es  verdunkelt 
auch  nur  von  einem  Schatten  des  Grübelns  und  Zweifeins,  nie  von 
den  Wolken  der  Mystik.  Ein  Priester  ist  er  im  Leben  und  als  Dichter: 
leider  wird  es  uns  ja  so  schwer  durch  die  Entwicklung  der  ent- 
sprechenden Erscheinungen  unserer  Kultur,  dies  Wort  so  hoch  und  rein 
zu  empfinden,  wie  ich  es  in  diesem  Falle  empfinden  und  empfunden 
wissen  möchte.  Der  Priester  des  Asklepios  war  der  Dichter  der  tiefsten 
Schmerzen  der  Menschheit. 

Alle  die  Gedanken  echt  attischer  Frömmigkeit,  wie  sie  schon  in 
Solons  großer  Elegie  MvrmocOvric  Kai  Ztivöc  'OXujuttiou  d^Xaci  xeKva 
stehen,  werden  alsbald  auch  zum  Inhalt  der  attischen  Dionysosliturgie 
von  der  lißpic  und  der  axTi,  die  bald  den,  bald  jenen  trifft,  wie  sie 
Zeus  sendet,  von  der  licic  des  Zeus.  Daß  sich  mancherlei  solcher  Ge- 189 
danken  leicht  da  einfinden,  wo  von  dem  Siege  des  Dionysos  über  die 
Frevler,  die  sich  seinem  Dienste  entgegenstellten,  gedichtet  und  auf- 
geführt wurde,  begreift  man,  und  überall  hatten  sie  ihren  natürlichen 
Ausdruck,  wo  Walten  und  Sieg  der  Gottheit  über  Menschenvorwitz  und 
Menschenüberhebung  dargestellt  wurde. 

Es  bleibt  immer  wunderbar,  wie  schnell  sich  die  Liturgie  als  freies 
Kunstwerk  ausgestaltet,  und  auch  als  sich  dies  werdende  Kunstwerk 
an  die  schon  fest  vorhandene  dramatische  Liturgie  von  Eleusis  in 
einigen  Punkten  angelehnt  hat,  ist  der  Gang  seiner  Befreiung  und  Ver- 
weltlichung nicht  unterbrochen  worden. 

In  einem  Punkte  sieht  man  immer  wieder  die  Wesensverwandtschaft 
mit  der  alten  Liturgie  hervorbrechen.  Wie  sie  immer  ein  aiiiov  ist, 
das  heißt  die  Handlung,  die  Heilstatsache,  die  einst  eine  sakramentale 
Wirkung  hervorgebracht  hat,  zur  immer  wiederholten  wirksamen  Dar- 

Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  28 


434  Die  Entstehung  der  Tragödie 

Stellung  bringt,  so  führt  auch  die  Tragödie  immer  und  immer  wieder 
solche  aiTia  auf  die  Bühne,  die  Entstehung,  Stiftung  irgendeines  Kultes, 
einer  Einrichtung.  Die  Darstellung  muß  ins  erste  Werden  umsetzen,  was 
sie  als  Einrichtung  verherrlichen  und  was  sie  dadurch  wirksam  machen 
will.  Das  einleuchtendste  Beispiel  ist  der  Oidipus  auf  Kolonos:  die 
Verherrlichung  des  heiligen  segenbringenden  Herosgrabes  in  Sophokles* 
Heimat,  sein  aiiiov.  Aber  gerade  in  der  älteren  Tragödie  gehen  die 
drei  Stücke  des  öfteren  auf  Stiftung  kultischer,  heiliger,  segenwirkender 
Einrichtungen  hinaus,  wie,  um  die  bekanntesten  zu  nennen,  die  Prome- 
thie  auf  die  Stiftung  des  Fackelfestes  und  vor  allem  die  Orestie  auf 
die  Stiftung  des  heiligen  Blutgerichts  vom  Areopag.  Als  die  Leute, 
die  die  Stadt  Airva  gegründet  hatten,  ein  „Festspiel",  wie  man  wohl 
zu  sagen  pflegt,  bei  ihrer  Gründungsweihe  brauchten,  d.  h.  eine  Gründungs- 
liturgie, ein  aiTiov,  führte  ihnen  nicht  mehr  ein  Chormeister  ein  Lied 
190  auf,  wie  sonst  im  Westen  so  üblich  war  an  den  Heroenfesten,  sondern 
Aischylos  dichtete  die  Airvai,  eine  Tragödie,  die  in  der  Tat  die 
Gründungssage  zum  Gegenstand  hatte. 

Es  ist  gewiß  schwer,  bei  den  Tragödien  des  Euripides  den  Gedanken 
an  die  Festliturgie  einigermaßen  festzuhalten.  An  einem  Punkte  aber 
ist  es  deutlich,  wie  gerade  er,  der  so  oft  den  Gang  der  Handlung  ganz 
revolutionär  neue  Bahnen  geführt  hat,  am  Schluß  damit  einlenkt,  daß 
er  ein  aiiiov  gibt:  die  Stiftung  irgendeines  Kultes,  die  Gründung  einer 
Stadt,  die  Prophezeiung  von  irgendwelchen  Stammesheroen,  die  Erklärung 
einer  Verwandlungsage.  Er  weiß  mit  solcher  Offenbarung,  Geia  otTTeXi  a 
meist  buchstäblich  durch  den  öeöc  ek  lUTixavfic,  am  Schluß  so  oft  den 
Zusammenhang  mit  den  religiösen  Urelementen  formelhaft  zu  wahren, 
den  er  tatsächlich  fast  ganz  verloren  hat. 

Die  Liturgie,  die  im  Kulte  und  Ritus  gebunden  ist,  sozusagen  im 
praktischen  religiösen  Gebrauch,  bleibt  im  wesentlichen  immer  dieselbe; 
langsam,  in  langen  Zeiträumen,  gehen  Veränderungen,  Verlust  und  Zu- 
wachs vor  sich.  Die  Umsetzung  der  Liturgie  ins  weltliche  Kunstwerk 
ist  die  erste  Entwicklung  der  attischen  Tragödie.  Die  werdende  Litur- 
gie des  Dionysosfestes  wurde  wohl  in  Athen  eben  damit,  daß  fremdes, 
als,  Dithyrambos  freies  Kunstwerk  hereinkam,  was  sich  an  den  Namen 
des  Thespis  knüpft,  von  den  unmittelbaren  Banden  des  Kultes  befreit 
und  ist  zunächst  mit  all  dem  Mummenschanz  und  Tierkult,  den  die  volks- 
tümlichen Bräuche  ähnlich  auch  längst  gehabt  hatten,  beinahe  völlig 
ins  Burleske  hinübergetrieben.  Andere  alte  Begehungen  des  Festes, 
wie  die  Totenklage,  machten  noch  ihr  Recht  und  ihre  alte  Kraft  geltend : 
der  epfivoc  drang  ein  und  gestaltete  sich  künstlerisch  weiter.   Und  wenn 


Die  Entstehung  der  Tragödie  435 

wirklich  der  Schöpfer  der  Tragödie,  der  den  zweiten  Schauspieler  ein- 
führte, eine  wesentliche  Anregung  zur  Ausgestaltung  des  heiligen  Spieles 
des  Dionysosfestes  dem  längst  fertigen  geistlichen  Drama  von  Eleusis 
verdankt  hätte,  so  wäre  es  auch  mit  der  Entstehung  eines  wirklichen 
Dramas  in  Athen  und  Griechenland  ebenso  gegangen,  wie  es  überall 
gegangen  ist,  wo  wir  von  der  ersten  Entstehung  eines  Dramas  etwas  191 
wissen. 

9 

Es  ist  sehr  bekannt,  wie  im  Mittelalter  ein  Drama  tatsächlich  aus 
der  Liturgie  allmählich  wieder  herausgewachsen  ist,  wie  alle  diese 
Mysterienspiele,  Oster-,  Passions-  und  Fronleichnamsspiele,  aus  den 
liturgischen  bpiuineva  sich  weiter  gestalteten,  die  aus  der  Klage  des  Todes 
Christi  zum  Jubel  der  Auferstehung  fortschritten.  Die  Moralitäten  und 
Paternosterspiele,  und  wie  sie  sonst  hießen,  sind  tatsächlich  im  Anschluß 
an  die  Liturgie  einerseits  und  die  Predigt  anderseits  zuerst  aufgewachsen. 
Die  Komik  hat  sich  hier  ganz  allmählich  an  einzelne  Figuren  und  Situ- 
ationen angesetzt  und  ist  ganz  langsam  zu  einigem  selbständigen  Leben 
erwachsen,  so  ganz  anders,  beinahe  umgekehrt,  als  in  Griechenland. 
Das  liturgische  Drama  des  Mittelalters  entwickelte  sich  in  merkwürdiger 
Einheit  über  das  ganze  Gebiet  mittelalterlich -christlicher  Kultur,  in 
gleichen  Formen  „vom  Mont  St.  Michel  bis  Bari,  von  Silos  in  Spanien 
bis  nach  Wien". 

Es  war  ja  eine  Liturgie  gleichen  Wesens  wie  die,  welche  einst  auf 
das  werdende  Drama  in  Athen  eingewirkt  haben  muß,  eigentlich  die 
alte  Liturgie,  die  in  ihren  Hauptzügen  die  Mysterienkulte  des  Altertums 
geschaffen  haben,  mit  den  außerordentlich  triebkräftigen  dramatischen 
Elementen;  mit  der  erschütternden  Peripetie  von  Nacht  zum  Licht,  Tod 
zum  Leben,  Sterben  zum  Auferstehen.  Sie  schuf  auch  dem  Mittelalter 
wieder  ein  Drama,  in  trägem  Gange  freilich,  und  wenn  nicht  die  Ein- 
wirkung der  fertigen  antiken  weltlichen  Dramen  dazugekommen  wäre, 
hätte  es  sich  schwerlich  aus  der  kirchlichen  Sphäre  völlig  herausarbeiten 
können. 

Wenn  man  die  Entstehung  eines  Dramas  bei  anderen  Völkern  ver- 
gleicht, so  stößt  man  in  der  Tat  überall,  wo  man  überhaupt  etwas 
wissen  kann,  auf  den  religiösen  Ursprung.  Ich  gestehe,  daß  ich  viel 
dergleichen  Analogien,  wie  ich  meinte,  gesammelt  habe,  um  etwas  für  192 
die  Erkenntnis  der  Entstehung  und  ersten  Entwicklung  der  griechischen 
Tragödie  zu  gewinnen,  und  daß  ich  ganz  anderes  für  das  Verständnis 
der  griechischen  Entwicklung  gefunden  habe,  als  ich  meinte  und  ur- 

28* 


436  ^*®  Entstehung  der  Tragödie 

Sprünglich  hoffte.  Bei  einer  ganzen  Reihe  von  Völkern  sehen  wir  ja 
nur  so  viel,  daß  aus  religiösen  Tänzen,  denen  offenbar  zauberhafte 
Wirkungen  beigelegt  wurden  (Oldenberg,  Literatur  des  alten  Indien, 
237),  dramatische  Spiele  entstehen.  Was  Indien  anbetrifft,  so  will  ich 
mich  in  die  vorläufig  zweck-  und  resultatlose  Erörterung  über  Beein- 
flussung oder  Nichtbeeinflussung  durch  das  griechische  Drama  nicht 
einmischen;  über  die  Entwicklung  aus  den  primitiven  Tänzen  zu  der 
Stufe,  auf  der  auch  dort  die  Heldensage  den  Inhalt  der  Spiele  ausmacht, 
oder  aber  burleske  Spiele,  die  man  tatsächlich  Mimen  nennen  mag, 
können  wir  doch  nichts  wissen  (Oldenberg  240).  Die  religiöse  Grund- 
lage ist  auch  noch  später  schon  daran  deutlich,  daß  die  feierliche 
Weihung  des  Theaterraums  und  die  Gebetssprüche  im  Anfang  unerläß- 
lich sind  (Oldenberg  245  f.).  Beim  japanischen  Drama  ist  die  Entstehung 
der  beliebten  Pantomime  des  Dengaku  aus  orgiastischen  Tänzen,  scheint 
es,  evident,  und  die  Ähnlichkeit  mit  dem  Dionysischen  Orgiasmus 
des  Dionysos  so  frappant,  daß  auch  Florenz  in  seiner  Geschichte  der 
japanischen  Literatur  (S.  372)  sagt:  „Wer  denkt  dabei  nicht  an  die 
Rasereien  der  griechischen  Dionysosfeste?  Und  die  Parallele  wird  noch 
auffallender,  wenn  wir  sehen,  daß  das  Dengaku  ein  wichtiger  Ausgangs- 
punkt für  das  japanische  Drama  wird,  ähnlich  wie  aus  den  dithyram- 
bischen Gesängen  zu  Ehren  des  Dionysos  die  griechische  Tragödie 
hervorging."  Aber  all  das  gibt  nur  eine  gewisse  Analogie  zu  den 
primitiven  Tänzen  und  lehrt  nur  immer  wieder,  was  wir  wissen,  daß 
die  Anfänge  des  Dramatischen,  wie  überall,  im  Kult  zu  suchen  sind; 
über  die  einzige  Entwicklung  einer  Tragödie,  wie  es  die  griechische 
ward,  lehrt  uns  alles  das  gar  nichts,  gibt  uns  auch  nicht  die  Spur 
193  einer  greifbaren  Analogie.  Und  fast  überall,  wo  ich  irgendein  Wissen 
aus  zweiter  oder  dritter  Hand  erlangt  habe,  sind  dramatische  Spiele 
aus  den  „liturgischen"  nicht  zur  künstlerischen  Freiheit  herausgewachsen, 
wie  -  um  ein  bekannteres  Beispiel  zu  nennen  -  die  persischen  Dramen 
von  den  Martern  des  Hussein  ganz  in  der  Sphäre  des  geistlichen  Spieles, 
des  Passionsspieles,  geblieben  sind.  Hier,  wie  so  lange  in  den  My- 
sterienspielen des  Abendlandes,  sind  Priester  die  Schauspieler. 

Ein  Beispiel  noch  eines  Volkes  des  Altertums.  Die  Ägypter  hatten 
insbesondere  Tänze  an  der  Tür  des  Grabes,  die  die  bösen  Dämonen 
von  dem  Toten  fernhalten  sollten;  es  wurden  wohl  auch  Klagegesänge 
der  Isis  und  Nephthys,  auch  wohl  der  tiergestaltigen  Götter  -  sie 
wurden  wirklich  dargestellt  -  aufgeführt.  Dann  aber  wird  eine  heilige 
Handlung  aufgeführt,  „die  einst  die  Verwandten  und  Genossen  des 
Osiris  nach   der  Ermordung  des  Gottes  vorgenommen  hatten,  um  der 


Die  Entstehung  der  Tragödie  437 

zu  begrabenden  Leiche  das  Wiederaufleben  im  Jenseits  zu  sichern". 
„So  hoffte  man  durch  die  Wiederholung  der  Handlung  zugunsten  eines 
menschlichen  Toten  diesem  eine  entsprechende  Neubelebung  zu  ver- 
schaffen" (Wiedemann,  Die  Anfänge  dramatischer  Poesie  im  alten 
Ägypten,  Melanges  Nicole  561  ff.):  also  eine  Liturgie  noch  mit  dem 
sakramentalen  Endzwecke,  der  ihr  ursprüngliches  Wesen  ausmacht. 
Die  Schauspieler  sind  Priester.  Die  Ägypter  sind  auf  der  untersten 
Stufe  stehen  geblieben,  die  wir  hier  wieder  in  reinster,  deutlichster 
Gestalt  kennen  lernen.  „Die  Ansätze  zu  höherer  Entwicklung  waren 
vorhanden,  es  fehlte  aber  dem  ägyptischen  Volke  der  Hauch  des  Genius, 
der  aus  ihnen  das  Kunstwerk  hätte  entstehen  lassen"  (Wiedemann 
a.  a.  O.  577).  Was  man  auch  noch  alles  von  den  alten  Babyloniern 
wissen  wird,  so  viel  scheint  festgestellt,  daß  in  dem  großen  wieder- 
entdeckten Festspielhause  nur  heilige  Liturgien  gespielt  wurden.  Auch 
sie  werden  in  diesem  Falle  auf  der  Stufe  stehen  geblieben  sein,  auf  der 
die  alten  Ägypter  standen  (Mitteil,  der  deutschen  Orient -Ges.  Juni  1907, 194 
Nr.  33,  S.  14  ff.  Zimmern  in  den  Berichten  der  Sachs.  Ges.  d.  Wiss. 
Phil.- bist.  Kl.  LVIII  126  ff.). 

Aus  allen  Analogien,  von  denen  ich  absichtlich  nur  einige  Proben 
gegeben  habe,  können  wir  nichts  schließen  für  die  Einwirkung,  die  die 
entwickelte  Liturgie  von  Eleusis  auf  die  entstehende  Tragödie  gehabt 
haben  könnte.  Freilich  hat  dieselbe  Liturgie,  das  Mysterium  Kax' 
eHoxnv,  in  einer  anderen  Weltepoche  wieder  ein  Drama  aus  sich  erzeugt, 
und  sicher  hat  das  entwickelte  Drama  wieder  zurückgewirkt  auf  das 
)nucTr|piov  der  griechischen  Kirche,  so  sehr  mußten  sie  sich  anziehen 
und  haben  sich  angezogen,  doch  wohl  weil  sie  vom  Ursprung  her  nahe 
verwandt  waren.  Es  wird  schweriich  nur  die  'iKovöcracic  in  der 
griechischen  Kirche  sein,  die  nachweisbar  die  übernommene  Hinterwand 
des  griechischen  Theaters  ist  (Holl,  Archiv  f.  Religionswissensch.  IX, 
365  ff.),  die  als  Zeugin  dieser  Wechselwirkung  zwischen  Tragödie  und 
Liturgie  heute  noch  im  griechischen  Orient  aufrecht  steht. 

Unser  Umblick  auf  Analogien  hat  uns  aber  diesmal,  ohne  weiteren 
wesentlichen  Aufschluß  zu  geben,  zur  Anerkennung  der  völligen 
Eigenart  attischer  Entwicklung  geführt.  Wie  sich  hier  das  leuch- 
tende Kunstwerk  aus  der  Liturgie,  in  der  die  anderen  tief  stecken 
bleiben  oder  sich  nur  mühsam  und  langsam  ein  bißchen  bewegen 
lernen,  in  wenigen  Jahrzehnten  zu  völliger  Freiheit  und  künstlerischer 
Herrlichkeit  erhebt,  auch  das  ist  ohne  Beispiel  in  der  Geschichte 
der  Menschheit.  Wollte  ich  sagen,  wozu  mich  diesmal  die  „Me- 
thode   der   Analogie"    geführt    hat,    ich    müßte    selbst    zum    eHdpx^v 


438  ^*®  Entstehung  der  Tragödie 

TÖv  bi0ijpa)Lißov  werden.     Es   gibt  nur  einen   Gott  Dionysos,  und   es 
gibt  nur  einen  Künstler  Aischylos. 

ANMERKUNG 

Die  Absicht,  die  Literatur  in  Anmerkungen  zu  dem  Vorstehenden,  das  aus 
einem  Vortrage  entstanden  ist,  anzuführen,  habe  ich  aufgegeben,  da  jeder,  der 

195  sich  mit  der  behandelten  Frage  beschäftigt  hat,  leicht  sieht,  woher  ich  nehme 
oder  was  ich  an  Neuem  hinzufüge.  Um  irgendwelche  Priorität  ist  es  mir  so 
wie  so  nicht  zu  tun,  und  ich  wollte  -  und  durfte  es  ja  in  meinem  Vortrage, 
dessen  Aufbau  und  zum  größten  Teil  Wortlaut  ich  beibehalten  habe,  nicht  weg- 
lassen -  nicht  in  den  Hintergrund  treten  lassen,  was  längst  klar  und  sicher 
festgestellt  ist.  Denn  ich  möchte  ganz  und  gar  nicht  so  verstanden  werden,  als 
wollte  ich  die  Tragödie  nun  einmal  wieder  aus  etwas  anderem  herleiten  als 
andere.  Es  pflegt  in  solchen  Fragen  nichts  verhängnisvoller  zu  sein  als  die 
Neigung,  so  außerordentlich  komplexe  Erscheinungen  aus  einem  einzigen  Punkte 
herzuleiten,  während  man  alle  die  vielfältigen  Wirkungen  zu  beachten  hat,  die 
wir  noch  erkennen  können.  Es  liegt  mir  auch  ganz  ferne,  die  Tragödie  wie 
das  Resultat  einer  unwillkürlichen  Entwicklung  darzustellen,  und  es  wird  hoffent- 
lich niemand  meinen,  ich  habe  die  schöpferische  Tat  des  Aischylos  verkleinern 
wollen.  Darum  sind  die  mannigfachen  Anregungen  nicht  weniger  wichtig,  die 
eine  vielgestaltige  Entwicklung  auf  ihn  wirken  ließ. 

Nur  ganz  kurz  habe  ich  zusammengefaßt,  was  über  Satyrn  und  Satyrspiele, 
Pferde-  und  Bockschöre  in  langen  Diskussionen  hin  und  her  erörtert  worden 
ist,  lange  Zeit  das  einzige,  was  nach  den  die  weitere  Literatur  beherrschenden 
Darlegungen,  die  v.  Wilamowitz  im  ersten  Bande  des  Herakles  gab,  umstritten 
wurde.  Daß  ich  P.  Hartwigs  Aufsatz  und  Publikation  in  den  Mitteil,  des  röm. 
Instituts  XII  (1897)  89  ff.  (Die  Wiederkehr  der  Kora  auf  einem  Vasenbilde  aus 
Falerii,  mit  Tafel  IV/V)  besonders  viel  verdanke  und  K.  Wernickes  Abhandlung 
„Bockschöre  und  Satyrdrama",  Hermes  XXXII,  290  ff.,  in  einem  wesentlichen 
Punkte  gefolgt  bin,  möchte  ich  ausdrücklich  hervorheben.  Wie  ich  zu  Reischs 
Darlegungen  „Zur  Vorgeschichte  der  attischen  Tragödie",  Festschrift  für  Th.  Gom- 
perz  S.  451  ff.,  Stellung  nehme,  wird,  wer  will,  leicht  erkennen.  Zu  K.  Th.  Preuß, 
„Der  dämonische  Ursprung  des  griechischen  Dramas",  Neue  Jahrb.  XVIII  (1906), 
161  ff.,  durfte  ich  nicht  schweigen.  Ich  bedaure  es  sehr,  daß  der  ausgezeichnete 
Forscher  sich  verleiten  ließ,  über  die  primitiven  Grundlagen  hinaus  Vergleiche 
zu  konstruieren,  die  auf  der  einen  Seite  der  Proportion  ins  Bodenlose  fallen. 
Dinge,  wie  sie  S.  186  über  Christus,  den  Stern  usw.  ausgeführt  sind,  dürften 
einem  Manne  wie  Preuß,  der  wirkliche  Religionswissenschaft  kennt  und  zu  treiben 
weiß,  nicht  mehr  aus  der  Feder  fließen.  Von  Wundts  Völkerpsychologie  II  1, 
S.  495  ff.  und  sonst,  habe  ich  nicht  mehr  viel  Förderung  erfahren,  da  ich  zum 
Teil  auf  die  Dinge,  die  ihm  die  wichtigsten  sind,  nicht  eingehe,  zum  Teil  er 
ignoriert,  was  mir  wichtig  ist.  Leider  wird  die  Auseinandersetzung  über  die 
antike  Tragödie  durch  eine  Reihe  tatsächlicher  Unrichtigkeiten  entstellt  (es  wird 
noch  von  den  Leiden  des  Dionysos  geredet,  der  Schall  wird  durch  die  Resonanz 
der  Maske  verstärkt  u.  dgl.). 

Über  den  „Threnos"  in  der  alten  Tragödie  hat  meines  Wissens  zum  ersten 

196  Male  auf  Ahnliches,  wie  es  oben  ausgeführt  ist,  hingewiesen  Crusius,  Preuß. 
Jahrb.,  74.  Band  (1893),  S.  394.  Von  dem  schwedischen  Aufsatz  von  Martin 
P.  Nilsson  in  den  Comment.  philologae  in  hon.  Joh.  Paulson,  Göteborg  1905, 
kenne  ich  auch  nur  das  Resum6  im  Archiv  für  Religionswissenschaft  IX  (1906), 
286  f.  Endlich  kann  ich  es  nicht  unterlassen,  eines  von  Erwin  Rohdes  Cogitata 
(Nr.  17,  S.  226  bei  Crusius)  hierher  zu  setzen,  das  mir  neulich  wieder  vor  Augen 


Die  Entstehung  der  Tragödie  439 

kam:  „Übrigens  wäre  es  eine  dankbare  Aufgabe,  zu  untersuchen,  ob  nicht  das 
griechische  Drama,  statt  in  den  üblichen  Fabeln  vielmehr  in  der  Darstellung 
der  Mysterien  seinen  Ursprung  habe.  Seltsam  wäre  ja,  wenn  dem  nicht  so 
wäre,  da  in  dieser  Darstellung  schon  vor  Einführung  des  Bühnendramas  eine 
vollständig  entwickelte  dramatische  Vorführung  fremder  Leiden  und  Taten  aus- 
gebildet war.  -  Sollten  also  die  cxrivri  aus  der  Darstellung  der  Priester,  der 
Chor  aus  der  schauenden  Gemeinde  der  Mysten  hervorgegangen  sein,  die  in 
Eleusis  wie  im  Theater  nicht  ganz  müßig  war,  aber  mehr  den  Stimmungen  als 
den  Taten  Verkörperung  gab?"  Der  Gedanke  des  letzten  Satzes  ist  ja  unmög- 
lich (die  Xaoi  waren  die  gleichen  in  Eleusis  und  im  athenischen  Theater);  aber 
daß  auch  Rohde  es  für  seltsam  hielt,  wenn  keine  Beziehung  zwischen  Eleusis 
und  dem  sich  entwickelnden  Drama  vorhanden  gewesen  wäre,  ist  mir  wichtig. 
Aus  Rohdes  Cogitata  sieht  man,  wie  ihn  immer  wieder  von  früher  Zeit  an  das 
Problem  „des  Tragischen"  beschäftigt  hat.  Mir  liegt  es  jetzt  fern,  an  diese 
tiefen  Fragen  anders  rühren  zu  wollen,  als  ich  es  oben  im  einfachsten  ge- 
schichtlichen Sinne  getan,  aber  man  wird  gern  über  ein  schopenhauerisch  be- 
fruchtetes Cogitatum  Rohdes  nachdenken,  wie  es  dieses  ist  (Nr.  80,  S.  250 
Crusius):  „Woher  die  große  Inbrunst  im  Mysterienglauben?  Die  Gottheit  tritt, 
anders  als  im  gewöhnlichen  Glauben  und  Mythus,  als  eine  leidende  auf.  Wir 
leiden,  verzaubert,  mit  ihr,  sie  mit  uns.  Das  Leiden  der  Welt  geht  in  uns  ein, 
läutert  uns  von  unserem  Privatschmerz.    Ursprung  der  Tragödie?" 


XXIX 
DER  RITUS  DER  VERHÜLLTEN  HÄNDE  ^ 

(Hierzu  Tafel  II) 

1 
Wer  im  kapitolinischen  Museum  in  Rom  die  Statuen  in  dem  Zimmer 
des  sterbenden  Galliers  betrachtet  hat,  wird  gewiß  wenigstens  einen 
Augenblick  sein  Interesse  einer  unter  ihnen  zugewandt  haben,  die  ohne 
Zweifel  auch  dem  gelehrteren  Besucher  nicht  ohne  weiteres  verständ- 
lich war,  ein  vielleicht  um  so  lebhafteres  Interesse,  je  rätselhafter  die 
Figur  bei  näherer  Betrachtung  wird.  Tritt  man  vom  Korridor  aus 
in  den  Saal  ein,  so  steht  rechts  gerade  in  der  Ecke  eine  hohe  Marmor- 
statue, ein  Weib,  so  scheint  es,  das  in  feierlichem  langsamem  Vorwärts- 
schreiten offenbar  seine  Hauptaufgabe  darin  sucht,  ein  Gefäß,  das  sie 
mit  in  den  Mantel  eingeschlagenen  Händen  emporhebt,  sorgsam  und  an- 
dächtig zu  tragen.  Aber  wir  sind  mit  solcher  Erklärung  des  Eindrucks 
der  Figur  auch  darin  zu  schnell,  daß  wir  sie  als  eine  weibliche  auffassen; 
der  Kopf  bestimmt  die  ganze  Auffassung.  Dieser  Kopf  aber  ist  nicht 
zugehörig.^  Ein  anderer  antiker  Frauenkopf  ist  dem  kopflos  gefundenen 
Torso  aufgesetzt.  Die  Ansatzfurchen  lassen  sich  noch  erkennen:  genau 
da,  wo  das  Gewand  aufhört,  war  Hals  und  Kopf  abgebrochen.  Der 
aufgesetzte  Kopf  ist  aus  feinkörnigem  Grechetto,  der  Körper  aus  pen- 
telischem  Marmor.    Außerdem  ist  noch  der  ganze  untere  Teil  der  Figur 


^  <Als  Vortrag  gehalten  in  Marburg  etwa  1896;  wiederholt  in  Basel,  s.  Ver- 
handlungen des  II.  Internat.  Kongr.  für  Allg.  Rel.-Gesch.,  Basel  1905  S.  322  f. 
Hier  zum  erstenmal  gedruckt,  Abschnitt  1-3  nach  dem  Manuskript  von  1896; 
die  in  geraden  Klammern  gesetzten  Anmerkungen  sind  aus  Dieterichs  Material- 
sammlungen zugefügt.^ 

*  S.  Heibig  Führer  I '  S.  405.  Einige  weitere  Angaben  beruhen  auf  eigener 
Untersuchung  der  Statue.  Was  Heibig  darüber  sagt,  die  Angabe,  'daß  eine 
Bleiröhre  aus  dem  Innern  des  Gefäßes  durch  die  Figur  durchgegangen  und 
an  der  Stelle  des  Rückens,  an  der  gegenwärtig  ein  modernes  Einsatzstück  an- 
gebracht ist,  aus  dem  Körper  herausgetreten  sei,  lasse  sich  nach  der  Restau- 
ration der  Statue  nicht  mehr  kontrollieren',  und  daß  er  die  Vermutung  ablehnt, 
daß  es  eine  Brunnenfigur  gewesen  sei,  ist  gewiß  durchaus  zutreffend.  Die 
Statue  ist  als  Brunnenfigur  ganz  unmöglich. 


Tafel  II 


Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften. 


Der  Ritus  der  verhüllten  Hände  44  j 

von  etwas  unter  den  Knieen  an  ergänzt^  und  endlich  der  Deckel  des 
Gefäßes.  Der  Torso  aber,  wie  er  gefunden  wurde,  ist  für  eine  genauere 
Betrachtung  nicht  der  einer  weiblichen  Figur.  Die  etwas  vortretende 
Partie  der  Brust  ist  nur  veranlaßt  durch  das  Indiehöheheben  des 
Mantels,  mit  dem  das  Gefäß  gefaßt  wird,  und  die  Falten  dieses  Ober- 
gewandes an  diesen  Stellen  zeigen  deutlich,  daß  es  nicht  durch  eine 
weibliche  Brust  gewölbt  ist.  Auch  die  Linien  des  Gewandes  an  den 
Hüften,  die  es  freilich  nur  weit  und  faltenreich  umschließt,  läßt  nicht 
im  mindesten  weibliche  Körperformen  vermuten.  Der  Torso  ist  der 
einer  männlichen  Figur.  Über  das  Untergewand,  das  ohne  Zweifel  bis 
an  die  Füße  herunter  gereicht  hat,  hat  er  noch  ein  merkwürdiges 
Obergewand  übergezogen,  das  ohne  jede  Naht  oder  Öffnung,  außer 
der  für  den  Kopf^  die  Arme  bedeckend  etwa  bis  zu  den  Knieen  reichen 
würde,  wenn  nicht  die  verhüllten  Arme  das  Gefäß  vorn  mit  dem  Mantel 
umfassend  in  die  Höhe  hielten. 

Die  Statue  ist  früher  in  der  Villa  d'Este  gewesen  und  1753  von 
Benedict  XIV.  dem  Museum  geschenkt.  Sie  soll  gefunden  sein  in  der 
Villa  des  Hadrian  zu  Tibur. 

Wo  ist  die  Erklärung  eines  solchen  Mannes  zu  suchen,  der  mit 
dem  langen  Untergewande  und  dem  seltsamen  Überwurf  ein  Gefäß 
offenbar  sehr  kostbaren  Inhalts  so  sorgsam  umherträgt? 

Offenbar  ist  die  Verhüllung  der  Hände  beim  Halten  des  ehrwürdigen 
Gegenstandes  das  besondere  Moment  an  diesem  Torso,  das  vielleicht 
die  Erklärung  wird  liefern  können.  Wir  müssen  nach  anderen  Denk- 
mälern oder  Zeugnissen  für  diesen  Brauch  ausblicken,  und  so  wird 
das  eigenartige  Interesse,  das  dieser  merkwürdige  Marmor  erregt,  zur 
Veranlassung,  nach  der  Entstehung  und  der  Entwicklung  eines  Ritus 
oder  einer  Mode  weiter  zu  fragen. 

2 

Wer  nach  weiteren  Denkmälern  eines  solchen  Brauches,  die  Hände 
zu  verhüllen,  weiter  fragt,  wird  sofort  von  allen  Seiten  hingewiesen 
werden  auf  eine  Fülle  altchristlicher  Monumente,  auf  denen  mannig- 
fache Personen  mit  sehr  absichtlich  bedeckten  Händen  dargestellt  sind. 
So   ist  auf  einem  Sarkophag  des  Lateran  dargestellt,  wie  Petrus  eine 


^  Daß  der  untere  Teil  nicht  zugehörig  war,  zeigt  noch  die  Art  und  der 
Gang  der  Falten,  die  gar  nicht  zu  denen  in  dem  oberen  Stücke  passen. 

'  Am  Halse  und  auf  der  Brust  ist  keine  Andeutung  eines  Schlitzes  im 
Gewände  zu  erkennen.  Es  wurde  also  angezogen,  indem  man  es  über  den 
Kopf  stülpte. 


442  ^®^  ^^^^^  ^®^  verhüllten  Hände 

Rolle,  die  Rolle  des  neuen  Gesetzes,  von  Christus  empfängt:  er  empfängt 
sie  mit  verhüllten  Händen.  Ein  Relief  desselben  Museums  zeigt  den 
Elisa,  der  mit  bedeckter  Hand  das  Gewand  des  Elias  in  Empfang 
nimmt.  Ein  Sarkophag  der  Kathedrale  in  Ravenna  -  der  sog.  des 
S.  Rinaldo  -  zeigt  in  der  Mitte  seiner  Hauptdarstellung  Christus,  der 
ein  aufgeschlagenes  Buch  mit  der  verhüllten  linken  Hand  hält.  Von 
links  und  von  rechts  kommt  auf  ihn  zu  je  ein  Mann,  der  eine  eine 
Märtyrerkrone,  der  andere  eine  ebensolche  Krone  und  ein  Kreuz  auf 
verhüllten  Händen  tragend.  Die  Hände  sind  verhüllt  durch  ein  beson- 
deres Tuch,  das  über  beide  gebreitet  ist  -  nicht  durch  das  darüber- 
gefaßte  Gewand.  Ganz  entsprechende  Darstellungen  geben  eine  Reihe 
anderer  Sarkophage  in  Ravenna,  z.  B.  wie  in  der  gleichen  Weise,  wie 
es  oben  erwähnt  wurde,  Petrus  den  Schlüssel,  Paulus  eine  Rolle  von 
Christus  empfängt,  läßt  sich  auf  einem  Sarkophag  in  S.  Apollinare  in 
Classe  feststellen.  Ebendort  erscheinen  noch  andere  Gestalten  mit 
zwei  in  der  gleichen  Art  getragenen  Märtyrerkronen.  Es  gibt  eine 
große  Anzahl  von  Sarkophagreliefs,  auf  denen  immer  wieder  das 
gleiche  Motiv  der  verhüllten  Hände  in  entsprechender  Form  wieder- 
kehrt. Keine  dieser  Darstellungen  wird  wesentlich  über  das  4.  Jahr- 
hundert zurückgehen.  Das  gleiche  findet  sich  auf  ungemein  zahlreichen 
altchristlichen  Mosaiken.  So  empfängt  in  dem  Bilde  des  Gurtbogens 
von  S.  Vitale  in  Ravenna  Moses  in  dieser  Weise  die  Gesetzesrolle  und 
Vitalis  von  Christus  die  Märtyrerkrone.  Auf  einem  Bilde  in  S.  Apollinare 
nuovo  bringen  die  Weisen  ihre  Geschenke  auf  verhüllter  Hand  dem 
Kinde.  Vor  allem  aber  muß  ich  an  die  Darstellungen  ebendort  in  S. 
Apollinare  nuovo  und  dann  besonders  an  die  römischen  Mosaiken  des 
Chors  von  S.  Cosma  und  Damiano,  des  Triumphbogens  in  S.  Paolo 
fuori  le  mura  und  des  Chors  von  S.  Prassede  erinnern,  an  deren 
vielen  Gestalten  ebendas,  daß  sie  ihre  Märtyrerkronen  auf  verhüllten 
Händen  empfangen,  jedem  der  sie  einmal  gesehen,  auffallend  gewesen 
und  eben  deshalb  in  Erinnerung  geblieben  sein  wird.  Es  gibt  in  großer 
Zahl  entsprechende  Szenen  auf  Mosaiken  bis  ins  12.  und  13.  Jahrhundert 
hinein.  Die  Apostel  selbst  sind  wiederum  so,  daß  sie  auf  den  ver- 
hüllten Händen  ihre  Embleme  tragen,  oder  aber  auch  einmal  Petrus 
die  Schlüssel,  Paulus  die  Rollen  empfangen,  in  den  Baptisterien  der 
Orthodoxen  und  in  dem  der  Arianer  im  Kreis  nebeneinander  in  der 
Kuppel  gruppiert.  Von  besonderem  Interesse  könnte  es  sein,  daß  ein 
bekanntes  Mosaik  in  S.  Vitale  den  Kaiser  Justinian,  der  in  einer  Schale 
zur  Kirche  seine  Weihegaben  bringt,  diese  Schale  wenigstens  mit  einer 
ohne  Zweifel  absichtlich  durch  das  Gewand  verhüllten  Hand  tragen  läßt. 


Der  Ritus  der  verhüllten  Hände  443 

Daß  aber  solche  Szenen,  die  die  Märtyrer,  die  Apostel  und  Christus, 
die  Anbetung  der  Weisen  u.  a.  darstellen  -  ich  habe  oben  nur  die 
hauptsächlichsten  kurz  angeführt  -,  immer  wieder  und  wieder  in  der 
Kunst  und  auch  in  der  Kleinkunst  nachgeahmt  wurden,  ist  nur  natür- 
lich. Wir  finden  eine  Fülle  verwandter  Darstellungen  auf  Elfenbein- 
kästchen, Ringen,  Täfelchen,  jedenfalls  bis  ins  11.  und  12.  Jahrhundert 
und  in  allerlei  Illustrationen  der  Codices  wie  im  Rossanensis  des 
6.  Jahrhunderts  \  so  in  mittelalterlichen,  auch  deutschen  Evangelien- 
büchern späterer  Jahrhunderte. 

Wir  finden  also  diesen  Brauch  dargestellt  auf  den  altchristlichen 
Denkmälern  vom  4.  Jahrhundert  an  und  vor  allem  in  aller  jener  Kunst, 
die  man  'byzantinisch'  zu  nennen  pflegt,  namentlich  auch  in  der  Zeit 
ihrer  Blüte  vom  8.  bis  11.  Jahrhundert  und  ihrer  Neublüte  vom  12. 
Jahrhundert  an  bis  zu  der  Zeit,  da  die  neue  Kunst  Italiens  in  die  Höhe 
strebt.  Noch  die  ältesten  Reliefs  der  Domtüre  in  Pisa  stellen  auch 
diesen  Ritus  dar,  während  aber  schon  ein  Relief  der  Anbetung  der  Weisen 
über  der  Türe  von  S.  Andrea  in  Pistoia  diesen  Ritus  nicht  kennt. 
Während  bei  Giotto  kaum  einmal  sicher  die  Darstellung  verhüllter 
Hände  zu  erkennen  ist,  wird  auf  dem  Relief  der  Rückseite  des 
Ciboriums  von  Or  San  Michele  in  Florenz,  das  dem  Andrea  Orcagna 
zugeschrieben  wird,  Christus  am  Totenbett  seiner  Mutter  so  gebildet, 
daß  er  das  Seelchen  der  Maria  in  verhüllter  Hand  hält.  Demselben 
Orcagna  soll  ein  Bild  gehören  in  der  Capeila  Strozzi  der  Kirche  S.  Maria 
Novella  in  Florenz,  auf  dem  der  Maler  den  Petrus  von  Christus  ein 
Buch  mit  beiden  unbedeckten  Händen  empfangen  läßt.  Noch  hier 
und  da  zeigen  ältere  Bilder  des  Trecento  und  auch  noch  des  Quattrocento 
diesen  Brauch,  aber  neben  ihnen  stehen  unzählige,  die  ihn  nicht 
kennen.  Merkwürdig,  daß  er  noch  einmal  auf  einem  Bilde  des  Luino 
Luini  und  auf  einem  des  Giovanni  Bellini  auftaucht  -  sonst  hat  ihn 
diese  neue  Kunst  vergessen  und  verschmäht.  Bei  Darstellungen  der 
Taufe  kann  man  hier  und  da  im  Zweifel  sein,  ob  die  dienenden  Engel 
mit  verhüllten  Händen  neben  der  heiligen  Handlung,  die  an  ihrem 
Herrn  vollzogen  wird,  stehen  oder  ihm  nur  die  Gewänder  halten,  und 
man  könnte  vielleicht  zu  beobachten  glauben,  wie  sich  jener  unver- 
standene Ritus  allmählich  in  der  weiteren  Entwicklung  der  Kunst  in 
den  natürlichen  Dienst  des  Haltens  von  Gewändern  oder  auch  Hand- 
tüchern umsetzt. 


^  [Gebhardt-Harnack,  Evangeliorum  codex  graecus  purpureus  Tat.  IV,  IX, 
X,  XV.) 


444  Der  Ritus  der  verhüllten  Hände 

Jene  Zeit  aber  'byzantinischer'  Kunst  repräsentiert  ohne  Zweifel 
-  soviel  ist  ohne  weiteres  einleuchtend  -  sozusagen  die  klassische 
Periode  der  Darstellung  des  Ritus,  den  wir  zu  begreifen  suchen.  Und 
hier,  aus  der  Fülle  von  Denkmälern,  können  wir  seine  verschiedenen 
Formen  am  besten  erkennen  und  fester  bestimmen. 

Es  scheiden  sich  von  selbst  zwei  Gruppen.  Einmal  verhüllt  der 
die  Hände,  der  einer  geheiligten  Person  naht,  offenbar  aus  Ehrfurcht 
vor  dieser  Person,  da  er  nicht  mit  den  bloßen,  den  unreinen  Händen 
nahen  darf.  Oder  aber  ein  heiliger  Gegenstand  wird  nur  mit  der  be- 
deckten Hand  gefaßt,  um  ihn  nicht  mit  der  unreinen  zu  berühren.  In 
die  erste  Gruppe  gehören  ohne  Zweifel  alle  die  Darstellungen,  wo  einer 
heiligen  Person  irgend  etwas  dargebracht  wird,  das  an  sich  gar  nicht 
verehrungswürdig  ist.  Wenn  Justinian  die  Schale,  die  offenbar  Geld 
enthält,  nur  mit  bedeckter  Hand  trägt,  so  wird  er  das  nur  darum  tun, 
weil  er  ins  AUerheiligste,  zum  Altar  sie  zu  tragen  sich  anschickt.  Beide 
Gruppen  können  sich  mischen,  etwa  da,  wo  ein  Jünger  von  Christus 
die  Rolle  empfängt  -  sie  wird,  wie  oft  genug  auch  das  heilige  Buch, 
auch  wo  sie  nicht  von  einer  heiligen  Person  entgegengenommen  wird, 
auf  den  bedeckten  Händen  getragen. 

Daß  beide  Gruppen  auf  dieselbe  rituelle  Vorstellung  zurückgehen, 
ist  ohne  weiteres  klar:  dem  Heiligen  nicht  mit  den  bloßen  unreinen 
Händen  nahe  zu  kommen.  Und  diese  Anschauung,  die  in  uralten  Vor- 
stellungen wurzelt,  ist  ja  auch  fernerhin,  ist  bis  heute  nicht  ausgestorben. 
Ohne  Zweifel  ist  sie  im  Ritus  der  katholischen  Kirche  ohne  Unter- 
brechung fortgepflanzt  worden.  Wir  können  es  ja  noch  heute  sehen,  wie 
dem  die  Messe  celebrierenden  Priester  öfter  vor  der  Elevation  ein  Tuch 
übergehängt  wird,  mit  dem  er  allein  das  Sanctissimum  anfaßt  und  erhebt. 
Es  ist  an  Mönchen  vielfach  zu  beobachten,  wie  sie  die  Hände,  sobald 
sie  sich  dem  Altar  nähern,  in  den  Ärmeln  oder  unter  dem  Gewand 
verbergen,  und  es  ist  das  ausdrücklich  vorgeschrieben.  Der  Kardinal, 
der  den  Hut  vom  Papste  empfangen  soll,  naht  dem  Stellvertreter  Christi 
nur  mit  verhüllten  Händen,  um  das  Zeichen  seiner  Würde  zu  empfangen. 
So  sind  die  verschiedenen  Arten  des  Ritus  bis  heute  erhalten  und  die 
sakrale  Vorstellung,  die  ihnen  allen  zugrunde  liegt,  ist  bis  heute  wenig- 
stens in  ihren  Wirkungen  noch  nicht  ausgestorben.  Und  so  mag  es 
ja  immer  noch  einen  Anhalt  im  heutigen  Ritus  haben,  wenn  die  neueste 
katholisch -kirchliche  Malerei  der  Mönche  von  Beuron  auch  diesen 
Brauch  -  freilich  wie  in  allen  Dingen  auch  hier  ohne  jede  Konsequenz 
—  auch  in  der  Kunst  wieder  aufleben  läßt,  in  einer  'heiligen'  Kunst 
freilich,  die  in  Stilmischung  und  Entfremdung  von  der  Natur  geradezu 
das  Äußerste  leistet. 


Der  Ritus  der  verhüllten  Hände  445 

Aber  hier  kann  und  soll  ja  nicht  die  weitere  Entwicklung  jenes 
Brauchs  verfolgt  werden,  für  uns  muß  die  Aufgabe  sein,  weiter  zurück 
zu  dem  Ursprünge  des  Ritus  zu  gelangen.  Geschaffen  hat  ihn  die  alt- 
christliche Kunst  der  Sarkophage  und  Mosaiken  sicherlich  nicht.  Auch 
die  Statue  des  Kapitols  kennt  ihn  ja.  Woher  kam  er,  als  er  etwa  im 
4.  Jahrhundert  so  überhaus  häufig  dargestellt  wurde? 


Ein  Silberschild,  in  Badajoz  gefunden  S  stellt  den  Kaiser  Theodosius 
dar  mit  seinen  zwei  Söhnen  zu  beiden  Seiten  und  eine  weitere  Person, 
die  sich  dem  Theodosius  nähert,  um  eine  Rolle,  die  der  Kaiser  hält, 
mit  dem  Schöße  des  Gewandes  aufzunehmen.  Es  wird  eine  Magistrats- 
person oder  der  Gouverneur  einer  Provinz  sein,  dem  Theodosius  das 
Gesetzbuch  übergibt.  Der  Schild  stammt  wahrscheinlich  aus  dem 
Jahre  393.  Hier  sehen  wir  den  gleichen  Brauch  in  weltlichen  Kreisen, 
im  Hofzeremonieli.  Jedenfalls  am  Hofe  des  Theodosius  war  es  Mode, 
nur  mit  verhüllten  Händen  vom  allerhöchsten  Herrn  etwas  in  Empfang 
zu  nehmen.  In  der  sogenannten  Notitia  dignitatum^  dem  Verzeichnis 
der  Hof-,  Zivil-  und  Militärämter,  dem  Staatshandbuch  des  Reiches,  das 
in  seiner  jetzigen  Fassung  etwa  aus  dem  Anfang  des  5.  Jahrhunderts 
stammt,  sind  eine  große  Anzahl  Abbildungen  beigegeben,  die  die  tribut- 
darbringenden Provinzen  darstellen  sollen.  Diese  bringen  immer  ihre 
Schale  mit  Geld  auf  verhüllten  Händen.  Und  so  wird  denn  auch  noch 
in  dem  großen  Buche  des  Konstantinos  Porphyrogennetos  über  das 
Zeremoniell  des  byzantinischen  Hofes ^  angegeben,  wie  Abgeordnete 
der  Völker  in  dem  Bausch  des  Gewandes  aufnehmen  tö  diroKÖnßiov,  das 
ihnen  der  Trpaiiöpioc  im  Auftrag  des  Kaisers  übergibt.  Es  ist  ohne 
weitere  Belege  klar  -  ich  erinnere  auch  an  die  Darstellung  Justinians 
in  Ravenna  -,  daß  sowohl  im  Kirchenritus  als  im  Hofzeremoniell  die 
Verhüllung  der  Hände  in  der  Zeit  des  byzantinischen  Kaisertums  fort- 


1  [Besprochen  von  Ameth,  Sitz. -Ben  Kais.  Akad.  der  Wiss.  Wien,  Phil, 
hist.  Kl.  1849  S.  220  ff.] 

'  [ed.  Bucking  I  p.  13,  Abbildung  von  Macedonia  und  Dacia  als  tribut- 
bringende Frauen,  die  den  Tribut  auf  dem  Gewand  tragen;  nur  die  linke  Figur 
hat  die  linke  Hand  frei.    S.  auch  I  p.53,  II  1  p.Q]. 

'  [De  ceremoniis  aulae  Byzantinae  II  p.  21  und  28  Bonn.  S.  a.  I  300,  17f. 
und  11  307  Reiske.] 


446  D®r  Ritus  der  verhüllten  Hände 

dauernd  im  Gebrauch  war.  Kein  Zeugnis  ist  uns  bis  jetzt  begegnet, 
das  über  die  Zeit  des  Theodosios  zurückginge.  Ein  solches  vermag 
ich  zunächst  anzuführen,  das  eine  Szene  am  Hofe  des  Konstantins 
schildert.  Es  ist  derselbe  Fall,  daß  Gesandte  von  der  kaiserlichen 
Majestät  Geld  zu  empfangen  haben.  Als  sie  feierlich  -  so  erzählt 
Ammianus  Marcellinus ^  -  ins  Konsistorium  geführt  waren,  nahm  einer 
die  Gabe  nicht  wie  es  Sitte  ist  (ut  moris  est)  mit  der  hingehaltenen 
Chlamys,  sondern  mit  beiden  bloßen  Händen  entgegen.  Der  Kaiser 
sagt:  'Sich  zu  nehmen  verstehen  diese  Agenten,  aber  nicht  sich  geben  zu 
lassen.'  Die  Hofzeremonie  war  damals  ganz  gebräuchlich  und  sie  ist 
schwerlich  von  Konstantins  eingeführt  worden.  Rufen  wir  uns  die 
vorhergehenden  Regierungen  zurück,  so  ist  der  nächste  auf  den  wir 
gleich  stoßen  Diokletian.  Er  hat  ja  —  das  wissen  wir  durch  die  aus- 
giebigsten Zeugnisse  -  ein  neues  Hofzeremoniell  eingeführt.  Nicht  nur 
die  Tracht  auch  des  Kaisers  änderte  er:  Gewänder  und  Schuhe,  die  mit 
Perlen  und  Edelsteinen  geschmückt  waren,  sollten  künftig  das  Abzeichen 
der  Kaiserwürde  sein.  Von  allen,  die  seinem  Throne  nahten,  verlangte 
er  Anbetung,  er  verlangte,  daß  sie  niederknieten.  Er  ließ  sich  anbeten 
extero  more,  sagt  ein  Zeugnis.  Und  in  der  Tat,  es  waren  die  Bräuche 
des  Orients,  die  er  einführte.  Diokletian  war  der  erste,  der  den  eigent- 
lichen Sitz  der  Herrschaft  nach  dem  Osten  verlegte:  Nikomedien  war 
seine  Residenz.  Er  war  es  auch,  der  zuerst  recht  eigentlich  wie  der 
orientalische  König  sich  fühlte,  als  Gott  und  Herrscher.  Er  war  der 
erste  Sultan  des  römischen  Kaiserthrons.  Es  wird,  soweit  ich  weiß, 
nirgends  ausdrücklich  gesagt,  daß  er  auch  die  Verhüllung  der  Hände 
von  denen  verlangte,  die  ihn  anbeten  mußten,  wenn  sie  ihm  nahten. 
Aber  wenn  unmittelbar  nachher  unter  Konstantins  mit  dem  Anbetungs- 
zeremoniell Diokletians  zusammen  dieser  Ritus  als  etwas  ganz  gebräuch- 
liches vorhanden  ist,  so  ist  es  ein  sicherer  Schluß,  daß  Diokletian  auch 
diese  Mode  mit  einführte  oder  mit  weiterführte. 

Entgegengetreten  war  dem  Kaiser  der  orientalische  Hofbrauch  be- 
sonders während  seiner  Perserkriege  und  der  Verhandlungen  mit  dem 
mächtigen  Feinde.  Nach  dem  Ende  der  Perserkriege  führte  er  das 
neue  Hofzeremoniell  ein.  Es  war  in  den  letzten  Jahren  des  dritten 
Jahrhunderts.  Hat  er  von  den  Persern  auch  den  Ritus  und  die  Mode 
der  verhüllten  Hände  übernommen?^ 


^  [XVI  5,  111. 

*  <Hier  endet  das  erhaltene  Manuskript.    Der  Schluß  (4)  ist  den  Baseler 
Verhandlungen  S.  322  f.  entnommen.]) 


Der  Ritus  der  verhüllten  Hände  447 

4 

Literarische  Zeugnisse,  die  von  Gesandten,  die  mit  verhüllten  Händen 
vor  den  König  treten  S  aber  auch  von  Tragen  der  Gottesbilder  mit 
bedeckten  Händen  berichten  ^  reichen  in  hellenistische  Zeit.  Nur  ein 
Zeugnis,  das  von  Kyros  erzählt,  der  Leute,  die  mit  unverhüllten  Händen 
zu  ihm  kamen,  hinrichten  ließ,  reicht  weit  zurück  zu  persischem  Hof- 
brauch.^ 

Eine  andere  Gruppe  von  literarischen  und  monumentalen  Zeugen 
ergibt  den  Brauch  der  verhüllten  Hand  als  feststehend  im  hellenistischen, 
nicht  aber  altägyptischen  Isiskult:  das  Allerheiligste,  das  heilige  Wasser 
d.  i.  Osiris,  darf  nur  mit  bedeckter  Hand  gefaßt  werden.  Eine  Statue 
im  kapitolinischen  Museum*,  ein  pompeianisches  Bild^  ein  Relief  vom 
Palazzo  Mattei",  Stellen  des  Apuleius^,  Lukianos^  u.a.  sind  Zeugnisse. 

So  ist  denn  auch  der  hellenistische  religiöse  Ritus  früher  nach  Rom 
gekommen,  als  das  entsprechende  Hofzeremoniell,  das  vollständig  durch 
Diokletian  erneuert  wurde.  Diokletian  entlehnte  für  seine  Neuerung 
vieles  von  den  Persern.  Aus  alldem,  was  wir  überblickten,  ist  einiger- 
maßen die  Geschichte  eines  religiösen  Ritus  und  einer  weltlichen 
Zeremonie  klar:  von  den  Persern^  kam  der  Brauch  durch  Alexander 
den  Großen,  wie  man  annehmen  muß,  zu  den  hellenistischen  Höfen 
und  Reichen,  im  hellenistischen  Ägypten  drang  er  auch  in  den  Isiskult 
ein,  weiter  wanderte  er  nach  Rom^*^  und  nach  Byzanz.     In  den  Hand- 


^  IPlautus  Amphitruo,  d.h.  eine  v^a  'Attiki^  KUüjuiy&ia,  v. 256f.:  ex  urbe  ad 
nos  veniunt  flentes  principes  \  velatis  manibus  orant,  ignoscamus  peccatum  suom.\ 

*  [Lycophr.  1262.66:  -rraTpCu'  äfäXiiar  ^Yi^ctTOiKieT  GeOüv  ,  .  .  ir^irXoic  Ttepicxii^v.] 
'  jXen.  Hell.  II  .1,  8:   KOpoc  dir^KTeivev  AÖToßoicdKriv  Kai  Mixpaiov  .  .  .  öti 

oÖTiu  diravTUJVTec  ou  bi^uucav  öict  t^c  KÖpr^c  rdc  x^^pac,  8  uoioOci  ßaciXel  |ixövuj. 
i\  b^  KÖpTi  kxi  luaKpÖTcpov  f|  xeipic.  Vgl.  Xen.  Cyrup.  VIII  3, 10:  bieipKÖxec  rdc 
X€ipac  bid  T&v  Kavbijujv,  üjcirep  Kai  vOv  ^ti  öieipouciv,  örav  öpa  ßaaXeuc] 

*  <S.  oben  S.  440  f.  Sie  wollte  Dieterich  also  auf  einen  Isispriester 
deuten.) 

*  <Aus  Herculaneum,  s.  Mau,  Pompei  in  Leben  und  Kunst*  S.  163  mit  dem 
Bild  auf  S.  162.) 

«  < Jetzt  im  Belvedere  des  Vatikan,  s.  Heibig  Führer  P  S.  92;  s.  Tafel  IL) 

'  lApul.  Met.  XI  11:  gerebat  alius  felici  suo  gremio  summi  numinis  vene- 
randam  efftgiem.] 

»  <Aus  Lukian  fand  sich  im  Material  nur  eine  Notiz,  Dea  Syr.  48,  die  sich 
aber  allein  auf  das  Tragen  des  Wassers  bezieht,  über  die  Verhüllung  der  Hände 
nichts  aussagt.) 

»  <Bei  den  Persern  tragen  die  Priester  des  Feuers  Handschuhe,  S.  Reinach, 
Orpheus,  Paris,  Picard  1909  S.  98.) 

*"  <In  Rom  gab  es  einen  einheimischen  Ritus  der  verhüllten  Hand  im  Kult 
der  Fides;  zu  den  Stellen  bei  0.  Wissowa,  Religion  und  Kultus  der  Römer 
S.  123  Anm.  7   kommt    noch    Mythogr.  lat.  I  191:    Fidei  panno    velata  manu 


448  Der  Ritus  der  verhüllten  Hände 

schuhen  der  Kaiser  und  Bischöfe,  der  höfischen  und  der  kirchlichen 
Tracht  setzte  sich  mannigfach  im  Mittelalter  bis  heute  Ritus  ^  und  Mode 
der  verhüllten  Hände  fort.  Für  die  Geschichte  religiöser  Bewegungen 
sind  solche  äußeren  Dinge  oft  die  sichersten  Zeugnisse:  es  gibt  auch 
eine  Religionsgeschichte  des  Handschuhs. 


sacrificabant,  quia  fides  tecta  esse  debet  —  Properz  II 6,  44  zur  Türe  der  Ge- 
liebten: debitaque  occultis  vota  tuli  manibus,  nachgewiesen  von  E.  Bethe;  das 
kann  aus  der  hellenistischen  Literatur  oder  aus  dem  Isiskult  stammen,  den 
Properz  kennt,  s.  z.  B.  IV  5,  35.  Bittflehende  Barbaren  mit  verhüllten  Händen  vor 
Mark  Aurel,  Petersen  Marcus-Säule  Tafel  56,  XLIX  10  ff.  Im  Leben  des  Aurelian, 
Script,  hist.  aug.  19,  6  wird  den  Quindecimvirn  befohlen  velatis  {vetanis  die  Hss.) 
manibus  libros  evolvite.  —  In  den  illustrierten  Terenzhss.  trägt  der  Prologus 
den  Zweig  in  verhüllter  linker  Hand,  s.  Harvard  Studies  XIV  1903  Plate  8,  com- 
biniert  mit  9.  Das  Original  dieser  Bilder  setzt  Bethe  etwa  ins  zweite  Jahr- 
hundert n.  Chr.,  Terentius,  Codex  Ambrosianus  H  75  inf.,  Leiden  Sijthoff  1903 
p.  64.  L.  Deubner  macht  auf  Plin.  Nat.  hist.  XXIV  103  aufmerksam,  vom  Sammeln 
des  Krautes  selago:  legitur  sine  ferro,  dextra  manu  per  tunicam  operia  (operta 
Mayhoff,  quae  oder  quasi  die  Hss.)  .  .  .  Candida  veste  pureque  lautis  nudis 
pedibus  sacro  facto  .  .  .  hanc  contra  pemiciem  omnem  habendam  prodidere 
Druidae  Gallorum.y 

^  [Bei  der  Kommunion  in  gallikanischem  Ritus,  Duchesne  Origines  du  culte 
chr4tien  ^  p.  214,  vgl.  Mabillon  De  liturgia  gallicana,  Paris  1785  p.  52.  Conci- 
lium  Autissiodorense  can.  36  (Canones  apost.  et  conc.  rec.  Bruns  II  p.  241):  Non 
licet  mulieri  nuda  manu  eucharistiam  accipere.  Augustin  V  (Migne  39)  p.  2168, 
Append.  serm.  229:  similiter  et  mulieres  quomodo  nitidum  exhibent  lineolum 
ubi  corpus  Christi  accipiant.] 


XXX 
DER  UNTERGANG  DER  ANTIKEN  RELIGION^ 

EINLEITUNG 

Mit  einigem  Zagen  nur  versuche  ich  es,  Ihnen  den  Untergang  der 
antiken  Religion  darzustellen.  Den  Untergang  einer  Religion!  Einer 
Religion,  die  in  unendlich  mannigfaltigem  Wandel  in  den  verschiedensten 
Formen,  in  langem  Aufgang  und  Niedergang  in  der  griechisch-römischen 
Kulturwelt  -  denn  nur  sie  meine  ich  mit  der  Bezeichnung  ^antik'  - 
in  Geltung  gewesen  ist.  Es  ist  eine  zweitausendjährige  Geschichte  der 
Religion  und  der  Religionen,  von  dem  Götterdienste  der  Herrscher  des 
goldreichen  Mykene  bis  zu  den  Tagen,  da  die  letzten  Tempel  antiker 
Götter  von  wildgewordenen  Christenmönchen  zerschlagen  und  die  letzten 
hellenischen  Philosophen,  die  noch  glaubten  an  die  Ideale  ihres  Heiden- 
tums, vertrieben  wurden  von  dem  allerchristlichsten  Kaiser  Justinian. 
Was  ist  da  antike  Religion?  was  ist  ihr  Untergang,  wenn  ihre  Formen 
in  unaufhörlichem  Wechsel  absterben  und  aufleben?  Am  Ende  müßte 
ich  zuvörderst  fragen,  was  ist  Religion,  in  welchem  Sinne  ist  Religion 
zu  verstehen,  wenn  ich  ihren  Untergang  erzählen  will.  Ich  muß  meiner 
Darstellung  selbst  zutrauen,  daß  sie  erkennen  lassen  wird,  wie  ich  Re- 
ligion verstehe  und  wie  ich  ihren  Untergang  verstehe  -  es  gibt  auch 
hier  auf  das  'was  ist  es?'  der  Forschung  nur  eine  geschichtliche  Ant- 
wort. Nur  die  Philosophen,  die  sich  im  stolzen  Besitze  ihrer  Apriori- 
täten  befinden,  können  Ihnen  auf  anderem  Wege  Antwort  schaffen  - 
es  gibt  auch  noch  einige  lebende  Religionsphilosophen.  Die  Historiker 
sind  vor  der  Fülle  der  wirklichen  Erscheinungen  bescheiden  geworden 


'  <Als  Kolleg  gelesen  Marburg  S.  S.  1892,  Heidelberg  W.  S.  1903/04;  als 
Vortragszyklus  in  Frankfurt  a.  M.  Anfang  1900,  in  Salzburg  Herbst  1905,  in  Ham- 
burg Ostern  1908.  Einleitung  und  Kapitel  I  sind  wörtlich  nach  Dieterichs  Konzept 
der  Frankfurter  Vorträge  gegeben.  Die  Anmerkungen  zu  diesem  Teil  sind, 
soweit  sie  keine  Zitate  enthalten,  Zusätze  aus  der  Heidelberger  Vorlesung,  die 
den  Kollegheften  seiner  Schüler  entnommen  sind;  die  übrigen  Anmerkungen 
sind  vom  Herausgeber  zugesetzt.  Kap.  II— V  versuchen,  den  Gang  der  Haupt- 
gedanken aus  jenen  Kollegheften  wiederherzustellen.) 

Albrecht  Dielerich:  Kleine  Schriften.  29 


450  ^^^  Untergangf  der  antiken  Religion 

und  die  philologischen  Historiker  sind  die  bescheidensten,  die  der  un- 
endlichen Mannigfaltigkeit  der  Überlieferungen,  der  Tatsachen,  der  Rätsel 
unbenebelt  ins  Auge  sehn. 

Den  Untergang  einer  Religion  darzustellen  heißt  in  Wirklichkeit 
nichts  anderes  als  die  Geschichte  dieser  Religion  darzustellen.  Es  ist  ein 
unablässiges  Werden,  ein  fortwährendes  Untergehen  früherer  Formen. 
Und  gerade  der  Fortschritt  der  Religion,  die  Erhebung  der  Religiosität 
ist  immer  eine  Überwindung  früherer  Formen,  ein  Absterben  unvoll- 
kommenen religiösen  Glaubens  und  Empfindens.  So  sind  auf  jeder  Stufe 
der  Entwicklung  Fortschritt  und  Untergang  der  Religion  eins.  Welch 
ein  Untergang  religiöser  Formen  und  Anschauungen  liegt  schon  jenseits 
der  homerischen  Gedichte,  die  uns  das  erste  Denkmal  hellenischer 
Religion  sind.  Vom  ursprünglichsten  Glauben  der  Griechen  erkennen 
wir  gerade  noch  einige  Rudimente.  Wie  viel  uralte  Religion  ist  schon 
untergegangen  für  diese  aufgeklärte  Ritterwelt  des  homerischen  Epos! 
Und  wenn  wir  bedenken,  wie  sich  aus  der  unendlichsten  Vielheit  gött- 
licher Wesen  im  Fortschritte  des  religiösen  Denkens  immer  mehr  Einzel- 
gestalten erheben,  plastische  Gestalten,  eine  immer  geringere  Zahl  immer 
umfassenderer  göttlicher  Mächte,  erkennen  wir  einen  fortwährenden 
Untergang  von  Göttern  und  Glaubensformen;  und  wenn  wir  erkennen, 
wie  diese  Entwicklung  schließlich  zu  mehr  oder  weniger  ausgesprochenem 
Monotheismus  hindrängt,  so  wissen  wir,  daß  das  die  höchste  Stufe  einer 
solchen  religiösen  Entwicklung,  wir  wissen  aber  auch,  daß  es  der 
Untergang  der  antiken  Religion  ist.  -Welche  Höhe  religiöser  Gedanken 
hat  die  Stoa  in  ihren  besten  Verkündigern  erreicht  und  doch  war  es 
ein  Untergang  antiker  Religion.  Wie  hat  Piaton  das  höchste  hellenischer 
Religion  empfunden,  wie  hat  er  die  religiösesten  der  Menschen  vieler 
Jahrhunderte  erhoben  zu  den  reinsten  Höhen  des  Glaubens  an  das 
Göttliche  und  das  ewige  Licht  —  er  hat  das  Gebet  gebetet  so  helle- 
nisch wie  kein  anderes,  das  ich  kenne:  ^großer  Fan  gieb  mir,  daß  ich 
innerlich  schön  sei'  —  und  derselbe  Plato  hat  geeifert  wie  keiner  gegen 
den  unwürdigen  Götterglauben  seines  Volkes,  und  er  hat  es  seiner 
Dichterseele  abgerungen,  daß  das  Buch,  Mas  seinem  Volke  die  Götter 
geschaffen',  daß  Homer  aus  seinem  Idealstaate  verbannt  wurde.  In 
diesem  Herzen  flammte  der  lichteste  Glaube,  dessen  je  ein  Hellene  teil- 
haftig geworden:  in  demselben  Herzen  war  der  Glaube  der  Väter  ge- 
storben, getötet. 

Sie  werden  erkennen,  wie  schwer  es  ist,  von  dem  Untergang  einer 
Religion  zu  berichten  und  Sie  werden  nicht  erhoffen,  daß  ich  dieses 
Problem   in   seiner  Tiefe   und  Weite   würde   behandeln   können.     Wir 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  451 

müßten  die  Geschichte  der  antiken  Religion  schon  besitzen,  die  diese 
und  die  folgende  Generation  uns  noch  nicht  wird  geben  können.  Ich 
kann  nur  eine  enger  umgrenzte  Darlegung  versprechen.  Zwar,  was  Sie 
vielleicht  am  ehesten  von  mir  erwartet  haben,  eine  Erzählung  der  letzten 
Schläge,  die  das  erstarkende  und  siegreiche  Christentum  ausführt,  der 
Akte,  die  den  äußeren  Tod  herbeiführten,  darf  nur  der  geringste  Teil 
der  Darstellung  sein.  Verbotene  Opfer,  gestürzte  Tempel  und  zerschlagene 
Götterbilder  machen  nicht  den  Untergang  einer  Religion  aus.  Die 
Religionen  kämpfen  in  den  Menschen  um  den  Sieg  und  es  gilt  zu  er- 
kennen, wie  und  warum  in  den  Menschen  der  antiken  Welt  die  alte 
Religion  untergeht  und  endlich  vor  einem  neuen  Glauben  nach  schwerem 
Kampfe  dahinsinkt. 

Dieses  Kampfes  innerste  Aktion  gilt  es  wo  möglich  zu  erfassen.  Und 
am  deutlichsten  erkennen  wir,  ehe  wir  auf  von  außen  andringende 
Mächte  Rücksicht  nehmen,  ganz  bestimmte  innere  Kräfte,  deren  Wirksam- 
keit wir  als  eine  Selbstzersetzung  der  antiken  Religion  zusammenfassen 
dürfen.  Es  handelt  sich  zunächst  um  die  oberen  Schichten  der  Völker, 
um  die  sog.  Gebildeten,  bei  denen  sich  zuerst  und  am  meisten  der 
Widerspruch  zwischen  fortschreitender  Erkenntnis  und  den  überkommenen 
Formen  der  Religion  zu  zeigen  pflegt.  Hier  haben  wir  am  leichtesten 
die  Möglichkeit  bestimmte  Strömungen  zu  unterscheiden,  welche  die 
festen  Formen  der  Religion  unterwühlen  und  auflösen,  und  damit  diese 
Religion  selbst  zersetzen.  Es  sind  die  Fortschritte  des  Wissens  und  der 
Erkenntnis,  die  bei  jedem  Volke  zum  Konflikt  mit  dem  Glauben  der 
Väter  führen,  ja  Etappe  für  Etappe  werden  die  Formen  der  überlieferten 
Religion  zerstört.  Es  pflegt  das  erste  zu  sein,  daß  die  geförderte  Er- 
kenntnis, daß  die  erwachte  Vernunft  Anstoß  nimmt  an  diesem  oder  jenem 
einzelnen  Punkt,  der  ihr  widerspricht,  der  unmöglich  scheint;  man  sucht 
der  Überlieferung  eine  vernünftige  Deutung  abzugewinnen:  es  ist  die 
Erscheinung,  die  wir  Rationalismus  zu  nennen  gewohnt  sind.  Er  tötet 
immer  den  eigentlich  religiösen  Keim  und  ist  recht  eigentlich  ein  Auf- 
lösungsprozeß des  Religiösen,  stets  beginnend  in  den  oberen  Schichten 
der  Bevölkerung.  In  eben  den  Schichten  pflegen  oft  gerade  energischere 
Geister  Wege  vorzuschreiten,  das  Überlieferte  einfach  abzulehnen,  auf 
ein  Untersuchen  wie  auf  ein  Umdeuten  und  Retten  zu  verzichten:  es 
pflegt  dann  aber  die  kraftlose  Lehre  der  Resignierten  und  Tatenlosen 
im  Geiste  zu  sein:  der  Skeptizismus,  wie  wir  kurz  sagen  können.  Wo 
man  so  zu  verzichten  vermag,  ist  das  religiöse  Bedürfnis  tot.  Wo  es 
noch  einigermaßen  rege  ist,  beobachtet  man  eine  dritte  wichtige  Er- 
scheinung, die  ebenfalls  immer  von  den  Gebildeten,  ja  Gelehrten  aus- 

29* 


452  ^®^  Untergang  der  antiken  Religion 

gegangen  ist,  zu  allen  Zeiten  das  Hauptmittel  zwischen  religiöser  Tra- 
dition und  den  Fortschritten  des  Erkennens  Versöhnung  und  Vermittelung 
zu  schaffen:  die  allegorische  Umdeutung.  Wenn  der  heiligen  Texte ^ 
Wortlaut  nicht  mehr  zu  ändern,  zu  mindern  oder  zu  mehren  war,  dann 
war  die  Allegorie  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  zu  allen  Zeiten  das 
Mittel,  mit  dem  die  Gebildeten  die  Religion  ihres  Volkes  zu  erhalten 
meinten.  Sie  legten  die  reinere  Erkenntnis  ihrer  Zeit  den  alten  Texten 
unter,  die  eben  außer  dem  Wortsinn  noch  dieses  andere  sagten:  denn 
das  bedeutet  Allegorie.  Daß  auch  hier  das  religiöse  Empfinden,  das 
eigentlich  Religiöse  untergeht,  werden  wir  alsbald  erkennen.  Die  drei 
angedeuteten  Strömungen,  die  sich  in  der  Entwicklung  der  antiken 
Religionsgeschichte  unterscheiden  lassen,  können  wir  zusammenfassen 
als  die  Revolution  von  oben,  die  dazu  hilft,  die  antike  Religion  um- 
zustürzen -  sie  ist  es,  die  recht  eigentlich  den  Selbstzersetzungsprozeß 
der  antiken  Religion  in  Bewegung  bringt,  von  oben  immer  weiter  nach 
unten. 

Wir  werden  weiterhin  von  den  gewaltigen  Kräften  und  Mächten 
zu  berichten  haben,  die  eine  Revolution  von  unten,  aus  den  unteren 
und  untersten  Schichten,  aus  den  Massen  gegen  die  Religion  in  Be- 
wegung setzen,  und  die  mit  ihm  meist  verbündeten  Mächte  der  Revo- 
lution von  außen  —  alle  neuen  religiösen  Bildungen  pflegen  von 
unten  oder  von  außen  zu  kommen  und  in  starkem  Drängen  nach  oben 
die  oberen  Schichten,  die  da  deuten  und  vermitteln  und  resignieren, 
abzusprengen,  wenn  die  Zeit  erfüllet  ist.^ 

ERSTES  KAPITEL 
DIE  REVOLUTION  VON  OBEN 

Der  erste  eigentliche  Stoß  in  der  Richtung  von  oben  ging  von  der 
Bildung  loniens  aus,  von  der  ionischen  Naturwissenschaft.   Wir  machen 

^  Ein  Buch,  in  dem  die  religiösen  Anschauungen  kodifiziert  gewesen  wären, 
das  kanonische  Geltung  gehabt  hätte,  eine  Bibel  hat  das  Altertum  nie  besessen. 
Ein  einziges  Mal  wäre  es  in  Hellas  beinahe  dazu  gekommen.  Das  war  im 
sechten  Jahrhundert,  als  die  orphischen  Mysterien  weite  Kreise  eroberten  und 
sich  heilige  Bücher  schufen,  die  der  Mysten  Glaube  verehren  sollte.  Aber  die 
gewaltigen  Taten  der  Perserkriege  haben  den  Geist  der  Griechen  hoch  über 
diesen  Dunstkreis  hinausgehoben. 

*  Ein  dritter  Abschnitt  soll  die  Revolution  behandeln,  welche  die  griechische 
Religion  durch  Einflüsse  von  außen  erfuhr.  Ein  viertes  Kapitel  wird  sich  mit 
dem  Synkretismus  und  der  religiösen  Erregung  der  Massen  beschäftigen,  die 
namentlich  das  zweite  Jahrhundert  n.  Chr.  ausfüllen.  Das  Schlußkapitel  soll  die 
letzten  Kämpfe  und  die  Kompromisse  zwischen  altem  und  neuem  Glauben  be- 
trachten. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  453 

uns  heute,  da  uns  die  Philosopheme  eines  Thaies  und  seiner  nächsten 
Nachfolger  leicht  simpel  und  kindlich  vorkommen  mögen,  schwer  einen 
Begriff  davon,  welchen  Riesenfortschritt  im  Denkprozeß  der  Menschheit 
es  bedeutete,  wenn  ein  Grundstoff,  ein  Grundprinzip  aller  Erscheinungen 
der  Welt  gesucht  wurde.  Es  ist  eine  ungeheure  Abstraktionskraft  des 
Denkens  gegenüber  dem  allgemeinen  Glauben  an  die  Fülle  göttlicher 
Kräfte,  die  die  Welt  regierten.  Aber  der  Konsequenzen  ihrer  Lehre 
waren  sich  jene  Denker  zunächst  nicht  im  mindesten  bewußt.  Ahnungs- 
los erklärte  noch  der  erste  unter  ihnen,  daß  alles  voll  sei  von  Göttern^ : 
er  war  sich  nicht  bewußt  einer  Trennung  vom  Glauben  seiner  Volks- 
genossen. Ich  will  hier  diese  Anfänge  einer  Revolution  der  Erkenntnis 
gegen  den  Glauben  nicht  weiter  verfolgen  und  weder  von  den  folgen- 
schweren Gedanken  eines  Demokrit  und  der  Atomistiker  noch  eines 
Herakleitos  sprechen.  Aber  eine  Epoche  in  diesem  Prozesse  darf  ich 
nicht  unbezeichnet  lassen:  so  lange  jene  in  ihren  Gedanken  so  kon- 
sequenten ionischen  Entdecker  der  Wissenschaft  auf  der  heimischen 
Scholle  wohnten,  in  den  Tempeln  ihrer  Götter  und  an  den  Gräbern 
ihrer  Väter  opferten,  blieb  der  tiefe  Riß  verborgen,  der  ihr  Wissen  von 
dem  Glauben  ihrer  Umgebung  lange  schon  trennte.  Als  aber  die 
ionische  Kultur  Kleinasiens  vor  dem  Ansturm  der  Perser  zusammenbrach, 
als  die  ionischen  Verbannten  umherirrten  in  den  weiten  griechischen 
Landen,  da  hemmt  die  Überlieferung  der  Heimat,  deren  Götter  sie  ver- 
lassen, nicht  mehr  die  völlige  Abstraktion  auch  in  religiösen  Gedanken. 
Einer  der  revolutionärsten  und  zugleich  wahrhaft  religiösesten  Geister 
spricht  es  aus:  ^Gott  ist  einer;  alles  ist  eins  und  dieses  eine  ist  Gott.'^ 
Xenophanes  von  Kolophon  war  mit  25  Jahren  ausgestoßen  aus  seinem 
Vaterhause  und  aus  seiner  Freundschaft  ins  Elend;  düstern  Sinnes  warf 
er  den  Volksgenossen  ins  Gesicht:  'Was  unter  Menschen  Schmach  und 
Schande  ist,  das  haben  Homer  und  Hesiod  den  Göttern  angedichtet,  zu 
stehlen,  zu  ehebrechen  und  sich  zu  betrügen.'^  Wir  bewundern  den, 
der  schon  gegen  die  anthropomorphe  Vorstellung  von  den  Göttern  das 
denkwürdige  Wort  findet:  'Wenn  die  Stiere  und  Löwen  Hände  hätten 
und  malen  könnten,  würden  sie  die  Götter  sich  ähnlich  malen.'*  Er 
hat  sich  auch  gegen  die  gymnastischen  Ideale  des  echten  Hellenentums 
gewandt:  'besser  als  Menschen-  und  Pferdekraft  ist  unsere  Weisheit'^ 
sagt  der  verstoßene  Flüchtling.  Wir  sehen  wie  die  tiefsten  Schatten 
der  Verzweiflung  über  seine  suchende  Seele  fallen.    'Sicherlich  war  kein 

»  Thaies  23,  Diels  Vorsokratiker  I  ^  S.  10. 

«  Xenophanes  31,  Diels  Vorsokratiker  P  S.  40,  29. 

»  Frg.  11  Diels.  ""  Frg.  15  Diels.  "  Frg.  2,  11  Diels. 


454  D®''  Untergang  der  antiken  Religion 

Sterblicher  je',  sagt  er,  'noch  wird  es  ihn  geben,  der  die  Götter  er- 
kennt und  das  All:  denn  alles  umfängt  ja  der  Irrtum.'^  Und  doch  auch 
wieder:  'Gott  hat  die  Erkenntnis  nicht  auf  einmal  gegeben,  mit  der 
Zeit  suchend  finden  wir  sie.'^  Dort  ist  es  die  Stimmung  völliger 
Skepsis,  hier  ist  es  eine  vermittelnde  Anschauung,  die  zur  Umdeutung 
der  Überlieferungen  die  Handhabe  bieten  konnte  und  geboten  hat. 

Das  waren,  wenn  auch  noch  so  aufrührerische  Gedanken  eines 
einzelnen  gewaltigen  Geistes.  Es  kam  bald  eine  ganze  Epoche  geistigen 
religiösen  Aufruhrs  in  der  Capitale  hellenischer  Bildung,  die  Kleinasien 
abgelöst  hatte.  Und  es  war  wieder  die  Zeit  eines  politischen  Zusammen- 
bruchs,   des   Zusammenbruchs   der  Herrlichkeit   des   attischen  Reiches. 

Der  Mann,  der  die  Übersiedelung  ionischer  Naturwissenschaft  nach 
Athen  geradezu  personifiziert,  ist  der  erste,  der  mit  seinen  Lehren  in 
einen  äußeren  Konflikt  mit  der  Staatsreligion  kam.  Anaxagoras  von 
Klazomenä  wird  um  den  Beginn  des  peloponnesischen  Krieges  der 
Religionsstörung  angeklagt,  nicht  weil  er  von  dem  wirkenden  Welt- 
geiste und  den  wirbelnden  Urstoffen  große  neue  Dinge  lehrte,  sondern 
weil  er  die  göttliche  Sonne  für  einen  glühenden  Klumpen  erklärte.^ 
Das  verletzte  die  allgemeine  Religion,  er  wurde  in  eine  Geldstrafe 
verurteilt  und  verbannt.  Es  war  das  erstemal  in  Europa,  daß  die  an- 
erkannte Religion  und  die  Wissenschaft  in  einen  äußeren  Konflikt  ge- 
rieten und  Anaxagoras  war  der  erste  Vorläufer  Galileis.  Es  folgten  in 
der  gleichen  Epoche  noch  mehrere  Inquisitionsprozesse.  Der  be- 
deutendste der  Sophisten,  die  jener  Zeit  der  geistigen  Revolution  von 
oben  ihr  Gepräge  geben,  Protagoras  ging  mit  am  schärfsten  gegen 
den  überlieferten  Glauben  mit  seinen  Schriften  vor.  Ein  Buch  hieß 
'Die  niederwerfenden  Reden'.*  Der  Titel  lehnte  sich  an  einen  Aus- 
druck der  Ringschule  an,  der  Inhalt  bezog  sich  auf  religiöse  Traditionen 
und  Lehren.  Ein  besonderes  Buch  aber  über  die  Götter  begann:  'Was 
die  Götter  betrifft,  vermag  ich  nichts  sicheres  zu  wissen  weder  über 
Existenz  noch  Nichtexistenz.  Viele  Hindernisse  sind  dagegen:  die 
Unwahrnehmbarkeit  der  Sache  und  die  Kürze  des  Lebens'.^  Ob  es 
wahr  ist,  daß  er  sein  Buch  im  Hause  des  Euripides  zuerst  vorgelesen, 
können  wir  nicht  ergründen.  Ein  gläubiger  Kavallerieoffizier  Pythodoros 
hatte  Anzeige  gemacht:  Protagoras  wurde  -  gerade  wegen  jenes 
Anfangs  seiner  Schrift  heißt  es  -  in  die  Verbannung  geschickt.  Seine 
Bücher  wurden   bei   den  einzelnen  Besitzern  polizeilich  konfisziert  und 

^  Frg.  34  Diels.  *  Frg.  18  Diels. 

'  Anaxagoras  72,  Diels  Vorsokr.  I  ^  S.  307. 

'  Diels  Vorsokr.  II  PS.  536.  Diels  Vorsokr.  UPS.  537,  30. 


Der  Untergang-  der  antiken  Religion  455 

auf  dem  Markte  öffentlich  verbrannt.  Der  Kühnste  aber,  der  augen- 
scheinlich den  Protagoras  überbietend  gegen  den  nationalen  Glauben 
der  Griechen  ein  Buch  schrieb  'Die  in  den  Abgrund  werfenden  Reden', 
Diagoras  von  Melos,  ist  als  Götterleugner  aus  der  Literatur  der  Zeit 
wohlbekannt/  Es  braucht  uns  nicht  zu  wundern,  daß  derselbe  Mann 
als  Dithyrambendichter  die  frömmsten  Sätze  schrieb  -  das  gehörte  zum 
Stile  dieser  Poesie.  Einer  Verurteilung  wußte  er  sich  durch  die  Flucht 
zu  entziehen,  aber  auf  seinen  Kopf  wurde  ein  hoher  Preis  gesetzt. 

Auch  diesem  Diagoras  wurde  vorgeworfen,  daß  er  neue  Götter  ein- 
führe, genau  wie  dem  Sokrates.  Auch  dieser  wurde  ja  der  Asebie 
angeklagt,  daß  er  nicht  glaube  an  die  Götter  des  Staates  und  neue 
Götter  einführe.  Die  Geister  der  Inquisition  wurden  immer  mächtiger, 
je  machtloser  der  politische  Staat,  je  unglücklicher  und  verzweifelter 
die  Politik  Athens  wurde.  Hatten  sie  doch,  die  Bürger  von  Athen, 
so  lange  sie  übermütig  im  Glücke  waren,  gelacht  und  geulkt  über 
alle  Götter  von  ganzem  Herzen,  und  der  konservative  Aristophanes 
der  ernstlich  für  Erhaltung  der  Religion  eintritt,  reisst  die  frivolsten 
Witze  über  Zeus  und  alle  Götter  in  geradezu  göttlicher  Frechheit,  und 
ihn  hat  niemand  verklagt.  Als  die  Not  wieder  beten  lehrt,  greifen  die 
ängstlichen,  eben  noch  ungläubigen,  jetzt  abergläubigen  Athener,  die 
eigene  Frivolität  zu  büßen,  einzelne  Opfer.  Aber  es  waren  nicht  ein- 
zelne Zweifler  oder  Ungläubige:  wir  vermögen  tiefer  zu  sehen.  Wenn 
der  gewaltige  Dichter  jener  geistigen  Konfliktszeit,  Euripides,  die  Personen 
seiner  Stücke  -  einerlei  hier  was  seine  eigene  Meinung  war  -  solche 
Sätze  sagen  läßt^• 

'Man  sagt  ja,  in  dem  Himmel  seien  Götter  - 

Nein,  sag  ich,  nein,  wenn  man  nicht  immer  noch 

Dem  alten  törichten  Gerede  glauben  will' 
oder*:  ^ 

'Zeus  wer  du  sein  magst  -  nur  gerüchtweis'  kenn  ich  dich 

wo  das  von  der  Bühne  gesprochen  wurde,  war  es  dem  Denken  der 
Hörer  nicht  fremd.  Wir  haben  in  diesen  Bühnenstücken  einen  Spiegel 
der  Gedanken  der  Zeit.  Statt  weiterer  Belege  nur  noch  ein  Zeugnis, 
das  uns  erhalten  ist  aus  einem  Stücke  der  Kritias^-  'Es  gab  eine 
Zeit,  wo  der  Menschen  Leben  ohne  Ordnung  war  und  wilde  Kraft 
regierte,  da  weder  die  Wackeren  Lohn  noch  die  Bösen  Strafe  empfingen. 
Da  haben  die  Menschen  Gesetze  erfunden,  damit  sie    Bestraf  er  wären 


'  Wellmann  bei  Pauly-Wissowa  u.  Diagoras  2. 

»  Bellerophon  frg.  286  Nauck.        »  Melanippe  ^  cocpn  frg.  480  Na«ck. 

*  Sisyphos  frg.  1,  Nauck  S.  771. 


456  ^®^  Untergang  der  antiken  Religion 

es  wurde  bestraft,  wer  nur  sündigte.  Aber  die  Gesetze  konnten  bloß 
bestrafen,  was  offen  geschehen  war,  die  Menschen  freveUen  im  Ver- 
borgenen: da  erfand  ein  scharfsinniger  und  kluger  Mann  die  Götter, 
damit  die  Bösen  etwas  zu  fürchten  hätten,  auch  wenn  sie  heimlich 
etwas  täten  oder  sagten  oder  dächten.  Was  einer  auch  im  Ver- 
borgenen tat,  würde  den  Göttern  nicht  verborgen  bleiben.  Mit  solchen 
Reden  brachte  er  süße  Lehre,  die  jedoch  mit  Lügen  der  Wahrheit 
das  Licht  nahm.  Das  aber  hieß  er  sie  glauben,  daß  die  Götter  da 
wohnten,  von  wo  die  meisten  Schrecknisse  die  Menschen  erschreckten, 
und  der  meiste  Nutzen  ihnen  käme,  dort,  woher  man  die  Blitze 
kommen  sah  und  das  schreckHche  Geprassel  des  Donners,  und  wo 
der  Glanz  der  Sterne  leuchtete,  wo  die  Zeit  geregelt  wird,  und  von 
wo  der  Regen  niederkommt.  So  flößte  er  den  Leuten  Recht  ein  und 
vertilgte  den  Frevel  durch  Furcht,  den  Menschen  einredend,  daß  es 
ein  Geschlecht  der  Götter  gebe.' 

Es  ist  ein  wahres  Evangelium  des  Rationalismus,  das  Kritias 
predigt,  der  in  mehr  als  einer  Beziehung  in  religiösen  oder  auch  ir- 
religiösen Anschauungen  ein  rechter  Typus  für  seine  Zeit  ist.  Hier  ist 
die  flüchtigste  Aufklärung,  die  von  den  Gebildeten  aus  die  nationale 
Religion  des  Volkes  zerstört  -  hier  ist  schon  völliger  Untergang  der 
Religion. 

Der  Rationalismus  konnte  flacher  auch  in  den  folgenden  Zeiten 
kaum  werden.  Aber  was  vorher  nur  hier  und  da  einsetzte,  die  ver- 
nünftige Umdeutung  der  Sage  -  die  etwa  auch  bei  Euripides  vor- 
kommt, daß  Herakles  den  nemeischen  Löwen  nicht  mit  den  Armen 
überwältigt,  sondern  in  Schlingen  gefangen  habe^,  auch  da  wie  so 
häufig  durch  ein  etymologisches  Wortspiel  unterstützt  -  das  ist  in  ein 
System  gebracht  in  der  Diadochenzeit,  wiederum  einer  Periode  poli- 
tischen Umsturzes  in  der  griechischen  Welt.  Das  Handbüchlein  eines 
Palaiphatos^  das  alles  'Unglaubliche'  des  Mythus  natürlich  erklärt  und 
auf  jene  Zeit  zurückgeht,  ist  uns  erhalten.  'Dinge,  die  nicht  heute 
auch  passieren  können,  zu  glauben,  ist  albern',  das  ist  der  Grundsatz. 
Nun  ist  Skylla  ein  Piratenschiff,  die  Chimäre  ist  ein  feuerspeiender  Berg, 
und  Bellerophon  kommt  auf  dem  Kriegsschiff  Pegasos  ihn  zu  erobern, 
die  Amazonen  waren  männliche  Krieger  mit  langen  Röcken  und  immer 
rasiert:  daher  der  Irrtum.  Es  ist  charakteristisch  genug,  daß  dies 
alberne  Buch  in  Deutschland  während  des  vorigen  Jahrhunderts  eines 


^  Herakl.  153. 

*  Palaephatus  irepl  diricTUJv  ed.  N.  Festa,  Teubn.  1902. 


Der  Untergang-  der  antiken  Relig-ion  457 

der  beliebtesten  Schulbücher  war:  es  ist  viele  Male  zu  diesem  Zwecke 
ediert  worden;  sehr  bezeichnend:  zum  letzten  Male  1813.  Aber  das 
eigentliche  Haupt-  und  Grundbuch  alles  zünftigen  Rationalismus  war 
nicht  dieses,  sondern  ein  anderes  der  gleichen  Epoche,  die  'heilige 
Schrift'  des  Euhemeros\  eines  Günstlings  des  makedonischen  Kassander. 
Das  Buch  hat  die  äußere  Form  des  Romans,  des  Reiseromans;  aber 
das  wesentliche  ist,  daß  auf  der  fernen  Insel  des  indischen  Ozeans 
Panchaia  eine  Urkunde  erzählt  von  dem  Leben  und  den  Feldzügen  der 
Götter:  des  Kronos,  des  Titan,  des  Zeus.  Zeus  ist  gestorben,  nach- 
dem er  sein  Reich  unter  Verwandte  und  Freunde  geteilt,  und  sein 
Grab  ist  auf  Kreta  zu  schauen.  Dann  erst  hat  man  die  großen  Könige 
als  Götter  verehrt.  Es  ist  die  Deutung,  die  der  Zeitgenosse  jener 
Übermenschen,  die  um  das  Reich  des  göttlichen  Alexandros  fochten, 
dem  Mythus  gab:  die  Götter  sind  Menschen  gewesen,  wie  wir  heute 
die  Menschen  zu  Göttern  werden  sehen.  Damals  (302)  sangen  die 
Athener  dem  Demetrios  Poliorketes  entgegen^: 

Sind  andre  Götter,  sei  es  weit  von  uns  entfernt. 

Sei  es  daß  sie  taub  sind, 

Gibts  keinen  oder  kümmern  sie  sich  nicht  um  uns: 

Dich  sehen  wir  gegenwärtig! 

Von  Holz  nicht,  nicht  von  Stein,  in  Wahrheit  sehen  wir  dich. 

Kommen  anzubeten. 

Zuvörderst  Frieden  schaffe  uns,  du  Teuerster, 

Du  bist  Herr  darüber. 

Es  ist  dieselbe  Zeit,  in  der  ein  anderer  Machthaber  von  Athen, 
Demetrios  von  Phaleron,  einen  Theodoros^  der  als  Götterleugner  be- 
rühmt geworden  ist  -  er  lehrte  unter  anderem,  daß  nichts  an  sich 
schlecht  sei,  nicht  Tempelraub  und  Ehebruch,  wenn  es  nur  wirklich 
Freude  brächte,  Aufopferung  für  das  Vaterland  sei  lächerlich  -,  als  er 
der  Asebie  angeklagt  war,  von  der  Verfolgung  befreite.  Die 
Stimmungen  der  gebildeten  Griechen  sind  ganz  andere  als  hundert 
Jahre  vorher.  Die  Zeit  der  Diadochen  Ale>Canders  ist  nicht  eine 
grübelnde,  zweifelnde,  sich  auflehnende  wie  die  der  Sophisten,  es  ist 
eine  satte  und  matte  und  blasierte  Zeit.  Feine  Bildung  und  eleganter 
Lebensgenuß  sind  das  höchste  Gut  der  Besten.  Die  Philosophen  sind 
zumeist  Gecken  und  Narren  geworden,   die  Köche  sind  die  Vertreter 

^  F.  Jacoby  bei  Pauly-Wissowa  u.  Euemeros  3.         '  Ath.  VI  253E  v.  15ff. 
»  Diog.  Laert.  II  8,  101. 


458  D®^  Untergang  der  antiken  Religion 

um  so  wichtigerer  Probleme.  Die  erlesensten  Meisterstücke  einer  geist- 
reichen Schauspieldichtung  entstammen  dieser  Periode:  Bruckstücke  der 
neuen  attischen  Komödie  zeigen  uns  die  Ideale  der  Zeit,  auch  die  reli- 
giösen. Nach  Friede  sehnt  man  sich  und  nach  Ruhe  des  Genusses. 
'Glaubst  du'  fragt  man  bei  Menander\  Maß  die  Götter  so  viel  Zeit 
haben,  jedem  Tag  für  Tag  seine  Portion  Glück  und  Unglück  zuzuteilen?' 
'Die  Tuxn  ist  alles' ^  und  sie  meistert  nur  der  Arm  des  Gewaltigen 
dieser  Erde. 

'Ich  halte  nur  für  wahre  Götter  diese  noch; 
Das  Silber  und  das  Gold. 

Die  bete  an,  wenn  du  ein  Haus  dir  bauen  willst: 
Dann  hast  du  alles.' ^ 

Und  das  höchste,  was  in  diesen  Kreisen  -  denn  nur  von  bestimmten 
Gruppen  und  Richtungen  rede  ich  —  religiösem  Empfinden  nahe  kommt, 
scheint  etwa  dies  zu  sein*: 

'Verehre  Gott  und  glaub  an  ihn,  doch  such  ihn  nicht, 
Denn  mehr  als  eben  Suchen  hast  du  nicht  davon. 
Nicht  wolle  wissen  ob  er  wirklich  ist,  ob  nicht. 
Nimm  an  er  sei  und  sähe  dich,  und  furcht'  ihn  stets.' 

Die  'heilige  Schrift'  dieser  Leute  ist  die  des  Euemeros,  und  seine 
Lehre  hat  mehrmals  weite  Kreise  von  Anhängern  gewonnen,  als  sie 
der  erste  römische  Dichter,  Ennius,  übersetzte,  so  gedankenlos,  wie 
der  arme  Schulmeister  alles,  was  gut  bezahlt  wurde,  übersetzte.  Er 
reichte  die  reife  Frucht  der  Überkultur  den  Barbaren,  denen  sie 
schmeckte,  wie  den  russischen  Bären  die  lustigen  französischen 
Romane.  So  hat  dies  Buch  schon  früh  den  Rationalismus  in  Rom 
heimisch  gemacht.  Zuletzt  hat  es  gewirkt  noch  im  18.  Jahrhundert, 
wo  die  französischen  Aufklärer  den  Ausdruck  Euhemerismus  aufgebracht 
haben  für  alle  rationalistische  Mythendeutung. 

'Gibts  keinen  oder  kümmern  sie  sich  nicht  um  uns'  so  singen  die 
Athener  jetzt  von  den  Göttern  im  Jahre  302.  Und  das  kam  auch 
praktisch  religiös  auf  dasselbe  hinaus.  Aber  man  hört  deutlich  den 
Klang  einer  Lehre,  die  seit  zwei  Jahren  in  Athen  gepredigt  wurde:  es 
gibt  Götter,  aber  sie  kümmern  sich  nicht  um  uns.  Es  gilt  die  Menschen 
von    der    quälenden   Furcht    vor   den    Göttern   zu   befreien.     Es   war 


*  Fragm.  174  Kock.         *  Men.  frg.  482 f.  Kock.        "  Men.  frg.  537  Kock. 

*  Philemon  frg.  118  Kock. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  459 

Epikuros,  der  so  in  Athen  zu  lehren  begann,  gerade  hundert  Jahre 
nach  dem  Sturze  des  freien  Athen.  Es  ist  ein  förmlicher  Kreuzzug 
gegen  die  Religion,  den  er  eröffnen  will:  wer  die  Religion  verdrängt, 
der  ist  der  wahre  Sieger  über  den  schlimmsten  Feind,  wer  die  Religion 
annimmt,  ist  ein  Gottloser,  Und  doch  leugnet  er  -  ein  echter  Hellene  - 
die  Existenz  der  Götter  nicht,  sie  leben  in  den  Zwischenräumen  der 
Welten  und  kümmern  sich  selig  um  nichts.  Höchstens  mag  der  Weise 
aus  ästhetischem  Bedürfnis  ihrer  Vortrefflichkeit  Verehrung  darbringen. 
Der  Gedanke  der  Befreiung  von  Götterfurcht  ist,  wenn  nicht  der 
kräftigste,  so  doch  der  bewußteste  Stoß  gegen  den  alten  Glauben  ge- 
wesen. Und  auch  hier  ist  nichts  wieder  charakteristischer  für  das 
Bedürfnis  auch  der  Gebildeten  nach  einer  Art  religiöser  Verehrung 
als  das,  daß  sich  nicht  nur  die  Angehörigen  dieser  Lehre  wie  gewöhn- 
lich in  den  Formen  religiöser  Gemeinden  zusammenschlössen,  daß  sie 
ihren  Meister  allmonatlich  am  20.  Tage  und  an  seinem  Geburtstag^ 
als  ihren  Herrn,  ja  als  ihren  Heiland  (cuuirip)  feierten  und  ihm  Opfer 
brachten.  Auch  die  Befreiten  dachten  in  alten  Formen.  Sie  sind  zu- 
sammengeschlossen in  der  festen  Organisation  einer  Kirche,  diese  Be- 
kenner  der  Antitheologie  des  Epikuros.  Und  deren  waren  in  den 
folgenden  Jahrhunderten  des  Altertums  unter  den  Gebildeten  nament- 
lich in  den  Centren  zu  Athen,  zu  Alexandria  und  dann  namentlich  in 
Rom  sehr  viele.  War  die  Botschaft  des  Rationalismus  schon  vom 
ersten  römischen  Dichter  nach  Rom  übertragen,  so  ward  von  dem 
zweiten  großen  lateinischen  Dichter  das  Evangelium  der  Befreiung  von 
der  Götterfurcht  mit  glühender  Begeisterung  verkündigt,  von  T.  Lucretius 
Carus,  mit  glänzendem  Erfolge.  Hier  ist  ein  Zug  vordrängender 
Propaganda,  den  wir  höchst  selten  bei  den  Vertretern  der  philo- 
sophischen Lehre  im  Altertum  antreffen. 

Schon  vorher  kann  man  beobachten,  wie  die  Schüler  Epikurs 
nach  Alexandria  drängen,  als  es  Mittelpunkt  der  Welt  war,  und 
weiterhin  nach  Rom.  Hegesias^  der  in  Alexandria  zur  Zeit  des  ersten 
Ptolemäus  noch  viel  schärfere  Konsequenzen  aus  der  Lehre  Epikurs 
zog  als  alle  anderen,  stand  jedenfalls  in  naher  Beziehung  zu  seinem 
Kreise.  Er  ward  der  ausgesprochenste  Pessimist  des  Altertums.  Es 
gibt  vielmehr  Schmerz  als  Lust,  war  die  Bilanz,  die  er  dem  Menschen- 
leben zog.  Den  Schmerzen  zu  entgehen  und  sich  alles,  auch  das 
Leben  gleichgültig  sein  zu  lassen,  das  ist  seiner  Weisheit  letzter 
Schluß.     'Der  Hungerselbstmörder'   hieß   eine  Schrift  von  ihm,  in  der 


*  v.  Arnim  bei  Pauly-Wissowa  VI  135.        *  Cic.  Tusc,  I  83  f. 


450  Der  Untergang  der  antiken  Religion 

einer,  der  sich  freiwillig  tothungert,  seinen  Freunden  seine  Gründe 
erklärt.  Den  Selbstmordwerber  nannte  man  ihn,  weil  er  viele  bewogen 
habe,  das  Leben  zu  verlassen,  und  Ptolemaios  I  in  Alexandria  unter- 
sagte ihm  zu  lehren. 

Und  wahrlich  kein  Herrscher  und  kein  Staat  konnten  solchen  Pro- 
pheten freundlich  gesinnt  sein.  Demetrius  von  Phaleron  ist  eine  Aus- 
nahme, wenn  er  als  Staatslenker  Athens  für  einen  Götterleugner  eintrat 
und  die  brutalen  Kraftnaturen  unter  den  Nachfolgern  Alexanders,  die 
außer  sich  selbst  und  ihrem  Schwerte  keinen  Gott  kannten,  sind  auch 
hier  Ausnahmemenschen.  Wie  immer  hat  auch  die  hellenistische  und 
römische  Monarchie  alle  die  geistigen  Strömungen  perhorresziert,  die 
irgendwie  zerstörend  auf  die  religiösen  Umgrenzungen  des  Volkslebens 
wirken  und  die  Schranken  wegreißen  konnten,  die  das  Volk  in  er- 
wünschter ruhiger  Demut  hielten;  sie  hat  scharfe  Zusammenstöße  zwischen 
den  Mächten  des  Wissens  und  des  Glaubens  zu  vermeiden  gewünscht 
und  das  war  meist  im  Altertum  leicht  zu  erreichen,  solange  kein 
Stand  vorhanden  war,  der  mit  der  Macht  des  Glaubens  die  eigene  zu 
stärken  strebte.  Sie  hat  stets  zu  vermitteln  und  zu  einigen  gesucht  und 
war  vor  allem  bemüht,  auch  für  die  obern  Schichten  der  Völker  der  Reli- 
gion eine  Form  zu  geben  und  so  sie  selbst  in  sittlich-religiöser  Zucht  zu 
halten  und  die  Massen  vor  der  Infizierung  von  oben  zu  bewahren.  Dem 
Volke  muß  die  Religion  erhalten  bleiben,  das  war  aller  derer  Grund- 
satz, die  in  weiser  Religionspolitik  solche  Reformen  erstrebten  -  vom 
ersten  Ptolemäer  bis  zu  Augustus,  bis  zu  den  Severen.  Ein  Monarch 
war  es  auch,  der  die  für  die  letzten  Jahrhunderte  des  Altertums  folgen- 
reichste Vermittelung  zwischen  der  vorgeschrittenen  Erkenntnis  und  dem 
nationalen  Glauben  hervorgerufen  hat.  In  der  Hofluft  ist  die  Ver- 
mittelungsphilosophie  und  die  Vermittelungstheologie  entstanden.  Als 
der  König  von  Makedonien  Antigonos  Gonatas  den  Zeno^  berief,  der 
seine  Lehre  zuerst  in  der  Halle,  der  Stoa,  zu  Athen  verkündet  hatte, 
erhielt  er  von  dem  schroffen  Alten,  der  auch  mit  der  Volksreligion  nicht 
paktiert  und  einen  wirklichen  Monotheismus  verkündet  hatte,  eine  Ab- 
sage. Und  doch  nicht  ganz:  zwei  Schüler,  Persaios  und  Philonides^ 
schickte  er,  und  sie,  eine  Art  Hofprediger,  begannen  den  Amalgamierungs- 
prozeß  zwischen  Volksreligion  und  stoischer  Philosophie.  Er  wird  im 
weitesten  Umfange  ermöglicht  hauptsächlich  durch  die  Mittel  der  Alle- 
gorie: die  Volksreligion  wird  auf  Grund  stoischer  Gedanken  ausgedeutet  und, 
soweit  der  Monotheismus  nicht  bloß  scheinbar  gewahrt  bleibt,  wird  er 


Diog.  Laert.  VII  1, 6. 


Der  Untergrang  der  antiken  Religion  45 1 

auf  Zeus  konzentriert.  Die  Allegorie  war  an  Homer,  dem  Götter-  und 
Heldenbuch  des  hellenischen  Volkes,  erwachsen  und  schon  der  „erste 
Homeriker"  Theagenes  von  Rhegion^  hatte  sie,  wie  es  scheint  durch 
Andeutungen  des  Xenophanes,  wie  ich  sie  oben  erwähnte,  angeregt, 
geübt.  An  Homer  hat  sie  sich  immer  wieder  dokumentieren  müssen 
und  dort  wird  sehr  bezeichnender  Weise  diese  Erklärungsform  Apologie 
genannt.  Wir  haben  viele  Reste  solcher  Umdeutungen,  nichts  ist  lehr- 
reicher als  das  erhaltene  Hand-  und  Hilfsbüchlein  für  stoische  Mythen- 
erklärung, das  sich  selbst  nennt  'Abriß  der  Überlieferungen  nach 
hellenischer  Theologie'^  von  dem  Römer  Cornutus,  das  jahrhunderte- 
lang in  der  römisch -griechischen  Welt  in  Gebrauch  war.  Es  ist  die 
wahnsinnigste  allegorisch -dogmatische  Exegese,  meist  mit  Hilfe  ety- 
mologischer Kniffe  zu  Wege  gebracht.  Athene  ist  der  feinere  Stoff 
in  der  obersten  Region,  der  mit  dem  Geist  zusammenfällt.  Wenn 
Zeus  die  Hera  umarmt,  so  umgibt  der  Äther  die  Luft  und  der  Xötoc 
c7T€p|LiaTiKÖc  geht  in  die  Materie  über.  Wenn  ApoUon  den  Drachen 
schlägt,  so  siegt  das  Licht  über  die  widrigen  Dünste;  Hephaistos  ist 
das  Feuer,  das  irdische  Feuer  kann  zum  Fortkommen  des  Holzes  nicht 
entbehren,  drum  braucht  er  den  hölzernen  Stab.  Herakles  bezwingt 
Löwen,  Eber  und  Stier,  d.  h.  die  Vernunft  besiegt  die  Lüste  und  Leiden- 
schaften, er  holt  den  Cerberus  mit  den  drei  Köpfen,  d.  h.  er  bringt  die 
Philosophie  mit  ihren  drei  Hauptteilen  ans  Licht;  dort  steht  es  auch 
gesagt,  daß  Apollo  die  Sonne  und  Artemis  der  Mond  sei,  wie  denn  in 
diesem  Büchlein  ein  gut  Teil  der  Albernheiten  moderner  Mythologie 
schon  zu  lesen  steht,  für  seine  Kleinheit  merkwürdig  viele.  Die  Stoa 
konnte  in  ihrem  praktischen  Bestreben,  den  Gebildeten  Teilnahme  an 
der  überiieferten  Religion  möglich  zu  machen,  allen  Polytheismus  auf- 
nehmen, ja  allen  möglichen  Aberglauben  -  sie  ist  am  weitesten  den 
Massen  entgegengekommen,  die  nach  Mystik  und  Offenbarung  lechzten  -, 
Dinge,  von  denen  ich  heute  noch  nicht  zu  sprechen  habe.  Auch  darf 
ich  hier  nicht  von  den  plebejischen  Brüdern  der  Stoiker,  den  viel  kon- 
sequenteren Gegnern  des  Volksglaubens,  den  Kynikern  reden.  Die 
Lehre  der  Stoa  war  für  Jahrhunderte  die  Religion  der  Gebildeten  in 
der  antiken  Welt  und  diese  Religion  konnte  am  ersten  Freund  sein  der 
neuen  Lehre,  die  aus  dem  Osten  kam.  Man  darf  nicht  vergessen,  wie  die 
Stoa  besonders  mit  so  starkem  Hindrängen  zum  Monotheismus  etwas 
Fremdes  in  die  griechische  Welt  brachte:  die  Häupter  der  Stoa  waren 

^  Susemihl  Gesch.  der  griech.  Lit.  in  der  Alex.  Zeit  II  664  f. 
'  Cornutus    'embpoinfi   tüjv   Kaxct   ti?iv   '6X\tiviki?iv  GeoXoTiav  irapabebon^vujv 
ed.  C.  Lang  Teubn.  188L 


462  Der  Untergang  der  antiken  Religion 

alle  Orientalen :  Zeno,  Kleanthes  und  Chrysippos,  und  nicht  anders  jener 
erwähnte  Persaios.^  In  Rom  war  sie  von  der  allergrößten  Wirkung 
und  ich  brauche  nur  Namen  wie  Persius  und  Seneca,  Epiktet  und  Marc 
Aurel  zu  nennen.  Keine  anderthalb  Jahrhunderte,  ehe  ein  Christ  den 
Thron  der  Cäsaren  bestieg,  saß  ein  Stoiker  darauf.  Der  Stoizismus 
hat  in  dem  Dogmatismus  einer  orthodoxen  Lehre  manche  Ähnlichkeit 
mit  dem  späteren  Staatschristentum  und  wie  manche  von  den  Dogmen 
jener  Stoa  sind  von  diesem  Christentum  übernommen! 

Wie  dieser  Dogmatismus  bekämpft,  verspottet,  gehaßt  werden  mußte 
von  den  Richtungen,  die  wir  bereits  betrachtet,  ist  einleuchtend.  All- 
gemeiner Skeptizismus  kämpfte  gegen  ihn  mit  aller  Macht,  deren  das 
Negative  fähig  ist.  Ja,  die  Erben  Piatons  waren  jenen  orientalischen 
Dogmatikern  gegenüber  für  lange  Zeit  zu  vollendeten  Skeptikern  ge- 
worden. Und  die  verbreitetste  Grundstimmung  der  Gebildeten  in  der 
griechisch-römischen  Welt  in  den  letzten  Jahrhunderten  war  gewiß  nicht 
die  stoische  Allegorie -Vermittlung  oder  Orthodoxie:  das  war  ein  schwan- 
kender Eklektizismus  und  eine  resignierende  Skepsis.  Ein  Typus  ist 
Cicero  mit  seiner  Schriftstellerei,  die  so  lange  in  den  entsprechenden 
Kreisen  wirksam  bleibt.  Was  er  in  dem  Buche  über  die  Natur  der 
Götter  übernimmt,  ist  im  wesentlichen  auf  Skepsis  aufgebaut,  nur  daß 
seine  gutmeinende  Pantomime  natürlich  allem  die  Spitze  abbricht  und 
seine  verschwommene  Eklektik  einen  kraftlosen  Deismus  damit  zu  ver- 
einigen weiß.  So  ist  denn  in  den  Endzeiten  des  Altertums  bei  den 
Gebildeten  ein  tiefer  Skeptizismus  hier  und  da  vereint  mit  einem  flachen 
wirkungslosen  Deismus.  Je  weniger  die  Skepsis  je  die  Kraft  hatte 
Schüler  zu  finden,  um  so  mehr  beherrschte  sie  die  weitverbreitetsten 
Stimmungen.  Namentlich  auch  der  Stand  der  Ärzte  ^  pflegte  ihnen  zu 
huldigen  und  sie  zu  verbreiten:  nur  der  Empirie  rieten  sie  zu  trauen. 
Zurückhaltung  von  jedem  Wissen  und  jedem  Glauben,  das  war  das  eine 
Schlagwort,  und  Leidenschaftslosigkeit  das  andere;  in  diese  beiden 
Wünsche  ging  die  Philosophie  aus,  die  der  Gebildeten  Religion  in  so 
mannigfacher  Form   gewesen   war.     Die   Religion   war  untergegangen: 

^  Die  orthodoxe  Stoa  hat  in  späterer  Zeit  durch  ihre  Wendung  zum  Praktisch- 
Sittlichen  einen  gewaltigen  Einfluß  auf  die  Entwicklung  des  antiken  Staates 
besessen.  Von  solchen  stoischen  Lehren  hat  z.  B.  noch  der  Jude  Philo  gelernt: 
auch  hier  haben  wir  wieder  einen  Zusammenhang  der  Stoa  mit  dem  semitischen 
Volkstum.  Das  trifft  auch  für  eine  der  bedeutendsten  Erscheinungen  dieser  Sekte 
zu,  Poseidonios  von  Rhodos,  der  aus  Apamea  in  Syrien  stammte  und  nament- 
lich durch  seine  zahlreichen  bedeutenden  Schüler  gewirkt  hat.  Er  will  eine 
positive  Weltanschauung  verbreiten:  das  ganze  Weltgebäude  wird  von  einem 
Gott  gelenkt. 

*  S.  Sextus  Empiricus. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  453 

das  Phlegma  war  geblieben.     Nur  sich  nicht  aufregen  und  sich  nicht 
begeistern:  das  war  das  Ende  und  der  geistige  Tod/ 

Ein  Stück  Untergang  antiker  Religion  haben  wir  beobachtet:  ihre 
Selbstzersetzung  bei  den  Gebildeten,  die  Revolution  von  oben.  Wichtiger 
wird  es  nun  sein,  die  Revolution  von  unten  und  von  außen  zu  ver- 
folgen. Die  Rolle  aber  jener  Resignierten  in  dem  letzten  Kampfe,  wenn 
ihnen  aus  den  Kräften  von  unten  und  außen  der  letzte  Gegner  er- 
wachsen ist,  mag  man  leicht  ermessen:  man  stelle  sich  vor,  wie  re- 
ligiös und  sozial  revolutionäre  Scharen  in  flammender  Begeisterung 
empordringen  gegen  jene  höheren  Schichten:  der  Sieg  gehörte  denen, 


^  Eine  Wandlung  der  Dinge  hat  dann  noch  Augustus  versucht;  das  Monu- 
mentum  Ancyranum  lehrt  deutlich,  wie  er  sich  gemüht  hat,  aus  Staatsraison 
dem  Volke  den  Glauben  der  Väter  zu  erhalten;  er  ließ  Tempel  bauen  und  alte 
Volksbräuche  wieder  aufleben:  es  ist  bezeichnend,  daß  an  seinem  Hofe  das  erste 
Infernogedicht  entstanden  ist:  das  VI.  Buch  der  Aeneide  Vergils.  Während  der- 
gestalt die  Religion  an  der  Politik  noch  eine  Stütze  findet,  kümmert  sich  die 
Wissenschaft  der  ersten  Kaiserzeit  wenig  mehr  um  das  religiöse  Leben.  Mit 
dem  zweiten  Jahrhundert  ist  eben  auch  die  Wissenschaft  tot  oder  fristet  doch 
nur  ein  Scheinleben  an  den  Gedanken,  welche  die  vorchristliche  Zeit  hervor- 
gebracht hat.  Sieht  man  von  dem  matten  Stoizismus  Mark  Aureis  ab,  so  ver- 
raten die  Kaiser,  die  es  zu  einer  eigenen  Weltanschauung  gebracht  haben, 
schon  andere  Einflüsse  als  die,  welche  die  Revolution  von  oben  mit  sich  bringt. 
Hadrian  ist  zu  drei  Vierteilen  Mystiker,  Alexander  Severus  erschließt  sein  Herz 
allen  Religionen,  die  aus  der  Fremde  kommen.  Das  wird  der  Grundzug  auch 
der  späteren:  in  ihm  treffen  sich,  mögen  sie  sonst  in  ihrem  Wesen  noch  so 
verschieden  sein,  Constantin,  Julian  und  Theodosius. 

Daß  dieser  von  unten  nachdrängende  Mystizismus,  diese  von  außen  an- 
stürmenden Kulte  nicht  mühelos  die  antike  Religion  überrannten,  verhinderte 
das  letzte  Bollwerk,  das  griechischer  Geist  geschaffen  hat.  Aus  uralten  Quellen 
schöpfen  die  Neuplatoniker  neues  Leben.  Pythagoras  und  Plato  sind  ihre  Ge- 
währsmänner, mit  ihrer  Weltanschauung  wird  auch  ihre  Religiosität  neu  belebt. 
Kräftig  wirken  nun  diese  Philosophen,  die  wirklich  eine  Religion  besaßen  und 
sie  auch  predigten,  eine  Religion,  die  Fühlung  mit  dem  volkstümlichen  Glauben 
hatte,  und  sogar  dessen  Anhängsel,  die  Wunder,  den  Aberglauben  und  die 
Zauberei  mit  übernahm  und  durch  wissenschaftliche  Erklärung  zu  verteidigen 
suchte.  Es  ist  diese  Lehre  ein  mächtiger  Faktor  geworden,  mit  dem  auch  das 
sonst  siegreiche  Christentum  noch  lange  zu  rechnen  und  zu  kämpfen  hatte. 

Aber  auch  diese  neue  Weltanschauung,  mochte  sie  noch  so  große  Teile 
der  oberen  Schichten  sich  gewinnen,  konnte  nicht  den  Sieg  behaupten.  Und 
zwar  schon  deshalb  nicht,  weil  die  oberen  Schichten  immer  mehr  dahinschwanden. 
Das  sinnlose  Wüten  gegen  die  Besitzenden,  die  Proskriptionen  der  Adligen  um 
ihrer  Habe  willen,  hat  häufig  genug  gerade  die  Besten  getroffen.  Mit  ihrem 
Hinsinken  vergeht  die  Kraft  des  Widerstandes  der  Oberen  gegen  das  Nachdrängen 
von  unten.  Und  wo  in  solche  Lücken  ein  Ersatz  eintritt,  kommt  er  nicht  aus 
griechischem  oder  römischem  Volkstum.  Gerade  unter  den  Höchstgebildeten 
machen  sich  Fremde  breit,  die,  bewußt  oder  nicht  bewußt,  orientalischem  Wesen 
die  Pforte  öffnen.  Lucian,  Libanius,  Ammianus  Marcellinus  sind  Syrer,  Clau- 
dianus  fühlt  sich  als  Alexandriner. 


464  ^®^  Untergang  der  antiken  Religion 

die  begeistert  sind  für  den  Sieg  ihres  Glaubens.  Die  wußten  nicht 
was  sie  zerstörten,  denn  es  war  matt  und  trübe  geworden  das  leuchtende 
Auge  des  Hellenentums,  und  die  es  zum  Tode  müde  brechen  sahen, 
hatten  es  nie  flammen  gesehen  wie  einst  in  dem  Glänze  unaussprechlicher 
Schönheit. 

ZWEITES  KAPITEL 
DIE  REVOLUTION  VON  UNTEN 

Zerstörer  der  antiken  Religion  sind  nicht  nur  von  der  Oberfläche 
aus  werktätig  gewesen.  Von  unten  her  drängen  gewaltige  religiöse 
Kräfte  nach  oben,  die  das  griechische  Volk  aus  sich  selbst  erzeugt 
oder  von  nahe  verwandten  Völkern  aufnimmt.  Sie  erobern  sich  die 
Herzen  der  Hellenen  und  treten  so  mit  dem  offiziellen  Glauben  in 
Wettbewerb,  bis  sie  gegen  das  Ende  des  Altertums  sich  mit  gleichen 
Strömungen  aus  fremder  Quelle  vereinen,  die  leise  nagend  die  antike 
Religion  unterspülen.  So  haben  sie  zuletzt,  obwohl  dem  Ursprung 
nach  selbst  griechisch,  die  griechische  Religion  dem  Gegner  aus- 
geliefert. Der  Unsterblichkeitsglaube  und  die  Sehnsucht  nach  dem 
Jenseits  sind  die  eigenartigsten  unter  diesen  neuen,  aus  der  großen 
Menge  emporstrebenden  Anschauungen:  sie  haben,  um  selbst  durch- 
zudringen, an  vielen  Stellen  die  echt  hellenische  Religion  durchbrechen 
müssen.  So  lag  in  ihnen  der  Todeskeim  des  echten  Griechentums 
verborgen:  aber  dieser  Todeskeim  war  zugleich  der  Keim  des  Lebens 
für  die  kommende  Religion,  die  das  Alte  stürzte. 

Aus  der  Tiefe  steigt,  um  mit  der  Götterwelt  Homers  zu  ringen, 
die  Bewegung  des  Dionysos -Kultus^  empor.  Er  hat  in  den  letzten 
Jahrhunderten  des  Heidentums  wohl  die  meisten  Anhänger  gezählt,  er 
ist  einer  der  hartnäckigsten  Gegner  und  doch  wieder  ein  geistig  naher 
Verwandter  des  vordringenden  Christentums  gewesen.  Wie  ein  Sturm 
ist  der  Glaube  an  diesen  Gott  von  Norden  hereingebrochen.  Er  kam 
aus  Thrazien:  dort  saßen  Stämme  desselben  Ursprungs  wie  die  Griechen. 
Ihnen  war  Dionysos  ein  Herr  der  Seelen  und  der  Geister,  und  seit 
alter  Zeit  war  dieser  ihr  Glaube  mit  dem  Glauben  an  die  Unsterblich- 
keit verbunden;  Herodot  nennt  jene  Völker  die  dGavaTirovrec.  Zuerst 
in  den  Bergen  Makedoniens  werden  jenem  Gotte  ekstatische  Kulte  ge- 
feiert, in  der  Form,  die  so  oft  als  einzige  unter  primitiven  Völkern  die 
Unsterblichkeit   des    Gottes   auszudrücken   vermag:    sie    umjubeln   den 


^  E.  Rohde,  Psyche*  II  Iff. 


Der  Untergrang  der  antiken  Religion  455 

Gegenwärtigen,  der  dann  stirbt  und  beklagt  wird,  bis  er  zum  Beweis 
der  Unsterblichkeit,  zur  Freude  der  Seinen  wiedergeboren  wird.  Dieser 
Kult  greift  dann  nach  Süden  über  in  die  griechische  Welt,  um  sie  mit 
besonderer  Kraft  bis  zu  ihrem  Ende  festzuhalten.  Wohl  können  wir 
uns  von  den  Feiern,  die  ihm  galten,  noch  ein  Bild  machen.  Zwar  von 
dem  Jammer  um  den  Scheidenden  wissen  wir  wenig,  aber  von  der 
jubelnden  Begrüßung  des  Neuerscheinenden  um  so  mehr.  Im  Früh- 
jahr, zur  Zeit,  da  die  Erde  mit  ihren  Pflanzen  zu  neuem  Leben  er- 
wacht, begeht  man  die  Epiphanie  des  Gottes.  Nicht  überall  gleich: 
in  Athen  vermeinte  man,  er  komme  zu  Schiff  über  das  Meer;  so  zog 
denn  ein  Bild  des  Dionysos  auf  einem  Schiffskarren  durch  die  Straßen 
der  Stadt,  umjubelt  von  der  fröhlichen  Menge  -  ein  Carrus  navalis, 
wie  er  unserem  Karneval  den  Namen  gegeben  hat.  Sonst  beging 
man  auf  Bergeshöhen  des  Gottes  Ankunft,  nächtlich  unter  dem  Licht 
der  Fackeln;  in  den  Klang  der  Becken  und  Handpauken  mischte  sich 
der  sinnbetörende  Schall  der  Flöten.  Mancheriei  Wunder  zeigen  die 
Parusie  des  Gottes  an:  die  Erde  fließt  von  Milch  und  Honig,  von 
Wasser  und  Wein.  Flammen  blitzen  auf,  das  Haupt  des  Gottes  um- 
lodern T^iüccai  ibc€i  TTupöc:  so  hat  ihn  der  Künstler  geschaut,  der  die 
Leidener  Dionysosbüste  schuf  mit  ihren  nach  oben  gewellten  Haaren, 
die  sich  nur  mit  Flammenzungen  vergleichen  lassen.  Thyrsos  und 
Schlangen  schwingend  drehen  sich  die  Anbetenden  in  wirbelndem 
Reigen:  auch  der  Tanz  ist  ein  Gottesdienst,  denn  er  eint  den  Menschen 
mit  dem  Gott,  indem  er  die  Ekstase  bewirkt.  "GKcxacic^  aber  ist  'das 
Heraustreten'  der  Seele  aus  dem  irdischen  Leib,  ein  Heraustreten  zu 
Gott  hin.  Die  andere,  nicht  immer  scharf  von  der  Ekstase  geschiedene 
Form  der  Gottvereinigung  ist  der  Enthusiasmus;  der  Mensch  wird 
^vGeoc,  der  Gott  geht  in  ihn  ein.  Im  Enthusiasmus  oder  in  der  Ek- 
stase tanzen  die  Bakchantinnen;  wenn  sie  Maivdbec,  die  Rasenden 
heißen,  so  ist  Raserei  dem  antiken  Menschen  ein  'Besessensein',  das 
Erfülltsein  von  einem  Gott  oder  Dämon.  Das  durch  den  Wirbelreigen 
erzeugte  Gefühl  der  Steigerung  über  Menschliches  hinaus  hat  noch 
öfter  den  Tanz  in  der  Geschichte  der  Menschheit  eine  eigenartige 
Rolle  spielen  lassen,  so  in  den  Tanzkrankheiten  des  Mittelalters  oder 
unter  den  tanzenden  Derwischen,  die  heute  noch  durch  wirbelnde 
Drehung  sich  in  Ekstase  versetzen. 

In   ihrem  Taumel   zerrissen   die  Bakchai   junge  Zicklein   und   ver- 
zehrten  sie   roh.     Das   ist   die   iw|uo(paTia,  von   der  die  Alten  reden. 


»  Mithraslit.  97  ff. 
Albrecht  Dieterich,  Kleine  Schriften.  30 


456  J^ßf  Untergang  de^  antiken  Religion 

Auch  sie  ist  als  eine  Handlung  des  Kultus  aufzufassen.  In  das  Tier, 
das  so  geopfert  wird,  ist  vorher  durch  die  magische  Kraft  der  Gebete 
der  Gott  selbst  hineingezwungen  worden;  indem  sie  das  Tier  ver- 
speisen, verzehren  sie  den  Leib  des  Gottes  selbst  \  der  auf  diese 
Weise  in  seine  Diener  eingeht.  So  ist  die  ibjaocpaTia  die  Vollziehung 
der  engsten  Einigung  des  Menschen  mit  dem  zur  Speise  gewordenen 
Gotte. 

Während  vielfach  Dionysos  allein  an  diesen  Epiphanienfesten  ver- 
ehrt wird,  treten  namentlich  auf  den  griechischen  Inseln  andere  gött- 
liche Wesen  zu  ihm  hinzu.  Da  erscheint  gleichberechtigt  neben  dem 
männlichen  Prinzip  das  weibliche,  neben  dem  Gott  die  Göttin,  mag  sie 
nun  Ariadne  oder  Kora  heißen.  Beide  Prinzipe  einigen  sich  in  der 
heiligen  Ehe,  dem  lepöc  ^aiioc,  dessen  kultische  Begehung  die  Frucht- 
barkeit aller  Wesen,  von  Busch  und  Baum,  von  Tier  und  Mensch 
segnete.  Und  wie  es  so  oft  bei  den  Göttergruppen  der  Alten  ge- 
gangen ist,  die  Zweiheit  verschiebt  sich  zur  Dreiheit.  Semele  wird 
als  Dritte  in  den  Bund  aufgenommen:  man  begeht  die  dvaTuuTn  CeiLieXric, 
durch  die  der  Gott  seine  Mutter  zu  sich  hinaufführt  in  den  Himmel. 

Wer  da  wissen  will,  was  diese  Dionysosreligion  den  Herzen  der 
Griechen  in  ihrer  besten  Zeit  gewesen  ist,  der  achte  auf  den  Nieder- 
schlag in  der  Kunst  und  in  der  Literatur:  in  der  Kunst  hat  sie  den 
Hermes  des  Praxiteles  und  den  Satyr  mit  dem  Dionysosknäblein  ge- 
schaffen, Statuen,  verständlich  durch  den  Mythos,  daß  das  Götterkind 
zu  den  Nymphen  gebracht  werden  muß,  um  bei  ihnen  mit  himmlischer 
Nahrung  aufzuwachsen;  in  der  Literatur  hat  sie  ein  Stück  von  einzig- 
artiger Tiefe  und  Schönheit  erzeugt,  die  BdKxai  des  Euripides. 

Eine  Erweiterung  hat  die  dionysische  Religion  später  erfahren,  als 
sich  fremde,  aber  wesensverwandte  Religionen  an  sie  anschlössen. 
So  finden  wir  später  in  ihrem  Kreise  den  Sabazios,  der  ursprünglich 
in  Phrygien  daheim  war.  Folgenschwerer  aber  als  seine  Rezeption 
war  die  des  Orpheus.  Auch  er  ist  einmal  ein  Gott  gewesen,  hat  sich 
aber  bei  der  Aufnahme  in  den  bakchischen  Thiasos  dieser  Würde  be- 
geben: hier  ist  nur  ein  Gott,  Dionysos,  und  Orpheus  wird  sein  Prophet. 
Fast  alle  Schriften,  die  in  jenen  orphisch- dionysischen  Kulten  Geltung 
haben,  nennen  Orpheus  als  Urheber:  das  zeigt  seine  Prophetenwürde 
deutlich  genug.  Der  Kern  dieser  ^orphischen'  Lehre  war:  wer  dem 
Dionysos  geweiht  ist,  wird  im  Jenseits  in  einem  ewigen  seligen 
Rausche   fortleben;  wer  die   Reinigung  zum  Dienste   des  Gottes   nicht 


Mithraslit.  100. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  457 

an  sich  erfahren  hat,  liegt  im  Jenseits  für  ewige  Zeiten  im  Schlamme 
der  Unreinheit.  Das  ist  die  erste,  noch  roh  und  sinnlich  gehaltene 
Lehre  vom  Leben  nach  dem  Tode.  Sie  ist  in  Unteritalien  von  Pytha- 
goras  und  seiner  Sekte  ausgebildet  und  verfeinert  worden,  und  hat 
von  da  aus  eingewirkt  auf  die  Eschatologie  auch  eines  Plato. 

Schon  ehe  der  dionysische  Kult  in  Hellas  Anhänger  gewann,  hatte 
sich  dort  eine  andere  religiöse  Revolution  von  unten  vorbereitet. 
Wenn  uns  diese  Vorgänge  auch  im  einzelnen  ewig  verborgen  bleiben, 
in  ihrem  Wesen  und  ihrem  Ziele  ist  uns  jene  Bewegung  deutlich. 
Immer  eifriger  und  inbrünstiger  verehrt  man  die  Götter  des  Toten- 
landes, vor  allen  den  König  und  die  Königin  der  Unterwelt,  Hades 
und  Persephone.  Sie  werden  nun  zu  hohen,  mildherrschenden  Wesen, 
die  dem  gnädig  waren,  der  sie  in  Frömmigkeit  verehrte.  Das  Wort 
'man  muß  länger  den  Unterirdischen  gefallen  als  den  Oberen'  hat 
Antigone*  aus  der  Oberzeugung  ihrer  Zeit  heraus  gesprochen.  Dieses 
Gefallenwollen  suchte  nach  einem  Ausdruck  auch  im  Kulte;  es  bilden 
sich  Gemeinschaften  zum  Dienst  der  Unterirdischen.  Wer  in  sie  auf- 
genommen ist  und  das  Mysterium  geschaut  hat,  wird  der  Gnade  teil- 
haftig werden,  die  allen  anderen  versagt  ist.  'Wer  geweiht  ist,  wird 
selig  werden;  wer  nicht  geweiht  ist,  wird  nicht  selig  werden'  ver- 
kündet die  seligmachende  Kirche  zu  Eleusis  im  attischen  Lande,  die 
auf  solch  chthonischem  Kulte  beruht.  Allgemein  ist  noch  im  späteren 
Altertum  das  Streben,  zu  Eleusis  die  Weihe  zu  nehmen  und  der  Ver- 
heißung teilhaftig  zu  werden;  noch  in  den  Tagen  Konstantins  hat  dies 
Mysterium  einen  großen  Teil  der  antiken  Welt  geeinigt. 

Das  Wesen  derartiger  Mysterienkulte  ist  überall  dasselbe:  der 
Mensch  soll  mit  einem  Gotte  oder  einer  Göttin  in  ein  nahes,  enges 
Verhältnis  gebracht  werden.  In  Eleusis  war  es  eine  Göttin,  und  zwar 
zu  Anfang  die  uralte  Mutter  Er de.^  Sie  ist  den  Attikern  die  Mutter 
der  Götter  und  der  Menschen,  in  Athen  stand  das  ihr  geweihte  Heilig- 
tum des  Metroon.  Später  hat  Persephone,  die  Unterweltskönigin,  zu 
Eleusis  den  Thron  der  Erdmutter  eingenommen.  Aber  der  Ritus  der 
Rezeption  in  die  Mysterien  galt  ursprünglich  der  Gaia.  Ein  sakramentaler 
Akt  macht  den  Neophyten  zum  Kind  der  Erde,  und  diese  Mutter  ge- 
biert das  Kind  von  neuem,  nun  als  Eingeweihten,  in  einer  Wieder- 
geburt zur  geistigen  Erkenntnis.  Aus  Unteritalien  haben  wir  Zeugen 
für  solche  sakramentale  Riten;  aus  den  Gräbern  von  Thurii  und  Petelia 
sind   Goldtäf eichen  ans  Licht  gekommen*,  Totenpässe,  die   dem  Ver- 


Soph.  Ant.  74f.        *  Mutter  Erde  55ff.        '  Nekyia  84ff. 

30 


468  ^^^  Untergang  der  antiken  Religion 

storbenen  gute  Aufnahme  bei  den  Unterirdischen  sicherten.  AecTToivric 
UTTÖ  köXttov  ibvv  steht  da  zu  lesen:  'ich  bin  eingegangen  in  den  Schoß 
der  Herrin'.  Damit  wird  die  heilige  Handlung  bezeichnet,  die  vor- 
genommen wurde,  damit  die  symbolische  Wiedergeburt  durch  die 
Göttin  angedeutet  werden  konnte.  Nun  wird  die  Göttin  den  neu  an- 
kommenden Toten  als  ihr  Kind  erkennen  und  ihm  seine  Treue  lohnen; 
auch  der  Spruch,  mit  dem  sie  ihm  die  Seligkeit  verkündet,  steht  auf 
jener  Tafel. 

So  wie  die  Schreiber  dieser  unteritalischen  Sprüche  haben  die 
Tausende  empfunden,  die  nach  Eleusis  pilgerten,  um  sich  durch  die 
Weihe  die  ewige  Seligkeit  zu  sichern.  Dabei  haben  die  Mysterien 
dort  ursprünglich  keine  eigentliche  Propaganda  gemacht;  dieser  Zug 
wird  an  ihnen  erst  erkennbar,  als  sie  unter  den  Einfluß  der  Orphiker 
kamen.  Deutlich  sehen  wir,  daß  allmählich  orphisch- dionysische  Lehre 
und  Mysterienglaube  sich  gegenseitig  durchdringen.  Das  hängt  mit 
dem  Anwachsen  der  orphischen  Bewegung  zusammen,  die  wir  in 
Attika  für  das  sechste  Jahrhundert  feststellen  können.  Zur  Zeit  des 
Peisistratos  sehen  wir  die  Orphiker  dort  mit  dem  Bestreben  erfüllt, 
ihre  Lehre  zu  kodifizieren,  eine  Buchoffenbarung  zu  schaffen,  zunächst, 
um  die  Eingeweihten  in  ihrem  Glauben  zu  stärken,  dann  aber  auch, 
um  neue  Anhänger  zu  gewinnen.  Onomakritos^  hat  sich  bereit  finden 
assen,  die  Dichtungen  des  Orpheus  zusammenzustellen:  so  hat  er 
orakelhafte  Sprüche  von  Erlösung  und  Strafe  gesammelt.  Aber  das 
waren  Fälschungen,  die  in  Athen  über  den  Großtaten  der  Perserkriege 
vergessen  wurden;  mochten  sie  in  Unteritalien  allgemein  gläubige 
Hörer  finden:  in  Hellas  selbst  wehte  zu  Beginn  des  fünften  Jahrhunderts 
eine  freiere  Luft,  und  die  Stimmung  der  oberen  Schichten  war  etwa 
die  des  Xenophanes  oder  neigte  zu  unverhohlener  Skepsis.  Anders 
allerdings  war  es  wohl  auch  damals  in  den  unteren  Klassen  der  Ge- 
sellschaft, bei  den  Armen  im  Geiste:  ihnen  waren  solche  Sprüche 
etwas,  hielten  sie  doch,  in  Not  und  Drang  dahinlebend,  an  dem 
Mysterienglauben  als  dem  Retter  aus  den  Bedrängnissen  des  irdischen 
Lebens  fest.  Und  als  nun  das  griechische  Leben  wieder  in  seinen 
Grundfesten  erschüttert  wird,  als  die  Gefahren  des  peloponnesischen 
Krieges  beten  lehren,  da  dringt  dieser  Glaube,  von  orphischem  Munde 
gepredigt,  aus  den  unteren  Schichten  mächtig  nach  oben  empor.  In 
den  'Gesetzen'  schildert  Plato^  wie  Sühnepriester  und  Propheten  von 
Tür  zu  Tür  ziehen   und   den  Menschen  zurufen:   'Laßt   euch   reinigen 


^  Nekyia  75.  «  Buch  II  p.  364  B  ff. 


Der  Untergangr  der  antiken  Religion  459 

von  euren  Sünden,  auf  daß  ihr  den  ewigen  Strafen  der  Unterwelt 
entfliehen  möget.'  Das  ist  derselbe  Warnungsruf,  der  heute  der  Heils- 
armee die  Proselyten  zuführt  und  auch  damals  die  Hörer  zu  Bekehrten 
gemacht  hat.  Der  Glaube  an  die  Vergeltung  im  Jenseits  zeitigt  nun- 
mehr Hoffnung  und  Furcht,  die  Furcht  erweckt  Buße  und  Entsagung. 
So  bringt  die  neue  Zuversicht  auf  das  Leben  nach  dem  Tode  eine 
ungeheure  Umwälzung  in  den  Anschauungen  hervor,  die  auch  auf  das 
Leben  im  Diesseits  bestimmend  einwirkt.  Anders  empfanden  diese 
Generationen  als  die  Vorzeit.  Die  homerische  Welt  strahlte  von  froher 
Lebensenergie,  die  sich  ganz  verzehrte  unter  dem  Lichte  dieser  Sonne: 
wenn  das  Auge  brach,  war  der  Rest  Nebel  und  Nichtigkeit;  der 
Schatten  des  Achilleus  will  lieber  auf  Erden  der  ärmste  Tagelöhner 
sein,  als  unter  der  Erde  König  im  Reiche  der  Abgeschiedenen.^  Ganz 
im  Gegensatz  zu  dieser  Wertung  des  Jenseits  erblickt  der  gläubige 
Myste  im  irdischen  Leben  die  Vorbereitung  auf  ein  anderes  Dasein, 
das  entweder  ewige  Seligkeit  oder  ewige  Qual  birgt. 

Die  Vorstellungen  von  der  Art  der  Seligkeit  und  der  Qual  haben 
sich  aus  bestimmten  Anschauungen  entwickelt,  die  sich  bei  vielen 
Völkern  in  ganz  ähnlicher  Art  ausgebildet  finden.  Für  das  erste  ist 
das  Bild  des  Ortes,  an  dem  man  sich  die  Götter  weilend  denkt,  die 
Grundlage;  er  hat  schon  frühe  die  Phantasie  auch  der  Hellenen  be- 
schäftigt und  ist  von  ihr  mit  allen  denkbaren  idealen  Eigenschaften 
ausgestattet  worden.  Es  ist  ein  hoher  Berg^  oder  ein  glänzender 
Garten,  in  dem  die  Unsterblichen  ein  glänzendes  Dasein  führen:  ewig 
leuchtet  hier  das  Licht  der  Sonne,  in  den  glänzenden  Farben  Weiß 
und  Rot  prangen  alle  Dinge.  Wer  unter  den  Menschen  gottähnlich 
gewesen  ist,  verfäUt  nicht  dem  Hades,  sondern  wird  in  jenes  Licht- 
reich  entrückt:  ein  Lichtschein  umgibt  ihn,  in  derselben  Art,  wie  sich 
das  Mittelalter  die  Könige  und  die  Heiligen  mit  Nimbus  und  Strahlen- 
kranz umgeben  denkt. 

Diesem  Reiche  des  Lichtes,  in  das  einzugehen  der  Güter  höchstes 
ist,  nach  dem  der  Mensch  sich  sehnt  mit  seiner  ganzen  Seele,  dessen 
er  würdig  zu  werden  sucht  durch  ein  Leben  frei  von  Vergehungen, 
steht  gegenüber  ein  Reich  der  Finsternis.^  Diese  Vorstellung  entsteht 
mit  Naturnotwendigkeit  da,  wo  der  tote  Leib  der  dunkeln  Erde  Ober- 
antwortet wird.  In  der  finsteren  Tiefe  verzehrt  sich  der  Leichnam; 
so  wird  der  Schlund  der  Erde  selbst  als  Fleischfresser  geschaut,  als 
capKocpdToc.     Dies  Wort  ist  erst  später  vom  hüllenden  Boden  auf  den 


Od.  XI  489ff.  '  Nekyia  19ff.  '  Nekyia  46ff. 


470  ^®'"  Unterg-ang  der  antiken  Religion 

Behälter  der  Leiche  übertragen  worden;  das  Wort  'Sarg'  ist  ja  seiner 
Etymologie  nach  nur  eine  Verkürzung  von  Sarkophag.  Daneben  ent- 
wickelt sich  der  Glaube  an  andere  fleischfressende  Dämonen  der 
Tiefe;  einer  von  ihnen  ist  Kerberos,  der  sich  später  zum  fleisch- 
fressenden Höllenhund  auswächst.  Außer  ihm  bewachen  noch  andere 
furchtbare  Gestalten,  Schlangen  und  Gespenster,  den  Weg  zur  Unter- 
welt; an  ihnen  vorüber  führt  die  Reise  der  abgeschiedenen  Seele. 

Neben  der  Anschauung  vom  Totenland  in  der  Tiefe  der  Erde  steht 
unvermittelt  die  andere  volkstümliche  Vorstellung  vom  Seelenreich  am 
Rande  der  Welt:  da,  wo  die  Sonne  in  die  Nacht  versinkt,  weilen  auch 
die  dem  nächtlichen  Dunkel  des  Todes  verfallenen  Menschen.  Dies 
Reich  ist  jenseits  des  Meeres:  ein  Kompromiß  dieser  Vorstellung  mit 
dem  Glauben  an  den  unterirdischen  Hades  gibt  das  trennende  Wasser 
auch  der  Unterwelt.  So  müssen  alle  Seelen  über  einen  See  hinüber, 
ehe  sie  das  'Jenseits'  erreichen. 

Im  Hades  selbst  führen  nach  älterem  Glauben  die  Seelen  der  ge- 
wöhnlichen Sterblichen,  einerlei  ob  gut  oder  böse,  eine  grau  in  grau 
gemalte,  schattenhafte  Existenz.  Doch  kennen  die  homerischen  Gedichte 
bereits  Heroen,  die  zum  Sitze  der  Götter  entrückt  sind,  und  andere, 
die  für  besonders  schwere  Freveltaten  auch  besonders  schwere  Bußen 
erleiden:  Tantalus  wird  von  ewigem  Durste  geplagt,  Sisyphos  wälzt  in 
ewig  unfruchtbarer  Arbeit  den  Stein  die  Höhe  hinan.  Das  steht  in 
der  Nekyia,  die  nicht  frei  ist  von  späteren  Zudichtungen  der  Orphiker. 
Eine  ähnliche  Vorstellung  haftet  an  den  Töchtern  des  Danaos^;  weil 
sie  in  der  Brautnacht  ihre  Verlobten  erschlagen,  müssen  sie  ewig  in 
durchlöcherten  Krügen  Wasser  schöpfen.  Dieses  Märchen  ist  in  seiner 
Entstehung  noch  klar.  Nach  griechischer  Vorstellung  ist  die  Ehe  ein 
TeXoc,  eine  Weihe,  der  teilhaftig  zu  werden  Aufgabe  eines  jeden 
Menschen  ist.  Wer  das  versäumt,  ist  nicht  reif  für  die  Unterwelt,  und 
muß  dort  für  seine  Unterlassung  büßen.  So  müssen  jene  Jungfrauen 
das  Wasser  für  ein  Brautbad  holen,  das  nie  zu  Ende  bereitet  wird. 
In  all  diesen  Hadesstrafen  aber  liegt  der  Kern,  um  den  sich  der 
Glaube  an  Bußen  schloß,  die  im  Jenseits  für  Vergehungen  im  Dies- 
seits auferlegt  werden. 

Aber  auch  für  ein  verdiensthches  Leben  kennt  das  Jenseits  eine 
Vergeltung  mit  verdientem  Lohn:  eben  jene  Entrückung  an  den  Ort 
des  Lichtes,  wo  Götter  und  Heroen  weilen.  Dies  Reich  betritt  nur, 
wer  da  rein  ist  an  Leib  und  Seele,   denn  nur  er  darf  sich  den  Über- 


^  Nekyia  70. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  47  j 

menschlichen  nahen.  So  muß  er  schon  auf  Erden  an  seiner  Reinheit 
schaffen:  er  muß  zum  wenigsten  die  Sünde  meiden,  damit  er  nicht  im 
Hades  dem  Ort  der  Buße  verfällt. 

Diese  volkstümlichen,  von  orphisch- dionysischen  Sekten  auf- 
genommenen Gedanken  sind  durch  Pythagoras  und  seine  Anhänger 
weiter  ausgebildet  worden.  Was  bisher  nur  in  den  Winkelmysterien 
geraunt  wurde,  erwächst  dadurch  zu  größerer  Bedeutung  für  die 
Öffentlichkeit.  Im  dorischen  Unteritalien  wird  eine  religiöse  Sekte 
durch  den  lonier  Pythagoras^  gestiftet,  den  großen  Reformator  des 
sechsten  Jahrhunderts  vor  Christo.  Sein  Orden  sieht  das  einzige  Heil 
für  die  menschliche  Seele  im  Jenseits.  Damit  sie  dort  vor  allen 
Strafen  bewahrt  bleibt,  muß  sie  sich  in  dieser  Welt  durch  Askese 
von  dem  irdischen  Leibe  befreien.  Wer  ihm  folgend  das  erstrebend 
sich  bemüht,  dessen  Seele  geht  in  das  Lichtland  ein,  wer  nicht,  der 
ist  der  Finsternis  verfallen.  Dies  Programm  steht  in  engem  Zusammenhange 
mit  der  bei  Pythagoras  ziemlich  unvermittelt  auftauchenden  Lehre  von 
der  Seelenwanderung.  In  ihr  ist  die  Anschauung  von  der  Präexistenz 
der  Seelen  vor  ihrer  Inkarnation  im  menschlichen  Leibe  fortgebildet, 
eine  Anschauung,  die  nicht,  wie  man  vielfach  annimmt,  aus  Indien 
stammen  muß,  die  vielmehr  sehr  wohl  sich  selbständig  aus  ein- 
heimischem Volksglauben  fortgebildet  haben  kann.  Auch  unser 
deutsches  Volk  erzählt  von  den  Seelen  der  ungeborenen  Kinder,  die 
in  Bäumen  und  Teichen,  oder  unter  der  Erde  in  Felsen  und  Quellen 
verborgen  harren.  Dazu  ist  auf  griechischem  Boden  nun  die  andere 
Vorstellung  getreten:  die  Seele  ist  vor  der  Fleischwerdung  im  Menschen 
bereits  in  anderen  Körpern  existent  gewesen.  Namentlich  in  Tieren; 
auf  solchem  Volksglauben  beruht  der  Weiberspiegel  des  Semonides 
von  Amorgos,  wenn  er  schildert,  wie  Zeus  die  verschiedenen  Gattungen 
der  Frauen  aus  verschiedenen  Tieren  umschafft,  aus  Füchsen,  Affen 
und  Bienen.  Und  wie  die  Wandlung  vom  Tier  zu  Menschen,  so  ist 
auch  die  Metempsychose  vom  Menschen  zum  Tiere  nicht  unerhört,  lo 
wird  zur  Kuh,  Kallisto  zur  Bärin.  So  wandert  denn  dieselbe  Seele 
von  einem  Leib  zum  anderen;  stirbt  der  eine  Leib  ab,  so  wird  sie  in 
einem  neuen  wiedergeboren.  Bevor  aber  die  Seele  in  diesen  Kreis 
der  Geburten  eintrat,  war  sie  ein  Gott  im  Reiche  des  Lichtes.  Doch 
dieser  göttliche  Geist  ließ  sich  anziehen  von  der  irdischen  Materie, 
und  erfuhr  in  der  Berührung  mit  ihr  einen  Sündenfall,  den  zu  sühnen 
sie   auf  zehntausend  Jahre   in   irdische  Leiber  gebannt  wird.     So  hat 


»  Nekyia  84  ff. 


472  D®^  Untergangs  der  antiken  Religion 

die  Seele  in  ihrer  irdischen  Wanderung  zugleich  einen  Läuterungs- 
prozeß durchzumachen,  den  zu  fördern  jeder  mit  Ernst  bestrebt  sein 
muß.  Die  Erinnerung  an  den  göttlichen  Ursprung,  die  'Avd)LivTicic, 
führt  sie  in  das  Lichtreich  zurück,  während  das  Vergessen  die  Seele 
im  Kerker  des  Leibes  festhält.  Jedesmal  nach  dem  Tode  steigt  die 
Seele  hinab  zum  Hades,  um  hier  vor  der  neuen  Geburt  ein  Zwischen- 
stadium durchzumachen,  etwa  dem  Fegefeuer  vergleichbar.  Am  Ende 
der  Wanderung  erfährt  sie,  gleichfalls  im  Hades,  ein  jüngstes  Gericht: 
je  nach  dem  Schiedsspruch  hat  sie  sich  in  der  Unterwelt  rechts  oder 
links  zu  begeben,  in  die  Seligkeit  des  Lichtreiches  oder  in  die  Qual 
der  ewigen  Ausstoßung.  Das  Symbol  \  mit  dem  die  Pythagoreer  diese 
Lehre  kurz  bezeichneten,  war  das  Y;  der  neutrale  grade  Strich  be- 
zeichnete den  Weg  bis  zum  Urteil,  die  beiden  Arme  die  sodann  mög- 
lichen Wege. 

Durch  Jahrhunderte  hindurch  hat  diese  Lehre  in  hoher  Blüte  ge- 
standen, und  noch  im  ersten  und  zweiten  nachchristlichen  Säkulum 
hat  sie  durch  die  wohlbekannten  Neupythagoreer  weite  Kreise  in  ihr 
Bereich  zu  ziehen  vermocht.  Aber  auch  für  die  älteren  Zeiten  fließen 
die  Quellen  für  ihre  Kenntnis  reichlich.  So  ist  das  Lehrgedicht  des 
Empedokles  stark  mit  pythagoreischen  Anschauungen  durchsetzt.  Je- 
doch nicht  nur  den  tiefsinnigen  Dichterpropheten  hören  wir,  auch  aus 
den  unteren  Schichten  des  Pythagoreertums  vernehmen  wir  noch  die 
redenden  Zeugen.  Wieder  sind  es  jene  auf  Gold  geritzten  Totenpässe 
Unteritaliens.^  Sie  enthalten  die  Formeln  orphisch- pythagoreischen 
Glaubens,  die  der  Tote  bei  der  endgültigen  Ankunft  in  der  Unterwelt 
zu  der  Herrscherin  drunten  zu  sprechen  hat:  ^Ich  komme  aus  der 
Gemeinde  der  Reinen,  eine  gereinigte  Seele,  ich  bin  von  eurem 
himmlischen  Geschlecht.  Die  Buße  für  meine  Sünden  habe  ich  ab- 
gebüßt, ich  komme  nun  flehend  zu  Persephoneia,  daß  sie  mich 
freundlich  aufnehme  und  mich  sende  zu  den  Sitzen  der  Heiligen:  ich 
bin  entronnen  aus  dem  schmerzensreichen  Kreis  der  Seelenwanderung.' 
Die  Antwort,  die  ihm  werden  wird,  steht  gleich  dabei:  'Seliger  und 
Gebenedeiter,  du  wirst  nicht  mehr  sterblich,  sondern  ein  Gott  sein.' 
Eine  andere  Tafel  schildert  den  Weg,  den  der  Tote  zu  nehmen  hat. 
Dreimal  bietet  sich,  das  hören  wir  am  anderen  Ort,  ihm  ein  Trank: 
Mischtrank,  Milchtrank,  Wassertrank.  Vom  letzten  sagt  die  Tafel:  'Du 
wirst  finden  im  Hause  des  Hades  zur  Linken  eine  Quelle:  der  nahe 
dich    nicht.     Aber   du   wirst   eine   andere  Quelle   finden  (sie  war  mit 


'  Nekyia  192.  *  Nekyia  84ff. 


Der  Untergang-  der  antiken  Religion  473 

einem  Namen  genannt,  von  dem  nur  noch  e  .  .  oiac  lesbar  ist;  man 
möchte  am  liebsten  Eiivoiac  ergänzen),  kaltes  Wasser  ergießend  aus 
dem  See  der  Erinnerung  -  sprich:  Ich  bin  ein  Kind  der  Erde  und 
des  gestirnten  Himmels;  der  Himmel  ist  meine  Heimat,  gebt  mir  zu 
trinken  von  dem  See  der  Erinnerung.  Und  sie  werden  dir  zu  trinken 
geben  von  der  göttlichen  Quelle  und  dann  wirst  du  dort  herrschen 
mit  den  anderen  Seligen.'  Kunstvolle  Verse  sind  das  im  Original, 
von  einem  wirklichen  Dichter  geschmiedet,  und  darum  offenbar  einem 
größeren  Gedichte  entnommen.  Das  wird  ein  heiliges  Lied  Vom 
Hinabgang  zum  Hades'  gewesen  sein  -  die  erste  griechische  Apoka- 
lypse. Wie  verbreitet  sie  war,  lehrt  ein  Täfelchen  aus  Kreta  des 
zweiten  Jahrhunderts  n.  Chr.  -  jene  unteritalischen  sind  ein  halbes 
Jahrtausend  älter  -  das  manche  jener  Formeln  genau  ebenso  enthält. 
Und  noch  auf  späten  römischen  Grabsteinen  wird  das  'kalte  Wasser' 
der  Unterwelt  gepriesen,  wie  in  dem  unteritalischen  Texte.  Und  wenn 
bei  Dante  im  Purgatorium^  als  Name  eines  Flusses  Eunoe  erscheint, 
so  mag  der  durch  viele  Mittelinstanzen  zuletzt  aus  der  €uvoiac  Kprivt] 
jener  heidnischen  Apokalypse  hergeholt  sein. 

Gleichfalls  aus  diesen  Gräbern  Unteritaliens  und  ebenso  aus  dem 
vierten  Jahrhundert  v.  Chr.  stammen  Vasen  ^  mit  Darstellungen  der 
Unterwelt  bemalt.  Da  sehen  wir  die  Herrscher  über  die  Toten  im 
Hades  thronen,  sterbliche  Ankömmlinge  nahen  sich  ihnen.  Zwischen 
Göttern  und  Menschen  vermittelt  Orpheus,  er  empfiehlt  die  Toten  der 
göttlichen  Gnade.  Orpheus  in  der  Nachbarschaft  jener  Täfelchen  zu 
sehen  verwundert  nicht:  wir  wissen  ja,  wie  eng  Pythagoreisches  und 
Orphisches  zusammengehört.  Im  Kreise  solcher  Gemeinden  gilt 
Orpheus,  von  dessen  Hadesfahrt  der  Mythos  erzählte,  zugleich  als 
Prototyp  der  Wiedergeburt  zu  neuem  Leben.  So  ist  der  Erstling 
derer,  die  wiedergeboren  sind,  hinabgestiegen  in  den  Hades,  wie 
Christus,  der  Erste  der  Erstandenen,  niedergefahren  ist  zur  Hölle. 

Ein  gewichtiger  Zeuge  für  diese  orphisch  -  pythagoreische  Escha- 
tologie  ist  Plato.  An  vier  Stellen  redet  er  in  deren  Sinne  von  dem 
Schicksal  der  Seele,  im  Phaidros  und  im  Phaidon,  im  Gorgias  und  in 
der  Republik.^  Das  Wichtigste  steht  an  der  letzten  Stelle.  Hier  will 
Plato,  an  weithin  sichtbarem  Ort,  wo  er  ein  Werk  von  zehn  Büchern 
abschließt,  auch  wenn  er  sich  der  Form  des  Mythos  bedient,  nicht 
wie  sonst  mythische,  d.  h.  poetische  Gedanken  geben,  sondern  hier  ist 


»  XXVIII  131,  XXXIII  127;  s.  J.  E.  Harrison,  Class.  Rev.  1903  S.  58. 
«  Nekyia  128.  '  Nekyia  113ff. 


474  ^^^  Untergang  der  antiken  Religion 

er,  wie  Empedokles,  der  Prophet,  der  predigt  von  Dingen,  deren 
Wahrheit  ihm  heiliger  Ernst  ist.  Offenbar  ist  er  im  späteren  Alter 
dieser  Mystik  mit  Herz  und  Sinn  ergeben  gewesen:  die  aus  den 
unteren  Schichten  stammende  Revolution  der  Anschauungen  hatte  auch 
ihn  ergriffen.  Er  läßt  einen  Menschen  reden,  der  scheintot  und  dessen 
Seele  während  dem  in  das  Jenseits  entrückt  gewesen  ist:  da  hat  er 
geschaut  das  jüngste  Gericht  über  die  Seelen  der  Toten,  die  Feuer- 
pein der  Unheilbaren,  die  Heilbaren  weilend  in  einem  Fegefeuer,  die 
Frommen  den  Lohn  genießend.  Auch  Plato  hat  also  geglaubt  an  die 
himmlische  Heimat  und  den  Sündenfall,  an  die  Wanderung  der  Seele 
und  ihre  Erlösung;  die  Lehre  von  der  dvd|uvTicic  ist  von  ihm  philo- 
sophisch auf  die  eigene  Lehre  bezogen  worden:  es  ist  die  Erinnerung 
an  das  Reich  der  Ideen.  Diese  Kenntnis  orphisch- dionysischer  Mystik, 
die  ihm  bei  seinem  sizilischen  Aufenthalt  von  Unteritalien  aus  zu- 
gegangen sein  wird,  haben  ihn  zu  einem  wahren  AiovucoTtXdTujv 
gemacht. 

Die  gewaltige  Wucht,  die  in  jener  Schilderung  Piatos  liegt,  hat  auf 
seine  Schule  nur  geringe  Wirkung  geübt.  Die  Akademie  hat  sich 
von  solchen  Höllenphantasien  völlig  ferngehalten,  Xenokrates  hielt  da- 
für, daß  eine  Hölle  nur  im  diesseitigen  Leben  möglich  sei;  bei  dem 
Stoiker  Poseidonios^  merkt  man  das  Streben,  diese  Vorstellungen, 
weil  sie  ihm  zu  kraß  erscheinen,  auf  alle  Weise  zu  mildern.  Erst  in 
der  letzten  Zeit  vor  Christo  gewinnen  solche  Anschauungen  wieder  an 
Boden.  Am  Hof  des  Augustus,  unter  den  Augen  des  Kaisers,  entsteht 
die  Aeneis,  deren  sechstes  Buch  die  Hadesfahrt  des  Helden  schildert: 
da  ist  eine  voll  entwickelte  Hölle  neben  einem  Paradies  der  Seligen 
beschrieben.  Außer  Homers  Nekyia  und  den  platonischen  Mythen  hat 
Vergil  hier  aus  einer  orphischen  Kaiaßacic  geschöpft.^  Daß  dann 
später  diese  selben  Gedanken  wieder  mächtiger  aus  der  Tiefe  nach 
oben  drängten,  zeigt  Plutarch,  der  in  seiner  Traktätchenschriftstellerei 
des  öfteren  auf  sie  Bezug  nimmt,  zeigt  der  geniale  Spötter  Lukianos 
von  Samosata,  der  den  nichtigen  Volksglauben  an  das  Leben  nach 
dem  Tode  verspottet  und  bekämpft.  Zuletzt  haben  die  Kirchenväter 
gelegentlich  gegen  derartige  Gedanken  ernstlich  Front  gemacht. 

Aber  auch  abseits  der  großen  Literatur  fehlt  es  nicht  an  Zeugen 
für  das  Fortwirken  jener  Ideen.  Am  stärksten  haben  sie  den  Osten 
erschüttert,  das  pontische  Reich,  die  Küstenstriche  Kleinasiens,  die  grie- 
chische Inselwelt,  und  Ägypten.    Dort  wissen  die  Steine  seit  dem  zweiten 


Nekyia  144ff.  ^  Nekyia  150. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  475 

Jahrhundert  v.  Chr.  von  organisierten  religiösen  Gemeinden,  orphisch- 
pythagoreischen  Gemeinden  zu  reden;  nicht  unmöglich,  daß  aus  ihrem 
Schöße  die  neupythagoreische  Lehre  hervorgegangen  ist.  Für  das 
Rom  der  späteren  Zeit  sind  die  Stuckreliefs  der  Casa  Farnesina  ein 
wichtiges  Zeugnis,  ihrem  Kern  nach  Szenen  der  Einweihung  in  diony- 
sische Mysterien.  Auch  die  italischen  Campanareliefs  stellen  mehr- 
fach Szenen  aus  dem  dionysischen  Kreis  dar,  die  für  den  Eingeweihten 
eine  tiefere  Bedeutung  gehabt  haben  werden.  Daß  aber  diese  Bewegung 
verhältnismäßig  früh  von  Unteritalien  nach  Norden  gedrungen  ist,  lehrt 
das  berühmte  Senatus  consultum  de  Bacchanalibus  (186  v.  Chr.),^  ein 
wichtiges  Dokument  des  Konfliktes  einer  religiösen  Bewegung  mit  der 
Staatsraison.  Aus  Livius^  erfahren  wir  seine  Vorgeschichte.  Ein  rö- 
mischer Jüngling  wollte  sich  in  diese  damals  auch  zu  Rom  verbreiteten 
Mysterien  einweihen  lassen;  seine  Geliebte  warnte  ihn  wegen  der  von 
diesem  Thiasos  geübten  Verbrechen,  von  denen  sie  Kenntnis  zu  haben 
vorgab.  Wegen  dieser  Kenntnis  brachte  man  sie  vor  den  Konsul:  dort 
gab  sie  den  Mysten  schuld  an  Unzucht,  Testamentsfälschung,  Morden. 
Harmlos  mögen  diese  Konventikel  ja  nicht  gewesen  sein,  aber  solche 
Vorwürfe  wird  man  für  übertrieben  halten,  wenn  man  sieht,  daß  sie 
später  in  ganz  ähnlicher  Weise  auch  bei  anderen  Geheimkulten  erhoben 
werden,  daß  auch  Juden  und  Christen  unter  ihnen  zu  leiden  haben. 
Der  römische  Staat  aber  hat  jenen  Anschuldigungen  geglaubt;  jahrelang 
ist  damals  gegen  die  Bacchae  mit  Einkerkerung  und  Hinrichtung  ge- 
wütet worden. 

Die  Organisation  jener  Gemeinden,  von  denen  eben  die  Rede  war, 
ist  uns  einigermaßen  bekannt.  Wir  haben  die  Namen  einzelner  Priester- 
tümer^  da  gab  es  ßouKÖXoi  'Stierpfleger',  dpxißouKÖXoi  'Erzstierpfleger': 
Bezeichnungen,  die  man  als  Erzeugnisse  der  Dionysosreligion  versteht, 
wenn  man  sich  erinnert,  daß  Dionysos  in  alter  Zeit  als  Stier  vorgestellt 
wird  -  der  uralte  Gesang  der  elischen  Weiber  ruft  den  npujc  Aiövucoc 
an:  aHie  raupe  Die  Träger  der  heiligen  Geräte,  die  zur  Ausübung  des 
mystischen  Kultes  dienen,  heißen  XiKvocpöpoi  und  Kicrocpöpoi,  der  litur- 
gische Vorsteher  ist  der  ujuvobibdcKaXoc.  Denn  diese  Gemeinden  hatten 
ihre  i)|livoi,  eines  ihrer  Gesangbücher  halten  wir  in  den  'orphischen 
Hymnen'  noch  heute  in  Händen:  es  sind  Anrufungen  der  einzelnen 
Götter,  planvoll  geordnet,  wohl  von  einem  Bukolos  für  die  am  Gottes- 
dienst teilnehmenden  Laien  vorgebetet.  Wahrscheinlich  sind  diese 
Lieder  erst  spät  aus  dem  Gebrauch   gekommen;  mancher  Christ,   der 


Fontes  iur.  Rom.  ant.^  S.  164  ff.  «  XXXIX  8  ff.         »  S.  0.  S.  71  ff. 


476  ^®f  Untergang  der  antiken  Religion 

die  Rezitation  der  Psalmen  hörte,  mag  bei  ihr  an  den  verwandten 
Vortrag  orphischer  Hymnen  gedacht  haben,  dem  er  in  seiner  Jugend 
gelauscht  hatte.  Eine  solche  Erinnerung  mag  auch  darin  liegen,  daß 
das  Bild  des  Orpheus  mit  der  Leier  öfter  in  christlichen  Katakomben 
erscheint.' 

Ein  anderes  heiliges  Buch  dieser  Gemeinden  enthielt  die  Offenbarung 
ihrer  Weltanschauung:  das  war  die  Theogonie.^  Wir  kennen  ihren 
Inhalt  aus  Zusammenstellungen,  die  in  nachchristlicher  Zeit  gemacht 
worden  sind.  Am  Anfang  der  Dinge  waren  Chronos,  Aion  und  Chaos. 
Aus  dem  Weltenei  geht  der  erstzeugende,  der  erstgeborene  hervor, 
Phanes  Protogonos.  Im  weiteren  Verlauf  mündet  die  orphische  Götter- 
reihe in  die  seit  Hesiods  Theogonie  geläufige  Stammtafel  der  Götter  ein. 
An  ihrem  Ende  steht  Dionysos  Zagreus.  Za^peijc  ist  der  'Erzjäger', 
vielleicht  ein  Gott,  der  nach  Art  des  wilden  Jägers  Seelen  treibend  ge- 
dacht wird.  Dieser  Dionysos  ist  Sohn  des  Zeus  und  der  Persephone, 
von  der  Mutter  ein  Gott  der  Unterwelt  und  vom  Vater  schon  als  Kind 
ein  Weltenkönig.  Ihn  bedrängen  die  Feinde,  die  bösen  Titanen.  Er 
verwandelt  sich  in  verschiedene  Gestalten,  um  ihnen  zu  entgehen;  als 
er  Stier  ist,  überwältigen  sie  ihn,  um  ihn  zu  zerreißen  und  zu  ver- 
schlingen. Nur  das  Herz  wird  von  Athena  gerettet  und  von  Zeus 
verzehrt.  Nun  erzeugt  Zeus  mit  Semele  einen  neuen  Dionysos,  der 
doch  mit  dem  Sohne  der  Persephone  eins  ist.  Die  Titanen  aber  werden 
vom  himmlischen  Blitz  vernichtet  und  verbrennen  zu  Asche.  Aus  diesem 
Staub,  der  sich  mit  Blut  und  Feuer  gemischt  hat,  entstehen  die  Menschen: 
so  will  es  die  orphische  Anthropogonie.  Da  nun  die  Titanen  den  Dio- 
nysos verzehrt  hatten,  ist  mit  ihrer  Asche  ein  Teilchen  des  Gottes  in 
jeden  Menschen  eingegangen.  Wiedervereinigung  dieses  Teils  mit  dem 
Gotte  im  Lichtreich  ist  das  Ziel  des  menschlichen  Lebens:  die  Gnade 
des  Gottes  muß  erwirkt  werden,  daß  er  seinen  Dienern  Teil  an  sich 
und  seinem  Reiche  vergönnt.  Das  ist  der  Kern  der  in  diesen  Gemeinden 
ausgebildeten  Dionysosreligion,  der  tief  in  den  Herzen  der  Griechen 
gewurzelt  und  lange  dem  Christentum  widerstanden  hat. 

Neben  dieser  heiligen  Schrift,  die  Weltschöpfung  und  Erlösung  um- 
spannt, hat  eine  Apokalypse  gestanden,  selbständig  und  frühzeitig  aus- 
gebildet. Es  war  eine  Offenbarung  über  die  Dinge  im  Jenseits,  ge- 
kleidet in  die  Form  der  Erzählung  von  dem  Hinabstieg  eines  Heros  in 
den  Hades.^  Dabei  steht  das  Eschatologische  ganz  im  Vordergrund. 
Weniger  hören  wir  von  dem  Lohn,  der  die  Guten  erwartet,  mehr  von 


'  Nekyia  229.  »  Orphica  rec.  E.  Abel  S.  156  ff.  »  Nekyia  128ff. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  477 

den  Strafen  derer,  die  Böses  getan  haben.  Gerade  in  diesen  Kulten 
und  ihrer  Literatur  hat  sich  der  Hades  zur  Hölle  entwickelt.  Diese  ist 
somit  griechischen  Ursprungs;  wohl  hat  sich  der  bessere  Teil  des  helle- 
nischen Volkes  mit  Schaudern  von  der  Vorstellung  ewiger  Qual  ab- 
gewendet, aber  die  unteren  Schichten  haben  darin  geradezu  geschwelgt. 
Die  gewöhnlichste  dieser  Höllenstrafen  ist  das  Feuer.^  Volkstümliche 
Vorstellung  kennt  das  Feuer  zunächst  als  Mittel  der  Reinigung  und 
Entsühnung:  darum  werden  widernatürliche  Dinge,  repaia,  verbrannt, 
darum  werden  die  Seelen  der  Heilbaren  bei  Plato  durch  das  'Fegefeuer' 
geläutert  und  erscheinen  bei  Vergil  die  Elemente  als  Reinigungsmittel 
der  Seelen.  Allmählich  aber  bricht  der  Gedanke  durch,  daß  das  Feuer 
zum  Quälen  der  Sünder  dienen  soll.  Die  meisten  der  anderen  Strafen 
beruhen  auf  dem  aus  dem  profanen  Kriminalrecht  übernommenen  Jus 
talionis,  der  Wiedervergeltung  von  Gleichem  durch  Gleiches,  und  manche 
Pein  schlimmster  Art  ist  darunter,  die  auf  Erden  nur  gegen  Sklaven 
angewendet  werden  durfte:  Quälen  mit  Schwefel  und  Pech,  Aufhängen 
an  Beinen  oder  Zunge.  Das  verrät  die  Kreise,  die  solche  Phantasien 
ersonnen  haben. 

Ganz  bestimmte  Sünden  sind  es,  die  solche  Strafen  erheischen.* 
Als  schwerster  Sünder  gilt,  wer  Vater  oder  Mutter  erschlagen  hat. 
Bereits  im  fünften  Jahrhundert  v.  Chr.  hat  Polygnot  in  der  Lesche  der 
Knidier  zu  Delphi  die  Unterwelt  gemalt  und  in  ihr  den  Schatten  eines 
Menschen,  der  seinen  Vater  erschlagen  hatte  und  darum  von  dessen 
Schatten  gewürgt  wird  -  zugleich  ein  klassisches  Beispiel  der  Talio. 
Ahnlich  sind  schwerer  Strafe  verfallen  Meineidige  und  Tempelräuber, 
Mörder  und  Selbstmörder;  die  Ehebrecher  sind  erst  verhältnismäßig 
spät  auf  diese  Liste  gekommen.  Alle  diese  werden  je  nach  der  Art  des 
Vergehens  in  Schlamm  oder  Blut  oder  in  siedendem  JVIetall  gefoltert; 
andere  werden  von  strafenden  Dämonen  durch  Dornengestrüpp  gerissen. 
Strafgeister  gibt  es  also  in  dieser  Hölle,  den  christlichen  Teufeln  ver- 
gleichbar; sie  haben  sich  aus  den  Seelen  der  Geschädigten  entwickelt, 
die  nun  im  Jenseits  ihre  Rache  kühlen:  das  zeigt  der  Würgegeist 
Polygnots.  Auch  die  strafenden  Erinyen  sind  zunächst  nur  die  rächenden 
Seelen  der  Ermordeten,  die  Bluthunde,  die  den  Verbrecher  hetzen:  so 
hat  man  sie  noch  zur  Zeit  des  Aischylos  und  seiner  Eumeniden  auf- 
gefaßt. 

Daß  die  Vorstellung  von  diesen  Strafen  im  Hades  immer  mehr  Boden 
gewann,  zeigt  wieder  Vergils  sechstes  Buch  und  Plutarch  an  mehreren 


Nekyia  196ff.  '  Nekyia  163ff. 


478  ^^^  Untergang  der  antiken  Religion 

Stellen.  Auch  die  Grabschriften  beweisen,  wie  das  Denken  der  Menschen 
sich  mehr  und  mehr  auf  das  Jenseits  richtet,  eben  unter  dem  Einfluß 
dieser  Religion,  die  als  einzige  vor  dem  Kommen  des  Christentums 
bestimmte  Vorstellungen  von  dem  Schicksal  der  Seele  im  Jenseits  ge- 
habt hat.  Und  wenn  auch  diese  Religion  von  den  Christen  erst  be- 
kämpft, dann  überwunden  ist,  so  sind  doch  mit  ihrer  Niederlage  nicht 
auch  ihre  Gedanken  untergegangen.  Vielmehr  sind  deren  einige  christlich 
geworden:  das  Ergebnis  des  Kampfes  zwischen  der  Antike  und  dem 
Christentum  ist  hier  wie  so  oft  eine  Mischung  beider  Elemente  gewesen. 
So  wie  die  alten  Orphiker  ihren  Toten  die  eschatologischen  Texte  der 
Goldtafeln  mitgaben,  hat  man  im  Grabe  eines  Christen  eine  christliche 
Apokalypse  gefunden,  deren  Vorstellungen  dem  Griechischen  mit  leiser 
Umwendung  entnommen  sind.  Das  ist  die  aus  Ägypten  stammende 
Apokalypse  des  Pseudopetrus,  ein  Stück  des  sog.  Evangelium  Petri.^ 
Da  werden  die  Qualen  der  Unterwelt  enthüllt;  vierzehn  Typen  von 
Sündern  sind  mit  besonderen  Strafen  bedacht.  Bei  der  einen  Hälfte 
dieser  Typen  könnte  man  den  Einfluß  auch  jüdischer  Vorstellungen  an- 
nehmen, aber  die  andere  Hälfte  ist  rein  griechisch.  Die  Grund- 
anschauung also  und  ein  großer  Teil  der  Details  ist  in  diese  christliche 
Apokalypse  aus  dem  Hellenischen  gekommen;  der  Fundort  des  Petrus- 
buches führt  darauf,  daß  diese  Übernahme  in  Ägypten  erfolgt  ist. 
Daß  es  zu  einer  solchen  Rezeption  kommen  konnte,  begreift  man  leicht. 
Gerade  in  den  orphischen  und  dionysischen  Konventikeln  wird  die 
christliche  Werbung  mitunter  Erfolg  gehabt  haben,  denn  hier  war  eine 
tiefe,  der  christlichen  verwandte  Religiosität  vorhanden.  Wenn  aber  die 
Mysten  von  Dionysos  zu  Christus  übergingen,  so  streiften  sie  ihre 
alten  Anschauungen  nicht  sämtlich  ab,  sondern  nahmen  manches  mit 
hinüber  in  die  neue  Religion.  Erst  die  Kirchenväter  haben  in  der  Ab- 
sicht, völlig  mit  dem  Heidentum  zu  brechen,  die  tiefe  Kluft  zwischen 
Hellenischem  und  Christlichem  befestigt. 

Auch  sonst  zeigen  mancherlei  Spuren,  daß  die  Religion  der  Orphiker 
auf  das  ältere  Christentum  von  Einfluß  gewesen  ist.  Nicht  umsonst 
kehrt  ja  des  Orpheus  Bild  in  den  christlichen  Katakomben  wieder.^ 
Im  ersten  Brief  an  die  Korinther  XV  23  spricht  Paulus  davon,  daß  in 
der  christlichen  Gemeinde  von  Korinth  einige  sich  taufen  ließen  für  die 
Toten.  Dazu  lese  man  Plato  in  der  Republik  II  p.  364 C:  'Sie  aber 
zeigen  einen  Schwärm  Bücher  von  Musaios  und  Orpheus  vor,  den 
Sprossen  der  Selene  und  der  Musen,  wie  sie  sagen,  an  deren  Hand 


^  Nekyia  1  ff.  »  Nekyia  229. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  479 

sie  ihr  Werk  treiben  und  nicht  allein  einzelne,  sondern  auch  ganze 
Staaten  überreden,  daß  es  Erlösungen  und  Reinigungen  von  Sünden 
gibt  durch  Opfer  und  heitere  Feier,  nicht  nur  für  die  Lebenden,  sondern 
auch  für  die  Toten.  Das  nennen  sie  'die  Weihen'  (TeXeidc),  die  uns 
von  dem  Übel  im  Jenseits  erlösen;  die  aber,  die  nicht  opfern,  erwartet 
Unheil.'  Ferner  sagt  ein  Bruchstück^  aus  einem  orphischen  Buch  — 
es  gab  eines,  das  den  Titel  TeXeiai  führte  -:  'und  Feiern  werden  sie 
begehen,  strebend  nach  unheiliger  Vorfahren  Erlösung'.  Da  liegt  di- 
rekter Übergang  von  Orphischem  zum  Christlichen  vor:  die  Anschauung, 
daß  der  Lebende  den  Toten  erlösen  könne,  ist  in  beiden  Mysterien 
dieselbe,  nur  verwendet  jedes  seine  eigene  reXeiri.  Wenn  gleichfalls 
in  Korinth  das  fXujcQoXdkeiv  so  sehr  im  Schwange  war,  so  mag  das 
ein  letzter  Rest  des  Enthusiasmos  im  Dienste  des  Dionysos  gewesen 
sein,  der  früher  <465>  geschildert  worden  ist. 

Die  Apokalypse  des  Petrus  war  nicht  die  einzige,  die  von  den  Strafen 
der  Hölle  erzählte,  sie  war  nur  eine  unter  vielen.  So  hat  die  la- 
teinische Paulusapokalypse  den  Katalog  der  Qualen  noch  weiter  aus- 
gedehnt. Das  katholische  Mittelalter  hat  diese  Literatur  noch  vollständiger 
besessen  als  wir;  Dante  hat  sein  Inferno  offenbar  auf  solch  einer  la- 
teinischen Apokalypse  aufgebaut,  wenn  wir  auch  heute  nicht  mehr  sagen 
können,  welche  es  gewesen  ist. 

Diese  Gedanken  der  orphischen  Sekten  haben  so  ihre  Gewalt  auf 
die  Gemüter  der  Menschen  ausgeübt  durch  nahezu  zwanzig  Jahrhunderte. 
Sie  zeigt  sich  zuerst  im  sechsten  Jahrhundert  v.  Chr.,  breitet  sich  aus 
nach  Alexander  dem  Großen  und  erweist  sich  als  besonders  kräftig 
im  zweiten  bis  vierten  nachchristlichen  Säkulum.  Auf  diese  Entwicklung 
ist  der  Gang  der  Weltgeschichte  nicht  ohne  Einfluß  gewesen.  Alexander 
hat,  indem  er  die  beengenden  Schranken  des  Hellenentums  durchbrach, 
dem  Griechen  sein  irdisches  Vaterland  genommen:  die  Heimatlosen 
suchten  einen  Ersatz  im  Jenseits.  Überhaupt  ist  ja  diese  Bewegung 
hervorgegangen  aus  der  Sehnsucht  nach  dem  Frieden,  den  nur  eine 
andere  Welt  geben  kann.  So  entsteht  die  Jenseitshoffnung,  die  das 
Sündenbewußtsein  im  Gefolge  hat.  Die  Prediger  der  dionysischen  Re- 
ligion sind  ja  aufgetreten  mit  dem  Rufe:  'Lasset  euch  reinigen,  daß  ihr 
den  ewigen  Strafen  der  Unterwelt  entgeht.'  Und  später  riefen  die 
Apostel  des  Christentums:  'Tuet  Buße,  denn  das  Himmelreich  ist  nahe 
herbeigekommen.'  Diese  Rufe  sind  einander  so  ähnlich,  daß  für  die 
Orphiker  der  Übergang  zum  Christentum  ein  Wechsel  nur  des  Namens, 


Frgm.  208  Abel;  s.  S.  Reinach,  Cultes,  mythes  et  religions  I  312  ff. 


480  ^®^  Untergang  der  antiken  Religion 

nicht  der  Grundanschauung  wurde.  Durch  diesen  Übergang  ist  die 
antike  Religion  zerstört,  und  doch  auch  wieder  in  einzelnen  Glaubens- 
sätzen gerettet  worden. 

Herbeigeführt  wurde  der  Untergang  durch  jene  mächtige  Revolution 
religiösen  Denkens,  die  aus  den  tiefsten  Schichten  aufsteigend  auch 
die  höheren  erobert.  Die  Revolution  von  unten  ist  zugleich  aber 
auch  eine  Revolution  von  innen.  Nicht  von  außen  her  sind  diese  Ge- 
danken an  das  Griechentum  herangetragen  worden,  nicht  etwa  aus  dem 
semitischen  Orient  \  wie  man  wohl  gemeint  hat.  Denn  der  Glaube  an 
eine  Fortdauer  der  Seele,  der  Auferstehungsglaube,  ist  kein  Erzeugnis 
des  Judentums.  Die  Stellen  des  Alten  Testaments,  an  denen  er  an- 
klingt, enthalten  nichts  Urprüngliches;  Henoch  und  Elias  sind  vereinzelte 
Erscheinungen.  Die  Juden  haben  ihre  Ideale  immer  auf  das  Diesseits 
gestellt.  Erst  um  100  v.  Chr.  beginnen  auch  bei  ihnen  eschatologische 
Gedanken  zu  wirken:  in  jener  Zeit  aber  stand  das  Judentum  mit  dem 
Hellenentum  bereits  in  näherer  Berührung. 

DRITTES  KAPITEL 
DIE  REVOLUTION  VON  AUSSEN 

Die  Revolutionen  von  außen  gehen  aus  von  den  Religionen  fremder 
Völker.  Schon  frühe  haben  die  Kulte  des  Orients  in  Griechenland 
Eingang  gefunden;  den  Einlaß  gewährten  die  Hafenstädte,  in  denen 
Menschen  aller  Nationen  und  jeglichen  Glaubens  zusammenströmten; 
wir  mögen  für  Athen  an  das  Völkergemisch  denken,  das  den  Piräus 
erfüllte.  Dort  lernten  die  unteren  Schichten  der  eingeborenen  Bevölkerung 
die  Götter  der  Fremden  kennen  und  wurden  nach  und  nach  mit  ihnen 
vertraut.  Wenn  dann  eine  große  Not  das  griechische  Volk  heimsuchte, 
wenn  Pest  und  Krieg  in  den  heimischen  Gefilden  wüteten,  und  die 
Hilfe  der  0eoi  Trarpiuoi  nicht  mehr  auszureichen  schien,  dann  wendete 
man  sich  im  Drang  nach  Erlösung  und  Frieden  an  die  Götter  der 
Fremden.  Es  ist  beinahe  ein  Gesetz,  daß  jede  große  Volksnot  zu  einem 
mächtigen  fremden  Gotte  beten  lehrt,  dessen  Glaube  und  Kult  so  nach 
Beendigung  der  Not  in  der  antiken  Religion  Wurzel  faßt.  Am  deut- 
lichsten ist  das  in  Rom,  wo  die  Einführung  der  großen  Göttermutter 
aus  Phrygien  in  der  Not  des  zweiten  Punischen  Krieges,  die  Auf- 
nahme des  Griechen  Asklepios  bei  einer  Pest  zu  Beginn  des  dritten 
Jahrhunderts  erfolgte.     In  ähnlicher  Not  ist  der  Kult  des  hellenischen 


^  Nekyia  214  ff. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  4g| 

Apollo  und  sind  mit  ihm  die  sibyllinischen  Bücher  nach  Rom  gekommen; 
bei  solcher  Gelegenheit  werden  den  Göttern  Spiele  gelobt,  und  zur 
Lösung  dieses  Gelübdes  zum  ersten  Mal  griechische  Dramen,  eine  Tra- 
gödie und  eine  Komödie,  in  lateinischer  Sprache  zu  Rom  aufgeführt. 
Diese  Rezeption  zeigt  deutlich,  daß  man  das  Alte  und  Einheimische 
nicht  mehr  als  hinreichend  empfindet,  um  den  Zorn  der  Überirdischen 
zu  beschwichtigen:  vielmehr  verlangt  alles  nach  Neuem,  von  außen 
Kommendem.  Diese  Rezeptionen,  die  mit  der  Zeit  Alexanders  des 
Großen  zuerst  deutlich  erkennbar  wurden,  zu  der  Zeit,  da  die  Schranken 
zwischen  Hellenentum  und  Barbarentum  fallen,  werden  immer  häufiger, 
je  mehr  die  Religion  der  Väter  sich  der  Auflösung  nähert.  In  der  Not 
des  Krieges  hat  noch  zuletzt  Kaiser  Konstantin  sich  an  die  Hilfe  eines 
fremden  Gottes  gewendet:  es  war  der  Gott  der  Christen. 

In  der  Art  der  Aufnahme  sind  mehrere  Stufen  erkennbar.  Die 
ältere  Zeit  vergleicht  den  fremden  Gott  mit  den  Angehörigen  des  ein- 
heimischen Pantheons  und  ruht  nicht,  bis  sie  dort  ein  göttliches  Wesen 
gefunden  hat,  dem  sie  den  Fremdling  gleichsetzen  kann.  Das  ist  bei 
den  Griechen  der  Standpunkt  zur  Zeit  Herodots,  der  in  den  altägyptischen 
Göttern  nur  Bekannte  wiederfindet:  ihm  ist  Isis  gleich  Demeter,  Neith 
gleich  Athene,  die  Göttin  von  Buto  gleich  Leto.^  Dabei  braucht  der 
Grund  der  Identifikation  keineswegs  im  genau  gleichen  inneren  Wesen 
beider  Gottheiten  zu  liegen;  so  ist  die  Gleichung  Osiris  und  Dionysos 
nur  partiell  richtig,  nur  insoweit  beide  ihren  Gläubigen  ein  günstiges 
Los  im  Jenseits  verbürgen.  Ähnlich  setzt  noch  Tacitus  die  Götter  der 
Germanen  durchweg  mit  römischen  gleich,  wenn  er  etwa  deren  göttliches 
Brüderpaar  Kastor  und  Pollux  nennt,  interpretatione  Romana?  Gerade 
durch  diese  Art  der  Interpretation  ist  ja  die  älteste  einheimische  Re- 
ligion der  Römer  so  vollständig  verschüttet  worden:  als  man  den 
römischen  Juppiter  und  den  griechischen  Zeus  in  eins  schaute,  sind 
mancherlei  griechische  Züge  in  das  ursprüngliche  Bild  des  Capitolinus 
hineingetragen  worden,  die  reinlich  auszuscheiden  schwerlich  je  gelingen 
wird.  Nicht  anders  steht  es  mit  Diana,  deren  italische  Eigenart  durch 
Artemis,  mit  Ceres,  die  durch  Demeter  verdunkelt  ist.  Erst  eine  spätere 
Zeit  schreitet  dazu  fort,  solche  doch  nie  ganz  stimmende  Identifikationen 
aufzugeben,  und  läßt  den  Fremden  ihre  Namen.  Attis  und  Mithras  sind 
nicht  mehr  mit  Griechen  und  Römern  verbunden  worden;  sie  dringen 
in  fast  rein  gehaltener  Eigenart  durch,  und  vor  ihnen  stirbt  der  alte,  ein- 
heimische Kult  allmählich  ab. 


^  II  59.  «  Germ.  43. 

Albrecht  Dieterich,  Kleine  Schriften.  31 


482  ^®^  Untergang  der  antiken  Religion 

Wenn  aber  vielfach  der  antike  Mensch  seine  eigenen  Götter  und 
die  der  Barbaren  als  dieselben  geschaut  hat,  so  zeigt  das,  wie  verkehrt 
es  wäre  anzunehmen,  die  Alten  hätten  nicht  an  die  Götter  der  Fremden 
geglaubt,  sie  etwa  für  Fabelwesen  gehalten.  Vielmehr  waren  ihnen 
das  sehr  reale  Kräfte,  deren  Macht  sich  deutlich  in  der  Blüte  des 
Volkes  offenbarte,  das  sie  verehrte.  Höchstens  dazu  gelangte  man, 
daß  man  die  Ausländer  nicht  ganz  für  gleichwertig  mit  den  Olympiern 
hielt  und  eher  geneigt  war,  ihnen  den  untergeordneten  Rang  von 
Dämonen  zuzuweisen.  Das  ist  dann  auch  die  Anschauung  der  ältesten 
Christen  gewesen;  noch  die  Kirchenväter  verneinen  keineswegs  die 
Existenz  der  heidnischen  Götter,  sondern  erklären  sie  für  böse  Dä- 
monen, für  Teufel.^ 

Wenn  derart  das  religiöse  Bedürfnis  seine  Befriedigung  in  neuen, 
von  außen  bezogenen  Formen  fand,  so  war  es  ebensogut  möglich,  daß 
der  Inhalt,  den  diese  neue  Form  barg,  bereits  in  der  antiken  Religion 
vorhanden  war,  als  auch  daß  jene  andere  Form  einen  anderen  Inhalt 
barg.  Nicht  immer  ist  heute  eine  Entscheidung  darüber  möglich,  welcher 
Fall  bei  der  Aufnahme  eines  fremden  Kultes  in  Wirklichkeit  eingetreten 
ist.  Um  ein  Beispiel  für  den  ersten  Fall  zu  geben,  so  waren  durch  die 
Revolution  von  unten  in  der  Antike  die  Jenseitshoffnung  und  das 
Sündenbewußtsein  bereits  vorhanden  und  brauchten  nicht  erst  aus 
anderen  Kulten  hineingetragen  zu  werden.  Wo  daher  Kulte  mit  escha- 
tologischer  Tendenz  rezipiert  wurden,  war  der  Inhalt  im  wesentlichen 
bereits  vorhanden.  Aber  die  Form,  die  aufgenommen  wurde,  ist  ver- 
schieden gewesen:  je  nach  der  Eigenart  der  später  einströmenden  Re- 
ligion finden  jene  Seelenstimmungen  ihre  Befriedigung  durch  den 
Glauben  entweder  an  eine  Vereinigung  mit  Gott  oder  an  eine  Erlösung 
oder  an  das  Kommen  des  Reiches  Gottes. 

Faßbar  wird  uns  dieser  Prozeß  religiöser  Amalgamierung  eben  in 
jener  Zeit,  die  man  den  Hellenismus  nennt.  Und  zwar  ist  da  Alexan- 
dreia  der  Hauptstapelplatz  aller  Religionen,  die  sich  sämtlich  der  größten 
Freiheit  ihrer  Begehungen  erfreuten  -  Intoleranz  eines  Glaubens  anderen 
gegenüber  ist  nicht  antik.  Die  Stadt  war  erfüllt  von  Kultgemeinden 
und  Kultorten;  Ägypter  und  Griechen,  Inder  und  Perser,  jeder  verehrte 
seinen  Gott  und  nahm  Anteil,  wenn  andere  die  eigene  Religion  be- 
tätigten. Heute  schaute  die  aus  allen  Konfessionen  bunt  zusammen- 
gewürfelte Menge  einem  Zeusopfer  zu,  morgen  einer  Isisprozession; 
dann  kam  ein  Mithrasfest,  oder  der  Tag  Jahvehs  wurde  geheiligt,  und 


'  Z.  B.  Min.  Fei.  Oct.  27. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  433 

die  Frage,  ob  ein  neuer  Apis  gefunden  sei,  wird  nicht  die  Ägypter  allein 
erregt  haben.  Gerade  die  große  Masse,  die  Alexandreia  als  Hafen- 
stadt, als  wichtigster  Platz  des  Exportes  und  Importes  für  einen  großen 
Teil  der  antiken  Welt  beherbergte,  hat  den  lebendigen  Äußerungen 
der  Religion  ihren  Anteil  geschenkt.  Eben  in  den  unteren  Schichten 
war  die  Hoffnung  auf  ein  besseres  Los  im  Jenseits,  auf  eine  Erlösung 
aus  den  Mühen  und  der  Unruhe  des  Tages  besonders  stark.  Wohl 
war  dasselbe  Alexandreia  auch  ein  Zentrum  des  geistigen  Lebens, 
der  Kunst  und  der  Literatur;  dort  erhoben  sich  die  großen  Bibliotheken, 
dort  das  Museion,  bevölkert  von  Bibliothekaren  und  Professoren.  Aber 
sie  standen  der  Religion  mit  kühler  Miene  gegenüber:  ihre  Lebens- 
anschauung war  eine  eklektische  Philosophie,  welche  die  Götter  des 
Volkes  skeptisch  verneinte.  Nur  dann  gewannen  jene  Bibliothekare 
Fühlung  mit  der  Religion,  wenn  sie  einmal  ein  Werk  über  Kultus- 
altertümer zu  registrieren  und  einzustellen  hatten.  Sonst  aber  drang 
in  die  stillen  Studierräume  keine  Welle  religiösen  Empfindens  und 
Handelns:  die  wogte  draußen  auf  den  Straßen  und  brandete  an  den 
Tempeln  und  Kapellen. 

Alexandreia  war  eine  griechische  Gründung,  und  die  Griechen  mit 
ihrer  heimischen  Religion  waren  kulturell  der  wichtigste  Teil  der  Be- 
völkerung. Aber  Alexandreia  lag  in  Ägypten,  und  ein  starker  Zusatz 
von  Ägyptern  war  selbstverständlich.  Diese  Vereinigung  von  Helle- 
nistischem und  Ägyptischem  hat  eine  eigene  Kultur  erzeugt,  die  von 
Einfluß  auch  auf  das  Abendland  gewesen  ist.  Ihre  Erzeugnisse  wurden 
nach  Italien  exportiert,  wie  die  Funde  der  Hafenstadt  Pompei  lehren, 
damals  sind  die  Fabrikate  des  Nillandes  in  ganz  ähnlicher  Weise  Lieb- 
linge der  Mode  gewesen,  wie  heute  die  Erzeugnisse  von  China  und 
Japan.  Viele  haben  jene  Kultur  auch  an  Ort  und  Stelle  kennen  gelernt, 
in  der  Kaiserzeit  ist  Ägypten  das  Reiseziel  der  vornehmen  Welt; 
griechische  Inschriften  sind  in  großer  Zahl  von  europäischen  Besuchern 
an  der  Memnonssäule  eingeritzt  worden,  und  Kaiser  Hadrian  hat  einen 
Teil  seiner  Villa  bei  Tibur  mit  Reiseerinnerungen  aus  Ägypten  ge- 
schmückt -  alles  Beziehungen,  die  den  Übertragungen  auch  religiöser 
Gedanken  die  Wege  ebneten. 

Die  ägyptische  Religion  ist  in  hohem  Grade  konservativ.  Wohl  hat 
sie  eine  Entwicklung  insofern,  als  neue  Formen  des  Glaubens  entstehen 
und  zur  Blüte  kommen,  aber  neben  den  neuen  sterben  die  alten  Formen 
nicht  ab,  sondern  bestehen  in  Ruhe  weiter;  niemand  hat  es  als  un- 
gereimt empfunden,  daß  in  demselben  Volke  rohester  Fetischismus  und 
Tierkult   neben   einer  Gottesverehrung  von   hoher  Vollkommenheit   der 

31* 


484  ^®'"  Unterg-ang  der  antiken  Religion 

Gedanken  herging.  Der  uralte  Kult  des  Sonnengottes  Amon  Rä  hat  noch 
unter  Alexander  dem  Großen  eine  neue  Ausbildung  erfahren;  eine 
drohende  Störung  in  der  Verehrung  des  Stiergottes  Apis^  hat  unter 
Hadrian  Unruhen  erzeugt,  und  noch  unter  Julian  hören  wir  von  der 
Einführung  eines  neuen  Apisstieres.  Alexander  der  Große  und  Titus 
haben  in  diesem,  den  antiken  Menschen  so  völlig  unverständlichen 
Kulte  eines  Tieres  geopfert.  Daran  mögen  wir  ermessen,  welchen  Ein- 
fluß die  ägyptische  Religion  auch  auf  griechische  und  römische  Gemüter 
zu  erlangen  wußte. 

Nach  Amon  Rä  und  Apis  genossen  die  größte  Verehrung  die  Götter 
des  Osiriskreises.  Es  sind  Osiris  und  Isis^  die  Ehegatten,  die  sich 
mit  dem  Sohne  Horus  zu  einer  Götterdreiheit  zusammenschließen. 
Ihnen  steht  als  Feind  Seth  oder  Typhon  gegenüber.  Selbst  diesen 
schadenbringenden  Gott  hat  die  Antike  rezipiert.  Zeugnis  dafür  geben 
eine  Serie  von  Bleitafeln  ^  die  in  einem  Grabe  der  Via  Appia  bei  Rom 
gefunden  wurden.  Sie  waren  im  fünften  Jahrhundert  n.  Chr.  be- 
schrieben worden  und  enthiehen  Flüche  von  Wagenlenkern  gegen 
Konkurrenten,  denen  auf  diese  Weise  der  Sieg  genommen  werden 
sollte.  Der  Gott,  der  den  Fluch  vollzieht,  der  den  Mitbewerber  hemmt, 
ist  aber  Typhon -Seth;  sein  Bild  ist  auf  den  Tafeln  eingeritzt,  und  es 
ist,  wie  in  Ägypten,  eselsköpfig.  Der  Zaubertext,  der  das  Bild  des 
Seth  begleitet,  scheint  beeinflußt  von  den  Lehren  einer  gnostischen 
Sekte,  die  von  ihrem  Hauptgott  den  Namen  der  Sethianer  führte.  In 
deren  Spekulation  war  nun  der  ägyptische  Seth  zusammengeflossen 
mit  dem  hebräischen  Seth,  dem  Sohne  Adams,  und  dieser  Adamssohn 
hatte  nach  ihrem  Dogma  in  Jesus  eine  neue  Verkörperung  gefunden. 
So  war  ihnen  Typhon -Seth  wesensgleich  mit  dem  Erlöser  geworden, 
und  so  erklärt  es  sich,  daß  sie  ihren  Christus  eselsköpfig  darstellen 
konnten.  In  einem  Gemache  des  Palatin,  das  wohl  Pagen  oder 
Sklaven  zum  Aufenthalt  gedient  hat,  ist  in  den  Stuck  der  Wand  ein 
Kreuz  eingeritzt,  an  das  ein  Mann  mit  Eselskopf  angeschlagen  ist. 
Dabei  steht  geschrieben  'AXeHaiuevoc  ceßexai  Geöv.  Das  hat  man 
früher  als  Spott  aufgefaßt  und  jene  Zeichnung  das  Spottkruzifix  ge- 
tauft. Aber  es  ist  genau  so  ernst  zu  nehmen  wie  die  Inschrift  'AXeHa- 
ILievöc  fideliSy  die  sich  im  selben  Räume  befindet  und  als  Verhöhnung 
nicht  verständlich  ist.  Auch  befindet  sich  neben  dem  mit  Unrecht  so 
genannten  Spottkruzifix  ein  Y,  und  dasselbe  Zeichen  kehrt  als  geheimes 

^  Pietschmann  bei  Pauly-Wissowa  u.  Apis  5. 

'  Drexler  in  Roschers  Myth.  Lex.  II  360 ff. 

*  Wünsch,  Sethianische  Verfluchungstafeln  8.  86 ff. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  435 

Symbol  -  wir  kennen  seine  Bedeutung  aus  der  Lehre  der  Pytha- 
goreer^  -  auf  jenen  Tafeln  von  der  Via  Appia  wieder:  auch  seine 
Hinzufügung  wäre  bei  einer  Verspottung  kaum  erklärlich,  wird  aber 
sofort  verständlich,  wenn  wir  jene  Zeichnung  als  ernst  gemeintes  Doku- 
ment einer  Lehre  auffassen,  in  der  Griechisches  und  Christliches,  Jü- 
disches und  Ägyptisches  sich  seltsam  mischte. 

In  der  Osirisreligion  erschlägt  und  zerreißt  Typhon  den  Osiris. 
Isis  beweint  den  getöteten  Gatten,  bis  der  Horusknabe  herangewachsen 
ist  und  den  Gegner,  der  die  Gestalt  eines  Untiers  angenommen  hat, 
überwindet.  Als  die  Erzählung  vom  Kampfe  des  Horus  gegen  Typhon- 
Seth  zu  den  Griechen  kam,  floß  sie  diesen  mit  dem  Mythos  vom 
Kampf  des  Apollon  mit  dem  Drachen  Python  zusammen.  Das  Motiv 
dieses  Drachenkampfes,  den  auch  die  Kunst  des  öfteren  dargestellt 
hat,  wirkte  in  christlichen  Kreisen  weiter,  wo  nun  Michael  oder  St.  Georg 
als  Drachentöter  erscheinen.  Überhaupt  erinnert  manche  christliche 
Darstellung  an  Motive  aus  der  Osirisreligion:  die  Gruppe  der  ^Pietä' 
an  Isis,  die  den  Osiris  beklagt ^  Maria  mit  Jesuskind  an  die  Darstellung 
der  Isis  mit  dem  Horusknäblein.  Und  von  großer  Bedeutung  ist  es 
gewesen,  daß  auch  die  Osirisreligion  ihre  eigene  Unsterblichkeitslehre 
gehabt  hat. 

Die  bedeutendste  Figur  des  Osiriskreises  ist  Isis.  Ihr  Kult  hat 
lange  gekämpft,  ehe  er  unterlegen  ist:  noch  im  Jahre  451  ist  sie  in 
Philae  verehrt  worden,  über  70  Jahre  nach  dem  Edikt  des  Theodosios, 
der  die  Verehrung  auch  der  ägyptischen  Götter  untersagt  hatte.  Weite 
Verbreitung  hat  die  Religion  der  Isis  in  der  hellenischen  Welt  gehabt: 
wir  sehen  sie  nach  Athen  und  Delos,  nach  Malta  und  Sizilien  vor- 
dringen. Einheimische  Kulte  hatten  ihr  den  Weg  geebnet.  Wie 
Osiris  durch  Dionysos,  so  wurde  Isis  durch  Demeter  angezogen,  eine 
jener  Muttergöttinnen,  an  denen  primitive  Religionen  reich  zu  sein 
pflegen.  So  ist  Isis  den  Griechen  zunächst  die  nährende  Mutter  und 
die  schmerzensreiche  Mutter,  eine  Mater  dolorosa  wie  eben  die  ein- 
heimische Demeter;  ferner  ist  sie  die  Herrin  des  Meeres  und  die 
Mondgöttin,  die  zu  dem  Sonnengotte  Osiris  gehört.  Darum  dient  ihr 
auf  Bildern  die  Mondsichel  als  Hauptschmuck  oder  Schemel  der  Füße. 
Das  letztere  kennen  wir  von  den  Bildern  der  Himmelskönigin  Maria, 
die  auch  hier  an  Isis  erinnert.  Nicht  überall,  wo  wir  von  einer  gött- 
lichen Mupia  hören,  ist  das  ein  Verschreiben  für  Mapia,  sondern  mit- 
unter ist  Mupia  nur  die  'Icic  |Liupiiüvu|uoc. 


Oben  S.  472.  *  Abraxas  104  Anm.  1. 


486  ^®'"  Untergang  der  antiken  Religion 

Mit  den  römischen  Waffen  ist  Isis  sodann  über  die  Alpen  ge- 
kommen; in  der  Schweiz,  in  Süddeutschland,  ja  auch  am  Niederrhein 
hat  sie  Verehrer  gefunden.  Zunächst  nur  in  den  unteren  Schichten 
des  Volkes,  das  zufrieden  war,  wenn  es  der  verehrten  Göttin  ein  be- 
scheidenes Tempelchen  errichten  konnte.  Äußeren  Glanz  erhielt  der 
Isiskult  mit  der  Zeit,  da  Vespasian  ihm  die  kaiserliche  Gunst  zuwandte: 
er  hat  in  Rom  das  prächtige  Iseum  und  Serapeum  erbaut.  Damit 
wurde  diese  Religion  auch  für  die  oberen  Schichten  modern.  Kurz 
vorher,  sechzehn  Jahre  vor  dem  großen  Ausbruch  des  Vesuvs,  ist 
der  Isistempel  von  Pompei  restauriert  worden;  leider  lehren  uns  die 
Geheimtreppen  und  Vertiefungen  dieses  Baues  nur,  daß  im  Gottes- 
dienst Kulthandlungen  stattgefunden  haben,  nicht  aber,  welcher  Art 
sie  waren. 

Zahlreich  waren  die  Isispriester  damals  in  der  antiken  Welt,  so 
zahlreich,  daß  sie  sich  zu  bestimmten  großen  Kollegien  vereinigten;  von 
dem  übrigen  Kultpersonal  seien  die  Pastophoren  genannt,  deren  Dienst 
es  war,  bei  den  Prozessionen  die  Kapellchen  mit  den  Götterbildern  zu 
tragen.  Die  Tracht  der  Priester  war  das  lange  Gewand  aus  weißem 
Linnen,  auffällig  an  ihnen  die  Tonsur,  vielleicht  das  Vorbild  der 
Tonsur  christlicher  Priester.  Der  Ruf  dieser  Isiaci  ist,  namentlich  in 
der  ersten  Kaiserzeit,  nicht  fein  gewesen,  wenigstens  nach  den 
Schilderungen  der  Dichter.^  Sie  waren  oft  nicht  besser  als  Kuppler, 
trieben  sich  vielfach  in  den  Boudoirs  der  römischen  Damen  herum, 
denen  sie  als  Beichtväter  allerhand  Bußen  für  ihre  Sünden  aufzuerlegen 
wußten,  auf  den  Knien  rutschen,  eiskalte  Bäder  nehmen,  u.  a.  m. 
Mit  dem  zweiten  Jahrhundert  wird  der  Ton  in  diesen  Kreisen  besser 
und  höher:  man  richtet  sich  nach  dem  Beispiel  des  Kaiserhauses,  das 
die  Isisreligion  ernst  nimmt.  Der  Kaiser  Commodus  hat  selbst  an 
den  großen  Prozessionen  teilgenommen,  und  Caracalla  schritt  in  einer 
solchen  mit,  die  Maske  des  Anubis  auf  dem  Haupt,  des  Gottes,  der 
im  Osiriskreis  die  Funktion  des  Götterboten  hatte. 

Eine  solche  Isisprozession  vermögen  wir  uns  noch  lebhaft  vorzu- 
stellen; Apuleius  hat  sie  am  Schluß  seiner  Metamorphosen  geschildert.^ 
Der  Beginn  des  Zuges  ist  ganz  im  Karnevalsstil  gehalten.  Masken 
schreiten  voran,  gekleidet  als  Soldaten  und  Jäger,  als  Modedamen 
oder  als  Philosophen  mit  Mantel,  Pantoffeln,  Stab  und  Bocksbart;  ein 
zahmer  Bär  als  Dame  verkleidet  wird  auf  einem  Stuhl  getragen,  ein 
Affchen    spielt    den    Ganymedes,    mit    phrygischer   Mütze    und    einem 


^  luv.  VI  532 ff.;  s.  Wissowa  Rel.  u.  Kult,  der  Römer  293.        '  XI  8. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  437 

orangefarbenen  Kleidchen,  den  goldenen  Becher  in  der  Hand;  ein  ge- 
brechlicher alter  Mann  und  ein  Esel  mit  angesetzten  Flügeln  stellen 
zum  Ergötzen  der  Menge  Bellerophon  und  Pegasus  dar.  Nach  diesem 
Maskenvorspiel  beginnt  die  eigentliche  Pompa.  Bekränzte  Frauen, 
Dienerinnen  der  Isis,  streuen  Blumen,  Scharen  mit  Lampen  und  Fackeln 
folgen.  Unter  den  Tönen  von  Flöten  schreiten  die  Eingeweihten  daher, 
in  weißem  Kleide,  gesalbt,  die  Männer  geschoren,  mit  der  eigentüm- 
lichen Isisklapper,  dem  Sistrum,  rasselnd.  Es  kommen  die  Priester: 
der  oberste  unter  ihnen  trägt  eine  goldene  Urne,  die  mit  Wasser  ge- 
füllt ist.  Dies  Wasser,  ursprünglich  aus  dem  Nil  geschöpft,  ist  Gott 
Osiris  selbst.  Die  Prozession  zieht  ans  Meer:  mit  vielen  Zeremonien 
wird  hier  das  'Schiff  der  Isis'  in  die  Fluten  gelassen,  als  Zeichen,  daß 
die  Schiffahrt,  die  über  Winter  geruht  hat,  wieder  eröffnet  ist.  Die 
Kalender  verzeichnen  dies  Fest  als  Navigium  Isidis  am  5.  März. 
Offenbar  ist  die  hier  vorliegende  Verbindung  von  Maskenzug  und  einem 
Schiffskarren,  wie  er  einst  die  Epiphanie  des  Dionysos  angekündet 
hatte,  der  Ursprung  des  deutschen  Karnevals;  die  Möglichkeit  der  Über- 
tragung war  gegeben,  da  Isis  auch  am  Niederrhein  verehrt  wurde. 
Allerdings  hat  er  seinen  festen  Platz  im  Kalender  aufgegeben  und  muß 
nun  wandern  -  aus  Rücksicht  auf  das  bewegliche  Osterfest  und  die 
davor  gebotenen  Fasten. 

Wie  eine  Vesper  im  Isiskult  aussah,  zeigt  ein  kampanisches  Wand- 
bild. Aus  dem  Tempel  tritt  der  Priester  heraus  und  häh  mit  verhüllten 
Händen  das  Gefäß,  den  Andächtigen,  die  in  zwei  Chöre  verteilt  vor 
dem  Tempel  stehen,  den  im  heiligen  Wasser  anwesenden  Gott  zeigend. 
Rechts  und  links  schütteln  zwei  Diener  das  Sistrum:  das  erinnert  an 
das  Klingeln  beim  Meßopfer.^ 

Die  Hauptfeste  dieser  Religion  waren  ähnlich  wie  im  Dionysosdienst 
und  wie  in  anderen  Mysterienreligionen  des  Altertums,  die  dann  im 
zweiten  nachchristlichen  Jahrhundert  untereinander  sich  den  Rang  be- 
streiten, das  Fest  der  Klage  um  den  toten  Osiris,  die  von  Heulen  und 
Brustschlagen  begleitet  war,  und  das  Wiederfinden  des  Gottes.  Laut 
ertönte  dann  der  Jubelruf  eupriKajuev  cuTXaipo|Li^^-  sie  freuen  sich  mit 
ihm,  weil  sie  für  sich  auf  ein  neues  Leben  hoffen,  wie  der  Gott  Wiederauf- 
leben wird.  Die  das  glauben,  nennen  sich  MciaKoi  und  'OcipiaKoi, 
weil  sie  diesen  Göttern  geweiht  sind,  wie  die  dem  Christusglauben  Ge- 
weihten XpiCTiavoi.  Aufgenommen  werden  sie  in  die  Gemeinschaft  der 
Gläubigen   durch   eine   besondere  Einweihung:  bei  dieser  wurden  als 


^  Mau,^.Pompei  in  Leben  und  Kunst*  162. 


488  ^®^  Untergang  der  antiken  Religion 

Symbol  für  das  Schicksal  des  Neophyten  die  Schrecknisse  der  Finster- 
nis und  des  Todes  dargestellt^:  durch  sie  hindurch  schritt  er  zu  Licht 
und  Verklärung.  Angedeutet  wurde  damit  ein  Sterben,  eine  Wieder- 
geburt, bei  welcher  der  Priester  als  Vater,  Isis  als  Mutter  gedacht 
wurde,  und  eine  Himmelfahrt.  Auch  von  einer  einweihenden  Waschung 
hören  wir,  einem  Brauch,  welcher  der  christlichen  Taufe  ähnlich  sah. 
Tertullian  (de  Bapt.  5)  klagt  über  sie;  die  Christen  sahen  in  diesem 
Ritus  des  Isismysteriums  eine  Nachahmung  ihrer  eigenen  Gebräuche. 
Ob  und  wie  bei  diesen  Festen  das  höchste  Ziel  aller  Mysterien,  die 
Vereinigung  des  Mysten  mit  dem  Gotte,  erreicht  wurde,  wissen  wir 
nicht.  Man  könnte  sich  vorstellen,  daß  es  der  Priester  erzielte,  indem 
er  von  dem  heiligen  Wasser  trank  und  damit  den  Gott  leibhaftig  in 
sich  aufnahm.  Eine  Einzelheit  des  Gebetes  im  Isiskult  erwähnt 
Apuleius^:  am  Schlüsse  des  Kirchengebetes  für  den  Kaiser,  den  Senat, 
die  Ritter,  das  Volk,  für  Schiffe  und  Schiffende  sprach  der  Priester 
aoia  ecpecia.  Davon  ist  aoia  eine  psalmodierend  vorgetragene  Kom- 
bination griechischer  Vokale,  wie  wir  solche  aus  magischen  Texten  zur 
Genüge  als  zauberkräftig  kennen;  solche  Kombinationen  gelten  als 
icpeaa  Tpa^naxa,  d.  h.  Zaubersprüche.  Durch  den  Zusatz  ecpecia  sollen 
jene  Vokale  eben  als  Zauberspruch  bezeichnet  werden,  sie  vertraten 
im  Isiskult  die  Stelle  des  Amen. 

Neben  der  Mutter  Isis  verlangte  das  kultische  Bedürfnis  auch  nach 
einem  Vater.  Und  so  erscheint  in  späterer  Zeit  als  ihr  Gemahl  an 
des  Osiris  Stelle  Sarapis.^  Es  ist  ein  eigenartiger  Gott:  ein  König 
hat  ihn  mit  seinem  Minister  zusammen  ausgedacht.  Daß  man  das 
sagen  darf,  verdankt  man  den  ausführlichen  Berichten  des  Tacitus 
und  des  Clemens  Alexandrinus,  die  beide  auf  eine  gewichtige  alte 
Quelle,  die  echte  Kultlegende  des  Serapeums,  zurückgehen,  und  die 
so  ausführlich  berichten,  weil  Sarapis  in  aller  Welt  so  ungeheures 
Ansehen  genoß.  Danach  erschien  dem  ersten  Ptolemäus,  als  er  in 
Alexandreia  Tempel  und  Kulte  errichtete,  im  Traume  ein  herrlicher 
Jüngling  und  befahl  ihm,  sein  Bild  vom  Pontus  holen  zu  lassen.  Darauf 
fuhr  die  Erscheinung,  von  Feuer  umlodert,  gen  Himmel.  Der  König 
berief  zunächst  die  ägyptischen  Priester,  das  Traumgesicht  zu  deuten, 
aber  sie  vermochten  es  nicht.  Die  Lösung  brachte  ein  Grieche,  der 
Eumolpide  Timotheos  von  Eleusis:  es  sei  eine  Epiphanie  des  Gottes 
gewesen,  der  in  Sinope  am  Pontus  verehrt  werde.    Der  König  sendet 


'  Mithraslit.  162f.  '  Met.  XI  17;  s.  Mithraslit.  38. 

^  S.  o.  S.  159  und  die  S.  161  Anm.  angeführte  Literatur. 


Der  Untergang-  der  antiken  Religion  489 

nun  Boten  an  den  Herrscher  von  Sinope,  Skydrothemis.  Dieser  Name 
zeigt,  daß  uns  hier  eine  Legende  erzählt  wird,  denn  er  widerspricht 
der  Geschichte.  Unterwegs  befragen  die  Gesandten  den  delphischen 
Apollon;  ihr  Schiff  wird,  wie  Plutarch  erzählt,  Von  einem  Delphin  in 
den  Hafen  von  Kirra  geleitet.  Apollon  antwortet,  sie  sollten  das  Kult- 
bild von  Sinope  mit  heimbringen.  Skydrothemis  empfängt  die  Ge- 
sandten freundlich,  weiß  aber  der  Bitte  um  das  Kultbild  lange  auszu- 
weichen, bis  nach  drei  Jahren  ein  Traumgesicht  ihn  zur  Auslieferung 
zwingt.  Nach  einer  wunderbaren  Fahrt  von  drei  Tagen  kommt  das 
Schiff  mit  dem  Gotte  in  Alexandreia  an.  Timotheos  und  der  Ägypter 
Manetho  erkennen  in  ihm  den  Gott  Sarapis. 

Diese  Erzählung  ist  also  eine  Legende.  Komponiert  ist  sie  aus 
den  uralten  Motiven  von  der  Epiphanie  des  Gottes,  von  der  Fahrt  ins 
Hyperboreerland,  woher  der  Gott  geholt  wird,  wie  das  Bild  der  Artemis 
Taurica  oder  das  goldene  Vließ,  von  dem  geleitenden  Delphin  des 
Apollon,  den  bereits  der  homerische  Hymnus  kennt.  In  ganz  ähnlicher 
Weise  sind  auch  die  sonstigen  antiken  Legenden  abgefaßt,  welche  von 
der  Übertragung  eines  Kults  erzählen,  so  die  Berichte  über  die  Ein- 
holung des  Asklepios  von  Epidauros  und  der  Magna  Mater  von  Pessinus 
nach  Rom.  Und  nicht  anders  sehen  später  die  christlichen  Translations- 
legenden aus,  die  des  H.  Marcus  nach  Venedig,  des  H.  Jago  nach 
Compostella. 

Die  Sarapislegende  ist  sicher  von  eben  jenem  Eumolpiden  Timotheos 
verfaßt  worden,  der  in  ihr  so  bedeutsam  hervortritt:  er  schuf  dem 
neuen  Gotte  den  lepöc  Xötoc,  den  er  noch  nicht  besaß.  Und  wenn 
man  in  späterer  Zeit  diese  Legende  noch  auszuschreiben  vermochte, 
so  war  dies  wohl  mit  dem  Umstand  zu  verdanken,  daß  sie  in  Stein 
gemeißelt  auf  der  Tempelwand  zu  lesen  war. 

Das  Kultbild  des  Sarapeions  hat  Bryaxis  geschaffen,  ein  griechischer 
Künstler,  der  Ende  des  vierten  Jahrhunderts  in  Seleukeia  lebte.  Seine 
Statue  galt  als  Meisterwerk.  Sie  war  von  dunkeler  Farbe,  lang  wallten 
dem  Gotte  die  Haare  in  die  Stirn  herab,  neben  ihm  kauerte  ein  drei- 
köpfiger Hund.  Durch  alles  das  wurde  Sarapis  als  Unterweltsgott 
charakterisiert.  Und  doch  nicht  als  furchtbarer  Herrscher  über  die 
Toten,  sondern  eher  als  gütiger  Vater,  der  die  Seelen  durch  sanftes 
Zureden  im  Jenseits  festhält.  Zugleich  aber  wird  Sarapis,  wo  man 
von  ihm  rodet,  als  mächtiger  Weltengott  gefaßt.  Es  ist  bezeichnend 
für  das  Sehnen  der  Zeit,  daß  sie  als  wichtigsten  Zug  im  Wesen  des 
Götterkönigs  sein  Verhältnis  zu  den  Seelen  der  Toten  ansah.  Und 
betrachtet  man   alle  Eigenschaften,   die  Sarapis   beigelegt  werden,  so 


490  ^®^  Untergang  der  antiken  Religion 

erkennt  man,  daß  er  Zeus  den  Weltenherrscher,  Osiris  und  Dionysos, 
die  Herrn  der  Seelen,  und  Asklepios,  den  milden,  väterlichen  Arzt,  in 
sich  aufgenommen  hat.  Gerade  deshalb  mußte  er  einen  neuen  Namen 
erhalten,  einen  Namen,  frei  von  aller  mythologischen  Tradition.  Nun 
erst  konnte  man  sagen:  der  neue  Gott  ist  Zeus  und  Dionysos  und 
Asklepios  und  Osiris  zugleich.  Das  war  ein  mächtiger  Schritt  zum 
Monotheismus  hin:  in  einem  Gotte  waren  die  größten  unter  den 
Göttern  des  Pantheons  aufgegangen. 

Wie  der  Name  Sarapis  zu  erklären  ist,  muß  unsicher  bleiben. 
Dem  nahe  liegenden  Gedanken,  er  sei  aus  Osiris  Apis  entstanden, 
scheinen  sprachliche  Schwierigkeiten  entgegenzustehen.  Möglich  wäre 
die  Herleitung  aus  dem  Babylonischen.  Arrian  berichtet  nach  den 
Ephemeriden  Alexanders,  daß  es  in  Babylon  einen  Gott  dieses  Namens 
gegeben  hat.  In  der  Tat  kennt  die  Religion  Mesopotamiens  einen 
Sarapsi  und  einen  Sarapu;  von  diesen  ist  Sarapu  Unterweltsgott. 
Mehr  aber  als  Namen  und  chthonisches  Wesen  ist  keinenfalls  von 
dorther  übernommen  worden;  alles  andere  ist  Neuschöpfung  des 
Ptolemaios. 

Mit  der  Erschaffung  des  Sarapis  hat  der  hellenistische  König 
Ägyptens  zunächst  einen  politischen  Zweck  verfolgt:  einen  Kult  zu 
konstituieren,  in  dem  sich  Ägypter  und  Griechen  einigen  konnten, 
eine  Religion,  die  allmählich  die  Unterworfenen  hinüberziehen  sollte  zu 
den  Siegern.  Das  hat  die  ägyptische  Priesterschaft  deutlich  empfunden 
und  ist  deshalb  dem  wesentlich  hellenischen  Gotte  gegenüber  renitent 
gewesen.  Papyri  aus  Memphis,  die  Augenblicksbilder  aus  dem  Leben 
im  Sarapeion  geben,  lehren  uns  das.  Viel  ist  dort  die  Rede  von  den 
Kdxoxoi^  des  Sarapis.  Kdxoxoc  bedeutet  den,  der  von  dem  Gott  er- 
griffen ist  und  festgehalten  wird;  das  kann  entweder  psychisch  ge- 
wendet werden  (^Besessen')  oder  körperlich  CEingeschlossen').  Hier 
ist  meist  an  das  letztere  gedacht;  wir  erfahren,  daß  diese  Kdroxoi  in 
bestimmten  Räumen  des  Tempels  wie  in  einer  Haft  lebten.  Vieles  ist 
an  diesen  ältesten  Klausnern  noch  unklar,  nur  war  sicher  ihre  Auf- 
gabe,   den   neugeschaffenen  Kultus   nach    besten  Kräften   zu    fördern. 

In  der  Tat  hat  die  Sarapisreligion  rasche  Ausbreitung  gefunden,  des- 
halb hauptsächlich,  weil  sie  dem  religiösen  Bedürfnis  der  Zeit  entgegen 
kam.  Sarapis  trat  zur  Isis,  zur  Weltenmutter  der  Weltenvater,  der 
zugleich  im  Jenseits  der  Seele  ein  milder  Herr  war;  wir  wissen  ja,  wie 
hoch   damals   die  Jenseitshoffnungen   gestiegen  waren,  wie   sehr   man 


S.  A.  Dieterich,  Berl.  philol.  Wochenschr.  1905,  13 ff. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  491 

die  Macht  der  Unterirdischen  verehrte.  So  ist  Sarapis  nach  Norden 
und  Westen  gedrungen.  Er  besaß  bald  Kultstätten  in  Malta  und 
Sizilien,  und  ist  über  Pompei  und  Puteoli  in  Italien  eingewandert.  Bis 
zum  Ende  des  vierten  Jahrhunderts  ist  er  ein  starker  und  mächtiger 
Gott  gewesen. 

Schließlich  hat  der  hellenistische  Isiskult  auch  den  rein  ägyptischen 
Apis  in  seine  Kreise  gezogen.^  Vielfach  haben  sich  kleine  Stiere 
von  Bronze  gefunden,  starke  prächtige  Tiere  voll  stolzer  Kraft,  in 
Frankreich,  Süddeutschland,  der  Schweiz  und  Italien,  so  in  Pompei 
neben  dem  Tempel  der  Isis.  An  ihnen  fällt  ein  Loch  auf,  das  sich 
zwischen  den  Hörnern  befindet.  Hier  muß  etwas  eingesetzt  gewesen 
sein;  was  es  war,  lehrt  ein  pompeianisches  Bild:  die  Sichel  des  Halb- 
mondes, das  Symbol  der  Isis.  Dadurch  ist  die  Deutung  auf  einen 
ägyptischen  heiligen  Stier,  also  den  Apis,  gesichert.  Dessen  altertüm- 
licher, absonderlicher  Kult  muß  auf  die  Gemüter  der  antiken  Menschen 
einen  großen  Reiz  ausgeübt  haben.  Sie  haben  ihn  rezipiert,  aber  mit 
einer  gewissen  Umgestaltung;  im  ägyptischen  Kult  trug  der  Apis 
zwischen  den  Hörnern  die  von  Uräusschlangen  umwundene  Sonnen- 
scheibe. So  bilden  ihn  die  Münzen  des  memphitischen  Gaues  und 
die  Darstellungen  nationalägyptischer  Kunst  ab.  Diese  Änderung  geht 
wohl  aus  von  dem  Merkmal,  das  jeder  echte  Apis  haben  mußte,  auf 
der  rechten  Seite  einen  weißen  Fleck  in  Gestalt  einer  Mondsichel. 
Auch  der  Mythos  bildet  sich  mit  diesem  Vordringen  des  Mondes  aus. 
Herodot^  erzählt,  der  Apis  werde  erzeugt  von  einem  Lichtstrahl,  der 
vom  Himmel  in  eine  Kuh  niederfahre,  die  nicht  mehr  imstande  sei, 
ein  anderes  Kalb  zu  empfangen:  das  soll  wohl  heißen,  daß  die  Kuh 
nach  jungfräulicher  Geburt  Jungfrau  bleibt.  Plutarch"  setzt  sodann  an 
Stelle  des  Lichtstrahles  den  zeugungskräftigen  Mondstrahl.  Wenn  be- 
richtet wird,  daß  der  Apis  auf  dem  Rücken  das  Bild  eines  Adlers 
trage,  so  stimmen  dazu  die  Funde,  die  gelegentlich  einen  Adler  auf 
dem  Nacken  des  Apis  aufgesetzt  zeigen.  Eigenartig  ist  es,  daß  in 
einzelnen  Provinzen  versucht  wird,  das  Bild  des  Apis  nach  heimischen 
Anschauungen  auszugestalten.  So  finden  sich  in  Frankreich  Stiere  mit 
drei  Hörnern,  ein  Erzeugnis  keltischer  Vorstellungen.  Derart  ist  sogar 
dieser  fremde  Tierkult  vom  Hellenismus  aufgenommen  und  bis  in  die 
Grenzlande  antiker  Kultur  getragen  worden. 

Nächst  der  ägyptischen  Religion  ist  semitischer  Glaube  und  Brauch 
von    Bedeutung    für    die   Zersetzung    der    antiken   Religion    gewesen. 

1  A.  Furtwängler,  Bonner  Jahrb.  107  (1901)  37  ff. 

2  III  28.  '  Is.  et  Os.  c.  43  p.  368  C. 


492  ^®^  Untergang  der  antiken  Religion 

Doch  sind  hier  die  Einzelheiten  der  Rezeption  sehr  viel  schwerer  zu 
fassen,  und  zwar  deswegen,  weil  die  semitischen  Kulte,  ehe  sie  in 
den  Hellenismus  eindrangen  —  vielfach  wird  auch  das  gerade  zu 
Alexandreia  geschehen  sein  -,  vorher  an  anderer  Stelle  sich  bereits 
mit  fremden  Kulten  gemischt  hatten.  So  hat  der  Kult  der  Astarte 
sicherlich  schon  früh  manches  angenommen,  was  den  Religionen  der 
großen  Mutter  entstammte,  die  in  Phrygien  und  Lydien  zu  Hause 
waren.  Daher  sollen  auch  diese  hier  im  Zusammenhang  betrachtet 
werden. 

Bevor  der  Einfluß  des  semitischen  Polytheismus  auf  die  Antike  dar- 
gestellt wird,  sei  einiges  wenige  über  die  Berührungen  mit  dem  jüdischen 
Monotheismus  gesagt.  Nach  Alexander  dem  Großen  war  das  Land  der 
Israeliten  zeitweise  dem  Herrscherhaus  der  Seleukiden  botmäßig. 
Deren  Versuche,  Palästina  mit  Gewalt  zu  hellenisieren,  haben  eine  An- 
näherung zwischen  semitischer  und  griechischer  Kultur  und  Religion 
nicht  herbeigeführt.  Anders  war  es  außerhalb  der  Grenzen  Judäas, 
da,  wo  jüdische  Kaufleute  friedlich  in  der  hellenischen  Diaspora  saßen. 
Da  hörten  die  Griechen  von  der  Weisheit,  die  in  den  Synagogen  redete, 
die  Juden  von  den  Lehren  der  griechischen  Philosophie.  Hier  ent- 
standen Kompromisse  der  Weltanschauung,  wie  sie  etwa  aus  dem  pseudo- 
phokylideischen  Gedicht  oder  aus  den  Lehren  der  Therapeuten  und 
Essener^  zu  uns  reden.  Lebhafte  Beziehungen  zwischen  Griechentum 
und  der  jüdischen  Religion  bekundet  auch  die  Tatsache,  daß  die  heilige 
Schrift  der  Hebräer  in  griechische  Sprache  übersetzt  wurde.  Wo  uns 
auf  Inschriften  eine  Verehrung  des  6e6c  Oipicroc^  begegnet,  wird  es 
ein  Gott  sein,  der  jüdische  und  griechische  Anbeter  hatte,  und  sowohl 
als  Zeus  wie  als  Jahveh  aufgefaßt  werden  konnte.  Vielfach  sind 
Griechen,  später  auch  Römer,  wie  Juvenal^  spottend  berichtet,  Proselyten 
des  Judentums  geworden.  Solche  Übertritte  haben  das  Ihrige  zum 
Untergang  der  antiken  Religion  beigetragen.  Als  Ganzes  von  außen 
in  die  antike  Religion  aufgenommen  werden  konnte  der  jüdische  Mono- 
theismus nicht,  denn  Jahveh  duldet  keine  anderen  Götter  neben  sich. 

Der  semitische  Polytheismus  kennt  überall  zwei  oberste  Gottheiten, 
einen  männlichen,  zeugenden  Gott,  und  eine  weibliche,  empfangende 
Göttin.  Der  männliche  Gott  heißt  durchweg  Baal  (BadX,  BnXoc)*.  Das 
ist  nur  ein  Titel,  denn  das  Wort  heißt  'Herr',  Servius  bemerkt  richtig: 
lingua  Punica  Baal  deus  dicitur.   Wenn  Baal  aber  den  Gott  schlecht- 

»  Abraxas  143 ff.;  Nekyia  221  f. 

'  F.  Cumont,  Hypsistos,  Suppl.  Rev.  instr.  publ.  en  Belgique  1897. 

8  VI  542  ff.;  XIV  101  ff.  *  S.  Cumont  bei  Pauly-Wissowa  u.  Baal. 


Der  Untergang-  der  antiken  Religion  493 

hin  bezeichnet,  so  mußte  eine  nähere  Bezeichnung  hinzutreten,  sobald 
ein  bestimmter  Gott  gemeint  war.  Dazu  wählt  man  meist  den  Namen 
des  Ortes,  über  den  er  gebietet,  in  dem  er  hauptsächlich  verehrt  wird. 
Werden  die  Namen  ins  Griechische  übertragen,  so  wird  der  Name  der 
Kultstätte  entweder  mit  übernommen,  oder  es  wird  davon  abstrahiert. 
Das  erste  ist  üblich,  nur  der  Bei  von  Babylon  heißt  ohne  Zusatz  BnXoc. 
Oder  es  begegnet  ein  rein  griechischer  Name;  der  Gott,  der  zu  Pal- 
myra  als  Oeöc  Traipiuoc  verehrt  wird,  ist  ein  Bei  gewesen.  Und  zwar 
war  er  aus  Babylon  dorthin  gekommen,  wie  denn  überhaupt  der  baby- 
lonische Gott  nur  durch  Vermittelung  der  Semitischen  Religion  auf  die 
griechisch-römische  Welt  gewirkt  hat.  Dagegen  sind  syrisch-phönikische 
Baalim  häufig  genug  von  Griechen  verehrt  worden,  seien  es  die  einer 
einzelnen  Gemeinde  -  so  die  von  Hierapolis,  Palmyra,  Heliopolis, 
Tarsus  -  oder  eines  einzelnen  Ortes,  wie  der  Baal  vom  Berge  Karmel. 
In  diese  Reihe  gehört  auch  der  wohlbekannte  Beelzebub  \  wörtlich 
übersetzt  'der  Fliegenbaal',  ursprünglich  der  Gott  der  Stadt  Aqqaron 
im  Philisterlande.  Rein  griechisch  heißt  er  Zeuc  (xttojuijioc:  die  Gleich- 
setzung mit  Zeus  war  für  den  höchsten  Gott  eines  Stammes  von  selbst 
gegeben.  Diesen  Rang  aber  hat  Bee\Z:eßoij\  nicht  überall  behauptet; 
wie  so  oft  ist  auch  er,  der  Gott  eines  fremden  Stammes,  bei  der  Über- 
nahme ein  Dämon  geworden.  So  erscheint  er  im  Neuen  Testament, 
so  kennen  die  griechischen  Zauberpapyri  und  Inschriften  den  Dämon 

Am  wichtigsten  sind  für  die  antike  Religion  der  Baal  von  Doliche 
und  der  Baal  von  Emesa  geworden.  Zeuc  AoXixnvöc,  Juppiter  Doli- 
chenus^  ist  ursprünglich  Herr  des  kleinen  Städtchens  Doliche  in 
Kommagene,  heute  Tell-Dulük  genannt,  d.  h.  Hügel  von  Doliche.  Von 
hier  aus  hat  sich  sein  Kult  in  alle  Welt  verbreitet;  zunächst  durch  Asien, 
wo  sich  ein  Denkmal  seiner  Verehrung  in  Antiochia  am  Taurus  gefunden 
hat.  Intensiver  werden  die  Beziehungen  zum  Abendland  seit  71  n.  Chr., 
dem  Jahr,  in  dem  das  Königtum  Kommagene  durch  Vespasian  dem  römischen 
Reich  einverleibt  wurde;  die  älteste  datierbare  Kultinschrift  des  Doli- 
chenus  ist  unter  Hadrian  gesetzt.  Die  Blütezeit  seiner  Verehrung  be- 
ginnt unter  den  Severen;  diese  Kaiser  reihen  ihn  unter  die  Heeres- 
gottheiten ein;  von  nun  an  sorgen  die  Legionen  für  seine  Verbreitung. 
Daneben  haben  die  Syrer,  die  als  Sklaven  und  Freigelassene,  als 
Kaufleute   und  Beamte   der   kaiserlichen  Verwaltung  tiberall  hinkamen, 


*  S.  Cumont  ebenda  u.  Beelzebub. 

'  S.  Ed.  Meyer  bei  Röscher  und  Cumont  bei  Pauly-Wissowa  u.  Dolichenus; 
V.  Domaszewski,  Abb.  zur  röm.  Rel.  209. 


494  Dß^  Untergang  der  antiken  Religion 

ihren  Gott  bis  in  die  fernsten  Grenzprovinzen  getragen.  In  Rom  be- 
saß er  außerhalb  des  Pomeriums  zwei  Heiligtümer,  auf  dem  Aventin 
und  auf  dem  Esquilin;  das  esquilinische  Sacellum  ist  191  n,  Chr.  von 
Commodus  restauriert  und  prachtvoll  erweitert  worden.  Auch  sonst 
hat  Italien  Kultstätten  aufzuweisen;  in  Afrika  ist  Lambaesis,  an  der 
Donau  Carnuntum  Hauptsitz  seiner  Verehrung;  am  Limes  entlang  ziehen 
sich  seine  Kapellen  und  Votivsteine  von  Pforzheim  über  Heddernheim, 
Saalburg,  Remagen  und  Bonn  nach  Köln,  bis  an  den  Hadrianswall  sind 
sie  gedrungen.  Der  letzte  datierbare  Stein  dieser  Art  stammt  aus  der 
Zeit  von  244-250. 

Die  Bildwerke,  die  wir  vom  dolichenischen  Juppiter  besitzen,  zeigen 
ihn  als  Mann  in  römischer  Bewaffnung  —  die  trug  er  als  römischer  deus 
militaris;  ein  orientalisches  Relief  stellt  ihn  in  persischer  Tracht  dar  - 
mit  phrygischer  Mütze,  Blitz  und  Donnerkeil  in  der  linken,  die  Doppel- 
axt in  der  rechten  Hand;  er  steht  auf  einem  Stier,  der  nach  rechts 
schreitet.  Diese  Kombination  erklärt  sich  daraus,  daß  sich  hier  an 
einen  älteren  Stierkult  die  Verehrung  eines  menschengestaltigen  Gottes 
angeschlossen  hat:  die  Verbindung  beider  wird  im  Bilde  dadurch  aus- 
gedrückt, daß  sich  der  Mensch  auf  das  Tier  stellt.  Nicht  etwa  setzt: 
auch  Apollo  sitzt  nicht  etwa  auf  dem  Thron  von  Amyklai,  sondern  steht 
auf  ihm,  zum  Zeichen,  daß  zuerst  der  Kult  des  leeren  Thrones  vor- 
handen war,  ehe  der  des  Gottes  hinzukam.  Wenn  sich  die  Bilder  des 
Dolichenus  auf  dreieckigen  Bronzeplatten  finden,  so  liegt  in  dieser 
eigentümlichen  Form  vielleicht  eine  Erinnerung  an  einen  alten  Fetisch- 
kult, die  Verehrung  eines  spitzzulaufenden  Steines.  Neben  dem  Baal 
von  Doliche  steht  ein  weibliches  Gegenbild,  neben  dem  Könige  eine 
Königin,  eine  Juno  regina,  wie  sie  die  Inschriften  nennen.  Auch  ihre 
Verehrung  hängt  mit  altem  Tierkult  zusammen:  sie  steht  in  ihren  Bildern 
auf  einer  Kuh  oder  einer  Löwin  oder  einer  Hindin. 

Vielleicht  kann  man  aus  dem  Bilde  des  Dolichenus  noch  eine 
weitere  Vorstufe  seines  Kultes  erschließen.  Eine  Bronzepyramide  läßt 
ihn  in  einer  Hand  eine  Rosette  halten  und  stellt  ihn  auf  zwei  halbe 
Stiere,  deren  Leiber  durch  eine  Rosette  verbunden  sind.  Nun  kennen 
wir  aus  Mykenä^  den  Stierkopf  mit  der  Rosette,  die  Doppelaxt  zwischen 
den  Hörnern,  aus  Knossos  auf  Kreta  die  Doppelaxt,  wie  sie  der  Doli- 
chenus in  der  Hand  trägt,  als  Fetisch:  das  kretische  Labyrinth  war 
wohl  nur  das  Haus  der  Xdßpuc,  d.  i.  eben  der  Doppelaxt.  Im  Labyrinth 
haust   der  Minotauros:   das   ist   eine  Vermenschlichung  späterer  Gene- 


'  S.  Karo,  Arch.  für  Rel.-Wiss.  VII  1904,  124ff. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  495 

rationen;  die  Urzeit  hat  hier  einen  Stier  als  Himmelsgott  verehrt.  Von 
Kreta  aus  hat  die  Verehrung  der  Doppelaxt  nach  Kleinasien,  also  in 
der  Richtung  auf  Kommagene,  herübergegriffen;  in  Karien  trägt  der 
Gott  von  Labranda,  der  Zeuc  Xaßpduvboc,  die  Doppelaxt  als  Beigabe; 
an  den  Namen  der  Xdßpuc  erinnert  die  Epiklese  des  Zeus  auf  Kypros: 
Labranios.  So  hat  sich  also  von  Kreta  die  Verehrung  des  Stieres 
und  des  Fetischs  der  Doppelaxt  verbreitet,  um  in  Vereinigung  mit  dem 
menschengestahigen  Baal  des  fernen  Doliche  später  den  Juppiter  Doli- 
chenus  zu  schaffen. 

Noch  bedeutsamer  ist  für  die  antike  Religion  der  Baal  vonEmesa^ 
geworden.  Daß  es  dahin  kam,  dazu  lag  der  Grund  in  der  Ehe,  die 
Septimius  Severus  mit  einer  Syrerin  einging.  Sie  hieß  von  Hause  aus 
Martha,  'die  Herrin';  als  Römerin  hat  sie  sich  Julia  Domna  genannt. 
Sie  war  eine  hervorragende  Frau,  begabt  namentlich  mit  großer  Willens- 
kraft, dabei  ihrer  heimischen  Religion  -  sie  war  Priesterin  des  Zeus 
von  Emesa  -  fanatisch  ergeben.  So  hat  sie  auch  seine  Verehrung  in 
Italien  gefördert,  und  damit  einen  Kult  in  Rom  eingeführt,  in  dem  tiefe 
Mystik  und  wilde  Obszönität  unvermittelt  nebeneinander  standen.  Mit 
seiner  Rezipierung  hatte  die  semitische  Religion  ihren  stärksten  Einfluß 
auf  die  antike  gewonnen.  Die  Blüte  dieses  Kultes  führte  Heliogabalus 
herauf,  der  Enkel  der  Julia  Domna.  Als  im  Jahre  217  die  Legionen 
ihn,  den  jugendlich  schönen  Priester  des  Sonnengottes  seiner  syrischen 
Heimat,  auf  den  Thron  der  Cäsaren  gehoben  hatten,  brachte  er  das 
Bild  seines  Gottes  mit  sich  nach  Rom  und  blieb  dort  sein  Priester. 
Der  Gott  hieß  Elagabal,  und  sein  Priester  wurde  ebenso  genannt. 
Weil  man  aber  den  Gott  als  Sonnengott  kannte,  verdrehte  man  den 
Namen  zu  Heliogabalus.  Der  vierzehnjährige  Syrerknabe,  der  sich  als 
Herr  der  Welt  fühlte,  hat  seine  Allmacht  völlig  in  den  Dienst  seines 
Gottes  gestellt.  In  der  Kurie  des  römischen  Senats  wurde  der  semi- 
tische Baal  aufgestellt  —  ein  Schlag  in  das  Gesicht  aller  römischen 
Tradition.  Auf  dem  Palatin  wurde  ein  Tempel  errichtet,  und  dorthin 
aller  anderen  Götter  Bilder  gebracht,  damit  sie  dem  großen  Himmels- 
könig Untertan  seien,  dem  Gott,  der  in  sich  das  Wesen  und  die  Macht 
aller  anderen  Götter  vereinigte.  In  einer  Karikatur  wiederholt  sich 
hier,  was  Ptolemaeus  durch  die  Schöpfung  des  Sarapis  erreicht  hatte: 
ein  Gott  nimmt  eine  Reihe  anderer  in  sich  auf.  Dort  waren  es  wenige, 
hier  sind  es  alle:  die  Annäherung  an  den  Monotheismus  ist  noch  größer 
geworden,  seitdem  der  Dienst  des  einen  großen  Sonnengottes  prokla- 


Die  Grabschrift  des  Aberkios  28  ff. 


496  ^^^  Untergang  der  antiken  Religion 

miert  ist.  Nahezu  vier  Jahre  hat  dieser  das  römische  Reich  und  damit 
ein  gut  Teil  antiker  Religion  beherrscht,  dann  kam  der  Sturz  des 
kaiserlichen  Priesters,  dem  die  Erniedrigung  des  Gottes  folgte. 

Während  seiner  Regierung  hat  Elagabal  alljährlich  eine  große 
Prozession  aufführen  lassen,  bei  denen  sich  sein  Baal  leibhaftig  den 
Römern  zeigte.  Und  zwar  war  es  ein  Stein,  seine  Religion  also  ein 
primitiver  Fetischkult.  Bei  jenen  Umzügen  stand  der  Stein  auf  einem 
Wagen,  die  Zügel  waren  um  ihn  herumgeschlungen,  der  Gott  selbst 
lenkte  sein  Gespann.  Und  nun  kam  Elagabal  auf  den  Gedanken, 
diesen  seinen  Fetisch  zu  verheiraten.  So  wahnwitzig  das  klingt,  es 
birgt  sich  hier  doch  der  tief  religiöse  Gedanke  von  der  Ehe  des 
Götterkönigs  mit  der  Götterkönigin,  die  sich  zum  Segen  der  Welt  im 
lepöc  Ta|uoc  einigen.  Diese  Königin  fand  er  in  der  großen  Göttin  von 
Karthago,  die  bald  Juno,  bald  Virgo  caelestis  heißt;  sie  führte  aber 
auch  einfach  den  Namen  Regina.  Ihre  prachtvolle  Bildsäule  kam  nach 
Rom  und  war  die  Braut  in  dem  riesenhaften  Hochzeitsfest,  das 
Elagabal  feiern  ließ. 

Für  dies  Fest  besitzen  wir  noch  ein  merkwürdiges  Zeugnis,  eine 
Inschrift  im  Lateran,  die  der  Sultan  dem  Papst  geschenkt  hat.  Es  ist 
das  Bruchstück  einer  auch  literarisch  erhaltenen  Grabschrift,  die 
Aberkios  von  Hierapolis  sich  selbst  bei  Lebzeiten  kurz  nach  216  n. 
Chr.  gesetzt  hat.  Er  nennt  sich  Jünger  des  reinen  Hirten,  der  da 
weidet  der  Schafe  Herden  auf  Bergen  und  Fluren,  der  Augen  hat  ge- 
waltig, die  überall  niederschauen.  Damit  ist  ohne  Frage  Attis  gemeint. 
Dieser,  d.  h.  der  Kultverein  des  Attis,  hat  den  Aberkios  nach  Rom 
gesandt,  einen  König  zu  schauen  und  eine  Königin  zu  sehen  mit 
goldnem  Gewand  und  goldnen  Sandalen;  und  in  Rom  sah  Aberkios 
einen  Stein  mit  leuchtendem  Gepräge.  In  dem  König  und  der  Königin 
hat  man  mit  Unrecht  den  Bischof  von  Rom  und  die  dortige  christliche 
Gemeinde  sehen  wollen;  auch  der  Kaiser  und  die  Kaiserin  können 
unmöglich  gemeint  sein.  BaciXeuc  und  BaciXicca  sind  der  Baal  von 
Emesa  und  seine  Gemahlin,  die  Regina  caelestis,  der  Stein  mit  dem 
leuchtenden  Gepräge  ist  der  Fetisch  Elagabals,  Herodian  berichtet  aus- 
drücklich, daß  dieser  eHoxdc  Tivac  Kai  tOttouc  besaß,  offenbar  glänzende, 
edelsteinartige  Erhöhungen.  So  sendet  die  Attisgemeinde  einer  phry- 
gischen  Stadt  zu  jenem  großen  Götterfest  ihren  Vertreter  nach  Rom; 
der  große  Sonnengott  Attis  war  zumal  in  jener  Zeit  der  Göttermischung, 
der  Mischung  zu  einem  großen  Sonnengott,  dem  Sol  Elagabal  nahe 
verwandt.  Der  eine  Gott  schickt  seinen  Diener,  den  anderen  zu 
schauen,   denn   es  ist  die  Herrlichkeit  seines  eigenen  Kultus,   die  sich 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  497 

in  dem  des  Verwandten,  des  orientalischen  Sonnengottes,  in  Rom 
offenbart.  Diese  Sendung  war  das  Hauptereignis  im  Leben  des 
Aberkios,  darum  hat  er  die  Erwähnung  dieser  Ehrentage  in  seine 
Grabschrift  aufgenommen.  Dabei  vergißt  er  nicht,  der  heiligen 
kultischen  Mahle  zu  gedenken,  wie  sie  die  Attisgemeinden  begehen: 
'Nahrung  war  überall  ein  Fisch  vom  Quellwasser,  gar  groß  und  rein, 
den  gefangen  hatte  eine  reine  Jungfrau.  Den  gewährte  sie  den 
Genossen  immer  zu  essen  und  spendete  Wein  in  guter  Mischung 
mit  Brot'. 

Aber  wir  wenden  uns  der  Religion  des  Attis  selbst  zu.  Die 
neuesten  Untersuchungen,  namentlich  das  Buch  von  H.  Hepding,  Attis, 
seine  Mythen  und  sein  Kult^  gestatten  uns,  die  Entwicklung  dieser 
Religion  zu  übersehen.  Attis  ist  in  Asien  zu  Hause  und  begegnet 
zuerst  in  Phrygien,  wo  er  in  enger  Verbindung  mit  der  Großen 
Mutter  erscheint,  jener  Göttin,  deren  Steinfetisch  sich  die  Römer  am 
Ende  des  dritten  Jahrhunderts  aus  Pessinus  geholt  haben.  Sie  führt 
dort  den  Namen  Mä  und  hat  neben  sich  einen  männlichen  Gott,  der 
Papas  heißt,  aber  auch  Attes  genannt  wird.  Dieses  phrygische  Götter- 
paar erfuhr  eine  Ausgestaltung,  als  vom  Balkan  herüber  eine  thrakische 
Einwanderung  stattfand,  die  ihren  orgiastischen  Dionysoskult  mitbrachte. 
Sie  setzten  ihre  Göttin  Kotys  der  Mä  gleich,  und  mit  Attes  ihren 
höchsten  Gott  Dionysos -Sabazios.  Zugleich  kam  damit  die  in  der 
Dionysosreligion  so  lebendige  Lehre  von  der  Unsterblichkeit  der  Seele 
nach  Phrygien.  Auf  thrakischem  Einfluß  beruht  auch  die  Verehrung 
der  Fichte  im  Attiskult,  die  wie  der  Gott  beklagt  wird.  Ursprünglich 
ist  sie  selbst  ein  Gott,  genau  wie  der  Aiövucoc  bevbpiTtic  oder  evbev- 
bpoc,  dem  vor  allen  Bäumen  die  Pinie  heilig  ist.  Auch  werden  im 
Dionysoskult  von  den  Mysten  Fichtenschößlinge  getragen.  Die  von 
den  Dionysosverehrern  begangenen  dvacpavicjuoi  und  dvaßiujceic  werden 
auch  dem  Attis  gefeiert.  Sein  Priester  heißt  Attis,  wie  die  des  Bakchos 
BdKxoi.  Femer  erscheinen  unter  dem  Kultpersonal  Hastiferi,  die  ge- 
legentlich Pastores  heißen;  diese  'Hirten'  werden  den  dionysischen 
BouKÖXoi  nahe  verwandt  sein.  Nach  dem  thrakischen  hat  der  Attiskult 
noch  semitischen  Einfluß  erfahren.  Namentlich  zeigt  sich  dieses  in  der 
Entmannung  der  Priester,  die  für  den  Kult  der  semitischen  Astarten 
bezeugt  ist;  daß  sie  später  eingeführt  wurde,  ist  wohl  daraus  zu 
schließen,  daß  Herodot  sie  nicht  erwähnt,  also  wohl  auch  nicht  kennt. 
Wie  im  Dienst  der  syrischen  Göttin  man  eine  ätiologische  Legende  zu 


^  Rel.-gesch.  Vers,  und  Vorarbeiten  I  1903,  namentlich  S.  211  ff. 
Albrecht  Dielerich:   Kleine  Schriften.  32 


498  D®^  Untergang  der  antiken  Religion 

erzählen  wußte  von  Kombabos,  der  sich  zuerst  entmannt  habe,  so 
werden  nun  auch  verschiedene  Erzählungen  von  Attis  erfunden,  der 
als  erster  sich  der  Kastration  unterzogen  habe,  etwa  daß  er  der  Großen 
Mutter  einer  Nymphe  wegen  untreu  geworden  sei,  deshalb  zur  Strafe 
in  Raserei  versetzt  wird  und  sich  nun  selbst  entmannt.  Diese  Er- 
zählung arbeitet  mit  ganz  bekannten  Märchenmotiven,  wie  sie  auch 
die  Sage  von  Daphnis  kennt,  den  die  Nymphe  wegen  seiner  Untreue 
blendet.  Durch  dergleichen  Mythen  aber  geht  Attis  allmählich  seiner 
göttlichen  Natur  verlustig  und  wird  zu  einer  jener  schönen  Jünglings- 
gestalten, die,  obwohl  Götterlieblinge,  eines  frühen  Todes  sterben  und 
beklagt  werden,  wie  Adonis  und  Hyakinthos,  Hylas  und  Linos,  oder 
in  deutscher  Sage  Balder  und  Siegfried. 

Aber  das  ist  der  Weg,  den  Attis  nur  in  der  Volkserzählung  und  im 
Volkslied  geht.  In  der  Religion  ist  er  denselben  Pfad  gewandelt,  wie 
viele  männliche  Gottheiten  in  der  Zeit  des  ausgehenden  Altertums:  er 
ist  der  große  Sonnengott  geworden,  der  Heiland  seiner  Gläubigen, 
der  selbst  wiedererstanden  ist,  und  mit  dem  sich  die  erlösungs- 
bedürftigen Menschen  zu  vereinigen  suchen,  um  sich  die  eigene 
Wiedererstehung  zu  sichern.  Wer  die  Entwicklung  des  Attiskultes 
übersieht,  kann  sie  von  der  Verehrung  alter  Steinfetische  über  den 
Baumkult  bis  zu  dem  tief  innerlichen  Glauben  an  einen  erlösenden  All- 
gott durch  alle  Etappen  der  Entwicklung,  deren  ein  solcher  Kult  über- 
haupt fähig  ist,  verfolgen. 

Auch  nach  Rom  ist  der  Kult  des  Attis  gedrungen.  Auf  dem  Pala- 
tin  hatte  er  seinen  Sitz,  nicht  fern  von  der  Stelle,  wo  sich  die  kaiser- 
lichen Paläste  erhoben.  Kaiser  Claudius  hat  ihn  in  die  Reihe  der 
Staatskulte  aufgenommen,  damit  aber  nur  sanktioniert,  was  inoffiziell 
schon  lange  geschehen  war.  Das  Hauptfest  fand  in  der  zweiten  Hälfte 
des  März  statt.  Es  begann  mit  einer  Vorfeier  am  15.  März;  an  diesem 
Tage  trugen  die  Kannophoren  Schilf  zum  Tempel  auf  dem  Palatin. 
Welche  Bedeutung  dies  Schilf  für  den  Ritus  hatte,  steht  nicht  fest; 
irgend  welcher  Mythos  muß  den  Attis  in  Beziehung  zum  Wasser  gesetzt 
haben,  Catulls  Galliamben,  die  wohl  dem  Kallimachos  nachgedichtet 
sind,  verlegen  die  Klage  des  Attis  ans  Ufer  des  Meeres.  Das  Haupt- 
fest fing  am  24.  März  an,  es  war  eine  Trauerfeier,  die  den  Gläubigen 
bestimmtes  Fasten  und  geschlechtliche  Enthaltung  vorschrieb.  In  einer 
Prozession  wurde  die  Fichte  getragen,  unter  der  Attis  sich  den  Tod 
gegeben  haben  sollte;  ihre  Zweige  waren  mit  Veilchenkränzen  um- 
wunden und  der  Stamm  wie  eine  Leiche  mit  Wollbinden  umgeben  - 
ursprünglich  war  eben  die  Fichte  der  Gott  selbst.     In  feierlichem  Zug 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  499 

brachten  die  Dendrophoroi,  die  Baumträger,  jene  Pinie  zum  Tempel 
des  Palatin:  dort  wurde  sie  aufgerichtet  und  nun  von  den  Gläubigen 
wie  der  gestorbene  Gott  unter  Jammern  und  Klagen  beweint.  Ihren 
Gipfel  erreichten  die  Äußerungen  des  Schmerzes  am  24.  März,  dem 
dies  sanguinis,  so  genannt,  weil  an  diesem  Tage  die  Verschnittenen 
des  Gottes  in  ekstatischer  Raserei  sich  selbst  verwundeten,  um  das 
eigene  Blut  dem  Gotte  als  Totenopfer  zu  bringen.  Dann  erfolgt  jäh 
der  Übergang  zur  ausgelassenen  Freude;  der  25.  März  heißt  von 
seinem  heiteren  Charakter  Hilaria:  man  feierte  den  Gott  als  Wieder- 
erstandenen. Ein  lustiger,  karnevalistischer  Umzug  am  27.  März  be- 
schloß die  Feier;  das  Kultbild  und  die  Sacra  der  Großen  Mutter  wurden 
zum  Bache  Almo  gefahren,  dort  gebadet  und  wieder  in  den  Tempel 
zurückgebracht.  Dazu  sang  die  mitziehende  Menge  ausgelassene  Lieder 
selbst  obszönen  Inhalts. 

In  diesen  Formen  hat  sich  der  Kult  des  Attis  gehalten  bis  zum 
Ausgang  des  vierten  Jahrhunderts;  noch  im  Jahre  350  fand  der  Zug 
der  Dendrophoren  zum  Palatin  statt,  erst  Theodosius  hat  ihm  ein  Ende 
gemacht:  390  bezeugt  eine  Inschrift  das  Vorhandensein  des  Attiskultes, 
der  noch  im  Jahre  394  im  Carmen  adversus  paganos  befehdet  wird. 
Und  nicht  nur  oben  auf  dem  Palatin  hatte  er  seinen  Sitz;  auch  da,  wo 
heute  der  Vatikan  sich  erhebt,  war  einst  eine  hochheilige  Stätte  der 
Großen  Mutter.  Diese  gewaltige  Lebenskraft  besaß  jene  Religion  durch 
den  Jenseitsglauben,  der  sie  durchzog.  Wir  wissen  mehr  davon  durch 
Firmicus  Maternus,  der  in  seinem  Büchlein  De  errore  profanarum 
religionum^  davon  erzählt,  mit  guter  Sachkenntnis:  hatte  er  doch  selbst, 
ehe  er  Christ  wurde,  die  Weihe  bei  verschiedenen  andern  Kulten  ge- 
nommen. Er  erzählt,  wie  in  einer  Nacht  -  gemeint  ist  offenbar  die 
vom  24.  auf  den  25.  März  -  die  Mysten  versammelt  sind  und  um  den 
toten  Gott  klagen,  dessen  Leichnam  auf  der  Bahre  liegt.  Plötzlich  er- 
scheint ein  Licht;  nun  salbt  der  Priester  die  Kehlen  der  Mysten  und 
spricht  dazu:  GappeTie  laücxai  toO  0eoö  cecuucjLievou *  |  ecrai  Kai  r\}Xiv 
€K  TTÖvujv  ciuTTipia.  Das  Heil  der  Mysten  hängt  an  der  Rettung  des 
Gottes;  wie  er  auferstanden  ist,  werden  auch  sie  wiedererstehen.  Bei 
dieser  nächtlichen  Feier  wird  man  an  die  ganz  ähnlichen  Begehungen 
der  griechischen  Kirche  erinnert,  in  der  Nacht  vor  Ostersonntag  beim 
Übergang  von  der  Trauer  um  den  gestorbenen  Christus  zur  Freude 
über  den  Wiederauferstandenen. 

Auch  die  Liturgie  des  Attismysteriums  hat  uns  Firmicus^  erhalten. 
Ganz   ähnlich   berichtet   sie   Clemens   Alexandrinus.      Der   Myste    wird 
'  Kap.  XXII;  s.  Mithraslit.  174.  *  Kap.  XVIII;  s.  Mithraslit.  103 ff. 

32* 


500  ^®'"  Untergang  der  antiken  Religion 

dabei  als  homo  moriturus  bezeichnet,  das  deutet  wohl  auf  einen  sym- 
bolisch dargestellten  Tod  des  alten  Menschen,  dem  dann  eine  Wieder- 
geburt des  gottgeweihten  folgte.  Damit  er  ins  Allerheiligste  eintreten 
kann,  sagt  er:  €K  TujuTrdvou  ßeßpuuKa,  eK  KujußdXou  TreirujKa,  feYOva  |u\JCTric 
"AxTeujc.  Das  zeigt,  daß  jene  Wiedergeburt  zum  Mysten  des  Attis 
durch  eine  sakramentale  Speise  erfolgte,  die  den  Menschen  mit  dem 
Gott  vereinte.  Wenn  Firmicus  widerlegend  fortfährt,  daß  gerade  dieser 
Speise  der  Tod  folge,  und  als  wahre  Speise  das  Brot  und  den  Becher 
Christi  empfiehlt,  so  weiß  er,  daß  die  Attisdiener  in  der  Tat  eine 
magische  Speise  des  Lebens  aus  ihren  Kultgeräten  zu  essen  meinten. 
Ahnliche  Bedeutung  muß  Trank  und  Speise  in  den  Mysterien  der  großen 
Götter  von  Samothrake  gehabt  haben,  wenn  man  einer  Inschrift  von 
Tomi  und  ihrer  Ergänzung  trauen  darf:  der  Priester,  7Tap[eH€i  tö  7T€|U|u]a 
cxicac  Kai  eTX^^i  [tö  ttotov  toT]c  juijciaic.  Zu  dem  Symbolon  des 
Firmicus  fügt  Clemens  noch  hinzu:  eKcpvoqpöprica,  ijttö  töv  iracTov 
ijTTebuov^  Der  Kepvoc  war  ein  Tongefäß,  das,  mit  allen  möglichen 
Körnern  gefüllt,  zu  jener  Speisezeremonie  herbeigetragen  wurde.  Der 
zweite  Teil  des  Zusatzes  bedeutet  ^ich  bin  ins  Brautgemach  einge- 
gangen'. Das  weist  hin  auf  einen  Ritus,  in  dem  man  die  Vereinigung 
des  Menschen  mit  Gott  unter  dem  Bilde  der  Hochzeit  der  menschlichen 
Seele  mit  dem  himmlischen  Bräutigam  darstellte.  Organisiert  sind  diese 
Mysten  in  Kultgemeinden,  deren  Mitglieder  sich  selbst  als  Brüder  be- 
zeichnen; ihr  gemeinschaftlicher  Vater  ist  der  Gott,  und  an  seiner 
Statt  steht  der  Priester,  den  die  Inschriften  dTTTuäc  oder  irarrip  nennen. 
Vieles  ist  hier  dem  Christentum  so  ungeheuer  ähnlich,  daß  man  wohl 
versteht,  wie  zum  Christlichen  neigende  Gnostiker  ihre  Lehre  mit 
Sätzen  des  Attisglaubens  vermengen,  und  wie  einer  seiner  Apologeten, 
den  Namen  des  Gottes  mit  einer  Benennung  nach  der  phrygischen 
Mütze  umschreibend,  sagen  konnte:  Et  ipse  püeatus  Christus  est. 

Und  noch  in  anderer  Weise  haben  die  Jünger  des  Attis  sich  die 
geistige  Wiedergeburt  zu  sichern  gewußt:  durch  das  Taurobolium^. 
Der  Myste  birgt  sich  in  einer  Grube,  über  ihm  wird  ein  Stier  ge- 
schlachtet, dessen  herabrinnendes  heiliges  Blut  ihn  berieselt  und  mit 
neuer  Lebenskraft  durchdringt.  Dankbar^  bekennen  sie  auf  ihren  Votiv- 
steinen,  daß  sie  taurobolio  renati  sunt,  meist  heißt  es  auf  zwanzig 
Jahre,  einmal  in  aeternum.  Diese  selbe  Wiedergeburt  zur  Gemein- 
schaft mit  dem  Gott  wird  auch  durch  das  Kriobolium  erreicht:  auch 
da  werden  wir  wieder  an  Christliches  erinnert,  an  das  Lamm,  das  ge- 


Mithraslit.  126.  '  Mithraslit.  163. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  501 

schlachtet  ist  zur  Vergebung  der  Sünden.  Diese  Bräuche  gehören  in 
den  großen  Zusammenhang  der  Blutriten,  wie  sie  bei  den  Semiten 
noch  heute,  z.  T.  aus  ältester  Zeit  bestehen;  S.  J.  Curtiss,  Ursemitische 
Religion  im  Volksleben  des  heutigen  Orients  \  hat  sie  gesammelt  und 
beschrieben.  Endlich  haben  wir  noch  ein  Zeugnis  über  die  Verwendung 
von  Milch  im  Kulte  des  Attis;  Sallustius  irepi  Geiuv^  nennt  unter  diesen 
Mysterien  auch  die  TaXctKioc  xpocpfi  ujcirep  dvaYevviu|ueviuv.  Milch  als 
Speise  wie  der  leiblich,  so  der  geistig  Neugeborenen:  denselben  Ver- 
gleich finden  wir  bei  Clemens  von  Alexandreia,  der  Milch  und  Honig 
als  sakramentale  Speise  nach  der  Wiedergeburt  in  Christo  kennt,  als 
erstes  Abendmahl  der  Täuflinge. 

Neben  diesen  ursprünglich  phrygischen  Kulten  darf  noch  kurz 
der  Karische  des  Zeus  Panamaros^  erwähnt  werden.  Auch  hier  wurde 
ein  altes  Götterpaar  zusammen  verehrt,  ursprünglich  wohl  ein  Amaros 
und  eine  Amara.  Die  Griechen  haben  den  Kult  rezipiert  und  ihn  zu 
einem  Zeus  Pan- Amaros,  sie  zu  einer  Hera  ausgestaltet.  Es  scheint, 
als  ob  wir  von  der  Kultlegende  dieser  Religion  noch  ein  Stückchen 
besitzen.  Es  steht  in  einem  griechischen  Zauberpapyrus,  der  in 
Ägypten  gefunden  ist,  ein  Zeugnis  dafür,  und  es  ist  wichtig,  daß  der 
Synkretismus  der  ägyptischen  Griechen  auch  ein  karisches  Element  in 
sich  aufgenommen  hatte.  Dort  heißt  es  'Zeus  stieg  auf  den  Berg  mit 
einem  goldenen  Kalb  und  einem  silbernen  Messer.  Allen  gab  er  ihr 
Teil,  nur  der  Amara  nicht,  sondern  sprach:  Gib  weg  was  du  hast,  so 
wirst  du  empfangen'.  Darin  kann  sehr  wohi  das  Aition  des  Hauptfestes 
liegen,  das  wir  kennen  und  das  auf  einem  Berge  bei  Stratonikeia  unter 
Verteilung  von  Essen  und  Trinken  gefeiert  wurde,  und  wo  bei  be- 
stimmten Begehungen  die  Frauen  ausgeschlossen  waren. 

Wie  die  Götterkönige  der  Asiaten,  so  sind  auch  ihre  Götterköniginnen 
von  den  antiken  Menschen  mit  Verehrung  bedacht  worden.  Zu  ihnen 
gehört  die  Astarte,  so  hieß  griechisch  die  Astarot^  die  alte  Herrin 
von  Tyrus  und  Sidon,  deren  Kult  weit  über  Palästina  verbreitet  war 
und  von  Salomo  in  Jerusalem  gepflegt  wurde.  Ihr  nahe  verwandt  ist 
die  berühmte  'Herrin  von  Byblos',  aber  doch  nicht  dieselbe.  Vielmehr 
unterscheiden  sich  diese  semitischen  Göttinnen  in  derselben  Art  wie 
ihre  männlichen  Gegenbilder,  die  Baalim:  jeder  Stamm  hat  seine  eigene 
große  Himmelsherrscherin,  die  von  ihren  Schwestern  an  andern  Orten 

^  Deutsche  Ausgabe,  Leipzig  1903,  S.  206ff. 

»  Kap.  4;  Mithraslit.  163. 

»  Höfer  bei  Röscher  u.  Panamaros;  Mithraslit.  *220  zu  21. 

*  Cumont  bei  Pauly-Wissowa  u.  Astarte  2. 


502  Der  Untergang-  der  antiken  Religion 

durch  Einzelheiten  des  Glaubens  und  des  Kultes  verschieden  ist.  Die 
Griechen,  die  nur  die  große  Ähnlichkeit,  nicht  aber  die  kleinen  Unter- 
schiede sahen,  haben  alle  diese  semitischen  Göttinnen  Astarten  oder 
mit  eigenem  Namen  Aphroditen  genannt.  Die  viel  angebetete  Aphrodite 
von  Paphos  auf  Cypern  ist  eine  auch  von  Hellenen  verehrte  Astarte 
gewesen.  In  ihrem  griechischen  Kult  wird  diese  höchste  Göttin  vor 
allem  als  Weib  gefaßt,  im  semitischen  tritt  mehr  die  Herrscherin  her- 
vor, namentlich  die  Himmelsgöttin:  so  können  die  Römer  eine  solche 
Astarte  als  Juno  caelestis  anrufen.  Von  Legenden,  die  sich  an  diesen 
Kult  angeschlossen  haben,  hören  wir  nur  die  Erzählung:  der  Himmels- 
gott habe  sich  in  einen  Stier  verwandelt,  um  die  Astarte  nach  Kreta 
zu  entführen;  das  ist  dieselbe  Sage,  die  in  Griechenland  als  Mythos 
von  Zeus  und  Europa  begegnet.  Von  Kultübungen  hat  im  Dienste  der 
Astarte  wohl  die  Prostitution  ihrer  Hierodulen  eine  Stelle  gehabt,  die 
an  einzelnen  Orten,  wo  sich  auf  semitischem  Urgrund  basierte  Aphro- 
ditekulte finden,  auch  in  die  antike  Welt  eingedrungen  ist,  so  in  Cypern 
und  auf  dem  Berge  Eryx  in  Sizilien. 

Einen  andern  Typus  der  höchsten  Göttin  haben  die  kleinasiatischen 
Völker  den  Griechen  und  Römern  übermittelt.  Namentlich  in  Phrygien 
und  Lydien  begegnet  in  verschiedenen  Gestalten  dasselbe  Wesen:  die 
große  Mutter  vom  Berge.  Als  Mutter  bezeichnen  sie  die  einheim- 
ischen Benennungen  Mct^  und  'A)U|udc,  die  griechischen  Epikleseis  jueTaXri 
MriTTip  und  Mriirip  eeujv.  Als  Berggöttin  heißt  sie  schlicht  'Opeia 
|ur|Tr|p,  oder  mit  Beiworten  von  bestimmten  Bergeshöhen  Aivbu)ur|VTi 
BepeKuvTia  CnruXrivri  'Ibaia.  Auch  die  AeuKocppurivri ,  die  Göttin  vom 
Hügel  Leukophrys  bei  Magnesia  am  Mäander,  wird  in  diesen  Kreis 
gehören;  und  vielleicht  sind  in  den  Namen  "Atöictic  und  KußeXri,  wie 
die  Große  Mutter  sonst  auch  heißt,  alte  Bergnamen  verborgen. 

Der  Charakter  dieses  Kultes  ist  ein  stürmisch  orgiastischer.  Das 
will  es  schon  besagen,  wenn  der  Wagen,  auf  dem  die  Göttin  durch 
die  Lande  fährt,  von  Löwen  gezogen  wird.  Deshalb  gibt  ihr  der 
Mythos  als  Kultträger  die  Korybanten,  dämonische,  mit  lauten  Rufen  die 
Göttin  wildschwärmend  begleitende  Gesellen.  Auch  die  menschlichen 
Diener  der  Großen  Mutter  ziehen  in  lärmender  Ekstase  daher,  um- 
rauscht vom  Klingen  der  Flöten  und  vom  Tönen  der  Zymbeln.  Es  ist 
eine  Religion  ähnlich  wie  die  dionysische,  die  auch  glaubte,  daß  der 
Gott,  von  Satyrn  und  Mänaden  umgeben,  durch  die  Lande  rase.  Ver- 
wandt ist  auch  die  Vorstellung  von  Artemis  oder  Hekate,  die,  von  einem 

'  Rapp  u.  Kybele,  Drexler  u.  Ma  bei  Röscher;  Jessen  u.  Ammas  bei  Pauly- 
Wissowa. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  5O3 

Gespensterschwarm  geleitet,  durch  die  Lüfte  braust.  Und  wie  der 
Mensch,  der  unberufen  dies  wilde  Heer  geschaut  hat,  von  Wahnsinn 
ergriffen  wird\  so  wird  der,  welcher  dem  Zug  der  Großen  Mutter  be- 
gegnet, lUTiTpöXn^TOc:  Kybele  erfüllt  ihn  mit  heiligem  Wahnsinn,  daß 
er  ihr  Diener  werden  und  an  ihrem  Orgiasmus  teilnehmen  muß. 

Die  älteste  Verehrung  der  Großen  Mutter  hat  sich  an  Steinfetische 
oder  primitive  Holzbilder  gewendet.  Verehrung  von  Steinen  als  weib- 
licher Gottheiten  ist  in  jenen  Gegenden  nicht  unerhört,  auch  die  Aphro- 
dite von  Kypros  war  ursprünglich  ein  solcher  Fetisch.  Die  Holzbilder 
haben  später,  dem  barbarischen  Geschmack  dieser  Länder  entsprechend, 
eigenartige  Ausgestaltungen  erfahren:  eine  von  diesen  erkennen  wir 
noch  im  Bilde  der  ephesischen  Diana.  Der  alte  Mittelpunkt  des  Mutter- 
kultes ist  Pessinus  in  Phrygien  gewesen:  das  lag  nicht  fern  vom  Din- 
dymos  am  Fuß  des  Agdos.  Dort  war  das  ä-idkixa  buTreTec  der  Göttin 
zu  schauen,  bis  sich  die  Römer  im  Jahre  204  den  Stein  holten;  dort 
zeigte  man  das  Grab  des  Attis,  des  Geliebten  der  Großen  Mutter,  dort 
wohnte  der  Oberpriester  des  Kultes,  der  gleichfalls  Attis  hieß,  und 
grade  dort  hören  wir  auch  mehr  von  dem  untergeordneten  männlichen 
Kultpersonal.  In  späterer  Zeit,  als  semitischer  Einfluß  sich  bereits 
geltend  gemacht  hatte,  sind  diese  Diener  Verschnittene:  es  sind  die  be- 
rüchtigten rdWoi  der  Großen  Mutter,  von  denen  bereits  die  alexandri- 
nische  Poesie  erzählte. 

Monumente  mancher  Art  erinnern  auch  sonst  an  den  Kult  der 
Göttermutter.  Das  gewaltige  Bild  am  Abhang  des  Sipylos,  das  schon 
früh  als  die  versteinerte  Niobe  erklärt  wurde,  ist  ein  Relief  der  Kybele. 
Auf  dem  Gipfel  des  Sipylos  ist  ein  Thron  in  den  Fels  gehauen:  dieser 
Thron  des  Tantalos,  wie  man  ihn  nennt,  war  wohl  in  alter  Zeit  der 
Sitz  der  Mriinp  öpeir|.  In  Sardes  stehen  noch  zwei  riesige  Säulen  als 
Reste  eines  Kybeletempels,  wohl  des  größten,  den  wir  in  Lydien  kennen, 
nach  Phrygien  dem  klassischen  Lande  des  Kultes  der  Bergmutter. 

Nach  Griechenland  ist  diese  Religion  im  fünften  Jahrhundert  ge- 
kommen; Euripides  kennt  sie,  ein  berühmtes  Fragment ^  der  Kreter 
enthält  die  Worte:  luriTpi  t'  opeiuj  babac  dvacxujv  Kai  Kouprirmv  ßdKXOC 
dKXriGnv  öciiueeic.  Die  Aufnahme  in  Attika  ging  um  so  leichter  vor  sich, 
als  dort  ja  seit  uralter  Zeit  der  Kult  einer  göttlichen  Mutter  bestand 
-  davon  ist  bei  den  eleusinischen  Mysterien  gesprochen  worden^  -, 
an  den  sich  die  Verehrung  dieser  Mutter  anschließen  konnte.  Seit 
dem  vierten  Jahrhundert  treten   als  Zeugen   der  Rezeption  Inschriften 

»  Wünsch,  Jb.  für  klass.  Phil.  Suppl.  XXVII  117. 
«  472,  13  Nauck.  '  S.  oben  465. 


504  ^®^  Unterg-ang  der  antiken  Religion 

aus  dem  Piraeus  hinzu,  die  von  einem  Orgeonenverein  phrygischer 
Observanz  gesetzt  sind.  Daß  in  Rom  die  Mater  Pessinuntia  durch 
sechs  Jahrhunderte  von  der  Höhe  des  Palatin  aus  geherrscht  hat, 
wissen  wir^ 

Die  uralten  semitischen  Götter  sind,  ehe  sie  sich  in  die  antike  Welt 
verbreiten,  Götter  einzelner  Stämme,  lokal  verehrte  allmächtige  Wesen. 
Und  wenn  auch  die  Gebete,  welche  die  antike  Religion  seit  der  Über- 
nahme an  sie  gerichtet  hat,  längst  verklungen  sind,  im  Orient  gibt  es 
Nachfahren  der  Baalim  und  Astarten  noch  heutigen  Tages.  In  Syrien 
hat  jedes  Araberdorf  seinen  eigenen  Heiligen  mit  Heiligtum  *.  An  diesen 
Heiligen  wendet  man  sich  in  jeder  Not  um  Hilfe,  und  zwar  nicht  nur 
die  Mohammedaner,  sondern  auch  Christen,  Juden  und  Sekten  jeglicher 
Art.  Gerade  diese  interkonfessionelle  Verehrung  zeigt  aber,  daß  jene 
Heiligen  nicht  erst  im  Mittelalter  durch  eine  der  jüngeren  Religionen 
eingeführt  sind,  sondern  uralt  semitisches,  von  allen  gleichmäßig  über- 
nommenes Erbteil.  ^Augenscheinlich'  meint  Curtiss  ^bildet  beim  Kult 
dieser  Heiligen  der  alte  Semitismus  das  einigende  Band.  Er  verbindet 
seine  Anhänger  mehr  als  ihre  äußere  Religion  sie  trennt.  Die  Heilig- 
tümer des  Mär  Dschirdschis  und  der  Mär  Thekla  üben  in  dieser  Hin- 
sicht größeren  Einfluß  aus  als  die  Kirche  des  Heiligen  Grabes'. 

Während  alle  diese  Religionen  in  Ländern  heimisch  sind,  die  nach 
Alexander  dem  Großen  unter  hellenistischen  Herrschern  standen  und 
dadurch  der  Vermischung  mit  dem  Griechentum  ausgesetzt  waren,  hat 
sich  die  Religion  des  Mithras  in  den  von  den  Hellenen  unabhängigen 
Reichen  des  Ostens  ausgebildet.  Für  seinen  Kult  besitzen  wir  das 
grundlegende  Werk  von  Franz  Cumont,  Textes  et  monuments  ftguräs 
relatifs  aux  mystäres  de  Mithra.^  Sie  dringen  verhältnismäßig  spät 
in  die  antike  Welt  ein,  sind  aber  dann  die  bedeutsamsten  von  allen 
geworden. 

Mit  Mithras  betreten  wir  wieder  arisches  Gebiet.  Er  ist  Iranier  und 
gehört  nach  Persien.  Aber  nicht  den  heiligen  Schriften  des  Avesta 
verdankt  er  seine  Gemeinden;  nicht  die  offizielle  Religion,  sondern  eine 
volkstümliche  Strömung  hat  ihn  emporgetragen.  Der  Name  selbst  ist 
uralt,  wie  sein  Vorkommen  bei  Indern  und  Iraniern  beweist;  lange  Zeit 
war  er  ein  Gott  der  Soldaten  und  des  niederen  Volkes,  wohl  als 
Mittler  für  die  Armen  und  Unterdrückten  beim  höchsten  Gotte,  bis  er 
unter  der  Dynastie  der  Achämeniden  zu  größerer  Bedeutung  gelangt. 
Mancherlei  Veränderungen  muß  dieser  Kult  erlitten   haben,   als  er  all- 

'  S.  oben  480;  499.  '  Curtiss,  Ursem.  Rel.  102  ff. 

'  Bruxelles  1  1899,  11  1896. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  505 

mählich  nach  Westen  vordrang.  Über  die  Art  dieser  Verwandlung  ist 
trotz  mancher  Vermutung  noch  keine  Sicherheit  erreicht.  Wir  sehen 
nur  seine  Wanderung,  wie  er  an  den  Pontus  vordringt  und  im  Reich 
des  Mithradates  -  schon  der  Name  des  Königs  lehrt  das  -  Wurzel 
faßt.  Die  Seeräuber,  mit  denen  Pompeius  kämpfte,  waren  Mithrasdiener: 
das  ist  die  erste  Berührung  dieser  Religion  mit  dem  Abendlande.  Die 
Ausbreitung  dort  erfolgt  langsam;  ein  Markstein  ist  es,  daß  im  Jahre 
66  n.  Chr.  Tiridates  aus  Armenien  mit  großem  Gefolge  durch  Asien 
nach  Rom  zog,  um  vor  Nero  das  Knie  zu  beugen  und  ihn  als  seinen 
Mithras  anzubeten.*  Sichtbar  nimmt  nun  der  Mithraskult  im  Abendland 
zu,  namentlich  im  zweiten  Jahrhundert,  zunächst  wieder  in  den  unteren 
Schichten  der  Bevölkerung.  Aber  nur  in  der  römischen  Hälfte  des 
Reiches:  in  Hellas  und  Kleinasien  ist  nichts  davon  zu  spüren.  Und 
das  versteht  man  wohl:  war  doch  die  griechische  Bevölkerung  jener 
Landstriche  damals  schon  zum  großen  Teil  christianisiert.  Im  Westen 
aber  ist  Mithras  durch  die  Severe  hoffähig  geworden  und  mit  den 
Legionen  bis  zu  den  fernsten  Grenzen  gedrungen.  Überall  finden  sich 
dort  seine  Denkmäler,  außer  den  Inschriften  meist  Höhlen  und  kleine 
Tempel  mit  monumentalen  Reliefs:  in  Ostia  ebensogut  wie  in  Carnun- 
tum  und  im  westlichen  Deutschland  (Karlsruhe,  Neuenheim,  Heddern- 
heim,  Friedberg). 

Die  Deutung  jener  Reliefs  wird  durch  literarische  Überlieferung 
leider  nicht  unterstützt,  sie  müssen  für  sich  selbst  sprechen.  Die 
Hauptfigur  ist  eben  Mithras,  der  den  Stier  niederwirft:  ein  jugendlicher 
Gott  mit  gelocktem  Haar,  mit  fliegendem  Mäntelchen,  persischen  Hosen 
und  phrygischer  Mütze;  die  ganze  Haltung  ist  aus  dem  Typus  einer 
griechischen  Siegesgöttin  abgeleitet.  Dem  niedergeworfenen  Stier  greift 
ein  Skorpion  in  die  Hoden,  der  Schwanz  des  Stieres  läuft  in  drei 
Kornähren  aus.  Der  Schlachtung  dieses  Stieres  liegt  der  Gedanke  zu- 
grunde, daß  der  Lebenskeim,  den  er  in  sich  birgt,  im  Blute  heraus- 
tritt und  alles  erzeugt.  Auf  die  kosmogonische  Bedeutung  des  Stieres 
weisen  auch  jene  drei  Ähren  hin;  der  deutsche  Volksglaube  kennt 
ähnlich  Korndämonen  in  Rindsgestalt.^  So  wie  dieser  Stier  bei  der 
Schaffung  der  Welt,  wird  auch  am  Ende  der  Tage  ein  Stier  getötet 
werden  ^  Mithras  wird  unter  den  von  den  Toten  erweckten  Menschen 
die  Guten  aussondern  und  mit  ihnen  ein  Mahl  halten,  bei  dem  er  den 
Seinen  durch  einen  Becher  voll  Wein  und  Stierfett  die  Unsterblichkeit 
verleiht. 

1  s,  0   s.  281.  '  W.  Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte  II  326.  333. 

8  Cumont,  Mithras  II  311. 


506  D^^  Untergang  der  antiken  Religion 

Die  Hauptdarstellung  der  Reliefs  in  den  Mithreen  ist  häufig  von 
kleineren  Reliefs  umgeben,  deren  Deutung  noch  vielfach  unsicher 
ist.  Oft  ist  die  Geburt  des  Mithras  dargestellt,  der  Sage  nach  wurde 
er  CK.  TTETpac  geboren.  Oder  der  eben  Geborene  wird  von  Hirten  an- 
gebetet, die  an  ihren  Stäben  deutlich  erkennbar  sind.  Weiter  verfolgt 
oder  raubt  Mithras  einen  Stier,  wohl  eine  besondere  Fassung  des  ver- 
breiteten Mythos  vom  Raube  des  himmlischen  Schatzes.  Endlich  er- 
scheint Mithras  mit  Helios  zusammen:  Helios  reicht  Mithras  die  Hand, 
beide  fahren  im  Sonnenwagen  gen  Himmel  oder  sind  beim  heiligen 
Mahle  vereinigt. 

Von  Tatsachen  des  Kultes  ist  bekannt,  daß  seine  Diener  durch 
einen  besondern  Akt  der  Rezeption  eingeweiht  wurden.  Bei  diesem 
erhielten  sie  Brot  und  einen  Becher  Wasser \  über  deren  sakramentale 
Wirkung  weiter  nichts  berichtet  wird.  Dagegen  wissea  wir,  daß  die 
Mysten  nach  verschiedenen  Rangstufen  gesondert  warenl  Die  höhere 
Stufe  wurde  wohl  durch  Bußübungen,  durch  Ertragen  von  Durst  und 
Kälte  erreicht.  Die  einzelnen  Grade  sind  nach  verschiedenen  Gesichts- 
punkten benannt:  nach  Tieren  KÖpaKec,  Xeoviec,  deioi,  nach  Verwandt- 
schaftsgraden pater  und  fratres;  außerdem  gab  es  noch  Kpucpioi,  müitesj 
TTepcai  und  nXiobpöjuoi.  Diese  Verschiedenheit  in  der  Art  der  Be- 
nennung darf  man  als  Beweis  dafür  ansehen,  daß  der  Mithraskult  eine 
lange  Entwicklung  durchlaufen  und  sich  mit  verschiedenen  Mysterien 
vermischt  hat,  von  denen  jedes  seine  eigene  Nomenklatur  der  Mysten- 
klassen  besaß.  Die  Benennung  nach  den  Tieren  sieht  recht  ursprüng- 
lich aus;  über  die  Bedeutung  der  Verwandtschaftsnamen  ist  zum  Attis- 
kult  gesprochen  worden^;  Kpuqpioi  sind  die  noch  Uneingeweihten 
gegenüber  den  'Teilnehmenden';  die  'Soldaten'  sind  als  'dienende 
Truppe'  in  einer  Militärreligion  wohl  verständlich;  TTepcai  weist  auf  eine 
Zeit  hin,  die  den  eingeweihten  Fremdling  zum  Perser  werden  ließ,  wie  die 
Juden  ihre  Proselyten  Juden  werden  ließen.  Allein  stehen  die  fiXiobpöjaoi, 
wohl  ursprünglich  Angehörige  des  höchsten  Grades:  Sterbliche,  welche 
mit  der  Sonne  zum  Himmel  fahren,  um  sich  mit  Gott  zu  einigen. 

Welche  kultische  Handlungen  die  Mithrasdiener  begangen  haben, 
läßt  sich  im  einzelnen  nicht  feststellen.  Wir  sehen  nur  so  viel,  auch 
ihre  Religion  hat  den  Schwerpunkt  im  Jenseits,  sie  kennt  Himmel  und 
Hölle  als  Lohn  der  Guten  und  Strafe  der  Bösen,  sie  sucht  daher  Er- 
lösung von  den  Sünden.  Die  Wiedergeburt  der  Seele  wird  erreicht 
durch  sakramentale  Handlungen;  auch  im  Mithraskult^  haben  Taurobolien 

'  Mithraslit.  102  f.  ^  Mithraslit.  150  f. 

»  S.  oben  500.  ^  S.  oben  500. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  5Q7 

stattgefunden,  die  durch  die  sühnende  Kraft  des  Blutes  die  Vergehungen 
hinwegnahmen.  Andere  ihrer  Handlungen  werden  direkt  sacramenta 
genannt  und  von  den  christlichen  Schriftstellern  als  teuflische  Nach- 
ahmung bezeichnet.  Es  soll  auch  gar  nicht  geleugnet  werden,  daß 
etwa  auf  jene  Konsekration  von  Brot  und  Wasser  bei  der  Weihe  der 
Eintretenden  Christliches  schon  mit  eingewirkt  hat. 

Von  Einzelheiten  wissen  wir  noch,  daß  der  einzuweihende  miles 
einen  Eid  zu  leisten  hattet  die  Übertragung  dorthin  vom  Fahneneid 
des  Soldaten  ist  leicht  verständlich.  Ferner  haben  die  Mithrasdiener 
den  Tag  der  Sonne  als  den  ihres  Gottes  für  den  heiligsten  und  ersten 
der  Woche  gehalten  ^-  durch  sie  hat  der  Sonntag  seine  Bedeutung  als 
geheiligter  Wochenanfang  erhalten.  Wohl  mögen  die  Christen  schon 
früher  ähnliche  Vorstellungen  gehabt  haben;  daß  sie  sich  im  Kalender 
durchsetzten,  verdanken  sie  der  gleichen  Anschauung  der  Mithras- 
diener. 

Die  Liturgie,  wie  sie  im  Kult  dieser  Gemeinden  benutzt  wurde,  ist 
wenigstens  für  einen  Punkt  faßbar  geworden  durch  ein  Rezept  des 
großen  Pariser  Zauberpapyrus.^  Es  ist  eine  Anweisung  für  den  Zauberer, 
Offenbarung  zu  erhalten,  'die  der  große  Gott  Helios  Mithras  ihm  hat 
geben  lassen  von  seinem  Erzengel,  auf  daß  er  allein,  ein  Adler,  den 
Himmel  beschreite,  und  erschaue  alles'.  Der  Zauberer  spricht  ein 
erstes  Gebet  und  fühlt  sich  hinaufgehoben  in  den  Himmel;  er  betet 
zum  zweiten  Male,  da  öffnet  sich  die  Sonnenscheibe  und  er  erblickt 
einen  unendlichen  Kreis  und  feurige  Tore,  die  abgeschlossen  sind. 
Auf  ein  drittes  Gebet  erscheint  ein  jugendlicher  Gott,  mit  feurigen 
Locken,  in  scharlachrotem  Mantel  und  mit  einem  feurigen  Kranze.  Er 
wird  als  Helios  begrüßt  und  gebeten,  die  zum  Himmel  gefahrene 
Seele  dem  höchsten  Gott  zu  melden.  Auf  dem  Wege  zu  diesem  er- 
scheinen sieben  Jungfrauen  mit  Schlangengesichtern,  des  Himmels 
Schicksalsgöttinnen,  und  sieben  Götter  mit  Gesichtern  schwarzer  Stiere, 
die  Polherrscher  des  Himmels.  Wenn  sie  sich  in  der  Ordnung  auf- 
gestellt haben,  erscheint  der  höchste  Gott,  jung,  mit  goldenem  Haupt- 
haar, in  weißem  Gewände,  mit  goldenem  Kranze,  in  weiten  Bein- 
kleidern -  die  persische  Tracht  zeigt,  das  ist  Mithras.  Und  nun 
spricht  die  Seele  ihr  letztes  Gebet:  'Herr  sei  gegrüßt,  Herrscher  des 
Wassers;  sei  gegrüßt,  Begründer  der  Erde;  sei  gegrt\ßt,  Gewalthaber 
des  Geistes.  Herr,  wiedergeboren  verscheide  ich,  indem  ich  erhöhet 
werde,  und  da  ich  erhöhet  bin,  sterbe  ich;  durch  die  Geburt,  die  das 

1  Cumont,  Mithras  I  318.  *  Cumont,  Mithras  I  119. 

»  Mithraslit.  Iff. 


508  Der  Untergang  der  antiken  Religion 

Leben  zeugt,  geboren,  werde  ich  in  den  Tod  erlöst  und  gehe  den 
Weg,  den  du  gestiftet  hast,  wie  du  zum  Gesetze  gemacht  hast  und 
gestiftet  das  Sakrament.'  Es  war  vorhin^  von  den  fiXiobpöjLioi  die 
Rede,  die  zum  Himmel  fahren,  um  sich  mit  Gott  zu  einigen  —  das 
Rezept,  das  hier  im  Zauber  angewendet  erscheint,  war  ursprünglich 
die  Liturgie,  die  vorgetragen  wurde  bei  einer  solchen  Himmelfahrt  der 
Seele.  Agiert  wurde  dies  Mysterium  wohl  in  einer  der  Grotten^  wie 
sie  für  den  Mithraskult  typisch  sind:  durch  sie  schritt  der  Myste  hin 
zu  dem  Gott,  dessen  Bild  im  Hintergrund  stand.  Hauptmittel  der 
Inszenierung  war  die  Beleuchtung;  Lampen  und  Fackeln  hat  man  in 
diesen  Heiligtümern  gefunden.  Zuletzt  wurde  das  bisher  verdeckte 
Mithrasbild  enthüllt,  Inschriften  und  Denkmäler  beweisen  das  Vor- 
handensein eines  Vorhangs  vor  dem  Kultbilde.  Der  lichtbestrahlte 
Gott  erschien:  das  war  das  Letzte  und  das  Höchste. 

Merkwürdig  ist,  wie  in  diesem  Text  die  rein  mithrischen  Vorstellungen 
von  Elementen  ägyptischer  Anschauung  durchsetzt  sind.  Dahin  gehören 
die  Erscheinungen  der  Himmelsjungfrauen  und  Polherrscher.^  Das 
lehrt,  daß  der  Mithraskult  auch  in  Ägypten  bekannt  war,  und  daß  er 
die  Fähigkeit  besaß,  mit  fremden  Lehren  Kompromisse  zu  schließen. 
Ein  Wort  ist  auch  noch  über  die  Rolle  des  Helios  in  diesem  Mysterium 
zu  sagen.  Durch  ihn  kommt  der  Myste  zu  Mithras,  er  ist  also  Mittler 
zwischen  Gott  und  dem  Menschen.  Dann  aber  heißt  in  unserem 
Papyrus  Helios  der  Sohn  des  Mithras,  und  an  anderer  Stelle  ist  der 
höchste  Gott  Helios  und  Mithras  in  einer  Person.  Also  Vater  und  Sohn 
sind  eins,  und  der  Sohn  ist  der  Mittler.  Das  kann  aus  dem  Empfinden 
der  Mithrasdiener  hervorgegangen  sein,  es  können  aber  auch  christliche 
Einflüsse  gewirkt  haben.  Zwischen  diesen  beiden  Religionen  laufen 
mancherlei  Fäden  hin  und  her.  Der  Kampf  des  Mithras  und  des 
Christus  erzeugte  bei  den  Christen  den  Wunsch,  daß  sich  der  falsche 
Gott  mit  seinen  Dienern  beuge  vor  dem  wahren."*  Darum  erzählten  sie, 
daß  die  Magier  gekommen  seien,  das  Kind  anzubeten,  die  Magier  aber 
waren  Diener  des  Mithras.  Und  ehe  die  Christen  den  Geburtstag 
ihres  Heilandes  am  25.  Dezember  feierten,  begingen  die  Mithras- 
gläubigen  an  demselben  Tag  ein  Hauptfest,  den  Geburtstag  ihres  un- 
besiegten Sonnengottes. 

'Des  unbesiegten  Gottes':  darin  liegt  ausgesprochen,  daß  die  Re- 
ligion des  Mithras  sich  des  Gegensatzes  zu  anderen  Religionen  bewußt 
war,   daß  sie  mit  ihnen  in  einem  Kampfe  um  die  Weltherrschaft  stand 

^  S.  0.  506.  2  Mithraslit.  85. 

^  Mithraslit.  69.  '^  S.  o.  284. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  5Q9 

und  die  feste  Zuversicht  hatte,  in  diesem  Kampf  Sieger  zu  bleiben. 
Jahrzehntelang  hatte  es  den  Anschein,  als  ob  diese  Hoffnung  sich  er- 
füllen würde.  Das  dritte  Jahrhundert  hat  eine  hohe  Blüte  des  Mithras- 
kultes  geschaut.  Durch  die  kaiserlichen  Beamten,  die  zum  Post-  und 
Steuerwesen  gehörten,  wurde  er  in  alle  Welt  getragen.  Auch  sozial 
stieg  er  allmählich  in  die  Höhe,  gerade  die  Aristokraten  haben  später 
am  Zähesten  an  ihm  festgehalten.  Im  Jahre  307  hat  Diocletian  mit 
seinen  Mitregenten  zu  Carnuntum  dem  Mithras  fautori  imperii  sui  einen 
Tempel  geweiht^;  in  der  Christenverfolgung  des  Galerius  erblickte  man 
wohl  mit  Recht  eine  Äußerung  der  Macht,  welche  der  Klerus  des 
Mithras  damals  besaß.  Man  wird  bei  diesen  Tatsachen  an  das  Wort 
von  Renan  erinnert:  'Man  kann  wohl  sagen,  daß,  wenn  das  Christen- 
tum durch  irgendeine  Krankheit  an  seinem  Wachstum  gehindert  wäre, 
die  Welt  dem  Mithras  gehört  hätte.'  Doch  begann  unter  Konstantin 
und  Konstantius  der  Rückgang  dieser  Macht;  damals  predigt  auch 
Firmicus  Maternus  gegen  diese  Religion,  der  er  selbst  früher  angehört 
hatte.  Einmal  erhob  sie  sich  noch  unter  der  Restauration  Julians,  der 
ein  glühender  Verehrer  des  Mithraskultes  war.  Er  versuchte  sogar 
ihn  in  der  östlichen  Hälfte  des  Reiches,  so  in  Konstantinopel,  einzu- 
führen. Unter  seinem  Regiment  hatte  der  Patriarch  von  Alexandria, 
Georgios,  auf  den  Trümmern  eines  Mithreums  eine  christliche  Kirche 
aufführen  wollen;  der  Pöbel  lynchte  ihn,  am  Vorabend  des  großen 
Mithrasfestes,  am  24.  Dezember  361.  Dann  aber  kam  der  Rückschlag. 
377  ließ  der  Stadtpräfekt  Gracchus  eine  Mithrasgrotte  in  Rom  un- 
gestraft zerstören,  394  brachte  der  Sieg  des  Theodosius  auch  dieser 
Religion  im  römischen  Weltreich  den  unaufhaltsamen  Untergang.  Im 
Orient  ist  sie  später  durch  den  Islam  verdrängt  worden,  nur  wenige 
Trümmer  mithrischer  Lehre  haben  sich  in  den  Manichäismus  gerettet. 
Solange  er  lebte,  war  der  Mithraskult  der  stärkste  Gegner,  aber  auch 
der  stärkste  Wegebereiter  des  Christentums,  das  sich  auf  seinen 
Trümmern  erhob,  wie  in  Rom  die  Basilica  S.  demente  auf  den  Resten 
eines  Mithreums.  Die  Gründe,  die  dem  Christentum  den  Sieg  ver- 
schafften, sind,  abgesehen  von  seinem  tieferen  Gedankeninhalt,  äußere 
gewesen.  Einmal  hatte  die  christliche  Lehre  bereits  die  griechischen 
Provinzen  des  römischen  Reiches  gewonnen,  ehe  die  Kunde  von 
Mithras  dorthin  drang.  Ferner  war  das  Christentum  damals  energischer, 
intransigenter  als  die  Mithraslehre,  die  in  jenem  Kampf  zu  paktieren 
suchte   und   sich   dadurch   selbst  zersetzte.     Und   endlich  war  Mithras 


Cumont,  Mithras  I  281.  344 ff. 


510  D®^  Untergang-  der  antiken  Religion 

ein  Gott  allein  der  Männer,  während  Christus  auch  die  Frauen  in  seine 
Gemeinde  aufnahm.  Alles  das  führte  das  Christentum  zu  einem  Siege, 
den  es  mit  Recht  für  seinen  größten  gehalten  hat.  Es  hat  seinen 
Triumph  auch  ausgenutzt:  der  Mithrasdienst  wurde  so  völlig  unter- 
drückt, daß  auch  kein  Restchen  blieb,  das  den  Schwachen  hätte  An- 
stoß geben  können. 

Das  sind  etwa  die  wesentlichsten  Kulte,  die  im  Lauf  der  Jahr- 
hunderte Eingang  in  die  antike  Religion  gefunden  und,  von  außen 
kommend,  Revolutionen  in  ihr  hervorgerufen  haben.  Welche  Folgen 
haben  diese  Rezeptionen  für  die  Entwicklung  allgemeiner  religiöser 
Gedanken  gehabt?  Zunächst  ist  auffällig,  wie  viele  unter  den  rezipierten 
Göttern  den  Charakter  des  Sonnengottes  besitzen:  die  Baalim,  nament- 
lich der  von  Emesa,  Attis,  Mithras.  Die  Folge  ist,  daß  gegen  Ende 
des  Altertums  der  Kult  der  Sonnengötter  in  den  Vordergrund  tritt. 
Wie  nun  neben  jenen  männhchen  Göttern  meist  eine  Göttin  steht, 
erblickt  man  in  diesem  weiblichen  Gegenbild  mit  Vorliebe  eine  Mond- 
göttin, zu  Helios  tritt  Selene.  Das  sind  jene  Virgines  caelestes, 
Himmelsköniginnen,  die  den  Mond  unter  ihrem  Fuße  haben.  Und 
diese  Himmelsgötter  werden  den  meisten  anderen  Göttern  gleichgesetzt. 
Bezeichnend  ist  für  die  männlichen  Gottheiten  des  Kaisers  Julian  Rede 
€ic  TÖv  ßaciXea  "HXiov,  in  der  die  Einheit  des  Helios  mit  Zeus  und 
Apollon  erwiesen  wird;  für  die  weiblichen  Gottheiten  das  Gebet  des 
Apuleius\  ^Himmelskönigin,  sei  es  daß  du  Ceres  oder  die  himmlische 
Venus  oder  die  Schwester  des  Phoebus  oder  die  dreigestaltige 
Proserpina  bist'.  So  gehen  also  die  verschiedenen  Götter  in  einem 
umfassenden  höheren  Gott  auf:  eine  Abstraktion  von  älterem  Glauben, 
die  wieder  einen  bedeutenden  Schritt  zum  Monotheismus  hin  bedeutet. 
Alles  drängt  jetzt  auf  den  einen  großen  Weltgott  zu.  Deutlicher  als 
an  einzelnen  Zeugnissen  wird  das  durch  die  Tatsache,  daß  unter 
Aurelian  dieser  Gott  zum  Reichsgott  erhoben  wird;  an  Stelle  der 
Gebete  an  viele  Götter  tritt  das  Anflehen  des  Einen,  des  Sol  Invictus. 
Das  ist  ein  neugeschaffener  Gott,  der  mit  dem  Sol  Invictus  Mithras 
zunächst  nur  den  Namen,  nicht  aber  das  Aussehen  gemein  hat.  Denn  wie 
man  ihn  sich  dachte,  zeigen  die  Münzen,  die  ihn  in  zwei  Typen  dar- 
stellen, einmal  in  einem  Brustbild  als  jugendlichen  Sonnengott,  dann, 
dem  Beinamen  des  ^Unbesiegten'  entsprechend,  als  streitenden  Gott  in 
ganzer  Figur,  in  einem  Typus,  der  dem  Apollo  von  Belvedere  nach- 
gebildet   ist.     Bis    323    läßt   sich    die    Prägung   solcher   Münzen    und 


\ 


1  Metam.  XI  2. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  511 

damit  der  offizielle  Kult  dieses  Reichsgottes  verfolgen.  Daß  man  die 
Feste  dieses  Kultes  auf  die  bereits  dem  Sonnengott  geweihten  Tage 
legte,  auf  den  25.  Dezember  und  die  Sonntage,  ist  begreiflich.  Später 
hat  Gott  Christus  dieses  Erbe  angetreten,  der  25.  Dezember  ist  sein 
Geburtstag,  der  Sonntag  der  Tag  des  Herrn  geworden.  Noch  in 
anderer  Beziehung  hat  der  Sonnenkult  Aurelians  dem  Christentum  die 
Wege  geebnet.  Er  bricht  mit  dem  Prinzip  des  nationalen  Gottes,  er 
ist  kosmopolitisch,  als  Gott  des  römischen  Reiches,  d.  h.  der  Welt  ge- 
dacht. Der  Kult  dieses  Gottes  will  eine  Weltreligion  werden,  und 
sollte  dies  Ziel  auch  nur  durch  Kampf  zu  erreichen  sein. 

Wir  sehen  an  dieser  Neuschöpfung,  daß  ein  starker  Drang  nach 
Umbildung  der  Religion  durch  die  Welt  geht,  daß  nach  neuen  Aus- 
drucksformen für  die  Vorstellung  vom  Überirdischen  gesucht  wird. 
Und  vor  allem  geht  dies  Drängen  auf  Beseitigung  der  Schranken 
zwischen  den  einzelnen  Religionen,  Gleichsetzungen  und  Mischungen 
finden  in  großer  Zahl  statt,  alle  mit  dem  einen  mehr  oder  weniger 
deutlich  erkannten  Ziel,  zu  dem  einen  Gotte  zu  gelangen,  und  alle 
durchdrungen  von  dem  einen  Sehnen  -  das  zeigen  die  Sakramente 
in  den  Kulten  der  Isis,  des  Attis,  des  Mithras  -,  sich  mit  diesem  Gotte 
zu  einigen  und  durch  ihn  die  Gewißheit  der  Seligkeit  zu  erlangen. 
Das  sind  dieselben  Gedanken,  die  im  ältesten  Christentum  wirksam 
waren;  das  besagen  im  6.  Kapitel  des  Johannisevangeliums  die  Ver- 
heißungen Christi:  ^Wer  mein  Fleisch  isset  und  trinket  mein  Blut,  der 
hat  das  ewige  Leben',  oder  die  Lehre  der  paulinischen  Briefe  vom 
Sterben  und  Auferstehen  mit  Christo.^ 

Das  siegreiche  Christentum  ist  der  Universalerbe  der  durch  die 
verschiedenartigen  Revolutionen  umgestalteten  antiken  Religion  ge- 
worden. Vieles  von  Gedanken  und  Formen  hat  es  sich  aus  diesem 
Erbe  angeeignet.  Vor  allem  eine  Vorstellung  ist  hier  wie  dort  das 
Fundament:  nicht  das  irdische  Leben,  sondern  das  Jenseits  fordert  die 
wichtigsten  Sorgen  des  menschlichen  Herzens. 

VIERTES  KAPITEL 
DIE  RELIGIÖSE  ERREGUNG  DER  MASSEN 

In  den  Nöten  des  täglichen  Lebens,  die  in  manchen  Zeiten  durch 
Krieg,  Seuche  oder  Mißwachs  ins  Unerträgliche  gesteigert  worden  sind, 
versagten  gar  oft  die  Götter  der  Väter  ihre  Hilfe  und  ihre  Gnade. 
Wie  das  die  Veranlassung  werden  konnte,  den  Göttern  des  Auslandes 

^  Ep.  ad  Coloss.  3. 


512  Der  Unterg-ang  der  antiken  Religion 

einen  Dienst  zu  weilien,  sahen  wir.  Aber  nicht  alle  haben,  von  einem 
Gott  verlassen,  ihren  Trost  bei  einem  anderen  gefunden;  nur  allzu  viele 
aus  der  großen  Masse  haben  sich  überhaupt  einer  Gottesverehrung, 
die  den  Namen  Religion  verdient,  abgewendet  und  sich  dem,  was 
man  gemeinhin  Aberglauben  nennt,  in  die  Arme  geworfen.  So  entsteht 
eine  antike  Götterdämmerung,  die  immer  tiefer  in  das  Dunkel  der 
Nacht  hineinführt.  Es  beginnt  ein  Abwenden  von  den  offiziellen  Gott- 
heiten, ein  verzweifeltes  Suchen  nach  Hilfe  bei  allem,  was  irgendwie 
in  seinen  Äußerungen  sich  den  Anschein  übermenschlicher  Macht  gibt. 
Immer  stärker  wird  die  Verzweiflung,  immer  erregter  das  Suchen  der 
Menschen,  in  deren  Seelen  Gestalten  und  Erscheinungen  im  wilden 
Knäuel  miteinander  ringen.  Das  Ergebnis  dieser  Vorgänge  ist  eine  tief- 
gehende Erregung  der  Massen:  das  Interesse  des  Tages  ist  überall 
auf  religiöse  Dinge  konzentriert  und  betätigt  sich  einer  jeden  neuen 
Erscheinung  gegenüber  mit  fanatischer  Energie.  In  ihren  Anfängen  läßt 
sich  diese  Bewegung  seit  Alexander  dem  Großen  erkennen,  sie  wächst 
noch  unter  Augustus  und  erreicht  den  Gipfel  der  höchsten  Erregung 
im  zweiten  und  dritten  Jahrhundert.  Erst  als  das  Christentum  sich 
durchsetzt,  tritt  allmählich  die  Beruhigung  ein. 

Auch  diese  Erregung  beginnt  in  der  Tiefe  der  Menschheit.  Die 
oberen  Schichten  haben  dieser  Massensuggestion  keinen  Widerstand 
geleistet.  Zuerst  waren  sie  zu  gleichgültig,  später  zu  sehr  dezimiert, 
um  etwas  auszurichten.  Und  vielfach  haben  sich  auch  geistig  Hoch- 
stehende hineinreißen  lassen  in  die  Flut,  die  in  diesem  Hexenkessel 
des  Aberglaubens  brodelte. 

Wo  der  Aberglaube  in  schweren  Zeiten  an  das  Licht  des  Tages 
tritt,  ist  er  immer  ein  Zeichen  der  Zersetzung  bestehenden  Glaubens. 
Seinem  Wesen  nach  ist  er  immer  selbst  einmal  Glaube  gewesen,  ein 
Überlebsei  überwundener  primitiver  Formen  der  Religion.  Darum  sollten 
wir  Heutigen  nicht  auf  den  Aberglauben  unseres  Volkes  verachtend 
herabsehen,  sondern  ihn  zu  verstehen  suchen:  er  wird  uns  reiche  Be- 
lehrung über  die  früheren  Stufen  religiöser  Vorstellungen  gewähren.  Auch 
bei  anderen  Völkern  sehen  wir,  durch  besondere  Umstände  begünstigt, 
dergleichen  Überbleibsel  aus  den  unteren  Schichten,  in  denen  sie  ein 
verborgenes  Dasein  geführt  haben,  plötzlich  wieder  an  die  Oberfläche 
kommen.  Aber  in  dieser  Fülle  von  Formen,  und  so  bis  in  die  Ober- 
schichten der  Gesellschaft  hinein,  wie  am  Ausgang  des  Altertums, 
kennen  wir  es  sonst  nirgends.  Es  sind  die  Fieberphantasien  des  ab- 
sterbenden antiken  Glaubens;  es  ist  als  ob  die  Religion  wahnsinnig 
geworden    und    dem   Tode    nahe    sei,    ihr   Empfinden   und    ihre   Vor- 


Der  Untergang-  der  antiken  Religion  51 3 

Stellungen  neigen  sich  der  tiefsten  Stufe  zu.  Und  zwar  werden  sich 
die  Völker  dessen  schaudernd  selbst  bewußt  und  suchen  nach  dem 
Retter  aus  dieser  Not  des  Geistes.  Stets  erwacht  in  den  Zeiten  der 
höchsten  abergläubischen  Verwirrung  die  Hoffnung  auf  einen  Heiland, 
der  all  diesen  Hexenspuk  zu  bannen  vermag. 

Der  Aberglaube  führt  notwendig  zur  Magie:  sie  ist  praktischer 
Aberglaube.  Auch  die  Magie  hat,  wie  die  Religion,  zum  Objekt  das 
Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott.  Nur  daß  nach  ihr  nicht  der  Mensch, 
sondern  der  Gott  der  abhängige  Teil  ist.  Sind  die  olympischen  Götter 
zu  hoch  in  die  Wolken  entrückt,  daß  menschliches  Flehen  sie  nicht 
mehr  zu  erreichen  vermag,  so  hat  die  Magie  ihre  Dämonen,  die  der 
menschlichen  Stimme  gehorchen,  und  dem  Zauberer,  der  die  rechten 
Formeln  weiß,  alles  gewähren  und  verschaffen,  was  sein  Herz  begehrt. 
Diese  rechten  Formeln  hat  man  frühzeitig  aufgeschrieben  und  die 
verschiedenen  magischen  Rezepte  zu  Büchern  vereinigt.  Solche  hat  man 
schon  im  alten  Ägypten  gekannt,  die  Totenbücher  gehören  in  diese 
Kategorie;  im  hellenisierten  Ägypten  haben  sie  ihre  Fortsetzer  gefunden. 
Dorther  stammt  das  Dutzend  Zauberpapyri,  das  wir  noch  haben:  ihre 
Vorlagen  sind  in  den  ersten  christlichen  Jahrhunderten  zusammen- 
gestellt, in  der  Zeit  höchster  religiöser  Erregung.  Viel  ist  in  ihren 
Rezepten  von  der  tvüjcic  die  Rede:  die  Menschen  müssen  den  richtigen 
Namen  des  Dämons  kennen,  der  gezwungen  werden  soll,  die  richtige 
Formel  kennen,  die  allein  wirksam  ist.  Diese  magische  tväcic  ist 
eine  Verwandte  der  religiösen  Gnosis,  die  um  dieselbe  Zeit  geblüht 
hat:  auch  sie  lehrt,  ähnlich  dem  ägyptischen  Totenbuch,  die  Formeln, 
welche  die  Seele  kennen  muß,  um  die  Reise  zum  Himmel  ungehindert 
zurückzulegen. 

Dieses  Dutzend  Zauberpapyri  ist  nur  ein  winziger  Bruchteil  der 
ganzen  gewaltigen  Zauberliteratur.  Die  Apostelgeschichte  erzählt  S  daß 
zu  Ephesus  auf  einmal  dergleichen  Schriften  im  Wert  von  50000 
Drachmen  verbrannt  wurden.  Nicht  alles,  was  hierher  gehört,  sind 
direkt  Zauberrezepte.  Verwandter  Art  sind  die  Bücher,  die  von  den 
geheimen  Kräften  von  Steinen,  Pflanzen  und  Tieren  berichten,  z.T. 
dicke  Lexika  in  alphabetischer  Ordnung,  bestimmt,  die  richtige  Ver- 
wendung dieser  Dinge  zum  Zauber  oder  in  der  Mediana  popularis  zu 
lehren.  Diese  Literatur  ist  in  niemals  abreißender  Tradition  durch  das 
Mittelalter  fortgepflanzt  worden;  sie  enthielt  in  ihrem  Schöße  die  Keime 
zu  den  Wissenschaften  der  Mineralogie,  Botanik,  Zoologie:  aber  in  dem 


'  XIX  19. 
Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  33 


514  Der  Untergangf  der  antiken  Religion 

Dunkel,  das  sie  umgab,  sind  sie  zur  Entwicklung  nicht  gelangt.  Und 
ebenso  bergen  sich  die  Anfänge  der  wissenschaftlichen  Chemie  in  den 
Büchern  der  Alchemisten,  deren  älteste  in  die  Antike  zurückreichen:  von 
ihren  zauberischen  Fähigkeiten  ist  der  Stein  der  Weisen,  die  vergebliche 
Kunst,  Gold  zu  machen,  bekannt,  die  bis  in  die  Neuzeit  immer  wieder 
Adepten  gefunden  hat.  Endlich  gehört  in  den  Kreis  dieser  Literatur 
auch  die  astrologische,  die  der  wissenschaftlichen  Schriftstellerei  der 
Astronomen  benachbart  ist.  Die  Heimat  des  uralten  Aberglaubens,  daß 
der  Lauf  der  Sterne  den  Lebenslauf  des  einzelnen  Menschen  bestimmt, 
und  daß  man  aus  der  Konstellation  zur  Stunde  der  Geburt  den  ganzen 
Lebenslauf  voraussagen  kann,  ist  Babylon.  Schon  früh  sind  von  dort 
aus  die  Chaldäer  als  Propheten  der  Astrologie  in  den  Okzident  ge- 
wandert; später  haben  Griechen  und  Römer  selbst  astrologische 
Literatur  geschaffen:  Horoskope,  Anweisungen  zur  Deutung  der  Kon- 
stellationen, Verteidigungen  der  Kunst  gegen  Angriffe  der  Philosophie. 
Eine  große  Masse  von  Büchern  ist  das  gewesen,  die  im  Mittelalter 
einen  gewaltigen  Niederschlag  hinterlassen  hat.  Um  die  astrologischen 
Traktate,  die  allein  in  Florenz  liegen,  nur  zu  registrieren,  waren  75  Druck- 
seiten nötig.^  So  unendlich  vieler  Anhänger  hat  sich  die  Astrologie 
erfreut,  weil  sie  gestützt  wurde  durch  den  weitverbreiteten  Glauben  an 
das  Fatum,  an  das  Schicksal,  das  dem  Menschen  bei  seiner  Geburt 
bestimmt  wird,  und  dem  er  auf  keine  Weise  zu  entrinnen  vermag. 

Die  Rezepte,  die  in  jenen  Zauberbüchern  enthalten  waren,  haben 
keineswegs  nur  auf  dem  Papier  gestanden.  Unendlich  oft  hat  sich 
jene  abergläubische  Zeit  ihrer  wirklich  bedient  und  ist  mit  ihrer  Hilfe 
in  die  Welt  der  Dämonen  eingetreten.  Ganze  Klassen  antiker  Monu- 
mente geben  davon  Zeugnis.  Da  sind  einmal  die  Defixionen^,  Blei- 
tafeln, auf  denen  man  den  Namen  von  verhaßten  Gegnern  einritzt,  um 
sie  zu  verfluchen.  Diese  Tafeln  werden  in  Gräbern  geborgen,  und  somit 
dem  Bereich  der  Unterwelt  übergeben:  die  Dämonen  der  Tiefe  werden 
jene  Texte  lesen  und  den  Verfluchten  zu  sich  herabziehen.  Damit 
man  ganz  sicher  ist,  daß  der  Fluch  sein  Ziel  nicht  verfehle,  werden 
alle  Glieder  des  Betroffenen  einzeln  anf gezählt:  seine  Zunge,  sein  Kinn, 
sein  Hals,  seine  Brust  sollen  getroffen  werden,  Gliederlisten,  die  das 
Mittelalter  übernommen  hat.^  Wenn  der  Gegner  nicht  getötet,  so  soll 
er  wenigstens  an  Wort  und  Werk  gehindert,  in  seinen  Bewegungen 
gebunden  werden:    darum   heißen  diese  Tafeln   griechisch   Kaidbecinoi. 


^  Gatalogus  codicum  astrologorum  graecorum  I,  Bruxellis  1898. 

*  AudoUent,  Defixionum  tabellae,  Paris  1904,  Vorrede. 

'  Pradel,  Griech.  Gebete  des  Mittelalters,  Rel.-gesch.  Vers.  Vorarb.  III  353. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  51 5 

Es  ist  ein  Binde-,  ein  Bannzauber,  wie  ihn  auch  andere  Völker  kennen. 
Die  meisten  seiner  Dokumente  stammen  aus  jenen  Zeiten  des  Aber- 
glaubens, sie  richten  sich  gegen  Wagenlenker,  die  durch  eine  solche 
Hemmung  im  Zirkus  nicht  den  Sieg  gewinnen,  oder  gegen  Männer, 
die  so  lange  von  den  Dämonen  gequält  werden  sollen,  bis  sie  der 
Fluchenden  ihre  Liebe  zuwenden.  Meist  führen  uns  diese  Texte  ein 
in  das  Leben  und  Treiben  der  unteren  Schichten.  Aber  sie  haben 
auch  die  Höchststehenden  bedroht;  Tacitus  erzählt S  daß  man  mit  Blei- 
tafelzauber dem  Germanicus  nach  dem  Leben  getrachtet  hat. 

Nicht  nur  die  Hilfe  der  Dämonen  suchte  man  durch  solchen  Zauber, 
noch  öfter  galt  es,  sich  der  Dämonen,  die  ein  anderer  geschickt  hatte, 
oder  die  aus  eigener  Tücke  den  Menschen  überfielen,  zu  erwehren. 
Dazu  dienten  die  Amulette,  die  auch  in  großer  Zahl  wiedergefunden 
sind.  Meist  sind  es  Teile  von  zauberkräftigen  Pflanzen  oder  Tieren 
gewesen,  die  man  am  Leibe  angebunden  trug.  Aber  mehr  lehren  uns 
Steine  und  Metalle,  in  die  man  die  wirksamen  Bilder  und  Formeln  ein- 
geritzt hatte.  In  den  meisten  Fällen  kehren  hier  dieselben  Namen  und 
Sprüche  wieder,  die  von  den  Zauberpapyri  vorgeschrieben  sind.  Be- 
sonders beliebt  waren  Gemmen  mit  Bildern  von  allerhand  Dämonen, 
die  namentlich  den  synkretistischen  Systemen  der  Gnosis  geläufig  waren; 
man  pflegt  sie  deshalb  gnostische  Gemmen  zu  nennen.  Von  den 
Metallen  galten  als  prophylaktisch  namentlich  Silber  und  Gold:  ein 
silbernes  Täfelchen  mit  'gnostischem'  Text  ist  in  Badenweiler,  ein 
goldenes  zu  Gellep  in  der  Rheinprovinz  ^  gefunden  worden.  So  weit  hinein 
nach  Germanien  ist  dieser  Aberglaube  getragen  worden;  seine  Pioniere 
waren  die  römischen  Legionare,  die  Vorboten  der  römischen  Kolonisa- 
tion. Er  hat  sich  in  Deutschland  gehalten  bis  auf  unsere  Tage;  noch 
im  vorigen  Jahrhundert  glaubte  man  an  die  apotropäische  Kraft  von 
Papierzetteln,  die  mit  bestimmten,  z.  T.  auf  die  Antike  zurückgehenden 
Formeln  beschrieben  waren. 

Das  wenigste  unter  dem  Gewälsch  jener  Texte  ist  altgriechisches 
Gut.  Zum  Teil  sind  es  Buchstabenreihen,  in  denen  die  Magier  ein 
mystisches  Spiel  trieben:  Abracadabra  verbindet  den  Vokal  a  mit  den 
ersten  Konsonanten  bcd^  Ablanathanalba  ist  zauberkräftig,  weil  es  sich 
gleich  bleibt,  ob  man  es  von  vorne  oder  von  hinten  liest.  Anderes 
ist    aus    fremden    Religionen    übernommen    worden;    starke    Anleihen 


»  Ann.  II  69.  „  i  u  u  mo 

»  M.  Siebourg,  Ein  gnostisches  Goldamulett  aus  Gellep,  Bonner  Jahrb.  iw 

(1898)  123ff. 

'  S.  oben  S.  215. 

33* 


516  ^®^  Untergang  der  antiken  Religion 

werden  namentlich  bei  der  jüdischen  gemacht,  deren  Kabbala  so  ins 
Heidentum  verschleppt  wird.  Auch  Hellenen  haben  sich  des  'Schlüssels 
Salomonis'  bedient;  ein  Zauberpapyrus  trägt  den  Titel ^:  BißXoc  lepd 
€TriKaXoujLievri  Movac  f|  ÖTbör)  Mujuceujc  Trepi  xoO  6v6|uaTOc  toO  dTiou. 
Das  setzt  die  Existenz  eines  magischen  sechsten  und  siebenten  Buches 
Mosis  voraus.  Angerufen  wird  in  solchen  Texten  oft  genug  der  Jao 
—  das  ist  die  griechische  Transskription  des  jüdischen  Jahveh  —  oder 
Abraham  und  andere  Heroen  des  israelitischen  Volkes.  Unter  dem 
Gemurmel  solcher  Zauberformeln  wendet  sich  die  Welt  von  den  alten 
zu  den  neuen  Göttern. 

Daß  diese  ersten  nachchristlichen  Jahrhunderte  die  klassische  Zeit 
des  Aberglaubens  und  der  Magie  gewesen  sind,  zeigen  deren  Reflexe 
in  der  Literatur.  Die  Stoffe,  aus  denen  Goethe  seine  'Braut  von 
Korinth'  und  den  'Zauberlehrling'  geformt  hat,  hegen  uns  zuerst  in  den 
Schriften  des  zweiten  Jahrhunderts  vor,  bei  Phlegon  von  Tralles^  und 
Lukian.^  Etwas  jünger,  aus  der  Zeit  des  Übergangs  zum  Christentum, 
ist  die  Sage  von  Theophilos,  der  seine  Seele  dem  Teufel  verschreibt, 
das  Vorbild  des  Doctor  Faust.  Solche  Dinge  aber  konnte  man  nur 
dann  erzählen,  wenn  man  sicher  war,  daß  der  Leser  ihnen  Verständnis 
und  Teilnahme  entgegenbrachte.  Allgemein  also  herrschten  damals 
derartige  Meinungen  so  stark,  daß  niemand  jene  Jahrhunderte  zu  ver- 
stehen vermag,  der  den  Aberglauben  nicht  kennt.  Alle  suchen  damals 
durch  seine  Hilfe  zu  erlangen,  was  nur  auf  dieser  Welt  erstrebenswert 
ist:  Reichtum  und  Gesundheit,  Macht  und  Ehre,  Schönheit  und  Weis- 
heit, Freude  des  Herzens  und  ewiges  Leben.  Wenn  die  intellektuelle 
Oberschicht  eines  Volkes  sein  Verstand  genannt  werden  kann,  so  hatte 
die  antike  Gesellschaft  ihren  Verstand  verloren.  Denn  auch  die,  die 
man  zur  Aristokratie  des  Geistes  rechnen  muß,  waren  von  der  Super- 
stition gepackt.  Die  höchste  Bildung  bewirkt  keine  Ausnahme  von 
dem  Gesetz,  daß  da,  wo  der  Glaube  verschwunden  ist,  der  Aberglaube 
einzieht.  Nirgends  hört  man  heutzutage  mehr  von  Aberglauben  als 
unter  den  zivilisiertesten  Menschen  der  Welt,  den  Parisern. 

Für  das  Altertum  findet  sich  die  Kompatibilität  von  Bildung  und 
Superstition  am  deutlichsten  bei  den  Kaisern.  Augustus,  der  Typus 
des  feingebildeten  Römers,  kümmert  sich  um  Haruspizin  und  Vogelflug 
und  glaubt  an  Vorzeichen :  eine  schlimme  Vorbedeutung  hatte  es,  wenn 
er  morgens  den  Schuh  an  den  falschen  Fuß  gezogen  hatte,  gute,  wenn 
er  am  Morgen    der  Reise  Tau   auf   den  Gräsern  sah.     Auch  das  Aus- 

^  Abraxas  167.  *  Ret.  nat.  Script,  ed.  O.  Keller  I  p.  57. 

'  Philops.  34. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  5I7 

schlagen  der  saftlosen  Äste  einer  Eiche  in  Capri  betrachtete  er  als 
gutes  Omen.  Auf  Träume,  eigene  und  fremde,  nahm  er  in  gleicher 
Weise  Rücksicht.  Alljährlich  stellte  er  sich  an  bestimmtem  Orte  zu 
bestimmter  Zeit  als  Bettler  auf  und  ließ  sich  von  den  Vorübergehenden 
Kupfermünzen  in  die  offene  Hand  drücken^;  sichtlich  war  er  hierbei 
von  dem  Aberglauben  beherrscht,  Selbsterniedrigung  zähme  den  Neid 
der  Götter. 

Auch  Nero,  religionum  usque  quaque  contemptor\  hat  noch  kurz 
vor  seinem  Tode  Eingeweideschau  geübt.  Eine  Zeitlang  war  er  dem 
Dienst  der  syrischen  Göttin  ergeben;  dann  beschimpfte  er  sogar  ihr 
Bild,  als  er  etwas  Besseres  gefunden  hatte:  ein  Mann  aus  dem  Volke 
hatte  ihm  ein  Amulett  geschenkt,  das  ihm  die  Zukunft  weissagte,  und 
das  er  dreimal  am  Tage  als  'höchsten  Gott'  mit  Opfern  ehrte. 
Vespasian  ließ  bei  der  Grundsteinlegung  zum  Neubau  des  kapitoli- 
nischen Tempels  im  J.  70  n.  Chr.  nur  die  Soldaten  eintreten  quis 
fausta  nomina.^  Derselbe  Kaiser  bewunderte  mit  seinen  Söhnen  und 
Offizieren  die  Zauberkünste  des  jüdischen  Hexenmeisters  Eleazar:  dieser 
heilte  einen  Besessenen,  indem  er  ihm  einen  durch  salomonischen 
Zauber  geweihten  Ring  vor  die  Nase  hielt  und  so  den  Dämon  heraus- 
zog; zum  Zeichen  aber,  daß  der  unsaubere  Geist  wahrhaftig  ausge- 
fahren sei,  hieß  er  ihn  ein  Gefäß  mit  Wasser  umwerfen,  was  der 
Dämon  auch  wirklich  tat.''  Hadrian  hat  dem  Traumdeuter  und  Toten- 
beschwörer Pachrates  in  Anerkennung  seiner  Kunst  ein  hohes  Jahres- 
gehalt verliehen.^  SeptimiusSeverus  gab  viel  auf  astrologische 
Prophezeiungen*',  Caracalla  hat  Tote  beschworen ^  und  Didius 
Julianus,  der  im  J.  193  den  Thron  der  Cäsaren  usurpierte,  hat 
durch  Knaben,  die  mit  verbundenen  Augen  in  einen  Spiegel  schauen 
mußten,  die  Zukunft  erforschen  lassen.^ 

Aber  auch  die  Philosophen  sind  mit  dem  Aberglauben  verbunden, 
wenn  auch  in  etwas  anderer  Form.  Wohl  haben  auch  sie  in  späterer 
Zeit  den  Volksglauben  rezipiert  und  ihn  mit  allen  Konsequenzen  des 
Aberglaubens  und  der  Magie  verteidigt;  ergötzliche  Typen  dieser 
Philosophie,  die  an  Ammenmärchen  ernsthaft  glaubt,  hat  Lukian  in 
seinem  Philopseudes  gezeichnet.  Namentlich  Neuplatoniker  und  Neu- 
pythagoreer  erkennen  Heroen  und  Dämonen  als  wirklich  existierend 
und  zu  Machtäußerungen  befähigt  an;  der  Philosoph  aber  ist  imstande. 


»  Suet.  Aug.  91.  '  Suet.  Nero  56.  '  Tac.    hist.  IV  53. 

*  los.  ant.  VIll  2,  5.  ^  Pap.  Par.  2447,  Wiener  Denkschr.  XXXVI  106. 

«  E.  Maass,  Tagesgötter  144ff.  '  Dio  Cass.  77,  15. 

»  Vit.  Did.  Jul.  VII  10. 


518  Der  Unterg-ang  der  antiken  Religion 

sich  diese  höheren  Wesen  zu  unterwerfen  und  ihre  Kraft  in  seinen 
Dienst  zu  zwingen.  Und  hierdurch  entsteht  das  Neue,  was  die  Philo- 
sophen auf  diesem  Boden  von  den  Kaisern  unterscheidet:  sie  sugge- 
rieren der  großen  Menge  die  Meinung,  daß  sie  tatsächlich  den  dämo- 
nischen Mächten  zu  gebieten  und  durch  ihre  Hilfe  Übermenschliches 
zu  leisten  vermögen.  So  entsteht  der  Glaube  an  die  göttliche  Macht 
des  Philosophen;  man  zollt  ihm  die  Verehrung,  die  man  dem  öeToc 
dvrip  schuldig  ist.  Von  Wunderdingen  strotzen  ihre  Biographien^: 
Jamblichos  erhob  sich  in  der  Ekstase  zehn  Ellen  über  den  Boden, 
Proklos  gebot  dem  Wetter  und  rühmte  sich,  daß  Geister  und  Götter 
ihm  erschienen. 

Daß  man  derart  an  die  Wundermacht  von  Philosophen  glaubte,  ist 
aber  zugleich  eine  Form  der  überall  zu  beobachtenden  Erscheinung, 
daß  in  schweren  Zeiten  das  Volk  sich  nach  einem  Retter  sehnt,  den 
es  sich  als  Magier  oder  Göttersohn  denkt,  jedenfalls  als  Mann,  der 
alles  vermag,  dem  alle  Gewalt  im  Himmel  und  auf  Erden  gegeben  ist, 
der  die  bösen  Dämonen,  die  unsauberen  Geister  vertreibt,  denen  sonst 
alles  preisgegeben  ist,  welche  sonst  die  ganze  Menschheit  in  fortwährender 
Angst  erhalten.  Diese  Angst  ist  nie  so  groß  gewesen  wie  damals, 
wo  der  Dämonenglaube  so  hoch  gestiegen  war;  mit  der  Angst  aber 
wuchs  die  Sehnsucht  nach  dem  Starken,  dem  Herrn,  der  die  Macht 
hat,  jene  Geister  zu  verscheuchen.  Ganz  naturgemäß  richtete  diese 
Sehnsucht  ihren  Blick  zunächst  auf  die  Mächtigen  dieser  Welt.  Schon 
zu  König  Pyrrhos  kamen  die  Kranken  und  Bresthaften  —  Kranksein  aber 
ist  dem  primitiven  Menschen  das  Besessensein  vom  Krankheitsdämon 
—  und  er  heilte  sie,  indem  er  seinen  Fuß  auf  sie  setzte.^  Als  Vespasian 
zu  Alexandreia  weilte,  brachten  sie  einen  Blinden  und  einen  Gelähmten 
zu  ihm,  daß  er  sie  heile.  Der  Kaiser  rieb  die  Augen  des  Blinden  mit 
seinem  Speichel  ein  und  berührte  den  Gelähmten:  beide  gingen  geheilt 
von  dannen.^  Wo  solcher  Glaube  sich  an  die  Kraft  der  Könige  an- 
setzte, folgte  die  Legendenbildung  bald  nach:  wunderbare  Geschichten 
erzählte  man  sich,  durch  die  solche  Helden  durch  ihr  ganzes  Leben 
als  Lieblinge  und  Machtverwalter  der  Götter  legitimiert  wurden.  Das 
beginnt  mit  der  Zeugung:  der  menschliche  Vater  ist  nicht  imstande, 
dem  Sohn  übernatürliche  Kraft  mitzugeben,  so  wird  der  Held  als  Sohn 
eines  Gottes  gedacht.  Alexander  der  Große  wird  zum  Sohn  des 
Juppiter  Ammon^  Zeus  ging  als  Blitzstrahl  in  den  Schoß  der  Olympias 


*  Eunapii  Vit.   philos.   ed.  Boissonade,   Par.   1849;   Marini  Vita  Prodi   im 
Diog.  Laert.  von  Cobet,  Par.  1850.  »  Plut.  Pyrrh.  3. 

«  Tac.  hist.  IV  81;  Suet.  Vesp.  7.  *  z.  B.  Gurt.  Ruf.  IV  7. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  5J9 

ein.^  Der  Atia  naht  ein  Drache:  Äugustum  nahm  mense  decimo  et 
ob  hoc  Äpoüinis  filium  existimatum.^  Bei  dem  Tode  Caesars  verlor 
die  Sonne  ihren  Schein  ^  und  ein  Komet  leuchtete,  der  die  Größe  des 
künftigen  Augustus  weissagte.^  Daß  die  Magier  den  Nero  anbeten, 
weil  sie  in  ihm  ihren  Mithras  sehen,  sahen  wir.^  Alles  Züge,  die  uns 
aus  dem  Neuen  Testament  vertraut  sind;  selbst  eine  Parallele  zum 
bethlehemitischen  Kindermord  findet  sich  in  den  Legenden,  die  sich 
um  Augustus  gerankt  haben.^ 

So  sieht  die  antike  Welt  vielfach  in  Königen  und  Kaisern  den 
Gottgesandten  und  den  Erretter.  Es  ist  dieselbe  Anschauung,  die  in 
früheren  Zeiten  andere  religiöse  Vorstellungen  erzeugt  hat:  die  orien- 
talische Gottkönigsidee  und  den  hellenischen  Heroenglauben.  Diese 
beiden  Gedanken  sind  aber  zugleich  die  Wurzeln  eines  Kultes,  den 
das  römische  Kaisertum  neu  geschaffen  hat,  des  Kultes  des  lebenden 
Kaisers l  Ursprünglich  werden  in  Griechenland  heroische  Ehren,  die 
namentlich  im  Kultus  am  Grabe  bestehen,  nur  Verstorbenen  zu  teil. 
Auf  Lebende  ist  das  erst  um  400  v.  Chr.  übertragen  worden:  damals 
erhielt  Lysander  bei  Lebzeiten  wie  ein  Gott  Altäre  und  Opfer,  Päane 
und  Festtage.  Als  dann  Alexander  der  Große  das  Perserreich  unter- 
wirft, verehren  ihn  die  neugewonnenen  Untertanen  nach  orientalischer 
Weise  als  Inkarnation  eines  göttlichen  Wesens;  zu  gleicher  Zeit  er- 
weisen auch  einige  Griechengemeinden  dem  noch  lebenden  Könige 
dieselben  Ehren,  die  sie  für  Lysander  beschlossen  hatten:  so  treffen 
in  der  Verehrung  des  lebenden  Alexander  orientalische  und  griechische 
Anschauung  zusammen.  Dieser  Kult  Alexanders  ist  für  die  Diadochen 
vorbildlich  gewesen.  Ptolemaios  Philadelphos  hat  den  Schritt  getan, 
die  göttliche  Verehrung  des  lebenden  Herrschers  offiziell  und  von 
Staats  wegen  einzuführen.  Ahnlich  wie  in  Ägypten  haben  sich  die  Dinge 
in  Syrien  entwickelt;  hier  war  es  Antiochos  11  mit  dem  Beinamen 
Theos,  der  zuerst  die  göttliche  Verehrung  seiner  Person  heischte.  Unter 
seinen  Nachfolgern  tritt  der  Gedanke,  daß  der  König  ein  Gott  ist,  be- 
sonders klar  hervor;  hier  in  Syrien  waren  jene  orientalischen  Vor- 
stellungen eben  am  mächtigsten.  Dagegen  die  Attaliden  von  Pergamon 
haben  sich  mit  dem  Kult  der  verstorbenen  Fürsten  und  Fürstinnen  begnügt. 

Als  in  Rom  durch  Julius  Caesar  die  Monarchie  entstand,  sah  es 
zunächst  so  aus,  als  ob   mit  der  neuen  Staatsform  auch  die   extreme 


»  Plut.  Alex.  2  f.  *  Suet   Aug.  94. 

»  H.  Usener,  Rhein.  Mus.  LV  1900,  286  ff. 

*  S.  oben  278.  *  Oben  S.  505.  *  S.  oben  273. 

'  E.  Kornemann,  Zur  Geschichte  der  antiken  Herrscherkulte,  Klio  I  1901  51  ff. 


520  ^^^  Untergang  der  antiken  Religion 

Form  der  Vergöttlichung  des  lebenden  Herrschers  von  den  Ptolemäern 
und  Seleukiden  übernommen  werden  sollte.  Caesars  Statue  wird  in 
allen  Tempeln  aufgestellt,  Feste  und  Priester  werden  ihm  beschlossen, 
man  geht  damit  um,  ihn  Jupiter  Julius  zu  nennen.  Der  15.  März  44 
brachte  die  Reaktion  dagegen.  Selbst  nun,  da  er  verstorben  ist,  wird 
er  nicht  vollends  zum  Gotte;  er  wird  nur  divus,  nicht  deus  Julius, 
Octavianus  nimmt  nur  den  Beinamen  Äugustus  an,  der  ihn  wohl  den 
Göttern  nähert,  aber  nicht  unter  die  Unsterblichen  erhebt.  Tiberius 
ist  völlig  gegen  allen  Weihrauch  gewesen.  Erst  Claudius  ist  wieder 
in  die  Bahnen  eingebogen,  in  die  Caesar  gedrängt  worden  war.  Seit 
den  Flaviern  findet  sich  dann  an  der  Peripherie  des  Reiches  der  staat- 
liche Kult  des  lebenden  Imperators:  am  Ende  des  dritten  Jahrhunderts 
ist  das  Vorbild  der  Seleukiden  erreicht,  und  der  Kaiser  ein  deus  schon 
auf  Erden. 

In  diesem  Kulte  offenbart  sich  der  Gedanke  an  ein  Gottmenschen- 
tum, der  die  letzte  Epoche  der  antiken  Welt  beherrscht.  Es  ist  die 
Vorstellung  vom  Oeioc  avGpiuTTOc,  wie  sie  die  Theologie  etwa  der  her- 
metischen Bücher  in  den  Mythos  vom  Gotte  "AvepiuTroc  gekleidet  hat.^ 
Göttliches  und  Menschliches  rücken  einander  seit  der  hellenistischen 
Zeit  näher:  Alexander  ist  als  Mensch  zu  den  Göttern  gegangen,  Euhe- 
meros  machte  die  Götter  zu  Menschen. 

Durch  den  Kaiserkult  knüpft  sich  im  römischen  Reiche  ein  enges 
Band  zwischen  Kirche  und  Staat.  Das  weltliche  Oberhaupt  ist  von  der 
Kirche  als  Objekt  des  Kultus  anerkannt;  wer  gegen  diesen  ist,  lehnt 
sich  zugleich  gegen  den  Staat  auf.  Solche  Auflehnung  hatte  das 
Judentum  in  den  Zeiten  der  Makkabäer  gegen  das  Gottkönigtum  der 
Seleukiden  begangen:  in  ungeahnter  Weise  hatten  dessen  Forderungen 
die  müde  messianische  Hoffnung  neu  belebt.  Und  Ahnliches  geschah, 
als  das  Christentum  sich  weigerte,  dem  Kaiserkult  sich  zu  beugen:  das 
Blut  der  Märtyrer  befestigte  den  Glauben  der  übrigen.  Und  doch  ist 
auch  dieser  Kult  nicht  ganz  ohne  Einfluß  auf  die  christliche  Kirche 
geblieben:  sie  hat  für  ihre  Konzilien  und  Priester  die  äußeren  Formen, 
Namen  und  Abzeichen  nicht  zum  geringsten  Teil  dem  provinziellen 
Kaiserkult  entlehnt,  der  im  dritten  Jahrhundert  das  Wahrzeichen  der 
römischen  Reichseinheit  war  im  Osten  und  Westen.  Und  auch  das  ist 
von  Bedeutung  gewesen,  daß  der  Kaiserkult  eine  zentrale  Religion  war, 
die  ihren  Mittelpunkt  in  einer  lebenden  Person  besaß,  ihre  Augen  des- 
halb stets   auf   dieses   lebenden  Gottes  Wohnsitz,   d.  h.  nach  Rom,  ge- 


R.  Reitzenstein,  Poimandres  S.  81  ff. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  521 

richtet  hatte.  Dadurch  erlangt  Rom  eine  Sonderstellung  unter  den 
Städten  der  Menschen,  die  es  während  des  ganzen  Mittelalters  behalten 
hat.  Als  Konstantin  nach  Byzanz  zog,  nahm  er  diesen  Primat  nicht 
von  dort  mit,  sondern  überließ  ihn  seinem  geistlichen  Nachfolger:  die 
Stadt  des  Kaisers  wurde  die  Stadt  des  Papstes. 

Aber  nicht  nur  die  Ftlrsten  sind  OeToi  dvepiuTroi  gewesen:  mit  noch 
größerer  Inbrunst  hat  sich  der  Glaube  der  Menge  an  die  Propheten 
und  Wundermänner  angeschlossen.  Und  der  Glaube  war  so  stark,  daß 
er  sich  von  ausgesprochenen  Schwindlern  irre  führen  ließ.  Zu  diesen 
gehört  Alexandros  von  Abonuteichos.^  Er  errichtete  den  Kult  eines 
Gottes,  den  er  selbst  geschaffen  hatte  -  eine  junge  Schlange  fand 
sich  in  einem  Gänseei  unter  den  Fundamenten  eines  Tempels,  von 
Alexandros  wohlweislich  erst  dorthin  versteckt.  Diesem  Gott  weihte  er 
sich  selbst  als  Priester,  nicht  ohne  sich  durch  eine  Weissagung  als 
Göttersproß  legitimiert  zu  haben.  Er  spendete  Orakel,  erweckte  Tote 
und  tat  sonst  Wunder.  Von  allen  Seiten  kamen  Hilfesuchende  nach 
Kleinasien,  aus  Rom  die  höchstgestellten  Personen.  Ein  Konsular 
rechnete  es  sich  als  Gnade  an,  die  Tochter  dieses  Schwindlers  heiraten 
zu  dürfen;  Kaiser  Mark  Aurel  schickte  auf  ein  Orakel  des  Gauklers 
zwei  Löwen  in  die  Donau,  um  gegen  die  Quaden  glücklich  zu  sein. 
Nichts  ist  charakteristischer  für  den  Erfolg  des  Betrügers  und  für  das 
Bedürfnis  der  Zeit,  betrogen  zu  werden,  als  daß  sein  Kult  sich  über 
ein  Jahrhundert  am  Leben  hielt,  trotz  der  bittersten  Satire  des  Lukian.^ 

Eine  ähnliche  Erscheinung  ist  Simon,  mit  dem  Beinamen  der  Magier.^ 
Ihn  kennt  bereits  die  Apostelgeschichte  VIII  9  als  Zauberer,  der  das 
Volk  von  Samaria  erregt,  'dem  alle  anhingen,  hoch  und  niedrig,  und 
sie  sprachen:  Dieser  ist  die  große  Kraft  Gottes'.  Ihn  hat  die  christ- 
liche Kirche  später  als  ihren  ersten  Ketzer  bezeichnet,  und  mit  beispiel- 
losem Haß  verfolgt.*  Sein  Evangelium  ist  die  Magie,  deren  Kenntnis 
ihm  aus  Alexandreia  zugekommen  sein  soll.  Diese  Magie  erfordert 
eine  besondere  Gnosis,  eine  gnostische  Sekte  hat  später  in  Simon  ihren 
Stifter  verehrt.  Mit  sich  hatte  er  eine  Begleiterin  Helena,  wie  er  'die 
große  Kraft  Gottes',  so  war  sie  'der  Gedanke  Gottes'.  Sie  hatten 
nebeneinander  ihren  Kult,  als  Zeus  und  Athene,  das  war  zugleich  eine 
jener   gemeinschaftlichen  Verehrungen   eines   Sonnengottes   und   einer 


*  Lukian  'AX^Eavöpoc  f\  ni€u66|LiavTic. 

*  F.  Cumont,  Alexandre   d'  Abonotichos,  M6m.  cour.  publ.  par  l'Acad.  roy. 
de  Belg.  1887,  S.  42  des  S.  A. 

»  H.  Waitz,  Simon  Magus  in  der  altchristlichen  Literatur,  Ztschr.  f.  neut. 
Wiss.  V  1904  S.  121  ff.  *  Hippol.  ref.  VI  7ff. 


522  ^^^  Untergang  der  antiken  Religion 

Mondgöttin;  den  Gott  sollte  die  Mutter  in  jungfräulicher  Empfängnis 
geboren  haben.  Die  apokryphen  Apostelakten  lassen  ihn  nach  Rom 
kommen  und  dort  einen  Wettstreit  im  Wundertun  mit  Petrus  beginnen/ 
Er  verwandelt  sich  in  eine  Tiergestalt,  wälzt  sich  in  Feuer  und  versucht 
auf  einem  Wagen  mit  einem  feurigen  Viergespann  gen  Himmel  zu 
fahren.  Zuletzt  ließ  er  sich  begraben  und  versprach  am  dritten  Tage 
aufzuerstehen;  aber  er  ist  im  Grabe  geblieben. 

Einen  anderen  Werdegang  hat  Peregrinus  genommen,  mit  dem 
Zunamen  Proteus;  auch  er  hat  dem  zweiten  Jahrhundert  als  Wunder- 
mann gegolten.  Er  ist  nach  Lukians  Bericht^  Christ  gewesen:  ^er  war 
der  Christen  Prophet  und  Vorsteher  und  legte  ihnen  ihre  Schriften 
aus,  schrieb  auch  einige  selbst  und  sie  verehrten  ihn  als  Gott  und 
Gesetzgeber'.  Später  aber  wurde  er  Kyniker,  und  ahmte  den  Tod  des 
Schutzpatrons  der  kynischen  Sekte  nach.  Wie  Herakles  auf  dem  öta, 
verbrannte  er  sich  lebend  zu  Olympia.  Ganz  Griechenland  war  Zeuge, 
und  so  groß  war  der  Glaube  an  die  Göttlichkeit  dieses  Mannes,  daß 
Lukian  sich  den  Spaß  machen  konnte,  zu  erzählen,  beim  Tode  des 
Proteus  habe  die  Erde  gebebt,  und  aus  den  Flammen  sei  ein  Geier 
gen  Himmel  gefahren.  Und  es  gab  Menschen,  die  den  Geier  gesehen 
und  den  auferstandenen  Proteus  in  weißem  Gewand  umhergehend 
geschaut  haben  wollten. 

Die  bedeutendste  unter  diesen  Erscheinungen  ist  Apollonios  von 
Tyana.^  Er  gehört  dem  Ende  des  ersten  Jahrhunderts  an,  doch 
stammt  die  Hauptquelle  über  sein  Leben  erst  aus  späterer  Zeit.  Das 
ist  der  Bios,  den  Philostratos  verfaßt  hat,  und  zwar  auf  Anregung  der 
Julia  Domna,  jener  Tochter  des  syrischen  Sonnenpriesters,  die  der 
Afrikaner  Septimius  geheiratet  hatte:  trotz  ihres  Sonnenkultes  und  seiner 
Astrologie  bedurften  sie  noch  des  irdischen  Wundertäters,  um  sich  an 
seinem  Wirken  zu  erbauen.  Philostratos  will  als  Hauptquelle  die  Auf- 
zeichnungen des  Damis  aus  Ninive  benutzt  haben,  der  des  Apollonios 
Jtinger  war.  Danach  hatte  der  Meister  sein  Leben  auf  weiten  Reisen 
zugebracht,  in  Babylonien,  Indien  und  Ägypten,  als  Apostel  der  Sitt- 
lichkeit, überall  bessernd  und  belehrend.  Er  spricht  alle  Sprachen, 
ohne  sie  gelernt  zu  haben,  und  unterhält  sich  mit  den  Toten.  Aller- 
orts tut  er  die  erstaunlichsten  Wunder,  er  treibt  Dämonen  aus  und 
erweckt  Gestorbene,  im  Gefängnis  entledigt  er  sich  ohne  Mühe  der 
angelegten   Ketten.    Dem   Kaiser   Domitian   tritt   er   mutvoll   entgegen 

^  Acta  apost.  apocr.  ed.  Lipsius-Bonnet  I  45  ff. 

'  De  morte  Peregrini  IL 

'  J.  Miller  bei  Pauly-Wissowa  u.  Apollonios  98. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  523 

und  als  dieser  ihn  foltern  will,  wird  er  aus  Rom  entrückt  an  den  Golf 
von  Neapel.  In  seiner  Erscheinung  hatte  er  sich  Pythagoras  zum  Vor- 
bild genommen;  die  Haare  wallten  auf  die  Schultern  herab,  sein  Ge- 
wand war  aus  Linnen,  seine  Schuhe  aus  Pflanzenteilen.  Er  berührte 
keinen  Wein;  was  er  sprach,  war  belebend  und  wohltuend;  menschlich 
und  gerecht  zu  sein  war  sein  Ideal.  Mit  der  Zeichnung  seines  Bildes 
hat  die  antike  Religion  noch  einmal  versucht,  sich  durch  eine  ethische 
Vertiefung  zu  reformieren.  Vielleicht  ist  dieser  Versuch  durch  die 
Bekanntschaft  mit  dem  Christentum  veranlaßt.  Denn  es  ist  nicht  aus- 
geschlossen, daß  jene  Vita  des  Apollonios  mit  Benutzung  christlicher 
Bücher  geschrieben  ist.  Später  ist  dieser  heidnische  Wundermann 
geradezu  in  Parallele  mit  Jesus  gesetzt  worden;  Alexander  Severus 
hatte  in  seinem  Lararium  außer  den  Büsten  von  Abraham  und  Orpheus 
auch  die  von  Apollonios  und  Christus.^ 

Dasselbe  Sehnen  der  Zeit,  welches  das  Idealbild  des  Apollonios 
schuf,  hat  auch  die  OeToi  dvbpec  der  Vorzeit,  Pythagoras  und  Plato, 
neubelebt.  Ihre  Lehre  wird  in  den  Kreisen  der  Neupythagoreer  und 
Neuplatoniker  aufgenommen,  und  die  Häupter  dieser  Sekten  bilden 
einen  bestimmten  Typus,  den  des  wundertätigen,  friedfertigen  Lehrers 
und  Propheten.  Pythagoras,  ihr  Vorbild,  ist  ihnen  Inkarnation  der 
Gottheit,  des  Apollo,  der  alles  Übel  abwehrt;  ähnlich  wird  Apollonios 
von  Tyana  als  Sohn  des  Zeus,  als  Herakles  Alexikakos  verehrt.^  In 
dieser  Verehrung  göttlicher  Menschen  als  Erretter  von  dem  Übel  zeigt 
sich  ein  höheres  religiöses  Empfinden,  eine  antike  Messiashoffnung, 
die  nach  Erfüllung  sucht,  das  Streben  einer  Welt,  die  empfindet,  daß 
sie  den  Dämonen  verfallen  ist,  weil  der  Glaube  an  die  alten  Götter 
sich  zum  Grabe  neigt.  Was  von  Religionen  damals  noch  lebt,  gewährt 
alles  in  ähnlicher  Weise  die  Hoffnung  auf  eine  Erlösung  vom  Übel  und 
zugleich  die  Aussicht  auf  ein  glückliches  Leben  im  Jenseits:  die  Religion 
des  Attis,  des  Dionysos  und  Osiris,  Religionen,  deren  Stifter  durch  den 
Tod  zur  Auferstehung  durchgedrungen  sind  und  durch  ihr  Blut  die 
Erlösung  der  Gläubigen  besiegelt  haben.  Dies  erregte,  fieberhafte 
Suchen  der  Massen  nach  einem  Erlöser,  einem  Friedebringer  ist  am 
stärksten  im  zweiten  und  dritten  nachchristlichen  Jahrhundert:  weil 
Christus  und  seine  Lehre  den  Frieden  brachte,  wurden  sie  so  freudig 
aufgenommen.  Schon  der  Gruß  'Friede  sei  mit  Euch'  klang  den 
Suchenden  wie  eine  Erlösung. 

Eine  ähnliche  Zeit  des  Friedebedürfnisses  waren  aber  auch  die 
Jahre,   in   denen   Christus   geboren   wurde.     Es   ist   die   Epoche   der 

'  Vit.  Alex.  Sev.  XXIX  2.  '  Lact.  div.  inst.  V  3. 


524  ^6^  Untergang-  der  antiken  Religion 

blutigen  Bürgerkriege,  die  das  römische  Reich  verwüsteten,  und  des 
sozialen  Elends  und  der  Unsicherheit  in  ihrem  Gefolge.  Als  dann 
Augustus  die  Monarchie  fest  begründete,  hat  die  Menschheit  in  ihm 
den  erhofften  Friedebringer,  den  Heiland  sehen  müssen.  Nach  dem 
Frieden  von  Brundisium  hat  Vergil  die  vierte  Ekloge  geschrieben.  Es 
ist  eine  messianische  Weissagung:  es  wird  eines  Menschen  Sohn  ge- 
boren werden,  der  zugleich  ein  Göttersproß  ist.  Der  wird  das  goldene 
Zeitalter  heraufführen,  Krieg  und  Laster  werden  vergehen,  Friede  und 
Seligkeit  wird  in  der  Welt  herrschen.  Man  versteht,  daß  dies  Gedicht 
im  Mittelalter  als  eine  Prophezeiung  auf  Christus  gefaßt  worden  ist. 
Im  Jahre  17  v.  Chr.  hat  dann  Augustus  das  Säkularfest  gefeiert,  dessen 
Akten  auf  Stein  uns  noch  erhalten  sind,  zu  dem  Horaz  den  Festchoral 
gedichtet  hat.  Dies  Fest  kam  dem  Bedürfnis  der  Massen  nach  Er- 
lösung von  dem  Übel  entgegen,  deutlich  spricht  aus  den  Gebeten,  die 
damals  zum  Himmel  gestiegen  sind,  der  Wunsch,  mit  Hilfe  der  Götter 
ein  altes  sündhaftes  Säkulum  abzutun  und  ein  neues,  von  Schuld  und 
Vergehung  reines,  friedliches  Zeitalter  zu  beginnen.  Hauptsächlich  an 
Apollo  richtet  sich  der  Hymnus  des  Horaz:  dieser  übelabwendende 
Gott,  den  der  Kaiser  zu  seinem  Schutzheiligen  erkoren  hatte,  soll  der 
Herrscher  und  Beschützer  der  neuen  Zeit  sein.  Tuus  iam  regnat 
Apollo  hatte  Vergil  in  dichterischer  Prophezeiung  gesungen.^ 

Wie  sehr  man  in  Augustus  damals  den  Weltheiland  schaute,  zeigt 
am  deutlichsten  eine  Inschrift  von  Priene.^  Sie  ist  neun  Jahre  vor 
Christi  Geburt  verfaßt.  Zu  Ehren  des  Kaisers  soll  von  nun  an  das 
Jahr  mit  Kaisers  Geburtstag  beginnen,  das  wird  begründet  durch  das, 
was  Augustus  der  Welt  ist:  'nachdem  die  Vorsehung,  die  alles  in 
unserm  Leben  geordnet,  nach  so  viel  Wohltaten  zuletzt  uns  den  höchsten 
Herrn  gebracht,  den  sie  zur  Wohltat  der  Menschen  mit  Kraft  erfüllt 
hat,  und  uns  und  denen,  die  nach  uns  kommen,  den  Heiland  geschenkt 
hat,  der  den  Krieg  zwingt  aufzuhören  und  der  alles  ordnet,  der  die 
Hoffnung  erfüllt  hat,  der  die  Wohltäter,  die  vor  ihm  waren,  übertroffen 
hat  und  in  Zukunft  nicht  übertroffen  werden  kann;  es  brachte  aber 
für  die  Welt  das  Evangelium  von  ihm  der  Tag  der  Geburt  des  Gottes.' 
Auf  diesem  Stein  ist  das  Wort  Cuuirip  sicher  ergänzt,  das  Wort 
eiittTTt^iov  steht  wirklich  da,  und  Augustus  heißt  nachdrücklich  der 
Gott,  der  die  Hoffnung  erfüllt  und  den  Krieg  beendet.  Also  nicht  nur 
vorhanden  ist  die  Hoffnung  auf  den  Erlöser,  sie  hat  bereits  ganz  feste 
Formen   des  Ausdrucks  gefunden.     Das  ist  eben  der  Kaiser  Augustus, 

1  Ecl.  IV  10. 

"  Dittenberger,  Orientis  graeci  inscr.  sei.  no.  458.    Vgl.  oben  S.  195. 


Der  Untergang-  der  antiken  Religion  525 

unter  dem  die  Zeit  erfüllet  war,  daß  der  Heiland  kommen  mußte.  Es 
blieb  nur  die  bange  Frage:  'Bist  du  es,  der  da  kommen  soll,  oder 
sollen  wir  eines  anderen  warten?'^ 


FÜNFTES  KAPITEL 

DER  KAMPF  ZWISCHEN  DER  ANTIKEN  RELIGION  UND  DEM 
CHRISTENTUM.    DIE  LETZTEN  KOMPROMISSE 

Die  Lehre  Jesu  von  Nazareth  ist  der  hellenistischen  Welt  durch 
Paulus  vermittelt  worden,  der  selbst,  ehe  er  Christ  wurde,  in  Tarsos 
den  orientalischen  Kulten  und  der  griechischen  Bildung  nahe  gestanden 
hatte.  Mit  dem  Namen  des  Paulus  ist  auch  die  Übertragung  des  von  ihm 
ausgebildeten  Christentums  nach  Rom  verknüpft.  Hier  inRom^  fand  die  erste 
nachhaltige  Berührung  der  neuen  Lehre  mit  der  antiken  Religion  statt. 
Sie  ist  eine  feindliche  gewesen.  Die  geringe  Zahl  Anhänger,  die  das 
Christentum  zunächst  besaß,  brachte  es  mit  sich,  daß  es  die  unter- 
liegende, verfolgte  Partei  war.  Die  erste  Zeit  des  Kampfes  ist  die  der 
Christenverfolgungen.  Sie  setzt  ein  mit  dem  Brand  Roms  unter  Nero 
64  n.  Chr.;  damals  benutzt  der  Kaiser  das  Gerücht,  daß  unter  den 
Brandstiftern  Christen  gewesen  seien,  um  gegen  die  Mitglieder  dieser 
Religionsgenossenschaft  zu  wüten.  Er  traf  darin  mit  dem  Instinkt  des 
hauptstädtischen  Pöbels  zusammen,  der  die  Christen  haßte.  Sie  waren 
das  odium  generis  humani,  sagt  Tacitus,  der  sie  an  derselben  Stelle 
seiner  Annalen  (XV  44)  per  flagitia  invisos  nennt.  In  jenem  Odium 
liegt  das  Rassenvorurteil  des  Ariers  gegen  den  Semiten,  denn  damals 
hat  man  die  Christen  noch  vielfach  mit  den  Juden  verwechselt;  das 
ist  erst  anders  geworden  nach  der  Zerstörung  des  Tempels  von  Jeru- 
salem, als  man  nun  die  in  alle  Welt  zerstreuten  Juden  überall  besser 
kennen  lernte.  Die  Freveltaten  aber,  die  man  den  Christen  vorwarf, 
sind  Inzest  und  Kindermord,  oder,  wie  die  Schriftsteller  es  nennen, 
die  ödipodeischen  Verbindungen  und  die  thyestischen  Mahle  -  Vor- 
würfe, die  jede  von  der  Außenwelt  sich  abschließende  Genossenschaft 
sich  hat  gefallen  lassen  müssen.  Auch  sonst  war  ihre  Lehre  dem 
antiken  Menschen  unsympathisch:  ihnen  war  das  Diesseits  mit  seinen 
Freuden  wertlos,  sie  hatten  kein  irdisches  Vaterland,  sie  verboten  sich 
die  Teilnahme  am  öffentlichen  Leben;   die  Götter  des  Staates,  in  dem 

»  Matth.  XI  3. 

«  Die  Belege  für  das  zunächst  Folgende  finden  sich  bei  Th.  Keim,  Rom 
und  das  Christentum;  V.  Schultze,  Geschichte  des  Untergangs  des  griechisch- 
römischen Heidentums;  G.  Boissier,  La  fin  du  paganisme;  J.R6ville,  La  religion 
ä  Rome  sous  les  S6veres. 


526  ^®^  Untergang-  der  antiken  Religion 

sie  lebten,  erkannten  sie  nicht  an  und  waren  deshalb  in  den  Augen 
der  anderen  oiGeoi.  Dem  Staate  aber  waren  sie  verdächtig  durch  ihre 
sozialen  Lehren:  sie  predigten  das  Abgeben  der  äußeren  Habe  und 
die  Gütergemeinschaft  und  sie  harrten  auf  das  Kommen  des  Reiches 
Gottes,  ein  Reich  ganz  anderer  Art  als  das  römische  Weltreich.  So 
galten  sie  als  Umstürzler  des  Staates  und  der  Staatsreligion,  weit  mehr 
als  die  Sekten  mit  verwandten  Tendenzen.  Denn  die  Mithrasdiener 
verehrten  immerhin  einen  greifbaren  Gott,  der  sich  sogar  mit  einem 
römischen  Gotte,  dem  Sol,  zur  Deckung  bringen  ließ,  und  auch  von 
den  Juden  war  bekannt,  daß  sie  zu  Jerusalem  einen  Gotteskult  besaßen. 
Auch  machten  die  Juden  nur  geringe  Propaganda,  während  im  Gegen- 
satz zu  ihnen  die  Christen  eine  große  Werbetätigkeit  entfalteten.  So 
kam  es,  daß  die  Juden,  sobald  man  sie  von  den  Christen  unterschied, 
von  Staats  wegen  eine  leidlich  geachtete  Stellung  und  sogar  weitgehende 
Privilegien  errangen,  während  die  Christen  als  verdächtige  Elemente 
galten.  Die  Feindschaft  zwischen  dem  Heidentum  und  der  neuen  Lehre 
steigerte  sich  sodann  mit  dem  Aufkommen  des  Kaiserkultes  unter  den 
Flaviern.  Dem  zu  genügen  haben  die  Christen  sich  geweigert  und 
heftigen  Widerstand  gegen  die  Forderung  geleistet,  den  lebenden 
Kaiser  als  Gott  zu  verehren.  Wer  sich  aber  dessen  weigerte,  machte 
sich  des  crimen  laesae  maiestatis  schuldig  und  wurde  gestraft. 
Solche  Strafen  schürten  den  Haß  der  Christen  gegen  das  Imperium 
und  erweckten  in  ihm  den  Wunsch  des  Kampfes.  Das  Manifest  dieser 
Kriegsbereitschaft  ist  die  Apokalypse  Johannis. 

Jedoch  in  der  nächsten  Zeit  nach  Nero  ist  äußerlich  der  Frieden 
gewahrt  worden.  Langsam  greift  das  Christentum  um  sich  und  steigt 
in  die  höheren  Schichten  empor.  Ein  Menschenalter  später  sind  zwei 
Mitglieder  des  Kaiserhauses  mit  der  römischen  Gemeinde  in  nähere 
Beziehung  getreten,  Flavius  Clemens  und  Flavia  Domitilla:  ihnen  wurde 
der  Prozeß  wegen  Götterlosigkeit  gemacht.  Aus  der  Zeit  Trajans 
haben  wir  den  wichtigen  Bericht  des  Plinius  über  die  christlichen 
Gemeinden  in  Bithynien  (Ep.  Plin.  et  Trai.  96)  und  seine  Frage,  wie 
er  sich  gegen  sie  verhalten  solle.  Traian  antwortet  (Ep.  97),  eine 
feste  Norm  für  das  Vorgehen  gegen  Christen  gebe  es  nicht.  Zu  be- 
strafen seien  nur  die,  welche  angeklagt  und  überwiesen  würden.  Wer 
seinen  Glauben  durch  ein  Opfer  an  die  römischen  Götter  abschwöre, 
sei  zu  entlassen;  aufzuspüren  oder-  auf  Grund  anonymer  Anzeigen  zu 
verhaften  seien  sie  nicht.  Das  war  eine  Praxis,  die  im  wesentlichen 
die  Christen  unbehelligt  ließ.  Sie  wurde  durchgeführt  bis  zur  Mitte 
des   dritten  Jahrhunderts.     Um  250  setzt  die   erste  systematisch  ge- 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  527 

dachte  Verfolgung  ein,  die  Kaiser  Decius  durch  ein  förmliches  Edikt 
gut  hieß.^  Diese  Heimsuchung  brachte  der  christlichen  Kirche  eine 
furchtbare  Erschütterung;  es  erfolgte  ein  gewaltiger  Abfall  der  un- 
sicheren Elemente,  aber  zugleich  wurden  die  andern  durch  den  Hin- 
blick auf  den  Mut  der  Blutzeugen  in  ihrem  Glauben  gestärkt. 

Inzwischen  hatte  der  Kampf  zwischen  der  antiken  und  christ- 
lichen Religion  eine  andere  Gestalt  angenommen.  Er  beschränkte  sich 
nicht  mehr  darauf,  daß  man  die  Christen  mit  der  Kraft  der  Fäuste 
bekämpfte,  man  griff  nun  auch  zu  den  geistigen  Waffen.  Durch  jenen 
Kampf  war  die  antike  Bildung  auch  den  aus  den  ungebildeten  Schichten 
aufsteigenden  Christianern  bekannt  geworden,  und  sie  suchten  nun  selbst 
ihrer  teilhaftig  zu  werden,  in  der  richtigen  Erkenntnis,  daß  in  ihr  zum 
großen  Teil  die  geistige  Überlegenheit  des  Heidentums  beruhe.  In  ihr 
fanden  sie  das  Rüstzeug,  das  sie  befähigte,  den  literarischen  Kampf 
aufzunehmen. 

Der  erste  von  ihnen  scheint  Justinus  Martyr^  gewesen  zu  sein,  der, 
vielleicht  durch  eine  Brandschrift  des  bekannten  Redners  Cornelius 
Fronto  gereizt ^  unter  Mark  Aurel  seine  dtTroXoTiai  uirep  Xpicxiavwv 
schrieb.  Um  180  erfolgte  dann  ein  starker  Vorstoß  der  Antike  gegen 
die  Christen,  als  der  Platoniker  Celsus  seinen  dXriGfic  Xötoc  verfaßte, 
eine  Streitschrift,  in  der  das  Christentum  als  barbarisch  und  aber- 
gläubisch, als  eine  ungesetzliche,  heimliche  Verbindung  dargestellt  war. 
Überhaupt  sind  es  gerade  die  Neuplatoniker,  die  gegen  die  christliche 
Anschauung  gefochten  haben:  das  rührt  von  der  engen  Verbindung 
her,  in  der  ihre  Philosophie  mit  der  Religion  stand.  Die  großartigste 
Schrift,  die  aus  ihren  Kreisen  hervorging,  muß  des  Porphyrios  Werk 
KttTci  XpicTiavüuv  in  15  Büchern  gewesen  sein.  Welchen  Erfolg  es  hatte, 
beweisen  die  zahlreichen  Gegenschriften,  die  es  hervorrief,  und  die  Art, 
wie  es  in  der  patristischen  Literatur  erwähnt  wird.  Das  Buch  selbst 
lesen  wir  heute  nicht  mehr,  das  siegreiche  Christentum  hat  es  ver- 
nichtet. Am  Ende  dieser  Literatur  stehen  die  Schriften  des  Kaisers 
Julian,  drei  Bücher  gegen  die  Christen,  die  wir  gleichfalls  nur  aus  den 
Zitaten  der  Gegner  kennen,  eine  Kritik  der  christlichen  Dogmen  und 
Traditionen  von  platonischem  Standpunkt  aus. 

Allen  diesen  Angriffen  ist,  wie  das  Angeführte  bereits  zeigte,  die 
Verteidigung  gefolgt.  In  der  Nachfolge  Justins  hat  sich  ein  bestimmter 
Typus  christlicher  Literaten  entwickelt,  die  man  die  Apologeten  nennt. 

»  Eus.  bist.  eccl.  VI  41,  10. 

*  Zum  Folgenden  s.  Harnack,  Gesch.  der  altchristl.  Literatur. 

»  Min.  Fei.  Oct.  IX  6.  .     . 


528  ^^^  Untergang  der  antiken  Religion 

An  ihnen  offenbart  sich  ein  merkbarer  Wandel  der  christlichen  Ge- 
danken nach  den  Ideen  der  griechischen  Zeitbildung.  Die  ursprünglich 
eine  Religion  der  Armen  im  Geiste  gewesen  war,  nimmt  immer  mehr 
die  literarische  Erudition  an.  Mit  der  Verteidigung  der  eigenen  Stellung 
paart  sich  der  Angriff  auf  den  Gegner,  und  dieser  wird  durchgeführt 
mit  Waffen,  die  dem  Feinde  entlehnt  sind.  Man  greift  zurück  auf  die 
philosophische  Polemik  gegen  die  homerische  Auffassung,  die  den 
Göttern  menschliche  Laster  beilegt,  man  benutzt  die  Erklärung  des 
Euhemeros,  der  in  den  Göttern  der  griechischen  Religion  nur  ver- 
storbene Menschen  sah.  Um  solche  Waffen  zu  finden,  haben  die 
Christen  sich  mit  der  antiken  Literatur  vertraut  gemacht;  so  waren  die 
Klassiker  der  Patristik  in  den  profanen  Büchern  sehr  belesen;  im 
Orient  Clemens,  dessen  Stromateis  noch  für  uns  eine  Fundgrube  antiker 
Verse  sind,  Origenes,  der  des  Celsus  Vahres  Wort'  widerlegte  und  ein 
wahrer  Polyhistor  gewesen  ist,  im  Abendland  Tertullian,  der  Schöpfer 
des  lateinischen  Kirchengedichtes,  und  Lactanz,  der  Lehrer  der  Bered- 
samkeit und  der  Vertreter  eines  bis  ins  kleine  ausgefeilten  Stiles. 
Auch  im  Abendlande  also  schließt  das  Christentum  mit  der  heidnischen 
Bildung  seine  Kompromisse. 

Überblickt  man  die  Zeit  vom  Ende  des  dritten  Jahrhunderts  bis 
zum  Ausgang  des  vierten,  so  erkennt  man  drei  Phasen  des  Kampfes, 
die  an  die  Namen  dreier  Kaiser  gebunden  sind:  Diokletian,  Konstantin, 
Julian. 

Diokletian  ist  unter  den  römischen  Kaisern  eine  seltene  Er- 
scheinung, denn  er  war  ein  großartiger,  zielbewußter  Staatsmann.  Er 
hat  den  Staat,  soweit  es  ging,  zu  reformieren  gesucht;  er  hat  das 
letzte  Säkularfest  gefeiert,  zum  letztenmal  durch  sakrale  Handlungen 
die  alte  böse  Zeit  zu  beenden  und  eine  glückselige  neue  Zeit  herauf- 
zuführen übernommen.  Mit  diesen  Reformplänen  hängt  das  Vorgehen 
gegen  verdächtige  Religionsübungen  zusammen.  296  erging  ein 
flammendes  Edikt  gegen  die  Manichäer,  sieben  Jahre  später  ein  solches 
gegen  die  Christen.*  Es  war  darin  das  Prinzip  ausgesprochen,  das 
Heidentum  müsse  das  Christentum  vernichten,  um  dem  Umsturz  des 
Staates  zuvorzukommen.  Ein  furchtbares  Prinzip,  wenn  man  bedenkt, 
wie  verbreitet  diese  Religion  damals  war.  Die  Frauen  der  kaiserlichen 
Familie  sympathisierten  mit  den  Christen;  in  der  Umgebung  des  Im- 
perators war  mehr  als  einer,  der  die  Teilnahme  an  den  heidnischen 
Opfern  verweigerte;  Christen  waren  in  den  Beamtenstellen,  Christen  in 


*  Eusebius  bist.  eccl.  VIII  2,  4 ;  Lactanz  de  mort.  persec.  XIII. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  529 

der  Armee.  Sie  traf  jetzt  Degradation,  die  Hartnäckigeren  wurden  des 
Matyriums  teilhaftig.  Die  Versammlungen  der  Gemeinde  wurden  ver- 
boten, die  Kirchen  zerstört,  die  heiligen  Bücher  verbrannt.  Die  Folter 
erpreßte  Geständnisse,  die  den  Grund  zur  Hinrichtung  abgaben.  Besonders 
fahndete  man  auf  die  Priester,  weil  man  ihnen  den  stärksten  Einfluß 
auf  die  Gemeinde  zutraute  -  ein  Beweis,  wie  fest  begründet  damals 
bereits  die  hierarchische  Organisation  der  Kirche  war.  Das  Kriterium, 
das  die  Verhaftung  herbeiführte,  war  die  Verweigerung  der  Anteil- 
nahme am  heidnischen  Opfer,  und  viele  sind  standhaft  bei  dieser 
Weigerung  geblieben. 

Eine  Verschärfung  der  Maßnahmen  fand  im  Jahre  304  statt,  in 
Wahrheit  geradezu  das  Todesurteil  des  Christentums.  Aber  so  rasch 
war  das  nicht  zu  vollziehen.  Als  Diokletian  305  die  Krone  niederiegte, 
dauerte  das  Wüten  noch  an.  War  jenes  geistige  Ringen  beider  Reli- 
gionen ein  großartiges  Schauspiel  gewesen,  so  bietet  der  staatliche 
Kampf  nur  eine  Reihe  von  grauenhaften  Henkerszenen. 

Ganz  anders  ist  das  Bild,  das  uns  die  Regierung  Konstantins^ 
zeigt.  Zum  Alleinherrscher  ist  er  312  durch  die  Schlacht  an  der 
Mulvischen  Brücke  geworden,  in  deren  Not  er  den  neuen  Gott  um 
Hilfe  angerufen  hatte.  Dem  Siege  folgten  alsbald  die  Toleranzedikte 
von  Rom  und  Mailand,  von  312  und  313,  in  denen  er  den  Gläubigen 
des  Gottes,  der  ihm  beigestanden  hatte,  die  ungestörte  Ausübung  ihrer 
Religion  gestattete.  Dabei  ist  er  dann  auch  stehen  geblieben;  er  hat 
sich  nicht  dazu  bewegen  lassen,  nun  vielmehr  den  heidnischen  Kultus 
zu  ächten.  Noch  die  Jahre  319  und  321  brachten  Edikte,  in  denen 
er  die  antike  Religion  als  zu  rechte  bestehend  anerkennt.  Konstantin 
hat  politisch  auf  dem  Standpunkt  des  völligen  Indifferentismus  den 
Religionen  gegenüber  gestanden.  Auf  dem  Triumphbogen,  den  ihm 
die  Römer  bei  seinem  siegreichen  Einzüge  gesetzt  haben,  rühmen  sie, 
daß  er  seine  Taten  instinctu  divino  vollbracht  habe.  Das  konnte  nach 
Bedarf  christlich  oder  heidnisch  gedeutet  werden;  der  Kaiser  wird  mit 
der  Farblosigkeit  dieser  Formel  sehr  zufrieden  gewesen  sein. 

Konstantin  hat  in  seinem  Leben  viel  Glück  gehabt  und  auch  einen 
Nachruhm  hinterlassen,  der  ihn  den  'Großen'  nennt  und  seine  Verdienste 
um  das  Christentum  preist.  Er  ist  sicher  ein  großartig  angelegter  Mensch 
gewesen,  eine  dämonische  Natur,  aber  sein  Verhältnis  zum  Christentum 
war  kein  inneriiches.  An  dem  Tod  seines  Sohnes  und  seiner  Gattin 
gab  man  ihm  die  Schuld,  seinem  Mitregenten  Licinius  hat  er  den  Eid 


^  Jak.  Burckhardt,  Die  Zeit  Konstantins  des  Großen,^  1898. 
Albrecht  Dieterich:  Kleine  Schriften.  34 


530  ^®^  Untergang  der  antiken  Religion 

gebrochen,  und  die  Taufe  soll  er  erst  auf  dem  Totenbett  empfangen 
haben,  in  den  Pfingsttagen  337.  Zeit  seines  Lebens  blieb  er  Pontifex 
maximus,  und  als  er  Byzanz  neu  gründete,  war  er  um  den  Kult  einer 
Tyche  dieser  Stadt  besorgt;  die  Münzen  zeigen  noch  die  Gestalt  des 
Sonnengottes.  Das  Labarum,  das  Kreuzeszeichen  als  Fahne  des  Heeres, 
erscheint  erst  im  Jahre  330,  obwohl  die  fromme  Sage  die  Traum- 
erscheinung, die  das  In  hoc  signo  vinces  verkündete,  312  geschehen 
sein  läßt;  erst  später  hat  er  sich  entschlossen,  christliche  Bischöfe  zu 
Erziehern  der  Söhne  zu  machen.  Daraus  allerdings  haben  Christen 
und  Heiden  geschlossen,  daß  Konstantin  in  seinem  Herzen  Christ  ge- 
worden sei;  die  Christen  haben  es  ihm  gedankt,  indem  sie  seine  keines- 
wegs sündlose  Person  zu  einem  Engel  des  Lichtes  verklärten,  die 
Heiden,  indem  sie  eine  merkwürdige  Vorgeschichte  für  jene  Bekehrung 
erzählten:  Konstantin  habe  seine  Philosophen  gebeten,  ihn  für  Mord 
und  Eidbruch  zu  entsündigen;  als  ihm  diese  erwiderten,  für  solche  Misse- 
taten gebe  es  keine  Sühne,  habe  er  sich  dem  Christentum  in  die  Arme 
geworfen,  im  festen  Glauben,  daß  dieses  von  allen  Sünden  zu  reinigen 
vermöge. 

Das  Bild  Julians  richtig  zu  zeichnen  ist  äußerst  schwer.  Seiner 
Denkart  nach  ihn  einen  echten  Hellenen  zu  nennen,  geht  nicht  wohl 
an,  aber  man  tut  ihm  auch  unrecht,  wenn  man  ihn  als  beschränkt  und 
einseitig  schildert.  Seine  Lebensanschauung  sah  in  einer  Regeneration 
des  Heidentums  die  Rettung  der  antiken  Welt.  Dieses  Reformheiden- 
tum sollte  sich  vor  allem  der  Sittlichkeit  befleißigen;  das  Programm 
trägt  stark  moralische  Züge,  die  offenbar  aus  der  Theologie  der  Neu- 
platoniker  entlehnt  sind:  Einfachheit,  Mäßigkeit  und  Keuschheit  werden 
vorgeschrieben.  Gebet  und  Kulthandlungen  hat  er  als  Oberpriester 
sehr  ernst  genommen,  sich  auch  für  die  Würde  von  Tempelgesang 
und  Mysterienfeiern  interessiert.  Auch  predigte  er  Mildtätigkeit  und 
beförderte  die  Errichtung  von  Armenhäusern.  Alles  das  zeigt,  daß  ihm 
seine  Reformation  eine  heilige  Sache  war.  Allerdings  sollte  sie  auf 
dem  Boden  der  heidnischen  Religion  vollzogen  werden;  Julians  eigene 
Religion  war  ein  solarer  Monotheismus,  Mithras  oder  Helios  war  ihm 
der  höchste;  das  zeigen  seine  Deklamationen,  unter  denen  die  eic  tov 
ßaciXea  "HXiov  die  merkwürdigste  ist.  Dieser  religiöse  Standpunkt 
machte  ihn  ganz  von  selbst  zum  Gegner  der  Christen;  daß  er  ihre 
Lehre  literarisch  befehdet  hat,  sagten  wir  bereits.  Auch  sah  er  deut- 
lich, wie  gefährlich  die  Christen  geworden  waren,  seitdem  sie  sich  der 
Waffe  antiker  Literatur  bedienten.  So  ging  er  damit  um,  ihnen  die 
Lektüre  heidnischer  Bücher  zu  verbieten. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  53 j 

Am  23.  Juni  363  fiel  Julian  nach  kurzer  Regierung  im  Kampfe 
gegen  die  Perser.  Die  heidnische  Tradition  läßt  ihn  als  echten  Philo- 
sophen sterben,  unter  Gesprächen  über  die  Unsterblichkeit  der  Seele. 
Vielleicht  ahnte  er,  daß  sein  Werk  vergebens  war;  die  Bestimmung 
des  Nachfolgers,  der  es  hätte  weiterführen  können,  lehnte  er  ab.  Die 
Christen  haben  ihn  weidlich  gehaßt,  so  daß  die  Legende  aufkommen 
konnte,  Christus  selbst  habe  ihn  getötet.  Dem  Sterbenden  legte  man 
die  Worte  in  den  Mund:  'Du  hast  gesiegt,  Galiläer.'  Ein  wahres 
Wort,  denn  durch  Julians  Tod  war  der  Untergang  des  Heidentums 
besiegelt. 

Für  die  einjährige  Regierung  Jovians,  363  auf  364,  ist  es  bezeich- 
nend, daß  er  den  vertriebenen  Bischof  von  Alexandreia,  Athanasios, 
wieder  in  seine  Rechte  einsetzte.  Er  hatte  überhaupt  die  Absicht,  für 
die  Christen  den  Status  quo  wieder  einzuführen.  Nach  seinen  Tode 
aber  begann  unter  Valentinian  und  Valens  der  Sieg  des  Christentums. 
Zunächst  erreichte  es  die  volle  Gleichberechtigung.  Von  Valentinian 
gibt  es  ein  Edikt,  das  den  Richtern  verbot,  Christen  zum  Dienst  in 
heidnischen  Tempeln  zu  zwingen.  Doch  hat  er  auch  andererseits  den 
Heiden  freie  Religionsübung  zugesichert:  sein  Prinzip  war  die  allge- 
meine Toleranz. 

Es  ist  ein  Zeichen  der  Zeit,  daß  wir  nun  überall  unter  den  Bischöfen 
die  großen  Männer  ungestört  ihres  Amtes  walten  sehen.  Im  Orient 
außer  Athanasios  Gregor  von  Nazianz  und  Basilios  von  Caesarea,  im 
Abendland  den  Bischof  von  Mailand,  Ambrosius,  der  dem  Kaiser  Theo- 
dosius  den  Eintritt  in  die  Kirche  versagte,  und  der  den  Augustinus, 
den  späteren  Bischof  von  Hippo,  bekehrte.  Das  geistige  Leben  in 
diesen  großen  Zentren  christianisiert  sich  unter  ihrem  Einfluß  mehr 
und  mehr;  das  Heidentum  hält  sich  nur  noch  in  den  dörflichen  Be- 
zirken, den  pagi;  paganus  wird  nun  der  Ausdruck  für  'Heide'. 

Lange  genug  hatte  das  Christentum  den  Druck  der  antiken  Religion 
ausgehalten,  nun  übte  es  den  Gegendruck.  Statt  der  Christenverfolgung 
gab  es  nun  eine  Heidenverfolgung.  Eingeleitet  wird  diese  Zeit  im 
Westen  durch  Gratian  und  Valentinian  IL,  und  stärker  noch  im  Osten 
durch  Theodosius.  Dieser  hatte  im  J.  379  den  Purpur  angelegt;  bereits  im 
folgenden  Jahre  machte  sein  Edikt  der  Parität  der  Religionen  ein  Ende. 
Allein  der  Kirche  nicänischen  Bekenntnisses  wird  die  Wahrheit  und 
das  Recht  zugesprochen;  alle  Andersgläubigen  sind  Toren  und  Wahn- 
sinnige; die  allein  wahre  Religion  anzunehmen  befiehlt  der  Kaiser  allen 
Völkern,  die  sein  mildes  Zepter  regiere.  Mit  diesem  Erfaß  war  dem 
fanatischen  Glaubenseifer  nicht  genug  geschehen,  im  folgenden  Jahr 

34* 


532  ^6^  Untergang  der  antiken  Religion 

verbot  ein  Erlaß  die  heidnischen  Tag-  und  Nachtopfer,  und  die  Be- 
fragung des  göttlichen  Willens  durch  Divination. 

Ähnlich  ging  es  im  Westen.  Valentinian  I.  war  noch  nach  seinem 
Tode  als  Divus  konsekriert  worden;  Gratian  lehnt  375  den  Titel  des 
Oberpriesters  ab.  Zuerst  übte  dieser  Kaiser  noch  die  Toleranz,  in  der 
ihn  sein  Lehrer,  der  bekannte  Dichter  Ausonius,  erzogen  hatte;  später 
aber  machte  sich  der  Einfluß  des  intransigenten  Bischofs  Ambrosius 
von  Mailand  geltend.  So  begann  Gratian  382  die  Güter  der  heid- 
nischen Tempel  einzuziehen  und  verwendete  sie  zu  Stiftungen  für 
christliche  Priester.  Der  Übertritt  zum  Heidentum  wurde  mit  schweren 
Strafen  belegt:  wer  sich  so  verging,  verlor  die  Fähigkeit,  ein  Testament 
zu  machen;  was  etwa  im  Testament  vermacht  war,  verfiel  dem  Fiskus. 
Opfer  darzubringen  war  bei  Strafe  untersagt,  ein  überwiesener  Heide 
war  vogelfrei.  Kaiserliche  Truppen  und  fanatische  Mönche  durchzogen 
die  Städte,  zerstörten  die  Tempel  und  marterten  die  Priester.  Beredt 
schildert  dies  Treiben  die  Verteidigungsrede,  die  der  Redner  Libanius 
den  alten  Göttern  und  ihren  Tempeln  gehalten  hat\*  *Jene  Mönche 
stürmen  zu  den  Tempeln  mit  Holz  beladen  oder  mit  Steinen  und 
Schwertern  bewaffnet,  einzelne  auch  ohne  diese  Dinge,  bloß  mit  Händen 
und  Füßen.  Dann,  als  ob  es  herrenloses  Gut  wäre,  reißen  sie  die 
Dächer  nieder,  stürzen  die  Mauern  um,  zerschlagen  die  Götterbilder, 
zertrümmern  die  Altäre.  Den  Priestern  aber  bleibt  nur  die  Wahl 
zwischen  Schweigen  und  Tod.  Ist  der  erste  Tempel  zerstört,  so  eilen 
sie  zu  dem  zweiten  und  dem  dritten  und  häufen  Trophäen  zu  Tro- 
phäen, dem  Gesetz  zum  Spott.  Auch  in  den  Städten  wagen  sie  das, 
noch  mehr  aber  auf  dem  Lande.  Hier  sammeln  sie  sich  nach  ihren 
Schandtaten  und  legen  einander  Rechenschaft  ab;  es  gilt  für  schimpf- 
lich, nicht  möglichst  viel  Übels  getan  zu  haben.  Wie  Bergströme  über- 
schwemmen sie  die  Erde  und  zerstören  nicht  allein  die  Tempel,  sondern 
das  Land.' 

Das  wichtigste  aber  in  der  Reihe  der  kaiserlichen  Edikte  war  das 
vom  10.  November  392.  Es  ist  aus  Mailand  diktiert  und  atmet  den 
Geist  des  Ambrosius.  Seine  Hauptbestimmungen  lauten^:  'Niemand, 
welchen  Standes  und  welchen  Berufes  er  auch  sein  mag,  darf  an 
irgend  einem  Orte  oder  in  irgend  einer  Stadt  den  sinnlosen  Götter- 
bildern ein  unschuldiges  Opfertier  schlachten  oder  durch  geheimeres  Ver- 
gehen etwa  seinen  Lar  durch  ein  Feuer,  seinen  Genius  durch  Wein, 
seine   Penaten    durch   Wohlgerüche  verehren   oder  Lichter  anzünden. 


>  Gr.  XXX  6,  Vol.  III  p.  91  Förster.  »  Cod.  Theodos.  XVI  10,  12. 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  533 

Weihrauch  streuen  und  Kränze  aufhängen.'  Dann  folgen  ausführliche 
Einzelbestimmungen.  Erstens:  'Wenn  jemand  ein  Tier  opfert  oder  die 
dampfenden  Eingeweide  befragt,  soll  er  wie  ein  des  Majestätsverbrechens 
Schuldiger  angesehen  werden,  auch  wenn  seine  Zukunftsfragen  sich 
nicht  auf  die  Fürsten  beziehen.  Denn  es  genügt  zum  Vollmaß  des 
Verbrechens,  wenn  man  die  Gesetze  der  Natur  selbst  zerreißt.  Un- 
erlaubtes erforscht,  das  Verschlossene  auf  tut,  Untersagtes  wagt,  das 
Ende  eines  fremden  Lebens  sucht  und  die  Hoffnung  auf  den  Unter- 
gang eines  anderen  weckt.'  Zweitens:  'Wenn  jemand  die  von  Menschen- 
hand gemachten,  vergänglichen  Götterbilder  mit  Weihrauch  oder  auch 
einen  mit  Binden  geschmückten  Baum  oder  auch  einen  aus  Rasen  ge- 
bauten Altar  verehrt,  der  soll  als  ein  der  Religionsverletzung  Schuldiger 
mit  dem  Verlust  des  Hauses  oder  Besitztums,  in  welchem  er  den 
Göttern  gedient  hat,  bestraft  werden.  Denn  alle  Orte,  welche  wirklich 
von  Weihrauch  gedampft  haben,  die  sind,  bestimmen  wir,  wenn  sie 
Eigentum  der  Räuchernden  sind,  unserm  Fiskus  verfallen.'  Drittens: 
'Wenn  aber  jemand  in  öffentlichen  Tempeln  und  Heiligtümern  oder  in 
fremden  Häusern  und  auf  fremden  Äckern  eine  solche  Art  Opfer  aus- 
zuführen wagen  sollte,  so  verfällt  der  Besitzer,  wenn  es  ohne  sein 
Wissen  geschehen  ist,  einer  Strafe  von  25  Pfund  Gold;  wenn  er  da- 
gegen Mitwisser  des  Verbrechens  ist,  trifft  ihn  dieselbe  Strafe  wie  den 
Opfernden.' 

Am  meisten  Widerstand  hat  die  Durchführung  dieses  Opferverbotes 
in  Rom  selbst  gefunden.  Dort  hat  das  konservative  Element  der  vor- 
nehmen Kreise  noch  lange  an  den  alten,  überlieferten  Formen  der 
Religionsübung  festgehalten.  Dieselben  Männer,  die  auf  dem  Gebiet 
des  Kultus  reaktionär  sich  zeigten,  haben  auch  in  der  Literatur  eine 
Reaktion  hervorgerufen:  ihnen  verdanken  die  Klassiker  der  auguste- 
ischen Zeit,  die  lange  unter  minderer  Beachtung  zu  leiden  gehabt 
hatten,  eine  Renaissance.  Daß  ihnen  diese  zu  Teil  wurde,  lag  an  dem 
Programm  jener  Adligen:  wenn  das  Beste  der  Vorzeit  neu  belebt 
werden  sollte,  mußten  die  besten  Schriftsteller  des  goldenen  Lateins 
als  die  edelsten  Zeugen  der  alten  Römergröße  wieder  zum  Lichte 
erstehen. 

Auf  religiösem  Gebiet  verteidigten  diese  letzten  Römer  mit  beson- 
derer Hartnäckigkeit  den  Kult  der  Siegesgöttin,  derjenigen  unter  den 
Himmlischen,  durch  deren  Gnade  Rom  das  caput  mundi  geworden  war 
und  auch  bleiben  sollte.  Seit  Augustus  stand  im  Sitzungssaal  des 
Senates  ein  Altar  der  Victoria  als  Symbol  der  römischen  Weltherrschaft. 
Vor  jeder  Sitzung  wurden   ihr  Weihrauchkörner  gestreut,  ein  Opfer,. 


534  ^®^  Untergang  der  antiken  Religion 

das  den  christlichen  Senatoren  stets  ein  Ärgernis  war.  Als  Konstantin 
in  Rom  weilte,  wurde  der  Altar  entfernt,  aber  unter  Julian  kam  er 
wieder  zurück.  Unter  Gratian  setzten  die  Christen  seine  Entfernung 
von  neuem  durch.  Die  Aufregung  der  Heiden  darüber  war  ungeheuer, 
und  es  ging  eine  Gesandtschaft  zum  Kaiser  nach  Mailand.  Deren 
Sprecher  war  Q.  Aurelius  Symmachus,  ein  Mitglied  jenes  konservativen 
Kreises,  ein  glänzender  Stilist  und  Redner,  trotz  seiner  Freundschaft 
mit  einzelnen  Christen  beharrlich  in  den  großen  heidnischen  Traditionen 
seiner  Familie  und  seines  Volkes,  und  deshalb  ein  patriotischer  Schwär- 
mer für  die  Größe  des  alten  Rom.  Aber  schon  bevor  Symmachus 
nach  Mailand  kam,  war  vom  Papst  Damasus  aus  Rom  eine  Botschaft 
an  Ambrosius  geschickt  worden,  und  Gratian  empfing  den  Abgesandten 
der  Heiden  nicht. 

'  Im  Sommer  383  wurde  Gratian  ermordet,  Valentinian  II.  folgte  ihm. 
Nun  beschloß  man  diesem  das  Gesuch  vorzulegen,  das  sein  Vorgänger 
nicht  hatte  hören  wollen.  Symmachus  sprach  nachdrücklich  und 
wirkungsvoll,  die  Rede  ist  unter  seinen  Schriften  enthalten.^  Besonders 
ergreifend  ist  der  Appell,  den  die  von  ihm  redend  eingeführte  Göttin 
Roma  an  die  Bedränger  ihrer  Religion  richtet.  *Edle  Fürsten,  Väter 
des  Vaterlandes,  habt  Ehrfurcht  vor  meinem  Alter,  auf  dessen  Höhe 
mich  diese  heilige  Religion  geführt  hat.  Laßt  mich  fürder  verharren  in 
meinem  Glauben,  denn  ich  habe  mein  Genügen  darin.  Laßt  mich 
leben  nach  meiner  Weise,  denn  ich  bin  eine  Freie.  Diese  Religion 
ist  es,  die  mir  den  Erdkreis  zu  Füßen  gelegt,  die  Hannibal  von  meinen 
Mauern,  die  Gallier  vom  Kapitol  zurückgeschlagen  hat.  Es  ist  schimpf- 
lich, an  meinem  Greisenalter  Neuerungen  zu  versuchen.'  —  Und  dann 
im  Gedanken  an  die  neue  Religion:  'Zu  denselben  Sternen  blicken  wir 
empor,  ein  Himmel  überspannt  uns,  eine  Erde  trägt  uns  ...  es  führt 
mehr  als  ein  Weg  zu  dem  großen  Geheimnis.' 

Valentinian  war  damals  13  Jahre  alt,  als  Symmachus  diese  Rede 
im  kaiserlichen  Konsistorium  hielt.  Erfolg  hatte  er  nicht,  Ambrosius 
erfuhr  von  allem  und  machte  seine  Worte  unwirksam.  So  wurde  die 
Partei  des  Symmachus  abschlägig  beschieden  und  damit  das  Ansehen 
des  Senates  von  einem  Knaben  vernichtet,  den  ein  Bischof  regierte. 

Restauriert  wurde  der  Altar  im  Jahre  392  durch  Eugenius,  der 
gegen  Valentinian  aufgestanden  war.  Für  drei  Monate  triumphierte 
damals  in  Rom  die  antike  Religion.  Aber  Theodosius,  der  allerchrist- 
lichste  Kaiser  des  Morgenlandes,  brachte  nun  auch  die  Westhälfte  des 


»  Relat.  III. 


Der  Untergangs  der  antiken  Religion  535 

Reiches  unter  sein  Scepter  und  vernichtete  das  Heidentum  der  Römer. 
Ein  alter  Kult  nach  dem  andern  verschwand,  so  auch  der  Kult  der 
Vesta.  Dieser  hatte  bis  zuletzt  in  höchster  Achtung  gestanden,  und 
das  Heiligtum  der  Vestalinnen  war  sogar  ein  Schutz  gegen  die  heiden- 
verfolgende Gesetzgebung  gewesen.  Den  ersten  Schritt  gegen  die 
heiligen  Jungfrauen  unternahm  Gratian,  indem  er  ihnen  die  regelmäßigen 
Einkünfte  entzog.  Aber  noch  immer  blieb  im  alten  Heiligtum  der  Vesta 
das  Palladium  der  römischen  Herrschaft  bewahrt.  Und  in  den  Tagen 
der  Restauration  ist  Vettius  Agorius  Praetextatus,  der  Stadtpräfekt,  ein 
Freund  und  Gesinnungsgenosse  des  Symmachus,  zugleich  Oberpriester 
der  Vesta.  Im  J.  380  hören  wir  von  der  letzten  Vestalenoberin;  der 
Name  ihrer  Vorgängerin  ist  auf  dem  Stein,  der  ihn  trug,  vernichtet  - 
war  sie  Christin  geworden?  Für  immer  geschlossen  wurde  das  Heilig- 
tum der  Vesta  durch  Theodosius.  Ein  ergreifendes  Bild  aus  jenen 
Tagen  der  sterbenden  antiken  Religion  hat  Zosimus  festgehalten^:  als 
die  Gemahlin  des  Stilicho  von  einer  Statue  der  Magna  Mater  ein  kost- 
bares Halsband  abnimmt,  erscheint  plötzlich  eine  verstoßene  Vestalin, 
um  der  Tempelräuberin  den  Fluch  der  Götter  ins  Gesicht  zu  schleudern: 
der  alten  ohnmächtig  gewordenen  Religion  war  als  Waffe  nur  der  Fluch 
geblieben. 

Auch  in  den  andern  Großstädten  brachten  jene  Jahre  das  Ende 
der  antiken  Kulte.  In  Alexandreia  war  damals  Theophilos  Bischof, 
ein  herrschsüchtiger  Fanatiker  voll  kluger  Berechnung.  Mit  Erlaubnis 
des  Theodosius  ist  er  rücksichtslos  gegen  das  Heidentum  vorgegangen. 
Die  alten  Tempel,  so  der  des  Dionysos,  wurden  in  Kirchen  verwandelt, 
die  Statuen  und  Kultsymbole  ausgestellt,  damit  die  Christenmenge  sie 
verhöhne.  Das  erregte  bei  denen,  die  Heiden  geblieben  waren,  Er- 
bitterung, und  es  kam  zu  blutigen  Straßenkämpfen.  Sie  konzentrierten 
sich  schließlich  beim  Sarapeion,  dort,  unter  dem  Schutze  ihres  Gottes, 
hatten  sich  die  in  die  Enge  getriebenen  Heiden  verschanzt.  Nach 
einer  regelrechten  Belagerung  wurde  der  Tempel  erobert,  und  die 
Äxte  und  Brecheisen  der  Mönche  begannen  zu  wirken.  In  banger  Er- 
wartung harrte  die  Menge,  was  dem  heiligen  Bilde  des  Sarapis  wider- 
fahren würde.  Da  befahl  Theophilos,  die  Statue  mit  dem  Beil  zu  zer- 
schlagen. Es  geschah;  kein  Blitzstrahl  traf  den  Frevler,  das  Bild  zeigte 
sein  hohles  Innere,  aus  dem  Scharen  von  Mäusen  ausfuhren.  Das 
Haupt  des  Sarapis  wurde  im  Triumph  durch  die  Stadt  getragen  und 
im  Amphitheater  verbrannt.    Theophilos  triumphierte  über  das  Ende 


V  38. 


^36  ^®^  Untergang  der  antiken  Religion 

des  törichten  Aberglaubens  und  der  Sarapislüge.  Alle  Denkmäler  dieses 
Kultes  ließ  er  zerstören,  nur  ein  Anubisbild  behielt  er,  um  ein  Objekt 
der  Verspottung  zu  haben.  Die  Nilschwelle,  deren  Ausbleiben  sonst  den 
Zorn  der  Götter  verkündete,  war  in  diesem  Jahre  reicher  als  je  und 
sicherte  dem  Lande  eine  fruchtbare  Ernte.  Auf  der  Stelle  des  Sara- 
peions  erhob  sich  eine  christliche  Kirche;  berechtigt  war  der  Jubelruf 
'Sarapis  ist  Christ  geworden'. 

Um  diese  Zeit  -  etwa  390  n.  Chr.  -  spielten  sich  ähnliche  Szenen 
in  Byzanz  und  Antiochien  ab,  so  daß  die  Nachwelt  dort  keinen  Tempel 
und  keinen  Altar  mehr  sah.  In  Karthago  erfolgte  die  Schließung  und 
Zerstörung  der  Kultgebäude  am  19.  März  399.  Zu  Gaza  in  Palästina 
war  Porphyrios  die  Seele  der  Bewegung  gegen  das  Heidentum,  das 
dort,  in  dem  Hauptkultorte  des  mächtigen  Gottes  Marnas,  eine  feste 
Burg  hatte.  Durch  Gesandtschaften  nach  Byzanz  setzte  Porphyrios 
durch,  daß  398  Kaiser  Arkadios  die  Schließung  des  Marneion  anordnete. 
Aber  das  genügte  dem  eifrigen  Bischof  nicht,  und  als  401  in  Byzanz 
dem  Kaiser  ein  Sohn  getauft  wurde,  überreichte  er  bei  der  Taufe  eine 
erneute  Bittschrift.  Nun  befahl  der  Kaiser  die  Zerstörung  des  Marnas- 
tempels.  Ein  kaiserlicher  Beamter  traf  mit  einer  Abteilung  Soldaten  in 
Gaza  ein.  In  zehn  Tagen  waren  die  sieben  anderen  Tempel  der  Stadt, 
darunter  einer  des  Helios,  der  Aphrodite,  des  Apollo,  der  Kora,  der 
Hekate,  dem  Boden  gleich  gemacht;  das  von  den  Heiden  befestigte 
Marneion  widerstand  am  längsten.  Endlich  nahm  man  auch  diesen 
Tempel  auf  die  Weissagung  eines  Kindes  hin  durch  Feuer.  Auch  hier 
kam  der  Triumph  des  Christentums  rein  äußerlich  dadurch  zum  Aus- 
druck, daß  auf  den  Trümmern  eine  Kirche  erbaut  wurde. 

In  derselben  Weise  vollzog  sich  die  letzte  Phase  des  Kampfes  auch 
im  Westen.  Hier  war  vor  allem  Martin  von  Tours  tätig,  der  seit  375 
Bischof  von  Cäsarodunum  im  Gebiet  der  gallischen  Turonen  war. 
Seine  Biographien  schildern  ihn  als  großen  Wundermann;  Visionen 
erschienen  ihm,  die  Gestalten  von  Juppiter,  Mercurius  und  Venus,  die 
er  jedoch  bald  als  Maskierung  des  Teufels  erkannte.  Gegen  diesen 
Teufelsspuk  ging  er  an,  indem  er  an  der  Spitze  von  Pöbelmassen  und 
Mönchsscharen  seine  Diözese  durchzog,  die  Tempel  niederriß  und  ohne 
Schonung  die  Altäre  und  die  Götzenbilder  zertrat.  Das  ging  nicht 
ohne  Widerstand  der  Bauernschaft  ab;  noch  lange  sind  diese  Pagani 
die  Schützer  des  Heidentums  gewesen.  Noch  im  sechsten  Jahrhundert 
war  überall  auf  dem  Lande  die  antike  Religion  in  den  Herzen  der 
Menschen  mächtig;  unter  Justinian  konnte  sich  ein  Missionar  rühmen,  im 
Laufe  seinerWirksamkeit  70  000  Menschen  aus  der  Provinz  getauft  zu  haben. 


Der  Unterg-ang"  der  antiken  Religion  537 

In  den  großen  Städten  dagegen  fristen  nach  dem  Ende  des  vierten  Jahr- 
hunderts nur  noch  wenige  Reste  des  alten  Kultes  ihr  Dasein.  Noch 
ums  Jahr  470  werden  in  Rom  die  uralten  Luperkalien  gefeiert  und 
erst  dann,  auf  Betreiben  des  Papstes  Gelasius,  untersagt.  Den  letzten 
Schlag  gegen  antikes  Glauben  und  Denken  führte  Justinian  im  J.  529: 
er  zog  das  Vermögen  der  platonischen  Akademie  ein  und  verbot, 
an  der  Universität  Athen  weiter  antike  Philosophie  zu  lehren.  Ihre 
sieben  letzten  Lehrer  verließen  Griechenland  und  fanden  eine  Zuflucht 
in  Persien. 

Mit  der  Zeit  Justinians  ist  das  Christentum  offiziell  die  allein- 
herrschende Staatsreligion  geworden;  der  römische  Staat  ist  zu  Ende, 
der  christliche  beginnt.  Der  Gegner,  das  Heidentum,  ist  scheinbar  ver- 
nichtet, die  Siegesruhe  zieht  in  das  Gemüt  der  Ecclesia  triumphans 
ein.  Die  alte  revolutionäre  Tendenz  gegen  die  bestehende  soziale 
Ordnung  ist  verschwunden,  seitdem  nicht  nur  die  Armen  im  Geiste, 
die  Arbeiter,  Fischer  und  Teppichweber  das  Evangelium  haben:  das 
Christentum  ist  Eigentum  der  gesetzten  Bürger  und  damit  friedlich  ge- 
worden. So  hat  es  auch  den  Besiegten  keineswegs  aus  seiner  Mitte 
ausgeschlossen,  vielmehr  sind  die  Tore,  durch  welche  die  antike  Reli- 
gion unbemerkt  hereinzieht,  weit  geöffnet.  Für  viele,  die  sich  äußer- 
lich Christen  nannten,  blieb  innerlich  alles  wie  es  gewesen  war,  die 
Formalität  der  Taufe  hatte  keineswegs  die  alten  religiösen  Denkformen  aus 
den  Köpfen  der  Masse  gerissen.  Allmählich  dringt  der  Polytheismus  ins 
Christentum  ein;  ein  großartiger  Prozeß  der  Assimilation  heidnischer 
Gedanken  an  christliche  beginnt. 

Zunächst  die  oberen  Schichten  pflegten  ein  Christentum,  neben  dem 
philosophische  und  religiöse  Anschauungen  der  Antike  ihren  Platz  be- 
hielten. Ihre  klassische  Bildung  hatte  ihnen  ein  heimliches  Gemach 
geschaffen,  in  das  sich  ihre  Seele  flüchtete,  wenn  sie  müde  war,  äußer- 
lich das  Christentum  zu  bekennen.  Dieser  Art  ist  Boethius  aus  dem 
Anfange  des  sechsten  Jahrhunderts,  in  dessen  Schriftstellerei  christlich- 
dogmatische Untersuchungen  und  heidnisch -philosophische  Traktate 
unvermittelt  nebeneinander  stehen;  sein  berühmtestes  Werk,  de  consola- 
tione  philosophiae,  schöpft  den  Trost  in  den  Wechselfällen  des  mensch- 
lichen Lebens  nicht  aus  dem  Glauben  an  Christum,  sondern  aus  dem 
Nachweis  der  antiken  Philosophie,  daß  alles  Irdische  eitel  ist. 

Ferner  zeigt  der  Kampf  mit  den  Häresien,  daß  nicht  alles  Heiden- 
tum beseitigt  ist.  Es  ist  der  Krieg  des  siegreichen  Dogmas  gegen 
andere  Anschauungsweisen,  die  älteren  Ursprungs  sind  und  alle  das 
gemeinsam  haben,  daß  sie  schon  früher  mit  ganz  bestimmten  Richtungen 


538  ^^^  Untergang  der  antiken  Religion 

des  Heidentums  Kompromisse  eingegangen  sind.  So  hat  der  Mon- 
tanismus die  phrygische  Ekstase  aus  dem  Kult  der  Großen  Mutter  und 
des  Attis  rezipiert;  in  dem  Manichäismus  stecken  Elemente  der  Mithras- 
religion,  die  Gnosis  endlich  ist  ein  Synkretismus  von  hellenischer  Philo- 
sophie, Religion  und  Magie  mit  christlichen  Elementen.  Im  Kampfe 
mit  diesen  Sekten  haben  sich  die  Dogmen  der  katholischen  Kirche 
gefestigt.  Aber  viele  Sätze  auch  ihrer  Lehre  entsprechen  heidnischen  Vor- 
stellungen. Die  jungfräuliche  Geburt  ist  ein  durchaus  antiker  Gedanke  \ 
das  Wesen  Christi  erinnert  an  die  Göttersöhne  der  Griechen  ^  die 
Dreieinigkeit  entspricht  den  tiberall  nachweisbaren  Götterdreiheiten^,  im 
Marienkult  erinnert  vieles  an  die  große  Mutter  Isis^,  deren  Kult  auch 
in  seinen  äußeren  Formen  dem  Ritus  der  Messe  gleich  sieht.^  Noch 
stärker  tritt  das  Fortleben  der  Antike  in  gewissen  Mischkulten  hervor, 
an  denen  es  innerhalb  des  Christentums  nicht  gefehlt  hat:  auf  orphi- 
schen  Einschlag  deutet  das  Bild  des  Orpheus  in  den  Katakomben^;  in 
der  Katakombe  der  Vibia  nennt  sich  Vincentius  einen  antistes  numinis 
Sabazis^f  jenes  mit  den  dionysischen  Unsterblichkeitsmysterien  ver- 
knüpften Gottes.^  Und  bei  Aberkios^  hat  man  streiten  können,  ob  er 
Attisdiener  oder  Christ  war. 

Solange  ein  Volk  lebt,  sind  seine  Götter  unsterblich.  Der  alte 
Polytheismus  saß  tief  in  den  Seelen  der  Menschen  und  war  nicht  ohne 
einen  Vernichtungskampf,  den  man  scheute,  auszurotten.  Aber  er  besaß 
auch  die  Fähigkeit,  sich  in  neue  Formen  zu  ftigen.  Diese  benutzte  man,  um 
in  kluger  Umdeutung  den  alten  Göttern  die  Objekte  der  christlichen  Ver- 
ehrung zu  substituieren.  Das  zeigen  die  heiligen  Orte  und  Zeiten.  Für  die 
Zeiten  ist  oben  das  Beispiel  des  Sonntags  und  des  Geburtstags  Christi 
gegeben  worden  ^^  der  Tag  des  Herren  ist  in  beiden  Fällen  an  die  Stelle 
der  Feier  des  Helios  getreten.  Analoge  Fälle  ließen  sich  noch  zahl- 
reich aus  dem  kirchlichen  Kalender  anführen.  Für  die  Orte  mögen 
ein  paar  Beispiele  aus  Rom  genügen.  Im  sechsten  Jahrhundert  wird 
das  Templum  Sacrae  Urbis  und  das  Templum  Romuli  zur  Kirche  der 
Heiligen  Kosmas  und  Damian,  der  Tempel  der  Ceres  und  Proserpina 
wird  zur  Kirche  S.  Maria  in  Cosmedin.  Im  Jahre  604  wird  das  Pan- 
theon geweiht  der  S.  Maria  ad  Martyres;  die  Kirche  S.  Maria  sopra 
Minerva  trägt  in  ihrem  Namen  die  Geschichte   ihrer  Entstehung.    Bei 


*  Fehrle,  Kultische  Keuschheit,  Rel.-gesch.  Vers.  Vorarb.  VI  20. 

«  S.  oben  519.  »  H.  Usener,  Dreiheit,  Rhein.  Mus.  LVIII  1903,  4  ff. 

*  S.  oben  485.  «  S.  oben  488.  «  S.  oben  478. 
'  E.  Rohde,  Psyche  II  400  Anm.  1.  «  S.  oben  466. 

*  S.  oben  496.  >•  S.  oben  507.  508. 


I 


Der  Untergang  der  antiken  Religion  539 

anderen  christlichen  Heiligen  bietet  ihre  Art  und  ihre  Legende  die 
Möglichkeit,  sie  an  Wesen  der  antiken  Religion  anzuknüpfen.  Die  heilige 
Pelagia  oder  Marina  ist  an  Stelle  der  'Acppobixa  TreXaTia  oder  der 
Venus  Marina  getreten  \  sie  ist  der  Legende  nach  zuerst  ein  buhle- 
risches Weib,  dessen  Zeichnung  aber  mit  Zügen  aus  dem  Bilde  der 
Isis  und  asiatischer  Naturgottheiten  ausgestattet  ist.  Die  Legende  des 
h.  Lukianos  von  Antiochia  hat  Züge  aus  der  Dionysossage  aufgenommen; 
er  wird  auf  dem  Rücken  eines  Delphins  ans  Land  gebracht,  in  der- 
selben Art  und  zur  selben  Jahreszeit  wie  der  antike  Gott.^  Sogar  eine 
priapische  Gestalt  des  antiken  Pantheons  lebt  weiter,  in  der  Gestalt 
des  h.  Tychon.^  Und  wo  die  Verehrung  solcher  Heiligen  sich  mit  Jahr- 
tausende altem  Volksglauben  durchsetzt  und  verbindet,  entsteht  eine 
Religion,  in  welcher  das  heidnische  Element  vielleicht  ebenso  stark  ist 
als  das  christliche.  Das  kann  man  besonders  gut  in  Süditalien  beob- 
achten, wo  sich  die  Vorstellungen  der  Antike  in  großer  Menge  gehalten 
haben  bis  zum  heutigen  Tage^,  und  wo  man  sieht,  wie  die  heidnischen 
Anschauungen  und  die  christliche  Lehre  in  gegenseitiger  Durchdringung 
einen  neuen,  eigenartigen  Glauben  geschaffen  haben. 

So  ist  denn  der  Untergang  der  antiken  Religion  zugleich  die  Genesis 
des  Christentums,  unserer  eigenen  Religion  geworden,  und  dadurch,  daß 
das  Christentum  Teile  des  Alten  in  sich  aufgenommen  hat,  ist  auch 
auf  diesem  Gebiet  unsere  Zeit  die  Erbin  der  Antike  geworden.  Man 
darf  sagen:  vieles  ist  im  Christentum  vorhanden,  ohne  daß  es  Christus 
gelehrt  hat,  ohne  daß  es  aus  dem  Judentum  übernommen  ist,  und  das 
alles  stammt  aus  der  Religion  der  Griechen  und  der  Römer.  Das  ist  eine 
Erkenntnis,  die  von  der  üblichen  Auffassung  des  Christentums  ab- 
weicht. Sie  ist  nicht  bestimmt,  den  zu  stören,  der  anderen  Anschau- 
ungen lebt,  sie  ist  nicht  darum  in  der  Welt,  um  den  Glauben  anderer  anzu- 
tasten, aber  sie  will  nicht  da  glauben,  wo  man  wissen  kann,  und  sie 
5011  dem  dienen,  dem  es  Bedürfnis  ist,  auch  die  religiöse  Welt,  die 
ihn  umgibt,  geschichtlich  zu  verstehen.  Wahrhafte  geistige  Befreiung 
auch  aus  den  religiösen  Fesseln  und  Nöten  der  Zeit  wird  dem  wissen- 
schaftlich Gebildeten  nicht  durch  Negation  oder  Position,  durch  Ver- 
mittlung oder  Umdeutung  gewonnen,  sondern  allein  durch  geschicht- 
liche Erkenntnis. 


^  H.  Usener,  Legenden  der  Pelagia,  Bonn  1879. 

*  H.  Usener,  Sintflutsagen  168ff. 

»  H.  Usener,  Der  heilige  Tychon,  Teubner  1907. 

*  Th.  Trede,  Das  Heidentum  in  der  römischen  Kirche,  Bd.  I-IV. 


REGISTER 

VON  OTTO  WEINREICH 

(Die  Zahlen  nach  dem  Komma  bezeichnen  die  Anmerkungen;   A.  verweist  auf  eine  von  der 
vorhergehenden  Seite  überhangende  Anmerkung.) 


ABC-Denkmäler202ff.  229ff. 

-  christliche  209  ff.  227  ff. 
232,  2. 

-  etruskische  203. 208.222. 
~  germanische  211  f.  228. 

230. 

-  griechische  203  ff.  208  f. 

-  indische  215.  [222. 

-  italienische  229  f. 

-  lateinische    206  ff.   228. 

-  liturgische  217  ff.  227  f. 

-  oskische  208  f.  222. 

-  zauberkräftig        213  ff. 
219  ff. 

-  Zweck  202.  206.  210  f. 
Aberglaube  512  ff.    [231  f. 
Aberkiosinschrift  496.  538. 
Ablanathanalba  515. 
Abracadabra  515. 
Abraxas  225. 

Accius,Epinausimache68,2. 
Adler,  vgl.  dexöc 
Adonis  498. 
Adoptionsritus  98. 
Aeneas  278. 

dexöc  255.  265  f.  506. 
Agathodaimon  20. 
Agdistis  502. 
ärreXoc  draeöc  194. 
AIKA  CAiKn?)  412. 
Aion  18.  476. 
Aischylos   69.  136ff.   417. 
425  ff. 

-  Anklage   dceßeiac   138  f. 
430  f. 

-  Dramen:  Agamemnon 

153  f.  426. 

-  AiyOtitioi    112.    116. 

144.  149.  . 
Aitnai   138.  434. 
Alkmene  114.  144. 

-  Choephoren  142. 

153  f. 

-  Eumenidenl39.153f. 

426. 
rXauKOC  112.144. 148. 
Hepta    142f.     150f. 

424.  426. 
Hiketiden  142f.  149f. 

427. 


Aischylos,  Dramen:    Kyk- 

nos  112.   114.  116.  144. 

Orestie     138.    142f. 

153  ff. 
Perser     138.     142f. 
147f.   424.  426. 

-  Phoenissen  426. 

-  Prometheus  112. 

142  f.    151  ff.  426. 

-  0aXa|LioTTOioi    112. 

116.  144.  149. 

-  Elegien  140. 

-  KaxdXoYoc  Tujv  6pa|LidTuuv 
111  ff.  141. 

-  Kunst  155  ff. 

-  Metrik  156. 

-  Mysterienprofanation 
430 f.  vgl.  138f. 

-  Paeane  140. 

-  Religion  158. 

-  Satyrspiele  115  f.  141. 

-  Schollen  146  f. 

-  Threnos  423  ff. 

-  Tod  139f. 

~  Überlieferung  145  f. 

-  Zahl  der  Dramen  111  ff. 
140  f. 

Akademie  geschlossen  537. 
Albertus  Magnus  6. 41. 198. 
Alchemie  42 f.  514. 
'AXriGeia  223. 
Alexander  d.  Gr.  277  f.  283. 

518f. 
Alexander    von   Abonutei- 

chos  521. 
Alexandreia,  Kulte  482  ff. 

492.  535  f. 
Allegorie  452.  461. 
Alphabete  202  ff.  229  ff.  vgl. 

ABC -Denkmäler. 

-  am  Himmel  223. 

-  ßoucTpo(pr|6öv  221  f. 

-  in    religiöser    Literatur 
217f. 

Alphabetmystik  223  ff. 
Alphabetzauber  515. 
Altar  der  Victoria  533  f. 
Altarmotiv  381.  402.  427. 
Amara  501. 
Amaros  501. 


Ambrosius    von     Mailand 

532.  534. 
Ameinias  137. 
Amen  488. 
'A|Li|udc  502. 
Ammon  20.  484. 
Amulete  21.  23.  103.  212. 

213,3.   215f.  217.   220. 

221,1.   241  f.   322.   514. 

517. 
dvaYvujpic|a6c  403.  426. 
dvd|uvricic  472.  474. 
Anaxagoras  10.  407.  454. 
angelus  bonus  193. 
'Avraia  79.  84.  125f.  130. 
Antaios  63,2. 
Anthesterien  421. 
Anthropogonie,  orphische 

73  f.  476. 
Anthropomorphismus  453. 
"Avepuuiroc  520. 
dvTidveipoi  105  f. 
'AvTiric  126,1. 
•AvTiiuv  126,1. 
Anubis  20f.  40,5.  536. 
Anubismaske  486. 
Aß  210 f.  223.  233. 
dujpoc  47,2.  75,3. 
Aphrodite  von  Kypros  135. 

-  von  Paphos  502.     [503. 
Apis  160.  484.  491. 
Apokalypse,  christliche 

-  orphische  476  f.     [478  f. 
'AiroXXuüßTiS  5. 

Apollon  28. 194. 338,2.  343. 
347  f.  523  f. 

-  baqpvriqpöpoc  339. 

-  Sminthios  72,3. 
Apollontempel,  auguste- 
ischer 165.  171. 

Apollonios  von  Tyana  225. 

-  und  Christus  523.   [522. 
Apologeten,  christliche 
diroiidTTeiv  121.  [527  f. 

dTTTTÖC  500. 

dpxißaccdpa  71. 
dpxißouKÖXoc  71  f.  74.  75, 1. 

77  f.  475. 
Archilochos  41 5  f. 
dpxiMvicTTic  71.  77. 


Arion  419.  422. 

A  ristophanes  671. 1 1 6  ff .  455. 

ÄpKTOl  72. 

Artemis  346  f. 

Asche  75.  476. 

Astarot  501. 

Astarte  492.  497.  501  f. 

Astrolog^ie  43  f.  180  ff.  279. 

514. 
Attis    339,2.    481.    496  ff. 

499f.  503.  538. 

-  und  Christus  500. 
Augenblicksgötter  359. 
Augustus  164ff.  169. 172,3. 

175.    195.   277.    463,1. 
516.  524  f. 

—  Sohn  ApoUons  518. 
Ausonius  532. 

Baal  492  f.  501. 

—  von  Doliche  493  ff, 

-  von  Emesa  493.  495  f. 
ßaßav  127,3. 

BaßO)  128. 

Bad  des  Götterbildes  499. 

BdKxoi  497. 

Barfüßigkeit,  rituelle  349. 

BaciXeOc  496. 

Basilios  von  Caesarea  531. 

Bacaicca  496. 

BacKttvia  106  f. 

BdcKQvoc  6a(|iu;v  106  f. 

ßaußäv  127,3. 

Baubo  126  f. 

ßaußiOv  127.  134. 

Baußuüv  127. 

Baumkult  497  f. 

Beelzebub  493. 

Benfey  297. 

BepeKuvTia  502. 

Bf]\oc  492  f. 

Berossos  182  f. 

Besessenheit  53  f. 

Biene  263,2. 

Bindezauber  514. 

Bindung,  magische  321. 

Bitys  6. 

Blei  44. 

Bleitafeln  205.  219.  251. 

Blick,  böser  321. 

Blut  der  Titanen  73. 

Blutriten  501. 

Boethius  537. 

Bohnen  im  Zauber  39,4. 

Bolus  von  Mende  5A. 

Boiaßtü  128,  1. 

Bona  Dea  131  f. 

ßoußujv  127,3. 

BouKoXibric  76, 1. 

BouKoXößpac  76, 1. 


Register 

I  BouKöXoi  des  Kratinos   76. 

i  ßouKÖXoc  70ff.  74 ff.  99.  103. 

!  ßoOc  71.  (475.  497. 

I  ßourac  76. 

i  Brief  Christi  242. 

I  Briefe  der  Götter  244. 

'  -  des  Teufels  250  f. 

Briefform  der  Zauber- 
bücher 10.  43,3.  242. 
i  -  von  alchemistischen 
I       Schriften  183,2. 
I  Bryaxis  159.  489. 
I  Buchstaben,  umgekehrte 
Form  212. 

Buchstabenmystik  223  f. 
'[  Buchstabenzauber    220,  1. 
j        226. 239. 515.  vgl.  AB C- 
!       Denkmäler. 

Bücher  vom   Himmel  ge- 
fallen 243. 

Bukoleion  77. 

Buzygen  76. 

Caesar  277.  279. 
Cancer  190. 

Carinondas  (Charondas  ?)  9. 
carrus  navalis  422.  465. 
casa  Romuli  165  ff.  176  f. 
Caspar  Melchior  Balthasar 
cautes  261.        [247  f.  249. 
cautopates  261. 
Celsus  527. 
Ceres  481. 
Chairemon  9f. 
Chaos  476. 
XaXKiöirii  102. 
XaXKÖTTouc  102. 
XaXKocdvbaXoc  102. 
XMr  409. 
XÖ€C  421. 

Chor  der  Tragödie   156  f. 
Christenverfolgungen525ff. 
Christi  Geburt  508. 511.538. 
XpiCTÖc  "Avoußic  21. 
XpicTÖc  TTdcxujv  374. 
Chronos  476. 
XpucocdvbaXoc  101  f. 
xOrpoi  421. 
Cicero  162.  462. 
Clemens'  Stromateis  528. 
compitalia  169,1.  170,1. 
Cornutus  461. 
curia  Julia  167  f. 
curiae  veteres  167. 
Cyprian  199. 

Dämonen  90. 105. 321. 417f. 
~  ausgetrieben  517. 
—  tiergestaltige  417  f. 
Dämonenglaube  517  f. 


541 

Dadophoren  261. 
Damia  132. 

Damigeron  9. 11. 23,10.41f. 
Damis  522. 
Danaiden  470. 
Dante  473.  479. 
Daphne  193  f. 
baqpvrjqpopia  339  f. 
Dardanus  magus  3.  6. 
Defixionen  44. 206. 231. 514. 
Delphin,  weisendes  Tier 

489.  539.  [137. 

Demeter  126f.  132.  135,1. 
Demeterhymnus  126  f.  130. 
Demetrius  von  Phaleron 

457.  460. 
Demokrit  3.  4  f.  10.   11,8. 

41,2.  43. 
Dendrophoroi  499. 
Diagoras  455. 
Diana  346  f.  481. 

—  Aricina  347  f. 

—  Tifatina  347  f. 
Diebessegen  197.  199. 
Aka  412. 

Dikte  88. 
Diktos  88. 
Diktynna  88. 
Aiv5u|urivr]  502. 
Diokletian  446.  528  f. 
Dionysos  476. 

—  auf  Schiff  422.  465. 

—  öev&piTr]C  497. 

—  EtpaqpiiJÜTr]c  96. 

—  gvbevbpoc  497. 

—  Epiphanie  422.465.487. 

—  *Ep{q)ioc  96. 

—  *'Epi(poc  96. 

—  Herr  der  Seelen  421  f. 

—  Oü|LiTiCTrip  107.         [464. 

—  Sminthios  72,4. 
Dionysoskult,  unteritali- 
scher 475. 

Dithyrambus  76.  41 5  f. 
divini,  divinae,  Wahrsager' 

181,2. 
Dochmien,  Charakter    des 

Verses  50f.  58. 66  f.  423  f. 
Dolichenus  206  f.  220.  230. 

493  ff. 
domus  Äugusti  166.  168. 
Doppelaxt  494. 
Drachentöter  485. 
bp&ixa,  bpav,  6piii|Lievov  429. 
Drama  des  Mittelalters  435. 
öpdinaxa  xpaTiKd  415. 
Dreieinigkeit  360. 
Dreizahl  197. 199. 360, 489. 
6pu[)|ieva  428  f.  [538. 

Dysaules  126  ff. 


542 


Reg^ister 


Ekstase  319.  465. 
Elagabal  495  f. 
Elemente  86.  259. 
elementum  224  f. 
Eleusis  126«.   137.   428«. 
Eidechse  40,2.  [467  f. 

Eileithyia  79  f. 
EipaqpiÜJTnc  96. 
Eiresione  317.  338«.  343. 
Emesa,  Religion  von495f. 
Empedokles  10. 127,2. 472. 
Empusa  102.  [474. 

gveipoi  106. 
Enneakrunos  353. 
Ennius  458. 

Enthusiasmus  31 9  f.  465. 
Entmannung  497  f. 
Ephesia  Grammata  21.  33. 
Epikur  459.  [488. 

Epilepsie  53  f. 
Epimenides  10. 
iizo-axeia  118.  [312. 

Erde,  Kinder  auf  E.  gelegt 

—  Sterbende  auf  E.  ge- 
legt 314. 

Erinyen  477. 

Ipiqpoc  ^c  ^aX*  lTreTOv95ff. 

Erntefest  332. 

Erntemai  317.  332. 

Eros  85. 

Erz  102. 

Essener  492. 

iT£ha  89. 

Etrusker  und  Römer  171  ff. 

eöatrjc  95. 

eCiarr^Xia  194,1.  195. 

EuarreXiöai  193.  195. 

eöafY^Xiov  524. 

e<)aff^ic  194. 

eöoTYe^iCTric  193«. 

—  6  f^piwc  eöa^rf€XicTnc  193. 
€ÖdTT€Xoc  193.  195. 
€ÖdvTT)Toc  7  8  f.  126.  130. 
Euhemeros  457  f. 

Eövoia  473. 
Euphorion  137. 
Euripides  76.  363  ff.  454  f. 

—  Ausgaben  375.        [456. 

—  Chor  400  f.  [434. 

—  Deus   ex  machina  398. 

—  Dichtungen  368  ff.  [402. 
~  Dramaturgische  Technik 
~  Dramen:  Alkestis  376 f. 

Andromache  380  f. 

—  Bakchen  388.  466. 

—  Elektra  384. 

—  Hekabe  379  f. 

—  Helena  385  f. 

—  Herakles    48  ff.   58. 

60  ff.  381  f. 


Euripides  Dramen: 

Herakliden  380. 

—  Hiketiden  382. 

—  Hippolytos  67.  378  f. 

—  Ion  382  f. 

—  Iphigenie    in   Aulis 

387  f. 

—  Iphigenie  in  Tauris 

385. 

—  Kyklops  388.  418. 

—  Medea  377  f. 

—  Orestes  56  ff.  387. 
--        Phoenissen  396  ff. 

—  Rhesos  389. 

—  Troerinnen  383  f. 

—  verlorene  390«. 

—  Epeisodien  399. 

—  Erotische   Motive   394. 

—  Fasti  scaenici  369.  [403. 

—  Handschriften  und  Pa- 
pyri 370«. 

—  Hypotheseis  374  f. 

—  Metrik  400. 

—  Motive  394.  403. 

—  Musikalische  Kunst  401. 

—  Perioden  künstlerischen 
Schaffens  394  ff. 

—  Porträts  367  f. 

—  Prologe  397  f. 

—  Satyrspiele  368  f.  393  f. 

—  Schollen  374. 

—  Stellung    zum    Mythos 
396.  398  f.  434. 

~  Stichomythie  399. 

—  Tod  367. 

—  Trilogie  402. 

—  Typik  einzelner  Figuren 

[403  f. 

—  undAischylos  370. 

—  Anaxagoras  407. 

—  Aristophanes  397. 

—  Diogenes  von  Apol- 
lonia  407. 

—  Heraklit  407. 

—  Rhetorik  399  f. 

—  Sokrates  407. 
— -  Sophisten  407. 

—  Sophokles  48  ff. 370. 

—  Timotheos  401. 

—  Vasenbilder  390. 

—  Xenophanes  407. 

—  Weltanschauung  404  f. 

—  Zahl  der  Dramen  368  ff. 
ex  visu  207.  230. 
I2dpx€iv  TÖv  6i90pa|aßov 

415.  422. 
Fackel  260.  346. 
Fasten  498. 
fata  dicere  180  f. 
Faunus  131  f. 


Feuer  477. 

—  vom  Himmel  278. 
Feuersegen  240. 
Fetischismus  318.321.337. 

483.  496.  503. 
Fichte  497  f. 
ficus  Ruminalis  177  f. 
Fluch  514. 
Folklore  298  ff. 
Formeln,  liturgische  95  ff. 

119,3.  121.  123f. 
fratres  506. 
Frauen,  vom  Kult  ausge- 

geschlossen  265,2.  270. 

510. 
Fresser  der  Unterwelt  106  f. 
Fruchtbarkeitszauber  337. 
Frühlingsumzüge  324  ff. 
Fußspur  321. 

TdXa  97. 

YaXaEiac  97. 

rdXXoi  503. 

Gans  40,6. 

Geburt,  Bräuche  bei  312. 

-—  des  Asklepios  276  f. 

—  jungfräuliche  538. 
rdvva  409. 

"f^voc  des  Dichters  186,1. 
Geschlechtliche  Enthaltung 
Giganten  62.  [498. 

Gips  120ff. 

Glockeninschriften  21 3.21 7. 
TXu)CcoXaXeiv  479.         [231. 
Gluck,  Iphigenie  59. 
YvOücic  17.  513. 
Gnostisches  If.  9. 17  ff.  35. 

37.  43,3.  109.  256.  515. 

521.  538. 
Goethe  296.  516. 

—  und  Aristophanes  59,3. 

—  und  Euripides  58  f.  408. 
Götter  einander  gleichge- 
setzt 481. 

Gold  44.  102. 

Goldblättchen,  unteritali- 
sche 91  ff.  467  f.  472. 

Goldene   Buchstaben  235. 

•fopToveia  421.  [238. 

Gottvereinigung  98.  321. 
466  f.  500. 

Gratian  532.  534  f. 

Gregor  von  Nazianz  531. 

J.  Grimm   286.  296  f.   311. 
313A. 

Große  Mutter  128ff.  502ff. 
vgl.  Magna  Mater. 

Guymond,  Iphigenie  59. 

Hades  467.  470. 

Hände  verhüllt  440  ff.  487. 


Hände  verhüllt,  christlicher 
Brauch  441«.  448. 

—  hellenistischer  447. 487. 

—  höfischer  445  f. 

—  persischer  4461. 

—  römischer  447,10. 
Hahn  40,5. 
Halbmond  491. 
'AiLiapTiai  106. 
Handschuh  448. 
Harpokrates  20.  24.  40,6. 
Haruspizin  517  f. 
hastiferi  497. 
Hegesias  459  f. 
Heiligenkult,   semitischer 
Heilungswunder  518.  [504. 
Heilzauber  321  f. 
Hekate  79.  88,2.  101  ff.  126. 

—  xOovia  106.      [128.  502. 

—  kosmische  80. 

—  TTepcia  88,2. 

—  TTpoGupaia  80. 

—  capKoqpdtoc  107. 

—  TapTttpoOxoc  101. 
'EKdrric  öeiirva  107. 
Helena  521. 

i^Xio6pö|Lioi  261.  263  f.  506. 
Heliogabal  495  f.  [508. 

Helios  510.  530. 

—  u.Mithras  261  f.  506.508. 
Herakles  Alexikakos  523. 

—  auf  der  Bühne  377. 

— -  komische    Figur    55,2. 
63,2.  127,3. 

—  ^aivö|U€voc  54. 
Hermanubis  20. 
Hermes   5  f.    10  f.  37  f.  45. 

—  Seelengeleiter  421. [106. 

'EpILlOO   TTT^pOC  11.  23,6. 

Herodes'  Kindermord  272  ff. 
Heroenkult  193  ff.        [519. 
Herondas  125.  127.  135. 
Herrscherkult  519. 
UpCKcc  265  f. 

i€pöc  Tti^oc  332.  466.  496. 
Hilaria  499.  [500. 

Himmelfahrt  256.  488.  508. 

522. 
Himmelsbriefe  234  ff.  243  ff. 

—  antike  241.  243  ff.    [320. 

—  Bestandteile  239.  243. 

—  byzantinische  241. 

—  goldene  Buchstaben  235. 

—  jüdische  244.  [238. 

—  orientalische  239.  242. 
"Itma  129. 
Hippokrates  54. 
Höhlenkult  255.  508. 
Hölle  477. 
Homerverse  im  Zauber  28,3. 


Register 

Honig  263. 
"OpKoi  106. 

Horos  20.  25.75,3.183.485. 
"ßpou  öcT^ov  36.  [190. 

Horoskop  180.   182.  184  f. 
öcioi  luOcrai  77;  vgl.  94. 101. 
Hostanes,  s.  Ostanes. 
Hymnen,  Alphabethymnen 
217  ff. 

—  christliche   109  f.  218. 

—  in    Zauberpapyri    29  ff. 

104.  106f. 

—  kotA   TTÖXeic  geordnete 

Sammlungen  69. 

—  liturgische  nachgeahmt 

123. 

—  orphische  33. 69  ff.  92  ff. 

109ff.  123.  217.  475f. 

—  Anordnung  78  f. 

—  Entstehung  33.  87f. 

—  und  Zauberpapyri  28  ff. 

75.  104.  106f. 

—  unteritalische  92  ff. 
Hymnus  von  der  Seele  255  f. 
ujLivujöoi,  6|LivobiödcKa\oi  74. 

78.  475. 
öiroKÖXiTioc  98. 
i»TroKpiTr|c  422. 

lambe  127.  134. 

lambres  9. 

lannes  9  f. 

lao  516. 

Mbaia  502. 

iKovöcracic  437. 

impetrare,    impetrire,  im- 

petrabilis  185. 
Inkubation  319. 
Inspiration  320. 
Ionische  Philosophie  452  f. 
Iphigenie  in  der  Dichtung 

58  f. 
Isis  20.  23.  26f.  75,3.  135. 

183,2.    339,2.    351.  447 

481.  484ff. 

—  und  Maria  485. 
Isispriester  486  f. 

—  mit  verhüllten  Händen 
447,4.  448. 

Isisprozession  486  f. 
Isisvesper  487. 

Jenseitsglauben  499. 
Jenseitshoffnung  523. 
Jenseitsvorstellungen  469f  f . 
Julia  Domna  495.  522. 
Julian  509.  527.  530  f. 
Juno  496. 

—  caelesHs  502. 

—  Lucina  184. 


543 

Juno  regina  494. 
Jupiter  Capitolinus  165. 

—  Dolichenus  493  ff. 

—  ftctilis  165. 

—  tonans  165  f. 

—  Typhon  105. 
ius  talionis  477. 
Justinian  537. 
Justinus  Martyr  527. 

Kabbala  516. 
Kaiserkult  519  f. 
Kassandra  175  f.  185. 
Kaxdßacic,  orphische  473  f. 
KttTdöeciLioi  514. 
Kataloge  von  Zaubermitteln 

36  ff.  513. 
Kaxapxai  184.  190,1. 
KttBapiLioi  121  ff. 
Kdeapcic  118. 
Kdxoxoi  160.  490. 
Kerberos  470. 
K^pvoc  600. 
Kind  auf  Erde  gelegt  312. 

—  Herkunft  derKinder314. 
Kind  im  Haus  begraben 

313  f. 
Kindermord ,  betblehemi- 

tischer  272  ff.  519. 
Kirchen,    christliche   über 

antiken  Kultstätten  538  f. 
Kicxatpöpoc  71.  475. 
KÖXiroc  97  f. 
Kombabos  498. 
Komet  273.  278.  519. 
KO|Li|noi  422  f. 
KUü|iiu6ia  418. 
Konstantin  529  f. 
KUJiruü  340. 
Kora  418.  421  f.  466. 
K6paK6c  506. 
Korybanten  502. 
Kosmogonie,  mithrische 
~  orphische  123.        [258. 
Kotys  497. 
Krähe  334.  341.  343. 
Krankheit  verpflockt  291  f. 
Krebs,  Sternbild  189  f. 
Kriobolien  500. 
Kritias  455. 
KpOqpioi  506. 
Kultübertragungen       480. 

-  Asklepios  480.       [488f. 

-  Magna  Mater  480.  503. 
Kureten  83.  89. 
KÖßrißoc  134. 

Kybele  128  ff.  135,1.  502  f. 
kOkXoc  xf|c  Yev^ceujc  93. 
Kynegeiros  137. 
KuvoK^<pa\oc  40,1. 


544 


Register 


Labarum  530. 
Xdßpuc  494. 
Lactantius  528. 
Land  der  Toten  315  f. 
Xaoi  (Laien)  78. 
Lares  compitales  169  f. 
Legfendenmotive  159.  277  f. 
Xdovxec,    X^aivai    72.  261  f. 

263  f.  265.  506. 
A€UKO(ppurivri  502. 
Libanios  532. 
Lichtbaum  260  f.  (284. 

Lichterscheinungen      277. 
Liebesangeln,  poetisches 

Bild  186  ff. 
Liebeszauber  321. 
XiKvaqpöpoc  71.  475. 
XiKvov  118.  120. 
Links  im  Zauber  199.  222. 
Liturgie  431  ff. 
XÖToc  17. 
Luceres  171.  174. 
Lucmo  171.  173f. 
Lucretius  459. 
Lupercalia  169  f.  537. 
Lykomiden  69.  91. 
Lykophron  175. 

Ma  497.  502. 
Magie  513  ff.  521. 
Magier  24, 6. 252. 255. 272  ff. 

282.  508.  519. 
Magna   Mater   128  ff.   497. 

499.  502  ff.  538. 
Mahl,  sakramentales    261. 

263  ff.  270.  505.  [336. 
Maibaum  317.  328f.  332. 
Maibraut  und  -bräutigam 

329.  350  ff.  1331  f. 

Maikönig  und  -königin 
Manetho  6.  8.  10. 
Manichäismus  538. 
Mannhardt  296  f. 
Maria  und  Isis  485.  538. 
Marnas  536. 
Martin  von  Tours  536. 
Martinslieder  316  ff.  333  f. 
Martinsvogel  334. 
Masken  420  f. 
Matthäusevangelium  272  ff. 
—  Entstehungszeit  282  f. 
Matris  162  f. 
Menander  458. 
Menippos  244. 
Messias  523  f. 
Meteorsteine  241. 
"MriTTip  96d)v  20. 
lüiriTpöXriTTTOC  503. 
Mida  128  ff. 
Midas  128ff. 


-  Sklavenname  130. 
Milch  501. 

--  und  Honig  97.  501. 

Milchstraße  97. 

miles  260  f.  506  f. 

Micaxlc  128.  133. 

ILiicriTn  133  f. 

ILiicriTia  133  f. 

ILiicriTÖc  133  f. 

Mise  84.  125  ff. 

Misme  127. 

Mithradates  278.  283.  505. 

Mithras  20.  24.  275  f.  281. 

283  ff.  481.  504  ff.  519. 

530.  538. 

-  Darstellungen      258  ff. 

-  TpnrXdcioc  261.       [505  f. 

-  und  Christus  508. 
Mithraskult  72. 252  ff.  275  ff. 

-  Ausbreitung  253  ff.  268  ff. 
509  f. 

-  Frauen  im  Kult  265,2. 
270.  510. 

-  Kultbilder  256  f.  258  f. 

-  Symbole  259  f. 

-  und   Christentum   264  f. 
268  ff.  275  f.  283  ff.  509  f. 

Mithrasliturgie  266  ff.  507  f. 
Miepoßap2:dvr]C  255. 
Monotheismus  160.  492. 
Montanismus  538.  [516. 
Moses  7f.  9  f.  11.  24.  201. 
Mutter  Erde  314.  332.  431. 
Mupia  485.  [467  f. 

Mysterien  69.  77.  91  ff.  120. 

122.    131  f.    137.   256  ff. 

428  ff.   439.   467  f.   475. 

487  f.  499  f. 
ILiucrripiov  264. 
Mystik  463, 1. 
Mythologie  309.  355  ff. 

Nacktheit  119.  262f. 
Nägel  im  Zauber  197, 
Naiuüv  89. 
Ndioc  89. 
Name  314  f.  321. 
navigium  Isidis  351.  487. 
Nechepso  9  f.  43,5. 
Neid  der  Götter  517. 
Neith  481. 
Nekromantie  323. 
Nektanebos  9. 
Nemesis  90. 
v€0|LiucTai  77. 
v€09dvTai  77. 
Nephotes  8.  10. 
Nephthys  27,4. 
Nero  273  f.  281.  285.  518. 
Neumond  199. 


Neunzahl  283, 1.351, 3. 353. 
Nigidius  Figulus  279. 
vöcoc  tepd  53  f.  59. 

Offenbarung  318  ff. 
Oktoberroß  170. 
lijjLiocpdYoi  106  f.  465!. 
(b)Lioc  i^öcxou  263, 1. 
"Oveipoi  106. 
Onomakritos  468. 
Ophitenhymnus  109. 
Orakelmotiv  404. 
*Opeia  luriTrip  502  f. 
Origenes  528. 
Orpheus  6.  28  ff.  33.  69.93. 

100.    103.    126,2.    129. 

182.217.466ff.473.538. 

-  leierspielend   412.   476. 

-  AiOiKd  41.  [478. 

-  und  Christus  110. 
Orphik    69ff.   121.   452,1. 

466  ff. 

-  und    Christentum    110. 
478  f. 

öpeojc,  orphischerTerminus 
öcxoqpöpia  338.  [123,1. 

oscilla  170» 
Osiridis  planta  36. 
Osiris  20.  25  ff.  40,6.  75,3. 

160.  481.  484  f. 
Osiris  Apis  490. 
'OcöpaTTic  160. 
Ostanes  4.  10  f. 
Ostern  499. 

Osthanes,  vgl.  Ostanes. 
oöXoc  öveipoc  410  f. 

Pachomius  224  f. 
Pachrates  35.  517. 
paganus  531.  536. 
iranrdXri  120. 
Palaiphatos  456. 
Pamphilus  irepi  ßoraviiiv 
Pan  81.  [36  ff. 

iravdpGTOC  ßißXoc  7. 
Pandora  418.  421  f. 
Pantia  81. 
Papas  497. 
Paracelsus  197. 
Parmenides  413. 
Pasiphae  88. 
Pastophoren  486. 
pastores  497. 
TTttT^pec  265  f.  500.  506. 
Paulus  525. 
Pelagia  357  f.  539. 
Peregrinus  Proteus  522. 
Tr€pi|udTTeiv  121,2. 
Peripetie  im  Drama  426  f. 

-  in  Eleusis  428  f. 


TTepcai  im  Mithraskult  506. 

Persaios  460.  462. 

Persephone  467. 

Petosiris  9  f.  43,5. 

Petrus  522. 

—  und  Jesus  im  Zauber- 
segen 197. 

Pferd,  trojanisches  175 f. 

Pflanzen,  im  Zauber  35 ff. 

(paXXiKd  417. 

Phallophorien  337,1.  340f. 

Phamea  162f. 

Phanes  476. 

Philologie  292 ff.  306.  313  A. 

Philonides  460.  [360 f. 

Philosophen,  wundertuend 
518. 

Philosophie  und  Religion 

Philostratos  522.       [452  ff. 

Phoinix  von  Kolophon343. 

Phrynichos  63,2.  147.  425. 

Physiologus  41. 

Physis  81. 

Pibeches  8. 

pilleus  260  f.  263.  275. 

Pinienzapfen  341. 

TTICTIC    18. 

irieoiTia  421. 
Pitys  6.  10. 

Piaton  450.  467.  473  f.  477. 
nXoiaqp^cia  351.  [523. 

TToXOavbpoc  108. 
noXubaijuiuv  107f. 
Polygnot  477. 
Porphyrios  527.  536. 
Portunalia  351,3. 
Poseidonios  462,1.  474. 
praetoria  171. 
Priapos  358.  539. 
Properz  164ff. 

—  Codex  Neapolitanusl66f. 

173  f.  187. 

—  letztes  Buch,  Disposition 

191. 

—  und  Lykophron  175. 
Prostitution,  sakrale  502. 
Protagoras  454  f. 
TTpuJTOYÖvr]  126,3. 
TTpojTÖTovoc  80f.  126,3. 476. 
iTpuJTO|uOcTai  77. 
Pseudophokylides  492. 
Pyanopsia  338. 

Pyrrhos  heilt  Kranke  518. 
Pythagoras  10.  97.  471.  523. 

Ramnes  171. 

Rationalismus,  antiker456ff. 
Raub  des  himmlischen 
Schatzes  261  f.  506. 
Rechts  222.  472. 
Regina  caelestis  496. 


Register 

Reinigung  121. 
Reise  der  Seele  31 5  f.  470. 
Remus  166f. 
'PriHixeujv  108. 
Rhea  129f.  132.  135,1. 
Ring  517. 

Rom,  Topographie  164ff. 
172.  176f.  181. 

—  und  Troja  174ff.  185. 
Romanusbüchlein  198. 216. 

220,1.  236f.  238f. 
Romulus  166f.  171  f. 
Rot  197. 
Runen  211  f.  220,1.  226.  239. 

Sabazios  76.  84,6.  98.  121. 

129.  466.  497.  538. 
sacramentum  264.  507. 
Sagenbildung  285  f. 
Salomo  8.  10.  43,3. 
Samothrakische  Gottheiten 
Sandale,  eherne  102.  [500. 

—  goldene  102. 
Sarapis  20.  159ff.  488ff. 

—  Kultbild  489. 

—  Kultlegende  488  f. 

—  Name  490. 

—  Ursprung  159  ff. 
Sarapsi  490. 
Sarapu  490. 
capKoqpdYoc  469  f. 
Sator-arepo  Formel  216. 
cdxupoi  417.  438. 
Satyrspiel  417ff.  438. 
Schauspieler   in   der  Tra- 
gödie 142.  156  f. 

Schemel,  heiliger  117f. 

Schilf  im  Ritus  498. 

Schlafszenen  in  der  Tragö- 
die 48ff.  403. 

Schlag  mit  Lebensrute  337. 

Schlange  98.  131  f. 

Schmackostern  337,1. 

Schmerz,  körperlicher  dar- 
gestellt 55.  67.  403  f. 

Schuh  119.  316.  516. 

Schutzbriefe  234ff.  247. 

Schwalbe  341  f.  [249  f. 

Schwarz  197. 

Schwein  40,3. 

Schwert  260  f.  263,3. 

Seele  in  Felsen  und  Quellen 
in  Tieren  471.    [471. 

Seelenfest  421. 

Seelenvogel  316. 

Seelenwanderung  93  ff.  315. 

Segen  196ff.  [471. 

—    gegen  Diebe  197.199. 

_  Feuer  240. 

_  Schmerzen  197f. 

_  Würmer  197. 


Albrechl  Dieterich:  Kleine  Schriften. 


545 

Semele  466.  476. 
Semonides  471. 
Seth  20.  26.  484. 
sidus  Juliwn  278. 
Siebenzahl  19.  265. 
Silber  44. 

Silene  129.  131,2.417.438. 
Simon  Magus  223.  521. 
CiTTuXrivri  502. 
Sisyphos  470. 
Skeptizismus,  antiker  462. 
CKi|LiTrouc  iepöc  117  f.     [468. 
Sminthios  72,3.  [116f. 

Sokrates  bei  Aristophanes 
Sol  invictus  253.  264.  510. 
Soloni  173f. 
Solonius  ager  173  f. 
Sommer   und  Winter  325. 
Sommertag  31 7. 324  ff.  [337. 
Sondergötter  359. 
Sonnenfinsternis  519. 
Sonnengott  498.  510.  521. 
Sonntag  264f.  506.  511. 538. 
Sophokles  142.  364.  367. 

—  Philoktet55f.  [379.433. 

—  Trachinierinnen48ff.  55. 
CuuTrip  524.  [58.  60  ff. 
cqpaipai  43.  180.  [481. 
Spiele  zauberkräftig  432. 
Spielkarten,  Schaden 

bringend  250. 
Spottcrucifix  484. 
Springwurzel  39. 
Steinbücher  41. 
Steine  im  Zauber  41  ff. 

—  von  Riesen  geschleudert 

53,2. 

Steinfetische  503. 

Steinkult  496. 

Steinwurf  in  Schlaf  ver- 
senkend 53. 

CTecpavoc  95.  [68.  404. 

Sterbeszenen  der  Tragödie 

Stern  der  Weisen  272. 

Sternbilder  184.  189f. 

Sternerscheinung  als  Omen 
273  f.  276  ff.  283. 

Stier  258.  262.  505. 

Stierkult  494. 

Stieropfer  500. 

Stoa  450.  460  ff. 

Stoisches    in    orphischen 
Hymnen  87. 

CTOixeiov  224  f. 

CTOixeioOv  225. 

Strauß,  D.  F.  286. 

Sühnfeste,  römische  171,1. 

Sündenbewußtsein  479. 482. 

Symmachos  534. 

Sympathie  322. 

cuvdvTriiLia  79.  126. 

35 


546 


Register 


Tage,  unglückliche  196. 199. 

Talion  477. 

Tantalos  470. 

Tarentinus  senarius  99. 

Tcipixoc  44,2. 

Tarmoendas  9. 

Tdpxapa  29,4. 

TapTOpoOxoc  101.  103. 

Taube  40,7. 

Tauf riten  264.  268. 270. 488. 

Taurobolien  500.  506. 

TttOpoi  72. 

Technopägnien  11,8. 

TeXerai  479. 

Tetralogie  143  f. 

Teufelsbriefe  250  f. 

Thaies  453. 

Thargelia  338. 

theatmm  Marcelli  167  i. 

eeioc  övrip  518.  523. 
ävGpuüTTOc  520  ff. 

Theodoros  der  Gottesleug- 
ner 457. 

Theodosius  531  f.  534f. 

Theogonie,  orphische  74. 
81  f.  476. 

Theophilos,  Bischof  von 
Alexandreia  535  f. 

Geöc  üvjiicTOC  492. 

Therapeuten  492. 

Thespis  419. 

Thespiskarren  422. 

Thoth  6.  20.  27. 

Gcpri  8.  10. 

Threnos  403.  423  ff.  438. 

Thyrsosstab  341. 

Tierchöre  418. 

Tierdämonen  318. 

Tiere  im  Zauber  39  ff. 

—  weisende  319. 
Tierkult  483. 
Tiermaske  419  ff. 
Timoleon  278. 
Timotheos,  Perser  401. 
Timotheos  von  Athen  159. 

488.  1280  ff.  505. 

Tiridates  24,6.  252.  257. 
Titanen  71.  73 f.  83.  106. 

121  f.  182.  476. 
Tixavoc  73.  122. 
Tities  171.  173. 
Titus  Tatius  171.  174. 
Tod  315. 

—  als  Name  325,2. 
Todaustreiben    325,2.  327. 
Tonsur  486. 

Totenbeschwörung  517. 
Totenklage  422  ff. 
xpaTUJÖia  418  f. 
Tragödie,  aixia  enthaltend 

433  f. 


j  Tragödie,  Aristoteles' 
i     Theorie  415  f. 

—  Entstehung  41 4f f.  435ff. 

—  in  Ägypten  436f. 

—  in  Japan  414.  436. 

—  in  Indien  414.  436. 
I  —  und  Chorlyrik  416. 
j—  und  Dionysoskult  415ff. 

—  und  Dithyrambos  41 5f. 

'  -  und  Mysterien  428  ff. 439. 
'  -  und  Satyrspiel  416  ff. 
|-  und  Tänze,  primitive  432. 
!  -  und  Threnos  423  ff. 
!-  und  Wirkungen  432  f. 

xpciTOi  72.  418  ff. 

Traum  517. 
I  Traummotiv  404. 

Trilogie  143  f.  148. 
I  Tritopatores  90  f.  421. 
:  Trudenkopf  199. 
i  TOxai  18,8. 
i  Tyche  90.  458. 
'  Tychon  539. 

I  Typhon  20.  26.  103  ff.  484  f. 
I  Tucpujvoc  öcx^ov  36. 

i  Unsterblichkeitsglaube 
I       464  ff. 

I  Untergang  der  antiken  Re- 
!       ligion  449  ff.         [471  ff. 
i  Unteritalische  Orphik  91  ff. 
I  Unterwelt  93  ff.  470  ff. 
:  Unterweltsdarstellungen, 
I       unteritalische  100.  473. 

Unverwundbarkeit     234  ff. 

Usener  354  ff.  [247. 

I  Valentinian  534. 

I  Vegetarianer,  antike  163. 

j  Vespasian  heilt  Kranke  518. 

j  Vesta  170.  535. 

i  vexilla  349. 

!  Victoria  533  f. 

I  Virgo  caelestis  496.  510. 

i  Vision  319. 

I  Volkskunde  287  ff.  301  ff. 

—  und  Anthropologie  303ff. 
!  -  und  Ethnographie  303ff. 
I  -  und     Philologie    292  ff. 

302  ff. 
!  -  vergleichende  295.  309. 
I  Volksmedizin  291. 
j  Votivtafeln  204. 

I  Wahnsinn  53  f.  403.  503. 

i  Wandgemälde  aus  Ostia 
317.  344  ff. 

I  Wasser  im  Isiskult  487  f. 

1  Weisen  aus  dem  Morgen- 
land 272  ff. 


I  Weiss  197. 

Welt,  Glieder  Gottes  31  f. 
Weltuntergang  182  f. 
Widderfell  117  f.  122. 
Wiedergeburt  315. 468. 488. 
500.  506.  [178, 1. 

Wölfin,  Heroen  säugende 

-  römische  172.  176  ff. 
Wunder  518. 
Wundertäter  518.  520  ff. 

Xenokrates  474. 
Xenophanes  453  f.  461.  468. 

Y,  Symbol  derPythagoreer 
472.  484  f. 

Zagreus  476. 
Zahlenmystik  22. 
Zamolxis  10. 
Zauber    1  ff .    47,2.    196  ff. 

213ff.  217,1.  226f.  239. 

247.  320  ff.  51 3  ff. 
Zauberbücher  3  f.  513  ff. 

-  antike  241.  266. 

-  hessische  196  ff. 

-  Titel:  Albertus  Magnus 

198.  216.  239. 

-  Fausts    Höllen- 
zwang 201.  230. 

-  Feuriger    Drache 
198f. 

-  6.  und  7.  Buch 
Mosis  201. 

-  Romanusbüchlein 
189. 216.  220. 236  f. 

Zaubermittel  35  f.       [238f. 
Zauberpapyri  Iff.  201.213f. 

-  Ägyptisches  75 ff.   [513f. 

-  Christliches  18. 

-  Gnostisches  17  ff.  35. 

-  Jüdisches  20.  24. 

-  Orphisches  28  ff.  75. 

-  Quellen,  angebliche  3  ff. 

-  Sprachliches  17. 

-  Zeit  34  ff.  87. 
Zauberspruch    196ff.     309 

-  Allitteration  197.   [320  ff. 

-  Reim  197. 
Zauberworte    21  ff.    200  f. 

21 4f.  220.  247. 
Zenon  460.  462.         [528  f. 
Zeugung,  übernatürliche 
Zeus  'AiTO|Liuioc  493. 

-  Euangelios  194, 1. 

-  Labranios  495. 

-  Xaßpduvboc  495. 

-  Ndtioc  89. 

-  Panamaros  501. 
Zoroaster  8.  10.  254. 


Druck  von  B.  G.  Teubner  in  Dresden. 


Verlag  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig  und  Berlin. 


Eine  Mlthrasliturgie.  Erläutert  v.  Albrecht  Dieterich.  2.  Aufl.  besorgt  v. 
Richard  Wünsch.     Geh.  JC  6.—,  geb.  Ji.  7.— 

„Der  größte  und  unmittelbarBte  Gewinn,  den  aneh  der  außerhalb  der  geheiligten 
Schranken  der  Mysterienkunde  Stehende  von  dem  Buche  haben  wird,  ist  die  aus  demselben 
gewonnene  Möglichkeit,  einen  verständnisvollen  Blick  in  diese  ihm  sonst  verschlossene 
Welt  hinein  zu  werfen  .  .  .  Wir  scheiden  von  dem  hochinteressanten  Buch  mit  dem  auf- 
richtigsten Dank  ftlr  die  reiche  Belehrung  und  vielfache  Anregung,  die  es  uns  geboten 
hat,  und  empfehlen  seine  Lektüre  allen,  die  sich  mit  religionswissenschaftlichen  Studien 
befassen,  aufs  angelegentlichste."  (Wochensehrift  für  klassische  Philologie.) 

Mutter  Erde.    Ein  Versuch  über  Volksreligion  von  Albrecht  Dieterich. 
Geh.  JL  3.20,  geb.  JL  3.80. 

„. .  .Dies  in  Ktlnse  der  Inhalt  des  großzügigen  Buches,  das  natürlich  auch  nebenher 
eine  Menge  wertvoller  Hinweise  und  Andeutungen  gibt.  Aber  seine  Bedeutung  liegt  nicht 
in  den  einzelnen  Erkenntnissen,  die  es  gewinnt,  sondern  in  der  Anschauung,  von  der  es 
getragen  ist. ...  In  Dieterichs  letzten  Arbeiten  finden  wir  das  konsequente  Bestreben,  die 
alte  Volksreligion  selbst  wiederzugewinnen,  und  ^Mutter  Erde»  führt  gerade  zu  dem,  was 
wir  Mythologie  zu  nennen  pflegten,  zurück,  erfüllt  es  aber  mit  neuem  Inhalt  durch  be- 
sonnene Anwendung  der  vergleichenden  Methode,  gegen  die  in  dieser  Form  kaum  jemand 
etwas  einzuwenden  haben  wird."  (Deutsche  Literatarzeitnng.) 

Sommertag.     Von  Albrecht  Dieterich.    Mit  3  Abbildungen  im  Text 
und  auf  1  Tafel.     Geh.  JL\.— 

Von  dem  Kinderfest  des  Sommertages  ausgehend,  zeigt  der  Verfasser,  wie  das,  „was 
einst  in  deutlichen,  wenn  man  will,  rohen  Formen  als  heilige  Handlung  der  Beligion  des 
ganzen  Volkes  begangen  ward,  nun  zu  den  Kindern,  wenn  man  einmal  so  sagen  darf, 
herabgekommen,  ein  liebUches  Kinderfest  geworden  ist,  das  die  mächtigen  geheimnisvollen 
Zauberriten  der  Zeugung  und  Fruchtbarkeit  im  fröhlichen  Spiel  der  Kleinen  lieblich  ver- 
schleiernd bewahrt  hat".  Er  zeigt,  daß  nicht  nur  bei  unseren  germanischen  Vorfahren, 
sondern  auch  im  klassischen  Altertum  gleiche  Gebräuche  bestanden  haben,  und  zwar  be- 
sonders an  zwei  nach  sachkundigem  Urteil  „hinreißenden  Zauber«  auf  den  Betrachter 
ausübenden  Bildern  aus  Ostia,  die  einen  ganz  ähnlichen  Aufzug  von  Kindern  darstellen, 
wie  ihn  unser  „Sommertag"  heute  bietet. 

Vorträge  nnd  Aufsätze.     Von  Hermann  Usener.     Mit  einem  Bilde 
üseners.     Geh.  JL  h. — ,  geb.  JL  ^. — 

Aus  den  noch  nicht  veröffentlichten  kleineren  Schriften  Useners  ist  hier  eine 
Auswahl  von  Vorträgen  und  Aufsätzen  zusammengesetzt,  die  für  einen  weiten  Leserkreis 
bestimmt  sind.  Sie  sollen  „denen,  die  für  geschichtUche  Wissenschaft  Verständnis  und 
TeUnahme  haben,  insbesondere  aber  jungen  Philologen  Anregung  und  Erhebung  bringen 
und  ihnen  ein  Bild  geben  von  der  Höhe  und  Weite  der  wissenschaftlichen  Ziele  dieses 
großen  dahingegangenen  Meisters  und  dieser  Philologie«.  Den  Inhalt  bilden  die  Abhand- 
lungen: Phüologie  und  Geschichtswissenschaft,  Mythologie,  Organisation  der  wissenschaft- 
lichen Arbeit,  über  vergleichende  Sitten-  und  Bechtsgeschichte,  Geburt  und  Kindheit 
Christi;  Pelagia,  die  Perle  (aus  der  Geschichte  eines  Bildes).  Als  Anhang  beigefügt  ist 
die  Novelle  „Die  Flucht  vor  dem  Weibe",  die  als  Bearbeitung  einer  altchristlichen 
Legende  sich  ungezwungen  anschließt. 

„Daß  Albrecht  Dieterich,  der  U.  persönlich  wie  wissenschaftlich  besonders  »a>f find 
in  der  vorüegenden  schönen  Sammlung  einem  Plane  von  U.  selbst  folgend  zunächst  die 
für  einen  weiteren  Leserkreis  geeigneten  Stücke  vereinigt  hat,  ist  um  «»."»f  ^  ^^^«»^^f^^''' 
als  in  ihnen  die  Sonderart  des  Menschen  und  des  Gelehrten  in  harmonischer  Vereinigung 
S^beSS^al"'  """"^  ''"  Ferneratehenden  einen  Begriff  YLU^erTrifctTz^n'^a^lilalt.) 

Der  heilige  Tychon.    (Sonderbare  Heilige.    Texte  und  Untersuchungen  I.) 
Von  Hermann  üsener.    Geh.  JL  h.—,  geb.  JC  ^.— 

Auf  Grund  der  zum  TeU  bisher  unveröffentlichten  Texte  von  zwei  heU«ni8chen 
Göttern,  die  man  nicht  im  christlichen  Himmel  «"'"^en  soUte  von  Priapos  und  Aphro 
dite,  wird  gezeigt,  daß  sie  tatsächUch  von  der  «^nstlichen  Kirche  übernommon^nd  z^^^ 
Heiligen  umgebUdet  worden  sind.  Die  Untersuchung  über  das  leider  ««>^^  ^^^f«^^ 
haltene  Leben  des  heiligen  Tychon  ist  verknüpft  mit  sprachlichen,  rhythmischen  una 
literarhistorischen  Erörterungen.  /a„i^i„o«^Voif  nnrl 

„Die  großartigen   Eigenschaften  Useners,  «eine  tiefgründige  Geehrs^^^^^^ 
glänzende  Kombinationsgabe,  seine  vorbUdUche  Sauberkeit  und  Exaktheit  in  der  philo 
logischen  Technik  treten  auch  in  diesem  P°«*^^°^«^ J^^^^^^  p^^^j^^^^^^  Wochenschrift.) 


Dieterich,  Kleine  Schriften. 


Verlag  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig  und  Berlin. 


Foimandres.  Studien  zur  griechisch -ägyptischen  und  frühchristlichen 
Literatur.   Yon  Richard  Beitzenstein.    Geh.  JL  12.—,  geb.  M.\h.— 

Das  Buch  ist  bestimmt,  die  religiösen  Neubildungen,  welche  das  Eindringen  des 
Griechentums  im  Orient  hervorrief,  auf  einem  engen  Gebiet  zu  verfolgen.  Es  nimmt  zur 
Grundlage  die  von  der  Theologie  wie  Philologie  gleichmäßig  vernachlässigten  Hermetischen 
Schriften  und  sucht  zunächst  deren  Grundcharakter,  Zusammenhänge  mit  den  Zauber- 
papyri  und  Verhältnis  zur  altägyptischen  Keligiqn  zu  bestimmen.  Es  ergibt  sich,  daß 
mindestens  seit  Beginn  unserer  Zeitrechnung  in  Ägypten  eine  Fülle  kleinerer  Gemeinden 
bestehen,  deren  Gründer  nationale  Traditionen,  uralte  Anschauungen,  die  zum  Teil  nur 
noch  im  Zauber  und  Volksglauben  fortleben,  mit  neuen  Gedanken,  wie  den  Grundlehren 
der  astrologischen  Beligion  oder  babylonischen  bzw.  persischen  Mythen,  verbinden  und 
ihr  System  in  die  Formeln  und  Begriffe  der  griechischen  Philosophie  kleiden. 

Die  Wirkung  dieser  weit  über  Ägypten  hinaus  verbreiteten  hellenistischen 
Literatur  von  Visionserzählungen,  Predigten  und  Lehrschriften  zeigt  sich  einerseits  in 
dem  Judentum,  und  zwar  hier  etwa  von  neutestamentlicher  Zelt  bis  ins  Mittelalter 
hinein,  andererseits  in  der  frühchristlichen  Literatur.  Aber  zahlreich  scheinen  die  Ent- 
lehnungen einzelner  literarischer  Typen,  Bilder,  Begriffe  und  Formeln,  z.  B.  in  dem 
Hirten  des  Hermas,  dem  Martyrium  Petri,  den  Logia  Jesu,  aber  schwächer  auch  schon 
in  einzelnen  Teilen  der  Apokalypse,  des  vierten  Evangeliums  und  der  paulinischen  Briefe. 
Die  Kenntnis  dieser  hellenistischen  Propheten  läßt  uns  ferner  Persönlichkeiten  wie  Philo 
in  schärferem  Lichte  erscheinen  und  verhilft  vielleicht  zu  einer  genaueren  Kenntnis  der 
Geschichte  des  Piatonismus  im  Orient. 

Hellenistisclie  Wundererzählungen.    Yon  Richard  Keitzenstein.   Geh. 

JC.  h.—^  geb.  JC  7.— 

Das  Buch  soll  nicht  eine  erschöpfende  Aufzählung  der  hellenistischen  Wunder- 
erzählungen  bieten,  sondern  zunächst  ihren  literarischen  Charakter,  ihre  Technik  und  die 
zugrunde  liegenden  ästhetischen  Theorien  an  ausgewählten  Beispielen  erläutern  und  die  phan- 
tastische Erzählung  durch  die  verschiedenen  Literaturzweige  (Satire,  philosophische  Memora- 
bilien  usw.)  verfolgen.  Das  Ziel  war  dabei  eine  möglichst  scharfe  Scheidung  der  verschie- 
denen Arten  hellenistischer  Erzählung  und  besonders  die  Sonderung  der  "Wundererzählung 
von  dem  Koman.  Der  kürzere,  zweite  Teil  ist  dieser  Literatur  allein  gewidmet  und  sucht 
an  zwei  den  Thomas- Akten  entlehnten  Beispielen  die  Stärke  der  literarischen  Abhängigkeit 
der  frühchristlichen  von  den  gleichzeitigen  heidnischen  Erzählungen  zu  erweisen  und 
zugleich  aus  dieser  volkstümlichen  Literatur  Schlüsse  auf  die  Anschauungen  breiter 
heidenchristlicher  Kreise  zu  ziehen. 

Die  hellenistischen  Mysterienreligionen,  ihre  Grundgedanken  und 
Wirkungen.    Von  Kichard Beitzenstein.    Geh.  JL^.—^  geb.  Ji  4.80. 

Das  Buch  möchte  eine  Ergänzung  zu  A.  Dieterichs  „Mithrasliturgie"  bieten.  Aus- 
gehend von  der  Tatsache,  daß  Paulus  die  Scheidung  der  Menschen  in  Pneumatiker  und 
Psychiker  den  hellenistischen  Mysterienreligionen  entnommen  hat,  andrerseits  der  Beob- 
achtung, daß  wir  die  theologischen  Abschnitte  des  XI.  Buches  der  Metamorphosen  des 
Apuleius  nur  ins  Griechische  zurück  zu  übertragen  brauchen,  um  die  Grundbegriffe  und 
technischen  Worte  auch  zahlreicher  anderer  Mysterien  in  ihrem  ursprünglichen  Zusammen- 
hang wiederzufinden,  hebt  es  einerseits  die  GrundvorsteUung  schärfer  hervor,  aus  der  die 
dort  erklärten  Kulturgebräuche  und  Büder  hervorwachsen,  andererseits  schildert  es  die 
Verinnerlichung  der  Mysterien  von  der  rohen  Zauberhandlujig  zur  schriftlichen  Darstellung 
rein  seelischer  Erlebnisse.  Sodann  weist  der  Verfasser  die  Bedeutung  des  hellenistischen, 
der  Mysterienfrömmigkeit  entlehnten  Elementes  neben  dem  jüdischen  in  der  Theologie 
des  Apostels  Paulus  nach  und  zeigt  an  einzelnen  Beispielen,  was  die  Wortgeschichte  zum  Ver- 
ständnis des  Werdeganges  des  Apostels  beitragen  kann.  Endlich  bietet  er  noch  philologische 
Beiträge  zur  Beantwortung  der  Frage  nach  dem  Wesen  des  christlichen  Gnostizismus. 

Priester  und  Tempel  im  hellenistischen  Ägypten.  Ein  Beitrag  zur 
Kulturgeschichte  des  Hellenismus  von  Walter  Otto.  2  Bände.  Geh. 
je  JC.  14.—,  geb.  je  .^17.— 

Das  Buch  will  vor  allem  von  der  Organisation  der  Priesterschaft,  von  der  Laufbahn 
der  einzelnen  Priester,  ihrer  sozialen  und  staatsrechtlichen  Stellung,  sowie  von  den  inneren 
Zuständen  der  Tempel,  ihrem  Besitz,  ihren  Einnahmen  und  Ausgaben  und  ihrer  Verwaltung 
ein  anschauliches  Büd  entwerfen  und  im  Anschluß  hieran  das  Verhältnis  von  Staat  und 
Kirche  im  hellenistischen  Ägypten  untersuchen.  Dabei  wird  versucht,  soweit  als  möglich  die 
Entwicklung  der  einzelnen  behandelten  Institutionen  zu  zeichnen  und  Feststellungen  über 
ihren  ägyptischen,  griechischen  oder  hellenistischen  Ursprung  zu  treffen.  Außer  der  altägyp- 
tischen Kirche  sind  auch  die  anderen  damals  in  Ägypten  bestehenden  heidnischen  Kult- 
gemeinschaften berücksichtigt  worden.  Die  Darstellung  baut  sich  vor  allem  auf  den  uns 
durch  die  griechischen  Papyri,  Inschriften  und  Ostraka  gelieferten  reichhaltigen  Angaben  auf. 


Verlag  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig  und  Berlin. 


JC  12.— 


Griechische   Feste   von    religiöser  Bedeutung   mit  Ausschluß   der 
attischen.     Untersucht   von   Martin   P.   Nilsson.      Geh. 
geb.  JC  Ib. — 

„Die  Untersuchung  der  griecUsohen  Feste  durch  N.  ist  also  ein  höchst  verdienst- 
liches Unternehmen  auch  in  ihrer  Beschränkung  auf  die  nicht  attischen  Feste.  Er  be- 
herrscht den  einschlägigen  Stoff  und  die  zugehörige  Literatur  in  hervorragender  "Weise: 
er  dient  uns  mit  Parallelen  aus  dem  Kultus  der  Inder,  Ostjaken,  Bussen,  Semiten  u.  a. 
und  ist  zu  Hause  in  den  grundlegenden  Werken  von  FameU,  Frazer,  Harrison,  Mann- 
hardt,  Usener  usw."  (Berliner  Philologische  Wochenschrift.) 

Opferbräuche  der  Griechen.  Von  Paul  Stengel.  Mit  Abbildungen. 
Geh.  .iC  6.—,  geb.  JC  7.— 

•  In  diesem  Bande  hat  Paul  Stengel  auf  vielfachen  Wiinsch  seine  bisher  in  ver- 
schiedenen Zeitschriften  verstreuten  Aufsätze  zum  griechischen  Sakralwesen  in  erweiterter 
und  vielfach  umgestalteter  Form  gesammelt.  Neben  Untersuchungen  über  einzelne  Kult- 
begriffe wie  -d^vriXai  und  -d-vkinuatay  ^vtiv  und  ■d-vta&ai,  ovlai,  ^ägviip,  xaTaQ/fo^at 
iväp/eod^ai,  inäfj^aad^ai  ätnäfaatv  u.  ä.  werden  allgemeine  Kultfragen,  wie  „die  Speiseopfer 
bei  Homer",  „chthonischer  und  Totenkult",  „der  Kult  der  Winde",  „Opferspenden",  „Wild- 
und  Fischopfer",  „Buphonien"  u.  a.  behandelt.  Von  der  Erkenntnis  ausgehend,  daß  die 
sicheren  Tatsachen,  die  der  zäh  sich  erhaltende  Kultus  uns  überliefert,  der  zuverlässigste 
Führer  zum  Verständnis  antiker  Religiosität  sind,  darf  der  Verfasser  wohl  den  Anspruch 
erheben,  unser  Wissen  nicht  nur  in  Einzelheiten  berichtigt  und  geklärt,  sondern  auch 
tiefere  und  umfassendere  Zusammenhänge  in  helleres  Licht  gerückt  und  so  einen  beachtens- 
werten Beitrag  zur  Geschichte  der  antiken  Beligion  geliefert  zu  haben. 

Abhandlungen  zur  römischen  Beligion.  Von  Alfred  von  Domaszewski. 

Mit  26  Abbildungen  und  1  Tafel.    Geh.  J^.  6.~,  geb.  JCl.— 

In  diesem,  dem  Andenken  A.  Dieterichs  gewidmeten  Buche  vereinigt  D.  seine  weit 
verstreuten  und  deshalb  bisher  schwer  zugänglichen  Abhandlungen  zur  römischen  Beligion, 
die  mit  Erfolg  manchen  bisher  dunklen  Punkt  unserer  Kenntnis  der  Entwicklungsgeschichte 
der  römischen  Religion,  wie  ihrer  Wirkungen  auf  die  Geschichte  und  die  staatlichen  Insti- 
tutionen aufhellen.  So  behandelt  D.,  indem  er  methodisch  neben  den  Berichten  der  Schrift- 
steller Denkmäler  aller  Art,  wie  Bildwerke,  Inschriften,  Münzen  usw.  als  unmittelbare 
Zeugnisse  religiöser  Vorstellungen  verwendet ,  u.  a. :  „Die  TierbUder  der  Signa",  „Die 
politische  Bedeutung  des  Traiansbogens  in  Benevent",  „Silvanus  auf  lateinischen  In- 
schriften", „Die  Familie  des  Augustus  auf  der  Ära  Pacis",  „Die  Schutzgötter  von  Mainz", 
„Die  Festzyklen  des  altrömischen  Kalenders",  „Die  politische  Bedeutung  der  Religion  von 
Emesa",  „Die  Triumphstraße  auf  dem  Marsfelde".  So  verschiedenartig  der  Inhalt  dieser 
Abhandlungen  ist,  so  dxirchzieht  sie  alle  als  einigendes  Band  der  Gedanke,  daß  die  schöpfe- 
rischen Ideen,  welche  die  älteste  Religion  der  Römer  erzeugt  haben,  im  Laufe  vieler  Jahr- 
hunderte immer  wieder  tätig  waren,  neue  Formen  zu  entwickeln,  und  daß  somit  die 
Gebilde,  wie  sie  unter  dem  Einfluß  fremder  Kulte  in  so  bunter  Fülle  entstanden,  die 
Möglichkeit  bieten,  die  Entstehung  der  ältesten  Formen  zu  erkennen. 

Die  orientalischen  Eeligionen  im  römischen  Heidentum.  Von  Franz 
Cumont.  Autorisierte  deutsche  Ausgabe  von  Georg  Gehrich. 
Geh.  JC  5.—,  geb.  JC  &.— 

„Das  Werk  eines  Meisters  über  eine  Reihe  brennender  Fragen  zu  lesen,  ist  immer 
eine  Freude.     Die  Freude  wird  dem  zuteil,  der  sich  in  die  vorliegende  Schrift  Cumonts 

vertieft Bei   Cumonts  religionsgeschichtlicher  Darstellung  hat  man  das  angenehme 

Bewußtsein,  eine  Stoffauswahl  zu  erhalten,  die  nicht  im  Dienste  einer  bestimmten  religions- 
geschichtlichen  Qesamtanschauung  steht.  Gerade  darum  ist  Cumont  ein  guter  Wegweiser 
füt  den,  der  das  Verhältnis  des  Urchristentums  zu  seiner  reUgiösen  Umwelt  verstehen 
will «  (Theolog.  Literaturblatt.) 

Mysterien  des  M  ithra.  Ein  Beitrag  zur  Religionsgeschichte  der  römischen 
Kaiserzeit.  Von  Franz  Cumont.  Autorisierte  deutsche  Übersetzung 
von  Georg  Gehrich.  2.  Auflage.  Mit  9  Abbildungen  im  Text  und 
auf  2  Tafeln,  sowie  1  Karte.     Geh.  ca.  .ä:  5.— ,  geb.  ca.  JCb.&O. 

„Durch  das  ganze  Buch  geht  derselbe  streng  kritische,  sich  selbst  bescheidende, 
historische  Zug,  der  dem  großen  Werke  Cumonts  die  verdiente  ^^^l'^^'''^']'°-f^^'',^j^^^ 
eingetragen  hat.  Wie  dieses  sicherlich  die  Einzelforschung  noch  1*°««  <^*^®^*tr^Jj" 
Feststellung  mithrischer  Elemente  in  nicht  ausgesprochen  mithrischen  ^^^^l"") ^^l^^ 
wird,  so  wird  auch  dieser  gelungene  Auszug  in  dem  ihm  bestimmten  ^«^*«5«f^  ^/X^,".^; 


Verlag  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig  und  Berlin. 


Zwei  griechische  Apologeten  von  Johannes  Gefifcken.  Geh.  JC  10.—, 
geb.  c/^  11.— 

Das  Buch  gibt  zunächst  eine  kurze  Geschichte  der  Anfänge  der  Apologetik  bis  auf 
Aristides  (Streit  der  Philosophen  über  den  Polytheismus,  über  Opfer  und  Götterbilder,  An- 
schauungen der  Jüdischen  Hellenisten,  apologetische  Kämpfe  gegen  die  Griechen),  dann 
folgt  eine  Ausgabe  des  Aristides  und  der  dazu  gehörige  Kommentar,  eine  kurze  Würdi- 
gung Justins  und  Tatians,  dann  wieder  eine  Ausgabe  des  Athenagoras  mit  Kommentar, 
zum  Schlüsse  wird  noch  die  weitere  Entwicklung  der  Apologetik  und  der  literarische 
Kampf  zwischen  Christen  und  Heiden  bis  zum  6-  Jahrhundert  geschildert.  Neben  der  Er- 
kenntnis der  einzelnen  Streitmittel  und  Motire  wurde  besonders  versucht,  das  Bild  der 
hervorragenden  Kämpfer  in  beiden  Lagern  plastisch  herauszuarbeiten.  Das  Buch  kann 
somit  als  eine  Art  Geschichte  der  altchristlichen  Apologetik  dienen. 

Die  Beligionsphilosophie  Kaiser  Julians  In  seinen  Reden  auf  König 
Helios  und  die  Göttermulter.  Mit  einer  Übersetzung  der  beiden 
Reden.    Von  Georg  Mau.     Geh.  Jf  6 .  — ,  geb.  JC  "l  .— 

„Diese  Beden  Julians,  die  wie  kaum  eine  andere  Schrift  die  Yormischung  der  reli- 
giösen Bestrebungen  der  Zeit,  insbesondere  der  Helios  -  Mithras  -  Beligion,  mit  der  neu- 
platonischen Philosophie  kennen  lehren,  bieten  doch  dem  Verständnis  außerordentliche 
Schwierigkeiten.  Eine  genaue  Kenntnis  der  Terminologie  des  Neuplatonismus  ist  dafür 
unerläßlich.  Und  nach  dieser  Seite  liegt  auch  der  Hauptwert  der  hier  gebotenen  Er- 
klärungen. Eine  umfassende  Belesenheit  in  der  neuplatonischen  Literatur  setzt  den  Ver- 
fasser in  den  Stand,  die  Geschichte  der  einzelnen  Begriffe  innerhalb  dieser  Schule,  oft 
mit  Bückblicken  bis  auf  Aristoteles  und  Plato,  zu  verfolgen.  Damit  bietet  das  Buch 
eigentlich  mehr,  als  der  Titel  anzudeuten  scheint.  Keiner,  der  sich  mit  dem  Neuplatonis- 
mus beschäftigt,  wird  an  den  hier  gegebenen  Untersuchungen  über  einzelne  Begriffe  oder 
philosophische  Lehren  vorübergehen  können.**  (Kantstudien.) 

Mystik  in  Heidentum  und  Gliristentum.   Von  Edyard  Lehmann.   Vom 

Verfasser  durchgesehene   Übersetzung   von   Anna  Grundtvig   geb. 
Quittenbaum.     Geh.  Ml. — ,  geb.  JC  l.'lh 

Verfolgt  in  glänzender  Darstellung  die  Erscheinungen  der  Mystik,  „dieses  Mensch- 
heitweines, der  da  erquickt,  aber  auch  berauscht  und  erniedrigt",  von  der  primitivsten 
Kulturstufe  durch  die  orientalischen  Beligionen  bis  zur  griechischen  Mystik,  erörtert  dann 
eingehend  die  mystischen  Phänomene  in  den  griechischen  Kirchen  und  versucht  die  Mystik 
in  der  griechischen  wie  in  der  römischen  Kirche,  bei  Luther  und  den  Quietisten,  wie  ihren 
Einfluß  auf  die  Bomantiker  zu  schildern. 

Geburt,  Hochzeit  und  Tod.     Beiträge  zur  vergleichenden  Volkskunde 
von  Ernst  Samter.     Mit  7  Abbildungen  im  Text  und  auf  3  Tafeln. 
Geh.  J^  6.— ,  geb.  J^  7.50. 

Das  Buch,  ein  Beitrag  zur  „vergleichenden  Volkskunde"  im  Sinne  von  A.  Diete- 
rich, behandelt  die  verschiedenartigen  Bräuche  und  Riten,  die  sich  bei  allen  Völkern 
primitiver  Kulturstufen  vor  allem  an  die  wichtigsten  Ereignisse  des  Lebens,  an  Geburt, 
Hochzeit  und  Tod  anknüpfen,  und  sucht  die  Bedeutung  dieser  Biten  durch  genauere 
Untersuchungen  und  Vergleichungen  im  einzelnen  zu  ermitteln.  Dabei  werden  neben 
modernen  Volksbräuchen  und  den  Bräuchen  der  „Naturvölker"  insbesondere  zahlreiche 
Biten  der  Griechen  und  Bömer  behandelt,  so  daß  das  Buch  neben  seinem  allgemein  volks- 
kundlich interessanten  Inhalt  mancherlei  beachtenswerte  Beiträge  zum  Verständnis  der 
antiken  Beligion  liefert. 

Himmelsbild  und  Weltanschauung  im  Wandel  der  Zeiten.  Von 
Troels-Lund.  Autorisierte,  vom  Verfasser  durchgesehene  Übersetzung 
von  Leo  Bloch.     3.  Auflage.     Geb.  JC  ö. — 

Das  Neue  in  der  Ansicht  des  Verfassers  und  das,  was  dem  Buche  vor  allem  seinen 
hohen  Wert  verleiht,  kommt  in  dem  genialen  Versuch  zum  Ausdruck,  den  treibenden  Ge- 
danken in  der  bisherigen  Entwicklung  des  menschlichen  Geistes  zu  zeigen.  Die  Fragen, 
welche  nach  Troels-Lund  immer  von  dem  Menschengeschlecht  zu  beantworten  versucht 
worden  sind,  sind  dieselben,  welche  das  Dasein  immer  aufs  neue  stellt:  Was  sind  Licht 
und  Dunkel,  Tag  und  Nacht,  und  wie  weit  ist's  von  der  Erde  bis  zum  Himmel  ?  —  In- 
dem uns  der  Verfasser  die  ganze  Kulturentwicklung  als  entsprossen  aus  den  auf  jene 
Fragen  gegebenen  Antworten  zeigt,  stellt  er  nicht  nur  vieles  von  dem  bisher  Bekannten 
in  ungewohntes  und  eigentümliches  Licht,  sondern  eröffnet  auch  ganz  neue  und  über- 
raschende Aussichten.  Sein  Nachweis  der  Übereinstimmung  zwischen  den  natürlichen 
Verhältnissen  der  Länder  und  der  dort  entsprossenen  Beligion,  zwischen  der  Lebensansicht 
eines  Buddha,  eines  Jesus  von  Nazareth  und  der  sie  umgebenden  Natur  gehört  zu  dem 
Tiefsten  und  Schönsten,  was  je  darüber  gesagt  worden^ist. 


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Dieterich,  Albrecht 
Kleine  Schriften 


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