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Full text of "Kosmos"

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Kosmos. 


1 Zeitichrift 


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bel ich Wellauſchauung auf Grund der Enlwicklungslehre 


unter Mitwirkung 


von 


B. Carneri (Wien), Prof. Dr. O. Caspari (Heidelberg), Charles Darwin (Down), 
Prof. Dr. J. Delboeuf (Lüttich), Dr. A. Dodel-Port (Zürich), Dr. W. O. Focke (Bremen), 
Dr. Forſyth Major (Florenz), Prof. Dr. S. Günther (Ansbach), Prof. Dr. E. Haeckel (Jena), 
Prof. Dr. Th. v. Heldreich (Athen), Fr. v. Hellwald (Stuttgart), Dr. F. Hilgendorf (Berlin), 
f Prof. Dr. R. Hörnes (Graz), Prof. Dr. G. Jäger (Stuttgart), Sir John Lubbock (London), 
Prof. O. C. Marſh (New-⸗Haven), Prof.Dr. C. Mehlis (Dürkheim), Pr. Fritz Müller (Itajahy), 
Dr. Herm. Müller (Lippſtadt), Dr. C. du Prel (München), Prof. Dr. W. Preyer (Jena), 
Wo. Reichenau Mainz), Prof.Dr. Oskar Schmidt (Straßburg), Prof.Dr. Fritz Schultze (Dresden), 
Dr. G. Seidlitz (Königsberg), Herbert Spencer (London), Dr. H. Vaihinger (Straßburg), 

N Prof. Dr. Mor. Wagner (München), Dr. Wernich (Berlin), Dr. J. F. Weinland (Eßlingen), 
Prof. Dr. A. e (Freiburg), Prof. Dr. L. Wittmack (Berlin), L. Würtenberger (Karlsruhe), 
Prof. Dr. R. Zimmermann (Vien) 


und anderen namhaften Forſchern auf den Gebieten des Darwinismus 


herausgegeben 


* von 


Dr. Eruſt Krauſe. 


VII. Dam. 


Teipzig, 
Ernſt Günther's Verlag 
(Karl Alberts). 


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Verzeichnis der Mitarbeiter 
am ſiebenten Bande des Kosmos. 


2 


Dr. O. Böttger (210— 213), Prof. Dr. O. Caspari (79—84, 84—87, 295— 303), 
Dr. O. Dammer (100 —112), Charles Darwin (72 —-74, 7778), Prof. 
J. Delboeuf (42 —68, 113-136), Dr. A. Dodel⸗Port (11 — 22), Leop. Einſtein 
(456 — 463), Prof. Dr. S. Günther (320 —326, 404 — 405, 406 —407, 486-487), 
Prof. Dr. E. Haeckel (310—317), Prof. Dr. R. Hoernes (69 — 72), Th. H. Huxley 
(249—256), Dr. E. Krauſe (191—203, 257—275, 334—339, 419-440), 
Dr. H. Kühne (184 — 190), Dr. Fritz Müller (148 — 152), Dr. Herm. Müller 
(219-235, 236—238, 276—287, 306 307, 350— 365, 441455), W. von 
Reichenau (217 —218, 318—319, 387-390), Prof. A. H. Sayce (366-378), 
Prof. Dr. Osk. Schmidt (329 — 333), H. Schneider (288 — 294), Prof. Dr. 
Fritz Schultze (23 — 41), Theod. Buy (409 —418), Prof. Dr. Mor. Wagner 
(110, 89—99, 169183), J. E. Zilliken (238 — 244). 


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Inhalt des fiebenten Bandes. 


— 


Über die Entſtehung der Arten durch M Von Prof. Dr. Moritz 
Wag nen een 

Das amphibiſche Verhalten 5 Prothallien von beet Von Dr. A. 
Dodel-Port. Mit Illuſtrationen . 

Die Sprache des Kindes. Von Prof. Dr. Fritz Eher. 


Der Schlaf und die Träume. Von Prof. J. Delboeuf . . 42. 


Das Syſtem der chemiſchen Elemente. Von Dr. O. Dammer UNE 
Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. Von Dr. H. 
Kühne. nennen 
Die Baſtard-Theorie. Von Dr. Ernſt Krauſe f a 
Zur bevorjteherden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie Von T. H. 


Huxley. 5 A 
Skizzen aus der Sa picgsgeſchichte 555 Entwickungsgeſchichte Wu Dr. 
Ernſt Rraufe : . N AT ae 


Die Bedeutung der Alpenblumen für die Weener Von Dr. H. Müller 

Beobachtungen an einem Affen. Von H. Schneider 

Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne boo Von 
Prof. Dr. O. Caspari. 

Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein. Von Prof, Dr. 
Oskar Schmidt. 

Über die Entwicklung der Blümenfarben. Von Dr. Fenn Müller 

Die Geſchichte der Schrift. Von Prof. A. H. Sadce . SE 

Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. Von Th. Buy. 

Die Variabilität der Alpenblumen. Von Dr. Hermann Müller . 

Erfaſſen und Begreifen. Eine ſprachphiloſophiſche Studie von Leopold Einſtein 


VI Inhalt. 


„Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Die Unvollſtändigkeit der paläontologiſchen Überlieferung. Von Prof. R. 
Hoernes N 

Die geſchlechtlichen Fürbungen gewisser Schmetierle Von Ch. Darwin 

Die Glieder von Sauranodon. Mit Illuſtrationen 

Fruchtbarkeit von Baſtarden zwiſchen der gemeinen und chief Gaus. 
Von Ch. Darwin 

Künſtliche Diamanten 

Die Wirkungen des he Spuntenlichben auf Die Pflanzen 95 
Polarländer 

Über die Phäodarien. C 

Die Putzfüße der Kruſter. Von Dr. Fritz Müller. Mit Illuſtrationen . 

Ein Analogon des Beutelknochens der höheren Säuger. 

Die Experimente des Magnetiſeurs Hanſen vom anden 
Standpunkte 

Die egyptiſchen Mumien und Baubgemäte 

Eine fruchtbare Mauleſelin. 

Archaeopteryx lithographica . 

Die antidarwiniſtiſchen Vorträge in bel 1 vn . t Beologkithen 
Reichsanſtalt in Wien 

Über ein neues, äußerſtes Glied in der Reihe be locken Rohfennien . 

Konſtante Skalaridenbildung des Gehäuſes bei einer Landſchnecke. Von Dr. 
O. Böttger 

Die Stegoſaurier. Mit Illustrationen 

Pliozän-Hirſche im obern Arnothale . ee 

Eine Pantoffeln ſäugende Hündin. Von W. v. 1 

Der große Komet von 1880 . 

Die aufrechtſtehenden Baumſtämme der Steinkohlenſchic ben 5 

Ahnlichkeit von Blumen und Früchten. Von Dr. Hermann Müller . 

Über die ſogenannte Jungferngeburt (Parthenogenesis) . 3 

Die Organiſation und Klaſſifikation der höheren Meduſen— Alraspeden. Von 
Prof. Dr. E. Haeckel 

Das Bruſtbein der Dinoſaurier 8 

Ein fünfzehiger Raubvogel. Von W. v. Reichen 

Die vorhiſtoriſche Zeit in Egypten 

George Darwins Rechnungen über die ſäkularen Anderungen der Mond. 
und Planetenbewegungen durch den Einfluß der Gezeiten . 

Über die Flora iſolirter Inſeln im allgemeinen und der oſtfrieſiſchen im 
beſondern 


Seite 


Inhalt. 


Die Duftorgane des männlichen Liguſterſchwärmers. Von W. v. Reichenau. 
Mit Illuſtrationen 

Über die Variabilität der Milchdrüſen bei ben Schafen 5 ern inen 

Zur hiſtoriſchen Entwicklung des Farbenſinns . SET: ENTER 

Die Erfindung des Pfluges 

Die Rolle des Meeeres bei dem 5 Abkühlungsprozeß Ber Erde 

Über den Einfluß der Bewegung und andrer phyſikaliſcher 1 des 
Waſſers auf die Formen der oe Fire 

Eine Süßwaſſermeduſe ER 5 

Das Leuchten der Johanniswürmchen A 

Anatomiſche Übereinſtimmung im Skelett foſſiler Reptilien mit 580 
placentaloſer Säugetiere . NT 

Die Witwentötung und andere era re mane le 5 Fidschi Inſeln 

Baptanodon 


Litteratur und Kritik. 


Hellwald, Fr. v., Der vorgeſchichtliche Menſch. (Von O. Caspari). 

Kohn, A. und Mehlis, Dr. C., Materialien zur Vorgeſchichte des . 
im öſtlichen Europa. II. Teil. (Von O. Caspari). 

Pagenſtecher, A, Allgemeine Zoologie. I. — III. Teil. N 

Lockyer, J. Norman, Die Beobachtung der Sterne ſonſt und jetzt. 

Hanſtein, Dr. v., Das Protoplasma als Träger der pflanzlichen und tieri— 
ſchen Lebensverrichtungen 

Engler, Dr. A., Verſuch einer Entwicklungsgeſchichte der tie 
Florengebiete der nördlichen Hemiſphäre. 5 > 

Chriſt, H., Das Pflanzenleben der Schweiz . 

Der zoologiſche Garten. Zeitſchrift ꝛc.. 

Mehlis, Dr. C., Bilder aus Deutſchlands Vorzeit 

Frerichs, Dr. H., Über Naturerkenntnis 

Schneider, G. H., Herrn Prof. Dr. Jägers ec Entdeckung der 
Seele : 

Gaſton Bonniers 1 Biderleguing der en blauer 
(Von Dr. H. Müller). 5 

Darwin, Ch., und Krauſe, E., Erasmus Wein 115 fein Stellung in 
der Geſchichte der Deszendenztheorie. (Von Dr. H. Müller) 

Morſelli, II Suicidio, Saggio di. Statistica morale e comparata. (Von 
J. E. Zilliken). s 

Bergel, Dr. J., Studien über die daatarwiffenſchaftliche Renntniffe ver 
Talmudiſten FFC 


VIII ö Inhalt. 


Behrens, Dr. W. J., Methodiſches, Lehrbuch der genen Botanik. 
Sachs, K., Aus den Llanos. 58 ME. © 
Lauth, Dr. J. F., Aus Egyptens Vorzelt m 

Dodel-Port, Dr. A., Illuſtrirtes Pflanzenleben. 


Hauck, Prof. Dr. Guido, Die ſubjektive Perſpektive und bie G9 


Kurvaturen des doriſchen Stils. (Von Prof. Dr. S. Günther). 
Magnus, Dr. H., Unterſuchungen über den Farbenſinn der Naturvölker . 
Manitius, Dr. J. A., Die Sprachenwelt in ihrem e en 

Entwicklungsgange zur Humanität A 5 
Schultze, Dr. M., Kinnorlieder . 

Wallace, Alfr. R., Die Tropenwelt 

Roskoff, Das Religionsweſen der roheſten Naturvölker 

Caneſtrini, Giov, La Teoria di Darwin Tape 

Andersſon, Aur., Die Theorie vom Maſſendruck aus de ee (Bon 
Prof. Dr. S. Günther) 

Ecker, Al., Lorenz Oken. Eine biographiſche Stizze 

Bilharz, Dr. Alf., Der heliozentriſche Standpunkt der Weltbetrachtung. 

(Von Prof. Dr. S. Günther) . 
Enzyklopädie der Naturwiſſenſchaften. N a 
Schultze, Prof. Dr. Fr., 95 e des Kindes 5 
Taſchenberg, Prof. Dr. E. L., Praktiſche Inſektenkunde . 

Meyers Deutſches Jahrbuch für die politiſche 5 85 und die Kultur⸗ 

fortſchritte der Gegenwart . Re . 
Reichenau, W. v., Die Neſter und Eier En Vögel 5 
Leclair, Dr. A. v., Der Realismus der modernen Rating (Lon 

Prof. Dr. S. Günther) f | 
Seboth, Graf und Petraſch, Die Albenpflazen t 


. 


Über die Eutſtehung der Arten durch Abſonderung. 


Von 


nter dem Titel „Die Dar— 
win'ſche Theorie und das 
Migrationsgeſetz der Or— 
J ganismen“ erſchien 1868 

eine kleine Schrift, welche 
den hochbedeutſamen Einfluß der Wan— 
derungen und iſolirten Kolonien auf die 
Bildung der Arten nachzuweiſen ver— 
ſuchte. Die vom Verfaſſer gezogenen 
Schlüſſe ſtützten ſich teilweiſe auf eigene 
Erfahrungen und Beobachtungen, welche 
meiſt an ausnehmend günſtigen und für 
die Frage der Artbildung höchſt lehr— 
reichen Lokalitäten angeſtellt wurden. 
Zum größeren Teil aber waren die der 
geographiſchen Verbreitung der Organis— 
men entnommenen Thatſachen dieſer 
Schrift bereits hinreichend bekannt, doch 
nach des Verfaſſers Anſicht von Darwin 
und den Anhängern ſeiner Lehre in un— 
genügender Weiſe beachtet, gedeutet und 
verwertet worden. Keine andere natur— 
wiſſenſchaftliche Disciplin ſcheint mir 


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5 Moritz Wagner. 


aber in Bezug auf die wirklichen 
Vorgänge bei dem Bildungsprozeß der 
Arten deutlichere Fingerzeige zu geben 
als die Chorologie der Organismen, d. h. 
die Lehre aller in das Gebiet der Tier— 
und Pflanzengeographie einſchlagenden 
Erſcheinungen. 

Wenn die genannte Schrift unter 


den Fachmännern mehr Widerſpruch als 


Zuſtimmung fand, ſo lag — ganz ab— 
geſehen von der Oppoſition, welcher jede 
neue Anſicht begegnet, die einen noch 
nicht genügend aufgeklärten Naturprozeß 
in einer von den herrſchenden Anſchau— 
ungen abweichenden Weiſe zu erklären 
verſucht — die Schuld wohl an einem 
Grundfehler der Schrift. Der Verfaſſer 
machte damals den falſchen Verſuch, die 
Migrationstheorie mit der Darwin'ſchen 
Zuchtwahllehre zu kombiniren, während 
doch beide Theorieen in einem Haupt— 
punkt, nämlich bezüglich der zwingenden 
mechaniſchen Urſache, durch welche jeder 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 


„ 


1 


2 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


neue Formenkreis ſich bilden muß, be— 
trächtlicher von einander abweichen, als 
es bei oberflächlicher Betrachtung er— 
ſcheint. 

Der ſcharfſinnige Zoologe Auguſt 
Weismann hatte dieſen Fehler auch 
gleich von Anfang an richtig erkannt, 
und ich bin ihm dafür aufrichtigen Dank 
ſchuldig. Zwar hat Weismann zugleich 
einen Verſuch gemacht, das Migrations— 
geſetz zu widerlegen, doch wohl nur 
wegen deſſen damaliger ungenügenden 
Begründung und mangelhaften Faſſung. 
Dieſer geiſtvolle Forſcher ging von einer 
falſchen Vorausſetzung aus, deren Irr— 
tum er ſeitdem ſelbſt erkannt zu haben 
ſcheint. 

Weismann's Hauptargument gegen 
die Migrationstheorie ſtützte ſich bekannt— 
lich auf die foſſilen Planorbiden in dem 
für die Abſtammungslehre ſo inſtruktiven 
und durch die Unterſuchungen Dr. Hilgen— 
dorf's und deſſen wiſſenſchaftlichen Streit 
mit Profeſſor Sandberger berühmt ge— 
wordenen Thal von Steinheim in Württem— 
berg, welches Weismann leider niemals 
ſelbſt unterſucht hat. Daß die dortigen 
geognoſtiſchen Verhältniſſe ebenſo wie 
die morphologiſchen Veränderungen der 
tertiären Planorbis multiformis bei un— 
befangener Prüfung zwar der Lamarck— 
Darwinſchen Descendenztheorie eine ſtarke 
Stütze bieten, aber ebenſo beſtimmt einer 
Entſtehung der Formen durch Zuchtwahl 
im Kampfe ums Daſein widerſprechen, 
dies glaube ich in den von mir 1877 pu— 
blizirten „Naturwiſſenſchaftlichen Streit— 
fragen“ genügend bewieſen zu haben.“) 
) Vgl. Kosmos Bd. II, S. 265 u. Bd. V, 
10 ff. 


05 


— 


Gegen meine Deutung der Verhält— 
niſſe des Steinheimer Thales und der 
Geſtaltveränderungen ſeiner für die Ent— 
wicklungstheorie jo hochwichtigen miocänen 
Planorbiden wurde von den Darwiniſten 
keine Einſprache erhoben. Selbſt Herr 
Georg Seidlitz machte bei der deut— 
ſchen Naturforſcherverſammlung zu Mün— 
chen 1877 dem Verfaſſer mündlich das 
Zugeſtändnis: daß er eine der Darwin— 
ſchen Zuchtlehre günſtige Deutung der 
Formveränderungen bei den Steinheimer 
Planorbiden nicht zu geben vermöge. 

Hätten ſcharfſinnige Naturforſcher wie 
Weismann, Haeckel, Nägeli, welche 
als eifrige Anhänger der Zuchtwahllehre 
die Migrationstheorie bekämpften, Ge— 
legenheit gehabt, als Beobachter und 
Sammler andere beſonders wichtige Län— 
der und Lokalitäten zu durchforſchen, wo 
an dem Vorkommen der lebenden en— 
demiſchen Arten die Formbildung als 
einfache Wirkung der räumlichen Ab— 
ſonderung mit überzeugender Klarheit 
ſich offenbart, ſie würden wahrſcheinlich 
gleichfalls eine von der Darwinſchen Se— 
lektionstheorie abweichende Auffaſſung des 
artbildenden Prozeſſes gewonnen haben. 

Solche höchſt inſtruktive Areale, welche 
in Mitteleuropa fehlen, zeigen uns ſämmt— 
liche ozeaniſche Archipele und mitunter 
ſelbſt die Inſelgruppen eines geſchloſſenen 
Meeres wie der griechiſche Archipel. Hier 
hat der erfahrene Malakologe Dr. Böttger 
auf jeder einzelnen Inſel eine eigentüm— 
liche Clauſilienform, alſo der Sonderungs— 
theorie günſtige ähnliche Fakta nachge— 
wieſen, wie ſie ſchon früher Gulick in noch 
weit großartigerer Weiſe an dem Vor— 
kommen der Achatinellen auf den Sandwich— 
inſeln, wie ſie Trubelle an denheliceen der 


Ai 1 uf p 8 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 8 


Azoren und kanariſchen Inſeln, und Cleſſin 
ſelbſt an einigen Süßwaſſermollusken der 
bairiſchen Seen nachgewieſen hat. Die 
inſelartig zerſtreuten Dafen der Sahara, 
die iſolirten Andeſitkoloſſe im Hochland 
von Quito, die getrennten Vulkangruppen 
Armeniens und wahrſcheinlich alle ähn— 
lich geformten iſolirten Berggruppen zei— 
gen uns aber durchaus analoge 
Thatſachen: d. h. endemiſche, eng— 
begrenzte Speziesformen und kon— 
ſtante lokale Varietäten in über— 
raſchend großer Zahl. 

Selbſt ein ſo begeiſterter Ultra— 
Darwiniſt wie Georg Seidlitz würde, 


wenn er die dortigen Vorkommniſſe mit 


eigenen Augen beobachtet hätte, durch die 
bedeutſamen Thatſachen, die dort für die 
formbildende Wirkung der räumlichen Ab— 
ſonderung ohne jede weſentliche Mit— 
beteiligung eines Konkurrenzkampfes ein 
ſo beſtimmtes Zeugnis ablegen, vielleicht 
zu einer richtigeren Auffaſſung des Pro— 
zeſſes der Artbildung gedrängt worden 
ſein. Er würde nicht einer hypotheti— 
ſchen Zuchtwahl, von der bei den en— 
demiſchen inſularen Formen keine Spur 
zu erkennen iſt, Wirkungen zuſchreiben, 
für welche die Iſolirung eine viel ein— 
fachere und natürlichere Erklärung giebt. 
Die zahlreichen endemiſchen Formen der 
Inſeln, Oaſen, iſolirten Vulkangruppen 
u. ſ. w. hatten gewiß keine andere Ent— 
ſtehungsurſache als z. B. der Lepus 
Huxleyi auf der Inſel Porto Santo, 
der ein thatſächliches Produkt der Iſo— 
lirung iſt, oder das europäiſche Meer— 
ſchweinchen, welches durch einfache Ver— 
ſetzung einer braſilianiſchen Cavia aperea 
nach Südeuropa entſtanden iſt, oder die 
neue Nachtfalterart der Gattung Sa— 


turnia, welche aus der Verſetzung einiger 
Puppen der Saturnia luna von Texas 
nach der Schweiz ſprungweiſe ſich bildete. 
Eine Wiederholung ähnlicher Verſuche 
mit räumlicher Abſonderung variabler 
Arten, wie ſie der ſchweizeriſche Entomo— 
loge Boll mit dem erwähnten texani⸗ 
ſchen Nachtfalter gemacht, könnte ſolche 
Beiſpiele gewiß zu tauſenden vermehren. 
Wo ſind neben ſolchen direkten Beweiſen 
von Entſtehung neuer Spezies durch Iſo— 
lirung die Beweiſe einer Artbildung durch 
Zuchtwahl im Kampfe ums Daſein gegen— 
über der abſorbirenden Wirkung der freien 
Kreuzung? Die gänzlich negativen Re— 
ſultate in unſern botaniſchen Gärten, wo 
niemals in den mit Individuen einer 
gleichen Art bepflanzten Beeten — wie 
z. B. der Gattung Hieracium im bo— 
taniſchen Garten zu München — eine 
individuelle Varietät zur Entſtehung 
einer konſtanten neuen Form führte, 
liefern vielmehr einen ſchlagenden Gegen— 
beweis. 

Je länger und eingehender ich die 
einzelnen Vorkommniſſe der geographi— 
ſchen Verbreitung aller nächſtverwandten 
Arten der formenreichſten Typen des 
Tier- und Pflanzenreiches, ſowie der lo— 
kalen Varietäten auf Kontinenten und 
Inſeln ſtudirte und je unbefangener ich 
meine eigenen vieljährigen Wahrnehmun— 
gen als Sammler damit vergleichend 
prüfte, deſto beſtimmter gewann ich die 
tiefe Überzeugung: daß die durch aktive 
und paſſive Migration in der Natur 
ſtattfindende räumliche Abſonderung nicht 
nur für die geographiſche Verteilung 
der Formengruppen, wie ſie thatſächlich 
beſteht, ſondern auch für die geheimnis— 
volle Urſache ihrer Entſtehung ſelbſt eine 


4 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


einfachere und höchſt wahrſcheinlich rich— 
tigere Erklärung biete, als die Darwin— 
ſche Lehre von einer „natural selection“ 
im „struggle for life“. 

Die ganze Geſchichte der Natur— 
wiſſenſchaft beſtätigt die alte Erfah— 
rung: daß die nächſtliegenden und ein— 
fachſten Vorgänge in der Natur meiſt 
am ſpäteſten erkannt, am ſchwerſten ganz 
verſtanden werden. Dieſelbe lehrt auch, 
daß die große Mehrzahl der Forſcher 
gegen jede neue Theorie oder Hypotheſe, 
auch wenn ſie von guten Gründen und 
Thatſachen unterſtützt wird, gewöhnlich 
ſkeptiſch und ablehnend ſich verhält, ſo— 
bald dieſelbe einen feſtgewurzelten Irr— 
tum aufzudecken verſucht oder eine herr— 
ſchende Theorie, wenn nicht beſeitigt, doch 
weſentlich berichtigt. Der Schreiber dieſer 
Zeilen war daher auch wohl darauf ge— 
faßt, daß beſonders die eifrigen Anhän— 
ger der in vielfacher Beziehung ſo an— 
ziehenden und beſtechenden Selektions— 
theorie ſich am ſtärkſten gegen jede von 
ihr abweichende Auffaſſung der Vorgänge 
der Formbildung ſträuben würden, auch 
wenn ſie einige Berechtigung der auf 
Thatſachen ſich ſtützenden Gründe und 
Schlüſſe nicht ganz zu beſtreiten ver— 
möchten. f 

Da ſich in die wiſſenſchaftliche Po— 
lemik hierüber ſchon vor Jahren einige 
Mißverſtändniſſe eingeſchlichen, will ich 
verſuchen, die beiden Theorien in mög— 
lichſt gedrängter Form hier nebeneinander 
darzulegen, und bitte zugleich um gütige 
Nachſicht, wenn ich 
wiederhole. 


Vielen Bekanntes 
Jeder aufmerkſame Leſer, 
der meine ſeit 1875 in verſchiedenen Zeit— 
ſchriften publizirten Aufſätze nicht kennt, 
wird dadurch wenigſtens in den Stand 


dividuelle 


geſetzt, den weſentlichen Unterſchied, der 
zwiſchen den beiden Auffaſſungen des 
formbildenden Prozeſſes beſteht, klar zu 
erkennen und ſeine Meinung in dieſer 
Streitfrage ſich ſelbſt zu bilden. 

Beide Theorien, die Zuchtwahllehre 
wie die Abſonderungstheorie, haben nur 
die beiden Grundurſachen oder, richtiger 
geſagt, die Grundbedingungen der Art— 
bildung mit einander gemein, nämlich 
die individuelle Variabilität und die Ver— 
erbungsfähigkeit neuer Merkmale. Dieſe 
beiden Ausgangspunkte des Prozeſſes der 
Formbildung dürfen nicht mit der zwin— 
genden mechaniſchen Urſache der Ent— 


ſtehung neuer Arten und konſtanter Va- 


rietäten verwechſelt werden. Aus dieſen 
zwei erſten Faktoren, ohne welche die 
Artbildung überhaupt unmöglich wäre, 
würde in der Natur ebenſo wenig eine 
neue Spezies wirklich hervorgehen, wie 
aus dem bloßen Daſein von Männchen 
und Weibchen im Thierreich ein neues 
Individuum entſtehen könnte, wenn der 
Zeugungsakt nicht dazu käme. Die in— 
Variabilität und die Ver— 
erbungsfähigkeit perſönlicher Merkmale 
ſind in ihrer formbildenden Wirkſamkeit 
teils durch den abſorbirenden Einfluß 
der Kreuzung, teils durch gleiche Lebens— 
bedingungen im gleichen Wohngebiet der 
Art gebunden. In den letzteren beiden 
Faktoren liegt ein konſervatives, die Er— 
haltung der Speziesform begünſtigendes 
Moment. Ein anderer Faktor, eine trei— 
bende und zwingende mechaniſche Urſache, 
muß im Naturleben eingreifen, um gegen 
dieſes konſervative Moment zu reagiren 
und die Entſtehung neuer Arten that— 
ſächlich zu bewirken. 

Nach der Darwinſchen Selektions— 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 5 


theorie tritt die Wirkung dieſer Urſache 
in Thätigkeit mit dem Erſcheinen günſtig 
variirender Individuen, deren morpho— 
logiſche Abweichungen vom normalen 
Typus der Stammart entweder, wie in 
den meiſten Fällen, angeborene oder 
erworbene, d. h. durch äußere Einflüſſe 
hervorgebracht ſind. Dieſe vorteilhafter 
organiſirten individuellen Varietäten ha— 
ben bei der Konkurrenz mit den nor— 
malen Individuen der gleichen Art die 
Tendenz und Fähigkeit, ſich ſtärker als 
dieſe zu vermehren und ſie allmählich 
entweder lebensunfähig zu machen oder 
zu verdrängen und zu erſetzen. Der 
thätige Hauptfaktor in dieſem Prozeß iſt 
der Kampf ums Daſein, welcher gerade 
zwiſchen den Individuen der gleichen Art 
am intenſivſten herrſchen muß. 

Dieſen artbildenden Prozeß kann 
man ſich nur ſo lange unterbrochen den— 
ken, als nicht einzelne vorteilhaft ab— 
weichende Variationen auftreten. Da aber 
die Entſtehung derſelben in den meiſten 
Fällen aus uns noch unbekannten inne— 
ren (phyſiologiſchen) Urſachen erfolgt 
und, wie Darwin, Huxley und die 
meiſten überzeugten Anhänger der Evolu— 
tionstheorie ausdrücklich zugeben, von den 
äußeren Verhältniſſen völlig unab— 
hängig iſt, ſo muß das Auftreten 
folder ſpontaner Varietäten auch zu 
allen Zeiten möglich ſein und kommt 
auch thatſächlich oft genug in einzelnen 
Individuen vor. Lange dauernde Ruhe— 
perioden, während welcher die artbildende 
Thätigkeit völlig ſuspendirt ſein ſoll, wie 


Seidlitz ſich dieſelben irrigerweiſe denkt, 
ſind daher mit dem ganzen Weſen der 


Selektionstheorie im entſchiedenſten 
Widerſpruch und gerade vom Stand— 


punkt des konſequenten Darwinismus 
völlig unannehmbar. 

Das Geſetz der Artbildung nach der 
Separationstheorie dagegen lautet wie 
folgt: 

Jede fonftante neue Form (Art 
oder Varietät) beginnt ihre Bil- 
dung mit der Iſolirung einzelner 
Emigranten, welche vom Wohn— 
gebiet einer noch im Stadium der 
Variabilität ſtehenden Stammart 
dauernd ausſcheiden. Die wirk— 
ſamen Faktoren dieſes Prozeſſes 
ſind: 1) Anpaſſung der eingewan— 
derten Koloniſten an die äußeren 
Lebensbedingungen (Nahrung, 
Klima, Bodenbeſchaffenheit, Kon— 
kurrenz) eines neuen Standorts. 
2) Ausprägung und Entwicklung 
individueller Merkmale der erſten 
Koloniſten in deren Nachkommen 
beiblutverwandter Fortpflanzung. 

Dieſer formbildende Prozeß 
ſchließt ab, ſobald bei ſtarker In— 
dividuenvermehrung die nivelli— 
rende und kompenſirende Wirkung 
der Maſſenkreuzung ſich geltend 
macht und diejenige Gleichförmig— 
keit hervorbringt und erhält, 
welche jede gute Spezies oder 
konſtante Varietät charakteriſirt. 

In größter Kürze geſagt: nach 
der Selektionstheorie iſt der Kampf 
ums Daſein, nach der Separa— 
tionstheorie die räumliche Abſon— 
derung die nächſte zwingende Ur— 
ſache der Artbildung. 

Da der Lebenskampf bekanntlich am 
intenſivſten zwiſchen den Individuen der 
gleichen Art ſtattfindet, ſo müßte ſeine 
formbildende Wirkung in der Regel am 


6 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


ſtärkſten an Punkten zu erkennen ſein, 
wo dieſe Individuen am dichteſten bei— 
ſammen wohnen, alſo gewöhnlich nahe 
dem Mittelpunkt des Verbreitungsgebietes 
der Art. Alle Thatſachen der Tier— 
und Pflanzengeographie ſprechen 
auf das Entſchiedenſte dagegen. 
räumliche Sonderung durch 
aktive oder paſſive Emigration einzelner 
Individuen entzieht hingegen dieſe Emi— 
gration der Konkurrenz mit ihren Art— 
genoſſen. Dieſe getrennt vom Wohn— 
gebiet der Stammart entſtehenden Neu— 
bildungen finden daher ſtets bei einer 
weſentlichen Minderung und Abſchwächung 
des Kampfes ums Daſein ſtatt. Die 
Thatſachen der Tier- und Pflan— 
zengeographie, die ſehr beträcht— 
liche Trennung der Entſtehungs— 
centren aller vikariirenden Arten 
und Varietäten, die kettenförmige 
Anordnung ihrer Wohngebiete, 
die ſtarke Abweichung ihrer Ver— 
breitungsgrenzen —all' dieſe hoch— 
bedeutſamen Faktader Verbreitung 
der Organismen geben ein beredtes 
Zeugnis für die Richtigkeit dieſer 
Behauptung. 

Beide Theorien der Artbildung ſind 
bei ſo tiefer Grundverſchiedenheit in der 
Auffaſſung der zwingenden mechaniſchen 
Urſache kaum vereinbar, wenn ſie auch, 
wie ich ſchon oben bemerkte, die beiden 
Grundurſachen, die individuelle Varia— 
tionsfähigkeit und die Vererbungsfähig— 
keit neuer perſönlicher Merkmale mit 
einander gemein haben. 

Gegen die Darwinſche Zuchtwahl— 
lehre wurde unter verſchiedenen gewicht— 
vollen Einwänden und Bedenken beſon— 
ders ein Haupteinwand geltend gemacht, 


Die 


welcher von den Anhängern der Selek— 
tionstheorie niemals widerlegt worden 
iſt. Der Botaniker Wigand hat mit 
Recht bemerkt, daß dieſer Einwand zur 
Widerlegung der Selektionstheorie allein 
ſchon hinreichen könnte. 

Die abſorbirende und kompenſirende 
Wirkung der Kreuzung macht unter den 
geſchlechtlich differenzirten Organismen 
und unter den zahlreichen Zwittern, die 
ſich gegenſeitig befruchten, neue konſtante 
Formbildungen im gleichen Wohn— 
gebiet unmöglich. Jedes neue mor— 
phologiſche Merkmal, auch wenn es dem 
Träger entſchieden vorteilhaft iſt, wird 
durch die freie Kreuzung mit normalen 
Individuen wieder reduzirt und in die 
normale Speziesform zurückgedrängt. 
Bei unbeſchränkter Kreuzung muß die 
große Individuenzahl ſtets die Siegerin 
über die kleine bleiben. 

Alle Erfahrungen der künſtlichen 
Züchtung, ſowohl von Seite der Bota— 
niker, wie der Zoologen, haben den un— 
umſtößlichen Beweis geliefert: daß be— 
ginnende Varietäten, welche nicht durch 
räumliche Abſonderung gegen die normale 
Individuenmaſſe der Stammart geſchützt 
ſind, der abſorbirenden Wirkung der 
Kreuzung verfallen. Keine neue Raſſe von 
domeſtizirten Tieren und Pflanzen kann, 
wie durch viele Verſuche, am ſchlagendſten 
und beſtimmteſten von den Botanikern 
Koelreuter und Gärtner, erwieſen 
wurde, ohne künſtliche Abſonderung 
diſtinkt und konſtant erhalten werden. 

Individuelle Varietäten, auch mehr 
oder minder vorteilhafte, kommen bei 
allen Pflanzen- und Tierarten im freien 
Naturleben faſt unausgeſetzt vor. Unter 
den häufigſten Pflanzen unſerer Ebenen 


| 


WTV ae 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 7 


und Gebirge wird man immer einzelne 
Exemplare finden, welche durch Höhe 
des Stengels, Form des Blattes, Größe 
oder intenſivere Farbe der Blüte ſich 
ein wenig von den normalen Individuen 
unterſcheiden und auszeichnen. Man 
könnte wohl annehmen, daß ſolche indi— 
viduelle Merkmale, wie z. B. große und 
kräftiger gefärbte Blüten, welche die 
Inſekten ſtärker anziehen und die Ver— 
breitung des Pollens begünſtigen, ihren 
Trägern Vorteil bringen und ſie ſtärker 
vermehren müßten. Da aber die freie 
Kreuzung mit normalen Artgenoſſen dieſe 
Merkmale ſchon in den folgenden Gene— 
rationen wieder verkleinert, vermindert 
und abſchwächt, ſo verſchwinden ſolche 
individuelle Abweichungen auch immer 
wieder, ohne eine neue konſtante Form 
zu hinterlaſſen, ohne eine Spezies aus— 
zuprägen. 

Unter den Tierarten unſerer Wald— 
und Steppenfauna wird man ebenſo oft 
einzelne Individuen beobachten können, 
welche in Form oder Farbe ſehr kleine 
individuelle Differenzen zeigen. Manche 
Haſen, Hirſche, Wölfe haben Beine, 
welche um einige Linien länger als die 
gewöhnlichen ſind und ihnen bei der Flucht 
oder Verfolgung nur Vorteil bringen 
könnten. Aber der Vorteil vererbt ſich 
niemals durch eine Reihe von Genera— 
tionen, da ihn jede Kreuzung mit der 
überwiegenden Zahl der gewöhnlichen 
Artgenoſſen abſchwächt. Man kennt wohl 
Gebirgswölfe mit etwas längeren Beinen 
als die der Ebene, aber ſie ſind auf 
eine beſtimmte, abgegrenzte Gebirgs— 
lokalität in ihrem Vorkommen beſchränkt 
und daher offenbar Produkte der Ab— 
ſonderung und nicht der Zuchtwahl, denn 


unter den Steppenwölfen mit weiter 


| 
| 
| 
| 


zuſammenhängender Verbreitung kommt 
dieſe Abart nicht vor. Wo aber eine 
neue Wolfsart auftritt, wie z. B. in 
den argentiniſchen Pampas, in Patago— 
nien, auf den Falklandsinſeln u. ſ. w. 
deuten die trennenden Schranken durch 
Meere oder große räumliche Entfernung 
ſtets auf die Abſonderung als wirkende 
Urſache, nicht auf eine Entſtehung 
durch Selektion. In der großen 
Mehrzahl der Fälle ſind die vikariirenden 
Formen entweder räumlich getrennt oder 
ſie berühren ſich bei gemeinſchaftlichem 
Vorkommen nur ſporadiſch an einzelnen 
Lokalitäten und meiſt nur an den äußer— 
ſten Grenzen ihrer Wohngebiete. 
Gegen die nivellirende Wirkung der 


„Kreuzung, die jedes perſönliche Merkmal 


einzelner Varietäten in ihren Nachkommen 
reduzirt und ausjätet, iſt daher eine 
Steigerung und Fortentwicklung morpho— 
logiſcher Merkmale im gleichen Wohn— 
gebiet neben der Mutterform einfach un— 
möglich und ihre Entſtehung iſt auch 
weder in der freien Natur noch im do— 
meſtizirten Zuſtand bei ungehinderter 
Kreuzung jemals beobachtet worden. 
Wenn auch zahlreiche Fälle von geſelligem 
Vorkommen nächſtverwandter Arten und 
Varietäten bei Pflanzen und Tieren un— 
beſtritten exiſtiren, ſo beweiſen ſie doch 
durchaus nicht, daß dieſelben am gleichen 
Standort entſtanden ſind, ſondern im 
Gegenteil liefert die Beobachtung der 
meiſt ſehr abweichenden Grenzen 
ihrer Verbreitungsgebiete ſtarke Wahr— 
ſcheinlichkeitsgründe für die iſolirte lokale 
Entſtehung an nahe gelegenen, ſporadiſch 
abgeſonderten oder wenigſtens früher 
getrennten Standorten, welche erſt in 


8 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


Folge der Individuenvermehrung und 
Verbreitung wieder aufhörten, iſolirt zu 
ſein. Ungenügende Dauer der Abſon— 
derung bringt im günſtigſten Fall ſchlechte 
Arten hervor, d. h. Spezies mit ſchwan— 
kenden Merkmalen und zahlreichen Über— 
gängen, wie ſie thatſächlich bei vielen 
Alpenpflanzen, z. B. der Gattung Hie- 
racium, auftreten. 

Einen ſtarken Gegenbeweis gegen die 
Naturzüchtung durch den Kampf ums 
Daſein haben die mißglückten Verſuche 
einer Raſſenverbeſſerung der freiweiden— 
den halbwilden Rinder und Pferde in 
den Pampas der argentiniſchen Staaten, 
in den Llanos von Venezuela, in den 
Savannen der Provinzen Guanacaſte und 
Chiriqui in Centralamerika, ebenſo wie 


in den ſüdruſſiſchen Steppen geliefert.“ 


Die Beſitzer dieſer frei weidenden Heerden 
hatten gehofft, durch Einfuhr einer ge— 
ringen Zahl ſtarker Stiere aus Anda— 
luſien, kräftiger Hengſte aus England, 
der Berberei, Arabien, den turkomaniſchen 
Steppen u. ſ. w., die Raſſe zu veredeln. 
Die Reſultate haben den ſchlagenden 
Beweis geliefert, daß eine kleine Zahl 
von Individuen, wenn dieſe auch höchſt 
vorteilhaft konſtituirt und ihren Mit— 
bewerbern an Kraft weit überlegen ſind, 
bei freier Kreuzung gegen die Individuen— 
maſſe des gewöhnlichen Schlages keine 
nachhaltige Verbeſſerung oder Verände— 
rung der Raſſe hervorzubringen vermag. 

Der Kampf ums Daſein hätte in den 
ausgedehnten Steppen der genannten 
Länder, wo die frei weidenden Tiere in 
ganz natürlichen Verhältniſſen ſich befin— 
den, eine ausgezeichnete Gelegenheit ge— 
habt, ſeine Macht zu erproben. Er hat 
ſich aber, obwohl durch eine Ausleſe 


höchſt ausgezeichneter Prachtexemplare 
unterſtützt, gänzlich unfähig erwieſen, 
formbildend zu wirken. Eine natür— 
liche Zuchtwahl hat thatſächlich 
nicht ſtattgefunden, obwohl ihr 
die beſten Mittel dazu geboten 
waren. 5 

Bei den niederſten Organismen, welche 
durch Teilung oder Knoſpenbildung ſich 
fortpflanzen, bei denen alſo keine Kreu— 
zung ſtattfindet, genügt die Gleichheit 
der Lebensbedingungen, beſonders eine 
annähernde Gleichheit der Nahrungsver— 
hältniſſe in demſelben Wohnbezirk, um 
die Gleichförmigkeit der Spezies zu erhal— 
ten und zu befeſtigen. 
riabilität und Mobilität, maſſenhaftes 
gedrängtes Beiſammenwohnen begünſtigen 
bei den niederen Organismen dieſe kon— 
ſervative Tendenz der Natur zur Erhal— 
tung der Spezies. Einzelne Varietäten, 
welche durch zufällige örtliche Verhält— 
niſſe einer Nahrungsbegünſtigung im 
Verbreitungsbezirk der Stammart ſich 
bilden können, verſchwinden wieder, wenn 
dieſe Nahrungsbegünſtigung nicht lange 
Zeit fortdauert, was im gleichen Wohn— 
bezirk bei großer Individuenzahl undenk— 
bar iſt. Auch bei den niederſten Orga— 
nismen vermag daher nur die räumliche 
Abſonderung weniger Individuen eine 
längere Dauer dieſes Nahrungsvorteils zu 
ſichern und damit konſtante Neubildungen 
herbeizuführen. 

Der Lebenskampf, der Kampf um 
Raum, Nahrung und Fortpflanzung kann 
und muß aber allerdings in zahlreichen 
Fällen den erſten Anſtoß zur aktiven 
Migration, zur räumlichen Ausſcheidung 
einzelner Individuen geben. Sein Ein— 
fluß auf die Artbildung iſt aber dann 


Geringere Va- 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


immer nur ein indirekter und in den 
meiſten Fällen, ja in allen Fällen der 
paſſiven Migration, vollzieht ſich die 
iſolirte Kolonienbildung ohne dieſen An— 
ſtoß. Der nächſtwirkſame Faktor bleibt 
in allen Fällen die Abſonderung. 

Wenn der Kampf ums Daſein im 
Haushalt der Natur raſtlos thätig iſt, 
Mißgeburten und Schwächliche auszujäten 
und ſelbſt günſtig abnorme Individuen 
im Tierreich durch die Verfolgung ihrer 
normalen Artgenoſſen zu vertilgen oder 
zur Auswanderung zu zwingen, ſo wirkt 
er thatſächlich für die Erhaltung, 
nicht für die Veränderung der 
normalen Speziesform im gleichen 
Wohngebiet. Selbſt an der Regulirung 
des relativen numeriſchen Individuen— 
beſtandes der verſchiedenen im gleichen 
Areal ſeßhaften Arten hat der Kampf 
ums Daſein einen weit geringeren An— 
teil, als ein anderer mächtigerer Faktor, 
der völlig ſelbſtſtändig neben ihm beſteht 
und deſſen Wirken nicht mit dem ſeinigen 
verwechſelt werden darf: das Altern 
der Art. 

Es iſt eine jetzt ziemlich allgemein 
angenommene Anſicht, daß die Arten 
ihre Jugend, ihr Mannesalter, ihr Grei— 
ſenthum haben und zuletzt aus Alters— 
ſchwäche ſterben, analog den Individuen. 
Das Seltenerwerden, das allmähliche 
Erlöſchen der Arten vollzieht ſich unter 
normalen Verhältniſſen durch ihre ab— 
nehmende Reproduktion und ſchwindende 
Widerſtandskraft gegen äußere Einflüſſe. 
Der Vertilgungsfaktor des Konkurrenz— 
kampfes mit anderen mitlebenden For— 
men kann das Erlöſchen ausſterbender 
Arten wohl häufig beſchleunigen, iſt aber 
niemals die Haupturſache ihres Ver— 


9 


ſchwindens, welches auch ohne dieſen 
Konkurrenzkampf von ſelbſt eintritt. 

Es wäre barer Unſinn zu behaupten, 
daß die zahlloſen Säugetiere der Tertiär— 
zeit, all die gewaltigen Rüſſelträger, Wie— 
derkäuer, Raubtiere u. ſ. w., die für ihre 
Lebensweiſe meiſt vortrefflich organiſirt 
waren, nur dem Konkurrenzkampf oder den 
klimatiſchen Veränderungen erlagen, da ſie 
doch damals, wo die menſchliche Kultur noch 
nicht ihre Wanderungen beſchränkte, volle 
Freizügigkeit hatten und das ihnen paſ— 
ſendſte Klima ſich wählen konnten. Sie 
erlagen einfach dem Geſetze der Zeit, 
weil ihre Form ſich ausgelebt hatte. 

Jede Art, wenn einmal durch genü— 
gende Dauer der Abſonderung vom 
Wohngebiet der Stammart fertig gebil— 
det, bleibt konſtant, d. h. ohne eine 
weſentliche äußere Geſtaltveränderung 
bis zu ihrem natürlichen Erlöſchen aus 
Altersſchwäche. Ihr Rückgang wird durch 
innere (phyſiologiſche) Veränderungen ein— 
geleitet und manifeſtirt ſich durch abneh— 
mende Individuenzahl, indem die Zahl 
der Geburten oder individuellen Neu— 
bildungen nicht mehr die Zahl der 
Sterbefälle deckt. Die durch Abſonde— 
rung entſtandene jüngere Art überlebt 
durchſchnittlich die Stammform, wie der 
Sohn den Vater, wie das Kind den 
Greis, nicht weil ſie äußerlich vorteil— 
hafter geſtaltet iſt, ſondern weil ſie die 
innere Jugend für ſich hat. Jede Neu— 
bildung der Form verleiht ihr auch neue 
Lebenskraft und der phylogenetiſche Pro— 
zeß der Typenbildung iſt auch in dieſer 
Beziehung der Ontogeneſis völlig analog. 

Die Zahl der Syſtematiker unter 
den Botanikern, Zoologen und Paläon— 
tologen, welche an der Anſicht einer 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 


10 Moritz Wagner, Über die Entſte hung der Arten durch Abſonderung. 


gewiſſen Konſtanz der guten Art, eines 
konſervativen Prinzips in der Spezies— 
form, aus Erfahrung und Ueberzeugung 
feſthalten, iſt noch immer ziemlich groß 
und ich glaube, daß gerade ſie ein beſon— 
deres Intereſſe daran haben ſollten, ſich 
mit der Auffaſſung einer Entſtehung der 
Arten durch räumliche Abſonderung zu 
befreunden. Dieſelbe paßt in Wirklich— 
keit zur deseriptiven Syſtematik weit 
beſſer als die Selektionstheorie, nach 
welcher die Spezies in einem fortdauern— 
den Transmutationsprozeß entweder ſich 
wirklich befindet oder doch ſich befinden 
kann, denn jede zufällige Entſtehung 
abnormer, günſtig geſtalteter, individueller 
Varietäten müßte dieſen Umgeſtaltungs— 
prozeß in Fluß bringen und von einer 
morphologiſchen Konſtanz der Spezies, 
wie ſie die Syſtematik verlangt, könnte 
nicht die Rede ſein. Mit dem Begriff 
der morphologiſchen Konſtanz jeder fixir— 
ten Spezies gewinnt aber nicht nur der 
geſchloſſene Formenkreis, den wir Art 


nennen, ſondern auch die Syſtematik, die 


ihn beſchreibt, beträchtlich an Werth. 


Ich werde in den folgenden Auf- 


ſätzen eine Reihe von Thatſachen ſowohl 


aus dem fremdländiſchen, als aus un— 


ſern mitteleuropäiſchen Faunen anführen, 


welche bedeutſame Zeugniſſe für die Rich- 


tigkeit der Abſonderungslehre enthalten 


und von den Darwiniſten bisher fait 
unbeachtet geblieben ſind. Der große 
britiſche Forſcher ſelbſt hat in jüngſter 
Zeit der Separationstheorie eine nicht 
unbedeutende Konzeſſion gemacht, indem 
er ſeinen Irrtum einer Überſchätzung des 
Einfluſſes des Kampfes ums Daſein offen 
zugeſtand und nach aufmerkſamer Lektüre 
der unter dem Titel „Naturwiſſenſchaftliche 
Streitfragen“ erſchienenen Aufſätze an 
den Verfaſſer folgendes ſchrieb: „In my 
opinion the greatest error which I 
have committed has been not allowing 


sufficient weight to the direct action 


of the environment i. e. food, climate, 
etc. independently of natural 
selection. Modifications thus caused, 
which are neither of advantage or 
disadvantage to the modified organism, 
would be especially favoured, as I 
can now see chiefly through your 
observations by isolation in a small 
area, where only a few individuals 
lived under nearly uniform conditions. 
When I wrote the ‚origin of species‘ 
and for some years afterwards, I 
could find little good evidence of the 
the 
Now there is a large body of evidence 
and Your case of the Saturnia is 


direct ation of environment. 


one of the most remarkable of which 
I have heard.“ 


(Fortſetzung folgt.) 


Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von 
Polypodiaceen. 


Ein botaniſcher Beitrag zum biogenetiſchen Grundgeſetz. 


Mit drei phototypiſchen Illuſtrationen. 


ie Ontogeneſis oder die 
Entwicklung des Indi— 
viduums iſt eine kurze 
und ſchnelle, durch die 
Geſetze der Vererbung 


| 
| 
| 
| 


und Anpaſſung bedingte Wieder- 


holung (Rekapitulation)der Phylo— 
geneſis oder der Entwicklung des 
zugehörigen Stammes, d. h. der 
Vorfahren, welche die Ahnenkette 
des betreffenden Individuums 
bilden.“) 

So lautet das biogenetiſche Grund— 
geſetz, das in den zoologiſchen Kreiſen 
zu einer Popularität gelangte, wie dies 
bis heute in botaniſchen Kreiſen nicht in 
jener Ausdehnung der Fall war. Still— 
ſchweigend oder laut iſt das biogenetiſche 
Grundgeſetz allerdings auch von den 
meiſten namhaften Vertretern der bota— 
niſchen Biologie anerkannt worden; aber 


*) Häckel, Nat. Schöpf.⸗Geſch. 5. Aufl. p. 276. 


Von 
Dr. Arnold Dodel-Vort. 


zur eigentlichen Popularität gelangte es 


nicht, obſchon die wiſſenſchaftliche Bo— 


tanik, ſpeciell die vergleichende Entwick— 
lungsgeſchichte, für den Ausbau der Ab— 
ſtammungslehre während der letzten zwei 
Jahrzehnte ein wuchtiges und über— 
wältigendes Material abgegeben hat. 
Aber es fehlte bis zur Stunde in der 
Reihe botaniſcher Thatſachen, die als 
Belege für das biogenetiſche Grundgeſetz 
dienen, jenes einzige, ſo mächtige und 
überzeugende Moment, das den „Kiemen— 
bögen“ und „Kiemenſpalten“ des Säuge— 
tier⸗-Embryos an die Seite geſtellt wer— 
den könnte. Wohl könnte man in den 
als wahrhaftige Archegonien erkannten 
Corpuscula der Gymnoſpermen-Samen— 
knoſpe einen ebenſo gewichtigen und 
ebenſo wertvollen Beleg für die Wahr— 
heit des Häckelſchen Grundgeſetzes er— 
blicken; allein zur Populariſirung in 
den weiteſten Kreiſen eignet ſich dieſer 
botaniſche Beleg keineswegs in dem 


12 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 


Maße, wie die angeführten zoologiſchen 
Illuſtrationsobjekte. Und doch iſt ſehr 
zu wünſchen, daß es ſich die wiſſen— 
ſchaftliche Botanik angelegen ſein laſſe, 
in der Populariſirung des biogeneti— 
ſchen Grundgeſetzes an ihrer Stelle 
nicht hinter der Zoologie zurückzuſtehen. 

Es würde ſich auch lohnen, heute 
ſchon die diesbezüglichen frappanteſten 
Belege aus der botaniſchen Entwickelungs— 
geſchichte einmal in gemeinverſtändlicher 
Form zuſammenzuſtellen; vielleicht würde 
ſich dann herausſtellen, daß das dies— 
ſeitige Material im Ganzen und Großen 
dennoch ſehr zur Allgemeinverbreitung ge— 
eignet und wohl ebenſo überzeugend wäre, 
als es das zoologiſche Material für die 
Populariſirung des biogenetiſchen Grund— 
geſetzes ſchon längſt geweſen iſt und nochiſt. 

Im Sinne dieſer Anregung möge 
das Nachſtehende aufgenommen und von 
Berufenen einer Kritik unterzogen werden. 

Bei der Bearbeitung unſeres „ana— 
tomiſch-phyſiologiſchen Atlas der Botanik 
für Hoch- und Mittelfchulen” *) ſahen 
wir uns genötigt, die Entwickelungs— 
geſchichte des Farn-Prothalliums aus 
eigener Anſchauung kennen zu lernen, 
um die für unſer Tafelwerk unbedingt not— 
wendigen, kolorirten Originalzeichnungen 
zu gewinnen. Es wurden daher von 
uns im Winter 1878179 zahlreiche jün— 
gere und ältere Prothallien von Poly— 
podiaceen unterſucht, und verſchiedene 
Kulturen aus Sporen von Aspidium 
Filix mas gezüchtet. Die Originaltafel 
mit dem „Aspidium-Prothallium“ 
(Heft 3 unſeres Atlas) wurde denn 
auch im Verlauf des letzten Winters von 


*) J. F. Schreiber in Eßlingen 1878/79. 


meiner Mitarbeiterin, 


Frau Karolina 
Dodel-Port, hergeſtellt, indes ich das 
Unterſuchungsmaterial zur Kontrole weiter 
züchtete. Figur 5 der genannten Atlas— 
Tafel ſtellt ein Prothallium von As- 
pidium violascens Link dar, 
welches — obwohl längſt befruchtet und 
mit einer anſehnlichen jungen Farn— 
pflanze ausgeſtattet — völlig geſund und 
intakt war. Dieſes Prothallium wurde 
am 27. Dezember 1878 in Waſſer unter 
dem Deckglas unterſucht, am gleichen 
Tage mit Hülfe des Prismas gezeichnet 
und das Bild für die genannte Tafel 
firirt. Von jenem Tage an blieb das 
Prothallium ſammt der jungen Farn— 
pflanze unter dem Deckglas in Waſſer 
liegen und für längere Zeit in feuchter 
Kammer (unter einer Glasglocke) zur 
Dispoſition aufbewahrt. 

Am 3. Februar 1879, alſo nach 
38⸗tägiger Überſchwemmung, gelangte 
dasſelbe Prothallium zu einer neuen 
Reviſion unter das Mikroſkop. Wie groß 
war mein Erſtaunen, das Unterſuchungs— 
objekt in einem Stadium anzutreffen, 
wie ich es hier, in Fig. 1 bei 13-facher 
Vergrößerung für das phototypiſche Cliché 
darzuſtellen verſuchte! Die junge Farn— 
pflanze (EW bis EB Fig. 1) war total 


abgeſtorben, alle Gewebe der Wurzel, 


der Stammanlage, des Fußes und des 
Blattes waren gebräunt und in Zerſetzung 
übergegangen; die leiſeſte Bewegung des 
Deckgläschens drohte alle dieſe Theile zu 
zerreißen. Auch am überſchwemmten Pro— 


thallium ſelbſt waren an verſchiedenen 


Stellen, hauptſächlich am hintern lälteſten) 
Teil der Mittelrippe, dann aber auch zu 
beiden Seiten auf der einſchichtigen Zell— 
fläche, ſowie am Rande größere und 


j 


Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 


kleinere Gewebepartieen abgeſtorben 
(t, t, t); die Zellmembranen waren dort 
lebhaft braun gefärbt, die Plasmakörner 
verſchwunden oder in mißfarbigen Klum— 
pen beiſammen, während die benachbarten 
Zellen (in unſerer Figur alſo die nicht 


ſchraffirten Teile des Prothalliums) 
ganz normal, geſund ſchienen. Alle 
Rhizoide des Prothalliums dagegen 


waren abgeſtorben, ihre Inſertionsſtellen 
auf den Zellen des Mittelrippen-Polſters 
gebräunt und ſcharf konturirt. Einen 
überraſchenden, höchſt eigentümlichen An— 
blick boten dagegen die ca. 150 kon— 
fervenartigen Adventivſproſſe dar, 
die aus den verſchiedenſten geſunden Pro— 
thallium-Partieen ihren Urſprung nah— 
men. Der Anblick erſchien mir ſo befrem— 
dend, daß ich ſofort mit Hülfe des Pris— 
mas eine möglichſt genaue, 40-fach ver— 
größerte Zeichnung aufnahm und das 
ganze Bild zur genaueren und leichteren 
Orientirung am Mikroſkop ſelbſt mit den 
natürlichen Farben kolorirte. Die hier 
beigefügte Fig. 1 iſt möglichſt genau 
nach dieſem, vom 3. Februar 1879 da— 
tirten Bilde angefertigt. Alle abgeſtor— 
benen Teile des Prothalliums ſind dunkel 
ſchraffirt; auf den nicht ſchraffirten, ge— 
ſunden Teilen des Prothalliums wird der 
Leſer ohne Mühe die beiläufig 150 Ad— 
ventiv⸗Sproſſe (As As As) in ihrer natür— 
lichen Anordnung erkennen. 

Das Objekt blieb nun weitere Wo— 
chen und Monate unter demſelben Deck— 
glaſe in Waſſer liegen und wurde in 
der Folge von mir bis Ende März zur 
Gewinnung einer großen Zahl von mi— 
kroſkopiſchen Zeichnungen über die ver— 
ſchiedenen Entwickelungsſtufen der Ad— 
ventivſproſſe benützt. 


ſuchung weiter zu betreiben. 


13 


Das Auftreten der letzteren und ihre 
eigenartige Entwickelung veranlaßte mich 
zu einem Verſuch, ähnliche Erſcheinungen 
auch an andern Prothallien einzuleiten. 
Es wurden daher mehrere jüngere und 
ältere, befruchtete und unbefruchtete Pro— 
thallien von verſchiedenen Polypodiaceen 
aus den Gewächshäuſern des botaniſchen 
Gartens entnommen, in gleicher Weiſe 
überſchwemmt, und da meine Erwartun— 
gen nicht getäuſcht wurden, ward endlich 
eine große Zahl von geſunden Pro— 
thallien zum Teil im Waſſer unter Deck— 
gläſern, zum Teil freiliegend in einem 
Trinkglas weiter kultivirt; in allen Fällen 
mit gleichem Erfolg. 

Es zeigte ſich alſo, daß wir es hier— 
bei mit einer ganz regelmäßigen Er— 
ſcheinung zu thun haben, und es mußte 
ſich der Wunſch aufdrängen, dieſe ſon— 
derbare Thatſache weiter zu verfolgen. 
Mit dem Beginn des Sommerſemeſters, 
da ich wegen anderer Atlas-Blätter und 
wegen der Vorleſungen anderweitig voll— 
auf in Anſpruch genommen wurde, fehlte 
mir die Zeit und Ruhe, um die Unter— 
Da ſich 
einer meiner Schüler meldete, um ſich 
ein Thema zu einer ſelbſtändigen Arbeit 
zu erbitten und auf meinem mikroſkopiſchen 
Laboratorium zu arbeiten, ſo zögerte ich 
nicht, demſelben das damals vorhandene, 
ſehr intereſſante und reichhaltige Mate— 
rial (etliche Dutzend Prothallien mit Ad— 
ventivſproſſen) zur weiteren Unterſuchung 
einzuhändigen, um dort fortzuſetzen, wo 
ich aufgehört hatte. Da nun aber dieſer 
mein Nachfolger in der vorliegenden 
Aufgabe mit Ende des Sommerſemeſters 
von hier abging, ohne daß ich bis heute 
erfahren konnte, ob und wo derſelbe die 


. 


f 14 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Bolypodiaceen. 


diesbezüglichen Unterſuchungen fortſetzt, 
ſo erachte ich es als Pflicht, dieſe von 


mir bis Ende März 1879 gewonnenen 
und gewiß nicht bedeutungsloſen Re— 


Aspidium violascens Link. 

Fig. 1. Altes Prothallium 
mit der jungen beblätterten Farn— 
pflanze nebſt 150 protonematiſchen Adventiv- 
prothallien. Vergr. 13. 

Fig 2. Zwei protonematiſche Adventivprothallien, von 
demſelben Objekt wie Fig. 1, aber 1½ Monat älter. 
Vergr. 40. (Gez. 5. Febr. u. 25. März 1879.) 

ſultate hier niederzulegen, da ich über— punkte für eine Reihe weiterer Unter— 


bBeugt bin, daß dieſelben als Ausgangs- ſuchungen dienen können. 


2 Mi 2 , * 


—— 


Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 15 


Ich brauche wohl nicht beſonders 
hervorzuheben, daß ich ſelbſtverſtändlich 
durchaus nur die Reſultate meiner eige— 
nen, nicht aber die Ergebniſſe der unter 
meiner Leitung von dem erwähnten 
Schüler angeſtellten Beobachtungen hier 
mitteile. 

Zunächſt iſt hervorzuheben, daß unſer 
in Fig. 1 dargeſtelltes Prothallium von 
Aspidium violascens unter dem Deck— 
glas auf dem Rücken lag; die abgeſtorbe— 
nen Archegonien und Antheridien, ſowie 
der auf der Unterſeite vorſpringende Ge— 
webewulſt der Mittelrippe und die hier 
entſpringenden Rhizoiden des Prothal— 


lliums ſind alſo aufwärts gerichtet. An dem 


gegen den Scheitel S abfallenden Vorder— 
rand des Gewebewulſtes der Mittelrippe 
ſehen wir eine größere Anzahl der ober— 
flächlichen geſunden Prothalliumzellen in 
halbkugelige bis keulenförmige Papillen 
ausgewachſen. Dies ſind die erſten An— 
fänge protonematiſcher Adventivſproſſe, 
welche mit ihrem Fuß auf der Pro— 
thalliumzelle ſtehen, aus welcher ſie je 
ihren Urſprung nehmen, ohne durch eine 
Querwand gegen dieſelbe abgegrenzt zu 
ſein. Derartige papillenartige, intenſiv 
grün gefärbte Sproßanfänge ſehen wir 
auch auf den beiden ſeitlichen Lappen 
des Mutterprothalliums, rechts und links 
vom Scheitel 8, ſowie zerſtreut auf den 
hinteren Theilen, ſtellenweiſe am Rand 
und in unmittelbarer Nähe der abge— 


ſtorbenen Prothalliumſtücke. Etwas weiter 


entwickelt ſind die Adventivſproſſe auf 
der Fläche des rechten Flügels. Dort 
ſind manche Sproſſe zu fädigen, kon— 
fervenartigen Gebilden herangewachſen, 
die aus 2, 3, 4 und mehr Zellen 
beſtehen. In allen Fällen iſt die Scheitel— 


ziger 


zelle des Fadens am reichlichſten mit 
Chlorophyll ausgeſtattet; dort treffen 
wir auch in der Regel einen großen 
Zellkern, den wir in den unteren, meiſt 
längeren und oft unregelmäßig gekrümm— 
ten und ausgebuchteten Zellen manchmal 
umſonſt ſuchen. Das chlorophyllhaltige, 
wie das farbloſe Plasma wandert aus den 
älteren Protonema-Teilen in der Regel 
gegen den Scheitel des Fadens. An den 
hinterſten Teilen der beiden Seitenlappen 
des Mutterprothalliums ſehen wir die 
protonematiſchen Adventivſproſſe bereits 
zu beträchtlich langen Fäden heran— 
gewachſen, die zum Teil ſchon aus mehr 
als 4 Zellen beſtehen. Auffallend iſt 
der Umſtand, daß der unterſte, alſo 
älteſte Teil eines ſolchen fädigen Vor— 
keimes ſich niemals durch eine Querwand 
von der mütterlichen Zelle abgrenzt, aus 
welcher der Faden entſpringt. Der Fuß 
des Protonemas iſt alſo im eigentlichſten 
Sinne des Wortes ein Teil des mütter— 
lichen Prothalliums, was namentlich an 
Fig. 2 und Fig. 3, B, D, E, F und 
G deutlich wird. 

In dem Stadium, das durch Fig. 1 
repräſentirt wird, zeigte noch kein ein— 
von den 150 Adventivſproſſen 
irgend eine Verzweigung. Im Verlauf 
der folgenden zwei Monate wuchſen dieſe 
Gebilde jedoch zu beträchtlicherer Größe 
heran und bekundeten eine große Nei— 
gung zu ſeitlicher Verzweigung, 
wie Fig. 2 und 3 zeigen. Auch 
treten vielerorts Rhizoide (h rh rh. 
Fig. 2 und 3) auf, die ſich ſchon in 
ihrer früheſten Anlage durch Querwände 
gegen die Protonemazellen abgrenzten, 
aus denen ſie entſprangen. In vielen 
Fällen entwickelten ſich die Rhizoiden nicht 


16 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 


weiter, ſondern blieben auf dem Stadium Ich habe dieſelben mit Rückſicht auf 
einer kleinen farbloſen Papille ſtehen. chronologiſche Folge und Differenzirung 

Von den zahlreichen weiteren Ent- alphabetiſch mit A, B bis K bezeichnet. 
wicklungsſtadien, die ich in vielen ſtark Indem ich auf die betreffende Figur 
vergrößerten Figuren fixirt habe, ſtellte verweiſe, will ich verſuchen, in Kürze das 
ich in Fig. 3 die am meiſten charak- weitere Schickſal jener 150 Adventiv- 
teeriſtiſchen und lehrreichſten zuſammen. ſproſſe zu ſkizziren. 


II 


a 


Fig. 3. Adventivprothallien aus einem alten überſchwemmten Prothallium von Aspidium violascens. 
Nach der Natur gezeichnet von Arnold Dodel-Port, Februar und März 1879. 
B, C, D und E aus Randzellen des mütterlichen Prothalliums entſpringend. 
A, F, G, H, J, K aus Flächenzellen des mütterlichen Prothalliums hervorgehend. 
Vergrößerung 80: 1. 


Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 17 


In A Fig. 3 erkennen wir den 
Anfang eines Adventivſproſſes, der aus 
einer Flächenzelle des mütterlichen Pro— 
thalliums hervortritt. Er erweist ſich 
als papillenartige Erhöhung, die 
reichlich mit grünem Plasma erfüllt — 
über das Niveau des mütterlichen Pro— 
thalliums vorſpringt. 

In B derſelben Figur iſt eine Rand— 
zelle des mütterlichen Prothalliums zu 
einem keulenförmigen Adventivſproß aus— 
gewachſen, ohne daß bis zu dieſem Ent— 
wicklungsſtadium eine Querwand gebildet 
wurde. 

C it ein aus 9 Zellen beſtehender 
protonematiſcher Adventivſproß, deſſen 
oberſte Zellen ſich raſch nach einander 
geteilt haben, indes die unterſte, die 
ſogenannte Fußzelle, bereits ein zäpfchen— 
artiges Rhizoid gebildet hat; letzteres iſt 
durch eine Wand von der Fußzelle ab— 
gegrenzt. Gezeichnet am 12. Februar 
1879, alſo 47 Tage nach eingetretener 
Überſchwemmung. 

D. Ein ausnehmend langes proto— 
nematiſches, unverzweigtes Adventivpro— 
thallium, das aus 15 chlorophyllhaltigen 
Zellen beſteht und wie kein anderer Ad— 
ventivſproß den konfervenartigen Cha— 
rakter beibehielt. Gez. am 25. März 
1879, alſo beinahe drei Monate nach 
eingetretener Überſchwemmung. 

E. Ein kürzeres Adventivprothallium 
von gleichem Alter, dicht neben dem 
vorerwähnten (D) ſtehend und wie dieſes 
aus einer Randzelle des mütterlichen 
Prothalliums hervorgegangen. Es iſt 
ähnlich wie ein Laubmoosvorkeim ver— 
zweigt und zeigt trotz ſeines Alters (drei 
Monate) noch nirgends eine Andeutung 
für beginnende höhere Differenzirung. 


F. Ein verzweigtes protonematiſches 
Adventivprothallium, welches aus einer 
Flächenzelle hervorging und, ſich wie ein 
Moosvorkeim unregelmäßig verzweigend, 
bedeutend in die Länge wuchs, ehe an 
einem der Zweige beim Scheitel s die 
erſte Zellteilung zur Bildung eines flächen— 
förmigen Thallus ſtattfand. Bei rh ein 
normal entwickeltes Rhizoid. Gez. am 
19. März 1879, 12 Wochen nach der 
Überflutung. 

G. Ein konfervenartiges Adventiv— 
prothallium, aus einer Flächenzelle her— 
vorgegangen, im untern und mittlern 
Teil eine einfache, unverzweigte Zellreihe 
darſtellend, während von der Scheitel— 
zelle s bereits durch zwei ſchiefe Wände 
eine Zellteilung eingeleitet wurde, welche 
zur Bildung einer Zellfläche führt. 
Gez. am 8. Februar 1879. 

H. Ein ähnliches Adventivprothal— 
lium wie G; am Scheitel des konferven— 
artigen Gebildes iſt jene charakteriſtiſche 
Zellteilung zur Bildung eines flächen— 
förmigen Thallus bereits weiter gediehen, 
ſo daß letzterer ſchon aus 6 Flächen— 
zellen beſteht, die reichlich mit Chloro— 
phyll ausgeſtattet ſind. Gez. 12. Februar 
1879. 

J. Ein Adventivſproß mit proto— 
nematiſchem Unterteil und flächenförmi— 
gem Thallus am obern, jüngern Teil. 
Am Scheitel dieſer durch unregelmäßige 
Teilungen entſtandenen Zellfläche ſehen 
wir 3 reichlich mit Plasma ausgeſtattete 
Zellen s s, die momentan die Funktionen 
von Scheitelzellen übernehmen. Gez. am 
18. Februar 1879. 

K. Ein flächenförmiges, mehrfach 
verzweigtes Adventivprothallium, mit ſei— 
nem unterſten, konfervenartigen Proto— 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 


2 
3 


18 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 


nema auf einer Flächenzelle des mütter— 
lichen Prothalliums ſtehend und an die— 
ſem unterſten Teil, der ebenfalls eine 
einfache Zellreihe darſtellt, bereits ein 
männliches Organ, das normal ent— 
wickelte Antheridium ant., tragend. 
2, E., ut, gi, und z, die jüngeren 
Zweige des Flächenprothalliums, bei h 
eine farbloſe, außergewöhnlich große 
Haarzelle, die als abortirtes Antheridium 
zu betrachten iſt; bei rh am protonema— 
tiſchen Fuß eine hübſch entwickelte Rhi— 
zoidzelle. Gez. am 10. März 1879. 

Damit ſind die hauptſächlichſten For— 
men der 150 Adventivſproſſe ſkizzirt. 
Andere Typen entwickelten ſich an dem 
mütterlichen Prothallium nicht mehr, ob— 
ſchon das Objekt ein ganzes Halbjahr 
in Waſſer unter dem Deckglas kultivirt 
und weiter beobachtet wurde. Dagegen 
zeigten die übrigen zahlreichen über— 
ſchwemmten Prothallien verſchiedener 
Polypodiaceen (Aſpidium- und Adiantum— 
arten) nicht nur dieſe konfervenartigen 
Adventivſproſſe, ſondern auch eine Un— 
zahl von Abſtufungen zwiſchen proto— 
nematiſchen, fädigen, und zwiſchen brei— 
ten, zungen- oder lappenförmigen Ad— 
ventivſproſſen. Dieſe letzteren bildeten 
ſich namentlich an untergetauchten jun— 
gen Prothallien, die noch keine befruch— 
teten Archegonien beſaßen, alſo noch 
keinen beblätterten Embryo zu ernähren 
hatten, während die alten, längſt be— 
fruchteten Prothallien vorwiegend 
aber keineswegs ausſchließlich — fädige 
Adventivſproſſe bildeten. 

Es iſt hervorzuheben, daß dieſe 
fädigen und die flächenförmigen Adven— 
tivſproſſe von beliebigen Stellen des 
Mutterprothalliums entſpringen können 


und zwar ſowohl an der Rücken- als 
an der Bauchſeite (allerdings vorwiegend 
an letzterer). In der Unregelmäßigkeit 
der Verzweigung und in der Bildung 
von bizarren Formen ſtimmen beiderlei 
Adventivſproſſe, die fädigen wie die 
flächenförmigen, mit einander überein. 
Und wie uns Fig. 3 belehrt, können 
fädige Adventivſproſſe früher oder ſpä— 
ter in flächen förmige Prothallien über— 
gehen und ſich in der Folge ganz regel— 
mäßig ſo entwickeln, wie die aus keimen— 
den Sporen hervorgehenden jungen Pro— 
thallien. 

Es wurde bereits ſchon von andern 
Beobachtern gelegentlich die Bildung von 
derartigen Adventivſproſſen erwähnt und 
darauf hingewieſen, daß letztere ſich vom 
Mutterprothallium ablöſen und ſich ſelb— 
ſtändig weiter entwickeln können. Unſere 
Kulturverſuche zeigen, daß dies bei ver— 
ſchiedenen Farnarten an überſchwemmten 
Prothallien regelmäßig ſtattfindet und 
daß die Entwicklung der Adventivſproſſe 
eine ähnliche iſt, wie die Entwicklung 
der aus keimenden Sporen gezogenen 
Prothallien. 

Um die Gleichartigkeit der Entwick— 
lung protonematiſcher Adventivſproſſe und 
der Prothallien, die aus keimenden Sporen 
hervorgehen, zur Anſchauung zu bringen, 
habe ich in Fig. 4 eine Reihe von 
jungen Prothallien aus den keimenden 
Sporen von Aspidium Filix mas, 
einer mit Aspidium violascens ſehr nahe 
verwandten Farnſpecies, zuſammengeſtellt. 

Vergleichen wir Fig. 3 mit neben— 
ſtehender Fig. 4, ſo finden wir in 
letzterer gar nichts Neues, als daß an 
der Stelle der mütterlichen Prothallium— 
zelle, aus welcher der Adventivſproß her— 


\ 


2 


Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 19 


vorging, hier (in Fig. 4) die Sporenhaut 
sp, sp liegt, in welcher der Fuß des proto— 
nematiſchen Sporenprothalliums ſteckt. 

In A und B Fig. 4 ſehen wir 
die normalen Anfänge zu ganz regel— 
rechten Sporenprothallien. 
ſich am Scheitel des Protonemas bereits 
die Zellfläche. 

C und D find zwei gabelig ver— 
zweigte Protonema, die erſt 11½ Monate 
lang auf Torf, dann aber noch einen 
Monat lang unter Waſſer kultivirt 
wurden. 

E ein junges Sporenprothallium 
(Protonema), deſſen Fuß gabelig ver— 
zweigt iſt (1 Monat und 20 Tage alt, 
auf Torf kultivirt). 

F, G, H und J auf ſehr feucht 
gehaltenem Torf kultivirt. Dieſe Fi— 
guren ſind ohne weiteres ſelbſtverſtänd— 
lich; ſie gleichen ſo ſehr den fädigen 
Adventivprothallien von Aspidium vio— 
lascens (Fig. 1), daß wir fie nach der 
Entfernung der Sporenhäute gar nicht 
mehr von einander zu unterſcheiden ver— 
möchten. 

Nachdem wir die thatſächlichen Re— 
ſultate unſerer Beobachtungen verglei— 
chend zuſammengeſtellt haben, erübrigt 
uns noch, dieſelben nach ihrem phylo— 
genetiſchen Werthe zu prüfen. Ohne Mühe 
laſſen ſich daraus Argumente gewinnen, 
die — mit den anderweitigen entwick— 
lungsgeſchichtlichen Befunden in Einklang 
ſtehend — ſehr geeignet erſcheinen, um 
auf die Phylogeneſis der Polypodiaceen 
und der Farne überhaupt einiges Licht 
zu werfen. 

Für den Biologen iſt es keine Frage, 
daß die Mooſe einſtmals aus grünen 
verzweigten Waſſer-Algen hervorgingen. 


Bei B bildet 


Daß dem ſo iſt, zeigt uns heute noch 
das Keimpflänzchen aus der Laubmoos— 
Spore, das ja als vielverzweigter Vor— 
keim (Protonema) mit fädigen, ver— 
zweigten Algen ſo große Ahnlichkeit hat, 
daß der Uneingeweihte dasſelbe leicht für 
eine Confervacee anſieht. Der Laubmoos— 
vorkeim rekapitulirt die Entwicklungs— 
ſtufe der algenähnlichen Vorfahren der 
Mooſe überhaupt. Es iſt auch gezeigt 
worden, daß der Uebergang vom kon— 
fervenartigen Vorkeim der Laubmooſe 
zum beblätterten Moosſtämmchen keines— 
wegs ein unverſtändlich-ſchroffer, ſondern 
ein leicht kontrollirbarer iſt und wir 
haben uns daran gewöhnt, im algenähn— 
lichen Laubmoosvorkeime ſelbſt die höher 
differenzirte beblätterte Stengelpflanze 
morphologiſch vorgezeichnet zu ſehen. 
Bekanntlich verhält ſich ja das fädige 
Moos-Protonema lange Zeit, monate, 
ſogar jahrelang als ſelbſtändige 
Pflanze, die erſt unter günſtigen Um— 
ſtänden durch die Bildung beblätterter 
Sproſſe aus ihrem Algen-Stadium heraus- 
tritt, die niedrige Entwicklungsſtufe ihrer 
Vorfahren verlaſſend. 

Wenn wir nun ferner in Betracht 
ziehen, daß die niederſten Mooſe, aus 
der Abtheilung der Lebermooſe, ſich bis 
heute noch nicht über die Differenzirung 
eines Thalloms hinaus erhoben haben, 
ſondern immer noch einen Thallus dar— 
ſtellen, der weder Stamm noch Blätter 
unterſcheiden läßt und an ſeinen niedri— 
gen vegetativen Thallom-Teilen die Ge— 
ſchlechtsorgane bildet, die im Weſent— 
lichen dieſelben ſind, wie die Archegonien 
und Antheridien am Farn-Prothallium, 
ſo finden wir hier die Brücke in der 
Differenzirung der Farnkräuter 


20 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 


aus lebermoosartigen Vorfahren. 
Der Aufbau des Farnprothalliums und 
die Entwicklung ſeiner Geſchlechtsorgane 
erinnert fo ſehr an die morphologiſche 
Ausſtattung der niedrigen Lebermooſe, 


daß ſich hier — ſelbſt für den ober— 
flächlichen Beobachter — die genetiſche 
Verwandtſchaft zwiſchen Farnprothallien 
einerſeits und Lebermoos-Thallus ande— 
rerſeits unwillkürlich aufdrängt. 


Fig. IV. 
den 


Dieſe beiderlei Objekte ſcheinen faſt 
ausſchließlich darin ſich verſchieden zu 
verhalten, daß der Lebermoos-Thallus 
ſich beliebig verzweigt, während die Ver— 
zweigung des Farn-Prothalliums in der 
Regel unterbleibt. 


Protonematiſche Prothallien aus keimen— 
Sporen von Aspidium Filix mas. 


Vergrößerung 72. 


. Keimende Spore, 25 Tage nach der Ausſaat, 
auf feuchtem Torf. Gez. 30. Jan. 1879. 
. Keimpflanze, 2 Monate 7 Tage nach der 
Ausſaat auf Torf. Gez. 12. März 1879. 
C. Keimpflanze, erſt 1½ Monate auf Torf, 
dann einen ganzen Monat unter Waſſer 
kultivirt. 
. Ebenſo, alſo 2½ Monate nach der Ausſaat. 
. Keimpflanze, 1 Monat 20 Tage alt, auf 
Torf kultivirt. 
G, H und J, Keimpflanzen, 2 Monate alt, 
auf Torf kultivirt. 


Gez. 20. März 1879. 


Gez. 25. Febr. 1879. 


Gez. 27. März 1879. 


Wenn wir nun aber ſehen, daß 
die Prothallien der Bolypodiaceen 
unter gewiſſen Umſtänden ſich 
ganz regelmäßig verzweigen, indem 
ſie bei andauernder längerer Überſchwem— 
mung eine Menge von Adventiv-Sproſſen 


Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 21 


bilden, die ſich in allen Beziehungen 
ganz ähnlich verhalten, wie die jungen 
Prothallien, die aus den keimenden Farn— 
Sporen hervorgehen; wenn wir ſehen, 
daß die morphologiſche Gliederung der 


überſchwemmten Prothallien ſich in ähn— | 


licher Weiſe geſtaltet, wie die Gliederung 
niedriger Lebermooſe; wenn wir ſehen, 
daß die vegetativen Zellen alter Farn— 
Prothallien in der Regel bei langan— 
dauernder Überſchwemmung konferven— 
artige Vorkeime treiben, ganz ähnlich, wie 
die keimenden Moos- und Farnſporen: 
ſo glauben wir hierin eine Hypotheſe 
beſtätigt zu ſehen, die im Farn-Prothal— 
lium die Wiederholung eines Stücks der 
Stammesgeſchichte unſerer Farne erblickt. 
Dadurch gewinnen denn auch die 
protonematiſchen, konferven-artigen Ge— 
bilde, die den Anfang zu den Sporen— 
Prothallien, wie zu den überſchwemmten 
Adventiv-Prothallien der Polypodiaceen 
bilden, eine untrügliche Bedeutung 
Dieſe Zellreihen, die — wie wir oben 
geſehen haben — ſich auch verzweigen 
können, ſind die Analoga der fädigen, 
konfervenartigen Moosvorkeime und als 
ſolche ſtellen ſie eine tiefere Enwicklungs— 
ſtufe der Vorfahren unſerer Farne dar, 
jener Vorfahren, die als konfervenartige 
Waſſeralgen die Stammeltern der nie— 
drigen Lebermooſe darſtellten, aus wel— 
chen ſpäter die Farne hervorgingen. 
Unter dieſem Geſichtspunkte muß uns 
die regelmäßig auftretende Adventivſproß— 
Bildung überſchwemmter Farnprothallien 
doppelt wichtig erſcheinen. Durch die 
Überflutung verſetzen wir das 
Farnprothallium unter ähnliche 
äußere Verhältniſſe, unter denen 
die fernen Vorfahren der Farne 


% 


gelebt haben. Durch die Vererbung 
ſind dem Farnprothallium von ſeinen 
alten waſſerbewohnenden Vorfahren 
Eigenſchaften übertragen worden, die es 
befähigen, konfervenähnliche Sproſſe zu 
bilden, welche nur zur Entwicklung gelan— 
gen, wenn das Prothallium lange Zeit 
überflutet bleibt, während dieſe Fähig— 
keit nur latent vorhanden iſt, ſo lange das 
Prothallium als Landpflanze exiſtirt. 
Das Farn-Prothallium beſitzt dem— 
nach amphibiſche Gewohnheiten; es 
ſteht in ſeinem vegetativen und re— 
produktiven Verhalten in der Mitte 
zwiſchen ausſchließlichem Waſſerbe— 
wohnereinerſeits und demausſchließ— 
lichen Landbewohner andrerſeits. 

Das in Fig. 1 dargeſtellte Objekt, 
jenes bereits mit einem beblätterten Embryo 
und nebſtdem mit 150 Adventivſproſſen 
verſehene alte Farnprothallium repräſentirt 
ſammt ſeinen Anhängen die drei Haupt— 
Etappen auf dem Entwicklungs— 
gange der Farnkräuter überhaupt: 

a. Die protonematiſchen Adventivpro— 
thallien As, As repräſentiren die pri— 
mitive Entwicklungsſtufe der konferven— 
artigen, waſſerbewohnenden Vor— 
fahren der Lebermooſe, aus denen die 
Farne hervorgingen. 

b. Das Mutterprothallium ſelbſt reprä— 
ſentirt die zweite Etappe; die Entwick— 
lungsſtufe eines zur Bildung von Zwei— 
gen befähigten amphibiſchen Leber— 
mooſes, das wir als den Vorfahren der 
Polypodiaceen zu betrachten haben. 

c. Das beblätterte und bewurzelte 
Farnpflänzchen ſelbſt iſt die dritte Etappe, 
die in den geſchlechtsloſen, ſporenbilden— 
den eigentlichen Farnpflanzen zur Gel— 
tung gelangte Anpaſſung ans Land. 


22 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 


Somit hätten wir in dem proto— 
nematiſchen konfervoiden Anfang 
des Farnprothalliums, wie er ſich 
ſowohl bei der keimenden Spore als auch 
bei der Adventiv-Sproßbildung über— 
ſchwemmter Prothallien regelmäßig bildet, 
ſodann im flächenartig entwickelten 
Prothallium ſelbſt und endlich in der 
beblätterten, durch geſchlechtliche 
Befruchtung erzeugten ſporen— 
bildenden Farnpflanze — in die— 
ſen drei Hauptmomenten der On— 
togeneſis unſerer Farne eine ab— 
gekürzte, aber ſcharf ſkizzirte 
Wiederholung der Phylogeneſis. 

Auch die Sphäre der geſchlechtlichen 
und ungeſchlechtlichen Fortpflanzung und 
der hierbei zum Ausdruck gelangende 
Generationswechſel bei den grünen, fädi— 
gen Waſſeralgen einerſeits und bei den 
Farnen anderſeits bietet nicht mehr jene 
Schwierigkeiten der Vergleichung zwiſchen 
Stammeltern und Descendenten, wie das 
früher der Fall war. 

Auch bei den grünen konfervenartigen 
Algen treffen wir bereits einen regel— 
mäßigen Generationswechſel mit geſchlecht— 
licher und ungeſchlechtlicher Fortpflanzung. 
Ja, ſelbſt an der unterſten Grenze des 
pflanzlichen Geſchlechtslebens, dort wo ſich 
zwei gleichwertige Zooſporen zur Bildung 
einer Zygoſpore kopuliren, wie dies bei 
den Ulothricheen der Fall iſt, finden wir 
ſchon den Gegenſatz zwiſchen geſchlecht— 
licher und ungeſchlechtlicher Fortpflanzung, 
zwiſchen geſchlechtlicher und ungeſchlecht— 
licher Generation vorgezeichnet, und vom 
Standpunkt der vergleichenden Entwick— 
lungsgeſchichte ergiebt ſich zur Evidenz: 

1) Die Kopulation zweier anſcheinend 


gleichartiger Schwärmſporen, wie ſie 
z. B. bei Ulothrix zonata*) ſtattfindet, 
iſt der Prototyp aller geſchlechtlichen 
Vorgänge bei den höheren Pflanzen. Die 
eine der beiden kopulirenden Schwärm— 
ſporen iſt als Spermatozoid, die andere 
Schwärmſpore dagegen als Ooſphäre, 
Eizelle, „Keimbläschen“, zu betrachten. 

2) Die aus der Kopulation zweier 
Schwärmſporen hervorgehende Zygoſpore 
iſt das Analogon der Ooſpore bei den 
Ooſporeen und zugleich das Analogon für 
die durch geſchlechtliche Befruchtung er— 
zeugte geſchlechtsloſe Generation der 
Mooſe, die ſogenannte „Moosfrucht“. 

3) Die geſchlechtsloſe, ſporenbildende 
Farnpflanze, das Produkt eines Ge— 
ſchlechtsprozeſſes am Farnprothallium, iſt 
der geſchlechtsloſen Generation der Mooſe, 
alſo der ſogen. Moosfrucht gleichzuſetzen 
und ſomit als Analogon der Zygoſpore 
konfervenartiger Waſſeralgen aufzufaſſen. 

Es iſt unnötig, die Analogieen weiter 
auszuführen. Ich meine aber, daß durch 
die Entdeckung der regelmäßig 
eintretenden Adventiv-Sproßbil— 
dung an überſchwemmten Pro— 
thallien unſerer Farne ein wert— 
voller Ausgangspunkt für eine 
Reihe vielverſprechender neuer 
Unterſuchungen gewonnen iſt, die 
nicht verfehlen werden, auf die 
genetiſchen Beziehungen zwiſchen 
den Farnen und ihren ältern 
Stamm-Vorfahren neues Licht zu 
verbreiten. 


*) Vgl. Dodel-Port, An der untern Grenze 
des pflanzlichen Geſchlechtslebens. Kosmos, I. Bd., 
S. 219— 233. 


Die Sprache des Kindes, 


uch hier wohnen die Götter“ 


Philoſoph über die Thür 
einer niedrigen Hütte. „Auch 
hier wohnen und walten die 
Götter der Naturgeſetze!“ könnte man 
mit Recht über den kleinen Mund des 
ſtammelnden Säuglings ſchreiben, deſſen 
Lippen eben erſt ſich nur wie zu einem 
unbeholfenen Gezwitſcher eröffnen. Aber 
man denkt wenig daran, die Entwick— 
lungen dieſes lallenden Mundes zu be— 
obachten, ihre Eigentümlichkeiten zu er— 
forſchen, ihre Geſetze feſtzuſtellen, und 
doch ſcheint es, als ob von hier aus 
eine Fülle von Licht nicht blos auf 
ſchwierige Probleme der vergleichenden 
Sprachwiſſenſchaft, ſondern auch auf das 
vielumſtrittene Rätſel des Urſprungs und 
der Entſtehung der Sprache geworfen 
werden könne. Es iſt ſchwer, das Dunkel 
vergangener Aonen aufzuhellen — aber 
tritt nicht in jedem Kinde das Wunder 
der Sprachwerdung uns von neuem ent— 
gegen? Könnte man hier im Entwicklungs— 
prozeß des individuellen Lebens nicht 


ſchrieb einſt ein griechifcher- 


Von 


Vrof. Dr. Fritz Schultze. 


vielleicht die flüchtigen Erſcheinungen 
wiedererfaſſen, die im großen Strome 
der univerſellen Entwicklung längſt vor— 
übergerauſcht ſind? Es ſcheint mir ſo, 
und weit entfernt, alle Aufgaben, welche 
die Entwicklung der Sprache des Kindes 
uns ſtellt, gelöſt zu haben oder auch 
nur löſen zu können, möchte ich deshalb 
auf Grund meiner eigenen und der von 
andern gemachten ſpärlichen Beobachtun— 
gen wenigſtens eine Anregung zur Be— 
arbeitung des Problems geben; ich möchte 
die Perſpektiven eröffnen, in welche die 
Kinderſprache uns hineinblicken läßt, und, 
ſoweit ich es vermag, die Geſichtspunkte 
aufſtellen, unter denen mir der Gegen— 
ſtand behandelt werden zu müſſen ſcheint. 

Der Römer nannte den Säugling 
infans, ein Weſen, das nicht ſpricht. 
Warum kann das Kind noch nicht ſpre— 
chen? Die Frage ſcheint überflüſſig, ja 
thöricht, und doch, ſobald wir bedenken, 
daß dieſe Frage von den verſchiedenen 
metaphyſiſchen Standpunkten aus abſo— 
lut verſchieden beantwortet werden kann, 
daß ein Platon ſie ganz anders löſen 


24 Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 


* 


würde als ein Locke, oder ein Darwin, 


daß gerade in ihr — da in der Gewinnung 


der artikulirten Wortſprache doch erſt die 


eigentliche Menſchwerdung beſchloſſen liegt 
— alle anthropologiſchen und pſychologi— 
ſchen und damit überhaupt philoſophiſchen 
Streitfragen zuſammentreffen; ja, wenn 
wir bedenken, daß, wenn die Kinder 
gleich mit vollſtändiger Sprache geboren 
würden, dies eine abſolut andere als 
die beſtehende Weltordnung vorausſetzen 
würde, ſodaß mithin die wirklich vorhan— 
dene Sprachentwickelung des Kindes 
auch auf die wirklich exiſtirende Welt— 
ordnung mehr als irgend eine andere 
Erſcheinung einen erklärenden und bewei— 
ſenden Rückſchluß geſtattet: ſo wird die 
Frage jeden Schein von Trivialität ver— 
lieren und ſich als eine im höchſten Maße 
tiefſinnige und inhaltsreiche erweiſen. Es 
iſt indeſſen nicht unſere Abſicht, all' dieſe 
philoſophiſchen Abgründe hier auszumeſſen 
— wir beantworten die Frage hier einfach 
dahin: Das Kind kann nicht ſprechen, weil 
es weder körperlich noch geiſtig genügend 
entwickelt iſt. Es gilt nun aber dieſen Satz 
in ſeine einzelnen Faktoren aufzulöſen. 
Was zunächſt die körperliche Ent— 
wicklung anbetrifft, ſo muß natürlich vor 
allen Dingen der zum Sprechen nötige 
leibliche Apparat ſoweit ausgebaut ſein, 
daß, wie auf einem vollſtändigen muſi— 
kaliſchen Inſtrumente die Melodie, auf 
ihm die Polyphonie der Sprache ertönen 
könne. Dem Sprachinſtrument des Kin— 
des aber fehlen noch eine ganze Fülle 
von Saiten, Pfeifen und Regiſtern. Die 
Werkzeuge des Sprechens ſind die Lungen, 
die Luftröhre, der Kehlkopf mit den Stimm— 
bändern, die Mundhöhle mit Zunge, Gau— 
menſegel, Gaumen, Zähnen und Lippen. 


Dieſen geſammten Apparat können wir 
mit einer Orgel vergleichen, in welcher 
Lunge und Luftröhre den Windkaſten ver— 
treten, der Kehlkopf die Pfeife bildet und 
die Mundhöhle das Anſatzrohr iſt. Die 
Lunge erzeugt den Luftſtrom, der „Stimm— 
ton und die Kehlkopfgeräuſche““) bilden 
ſich im Kehlkopf; jenachdem die Stimm— 
bänder ſich weiter öffnen oder enger zuſam— 
mentreten, entſteht der tiefere oder höhere 
Ton. Daß nun der Ton gerade diejenige 
Form annimmt, die wir als den beſtimmten 
Vokal a oder o u. ſ. w. und den beſtimmten 
Konſonanten b oder fu. |. w. kennen, das 
iſt Sache des Anſatzrohres, deſſen in ſei— 
nen Teilen (Lippen, Zähne, Zunge u. ſ. w.) 
verſchiedener Stellung („Artikulations— 
form“ je ein beſtimmter Sprachlaut, 
Vokal oder Konſonant, entſpricht. 

Wenn wir zuerſt den Atmungsap— 
parat der Lungen in Betracht ziehen, ſo 
zeigt ſich ſogleich, daß dieſer ſich bei dem 
Kinde noch nicht in dem Maße ausgebaut 
hat, wie es für die Anforderungen, welche 
das artikulirte Sprechen an ihn ſtellt, 
notwendig iſt. Denn es bedarf, um 
dieſes hervorzubringen, erſtens eines 
ſtarken Ausatmungsſtromes, zwei— 
tens eines genau regulirten Aus— 
atmungsſtromes. Die vom verlänger— 
ten Mark aus innervirte Atmung geht 
bekanntlich ſo vor ſich, daß die Bruſt— 
muskeln den Bruſtkorb wie eine Har— 
monika auseinanderziehen; die Lungen, 
feſt und hermetiſch an die Innenſeite des 
Bruſtkorbes angeheftet, folgen dieſem Aus— 
dehnungszug, und in den ſich dadurch 
bildenden luftleeren Raum dringt nun 
von außen die Luft ein, die dann bei 

*) Sievers, Grundzüge der Lautphyſio— 
logie. Leipzig, 1876. S. 174. 


Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 


der nach dem Aufhören der Muskelſpan— 


nung eintretenden Verengerung der Bruſt⸗ 
die für das Sprechen ſo wichtigen Zähne. 


höhle wieder ausgeſtoßen wird. Wenn 


jo während der Einatmung die Bruſt- 


höhle in ihrem Breiten- und Tiefendurch— 
meſſer erweitert wird, erfährt ſie gleich— 
zeitig auch eine Vergrößerung in ihrer 
Längsachſe dadurch, daß das Zwerchfell 
bei der Inſpiration abwärts ſteigt, wäh— 
rend es bei der Ausatmung ſeine nach 
oben gerichtete Gewölbeform wieder ein— 
nimmt. Es zeigt ſich nun, daß bei dem 
Säugling die Bruſtmuskeln noch ſehr ge— 
ring entwickelt ſind, daß die Atmung viel 
mehr durch das Herabſinken des Zwerch— 
fells als durch eine kräftige Ausdehnung 
des Bruſtkorbes zu Stande kommt, und 
daß deshalb die Atembewegungen nicht 
blos oberflächlicher, ſondern auch unregel— 
mäßiger erfolgen als im ſpätern Alter.“) 
Das artikulirte Sprechen erfordert ja 
aber gerade ſtarke und regelmäßige Atem— 
züge; es erfordert, daß man nach ſeinem 
Belieben die eingezogene Luft in grö— 
ßeren oder geringeren Mengen wieder aus 
der Bruſt entlaſſen könne, daß man alſo 
im Stande ſei, den Atmungsmechanismus 
bald beſchleunigt wirken zu laſſen, bald 
ihn zu hemmen, alles Kraftäußerungen, 
die der Säugling noch nicht zu leiſten 
im Stande iſt. Dazu kommt, daß auch 
der Kehlkopf noch ſehr klein und in ſeiner 
Form noch unentwickelt, ſeine Muskulatur 
noch unfertig, die beliebige Spannung 
und Verengerung der Stimmbänder noch 
nicht möglich ift.”*) Ebenſo verhält es ſich 


*) S. Vierordt, Phyſiologie des Kindes— 
alters in Gerhard, Handbuch der Kinderkrank— 
heiten, Bd. I, S. 130 u. S. 131. 

) S. Henke, Zur Anatomie des Kindes- 
alters in Gerhardt, I. c. Bd. I, S. 300. 


25 


mit der Zunge, den Lippen und den ſie 
bewegenden Muskeln; gänzlich fehlen noch 


Als weiteres Hemmnis macht ſich die 
ungenügende Entwicklung des Gehörs 
geltend. Neugeborene Kinder ſind be— 
kanntlich gegen Geräuſche außerordentlich 
unempfindlich; die Trommelhöhle derſel— 
ben iſt bei der Geburt mit einer ſchlei— 
migen Subſtanz angefüllt, und wenn dieſe 
auch ſehr bald verſchwindet, ſo hat doch 
das Trommelfell noch nicht die ſenkrechte 
Stellung, in der es ſich ſpäter befindet; es 
ſteht vielmehr wagerecht, wodurch das 
Hören unzweifelhaft erſchwert wird.“) Be— 
obachtungen zeigen, daß durchſchnittlich erſt 
von der dritten bis achten Woche nach der 
Geburt an, das Kind klare und deutliche 
Gehörseindrücke empfängt. Das Gehör 
aber iſt es vorzugsweiſe, welches das 
Kind wahrſcheinlich rein reflektoriſch an— 
regt, die gehörten Schälle oder Laute 
mit den Stimmwerkzeugen nachzubilden, 
weshalb ja taubgeborene Kinder auch 
ſtumm bleiben. So lange mithin das Kind 
noch nicht klar hört, bleibt auch die An— 
regung zum Beginnen der Sprechverſuche 
aus, ſodaß alſo die unvollſtändige Aus— 
bildung des Ohres einen bedeutenden An— 
teil an der urſprünglichen Sprachloſig— 
keit des Säuglings hat. Wir werden, 
dem entſprechend, auch ſehen, daß der An— 
fang des erſten Lallens mit dem Beginn 
der eigentlichen Empfänglichkeit des Ohres 
für deutliche Eindrücke zuſammenfällt. 

Wir müſſen endlich noch den unfertigen 
Zuſtand des Gehirns, beſonders des Groß— 
hirns, ins Auge faſſen. Was hat aber die 
Gehirnentwicklung mit der Sprachentwick— 
lung zu thun? Alle Bewegung des menſch— 


— Vierordt, I. c. S. 200 f. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 


26 Fritz Schultze, Die 


lichen Körpers geht vom Nervenſyſtem aus. 


Auch die Sprache iſt, rein ihrer körperlichen 
Mechaniknach betrachtet, Musfelbewegung, | 


deren Innervation mithin richtig und voll— 


ſtändig funktionirende nervöſe Centralor- 


gane vorausſetzt. Nun finden alle diejeni— 
gen Bewegungen, welche wir als bewußte, 
intelligente und zweckmäßige bezeichnen, 
ihr Centralorgan in den Hemiſphären des 
Großhirns, mit deſſen Hinwegnahme wirk— 
lich ſpontane und intelligente zweckmäßige 
Handlungen bekanntlich nicht mehr zu 
Stande kommen. Es ſind aber unter allen 
intelligenten zweckmäßigen Bewegungs— 
erſcheinungen des Organismus die Sprech— 
bewegungen offenbar diejenigen, in denen 
Intelligenz und Zweckmäßigkeit im höch— 
ſten Grade zu Tage treten, und es wer— 
den daher die Muskeln der Sprachwerk— 
zeuge vor allem vom Großhirn aus in— 
nervirt müſſen. Einen Beweis dafür bildet, 
abgeſehen von den direkten Verſuchen von 
Hitzig und Fritzſch, Nothnagel, Fer— 
rier u.a., die intereſſante Krankheitserſchei— 
nung der Sprachlähmung oder Aphaſie. 
Der Patient ſtellt die Begriffe und Wör— 
ter völlig intakt vor, er hört ſie und ver— 
ſteht ſie, von anderen geſprochen, aber 
er iſt ſelbſt trotz aller Mühe durchaus 
nicht im Stande, ein Wort auszuſprechen, 
alſo die Muskeln ſeiner Stimmwerkzeuge 
in Bewegung zu ſetzen. In den meiſten 
Fällen zeigte ſich bei derartigen Leiden— 
den eine Zerſtörung eines Großhirnteiles, 
vorzüglich des hintern Drittels der unte— 
ren Stirnwindung und des Inſellappens.“) 
Was nun den Säugling anbetrifft, ſo 
zeigt die anatomische Unterſuchung gerade 
die Partie des Gehirns noch ſehr unvoll— 
kommen ausgebildet, durch welche die 

*) Vgl. Wundt, Phyſiol, Pſycholog. S. 229. 


Sprache des Kindes. 


Verbindung zwiſchen der Großhirnrinde 
und den Gehirnteilen an der Baſis des 
Gehirns hergeſtellt wird. Dieſe Verbin— 
dungslinie durchläuft von oben nach unten 
die Stationen vom Großhirn aus zum ſog. 
Linſenkern und Streifenhügel, von da 
durch den Hirnſchenkelfuß zum verlängerten 
Mark und Rückenmark. Die verbindenden 
Leitungsbahnen zwiſchen den vorderen 
Lappen des Großhirns und den Streifen— 
hügeln ſind aber eben beim Säugling noch 
ſehr unentwidelt*), ſodaß alſo in der noch 
mangelhaften Gehirnbildung uns ein fer— 
nerer Grund für die Unfähigkeit des Säug- 
lings zum Sprechen entgegentritt. 

Der zum Sprechen nötige körperliche 
Apparat befindet ſich bei dem Säugling 
noch nicht im Stadium der zureichenden 
Vollendung — aber auch die pſpychiſche 
Entfaltung ſteht noch weit hinter dem 
Maße des geiſtigen Hochdrucks zurück, 
ohne welchen das körperliche Hebelwerk 
der Sprachmaſchinerie gar nicht in Be— 
wegung geſetzt wird, auch wenn es ſonſt 
fertig entwickelt wäre. Das Sprüchwort 
ſagt: Wem das Herz voll iſt, fließt der 
Mund über. Wir interpretiren dieſen 
Satz dahin, daß, wer wirklich etwas zu 
ſagen hat, in wem der Vorſtellungsinhalt 
eine ſo mächtige Spannkraft entwickelt 
hat, daß für denſelben ein Ausweg ſich 
öffnen muß, daß dieſem die Sprache 
wie mit mechaniſcher Notwendigkeit vom 
Munde ſtrömt. Aber dieſe pſychiſche Span— 
nung, dieſer Hochdruck des Vorſtellungs— 
inhalts fehlt ja dem Säugling noch ganz 
und gar — er hat noch nichts zu ſagen, 
im Schreien entlädt ſich vorläufig noch 
zu voller Befriedigung ſein geſammter, 
in wenigen körperlichen Bedürfniſſen er— 

* S. Vierordt, 1. c. S. 182f. 


Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 27 


ſchöpfter Empfindungsinhalt, er fühlt des- 


halb auch noch nicht das Bedürfnis der 
Rede, es drängt ihn pſychiſch noch nicht, 
die körperlichen Bewegungen hervorzu— 
bringen, durch welche der Geiſt ſich nach 
außen projizirt, und wenn der kindliche 
Geiſt auch kraft der Vererbung weit 
entfernt iſt, eine tabula rasa zu ſein, 
ſo fehlen ihm anfangs doch noch alle 
rein empiriſch zu gewinnenden Vorſtel— 
lungen, die ihm aus der Außenwelt erſt 
in dem Maße zufließen können, als ſich 
derſelben die Thore ſeiner Sinne nach 
und nach und verhältnismäßig ſehr lang— 
ſam und ſtufenweiſe erſchließen. So wie 
das Tier während ſeines ganzen Lebens 
nicht genügend geiſtigen Inhalt beſitzt, 
um das zwingende Bedürfnis einer wirk— 
lichen Artikulationsſprache zu empfinden, 
ſo hat auch das Kind allerdings nur 
ungefähr in den erſten fünfzehn Monaten 
ſeines Lebens noch nicht den Vorſtellungs— 
inhalt, deſſen expandirende Kraft in 
Worten zum Vorſchein käme, und die 
Beobachtung des Ganges der pſpychiſchen 
Entwicklung zeigt uns deshalb auch die 
Thatſache, daß die Sprachäußerung, das 
eigentliche Erlernen der Sprache erſt da 
eintritt, wo nicht blos eine relativ ſehr 
bedeutende körperliche, ſondern auch eine 
relativ ebenſo bedeutende pſychiſche Ent— 
wicklung ſich ſchon vollzogen hat. 

Der Säugling, in den erſten Wochen 
faſt fortgeſetzt und ſpäter noch den größten 
Teil des Tages im Schlafe liegend, 
empfängt quantitativ wie qualitativ nur 
ſehr wenige Eindrücke von der Außen— 
welt; ein erſtes bewußtes, freudiges, wenn 
auch ſehr beſchränktes Verſtändnis für 


Eindrücke und Teilnahme an denſelben 
zeigt ſich in dem beginnenden Lächeln 


EB. 


des Kindes, und wir nennen deshalb auch 
die erſte noch ſtumpfe Epoche des Kin— 
des die des Säuglings (das ſog. dumme 
Vierteljahr), die zweite ſchon lichtere 
die des Lächlings. Aber der Lächling 


iſt noch nicht völlig Herr ſeines Seh— 


ſinnes; er vermag weder ſchon per— 
ſpektiviſch zu ſehen, noch hat er die 
Ausdauer, einen Gegenſtand im Blicke 
zu fixiren. Dies tritt erſt ein in der 
dritten Entwicklungsepoche, welche wir 
die des Sehlings nennen, und die des— 
halb von ſo grundlegender Bedeutung 
iſt, weil nun erſt, nachdem der Geſichts— 
ſinn völlig erſchloſſen iſt, die Fülle der 
Geſtalten in den kindlichen Geiſt ein— 
ſtrömt, und ein volleres, regeres und beweg— 
teres Vorſtellungsleben beginnt. Jetzt 
erſt, wo die Außenwelt mächtiger auf 
das Kind einſtürmt, wird es angeregt, 
nun auch ſeinerſeits thätig auf die Welt 
einzuwirken, indem es — ein neuer 
wichtiger Abſchnitt — nach den Dingen 
greift, ſie fortgeſetzt in die Hand nehmen 
will, ſie rüttelt und ſchüttelt, ſie betaſtet, 
an Mund und Naſe führt, und ſo eine 
Fülle neuer Merkmale entdeckt, die ihm 
das Sehen allein nicht vermitteln konnte. 
Der Sehling iſt zum Greifling gewor— 
den: erſt wo das Kind mit der Hand die 
Dinge erfaßt, begreift, behandelt, 
umgeſtaltet, beginnt ſein eigentliches 
Handeln, beginnt feine wahrhaft menſch— 
liche Wirkſamkeit. Aber noch beherrſcht 
der Greifling die Welt erſt auf Armes— 
länge; er kann noch nicht gehen, ſo 
müſſen die Dinge noch zu ihm, er kann 
nicht zu ihnen kommen, ſo ſteht es noch 
ſchlecht um ſeine Beherrſchung der Welt. 
Aber die Eindrücke, die nun ſchon durch 
alle Sinne einziehen, erregen mächtige 


28 Fritz Schultze, Die 


Begierden in dem Kinde, die fernen Dinge 
winken, locken, ziehen unwiderſtehlich an 
— es beginnt dem Zuge zu folgen, es 
rutſcht, kriecht, geht, läuft — es wird 
Läufling! und nun erſt gewinnt es aus 
ſeinem bisherigen, gewiſſermaßen pflanz— 
lichen Feſtgewurzeltſein die Freiheit, deren 
es bedarf, um in die Welt einzudringen 
und die Welt in ſich eindringen zu laſſen. 
Nun aber flutet die Fülle der gewon— 
nenen Vorſtellungen ſo gewaltig in ihm, 
nun wird die Spannung ſo überſtark, 
daß der pſychiſche Inhalt ſich Bahn bricht, 
daß er überſprudelt in der Sprache, daß 
das Kind in die Periode des Sprech— 
lings eintritt, wo nun eine Zeit lang 
nichts ſo zauberiſchen Reiz für das Kind 
hat, als das Üben und Lernen der ſchwie— 
rigen Kunſt, die mehr als alles andere 
den Menſchen an den Menſchen bindet.“) 
Nicht blos muß alſo erſt der geſammte kör— 
perliche Apparat, es muß auch erſt die 
Seele bis zu einem hohen Grade ent— 
wickelt ſein, ehe das Kind zu dem höchſten 
geiſtgeborenen Kunſtwerk, zu der Sprache, 
gelangen kann. 

Die Frage, warum kann das kleine 
Kind noch nicht ſprechen? haben wir da— 
mit, wenn auch nur in fkizzenhafter 
Weiſe, beantwortet, und wir gehen nun 
über zu der eigentlichen Sprachenentwick— 
lung ſelbſt. i 

Unter Sprache verſtehen wir im all- 
gemeinen alle diejenigen Mittel, durch 
welche ein empfindendes Weſen ſeine 
inneren pſychiſchen Vorgänge (Empfin— 
dungen, Vorſtellungen, Gefühle, Ge— 
danken) äußerlich kundgiebt. Dieſe äußer— 


liche Kundgebung beſteht allemal in 


) Sigismund, Kind und Welt, Braun— 
ſchweig, 1856. 


Sprache des Kindes. 


Bewegungserſcheinungen, die durch gewiſſe 
Teile des Körpers: Geſichtsmuskeln (Mi— 
mik), Gliederbewegung (Gliedergeberden), 
Stimmwerkzeuge (Lautgeberde und arti— 
kulirte Sprache) hervorgebracht werden. 
Wir unterſcheiden alſo: Geberden— 
ſprache und Wortſprache, und zer— 
legen die erſtere wieder in Gliedge— 
berdenſprache (Mimik, Geſtikulation) 
und Lautgeberdenſprache, welche 
letztere dadurch charakteriſirt iſt, daß in 
ihr nicht der Laut als ſolcher, ſondern 
die beſondere Modulation deſſelben die 
Beſonderheit der zum Ausdruck treiben— 
den Empfindung zu erkennen giebt; ſie 
umfaßt alſo das ganze Gebiet der In— 
terjektionen, dazu das Winſeln, Stöhnen, 
Achzen, Weinen, Lachen, Schreien u. ſ. w., 
bei denen ja bekanntlich ein und derſelbe 
Laut, z. B. ach!, in den allerverſchieden— 
ſten Modulationen, alſo zur Veräußer— 
lichung ſehr verſchiedener Empfindungen 
(Freude, Schmerz, Erſtaunen) hervorge— 
bracht wird. Hinſichtlich der Sprachent— 
wicklung des Kindes kommt alſo nicht 
blos die artikulirte, ſondern auch die 
Geberdenſprache in Betracht. 

Für den gebildeten Erwachſenen hat 
die Geberdenſprache eine ſehr geringe Be— 
deutung; bei dem neapolitaniſchen Lazza— 
rone ſpielt dieſelbe ſchon eine wichtige 
Rolle; unter verſchiedenen Stämmen der 
Indianer von Nord- und Südamerika bil— 
det die Geberdenſprache oftmals das ein— 
zige Verſtändigungsmittel, ja wir hören 
von wilden Horden, deren Wortſprache 
ſo unvollkommen iſt, daß ſie zur Ver— 
vollſtändigung derſelben der Geberden— 
ſprache gar nicht entraten können, ſodaß 
eine genügende Verſtändigung in dunkler 
Nacht nur am Lagerfeuer möglich ſein 


— ee 


Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 29 


ſoll. Das kleine Kind ſchreit; wir unter— 
ſcheiden ſehr wohl, ob ſeine Lautgeberde 
Hunger, Schmerz oder Zorn ausdrückt. 
Das etwas größere Kind macht eine ab— 
wehrende oder heranwinkende Handbewe— 
gung, es bedient ſich der Gliedergeberden— 
ſprache. Wir wiſſen aber, daß für das 
normal entwickelte Kind die Geberden— 
ſprache nur eine ſehr untergeordnete Be— 
deutung hat, weil die Erwachſenen in der 
Wortſprache und nicht in Geberden zu 
ihm reden und weil es die Dienſte, welche 
ihm die Wortſprache leiſtet, ſehr bald 
erkennt und zu würdigen weiß. Wir 
wiſſen aber auch, daß dem unglücklichen 
Kinde, welches taub geboren oder bald 
nach der Geburt taub geworden iſt und 
deshalb ſtumm bleibt, die Geberdenſprache 
die fehlende Wortſprache erſetzen muß, 
und es iſt tröſtlich zu ſehen, wie aus— 
drucksvoll ein ſolches Kind ſich in Ge— 
berden zu verſtändigen weiß, und welch 
relativ hoher Ausbildung dieſe vorzugs— 
weiſe an den Geſichtsſinn, und nur zum 
kleinen Teil auch an den Taſtſinn ſich wen— 
dende Sprache fähig iſt. Das taubſtumme 
Kind deutet entweder auf die von ihm 
gemeinten Gegenſtände, wenn ſie anwe— 
ſend und ſichtbar ſind, oder es zeichnet 
mit der Hand die Umriſſe des Gegen— 
ſtandes in die Luft, entwirft von ihm 
eine ſogenannte Luftzeichnung. Nicht aber 
als ob es den Gegenſtand mit all ſeinen 
Einzelheiten nachzeichnete, es bildet viel— 
mehr in aller Kürze nur das Merk— 
mal des Gegenſtandes nach, welches ihm 
beſonders aufgefallen iſt und ihm beſon— 


aber verſchiedenen Kindern an demſelben 
Gegenſtande, je nach den Umſtänden, unter 
denen er ihnen zuerſt oder hauptſächlich 


1 


entgegentrat, ſehr verſchiedene Merkmale 
als die beſonders charakteriſtiſchen auf, 
ſodaß alſo jedes Kind hinſichtlich ſeiner 
Ausdrucksweiſe in Geberden individuelle 
Eigentümlichkeiten und Abweichungen 
zeigt. Das eine Kind bezeichnet ſeinen 
Vater durch die geberdliche Nachahmung 
des Drehens am Barte, weil dieſes zu— 
fällig zu den Gewohnheiten ſeines Vaters 
gehört, ein anderes Kind hat eine andere 
Bezeichnung für denſelben; das eine Kind, 
wenn es auf ſeine Haare weiſt, meint 
ſeinen Bruder, weil derſelbe ſich durch 
rote Haare auszeichnet, das andere Kind 
hat für den Bruder eine durchaus ver— 
ſchiedene Bezeichnung. Trotz ſolcher in— 
dividuellen Abweichungen zeigen die taub— 
ſtummen Kinder aber, ohne daß ſie mit 
einander in Berührung traten, doch eine 
merkwürdige Übereinſtimmung in ihrer 
Geberdenſprache, ſodaß die Verſtändigung 
zwiſchen zwei ſich bis dahin fremden Kindern 
ohne weiteres vor ſich geht, was uns 
nicht wundern kann, da ja im Großen 
und Ganzen dieſelben Erſcheinungen auf 
die gleichmäßig organiſirten Weſen auch 
denſelben Eindruck machen und ſomit rein 
reflektoriſch auch denſelben Ausdruck in 
Mienen, Geberden u. ſ. w. auslöſen 
müſſen. Die individuellen Differenzen wer— 
den in der Anſtalt, in welcher die Kin— 
der gemeinſam unterrichtet werden, vol— 
lends abgeſchliffen zu einer allgemein gül— 
tigen Geberdenſprache, welche ſich zu den 
individuellen Beſonderheiten dann etwa 
verhält, wie die Schriftſprache zu den 


Lokaldialekten, und die dann in ihrer 
ders charakteriſtiſch erſcheint. Nun fallen 
chen zu verfügen weiß, ſodaß Erzählun— 


vollen Entwicklung über etwa 5000 Zei— 


gen, Gebete, Predigten u. ſ. w. in aus⸗ 


drucksvoller Weiſe in ihr zum Vortrage 


22 


30 Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 


gebracht werden können. Da die Geber— 
denſprache aber alles in anſchaubarer, 
ſichtbarer, alſo auch ganz ſinnlicher Weiſe 
darſtellen muß, rein begriffliche Abſtrak— 
tionen ſich aber in ſinnlicher, ſichtbarer 
Form nicht ausdrücken laſſen, ſo zeigt 
ſich klar, daß die Geberdenſprache doch 
in verhältnismäßig ſehr enge Grenzen 
eingeſchloſſen iſt, wie ja denn auch das 
Denken des Taubſtummen, der nicht auf 
die artikulirte Wortſprache hin und in 
ihr unterrichtet iſt, ein ſehr beſchränktes 
bleibt, und deshalb in der deutſchen Me— 
thode des Unterrichts der Taubſtummen 
in der Wortſprache eine wirkliche Ten— 
denz zur Erlöſung, Befreiung und Ent— 
wicklung des Geiſtes dieſer Stiefkinder 
der Natur liegt, gegenüber der franzö— 
ſiſchen Methode, die in der Ausbildung 
der bloßen Geberdenſprache ihre Befrie— 
digung findet. Intereſſant iſt es und ein 
ſchöner Beweis für die Einheitlichkeit der 
menſchlichen Geiſtesart, daß, wie ange— 
ſtellte Proben erwieſen haben, der euro— 
päiſche Taubſtumme, der Südſeeinſulaner, 
der Chineſe, die Lappländerin ſich unter 
einander ohne Weiteres lebhaft und ver— 
ſtändlich in der Geberdenſprache zu unter: 
halten wußten. Die Geberdenſprache des 
Kindes hat hier für uns nur eine neben— 
ſächliche Bedeutung; wir wenden uns 
unſerem eigentlichen Thema, dem Ent— 
wicklungsgang der Wortſprache des Kin— 
des, zu. 

Im Großen und Ganzen fällt die 
Ausbildung der kindlichen Wortſprache, 
das eigentliche Sprechenlernen des Kin— 
des in das 6., 7. und 8. Vierteljahr 
nach der Geburt. Die individuellen Ver— 
ſchiedenheiten ſind hier allerdings nicht 
gering; trotzdem laſſen ſich zwei allgemeine 


Sätze aufſtellen, erſtens der, daß die 
Mädchen früher und leichter ſprechen ler— 
nen als die Knaben; zweitens, daß das 
Sprechenlernen nach dem Laufenlernen 
eintritt. Damit ſoll nicht geſagt ſein, 
daß nicht viele Kinder ſchon Wörter ver— 
ſtehen, ja einige Wörter ſprechen können, 
noch ehe ſie den Laufkurſus begannen; 
im Gegenteil iſt dies faſt immer der Fall. 
Aber es iſt auch intereſſant, zu bemer— 
ken, wie das Kind, gewiſſermaßen nach 
der Maxime, daß man gründlich zur Zeit 
nur eines betreiben könne, während der 


Erlernung der Lokomotion die Sprach— 


entwicklung faſt ganz zur Seite ſchiebt 
und die linguiſtiſche Aufgabe erſt wieder 
aufnimmt, wenn die lokomotoriſche abge— 
ſchloſſen iſt. Nur bei kränklichen, beſon— 
ders rhachitiſchen Kindern kehrt ſich das 
Verhältnis um, und geht der Sprechling 
dem Läufling voran. Auch hinſichtlich 
des Anfangs der eigentlichen Sprach— 
erlernungsperiode ſind die individuellen 
Verſchiedenheiten ſo groß, daß man den 
Termin dieſes Beginns unmöglich nach 
Tagen, Wochen, ja ſelbſt nach Monaten 
ein für alle Mal fixiren kann. Wir kön⸗ 
nen daher jene ſchon oben angeführten 
Entwicklungsabſchnitte auch nur als rela— 
tive gegen einander abgrenzen, ſodaß die 
Länge der Dauer eines jeden Abſchnitts 
und der Beginn eines neuen je nach der 
günſtigeren oder ungünſtigeren körperlichen 
und geiſtigen Anlage der beſonderen kind— 
lichen Individualität variirt. Doch bleibt 
der allgemeine Satz dabei feſtſtehen, daß 
die eigentliche Spracherlernungsperiode in 
das 6., 7. und 8. Vierteljahr fällt, ſo— 
daß mit dem Ende des 2. Lebensjahrs 
das normal entwickelte Kind im Stande 
it, ſeine Meinung in einem kleinen aſyn⸗ 


Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 


thetiſchen Satze darzuſtellen. Mit alledem 
iſt aber auch wiederum keineswegs geſagt, 
daß der erſte elementarſte Anfang 
der Sprachentwicklung überhaupt 
nicht ſchon viel früher gemacht würde; 
in der That, er tritt ſchon ein in der 
erſten Entwicklungsperiode beim Säug— 
ling, ja, wir können das Schreien, in 
welchem der vokaliſche Laut ä zu Tage 
tritt, und müſſen es ſogar ſchon als 
erſten elementaren Anfang betrachten. Wir 
betonten aber oben, daß das Gehör in— 
takt und entwickelt ſein müſſe, wenn von 
ihm aus das Kind zur Nachbildung ge— 
hörter Laute angeregt werden ſolle, und 
ſetzten den Zeitpunkt, von wo an dieſes 
der Fall ſei, ungefähr in die dritte 
Lebenswoche. Die Wirkung des um dieſen 
Termin erſchloſſenen Hörſinnes zeigt ſich 
nun bald. Ungefähr in der Mitte des 
erſten Vierteljahres hört man plötzlich 
aus dem Munde des behaglich daliegen— 
den Kindes die lieblichen Klänge hervor— 
brechen, welche man als Lallen oder 
Papeln bezeichnet. Es ſind die Laute: 
Ma, Ba, Bu, die als Mamamama ..., 
Babababa . . . ., Bubububu . . .. (letzte⸗ 
res zwiſchen B und W) in raſcher Folge 
hinter einander erſcheinen; dazu ebenſo 
in raſcher Wiederholung Appa-appa— 
appa . . .., anne⸗anne⸗anne .. .., auch 
ebub-ebub⸗ebub . . . .; dazu tritt noch ein 
durch Vibriren der Lippen erzeugtes 
Brrrr. . . . und ein, wie mir ſcheint, gut- 
turales erre-erre, das ſich aber bald 
völlig wieder verliert. Vielfach zeigt 
ſich auch ein hä, hä, hä (kurz das ä) 
unter den erſten Lauten. 

Ein Fortſchritt wird hinſichtlich dieſer 


Lalllaute im zweiten Vierteljahre nicht 
gemacht, ja es kann vorkommen, daß 


31 


dieſelben wochenlang ganz unterbleiben. 
Aber mit dem dritten Vierteljahre 
tritt eine neue Entwicklungsphaſe ein.“) 
Immer deutlicher bildet ſich der Ge— 
hörſinn des Kindes aus; war es bisher 
nur im Stande, paſſiv zuzuhören, 
ſo kommt es jetzt dahin, aktiv hören 
zu wollen, es beginnt mit Aufmerk— 
ſamkeit zu horchen. Es findet freu— 
diges Intereſſe an Tönen und Klängen. 
Es hört draußen den Hund bellen und 
will ans Fenſter, ihn zu ſehen; es hört 
draußen die Stimme ſeiner Mutter und 
beginnt freudig zu zappeln; nach dem 
Rhythmus einer leicht ins Ohr fallenden 
Muſik hüpft es auf dem Arme ſeiner 
Wärterin; mit großem Vergnügen rüttelt 
und ſchüttelt es ſelbſtthätig ſeine Klapper. 
Alles das zeigt, wie das Hören ihm 
Luſtgefühle erweckt, deren Wiederholung 
es horchend herbeiwünſcht. Der ſtärkeren 
Anregung entſpringen nun neue Lall— 
laute, es treten zu den früheren hinzu 
die Laute: bäbäbäbä . . ., dädädädä . . . ., 
(das ä kurz); dazu ein gedehntes fu-fu-fu, 
das auch oftmals als ein fbusfbu er- 
ſcheint. Alle dieſe neuen Laute, ebenſo 
wie die älteren, werden jetzt mit viel 
mehr Kraft ausgeſtoßen, als es bei den 
älteren im Anfang der Fall war. Über— 
haupt iſt es mit dem ſchläfrigen Schreien, 
wie es im erſten ſogen. dummen Viertel— 
jahre als langgedehntes ä—ä ä zu Tage 
trat, vorbei — das Schreien klingt ſehr 
energiſch, helle Jubeltöne laſſen ſich 
hören, und das Kind liebt es, viele 
Minuten lang ſeine Reduplikationen wie 
dädädädä, babababa ꝛc. mit großer 
Geſchwindigkeit zu üben. 


*) Man vergl. hierüber auch Sigismunds 
Darſtellung der betr. Entwicklungsepochen. 


N 


n 


32 


Das Ergebnis dieſer erſten drei Vier— 
teljahre find alſo die Lalllaute: Ma, 
Ba, Bu, Appa, Anne, Ebub, Bä, Fä, 
Fu, Fbu. Darin treten alſo auf die Vo— 
kale: A (ſchon im erſten Schreien erſchei— 
nend, ſpäter als Lalllaut verwendet), A 
und U; und an Konſonanten die Lippen— 
laute P, B, M, F und die Zungen— 
laute D und N; dazu das gewiſſermaßen 
zwiſchen Vokalen und Konſonanten 
ſtehende H. 

Warum verfügt denn das Kind in 
ſeiner Konſonantur zuerſt nur über Lip— 
pen- und Zungenlaute? Doch wohl 
deshalb, weil durch die Ernährungsthä— 
tigkeit des Kindes, durch das Saugen, 
gerade die Muskulatur der Lippen und 
Zungen zuerſt geſtärkt und gekräftigt 
wird. Beim Saugen müſſen ſich näm- 
lich zuerſt die Lippen feſt und hermetiſch 
um die Nahrungsquelle (die Bruſtwarze 
oder deren Erſatz) herumlegen; jetzt muß 
die Zunge rückwärts gezogen werden; 
dadurch entſteht ein luftverdünnter Raum 
im Munde, in welchen nun die Nahrungs- 
flüſſigkeit eintritt; fo werden alſo gerade 
durch das Saugen Lippen und Zunge 
fortgeſetzt in Anſpruch genommen und 
geſtärkt. An Konſonanten finden ſich beim 
Kinde alſo zuerſt nur die ſieben: P, 
B, M, F, D, N, H; und es iſt inter⸗ 
eſſant, daß dies beinahe dieſelben Lippen— 
und Zungenlaute ſind, welche ſich als 
die einzigen in den Sprachen gewiſſer 
Naturvölker finden. So zeigen die Süd— 
ſeedialekte von Rimatara, Rurutu, Tubuai, 
Raivavai nur die ſieben Konſonanten: 
P, W, M, T, N, Ng und R (welches 
letztere, wie oben geſagt, ja unter den 
Lalllauten auftritt, aber nur um ſehr 
bald völlig zu verſchwinden, und in der 


Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 


eigentlichen ſpäteren Hauptſpracherler— 
nungsperiode erſt wieder hervorzutreten). 
Die Maori Neuſeelands haben die neun 
Konſonanten P, W, M, T, N, H, R, K 
(welches letztere erſt im letzten Stadium 
der Sprachentwicklung vom Kinde her— 
vorgebracht wird). 

Schon hier erklärt uns die Kinder— 
ſprache das Rätſel, warum über den 
ganzen Erdkreis bei allen Völkern das 
Wort für Vater und Mutter gebildet 
iſt aus einem Vokal in Verbindung ent- 
weder mit einem Lippen- oder einem 
Zungenlaut und daher überall lautet: 
Papa, Mama, Baba, Wawa, Fafa, 
Nana, Dada u. ſ. w. Es ſind das die 
erſten artikulirten Silben, die das Kind 
aus dem oben angeführten phyſiologiſchen 
Grunde überhaupt zu bilden vermag, 
und es iſt ſehr begreiflich, daß die 


— 


Eltern dieſe erſten Lalllaute des Kindes, 


gewiſſermaßen ſeine erſte Anrede an 
Vater und Mutter, auf ſich bezogen und 
davon ihren Namen empfingen. Hin⸗ 
ſichtlich der europäiſchen Sprachen iſt die 
Thatſache bekannt genug; es zeigt ſich aber 
auch, daß in 57 bei Lubbock') angeführten 
Negerſprachen der Vatername labial 
Papa, Baba, Wawa, Fa, Tafa, in 17 
Negerſprachen lingual Da, Dada, Tada, 
Ada, Oda lautet; daß der Mutter- 
name in 15 Negerſprachen labial als 
Ba, Ma, Mama, Ama, Omma, in 33 
Negerſprachen lingual als Na, Nana, 
Ne, Ni, Pde erſcheint. 

Aus dem Lallen des Kindes erklärt 
ſich uns ferner auch die bekannte Nei— 
gung der Kinderſprache zur Bildung von 
Reduplikationen, wie ſie uns ja ſchon in 
Papa und Mama entgegentreten. Das 


*) Origins of eivilisation p. 323 fgde. 


ey 


3 


Fritz Schultze, Die 


Lallen beſteht ſelbſt ja in nichts anderem, 
als einem fortgeſetzten Wiederholen der— 
ſelben Silben, die Gewohnheit bleibt 
und überträgt ſich auch auf ſpätere 
Wortbildungen, wie Memmen ( eſſen), 
Mille-mille — Milch), Täub-täub — 
Taube), Wauwau u. ſ. w. Auch dieſe 
Erſcheinung findet ihre Analogie in dem 
häufigen Vorkommen ſolcher Redupli— 
kationswörter in den Sprachen der 
Naturvölker. Nach Lubbock finden 
ſich im Engliſchen, Deutſchen, Fran— 
zöſiſchen, Griechiſchen auf 1000 Wörter 
nur ungefähr 2— 3 ſolcher Verdopp— 
lungswörter, im braſilianiſchen Tupi 
dagegen 66, im Hottentottiſchen 75, im 
Tonga 166 und im Neuſeeländiſchen 169, 
wie z. B. ahi-ahi —= Abend, aki-aki — 
Vogel, awa-awa = Thal, awanga-wanga 
— Hoffnung u. ſ. f. 

Wenn uns auch im Lallen der erſten 
drei Vierteljahre offenbar ſchon höchſt 
wichtige elementare Anfänge des Spre— 
chens entgegentreten, ſo kommt der eigent— 
liche große Prozeß der Sprachbildung 
doch, wie ſchon gejagt, erſt ſpäter zu 
Stande. Ehe wir aber dazu übergehen, 
ihn zu ſchildern, müſſen wir erſt noch 
der wichtigen Thatſache Erwähnung thun, 
daß das Kind die Bedeutung vieler zu 
ihm geſprochenen Wörter ſchon verſteht, 
ehe es ſelbſt mit dem Verſuche beginnt, 
ſie nachzuſprechen, daß alſo das Ver— 
ſtehenlernen der Wörter dem Sprechen— 
lernen vorangeht. Das kann uns nicht 
Wunder nehmen. Es hörte und ſah 
z. B. häufig den Hund bellen, es wurde 
ihm dabei ſtets der ſchallnachahmende 
Laut Wauwau vorgeſagt. Dieſer Laut 
Wauwau und das Gehör- und Geſichtsbild 
des bellenden Hundes verſchmelzen nach 


Sprache des Kindes. 33 


bekannten pſychologiſchen Geſetzen in ihm, 
ſo daß der geſprochene Laut Wauwau 
in ihm die Vorſtellung „Hund“, wie 
der geſehene und gehörte Hund in ihm 
das Lautbild Wauwau naturgemäß er— 
weckt, ſo daß alſo es nunmehr verſteht, 
was Wauwau bedeutet, was das Wort 
heißt. So geht es aber in all den 
Fällen, welche im Leben des Kindes 
häufiger hervortreten und ſein Intereſſe 
erwecken, wie Licht, Fenſter, Straße u. ſ. f., 
und Sigismund „Kind und Welt“ 
giebt an, daß ſein Knabe die Bedeutung 
von mehr als zwanzig Wörtern ſchon 
gekannt habe, ehe er ſie ſelbſt nachzu— 
ſprechen angefangen hätte. Bei vielen 
Wörtern, wie z. B. lobenden oder 
tadelnden, Freude oder Trauer aus— 
drückenden Interjektionen (pfui, ei u. 
ſ. w.) erkennt das Kind die Bedeutung 
derſelben auch ſehr bald aus der be— 
gleitenden drohenden oder freundlichen 
Miene des Sprechenden, und Eſchricht 
in ſeinem Vortrage: „Wie lernen Kinder 
ſprechen?“ Berlin, 1853 (der, nebenbei 
geſagt, das eigentliche Problem, welches 
in jener Frage liegt, ſo gut wie gar 
nicht berührt, ſondern ſich vorzugsweiſe 
auf die Taubſtummheit der Kinder be— 
zieht), hat recht, wenn er (S. 17) dar— 
auf aufmerkſam macht, daß das Kind, 
während es auf die Anrede horcht, nicht 
den Mund, ſondern das Auge und die 
Mienen des Sprechenden betrachte, um 
den allgemeinen Sinn der Rede daraus 
zu entnehmen. So verſteht das Kind 
eher und beſſer die Worte, als es ſelbſt 
ſie zu ſprechen vermöchte, gerade wie 
auch der Hund wohl den Sinn gewiſſer 
Worte ſeines Herrn verſteht, ohne daß 
er ſie ſprechen könnte, gerade wie auch 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 


= 


34 Fritz Schulze, Die Sprache des Kindes. 


wir eine fremde Sprache leichter und 
beſſer verſtehen, als wir uns in ihr 
ausdrücken können. 

Wir wenden uns nun der Schilde— 
rung der Sprachentwicklung in der eigent— 
lichen Sprechlingsperiode zu und werfen 
hier zuerſt die Frage auf, in welcher 
Reihenfolge das Kind die Lautele— 
mente der Sprache, Vokale und Konſo— 
nanten, allmählich in ſeine Gewalt bringt. 
Hier beſtätigt die Beobachtung den all— 
gemein giltigen Satz, den ich als das zu 
Grunde liegende Geſetz hinſtellen möchte, 
daß die Sprachlaute im Kinder— 
munde in einer Reihe hervorge— 
bracht werden, die von den mit 
der geringſten phyſiologiſchen 
Anſtrengung zu Stande kommen— 
den Lauten allmählich übergeht 
zu den mit größerer, und endet bei 
der mit größter phyſiologiſcher 
Anſtrengung zu Stande gebrach— 
ten Sprachlauten. Unter phyſiolo— 
giſcher Anſtrengung verſtehen wir hier 
das Maß der Nerven- und Muskelarbeit, 
welche nötig iſt, um die zur Hervor— 
bringung eines Sprechlautes notwendige 
Stellung der Stimmwerkzeuge herbeizu— 
führen. Dieſes Geſetz bezieht ſich auf 
die Vokale wie auf die Konſonanten. 
Betrachten wir zuerſt die Vokaliſation. 

Man muß nach Helmholtz zwei 
Reihen von Vokalen unterſcheiden, näm— 
lich die Reihe 

A — O — U 
und die Reihe 

AE 

Bei den Vokalen A, O, U bildet 
die Mundhöhle vom Kehlkopf an bis zu 
den Lippen nur eine einzige ununter— 
brochene Schallröhre, die ſich an keiner 


Stelle verengert; es iſt alſo auch nur 
ein einziger Schallraum vorhanden, 
mithin bildet ſich auch nur ein Reſonanz— 
ton, ſodaß alſo A, O, U die Vokale 
mit einem Reſonanzton ſind. Bei 
den Vokalen A, E, J, O, U dagegen 
wird durch die Erhebung des vorderen 
Teiles der Zunge nach dem harten Gau— 
men hinauf eine Verengerung, ein Spalt 
zwiſchen Zunge und hartem Gaumen ge— 
bildet, ſodaß die Schallröhre, welche vor— 
her nur einen Schallraum bildet, jetzt 
deren zwei, einen vorderen und einen 
hinteren, beſitzt. In Folge davon ent— 
ſtehen zwei Reſonanztöne, ſodaß A, E, 
J, O, Ü die Vokale mit zwei Re— 
ſonanztönen ſind. 

Um A hervorzubringen, wird der 
Mund nur mäßig geöffnet, die Zunge 
zieht ſich nur um ein geringes aus ihrer 
„Indifferenz — oder Ruhelage“, d. h. 
aus der Lage, in welcher ſie ſich beim 
ruhigen Atmen befindet, nach rückwärts; 
bei O wird die Zunge um etwas weiter 
zurückgezogen und zugleich der Lippenſpalt 
um etwas verengert; bei U wird die 
Zunge in ihrer Geſammtheit am weiteſten 
nach rückwärts gezogen und mit ihrem 
hinteren Theil gegen den Gaumen er— 
hoben, während die ein wenig vorge— 
ſtreckten Lippen ſich zu einer engen, kreis— 
förmigen Offnung zuſammenziehen. 

Bei A, E, J wird, wie oben ge— 
ſagt, der vordere Theil der Zunge gegen 
den harten Gaumen erhoben, und zwar 
am wenigſten bei A, mehr bei E, am 
meiſten bei J, bei welchem letzteren alſo 
zwiſchen erhobener Zungenſpitze und har— 
tem Gaumen nur ein enger Spalt übrig 
bleibt, durch welchen der Luftſtrom aus— 

) Sievers, Lautphyſiologie, S. 15. 


r 


Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 


fließt. Bei O und U verhält ſich die 
Zunge faſt ebenſo wie bei E und J, 
nur daß bei O und U noch hinzukommt, 
daß die Lippen kreisförmig verengert 
werden, ähnlich wie bei O und U. 

In welcher Reihenfolge treten nun 
die Vokale in der Kinderſprache allmäh— 
lich hervor? Meine Beobachtungen, die 
in ihren Ergebniſſen mit denen Sigis— 
munds ſehr gut übereinſtimmen, zeigen 
als den erſten Vokal das A, welches 
ſchon im Schreilaut erklingt, als zweiten 
A, welches in ſehr reiner Weiſe ſchon 
im Papeln hervortritt; dann folgt U, 
O tritt erſt nach U auf. Der Grund da— 
von iſt wohl folgender: A und U bilden 
in der Reihe A, O, U infofern die Ex— 
treme, als bei A Lippen und Zunge am 
wenigſten, bei U am meiſten aus der 
Indifferenzlage gerückt ſind. O liegt in 
dieſer Hinſicht in der Mitte; es ſcheint 
alſo dem Kinde eher zu gelingen, gewiſſer— 
maßen im Anlauf, die der A-Stellung 
extrem entgegengeſetzte U-Stellung zu 
gewinnen, als in exakter Weiſe die feine 
Mittelſtellung des O zu erlangen, wozu 
offenbar ſchon ein geübteres und ausge— 
bildeteres Akkomodations- und Inner⸗— 
vationsgefühl gehört, wie ja doch überall 
die ſchroffer hervortretenden Gegenſätze 
leichter erfaßt werden, als die dazwiſchen 
liegenden feineren Übergangsnuancen. 

E, J, O, U treten ſämmtlich erſt 
nach den ſoeben genannten Vokalen (A, 
A, U, O) hervor, was nicht Wunder 
nehmen kann, da bei ihnen allen die phy— 
ſiologiſche Anſtrengung eine ſehr große 
iſt; muß doch bei allen der vordere Teil 
der Zunge beträchtlich gehoben, und bei 
O und U auch noch eine ſchwierige Lip— 
penſtellung hervorgebracht werden. Die 


35 


Schwierigkeit wächſt aber in der Reihe 
bei jedem folgenden Vokal um einen 
Grad, und ſo kommt es, daß zuerſt von 
ihnen E geſprochen wird, J aber über— 
haupt erſt ſehr ſpät ſich einſtellt. O, 
beſonders aber U machen dem Kind enorme 
Schwierigkeiten, es ſetzt zuerſt trotz alles 
Vorſprechens ſtets E und J dafür z. B. 
ſchen ſtatt ſchön, iber ſtatt über, wie in 
vielen deutſchen Dialekten. 

Wir ſagten, auch E trete erſt nach 
A, A, U, O hervor, nämlich das lange 
E iſt gemeint, welches wir in See, geh 
u. a. ſprechen. Denn der Laut hähähä, 
den das Kind ſchon in der Papelperiode 
ausſpricht, enthält ein wirkliches ä, das 
vom Kinde wegen ſeines ſchwächlichen 
Exſpirationsſtromes nur ſehr kurzatmig, 
gewiſſermaßen nur als Achtelnote, nicht 
als ganze Note hervorgeſtoßen wird. Fer— 
ner iſt das E, welches wir eben in den 
Papellauten anne-anne, oder ange-ange 
geſchrieben haben, nicht das E in See 
und geh, ſondern der Laut, welcher ent— 
ſteht, wenn wir z. B. nicht Tan- nén oder 
fän-gen, ſondern wie gewöhnlich Tänn'n, 
fäng'n ausſprechen. Die Vokale treten 
alſo in folgender Reihe nach einander 
in dem Entwicklungsprozeß des kindlichen 
Sprechens hervor: A, A, U, O, E, J, 
O, U, eine Reihe, in der hinſichtlich der 
phyſiologiſchen Anſtrengung eine allmäh— 
liche Steigerung ſtattfindet. Die Diph— 
tonge folgen ſich meinen Beobachtungen 
nach in dieſer Reihe: zuerſt Ei (ſchon 
ſehr früh, früher als E und I), dann 
Au (zuerſt durch A erſetzt), zuletzt Eu 
und Au, wofür das Kind anfänglich ſtets 
Ei ſagt. 

Gehen wir jetzt zu den Konſonanten 
über. Auch hier müſſen wir erſt einige 


2, 


FF 


Ergebniſſe der lautphyſiologiſchen Unter 
ſuchungen voranſchicken. Die Konſonan— 
ten entſtehen, wenn durch plötzliche Schlie— 
ßung oder Verengung der Mundhöhle 
an irgend einer Stelle der erſpirirte 
Luftſtrom in unregelmäßige Schwingun— 
gen verſetzt und ſomit Geräuſche erzeugt 
werden. Der Verſchluß kann erſtens 
vermittelſt der Lippen hergeſtellt werden; 
ſo ergeben ſich die Lippenlaute: P, 
B, M, F (und B mit identiſch), W, 
und zwar entweder nur mit den Lippen, 
ſo ergeben ſich die Laute P, B, M, 
oder durch Anlegen der oberen Zahn— 
reihe an die Unterlippe, ſo entſtehen F 
(V) W. Der Verſchluß kann zweitens 
durch Anlegen der Zungenſpitze an die 
Zähne oder den harten Gaumen gebildet 
werden; ſo erhalten wir die Zungenlaute: 
T, D, N, L, 8, Sch. Der Verſchluß 
kann drittens entſtehen durch das An— 
legen des hinteren Teils der Zunge oder 
des Zungenrückens an den harten Gau— 
men; ſo entſpringen die Gaumenlaute 
K, G, Ng (wie in jung), Ch, Jot. 
Innerhalb jeder dieſer drei Gruppen 
der Lippen-, Zungen- und Gaumenlaute 
ſind nun wieder drei Abteilungen zu 
unterſcheiden. Die erſte Abteilung 
umfaßt die Verſchlußlaute, welche 
entſtehen durch ein plötzliches Verſchließen 
und unmittelbar ſich daran fügendes 
Wiederaufbrechen der Mundhöhle, ent— 
weder vermittelſt der Lippen: P, B, oder 
vermittelſt Zungenſpitze und Zahnreihe, 


36 Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 


reſp. Gaumens: T, D; oder vermittelſt 
Zungenrückens und Gaumens K, G. 
Die zweite Abteilung enthält die 
Reſonanten, welche ſich bilden, wenn, 
während der Verſchluß beſtehen bleibt, 
ein Luftſtrom durch die Naſe ſtreicht; 
den Verſchluß bilden die Lippen = M; 
oder Zungenſpitze mit Zahnreihe und 
Gaumen — N; oder Zungenrücken und 
Gaumen — Ng. In der dritten Ab— 
teilung ſtehen die Reibungsge— 
räuſche, welche ſich bilden, wenn durch 
einen vermittelſt der Lippen und Zahn— 
reihe (F, W) oder vermittelſt der Zungen— 
ſpitze und des Gaumens (S, Sch, L) 
oder vermittelſt des Zungenrückens und 
Gaumens (Ch, Jot) hergeſtellten Spalt 
ein Luftſtrom hindurchgetrieben und da— 
durch ein Geräuſch hervorgerufen wird. 
Dieſen drei Abteilungen ſchließt ſich end— 
lich als vierte noch die der Zitter— 
laute an, welche erzeugt werden, wenn 
die nur loſe verſchloſſene Verſchlußſtelle 
durch die Exſpiration in Schwingungen 
verſetzt wird. In dieſer Abteilung ſteht 
nur das N in feinen drei verſchiedenen 
Formen als Lippen-R, Zungen-R und 
Gaumen-R. Z iſt nur = Tſ; X = Kſ. 
H iſt ein Mittelding zwiſchen Konſonant 
und Vokal, einfach erzeugt durch einen 
ſtarken aus der Kehle hervorgetriebenen 
Luftſtrom. Die folgende Tabelle wird 
am beſten die gegebenen Erklärungen in 
kürzeſter Form verdeutlichen: 


Verſchlußlaute Reſonanten Reibungsgeräuſche Zitterlaute 
Lippenlaute P B M F (V) W̃ R labiale 
Zungenlaute T D N L S Sch R linguale 
Gaumenlaute K G Ng Ch Jot R gutturale 


zum 


In welcher Reihenfolge lernt nun 
das Kind die Konſonanten ausſprechen? 
Auch hier haben mich meine Beobach— 
tungen das oben aufgeſtellte Geſetz ge— 
lehrt, nach welchem das Kind die Laute 
hervorbringen lernt in einer Stufenfolge, 
die von den mit geringſter phyſiologiſcher 
Anſtrengung verbundenen Lauten auf— 
wärts ſteigt zu den mit größeren Anſtren— 
gungen verknüpften. Wenn wir uns an 
die oben aufgeſtellte Tabelle halten, ſo 
können wir das allgemeine Beobachtungs- 
ergebnis ſo ausdrücken: Es wächſt die 
phyſiologiſche Schwierigkeit in der Rich— 
tung von oben nach unten von 
den Lippen- zu den Gaumenbuch— 
ſtaben. Die letzteren treten deshalb auch 
beim Kinde erfahrungsmäßig am ſpäteſten 
von allen hervor. 

Verfolgen wir die Richtung von 
links nach rechts, ſo müſſen wir hier 
eine Unterſcheidung machen. Bei den 
Lippen- und Zungenlauten wächſt 
die Schwierigkeit in der Richtung 
von links nach rechts; bei den Gau— 
menbuchſtaben aber umgekehrt (wenn 
wir das R gutturale hier erſt ganz bei 
Seite laſſen wollen) wächſt die Schwie— 
rigkeit für das Kind in der Richtung 
von rechts nach links. K und G 
lernt das Kind am ſpäteſten von allen 
Lauten; hat es auch alle übrigen ſchon 
in der Gewalt, ſo ſagt es doch noch 
ſtatt Karl — Tarl und ſtatt Gott — 
Dott; ſtatt Junge ſagt es Junne. R 
wird früher als K und G, doch ſpäter 
als die übrigen Laute gelernt (ſtatt 
Friede ſagt es Fiede; ſtatt Rot — 
Hot). Wir wollen dieſe allgemeinen 
Aufſtellungen noch mehr im Einzelnen 
erläutern. Unter den oben angeführten 


Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 37 


Papellauten finden ſich an Konſonanten 
P, B, M, F, W, D, N, H — wie wir 
ſehen (wenn wir H außer Acht laſſen) 
lauter Lippen- und Zungenlaute. Unter 
den Lippenlauten lernt es ein deut— 
liches W' ſpäter ſagen als F; wie der 
Verſuch zeigt, iſt die phyſiologiſche An— 
ſtrengung bei W auch entſchieden größer 
als bei F. Unter den Zungenlauten lernt 
es am ſpäteſten L, S, Sch, aber L vor 
S, und S vor Sch (3. B. Saf [das 
Scharf] ſtatt Schaf). Über die Gaumen— 
laute iſt das Nöthige bereits geſagt. Ich 
glaube ungefähr das Richtige zu treffen, 
wenn ich behaupte, daß das Kind die 
geſammte Konſonantur ſich aneignet in 
den ſechs nachſtehenden, der phyſiologiſchen 
Schwierigkeit wie der Zeit nach auf ein— 
ander folgenden Abſchnitten. P, B, M, 
F, W, D, N bilden den Inhalt der 
erſten Stufe ſeines Könnens. Den 
zweiten Abſchnitt bilden L und S; den 
dritten Ch und Jot; den vierten 
Sch, den fünften R, den ſechſten Ng, 
K und G. Man kann dieſe Abſchnitte 
deshalb mit Recht unterſcheiden, weil 
wirklich ſtets zwiſchen dem vorhergehenden 
und dem folgenden Abſchnitt eine geraume 
Zeit, manchmal mehrere Wochen, ja Mo— 
nate verſtreichen, ehe die folgende Station 
erobert wird. Es iſt für den Beobachter 
allemal ein Ereignis, wenn endlich 
wieder etwas neues zu Tage tritt. Doch 
will ich dieſe ſechs Abſchnitte nur mit 
Vorſicht aufſtellen, weil ich mein dieſer 
Stufenfolge zu Grunde liegendes Be— 
obachtungsmaterial noch lange nicht für 
genügend halte, um ohne weiteres dog— 
matiſche Sicherheit für die mir allerdings 
vorläufig als richtig erſcheinenden Sätze 
in Anſpruch zu nehmen. So macht es 


9 


38 Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 


z. B. noch einen wichtigen Unterſchied, 
ob einem für das Kind mühſamen Kon— 
ſonanten ein Vokal oder ein anderer 
Konſonant folgt. Wenn im erſtern Fall 
das Kind den ſchwierigen Konſonanten 
auch ſchon zu ſprechen vermag, ſo iſt 
damit doch noch nicht geſagt, daß es ihn 
auch im letztern Fall beherrſcht — im 
Gegenteil, dies iſt vielfach nicht der 
Fall: es ſagt z. B. ſchon deutlich Schaf 
ſtatt des früheren Saf (ſcharfes S); 
aber es ſagt noch flafen ſtatt ſchlafen; 
und kann es auch ſchon ſchlafen ſagen, 
ſo ſpricht es deshalb doch lange noch nicht 
Straße — Schtraße, in welchem die Ver— 
bindung von drei an ſich ſchon müh— 
ſamen Konſonanten ihm lange Zeit die 
größte Schwierigkeit bereitet, ſondern 
Traſſe. 

Wir werfen jetzt, nachdem wir dieſe 
Ergebniſſe hinſichtlich der Vokaliſation 
und Konſonantur gewonnen haben, die 
neue wichtige Frage auf, wie das Kind, 
ſolange es jene ſchwierigen Laute und 
Lautverbindungen der höheren Entwick— 
lungsabſchnitte noch nicht zu ſprechen ver— 
mag, mit denjenigen ihm zu Gehör ge— 
brachten Wörtern verfährt, welche gerade 
ſolche ſchwierigen Laute in ſich enthalten. 
Es iſt bekannt, daß die Kinder ſolche 
Wörter verſtümmeln. Aber geht dieſe 
Verſtümmelung geſetzlos vor ſich? Im 
Gegenteil, es zeigen ſich dabei ganz feſte 
Lautverſchiebungsgeſetze, nach denen das 
Kind unbewußt die Umwandlung vor— 
nimmt. Meine Beobachtungen haben mich 
zu folgendem Lautverſchiebungs— 
oder Verſtümmelungs- oder Ver— 
wandlungsgeſetz der Kinderſprache ge— 
führt: Für den dem Kinde noch un— 
ausſprechbaren Laut (Vokal oder | 


Konſonant) ſetzt daſſelbe den die— 
ſem ſchwierigen Laute nächſtver— 
wandten, mit geringerer phyſio— 
logiſcher Schwierigkeit ſprech— 
baren Laut, und wenn es auch 
dieſen noch nicht zu beherrſchen 
vermag, ſo läßt es ihn einfach 
ganz und gar weg. 

So ſetzt es hinſichtlich der Vokale 
z. B. ſtatt ö ſtets e, ſtatt ü ſtets i, ſo— 
lange ihm ö und ü noch nicht geläufig 
ſind; ja es geht ſoweit, daß es für das 
Anfangs ſchwierige i ſogar a ſubſtituirt, 
z. B. den Vogel, der ihm als Pippip 
bezeichnet wird, Pappap nennt. Statt 
eu oder äu ſetzt es ei, ſtatt au einen nach 
a hinüberklingenden Laut. Hinſichtlich 
der Konſonanten zeigt ſich erſtens, daß 
das Kind im Anfang der Sprachentwick— 
lung die Konſonanten derſelben 
Gruppe überhaupt leicht verwechſelt, 
daß ihm dieſelben mehr oder weniger 
ununterſchieden in einander überfließen: 
ſo M und B beides Lippenbuchſtaben, z. B. 
Bond ſtatt Mond, ſo W und B, z. B. 
Baſſe ſtatt Waſſer, ſo F und W, z. B. 
Faffaf ſtatt Waſſer. Zweitens: es läßt 
den oder die ſchwierigen Konſonanten ein— 
fach aus: ſo ſagt es anfänglich Ti ſtatt 
Tiſch, Ha ſtatt Hals, O für Ohr, Mu 
für Mund. Drittens: es ſubſtituirt dem 
ſchwierigen Konſonanten den dieſem, in 
derſelben Reihe liegenden, nächſtverwand— 
ten Konſonanten: z. B. ſtatt der Gaumen⸗ 
laute Zungenlaute, und zwar für den 
harten Laut (Tenuis) der ſchwierigen 
Gruppe auch die Tenuis der leichteren 
Gruppen, für den weichen (Media) dort, 
die Media hier, z. B. ſtatt Karl Tarl 
(nicht Darl), für Gott Dott (nicht Tott). 
Viertens: dieſe Verſchiebung, welche in 


4 


den hier gegebenen Beifpielen nur um einen 
Schritt nach rückwärts erfolgt iſt, kann 
unter Umſtänden gewiſſermaßen durch 
mehrere Stationen hindurch rück— 
wärts geführt werden; Station A iſt zu 


Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 


ſchwierig, aber auch die nächſtliegende Sta- 
tion B iſt noch nicht erreichbar, fo beſchränkt 
ſonant beſtimmt den Anfangskonſonant: 


ſich das Kind auf die dieſer nächſtliegende 
Station C; z. B. Waſſer kann es an— 
fänglich nicht ſagen, aber auch noch nicht 
Wafwaf, es ſagt vielmehr Faffaf — das 


wenn man will, vier Stationen: 
heißt zuerſt Faffaf (die Reduplikation 


39 


der Endkonſonant nach dem Anfangskon— 


ſonant, und zwar ſo, daß der Endkon— 


ſonant identiſch wird mit dem des An— 
fangs; Topf wird Tot, aus Stuhl 
wird Tut, aus Ball Bab (oder richtiger 
Bapp), aus Bock Bop, aus Setzen Ses 
u. ſ. f., oder auch umgekehrt der Endkon— 


z. B. aus Schultze wird Lullul — alſo 


der für das Kind leichtere Konſonant 
vertreibt in dieſen Fällen den ſchwereren 
Wort Waſſer durchläuft alſo drei, oder 


Es 


iſt ſchon oben erklärt), dann Wafwaf, 


darauf Waſſe (ohne r), zuletzt erſt Waſſer. 


Fünftens: das Kind wendet gelegent- 
lich bei beſonders komplizirten Worten 


beide Mittel an: Ausfallenlaſſen und 


Verwandeln. Statt Großmama, ein Wort, 


in welchem das Groß von Schwierigkeiten 
(G, R, S) förmlich umlagert iſt, ſagt es 
zuerſt einfach weglaſſend: Omama. Spä⸗ 
ter läßt es aus und verſchiebt zugleich: 
es läßt R weg, verſchiebt Gin D — 
und ſagt Doßmama. Es wäre nun ſehr 
intereſſant, dieſe Verſchiebungsgeſetze der 
Kinderſprache zu vergleichen mit denen 
der Völkerſprachen untereinander und 
innerhalb jeder einzelnen hinſichtlich ihrer 
verſchiedenen Entwicklungsſtadien — doch 
muß ich dieſe Aufgabe völlig dem 
Linguiſten überlaſſen. Ich habe hier in— 


deſſen noch auf einige andere merkwürdige 


Eigentümlichkeiten der Kinderſprache hin— 
zuweiſen. Nämlich ſech ſtens: Innerhalb 


einer Lautgruppe wirkt die Abänderung 
iſt aber klar, daß man nicht von einer 


eines Lautes häufig auch zugleich auf 
einen anderen Laut der Gruppe ein, ſodaß 
dieſer in Gefolge jenes ſich mitverändert. 
Bei einſilbigen Wörtern z. B. richtet ſich 


und ſetzt ſich an die Stelle. Siebentens 
will ich hier die Neigung zur Redupli— 
kation noch einmal hervorheben. So wird 
auf Grund dieſer Neigung und der vor— 
hergehenden Geſetze z. B. Kette zu Tettet, 
Stiefel zu Tittit, Dorchen zu Dodo u. ſ. f. 
Faſſen wir alle die aufgeſtellten Regeln 


ins Auge, ſo erklärt ſich uns nun völlig, 


wie z. B. Bertha — Depta, Gretchen 
— Dita, Schultze zuerſt — Lullul, ſpäter 
— Lollo, Wurſtbrot — Fofpoop, Onkel 
Paul = Olla Oppa (ſpäter Olten Paul) 
u. ſ. w. wird. Es geht alſo erſtens 
auch noch daraus hervor, daß ein und 
daſſelbe Wort in den verſchiede— 
nen Stadien der ſich entwickelnden 
Sprache eines und deſſelben Kindes 
in ſehr verſchiedener Geſtalt er— 
ſcheint, daß alſo jedes Wort einen viel- 
fältigen Entwicklungsprozeß durchläuft, 
ehe es die in der Sprache der Erwach— 


ſenen feſtſtehende Geſtalt erreicht. In 


wie weit hier die ontogenetiſche Ent— 
wicklung mit der phylogenetiſchen 


übereinſtimmt, muß der Entſcheidung des 


Sprachforſchers überlaſſen bleiben; ſo viel 


einzigen bei allen Kindern identiſchen, 
ja nicht einmal von einer in einem 
und demſelben Kinde identiſchen Kin— 


40 


derſprache reden kann, ſondern nur von 
einem ſich fortgeſetzt verwandelnden Ent— 
wicklungsprozeß in der Sprache des 
Kindes, den genau und in allen ſeinen 
Verzweigungen darzulegen, erſt ganz aus— 
führliche Vokabularien angelegt werden 
müßten, wie ſie bis jetzt ja noch nicht 
exiſtiren.“) Intereſſant iſt es zu ſehen, wie 
Naturvölker in ganz ähnlicher Weiſe wie 
unſere Kinder und wahrſcheinlich alſo auch 
nach ähnlichen Verwandlungsgeſetzen die 
Wörter europäiſcher Sprachen ſich mund— 
gerecht machen. So ſagten die Tahitier für 
Cook O-Tute, gerade ſo wie Sigismunds 
Knabe den Namen des Kapitäns aus— 
ſprach. So machten die, nur die oben an— 
geführten neun Konſonanten beſitzenden 
Maori, die nach Hochſtetter zu den Eng— 
ländern ſagten: „Eure Sprache geht zwar 
in unſer Ohr, aber nicht wieder aus dem 


Munde heraus,“ aus Samuel = Se: 
mara, aus Friedrich — Waritarihi, 
aus David — Rawiri, aus New Zea— 
land — Niutireni, aus Governor — 
Kawana, aus Victoria the queen of 
England — Wikoria te Kuini o 
Ingireni. 


Über den Wortſchatz der Kinder— 
ſprache einerſeits und die Syntax der— 
ſelben andererſeits können wir uns kurz 
faſſen. Über den Wortſchatz, den das 
Kind in ſeiner Rede zu Tage treten läßt, 
iſt zu ſagen, daß derſelbe ſehr klein iſt 
(allerdings verſteht es mehr Wörter, 
als es ſelbſt ſpricht), und daß er ſich, 
wie natürlich, nur auf die wenigen dem 
Kinde zugänglichen und ihm intereſſanten, 
ganz konkreten Gegenſtände und Verhält— 

*) Vgl. die bei Sigismund, Kind und 
Welt, S. 136 ff. angeführten Wörter. 


Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 


niſſe bezieht, daß in ihm alſo alle ab— 
ſtrakten Beziehungen, z. B. die Wörter 
auf ſchaft, ung, nis, heit, keit u. ſ. w. 
noch ganz und gar fehlen. Es wäre ge— 
wiß nicht blos für die Sprache, ſondern 
beſonders für die Pſychologie und Pä— 
dagogik wichtig, den Entwicklungsprozeß 
der Kinderſprache von den konkreten zu 
den abſtrakten Beziehungen im Einzelnen 
zu erforſchen, obwol ſich vermuten läßt, 
daß hierbei außerordentliche Verſchieden— 
heiten hinſichtlich der einzelnen Indivi— 
duen je nach ihrer Anlage und ihren 
Lebensverhältniſſen zu Tage treten wer— 
den, doch fehlt bis jetzt das Beobachtungs— 
material hinſichtlich dieſes Prozeſſes noch 
allzu ſehr. 

Hinſichtlich der ſyntaktiſchen Ver— 
hältniſſe iſt zu ſagen, daß die Kinder— 
ſprache ſich Anfangs ganz und gar auf 
der Stufe der fog. aſynthetiſchen 
Sprachen befindet, ſodaß alſo jede Art 
der Flexion, Deklination, Konjugation, 
Komparation, alle Präpoſitionen und 
Konjunktionen zuerſt völlig fehlen und das 
Kind ſeine Wortfragmente ohne jede Ver— 
bindung einfach nebeneinander ſtellt nach 
der Regel, die auch die Geberden der 
Taubſtummenſprache in ihrer Aufeinan— 
derfolge beherrſcht, daß das dem Kinde 
am wichtigſten Erſcheinende von ihm mit 
beſonderer Betonung hingeſtellt wird. 
Die von Sigismund mitgetheilte „Erſte 
Erzählung“ ſeines 20 Monate alten 
Knaben iſt ein Beiſpiel für dieſe aſyn— 
thetiſche Satzbildung: „Atten — Beene 
— Titten — Bach — Eine — Puff 
— Anna“, ſprach er mit ziemlich 
langen Zwiſchenpauſen und leb— 
haftem Geberdenſpiel. Das ſollte 
heißen: „Wir waren heute im Garten, 


haben Beeren und Kirſchen gegeſſen, 
dann in den Bach Steine geworfen 
und ſind der Anna begegnet.“ Erſt ſehr 
allmählich entwickelt das Kind aus dieſen 
formlos neben einander geſtellten viel— 
deutigen Wortblöcken jene fein geglie— 
derten Wortſtatuen der flektirenden 
Sprache, bei denen aus jedem noch 
ſo kleinen Gliede Geiſt und Verſtändnis 
auf das klarſte hervorleuchtet. 

In der Einleitung zu dieſem Verſuch 
habe ich die Meinung ausgeſprochen, daß 
durch die genaue Erforſchung des Ent— 
wicklungsganges der Kinderſprache ſich 
unzweifelhaft eine Menge ſprachtheo— 
retiſcher Probleme würden löſen 
laſſen — ich möchte nun allerdings hin— 
zufügen, daß zu einem ſolchen Zwecke 
die Beobachtungen viel weiter reichen 
müßten, als das bei dem mir zu Gebote 
ſtehenden, noch ſehr mangelhaften Mate— 
rial der Fall iſt. Ein Hauptmangel iſt 
der, daß ſich meine und ebenſo die vor— 
trefflichen Beobachtungen Sigismunds 
nur auf deutſche Kinder ſtützen; es müßten 
die Beobachtungen nicht allein auf Kin— 
der verſchiedenſter Nationen ausgedehnt, 
ſondern auch der Einfluß berückſichtigt 
werden, welchen auf die Entwicklung 
der Sprache eines Kindes der beſon— 
dere Dialekt ſeiner Umgebung 
ausübt. Ich glaube aber auch, daß für 
die Praxis gewiſſer Zweige der Päda— 
gogik aus ſolchen Unterſuchungen ein 
großer Gewinn beſonders in Beziehung 
auf die Methodik derſelben ſich ergeben 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 


Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 41 


loſen Mühe, mit welcher der Lehrer taub— 
ſtummen und ſchwachſinnigen Kindern 
das Sprechen beibringt. Die Erfolge 
auf dieſem Gebiete ſind bisher viel mehr 
der unglaublichen Geduld und der liebe— 
vollen Hingebung der Lehrer an ihre 
Aufgabe als einer wirklich wiſſenſchaft— 
lichen und theoretiſch begründeten Methode 
zu verdanken. Aber ich bin überzeugt, 
wenn man genauer die Entwicklung der 
Kinderſprache kennte, wenn man genauer 
wüßte, in welcher phyſiologiſch natur— 
gemäßen Reihenfolge die einzelnen Laute 
und Lautverbindungen auf und aus ein— 
ander folgen, wenn man ferner die natür— 
liche pſychologiſche Entwicklungsfolge der 
einzelnen Wortklaſſen“) kennte, jo würde 
man den Unterricht dieſer Taubſtummen 
und Schwachſinnigen wirklich methodiſch 
einrichten, von phyſiologiſch und pſycho— 
logiſch Leichterem zum Schwererem konti— 
nuirlich aufſteigen, alſo wirklich rationell 
verfahren und damit Zeit und Mühe 
erſparen können. Und daß auch fur die 
Methodik des Sprachunterrichts bei nor— 
malen Kindern dabei manch wichtiges Er— 
gebnis zum Vorſchein käme, ſcheint mir 
fraglos zu ſein. Auch von der Sprache 
des Kindes gilt das Rückertſche Wort 
aus der „Weisheit des Brahmanen“: 

„Mit jeder Sprache, die du mehr 
erlernſt, befreiſt Du einen bis dahin in 
Dir gebundenen Geiſt.“ 


) Für die „Psychologie der Konjunktionen“ 
verweiſe ich auf T. Ziller, Einleitung in die 
allgemeine Pädagogik, $. 18, als ein Beiſpiel 


würde. Man erinnere ſich der grenzen— | und Vorbild. 


Der Schlaf und die Träume.) 
Von 


J. Delboeuf, 


Profeſſor an der Univerſität Lüttich. 


A SE giebt wohl kein Thema, 
2 N Y welches die mürriſchen Philo— 
8 = „ ſophen von dem lachenden 
5 Jaonien, der Wiege Heraklits 

E des Traurigen, bis zu dem 
trüben Oſtſeelande, der Heimat desfinſtern 
Schopenhauer, in jedem Jahrhundert und 
unter allen Klimaten mit mehr Vorliebe 
behandelt haben, als dasjenige der Lei— 
den der Menſchen. Die religiöſen Schrift— 
ſteller ihrerſeits, die Paskal und Boſſuet, 
verfehlten niemals, obwohl ſie die Größe 
der menſchlichen Seele prieſen, auch deren 
Niedrigkeit vor ihr Forum zu for— 
dern. Es möchte ſomit unmöglich er— 
ſcheinen, dem troſtloſen Gemälde unſerer 
Schwäche und unſeres Nichts neue Züge 


*) Der obige Auſfſatz erſchien zuerſt in 
Th. Ribots Revue philosophique (Octobre 
et Novembre 1879), ift aber von dem Herrn 
Verfaſſer für die deutſche Ausgabe mit Aende— 
rungen und Zuſätzen verſehen worden. 


ſeine Rolle ſpielen zu laſſen. 


f Blick auf einige neuere Abhandlungen. 


hinzuzufügen. Und dennoch vergißt man 
darin, ein ganzes Dritteil unſeres Seins 
Jeden 
Tag werden wir ſozuſagen uns ſelbſt 
entführt durch einen phantaſtiſchen, bi— 
zarren und launiſchen Genius, der ſich 
ein boshaftes Vergnügen daraus macht, 
die Gegenſätze des Guten und des Böſen, 
des Laſters und der Tugend zu ver— 
ſchmelzen. Zu gewiſſen Stunden des 
Tages wird der rechtſchaffenſte Menſch 
ohne Gewiſſensbiſſe die ſcheußlichſten 
Unthaten begehen, er wird zum Räuber, 
Mörder, Blutſchänder und Meineidigen 
werden; die junge und keuſche Gattin 
wird ſich den indecenteſten Handlungen 
hingeben; die ſchamhafte Nonne wird 
ſchmutzige Reden ihrem Munde ent— 
ſchlüpfen laſſen; der fromme Prieſter, 
durch ſeine Leidenſchaft oder Phantaſie 
verführt, wird vor keiner Heiligtums— 
ſchändung zurückſchrecken. Wenn die An— 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


fechtung ihr Ende erreicht hat, und wir 
wieder in den Beſitz unſeres Selbſt zu— 
rückkehren, würden wir oftmals das, was 
wir geträumt haben, andern nicht ein— 
mal zu erzählen, noch ſelbſt es in unſer 
Gedächtnis zurückzurufen wagen. Be— 
unruhigt fragen wir uns, ob wir nicht 
im Grunde unſres Weſens einen haſſens— 
werten Gärungsſtoff beherbergen, der 
uns jeden Augenblick zum Verbrechen 
treiben kann. Wir verfluchen dieſe un— 
bekannte Macht, welche, von unſerer 
Seele Beſitz ergreifend, ihren beſten 
Eigenſchaften die ſchlimmſten unterſchiebt. 

Aber im Gegenſatze hierzu und ganz 
ebenſo häufig iſt die Thätigkeit des 
Schlummers wohlthätig und tröſtlich. 
Sie verſetzt uns für einige Augenblicke 
in die Mitte der teuren Weſen, die 
wir verloren haben, zurück; ſie läßt den 
Kranken ſeine Leiden, den Unglücklichen 
ſein Elend vergeſſen; ſie giebt dem Ge— 
lähmten die Beweglichkeit, dem Tauben 
das Gehör, dem Blinden das Geſicht, 
dem Gefangenen die Freiheit, dem armen 
verlaſſenen Mädchen das Glück der erſten 
Liebe wieder. Zu kurze Illuſionen, die 
nur dazu dienen, die herbe Wirklichkeit 
noch bitterer zu geſtalten! 


Der Zauberſtab des Traums ver 


wandelt die erbärmlichſte Hütte in ein 
verzaubertes Schloß; er löſt die Zunge 
des Stammlers und flößt ihm eine hin⸗ 
reißende Beredſamkeit ein; er treibt den 
Furchtſamen, den furchtbarſten Gefahren 
zu trotzen; er liefert dem Forſcher den 
Schlüſſel zu den geheimnisvollſten Erſchei— 
nungen; er verleiht ſelbſt unſerm ſchweren 
und am Boden kriechenden Körper wunder— 
bare Flügel, die ihn ohne Anſtrengung 
mitten durch die Unendlichkeit tragen. 


43 


Bedarf es mehr, um zu erklären, 
daß man den Träumen zu allen Zeiten 
einen übernatürlichen Charakter zuge— 
ſchrieben hat? Man betrachtet ſie als 
Botſchafter der Gottheit, — wahre oder 
trügeriſche, je nach ihrer Art; — ſie 
enthüllen die Geheimniſſe der Zukunft, 
und wer ihre Sprache zu enträtſeln weiß, 
wird darin ohne Mühe Verheißungen 
oder Drohungen entdecken. Und wenn 
wir, uns nicht weiter an die Mei— 
nungen des großen Haufens kehrend, 
die Männer der Wiſſenſchaft fragen, 
hören wir ſie, ganz im Beginne ihres 
Kampfes gegen den Aberglauben, eine 
überraſchende Theorie aufſtellen: die 
Träume, weit entfernt Götter zu offen— 
baren, ſollen ſie erſchaffen haben; 
unſer Geiſt, welcher im Schlafe Phan— 
tome außerordentliche Dinge vollbringen 
ſah, legte ihnen eine wirkliche Exiſtenz 
bei, und begabte ſie mit einer furcht— 
baren Macht: ſo wurde der Himmel be— 
völfert.*) Außerdem hat man gejagt, 
daß die Bilder derer, die nicht mehr 
ſind, indem ſie uns in der Stille der 
Nächte beſuchen, den Glauben an ein 
Jenſeits erweckt haben und daß die 
Geiſter der Könige oder gefürchteter 
Häuptlinge unmerklich zum Range gött— 
licher Weſen erhöht worden ſind, welche 
das Schickſal der Lebenden in ihren 
Händen halten. Auf dieſe Weiſe würden 
die ſeltſamen Kinder der Erſchöpfung 
und der Nacht, welche uns beim Er— 
wachen Abſcheu oder Mitleid, Lachen 
oder Verachtung einflößen, die Religionen 
erſchaffen haben, und das religiöſe Gefühl, 
welches nach einer guten Zahl von Philo— 
luneretius, de Rerum Natura, V, 
1168 fl. 


\ 


44 


ſophen vielleicht der einzige unterſchei— 
dende Charakter iſt, durch welchen ſich der 
Menſch über das Tier erhebt, würde 
keinen andern Urſprung beſitzen. Die Re— 
ligion, Tochter der Finſternis, die Wiſſen— 
ſchaft, Tochter des Lichts: würde nicht 
dieſer Raſſengegenſatz hinreichen, um uns 
ihre unaufhörlichen Konflikte, ihren un— 
vereinbaren Gegenſatz zu erklären? 


Die den Träumen ſtets beigelegte 
Wichtigkeit ſollte vermuten laſſen, daß 
man früh mit ihrem Studium begonnen 
habe, und heute zu gewiſſen genauen 
und abſchließenden Begriffen über ihren 
Charakter und ihre Urſachen gelangt ſei. 
Nichts von alledem! Aus dem Alter— 
tum könnten wir nur einige meiſterhafte 
Seiten des Ariſtoteles über dieſen Gegen— 
ſtand erwähnen, und die Neuzeit be— 
treffend, konnte Maudsley') ganz kürz⸗ 
lich die folgenden Zeilen ſchreiben: „Das 
Studium der Träume iſt vernachläſſigt 
worden, und dennoch verſpräche es für 
einen geſchickten und kompetenten Beob— 
achter, der es mit Fleiß und Methode 


unternehmen wollte, ergiebig zu werden; 


für die Arzte im beſondern würde es 
wahrſcheinlich höchſt lehrreich ſein.“ 
Was den gegenwärtigen Stand der 
Wiſſenſchaft vom Traume betrifft, habe 
ich nicht genug Autorität, um ihn zu 
ſchätzen. Ich werde mich deshalb begnügen, 
die Worte Vierordts zu eitiren, deſſen 
Kompetenz unbeſtreitbar iſt. „Was die 
Aufſtellung einer phyſiologiſchen Theorie 
des Schlafes betrifft,“ jagt er“), „fo 
kann man noch nicht daran denken. 
*) The pathology of Mind (1879) p. 49. 


aer) Grundriß der Phyſiologie des Menſchen, 
5. Aufl. Tübingen, 1877, S. 653. a 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


Wozu dieſes allgemeine Bedürfniß einer 
periodiſchen Verminderung oder teilweiſen 
Aufhebung der phyſiſchen und pſychiſchen 
Thätigkeiten? Welches ſind die ohne 
Zweifel zahlreichen, körperlichen wie pſy— 
chiſchen Bedingungen, welche den phyſio— 
logiſchen Schlaf herbeiführen und um— 
gekehrt während des Schlummers un— 
merklich das Erwachen vorbereiten? Wie 
ſind endlich die feſtgeſtellten Formen be— 
ſchaffen, unter welchen die Funktionen des 
Schlafenden ſich nach Quantität und Qua⸗ 
lität darſtellen? Das ſind alles Fragen, 
auf welche eine Antwort unmöglich iſt.“ 

Dennoch iſt, beſonders ſeit einiger 
Zeit, kein Mangel an neu erſchienenen 
Werken über den Schlaf und die Träume. 
Ohne von den klaſſiſch gewordenen Bü- 
chern von Alfred Maury und Albert 
Lemoine zu ſprechen, und indem ich 
mich auf die beiden letzten Jahre be— 
ſchränke, habe ich ein Werkchen von 
Serge Sergudyeff“), eine ruſſiſch 
geſchriebene Arbeit von N. Grote“), 
einen Band von dreihundert Seiten von 
Heinrich Spitta“ ), Privatdozenten an 
der Univerſität Tübingen, ein noch um— 
fangreicheres Werk von Paul Rade— 
fto +), eine Broſchüre von C. Binz if), 
eine andere von Paul Dupuyrry), 


*) Le sommeil et le système nerveux, 
preparation à l’etude de la veille et du 
sommeil. Geneve, 1877. 

**) Les r&ves, comme l'objet d'analyse 
scientifique. Kiev, 1878. 

k) Die Schlaf- und Traumzuſtände der 
menſchlichen Seele ꝛc. Tübingen, 1878. 

+) Schlaf und Traum, eine phyſiologiſch⸗ 

pſychologiſche Unterſuchung. Leipzig, 1879. 
Ii) über den Traum. Bonn, 1878. 
tr) Etude psycho-physiologique sur le 
sommeil. Bordeaux, 1879. 


N 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 45 


Profeſſor der mediziniſchen Fakultät von 
Bordeaux, anzuführen. Ich habe ohne 
Zweifel die Liſte nicht erſchöpft, und 
vielleicht vorzügliche Werke überſehen. 
Ich würde außerdem Werke über Phy— 
ſiologie und Pathologie zu erwähnen 
haben, in denen der Schlaf Gegenſtand 
ausführlicher Kapitel iſt, die einen Band 
für ſich bilden könnten. So z. B. wid— 
met ihm Maudsley in dem bereits 
citirten Werke beinahe 100 Seiten, 
und Stricker, Profeſſor an der Wiener 
Univerſität, hat ſeinen „Vorleſungen über 
allgemeine und experimentelle Patho— 
logie” *) eine Art Kurſus der Pſychologie 
folgen laſſen, welcher nicht weniger als 
elf Kapitel einnimmt und zahlreiche 
neue und eigene Geſichtspunkte über die 
Natur der Träume enthält, obwohl er 
die Erklärung der Geiſteskrankheiten zum 
ſpeziellen Gegenſtande hat. 

Ich werde nicht lange bei der origi— 
nellen, aber wenig ernſthaften Arbeit 
Sergudyeffs verweilen. Der Verfaſſer 
beginnt mit der Aufſtellung, daß der Schlaf 
eine weſentlich vegetative Funktion (2) ſei, 
da er Allem, was lebt, nötig iſt und 
zum Zweck hat, den Organismus in ſei— 
nem normalen Zuſtande zu erhalten. Es 
find alſo drei Dinge zu entdecken; 1) die 
Subſtanz (l’aliment), dem Schlafe wie 
dem Wachen erforderlich, 2) das Organ, 
3) der Mechanismus. 

Eine Subſtanz (aliment) iſt nicht un⸗ 
bedingt eine greif- und wägbare Materie; 
nichts hindert zu ſchließen, daß der Ge— 
genſtand des Wachens und Schlafens 
eine ätheriſche oder dynamiſche Form 
oder Kraft ſei. Was Sergusyeff dar- 
unter verſteht, bin ich außer Stande, 

*) Wien, 1879. 21.— 23. Vorleſung. 


zu begreifen. Er hat mir überhaupt den 
Eindruck hinterlaſſen, über Ather, Bewe— 
gung, Kraft und Materie nur verwirrte 
und widerſprechende Begriffe zu haben. 

Was das Organ des Schlafes betrifft, 
ſo müſſe es wahrſcheinlich der große 
Sympathikus ſein. Denn einerſeits kennt 
man den Sitz dieſer Funktion nicht, und 
andererſeits nicht die Funktion dieſes 
Apparates. Dieſer Schluß iſt nicht von 
der äußerſten Sicherheit. Aber der Autor 
begnügt ſich mit Recht nicht mit dieſem 
einfachen logiſchen Argumente. Er er— 
innert daran, daß die Sektion der ſym— 
pathiſchen Nerven Veranlaſſung zu kalo— 
riſchen Erſcheinungen giebt, welche man 
nicht den ſo herbeigeführten Veränderun— 
gen des Blutumlaufs zuſchreiben kann, 
und deren Erklärung noch nicht gefunden 
iſt. Nun würde die Wärmezunahme ſich 
leicht durch Hemmung einer vegetativen 
und centripetalen Bewegung erklären, 
während des Wachens würde man Kraft 
anhäufen, während des Schlummers den 
Überſchuß ausgeben. Grade das Gegen— 
teil hiervon entſpricht der allgemeinen 
Meinung. Ich bin nicht Phyſiologe und 
kann die Schlüſſe Sergudyeffs nicht 
diskutiren. Ich hätte einzig zu erfahren 
begehrt — und erwartete das immer 
als Schlußargument —, bis zu welchem 
Punkte die Tiere, denen man den ſym— 
pathiſchen Nerv zerſchneidet, den Schlaf 
verlieren, und ob z. B. der Hund, bei 
welchem noch nach 18 Monaten der Wärme— 
überſchuß nachweisbar war, dieſe ganze 
Zeit hindurch nicht beinahe wie gewöhn— 
lich geſchlafen hätte. 

Der meinem Gefühl nach unfrucht— 
bare Verſuch Sergusyeffs, ſcheint 
mir geeignet, erkennen zu laſſen, mit 


— —— 


46 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


welcher tiefen Dunkelheit das phyſiolo— 
giſche Problem umhüllt iſt. Dieſer Schrift— 
ſteller hat ſeine Aufgabe gewiß ernſthaft 
erfaßt; er hat ſich zahlreichen Unter— 
ſuchungen unterzogen und, begabt mit der. 


Gewandtheit eines erfinderiſchen Geiſtes, 
von gebahnten Pfaden auszugehen geſucht. 
Was ich auch von dem Ergebnis ſeiner 
Anſtrengungen denken mag, dieſen Be— 
mühungen kann ich nur Beifall zollen. 

Das Werkchen von Binz habe ich 
nicht geleſen, aber einen Bericht darüber 
in der „Berliner kliniſchen Wochenſchrift“ 
geſehen. In den philoſophiſchen Monats- 
heften hat Böhm viel Gutes darüber 
geſagt. Sich auf die Thatſache ſtützend, 
daß Opium, Haſchiſch, Ather u. ſ. w., 
dem Traum und Schlaf analoge Zuſtände 
hervorbringen, ſchließt Binz, daß dieſe 
Erſcheinungen pathologiſcher Natur ſeien, 
und von einer Störung der pſychiſchen 
Thätigkeit herrührten. Es iſt mir ſchwer, 
zu begreifen, daß man ein ſo allgemeines, 
ſo beſtändiges und ſo wohlthätiges Phä— 
nomen, wie den natürlichen Schlaf, ſei er 
von Träumen begleitet oder nicht, als patho— 
logiſchen Zuſtand auffaſſen und irgend 
einer Störung zuſchreiben könnte. Aber 
ich halte hier ein, aus Beſorgnis, den Ge— 
danken von Binz vollkommen zu fälſchen. 

Das Werkchen von Dupuy habe 
ich geleſen und darin den merkwürdigen 
Bericht über einige jener intereſſanten 
Phänomene, denen Maury den Namen 
der hypnagogiſchen Hallueinationen “) bei— 


*) Anmerk. d. Red. Unter hypnagogi⸗ 
ſchen Hallucinationen verſteht Maury die be— 
ſonders häufigen Hallucinationen in den Über— 
gangszuſtänden zwiſchen Schlaf und Wachen, 
welche die älteren deutſchen Autoren als Halb 


ſchlaf bezeichnet haben. 


gelegt hat und ferner die Kritik einiger 
Theorien des Schlafes gefunden. Dieſer 
letztere Teil iſt ſehr oberflächlich, aber 
erhebt allerdings auch keine Anſprüche. 

Ich werde nichts über das Werk von 
N. Grote ſagen, da ich nur die Schluß— 
folgerungen deſſelben, wie ſie A. H. in 


der Ribotſchen Revue Philosophique?) 


mitgeteilt hat, kenne. Sie ſind intereſſant 
genug, um hier wiederholt zu werden: „Die 
ſubjektiven ſenſoriellen Erregungen wer— 
den wegen der Abweſenheit der Kontrolle 
der Sinne und der Intelligenz für Wirk— 
lichkeiten genommen. Die Traumfaktoren 
ſind hauptſächlich die Erinnerungen, die 
Gewohnheiten, die Sinneseindrücke, und 
die organiſchen Empfindungen, welche den 
vegetativen Prozeß während des Schla— 
fes begleiten und ferner die unbewußte 
Gehirnthätigkeit oder die automatiſche 
Arbeit gewiſſer weniger ermüdeter oder 
ſtärker erregter Teile des Gehirns, welche 
unverſehens fantaſtiſche Bilder, groteske 
Verbindungen fragmentariſcher Vorſtel— 
lungen von zufälliger Miſchung, wie die 
Bilder eines Kaleidoſkopes, liefern. In— 
deſſen giebt es immer ein mehr oder 
weniger deutliches Band zwiſchen den 
ſich folgenden Ideen, weil der Schlaf 
nicht die Geſetze der Ideen-Aſſociation 
außer Kraft ſetzt, und die Ideen fort— 


fahren, durch Ahnlichkeit oder Kontraſt 


oder nach Übereinſtimmung der gegen— 
ſeitigen Beziehung von Urſache und Wir— 
kung, Zweck und Mittel ſich hervorzu— 
rufen — genau, wie das bei den Irr— 
ſinnigen ſtattfindet, bei denen gewiſſe 
Teile des Gehirns ihre Thätigkeit dem 
Bewußtſein aufdrängen, und es ſo völlig 
in Beſitz nehmen, daß ſie die objektiven 
*) November 1878, p. 544. 


Sinneseindrücke verdunkeln, welche die 
pſychiſche Arbeit auf den erſten Weg 
zurückführen könnten.“ Dieſer Satz ſcheint 
mir ſehr gut den gegenwärtigen Zuſtand 
des Wiſſens über dieſe Frage auszu— 
drücken. 

Ich möchte ein gleiches Urteil über 
die beiden inhaltsreichen Kapitel fällen, 
in denen Maudsley ſich mit dem Schlaf 
und Hypnotismus beſchäftigt hat, und 
daraus die ziemlich ſonderbare Behaup— 
tung hervorheben, „daß die Ideen eine 
natürliche Tendenz beſitzen, ſich in dra— 
matiſcher Form zu ordnen und zu ver— 
binden, wenngleich ſie unter ſich keine 
bekannten Beziehungen haben, oder ſelbſt 
gänzlich unabhängig, ſogar antagoni— 
ſtiſch ſind“.“) Noch mehr, fie würden 
nach ſeiner Meinung „eine Fähigkeit zur 
aufbauenden Gruppirung haben, dank 
welcher die Ideen ſich nicht blos ſam— 
meln, ſondern neuen Produktionen den 
Urſprung geben würden.“ Das heißt 
ein wenig allzu vornehm den auf die 
dramatiſche und ſchöpferiſche Macht des 
Traumes bezüglichen Schwierigkeiten aus— 
weichen. Aber Stärke iſt ſehr oft, ſich 
einem derartigen Gegenſtande gegenüber 
mit Worten zu begnügen, und Mauds— 
ley ſelbſt täuſcht ſich nicht über die ver— 
zwickten Erklärungen, welche er von den 
ſonderbaren Erſcheinungen der Erinne— 
rungskraft giebt, welche die Träume dar— 
bieten. „Welches auch die Bedeutung 
derſelben ſei, ſagt er“), fie iſt eine zweifel— 
loſe Thatſache.“ 

Eine ganz beſonders gehaltvolle Über— 
ſicht iſt diejenige, in welcher er die Be— 
dingungen aufzählt, welche den Urſprung 
und Charakter der Träume beſtimmen. 

) A. a. O. S. 15—16.— **) Ebendaſ. S. 20. 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


47 


Er klaſſifizirt ſie unter ſechs Hauptſtücke: 
1) die vorhergegangene Erfahrung, ſei 
ſie perſönlich oder ererbt, aus welcher 
die Elemente des Traumes beinahe ſtets 
geſchöpft ſind; 2) die Eindrücke auf 
den einen oder andern Sinn, der mehr 
oder weniger wach geblieben iſt; 3) die 
organiſchen Eindrücke, welche ihre Urſache 
im Zuſtande der Eingeweide, des Blut— 
umlaufs, der Atmung oder der Geſchlechts— 
organe haben; 4) die Muskelempfind— 
lichkeit, welche eine Qual erzeugt und von 
der Art herrührt, wie man liegt; 5) der 
Blutumlauf im Gehirn und 6) der Zu— 
ſtand des wohlgekräftigten oder erſchöpf— 
ten, friſchen oder ſchlaffen Nervenſyſtems, 
welches durch Blutarmut oder Reichtum 
erregt wird ꝛe. 

Maudsley hat ſich im Allgemeinen 
mit den Zuſtänden des Schlafes und 
Traumes nur beiläufig und von dem Ge— 
ſichtspunkte der Analogie beſchäftigt, die 
ſie mit dem Irrſinn darbieten. Er hat 
gleichwohl mit einer großen Klarheit 
mehrere Fragen in Angriff genommen, 
welche ſich daran knüpfen und die Un— 
zulänglichkeit unſerer Kentniſſe über die— 
ſen Gegenſtand empfinden laſſen. 

Spitta hat ſich die Aufgabe geſetzt, 
zu zeigen, daß die Erſcheinungen der Ver— 
nunft, des Traumes, der Hallueination 
ſich untereinander durch zahlreiche und 
feine Abſtufungen verknüpfen, daß ſie 
zum Teil zuſammenfallen und denſelben 
phyſiologiſchen Geſetzen unterworfen ſind. 
Sein Werk iſt mit jugendlichem und poe— 
tiſchem Schwunge geſchrieben, was einiger— 
maßen der Schärfe des Ausdrucks ſchadet, 
die man in einer wiſſenſchaftlichen Ab— 
handlung zu finden wünſcht. Im Augen— 
blicke, wo man eine Beweisführung er— 


48 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


wartet, trifft man auf eine farbige und 
reiche Beſchreibung, welche angenehm ein— 
nimmt, aber nicht viel lehrt, und dieſe 
Arten von Überraſchungen wiederholen 
ſich nur zu oft. Aus bloßem Unwillen über 
dieſen liebenswürdigen Fehler möchte ich 
nicht ein ſo ſtrenges Urteil, wie Böhm 
in der oben eitirten Zeitſchrift, über dieſes 
Buch fällen. Man findet darin Gelehr— 
ſamkeit, feine Analyſen, geiſtreiche Be— 
merkungen. 

Das, was nach Spitta den tiefen 
Schlaf charakteriſirt, iſt das völlige Ver— 
ſchwinden des Bewußtſeins. Wenn man 
träumt oder ſich im ſomnambulen Zu- 
ſtande befindet, hat man Bewußtſein, aber 
nicht das feiner Perſon, welches das Vor: 
recht des wachen Zuſtandes iſt. Es iſt 
dieſes unglücklicher Weiſe allzu elaſtiſche 
Kriterium, welches ihm zur Erklärung 
dient, warum die Träume gewöhnlich 
bizarr und unzuſammenhängend ſind, 
weshalb ſie bei dem Träumer kein Er⸗ 
ſtaunen hervorrufen, weshalb, wenn ſie 
verbrecheriſch ſind, keine Scham noch Ge— 
wiſſensbiſſe ſie begleiten. Durch den 
Mangel an Selbſtbewußtſein erklärt man 
die Sicherheit und Geſchicklichkeit des 
Nachtwandlers, auf den Dächern zu 
ſpazieren, die Phänomene der Ekſtaſe und 
die Verdopplung der Perſönlichkeit, welche 
uns z. B. in unſern Träumen andern 
Perſonen unſere eigenen Gedanken bei— 
legen läßt. 

Es iſt ein fernerer Deus ex machina, 
welcher in dem Buche Spittas eine 
ganz ebenſo wichtige Rolle ſpielt. Es iſt 
das Gemüt. 

Das „Gemüt“ ſchläft niemals. Das 
Gemüt iſt der größte Feind des Schlum— 
mers, und wenn es die Seele in Be— 


ſchlag nimmt, giebt es keine Ruhe mehr. 
Lärm, Liſt, Geſchäftigkeit, Projekte, nichts 
ſetzt von dem Augenblicke an, wo das 
Gemüt nicht mehr beteiligt iſt, dem 
Schlafe ein Hindernis entgegen. Aber 
wenn es erregt iſt, z. B. wenn man von 
der Idee eingenommen iſt, daß man zu 
einer beſtimmten Stunde aufſtehen muß, 
iſt der Schlaf leicht und ein Nichts ge— 
nügt, ihn zu unterbrechen. Die für alle 
andern Geräuſche taube Mutter erwacht 
bei der geringſten Bewegung ihres Kin— 
des. Die Träume, welche ſich der Er— 
innerung bieten, ſind diejenigen, welche 
lebhaft unſer Gemüt erregt haben. Die 
Sorge oder ein ſchlechtes Gewiſſen halten 
uns wach; ſo groß iſt das Übergewicht 
des Gemüts auf den Verſtand, welcher 
vergeblich den Schlaf zurückrufen möchte. 

Der Traum iſt „die unfreiwillige 
und bewußte Nachaußen-Projektion einer 
Reihe von Vorſtellungen der Seele wäh— 
rend des Schlummers, eine Projektion, 
welche verurſacht, daß letztere für den 
Schläfer den Anſchein der objektiven 
Wirklichkeit annehmen“. Die Aufeinander⸗ 
folge und Verkettung der Bilder unter 
einander gehorchen den Geſetzen der Aſſo— 
ciation und der Reproduktion der Ideen, 
aber nicht dem Kauſalitätsgeſetze“): Der 
Traum iſt unlogiſch. Was die von Des— 
cartes aufgeworfene Frage: „An wel— 
chen Zeichen kann man den wachen Zu— 
ſtand von dem des Träumens unterſchei— 
den?“ anbetrifft, ſo erklärt Spitta ſie 
für imaginär und hypothetiſch““); ſicher 
keine Antwort auf dieſe Frage. 

Im Wachen iſt unſere Welt zugleich 
die der andern Menſchen, im Schlafe iſt ſie 
unſere eigene; die zentripetale Stetigkeit 

) S. 111 ff. — 5) S. 112. 


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J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


erfährt ein Hemmnis; die Ideenbildung 
wird häufig unterbrochen, und da das 
Selbſtbewußtſein nicht da iſt, um ſie zu 
leiten und die Deutung der äußern Ein— 
drücke durch die Intelligenz naturgemäß 
unvollkommen, wenn nicht gleich Null iſt, 
ſo ſieht man ohne Mühe, warum die 
Träume dunkel, ordnungs- und zuſammen— 
hangslos ſind. Es iſt vielmehr erſtaun— 
lich, daß wir manchmal logiſche Träume 
haben. Dieſe müſſen ſolchen Geiſtern 
eigentümlich ſein, bei denen es eine feſte 
Gewohnheit iſt, ihre Ideeen immer lo— 
giſch zu verketten.“) 

Das Buch von Radeſtock, welches 
kurz nach dem von Spitta erſchien, iſt 
in demſelben Geiſte abgefaßt; aber der 
Verfaſſer beſteht mehr auf die phyſio— 
logiſche Seite der Frage und verwendet 
eine große Seitenzahl, um die Wichtig— 
keit der Träume für die Phyſiologie der 
verſchiedenen Völker darzuthun. 

Dieſes dem Prof. Wundt gewidmete 
Buch iſt intereſſant, thatſachenreich, mit 
Methode und Klarheit geſchrieben, leicht 
lesbar, aber es iſt nicht frei von Neben— 
werk. 

Es umfaßt zehn Kapitel. Das erſte 
beſchäftigt ſich mit dem Einfluß des Schla— 
fes und der Träume ſowohl auf die In— 
dividuen, als auf die Nationen. Man 
findet darin die verſchiedenen Meinungen 
geſammelt, welche die Alten und die 
Neueren über die Träume ausgeſprochen 
haben. „Sie bilden einen Hauptfaktor 
in dem Glauben an die Unſterblichkeit 
der Seele,“ und ihre Rolle in der poli— 
tiſchen Geſchichte iſt fern davon, gering 
geachtet zu werden: es reicht hin, die 
delphiſchen Orakel, die Viſionen Moha— 


) S. 116 ff. 


49 


mets und die Hallueinationen der Jeanne 
d' Are zu erwähnen. 

Im folgenden Kapitel berichtet Rade— 
ſtock die zahlreichen Erklärungen, welche 
die Poeten und Philoſophen aller Zeiten 
von den Träumen gegeben haben; dann 
ſeine Anſichten über die Natur der Ver— 
bindung von Seele und Körper, „welche 
nur zwei verſchiedene Seiten eines und 
deſſelben Weſens ſind“ auseinanderſetzend, 
ſchließt er daraus auf die Notwendigkeit, 
ſich beim Studium des Schlafes und der 
Träume nicht ausſchließlich an die phy— 
ſiſchen Erſcheinungen zu halten, indem 
man die körperlichen vernachläſſigt. 

Das dritte Kapitel iſt der „normalen 
und anormalen“ reproduzirenden Thä— 
tigkeit gewidmet. Alles wechſelt in der 
Natur, die Seele ebenſowohl wie der 
Körper. Aber das Vergangene findet ſich 
dem Gegenwärtigen durch das Gedächt— 
nis verbunden. Die Reproduktion kann 
zweierlei Formen annehmen; je nach— 
dem das erneuerte Bild weniger oder 
ebenſo lebhaft iſt als das Original- 
gemälde, unterſcheidet man Erinnerung 
und Hallueination (Illuſion). Die 
Reproduktion hat ihre Wurzel in der Ideen— 
aſſociation, deren Geſetze wohlbekannt 
ſind, im Geſetz der Ahnlichkeit, des Kon— 
traſtes, der Gleichzeitigkeit und Aufein— 
anderfolge. Radeſtock beſchäftigt ſich, 
nach dem Beiſpiele der meiſten Pſycho— 
logen, nicht mit dem letzten dieſer Prin— 
zipien. Die Ideen folgen nicht nur 
einander, ſondern ſie verbinden und ver— 
ſchmelzen ſich manchmal, ebenſo wie die 
Empfindungen ſich untereinander ver— 
ſchlingen. So z. B. liefert das Vor— 
ſtellungsbild der Axt, an diejenigen der 
Gehölze und des Zimmermanns erinnernd 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 


— 


22 


und ſich mit ihnen vereinigend, das zu 
ſammengeſetzte Bild eines mit Holzſpalten 


beſchäftigten Mannes. Die Verſchieden— 
heit zwiſchen der Erinnerung und der 
Hallueination hängt von der Stärke der 
Erregung ab, zwiſchen beiden giebt es 
alle nur denkbaren Übergänge. Die Hallu— 
eination iſt eine Reproduktion, welche 
einen der Wirklichkeit vergleichbaren Glanz 
beſitzt. Der Hauptfaktor der Illuſion 
iſt alſo notwendig die Erhöhung der Reiz— 
barkeit des Centralnervenſyſtems. 

Ich bemerke im Vorbeigehen, daß 
dies keine Erklärung, ſondern eine bloße 
Hypotheſe iſt. Das Unbekannte kann nicht 
dazu dienen, das Dunkle aufzuhellen. 
Ich muß hinzuſetzen, daß der Schluß nicht 
ſtreng aus den Vorderſätzen folgt: die 
Illuſion könnte auch aus der Schwächung 
des peripheriſchen Nervenſyſtems ent— 
ſtehen. Was die Definition der Hallu— 
eination betrifft, ſo hat ſie eine wahre 
Seite, aber ſie iſt ſicher unvollſtändig. 
Das von dem Autor zur Stütze ſeiner 
Theſe eitirte Beiſpiel iſt geeignet, dieſe 
Unzulänglichkeit zu zeigen. Brierre de 
Boismont erzählt von einem Maler, 
welcher im Stande war, das ähnliche 
Portrait einer Perſon zu malen, welche 
er nur einziges Mal geſehen hatte. Die 
Zahl der Male thut überhaupt nichts 
zur Sache. Ich frage, ob der Künſtler, 
welcher in der Erinnerung eine abweſende 
Perſon mit ſolcher Lebhaftigkeit ſieht, 
daß er genau ihre Züge wiedergeben 
kann, unter der Herrſchaft einer Hallu— 
eination iſt? Entſchieden nein. Es bedarf 
noch eines andern Umſtandes, es it 


nötig, daß die Perſon der Spielball einer 


Illuſion ſei, und dem Gegenſtande, der 
ganz in ihm ſteckt, eine äußere und gegen— 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


wärtige Exiſtenz zuerteilt, ſelbſt wenn 
ſein Verſtand ihm ſagt, daß er im Irr— 
tum ſei. 

Radeſtock wird auf dieſe Weiſe da— 
zu veranlaßt, einen flüchtigen Blick auf die 
Erregungsmittel des Nervenſyſtems, Stech— 
apfel, Belladonna, Haſchiſch u. ſ. w., dann 
auch auf das Faſten und die Sinnes— 
erregungen zu werfen. Unvermeidlich 
treten bei dieſer ſchwierigen Materie oft 
genug an die Stelle der Ideen Worte: 
Nerven, Zellen, Gehirn und Mark, ſo— 
weit man etwas darüber weiß, kommen 
mehr als nötig dabei in Rede. Trotz 
dieſer Kritik freue ich mich, erklären zu 
können, daß dieſe geſammte Abteilung 
nüchterne und inhaltsreiche Überſichten 
enthält. 

Endlich ſind wir zur Definition des 
Traumes vorgedrungen: er iſt die 
Fortſetzung der Geiſtesthätigkeit 
während des Schlafes. 

Ariſtoteles hat geſagt: der Traum 
iſt weſentlich das durch die Sinnesein— 
drücke hervorgebrachte Bild, wenn man 
im Schlafe iſt, und ſo weit, als man 
ſchläft.“) Dieſe Erklärung iſt unendlich 
vorzuziehen, ja ich muß ſagen, ſie iſt 
nicht übertroffen worden. Schwach den 
Hahnenſchrei hören, wenn man ſchläft, 
iſt kein Träumen, ſagt der Stagirite, 
denn dieſes Hören iſt die Thätigkeit der 
wachen Seele und nicht der ſchlafenden. 
Nichts kann richtiger ſein. Alſo iſt nicht 
jede Seelenthätigkeit während des Schla— 
fes notwendig ein Traum; ich träume 
nicht, wenn ich gegen Morgen noch 
ſchlummernd dunkel die Geräuſche des 
Hauſes oder der Straße vernehme; aber 
ich träume, wenn ich einer Unterhaltung 


*) Von den Träumen, Kap. III. 


— 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


beizuwohnen glaube, welche gar nicht 


ſtattfindet. Daraus folgt, daß die De— 
finition des Traumes von derjenigen des 
Schlafes abhängig iſt. Ich werde auf 
dieſen wichtigen Punkt ſpäter zurückzu— 
kommen haben. 

Das folgende Kapitel handelt ein— 
gehend vom Schlafe, ſeinen Urſachen 
und feinen Eigentümlichkeiten. Von den 
Urſachen ſprechend, welche den Schlaf 
begünſtigen oder hervorrufen, wie die 
Ruhe, Körperlage u. ſ. w., eitirt Rade— 
ſtock die Erfahrungen, welche der 
Preyer'ſchen Theorie widerſprechen. 
Man weiß, daß dieſer Naturforſcher auf— 
geſtellt hat, der Schlaf wäre von der 
Gegenwart eines Ermüdungsſtoffes ab— 
hängig, der analog der Milchſäure ſei 
und von der Ermüdung erzeugt würde. 
Er hat dementſprechend die Wirkungen 
der Einführung genannter Subſtanz unter 
die Haut und in den Magen ſtudirt, 
und glaubte feſtſtellen zu können, daß 
ſie Schlafſucht herbeiführe. Nach Lothar 
Meyer ſcheinen dieſe Wirkungen aber 
nicht entfernt beſtändig zu ſein. 

Die phyſiologiſche Erklärung des 
Schlafes betreffend, verſichert der Ver— 
faſſer, daß keine vorhanden iſt, und daß 
er nicht verſuchen würde, eine zu geben. 
Er begnügt ſich damit, ſeine phyſiologi— 
ſchen Wirkungen auseinanderzuſetzen, 
welche bekannt genug ſind, um hier mit 
Stillſchweigen übergangen zu werden. 
Streitiger ſind ſeine pſychologiſchen Wir— 
kungen. Gewiſſe Autoren behaupten, daß 
während des Schlafes das Bewußtſein 
unterdrückt ſei, andere halten es aufrecht. 
Der berühmte Fechner hat über dieſen 
Punkt eine ganz originelle Meinung. Nach 
ihm erreicht das Bewußtſein im Moment 


51 


des Einſchlafens ſeinen Nullpunkt, und 
nimmt, wenn man eingeſchlafen iſt, einen 
negativen Wert an. Ich habe in früheren 
Artikeln“) hinreichend die „negativen Em— 
pfindungen“, wie fie der Vater der Pſy— 
chophyſik definirt hat, kritiſirt, und nicht 
nötig auf den noch ſeltſameren Begriff 
des negativen Bewußtſeins einzugehen. 
Radeſtock macht, in der Abſicht den 
Knoten zu löſen, wie Spitta, die Unter— 
ſcheidung zwiſchen Selbſtbewußtſein und 
einfachem Bewußtſein. Das erſtere iſt 
unterdrückt, aber das zweite beſteht fort; 
denn jede Vorſtellung iſt notwendiger— 
weiſe bewußt, ſonſt iſt ſie nur eine ein— 
fache Dispoſition (Wundt). 

Ich meinesteils bin niemals dahin 
gelangt, mir eine klare Idee von dem 
zu machen, was man unter Selbſtbewußt— 
ſein verſteht, ſofern man es dem ein— 
fachen Bewußtſein gegenüberſtellt. Ich 
würde viel beſſer den Ausdruck des 
Nichtſelbſtbewußtſeins verſtehen. Ich 
würde ſo die von jedem empfindenden 
Weſen untrennbare Fähigkeit bezeichnen, 
kraft welcher es einem Außendinge die 
Urſache ſeiner Empfindungsarten zu— 
ſchreibt. Auf dieſe Weiſe würde man 
in den Erſcheinungen, welche in uns vor— 
gehen, die unbewußten, die bewußten 
und diejenigen unterſcheiden, welche von 
dem Bewußtſein des äußeren Urſprungs 
begleitet ſind. Aber der Augenblick iſt 
noch nicht da, mich bei dieſer Unter— 
ſcheidung aufzuhalten. 

Es giebt keinen völligen Gegenſatz 
zwiſchen Wachen und Schlafen. Im 
Schlafe find die pſychiſchen Thätigkeiten 
vermindert, aber nicht aufgehoben. In 

0 Ribots Revue philosophique, März 
1877 und Januar bis Februar 1878. 


N 


52 


der That, wie lebhaft auch die Bilder 
unfrer Träume fein mögen, fie jind 
ſchwächer und dunkler als die des Wa— 
chens. Man kann ſomit dieſen Schluß 
aufſtellen: Im tiefen Schlafe iſt, ebenſo 
wie die organiſchen und vegetativen Funk— 
tionen herabgedrückt ſind, die pſpychiſche 
Thätigkeit auf ein Minimum reduzirt, 
ohne deshalb gänzlich aufgehoben zu ſein. 

Das fünfte Kapitel hat die Elemente 
des Traumes zu ſeinem Gegenſtande. Es 
iſt eines der beſten und vollſtändigſten 
des ganzen Buches. Es werden darin 
die Wirkungen der ſinnlichen und orga— 
niſchen Eindrücke und ihre Verwandlun— 
gen in den Träumen geſchildert, ebenſo 
die Rolle, welche das Gedächtnis darin 
ſpielt. Da ich indeſſen keine wirklich 
neue Idee darin entdecke, überhebt mich 
die Analyſe, welche ich weiter oben 
von der denſelben Gegenſtand behan— 
delnden Abteilung des Maudsleyſchen 
Werkes gegeben habe, länger dabei zu 
verweilen. Es würden jedoch ſehr inter— 
eſſante Studien in dieſer Richtung an— 
geſtellt werden können. Kein Zweifel, 
daß viele unſrer Träume nur die Dra— 
matiſirung unſerer während des Schlum— 
mers empfangenen Eindrücke ſind. So 
träumen die Perſonen, welche gelegent— 
lich oder gewöhnlich Atmungsbeſchwer— 
den haben, von engen Gängen, oder ein— 
ſtürzenden Plafonds, von Höhlen und 
Katakomben, von Menſchengedränge oder 
in die Bruſt ſtoßenden Wagendeichſeln, 
mit einem Worte, von lauter Scenen, 
bei denen man erſtickt oder Luftmangel 
erleidet. Die Beziehung iſt klar. Nun 
würde man, dieſe Beziehungen verfolgend, 
nach aller Wahrſcheinlichkeit zu einer 
phyſiologiſchen Klaſſifikation der Träume 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


gelangen, und mit einem Schlage zu 
einer Klaſſifikation der wirklichen Vor— 
gänge, vom Geſichtspunkte ihrer Wirkung 
auf unſere Körper durch die Vermittlung 
des Geiſtes.“) 

Das folgende Kapitel hat zum Zweck, 
die Verſchiedenheit zwiſchen Träumen und 
wachem Denken darzulegen. Es iſt dies, 
wie ich ſchon erwähnt habe, ein Punkt 
von der höchſten Wichtigkeit, und müßte 
zu einem der Angelpunkte der gefamm- 
ten Schlaf- und Traumtheorie gemacht 
werden. Radeſtock behandelt ihn mit 
ſeiner ihm eignen Feinheit und Gelehr— 
ſamkeit. Obwohl dem Problem an— 
ſcheinend noch näher gerückt werden kann, 
ſind beinahe alle ihm gewidmeten Seiten 
ausgezeichnet, voll von richtigen, oft tiefen 
Bemerkungen, und bilden ein ſehr be— 
friedigendes und wohlgeordnetes Ganzes. 
Ich muß geſtehen, ſelten etwas mit 
mehr Vergnügen geleſen zu haben. Setzen 
wir hinzu, daß der Gedanke darin im— 
mer klar, durchſichtig und in einem ein— 
fachen, leichten und natürlichen Stile 
ausgedrückt erſcheint. 

Der Traum iſt beweglich und wech— 
ſelnd. Nichts iſt gewöhnlicher als darin 
eine Katze in ein Mädchen, einen Baum 
in eine Kirche verwandelt zu ſehen. 
Dennoch — ich halte darauf, es ſchon 
jetzt auszuſprechen — habe ich hinſicht— 
lich dieſer angeblichen Verwandlungen 
meine Bedenken. Ich frage mich, ob 
das wirkliche Verwandlungen ſind? Wenn 
) Nicht als ob es an Verſuchen die Träume 
zu klaſſificiren fehlte, aber ſie find eutweder 
willkürlich in ihren Details oder ſie fußen auf 
bloßen Gefühls- und Sprachunterſcheidungen 
(angenehme und unangenehme, hiſtoriſche, pro— 
phetiſche Träume u. ſ. w.). 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 53 


man derartige Träume erzählt, ſagt man 
niemals, daß die Katze ſich in ein jun— 
ges Mädchen, oder der Baum in eine 
Kirche verwandelt habe, ſondern man 


ſagt z. B.: Ich ſpielte mit einer Katze, 
aber im Augenblicke darauf war es keine 


Katze mehr, ſondern ein junges Mäd— 
chen. Oder auch: ich war anfangs unter 
einem Baume, aber ohne zu wiſſen wie, 
befand ich mich mitten in einer Kirche. 
Nun, meiner Meinung nach, hat man 
dann anfangs von einer Katze und dann 
von einem jungen Mädchen geträumt, 
und es iſt unſer Geiſt, der, ſei es im 
Schlafe oder häufiger beim Munter— 
werden, eine Verwandlung unterſchiebt, 
die nicht beſonders im Traum konſtatirt 
wurde, nur um ſich ſelbſt die Kontinuität 
gewiſſer anderer Teile des Traumes zu 
erklären. In Wirklichkeit würde dabei 
ein einfacher Erſatz eines Bildes durch 
ein anderes, ohne innere und allmähliche 
Umwandlung, ſtattfinden. Dieſe wenigen 
Worte genügen für den Augenblick und 
ich fahre fort. 

Der Traum iſt voll Lebhaftigkeit 
und Uebertreibung. Woher könnte das 
kommen, wenn nicht von einer Anderung 
im Blutumlauf, welche die Reizbarkeit 
des Centralnervenſyſtems erhöht? Wie— 
der eine Hypotheſe an Stelle einer Er— 
klärung. Der Verfaſſer fügt indeſſen 
hinzu, daß die im Schlafe empfundenen 
Gefühle niemals die Intenſität derjeni— 
gen beſitzen, welche uns während des 
Wachens bewegen. Man kann vor Freude 
oder Furcht ſterben, aber es giebt kein 
Beiſpiel von tötlichen Träumen.“) Ich 


*) Anmerk. d. Red. Wer kann das 
behaupten, da doch niemand tötliche Träume er— 
zählen kann? Der Verfaſſer erwähnt in einer 


glaube, daß dieſe Einſchränkung ſich 


ebenſo genau auf die Traumbilder ſelbſt 
erſtrecken dürfte, deren Lebhaftigkeit nach 
meiner Anſicht ganz relativ iſt. 

Der Traum ſpielt ſich unabhängig 
von jeder Intervention des Willens ab. 
Dieſe wahre Behauptung iſt als all— 
gemeine Aufſtellung vielleicht zu abſolut. 
Ich träumte eines Tages von einem 
meiner Freunde, der ſeit lange, aber 
nur vor dem Civilamt getraut iſt. Er 
glaubte endlich, ich weiß nicht aus wel— 
chen, von ſeinen Prinzipien abgeleiteten 
Urſachen — ſo träumte ich — ſeinen 
Bund durch den Prieſter einſegnen laſſen 
zu müſſen. Bei dieſer Gelegenheit mußte 
es einen Aufzug geben. Dieſe Neuigkeit 
hatte die ganze Gemeinde auf die Beine 
gebracht. Neugierig wie die andern, 
begab ich mich zur Kirche; ich hielt vor 
allem darauf, das Geſicht des Gatten 
zu ſehen. Ich durchbreche den Haufen 
und es gelingt mir, bis zur erſten Reihe 
vorzudringen. Indeſſen — der Zug 
kam nicht. Um die Zeit zu töten, dachte 
ich beim Warten an Dinge aller Art. 
Die Ungeduld packte mich; ich hatte das 
beſtimmte Gefühl, daß ich aufwachen 
würde, ich hörte den Morgenlärm im 
Hauſe, aber mit aller Kraft willens, 
dem Vorüberziehen dieſes originellen 
Zuges beizuwohnen, machte ich An— 
ſtrengungen, um mich wieder einzu— 
ſchläfern und meinen Traum als Traum 
zu beenden. Sie waren erfolglos. Ich 
erwachte ſehr wider Willen, ohne meine 
Neugierde befriedigt zu haben. 


Anmerkung einer ſeiner Familie bekannten jun⸗ 
gen Perſon, von der man erzählt habe, daß ihr 
Haar, infolge eines ſchrecklichen Traumes, plötz— 
lich weiß geworden ſei. 


54 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


Dieſer Traum ſcheint mir geeignet 
zu beſtätigen, was ich oben geſagt habe. 
Das Selbſtbewußtſein iſt die ausgeſpro— 
chene Empfindung der Wirklichkeit als 
ſolche, ſo daß im Traume immer Bewußt— 
ſein, möge es noch ſo gering ſein, 
vorhanden ſein müßte, denn es iſt nicht 
glaublich, daß man jemals von der Wirk— 
lichkeit gänzlich abgetrennt wäre. 

Der Traum iſt der Schöpfer neuer 
Kombinationen, aber ſeine Erzeugniſſe 
haben ſelten einigen Werth. Beinahe 
ſtets ſind ſeine Erfindungen reine 
Dummheiten, wie die der Verrückten. 
Es tritt alſo im Traume Schwächung 
der Urteils- und Denkfähigkeit ein. Man 
findet ganz natürlich, daß die Huſaren 
auf der Firſte eines Daches exerziren, 
oder daß man die Alpen im Gefolge 
Hannibals überſchreitet. Dieſe Sonder— 
barkeiten beruhen nach dem Verfaſſer 
auf freiwilligen Aſſociationen und As— 
ſimilationen, wobei das Geſetz der Ahn— 
lichkeit den größten Anteil hat, ebenſo 
wie das Band, welches gewiſſe körper— 
liche Eindrücke mit den Ideen vereint, 
welche ſie gewöhnlich hervorrufen. 

Oft zeigt ſich auch in den Träumen 
die unter dem Namen der Teilung 
oder Verdopplung der Perſön— 
lichke it bekannte Erſcheinung: man legt 
ſeine eigenen Gedanken und Empfindun— 
gen einer andern Perſon bei. Zu den 
ſchon bekannten Beiſpielen möchte ich ein 
anderes, nach allen Beziehungen äußerſt 
vollſtändiges, hinzufügen. 

In einer Geſellſchaft von Freunden 
brachte ich eines Abends unter andern 
Geſprächsgegenſtänden dieſe Frage von 
der Verdopplung der Perſönlichkeit aufs 
Tapet. Ich erzählte den ſeltſamen Fall von 


| 


van Göns, welcher, als er noch Schüler 
war und den Ehrgeiz empfand, immer 
der Erſte in der Klaſſe zu ſein, eines 
Tages träumte, daß der Lehrer ihm 
einen lateiniſchen Satz zu überſetzen gäbe. 
Van Göns konnte nicht damit fertig 
werden, aber dieſer Umſtand quälte ihn 
noch nicht ſo ſehr als der, einen ſeiner 
Mitſchüler Zeichen machen zu ſehen, die 
anzeigen ſollten, daß er den Sinn er— 
faßt habe. Der Lehrer mußte endlich 
dieſen Schüler fragen, welcher die Stelle, 
ohne den geringſten Fehler zu machen, 
überſetzte und damit den erſten Platz er— 
oberte. Dieſer Traum war der Gegen— 
ſtand einiger Erörterungen; dann wurde 
von andern Dingen geſprochen. Unſere 
Unterhaltung fand zu einer Zeit ſtatt, 
wo man ſich ſtark für die ſpäter ver— 
wirklichten Drohungen intereſſirte, welche 
der Atna ſeit einiger Zeit vernehmen 
ließ. In derſelben Nacht nun legte 
ſich mein Freund, der Profeſſor Spring 
— welcher die Specialität erfinderiſcher 
Träume kultivirt — im Traume darauf, 
ein Mittel zu erfinden, welches geſtattet, 
die Eruptionen mehrere Tage im voraus 
anzukündigen. Man kann heute ſchon in 
einem gewiſſen Maßſtabe die Stürme 
vorausſagen und ihren wahrſcheinlichen 
Gang beſchreiben, warum ſollte man nicht 
daſſelbe für die vulkaniſchen Phänomene 
verſuchen? Aber Spring mochte noch 
ſo viel in ſeinem Hirne wühlen, er 
brachte nichts heraus. Da fällt ihm 
ein, über dieſen Punkt einen Gelehrten 
ſeiner Bekanntſchaft, er weiß nicht mehr 
welchen, zu konſultiren. Er begiebt ſich 
zu ihm, findet ihn glücklicherweiſe zu 
Haus und legt ihm ſeine Verlegenheit 
dar. Der Freund ergreift ſofort die 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 55 


Idee und liefert ihm im Augenblick die 


geſuchte Löſung. Es würde ſich nur 
darum handeln, in den Boden an Punk— 
ten in gewiſſer Entfernung von einander 
thermoelektriſche Säulen einzuſenken, die 
unter ſich und mit einer Centralſtation 
verbunden wären, um von dem unter— 
irdiſchen Steigen der Lavamaſſen benach— 
richtigt zu werden. Spring bewun— 
derte die Erfindung ſehr und kehrte von 
der Leichtigkeit der Auffaſſung ſeines 
Freundes, des Naturforſchers, entzückt 
nach Hauſe zurück. 

Radeſtock erklärt dieſe Seltſamkeit 
wie folgt: 

Sie verdankt nach ſeiner Meinung 
ihren Urſprung der Schwächung eines 
der Elemente des Selbſtbewußtſeins. Das 
Selbſtbewußtſein ſchließt die Vereinigung 
und Verbindung einer gewiſſen Anzahl 
von Ideen, Gefühlen, Willensäußerun— 
gen und Erinnerungen mit einer und 
derſelben Perſon und außerdem die Auf— 
merkſamkeit und thätige Beobachtung in 
ſich. Nun iſt im Schlafe dieſer letzte 
Faktor beſeitigt und der erſte bleibt 
allein. Der Menſch empfindet dann ſein 
Ich nur noch in beſchränkter Weiſe; er 
betrachtet ſich nicht mehr als den ein— 
zigen Träger ſeiner Ideen, und er be— 
zieht einen Teil davon auf fremde We— 
ſen. Das iſt, ſcheint mir, mehr eine 
Beſchreibung, als eine Erklärung der 
Thatſache. Was mich betrifft, ſo bin 
ich ſtark in Verſuchung, darin ganz ein— 
fach die Dramatiſirung jener Gewohn— 
heit der Gedanken zu erkennen, ſich in 
Dialogform zu offenbaren. Im Augen— 
blick, wo ich ſchreibe, plaudere ich mit 
einem Leſer, den ich mir einbilde und 
dem ich die Einwürfe und Zweifel bei— 


lege, wenn ich mich nicht klar glaube 
oder mir ſelbſt nicht traue. Nun könnte 
ich auch ebenſogut ſeine Rolle nehmen 
und in ſeinen Mund die Antworten und 
Löſungen legen. Ich beſchränke mich 
darauf, dieſe Idee anzudeuten, da es 
meine Abſicht nicht iſt, eine vollſtändige 
Abhandlung über die Träume zu liefern.“) 


) Nachträglicher Zuſatz des Ver— 
faſſers. 

Ich bin im Beſitz einer neuen Thatſache, 
die dieſer Anſicht eine Stütze, ja ſogar einen 
hohen Grad von Wahrſcheinlichkeit giebt. 

Einer meiner Freunde, ein trefflicher Bür— 
ger, welcher, da er ſich für pſychologiſche Fragen 
intereſſirt, mir mitunter von ſeinen Träumen 
Rechenſchaft giebt, ſteht im Begriff, ſich ein Haus 
bauen zu laſſen. In der Baukunſt ſo unwiſſend 
wie ein Karpfen, hat er nichtsdeſtoweniger jei- 
nen Einteilungsplan, und wie Herr Pencil, 
einer der Töpffer ſchen Helden, bemerkt er alle 
Tage mit mehr Vergnügen, daß er damit zu— 
frieden iſt. Dieſer Plan vereinigt, wie es ſcheint, 
alle Arten ſchwer vereinbarer Eigenſchaften, er 
iſt originell und rationell, praktiſch und künſt⸗ 
leriſch, kurz ein Meiſterwerk. Der Urheber die— 
ſes achten Weltwunders ſpaziert zu jeder Tages- 
ſtunde in ſeinen Zimmerprojekten umher, wo— 
bei er ihre Verbindung lobt, ihre Dispoſition 
preiſt und ihre Anordnung bewundert. Eine 
ſeiner Lieblingserholungen beſteht darin, ſich 
einzubilden, daß er dieſe Wohnung Beſuchern 
zeige, die ſich auf etwas wahrhaft Schönes ver— 
ſtehen, und er wirft ſich in die Bruſt, wenn er 
die Lobeserhebungen entgegennimmt, welche die 
ſo tief erwogenen Einrichtungen dieſes unver— 
gleichlichen Gebäudes ihnen auf Schritt und 
Tritt entlocken. Seine naive Eitelkeit malt un⸗ 
endliche Variationen dieſes Themas aus. Kürz— 
lich, weich in ſeinem Lehnſtuhl ausgeſtreckt, fängt 
er in feinem Kopfe ein kleines Drama an. Ber- 
mögensverluſte zwangen ihn, dieſes Haus zu 
verkaufen, welches, man merke wohl, noch nicht 
aus der Erde emporgewachſen iſt. Ein Lieb— 
haber findet ſich ein, und er läßt ihn von Etage 
zu Etage bis zum Boden reiſen, dann bis zum 


56 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


In dem geſammten Verlauf des Ka— 
pitels giebt uns alſo Radeſtock, einen 
nach dem andern, die beſondern Charak— 
tere, welche die Träume von den gegen— 


Keller hinabſteigen, wobei er ihm den Beſuch 
keines Winkels ſeines Eigentums erläßt. Wie 
alle diejenigen, welche vor ihm die Gunſt ge— 
noſſen hatten, in das Heiligtum eingelaſſen zu 
werden, war der Liebhaber entzückt und ließ 
ſich bei jeder Wendung Zeichen einer unbe— 
ſchränkten Anerkennung entſchlüpfen. Auf dieſen 
angenehmen Gedankenpfaden läßt ſich mein 
Freund im Schlummer gehen und plötzlich ſind 
die Rollen vertauſcht. Nunmehr iſt er derjenige, 
welcher ſich einem Eigentümer gegenüber befin— 
det, der gezwungen iſt, zu vermieten oder zu 
verkaufen, er iſt es, welcher von den zahlloſen 
Annehmlichkeiten dieſer wohldurchdachten Woh— 
nung entzückt iſt, und von Überraſchung zu 
Überraſchung wandert, von dem Erſtaunen zur 
Bewunderung und von der Bewunderung zur 
Ekſtaſe übergeht. Dabei muß man ein letztes 
Detail nicht vergeſſen. Unſer in einen Beſucher 
umgewandelte Bürger kannte keineswegs die 
Wohnung, welche man ihm zeigte, und nichts— 
deſtoweniger war es diejenige, deren Plan er 
entworfen und deren Vorteile ihm ein anderer 
auseinanderſetzte. 

Dieſe Beobachtung iſt charakteriſtiſch und 
wirft die lebhafteſten Lichter auf das „Verdopp⸗ 
lung des Ichs“ genannte Phänomen. Verſuchen 
wir denn bis zur Wurzel dieſer Art von Offen 
barung vorzudringen. Ich ſetze mich für einen 
Augenblick an die Stelle meines Freundes und 
will zu analyſiren ſuchen, was in mir im 
Augenblicke des Wachens vor ſich gehen wird. 

Ich gehe und komme in mein projektirtes 
Haus, aber dieſes bewundernde Ich iſt offenbar 
nicht das wirkliche Ich, welches ein Haus in 
Steinen und Ziegeln bewohnt und auf einem 
Stuhl neben ſeinem Feuer ſitzt. Dieſes vaga— 
bondirende Ich iſt ein Doppelgänger meines 
ſitzenden Ichs, das ihm auf ſeiner Promenade 
überall mit den Augen folgt und Zeuge ſeiner 
Verzückungen iſt. Ich ſehe mich, die Zimmer 
durchſchreiten, die Treppen auf- und abſteigen, 
die Thüren und die Schränke öffnen. In Summa, 


ſtändlichen Ideen unterſcheiden. Er ſpricht 
z. B. noch von dem Kauſalitätsbegriff 
im Traume, von der Unmoralität des 
Traumes, und bei dieſer Gelegenheit hat 


ich führe ein Alter Ego, ein anderes Ich, durch 
das zukünftige Bauwerk, als ob ich einen 
Fremden darin umherführte. 

Und die Sache noch näher betrachtend, 
kann ich dieſes eingebildete, verſchwommene und 
unbeſtimmte Weſen, welches meine Phantaſie 
ein ideales Haus durchlaufen läßt, ebenſo gut 
zu einem Fremden machen. Aber welches auch 
der Charakter ſei, mit welchem es mir gefällt, 
ihn zu bekleiden, es bleibt im Grunde eine 
Emanation von mir, in Wirklichkeit bin 
ich es ſelbſt. 

Das geht noch weiter: es kann dabei eine 
Verdreifachung des Ichs geben. Eine zweite 
Emanation von mir kann dem Fremden bei 
ſeinem Beſuche folgen, und nun iſt das Haus 
von zwei Weſen bevölkert. Ich könnte, der— 
geſtalt fortfahrend, darin eine unendliche Per— 
ſonenzahl einführen. Der Fremde könnte z. B. 
von einem Freunde begleitet ſein, dem er ſeine 
Eindrücke mitteilen würde; ich würde ihrer 
Unterhaltung beiwohnen und könnte noch ohne 
Mühe Kombinationen wie die erſinnen: z. B. 
daß ſie eine fremde Sprache ſprechen, deren 
Kenntnis ſie bei mir nicht vermuten, die mir 
aber ebenſo vertraut wie ihnen ſelbſt iſt. Der 
Einfachheit wegen halten wir uns an die Ver— 
dreifachung. Von zwei Perſonen, die ich in 
das Haus geſetzt habe, trägt die eine den Namen 
des Ichs, die andere den eines Nicht-Ichs. Die 
letztere, wird angenommen, habe noch nichts ge— 
ſehen, die erſtere zeigt ihr alles. Iſt nun von 
dieſen beiden Individuen eines im Vorzuge, 
das wahre Ich? Offenbar ſind ſie beide von 
gleichem Range. Von zweien meiner Emana— 
tionen kann alſo der eine dieſelbe Sache wiſſen 
und die andere ſie nicht wiſſen. Es giebt dabei 
kein anderes Geheimnis, als jenes ewige Ge— 
heimnis, welches alle Phänomene der Seele 
umgiebt. 

Habe ich jetzt nötig, auf den Schlaf zu— 
rückzukommen? Wer ſieht nicht, daß, was im 
Schlafe geſchieht, immer eine Verdopplung des 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 57 


er zu unterſuchen, bis zu welchem Punkte 
man für das, was man im Schlafe thut, 
verantwortlich gemacht werden kann. Er 
beſpricht, wie ſehr die Träume gewöhn— 
lich, außer bei Kindern, flüchtig ſind und 
wenig in der Erinnerung zurücklaſſen. 
Er handelt dann auf zwei Seiten von 
der Illuſion, zu deren Spielball uns 
die Träume machen. In dieſer Hinſicht 
unterſcheiden ſich die Träume in der That 
von andern Produktionen der Einbildungs— 
kraft, deren illuſoriſchen Charakter wir 
ohne Mühe erkennen. Das iſt meiner 
Anſicht nach ein anderer weſentlicher, 
fundamentaler und Hauptpunkt jeder 
Traumtheorie, und der Verfaſſer geht 
mit zu vieler Leichtigkeit darüber hin. 
Er ſagt, wie immer, treffliche Sachen, 
aber er beruhigt nicht alle Zweifel. 
Laſſen wir ihm das Wort. 

Neben der Auffaſſungskraft be— 
ſitzt das Bewußtſein die nicht weniger 
wichtige Fähigkeit der Unterſcheidung. 
Der Menſch trennt ſeine Vorſtellungen 
von einander; in dem Verein ſeiner gei— 
ſtigen Thätigkeiten unterſcheidet er die 
dauernden Gruppen und die beſondern 
und veränderlichen Eindrücke; er klaſſi— 
fizirt und ordnet ſeine Ideen nach ge— 
Ichs iſt, weil das wirkliche Ich „tout nu dans 
son lit“ ſchläft, und daß das Ich des Traumes, 
erwacht, angekleidet, ſprechend und geſtikulirend, 
ein anderes als dieſes iſt? Und was das Phä— 
nomen betrifft, welches man als Verdopplung 
des Ichs bezeichnet hat, ſo iſt es in letzter Zer— 
gliederung eine Verdreifachung des Ichs. Aber 
da es nicht zwei Ichs, eins dem andern gegen— 
über, geben kann, ſo wird das eine von beiden 
fingirten Ichs notwendig „verandert“ (alternisé), 
wenn ich dieſen Ausdruck ſchmieden darf. Der 
Liebhaber und der Eigentümer waren wohl das— 
ſelbe Ich. Im gewöhnlichen Leben iſt ohne 
# das Ich der Eigentümer, aber im 


wiſſen Geſichtspunkten in umſchriebenen 
Kreiſen, in welche er nur die einander 
ähnlichen bringt und die unähnlichen aus— 
ſondert. Er weiß ferner zwiſchen den 
ſchwächeren Erinnerungsbildern und den 
ſtärkeren Eindrücken der Gegenwart zu 
unterſcheiden, und unter dieſen letzteren 
zwiſchen denen, welche aus ſeinem eignen 
Körper und denen, die von außen ſtam— 
men. Dadurch lernt er ſeinen eigenen 
Körper den äußern Dingen, welche Ein— 
drücke auf ihn machen, entgegenſetzen und 
ſein eigenes Ich als Summe der körperlichen 
Eindrücke und geiſtigen Thätigkeiten ebenſo 
andern Weſen gegenüberſtellen, denen er 
eine unabhängige Exiſtenz in der Art der 
Seinigen zuerkennt. Dies bewirkt, daß er 
im Zuſtande des Wachens und der Geſund— 
heit weiß, daß eine Erinnerung eine andre 
Sache iſt als eine unmittelbare Anſchau— 
ung, und daß er in den meiſten Fäl— 
len ein Produkt ſeiner Einbildunskraft 
von einem vorhandenen Dinge unter— 
ſcheiden kann, wenn er auch nicht immer 
mit Klarheit über das urteilen mag, 
was ſpeziell objektiv und ſubjektiv an der 
ganzen Verſtellung iſt. Aber im Traume 
oder im Delirium verhält es ſich anders 
damit. Hier verleiht die Steigerung der ner— 
Leben der Einbildung giebt es nichts ſonder— 
bares dabei, daß es der Liebhaber iſt. 

Dieſe „Veranderung“ iſt eine der gewöhn— 
lichſten Operationen und ſie kann mehr oder 
weniger vollſtändig ausfallen. Wenn ich mir 
meine Kindheit zurückrufe, „verandere“ ich mich 
in ein Kind; wenn ich mir meine ehemalige 
Unwiſſenheit zurückrufe, „verandere“ ich mich in 
einen Ignoranten. Und, halt, — denn jeder 
Pſychologe iſt verpflichtet, ſogar feine Schwächen 
einzugeſtehen, wenn er glaubt, dadurch Licht auf 
irgend ein dunkles Problem zu werfen — ich 
muß mich noch einmal „verandern“: jener gute 
Bürgersmann nämlich bin ich ſelbſt. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 


58 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


vöſen Centralthätigkeit den Produkten der 
Phantaſie eine Lebhaftigkeit, welche ge— 
wöhnlich nur die Eigentümlichkeit un— 
mittelbarer Eindrücke iſt und die Thätig— 
keit der Seele lahmlegt. Wir halten alles 
für wahr, was unſre Einbildungskraft 
uns darbietet, das Vergangene wird ge— 
genwärtig, wir nehmen unſre Hoffnungen 
und unſre Wünſche für Thatſachen, ab— 
ſolut unmögliche Ungeheuerlichkeiten für 
Wirklichkeiten. Manchmal geſchieht uns 
daſſelbe, wenn wir, ohne zu ſchlafen, uns 
gehen laſſen, um die freiwilligen Narren 
unſrer Einbildungskraft zu ſein. Aber 
dieſe Fälle ſind ſelten, „weil die Rück— 
erinnerungen nicht ganz die Kraft un— 
mittelbarer Eindrücke haben und wir die 
Fähigkeit beſitzen, uns nach der realen 
Welt zu orientiren.“ Im Schlafe hin— 
gegen empfangen wir von außen nur 
geſchwächte Eindrücke, denn wenn ſie ſich 
etwas verſtärkten, würden ſie das Er— 
wachen herbeiführen; ſie ſind unfähig, 
das Bewußtſein zu einer Reaktion anzu— 
regen und der Träumer konſtruirt ſich 
ohne Nachrichten aus der Welt, die er 
bewohnt, eine neue aus ſeinen eigenen 
Ideen. Daher das oben erwähnte hera— 
klitiſche Wort, daß im Traume jeder 
ſeine Welt für ſich habe, während im 
Wachen dieſelbe Welt allen gemeinſam 
iſt. Erſt gegen Morgen, mit der An— 
näherung des Aufwachens, werden wir 
wieder für die äußern Dinge empfäng— 
lich; die höhern Geiſtesthätigkeiten ſetzen 
ſich wieder in Gang und die Illuſion 
erbleicht. 

Ich habe dieſe Stelle beinahe in 
ihrer ganzen Ausdehnung wiedergegeben. 
Wie man ſieht, iſt das ſehr gut geſagt, 


und manche werden ſogar denken, daß 


dem nichts hinzuzufügen ſei; meiner An— 
ſicht nach enthält der Satz, den ich zivi- 
ſchen Gänſefüße geſetzt habe, das Prin— 
zip der Löſung. Und dennoch beharre 
ich auf meiner Anſicht. Ich ſitze hier 
vor meinen mit Papieren bedeckten Tiſch 
und ſchreibe vorliegende Zeilen. Ich 
glaube nicht, das Opfer eines Traumes 
zu ſein; aber wie es Descartes geſagt 
hat, ich habe manchmal Ahnliches ge— 
träumt, ſogar, indem ich mir zum Über— 
fluſſe in meinem Traume ſagte, daß ich 
nicht träume. Ganz neuerdings hatte ich 
einen äußerſt komplizirten, wohl geord— 
neten und intereſſanten Traum. Plötzlich 
ſage ich mir, daß er aufgezeichnet zu 
werden verdiene, und immer weiter träu— 
mend, bringe ich ihn ſorgſam auf Brouil— 
lonpapier. Träume ich nicht noch in 
dieſem Augenblick, wo ich ihn ins Reine 
ſchreibe? Man wird mir ſagen, daß ich 
mich nach der Außenwelt orientiren könne, 
ſehr wahr; die Sonne glänzt, eine er— 
friſchende Briſe ſpielt im Laubwerk vor 
meinem Fenſter, von ferne höre ich das 
Rollen der Wagen und eine Kinder— 
trompete zerreißt mein Ohr — aber macht 
alles das nicht einen Teil meines Trau— 
mes aus? Sagt Radeſtock nicht ſelbſt 
in den von mir unterſtrichenen Worten, 
daß man in der Mehrzahl der Fälle 
die Einbildungen von wirklichen Dingen 
unterſcheiden könne? Es giebt alſo Fälle, 
in denen man es nicht kann. Bin ich 
nicht in einem dieſer Fälle, und wenn 
ſich das auch nur ein Mal ereignet, wo— 
durch kann ich mich vergewiſſern, daß 
das nicht immer ſtattfindet? In einer 
Note, die in den Text gehört hätte, er— 
zählt Radeſtock von einem polniſchen 
Studenten, mit welchem er in einer wiſ— 


* 
5 
5 
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10 
f 
; 
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J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 59 9 


ſenſchaftlichen Geſellſchaft bekannt gewor— 
den. Dieſer Student iſt Nachtwandler 
geweſen, und heute paſſirt es ihm oft 
im Traume, das Bewußtſein zu haben, 
daß alles, was er träumt, nicht wahr 
ſei, und dennoch weichen die falſchen 
Bilder nicht. Ich habe Verrückte gekannt, 
welche in der nämlichen Lage waren. 
Wie iſt das möglich? Was heißt Bewußt— 
ſein der Wirklichkeit? Ich wiederhole, 
man kann in einem gewiſſen Maße den— 
ken, daß Radeſtock alles geſagt hat, 
was er zu ſagen nötig hatte, aber ich 
würde eine detaillirtere, eindringlichere 


und tiefere Analyſe dieſes beſondern Punk— | 


tes gewünjcht haben. 

Dieſen nämlichen Mangel an Tiefe 
muß ich noch hinſichtlich des neunten 
Kapitels hervorheben. Ich ſage nichts 
vom ſiebenten und achten Kapitel, in 
denen vom Somnambulismus und der 
Verſchiedenheit der Träume die Rede iſt, 
weil mich dies zu weit führen würde. 
In dieſem Kapitel vergleicht der Verfaſſer 
den Wahnſinn mit dem Traume. „Der 
Wahnſinn iſt ein wacher Traum,“ hat 
Kant geſagt. Der Autor liefert nicht 
viel mehr als einen Commentar zu dieſem 
Ausſpruch; er giebt ſich ſeiner Vorliebe 
für Beſchreibungen hin, in denen er ſtets 
glücklich iſt, aber unglücklicherweiſe wendet 
er viele Bilder, Metaphern und Vergleiche 
an, die ihre Reize haben, aber der So— 
lidität ermangeln. Die Vergleichung muß 
die Erklärung aufhellen und kräftigen, 
aber nicht deren Platz einnehmen. Nun 
iſt Radeſtock, von Vergleichungen zu 
Beſchreibungen und von Beſchreibungen 
zu Vergleichungen übergehend, dahin ge— 


langt, mich mit Gewalt Ahnlichkeiten und 


Analogieen erblicken zu laſſen und die 


Dinge fo wohl zu umnebeln und zu ver- | 
mengen, daß ich nicht mehr weiß, wo 
der Unterſchied zwiſchen dem ſchlafenden 
Menſchen, welcher träumt, und dem Ver— 
rückten ſteckt. Und dennoch iſt Niemand 
im Zweifel; der Verrückte iſt weder ein 
Träumer noch ein Nachtwandler. 

Die Schlußfolgerung des Werkes for— 
mulirt der Verfaſſer wie folgt: „Durch 
zahlreiche, aber allmähliche und unteilbare 
Abſtufungen geht das wache Bewußtſein 
in das des Schlafes und Traumes über, 
und zwiſchen der Geſundheit und Krank— 
heit der Seele findet man in keiner 
Weiſe eine beſtimmte Grenze, ſondern es 
exiſtirt ein großes Zwiſchengebiet der 
Wirrſale und Unordnungen. Niemand 
würde beſtimmt zu ſagen im Stande ſein, 
wo der Verſtand aufhört und der Aber— 
witz beginnt.“ 

Sehr gut; aber mein ganzes Weſen 
revoltirt gegen dieſe Folgerung, welche 
alle Dinge zuſammenwirft und in letzter 
Analyſe die Vernunft unterdrückt und 
aus dem Weltall jagt. Daraus, daß es 
Zwiſchenglieder zwiſchen den beiden ent— 
gegengeſetzten Zuſtänden giebt, folgt noch 
nicht, daß das eine das andre ſei. Zwi— 
ſchen der krummen und der geraden Li— 
nie giebt es alle möglichen Übergänge, 
aber es giebt nur eine gerade Linie; 
zwiſchen O und 1 giebt es alle denkbaren 
Werte, aber keiner von ihnen iſt das 
Nichts und keiner die Einheit. 

Stricker, deſſen Ideen ich jetzt dar— 
legen will, hat bis jetzt, ſoviel mir be— 
kannt, kein Werk über Pſychologie heraus— 
gegeben, und ſelbſt die Kapitel, welche 
den Schluß ſeiner pathologiſchen Bor- | 
leſungen ausmachen, werden gewiſſen Leu- 
ten vom Fach als reines Nebenwerk er— 


60 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


ſcheinen. Aber man kann ſich nur des— 
halb beglückwünſchen, daß der gelehrte 
Profeſſor in dieſem Falle den Vorwurf 
eines Mangels an Einheit auf ſich ge— 
laden hat. Es iſt mir ſelten vergönnt 
geweſen, lebendigere, klarere und eigen— 
artigere Seiten über zum Teil abge— 
droſchene Gegenſtände zu leſen. Ich werde 
in meinem Bericht der eigenen Anordnung 
der Vorleſungen des Meiſters folgen. 

Unterſcheiden wir zuerſt zwiſchen dem 
potentiellen und aktuellen Wiſſen. 
In irgend einem Augenblick meines Da— 
ſeins kann ich nur an einen ſehr kleinen 
Teil deſſen, was ich weiß, denken. Das, 
was ich denke, iſt das lebendige (ak— 
tuelle) Wiſſen; der Reſt bildet das 
verborgene (potentielle) Wiſſen. Das 
lebendige Wiſſen iſt dem Bewußtſein im 
engern Sinne gegenwärtig. Wo iſt der 
Sitz des Bewußtſeins? das iſt eine un— 
lösbare und teilweiſe müßige Frage. 
Genug, daß die Abhängigkeit der Seelen— 
thätigkeit von der Gehirnthätigkeit eine 
ausgemachte Sache iſt. Ob die Zelle 
allein pſychiſch thätig iſt, und ob die ver— 
bindenden Nerven nur phyſiſch als ein— 
fache Leitungsapparate thätig ſind, iſt 
ſtreitig. Wenn jedoch ein Taubſtummer 
die Glocke zieht, und ſein blinder Be— 
gleiter ſie hört, werden weder der erſte 
noch der zweite ſagen können, „man hat 
geläutet“, in dem Sinne, welchen ein 
gewöhnlicher Menſch dieſem Satze bei— 
legt. Läßt dieſer Vergleich nicht lebhaft 
die Unmöglichkeit erkennen, eine Iſolirung 
der pſychiſchen Centren zuzulaſſen? 

Ich lege den andern Menſchen ein 
dem meinigen ähnliches Bewußtſein bei. 
Darin iſt kein unbewußtes Urteil. 
Dieſer Glaube erklärt ſich ganz einfach 


durch Ideen-Aſſociation. Wenn ich ein 
Möbel in Form eines Schrankes ſehe, 
vermuthe ich, daß es einen Hohlraum 
einſchließt, obwohl ich niemals bewußter 
Weiſe das Urteil gebildet habe, daß jeder 
Schrank hohl iſt. 

Unſere Ideen erhalten wir urſprüng— 
lich aus der Erfahrung, in zweiter Reihe 
aus dem Gedächtnis. Warum übertragen 
wir die Urſache unſrer Eindrücke nach 
außen? Durch eine Gewohnheitswirkung. 
Hier kann keine Rede von angeborner 
Fähigkeit ſein: Wenn ein Mann während 
langer Jahre ſtets einen Helm auf dem 
Kopfe getragen hätte und ihn nach dem 
Abnehmen noch ſpürte, würde man da 
von angeborner Fähigkeit ſprechen? 

Die Sinnesorgane ſind, wie ſchon 
Johannes Müller gezeigt hat, nur die 


Vorpoſten des Gehirns. Das Ich, ob 


gleich am klarſten im Kopfe vorgeſtellt, 
wird dennoch nicht von der Hirnſchale 
begrenzt, es reicht ebenſo weit, wie die 
Empfindungsnerven. Das iſt eine durch 
die Thatſache, daß die Kranken anato— 
miſche Kenntniſſe erwerben, bewieſene 
Behauptung. Denken wir uns ein mit 
Waſſer gefülltes Becken, von welchem ho— 
rizontale Röhren ausgehen, die in Pfei— 
fenköpfe endigen, in welche das Waſſer 
eintritt. Wenn man nun kleine Kieſel in 
die Pfeifenköpfe wirft, wird ſich die 
Welle bis in das Becken fortpflanzen, 
aber wird ſich dort merklich geſchwächt 
erweiſen. Wir werden die Bewegung 
an der Oberfläche im Becken und in 
dem Pfeifenkopfe ſehen, aber nicht in 
der Verbindungsröhre. Das iſt die Idee, 
welche wir uns vom Gehirn, den Sinnes— 
organen und ihren Beziehungen machen 
können. 


en 


rn A” 


2 an 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


Wir ſind geneigt, eine Auffaſſung 
als direkt, wirklich und objektiv zu be— 
trachten, wenn das Bewußtſein von dem, 


was ſich an den peripheriſchen Nerven- 


endungen abſpielt, in den Vordergrund 
tritt. Dieſe Projektionsfähigkeit iſt nach 
und nach erworben worden; aber einmal 
erworben, verſetzen wir kraft derſelben 
die Urſache jeder Erregung der peri— 
pheriſchen Nervenendungen nach außen 
und knüpfen an das Vorwiegen ihrer 
Phänomene die Idee, daß wir uns unter 
der Wirkung einer äußern Urſache befinden, 
und daß wir einen äußern Gegenſtand 
empfinden. Aber wir täuſchen uns oft. 
Die Träume geben uns alle Tage den 
Beweis davon. Wo iſt alſo das Kri— 
terium für die Richtigkeit dieſes Urteils 
über das Außenſein? Wir werden das 
ſpäter ſehen. Inzwiſchen bemerken wir, 
daß ein illuſoriſches Bild ſeiner Natur 
nach ausſchließlich perſönlich iſt, während 
ein objektives Bild mehreren gemeinſam 
ſein kann. Darin liegt ein erſtes, ganz 
praktiſches Kennzeichen. 

Die normalen Erinnerungsbilder 
ſind nichts weiter als Reproduktionen 
der Sinneseindrücke. Die andern, z. B. 
das Bild einer Venus von Milo zu 
Pferde, ſind „phantaſtiſch“; ſie enthal— 
ten mehr als das in Wirklichkeit Er— 
blickte. Dieſer Art ſind die Traum— 
bilder. 

Ideen, die man zur ſelben Zeit hat, 
verknüpfen ſich. Von dieſen Verknüpfun⸗ 
gen ſind die einen ablösbar, die andern 
nicht. Ich kann das Bild eines Theater— 
ſaales von dem der Zuſchauer trennen, 
aber ich kann nicht die Idee des Ortes 
oder der Ausdehnung davon ablöſen. 

Sprechen wir jetzt von den Illuſio— 


61 


nen der Sinne. Es giebt da Verſchie— 
denheiten unter den Hallueinationen, 
z. B. zwiſchen denjenigen des Einſchla— 
fens und der Träume. In den Träumen 
giebt es zunächſt einen Szenenwechſel, 
ich bin an einem eingebildeten Orte, 
ohne Kenntnis meiner wirklichen Um— 
gebung, und falls ich davon irgend einen 
Eindruck erhalte, mache ich ihn meiner 
Phantaſie dienſtbar und verwebe ihn in 
den Traum. Ferner handelt es ſich 
nicht einzig um Illuſion im Traum. 
Wenn ich von Räubern träume und 
von Furcht ergriffen bin, ſo iſt dieſe 
Furcht reell und logiſch und beſteht manch— 
mal noch beim Erwachen. Schließlich 
haben die Ideen im Traume eine an— 
dere Art ſich zu verketten als im Wachen. 
Bei der Hallueination im Gegenteil iſt 
meine Aufmerkſamkeit vom Anfange an 
herabgeſtimmt; ich kann nicht leicht den 
Ankunftsaugenblick der Trugbilder fixiren; 
nichtsdeſtoweniger bleibe ich orientirt, 
und wenn ſie fort ſind, weiß ich, daß 
ich dieſe Bilder geſehen habe, und auch, 
daß ich ſie von dem Orte aus geſehen 
habe, wo ich mich befinde. Außerdem 
beobachtet man ſich dabei nicht ſelbſt, 
man nimmt keinen Teil am Spiel der 
Akteure, man empfindet weder Freude, 
noch Furcht, noch Zorn; man bleibt in 
abſoluter Gleichgültigkeit. Endlich man 
denkt nicht, man ſucht nicht ſeine Ideen 
zu ſammeln, man gleicht einer ſehenden 
Maſchine. N 

Die Phantaſiebilder ſind Erinnerungs— 
bilder; aber die Erinnerung reicht nicht 
aus, die Illuſion zu erklären, denn man 
glaubt an die Realität nur, wenn die 
Nervenendungen intereſſirt ſind. Wenn 
ich zum Beiſpiel die Sonne betrachte 


— 


62 


ſo werde ich ſie noch einige Augen— 
blicke nach dem Schließen der Augen 
ſehen, und ich werde ſie außer mir 
ſehen, ſo lange das Bild dauert; 


aber ſobald es erloſchen iſt und ich er- 


innere mich des urſprünglichen und des 
Folgebildes von neuem, erſcheint keines 
von beiden mehr außen. Zehn oder 
zwanzig Jahre nach dem Erblinden träumt 
man noch von Formen und Farben, aber 
nach und nach überwiegen die auf Gehör 
und Gefühl bezüglichen Ideen, bis mit 
der Länge der Zeit Geſichtsträume ganz 
aufhören. Somit iſt ohne die peri— 
pheriſchen Nerven und ihre Thätigkeit 
die Illuſion nicht möglich. 

Nach der Hypotheſe von Lazarus 
und Hagen”) nehmen die peripheriſchen 
Nerven, falls ſie in einem geeigneten Zu— 
ſtande ſind, wenn die Bilder im Hirne 
entſtehen, an der Erregung Theil. An 
dieſer Teilnahme ſpinnt ſich der Traum 
an. Selbſt bei den normalen Erinnerun— 
gen kann man immer ein wenig Illuſion 
nachweiſen, weil die innere Erregung ſich 
bis zu den peripheriſchen Nervenendungen 
fortpflanzt. Hier nimmt Stricker ſeinen 
Vergleich mit dem Becken und den Pfeifen 
wieder auf. Erinnerung findet nur ſtatt, 
wenn die Wellen im Becken entſtehen. 
Werden die Röhren mit erſchüttert, ſo 
wird die Erinnerung plaſtiſch; aber wenn 


*) Anmerk. der Red. Die in Rede 
ſtehende unhaltbare Hypotheſe iſt nicht von La— 
zarus und Hagen, ſondern bereits von Gib— 
bert, Johannes Müller und Brewſter auf— 
geſtellt, und von uns, in einem Buche über 
die Naturgeſchichte der Geſpenſter (Weimar, 1863, 
S. 353— 394), ausführlich widerlegt worden, 
wie denn auch der Verfaſſer des obigen Artikels 
ſpäter gewichtige Gründe dagegen anführt. Vergl. 
Kosmos VI, S. 159. 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


der Pfeifenkopf eine Welle empfängt, be— 
ginnt die Illuſion; es iſt als ob ein 
Steinchen hineingeworfen werde. 
Beſchäftigen wir uns einen Augen— 
blick mit dem Bewegungsbegriff. Wir 
wiſſen nicht, wie der Muskel uns ſeine 
Nachrichten mitteilt, aber das Daſein eines 
Muskelſinnes iſt nicht zweifelhaft. Die 
Frage, wie in uns die Vorſtellung der Be— 
wegung entſteht, iſt ſchwierig und hat noch 
keine befriedigende Löſung erfahren. Mög— 
lich, daß dieſe Vorſtellung einfach aus den 
Zeichen entſteht, welche wir von den ſen— 
ſiblen Nerven der Haut, der Bänder, der 
Gelenke und der Knochen, und außerdem 
durch das Sehen und Hören der Be— 
wegung empfangen. Wie es auch damit 
ſei, der Wille kann, wie folgt, erklärt 
werden: Der Eindruck bringt durch Re— 
flex auf das Organ eine Muskelkontraktion 
zu Stande. Der Eindruck und die Be— 
wegung können ſich jeder in einem be— 
ſtimmten Teil des Gehirnes abmalen. 
Nehmen wir jetzt an, daß der Teil, wo 
die Empfindung ihren Eindruck hinter— 
laſſen hat, durch eine fremde Urſache er— 
regt wird, welche alſo dort ein Erinne— 
rungsbild aufweckt, und daß die Erregung 
ſich bis zu dem Punkte ausbreitet, wo 
die Bewegung, deren Bild ſo erneuert 
wird, eingedrückt iſt: wir werden dann 
ſagen können, daß die Bewegung gewollt 
iſt, und die Bewegung, die ſich von dieſem 
Punkte zu dem Muskel auf demſelben 
Wege fortpflanzt, welche das Bild der 
Bewegung im umgekehrten Sinne ver— 
folgt hatte, um ſich dem Gehirn einzu— 
prägen, wird freiwillig genannt wer— 
den. Man darf durchaus nicht aus dem 
Geſicht verlieren, daß man nicht wollen 
kann, was man ſchon vollführt hat. Bei 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 63 


dieſer Gelegenheit hebe ich jenes ſubtile, 
aber tiefe Paradoxon hervor, welches 
wert iſt, von allen, die ſich mit dem 
Problem der Willensfreiheit beſchäftigen, 
erwogen zu werden: ob, wenn uns die 
logiſchen Handlungen als Notwen— 
digkeiten erſcheinen, mit noch ſtärkerem 
Grunde die unlogiſchen als ſolche be— 
trachtet werden müſſen, denn es verſteht 
ſich von ſelbſt, daß, da jeder vorzieht, 
logiſch zu handeln, wenn er kann, es wider 
Willen geſchieht, wenn er unlogiſch handelt. 

Sehen wir zu, wie alles das ſich mit 
der Theorie über die Beurteilung der 
Außendinge verknüpft. Zu den wichtigſten 
unſrer innern Auffaſſungen muß man die 
der Beziehungen der Vorſtellungen unter 
einander rechnen. Wenn ich ſage, die 
Pferde laufen, drücke ich nicht nur 
eine gedachte, ſondern eine der äußern 
Wirklichkeit entſprechende Beziehung aus. 
Man hat einen Unterſchied zwiſchen den 
erſten und zweiten Qualitäten des Stoffes 
gemacht, und geſagt, die einen, wie die 
Ausdehnung, Geſtalt, Bewegung, Ruhe, 
Undurchdringlichkeit und Zahl ſeien allein 
objektiv, die andern, wie Farbe, Geruch, 
Geſchmack u. ſ. w. ſeien nur ſubjektiv. 
Berkeley verneint ein Begründetſein 
dieſer Unterſcheidung. Ich kann indeſſen, 
ſagt Stricker, ohne Bedenken zugeben, 
daß das, was außer mir der Farben— 
empfindung entſpricht, keine Farbe ſei, 
aber ich kann nicht denken, daß das nicht 
Bewegung und Widerſtand ſei, was außer 
mir den Ideen, die ich von Bewegung 
und Widerſtand habe, entſpricht; dieſe 
Ideen ſind in derjenigen der Materie 
mit einbegriffen, während die Ideen von 
Farbe, Geruch u. ſ. w. ihr einfach erſt 
zuerteilt ſind. 


Es iſt der Muskel-Prozeß, welcher 
uns zu den Ideen der Bewegung, des 
Widerſtandes und der von ihnen ab— 
hängigen (Volum, Maſſe, Geſchwindig— 
keit, Zeit, Ort u. ſ. w.) führt, und in 
dieſer Beziehung ſind auch ſie etwas Sub— 
jektives; aber wir begreifen nicht, daß 
dieſem Subjektiven nicht eine analoge 
Wirklichkeit entſprechen ſollte. Bezeichnen 
wir zum Unterſchiede von den Sinnes— 
qualitäten die übrigen von außen gekom— 
menen Kennzeichen. Wir erblicken von 
den Außendingen Qualität und Verhält—⸗ 
nis, und beide ſind unauflöslich in jeder 
Vorſtellung von der Materie verbunden. 
Wir können uns weder eine Maſſe ohne 
Farbe, noch eine Bewegung ohne ein 
ſinnliches Objekt denken. Die Erfah: 
rungen ordnen ſich in meinem Gehirn den 
Verhältniſſen entſprechend, und dieſer Ord— 
nung gemäß bringe ich die Ideen von 
den Außendingen untereinander in Be— 
ziehung und urteile über ſie. Ich bin 
ſomit im Rechte, zu verſichern, daß meine 
Urteile über die Verhältniſſe der Dinge, 
die wahrhaften Bilder dieſer Verhält— 
niſſe ſind. 

Wenn dem ſo iſt, in welchem Fall 
kann man behaupten, daß ein Urteil 
falſch iſt, und daß der Geiſt deſſen, der 
es fällt, geſtört iſt? Wo iſt das Kenn— 
zeichen der Störung? Locke kennt nur 
Erfahrungsurteile, Kant hat die Urteile 
a priori und die Urteile a posteriori 
unterſchieden. Die einen kann ich nicht 
anders denken, und betrachte ſie wie not— 
wendige, die andern fälle ich auf Grund 
meiner Erfahrungen. Der Irrtum kann 
nur dieſe treffen. Der geſunde Menſch 
erläutert die Gründe ſeiner Meinung, der 


Verrückte ſpricht fie wie ein a priori- 


64 


Urteil aus: es iſt fo, weil es fo ift. 
Woher wiſſen Sie, fragt man einen Wahn— 
ſinnigen, daß Ihr Wirt die Abſicht hat, 
Sie zu vergiften? — Ich weiß darüber 
nichts, aber es iſt ſo, war die Antwort. 
Dieſe Irrtümer des Urteils haben alſo 
ihre Quelle nicht in irgend einer Illuſion 
der Sinne, und die Motive ſind gänzlich 
innere. Man kann demzufolge die nach— 
ſtehende Definition formuliren: Jedes die 
Außenwelt betreffende a posteriori-Urtetl, 
welches nach Art eines a priori-Urteils 
für wahr gehalten wird, muß als eine 
Verirrung betrachtet werden. Die Worte 
nach Art eines a priori-Urteils bedeuten 
„ohne den Verhältniſſen der Außenwelt 
Rechnung zu tragen und ſelbſt im Wider— 
ſpruch mit denſelben“.“ Was die über 
Dinge der innern Erfahrung gefällten 
Urteile a posteriori — ich bin krank, 
ich bin glücklich, ich bin weiſe — be— 
trifft, ſo fehlt uns das Kriterium, wenig— 
ſtens falls ſie nicht von extravaganten, 
das Außere betreffenden Urteilen — 
z. B. man hat mich vergiftet, ich bin reich, 
man bewundert mich — begleitet ſind. 

Auf welche Weiſe entſtehen unver— 
nünftige Ideen? Eine weſentliche Beding— 
ung iſt, daß dieſe Urteile beherrſchend 
oder andauernd (fix) ſeien. Indeſſen ſind 
nicht alle fixen Ideen notwendig krank— 
haft: derartige find z. B. diejenigen, welche 
ein Vermögensverluſt, die Betrachtung 
einer entfernten Gefahr einflößt. Der 
Unterſchied zwiſchen dieſen und jenen 
macht die Kenntnis, ob ſie von einer wirk— 
lichen Urſache abhängen oder nicht, und 
ob die widerlegende Gegenüberſtellung 
mit der Wirklichkeit ſie zu zerſtören ver— 
mag oder nicht. Wenn eine gewiſſe Ideen— 
reihe ſich häufig ohne merkliche äußere 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


Urſache wiederholt, dann müſſen wir an— 
nehmen, daß im Gehirn ein begrenzter 
Teil Nervengewebe vorhanden iſt, wel— 
cher unter der Einwirkung innerer Er— 
regungen thätig iſt und eine hohe Reiz— 
barkeit beſitzt. Und von dem Augenblicke, 
wo die fixe Idee für wahr gehalten 
wird, iſt Wahnſinn vorhanden, wohlver— 
ſtanden, wenn das Urteil äußere Dinge 
betrifft oder Urteile dieſer Art hineinzieht. 
Jemand, der ſich eines Vorgefühls von 
Unglück nicht erwehren kann, braucht 
darum noch nicht verrückt zu ſein. 

Wie iſt die Möglichkeit eines irrigen 
Glaubens an äußere, nicht vorhandene 
Verhältniſſe zu erklären? Durch den Bruch 
der Beziehungen, welche die herrſchenden 
Ideen und einen Teil des potentiellen 
Wiſſens verbinden. Einige Betrachtungen 
über den Schlaf und die Träume ſind 
geeignet, dieſe Anſicht zu unterſtützen. 

Jedes Organ ſtrebt nach der Thätig— 
keit zur Ruhe. Gewiſſe Ruhezuſtände des 
Gehirns nennen wir Schlaf. Wenn wir 
ſchlafen wollen, beſeitigen wir die äußern 
Erregungen; aber die Ermüdung führt 
gewöhnlich den Schlaf ganz natürlich her— 
bei, indem ſie die Erregungen unwirkſam 
macht. Dennoch gilt nicht, was vom 
Muskelſyſtem gilt, auch vom Nervenſyſtem, 
welches die Überarbeitung, beſonders gegen 
das Alter von vierzig Jahren, überreizt 
und nicht abſpannt, ſei es, daß der Blut— 
zufluß fortdauert, oder die Erregbarkeit 
zunimmt. Diejenigen, welche das Nerven— 
ſyſtem in Thätigkeit erhalten, gelangen 
nicht zum Einſchlafen, außer durch An— 
wendung von 2—3 Gramm Chloral, 
welches die Nerventhätigkeit verlangſamt 
und lähmt. Es würde ohne Zweifel beſſer 
ſein, ſeine Zuflucht zur Muskelermüdung 


; 


I 


. 


* 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


zu nehmen, welche naturgemäß zum Schlaf 
vorbereitet. Der Schlaf dauert gewöhn— 
lich bis zur Wiederkehr der Gehirnerreg— 
barkeit, und während dieſer ganzen Zeit 
empfängt man keinen Eindruck von der 
Außenwelt, giebt es kein lebendiges Wiſſen, 
keine aktuelle Kenntnis, und ſogar das 
potentielle Wiſſen ſendet keine Erinnerung. 
Nach und nach kehrt die Erregbarkeit 
wieder, und mit ihr als Anfang der 
Traum. Es erheben ſich Erinnerungen, die 
mehr oder weniger deutlich wahrgenom— 
menenen Erregungen von außen ver— 
ſchlingen ſich darin, und ſo entſteht der 
Traum. Wir haben weiter oben geſehen, 
daß wenn die Traumobjekte als wirkliche 
aufgefaßt werden, dies daher kommt, weil 
die innere Bewegung ſich bis zu den pe— 
ripheriſchen Endungen der Sinnesnerven 


ausbreitet. Aber weshalb werde ich ge— 


täuſcht? Weshalb bin ich das Opfer der 


Traum⸗Illuſion? Wenn ich die Stimme | 


eines Freundes vernehme, erweckt ſie in 
meiner Seele eine Menge Ideenverknü— 
pfungen, integrirende Teile des potentiellen 
Wiſſens, welche verurſachen, daß ich mir 
dieſen Freund vorſtelle. Aber, wenn der 
Freund gegen Morgen kommt, um mich 
zu ſprechen, während ich in einem Traum 
befangen bin, ruft mir ſeine Stimme nicht 
dieſe Ideen hervor, ſondern andere, die 
zu meinem Traume paſſen. Und deshalb 
geben ſie weder zur Berichtigung, noch 
zum Widerſpruch Anlaß. 

Etwas ähnliches geht beim Wahn— 
ſinn vor ſich. Die Geiſteskranken verſtehen 
nicht ihre fixen Ideen mit ihren Auf— 
faſſungen zu verbinden; ſie können in 
ihrer Tollheit logiſch ſein, aber ſie kön— 
nen ſie nicht motiviren. Sie ſtammt da— 
her, daß iſolirte Funktionen ſtark hervor— 


65 


treten, während andere unthätig werden. 
Gewiſſe Hirnteile funktioniren zu oft, 
dadurch wird eine Idee herrſchend, und 
damit wächſt die Tendenz, ſie für wahr 
zu halten. Andere Teile funktioniren zu 
wenig, und das iſt die Urſache, daß dieſe 
Tendenz nicht unterdrückt, und der Irr— 
tum nicht verbeſſert wird. 

Faſſen wir dieſe lange Analyſe in 
ein Wort zuſammen. Der Traum be— 
wirkt, wie die Viſionen des Wahnſinns 
Illuſion, weil er die Peripherie hinein— 
zieht, und er täuſcht, weil die Verbin— 
dungen des Subjekts mit der Außenwelt 
zur Zeit unterbrochen ſind, Bande, die 
ihren Ausdruck im potentiellen Wiſſen 
haben. In der Arbeit von Radeſtock 
haben wir einen ähnlichen, aber weniger 
klar ausgedrückten Schluß gefunden. 


Ich kann hier nicht alle Punkte der 
von Stricker berührten Lehre diskutiren. 
Ich werde nur zwei eng auf meinen 
Gegenſtand bezügliche aufnehmen. 

Nach ihm iſt es eine Bedingung für 
das Eintreten der Illuſion, daß die peri— 
pheriſchen Organe unter der Thätigkeit 
des Centralſyſtems in Bewegung geſetzt 
werden. Zunächſt iſt das eine reine Hy— 
potheſe; noch mehr, buchſtäblich genom— 
men, halte ich ſie für den Thatſachen 
entgegenſtehend. Ich kenne eine heute 
84 Jahr alte Perſon, welche im Alter 
von dreißig Jahren taub wurde. Seit 
einem Jahrzehnt iſt ſie abſolut taub und 
empfindet die ſtärkſten Geräuſche nicht 
mehr. Man kann nur ſchriftlich mit ihr 
verkehren. Nun, in ihren Träumen ver— 
ſteht ſie immer und ohne alle Mühe die 
Perſonen, mit denen ſie ſpricht, und 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 


66 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


träumt niemals, daß man ihr ſchreiben 
müſſe, um ſich ihr verſtändlich zu machen. 

Ein anderes Beiſpiel. Der berühmte 
Phyſiker Plateau iſt, wie bekannt, vor 
ungefähr 35 Jahren blind geworden. 
Ich habe ihn gebeten, mir die Natur 
ſeiner Geſichtsempfindungen während des 
Wachens und Schlafens ſchildern zu wol— 
len. Hier folgt, was er mir antwortete: 

1. Im Allgemeinen träume ich, daß 
ich ſehe; einigemal auch träume ich, daß 
ich nicht ſehe; andre Male träume ich, 
daß meine Augen heilen und daß ich 
wieder zu ſehen anfange. Wenn ich 
träume, daß ich nicht ſehe, gehe ich ge— 
wöhnlich in einer Straße, die ich kenne; 
aber nach einiger Zeit finde ich mich 
nicht mehr zurecht, und alsdann kommt 
gewöhnlich Jemand, um mich unter den 
Arm zu faſſen, Jemand den ich kenne 
oder nicht kenne, und führt mich. 

2. Wenn ich träume, daß ich ſehe, 
geſchieht es oft von Gebirgslandſchaften; 
ich träume nur äußerſt ſelten von Ex— 
perimenten oder Inſtrumenten; die Dinge, 
welche ich ſehe, haben ihre natürliche 
Farbe. 

3. Im wachen Zuſtande ſehe ich bei— 
nahe ſtets in der Einbildung den Ort, 
wo ich mich befinde und die anweſenden 
Perſonen. 

4. Wenn ich im Traume, ſei es un— 
bekannte Perſonen oder meine Kinder 
ſehe, ſehe ich nur ſehr ungenau ihre 
Phyſiognomie. 

In dieſem Punkte macht es Jeder— 
mann wie Plateau. Steht man mit 
Fremden, welche man nur aus ihren 
Briefen oder ihren Werken kennt, in Cor— 
reſpondenz, ſo ſchreibt man ihnen meiſt 
ohne Grund eine beſtimmte Körperbeſchaf— 


von a priori-Urteilen. 


fenheit zu, und wenn man von ihnen 
träumt, haben ſie notwendig einen Kör— 
per und ein Geſicht. Das Fehlen intak— 
ter peripheriſcher Organe beeinträchtigt 
alſo die Wirſamkeit der Einbildungskraft 
nicht. 

Dieſe beiden Thatſachen, welche, da 
ich ſie nicht geſucht, ſondern angetroffen 
habe, zweifellos nicht allein ſtehen, be— 
weiſen, daß der Sinn des Wortes Peri⸗ 
pherie der Präciſirung bedarf. Man kann 
ihn nicht buchſtäblich nehmen, und müßte 
die Peripherie weniger als Körperober— 
fläche verſtehen. 

Hier iſt der zweite Punkt. Die Ur- 
teile der Wahnſinnigen haben, ſoweit ſie 
wahnwitzig ſind, ſagt Stricker, die Form 
Es iſt das eine 
pikante Definition, welche ſicherlich rich— 
tige Seiten hat. Aber kann man nichts 
daran ausſetzen? Unſere Antipathien und 
Sympathien ſind zum Beiſpiel keineswegs 
vernünftiger. 5 

Man kann, ohne geiſtesgeſtört zu ſein, 
wie ein Axiom behaupten, daß eine be— 
ſtimmte Perſon böſe oder gut, falſch oder 
aufrichtig, hart oder nachgiebig ſei. Iſt 
es denn notwendig ein Anzeichen von 
Geiſtesſtörung, zu glauben, daß ſie gegen 
uns von ſchlechten Abſichten erfüllt ſei, 
daß ſie uns z. B. zu vergiften ſuche? 

Gehen wir weiter. Was ſind die 
Eingebungen des Genies, wenn nicht An— 
ticipationen a priori? Und beruht ſchließ— 
lich aller Glaube, alle intime und abſo— 
lute Überzeugung auf dem Verſtande? 
Der Glaube, der Zweifel, ſind Urteile, 
welche mehr oder weniger motivirt wer— 
den können, aber man iſt ſeines Glau— 
bens und ſeines Zweifels gewiß. Dieſe 
allgemeine und höhere Gewißheit iſt not— 


Wahnſinn? Iſt derjenige, welcher ohne 


armen Melancholiker gekannt, welcher nur 
über einen Punkt delirirte: der Anblick 
des Kupfers verſetzte ihn in unausſprech— 
lichen Schrecken. Er räſonnirte über ſeine 
Averſion. Das Kupfer bedeckt ſich mit 
Grünſpan, dieſer Grünſpan beſchmutzt 
die Hände, und man kann alſo unab— 
ſichtlich dadurch ſich ſelbſt, ja was noch 
ſchlimmer, andere vergiften. Das iſt eine 
vernünftige Schlußfolge; iſt ſie darum 
weniger das Zeichen einer Geiſtesſtörung? 
Andrerſeits giebt es junge Mädchen, welche 
beim Anblick einer Fledermaus, einer 
Raupe, einer unſchädlichen Eidechſe in Ohn— 
macht fallen; ſie würden nicht im Stande 
ſein, ihren Widerwillen zu rechtfertigen, 
wem würde beifallen zu behaupten, daß 
man ſie in ein Irrenhaus bringen müßte? 

Kommen wir zum Schluſſe. Die 
ſubjektive Gewißheit, der Glaube, wie ich 
fie anderwärts*) genannt habe, begleitet 
notwendig unſere Urteile, unſere Be— 
jahungen, unſere Verneinungen, unſere 
Zweifel. Dieſe Gewißheit iſt von dem 
menſchlichen Geiſte unzertrennlich. Wenn 
ich in einem Traume oder in einem An— 
falle von Irrſinn urteile, daß zwei mal 
zwei fünfe machen, dann iſt dieſe Be— 
hauptung in meinen Augen ebenſo zweifel— 
los als die andere, zwei mal zwei machen 
vier, für diejenigen, welche bei gutem 
Verſtande ſind. Hier die Probe davon. 

In einer Nacht träumte ich von einem 
Deutſchen Café, in welchem ich ein Glas 
Bier getrunken hatte. Es handelt ſich 


*) ©. meine Logique scientifique, be- 
ſonders die Vorrede. 


1 


wendig a priori; iſt fie die Folge von 


Grund mißtrauiſch iſt, wie dies ſo oft 
der Fall, wahnſinnig? Ich habe einen 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 67 


darum, 371½ Centimes zu bezahlen. Dieſe 
Zahl iſt nicht ſo ſonderbar, als ſie er— 
ſcheint, es iſt der Werth von dreißig 
Pfennigen, oder dreizehntel Mark in fran— 
zöſiſchem Geld. Wenigſtens erkäre ich mir 
ſie ſo. Ich näherte mich dem Zahltiſch und 
legte dort zuerſt ein Stück von 20 Cen- 
times, dann eins von 10 Centimes hin. 
Die Dame, vor welcher ich dieſes Geld 
hinlegte, fand dabei nicht ihre Rechnung 
und machte mir das bemerklich. Ich er— 
ſtaunte darüber. „Madame,“ ſagte ich, 
„machen denn nicht 20 und die Hälfte 
von 20 37½?“ Die Dame ſchien es 
nicht zu begreifen. Vergebens verſuchte 
ich, ihr es klar zu machen, meine Gründe 
wollten ihr nicht einleuchten. Es näherten 
ſich Kellner und gaben mir Recht; die 
Dame beharrt in ihrem Irrtum; die Bür— 
ger miſchten ſich darein und gaben ihr Un— 
recht. Endlich verwirrt und dumm gemacht, 
hört ſie auf, darauf zu beſtehen, und ich 
gehe endlich davon, ſtark in meinem Rechte, 
mit ruhigem Gewiſſen, aber mich mehr 
und mehr über dieſe ſeltſame Geiſtesver— 
wirrung einer Geſchäftsfrau entzückend, 
welche nicht einſieht, daß 20 und die 
Hälfte von 20 genau 371, ausmachen. 

Die wiſſenſchaftliche Gewißheit iſt von 


einer andern Natur. Sie iſt mit dem 


ſpekulativen Zweifel verträglich. So kann 
ich ſehr wohl den vom wiſſenſchaftlichen 
Standpunkte völlig legitimen Zweifel aus— 
ſprechen, ob ich im gegenwärtigen Augen— 
blick nicht etwa träume oder toll bin. 
Das pſychologiſche Problem des Trau— 
mes berührt ſich alſo ebenſowohl mit der 
Theorie der Gewißheit als mit der Theorie 
des Gedächtniſſes. Unter dem erſten Ge— 
ſichtspunkt betrachtet, bringt es mehrere 
verſchiedene Fragen mit ſich. 


68 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


1) Auf welchem Gunde ruht der Glaube 
im Allgemeinen und der an eine äußere 
Wirklichkeit im Beſondern? 

2) Warum glaubt man, wenn man 
wacht, nicht an die Realität ſeiner Träu— 
mereien, und warum glaubt man, wenn 
man träumt, an die Realität ſeiner Träume? 

3) Warum ſchreibt man beim Er— 
wachen ſeinen Träumen einen lügneriſchen 
Charakter zu? Welches ſind die Motive 
dieſer Beimeſſung? Giebt es in dieſer 
Hinſicht ein abſolutes Kriterium der Ge— 
wißheit? 0 

. 4) Warum mißt der Irrſinnige feinen 
Verirrungen Glauben bei? An welchem 
Zeichen erkennen wir die Phantaſien eines 
geſtörten Gehirns, und welches iſt der lo— 
giſche Wert deſſelben? Gibt es ein ſicheres 
Kriterium? 


Dieſe Zeilen waren geſchrieben, als 
ich einige Seiten von V. Egger mit— 
geteilt erhielt, auf denen dieſer junge 
Gelehrte mit einer großen Feinheit ein 


ſeltſames Beiſpiel von Verdopplung ana— 
lyſirt. Das ſcheinbare Ich ſpricht einen 
abſurden und unzuſammenhängenden Satz 
aus, ein Pſeudo-Nicht-Ich, welches ihn 
nicht verſteht, verlangt eine Erklärung, 
ohne ſie erhalten zu können. Der Leſer 
wird gut thun, dieſen Artikel und den 
meinigen zu vergleichen. Er wird ſich 
auch fragen können, ob in dem oben er— 
zählten Traum das durch die deutſche 
Dame gezeigte Erſtaunen, beim Anhören 
der enormen Leiſtung, daß 20 und die 


Hälfte von 20 genau 37½ machen, nicht 


der Beweis iſt, daß mir noch ein Schein 
von guter Vernunft geblieben war? Als 
ich beim Erwachen geſucht habe, ausfindig 
zu machen, was mich zu einer ſo un— 
gereimten Addition habe verleiten können, 
bemerkte ich ſogleich, daß ich im Schlafe 
das unbeſtimmte Gefühl von der Ent— 
ſtehung der Zahl 371, gehabt haben 
muß, welche in der That gleich iſt: 


20 10 5 
ne 


2 hg 


(Schluß folgt.) 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Die Anvoländigkeit der paläonlo— 
I bgiſchen Aberlieferung. 
err Theodor Fuchs, Kuſtos am 


k. k. Hof⸗Muſeum in Wien, hat 
ſein wird, und jedenfalls zeigt ſchon die 


in der Sitzung der Geologiſchen Reichs— 
anſtalt vom 16. Dezember vor. Jahres 
einen Vortrag „Über die präſumirte 
Unvollſtändigkeit der paläontologiſchen 
Überlieferung“ gehalten), der mich zu 
einigen Entgegnungen veranlaßt. Zweck 
dieſes Vortrages, der nur als Einleitung 
eines größeren Feldzuges gegen die Des— 
cendenzlehre betrachtet werden kann, war, 
darzulegen, daß es mit „der von den 
Anhängern der Darwinſchen Lehre mit 
ſo grellen Farben ausgemalten Unvoll— 
ſtändigkeit“ nicht ſo ſchlimm beſtellt ſei, 
daß „die betreffenden Darſtellungen der 
Darwiniſtiſchen Schule zum großen Teile 
auf argen Übertreibungen beruhen, daß 
im Gegenteile die Überlieferung früherer 
Faunen und Floren in gewiſſen Teilen 
eine außerordentlich vollſtändige ſei, und 
daß überhaupt der gegenwärtige Stand 
der Paläontologie bei richtig angewand— 
ter Kritik einen vollkommen verläßlichen 
Boden abgebe, um Fragen ſo allgemei— 
ner Natur, wie die Darwinſche Lehre 
ſie aufſtelle, mit Sicherheit zu diskutiren“. 

) Verhandlungen der k. k. Geologiſchen 
Reichsanſtalt in Wien, 1879, Nr. 16, S. 355. 


Der Vortragende verſprach, dieſe 
Behauptungen auf Grundlage ſtatiſtiſcher 
Daten nachzuweiſen, indeſſen glaube ich, daß 
ihm dies ohne arge Verdrehung und falſche 
Auslegung der Thatſachen kaum möglich 


Behandlung des Gegenſtandes in dem in 
Rede ſtehenden Vortrage, daß Fuchs, um 
einen Angriffspunkt gegen die Descendenz— 
lehre zu gewinnen, die bisher allgemein 
angenommene Lückenhaftigkeit der palä— 
ontologiſchen Überlieferung durch ziemlich 
ſophiſtiſche Argumente bekämpfen will. 

Folgen wir dem Vortragenden in 
ſeiner Beweisführung, ſo haben wir uns 
zunächſt mit nachſtehenden Sätzen zu be— 
faſſen, welche ich wohl am beſten wort— 
getreu citire. Fuchs ſagt, man müſſe, 
um eine richtige Grundlage zu gewinnen, 
vor allen Dingen zwei Gruppen von 
Organismen unterſcheiden: 

„a) Solche, welche vermöge ihrer wei— 
chen Körperbeſchaffenheit, ihres Aufent— 
haltes oder ihrer Lebensweiſe überhaupt 
nur durch das exzeptionelle Zuſammen— 
treffen ſeltener Umſtände als Foſſilien 
erhalten werden können, wie z. B. Dual- 
len, Aseidien, Inſekten, Vögel, kleine 
Säugethiere, krautartige Pflanzen ꝛc.“ 

„b) Solche, welche widerſtandskräftige 
Hartteile beſitzen und in Folge ihres 


Aufenthaltes und ihrer Lebensweiſe im 


70 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


regelmäßigen Fortgange der Sediment— 
bildung notwendigerweiſe in die neuen 
Terrainbildungen eingeſchloſſen und als 
Foſſilien der Nachwelt überliefert wer— 
den müſſen, wie z. B. Korallen, Echino— 
dermen, Conchylien ꝛc.“ 

„Organismen der erſten Kategorie 
werden nur ausnahmsweiſe erhalten wer— 
den, und bei ihnen iſt die Überlieferung 
thatſächlich auch eine äußerſt fragmentöſe.“ 

„Bei den Tieren der zweiten Kate— 
gorie jedoch iſt die Erhaltung im foſſilen 
Zuſtand keineswegs durch ausnahmsweiſe 
Zufälligkeiten bedingt; ſondern dieſelbe 
iſt vielmehr die notwendige Folge der 
normalen Sedimentbildung und bei dieſer 
iſt die paläontologiſche Überlieferung 
auch erfahrungsgemäß eine äußerſt voll— 
ſtändige.“ — Soweit Fuchs. 

Es iſt nun klar, daß der unbefangene 
Beurteiler ſchon darin, daß die erſte 
Gruppe von Organismen nur ausnahms— 
weiſe der paläontologiſchen Unterſuchung 
zugängliche Reſte darbietet, während von 
der zweiten nur die Hartteile erhalten 
blieben, eine weſentliche Lücke in der 
paläontologiſchen Ueberlieferung ſehen 
muß. Denn es iſt klar, daß die Deu— 
tung äußerer Schalen oder iſolirter Hart— 
teile der inneren Skelette eine ziemlich 
unſichere iſt und keineswegs die Kenntnis 
des ganzen Organismus erſetzen kann. 
Fuchs führt mehrere Beiſpiele für die 
Vollſtändigkeit der Erhaltung der Orga— 
nismen ſeiner zweiten Kategorie, und 
unter anderen auch die folgenden an: 

„Appelius fand im tyrrheniſchen Meer 
337 Arten ſchalentragender Conchylien; 
von dieſen 337 Arten konnte er jedoch 
300 auch in der quaternären Panchina 
von Livorno nachweiſen und man hätte 


demnach die Fauna des tyrrheniſchen 
Meeres aus den Foſſilien mit großer 
Vollſtändigkeit kennen lernen können.“ 
„Die Anzahl einheimiſcher Huftiere 
in Europa beträgt 20. Alle dieſe 20 
Arten ohne Ausnahme ſind aber bereits 
foſſil in den Diluvialablagerungen Eu— 
ropas aufgefunden worden, und man 
würde daher, blos auf das Studium der 
foſſilen Reſte geſtützt, die Huftierfauna 
Europa's vollſtändig kennen gelernt haben.“ 
Wenn Fuchs hier behauptet, daß man 
im Stande ſei, die gegenwärtige Fauna 
des Tyrrhener Meeres auch durch die 
Unterſuchung der quaternären Foſſilien 
mit großer Vollſtändigkeit kennen zu ler— 
nen, oder daß man die recente Huftierfauna 
Europa's blos auf das Studium der 
foſſilen Reſte der Diluvialablagerungen 
geſtützt, vollſtändig erforſchen könne, ſo 
iſt er offenbar ſchon deshalb im Irr— 
tume, weil von den foſſilen Formen 
nur die Hartteile vorliegen. Niemand 
wird es wohl heute wagen, mit aller 
Beſtimmtheit die vollſtändige Identität 
der zwanzig diluvialen und recenten Huf— 
tiere blos aus dem Grunde zu behaup— 
ten, weil die Hartteile ihrer Skelette 
große Uebereinſtimmung zeigen. Die klei— 
nen Verſchiedenheiten, welche wir jedoch 
auch an den Skeletten faſt ausnahmslos 
beobachten können, mögen vielleicht von 
noch größeren im Bau der Weichteile, 
in der Farbe der Haare und in den 
Lebensgewohnheiten begleitet geweſen ſein, 
— Unterſchiede, die uns veranlaſſen wür— 
den, von verſchiedenen Arten zu ſprechen, 
wenn wir eben die diluvialen Huftiere 
nicht in Rudimenten ihres Skelettes, ſon— 
dern „mit Haut und Haar“ in allen 
Teilen ihres Weſens unterſuchen könn— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ten. Dieſe Unſicherheit, welche ſich in 
Folge der mangelhaften Überlieferung 
des paläontologiſchen Materiales ſchon 
dann geltend macht, wenn wir von jüngſt 
vergangenen Perioden und ihren Lebe— 
weſen ſprechen, tritt noch mehr hervor, 
wenn es ſich um weiter zurück liegende 
Epochen und ihre organiſche Welt 
handelt. Wenn wir heute von zahl— 
reichen älteren Organismen (Conularien, 
Receptaculiten, Tabulate Corallen, viele 
paläozoiſche Pflanzen ꝛc. ꝛc.) nicht mit 
Sicherheit wiſſen, welchen Gruppen der 
organiſchen Reiche wir ſie zuweiſen 
ſollen, ſo danken wir dies doch in erſter 
Linie der Mangelhaftigkeit des Mate— 
riales. 

Allein abgeſehen von dieſer, von Fuchs 
gänzlich unberückſichtigten Seite der Un— 
vollſtändigkeit der paläontologiſchen Über— 
lieferung, begegnen wir einer ebenſo 
bedeutſamen, in der Zerſtörung urſprüng— 
lich vorhandener, im Allgemeinen der Er— 
haltung zugänglicher Hartteile der Or— 
ganismen. In der Reihe der Formatio— 
nen finden wir zahlreiche Bildungen, in 
welchen dieſe früher vorhandenen Hart— 
teile mehr oder minder zerſtört, bis zur 
Unkenntlichkeit umgewandelt oder gänz— 
lich fortgeſchafft werden. In den Ab— 
ſätzen der Tiefſee iſt, wie Fuchs ſelbſt 
an anderer Stelle behauptet, die Auf— 
löſung der kalkigen Gehäuſe allgemeine 
Regel, aber auch in den Seichtwaſſer— 
Bildungen iſt die Zerſtörung und Um— 
wandlung derſelben eine ungemein häufige 
Erſcheinung. Ich erinnere, um nur das 
naheliegendſte Beiſpiel anzuführen, an 
das Vorherrſchen von Sandſteinen mit 
Steinkernen und Hohldrücken und das un— 
gemein ſeltenere Auftreten der Sande mit 


71 


erhaltenen Conchylien in den Sarmati— 
ſchen Ablagerungen des Wiener Beckens. 

Fuchs ſelbſt hat in einer höchſt in— 
tereſſanten Mitteilung über die Entſtehung 
der Aptychen-Kalke?) dargelegt, wieſo 
es denn komme, daß im oberen Jura 
und in den Kreidebildungen ſo häufig 
plattige Kalkſteine und Mergelkalke auf— 
treten, welche paläontologiſch durch den 
ſonderbaren Umſtand ſich auszeichnen, daß 
ſie faſt gar nichts Anderes als Aptychen 
und Belemniten enthalten, indem er die 
Zerſtörung aller anderen Reſte als Ur— 
ſache dieſer auffallenden Erſcheinung mit 
überzeugenden Gründen nachwies. Fuchs 
hat damals die Berechtigung der Annahme, 
daß im Meere noch unter der Waſſer— 
bedeckung während der im Gange befind— 
lichen Sedimentbildung Auflöſungsprozeſſe 
im ausgedehnteſten Maßſtabe ſtattfinden, 
durch Hinweis auf die Erfahrung der 
Challenger-Expedition über die Löſung der 
Kalkgehäuſe in großer Meerestiefe, und 
auf die analogen Beobachtungen der deut— 
ſchen Expedition zur Erforſchung der Oſt— 
ſee, ſowie durch Erörterung der Bildung der 
Skulptur⸗Steinkerne nachgewieſeu. Auch 
die Petrefaktenarmut des Flyſches wurde 
von Fuchs in die Diskuſſion gezogen. 
Ich ſehe mich nicht in der Lage, ſeiner 
Deutung des Flyſches als Produkt von 
Schlammvulkanen vollſtändig beizupflich— 
ten, da der Flyſch gewiß nur zum geringſten 
Teile (Argille scagliose und ihre Des— 
cendenzen) als wirkliche Schlammvulkan— 
bildung aufgefaßt werden kann, und vermag 
deshalb nicht in der eruptiven Natur des 
Flyſches den Hauptgrund ſeiner Petre— 

*) Sitzungsberichte der K. Akademie der 
Wiſſenſchaften in Wien, mathem.-naturw. Kl. J. 


76. Bd, 1877, S. 329. 


72 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


faktenarmut zu ſehen; wol aber erblicke | demnach Aufgabe der Geologen und Pa— 


ich denſelben in der von Fuchs erſt in 
zweiter Linie angeführten Thatſache und 
in der Zerſtörung der urſprünglich vor— 
handenen, in den Flyſch eingebetteten 
Tierreſte. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß 
ich hierbei nicht wie Fuchs an die auf— 
löſenden Wirkungen der mit verſchiedenen 
Gaſen imprägnirten Schlammmaſſen, ſon— 
dern an die ganz allgemeine Erſcheinung 
der Auflöſung und Wegführung des kohlen— 
ſauren Kalkes durch kohlenſäurehaltige Ge— 
wäſſer während und nach der Sedimen— 
tirung denke. So ſehen wir eine von 
Fuchs früher geäußerte Meinung, der 
wir in ihren Grundzügen vollſtändig bei— 
pflichten müſſen, in direktem Widerſpruch 
mit deſſen, im Vortrage vom 16. De— 
zember v. J. geäußerten Anſichten. 
Gegen die letzteren können jedoch noch 
viel ſchwerer wiegende Gründe vorge— 
bracht werden. Die neueren Anſichten 
über die Chorologie der Sedimente laſſen 
ſich unmöglich mit den Behauptungen des 
Vortrages vom 16. Dezember vereinigen. 
Das Weſen der Lückenhaftigkeit der 
paläontologiſchen Überlieferung beruht, 
wie Mojſiſovies gezeigt hat“), auf dem 
fortwährenden Wechſel heteromeſiſcher, he— 
terotopiſcher und heteropiſcher Bildungen, 
und dieſe Lückenhaftigkeit iſt daher mit 
der in der Reihe der Formationen allent 
halben nachweisbaren Anderung der phy— 
ſikaliſchen Bedingungen notwendig ver— 
knüpft; ſie iſt um ſo größer, je weniger 
Terrain die geologiſche und paläontolo— 
giſche Forſchung auf der Erdbodenfläche 
erſchloſſen hat, und je ungenauer die be— 
treffenden Unterſuchungen ſind. Es iſt 
a ) Vgl. Mojſiſovics, Dolomitriffe, S. 7 
u. 8, ſowie Kosmos, Bd. VI. S. 13 u. fgde. 


läontologen, dieſe Lückenhaftigkeit durch 
Ausdehnung und Vertiefung ihrer Studien 
zu bekämpfen, um, ſo weit es möglich iſt, 
die Entwicklung der Organismen durch 
die iſomeſiſchen, iſotopiſchen und iſopiſchen 
Bildungen zu verfolgen. Dabei dürfen 
wir uns weder durch die vorläufig gähnen— 


den Lücken in unſeren Kenntniſſen, noch 


durch andere Schwierigkeiten abſchrecken 
laſſen, denn wollten wir die Leuchte der 
Descendenzlehre von uns werfen, ſo hätten 
in der That die Foſſilien höchſtens noch 
für den Raritätenſammler, nicht aber für 
die wiſſenſchaftliche Forſchung Intereſſe. 
Es iſt nicht zu leugnen, „daß auch ſchon 
der gegenwärtige Stand der Paläonto— 
logie bei richtig angewandter Kritik 
einen Boden abgiebt, um Fragen ſo all— 
gemeiner Natur, wie die darwiniſche Lehre 
fie aufſtellt, zu diskutiren;“ — inwieweit 
jedoch dieſer Boden „vollkommen zu— 
verläßlich“ und inwieweit eine derartige 
Diskuſſion mit Sicherheit möglich iſt, 
darüber giebt uns nur die genaue Ein— 
ſicht der thatſächlich vorhandenen Lücken— 
haftigkeit unſerer Kenntnis Aufſchluß. 
Graz. Prof. R. Hoernes. 


Die geſchlechllichen Färbungen 
gewiſſer Schmellerlinge. 


Dr. Schulte in Fürſtenwalde hat 
mich auf die ſchönen Farben aufmerkſam 
gemacht, welche auf allen vier Flügeln 
eines Schmetterlings, der Diadema bo- 
lina, erſcheinen, wenn man von einem be— 
ſtimmten Punkte aus darauf hinblickt. Die 
beiden Geſchlechter dieſes Schmetterlings 
differiren bedeutend in der Färbung. Die 
Flügel des Männchens ſind, wenn von 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 73 


hinten betrachtet, ſchwarz mit ſechs Flecken 
von reinem Weiß und bieten eine ele— 
gante Erſcheinung dar; aber von vorn 
geſehen, in welcher Stellung, wie Dr. 
Schulte bemerkt, das ſich dem Weib— 
chen nähernde Männchen von erſterem ge— 
ſehen werden würde, erſcheinen die weißen 
Flecken mit einem Hofe von ſchönem Blau 
umgeben. Mr. Butler zeigte mir auch 
im britiſchen Muſeum ein analoges und 
noch auffallenderes Beiſpiel aus der Gat— 
tung Apatura, bei welchem die Geſchlech— 
ter gleichfalls in der Färbung differiren 
und bei dem Männchen die prachtvollſten 
blauen und grünen Tinten einzig einer 
davor ſtehenden Perſon ſichtbar ſind. Fer— 
ner erſcheinen bei verſchiedenen Arten von 
Ornithoptera die Hinterflügel des Männ— 
chens von einem ſchönen Goldgelb, aber 
nur, wenn von vorn geſehen; dies gilt 
auch für O. magellanus, aber hier ha— 
ben wir, wie mir Mr. Butler zeigte, 
eine partielle Ausnahme, denn die Hinter— 
flügel wechſeln, wenn von hinten betrach— 
tet, aus der Goldfarbe in ein blaſſes, 
iriſirendes Blau. Ob dieſe letztere Farbe 
irgend eine ſpezielle Bedeutung hat, könnte 
einzig durch Jemand ausgemittelt werden, 
der das Benehmen des Männchens in 
ſeiner Naturheimat beobachten könnte. 
Schmetterlinge ſchließen, wenn ſie in Ruhe 
ſind, ihre Flügel zuſammen ihre Unter— 
flächen, welche oft dunkel gefärbt ſind, 
können dann allein geſehen werden, und 
dies dient, wie allgemein angenommen 
wird, als Schutzmittel. Aber wenn 
die Männchen den Weibchen den Hof 
machen, ſenken und erheben ſie abwech— 
ſelnd die Flügel, indem ſie dadurch die 
brillant gefärbte obere Fläche enthüllen, 
und es ſcheint der natürliche Schluß, daß 


ſie in dieſer Weiſe handeln, um die Weib— 
chen zu bezaubern oder zu erregen. Durch 
die oben beſchriebenen Fälle iſt dieſe 
Schlußfolge noch wahrſcheinlicher gemacht, 
da die volle Schönheit des Männchens 
einzig von dem Weibchen geſehen werden 
kann, wenn es gegen daſſelbe vorrückt. 
Wir werden dadurch an die ausgeklügelte 
und abwechslungsreiche Art erinnert, in 
welcher die Männchen mancher Vögel, 
z. B. der Pfauhahn, Argusfaſan u. A., 
ihr wundervolles Gefieder möglichſt vor— 
teilhaft vor ihren ungeſchmückten Freun— 
dinnen entfalten. 

Die Betrachtung dieſer Fälle veran— 
laßt mich, einige Bemerkungen darüber 
hinzuzufügen, in wie weit Bewußtſein 
bei der erſten Erwerbung gewiſſer In— 
ſtinkte, einſchließlich geſchlechtlicher Schau— 
ſtellungen, notwendigerweiſe ins Spiel 
kömmt; denn da alle Männchen derſelben 
Art ſich in' gleicher Weiſe benehmen, 
während ſie den Weibchen den Hof ma— 
chen, dürfen wir folgern, daß die Schau— 
ſtellung jetzt inſtinktiv geworden iſt. Die 
meiſten Naturkundigen ſcheinen zu glau— 
ben, daß jeder Inſtinkt zuerſt mit Be— 
wußtſein ausgebildet wurde, aber dies 
ſcheint mir ein irriger Schluß für viele 
Fälle, wenngleich zutreffend für andere. 
Vögel, die in verſchiedener Weiſe erregt 
werden, nehmen ſeltſame Stellungen an 
und ſträuben ihr Gefieder; und wenn die 
Aufrichtung der Federn in einer beſon— 
dern Art einem dem Weibchen den Hof 
machenden Männchen vorteilhaft war, ſo 
ſcheint mir nicht irgend welche Unwahr— 
ſcheinlichkeit vorhanden zu ſein, daß dieſe 
begünſtigte Thätigkeit vererbt wurde, und 
wir wiſſen, daß beim Menſchen oft häß— 
liche Angewohnheiten und unbewußt an— 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 


10 


74 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


genommene neue Geberden vererbt wer— 
den. Wir können einen verſchiedenen Fall 
nehmen (welcher, wie ich glaube, bereits 
von jemand angeführt wurde), denjenigen 
junger Erdvögel, welche ſich ſelbſt un— 
mittelbar nach dem Ausſchlüpfen aus dem 
Ei niederkauern und verſtecken, wenn ſie 
in Gefahr ſind; hier ſcheint es kaum 
möglich, daß die Gewohnheit gleich nach 
der Geburt und ohne Erfahrung mit 
Bewußtſein könnte erworben worden ſein. 
Aber wenn ſolche junge Vögel, welche, 
wenn erſchreckt, bewegungslos ſaßen, 
öfter vor Raubtieren bewahrt blieben, 
als ſolche, welche zu entfliehen ſuchten, 
ſo kann die Gewohnheit des Nieder— 
kauerns ohne irgend welches Bewußtſein 
von Seiten der jungen Vögel erworben 
worden ſein. Dieſes Raiſonnement wen— 
det ſich mit beſondrer Kraft auf ſolche 
jungen Schreit- und Waſſervögel an, 
deren Alten ſich ſelbſt nicht verbergen, 
wenn ſie in Gefahr kommen. Hinwie— 
derum ein Rebhuhnweibchen fliegt, wenn 
Gefahr vorhanden, eine kurze Strecke von 
ihren dicht niedergekauert zurückgelaſſenen 
Jungen fort, fliegt dann in der faſt 
jedem bekannten Manier, als wenn ſie 
gelähmt wäre, aber ungleich einem wirk— 
lich verwundeten Vogel, dicht über dem 
Boden hin; ſie macht ſich ſelbſt bemerk— 
bar. Nun iſt es mehr als zweifelhaft, 
ob jemals irgend ein Vogel mit hin— 
reichendem Intellekt exiſtirte, der fähig 
geweſen wäre, zu denken, daß er einen 
Hund oder andern Feind von ſeinen Jun— 
gen hinweglocken könnte, wenn er das 
Benehmen eines wunden Vogels nach— 
ahmen würde. Denn dies ſetzt voraus, 
daß er ſolches Benehmen an einem ver— 


wundeten Kameraden beobachtet hätte 


und wüßte, daß es einen Feind zur Ver— 
folgung reizen würde. Viele Naturfor— 
ſcher nehmen beiſpielsweiſe jetzt an, daß 
das Schloß einer Muſchel durch die Er— 
haltung und die Vererbung allmählicher 
nützlicher Variationen gebildet worden 
ſei, indem die Individuen mit einer et— 
was beſſer konſtruirten Schale in größe— 
rer Zahl erhalten wurden, als diejenigen 
mit einer weniger gut eingerichteten; 
warum ſollten nicht vorteilhafte Abän— 
derungen in den ererbten Handlungen 
eines Rebhuhns in gleicher Weiſe erhal— 
ten worden ſein, ohne einen Gedanken 
oder bewußte Abſicht ihrerſeits, ebenſo— 
wohl als in dem Beiſpiele der Muſchel, 
deſſen Schalenſchloß unabhängig vom Be— 
wußtſein modifizirt und verbeſſert wor— 
den iſt? Charles Darwin. 
Die Glieder von Hauranodon. 
Im Februarheft des „American Jour— 
nal of Science“ (Bd. XIX, S. 169, 1880) 
macht Prof. Marſh folgende hochwichtige 
Mitteilungen über den Bau der Füße von 
Sauranodon, welche die älteren Studien 
Gegenbaurs über die Ableitung der 
Wirbeltierfüße von der Floſſe der Se— 
lachier und über die von dem gewöhn— 
lichen Typus abweichende Form der Hali— 
ſaurier-Füße weſentlich ergänzen. 
„Seitdem die erſte Art der neuen 
Gattung (Sauranodon natans) von dem 
Verfaſſer beſchrieben worden ift*), ſind 
acht weitere Exemplare derſelben Gruppe 
entdeckt und dem PYale-Muſeum einver— 
leibt worden. Bei dreien derſelben iſt 
der Schädel erhalten, aber auch dort ſind 
keine Andeutungen von Zähnen vorhanden, 
ſo daß wir dieſe Reptilien als vollkom— 
5 Kosmos, Bd. V, S. 139. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


men zahnlos betrachten müſſen. Der Schä— 
del zeigt in vielen Punkten Übereinſtim— 
mung mit demjenigen von Ichthyosaurus. 
Auch die Wirbel ſind denen dieſer Gattung 
ſehr ähnlich. In den Charakteren der Seiten— 
glieder bietet Sauranodon einige Züge von 
ſpeziellem Intereſſe. Die vordern und 
hintern Gliedmaßen ſind wohl entwickelt 
und dem Schwimmen angepaßt. Dieſe Ex— 
tremitäten ſind weniger ſpezialiſirt, als 
diejenigen irgend eines andern bekannten, 
über den Fiſchen ſtehenden Wirbeltieres. 

In der Vorderpfote iſt das Ober— 
armbein allein ſpezialiſirt. Unter dem— 
ſelben ſind die Knochen des Vorderarms, 
die Handwurzel-, Mittelhand- und Finger— 
Knochen im Weſentlichen runde, frei in das 
urſprüngliche Knorpelgewebe eingepflanzte 
Scheiben. Der Speichenknochen darf viel— 
leicht als eine teilweiſe Ausnahme be— 
trachtet werden, da ſein freier Rand nahezu 
gerade und etwas dünner als der übrige 
Rand iſt. Es ſind da drei Knochen von faſt 
gleicher Größe in der erſten Reihe unter dem 
Oberarmbein vorhanden. Das Speichen— 
bein kann mit Gewißheit durch ſeine Stel— 
lung identifizirt werden. Der nächſte Kno— 
chen entſpricht augenſcheinlich dem Mittel 
knochen (Intermedium), und der dritte oder 


90 


75 


andere äußere dem Ellenbein. In der folgen— 
den Reihe ſind vier halbkreisförmige Kno— 
chen vorhanden, und fünf in der nächſten 
Reihe. Dieſe repräſentiren die Handwurzel— 
knochen. Ferner ſind ſechs Mittelhandkno— 
chen und auch ſechs wohl entwickelte Finger 
vorhanden, von denen jeder aus zahlreichen 
Phalangen zuſammengeſetzt iſt, welche alle 
frei und von nahezu kreisrunder Form ſind. 

Im Hintergliede iſt der Aufbau weſent— 
lich derſelbe. Das äußere Ende des Ober— 
armbeins hat drei deutliche Facetten, und 
von dieſen iſt die mittelſte die breiteſte. 
Zunächſt unter dem Oberarmbein und 
mit ihm eingelenkt ſind drei Knochen, 
welche anſcheinend Schienbein, Inter— 
medium und Wadenbein repräſentiren, 
wenn auch das erſtere allein nach ſeiner 
Geſtalt und Stellung beſtimmt werden 
kann. Die nächſte Reihe enthält vier runde 
Knochen, und die folgende fünf, wie in 
dem hier folgenden Holzſchnitt dargeſtellt 
iſt. Dieſe entſprechen den Fußwurzel— 
knochen, und in der nächſten Reihe ſind 
die ſechs Mittelfußknochen. Es ſind hier 
ſechs Zehen vorhanden. Die äußern Pha— 
langen ſind klein und kreisförmig; da ihre 
genaue Stellung nicht beſtimmt werden 
konnte, ſo wurden ſie unſchattirt gelaſſen. 


S n 
* 8000er, 


Linke Hinterſchaufel von Sauranodon discus Marsh von unten geſehen. Ein Achtel der natür— 


lichen Größe. 


f. Oberſchenkelbein, t. Schienbein, 1. Mittelbein, t“ Wadenbein, 


I. u. V. erſte und fünfte Zehe. 


76 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Die obige Figur ſtimmt im Weſent— 
lichen mit den andern erhaltenen Schau— 
feln überein und mag alſo als das typiſche 
Glied bei dieſer Reptilklaſſe betrachtet wer— 
den. Die auffallendſten Züge in dieſem 
Sauranodon-Fuße find die drei mit dem 
Oberſchenkelbein artikulirenden Knochen 
und die ſechs vollſtändigen Zehen. Dieſe 
Charaktere markireneine Entwicklungsſtufe, 
die tiefer als diejenige irgend eines bekannten 
luftatmenden Wirbeltieres ſteht und einzig 
in den Gliedern von Ichthyosaurus an— 
nähernd erreicht wird. Die Bildung von 
Quer-Segmenten iſt in den fünf erſten 
Reihen deutlich erkennbar, wenn man Ober— 
arm⸗ oder Oberſchenkelbein als das erſte 
Segment, das der Propodial-Knochen!) 
betrachtet. Wenn die drei Knochen der 
zweiten Reihe (Epipodial-Knochen) richtig 
gedeutet wurden, ſo iſt das Mittelſte das 
Intermedium. Seine Stellung in den 
Schaufeln beider bekannten Arten von 
Sauranodon zeigt an, daß ſein wahrer 
Platz in dem Segmente iſt, wo es ge— 
funden worden iſt. Wenn dem ſo iſt, 
ſo folgt, daß es in dem Differenzirungs— 
fortſchritt dieſer Knochen ſchrittweiſe von 
ſeiner urſprünglichen Stellung zwiſchen 
den Randknochen der zweiten oder epipo— 
dialen Reihe hinausgedrängt worden iſt 
in die dritte oder meſopodiale Reihe, 
wo wir es jetzt finden. 

Bei Ichthyosaurus iſt das Mittelbein 
(Intermedium) nicht gänzlich aus der epipo— 
Der Bedarf allgemeiner Bezeichnungen 
für die korreſpondirenden Segmente der vordern 
und hintern Gliedmaßen der luftatmenden Tiere 
iſt offenbar. Während wir die paſſenden Aus— 
drücke Phalangen und Metapodialknochen für die 
äußern Teile der Extremitäten beſitzen, ſind keine 
gebräuchlichen Namen für die obern Teile vor— 
handen. Daher werden die folgenden vorgeſchlagen: 


dialen Reihe ausgeſchloſſen, bei Plesiosau- 


| rus und allen andern Reptilen iſt der Prozeß 


im Weſentlichen vollendet. Bei einigen Am— 
phibien trennt dieſer Knochen noch die untern 
Enden der beiden ſpezialiſirten Knochen 
über ihm. Sauranodon markirt eine ältere 
und höchſt intereſſante Stufe in der Diffe— 
renziation und zeigt in Zuſammenhang 
mit den hier eitirten Beiſpielen genommen, 
klar an, wie der Übergang vollführt wurde. 

Die ſechs vollſtändigen Zehen in den 
Gliedern von Sauranodon ſtellen einen 
vorher bei keinem luftatmenden Wirbel— 
tier beobachteten Charakter dar. Einige 


Amphibien bewahren Überbleibſel eines 


ſechſten Fingers und Ichthyosaurus hat 
öfters an der Außenſeite der Phalangen 
eine oder mehrere Reihen von Randknöchel— 
chen, welche offenbar verlorne Zehen dar— 
ſtellen. Von dieſen Ausnahmen abgeſehen, 
wird die normale Zahl von fünf Zehen 
nicht überſchritten. 
Sauranodon discus Marsh. 

Eine Vergleichung der verſchiedenen 
jetzt bekannten Exemplare von Saurano- 
don zeigt zwei verſchiedene Spezies an, 
die, wie folgt, unterſchieden werden können: 
Die typiſche Spezies (Sauranodon natans) 
hat einen mehr verlängerten Geſichtsteil 
des Schädels und eine ſchlankere Schnauze. 
Die Wirbel ſind kurz und tief ausgehöhlt, 
ja ſogar beinahe durchbohrt. Der Kopf 
des Oberarmbeins iſt nur ſehr leicht konvex. 
Ein zweites Exemplar, welches in feinen ſpe— 

Vorderglied: | Hinterglied: 
Propodial⸗K.: Oberarm-K. Oberſchenkel-K. 
Epipodial⸗K. : Ellen- u. Spei⸗Schien- u. Wa⸗ 
chen⸗K. denbein. 
Meſopodial-K.: Handwurzel⸗K. Fußwurzel-K. 
Metapodial K.: Mittelhand-K. Mittelfuß-K. 
Phalangial-K.: Finger-K. Zehen-K. 


3 
4 

2 
N 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


zifiſchen Hauptcharakteren mit dem Typus 


| 
| 
| 


übereinſtimmt, hat ein faſt freisförmiges | 


Rabenbein mit nur leichter Ausrandung. 


In der hier beſchriebenen Spezies, 


welche auf den größeren Teilen eines 
Skeletts baſirt iſt, erſcheint das Raben— 
bein tiefer ausgerandet und der Kopf des 
Oberarmbeins iſt gerundet, beinahe eben 
ſo ſehr wie derjenige des Oberſchenkel— 
beins; die Schaufeln ſind im Verhältniß 
zu ihrer Größe auch breiter als in der 
typiſchen Art. 


Das hier beſchriebene Exemplar deutet 
ſei. 


auf ein ungefähr 12 Fuß langes Reptil. 
Es ſtammt aus den obern Juraſchichten 
von Wyoming, und wurde in der Reihe 


wiederholen. Eine Paarung dieſer Vögel 
war deshalb um eine Nuance beweis— 
kräftiger als die von Mr. Eyton ver— 
anſtaltete, welcher Bruder und Schweſter 


verſchiedener Bruten paarte. Da in einer 


mariner Ablagerungen gefunden, welche 


der Verfaſſer Sauranodon-Schichten 
genannt hat. 


Fruchtbarkeit von Daftarden 
zwiſchen der gemeinen und chineſiſchen 
Gans. 


In meinem Buche über den „Urſprung 
der Arten” *) habe ich, auf die ausge- 


zeichnete Autorität des Herrn Eyton 


hin, die Thatſache mitgeteilt, daß Ba— 
ſtarde zwiſchen der gemeinen und der 
chineſiſchen Gans (Anser cygnoides) 
vollkommen unter einander fruchtbar ſind, 
was unter den bis jetzt bekannten That— 
ſachen hinſichtlich der Fruchtbarkeit von 
Baſtarden die merkwürdigſte iſt, denn 
gegen Haſen und Kaninchen hegen viele 


Perſonen Zweifel. Ich war deshalb er- 


freut, durch die Güte des Rev. Dr. 
Goodacre, welcher mir Bruder und 
Schweſter von derſelben Brut abgab, die 


Gelegenheit zu erhalten, den Verſuch zu 


*) Fünfte deutſche Ausgabe, S. 324. 


benachbarten Landwirtſchaft zahme Gänſe 
vorhanden und meine Vögel zum Herum— 
laufen geneigt waren, wurden ſie in einen 
großen Käfig geſperrt. Aber nach eini— 
ger Zeit bemerkten wir, daß zur Be— 
fruchtung der Eier täglich der Beſuch 
eines Teiches (während dem ſie über— 
wacht wurden) unumgänglich notwendig 
Das Reſultat des erſten Eierſetzens 
war, daß drei Vögel ausgebrütet wur— 
den; zwei andere waren vollkommen aus— 
gebrütet, aber gelangten nicht dazu die 
Schale zu durchbrechen; die übrigen, 


zuerſt gelegten Eier waren unbefruchtet. 


Von einer zweiten Anzahl wurden zwei 
Eier ausgebrütet. Ich würde gedacht 
haben, daß dieſe geringe Zahl von blos 
fünf am Leben gebliebenen Vögeln einem 
gewiſſen Grade von Unfruchtbarkeit bei den 
Eltern zuzuſchreiben ſei, hätte nicht Herr 
Eyton acht Baſtarde von einer einzigen 
Bebrütung erzielt. Mein geringer Erfolg 


mag vielleicht zum Teil der Einſchließung 
der Eltern und ihrer ſehr engen Ver— 


wandtſchaft zuzuſchreiben ſein. Die fünf 
Baſtarde, Enkel der reinen Vorfahren, 
waren äußerſt ſchöne Vögel und glichen 
in jeder Einzelheit ihren hybriden Eltern. 


Es erſcheint überflüſſig, die Fruchtbarkeit 


dieſer Hybriden mit irgend welcher rei— 
nen Spezies feſtzuſtellen, da dies ſchon 
durch Dr. Goodacre geſchehen iſt, und 


nach Mr. Blyth und Kapitain Hutton 


jede nur mögliche Abſtufung zwiſchen 
ihnen häufig in Indien und gelegentlich 
in England geſehen werden kann. 


7 

Die Thatſache dieſer beiden, ſo leicht 
zu paarenden Gänſe iſt merkwürdig we— 
gen ihrer Verſchiedenheit, welche einige 
Ornithologen veranlaßt hat, ſie in ge— 
trennte Gattungen oder Untergattungen 


merklich von der gemeinen durch die An— 
ſchwellung an der Baſis des Schnabels, 
welche die Geſtalt des Schädels beein— 
flußt, durch den ſehr langen Hals mit 
einem daran herunterlaufenden Streifen 
dunkler Federn, in der Zahl der Kreuz— 
beinwirbel, in der Geſtalt des Bruſt— 
beins*), ferner auffallend in dem Trom— 
petenton der Stimme und nach Mr. 
Dixon“) in der Brutperiode obwohl 
dies von andern verneint worden iſt. Im 
wilden Zuſtande bewohnen die beiden 
Arten verſchiedene Gegenden.“ ) Mir ift 
bekannt, daß Dr. Goodaere zu glauben 
geneigt iſt, daß Anser cygnoides blos 
eine durch Züchtung erhaltene Varietät 
der gemeinen Gans ſei. Er zeigt, daß 
in all den oben erwähnten Kennzeichen 
parallele oder faſt parallele Variationen 
bei andern Tieren durch Domeſtikation 
entitanden ſeien. Aber es würde, glaube 
ich, ganz unmöglich ſein, ſo viele zu— 
ſammmen vorkommende und kon— 
ſtante Unterſchiede, wie in dieſem Falle, 
zwiſchen zwei domeſticirten Varietäten der— 
0h) Charles worth's „Mag. of Nat. Hist.“ 
Vol. IV, new series, 1840, p. 90. — F. T. 
Eyton, „Remarks on the Skeletons of the 
Common and Chinese Goose.“ 

**) Ornamental and Domestic Poultry“, 
1848, p. 85. 


** Dr. L. v. Schrencks „Reiſen und Er- 
forſchungen im Amurland“, Bd. I, S. 457. 


zu bringen. Die chineſiſche Gans differirt 


78 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ſelben Spezies zu finden. Wenn dieſe 
beiden Spezies als Varietäten klaſſifizirt 
werden, ſo muß es auch mit Pferd und 
Eſel, Haſe und Kaninchen geſchehen. 

Die Fruchtbarkeit der Baſtarde in 
dem gegenwärtigen Falle hängt wahr— 
ſcheinlich in einem begrenzten Grade 
von der reproduktiven Fähigkeit aller 
Anatidae ab, die durch veränderte Be— 
dingungen ſehr wenig beeinflußt wird 
und davon, daß beide Spezies ſeit ſehr 
langer Zeit domeſticirt find. Denn die 
von Pallas aufgeſtellte Anſicht, daß 
Domeſtikation dahin wirke, die faſt voll— 
ſtändige Unfruchtbarkeit gekreuzter Spe— 
zies wegzuſchaffen, wird um ſo wahr— 
ſcheinlicher, je mehr wir über die Ge— 
ſchichte und den vielfachen Urſprung der 
meiſten unſerer Haustiere lernen. Dieſe 
Anſicht, falls ſie bewahrheitet werden 
kann, entfernt eine Schwierigkeit für die 
Annahme der Descendenz-Theorie, denn 
ſie zeigt, daß gegenſeitige Unfruchtbarkeit 
kein ſicheres und unabänderliches Kenn— 
zeichen der Artverſchiedenheit iſt. Wir 
haben indeſſen viel beſſere Beweiſe für 
dieſen Hauptpunkt in der Thatſache zweier 
Individuen derſelben Form ungleichgriff— 
licher Pflanzen, welche ſo ſicher zu der— 
ſelben Art gehören, als zwei Individuen 
irgend einer Art, und welche gekreuzt, 
weniger Samen ergeben als die normale 
Zahl beträgt, während die von ſolchen 
Samen erhaltenen Pflanzen in dem Falle 
von Lythrum salicaria ebenſo unfrucht— 
bar ſind, als die unfruchtbarſten Ba— 
ſtarde. 

Charles Darwin. 


— 


— 


Hellwalds Werk 
über den vorgeſchichllichen Menfchen. 
A ohl als eines der beſten Werke, 
die uns unter den jüngſt erſchie— 
nenen einen Geſammtüberblick er— 
öffnen über die Forſchungen auf anthropo— 
logiſchem und prähiſtoriſchem Gebiete, 
muß das von Friedrich von Hellwald 
jetzt in der zweiten Auflage!) vor— 
liegende angeſehen werden. — Nicht nur 
die Reichhaltigkeit und Vollſtändigkeit 
des Gebotenen muß den Leſer einneh— 
men, ſondern die ganze Verarbeitung 
des Stoffes, welche von neuen, in der 
Wiſſenſchaft erſt jetzt zur Geltung ge— 
kommenen Geſichtspunkten unternommen 
wurde, bezeugt uns, daß hier eine 
wichtige literariſche Arbeit vor- 
liegt, die man nicht ohne großes wiſſen— 
ſchaftliches Intereſſe aus der Hand legen 
kann. Nach einer mehrere Kapitel um— 
) Der vorgeſchichtliche Menſch. Ur— 
ſprung und Entwicklung des Menſchengeſchlechts. 
Für Gebildete aller Stände. Urſprünglich her— 
ausgegeben von Wilhelm Bär. Zweite völlig 
umgearbeitete Auflage von Friedrich v. Hell- 
wald. Leipzig bei O. Spamer, 1880. 


Literatur und Kritik. 


faſſenden allgemeinen Einleitung aus den 
Gebieten der Paläontologie, Geologie, 
Ethnologie und Völkerpſychologie, wen— 
det ſich der Verfaſſer zu dem Abſchnitt 
über „Die vorgeſchichtlichen Zeitalter“. 
In dieſem werden die Grundfragen be— 
handelt, welche die junge anthropologiſche 
Wiſſenſchaft bewegen, und die Entſchei— 
dung hierüber hat zugleich die Methode 
für die neue Darſtellung des Geſammt— 
materials an die Hand gegeben. Be— 
trachten wir uns dieſes Kapitel daher 
genauer. Zuerſt behandelt der Verfaſſer 
die Frage nach der Dauer der Urzeit, 
und hebt das Reſultat hervor: daß ſich 
die ganz enorme Reihe urgeſchichtlicher 
Fundſtücke, welche in das geſellſchaftliche 
Leben der Urzeit einen Einblick geſtat— 
ten, und womit ſein Buch eingehender 
ſich beſchäftigen will, auf weitaus 
ſpätere, der Gegenwart unendlich 
näher gerückte Epochen bezieht. So 
ſehr wir aber in neuerer Zeit in der 
Anthropologie allmählich zu dieſer Über— 
zeugung gekommen ſind, ſo wenig ſind 
wir im ſtande, eine genauere Chronologie 
über die rückwärts liegenden Zeiträume 
anzugeben. An einem treffenden Bei— 
ſpiele wird uns das erläutert: „Man 


80 


findet in einem Torfmoor in der Tiefe 
von 1,5m eine Medaille aus dem 13. 


Literatur und Kritik. 


Jahrhundert und in 9m Tiefe eine bron- 


zene Hacke. Da nun ein Torflager von 


1,5m Mächtigkeit 600 Jahre gebraucht 


hat, um ſich zu bilden, ſo hat die Bil— 
dung einer Schicht von 9m offenbar 
3000 Jahre in Anſpruch genommen. 


organiſche Ablagerungen und Schichten— 
bildungen ſich nur im Herbſt und 
nicht auch während des Sommers 
nach ſehr großen Regengüſſen und 
Durchſpülungen des Landes in 
großem Maßſtabe erzeugen könn— 


ten. — Die genaue Altersfrage, fo 


Dieſe Argumentation ſetzt voraus, daß 


die Torfbildung ganz regelmäßig ver— 
laufe; dies iſt aber unglücklicherweiſe 
nicht der Fall. Es würde nun in Frage 
kommen, ob man Ablagerungen anderer 
Art auffinden kann, in Bezug auf welche 
ſich die Schichtenbildung ſo verhielte, daß 
ſich an einer Maßeinheit als Vergleichs— 
punkt eine Altersberechnung vornehmen 
ließe. Hier verweiſt uns nun der Ver— 
faſſer auf die intereſſanten Entdeckungen 
des Ingenieurs Nene Kerviler bei Ge— 
legenheit des Flottenbaſſins in Penhoust. 
Das aufmerkſame Studium der Bai von 
Penhouét hat in der That gezeigt, daß 
die Schichten des durch die Loire abge— 
lagerten Alluviums genau gezählt wer— 
den können, ähnlich wie man die Jahres— 
ringe eines Baumes zu zählen und hier— 
nach das Alter deſſelben zu beſtimmen 
vermag. Bis zu einer Tiefe von 8m it 
die Bildung der Ablagerungen abſolut 
regelmäßig. Dabei kommt in Betracht, 
daß die oberſte Lage aus organiſchen 
Reſten gebildet wird, die ſich vorzugs— 
weiſe durch den Blätterfall im Herbſt 
anſetzt, während in den übrigen Jahres— 
zeiten nur Schichten von Sand und Thon 
eingeſchlemmt werden. 

Inwieweit Herr Kerviler in die— 
ſer Hinſicht recht hat, müſſen weitere 
Beobachtungen lehren; denn immerhin 
müßte genau feſtgeſtellt werden, daß 


ſcheint uns daher, wird in der Anthropo— 
logie immerhin mit Vermutungen ver— 
ſetzt bleiben, über welche wir in der 
Forſchung nicht völlig hinauskommen. 
Begnügen wir uns mit dem allgemeinen 
Reſultat, das nach dieſer Seite hin die 
größte Wahrſcheinlichkeit hat, und dieſes 
lehrt uns, wie Hellwald richtig ſagt: 
„daß die Urzeit, welche die bisherigen 
Funde der Forſchung erſchloſſen, ſich nur 
auf wenige Jahrtauſende erſtreckt.“ 

Es folgen nun eine Reihe von Er— 
örterungen über den Begriff der Ur— 
geſchichte. Wenn die Geſchichte jedesmal 
von da ab ſich erhellt, wo wir Belege 
und Zeugniſſe monumentaler und ſchrift— 
licher Art aufzuweiſen haben, ſo zeigt es 
ſich, daß der Eintritt der Völker in die— 
ſelbe ein vielfach verſchiedener war. Wäh— 
rend ſich z. B. die Römer zur Zeit der 


Gründung Roms im Stadium des Prä- 


hiſtoriſchen bewegen (denn wir beſitzen 
von dieſem Volke aus der ſog. Königs— 
zeit keine Denkmäler und Urkunden), 
ſtand Agypten ſchon lange unter der 
Sonne einer weit zurückreichenden Ge— 
ſchichte, und damit erhärtet ſich der Satz, 
daß die Grenzen des Hiſtoriſchen und 
Prähiſtoriſchen über den Umkreis der Völ— 
ker gezogen, keineswegs eine iſochrone Linie 
bildet, ſondern bei den verſchiedenen Völ— 
kern verſchieden liegt, bei den Agyptern 
in ziemlicher Höhe beginnend und bei den 


unkultivirten Stämmen ſelbſt jetzt is 


== — ä 


Literatur und Kritik. 81 


unter den Nullpunkt ſinkend. Ob man überzeugend, daß man in der anthropo— 


weiterhin aber, wie Hellwald geneigt 


cheint, den Satz erhärten kann: „daß 
N 6 erh 


die ſich faſt ausſchließlich auf den Nor— 
den und Weſten Europas beziehen, über 
jene Zeitgrenze hinausführt, mit welcher 
die geſchichtliche Kenntnis der orien— 
taliſchen Völker des Altertums ihren 
Anfang nimmt, muß vorläufig dahin— 
geſtellt bleiben. Wir haben gar keine 
Anhaltepunkte für den Nachweis, wann 
die erſten und mongoloidenartigen Stämme 
das nach grönländiſch geartete Europa 
betreten haben; es iſt aber kein Grund 
abzuſehen, weshalb das nicht in jener 
frühen Zeit ſchon ſtattgefunden haben 
könnte, in welcher (vielleicht kurz nach Erfin— 
dung des Feuerzündens) an eine wirkliche 
Kultur ſelbſt bei den am höchſten entwickel— 
ten Stämmen noch nicht zu denken war. 

Der Verfaſſer wendet ſich nun zu 
der wichtigſten Frage: ob die bisherige 
Periodenteilung der Urgeſchichte in eine 
ſogenannte Stein-, Bronze- und Eiſen— 
periode ein Schema darſtellt, das man 
auf den Kulturfortſchritt aller Länder 
und Völker auszudehnen im Stande iſt. 
Ueber dieſe Frage hat ſich Hellwald 
bereits ausführlicher in einer Reihe von 
trefflichen Artikeln in dieſer Zeitſchrift 
geäußert.“) Die von Herrn Hoſtmann 
gebrachten Einwände hatten das alte 
herrſchende Syſtem, mit welchem man all— 
gemein das obige Schema der Perioden— 
teilung adoptirt hatte, bereits ſehr ſtark 
erſchüttert. Hellwald kommt dieſem 
Forſcher entgegen und was von ihm 
beigebracht wird, iſt in allen Stücken ſo 
7 * „Europas vorgeſchichtliche Zeit“, Kos— 
mos, II. Bd. 


teilung als zu 
keine der urgeſchichtlichen Entdeckungen, 


logiſchen Wiſſenſchaft die alte Perioden— 
Grabe getragen be— 
trachten kann. Es fehlt uns der Raum, 
die einzelnen Gründe hier aufzuführen, 
die ſchließlich zu dem Satze hinführen: 
„daß zunächſt die verſchiedenen Unter— 
abteilungen, in welche die Archäologen 
die beiden großen Zeiträume der vor— 
metalliſchen und der Metallzeit zerlegen, 
lediglich und nur einen lokalen 
Wert beſitzen, und Niemand ſich darf 
verleiten laſſen, die Verhältniſſe einer 
Völkergruppe auf die anderen zu über— 
tragen.“ Wir ſtimmen Hellwald nicht 
nur bei in alledem, was er ausführt 
gegen die Trennung eines allgemeinen 
paläolithiſchen und neolithiſchen Zeit— 
alters, ſondern auch die Abteilung von 
Mammutzeit und Rentierzeit halten wir 
mit ihm für durchaus hinfällig. Sehr 
belehrend ſind insbeſondere die Ausfüh— 
rungen über die ſog. Rentierzeit und 
der Nachweis, daß das Rentier noch 
in hiſtoriſcher Zeit im Rheinlande vor— 
kam. Gerard ſagt uns über die Ver— 
tilgung der heute bei uns nicht mehr 
vorkommenden Tiere: „Das Rentier 
verſchwand unter der Regierung des Au— 
guſtus. Hierauf kamen das Elen, das 
Wiſent, der Auerochs, das wilde Pferd, 
die Gemſe, der Steinbock, der Luchs, der 
Bär, der Damhirſch und Edelhirſch an 
die Reihe.“ 

Im Anſchluß an alle die Beweis— 
gründe, die von Hoſtmann und Anderen 
beigebracht wurden gegen das Feſthalten 
der Unterabteilungen, Beweisgründe, denen 
Hellwald zuſtimmt, möchte Schreiber 
dieſes zugleich die vielleicht nicht ganz un— 
berechtigte Frage aufwerfen, ob man nicht 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 


11 


82 


auch die ſtrenge Scheidung der Vor— 
geſchichte in eine allgemeine vor— 
metalliſche Zeit und Metallzeit 
anfechten darf? Hierüber ſchreibt Hell— 
wald: „Über allen Zweifel erhaben iſt 
und bleibt es, daß die ſogenannte Stein— 
zeit, welche in die älteſte Menſchenperiode 
zurückleitet, der Bearbeitung der 
Metalle voranging, genau wie unſere 


Kinder bei ihren Spielen und Verrich— 


tungen des Steines als Hammer oder 
Werkzeuges ſich noch heute bedienen. Es 
würde gegen die geſunde Vernunft ver— 
ſtoßen, anzunehmen, der Menſch habe erſt, 
nachdem er einmal das Metall kennen 
gelernt, ſich dem Steine zugewendet; 
einer ſolchen Hypotheſe widerſprechen auch 
alle bisher bei Naturvölkern und ander— 
wärts gemachten Beobachtungen.“ In 
Bezug auf dieſe Grundfrage wird man 
ſich zugleich klar werden müſſen über den 
Begriff Metall. Hinſichtlich vieler Merk— 
male, unter ihnen auch das der Schwere, 
unterſcheiden ſich die Metalle genau ge— 
nommen nicht von den Steinen, zumal 
wenn wir darauf achten, daß die meiſten 
nicht in gediegenem Zuſtande, ſondern im 
Zuſtande chemiſcher Verbindungen (als 
Erze) vorkommen. Achtet man hierauf, ſo 
muß man zugeben, daß ſicherlich in der 
feuerloſen Steinzeit, wo man die Neſter 
der Feuerſteine in den Kalkgebirgen aus— 
zubeuten und zu finden verſtand, auch die 
ſchimmernden Metalle, und zwar dieſe nur 
als glänzende, ſchwere Steine bekannt ge— 
weſen ſein müſſen. Nun kennen wir in der 
That einige Völker, wie Indianer und 
Polarvölker, welche gediegenes Kupfer 
oder aber das ſogenannte Meteoreiſen in 
ähnlicher Weiſe zu Werkzeugen verarbeite— 
ten, wie das mit den Steinen geſchah. 


Literatur und Kritik. 


Lebten nun dieſe Völker, als ſie dieſer rohen 
Technik mit den Metallen oblagen, im 
Stein- oder im Metallzeitalter? Schrei— 
ber dieſes antwortet hierauf kategoriſch: 
Im Steinzeitalter. Denn wie man auch 
über den Begriff Metall denken mag, 
derſelbe wird erſt dann zu Recht beſtehen, 
wenn man an ihm als weſentlichſtes 


Merkmal ſeine Schmelzbarkeit ſetzt. 


Die Vorbedingung für die Schmelzbar— 
keit und die ſich daran anſchließende Me— 
talltechnik war daher die Kenntnis des 
Feuers, d. h. die Verbindung von 
Feuer und Metall. Es iſt nun recht 
gut denkbar, daß im ſüdweſtlichen Aſien 
und im angrenzenden Afrika Völker 
neben einander lebten, welche die Metalle 
zu Schmuckſtücken (Amuletten) und Zier— 
raten roh verarbeiteten, ähnlich wie Bern— 
ſtein und Elfenbein, ohne die Schmelz— 
barkeit derſelben zu kennen, während 
andre, nach dieſe Seite hin erfinderiſcher 
angelegte Völker, wie z. B. die Turaner, 
ſchon zur ſelben Zeit mit der Schmelz— 
barkeit, Guß- und Schmiedekunſt derſelben 
bekannt waren.) Unter ſolcher Anſchau— 
ung ſehen wir dann die Steinzeit (Stein— 
Metallzeit) und Metallzeit mindeſtens 
ebenfalls ſo unmerklich ineinander über— 
gehen, daß auch hier in Bezug auf dieſe 
Grundperioden der Satz ausgeſprochen 
werden muß: Stein- und Metallzeit 
find Zeiträume von lediglich lo— 
kalem Wert, auch dieſe ſind durch die 
relativen Übergänge mit einander ver— 
7 ) Wie man ſich von geiftiger und völker— 
pſychologiſcher Seite aus den Übergang zur Ent— 
deckung der Schmelzbarkeit der glänzenden Me— 
tallſteine zu denken hat, darüber hat ſich Schreiber 
dieſes in ſeiner Urgeſchichte genauer ausgeſprochen. 
Vergl. „Urgeſchichte der Menſchen“, 2. Aufl., 
Bd. II, p. 206 ff. (Leipzig bei Brockhaus). 


Literatur und Kritik, 83 


bunden, fließen in einander vielfach über | 


und ſpielen und laufen bei verſchiedenen 
Völkern neben einander her. Auch hier 
darf man ſich alſo nicht verleiten laſſen, 
die Verhältniſſe einer Völkergruppe auf 
die andere zu übertragen; denn während 
z. B. einige eine ganz allmähliche, lang— 
währende Übergangsperiode von Stein— 
und Metallzeit durchmachten, ſodaß beide 
Zeitalter ſich kaum noch trennen laſſen, 
iſt das Entgegengeſetzte oft bei Nach— 
barvölkern der Fall geweſen, welche ſich 
ohne vermittelnde Übergänge die Erfin— 
dung des anderen aneigneten und nach— 
ahmten. Wenn es ſich aber, wie wir 
hiernach ſehen, inißlich verhält in Bezug 
auf die ſcharfe Unterſcheidung der Grund— 
perioden, Steinzeit und Metallzeit, ſo iſt 
das ſelbſtverſtändlich in noch viel höherem 
Maße der Fall bezüglich der Unterabtei— 
lungen von Bronze- und Eiſenzeit. Daß 
dieſe Einſchnitte nur noch von ſehr rela— 
tiver und ganz lokaler Bedeutung ſind, 
wird jetzt zweifelsohne von allen Anthro— 
pologen zugegeben werden müſſen. 

Da nun, wie wir aus Obigem erſehen, 
alle dieſe bisher angenommenen Grenzen 
ſich verwiſchen und hinfällig werden, 
mußte ſich Hellwald entſchließen, die 
ganze Periodenteilung hinſichtlich der Dar— 
ſtellung der Vorgeſchichte fallen zu laſſen, 
und es waren neue Wege einzuſchlagen. 
Die hiermit geſtellte neue Aufgabe hat 
der Verfaſſer befriedigend gelöſt. Um alles 
Wiſſenswerte in einen Rahmen zu faſſen 
hat er ſich zunächſt an die geographiſchen 
Verhältniſſe der Völker gehalten, und 
iſt alsdann in Bezug auf die eentral— 
europäiſchen Forſchungen in der Beſchrei— 
bung zugleich zu den archäologiſchen 
Unterſchiedsmerkmalen, ſo wie ſie ſich in 


Sammlungen und an den Fundorten bie— 
ten, übergegangen. So werden im Hin— 
blick auf die am meiſten durchforſchten 
Gegenden, die Höhlen Weſteuropas, die 
Höhlen und Stationen Mitteleuropas, 
und dann die Menſchenreſte aus den 
Höhlen und Stationen in einem beſon— 
dern Kapitel behandelt. Hierauf folgt ein 
Abſchnitt, der alles Gefundene zu einem 
Bilde über die Urkultur der erſten Euro— 
päer zuſammenfaßt. Dann folgt die Dar— 
ſtellung der Muſchelhügel, der nordiſchen 
Steinartefakte und die Steingräber, end— 
lich die Pfahlwerke und die germanifchen 
Altertümer. Nach unſerm Dafürhalten 
ſind die Betrachtungen über Pfahlwerke 
etwas zu gekürzt ausgefallen, namentlich 
iſt die Frage nach dem Zweck und der 
Bedeutung der Pfahlbauten nur in we— 
nigen Worten behandelt, obwohl hier— 
über noch manches zu ſagen bleibt; auch 
iſt es auffällig, daß der ethnologiſche 
Teil dieſes Kapitels, über welchen in der 
erſten Auflage viele Einzelheiten berich— 
tet wurden, beinahe ganz fortgeblieben 
iſt. Die Pfahlbauten werden, ebenſo wie 
die anderen Erſcheinungen der prähiſto— 
riſchen Welt, nur hinreichend verſtänd— 
lich, wenn man ſie in Analogie ſetzt mit 
dem, was wir hierüber noch heute bei wil— 
den, zurückgebliebenen Völkern aufweiſen 
können. Die hierhergehörigen Hinweiſun— 
gen auf ethnologiſche Analogieen vermiſſen 
wir daher bei dieſem wichtigen Abſchnitte 
nur ungern. Allein abgeſehen von derlei 
kleineren Unebenheiten, macht das Werk, 
wie ſchon im Eingange bemerkt, einen 
ſo ſehr befriedigenden Eindruck, daß wir 
dem Verfaſſer ſowohl wie dem Verleger, 
der wiederum alles angewandt hat, um 
durch graphiſche Darſtellung der Vor— 


— — — 


ſtellung und Phantaſie zu Hülfe zu Toms | 
men, in jeder Hinſicht nur Dank wiſſen 


können. Jeder, der ſich an dem heutigen 
Stande der prähiſtoriſchen Wiſſenſchaft, 
ſowie über Anthropologie, Archäologie 
und Kulturgeſchichte unterrichten will, 
empfehlen wir daher das Hellwaldſche 
Werk auf das Angelegentlichſte. — 
Heidelberg. O. Caspari. 
Materialien zur Vorgeſchichte des 
Menſchen im öſtlichen Europa. 
Nach polniſchen undruſſiſchen Quellen be- 
arbeitet und herausgegeben von Albin 
Kohn und Dr. C. Mehlis. Zweiter 
Band. Mit 32 Holzſchnitten, 6 lith. 
Tafeln und einer archäologiſchen Fund— 
karte. Jena bei H. Coſtenoble, 1879. 
Der zweite Teil dieſes ſchon nach dem 
Erſcheinen des erſten Bandes im Kosmos! 
beſprochenen Werkes liegt uns vollendet 
vor und ſchließt ſich hinſichtlich des Reich— 
tums der Fundzuſammenſtellungen dem 
erſten Bande ebenbürtig an. Dem Werke 
iſt zugleich eine Karte beigegeben, die 
von hohem Werte iſt. Wir überſehen auf 
ihr das ganze Gebiet mit ſeinen Fund— 
ſtätten, das von Forſchern begangen und 
ausgebeutet wurde. Den nördlichiten 
Punkt bildet Petersburg, in deſſen Um— 
gebung Kurgane mit Gräbern bezeichnet 
ſind, nach Oſten hin ſtellen die Städte 
Jaroslaw, Pereslaw und Moskau die 
Grenze dar, und ſelbſt aus dem Süden 
werden uns noch hervorragende Grab— 
kurgane vorgeführt, die in der Nähe von 
Kertſch und auf der Tamaniſchen Halb— 
inſel aufgefunden wurden. Das Studium 
der Karte zeigt uns freilich auch, wie 
viel nach Oſten hin der Spezialforſchung 
) Bd. V, S. 157. 


84 Literatur und Kunſt. | 
| 


zu thun noch übrig bleibt. Weite Flächen 
ſind noch zu durchforſchen; aber dennoch 
müſſen wir der ruſſiſchen Regierung ſo— 
wol wie den ſelbſtändigen ſlaviſchen An— 
thropologen und Forſchern ſehr dankbar 
ſein für die große Mühe, die ſie in dem 
ſpärlich bevölkerten, weiten Lande that— 
ſächlich aufgewandt haben, um die oft mäch— 
tigen Erdhügel der Kurgane offen zu 
legen und den Fund zu gewinnen. Die 5 
Kurgane, welche uns hier im erſten Kapitel 1 
des zweiten Bandes beſchrieben werden, 
ſind die in der Nähe des ſchwarzen Meeres 
auf der Tamaniſchen Halbinſel gelegenen. 
Daß die Kurgane in Polen, Galizien, 
Lithauen, Ruthenien und Groß-Rußland 
ſich von denen der Umgegend von Kertſch 
und Tamanien vielfach hinſichtlich der 
Funde und anderer Charakteriſtika unter— 
ſcheiden, durfte man vorausſetzen, die e 
Eigenartigkeit ihrer Lage rechtfertigt da— 

her vollkommen ihre geſonderte Behand— 

lung und Darſtellung. Wie zu vermuten, 
treffen wir an dieſen Orten die Spuren, 
welche auf die Verbindung der altklaſſiſchen 
Kultur zurückweiſen. Ob aber die geſam— 
melten Funde ausreichen, weitere Schlüſſe 

in ethnologiſcher Hinſicht, d. h. bezüglich der 

hier vor ſich gegangenen Völkerentwicklung 

zu ziehen, müſſen wir bezweifeln. Gerade 

dieſe Gegenden ſind, wie richtig erwähnt 
wird, vielfach der Tummelplatz zahlreicher 
Wandervölker geweſen. Die Küſtenſtrecken 

des ſchwarzen Meeres ſind, wie die Fluß— 
thäler der Wolga, der Donau und des 
Rheins, als große Verkehrswege und 
Heerwege zu betrachten, wo vieles Ein— 
zelne ſich aus den verſchiedenſten Zeiten 
abgelagert hat. Die hier angetroffenen 
Kurgane ſind daher in dieſen Gegenden l 
zwar um ſo intereſſanter, aber in der | 


Literatur und Kritik. 85 


Beurteilung und bezüglich der zu ziehen- 


den Schlüſſe mahnen uns dieſe Funde 
zu großer Vorſicht. Die Herren Autoren 
haben denn auch nur unter größerer Re— 
ſerve einige Andeutungen in dieſer Hin— 
ſicht zu machen verſucht, denen wir großen— 
teils beiſtimmen. In den Kurganen 
Lithauens werden nur Menſchenreſte, keine 
Tierreſte angetroffen, hier in dieſen 
Gegenden finden ſich neben dem Menſchen 
auch die Reſte von beſtatteten Pferden. 
Wer die Bedeutung des Pferdes für die 
dort heute noch lebenden Völkerſchaften 
in Erwägung zieht, wird hierin nichts 
Befremdliches finden. Daß dieſe Sitte 
der Beigabe von Pferden in Begräbnis— 
ſtätten auf eine Verſchiedenheit hindeutet 
zwiſchen den Bevölkerungen von Lithauen 
und Tamanien, erſcheint ſelbſtverſtändlich, 
weitere Schlüſſe aber auf eine eigenartige 
Raſſe u. ſ. w. werden ſich daraus nicht 
ableiten laſſen. Daß die in dieſen Gegen— 
den befindlichen Grabſtätten ſehr oft be— 
raubt gefunden werden, nimmt inſofern 
Wunder, als unter allen Völkern, ins— 
beſondere unter denen, welche mit der 
alten Kulturwelt in Verbindung ſtanden, 
die Heiligkeit und Unantaſtbarkeit der 
Gräber hochgehalten und Frevel in dieſer 
Hinſicht ſchonungslos beſtraft wurde. 
Wenn dennoch hier Beraubungen ſehr häu— 
fig ſind, ſo darf man annehmen, daß 
Plünderung und Raub durch den Wechſel 
der Bevölkerungen, welche Sitten und 
Gewohnheiten der Vorfahren nicht mehr 
achteten, nicht geſcheut wurden. Oft ſind 
die Plünderungen der Kurgane wol eben— 
ſo mühſelig und umſtändlich geweſen, wie 
die Nachgrabungen, welche wir noch heute 
nur mit großen Koſten zu bewerkſtelligen 
im Stande ſind. Wenn man daher alles 


das nicht geſcheut hat, muß man vor— 
ausſetzen, daß das Räuberweſen, ohne 
von der Obrigkeit überwacht zu werden, 
hier ungeſtört ſein Handwerk treiben konnte. 
Der hohe Wert der Funde mochte zu dieſem 
Unweſen ganz beſonders anreizen, iſt doch 
in einer der hier geöffneten Grabſtätten 
ein Fußring aus maſſivem Golde, im 
Gewichte von ¼ Pfund, aufgefunden 
worden, der ſich jetzt im Kaiſerlichen 
Kabinette aufbewahrt findet. Daß die 
hier liegenden Gräber ſchon in der klaſſi— 
ſchen Zeit beraubt wurden, wie uns die 
Herren Autoren andeuten, läßt ſich aus 
oben entwickelten Gründen kaum annehmen. 

Im hohen Grade beachtenswert ſind 
die Spuren, welche auf die Beziehungen 
zur griechiſchen Plaſtik hindeuten. So 
wurden bei Sjenna zwei Grabſteine auf— 
gefunden, deren eines mit der Figur 
eines ſeythiſchen Reiters, der andere mit 
dem Kopfe eines Mannes verziert war. 
Die unteren Teile dieſer Grabſteine 
ſind nicht gefunden worden, ebenſo iſt 
auch das Grab, zu welchem ſie gehört 
haben, nicht entdeckt worden. Wenn uns 
weiter aber hinzugefügt wird, daß es 
wahrſcheinlich iſt, daß das Grab, zu wel— 
chem ſie gehört haben, zerſtört und be— 
raubt und die Steine umhergeworfen 
wurden, ſo läßt ſich die Triftigkeit dieſer 
Bemerkung nicht ermeſſen. Solche Zu— 
ſätze ſind in einem Sammelwerk oft be— 
denklich, fie präbccupiren das Urteil, das 
endgiltig doch nur gefällt werden kann 
durch eine genaue Unterſuchung des That— 
beſtandes und der Umgebung; denn nicht 
überall, wo Bildwerke angetroffen werden, 
hat man an ihren direkten Zuſammenhang 
mit Grabſtätten zu denken. Oft genug 
ſind Bildwerke, die anderen Zwecken 


15 


dienten, um ſie vor Feinden und Räubern 
zu ſchützen, in Grabkammern gerettet und 
hier nur aufbewahrt worden. 

Der nun folgende Abſchnitt iſt den ſog. 
Burg- oder Ringwällen gewidmet. Daß in 
dieſen Stätten nicht immer nur Feſtungen 
oder Verteidigungswerke, ſondern zugleich 
auch altheidniſche Verſammlungsorte und 
Opferſtätten geſucht werden müſſen, darf 
man im Allgemeinen wol mit Recht be— 
haupten. Ob man aber Grund hat, die Ring— 
wälle genauer einzuteilen in Schlöſſer, 
Opferſtätten und Gerichtsſtätten, muß je— 
denfalls (hier geben wir Dr. Szule Recht) 
bezweifelt werden, noch weniger aber hat 
man ein Recht, mit ſeinen Hypotheſen 
noch weiter auszuholen, um hier die Pal— 
ladien für Heiligtümer, Schutzgötter und 
Kriegszeichen zu ſuchen, nach Art der 
altgriechiſchen Akropolen. Die Frage über 
die Bedeutung und den Zweck der Ring— 
wälle iſt noch keineswegs zum Abſchluß 
gekommen, ſie befindet ſich noch in dem— 
ſelben Stadium, wie vor vielen Jah— 
ren — die Frage über den Zweck der 
Pfahlbauten. Mit dieſer Frage ſteht ſie 
ſogar in einem gewiſſen Zuſammenhange. 
Daß ſehr viele Pfahlbauten-Anſiede— 
lungen Verteidigungszwecken dienten, wird 
heute allgemein angenommen. Daß die 
Sitte, zu ſolchem Zweck das Waſſer 
zu benutzen, ſich ſpäterhin ablöſte mit 
jener anderen, ſich hinter Steinwällen 
zu ſchützen und weiterhin Schlöſſer und 
Burgen zu bauen, iſt leicht begreiflich. 
Je mehr man mit Hülfe von Schiffs— 
werkzeugen den Thalbau belagern lernte, 
um ihn alsdann durch Brand zu zerſtören, 
deſto mehr mußte das Pfahlbauweſen in ſich 
hinfällig werden. Viele der ſog. Burg— 
und Ringwälle ſcheinen in der That den 


Literatur und Kritik. 


Übergang von der Waſſerveſte (Pfahlbau) 
zur Steinveſte (Burg), die wir bis tief 
in die hiſtoriſche Zeit hinein antreffen, 
darzuſtellen, doch darf man freilich nicht 
behaupten, daß alle Funde dieſer Art 
dem ganz gleichen Zweck gedient haben. 
Daß das Volk, welches den eigentlichen 
Zweck dieſer Baudenkmale heute nicht mehr 
kennt, dennoch eine Sage hierüber aus— 
gebildet hat, iſt erklärlich, intereſſant nun 
iſt es, daß vielen der Ringwälle jener 
Gegend der Name „Schwedenſchanze“ 
erteilt wird. Der Verfaſſer ſagt in Be— 
zug darauf mit Recht: „Das Gedächtnis 
des Volkes reicht eben gewöhnlich blos 
bis zur letzten großen Kataſtrophe zurück; 
hier die Invaſion der Schweden. Bei 
Dürkheim liegende prähiſtoriſche Wohn— 
ſtätten werden von den Landleuten als 


ein „franzöſiſches Barackenlager“ bezeich- 


net. Es iſt ſonſt nicht bekannt, daß an 
dieſem Punkte franzöſiſche Truppen ſich 
aufhielten; allein die Phantaſie des Volkes 
ſubſummirt alle möglichen Denkmäler den 
Erinnerungen der Jüngſtvergangenheit. 
Es iſt dies eine rückläufige Sagenbildung. 
Dieſer Ausdruck „rückläufige Sagenbil— 
dung“ nimmt ſich ſonderbar aus und iſt 
mythologiſch ſchwerlich ſtatthaft. Der Fort— 
gang und die Entwicklung jedes Mythus 
kennt eben eine ganze beſtimmte Phaſe, 
innerhalb der mit der Wurzel fälſchliche 
Hiſtoriſirungen vorgenommen werden. 
Wir haben alſo in dieſen Wendungen 
keine eigentümliche Sagenbildung, ſon— 
dern einen ganz beſtimmten Prozeß al— 
ler Sagenbildung überhaupt vor uns.“) 
Das dritte Kapitel iſt nun der anthro— 
pologiſchen Schädellehre gewidmet. Die 
N) S. Caspari, „Die Urgeſchichte der 
Menſchheit“, 2. Aufl., Bd. II, S. 243 ff. 


Literatur und Kritik. 


Herren Autoren haben ſich augenſchein— 
lich bemüht, hier ſo exakt wie möglich 
zu verfahren. Alle Zahlenbeſtimmungen 
und Meſſungen finden ſich im Hinblick 
auf hervorragende Craniologen in beſon— 
deren Vergleichstabellen überſichtlich zu— 
ſammengeſtellt. Wenn das gewonnene 
Reſultat dem Aufwand von Mühe hier 
nicht entſpricht, ſo liegt das, wie heute 
wohl mehr und mehr erkannt wird, an 
der Unfertigkeit der craniologiſchen Wiſ— 
ſenſchaft. Die Craniologie überhaupt iſt 
weit davon entfernt, mehr als bloße, 
vage Anhaltepunkte zu liefern. Die Reihe 
der Momente, die von den verſchieden— 
ſten Seiten zuſammenkommen müſſen, um 
ethnologiſch ſichere Beſtimmungen zu lie— 
fern, iſt zu groß, als daß man der Cra— 
niologie und ihren zum Teil unſicheren 
Ergebniſſen allein folgen könnte. 

Als viertes und letztes Kapitel finden 
ſich eine Reihe von archäologiſchen Ein— 
zelobjekten behandelt, die ſich dem Syſtem, 
das von den Autoren zur Darſtellung 
gewählt wurde, nicht völlig einfügen 
ließen. — Der Raum verbietet uns, die— 
ſelben hier einzeln zu betrachten, und ſo 
beſchränken wir uns darauf, dieſelben 
hier nur zu erwähnen. Es ſind Blei— 
plättchen, welche im Bug gefunden wur— 
den, auf denen ſich Geſichte und Zeichen 
befinden, die heute noch ihrer Deutung 


harren, ferner eine eiſerne Lanzenſpitze 
und Steine mit Runenſchrift; ſteinerne 
Frauen, welche in Rußland und Galizien 


gefunden worden ſind; zufällige Funde 
in Kaliſch und Umgegend, Funde am 
Gogloſee; der Michalkower Schatz, Funde 
bei Slaboszewo 2c., endlich vorhiſtoriſche 
Gräber bei Czekonow und Niwiadoma in 


Polen. — Hieran ſchließt ſich noch ein 


87 


Anhang über Einzelfunde, welche ſich in 
der „Zeitſchrift für Ethnologie“ nieder— 
gelegt finden; ein dem Werke beigegebe— 
nes Sachregiſter vervollſtändigt das Ganze. 
Blicken wir zurück auf die Summe der 
hier aufgebotenen Arbeit, ſo müſſen wir 
den Herren Verfaſſern unſere Anerken— 
nung zollen für den großen Fleiß, mit 
dem ſie ſachlich unparteiiſch alles ſam— 
melten, was für die hier behandelten 
Terrains von anthropologiſchem und ethno— 
logiſchem Intereſſe war. Es fehlt frei— 
lich noch viel, bevor wir uns ein mög— 
lichſt richtiges Bild über die Ein- und 
Auswanderungen und die wichtigſten 
Sitten und Gewohnheiten der Völker— 
ſtämme eben jener Gegenden machen 
können, aber zugeſtanden muß werden, 
daß durch den uns gelieferten Einblick 
der ſehr dunkle Schleier ſich inſofern ein 
wenig gelüftet hat, als uns bezüglich einer 
Reihe von Anhaltepunkten doch die Grund— 
linien erkennbar werden, auf denen ſich 
das prähiſtoriſche Leben des europäiſchen 
Oſtens entwickelte. Für dieſen uns ge— 
lieferten erſten Geſammteinblick und flüch— 
tigen Ueberblick müſſen wir den Herren 
Verfaſſern in jeder Weiſe dankbar fein. 
Heidelberg. O. Caspari. 


Allgemeine Zoologie oder Grund— 
geſetze des tieriſchen Baues und 
Lebens. Von H. Alexander Pa— 
genſtecher. Erſter bis dritter Teil. 
Mit 433 Textabbildungen. Berlin, 
Wiegandt, Hempel und Parey. 

Für unſre Zeit, in welcher die Zoologie 
gleich allen andern Naturwiſſenſchaften 
ſo ins Breite gegangen iſt, daß nicht nur 
der Laie, ſondern auch der auf einem Spe- 


N 


88 


zialfelde beſchäftigte Forſcher fürchten muß, | 


den Überblick zu verlieren, muß ein Werk, 
wie das in den vorliegenden Bänden be— 
gonnene als geradezu unſchätzbar bezeich— 
net werden, und zwar für Lehrer ſowohl 
als für Lernende. Gewiß war es nicht 
leicht, in unſerer Zeit der Gährung und 
Parteiſpaltung auf biologiſchem Gebiete 
eine ſolche Arbeit in Angriff zu nehmen; 
daß ſich der Verfaſſer durch dieſe, die 
innern vermehrenden äußern Schwierig— 
keiten nicht hat zurückſchrecken laſſen, 
müſſen wir um ſo dankbarer anerkennen. 
Auch hat er nach unſerem Bedünken, 
wenn auch nicht mit völliger Parteiloſig— 
keit, ſo doch mit einem ſeltenen Grade 
derſelben, die widerſtreitenden Anſichten 
und Meinungen verglichen, und jeder, 
ſo gut es ihm möglich war, ihr Recht 
widerfahren laſſen. In der Darſtellung 
iſt dem Hiſtoriſchen ein bedeutender Raum 
gewidmet, und dies erſcheint uns an einem 
ſolchen Werke ein bedeutender, fernerer 
Vorzug: man erfährt nicht nur das That— 
ſächliche, ſondern auch wie es im Ringen 


der Geiſter erkannt und bewährt wor 


den iſt. 

Der erſte, ſchon 1875 erſchienene Band 
beginnt mit einleitenden Betrachtungen 
über die Grundſätze und Geſchichte der 


Literatur und Kritik. » 


Naturerkenntnis, geht ſodann zur Be⸗ 
trachtung der allgemeinen Eigenſchaften 
tieriſcher Körper (einfache Beſtandteile, 
Form und Aufbau der tieriſchen Körper, 
Individualität und Pleomorphie) über, 
und ſchließt mit einer Darſtellung der 
Klaſſifikation und Lehre von der Art, 
immer von hiſtoriſchen Geſichtspunkten 
ausgehend und die nebeneinander her— 
gehenden Meinungen berückſichtigend. Der 
zweite 1877 erſchienene Band zeigt, wie 
dem Verfaſſer mit der Fortführung des 
Werkes die Luſt an demſelben gewachſen 
iſt, denn er behandelt auf 528 Seiten 
lediglich die Nahrungsaufnahme und Ver— 
dauung in vergleichender Darſtellung, und 
zwar ſind dieſe Gegenſtände ſo durchſich— 
tig behandelt, daß ſelbſt der Laie dem 


Verfaſſer bequem folgen kann, wie dies 


in ähnlichen Werken nur ſelten der Fall 
zu ſein pflegt. Dasſelbe gilt von dem 
dritten 1878 erſchienenen Teil, der auf 
419 Seiten die Atmung und Stimm— 
bildung behandelt. Wir können dem wohl— 
geplanten, vorzüglich ausgeführten und 
ausgeſtatteten Werke nur unſre volle An— 
erkennung zollen und wünſchen, daß es 


dem Verfaſſer bald vergönnt ſein möge, 


dieſes Denkmal deutſchen Fleißes durch 
den Schlußband zu krönen. K. 


Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig. 


Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


Von 


Moritz Wagner. 


Bu zeorg Seidlitz hat gegen 
ö X die Theorie der Artbildung 
durch Abſonderung, für de- 
ren Richtigkeit die vorherr— 
ſchend kettenförmige Vertei— 
lung der nächſtverwandten Speziesformen 
auf Kontinenten und Inſeln allein ſchon 
einen unwiderlegbaren Beweis liefert, die 
vielbekannte Erſcheinung der Mimiery 
ins Treffen geführt. Die Migrations- 
theorie, meint Seidlitz, vermöge die 
Nachahmung oder „Ausrüſtung“, 
wie er die Erſcheinung nicht eben glück— 
lich benennt, das „ganze Heer ſchützen— 
der Ahnlichkeiten“, welche zwiſchen ſo 
vielen Tieren und den Pflanzen, auf denen 
ſie leben, unzweifelhaft beſteht, nicht zu 
erklären, während die Darwinſche Selek— 
tionstheorie nach der Meinung des Herrn 
Seidlitz für dieſe Erſcheinung eine ganz 
befriedigende Erklärung darbieten ſoll. 
In Wirklichkeit verhält ſich aber die 


Sache gerade umgekehrt. Prüft man alle 


Die Alimicry. 


| Umftände, unter welchen die zahlloſen 


Fälle von „Mimiery“ vorkommen, ge— 
nau und unbefangen, ſo erkennt man 
vielmehr die ungeheure Unwahr— 
ſcheinlichkeit ihrer Entſtehung durch 
eine Ausleſe im Kampfe ums Daſein, wäh— 
rend zahlreiche Thatſachen für ihre Ent— 
ſtehung durch einfachen Standortswechſel 
der Tiere ein beredtes Zeugnis liefern. 

Selbſt unter den Forſchern, welche 
feſt an die Richtigkeit der Descendenz— 
theorie glauben und den Werken Dar— 
wins den vollen Tribut ihrer Bewun— 
derung zollen, haben einige gegen die 
Erklärung der Mimiery durch bloße Zucht— 
wahl ſtarke Bedenken ausgeſprochen. Schon 
die Entſtehung der erſten ihrer Futter 
pflanze täuſchend ähnlichen Tiervarietät 
würde, wie Lange richtig bemerkt, nach 
der Selektionstheorie ſchwierig zu erklä- 
ren ſein und noch viel ſchwieriger die 
häufige Wiederholung ähnlicher Fälle. 
Der erfahrene britiſche Entomologe Ben- 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 


12 


90 


net hat in einem zu Liverpool gehalte— 
nen geiſtvollen Vortrage, worin er all 
ſeine Bedenken gegen die Darwinſche 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


Zuchtwahllehre zuſammenfaßte, ſehr gut 
nachgewieſen: daß die übereinſtimmende 


Ahnlichkeit vieler Inſekten mit den Zwei— 
gen oder Blättern der Pflanzen, von 
denen ſie ſich nähren, mit der Farbe 
und Form der Baumrinde oder der ab— 
gefallenen dürren Blätter des Waldes, 
auf denen ſie kriechen oder ruhend ſitzen, 
mit der Färbung und Zeichnung der 


Blumen, auf denen ſie ſich vorzugsweiſe 


niederlaſſen, und ſelbſt mit den anorga— 
niſchen Beſtandteilen des Bodens, auf 
dem ſie ſich aufhalten, oft durch eine 
ganze Reihe täuſchender Züge ſtattfindet, 
welche den Beobachter in das größte 
Erſtaunen ſetzen. 

Bis durch bloßen Zufall der ſpontan 
entſtehenden Variation, die ja der Natur 
der Sache nach auch in jeder andern, 
alſo auch nicht paſſenden Richtung er— 
folgen könnte und durch die mit ihr 
operirende Zuchtwahl Formenanpaſſungen, 
Farbennuancen, Zeichnungsſtriche u. ſ. w. 


ſich ſo übereinſtimmend zuſammenfinden, 
wie man ſie in der Natur zwiſchen den 
Inſekten und den Pflanzen ihres Stand- 


ortes ſo oft findet, müßte, wie Bennet 


mit Recht bemerkt und wie auch Lange 


mit Nachdruck hervorhebt: „eine ſolche 
Kulmination von günſtigen Zufällen er— 
forderlich ſein, daß die Wahrſcheinlich— 


keitszahlen dafür geradezu ins ungeheure 


führen würden.“ 

Die unter vielen Schmetterlingen, 
Käfern und vorzüglich ihren Larven vor— 
kommenden täuſchenden Ahnlichkeiten be— 
ſonders hinſichtlich der Farbe und oft 


auch der Form mit den Stämmen, Zwei— 


fallendes, rätſelhaftes Phänomen die En- 
die Diskuſſion der Darwinſchen Theorien 


Mimiery (Nachäfferei) viele neue Bei— 
träge erbrachte und ehe dieſelbe mit an— 


gen, Blättern oder Blüten der Pflanzen, 
auf denen ſie leben, und ſelbſt mit den 
Erdklümpchen, dem Sand oder Geſteine 
des Bodens, auf dem ſie mit Vorliebe 
ruhend ſitzen, ja ſelbſt mit den Exkre— 
menten anderer Tiere, hatten als ein auf— 


tomologen ſchon lange beſchäftigt, bevor 
zu dieſer Erſcheinung mit der Benennung 
dern Erſcheinungen bei der Frage nach 


den Urſachen der Entſtehung der Arten 
wiſſenſchaftlich verwertet wurde. 


Der Verfaſſer dieſes Aufſatzes er⸗ 


innert ſich aus feinen Jugendjahren noch 
lebhaft der Geſpräche, die er darüber 
mit Dr. Karl Küſter in Erlangen und 
mit andern entomologiſchen Freunden in 
München und Augsburg führte. Uns 
fehlte damals freilich der hellſtrahlende 
Leuchtturm, welchen erſt viel ſpäter das 
Darwinſche Buch: „Über den Urſprung 
der Arten“ aufgerichtet hat, indem es 
die beiden Grundurſachen jeder Form— 
bildung: die individuelle Variabilität und 
die Vererbungsfähigkeit angeborner und 
erworbener perſönlicher Merkmale uns 
licht und klar vor die Augen brachte. 
Doch über die eigentliche Urſache des 


ſeltſamen Ahnelns fo vieler Inſekten mit 


den Pflanzen, auf denen ſie leben, hatte 
ich ſchon damals nahezu dieſelbe Ver— 
mutung, die ſpäter zur feſten Überzeugung 
wurde, nachdem den entomologiſchen Be— 
obachtungen der Heimat ein vieljähriges 
Sammlerleben in außereuropäiſchen Län— 
dern gefolgt war. 

Die Erſcheinung der Mimiery halte 
ich für die einfache Folge des allen 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


Tieren angebornen Schutztriebes, der 
ſie in dem Suchen und der Wahl eines 
paſſenden Standorts oder ſichern Ver— 
ſtecks mit richtigem Inſtinkt leitet. Auch 
die niederen Tiere haben ein Bewußt— 
ſein oder doch eine dunkle Ahnung der 
ihre Exiſtenz bedrohenden Gefahren; ſie 
ſuchen ihnen auszuweichen und ſind ſtets 
auf ihrer Hut. Viele Käfer laſſen ſich 
vom Zweige fallen und ſtellen ſich tot, 
wenn eine Menſchenhand oder ein Vogel 
ihnen naht. Der Schmetterling, der noch 
kurz zuvor als Puppe unbeweglich ruhte, 
weiß die Flügel ſogleich zur Flucht zu 
benützen und nach einem Standort zu 
fliehen, der ihm Sicherheit zu bieten 
ſcheint. Kein Inſekt macht klügere Ma— 
növer, um dem Auge und der verfol— 
genden Hand ihres Hauptfeindes, des 
Menſchen, zu entgehen, als die Bett— 
wanze, deren Schlauheit geradezu Er— 
ſtaunen erregt. Während ſie bei ange— 
zündetem Licht auf das hurtigſte davon— 
läuft und ſich verſteckt, bleibt ſie bei 
anbrechender Morgendämmerung weder 
im Bettkiſſen noch in der Leibwäſche des 
Schläfers, ſondern ſucht die Riſſe, Löcher 
und Lücken des hölzernen Bettgeſtelles, 
der Wandtapeten oder Bilderrahmen auf, 
zu denen ihre Farbe oder Form paßt, 
und wo ſie nicht leicht bemerkt wird. 
Die Larven zahlreicher Inſekten machen 
es ähnlich, um ſich durch ein paſſendes 
Verſteck gegen die Verfolgungen der Vö— 


gel, der Ichneumoniden oder anderer 


Feinde zu ſchützen, und es kommen da— 


bei oft die merkwürdigſten Fälle von 


Mimiery zu ſtande. 

Jeder Lepidopterologe kennt die Raupe 
einer unſerer gemeinſten Bandphalänen, 
Catocala nupta, und weiß, wie ſchwer 


91 


es ſeinem ſuchenden Auge geworden und 


wie vieljährige Übung dazu gehörte, die 


Raupe dieſes Nachtfalters, welche am Tage 
gewöhnlich zwiſchen den Riſſen und Run— 
zeln der Rinde alter Weidenſtämme ſitzt, 
von dieſen zu unterſcheiden. Die Raupe 
imitirt nämlich in Form und Farbe ihres 
ganzen Baues, in allen Einzelnheiten 
ihrer Glieder die Rinde alter Baumſtämme 
ſo vollkommen, daß die weniger geübten 
Augen unſerer Begleiter, auch wenn wir 
nahezu auf die Stelle hindeuteten, wo 
die Raupe ſaß, dieſe doch oft nicht zu 
bemerken vermochten. Dieſer ausgezeich— 
nete Fall von Miniery findet hier aber 
nur am Tage ſtatt, wo die Raupe der 
Catocala nupta durch die inſektenfreſſen⸗ 
den Vögel größeren Gefahren ausgeſetzt 
iſt, als bei Nacht. Mit einbrechender 
Dunkelheit tritt dieſelbe regelmäßig ihre 
Wanderung aufwärts an und beſucht die 
Zweige und Blätter des alten Weiden— 
baumes zu ihrem Fraße, um dann ge— 
gen Anbruch des Morgens regelmäßig 
wieder herabzuſteigen, und in einer ihr 
ähnelnden Runzel der Stammrinde un— 
bemerkt und ſicher zu ruhen. 

Hier erkennen wir vor unſern Augen 
ein frappantes Beiſpiel, wie die ſchützende 
Ahnlichkeit zwiſchen dem Tier und ſei— 
nem Standort nur durch die täglich 
wiederholte Wanderung einer Raupe her— 
vorgebracht wird. Wenn dieſelben auch 
am Tage auf den grünen Zweigen des 
Baumwipfels ſitzen bliebe, dann fände 
ſie dort keinen Schutz und es würde dann 
auch gar keine „Mimiery“ vorhanden ſein. 

Die auf der Dornſchlehe lebende 
Raupe der ſchönen gelben Bandphaläne 

Catocala paranympha iſt ein noch 

auffallenderes Beiſpiel von ſchützender 


——— 


92 


Ahnlichkeit. Durch ihre Farbe und Form 
und beſonders durch den dornähnlichen 
Zapfen auf ihrem Rücken ſieht dieſelbe 
dem Zweige ihrer Futterpflanze höchſt 
täuſchend ähnlich und bleibt daher auch 
am Tage auf den Zweigen ſitzen, ohne 
mit jeder Morgendämmerung, wie die 
obengenannte Raupe einer verwandten 
Art, eine Wanderung nach dem Stamm 
anzutreten. Obgleich die Raupe von G. 
paranympha auch das Laub verſchiedener 
Obſtbäume verzehrt, ſo legt doch der 
Nachtfalter, wenn Dornſchlehen in der 
Nähe ſind, ſeine Eier in der Regel nur 
auf dieſe. Der vererbte Erhaltungstrieb 
leitet alſo den Schmetterling faſt immer 
zur richtigen Wahl der ſeine Larve er— 
nährenden und zugleich ſchützenden Pflanze. 
Zu ſeiner eigenen Sicherheit wählt jedoch 
derſelbe Nachtfalter während der Tages— 
ruhe einen ganz anderen Aufenthalt. Man 
ſieht ihn ſtets mit verſteckten Hinterflü— 
geln an alten Baumſtämmen von Wei— 
den, Eichen, Linden u. ſ. w. ſitzen, wo 
dieſer Zufluchtsort zur Farbe und Zeich— 
nung ſeiner Vorderflügel paßt und ihn 
ſchwer erkenntlich macht. 
Einen beſonders merkwürdigen Be— 
weisfall, wie die Mimiery lediglich durch 
Ligration und bewußte Wahl des Stand— 
orts bei unſeren Nachtſchmetterlingen ent— 
ſteht, lieferte uns vor vielen Jahren die 
ſogenannte Dammallee am Lechufer bei 
Augsburg, welche ich als Fundort man— 
cher ſchönen Phalänenarten mit andern 
entomologiſchen Sammlern oft zu beſu— 


chen pflegte. An den Stämmen der alten 
Weidenbäume, mit welchen der Lechdamm 
beſtanden, hielten ſich mit Vorliebe ver- 


ſchiedene Noctuen mit grauen oder bräun— 
lichen Oberflügeln, darunter beſonders die 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


Bandphaläne Catocala electa auf. In 
der Nähe wurde einſt in ausgedehntem 
Umfang der Bretterzaun einer Wieſe auf— 
geſchlagen, welche der Beſitzer zu einer 
Bleiche beſtimmte. So lange der neue 
Zaun die friſche Farbe des Holzes hatte, 
war er von dieſen Phalänen gemieden. 
Als derſelbe aber mit der Zeit eine wet— 
tergraue Farbe bekam, ſetzten ſich all— 
mählich auch viele Nachtſchmetterlinge auf 
denſelben, doch gewöhnlich nur ſolche, die 
wie die genannte Bandphaläne oder wie 
gewiſſe Arten der Gattung Cucullia eine 
graue Färbung der Vorderflügel hatten und 


der grauen Bretterwand ähnlicher ſahen, 


als der Farbe der nächſten Baumſtämme. 

Eine analoge Mimiery, welche in ein: 
fachſter Weiſe durch den Inſtinkt des 
Schutzes und der Selbſterhaltung her— 
vorgebracht wird, läßt ſich auf unſern 
Alpenwieſen beobachten, wo mehr Blu— 
men verſchiedener Farben gemiſcht durch— 
einander ſtehen, als auf den Wieſen der 
Ebene. Betrachtet man dort die zahlreichen 
gelben Tagfalter der Gattung Colias, die 
weißen Falter der Gattung Pontia, ſo 
ſieht man ſie im Sonnenſchein des Tages 
auf den verſchiedenſten Blumen ſich nieder— 
laſſen, weil die ungemeine Schnelligkeit 
ihres Fluges ſie gegen die Verfolgung der 
Vögel hinreichend ſchützt. Dagegen bemerkt 
man bei einbrechender Abenddämmerung 
die verſchieden gefärbten Arten vorzugs- 
weiſe diejenigen Blumenkronen aufſuchen, 
die mit ihrer Farbe übereinſtimmen. Die 
dunkelgefärbten Tagfalter, z. B. die Arten 
der Gattung Hipparchia, laſſen ſich dagegen 
vorzugsweiſe im Wald auf düſter gefärbten 
Standorten, wie Baumſtämmen oder 
Felſen, mit geſchloſſenen Flügeln nieder 
und finden hier den beſtmöglichen Schutz. 


a 


1 


Ein beſtätigendes Experiment für diefe 
„Mimiery“ kann man in jeder Kammer 
anſtellen, deren Wände mit Decken ver— 
ſchiedener Farbe behängt ſind. Läßt man 
daſelbſt die verſchieden gefärbten Tag- oder 
Nachtfalter, die aus der Puppe gekrochen, 
fliegen, ſo wird man bemerken, daß der 
mit geſchloſſenen Flügeln ruhende Falter 
in der Regel diejenige Wanddecke aufſucht, 
welche mit ſeiner Farbe übereinſtimmt. 

Unter den Raupen gewährt beſonders 
die artenreiche Familie der Spanner (Geo- 
metridae) ungemein viele Beiſpiele von 
überraſchender Mimiery, d. h. Überein⸗ 
ſtimmung von Form und Farbe dieſer 
Spannerraupen mit den Zweigen und 
Blättern der Bäume, auf denen ſie leben 
und die der leitende Inſtinkt der Selbit- 
erhaltung ſie finden ließ. Auch aus den 
übrigen Ordnungen der Inſekten, den Co- 
leopteren, Hemipteren, Orthopteren u. ſ. w. 
laſſen ſich im freien Naturleben tauſende 
von Fällen nachweiſen, wo die ſchützende 
Ahnlichkeit zwiſchen dem Inſekt und der 
Pflanze in augenſcheinlicher Weiſe durch 
aktive Zuwanderung und Schutzaufent⸗ 
halt des erſteren hervorgebracht wurde. 

Jeder Käferſammler, welcher die Kü— 
ſtenländer Nordafrikas beſucht und die dort 
ſo eigentümlichen, individuenreichen Arten 
der merkwürdigen Gattung Sepidium beob— 
achtet hat, wird mit Verwunderung bemer— 
ken, wie dieſe auf nackter oder nur mit dürf— 
tiger Vegetation bedeckter Erde vorkom— 
menden ſchwerfälligen Käfer, welche bei 
ihrer geringen Lokomotionsfähigkeit ihren 
Feinden fo leicht zum Opfer fallen wür— 
den, den Erdklümpchen des Bodens meiſt 
täuſchend ähnlich ſehen und daher faſt 
immer pflanzenloſe Stellen zu ihrem 
Standort aufſuchen. Die nordafrikaniſchen 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


93 


Rüſſelkäfer der Gattung Brachycerus, die 
beſonders in Kleinaſien und Armenien ſo 
artenreichen Bockkäfer der Gattung Dor- 


cadion, welche durch geſchloſſene Flügel— 


decken zum Fluge unfähig ſind, ſuchen 
ſich ebenſo zu ſchützen, indem ſie auf 
Erde, Sand oder Steinen ſitzen, die ihrer 
Farbe genau entſprechen. 

Selbſt das geübteſte Auge des Samm— 
lers unterſcheidet den am ſüdlichen Abhang 
des Kaukaſus und in den Waldgegenden 
Georgiens vorkommenden, eigentümlich ge— 
formten Laufkäfer Carabus septemcari- 
natus nur äußerſt ſchwer von den dür- 
ren Blättern und den modernden herab— 
gefallenen Baumäſten, unter denen er 
ſich aufzuhalten pflegt. Viel bekannt durch 
ſeine Ahnlichkeit mit einem dürren Blatt 
iſt Mormolyce phyllodes auf Java, ein 
äußerſt bizarr geſtalteter Käfer, der dort 
im Waldboden in Höhen von 2000 — 30007 
neben faulen Blättern ſeinen Aufenthalt 
in inſtinktiver Vorſicht wählt. Die imi- 
tirende Ahnlichkeit vieler Orthopteren der 
Tropenzone, worunter beſonders Arten 
der Familie der Phasmiden oder Ge— 
ſpenſtheuſchrecken und der Mantiden oder 
Hangheuſchrecken, mit den Zweigen, Blät⸗ 
tern und ſelbſt Stacheln der Pflanzen, die 
ſie vorzugsweiſe bewohnen, in Bezug auf 
Form, Zeichnung, Farbe u. ſ. w. iſt 
oft höchſt überraſchend. Doch mindert 
ſich die Verwunderung über dieſe häu— 
figen Beiſpiele von „Mimiery“ gar ſehr, 
wenn man bedenkt, wie unendlich man⸗ 
nigfaltig gerade in der Tropenzone die 
Formen und Farben der Pflanzenwelt und 
neben ihnen der Inſekten ſind, und wie 
wenig ſchwer es nicht nur den exiſtiren— 
den Inſektenarten, ſondern auch ihren von 
Zeit zu Zeit ſpontan entſtehenden indivi— 


94 


duellen abnormen Varietäten wird, unter 
dieſen zahlloſen, verſchiedenartigen Pflan— 
zen diejenigen ähnelnden Formen und Far— 
ben zu finden und auf denſelben ſich vor— 
zugsweiſe aufzuhalten, welche ihnen gegen 
Verfolger Schutz durch Ahnlichkeit oder 
gutes Verſteck gewähren. 

Daß aus inneren (phyſiologiſchen) 
Urſachen, die ganz unabhängig von den 
äußeren Verhältniſſen ſind, Individuen, 
welche in ihren morphologiſchen Merk— 
malen vom normalen Typus ihrer Stamm: 
art ungewöhnlich ſtark abweichen, be— 
ſonders unter den ſehr fruchtbaren Arten 
zuweilen auftreten, iſt eine unbeſtrittene 
Thatſache. Es iſt ebenſo begreiflich und 
natürlich, daß ſolche ſtark abnorme In⸗ 
dividuen, vom Inſtinkt der Selbſterhal— 
tung getrieben, teils um den Gefahren 
zu entgehen, die ihnen eine auffallende 
Farbe oder Form bringt, teils um den 
Neckereien ihrer normalen Artgenoſſen ſich 
zu entziehen, verhältnismäßig leichter 
und öfter dazu kommen, auf einem an- 
dern Boden, auf andern Pflanzen als 
die Futterpflanze der Stammart, einen 
ihrer Variation entſprechenden neuen 
Standort zu ſuchen. 

Um einem ſonderbaren Mißverſtänd— 
niſſe zu begegnen, welches ſich Johan— 
nes Huber und ihm nachredend Georg 
Seidlitz zu ſchulden kommen ließen, be— 
tone ich hier ausdrücklich das Wort „ver— 
hältnismäßig“. Die abſolute Zahl 
normaler oder vom Durchſchnittstypus 
der Stammart nur ſehr wenig differiren— 
der Emigranten, welche ſich vom Wohngebiet 
der Stammart abſondern, muß ſelbſtver— 
ſtändlich ſehr viel größer ſein als die Zahl 
ſehr abnormer Emigranten, die ja über— 
haupt immer nur ſelten als ſpontane 


Varietäten unter der Individuenmaſſe der 
Stammart auftreten. Bei ganz normalen 
oder mit nur ſehr geringer individueller 
Abweichung ausgeſtatteten Emigranten 
kann nur der größere oder geringere Grad 
von Verſchiedenheit der äußeren Lebens— 
bedingungen des neuen Standorts im Ver— 
gleich mit dem früheren Areal für die 
Bildung wenig abweichender Spezies oder 
lokaler Varietäten maßgebend ſein. Emi— 
granten von ſtärkerer individueller Abwei— 
chung werden die Formveränderungen ſtei— 
gern und bei genügender Dauer der Iſo— 
lirung ſtets „gute“ Arten ausprägen. 
Sehr abnorme Individuen, die räumlich 
ſich abſondernd der Kreuzung ſich ent— 
ziehen, müſſen, beſonders wenn ſie durch 
günſtigen Zufall ihre iſolirte Kolonie an 
einem Standort mit ſtark differirenden 
äußeren Lebensbedingungen gründen, not— 
wendig zu einer noch größeren morpholo— 
giſchen Differenzirung führen, aus welcher 
ſelbſt neue Gattungen hervorgehen können. 

Hier will ich auch eine beſonders 
merkwürdige, von verſchiedenen Samm— 
lern und Beobachtern des Tierlebens der 
Tropenzone, namentlich von Bates und 
Wallace gut beſchriebene Erſcheinung 
erwähnen. Gewiſſen Formengruppen von 
Schmetterlingen, welche wegen ihres wi— 
derlichen Geſchmackes oder Geruches von 
verfolgenden Vögeln gemieden werden, 
haben ſich ähnlich gefärbte Schmetter— 
linge, die aber ganz anderen Gattungen 
angehören, zugeſellt und halten ſich zu 
ihrem Schutze vorzugsweiſe unter ihnen 
auf. Mit der Darwinſchen Zuchtwahl— 
lehre und dem Kampf ums Daſein als 
Hauptfaktor der Formbildung würde die— 
fer hochintereſſante Fall von Mimiery 
nur eine ſehr gezwungene und unwahr— 


Ei ea: 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


ſcheinliche Erklärung zulaſſen. Mit der 
Separationstheorie erklärt ſich dagegen 
die Erſcheinung auf eine ſehr einfache 
und natürliche Weiſe. Abnorme, in Farbe 
oder Zeichnung von ihren Stammarten 
ſtärker als gewöhnlich abweichende In— 
dividuen haben ſich von dieſen abgeſon— 
dert und einer andern Formengruppe von 
Schmetterlingen zugeſellt, zu der ihre 
individuelle Variation beſſer paßt. Der 
allen Tieren angeborene Schutz- und Er— 
haltungstrieb dieſer variirenden Indivi— 
duen hat damit in doppelter Weiſe ſei— 
nen Zweck oder — wenn man lieber 
das Baerſche Wort wählen will — 
ſeine „Zielſtrebigkeit“ erreicht. Die 
Emigranten haben in der neuen Geſell— 
ſchaft von Schmetterlingen anderer Gat— 


Zeichnung Ahnlichkeit hatte und die ſie 
von Vögeln unbeläſtigt ſahen, beſſeren 
Schutz gefunden und durch lokale Ab— 
ſonderung von der normalen Stammart, 
indem ſie dem abſorbirenden Einfluß der 
Kreuzung ſich entzogen, zugleich ihre in— 


entwickelt und fixirt. 

Eine andere höchſt lehrreiche Beob— 
achtung von ausgezeichneter Mimiery 
verdanken wir der wiſſenſchaftlichen Welt— 
expedition der engliſchen Korvette Chal— 
lenger. Dieſelbe ſcheint uns mehr als 
irgend eine andere geeignet, auf die Ur— 
ſache der merkwürdigen Erſcheinung ein 
helles Schlaglicht zu werfen. Von die— 
ſer Expedition wurde zuerſt die Fauna 
der Tanginſeln des Sargaſſomeeres ge— 
nauer unterſucht. In dieſem Meer ſehen 
wir den aus zahlloſen ſchwimmenden 
Pflanzeninſeln des Sargassum bacciferum 


dividuellen Merkmale ungehindert fort- 
dition, welche 1875 die äußerſt merk— 


inſeln gefunden. 
tungen, mit denen aber ihre Farbe und 


95 


Atlantiſchen Ozean zwiſchen 22 und 26° 
N. B. an der verhältnismäßig ruhigen 
Stelle liegt, die ſüdlich von dem großen 
Aquatorialſtrom begrenzt iſt, nördlich und 
weſtlich vom Golfſtrom und öſtlich vom 
Guineaſtrom, der ſüdwärts fließt. Die 
gefiederten Zweige dieſer olivenfarbigen 
Alge erreichen mitunter eine Länge von 
300 Metern und ſitzen an dicken, durch 
runde Luftgefäße über dem Waſſer ge— 
haltenen Stielen. 

Die wahrſcheinliche Stammpflanze 
dieſer ſchwimmenden Alge, welche von 
dieſer nur wenig abweicht, hat Agardt 
auf den Klippen von Neufundland ent— 
deckt. Später wurde eine ganz nahe ver— 
wandte Form auch auf den Bermuda— 
Von den Zeiten des 
Columbus bis auf den heutigen Tag 
hat die fließende Alge des Sargaſſo— 
archipels, welcher der große Entdecker 
ihren Namen gab, die Aufmerkſamkeit 
und das Intereſſe aller wiſſenſchaftlichen 
Reiſenden, die jene Stelle des Ozeans 
berührten, auf ſich gezogen. 

Die Zoologen der Challenger-Expe— 


würdige Fauna des Sargaſſoarchipels in 


eingehender Weiſe unterſuchten, haben 


gefunden, daß dieſelbe aus Arten beſteht, 
welche fait ſämmtlich dieſen Pflanzen— 
inſeln eigen ſind — eine Thatſache, welche 
die formbildende Wirkung der Migration 
und Iſolirung glänzend beſtätigt. Frap— 
pantere Beiſpiele von Mimiery, als ſie 
dort vorkommen, laſſen ſich kaum ir— 
gendwo nachweiſen. Faſt alle Tiere die— 
ſer Algeninſeln imitiren in der Form 
und noch mehr in der Farbe ihre ſchwim— 
mende Heimat. Ein goldenes Olivenfarb' 
herrſcht unter dem Olivengrün aller Schat- 


3 Archipel, welcher im nördlichen 


4 


tirungen der treibenden Algenmaſſen vor 
und dieſelbe Farbe iſt auch faſt ſämmt— 
lichen Mollusken, Kruſtern und kleinen 
Fiſchen eigen, welche ſie bewohnen. Uns 
ter dieſen ſelbſt bemerkt man wieder 
zahlreiche geringere oder ſtärkere lokale 
Varietäten und auch ſie legen ein ſchla— 
gendes Zeugnis für den verändernden 
Einfluß der Iſolirung ab. Auch der Schutz— 
trieb, der die individuellen Varietäten 
drängt, vorzugsweiſe diejenigen Farben— 
nuancen der auch unter ſich viel vari— 
irenden Algen aufzuſuchen, welche ihrer 
eigenen Farbe am meiſten entſprechen 
und ſie daher am beſten ſchützen, deutet 
klar auf die einfache Urſache dieſer ſchüz— 
zenden Mimiery hin. 

Nautilograpsus minutus iſt der Name 
einer dort vorkommenden eigentümlichen 
kleine Krabbe, welche in zahlloſen In— 
dividuen auf den Algenbüſchen ſchwärmt 
und von einer Inſel zur andern über— 
geht. „Es iſt ſonderbar — heißt es im 
zoologifchen Bericht des Challenger — 
zu ſehen, wie dieſes kleine, ſtark vari— 
irende Geſchöpf in der Farbe meiſt mit 
dem Gegenſtand correſpondirt, den es ge— 
rade bewohnt.“ Neben dieſer Krabbe iſt 
eine kleine, muſchelloſe Molluske Scillaea 
pelagica ein faſt ebenſo häufiger Be— 
wohner und auch ſie ſchützt ihre Farbe 
gegen die Seemöwen, die raubſpähend 
zahlreich über dieſem Meere fliegen. Auch 
ein grotesker kleiner Fiſch, Antenarius 
marmoratus, deſſen Länge 5 Centimeter 
nicht überſchreitet, gehört zu dieſer endemi— 
ſchen Sargaſſo-Fauna. Er iſt es, welcher 
die eigentümlichen Neſter aus Seetang 
mittels Fäden aus einer klebrigen Sekre— 
tion zuſammenrollt, die man im Bett des 
Golfſtroms ſo häufig ſchwimmend antrifft. 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


Befragt man über die Urſache der 
Entſtehung dieſer eigentümlichen Fauna 
und ihrer Mimiery-Erſcheinungen die Dar— 
winſche Zuchtwahllehre, ſo kommt man 
mit ihr ſchon in große Verlegenheit, auch 
nur die erſte Erſcheinung der tieriſchen 
Bewohner dieſer ſchwimmenden Tang— 
inſeln ohne Zuhilferufen der Migrations- 
theorie zu erklären. Als Einwanderer aus 
dem Norden haben dieſe Algen die Stamm: 
eltern ihrer jetzigen Tierbevölkerung ſicher 
nicht mitgebracht, denn ihrer Urheimat 
fehlen die analogen Formen. Die erſten 
Anſiedler müſſen daher Emigranten aus 
dem umgebenden Meer geweſen ſein, denn 
hier leben die nächſt verwandten Arten 
und Gattungen, welchen aber die eigen— 
tümliche Färbung der Sargaſſotiere fehlt. 
Unter den Millionen von Individuen 
dieſer nächſtverwandten Arten von Kru— 
ſtern und Weichtieren, wie ſie in den 
umgebenden Teilen des atlantiſchen Oce- 
ans, beſonders im Antillenmeer, vor— 
kommen, bemerkt man jedoch nicht ſel— 
ten verſchiedene Farbennüancen, wie man 
bei der Ebbe an den Küſten der weſt— 
indiſchen Inſeln ſich genau überzeugen 
kann. Beſonders die dunkelgrauen oder 
braunen Krabben zeigen ziemlich häufig 
individuelle Abweichungen von lichterer 
Färbung, welche mitunter ins Grünliche 
und Gelbliche ſpielen. Solche Varietäten, 
vom angebornen Schutztrieb geleitet, wer— 
den ſtets geneigter ſein, von ihren nor— 
malen Artgenoſſen ſich abzuſondern und 
eine Zufluchtsſtätte mit korreſpondirender 
Färbung zu ihrer Sicherheit zu ſuchen. 
Es iſt dagegen höchſt unwahrſcheinlich, 
daß normale Individuen dieſer Seetier— 
arten von dunkler Färbung ſich eben ſo 
leicht von ihren Artgenoſſen abſondern 


Bi 


jollten, um einen neuen Aufenthalt zu 


wählen, der ihnen nur Nachteile und 


vermehrte Gefahr bringen würde, da fie | 


dann auf dieſen ſchwimmenden Inſeln 
den ſcharfen Augen der Raubmöwen mehr 
ausgeſetzt wären als im Meere. Der allen 
Tieren angeborne Erhaltungstrieb, wel— 


cher gegenüber der raſtlos drohenden Ge 


fahren ihre Sinne ſchärft, drängt See— 
tiere ſogut wie Landtiere, den paſſend— 
ſten Standort zu ſuchen, der ihrer Farbe 
und Form entſpricht. In jedem Falle 
aber war es die Abſonderung und Iſo— 
lirung von Seebewohnern, welche den 
Pflanzeninſeln des Sargaſſomeeres die 
erſten Koloniſten lieferte und damit auch 
den Anſtoß zu der eigentümlichen For— 
menbildung dieſer Fauna gab. 

Auch der merkwürdige Umſtand, daß 
die „ſchützende Ahnlichkeit“, die dort zwi— 
ſchen Tier und Pflanze herrſcht, nicht 
nur ein allgemeiner Charakterzug dieſer 
endemiſchen Fauna iſt, ſondern daß die— 


ſelbe Erſcheinung auch als lokales Ge— 


präge der zahlloſen ſchwimmenden Inſeln 
in hundertfachen Farbennüancen von Oli— 
vengrün und Gelb ſich wiederholt, iſt der 
Annahme günſtig, daß nicht die Thätig— 
keit einer Zuchtwahl durch den Kampf 
ums Daſein, welche gerade auf ſo be— 
ſchränktem Raum eine unglaubliche Cul— 
mination von Zufällen erfordern müßte, 
ſondern die aktive Migration, welche, 
veranlaßt durch den natürlichen Schutz— 
trieb der Tiere, Ähnliches zu Ahnlichem 
drängt, als einfache Urſache wirkt. 
Auch die Erfahrung der künſtlichen Züch— 
tung, daß jede neue Variation nicht nur 
die Fähigkeit, ſondern ſelbſt eine ſtarke 
Tendenz zeigt, ihre Merkmale ſchon in den 
nächſten Generationen im verſtärkten Maße 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 9 


. —— 


7 


auszuprägen, hilft zur Erklärung der lo— 
kalen Varietäten dieſer Tanginſelbewoh— 
ner, denen hier die erleichterte Wande— 
rung von einer Inſel zur andern auch das 
Auffinden der geeignetſten Standorte ſo 
leicht machte. Die Erſcheinung der Mimi— 
ery war daher im Sargaſſomeer ein ebenſo 
natürliches Produkt der Migration und 
Iſolirung, wie die „ſchützende Ahnlichkeit“, 
welche die Raupen der früher erwähn— 
ten Bandphaläne durch das Anſchmiegen 
an die Runzeln alter Baumſtämme bei 
täglicher Wanderung vor unſern Augen 
vollziehen. 

Die bekannte Thatſache der überein— 
ſtimmenden Farbenähnlichkeit, welche zwi— 
ſchen dem Boden der Steppen, der Wü— 
ſten, der ſchneebedeckten Polarzone und 
ihrer Tierbewohner im Allgemeinen vor— 
herrſcht, iſt gleichfalls als eine großartige 
Mimiery-Erſcheinung aufgefaßt worden 
und kann auch mit Recht als ſolche gelten. 

Wollten aber die Darwiniſten nach 
der gewöhnlichen Vorſtellung der Selek— 
tionstheorie annehmen, daß Steppen, Wü— 
ſten und arktiſche Schneeflächen urſprüng— 
lich von einer mannigfaltig gefärbten 


Fauna bewohnt waren, von der die un— 
günſtiger gefärbten Formen als nicht vor— 


teilhaft im Laufe der Zeit durch Ausleſe 
im Daſeinskampf beſeitigt wurden und 
erloſchen, ſo wäre dieſe Vorſtellung ganz 
gewiß ein ſehr großer Irrtum. Hätten 
ſolche Faunen mit vielfach gemiſchten Far— 
ben je beſtanden, ſo wäre es von An— 
fang an ſchon unbegreiflich, warum die 
bunt oder dunkelgefärbten, mithin un— 
vorteilhaft organiſirten Tierarten in Ge— 
genden geblieben wären, wo ſie mit ſpär— 
licherer Nahrung zugleich weit mehr Ge— 
fahren ausgeſetzt waren, während die 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 


98 Moritz Wagner, Über die Entftehung der Arten durch Abſonderung. 


benachbarten, bewaldeten Grenzgebiete ih— 
nen reichhaltigere Nahrung und mehr 
Sicherheit boten, und die Wanderung 
dorthin ihnen ſtets offen ſtand. Die Sa— 
hara iſt jedenfalls erſt ſeit der jüngern 
Tertiärzeit trocknes Land. Die arktiſchen 
Flächen hatten während der Miocänpe— 
riode noch keinen Schnee. Ihre jetzige Tier— 
welt haben ſie erſt ſeitdem durch Ein— 
wanderung erhalten. 

Wenn aus den Wald- und Buſch— 
ebenen des nördlichen Sudan oder vom 
ſüdlichen Fuße des Atlasgebirges indi— 
viduelle Spielarten mit korreſpondirender 
Färbung vorzugsweiſe nach dem Steppen— 
gürtel zogen, welcher von beiden Seiten 
in allmählichen Übergängen die große 
Sandwüſte von der Waldzone ſcheidet, 
jo folgten fie durchaus nur ihrem natür— 
lichen Inſtinkt, d. h. dem angebornen ver— 
erbten Schutztrieb, der die Tiere ſtets 
nach Wohngebieten und Standorten mit 
ſympathiſcher Färbung lockt, wenn ihnen 
ſolche erreichbar ſind. Hellere Abarten 
mit ins Gelbliche ſpielender Färbung, wel— 
che unter den bräunlichen Arten der Steppe 
als mehr oder minder abweichende indi— 
viduelle Variationen von Zeit zu Zeit 
erſcheinen, werden dem angebornen Schutz— 
trieb und der Erfahrung entſprechend leicht 
dazu gekommen ſein, in die zugänglichen 
Oaſen der angrenzenden Wüſte einzuwan— 
dern. Die räumliche Abſonderung und 
dauernde Iſolirung paßte dieſe Einwan— 
derer ihrer neuen Heimat an, d. h. ſie 
prägte die in ihrer Variationsrichtung 


liegenden Formen mit Unterſtützung der 


veränderten äußeren Lebensbedingungen 
ſo aus, wie wir ſie heute ſehen. 

Einen intereſſanten Beleg zu dieſer 
durch zahlreiche Thatſachen unterſtützten 


Annahme liefert in Egypten das Vor— 
kommen eines Wüſtenmonitors in naher 
Nachbarſchaft neben dem gewöhnlichen 
Flußmonitor, doch von dieſem ſtets räum— 
lich abgeſondert. Der Monitor oder die 
Warneidechſe des Nils, Varanus niloti- 
cus, iſt das bekannte große Reptil, wel— 
ches neben dem Krokodil nicht nur den 
Nil, ſondern alle größeren Flüſſe Nord— 
afrikas bewohnt und Fiſche, Amphibien, 
Mollusken, vorzugsweiſe aber die Eier 
des Krokodils verzehrt. Seine Farbe iſt 
braungrau mit ſchwarzbrauner, netzförmi— 
ger Zeichnung. Zuweilen beobachtet man 
unter ihnen auch heller gefärbte Indi— 
viduen, welche ſich aber nicht erhalten, 
ſondern bei der Kreuzung mit den normal 
gefärbten Artgenoſſen wieder verſchwinden. 

In der dem Nilthal angrenzenden 
Wüſte kommt eine vikariirende Form die— 
ſes Nilmonitors vor, der Varanus are- 
narius, welcher ähnlich der Farbe des 
Wüſtenbodens hellgrau gefärbt und nach 
größter Wahrſcheinlichkeit aus Emigran— 
ten der ſporadiſch erſcheinenden helleren 
Spielart des benachbarten Nilmonitors 
entſtanden iſt. Dieſer Wüſtenmonitor hat 
mit der Abſonderung von ſeinem frühern 
feuchten Standort und durch die Über— 
ſiedlung auf trockenem Boden auch ſeine 
Lebensweiſe geändert, indem er ſtatt der 
Fiſche und Krokodileier vorzugsweiſe In— 
ſekten und kleinere Reptilien, im Ganzen 
eine viel ſpärlichere Nahrung verzehrt. 
Mit dem Wechſel ſeines Standortes und 
ſeiner Nahrung hat ſich nebſt der Farbe 
auch die Form in Folge des Nichtge— 
brauchs der Schwimmorgane entſprechend 
abgeändert. Der Nilmonitor hat befannt- 
lich einen etwas zuſammengedrückten, zum 
Schwimmen geeigneten Schwanz mit einem 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


Rückenkiel, der aus zwei Reihen Schup— 
pen gebildet iſt. Seinem Nachbar und 
nächſtverwandten Vetter, dem Wüſten— 
monitor, fehlt dieſer Rückenkiel, und der 
Schwanz hat eine cylindriſche Form be— 
kommen, die zum Schwimmen nicht ge— 
eignet iſt. Auch die Zahnbildung hat ſich in— 
folge der veränderten Nahrung abgeändert. 

Wenn man bedenkt, daß ſämmtliche 
Arten der Gattung Monitor in allen Län— 


dern, wo ſie vorkommen, Flußbewohner 


ſind, mit Ausnahme eines einzigen ana— 
logen Falles auf der Inſel Timor, ſo drängt 
ſich die wohlbegründete Annahme, daß 
hier durch den einfachen Akt der Mi— 
gration und Separation eine gute neue Art 
entſtanden iſt, überzeugend von ſelber auf. 

Die Einwanderung ſolcher ſympathiſch 
gefärbten Spielarten eines Flußbewoh— 
ners in die Wüſte, zu der ihre Varia— 
tion paßte, iſt im Grunde nicht auffal— 
lender, als die Migration von bräunlichen 
oder gelblichen Wiederkäuern, Nagern, 
Raubtieren, Vögeln, Reptilien, Arachni— 
den, Käfern, Schmetterlingen u. ſ. w. aus 
den Wald- und Buſchgegenden des Su— 
dan und der Berberei nach dem buſch— 
loſen Steppenrand und den Oaſen der 
Sahara. Antilopen, Nager, Hühnervögel 
von entſprechender Färbung lockte der 
Schutztrieb, Raubtiere von ſympathiſcher 
Färbung, wie Löwe, Schakal, Fennek, 
gewiſſe Falken der Nahrungstrieb bei 
ihren Migrationen aus den Nachbarge— 
bieten. Dunkelgefärbte oder ſehr bunt 
gefleckte Arten, wie der Leopard, folgten 
nicht, ſondern blieben einfach in der an— 
grenzenden Waldzone. Auch der braune 
Bär der alten Welt und der große ame— 
rikaniſche Bär der Rocky-Mountains über: 


99 


ſchreiten nur ſelten die nördliche Buſch— 
waldgrenze, während der weiße Bär eben 
ſo ſorgſam innerhalb der ſeiner Farbe 


entſprechenden arktiſchen Flächen des ewi— 


gen Schnees verbleibt und die Hypotheſe 
rechtfertigt: daß die weißen Tiere des 
Nordens aus zugewanderten Albinos der 
Nachbarländer entſtanden ſind, wo ſolche 
als ſpontane Varietäten bei kälterem Kli— 
ma öfter erſcheinen als im Süden. In 
der ältern Tertiärzeit, wo auf Spitzber— 


gen und Grönland noch Palmen wuch— 


ſen, gab es dort noch keinen Schnee. 
Weiße Tiervarietäten hätten daſelbſt noch 
keinen Schutz gefunden, alſo auch keinen 
Trieb zur Einwanderung gehabt. 

Wir haben bei uns das näher lie— 
gende Beiſpiel des im Winter weiß ge— 
färbten Alpenhaſen, der mit Vorliebe in 
den höheren, ſchneereichen Gebirgsregionen 
verweilt, und unſeres braunen Feldhaſen, 
der zu ſeinem Aufenthalt den Waldboden der 
Ebene mit ſeinen dürren Blättern vorzieht 
und damit, ebenſo wie jener und wie zahl— 
loſe andere vom Schutztrieb geleiteten Tier— 
arten durch Beziehen oder Feſthalten eines 
mit ihrer Farbe korreſpondirenden Stand— 
orts, die „Mimiery“ ſelbſt hervorbringt. 


Das „Heer der ſchützenden Ahnlich- 


keiten“ iſt weit entfernt, im Widerſpruch 
mit der Separationstheorie zu ſein, wie 
Seidlitz irrig meint, ſondern findet ge— 
rade durch den Schutztrieb, die Migra— 
tion und den Standortswechſel der Va— 
rietäten und Arten, welche ſympathiſche 
Farben und Formen zu einander geſellt, 
ihre natürlichſte Erklärung — was auch 
der genannte geiſtvolle Forſcher bei un— 
befangener Prüfung der Thatſache zuletzt 
ſelber zugeben dürfte. 


(Fortſetzung folgt.) 


ie Anſicht von einem Urſtoff, 
aus dem alle vorhandenen 
Dinge herſtammen, iſt ſehr 
alt. Alle Vorſtellungen aber, 
welche man ſich über die letz— 
ten Beſtandteile der Materie bildete, 
wurden einzig und allein mit Hülfe der 
Spekulation erlangt und waren ihrer 
ganzen Auffaſſung nach rein metaphy— 
ſiſch. Die Perſer und namentlich die 
Magier hielten das Feuer für den Ur— 
ſtoff aller Dinge, die Agypter aber das 
Waſſer, und es iſt wahrſcheinlich, daß 
Thales von Milet, welcher ebenfalls 
das Waſſer als Grundprinzip aller Dinge 
betrachtete, dieſe Hypotheſe von den Agyp— 
tern entlehnte. Sein Schüler Anaxi— 
menes gab der Luft den Vorzug, wäh— 
rend Pythagoras die Lehre von den 
vier Elementen: Feuer, Luft, Waſſer 
und Erde begründete, welche dann von 
Empedokles weiter ausgebildet wurde 
und den entſchiedenſten Beifall fand. 
Dieſe Lehre hat in der Faſſung, welche 


hindurch die Wiſſenſchaft beherrſcht und 


Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


Von 
Dr. Otto Dammer. 


iſt namentlich auf die Entwickelung der 
Chemie von größtem Einfluß geweſen.“) 

Ariſtoteles nimmt einen Urſtoff 
an, der ſich nach Schwegler“) in fol— 
gender Weiſe definiren läßt: „Der Ur— 
ſtoff (die Materie) in ſeiner Abſtraktion 
von der Form gedacht, iſt das völlig 
Prädikatloſe, Unbeſtimmte, Unterſchieds— 
loſe, dasjenige, was allem Werden als 
Bleibendes zu grunde liegt und die ent— 
gegengeſetzteſten Formen annimmt, das 
aber ſelbſt ſeinem Sein nach von allem 
Gewordenen verſchieden iſt und an ſich 
gar keine beſtimmte Form hat, dasjenige, 
was die Möglichkeit zu allem, aber nichts 
in Wirklichkeit iſt.“ Von dieſem Urſtoff 
unterſcheidet Ariſtoteles die Elemente, 
die Grundbeſtandteile der Dinge, die der 
Art nach nicht weiter teilbar ſind und 
die ganz andre Eigenſchaften beſitzen, 
als die zuſammengeſetzten Körper, die 
Produkte aus den Elementen. Dieſe Ele— 


*) Lorſcheid, Ariſtoteles' Einfluß auf die 


; 87 ; | Entwickelung der Chemie. Münfter, 1872, 
ihr Ariſtoteles gab, viele Jahrhunderte 5 i 


**) Schwegler, Geſchichte der Philoſophie. 
Stuttgart, 1857. 


Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


mente, die fo weit eine gewiſſe Ahnlich- 
keit mit den modernen zu haben ſcheinen, 


ſind aber in einander verwandelbar, da 
ſie gewiſſermaßen Allotropien des Urſtoffs 


darſtellen, der in jedem Element als 


Träger von Eigenſchaften (Gegenſätzen), 
natürlich nur von phyſikaliſchen, auftritt. 
Indem Ariſtoteles nun vier Eigen— 
ſchaften: kalt-, warm-, trocken-, feucht- 
ſein, als die wichtigſten, auf welche alle 
übrigen zurückgeführt werden können, 
hinſtellt, gelangt er zu vier Elementen, 
welche als Träger je einer Paarung je— 
ner Gegenſätze erſcheinen. Folgendes 
Schema zeigt die Reihenfolge der Ele— 


Feuer 
N 8 0 45 
N 22 
2 2 
2 — 
5 Urſtoff = 


NR 


Waſſer 


mente, die gemeinſamen Eigenſchaften 
und die Fähigkeit derſelben, ſich in ein— 
ander zu verwandeln. Dem Trocken- und 
Kaltſein entſpricht alſo die Erde, dem 
Kalt⸗ und Feuchtſein das Waſſer, dem 
Feucht- und Warmſein die Luft und dem 
Warm- und Trockenſein das Feuer. Je— 
dem Element kommen demnach zwei Haupt— 
eigenſchaften zu, aber eine vorzugsweiſe: 
Erde gehört mehr dem Trocknen als dem 
Kalten, Waſſer mehr dem Kalten als 
dem Flüſſigen, Luft mehr dem Flüſ— 
ſigen als dem Warmen und Feuer mehr 
dem Warmen als dem Trocknen an. So— 
fern nun das Werden zu Entgegenge— 
ſetztem aus Entgegengeſetztem geſchieht 


101 


und alle Elemente vermöge ihrer ent— 
gegengeſetzten Unterſchiede in einem Ge— 
genſatz zu einander ſtehen, können ſie auch 
in einander übergehen und alles kann aus 
allem werden, nur ſchneller oder lang— 
ſamer, je nachdem nur eine oder zwei 
Eigenſchaften gewechſelt werden müſſen. 
Aus der Vereinigung der Elemente aber 
entſtehen zuſammengeſetzte Körper, deren 
Eigenſchaften von dem Verhältnis abhän— 
gen, in welchem jene zuſammengetreten 
ſind, und zwar enthält jeder zuſammen— 


geſetzte Körper ſtets alle vier Elemente.“ 


Durch die innere Kraft ſeiner Phi— 
loſophie, durch das tiefere Eindringen in 
den ganzen Umfang des Wiſſens iſt Ari— 
ſtoteles der Lehrer des Menſchengeſchlechts 
geworden und hat, wie nie ein Sterb— 
licher vor oder nach ihm, einen Einfluß, 
errungen, welcher bis in die neueſte Zeit 
bemerkbar geweſen iſt. Namentlich das 
Mittelalter ſtand vollſtändig unter dem 
Einfluß des Stagiriten und es kann da— 
her nicht auffallen, daß auch die erſten 
Beſtrebungen auf dem Gebiet der Che— 
mie ariſtoteliſche Leitung erkennen laſſen. 
Hier aber hatte man ſich vor allem dem 
Studium der Metalle gewidmet, welche 
durch ihre Eigenſchaften und ihre Stel— 
lung im Haushalt der Menſchen beſon— 
deres Intereſſe darboten. Man muß die 
ariſtoteliſchen Vorſtellungen von der Na— 


tur der Elemente im Auge behalten, wenn 


man die Bemühungen, die Metalle in 
einander zu verwandeln, welche ſo lange 
die herrſchende blieben, richtig würdigen 
will. Aber auch abgeſehen von allen theo— 
retiſchen Spekulationen mußte die Mög— 
lichkeit der Metallverwandlung denjenigen, 
welche die Zuſammenſetzung der Körper 
nicht ſicher zu ermitteln vermochten, bei 


. 


102 Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


der Verarbeitung der Erze einleuchten. 


Daher reichen auch die Bemühungen, Gold 
zu machen, ſehr weit zurück und zeigen 


ſich ſchon im 4. Jahrhundert in Agyp— 
ten, welches bis um die Mitte des 7. 
Jahrhunderts Mittelpunkt dieſer Thätig— 
keit blieb, um alsdann den Arabern den 
Vortritt zu laſſen. Die von den letzteren ein— 
geleitete Periode der Alchemie ſteht ganz 
beſonders unter der Herrſchaft des Ge— 
dankens von der Möglichkeit der Metall— 
verwandlung, aber die Alchemiſten wa— 
ren durchaus von wiſſenſchaftlichem Geiſte 
beſeelt und nichts iſt unbegründeter, als 
die Alchemie mit der Goldmacherkunſt der 
ſpäteren Zeit zu identifiziren. „Die Al— 
chemie,“ ſagt Liebig, „iſt niemals etwas 
anderes als die Chemie geweſen, ihre 
beſtändige Verwechslung mit der Gold— 
macherei des 16. und 17. Jahrhunderts 
iſt die größte Ungerechtigkeit. Die Al— 
chemie war die Wiſſenſchaft, ſie ſchloß 
alle techniſch-chemiſchen Gewerbzweige in 
ſich ein.“ Und ſie erweiterte, können wir 
hinzufügen, den Kreis erkannter chemi— 
ſcher Thatſachen außerordentlich. Gleich— 
zeitig aber gelangte man auch zu einer 
weiteren Ausbildung der ariſtoteliſchen 
Anſchauungen über die Elemente und ſchon 
bei Geber finden wir die Anſicht aus— 
geſprochen, daß alle Metalle aus „Schwe— 
fel“ und „Queckſilber“ zuſammengeſetzt 
ſeien. Man ſah Glanze und Kieſe als 
Metalle an, fand als Beſtandteile der— 
ſelben Schwefel und konſtatirte die Um— 
wandlung dieſer vermeintlichen Metalle 
in Blei, Eiſen, zum Teil ſogar (da man— 
che Glanze und Kieſe Silber und Gold 
enthalten) in edle Metalle. Letztere ſoll— 
ten reicher an Queckſilber ſein, die un— 
edlen Metalle dagegen mehr Schwefel 


enthalten. Dieſe Anſichten blieben lange 
herrſchend, man behielt die Lehre des 
Ariſtoteles bei und betrachtete Schwe— 
fel und Queckſilber als die näheren, die 
vier alten Elemente als die entfernten Be— 


| ſtandteile der Metalle. Im 15. Sahrhun- 


dert fügte Baſilius Valentinus dem 
Schwefel und Queckſilber als dritten 
Grundbeſtandteil noch das „Salz“ hinzu 
und lehrte, daß dieſe nicht nur in den 
Metallen, ſondern in allen Körpern ent— 
halten ſeien und daß die augenfälligen 
Verſchiedenheiten der letzteren durch un— 
gleiche Proportion, Reinheit und Fixation 
der Grundbeſtandteile bedingt würden. Da— 
bei wurde zuerſtausgeſprochen, daß die letz— 
teren keineswegs mit dem metalliſchen Queck— 
ſilber, dem gewöhnlichen Schwefel und Salz 
identiſch ſeien. 

Fanden dieſe Lehren durch Paracel— 
ſus noch kräftige Unterſtützung und weitere 
Ausbildung, ſo begann doch damals bereits 
eine lebhafte Gegenſtrömung ſich geltend zu 
machen, als deren erſter Vertreter van Hel— 
mont (1667) zu nennen iſt. Die neuere 
Zeit aber datirt von dem Auftreten des Ir— 
länders Robert Boyle, derzuerſt die Not— 
wendigkeit betonte, zwiſchen metaphyſiſchen 
und chemiſchen Elementen zu unterſcheiden, 
und verlangte, daß die Chemie zunächſt 
ſich begnügen ſolle, die für ſie nicht weiter 
zerlegbaren Beſtandteile der Körper nach— 
zuweiſen. Er wollte die näheren Beſtand— 
teile der Körper feſtſtellen und dieſelben 
ſo lange als Elemente betrachten, bis 
es gelungen ſei, ſie als noch zuſammen— 
geſetzt nachzuweiſen. Die Metalle be— 
trachtete er noch als zuſammengeſetzte 
Körper und glaubte an ihre Verwandel— 
barkeit. Durch theoretiſche Spekulationen 
gelangte er zu dem Schluß, daß die Ele— 


3 


mente aus einer und derſelben Urmaterie 
beſtehen und daß ihre Verſchiedenheit auf 
der verſchiedenen Größe, Geſtalt ꝛc. ihrer 
kleinſten Teilchen beruhe. Dieſe Anſichten 
Boyles fanden zunächſt geringe Beach— 
tung, man blieb bei der Annahme von 
Grundbeſtandteilen als Trägern gewiſſer 
Beſtandteile ſtehen, Willis, Lefebvre 
und Lemery fügten den drei alchemiſchen 
Elemente noch zwei weitere, Waſſer und 
Erde, hinzu und im 18. Jahrhundert trat 
Stahl nach dem Vorgange Bechers mit 
ſeiner Phlogiſtontheorie hervor, welche 
ebenfalls noch auf ariſtoteliſchen Anſchau— 
ungen fußte und deren bedeutendſte Ver— 
treter immer noch von Erde, Waſſer, 
Licht und Feuer als den unzerlegbaren 
Subſtanzen ſprachen, unter dieſen Benen— 
nungen aber freilich etwas ganz anderes 
verſtanden als Ariſtoteles. Die Ideen 
Boyles wirkten indes fort und mit der 
Entwickelung der Phlogiſtontheorie nah— 
men auch die Anſichten darüber, was Ele— 
mente ſeien, immer beſtimmtere Geſtalten 
an, ſodaß nach dem Sturz jener Theo— 
rie, welche die Metalle wie alle brenn— 
baren Körper als phlogiſtonhaltig betrach— 
tet hatte, die neue Lehre von den Elemen— 
ten annähernd in der Geſtalt fixirt werden 
konnte, in welcher ſie noch heute gilt. 
Man bezeichnet gegenwärtig als Ele— 
mente diejenigen Körper, welche bisher 
nicht weiter zerlegt werden konnten und 
die man daher nach dem heutigen Stande 
des Wiſſens als chemiſch einfache an— 
ſehen muß. Dieſer Begriff des chemi— 


ſchen Elements als des nicht weiter in 


materiell Verſchiedenes Spaltbaren bil— 
det den erſten Fundamentalſatz der heu— 
tigen wiſſenſchaftlichen Chemie und wird 
immer beſtehen bleiben, ſelbſt wenn ſich 


Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


103 


einige oder alle jetzt als chemiſch einfach 
betrachteten Körper als noch weiter zer— 
legbar erweiſen ſollten. Mit dem Begriff 
des chemiſchen Elements trat dann jene 
alte Vorſtellung von der Unzerſtörbarkeit 
der Materie in Verbindung und ſo ent— 
ſtand der weitere Fundamentalſatz von 
der Unwandelbarkeit der Elemente, der 
ſeit Lavoiſiers Verſuchen über die viel 
behauptete Umwandlung von Waſſer in 
Erde nicht mehr beſtritten worden iſt und 
der in allen chemiſchen Thatſachen ſeine 
Beſtätigung findet. Endlich vollzog ſich 
auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts 
die Ausbildung der Atomtheorie, welche 
zuerſt von Leukipp um 500 v. Chr. auf⸗ 
geſtellt und nicht viel ſpäter von De— 
mokrit ausführlich entwickelt worden war. 
Während aber die Alten, und, wie wir 
geſehen haben, auch Boyle, die Verſchie— 
denheit aller Dinge von der Verſchieden— 
heit ihrer Atome an Zahl, Größe, Ge— 
ſtalt und Ordnung ableiteten, nahm der 
engliſche Chemiker Dalton zuerſt in be— 
ſtimmter Weiſe die Exiſtenz qualitativ, 
verſchiedener Elementaratome an und 
ſchrieb dieſen beſtimmte, für die verſchie— 
denen Elemente charakteriſtiſche Gewichte 
zu. „Wie der Begriff des chemiſchen Ele— 
mentes, ſo wird auch der Begriff des 
chemiſchen Atoms, als der durch chemiſche 
Vorgänge nicht weiter ſpaltbaren Menge 
elementarer Materie, immer beſtehen blei— 
ben. Für die Chemie iſt die Frage, ob 
die chemiſchen Atome urſprünglich ein— 
heitliche und abſolut unteilbare Weſen 
ſeien, von feinem Belang. Mag immer— 
hin der Nachweis geliefert werden, daß 
die chemiſchen Atome aus Teilchen fei— 
nerer Ordnung gebildet ſind, oder mag 
die von William Thomſon begründete 


— 


104 


Theorie der Wirbelringe oder irgend eine 


ähnliche Vorſtellung, die die Atome als 


aus kontinuirlicher Materie entſtanden auf- 
faßt, durch die Fortſchritte der Erkennt⸗ 


niß ihre Beſtätigung finden, der Begriff 
der chemiſchen Atome wird dadurch nicht 


aufgehoben. Der Chemiker wird eine Erz | 


klärung ſeiner Einheiten ſtets mit Freude 
begrüßen, denn die Chemie bedarf nur 
zunächſt, nicht aber zuletzt der Atome“ 
(Kekulé). 

Sieht man von einigen neueſten Ent— 
deckungen ab, ſo beträgt die Zahl der 
chemiſchen Elemente gegenwärtig 64. Von 
dieſen nehmen aber nur etwa 12 an der 
Bildung der Hauptmaſſe der Erdrinde, 
der Pflanzen und Tiere und der Atmo— 
ſphäre Teil, die übrigen werden ſämmt— 
lich, wenn auch zum Teil ſehr allgemein 
verbreitet, nur ſparſam und in geringe— 
rer Menge gefunden, manche ſind ſogar 
ſehr ſelten und nur in wenigen Minera— 
lien nachgewieſen. Daß aber die Zahl 
der wirklich vorhandenen Elemente noch 
keineswegs erſchöpft iſt, beweiſt allein 
ſchon die Thatſache, daß immerfort noch 
neue Elemente entdeckt werden, wenn 
auch dieſe jüngſten Entdeckungen immer 
nur ſolche Körper betreffen, die für den 
Haushalt der Natur von ſehr geringer 
Bedeutung ſind. Viele angeblich neue 
Elemente haben ſich überdies in der Folge 
als Miſchungen erwieſen. 

Bei der verhältnismäßig großen Zahl 
der Elemente lag das Bedürfnis nahe, 
ſie in Gruppen zu bringen und man 
folgte bis in die neueſte Zeit dem Vor— 
ſchlage von Berzelius, welcher unter Be— 
tonung einiger weniger oberflächlicher 
Eigenſchaften die Elemente in Metalle 
und Nichtmetalle (unpaſſend Metalloide 


Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


genannt) teilte. Man ging dann auch 
weiter, teilte die Nichtmetalle in Oxyge— 
noide und Metalloide, die Metalle in 
Leicht- und Schwermetalle, erſtere in Al— 
kali⸗, Erdalkali- und Erdmetalle, letztere 
in unedle und edle. Dieſe ganze Grup— 
pirung hat aber geringen Wert, weil ſie 
die chemiſche Natur der Elemente viel zu 
wenig berückſichtigt, durch die z. B. Tel— 
lur, Arſen und Antimon entſchieden zu 
den Nichtmetallen gewieſen werden. Man 
hat ſich daher ſeit lange bemüht, an die 
Stelle des künſtlichen ein natürliches Sy— 
ſtem zu ſetzen und dieſe Beſtrebungen 
haben ſich als ſehr dankbar erwieſen. Man 
gewann größere Sicherheit in der An— 
weiſung der Stelle, welche ein beſtimm— 
tes Element im Syſtem einnimmt, und 
erzielte den Vorteil, daß nicht nur die 
gegenſeitigen Beziehungen der Elemente 
zu einander überſichtlicher hervortraten, 
ſondern auch neue Beziehungen aufgedeckt, 
neue Wege zum Erforſchen des Weſens 
der Elemente angebahnt wurden. 

Daß die Elemente in der That, wie 
man bisher mehr oder minder ausdrück— 
lich angenommen hat, unzerlegbare Stoffe 
ſeien, iſt ſchon aus dem Grunde ſehr un— 
wahrſcheinlich, weil man dann die Exi— 
ſtenz von 60 und vielleicht viel mehr 
grundverſchiedenen Urmaterien annehmen 
müßte. Jene Annahme wird aber noch 
unwahrſcheinlicher gegenüber den Be— 
ziehungen, welche die Atomgewichte der 
verſchiedenen Elemente zu einander zei— 
gen. Dieſe Beziehungen hatten bereits 
1815 Prout veranlaßt, den Waſſerſtoff 
als die einzige Urmaterie, aus welcher 
alle anderen Elemente hervorgegangen 
ſeien, zu betrachten. Er nahm deshalb 
an, daß die Atomgewichte aller Elemente 


Tr er re EEE EEE EEE 


Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


ganze Vielfache vom Atomgewicht des 
Waſſerſtoffs ſeien, aber alle ſpätern ge— 
naueren Beſtimmungen der Atomgewichte 
haben gezeigt, daß dieſe Anſicht auch in 
der Form, welche ihr Dumas gab, in— 
dem er annahm, daß Waſſerſtoff viel— 
leicht aus 2 oder 4 Atomen beſtehe und 
die Atomgewichte der Elemente Vielfache 
von 0,5 oder 0,25 mit ganzen Zahlen 
ſeien, nicht aufrecht erhalten werden könne. 
Immerhin bleibt auffällig, daß, worauf 
Marignac aufmerkſam machte, die Mehr— 
zahl der Atomgewichte nahezu ganze Zah⸗ 
len ſind, wie z. B. 

Lithium 7,01 

Stickſtoff 14,01 

Sauerſtoff 15,96 

Natrium 22,99 

Schwefel 31,98 

Kalium 39,04 
Dieſe Thatſache verdient jedenfalls die 
höchſte Beachtung und wird früher oder 
ſpäter eine Erklärung finden, welche dann 
vielleicht auch ohne weiteres erkennen 
läßt, wie die Atomgewichte anderer Ele— 
mente, z. B. von 


Chlor 35,37 
Brom . 79,75 
Jod 126,53 


Silber . 107,66 
ſo erheblich von ganzen Zahlen abwei— 
chen können. Von irgendwie erheblichen 
Fehlern in der Beſtimmung dieſer Atom— 
gewichte kann keine Rede ſein, die Zah— 
len ſind vielmehr bis auf 0,001, und 
einige, wie die von Chlor und Silber, 
auf 0,0001 ihres Wertes genau be— 
ſtimmt, während allerdings die Atom— 
gewichte anderer Elemente nachweislich 
Fehler enthalten, die bei vielen mehrere 
Hundertteile und bei einigen ſogar Zehn— 
teile ihres Wertes betragen können. Erſt 
wenn über alle Atomgewichte ſo aus— 


105 


gezeichnete Arbeiten wie die von Stas 
vorliegen, wird es möglich ſein, den ur— 
ſächlichen Momenten der Beziehungen, in 
denen die Atomgewichte zu einander ſtehen, 
mit größerer Ausſicht auf Erfolg nach— 
zuſpüren. Aber auch ſchon jetzt laſſen 
ſich die intereſſanteſten Verhältniſſe nach— 
weiſen, und die überraſchendſten That— 
ſachen geben den unwiderleglichen Be— 
weis, daß die Forſchung ſich hier auf 
dem richtigen Wege nach einem hohen 
Ziel befindet. Döbereiner zeigte zuerſt, 
daß in vielen Gruppen von je drei ver— 
wandten Elementen, welche er „Triaden“ 
nannte, das Atomgewicht des einen Ele— 
ments nahezu das arithmetiſche Mittel 
aus dem der beiden andern iſt. Addirt man 
z. B. das Atomgewicht des Chlors 35,37 
zu dem des Jods 126,52 und dividirt 
die Summe durch 2, ſo erhält man 
80,95, während das gefundene Atom— 
gewicht des Broms — 79,75 iſt. Ebenſo 
berechnet ſich das Atomgewicht des Na— 
triums aus dem Atomgewichte des Ka— 
liums (39,04) und des Lithiums (7,01) 
zu 23,02, während es zu 22,99 be⸗ 
ſtimmt worden iſt. Derartige Triaden 
laſſen ſich mehrere zuſammenſtellen und 
aus je drei Triaden ſogar Enneaden be— 
rechnen. Rundet man die Atomgewichte 
im Sinne der Prout ſchen Hypotheſe ab, 
ſo ergeben ſich Regelmäßigkeiten, welche 
an die homologen Reihen der organi— 
ſchen Chemie erinnern: 


Unterſchied: 
Sauerſtoff O 16 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 


16 
Schwefel 8 32 5 
Selen Se 80 N 
Tellur Te 128 nn 
Lithium I 16 
Natrium Na 23 16 
Kalium K 39 
14 


106 


Alle derartigen Unterſuchungen wa— 
ren früher bei der Unſicherheit der Atom— 
gewichtsbeſtimmungen und ſo lange noch 
die Atomgewichte mit den Aquivalent— 
gewichten fort und fort verwechſelt wur— 
den, ſehr ſchwankend, und erſt nachdem 
Cannizzaro den vermeintlichen Wider— 
ſpruch zwiſchen den Regeln von Avo— 
gadro und von Dulong und Petit 
durch den Nachweis, daß erſtere zunächſt 
nur das Molekulargewicht, letztere da— 
gegen das Atomgewicht beſtimme, geho— 
ben und dadurch beiden Regeln ihre 
gegenwärtig allgemein anerkannte Be— 
deutung beigelegt hatte, gewannen die 
Beziehungen zwiſchen den Atomgewichten 
eine größere Gleichförmigkeit. Im Jahre 
1864 gab Lothar Meyer!) eine Zu— 
ſammenſtellung der Elemente nach der 
Größe der Atomgewichte und zugleich nach 
dem chemiſchen Wert, worauf Mendele— 
jeff“) 1869 eine ähnliche, weiter durch— 
geführte Zuſammenſtellung folgen ließ 
und entſchiedener als bisher geſchehen be— 
tonte, daß phyſikaliſches und chemiſches 
Verhalten der Elemente durch die Größe 
ihrer Atomgewichte beſtimmt werde, ſo 
daß die Eigenſchaften Funktionen, und 
zwar periodiſche Funktionen der 
Atomgewichte ſind. Ordnet man da— 
her die Elemente einfach nach der Größe 
ihrer Atomgewichte, ſo ſieht man beim 
Durchgehen einer ſolchen Reihe die Eigen— 
ſchaften von Glied zu Glied ſich ändern, 
bis bei einer gewiſſen Differenz der Atom— 
gewichte die Eigenſchaften mehr oder we— 
niger vollſtändig und zwar in derſelben 
Reihenfolge wiederkehren. So bilden 
thium (Li = 7,01), Natrium (Na = 


Li⸗ 


) Die modernen Theorien der Chemie. 
3. Aufl. Breslau, 1877.— ) Zeitſchr. f. Chemie. 


Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


22,99) und Kalium (K = 39,04) der- 
artige Wiederholungspunkte; auf jedes 
dieſer Alkalimetalle folgt ein Erdalkali— 
metall (Beryllium, Be — 9,3, Magne— 
ſium, Mg 23,94, Calcium, Ca = 
39,9) und auf dieſe Erdalkalimetalle fol— 
gen dann wieder Elemente, die einander 
ähnlich ſind und ähnliche Differenzen der 
Atomgewichte zeigen. Bricht man die Reihe 
bei Elementen ähnlicher Natur ab, ſo 
erhält man eine Anzahl von kürzeren 
Reihen, welche ſich ſo neben einander 
ſtellen laſſen, daß in den Horizontal— 
reihen die Elemente nach der Größe der 
Atomgewichte auf einander folgen, wäh— 
rend in den Vertikalreihen die chemiſch 
ähnlichen Elemente, nach natürlichen Fa— 
milien geordnet, zuſammenſtehen. In der 
folgenden Tabelle iſt dies mit 58 Ele— 
menten, deren Atomgewichte bis jetzt feſt 
beſtimmt wurden, außerdem mit 6 Ele— 
menten geſchehen, deren Atomgewichte 
vermutungsweiſe angenommen werden. 
Um eine richtige Gruppirung zu ermög— 
lichen, ſind einige Elemente, deren Atom— 
gewicht als noch nicht ſicher beſtimmt 
gelten darf, umgeſtellt worden: Tellur 
vor Jod, Osmium vor Iridium und 
Platin und dieſe wieder vor Gold. 
Vergleicht man die Glieder einer Ver— 
tikalreihe mit einander, ſo bemerkt man, 
daß dieſelben in ſehr ungleichem Grade 
ſich ähnlich ſind. Gewöhnlich ſind in einer 
7—8 Elemente umfaſſenden Gruppe 4—5 
näher mit einander verwandt als die übri— 
gen, welche dann unter ſich wieder Ahn— 
lichkeit zeigen. So bilden die 5 Alkali— 
metalle Lithium, Natrium, Kalium, Ru— 
bidium und Cäſium eine engere Gruppe, 
während die drei Schwermetalle Kupfer, 
Silber, Gold unter ſich wieder in manchen 


. 


Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


Li 
7,01 
0,59 
11,9 

Na 

22,99 
0,97 
23,7 

K 

39,04 
0,86 
45,4 

Cu 
63,3 

8,8 

22 

Rb 
99,2 
1,52 
56,1 

Ag 

107,66 


Au 
196,2 
19,3 


10,2 


Be? 
9,3 
2,1 
4,4 
Mg 
23,94 
1,74 
13,8 | 
Ca 
39,90 
257 
25,4 
Zn 
64,9 
71,15 
9,1 
Sr 
81,2 
2,50 | 
34,9 
Cd 
111,6 
8,65 
12,9 


BIC | NINO 
1150 
V 
(Diam.), 
41 3,6 | — — 
e 8 
„3 28 30,96 31,98 
2,56 2,49 2,3 2,04 
10% 11% 13, 157 
nee 
— 48 51,2 | 52,4 
„„ 
ns 2, 
Ga 2 As | Se 
ber 4 78 
5,96 — 5,67 4,6 
i 1 6169 
1 Zr Nb Mo 
89,6 90 94 95,8 
415 6% 
“DT 119,0 1 
In | Sn | Sb Te 
113,4 117,3 122 1232 
7,42 7,29 6,7 6,25 
15,3 16,1 18,2 20,8 
Ce | La Di 
13.101391 ,.147 
Er Ta Wo 
170,6 — 1382 | 184 
— — 10,8 19,3 
an Pe 16,9 9,6 
TI PD Bi 
203,6 206,4 210 — 
11,86 11,830 9,82 — 
FF 
III, | U 
2339 240 
— 7,7 — 18,3 
— 30,4 — 13,1 


F 


1,7 101 15,06 19 — 


er 
35,37 — 
1538 — 
(flüssig) | 
Mn | Fe 
54,3 55,9 
8,0 7,8 
6,9 762 
Br 
r 
N 
(flüssig) 
? Ru 
— 103, 
l 
— 9,2 
J 
126,53 — 
4985 — 
25,6 — 
0s 
199,6 
i 
— 9,3 


107 
Co Ni 
38,6 33,60 
SH. 88 
69 6, 7 
Rh Pd 
104, 106,2 
12,1 11,5 
86.109 
Jr Pt 
196,7 196,7 
21,15|21,15 
93 9,3 


108 


Eigenſchaften übereinſtimmen, mit jenen 
aber nur in einzelnen Punkten, beſon— 
ders im Iſomorphismus mancher Ver— 
bindungen und in dem Vermögen, ſich mit 


einem einzigen Atom eines Salzbildners zu 


vereinen, übereinkommen. In den Hori— 
zontalreihen trifft man von Element zu Ele— 
ment einen bald mehr, bald wenigerſchroffen 
Wechſel in den Eigenſchaften, bei genauerer 
Unterſuchung aber zeigt ſich derſelbe eben— 
falls durch ein Geſetz beherrſcht und ab— 
hängig von der Größe der Atomgewichte. 
Recht deutlich tritt dies bei Vergleichung 
der Atomvolumina der Elemente her— 
vor. Man kann zwar das Atomvolumen, 
d. h. den Raum, welchen die Maſſe des 
Atoms erfüllt, nicht nach abſolutem Maß 
meſſen, wohl aber nach einer relativen 
Maßeinheit, indem man die Räume ver— 
gleicht, welche von den Atomgewichten 
proportionalen Maſſen der verſchiedenen 
Elemente erfüllt werden. Nimmt man 
zur Einheit des ſpezifiſchen Gewichts das 
Waſſer und zur Einheit des Volumens 
den Raum, welcher von der Gewichts— 
einheit des Waſſers eingenommen wird, 
fo ergiebt ſich das Atomvolumen durch 
Diviſion des ſpecifiſchen Gewichts d in 


Schon 


früher hatte man beobachtet, daß ähn— 
liche Elemente ein gleiches oder nahezu 
gleiches Atomvolum beſitzen, daß dasſelbe 
bei andern mit dem Atomgewicht wächſt; 
zu tieferem Verſtändnis gelangte man aber 
erſt, als Lothar Meyer das Atomvo— 
lum als periodiſche Funktion der Atom— 
gewichte erklärte. In der nach der Größe 
der Atomgewichte geordneten Reihe der 
Elemente nimmt das Atomvolumen pe— 
riodiſch und allmählich ab und zu und in 


A 
das Atomgewicht A: V = na: 


Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


einer graphiſchen Darſtellung, in welcher 
man die Atomgewichte als Abſeiſſen und 
die entſprechende Atomvolumina als Or— 
dinaten einträgt, erhält man durch Ver— 
bindung der Endpunkte der letzteren eine 
Kurve, welche durch 5 Maxima in 6 Ab— 
ſchnitte zerlegt wird und aus deren Ver— 
lauf man ſofort erkennt, daß die Atom— 
volumina wie auch andere phyſikaliſche 
und chemiſche Eigenſchaften eine periodi— 
ſche Funktion der Größe ihres Atomge— 
wichtes ſind. An allen entſprechenden Stel— 
len der einander ähnlichen Kurvenſtücke 
ſtehen auch Elemente mit ähnlichen Eigen— 
ſchaften. Die Maxima der Kurve werden 
durch leichte, die drei letzten Maxima 
durch ſchwere Metalle gebildet; beſonders 
beachtenswert iſt aber, daß auch bei glei— 
chem oder nahezu gleichem Atomvolumen 
die Eigenſchaften ſehr verſchieden ſind, 
je nachdem das Element auf ſteigendem 
oder fallendem Kurvenaſt liegt, je nach— 
dem ihm alſo ein kleineres oder größe— 
res Atomvolumen zukommt als dem Ele— 
ment mit nächſt größerem Atomgewicht. 
Dehnbarkeit zeigen die Elemente, wel— 
che in einem Maximum oder Minimum 
der Kurve liegen oder unmittelbar auf 
ein ſolches folgen; alle leicht flüſſi— 
gen, flüchtigen und gasförmigen 
Elemente befinden ſich auf den aufſtei— 
genden Kurvenäſten, die ſtrengflüſſigen 
im oder nahe am Minimum oder auf 
den abſteigenden Aſten. Jedes Element, 
das ein größeres Atomvolumen beſitzt, 
als das ihm unmittelbar mit nächſt klei— 
nerem Atomgewicht vorhergehende, iſt 
leichtflüſſig und flüchtig, ſeine Molekeln 
laſſen ſich leicht von einander trennen. 
Umgekehrt iſt ſtrengflüſſig und ſchwer— 
flüchtig jedes Element, deſſen Atom— 


0 _ 


12 


Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


volumen kleiner oder doch nicht größer iſt 
als das des vorhergehenden Elements 
mit nächſt kleinerem Atomgewicht. Wor— 
auf dieſe Beziehungen beruhen, iſt bis 
jetzt nicht näher anzugeben. 

Die beſprochenen Eigenſchaften der 
Elemente ſtehen in nahem Zuſammenhang 
mit dem innern Gefüge der Maſſe, be— 
ſonders mit der Kriſtallform und der 
Ausdehnung durch die Wärme, und 
es zeigt ſich, daß die im oder nahe am 
Maximum befindlichen Elemente faſt durch— 
weg regulär kriſtalliſiren, während die 
auf ſteigender Kurve liegenden flüchtigen 
mehr oder weniger ſpröden Elemente nicht 
regulär kriſtalliſiren. Ferner beſitzen die 
letzten Elemente faſt ausnahmslos zwi— 
ſchen O0 und 1009 einen größeren Aus— 
dehnungsfoeffizienten als die am Mini— 
mum ſtehenden ſtrengflüſſigen. Auch für 
die Brechung des Lichtes durch die Ele— 
mente, die Leitungsfähigkeit für 
Wärme und Elektrizität, ſowie für 
die ſpezifiſche Wärme ſind Beziehungen 
zur Größe des Atomgewichts nachweisbar. 

Nicht minder als die phyſikaliſchen 


109 


zeigen ſich nun aber auch die chemiſchen 
Eigenſchaften der Elemente als pe— 
riodiſche Funktionen der Atomgewichte. 
So wechſelt das elektrochemiſche Ver— 
halten regelmäßig in der Weiſe, daß 
die Elemente auf fallender Kurve poſitiv, 
auf ſteigender negativ elektriſch ſind. Ver— 
gleicht man die auf verſchiedenen, einan— 
der entſprechenden Kurvenſtücken ſtehen— 
den Elemente mit einander, ſo zeigen ſich 
die poſitiven und negativen Eigenſchaf— 
ten ſehr verſchieden ſtark ausgeprägt. Be— 
ſonders fällt auf, daß in der Nähe der 
Minima des Atomvolumens die chemi— 
ſchen Gegenſätze ſehr gemildert ſind, wäh— 
rend ſie in der Nähe der Maxima ſchroff 
hervortreten. Eine Anhäufung von viel 
Maſſe in wenig Raum ſcheint alſo der 
Entwickelung eines ausgeprägt poſitiven 
oder negativen chemiſchen Charakters nicht 
günſtig zu ſein. Schärfer läßt ſich die 
Abhängigkeit des chemiſchen Wertes 
in ſeiner Abhängigkeit von der Größe des 
Atomgewichts verfolgen. So bilden die 
Anfangsglieder der Hauptgruppe folgende 
Verbindungen mit Chlor oder Waſſerſtoff: 


einwertig zweiwertig dreiwertig vierwertig dreiwertig zweiwertig einwertig 
LiCl Be Cl. BC], CH, NH, OH, FH 
NaCl Mg Cl. , E. PH, SH, CH 


Der chemiſche Wert fteigt alſo allmählich von 1 auf 4 und nimmt dann ebenſo regelmäßig wieder ab. 


Ag C! | cacı, 


Die größte Regelmäßigkeit zeigt ſich 


jedoch in der Zuſammenſetzung der Oxyde, 
Hydroxyde und Hydride oder, da die letz— 
teren wenig zahlreich ſind, in deren ent— 
ſprechenden Methylverbindungen oder Me— 
thiden, die ein den Hydriden ganz ana— 
loges Verhalten zeigen: 


Ahnliches findet ſich in andern Reihen: 
InCl,; | Sncl, | SbH, | 


De. JH 
Oxyde Hydroxyde Hydride | Methide 
Na,0 | Na0M)| — | Na(CH,) 
Mg,0, Mg(OH,| — | Mg(CH,), 
Al,0, Al(OH) ], — AI(CH,), 
Si,0, Si(OH), SiH, Si(CH,), 
PO | Po(oH), PH, | P(CH,), 
8,0, |‚S0,(OH), SH, S(CH,), 
C1,0, ‚CIO,(0H)) CIH CI(CH,) 


110 


Um die Regelmäßigkeit hervortreten zu 
laſſen, find ohne Berückſichtigung der Mo— 
lekulargewichte alle Formeln in über— 
einſtimmender Weiſe geſchrieben worden. 
Im Allgemeinen wächſt, wie man ſieht, 
in der nach der Größe der Atomgewichte 
geordneten Reihe der Elemente die Quan— 
tität Sauerſtoff, welcher von einem Atom 
eines anderen Elements gebunden wird, 
von Glied zu Glied um ein halbes Atom, 
jedoch nie weiter als bis zu 4 Atomen, 
worauf ſie wieder plötzlich auf ein hal— 
bes Atom zurückſinkt. Ganz verſchieden 
aber vom Sauerſtoff verhalten ſich, wie 
die Tabelle zeigt, der Waſſerſtoff und 
die einwertigen Radikale. Auf Grund die— 
ſer Regelmäßigkeit kann man ausſprechen: 
Der chemiſche Wert der Elemente, wie er 
ſich aus der Zuſammenſetzung ihrer Ver— 
bindungen ergiebt, iſt ebenfalls eine pe— 
riodiſche Funktion des Atomgewichts. 
Seine Perioden fallen mit den Perioden 
des allgemeinen chemiſchen Charakters 
nahe zuſammen; bis zum Kalium fällt 
je eine derſelben und von da ab je zwei 
auf eine Periode des Atomvolumens. 
Die angegebenen Beziehungen zwi— 
ſchen den Eigenſchaften der Elemente und 
den Atomgewichten ſind, wenn uns auch 
das allgemeine Geſetz, welches dieſelben be— 
herrſcht, noch unbekannt iſt, für eine Syſte— 
matik der Elemente von hohem Wert. 
Sie haben außerdem Anregung zu neuen 
Atomgewichtsbeſtimmungen gegeben und 
dadurch die Berichtigung mancher älteren, 
ungenauen Angabe herbeigeführt. So 
hatte, um nur ein Beiſpiel anzuführen, 
Bunſen das Atomgewicht des Cäſiums 
an der zuerſt dargeſtellten, ſehr geringen 
Quantität dieſes ſeltenen Elements vor— 
läufig zu 123,4 beſtimmt. Dieſe Zahl | 


Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


ſtört aber die Regelmäßigkeit der Dif— 
ferenzen zwiſchen den Atomgewichten der 
Alkalimetalle. 

Differenz: 


15,98 
16,05 
46,16 
38,20 


Lithium 7,01 
Natrium 22,99 
Kalium 39,04 
Rubidium 85,20 
Cäſium 123,40 

Daraufhin hat Johnſon und Al— 
len das Atomgewicht des Cäſiums noch 
einmal beſtimmt und — 132,7 gefun⸗ 
den, welche Zahl gleich darauf auch von 
Bunſen beſtätigt wurde. Hierdurch aber 
ergiebt ſich eine Differenz von 47,5 ge— 
gen Rubidium und damit die vorauszu— 
ſetzende Regelmäßigkeit. 

Bei Betrachtung der obigen Tabelle fal- 
len Lücken auf, welche durch die bekannten 
Elemente nicht auszufüllen ſind. Nach Men— 
delejeff fehlen hier Elemente, welche noch 
zu entdecken ſind, und nach der Stellung, 
welche ihnen das Syſtem von vornherein 
anweiſt, laſſen ſich ihre Eigenſchaften im 
Voraus beſtimmen. Mendelejeff führte 
dieſe Beſtimmungen aus und gab z. B. 
an, daß ein Element (von ihm proviſo— 
riſch Ekaaluminium genannt) zu ent— 
decken ſei, deſſen Atomgewicht etwa 68, 
deſſen ſpezifiſches Gewicht etwa 6 und 
deſſen Atomvolumen annähernd 11,5 be— 
trage. Hier haben wir alſo denſelben Fall 
wie in der Aſtronomie, wo Leverrier 
durch Rechnung auf die Exiſtenz eines 
bis dahin nicht beobachteten Planeten 
ſchloß und genau angab, zu welcher Zeit 
derſelbe an einem beſtimmten Ort er— 
ſcheinen werde. Und ſo wie Galle Le— 
verriers Rechnungen durch Auffindung 
des Planeten Neptun glänzend beſtätigte, 
fo fand auch Lecoq de Boisbaudran 
das Gallium, deſſen Atomgewicht 69,8, 


— 


Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


deſſen ſpezifiſches Gewicht 5,9 und deſſen 
Atomvolumen 11,8 beträgt. Auch in einem 
zweiten Falle ſcheint ſich die Vorherſage 
Mendelejeffs zu beſtätigen, indem 
Cleve das von Nilſon entdeckte Scan— 
dium für Mendelejeffs Ekabor hält 
und angiebt, daß die an dieſem neuen 
Element aufgefundenen Eigenſchaften ſehr 
gut mit den von Mendelejeff gefor— 
derten übereinſtimmen. „Die Vorausbe— 
ſtimmung der Eigenſchaften der noch feh— 
lenden Elemente,“ ſagt Lothar Meyer, 
„iſt jedenfalls eine der reizvollſten, aber 
auch ſchwierigſten Aufgaben der chemi— 
ſchen Wiſſenſchaft. Sie entbehrt nicht 
ganz der Ahnlichkeit mit der Vorausbe— 
rechnung eines noch unentdeckten Plane— 
ten. Iſt aber auch die Aufgabe der des 
Aſtronomen nicht unähnlich, ſo dürfen 
wir darum nicht überſehen, daß die Hülfs— 
mittel zu ihrer Löſung, über welche die 
Chemie gebietet, zur Zeit noch ſehr viel 
ſchwächer und unzuverläſſiger ſind als 
die von dem einheitlichen Prinzip des 
Newtonſchen Gravitationsgeſetzes aus— 
gehenden, von Maß und Zahl getrage— 
nen Theorien der Aſtronomie. Sind wir 
uns aber der Schwäche unſerer Waffen 
bewußt, ſo wird es immerhin erlaubt 
ſein, unſere Kräfte dadurch zu erproben, 
daß wir die Eigenſchaften der noch un— 
entdeckten Elemente nach möglichſter Wahr— 
ſcheinlichkeit vorausbeſtimmen, um ſie ſpä— 
ter vielleicht mit den wirklich beobachte— 
ten vergleichen und danach den Wert 
oder Unwert unſerer theoretiſchen Spe⸗ 
kulationen beurteilen zu können.“ 
Keinem Zweifel kann es unterliegen, 
daß die auf die Atomgewichtszahlen ba— 
ſirte Syſtematik der Elemente die Grund— 
lage einer künftigen vergleichenden Af— 


111 


finitätslehre ſein und bleiben wird; die 
Unterſuchungen über die Beziehungen der 
Atomgewichte zu einander deuten aber 
noch auf ein ferneres Ziel, welches ſeit 
langer Zeit geahnt, ſich immer ſchärfer 
zu zeigen beginnt, nämlich die Erkennt— 
nis der Natur der Elemente. An— 
geſichts der oben vorgeführten Thatſachen 
wird man ſich kaum noch der Vorſtel— 
lung verſchließen können, daß wie die 
Moleküle aus Atomen, ſo die Atome aus 
Einheiten höheren Grades beſtehen, daß 
die Elemente in der That nicht chemiſch 
einfache, ſondern zuſammengeſetzte Kör— 
per ſind. In dieſer Hinſicht liegen mehrere 
Hypotheſen vor. So glaubt, um nur 
eine derſelben anzuführen, Zängerle 
aus den beobachteten Regelmäßigkeiten 
innerhalb einer natürlichen Gruppe ſchlie— 
ßen zu dürfen, daß die zu einer ſolchen 
gehörenden Elemente Kombinationen dreier 
Urelemente ſind, und daß ſich demnach 
das Atomgewicht irgend eines chemiſchen 
Elementes durch die Formel bDA+cE-+dI 
ausdrücken laſſe, wo b, c, d die Anzahl, 
A, E, I die Gewichte der Atome der 
Urelemente bedeuten. 

Wichtiger erſcheinen augenblicklich die 
Experimentalunterſuchungen, welche auf 
das Zuſammengeſetztſein der Elemente hin— 
deuten. In dieſer Hinſicht iſt Lockyer 
durch ſpektralanalytiſche Arbeiten zu weit— 
gehenden Schlüſſen gelangt“) und Fleck 
hat, ebenfalls auf ſpektroſkopiſche Ver— 
ſuche geſtützt, die Vermutung ausgeſpro— 
chen, daß das Calcium kein elementarer 
Körper ſei. Dieſer Anſicht iſt Cappell 
beigetreten, da er fand, daß die Licht— 
ſtärke, welche die blaue 8-Linie des Cal— 
ciumſpektrums im Induktionsfunken zeigt, 


) Vgl. Kosmos, Bd. VI. S. 219 u. fgde. 


112 Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 


für die in der Natur vorkommenden Geſteine 
und Kriſtalle des Caleits unter weſent— 
lich gleichen Bedingungen des Experimen— 
tes beträchtlichen Differenzen unterworfen 
iſt. Die d-Linie ſcheint für ſich allein 
einen elementaren Körper zu repräſenti— 
ren, der ſich in den Calcium enthalten— 
den Körpern in ſehr verſchiedener Menge 
findet. „Was aber von dieſer Linie gilt, 
wird notwendiger Weiſe auch von den 
andern Linien des Calciums gelten müſ— 
ſen, da die abnehmende Lichtſtärke der 
einen notwendig die Zunahme der Licht— 
ſtärke bei andern Linien bedingt. Ver— 
allgemeinert man dieſe Schlüſſe auf alle 
Körper und giebt die Annahme ihrer für 
elementar gehaltenen Beſchaffenheit auf, 
ſo erſcheint es am natürlichſten, anzu— 
nehmen, daß die wahre Zahl der Ele— 
mente ſo groß iſt wie diejenige der me— 


präſentirt wird.“ Die hier wiedergege— 
bene Anſicht dürfte wohl einer Modifi— 
cirung bedürfen, an dieſer Stelle aber 
genügt es, die thatſächlichen Ergebniſſe 
der Unterſuchung vorgeführt zu haben. 

Zu ähnlichen Reſultaten ſind, wie 
früher in dieſen Blättern (Bd. VI. S. 59) 
mitgeteilt wurde, Victor Meyer hin— 
ſichtlich des Chlors und Groß hinſichtlich 
des Schwefels gelangt, und der Glaube 
an die Einfachheit unſrer ſogenannten 
Elemente iſt ſo gründlich erſchüttert, daß 
Raoul Pictet in Genf ſoeben mit po— 
ſitiven Vorſchlägen hervorgetreten iſt, die 
das Ziel verfolgen, koloſſale paraboliſche 
Hohlſpiegel zu konſtruiren, um mit ihrer 
Hülfe zunächſt die ſogenannten Metalloide, 
dann die Metalle in ihre Beſtandteile 
zu zerſetzen. Man darf auf den Erfolg 
dieſer Verſuche um ſo mehr geſpannt ſein, 


talliſchen Linien und daß jeder Körper | als ein pofitives Ergebnis keineswegs mit 
in ſeinem elementaren Zuſtande durch | Sicherheit zu erwarten iſt. 
eine und zwar nur durch eine Linie re- 


en 


Der Schlaf und die Träume, 


J. Delboeuf, 


Profeſſor an der Univerſität Lüttich. 


der Glaube im allgemeinen, 
und der Glaube an eine äußere 


Wirklickkeit im befondern ? 


einer Gewohnheit. Kraft einer 
Gewohnheit legen wir dem 

5 durch den Spiegel zurückge— 
worfenen Bilde ein körperliches Weſen 
bei, kraft einer Gewohnheit glaubt der 
Hallueinirende an die Wirklichkeit feiner 
Viſionen. 

Es giebt etwas außer mir, es giebt 
ein Nicht-Ich — das iſt das erſte be— 
wußte, von dem empfindenden Weſen 
gefällte Urteil. Und von dem Tage, an 
welchem es dieſes Urteil gefällt hat, da— 
tirt ſeine erſte Wahrnehmung: es unter— 
ſcheidet ſich von den Dingen der Um— 
gebung und lernt ſie kennen. 


1. Auf welchem Grunde rulit 


Ihre Beziehungen zu der Theorie von der Gewißheit. 


Durch eine ſpätere Erfahrung ſtellt 
es feſt, daß das empfindende, innere Ich 


einer äußeren Hülle verbunden iſt, welche 


es nach Art einer fremden und unab⸗ 


5 hängigen Sache wahrnimmt: hier liegt 
nn har eder Glaube iſt das Ergebnis 


der Urſprung des Gegenſatzes, welchen 
das Bewußtſein zwiſchen Seele und Kör— 
per aufſtellt. Für jedes empfindende We— 
ſen iſt der eigene Körper ein Objekt der 
Wahrnehmung. 

Für den Augenblick habe ich nicht 
nötig, mich weiter über dieſe Präliminar— 
feſtſtellungen zu verbreiten, da ich es mit 
hinreichend ausführlichen Entwicklungen 
in einer andern Abhandlung?) gethan 
und darauf ſpäter zurückzukommen habe. 

Jede Wahrnehmung (perception) iſt 
im ſtande, ganz oder zum Teil in den Zu— 
ſtand der Vorſtellung (conception) über— 


*) La Psychologie comme science naturelle. 
Paris et Bruxelles. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 


114 


zugehen. Seit lange haben die Phyſio— 
logen Wahrnehmung und Vorſtellung un— 
terſchieden. Die Wahrnehmung iſt das 
Bild eines äußern Gegenſtandes, wie es 
ſich in unſerm Geiſte unter der direkten 
und gegenwärtigen Einwirkung dieſes Ge— 
genſtandes bildet. Die Wahrnehmung iſt 
immer begrenzt. So erhalte ich den Ge— 
ſichtseindruck eines Pferdes oder den Ge— 


fühlseindruck einer Stecknadel, wenn das 


Pferd gegenwärtig auf mein Auge oder 
die Nadel auf mein Taſtgefühl wirkend, 


in mir die Idee von dieſem Pferde oder 


von dieſer Nadel, als äußere und auf 
meine Empfindung wirkende Urſache, ent— 
ſtehen läßt. 

Ein anderes iſt das Bild eines früher 
aufgenommenen Gegenſtandes, das in Ab— 
weſenheit deſſelben, oder wenigſtens außer— 
halb des Bereiches ſeiner unmittelbaren 
Einwirkung in meinem Geiſte hervorge— 
rufen wird. Derart iſt die Idee, die ich 


von einem Pferde oder einer Nadel habe, 


die ich nicht ſehe, oder welche ich in dem 
Augenblick, wo ich dieſe Idee habe, nicht 
empfinde. Das ſo hervorgebrachte Bild 
iſt ein Erinnerungsbild. 

Neben dieſe Bilder, deren Gegen— 
ſtand nicht mehr gegenwärtig iſt, ordnen 
ſich naturgemäß und notwendig die Ein— 
bildungen ein, welche nicht einem wirk— 


lichen Gegenſtande entſprechen und das 


Erzeugnis der abſichtlichen oder unab— 
ſichtlichen Verbindungen der in den Zu— 
ſtand von Erinnerungsbildern überge— 
gangenen Eindrücke ſind. Derart ſind die 
Ideen, die ich mir von einem Centauren, 
einer Chimäre oder einem Baume in 
Menſchengeſtalt mache. In denſelben Rang 
mit dieſen Einbildungen, welche man phan— 
taſtiſche nennen kann, muß man ferner 


| 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


diejenigen ſtellen, welche man als natur— 
wiſſenſchaftliche, hiſtoriſche, künſtleriſche 
u. ſ. w. klaſſifiziren könnte. So iſt man 
dahin gelangt, ſich die Fauna und Flora 
der Urepochen vorzuſtellen, ſo macht man 
ſich Ideen von Ländern, welche man nie 
beſucht hat; ſo giebt man dem Homer, 
Moſes, Confucius, Alexander, 
Cäſar beſtimmte Geſichtsformen, und ſo 
haben die Griechen in unvergänglichem 
Marmor die Züge aller ihrer Götter 
und aller ihrer Heroen fixirt. 

Die Erinnerungs- und Phantaſiebil— 
der ſind Vorſtellungen. Allerdings be— 
ſchränken ſich unſere Vorſtellungen nicht 


auf materielle Bilder. Dank der Sprache, 


mit der er begabt iſt, treibt der Menſch 
das Vermögen der Abſtraktion bis zu 
einem ſehr hohen Grade und gelangt 
dahin, ſich die einer körperlichen Dar— 
ſtellung unzugänglichen Dinge vorzuſtellen, 
wie z. B. die Tugend, die Pflicht, die 
Güte, die Kraft. Da wir in dem Fol— 
genden nur ſelten benötigt ſein werden, 
von dieſer berechtigten Ausdehnung der 
Bedeutung des Wortes „Vorſtellung“ 
Gebrauch zu machen, ſo wird es uns bei— 
nahe ausſchließlich dazu dienen, um die Bil— 
der zu bezeichnen, welche die Frucht einer 
direkten Auffaſſung geweſen ſind, oder 
wie dieſe entſtanden ſind. Ich habe nie— 
mals die direkte Auffaſſung eines Cen— 
tauren oder Cäſars haben können, aber 
dank den Büchern und den künſtleriſchen 
Darſtellungen machen ſie mir die Wir— 


kung, als wären ſie der Gegenſtand einer 
ſolchen, oder könnten es geweſen ſein. 


Die Wahrnehmungen ſind immer le— 
bendig (actuell). Die Vorſtellungen kön— 
nen lebendig oder ſchlummernd (potentiell) 
ſein. Die Vorſtellung iſt lebendig, wenn 


— 


A 


Her en EEE pe 


Fe 


ig 


fie dem Geiſte ſichtbar iſt, den Gegen— 
ſtand der Aufmerkſamkeit bildet, einen 


ſie im Augenblicke nicht den Gegenſtand 
des inneren Sehens ausmacht. Man darf 
dieſes ſchlummernde Vermögen nicht mit 
der Potentialität verwechſeln, wie ſie 
Ariſtoteles verſteht. Für ihn würde 
eine beſtimmte Vorſtellung, welche noch 
nicht gebildet wäre, aber es ſein könnte, 
potentialiter vorhanden ſein; während eine 
ſchlummernde Vorſtellung eine ſolche iſt, 
welche wenigſtens ſchon einmal unter der 
Form des Sinneseindrucks oder der Wahr— 
nehmung Daſein gewonnen hatte. Ich 
habe nicht fortwährend mein ganzes Wiſ— 
ſen, alle meine Erinnerungen, alle meine 
Ideen gegenwärtig. Nur ein Teil, ein 
unendlich geringer Teil dieſes Wiſſens 
kann jedesmal in einem gegebenen Augen— 
blick Gegenſtand eines Bewußtſeins-Aktes 
ſein, der Reſt bleibt in der Dunkelheit 
der Bewußtloſigkeit verſenkt, und ſtellt 
das potentielle Wiſſen Strickers dar. 
Nach den Bedürfniſſen des Moments tau— 
chen die Elemente des potentiellen Wiſ— 
ſens an das Tageslicht empor, indem ſie 
diejenigen in den Schatten zurückdrängen, 
welche ſich einen Augenblick vorher im 
vollen Lichte befanden. Solcherart iſt 
das beſtändige Spiel des Geiſteslebens. 

Der Kürze halber werde ich unter 
Vorſtellungen, wenn ich ſie nicht ſpeziell 
als ſchlummernde bezeichne, nur die le— 
bendigen verſtehen. 

Die reale oder fiktive Vorſtellung hat, 
allgemein geſprochen, ihrem Charakter ge— 
mäß, ihren Urſprung in einem vorher— 
gegangenen Sinneseindruck. Ich kann mir 
weder Pferd, noch Centaur vorſtellen, 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


115 


wenn ich noch kein Pferd geſehen habe. 


Teil des Bewußtſeinszuſtandes ausmacht. 
Sie iſt im Gegenteil ſchlummernd, wenn 


Aber von dem Augenblicke, wo ich den 
Eindruck eines Pferdes erhalten habe, 
werde ich davon in ungeſchwächter Weiſe 
— tauſend Thatſachen beweiſen das — 
die potentielle Vorſtellung bewahren, ob— 
wohl es geſchehen kann, daß die Gelegen— 
heit niemals kommt, dieſe Vorſtellung aus 
der Möglichkeit in die Wirklichkeit zu 
rufen. Das iſt für den Augenblick ganz 
gleichgültig. 

Aber hier trifft man auf eine Be— 
merkung von der höchſten Wichtigkeit, 
nämlich, daß die lebendige Vorſtellung 
nicht möglich iſt, ſo lange der Gegen— 
ſtand auf unſre Sinne wirkt. Mit einem 
Worte, die Wahrnehmung und die Vor— 
ſtellung eines und deſſelben Gegenſtandes 
können im Bewußtſein nicht gleichzeitig 
exiſtiren: die erſtere löſcht vollſtändig die 
letztere aus. Die Wirklichkeit nimmt uns 
eiferſüchtiger Weiſe ganz in Beſchlag; 
die geſammte Gedankenwelt verſchwindet 
vor ihr wie die Sterne vor der Sonne. 

Dieſe Erfahrung iſt unſchwer zu ma— 
chen. Man verſuche ſich lebhaft ein be— 
kanntes Gemälde vorzuſtellen. Die Sache 
iſt leicht, wenn man die Augen ſchließt, 
das Bild wird ſelbſt einen bis zur 
Illuſion gehenden Glanz gewinnen. Ein 
Maler kann ein Porträt aus dem Ge— 
dächtnis zeichnen. Wenn man die Augen 
weit geöffnet hat, wird die dazu erfor— 
derliche Anſtrengung ſchon unbequemer 
ſein, man muß ſozuſagen durch die Kraft 
des Willens ihre Sehkraft unterdrücken, 
ſie im Angeſicht der Dinge, welche ihre 
Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen könnten, 
mit Blindheit ſchlagen. Aber wenn man 
ſeine Blicke auf einen beſtimmten Gegen— 
ſtand, z. B. einen Kupferſtich fixirt, ſo 


N 


116 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


wird es beinahe unmöglich ſein, das in dete Gewißheit ſchwierig, wenn nicht un— 


Gedanken vorgeſtellte Gemälde zu ſehen. 
Aber ganz ſicher wird man am wenigſten 
dazu gelangen, wenn man das Gemälde 
ſelbſt vor ſich hat und es betrachtet. 

Ein anderes Beiſpiel. Jeder verſteht 
es, mehr oder weniger gut im Geiſte 
eine bekannte Melodie zu ſingen. Ge— 
räuſch legt der Ausübung dieſer Fähig— 
keit gewiſſe Schwierigkeiten in den Weg, 
aber eine verſchiedene Melodie, welche 
ſich in der Nachbarſchaft hören läßt, ſtört 
ſie noch mehr und um ſo ſtärker, je mehr 
ſie ſich durch Bewegung und Rhythmus 
der gewählten nähert. Sind endlich die 
beiden Geſänge gleich, ſo iſt jeder Ver— 
ſuch, die inneren Noten zu hören, abſolut 
vergeblich. 

Der Glaube an das Daſein des 
wahrgenommenen Objekts drängt ſich uns 
auf. Descartes hat geſagt: „Ich denke, 
darum bin ich;“ er würde mit ebenſoviel 
Grund haben hinzufügen können: ich 
mache Wahrnehmungen, alſo giebt es 
ein wahrgenommenes Objekt. Ich wieder— 
hole es: Selbſtbewußtſein haben iſt, exak— 
ter ausgedrückt, Bewußtſein des Nichtſelbſt. 
Ohne Zweifel, der Glaube an unſre eigenen 
Empfindungen iſt logiſch das erſte und 
dient jeder Art von Glauben als abſolutes 
Modell, aber der Glaube an eine äußere 
Wirklichkeit, welcher Art ſie auch ſein 
möge, iſt ihm an Intenſität gleich. Ebenſo 
ſicher wie ich weiß, daß ich exiſtire, weiß 
ich auch, daß ich nicht alles bin, was 
exiſtirt. Wenn die Empfindung der Wirk— 
lichkeit ſich ſchwächt, verdunkelt ſich die— 
jenige des Ich's in gleichem Maße. Es 
iſt dies dasjenige, was im Traume, in 
der Trunkenheit, im Wahnſinn ſtattfin— 
det. In dieſem Fall wird eine begrün— 


möglich zu erhalten ſein. 
Der Grund alles Glaubens iſt alſo 
das Gefühl einer äußern, auf unſre Sinne 


einwirkenden Realität, und dieſes Gefühl 


iſt die Frucht einer Gewohnheit, welche 
das Individuum von ſeinen Ahnen er— 
erbt und ſeitdem nicht aufgehört hat, 
durch ſeine eigene Erfahrung zu ver— 
ſtärken. 


2. Warum glaubt man im Wachen nicht 
an die Realität feiner Träumereien, und 
warum glaubt man im Traume daran? 


Hinſichtlich ihrer weſentlichen phyſio— 
logiſchen Kennzeichen weicht die Vorſtel— 
lung mithin nicht von der Wahrnehmung 
ab. Der Unterſchied zwiſchen beiden be— 
ruht auf einem äußeren Umſtand, der 
Gegenwart oder Abweſenheit des Objekts 
derſelben. Nun erfaſſe ich das Objekt 
nur durch das Zwiſchenglied meines Em— 
pfindungsvermögens, wie kann ich alſo 
erkennen, ob eine Vorſtellung nicht eine 
Wahrnehmung iſt? Oder ferner: Wodurch 
kann ich mich vergewiſſern, daß eine Wahr— 
nehmung nicht eine Vorſtellung iſt, und 
daß ein wirklicher Gegenſtand da iſt, dem 
ſie entſpricht? Liegt darin nicht eine ma— 
terielle Unmöglichkeit? 

Eine der Perſonen von Daudets 
„Nabob“ giebt mir eine ausgezeichnete An— 
knüpfung, um auf dieſe Frage zu ant— 
worten: 

„Herr Joyeuſe war ein 
Mann von fruchtbarer, erſtaunlicher Ein— 
bildungskraft. Die Ideen wirbelten bei 
ihm mit der Geſchwindigkeit der Spreu— 
hülſen im Umkreiſe eines Siebes. Im 
Bureau hielt ihn noch die Beſchäftigung 


e 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


mit den Zahlen durch ihren poſitiven 
Charakter feſt; aber draußen entſchädigte 


ſich ſein Geiſt für dieſes unbarmherzige 


wöhnung an einen Weg, deſſen geringſte 
Eigenheiten er kannte, gaben den Fähig— 
keiten ſeiner Einbildungskraft vollkommene 
Freiheit. Er erfand dann außerordent— 
liche Abenteuer, hinreichend, um zwanzig 
Roman-⸗Feuilletons zu füllen. 

„So zum Beiſpiel erblickte Herr 
Joyeuſe, indem er auf dem rechten Trot— 
toir — er wählte immer dieſes — zum 
Faubourg Saint-Honors hinaufſtieg, einen 
ſchweren Wäſcherin-Karren, der im ſchnel— 
len Trab dahinging, geführt von einer 
Frau, deren auf einem Wäſchebündel 
ſitzendes Kind ein wenig überneigte. 

„Das Kind!“ ſchrie der erſchreckte 
Bonhomme, „geben Sie Acht auf das 
Kind!“ 

„Seine Stimme verlor ſich im Stra— 
ßenlärm und ſein Mahnruf im Dunkel 
der Vorſehung. Die Karre fuhr vor— 
über; einen Augenblick verfolgte er ſie 
mit dem Auge, und ging dann ſeines 
Wegs; aber das in ſeinem Geiſte an— 
geſponnene Drama fuhr fort, ſich mit 
tauſend Umwegen zu entwickeln. . . . . . 
Das Kind war geſtürzt. . . ... Die Rä⸗ 
der mußten ſogleich darüber hinweggehen. .. 
Herr Joyeuſe ſprang vor, rettete das 
kleine, dem Tode ganz nahe Weſen, allein 
die Deichſel traf ihn mitten in die Bruſt 
und er fiel in ſeinem Blut gebadet nie— 
der. Darauf ſah er ſich inmitten der 
angeſammelten Volksmenge zum Apothe— 
ker getragen. Man legte ihn auf eine 
Tragbahre, um ihn in ſeine Wohnung hin— 
aufzutragen, dann hörte er plötzlich den 
herzzerreißenden Schrei ſeiner heißgelieb— 


117 


ten Töchter, als ſie ihn in dieſem Zu— 
ſtande erblickten. Und dieſer verzweifelte 


| Schrei traf ihn bis ins Herz, er vernahm 
Handwerk. Das Spazierengehen, die Ge 
mein theurer Papa. .... daß er ihn ſelbſt 


ihn ſo beſtimmt, ſo tiefgehend: „Papa, 


zum großen Staunen der Vorübergehen— 
den auf der Straße ausſtieß, mit einer 
heiſern Stimme, die ihn aus den Ban— 
den ſeines erfinderiſchen Alps befreite.“ 
Der Verfaſſer fügt ein wenig wei— 
terhin folgende einſichtige Worte hinzu: 
„Die Raſſe dieſer wachen Träumer, 
bei denen ein zu beſchränktes Geſchick un— 
angewendete Kräfte, heroiſche Fähigkei— 
ten unterdrückt, iſt zahlreicher als man 
glaubt. Der Traum iſt das Ventil, durch 
welches alles das mit ſchrecklichem Auf— 
ſieden verdunſtet, ein Ofenrauch mit bald 
zerfloſſenen, ſtrömenden Bildern. Aus die— 
ſen Viſionen gehen die einen ſtrahlend, 
die andern niedergebeugt und faſſungslos 
hervor, indem ſie ſich am Boden und 
immer am Boden wiederfinden.“ “) 
Wer von uns iſt nicht jezuweilen 
dieſer durch den berühmten Erzähler ſo 
wohl beſchriebene wache Träumer gewe— 
ſen? Wo wäre eine Literatur, die ſich 
nicht dieſes Typus bemächtigt hätte, 
dem man auf dem Theater und bis zu 
den Fabeln herab begegnet? War es 
nicht aus Indien, von wo uns durch eine 
Reihe allmählicher Umbildungen dieſe köſt— 
liche Perrette zukam, welche in einem Freu— 
denrauſch den Milchtopf, in welchem ſie 
ein ganzes Vermögen ſah, hinwirft? Je— 
dermann kennt die geiſtvollen Commentare 
des Poeten auswendig: 
Quel esprit ne bat la campagne? 


Qui ne fait chäteaux en Espagne 
Picrochole, Pyrrhus, la laitière, enfin tous, 


*) Le Nabab. Ch. V. La famille Joyeuse. 


118 


Autant les sages que les fous. 
Chacun songe en veillant; il n’est rien de 
plus doux; 
Une flatteuse erreur emporte alors nos ämes: 
Tout le bien du monde est à nous, 
Toutes les honneurs, toutes les femmes. 
Quand je suis seul, je fais au plus brave 
un defi; 
Je m'écarte, je vais detröner le sophi; 
On m’elit roi, mon peuple m’aime; 
Les diademes vont sur ma tete pleuvant: 
Quelque accident fait-il que je rentre en 
moi-meme, 
Je suis Gros-Jean comme devant.*) 
Es iſt alſo ein „accident“, ein Zwi— 
ſchenfall nötig, um den Träumer wieder 
zu ſich ſelbſt zu bringen, hier iſt es der 
unglückſelige Freudenſprung der Milchfrau, 
dort der von Herrn Joyeuſe ausgeſtoßene 
Schrei. Aber wie wirkt dieſer Zwiſchen— 
fall? Offenbar durch den Contraſt. Ich 
ſuche für den Moment die Thatſache nur 
feſtzuſtellen, nicht zu erklären. Zwiſchen 
dem Eindruck, welchen Herr Joyeuſe 
von den Reden empfing, die er nur in 
ſeiner Einbildung hörte, und demjenigen, 
welchen ihm die wirklich von ihm ſelbſt 
ausgeſprochenen Worte verurſachten, war 
der Unterſchied ſo markirt, daß er ſich 
nicht enthalten konnte, ſie auf zwei ent— 
gegengeſetzte Urſachen zu beziehen, und 
er ſchloß, daß die Urſache auf der einen 
Seite eingebildet, auf der andern wirk— 
lich war. Ebenſo mußte wohl die hüb— 
ſche Perrette, welche ſoviel Intereſſe an 
den Sprüngen der Kuh und ihres Kälb— 
chens nahm, mit traurigem Blicke von 
allen dieſen eingebildeten Gütern Abſchied 
Anm. d. Überſetzers. Die Verſe find 
aus Lafontaines Laitiere. Da aber der 
deutſche Leſer dieſe Stelle kaum auswendig wiſ— 
ſen wird, habe ich ſie (ſtatt der vom Verfaſſer 
zitirten Anfangs- und Schlußverſe) vollſtändig 
wiedergegeben. 


"Se EN HERE 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


nehmen, als die unbarmherzige Wirklich— 
keit ihren Blicken die vergoſſene Milch 
zeigte. Die Illuſion war nicht mehr mög— 
lich. Was fehlt nun den Träumereien, 
um für Träume gehalten zu werden? 
Sehr wenig, es reicht hin, daß der Träu— 
mer im Schlafe ſei. Wenn Herr Joyeuſe, 
anſtatt ſich nach ſeinem Bureau zu be— 
geben, ſeinen Roman während der Mit— 
tagsruhe in ſeinem Lehnſtuhl begonnen 
und ſich unmerklich in den Schlummer 
hinübergeträumt hätte, ſo wäre die phy— 
ſiologiſche Erſcheinung nicht verſchieden 
geweſen. i 

Der Traum wird alſo durch einen 
gänzlich phyſiologiſchen Umſtand charak— 
teriſirt; er erzeugt ſich im Schlafzu— 
ſtande. Auf dieſe Art gewinnen wir 
unſrerſeits die Erklärung des Ariſto— 
teles zurück: „Das durch die Bewe— 
gung der Sinneseindrücke, während man 
ſchläft und ſoweit man ſchläft, erzeugte 
Bild, das iſt der Traum.“ “) 

Erläutern wir dieſe Erklärung, ſehen 
wir zu, warum Ariſtoteles, nachdem 
er geſagt hat: „wenn man ſchläft,“ hin— 
zuſetzt: „ſoweit man ſchläft.“ 

„Der Traum“, ſagt er, „iſt nicht jedes 
Bild, welches uns während des Schlafes 
erſcheint; denn es paſſirt uns manchmal, 
daß wir in einer gewiſſen Weiſe Ge— 
räuſche, Licht, einen Geruch, und eine 
Berührung empfinden, — ſchwach aller— 
dings und wie von ferne. So z. B. wird 
man mitunter im Schlafe einen ſchwachen 
Lichtſchein undeutlich erblicken, welchen 
man im Schlafe für den einer Lampe 
nehmen wird, und bei ſeinem Erwachen 
wird man erkennen, daß es wirklich das 
Licht einer Lampe war, und ebenſo wird 


) Von den Träumen, Kap. III. 


7 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


es mit dem Krähen der Hähne und dem 
Bellen der Hunde gehen, welches man 
beim Erwachen wirklich vorfindet. Manch— 
mal wird man auf Fragen antworten. 
Dies kommt daher, daß, ebenſo wie das 
Wachen, der Schlaf nur teilweiſe iſt.“ 

Dies iſt eine Bemerkung von tiefer 
Wahrheit. Wie oft paſſirt es mir nicht, 
gegen die Stunde des Erwachens zum 
Beiſpiel in einen angenehmen, obwohl voll— 
kommen bizarren und ganz unwahrſchein— 
lichen Traum verſenkt zu ſein, und zur 
ſelben Zeit über meinem Kopfe die Schritte 
und das Geplauder der ihre Toilette 
machenden Kinder zu vernehmen, un— 
ter mir das Gehen und Kommen der 
Diener, welche den Eßſaal reinigen und 
den Frühſtückstiſch bereiten? Ich ſchlafe 
in Bezug auf meinen Traum; ich bin 
wach für dieſe verſchiedenen Geräuſche, 
welche die Wiederkehr des Lebens an— 
zeigen, — Erſcheinungen der nämlichen 
Art bieten ſich in der Stunde dar, in 
welcher man ſich anſchickt, einzuſchlafen. 

Und giebt es nicht ferner, allgemein 
geſprochen, in dieſen beiden Übergangs— 
zuſtänden ein ſchrittweiſes Eindringen, ſei 
es des Wachens in den Schlaf oder des 
Schlafs in den wachen Zuſtand? Es 
giebt alſo Augenblicke, wo man nur teil— 
weiſe wacht oder ſchläft. Der Bediente, 
den man beauftragt hat, zum Wecken an 
die Thür zu klopfen, wendet ſich an den 
Teil der Seele, der bereits hört und 
die äußern Geräuſche wahrnimmt. Denn 
wie würde er ohne dies dahin gelangen, 
uns aufzuwecken? Wie könnte man ihm ant— 
worten? Nun, obwohl dieſe Wahrnehmung 
im Schlafe ſtattfindet, iſt ſie ſicherlich kein 
Traum. Schließen wir denn, und ſparen die 
Benennung Traum für diejenigen Bilder 


119 


und Vorſtellungen, welche ſich unſerm Geiſte 
darbieten, während und ſoweit wir ſchlafen. 

Darin haben wir ein erſtes und un— 
terſcheidendes Merkmal des Traumes. 
Man ſieht mühelos, daß dieſe Definition 
ſich völlig gegenüber den Hallueinationen 
eines Irren, den Delirien eines Fieber— 
kranken, den wollüſtigen Ekſtaſen eines 
Opiumrauchers, den Tollheiten eines Be— 
trunkenen bewährt. Der Traum, die Hal— 
lueination, das Delirium, die Ekſtaſe, 
die Trunkenheit ſind das, was ſie ſind, 
und als ſolche charakteriſirt, auf Grund 
des phyſiologiſchen Zuſtandes der Perſon, 
bei welcher ſie ſich zeigen. Man ſpricht 
ohne Zweifel in der gewöhnlichen Rede— 
weiſe von den Träumen eines Ir— 
ren; aber in wiſſenſchaftlicher Sprache 
muß man in derſelben Weiſe, wie der 
Wahnſinn und der Schlaf zwei verſchie— 
dene phyſiologiſche Zuſtände ſind, ebenſo 
die phantaſtiſchen Bilder, welche ſich dem 
geſunden Menſchen während des Schlafes 
zeigen, und die chimäriſchen Vorſtellun— 
gen eines Irren, eines Fiebernden und 
eines wahren Trunkenboldes von ein— 
ander unterſcheiden.“ 

Indeſſen iſt es nötig, der Einſchrän— 
kung des Ariſtoteles ihr ganzes Ge— 
wicht zu geben. Erinnern wir uns deſ— 
ſen, was Stricker ſagt. Ich träume 


von Räubern und ich habe Furcht; die 


Briganten exiſtiren nicht, aber meine 
Furcht iſt vorhanden. Gehört dieſe Furcht 
meiner Seele, ſoweit ſie ſchläft? Eine 
Mutter ſieht im Traume ihr einziges 
Kind in einen Abgrund rollen und es 
zerreißt ihr Herz. Iſt die Angſt, welche 
ſie empfindet, nicht eine Wirklichkeit? 
Der Beweggrund iſt eingebildet, ich gebe 


es zu, aber wird dadurch die Empfin— 


120 


dung verändert? Iſt der Schmerz oder 
das Vergnügen, welche wir bei der Mit— 
teilung einer falſchen Neuigkeit empfin— 
den, darum weniger Schmerz oder Ver— 
gnügen? Ein anderes Beiſpiel. Ich träume, 
daß ich mit meinen Freunden, die ich 
eingeladen habe, im Kaffeehauſe bin; ich 
mache anſtalt, für alle die Zeche zu be— 
zahlen, und nehme im geheimen die Zu— 
ſammenrechnung vor. Iſt nun dieſe Ope— 
ration eine Thätigkeit meines Geiſtes, 
ſoweit er unter der Herrſchaft des Schla— 
fes ſteht? Wenn ich, erwacht, denke, daß 
zwei mal zwei vier machen, wechſelt die— 
ſes Urteil ſeinen Charakter, wenn ich es 
im Traume ausdrücke? Iſt dieſe Folge 
der Ideen, dieſe Anwendung der gram— 
matikaliſchen Regeln die Thätigkeit des 
eingeſchlafenen Menſchen? oder ſollten ſie 
vielleicht ihren Urſprung in einem Teile 
der Seele haben, welcher niemals ſchläft? 
Wir haben früher geſehen, daß Spitta 
dem Gemüt die Eigenſchaft zuerteilte, 
niemals zu ſchlafen. Man kann, ſcheint 
mir, das Gebiet der Thätigkeiten, welche 
ſich der Umnebelung des Schlummers 
entziehen, noch erweitern. Mit einem 
Worte, die Gewohnheiten ſchlafen 
nicht. Der Teil, welcher ſchläft, iſt der— 
jenige, welcher augenblicklich aufgehört 
oder beinah aufgehört hat, in Verbin— 
dung mit der Außenwelt zu ſein. Man 
muß alſo ſorge tragen, zu unterſcheiden, 
was der Traum ſelbſt iſt, und was von 
dem Eindrucke des Traumes herrührt. 
Noch ein Beiſpiel, um die Aufhel— 
lung dieſes Punktes zu vollenden. In 
den letzten Ferien hatte ich meinen Kin— 
dern verſprochen, mit ihnen eine Tages— 
erfurfion zu machen. Tags vorher wur— 
den alle Einrichtungen dafür getroffen. 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


Es mußte mit dem erſten Zuge abge— 
fahren, dann auf einer beſtimmten Sta— 
tion ausgeſtiegen und der Weg zu Fuß 
fortgeſetzt werden. Wir mußten dazu früh 
aufſtehen. Gegen fünf Uhr morgens kommt 
die Magd, mir mitzuteilen, daß es regnet 
und daß der Regen andauern zu wollen 
ſcheint. Der Spaziergang wurde gezwun— 
generweiſe aufgeſchoben. Ich ſchlafe wie— 
der ein und träume von ſchönem Wetter. 
Das Exkurſionsprojekt kommt mir wieder 
in den Kopf: ich hatte unrecht gehabt, 
nicht trotz der Drohungen des Himmels 
aufzubrechen, wir würden nunmehr an 
der Station ſein, wo wir auszuſteigen 
hatten, und wir würden einen ſchönen 
Tag vor uns haben; man ſollte doch 
in unſerm Klima niemals vergeſſen, wie 
ſehr das Wetter von einem Augenblick 
zum andern wechſeln kann; manch liebes 
mal war es mir paſſirt, daß ich mich 
bei Regenwetter auf den Weg machte 
und eine Stunde nach meinem Aufbruch 
die Sonne glänzen ſah. Kurz, ich über— 
ließ mich allen den Reflexionen, welche 
ich im wachen Zuſtande nicht unterlaſſen 
haben würde zu machen, wenn das Wet— 
ter ſich wirklich zum beſſern gewendet 
hätte. War es der eingeſchlafene Menſch, 
welcher ſie anſtellte? Ich denke nicht. 
Es war der Menſch aller Tage. 

Im Traume — und dadurch unter— 
ſcheidet er ſich von der Träumerei — 
iſt die Illuſion vollſtändig. Der Grund 
davon iſt einfach. Der wache Träumer, 
um mich des glücklichen Ausdrucks Dau— 
dets zu bedienen, gefällt ſich in den 
Seitenſprüngen ſeiner Einbildungskraft, 
er überläßt ſich derſelben mit Bewußt— 
ſein und leitet ſie ſogar oft, aber er 
weiß, daß er unter der Herrſchaft einer 


3 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


mehr oder weniger freiwilligen Lüge ſteht. 
Dieſes ausgeſprochene Bewußtſein ent— 


ſtammt einzig dem Umſtande, daß er 


nicht von der umgebenden Welt abge— 
trennt iſt. Herr Joyeuſe ſieht die Häuſer, 
ellbogt (v. s. v.) die Vorübergehenden, 
erfaßt Worte, Schreie, Geräuſche jeder 
Art; und dieſe Eindrücke, obwohl ge— 
ſchwächt durch die Abwendung der Ge— 
danken, kontraſtiren immer noch vermöge 
ihrer Stärke mit den weichen und relief— 
loſen Eindrücken, welche in ſeiner Fabel 
durch die eingebildete Offizin des Apo— 
thekers, den umringenden Menſchenhaufen 
und die ihm in den Mund gelegten Re— 
flexionen geliefert werden. Die Verwechs— 
lung iſt nicht möglich. Das Haus, die 
Menſchenanſammlung, die Stimmen, alles 
das iſt deutlich eine Schöpfung ſeiner 
erfinderiſchen Einbildungskraft. 

Im Traume fehlt dieſer Vergleichs— 
punkt; unſre müden Sinne führen uns 
nur noch verſchwommene und abgeſtumpfte 
Eindrücke zu; unſre thätigſten Organe, 
vor allem das Auge, funktioniren nicht 
mehr; und nunmehr ſtellen die an die 
Oberfläche unſers Hirns ſchwimmenden 
Bilder eine eingebildete Welt dar, der 
wir den Charakter der Wirklichkeit leihen, 
kraft der eingewurzelten Gewohnheit, um 
uns ſtets eine von uns verſchiedene und 
ſogar uns entgegengeſetzte Welt zu ſehen. 
Es iſt mithin natürlich, daß ich im Traume 
meine eigenen Ideen, welche urſprünglich 
gegenſtändlichen Urſprungs geweſen ſind, 
zurückverkörpere, denn ſelbſt das wirk— 
liche Leben iſt nur eine Kette von Ver— 
körperungen. Denn, vergeſſen wir das 
nicht, wir ſehen die Dinge nicht wirklich, 
wir empfinden nur die Eindrücke, welche 
ſie uns zuſenden, und ſchließen, daß ſie 


9 


121 


als Urſache dieſer Eindrücke exiſtiren. 


Der Traum erſchafft alſo keine Illuſion. 
Die Illuſion ſtammt einzig daher, daß 
wir nur mit einer beträchtlich vermin— 
derten Energie die Eindrücke empfinden, 
welche wir von den Außendingen em— 
pfangen. Man ſetze neben die Szene der 
Einbildung eine Szene der Wirklichkeit 
mit ihrem Glanze und ihren Farben, 
und das Phantaſiegebilde erbleicht. Wenn 
man gemeint hat, daß „unſre Erinne— 
rungen ſich mit mehr Lebhaftigkeit wäh— 
rend unſerer Träume zeichnen als im 
wachen Zuſtande“ “), jo hat man rela— 
tive und abſolute Lebendigkeit verwechſelt. 

Man kann das alle Tage beobachten 
und ich habe es wohl zwanzig mal an 
mir ſelbſt beobachtet. Ich komme vom 
Diner, fühle mich wenig disponirt, mich 
ſogleich an die Arbeit zurückzubegeben; 
ich ſtrecke mich vor dem brennenden Ka— 
min in einen Lehnſtuhl und nehme einen 
Roman zur Hand. Die Kinder ſpielen, 
lachen, ſchreien und ſtürmen im Korridor. 
Immer in meinem Buche leſend, folge 
ich den Szenen, die ſich neben mir ab— 
ſpielen. Nach und nach überlaſſe ich mich 
der Schläfrigkeit, die Worte und Ge— 
räuſche werden mehr und mehr unbe— 
ſtimmt, ich ſetze meinen Roman in einem 
Halbtraum fort und endige dann ſehr 
häufig damit, eine Rolle darin zu ſpie— 
len. Der Schlaf hat die Oberhand ge— 
wonnen. Aber dieſer Zuſtand dauert nur 
kurze Zeit. Am Ende von fünf oder zehn 
Minuten erreichen die Rufe und das La— 
chen von neuem mein Ohr, die Traum— 
figuren erbleichen langſam und ich mache 
zuweilen Anſtrengungen, ſie aufleben zu 


*) Alfr. Maury, Le sommeil et les 
reves, ch. 5 p. 98. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 


Io, 


122 


laffen und zu fixiren, aber die Bilder 
der Kleinen legen ſich darüber, anfangs 
durchſichtig, ſo daß ich noch beide er— 
blicke, dann werden ſie immer ſolider, ihre 
Umriſſe zeichnen ſich ſchärfer, Schatten und 
Licht machen ſich bemerklich, die Fiktion 
verſchwindet, um der gewiſſen und eifer— 
ſüchtigen Wirklichkeit platz zu machen; 
ich bin erwacht. 

So werden alſo, allgemein ausge— 
drückt, unſre Vorſtellungen als ſolche er— 
kannt, dank der vorwiegenden Lebendig— 
keit der Wahrnehmungen, auf welche ſie 
ſich projiziren, wenn wir erwacht ſind; 
aber aus demſelben Grunde bewirken ſie 
in unſern Träumen die Illuſion, weil 
unſre Wahrnehmungen dann ſtumpf und 
glanzlos ſind. Während des Wachens 
machen ſie den Eindruck eines Fleckens 
auf einem leuchtenden Grunde, während 
des Schlummers erhellen ſie ſich, weil 
der Grund dunkel wird. Auch haben die 
Gemälde, welche unſre Träume uns vor— 
führen, beinahe niemals einen Hinter- 
grund (cadre). 

Dieſe ſo einfache Erklärung findet 
ſich ſchon bei Ariſtoteles.“) „Die 
Träume,“ ſagte er, „ſind Überreſte von 
Sinneserregungen, denn eine jede derſelben 
läßt in der Seele einen dauernden Ein— 
druck zurück. Am Tage gehen die innern 
Bewegungen wegen der Eindrücke, die 
wir empfangen, und der Geſchäftigkeit des 
Denkens unbemerkt vorüber, wie ein kleines 
Feuer vor einem immenſen Brande, und die 
Unannehmlichkeiten und leichteren Ver— 
gnügungen verſchwinden vor den größeren 
Übeln und Vergnügungen. Aber wenn 
während der Nacht unſre Sinne unthätig, 
weil ohnmächtig ſind, ſo laſſen ſie jene im 


*) Von den Träumen, Kap. III 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


Wachen unmerklichen Bewegungen zum 
Zentrum der Empfindung zurückkehren, 
wo ſie dann vollkommen ſichtbar werden.“ 
In den neueren Zeiten war es Hob— 
bes, welcher dieſe Theorie am klarſten 
dargelegt hat.“) „Ebenſo,“ ſagt er, „wie die 
durch den Fall eines Steines in ruhi— 
gem Waſſer hervorgebrachte Bewegung 
nicht zu Ende iſt, wenn der Stein den 
Grund erreicht hat, ſo beſteht der durch 
einen Gegenſtand auf das Gehirn her— 
vorgebrachte Eindruck noch nachher, wenn 
der Gegenſtand ſchon aufgehört hat, ein— 
zuwirken, und obwohl die Empfindung 
nicht mehr da iſt, beſteht doch die Vor— 
ſtellung. Iſt man wach, ſo iſt dieſe Vor— 
ſtellung getrübt, weil immer irgend ein 
Objekt gegenwärtig iſt, welches die Augen 
und Ohren erregt und reizt, aber im 
Schlafe erſcheinen die Bilder, die Über— 
bleibſel der Sinneserregungen, ſtark und 
deutlich, weil es dann keine wirkliche 
Sinneserregung giebt; in der That, der 
Schlaf iſt die Aufhebung der Sinnes— 
thätigkeit“ ), und ſomit find die Träume 
die Einbildungen derer, welche ſchlafen.“ 
Dieſe im Grunde elementare Idee 
hat ſich ohne Zweifel allen denen dar— 
geſtellt, die ſich mit den Träumen beſchäf— 
tigt haben, wir find ihr bei Radeſtock 
begegnet. Aber abgeſehen von den bei— 
den eben eitirten Autoren weiß ich nicht, 
ob ſich andre dabei aufgehalten und ſie 
zum Angelpunkt ihrer Theorien gemacht 
haben.““) Ich leſe zum Beiſpiel bei Al- 
A ) Von der menſchlichen Natur. Kap. III. 
) „Man erkennt, daß der Menſch ſchläft, 
wenn er nicht empfindet.“ (Ariſtoteles a. a. 
O. Kap. I.) 
, Anm. d. Red. Dies iſt in meiner 
„Naturgeſchichte der Geſpenſter“ geſchehen. Ahn— 
lich dem ſogleich folgenden Vergleiche Mairans 


ä 


— 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 123 


fred Maury“): „Damit alſo unſer Geiſt 
die Verſchiedenheit von Idee und äuße— 
rer Sinneserregung erfaſſe, muß er die 
beiden Ordnungen der Erregungen mit ein— 
ander vergleichen, die Wirklichkeit dem, 
was bloße Vorſtellung iſt, entgegenſtellen 
können. Wenn alle Sinne des Ekſtati— 
ſchen ſich in demſelben Zuſtande befän— 
den, wie diejenige des wachen Menſchen, 
ſo würden die äußern Eindrücke ihn ſo— 
gleich zu der Empfindung der Wirklichkeit 
zurückrufen, und er würde nicht die Viſionen 
für Thatſachen nehmen; was jedoch nicht 
ſtattfindet.“ Darin iſt beſſer, als ich es ver— 
möchte, das ganze Fundament der Traum— 
theorie ausgedrückt. Aber Maury hat nur 
bei Gelegenheit der Ekſtaſe daran gedacht. 

Maine de Mairan! “ ſagt nahe— 
zu dasſelbe: „Im gewöhnlichen Zuſtande 
findet ſich die momentane Überzeugung, 
welche die Phantome der Einbildungskraft 
mit ſich bringen, fortwährend durch die 
lebhafteren Eindrücke der wirklichen Ge— 
genſtände zerſtört, welche ſie auslöſchen, wie 
das Licht des Tages das einer Lampe aus— 
löſcht.“ Unglücklicherweiſe ſchreibt dieſer 
Autor, deſſen ſtrenge Logik durch den Geift 
eines Syſtems getrübt wurde, dem Willen 
das Verſchwinden dieſer vergeblichen Bil— 
der zu, und wenn ſie ſich uns im Schlafe 
aufdrängen, geſchieht es, weil wir da völ— 
lig paſſiv ſind, denn der Schlaf charak— 
teriſirt ſich nach ihm einzig durch die Ab— 
weſenheit des Willens. 
werden dort (S. 253) in der Einleitung der den 
Traum betreffenden Kapitel die Traumbilder mit 
den Bildern der Laterna magica auf der Wand 
verglichen, welche ſo lange unſichtbar ſind, wie 
die Lichter im Saale brennen. 

) A. a. O. Kap. X, S. 242. 


**) Nouvelles considerations sur le som- 
meil. 2. Partie, edit. Cousin T. II. p. 251. 


* 


Es iſt alſo der verhältnismäßige Man— 
gel an Glanz und Relief, welcher die 
Vorſtellung von der Wahrnehmung unter— 
ſcheidet, und man kann im Allgemeinen 
ſagen, daß die Vorſtellung im Traume 
noch weniger abſoluten Glanz beſitzt, 
als im Wachen. Es iſt die allmähliche 
Schwächung der Eindrücke, welche verur— 
ſacht, daß die ferne Vergangenheit uns wie 
ein langer Traum erſcheint, und manch— 
mal werden die Spuren der Exeigniſſe fo 
ſchwach, daß man ſich fragt, ob ſie wirk— 
lich ſtattgefunden haben, oder ob man 
ihnen nur im Traume beigewohnt hat. 

Ich entferne mich darin von der all— 
gemein angenommenen Meinung. Hören 
wir Garnier“), der uns ſagt, daß 
„die Verſchiedenheit zwiſchen Wahr— 
nehmung und Vorſtellung nicht in der 
Lebhaftigkeit der einen und der andern 
liegt, nicht ein Gradunterſchied, ſondern 
eine Verſchiedenheit der Natur“ ſei. Nach 
ihm ſind die Traumvorſtellungen ſo deut— 
lich, daß er, vom Irrſinn ſprechend, ſagt: 
„Solange der Irrſinn andauert, nimmt 
die Vorſtellung dieſelbe Stärke und die— 
ſelbe überſprudelnde Kraft (saillie) an, 
wie in den Träumen“. Dieſe letzteren 
Worte enthalten einen offenbaren Irrtum. 


3. Warum legt man beim Erwachen fei- 
nen Träumen einen teügerifhen Charak- 
ter bei? Welches find die Motive diefer 
Beimeffung? Giebt es in diefer Hinſickt 
ein abfolutes Kriterium der Gewißlieit? 

Jedermann weiß, daß Descartes ſich 
beinahe das nämliche Problem geſtellt hat, 
und kennt auch ſeine Antwort: „Aber 


chette, 1865. T. I. p. 455-465. 


124 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


uns mitunter in Betreff wenig deutlicher 
und ſehr entfernter Dinge täuſchen, han— 
delt es ſich doch um viele andere, an de— 
nen man vernünftigerweiſe nicht zweifeln 
kann, obwohl wir ſie nur durch ihre Ver— 
mittlung kennen, z. B. daß ich hier bin, 
neben dem Feuer ſitzend, mit einem Haus— 
rock bekleidet, dieſes Papier zwiſchen den 
Händen haltend und andre Dinge dieſer 
Art. . . . . Dennoch habe ich hier zu er— 
wägen, daß ich ein Menſch bin und in 
Folge deſſen die Gewohnheit habe, zu 
ſchlafen und mir in meinen Träumen die— 
ſelben Dinge und mitunter weniger wahr— 
ſcheinliche vorzuſtellen. . . . . Wie oft iſt 
es mir paſſirt, des Nachts zu denken, daß 
ich an dieſem Orte war, daß ich ange— 
kleidet war, daß ich neben dem Feuer ſaß, 
obgleich ich ganz nackt in meinem Bette 
lag! Es ſcheint mir wohl jetzt, daß ich 
nicht mit den Augen des Schlafes dieſes 
Papier betrachte, daß dieſer Kopf, den ich 
ſchüttle, nicht eingelullt iſt, daß ich mit 
Abſicht und Vorbedacht dieſe Hand aus— 
ſtrecke und fie fühle; was im Schlaf ge— 
ſchieht, ſcheint nicht ſo klar und ſo beſtimmt, 
wie alles dies. Aber, indem ich ſorgfältig 
darüber nachdenke, erinnere ich mich, oft 
durch ähnliche Illuſionen im Schlafe ge— 
täuſcht worden zu ſein, und indem ich 
bei dieſem Gedanken ſtehen bleibe, ſehe 
ich ſo offenbar, daß es keine gewiſſen Kenn— 
zeichen giebt, durch welche man klar das 
Wachſein vom Schlaf unterſcheiden kann, 
daß ich darüber ganz erſtaunt bin, und mein 
Erſtaunen iſt ein derartiges, daß es bei— 
nahe im Stande iſt, mich zu überzeugen, 
daß ich ſchlafe.““) 

Descartes richtet ſodann alle ſeine 
Anſtrengungen darauf, um den Zweifel, 


) Meditation premiere (Anfang). 


mit welchem er anfangen zu müſſen glaubt, 
zu zerſtreuen, und er löſt, wie folgt, die 
Schwierigkeit, welche er glaubt erheben 
zu ſollen: „Gewiß iſt mir dieſe Betrach— 
tung ſehr dienlich, nicht allein, um alle 
die Irrtümer zu erkennen, denen meine 
Natur unterworfen iſt, ſondern auch um 
ſie zu vermeiden und um ſie leichter zu 
verbeſſern: denn da ich weiß, daß alle 
meine Sinne mir gewöhnlicher das Wahre 
als das Falſche hinſichtlich der Dinge mel— 
den, welche die Bequemlichkeiten oder Un— 
bequemlichkeiten des Körpers betreffen, und 
da ich mich beinahe immer mehrerer von 
ihnen bedienen kann, um eine und die— 
ſelbe Sache zu unterſuchen, und da ich 
außerdem mein Gedächtnis gebrauchen 
kann, um die gegenwärtigen Erkenntniſſe 
den vergangenen zu verbinden und zu ver— 
knüpfen, ſowie meine Vernunft, welche be— 
reits alle die Urſachen meiner Irrtümer 
entdeckt hat: ſo brauche ich in Zukunft 
nicht mehr zu fürchten, daß ſich Falſch— 
heit in den Dingen vorfindet, welche mir 
am gewöhnlichſten durch meine Sinne dar— 
geſtellt werden. Und ich muß alle die Zwei— 
fel dieſer letzten Tage als übertrieben und 
lächerlich verwerfen, beſonders dieſe ſo all— 
gemeine Ungewißheit, den Schlaf be— 
treffend, den ich nicht vom Wachſein un— 
terſcheiden konnte; denn jetzt finde ich einen 
ſehr bemerkenswerten Unterſchied darin, 
daß unſer Gedächtnis niemals 
unſre Träume miteinander und 
mit der ganzen Folge unſres Le— 
bens verbinden und verknüpfen 
kann, ſo wie es die Dinge, welche 
uns im wachen Zuſtande begegnen, 
zu verknüpfen pflegt. Und in der 
That, wenn Jemand, während ich wache, 
mir ganz plötzlich erſchiene und ebenſo 


3260 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


verſchwände, wie es die Bilder thun, die 


ich im Schlafe ſehe, dergeſtalt, daß ich 


nicht bemerken könnte, von wo er käme 
und wohin er ginge, ſo würde es nicht 


ohne Grund ſein, wenn ich ihn, ſtatt für 


einen wirklichen Menſchen, vielleicht für 
ein in meinem Gehirn gebildetes Geſpenſt 
oder ein Phantom hielte, ähnlich denje— 
nigen, welche ſich geſtalten, während ich 
ſchlafe. Aber wenn ich Dinge erblicke, 
von denen ich beſtimmt ſowohl den Ort 
erkenne, von welchem ſie kommen, als den— 
jenigen, wo ſie ſind, und die Zeit, zu 
welcher ſie mir erſcheinen, und wenn ich 
ohne irgend eine Unterbrechung die Em— 
pfindung, die ich davon habe, mit der 
Folge meines übrigen Lebens verknüpfen 
kann, ſo bin ich ganz verſichert, daß ich 
ſie im Wachen und nicht im Schlafe er— 
blicke. Ich darf an der Wahrheit jener 
Dinge in keiner Weiſe zweifeln, wenn, 
nachdem ich alle meine Sinne, mein Ge— 
dächtnis und meine Vernunft herbei— 
gerufen habe, um ſie zu unterſuchen, mir 
nichts von einem von ihnen hinterbracht 
worden iſt, was im Widerſtreit mit dem— 
jenigen ſtände, was mir durch die an— 
dern hinterbracht worden iſt. Denn dar— 
aus, daß Gott kein Täuſcher iſt, folgt 
notwendig, daß ich darin nicht getäuſcht 
werde.“) 

Das iſt ganz die Kontrolle der Sinne 
und der Intelligenz, ſo wie ſie Grote 
und alle Autoren definirt haben. Wir 
leſen bei Albert Lemoine: „Die Zu— 
ſammenhangsloſigkeit der Bilder iſt für 
uns das einzige unterſcheidende Kennzei— 


125 


Zutrauen, welches wir in die objektive 
Wirklichkeit der Traumbilder ſetzen, liegt 
zum großen Teil daran, daß wir weder 


freiwillig noch unfreiwillig von unſern Sin— 


nen Gebrauch machen können, um die Be— 
ziehungen der einen durch die andern zu 
korrigiren.“ “) Ich kenne wahrhaftig 
nur einen Sinn, welcher ſich erlaubt, die 
andern zu korrigiren: es iſt der Taſtſinn, 
welcher uns zum Beiſpiel geſtattet, uns 
zu vergewiſſern, daß die von dem Spiegel 
reflektirten Bilder keine Körper beſitzen. 
Jedoch wem fällt es jemals ein, im wa⸗ 
chen Zuſtande die Perſonen, Bäume und 
Häuſer zu berühren, um ſich zu überzeugen, 
daß dies wirkliche Körper ſind? Und an— 
drerſeits, inwieweit behütet denn das 
Zeugnis des Gefühls den Hallueinirenden 
davor, durch die Phantome, welche er ſieht 
oder hört, getäuſcht zu werden? Schließ— 
lich kann die Kontrolle, welche mir in 
Wirklichkeit erlaubt, den angezweifelten 
Gegenſtand zu verificiren, nicht im Traume 
ausgeübt werden. 

Wir haben geſehen, daß der wache 
Zuſtand durch die Lebhaftigkeit der em— 
pfangenen Eindrücke charakteriſirt wird. 
Aber das iſt nicht alles. Dieſe Eindrücke 
ſind außerdem logiſch miteinander ver— 
kettet. Man weiß, wie Descartes ſagt, 
woher ſie kommen, was vorangegangen, 
was ihnen gefolgt iſt. Und was ver— 
ſchafft ihnen dieſe Eigentümlichkeit? Die 
Außenwelt, in welcher ſich die Ereigniſſe 
gemäß dem Kauſalitätsgeſetz folgen. Der 
Bewohner von Lüttich kann ſich nur un— 
ter der Bedingung, dorthin geſchafft zu 


chen der Träume.“ “) Und ferner: „Das | fein, in Paris befinden. Das iſt die Ord— 


) Meditation sixieme (Ende). 
) Du sommeil. Paris, 1855. p. 108. 


nung der Dinge. Ja, wenn wir in den 


*) Ibid. p. 112. 


Ländern der taufend und einen Nacht oder 
in den Zaubergärten der Armide lebten, 
ſo iſt es klar, daß wir über gewöhnliche 
Lebensabenteuer anders urteilen würden. 
Es braucht nur jemand, wie der berühmte 


Ritter von la Mancha, einen robuſten 


Glauben an die Macht der Zauberer zu 
haben oder mit dem gewöhnlichen Aber— 
glauben des Volkes erfüllt zu ſein, um 
unmögliche Dinge als unbeſtreitbare That— 
ſachen zu betrachten! Aber die Natur auf 
der einen Seite, die geſellſchaftliche At— 
moſphäre, der wir zugehören, auf der an— 
dern, haben unſrem Geiſte eine Erzieh— 
ung und beſondere Richtungen verliehen, 
und wir weigern uns, als wirklich zu be— 
trachten, was mit unſerer Erfahrung un— 
verträglich iſt. Dieſe Erfahrung — brauche 
ich es zu ſagen? — iſt niemals abge— 
ſchloſſen. Jeder teilt mehr oder weniger 
die Vorurteile ſeiner Zeit; Tacitus zwei— 
felte weder die Auguren noch die Orakel an. 
Alles, was in abſolutem Widerſpruch 
mit den Geſetzen ſteht, deren weltregie— 
rende Macht ich erkannt habe, wird von 
mir entſchieden als imaginär angeſehen. 
Läßt mir ein Traum einen toten Freund 
aufleben, ſo werde ich nicht zögern, meine 
Viſion zu bezeichnen, wie es ſich gehört. 
Ebenſo, wenn die dargeſtellte Scene in— 
nere Widerſprüche darbietet, wenn z. B. 
ein Toter ſich darin bewegt und ſpricht. 
Unter dieſem Geſichtspunkt haben Des— 
cartes und A. Lemoine Recht und ich 
unterſchreibe ihre Worte. Aber manch— 
mal iſt der Traum völlig wahrſcheinlich 
und in allen ſeinen Teilen verkettet. 
Eines Tages verlangte eins meiner 
kleinen Mädchen, 8 ½ Jahr alt, in mei— 
ner Gegenwart von ſeiner Mutter ein 
Spielzeug, welches ſich in einer Boden— 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


kammer im Hauſe ſeiner Großmutter fin— 
den ſollte, bei welcher wir damals wa— 
ren. Nach der Beſchreibung, die es davon 
machte, ſollte es einen großen, den Ra— 
chen weit öffnenden Froſch vorſtellen. Man 
antwortete ihm, daß man ein ſolches Spiel— 
zeug nicht kenne, niemals geſehen habe, 


daß es nicht exiſtire. Die Kleine begann 


ſodann es genau zu beſchreiben, erörterte 
ſehr beſtimmt den Platz, wo es ſich befände; 
ihre Großmutter habe es ihr gezeigt und 
verſprochen, es ihr zu ſchenken, wenn ihre 
Eltern es erlauben wollten. Wir hatten 
die denkbarſte Mühe, ſie zu überzeugen, 
daß alles das nur ein Traum wäre. Die— 
ſer Traum war ſo wohl verkettet und ver— 
knüpfte ſich durch ſo viele Bande mit den 
alltäglichen Dingen! 

Je weniger die Intelligenz des Kin— 
des entwickelt iſt, deſto weniger wird 
es von Unwahrſcheinlichkeiten überraſcht. 
Zwiſchen vier und fünf Jahren alt, hatte 
ich meinen mehr als ſechs Jahre ältern 
Bruder verloren. Dieſer Bruder hatte 
ſchöne Soldaten und anderes Spielzeug, 
das er ſehr in acht nahm und vorſichtig 
außerhalb des Bereichs meiner Hände 
hielt. Weder von ſeiner Krankheit, noch 
von ſeinem Tode bewahre ich eine Er— 
innerung. Ich erinnere mich blos, daß 
ich meine Mutter eines Tages frug, wo 
Henri wäre, und daß ſie antwortete, er 
wäre auf dem Lande. Ich begehrte jenes 
ſchöne Spielzeug, welches man pietät— 
voll in einen Schrank geſtellt hatte. Und 
eine Nacht träumte ich, daß in dieſem 
Schranke ſich Marionetten, Harlequins 
(ich ſehe ſie noch!) befinden, die mit 
Sprache begabt wären. Beim Aufwachen 
verlangte ich ſie mit Beharrlichkeit und 
inſtändiger Bitte. Umſonſt verſuchte meine 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


\ 


Mutter, mir die Abſurdität dieſer Ein- 


bildung begreiflich zu machen; für mich 


war das kein Traum, und ich beharrte 


in der Überzeugung, daß das Motiv ihrer 


Weigerung wäre, die Traditionen meines 
Bruders zu erhalten, und daß mir die 
Benutzung dieſer Wunderdinge für immer 
verſagt ſein würde. 

Die Illuſion entſteht alſo aus der 
Lebhaftigkeit und der relativen Logik 
der Eindrücke. Ich habe nicht nötig, be— 
merklich zu machen, daß zum Fortbeſte— 
hen der Illuſion nach dem Erwachen noch 


andre Bedingungen gehören. Wenn meine 


Kleine das Spielzeug in einem Phantaſie— 
gemach und nicht in dieſer ihr bis auf 
die geringſten Einzelnheiten bekannten 
Bodenkammer geſehen hätte, wenn ſie 
nicht mit ihrer Großmutter, ſondern mit 
einer unbekannten Perſon davon geſpro— 
chen, oder nicht ihr Geſicht und ihre ge— 
gewöhnlichen Kleider geſehen hätte, würde 


ſie leicht erkannt haben, daß ſie der Narr 


eines Traumes ſei. Es iſt alſo, wenig— 
ſtens, wenn der Irrtum andauernd ſein 
ſoll, nötig, daß die kleinſten Details des 
Traumes der Wirklichkeit und Wahrſchein— 
lichkeit entſprechend ſeien, es gehört außer— 
dem dazu, daß ſie ſich auf den Hinter— 
grund unſers alltäglichen Lebens pro— 
jiziren. Nun, wie wir geſehen haben, 
zeichnet ſich die Traumſzene auf einem 
verſchwommenen und einförmigen Hinter— 
grunde ab; ſie iſt iſolirt. Die Traum— 
bilder gleichen darin den auf Goldgrund 
ausgeführten Gemälden der älteſten Ma— 
lerſchulen oder den Tänzergruppen, welche 
die Wände der Häuſer in Pompeji zie— 
ren und von denen man nicht weiß, ob 
ſie ſich in der Luft oder auf dem Bo— 
den befinden. 


127 


Wenn ich in den Straßen der Stadt, 
die ich bewohne, ſpazieren gehe, ſo bin 
ich Eindrücken unterworfen, welche zum 
Teil immer dieſelben bleiben. Wenn ich 
darin einer bekannten Perſon begegne 
und ſie anrede, ſo verknüpfen ſich dieſe 
Begegnung und Unterredung mit ſo ver— 
trauten Eindrücken und empfangen damit 
den Stempel der Authentizität. Dieſes 
Begegnis iſt ſozuſagen in den idealen 
Stadtplan eingeſchrieben. Ohne Zweifel 
hängt dieſe Authentizität noch von andern 
Dingen ab, und der Leſer wird ohne 
weiteres ſehen, inwiefern dieſe Ausein— 
anderſetzung unvollſtändig iſt. Es iſt z. 
B. nötig, daß ich dieſen Freund kommen 
und davongehen ſehe, daß er ſich ſelber 
ähnlich ſei und bleibe, daß er ſeinem 
Charakter und ſeinen Beziehungen gemäß 
handle; andernfalls werde ich leicht arg— 
wöhnen, daß ich ihn im Traume geſehen 
habe. Aber wenn keine dieſer Unwahr— 
ſcheinlichkeiten vorhanden iſt, kann ich mich 
anders als durch äußerliche Kennzeichen 
überzeugen, daß das Begegnis nicht wirk— 
lich war? Wenn ich z. B. träume, daß 
ich meine Arbeitslampe brennend gelaſſen 
habe, und daß ich aufgeſtanden und nach 
dem Auslöſchen wieder ins Bett zurück— 
gekehrt bin, wie ſollte ich mich, wenn 
Zimmer und Lampe ihr gewöhnliches Aus— 
ſehen darboten, beim Aufwachen über— 
zeugen können, daß alles das reine Sl 
luſion geweſen? Wie könnte ich es, wenn 
nicht wenigſtens jemand neben mir gewacht 
hätte und mir verſicherte, daß ich nicht 
aufgeſtanden wäre, oder wenn ich keine 
zwingenden Gründe hätte zu glauben, daß 
ich meine Lampe vor dem Niederlegen 
ausgelöſcht habe? 

Aber gewöhnlich iſt das entſcheidende 


128 


Kriterium des Traumes das Aufwachen. 


Perrette und Herr Joyeuſe werden durch 
einen Zufall aus ihren Träumereien ge— 
weckt: der Zufall, welcher den Traum 
verſcheucht, iſt das Erwachen. Der wahr— 
ſcheinlichſte Traum, in deſſen Kombina— 
tionen nur Wirklichkeiten eingeführt wur— 
den, erſcheint mir von dem Augenblicke 
an, in welchem ich mich „ganz nackt in 
meinem Bette“ finde, in ſeinem lügneri— 
ſchen Charakter. Ich verurteile als Il— 
luſion alles, was ſich zwiſchen dem Augen— 
blick des Niederlegens und des Aufwachens 
begeben hat. Es giebt keine Ausnahmen, 
außer für Spezialfälle wie der eben be— 
ſchriebene. Aber man wird bemerken, daß 
es ſich dort um eine iſolirte Handlung 
in der Mitte der Nacht handelte, ſozu— 
ſagen ohne Verbindung mit dem, was 
folgte und voranging. Dennoch nötigen 
uns dieſe Ausnahmen, welche nicht blos 
theoretiſch ſind, die Frage: Beſitzen wir im 
Hinblick auf die Träume ein Kriterium der 
Gewißheit? verneinend zu beantworten.“) 
Nein, es giebt keins. Es iſt kein un— 
fehlbares und univerſales Kennzeichen da, 
welches uns erlaubte, mit einer abſoluten 
Sicherheit zu behaupten, daß ein Traum 
ein Traum war und nichts weiter. Aber 
es iſt das kein großes Unglück, voraus— 
geſetzt, daß wir ein Kriterium des wah— 
ren Zuſtandes beſitzen, ein Kriterium, 
welches uns, wenn wir es befragen, ver— 
gewiſſert, daß wir nicht träumen. Nun 
fragt ſich, kann man im Wachen daran 
zweifeln, daß man wacht? 
) Anm. d. Red. Wie ſehr der Herr 
Verf. recht hat, beweiſen die Träume, aus denen 
man nicht direkt aufwacht, die einem erſt ſpäter 
einfallen und dann von den wirklichen Erleb— 
niſſen nicht mehr zu unterſcheiden ſind. 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


Man weiß, was dem Soſius geſchieht.“) 
Merkur will ihm Namen und Identität 
rauben. Dieſe Anmaßung empört ihn. 


.. Je ne puis m'anéantir pour toi, 

Et soufirir un discours si loin del’apparence. 

Etre ce que je suis esf-il en ta puissance? 
Et puis-je cesser d’&tre moi? 

S'avisa-t-on jamais d'une chose pareille? 

Et peut-on démentir cents indices pressans? 
Röve-je? Est-ce que je sommeille? 
Ai-je l’esprit troublé par des transports 

puissans? 

Ne sens-je pas bien que je veille? 
Ne suis-je pas dans mon bon sens? 
Mon maitre Amphitryon ne m’a-t-il pas 

commis 
Avenir en ces lieux vers Alemène sa femme? 


Soſius läßt ſo die Folge der Er— 
eigniſſe an ſich vorübergehen und findet 
darin die Logik der Wirklichkeit wieder. 
Aber da er ſieht, daß Merkur mit Um— 
ſtänden bekannt iſt, welche er allein zu 
wiſſen glaubte, wird ſeine Gewißheit er— 
ſchüttert: 


Il a raison. A moins d’ötre Sosie 
On ne peut pas savoir tout ce qu'il dit; 
Et, dans l’etonnement, dont mon äme est 
saisie, 
Je commence, à mon tour, à le croire unpetit. 
Merkur vervielfältigt die Beweiſe, in— 
dem er immer intimere Details entſchleiert. 
Soſius' Erſtaunen verdoppelt ſich: 
Il ne ment pas d'un mot à chaque repartie; N 
Et de moi, je commence àdouter tout de bon. 
Pris de moi par la force il est déjà Sosie, 
Il pourrait bien encore l’etre par la raison. 
Pourtant quand je me täte et que je me 
rappelle, 
Il me semble que je suis moi. 
Oü puis-je rencontrer quelque clarté fidele 
Pour demeler ce que je vois. 


) Anm. d. Red. Die folgende Stelle 
iſt aus Molières Amphitryon (Akt J, Sz. II). 
Calderons Schauſpiel „Das Leben ein Traum“ 
böte ähnliche Illuſtrationen zu dieſem Kapitel. 


— 


Man kennt den Schluß, bei welchem 
ſein Verſtand ſtille ſteht: 
Je ne saurais nier, aux preuves qu'on expose, 
Que tu ne sois Sosie, et j'y donne ma voix. 
Mais, si tu l’es, dis-moi que je sois: 
Car enfin faut il bien que je sois quelque 
chose. 
Dieſe Geſchichte von einer Perſon, 
welche dahin gelangt, Zweifel an ihrer 


eigenen Identität zu hegen, iſt auf ſehr 


viele Arten in Szene geſetzt worden. Jede 
Ortlichkeit beſitzt fie ſozuſagen in ihrer 
Legende. In Lüttich iſt es ein Seifen— 
ſieder, welchen die Mönche eines Abends 
totbetrunken in einer Straßenecke auf— 
raffen und in ihr Kloſter bringen. Man 
wäſcht, friſirt und tonſurirt ihn, ſteckt 
ihn in eine Kutte und legt ihn in eine 
Zelle. Am Morgen bei ſeinem Erwachen 
begrüßen ihn die Brüder und fragen nach 
ſeinem Befinden. Der arme Teufel ver— 
ſucht vergeblich ſeine Ideen zu ſammeln. 
Man ſucht ihn zu überzeugen, daß ſein 
ganzes vergangenes Leben ein Traum war. 
Er kann ſich nicht entſchließen, es zu glau— 
ben, aber noch weniger begreift er, wie 
er in dieſe Kleidung und in dieſes Bett 
kommt. Man reicht ihm einen Spiegel; 
er iſt nicht ſicher, ſich zu erkennen. „Geh,“ 
ſagt er endlich zu einem der Beiſtehen— 
den, „geh nachſehen, ob Agidius der Sei— 
fenſieder in ſeiner Krambude an der Brücke 
iſt. Wenn er nicht da iſt, bin ich es, 
aber wenn er da iſt, ſo mag mich der 
Teufel holen, wenn ich weiß, wer ich bin.“) 

Man ſage mir nicht, daß das Fabeln 
ſind und daß man Fabeln nicht disku— 


) Shakeſpeare hat im Prolog der be— 
zähmten Widerſpenſtigen denſelben Gegenſtand 
auf die Bühne gebracht. Chriſtoph Sly: „Bin 
ich ein Lord? Oder iſt es etwa ein Traum, den 
ich träume? Oder habe ich bis auf dieſen Tag 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


129 


tiren ſolle. Mein Argument iſt ernſthaft. 


Man beſeitige die Unwahrſcheinlichkeit der 
Thatſache oder der komiſchen Übertrei— 
bung, ſo malen uns Soſius und Agidius 
trefflich die Verlegenheiten der Intelli— 
genz, welche das Raiſonnement dazu ver— 
führt, zu bezweifeln, was ſie ſich nicht 
hindern kann, zu glauben. Ich zweifle ge— 
wiß nicht an meiner Identität; indeſſen 
giebt es Narren, die ſich einbilden, der 
Kaiſer von China zu ſein, und andere, 
welche ſich erinnern, Ludwig XVII. ge— 
weſen zu ſein. Bin ich etwa der Spiel— 
ball einer ähnlichen Tollheit? Bin ich 
wirklich derjenige, welcher ich zu ſein 
glaube? Mit einem Worte, worin beſteht 
das Kennzeichen des vernünftigen Zu— 


ſtandes? Dies iſt die Frage, der wir uns 


zuwenden. 


A. Warum hat der Irre Zutrauen zu fei- 
nen Herirrungen? An welchen Beicen er- 
kennen wir die Einbildungen eines geftörten 
Hiens, und welches ift deſſen logiſcher Mert? 

Giebt es ein höheres Kriterium? 

Wir ſahen, worin ſich Traum und 
Träumerei gleichen und unterſcheiden. 
Beiderſeits bildet eine Folge mehr oder 
weniger gut verknüpfter Vorſtellungen das 
Grundgewebe. Allein in der Träumerei 
beſtehen ſie zugleich mit beſtimmten Wahr— 
nehmungen, welche, obwohl infolge un— 
ſerer Unaufmerkſamkeit geſchwächt, nichts— 
deſtoweniger durch ihre Beſtimmtheit und 
ihr Relief die Täuſchung und den Mangel 
der Lebendigkeit bemerklich machen. Im 
geträumt? Ich ſchlafe nicht; ich ſehe, ich höre, 
ich ſpreche; ich rieche dieſe angenehmen Düfte... 
Bei meinem Leben, ich bin ein wirklicher Lord, 
und weder ein Keſſelflicker, noch Chriſtoph Sly.“ 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 


130 


Traume dagegen find die etwa ſtattfin— 
denden Wahrnehmungen fo verſchwommen 


und fo dunkel, daß unſre Vorſtellungen 
gen, deren Intereſſe auf einer optiſchen 


durch Kontraſt Glanz gewinnen, und die 
Unmöglichkeit, in der wir uns befinden, 
einen Vergleich anzuſtellen, bewirkt, daß 
wir, darin einer angebornen und unwider— 
ſtehlichen Gewohnheit folgend, die Objekte 
unſerer Ideen für äußere Wirklichkeiten 
nehmen. 

Der Wahnſinn, über den ich einige 
Worte ſagen werde, hat ſeinen beſtimmten 
Platz von meinem Standpunkte zwiſchen 
Traum und Träumerei: die Vorſtellungen 
des Narren, ſoweit er Narr iſt, haben den— 
ſelben Glanz wie ſeine Wahrnehmungen. 

Man erinnere ſich der trefflichen Per— 
rette, die ſich den lachendſten Fernſichten 
hingiebt und ſich bereits im Beſitze einer 
Kuh und eines Kälbchens ſieht. Nehmen 
wir an, daß die brave Frau ſich einbilde, 
ſie wirklich zu beſitzen, und wir werden 
eine arme Irrſinnige vor uns haben. Durch 
alle ihre Sinne gleichzeitig getäuſcht, wird 
ſie dieſelbe nicht allein weiden ſehen, ſon— 
dern auch blöken hören, ſie wird ihre Kuh 
in eingebildete Eimer melken und in einer 
Milchwirthſchaft, die nicht exiſtirt, Milch— 
ſatten und Butterſtücke aufſtellen, welche 
ebenſowenig exiſtiren. 

Es würde indeſſen vorkommen können, 
daß das Auge allein der Sitz des Irrtums 
wäre. Dann wird es der Unglücklichen 
niemals gelingen, ihre Tiere, welche bei 
ihrer Annäherung entfliehen, mit der Hand 
zu berühren. Sie wird ſich in ihrer Toll— 
heit ſagen, daß ein boshafter Genius ſie 
quäle und an der Ausübung ihrer bäuri— 
ſchen Pflichten hindere; ſie wird ſich ſchließ— 
lich die Sache auf eine in ihren Augen 
wahrſcheinliche Art erklären und Gott weiß, 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


bis wohin die Logik der falſchen Unter— 
ſtellungen ſie führen kann. 
Man kennt jene Art der Schauſtellun— 


Illuſion beruht. Auf der Bühne bewegen 
ſich wirkliche Schauſpieler und auch un— 
greifbare Schatten, deren Körper den De— 
gen und den Keulen keinerlei Widerſtand 
bieten, welche plötzlich erſcheinen und ebenſo 
verſchwinden. Nehmen wir einen Augen— 
blick an, daß der Schauſpieler ein Opfer 
dieſes Spiels ſein könnte. Er wird eine 
Perſon vor ſich haben, welche er ſehen, 
aber nicht fühlen kann. Wird er ſich ſagen, 
daß das eine Illuſion iſt? Vielleicht. Aber 
welcher Sinn wird der getäuſchte ſein? 
Das Geſicht, welches ſieht, was nicht da 
iſt, oder der Taſtſinn, welcher nicht fühlt, 
was da iſt? Auf die Erfahrung geſtützt, 
wird er möglicherweiſe dahin gelangen, 
ſich von einem Irrtum in ſeinen Geſichts— 
wahrnehmungen zu überführen, aber es 
iſt auch möglich, daß er den Verſtand dar— 
über verliert. 

Der unglückliche Wahnſinnige, welcher 
den Bauch mit Fröſchen und Kröten er— 
füllt zu haben glaubt und welcher, wenn 
ihr ihn durch Demonſtration zu heilen 
ſucht, ſie mit ſeinen Händen packt und euch 
vor Augen hält oder ins Geſicht wirft, 
iſt ohne Zweifel Opfer einer traurigen Il— 
luſion, aber wie ſollte ſie nicht entſtehen 
können? Sind denn die Gründe unſers 
Glaubens an die wirklichen Dinge von 
einer verſchiedenen Natur? Daher dieſer 
auf den erſten Blick paradoxe, aber nichts— 
deſtoweniger ſtreng logiſche Schluß: auch 
der Hallueinirende gehorcht einem Natur— 
geſetz, wenn er an die Wahrhaftigkeit der 
phantaſtiſchen Bilder glaubt, die feinen 
Geiſt umringen. Darin handelt er genau 


I 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


wie ich, der ich in dieſem Momente innigſt 
der Geräuſche, die er hört und ſieht, er 


überzeugt bin, daß ich eine Feder in der 
Hand, Papier vor mir habe und daß ich 
darauf das Reſultat meiner Reflexionen 
niederſchreibe. Und eben ſo gut wie ich 
als einen Unſinn den Verſuch von irgend 
einem betrachten würde, der mich zu über— 
zeugen ſuchen wollte, daß ich träume, muß 
er uns für ſolche, die ſchlechte Späße ma— 
chen, anſehen, wenn wir die Exiſtenz deſ— 
ſen, was er alle Tage ſieht, hört und mit 
Händen fühlt, verneinen und in Zweifel 
ziehen. 

„Hören wir,“ ſagt Albert Lemoine, 
„die Antwort einer Hallueinirenden *), wel— 
cher der Arzt ihren Irrtum demonſtriren 
wollte. „Wie erkennt man die Gegen— 
ſtände?“' frug fie. ‚Weil man ſie ſieht und 
fühlt.“ ‚Nun, ich ſehe, höre und fühle die 
Dämonen, welche außer mir find, und ich 
fühle auf die deutlichſte Weiſe diejenigen, 
welche in meinem Innern ſind. Warum 
wollen Sie, daß ich das Zeugnis meiner 
Sinne verleugne, während alle Menſchen 
es als die alleinige Quelle ihrer Kennt— 
niſſe anrufen?‘ Und wenn man ihr zum 
Beweiſe das Beiſpiel der andern Irren 
vorlegte, deren Irrtum ſie erkannte: „Was 
mein Auge ſieht und mein Ohr hört, das 
fühlt meine Hand. Die Kranken, von de— 
nen Sie ſprechen, täuſchen ſich, der eine 
ihrer Sinne wird durch den andern wider— 
legt, ich, im Gegenteil, habe das Gewicht 
aller für mich.““) So,“ fährt der Ver⸗ 


) A. a. O. S. 114. Das Zitat iſt aus 
Bayle, Revue medicale, 1820. 

) Anm. d. Red. Ludwig v. Baczko 
in Königsberg ſah, hörte und fühlte die Gebilde 
ſeiner Einbildungskraft, ohne daran zu glauben. 
Wiederholt erſchien ihm eine borſtige Schlange, 


131 


wach, an die Wirklichkeit der Bilder und 


wird dadurch ſogar geweckt und kann aus 
dieſem Grunde nicht an der Wahrheit des 
Zeugniſſes ſeiner Sinne zweifeln.“ 

Wie die Analyſe des Schlafes, ſo führt 
uns alſo auch die des Wahnſinns dazu, 
die Phänomene, welche er darbietet, in 
zwei Teile zu ſondern und von dem, was 
krankhaft iſt, dasjenige zu unterſcheiden, 
was naturgemäß kraft unſerer vorherge— 
gangenen Erfahrung aus unſeren geiſtigen 
Gewohnheiten und unferen Inſtinkten folgt. 

Der ſchlafende Menſch ſieht manchmal 
einen Stock lebendig werden, ein Möbel 
ſprechen, einen Menſchen ſich in die Ge— 
ſtalt eines Vogels kleiden. Die Poeten, 
dieſe freiwilligen Träumer, bevölkern die 
Wälder mit verzauberten Bäumen, welche 
bluten, wenn man ſie verwundet, welche 
bitten oder Drohungen ausſtoßen, welche 
plötzlich zu Ungeheuern oder zu Frauen 
werden, um uns zu erſchrecken oder uns 
zu rühren. Der ſchlafende Menſch iſt ein 
vorübergehend Getäuſchter; die Poeten 
ſind freiwillig Betrogene. Aber es giebt 
auch unfreiwillige und unverbeſſerliche 
Narren, welche Windmühlen für Rieſen, 
ſchmutzige Bauerndirnen für Prinzeſſinnen 
und Marionetten für Perſonen von Fleiſch 
und Knochen anſehen. Der Grund ihrer 
Illuſionen iſt uns bekannt, er beſteht darin, 
daß die nichtigen Bilder ihres Hirns ſich 
mit derſelben Lebhaftigkeit wie die wirk— 
lichen Bilder aufdrängen. Wenn ſie nicht 
an der Wahrheit der letzteren zweifeln, 
die erſt im Zimmer umherkroch, dann ſich über 
ſeine Füße und zuletzt auf ſeinen Schoß legte, 
wobei er die ſteifen Borſten mit den Händen 
fühlte. S. meine „Naturgeſchichte der Geſpenſter“ 
S. 341-343. 


132 


warum ſollten fie es den andern gegen— 
über thun? 


In dem Zimmer, in welchem ich dieſe 


Zeilen ſchreibe, ſind an der mir gegen— 
überſtehenden Wand Stiche aufgehängt. 
Ich bin abſolut ſicher, daß ſie da ſind. 


Wenn ich nun täglich über oder neben 
lich ſicher ſtehen bleiben, wenn die Erſchei— 


ihnen andere nicht vorhandene Stiche ſähe, 
wenn ich mir einbildete, ſie zu berühren, 
abzunehmen, abzuſtäuben, wenn ich mich 
zu erinnern glaubte, von wo und wie ich 
ſie erhalten hätte, ſo müßte ich vernunft— 
gemäß an ihre Exiſtenz glauben. Ich bin 
und fühle mich wach, wenn ich die erſteren 
ſehe, warum ſollte ich zu träumen glauben, 
wenn ich die andern erblicke? Hat meine 
irrige Meinung nicht meinen berechtigten 
Glauben zum Bürgen? Die Verſicherung 
meiner Verwandten, daß das eine wahn— 
ſinnige Idee ſei, könnte momentan eine ge— 
wiſſe Verwirrung in meine Seele werfen; 
aber ich werde mich wohl leichter und ver— 
nunftgemäßer überzeugen, daß ſie ein 
Komplott geſchloſſen haben, um ſich über 
mich zu mokiren, als daß ich das beſtän— 
dige Zeugnis meiner Sinne in Zweifel 
ziehen follte.*) Wenn ich nicht weiß, wie 
dieſe Gemälde dorthin gekommen ſind, 
werde ich eher an einen Gedächtnisfehler, 
als an einen fortdauernden Irrtum glau— 
ben. Wenn endlich dieſe Gemälde ſich nicht 
abnehmen laſſen, werde ich in eine große 
Unruhe geſtürzt werden. Ich werde mir 
ſagen, daß ich das Opfer eines böſen Trau— 
mes bin; wenn ich in abergläubiſchen Ideen 
erzogen worden bin, werde ich eine Inter— 
vention diaboliſcher Mächte argwöhnen; 
wenn ich endlich die Erfahrung beſitze, daß 

) „Nachdem er vergeblich gegen dieſe Macht, 


welche ihn beherrſcht, gekämpft, wird er (der 
Kranke) ſehr häufig zu irrigen Auslegungen ge— 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


derartige Illuſionen die Wirkung einer 
Krankheit ſein können, werde ich mir Rechen— 
ſchaft von meinem Zuſtande geben, wie es 
dabei auch geſchehen kann, daß ich meinen 
Vorteil daraus ziehe. Man kennt den Ab— 
grund Pascals und die Hölle Descar— 
tes'. Bei dieſem Schluſſe werde ich ziem— 


nungen vorübergehend, ausſetzend oder pe— 
riodiſch ſind, da die Gründe des Zweifels 
in dieſem Falle mächtiger ſind, als die 
Gründe des Glaubens. 

Ich habe einen flüchtigen Blick auf die 
verſchiedenen Arten der Hallueinationen 
geworfen, von der ausgeſprochenſten Toll— 
heit an bis zu der einfachſten geiſtigen 
Krankheit. Man wird bemerken, daß die 
Illuſionen darin durchaus motivirt ſind 
und daß der Hallueinirende darauf acht— 
giebt, gerade weil er nach allen andern 
Rückſichten mit der Außenwelt in Verbin— 
dung ſteht. Es iſt dies, was ihnen einen 
Charakter von Zuſammenhang giebt, den 
man ſehr ſelten in den Träumen an— 
trifft. Aber er iſt von einer von den Ver— 
rücktheiten ganz verſchiedenen Natur. Die 
Wahnſinnigen und gewiſſe melancholiſche 
Verrückte, deren Zuſtand hauptſächlich von 
einer Anämie oder einer Gehirnerſchöpfung 
herrührt, haben Ideen, deren Wunder— 
lichkeit keineswegs denen unſrer Träume 
weicht. Ein Gärtner, welcher ein Bündel 
Weiden trägt, verwandelt ſich in ihren 
Augen in einen Gensdarmen, der ihren 
Feind ins Gefängnis führt. Ich habe eine 
junge Mutter gekannt, welche, durch auf— 
einanderfolgende Niederkunften geſchwächt, 
vorübergehend den Verſtand verlor. Sie 
führt; er ſchreibt z. B. die ihn beherrſchenden 
Ideen einem fremden Weſen zu.“ (Baillarger, 
zitirt v. Maury, a. a. O. chap. VII p. 158.) 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


bildete ſich z. B. ein, daß die Hühnchen, 
welche die Köchin ſchlachtete, ihre eigenen 
Kinder wären, und nichts war ergreifen— 


der zu ſehen und zu hören, als ihre müt= 


terliche Angſt. Es fand dabei eine jener 
Aufeinanderlegungen der Bilder ſtatt, von 
denen ich weiter oben geſprochen habe. 
Man muß die Erklärung dieſer und ande— 
rer ähnlicher Fälle in der Einſchläferung 
der Empfänglichkeit ſuchen, was eine An— 
näherung zwiſchen dieſen Krankheitsformen 
und dem Schlafe zuläßt. 

Es gehört nicht zu meinem Plan, die 
möglichen Urſachen des Irrſinns aufzu— 
ſuchen. Dennoch kann die Frage unter 
einem völlig theoretiſchen und völlig pſy— 
chologiſchen Geſichtspunkt betrachtet wer— 
den. Es folgt aus dem, was ich bis hier— 
her gejagt habe, daß die Hallueinationen 
von zwei oder mehr Urſachen herrühren 
können. Entweder rühren ſie nämlich da— 
her, daß die irrigen Vorſtellungen einen 
demjenigen der Wahrnehmungen vergleich— 
baren Glanz gewonnen haben, oder im 
Gegenteil daher, daß die Wahrnehmungs— 
fähigkeit ſich bis zu dem Grade geſchwächt 
hat, daß die Bilder der Wirklichkeit eben— 
ſo grau und ſtumpf geworden ſind, wie 
die Phantaſiebilder. Es iſt möglich, daß 
dieſe beiden Urſachen häufig zuſammen— 
wirken, aber das iſt ein Punkt, den ich 
nicht zu unterſuchen habe. 

Aber wie es auch darum ſtehe, man 
kann auf die Verirrungen des Wahnſinns 
die Erklärung ausdehnen, welche Ari— 
ſtoteles von den Träumen giebt, und 
ſagen, indem man ſie ein wenig erwei— 
tert, daß ſie dem Verrückten angehören, 
ſoweit er verrückt iſt. Zwiſchen den Vor— 
ſtellungen des Verrückten und denen des 
vernünftigen Menſchen giebt es alſo kei— 


133 


nen Unterſchied in pſychologiſcher Bezieh— 


ung, die Verſchiedenheit iſt phyſiologiſch 
oder beſtimmter geſagt, rein pathologiſch. 

Ich gehe jetzt zu den andern Fragen 
über, deren Erörterung ich noch ſchuldig 
bin. Die erſte iſt, zu wiſſen, an welchem 
Kennzeichen man praktiſch eine Vorſtel— 
lung von einer Wahrnehmung unterſchei— 
den kann, in dem Augenblicke, wo beide 
den gleichen Glanz beſitzen. Die Antwort 
iſt ſehr einfach. Die Vorſtellung iſt durch— 
aus perſönlich, die Wahrnehmung Allen 
gemeinſam. Die Stiche in meinem Zim— 
mer kann Jedermann ſehen, Jeder berüh— 
ren; diejenigen, welche ſich in meiner Ein— 
bildung befinden, ſind Allen unzugänglich 
außer mir ſelbſt. 

In Betreff von Wahrnehmungen und 
Vorſtellungen iſt alſo das Zeugnis der 
andern Menſchen das einzige Kriterium, 
welches uns leiten kann. Aber dieſes Kri— 
terium iſt unglücklicherweiſe nicht unfehl— 
bar. Geſchieht es nicht mitunter, daß ganze 
Volksmaſſen wunderbare Erſcheinungen 
ſehen? In ſeinem ſo lehrreichen Buche 
„Über das Studium der Natur“?) erwähnt 
Herr Houze au, der Direktor des Brüſ— 
ſeler Obſervatoriums, der von den Rö— 
mern in ihre Gräber geſtellten Grablam— 
pen und daß zahlreiche Zeugen verſichert 
haben, ſie noch brennend geſehen zu ha— 
ben, als das Innere der Gräber ans Licht 
gezogen wurde. Das iſt eine vollkommen 
unmögliche und im übrigen ſehr leicht feſt— 
zuſtellende Thatſache. Was leſen wir nun 
zum Beiſpiel in den Protokollen über die 
Eröffnung eines römiſchen Grabes auf der 
Inſel von Niſida bei Neapel, welche Porta 


) De l’etude de la Nature. Bruxelles, 
1876, p. 99. 


134 


geſammelt hat?“) „Würdige, geehrte, ver 
ſchiedenen Profeſſionen angehörende Män— 


ner, unter andern eine namhafte Magi- 


ſtratsperſon, bezeugen,“ ſagt Houzeau, 


„mit ihren Augen, auf die ſicherſte und 


zweifelloſeſte Art, chemiſche Wunder ge— 
ſehen zu haben, welche für ſie nur ein 
verlornes Geheimnis waren.“ Mitten im 
achtzehnten Jahrhundert wurden die Wun— 
der des Diaconus Paris von einer Beweis— 
menge geſtützt, wie ſie die beſtbeglaubig— 
ten hiſtoriſchen Ereigniſſe ſchwerlich vor— 
weiſen könnten. Endlich, was noch ſtär— 
ker iſt, ſehen wir nicht in unſern Tagen 
Philoſophen, Gelehrte, Naturforſcher, die 
Fechner, Zöllner, Ulrici, Wallace 
u. ſ. w. durch die ſpiritiſtiſchen Gaukeleien 
eines Slade myſtifizirt werden? 
Indeſſen, allgemein geſagt, ſind die 
Ideen eines Verrückten, ſoweit er verrückt 
iſt, unmitteilbar; ſie ſind nicht im Stande, 
ſich andern aufzudrängen; auch iſt er im— 
mer geneigt, ſeine Unglücksgefährten als 
Wahnſinnige und die Beſucher von außen— 
her als bornirte und verblendete Leute zu 
betrachten. Und nichts deſtoweniger bringt 
uns eine weitere Überlegung in Verwir— 
rung. Daß nämlich Menſchen von Genie 
durch viel weniger kluge Leute als ſie ſelbſt 
für Narren gehalten werden! Um nur 
ein aus der Gegenwart genommenes Bei— 
ſpiel anzuführen, wie viele berühmte Per— 
ſonen haben beim Anfang nicht an die 
Zukunft der Eiſenbahnen, ja nicht einmal 
an ihre praktiſche Ausführbarkeit glau— 
ben wollen? Und wenn die Irrenhäuſer 
Erfinder des Perpetuum mobile und an— 
derer phyſikaliſch unmöglicher Maſchinen 
beherbergen, haben ſie ſich nicht auch manch— 


*) Magia naturalis. Große Ausgabe von 
1589, lib. XII, von Houzeau zitirt. 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


mal über einen höherſtehenden Träumer 
geſchloſſen? Daher dieſes im Grunde ab— 
ſurde, aber für den Haufen wahre Sprich— 
wort, daß das Genie und die Tollheit 
mehr als einen Berührungspunkt darbieten. 

Wir ſind noch nicht am Ende der 
Schwierigkeiten. Es iſt vorgekommen, daß 
Verrückte dahin gelangt ſind, andere Ver— 
rückte zur Annahme ihrer tollſten An— 
maßungen zu bringen. Herr Spring, 
der Verfaſſer der Symptomatologie ou 
Traite des accidents morbides, erzählte 
mir eines Tages, daß er in einem Ir— 
renhauſe einen Gott Vater gekannt habe, 
der ſich eine gewiſſe Anzahl von Anbe— 
tern verſchafft hatte. Und ſieht man nicht 
in Wirklichkeit ganze Nationen, große 
menſchliche Geſellſchaften an die Unfehl— 
barkeit eines Menſchen glauben, den in 
letzter Inſtanz andere Menſchen mit die— 
ſem Vorrecht bekleidet haben? 5 

Alles wohl betrachtet und alles wohl 
erwogen, wird man fatalerweiſe immer 
wieder zu dieſem anderwärts von mir aus— 
geſprochenen?) Schluß zurückgeführt, daß 
wenn einerſeits die Wahrheit exiſtirt, an- 
dererſeits das abſolute Kriterium der Wahr— 
heit nicht exiſtirt, daß man unterſcheiden 
muß zwiſchen ſubjektiver und objektiver 
Gewißheit; daß unſre Überzeugung, fo 
feſt ſie auch ſei, nicht begründet werden 
kann; daß die Wahrheit für uns nur einen 
ganz proviſoriſchen Charakter haben kann. 
Thatſächlich wird der einzige Grund, wel— 
cher uns eine Aufſtellung verwerfen läßt, 
aus den Widerſprüchen geſchöpft, welche 
ſie mit andern von uns für wahr gehal— 
tenen Aufſtellungen darbietet. Wie auch 

) Man ſehe meine Logique scientifique. 


Bruxelles et Liege, 1865, und meine Logique 
algorithmique, ibidem 1877. 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


die Zahl der letzteren ſich täglich zu ver- 


mehren ſtrebt, nichts ſtellt uns ſicher, daß 
nicht eines Tages neue Widerſprüche auf— 
tauchen werden; die Geſchichte der Wiſ— 
ſenſchaften hat uns nur zu ſehr an dieſe 
Art von Überraſchungen gewöhnt. 

Aber wenn das Mißtrauen in unſer 
Wiſſen durch die ſchwachen Seiten unſe— 
rer intellektuellen Fähigkeiten gerechtfer— 
tigt wird, ſo ergreifen wir im Gegenteil 
hiermit den wahren Probirſtein des Ver— 
nunftzuſtandes. Wie jedes andere Phäno— 
men hat der Irrtum ſeine Urſache, er iſt 
von dieſem Geſichtspunkte erklärbar und 
in irgend einer Art logiſch. Dieſe Ur— 
ſache beſteht in einer unvollkommenen 
Anſchauung der Dinge.“) Sich korrigi— 
ren heißt mehr und beſſer ſehen. Ohne 
Zweifel iſt der menſchliche Geiſt nicht ge— 
halten, alles zu ſehen, aber er müßte ſich 
hüten, die Exiſtenz deſſen, was er nicht 
ſieht, zu leugnen. Es iſt nun dieſe — ent— 
ſchuldbare aber unkluge — Verneinung, 
welche die Quelle aller unſerer falſchen 
Urteile bildet. Dieſe Unvollkommenheit 
unſerer Natur geſtattet, wenn einmal gründ— 
lich erkannt, Niemanden eine abſolute und 
rückhaltloſe wiſſenſchaftliche Überzeugung 
in Betreff irgend einer Wahrheit zu ha— 
ben. Gewiß, wenn es ſich um den ſub— 
jektiven Glauben handelt, ſo iſt es uns 
unmöglich, denſelben demjenigen zu ver— 
ſagen, was ſich uns augenblicklich auf— 
drängt, ſelbſt dem Irrtum. Dieſes ge— 
wöhnliche und durchaus praktiſche Ver— 
trauen ſchließt das Zögern aus. Aber 
wenn es ſich um die überlegte Anhänger— 
ſchaft handelt, ſo iſt es immer am Orte und 
wir müſſen dem Zweifel ſeinen Platz gön— 


*) Man vergleiche meine Logique algo- 


rithmique, 4. Teil. 


135 


nen. Es giebt keine Behauptung, ſo ſicher 
ſie uns erſcheinen mag, die nicht der Ge— 
genſtand eines Zweifels ſein könnte. Die— 
ſer Zweifel, welcher ſich durchaus mit der 
Gewißheit verbündet, iſt der ſpekulative 
Zweifel. Es iſt ein ſpekulativer Zweifel, 
den Descartes ausſprach, als er ſich, 
ſeine Meditationen ſchreibend, frug, ob er 
nicht träume. Der Zweifel iſt, wie man 
ſieht, nicht allein mit der bewußten und 
überlegten Überzeugung vereinbar, ſon— 
dern kann ſogar nur mit ihr exiſtiren. Wenn 
Descartes nicht völlig wach und nicht 
völlig ſicher geweſen wäre, es zu ſein, 
würde er ſich nicht die Frage in dem Sin— 
ne geſtellt haben, den er ihr gab. So— 
ſius und Agidius der Seifenſieder würden 
nicht an ſich ſelbſt gezweifelt haben, wenn 
ſie nicht beigutem Verſtande geweſen wären. 

Der ſpekulative Zweifel iſt thatſäch— 
lich kein aufrichtiger, kein wahrer Zwei— 
fel, wie ihn manchmal der wachende wie 
der ſchlafende und der verrückte Menſch 
empfindet. Er iſt im Grunde ein ganz 
theoretiſcher Zweifel, welcher ſich auf Dinge 
erſtreckt, an denen man im Grunde kei— 
neswegs zweifelt und der ſich durch all— 
gemeine und höhere Betrachtungen recht— 
fertigt. Dieſer Zweifel, der das Urteil 
nicht trübt, iſt die Mitgift des im vollen 
Beſitz ſeiner Vernunft befindlichen Gei— 
ſtes und zur ſelben Zeit das unterſchei— 
dende, ausreichende und abſolute Zeichen 
der durchgearbeiteten Gewißheit. 

Dieſer Schluß iſt beim erſten Anblick 
fremdartig, und wird manchen Geiſtern 
troſtlos erſcheinen. Er wird den verzwei— 
felnden und verzweifelten Philoſophen zum 
neuen Thema dienen, und ſie werden ihn 
zu einen Grundtext nehmen, um den Men- 
ſchen zu einem herabgekommenen Tanta⸗ 


; 136 


J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 


lus der Wahrheit zu machen. So ſchlimm zum Teil irrige, zum Teil unvollkommene 


iſt unſer Geſchick nicht. 
ſchöpflichen Ozean der Wahrheit getaucht, 
iſt es uns nicht verſagt, unſre Lippen dar— 
an zu erfriſchen. Ohne Zweifel, wenn 


In den uner- 


Überſetzung. Iſt man nicht in jüngſter 


Zeit ſo weit gegangen, die Feſtigkeit der 
Grundſätze der Geometrie anzuzweifeln? 


man die ganze menſchliche Wiſſenſchaft als 
eine Sammlung von nebeneinander auf- 


geſtapelten und aufeinander einflußloſen 
Wahrheiten, Falſchheiten, und Dunkel- 


heiten betrachtet, und wenn man ferner 
als das Ziel der Vernunft die Vermeh— 
rung der Summe des Wahren und die 
Beſchränkung der Gebiete des Irrtums und 
des Unbekannten betrachtet, da wird man 
von dem Tage an, wo man erkennt, daß 
man keine Gewißheit erlangen kann, ſich 
von Mutloſigkeit hinreißen laſſen und nach 
der Vernichtung des Denkens ſtreben. Aber 
beruhigen und tröſten wir uns. Wenn 
die abſolute Gewißheit uns entgeht und 
immer entſchlüpfen wird, ſo wird die re— 
lative und unbegrenzt fortſchreitende Ge— 
wißheit, die einzige unſrem endlichen Ver— 
ſtande zugängliche, unſrem Ehrgeiz genü— 
gen und im Stande ſein, ihn zu befriedi— 
gen. Die Wahrheit iſt eine. Es giebt 
keine Wahrheiten, ſondern nur die Wahr— 
heit. Die Worte „beſondere, teilweiſe 
Wahrheit“ ſtellen, ſtreng geſprochen, einen 
ungenauen Ausdruck und gewiſſermaßen 
einen Unſinn dar. Alle unſre Wiſſenſchaften, 
ſelbſt die am meiſten poſitiven, geben von 
der Wahrheit eine zum Teil zweifelhafte, 


Hat man nicht die Fundamente der Lo— 
gik in Frage geſtellt? 

Die Wahrheit zeigt ſich unſern Augen 
ſtets nur vom Kopfe bis zu den Füßen 
verſchleiert, und wie der Göttin von Sais 
wird keine menſchliche Hand ihr den Schleier 
wegziehen. Aber dieſer Schleier wird von 
Tag zu Tag durchſichtiger, weil unſer 
Blick immer durchdringender, immer ſchär— 
fer wird. Die Wahrheit gehört alſo nicht 
zu den Dingen, deren Eroberung wir voll— 
enden, indem wir ſie Stück für Stück in 
Beſchlag nehmen; ſie gehört vielmehr zu 
denen, deren völliger Beſitz uns verſagt 
iſt, die man aber anbeten muß, und der 
man ſich immer inniger annähern kann, 
indem man die Berührungspunkte und die 
Bindemittel vermehrt. Hüten wir uns ein— 
zig vor der Selbſtüberſchätzung und dem 
Rauſch der erſten Einblicke und erſten Um— 
armungen. Das iſt der Anfang des Wiſ— 
ſens zu wiſſen, daß man nichts weiß; ver— 
geſſen wir noch weniger, daß man nie— 
mals das ganze Nichts weiß. Die Be— 
ſcheidenheit, das Mißtrauen, der Zweifel 
find die Zeichen des wahren Wiſſens. Iſt 
die Selbſtgenügſamkeit nicht die gewöhn— 
liche Begleiterin der Unwiſſenheit und der 
Beſchränktheit? 


Hünftliche Diamanten. 


5? 
10 die in England kürzlich gelun— 
gene Darſtellung künſtlicher Dia— 
manten hat F. W. Rudler im Aprilheft 
des laufenden Jahrgangs von W. S. 
Dallas' Popular Science Review einen 
Artikel veröffentlicht, aus welchem wir un— 
ter Hinzuziehung des von Prof. Stokes 
der Royal Society von London am 26. 


Februar vorgelegten Berichtes das Fol- 


gende entnehmen: 

Vor ungefähr drei Monaten erregte 
der Induſtrielle James Maktear in 
Glasgow in allen Kreiſen ein nicht unbe— 
trächtliches Aufſehen durch die Mitteilung, 
daß das lange umworbene Problem der 
künſtlichen Herſtellung farbloſer und durch— 
ſichtiger Kohlenkriſtalle, die den Diaman— 
ten vergleichbar, wenn nicht identiſch wä— 
ren, ihm endlich gelungen ſei. Indeſſen 
erwieſen ſich ſeine Angaben als verfrüht, 
die vermeintlichen Diamanten hielten einer 
genauen Unterſuchung von Prof. Maske— 
lyne und Dr. Flight nicht ſtand, ſie ſchei— 
nen aus einer Kieſelverbindung beſtanden 
zu haben. 

Es iſt wohl in bezug auf andre Dinge 
geſagt worden, daß die „mißglückten An— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


| läufe der Vergangenheit den Triumph der 


| 


Zukunft vorbereiten“. Auch auf unſere an- 
gehenden Diamantfabrikanten iſt dies Wort 
nicht unanwendbar. Kaum waren Mak— 
tears Unterſuchungen von der Offentlich— 
keit verſchwunden, als H. A. Allen von 
Sheffield denſelben Anſpruch für Dr. R. 
S. Marsden erhob, und bevor dieſes 
zweite Verfahren veröffentlicht wurde, 
brachte J. Ballantyne Hannay, ein jun— 
ger Glasgower Chemiker, wirkliche künſt— 
liche Diamanten zu ſtande. 

Seit längerer Zeit iſt Hannay mit 
einer ſehr intereſſanten Unterſuchungsreihe 
beſchäftigt geweſen, die ihn unerwartet zu 
dieſer Entdeckung geführt hat. Um dieſe 
Unterſuchungen zu würdigen, iſt es nötig, 
auf einen Gegenſtand zurückzukommen, der 
beim erſten Anblick keine Beziehung zur 
künſtlichen Darſtellung der Diamanten zu 
haben ſcheint. 

Vor mehr als einem halben Jahrhun— 
dert machte Cagniard de la Tour einige 
bemerkenswerte Experimente, um den Ein— 
fluß der Hitze auf in ſtarken Gefäßen ein— 
geſchloſſene Flüſſigkeiten feſtzuſtellen. Dieſe 
Unterſuchung wurde ſpäter durch An— 
drews in Belfaſt fortgeführt. Er zeigte 
z. B., daß Kohlenſäuregas über eine ge— 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 


18 


138 


wiſſe Temperatur hinaus durch Druck nicht 
verflüſſigt werden kann; aber das ſo zu— 
ſammengepreßte Gas nimmt ein Verhalten 
an, welches weder das einer Flüſſigkeit, 
noch das eines Gaſes iſt. Man erniedrige 
die Temperatur und es wird eine wahre 
Flüſſigkeit; man erniedrige den Druck und 
es wird zum wahren Gaſe. Es wurde ge— 
funden, daß die beiden phyſikaliſchen Zu— 
ſtände der Flüſſigkeit und Gasförmigkeit 
durch unmerkliche Stufen in einander über— 
gehen, jo daß die Kontinuität zwiſchen die— 
ſen beiden Zuſtänden vollſtändig iſt. Jene 
beſondere Temperatur, über welcher der 
Druck das Gas nicht mehr verflüſſigt, 
wurde ſein kritiſcher Punkt genannt. 

Zurückkehrend zu den Experimenten von 
Cagniard de la Tour und Andrews, 
bei denen Flüſſigkeiten in geſchloſſenen 
Röhren erhitzt wurden, wollen wir anneh— 
men, ein feſter Körper ſei in der bis über 
ihren kritiſchen Punkt erhitzten Flüſſigkeit 
aufgelöſt. Was wird geſchehen? Die Flüſ— 
ſigkeit wird in den gasförmigen Zuſtand 
übergehen, aber was wird dabei aus dem 
feſten Körper werden? Dieſe Frage ſtellte 
ſich Hannay bei ſeinen in Verbindung 
mit Herrn Hogarth angeſtellten Verſu— 
chen. Beim erſten Anblick möchte als wahr— 
ſcheinlich angenommen werden, daß der 
feſte Körper, wenn er nicht ſelbſt bei der 
Temperatur flüchtig iſt, bei welcher das 
Löſungsmittel in gasförmige Geſtalt über— 
geht, in feſter Geſtalt ausgeſchieden wer— 
den würde. 

Der Verſuch widerlegte indeſſen dieſe 
Annahme völlig. Es wurde bald bemerkt, 
daß der feſte Körper in manchen Fällen 
nicht abgeſchieden wurde, ſondern in dem 
Gaſe wie in einer Flüſſigkeit gelöſt blieb. 
Der Gebrauch des allgemeinſten Löſungs— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


mittels, des Waſſers, war bei dieſen Ver— 
ſuchen ausgeſchloſſen, teils weil ſein kriti— 
ſcher Punkt ungewöhnlich hoch liegt, teils 
weil es bei hoher Temperatur und ſtarkem 
Druck eine ungewöhnlich ſtark auflöſende 
Kraft auf die Glaswandungen ausübt. 
Als geeigneter wurde Alkohol gefunden, 
und viele der erſten Verſuche von Hannay 
und Hogarth wurden mit einer Auflö— 
ſung von Jodkalium in Alkohol ange— 
ſtellt. Eine ſtarke Röhre wurde ungefähr 
zur Hälfte mit einer Auflöſung von Jod— 
kalium in Alkohol gefüllt, zugeſchmolzen 
und darauf im Luftbade bis über den kri— 
tiſchen Punkt des Alkohols hinaus erhitzt. 
Der Alkohol wurde gasförmig und das 
Jodkalium blieb, anſtatt niedergeſchlagen 
zu werden, in dem Gaſe gelöſt. Sogar 
wenn die Temperatur auf 380% C. (d. h. 
150° über den kritiſchen Punkt) erhöht 
wurde, behauptete das Alkoholgas noch 
ſeine löſende Kraft auf das Salz. Inzwi— 
ſchen wurde es durch eine geiſtreiche An— 
ordnung möglich, ein Stückchen des Jodids 
der Wirkung des überhitzten Gaſes aus— 
zuſetzen, und man ſah, wie es ſich in dem 
unſichtbaren Löſungsmittel langſam auf— 
löſte. Aber wenn man langſam die gas— 
förmige Auflöſung von dem Drucke be— 
freite, unter welchem ſie ſich befunden, ſo 
wurde das Jodkalium entweder als eine 
Wolke von zarten, ſchneeförmigen Kriſtal— 
len oder als eine kriſtalliniſche Decke, wie 
Rauhfroſt, auf der Röhrenwandung ab— 
geſchieden. Wurde hingegen der Druck 
wieder vermehrt, ſo löſten ſich die Kriſtalle 
von neuem und verſchwanden allmählich. 

Da ähnliche Verſuche auch mit ſchwer— 
löslichen Körpern gelangen, und beiſpiels— 
weiſe Kieſelſäure, Thonerde und Zinkoxyd 
unter ſtarkem Druck in überhitztem Waſſer— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


dampf in beträchtlicher Menge aufgelöft 
wurden, und da auch dieſe gaſigen Löſun— 
gen die feſten Körper faſt immer in kri— 
ſtalliniſcher Geſtalt ausſchieden, ſo lag es 
nahe, auch den Kohlenſtoff, der allen ge— 
wöhnlichen Löſungsmitteln, den Säuren 
und Alkalien, Alkoholen und Athern wi— 
derſteht und ſich nur im geſchmolzenen 
Gußeiſen auflöſt, aus welchem er in gra— 
phitähnlichen Schuppen auskriſtalliſirt, den 
neuen Löſungsmitteln zu unterwerfen. Wie 
es ſcheint, hat das Aufſehen, welches Mak— 
tears Verſuche in Glasgow erregten, die 
beiden genannten Chemiker veranlaßt, ein— 
ſchlägige Experimente anzuſtellen, da ſich 
ja die feſten Körper in kriſtalliniſcher Ge— 
ſtalt aus den gaſigen Löſungsmitteln aus— 
ſchieden. 

Indeſſen mußte Hannay bei ſeinen 
erſten Verſuchen bemerken, daß keines ſei— 
ner gasförmigen Löſungsmittel hinreichte, 
Kohle in irgend einer Form, als Graphit, 
Holzkohle oder Lampenruß, aufzulöſen. Es 
mußte alſo auf einem Umwege vorgegan— 
gen werden, um das vorgeſteckte Ziel zu 
erreichen. Kohlenſtoff iſt bekanntlich durch 
die Zahl der flüchtigen Verbindungen aus— 
gezeichnet, die er im Stande iſt, mit dem 
Waſſerſtoff zu bilden. Nun fand Han— 
nay, daß wenn ein Kohlenſtoff und Waſ— 
ſerſtoff enthaltendes Gas in Gegenwart 
gewiſſer Metalle, wie Magneſium oder 
Natrium, einer hohen Rotglut unter ſtar— 
kem Druck ausgeſetzt wird, der Kohlen— 
waſſerſtoff zerſetzt wird, indem ſich der 
Waſſerſtoff mit den Metallen, zu denen er 
bei hoher Temperatur ſtarke Verwandt— 
ſchaft hat, verbindet, während der Kohlen— 
ſtoff ausgeſchieden wird. Um die hohen 
Temperaturen und den ſtarken Druck wirken 
1 zu können, wendete Hannay für 


139 


dieſe Verſuche ſtarke, Flintenläufen ähn— 
liche Eiſenröhren von ungefähr ½ Zoll 
innerer Weite bei 3¼ Zoll äußerer Dicke 
an, und ſelbſt dieſe wurden im Lauf der 
Experimente meiſtens (neunmal von zehn— 
mal) aufgeriſſen. 

Es erſchien wahrſcheinlich, daß der bei 
dieſer Zerſetzung in Freiheit geſetzte Koh— 
lenſtoff im Momente feiner Bildung und 
in statu nascenti in dem Gaſe aufgelöſt 
und bei Nachlaß des Druckes in kriſtal— 
liniſchem Zuſtande abgeſchieden werden 
möchte. Hannay hat gefunden, daß es, 
um die Kohle in dem gewünſchten kriſtal— 
liniſchen Zuſtande zu erhalten, nötig iſt, 
daß eine hitzebeſtändige Stickſtoffverbin— 
dung zugegen ſei. Als dieſe Bedingungen 
erfüllt wurden, hatte der Experimentator 
die Genugthuung, daß ſich die Kohle in der 
That in diamantähnlicher Form ausſchied. 

Dieſe diamantartige Kohle iſt nicht 
nur durch den Entdecker ſelbſt, ſondern 
auch durch Profeſſor Maskelyne, eine 
ausgezeichnete mineralogiſche Autorität, ge— 
nau unterſucht worden. Erſtens, was die 
Härte, die am meiſten charakteriſtiſche und 
wertvollſte Eigenſchaft der Diamanten, an- 
betrifft, ſo hat ſich gezeigt, daß Hannays 
Kriſtalle leicht tiefe Furchen in einen Sa— 
phir gruben, alſo eine angreifende Kraft 
zeigten, welche keine Subſtanz als eben 
der Diamant beſitzt. In Hinſicht auf die 
Kriſtallform iſt wenig zu ſagen, da die 
vorhandenen Stücke eher Diamantſplittern 
als Kriſtallen gleichen. Doch in einem 
Falle ſah Maskelyne oktaödriſche Spalt— 
flächen, und Hannay hat auf das Vor— 
handenſein der für Diamantkriſtalle ſo cha— 
rakteriſtiſch gekrümmten Flächen aufmerk— 
ſam gemacht. Optifch verhalten ſich die 
Kriſtallfragmente ganz nach Erwartung, 


140 


und ermangelten nicht, ein entſprechendes 
ſpezifiſches Gewicht (3,5) zu zeigen. Die 
chemiſchen Kennzeichen endlich laſſen nichts 


zu wünſchen übrig. In dem Voltaiſchen 
Bogen erhitzt, ſchwillt dieſe Kohle auf und 


wird ſchwarz, grade wie der Diamant, 
während er wie gewöhnlich in Sauerſtoff 
verbrennt und reine Kohlenſäure liefert. 
Der Verſuch zeigte, daß der künſtliche Kri— 
ſtallkörper 97,85 „ Kohlenſtoff enthält. 
Alle dieſe Beweislinien konvergiren in dem 
Punkte, daß wir es hier mit einer Subſtanz 
zu thun haben, die nach allen Richtungen 
nicht mehr und nicht weniger als Diamantiſt. 

Es ſcheint alſo, daß Hannay die Na— 
tur ſo erfolgreich nachgeahmt hat, um 
einen von dem natürlichen Edelſtein nicht 
zu unterſcheidenden Körper hervorzubrin— 
den. In Verbindung mit dieſer intereſſan— 
ten Entdeckung erheben ſich indeſſen natur— 
gemäß zwei Fragen: Erſtens, iſt die künſt⸗ 
liche Subſtanz auf demſelben Wege er— 
zeugt worden, wie der natürliche Dia— 
mant? Und zweitens, kann das künſtliche 
Produkt in ſolcher Menge und mit ſolcher 
Leichtigkeit erzeugt werden, um mit Vorteil 
auf den Markt gebracht werden zu können? 

Die erſte Frage iſt nicht ſo leicht zu 
beantworten. Die Natur hat einen ſolchen 
Reichtum an Hilfsmitteln zu ihrer Verfü— 
gung, daß ſie, um zu einem beſondern Ziel 
zu gelangen, keineswegs auf ein einziges 
Hilfsmittel angewieſen iſt. Nichts mög— 
licher, als daß der Diamant der einen Ort⸗ 
lichkeit in der einen und ein anderer in 
anderer Weiſe gebildet ſein könnte. In 
der That ſind die Bedingungen ſeines Vor— 
kommens in verſchiedenen Teilen der Welt 
einander ſo unähnlich, um es höchſtwahr— 
ſcheinlich zu machen, daß z. B. die Dia— 
manten Braſiliens und Südafrikas durch 


ſeien. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ganz verſchiedene Prozeſſe hervorgebracht 
Es iſt daher möglich, das Han— 
nay einen Weg der Natur, Diamanten 
hervorzubringen, nachgeahmt hat, aber auch 
dann läge es noch weit entfernt, anzunehmen, 
daß alle Diamanten ſo entſtanden ſeien. 


Es war ein altes alchemiſtiſches Dogma, 


daß „Vulkan eine zweite Natur iſt, die 
genau nachahmt, was die erſte mit Zeit 
und Umwegen bewirkt“. Dieſem Grund— 
ſatze gehorchend, hat Hannay den Vulkan 
zu ſeinem gehorſamen Diener gemacht, aber 
ein gut Teil deſſen, was wir über den na— 
türlichen Diamanten gewiſſer Lokalitäten 
wiſſen, richtet ſich dahin, anzudeuten, daß 
Vulkan nicht allerwärts ſeiner Erzeugung 
vorgeſtanden hat. „Wir ſind gänzlich un— 
bekannt mit der Art ſeiner Bildung in der 
Natur“, hat ein berühmter Chemiker kürz— 
lich geſagt, „das einzige Ding, welches als 
gewiß betrachtet werden kann, iſt, daß er 
nicht in hoher Temperatur gebildet wurde“. 

Nach allem Anſcheine iſt die Diaman— 
ten⸗Erzeugung ein Gegenſtand von blos 
wiſſenſchaftlichem Intereſſe; die praktiſche 
Frage für das unwiſſenſchaftliche Volk lau— 
tet: Kann Hannay ſein Produkt in hin: 
reichender Menge erzeugen, um den Dia— 
mantenmarkt dadurch zu beeinfluſſen? Edel— 
ſteinbeſitzer mögen ſich indeſſen durch die 
Verſicherung beruhigen laſſen, daß für jetzt 
die künſtlichen Diamanten ſehr klein und 
koſtbar ſind. Wenn der Chemiker ſeine 
wohlausgedachte Operation beendet hat 
und das Eiſenrohr öffnet, ſo findet er, daß 
ſeine Diamanten nicht wie diejenigen Sind— 
bads „von erſtaunlicher Größe“ ſind. Sie 
ſind vielmehr von erſtaunlicher Kleinheit. 
Aber wären ſie auch nicht größer als Na— 
delköpfe, das Experiment wird doch ein 
wertvoller Triumpf der Wiſſenſchaft blei— 


Sr 


4 


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F 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ben. Freilich kann man nicht wiſſen, ob 


die Induſtrie nicht dennoch Mittel finden 
wird, die wiſſenſchaftliche Methode auszu— 
beuten und größere Kriſtalle zu erzeugen. 


Die Virkungen des ununferbrochenen 
Honnenlichkes auf die Pflanzen der 


| Volarländer. 

Prof. Schübeler in Chriſtiania, der 
ſeit nahezu dreißig Jahren mit der Be— 
obachtung der klimatiſchen Einflüſſe auf 
die Pflanzenwelt beſchäftigt iſt, hat in eini— 
gen kürzlich erſchienenen Nummern der 
ſkandinaviſchen Zeitſchrift, Naturen“ feine 
Studien über den Einfluß der nordiſchen 
Belichtungsverhältniſſe dargelegt, über 
welche wir nach einem Referat der engli— 
ſchen Zeitſchrift,, Nature“, Nr. 535 (1880), 
das Folgende mitteilen. 

Die erſte ſeiner Beobachtungsreihen be— 
zieht ſich auf den Winterweizen und wurde 
aus demſpeziellen Geſichtspunkt unternom— 
men, feſtzuſtellen, welche Wirkung das faſt 
ununterbrochene Sonnenlicht des kurzen 
ſkandinaviſchen Sommers auf die aus frem— 
dem Samen erwachſenen Pflanzen ausübt. 
Die Experimente wurden mit Samenproben 
von Beſſarabien und Ohio angeſtellt und in 
beiden Fällen wurde bemerkt, daß die Ori— 
ginalfarbe der Körner ſchrittweiſe jedes 
Jahr eine ſeit dem erſten Jahr bemerk— 
bare reichere und dunklere Färbung an— 
nahmen, bis ſie endlich zu der gelbbrau— 
nen Färbung des heimiſchen norwegiſchen 
Winterweizens angekommen waren. Ahn— 


liche Reſultate wurden mit Mais, ver⸗ 


ſchiedenen Arten von Garten- und Feld— 


Gartenpflanzen, wie Sellerie, Perſilie u.f. ! 


w., erhalten. In keinem Falle hat Dr. 


| 


141 


Schübeler gefunden, daß eine eingeführte 
Pflanze, die fähig war, in Norwegen kul— 
tivirt zu werden, an Farbenintenſität nach 
fortgeſetzter Kultur verlor, während in 
Bezug auf manche der gemeinen Garten— 
blumen Mitteleuropas, wie er glaubt, 
mit Gewißheit behauptet werden kann, daß 
ſie nach ihrer Acelimatiſation in Norwe— 
gen ſowohl einen Größezuwachs, als eine 
Erhöhung der Farbe erlangten. Dieſe ver— 
änderten Bedingungen werden um ſo zwin— 
gender offenbar, je weiter nach Norden 
wir gehen, natürlich in den Grenzen der 
Vegetationsfähigkeit der verſchiedenen 
Pflanzen. So iſt von Prof. Wahlberg 
in Stockholm beobachtet worden, daß Epi- 
lobium angustifolium, Lychnis sylve- 
stris, Geranium sylvaticum und viele 
andere in Lapmarken und den ſüdlicheren 
Provinzen Schwedens gemeine Pflanzen 
in dem erſteren einen Wuchs und einen 
Farbenglanz zeigen, wie er in den letzte— 
ren nicht bekannt iſt. Der Wechſel bei 
Veronica serpyllifolia und Trientalis eu- 
ropaea iſt bemerkenswert, indem die erſtere, 
je weiter man nach Norden kommt, aus 
einem blaſſen in ein dunkles Blau über- 
geht, und die letztern von weiß in Roſen— 
farbe. Es iſt bemerkenswert, daß ein ro— 
ter Ton für die Vegetation der ſkandina— 
viſchen Hochebenen (Fjelds) im allgemeinen 
charakteriſtiſch iſt, und zwar gleicherweiſe 
bemerkbar in den blauen, gelben, grünen 
und weißen Färbungen. 

Die Farbe iſt indeſſen nicht die all— 
einige, durch das ununterbrochene Tages— 
licht des ſkandinaviſchen Sommers beein— 


flußte Eigenſchaft der Pflanzen, denn nach 
Erbſen ſowie Bohnen und gewiſſen andern 


Prof. Schübeler iſt das Aroma aller 
wilden und dort kultivirbaren Früchte viel 
größer, als dasjenige derſelben Früchte, 


wenn fie in ſüdlicheren Ländern gewach— 
ſen ſind. 
bei Erdbeeren, Kirſchen und den verſchie— 
denen Arten von wilden Sumpf- und Wald— 
beeren. In Bekräftigung dieſer Erfahrung 


hat Prof. Flückiger in Straßburg ge⸗ 


funden, daß der norwegiſche Wacholder 
eine viel höhere Ausbeute von ätheri— 


ſchem Ol giebt, als aus dem in Zentral- 


europa gewachſenen Strauch erhalten wer— 
den kann. Dieſer Überſchuß an Aroma 
iſt in den nördlichen Pflanzen und Früch— 
ten mit einem niedrigeren Süßigkeitsgrade 
vergeſellſchaftet. So ermangeln die gemeine 
Goldtropfenpflaume (golden-drop-plum*) 
und die Mirabelle (greengage) von Chri- 
ſtiania oder Drontheim, obwohl ſie groß, 


wohlgefärbt und aromareich ſind, ſo ſehr 


der Süßigkeit, daß ſie denen, welche dieſe 
Früchte in Frankreich oder Süddeutſchland 
gegeſſen haben, unreif erſcheinen. 

Dr. Edmund Göze, welcher lange in 
Coimbra gewohnt hat, teilte Dr. Schübe— 
ler mit, daß ſeine Beobachtungen über die 
Früchte Portugals ihn in den Stand ſetzten, 
feine (Schübelers) Anſicht über die ver— 
ſchiedenen Bedingungen, von denen das 
Verhältnis von Aroma und Süßigkeit ab— 
hängig iſt, zu bekräftigen. Die in großer 
Zahl unweit Coimbra wachſenden Erdbee— 
ren ſind, wie er ſagt, groß, äußerſt ſüß, 
ermangeln aber im übrigen beinahe gänz— 
lich des Aromas und Geſchmacks. Die— 
ſelbe Bemerkung paßt auf die portugieſi— 
ſchen Weine, wenn man ſie mit den höchſt 
geſchmackreichen Erzeugniſſen der rheini— 
ſchen und anderer nördlicher Weinberge 
vergleicht, und eine Erwägung dieſer ver— 


*) Anm. d. Red. Es kommt hier wohl 
auf die Sorten ſpeziell nicht an. Als Coés golden 
drop finde ich die im Deutſchen „Violette Jeru— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ſchiedenen Bedingungen veranlaßt ihn, als 
Dies iſt beſonders bemerkbar 


eine feſtgeſtellte Thatſache anzunehmen, daß 
Licht in demſelben Verhältnis zum Aroma 
ſteht, wie die Wärme zur Süßigkeit. 

Dieſer mit Geſchmacksſteigerung ver— 
bundene Zuwachs an Aroma, wie er von 
der ununterbrochenen Wirkung des Son— 
nenlichts hervorgebracht wird, hat die Fol— 
ge, einige unſerer höchſt ſchmackhaften Gar— 
tengewächſe in Skandinavien faſt unge— 
nießbar zu machen. So hat Dr. Schübe— 
ler gefunden, daß die gemeine weiße Stock— 
ſellerie, welche nahe bei Chriſtiania mit 
ſorgfältiger Beobachtung der in England 
befolgten Methode gezogen wurde, und 
welche im äußern Anſehen nicht von der 
auf den Covent-Garden-Markt gebrachten 
unterſchieden werden konnte, im Vergleich 
mit den milderen, angenehm ſchmeckenden 
engliſchen Gewächſen einen ſcharfen, uner— 
freulichen Geſchmack beſaß. Daſſelbe gilt 
vom Knoblauch, Schalotten und Zwiebeln, 
und dieſe Wahrnehmungen werden nicht 
allein durch die ſeit dreißig Jahren fortge— 
ſetzten Beobachtungen Schübelers, ſon— 
dern auch durch die übereinſtimmenden 
Zeugniſſe verſchiedener ſeiner Kollegen be— 
ſtätigt, die gleich ihm praktiſche Verſuche 
mit der Acclimatiſation fremder Gewächſe 
in Norwegen machten. Von dieſem Ge— 
ſichtspunkt ſind einige Beobachtungen Dr. 
Schübelers von ſpeziellerem Intereſſe, 
und bei der gegenwärtig niedrigen Stufe 
der induſtriellen Entwicklung Norwegens 
würde ihre praktiſche Verwendung höchſt 
wichtig ſein. So zeigt er, daß während in 
Holland, Deutſchland und Mittelrußland 
Leinöl im Verhältnis von 3—4 % vom 
ſalemspflaume“ genannte Zwetſche bezeichnet; un— 
ter greengage wird andrerſeits in England auch 
die Reine-Claude verftanden. 


— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Gewicht der Pflanzen, aus denen man es 
erhält, genommen wird, unkultivirte nor— 


wegiſche Pflanzen im Ertrage zwiſchen 4 


und 8 % variirten. Ferner überzeugten 
ihn ſeine Experimente über den Ertrag 
an ätheriſchem Lavendelöl, daß in Chri— 
ſtiania oder Drontheim gewachſene Pflan— 
zen, verglichen mit denen von Merton, die 
bisher als die vorzüglichſten in der Welt 
galten, dieſe bei weitem an Aroma über— 


trafen, und er iſt der Anſicht, daß die Kul- 
teſten und klarſten Nächten und blieben 


tur dieſer Pflanze in den norwegiſchen Kü— 
ſtenländern mit zweifelloſem Erfolge ein— 
geführt werden könnte. 

Während Dr. Schübeler nicht zögert, 
zu behaupten, daß Licht Aroma erzeuge, 
wie die Wärme Süßigkeit hervorbringt, 
iſt er nicht im Stande geweſen, feſtzuſtel— 
len, welchen Einfluß beide auf die Erzeu— 
gung vegetabiliſcher Alkaloide haben. In 
Verbindung Mit feinen eigenen Beobach— 
tungen berichtet er einige merkwürdige Ein— 
zelnheiten, die Wirkung des ununterbroche— 
nen Sonnenſcheins auf die Pflanzen be— 
treffend, welche er von intelligenten Be— 
wohnern erhalten hat, die unter ſeiner 
Anleitung gewiſſe Experimente ausgeführt 
haben. So wurde ſowohl zu Alten in Weſt— 
Finnmarken, als zu Stamſund auf den 
Lofoten beobachtet, daß Pflanzen von Aca- 
cia lophanta ihre Blätter während zweier 
Monate oder länger, ſo lange die Sonne 
über dem Horizont blieb, niemals zuſam— 
menlegten. Zu Alten wurde ein Verſuch 
angeſtellt, bei welchem die Hälfte der Krone 
einer Akazie während der Nacht beſchattet 
wurde, und das Ergebnis war, daß nach 
ungefähr zwanzig Minuten die beſchatteten 
Blätter ſich zuſammenzulegen begannen und 
geſchloſſen blieben, bis die Pflanze wieder 


Er der Mitternachtsſonne ausge— 


| 


143 


ſetzt wurde, worauf nach einiger Zeit die 
Blätter ſich wieder langſam zu entfalten 
begannen. Zu Stamſund wurde beobach— 
tet, daß, wenn die Akazien auf der Nord— 
ſeite eines Hauſes aufgeſtellt wurden, wel— 
che teilweiſe durch ein benachbartes Fjeld 
beſchattet wurde, die Blättchen ſich auf— 
wärts wendeten, ohne ſich indeſſen völlig 
zu ſchließen und dasſelbe wurde bei Re— 
genwetter beobachtet. Die Blätter von 
Mimosa pudica ſchloſſen ſich in den lich— 


für einige Stunden zurückgefaltet. 

Ohne die weiteren Details von Dr. 
Schübelers zahlreichen Experimenten 
aufzuzählen, wollen wir ihre Reſultate 
im folgenden kurz zuſammenfaſſen: 

1. Der Weizen, welcher in niedriger 
liegenden Ländereien gewachſen iſt, kann 
mit Erfolg auf den Hochebenen (Fields) 
kultivirt werden, und kommt auf ſolchen 
Höhen trotz der niedrigen Mittel-Tempe— 
ratur ſogar früher zu Reife. Solches Ge— 
treide, welches ſeit mehreren Jahren auf 
der höchſten Ortlichkeit, die fein Gedeihen 
noch zuließ, kultivirt worden war, wurde, 
wenn es an feinen urſprünglichen Stand— 
ort zurückverſetzt worden war, früher rei— 
fend gefunden, als die andern unbewegt 
gebliebenen Sorten. Dasſelbe Reſultat iſt 
bemerkbar bei Getreide, welches von einem 
ſüdlichen nach einem nördlicheren Stand— 
orte und zurück verpflanzt worden war. 

2. Von einer ſüdlichen Lokalität ein— 
geführte Sämereien, nehmen in den mit 
ihrem Gedeihen verträglichen Grenzen an 
Größe und Gewicht zu, und dieſe ſelben 
Samen nehmen, nach ihrer mehr ſüdlichen 
Heimat zurückgebracht, wieder bis zu ihren 
früheren Dimenſionen ab. Ein ähnlicher 
Wechſel iſt bei den Blättern und Knospen 


Le 


144 


verſchiedener Baumarten und anderer 


Pflanzen bemerkbar. Ferner wurde ge— 


funden, daß Pflanzen, die in nördlicher 


Lokalität gezogen waren, ſowohl härter 


als größer wurden, als die im Süden 


gezogenen, und überdies fähiger, heftigen 
Kältegraden zu widerſtehen. 

3. Je weiter wir — in gewiſſen be— 
ſtimmten Grenzen — nach Norden gehen, 
um ſo energiſcher iſt die Entwicklung der 
Farbſtoffe in Blumen, Blättern und Sa— 
men. Gleicherweiſe wird das Aroma oder 


der Geſchmack verſchiedener Pflanzen oder 


Samen an Intenſität vermehrt, und die 
Menge der zuckerartigen Subſtanz in dem 
Verhältnis vermindert, je weiter nach Nor— 
den (in den Grenzen ihrer Kultivirungs— 


Aber die Phäodarien, eine neue 
Gruppe kieſelſchaliger mariner 
Ahizopoden. 

In der Sitzung vom 12. Dez. 1879 
der Jenaiſchen Geſellſchaft für Medizin 
und Naturwiſſenſchaft hielt Prof. Haeckel 
den nachſtehenden Vortrag, den wir als 
Ergänzung ſeiner in dieſen Blättern zuerſt 
erſchienenen Arbeit über das Protiſten— 
reich“) vollſtändig aus den Sitzungs— 
berichten dieſer Geſellſchaft mitteilen: 

Die Phäodarien bilden eine formen— 
reiche und in mehrfacher Beziehung ſehr 
ausgezeichnete Gruppe von großen mari— 
nen Rhizopoden, die zwar vorläufig am 
beſten nach den Radiolarien angeſchloſſen 
werden, aber von den typiſchen Radiola— 
rien (Sphärideen, Diseideen, Cyrtideen, 
Cricoideen ꝛc.) nicht weniger abweichen als 
die Acanthometren. Bisher waren von 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


den Phäodarien nur ſehr wenige Formen 
bekannt, welche ſämmtlich zuerſt von mir 
1859 in Meſſina beobachtet und in mei— 


ner Monographie der Radiolarien 1862 


als Vertreter von drei. verſchiedenen Fa— 
milien beſchrieben wurden, nämlich 

1. Aulacanthida (Genus: Aula- 
cantha). 

2. Aulosphaerida (Genus: Aulo- 
sphaera). 

3. Coelodendrida (Genus: Coe— 
lodendrum). 
Außerdem hatte ich daſelbſt noch zwei an- 
dere, hierher gehörige Formen beſchrieben, 
nämlich Thalassoplancta, welche ich zu den 
Thalaſſoſphäriden, und Dietyocha, welche 
ich zu den Acanthodesmiden geſtellt hatte. 

Ein ganz neues Licht wird auf dieſe 
intereſſanten Rhizopoden durch die Entdeck— 
ungen der Challenger-Expedition gewor— 
fen, welche auch von den typiſchen Radio— 
larien eine ſolche Fülle neuer Formen aus 
den Abgründen des pacifiſchen Ozeans zu 
Tage gefördert hat, daß ich jetzt bereits 
über zweitauſend neue Arten zu unterſchei— 
den im Stande geweſen bin. Außer die— 
ſen haben die Tiefſeeforſchungen des „Chal— 
lenger“ auch eine Menge neuer, bisher 
völlig unbekannter Tiefſee-Phäodarien 
ans Licht gefördert, während deren An— 
zahl in den von mir unterſuchten pela— 
giſchen Oberflächen-Präparaten der Chal— 


lenger-Sammlung weniger beträchtlich iſt. 


Über einige der eigentümlichſten Formen 
von dieſen neuen Tiefſee-Phäodarien hat 
bereits John Murray 1876 einen kur— 
zen Bericht abgeſtattet und dieſelben mit 
dem Namen Challengeridae belegt.“) Der- 
ſelbe hebt als charakteriſtiſch hervor einer— 


=) Proceed. of the Royal Soc. 1876, 
Vol. 24, p. 471, 535, 556, Pl. 24, Fig. 1—6.. 


%) Kosmos, Bd. III, S. 10, 105 u. 215. 


— 


1 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ſeits die äußerſt zierliche und feingefen- 


ſterte Gitterſtruktur ihrer großen, auffal— 
lend geformten Kieſelſchalen, andererſeits 
die konſtante Anweſenheit von großen, 
ſchwarzbraunen Pigmentmaſſen, welche 
außerhalb der Zentralkapſel in der Sar— 
kode zerſtreut ſind. 

In der neuen Anordnung der Radio— 
larien, welche ich 1878 in meiner Schrift 
über „das Protiſtenreich“ gab, hatte ich 
die vorher erwähnten, mit hohlen Kieſel— 
rohren ausgeſtatteten Phäodarien als eine 
beſondere Ordnung der Radiolarien unter 
dem Namen Pansolenia zuſammengefaßt: 
„Skelett beſteht aus einzelnen hohlen Röh— 
ren, welche bald locker zerſtreut, bald in 
radialer, bald in konzentriſcher Anordnung 
verbunden find.” “) 

Dieſelbe Gruppe wurde 1879 von 
Richard Hertwig in ſeinem Werke über 
den „Organismus der Radiolarien“ als 
beſondere Ordnung dieſer Klaſſe unter der 
Bezeichnung Tripyleae aufgeführt mit fol= 
gender Charakteriſtik: „Monozoe einker— 
nige Radiolarien; Kapſelmembran doppelt, 
mit einer Hauptöffnung und zwei Neben— 
öffnungen; Skelett kieſelig, von Röhren 
gebildet.‘ **) 

Weder die von Hertwig vorgeſchla— 
gene Benennung Tripyleae, noch meine 
frühere Bezeichnung Pansoleniae ſind auf 
alle die Rhizopoden anwendbar, welche ich 
gegenwärtig in der Gruppe der Phaeoda- 
riae zuſammenfaſſe. Denn nur ein Teil 
derſelben beſitzt in der doppelten Membran 
der Zentralkapſel die drei Offnungen, wel— 
che für alle „Tripyleae“ charakteriſtiſch fein 
ſollten; und nur bei einem Teile derſelben 
wird das Kieſelſkelett durch „hohle Röh— 
8 *) Protiſtenreich, S. 102. 

8 J. C. p. 133, p. 87. 


145 


ren“ gebildet („Pansoleniae“). Dagegen 
beruht ein eigentümlicher und auffallender 
Charakter aller dieſer Rhizopoden, wie 
zuerſt von Murray!) hervorgehoben 
wurde, auf der beſtändigen Anweſenheit 
großer, dunkelbrauner Pigmentkörner, wel— 
che exzentriſch außen um die Zentralkapſel 
gelagert ſind und einen großen Teil ihrer 
Oberfläche bedecken. Der Kürze halber 
will ich dieſen extrakapſularen, dunkeln Pig- 
menthaufen als das Phäodium bezeichnen 
(So oder ꝙνͤ,ne — dunkel, braun, 
dämmerig). Allerdings ſind die Phäodel— 
len oder die großen, braunen Körner des 
Phäodiums nicht echte Pigmentzellen, wie 
Murray“) damals angab; denn ein ech— 
ter Zellkern iſt in denſelben nicht nachzu— 
weiſen. Auch iſt die Natur des eigentüm— 
lichen Pigments dieſer Pſeudozellen noch 
nicht näher bekannt. Allein die anſehnliche 
Quantität und die auffallende Konſtanz, 
in welcher das Phäodium bei allen Phäo— 
darien ſich findet, während es allen typi— 
ſchen Radiolarien fehlt, verleiht ihm ge— 
wiß einen hohen Grad von ſyſtematiſcher 
Bedeutung. Zur Zeit ſcheinen mir die be— 
ſtändige Anweſenheit des exrzentrifchen 
Phäodiums und die eigentümlich gebaute 
doppelte Membran der Zentralkapſel die 
einzigen ſyſtematiſch verwertbaren Merk— 
male zu ſein, welche alle Phäodarien von 
allen übrigen Radiolarien trennen. 

Die Größe der Phäodarien tft meiſtens 
ſehr anſehnlich im Verhältniſſe zu den übri— 
gen Radiolarien, deren Durſchnittsmaß ſie 
bedeutend übertreffen. Die meiſten Phäo— 
darien ſind mit bloßem Auge ſichtbar und 
viele erreichen 1, —Imm Durchmeſſer und 
darüber. Die anſehnliche Zentralkapſel iſt 
meiſtens kugelig oder ſphäroidal, oft aber 
9 1876, 1. c. p. 536. — **) J. c. p. 536. 


— 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 


19 


146 


auch eiförmig oder länglichrund; in vielen 
Fällen monaxon, in anderen dipleuriſch. 
Ihre Membran iſt ſehr feſt und ſtets dop— 
pelt, die äußere ſehr dick, die innere dünn. 
Die Offnung derſelben, durch welche die 
Pſeudopodien austreten, iſt von ſehr eigen— 
tümlicher Struktur, welche R. Hertwig*) 
genau beſchrieben hat. Viele Phäodarien 
haben nur eine ſolche Offnung („Monopy- 
leae“), andere deren zwei, an entgegenge— 
ſetzten Polen der Zentralkapſel („Amphi- 
pyleae“); ſehr viele, vielleicht die meiſten, 
haben drei Öffnungen, eine größere Haupt— 
öffnung und zwei kleinere Nebenöffnungen 
(„Tripyleae“); noch andere endlich haben 
eine größere Anzahl von Offnungen, welche 
regelmäßig oder unregelmäßig verteilt ſind 
(„Sporopyleae“). Trotz dieſer eigentümli— 
chen Struktur und trotz der anſehnlichen 
Größe hat dennoch die Zentralkapſel aller 
Phäodarien nur den Formwert einer einzi— 
gen, einfachen Zelle. Das beweiſt das mi— 
krochemiſche Verhalten ihres Protoplasma— 
Inhalts und des davon umſchloſſenen Kerns. 
Dieſer Zellkern (von mir 1862 als „Bin— 
nenbläschen“ beſchrieben) iſt bläschenför— 
mig und von ſehr anſehnlicher Größe, in— 
dem ſein Durchmeſſer meiſtens über die 
Hälfte, oft ?/, oder / von demjenigen der 
Zentralkapſel beträgt. Bald umſchließt er 
einen großen Nukleolus, bald mehrere. 
Der extrakapſulare Weichkörper iſt bei 
allen Phäodarien durch zwei charakteriſti— 
ſche Eigentümlichkeiten ausgezeichnet; er— 
ſtens durch die beträchtliche Quantität der 
extrakapſularen Sarkode, welche viel vo— 
luminöſer iſt als die intrakapſulare; und 
zweitens durch die darin angehäuften Phä— 
odellen oder „dunkeln Pigmentkörner“. Die 
Farbe derſelben iſt meiſt dunkelbraun, oft 


*) 1878, 1. c. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


auch grünlich oder dunkelgrün. Der Mutter- 
boden der Pſeudopodien iſt ſehr mächtig 
und von einer voluminöſen, oft von Va— 
kuolen durchſetzten Gallerte eingeſchloſſen, 
durch welche die ausſtrahlenden Pſeudo— 
podien hindurchtreten. Die Phäodellen oder 
die eigentümlichen Pigmentkörner, welche 
das mächtige Phäodium zuſammenſetzen, 
ſind von ſehr verſchiedener Form und Größe, 
ebenſo wie das exzentriſche Phäodium ſelbſt. 
Bald hüllt letzteres den größten Teil der 
Kapſel, bald nur eine Seite derſelben ein. 
Die extrakapſularen gelben Zellen, welche 
bei den typiſchen Radiolarien allgemein 
verbreitet ſind, fehlen den Phäodarien all— 
gemein. 

Das Kieſelſkelett iſt bei den Phäoda— 
rien ſtets extrakapſular und ebenfalls von 
ſehr eigentümlicher Form und Zuſammen— 
ſetzung. Obwohl die einzelnen Hauptfor— 
men dieſer Gruppe im ganzen entſprechende 
Vertreter unter den typiſchen Radiolarien 
haben, ſind ſie doch meiſtens leicht von 
dieſen zu unterſcheiden. Nur bei einer klei— 
nen Abteilung (welche den nackten Thalaſſi— 
kollen entſpricht) fehlt das Kieſelſkelett ganz 
(Phaeodinidae). Alle anderen Phäodarien 
haben ein eigentümliches Kieſelſkelett, nach 
deſſen Bildung ich im ganzen in dieſer Le— 
gion 4 Ordnungen und 10 Familien un— 
terſcheide: 

I. Ordnung: Phaeoeystia: Kieſel— 
ſkelett fehlt entweder ganz oder beſteht aus 
hohlen Nadeln, welche außerhalb der Zen— 
tralkapſel bald zerſtreut, bald regelmäßig 
angeordnet ſind. 

1. Familie: Phaeodinidae: Kieſelſke— 
lett fehlt ganz. Genera: Phaeodina, Phae- 
ocolla. 

2. Familie: Cannorhaphidae: Kiefel- 
ſkelett beſteht aus zahlreichen einzelnen, hoh— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


len Nadeln (Cavispicula) oder hohlen Git- | 


terſtückchen (Caviretula), welche rings in 
der Peripherie des extrakapſularen Weich— 
körpers zerſtreut, meiſtens tangential ge— 
lagert ſind. Genera: Cannorhaphis, Tha- 
lassoplancta, Dictyocha. 

3. Familie: Aulacanthidae: Kiefel- 
ſkelett beſteht aus hohlen Radialſtacheln, 
welche rings von der Oberfläche der Zen— 
tralkapſel ausgehen und die extrakapſulare 
Gallerte durchſetzen. Die Oberfläche der 
letzteren iſt gewöhnlich mit einem dichten 
Mantel von feinen, hohlen Kieſelnadeln 
bedeckt, welche tangential gelagert und mit 
einander verfilzt find. Genera: Aulacan- 
tha, Aulancora, Aulographium. 

II. Ordnung. Phaeogromia: Kie⸗ 
ſelſkelett beſteht aus einer einzigen Gitter— 
ſchale, welche bald kugelig, bald eiförmig 
oder verſchieden geſtaltet, oft dipleuriſch, 
ſtets aber mit einer großen Hauptöffnung 
oder Mündung verſehen iſt (ſeltener mit 
mehreren ſolchen Mündungen). Oft finden 
ſich hohle Stacheln und an deren Baſis 
eigentümliche Porenfelder. 

4. Familie: Challengeridae: Kieſel⸗ 
ſkelett beſteht aus einer einaxigen oder di— 
pleuriſchen, oft bilateral zuſammengedrück— 
ten und gekielten Gitterſchale, welche meiſt 
eiförmig oder länglich rund, und an einem 
Pole der Axe mit einer weiten Mündung 
verſehen iſt. Dieſe Mündung iſt ſelten ein— 
fach, meiſt mit einem hohlen Zahn be— 
waffnet oder in eine oder mehrere, oft 
veräſtelte hohle Röhren fortgeſetzt. Die 
Gitterſtruktur der Kieſelſchale gleicht meiſt 
derjenigen der Diatomeen; in jedem ſechs— 
eckigen Feldchen findet ſich ein feiner Po— 
rus.“) Genera: Challengeria, Tuscarora, 

*) Vgl. Murray, 1876, 1. c. Taf. 24, 
Fig. 1, 2, 4. 


147 


Gazelletta, Porcupinia, Entocannula, 
Lithogromia. 

5. Familie: Castanellidae: Kieſelſkelett 
beſteht aus einer einfachen kugeligen Git— 
terſchale, welche an einer Stelle ihrer Ober— 
fläche eine weite (oft mit beſonderen Fort— 
ſätzen umgebene) Mündung beſitzt. Mei— 


ſtens iſt die Gitterſchale mit ſoliden oder 


hohlen Stacheln bedeckt. Genera: Casta- 
nella, Castanidium, Castanissa, Casta- 
nopsis, Castanura. 

6. Familie: Circoporidaè: Kieſelſkelett 
beſteht aus einer ſubſphäriſchen oder po— 
lyedriſchen Kieſelſchale, von der nach ver— 
ſchiedenen Richtungen hohle, radiale Röh— 
ren (einfach oder veräſtelt, oft mit Wimper— 
quirlen beſetzt), ausſtrahlen, und welche 
eine große Mündung, ſowie zerſtreute Po— 
renfelder beſitzt. Die Poren bilden mei— 
ſtens Kränze um die Baſis der Stacheln.“ 
Genera: Circoporus, Circospathis, Circo- 
stephanus, Porostephanus, Porospathis. 

III. Ordnung: Phaeosphaeria: 
Kieſelſkelett beſteht aus zahlreichen hohlen 
Röhren, welche in eigentümlicher Weiſe zu 
einem großen, meiſt kugeligen oder poly— 
edriſchen Gitterkörper verbunden ſind. 

7. Familie: Aulosphaeridae: Kiefel- 
ſchale einer Gitterkugel oder ein polyedri— 
ſcher Gitterkörper, deſſen einzelne Gitter— 
balken hohle Röhren find. Von den Knoten— 
punkten des Gitterwerkes ſtrahlen gewöhn— 
lich hohle Stacheln aus.““) Genera: Au- 
losphaera, Aulodictyum, Auloplegma. 

8. Familie: Cannosphaeridae: Kieſel— 
ſkelett beſteht aus einer einaxigen, kugeligen 
oder eiförmigen, einfachen Markſchale, wel— 


*) Vgl. Murray, 1876, 1. c. Taf. 24, 
Fig. 5, 6. 

) Vgl. Haeckel, Monogr. der Radiol., 
1862, S. 357, Taf. X, XI. 


148 


che durch hohle Radialſtäbe mit einer zuſam— 
mengeſetzten äußeren Rindenſchale verbun— 
den iſt; letztere beſteht aus hohlen Röhren, 
welche eine weitmaſchige Gitterkugel zuſam— 
menſetzen, und von den Knotenpunkten der 
letzteren gehen einfache und veräſtelte hohle 
Radialſtacheln aus.“) Genera: Canna- 
cantha, Cannosphaera, Coelacantha. 

IV. Ordnung: Phaeoconchia: Kie— 
ſelſkelett beſteht aus zwei getrennten, gegit— 
terten Klappen, gleich einer Muſchelſchale; 
oft ſitzen auf dem Scheitel beider Klappen 
einfache oder veräſtelte hohle Röhren. 

9. Familie: Concharida: Kieſelſkelett 
beſteht aus zwei halbkugeligen oder linſen— 
förmigen, mit der Konkavität einander zu— 
gekehrten Gitterſchalen, deren Ränder ge— 
wöhnlich mit einer Zahnreihe beſetzt ſind. 
Die Zähne greifen gleich den Schloßzähnen 
einer Muſchelſchale ineinander.“) Genera: 
Concharium, Conchopsis, Conchidium, 
Conchoceras. 

10. Familie: Coelodendridae: Kieſel— 
ſkelett beſteht aus zwei halbkugeligen oder 
linſenförmigen, mit der Konkavität einan- 
der zugekehrten Gitterſchalen. Von den 
beiden entgegengeſetzten Polen der Haupt— 
axe (oder von den Scheitel-Mittelpunkten 
der Halbkugeln) gehen einfache oder baum— 
förmig verzweigte hohle Stacheln ab.““) 
Genera: Coelodendrum, Coelothamnus, 
Coelodrymus, Coelothauma. 

Wenn man die Organiſation aller vor— 
ſtehend angeführten Phäodarien verglei— 
chend überblickt, ſo läßt ſich der Charakter 
dieſer Rhizopodengruppe folgendermaßen 
definiren. 

) Vgl. Hertwig, Le. 1879. p. 91, Taf. IX. 

**) Vgl. Murray, 1876, J. c. Pl. 24, Fig. 3. 

Fr), Vgl. Haeckel, Monogr. d. Rad., 1862, 


S. 360, Taf. XIII, Fig. 1—4; Taf. XXXL, 
Fig. 1—3. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Die Phäodarien ſind einzellige Rhizo— 
poden, deren großer Zellenleib (oder die 
Zentralkapſel) einen mächtigen Nucleus 
(oder Binnenbläschen) einſchließt. Die Zell— 
membran iſt ſtets doppelt, von einer oder 
mehreren großen Offnungen durchbrochen, 
durch welche das intrakapſulare Protoplas— 
ma mit dem viel voluminöſeren extrakap— 
ſularen kommunizirt. In letzterem liegt 
exzentriſch das Phäodium, eine eigentüm— 
liche, mächtige Anhäufung von dunkeln 
Pigmentkörnern (oder Phäodellen). Die— 
ſer ganze Körper iſt umſchloſſen von einer 
dicken, oft mit Vakuolen erfüllten Gallert— 
hülle, welche die zahlreichen Pſeudopodien 
radial durchſetzen, um über ihre Oberfläche 
frei auszuſtrahlen. Mit ſehr wenigen Aus— 
nahmen (Phäodiniden) findet ſich allgemein 
ein ſehr entwickeltes, ſtets extrakapſulares 
Kieſelſkelett, welches gleich den verſchiede— 
denen Gruppen der typiſchen Radiolarien 
ſehr mannigfaltige, oft höchſt zierliche und 
vielfach zuſammengeſetzte Formen bildet, 
meiſt ausſtrahlend in hohle Kieſelröhren. 


Die Vutzfüße der Kruſter. 


Wie ſelbſt bei nahe verwandten Tieren 
die verſchiedenſten Teile zu demſelben Dien— 
ſte herangezogen werden können, dafür giebt 
die Reinigung der Kiemenhöhle bei Krab— 
ben und Krebſen ein hübſches Beiſpiel. Die 
Kiemen dieſer Tiere ſitzen am Grunde der 
Füße oder über ihnen an den Seiten des 
Leibes. Über ſie her wölbt ſich von oben, 
ſie vollſtändig deckend und jederſeits eine 
geräumige Kiemenhöhle bildend, der Pan— 
zer der Kopfbruſt. Ein beſtändiger Waſ— 
ſerſtrom durch die Kiemenhöhle wird un— 
terhalten durch das Spiel einer großen, 


r 


muskelreichen Platte, die außen dem hin— 
teren Kiefer anſitzt. Bei den Langſchwän— 
zen (Garneelen, Flußkrebs, Hummer) bleibt 
ein langer Spalt offen längs des unteren 
Randes des Panzers, und durch dieſen tritt 


Die Süßwaſſergarneelen der Gattung 
Palaemon benutzen zur Reinigung des Lei— 
bes und namentlich auch der Kiemenhöhle 
das vorderſte Fußpaar. Während das 
zweite Fußpaar bei manchen Arten kräf— 
tige Scheeren trägt, und bei alten Männ- 
chen bisweilen den Körper weit an Länge 
übertrifft, iſt das erſte zart und ſchlank 
und ſeine kleinen Scheeren kaum als 
Waffe zu Angriff oder Verteidigung zu be— 
nutzen; ſeine Gelenke geſtatten meiſt der 
Bewegung der einzelnen Glieder einen wei— 
ten Spielraum und namentlich iſt die Hand 
ſo frei eingelenkt, daß ſie ſich nach allen 
Seiten biegen kann. Am Anfang der Hand 
ſtehen mehrere Gruppen kurzer, gekrümm— 
ter, am inneren Rande kammförmig ge— 
zähnter Borſten (Fig. 2 a, Fig. 3). Die 
Außenſeite beider Finger trägt mehrere 
Büſchel langer, gerader, ſteifer Borſten, die 
mit kurzen, ſpitzen Dörnchen fiedrig beſetzt 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


7 


149 


der Atemſtrom ein und zu den Seiten des 
Mundes wieder aus. Wie mit dem Atem— 
| ſtrome etwa eindringende fremde Körper 
wieder entfernt werden, hat man erſt bei 
wenigen dieſer Tiere beobachtet. 


„ % 


Fig. 1. Vorderfuß eines Palaemon aus dem Itajahy, 5 mal vergrößert. Fig. 2. Scheere oder 
Hand dieſes Fußes, ſtärker vergrößert. Fig. 3. Eine der Borſten a; Fig. 4. eine der Borſten b, 
noch ſtärker vergrößert. 


| find (Fig. 2 b, Fig. 4) und der geſchloſſe— 
nen Hand ein bürſtenartiges Ausſehen ge— 
ben. Endlich ſind die einander zugewand— 
ten Innenränder der Finger mit je einer 
Reihe weitläufig ſtehender, ſchief nach der 
Spitze der Finger gerichteter Zähne be— 
ſetzt, welche zwei ineinander greifende Käm— 
me bilden. Schon dieſe Ausrüſtung mit 
Bürſten und Kämmen würde wie die große 
Beweglichkeit der vorderen Scheerenfüße 
ſchließen laſſen, daß dieſelben als Putz— 
füße dienen, und die Beobachtung lebender 
Tiere beſtätigt es. Man ſieht dieſe zarten, 
beweglichen Gliedmaßen überall am Leibe 
und namentlich auch in der Kiemenhöhle 
herumtaſten, bürſten oder auch mit der Hand 
zufaſſen, um Schmutzteilchen zu entfernen. 
Übrigens ſind die vorderen Scheerenfüße 
nicht ausſchließlich Putzfüße; ſchon bei der 
Arbeit des Putzens bemerkt man nicht ſel— 
ten, daß ſie dieſes oder jenes, was ſie da— 


150 


bei erwischt, zum Munde führen, und es 
ſind die Scheeren dieſer Füße, welche von 
den Leichen größerer Tiere kleine Fleiſch— 
ſtückchen abzupfen und in den Mund ſchie— 
ben. Außerdem haben ſie, nach Henſens 
ſchöner Beobachtung, noch ein drittes wich— 
tiges Amt zu verſehen. Im Grundgliede 
der vorderen Fühler hat Palaemon, wie 
viele andere Garneelen, eine nach oben 
mit einem Schlitz geöffnete Höhle, deren 
Wand Hörhaare trägt, und in der man als 
Hörſteine ein Häufchen feinen Sandes fin— 
det. Bei jeder Häutung geht mit der in— 
neren Haut der Ohrhöhle auch der Hör— 
ſand verloren, aber ſofort leſen die kleinen 
Scheeren neue Sandkörnchen auf und ſtek— 
ken ſie ins Ohr, um den Verluſt zu erſetzen. 
Henſen ließ einen Palaemon der Oſtſee 
in einem Glaſe mit filtrirtem Salzwaſſer 
ſich häuten, deſſen Boden mit Kriſtallen 
von Harnſäure bedeckt war; ſchon nach drei 
Stunden hatte das friſchgehäutete Tier 
eine große Menge Harnſäurekriſtalle in 
beiden Ohrhöhlen. Es ſind dieſe Garneelen 
(und einige andere Langſchwänze) wohl 
die einzigen Tiere, die ihre Sinne durch 
äußere Hülfsmittel ſchärfen, indem ſie, wie 
wir aus Quarz Brillen ſchleifen, ſo aus 
Quarzkörnchen ſich ein Mikrophon kon— 
ſtruiren. Kein Wunder, daß Farres Ent— 
deckung dieſer Thatſache anfangs wenig 
Glauben fand. Doch zurück von dieſer Ab— 
ſchweifung. 

Bei anderen Garneelen, z. B. Alpheus 
und Hippolyte, haben die beiden Scheeren— 
fußpaare ihre Rolle vertauſcht. Das erſte 
iſt bei weitem ſtärker und trägt oft zu 
Schutz und Trutz überaus kräftige Schee— 
ren; das zweite iſt dünn, ſchmächtig, mit 
nur kleiner Scheere verſehen, und ſeine 
Beweglichkeit iſt dadurch geſteigert, daß 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


der Unterarm in eine Reihe kleinerer Glie— 
der zerfallen iſt. Als ich am Meere wohnte, 
habe ich verſäumt, mir die lebenden Tiere 
darauf anzuſehen, aber ich zweifle nicht, 
daß bei ihnen das zweite Scheerenfußpaar 
die Reinigung der Kiemenhöhle beſorgt. 
Statt des erſten oder zweiten iſt bei 
manchen Krebſen das letzte (fünfte) Fuß— 
paar in Putzfüße verwandelt und ſcheint 
dann keine weitern Dienſte zu leiſten. So 
bei den Einſiedlerkrebſen, den Porzellan— 
krebſen, den Galatheiden, von denen ich 
eine im Quellgebiet des Uruguay häufige 
Aeglea lebend beobachtete, bei der Tatuira 
(Hippa) u. ſ. w. Wie das erſte Fußpaar 
von Palaemon haben dieſe Putzfüße, welche 
die Beſchreiber in Muſeen aufgeſtapelter 
Leichen als verkümmerte, ſcheinbar nutz— 
loſe Anhänge zu bezeichnen pflegen, dünne, 
ſehr beweglich mit einander verbundene 
Glieder, tragen gewöhnlich am Ende eine 
kleine Scheere und find mit Bürſten, Käm⸗ 
men und anderen namenloſen Putzwerk⸗ 
zeugen reichlich ausgerüſtet. Ich habe ſie 
bei allen genannten Tieren in Thätigkeit 
geſehen. Sie dienen hauptſächlich zur Rei— 
nigung der Kiemenhöhle. Ich wurde zuerſt 
auf ihre Bedeutung aufmerkſam bei einer 
Porcellana, die als Gaſt bei einem großen 
Nöhrenwurm(Chaetopterus) lebt, und wel— 
cher wegen des reichlichen Schleimes, den 
ihr Wirt abſondert, Reinlichkeit beſonders 
not thut. Ein eiertragendes Weibchen die— 
ſer Porcellana hielt ich einige Zeit leben— 
dig, um die junge Brut zu erhalten; 
daſſelbe ließ ſeine durch Länge und Beweg— 
lichkeit ausgezeichneten Putzfüße faſt nie 
ruhen; bald ſenkte es ſie tief in ſeine Kie— 
menhöhle, bald kehrte es ſeinen Rücken ab, 
bald fuhr es damit zwiſchen den Eiern 
herum, wie ein Bäcker, der Teig knetet. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Beim Flußkrebſe, dem Hummer, den 
Languſten (Palinurus) und manchen an— 
deren Langſchwänzen ſcheint keins der fünf 


151 


menhöhle zu beſorgen, und es wäre wohl 
der Mühe wert, durch Beobachtung leben— 


der Flußkrebſe feſtzuſtellen, ob nicht auch 


Fußpaare geeignet, die Reinigung der Kie— ſie eine beſondere Vorrichtung dazu beſitzen. 


Kieferfüße einer Bachkrabbe (Trichodactylus), 2 mal vergrößert. — Fig. 5. Vorderer, Fig. 6. mitt- 
lerer, Fig. 7. hinterer oder äußerer Kieferfuß; a. äußerer, i. innerer Aſt. fl. Flederwiſch (ap— 
pendix flabelliformis) zum Fegen der Kiemenhöhle. 


Bei den Krabben legt ſich der untere 
Rand des Panzers eng an den Leib an und 
es bleibt in der Regel für den Eintritt 
des Waſſers in die Kiemenhöhle nur über 
dem erſten Fußpaare ein enger Spalt, der 
den Füßen unzugänglich iſt. Hier trägt 
nun jeder der ſechs Kieferfüße außen an 
ſeinem Grunde einen langen, rückwärtsge— 
richteten, in die Kiemenhöhle ragenden An— 
hang, eine Art Flederwiſch, der die Geſtalt 
eines ſchmalen Blattes oder eines Säbels 
hat und mit langen Haaren umſäumt iſt. 


Der Flederwiſch der vorderen Kieferfüße 
liegt nach außen, der der mittleren und 
hinteren nach innen von den Kiemen, zwi— 
ſchen ihnen und der Wand der Kiemenhöhle 
ſich auf und ab bewegend und beide abfe— 
gend. Ein Teil der Haare am Rande der 
Flederwiſche — bisweilen ſind es nur we— 
nige, gewöhnlich wohl die Mehrzahl, bis— 
weilen alle — iſt nach dem Ende zu mit 
einer Doppelreihe von Zähnen oder Haken 
beſetzt, deren Zahl und Geſtalt je nach den 
Arten ſo verſchieden iſt, daß ſich aus ihnen 


Haare von den in der Kiemenhöhle liegenden Anhängen der Kieferfüße. — Fig. 8. Trichodactylus. 
Fig. 9. Gelasimus. Fig. 10. Sesarma. Fig. 11. Lupea. Fig. 12. Hepatus. 


0 


4 


. 


152 


eine reiche Muſterkarte von Kammformen 
zuſammenſtellen läßt. Ich gebe davon eine 
kleine Probe. 

Mit dieſer Ausrüſtung der Haare iſt 


13 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


übrigens die Putzvorrichtung noch nicht 
abgeſchloſſen; auch dieſe Haare werden 
ihrerſeits wieder ausgekämmt. In der 
Mittellinie der Kiemen findet ſich an der 


Fig. 13. Kieme einer neugebornen Bachkrabbe (Trichodactylus), 45 mal vergrößert. Dieſe Art 

verläßt das Ei als fertige Krabbe, wie es Weſtwood bei einer Landkrabbe (Gecarcinus) gejehen. 

Fig. 14. Die vogelkopfähnlichen Gebilde, ſtärker vergrößert. Fig. 15. Eines der Vogelköpfchen 
von der Kieme einer erwachſenen Bachkrabbe, 90 mal vergrößert. 


der Innenwand der Kiemenhöhle zuge— 
wandten Seite eine Reihe vorſpringender 
Knöpfchen, deren jedes einen abwärts ge— 
richteten, geraden oder leicht gebogenen 
Dorn trägt. Das Ganze ſieht aus wie ein 
langſchnabliger Vogelkopf. Wenn die Fle— 
derwiſche zwiſchen Kiemen und innerer 
Wand der Kiemenhöhle auf und ab fegen, 
werden die den Haaren etwa anheftenden 
Schmutzteilchen durch dieſe Vogelköpfchen 
abgeſtreift werden. Bis jetzt kenne ich 
dieſe Einrichtung erſt von einer einzigen 
Art, doch iſt anzunehmen, daß ſie auch bei 
vielen anderen Krabben ſich finde. 
Itajahy, 29. Dez. 1879. 
Fritz Müller. 


Ein Analogon des Beulelknochens 
bei höheren Säugern. 

In der Sitzung der Royal Society vom 

5. Februar 1880 hielt Profeſſor Huxley 

einen Vortrag über gewiſſe als Beuteltier— 

Erbſchaften verdächtige Muskelbildungen 

bei verſchiedenen Raubtieren, aus welchem 


wir nach dem Berichte der Nature (Nr. 537, 
S. 362) das Folgende entnehmen. 

Im Jahre 1871 gab Huxley in ſei— 
nem Manual of the Anatomie of Verte- 
brated Animals p. 417 folgende kurze 
Beſchreibung einer beim Hunde beobach— 
teten anatomiſchen Bildung: „Im Mus— 
kelſyſtem des Hundes bietet die Inſertion 
der Sehne des äußeren ſchiefen Bauchmus— 
kels einige intereſſante Eigentümlichkeiten 
dar. Die äußern und hintern Faſern die— 
ſes Muskels endigen in ein Bündel, wel— 
ches ſich als Fascia lata teilweiſe über den 
Schenkel fortſetzt, und teilweiſe einen Bo— 
gen (Pouperts Ligament) über die Schen— 
kelgefäße bildet. Durch ihr inneres Ende 
iſt es der Außenſeite eines dreieckigen Fa— 
ſerknorpels inſerirt, deſſen breite Baſis an 
dem vordern Rande des Schambeins zwi— 
ſchen ſeinem Höcker und der Schambein— 
fuge befeſtigt iſt, während ſeine Spitze in 
der Bauchwand liegt. Die innere Flechſe 
des äußern ſchiefen Muskels vereinigt ſich 
mit der Flechſe des innern ſchiefen Mus— 
kels, um den innern Pfeiler des Bauch— 
rings zu bilden und iſt der inneren Seite 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


des dreieckigen Faſerknorpels inſerirt. Der 
Kammmuskel (Pectineus) iſt an der Bauch— 
ſeite, der äußere Teil der Flechſe des gera— 
den Bauchmuskels an der Rückenſeite des 
Knorpels befeſtigt; aber der Hauptteil die— 
ſer Flechſe iſt dem Schambein dahinter in— 
ſerirt. Dieſer Faſerknorpel ſcheint den Beu— 
telknochen oder -Knorpel der Kloaken- und 
Beuteltiere zu repräſentiren.“ 

Die einzige Bezugnahme auf dieſe Auf— 
ſtellung, welche ich geſehen habe, findet ſich 
in Prof. Macaliſters „Introduction to 
the Systematic Zoologie and the Mor- 
phologie of Vertebrate Animals“ (1878) 
p. 265: 

Prof. Huxley beſchreibt einen „mar— 
ſupialen“ Faſerknorpel über dem Scham— 
bein, von deſſen vorderer Oberfläche der 
Kammmuskel ausgeht. Ich habe mich ver— 

geblich von ſeiner Exiſtenz als einer kon— 
ſtanten Bildung bei vielen Hunden, bei 
dem gemeinen und bengaliſchen Fuchſe, beim 


Dingo, Schakal, Canis pallipes und Wolf 


zu überführen geſucht.“ 

Die Ausdrucksweiſe dieſer Stelle macht 
es nicht völlig klar, ob der Verfaſſer die 
Bildung in keinem Falle angetroffen hat, 
aber nicht in Abrede ſtellen will, daß ſie 
gelegentlich bei den von ihm erwähnten 
Caniden vorkommen mag, oder ob er ihn 
gelegentlich, aber nicht konſtant, bei allen 
oder einigen derſelben gefunden hat. 

Unter dieſen Umſtänden mag die Ver— 
öffentlichung der Thatſache wünſchenswert 
ſein, daß ich, als ich kürzlich zu Verglei— 
chungszwecken einen männlichen und weib— 
lichen Fuchs, und einen männlichen und 
weiblichen Hund ſezirte, nicht die geringſte 
Schwierigkeit gefunden habe, die Exiſtenz 
der 1871 von mir beſchriebenen Bildung 
bei allen vieren zu demonſtriren. Und der 


153 


einzige Ausdruck, welcher in jener Beſchrei— 
bung eine Modifikation zu erfordern ſcheint, 
iſt die Benennung „Faſerknorpel“. Ich 
erinnere mich nicht, ob ich damals die Bil— 
dung einer mikroſkopiſchen Unterſuchung 
unterwarf oder nicht; aber bei den jüngſt 
unterſuchten Stücken enthält die dreieckige 
Platte trotz ihrer Feſtigkeit und Dichtig— 
keit keine wahren Knorpelzellen, ſondern 
iſt gänzlich aus Faſergeweben zuſammen— 
geſetzt, welche in der Mitte der Platte 
untereinander parallel liegen, während ſie 
an den verdickten Enden eng mit einander 
verflochten ſind. 

Eine Vergleichung dieſer dreieckigen 
Faſerplatte beim Fuchs mit den Beutel— 
knochen von Phalangista vulpina zeigt, 
daß die Faſerplatte des erſteren Tieres ge— 
nau dem Baſalteil der Beutelknochen des 
letzteren entſpricht. Es mag deshalb als 
Epipubis-Ligament bezeichnet und muß als 
eine Bildung derſelben Ordnung betrachtet 
werden, wie das rudimentäre Schlüſſelbein 
und die rudimentäre große Zehe der Ca- 
nidae, d. h. als die Überbleibſel eines Or— 
gans, welches bei den Ahnenformen jener 
Gruppe voll entwickelt war. 

Es iſt in Verbindung mit dieſer Deu— 
tung der Thatſachen intereſſant zu bemer— 
ken, daß bei dem noch lebenden Thylacinus, 
der ſo merkwürdige Übereinſtimmungen mit 
den Hunden darbietet, das Epipubis-Liga— 
ment nicht verknöchert iſt. Da indeſſen die 
Canidae ſicherlich ſeit der eozänen Epoche 
exiſtirt haben, ſo iſt keine Wahrſcheinlich— 
keit für ein direktes genetiſches Band zwi— 
ſchen den Hunden und Beutelwölfen vor— 
handen. Die lebenden fleiſchfreſſenden 
Beuteltiere ſtammen deutlich ſämmtlich von 
Ahnenformen ab, die durch den Beſitz einer 
daumenähnlichen großen Zehe ausgezeichnet 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 


20 


154 


waren, eine Eigentümlichkeit, welche we— 
der bei den Hunden, wenn ſie eine große 
Zehe beſitzen, noch bei irgend einem an— 
dern fleiſchfreſſenden Tier mit fünfzehigem 
Hinterfuß repräſentirt iſt. Indeſſen ſind 
die frühe Geburt der Jungen und die Ent— 
wicklung eines Beutels bei den Weibchen 
Beweiſe von der Abſtammung der jetzt le— 
benden Beuteltiere von der direkten Linie, 
durch welche die Säugetiere von dem Orni— 
thodelphen-Typus aus vorgeſchritten ſind. 
Daß die Ahnen aller Säugetiere verknö— 
cherte oder knorplige Epipuben beſaßen, 
iſt, wie mir ſcheint, höchſt wahrſcheinlich, 
aber es folgt nicht daraus, daß ſie die 
Art und Weiſe der Beuteltiere hatten, die 
Jungen zu tragen und zu nähren. 


Die Experimente des däniſchen 
„Alagneliſeurs“ Hanſen vom enlwick— 
lungsgeſchichllichen Standpunkte, 


Für denjenigen, der auch den nervöſen 
Apparat der Menſchen bei aller ſeiner wun— 
derbaren Vollkommenheit für das Produkt 
allmählicher Ausbildung betrachtet, müſſen 
gewiſſe anormale Zuſtände des Menſchen, 
bei denen derſelbe ſeiner höchſten geiſtigen 
Fähigkeiten entkleidet erſcheint, beſonders 
lehrreich ſein. Dieſe höchſten Fähigkeiten 


beruhen in dem, was wir als bewußtes 


Denken und Handeln bezeichnen, Fähig— 
keiten, welche die Descartesſche Schule 
bekanntlich den Tieren ganz abſprach, und 
die auch jetzt lebende Pſychologen den Tie— 
ren nur in einem ſehr beſchränkten Maße 
zugeſtehen wollen.“) Gewiß ſind dieſe Pſy— 
chologen im Unrechte, aber ebenſo gewiß 
iſt es, daß das Reich der bewußten See— 
*) Vgl. Kosmos, Bd. V, S. 238. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


lenthätigkeit beim Tiere ein erheblich ein— 
geſchränkteres iſt als beim Menſchen. Nun 
treten aber beim Menſchen teils freiwillig, 
teils durch gewiſſe Manipulationen begün— 
ſtigt, leicht Zuſtände ein, bei denen trotz 
ungeſchwächter Thätigkeit der Sinne, das 
Bewußtſein auf ein Minimum eingeſchränkt 


iſt, in denen der Menſch alſo künſtlich auf 


eine tierähnliche Stufe hinabgedrückt er— 
ſcheint, und qus denen deshalb, worauf 
Ref. wohl zuerſt aufmerkſam gemacht hat, 
wahrſcheinlich mancherlei über das Ver— 
hältniß von Tier- und Menſchenſeele zu ler— 
nen ſein möchte. Es ſind dies die Zuſtände 
des ſogenannten „magnetiſchen Schlafes“, 
oder, wie man ſie jetzt lieber nennt, des 
Hypnotismus. 

Niemand hat vielleicht in neuerer Zeit 
mehr zur Aufklärung dieſer Körperzuſtände 
beigetragen, als der däniſche Magnetiſeur 
Hanſen, welcher, ſeit einigen Jahren die 
Großſtädte des Kontinents bereiſend, an 
vielen Orten die ſcheinbar unerklärlichſten 
und wunderbarſten Experimente gezeigt hat. 
Seine Art zu experimentiren iſt gewöhnlich 
die, daßeraus den fich freiwillig darbietenden 
Beſuchern ſeiner Vorſtellungen einige ihm 
beſonders geeignet erſcheinende Perſonen, 
teils von ſeinem Kennerblick, teils von eini— 
gen Vorverſuchen geleitet, auswählt und 
mit ihnen ſeine Schauſtellungen beginnt— 
Er läßt dieſelben in der Regel zuerſt einige 
Zeit auf ein facettirtes, ſtark funkelndes 
Stück Glas hinſtarren. Nach dieſer Vor— 
bereitung macht er einige Striche über den 
Kopf, wie um ſie zu „magnetiſiren“, drückt 
ihnen ſodann, leiſe die Wangen ſtreichelnd, 
Augen und Mund zu und behauptet, daß 
ſie beide ohne ſeine Erlaubnis nicht mehr 
öffnen könnten. Er löſcht mit ihrem Wil— 
len ihr Gedächtnis aus, verſichert, daß 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ſie ohne ſeinen Willen weder ihren Namen 
nennen, noch das Alphabet herſagen könn— 


ten; daß ſie zu vollſtändig von feinem Wil- 


len abhängigen Maſchinen geworden ſeien. 
Demgemäß befiehlt er ihnen zu beten und 
den Himmel offen zu ſehen, ſagt ihnen, der 
Teppich ſei ein See, auf dem ſie ſchwim— 
men müßten, der Stuhl ſei ein Pferd, auf 
dem ſie reiten, oder ein Tiger, den ſie be— 
kämpfen ſollten, er redet ihnen vor, eine 
dargereichte Kartoffel ſei eine Birne, die 
ſie verſpeiſen müßten, und die „Magneti— 
ſirten“ führen alles das aus, ohne ſich ſpä— 
ſer deſſen zu erinnern. 

Damit gehen einige weitere Experi— 
mente hand in hand, bei denen Hanſen 
durch einige Striche ihre Muskeln in Starr— 
krampf verſetzt und unempfindlich macht. 
Er legt ſolche Perſonen mit den äußerſten 
Körperenden auf zwei auseinandergezogene 
Stühle und ſtellt ſich auf die freihängende 
Mitte des Körpers; er ſtellt ſich ebenſo 
auf die wagerecht ausgeſtreckten Füße einer 
ſitzenden Perſon, die von einem Diener im 
Stuhl feſtgehalten wird u. ſ. w. Nach 
dem Schluß der Experimente erweckt er 
die in einem ſchlafähnlichen Zuſtand be— 
findlichen Perſonen, indem er ſie anbläſt 
oder ihnen laut „Wach!“ zuruft, und dieſel— 
ben ſind dann wieder im normalen Zuſtand. 

Ein Injurienprozeß, den Hanſen in 
Wien gegen eine Perſon angeſtrengt hat, 
welche ihn während der Vorſtellung als 
„Schwindler“ bezeichnet hatte, ergab als 
ziemlich ſicher, daß bei dieſen Vorſtellun— 
gen eine Menge Täuſchungen unterlaufen, 
indem teils rohe, mechaniſche Mittel an— 
gewandt wurden, bei Perſonen, die ſich 
nicht ſo leicht in jene Zuſtände verſetzen 
laſſen, teils mislungene Experimente als 
gelungene hingeſtellt wurden, teils Simu— 


155 


lationen ſtattfanden, ſofern manche Per— 


ſonen ſtets die Komödie mitſpielen, zu der 
ſie ſich einmal hergegeben haben, und bei 
vollem Bewußtſein dem „Magnetiſeur“ auf 
ſeinen Befehl folgen, beten, ſchwimmen und 
tanzen, wie es verlangt wird. Überdies 
iſt von dem Experiment, welches in den 
Vorſtellungen das meiſte Aufſehen zu er— 
regen pflegt, von dem Stehen eines Men— 
ſchen auf dem Bauch einer nur an der 
Schulter und an den Füßen geſtützten Per— 
ſon bekannt, daß dasſelbe ſchon früher von 
in Deutſchland herumreiſenden Künſtlern 
gezeigt wurde, ohne daß dieſelben ſich vor— 
her in Starrkrampf verſetzen ließen. Es 
iſt einfach ein ſonſt von den ſogen. „Sim— 
ſons“ gezeigtes und in Brewſters „Let- 
ters on natural Magic“ (deutſche Aus— 
gabe, Berlin 1833) abgebildetes Experi— 
ment, welches, wie ſchon damals vonDr.De— 
ſaguliers gezeigt worden iſt, von jeder— 
mann ohne Starrkrampf ausgeführt wer— 
den kann. So miſcht ſich dieſen Vorſtel— 
lungen, wie gewöhnlich, eine gute Doſis 
Täuſchung des Publikums bei; man muß 
dies als eine leidige Konſequenz der öf— 
fentlichen Schauſtellungen hinnehmen, wel— 
che eben vorausſetzen und verlangen, daß 
alle Experimente gelingen müſſen. 

Indeß iſt hier nicht alles Betrug und 


Täuſchung, vielmehr hat eine Anzahl mit der 


exakten Forſchungsmethode genau vertrau— 
ter Naturforſcher die Experimente Hanſens 
nachgeahmt, geprüft und zum Teil wun— 
derbarere Reſultate erhalten als er ſelbſt. 
Prof. Fritz Schultze in Dresden hat dar— 
über in Vorträgen, Prof. Rühle mann in 
Chemnitz in der „Gartenlaube“ berichtet, 
Prof. Dr. Adolf Weinhold in Chem— 
nitz und Prof. Dr. Rudolf Heidenhain 
in Breslau haben in beſondern Vorträgen 


156 


und Brofcehüren *) Darſtellungen ihrer Ver- 


ſuche und Erklärungen gegeben. Alle dieſe 
Beobachter gehen davon aus, daß weder 
Hanſen noch irgend ein anderer Mag— 
netiſeur eine andere Macht als die des 
erfahrenen Experimentators beſitzt, daß kei— 
ne Kraft von ihm auf die Individuen, mit 
denen er erbeitet, überſtrömt, daß vielmehr 
alle weſentlichen Bedingungen zum Gelin— 
gen dieſer Experimente allen Menſchen ei— 
gen ſind und in einer mehr oder weniger 
ausgeſprochenen Dispoſition des Nerven— 
ſyſtems beruhen. Alle Beobachter ſtimmen 
darin überein, daß es ſich um Herbeifüh— 
rung eines ſeit längerer Zeit den Phyſio— 
logen und Pſychologen bekannten Gehirn— 
zuſtands, des ſog. Hypnotismus, handelt, 
deſſen Eintritt durch ſehr verſchiedenartige 
Veranſtaltungen herbeigeführt werden 
kann, die indeß darin übereinſtimmen, daß 
ein beſtimmter Sinneseindruck eine längere 
Zeit auf ein Individuum wirken muß. Han— 
ſen bedient ſich des ſchon vor vierzig Jah— 
ren von dem engliſchen Chirurgen Braid 
empfohlenen Anſchauens glänzender Kör— 
per, andere „magnetiſiren“ mit regelmäßig 
über den Körper der Verſuchsperſonen ge— 
führten Strichen, Heidenhain fand das 
anhaltende Behorchen einer tickenden Ta— 
ſchenuhr ebenſo wirkſam; es ſcheint ſich 
alſo im weſentlichen um die Fortſetzung 
eintöniger Sinneseindrücke zu handeln, wel— 
che beſtimmte Teile des Zentralnervenſy— 
ſtems ſei es ermüden oder überreizen. 
Der Hypnotismus iſt, wie Heidenhain 
ſehr ſchön ausgeführt und dargelegt hat, 
ein Zuſtand, bei welchem Sinneseindrücke 
durch die ſchmale Spalte der nicht ganz 
*) „Hypnotiſche Verſuche.“ Von Prof. Dr. 
Adolf F. Weinhold, Chemnitz, 1880; — „Der 
ſogenannte tieriſche Magnetismus.“ Von Dr. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


geſchloſſenen Augen, durch Ohr, Naſe und 
Zunge leicht aufgenommen werden, aber 
nicht zum Bewußtſein kommen, weshalb 
die hypnotiſchen Perſonen auch nach dem 
Erwachen nicht wiſſen, was man mit ihnen 
gemacht hat. Der Reiz überſchreitet nicht 
die „Bewußtſeinsſchwelle“, wie die Pſycho— 
logen ſagen, gleichwohl iſt ſein Eindruck 
vorhanden, und wie man ſich eines Traums 
nachträglich erinnert, wenn man tags darauf 
an ähnliche Dinge denkt, ſo kann auch der 
hypnotiſch Geweſene durch Anſpielungen 
an dasjenige erinnert werden, was er in 
jenem Zuſtand gethan hat. Dagegen ſind 
jene ſchwachen, nicht zum Bewußtſein kom— 
menden Eindrücke ſehr geeignet, ſofort Be— 
wegungen auszulöſen, ähnlich den unbe— 
wußt gewordenen Bewegungen der Hand— 
arbeiten, des Schreibens, Klavierſpielens 
u. ſ. w., zu denen nur allgemeine Impulſe 
nötig ſind. Wie wir automatiſch das Auge 
ſchließen und die Hand vorhalten, wenn 
uns ein unabwendbarer Schlag, Stoß oder 
Fall droht, ſo ſind alle Handlungen des 


Hypnotiſchen zu vollführten Reflexbewe— 


gungen geworden; die äußere Anregunglöſt 
bei ihnen, ohne zum Bewußtſein zu kommen, 
die entſprechende Bewegung unmittelbar 
aus. Es iſt der Zuſtand eingetreten, den 
Carpenter vor vielen Jahren als „un— 
bewußte Gehirnthätigkeit“ bezeichnet hat. 

Hierbei kommen nun für das Verſtänd— 
nis insbeſondere eine Menge Handlungen 
in Betracht, die ſchon im gewöhnlichen Le— 
ben unwiderſtehlich und ohne Bewußtſein 
nachgeahmt werden. Jedermann kennt die 
anſteckende Macht des Gähnens und des 
Lachens. Unzählige Menſchen ſind voll— 


Rudolf Heidenhain, ord. Profeſſor der Phy- 
ſiologie und Direktor des Phyſiologiſchen In— 
ſtituts zu Breslau. Leipzig, 1880. 


J 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


kommen unvermögend, einen lachenden 
Menſchen anzuſehen, ohne mitzulachen. Re— 
ferent kannte einen älteren Theater-Enthu— 
ſiaſten, der unbewußt das geſammte Mie— 
nenſpiel der im Momente handelnden 
Hauptperſonen in ſeinem Antlitze repro— 
duzirte. Dieſe Nachahmungsſucht iſt nicht 
nur den Affen, ſondern auch dem Natur— 
menſchen in einem außerordentlichen Grad 
eigen; die Wilden benahmen ſich den Zivi— 
liſirten gegenüber an vielen Orten nicht 
nur wie die Affen, indem ſie alle ihre Be— 
wegungen nachahmten, ſondern auch wie 
die Papageien, indem ſie alles, was dieſe 
ſprachen, nachplapperten, und zwar mit 
einer ganz erſtaunlichen Geſchicklichkeit und 
Auffaſſungsgabe. Auch bei unſern Kin— 
dern iſt dieſe Nachahmungsſucht in einem 
ſtarken Maße vorhanden, und wahrſcheinlich 
trägt ſie weſentlich dazu bei, daß ſie ſprechen 
lernen. Erſt beim Erwachſenen wird 
dieſe Nachahmungsſucht durch Erziehung 
herabgemindert, aber die Dispoſition bleibt 
und iſt, wie die Verſuche mit Hypnotiſchen 
gezeigt haben, auch noch bei Erwachſenen 
vorhanden, wenn ſie bei thätigen Sinnes— 
organen ihres Bewußtſeins beraubt ſind. 
Sie ſind alſo dann nach dieſer Richtung 
in den Zuſtand des wirklichen Naturmen— 
ſchen zurückverſetzt, und ihr Seelenzuſtand 
kann vielleicht am nächſten mit dem eines 
nichtdenkenden, aber inſtinktiv nachahmen— 
den Tieres verglichen werden, was dieſen 
Verſuchen ein höheres Intereſſe gibt. 
Alles, was man verlangt oder ihnen 
vormacht, machen ſie nach, und um den 
Hypnotiſchen eine Kartoffel als Birne eſſen 
zu laſſen, braucht man ihm dieſelbe nur 
in den Mund zu ſtecken und dazu hörbare 
Kaubewegungen zu machen. Ebenſo ahmt 
der Hypnotiſche die Hand- und Fußbewe— 


z 


157 


gungen des „Magnetiſeurs“ nach, ſoweit 
er ſie ſieht und hört; eine heimlich hinter 
ſeinem Rücken geballte Fauſt ahmt er nicht 
nach, weil er ſie nicht ſieht. Dagegen ge— 
langen andere Verſuche, namentlich die 
Nachahmung des Sprechens, nicht, und hier 
haben Prof. Berger in Breslau und Prof. 
Weinhold in Chemnitz als Experimenta— 
toren Hanſen weit übertroffen. Erſterer 
erinnerte ſich des Goltz' chen Froſchver— 
ſuchs, bei welchem Fröſche, die ihres Hirns 
beraubt ſind, deutlich quarren und quaken, 
ſobald man ihnen den Rücken ſtreicht. Eine 
ähnliche Reflexthätigkeit, die ſich als eine 
Art Seufzen vernehmbar machte, kam nun 
auch bei Menſchen zu Stande, und es zeigte 
ſich, daß ſie das Geſprochene nachzureden 
begannen, wenn man zugleich mit der Hand 
einen leichten Druck in der Nackengegend 
ausübte. Weinhold fand ferner, daß 
Worte, die man mittels eines Schalltrich— 
ters gegen die Nackengegend oder gegen die 
Magengrube richtet, von dem Hypnotiſchen 
nachgeſprochen werden, mögen ſie nun einen 
Sinn haben und in einer dem Hypnotiſchen 
bekannten Sprache geſprochen werden oder 
nicht. Dadurch kommt auch die Magen— 
grube, mit welcher bekanntlich die Som— 
nambulen hören und’ ſehen wollten, zu 
Ehren. Der Grund ſcheint zu ſein, daß 
in beiden Körpergegenden ſenſible Faſern 
des Nervus vagus verlaufen, die mit den 
Sprachwerkzeugen in Verbindung ſtehen. 

Eine andere, mit der Abweſenheit des 
Bewußtſeins in Verbindung ſtehende Er— 
ſcheinung iſt die, daß die Muskeln der Hyp— 
notiſchen unempfindlich gegen Schmerzen 
ſind und leicht in Starrkrampf gerathen, 
wenn man wiederholt leicht darüber hin— 
ſtreicht. Daß man ohne Bewußtſein keinen 
Schmerz empfindet, iſt durch die analogen 


158 


Zuſtände der Chloroformirung 2e. ohne wei— 
teres verſtändlich, und der Muskelkrampf 
beruht vielleicht nur darauf, daß die zuſam— 
menziehenden Nerven einſeitig gereizt wer— 


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den, während die antagoniſtiſch wirkenden 


Organe außer Thätigkeit ſind. Die Erfah— 
rung hat gezeigt, daß dieſe hypnotiſchen Zu— 
ſtände nebſt der Empfindungsloſigkeit gegen 
Schmerz und der Krampfneigung im all— 
gemeinen um ſo leichter eintreten, je öfter 
ſie ſchon erzeugt worden ſind, ſodaß ſchließ— 
lich, wie Heidenhain fand, der bloße 


Befehl oder die Androhung, jemand zu 


einer beſtimmten Stunde aus der Ferne 
zu magnetiſiren, genügen kann, dieſen mit 
der Uhr in der Hand in Schlaf zu ſenken. 
Wir erhalten dadurchauchein leichteres Ver— 
ſtändnis für die oft beobachtete Anſteckung 
von Krämpfen in Nonnenklöſtern und Er— 
ziehungsanſtalten, und es liegt eine ernſte 
Mahnung darin, derartige Verſuche mit 
einer Perſon nicht unbefugt zu wiederholen, 
und namentlich nicht mit nervöſen unverhei— 
ratheten Frauen, bei denen ſolche Zuſtände 
leicht bleibend werden und zu beſtimmten 
Zeiten regelmäßig wiederkehren. Auch die 
halbſeitigen Krämpfe, Lähmungserſcheinun— 
gen und Empfindungsloſigkeiten, wie ſie bei 
hyſteriſchen Frauen ſo oft beobachtet wer— 
den und neuerdings zu den ſehr intereſſan— 
ten Verſuchen über Metallotherapie Anlaß 
gegeben haben, gelang es auf dieſe Weiſe 
zu erzeugen, kurz ein ganzer Komplex myſte— 
riöſer Erſcheinungen ſcheint hier der induk— 
tiven Wiſſenſchaft die erſte Handhabe zur 
genauern Unterſuchung zu bieten. 

Was nun das Weſen dieſer Erſchei— 
nung betrifft, ſo ſcheint, wie Heidenhain 
meint, die Urſache des hypnotiſchen Zu— 
ſtandes in einer Thätigkeitshemmung der 
Ganglienzellen der Großhirnrinde geſucht 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


werden zu müſſen, welche durch jene an— 
haltenden Eindrücke des Gehörs- Geſichts— 
oder Gefühlsſinn bewirkt wird. Die neu— 
ern Unterſuchungen über das Gehirn haben 
uns dahin geführt, in der Großhirnrinde 
den Sitz des Bewußtſeins und der bewuß— 
ten Willensimpulſe zu ſuchen, während die 
andern Gehirnteile als Träger ſolcher gei— 
ſtigen Thätigkeiten bekannt ſind, welche, 
wie z. B. die Sinnesempfindungen, Bewe— 
gungen, das Gleichgewichtsgefühl u. ſ. w., 
bei den Hypnotiſchen unbeeinflußt ſind. 
Wir dürfen nicht vergeſſen, daß das Be— 
wußtſein nur eine Begleiterſcheinung der 
Körperthätigkeiten iſt, welches im gewöhn— 
lichen Leben nur dazu dient, mit Aufmerk— 
ſamkeit die Dinge zu erkennen und Fertig— 
keiten durch Nachahmung zu erwerben. So— 
bald wir eine Thätigkeit wie das Gehen, 
Sprechen, Schreiben, Tanzen, irgendeine 
Hand- oder Stimmfertigkeit erlernt haben, 
können wir dieſelbe ohne Bewußtſein aus— 
führen.“) Vor einigen Jahren hat man in 
Paris einen ausgedienten Soldaten beob— 
achtet, bei dem jener Zuſtand infolge einer 
Gehirnverletzung durch eine Schußwunde 
eingetreten war. Dieſer ſogenannte „Au— 
tomatmenſch“ verfiel von Zeit zu Zeit in 
Zuſtände von Bewußtloſigkeit, in welchem 
er eine Menge von Obliegenheiten des täg— 
lichen Lebens erfüllte, ohne mit der Außen— 
welt eine andere Verbindung zu haben als 
die des Hautgefühls. Wir wiederholen 
es: Das Wichtigſte an dieſen Erſcheinun— 
gen iſt, daß ſie uns den Menſchen in einem 
ſeiner höhern Fähigkeiten entkleideten Zu— 
ſtande zeigen und deshalb ſehr nützlich für 
das Studium der niedern ſeeliſchen Thätig— 
keiten und des Nervenmechanismus werden 
können. E. K. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Die egypfifchen Mumien und Wand 


ungenügende Zeit zur Verwandlung von 


gemälde 


von Tieren und Pflanzen, die noch heute 
in Egypten leben, ſind bekanntlich ſeit den 


Tagen Cuviers häufig als Beweiſe für. 


die Konſtanz der Lebensformen angeführt 
worden, und noch in neuerer Zeit iſt dies 
von Flourens, de Quatrefages und 
Bateman geſchehen. Was die Mumien 
betrifft, ſo könnten nur genauere Unter— 
ſuchungen, als ſie bisher angeſtellt wor— 
den ſind, beweiſen, daß die betreffenden 
Tiere wirklich in jeder Beziehung den heute 
lebenden, ſelbſt in den noch erkennbaren 
Teilen, gleichen, denn wie Forſyth Major 
vor kurzem in dieſen Blättern (Bd. VI, 
S. 359) gezeigt hat, iſt wenigſtens die 
ebenfalls behauptete Identität heute leben— 
der Tiere mit quaternären illuſoriſch, und 
wenn es ſich auch bei den egyßptiſchen 
Mumien um ein verhältnismäßig geringe— 
res Alter handelt, ſo darf man doch die 
Identität nicht ohne weiteres behaupten. 
Was ferner die aus den Wandgemälden 
gezogenen Schlüſſe betrifft, ſo hat J. W. 
Slater im Märzhefte des laufenden Jahr— 
gangs vom Quarterly Journal of Science 
(S. 166) ein ſehr treffendes Gegenargument 
beigebracht. Die Wandmalereien ſtellen 
nicht nur Tiere und Pflanzen, ſondern ſo— 
gar Menſchenraſſen, wie Neger, Araber 


und Juden, mit allen den Merkmalen dar, 


welche dieſe Raſſen heute zeigen. Nun 
zweifelt aber niemand daran, daß dieſe 
Raſſen, obwohl fie fett 3—4000 Jahren 
unveränderlich erſcheinen, bloße Varietäten 
einer Stammraſſe ſind. Alles, was man 
aus dieſen Wandgemälden alſo ſchließen 


159 


könnte, wäre, daß 3—4000 Jahre eine 


Menſchen, Tieren und Pflanzen ſind, 
wenn ſie unter wenig veränderten Klima— 
und Lebensverhältniſſen in demſelben 
Lande geblieben ſind. 


Eine fruchlbare Alauleſelin 
iſt bekanntlich ſo ſelten, daß die Alten ſie 
in ähnlichem Sinne, wie wir den weißen 
Raben, zur Bezeichnung höchſt ſeltener Vor— 
kommniſſe ſprüchwörtlich verwendeten. Nun 
berichtet Dr. Yaudell, daß ſich im Jar- 
din des Plantes in Paris ein ſolches Phä— 
nomen befinde, welches bereits ſechs Junge 
zur Welt gebracht habe, und zwar zwei 
vom Zebra, zwei vom Eſel und zwei vom 
Pferde. Man ſieht alſo auch hier die 
Wahrheit des alten Sprüchworts beſtätigt: 
Ce n'est que le premier pas qui coüte, 


Archaeopteryx lithographica. 

Unſere neulich (Bd. VI, S. 228) aus- 
geſprochene Befürchtung, daß auch das 
neue Exemplar des in Deutſchland ge— 
fundenen hochintereſſanten Mittelgliedes 
zwiſchen Vögeln und Reptilien nach dem 
Auslande gehen würde, iſt glücklicher— 
weile noch in letzter Stunde beſeitigt wor— 
den. Profeſſor Beyrich in Berlin hat 
daſſelbe für die dortige Sammlung, dem 
Vernehmen nach um den Kaufpreis von 
20,000 Mark, erworben. Hinſichtlich der 
Beſchaffenheit dieſes Exemplars verweiſen 
wir unſere Leſer auf obigen ausführlichen 
Artikel. 


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Literatur und Kritik. 


I. Beobachtung der Sterne 
Alſonſt und jetzt von J. Norman 
Lockyer. Autoriſirte deutſche Aus— 
gabe, überſetzt von G. Siebert. 
Braunſchweig, Friedrich Vieweg und 
Sohn, 1880. 552 S. in 8, mit 217 
in den Text eingedruckten Holzſchnitten. 

Der berühmte Aſtrophyſiker, über def 
ſen ſpektralanalytiſche Unterſuchungen und 
Spekulationen wir öfter in dieſer Zeit— 
ſchrift zu berichten hatten, giebt in dieſem 
Buche eine reich illuſtrirte Geſchichte der 
Beobachtungsmethoden und Hülfsmittel 
der Aſtronomie von den älteſten Zeiten 
bis zu den modernſten Fortſchritten. Wenn 
man ſein überaus klar und anregend ge— 
ſchriebenes Buch lieſt, ſo überkommt uns 
ein Bedauern, daß die in demſelben be— 
folgte hiſtoriſche Methode nicht überall an— 
wendbar iſt. Denn eine Darſtellung, die 
mit den erſten rohen Anſchauungen und 
Beobachtungsmitteln beginnt, gibt nicht 
nur auf ihren erſten Seiten die dem Men- 
ſchengeiſte zunächſtliegenden und alſo leicht— 
faßlichſten Anſchauungen und Deutungen, 
ſondern ſie läßt den Leſer den ganzen Ent— 
wicklungsprozeß der Menſchheit auf dem be- 
treffenden Forſchungsgebiete durchmachen. 
Zwiſchen dem Geiſte der lernenden Menſch— 


heit und dem lernenden Individuum be— 
ſteht aber ein Parallelismus, der dieſe 
Methode zur naturgemäßeſten und geſun— 
deſten macht, der geſundeſten ſchon deshalb, 
weil er die Umwege und Irrtümer der 
Forſchung nicht vernachläſſigt und ſie 
für die Zukunft deſto ſicherer vermeiden 
lehrt. Freilich ſind dieſe Umwege viel zu 
weit, als daß ſie in der Schule berückſich— 
tigt werden könnten, die Maſſe des Lehr— 
ſtoffs iſt zu groß, als daß dort tiefer auf 
die Geſchichte der einzelnen Disziplinen 
eingegangen werden könnte, es muß des— 
halb dem Lernbegierigen überlaſſen blei— 
ben, dieſe Verbindung des jetzigen Men— 
ſchen mit ſeiner Kindheit, die Entwicklungs— 
geſchichte jeglicher Seite ſeiner Kenntniſſe 
nachträglich zu ſtudiren. 

Dazu bietet nun dieſes Buch eine treff— 
liche Gelegenheit. Es iſt, wie ſchon er— 
wähnt, keine Geſchichte der Aſtronomie, ſon— 
dern eine Geſchichte der Beobach— 
tungsmethoden, die ſoweit mit aus— 
führlichen mathematiſchen, phyſikaliſchen 
und chemiſchen Erörterungen durchflochten 
iſt, um uns zum vollen Verſtändnis der in 
der Neuzeit durch die außerordentlichſten 
Erfolge belohnten Beobachtungskunſt des 
Himmels zu verhelfen. Das Werk teilt 


1 5 


Literatur und Kritik. 


ſich naturgemäß in ſechs Bücher, von de— 
nen das erſte die vorteleſkopiſche Zeit von 
Hipparch und Ptolemäus bis auf Ty— 
cho Brahe ſchildert, deſſen Inſtrumente 
uns durch zahlreiche, nach alten Stichen ko— 
pirte Abbildungen vorgeführt werden. Das 
zweite Buch iſt ausſchließlich dem Teleſkop, 
ſeiner Fortbildung, Herſtellung und Auf— 
ſtellung gewidmet, wobei die phyſikaliſchen 
Geſetze, auf denen die verſchiedenen For— 
men und Verbeſſerungen beruhen, ausführ— 
lich erörtert werden. Im dritten Buche 
handelt es ſich um die Inſtrumente zur 
Meſſung von Zeit und Raum, während 
das vierte und fünfte Buch den modernen 
Meridianbeobachtungen und dem Aquato— 
real gewidmet ſind. In dem ſechſten und 
und letzten Buche endlich wird die phyſi— 
kaliſche Aſtronomie, die jüngſte an Erfol— 
gen reiche Entwicklungsperiode der Wiſſen— 
ſchaft, mit ihren ſpektralanalytiſchen und 
photographiſchen Methoden und Inſtru— 
menten geſchildert und dadurch der hoff— 
nungsvollſte Eindruck für die Zukunft die— 
ſer „königlichen Wiſſenſchaft“ bei dem Le— 
ſer zurückgelaſſen. 

Man ſieht es dem Buche an, daß es 
aus Vorträgen entſtanden iſt, die einem 
großen und gemiſchten Zuſchauerkreiſe die 
oft ſchwierigen Einzelnheiten verſtändlich 
zu machen ſuchten: ſo leicht faßlich und 
klar iſt das Ganze gehalten. Überſetzung und 
Ausſtattung ſind muſterhaft. Alle Freunde 
der Sternkunde werden an dem ausgezeich— 
neten Buche ihre Freude haben. 

Das Protoplasma als Träger der 
pflanzlichen und tieriſchen Lebensverich— 
tungen für Laien und Fachgenoſſen dar— 


geſtellt von Dr. Johannes von Han- 


ſtein, Prof. an der Univerſität Bonn. 


161 


Mit ſechs Holzſchnitten. Heidelberg, 
Carl Winters Univerfitätsbuchhdl. 
1880. 312 Seiten mit 8 Holzſchnitten. 
In dieſem kleinen Buche wird in drei 
Hauptabſchnitten (1. die organiſche Zelle, 
2. die Bildung der organiſchen Gewebe 
und 3. der Lebensträger) Weſen und Funk— 
tion des Grundſtoffs alles Lebens ſo ein— 
fach und anſchaulich und dabei doch ſo tief 
eingehend dargeſtellt, daß wir dieſes kleine 
Buch angelegentlichſt allen unſern Leſern 
zum Studium empfehlen möchten. Und 
zwar trotz der wunderlichen Schlußfolge— 
rungen (303 - 307), daß, weil die Deszen— 
denz- und Zuchtwahltheorie offenbar falſch 
ſeien, die Arten aber nicht unmittelbar aus 
dem anorganiſchen Stoff geformt fein könn— 
ten, jede Gattung, ja jede Art (S. 307) 
ihren beſonderen Stammbaum gehabt 
haben müſſe, ſo daß von einer wirklichen 
Blutsverwandtſchaft keine Rede ſein könne, 
vielmehr die Formähnlichkeit nur die not- 
wendige Folge einerſeits einer ebenſo ähnli— 
chen Begabung der Urkeime und deren plan- 
gerechter Entwicklung, andererſeits des mor— 
phologiſchen Grundgeſetzes, daß „ähnliche 
Bedürfniſſe ähnliche Geſtalten bedingen“, 
wäre. „Wie heute aus den Eiern und Samen 
der Tierleib, der Baum ſich immer wieder 
aus derſelben Geſtaltung herausbildet, ſo 
kann jedem Urkeim feine ganze Geſtaltungs— 
regel als virtuelle Begabung von Anfang an 
mit auf den Weg gegeben ſein. Was heute 
jede Eizelle an ſolcher Begabung ererbt, 
muß die erſte Zelle jeder Reihe auch, da 
ſie nicht erben konnte, ſonſt irgendwoher 
erhalten haben“ (S. 304). Ein netter 
Baſtard Leibniz-Wigand-Darwin— 
ſcher Ideen, der hier zum beſten ge— 
geben wird! Sieht denn der Herr Verfaſ— 
ſer nicht ein, daß dieſer Ideenbaſtard eben— 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 


162. 


ſo unfruchtbar fein muß, wie die Tier- und 
Pflanzenbaſtarde? Wozu bedarf das ge— 
ſchaffene Weſen einer Entwicklung? Und 
wäre es nicht beſſer, ſtatt von Stamm— 
bäumen der einzelnen Arten zu reden, 
dieſe zweig- und aſtloſen Artſtammbäume 
lieber gleich als Stamm-Hopfenſtangen zu 
bezeichnen? Die neuere Weltanſchauung 
muß man entweder ganz leugnen oder ganz 
anerkennen; die Halbheit ſolcher Anſchau— 
ungen wie die Hanſteinſchen muß auf 
beiden Seiten 1 erregen. 
Verſuch einer Entwicklungsge— 
ſchichte der 
Florengebiete der nördlichen 
Hemiſphäre von Dr. Adolph 
Engler. Mit einer chromolithogra— 
phiſchen Karte. Leipzig, Wilh. Engel: 
mann, 1879. 202 S. in 8. 

Dieſes Werk, welches zugleich den erſten 
Teil einer allgemeinen Entwicklungsge— 
ſchichte der Pflanzenwelt ſeit der Tertiär— 
epoche bildet, ſucht, den Fußtapfen Ungers, 
Ettingshauſens, Heers und Sapor— 
tas folgend, die heutige Verteilung der 
Pflanzen aus der Länder-Konfiguration in 
den unmittelbar voraufgegangenen Epochen 
der Vorwelt zu erklären, und damit der 
Pflanzengeographie diejenige genetiſche 
Grundlage zu geben, die von dem bedeu— 
tendſten Pflanzengeographen der letzten 
Zeiten, von Griſebach, nur zu ſehr ver— 
nachläſſigt worden war. So viel auch 
Klima und Bodenbeſchaffenheit — die von 
letzterem beinahe allein in Rechnung gezo— 
genen Faktoren — zur Erklärung der ak— 
tuellen Geſtaltung der Flora und Fauna 
beitragen, ſo vermögen ſie doch die Grund— 
geſetze der geographiſchen Verbreitung nicht 
aufzuklären und laſſen uns über den all— 


extratropiſchen 


Literatur und Kritik. 


gemeinen Zuſammenhang im Unflaren. 


Mit Recht iſt der Verfaſſer hierbei nur bis 
zur Tertiärperiode zurückgegangen, da ja 
die meiſten der heute vorhandenen Gat— 
tungen, ja ſogar die Mehrzahl der Fami— 
lien nicht weiter zurückverfolgt werden kön— 
nen. Von der arktiſchen Flora der Mio— 
cänzeit ausgehend, gelangt der Verfaſſer 
über Nordaſien nach Europa, wobei die 
Rolle der Hochgebirge beſonders in Be— 
tracht gezogen wird und mannigfache neue 
und geiſtreiche Aufſtellungen gemacht wer— 
den. In manchen Punkten, beſonders über 
das Verhältnis der europäiſchen Flora zur 
aſiatiſchen, kommt der Verfaſſer zu ähn— 
lichen Schlüſſen, wie ſie faſt gleichzeitig 
von John Ball“) aufgeſtellt wurden, ohne 
indeſſen die Meinung deſſelben über den 
Urſprung und den primitiven Charakter 
der Gebirgspflanzen zu teilen. Die Ein— 
flüſſe der Glazial-Periode auf die Vertei— 
lung der Pflanzen, ihr Rückzug und die 
Vorbereitung des gegenwärtigen Zuſtan— 
des werden in der zweiten Hälfte des Bu— 
ches geſchildert, worauf ein letztes Kapitel 
die durch die Ausbreitung des Menſchen 
bewirkten Anderungen der Flora behan— 
delt. Ein ungemeiner Reichtum ſpezieller 
Kenntniſſe iſt hier in knapper, aber klarer 
Darſtellung zu einem erſten Entwurf ver— 
wertet worden, welcher die Grundlinien 
ergiebt, nach denen die Pflanzen-Geogra— 
phie, die bisher eine Wiſſenſchaft der Ober— 
fläche war, in die Tiefe hinabſteigen muß, 
um dort die ſichern Wurzeln ihres Ge— 


deihens zu finden. 


Statt eines näheren Eingehens wollen 
wir hier die von dem Herrn Verfaſſer auf— 
geſtellten leitenden Ideen 5 Ar⸗ 
beit wiedergeben: 

9 Vgl. Kosmos, Bd. VI, S. 257. 


1. Die gegenwärtige Verbreitung der 
Pflanzen iſt nicht blos bedingt durch die 
jetzt auf der Erde herrſchenden klimati— 
ſchen Bedingungen und die Bodenver— 
hältniſſe. 

2. Ein wahres Verſtändnis der Ver— 
breitung der Pflanzen iſt nur dann mög— 
lich, wenn man die allmähliche Entwicklung 
derſelben zu ermitteln ſucht. 

3. Hierzu iſt vor allem notwendig die 
Berückſichtigung der verwandtſchaftlichen 
Verhältniſſe, in welchen die Formen eines 
Gebietes oder mehrerer Gebiete zu ein— 
ander ſtehen. Die bloße Pflanzenſtatiſtik 
läßt einen Einblick in die Entwicklungs— 
Rgeſchichte nicht gewinnen. 

4. Ferner iſt es notwendig, die Ver— 
breitungsverhältniſſe zu berückſichtigen, 
welche in den früheren geologiſchen Perio— 
den herrſchten und die verwandtſchaftlichen 
Verhältniſſe der ausgeſtorbenen Formen 
mit den gegenwärtig noch exiſtirenden in 
Betracht zu ziehen. 

5. Der Wechſel in der Verteilung von 
Waſſer und Land, welcher namentlich ſeit 
der Tertiärperiode ſtattgefunden hat, iſt 
für die Entwicklungsgeſchichte der Floren— 
gebiete von großer Bedeutung. 

6. Namentlich iſt es von Wichtigkeit, 
wenn durch Rückgang des Waſſers oder 
von Gletſchern oder auch durch Hebung 
eines Landes neues Terrain eröffnet wird, 
auf dem ſich die Formen der benachbarten 
Gebiete anſiedeln können und ihre neuge— 


bildeten Varietäten Platz zur Entwicklung 


vorfinden. 

7. Die Beobachtung lehrt, daß nahe 
verwandte Formen einer Artengruppe kol— 
lokal entſtehen. 

8. Allmählich verbreiten ſich die For— 
men eines Formenkreiſes, ſoweit Boden— 


Literatur und Kritik. 


163 


verhältniſſe, klimatiſche Verhältniſſe und 
Konkurrenz anderer Pflanzen es geſtatten. 

9. So können nahe verwandte For— 
men auch an entferntere Teile eines gro— 
ßen Gebietes gelangen und ſich nun ſelb— 
ſtändig weiter entwickeln. 

10. So lange noch in dem größeren, 
umfaſſenden Gebiet der alte Zuſammen— 
hang des Terrains fortbeſteht, iſt auch die 
Zuſammengehörigkeit der Formen mehr 
oder weniger leicht zu erkennen. 

11. Wenn aber geologiſche Ereigniſſe 
eine Iſolirung der früher zuſammenhän— 
genden Teile bewirken, dann iſt die ſelb— 
ſtändige Entwicklung der verwandten For— 
men mehr begünſtigt. 

12. So entſtehen korreſpondirende oder 
vikariirende Varietäten, Arten, Gruppen, 
Gattungen, Gattungsgruppen. 

13. Wenn auch annehmbar iſt, daß 
eine Art an zwei gleichartigen, aber ge— 
trennten Orten eines Gebietes gleichartige 
oder wenig verſchiedene Varietäten erzeugt, 
ſo iſt es doch nicht denkbar, daß nun an 
beiden Orten fortdauernd dieſelben Ver— 
hältniſſe und Urſachen auf dieſelbe Varie— 
tät einwirken, und im Lauf der Zeit an 
beiden Orten die Nachkommenſchaft der 
zuerſt entſtandenen Varietäten ſich in durch— 
aus gleicher Weiſe entwickelt. 

14. Scharf abgegrenzte, an getrenn— 
ten Gebieten vollkommen identiſche Arten 
können demzufolge nicht die Summe ihrer 
Eigenſchaften gleichzeitig an zwei oder 
mehr getrennten Gebieten gewonnen haben. 

15. Die geologiſchen Ereigniſſe haben 
ſehr oft eine Iſolirung früher zuſammen— 
gehöriger Gebiete und der dieſelben be— 
wohnenden Pflanzen bewirkt. Mit Ver⸗ 
ſenkung eines Teiles des Gebietes unter 
Waſſer oder in anderer Weiſe wurde ſehr 


164 


oft ein Teil der Formen, welche als Binde: 
glieder zwiſchen den verſchiedenen Formen 
der mehr entfernten Teile die Zuſammen— 
gehörigkeit zu einem Verwandtſchaftskreis 
erkennen ließen, vernichtet. 

16. Darauf beruht das Vorkommen 
verwandter Arten oder Gruppen an ge— 


trennten Gebieten, ohne daß noch andere 


verwandte Formen in dem dazwiſchen lie— 
genden in anderer Weiſe veränderten Ge— 
biet gefunden werden. 

17. Demzufolge hat namentlich die 
Verwandlung von Seebecken, deren Ufer 
ehemals bewaldet waren, in trockene Step— 
pen oder Wüſten das Verſchwinden vieler 
Formen zur Folge gehabt, welche früher 
jetzt getrennte Standorte und getrennte 
Formen verbanden. 

18. Wenn in getrennten Gebirgs— 
ſyſtemen urſprünglich nahe verwandte For— 
men Hochgebirgsvarietäten bilden, welche 
den in höheren Regionen herrſchenden Ver— 
hältniſſen ſich allmählich anpaſſen, ſo ſind 
dieſe ſpäter zu Arten gewordenen Varie— 
täten im ſtande, bei eintretender Erniedri— 
gung der Temperatur ſich zu erhalten, 
während die in den wärmeren Regionen 
der Ebene verbliebenen Formen nun nach 
wärmeren Landſtrichen wandern oder un— 
tergehen müſſen. 

19. Aus 17 und 18 geht hervor, daß 
in Ländern von hohem Alter, namentlich 
in gebirgigen Gegenden, deren Vegetation 
ſeit langem nicht durch geologiſche Ereig— 
niſſe vollſtändig vernichtet wurde, ein rei— 
cher Endemismus herrſchen muß. 

20. Endemiſche Formen können aber 
auch in verhältnismäßig jungen Gebieten 
reichlich auftreten, wenn nämlich dieſe Ge— 
biete, wie die aſiatiſchen Steppen, die 
amerikaniſchen Prärien oder die ſüdameri— 


Literatur und Kritik. 


kaniſchen Pampas, durch ihre Beſchaffen— 
heit nur einer beſchränkten Zahl von Ve— 
getationsformen die nötigen Exiſtenzbe— 
dingungen gewähren. 

21. Der Unterſchied zwiſchen alten und 
neuen Florengebieten mit reichem Ende— 
mismus beſteht gewöhnlich darin, daß in 
den älteren Gebieten die Artenzahl der 
Gattungen eine geringere, in den neueren 
die Artenzahl einzelner Gattungen gewöhn— 
lich eine ſehr große iſt. 

22. Bei einigen Familien finden wir, 
daß ihre natürlichen Gruppen ſich auf ein— 
zelne geographiſche Gebiete beſchränken; 
dies hängt bisweilen damit zuſammen, daß 
einzelne dieſer Gruppen phyſiologiſche Ei— 
gentümlichkeiten beſitzen, welche in einem 
klimatiſch Scharf charakteriſirten Gebiete von 
beſonderem Vorteil ſind. Es hat aber das 
auch häufig darin ſeinen Grund, daß von 
einem Entwicklungszentrum nach verſchie— 
denen Richtungen hin verſchiedene Formen 
gelangten, die nun in den getrennten Ge— 
bieten Ausgangspunkte natürlicher Grup— 
pen wurden. Es findet alſo im großen 
dasſelbe ſtatt, was wir bei kleineren For— 
menkreiſen auch wahrnehmen. 

23. In großen Gebieten, welche im 
Lauf der geologiſchen Epochen nur wenig 
Veränderungen unterworfen waren, konn— 
ten ſich ſolche Gattungsgruppen wohl er— 
halten; wir finden daher dieſe Erſcheinung 
nur in den tropiſchen und ſubtropiſchen 
Gebieten, während wir in den ſeit der Ter— 
tiärperiode mehrfach veränderten Gebieten 
ähnliche Erſcheinungen innerhalb einer 
Gattung häufiger wahrnehmen. 

24. Daß auch im tropiſchen Gebiet 
nur wenige Familien eine Beſchränkung 
ihrer Gruppen auf beſtimmte geographi— 
ſche Gebiete zeigen, hat einerſeits in dem 


Pr 


verſchiedenen Alter der einzelnen Familien, 
andererſeits in der verſchiedenen Dauer 


der Keimfähigkeit der Samen ſeinen Grund. | 


Samen mit lang andauernder Keimfähig— 
keit ſind für lange Wanderungen mehr be— 


fähigt, als ſolche, welche bald keimen müſ— | 


fen, um zur Entwicklung zu gelangen. 

25. Die große Mehrzahl der tropiſchen 
Pflanzenfamilien, alſo der Familien, von 
welchen ein hohes Alter vorausgeſetzt wer— 
den darf oder nachgewieſen iſt, zeigt eine 
ſehr unregelmäßige Verteilung, oft nahe 
verwandte Gattungen auf der öſtlichen und 
weſtlichen Hemiſphäre. 

26. Die Unterſuchung der Verbrei— 
tungsverhältniſſe der foſſilen Pflanzen 
zeigt uns, daß viele Gattungen, welche 
jetzt auf eine Art oder ein enges Gebiet 
beſchränkt ſind, noch in der jüngeren Ter— 
tiärperiode mehr Arten oder ein größeres 
Verbreitungsgebiet beſaßen. 

27. Daraus ergibt ſich, daß wir die 
Heimat einer Pflanze oder einer Pflanzen— 
gruppe nicht immer da zu ſuchen haben, 
wo dieſelbe jetzt exiſtirt oder am reichſten 
entwickelt iſt. 

28. Ferner iſt daraus erſichtlich, daß 
artenarme oder monotypiſche Gattungen 
in den meiſten Fällen Reſte von früher 
viel reicher entwickelten Typen ſind. 

29. Die Erhaltung von monotypifchen 
Gattungen in einem Gebiet iſt meiſt etwas 
Zufälliges und für das Gebiet nur inſo— 
fern von Bedeutung, als ſie zeigt, daß in 
demſelben frühere Verhältniſſe längere Zeit 
fortgedauert haben; die monotypiſchen Gat— 
tungen eignen ſich daher nur zur Charak— 
teriſirung größerer Gebiete, in denen ſie 
allgemein verbreitet ſind, aber nicht zur 
Charakteriſirung engerer Gebiete. 


| 30. Für die Feſtſtellung der engeren 


Literatur und Kritik. 


165 


Florengebiete innerhalb eines größeren Ge— 
bietes eignen ſich am beſten Gattungen, 
welche in einem ſolchen auf der Höhe ihrer 
| Entwicklung ſtehen und in anderen Gebie- 
ten gar nicht oder nur ſpärlich vertreten ſind. 
31. Scharfe Grenzen zwiſchen den ein— 
zelnen Florengebieten exiſtiren nicht, ſon— 
dern es greifen immer Elemente des einen 
in das andere hinüber und zwar in den 
verſchiedenen Epochen der Erdgeſchichte in 
verſchiedenem Grade. 

32. Die Pflanzengeſchichte zeigt, daß 
einzelne Typen ſich bis in die Gegenwart 
in formenreicher Entwicklung erhalten ha— 
ben, während andere eine Abnahme, noch 
andere eine bedeutende Zunahme ihrer For— 
menkreiſe erkennen laſſen; die pflanzenſta— 
tiſtiſchen und pflanzengeographiſchen Ver— 
hältniſſe reichen aber da nicht aus, um 
das relative Altersverhältnis der einzelnen 
Familien zu einander feſtzuſetzen. 

33. Dagegen iſt es wohl möglich, in- 
nerhalb eines engen Formenkreiſes, ſogar 
innerhalb einer Familie mit eingehendſter 
Berückſichtigung der morphologiſchen Ver— 
hältniſſe und der geographiſchen Verbrei— 
tung der verwandten Formen eine relative 
Altersbeſtimmung vorzunehmen, die auf 
wiſſenſchaftlichen Wert Anſpruch machen 
darf. 

34. Daraus, daß mit Sicherheit die 
Entwicklung zahlreicher jetzt exiſtirender 
Formen bis in die Tertiärperiode zurück— 
reicht, folgt nicht, daß nicht ſpäter noch 
neue Arten entſtanden ſind. 

35. Ebenſo folgt aus der unverän— 
derten Erhaltung einiger tertiären Formen 
nicht, daß überhaupt die Arten unveran- 
derlich ſind. 

36. Bei der Bildung von Varietäten 
wirken innere Urſachen. Wenn wir in ein— 


— 


166 


zelnen geographiſchen Gebieten, die durch 


ein eigentümliches Klima charakteriſirt find, 
einen großen Reichtum von Formen fin— 
den, die dieſem Klima angepaßt zu ſein 
ſcheinen, ſo hat dies darin ſeinen Grund, 
daß das Klima, ſekundär wirkend, die wei— 
tere Entwicklung gewiſſer, vorher ſchon er— 


zeugter Formen begünſtigt, der Entwick— 


lung und Ausbreitung anderer Formen 

aber hemmend entgegentritt. 

m — nn —. * 

Das Pflanzenleben der Schweiz von 
H. Chriſt. Mit vier Vegetationsbil— 
dern in Tondruck nach Original-Auf— 
nahme von C. Janslin, vier Pflan— 
zenzonenkarten in Farbendruck und einer 
Tafel der Höhengrenzen verſchiedener 
Gewächſe, 2—4. (Schluß)-Lieferung. 
Zürich, Friedrich Schultheß, 1879. 

Wir haben unſere Leſer ſchon früher 

(Bd. VI, S. 161) bei dem Erſcheinen der 

erſten Lieferung auf dieſes ausgezeichnete 

Werk aufmerkſam gemacht. Jetzt, nachdem 

es vollendet vorliegt, können wir den gün— 

ſtigen Eindruck, den uns die erſte Liefe— 
rung hervorbrachte, lediglich wiederholen. 

Es gibt keine gründlichere, überſichtlichere, 

klarere Schilderung des an Formen und 

Problemen reichen Gebietes der Alpenflora 

als die vorliegende, und wer jemals mit 

den Augen des Botanikers oder Pflanzen— 

Geographen die Schweiz durchwandert hat, 

wird das Werk mit ebenſo reichem Genuß 

als Belehrung leſen. Unſere Abſicht, auf 
das Kapitel über die Entſtehung der Schwei— 
zerflora näher einzugehen, iſt uns indeſſen 
nach dem Erſcheinen des betreffenden Ka— 
pitels in der letzten Lieferung als nutzlos 
erſchienen. Der Herr Verfaſſer iſt über 
das Werden zu keinen poſitiven Anſchau— 
ungen gelangt, und obwohl er feſthält, 


Literatur und Kritik. 


„daß die aufſteigende Reihe im Sinne 
der ſtufenweiſen Klärung, Vervollkomm— 
nung und idealen Vollendung auch in der 
Geſchichte der Pflanzenwelt klar zu Tage 
liegt,“ ſo hält er doch jedes Unterſuchen 
und Ableiten der Geſetze, nach denen dieſe 
„ideale Vollendung“ vor ſich gegangen 
ſein könnte, offenbar für eine Art Einbruch 
in das geheime Archiv Gottes, und er ruft 
(S. 450) zornig aus: „Spielend glaubt 
eine ſolche Naturbetrachtung die ewig dunkle 
Frage von der Entſtehung aller Dinge zu 
löſen und merkt dabei kaum, daß ſie nur 
das alte Chaos und die alte Nacht wieder 
herſtellt.“ In der That, das merkt fie 
kaum, und dieſes Anathema wird ihr da— 
her wie eine „Offenbarung“ klingen. Dieſe 
Befangenheit den neueren Fortſchritten der 
Wiſſenſchaft gegenüber berührt indeſſen 
den Werth des Werkes, welches es ja nur 
mit dem gegenwärtigen Zuſtande zu thun 
hat, wenig oder gar nicht, und wir machen 
es uns grade deshalb zur doppelten Pflicht, 
denſelben in vollem Maße anzuerkennen. 
Die Ausſtattung iſt eine ſehr gediegene, 
die Vegetationsbilder ſind charakteriſtiſch 
und die Karten, welche die Verbreitung 
einer anſehnlichen Reihe charakteriſtiſcher 
oder merkwürdiger Arten graphiſch dar— 
ſtellen, find höchſt überſichtlich. 

Der Zoologiſche Garten. Zeitſchrift 
für Beobachtung, Pflege und Zucht 
der Tiere. Redigirt von F. C. Noll. 
Frankfurt a. M. In Commiſſion bei 
Mahlau und Waldſchmidt 

enthält in dem uns vorliegenden Jahr— 

gang 1879 wie immer eine ſehr große 

Mannigfaltigkeit von Artikeln, Berichten 

und Correſpondenzen, die jeden Tierfreund 

auf das höchſte intereſſiren müſſen und 


2 


eine Mitteilung 


beſonderm Intereſſe. 


\ 
Literatur und Kritik. 167 

ſich auf alle Zweige der Tierpflege und valle laſſen uns insgeſammt nur den kur— | 

des Tierlebens überhaupt erftreden. von zen Zeitraum vom Ende der Eiszeit bis | 
befonderem Intereſſe darunter ſind drei zur Ausrottung des Heidentums am Mittel- 
Artikel über die Lebensdauer der Tiere rhein verfolgen. Wenn in Freitags Ah— 
im Hamburger zoologiſchen Garten von nen ein beſtimmtes Geſchlecht den rothen 

Direktor Dr. Bolau, acht Artikel mit Faden bildet, an dem ſich die Begeben 

Beobachtungen am Orang Utan von Dr. heiten aufreihen, ſo iſt hier die Landſchaft | 
Mar Schmidt und fünf Artikel über das einende Element dieſer mit Geſtalten 
Tierleben und Tierpflege in Irland von der Vorzeit belebten Nebelbilder, und zwar 
Ernſt Friedel. Von den mannigfachen, | die mittelrheinifche Landſchaft, welche den 
dem Aquarium gewidmeten Artikeln iſt dreifachen Vorzug beſitzt, ſtets das Theater 
des Redakteurs über großer Vorgänge im erſten Jahrtauſend 
Meeresleuchten im Zimmer-Aquarium von unſerer Zeitrechnung gebildet zu haben, in 
Unter den Mit- ſeinem mit Lebensſpuren aller Epochen ge— 
arbeitern bemerken wir die Gebrüder | düngten Boden reiche Zeugniſſe zu bewah— 
Karl und Adolf Müller, Dr. Frdr. ren und drittens dem Verfaſſer von außen 
Knauer, K. Th. Liebe, H. v. Na- und innen auf das genaueſte bekannt zu 
thuſius, E. von Homeyer, Dr. W. ſein. Freilich ſind es nicht viel mehr als 
Stricker, Prof. L. Glaſer, H. Schacht, lebende Bilder, die er gibt, eine Jagd, 
H. von Roſenberg und viele andere ein Totenopfer, ein Überfall, eine Rache, 
Namen von gutem Klange, jo daß dieſe | eine Bekehrung u. ſ. w., aber Bilder mit 
Zeitſchrift ihrer Aufgabe als „gemein- | möglichiter Treue des hiſtoriſchen und ſelbſt 
ſames Organ für Deutſchland und an- des vorhiſtoriſchen Kolorits. Sicherlich muß 
grenzende Gebiete“ beſtens gerecht wird man erſtaunt fein, daß ſich aus einem ge— 
und den weiteſten Kreiſen zu empfehlen iſt. fundenen Dolch, einer Spange und einem 
— ä — Linnenfetzen ſo viel Koſtümkunde und Sit— 
Bilder aus Deutſchlands Vorzeit tengeſchichte rekonſtruiren ließ; es wäre 
von Dr. C. Mehlis. Jena, Hermann noch die Aufgabe eines großen Dichter— 
Coſtenoble, 1879. 127 Seiten in 12. genius, dieſen Geſtalten wirkliches Leben 
In dieſem der zehnten Jahresverſamm- einzuhauchen, wie es Scheffel mit viel— 
lung der deutſchen Anthropologiſchen Ge- leicht weniger Studium, aber mit der un— 
ſellſchaft gewidmeten und deshalb auf das endlichen Ueberlegenheit der Phantaſie in 
geſchmackvollſte ausgeſtatteten Bändchen ſeinem Ekkehard gethan. Durch das Meh— 
läßt der Verfaſſer acht hiſtoriſche Gemälde lisſche Buch glauben wir in der Über— 
auf dem feſten Grunde ſorgfältiger Quel- treibung der gekünſtelten Freitag ſchen 
len-, reſp. Gräberforſchung vor unfern Ahnenſprache einen Zug feiner Ironie 
Augen vorüberziehen, ungefähr in der gehen zu ſehen. Wie unfehlbar iſt nicht 
Weiſe Chidhers des Unſterblichen: „Und die komiſche Wirkung, wenn er ſagt (S. 28): 
abermals nach fünftauſend Jahren bin „Und thränenden Auges wandte ſich Schön— 
ich deſſelbigen Weges gefahren.“ Aber hier Siglinde dem Dorfe zu, in einer der Hüt— 
find die Pauſen kürzer und die 8 Inter- ten aus dem ſchöngeglätteten Kruge das 

r 


168 Literatur und Kritik. 


Waſſer zu entleeren, in den Bottich, in 
welchem Rüben und Kraut und die Rippe 
des Schweines lagen, zum Mahle zu die— 
nen den Familiengenoſſen der Hütte“; oder 
wenn Siglinde mit wahrhaft Auerbach— 
ſchem Pathos der Radaberga auf ihre 
Frage: „Was iſt gefaltet deine Stirn 
und warum umſchleiert dein dunkles 
Augenpaar?“ erwidert: „Die Sehnſucht 
malt mir den Schleier um das Antlitz und 
Loki, der Arge, führt den Wahn mir in 
den Sinn, den Liebtrauten mögen zur Un— 
treue verführt haben die dunkelgelockten 
Schönen, denen das Feuer aus den Augen 
zuckt.“ Man kann die Verirrung der ge— 
nannten Dichter, Naturmenſchen ſo ge— 
künſtelt ſprechen zu laſſen, nicht beſſer per— 
ſifliren, und dieſe humorvolle Behandlung 
giebt dem an ſich etwas trockenen Stoffe 
eine ſehr erwünſchte Würze. Die typo— 
grapiſche Ausſtattung iſt ſehr ſplendid und 
gereicht der Verlagshandlung zur höchſten 
Ehre. 


Dr. Hermann Frerichs, Über Na— 
turerkenntnis. Bremen 1879, J. 
Kühtmann. 36 S. 

In dieſer ſehr gut geſchriebenen klei— 
nen Arbeit werden uns namentlich die 
Grenzen unſeres Erkenntnisvermögens, 
über die wir gerne hinwegzuſehen pfle— 
gen, vorgerückt. Es iſt das ebenſo ver— 
dienſtlich als leſenswert, nur hätten wir 
gewünſcht, von dem Verfaſſer ſtärker be— 
tont zu hören, daß uns dieſe Erkenntnis 
nicht hindern darf, weiter zu forſchen, 
denn jene Grenzen ſind doch nicht mehr 


die engen, welche ſie früher waren, und 
der Naturforſcher gleicht dem Gebirgs— 
bewohner, der aus dem engen Thalkeſſel 
mit völlig verhülltem Blick immer höher 
an den Wänden emporklimmt, und aus 
den unterwegs ſich darbietenden entzücken— 


den Ausblicken in die Ferne die Herr- 


lichkeit ahnt, die ſich ihm aufthun werde, 
wenn er den für unerſteiglich geltenden 
„Gipfel der Erkenntnis“ erreichen könnte! 


Herrn Profeſſor Dr. Jägers ver— 
meintliche Entdeckung der Seele 
von G. H. Schneider. Leipzig, Am— 
broſius Abel, 1879. 62 S. in kl. 8. 

Dieſes Schriftchen nimmt ungefähr 
denſelben Standpunkt ein, wie das Referat 
unſerer Zeitſchrift über Jägers intereſſan— 
tes Buch.“) Es verkennt keineswegs die 

Bedeutung der Jägerſchen Beobachtun— 

gen an ſich, ſondern bekämpft einzig die 

denſelben untergelegte Deutung. Vor al— 
lem hebt der Verfaſſer hervor, daß der 

Geruchsſinn nicht eine ſo ausſchließliche 

Herrſchaft im Sinnes- und Seelenleben 


der Tiere ausübt, wie Jäger anzunehmen 


ſcheint, und weiſt dies namentlich an der 
Hand ſeiner zahlreichen eigenen Beobach— 
tungen über die große Rolle des Geſichts— 
ſinns im Tierſeelenleben nach, die ja wohl 
von niemandem bezweifelt wird. Der Ver— 
faſſer operirt mit Thatſachen und voneigent— 
licher Polemik, wie ſie der Titel erwarten 
läßt, iſt in dem flüſſig geſchriebenen und 
leicht lesbaren Büchelchen wenig zu finden. 


99 Kosmos, Bd. VI, S. 321. 


+ 


Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig. 


N 


n 


4 | 


a 


Über die Eutſtehung der Arten durch Abſonderung. 


a N durch ihre Hahn ea und 
Lebensweiſe beſonders ge— 
eignet iſt, für die form— 
bildende Wirkung einer 
dauernden individuellen Abſon— 
derung, ohne jede Mitwirkung ei— 


ner Selektion durch den Kampf 


ums Daſein, einen unwiderleg— 


baren Beweis zu erbringen. Dieſe 


Klaſſe iſt der Erforſchung ihrer individu— 
ellen Entwicklung ſchwerer zugänglich als 
die meiſten andern Abteilungen des Tier— 
reiches und wurde daher erſt in neuerer 
Zeit von den Zoologen genauer unterſucht 
und erkannt. Spongien oder Schwämme 
nennen wir jene tieriſchen Organismen von 
höchſt eigentümlichem Bau, welche mit 
Ausnahme einer einzigen Gattung, die im 
ſüßen Waſſer vorkommt, auf dem Grunde 
des Meeres, befeſtigt an iſolirten Stand— 
orten, leben und während ihrer ganzen in— 
dividuellen Lebensdauer abgeſondert blei— 
ben. Die verdienſtvollen Unterſuchungen 


Von 
or Moritz Wagner. 


III. 


Lieberkühns über Spongilla, das mei— 


ſterhafte monographiſche Werk Ernft 


Haeckels über die Kalkſchwämme und die 
trefflichen Arbeiten Oskar Schmidts 


über die Spongien im allgemeinen und 


diejenigen des Adriatiſchen Meeres im be— 
ſondern haben uns die nähere Kenntnis 
dieſer wichtigen Tierklaſſe aufgeſchloſſen. 

Die bleibende räumliche Abſonderung 
der einzelnen Schwämme oder Schwamm— 
ſtöcke, welche jede Konkurrenz der Artge— 
noſſen, jede Mitbeteiligung einer Ausleſe 
im Kampfe ums Daſein ſchon durch dieſe 
dauernde individuelle Iſolirung von ſelbſt 
ausſchließt, eignet dieſe Tierklaſſe ganz 
vorzüglich zur Prüfung der Streitfrage: 
ob die Wirkung der Migration und Iſo— 
lirung bei einfachem Wechſel des Stand— 
orts, welchen ſtets eine Anderung der 
Nahrungsverhältniſſe begleitet und der 
gleichzeitig die ungehinderte Fortentwick— 
lung der perſönlichen Merkmale des Kolo— 
niſten begünſtigen muß, auch für ſich allein 
ſchon genügt, um eine namhafte morpho— 
logiſche Abweichung von ſeinem Mutter- 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 


22 


170 


ſtock hervorzubringen? Das Ergebnis der 
Unterſuchung antwortet auf dieſe Frage 
mit einem entſchiedenen Ja. 

Die normale Fortpflanzung der Spon— 
gien geſchieht bekanntlich durch befruchtete 
Eier. Männliche und weibliche GGenerations— 
organe (Spermatozoen und Eier) entwickeln 
ſich entweder in ein und demſelben Stock 
oder in getrennten Stöcken und Individuen. 
Die männlichen Spermazellen bewegen ſich 
mittels ihrer Geißelbewegung zu den weib— 
lichen nackten Eizellen und dringen in ihr 
Inneres ein. Damit wird bei den Schwäm— 
men der einfache Befruchtungsakt voll— 
zogen. Aus dem befruchteten Ei entſteht 
durch deſſen totale Furchung ein maulbeer— 
förmiger Körper mit einer Zentralhöhle 
verſehen, aus welchem durch eine Diffe— 
renzirung der Zellen eine Larve hervorgeht, 
die am vordern Teil mit Flimmerzellen, 
am hintern mit großen kugeligen oder ver— 
ſchmolzenen Zellen verſehen iſt. 

Die flimmernde Larve (Planula), wel- 
che bei den Kalkſchwämmen zuweilen ſchon 
winzige Skelettnadeln beſitzt, ſondert ſich 
ganz vom Mutterkörper ab und ſchwärmt 
aus, d. h. ſie wandert frei im 
Meere umher. Nachdem ſie eine zeit— 
lang in aktiver Migration umherge— 
ſchwommen, bezieht fie einen vom Mutter- 
ſtock ſtets getrennten, mehr oder weniger 
entfernten neuen Standort. Dies geſchieht, 
indem ſie an irgend einer ihr paſſenden 
Stelle des Meerbodens ſich niederſenkt, 
feſtheftet und dauernd ſich anſiedelt. An 
dieſem iſolirten Standort beginnt nun in 
den mannigfaltigſten Formen der Aufbau 


und die Geſtaltung des merkwürdigen 
chung einen ſo hohen Grad. Jeder räum— 
lich abgeſonderte Stock, jede iſolirte In- 


Spongienſkeletts, aus Kalknadeln, Horn— 
faſern oder Kieſelnadeln beſtehend. Die 
Abſonderung dieſer wunderbaren Gebilde 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


geſchieht aus der äußern Sarkodinenſchicht, 
dem ſogenannten Exoderm, welches in Ver— 
bindung mit der innern Zellenſchicht bei 
den Spongien den Weichteilen der höheren 
Tiere entſpricht und alle Funktionen der 
Empfindung, Reſpiration, Ernährung und 
Fortpflanzung erfüllt. g 
Zwiſchen den Zellen der Körperſub— 
ſtanz treten bei den Schwämmen ſchlauch— 
oder blaſenförmige Hohlräume auf, welche 
von kleineren, je eine Wimper tragenden 
Zellen ausgekleidet werden und in die Ka— 
näle münden. Die Kanäle führen zu den 
Aus- und Einſtrömungsöffnungen, die oft 
durch beſondere Nadeln geſtützt werden. 
Der durch die Wimpern unterhaltene 
Strom des umgebenden Waſſers führt 


Nahrungsſtoffe an den Zellen vorbei, von * 


denen jede einzelne nach Art der Amöben 
Nahrung in ſich aufnehmen kann.“ 

Daß bei dieſem Bildungsprozeß der 
einzelnen Spongienſtöcke von der Lage und 
Beſchaffenheit ihres iſolirten Standortes 
und ſeiner Nahrungsbedingungen, ſowie 
von der individuellen Variationsfähigkeit 
des in Larvenform zugewanderten, feſt— 
angeſiedelten Koloniſten alles abhängt, 
und daß der Einfluß eines Konkurrenz— 
kampfes, eines struggle for life mit den 
verwandten Stammgenoſſen bei dieſer Ent— 
ſtehungs- und Lebensweiſe vollſtändig 
ausgeſchloſſen iſt, wird niemand zu 
beſtreiten vermögen. Die Formenmannig— 
faltigkeit iſt beſonders bei den Kalk— 
ſchwämmen, die wir dank der ausgezeich— 
neten Monographie Haeckels ſehr genau 


kennen, ungemein groß. Bei keiner andern 


Tierklaſſe erreicht die individuelle Abwei— 


dividuenkolonie unterſcheidet ſich von an— 


| 


Moritz Wagner, Über die Entftehung der Arten durch Abſonderung. 


deren, nicht immer weit entfernten Stöcken 
in einem Grade, welcher den Grad des 
gewöhnlichen morphologiſchen Artunter— 
ſchiedes anderer Tierklaſſen mitunter ſelbſt 
überſchreitet. Der ſubjektiven Auffaſſung 
des Syſtematikers iſt bei dieſer ungemei— 
nen Formenmannigfaltigkeit der Spongien 
ein weites Feld geöffnet und die Feſtſtel— 
lung von Spezies und Gattungen begegnet 
daher wirklich oft großen Schwierigkeiten. 
Wie ſehr die aktiven Migrationen 
der flimmernden Larven und oft auch die 
paſſive Migration eines von ſeinem ur— 
ſprünglichen Standort losgeriſſenen und 
von den Meeresſtrömungen mit ſeiner Un— 
terlage weit fortgetragenen Schwammes 
zu dieſer Vielgeſtaltigkeit beitragen muß, 
fällt in die Augen. Ob die freiſchwim— 
mende Planula bei ihrer Wanderung zu— 
fällig in eine wärmere oder kältere Meeres— 
ſtrömung gerät, ob ſie nach der Mündung 
eines Stromes, der viele organiſche Reſte 
in das Meer trägt, oder fern davon an 
einem für die Nahrungsſtoffe, die ſie be— 
darf, minder günſtigen Punkt ſich auf den 
Boden ſenkt, um ſich feſtzuſetzen, ob lokale 
Umſtände, wie z. B. eine größere oder ge— 
ringere Meerestiefe des Standorts, die Er— 
nährung durch die Beſtandteile des den 
Schwammſtock umſpülenden Waſſers be— 
günſtigen oder benachteiligen, all das muß 
ſelbſtverſtändlich mächtig dazu beitragen, 
die individuelle Variationsfähigkeit des 
iſolirten Koloniſten entweder zu unter— 
ſtützen oder zu beeinträchtigen. Jeden- 
falls bleibt hier die Abſonderung 
ſelber die eigentliche, anſtoßgeben— 
de, nächſte mechaniſche Urſache aller 
Geſtaltveränderungen. 
Haeckel iſt in den der Biologie der 
Kalkſchwämme gewidmeten Kapiteln ſeines 


inhaltreichen Werkes einer Unterſuchung 
der Frage nach der causa efficiens, welche 
zu den Formabweichungen dieſer merkwür— 
digen Organismen den Anſtoß giebt, viel- 
leicht abſichtlich aus dem Wege gegangen. 
Ob dies geſchehen, weil er merkte, daß 
gerade die Entſtehungs- und Lebensweiſe 
der Calciſpongien jeder weſentlichen Mit— 
beteiligung einer Zuchtwahl oder Ausleſe 
durch den Kampf ums Daſein widerſpricht, 
will ich nicht behaupten. In ſeinen kurzen 
Bemerkungen über die „Urheimate“ 
oder „Schöpfungsmittelpunkte“, die 
man richtiger „Entſtehungszentren“ 
nennen ſollte, macht Haeckel jedoch der 
Migrationstheorie eine weſentliche Kon— 
zeſſion. Er bemerkt dort Bd. J, S. 448: 
„Daß hier wie überall in der or— 
ganiſchen Welt die mannigfalti— 
gen, beſonders von Moritz Wagner 
gewürdigten Migrationen eine 
große Rolle ſpielen und die „Ent— 
ſtehung der Arten“ vielfach ver— 
mitteln, kann mit Sicherheit ange— 
nommen werden. Für die Chorologie 
der Kalkſchwämme wird hierbei namentlich 
der Umſtand in betracht zu ziehen ſein, daß 
dieſelben nicht nur als freiſchwimmende 
Flimmerlarven weit umherſchwimmen und 
ſich durch aktive Wanderung ausbreiten 
können, ſondern daß ſie auch ſich mit be— 
ſonderer Vorliebe auf Seepflanzen, na— 
mentlich auf Fucus- und Sargaſſum-Arten 
anſiedeln, welche leicht von ihrem Stand— 
ort losgeriſſen und dann durch Strömun— 
gen über weite Meeresſtrecken ſchwimmend 
fortgeführt werden können. Eine ziemliche 
Anzahl, beſonders von pazifiſchen und in— 


diſchen Kalkſchwämmen, iſt bis jetzt blos 


auf ſolchen ſchwimmenden Tangen ange— 


troffen worden und es iſt daher ſehr die 


Frage, ob ihre urſprüngliche Heimat nicht 
weit von ihrem Fundort entfernt war. 
Jedenfalls iſt in dieſen paſſiven Wan— 
derungen ein vorzügliches Mittel für die 
weite geographiſche Verbreitung vieler 
Calciſpongien gegeben.“ 

Mit dieſen Außerungen Haeckels, in 
denen wir ein bemerkenswertes Zugeſtänd— 
nis zu unſern Anſichten erkennen, ſind wir 
ſelbſtverſtändlich vollkommeneinverſtanden. 
Indeſſen wäre es uns doch lieber geweſen, 
wenn der geiſtvolle Forſcher ſich bei dieſer 
Gelegenheit über folgende Fragen beſtimmt 
geäußert hätte: Welchen Anteil kann an 
der Entſtehung neuer morphologiſcher Merk— 
male die Zuchtwahl durch den Kampf ums 
Daſein bei tieriſchen Gebilden haben, deren 
Lebensweiſe bei dauernder, individueller 
Iſolirung dieſen Konkurrenzkampf zwiſchen 
den Artgenoſſen ſo gut wie unmöglich 
macht? Hat die Bezeichnung Selektion 
hier noch einen Sinn für Formbildungen, 
die doch ſo einfach nur durch die zwei Fak— 
toren der veränderten Nahrungsbedingun— 
gen des neuen Standortes und der in— 
dividuellen Variationsfähigkeit iſolirter 
Koloniſten zuſtande kommen? 

Die Migration vermittelt bei den Cal— 
eiſpongien als zwingende, mechaniſche 
Urſache die Artbildung nicht nur viel— 
fach, wie Haeckel zugeſteht, ſondern offen— 
bar ganz allein. Gerade die außeror— 
dentliche Formenmannigfaltigkeit bei einer 
durch individuelle Abſonderung ſo ausge— 
zeichneten Ordnung des Tierreiches ſcheint 
uns das beredteſte Zeugnis für die Richtig— 
keit der Separationstheorie zu ſein. 

Die paſſiven Wanderungen, welche 


die auf Fucusarten und andern Algen feſt— 
— = 5 N 3 + | 
ſitzenden Schwämme mit den losgeriſſenen 


Pflanzen oft durch weite Meere unfreiwil— 


1 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


lig machen, ſind nicht nur ein vorzügliches 
Mittel zu der ſehr weiten geographiſchen 
Verbreitung, wie Haeckel richtig bemerkt, 
ſondern auch ein noch ausgezeichneteres 
Mittel, um durch außerordentliche Verän— 
derungen in den äußeren Lebensbedingun— 
gen jene ſtärkere morphologiſche Differen— 
zirung hervorzurufen, die wir thatſächlich 
bei ihnen ſehen. Dafür liefert gerade das 
Faktum, daß ſo manche ausgezeichnete 
Gattungen und Arten von Kalkſchwämmen 
ausſchließlich nur auf ſolchen ſchwimmen— 
den Fucusarten beobachtet worden ſind, 
einen Beweis, wie ihn die Separa— 
tionstheorie ſich nicht günſtiger 
wünſchen konnte. * 
Betrachten wir zum Vergleich mit den 
Spongien eine andere Tierklaſſe und wäh— 
len wir aus derſelben eine nicht minder 
formenreiche Gruppe aus, welche durch 
ausgezeichnetſte Lokomotionsfähigkeit und 
ſonſtige individuelle Lebensweiſe ſich im 
ſchroffſten Gegenſatz zu den oben beſchrie— 
benen Organismen befindet. Wir können 
uns in der That den Schwämmen gegenüber 
keinen ſtärkeren Kontraſt denken, als die 
äußerſt mobile und zu den höchſten Leiſtun— 
gen aktiver Migration befähigte Klaſſe 
der Vögel, und wir finden in derſelben eine 
Familie, welche durch geographiſche Ver— 
breitung und lokales Vorkommen der ver— 
ſchiedenen Gattungen, Arten und Varie— 
täten, ebenſo wie durch ihren merkwürdigen 
Formenreichtum ganz ungemein geeignet 
iſt, uns belehrende Aufſchlüſſe über die Ur— 


ſache der Entſtehung dieſes Formenreich— 


tums zu geben. 2 
Die Familie der Trochiliden zeigt uns 
34 Gattungen mit nahezu 500 beſchriebe— 
nen Arten und vielen konſtanten lokalen 
Varietäten. Die wirkliche Artenzahl dürfte 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


wohl doppelt ſo groß ſein, da gerade die 
Gegenden, wo ſie am zahlreichſten erſchei— 
nen, die ausgedehnten Waldlandſchaften 
im Quellgebiete der großen ſüdamerikani— 
ſchen Ströme und der ganzen öſtlichen Ge— 
hänge der tropiſchen Anden, in ornitholo- 
giſcher Beziehung noch ſehr wenig durch— 
forſcht ſind. 


So auffallend der Formenreichtum die 


ſer Vogelfamilie iſt, ſo hat dieſelbe doch in 
ihren Hauptzügen ſehr viel übereinſtim— 
mendes. Der Schnabel der Trochiliden iſt 
immer lang und dünn, die lange Zunge 
geſpalten. Die Flügel ſind lang und ſpitz, 
die Füße ſehr klein, dünn und ſchwach. 


173 


Schnee der Andeſitkegel bei Quito über 
15,000 Meereshöhe. 

Während ziemlich viele Arten echte 
Wandervögel ſind und daher eine ſehr 
weite geographiſche Verbreitung haben, be— 
ſteht doch die weit überwiegende Zahl aus 
wirklichen Stand vögeln, welche oft einen 
ſehr eng begrenzten Wohnbezirk inne haben 
und dieſen nicht leicht verlaſſen. Hier zeigt 
ſich aber der wichtige Umſtand, daß letztere, 


die Standſpezies, ſtets' vikariirende, 
| d. h. jehrnaheverwandte Arten oder lo— 
kale Varietäten meist in nächſter Nach— 


Aber neben dieſen die ganze große Fami- 


lie charakteriſirenden Zügen — welche ſtau— 
nenswerte Mannigfaltigkeit von morpho— 
logiſchen Eigentümlichkeiten in der Größe, 


Form, Zeichnung, Farbe der Federn, be- 
ſeonders bei der Unterfamilie Trochilinae, 
den Kolibris im engeren Sinne, zu deren aus 


ſchuppenartigen Federn gebildetem Kehl— 
ſchild eine wunderbare Pracht der Metall— 


farben und Zeichnungen, ſowie die verſchie 
denartigen Formen von Federzierden an 


Kopf, Schwanz, Füßen u. ſ. w. ſich geſellt! 
Die Trochiliden ſind auf den Weltteil 


Amerika beſchränkt, da fie trotz ihrer außer- 


ordentlichen Flugkraft den weiten Ozean 
nach beiden Seiten doch nicht zu überſchrei— 


nen die verſchiedenen Gattungen und Ar— 


ten die verſchiedenſten Klimate der geogra— 


Südſpitze Patagoniens und dem Feuerland 
und nordwärts bis zur Hudſonsbai und 


und in allen Regionen, von den heißen Kü— 
ſtenebenen beider Ozeane bis zum ewigen 


ten vermochten. In Amerika aber bewoh- 


phiſchen Breite wie der Meereshöhe. Man 
findet fie vom Äquator bis zur äußerſten 


Labrador, alſo durch 120 Parallelkreiſe, 


barſchaft ihres Areals und doch ge— 
wöhnlich räumlich abgetrennt uns zeigen, 
während bei den Wanderarten die vikariiren— 
den Formen im gleichen Areale faſt immer 
gänzlich fehlen und erſt jenſeits der tren— 
nenden Gebirgsketten erſcheinen oder, wenn 
es deren in demſelben Verbreitungsgebiet 
giebt, doch immer nur an ſporadiſchen Lü— 
cken derſelben auftreten. 

So z. B. iſt in den Pampas von Pata— 
gonien und an der ſüdlichen Küſte von 
Chile der Rieſe unter den amerikaniſchen 
Kolibris, Patagona gigas Viellot, bis zur 
höchſten Region der Anden in Bolivia ver— 
breitet, wo ihn Warzewicz zwiſchen 12,000 
bis 14,000“ Höhe fand. Innerhalb dieſes 
weiten Verbreitungsgebietes ſehen wir kei— 
ne andere ihm ſehr nahe ſtehende Form. 
Dagegen iſt eine andere Art, Eustephanus 
galeritus, nach Darwin's Mitteilung ſogar 
noch weiter verbreitet. Dieſer Kolibri geht 
von Tierra del fuego, wo ihn Kapitän 
King inmitten eines Schneeſturmes fand, 
durch ganz Chile und einen Teil von Bo- 
livia und Peru bis gegen 10S. B.,über 
einen Raum von 2500 engl. T Meilen. 
Eine noch größere Verbreitung hat in Nord— 
amerika der allen Spaziergängern in den 


174 


Wäldern bei den Niagarafällen und in Ka- 
nada ſo bekannte und häufige Trochilus | 
colubris, ein überaus mobiler Wandervo- | 
gel, der im Sommer bis Labrador, unter 
61 nordwärts, im Winter bis Mexiko und 
der Weſtküſte von Guatemala bis gegen den 
Parallel 15° ziebt. Dagegen überſchrei— 
tet dieſe Art nicht die Rocky Mountains, 
ſondern geht nur bis zum öſtlichen Fuß die- 
ſes gewaltigen Gebirges. Erſt jenſeits des— | 
jelben tritt als ſein eigentlicher Stellver- 
treter der Trochilus Alexandri an der Weſt⸗ | 
küſte Nordamerikas auf, der im Sommer | 
bis nach Britifch = Columbia zieht und im | 
Winter ſeine Station im ſüdweſtlichen Me⸗ 
rifo einnimmt, aber von der vikariirenden 
Form des Oſtens ſtets räumlich ſcharf 
geſchieden bleibt. 

Andere ſehr merkwürdige und weit ver- 
breitete, wandernde Arten unter dieſen 
Trochiliden ſind Lampornis mango, Peta- 
sophora serrirostris, Cometes sparganu- 
rus, Chrysolampis moschitus. Überaus 
viel zahlreicher, als ſolche ein ſehr großes 
Territorium bewohnende Spezies ſind in 
dieſer amerikaniſchen Familie die Stand⸗ 

vögel im ſtrengſten Wortſinne Trochiliden⸗ 
arten, deren Wohnbezirk ſich ſeltſamerweiſe 
oft auf ein ganz enges Areal beſchränkt, 
von dem wohl einzelne Individiduen oder 
Paare mitunter emigriren, welches ſie aber 
in größerer Zahl nie zu verlaſſen ſcheinen. 
Standvögeln der großen Koli- 
brifamilien zeigt uns aber die formbildende 
Wirkung der räumlichen Abſonderung die 
überraſchendſten Reſultate. „Jede Höhen— 
ſtufung der amerikaniſchen Kordilleren — 
ſchreibt der erfahrene britiſche Ornithologe 
Gould — hat ihre eigentümliche Form 
von Kolibri. Die Arten wechſeln etwa von 
tauſend zu tauſend Fuß auf den verſchie⸗ 


Bei dieſen 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


tikaler Richtung. Jeder ſehr hohe iſo— 


nach der Lokalität gewöhnlich konſtante 


ſeinen eigenen Kolibri, der von den vikari⸗ 


denen Gehängen von der Baſis bis zur 
Schneeregion.“ Gould hätte hinzufügen 
können: Auch in horizontaler Richtung tritt 
bei den iſolirten Vulkanen und Andeſit— 
kegeln derſelbe Artenwechſel ein, wie in ver— 


lirte Kegel beſitzt in der oberen Re— 
gion eine oder mehrere Arten, die 
ihm ganz eigentümlich ſind, und in 
der Regel zeigen dieſelben die näch— 
ſte Verwandtſchaft mit der Nach— 
barart auf den nächſt gelegenen 
Bergen. 

Am auffallendſten offenbart ſich dieſe 
merkwürdige Thatſache bei der auf die höch- 
ſten Andesregionen beſchränkten, äußerſt 
charakteriſtiſchen Gattung Oreotrochilus, 
deren Arten oder Spielarten in den Ein- 
zelheiten der Farbe und der Zeichnung je 


Differenzen aufweiſen. Der koloſſale Berg 
Akonkagua in Chile hat an dem von 
Brid ges dort in der Region von 10,0007 
entdeckten Oreotrochilus Leucopleurus 


irenden Arten in Bolivia und Peru ent: 
ſchieden abweicht. Die Vulkane Koto— 


paxi und Pichincha beſitzen in der Re— 


gion von 10,000 bis 14,0007 eine ihnen 

eigene Art, die aber auf den hohen Nach— | 
barbergen Chimboraſſo, Antiſana, 

Tunguragua und Kay ambe fehlt und 

dort durch andere ſehr ähnliche, aber doch 4 
konſtant abweichende Arten erjegt wird. 2 
Wenn man dieſe auch nur als lokale Was 
rietäten betrachten will, ſo iſt es doch 
immerhin überaus lehrreich und für die 
zwingende mechaniſche Urſache der Form: 
bildung bedeutſam genug, wie hier die 
räumliche Abſonderung ſelbſt in ſo gro— 
ßer Nähe und bei faſt völliger Gleichheit 


e- 


der äußeren Lebensbedingungen verän— 


So z. B. hat der von Lattre entdeckte 
Oreotrochilus Chimborazo, welcher auf 
den Berg, deſſen Namen er trägt, aus— 
ſchließlich beſchränkt, bis zur Höhe von 
16,000“ kleine Dipteren auf dem ewigen 
Schnee jagend) vorkommt, unter der blauen 
Kehle ſtets einen grünen Streifen, der ſei— 
nem nächſten Nachbar Oreotrochilus Pi- 
chincha, welcher den nach ihm benannten 
Vulkan bewohnt, ganz fehlt. 
Analoge, intereſſante Fakta zeigt uns die 
Gattung Ramphomicron. Der von Bour— 
eier auf dem Vulkan Pichincha entdeckte 
R. Stanleyi hat an der Kehle einen großen 
metallſchimmernden Fleck, der oben ſma— 
ragdgrün, unten rubinroth iſt, aber bei den 
vikariirenden Arten dieſer Gattung, die auf 
andern iſolirten Bergen von Ekuador, Ko— 
lumbia, Peru und Bolivia vorkommen, ent— 
weder durch andere Farben und Zeichnun— 
gen erſetzt iſt oder auch ganz fehlt. Der— 
ſelbe Vulkan beſitzt in ſeinen mittleren und 
oberen Regionen noch einige andere ihm 
eigentümliche Trochilidenarten, welche bis 
jetzt an keinem anderen Berge gefunden 
wurden. Darunter iſt der von Dr. Jame— 
fon entdeckte, hochintereſſante, düſter ge— 
färbte Eriocnemis lugens eine der auf— 
fallendſten, ſtreng endemiſchen Formen. 
Eine gute Anzahl anderer Spezies, 
welche beſonders der unermüdliche Samm— 
ler Warzewicz auf den iſolirten, erlo— 
ſchenen Vulkanen in Zentral- und Süd— 
Amerika ſammelte und Gould beſchrieb, 
ſind gleichfalls ſtreng endemiſch, d. h. in 
ihrem Vorkommen auf einen eng begrenz— 
ten Standort, meiſt auf einen einzigen Berg 
beſchränkt, ſo der prachtvolle Kolibri Se— 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


175 


laphorus Seintilla mit rubinrother Kehle, 
dernd wirkt und in der Regel den Anſtoß 
zu irgend einer konſtanten Variation giebt. 


grünem Rücken und weißem Bauche, wel— 
chen der genannte Naturforſcher am Vulkan 
von Chiriqui in der Höhe von 9000 ent- 
deckte, und den ich ſpäter am gleichen Fund— 
orte in einer etwas niedrigeren Region 
ſammelte. 

Auch einige der tief eingeſchnittenen 
Eroſionsſchluchten in den Anden, die ſoge— 
nannten Quebradas und Barrancas, zei— 
gen uns merkwürdigerweiſe ganz eigen— 
tümlich ſtreng endemiſche Arten, welche bis 
jetzt noch nirgend ſonſtwo gefunden wur— 
den. So z. B. iſt die prachtvolle Art Eu— 
genia imperatrix, welcher Gould 
der Gemahlin Napoleon III. zu Ehren die— 
ſen ſyſtematiſchen Namen gab und in ſei— 
nem großen Trochilidenwerk abbildete, auf 
den einzigen Standort einer tiefen Bar— 
ranca der Hochebene von Quito beſchränkt 
und bis jetzt, ſo viel wir wiſſen, noch in kei— 
ner anderen Gegend gefunden worden. 

Ahnliche Beiſpiele von ſtreng iſolirtem 
Vorkommen endemiſcher Arten könnten wir 
noch in beträchtlicher Zahl anführen. Da 
dieſe Angaben jedoch ſtets von dem unver— 
meidlichen ſyſtematiſchen Namen begleitet 
ſein müßten, ſo unterlaſſen wir das nähere 
Eingehen, um den der Ornithologie un— 
kundigen Leſer nicht zu ermüden. 

Faſſen wir die Reſultate der Choro— 
logie der Trochiliden für die vorliegende 
Frage in kurzen Worten zuſammen. Alle 
wandernden, weitverbreiteten Arten dieſer 
formenreichen Vogelfamilie zeigen inner— 


halb ihrer großen Verbreitungsgebiete nur . 


ſelten vikariirende, d. h. ſehr ähnliche, nächſt 
verwandte Spezies unter oder auch neben 
ſich. Letztere treten aber gewöhnlich erſt 


jenſeits der trennenden Schranken angren-® 


zender Hochgebirge auf. Wo Ausnahmen 


2 


176 


von dieſer Regel ſtattfinden, deutet die ver— 
gleichende Unterſuchung der chorologiſchen 
Verhältniſſe ſtets auf abgeſonderte Stand— 
orte an den von der Stammart noch unbe— 
ſetzten ſporadiſchen Lücken hin, welche den 
Einwanderern eine Iſolirung von genü— 
gender Dauer geſtatteten. 

Bei den an Zahl bedeutend vorherr— 
ſchenden Standvögeln dieſer großen Fami— 
lie, deren Arten in ihrer Verbreitung auf 
Areale von geringer oder mäßiger Ausdeh— 
nung ſich beſchränken, erſcheinen dagegen 
die vikariirenden Arten und Varietäten 
überaus zahlreich und gewöhnlich in naher 
Nachbarſchaft. In horizontaler Richtung 
ſehen wir den Wechſel der Arten in den 
geſchloſſenen Plateaux und Hochthälern 
der Kordilleren oder auf iſolirten Kegel— 
bergen in Intervallen von 10 bis 20 Mei— 
len, in vertikaler Richtung in kürzeren Zwi— 
ſchenräumen von 1000 bis 1500 Fuß von 
einander getrennt. Erſcheint die ganzgleiche 
Art ſporadiſch an verſchiedenen, ſehr weit 
von einander getrennten Standorten ohne 
lokale Variation, ſo deutet die Seltenheit 
der Speziesform, ihre äußerſt geringe In— 
dividuenzahl, ſtets ihr hohes Alter an. 
Alternde Arten, die das Stadium der 
Variationsfähigkeit überſchritten haben, 
ſind, wie die Thatſachen lehren, auch bei 
dauernder räumlicher Abſonderung einzel— 
ner Emigranten unfähig, neue Formen zu 
bilden. Alle Fakta der Geographie und 
Chorologie der Trochiliden find den Re— 
ſultaten der Separationstheorie entſchie— 
den günſtig. 

Betrachten wir vergleichungsweiſe die 
geographiſche Verbreitung und das lokale 
Vorkommen einiger anderer morphologiſch 

beſonders charakteriſtiſcher Familien und 
Gattungen des Tierreiches, deren Lebens— 


weiſe und Lokomotionsfähigkeit zu den 
Schwämmen wie zu den Luft bewohnenden 
Vögeln in gleich ſchroffem Gegenſatz ſtehen. 
Wenn trotz dieſes Gegenſatzes die chorolo— 
giſchen Ergebniſſe die gleichen Argumente 
für die Migration und Iſolirung als zwin— 
gende Urſache der Artbildung liefern, ſo muß 
uns dies bedeutſam genug erſcheinen. Wir 
wählen hier beiſpielsweiſe aus der Klaſſe 
der Reptilien und der Ordnung der Ophi— 
dier, eine durch ihre morphologiſchen Merk— 
male wie durch die räumliche Verbreitung 
gleich intereſſante Gattung, an welcher der 
formbildende Einfluß der geographiſchen 
Abſonderung trotz ihrer verhältnismäßig 
nicht großen Spezieszahl ſich beſtimmt ge— 
nug erkennen läßt. 

Die Gattung der Klapperſchlangen, 
Crotalus, iſt gleichfalls auf Amerika be— 
ſchränkt. Eine von ihr ſyſtematiſch abge— 
trennte, nahe verwandte ältere Genusform 
der Giftſchlangen, die Gattung Trigonoce- 
phalus, hat dagegen ihre Repräſentanten 
ſowohl in der alten wie in der neuen Welt. 
Doch bedingt auch bei dieſem Genus die 
geographiſche Trennung und nicht das 
Klima zwei weſentliche morphologiſche Un— 
terſchiede, ſo daß die Syſtematiker aus den— 
ſelben zwei Untergattungen gemacht haben. 
Sämmtliche amerikaniſche Arten der Gat— 
tung Trigonocephalus haben nur einrei— 
hige, ſämmtliche aſiatiſchen Spezies dage— 
gen zweireihige Subcaudalſchilder. 

Die verſchiedenen Arten der durch eine 
Klapper am Schwanzende ausgezeichneten 
Gattung Crotalus bewohnen entweder 
wirklich getrennte oder in der Ausdehnung 
der Peripherie ihrer Grenzen bedeutend 
abweichende Areale, die aber doch wie die 
Ringe einer Kette aneinander gereiht ſind 
und auf die räumliche Sonderung als die 


. 


* 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


„ 


ge 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


zwingende Urſache der Artbildung deutlich 
genug hinweiſen. Die ſehr charakteriſtiſche 


Gattung iſt offenbar von einem gemein- 


ſamen Urſprungszentrum ausgegangen, 


don welchem aus die Emigranten in ver— 
ſchiedenen Richtungen ſich verbreiteten. 
Crotalus durissus, die bekannteſte 


nördliche Form der Klapperſchlangen mit 
vielen lokalen Varietäten geht im öſtlichen 


Nordamerika vom 45.“ N. B. bis Texas. 
Von dieſer Speziesform räumlich geſchieden 
tritt weiter ſüdlich Crotalus rhombifer ein. 
Im Südweſten der Vereinigten Staaten 
auf trockene Savannen beſchränkt, erſcheint 
C. miliarius als ſtellvertretende Form. 
Im nordweſtlichen Quellgebiet des Miſſiſ— 
ſippi am Fuße der Rocky Mountains ſehen 
wir als nächſt verwandte vikariirende Spe— 
zies C. tergeminus eintreten; während im 
ſüdlichen Texas und Nordamerika C. con— 
fluentus dieſe Nachbarform erſetzt. 


weſtlichen Kolumbia, Venezuela und Bra— 
ſilien häufig vorkommenden Form C. bor— 
ridus, der bekannteſten und verbreitetſten 
aller Klapperſchlangen. Nach der Sepa— 
rationstheorie dürfte als Hypotheſe a pri- 
ori angenommen werden, daß in den da— 
zwiſchenliegenden, noch ſehr wenig erforſch— 
ten zoologiſchen Provinzen Mittelamerikas 


andere, noch unbeſchriebene Arten vorkom⸗ 


men müßten. In der That hat ſich dieſe 
Hypotheſe auch teilweis bereits beſtätigt, 
indem die von mir in Koſtarika geſammelte 
Klapperſchlange von dem erfahrenen Rep— 


tilienkenner Dr. Fitzinger nach genauer 


Unterſuchung als eine neue „gute“ Spe— 
zies erkannt wurde. 

Von der Ordnung der Krokodilinen, 
welche von den Zoologen früher mit den 


17 


* 


Eidechſen zu einer Ordnung vereinigt war, 


jetzt aber allgemein als eine morphologiſch 


ſcharf getrennte Gruppe durch die ganze 
Bildung des Skeletts, beſonders des Schä— 
dels, wie auch der Ernährung-, Cirku— 
lations- und Generationsorgane betrach— 
tet wird, hat nur eine Gattung, die der 
eigentlichen Krokodile, ihre Vertreter in— 
nerhalb der warmen Zone der alten wie 
der neuen Welt. Auch von dieſer ſicherlich 
uralten Gattung ſind aber die einzelnen 
Arten und Varietäten geographiſch ge— 
trennt und meiſt auch an den Grenzen ihres 
Verbreitungsgebietes genügend abgeſon— 
dert. Selbſt das gemeine afrikaniſche Kro— 
kodil des Nils zeigt uns vier verſchiedene, 
räumlich geſonderte, lokale Varietäten, wel— 
che als in einzelnen konſtanten Merkmalen 
von einander abweichend von Dumeril 
beſchrieben wurden. Die durch größere 


räumliche Entfernung getrennten Arten, 
Ein weites Gebiet trennt die letztge— 
nannte Art von der ſüdamerikaniſchen, im 


wie Crocodilus biporcatus an den Fluß— 
mündungen Hindoſtans und der Sunda— 
inſeln, C. galeatus bis jetzt nur in Siam 
gefunden, C. catakractus an der Küſte des 
ſüdweſtlichen Afrika, C. Gravesi im Kongo, 
ſowie die in den Flüſſen der Antillen und 
Südamerika vorkommenden Krokodilarten 
ſind morphologiſch ſcharf genug getrennt, 
um ganz im Einklang mit ihrer geographi— 
ſchen Abſonderung als „gute“ Spezies be— 
trachtet zu werden. 

Analoge Thatſachen der geographiſchen 
Verbreitung zeigt uns die nächſt verwandte 
amerikaniſche Familie der Alligatoren. Die— 
ſelbe iſt auf die warme Zone 30° bis 34°. 
S. B. beſchränkt und ſämmtliche Arten er— 
ſcheinen in abgeſonderten Provinzen. Bei 
der noch immer ungenügenden und unvoll— 
ſtändigen Erforſchung der Küſtenländer des 
tropiſchen Amerika durfte man der Sonde— 


L 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 


178 


rungstheorie zufolge a priori als jehr wahr⸗ 
ſcheinlich annehmen, daß in der weiten 
Lücke zwiſchen Mexiko einerſeits, Kolumbia 
und Peru andererſeits, noch einige unbe— 
ſchriebene Arten vorkommen müßten, wel- 
che als nächſte Verwandte von Alligator 
Lucius im Norden, A.sclerops in Guyana 
und A. punctatus in den Antillen ſich dar— 
ſtellen würden. Dieſe hypothetiſche An— 
nahme wurde auch bereits teilweiſe beſtä— 
tigt. Die von mir aus dem Weſten des 
Staates Panama (Provinz Chiriqui) mit⸗ 
gebrachte Art hat ſich durch die genaue 
Unterſuchung Siebolds und Fitzingers 
wirklich als eine neue gute Spezies der 
Gattung Alligator ganz in Übereinſtim⸗ 
mung mit den Poſtulaten der Separations⸗ 
theorie ergeben und berechtigt uns zur An— 
nahme, daß auch die weiter nordwärts 
im Nikaragua-See und in den Flüſſen 
am Guatamala vorkommenden, bis jetzt 
noch nicht unterſuchten Alligatoren ſo— 
wohl von den ſüdlichen als von den nörd— 
lichen Arten dieſer Gattung morphologiſch 
abweichen. 

Aus der Klaſſe der Säugetiere iſt es 
die Ordnung der Primaten und in dieſer 
ſind es beſonders die afrikaniſchen Affen— 
gattungen, welche durch ihr chorologiſches 
Vorkommen, die weite Trennung der Ent— 
ſtehungszentren und die kettenförmige Auf— 
einanderfolge der Wohnareale ausgezeich— 
nete Argumente für die Theſe liefern: daß 
in den Wanderungen und in den Iſolirungen 
der von einer gemeinſamen Urheimat aus- 
gegangenen Individuen die züchtende Ur— 
ſache der Arten liegt und daß eine Selektion 
durch den Kampf ums Daſein dabei gar 
keine oder nur eine äußerſt geringe mitwir⸗ 
kende Rolle ſpielte. Die durch Migration 
von einem gemeinſamen Ausgangspunkt, 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


den man früher „Schöpfungszentrum“ 
nannte, ſich verbreitenden Affenindividuen 
mußten da, wo ein durch Entfernung oder 
mechaniſche Schranken die Iſolirung be— 
günſtigender Wohnort ſie lange Zeit gegen 
die Kreuzung mit der Stammart ſchützte, 
zu veränderten Formen ſich ausprägen. 
Jeder iſolirte- Standort, wo der Koloniſt 
von der Maſſenkonkurrenz ſeiner Artgenoſ— 
ſen befreit iſt, bringt auch eine Anderung 
in den Nahrungsverhältniſſen mit ſich und 
muß die individuellen Merkmale der 
Stammeltern in ihren Nachkommen weiter 
entwickeln. Afrika, der an Tierformen, 
namentlich aus der Klaſſe der Säugetiere, 
reichſte Erdteil, it durch ſeine Raumver— 
hältniſſe und vertikale Gliederung unter 
allen Kontinenten auch der geeignetſte, in 
der geographiſchen Verteilung der Arten 
die einfache Urſache ihrer Bildung erken— 
nen zu laſſen. 

Ausſchließlich afrikaniſch iſt die Affen— 
gattung Cercopithecus, die „Meerkatzen“, 
von denen nahezu 30 Arten bekannt ſind, 
welche die Küſtenländer des gewaltigen 
Weltteils innerhalb der heißen Zone be— 
wohnen und ſich von dort auch teilweiſe 
nach den höheren Stufen und Plateaux der 
Binnenländer verbreitet haben. Vom jüd- 
lichen Kafferland ſehen wir die verſchiede— 
nen Spezies im weiten Halbringe einerſeits, 
in nordöſtlicher Richtung gegen Mozam— 
bique, Abeſſinien, Nubien, andererſeits in 
nordweſtlicher Richtung durch Guinea nach 
dem Senegal auf einander folgen. Die vom 


Kontinent abgeſonderten Inſeln Zanzibar 


und Fernando haben der Iſolirungstheorie 
genau entſprechend ihre eigenen Spezies. 
Einige Arten von ſehr weiter Verbreitung, 
wie z. B. Cercopithecus sabaeus, gehen 
unverändert durch die ganze Breite des 


TR u ee 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


Kontinents von Senegambien bis Kordo— 
fan, Sennar, Abeſſinien. Die Maſſen— 
wanderungen, der ſtarke Nachſchub vieler 
Individuen der gleichen Art, verhinderte 
auch bei dieſer Art neue Speziesbildungen, 
welche ohne eine Iſolirung von genügender 
Dauer nicht zuſtande kommen können. 
Die große Mehrzahl der afrikaniſchen 
Affenarten zeigt uns entweder ſcharf ge— 
trennte oder doch in der Ausdehnung ihrer 
Grenze ſehr abweichende Areale, wo die 
verſchiedenen Nachbarſpezies gewöhnlich 
nur an den Enden ihrer Verbreitungs— 
gebiete ſich berühren. Immer aber folgen 
dieſe Wohnbezirke der Arten auf einander, 
wie die Ringe einer Kette oder wie die 
Maſchen eines Netzes. Die Nachbarſpezies 
ſtehen ſich in der Regel morphologiſch ein— 
ander näher, als die ferner wohnenden 
Arten, wenn auch bei letzteren die klima— 
tiſchen Verhältniſſe ihrer Standorte ſich 
mitunter beinahe gleichen, während Nach— 
bararten, beſonders auf den nächſten Ge— 
birgsſtufen, oft weſentlich verſchiedene 
Klimate bewohnen. Nur bei ſtarken Ab— 
weichungen in den äußeren Lebensbeding— 
ungen des Nachbargebietes kommen auch 
ſtärkere morphologiſche Sprünge vor. 
Dieſe zoo-geographiſchen Thatſachen 
ſind mit der Separationstheorie ganz im 
Einklang, ebenſo das Faktum der meiſt durch 
große Entfernungen getrennten Entſte— 
hungszentren oder Urheimate der Arten. 
Letzterer Umſtand aber, auf deſſen Bedeu— 
tung wir großes Gewicht legen, iſt dage— 
gen in ſcharfem Widerſpruch mit der Dar— 
win'ſchen Selektionstheorie, welcher zu— 
folge in dem am dichteſten bevölkerten Zen— 
trum des Wohngebietes der Stammart 
oder doch nahe demſelben bei einem inten— 
ſiven Kampfe ums Daſein durchſchnittlich 


179 


die Chancen für neue Formbildungen am 
größten ſein müßten. 

Analoge Thatſachen der Verbreitung 
der Spezies, wie der Anreihung ihrer 
Wohnareale zeigen uns auch andere arten— 
reiche Affengattungen, wie z. B. die afri— 
kaniſche Gattung der Paviane (Cynocepha- 
lus), die ſüdaſiatiſche Gattung der Schlank— 
affen (Semnopithecus) und die anthropo— 
morphe Gattung der Gibbons (Hylobates), 
deren gute Arten nach neueren Forſchun— 
gen in größerer Zahl ſich zeigen, als man 
früher angenommen hatte. 

Der formbildende Einfluß der räum— 
lichen Trennung tritt bei letztgenannter 
Gattung auffallend hervor. Die geogra— 
phiſch auf einander folgenden Inſeln Su— 
matra, Java, Solo, Borneo haben jede 
ihre beſondere Art von Gibbon. Die Halb— 
inſel Malakka und das Innere von Kam— 
bodſcha haben wieder ihre beſondere ein— 
heimiſche Spezies. Wenn auf der großen 
Inſel Sumatra neben dem Siamang noch 
eine zweite Art der Ungko (Hylobates 
variegatus) in verſchiedenen lokalen Va— 
rietäten auftritt, ſo ſind doch Umfang und 
Grenzen der Wohnbezirke beider Spezies 
von einander abweichend. 0 

Unter den Arten der platyrhinen 
Affengattungen Amerikas herrſchen in der 
räumlichen Verteilung ähnliche Verhält— 
niſſe. Wo größere Lücken in der geogra— 
phiſchen Verbreitung vorkommen, wie z. B. 
bei dem ſüdamerikaniſchen Genus Chryso- 
thrix, darf man immer auf die Erſchei— 
nung einer neuen Art gefaßt ſein. So hat 
die von mir im Nordweſten des Staates 
Panama geſammelte, dem zoologiſchen 
Muſeum Münchens zugehörige Art dieſer 
Gattung, welche dort ausſchließlich nur in 
der Provinz Chiriqui vorzukommen ſcheint, 


180 


in den ſüdöſtlichen Provinzen Panamas 
aber fehlt und von ihren ſüdamerikani— 
ſchen Verwandten ſehr weit abgetrennt iſt, 
durch vergleichende Unterſuchung ſich als 
eine neue gute Spezies ergeben, wie nach 
ihrer geographiſchen Abſonderung und in 
voller Übereinſtimmung mit dem Poſtulate 
der Separationstheorie a priori anzuneh— 
men war. 

Auch in der formenreichen Klaſſe der 
Fiſche offenbart die vergleichende Betrach— 
tung der geographiſchen Verbreitung der 
Gattungen, Arten und das lokale Vor— 
kommen mancher auf ein enges Wohnge— 
biet beſchränkten Varietäten zahlreiche That— 
ſachen, welche für die Theorie der Form— 
bildung durch räumliche Abſonderung nur 
eine günſtige Deutung zulaſſen. Wirklich 
kosmopolitiſche Arten fehlen unter den 
Fiſchen. Wenn die zuſammenhängenden 
Meere ihren ſchwimmenden Bewohnern 
ein unermeßliches Wandergebiet offen laſ— 
ſen, ſo wird daſſelbe doch niemals von den 
einzelnen Arten in ſeiner vollen Ausdeh— 
nung benützt. Die Fiſche des hohen Mee— 
res zeigen uns meiſt andere Spezies als 
die Fiſche der Küſtenregionen. Die Gat— 
tungen und Arten wechſeln auch oft mit 
den größeren Tiefen. Wenngleich bei vie— 
len Arten die Verbreitungsgebiete ſehr 
groß ſind, ſo haben ſie doch immer ihre 
Grenzen, die, wenn auch im gewiſſen Sinn 
dehnbar und veränderlich, doch auf große 
Diſtanzen nur von einzelnen Emigranten, 
ſehr ſelten aber von ganzen Individuen— 
maſſen überſchritten werden. 

Ein ſchmaler Iſthmus wie die Land— 
enge von Panama ſcheidet zwei ſpezifiſch 
ganz verſchiedene Faunen, wenn ſie auch 
generiſch die größte Ahnlichkeit mit einan— 
der zeigen. Aber auch ohne die trennende 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


Schranke eines Kontinents wechſeln die 
Arten bei großer Entfernung ſelbſt unter 
den gleichen Breiten. Jede Inſelgruppe, 
wenn ſie fern von einem Kontinent und 
von anderen Archipeln liegt, ja ſelbſt ein— 
zelne, fernliegende Inſeln, wie St. Helena, 
Aszenſion und Waihu, beſitzen an ihren 
Küſten faſt nur eigentümliche Spezies, ob— 
wohl dieſelben meiſt weit verbreiteten Gat— 
tungen angehören. Sämmtliche Seefiſche, 
welche die wiſſenſchaftliche Expedition des 
britiſchen Schiffes Beagle von dem Archi— 
pel der Galapagos mitbrachte, waren 
durchaus endemiſche Arten, welche an 


der gegenüberliegenden Küſte Südameri— 


kas nie beobachtet wurden. Der Hawal— 
archipel, die Fidſchiinſeln, die Samoa— 
gruppe, die Marqueſas haben ebenſo ihre 
beſonderen endemiſchen Arten. Bei ozeani— 
ſchen Archipeln, welche, wie die Kanariſchen 
Inſeln, die Madeiragruppe, die Azoren, 
nicht ſehr weit entfernt von einander liegen, 
ſinkt dagegen die Prozentzahl der ende— 
miſchen Spezies beträchtlich. 

Die vikariirenden Arten der Seefiſche 
ſcheinen, ſoweit die bisherigen Unterſu— 
chungen ihres Vorkommens reichen, auf 
eine ähnliche geographiſche Verteilung, 
wenn auch mit viel größeren Verbreitungs— 
gebieten, hinzudeuten, wie die vikariiren— 
den Arten aller ſehr formenreichen Gat— 
tungen der Landtiere, namentlich der In— 
ſekten. Die Wohnareale mit ihren oft 
wechſelnden Grenzen ſind ſtets aneinander 
gereiht, wie die Maſchen eines Netzes, und 
die Nachbararten ſind ſich in der Regel 
morphologiſch ähnlicher, als die in den 
entfernten Gebieten vorkommenden Arten, 
wenn auch letztere unter den gleichen Pa— 
rallelkreiſen erſcheinen. 


Wenn man aus dem Umſtande der ſehr 


b 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


weiten Verbreitung vieler Arten von Süß— 
waſſerfiſchen durch verſchiedene, jetzt ge— 
trennte Flußgebiete und Seebecken ein Argu— 
ment gegen die formbildende Wirkung der 
Iſolirung deduziren wollte, ſo würdeman ſich 
bedeutend irren. Der Fall gehört eben zu den 
vielen Fällen, wo nach Goethes richtiger 
Bemerkung das Naturgeſetz ſich oberfläch— 
lich verbirgt, bei eingehender Unterſuchung 
ſich aber doch offenbart und uns auch den 
Grund des ſcheinbaren Widerſpruches der 
Thatſache mit der Theorie enthüllt. 

Die jetzigen Stromſyſteme Europas, 
Nordaſiens und Nordamerikas ſind verhält— 
nismäßig von ſehr rezentem Urſprung. Die 
eingefurchten Flußbetten, in welchen die Ge— 
wäſſer gegenwärtig laufen, bildeten ſich 
erſt ſehr allmählich ſeit der Eiszeit. Ihre 
Eroſionsfurchen gehören, wie auch die mei— 
ſten Becken der Süßwaſſerſeen in ihrer ge— 
genwärtigen Ausdehnung, der quaternären 
Periode an. Noch in der Diluvialzeit über— 
deckten die ſüßen Waſſer ſehr weite Lan— 
desſtrecken und begünſtigten die Maſſen— 
wanderung, nicht aber die Iſolirung ein— 
zelner Individuen ihrer Tierbewohner. 
Dazu kommt noch ein wichtiger Umſtand 
in der Lebensweiſe der Süßwaſſerfiſche, 
von denen nicht wenige Arten auch das 
Meerwaſſer gut vertragen und von einer 
Flußmündung zur andern wandernkönnen. 
Dieſe Umſtände erklären die ſehr weite 
Verbreitung vieler Arten von Süßwaſſer— 
fiſchen, ohne der Theorie der Formbildung 
durch Abſonderung zu widerſprechen. Im 
Gegenteil liefert das Vorkommen von ausge- 
zeichneten, vikariirenden Nachbararten und 
Varietäten in den Gebirgswäſſern, wo der 
ſchmale Damm der Waſſerſcheide die Fiſche 
meiſt ſcharf und beſtimmt trennt und die 


dauernde Abſonderung weniger Individuen 


181 


begünſtigt, auch bei gewiſſen weitverbrei— 
teten Fiſchgattungen, z. B. der Gattung 
Salmo und noch mehr bei einigen beſon— 
ders charakteriſtiſchen, tropiſchen Siluriden, 
ſchlagende Argumente für die Lehre der 
Artbildung durch räumliche Sonderung. 

Das Genus Salmo gehört zu den weit— 
verbreitetſten, artenreichſten Gattungen und 
zeigt beſonders unter den Bachforellen 
neben den verwandten guten Arten auch 
eine außerordentlich große Zahl lokaler 
Varietäten, bei denen beſonders die Ab— 
weichungen in Form und Farbe der Fle— 
cken thatſächlich von ihrer räumlichen Tren— 
nung herrühren. Identiſche Arten haben 
auch bei den Forellen in der Regel ein 
großes zuſammenhängendes Verbreitungs— 
gebiet. Die nördliche Form unſerer euro— 
päiſchen Forelle, Salmo fario L., welche 
maſſenhaft über ſchmale Meere ſchwimmt, 
kommt in Island, Skandinavien, Irland 
und Schottland faſt gleichförmig mit 59 
bis 60 Wirbeln vor. Die zentraleuropäi— 
ſche Form, Salmo Ausonii, hat nur 56 
bis 58 Wirbel. Auf den ſüdlichen Gehän— 
gen der Alpen wird dieſelbe durch eine in 
der Farbe und Form der Flecken abwei— 
chende Spielart erſetzt. Nordafrika, Weſt— 
aſien, Zentralaſien, Indien, China, Japan, 
Nordamerika haben ihre eigentümlichen 
Forellenarten. 

An dem gleichen Abfall des Gebirges 
haben die neben einander in gleicher Rich— 
tung fließenden Bäche in der Regel iden— 
tiſche Spezies. Auf dem entgegengeſetzten 
Abfall der Waſſerſcheiden treten aber faſt 
in allen Hochgebirgen mehr oder minder 
charakteriſtiſche Spielarten auf, welche in 
der Farbe und Form der Flecken von der 


| Nachbarform des andern Abfalls merklich 


differiren. Nicht nur die beiden Gehänge 


182 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. E 


der Alpen, ſondern auch die Waſſerſcheiden 
des Kaukaſus, Albrus und Taurus zeigen 
uns in den zwei verſchiedenen Richtungen 
der Flußläufe konſtante Varietäten. Ge— 
gen die Annahme, dieſe Erſcheinung auf 
Rechnung der Verſchiedenheit des Klimas 
und der Temperatur in den einerſeits nach 
Süden, anderſeits nach Norden fließenden 
Gebirgsbächen zu ſetzen, ſpricht der Um— 
ſtand: daß auch die nach der Meridianrich— 
tung ſtreichenden Hochgebirge, wie die Rocky 
Mountains von Nordamerika und die 
Kordilleren von Südamerika, bei ganz glei— 
chen klimatiſchen Verhältniſſen beider Ge— 
birgsgehänge dennoch dieſelbe plötzliche An— 
derung der Faunen zeigen. 

Aus den Rocky Mountains giebt der 
amerikaniſche Reiſende Richardſon fol— 
gende intereſſante Notiz: Wenn alte Trap— 
per, welche dort bis zur Waſſerſcheide em— 
porſteigen, ſich mitunter auf den Plateaux 
verirren und an dem oft ſchlangenartig ge— 
wundenen Laufe der Bäche nicht zu erken— 
nen vermögen, ob dieſe dem atlantiſchen 
oder dem ſtillen Ozean zufließen, pflegen 
ſie, um ſich zu orientiren, die Angel aus— 
zuwerfen. Die rote oder ſchwarze Flecken— 
farbe der gefangenen Forellen giebt ihnen 
dann genaue Auskunft, nach welchem Ozean 
der Bach ſich wendet. 

Eine der merkwürdigſten zoo-geogra— 
phiſchen Thatſachen, welche für die vorlie— 
gende Streitfrage beſonders bedeutſam iſt, 
bietet uns das Vorkommen einiger Arten 
von Siluriden in den Gewäſſern der höch— 
ſten Andesregionen des äquatorialen Ame— 
rika. Dort wurde von Alexander von 
Humboldt im Hochland von Quito ein 


ſeltſam geſtalteter, kleiner Fiſch aus der 


Familie der Welſe entdeckt, welchen die 
Eingebornen Prenadilla nennen, und den 


Humboldt unter dem Namen Pimelodus 
Cyclopum beſchrieb. Der berühmte fran— 
zöſiſche Naturforſcher Bouſſaingault 
brachte 30 Jahre ſpäter aus demſelben 
Hochlande eine zweite Art vom öſtlichen 
Gehänge der Waſſerſcheide, ſowie auch 
eine Zahl von Exemplaren der vom Chim— 
boraſſo und Pichincha in weſtlicher Rich— 
tung ſtrömenden Bäche nach Paris. 

Die nähere Unterſuchung durch Cuvier 
und den erfahrenen Ichthyologen Valen— 
ciennes ergab, daß die Fiſche wirklich zwei 
verſchiedenen Arten angehören, deren mor— 
phologiſche Abweichung trotz ihrer ſonſti— 
gen großen Ahnlichkeit dieſen Forſchern be— 
trächtlich genug erſchien, um ſogar zwei 
verſchiedene Gattungen aus ihnen zu 
machen. Die gabelförmig zugeſpitzten, et— 
was umgebogenen Zähne, wie ſie nach dem 
Ausſpruch des genannten franzöſiſchen 
Ichthyologen ſonſt bei keiner andern bekann— 
ten Welsart vorkommen, ſind für beide 
Fiſcharten charakteriſtiſche Eigentümlichkei— 
ten, ebenſo wie die kleinen Stacheln, mit 
denen der erſte Strahl der Bruſt- und 
Bauchfloſſen unterhalb beſetzt iſt und durch 
welche die kleinen Höhlenfiſche befähigt wer— 
den, auf dem Boden der ſehr reißenden 
Gebirgsbäche gleichſam zu klettern. Beide 
Fiſche ſind, wie neuere Nachforſchungen, 
die auf meine Veranlaſſung in Imbabura 
und Riobamba angeſtellt wurden, durchaus 
beſtätigten, ſtets Nachbararten, aber 
durch die Waſſerſcheide in ihrem 
Vorkommen ſcharf getrennt. 

Das Vorkommen dieſer beiden 
endemiſchen Welsarten gehört zu 
den wichtigſten Thatſachen, welche 
uns die Chorologieder Organismen 
in Bezug auf die mechaniſche Urſa— 
che der Entſtehung der Arten dar— 


Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 


bietet. Schon Antonio de Ulloa hatte 
in ſeinem 1792 zu Madrid erſchienenen 
„Noticias Americanas“ die ungeheure In— 
dividuenzahl der in den ſtehenden Waſſern 
kleiner Seen und Weiher noch mehr als 
in den Bächen vorkommenden Prenadillen 
erwähnt. Dieſelben wurden während ſei— 
ner Anweſenheit in der Provinz Imbabura 
von den Indianern an den ſeichten Stellen 
der Seen ſogar in Sieben gefangen. Die 
gefräßigen, kleinen, ſchwach ſehenden Fiſche 
beißen, wie ich mich ſelbſt während meines 
längeren Aufenthaltes im Hochlande von 
Quito oft überzeugte, an den verſchieden— 
ſten Ködern und werden von den Indianer— 
buben mit den roheſten Angeln, wie z. B. 
mit umgebogenen Stecknadeln, an welche 
ſie Würmer, Schnecken und Fliegen befe— 
ſtigen, aus dem Waſſer gezogen. Haupt— 
nahrung der Prenadillen ſcheinen die klei— 
nen Dipteren zu ſein, die dort in keiner 
Jahreszeit fehlen. 

Der See von Colta bei Alt-Riobamba 
(10,340 P. F.), der kleine Gebirgsſee am 
Fuße des Capac-Urcu (11,5257 ebenſo wie 
die Seen der Provinz Imbabura haben 
immer nur eine Form der Prenadillas. 
Nirgendwo wurde ein gemeinſames Vor— 


kommen der beiden Arten und ebenſowenig 
das Vorkommen von zwei Varietäten in 


einem gemeinſamen Seebecken beobachtet. 


183 


Trotz der ungeheuren Individuenzahl 
dieſer eigentümlichen Welſe in den hochge— 
legenen Gewäſſern der Anden, wo der 
Kampf ums Daſein zwiſchen den gefräßi— 
gen Fiſchen in intenſivſter Weiſe geführt 
wird, und daher alle Bedingungen für eine 
Selektion im Darwin'ſchen Sinn günſtig 
liegen, hat ſich im gleichen Seebecken, am 
gleichen Gehänge der Waſſerſcheide in der 
oberſten Region keine zweite Spezies ge— 
bildet. Dagegen ſehen wir eine ſolche 
nahe verwandte, mit derſelben eigentümli— 
chen Zahnform und ähnlichen Stachelfloſ— 
ſen verſehene, ſonſt aber morphologiſch 
weſentlich abweichende „gute Art“ jenſeits 
der ſchmalen, aber trennenden Schranke der 
Waſſerſcheide am entgegengeſetzten Ge— 
hänge erſchienen. 

Unter den zahlreichen induk— 
tiven Beweiſen, welche die Choro— 
logie der Organismen in dem Vor— 
kommen der ſogenannten vikari— 
irenden Formen darbietet, kenne 
ich keinen Fall, der ein beredteres 
Zeugnis gegen die Selektion im 
Darwinſchen Sinn und für die 
artbildende Wirkung der räum— 
lichen Sonderung enthält, wie 
das Vorkommen der beiden vikari— 
irenden Wels arten im Hochland 
von Quito. 


Über einen toten Punkt in der Phyfiologie der 


I usgehend von den wenig be— 
—friedigenden Erklärungen, die 
in den Lehrbüchern der Phy— 


ſtandekommens der Herzer— 
weiterung gegeben ſind, drängt ſich mir 
die Überzeugung auf, daß der Grund 
dieſer auffallenden Thatſache in letzter 
Inſtanz in der bisherigen einſeitigen Be— 


handlung und Beurteilung der Erſchei⸗ 


nungen liegt, welche uns die phyſiolo— 
giſche Thätigkeit der Muskelzelle darbietet. 


Als Hauptfaktor der Herzdilatation fin- 


det man entweder den in der Bruſt— 
höhle herrſchenden negativen Druck oder 
aber die Elaſtizität angeführt, mit wel— 
cher das Herz nach abgelaufener Kon— 
traktion in ſeinen eigentlichen Ruhezuſtand 
zurückſchnellen ſoll; von der einen Seite 
faßt man alſo die Erweiterung der Herz— 
höhlen als paſſiven, von der andern 


als aktiven Vorgang auf. So legt Prof. 


J. Ranke den Hauptnachdruck auf den 
negativen Druck in der Bruſthöhle. 
höh 
Schon a priori ift es in hohem 


Dr. H. 


ſiologie von der Art des Zus 


Muskelzelle. 


Von 


Kühne. 


ſchwankender Faktor bei der Füllung des 
Herzens mit Blut die Hauptrolle ſpielen 
ſollte, auf der doch in erſter Linie die 
Möglichkeit der feineren Anpaſſung an 
die wechſelnden Blutbedürfniſſe der übri— 
gen Körperteile beruht. Ausſchlaggebend 
in dieſer Frage iſt indeſſen die bekannte 
Thatſache, daß das Herz nicht allein bei 
geöffneter Bruſthöhle mit künſtlich unter— 
haltener Reſpiration normal pulſirt, fon- 
dern ſogar nach vollſtändiger Trennung ö 
aller ſeiner Verbindungen mit dem übrigen 
Organismus noch eine zeitlang fortfährt, 
ſich rhythmiſch zu kontrahiren und zu di— 
latiren — unter Umſtänden alſo, wo von 
einem negativen Drucke keine Rede mehr 
ſein kann; wobei kaum darauf hin— 
gewieſen zu werden braucht, daß letzterer 
in der Bruſthöhle auch unter phyſiolo— 
giſchen Verhältniſſen keineswegs konſtant 
iſt, ſondern bei mannigfachen Vorgängen, 
wie z. B. bei der Stuhlentleerung, durch 
Preſſen in den poſitiven übergeht. Dieſe 
Gründe dürften wohl genügen, um jene 
Erklärungsweiſe des Zuſtandekommens 


Grade unwahrſcheinlich, daß ein ſo | der Herzerweiterung abzuweiſen. 


Gehen wir nun zu dem von anderer 
Seite beſonders betonten Faktor der Ela— 


ſtizität über, jo möchte es ſich zunächſt 


empfehlen, den Begriff der letzteren feſt— 
zuſtellen. Wir nennen einen feſten Kör— 
per elaſtiſch, der ſeine durch äußern Zug 
oder Druck veränderte frühere Form 
alsbald wieder anzunehmen vermag, 
wenn die äußere Kraft zu wirken auf— 
hört. Geſtützt auf dieſe Definition kön— 


nen wir ohne Bedenken ſehr viele tieri- 


ſche Gewebe für mehr oder weniger ela— 
ſtiſch erklären: Knochen, Knorpel, Sehnen, 
Bänder und vor allem die elaſtiſchen 
Häute, die, wo ſie auch immer vor— 


kommen mögen — in Verbindung mit 


dem willkürlichen Muskel oder im Zir— 
kulationsapparate — ihre durch eine 
äußere Kraft veränderte Form und Lage 
wieder annehmen, ſobald die äußere 
Beeinfluſſung aufhört. Anders ſieht es 
aber mit den ſupponirten elaſtiſchen 
Eigenſchaften der Muskelzelle aus, die 
man, geſtützt auf die bekannten Experi— 
mente E. Webers, als erwieſen annimmt. 
Letzterer machte ſeine Beobachtungen an 
lebensfriſchen Muskeln, die er aufhing 
und mit einem Gewichte belaſtete. Aus 
der nach Abnahme deſſelben allmäh— 
lich erfolgenden Wiederverkürzung des 
Muskels ſchloß er auf deſſen elaſtiſche 
Eigenſchaften. Schon eine oberflächliche 
Betrachtung läßt uns derartige Verſuche 
als zweifelhaft erkennen, weil eine durch 
Zug ungewöhnlich ausgedehnte Muskel— 
zelle immerhin noch ſoviel Kontraktions— 


fähigkeit behalten haben kann, um ſich, 


wenn auch langſam, auf die frühere 
Länge zurückzuziehen. Nehmen wir trotz— 
dem den Muskel als elaſtiſch an, ſo 


kann ſich dieſe Eigenſchaft doch nur 


H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. 


185 


auf den verlängerten Muskel beziehen, 
der ſich durch ſeine ihm innewohnende 
Elaſtizität verkürzt, nicht aber auf den 
| verkürzten Muskel, der ſich verlängert. 
Nun tritt aber bei den Hohlmuskeln die 
Höhlenerweiterung nach der Muskelver— 
kürzung ein; wir müßten hier alſo an— 
nehmen, daß der kontrahirte Muskel 
ſich durch ſeine eigentümlichen elaſtiſchen 
Eigenſchaften verlängerte, was herzlich 
ſchlecht mit den Experimenten E. Webers 
| ſtimmen würde. 

Fernerhin vermiſſen wir aber noch 
die in der Definition der Elaſtizität po— 
ſtulirte äußere Kraft, die der betreffen— 
den Formveränderung des Körpers vor— 
aufgehen muß, und zum Schluß möchten 
wir noch darauf hinweiſen, daß es doch 
ohne Zweifel kaum ſtatthaft erſcheint, 
die zweckmäßigen Bewegungen eines ſo 
hochſtehenden Gewebes, die ſich mit einer 
ſo wunderbaren Präziſion anpaſſen und 
in den nächſten Beziehungen zum Nerven— 
ſyſteme ſtehen, von einer Körpereigen— 
ſchaft abhängig zu machen, die, ſelbſt 
toten Körpern zukommend, noch nirgends 
als motoriſchen Reizen zugängig erkannt 
worden iſt. N 

Dies dürfte wohl genügen, um auch 
die Elaſtizität als Hauptfaktor der Herz— 
erweiterung von der Hand zu weiſen, 
denn die im Peri- und Endokardium 
vorhandenen, wirklich elaſtiſchen Faſern 
können nur dann die Kontraktion un— 
terſtützen, wenn fie durch die dilatirende 
Kraft vorher ausgedehnt wurden. 

Da nun aber im Herzen bekanntlich 
keine Muskelanordnung beſteht, durch de— 
ren Kontraktion eine Erweiterung der 
Herzhöhlen bewirkt werden könnte, ſo 
bleibt uns zuletzt nur noch übrig, mit 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 


186 


einigen Worten den Faktor der Erſchlaf— 
fung zu beſprechen, der ja auch hin und 
wieder von Phyſiologen bei der Erklä— 
rung der Herzerweiterung gebraucht wird. 


Erſchlaffungszuſtand der willkürlichen 
Muskeln etwas näher, ſo finden wir, 
daß dieſer Ausdruck ziemlich unglücklich ge— 


giſchen Zuſtänden des Muskels keiner 
befindet, auf den er mit Recht angewen— 
det werden kann. 
jede Muskelwunde, und jeder durchſchnit— 
tenen Sehne folgt eine Muskelverkürzung, 


genannten Muskeltonus geführt haben. 
Ebenſo läßt ſchon die oberflächliche Be— 
trachtung eines pulſirenden Herzens, mag 
es nun noch Blut führen oder vollſtän— 


kennen, und auch die Art und Weiſe der 
Erweiterung der kleineren Arterien macht 
auf den Beobachter entſchieden den Ein— 
druck des aktiven Vorſichgehens, wenn man 


quellen umgeſehen hat, durch welche die— 

ſer aktive Vorgang geleiſtet werden könnte. 
| Nach den obigen Auseinanderſetzun— 
gen ſind wir gezwungen anzunehmen, 


wie es die Herzerweiterung iſt, in der Art 


genehmen Lücke vorliegt, jo bleibt uns 
zur Erklärung dieſes auffallenden Um— 
ſtandes nur übrig, auf die elementare 


Betrachten wir zunächſt den ſogenannten 


wählt iſt, weil ſich unter den phyſiolo- 


In der That klafft 


Erſcheinungen, die zur Annahme des ſo-⸗ 


dig aus feinen Verbindungen herausge- 
trennt fein, von Erſchlaffung nichts er- 


ſich auch bis jetzt vergebens nach den Kraft- 


daß wir uns hier vor einem ſogenann- 
ten toten Punkte in der Phyſiologie be 
finden. Wenn es unſern eminenten For- 
ſchern auf dieſem Gebiete bis jetzt nicht 
gelungen iſt, eine ſo wichtige Bewegung, 


ihres Zuſtandekommens klarzuſtellen, und 
hiermit die Thatſache einer recht unan- 


H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. 


phyſiologiſche Thätigkeit der Muskelzelle 
' zu rekurriren und nachzuſehen, ob ſich 
nicht etwa ſchon hier Urſachen finden 
| lafjen, welche unſer mangelhaftes Wiſſen 
auf dieſem Gebiete erklären. 

In der That wird bei der Prüfung der 
phyſiologiſchen Arbeiten über die Thätig— 
keit der Muskelzelle der auffallende Um— 
ſtand unſere Aufmerkſamkeit erregen, daß 
es immer nur der Vorgang der Muskel- 
verkürzung iſt, den man eingehend behan— 
delt, während die Verlängerung der Mus— 
kelzelle ſtets als paſſiv vor ſich gehend 
gelehrt und im Übrigen kaum der Beachtung 
werth gehalten wird. Daß dieſe Anſchauung 
unberechtigt iſt, läßt ſich leicht am lebens— 
friſchen Muskel experimentell beweiſen. 
Trennen wir einen dazu geeigneten langen 
| Muskel mit feinen Sehnen von den Anſatz— 
punkten, iſoliren ihn auf einer glatten, 
horizontalen Fläche und reizen ihn auf 
die bekannte Weiſe zu einer kräftigen 
Kontraktion, ſo beobachten wir zunächſt, 
daß er ſich verbreitert und verkürzt und 
dann, nach aufgehobener Reizung ſich ver— 
längernd, annähernd wieder in ſeine frü— 
here Lage zurückgleitet, wobei nicht allein 
ſeine eigentlichen bewegenden Elemente, 
ſondern auch die zu ihm gehörigen Seh— 
nen, Fett- und Bindegewebe mit fort— 
geriſſen werden, womit eine Arbeitslei— 
ſtung erwieſen iſt, die, ſo unbedeutend ſie 
in dem vorliegenden Falle auch ſein mag, 
dennoch den Ausgangspunkt einer durch— 
greifenden Veränderung unſerer Anſchau— 
ungen über die Phyſiologie der Muskel— 
zelle bildet, und uns in den Stand ſetzt, nicht 
allein die oben erwähnten Lücken aus— 
zufüllen, ſondern auch überhaupt einen 
| weſentlichen Fortſchritt in der Mustel- 
phyſiologie anzubahnen. 


Wie es möglich fein konnte, die Wie— 
derverlängerung der Muskelzelle ſo lange 
Zeit als ganz nebenſächlich zu behandeln, 
begreift ſich nur aus dem Mißbrauche 
eines Wortes, deſſen eigentlichen Sinn 
man ſich vorher nicht recht klar gemacht 
hatte. Es iſt der Erſchlaffungsbegriff, 
der, ganz ungerechtfertigterweiſe auf die 
Muskelthätigkeit angewendet, die For— 
ſchung faſt ganz einſeitig auf die hervor— 
ſtechendere Erſcheinung der Muskelkon— 
traktion lenkte. Wo hat man aber jemals 
einen phyſiologiſch erſchlafften Muskel be— 
obachtet? Hält eine Muskelgruppe zehn 
Pfund, nachdem ſie vorher funfzehn Pfund 
gehalten hatte, ſo iſt das doch gewiß 
kein Grund, ſie deshalb als im Erſchlaf— 
fungszuſtande befindlich zu erklären! Über— 
dies iſt durch die allgemeine Annahme des 
Muskeltonus ja von vornherein zugegeben, 
daß es ſich bei der phyſiologiſchen Thä— 
tigkeit der Muskelzelle nur um einen 
größeren oder geringeren Kontraktions— 
zuſtand handelt, wobei nebenbei nicht 
außer Acht zu laſſen iſt, daß es keines⸗ 
wegs die Muskelverkürzung allein iſt, 
welche Arbeit leiſtet, da derſelbe Muskel 
in derſelben Lage und von derſelben 
Länge ſehr verſchiedene Laſten in der— 
ſelben Stellung halten kann. Ein wei⸗ 
terer Grund der auf dieſem Gebiete herr— 
ſchenden einſeitigen Anſchauungen iſt in 
der übertriebenen Bedeutung zu finden, 
welche an ſogenannten lebensfriſchen Mus- 
keln angeſtellten Experimenten beigelegt 
wurde, während man doch nur patholo— 
giſche Erſcheinungen vor ſich hatte. Die 
nach künſtlichen Reizen eintretende Zuk⸗ 
kung ſteht allerdings zu der nachfolgen— 
den Wiederverlängerung des Muskels in 
ſo ſchroffem Gegenſatze und macht ſich 


H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. 


187 


ſo hervorragend als aktiv geltend, daß 
daraus das Einſchleichen des Wortes Er— 
ſchlaffung leicht erklärlich wird; indeſſen 
läßt ſich noch ein anderer und noch ſchwe— 
rer wiegender Grund anführen, warum 
bis jetzt immer nur die Muskelkontrak— 
tion als aktiver Vorgang angeſehen wurde, 
nämlich die ganz auffällige Vernachläſ— 
ſigung der Lehre von dem Weſen der 
Reize. Will man ſich über den Begriff 
des Reizes näher unterrichten, ſo wird 
man zu ſeinem Erſtaunen finden, daß 
er in manchen gangbaren Lehrbüchern 
der Phyſiologie (Ranke, Vierordtu. a.) 
in den Inhaltsregiſtern keine Stelle ge— 
funden hat und nur ganz nebenſächlich be— 
handelt iſt. Die Einteilung in mechani— 
ſche, phyſikaliſche und chemiſche Reize wird 
für genügend angeſehen, auf genaue De— 
finitionen wird kein beſonderer Wert ge— 
legt und über das eigentliche Weſen der 
Reize verlautet ſo gut wie nichts. De— 
finiren wir den Reiz als eine Verände— 
rung der Lebensbedingungen und halten 
wir uns ſtreng an dieſe Definition, ſo 
iſt es ganz unmöglich, ſich einen ein— 
fachen Reiz vorzuſtellen, denn das 
Aufhören des primären Reizes ſetzt 
ſtets eine zweite Veränderung, die 
ebenfalls reizend wirken muß, voraus. 
Iſt es nun nicht denkbar, daß die 
auf die Zuckung folgende Verlängerung 
des Muskels, angeregt durch das Auf— 
hören des primären Reizes, aktiv vor 
ſich geht? Vertiefen wir den Reiz— 
begriff in dieſer Weiſe, ſo fällt damit 
ein wichtiger Einwurf, der wenigſtens 
gegen den aktiven Vorgang der Ver— 
längerung der willkürlichen Muskeln leicht 
gemacht werden könnte: daß uns näm— 
lich keine künſtlichen Reize bekannt ſeien, ) 


188 


welche ihn auslöſen könnten. In Bezug auf 
dieſen Einwurf darf in der That nicht ver— 
geſſen werden, daß noch nie ein natürlicher 
Reiz künſtlich nachgemacht worden, alle 


künſtlichen Reizungen nur pathologiſche Er— | 


ſcheinungen zur Folge haben können und 
das Weſen der phyſiologiſchen Reize uns 
ſo gut wie unbekannt iſt. Dem gröberen 
Mechanismus der Muskelbewegungen kön— 
nen wir vielleicht auf die Spur kommen, 
wenn wir die Bedeutung der ſogenann— 
ten Hemmungsnerven feſtzuſtellen ſuchen, 
die als Träger von musfelverlängernd 
wirkenden Reizen ſehr wohl eintreten 
können. Wie ſchon oben bemerkt, handelt 
es ſich bei der phyſiologiſchen Muskel— 
thätigkeit um Reize und aus dieſen 
reſultirende Kräfte, welche im ſtande 
ſind, das Bewegungsorgan bei verſchie— 
denen Widerſtänden in einer beſtimmten 
Länge zu halten. 

Die Auslöſung der hierzu nötigen ent— 
gegengeſetzten Bewegungen durch eine und 
dieſelbe Nervenart hat ſchon von vorn— 
herein ſehr viel Unwahrſcheinliches, weil 
es ſich kaum annehmen läßt, daß es die— 
ſelbe Kraft iſt, welche die Muskelzellen— 
moleküle in kurzer und langer Anordnung 
aufſtellt. Um dieſen Vorgang zu begrei— 
fen, iſt es nötig, noch einen andern Reiz 
vorauszuſetzen, der die ſpezielle Aufgabe 
hat, diejenige Kraft auszulöſen, welche 
durch die Längsanordnung der Moleküle 
die Muskelzelle verlängert. Nur die An— 
nahme einer ſolchen ſo zu ſagen zügel— 
artigen Beherrſchung der Bewegungen, 
die denen größerer antagoniſtiſcher Mus— 
kelgruppen vollkommen analog iſt, läßt 
uns deren wunderbar ſcharfe Anpaſſung 
an die feinſten Anforderungen ver— 
ſtehen, die jeden Augenblick an ſie ge— 


H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. 


ſtellt werden können. Eine Begründung 
für die Richtigkeit dieſer Anſchauungen 
| liefern uns nun die ſogenannten Hem— 
mungsnerven, die als ſolche jedoch ihren 
Namen kaum verdienen. Wählen wir zu 
näherer Betrachtung den N. vagus, ſo 
finden wir zunächſt als ſicher konſtatirte 
Thatſache, daß ſeine Reizung bei An— 
paſſungsſtörungen nicht allein die Herz— 
bewegungen nicht hemmt, ſondern ſie ſo— 
gar zu erhöhter Leiſtung anſpornt, ein 
Vorgang, der ſeine ganz zwangloſe Er— 
klärung in der weiteren Thatſache findet, 
daß bei ſtärkerer Vagusreizung die Dila— 
tation des Herzens eine immer ausgie— 
bigere wird, bis zuletzt das Herz im Zu— 
ſtande der Erweiterung ſtill ſteht. Unter 
dieſen Umſtänden bleibt uns nur der Schluß 
übrig, den Vagus als Verlängerungsnerven 
der Herzmuskelfaſern anzuſehen, der durch 
Einſtellung derſelben in die gewünſchte 
Länge den einzigen haltbaren Faktor der 
Erweiterung der Herzhöhlen liefert, nach— 
dem ſowohl der negative Druck in der 
Bruſthöhle, als auch die Elaſtizität als 
ganz ungeeignet zur Erklärung dieſer 
Funktion oben nachgewieſen wurden. Aber 
auch im Vagusſtamme ſind nicht aus— 
ſchließlich dieſe Art von Nervenfaſern 
enthalten, auch hier ſind ſie mit ihren 
Antagoniſten, den exeito-motoriſchen, 
vermiſcht, wenn ſich letztere auch in 
der Minorität befinden; es iſt deshalb 
nicht zu verwundern, wenn künſtliche 
Reizungen nicht immer reine Reſultate 
ergeben. 

In den motoriſchen Nerven der willkür— 
lichen Muskeln findet nun eine derartige 
gröbere Trennung beider Nervenarten 
überhaupt nicht ſtatt, woraus ſich auch 
die Schwierigkeit ergibt, jede einzelne 


H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. 


künſtlich zu reizen; wir werden ſtets beide 
treffen, und nur von der weiteren Ent— 
wickelung der Reizlehre im allgemeinen 
läßt ſich in der Zukunft die Beſeitigung 
dieſes Übelſtandes erwarten. Daß es 
wirklich Reize giebt, welche rein muskel— 
verlängernd wirken, wird durch die un— 
mittelbar hautrötende Eigenſchaft der 
Wärme bewieſen, während niedrige Tem— 
peraturen bekanntlich zunächſt Gefäß— 
kontraktion hervorrufen. Ferner ergiebt 
ſich aus der Wirkung von Digitalis und 
anderer Mittel, daß die Doſirung der 
Reize von der einſchneidendſten Bedeutung 
in der uns beſchäftigenden Frage iſt. 
Wir werden danach vollberechtigt ſein — 
geſtützt auf die Thatſache der Arbeits— 
leiſtung während der Muskelverlängerung 
und den ſichern Nachweis von Nerven 
(N. vagus 2c.), die vorwaltend antago— 
niſtiſche Faſern führen — die alte, ganz 
einſeitige und jede weitere Forſchung hem— 
mende Theorie der Muskelbewegungen 
fallen zu laſſen und die antagoniſtiſche 
an ihre Stelle zu ſetzen. 

Wie klar ſteht dann der Mechanis— 
mus der Herzbewegungen vor unſern 
Augen! Indem wir uns von dem grund— 
falſchen und durch keine einzige That— 
ſache geſtützten Erſchlaffungsbegriffe frei 
machen, ſtellt ſich uns jede Phaſe der 
Herzaktion als einzig von der Länge der 
Muskelfaſern abhängig dar, die, von der 
Reizung zweier antagoniſtiſcher Nerven 
beſtimmt, ſtets nur einem größeren oder 
geringeren Kontraktionsgrade entſpricht. 
Die urſächlichen Momente der Erweite— 
rung und Verengerung der Herzhöhlen 
ſind dadurch in befriedigendſter Weiſe 


klar geſtellt, und für die übrigen Teile 


des Zirkulationsapparates gilt dasſelbe. 


189 


Die Bewegungen der Blutgefäße ſind 
nur dann allſeitig beurteilt, wenn ſtreng 
feſtgehalten wird, daß jede Formverän— 
derung der ihnen zu Grunde liegenden 
Muskelfaſern als aktiver Vorgang auf— 
zufaſſen iſt, wobei ihre Verlängerung der 
Erweiterung, ihre Verkürzung aber der 
Verengerung des Gefäßrohrs entſpricht. 
Was die willkürlichen Muskeln betrifft, 
ſo ſind zwar, ſoviel ich weiß, noch keine 
künſtlichen Reize bekannt, welche rein 
muskelverlängernd wirken, indeſſen iſt nach 
dem Obigen kaum ein Zweifel an ana— 
logen Verhältniſſen ihrer Bewegungs— 
mechanismen erlaubt. Sehr ſtark zu Gun— 
ſten der antagoniſtiſchen Theorie ſpricht 
ihre Erklärungskraft. Während man 
früher nicht einmal die gröbſten Herz— 
bewegungen erklären konnte, iſt uns jetzt 
der Mechanismus der allerſubtilſten Be— 
wegungen leicht verſtändlich, und nähere 
Prüfungen der neuen Theorie von kom— 
petenter Seite werden ſowohl ihre Be— 
rechtigung, wie auch ihre volle Bedeu— 
tung für den Fortſchritt der Phyſiologie 
der Muskelzelle darthun. Beiläufig ver— 
dient noch hervorgehoben zu werden, daß 
der Bewegungsmodus der einzelnen Mus— 
kelzelle dem antagoniſtiſchen Zuſammen— 
wirken größerer Muskelgruppen, wie z. B. 
der Streck- und Beugemuskeln, vollfom- 
men analog iſt. Ebenſo wie das Zuſtande— 
kommen jeder coordinirten phyſiologiſchen 
Bewegung nur durch Zuſammenwirken 
antagoniſtiſcher Muskelgruppen ermöglicht 
wird, geht auch die elementare Aktion 
der Muskelzelle durch die entgegengeſetzte 
Thätigkeit zweier Kräfte vor ſich, welche 


ihren Kontraktionsgrad beſtimmen und die 


genaue Einſtellung ihrer Moleküle in voll— 
kommenſter Weiſe ſichern. 


— 


7 


190 


Als Rekapitulation mögen folgende 
Sätze dienen: 

1. Die Unmöglichkeit, die Herz: 
dilatation auf der Baſis der bisher gültig 
geweſenen Theorie der Muskelbewegungen 
zu erklären, beweiſt die Unzulänglichkeit 
der letzteren. 


2. Durch den Nachweis einer Arbeits- 


leiſtung durch Verlängerung von Mus— 
kelfaſern iſt die Annahme der ausſchließ— 


lichen Aktivität der Muskelkontraktion 


als unhaltbar hingeſtellt. 

3. Da ein phyſiologiſcher Erſchlaf— 
fungszuſtand der Muskeln noch nirgends 
konſtatirt wurde, ſo iſt jede phyſiologi— 
ſche Formveränderung der Muskelzelle 
als aktiv vor ſich gehend anzuſehen, wo— 
bei auch der Faktor der Elaſtizität aus— 
geſchloſſen iſt. 

4. Die eigentümliche Innervation 
des Herzens durch antagoniſtiſche Nerven 
giebt uns den Schlüſſel zum beſſern Ber: 
ſtändniſſe der Muskelbewegungen über— 
haupt. 

5. Die Molekularverſchiebung, welche 
die Verlängerung der Muskelzelle herbei— 
führt, wird durch einen Nervenreiz aus— 


H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. 


gelöſt, der dem Kontraktionsreize entgegen— 
geſetzt iſt. 

6. Jede Phaſe zwiſchen äußerſter 
Herzkontraktion und Dilatation iſt dem— 
nach durch eine beſtimmte Länge der ſtets 
aktiven Muskelfaſern bedingt, die ihrer— 
ſeits wieder von zügelartig wirkenden 
antagoniſtiſchen Nerven abhängt, womit 
die offenbare Saugkraft des Herzens ihre 
endgültige Erklärung findet. 

7. Da ſich auch an den willkür⸗ 
lichen Muskeln ein permanenter, aktiver 
Zuſtand, der ſchon längſt mit dem Na- 
men Muskeltonus bezeichnet wurde, nach— 
weiſen läßt, ſo liegt es nahe, auch bei 
ihnen einen dem obigen analogen Mecha— 
nismus vorauszuſetzen. 

Schon in dem Artikel über die organi— 
ſchen Anpaſſungsmechanismen in ihren Be— 
ziehungen zur Heilkunde“) habe ich auf die 
hervorragende Rolle hingewieſen, welche 
die antagoniſtiſchen Nerven bei der An- 
paſſung ſpielen. Die vorliegende Theo— 
rie der feinen Muskelbewegung iſt als 
ein weiterer Verſuch anzuſehen, die all— 
gemeine Verbreitung dieſes wichtigen 
organiſchen Vorganges nachzuweiſen. 

*) Kosmos, Bd. II. S. 312 u. fgde. 


Die Baſtard-Theorie 


zur Erklärung der Weſen- Mannigfaltigkeit. 


n dem Feldzuge gegen die Dar— 
“winſche Theorie, welchen der 
Kuſtos am k. k. Hofmuſeum in 
Wien, Herr Theodor Fuchs, 
neuerlich eröffnet hat), greift 
derſelbe, um die Variationstendenz der 
Tiere und Pflanzen zu erklären, zu einer 
Theorie zurück, die man als den älteſten 
Verſuch betrachten muß, die natürliche 
Verwandtſchaft der Naturweſen unter ein— 
ander nach natürlichen Prinzipien zu er— 
klären, nämlich zu der ſeit mehr als hun— 
dert Jahren in völlige Vergeſſenheit ge— 
ratenen Baſtardirungshypotheſe. Seit 
Jahrhunderten haben nämlich nicht nur 
zahlreiche Kirchenſchriftſteller, ſondern auch 
angeſehene Naturforſcher, darunter Linné, 
der ältere Gmelin und Bonnet, ſich 
der Meinung zugeneigt, es ſei im Ur— 
anfange nur eine beſchränkte Anzahl ſo— 
wohl von Pflanzen- als von Tiergattungen 
erſchaffen worden, dieſe aber hätten ſich 
durch allſeitige geſchlechtliche Vermiſchung 
vermehrt und ſo ſeien nicht nur die un— 
zähligen Arten, ſondern namentlich die 
*) Kosmos, Bd. VII, S. 69. 


Von 


Ernſt Krauſe. 


allmählichen Übergänge und Zwiſchenfor— 
men erzeugt worden, welche die Anhänger 
der neueren Schule diametral entgegen- 
geſetzt deuten. 

Da Erasmus Darwin, der Groß— 
vater des Reformators der Biologie, in 
feiner Zoonomie angedeutet hat, daß er 
gerade durch dieſen Gedanken Linnés 
zur Aufſtellung ſeiner von Lamarck wei— 
tergeführten Anſichten gelangt ſei, ſo habe 
ich in meinem ſoeben erſchienenen Buche 
über denſelben?) die Geſchichte dieſer 
Theorie ausführlicher und — wie ich 
vermute — überhaupt zum erſten male 
behandelt, ohne freilich daran zu denken, 
daß dieſe Theorie noch einmal zum Gegen— 
ſtande wiſſenſchaftlicher Deduktionen ge— 
macht werden könnte. Umſomehr erſcheint 
es mir aber angezeigt, das in jenem Buche 


*) Erasmus Darwin und feine Stel— 
lung in der Geſchichte der Descen denz— 
theorie von Ernſt Krauſe. Mit ſeinem Le- 
bens- und Charakterbilde von Charles Dar- 
win. Nebſt Lichtdruck-Porträt und Holzſchnitten. 
Leipzig, Ernſt Günthers Verlag. 1880. — Siehe 
das Referat in dem literariſchen Teil dieſes 
Heftes. b 


ER En ee 


192 


zerftreute Material hier durch einige fer— 
nere Nachweiſe ergänzt darzuſtellen. 

Die ältere Geſchichte der Baſtarde iſt, 
wenn man von den wenigen Bemerkungen 
des Ariſtoteles und einiger anderer 
Naturforſcher abſieht, eine im weſentlichen 
theologiſche und philoſophiſche. In den 
Baſtarden ſah man aus der Vermiſchung 
zweier verſchiedener Lebeweſen neue For— 
men hervorgehen, welche die Charaktere 
der Eltern vereinigt zeigten und als neue 
durch die Kunſt erzeugte Weſen gelten 
konnten, da man zunächſt keine ſichere 
Kunde von in der freien Natur vorkom— 
menden Baſtarden beſaß. Die in der Natur- 
erklärung zum höchſten Anſehen gelangte 
platoniſche Philoſophie, die Lehre von den 
vorher erſchaffenen und in den lebenden 
Weſen verkörperten Ideen, geriet in die 
ſchiefe Lage, Kopulation und Baſtardirung 
der Ideen annehmen zu müſſen, und die 
Schöpfungslehre in die nicht weniger 
ſchwierige Alternative, entweder auch 
dieſe Weſen als Gottes Geſchöpfe zu 
betrachten oder das Entſtehen und Fort— 
leben ungeſchaffener Weſen zugeſtehen zu 
müſſen. 

Ich kenne die patriſtiſche Literatur 
nicht genau genug, aber aus dem Umſtande, 
daß die neueren Theologen, die ſich mit 
dem Gegenſtande beſchäftigt haben, ſich 
nicht wie ſonſt in ſolchen Doktorfragen 
auf die Anſichten der Kirchenväter beru— 
fen, ſchließe ich, daß dieſe dem bedenk— 
lichen Thema ausgewichen ſind. Die Frage, 
wie ſich dieſe Tiere zum Schöpfungspro— 
blem ſtellen, ſcheint vielmehr ſich erſt im 
Mittelalter erhoben zu haben und viel— 
leicht erſt durch den Streit der Nomina— 
liſten und Realiſten brennend geworden 
zu ſein. Wie ich aus einem Buche von 


Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. 


Abraham van der Mylius*) ent— 
nehme, ſcheint ſie zuerſt durch Rupert 
von Deutz (F 1135) in feinen Bibel- 
kommentarien (I, Cap. 57) ausführlicher 
behandelt worden zu ſein. Derſelbe neigte 
anſcheinend der Meinung zu, daß dieſe 
Baſtarderzeugungen nicht in das natür— 
liche Schöpfungswerk gehörten und nur 
durch die ſündhafte Kunſt der Menſchen 
hineingebracht worden ſeien, und er beruft 
ſich dabei auf 3. Moſe 19, 19: „Meine 
Satzungen ſollt ihr halten, daß du dein 
Vieh nicht laſſeſt mit anderlei Vieh zu 
ſchaffen haben, und dein Feld nicht beſäeſt 
mit mancherlei Samen und kein Kleid an 
dich komme, das mit Wolle und Leinen 
gemenget iſt.“ 

Man unterſuchte nun zunächſt, wer 
der Erſte geweſen ſei, der die Kunſt der 
Baſtardirung gewiſſermaßen erfunden und 
dieſe ſündhaften Geſchöpfe in die Welt 
gebracht habe. Da wieſen die Rabbinen 
nun auf eine Bibelſtelle hin (1. Moſe 36, 
24), die in der Vulgata heißt: Iste est 
Ana, qui invenit aquas calidas in soli- 
tudine, cum pasceret asinos Sebeon pa- 
tris sui, in welcher fie eine falſche Lesart 
(jamin ſtatt jemin im Urtext) witterten, 
weshalb auch Luther überſetzte: „Das 
iſt der Ana, der in der Wüſte Maulpferde 
erfand, da er ſeines Vaters Zibeons Eſel 
hütete.“ So warf man nun alle Schuld 
auf Ana und ſah in der vorherrſchenden 
Unfruchtbarkeit der Mauleſel den Beweis, 
daß dieſe Geſchöpfe mit dem Fluche be— 
haftet ſeien. Freilich ſahen die einſichti— 
geren Theologen wohl ein, daß damit die 
Frage ſelbſt nicht erſchöpft ſei, und die 
ſpäteren Verfaſſer von Geneſiskommenta— 


9 De Generatione Animalium et Mi- 
gratione Populorum. Salzburg, 1670. — 


— 


N 


Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. 


rien, wie z. B. Molina ( 1600), Mar- 
tinengus ( 1600), Gregor von Va— 
lenzia (+ 1603), Pererius (+ 1610) 
und Cornelius a Lapide (7 1637), 
neigten mehr oder weniger ausgeſprochen 
dazu, auch die Baſtarde als wirkliche Ge— 
ſchöpfe Gottes anzuerkennen. 

Mit dieſer Wandlung der Anſichten 
hatte es eine eigentümliche, für unſern 
Gegenſtand ſehr lehrreiche Bewandtnis. 
Der gewöhnliche Mann, wenn er Tiere 
und Pflanzen betrachtet, empfindet unwill— 
kürlich das, was wir „natürliche Ver— 
wandtſchaft“ nennen. Er fühlt aber nicht 
nur die Verwandtſchaft nach der einen 
Seite, z. B. die der Hyäne mit den Katzen, 
ſondern auch die mit den Hunden, und 
nach ſeinen mit dem Mauleſel gemachten 
Erfahrungen macht er einen Baſtard von 
Wolf und Panther daraus. Noch heute 
ſehen wir immerfort ſolche zoologiſche 
Mythen entſtehen. So iſt noch in neueſter 
Zeit eine weichhaarige, ſchwanzloſe Katzen— 
art (rabbit cat) der Boſtoner Naturfor— 
ſchenden Geſellſchaft als Baſtardraſſe von 
Kaninchen und Katze vorgeführt worden; 
aus Mexiko kommen fortwährend Geſchich— 
ten über dort gefundene Baſtarde zwiſchen 
Hund und Schwein, zu denen, wie Pagen— 
ſtecher ſcharfſinnig bemerkt, wahrſchein— 
lich der Naſenbär (Nasua) die unſchuldige 
Veranlaſſung giebt, und ſo wird von den 
Jägern in Pernambuco das nur an den 
Seiten Schilder tragende Gürteltier Scle— 
roderma Bruneti für einen Baſtard zwi— 
ſchen Gürteltier und Ameiſenfreſſer (Ta— 
mandua) angeſehen. Dieſe zoologiſchen 
Märchen zirkulirten ſchon im Altertum, 
und die zuſammengeſetzten Namen Leo- 
pardus und Cameleo-pardus find Denk— 
male dieſer Proben der Volkszoologie. Es 


193 


iſt leicht zu verſtehen, daß ſich ſolche Mythen 
beſonders an abſonderliche Geſtalten wie 
die Giraffe hefteten, die wie eine natürliche 
Mißgeburt, als Baſtard von Kamel und 
Leopard — letzterer angeblich ſelber ein 
Baſtard von Löwe und Panther! — be— 
trachtet wurde. 

Diversum confusa genus panthera camelo 
ſingt Horaz in ſeiner Epiſtel an 
Auguſtus. Auch das Zebra (Hippotigris) 
galt als einen Baſtard von Tiger und 
Pferd oder Tiger und Hirſchkuh, und auf 
dieſe Sage über das in den Triumph— 
zügen nach afrikaniſchen Feldzügen nach 
Rom gekommene Tier (Dio Caſſius 
erwähnt es unter obigem Namen) ſcheint 
Horaz jene Zeilen ſeiner Epode an das 
römiſche Volk gemünzt zu haben, in denen 
er ſolche Vermiſchungen als Unmöglich— 
keiten hinſtellt: 

Novaque monstra junxerit libidine 
Mirus amor, juvet ut tigres subsidere cervis, 
Adulteretur et columba milüo. 

Auch unter den Pflanzen glaubte 
man ähnliche Beiſpiele nachweiſen zu kön— 
nen, und eine Melde, welche eine oberfläch— 
liche Ahnlichkeit in der Geſtalt der Blät— 
ter mit dem Stechapfel darbietet, mit dem 
ſie obendrein als Schuttpflanze vermiſcht 
vorkommt, wurde von den alten Botanikern 
für einen Baſtard von Melde und Stech— 
apfel angeſehen, darnach Chenopodium 
hybridum getauft und ſogar für giftig aus— 
gegeben, wie der Name „Sautod“ beweiſt. 

Dieſe Ideen erlangten aber eine be— 
deutende Popularität, als nach der Ent— 
deckung Amerikas eine Menge neuer und 
fremdartiger Tiere und Pflanzen, von de— 
nen weder die alten Schriftſteller, noch die 
Herbarii und Bestiarii, das Speculum 
Naturae und der Hortus sanitatis des 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 


25 


194 


Mittelalters eine Ahnung hatten, von den 
Seefahrern mitgebracht, plötzlich vor den 
erſtaunten Blicken erſchienen. „Mein Gott, 
wie verwundern wir uns darob,“ ruft 
Mylius aus, „wenn wir derartige ſelt— 
ſame Tiere aus ſo fern entlegenen Orten 
zu ſehen bekommen! Wie genau betrachten 
wir alle ihre Lineamenten, Geſtalt, Haar— 
farben, ja ganze Leiber! Als ob ſie vom 
Himmel herabgeregnet wären!“ Die da— 
mals eben mit der Erkenntnis der wahren 
Natur der Foſſilien in die Schranken ge— 
tretene Schule der Diluvianiſten mußte 
ungeſäumt in Noahs Arche Platz für den 
ungeheuren Zuwachs ſchaffen. Hatten ſchon 
die Kirchenväter mit der Unterbringung 
der altweltlichen Tiere Not genug gehabt, 
namentlich hinſichtlich der Fragen, wie 
Noah die wilden Tiere verhindert habe, 
die zahmen zu freſſen, und womit er beide 
ernährt habe, ſo wuchs nun mit einem 
male die Schwierigkeit ins ungeheure. 
Schon in einigen der älteſten dieſer Schrif— 
ten, nämlich in Joh. Buteo's Buche: De 
Arca Noé (Lugd. 1559) und in der In- 
quisitio in fabricam Arcae Noae des 1588 
verſtorbenen Matthäus Hoſt aus Frank— 
furt a. O. wird die Platzfrage brennend 
und es trat angeſichts des Reichtums der 
Natur das Beſtreben hervor, in dem Raum— 
überſchlage die Zahl der unterzubringen— 
den Tierarten möglichſt zu verringern, um 
den durch die in der Bibel angegebenen 
Größenverhältniſſe berechenbaren Raum 
als völlig ausreichend zu erweiſen. 

Dazu bot nun der Glauben an die Ba— 
ſtardnatur unzähliger wilder Tiere eine will— 


kommene Gelegenheit. Natürlich brauchte 


man dieſe Miſchlinge nicht beſonders neben 
ihren Eltern unterzubringen, und das war 
keine ganz unbedeutende Erleichterung für 


Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. 


eine Zeit, in der man nicht etwa blos ein 
Drittel aller Tiere für Baſtarde der an— 
dern beiden Drittel hielt, ſondern an eine 
ſchrankenloſe Vermiſchbarkeit aller Tiere 
untereinander und nach dem Beiſpiele der 
von Pferd und Eſel abſtammenden Maul- 
tiere und Mauleſel von jedem Paar zwei 
neue Formen ableiten zu können glaubte. 
So hielt man ſchon im Altertum verſchie— 
dene wilde Schafraſſen für Baſtarde zwi— 
ſchen Schaf und Ziege, und zwar ſollte 
das Mufflon aus Widder und Ziege, der 
Tityrus aus Ziegenbock und Schaf ent— 
ſtanden ſein. Die Hyäne wurde für einen 
Baſtard von Wolf und Pantherweibchen, 
der Schakal für einen ſolchen zwiſchen 
Wolf und Hund oder Wolf und Fuchs an— 
geſehen; aus Wolf und Hirſchkuh ſollte 
der Luchs, aus Kuh und Pferd oder aus 
Kuh und Eſel das Gnuentſtanden ſein u.ſ.w. 

In manchen dieſer Beiſpiele iſt wenig— 
ſtens ein gewiſſes Gefühl der natürlichen 
Verwandtſchaft leitend geweſen, aber die 
geiſtlichen Autoren führten das Prinzip 
bald völlig ad absurdum. Daß der be— 
kannte Jeſuit Athanaſius Kircher in 
ſeinem Buche über die Arche Noäh das 
Murmeltier für einen Baſtard von Dachs 
und Eichhorn und das Gürteltier für einen 
ſolchen von Igel und Schildkröte?) erklärte 
— ſollte doch auch Schlange und Muräne 
ſich fruchtbar paaren! — das wurde frei— 
lich dem aufgeklärteren Altmann zu ſtark 
und er erklärte, daß er wohl den Leopar— 


wandtſchaft des Gürteltiers mit der Schildkröte 
iſt bei dem amerikaniſchen Klerus auf guten 
Boden gefallen, und noch heute verſpeiſt man 
dort, wie uns Carl Sachs (Aus den Llanos, 
Leipzig 1879, S. 168) erzählt, die ſehr wohl— 
ſchmeckenden Armadille als Schildkröten in den 
Faſten, und macht alsdann große Jagd auf ſie. 


Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. 195 


den für einen Baſtard von Löwe und 
Panther halten wolle, aber das Murmel— 
tier ſei eine Art Dachs und gehöre mit 
dieſen zu den Schweinen! Nachdem auch 
der berühmte Reiſende Sir Walter Ra— 
legh in ſeiner 1640 zuerſt gedruckten 
History of the world ſich für die Anſicht 
erklärt hatte, daß Noah nur wenige Grund— 
formen in die Arche hätte aufzunehmen 
brauchen, die ſich nachher durch Baſtardi— 
rung und Ausartung vermehrt hätten, und 
nachdem berühmte Naturforſcher der Zeit, 
wie Aldrovandi, Gesner, Scheuch— 
zer u. A. keine eigentlichen Bedenken ge— 
gen die Baſtardirungshypotheſe beigebracht 


zur Erklärung gewiſſer Bibelſchwierigkeiten 
geeignetſte Lehrmeinung hoher Geiſtlichen, 
z. B. der engliſchen Biſchöfe Wilkins und 
Stillingfleet, ja verſchiedene Autoren 
unſerer Zeit, wie z. B. Maegregor und 
Prof. Zöckler in Greifswald, haben noch 


in neueren Schriften die Anſicht verteidigt, 


daß Noah nur die Grundformen der Tiere 
zu erhalten brauchte, die ſich dann nach 
der Sintflut durch Ausartung oder Ba— 
ſtardirung vermehrt hätten. Doch hat 
Zöckler neuerdings dieſe Anſicht wegen 
ihrer bedenklichen Konzeſſionen an den 
Darwinismus entſchieden verleugnet. 
Dabei trat nun das Beſtreben in den 
Vordergrund, namentlich die häßlichen 
und ſchädlichen Tiere für Baſtarde und 
Ausartungen zu erklären, um dem Schöpfer 
den Vorwurf, ſie überhaupt erſchaffen zu 
haben, zu erſparen; ja einige Autoren gin— 
gen ſchließlich ſo weit, die Baſtardzeugun— 
gen ſammt der allgemeinen Verſchlechte— 
rung der Tier- und Pflanzenwelt für direkte 
Folgen des Sündenfalls und der Sintflut 
anzuſehen. Vor der Sintflut ſei die ganze 


Erde ein bewohnbares Land geweſen, durch 
dieſelbe ſeien aber ſo viel Einöden, Ge— 
birge und unbewohnbare Zonen entſtanden, 
daß nicht nur viele Tiere aus Mangel an 
genügender Pflanzennahrung zu Raub— 
tieren wurden, ſondern auch durch die dich— 
tere Zuſammendrängung zu allerlei Ba— 
ſtardirungen gedrängt wurden, aus denen 
dann zahlloſe Mißgeburten, namentlich die 
Affen, entſtanden. Im Paradieſe gab es 
weder Raubtiere noch Baſtarde. So ſchreibt 
D. S. Büttner in feinem Buche Rudera 
Diluvii Testes (Leipzig, 1710), S. 106: 
„Ich bin auch deſſen ſehr überredet: Es 


werde ſich dißfalls eine Anderung mit 
hatten, wurde dieſelbe für einige Zeit die 
den haben. Da viele Thiere, welche zuvor 


Thieren, die Nahrung betreffende, gefun— 


Erdfrüchte, Graß, Geſtäude, Obſtfrüchte 
gefreſſen, hernach wegen Mangel und da— 
her erfolgten Hungers, Fleiſch freſſen ler— 
nen, welches noch die Thiere bezeugen 
müſſen, die ſowohl Fleiſch als oberzählte 
vegetabilia, dieſe aber viel lieber genüſſen. 
Gleichfalls iſt wahrſcheinlich, daß nachdem 
die Thiere enger zuſammenwohnen müſſen, 
ſie in eine ſchändliche und unnatürliche 
Vermiſchung unter einander gerathen, wel— 
che theils Affen, Meerkatzen, Leo— 


parden und andre Thiere zulänglich zeu— 


gen, und der bekannte Urſprung der Maul— 


eſelallenWiderſpruch allein nehmen kann.“ 


Jemehr dieſe Anſichten herrſchend wur— 
den, um ſo dringender trat nun auch an 
Theologen und Philoſophen die Aufgabe 
heran, die Frage zu unterſuchen, ob, wenn 
die halbe Lebewelt aus Baſtarden beſtünde, 
nicht auch dieſe auf göttliche Schöpfungs— 
akte zurückgeführt werden müßten, da doch 
wohl nicht ein ſo großer Teil der Schö— 
pfung ungöttlichen Urſprungs ſein könne. 
Die ſchon oben erwähnten Theologen gin— 


196 


gen in ihren Kommentarien über das Sechs— 
tagewerk größtenteils hierbei von dem durch 
die Kirchenväter Baſilius, Ambroſius 
und Auguſtinus herausgearbeiteten 


Prinzip der mittelbaren Schöpfung 


(creatio indirecta) aus. Es gäbe eine 
Menge Tiere, die von Gott am ſechſten 
Tage noch nicht in Wirklichkeit, ſondern 
nur in der Idee erſchaffen wären und zu 
denen Auguſtinus ſogar den Menſchen 
gerechnet hatte. Zu dieſen nicht unmittel— 
bar erſchaffenen Tieren müſſe man z. B. 
die erſt aus der Fäulnis anderer entſtehen— 
den Tiere rechnen. Man glaubte befannt- 
lich nach dem Beiſpiele des Ariſtoteles 
allgemein, daß alle niedern Tiere und ſo— 
gar einige Fiſche (Aale) und Vögel (Ber— 
nikelgänſe) ſich nicht auf geſchlechtlichem 
Wege vermehrten, ſondern aus der Zer— 
ſetzung und Umwandlung organiſcher Sub— 
ſtanzen entſtänden. Schon bei Iſidor 
von Sevilla (+ 738) finden wir dabei 
die Meinung, daß nicht aus jeglichem ver— 
weſenden Fleiſche jede beliebige Sorte von 
Bienen und Fliegen entſtünde, oder etwa, 
wie ſpäter Moufetus in ſeinem Theatrum 
insectorum meinte, daß die kampfesmuti— 
gen Bienen aus Löwenfleiſch und die fei— 
gen aus Rindfleiſch entſtünden, ſondern 
jeglicher Tierart ſei es eingepflanzt, bei 
ihrer Verweſung eine beſtimmte Art von 
niedern Tieren zu erzeugen, und zwar ſoll— 
ten aus Rindern Bienen, aus Pferden 
Käfer, aus Maultieren Heuſchrecken, aus 
Krebſen Skorpione u. ſ. w. hervorgehen. 
Dieſen Anſichten entſprechend, lehrte nun 
van den Steen (Cornelius a Lapi— 
de, 7 1637) in feinen Kommentarien zum 
Pentateuch ad diem VI, Lect. 24: „Mi- 
nuta animalia, quae ex sudore, exhala-, 
tione aut putrefactione nascuntur, uti 


Ernſt Krauſe, Die Baſtard-Theorie. 


pullices, mures aliique vermiculi, non 
fuerunt hoc sexto die creata formaliter 
sed potentialiter et quasi in seminali 
ratione, quia scilicet illa hoc die creata 
sunt, ex quorum certa affectione haec 
naturaliter erant exoritura.“ Soweit 
dieſe Tiere ſchädlich oder läſtig für den 
Menſchen waren, wollte man ſie nicht un— 
mittelbar von Gott erſchaffen ſein laſſen, 
ja es gab eine Anzahl von Theologen, die 
alle Tiere und Pflanzen urſprünglich un— 
ſchädlich ſein ließen und erſt von dem Sün— 
denfall ihre Umwandlung zum ſchlechteren 
herleiteten. Daſſelbe Prinzip der hindurch 
wirkenden Schöpfungsidee wurde von geiſt— 
lichen Skribenten bald darauf noch viel 
weiter ausgedehnt. So ſollten nach Atha— 
naſius Kircher auch Pflanzen, welche 
tierähnliche Blüten oder Früchte tragen, 
z. B. die Orchideen, aus verweſenden Tier— 
körpern entſtehen, und die den Bienen, 
Mücken, Fliegen und Spinnen ähnlichen 
Ophrysarten ſollten, ſtatt aus dieſen Tie— 
ren zu entſtehen, auch direkt aus deren 


Ahnen, d. h. aus dem Fleiſche verſchiede— 


ner Vierfüßler, hervorgehen können. Hier 
wirkt die creatio indirecta alſo durch zwei 
Stufen hindurch, und zwar mit gelegent— 
licher Überſpringung der Mittelftufe.*) 


1 


In einer ganz ähnlichen Weiſe glaubte 


man nun auch die Baſtarderzeugung aus 
denſelben Grundſätzen erklären zu können, 
und anknüpfend an die eben geſchilderte 
Schöpfung der Fäulnistiere meinte nun 
van den Steen, auch die Baſtarde ſeien 
auf dieſem Wege am ſechſten Tage mit— 
telbar von Gott miterſchaffen worden. 
Es iſt dabei nun ſehr intereſſant für das 
Verſtändnis der analogen Gedanken Lin— 
nes und Bonnets, zu ſehen, wie van 

) Vgl. Erasmus Darwin, S. 227.230. 


3 


Ernſt Krauſe, Die Baſtard⸗Theorie. 197 


den Steen alsbald die Baſtardtheorie 
ſowohl zur Erklärung der faſt erſchrecken— 
den Tiermannigfaltigkeit überhaupt, als 
beſonders für diejenige der fremden Erd— 
teile anwendet. „Hybrides,“ ſagt er, „i. 
e. animalia, quae ex congressu diver- 
sarum specierum generantur, uti mulus 
ex equa et asino, lynx ex lupo et cer- 
va, ex hirco et ove tityrus, ex leaena 
et pardo leopardus, haec inquam non 
necesse est dicere, hoc die esse creata. 
— In Africa in dies novae oriuntur 
monstrorum species atque oriri possunt 
ex nova aliarum et aliarum specierum 
sive animalium commixtione. Haec com- 
mixtio est praeter naturam et adulte- 
rina.“ 

In Übereinſtimmung damit hatte auch 
Mylius*) das Thema behandelt. In den 
hitzigen und dürren Wüſten Afrikas kämen 
die wilden Tiere von weit entlegenen Orten 
an den feuchten Oaſen zuſammen, um ih— 
ren Durſt zu ſtillen, und es werde an die— 
ſen Rendezvousplätzen der aus allen Welt— 
gegenden herbeiſtrömenden Tiere „durch 
allerhand Vermiſchungen immerdar was 
Neues und Ungewöhnliches erzeugt, um das 
alte Sprüchwort Africa semper aliquid 
novi wahrzumachen“. Alle dieſe Baſtard— 
tiere ſeien nicht immediate von Gott ge— 
ſchaffen, denn Gott habe „jegliches Tier 
nach ſeiner Art gemacht“, wie Moſes 
fünfmal wiederhole. „Nun werden aber 
dieſe Thiere, als Maulthiere und derglei— 
chen Baſtarde mehr, nicht nach ihrer Art, 
ſondern aus einem andern Geſchlecht er— 
zeuget. Denn das Maulthier gehöret ja 
weder zu der Art der Pferde noch der 
Eſel, ſo zeuget auch weder der Wolf noch 


) De Origine Animalium. Deutſche Aus- 
gabe 1670, S. 289 ff. 


das Wildſtück ihnen ein gleichförmiges 
Tier, nemblich einen Luchſen. Woraus 
dann der Schluß zu machen, daß der all— 
mächtige Gott dergleichen Thier im An— 
fang nicht würcklich und immediate er— 
ſchaffen habe. — Andertens. Hat der all— 
weiſe Gott geboten: daß alle Thiere, wel— 
che er durch ſein Göttliches Wort erſchaf— 
fen, ſich ſollen beſaamen und vermehren, 
auch jedes nach ſeiner Art die Erde erfül— 
len. Weßwegen er ſie dann auch geſegnet, 
und ihnen gebotten hat, daß ſie wachſen, 
ſich vermehren, auch die Waſſer und Er— 
den erfüllen ſollten. Seid fruchtbar 
und mehret euch. Nun ſind aber die 
Baſtardthiere unfruchtbar; können ſich 
dannenhero dieſes Segens nicht theilhaf— 
tig machen. Folget alſo darauß, daß die 
Baſtardthiere von Gott anfänglich nit 
erſchaffen worden. — Drittens Was 
von Gott herkommt, iſt ordentlich, wie 
Paulus ſagt. Nun aber ſeynd dieſe Arten 
der Baſtardthiere nicht nach dem ordent— 
lichen Lauff der Natur. Kann alſo Gott 
dieſe Thiere im erſten Anfang nicht er— 
ſchaffen haben, ſondern Gott hat allein 
denjenigen Thieren, von welchen ſolche 
Baſtardarten hernach erzeuget worden, die 
Krafft und Haupturſachen eingepflanzet, 
daß ſie mit der Zeit, ſolche auß ihrer Art 
abgewichne und geſchlagene Thiere, auff 
die Welt gebracht haben. Und kommen 
dergleichen Geſchlechter, unter die anderer 
Thiere, als wie die unehelichen Kinder 
und Baſtarden öffters in ein Eheliches 
Geſchlecht, unrechtmäßig eingedrungen wer— 
den.“ (sic!) 

Dieſen Anſichten widerſprachen aber 
andere damalige Autoritäten und Nie— 
venbergius*) wies auf das nicht ſeltene 
) Hist. natur., Lib. V, c. 21. 


198 


Vorkommen von fruchtbaren Mauleſelin— 
nen zum Beweiſe dafür hin, daß auch dieſe 
Tiere am ſechſten Tage mittelbar erſchaf— 
fen ſeien und deshalb auch Fortpflanzungs— 
fähigkeit beſäßen. 

Von einem wirklichen Intereſſe bei 
dieſem theologiſchen Streite iſt nur der 
Umſtand, daß der große Linné der Idee 
beitrat, Baſtardirung könne die Urſache 
der Vermehrung einer urſprünglich be— 
ſchränkten Zahl von Urformen geworden 
ſein und die allmählichen Übergänge er— 
klären, welche ſich zwiſchen den meiſten 
Pflanzen und Tieren finden. Leibniz’ 
kontinuirliche Reihe der Schöpfungsformen 
hätte dann nur auf die Wurzelformen An— 
wendung gefunden, die Reihe ſei durch 
Baſtardirung um Mittelformen bereichert 
worden. Linns ſchrieb im ſechſten Bande 
ſeiner Amoenitates academicae, 1763, 
p. 296: „Suspicio est, quam diu fovi, 
neque jam pro veritate indubia vendi- 
tare audeo, sed per modum hypothe- 
seos propono: quod scilicet omnes spe- 
cies ejusdem generis ab initio unam 
constituerint speciem, sed postea per 
generationes hybridas propagatae sint.“ 

Godron*)fagt, Linns ſei hierin dem 
Beiſpiel Gmelins gefolgt, der in einer 
Inauguraldiſſertation vom Jahre 1749 
ebenfalls den Gedanken ausgeſprochen hat, 
daß die Arten der Pflanzen vielleicht nur 
die Baſtarde der urſprünglich erſchaffenen 
Gattungen untereinander ſeien. Gmelins 
Abhandlung hat den Titel: Joann. Georg. 
Gmelini Med. D. sermo academicus de 
novorum vegetabilium post creationem 
divinam exortu. die 22. Aug. 1749 


) De l’espece et des races dans les 
etres organisés. 2. edit. Paris, 1872, T. I, 
p. S—9. 


Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. 


— 


ans 


publice reeitatus. Tübing. Ehrhard, und 
in derſelben wird in der That auseinander— 
geſetzt, wie durch Baſtardirung die weni— 
gen urſprünglich erſchaffenen Pflanzenfor— 
men beträchtlich vermehrt worden ſein 
könnten, ohne daß darin eine Entweihung 
der göttlichen Majeſtät gefunden werden 
dürfe, welche ja die Geſchlechtsorgane und 
damit die Möglichkeit der Baſtardirung 
der Pflanzen gegeben habe. Er glaubt 
auch, daß manche von den älteren Schrift— 
ſtellern beſchriebene Pflanzen, welche die 
neueren Botaniker nicht auffinden konnten, 
vielleicht ſolche Hybriden geweſen wären, 
die wieder eingegangen und zu den 
Urformen zurückgekehrt ſeien. Dieſe be— 
merkenswerteſte Stelle findet ſich auf 
Seite 78 dieſer Diſſertation und lautet 
wie folgt: 

7 nullum supererit dubium 
plantas novas subinde oriri citra novam 
Divini artificis ereationem, et tandem 
ita multiplicari, ut plantarum instar ali- 
arum primitus creatae videantur. Nihil 
quidem Majestati Divinae hie contra- 
rium subesse existimo, quum novus 
ejusmodi plantae ortus ipsiis illis or- 
ganis perficiatur, quae DEVS in plantis 
creavit, adeoque virtus illa, plantas no- 
vas ex se generandi plantis in creatione 
concessa credi possit. Sed dubito, an 
ex unico hocce exemplo quaestio ita 
decidi queat, ne metus contrarii adhuc 
obtineat. Multae quidem adhue plantae 
sunt, a veteribus recensitae, quarum 
notitiam hodie nullam habemus, et su- 
spicio facile oriri de illis posset, Hibri- 
dae hujus generationis modo supposito, 
fuisse illas hibridas et paullatim eva- 
nuisse et ad pristinas species rediisse.“ 

Es iſt merkwürdig genug, daß Linné 


— 


— 


dieſer Idee Geſchmack abgewinnen konnte, 
da er doch ſchwerlich geglaubt hat, daß ſich 
Tiere oder Pflanzen, die man zu verſchie— 
denen Gattungen rechnet, fruchtbar unter— 
einander vermiſchen könnten, was ſchon die 
Arten ſo ſelten thun, da ſelbſt fruchtbare 
Mauleſel zu den Seltenheiten zählen. Eine 
Veranlaſſung für Linné, die alte Idee 
wieder aufzunehmen, mögen aber Koel— 
reuters 1761 veröffentlichte Verſuche ge— 
geben haben, in denen die Idee, durch Ba— 
ſtardirung neue Pflanzen zu erzeugen und 
eine Art in eine andere überzuführen, prak— 
tiſch verwirklicht ſchien. 

Auch Bonnet fand andiefer Idee Ge— 
ſchmack, und obwohl er urſprünglich in der 
ununterbrochenen Reihenfolge der Lebens— 
formen den Plan des in geſetzmäßiger Stu— 
fenordnung ſtattgefundenen Schöpfungs— 
werkes erkennen wollte, glaubte er doch 
auch, daß die urſprüngliche Reihe der 
Grundformen noch nachträglich durch Ba— 
ſtardformen und klimatiſche Veränderungen 
interpolirt worden ſei und daß ſich ſo die 
frappanten Zwiſchenformen und Übergänge 
von der einen Art zur andern am beſten er— 
klären ließen. Er ſagt im fünften Bande 
feiner Oeuvres d'histoire naturelle et 
de philosophie (Ed. Neuchatel 1779, 
p. 230) in einem „Que le nombre des 
espèces peut s’etre acerü par des con- 
jonctions fortuites“ überſchriebenen Ab— 
ſchnitte: „On ne peut douter, que les 


especes qui existaient au commence- 
ment du monde, ne fussent moins nom- 
breuses, que celles qui existent aujour- 
dhui. La diversite et la multitude des 
conjonctions, peut-etre meme encore la 
diversité des elimats et des nourritures 
ont donné naissance à des nouvelles 
especes ou à des individus intermedi- 


Ernſt Krauſe, Die Baſtard-Theorie. 


199 


aires. Ces individus s’etant unis à leur 
tour, les nuances se sont multipliees, 
et en se multipliant elles sont devenues 
moins sensibles. Le Poirier parmi les 
plantes, la Poule parmi les oiseaux, le 
Chien parmi les quadrupedes, nous 


fournissent des exemples frappants de 
cette verite, Et que n'aurions nous point 
à dire à cet égard, des varietes qui s’ob- 
servent parmi les Hommes, sortis origi- 
nairement de deux individus!“ 
Übrigens iſt ſchon im Altertum die 
Meinung ausgeſprochen worden, daß die 
einzelnen Arten artenreicher Geſchlechter 
die Reſultate von Baſtardirungen ſein 
könnten. In dem merkwürdigen, dem 
Ariſtoteles zugeſchriebenen Buche de 
mirabilibus auscultationibus findet ſich 
Capitel LXI (Ed. Beckmann, S. 127) 
die Darlegung, wie die verſchiedenen 
Arten der Adler, Geyer und Habichte 
durch Baſtardzeugung fortwährend ent— 
ſtünden. Die Stelle ſcheint verderbt und 
iſt von Geſſner, Natalis de Comi— 
tibus, Beckmann u. A. ziemlich ver— 
kehrt wiedergegeben. Richtiger hat ſie 
Plinius verſtanden, der offenbar mit die— 
ſer Stelle (oder ihrer Quelle) vor Augen 
(X. 3. 3) ſchrieb: „Der Meeradler (Ha— 
liaetos) bildet keine beſondere Art für 
ſich, ſondern entſteht durch Paarung mit 
andern Adlerarten. Den von ihnen ſelbſt 
erzeugten nennt man Ossifragus (unſer 
Fiſchadler), von dem wieder die kleinen 
Geyer (im ſogenannten Ariſtoteles ſind auch 
die Habichte genannt) abſtammen, auch 
wohl einzelne größere, die ſich aber 
nicht fortpflanzen.“ Niemand habe das 
Neſt derſelben geſehen, fügt, die Un— 
fruchtbarkeit dieſer Baſtarderzeugungen 


beſtätigend, die erſtere Quelle hinzu. | 


I ——ͤ—— 


200 


Eine, wie mir ſcheinen will, auf den— 
ſelben Anſchauungskreis hinauslaufende 
Hypotheſe über die Entſtehung der Arten 
iſt nun neuerlich von Herrn Theodor 
Fuchs, Kuſtos am k. k. zoologiſchen Mu— 
ſeum in Wien, in einem Vortrage „Über 
die geſchlechtliche Affinität als Baſis der 
Speziesbildung“ entwickelt worden, den er 
in der Sitzung vom 3. Dezember 1879 der 
dortigen Zoologiſch-botaniſchen Geſell— 
ſchaft gehalten hat, vielleicht ohne daß es 
ihm bekannt geweſen, daß er damit nur 
eine ſehr alte Anſicht erneuert und ſehr il— 
luſtre Vorgänger auf dieſem Erklärungs— 
wege gehabt hat. Um ſeine Schlußfolge 
möglichſt getreu wiederzugeben, möge hier 
ein Stück des mutmaßlich von ihm ſelbſt 
verfaßten Referates über dieſen Vortrag 
aus dem XXIX. Bande der Sitzungs- 
berichte dieſer Geſellſchaft in wörtlichem 
Abdrucke folgen: 

„Die einzelnen Arten ſind von Haus 
aus weder einfache, noch gleichwertige, 
ſondern ſie ſind zuſammengeſetzte Grö— 
ßen, deren Natur und Umfang von der 
Anzahl und Beſchaffenheit der konſtitui— 
renden Elemente, ſowie von dem Grade 
ihrer Verſchmelzung abhängt. 

Iſt eine Art nur aus einander ſehr ähn— 
lichen Individuen entſtanden, und ſind die— 
ſelben ſehr innig mit einander verſchmol— 
zen, ſo werden wir eine ſehr engbegrenzte, 
homogene Art haben; iſt eine Art hin— 
gegen aus der Verſchmelzung von Indivi— 
duen hervorgegangen, welche morpholo— 
giſch ſehr verſchieden ſind, und iſt die Aus— 
gleichung der individuellen Charaktere nur 
unvollkommen erfolgt, ſo werden wir das 
vor uns haben, was wir eine polymorphe 
Art nennen. 

Variabilität und Polymorphismus ſind 


Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. 


keine ſekundären, ſondern primäre 
Erſcheinungen, und die Varietäten einer 
Art ſind keineswegs Neubildungen, ſon— 
dern ſtellen nur die nicht vollſtändig 
verwiſchten Reſte der urſprünglichen 
Stammformen vor, aus deren Vereinigung 
und Verſchmelzung die betreffende Art 
entſtand. 

Ebenſo iſt es klar, daß auf Grund— 
lage dieſer Anſchauungen die Züchtung 
verſchiedener Raſſen aus einer und derſel— 
ben Art, auf dem Wege der Auswahl und 
Iſolirung, nichts anderes iſt als die Zer— 
legung einer zuſammengeſetzten Größe in 
ihre näheren Elemente. 

Die Variabilität einer Art iſt nicht un— 
begrenzt, ſondern beſchränkt durch die Be— 
ſchaffenheit der Stammformen, aus deren 
Vereinigung ſie hervorgegangen. 

Die naturhiſtoriſche Erfahrung, daß 
die Individuen einer und derſelben Art 
in der Regel unter einander vollkommen 
fruchtbar ſind, die Individuen verſchiede— 
ner Arten aber nicht, darf nicht in dem 
Sinne aufgefaßt werden, daß dieſe phyſio— 
logiſche Eigentümlichkeit jeder einzelnen 
Art bei ihrer Erſchaffung gleichſam als 
Mitgift mitgegeben wurde; denn nicht die 
Art iſt das urſprünglich Gegebene und die 
geſchlechtliche Affinität eine ihrer Eigen— 
ſchaften, ſondern, umgekehrt, die geſchlecht— 
liche Affinität iſt das urſprünglich Gege— 
bene und die Bildung der Art nur eine 
Folge derſelben. 

Würden eine Art A und eine andere 
Art B unter einander vollkommen frucht— 
bar ſein, ſo müßten ja dieſe beiden Arten, 
woferne keine äußeren Hinderniſſe entge— 
genſtehen, in kurzer Zeit zu einer Art ver— 
ſchmelzen, und dieſes Einbeziehen und Ver— 
ſchmelzen der Formen müßte ſich ſoweit 


Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. 


ausdehnen, als überhaupt die vollkommene 
Affinität reicht. 

Viele Tierarten, welche ſich im freien 
Naturzuſtande nicht kreuzen, können im Zu— 
ſtande der Domeſtikation dazu gebracht 
werden und die Folge davon ſind unſere 
vielgeſtaltigen Haustiere, welche äußerlich 
ganz wie polymorphe Arten erſcheinen. 


fie aus der Verſchmelzung verſchiedener wil- 


der Stammformen entſtanden ſind (Hund, 
Rind) auch bei anderen (Schaf, Ziege, 


Huhn) iſt dies kaum mehr zu bezweifeln. 


Durch die Zucht des Menſchen ſind 


allerdings neue Arten künſtlich gebildet 
worden, aber nicht in dem Sinne, daß er aus 
mütterliche Form darſtellen würde) mit 


einer Art mehrere machte, ſondern viel— 


mehr, daß er aus mehreren ſcheinbar 


eine (allerdings ſehr polymorphe) machte. 
Indem der Menſch verſchiedene wilde 
Tierarten durch Auswahl und Iſolirung 


in ihre Elemente zerlegte und dieſelben wie- 


der durch Baſtardirung in mannigfacher 
Weiſe kombinirte, erzielte er die große 
Menge von verſchiedenen Raſſen, welche 
unſere Haustiere thatſächlich aufweiſen. 
Das Weſen dieſer Züchtung beſteht 
aber der Hauptſache nach nur in der ver— 
ſchiedenartigen Kombinirung und Miſchung 
bereits vorhandener Elemente und nicht in 
der Neubildung von ſolchen.“ So weit Fuchs. 

Es iſt nicht zu verkennen, daß dieſe 
Auffaſſungsart viel Beſtechendes für ſich 
hat und auf viele Zuhörer und Leſer als 
einfache Erklärung der Variationstendenz 
vieler Pflanzen und Tiere einen bedeuten— 
den Eindruck machen wird, denn es laſſen 
ſich gar manche ſcheinbare Stützen dafür 
anführen. Es iſt nämlich allſeits bekannt, 


zeigen, in die elterlichen Formen zurückzu— 
ſchlagen, ſich alſo wieder in die Compo— 
nenten der Kreuzung zu zerſetzen. Als be— 
kannteſtes und ſo zu ſagen perpetuirliches 
Beiſpiel eines ſolchen Rückſchlagens kann 
der berühmte Baſtard zwiſchen dem Gold— 
regen (Cytisus Laburnum) und C. pur— 


| pureus betrachtet werden, der durch Steck— 
Bei mehreren polymorphen Haustieren 
iſt es bereits ſehr ſicher nachgewieſen, daß 


linge weitverbreitet iſt, und neben un— 
fruchtbaren Baſtardblüten fruchtbare Blü— 
ten der beiden elterlichen Arten, ſowie 
allerlei Miſchungen beider Formen durch— 
einander zeigt. Man erzählt, daß dieſe 
von Poiret Cytisus Adami getaufte Art 
zuerſt in dem Garten des Gärtner Adam 
zu Vitry bei Paris durch Befruchtung der 
Blüten des Goldregens (welche alſo die 


dem Blumenſtaube der rothen Art erzeugt 
worden ſei, aber leider weiß man dies 
nicht gewiß, und nach anderer Nachricht 
wären die beiden Arten nur aufeinander 
gepfropft geweſen. 

Aber mögen dieſe oder ähnliche Fälle 


von Rückſchlag der Baſtarde in Stamm— 


arten noch ſo verführeriſch klingen, um die 
ſtarke Variationstendenz gewiſſer Pflan— 
zen und Tiere zu erklären, ſo wird doch 
jede ſorgfältige Erwägung aller Umſtände 
ergeben, daß die Baſtardirungstheorie 
durchaus nicht geeignet iſt, die Mannig— 
faltigkeit der Naturweſen und die zahl— 
reichen Übergänge der Formen zu erklären, 
wenn wir nicht annehmen wollen, die 
Eigenſchaften der Lebeweſen ſeien ehe— 
mals ganz andere geweſen als heute. Denn 
wenn man aufſtellt, daß unſere Arten durch 
Kreuzung entſtanden ſeien, ſo müßte man 
doch mindeſtens an eine Kreuzung weit 
auseinander ſtehender Formenkreiſe, d. h. 


daß Baſtardformen eine große Neigung | ſogenannter Gattungen untereinander den- 


201 9 


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2 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 


26 


202 


Ernſt Krauſe, Die Baſtard-Theorie. 


ken. Nun weiß man aber, wie ſchwer, ja Haſe und Kaninchen u. ſ. w., aber man 
weiß nicht, ob dieſe Tiere ſich auch im 


ſelbſt unmöglich es oft iſt, Nachkommen 
von zwei einander ſogar ziemlich naheſte— 
henden Arten derſelben Gattung — dieſe 
Bezeichnungen in dem gewöhnlichen Sinne 
genommen — zu erhalten. So z. B. hat 
man noch keine Baſtarde zwiſchen Apfeln 
und Birnen erzielen können, und ſelbſt die 
Pfropfung, die ſonſt unter Gattungen der— 
ſelben Familie gewöhnlich ziemlich leicht 
gelingt, führt hier ſo ſelten zu einem glück— 


lichen Reſultate, daß der Dr. Neubert 


aus Cannſtatt auf der vorjährigen Natur— 


forſcherverſammlung auf ein Unikum diefer | 
Art beſonders aufmerkſam machte, einen | 
Apfelbaum in Fellbach bei Stuttgart, der 


alle Jahre zugleich weiß und rot blüht, 
und Apfel und Birnen neben einander 
trägt. Es handelt ſich hier um ein verein— 
zeltes Gelingen einer ſolchen wahrſchein— 
lich in Folge bloßer Verwechſelung der 
Reiſer geſchehenen Pfropfung, und der 
Mann, der dieſes Kunſtſtück vor dreizehn 


ſehen“auf feinen „ungeſchickten“,inzwiſchen 
nach Amerika ausgewanderten Bruder. 


völlig und beiderſeits wilden Zuſtand mit 
einander fruchtbar paaren. Die ſo erziel— 
ten Baſtarde ſind entweder ganz unfrucht— 
bar oder nur für wenige Generationen 
fruchtbar, wenn ſie nicht völlig in die 
Stammraſſen zurückſchlagen. Aus einer 
Stelle des Ariſtoteles, in welcher von 
in Syrien lebenden „Mauleſeln“ die Rede 
iſt, die ſich begatten und Junge gebären, 
hat man ſchließen wollen, daß dies in war 
men Ländern überhaupt nicht ungewöhnlich 
ſei, aber die genaue Betrachtung der Stelle 
zeigt, daß Ariſtoteles hier von Wildeſeln 
(Hemippus oder Onager), nicht aber von 
Baſtarden ſpricht. Franzöſiſche Schriftſtel— 
ler haben erzählt, daß derſelbe Fall in 
Algier ebenfalls häufig vorkomme, aber 
Gratiolet erinnert an das ungeheure 
Aufſehen, welches im Jahre 1838 im fran— 
zöſiſchen Algier bei allen Muſelmännern 


durch die Nachricht veranlaßt wurde, daß 
Jahren vollbracht hat, leugnet die Urhe⸗ 
berſchaft obendrein und ſchiebt das „Ver- 


Im Gegenteil hat bereits Buffon 


die Möglichkeit fruchtbarer Kreuzung und 


Erzeugung unbegrenzt ſich fortpflanzender 
Baſtarde für ein Kriterium der Varietä- 


ten im Gegenſatze zu den guten, völlig ge— 
trennten Arten angeſehen. Allerdings lie— 
fert die Vermiſchung verſchiedener domeſti— 


in der Nähe von Biskra eine Maultierſtute 
trächtig geworden ſei. „Das Entſetzen dar— 
über“, erzählt Gratiolet, „verbreitete 


ſich ringsum, die Araber glaubten, das 


Ende der Welt ſtehe bevor, und verſuchten 
durch längeres Faſten den Zorn des Him— 
mels abzuwenden. Glücklicher Weiſe ver— 
warf die Maultierſtute. Aber noch lange 
nachher erzählten die Araber von dieſem 


„ hchrecklichen Vorfalle“, was gewiß nicht 


zirten Tiere mit andern domeſtizirten oder 


wilden Tieren verwandter Art leicht Ba— 


ſtarde. So paaren ſich Pferd, Eſel, Dſchig- 


getai und Zebra fruchtbar unter einander, 


ebenſo Hund, Wolf und Schakal; Pak, Zebu 
und Hausrind; Kamel und Dromedar, 
Vikung und Alpaka, Steinbock und Ziege, 


geſchehen wäre, wenn dieſer Fall dort 
öfter vorkäme. 

Wir müſſen daher ſchließen, daß die 
Möglichkeit einer fruchtbaren Baſtar— 
dirung nur unter Arten derſelben Gat— 
tung möglich iſt, namentlich zwiſchen ſo— 
genannten beginnenden Arten, und 
in dieſem Sinne wird ſie heute im 


Ernſt Krauſe, Die Baſtard⸗Theorie. 203 


vollendeten Gegenſatze zu der alten Auf— 
faſſung als beſtes Erkennungsmittel einer 
ſogenannten unveränderlichen Art von den 
Vertretern der Art-Conſtanz betrachtet. 
Wie ſollte daher eine dauerhafte Vermi— 
ſchung weitauseinander ſtehender Gattun— 
gen möglich ſein? Es giebt zwar viele Er— 
zählungen darüber, aber ſie ſind insge— 
ſammt wenig glaublich. So erwähnt Bel— 
lonius eine fruchtbare Kreuzung zwiſchen 
Pferd und Hirſchkuh, deren Ergebnis ſich 
am Hofe Franz J. befunden haben ſoll, 
und Hellenius erzählt von einer frucht— 
baren Kreuzung zwiſchen Widder und Reh— 
kuh, deren Baſtarde durch zwei Generatio— 
nen mit dem Vater gekreuzt wurden und 
wieder in deſſen Typus zurückſchlugen. Aber 
die vermeintliche Rehkuh war, wie A. de 
Quatrefages bemerkt, vielmehr das den 
Berichterſtattern nicht genauer bekannte 
Wildſchaf (Moufflon) geweſen. So mag es 
mit manchen dieſer Erzählungen ſtehen. 

Andrerſeits bezeugt gerade das Zurück— 
ſchlagen der Baſtarde auf die Stamm— 
arten, wie wenig Baſtardirung zur Erzeu— 
gung neuer Arten beigetragen haben kann. 
Was die noch von Iſidor Geoffroy— 
Saint-Hilaire vertretene Meinung an— 
betrifft, daß bei den Baſtarden eine völlige 
Fuſion der Eigenſchaften beider Eltern, 
unter Hervorbringung alſo eines wirklichen 
Novums ſtattfinde, ſo haben die gründ— 
lichen, namentlich an den Schädeln von 
Schweinebaſtarden durch Nathuſius an— 
geſtellten Unterſuchungen vielmehr erge— 
ben, daß eine Miſchung aus einem Anteil 
der väterlichen und einem Anteil der müt— 


terlichen Eigenſchaften, aber keineswegs 
ein Durchſchnitt aus allen Eigenſchaften 
beider Eltern entſtehe. Es iſt im weitern 
Kreiſe nicht anders, als wie Goethe im 
engeren Kreiſe von ſich ſelber eingeſtand: 
„Vom Vater hab' ich die Natur, des Lebens 
ernſtes Führen, vom Mütterchen die Froh— 
natur und Luſt zum Fabuliren.“ Die 
Möglichkeit der Baſtardirung überhaupt 
zeigt aber anderſeits, wie ſchon Locke aus— 
einanderſetzte, daß die Arten keine unver— 
änderlichen Formen, d. h. Verkörperungen 
unwandelbarer Ideen ſind. 

Im Übrigen wird jeder Verſuch, die 
Variationstendenz ſowohl als die Man— 
nigfaltigkeit von Tier- und Pflanzen— 
reihen durch Vermiſchung von Endglie— 
dern zu erklären, ſchließlich an den That— 
ſachen der Paläontologie ſcheitern müſſen, 
denn dieſe Anſicht würde ein gleichzeitiges 
Vorhandenſein der Anfangs- und End— 
glieder jeder Reihe vorausſetzen, und die 
Entwicklung der Pferde z. B. ginge nicht 
von Eohippus durch Oro-, Meso-, Mio- 
und Pliohippus zum Equus, ſondern letz— 
teres müßte ſchon in den Eozänſchichten 
ſich finden, um mit dem Eohippus die Mit— 
telformen hervorzubringen. Herr Fuchs 
hält dem Anſcheine nach, wie man aus 
einer ſpätern Deduktion deſſelben (vergl. 
weiterhin S. 208) erſieht, auch die foſ— 
ſilen Übergangsformen für „Miſchformen“. 
Das klingt ſeltſam, aber zu ähnlichen er— 
fahrungswidrigen Schlüſſen wird jeder ge— 
trieben werden, der es verſuchen will, die— 
ſer längſt verblichenen Hypotheſe in irgend 
einer Form neues Leben einzuhauchen. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Die ankidarwiniſtiſchen Vorträge in 
den Sitzungen der k. k. Geologiſchen 
Neichsanftalt in Wien. 


er eingehenden Beſprechung des erſten 
PVortrages ) laſſen wir hier ein kür— 
zeres Referat der beiden nächſten folgen. 
Da wir auf eine eingehende Beſprechung 
verzichten müſſen und darauf vertrauen, 
daß die Unanwendbarkeit der meiſten hier 
aufgeſtellten Folgerungen unſern Leſern 
unmittelbar ins Auge fallen wird, erlauben 
wir uns nur einige Fragezeichen und kurze 
Bemerkungen einzuſtreuen. In der Sitzung 


vom 20. Jan. ſprach Herr Th. Fuchs 


„Über einige Grunderſcheinungen in der 
geologiſchen Entwicklung der organiſchen 
Welt“ und ging darin nach einigen Vor— 
bemerkungen | zur ausführlicheren Be— 
ſprechung folgender Punkte über: 

1. Die Periodizität. Die Ent: 
wicklung der organiſchen Welt erfolgt 
nicht durch eine kontinuirlich gleichmäßig 
fortſchreitende Veränderung, ſondern durch 
eine periodiſch eintretende Umformung der 
Organismen. Es wechſeln längere Zeit— 
räume relativer Ruhe mit kürzeren Epochen 
der Umwandlung. (?? Red.) 
ee) Kosmos, S 69—72 dieſes Bandes. 


Der Grad der Umwandlung iſt nicht 
ein durchſchnittlich gleich bleibender, ſon— 
dern wechſelt im regelmäßigen Rhythmus 
ſeine Intenſität. Reihen leichter Verände— 
rungen wechſeln in regelmäßiger Weiſe 
mit Perioden tiefer greifender Umgeſtal— 
tung ab. (? Red.). 

Die Darwiniſtiſche Schule ſucht dieſe 
periodiſchen Umgeſtaltungen durch eine 
periodiſche Veränderung der äußeren Le— 
bensverhältniſſe zu erklären, indem ſie 
gleichzeitig annimmt, daß die verſchiedenen 
Grade der Umgeſtaltung von der verſchie— 
denen Intenſität dieſer äußeren Verände— 
rungen bedingt werden. (? Red.) 

Der Vortragende ſucht das Unzurei— 
chende dieſer Vorſtellungsweiſe nachzu— 
weiſen. 

Wir kennen die phyſikaliſchen Mo— 
mente, welche in der Jetztzeit den Charak⸗ 
ter der Lebewelt beſtimmen, und vermögen 
deren Effekt zu beurteilen. Wir kennen die 
Fauna des feſten Landes, des Süßwaſſers 
und des Meeres, die Fauna des Strandes 
und die Fauna der Tiefſee, die Fauna der 
Tropen und die Fauna der höheren Brei— 
ten. Wir wiſſen aber auch, welche Folgen 
eine Veränderung in den äußeren Lebens— 
verhältniſſen nach ſich zieht. Wenn ein 
trockener Landſtrich verſumpft, ſo verwan— 


Kleinere Mitteilungen und Jonrnalſchau. 


deln ſich keineswegs die xerophilen Pflan— 
zen in Sumpfpflanzen, ſondern die erſteren 
ſterben allmählich aus und die Sumpf— 
pflanzen wandern ein. Wenn ein Meeres— 
becken allmählich ausgeſüßt wird, ſo ent— 
ſteht die Süßwaſſerfauna keineswegs aus 
einer Umwandlung der Meeresfauna, ſon— 
dern die Meerestiere ſterben allmählich 
aus und die Süßwaſſertiere wandern all— 
mählich ein. Wenn das Klima in Europa 
allmählich kälter würde, würden ſich nicht 
die gegenwärtig daſelbſt lebenden Tiere 
und Pflanzen in arktiſche verwandeln, 
ſondern es würden diejenigen Arten, wel— 
che das rauhere Klima nicht zu vertragen 
vermöchten, ausſterben und dafür die ark— 
tiſchen Tiere und Pflanzen weiter nach 
Süden rücken. 

Wenn die Sahara durch eine Verän— 
derung der meteorologiſchen Verhältniſſe 
regelmäßige und ausgiebige Regen erhielte, 
ſo würden ſich gewiß nicht die jetzigen 
Wüſtenpflanzen in neue Pflanzenarten ver— 
wandeln, ſondern das ganze Gebiet würde 
durch einwandernde Mediterranpflanzen 
okkupirt werden; würden die klimatiſchen 
Verhältniſſe tropiſchen Charakter anneh— 
men, ſo würde ganz einfach die tropiſche 
Flora Sudans weiter nach Norden rücken. 

Alle dieſe Erſcheinungen laſſen ſich 
aber auch bei den foſſilen Faunen und 
Floren nachweiſen. 

Wir mögen jeden beliebigen geologi— 


ſchen Zeitabſchnitt in betracht ziehen, ſo 


finden wir darin Land-, Süßwaſſer- und 
Meeresbildungen, Strandbildungen und 
Bildungen der Tiefſee, Ablagerungen höhe— 
rer und Ablagerungen niederer Breiten, 


wir ſehen den Übergang von Meeresbil- 


dungen in Süßwaſſerbildungen, von Süß⸗ 


205 


Landes, und in vielen Fällen iſt es auch 
gelungen, Wanderungen der Faunen von 
Nord nach Süd, von Süd nach Nord nach— 
zuweiſen. Alle dieſe Veränderungen haben 
aber gar nichts mit jenen Veränderungen 
zu thun, durch welche die Unterſcheidung 
verſchiedener geologiſcher Stufen bedingt 
wird, nichts zu thun mit der Umwandlung 
der juraſſiſchen Fauna in die kretaziſche, 
der kretaziſchen in die tertiäre, und es folgt 
hieraus, daß dieſe Veränderungen in eine 
ganz andere Kategorie gehören und gar 
nichts gemein haben mit jenen, die durch 
einen Wechſel der äußeren Lebensverhält— 
niſſe hervorgerufen und bedingt werden. 

Man pflegt zwar häufig zu ſagen, daß 
die Umänderung der Fauna in eine an— 
dere, wie wir ſie von einer geologiſchen 
Epoche zur anderen finden, durch uns un— 
bekannte äußere Kräfte hervorgebracht 
werde; dieſer Ausſpruch iſt jedoch vom 
Standpunkte der exakten Naturforſchung 
durch gar nichts zu rechtfertigen. Wir 
können, auf dem Boden der Erfahrung 
ſtehend, nur ſagen, daß die Kräfte, welche 
die Umänderung hervorbrachten, uns un— 
bekannt ſind, ob es aber Kräfte der äuße— 
ren phyſiſchen Natur ſind, wiſſen wir nicht, 
da es ebenſogut innere phyſiologiſche Kräfte 
ſein können. 

2. Koordinirtheit der Faunen 
und Floren der einzelnen geologi— 
ſchen Zeitabſchnitte. Wenn wir die 
Floren zweier verſchiedener Provinzen, et— 
wa Spaniens und Kleinaſiens, mit ein— 
ander vergleichen, ſo können wir in den— 
ſelben drei Elemente unterſcheiden: 

a. Eine große Anzahl identiſcher Arten. 

b. Eine ebenfalls große Anzahl voll— 
kommen heterogener Arten, welche zu ver— 


waſſerbildungen in Bildungen des feſten | ſchiedenen Gattungen gehören oder doch 


206 


feine nähere Verwandtſchaft zu einander 
zeigen. 

c. Eine kleine Anzahl vikariirender, 
d. h. ſolcher Arten, welche, ohne gerade 
ident zu ſein, ſich doch ſo nahe ſtehen, daß 
man ſie als Varietäten einer Grundart 
betrachten könnte. 

Genau daſſelbe finden wir aber, wenn 
wir die Faunen zweier unmittelbar auf⸗ 
einander folgenden geologiſchen Zeitab— 
ſchnitte, etwa die Fauna der erſten und 
zweiten Mediterranſtufe, oder des älteren 
und jüngeren Pliozäns mit einander ver⸗ 
gleichen. Auch hier finden wir eine große 
Anzahl identiſcher, eine große Anzahl he— 
terogener und eine kleine Anzahl vikari— 
irender Arten, und wir können es als all— 
gemeinen Grundſatz aufſtellen, daß die 
Faunen und Floren zweier aufeinander 
folgender geologiſcher Zeitabſchnitte ſich 
ähnlich verhalten wie Faunen und Floren 
zweier benachbarter tier- oder pflanzen⸗ 
geographiſcher Bezirke. 

Da nun aber die Faunen und Floren 
verſchiedener geographiſcher Bezirke als 
koordinirte Größen aufgefaßt werden und 
Niemand behaupten wird, daß die eine 
durch die Umwandlung einer andern ent⸗ 
ſtanden iſt, ſo muß man konſequenter Weiſe 
dieſe Vorſtellung wohl auch auf die zeit- 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


geſtreut vereinzelte Vorläufer der ſpätern 
Fauna. 

5) An einem beſtimmten Zeitpunkte an⸗ 
gelangt, verſchwindet mit einemmal die 
große Mehrheit der bisher herrſchenden 
Typen und ebenſo raſch entfalten die bis— 
her gleichſam unterdrückt geweſenen Vor- 
läufer der neuen Zeit einen außerordent— 
lichen Formenreichtum. 

Die neue Fauna erſcheint daher durch— 
aus nicht als eine direkte Fortſetzung der 
vorhergehenden, die neuen Typen ſind kei— 
neswegs aus einer Umwandlung der Ty— 
pen hervorgegangen, welche in der vorher— 
gehenden Fauna die herrſchenden waren, 
die beiden Faunen ſcheinen ſich vielmehr 
aus gemeinſamer unbekannter Tiefe, wie 
aus gemeinſamer unbekannter Baſis neben⸗ 
einander zu erheben; ſie verhalten ſich auch 
hier wie zwei koordinirte Größen und kei— 
neswegs wie eine Stammform und eine 
abgeleitete Form. 

Dieſes iſt das Reſultat, wenn wir z. 
B. die Fauna der Tertiärzeit mit jener der 
meſozoiſchen Periode, oder wenn wir die 
meſozoiſche Fauna mit der paläozoiſchen ver⸗ 


gleichen. In beiden Fällen hat die jüngere 


lich auf einander folgenden Faunen und 
Floren anwenden. (So! Wo liegt da die 


Konſequenz? Red.) 

Wenn man die Faunen oder Floren 
größerer geologiſcher Zeitabſchnitte mit ein— 
ander vergleicht, um zu erfahren, wie ſich 
die ältere Fauna in die jüngere verwan⸗ 
delt, ſo findet man regelmäßig folgendes: 

a) Zwiſchen den herrſchenden charak— 
teriſtiſchen Typen der älteren Fauna 
finden ſich gleichſam unregelmäßig ein— 


Fauna der älteren gegenüber nicht den 
Charakter eines Umwandlungsproduktes, 
ſondern den Charakter einer Neubildung. 
(2 Red.) 


Die allgemein herrſchende Regel, daß 


neue Typen nach wenigen iſolirten Vor— 


läufern ſogleich eine große Mannigfaltig- 


keit an Gattungen und Arten entwickeln, 
iſt namentlich von Barrande zu wieder— 
holten Malen hervorgehoben worden, in— 
dem derſelbe zugleich betonte, daß dieſe Er— 
ſcheinung im direkten Gegenſatz zu den For— 
derungen der Darwinſchen Lehre ſtünden. 

Hier iſt nun der Punkt, wo von Seite 


U 


r 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


der Anhänger Darwin's ſtets auf die Un— 
vollſtändigkeit unſerer Kenntniſſe hingewie— 


daß bei fortgeſetzter Forſchung ſich die 
erforderliche Anzahl der Vorläufer ſchon 
finden werde. 

Der Vortragende wendet ſich nun mit 
Nachdruck gegen ein derartiges Vorgehen, 
indem er hervorhebt, wie vollſtändig unzu— 
läſſig eine derartige einſeitige und willkür— 
liche Korrektur unſerer Erfahrung ſei. 

Wenn ein Uhrmacher, der ein Uhrrad 
um die Hälfte zu klein gemacht, ſich dadurch 
zu helfen ſuchte, daß er das Rad mit einer 
Lupe vergrößerte, würde nicht Jedermann 
lächeln über einen ſolchen Akt der Selbſt— 
täuſchung? Und wird nicht trotzdem dieſe 
Selbſttäuſchung täglich von Seite der Dar— 
winiſten geübt, ſo oft es ſich darum han— 
delt, ſtatiſtiſche Diſſonanzen mit einander 
und mit den Forderungen die Lehre in Ein— 
klang zu bringen? Die künſtliche Vergrö— 
ßerung, welche man anwendet, beſteht in 
der Eskomptirung der noch zu erhoffenden 
Funde, man wendet dieſe künſtliche Ver— 
größerung aber nur auf der einen Seite 
an und redet ſich ein, man habe dadurch 
das Mißverhältnis aufgehoben, das erfor— 
derliche Gleichgewicht wieder hergeſtellt! 
(Welcher Vergleich! Red.) 

3. Die behauptete Ergänzung 
des naturhiſtoriſchen Syſtems durch 
die Foſſilien. Der Vortragende beſpricht 
die allgemein adoptirte Anſicht, daß unſer 
naturhiſtoriſches Syſtem durch die Mitein— 
beziehung der Foſſilien ergänzt werde, und 
ſucht den Nachweis zu liefern, daß dies 
wohl in einem gewiſſen idealen Sinne, kei— 
neswegs aber im Sinne der Darwinſchen 
Lehre der Fall ſei. 

Verſteht man unter der Ergänzung des 


207 


Syſtems die Bereicherung desſelben durch 


b neue Typen, ſo iſt dies jedenfalls richtig. 
ſen wird, indem ſie die Überzeugung nähren, 


Verſteht man darunter jedoch den 
direkten Nachweis der wirklichen Stamm— 
formen, ſo iſt dies entſchieden unrichtig. 

Wenn wir die Huftiere betrachten, ſo 
iſt es allerdings richtig (alſo doch! Red.), 
daß durch die foſſilen Anchitherien, Ano— 


plotherien, Oreodonten ꝛc. viele Lücken 


teilweiſe ausgefüllt werden, welche die ge— 
genwärtig lebenden Huftiergruppen tren— 
nen, andererſeits iſt es aber ebenſo richtig, 


daß durch die Dinoceraten, Brontotherien, 


Sivatherien u. ſ. w. neue Typen gegeben 
wurden, welche ſich außerhalb der bekann— 
ten Huftiertypen ſtellen und ohne im Min— 
deſten irgend welche Lücke auszufüllen, 
im Gegenteile nur ihrerſeits neue Lücken 
ſchaffen. 

Dasſelbe Reſultat erhalten wir aber 
immer wieder, wir mögen welche Gruppe 
immer betrachten. 

Die weitaus überwiegende Mehrzahl 
der meſozoiſchen Typen, wie die Dino— 
ſaurier, die Dieynodonten, die Sauropte— 
rygier, die Ganoiden, die Ammoniten, die 
Belemniten, die Nerineen, Pleurotomarien 
2c. ꝛc. füllen durchaus keine Lücken der 
gegenwärtigen Schöpfung aus, es ſind 
vielmehr neue Formen, neue Typen, wel— 
che, ohne welche Lücken auszufüllen, nur 
neue Lücken ſchaffen, neue Rätſel aufgeben. 

Daſſelbe zeigt in noch verſtärktem 
Maße die paläozoiſche Fauna. 

Wenn wir die ſogenannten Zwiſchen— 
formen, wie fie die früheren Schöpfungs— 
epochen uns liefern, näher ins Auge faſ— 
ſen, ſo ſtellt es ſich faſt regelmäßig her— 
aus, daß wir dieſelben nicht als die wirk— 
lichen direkten Vorfahren und Stammfor— 
men der jetzt lebenden Organismen be— 


Be 


208 


trachten können, ſondern daß dieſelben nur 
der problematiſchen gemeinſamen Stamm— 
form näher ſtehen als die betreffenden 
lebenden Formen und ſo gewiſſermaßen 
unſerer Phantaſie in dem Beſtreben, ſich 
ein Bild der wirklichen Stammform zu 
bilden, zur Hilfe kommen. 


Bei ideeller geiſtiger Auffaſſung des 
Syſtems erſcheint dies allerdings als ein 


großer Fortſchritt (wie ſo? R.), keineswegs 
aber vom Darwiniſtiſchen Standpunkt aus, 
der das naturhiſtoriſche Syſtem für einen 
wirklichen und reellen Stammbaum hält 
und unter den Foſſilien effektiv die wirk— 
lichen materiellen Glieder ſucht. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


die Darwiniſchen Erforderniſſe iſt jedoch 
durch dieſen Fund gar nichts gewonnen, 


denn nicht nur, daß man von den Gliedern 


a6 —a keines gefunden hat, ſtellt ſich viel— 


mehr noch die Notwendigkeit heraus, die 
Glieder bs, bs, b! nachzuweiſen, die An— 
zahl der fehlenden Glieder iſt demnach 
nicht verringert, ſondern vermehrt, die ef— 
fektive Lücke iſt nicht ausgefüllt, ſondern 
erweitert, die geſtellte Aufgabe nicht ver— 
kleinert, ſondern vergrößert worden. 

Da nun, wie bereits erwähnt, in 
der weitaus größten Mehrzahl der bekann— 
ten Fälle die neuen, vermittelnd auftreten— 


den foſſilen Typen nicht direkte Vorläufer, 


nicht Jugendformen und embryonale For— 
men der lebenden Organismen, ſondern 
vielmehr Miſchformen und Zwiſchenformen 
darſtellen, welche ſich gewiſſermaßen zwi— 
ſchen die bekannten Formenreihen hinein— 
ſtellen, ſo geht daraus hervor, daß unſer 


naturhiſtoriſches Syſtem durch die foſſilen 


A In beiſtehender Skizze 
‘ möge a eine Stammform 
41 bezeichnen, aus welcher ſich 
a ö B einerſeits durch al—a® die 
97 > Form A, anderſeits durch 
4 Ri jes bi, bo, b3 die Form B ent- 

a 1 zo: wickelt. 
1 421 Stellen wir uns nun 
a 1 vor, daß X eine uns be⸗ 


kannte lebende Form vorſtellt, jo erwächſt 


uns nun die Aufgabe, unter den Foſſilien 


die Glieder as, ad, at, as, a?, an bis zur 


Stammform a zu ſuchen. 


Stellen wir uns nun weiter vor, daß 
wir thatſächlich keines dieſer Glieder, wohl 


aber die Form B finden, welche zwar kein 
direkter Vorfahre von A iſt, aber doch der 
gemeinſamen Stammform a näher ſteht 
als dieſes, was ergiebt ſich hieraus? 

Für das ideelle Bedürfnis iſt der Fund, 
die Form B, ein großer Fortſchritt, weil ſie 
der Stammform a näherſtehend uns der 
Vorſtellung derſelben näher führt“), für 

*) Wieſo ein großer Fortſchritt, wenn es 
nach dem Herrn Verfaſſer keine Stammformen 
giebt? Red. 


Organismen wohl in ideeller Richtung er— 
gänzt wird, daß jedoch im Darwiniſtiſchen 

Sinne die vorhandenen Lücken dadurch 
nicht ausgefüllt, ſondern vielmehr ins Un— 
endliche erweitert werden. (Das verſtehe, 
wer es kann! Neue Formen können wohl 
neue Lücken ſchaffen, aber doch die alten 
nicht erweitern. Red.) 

Zur Erläuterung weiſtder Vortragende 
auf die bekannte, meiſterhafte Arbeit Pro— 
feſſor Claus’ über den Stammbaum der 
Kruſtazeen hin. Prof. Claus“) hatte es 
verſucht, auf Grundlage der Unterſuchung 
der lebenden Kruſtazeen die Grundzüge 
eines Stammbaumes der Kruſtazeen zu 
entwerfen, und zog ſodann auch die foſ— 


) Unterſuchungen zur Erforſchung der ge 
nealogiſchen Grundlage des Cruſtaceenſyſtems. 
Ein Beitrag zur Deszendenzlehre. Wien, 1876. 


** 


denſelben Stützen für ſeinen Stammbaum 
zu finden. Was war aber das Reſultat da— 
von? Wir finden es auf Seite 103, und 
es lautet folgendermaßen: 

„Leider ſind wir freilich zur Erfor— 
ſchung der Abſtammung der Kruſtazeen 
auf die aus den jetzt lebenden Organismen 
gewonnenen Erfahrungen ſo gut als be— 
ſchränkt. Die foſſilen Kruſtazeenreſte, ſo 
groß auch die Fülle von Formen iſt, die 
uns von den älteſten, verſteinerungsfüh— 
renden Schichten bis zur Diluvialzeit vor— 
liegen, bieten für unſere Aufgabe erſtaun— 
lich ſpärliche Anhaltspunkte, nicht einmal 
ausreichend, um zur Kontrolle auf die Rich— 
tigkeit unſerer Ableitungen verwertet wer— 
den zu können. Auch auf dem Gebiete der 
Kruſtazeen tritt die Paläontologie neben 
Anatomie und Entwicklungsgeſchichte total 


in den Hintergrund.“ 


In ſeinem dritten Vortrage (am 17. 
Februar) ſprach Herr Th. Fuchs „Über 
die ſogenannten Mutationen und 
Zonen in ihrem Ver hältniſſe zur 
Entwicklung der organiſchen Welt“ 
und knüpfte dabei, um auf ein konkretes 
Beiſpiel einzugehen, an die bekannte, in 
den Schriften der Geologiſchen Reichs— 
anſtalt erſchienene Arbeit Profeſſor Neu— 
mayrs „Über unvermittelt auftretende 
Cephalopodentypen im Jura Mitteleuro— 
pas“, welche Arbeit in neuerer Zeit in 
einer anderen „Zur Kenntnis der Fauna 
des unterſten Lias in den Nordalpen“ eine 
teilweiſe Ergänzung gefunden hat. 

Nach einigen Vorbemerkungen, die kei— 
nen unmittelbaren Bezug zu dem Thema 
haben, bemerkte der Vortragende, daß 
dieſe Arbeit in dem Reſultate gipfle, daß 
wir im mitteleuropäiſchen Jura eine un- 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ſilen Formen heran, in der Hoffnung, in 


209 


unterbrochene, kontinuirliche Reihe von 33 
verſchiedenen Faunen vor uns haben, von 
denen eine jede durch eine kleine Umände— 
rung der vorhergehenden entſtanden ſei, 
durch eine Umänderung, welche beiläufig 
den Wert einer ſogen. Mutation habe. 

Unvermittelt auftretende Typen wer— 
den als Einwanderer aus anderen Ent— 
wickelungsgebieten und mithin nur für lo— 
kale Erſcheinungen erklärt. 

Was für die Juraformation gilt, muß 
wohl auch in analoger Weiſe für die übrigen 
Formationen Geltung haben, und wenn 
bei denſelben auch bisher eine ähnliche, 
auf Mutationen gegründete Zoneneintei— 
lung noch nicht faktiſch durchgeführt wurde, 
ſo können wir doch die Anzahl der in ihnen 
enthaltenen Zonen nach Analogie der in 
der Juraformation nachgewieſenen inner— 
halb gewiſſer Grenzen abſchätzen. 

Ich habe dies nach einem, wie ich 
glaube, übertriebenen Maßſtabe gethan 
und erhalte dabei, vom Unterſilur ange— 
fangen bis zur Gegenwart, doch nicht mehr 
als 153 Zonen. 

153 mal hat ſich alſo ſeit dem Silur 
bis zur Gegenwart die Fauna geändert 
und alles, was ſeit Beginn des Silur auf 
Erden gelebt hat, alles, was noch auf 
Erden von Organismen vorhanden iſt, 
alles dies muß ſich bei konſequenter An— 
wendung der leitenden Idee aus den Or— 
ganismen des Silur entwickelt haben, und 
zwar einfach dadurch, daß dieſe Organis— 
men 153 mal mutirten. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 


Silur | 
Devon gn 40 
m) 
Bas m Hl. 3 
Jura 8 
Heide. a 
Känozoiſche . . 20 
153 
27 


210 


Der Verfaſſer zeigt nun weiter, daß 
auch dieſe Zahl noch zu groß iſt und daß 
man, auf Neumayrs Prämiſſen weiter 
bauend, auf 70 oder gar auf blos 24 
Mutationen komme, durch die ſich nach 
dieſer Anſicht die heutige Lebewelt aus 
der ſiluriſchen gebildet haben ſollte. Wir 
gehen aber nicht näher darauf ein, weil 
uns dieſer geſammte dritte Vortrag nur 
ein einziges großes Mißverſtändniß zu ſein 
ſcheint. 


Aber ein neues, äußerſtes Glied in 
der Neihe der amorphen Kohlenarken. 

Die Kohle als Überreſt organiſcher 
Weſen, namentlich von Pflanzen, findet 
ſich in den Schichten der Erde bekanntlich 
in ſehr verſchiedenen Stufen der Zerſetzung. 
Bei der langſamen Verweſung, wie ſie 
unter Waſſer oder in der Erde vor ſich 
geht, gehen zuerſt Sauerſtoff, Waſſerſtoff 
und Stickſtoff fort, und das Endziel dieſes 
Prozeſſes würde ein mehr oder weniger 
reiner, von obigen Stoffen freier Kohlen— 
ſtoff ſein. Man unterſcheidet in populärer 
Ausdrucksweiſe drei Hauptgruppen, die 
man Braunkohlen, Steinkohlen und An— 
thrazite nennt, unter denen ſich aber Über— 
gänge aller Art finden, ſo daß man eigent— 
lich viel mehr Stufen unterſcheiden müßte. 
Es iſt natürlich, daß die älteren Kohlen— 
lager weiter vorgeſchrittene Zerſetzungs— 
produkte, d. h. kohlenſtoffreichere Kohlen 
enthalten müſſen, die ihre ehemalige Struk— 
tur vollkommener eingebüßt haben, als die 
jüngeren, und daher findet man in der 
Tertiärformation, in den Kreide- und Jura— 
ſchichten die noch deutliche Holzſtruktur 
zeigenden Braunkoͤhlen, in den permiſchen 


und karboniſchen Schichten die dichteren 


| 
| 

| 

2 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Steinkohlen, in den karboniſchen, devoni— 
ſchen und ſiluriſchen Schichten dagegen 
Anthrazite, die älteſten bisher bekannten 
amorphen Kohlen. Natürlich iſt dieſe Al— 
tersklaſſifikation keine bindende, denn je 
nach der Lokalität und den Umſtänden kann 
hier oder da eine ſchnellere oder langſamere 
Karboniſirung vor ſich gegangen fein, und ſo 
kommen bisweilen Anthrazite in karboni— 
ſchen Schichten, und Steinkohlen in den 
gewöhnlich nur Anthrazite enthaltenden 
älteren Schichten vor. 

Eine wohl unterſcheidbare noch ältere 
Modifikation iſt nun neuerdings an den 
nordweſtlichen Ufern des Onegaſees von 
A. Inoſtranzeff unterſucht und charak— 
teriſirt worden, worüber wir einem Be— 
richte im „Neuen Jahrbuch für Minera— 
logie, Geologie und Paläontologie“ (1880, 
I, S. 97) das folgende entnehmen. 

Man hatte von dort eine ſogenannte 
„ſchwarze Olonezer-Erde“ in den Handel ge— 
bracht und Anſtalten getroffen, die vermeint— 
lichen Steinkohlenlager auszubeuten. Bei 
einer genaueren Unterſuchung der Profile 
fand nun Inoſtranzeff, daß die dort an— 
ſtehenden Thonſchiefer zur huroniſchen For— 
mation gehören, was der von ihnen ein— 
geſchloſſenen, vermutlich von den älteſten 
organiſchen Weſen herrührenden Kohle ein 
um ſo höheres wiſſenſchaftliches Intereſſe 
verlieh. In der That entſpricht ſie nach 
ihren phyſikaliſchen und chemiſchen Eigen— 
ſchaften den Vorausſetzungen, die man 
einer ſo alten Kohle gegenüber hegen 
mußte. In den reinſten Proben zeigt ſie 
einen ſchwarzen, diamantartigen Metall— 
glanz, der ſich ſelbſt durch ein Erhitzen bis 
zur dunklen Rotglut nicht verliert und nach 
einer Behandlung mit ſchwacher Salzſäure 
nur noch eklatanter auftritt. Dieſe Kohle 


) 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 211 


beſitzt ferner eine überraſchende, zwiſchen 
3 ½ und 4 in der Skala ſtehende Härte, 
ſo daß ſie isländiſchen Spath mit Leichtig— 
keit ritzt. Das ſpez. Gewicht wurde — 
1,841 gefunden. 

Unter ihren chemiſchen Eigenſchaften 
fällt am meiſten die ſchwere Verbrennlich— 
keit auf. Ein Gramm gepulverter Probe 
war in einem offenen Tiegel über einem 
Gasbrenner erhitzt, erſt nach neun Stun⸗ 
den völlig verbrannt, während ein gleich— 
ſchweres Stück dichten Graphits unter den— 
ſelben Umſtänden ſchon in 3 ½ Stunden 
verbrennt. Die chemiſche Analyſe ergab 
eine Zuſammenſetzung der friſchen Kohle 
reinſter Qualität aus 90,50 % Kohlen— 
ſtoff, 0,40% Waſſerſtoff, 0,41% Stick⸗ 
ſtoff, 1,01 %ĩ” Aſche und 7,76% Waſſer. 
Der Kohlenſtoffgehalt der völlig ausge— 
trockneten Kohle wurde durch Verbrennung 
in trockenem Sauerſtoff auf 98,11% be— 
ſtimmt. Durch dieſen Kohlenſtoffreichtum 
bei bedeutend vermindertem Waſſerſtoff— 
gehalt, ſowie durch die Anweſenheit von 
Stickſtoff und das Fehlen von Sauerſtoff 
unterſcheidet ſich die Olonezer Kohle von 
| allen bisher unterſuchten Kohlenarten, 

auch den kohlenſtoffreichſten Anthraziten. 
Im Kohlenſtoffgehalt dem Graphit nahe— 
kommend, weicht ſie von dieſem in ihrem 
chemiſchen Verhalten durchaus ab. Sie 
liefert nämlich bei Behandlung mit oxydi— 
renden Mitteln durchaus keine Graphit— 
ſäure, ſondern verhält ſich wie gewöhn— 
licher amorpher Kohlenſtoff. 

Auch die genauere Vergleichung ihrer 
phyſikaliſchen Eigenſchaften mit denen des 
Anthrazits und Graphits ergab, daß ſie 
ſich ſowohl von der kohlenſtoffreichſten 
amorphen Kohle, dem Anthrazit, als von 
dem kriſtalliniſchen Graphit weſentlich un— 


1 —— 


terſcheidet. In der Härte übertrifft ſie 
| ſehr erheblich beide, denn die Härte des 
Anthrazits überſteigt nicht 2 — 2,5, die 
des Graphits iſt noch geringer (1 — 2). 
Nach ihrem ſpezifiſchen Gewichte und der 
Leitungsfähigkeit für Elektrizität ſteht ſie 
dem Graphit näher als dem Anthrazit. 
Nach allen Richtungen ſtellt ſo die 
Olonezer Kohle ein höchſt merkwürdiges 
äußerſtes Glied in der Reihe der bis jetzt be— 
kannten Kohlen organiſchen Urſprungs dar. 


Konſtante Hkafaridenbildung des 
Gehäuſes bei einer Landſchnecke und 
regelmäßige Vererbung dieſer Eigen— 
ſchaft bei ihrer Nachkommenfchaft. 

Von einem ganz wunderbaren Faktum 
haben uns die Herren H. Blanc und C. 
A. Weſterlund in ihrem ſoeben erſchiene— 
nen „Apergu sur la faune malacologique 
de la Grèce, Naples, 1879, p. 32“ Nach— 
richt gegeben. Sie beſchreiben daſelbſt 
als fragliche Subſpezies von Patula ru- 
pestris Drap., einer auch in Deutſchland 
in Kalkgebieten häufigen kleinen Schnecken— 
art, eine konſtant ſkalarid auftretende He— 
licee unter dem Namen chorismenostoma 
Blanc. Dieſe Form wird vom Berg Ma— 
coleſſos in Böotien, wo fie ſich in Maſſe 
finde, und von der Inſel Syra aus der Um: 
gebung des Dorfes St. Georgios ange— 
geben. Ich war vor wenigen Tagen ſo 
glücklich, von der eifrigen Naturforſcherin 
Frl. Joſéphine Thieſſe in Chalkis, der 
Entdeckerin dieſer Form am erſtgenannten 
Fundorte, ein ganzes Glas voll (50 Expl.) 
dieſer wunderbaren Schnecke zu erhalten, 
und ich kann nach eingehendſter Prüfung 
derſelben nur beſtätigen, daß die Herren 


N 


212 


Blanc und Weſterlund richtig geſehen 
haben, d. h. daß die vorliegende Schnecke 
in der That zu Pat. rupestris Drap. ge— 
hört, und daß ſie als konſtante Skalaride 
aufgefaßt werden muß. Bei allen vorlie— 
genden Stücken vom Berg Macoleſſos iſt 
nämlich der letzte Umgang der Schale nach 
Art der Gattung Vermetus weit abgelöſt, 
vollkommen röhrenförmig, und die Schnecke 
iſt mithin als echte und zweifelloſe Ska— 
laride zu betrachten. 

Vergeſſen dürfen wir nicht, daß ſchon 
Roth in feinem Spicilegium Moll., Mün- 
chen, 1855, p. 7 auf dieſe in Attika nicht gar 
ſeltene Abnormität aufmerkſam macht; aber 
daß dieſelbe an gewiſſen Lokalitäten kon— 
ſtant und ohne Vermiſchung mit der Stamm— 
form auftritt, daß ſie ſeit Jahren von Ge— 
neration zu Generation ſich erneut, daß 
mithin die bis jetzt allgemein für patholo— 
giſch gehaltene ſkalaride Gehäuſebildung 
ſich unter Umſtänden vererbt, iſt neu und 
angeſichts des Hilgendorff-Sandberger— 
ſchen Streites über die Planorbiden des 
Steinheimer Beckens und ſeine wirklichen 
und vermeintlichen Skalaridenformen ge— 
wiß nicht blos von theoretiſchem Intereſſe! 

Schon v. Ihering kam zu der An— 
ficht *), daß es ſich in den Steinheimer Ska— 
lariden nicht um Mißbildungen im Sinne 
S. Cleſſins, die ihre Form niemals den 


Nachkommen vererben ſollten, handelt, ſon- 


dern um echte, durch Übergänge verbun 
dene, aber in beſtimmten Schichten mehr 


oder minder ſtark fixirte Varietäten einer 


einzigen Spezies. Unſer von Frl. Thieſſe 
zuerſt beobachteter Fall der konſtanten erb— 
lichen Skalaridenbildung läßt ſomit von 
Iherings Vermutung als eine durchaus 


) Amtl. Bericht der 50. Verſ. d. Naturf. 
München, 1877, S. 159. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


gerechtfertigte und folgenreiche Thatſache 
erſcheinen. 

Es muß allerdings zugegeben werden, 
daß an zwei der genannten Fundorte, in 
Attika (Roth) und auf Syra (Blanc) ge— 
legentlich auch typiſche Stücke von Pat. 
rupestris unter den Skalariden vorkom— 
men, aber könnte das nicht ſehr einfach als 
ein Rückſchlag in die urſprüngliche Art zu 
deuten ſein? Auf dem Macoleſſos dagegen 
lebt die Form ſicher nur ſkalarid in tau— 
ſenden von Stücken ohne jede Miſchung 
mit normalen Exemplaren. 

Über die näheren Verhältniſſe des 
Vorkommens dieſer intereſſanten Schnecke 
ſchreibt mir Frl. Thieſſe d. d. 30. März 80 
Folgendes: 

„Je ne puis pas attribuer à aucune 
cause quelconque la difformite des Pa- 
tula rupestris du Mt. Macolessos. Pour 
mon compte je ne crois pas que ce soit 
une difformite; puisque tous les indivi- 
dus sont pareils. Ce n'est donc pas un 
hasard! Je les trouve dans un ravin du 
Mt. Macolessos. Elles ne sont pas collées 
sur les rochers comme les autres Pat. 
rupestris (normales), mais collees au 
dessous des pierres comme les Pupa 
rhodia Roth. Exposition nord; hauteur 
500-600 metres du niveau de la mer.“ 

An eine jedesmal von Neuem wirkende 
Urſache, welche die Loslöſung des letzten 
Gehäuſeumgangs verurſachen könnte, iſt 
natürlich ebenſowenig zu denken, wie an 
den Fall, daß die normalen Stücke der 
Schnecke vor ihrer vollkommenen Entwicke— 
lung ſämmtlich zu Grunde gegangen ſein 
ſollten. Bleibt demnach nur die einzige 
Möglichkeit, daß in der That die vorlie— 
gende Skalaridenform auf dem Wege iſt, 
eine neue Spezies zu bilden, und daß 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ſie ihre ſo auffallende Eigentümlichkeit nun 


ſchon ſeit wenigſtens einem Vierteljahr— 
hundert konſtant vererbt. Ich zweifle nicht 
daran, daß Pat. rupestris chorismeno- 
stoma dazu berufen iſt, der Lehre von der 
Unmöglichkeit der Vererbung urſprünglich 
pathologiſcher Bildungen einen gründlichen 
Stoß zu verſetzen.“) 
Frankfurt a. M. 
Dr. O. Boettger. 


Die Olegoſaurier. 


Marſh vor kurzem (American Journal 


of Science, March 1880) einige inter- 


eſſante Einzelheiten veröffentlicht, aus de— 
nen wir das folgende entnehmen: 

Unter den Charakteren, welche die ty— 
piſche Gattung Stegosaurus von allen an- 
deren bekannten Dinoſauriergruppen un— 
terſcheiden, ſind bisher die folgenden auf— 


gefallen: 1. Alle Knochen des Skeletts 
ſind ſolid. 2. Das Oberſchenkelbein iſt ohne 


dritten Rollhügel. 3. Der Kamm an dem 
äußern Höcker des Oberſchenkelbeins, wel— 
cher bei den Vögeln den Kopf vom Schien— 
und Wadenbein trennt, iſt rudimentär oder 
fehlend. 4. Das Schienbein iſt mit den 
angrenzenden Fußwurzelknochenenden ver— 
knöchert. 

Der Schädel der Stegoſaurier iſt, 
ſoweit bekannt, merkwürdig klein. In ſei— 
nen hauptſächlichſten Zügen ſtimmt er mit 
*) Für etwaige Intereſſenten bemerke ich, 
daß das Naturhiſtoriſche Inſtitut „Linnaea“ in 
Frankfurt a. M. zahlreiche Exemplare der ge— 
nannten Schnecke auf Lager hält und ſie zum 


geben in der Lage iſt. 
**) Vgl. Kosmos, Bd. VI, ©. 388. 


213 


dem der Brückeneidechſe (Hatteria) von 
Neuſeeland näher überein, als mit dem 
irgend eines andern Reptils. Die Quadrat- 
beine waren fixirt und ein Quadratjoch— 
bogen vorhanden. Die Kinnladen waren 
kurz und maſſig. 

Über das Gehirn der Dinoſaurier 
war bisher wenig bekannt, aber glücklicher— 
weiſe war bei einem Exemplar des Stego- 
saurus die Gehirnkapſel wohl erhalten 
und anſcheinend ohne Verzerrung. Die 
nachſtehenden Figuren zeigen die betreffen— 


den Teile des Schädels mit einem Abguß 
Über dieſe vor einigen Jahren neu— 
entdeckte Dinofauriergruppe**) hat O. C. 


des Gehirnes darin und darunter in der 
Seitenanſicht. Das Gehirn dieſes Reptils 
war ſtark verlängert und ſeine am meiſten 
auffallenden Züge beſtehen in der großen 
Ausdehnung der Sehhügel (op) und den 
kleinen Hemiſphären des Vorderhirns (c). 
Die letzteren übertrafen im Querdurch— 
meſſer nur wenig den des verlängerten 
Markes (m). Das Kleinhirn (ob) war ganz 
klein. Der Sehnerv (on) entſpricht in ſei— 
ner Größe der der Sehhügel. Die Riech— 
lappen (ol) waren von bedeutender Größe. 
Als Ganzes war dieſes Gehirn mehr ei— 
dechſen- als vogelartig. Intereſſant iſt die 
Vergleichung mit dem Gehirn eines jun— 
gen Alligators, welches dem hier abgebil— 
deten ähnlich iſt, nur daß das Großhirn 
bedeutend an Breitenausdehnung zugenom— 
men hat. Das Maſſenverhältnis beider 
Gehirne auf ungefähr gleichgroße Tiere 
abgeſchätzt, ergiebt, daß die heutigen Alli— 
gatoren ein ungefähr hundertmal größeres 
Gehirn haben, als die Stegoſaurier im 
Verhältnis zu ihrer Körpergröße. Im Ver— 
gleich zu Morosaurus und andern Dino— 


eden e e ab | ſauriern, die Marſh unterſuchen konnte, 


beſaß Stegosaurus unter allen bis jetzt 
bekannten foſſilen und lebenden Land— 


214 


wirbeltieren, imBerhältnis zu ſeinerͤKörper— 
größe, daskleinſte Gehirn. Es brauchtnicht 
daran erinnertzu werden, daß dieſe beſonders 
an den Großhirnlappen — die hier dieſen 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Namen nicht verdienen — hervortretenden 
Erſcheinungen auf das ſchönſte mit den von 
MarſhaufgeſtelltenGeſetzen über das Ge— 
hirnwachstum in der Zeit übereinſtimmten. 


A. von oben, B. von der Seite geſehen. 
ol Riechlappen, e Großhirn, op Sehhügel, on Sehnerv, cb Kleinhirn, m verlängertes Mark, 
f Augenhöhlen, k“ Schläfengruben, oc Hinterhauptshöcker. 


Die Zähne des Stegosaurus waren | tilien ſehr ſchnell abgenutzt und durch 


ſehr zahlreich und von meiſt langer 
Die Kronen ſind 


cylindriſcher Form. 
meiſt in der Quere zuſammengedrückt und 
mit dünner Emaille bedeckt. Die Kinn— 
lade enthält nur eine einzelne Reihe 
von in Gebrauch befindlichen Zähnen, 
aber daneben mehr Erſatzzähne, als je— 
mals bei einem Reptil beobachtet wurden. 
Fünf Erſatzzähne in verſchiedenen Ent— 


in der Höhle gefunden, in welcher die 


Wurzel des im Gebrauche befindlichen 


Zahnes ſteckte. Sie wurden, wie es 


ſcheint, von dieſen pflanzenfreſſenden Rep⸗ 


durch neue erſetzt. i 

Die Wirbel find ſämmtlich beider: 
ſeits, wenn auch nur leicht, an der Gelenk— 
fläche ausgehöhlt und alle ohne Luft- oder 


Markhöhlungen. Zum Teil ſind ſie mit 


langen Rückendornen verſehen, und na— 
mentlich ſcheinen die vordern Schwanz— 
wirbel eingerichtet geweſen zu ſein, einen 


ſchweren Hautpanzer zu tragen. Die Zahl 
wicklungszuſtänden wurden in einem Falle 


der Kreuzbeinwirbel konnte bei obiger Art 
nicht feſtgeſtellt werden. 

Die Vorderbeine waren ſehr kräf— 
tig und verſchiedenen Bewegungsarten an— 
9 Vgl. Kosmos, Bd. II, S. 421. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


215 


gepaßt; der Schultergürtel vom echten ähnlichen vor mehreren Jahren in Eng— 
land gefundenen Dinoſaurier (Omosau— 


Dinoſauriertypus. 
Von Becken und Hinterbeinen, 
die nicht vollſtändig vorhanden ſind, ſcheint, 


Oberſchenkelbein iſt bei weitem der größte 
Knochen im ganzen Skelett. Es iſt be— 
merkenswert lang und ſchlank und in ſei— 
nen Endbildungen ſowohl den Vögeln als 
den Dinoſauriern ähnlich. Auch die Unter— 
ſchenkelknochen zeigen mancherlei Analo— 
gien mit dem Vogeltypus. 

Eine der merkwürdigſten Eigentüm— 
lichkeiten des Stegosaurus bildet die Rei— 
henfolge von Verknöcherungen ſeines An— 
griffs- und Schutzpanzers. Dieſelben be— 
ſtehen aus zahlreichen Dornen, zum Teil 
von bedeutender Größe und Macht und 
aus vielen Knochenplatten von verſchieden— 
artiger Größe und Geſtalt, wohlgefügt, 
um das Tier gegen Angriffe zu ſchützen. 
Einzelne dieſer Platten haben einen Meter 
Durchmeſſer. Die Dornen waren von ver— 
ſchiedenen Geſtalten und variirten ſehr in 
der Größe. Einige derſelben ſind mehr 
als zwei Fuß lang. Dieſe Dornen zeigen 
eine runzlige, ſchiefe Baſis, und ihre Sei— 
ten ſind mit Gefäßeindrücken und Gruben 
verſehen, ähnlich den knöchernen Gehörn— 
kernen der Huftiere. Sie waren augen— 
ſcheinlich mit einer hornigen Subſtanz be— 
deckt und bildeten bei Lebzeiten eine ſehr 
mächtige Waffe. Von den größeren Dor— 
nen ſind neun bei einem Skelett gefunden 
worden, daneben mannigfache kleinere. 
Möglich, daß ſie einen Kamm auf dem mit 
breiten Schildern beſetzten Rücken gebildet 
haben, wie man es bei einigen anderen 
Dinoſauriern angenommen hat. Jedenfalls 
ſcheinen viel mehr Panzerplatten, als Dor— 
nen vorhanden geweſen zu ſein. Bei einem 


rus) hat Owen angenommen, daß die 


wenigen daſelbſt gefundenen Dornen an 
ſoweit erkennbar, daſſelbe zu gelten, das 


der Handwurzel befeſtigt waren. Dieſes 
Tier war im übrigen ſo ähnlich gebaut, 
daß es wahrſcheinlich mit zu den Stego— 


ſauriern gerechnet werden muß, doch weiß 


man nicht, ob es ebenfalls Hautſchilder 
beſaß. 

Die beiden bisher bekannten Stego- 
saurus- Arten waren ungefähr dreißig 
Fuß lange Pflanzenfreſſer und wahrſchein— 
lich mehr oder weniger Waſſertiere. Es 
wäre möglich, daß der Unterſchied zwiſchen 
beiden Arten nur ein ſexueller wäre, da 
nur bei dem Skelette der einen Art Dor— 
nen gefunden worden ſind. 

Das Mißverhältniß in der Länge der 
Vorder- und Hinterbeine war bei Stego— 
saurus wahrſcheinlich größer, als bei ir— 
gend einem andern bekannten Dinoſaurier 
und läßt annehmen, daß ſie bei ihren Be— 
wegungen am Lande mehr oder weniger 
zweibeinig geweſen ſind. Die ſehr kurzen, 
mächtiger, freier Bewegung fähigen Vor— 
derglieder mögen wohl bewaffnet mit 
Dornen und höchſt wirkſam zur Verteidi— 
gung geweſen ſein, der Rücken war augen— 
ſcheinlich ebenſowohl mit Angriffs- als mit 
Schutzwaffen verſehen. Auf dieſe Weiſe 
muß Stegosaurus bei Lebzeiten von allen 
bisher entdeckten Dinoſauriern bei weitem 
den ſeltſamſten Anblick dargeboten haben. 

Die Überbleibſel der hier beſchriebe— 
nen Tiere ſtammen ſämmtlich aus den At- 
lantoſaurus- Schichten des oberen Jura 
von Kolorado und Wyoming. Durch ihre 
Auffindung haben Arthur Lakes, W. 
H. Reed und S. W. Williſton der 
Wiſſenſchaft wichtige Dienſte erwieſen. 


216 


Prfiozän-Sirfche im oberen Arnolhale. 

In einer der vorjährigen Sitzungen 
der Societä Toscana di Scienze Naturali 
führte Dr. C. J. Forſyth Major folgende 
Pliozän-Hirſche als im oberen Arnothale 
vorkommend an: 

1. Cervus (Eucladoceros) Sedgwickii 
Fal c.-C. dicranius Nestii M. S. S. 

2. Cervus ctenoides N estii, ähnlich 
dem C. tetraceros Dawkins im Pliozen 
von Seyrolles (Puy de Dome) 

3. Cervus Perrieri Croiz. e Job. 

4. Cervusetuariarum Croiz.eJob.? 

5. Cervus Nestii F. Major. 

6. Cervus Nestii F. Major (neue 
Spezies?) und ſchließt nachſtehende all— 
gemeine Betrachtungen daran an: 

Der Parallelismus zwiſchen der onto— 
genetiſchen und phylogenetiſchen Entwick— 
lung der Hirſche, wie er von Gaudry und 
Boyd Dawkins nachgewieſen wurde“), 
macht es zuweilen ſchwer, zu entſcheiden, 
ob eine gewiſſe Art von Geweih eine er— 
wachſene oder eine junge Form konſtituirt. 
So iſt z. B. der C. Sedgwickii Falc. des 
Foreſtbed aller Wahrſcheinlichkeit nach nur 
eine nicht erwachſene Form von C. diera- 
nius Nestii im florentiner Muſeum, ſowie 
das am ſelben Orte aufbewahrte Geweih, 
welches B. Dawkins dem C. etuariarum 
zuſchreibt, weiter nichts ſein könnte, als 


eine nicht ausgewachſene Form von G.“ 
Perrieri Cr. et Job. oder von C. Nestii 


F. Major. 


*) Anm. d. Red. Dieſelben haben bekannt⸗ 
lich gezeigt, daß die älteſten Cerviden, in denen 
noch Hirſch und Antilope verſchmolzen waren, 
ein ſehr einfaches Gehörn beſaßen, welches ſich 
nur an der Spitze einfach gabelte und nicht regel- 
mäßig abgeworfen wurde, weshalb es auch die 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Die Hirſche mit ſehr komplexem Ge— 
weih, d. h. C. dicranius und C. etenoides 
kommen hauptſächlich aus der Umgegend 
von Figline (oberes Arnothal), die mit ein— 
facherem Gehörn (C. Perrieri, Nestii etc.) 
meiſtens von San Giovanni und Monte— 
varchi. Da die einfach gehörnten Hirſche 
in der geologiſchen Folge zuerſt erſcheinen, 
ſo iſt es nicht unmöglich, daß die Ablage— 
rungen der Umgegend von Figline, woher 
die Überreſte der genannten Hirſche her— 
rühren, erheblich jünger ſind, als die der 
Umgegend von San Giovanni und Monte— 
varchi, der Fundſtätte des C. Perrieri; 
dieſe Annahme wird auch durch andere 
Thatſachen bekräftigt. 

Um Mißyverſtändniſſe zu vermeiden, 
muß jedoch hervorgehoben werden, daß 
die Fauna der C. dieranius und ctenoides 
jedenfalls der quaternären vorhergeht; wie 


andrerſeits die Fauna von C. Perrieri uns 


bedingt nach der von Kaſino kommt. 

Die pliozänen Hirſche, deren Geweihe 
3 und 4 Spitzen beſitzen, gehören alſo, ſo— 
viel man nach dem Gehörn urteilen kann, 
zur Gruppe der heute in der öſtlichen Re— 
gion (nach Wallace) lebenden Hirſche, d. h. 
zur Gruppe der Axis, Russa, C. ta&vanus 
C. manchurius. Boyd Dawkins ſchließt 
daraus, daß die öſtliche Region den Axidae 
eine ſichere Zuflucht vor jenen Veränderun— 
gen gewährt habe, welche ſie zwangen, ſich 
von Europa zurückzuziehen. 

Man kann jedoch noch zwei andere Fälle 
annehmen: 


bekannte Roſe am Grunde nicht beſaß. Bei etwas 
jüngeren Hirſchen wurden dann anſcheinend nur 
die Spitzen abgeworfen und es blieb ein langer 
Fuß ſtehen, auf dem ſich die Spitze ergänzte, 
worauf ſchließlich von den Nachkommen das 
geſammte Geweih abgeworfen wurde. 


Be 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


1. daß zur Pliozänzeit auch in der 


öſtlichen Region bereits dieſe Hirſchgruppe 


exiſtirt habe, von der die heute lebenden 
Abkömmlinge ſeien. Daß man ſie bisher 


noch nicht in der öſtlichen Region gefunden, 
iſt von keinem großen Werte als Wider— 
legung dieſer Annahme. 

2. daß die Axidae der europäiſchen 
Pliozäns, wie die heutigen Axidae der öſt— 
lichen Region, ſich unabhängig die einen 


von den andern entwickelt haben, von Stäm- 


men, die vielleicht unter ſich verſchiedener 
waren, als es ihre Endprodukte ſind. So 
z. B. wurden von Marſh in Nordamerika 
40 Intermediär-Arten gefunden, welche 
den Übergang vom Eohippus des unteren 
Eozens zum quaternären Equus zeigen. 
Andrerſeits beſitzen wir in Europa vom 
Mittel-Eozen an eine in den älteren Ablage— 
rungen weniger vollſtändige, aber in den 
rezenteren gewiß nicht weniger kontinuir— 
liche Serien, ohne daß man bisher eine 
Identität in den Gattungen hätte konſta— 
tiren können, ausgenommen am Endaus— 
lauf einer jeden Serie, welchen das Genus 
Equus bildet. — Ein Paläontologe, der 
zur mittleren Miozänzeit kontemporän in 
Europa mit dem Anchitherium, in Amerika 
mit dem Miohippus gelebt hätte und der 
ſich über die Glieder, welche dieſen beiden 
Gattungen in ihrer betreffenden Serie 
vorausgehen, Rechenſchaft abgelegt hätte, 
würde haben vorausſagen können, daß 
eine Zeit kommen würde, — wenn die in 
den vorhergehenden Epochen begonnenen 
Übergänge in derſelben Richtung ſich wei— 
ter entwickeln, d. h. einerſeits die Reduk— 
tion der ſeitlichen Metatarſen und Meta— 
karpen (zugleich mit der größeren Entwick— 


lung der mittleren Metakarpen und Meta- 
nannte Läufigkeit oder Menſtruation natur— 


tarſen), andrerſeits die größere Verlänge— 


den Erſcheinungen: 


217 


rung des Körpers der Molare, zuſammen 
mit den Modifikationen in der Faltung der 
Glaſur u. ſ.w. — wo ſich gewiſſe Formen 
entwickeln würden, die auch in der that 
nach dem Mittelmiozän gelebt haben, und 
die wir Hipparion, Equus Stenonis, E. 
caballus in Europa — Protohippus, Plio- 
hippus, Equus curvidens u. ſ. w. in Ame— 
rika nennen. In derſelben Weiſe können wir 
heute vorausſetzen, daß wenn den heutigen 
Vertretern der Gattung Equus hinreichende 
Zeit gelaſſen wird, die beiden ſeitlichen 
Metakarpen und Metatarſen immer mehr 
abnehmen werden, bis ſie nicht mehr ge— 
trennt exiſtiren, ſondern nur noch in ihren 
Proximalteilen vorhanden, vollſtändig mit 
dem mittleren Metakarpus und Meta— 
tarſus verſchmolzen ſein werden und in— 
folge deſſen weitere Veränderungen in 
den Karpus- und Tarſusknochen ſtattfin— 
den werden. 

Das vergleichende Studium ähnlicher 
Parallelformen in zwei Regionen und in 
Epochen, in denen man die Emigrations— 
möglichkeit aus der einen in die andere 
ausſchließen kann, wie im alten Tertiär 
Europas und Nordamerikas, wird uns mit 
der Zeit beſſer, als wir es heute wiſſen, leh— 
ren, welche Charaktere einer gewiſſen Form 
prädeſtinirt ſind — wenn es erlaubt 
iſt, dieſen einigermaßen kompromittirten 
Ausdruck in der Wiſſenſchaft anzuwenden 
und welche aceidentell erworben wurden. 


Eine Vankloffeln ſäugende Hündin. 
Meine anderthalbjährige Hühnerhün— 
din „Leda“ überraſchte mich mit folgen— 


Schon zweimal habe ich bemerkt, daß 
dieſelbe, unbegattet, zu der auf die ſoge— 


_—— —— 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 


218 


gemäß folgenden Wurfzeit Milcheinſchuß 
bekommt und dann ſehr unruhig wird. 
Hiernach iſt der Milcheinſchuß unabhängig 
geworden von der Entwickelung der Em— 
bryonen, hält ſich aber an deren, in der 
Gewohnheit des mütterlichen Organismus 
gleichſam imaginär liegenden, Erſchei— 
nungsfriſt. Vor einigen Wochen fand erſt 
wieder ein ſolcher wurfzeitlicher Milchein— 
ſchuß ſtatt, der von intereſſanten pſychiſchen 
Vorgängen begleitet war. Die Hündin 
war gegen Menſchen ſehr liebebedürftig, 
aber bös gegen andere Hunde, was man ihr 
ſonſt entſchieden nicht nachſagen kann; be— 
ſchäftigte man ſich nicht mit ihr, ſo konnte 
man es vor dem ewigen Gewinſel gar 
nicht aushalten. 
und auf ihren Lieblingsplatz am Ofen legte 


Auf den Stubenboden 


fie ſich nicht mehr, verlangte dagegen wei- 


che Unterlage, was ſie dadurch zu erkennen 
gab, daß ſie auf eine wollene Decke, ſonſt 
nur als Nachtlager dienend, oder gar in 
die Betten ſich zu legen unterſtand. Dem 


Tiere thuen die angeſchwollenen Milch- 


drüſen auf dem harten Boden weh, dachte 
ich, und würde dieſen Erſcheinungen keine 
weitere Aufmerkſamkeit zugewendet haben, 
hätte ich nicht plötzlich eine Manie an der 
Hündin wahrgenommen, ein altes Fuchs— 


fell zu lecken, zu flohbeißen und auf ihr | 


Lager zu ſchleppen. Dasſelbe geſchah mit 
Taſchentüchern und andern weichen, trans— 
portablen Gegenſtänden, wie Abwiſchlap— 
pen, Filzpantoffeln, Strümpfen und ähn— 
lichen in Haushaltungen vorkommenden 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Dingen. Auch den übrigen Perſonen fiel 
dies veränderte Benehmen Leda's ſehr 
auf. Eines Morgens entdeckte ich aber, daß 
genannte Gegenſtände mit dem Maule an 
die Zitzen geſchoben wurden und, da ſie 
nicht ſaugen wollten, ſo leckte die Hündin 
ſich ſelbſt ſo lange, bis etwas Milch her— 
vortrat. Alle Prozeduren, wie fie die Mut— 
ter mit jungen Hunden vornimmt, wurden 
von der niemals Junge geworfen habenden 
Hündin mit ein Paar Filzpantoffeln aus— 
geführt; namentlich war das Verlangen 


augenſcheinlich, die imaginären Kinder ſau— 


gen zu lehren und durch Lecken zur Von— 
ſichgabe der Loſung zu bewegen, welche, 
ſo lange die Jungen ſaugen, bekanntlich 
von der Hündin gefreſſen wird. Daß wir 
es hierbei nicht mit einem am Individuum, 
ſondern an der kontinuirlichen Art haften— 
den Phänomen zu thun haben, liegt auf 
der Hand. Das ganze merkwürdige Ge— 
baren muß als erbliche Gewohnheit auf— 
gefaßt werden, geknüpft an die reguläre 
Fortpflanzungsart und Jungenbehandlung 
des Stammes, bei dem in der Freiheit 
ein Nichtbelegtwerden und Nichtwerfen 
einer Hündin wohl gar nicht vorkommt. 
Auch bei den Vögeln kommt etwas Ana— 
loges vor, bezüglich deſſen ich auf meine 
eben im Verlage dieſer Zeitſchrift erſchie— 
nene Abhandlung über „Die Neſter und 
Eier der Vögel in ihren natürlichen Be— 
ziehungen“ zu verweiſen mir erlaube. 
Mainz. 
Wilhelm von Reichenau. 


Literatur und Kritik. 


Gafton Vonniers angebliche Wider— 
legung der modernen Blumenkheorie.“ 


n zahlreichen Aufſätzen des Kosmos 

iſt die Sprengel-Darwinſche Blumen— 
theorie als eine wohlbegründete dar— 
geſtellt und ſind die mannigfachſten Rätſel 
der Blumenwelt auf grund derſelben zu 
löſen verſucht worden. Wenn daher plötz— 
lich ein umfaſſendes Werk erſcheint, deſſen 
Verfaſſer den Anſpruch erhebt, auf grund 
vieljähriger biologiſcher Beobachtungen be— 
wieſen zu haben, daß dieſe ganze Theorie 
weiter nichts als ein Phantaſiegebilde ſei, 
daß Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen 
und Inſekten überhaupt gar nicht exiſtiren, 
ſo können die Leſer dieſer Zeitſchrift gewiß 
mit Recht verlangen, mit den Thatſachen 
und Schlüſſen, auf die der Gegner ſich ſtützt, 
ſoweit bekannt gemacht zu werden, daß 
ihnen dadurch ein eigenes Urteil über die 
Stichhaltigkeit derſelben ermöglicht wird. 
Das Gaſton-Bonnierſche Werk zerfällt 

in einen kritiſchen, einen anatomiſchen und 
einen phyſiologiſchen Teil. Da ſich von 


) Les Nectaires, étude critique, ana- 
tomique et physiologique par Gaston Bon- 
nier, maitre de conférences à l’Ecole nor- 


dieſen drei Teilen nur der erſte mit der 
modernen Blumentheorie beſchäftigt, ſo 
haben wir es hier ausſchließlich mit ihm 
zu thun. In dieſem Teile giebt der Ver— 
faſſer zunächſt einen geſchichtlichen Über— 
blick über die bis jetzt veröffentlichten Un— 
terſuchungen und Erklärungsverſuche und 
unternimmt es endlich, dieſelben durch ei— 
gene Beobachtungen und Verſuche zu wi— 
derlegen. Um aber zunächſt den Geſammt— 
eindruck dieſes „kritiſchen“ Teiles zu 
bezeichnen und thatſächlich zu begründen, 
ſo muß leider geſagt werden, daß es wohl 
ſchwer ſein dürfte, in der geſammten wiſ— 
ſenſchaftlichen Literatur einkritikloſeres 
Machwerk, einen größeren Gegenſatz zwi— 
ſchen eingebildeter und wirklicher Leiſtung, 
zwiſchen Anmaßung und Erfolg ausfindig 
zu machen. 

Der geſchichtliche Überblick läßt erken— 
nen, daß der Verfaſſer ſich mit den wich— 
tigſten, die moderne Blumentheorie betref— 
fenden Arbeiten hinreichend eingehend be— 
kannt gemacht hat. Seine Darſtellung 
dieſer Theorie aber zeigt, daß er von dem 
Weſen derſelben, ſowie von dem der Se— 


male supérieure. (Extrait des Annales des 
Sciences naturelles, Botanique, 6me série, 
Tome VIII.) Paris, 1879. G. Masson. 


220 Literatur 
lektionstheorie überhaupt nicht das min— 
deſte Verſtändnis gewonnen hat. 

Sein eigener Bericht über ſeine biolo— 
giſchen Beobachtungen legt von bedeuten— 
den Anſtrengungen und großer Ausdauer 
Zeugnis ab. Denn acht Jahre hindurch 
(187178) hat der Verfaſſer in verſchie— 
denen Gegenden Frankreichs, der Pyre— 
näen, der Alpen und Skandinaviens Be— 
obachtungen geſammelt, die ſich auf etwa 
800 Pflanzenarten erſtrecken. Aber durch 
die Kritikloſigkeit der angewandten Beob— 
achtungsmethode hat er ſich von vornherein 
der Möglichkeit beraubt, ſelbſt über die 
erſten und einfachſten Fragen, welche die 
Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und 
Inſekten betreffen, ein richtiges Urteil zu 
gewinnen. Die Frucht ſeiner achtjährigen 
Anſtrengungen iſt daher die, daß nicht eine 
einzige ſeiner Beobachtungen das wirklich 
beweiſt, was ſie beweiſen ſoll. 

Der Verfaſſer blickt auf die bisherigen 
Leiſtungen auf dem Gebiete der Blumen— 
erklärung wie auf lächerliche Hirngeſpinnſte 
herab und bildet ſich ein, durch eigene Be— 
obachtungen und Verſuche mit mathema— 
tiſcher Schärfe unantaſtbare Ergebniſſe 
gewonnen zu haben. Aber ſeine Beweis— 
führung iſt weiter nichts als eine ununter— 
brochene Kette unbegründeter Vorausſez— 
zungen, grober logiſcher Fehler, willkür— 
licher Verdrehungen und für die in betracht 


kommenden Fragen bedeutungsloſer Be- 
Frag 9 


obachtungen und Schlüſſe. Und das End— 
ergebnis eines ſo beiſpielloſen Aufwandes 
in wiſſenſchaftliche Form gekleideten Un— 
ſinns iſt weiter nichts als eine Beiſeite— 
werfung jedes Verſuchs einer Blumen— 
erklärung überhaupt, eine vollſtändige ta— 
bula rasa, auf die der Verfaſſer als das 


eine neue Epoche der Wiſſenſchaft begrün- 


8 


und Kritik. 


dende Geſammtergebnis ſeiner eigenen Un— 
terſuchungen den Satz ſchreiben kann: „Die 
nektarhaltigen Gewebe, mögen ſie in oder 
außer der Blüte vorkommen, mögen ſie 
eine Flüſſigkeit nach außen treten laſſen 
oder nicht, bilden beſondere Nahrungsvor— 
räte in direkter Beziehung mit dem Leben 
der Pflanze.“ 

Wir wenden uns zunächſt zu den all— 
gemeinen Mißverſtändniſſen: 

1. Gaſton Bonnier hat weder von 
dem Weſen der modernen Blumen— 
theorie, noch von dem der Selek— 
tionstheorie überhaupt das min— 
deſte Verſtändnis gewonnen. 

Während thatſächlich die Darwinſche 
Selektionstheorie den Zweckbegriff aus der 
Betrachtung auch der organiſchen Welt ver— 
bannt, erblickt Bonnier in derſelben und 
in ihrer Anwendung auf die moderne Blu— 
mentheorie nur teleologiſche Spekula— 
tionen. In jedem Satze ſeiner Charakte— 
riſtik der modernen Blumentheorie ſtellt 
er dieſelbe in unzweideutigſter Weiſe als 
unveränderte Fortſetzung und Weiterent— 
wickelung der Sprengel'ſchen teleologi— 
ſchen Anſchauungen dar, ohne von der 
Elimination der Teleologie durch Ch. 
Dar win auch nur eine Silbe zu erwäh— 
nen. Ausdrücklich erklärt er, daß in Be— 
zug auf die Rolle der Nektarien bei der 
Befruchtung in Deutſchland, England und 
Italien jetzt teleologiſche Betrachtungen 
herrſchen. 

Das Sachsſche Lehrbuch der Botanik, 
das allerdings gerade bei der Beſprechung 
der Blüteneinrichtungen in rein teleologi— 
ſcher Ausdrucksweiſe abgefaßt iſt, bietet 
ihm die bewußt oder unbewußt willkom— 
mene Gelegenheit, einige der wichtigſten 
Sätze der modernen Blumentheorie in rein 


1 


e 


Literatur und Kritik. 991 


teleologiſcher Faſſung wörtlich zu zitiren.?) 
Auch ein großer Teil ſeiner Einwürfe ge— 
gen dieſe Theorie hat, wie ſich ſpäter zei— 
gen wird, nur bei roheſter teleologiſcher 
Auffaſſung derſelben irgend welchen Sinn. 
Noch am Schluſſe feines ganzen Werkes er— 
klärt er, in Bezug auf alle Vertreter der mo— 
dernen Blumentheorie, ſich mit der Hinwei— 
ſung auf einige Sätze Claude Bernards 
begnügen zu können: „Das Geſetz der 
phyſiologiſchen Finalität iſt in jedem leben— 
den Weſen beſonders und nicht außer ihm. 
Der lebende Organismus iſt für ſich ſelbſt 
gemacht, hat ſeine eigenen inneren Geſetze. 
Er arbeitet für ſich und nicht für andere.“ 

Wenn wir alſo nicht die ziemlich voll— 
ſtändige Literaturkenntnis des Verfaſſers 
als Beweis gelten laſſen wollen, daß er 
wider beſſeres Wiſſen die ganze moderne 
Blumentheorie als auf teleologiſcher Vor— 
ausſetzungen beruhend dargeſtellt habe, ſo 
bleibt eben nur die Möglichkeit übrig, daß 
es ihm trotz des Studiums der einſchlä— 
gigen Literatur nicht gelungen iſt, von dem 
Weſen dieſer Theorie, ſowie der Selektions— 
theorie überhaupt irgend welches Verſtänd— 
nis zu gewinnen. 

2. Durch die Kritikloſigkeit der 
von ihm angewandten Beobach— 
tungsmethode hat ſich Gaſton Bon— 
nier von vornherein der Möglich— 
keit beraubt, ſelbſt über die erſten 
und einfachſten Fragen, welche die 
Wechſelbeziehungen zwiſchen Blu— 
men und Inſekten betreffen, ein 
richtiges Urteil zu gewinnen. 


2) Ich habe gegen dieſe rein teleologiſche 
Ausdrucksweiſe des ſo hervorragenden, auf dem 
Standpunkte der Selektionstheorie ſtehenden For— 
ſchers bereits früher (Befruchtung der Blumen, 
S. 425) meine Bedenken geäußert. Durch den 


Um beurteilen zu können, wie die Stei— 
gerung der Augenfälligkeit der Blumen, 
ihr Duft, die Reichlichkeit des Honigs, die 
Bergung deſſelben u. ſ. f. auf den In— 
ſektenbeſuch wirken, muß man natürlich im 
Stande ſein,den geſammten Beſucher— 
kreis ſolcher Blumen mit einander verglei— 
chen zu können, die, wenn ſie in allen übrigen 
auf den Inſektenbeſuch Einfluß übenden 
Bedingungen möglichſt gleich ſind, nur 
in der Augenfälligkeit oder nur im Duft 
u. ſ. w. erheblich differiren. Man muß 
alſo ſelbſtverſtändlich, als erſte Vorbe— 
dingung für derartige Vergleiche, an hin— 
reichend zahlreichen und mannigfaltigen 
Blumen längere Zeit hindurch ſämmtliche 
beſuchende Inſekten beobachtet, eingeſam— 
melt, beſtimmt und zu überſichtlichen Liſten 
zuſammengeſtellt haben, wie ich ſelbſt es in 
meinem Werke über Befruchtung der Blu— 
men durch Inſekten auszuführen verſucht 
habe. Sobald man irgend eine umfaſſende 
Abteilung von Blumenbeſuchern von der 
Beobachtung ausſchließt, erhält man na— 
türlich ein verkehrtes Reſultat. Man ſtreiche 
z. B. aus der tabellariſchen Überſicht des 
Inſektenbeſuchs der häufigſten Kompoſiten 
und Umbelliferen, die ich auf S. 413 mei— 
nes Werkes gegeben habe, blos die Bie— 
nen (Apiden) oder blos die Fliegen (Di- 
pteren), und das intereſſante Ergebnis die— 
ſer Überſicht iſt vollſtändig vernichtet. 
Wenn man ſich aber gar auf die Beob— 
achtung einer engbegrenzten Zahl geſchick— 
teſter und einſichtigſter Blumenbeſucher, 
der Hummeln und Honigbienen, beſchränkt, 
ſo giebt man damit von vornherein jede 


begriffsverwirrenden Gebrauch, den G. Bon— 
nier von den Sachs'ſchen Sätzen macht, wird 
die Berechtigung dieſer Bedenken wohl klar ge— 
nug bewieſen. 


222 


thatſächliche Grundlage preis, von der aus 


ſich über die Wirkung der Farbe, des 
Duftes ꝛc. auf den Inſektenbeſuch ein Ur— 
teil gewinnen läßt. Denn die einſichtigſten 
Beſucher wiſſen (wie ich unter anderm auch 
im Kosmos, Bd. III, S. 494 gezeigt habe) 
den Honig auch in den unſcheinbarſten und 
geruchloſeſten Blumen mit Leichtigkeit auf— 
zufinden. Die ſtaatenbildenden Bienen 
(Honigbienen und Hummeln) beuten da— 
her, infolge des vervielfachten Nahrungs— 
bedürfniſſes und der geſteigerten Arbeits— 
teilung der Geſellſchaft, die allermannig— 
faltigſten honigloſen und honighaltigen 
Blumen aller Größen und Farben mit 
gleicher Emſigkeit aus, ſo daß ſie von den 
Eigentümlichkeiten der Farbe, des Dufts, 


der Honigabſonderung ꝛc. unter ſämmt⸗ 


lichen blumenbeſuchenden Inſekten den 
höchſten Grad von Unabhängigkeit erlangt 
haben. Es kann daher zur Löſung der hier 
in betracht kommenden Fragen eine un— 
zweckmäßigere Beobachtungsmethode über— 
haupt gar nicht ausgeſonnen werden als 
die, die farben- und düfteliebenden Falter 
und die vielen hunderte kurzrüſſeligerer 
Inſekten, die als Reagentien auf die 
Wirkung mancher Blumeneigentümlichkei— 
ten allein brauchbar ſind, von der Beob— 
achtung auszuſchließen und dieſelbe auf 


Hummeln und Honigbienen zu beſchränken. 
Dieſe denkbar unfruchtbarſte aller Beob- 
achtungsmethoden iſt es aber, die Gaſton, 


Bonnier von vornherein auserwählt und 
acht Jahre hindurch unverändert in An- 


wendung gebracht hat. Vollſtändige Be— 


ſucherliſten für die einzelnen Blumenarten 


aufzuſtellen, findet er unnütz für derartige 


Unterſuchungen und langweilig für den 


Leſer. Wer nach ſolchen Verlangen trage, 


könne fie ja für zahlreiche Blumen in mei- 


Literatur und Kritik. 


nem weitſchichtigen (vaste) Werke über 
Befruchtung der Blumen durch Inſekten 
nachſehen. Er ſelbſt habe es vorgezogen, 
ſeine Beobachtungen auf Hymenopteren, 
in der Regel ſogar auf Bienen allein zu 
beſchränken. Nur in einigen beſonders in— 
tereſſanten Fällen habe er auch andere 
Inſekten ins Auge gefaßt. Eine genauere 
Durchſicht der Bonnierſchen Arbeit läßt 
ſogar erkennen, daß ſeine Beſchränktheit 
in bezug auf Mannigfaltigkeit der ins 
Auge gefaßten Arten noch vielmal größer 
iſt, als man nach ſeiner eigenen Angabe 
vermuten ſollte. Denn es werden im gan— 
zen überhaupt nur 20 Bienen- und 3 
Wespenarten angeführt, und ſelbſt von 
dieſen die überwiegende Mehrzahl nur in 
ganz vereinzelten Fällen. In der Regel 
beſchränken ſich die biologiſchen Beobach— 
tungen und Verſuche Bonniers auf Ho— 
nigbienen und unbeſtimmte Hummeln, in 
vielen Fällen ſogar ausſchließlich auf die 
Honigbiene. Die beſonders intereſſanten 
Fälle, in denen Bonnier auch die übri— 
gen Blumenbeſucher feſtgeſtellt zu haben 
angiebt, hat er leider für ſich behalten! 
Es iſt nun höchſt komiſch zu ſehen, wie 
tollkühn Herr Gaſton Bonnier mit ſei— 
nen ſoeben gekennzeichneten, für den 
vorliegenden Zweck denkbar unbrauch— 
barſten Waffen umſpringt, um mit einem 
Streich ganze Regimenter ſachgemäßer 
Beobachtungen vom Boden zu fegen, als 
daß ich es mir verſagen könnte, irgend 
welchen Abſchnitt ſeiner Beweisführung 
herauszugreifen, um eine Probe ſeiner 
Leiſtungen vorzuführen. Dieſelbe kann zu— 


gleich als thatſächliche Begründung der 


dritten oben aufgeſtellten Behauptung 
dienen: 
3. Gaſton Bonniers Beweis— 


1 


„Kw mb. .ũ ũc tete 


Fr — 


führung tft weiter nichts als eine | 


ununterbrochene Kette unbegrün— 
deter Vorausſetzungen, grober lo— 
giſcher Fehler, willkürlicher Ver— 
drehungen und für die in betracht 
kommenden Fragen bedeutungs— 
loſer Beobachtungen und Schlüſſe. 

Ein kleines Stück dieſer Kette wird 
genügen, uns, wenn wir es einer qualita— 
tiven Analyſe unterwerfen, die genannten 
Beſtandteile erkennen zu laſſen. Ich wähle 
dazu G. Bonniers Beweis, daß die 


Blumenfarbe auf die Anlockung 
der Inſekten ohne Einfluß ſei. Er 


ſtützt denſelben zunächſt auf die Erfah— 
rungen der Bienenzüchter, denen die trüb— 
gefärbten Blüten der weiblichen Weiden, 
des Ahorn, der Reſeda, des Epheu als 
eine wichtige Quelle für die Honigbienen 
bekannt ſeien, wogegen die Chryſanthemum— 
arten, die Roſen, die Lilien und eine große 
Zahl anderer augenfälliger Blümen nicht 
beſucht würden. Daß es außer der Honig— 
biene noch Tauſende anderer blumenbeſu— 
chender Inſekten giebt, die auf die An— 
lockung der Blumen in ganz anderer Weiſe 
reagiren, kümmert natürlich Herrn Gaſton 
Bonnier, der ſich über die Logik aller 
bisherigen Blumenforſcher weit erhaben 
weiß, ebenſowenig als die ihm wohlbe— 
kannte Thatſache, daß für Rosa centi- 
folia 3) von mir nicht weniger als 35, für 
Chrysanthemum leucanthemum #) ſo— 
gar 72 verſchiedenartige Beſucher feſtge— 
ſtellt worden ſind. 

Nachdem er ſo mit geſchloſſenen Au— 
gen mit Hilfe der Bienenväter dieſen er— 


ſten Sieg errungen hat, beginnt er auf 


eigene Fauſt einen wahren Windmühlen— 


3) Hermann Müller, Befruchtung der 
Blumen, S. 205. — ) Daſelbſt, S. 394. 


Literatur und Kritik. 223 


— 


kampf gegen zwei ſeiner eigenen Einbil— 
dung entſprungene, wohl noch keinem Ver— 


treter der modernen Blumentheorie jemals 


in den Sinn gekommene Gedanken: daß 
nämlich die unſcheinbarſten Blumen zu— 
gleich die honigärmſten, die am lebhafteſten 
gefärbten zugleich die honigreichſten, und 
daß deshalb unter allen Umſtänden die er— 


ſteren ſpärlich, die letzteren reichlich beſucht 


ſein müßten — und läßt als Sturmkolonnen 
gegen dieſe eingebildeten Feinde zwei Li— 
ſten ſelbſtbeobachteter Blumen vorrücken: 
1. trübgefärbte, ſehr honigreiche Blumen, 
die er reichlich von Honigbienen und Hum— 
meln beſucht fand; 2. lebhaft gefärbte 
Blumen, die nach ſeiner eigenen Beobach— 
tung entweder honiglos ſind oder kaum 
oder gar nicht von Inſekten beſucht wer— 
den. Die zarte Rückſicht, den Leſer mit 
langweiligen Beſucherliſten zu verſchonen, 
weiß Bonnier ſelbſt im Kampfe fo 
gut zu beobachten, daß er jenen in der 
ganzen erſten Liſte, die nicht weniger als 
ein halbes Hundert reichbeſuchter Blumen 
umfaßt, mit nur drei Beſuchernamen be— 
helligt, aber ſelbſt dafür durch die neue 
Entdeckung entſchädigt, daß Erica carnea s) 
grüne Blüten beſitze, die nur von Hyme— 
nopteren beſucht werden! In der zweiten 
Liſte iſt die Verſchonung des Leſers mit 
ermüdenden Einzelheiten ſogar noch weiter 
getrieben, indem hier in voller Nacktheit 
39 Blumennamen ſich verzeichnet finden. 
Was braucht ſich der Leſer darum zu be— 
kümmern, welche dieſer 39 Blumen Bon— 
nier honiglos, welche er inſektenlos befun— 
den hat? Er weiß ja aus ſeinem eigenen 
Munde, daß alle bisherigen Blumenfor— 
ſcher nur teleologiſche Phantaſten waren 
und daß er der erſte in exakter Weiſe auf 


Beobachtung und Experiment ſich ſtützende 
Blumenforſcher iſt. Der Leſer kann ſich 
alſo, ohne ſich ſelbſt weiter um die That— 
ſachen zu kümmern, auf die überlegene 
Beobachtungs- und Urteilsfähigkeit Bon— 
niers unbedingt verlaſſen. Und wenn ſich in 
dieſer zweiten Liſte auch zahlreiche Blu— 
men verzeichnet finden, die von anderen 
Beobachtern ſowohl honighaltig, als auch 
reich beſucht gefunden wurden (wie z. B. 
Atragene, Chrysanthemum, Dryas), ſo 
muß das der geneigte Leſer eben der 
Beſchränktheit dieſer anderen Beobachter 
zugute halten, die ſich noch nicht zur Kunſt 
des Herrn Verf. aufgeſchwungen haben, 
aus einer einzelnen Bienenart über den 
geſammten Inſektenbeſuch einer Blume zu 
urteilen. 

Nachdem ſo Bonnier auch die beiden 
ſeiner eigenen Einbildung entſprungenen 
Rieſen zu eigener Befriedigung glücklich 
zu Boden geſtreckt hat, läßt er mit gleicher 
Kühnheit zwei wirklich aufgeſtellte Erklä— 
rungen ſich gegenſeitig vernichten. Die 
größere Farbenpracht der Alpenblumen 
iſt bekanntlich von mehreren Seiten aus 
der großen Spärlichkeit der Alpeninſekten 
erklärt worden ), während man anderer— 
ſeits aus dem gänzlichen Fehlen blumen— 
beſuchender Inſekten die Blumenloſigkeit 
des rauhen, ſturmgepeitſchten Kerguelen— 
landes, den Mangel von Düften und leb— 
haften Farben in ſeiner Flora erklärt hat. 
Nach Bonnier ſtehen dieſe beiden Erklärun— 
gen im abſoluteſten Widerſpruch mit ein— 
ander, während die bisherigen Blumen— 
forſcher, gleich anderen beſchränkten Men— 
ſchenkindern, bisher die Anſicht hegten, 
daß bei ſtarkem Angebot und ſchwacher 
Nachfrage geſteigerte Reklame ſehr wohl 
N 6) Vgl. Kosmos, Bd. I, S. 396 u. 541. 


* 


Literatur und Kritik. 


von Erfolg ſein könne, daß dagegen nach 
gänzlichem Ausſterben aller Nachfrage hal— 
tenden Individuen jede Reklame erfolglos 
ſein müſſe. 

Den vierten Streich richtet Bonnier 
gegen die Bedeutung, die ich ſelbſt der 
Augenfälligkeit der Blumen zuſchreibe. Er 
ſcheint es aber für einen zu leichten Sieg 
zu halten, meine einfache und klare Be— 
hauptung: „Unter übrigens gleichen 
Bedingungen wird eine Blumen— 
art um ſo reichlicher von Inſekten 
beſucht, je aug enfälliger ſie iſt,“ 
zu widerlegen, und zieht es wohl blos 
aus dieſem Grunde vor, den Satz, den er 
mir in den Mund legen will, vorher nach 
ſeinem eigenen Geſchmacke ſelbſt zurecht 
zu machen — natürlich mit Ingredienzen, 
die meinen eigenen Ausſprüchen entnom— 
men ſind. Schon meine folgende allge— 
meine Behauptung bietet dazu hinreichen— 
den Stoff dar. Sie lautet: „Wenn 
nächſtverwandte und in ihrer Blü— 
teneinrichtung übrigens überein— 
ſtimmende Blumenfoͤrmen in der 
Augenfälligkeit und zugleich in der 
Sicherung der Fremdbeſtäubung 
bei eintretendem, der Sichſelbſt— 
beſtäubung bei ausbleibendem In— 
ſektenbeſuche differiren, ſo hat 
unter übrigens gleichen Umſtänden 
ohne Ausnahme diejenige die am 
meiſten geſicherte Fremd beſtäubung, 
deren Blumen die augenfälligſten 
ſind und deren Inſektenbeſuch in 
Folge deſſen der reichlichſte iſt.“ 
Dieſer Satz bezieht ſich zwar nicht auf die 


Wirkung der Blumenfarben auf den In— 


ſektenbeſuch, um die es ſich hier handelt, 
ſondern auf die Beſtäubungsanpaſſungen 
der Blumen. Aber ein ſo kleinliches Be— 


1 


— 


# 


Literatur und Kritik. 


denken kann den Gedankenflug 
Gaſton Bonnier nicht hemmen. Viel— 
mehr gelingt es ihm mit größter Leichtig— 
keit, aus meinen beiden ſo eben buchſtäb— 
lich wiedergegebenen Sätzen einen völlig 
neuen, ſeinen eigenen Bedürniſſen entſpre— 
chenden Satz zu gewinnen, für den ich 
mich um ſo mehr zu bedanken habe, als 
ich ſelbſt ſicher niemals auf denſelben ge— 
kommen ſein würde. Er lautet: „Ohne 
Ausnahme iſt bei den ſich nahe ſte— 
henden Pflanzen die Augenfällig— 
keit der Blume proportional dem 
Inſektenbeſuche und der Entwicke— 
lung der Blüteneinrichtung hin— 
ſichtlich der Kreuzbefruchtung.“ 
Wer dieſe von Bonnier präparirte und mir 
in den Mund gelegte Behauptung mit 
meinen eigenen Worten vergleicht, wird 
nicht umhin können, dem Umwandlungs— 
talente des Herrn Bonnier volle Bewunde— 
rung zu zollen. Wie geſchickt ſind durch 
Beſeitigung des läſtigen ceteris paribus 
und durch Vermiſchung, Abkürzung und 
Verdunkelung beide Sätze mit einem Male 
völlig wehrlos gemacht! Was für dumme 
Teufel ſind dagegen alle früheren Blumen— 
forſcher geweſen, die ſich bei Bekämpfung 
anderer Anſichten mit knechtiſcher Unfrei— 
heit an die eigenen Worte des Gegners 
zu klammern pflegten! Faſt noch mehr 
aber als die freie Umwandlung fremder 
Ausſprüche muß uns im vorliegenden 
Falle die geniale Art der Beweisführung 
in Erſtaunen ſetzen, die ſelbſt vom Zwange 
der Logik ſich gänzlich befreit hat. „Durch 
eine präziſe Beobachtung“ ſtellte Bonnier 
feſt, daß die weißlichen, honigreicheren 
Blumen von Teucrium Scorodonia häufi- 
ger von den Honigbienen beſucht wurden, 
als die roten, honigärmeren von T. Cha- 


eines 


225 


maedrys, daß auch bei vier Alliumarten die 
Häufigkeit der Beſuche der Honigbiene der 
Augenfälligkeit der Blumen nicht propor— 
tionial war, und ſchließt daraus: „Man 
ſieht, daß es zwiſchen der Augen— 
fälligkeit und dem häufigen Be— 
ſuche der Inſekten keine Beziehung 
giebt.“ Um dieſen Sieg noch unzweifel— 
hafter zu machen, wird auch von unſeren 
drei gewöhnlichen Ribesarten, der Stachel— 
beere, der ſchwarzen und der roten Johan— 
nisbeere noch mitgeteilt, daß ſie von Honig— 
bienen und Hummeln nicht im Verhältnis 
ihrer Augenfälligkeit, ſondern ihrer Honig— 
menge beſucht gefunden wurden. 
Inzwiſchen ſind aber die beiden der 
Einbildung des Herrn Verf. entſprunge— 
nen und von ihm kühn zu Boden geſtreck— 
ten Rieſen, die wir oben kennen lernten, 
in ſeiner Einbildung wieder lebendig ge— 
worden, und er ſchlägt ſie noch einmal 
tot, indem er nachweiſt, daß es auch 
unter den Orchideen lebhaft gefärbte, ſehr 
augenfällige Blumen ohne Honig, und 
anderſeits honighaltige, unſcheinbare Blu— 
men giebt. Aber auch der von ihm ſelbſt 
präparirte und mir in den Mund gelegte 
Satz läßt ihm noch keine Ruhe. Er führt 
deshalb gegen ihn noch an, daß er auch 
Reseda odorata und luteola reichlich von 
Hymenopteren beſucht fand, während er 
auf der weit auffälligeren Polonisia gra- 
veolens kein einziges Inſekt finden konnte. 
Es folgt nun als fünfter gegen die Be— 
deutung der Blumenfarben von Herrn Bon— 
nier ausgeführter Streich eine Beobach— 
tung von ſolcher Einfachheit und Klarheit, 
daß man ſie recht wohl auch einem gewöhn— 
lichen Menſchenkinde zutrauen könnte, wenn 
nicht Herrn Bonniers überlegene Genialität 
doch auch hier wieder darin ſich zu erken— 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 


226 


nen gäbe, daß er aus dem Beſuche einiger 
Bienen und Hummeln ein entſchiedenes 
Urteil über den geſammten Inſektenbeſuch 
ſich zu bilden vermag. Um nämlich zu 


ſehen, obdie Farbe eine gewiſſeRolle 


ſpielt, wenn die übrigen Bedingun— 
gen ganz dieſelben ſind, wurden ver— 
ſchiedenfarbige Varietäten derſelben Art, 
rote, weiße und blaß roſafarbene Blumen 
von Althaea rosea, rote und weiße von 
Digitalis purpurea und Epilobium spica- 
tum, weiße und blaue von Centaurea Cya- 
nus, weiße und gelbe von Brassica olera- 
cea, in Bezug auf die Häufigkeit ihres 
Bienen- und Hummelbeſuches mit einander 
verglichen und kein Unterſchied in dieſer 
Beziehung zwiſchen ihnen gefunden. 

Der ſechſte Hieb des Herrn Verf. gegen 
die Erklärung der Blumenfarbe richtet ſich 
direkt gegen die Genauigkeit meiner Be— 
obachtungen und veranlaßt mich dadurch, 
zunächſt als Kampfrichter zurückzutreten, 
die Akten dem Leſer ſelbſt in vollem Wort— 
laute vorzulegen und dann erſt einige Be— 
merkungen hinzuzufügen. 

In Bezug auf den Beſenſtrauch heißt 
es auf S. 242 meines Buches über Be— 
fruchtung der Blumen durch Inſekten: 
„Bei Sarothamnus scoparius ſind, ebenſo 
wie bei Cytisus Laburnum, am Grunde 
der Fahne dunklere Linien zu ſehen, welche 
nach dem Blütengrunde zuſammenlaufen 
und, wenn die Blume Honig enthielte, nur 
als Saftmal gedeutet werden könnten; aber 
hier haben die Blüten weder frei abge— 
ſonderten Honig, noch, wie bei Cytisus 


Laburnum, einen ſaftreichen Wulſt um die 


Einfügungsſtelle der Fahne. In dieſem 
Falle können die dunkleren Linien der Fahne 
alſo nur entweder eine nutzlos gewordene 
Eigentümlichkeit honigführender Stamm— 


Literatur und Kritik. 


eltern ſein, oder ſie können der Pflanze 
in ſofern nützen, als ſie die zum erſtenmale 
dieſe Blumen beſuchenden Bienen zunächſt 
zur Hoffnung auf Honig und damit 
zu den zum Herabdrücken des Schiffchens 
nötigen Bewegungen veranlaſſen. Erfolgt 
nun die Exploſion, ſo ſieht ſich die Biene 
zwar in ihrer Hoffnung auf Honig ge— 
täuſcht, findet aber, ſobald ſie ſich vom 
erſten Schrecken erholt hat, ihre Mühe 
durch eine ſo reiche Pollenernte belohnt, 
daß ſie nun andere Blüten in der bloßen 
Abſicht, Pollen zu ſammeln, in glei— 
cher Weiſe bearbeitet.“ — Gegen dieſeErklä— 
rung führt Bonnier folgende nach ſeiner An— 
ſicht meine Erklärung vernichtende Bemer— 
kungen zu Felde: 

„Einer der Gründe, die man an— 
geführt hat, um der Farbe der Blumen— 
blätter eine anlockende Rolle zuzuſchreiben, 
iſt der, daß die Bienen auf gewiſſe nicht 
honighaltige Blumen gehen, nicht blos 
um den Pollen zu ſammeln, ſondern mit 
ihrem Rüſſel im Grunde der Blüte ſu— 
chen, in der Hoffnung, da Honig zu fin— 
den.“) Hermann Müller behauptet den 
häufigen Beſuch der Honigbienen auf den 
Blüten von Ulex®) und Sarothamnus, 
wo ſie fo in unerklärlicher Weiſe (ainsi in- 
definiment) einen Nektar ſuchen, der nicht 
exiſtirt. Lub bock zitirt Genista tinctoria. 
Ich habe Gelegenheit gehabt, dieſe Blu— 
men in Eure reichlich von Honigbienen 
beſucht zu ſehen. Wenn Müller ein an— 


5) Obgleich ich gegen dieſe mir zugeſchrie— 
bene Anſicht nichts einzuwenden habe, ſo muß 
ich doch ausdrücklich ausdrücklich konſtatiren, daß 
ich die von dem Verf. mir zugeſchriebenen Worte 
nicht gebraucht habe. 

) Auch dieſe Angabe hat Bonnier nur ſei— 
ner eigenen Phantaſie entnommen. Ich habe Ulex 
noch niemals zu unterſuchen Gelegenheit gehabt. 


r 


deres Verfahren, als eine ſo einfache ober— 
flächliche Unterſuchung angewandt hätte, 
würde er geſehen haben, daß dieſe angeb— 
liche Hoffnung auf Honig von den In— 
ſekten verwirklicht wird. Bei Ulex enthält 
der äußere Teil der Staubgefäßröhre, wie 
bei Cytisus, nur weniger anatomiſch diffe— 
renzirt, ein honigreiches Gewebe. Bei Saro— 
thamnus ſind dieſelben Teile und auch der 
Kelch reichlich mit zuckrigen Stoffen ver— 
ſehen. Unter dem Mikroſkop ſieht man bei 
ſchwacher Vergrößerung zu einer Zeit 
des Mehltaues (!) die Oberfläche dieſer 
Organe mit feinen Nektartröpfchen bedeckt. 
In einigen Fällen habe ich ſogar ſehr große, 
mit bloßem Auge ſichtbare Tropfen geſehen. 
Dieſer im Kropf (jabot) der Bienen in 
dem Augenblicke, wo ſie dieſe Ginſterarten 
beſuchen, geſammelte Honig, hat ſich durch 
die Analyſe als verhältnismäßig ſehr reich 
an Saccharoſe und Glykoſe erwieſen; er 
enthält viel weniger Waſſer, als die mei— 
ſten Nektararten. Das erklärt die Gier der 
Inſekten bei ſeinem Einſammeln viel beſſer, 
als eine beſtändig getäuſchte Hoff— 
nung.“) Der zu Gunſten der Rolle der 
Farbe angeführte Grund hat alſo keinen 
Wert; er beruht auf ſchlecht beobach— 
teten Thatſachen.“ 

Und in welchem einzelnen Punkte, 
darf ich wohl fragen, hat mir Herr 
Bonnier eine unrichtige Beobachtung 
nachgewieſen? Hat er beim Beſenſtrauch 
in normalem Zuſtande frei abgeſon— 
derten Nektar aufgefunden? Nein! Hat 
er den Beweis geliefert oder auch nur zu 
liefern behauptet, daß die Honigbienen in 
den Blüten des Beſenſtrauchs die honig— 


reichen Gewebe der Staubgefäßröhre oder 


Literatur und Kritik. 


„ 


des Kelches anbohren und ausſaugen? Aber— 
mals nein! Mich ſelbſt trifft alſo höchſtens 
die Bemerkung — als einen Vorwurf kann 
ich fie nicht anerkennen —, daß ich die 
Blüten des Beſenſtrauchs nur im nor— 
malen Zuſtande, nicht zu einer Zeit 
des Honigtaues beobachtet habe, während 
Herrn Gaſton Bonniers eigene, ſieges— 
jubelnde Bemerkung mit nicht weniger als 
drei erdichteten Angaben verunziert tft und 
mit einem Satze ſchließt, der das gerade 
Gegenteil von dem ausſagt, was aus 
ſeiner Behauptung wirklich folgt. Denn 
wenn thatſächlich die Honigbienen durch 
den Nektar des honighaltigen Zellgewebes 
zu andauerndem Beſuche des Beſenſtrauchs 
angelockt werden, wie Bonnier meint, ſo läßt 
ſich gegen die Deutung der am Grunde 
der Fahne ſichtbaren dunkleren Linien als 
Saftmale eben gar nichts mehr einwenden, 
und Bonnier ſelbſt hat dann das letzte Be— 
denken gegen eine Erklärung beſeitigt, die 
er widerlegt zu haben ſich einbildet. 

Um nun endlich die Frage, ob lebhafte 
Farben die Inſekten mehr anlocken als 
wenig augenfällige, durchſchneidend zu er— 
ledigen (trancher definitivement), rückt 
Bonnier zu ſeinem ſiebenten Angriffe das 
ſchwere Geſchütz folgender biologiſcher 
„Experimente“ ins Feld: Vor eine Reihe 
von Bienenſtöcken legt er in gleicher Ent— 
fernung von denſelben ein rotes, ein 
grünes, ein gelbes und ein weißes honig: 
beſtrichenes Viereck, alle vier von gleicher 
Größe, hin und beobachtet, daß auf allen 
eine immer ſteigende und mit dem Schtwin- 
den des Honigs wieder abnehmende Zahl 
von Honigbienen ſich einfindet, ohne daß 
zwiſchen der Wirkung der verſchiedenen 


ti von zul gel cher Farben ein erheblicher Unterſchied ſich 


Hoffnung geſprochen. 


herausſtellt. Und da in der Vorſtellung 


228 Literatur und Kritik. 


des Herrn Bonnier von allen Käfern, Flie— 
gen, Faltern u. ſ. w. ſelbſtverſtändlich 
ganz daſſelbe gelten muß, wie von der 
Honigbiene, ſo iſt damit der Gedanke, daß 


die Farben der Blumen als Anlockung der | 


Inſekten irgend eine Rolle ſpielen könnten, 
durchſchlagend widerlegt. 

Aber ſelbſt mit dieſem ſiebenten, ent— 
ſcheidenden Siege giebt ſich Herr Bonnier 
noch nicht zufrieden. Er wendet ſich viel— 
mehr nach demſelben ſofort wieder gegen 
mich, ſchreibt mir mit bereits erprobtem 
Umwandlungstalente die Behauptung zu: 
„daß bei den für Selbſtbefruchtung einge— 
richteten Blumen die Farben wenig augen— 
fällig ſeien, während die der Kreuzbe— 
fruchtung angepaßten Arten reich gefärbte 
Korollen beſitzen“, und erklärt es zur Wi— 
derlegung dieſes (ſelbſtverfertigten!) 
Satzes für hinreichend, die Verſuchs-Er— 
gebniſſe Ch. Darwins zu betrachten. 
„In der Liſte, die er von den ſelbſtſterilen 
Pflanzen giebt, findet man Reseda odo- 
rata und lutea und die größte Zahl der 
Orchideen mit trüben Blüten, dagegen fin— 
det man in ſeiner Liſte ſelbſtfertiler Pflanzen 
61 bis 63 Arten, deren Blumenkrone reich 
an Farbſtoffen iſt. Das von H. Müller 
verkündete Geſetz wird alſo durch die Ver— 
ſuche Darwins vollſtändig widerlegt.“ 

„Als allgemeines Ergebnis der vor— 
hergehenden Beobachtungen und Verſuche 
können wir ſchließen: 

„Die Entwickelung der Farben 
bei den Blütenorganen und die des 
Nektars fallen nicht zuſammen (ne 
sont pas concordants). 

„Unter denſelben Bedingungen 
ſind die am meiſten gefärbten Blü— 
ten nicht die am meiſten von In— 
ſekten beſuchten. 


„Die Augenfälligkeit der Blü— 
ten iſt nicht proportional ihrer An— 
paſſung an Kreuzbefruchtung.“ 

Der Wert dieſer Sätze ergiebt ſich aus 
den Beweiſen, auf die ſie ſich ſtützen, von 
ſelbſt. Gehen wir deshalb ohne weitere 
Bemerkung zum Schluſſe des ganzen gegen 
die Bedeutung der Blumenfarben gerich— 
teten Abſchnittes über. Es bilden den— 
ſelben: Verſuche in bezug auf das 
Sprengelſche Geſetzüber die honig— 
haltigen dikliniſchen Pflanzen. 

Nach Sprengels auch von mir ver— 
tretener Anſicht werden die augenfälligeren 
männlichen Blüten dieſer Pflanzen durch— 
ſchnittlich früher beſucht als die weiblichen, 
und dadurch Kreuzung begünſtigt. Bon— 
nier glaubt dieſe Anſicht durch folgenden 
Verſuch widerlegt zu haben: 

Er pflanzte zwei große Zweige von 
Salix aurita, an deren jedem nur 150 
gerade in Blüte befindliche Kätzchen ge— 
laſſen wurden (die männlichen mit durch— 
ſchnittlich 200, die weiblichen mit durch— 
ſchnittlich 160 entwickelten Blüten), in glei— 
cher Entfernung vor eine Reihe von Bie— 
nenſtöcken auf und zählte ſiebenmal nach ein— 
ander, in Zwiſchenräumen von jedesmal 
einer Viertelſtunde, die Bienen auf jedem 
der beiden Zweige. 

Durchſchnittlich verhielt ſich die Bie— 
nenzahl auf dem männlichen zu der auf 
dem weiblichen Zweige wie 95:90, und 
ſchon bei der erſten Zählung wurden ſo— 
wohl auf dem männlichen als auf dem 
weiblichen Zweige Bienen getroffen, auf 
letzterem 11, auf erſterem 10. Ahnliche 
Reſultate erhielt Bonnier mit Ribes alpi- 
num, Asparagus (nach Bonnier monzziſch!) 
und Bryonia dioica. Der Verſuch iſt ge— 
rade ſo ſinnreich und gerade ſo entſchei— 


1 


e 


3 


dend, als wenn man, um zu erfahren, 
welches von zwei Wirtshäuſern eines Or— 
tes größere Anziehung auf die Gäſte aus— 
übe, einem nahrungsbedürftigen Volks— 
haufen freien Zutritt und freien Genuß 
in denſelben geſtattete. Herrn Gaſton 
Bonnier genügen aber ſeine Ver— 
ſuche, um als Ergebnis derſelben aus— 
zuſprechen: 

„Bei den nektarhaltigen dikli— 


niſchen Blüten gehen die Bienen 
nicht erſt auf die männlichen, dann 
auf die weiblichen Blüten, und die | 
größere Augenfälligkeit der männ— | 
lichen Blüten iſt ohne Bedeutung.“ 


Das Unverſtändnis G. Bonniers 
für die Theorie, die er widerlegt zu haben 
ſich einbildet, die Unfruchtbarkeit ſeiner 
Beobachtungsmethode, die Armſeligkeit 
ſeiner Beweisführung haben wir hinrei— 
chend kennen gelernt, um für unſere 
Blumentheorie im ganzen von ihm nichts 
mehr zu fürchten zu brauchen. Aber ver— 
ſetzt nicht trotzdem vielleicht der eine oder 
andere ſeiner Angriffe irgend welchem ein— 
zelnen, untergeordneten Teile dieſer Theorie 
einen Schlag, der Deckung oder Rückzug 
nötig macht? Um auch darüber uns völlig 
beruhigen zu können, bleibt nichts anderes 
übrig, als das ganze Heer der feindlichen 
Einwendungen an uns vorüberziehen zu 
laſſen und dieſelben, je nachdem es ſich 
paßt, einzeln oder abteilungsweiſe zu ent— 
waffnen. Viele dieſer Einwendungen des 
Herrn Verfaſſers ſind ihm nur durch ſeine 
Nichtbeachtung des bereits Klargeſtellten 
ermöglicht worden und werden daher mit 
einem kurzen Hinweis auf daſſelbe abge— 
than werden können. Manche andere ſind 
nur aus der grob teleologiſchen Auffaſ— 


Literatur und Kritik. 


229 


mentheorie unterlegt, und machen es nö— 
tig, dieſe Auffaſſung noch vor der zuſam— 
menhängenden Vorführung des Wider— 
legungsverſuches näher zu kennzeichnen. 
Gaſton Bonnier ſtellt ſich die An— 
paſſungen, mit denen die moderne Blu— 
mentheorie zu thun hat, nicht, wie wir, 
als auf natürlichem Wege allmählich ge— 
wordene vor, bei denen irgend welche neu 
auftretende Funktion zunächſt von bereits 
vorhandenen, aber urſprünglich anderen 
Funktionen dienenden Organen ausgeübt 
wird, dann durch verſchiedene Abſtufungen 
die allmähliche Ausprägung eines beſon— 
deren Organes zu ſtande kommt, endlich 
unter veränderten Lebensbedingungen nicht 
ſelten die Funktion deſſelben wieder er— 
liſcht oder ſich umändert, während das 
Organ unverändert oder allmählich ver— 
kümmernd ſich forterbt oder umbildet. 
Nach ſeiner Auffaſſung müßten wir viel— 
mehr jede Blumeneigentümlichkeit, der wir 
eine phyſiologiſche Deutung geben wollen, 
als von vornherein in der Weiſe fertig 
erſchaffen auffaſſen, daß fie einen 
einzigen beſtimmten Zweck voll— 
kommen und unter allen Umitän- 
den erfüllt und daß auch ſie allein 
dieſen Zweck erfüllt. Wird die einem 
Organe zugeſchriebene Funktion irgendwo 
ohne dieſes Organ ausgeübt, oder tritt 
daſſelbe Organ in gewiſſen Fällen funk— 
tionslos auf, ſo nimmt das Herr Gaſton 
Bonnier als Beweis, daß das Organ 
und die ihm zugeſchriebene Funktion nichts 
mit einander zu thun haben. Ebenſo fin— 
det er es unmöglich, anzunehmen, daß die— 
ſelbe organiſche Bildung gleichzeitig oder 
unter verſchiedenen Umſtänden verſchiedene 
Lebensdienſte leiſte, oder daß ſie ihren be— 


Br 


ſung verſtändlich, die er unſerer Blu— | ſtimmten Lebensdienſt unvollkommen leiſte 


230 


oder daß andere Bildungen denſelben 
Dienſt leiſten. In jedem dieſer Fälle ruft 
er aus: „Das Organ und die ihm zuge— 
ſchriebene Funktion ſtimmen nicht zuſam— 
men“ (ne sont pas concordants), und die 
gegebene Deutung wird damit als leeres 
Hirngeſpinſt beiſeite geworfen, ſo daß er 
zu dem Schlußergebniſſe gelangt: „Man 
kann nicht zugeben, daß es eine 
gegenſeitige Anpaſſung zwiſchen 
Blumen und Inſekten giebt.“ 

Wir haben unſere antiteleologiſche Er— 
klärung der gegenſeitigen Anpaſſungen 
zwiſchen den Blumen und den ihre Kreu— 
zung vermittelnden Inſekten bereits ſo 
wiederholt und ſo eingehend auseinander— 
geſetzt, daß Herr Bonnier, der die einſchlä— 
gige Literatur kennt, durch ſein vollſtändi— 
ges Ignoriren unſerer Auffaſſung nur be— 
weiſt, daß er dieſelbe entweder nicht ver— 
ſtehen kann oder nicht verſtehen will. In 
dem einen wie in dem andern Falle würde 
es ſelbſtverſtändlich völlig nutzlos ſein, 
gegen die grobteleologiſche Auffaſſung, die 
er unſerer Blumentheorie unterlegt, hier 
nochmals zu Felde zu ziehen. Wir werden 
uns daher in der Regel damit begnügen, 
diejenigen Einwendungen des Herrn Verf., 
die nur von ſeiner willkürlichen Vor— 
ausſetzung aus irgend welchen Sinn ha— 
ben, einfach durch ein in Klammern geſetz— 
tes Ausrufungszeichen () zu kennzeichnen. 

Als zwei Thatſachen, die eigentlich 
ſchon für ſich allein hinreichend wären, die 
Unzulänglichkeit der modernen Blumen— 
theorie in bezug auf die Bedeutung der 
Nektarien zu beweiſen, führt Bonnier zu— 
nächſt an, daß bei Melittis Melissophyl- 
lum, obgleich fie die übrigen die Labiaten 
auszeichnenden Blumeneigentümlichkeiten 
beſitze, die Nektarien verkümmert ſeien und 


Literatur und Kritik. 


daß man bei ihr weder Nektar noch beſu— 


chende Inſekten beobachte () 10, daß da— 


gegen bei Vicia sativa die Nektarien der 


Nebenblätter, obgleich ſie der Anlockung 


durch Farbe und Duft, des Saftmals und 


der Beziehung zur Kreuzbefruchtung ent— 
behren, von der Honigbiene ausgebeutet 
werden (). Dann beginnt der planmäßige 
Widerlegungsverſuch: 

§ 1. Allgemeine Betrachtungen. 

Obgleich es zahlreiche Inſektenblüten 
giebt, die ihren Beſuchern nur Pollen dar— 
bieten, ſchreibt Sachs allen Inſektenblü— 
ten Nektarien zu (was offenbar für unſere 
Blumentheorie ſehr gleichgiltig iſt. Ref.). 

Darwins Verſuche beweiſen die vor— 
teilhaften Wirkungen der Kreuzung. Aber 
bei ungünſtigem Wetter bleibt der Inſek— 
tenbeſuch aus und es erfolgt keine Kreu— 
zung. Inſekten können den Pollen auch 
von einer Varietät auf eine andere, von 
einer Art auf eine andere übertragen. In 
vielen Fällen endlich findet vorwiegend 
Selbſtbefruchtung ſtatt (ö). 

§ 2. Beobachtungen und Ver— 
ſuche über die Schutzorgane des 
Nektars. 

a. Safthalter. Hohle Sporne wer— 
den in der Regel als Safthalter gedeutet. 
Bei vielen Orchideen giebt es indes hohle 
Sporne ohne Nektar ()). H. Müller und 
beſonders Delpino beſchreiben als Saft— 
halter die Zwiſchenräume zwiſchen den 
Staubgefäßen und dem Ovarium, zwiſchen 

10) Für die Genauigkeit dieſer Bonnierſchen 
Bemerkung iſt es, abgeſehen von ſeinen Inſek— 
tenbeobachtungen überhaupt, jedenfalls bezeich— 
nend, daß er an Melittis Melissophyllum we— 
der ſpontane Selbſtbefruchtung, noch beſtändige 
Sterilität bemerkt hat, obgleich doch eines von 


beiden die notwendige Folge völlig ausbleiben— 
den Inſektenbeſuches ſein müßte. 


Literatur und Kritik. 


der Blumenkrone und dem Kelch, die Röhre 
der Gamopetalen u. ſ. w.; aber man weiß, 
daß dieſe Einrichtungen ebenſowohl auch 
bei den nicht nektarhaltigen Blumen exi— 
ſtiren. Es iſt alſo unmöglich, anzunehmen, 
daß ſie in der beſondern Abſicht getroffen 
ſeien, die zuckerhaltige Flüſſigkeit aufzu— 
nehmen. Andererſeits haben zahlreiche 
Blumen (z. B. Umbelliferen) Nektar ohne 
beſondere Safthalter (ö). 

Die Entwickelung von Spornen 
in den Blütenorganen und dieje— 
nige des Nektars fallen alſo nicht 
notwendig zuſammen. 11) 

b. Schutz des Nektars. Die umge— 
kehrte Stellung der Blumen kann nicht als 
Schutz des Nektars gedeutet werden, da 
auch viele honiglofe Blumen eine umge— 
kehrte Stellung haben (). Der Haarring 
in der Corolla der Labiaten kann nicht als 
Schutz des Nektars gedeutet werden, da 
ihn auch nektarloſe Labiaten beſitzen (); 
überdies ſteigt bei nektarreichen Labiaten 
das Niveau der zuckerigen Flüſſigkeit 
meiſt über den Haarring hinaus. 12) Es 
giebt zahlreiche ungeſchützte Nektarien (Um— 
belliferen, Hedera u. a.) und dagegen 
Haare im Innern honigloſer Blüten (h. 
Bei denjenigen Boragineen, deren Blumen— 
röhre ſelbſt eng genug iſt, um keine Tröpf— 
chen hineinzulaſſen (Myosotis), oder deren 
Blüten nach unten gekehrt ſind, dienen die 


Schuppen, Falten oder Haare der Blumen- 


11) Gegen dieſen naiven Satz, der etwas 
Allbekanntes als neue Entdeckung hinſtellt, und 
die Blumentheorie, gegen die er gerichtet iſt, gar 
nicht berührt, wird wohl niemand etwas einzu— 
wenden haben. 

2) Belege giebt Bonnier nicht. Nach meinen 
Beobachtungen iſt ſein Ausſpruch mindeſtens eine 
ſtarke Übertreibung. 


231 


krone nicht als Saftdecke (nicht als Saft— 
decke gegen Regen, wohl aber gegen un— 
berufene Gäſte. Ref.). 

Verſuche: 1. Zehn ihrer Haare künſt— 
lich beraubte Blüten von Symphoricarpus 
racemosa wurden eben jo häufig von 
Bienen und Wespen beſucht gefunden, als 
zehn unverſehrt gelaſſene, und zwar ſelbſt 
während eines andauernden Regens, ohne 
daß ſie durch das auf die Blüten fallende 
Waſſer aufgehalten zu werden ſchienen. !“) 

2. Zehn ihrer Schuppen künſtlich be— 
raubte Blüten von Lycopsis arvensis ent- 
hielten nach einem ſtarken Regen durch— 
ſchnittlich ebenſoviel Nektar wie zehn un— 
verſehrt gelaſſene. 13) 

Die Entwickelung innerer Schup— 
pen der Blumenkrone, von Haaren 
im Innern der Blüte 2c. und die des 
Nektars fallen alſo nicht notwen— 
dig zuſammen. (Siehe Anm. 11!) 

§S 3. Beobachtungen und Ver— 
ſuche über die Anlockung zu den 
Nektarien. 

1. Farbe. Dieſer Abſchnitt iſt be— 
reits hinreichend beſprochen worden. 

2. Gefärbte Flecken und Strei— 
fen. Eine große Zahl von Blumen mit 
ſehr entwickelten Flecken und Streifen ſind 
honiglos oder werden nicht von Inſekten 
beſucht (mehrere Clematis und Anemone, 
viele Papaveraceen, einige Dianthus, 
Agrostemma, Ononis, Rosa, Gentiana, 
Melittis, Cyclamen, eine ſehr große Zahl 


13) Daß ſich, nach der Anſicht der heutigen 
Blumenforſcher, Schutzmittel des Nektars nicht 
blos gegen Regen, ſondern auch gegen unberu— 
fene Gäſte ausgebildet haben, wird von Bonnier 
auch hier einfach ignorirt, obwohl ihm die ein- 
ſchlägige Literatur ſehr wohl bekannt iſt. Seine 
obigen Verſuche ſind daher ganz bedeutungslos. 


232 


von Orchideen, Tulipa, Fritillaria, Lilium, 
Crocus ꝛc.). 10 

Darwin ſagt, daß ſich Saftmale viel 
häufiger bei unregelmäßigen als bei regel— 
mäßigen Blumen finden, was Bonnier 
beſtreitet. (Bedeutungslos!) 

Lubbock hat gezeigt, daß nach leichter 
Verſchiebung des Nektartröpfchens am 
Grunde eines Blumenblattes die beſu— 
chende Biene zum Wegſaugen deſſelben 
mehr Zeit braucht. Wie Bonnier richtig 
bemerkt, iſt das überhaupt der Fall, wenn 
man ſie in ihrer angenommenen Gewohn— 
heit der Honiggewinnung ſtört. (Die Aus— 
prägung einer beſtimmten Art der Honig— 
gewinnung und die unmittelbare Anwen— 
dung derſelben auf zum erſten male be— 
ſuchte Blumen kann aber durch beſonders 
gefärbte Linien der Blumenkrone, die nach 
dem nicht unmittelbar ſichtbaren Honig 
zuſammenlaufen, offenbar ſehr erleichtert 
und begünſtigt werden. Die Bemerkung 
des Verf. iſt alſo nicht, wie er ſich einbil— 
det, eine Widerlegung, ſondern nur eine 
Beſtätigung der dem Saftmal zugeſchrie— 
benen Funktion. Ref.) 

Die Entwickelung der Flecken 
und Streifen auf der Corolla ſteht 
alſo in keiner Beziehung (n'est pas 
correlatif de) mit derjenigen des 
Nektars. (Ich kann für dieſe Behaup— 


14) Wohlweislich führt der Verf. keine be— 
ſtimmte Blumenart als Beleg ſeiner Behaup— 
tung an, ſondern nur unbeſtimmte Arten be— 
ſtimmter Gattungen. Kein Sterblicher, der nicht 
ſämmtliche Arten dieſer Gattungen kennt, wird 
daher im ſtande ſein, Bonniers Behauptung ganz 


zu widerlegen. Freilich ſinkt auch die Glaubwür⸗ 


digkeit derſelben mit der Unbeſtimmtheit der Be— 
lege auf null herab, Für ſämmtliche von mir 
unterſuchten Arten der von Bonnier genannten 


| 


Literatur und Kritik. 


tung in den vorhergehenden Angaben des 
Verf. auch nicht die Spur eines Beweiſes 
erkennen. Ref.) 

3. Größe der Blumenkrone. Die 
anlockende Rolle, die man derſelben zu— 
ſchreibt, ſagt Bonnier, ſei hauptſächlich 
auf meinen Vergleich einiger Geranium— 
arten gegründet. 15) Einerſeits aber ſeien 
von mir mehrere Geraniumarten von dieſem 
Vergleich ausgeſchloſſen worden 16); an— 
dererſeits habe er ſelbſt keine Beziehung 
zwiſchen der Größe der Blumenkrone und 
dem Inſektenbeſuche der von ihm ſelbſt 
beobachteten Geraniumarten gefunden.“) 
Übrigens gebe es zahlreiche große, honig— 
loſe Blumen, die ſpärlich, und zahlreiche 
kleine, honigreiche, die reichlich von Inſek— 
ten beſucht würden. (Nochmalige Geltend— 
machung des bereits beleuchteten Unſinns!) 

Alſo: Die Entwicklung der gro— 

15) Bonnier weiß nicht oder will wohl 
vielmehr nicht wiſſen, daß ich mich nicht auf die— 
ſen einen, ſondern auf 15 zu demſelben Ergeb— 
niſſe führende Vergleiche geſtützt habe! Vgl. H. 
Müller, Befr. der Bl., S. 426. 2 

10) Von ſelbſtbeobachteten Arten habe ich 
ausgeſchloſſen G. sanguineum, wie ausdrück— 
lich angegeben, wegen abweichenden Standorts, 
G. robertianum wegen ſeiner (7mm) tiefen 
Honigbergung. Gaſton Bonnier zeigt ſich auch 
hier, ſowohl bei ſeiner Beurteilung meines Ver— 
gleichs, als bei ſeinen eigenen an Geraniumarten 
angeſtellten Beobachtungen, als endlich bei ſeiner 
Aufzählung großblumiger, ſchwach beſuchter und 
kleinblumiger, ſtark beſuchter Pflanzen über jeg— 
lichen Zwang der Logik weit erhaben! Die For— 
derung, daß, wenn die Wirkung einer variabeln 
Bedingung durch vergleichende Beobachtungen feſt— 
geſtellt werden ſoll, alle übrigen Bedingungen 
möglichſt gleich hergeſtellt werden müſſen, iſt ihm 
offenbar nur eine lächerliche Kleinigkeitskrämerei. 

*) Sehr natürlich, wenn man nur die 
Bienen als Inſekten betrachtet und überdies 
ſämmtliche Bedingungen, die auf den Inſekten— 


Gattungen iſt ſeine Behauptung nicht zutreffend. beſuch Einfluß haben, gleichzeitig variiren läßt! 


1 0 


* 


Literatur und Kritik. 


233 


ßen Dimenſionen der Blumenkrone | honigreiche und ſehr beſuchte Blumen mit 


entſpricht nicht der des Nektars (was 
auch noch niemand je behauptet hat; der 
Verf. kämpft wieder einmal gegen Wind— 
mühlen); ſie iſt unabhängig von dem 
häufigen Beſuche der Inſekten. 
(Daß der häufige Beſuch der Inſekten 
nicht die Blumenkronen vergrößert, wird, 
außer Herrn Rev. Henslow, wohl jeder 


ohne weiteres zugeben. Daß aber Blumen 


mit größerer, lebhafter gefärbter Corolla 


unter übrigens gleichen Umftänden | 


nicht reichlicher von Inſekten beſucht wer— 
den, als ſolche mit kleinerer, dafür hat G. 


Beweiſes beigebracht.) 

4. Duft. Von Roſen, Lilien, gefüll— 
ten Nelken und vielen anderen wohlriechen— 
den Gartenblumen wird, nach Bonnier, 
ſozuſagen kein Inſekt angelockt. 

Die Blüten des Weißdorn (Crataegus 
oxyacantha) ſind, nach Bonnier, 
gleicher Augenfälligkeit ſtärker duftend und 
dabei ſchwächer von Inſekten beſucht als 
die des Schwarzdorns (Prunus spinosa). 

Zahlreiche Arten der Gattungen Achil- 
lea, Tanacetum, Chrysanthemum, Rosa, 


Orchis ꝛc. ſind, nach Bonnier, duftend 


und zugleich honiglos oder nicht von In— 
ſekten beſucht. 189 

Andererſeits giebt es zahlreiche ſehr 

18) Herr Bonnier hätte meine „langwei— 
ligen“ Beſucherliſten nicht durchzuleſen, ſondern 
nur mit einem Blicke anzuſehen gebraucht, um 
dieſe und ſeine folgenden Behauptungen als 
ziemlich albern zu erkennen. Denn für Rosa 
centifolia habe ich 35, für Crataegus oxya- 
cantha 57, für Prunus spinosa 27, für 
Tanacetum 27, für Chrysanthemum leu- 
canthemum 72, für Achillea, Millefolium 
und Ptarmica 87 verſchiedenartige Beſucher feſt— 
geftellt. Übrigens gilt auch hier z. Th. Anm. 14. 


bei 


wenig hervortretendem Duft. 
tungslos !) 

Faſt alle ſehr honighaltigen Pflanzen 
lafjen zur Zeit eines ſtarken Honigtaues 
den von den Bienenzüchtern ſogenannten 
Honigduft erkennen. Dieſer, aber nicht der 
Wohlgeruch irgend welcher flüchtigen Ole, 
der ſie oft zu honigloſen Blumen führen 
würde, kann die Honigbienen anlocken. 9) 

Alſo: Die Entwickelung der 
Wohlgerüche bei den Pflanzen und 
die des Nektars fallen nicht zuſam— 


(Bedeu: 


men. (Richtig, aber als Einwand gegen 
Bonnier auch nicht den Schatten eines 


die Blumentheorie wiederum bedeutungs— 
los. Ref.) 
„Der zuckerhaltige Stoff iſt es, der die 


Inſekten (in Bonnier's Munde gleichbedeu— 
| tend mit Bienen) anzieht, unabhängig von 


allen Blumenanpaſſungen. Sie wiſſen ihn 
in den dunkelſten und am wenigſten duf— 
tenden Blumen zu finden.“ 20) 

§. 4. Beobachtungen und Erfah— 
rungenüber die gegenſeitige Anpaſ— 
ſung der Inſekten und der Blumen. 

„Nach dem S. 25 zitirten Ausſpruche 
von Sachs könnte man glauben, daß ein 
gegebenes Inſekt immer eine beſtimmte 
Blumenart beſuche, daß es ſie immer auf 


19) Bonnier legt den modernen Blumen— 
forſchern die Anſicht unter, daß alle Pflanzen— 
düfte als Anlockungsmittel der Kreuzungsver— 
mittler dienen, obwohl Kerner viele derſelben 
ausdrücklich als Schutzmittel gedeutet hat. Er 
kennt auch in dieſem Falle nur die Honigbiene 
als blumenbeſuchendes Inſekt und denkt gar nicht 
daran, die ekelhaften Düfte vieler Aasfliegen— 
blumen, die würzigen vieler Falterblumen auch 
nur mit einer Silbe zu erwähnen. 

20) Vgl. meine Bemerkung über die Un— 
fruchtbarkeit der Bonnierſchen Beobachtungsme— 
thode S. 221, 222. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 


I 234 


dieſelbe Weiſe beſuche, daß alle Organe 
der Blume, und insbeſondere die Nektarien 


ſtimmte Stellung des angepaßten Inſekts 
die Kreuzung bewirkt werde. Es iſt aber 
nichts davon der Fall.“ 21) Denn: 

„1. Ein unddieſelbe Blume kann 
von einem und demſelben Inſekte 
auf mehrere verſchiedene Arten be— 
ſucht werden. “() 

Daß dies der Fall, iſt längſt be— 
kannt und von mir bereits in zahlreichen 
Fällen, die Bonnier einfach ignorirt, feſt— 
geſtellt. Wenn derſelbe in dieſer Thatſache 
einen Einwurf gegen unſere Blumentheorie 
erblickt, ſo iſt dies wiederum nur in ſofern 
von Intereſſe als es ſeine grob teleologi— 
ſche Auffaſſung derſelben kennzeichnet. 

2. Anderung der Blüte ohne 
merkliche Modifikation des Inſek— 
tenbeſuchs. Um zu zeigen, daß die Form 
der Corolla nicht notwendig den beſuchen— 
den Inſekten angepaßt ſei, weiſt Bonnier 
darauf hin, daß er Honigbienen den Honig 
einiger Blumen noch nach dem Abfallen der 
Blumenblätter habe ſaugen ſehen, ohne zu 
bedenken, daß bei allen Bienenblumen mit 
der Entfernung der Corolla die ſonſt ge— 
ſicherte Kreuzung durch Bienen vereitelt 
oder zu einem bloßen Zufalle gemacht wird. 

Weiter führt Bonnier an: „Kurr hat 
bei 32 Pflanzenarten die Blumenkrone ent— 


21) Bonnier macht es ſich in der That mög— 
lichſt leicht, indem er aus einem Lehrbuche der 
Botanik, das die Wechſelbeziehungen zwiſchen 
Blumen und Inſekten, in teleologiſcher Faſſung, 
nur eben andeutet, einen einzelnen Satz heraus— 
greift und als Inbegriff einer umfaſſenden Lehre 
bekämpft. Er ſcheint wirklich keine Ahnung da— 
von zu haben, daß er damit wieder nur einen 
ſeiner Windmühlenkämpfe ausführt, von denen 
dieſe Lehre ganz unberührt bleibt. 


derart berechnet ſeien, daß durch die bes 


Literatur und Kritik. 


fernt, ohne einen Unterſchied in der Menge 
| der hervorgebrachten Samenkörner zu beo— 
bachten.“ Aber dieſe Angabe iſt der Haupt— 
ſache nach erdichtet und beweiſt daher 
nur die große Unzuverläſſigkeit Gaſt on 
Bonnierſcher Angaben. 

3. Die Inſekten können Nah: 
rung von der Pflanze entnehmen, 
ohne Befruchtung zu bewirken. (ö) 

4. Der Inſektenbeſuch der⸗ 
ſelben Pflanze differirt nach der 
Menge des von ihren Blüten ab— 
geſonderten Honigs. (!) 

In manchen Blumen (z. B. Pulmona— 
ria officinalis) kann, wie Bonnier richtig be— 
merkt, ein und daſſelbe Inſekt (3 B. die 
Honigbiene) den Honig, wenn er in gerin— 
ger Menge abgeſondert iſt und daher in 
der Blumenkronenröhre wenig emporſteigt, 
nicht erreichen, wenn er dagegen in reich— 
licher Menge abgeſondert iſt und höher 
emporſteigt, kann es ihn erreichen. Andere 
Blumen (Sambucus Ebulus, Draba verna 
u. a.) ſondern unter günſtigen Witterungs— 
verhältniſſen Honig ab, während unter 
ungünſtigen Umſtänden die Honigabſonde— 
rung unterbleibt. Auch nach der Meeres— 
höhe und geographiſchen Breite kann die 
Honigabſonderung ein und derſelben Pflan— 
zenart variiren. Ein und dieſelbe Pflanzen— 
art müßte alſo, wenn es eine Anpaſſung 
gäbe, unter verſchiedenen Umſtänden ver— 
ſchiedenen Beſucherkreiſen angepaßt fein. (J) 

Es giebt nach dem Verf. wenige Formen, 
die unter ſich weniger angepaßt ſind, als 
faſt alle Blumen und Inſekten, die 
ſie am meiſten beſuchen: Medicago lupu- 
lina und Apis mellifica 22), Caltha pa- 
lustris und Andrena etc. 


25) Medicago lupulina iſt wie andere Pa— 
pilionaceen den Bienen angepaßt. Daß bei ihr 


W Zi 


. ei 


1 — 


Bekanntlich werden Hymenopteren beim 
Beſuche von Asklepiasblüten ſehr oft an 
den Krallen feſtgehalten, ohne ſich wieder 
los machen zu können. Die Nukka-Motte, 
welche die Pukkablüten beſucht, verzehrt 
die Eier: Das ſind, wie man zugeſtehen 
wird, ſeltſame gegenſeitige Anpaſſungen.?s) 

5. Beobachtungen über die Ent— 
fernung der nicht angepaßten In— 
ſekten. 

Da auch alle unter dieſer Überſchrift 
vorgebrachten Einwände nur von Bonniers 
grob teleologiſcher Vorausſetzung aus ir— 
gend welchen Sinn haben und thatſächlich 
nichts Neues darbieten, ſo begnügen wir 
uns, ſeine Schlußſätze mitzuteilen: „Man 


der ganze Mechanismus ſich ungewöhnlich ver— 
kleinert hat, thut ſeiner Wirkſamkeit, wie der 
Erfolg zeigt, keinen Eintrag. Gerade bei M. lup. 
iſt übrigens von Ch. Darwin durch den Ver— 
ſuch bewieſen, daß ſie, gegen den Zutritt der 
Bienen abgeſchloſſen, viel weniger fruchtbar iſt. 
Caltha palustris fand ich von 7 verſchieden— 
artigen Fliegen, 1 Käfer, 4 Bienen, darunter 
1 Andrena, beſucht! Ich kann übrigens nicht 
erkennen, weshalb Andrena und Caltha nicht 
zu einander paſſen ſollten, ſondern finde im 
Gegenteile beide auf ſich entſprechender Anpaſ— 
ſungsſtufe ſtehend. Vgl. meine Bemerkung über 
Halictus und Ranunculus (Weitere Beobach- 
tungen, I, S. 50). Weitere Belege als dieſe zwei 
nichtsſagenden führt der Verf. überhaupt nicht an 
und ſpricht dabei von faſt allen Blumen. 

23) Die Anführung der Asclepias beweiſt 
nur von neuem die teleologiſche Begriffsverwir— 
rung des Herrn G. Bonnier; die Anführung 
der Yucca-Motte in der Weiſe, wie es hier geſchieht, 
iſt dagegen geradezu als eine Fälſchung zu be— 
zeichnen. Denn dem Verf., der Rileys Ori— 
ginalaufſatz zitirt, muß ſehr wohl bekannt ſein, 
daß nach den Beobachtungen dieſes Forſchers die 
Vucca-Motte nicht die Eier, ſondern nur 
einen kleinen Teil der Eier von Yucca 
verzehrt und für die übrigen die einzige Be— 
fruchtungsvermittlerin iſt. 


Literatur und Kritik. 


235 


kann nicht ſagen, daß die Farbe oder der 
Geruch die nicht angepaßten Inſekten aus— 
ſchließt.?“) Man kann nicht ſagen, daß die 
Blumen zum Zwecke haben, durch ihre 
Form gewiſſe, angeblich der Kreuzbefruch— 
tung nicht angepaßte Inſekten zu entfernen. 

6. Rolle der Dichogamie und 
Heteroſtylie. Darüber hat der Verf. 
weiter nichts zu bemerken, als daß Axell 
über die Bedeutung der Kreuzung und 
Selbſtbefruchtung anders geurteilt hat, 
als Darwin, Delpino, Hilde brand 
und 9. Müller. (Gleichgültig!) 

7. Nektarien ohne äußeren Nek— 
tar. Auch bei allen honigloſen Pflanzen 
giebt es, nach Bonnier, in gewiſſen Blüten— 
teilen Zuckeranhäufungen, die man Nek— 
tarien ohne Nektar nennen kann. In eini⸗ 
gen Fällen werden dieſe nektarhaltigen 
Gewebe von beſuchenden Inſekten aufge— 
riſſen und der zuckerige Stoff gewonnen, 
in anderen nicht. Auf dieſe letzteren iſt 
die von der modernen Blumentheorie den 
Nektarien zugeſchriebene Rolle, wie der 
Verf. richtig bemerkt, nicht anwendbar. Noch 
weniger aber, fügen wir hinzu, können ſie 
einen Einwand gegen dieſelbe begründen. 
Im Gegenteil! Wenn ſich zuckerhaltige Ge— 
webe in den Blütenteilen aller Pflanzen fin— 
den, und wenn, worauf Bonnier nachdrück— 
lich beſteht, eine Grenze zwiſchen abſondern— 
den und nicht abſondernden Nektarien ſich 
in keiner Weiſe ziehen läßt, ſo begreift man 
um ſo leichter, wie beim Übergange der 
Windblütler zur Inſektenblütigkeit, bei 
verſchiedenen Pflanzen in verſchiedener 
Weiſe Nektarien durch Naturausleſe zur 
Ausbildung gelangen konnten. Mit dem 


24) Wenn aus dem „nicht“ ein „nicht un⸗ 
bedingt“ gemacht wird, ſo können wir uns mit 
dieſem Satze einverſtanden erklären. 


236 


letzten entſcheidenden Streiche, den Herr 
Gaſton Bonnier unſerer Blumentheorie 
zu verſetzen meint, giebt er derſelben alſo 
nur eine neue Stütze. 

Wir überlaſſen daher den Herrn Ver— 
faſſer gern dem Hochgefühl, mit dem 
er in §. 5 die Schlußfolgerungen ſeiner 
vorhergehenden Prüfungen in die Sätze 
zuſammendrängt: „Mankann nicht zu— 
geben, daß es gegenſeitige Anpaſ— 
ſungen zwiſchen Blumen und In— 
ſekten giebt. Die moderne Theo— 
rie über die Rolle der Nektarien 
erſcheint ungenügend,“ — undſcheiden 
von ihm mit dem beruhigenden Bewußt— 
ſein, daß er, in blindem Eigendünkel mit 
kindiſchen Waffen bemüht, eine der um— 
faſſendſten und beſtbegründeten Theorien 
zu vernichten, derſelben nur einige neue 
Stützen beizubringen vermocht hat. 

Hermann Müller. 
Erasmus Darwin und ſeine Stel— 
lung in der Geſchichte der Des— 
zendenztheorie. Von Ernſt Krauſe. 
Mit ſeinem Lebens- und Charakterbilde 
von Ch. Darwin. Nebſt Lichtdruck— 
Porträt und Holzſchn. Leipzig, Ernſt 
Günthers Verlag, 1880. 236 S. in 8“. 

Die kleine Skizze über Erasmus 
Darwins wiſſenſchaftliche und poetiſche 
Werke, welche zuerſt im Februarheft des 
vorigen Jahrganges dieſer Zeitſchrift er— 
ſchien, ſodann auf Veranlaſſung der Fa— 
milie Darwin ins Engliſche überſetzt wurde, 
liegt hier in beträchtlich erweiterter und 
vervollkommneter Geſtalt vor. Sie hat 
nach zwei Seiten hin ein ſehr erhöhtes 
Intereſſe gewonnen: einerſeits durch eine 
72 Druckſeiten umfaſſende Einleitung von 
Charles Darwin, in welcher derſelbe 


Literatur und Kritik. 


über die Herkunft ſeiner Familie und über 
den Lebensgang ſeines Großvaters berich— 
tet, indem er darin Bemerkungen über die 
Überlieferung gewiſſer körperlicher und 
geiſtiger Eigentümlichkeiten durch mehrere 
Generationen knüpft; andererſeits durch 
einen ungemeinen Reichtum von neuem 
zuverläſſigem Material für eine Geſchichte 
der Deszendenztheorie bis zu Erasmus 
Darwins Zeit, welches der deutſche Ver— 
faſſer als Frucht mannigfacher Spezial— 
ſtudien, teils im Text, teils in nachträg— 
lichen Anmerkungen, in engen Raum zu— 
ſammengedrängt, hier niedergelegt hat. 
Beide Erweiterungen des urſprüng— 
lichen kurzen Aufſatzes wirken vereint da— 
hin zuſammen, das Lebensbild des Groß— 
vaters von Charles Darwin, der als 
Menſch, Philoſoph und Dichter ſeine Zeit— 
genoſſen gewaltig überragt hat, in ſchar— 
fen Zügen vor uns auszuprägen und zu— 
gleich durch Klarlegung zahlreicher Fäden 
geſchichtlichen Zuſammenhanges unſerem 
Verſtändniſſe näher zu rücken. Gleichzeitig 
wird unſere Kenntnis des Enkels nicht nur 
dadurch weſentlich vertieft, daß wir viele 
ſeiner Eigentümlichkeiten als vom Groß— 
vater ererbt erkennen und von den meiſten 
Fragen, deren wiſſenſchaftliche Löſung das 
große Lebenswerk des Enkels bildet, ſchon 
des Großvaters Geiſt poetiſch angeregt 
ſehen, wir lernen außerdem auch den 
großen Naturforſcher hier von einer ganz 
neuen Seite kennen, nämlich als gemüt— 
und humorvollen Berichterſtatter über Le— 
ben und Haushalt ſeiner Familie in alten 
Zeiten, wobei nicht nur jenes unbedingte 
Feſthalten an der hiſtoriſchen Treue und 
das milde Urteil hervortritt, welches alle 
ſeine Schriften kennzeichnet, ſondern auch 
eine Vorliebe für kulturgeſchichtliche Ein— 


Literatur und Kritik. 


zelheiten, die dem Leſer neu ſein wird. 
Wir erfahren daraus, daß die älteſten 

Vorfahren der Familie, von denen etwas 

bekannt iſt, während des ſiebzehnten Jahr- 
hunderts im Staatsdienſte ſtanden und 
teilweiſe durch ihre Anhänglichkeit an die 
Sache des unglücklichen Königs Karl 
ſchwere Einbußen an ihrem Vermögen er— 
litten. Schon unter den älteren Mitglie— 
dern zeigte ſich eine deutliche Hinneigung 
zur Naturforſchung und Poeſie, die dann 
bei Erasmus Darwin in einer ſehr en— 
gen und ſeltenen Verbindung auftrat, 
während der Sinn für Naturerkenntnis, 
und zwar im allgemeinen in der von ihm 
inaugurirten Richtung, nicht nur in ſeinem 
berühmten Enkel die allgemein gewürdig— 
ten Früchte getragen, ſondern auch in einer 
Schar von Urenkeln — wir nennen nur 
Francis und George Darwin und 


Francis Galton — weiter blüt. So 
wird die Familie ſelbſt zu einer Demon— 
ſtration für die Vererbung erworbener 
Eigentümlichkeiten. 

Aus der Jugend von Erasmus 
Darwin wird ein humoriſtiſcher Brief— 
wechſel mit ſeiner drei Jahre älteren 
Schweſter mitgeteilt, in welchem die Frage 
erörtert wird, ob die Schweine, ſeitdem 
die Teufel in ſie fuhren und ſie in den 
See ſtürzten, als Fiſche uud Faſtenſpeiſe 
zu gelten haben, wobei einerſeits ein in— 
tereſſanter Bericht über die Mäßigkeit der 
Lebensweiſe jener guten alten Zeit ge— 
geben wird, anderſeits die erſten Andeu— 
tungen der Mäßigkeitsbeſtrebungen her— 
vortreten, die in Erasmus' Leben und 
Wirken eine ſo bedeutende Rolle ſpielen. 
Der Verfaſſer ſchildert hierauf kurz deſſen 
Studiengang, ſeine Niederlaſſung als 


Arzt, ſeine Werbung um Marie Ho— 


237 


ward, mit einem humoriſtiſchen Liebes— 
briefe, ſeine ſchnell zunehmende Praxis 
und ſeinen Umgang mit zahlreichen Män— 
nern der Wiſſenſchaft und Praxis. Es be— 
finden ſich unter dieſen größtenteils lebens— 
langen Freunden eine Reihe der bedeutend— 
ſten Männer jener Zeit, von denen wir 
als in Deutſchland bekannte nur den Sohn 
des vielgenannten Populärphiloſophen 
Reimarus, Watt und Boulton, die 
Väter der Dampfinduſtrie, Brindley, 
den Schöpfer des engliſchen Kanalweſens, 
den berühmten Thonwaarenfabrikanten 
Wedgwood, Edgeworth, den Vater der 
noch immer hochgeſchätzten Schriftſtellerin, 
Hutton, den Reformator der Geologie, 
und J. J. Rouſſeau nennen. Nach Mit⸗ 
teilung mancher zum Teil ſehr origineller 
Briefe verweilt der Verfaſſer etwas län— 
ger bei einigen Punkten in der Biographie 
ſeines Großvaters von Miß Seward, 
um deren gänzliche Haltloſigkeit darzu— 
thun. Wenn je das Sprüchwort: „Gott 
behüte mich vor meinen Freunden u. ſ. w.“ 
für Jemand zur verhängnisvollen Wirk— 
lichkeit geworden iſt, ſo geſchah dies dem 
älteren Darwin, deſſen „Freundin“ ihn 
in der That ärger verleumdet hat, als 
ſeine ſchlimmſten Feinde. Man muß die 
Mäßigung bewundern, mit welcher der 
Enkel ihre durchaus haltloſen Verläſte— 
rungen widerlegt und uns den Schlüſſel 
zu dieſem Verhalten in verſchmähter Liebe 
nachweiſt. Nicht weniger herzgewinnend 
iſt die Art, in welcher der Verfaſſer ſeinen 
Großvater gegen den Vorwurf des Athe— 
ismus verteidigt. Seine ſeltene Objektivi— 
tät tritt ferner in der Schilderung des 
Niederganges von Erasmus Darwins 
poetiſchem Ruhmesglanze hervor, und nach 
aller und jeder Richtung wird der Leſer 


durch die Unbefangenheit des Urteils und | 


durch die edle Einfachheit der Darſtellung 
erquickt. 


E. Krauſes unbeſtreitbares Verdienſt 
iſt es, Charles Darwin zu dieſer authen- 


tiſchen Auskunft über ſeinen Großvater und 
ſeine Familie veranlaßt zu haben, und dies 
allein würde hinreichen, ihm unſere Dank— 
barkeit für den von ihm geſchriebenen Teil 
der vorliegenden Schrift, der dieſe Anre— 
gung gegeben hat, zu ſichern. Aber auch 
an und für ſich iſt dieſer zweite Teil nicht 
weniger leſenswert als der von Charles 
Darwin geſchriebene erſte; jeder von bei— 
den fordert den andern als notwendig zu 
ſeiner Ergänzung. 

Ernſt Krauſe eröffnet ſeinen Teil mit 
einer gedrängten Schilderung der allge— 
meinen Weltanſchauung, die er, namentlich 
ſoweit ſie den Urſprung der Lebeweſen be— 
trifft, von der Griechenzeit an bis zu den 
Tagen Erasmus Darwins verfolgt, 
ſchildert dann deſſen Anteil an der Fort— 
bildung derſelben ausführlicher und ſchließt 
mit einer reichen Folge von Anmerkungen, 
in denen viele originelle Einzelheiten erör— 
tert und ausgeführt werden. Seine Arbeit 
zeigt nicht allein klar, daß nicht Lamarck, 
ſondern Erasmus Darwin als der Be— 
gründer der Deszendenztheorie betrachtet 
werden muß, ſondern iſt auch als eine erſte 
Skizze von der Entwicklung der Deszendenz— 
theorie in den älteren Zeiten wertvoll. Ein 
ſpäterer Geſchichtsſchreiber derſelben dürfte 
in dieſer kleinen Schrift eine reichere Fund— 
grube zuverläſſigen Materials finden, als 
ſie irgend wo ſonſt bis jetzt exiſtirt. 

Hermann Müller. 


Literatur und Kritik. 


Il Suicidio, Saggio di Statistica 
morale e comparata; opera pre- 
miata dal R. Istituto Lombardo; Bi- 
blioteca Scientifica Internazionale, 
vol. XXI. Milano, Fratelli Dumolard, 
1879. 

Die internationale wiſſenſchaftliche 
Bibliothek iſt um ein neues Werk von 
höchſtem Intereſſe bereichert worden, in— 
dem der verdienſtvolle Direktor der Pro— 
vinzial-Irrenanſtalt in Macerato, Prof. 
E. Morſelli, dafür eine höchſt wichtige 
und in mancher Hinſicht vollendete Studie 
der vergleichenden Moralſtatiſtik unter dem 
Titel „Der Selbſtmord“ (Il Suicidio) ge— 
liefert hat. Es iſt dies ein Werk, welches 
uns jedenfalls das vollſtändigſte Material 
vorführt, das bis jetzt über dieſe nachdenk— 
liche Erſcheinung unſerer geſellſchaftlichen 
Zuſtände geſammelt wurde. 

Wir können, um dem deutſchen Leſer 
eine vorläufige Idee von dieſem Werke zu 
geben, nichts beſſeres thun, als dem aus— 
gezeichneten Überblick folgen, den Herr 
E. Regalia in dem Archivio per !’An- 
tropologia etc. über den Inhalt des vor— 
liegenden Bandes giebt. 

Um die breite Grundlage dieſer Stu— 
dien darzulegen, wollen wir hier nur an— 
deuten, daß, während Esquirol 200 
Fälle beobachtete, Kayſer 2800, Que— 
telet 30,000, Lisle 52,000, Guerry 
60,000, Wagner und Oettingen 
120,000, der Autor ſelbſt nicht weniger 
als 300,000 derſelben unterſuchte, ein 
Material, welches gewiß zu allgemeinen 
Schlußfolgerungen berechtigt und uns in 
der That zu überraſchenden Konſequenzen 
von pſychologiſcher und ſozialer Wichtig— 
keit führt. 

Vor allem konſtatirt der Autor, daß 


n 


der Selbſtmord durchaus nicht mehr va— 
riirt als andere Erſcheinungen phy— 
ſiologiſcher und organiſcher Natur, 
derſelbe mithin auch nicht in ein der Sta— 
tiſtik nicht zugängliches Gebiet gebannt 
werden darf, — wie dies in erſter Linie 
das Zunehmen und die Regelmäßig— 
keit des Selbſtmordes in den zivili— 
ſirten Staaten aufs deutlichſte beweiſt. 

Welches aber ſind denn die Urſachen 
dieſes ſich unter ſo manchen verſchiedenen 
Umſtänden zeigenden Phänomens? Sollte 
das Klima vielleicht die Anzahl der Selbſt— 
mörder beeinfluſſen oder gar beſtimmen? 
Dies ſcheint jedoch, nach den Durchſchnitts— 
zahlen der verſchiedenen Staaten zu ur— 
teilen, inſofern nicht der Fall zu ſein, als 
dieſelben durchaus keinen beſtimmten 
und abſoluten Einfluß des Klimas dar— 
thun. Nur ſteht im allgemeinen, Europa 
betreffend, ſo viel feſt, daß der Süden 
(Italien, Spanien und Portugal) das 
Minimalverhältnis zeigt, während das— 
ſelbe zunimmt, je mehr wir uns dem Zen— 
trum, und zwar dem 50. Breitegrade, 
nähern. 

Aber auch die Jahreszeiten zeigen 
deutlich eine Regelmäßigkeit im Vorkom— 
men des Selbſtmordes, und zwar bemerkt 
man, daß beim freiwilligen Tode wie beim 
Wahnſinn nicht ſo ſehr die intenſe 
Wärme in der vorgerückten Som— 
merſaiſon, ſondern mehr die erſte 
Wärme des Frühjahrs und Sommers 
einwirken, welche den Organismus in einer 
Zeit treffen, wo derſelbe noch ungewöhnt 
iſt und ſich unter dem Eindrucke der kal— 
ten Jahreszeit befindet. Eigentümlich ſind 
die Unterſuchungsreſultate bezüglich der 
Tage und Stunden, wie auch, nach 


Oettingen, das häufigere Vorkommen 


Literatur und Kritik. 


239 


der weiblichen Selbſtmorde in den zwei 


Wochenhälften, Sonnabend ausgenommen, 
in umgekehrtem Verhältniſſe zu den 
männlichen. Die Maximalſtunden find von 
6 Uhr morgens bis Mittag, während das 
Minimum in die Stunden vor Sonnen— 
aufgang fällt. Die tägliche Verteilung 
der Selbſtmorde geht alſo parallel mit der 
Geſchäftsthätigkeit, der Arbeit, mit dem 
Geräuſch, welches das Leben der modernen 
Geſellſchaft charakteriſirt, und nicht mit dem 
Schweigen, der Ruhe und Abſonderung. 

Ethnologiſch ordnet ſich die Fre— 
quenz des Selbſtmordes in Europa in ab— 
nehmender Reihe wie folgt: 

In erſter Linie ſtehen die Süd- und 
Mitteldeutſchen, dann kommen die Nord— 
deutſchen, dann die Skandinavier, Kelto— 
Romanen, Angloſachſen, Magyaren, Flam— 
länder, Nordſlaven, Finnen, Kelten, Süd— 
ſlaven und Slovenen, Italo-Romanen und 
Latiner. 

Für Italien insbeſondere wird das 
Faktum konſtatirt, daß die Häufigkeit des 
Selbſtmordes im allgemeinen in den ver— 
ſchiedenen Teilen des Landes in direktem 
Verhältnis zur Statur ſteht und daß die 
Neigung zum Selbſtmorde vom Süden 
zum Norden zunimmt, im Maße wie all— 
mählich die Statur der Italiener zunimmt. 
Selbſtverſtändlich dürfen ſolche Beziehun— 
gen zwiſchen Selbſtmord und Statur als 
ethniſches Kriterium nur im allgemeinen 
Sinne genommen werden, da natürlich, 
wie zu erwarten war, Ausnahmen vor— 
handen ſind. 

Nehmen wir andere anthropolo— 
giſche Charaktere der zwei Hauptvolks— 


typen Europas mit in betracht, jo finden 


wir von Oſt nach Nordweſt gehend die 
Spur von der Einwanderung der Arier 


240 


oder Blonden, mit großer Neigung 


Literatur und Kritik. 


zum Selbſtmord bei hoher Statur. Das 


breite Band, welches der Autor auf ſeiner 
geographiſchen Karte des Selbſtmordes 
„suicidigen“ nennt, deutet uns die Rich— 


tung und den Weg an, welchen in jenen 


entlegenen Zeiten jene ſtarke und zähe 
Raſſe einſchlug, die ſich nach ſo vielen 
Jahrhunderten an der Spitze der Zivili— 
ſation befinden ſollte. 

Betreffs der Sitten erkennt der Au— 
tor, daß die Statiſtik impotent iſt, in Zahlen 
einen ſo komplexen Einfluß zu beſtimmen. 

Bei den niederen Völkern finden wir 
Selbſtmorde faſt nur durch Hunger oder 
Fanatismus veranlaßt; ſo z. B. konſtatirt 
man bei den in Newyork, alſo unter einer 
höheren Raſſe lebenden Negern in ſieben 
Jahren 9 Fälle auf eine Million, während 
die Weißen nicht weniger als 140 aufzuwei— 
ſen haben. Seine Betrachtung über die 
ſozialen Einflüſſe ſchließt der Autor 
mit den Worten: „Wer in dem beſtändi— 
gen Kampfe, den der Menſch gegen die 
Natur und ſich ſelbſt zu kämpfen hat, die 
erſte Urſache ſeiner Fortſchritte und auch 
ſeiner Übel erkennt, dem erſcheint der 
Selbſtmord als was er wirklich iſt: ein un— 
vermeidliches und notwendiges Phänomen 
in der Kulturentwicklung der Menſchheit.“ 

Den gewaltigen Einfluß des religiö— 
ſen Gefühls verkennt der Autor nicht, 
obwohl er denſelben als rein „phyſiolo— 
giſch“ bezeichnet. Aus ſeinen Unterſu— 
chungen des ſpeziellen Einfluſſes ver— 
ſchiedener Glaubensbekenntniſſe 


ſchließt er, daß wirklich bewieſen nur das 
Faktum tft, daß die proteſtantiſchen 
Länder die katholiſchen in der Anzahl 


der Selbſtmorde übertreffen. 


Bekenntniſſe ſtellt ſich in erſter Linie fo: 
Proteſtanten, Katholiken, Juden; 
dann folgt aber gleich eine zweite: Pro— 
teſtanten, Juden, Katholiken. Bei den 
Muhamedanern iſt der Selbſtmord ſelten, 
doch konſtatirte man bereits, daß derſelbe 


bei den Arabern in Algier im Zunehmen 


begriffen iſt. Jedenfalls ſind der Natur 
der religiöfen Glaubensbekenntniſſe jene 
ſchrecklichen Selbſtmord-Epidemien zuzu— 
ſchreiben, welche uns die indiſchen Reiſen— 
den mit ſo ſchwarzen Farben als bei den 
Bekennern Buddhas und Brahmas vorkom— 
mend ſchildern. Statiſtiſche Daten fehlen 
uns jedoch hierüber. f 

In allen Ländern hat es ſich erwieſen, 
daß Selbſtmord und Geiſteskrankheiten. 
hauptſächlich in den Klaſſen vorkommen, 
welche die Ziviliſation mit der Gabe der 
Bildung beglückt hat; und dies iſt der 
Fall ſowohl in Deutſchland und Frank— 
reich wie in Italien und England; kurz, 
es gilt dies für ganz Europa. Ferner ſind 
es die ein höheres Niveau von all— 
gemeiner Kultur beſitzenden Länder, 
welche das größte Kontingent zum frei— 
willigen Tode liefern. 

Der Einfluß der öffentlichen Mo— 
ralität iſt in dieſer Frage ſehr ſchwer zu 
erfaſſen, umſomehr, als man ſich über den 
Begriff von „öffentlicher Moral“ nicht 
leicht verſtändigen wird. Gewiß ſind die 
den moraliſchen Satzungen am meiſten er— 
gebenen und die häuslichen Affekte am 
lebhafteſten empfindenden Völker (wie Ger— 
manen und Skandinavier) durchaus nicht 
die dem Selbſtmorde abgeneigten, wenn 
nicht ſogar das Gegenteil. Die von der 
Statiſtik in betracht gezogenen Sozial— 
phänomene, welche den Moralitätsgrad 


Eine Klaſſifizirung der vorherrſchenden eines Landes ausdrücken, ſind nur die 


Literatur 


ten. Der Vergleich dieſer Daten mit de— 
nen des Selbſtmordes führt zu keinem kla— 
ren und befriedigenden Reſultate; Mor— 
ſelli glaubt nur ſchließen zu dürfen, daß 
dort, wo der jährliche Durchſchnitt der 


freiwilligen Todesfälle eine ſtarke Zus | 


und Kritik. 


Verbrechen und unehelichen Gebur⸗ 


nahme aufweiſt, man auch im allgemeinen 
ein gleichzeitiges Zunehmen des Verbrecher 


ſtandes bemerkt. Wo die Vergehen gegen 
das Eigentum vorherrſchen, ſind die Selbſt— 
morde häufiger als dort, wo Blutsver— 
brechen oft vorkommen. 

Den Einfluß der allgemeinen wirt— 
ſchaftlichen Verhältniſſe behandelt 
der Autor mit großer Umſicht und Bered— 
ſamkeit, doch genügt es auch hier, die all— 
gemeinen Thatſachen anzudeuten. Jahre 
von Mißernten, allgemeinem Notſtande 
und Finanzkriſen zeigen eine konſtante Zu— 
nahme in der Proportion von Geiſtes— 
kranken, und alles, was zur Verſchlechte— 
rung der wirtſchaftlichen Verhältniſſe eines 
Landes oder einer Menſchenklaſſe beiträgt, 


iſt dort auch Urſache zum Selbſtmord. Die 


Wirkung iſt jedoch nicht augenblicklich: der 
Sozial-Organismus braucht, ebenſo wie 
der individuelle, eine gewiſſe Zeit, damit 
ſich die durch den ſchädlichen Einfluß her— 
vorgebrachte Störung in ihren Konſequen— 
zen entwickle. 

Aus dem Vergleich zwiſchen den frü— 
heren und heutigen politiſchen Re— 
gierungsformen und aus der Zu— 
nahme der Selbſtmorde erſah man, 
daß letztere in dem Maße ſtattfand, wie 
ſich die zuerſt konzentrirten Kräfte nach 
und nach aus einander teilten, und der 
Begriff und die freiere Ausübung des In— 
dividualismus (Self help) in das Volks— 
gewiſſen eindrang. Den Beweis dieſer 


241 


größeren individuellen Teilnahme an den 
allgemeinen politiſchen Phaſen beſitzen wir 
in der augenſcheinlichen Abnahme der frei— 
willigen Todesfälle während Revolutions— 
und Kriegszeiten. Jedoch werden unſere 
Nachkommen beſſer als wir die Wirkungen 
der höheren Gehirnſenſibilität und Gehirn— 
funktion ſchätzen können. 

Der allgemeine Gang des Selbſtmor— 
des folgt der Bevölkerungszunahme 
und übertrifft dieſe ſogar in faſt ganz Eu— 
ropa. Wenn, nach Wappäus, eine ge— 
wiſſe Bevölkerungsdichtigkeit zum materi— 
ellen und moraliſchen Fortſchritte nötig iſt, 
ſo vermehrt dieſelbe aber auch die Schwie— 
rigkeiten des Lebens, die Konkurrenz, die 
Armut, die Auswanderung und die Wir— 
kungen der wirtſchaftlichen Störungen. 
Dennoch ſcheint der Einfluß auf die An— 
zahl der Selbſtmorde nicht groß, oder we— 
nigſtens nicht abſolut zu ſein. 

Daß in den Städten die Anzahl der 
Selbſtmorde die auf dem Lande über— 
trifft, läßt ſich durch die mannigfachen 
Kontakte und Reibungen, denen das Stadt— 
leben ausgeſetzt iſt, erklären. Doch iſt die— 
ſer Einfluß der Stadt nicht ſo allgemein 
und ausſchließlich. Das Stadtleben iſt ein 
wirkſamer Modifikator des menſchlichen 
Willens, doch wirkt es nicht auf alle an— 
deren ſozialen und individuellen Faktoren 
neutraliſirend. Die relative Intenſität des 
Selbſtmordes bietet in einem gegebenen 
Diſtrikte dieſelben Charaktere, welche Be— 
völkerung man auch immer in betracht zie— 
hen mag; wenn die Intenſität der Stadt 
eine große iſt, ſo iſt ſie es auch auf dem 
Lande; in jener nimmt ſie ab, parallel mit 
dem allgemeinen Durchſchnitt. 

Das Kapitel über die Einflüſſe der 
individuellen biologiſchen und ſo— 


Kosmoß, IV. Jahrg. Heft 3. 


242 


zialen Verhältniſſe beginnt mit einer 
Abhandlung über den Begriff „morali— 
ſche Freiheit“. Dem Schluſſe des Ver— 
faſſers ſtimmen wir durchaus bei: daß die 
Mannigfaltigkeit der in den Individuen 
wirkenden Urſachen „eine unendliche 
und entſprechende Mannigfaltig— 
keit von Wirkungen erzeugt; daher 
der täuſchende Anſchein, als ob dieſe 
Wirkungen den Charakter der individuellen 
Spontaneität beſäßen“. 

Geſchlechtlich iſt in allen Ländern 
das Verhältuis von 1 Frau zu 3 oder 4 
Männern, wie auch die Proportion des 
Verbrechens 1:4 oder 5 iſt. In Italien 
ſind die ſexuellen Mittel während 1864/77 
auf 100 Selbſtmorde: 79,7 männliche und 
20,3 weibliche. Woher rührt das große 
Übergewicht des männlichen Elementes? 
Der Verf. findet, daß die Frau haupt— 
ſächlich durch phyſiſche Urſachen dazu 
geführt wird (Wahnſinn, Pellagra, Ge— 
hirnkrankheiten), während beim Manne 
Beweggründe vorwalten, welche direkt von 
den Lebensſchwierigkeiten und dem Kampf 
ums Daſein abhängen. 

Hören wir nun, was der Verf. betreffs 
des Alters ſagt: „Die Phyſiologie und 
die Embryogenie beweiſen, daß die menſch— 
liche Entwicklung die Phaſen der ganzen 
Serie der Lebeweſen darſtellt: von den 
Primordialzuſtänden bis zur Vervollkomm— 
nung des Organismus. Wenden wir dies 
Prinzip im Bereiche der Soziologie an, ſo 
können wir annehmen, daß die Evolution 
des Individuums in ſich die der ganzen 


Geſellſchaft verkörpert, beſonders in den 
moraliſchen (pſychologiſchen) Erſcheinun- 


gen. Die Tendenz zum Verbrechen variirt 


in den menſchlichen Geſellſchaften je nach 


ihrem Organiſationszuſtande, und auch 


Literatur und Kritik. 


beim Individuum iſt dieſelbe am höchſten in 
dem der vollſtändigen Reife vorhergehenden 
Zeitraume vorhanden. Dieſes pſychologiſche 
Zuſammentreffen wiederholt ſich beim 
Selbſtmord, aber in umgekehrter Weiſe. 
Der freie Tod iſt der ziviliſirteſten Geſell— 
ſchaft eigen. Dieſer Kollektivdifferenz ent— 
ſpricht ein verſchiedener Grad in der ſelbſt— 
mörderiſchen Tendenz je nach dem Alter 
des Individuums; ſie nimmt in beiden Ge— 
ſchlechtern in direktem Verhältniſſe zum 
Alter zu. In ganz Europa iſt der Selbſt— 
mord frühzeitiger bei dem weiblichen als 
bei dem männlichen Geſchlecht; bei erſterem 
herrſcht er unter 30 bis höchſtens 35 Jahren 
vor, bei letzterem von 40 Jahren an. 

Der Autor beſteht dann auf der nicht 
genug gewürdigten Wichtigkeit des Zivil— 
ſtandes und zeigt, wie die Liebe und die 
Familie aus der Umwandlung des ur— 
ſprünglichen geſchlechtlichen Bedürfniſſes 
entſprangen. Aus den weiteren Betrach— 
tungen geht hervor, daß Witwenſchaft, 
Trennung und Cölibat einen ſchädlichen, 
die Ehe einen wohlthätigen Einfluß aus— 
üben. 

Die beiden Abſätze über die Profeſ— 
ſion und die ſoziale Stellung ſind reich 
an Vergleichen und wichtigen Betrachtun— 


gen; wir heben hier blos daraus hervor, 
daß Soldaten und Gefangene, bei denen, 
trotz ſo mancher Unterſchiede, durch den mit— 
telſt der Disziplin auf den individuellen 
Willen ausgeübten Druck eine gewiſſe Über— 
einſtimmung exiſtirt, einen bedeutenden 
Tribut zur Selbſtmordſtatiſtik beitragen. 

„Der Autor ſpricht dann von den be— 
ſtimmenden Beweggründen, welche 
wir ebenfalls in den Bereich der Sta— 
tiſtik ziehen können, welch letztere uns 
| lehrt, daß bei gegebenen Verhältniſſen 


— 


— 


Literatur und Kritik. a 243 


einer geſelligen Vereinigung eine beſtimmte 
Anzahl Individuen ſich das Leben nehmen 
werden. 

Der Alkoholismus liefert dem Selbit- 
morde eine beträchtliche Anzahl Opfer; 
in Deutſchland 56% ,q in Schweden (vor 
24 Jahren 65½½ %) jetzt nur 11,2 %, 
in Italien nur 1¼ bei dem männlichen 
und 0,16 % bei dem weiblichen Geſchlechte. 
Hand in hand mit den phyſiſchen Urſachen 
geht die Armut (miseria), worin Italien 
das Primat beſitzt. Die Selbſtmorde we— 
gen Armut ſtimmen wieder mit denen we— 
gen Pellagra überein; Armut und Pel— 
lagra ſind alſo Schweſtern und es ſcheint 
die Annahme nicht begründet, daß Pellagra 
allein vom Gebrauch des verdorbenen Mais 
herrühre. 

Nach dem Verf. iſt die Meinung von 
Ferrus und Despine, beim verſtandes— 
geſunden Menſchen ſei der Selbſtmord 
meiſtens von edlen und generöſen Gefüh— 
len herzuleiten, nicht richtig. Je näher 
man die beſtimmenden Urſachen unter— 
ſucht, findet man, daß ſie das Erzeugnis 
eines raffinirten egoiſtiſchen Gefühles ſind. 
Die Selbſtmorde aus erhabenen und groß— 
mütigen Beweggründen kommen vor, ſind 
aber äußerſt ſelten. Man bedenke, wie die 
Reihe der beſtimmenden Gründe ſich auf 
einen einzigen zurückführen läßt, auf die 
Verzweiflung darüber, das nicht erreicht 
und verloren zu haben, was man im 
erregten Zuſtande der Leidenſchaft mehr 
als das Leben ſchätzte. 

Die die Natur der Gründe modifizi— 
renden Einflüſſe ſind dieſelben, welche auf 
die allgemeine Dispoſition der Selbſt— 
morde einwirken. Während im Süden die 
Leidenſchaften, Liebe, Armut wirken, ſind 
es im Norden Alkoholismus, und in Mittel— 


europa, wo auch die größere Kultur ihren 
Sitz hat, das taedium vitae und die 
Schande oder Furcht vor Strafen. 

Der Wahnſinn entſteht faſt in demſelben 
Maße, in welchem Klima es auch ſein 
mag, während die anderen Urſachen, be— 
ſonders die moraliſchen, je nach dem Grade 
und beſonderen Charakter der Ziviliſation 
variiren müſſen. 

Die Betrachtung der Art und Weiſe 
und des Ortes, wie und wo der Selbſt— 
mord geſchieht, beweiſt, daß in einer Geſell— 
ſchaft von Menſchen, welche unter denſelben 
phyſiologiſchen und moraliſchen Bedin— 
gungen leben, auch die Natur und die 
Anzahl der Mittel zur Ausführung des 
Selbſtmordes immer dieſelben bleiben, in— 
ſofern dieſelbe an der allgemeinen Regel— 
mäßigkeit der ſozialen Erſcheinungen teil— 
nimmt. 

Die Wahl der Mittel wurde ſchon 
von Guerry als regelgemäß erkannt. 
Sie wird von zwei Hauptmotiven geleitet: 
von der Sicherheit des Ausgangs 
und dem Mangel oder der Kürze des 
Schmerzes. Eine wichtige ſtatiſtiſche 
Thatſache iſt es, daß die Wahl beſtändig 
von Jahr zu Jahr in einer beſtimmten 
Gruppe von Menſchen dieſelbe iſt, woraus 
auch um ſo augenſcheinlicher der modifizi— 
rende Einfluß erhellt, den die äußeren 
Bedingungen auf den menſchlichen Willen 
ausüben. 

Die von den beiden Geſchlechtern 
getroffene Wahl zeigt überall eine wunder— 
bare Regelmäßigkeit und Beſtändigkeit; 
worin ſich die Fälle zwiſchen beiden Ge— 
ſchlechtern am meiſten unterſcheiden, iſt im 
Gebrauch der Feuerwaffen. Eigentümlich 
iſt auch der Unterſchied in der Wahl mit 
dem Alter und derſozialen Stellung. 


244 


In Betreff des Ortes, wo der Selbſt— 


mord geſchieht, beſteht ein Unterſchied zwi- 


ſchen den beiden Geſchlechtern. Die Frau, 


deren Reich um den häuslichen Herd iſt, 


ſcheint ſich z. B. gegen den Selbſtmord im 


Freien oder an öffentlichen Plätzen zu 


ſträuben. | 

Im zweiten Teile des Werkes, Syn— 
theſis, Natur und Therapie des 
Selbſtmordes, entwickelt der Verf. 
allgemeine philoſophiſche Betrachtungen, 
die wir hier nur eben andeuten können: 
Alle individuellen Verſchiedenheiten ſind 
rein nebenſächlich. Das Vorhandenſein 
von univerſellen, konſtanten und (wenn 
ſich die äußeren Bedingungen nicht mo— 


difiziren) notwendigen Geſetzen beſchränkt 


die einem jeden angewieſene Aktions- 
ſphäre auf Minimalgrenzen und beweiſt, 
daß die pſychiſchen Thätigkeiten den näm— 
lichen Einflüſſen und denſelben langſamen 
Umwandlungen nach Zeit und Raum unter— 
worfen ſind, denen alle anderen Thätig— 
keiten des lebenden Organismus und der 
Art unterſtehen; es iſt ſogar bemerkens— 
wert, daß letztere unregelmäßiger und 
weniger klar von bekannten Urſachen ab— 
hängen, als der Selbſtmord. Nach der ge— 
machten Analyſis kommen wir zu dem Gene— 
ralſchluſſe: Der Selbſtmord iſt eine Folge 
des Kampfes ums Daſein und der menſch— 
lichen Ausleſe, welche ſich nach dem Ent— 
wicklungsgeſetze der Kulturvölker vollzieht. 

Die einzige Prophylaxis gegen den 
Wahnſinn und Selbſtmord beſtände darin, 
die Lebenskonkurrenzzwiſchen den Menſchen 
zu verringern, während heute Alles dahin 
ſtrebt, dieſelbe überall und in allen menſch— 
lichen Thätigkeitszweigen zu vermehren. 
Das einzige ſo ſehr ſchwer in die Praxis 
zu bringende und ſo ſtark verpönte Mittel 


Literatur und Kritik. 


wäre: die übermäßige Vermehrung der 
Kämpfenden zu zügeln! Die ganze Kur 
kann daher nur prophylaktiſch ſein und be— 
ſteht einzig darin: Im Menſchen die Kräfte 
zu entwickeln, um ein gewiſſes Ziel im 
Leben zu erreichen, kurz, dem moraliſchen 
Charakter Kraft und Energie zu verleihen. 
Florenz. J. E. Zilliken. 


Studien über die naturwiſſen— 
ſchaftlichen Kenntniſſe der Tal— 
mudiſten von Dr. Joſeph Bergel, 
Leipzig, W. Friedrich, 1880.102 S. in 8. 

Dieſe kleine Schrift giebt in acht Ab— 
ſchnitten, die der menſchlichen Anatomie, 

Phyſiologie, Pathologie, Zoologie, Chemie, 

Geologie, Phyſik und Aſtronomie gewid— 

met ſind, eine Blumenleſe der natur— 

wiſſenſchaftlichen Anſchauungen, Kenntniſſe 
und Irrtümer der Talmudiſten, wobei 
manche intereſſante Streitfragen zur Erör— 
terung kommen. An die Erörterung moſai— 
ſcher Vorſchriften über reine und unreine 
Tiere, Fleiſchgenuß und Zubereitung, Sab— 
bathgeſetze, Geſellſchaftsverhältniſſe knü— 
pfen ſich ſubtile Erörterungen, z. B. ob man 
am Sabbath in den Thermen von Tiberias 
kochen dürfe, was Rabbi Joſe verneint, 
da ihr Waſſer immerhin durch unterirdi— 
ſche Feuer (Höllenfeuer) erhitzt werde. Die 

Arzte des vorigen Jahrhunderts, welche 

an eine Selbſtentſtehung der Paraſiten im 

tieriſchen Körper glaubten, werden von 

einem alten Rabbi beſchämt, welcher vor— 
ſchreibt: Würmer, die in der Leber gefun— 
den werden, zu ſpeiſen, iſt verboten, weil 
ſie von auswärts dahin gelangt ſind. Ein 

Mangel des Buches iſt, daß viele der an— 

gezogenen Stellen nur im hebräiſchen Ur— 

texte mitgeteilt werden, was eine allge— 


= 


Literatur und Kritik. 


meine Brauchbarkeit verhindert. Viel eher 
hätte dagegen der Kommentar des Ver— 
faſſers eingeſchränkt werden dürfen, zumal 
er keineswegs auf der Höhe der natur— 
wiſſenſchaftlichen Anforderungen unſerer 
Zeit ſteht. So bemerkt der Verfaſſer zu 
der rabbiniſchen Fabel, daß ein Toten— 
gräber in einem engen unterirdiſchen Ka— 
nale einen Hirſch verfolgt und erſt ſpäter 
erfahren habe, daß er in der Höhle eines 
Schenkelknochen von Og, König von Ba— 
ſchan, gejagt habe, und daß er einmal in 
der Augenhöhle des Abſalonſchädels bis an 
die Naſe verſunken ſei: „Die aufgefun— 
denen ägyptiſchen wie amerikaniſchen Mu— 
mien, welche zum Teil älter ſind, als die 
Skelette von Og und Abſalon, ſowie die 
Abbildungen menſchlicher Figuren auf al— 
ten Monumenten zeigen durchaus keine 
größeren Geſtalten, als die jetztlebenden. 
Die erwähnten Rieſenſkelette müßten dem— 
nach, wenn deren Angabe nicht auf Täu— 
ſchung beruht, ganz iſolirt daſtehen“ (S. 9). 
Ahnlich klingt es, wenn der Kommentar 
S. 90 über die Sternſchnuppen bemerkt: 
„Erſt in neuerer Zeit ſchenkte man denſel— 
ben mehr Aufmerkſamkeit und fand, daß 
die Sternſchüſſe von außerhalb unſerer 
Atmoſphäre, von entfernten Himmelskör— 
pern herabkommen, was mit der talmu— 
diſchen Anſicht, daß ſie am Orion vorüber— 
gehen, übereinſtimmen möchte.“ Abgeſehen 
von dieſen Erläuterungen dürfte Jeder, 
der ſich mit der Geſchichte irgend eines na— 
turhiſtoriſchen Faches beſchäftigt, hier ganz 
intereſſante Beiträge finden. 


Methodiſches Lehrbuch der ällge- 
meinen Botanik für höhere Lehran— 
ſtalten. Nach dem neueſten Standpunkte 
der Wiſſenſchaft von Dr. Wilh. Jul. 


245 


Behrens. Mit zahlreichen Original— 
abbildungen in 400 Figuren vom Ver— 
faſſer nach der Natur auf Holz gezeich— 
net. Braunſchweig, Schwetſchke und 
Sohn (M. Bruhn), 1880. 337 S. in 8. 
Endlich ein Lehrbuch der Botanik, wel— 
ches der neuen Weltanſchauung Rechnung 
trägt. Unſere bisherigen Lehrbücher be— 
ſchränkten ſich darauf, dem Lernenden not— 
dürftig die Terminologie beizubringen, um 
ihn nur ſchnell zum Beſtimmen der Pflanzen 
zu befähigen und den „deſkriptiven Natur— 
forſcher“ vorzubereiten, oder verloren ſich in 
ein Detail, welches man den Handbüchern 
überlaſſen ſollte, wie das Sachsſche Lehr— 
buch. Das vorliegende Buch iſt aus der 
Praxis entſtanden, wie man dem Verfaſſer 
aufs Wort glaubt, und fördert den ſtreb— 
ſamen Schüler nach rein induktiver Methode 
ſo weit, daß er nachher ohne Zagen bei dem 
gelehrteſten Profeſſor ſeine botaniſchen Stu— 
dien fortſetzen können wird. Es iſt in fünf 
Abſchnitte getheilt, deren erſter die Morpho— 
logie enthält, alſo dasjenige, was die ge— 
wöhnlichen Elementarwerke lediglich zu 
bringen pflegen. Derzweite (Biologie) iſt ein 
erſter Verſuch, die bewährte Unterrichts— 
methode von Dr. Hermann Müller zum 
Gemeingut zu machen, indem er die für die 
Schüler ungemein anregenden Beſtäu— 
bungsverhältniſſe, die Wechſelbeziehungen 
zwiſchen Blumen und Inſekten in vortreff— 
licher Weiſe darſtellt. Auch der dritte 
Abſchnitt, die Diagrammatik oder Geo— 
metrie der Blüte, enthält einen mehr 
oder weniger neuen Schritt, indem er 
die Eichlerſchen Blütendiagramme in 
umfaſſenderem Maße als es ſeither ge— 
ſchehen, in den Schulunterricht zieht, und 
zwar nicht, um die Schüler von der leben— 
den Pflanze zu emanzipiren, ſondern um 


246 


Literatur und Kritik. 


ihnen zur Erläuterung und zum haftenden | Anhängern über die Deutung der von 


Verſtändnis desjenigen, was ſie ſehen, zu 
verhelfen. In richtiger Stufenfolge behan— 
delt der vierte Abſchnitt Anatomie und Phy— 
ſiologie, und der fünfte die Kryptogamen. 
Da der Verfaſſer bittet, ihm Verbeſſerungs— 
vorſchläge zugänglich zu machen, ſo möchte 
Referent ſeiner nochmaligen Erwägung em— 
pfehlen, ob es nicht doch beſſer ſein würde, 
die zur Morphologie gehörige Diagram— 
matik vor die Biologie zu ſtellen, den zwei— 
ten und dritten Abſchnitt ihre Stellen tau— 
ſchen zu laſſen. Einen weitern Vorzug des 
Buches ſtellen auch die vorzüglichen, von 
dem Verfaſſer mit wenigen Ausnahmen 
nach der Natur auf Holz gezeichneten und 
unter ſorgfältiger Kontrolle geſchnittenen 
Abbildungen dar, ſo daß hier durch ver— 
ſtändnisvolles Zuſammenwirken von Ver— 
faſſer und Verleger eine höchſt vollendete 
Leiſtung erzielt wurde. Wir bitten alle 
Lehrer der Botanik, ſich dieſes Buch ge— 
nau anzuſehen. K. 
Karl Sachs, Aus den Llanos, Schil— 
derung einer naturwiſſenſchaftlichen Rei— 
ſe nach Venezuela. Leipzig, Veit & Comp. 
1879. 369 S. in 8., mit Abbildungen. 
Der durch einen Unfall in den Alpen 
der Wiſſenſchaft zu früh entriſſene Ver— 
faſſer dieſes Buches war auf Koſten der 
Humboldtſtiftung nach Südamerika ge— 
gangen, hauptſächlich mit dem Auftrage, 
die Gymnotenfrage zu löſen. Unter Hum— 
boldts Beobachtungen und Naturſchilde— 
rungen giebt es kaum eine bekanntere als 
die der elektriſchen Aale (Gymnoten) und 
ihres Kampfes mit den Steppenroſſen in 
den Llanos von Venezuela. Humboldt 
hatte Europa verlaſſen, als der Streit 
zwiſchen Volta und Gal va ni und ihren 


Galva ni entdeckten Thatſachen zu voller 
Höhe entbrannt war, und er ſelber hatte 
ſich kurz vorher in ſeinem Werk „Über die 
gereizte Muskel- und Nervenfaſer“ für 
das Daſein einer tieriſchen Elektrizität aus— 
geſprochen. Der Anblick der gewaltigen 
Zitteraale, deren Körper ſcheinbar aus je— 
dem ſeiner Teile willkürlich einen nieder— 
ſchmetternden Blitz entſandte, war daher 
für ihn vom hinreißendſten Intereſſe. Aber 
leider hatte er Europa etwas zu früh ver— 
laſſen, um noch Nachricht von der Ent— 
deckung der Säule durch Volta zu erhal— 
ten, welche über dieſes Gebiet wenigſtens 
den erſten Schimmer von Helligkeit ver— 
breitete, und ſo kam es, daß die damals 
von ihm angeſtellten Verſuche, trotz allem 
darin entfalteten Eifer und Geſchick, weder 
für die Lehre von den elektromotoriſchen 
Organen, noch für die damit nahverwand— 
te von den Nerven und Muskeln ausgie— 
bige Frucht trugen. Merkwürdigerweiſe 
ſind ſeitdem über drei Viertel Jahrhun— 
derte verfloſſen, ohne daß in Südamerika 
eine einzige Beobachtung am Zitteraale 
angeſtellt worden wäre, obſchon dieſe Fi— 
ſche wiederholt nach Europa, beſonders 
nach London gebracht wurden, wo Fara— 
day daran eine berühmte Verſuchsreihe 
ausführte. 

Dr. Sachs hatte ſich mit einem mög— 
lichſt vollſtändigen hiſtologiſchen und elek— 
trophyſiologiſchen Apparate am 26. Sep: 
temper 1876 in Hamburg eingeſchifft, war 
am 21. Oktober in La Guayra gelandet, 
und hatte in Caracas bei dem kaiſerlich 
deutſchen Geſchäftsträger und General— 
Konſul, Dr. Stamman, den zuvorkommend— 
ſten Empfang gefunden. Nachdem er ſich 
in Caracas mit den nötigen Empfehlungs— 


F 


briefen und Ausrüſtungsgegenſtänden ver— 
ſehen, hatte er die Kordillere überſchritten 
und war am 19. November in Raſtro, einem 
armſeligen Dorf in der Steppe, eingetrof— 
fen, welches einſt die Stätte von Hum— 
boldts eigenen Verſuchen war, und wo 
dem Dr. Sachs ein reicher Grundbeſitzer, 
Don Carlos Palazios, „EI Rey de 
los Llanos“ genannt, ein Haus zur Ver— 
fügung geſtellt hatte. Hier aber fand ſich 
Dr. Sachs in feinen Erwartungen ſchlimm 
getäuſcht. Die Sumpfwaſſer in der Nähe 
des Dorfes, welche zu Humboldt's Zeit 
von Gymnoten wimmelten, gaben nicht 
einen her und hauchten um ſo gefährlichere 
Miasmen aus. Die Vorſtellung, nach 
Humboldts Beſchreibung Gymnoten 
zu fangen, indem man, um ſie zu erſchöp— 
fen, erſt Pferde oder Maultiere von ihnen 
erſchlagen läßt, wurde von allen Llaneros 
mit Gelächter aufgenommen, kein Wunder, 
da Dr. Sachs die Mula, die ihn von 
Caracas in die Steppe trug, mit 270 ſpa— 
niſchen Talern bezahlen mußte. Beſſer ge— 
ſtalteten ſich die Verhältniſſe im benach— 
barten Kalabozo, einer anſehnlichen Stadt 
mit vielen Bequemlichkeiten, wohin ſich 
Dr. Sachs nun begab. Der General 
Guancho Rodriguez nahm ſich freund— 
lich ſeiner an und ritt mit ihm drei Stun— 
den weit nach dem Rio Urituku, einem 
wilden, von prächtigem Urwald umgebe— 
nen Fluſſe, in deſſen Gewäſſern das Ver— 
derben in vielfacher Geſtalt kauerte: denn 
es wimmelte von Alligatoren, gefräßigen 
Karibenfiſchen, tückiſchen Stachelrochen 


und glücklicher Weiſe auch von Gymnoten. 


Der Verfaſſer kam hier und ſpäter in 
Beſitz eines ausreichenden Materials, um 
die Fragen zu löſen, die ſich namentlich auf 
den Bau der den größten Teil des Körpers 


Literatur und Kritik. 


Bo. III, S. 91. 


247 


fullenden elektriſchen Organe bezogen, wobei 
auch die Frage, ob dieſe Tiere bis zu einem 
gewiſſen Grade Immunität gegen den eige— 
nen Schlag beſitzen, bejahend beantwortet 
wurde. Leider gelang es aber nicht, die 
für unſere Betrachtungsweiſe der Natur 
intereſſanteſte Frage nach der Entwick— 
lungsgeſchichte dieſer elektriſchen Aale zu 
löſen, um Andeutungen darüber zu erhal— 
ten, wie ſich dieſe Organe im Laufe einer 
natürlichen Entwicklung zu einer ſo wir— 
kungsvollen Waffe haben ausbilden können. 
Es glückte Dr. Sachs nicht, junge Em— 
bryonen zu erhalten oder den Fortpflan— 
zungsweg zu beobachten. Glücklicherweiſe 
war dieſes Problem inzwiſchen von Prof. 
Babuſchin durch Beobachtungen an alt— 
weltlichen Zitterfiſchen in befriedigender 
Weiſe gelöſt und gezeigt worden, daß dieſe 
Organe aus Muskelgewebe entſtehen.“) 

Die Schilderungen der Erlebniſſe des 
Verfaſſers ſind ſehr lebendig und anziehend, 
Szenen ſeines Naturforſcherlebens, Aben— 
teuer, Schilderungen der Natur und der 
geſellſchaftlichen und politiſchen Zuſtände 
wechſeln in unterhaltender Reihe mit ein— 
ander ab, ſo daß die Lektüre einen ſehr 
angenehmen und nachhaltigen Eindruck hin— 
terläßt. Die Ausſtattung iſt trefflich. 
Aus Egyptens Vorzeit von Dr. J. F. 

Lauth. Erſtes Heft: Die prähiſtori— 
ſche Zeit, Berlin, Theodor Hofmann, 
1879. 100 S. in 8. 

Dieſes erſte Heft des der Archäologie 
und Geſchichte Egyptens gewidmeten Wer— 
kes beſchäftigt ſich nicht, wie der Neben— 
titel erwarten laſſen könnte, mit der prähi— 
ſtoriſchen Zeit im Sinne der Anthropologie, 


— Vergl. Kosmos, Bd. I, S. 255 und 


248 


ſondern mit der mythiſchen Zeit, aus der 
ſchriftliche Überlieferungen exiſtiren. Der 
Verfaſſer ſucht darin nachzuweiſen, daß die 
Sagen vom Paradieſe, von der Sintflut 


und vom Turm zu Babel nicht blos in Aſ— 


ſyrien, ſondern auch im alten Egypten ein— 


heimiſch waren, und eine zum Teil ähnliche 


Faſſung wie dort beſaßen. Die Flutſage 
ſchöpft Lauth aus der Ergänzung eines 
im Grabe Seti J. gefundenen Textes durch 
einen Papyrus des Muſeum von Bulag 
und erzählt, wie Ra nach allgemeinem Rat— 
ſchluß der Götter das ſeine Majeſtät läſtern— 
de Menſchengeſchlecht im Waſſer umkom— 
men ließ, bis auf die Bewohner eines Schif— 
fes. Weniger vollkommen gelingt dem Ver— 
faſſer der Nachweis der Turmſage, der ſich 
eigentlich darauf beſchränkt, daß Heliopo— 
lis, die uralte Stadt On oder Anu, im 
Altertum als das egyptiſche Babylon galt 
und ein aſtronomiſches Obſervatorium, ähn— 
lich der Stufenpyramide von Babylon be— 
ſaß, das Haus Benben oder Belbel. Hin— 
ſichtlich des Paradieſes zeigt der Verfaſſer, 
daß die Gefilde Elyſiums aus dem egyp— 
tiſchen Sochet (Gefilde) Aalu entſtanden 
ſind, ebenſo wie das griechiſche Acherunti 
aus der „göttlichen Unterwelt“ (Acheru- 
nuti) der Egypter abgeleitet iſt. Das 
Paradies galt bei den Egyptern ebenſo wie 
bei vielen andern Völkern zugleich als die 
Urheimat und als das Ziel der Seelen nach 
dem Tode. Das Buch regt viele wichtige 
Fragen der vergleichenden Mythologie an, 


Literatur und Kritik. 


und wir dürfen auf die Fortſetzung ge— 
ſpannt ſein. 


Illuſtrirtes Pflanzenleben. Ge— 
meinverſtändliche Originalabhandlun— 
gen über die wichtigſten und intereſſan— 
teſten Fragen der Pflanzenkunde, nach zu— 
verläſſigen Arbeiten der neueſten wiſſen— 
ſchaftlichen Forſchungen. Mit zahlrei— 
chen Original-Illuſtrationen von Dr. 
Arnold Dodel-Port. Zürich, Ver: 
lag von Cäſar Schmidt, 1880. Lief. 
J und II, S. 1— 112, gr. 8. 

Man muß nach dem Titel nicht etwa 
erwarten, daß hier ein Seitenſtück zu 
Brehms „Illuſtrirtem Tierleben“ eröff— 
net wird; der Verfaſſer will vielmehr, wie 


er im Proſpekt ſagt, darin die intereſſan— 


teſten Tagesfragen der wiſſenſchaftlichen 
Botanik in anſchaulicher, leicht verſtänd— 
licher Sprache und in einer Weiſe, die dem 
gegenwärtigen Stande der Wiſſenſchaft ent— 
ſpricht, behandeln. Darnach iſt der Stoff 
journalartig in bunter Reihe angeordnet, 
und auf zwei Artikel über niedere Pilze, 
Miasmen und Kontagien folgt ein ſolcher 
über fleiſchfreſſende Pflanzen — ſehr anzie— 
hende Themata, die mit einer gründlichen 
Kenntnis behandelt und reich durch neuge— 
zeichnete Abbildungen teils in Steindruck, 
teils in Holzſchnitt und Lichtdruck illuſtrirt 
ſind. Wir zweifeln nicht, daß dieſe Schil— 


derungen vielen Leſern Freude machen 


werden. 


Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig. 


Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der e 
Theorie. 


Eine im Londoner Royal Institution gehaltene Vorleſung 


4 


iele von Ihnen werden mit 
dem Anblick dieſes kleinen, 
grün gebundenen Buches 
vertraut ſein. Es iſt ein 
Exemplar der erſten Aus- 
gabe von Darwins „Ori- 
gin of Beleg und trägt das Datum 
feiner Vollendung — des erſten Oktobers 
1859. Nur wenige Monate ſind deshalb 
noch erforderlich, um die volle Zahl der 
einundzwanzig!) ſeit feinem Geburtstage 
verfloſſenen Jahre zu vervollſtändigen. 
Diejenigen, deren Gedächtnis ſie bis 
zu dieſer Zeit zurückführt, werden ſich er— 
innern, daß das Kind bemerkenswert leb— 
haft war und daß eine große Anzahl aus— 
gezeichneter Perſonen die Außerungen ſei— 
ner kräftigen Individualität mißverſtänd— 
lich für bloße Ungezogenheit nahm; ein 
in der That ſehr munterer Aufruhr umtobte 
ſeine Wiege. Meine Erinnerungen an dieſe 


Periode ſind beſonders lebhaft, denn da 


ich eine zärtliche Zuneigung zu dem Kinde, 
welches mir ſo merkwürdig viel zu ver— 


) Nach altem ſächſiſchen Recht beginnt die 
Großjährigkeit mit erreichtem 21. Jahre. 


von 


C. H. Hunley. 


ſprechen ſchien, gefaßt hatte, war ich für 
einige Zeit in den Obliegenheiten einer 
Art von Hilfsamme (under-nurse) thätig 
und bekam ſo meinen Teil von den Stür— 
men, welche ſogar das ſtarke Leben dieſer 
jungen Kreatur bedrohten. Für einige 
Jahre war das unzweifelhaft heiße Arbeit, 
aber erwägend, wie höchſt unliebſam die 
Erſcheinung des neuen Ankömmlings für 
diejenigen geweſen ſein muß, die ſich nicht 
auf den erſten Anblick darin verliebten, 
denke ich, daß man es unſerm Zeitalter 
zur Ehre anzurechnen habe, daß der Krieg 
nicht grimmiger geworden iſt und daß die 
mehr bittern und unverantwortlichen An— 
griffsformen ſo ſchnell verſchwanden. 

Ich ſpreche von dieſer Periode wie 
von einer vergangenen und begrabenen, 
weil ich daran nur ein hiſtoriſches, faſt 
hätte ich geſagt: antiquariſches Intereſſe 
habe. Denn während der zweiten Exiſtenz— 
dekade des „Urſprungs der Arten“ nahm 
die Oppoſition, obwohl keineswegs er— 
loſchen, ein verſchiedenes Ausſehen an. 
Auf ſeiten aller derer, die einige Urſache 
hatten, ſich ſelbſt zu achten, gewann ſie 


Rosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 


250 


einen durchaus reſpektvollen Charakter. 
Zu dieſer Zeit begann auch der Dümmſte 
einzuſehen, daß das Kind keine Neigung 
hatte, an angeborner Schwäche oder einer 
Kinderkrankheit zugrunde zu gehen, viel— 
mehr zu einer tapfern Perſönlichkeit aus— 
gewachſen war, für welche bloßes gutes 
Schelten oder Drohen mit der Birkenrute 
weggeworfene Mühe war. 

In der That, diejenigen, welche den 
Fortſchritt der Wiſſenſchaft in den letzten 
zehn Jahren beobachtet haben, werden mir 
völlig beiſtimmen, wenn ich verſichere, daß 
es kein Feld der biologiſchen Unterſuchung 
giebt, auf welchem der Einfluß des „Ur— 
ſprungs der Arten“ nicht verfolgbar wäre; 
die erſten Männer der Wiſſenſchaft in je— 
dem Lande ſind entweder ausgeſprochene 
Kämpfer für ſeine leitenden Doktrinen oder 
enthalten ſich doch in jeder Weiſe, ihnen 
Oppoſition zu machen; eine Schar von 
jungen und glühenden Forſchern ſtrebt 
vorwärts und ſucht Anregung und Füh— 
rung in Darwins großem Werke; und die 
allgemeine Lehre der Entwicklung findet 
in den Erſcheinungen der Biologie eine 
feſte Operationsbaſis, von der ſie ihre Er— 
oberungen über das geſammte Reich der 
Natur ausdehnen kann. 

Die Geſchichte warnt uns indeſſen, 
daß es das gewöhnliche Schickſal neuer 
Wahrheiten iſt, als Ketzereien zu beginnen 
und als Aberglauben zu enden; und wie 
die Dinge jetzt ſtehen, iſt es kaum vor— 
ſchnell, zu prophezeien, daß in weiteren 
zwanzig Jahren die neue, unter dem Einfluß 
des heutigen Tages erzogene Generation 
in Gefahr ſein wird, die Hauptlehren des 
„Urſprungs der Arten“ mit ebenſo gerin— 
gem Nachdenken und vielleicht mit ebenſo— 
wenig Urteil aufzunehmen, wie ſo manche 


T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. 


unſerer Zeitgenoſſen ſie vor zwanzig Jah— 
ren verwarfen. 

Gegen ein ſolches Ende wollen wir Alle 
dringende Wünſche richten; denn der wiſ— 
ſenſchaftliche Geiſt iſt von höherem Wert 
als ſeine Erzeugniſſe, und durch Unver— 
nunft geſtützte Wahrheiten ſind verhäng— 
nisvoller als mit Vernunft verteidigte Irr— 
tümer. Heut iſt das Weſen des wiſſen— 
ſchaftlichen Geiſtes Kritik. Sie ſagt uns, 
daß, zu welcher Lehre auch unſer Anlauf 
führe, wir antworten müſſen: „Nimm ſie 
an, wenn du ſie bewältigen kannſt.“ Der 
Daſeinskampf gilt nicht weniger in der 
intellektuellen als in der phyſiſchen Welt. 
Eine Theorie iſt eine Denkſpezies und ihr 
Exiſtenzrecht geht hand in hand mit ihrem 
Vermögen, der Ausrottung durch ihre 
Gegner zu widerſtehen. 

Von dieſem Geſichtspunkte aus ſcheint 
mir, daß es nur ein ärmlicher Weg ſein 
würde, die Großjährigkeit des „Urſprungs 
der Arten“ zu feiern, wollte ich nur bei den 
Thatſachen ſeiner weitreichenden Wirkung 
und des großen Gefolges eifriger Schüler 
weilen, die beſtrebt ſind, die Lehre fort— 
zuentwickeln und ſie auszubreiten. Laßt uns 
vielmehr jenen wunderbaren Meinungsum— 
ſchwung erſuchen, ſich ſelbſt zu rechtfertigen; 
laßt uns unterſuchen, ob ſich irgendetwas 
ſeit 1859 ereignet hat, welches mit ver— 
nünftigen Gründen erklären kann, warum 
ſo viele anbeten, was ſie verbrannt haben, 
und verbrennen, was ſie anbeteten. Auf 
dieſem Wege allein können wir die Mittel 
erwerben, zu beurteilen, ob die wahrge— 


nommene Bewegung ein bloßer Wirbel 


der Mode iſt oder ob ſie wirklich eins iſt 
mit dem unwiderſtehlichen Strom des gei— 


ſtigen Fortſchrittes und gleich ihm ſicher 


| vor rückſchrittlicher Reaktion. 


| 


75 


T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. 


Jeder Glaube iſt das Produkt zweier 


Faktoren: der erſte iſt der Zuſtand des 
Verſtandes, dem der Beweis zu gunſten 
jenes Glaubens dargeboten wird; der 
zweite iſt die zwingende Logik des Bewei— 
ſes ſelbſt. Nach beiden Richtungen ſcheint 


mir die Geſchichte der biologiſchen Wiſſen— 


ſchaften eine ausführliche Erklärung der 
während der letzten zwanzig Jahre vor— 
gegangenen Veränderung zu erheiſchen; 


Axioms 


eine kurze Betrachtung der hervorragend 


ſten Ereigniſſe dieſer Geſchichte wird uns be= | 


fähigen, zu verſtehen, warum der „Ur— 
ſprung der Arten“, wenn er heute erſchiene, 
einer von der ihm 1859 bereiteten ganz 
verſchiedenen Aufnahme beg gegnen würde. 

Vor einundzwanzig Jahren war trotz 
des von Hutton begonnenen und von 
Lyell mit ſeltener Kenntnis und Geduld 
fortgeſetzten Werkes die herrſchende Auf— 
faſſung der Urgeſchichte der Erde der Ka— 
taſtrophentheorie zugeneigt. Große und 
plötzliche phyſiſche Revolutionen, groß— 
artige Schöpfungen und Austilgungen le— 
bender Weſen bildeten die übliche Ma— 
ſchinerie des durch das falſch gebrauchte 
Genie Cuviers in Mode gekommenen 
geologiſchen Epos. Es wurde nachdrück— 
lich behauptet und gelehrt, daß das Ende 
jeder geologiſchen Epoche durch einen Um— 
ſturz bezeichnet geweſen ſei, durch welchen 
jedes lebende Weſen von der Erdkugel 
weggefegt wurde, um durch eine funkel— 
nagelneue Schöpfung erſetzt zu werden, 
wenn die Welt wieder zur Ruhe gekom— 
men war. Ein Naturſchema, das anſchei— 
nend nach dem Bilde einer Folge von 
Whiſtrobbers, mit wechſelnden und nach 


jedem Robber die Karten zuſammenwer- 


fenden Spielern, modellirt war, ſchien nie— 
mand vor den Kopf zu ſtoßen. 


| 


251 


Ich mag mich täuſchen, aber ich be— 
zweifle, daß in der Jetztzeit noch eine klare 
Vorſtellung von dieſen aufgegebenen Mei— 
nungen vorhanden iſt. Der Fortſchritt der 
wiſſenſchaftlichen Geologie hat das Fun— 
damentalprinzip des Uniformitarianismus, 
nach welchem die Erklärung des Vergan— 
genen in dem Studium des Gegenwärtigen 
geſucht werden muß, zu dem Range eines 
erhoben; und die wilden Speku— 
lationen der a er denen wir 
alle vor einem Vierteljahrhundert mit Ehr— 
furcht lauſchten, würden am heutigen Tage 
kaum einen einzigen geduldigen Zuhörer 
finden. Kein beobachtender Zoologe denkt 


im Traume daran, die Erklärung irgend— 


eines vor Millionen von Jahren geſchehe— 
nen Ereigniſſes außerhalb der Ordnung 
bekannter natürlicher Urſachen zu ſuchen, 
ebenſowenig als er ſich der gleichen Ab— 
ſurdität in Hinblick auf laufende Ereig— 
niſſe ſchuldig machen möchte. 

Die Wirkung dieſes Meinungsum— 
ſchwunges auf die biologische Spekulationiſt 
klar. Denn wenn es keine allgemeinen pe— 
riodiſchenNaturkataſtrophen gegeben hat — 
was veranlaßte die angenommenen allge— 
1 Austilgungen und Neuſchöpfungen 

des Lebens, welche die entſprechenden bio— 
logiſchen Kataſtrophen darſtellen? Und 
wenn derartige Unterbrechungen des ge— 
wöhnlichen Laufes der Natur weder in 
der organiſchen noch in der unorganiſchen 
Welt ſtattfanden, welche Alternative iſt da 
für die Annahme der Evolutionstheorie? 

Die Evolutionstheorie iſt in der Bio— 


logie das notwendige Ergebnis von der 


logiſchen Anwendung der Grundſätze des 
Uniformitarianismus auf die Erſcheinun— 


gen des Lebens. Darwin iſt der natür— 


liche Nachfolger von Hutton und Lyell, 


252 


und der „Urſprung der Arten“ die natür— 
liche Folge der „Prinzipien der Geologie“. 

Die Grundlehre des „Urſprungs der 
Arten“ wie aller Formen der auf die Bio— 
logie angewendeten Evolutionstheorie iſt, 
„daß alle die zahlloſen Arten, Gattungen 
und Familien organiſcher Weſen, von 
denen die Welt bevölkert wird, jede in 
ihrer beſondern Klaſſe oder Gruppe, 
von gemeinſamen Eltern abſtammen und 
alle im Laufe der Zeiten abgeändert wor— 
den ſind.““) 

Und in Hinblick auf die Thatſachen 
der Geologie folgt, daß alle lebenden Tiere 
und Pflanzen „die geraden Abkömmlinge 
derjenigen ſind, welche lange vor der Si— 
lurepoche lebten.“ ““) 

Es iſt eine klare Folge dieſer Theorie 
der „Abſtammung mit Abänderung“, wie 
ſie mitunter genannt wird, daß alle Pflan— 
zen, und Tiere, wie verſchieden ſie auch 
jetzt ſein mögen, in der einen oder andern 
Zeit durch direkte oder indirekte Mittel— 
ſtufen mit einander verbunden geweſen 
und daß der von verſchiedenen Gruppen 
organiſcher Weſen dargebotene Anſchein 
von Iſolirung unwirklich ſein muß. 

Kein Teil von Darwins Werk wi— 
derſprach direkter den Voreingenommen— 
heiten der Naturforſcher vor zwanzig Jah— 
ren, als dieſer. Und ſolche Voreingenom— 
menheiten waren ſehr entſchuldbar, denn 
zu jener Zeit ließ ſich unzweifelhaft ſehr 
viel anführen zu gunſten der Konſtanz der 
Arten und des Vorhandenſeins großer 


Lücken zwiſchen den verſchiedenen Grup- 


pen der organiſchen Weſen, zu deren Aus— 
füllung keine Wahrſcheinlichkeit vorhan— 
den war. 


*) Darwin, erſte engl. Aufl., p. 457. 
**) Ebendaſ., p. 458. 


T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. 


Aus verſchiedenen Gründen, wiſſen— 
ſchaftlichen und unwiſſenſchaftlichen, iſt 
ſehr viel aus der Kluft zwiſchen dem Men— 
ſchen und dem Reſte der höheren Säuge— 
tiere gemacht worden, und es iſt kein 
Wunder, daß die Entſcheidung ſich zuerſt 
an dieſen Punkt der Kontroverſe knüpfte. 
Ich habe kein Verlangen, vergangene und 
glücklich vergeſſene Kontroverſen zu er— 
neuern, aber ich muß die einfache That— 
ſache feſtſtellen, daß die Unterſchiede im 
Gehirn und anderen Charakteren, von de— 
nen man 1860 ſo hitzig verſichert hat, daß 
ſie den Menſchen von allen Tieren trennten, 


ſämmtlich als nicht vorhanden erwieſen 


worden und die entgegengeſetzte Doktrin 
jetzt allgemein angenommen und gelehrt 
wird. 

Aber es gab andere Fälle, bei denen 
der weite Riß im Körperbau zwiſchen der 
einen Tiergruppe und der andern durch— 
aus nicht künſtlich eingebildet war; und 
ſolchen wirklich vorhandenen Lücken in der 
Organiſation konnte Darwin einzig durch 
die Annahme rechnung tragen, daß die 
Übergangsformen, welche einſt exiſtirt 
hätten, untergegangen ſeien. In einer 
bemerkenswerten Stelle *) jagt er: 

„Wir mögen ſogar der Verſchieden— 
heit ganzer Klaſſen von einander — z. B. 
der Vögel von allen anderen Wirbeltieren 
— durch den Glauben rechnung tragen, 
daß viele tieriſche Lebensformen gänzlich 
verloren gegangen ſind, durch welche die 
erſten Urzeuger der Vögel mit den erſten 
Urzeugern der Wirbeltierklaſſen früher 
verbunden geweſen ſind.“ 

Gegneriſche Kritiken machten ſich lu— 
ſtig über derartige Folgerungen. Ohne 
Zweifel war es leicht, durch angenomme— 
) A. a. O., S. 431. 


— 


T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. 253 


nes Ausſterben ſich aus der Schwierigkeit 
zu ziehen; aber wo war der leiſeſte Be— 
weis, daß ſolche Mittelformen zwiſchen 
Vögeln und Reptilien, wie ſie die Hypo— 
theſe erforderte, jemals exiſtirt hatten? 
Und darauf folgte wahrſcheinlich eine Ti— 
rade über dieſes ſchreckliche Verlaſſen der 
Fußtapfen Baconiſcher Induktion. 

Aber der Fortſchritt der Erkenntnis 
hat Darwin bis zu einem Grade gerecht— 
fertigt, welcher ſchwerlich vorausgeſehen 
werden konnte. Im Jahre 1862 wurde 
das Exemplar des Archaeopteryx, wel— 
ches bis vor zwei oder drei Jahren das 
einzige geblieben war, entdeckt und erwies 
ſich als ein Tier, welches in ſeinen Federn 
und dem größern Teil feiner Organiſation 
ein wahrer Vogel iſt, während es in an— 
deren Punkten ein entſchiedenes Reptil iſt. 

Im Jahre 1875 vervollſtändigte die 
Entdeckung der gezähnten Vögel der nord— 
amerikaniſchen Kreideformation durch Pro— 
feſſor Marſh die Reihe der Übergangs— 
formen zwiſchen Vögeln und Reptilien und 
verſetzte Darwins Behauptung, daß 
„viele tieriſche Lebensformen gänzlich ver— 
loren gegangen ſind, durch welche die er— 
ſten Urzeuger der Vögel mit den erſten 
Urzeugern der andern Wirbeltierklaſſen 
früher verbunden geweſen find“, aus dem 
Bereiche der Hypotheſe in das der bewie— 
ſenen Thatſache. 

Im Jahre 1859 ſchien eine ſehr ſcharfe 
und klare Lücke zwiſchen Wirbelloſen und 
Wirbeltieren vorhanden zu ſein, und zwar 
nicht allein in ihrem Bau, ſondern, was 
ſchwerwiegender war, in ihrer Entwick— 
lung. Ich meine nicht, daß wir jetzt ſchon 
die genauen Verwandtſchaftsketten zwiſchen 
beiden kennen, aber die Unterſuchungen 
Kowalewskys und anderer über die 


Entwicklung des Lanzetttieres und der 
Manteltiere beweiſen über allen Zweifel, 
daß die Verſchiedenheiten, welche eine förm— 
liche Barriere zwiſchen beiden bilden ſoll— 
ten, nicht vorhanden ſind. Es iſt nun nicht 
länger eine Schwierigkeit vorhanden, um 
zu verſtehen, wie der Wirbeltiertypus aus 
dem der Wirbelloſen entſtanden ſein mag, 


wenn auch der volle Beweis der Art und 


Weiſe, in welcher der Übergang thatſäch— 
lich bewirkt wurde, noch fehlen mag. 
Andererſeits ſchien im Jahre 1859 
eine nicht weniger ſcharfe Trennungslinie 
zwiſchen den beiden großen Gruppen der 
blühenden und blütenloſen Pflanzen vor— 
handen zu ſein. Einzig infolge der von 
Hofmeiſter begonnenen Reihe wertvoller 
Unterſuchungen ſind die außerordentlichen 
und ganz unerwarteten Abänderungen des 
Geſchlechtsapparates bei den Lycopodia— 
ceen, Rhizokarpeen und Gymnoſpermen 
ans Licht gekommen, durch welche die 
Mooſe und Farne ſchrittweiſe mit der 
phanerogamiſchen Abteilung der vegetabi— 
liſchen Welt verbunden worden ſind. 
Ebenſo haben wir erſt ſeit dem Jahre 
1859 jenen Kenntnisreichtum von den 
niederſten Formen des Lebens erworben, 
der die Vergeblichkeit eines jeden Verſuches 
zeigt, die niederſten Pflanzen von den nie— 
derſten Tieren zu trennen, und beweiſt, 
daß die beiden Reiche der lebenden Natur 
ein gemeinſames Grenzland beſitzen, wel— 
ches entweder beiden oder keinem angehört. 
Es wird demnach bemerkt werden, daß 
die geſammte Tendenz der biologiſchen 
Unterſuchungen ſeit 1859 ſich in der Rich— 
tung bewegt hat, die Schwierigkeiten zu 
entfernen, welche die ſcheinbaren Unter— 
brechungen der Reihen zu jener Zeit ſchu— 
fen; und die Anerkennung der Abſtufung 


254 


ift der erſte Schritt zur Annahme der 
Evolutionstheorie. 

Als einen andern großen Faktor in 
der Hervorbringung des Meinungsum— 
ſchwungs, der unter den Naturforſchern 
platzgegriffen hat, betrachte ich den er— 
ſtaunlichen Fortſchritt, der im Studium 
der Entwicklungsgeſchichte gemacht worden 
iſt. Vor zwanzig Jahren entbehrten wir 
nicht allein einer genauen Kenntnis des 
Entwicklungsmodus vieler Gruppen der 
Pflanzen und Tiere, ſondern auch die Un— 
terſuchungsmethoden waren roh und un— 
vollkommen. Zur gegenwärtigen Zeit giebt 
es keine wichtige Gruppe von organiſchen 
Weſen, deren Entwicklung nicht ſorgſam 
ſtudirt worden wäre, und die modernen 
Methoden der Härtung und Verfertigung 
von Durchſchnitten befähigen den Embryo— 
logen, die Natur des Vorgangs in jedem 
Falle mit einem Grade von Vollendung 
und Genauigkeit zu beſtimmen, der für 
diejenigen, deren Gedächtnis ſie rückwärts 
zu den Anfängen der neueren Hiſtologie 
geleitet, wahrhaft erſtaunlich iſt. Und die 
Ergebniſſe dieſer embryologiſchen Unter— 
ſuchungen ſind in voller Harmonie mit den 
Erforderniſſen der Evolutionslehre. Die 
erſten Anfänge aller höheren Formen des 
tieriſchen Lebens ſind einander ähnlich, 
und wie ſehr immer die Verhältniſſe ihres 
erwachſenen Zuſtandes abweichen, ſo gehen 
ſie doch von gemeinſamer Grundlage aus. 
Und zwar iſt der Entwicklungsprozeß der 
Pflanze oder des Tieres von ihrem erſten 
Ei- oder Keimzuſtande an ein wahrer Evo— 
lutionsprozeß — ein Fortſchritt von faſt 
formloſer zu mehr oder weniger hoch or— 
ganiſirter Materie, kraft der dieſer Materie 
einwohnenden Eigenſchaften. 

Denjenigen, welche mit dem Prozeß 


T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. 


der Entwicklung vertraut ſind, erſcheinen 


alle A-priori-Einwürfe gegen die Theorie 
der Evolution des Lebens kindiſch. Wer 
irgend einmal die ſtufenweiſe Bildung eines 


| zuſammengeſetzten Tieres aus der Proto— 


plasmamaſſe, die den weſentlichen Be— 
ſtandteil des Froſch- und Hühnereies dar— 
ſtellt, verfolgt hat, hatte hinreichende Be— 
weiſe dafür vor ſeinen Augen, daß eine 
ähnliche Entwicklung der Tierwelt von der 
gleichen Grundlage aus in irgend einer 
Weiſe möglich iſt. 

Noch ein anderes Forſchungsergebnis 
hat reichlich beigetragen zu der Beſeitigung 
der im Jahre 1859 landläufigen Einwürfe 
gegen die Evolutionstheorie. Nämlich der 
durch allmähliche Unterſuchungen gelieferte 
Beweis, daß Darwin die Unvollkommen— 
heit des geologischen Berichtes nicht über— 
ſchätzt hat. Wir bedürfen keiner ſchlagen— 
deren Illuſtration hierfür, als eine Ver— 
gleichung unſerer Kenntnis der tertiären 
Säugetierfauna mit derjenigen von 1859. 
Gaudrys Unterſuchungen der Foſſilien 
von Bifermi wurden1868 veröffentlicht, die— 
jenigen von Leidy, Marſh und Cope 
über die Foſſilien der weſtlichen Gebiete 
Nordamerikas ſind faſt gänzlich erſt ſeit 
1870 erſchienen, diejenigen von Filhol 
über die Phosphorite von Quercy 1878. 
Die allgemeine Wirkung dieſer Unterſu— 
chungen iſt geweſen, uns eine Mannigfal— 
tigkeit von ausgeſtorbenen Tieren zuzufüh— 
ren, deren Exiſtenz vorher kaum vermutet 
wurde, gerade als wenn Zoologen mit 
einem bisher unentdeckten Lande bekannt 
geworden wären, welches ſo reich an neuen 
Lebensformen iſt, wie Braſilien und Süd— 
afrika einſt den Europäern entgegentraten. 
In der That, die foſſile Fauna der weſt— 
lichen Gebiete Nordamerikas ſchickt ſich 


— 


T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. 255 


durch ihren Reichtum an, an Intereſſe und 
Wichtigkeit diejenigen aller anderen ter— 
tiären Ablagerungen zuſammengenommen 
zu überbieten; dabei haben ſich dieſe Un— 
terſuchungen, mit Ausnahme derjenigen 
in den amerikaniſchen Tertiärſchichten, nur 
über ſehr beſchränkte Gebiete erſtreckt, und 
zu Pikermi waren fie auf einen äußerſt 
engen Raum begrenzt. 

Die erwähnten ſcheinen mir die Haupt— 
ereigniſſe in der Geſchichte des Wiſſens— 
fortſchrittes der letzten zwanzig Jahre zu 
ſein, welche für das veränderte Empfinden 
in betracht kommen, mit welchem die Evo— 
lutionslehre gegenwärtig von denen be— 
trachtet wird, die dem Fortſchritte der bio— 
logischen Wiſſenſchaft in denjenigen Pro— 
blemen gefolgt ſind, die indirekt auf jene 
Lehre Bezug haben. 

Aber alles dies bleibt nur ſekundärer 
Beweis. Er mag Widerſpuch entfernen, 
aber keine Zuſtimmung erzwingen. Pri— 
märer und direkter Beweis kann nur von 
der Paläontologie geliefert werden. Der 
geologiſche Bericht muß, ſobald er ſich der 
Vollſtändigkeit nähert, wenn er auf ge— 
eignete Weiſe befragt wird, entweder eine 
bejahende oder eine verneinende Antwort 
geben. Wenn Evolution ſtattgefunden hat, 
wird ſie dort ihre Spur gelaſſen haben; 
wenn ſie nicht ſtattgefunden, wird ſie dort 
ihre Widerlegung finden. 

Welches war der Stand der Dinge 
im Jahre 1859? Laßt uns Darwin ſelbſt 
hören, bei em man ſtets verſichert ſein 
kann, das gegen ihn Sprechende ſo ſtark 
als möglich zu hören. 

„Warum iſt bei dieſer Lehre von der 
Austilgung einer Unendlichkeit von ver— 


bindenden Gliedern zwiſchen den lebenden 


und ausgeſtorbenen Bewohnern, und in 


jeder folgenden Periode zwiſchen den er— 


loſchenen und noch älteren Arten, nicht 
jede geologiſche Formation mit ſolchen 
Bindegliedern erfüllt? Warum liefert 
nicht jede Sammlung foſſiler Überreſte 
vollen Beweis für die Abſtufung und Ver— 
änderung der Lebensformen? Wir begeg— 
nen einem ſolchen Beweiſe nicht, und dies 
tft der deutlichſte uud plauſibelſte von den 
vielen Einwürfen, die gegen meine Theorie 
vorgebracht werden können.““) 

Nichts konnte für die Oppoſition ver— 
wendbarer ſein, als dieſes charakteriſtiſche 
offene Geſtändnis, unmittelbar verflochten 
mit einer Anerkennung, daß die Anſich— 
ten des Verfaſſers durch die Thatſachen 
der Paläontologie widerlegt würden. Aber 
thatſächlich machte Darwin ein ſolches 
Zugeſtändnis nicht. Was er in Wirklich— 
keit ſagte, iſt nicht, daß der paläontologi— 
ſche Beweis gegen ihn ſei, ſondern daß 
er nicht entſchieden zu ſeinen Gunſten ſei, 
und ohne zu verſuchen, die Thatſache ab— 
zuſchwächen, rechnet er dabei auf die 
Mangelhaftigkeit und Unvollkommenheit 
jenes Beweiſes. 

Welches iſt der Stand dieſer Ange— 
legenheit jetzt, nachdem der Zuwachs un— 
ſerer Kenntnis hinſichtlich der tertiären 
Säugetiere auf das Fünfzigfache geſtiegen 
iſt und ſich in manchen Richtungen ſogar 
der Vollſtändigkeit nähert? 

Einfach der, daß, wenn die Evolutions— 
lehre nicht bereits exiſtirte, die Paläonto— 
logen ſie erfunden haben müßten, ſo un— 
widerſtehlich wird ſie durch das Studium 
der Überreſte der ſeit 1859 ans Licht ge— 
brachten tertiären Säugetiere dem Ver— 


ſtande aufgezwungen. 


Unter den Foſſilien von Pikermi fand 


) A. a. O,, S. 463. 


256 


— 


T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. 


Gaudry die aufeinanderfolgenden Stu: ſend Wegen modifizirt worden; Raſſen 
fen, durch welche die alten Zibethkatzen | haben ſich erhoben, welche, ſich befeſtigend, 


in die mehr modernen Hyänen übergingen; 


auf dieſe Weiſe eine entſprechende Zahl 


durch die tertiären Ablagerungen des weſt— | ſekundärer Arten hervorgebracht haben.“ 


lichen Amerika verfolgte Marſh die Spur | 


der aufeinanderfolgenden Formen, durch 
welche der alte Grundſtamm des Pferdes 


in feine jetzige Form übergegangen iſt, 


unzählige weniger vollſtändige Nach— 
weiſe des Entwickelungsmodus anderer 
Gruppen der höheren Säugetiere ſind er— 
halten worden. 

In der wertvollen Abhandlung über 
die Phosphorite von Querey, auf welche 
ich hingewieſen habe, beſchreibt Filhol 
nicht weniger als ſiebzehn Varietäten der 
Gattung Cynodictis, welche den ge— 
ſammten Zwiſchenraumzwiſchen denZibeth— 
katzen und dem bärenartigen Hunde Am— 
phicyon ausfüllen; auch weiß ich keinen 
ſoliden Grund zu einem Einwurf gegen 
die Annahme, daß wir in dieſer Cy— 
nodictis-Amphicyon-Gruppe den ge— 
ſammten Grundſtock beſitzen, aus welchem 
alle Zibethkatzen, Katzen, Hyänen und 
Hunde und vielleicht auch die Waſchbären 
und Bären hervorgegangen ſind. Im Ge— 
genteil, es läßt ſich ſehr viel zu ihren Gun— 
ſten ſagen. Im Laufe ſeiner Schlußfol— 
gerungen bemerkt Fil hol: 

„Während der Epoche der Phospho— 
rite fand ein großer Wechſel in den tie— 
riſchen Formen ſtatt, und faſt dieſelben 
Typen, welche heute exiſtiren, wurden von 
einander geſondert. 

„Unter dem Einfluſſe natürlicher Be— 
dingungen, von denen wir keine genaue 
Kenntnis haben, wenn auch Spuren von 
ihnen erkennbar ſind, ſind Arten auf tau— 


Im Jahre 1859 wurde eine Sprache, 


von der das Vorſtehende eine unabſicht— 


liche Umſchreibung iſt, wo ſie im Urſprung 
der Arten vorkam, als wilde Spekulation 
verſpottet: jetzt iſt ſie eine nüchterne Dar- 
ſtellung der Schlüſſe, zu denen ein ſcharf— 
ſinniger und kritiſch geſtimmter Forſcher 
durch umfaſſendes und geduldiges Studium 
der Thatſachen der Paläontologie geleitet 
wird. Ich wage zu wiederholen, was ich 
ſchon oben geſagt habe, daß die Evolution, 
ſoweit ſie die tieriſche Welt angeht, nicht 
länger ein Spekulation, ſondern die Feſt— 
ſtellung eines hiſtoriſchen Faktums iſt. 
Sie nimmt ihren Platz an der Seite jener 
angenommenen Wahrheiten, denen die Phi— 
loſophen aller Schulen Rechnung zu tra— 
gen haben. 

Wenn alſo am erſten Tage des näch— 
ſten Oktobers der „Urſprung der Arten“ 
in das Alter der Großjährigkeit tritt, wer— 
den die Verſprechungen ſeiner Jugend reich 
erfüllt ſein; und wir werden gerüſtet ſein, 
dem verehrten Verfaſſer des Buches zu gra— 
tuliren, nicht allein dazu, daß die Größe ſei— 
nes Werkes und ſein dauernder Einfluß 
auf den Fortſchritt der Wiſſenſchaft ihm 
einen Platz neben unſerem Harvey er— 
worben haben; ſondern noch mehr dazu, daß 
er gleich Harvey lange genug gelebt hat, 
um Verleumdung und Widerſpruch zu über— 
dauern und den Stein, welchen die Bau— 
leute verwarfen, zum Grundſtein des Baues 
werden zu fehen.*) 

*) Nature, Vol. XXIII, N. 549, 1880. 


Skizzen aus der Eutwicklungsgeſchichte der Entwick- 
lungsgeſchichte.“ 


Von 
Ernſt Krauſe. 


N ährend Ad. Wurtz einſt 
mit geringer Berechtigung 

E ausrief, die Chemie ſei 
eine franzöſiſche Wiſſen— 
ſchaft, ſo kann man mit 
f vollſtem Recht von der 

Entwicklungsgeſchichte ſagen, ſie ſei eine 
deutſche Wiſſenſchaft, denn die geſammte 
Grundlage nebſt dem Aufbau iſt deut— 
ſchem Fleiße zu danken. Zwar glaubte 
Kaspar Friedrich Wolff, der Grün— 
der dieſer Wiſſenſchaft, an das Buch des 
Ariſtoteles über die Entſtehung der Tiere 
anknüpfen zu ſollen, in welchem jener die 
Ewigkeit der Individuen leugnete und be— 
hauptete, ſie entſtänden durch eine aufein— 
anderfolgende Neubildung (Epigenesis) 
aller ihrer Teile, allein dieſe wahre Er— 
kenntnis gründete ſich mehr auf logiſches 
Denken als auf ausreichende Beobachtung 
und mußte erſt von deutſchen Forſchern 


*) In dieſen „Skizzen“ wird nur die aus— 
führlichere Schilderung einiger Epiſoden beab— 
ſichtigt, während für die zuſammenhängende Dar— 


= == * 


I. 


im harten Kampfe der Wiſſenſchaft wieder— 
gewonnen und zum unveräußerlichen Eigen— 
tum erworben werden. 


Das Studium der Entwicklungsge— 


ſchichte hat gleich bei ſeiner erſten Wieder— 
aufnahme durch Fabricius ab Aqua— 
pendente (um 1600) dadurch Schiffbruch 
gelitten, daß es bei den denkbar ſchwierig— 
ſten Objekten, dem menſchlichen Fötus und 
dem Hühnerei, begonnen wurde und daß 
man, ſtatt den Vorgang an dem Keim 
niederer Tiere zu beobachten, wo man ein— 
fachere Verhältniſſe angetroffen hätte, aus 
Bequemlichkeitsrückſichten immer wieder 
zum Hühnerei griff, weil man es jederzeit 
in jedem Bebrütungsſtadium haben konnte. 
Die ſich hierbei dem Blicke darbietenden 
komplizirteren Verhältniſſe boten keine ge— 
eignete Handhabe zur Widerlegung und 
Beſeitigung einiger durch Ariſtoteles 
ſelbſt verſchuldeten wilden Spekulationen 


ſtellung auf die ausgezeichnete hiſtoriſche Ueberſicht 
in den Eingangskapiteln von Haeckels Anthro— 
pogenie verwieſen wird. 


Komos, IV. Jahrg. Heft 4. 


33 


— ——— 


258 


und Theorien über die elternloſe Zeugung 
von Tieren und Pflanzen, und infolge 
deſſen blieb die geſammte Entwicklungs— 
geſchichte lange ein bloßer Spielball der 
einander ablöſenden philoſophiſchen Sy— 
ſteme und Träumereien. 

Den Standpunkt der Ratloſigkeit in 
dieſen Dingen malt uns im ſiebzehnten 
Jahrhundert das Verhalten des großen 
Harvey, der in ſeinem epochemachenden 
Werke über die Erzeugung der Tiere die 
Möglichkeit einer doppelten Entſtehungs— 
weiſe, 1) durch Verwandlung (Metamor— 
phosis) und 2) durch Neubildung (Epi— 
genesis) zugab, die erſtere für die niederen, 
die andere für die höheren Tiere. In dem— 
ſelben Geiſte vertrugen ſich alſo die ein— 
ander diametral gegenüberſtehenden Theo— 
rien des ewigen Seins und des Werdens, 
die des achtzehnten und die des neunzehn— 
ten Jahrhunderts noch mit einander, wie in 
irgend einer foſſilen Form noch die Ge— 
ſtalten divergirender Entwicklungswege 
verſchmolzen ruhen. Ebendeshalb kann er 
aber auch weder als der Verkünder der 
einen noch der andern Theorie gelten, ob— 
wohl er beide ſehr klar unterſchied. 

„Wir haben gefunden,“ ſchreibt er!), 
„daß etwas ſowohl in der Kunſt als in 
der Natur auf zweierlei Weiſe entſtehen 
kann, erſtens aus einem bereits vorhande— 
nen Stoffe, wie ein Bettgeſtell aus Holz, 


eine Bildſäule aus Stein, wenn nämlich 
der geſammte Stoff des künftigen Baus 
ſchon vorhanden iſt, ehe dieſer feine Ge- 


ſtalt erlangt hat, oder bevor das Werk 


angefangen wurde. Die zweite Art iſt, 


wenn der Stoff zugleich mit der Geſtal— 


tung auch entſteht. Nach der erſten Art 


*) De Generatione Animalium Exer- 
eit. XLV. 


Ernſt Krauſe, Eutwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


bearbeitet der Künſtler den vorhandenen 
Stoff, er nimmt das überflüſſige weg und 
zuletzt bleibt die Bildſäule übrig. Nach 
der zweiten Manier verfertigt z. B. ein 
Töpfer ein gleiches Bild wie der Bild— 
hauer, aus Thon, indem er immermehr 
von dem Material hinzufügt und ihm ſeine 
Geſtalt giebt, wobei er das Material zu— 
gleich zubereitet und das Bild macht, ſtatt 
es herauszubilden. Eine gleiche Bewandt— 
nis hat es mit der Zeugung der Tiere. 
Einige werden aus einem ſchon fertigen 
Stoffe vollends gebildet und aus einer 
Geſtalt in die andere umgewandelt, und 
alle Teile werden gleichzeitig durch eine 
Verwandlung geboren und unterſchieden, 
woraus dann ein vollkommnes Tier her— 
vorgeht. Andere Tiere hingegen, bei denen 
ein Teil nach dem andern gebildet wird, 
werden darnach aus demſelben Stoffe zu— 
gleich ernährt, vergrößert und gebildet. 
Der Aufbau dieſer Tiere geht von einem 


deſſelben erhält das Tier auch die übrigen 
Glieder. Von ſolchen Tieren ſagen wir, 
daß ſie durch Hinzufügung der Teile (Epi— 
genesis) nach und nach entſtehen; es wird 
nämlich ein Teil nach dem andern hervor— 
gebracht, und das verſteht man eigentlich 
unter einer Geburt oder Zeugung, wenn 
ein Teil eher da iſt als der andere. 

„In der erſten Weiſe findet die Zeu— 
gung der Inſekten ſtatt. Hier wird durch 
eine Verwandlung (Metamorphosis) ein 
Wurm aus einem Ei geboren, oft werden 
auch aus einem verfaulenden oder ver— 
gehenden Stoffe, wo eine Feuchtigkeit aus? 
trocknet oder eine trockene Maſſe feucht 
wird, die urſprünglichen Weſen erzeugt. 
Daraus wird, wie aus einer Raupe, wenn 
ſie zu ihrer vollen Größe gelangt iſt, oft- 


Anfangsteile aus und durch Vermittlung 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 259 


mals auch aus einer Puppe, durch eine 
Verwandlung ein Schmetterling oder eine 
Fliege in ihrer vollen Größe geboren. 
Sie wird ſeit ihrem erſten Hervorkommen 
nicht im geringſten größer. Vollkommnere 
Tiere aber, die Blut haben, werden durch 
eine Hinzufügung der Teile (Epigenesis) 
geboren, nach der Geburt werden ſie auch 
größer . . . Man bezeichnet die Bienen, 
Bremſen, Schmetterlinge und alle diejeni— 
gen, die aus einer Raupe durch Metamor— 
phoſe entſtehen, als ſolche Tiere, die durch 
Selbſtzeugung entſtehen und ihr Geſchlecht 
nicht erhalten. Aber ein Löwe oder ein 
Hahn entſtehen niemals durch Selbſtzeu— 
gung, ſetzen vielmehr ein Etwas voraus, 
welches ſeinesgleichen als Art erzeugt und 
den Stoff zu ſeiner Hervorbringung liefert. 
In der Hervorbringung durch Verwand— 
lung (Metamorphosis) erhalten die Tiere 
eine Geſtalt wie durch ein eingedrücktes 
Siegel, oder eine ſchon vorher fertige 
Form, das geſammte Weſen wird verän— 
dert. Ein ſolches Tier hingegen, welches 
durch Hinzufügung der Teile (Epigenesis) 
fortgepflanzt wird, zieht den Stoff zugleich 
heran, bereitet und verbraucht denſelben, 
indem es feine Geſtalt erhält und wächſt. .“ 

So hatte alſo Harvey das richtige 
in bezug auf die Entſtehung der Wirbel— 
tiere erkannt, nur hinſichtlich der niederen 
Tiere, über deren Entſtehungsweiſe eine 
Menge Märchen umliefen, unterlag auch 
er dem allgemeinen Irrtum. Die Entwick— 
lung dieſer Tiere wurde nun damals durch 
einen der geſchickteſten Zergliederer aller 
Zeiten, durch Johann Swammerdam 
(16371685), zum Gegenſtande eines 
eindringlichen und erfolgreichen Studiums 
gemacht. Durch einen beſondern Kunſt— 
griff, indem er nämlich die beginnende 


Verpuppung abwartete und die Raupe 
abhäutete, wenn ſie bereits aufgehört 
hatte, zu freſſen, gelang es ihm, den 
Schmetterling nicht nur in der Puppe, 
ſondern ſogar ſchon in der Raupe nachzu— 
weiſen, und nachdem er auch die Raupe 
im Ei vorgebildet geſehen zu haben glaubte, 
rief er entzückt: „Um in zwei Worten eine 
Meinung zu äußern, ich glaube, daß es 
gar keine wahre Erzeugung in der Natur 
giebt und noch viel weniger eine zufällige 
Entſtehung; ſondern die Entſtehung der 
Weſen iſt nur eine Enthüllung ihrer ſchon 
exiſtirenden Keime.“ 

Man ſieht leicht, wie ihn die von 
Harvey betonte Umwandlung dieſer Tiere 
in ihrer geſammten Weſenheit, das plötz— 
liche Hervorgehen eines in allen ſeinen 
Teilen neuen Weſens täuſchte. Er begann 
nun, dieſelbe Metamorphoſe in allen Natur— 
weſen zu ſuchen. In dem ſchwarzen Pünkt— 
chen des befruchteten Froſchlaichs ſah er 
bereits die fertige Kaulquappe, und auch 
der Menſch kröche als Räupchen aus einem 
Ei, verpuppe ſich dann in allerlei Hüllen, 
aus denen er ſchließlich hervorkomme, 
„ebenſo wie ein gehäutetes Haft oder 
Schillebold die Mutter (verläßt), um ein 
neues Leben und neue Nahrung anzuneh— 
men . . . Doch kommt dieſes elende Ge— 
ſchöpf (d. h. der Menſch) dem Glück des 
Hafts oder des Schillebolds bei weitem 
nicht bei. Denn dieſe werden in einem 
Augenblick vollkommen geboren, dahin— 
gegen der elende Menſch, der in Thränen 
geboren wird, noch lange Zeit Kummer 
und Beſchwernis, ſowie der Froſch ſeinen 
Schwanz, nach ſich ſchleppt, bevor er zu 
reifen Jahren und Verſtande kommt.““) 
N ) Swammerdam, Bibel der Natur, 
Leipzig, 1752, S. 313. 


260 


Auch bei den Pflanzen ſei es ebenſo, die 
junge Nelke liege, wenn man das Ver— 
größerungsglas anwende, ſchon deutlich 
vorausgebildet in ihrem Samen, obwohl 
alle ihre Liebesſeufzer — ſo bezeichnet 
Swammerdam ihren Duft — ver— 
geblich geweſen ſeien und gar keine 


geſchlechtliche Vermiſchung ſtattgefunden 


habe. Kurz, es giebt keine Neuerzeugung 
in der Natur, ſondern nur eine Enthüllung 
(Evolution) ſchon vorhandener Keime — 
der verkörperten Ideen Platos! 

Wer konnte glücklicher über dieſe Ent— 
deckung ſein, als die beklagenswerten Phi— 
loſophen, welche ſchon damals, wie Dre— 
lincourt, der Lehrer Boerhaaves, 
bemerkt, wohlgezählte 252 Hypotheſen 
über das Weſen der Zeugung ihrem Hirne 
ausgepreßt hatten, von deren Laſt ſie nun 
mit einem male befreit waren, da es nach 
Swammerdams Entdeckung gar keine 
Zeugung mehr gab. „Die Philoſophie,“ 
ſchrieb Bonnet mit einer rührenden Offen— 
heit, „hat, nachdem ſie ihre Unfähigkeit 
erkannt hatte, die Bildung der organiſchen 
Körper mechaniſch zu erklären, den glück— 
lichen Einfall gehabt (aimagine heureuse- 
ment), daß ſie in der Geſtalt von Keimen 
oder organiſirten Körpern ſchon in ganz 
kleiner Form vorhanden waren.“ “) An 
die von Heraklit aufgeſtellte Theorie der 
Panſpermie, nach welcher das geſammte 
Weltall mit organiſchen Keimen erfüllt ſei, 
die durch die Zeugung einen Boden zur 
Entfaltung fänden, anknüpfend, glaubte 
man aller Schwierigkeiten überhoben zu 
jein, indem man annahm, alle organiſchen 
Weſen, die ſich jemals in der Welt ent— 
wickeln ſollten, ſeien gleich bei der erſten 

*) Considerations sur les corps orga- 
nises, S. 1. 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


Schöpfung von Gott mit einem male fer— 
tig erſchaffen und als Keime in einander 
geſchachtelt worden, ſo daß ſich immer einer 
nach und aus dem andern entwickeln könne. 
Nun wollte man natürlich auch von kei— 
ner wirklichen Metamorphoſe der Inſekten 
und Fröſche mehr etwas wiſſen. Es handle 
ſich, verficherte Malebranche, der Schüler 
des Carteſius, nur um eine äußere Um— 
wechſelung der Kleider und Waffen. Das 
Tier wirft eine Hülle ab, und immer iſt es 
ein neues; „Gott,“ ruft der fromme Pater, 
„hat' in einer einzigen Mücke alle diejenigen 
geformt, welche davon ausgehen ſollten.“ 

Wie „glücklich“, um mit Bonnet zu 
reden, dieſe Erfindung war, die ich an ei— 
nem andern Orte eine körperliche Wieder— 
belebung der Platoniſchen Ideen ge— 
nannt habe, ergiebt ſich ſchon aus der viel— 
ſeitigen Verwendung, welche dieſelbe als— 
bald fand. Leibniz wußte ſie geſchickt 
mit ſeinem religiös-philoſophiſchen Syſtem 
zu verweben und ſagte: „Ich glaube, daß 
die Seelen, welche eines Tages menſch— 
liche Seelen werden ſollen, wie diejenigen 
anderer Weſen, in den Voreltern bis auf 
Adam vorhanden geweſen ſind, und in— 
folge deſſen von Anbeginn und immer in 
einer Art von organiſchem Körper exiſtirt 
haben.“) „Dies vorausgeſetzt,“ ſagt er an 
einer andern Stelle, „wird es klar ſein, 
daß ein Weſen, welches nicht zu leben an— 
fängt, auch niemals zu leben aufhören 
kann, und daß der Tod, ebenſo wie die 
Zeugung, nur eine Umwandlung deſſelben 
Weſens iſt, deſſen Maſſe ſich bald ver— 
mehrt, bald vermindert.“ Auch die Phy— 
ſiologie konnte das neue Theorem gut ge— 
brauchen. Wie ſchwer war es nicht, die 
Bildung aller einzelnen Organe des leben— 
D Theodicde, $ 91. 


— 


den Körpers zu erklären, nun brauchte man 
gar nichts zu erklären, „denn,“ ſo ſagte 
A. von Haller, der berühmteſte Phyſio— 
loge des vorigen Jahrhunderts, „alle Ein— 
geweide und ſogar die Knochen waren 
ſchon vorher gebaut und im Keime gegen— 
wärtig, obgleich in einem faſt flüſſigen 
Zuſtande“.“) Auch das Herz war fertig 
da und wartete nur des Augenblickes, in 
welchem es durch den äußern Anſtoß der 
Befruchtung zu ſchlagen beginnen ſollte. 
Um dieſe Träumereien zu begreifen, 
müſſen wir uns erinnern, daß wir uns in 
der Zeit der Entdeckung und erſten An— 
wendung des Mikroſkops befinden. Mit 
Staunen hatte man geſehen, wie ein ver— 
ſchwindender Punkt durch dieſes Inſtru— 
ment zu einer auf das feinſte organiſirten 
Geſtalt ausgedehnt werden konnte; ſo ſtand 
alſo hinter der ſichtbaren Welt eine noch 
viel wunderbarere, dem bloßen Auge un— 
ſichtbare Welt, und nichts hinderte, in je— 
dem Pünktchen des vergrößerten Bildes 
wieder einen ebenſolchen vergrößerbaren 
Keim und ſo in infinitum zu vermuten. 
Dazu kam nun die erregbare Phantaſie 
der mit unvollkommnen Inſtrumenten ar— 
beitenden Forſcher. Ein geſchicktes Mikro— 
ſkopiren iſt ein neues Sehenlernen, und 
wer mit erregbarer Phantaſie ins Mikro— 
ſkop ſchaut, kann, wie unzählige Beiſpiele 
dargethan haben, alles ſehen, was er ſehen 
will. Kein Wunder, daß man jetzt begann, 
in den kleinſten Keimen bereits die voll— 
kommen ausgeſtaltete Miniaturausgabe 
des künftigen Weſens zu erkennen. Nun 
hatte der junge Mediziner Ludwig von 
Hammen aus Danzig im Jahre 1677 
in einem Tropfen männlicher Samen— 
) Citirt von Blumenbach, Über den 
Bildungstrieb, Ausgabe von 1791, S. 23. 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


261 


flüſſigkeit ſchier unzählige lebendige Weſen 
(animalcula) mit dem Mikroſkop entdeckt, 
und bald ſahen der Maler Gautier und 
der Akademiker Hartſoeker in dem 
menſchlichen Samentierchen die leibhafti— 
gen Seelen des Herrn von Leibniz zap— 
peln und bildeten ſie als zuſammengebo— 
gene menſchliche Geſtalten, wie die Kinder 
im Mutterleibe ſitzend, zu jedermanns 
Gemütsergötzung deutlich ab.“) 

Daraus entſtand die große Frage: Sind 
die Keime im väterlichen oder im mütterlichen 
Körper in einander geſchachtelt vorhan— 
den? Iſt das Animalculum des Männchen 
das präformirte Weſen, welches im Ovulum 
nur ſeine Wiege und Nahrung findet, oder 
it das Oyulum des Weibchen dieſer Schach— 
telkeim? Leibniz neigte mit Leeuwen— 
hoek, Hartſoeker und dem Abbé Spal— 
lanzani zu der Partei der Animalku— 
liſten, Haller und Bonnet dagegen 
zu derjenigen der Ovuliſten, und am 
beſten zogen ſich ſchließlich diejenigen aus 
der Sache, welche zweierlei präformirte 
Keime, Seelen- und Körperkeime, annah— 
men, die erſt bei der Zeugung mit einan— 
der verbunden würden. Jean Paul 
hat ſich in den „Grönländiſchen Pro— 
zeſſen““ !) bekanntlich den Animalkuliſten 
-angefchloffen, um dem „groben Ahnen— 
ſtolz“ wenigſtens einen Funken von Be— 
rechtigung laſſen zu können. Da nach die— 
ſer Theorie nämlich der jüngſte Junker in 
der That ſchon bei allen Thaten ſeiner Ur— 
Ur⸗Ahnen, bei ihren ruhmreichen Feld— 
und Raubzügen körperlich dabei geweſen, 
Man findet dieſe Abbildungen in Gau⸗ 
tiers Generation de homme et des ani- 
maux, Paris, 1750, 12 und in Hartſoekers 
Essay de Dioptrique, Paris, 1694, 4. 

) Sämmtliche Werke, Ausgabe von 1841, 
Bd 9, S. Nl. 


— 


fo dürfe er ſich immerhin etwas auf dieſe 
mit feinen Ahnen gemeinschaftlich verübten 
Thaten einbilden. 

Es verſteht ſich von ſelbſt, daß dieſe 
präformirten Keime, die materiell gewor— 
denen ewigen Ideen Platons, unter ein— 
ander mit einer unabänderlichen Verſchie— 
denheit begabt, gedacht wurden. Sogar 
das männliche und weibliche Geſchlecht 
war nach Leeuwenhoek bereits den Ani— 
malkulis ſeit Ewigkeit eigen, und da nun 
keine Veränderung an ihnen denkbar war, 
ſo mußten alle Verſchiedenheiten der In— 
dividuen von Anfang an in ihnen gelegen 
haben. So wurde die Präformations— 
theorie zur natürlichen Ergänzung der 
Prädeſtinationstheorie. Um nun zu er— 
klären, wie es komme, daß die lebenden 
Tiere und Pflanzen teilweiſe eine gewiſſe 
Ahnlichkeit mit einander darbieten, ſo nah— 
men Leibniz und Bonnet an, der 
Schöpfer ſei bei der Bildung der Keime 
nach einer beſtimmten kontinuirlichen Rei— 
henfolge vorgegangen, indem er von dem 
niedrigeren zu dem höheren aufſtieg, wes— 
halb ſich alle Weſen, obwohl ſie an ſich 
unveränderlich ſind, in eine einzige gerade 
Stufenleiter vom Mineral zum einfachſten 
Pflänzchen, von dieſem zum Pflanzentier, 
und vom Tiere ſelbſt zum Menſchen, ja 
zum Engel anordnen ließen. 

Die geſchickteren Mikroſkopiker, wie 
Leeuwenhoek und andere, geſtanden 
bald zu, daß man die Geſtalt des künfti— 
gen Tieres nicht im Samentierchen erken— 
nen könne, was ſie aber einzig auf eine 
der Kraft ihrer Mikroſkope ſpottende Klein— 
heit derſelben deuteten. Ihre Lebendigkeit 
mußte für die Unſichtbarkeit der Form ein— 
treten, aber das fernere Bedenken, daß 
man, wenn man den präformirten Keim 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


— 


in den Samentierchen ſuchen wollte, eine 
ungeheure Verſchwendung derſelben zu— 
geben mußte, führte die beſonneneren 
Präformiſten immer mehr dazu, im Ovu— 
lum die aus der Unſichtbarkeit in die Sicht— 
barkeit gewachſene jüngſte Keimhülle zu 
ſuchen. Man mußte natürlich, um durch 
ſeine Berufung auf das Unſichtbare nicht 
allen Halt in der Welt des Wirklichen zu 
verlieren, annehmen, daß die Keime ſich 
nach und nach immer mehr ausdehnten, 
um kurz vor ihrem Inslebentreten als 
deutliche präformirte Keime im Körper der 
Mutter ſichtbar zu werden, wie man denn 
die ganze unmittelbare Deszendenz eines 
Huhnes in ſeinem Eierſtocke und einer 
Pflanze in ihrem Fruchtknoten ſchon vor 
ſtattgehabtem Verkehr mit dem Männchen 
vorgebildet findet. In ſeinem auf dieſes 
Verhalten begründeten „Entwurf einer 
Geſchichte der organiſirten Körper vor 
ihrer Befruchtung“, in welchem das gleiche 
Alter aller Menſchen von Adam bis auf 
die damalige Welt herab betont und auf 
rund ſechstauſend Jahre berechnet wurde, 
hatte Bonnet der Idee Bazins beige— 
pflichtet, „daß wir,“ um mit Blumen— 
bach“) zu reden, „ſeit der lieben langen 
Zeit, da wir mit Kain und Abel und den 
200,000 Millionen übrigen Menſchen zu— 
ſammenſteckten, die der gemeinen Rechnung 
nach ſeitdem vor uns dahingegangen ſind, 
kurz ſeit der erſten Schöpfung, zwar in— 
kognito und ſchlaftrunken, aber doch nicht 
ganz ohne Bewegung brach gelegen haben, 
und daß wir während der 57 Jahrhun— 
derte, eh' uns die Reihe traf, daß wir 
durch den oberwähnten Reiz (der Zeugung) 
entwickelt wurden, doch immer nach und 
nach ſachte gewachſen ſind: wir konnten 


) A. a. O., S. 24. 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


uns nämlich bei Kains Schweſter ſchon ein 
bißchen mehr ausdehnen, als bei ihrer 


Mutter, wo fie ſelbſt nebſt ihren Geſchwi- 


ſtern noch bei uns lag und uns den Raum 
beengte; und ſo kriegten wir mit jeder 
neuen Entwicklung eines unſerer Vorfahren 
ein geräumiger Logis, und das that uns 
wohl, da ſtreckten wir uns mehr und mehr, 
bis endlich die Reihe der Entwicklung auch 
an uns kam!“ 

Natürlich mußten die nächſten zum Her— 
vortreten auch ſchon ſichtbarlich in Er— 
ſcheinung treten, und hier boten die ſchon 
vor aller Befruchtung ſichtbaren jungen 
Eier im Tierkörper und die Samenanlagen 
im Fruchtknoten einen ſcheinbaren Beweis 
für die Wahrheit der Präformations— 
theorie. Noch viel lauter ſprechende Be— 
weiſe lieferten aber gewiſſe vorzeitige Ent— 
wicklungen, wie die ſproſſenden Blumen 
der ſogenannten Roſenkönige, die „ſchwan— 
geren Orangen“, die eine junge Frucht ent— 
halten, und die Vogeleier, welche in ihrer 
Schale ſchon ein zweites vollſtändig aus— 
gebildetes Ei mit Schale bergen. Das 
waren Antizipationen der künftigen Ent— 
wicklung. Linné wendete die neue Lehre 
alsbald auf die Botanik an und wies auf 
die Zweige hin, die auseinander hervor— 
knospen und deren Keime von Anfang an 
in der erſten Knospe zuſammengeſchoben 
vorhanden geweſen ſein müßten, wie man 
ſolche mehrjährige Vorausbildung von 
Knospen in den Zwiebeln von Scilla- und 
Ornithogalum - Arten erkennen könne. 
Weniger reichlich genährt, verlängern ſich 
dieſe Zweige nicht in infinitum, ſondern 
bringen am Ende eine Blüte hervor, mit 
welcher jeder weitern Verlängerung des 
Endes dieſes Zweiges ein Ziel geſetzt er— 
ſcheint. Deshalb glaubte Linné, mit dem 


263 


Blühen ſei eine ſechsjährige Blattknospen— 
entwicklung des Zweiges, in den ſechs 
Blattkreiſen der vollkommnen Blüte anti- 
zipirt, die Blüte ſelbſt ſei dem Schmetter— 
ling zu vergleichen. 

Nichts aber kam der Theorie, daß es 
keine wahre Erzeugung in der Natur gebe, 
mehr zugunſten, als die 1740 gemachten 
Beobachtungen Bonnets über die Fort— 
pflanzung der Blattläuſe. Dieſe Tiere 
pflanzen ſich während des größten Teils 
der wärmern Jahreszeit anſcheinend ohne 
jede Mitwirkung der Männchen fort, in— 
dem immer nur Weibchen zur Welt kom— 
men, die nach wenigen Tagen wieder Eier 
legen, aus denen Weibchen hervorkom— 
men, und ſo fort durch zehn oder mehr 
Generationen, bis am Ende der Saiſon 
auch Männchen erſcheinen, während, wie 
Balbiani neuerdings wahrſcheinlich ge— 
macht hat!), in dem erſteren Falle eine 
Art Selbſtbefruchtung ſtattfindet. Hier 
ſchien nun die Ineinanderſchachtelung der 
Keime und die Entbehrlichkeit der Be— 
fruchtung, dieſer ganze Luxus der Männ— 
chen offenbar, und dieſer Schein wurde 
nach Kräften für die herrſchende und von 
den erſten Autoritäten der Zeit unterſtützte 
Lehre ausgenützt. Juſt als man ſolche 
Beſtätigungen brauchen konnte, wies dann 
auch ein Dr. Otto auf einen von ſeinem 
Großvater beobachteten und durch den 
namhaften Leibmedikus Clauder in den 
Annalen der Kaiſerlich Leopoldiniſchen 
Akademie ſeinerzeit beſchriebenen Fall hin, 
in welchem eine Müllerfrau mit einem be— 
reits in guter Hoffnung befindlichen Kinde 
niedergekommen ſei. „Acht Tage darnach 
wird das kleine dickleibige Mädchen,“ ſo 

) S. den Bericht über Balbianis Studien 
in den Kleineren Mitteilungen dieſes Heftes. 


264 


erzählt Otto mit den Worten feines Groß— 
vaters, „mit großen Wehtagen und Un— 
ruhe befallen, ſehr weinend und ängſtlich, 
daß alle die Umſtehenden nicht anders 
vermeint, als es würde im Nu ſterben. 
Inmittelſt gebiert das kranke Kind ordent— 
licher Weiſe ein artiges, vollſtändiges, 
lebendiges Töchterlein in der Länge des 
mittleren Fingers, welches auch getauft 
worden. Bei der Geburt iſt alles an After— 
bürde und andere Unreinigkeit abgegangen, 
beide Kinder aber ſind kurz folgende Tage 
darauf geſtorben.““) Haller hat dieſe 
Geſchichte ſelbſt unter den beſten Beweiſen 
für die Präformationstheorie aufgeführt, 
und man kann es daher dem wackern Geiſt— 
lichen nicht verdenken, der in einem von 
Blumenbach angeführten lateiniſchen 
Briefe ſeinen Gewiſſensbedenken darüber 
Luft gemacht hat, ob man ſolche Kinder 
acht Tage alter Mädchen eigentlich taufen 
dürfe? Die Anhänger der männlichen Keim— 
bewahrung (Animalkuliſten) ſpielten übri— 
gens dem von Haller protegirten Müller— 
kinde gegenüber einen in den Schriften 
der Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften 
an die Offentlichkeit gebrachten Abbs aus, 
dem, nachdem er „mitten in einem Ver— 


ſuche über das Zeugungsgeſchäfte ſehr zur 
Unſichtbare jubelte ihm alle Welt zu, und 


Unzeit unterbrochen“ hernach ein verhär— 
tetes Kindlein — on y distinguoit la tete, 
les pieds et les yeux — aus dem Leibe 
geſchnitten werden mußte! 


Es handelte ſich nun höchſtens noch 


darum, auch am Embryo höherer Tiere 


das Vorher-Vorhandenſein deſſelben und 
die Geringfügigkeit der bis zur Reife nöti— 


gen äußeren Umbildungen nachzuweiſen. 


) D. C. Ottonis Epistola de foetu puer- 
pera seu de foetu in foetu. Weißenfels, 
1748, 8. Citirt von Blum enbach. 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


In der That glaubten Malpighi und 
Croune ſchon in unbebrüteten Hühner— 
eiern das Miniaturbild des nur heran— 
wachſenden Vogels geſehen zu haben, ja 
der letztere konnte es mit ſeinen ſcharfen 
Augen ſogar in ſogenannten Windeiern 
von Hennen, die nie mit einem Hahn zu 
thun gehabt hatten, erkennen. Dieſer 
Traum hatte ſich nun zwar nicht bewährt, 
aber von ſeinem Grundſatze der Unſicht— 
barkeit und urſprünglichen Flüſſigkeit aller 
feſten Teile ausgehend, ſuchte A. von 
Haller noch am 13. Mai 1758 in einer 
Sitzung der von ihm präſidirten Göttingi— 
ſchen Geſellſchaft der Wiſſenſchaften die 
Präformation des Küchelchens im Ei nach— 
zuweiſen, indem er darauf hinwies, daß 
die Haut des Dotters im bebrüteten Ei 
in die des daran hängenden Küchelchens, 
und die Blutgefäße des letzteren in die 
Adern der ſogenannten Figura venosa 
des Dotters unmittelbar übergingen. Nun 
aber habe der Dotter mit ſeiner Haut 
ſchon im Eierſtock der unbefruchteten Henne 


präexiſtirt, folglich nach aller Wahrſchein— 


lichkeit auch zugleich mit derſelben, obgleich 
unſichtbar, das damit zuſammenhän— 
gende Hühnchen. Trotz dieſer geſchraubten 


Erklärung mit ihrer Berufung auf das 


Bonnet ſchrieb am 30. Oktober 1758 
an Haller: Vos poulets m’enchantent: 
je n'avois pas espéré que le secret de 
la Generation commenceroit sitöt à se 
devoiler. C'est bien vous, monsieur, qui 
avait sgu prendre la Nature sur le fait.“ 

Um den Jubel eines ſo ſcharfſinnigen 
Mannes wie Bonnet, um die allgemeine 
Zuſtimmung der erſten Geiſter der Zeit 
zu begreifen, muß man ſich der vollkom— 


menen Ratloſigkeit erinnern, in welcher 


befanden, wenn es galt, die Neubildung 
eines organiſchen Weſens durch die Zeu— 
gung zu begreifen. Die Epigeneſistheorie 
war ja, wie wir geſehen haben, bereits 
von Ariſtoteles aufgeſtellt worden, aber 
jedermann, der der Sache tiefer nachge— 
gangen war, fühlte ſich unfähig, ſie zu 
begreifen. Dieſem Problem gegenüber 


hatte ſich daher eine vollkommene Re- 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


1 
265 


ſich Forſchung und Philoſophie jener Zeit den, der betitelt iſt: „Ob die allgemeinen 


Geſetze der Bewegung zur Bildung der 
Tiere zureichen?“ und welcher ſo lehrreich 


iſt, daß ich ihn in etwas abgekürzter Form 


hier wiedergeben will, weil er am beſten 
erklärt, weshalb Bayle und alle ſcharf— 


ſinnigen Köpfe feiner Zeit der Präforma⸗ 


| 


tionstheorie, die doch nur ein Verzicht auf 


jede Erklärung iſt, zuflüchteten: 


ſignation aller Geiſter bemächtigt. Ein 
Naturphiloſoph des ſechzehnten Jahrhun- 

nicht philoſophiren. Will man zu den all— 
zu behauptet, es ſchiene ihm viel leichter 


derts, Franz Titelmann, hatte gerade— 


begreiflich, daß Gott unmittelbar Pflanzen 
und Tiere hervorbringe, als daß der männ— 
liche Samen (foetidissima, et vix nomi- 
nanda substantia, quam absque abomi- 
natione nemo conspicit) die Kraft haben 
ſolle, jene wunderbaren Organe der Lebe— 
weſen hervorzubringen, gegen welche alle 
Werkzeuge der Phyſiker und Mathematiker 
Pfuſchereien ſeien. Man hatte von einer 
vis plastica, der Vorgängerin des nisus 
formativus Blumenbachs, geſprochen, 
die alles erklären ſollte, und Daniel 
Sennert (1572 — 1637) ſuchte die 
Schwierigkeit zu löſen, indem er ſagte, 
eine Artſeele ſei ſchon im männlichen Sa— 
men enthalten und bilde den Leib mit ſei— 


„Will man,“ ſagt Bayle, „zu Gott, 
als der unmittelbaren Urſache (der Ent- 
ſtehung) ſeine Zuflucht nehmen, ſo heißt das 


gemeinen Geſetzen von der Mitteilung der 
Bewegung ſeine Zuflucht nehmen, ſo iſt dies 
eine armſelige Hilfe: denn weil nach dem 
Bekenntniſſe aller philoſophiſchen Parteien 


dieſe Geſetze nicht vermögend ſind, ich will 


Idee, eine in ſeinem Buche De Genera- 
tione viventium ausgeſponnene Hypo⸗ 
theſe, die ſpäter von Stahl aufgenommen 
wurde und urſprünglich, wenn auch in 


modifizirter Geſtalt, das Glaubensbekennt— 
nis aller Anhänger der Epigeneſistheorie 
ausmachte. 


Dieſe Hypotheſe iſt ſehr treffend von 


Bayle in dem Artikel „Sennert“ ſeines 
Lexikons in einem Abſchnitt widerlegt wor— 


nicht ſagen eine Mühle oder Uhr, ſondern 
nur das allergröbſte Werkzeug hervorzu— 
bringen, das man in der Werkſtatt eines 
Schloſſers ſieht; wie ſollten ſie vermögend 
ſein, den Körper eines Hundes oder auch 
einer Roſe und eines Granatapfels hervor— 
zubringen? Will man zu den Sternen oder 
ewigen Ideen ſeine Zuflucht nehmen; ſo iſt 
dies eine erbärmliche Freiſtatt. Hier muß 
eine Urſache ſein, welche einen Begriff von 


ihrem Werke hat und die Mittel kennt, 
dasſelbe zu verfertigen. Denn alles dies 
nen Organen nach der ihr immanenten 


iſt denjenigen nötig, welche eine Uhr oder 
ein Schiff machen; wieviel mehr muß es 
ſich bei demjenigen finden, welches die Or— 
ganiſation der lebendigen Körper voll— 
bringt? Es iſt wohl gewiß, daß die Sterne 
keinen Begriff von einem menſchlichen Kör— 
per haben, und daß ihnen desſelben Bil— 


dungsart unbekannt iſt. Die Peripatetiker 


geben zu, daß die „ewigen Ideen“ der Pflan— 


zen und Tiere nicht wiſſen, wie die Mate— 


rie gebildet werden muß, um ihr die Werk— 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 


34 


266 


zeuge zu geben, welche in einem Baume 
und in einem Küchlein ſind. Sie ſind alſo 
nicht die Urſache dieſer Organiſation. Die— 
jenigen, welche ſagen, daß ſie die Urſache 
derſelben ſeien, ob ſie gleich das künſtliche 
dieſes Werkes nicht wiſſen, ſind tauſend— 
mal lächerlicher als diejenigen, welche ſag— 
ten, daß der Menſch von ungefähr eine Uhr 
machen könnte, ohne daß er jemals einen 
Begriff davon gehabt; ohne daß er wüßte, 
was er macht und was er ſucht. Dieſer 
Einwurf ſtürzt Sennerts Lehre, denn er 
würde ſich nimmermehr erkühnen zu ſagen, 
daß die Seele, welche er in den Samen 
von Pflanzen und Tieren angenommen hat, 
den Begriff von allen Werkzeugen derPflan— 
zen und Tiere hätte und die Art wüßte, wie 
dieſelben zu bilden und an ihren Platz zu 
ſetzen wären. Man hätte ihm alſo eine 
ſehr bedeutende Erleichterung geboten, 
wenn man ihm gelehrt hätte, daß organi— 
ſirte Tierchen in dem Samen wären, denn 
es iſt viel leichter zu begreifen, daß eine 
mit dergleichen Tierchen vereinigte Seele 
ſie im Wachſen machen kann, als daß ſie 
einen Tropfen flüſſige Materie organiſi— 
ren und in einen Hundskörper verwan— 
deln könnte. 

„Ich kenne geſchickte Perſonen, welche 
ſich rühmen, zu begreifen, daß die allge— 
meinen Geſetze von der Mitteilung der 
Bewegung, ſo einfach und von ſo geringer 
Zahl ſie auch ſeien, zureichend wären, 
einen foetus wachſen zu laſſen, inſofern 
man vorausſetzt, daß ſie ihn organiſirt 
finden. Allein ich bekenne meine Schwäche, 
ich kann dies nicht begreifen. Nach meinem 
Bedünken iſt es notwendig, daß, wenn ein 
kleines organiſirtes Stäubchen ein Huhn, 
ein Hund, ein Kalb und dergl. werden ſoll, 
eine vernünftige Urſache die Bewegung 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


der Materie leiten muß, eine Urſache, ſage 
ich, welche den Begriff dieſer kleinen Ma⸗ 
ſchine beſitzt, und die Mittel hat, dieſelbe 
auszudehnen und nach ihrem richtigen 
Ebenmaße zu vergrößern. Man wird mir 
zugeben, daß es nicht begreiflicher iſt, anzu— 
nehmen, daß die Geſetze der Bewegung die 


einzige Urſache von der Erbauung eines. 


kleinen Hauſes ſeien, als es begreiflich iſt, 
daß ſie es in einen großen Palaſt verivan- 
deln, wo jedes Zimmer, jede Thür, jedes 
Fenſter u. ſ. w. eben dieſelben Verhältniſſe 
behält, welche der Baumeiſter des kleinen 
Hauſes beobachtet hat. (Ich erkenne, wohl 
zu bemerken, an, daß zwiſchen der Vergrö— 
ßerung eines Hauſes und dem Wachstum 
des Fötus der Unterſchied iſt, daß die Or— 
gane des Fötus Formen ſind, durch wel— 
che die neuen Wachstumsſtoffe durchdrin— 
gen und ſich ausbreiten können, wovon bei 
einem kleinen Hauſe keine Rede wäre.) 
Wenn dieſe zwei Sachen gleich ſchwer ſind, 
warum wollen wir glauben, daß die Ge— 
ſetze der Bewegung, welche unvermögend 
ſind, einen Punkt der Materie zu organi— 
ſiren, die Fähigkeit haben ſollten, wenn 
ſie dieſelbe organiſirt finden, ſie in ein 
tauſendmal größeres Tier zu verwandeln, 
und alle Verhältniſſe in einer faſt unend— 
lichen Zahl von Werkzeugen zu beobach— 


ten, welche jo verſchiedener Natur find, 


einige weich, einige flüſſig, einige hart 
u. ſ. w.? Ich würde es alſo für ſehr 
wahrſcheinlich halten, daß das Wachstum 
des Fötus, welcher, wenn man will, vom 
Anfange der Welt an organiſirt ſein mag, 
von einer beſonderen Urſache bewirkt werde, 
die einen Begriff von dieſem Werke und 
die Mittel hat, es zu vergrößern; wie z. B. 
ein Baumeiſter den Begriff von einem Ge— 


F 


14 


bäude und die Mittel hat, daſſelbe zu ver— | | 


größern, wenn er einen Riß ausführt, den 
er ganz fertig findet und vor ſich auf den 
Tiſch legt. Es werden mir unzählige Leute 
zugeben, daß ſich die Tiere in der Gebär— 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


267 


muß, von Gott erhalten hat. Die Schwie— 


mutter entwickeln, daß ſie ſich darinnen 


ernähren; daß ſie darinnen durch die Füh— 
rung einer Vorſehung wachſen: allein ſie 
werden wollen, daß Gott alle dieſe Wir— 
kungen regiere. Ich antworte ihnen, daß 
ſie die Frage verändern: denn wir ſuchen 
hier nicht die erſte Urſache, den allgemei— 
nen Urheber aller Dinge, wir ſuchen hier 
nur die letzte Urſache, den Grund von ei— 
ner jeden Wirkung. Wenn man Gott bei 
dieſer Unterſuchung für die ganze Urſache 
ausgiebt, ſo heißt dies nicht philoſophiren. 
Man ſage mir doch, wenn es vernünftige 
Einwohner in den Planeten gäbe, welche 
auf die Erde und in eins von unſern Häu— 
ſern kämen, den Gebrauch der Zimmer, 
der Fenſter, der Thüren, der Schlöſſer u. 
ſ. w. errieten und endlich nur die Vor— 
ſehung Gottes bewunderten, welche ein ſo 
bequemes Gebäude für den Menſchen auf— 
geführt hätte, würde man ſie nicht mit 
gutem Grunde für Dummköpfe halten? 
Sie würden nicht wiſſen, daß dieſes Ge— 
bäude durch Menſchen aufgeführt worden 
und daß ein menſchlicher Baumeiſter die 
Lage der Steine, der Dielen u. ſ. w. nach 
ſeinen vorgeſetzten Abſichten eingeſetzt 
hätte. Es iſt freilich wahr, daß der Menſch 
dieſen Verſtand von Gott erhalten hat; 
allein Gott iſt nicht die nächſte, die natür— 
liche und unmittelbare Urſache dieſes Ge— 
bäudes. Wir wollen ebendaſſelbe in Ab— 
ſicht auf die Organiſation der Bäume und 
der Tiere ſagen; ſie iſt der beſonderen 
Führung irgend einer andern Urſache un— 
terworfen, welche den Verſtand und die 


rigkeit liegt darin, dieſe Urſache zu beſtim— 
men . . . Heinrich Morus, welcher die 
Präexiſtenz der Seele geglaubt hat, lehrte“), 
daß ſie, indem ſie ſich mit der Materie 
vereinige, ſich ſelbſt darin eine organiſche 
Wohnung baue. Dieſe Meinung wird da— 
mit beſtritten, daß wir nicht wiſſen, was 
man thun muß, um die Nerven, die Beine, 
die Adern u. ſ. w. zu ordnen. Man könnte 


ſagen, daß die Seele alle dieſe Be— 


griffe vergeſſe, ſobald ihre Woh— 
nung fertig iſt, weil die Grobheit der 
Werkzeuge des menſchlichen Körpers den 
Zuſammenhang zerreißt, den ſie zuvor mit 
den ſehr ſubtilen zufälligen Urſachen hatte. 
Allein ich möchte lieber vorausſetzen, daß 
die Seele ſelbſt die Bewegungen nicht re— 
giere, welche ihren Fötus wachſen laſſen; 
ich wollte dieſe Regierung lieber einem 
fremden Geiſte zueignen . ..“ 

Man erſieht, daß ſich hier in der Be— 
trachtung der Entwicklungsgeſchichte die 
Keime einer Philoſophie des Unbe— 
wußten ausbildeten, wie ſie noch in un— 
ſerm Jahrhundert möglich geweſen iſt. 
Allein Bayle erinnerte ſich wohl der gro— 
ßen Gelehrſamkeit, welche Johann Bap— 
tiſte Morin (1583— 1656) dieſer Keim— 
ſeele zuſchreiben mußte“), um fie ihres 


*) De Anima, Lib. II, Cap. IV. 

++) Die Worte Morins lauten iu der Über- 
ſetzung wie folgt: „Ich glaube, die phyſiſche, jub- 
ſtantielle Form der zuſammengeſetzten Körper 
(mit Ausnahme der Vernunftſeele) iſt nichts 
anderes, als der körperloſe Samengeiſt jedes 
Dinges, derſelbe, dem Severinus die eigen— 
tümlichen und ſpezifiſchen inneren Signaturen 
der Farbe, des Geruchs und Geſchmackes und 
die wunderbare, ihm von Gott im Anfang der 


Schöpfung mitgeteilte Wiſſenſchaft (scientia) 
Geſchicklichkeit, die man dabei anwenden zuſchreibt, durch welche der von wirkſamen Ur— 


I 


7 


Amtes würdig walten zu laſſen, und er 
ſchauderte vor dieſer ungeheuren unbe— 
wußten Gelehrſamkeit ſo zurück, daß er 
ſich lieber der Bonnet-Leibnizſchen Hypo— 
theſe zuwandte, bei der alle dieſe Schwie— 
rigkeiten wegfielen. Und ſo ging es jeder— 
mann und darum freute ſich die geſammte 
gelehrte Welt, als Haller die Präfor— 
mationstheorie 1758 feierlichſt als feſtge— 
gründet anerkannte. 

Aber ſchon im Jahre nach dieſem 
„Triumph“ der Präformationstheorie 
wagte der Zögling des Königlich Preußi— 


Kaspar Friedrich Wolff, in ſeiner am 
28. Nov. 1759 zu Halle verteidigten Pro— 


ſich gemütvoll ausdrückte, „die erquickende 
Freude am Neuwerden in der Natur ver— 
darb, indem ſie die luſtigen, farbenreichen 


ſachen zur Erzeugung gereizte Geiſt irgendeines 
Samens zuerſt das dem zu erzeugenden Dinge 
kongruente Element herbeizieht . . . und darauf 
der Verarbeitung und Organiſation deſſelben 
obliegt, und ſo regelrecht nach der ihm einge— 
bornen und ihm weſentlichen Wiſſenſchaft (scien- 
tia), daß alle Blumen derſelben Pflanze unter ſich 
und alle Blätter und Früchte unter ſich in allen 
Kennzeichen übereinſtimmen, und ferner überein— 
ſtimmen mit den Blättern, Blüten und Früchten 
irgendeiner andern Pflanze derſelben Spezies: was 
nur mit der dem Vermögen ſolches Samens ein— 


er in den Spinngeweben, Bienenwaben und 


offen liegt, auf andre Weiſe aber unter Zuſtim— 
mung der Vernunft nicht begriffen werden kann.“ 
So ſchloß alſo Morin hundertundfünfzig Jahre 


ſchen Collegium medico-chirurgicum, 


gepflanzten mechaniſchen Wiſſenſchaft (scientia | 
mechanica) und deſſen weſentlichen Eigentümlich⸗ 
keiten leicht begriffen werden kann, gleichſam als 
das regelmäßige Werk irgendeines Verſtandes, wie 


den übrigen Erzeugniſſen der Tiere noch klarer 


Verjüngungen mit der Theorie vom ewi- 


268 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


gen Sein umflorte“. Während nun die 
Anhänger der Evolutionstheorie immer 
nur das Längſtfertige im Ei oder Samen 


geſucht hatten, konnte den Neuſchöpfer der 


von Ariſtoteles betonten, aber kaum 
durch eigene Forſchungen begründeten Epi— 
geneſistheorie auch die genaueſte Zerglie— 
derung des Fertigen nicht befriedigen, er 
wollte nun einmal das „Werden“ ſehen und 
ſein Blick vertiefte ſich zunächſt in die beiden 
„Vegetationspunkte“ an den beiden End— 


polen der Pflanze. Er ſah dort am obern : 
Pol, wie die Verſchiedenheit der Laub- und 


Blütenblätter ſich aus gleichen Anfängen 
entwickelte, und ohne ſich, wie Linné, in 


ſchimmernden Vergleichen der Blüte mit 
motionsſchrift über die Theorie der zeugung 
den Kampf gegen jene damals alle Geiſter | 
beherrſchende Theorie, welche ihm, wie er 


Schmetterlingen u.ſ.w. zu ergehen, erkannte 
er, daß alle Organe der Pflanze ſich auf 
die beiden Grundformen von Stengel und 
Blatt zurückführen laſſen und daß die 
Blüte aus Kreiſen verwandelter Blätter 
beſtehe. Auch die Zuſammenſetzung dieſer 
Grundorgane aus den entfernteren Ele— 


vor Erasmus Darwin, daß man auch den 
Pflanzen und allen Keimen eine denkende Seele 
beilegen müſſe, welche den der Pflanze nötigen 
Nahrungsſtoff auswählt und verteilt. „Nichts 
Abſurderes kann ausgeklügelt werden,“ fährt 
Morin fort, „als daß jene Ahnlichkeit der Blü— 
ten, Blätter und Früchte eines Baumes in 
Farbe, Geruch, Geſchmack und Form aus der 
bloßen Bewegung der Atome hervorgehe, von 


welcher Stand und Ordnung derſelben abhän— 


gig ſeien. Unter allen Blüten, Blättern und 
Früchten eines Apfelbaumes komme nicht eine 
einzige Blüte. Blatt oder Frucht der Birne 
oder irgendeiner andern Pflanze aus der Be— 
wegung derſelben Atome zum Vorſchein. Wenn 
hier alſo nicht irgendeine ſpezifiſche „Wiſſen— 
ſchaft“ im Spiele ſei, würden gar keine be— 
ſtimmten Spezies, ſondern nur chimäriſche For- 
men entſtehen können.“ Man findet den latei— 


niſchen Urtext dieſer Stellen bei Bayle im 
Artikel „Morin“. 


— 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


menten der Zellen und Gefäße erkannte 
er deutlich und zeigte, daß die Gefäße 
nachträgliche Bildungen ſeien, wobei die 
Stengelorgane, die ſozuſagen das Tranſit— 
geſchäft zu beſorgen hätten, als vorzugs— 
weiſe aus Kanälen, die Blätter hingegen, 
als Aufſpeicherungsorgane, als vorzugs— 
weiſe aus Zellen beſtehend erkannt wurden. 

Daſſelbe, was Wolff für die Ent— 
wicklungsgeſchichte der Pflanze leiſtete, 
konnte er mit ſeinem durch die Beobach— 
tung dieſer einfacheren Verhältniſſe ge— 
ſchärften Blick auch für die Entwicklungs— 
geſchichte der Tiere ſchaffen, nämlich die 
exakte Grundlage aller künftigen Forſchung 
auf dieſem Gebiete. In ſeiner bereits 1768 
erſchienenen Arbeit über die Bildung des 
Darmkanals“) zeigte Wolff auf das 
klarſte, daß von irgend einer Vorausbil— 
dung dieſer oder anderer Organe im 
Hühnerei umſoweniger die Rede ſein könne, 
als ſelbſt in den erſten Tagen der Bebrü— 
tung keine Spur von der demſelben eigen— 
tümlichen Röhrenform vorhanden ſei, daß 
vielmehr der geſammte Embryo urſprüng— 
lich die Geſtalt eines flachen, ovalen Blat— 
tes darbiete, welches, anfangs einfach, 
ſich ſpäter in mehrere Blätter teilt, deren 
innerſtes durch Verwachſung der einander 
genäherten Ränder ſchließlich zu dem 
Darmkanale wird, deſſen Ausbildung er 
von Anfang bis zu Ende verfolgte. In— 
dem er ferner erkannte, daß aus den übri— 
gen Blättern in ähnlicher Weiſe durch 
Zuſammenſchließung die übrigen Organ— 
ſyſteme entſtehen, wie das Nerven-, Muskel- 
und Gefäßſyſtem, und daß dieſelbe Bil— 
dungsweiſe bei andern Wirbeltieren wieder— 
kehrt, wurde er nicht nur der erſte Ent— 


) De formatione intestinorum. Petrop. 
1768—69. 


269 


decker jener wunderbaren Gleichförmigkeit 
der Entſtehung aller Organſyſteme aus 
denſelben Grundlagen, die Pander 1817 
zu der berühmten Keimblättertheorie er— 
hob, ſondern er wies ſeine Kollegen mit 
Nachdruck auch auf den tiefern Sinn dieſer 
Entſtehung aus gleichen Grundformen hin, 
die, wie er ahnte und ausſprach, „in eng— 
ſter Verbindung mit der Erzeugung und der 
geſammten Natur der Tiere“ ſtehen müſſe. 

Wolffs Arbeiten brachten nicht den 
reformatoriſchen Eindruck hervor, den man 
heute vorausſetzen möchte, und dies erklärt 
ſich vollkommen durch die allzu beſcheidene 
Art ſeines Auftretens. Nicht wie ein Neu— 
erer und Bekämpfer der herrſchenden Schule 
trat er in die Schranken, ſondern wie ein 
bloßer Erneuerer und Vertreter der Ari— 
ſtoteliſchen Anſicht vom Werden, d. h. alſo 
einer längſt abgethanen Theorie. Auch die 
Taktik ſeiner Gegner trug nicht wenig dazu 
bei, den in ſeinem Vaterlande verkannten 
und förmlich zur Auswanderung nach Pe— 
tersburg gedrängten Forscher bei uns inVer— 
geſſenheit zu bringen, fo daß Goethe ſpäter 
ſeinen „trefflichen Vorarbeiter“, wie er 
ſich ausdrückte, förmlich „entdecken“ mußte. 
Statt ihn nämlich zu bekämpfen und da— 
durch ſeine Streitluſt zu reizen, lieferte 
Hal ler ſelbſt in den „Göttinger Gelehrten 
Anzeigen“ von 1760 eine ſehr anerken— 
nende Rezenſion ſeiner Erſtlingsſchrift und 
trat mit ihm in einen Briefwechſel, und 
die bloße Ablehnung der neuen Theorie, 
der Machtſpruch Hallers: „Nulla est 
epigenesis“ brachten in jener Zeit des 
blühendſten Autoritätsglaubens dieſelbe 
Wirkung hervor, wie die gründlichſte Wi— 
derlegung. Es ſoll nicht geſagt werden, 
daß Haller, einmal durch freundliches 
Entgegenkommen und andererſeits durch 


270 


vornehmes Schweigen den als gefährlich 
erkannten Gegner abſichtlich mundtot zu 
machen geſucht habe, denn eine ſolche 
Handlungsweiſe lag wohl nicht in ſeinem 
Charakter, aber der Mangel an Kampf: 
luſt auf Wolffs Seite kam ihm entgegen, 
und die thatſächliche Folge des vermiede— 
nen Streites war das Vergeſſen, welches 
ſich über Wolffs Entdeckungen und Schrif— 
ten breitete, der deutlichſte Beweis dafür, 
daß auch ein neuer Forſchungsweg nur im 
Kampfe um ſeine Berechtigung und ſeinen 
innern Wert zu der ihm gebührenden An— 
erkennung gelangen kann und daß über- 
haupt nichts dem Fortſchritt der Wiſſen⸗ 
ſchaft förderlicher iſt als der Streit, nichts 


* ſchädlicher als der Frieden. 
Die das Studium der Entwicklungs- 


geſchichte geradezu negirende Präforma— 
tions- oder Evolutionstheorie im älteren 
Sinne mußte ſchließlich an Altersſchwäche 
ſterben und vorher zum Geſpötte der Nicht— 


fachleute werden, ehe ſie von den Fach- 


leuten aufgegeben wurde. Am wirkſam— 
ſten wurde ſie, und zwar mit den Waffen 
des Spottes und Witzes, um die Neige 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


als den erwachſenen Weſen, während ſich 
doch der Embryo, wie ſpäter E. v. Baer 
hervorhob, vielmehr durch Einfachheit oder, 
wie er ſich ausdrückte, „Grobheit“ ſeines 
Baues dem vollendeten Weſen gegenüber 
auszeichnet. Darwin, der Wolffs 
Schriften nicht gekannt zu haben ſcheint, 
faßte den Begriff der Epigeneſe wohl am 
tiefſten, indem er einesteils betonte, daß 
der junge Keim — für den er das Sper- 
matozoid hielt —eine Fortſetzung des Va— 
ters ſei, die auch die neueſten Erwerbun⸗ 
gen deſſelben entfalten müſſe, andererſeits 
aber aus eigener Machtvollkommenheit 
befähigt ſei, über denſelben hinauszugehen. 

Der witzige Blumenbach, ehemals, 
wie beinahe alle damaligen Anatomen und 
Philoſophen, ein eifriger Hallerianer und 
Evolutioniſt, wurde im Sommer 1789 
durch die Beobachtung der Reproduktions⸗ 
fähigkeit des Armpolypen zur Theorie der 
Neubildung bekehrt. Es ſchien ihm nicht 
denkbar, daß das Reproduktionsvermögen 


der niedern Tiere nach der Präformations⸗ 
theorie erklärbar ſein könne. Natürlich 
war dieſer bedenkliche Umstand den An⸗ 


des Jahrhunderts von Blumen bach und 


Goethe in Deutſchland, und von Eras— | 
mus Darwin in England bekämpft. 


Während Goethe ſchon in ſeiner Kam— | 


pagne in Frankreich ſich bitter beklagte, 
daß „die ſtarre Vorſtellungsart, nichts 
könne werden als was ſchon ſei, ſich aller 
Geiſter bemächtigt“ habe, wurde Eras— 
mus Darwin durch die Millionen der 
ineinander geſchachtelten Keime an die 
zwanzigtauſend auf einer Nadelſpitze tan— 
zenden Teufelchen des heiligen Antonius 


erinnert, und betonte ſarkaſtiſch, daß dieſe 


Theorie ja den Embryonen in ihrer Klein— 
heit einen viel wunderbareren Bau zumute, 


hängern der Theorie nicht entgangen. 
„Man muß annehmen,“ hatte ſchon Ré⸗ 
aumur in einer 1712 erſchienenen Ab— 
handlung über die Reproduktion der Krebs⸗ 
ſcheeren geſagt, „daß dieſe kleinen Beine, 
welche wir wachſen ſehen, in kleinen Eiern 
eingeſchloſſen waren und daß, nachdem ein 
Teil des Beines abgeſchnitten wurde, die— 
ſelben Säfte, welche ſonſt dazu dienten, 
dieſen Teil zu ernähren und wachſen zu 
laſſen, nunmehr angewendet werden, um 


den in dieſen Eiern enthaltenen Erſatzteil 


ſich entwickeln und wachſen zu laſſen“. 
Obgleich Neaumur mit feinem geſunden 
Menſchenverſtande ausgeſprochenerweiſe 


* 


err Ba a a a u 


N 


— 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


nicht glaubte, daß jemand dieſe weither— 
geholte Erklärung annehmen würde, blieb 
doch Bonnet nichts weiter übrig, als die 
Unzahl der präformirten Keime noch durch 
ein Magazin von „Flickkeimen“ (des ger- 
mes reparateurs“) zu vermehren, die 
nur das enthalten, was häufiger auszu— 
beſſern iſt, wie ſich vorſichtige Hausfrauen 
beizeiten Erſatzſtückegewiſſer, häufig ſchad— 
haft werdender Kleiderſtellen beſorgen. 
Blumenbach konnte dieſen Notkei⸗ 
men keinen Geſchmack abgewinnen, er wies 
darauf hin, daß der Erſatz verlorener Teile 
in der Regel mit Subſtanzverluſt der be— 
nachbarten verbunden iſt, und ſuchte na— 
mentlich aus der Betrachtung der unvor— 
hergeſehenen Bildungen der Natur, der 
Gallen, Roſenäpfel, Baſtarde und Mißge— 
burten, zu beweiſen, daß in den Säften 
der Organismen ein körperliches, geſtal— 
tendes Vermögen wirkſam ſei, welches er 
den Bildungstrieb (nisus formativus) 
nannte. Er ſchloß demnach: „daß keine 
präformirten Keime präexiſtiren, ſondern 
daß in den vorher rohen, ungebildeten Zeu— 
gungsſtoff der organiſchen Körper, nachdem 
er zu ſeiner Reife und an den Ort ſeiner 
Beſtimmung gelangt iſt, ein beſonderer, 
dann lebenslang thätiger Trieb rege wird, 
ihre beſtimmte Geſtalt anfangs anzuneh— 
men, dann lebenslang zu erhalten, und 
wenn ſie ja etwa verſtümmelt werden, wo⸗ 
möglich wieder herzuſtellen.“) Blumen: 
bach geſteht ſelbſt zu, daß er damit nur 
die Taufe einer qualitas occulta vollzo— 
gen, indeſſen legte er damit wenigſtens 
die formbildende Urſache in die Lebeweſen 
ſelbſt und gab die Neubildung aller Ge— 


* Bonnet, Oeuvres completes. T. VI, 
P. 267. 
a/ Q., S. 31. 


271 


ſtalten und ihr Veränderungsvermögen 
durch äußere Umſtände zu. Durch ihre 
Beeinflußbarkeit glaubte er ſich nun er: 
klären zu können, daß nicht nur auf geſetz⸗ 
mäßige Weiſe Mißgeburten und Baſtarde 
— deren Formen daher auch geſetzmäßige 
und darum wiederkehrende ſeien — ent— 
ſtehen könnten, ſondern daß auch tieriſche 
Bildungen im Menſchen aufträten, und 
männliche Tiere oftmals äußerlich die Kenn— 
zeichen von weiblichen darbieten könnten. 

„Bekanntlich haben die Weiber,“ ſagt 
er“), „nach dem ordentlichen Laufe der Na— 
tur zur Aufnahme ihrer neuempfangenen 
Frucht ein einfaches Organ. Die mehr— 
ſten übrigen Säugetiere hingegen ein dop— 
peltes. Nun aber ſind die Fälle nicht ſel— 


ten, wo man auch bei Frauenzimmern 


einen förmlichen ſolchen tieriſchen uterus 
bicornis gefunden, ſo daß es dann von dieſer 
Seite geſchienen, als wenn wirklich die 
Iphigenia verſchwunden und ein Reh an 
ihre Stelle gezaubert wäre.“ Den ver- 
meintlichen „Schlüſſel,“ welchen Blu— 
menbach für dieſe richtige Beobachtung 
giebt, daß der Bildungstrieb nämlich bei 
der Bildung der einen Art organiſcher 
Körper zuweilen die für eine andere Art 
beſtimmte Richtung annähme, iſt, wie 


man leicht erkennt, kein Schlüſſel, wenn 


nicht wenigſtens ein einheitlicher Urſprung 
der beiden Richtungen des Bildungstriebes 
vorausgeſetzt wird, was nicht geſchieht. 
Gegen dieſe Unzulänglichkeit und We— 
ſenloſigkeit des erſt in neuerer Zeit zu 
einem gewiſſen Inhalte gelangten Blumen⸗ 
bachſchen — Wortes wandte ſich Wolff 
in einer beſonderen Schrift““), die auch dar- 


A a. O., S. 108: 

**) Von der eigentümlichen und weſentlichen 
Kraft der vegetabiliſchen und animaliſchen Sub- 
ſtanz. St. Petersburg, 1789. 4. 


272 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


um intereſſant iſt, weil ſich durch Miß-“ Zweck iſt es, die Prinzipien der Pflanzen— 


verſtändnis aus ihr, und nicht, wie man 


gewöhnlich angiebt, aus Blumenbach, 
der perhorreszirte Begriff der Lebenskraft 


entwickelt zu haben ſcheint. 

„Sollte unter dieſem Trieb,“ ſagt 
Wolff, „eine einfache Kraft verſtanden 
werden, ſo könne man nur gleiche Wirkungen 
von ihr erwarten, ſie könne nur eine Art 
organiſcher Körper, nicht aber unzählige 
hervorbringen. Wollte man aber die Ver— 
ſchiedenheiten der Bildungen aus ſekundä— 
ren Wirkungen erklären, ſo werde der Be— 
griff des Bildungstriebes auf den der allen 
Organismen gemeinſamen Ernährungs— 
kraft zurückgeführt. Dieſe Nutritionskraft 
äußere ſich zwar ſchließlich nur in der Anzie— 


hung gleichartiger und in der Fernhaltung. 


(Abſtoßung) fremdartiger Stoffe, aber ſie 
ſei in dem Einzelweſen ſo individuell, daß 
man auch der Pflanzenart eine Art unbe— 
wußt mit Gefühl und Geſchmack begabter 
Ernährungsſeele zugeſtehen müſſe, die eine 
ihr allein eigentümliche Art der Stoffan— 
eignung und Stofforganiſirung beſitze.“ 
Hier berührt ſich Wolffs Anſchauung 
ziemlich innig mit derjenigen von Eras— 
mus Darwin, der ebenfalls keinen be— 
ſtimmt gerichteten Bildungstrieb, ſondern 
vielmehr ein Vermögen, ſich den äußeren 
Umſtänden anzupaſſen, in Pflanzen und 
Tieren ſelbſt ſuchte.“) Aber Wolff ging 
weiter, und nichts zeigt deutlicher, wie voll— 
kommen in ihm der Geiſt unſeres Jahr— 
hunderts lebendig war, als ein Ausſpruch, 
den er ſchon in feiner Theoria generatio- 
nis gethan“), woſelbſt er jagt: „Mein 
9 Erasmus Darwin. Leipzig, 1880. 
S. 177 ff. 

**) 8.71. Schol. II. Vergl. Alfr. Kirch— 


hoff, Die Idee der Pflanzenmetamorphoſe bei 
Wolff und Goethe. Berlin, 1867. S. II. 


entwickelung und deren Grundgeſetze er— 
fahrungsmäßig zu finden, und wenigſtens 
zu zeigen, daß die vollendete Pflanze nicht 
ein Ding iſt, zu deſſen Hervorbringung die 
Naturkräfte gar nicht hinreichten, welche 
vielmehr die ſchöpferiſche Allmacht (d. h. 
die Präformation) verlange.“ Niemals 


iſt vor Kant und Darwin die Notwen— 


digkeit einer mechaniſchen, oder ſagen 
wir moniſtiſchen Auffaſſung entſchiedener 
betont worden, als in dieſen Worten 
Wolffs. 

Wie ſchon erwähnt, galt der Prophet 
in ſeinem Vaterlande nichts, und ſeine Auf— 
forderung zur Beobachtung des Werdens, 
ſeine Verkündigung einer höheren Auf— 
faſſung der Natur verhallten ſo vollſtändig 
vor dem Rufe „Es giebt kein Werden!“, 
daß der deutſche Naturforſcher Ludwig 
Oken im Jahre 1806 von neuem die 
Entwickelungsgeſchichte des Darmkanals 
zu ſtudiren begann, ohne übrigens zu ſo 
klaren Ergebniſſen zu kommen, wie der 
ſcharfſinnige Vorgänger, von deſſen Arbeit 
er keine Ahnung hatte. Man hat die dies— 
bezüglichen Arbeiten Okens in ſpäterer 
Zeit mit ſehr geringſchätzigem Auge ange— 
ſehen, weil er nicht unterlaſſen konnte, 
jeden Augenblick ſeine Augen von dem mit 
großer Genauigkeit beobachteten Objekte 
emporzuheben und in die Ferne zu ſchauen, 
um ſich aus dem beſonderen zu allgemei— 
nen Reſultaten zu erheben. 

Mit Recht ſagte aber Karl Ernſt 
Baer von ihm, daß ſeine Unterſuchungen 
der „Wendepunkt für eine richtigere Er— 
kenntnis des Eies der Säugetiere geworden 
ſind“. Wenn man die entwicklungsge— 
ſchichtlichen Arbeiten Okens genauer be— 


— 


trachtet, ſo drängt ſich die Empfindung auf, | 


Ernſt Kraufe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


als habe man eine fortwährende unausge- 


ſprochene Oppoſition gegen jenes Wort 
Hallers vor ſich, „daß kein Teil im Tier— 


körper vor dem andern gemacht worden ſei, 


ſondern alle zugleich erſchaffen worden 
ſeien“. Oken erkannte nun deutlich ein 
Vorauseilen der Entwickelung des einen 
Organſyſtems vor dem anderen und baute 
darauf, von der Idee des allgemeinen Zu— 
ſammenhanges der Tierformen ausgehend, 
ſofort ein Syſtem, in welchem die Abtei— 
lungen nach dem Vorwiegen der einen oder 
andern Organentwickelung abgegrenzt wur— 
den. „Aller Unterſchied der Tiere von ein— 
ander beruht auf der übermäßigen Aus— 


bildung eines Syſtems bei Vernachläſſi⸗ 


gung der andern,“ ſagt er“), nur im Men⸗ 
ſchen ſeien alle Organe harmoniſch ausge— 
bildet, und das Tierreich ſei der „durch— 
leuchtende Embryo des Menſchen“. So 
ſehr dieſes übereifrige Fruchtpflücken vom 
Baume der Erkenntnis den entwicklungs— 
geſchichtlichen Studien ſelbſt geſchadet hat, 
ſo findet ſich doch mancher geniale Fingerzeig 


auch in dieſem Teile ſeiner Arbeiten, und 
als Beiſpiel mag nur darauf hingewieſen 


werden, wie er ſchon 1806 die Zähne von 


den Knochen getrennt und zu den Hautbil- 


dungen geſtellt wiſſen wollte.“) 

In ruhigere Bahnen und auf eine ge— 
ſichertere Grundlage wurde das Studium 
der Entwicklungsgeſchichte erſt wieder zu— 
rückgeführt, nachdem Meckel 1812 das 


Wolffſche Werk über die Entwickelungsge-⸗ 
ſchichte des Darmkanals ins Deutſche über— | 
jest und auf den außerordentlichen Wert 


des Werkes hingewieſen hatte. Es war in 


*) Oken und Kieſer, Beiträge zur ver- 


gleichenden Zoologie, Anatomie und Phyſiologie. | 


Bamberg u. Würzburg, 1806. S. 104. 
MA D. 109. 


273 


Würzburg, wo der Gedanke Wurzel ſchlug, 
die von ihren erſten Anläufen bis zu dem 


böchſten Ausbau ſpezifiſch deutſche Wiſſen— 


| 


ſchaft der Entwicklungsgeſchichte weiter 
zu bauen. Über das Aufkeimen des Ge— 
dankens hat uns Karl Ernſt von Baer 
in dem Vorwort ſeiner Entwicklungsge— 
ſchichte der Tiere“) genau unterrichtet. Der 
berühmte Biolog Döllinger äußerte ge— 
gen Baer den Wunſch, „daß ein junger 
Naturforſcher unter ſeinen Augen eine 
neue Reihe von Unterſuchungen über die 
Entwicklungsgeſchichte des Hühnchens an— 
ſtelle,“ indem er hinzufügte, daß er auf 
wichtige Reſultate hoffe. Baer veran- 
laßte ſeinen Freund Chriſtian Pander, 
dieſe Unterſuchungsreihe, zu welcher be— 
deutendere Mittel gehörten, als er damals 
aufwenden konnte, vorzunehmen, und als 
Reſultat legte letzterer in feiner 1817 er— 


ſchienenenPromotionsſchrift eine auf Wolff— 


ſcher Grundlage vollendete Entwicklungs— 
geſchichte des Hühnchens mit der ſchon in 
erſterer angeregten „Keimblättertheorie“ 
vor. Nach ihm zerfällt die blattartige Keim— 
anlage des Hühnereis ſchon am erſten 
Bebrütungstage in ein äußeres Haut- und 
ein inneres Schleimblatt, zwiſchen denen 
ſich ſpäter eine dritte Schicht, das Gefäß— 
blatt entwickelt, um die Grundlagen zur 
Ausbildung der verſchiedenen Organſyſte— 
me zu liefern. 5 

Zuerſt in der Abſicht, die Panderſche 
Arbeit beſſer zu verſtehen, ſie gleichſam mit 
lebendigen Illuſtrationen zu leſen, nahm 
Baer 1819 dieſe Unterſuchung ſelbſt auf, 
und führte ſie ſpäter auf Burdachs Ver— 
anlaſſung in Königsberg, wo er ſich habili— 
tirt hatte, weiter, und zu einem ſolchen 


) Erſter Teil. Königsberg, 1828. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 


35 


274 


Grade der Vollendung, daß er nächſt Wolff, 
dem Begründer, als Vollender die größ— 
ten Verdienſte um die Erforſchung der 


Entwicklungsgeſchichte der Wirbeltiere er 


warb. Nachdem er mancherlei darüber in 
kleineren Abhandlungen veröffentlicht hatte, 
legte er den geſammten Schatz ſeiner Be— 
obachtungen in ſeinem ſchon zitirten großen 
Fundamentalwerke nieder, deſſen beide 
Bände in dem langen Zwiſchenraum von 
1828 — 183) erſchienen. Das große Er— 
gebnis desſelben iſt die allgemeine Über— 
einſtimmung in der erſten Entwicklung 
aller Wirbeltiere, vom Hühnchen bis zum 
Menſchen, deſſen winziges, kaum mit blo— 
ßem Auge erkennbares Ei Baer zuerſt 
(1837) entdeckte. Er unterſchied zunächſt 
das obere animale Keimblatt, aus dem 
ſich die Organe der tieriſchen Funktionen 
(Empfindung und Bewegung) bilden, von 
dem unteren vegetativen Blatt, aus dem 
die Organe der ſogenannten vegetativen 
Thätigkeiten (Ernährung, Verdauung, 
Blutbildung, Atmung, Abſonderung und 
Fortpflanzung) hervorgehen. Jedes dieſer 
primären Keimblätter ſpaltet ſich wieder 
in zwei ſekundäre Blätter, das obere in 
die Hautſchicht, aus der die Bedeckungen 
des Körpers und das Rückenmark nebſt allen 
davon ausſtrahlenden nervöſen Organen 
hervorgehen, und die Fleiſchſchicht, aus 
der Muskeln und Knochen entſtehen. Eben— 
ſo ſpaltet ſich das untere oder vegetative 
Keimblatt in zwei neue Blätter, von denen 
aus dem oberen (Gefäßſchicht) Herz und 
Adern, Nieren und Geſchlechtsorgane, aus 
dem untern (Schleimſchicht) der Darm— 
kanal mit allen ſeinen Nebenorganen und 
die Lunge gebildet werden. 

Von größter Wichtigkeit war ferner 
ſein Nachweis eines ſchon auf den erſten 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


Stufen erkennbaren, für alle Wirbeltiere 
typiſchen Organes, der Chorda dorsalis 
oder des Rückenſtabes, aus dem ſich die 
Wirbelſäule entwickelt. In dieſem frühen 
Auftreten eines bleibenden und charakte— 
riſtiſchen Organes erkannte er das in allen 
Veränderungen der Entwicklungen blei— 
bende Grundſchema des Wirbeltiertypus, 
und ſeine Verſchiedenheit von der Ent— 
wicklung der übrigen Tierkreiſe, in denen 
ſich ebenſo früh ein anderer Spezialtypus 
andeutet. Von dieſen Beobachtungen aus— 


gehend, unternahm er die Scheidung der 


Tiere in vier von Grund aus verſchiede— 
nen Haupttypen: Wirbeltiere, Gliedertiere, 
Weichtiere und Strahltiere, welche Cuvier 
und Rudolphi ungefähr um dieſelbe 
Zeit, von ſyſtematiſchen und vergleichend 
anatomiſchen Geſichtspunkten ausgehend, 
aufgeſtellt hatten. Damit wurde Baer 
zugleich der Begründer der verg leichen— 
den Entwicklungsgeſchichte und mit 
ſeinem Hinweis auf die Wichtigkeit des 
Studiums der Entwicklung der niederen 
Tiere hebt die neue Zeit an, die wir im 
nächſten Kapitel betrachten wollen. 

Baer iſt Zeit ſeines Lebens nicht über 
die Unvereinbarkeit der vier Entwicklungs- 
typen hinausgekommen. Mit vollem Recht 
kämpfte er gegen die aus den Zeiten der 
Präformationslehre von den Naturphilo— 
ſophen hinübergenommene, und nun im 
andern Sinne gedeutete kontinuirliche Ent— 
wicklungsreihe, die man „wie eine Eiſen— 
bahn nur vorwärts und rückwärts gehen 
läßt, aber nicht zur Seite“, und er konnte 
ſich auch ſpäter, als man ſie in viele Ne— 
benlinien gehen ließ und nur den gemein— 
ſamen Ausgangspunkt behauptete, nicht 
mehr von jener vorgefaßten Meinung tren— 


nen. Sein Werk wird darum nichts von 


ſeinem Ruhme verlieren, das richtige Ver: 
ſtändnis der Thatſachen der Entwicklungs— 
geſchichte mußte eben durch den faſt unver— 
meidlichen, aber doch verhängnisvollen 
Umſtand erſchwert werden, daß man mit 
dem Studium der komplizirteren Verhält— 
niſſe der höchſten Tiere, ſtatt mit den ein— 
facheren der niederſten das Werk begonnen 
hatte, ein beim Dache angefangenes Ge— 
bäude, dem man nun nachträglich vorſich— 
tig die Fundamente und Pfeiler unterſchie— 
ben mußte, um es in die Höhe des wahren 
Wertes und weitſchauenden Glanzes zu 
heben. Baer überſchätzte ſeine Arbeit am 
wenigſten. Die Einfachheit ſeiner Funde 
erfüllte ihn mit Hoffnung, denn „die Ein— 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 275 


RN 


fachheit,“ fo ſchrieb er als Motto auf fein 
Buch, „iſt das Siegel der Wahrheit“. 
Er wußte, daß der Bau dieſer Wiffen- 
ſchaft noch nicht vollendet war und ſchrieb 
1828: „Noch manchem wird ein Preis zu 
teil werden. Die Palme aber wird der 
Glückliche erringen, dem es vorbehalten 
iſt, die bildenden Kräfte des tieriſchen 
Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder 
Lebensrichtungen des Weltganzen zu— 
rückzuführen. Der Baum, aus welchem 
ſeine Wiege gezimmert werden ſoll, hat 
noch nicht gekeimt.“ Glücklicherweiſe war 
letzteres der größte Irrtum Ba ers, der 
Baum zur Wiege Darwins war damals 
längſt gefallen. 


Die Bedentung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 


Von 


75 ES nſere Blumentheorie grün— 
es det ſich auf die Voraus- 
1 ſetzung der vorteilhaften 

Wirkung der Kreuzung. 
So oft aus Kreuzung her— 
vorgegangene Nachkom— 
men — ſo behaupten wir — mit aus Selbſt— 
befruchtung hervorgegangenen in ernſten 
Wettkampf verſetzt werden, bleiben die 
erſteren Sieger. Nur wo dieſer Wettkampf 
erſpart bleibt, kann auch Selbſtbefrucht— 
ung oft viele Generationen hindurch der 
Fortpflanzung genügen. Bei Blumen, de— 
nen regelmäßig hinreichender Inſektenbe— 
ſuch zu teil wurde, mußten daher, durch 
Naturausleſe, Kreuzung begünſtigende 
oder ſichernde Abänderungen zur Aus— 


Inſektenbeſuche dagegen Abänderungen, 
die ſpontane Selbſtbefruchtung ermöglich— 


ten oder ſicherten, ohne jedoch daneben 


gelegentliche Kreuzung auszuſchließen. Den 


direkten Beweis für dieſe grundlegenden 


Sätze finden wir in den im erſten Hefte 
des Kosmos beſprochenen Verſuchen Dar— 
wins“) „Über die Wirkungen der Kreu— 
9 Kosmos, Bd. I, Heft 1, S. 57. 


Dr. Hermann Müller. 


zung und Selbſtbefruchtung im Pflanzen— 
reiche“, einen indirekten in den Blüten— 
einrichtungen der Pflanzen überhaupt, be— 
ſonders aber in denen der Blumen. 

Bei den darauf unterſuchten Blumen 
hat ſich nämlich, wie ich zuerſt in meinem 
Buche über „Befruchtung der Blumen 
durch Inſekten“ in umfaſſender Weiſe dar— 
gethan habe, als allgemeine Regel, die 
nur einige wohl erklärbare Ausnahmen 
darbietet, herausgeſtellt, daß Blumen, 
denen ſtets hinreichender Inſektenbeſuch 
zu teil wird, in der That ausſchließlicher 
Kreuzung durch denſelben angepaßt ſind, 
daß dagegen in dem Grade, als ihr In— 
ſektenbeſuch unſicherer iſt, in ihrer Blüten— 


einrichtung, neben der Beibehaltung der 
prägung gelangen, bei unzureichendem 


Möglichkeit der Kreuzung, Ermöglichung 


oder Begünſtigung ſpontaner Selbſtbe— 


fruchtung ſtattfindet. Kreuzung ergiebt ſich 
alſo, wie aus den direkten Verſuchen Dar— 
wins, ebenſo auch aus der Betrachtung 
der Beſtäubungseinrichtungen der Blumen 
erhellt, durchaus als die vorteilhaftere 


Art der Befruchtung. Und wenn einerſeits 


das Experiment den Vorzug unmittelbarer 
Beweiskraft hat, ſo läßt ſich andrerſeits 


Ns 


Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 


der indirekte Beweis aus den Beſtäubungs— 
einrichtungen in viel größerem Umfange 
erbringen. Es iſt vielleicht kaum ſchwieri— 
ger, ihn an einigen hundert Blumen durch— 
zuführen, als das Experiment an einigen 
wenigen. Wenn ferner er auch für ſich 
allein uns wohl kaum befriedigen könnte, 
ſo erlangt er doch, mit den Ergebniſſen 
der Darwinſchen Verſuche zuſammenge— 
nommen, volle Überzeugungskraft und 
führt uns ſogar noch einen Schritt weiter 
als dieſe. 

Aus den elfjährigen Verſuchen Dar— 
wins geht nämlich nicht hervor, und es 
würde vielleicht ſelbſt aus hundertjährigen 


nicht hervorgehen, ob die Fähigkeit ge- 


wiſſer Blumen, durch ſpontane Selbſtbe— 
fruchtung ſich fortzupflanzen, eine be— 


ſchränkte oder unbegrenzte iſt. Aus den 


Blüteneinrichtungen dagegen können wir 


ſchließen, daß ſie ihre Grenzen haben muß. 


Denn wäre ſie unbegrenzt, ſo würde die 
kleiſtogame Blütenform die vorteilhafteſte 


mit ausſchließlich kleiſtogamen Blüten aus— 


prägen müſſen. Thatſächlich iſt uns aber 
nicht eine einzige Blume bekannt, die ſich 
ausſchließlich durch ſpontane Selbſtbe⸗ 


fruchtung fortpflanzt. 

Die Unterſuchung der Beſtäubungs— 
einrichtungen der Blumen im Zuſammen— 
hange mit ihrem thatſächlichen Inſekten— 
beſuche ſcheint mir deshalb, wenn auch 
erſt in zweiter Linie beweiskräftig, nun 
eine nicht weniger weſentliche Stütze un— 
ſerer Blumentheorie zu bilden, als der ex— 
perimentelle Nachweis, daß aus Kreuzung 
in der That kräftigere Nachkommen her— 
vorgehen, als aus Selbſtbefruchtung. 

Faſt alle bisher veröffentlichten der— 
artigen Unterſuchungen waren im Tief— 


277 


lande, alſo unter anſcheinend weit günſtige— 
ren Bedingungen, als ſie das Hochgebirge 
darbietet, angeſtellt. In meinem jetzt unter 
der Preſſe befindlichen Buchen) werden zum 
erſtenmale die Blüteneinrichtungen und der 
thatſächliche Inſektenbeſuch von mehreren 
hundert Alpenblumen mitgeteilt. Indem 
nun dieſe Beobachtungen den umfaſſenden 
Nachweis liefern, daß bis zu den äußer— 
ſten Vorpoſten des Blumenlebens, bis zum 
ewigen Schnee hinauf, dieſelbe Regel gilt, 
daß auch dort ſpontane Selbſtbefruchtung 
niemals als alleiniger Befruchtungsmodus, 
ſondern nur als Notbehelf bei ausbleiben— 
der Kreuzung in Anwendung kommt, daß 
auch dort Kreuzung immer und überall, 
wo ſie zu haben iſt, als die vorteilhaftere 
Fortpflanzungsart zur Geltung gelangt, 
ſichern ſie der Blumentheorie nicht nur 
eine breitere thatſächliche Grundlage, ſon— 
dern zugleich eine weſentlich neue Stütze, 
deren ſie bedürftig war. Sobald aber die 


Grundlage unſerer Theorie geſichert iſt, 
ſein und es hätten ſich zahlreiche Pflanzen 


können wir ſie nach verſchiedenen Rich— 
tungen hin zu einem wirklichen Fortſchritte 
unſerer Erkenntnis der Blumenwelt in 
Anwendung bringen: 

1) können wir bei jeder einzelnen 
Blumenart von der Kenntnis der Form 
zum Verſtändnis der Funktion fortſchrei— 
ten und für die bisher von den Botanikern 
faſt ausſchließlich berückſichtigten morpho— 
logiſchen Merkmale die biologiſche Erklä— 
rung gewinnen. Wir werden dies mit ei— 
niger Sicherheit zwar nur ſelten als Stu— 
benbotaniker, durch Unterſuchung unſerer 
Gartenblumen, erreichen können, wohl 
aber, wenn wir die Blumen an ihren na— 


*) Alpenblumen, ihre Befruchtung durch 


Inſekten und ihre Anpaſſungen an dieſelben. 


Leipzig, Wilh. Engelmann. 


278 Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 


türlichen Wohnorten aufſuchen und in 
ihren mannigfachen Beziehungen zu ihrer 
Umgebung, zu anderen gleichzeitig eben— 
daſelbſt blühenden Arten, zu kreuzungs⸗ 
vermittelnden und plündernden Tieren, ins 
Auge faſſen; 

2) können wir Gruppen auf dieſe Weiſe 
erforſchter, nächſtverwandter Arten ver— 
gleichend überblicken, als aus dem näm— 
lichen Stamme divergirend hervorgegan— 
gene oder aufeinander gefolgte Entwicke— 
lungsſtufen uns verſtändlich machen und 
ſo für die ſyſtematiſche Gliederung, wenig— 
ſtens der letzten Auszweigungen der Blu— 
menſtammbäume, den genetiſchen Zuſam— 
menhang und die ihn bedingenden biolo— 
giſchen Momente ermitteln; 

3) können wir die in den verſchiede— 
nen, auf dieſe Weiſe durchforſchtenPflanzen— 
abteilungen in ihrer natürlichen Aufein— 
anderfolge zu tage getretenen Anpaſſungs— 
ſtufen der Blumen, zuſammen mit den An— 
paſſungsſtufen der als ihre Kreuzungs— 
vermittler beobachteten Inſekten, benutzen, 
um von der allmählichen Ausprägung der 
Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und 
Inſekten zu ihrer heutigen Mannigfaltig⸗ 
keit ein beſtimmtes, auf Thatſachen ge— 
ſtütztes Geſammtbild zu gewinnen. 

Die an den Alpenblumen von mir an- 
geſtellten Unterſuchungen ſind nun, wie 
ich glaube, nicht nur für das Fundament 
unſerer Blumentheorie, ſondern auch für 
ihren Ausbau in den drei fveben bezeich- 
neten Richtungen von Bedeutung. Denn 

J) iſt durch dieſelbe erreicht worden, daß 
wir nun von mehreren hundert Alpen— 
blumen der verſchiedenſten Familien und 
Anpaſſungsſtufen durch Beobachtung an 
Ort und Stelle nicht nur die Beftäubungs- 
einrichtung, ſondern auch in einigem Um: 


fange den Inſektenbeſuch und die Wechſel— 
beziehungen zwiſchen beiden kennen, wor— 
aus ſich ein Einblick in die Eigentümlich— 
keiten der einzelnen Blumen ergiebt; 

2) habe ich im unmittelbaren Anſchluß 
an diejenigen Familien, aus denen mir 
eine größere Zahl auf verſchiedener Ent— 
wickelungshöhe ſtehender Formen vorlagen, 
jedesmal einen vergleichenden Rückblick 
über dieſelben gegeben und ihren genea— 


logiſchen Zuſammenhang, ſoweit er ſich, 


aus den Beſtäubungseinrichtungen erken— 
nen läßt, klar zu legen verſucht. 

3) Wie und in welcher Aufeinander— 
folge die verſchiedenenen Anpaſſungsſtufen 
der Blumen zur Ausprägung gelangt ſein 
mögen, habe ich bereits in meinem Auf— 
ſatze „Die Inſekten als unbewußte Blumen⸗ 
züchter““) in allgemeinen Umriſſen darzu⸗ 
ſtellen verſucht, großenteils, wie den Leſern 
dieſer Zeitſchrift bekannt, auf grund mei— 
ner an den Alpenblumen geſammelten Be- 
obachtungen. Eine weſentliche Vervoll— 
ſtändigung hat dieſe Skizze nun dadurch 
erfahren, daß ich auch von der ſtufenwei— 
ſen Entwickelung der Blumenfarben aus 
den vorliegenden Beobachtungen ein Ge— 
ſammtbild zu gewinnen und in meinem 
Alpenblumen-Werke darzuſtellen verſucht 
habe. 

Von grundlegender Wichtigkeit für 
alle dieſe drei Richtungen, nach denen ich 
in dieſem Buche die Blumentheorie weiter 
auszubauen verſucht habe, ſind Tauſende 
von Einzelbeobachtungen, die einen großen 
Teil deſſelben füllen, hier aber ſelbſtredend 
nicht wiedergegeben werden können. Auch 
in bezug auf die einzelnen eingehend er— 
örterten und durch Abbildungen veran— 
ſchaulichten Alpenblumen muß ich den Leſer 
9 Kosmos, Bd. III. 


4 


S u 


Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 


auf das demnächſt erſcheinende Werk ſelbſt 
verweiſen. Nur die in bezug auf Ver— 
wandtſchaftsverhältniſſe von Blumen ge— 
wiſſer Familien und auf Entwickelung von 
Blumenfarben erlangten allgemeinen Er— 
gebniſſe erſcheinen mir von hinreichend all— 
gemeinem Intereſſe, um hier Platz finden 
zu dürfen. 

Bei den Liliazeen (im weiteren 
Sinne) läßt ſich aus den Blumeneinrich— 
tungen der betrachteten Formen ſchließen, 
daß ihre Stammeltern offene, regelmäßige, 
honigloſe Blüten beſeſſen haben, die nur 
von Pollen aufſuchenden Inſekten beſucht 
und gekreuzt wurden und im Notfall durch 
ſpontane Selbſtbefruchtung ſich fortpflanz— 
ten. Erſt nach der Spaltung in verſchie— 
dene Familienzweige hat ein Teil der Li— 


liazeen die Abſonderung offenen, allgemein 


zugänglichen Honigs, teils aus den Peri— 
gonblättern, teils aus den Fruchtblättern 
erlangt, während ein anderer Teil honig— 
los“) geblieben iſt. Die letzteren werden 
noch heute entweder nur von Pollenſamm— 
lern und Pollenfreſſern gekreuzt (Tulipa) 
oder ſind zu Täuſchblumen geworden, die 
dumme, fäulnisſtoffliebende Fliegen an ſich 
locken (Paris).““) Die aus den Frucht— 
blättern Honig abſondernden Liliazeen 
haben zum teil offene Blüten mit allge— 
mein zugänglichem Honig behalten (Tofiel- 
dia, Anthericum), zum teil haben ſie durch 
Zuſammenſchließen der Blumenblätter ei— 
nem beſchränkteren, aber doch noch ſehr 
gemiſchten Beſucherkreis (Allium), oder 
auch einer beſtimmten langrüſſeligen In— 
ſektenform ſich angepaßt (Paradisia: Nacht- 
faltern und Schwärmern), oder ſie ſind 


*) D. h. ohne Abſonderung von Nektar 
nach außen. 
) Kosmos, Bd. III, S. 336. 


1 


279 


durch Zuſammenwachſen der Blütenhülle 
zu einer kürzeren oder längeren Glocke zu 
Bienenblumen (Convallaria verticillata) 
oder Hummelblumen (C. Polygonatum) 
geworden. 

Die aus den Perigonblättern Honig 
abſondernden Liliazeen ſind ebenfalls teils 
völlig oder ziemlich offenblumig geblieben 
und vorzugsweiſe von kurzrüſſeligen In—⸗ 
ſekten, namentlich Dipteren, in Beſchlag 
genommen und auf ſie als Kreuzungsver— 
mittler angewieſen (Veratrum, Gagea, 
Lloydia), teils ſchließen ihre unverwachſen 
bleibenden Perigonblätter zu herabhan— 
genden Glocken zuſammen, die von Bienen 
befruchtet werden (Fritillaria), teils haben 
ſich ihre Nektarien zu engen, gedeckten Rin— 
nen umgebildet, die nur Faltern zugäng— 
lich ſind (Lilium); endlich hat ſich bei den 
letzteren wiederum eine Umprägung von 
Tagfalterblumen (eine ſolche iſt noch Li- 
lium bulbiferum) zu Schwärmerblumen 
(L. Martagon) vollzogen. Dieſe mannig- 
fachen Anpaſſungen ſind faſt alle mit faſt 
völliger Beibehaltung der Regelmäßigkeit 
der Blumenform vor ſich gegangen; nur 
die Anpaſſung an Falter (Paridisia, Li- 
lium) und die Wagerechtſtellung der Blü— 


‚ten bei Anthericum hat eine unregel— 


mäßige Biegung der Befruchtungsorgane, 
beſonders des Griffels, mit ſich geführt. 
Ein Rückblick auf die Orchideen der 
Alpen zeigt, daß über der Grenze des 
Baumwuchſes faſt nur noch falterblumige 
Arten dieſer Familie vorkommen, während 
in tieferen Regionen mehr und mehr an— 
deren Beſucherkreiſen angepaßte Formen 
verbreitet ſind. Von neun Orchideenarten, 
die von der Baumgrenze aufwärts noch in 
großer Häufigkeit auftreten oder in dieſer 
Region ſogar ihre hauptſächliche Verbrei— 


— 


0 


280 


tung haben, ſind nämlich 6 (Orchis ustu— 
lata und globosa, Gymnadenia conopsea 
und odoratissima, Nigritella angustifolia 


und Platanthera solstitialis) unzweifel- 
haft, 2 (Gymnadenia albida und Peri- 


stylus viridis), nach ihrem engen Sporn— 
eingange zu ſchließen, höchſt wahrſchein— 


lich Falterblumen. Während hiernach von | 
den hochalpinen Orchideen mindeſtens ¾, 


wahrſcheinlich ſogar den Schmetter— 
lingen angepaßt ſind (nur bei Chamae- 
orchis alpina iſt dies ſicher nicht der 


Fall“), kommen z. B. in Weſtfalen von 35 | 
verſchiedenen Orchideenarten nur 6, alſo 
nur wenig über ¼ auf die Schmetterlinge, 


und ſelbſt dieſe wenigen wurden meiſt nur 


ſehr ſpärlich von Faltern beſucht gefunden, 


während unter den hochalpinen, falterblu— 


migen Orchideen namentlich Nigritella 


angustifolia ein wahrer Tummelplatz der 
mannigfaltigſten Schmetterlinge iſt (es 
wurden nicht weniger als 47 verſchiedene 
Falterarten auf ihr beobachtet). 

Die Craſſulazeen ſind durch die in 
offenbarem Zuſammenhang mit der Va— 
riation der Größe erfolgte Abänderung 
der Zahl der Blütenteile ““) von beſonde— 
rem Intereſſe. Mit der Verkleinerung der 
Blumen iſt die urſprüngliche Fünfzahl der 
Blütenteile bei Bulliardia auf 4, bei Til- 
laea auf 3 herabgeſunken; dagegen hat 
ſie ſich mit der Vergrößerung der Blumen 


bei Sedum von 5 bis zu 7, bei den be- 


trachteten Sempervivum- Arten ſogar ſtu— 
fenweiſe bis zu 16 geſteigert. 


Von den Saxifragen ſagt ihr gründ— | 


*) Denſelben Geſichtspunkt habe id) bereits 


in meinem Aufſatze „Das Variiren der Größe 
gefärbter Blütenhüllen“, Kosmos, Bd. II, S. 134, 
geltend gemacht. 


Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 


lichſter Kenner Dr. A. Engler, der nicht 
weniger als 162 verſchiedene Arten mono— 
graphiſch bearbeitet hat: „Die Blüten aller 
Saxifragen find protandriſch, d. h. ihre 
Staubblätter entwickeln ſich vor Entfal— 
tung der Narbe und verſtäuben, ehe die 
Narbe in der Lage iſt, den Pollen ihrer 
Blüte anzunehmen.“ “) Es verdient daher 
gewiß Erwähnung, daß unter 13 von mir 
eingehender unterſuchten und abgebildeten 
alpinen Saxifraga-Arten 3 proterogyn ſind, 
d. h. gerade im Gegenteil die Narben vor 
den Staubgefäßen entwickeln, nämlich Se- 
guieri, muscoides und androsacea, wäh— 
rend die hochalpine oppositifolia, ebenſo 
wie im Tieflande tridactylites, an der 
einen Lokalität proterandriſch, an der an— 
dern proterogyn auftritt. 
Eine beſonders bemerkenswerte Eigen— 
tümlichkeit der ausgeprägt proterogynen 
Arten iſt die außerordentliche Größever— 
ſchiedenheit ihrer Blumen im erſten, weib— 
lichen, und im zweiten, männlichen Zu— 
ſtande. Nach dem Verſchrumpfen der Nar- 
ben wachſen ſie nämlich noch in dem Grade, 
| daß ſich ihr Durchmeſſer fait auf das Dop— 
pelte oder ſelbſt darüber hinaus ſteigert. 
Offenbar wird dadurch die für die Kreuzung 
der Blumen geeignete Reihenfolge der 
Beſuche eines und deſſelben Inſekts we— 
ſentlich begünſtigt, da Inſekten im allge— 
meinen die augenfälligeren Blumen früher 
beſuchen, als die ihnen weniger in die 
Augen fallenden. Bei den proterandriſchen 
Arten findet eine derartige Blumenver— 
größerung im zweiten Entwickelungsſtadi— 
um nicht ſtatt. 

Auch unſere Kenntniß der Gattung 
Viola wird durch die eingehendere Be— 


| Ns 5 Dr. A. Engler, Monographie der Gat— 


tung Saxifraga L. Breslau, 1872. S. 26. 


eee 


4 


trachtung der alpinen Arten weſentlich er— 
weitert. Denn während unſere Tieflands— 
veilchen, ſoweit bekannt, ſämmtlich den 
Bienen angepaßt ſind und von den Fal— 
tern nur eine untergeordnete Mitwirkung 
an der Kreuzungsvermittlung erfahren, 
treffen wir auf den Alpen einerſeits die 
aus einer Bienenblume zu einer Falter: 
blume umgezüchtete Viola calcarata, an- 
dererſeits die auf einer niederen Anpaſ— 
ſungsſtufe ſtehen gebliebene, kurzrüſſeligen 
Dipteren angepaßte V. biflora. An der 
Kreuzungsvermittlung der letzteren betei— 
ligt ſich in ſehr untergeordneter Weiſe 
auch eine ſehr kleine Biene (Halictus cy- 
lindricus), aber in ſo wenig geſchickter 
und zweckmäßiger Weiſe, daß ſie uns ge— 
rade dadurch den Übergang einer Bienen— 
art zur Ausnützung eines bis dahin den 
Dipteren angehörigen Veilchens in ſeinen 
erſten Anfängen klar vor Augen legt und 
uns verſtändlich macht, wie die urfprüngs 
lich kurzrüſſeligen Dipteren angepaßten 
Veilchen ſpäter großenteils zu Bienen⸗ 
blumen haben ausgeprägt werden können. 
Ebenſo bietet uns für den Übergang der 
bienenblumigen V. tricolor in die falter⸗ 
blumige V. calcarata die in der ſubalpi— 
nen Region häufige var. alpestris der er⸗ 
ſteren ſowohl in bezug auf Blütenbau als 
auf thatſächlichen Inſektenbeſuch eine lehr— 
reiche Zwiſchenſtufe dar. 

Die Karyophylleen zeigen in be— 
ſonders einfacher und klarer Weiſe den 


Übergang von offenen, geruchloſen Blüten 


mit allgemein zugänglichem Honig, mit 


weißlicher oder gelblicher Blumenfarbe 
lingsarten beſucht gefunden. Gleichwohl 


und mit einem ſehr gemiſchten Beſucher— 
kreiſe, der haupſächlich aus Dipteren be— 
ſteht, zu becherförmigen und röhrenförmi— 
gen Blumenbildungen mit immer tiefer 


Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 


281 


geborgenem Honig und dadurch immer 
engerer Beſchränkung des Beſucherkreiſes, 
mit immer vorwiegenderer Beteiligung der 
Schmetterlinge und gleichzeitig immer ent— 
ſchiedenerer Ausprägung lieblichen Wohl— 
geruchs, roter Blumenfarbe, feiner Zeich— 
nung um den Blüteneingang herum und 
zierlicher Auszackung und Zerſchlitzung 
des Blütenumriſſes. Die Ausprägung die— 
ſer uns ſelbſt ſo angenehm berührenden 
Blumeneigentümlichkeiten in gleichem Ver— 
hältniſſe mit der vorwiegenden Beteiligung 
der Falter an der Kreuzungsvermittlung 
läßt kaum einen Zweifel, daß ſie durch 
deren Blumenauswahl gezüchtet worden 
ſind. Und zwar ſcheint von dieſen auf 
Rechnung der Falter zu ſetzenden Züch— 
tungsprodukten zuerſt die rote Farbe, zu— 
letzt erſt der liebliche Wohlgeruch zur Aus— 
prägung gelangt zu ſein. Denn die erſtere 
finden wir bereits bei Formen, an deren 
Kreuzungsvermittlung ſich auch Bienen 
noch erheblich beteiligen (z. B. Lychnis 
flos cuculi), während den letzteren ſelbſt 
ausgeprägtere Tagfalterblumen (Silene 
acaulis, Saponaria ocymoides) noch ver— 
miſſen laſſen. 

Der große Falterreichtum der Alpen 
ſpricht ſich, wie bei den Orchideen, ſo auch 
bei den Karyophylleen nicht nur darin aus, 
daß eine verhältnismäßig große Zahl ihrer 
die Alpen bewohnenden Arten Falterblu— 
men ſind, ſondern auch in dem außeror— 
dentlich reichen Falterbeſuche, der einzel— 
nen derſelben zu teil wird. Saponaria 
ocymoides z. B. wurde von 32, Silene 
acaulis von 31 verſchiedenen Schmetter— 


vermag die einzige Macroglossa stellata- 
rum mit ihrer hervorragenden Rüſſellänge 
und ihrer ſtaunenswerten Leiſtungsfähig— 


\ 


a 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 


36 


282 


keit im Blumenfreuzen*) das ganze Heer 


der Tagfalter in dem Grade aus dem 
Felde zu Schlagen, daß ſie ſich zwei Nel— 
ken der Alpen (Dianthus silvestris und 
superbus) zu ihrer alleinigen Ausnützung 
gezüchtet hat. 

Die ſtufenweiſe Steigerung der ur— 
ſprünglich offenblumigen Karyophylleen bis 
zu langröhrigen Schwärmerblumen iſt mit 
voller Beibehaltung der Regelmäßigkeit 
und der nach oben gekehrten Stellung der 
Blüten erfolgt. Die Neigung, in dieſer 
Beziehung abzuändern und ſeitlich gerich— 
tete oder ſenkrecht abwärtshängende Blu— 
menabänderungen darzubieten, die von 
den Bienen als Ausgangspunkt zur Züch— 
tung von Bienenblumen hätten benutzt 
werden können, ſcheint, ſoweit meine Be— 
kanntſchaft mit derſelben reicht, der ganzen 
Karyophylleen-Familie vollſtändig fremd 
geblieben zu ſein. 

Die Roſifloren ſind faſt durchweg 
auf einer ziemlich niedrigen Stufe der 
Anpaſſung an kreuzungsvermittelnde In— 
ſekten ſtehen geblieben. Außer Geum ri— 
vale, das durch feine glockig geſchloſſenen, 
nickenden Blumen den Hummeln angepaßt 
erſcheint und thatſächlich faſt nur von 
Hummeln, von dieſen aber mit beſonderer 
Vorliebe beſucht wird““), finden wir unter 
ihnen keine einzige ausgeprägte Bienen- oder 
Falterblume, dafür aber um ſo mannig— 
fachere Abſtufungen von den niedrigſten, 
urſprünglichſten Blumenformen, die in 
offener, regelmäßiger Blüte nur Pollen 
darbieten (Spiraea Ulmaria und Arun- 

) Siehe Kosmos, Bd. III, ©. 425. 

*) Bei Lippſtadt z. B. laſſen die Hummeln, 
ſobald Geum rivale aufgeblüht iſt, die in der 
Nähe wachſende Primula elatior, die ſie bis 
dahin unausgeſetzt in großer Zahl beſucht haben, 
faſt unberührt. 


Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 


cus) oder daneben völlig offen liegenden 
Honig (Sibbaldia, Alchemilla, Aronia) 
zu ſolchen, die den Honig im Grunde eines 
flachen oder tiefen, napfförmigen bis tief 
becherförmigen Kelches bergen und ſo den 
Inſektenbeſuch immer mehr beſchränken, 
bis endlich die Bienen wenigſtens einen 
vorwiegenden Anteil an der Kreuzungs— 
vermittlung nehmen. Von beſonderem In— 
tereſſe ſind von dieſen Abſtufungen einige 
gerade unter den Alpenblumen vertretene 
Arten, die eine nicht ſehr tiefe, aber honig— 
reiche Schale durch die zuſammenneigenden 
Blumenblätter und Staubgefäße ſo über— 
decken, daß der reiche Honigvorrat nur 
höhlengrabenden Hymenopteren bequem 
zugänglich bleibt, die gewohnt ſind, den 
Kopf zwiſchen Hinderniſſen hindurchzu— 
drängen. Die wenig tiefe Lage des Honigs 
dieſer Blumen (Cotoneaster, Rubus sa- 
xatilis) macht es wahrſcheinlich, daß ſie 
von noch ziemlich kurzrüſſeligen Hymenop— 
teren (Grabwespen, echten Wespen) ge— 
züchtet worden find, und die Felſenmispel 
(Cotoneaster vulgaris) kennzeichnet ſich 
auch durch den ihr thatſächlich zu teil wer— 
denden Inſektenbeſuch noch heute als Wes— 
penblume. Ich fand ſie nämlich an den— 
ſelben Felsblöcken und Klippen, an denen 
die Steinwespe, Polistes biglumis, ihr 
eine nackte, einſchichtige, geſtielte Wabe 
bildendes Neſt angekittet hatte, und aus— 
ſchließlich von dieſer, von ihr aber ſehr 
häufig beſucht. 

Wie die Familie der Ranunkulazeen, 
ſo enthält auch die der Roſazeen einzelne 
Windblütler. Während aber die wind— 
blütigen Ranunkulazeen (Thalictrum) mit 
ihren wenig ausgebreiteten Narben und 
bei einigen Arten noch etwas kleberigem 
Pollen von der Inſektenblütigkeit zur 


Windblütigkeit zurückgekehrt zu fein ſchei— 
nen, macht unter den Roſazeen die inſekten— 
blütige Sanguisorba mit ihrem Büſchel 
divergirender Narben vielmehr den Ein— 
druck, der Abkömmling eines Poterium- 
ähnlichen Windblütlers zu ſein. 

Die Papilionazeen haben einſeitige 
Anpaſſung an einen beſtimmten Beſucher— 
kreis höhlengrabender Hymenopteren ſchon 
von ihren gemeinſamen Stammeltern er— 
erbt, und laſſen daher einen Fortſchritt 
von niederen zu höheren Anpaſſungs— 


erkennen. 

Die Boragineen ſtehen in ihrer 
Ausbildungsrichtung in einem bemerkens— 
werten Gegenſatze zu den Karyophylleen. 


gepaßt fanden, ſind dagegen bei den Bora— 
gineen alle Formen mit tiefer geborge— 
nem Honig den Bienen angepaßt. Für 
das Verſtändnis der beiderlei Anpaſſun— 


beide Familien vergleichend zu überblicken. 


ihren niederen Anpaſſungsſtufen völlig 
offene, allgemein zugängliche Blüten von 


fachen kurzrüſſeligen Inſekten, vorwiegend 


werden. Allmählich tritt tiefere Bergung 
des Honigs und damit Beſchränkung des 
Beſucherkreiſes auf eine engere Zahl lang— 


und mehr an der Kreuzungsvermittlung 
beteiligen, kommen ſtatt der weißen immer 
ſchönere, rote Blumenfarben zur Ausprä— 
gung. Zahlreiche rote Tag- und weiße 


der Kreuzungsvermittlung der Falter an- 


gen kann es daher nur förderlich ſein, | 


meiſt weißer Blumenfarbe, die von mannig- 


rüſſeliger Fliegen, Bienen und Falter ein, 
und in dem Grade, als Tagfalter ſich mehr 


Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 283 


Nachtfalterblumen find jedoch die höchſten 


ſtufen nur innerhalb engerer Grenzen 


Blumenleiſtungen, zu welchen die Familie 
der Karyophylleen ſich aufgeſchwungen hat. 
Eine andere Anpaſſungsrichtung hat ſie, 
ſoweit ſich aus den betrachteten Formen er— 
kennen läßt, überhaupt nicht eingeſchlagen. 
Andere Blumenfarben als Weiß und Rot 
ſcheinen nur bei ſehr vereinzelten Arten 
vorzukommen (3. B. Gelblich-grün bei Si- 
lene chlorantha, Schwefelgelb bei Sapo- 
naria lutea, die ich beide nicht näher 
kenne); bienen- oder hummelblütige Kary— 
ophylleen ſind, bis jetzt wenigſtens, nicht 


bekannt. 


Während wir bei letzteren die höher ent- 
wickelten Blumenformen immer einfeitiger | 


Die Boragineen dagegen haben einen 
gewiſſen Grad von Bergung des Honigs 
im Grunde einer kurzen Blumenröhre offen— 
bar ſchon von ihren Stammeltern ererbt. 
Schon auf der unterſten Stufe (Asperugo, 
Echinospermum, Omphalodes, Myoso— 
tis) ſehen wir ſie von einem gewählteren 
Kreiſe von Fliegen (beſonders Syrphiden), 
Bienen und Faltern beſucht und gekreuzt 


und mit roten, violetten und blauen Far— 


ben geſchmückt, die wir wohl als das 


Züchtungsprodukt dieſer Gäſte betrachten 


Die Karyophylleen zeigen uns auf 


dürfen. Doch weiſt uns der bei vielen 


Arten im Laufe der individuellen Entwick— 


jedoch von Dipteren, beſucht und gekreuzt 


lung erkennbare Fortſchritt in der Aus— 
bildung der Blumenfarbe (Weiß, Roſenrot, 
Blau bei verſchiedenen Myosotis-Arten, 
Gelb, Bläulich, Violett bei M. versicolor, 
Rot, Violett, Blau bei Pulmonaria u. ſ. w.) 
mit Beſtimmtheit darauf hin, daß auch 
hier Weiß und Gelb die zuerſt entwickelten 
Blumenfarben geweſen ſind, und daß ſich, 
wenigſtens in vielen Fällen Violett und 
Blau erſt aus dem Rot entwickelt haben, 
eine Annahme, die uns zugleich die weißen 
und roſenroten Abänderungen violett- und 
blaublumiger Arten (Myosotis, Anchusa, 


284 


ge 


Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 


Symphytum) als Rückfall in urelterliche 
Eigentümlichkeiten verſtändlich macht. 

Von den bezeichneten Anfängen aus 
iſt dann die Familie der Boragineen in 
verſchiedenen Richtungen zur Anpaſſung 
an Bienen und Hummeln fortgeſchritten. 
Pulmonaria hat durch einfache Verlänge- 
rung der Röhre die weit überwiegende 
Mehrzahl aller Nicht-Hummeln vom Ge— 
nuſſe des Honigs ausgeſchloſſen und durch 
ausgeprägte dimorphe Heteroſtylie Kreu— 
zung bei eintretendem Hummelbeſuche ge— 


ſichert. Anchusa hat eine noch wirkſamere 


Beſchränkung auf Bienen durch Verſchlie— 
ßung des Blüteneinganges erreicht und 
lokal ebenfalls Anfänge zur Ausbildung 
dimorpher Heteroſtylie gemacht (teste War— 
ming), die aber noch nirgends zur Durch— 
führung gelangt ſind. Echium hat, ohne 
andere Gäſte auszuſchließen, durch Anpaſ— 
ſung der Blumenform an die den Bienen 
bequemſte Bewegungsweiſe einen erſtaun— 
lich reichlichen und mannigfaltigen Bienen— 
beſuch und durch Proterandrie und her— 
vorragende Stellung der entwickelten Nar— 
ben Sicherung der Kreuzung erlangt. Bo— 
rago kehrt ſeine Blüten nach unten, legt 
ſeine Antheren zu einem den Blütenein— 
gang verſchließenden Kegel zuſammen und 
ſchließt dadurch alle diejenigen Beſucher 
vom Honiggenuſſe aus, welche nicht, wie 
die Bienen, von unten angeklammert, ihren 
Rüſſel zwiſchen eng zuſammenſchließenden 
Teilen hineinzudrängen vermögen. Sym— 


phytum und Cerinthe endlich erfordern 
zur Gewinnung ihres Honigs nicht blos 


dieſelben Anſtrengungen, ſondern über— 
dies, da ſie denſelben im Grunde einer 
langen, nach unten gekehrten Glocke ber— 
gen, einen langen Rüſſel des von unten 


angeklammerten Inſekts, und ſind daher 


nur Hummeln und eben ſo langrüſſeligen 
Bienen zugänglich. 

Wie in andern Familien, ſo ſehen wir 
auch bei den Boragineen von den Bienen die 
verſchiedenſten Blumenfarben gezüchtet. 

Von den Skrophulariazeen laſſen 
ſich meinem früher gegebenen Rückblicke“) 
auch die auf den Alpen von mir beobachteten 
Arten einordnen. Dieſe geben ihm aber nicht 
allein eine breitere thatſächliche Unterlage, 
ſondern vertiefen auch unſeren Einblick, na— 
mentlich in Bezug auf die mit Beſtreuungs— 
einrichtungen ausgerüſteten Arten. Denn an 


Euphrasia lutea, welche von den früher 


betrachteten Arten die niedrigſte Entwick— 
lungsſtufe der Beſtäubungsmechanismen 
darſtellt, ſchließt ſich nun Tozzia alpina 
als eine noch niedrigere Stufe an, und 
es iſt bemerkenswert, daß ſie ſich ſowohl 
durch ihre Farbe als durch ihren thatſäch⸗ 
lichen Inſektenbeſuch als Dipterenblume 
kennzeichnet. Während wir bisher von dem— 
jenigen Familienzweige der Skrophularia— 
zeen, der ſich durch loſen, ausſtreubaren 
Pollen auszeichnet, den Rhinanthazeen, nur 
1) den Bienen und Fliegen, 2 ausſchließ— 
lich den Bienen, namentlich Hummeln, an⸗ 
gepaßte Blumenformen kannten, kennen 
wir nun von demſelben Familienzweig: 
1) eine den Dipteren angepaßte Form 
(Tozzia); dann liegen uns 2) in den Eu- 
phrasia-Arten eine Anzahl von Blumenfor— 
men vor, die neben Fliegen teils ebenſo— 
viel, teils ſelbſt noch mehr Bienen als 
Kreuzungsvermittler an ſich locken, 3) kennen 
wir in den Arten der Gattungen Rhinan- 
thus, Melampyrum, Bartsia und Pedicu— 
laris eine noch weit größere Zahl noch hö— 
her ausgebildeter Beſtreuungsmechanis— 
men, die urſprünglich ganz ausſchließlich 

9 Befruchtung der Blumen, S. 303305. 


n EEE 


4 . 


Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 


Bienen und zwar hauptſächlich den nah— 


unſerer wildlebenden Bienen, den Hum— 
meln, angepaßt waren und größtenteils 


auch geblieben ſind (Hummelblumen). Nur 


in der Gattung Rhinanthus hat ſich beim 
Vordringen in falterreiche Gegenden die 
Hummelblume erſt der gleichzeitigen, dann 
der ausſchließlichen Kreuzung durch Fal— 
ter angepaßt, fo daß wir 4) in Rhinanthus 
Alectorolophus eine Hummel- und Falter: 
Blume und 5) in Khinanthus eine Falter: 
blume beſitzen. Bei letzterer iſt der Be— 
ſtreuungsmechanismus wohl noch vorhan— 
den, aber die Thür, welche zu den ihn in 
Bewegung ſetzenden Hebeln führt, iſt ver— 
ſchloſſen; er kommt daher wenigſtens den 


normal ſaugenden eigentlichen Kreuzungss | 


vermittlern, den Faltern, gegenüber nicht 
P. palustris ſchärfer vom Fruchtknoten 
abſetzt und bei den Rhinanthus-Arten zu 


mehr als Beſtreuungsmechanismus in An— 
wendung. 


In Bezug auf die Vervollkommnungs⸗ 


ſtufen der Beſtreuungseinrichtungen inner— 
halb dieſes Familienzweiges verweiſe ich 
auf meinen frühern Rückblick. In dem— 
ſelben würde Bartsia neben Melampyrum 
zu ſtellen ſein, die Pedicularis-Arten mit 
annähernd wagrechter Korolla (verticilla- 
ta, palustris) und die mit noch ſymmetriſch 
geſtellter Unterlippe verſehene P. recutita 
vor P. silvatica, während endlich die nicht 
blos ihre Unterlippe, ſondern auch ihre 
ſchnabelförmig verlängerte Oberlippe un— 
ſymmetriſch nach einer Seite drehenden Ar— 
ten (rostrata, tuberosa, asplenifolia) in 
einſeitiger Anpaſſung an Hummeln noch 
über P. silvatica hinausgehen, obwohl ſie 
offenbar einem anderen Zweige der Gat— 
tung angehören. f 

Beſonders lehrreich iſt die Familie der 
Skrophulariazeen überhaupt, insbeſondere 


285 


aber auch der durch Beſtreuungseinrich— 
rungsbedürftigſten und blumeneifrigſten 


tungen ausgezeichnete Zweig derſelben, 
durch die allmählichen Abſtufungen, die 
er in der Ausbildung der Nektarien dar— 
bietet. Zunächſt ſcheidet ein Teil eines be— 
reits vorhandenen Organes, und zwar hier 
der unterſte Teil der Außenwand des 
Fruchtknotens, aus ſeinem Zellgewebe Saft 
ab, und zwar erſt ringsum (Tozzia), dann 
vorzugsweiſe oder ausſchließlich nach unten 
(Euphrasia). Mit der Steigerung dieſer 
ſeiner neuen phyſiologiſchen Funktion ver— 
dickt ſich das ausſcheidende Gewebe und 
hebt ſich allmählich ſtärker und ſtärker her— 
vor, bei Euphrasia minima als faſt un⸗ 
merklicher, bei E. salisburgensis und Pe— 
dicularis asplenifolia als deutlicher Höcker, 
bei P. verticillata und recutita als ſtark 
vorſpringende Anſchwellung, die ſich bei 


einem vorn an der Unterſeite des Frucht— 
knotens hervortretenden, ſich mit Nektar 
füllenden Napfe geſtaltet, der endlich bei 


Rh. alpinus in ſchönſter Ausbildung vor— 


liegt. So führt uns eine Reihe von Ab— 
ſtufungen von der Saftausſcheidung eines 
bereits vorhandenen, aber urſprünglich 
einer ganz anderen Funktion dienenden 
Organes zur Ausbildung eines beſonderen 
Nektariums. 

Die Labiaten ſind, ebenſo wie die 
Papilionazeen, in ihrer großen Mehrzahl 
ausgeprägte Bienen- und Hummelblumen. 
Nur haben auf der einen Seite Mentha, 
Thymus und einige andere Gattungen 
zwar Blumenkronenröhren mit völlig ge— 
borgenem Honig, ſind aber übrigens noch 
nicht einſeitig den Bienen oder überhaupt 
nur höhlengrabenden Hymenopteren ange— 
paßt und werden thatſächlich von einer ge— 


en 


286 Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 


miſchten Geſellſchaft nicht ganz kurz rüſſe— 
liger Inſekten beſucht und befruchtet. Sie 
ſtehen ohne Zweifel den Stammeltern der 
Familie noch am nächſten und ſtellen die— 
jenige niedere Anpaſſungsſtufe dar, von 
der uns die bienen- und hummelblütigen 
Labiaten zur Ausprägung gelangt ſind. 
Auf der anderen Seite haben wir, nach 
Errera“), in Monarda eine falterblumige 
Labiate; ſie iſt jedenfalls aus einer Bienen— 
oder Hummelblume erſt nachträglich zu 
einer Falterblume umgezüchtet worden. 
Über die geſchichtliche Entwickelung der 
Gattung Gentiana habe ich bereits vor 
Jahren aus den Blüten-Einrichtungen der 
alpinen Arten eine Überſicht abgeleitet und 
veröffentlicht“), die jetzt nur durch G. cili- 
ata eine Erweiterung erfährt. Dieſe ge— 
hört demjenigen Familienzweige an, der 
aus dem unterſten Teile der Korolla Ho— 
nig abſondert. Durch Franſen der Blu— 
menblätter haben ihre Blüten einen un— 
vollkommnen Schutz gegen nutzloſe Beſu— 
cher erlangt und durch Verengung der 
Blumenglocke Berührung ſowohl der Nar— 
ben als der Antheren durch die beſuchenden 
Hummeln geſichert. So ſtellt ſie eine eigen— 
tümliche hummelblütige Untergattung 
(Crossopetalum) dar, aus der ſich erſt durch 
Vervollkommnung des Franſengitters und 
noch engeres Anſchließen der Korolla an 
das Ovarium die hummel- und falterblü— 
tige Untergattung Endotricha entwickelt 
haben dürfte. 
Die Primulazeen bieten in ihren Blü— 
tenformen mannigfache Abſtufungen dar 


*) LEO Errera & Gustave Gevaert, 
Sur la structure et les modes de fécon— 
dation des fleurs. Bruxelles, 1879, p. 95-98. 

) Vgl. Kosmos, Bd. I, S. 162. Dort 


von offenen, honigloſen oder mit allgemein 
zugänglichem Honig verſehenen Blumen 
bis zu ſolchen, die durch die Art ihrer Honig— 
bergung und ihren ganzen Blütenbau einem 
beſtimmten engeren oder weiteren Kreiſe 
langrüſſeliger und blumeneifriger Inſek— 
ten (Bienen, Falter) angepaßt ſind. Die 
Regelmäßigkeit der Blumenformen iſt bei 
keiner dieſer Anpaſſungen in bedeutendem 
Grade verloren gegangen. Die von mir 
unterſuchten alpinen Primulazeen gehören 
nur drei Gattungen an, die ſich ſämmtlich 
durch Abſonderung von Nektar aus der 
Fruchtknotenwand und durch mehr oder 
weniger tiefe Bergung desſelben ſchon viel 
weiter als z. B. Trientalis und Lysimachia 
von der Stammform entfernt haben. Die 
Androsace-Arten bergen ihren Nektar im 
Grunde einer zwar kurzen Röhre, deren 
Eingang aber in ähnlicher Weiſe wie bei 
Myosotis jo bedeutend verengt iſt, daß 
nur ein gewählter Kreis zwar zum Teil 
ziemlich kurzrüſſeliger, aber durchaus blu— 
meneifriger und blumenſteter Gäſte (Fal- 
ter, Bienen, blumenſteter Fliegen) Zutritt 
zu demſelben behält. Die Soldanella-Arten 
haben ſich durch Umbildung der Korolle 
zu einem mehr oder weniger geneigten oder 
herabhangenden Glöckchen, durch enges 
Zuſammenſchließen der Antheren um den 
Griffel herum und verſchiedengradige Aus— 
bildung eines den Honigzugang verengen— 
den Schirmes mehr oder weniger eng den 
Bienen und Hummeln, die Primula-Arten 
im Tieflande (P. elatior, officinalis) den 
Hummeln, auf den Alpen den Tagfaltern 
(farinosa, integrifolia, villosa, viscosa, 
minima) und Tagſchwärmern (longiflora) 
angepaßt. 

Auch unſere Kenntnis der Erikazeen 


ift ſtatt Cyclanthera Cyelostigma zu ſetzen! wird durch die Hinzunahme der alpinen 


1 


Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 


Arten nach mehreren Richtungen hin we— 
ſentlich erweitert. Während uns nämlich 
die bisher betrachteten Erica Calluna- und 
Vaceinium-Arten unſeres Tieflandes nur 
mehr oder weniger durchgeführte Anpaſ— 
ſungen einer glockigen Korolle an Bienen 
zeigen, mit völliger Beibehaltung der Re— 
gelmäßigkeit (nur bei Calluna biegen ſich 
Stempel und Staubgefäße in die obere 
Hälfte der Blüte), lernen wir in Arcto— 
staphylos*) eine noch hochgradigere An— 
paſſung gleicher Art, in den beiden Rhodo— 
dendron-Arten dagegen Hummelblumen mit 
wagrecht geſtellter, ſymmetriſch geſtalteter 
Blumenröhre, in Erica carnea**)eine aus 
einer Bienenblume gezüchtete Tagfalter— 
blume, in Azalea procumbens endlich eine 
der Stammform der Familie noch weit 
näherſtehende einfachere, urſprünglichere 
Blumenform kennen. 

Mein früherer Überblick über die Ka— 
prifoliazeenk“ ) umfaßt bereits mannig— 
fache Abſtufungen von regelmäßigen, offe— 
nen, honigloſen (Sambucus) oder mit völlig 
offenem Honig ausgerüſtetenBlumen (Ado— 


) Kosmos, Bd. III, S. 490. 
) Kosmos, Bd. VI, S. 449. 
er) Befruchtung der Blumen, S. 367. 


287 


xa, Viburnum) bis zu ſolchen, die im Grunde 
langer Röhren ausſchließlich den langrüſ— 
ſeligen Schwärmern zugänglichen Honig 
bergen (Lonicera Caprifolium und Peri— 
clymenum). Durch die Hinzunahme der 
alpinen Arten ſchalten ſich dieſen Abſtu— 
fungen noch vier ſehr intereſſante Anpaſ— 
ſungen an beſtimmte Beſucherkreiſe ein: 
1) eine bereits mit trichterförmiger Korolle 
ausgerüſtete, aber hauptſächlich Fliegen 
anlockende Blumenform (Linnaea), 2) eine 
Loniceraform, deren Honig zwar ziemlich 
flach geborgen, aber doch durch eine Saft— 
decke ſo gut verwahrt liegt, daß nur oder 
vorzugsweiſe Bienen ihn ausbeuten und 
die Blumen kreuzen (L. nigra), 3) eine 
andere Art dieſer Gattung, die nach ihren 
Anpaſſungen und dem thatſächlich ihr zu 
teil werdenden Inſektenbeſuch den Namen 
einer Wespenblume verdient (L. alpigena); 
endlich 4) eine ausgeprägte Hummelblume 
(L. coerulea). 

Die Familien der Ranunkulazeen, 
Gruciferen, Umbelliferen, Compoſiten u. a. 
ſind hier unerwähnt geblieben, weil meine 
früher gegebenen Rückblicke auf dieſelben 
durch die Hinzunahme der Alpenblumen 
keine weſentliche Umgeſtaltung erfahren. 


Sen 


Beobachtungen an einem Affen. 


Von 


N 3 handelt ſich — zur Beru- 
higung des Leſers ſei es 
voraus bemerkt — in die— 
ſem Artikel nicht darum, 
unter dem Deckmantel der 
gewählten Überſchrift Pro— 
ſelyten für den Darwinismus zu werben, 
noch gedenkt der Verfaſſer ſich in lang— 
atmigen Beſchreibungen über die Höhe der 


Kulturſtufe, auf die er, ohne Mühe und. 


Arbeit zu ſcheuen, einen der geiſtig ent— 
wickelteren Affen, alſo mindeſtens einen 
Schimpanſe oder Gorilla, durch ſeine 
neueſte Abrichtungsmethode gebracht, zu 
ergehen. Es ſoll vielmehr nur ein ge— 
wöhnliches, auf ganz niederer Stufe ſte— 
hendes kleines Javaäffchen, auf welches 
nie die geringſte Mühe zur Abrichtung 
verwandt iſt, in ſeinem Thun und Trei— 
ben, in ſeinem Verkehr mit den Menſchen 
und in ſeinem ungekünſtelten und natür— 
lichen Gebaren geſchildert werden, und ich 
glaube, daß ſolche Beobachtungen für ei— 
nen ernſten Forſcher wohl ebenſoviel In— 
tereſſe haben dürften, als Beobachtungen 
über die Abrichtungsfähigkeit. 


H. Schneider. 


Die große Vorliebe, welche ich ſtets 
für Affen gehabt habe, rief immer leb— 
hafter den Wunſch in mir wach, ſolch ein 
Tier zu beſitzen, und ſo faßte ich mir denn 
vor etwa viertehalb Jahren ein Herz und 
bat den Direktor unſeres zoologiſchen Gar— 
tens, Herrn Dr. Bodinus, mir ein Ex— 
emplar von einem der hier in größter Zahl 
vorhandenen Affen zu überlaſſen. Ich fand 
bei Herrn Dr. Bodinus — dem ich, be— 
kannt mit feiner Sorge für das Schickſal 
fortgegebener Tiere, die beſte Behandlung 
zugeſichert hatte — freundliches Gehör 
und durfte mir bald darauf gegen mäßigen 
Preis ein Javaäffchen in einem zugebun— 
denen Korbe holen. Ich ſchildere den Trans— 
port nicht näher und erwähne nur, daß 
ſich das Tier in dem verbundenen Korbe 
ſehr ungeberdig benahm und daß ich froh 
war, meine Wohnung erreicht zu haben. 
Aber feine Aufnahme im Hauſe mußich ein— 
gehender ſchildern und zunächſt bemerken, 
daß meine Frau alle meine voraufge— 
gangenen Erzählungen von einem Affen 
lediglich für Scherz gehalten hatte; 
ja als ich tags zuvor ein altes Eich— 


H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. 289 


hörnchenbauer zum Empfange des Affen 
wohnlich hergerichtet hatte, lächelte ſie 


leicht ihr Erſtaunen ausmalen, als ich 
mit einem wirklichen, leibhaftigen Affen 
nach Hauſe kam: ich, mit dem im Korbe 
ſchreienden und tobenden Affen, meine 
Frau mit dem Dienſtmädchen, ſprachlos, 
und meine kleine Tochter mit verzweiflungs— 
vollem Geſicht, das Kleid der Mutter feſt— 
haltend — ein Vorwurf für einen Maler! 
Ich mußte recht viele gute Worte ge— 
ben, um die Überführung des Tieres in 
das Bauer zu erwirken — dann erſt 
kam ich einigermaßen zu Atem und 
redete nun meiner Frau in allen Ton— 
arten freundlich zu, ſich des Tieres an— 
zunehmen, allein vergebens — meinem 
Zureden wurde hartnäckiges Stillſchwei— 
gen entgegengeſetzt. Der Krieg war alſo 
erklärt, während ich mich alsbald auf 
mein Bureau begeben mußte! Jetzt trat 
aber auch gleichzeitig die Ernüchterung bei 
mir ein und ich fing an zu überlegen: 
„Häuslicher Unfrieden eines Affen wegen? 
Unmöglich! Der ſcheußliche Geruch des 
Tieres im Zimmer! Das Tier wird dir 
für Hunderte von Mark Haushaltungs— 
gegenſtände verderben und vernichten! Es 
wird jeden, der ſich ihm nähert, beißen 
und kratzen! Außerdem iſt ja das Bauer 
viel zu klein und zu leicht gebaut; am Ende 
gar — wahrhaftig — wenn es den dünnen 
Draht auseinander biegt, kann es ſich mit 
Leichtigkeit befreien — niemand iſt im 
ſtande, es zu fangen und zu bändigen!“ 
Alle dieſe Gedanken ſchoſſen mir auf 
meinem Wege zum Bureau durch den Kopf. 
„Wenn du nur erſt einmal wieder zu Hauſe 


* 


wärſt und mit deiner Frau ein vernünfti— 


ges Wort ſprechen könnteſt; ſie wird ſich 
noch halb ungläubig, halb ſpöttiſch, un- 
gewiß, worauf das ganze wohl hinaus- 
laufen würde. Es kann ſich demnach jeder 


ja bis heut Abend beruhigt und einiger— 
maßen in die Situation gefunden haben! 
Vielleicht — es wäre ja immerhin mög— 
lich —iſt das Tier recht artig und fie findet 
Gefallen an ihm — doch daran iſt ja 
nicht zu denken.“ 

Endlich kam auch der Abend heran; 
ich trete zu Hauſe ein; mein erſter Blick 
trifft meine Frau, die ſich zwar abgewandt 
hat — ich merke indeſſen, daß ſie lächelt. 
Gott ſei Dank! ein Unglück hatte alſo der 
Affe jedenfalls noch nicht angerichtet! Ich 
wünſche freundlich „guten Abend“ und 
trete an das Bauer heran. Was iſt das? 
Die Thür ſteht offen, das Bauer leer! 
Meine Frau nimmt jetzt langſam ein klei— 
nes Tuch von ihrem Schoß und darunter 
liegt, zuſammengekauert, mein Affe und 
ſchläft! Darauf war ich nicht vorbereitet, 
eher hätte ich ja den Einſturz des Him— 
mels für möglich gehalten, als dies! 

Der Affe, durch die Berührung mun— 
ter geworden, beginnt nun alle jene Ge— 
berden auszuführen, wie man ſolche täg— 
lich an einem erwachenden Kinde beobach— 
ten kann; er reckt und ſtreckt ſich in allen 
Dimenſionen, er gähnt — mit zugekniffe— 
nen Augen — laut hörbar, reibt ſich die 
Augen mit der Fauſt und kratzt ſich am 
ganzen Körper; dann aber, wie durch Fe— 
derkraft, ſchnellt er in die Höhe, um ſich 
ein wenig auszutoben, aber ein kräftiger 
Griff und — hinein in das Bauer! Wie 
aber hatte ſich das Blatt gewendet! Meine 
Frau bat inſtändigſt, das „niedliche, 
artige, poſſirliche Tierchen“ doch nicht in 
den engen Raum zu ſperren und noch ein 
wenig herumſpielen zu laſſen! Alle meine 
Einwendungen, daß Affen oft falſch und 


1 


ih 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 


37 


hinterliſtig wären, halfen nichts — er 
ſollte durchaus noch ſpielen; warum auch 
nicht? er hatte ja ſchon den ganzen Nach— 
mittag — während meiner Abweſenheit — 
im Zimmer geſpielt! Ich mußte alſo ſchon 
nachgeben und ihn noch weiter ſpielen laſſen. 

Die Hauptſchwierigkeit war alſo glück— 
lich beſeitigt, nur eins ging mir noch im 
Kopfe herum: das Bauer war entſchie— 
den viel zu klein und zu leicht, und an die 
Ausgabe für ein großes Bauer hatte vor— 
her meine Seele nicht gedacht, zumal der 
Wirtſchaftsetat durch Bezahlung des Affen 
ohnehin etwas ſtark belaſtet war. Doch 
auch dieſe letzte Sorge ſollte ſehr bald 
ſchwinden. Als ich tags darauf um Mit— 


tag nach Hauſe kam, präſentirte ſich mir 


mein Affe in einem großen ſchönen Bauer. 
Meine Frau hatte ſchon aus Liebe zu dem 
„allerliebſten“ Tierchen ihre Spargroſchen 
angewandt und mich damit überraſcht. 
Eine ſolche Umwandlung kann ſich nur 


vollziehen, wenn durch ein lebendiges Bei- 


ſpiel alle über das Halten von Affen im 
Munde des Volkes befindlichen Erzählun— 
gen und ſonſtige Hiſtörchen Lügen ge— 


ſtraft und ſolche einfach zu den Ammen- 
märchen oder in das Bereich der Fabeln 
verwieſen werden; um dies aber recht 


klar und deutlich von vornherein zu zeigen, 
habe ich es nicht für überflüſſig gehalten, 


H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. 


gegenüber im Vorteil ſind, und ich habe 
ſo recht Gelegenheit, dies beim Spielen 


meines Affen mit meinem kleinen, eben- 


des Tieres Eintritt in meine Behauſung 
was ſie nicht haben ſoll oder nicht freſſen 
ſtänden hier wiederzugeben, und will 


mit allen Einzelnheiten und Nebenum— 


in nachſtehendem nun das tägliche Leben 
des Tieres im Bauer und außerhalb 
deſſelben, wie auch ſelbſtverſtändlich ſeine 
Unarten, ſchildern. 

Es iſt ja bekannt, wie ſehr die Affen 
durch den Gebrauch ihrer Hände, noch dazu 


ihrer vier Hände, allen anderen Tieren 


falls ſehr flinken Bologneſer Seidenſpitz 
zu beobachten. Meine kleine Affin, die ich 
von jetzt ab kurzweg bei ihrem Namen 
„Tſchega“ nennen werde, ſpielte eines 
Tages im Zimmer; plötzlich ſetzt ſie mit 
ihrer ſprüchwörtlich gewordenen Geſchwin— 
digkeit über den Tiſch fort und führt eine 
vor mir ſtehende, noch halb mit Kaffee ge— 
füllte Taſſe mit ſich fort, ohne daß ich im 
ſtande geweſen wäre, dies zu verhindern; 
ich will ihr nacheilen, die Taſſe fortzuneh— 
men, ſie flüchtet indeſſen, aufrecht gehend, 
nach dem grünen Rippsſopha, das ich im 
Geiſte ſchon geliefert ſah; ich hielt es 
daher für ratſam, ſie nicht zu jagen, 
ſondern ihr vielmehr gütlich zuzureden, 
was denn auch zur Folge hatte, daß ſie 
auf der Sophalehne, aufrecht ſtehend, mit 
aller Gemütsruhe den Kaffee austrank, 
alsdann vom Sopha herab zur Erde klet— 
terte und die Taſſe hinſtellte; es iſt dabei 
nicht ein Tropfen verſchüttet worden. 
Das Benehmen Tſchegas iſt faſt durch— 
weg das eines verzogenen, ungezogenen 
Kindes. So lange man freundlich mit ihr 
ſpricht, iſt ſie ungeheuer artig und ſpielt 
in ihrer originellen, oft tölpelhaften Weiſe 
um uns herum; verſagt man ihr aber den 
geringſten Wunſch oder nimmt ihr etwas, 


darf, fort, ſo erhebt ſie ein fürchterliches, 
kreiſchendes Geſchrei, ſträubt ſich mit Hän— 
den und Füßen und geht auch auf den 
Betreffenden — vorausgeſetzt, daß ich 
mich nicht in allzugroßer Nähe befinde — 
aufrecht mit feſt angelegten Ohren zu. 
Infolge meines ihr wohlbekannten abſolu- 
ten Mangels an Neigung, mich einſchüchtern 


zu laſſen, wird fie natürlich letzteres mir 


gegenüber nicht wagen, wenigſtens für 
gewöhnlich nicht, allein in einem Falle, 
den ich weiterhin erwähnen werde, ver— 
ſuchte ſie auch das. 

„Gehorchen“ iſt ihre ſchwache Seite; 
ſie klettert beim Spielen an mir auf und 
ab und würde ſomit jeden Augenblick 
zu greifen ſein, ja, ſie ſetzt ſich, wenn ich 
Karten ſpiele, auf meinen Arm und 
blättert fortwährend in den Karten her- 
um, oder ſie viſitirt meine ſämmtlichen | 
Taſchen, wobei ihr die Uhr den Haupt: 
ſcherz bereitet, aber ſobald ſie merkt, 
daß ſie gegriffen werden ſoll, hilft alles | 


Zureden nichts, und wenn fie auch das 
„Beſteigen der Gardinen“ ſeit einer beim 
erſten Verſuch empfangenen Tracht Prügel 
unterläßt, ſo wird ſie doch immer die 
äußerſten Winkel unter Sophas oder Bet- 
ten aufſuchen. Iſt man ihr endlich dort 
ganz nahe auf den Leib gerückt, ſo daß ſie 
das Unglück, ergriffen zu werden, vor ſich 
ſieht, ſo macht ſie ein ganz verzweif— 
lungsvolles Geſicht, die Zähne feſt auf— 
einander gepreßt und weit geöffnete 
Lippen, wobei ſie einen eigentümlich 
ſchmatzenden Ton ſchnell hinter einander 
ausſtößt, ſo lange ſie eben noch fürchtet, 
Schläge zu bekommen. Sobald ihr aber die 
Gefahr vorüber zu ſein ſcheint und man 
das erſte freundliche Wort zu ihr ſpricht, 
weiß ſie ſich vor Liebenswürdigkeit gar 
nicht zu laſſen; fie hält meinen Hals feſt 
umklammert, ſchließt die Ohren eng an 
den Kopf an, wobei ſich jene Hautfalten | 
auf der Stirn bilden, die dem Tiere ein 
ſo unendlich gutmütiges Ausſehen geben, 

und macht nun mit den Lippen unzählige 

male eine ganz reizende Bewegung des 
Küſſens, die ſie ſo lange fortſetzt, als man 


H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. 


291 


mit ihr ſpricht. Auch wenn ſie im tiefſten 
Schlafe liegt und ich zu einem Dritten 
von ihr ſpreche — ſofort blickt ſie auf und 
macht jene Bewegung, verbunden zwiſchen— 


durch mit einem klagenden, etwas wim— 


mernden, nach äh-ho-hä klingenden Ton. 
Soll Tſchega von mir Prügel bekom— 
men, ſo ergiebt ſie ſich, einmal ergriffen, 
vollſtändig in ihr Schickſal; ſie würde ſich 
dies aber in keinem Falle von einem an— 
dern, auch nicht von meiner Frau, gefallen 
laſſen, und hierin unterſcheidet ſie ſich ſehr 
weſentlich von einem Hunde, der ſich ja 
von jedem Familienmitgliede ſchlagen läßt 
und hinterher noch wedelnd um Ver— 


zeihung bittet. Hier möchte ich des Falles er— 


wähnen, in dem auch ich nicht ganz vor 
ihr ſicher bin: Schlage ich das Tier, was, 
beiläufig bemerkt, niemals von Bedeutung 
und wohl zu ertragen iſt, ſo hält es, wie 
geſagt, ruhig ſtill mit ſeinem verzweif— 
lungsvollen Geſicht; iſt nun aber meine 
Frau im Zimmer, ſo ſpringt dieſe gewöhn— 
lich ſchnell zu, um es zu ſchützen — und 
ſo wie Tſchega Hilfe wittert und weiß, 
daß ſie von meiner Frau wirklich geſchützt 
oder erfaßt iſt, bedarf es einer ſehr ſchnel— 
len und geſchickten Bewegung von mir, 
um nicht in aller Eile einen kleinen Biß 
wegzubekommen, wobei ſie einige male 
ſchnell hintereinander einen gewiſſermaßen 
triumphirenden, gluckſenden und ruckenden 
Ton ausſtößt. 

Es iſt dies Benehmen — ich wieder— 
hole — total anders als das eines Hundes 
im ähnlichen Falle, allein es iſt, um es ge— 
radeheraus zu ſagen, menſchlicher! 

Hat Tſchega irgend eine Tollheit be— 
gangen, ſo wird ſie ſich ſofort, ſelbſt wenn 
es niemand geſehen hat, durch ihr böſes 
Gewiſſen verraten. Trete ich in das Zim— 


292 


mer, und fie drückt fich mit jenem verzweif— 
lungsvollen Geſicht und Zähnefletſchen in 
die äußerſte Ecke des Bauers, ſo weiß ich 
poſitiv, daß ſie, wie man treffend zu ſagen 
pflegt, „etwas ausgefreſſen hat!“ und 


richtig; da hat fie denn irgend eine ſtarke 


Stange Draht vom Bauer losgebogen oder 


dem Kinde eine Puppe fortgenommen oder 


H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. 


ſonſt eine Ungezogenheit begangen. Alſo 


auch in dieſem Falle iſt ihr Beneh— 
men genau das eines Kindes, deſſen 


wiſſen verrät. 

Ich könnte nicht behaupten, daß Tſche— 
ga beim Freſſen gierig wäre, wenigſtens 
iſt dies nur der Fall, wenn es gilt, 
etwas zu erlangen, was man ihr gutwillig 
nicht geben würde! So greift ſie wohl in 
aller Eile mit beiden Händen in einen But— 
tertopf oder in eine Kaffeebüchſe und ſtopft 
ſich dann die beiden fehr tiefen Backen— 
taſchen ſo voll, daß ſie hernach wohl eine 
halbe Stunde daran zehren kann, ſonſt aber, 
bei ihrer gewöhnlichen Mahlzeit, iſt ſie oft 
furchtbar langweilig. Wird ihr eine kleine 
Taſſe Milch ſo in das Bauer gehalten, daß 


das Licht den Schatten eines Stäbchens 


über die Milch wirft, ſo ſieht ſie minuten— 


lang den Schatten an, greift mit den Häns | 
den danach und ſieht dann höchſt vertvun- 


dert, daß ſie nichts in der Hand hat. 
Schließlich wird noch die Taſſe von allen 
Seiten, von oben und von unten revidirt, 
und dann endlich bequemt ſie ſich zu trinken. 


Ahnlich geht es beim Eſſen zu, ſie ißt auch 


nicht die dünnſte Schale oder Haut; grüne 
Bohnen werden erſt ganz ſorgfältig an den 


verbotene Früchte am beſten ſchmecken, und 
daß Tſchega — wie ich vorher erwähnte — 
nur dann flink iſt, wenn es etwas zu er— 
haſchen giebt, was ſie nicht haben ſoll, 
meinen Plan, wenn es gilt, ihr Medika— 
mente einzugeben: Rhabarber ſchmeckt ihr 
nicht; hat ſie ſich nun den Magen verdor— 
ben, ſo ſpiele ich mit einem Stückchen Rha— 
barber; Tſchega ſieht lange neugierig zu, 
allein ich wehre ſehr energiſch ab, damit 


ſie das Stück nur ja nicht bekomme; plötz— 
ſcheues Benehmen ſofort das böſe Ge 
greifen und damit verſchwinden iſt das 


lich fällt es mir aus der Hand — danach 


Werk eines Momentes von Seiten Tſche— 
gas! Ich eile nun hinterher, ihr das Stück 
zu entreißen — vergeblich — es iſt bereits 
in größter Schnelligkeit verzehrt. In glei— 
cher Weiſe laſſe ich ſie Natron einnehmen, 
nur mit dem Unterſchiede, daß ſie bei die— 
ſer Gelegenheit auch gleichzeitig eine kleine 
Düte unumgänglicherweiſe mit verzehren 
muß. 

Eine merkwürdige Erſcheinung iſt die, 
daß Tſchega mein kleines Töchterchen un— 
geheuer haßt. In meiner Gegenwart ſpielt 
ſie zwar ruhig um ſie herum, allein ich 
würde nicht wagen, auch nur einen Blick 
von dem Kinde abzuwenden, ich glaube, 
ſie würde das Kind in gefährlicher Weiſe 
beißen. Kommt das Kind nur in die Nähe 
des Bauers, ſo ſtreckt die Affin beide Arme 


ſo lang wie möglich zum Bauer heraus, 


um es heranzuziehen, und wenn ſie ſeine 


Hand erlangen könnte, ich bin überzeugt, 


dieſelbe würde rein zerfleiſcht werden, ſo 


groß iſt der Haß des Tieres gegen das Kind. 


Wie ich übrigens höre, ſollen Affen ſtets zu: 


Seiten abgefaſert und ſelbſt die dünne Haut | 
Gefühl der Eiferſucht, teils aus dem Be— 


von einer Nuß wird vorher entfernt. 
Ich baue nun darauf, daß — wie es 


Kindern böſe ſein, was teils aus einem 


wußtſein der Überlegenheit hervorzugehen 


auch bei dem Menſchen der Fall iſt — | ſcheint; das wäre wenigſtens für mich 


die einzige und gleichzeitig natürlichſte 
Erklärung. | 

Sehr intereſſant iſt es, das Spie— 
len des Affen mit meinem kleinen vorer— 
wähnten Seidenſpitz männlichen Geſchlechts 
zu beobachten. Während der Hund hier rein 


durch geſchlechtliche Empfindung geleitet 


wird, liegt ſolche dem weiblichen Affen voll— 


ſtändig fern, und der letztere übt nun an 


demHunde, der ſchließlich ganz ermattet, lech— 


zend und mit heraushängender Zunge hinter 


ihm hertrollt, die allertollſten Streiche aus. 
Zunächſt geht er ſcheinbar auf die Lieb— 


koſungen ein, plötzlich ſchnellt er hoch empor | 


und packt den Hund ins Genick, ſchüttelt ihn, 


wirft ihn hin und iſt auch ſchon wieder da— | 


vongelaufen — alles das Werk eines Mo— 


mentes; oder aber, er ſitzt ihm plötzlich auf 


dem Rücken oder zieht ihn an einer Hin— 
terpfote rückwärts das ganze Zimmer durch 


hinter ſich her — ein beſonders poſſirlicher 
gehabt, zu beobachten, wie ſich das weib— 


Anblick — u. ſ. w. 


Geradezu überraſchend war mir fol⸗ 


gendes: Nach langer Jagd ſpringt der 


Affe auf das Sofa — der Hund, entſpre⸗ 
chend langſamer, folgt; der Affe ſpringt 
vom Sofa auf den Tiſch — der Hund 
nach; jetzt ſpringt der Affe auf der dem 


Sofa gegenüberliegenden Seite vom Tiſch 
hinunter — dem Hunde iſt das aber zu hoch 
und er bleibt, dem Affen nachſehend, ſtehen. 
Dieſen Moment benutzt der Affe, faßt die 
Tiſchdecke mit beiden Händen an: ein kräf— 
tiger Ruck — und die Tiſchdecke ſammt dem 
Hund liegen an der Erde! Unterdeß ſich 
der Hund langſam und höchſt verwundert 
aus der Tiſchdecke entwickelt, iſt mein Affe 
längſt wieder auf dem Fenſterbrett und 


klatſcht mit dem ſichtlichſten Zeichen des 
Vergnügens über den gelungenen Streich 


wiederholt in die Hände. 


H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. 


293 

Es zeigt dies von einem abſoluten 
Nachdenken und Überlegen, wie es von 
einem ſo kleinen und verhältnismäßig tief 
ſtehenden Tierchen, das ebenſo wenig wie 
ſeine Vorfahren jemals unter Menſchen 
gelebt hat, geradezu bewundernswürdig iſt. 

Des Abends vor dem Zubettegehen 
wird Tſchega nach allen Regeln der Kunſt 
„abgehalten“ und zwar — zum Fenſter hin— 
aus. Tſchega hat nämlich wie alle Kinder 
eine ungeheure Angſt um ihr Leben und in 
der höchſten Angſt wird ſie ſich — wieder— 
um wie alle Kinder — beſchmutzen. Ich 
öffne nun einfach das Fenſter und laſſe ſie 
hinausſehen, thue wohl auch, als ob ich ſie 
hinausſtoßen will. Sowie ſie den Abgrund 
vor ſich gewahr wird, erſchrickt ſie heftig und 
— befriedigt ſofort ihre Bedürfniſſe. Als— 
dann geht es zu Bett! Tſchega ſchläft ſeit 
nunmehr drei Jahren ſtets in meinem Arm. 
Ich habe hier wiederum recht Gelegenheit 


liche Tier zum männlichen Menſchen, und 
das männliche Tier zum weiblichen Men— 
ſchen hingezogen fühlt. Der Hund ſchläft 
einzig und allein im Arme meiner Frau, 
während Tſchega wie geſagt nur bei mir 
ſchläft. Wird ſie von meiner Frau gerufen, 
geht ſie wohl auch zu ihr und ſchläft ein, 
doch nach einer Stunde iſt ſie bereits wie— 
der bei mir. Ich habe den rechten Arm 
um ihren Hals gelegt, und ſie hält mit 
ihrem linken Arm meinen Hals umfaßt, 
während ihre rechte Hand in meiner linken 
ruht; ſo ſchläft ſie feſt die ganze Nacht hin— 
durch. Sehr ſelten wird ſie einmal mun— 
ter, vollführt aber dann auch ſofort wieder 
dumme Streiche, kitzelt mich, zieht mich 
leiſe an den Haaren oder vollführt ihre 
Lieblingsbeſchäftigung, indem ſie thut, als 
wenn ſie Ungeziefer ſuche. Wache ich auf, 


294 


fo bekommt fie einen leiſen Schlag, wird 
darob ſehr empfindlich, legt ſich hin und 
ſchläft weiter. 

Damit Tſchega nicht etwa des Nachts 
einmal dem Bette meiner kleinen Tochter 


einen unliebſamen Beſuch abſtatte, trägt 
ſie ein Halsband, von dem aus wiederum 
eine Schlinge um meinen Hals führt. 
Dieſe Vorſicht erwies ſich in der erſten 
Zeit als ſehr weiſe. Wollte Tſchega davon— 
laufen, ſo kam ſie nur wenige Schritte 
weit, da ich durch den Ruck an meinem 
Halſe notwendigerweiſe aufwachen mußte. 
Allein ſie hat ſich auch hierin zu helfen ge— 
wußt, und es zeigt dies wieder von einem 
eminenten geiſtigen Überlegen: Wacht das 
Tier jetzt einmal auf, ohne daß ich es be— 
merke oder doch ohne daß ich es zu be— 
merken ſcheine, ſo verhält es ſich vorläu— 
fig ganz ruhig und rührt ſich nicht, als— 
dann löſt es ganz leiſe mit den zierlichen 
Fingerchen das Ende des Halsbandes aus 
der Oſe, entfernt den Dorn, legt das 
Halsband mit größter Vorſicht bei Seite, 
ſchnellt dann wie von Federkraft getrieben 
in die Höhe und läuft davon, oder beſſer 
geſagt, will davonlaufen, denn mein Schlaf 
iſt ein ſo wenig feſter, daß ich bei der lei— 
ſeſten Bewegung des Tieres erwache und 
dann als Erſatz wenigſtens meine Freude 
daran habe, mit welcher Ruhe, Sicher— 
heit und Geſchicklichkeit ſich das Tier zu 
befreien ſucht. 

Zum Schluſſe möchte ich noch Folgen— 
des erwähnen. Das Einſchlafen des Tieres 
führt ſehr häufig eine Erſcheinung mit ſich, 
die wohl auch jedem Menſchen bekannt iſt. 
Der Menſch träumt im Halbſchlummer 


oft, er fiele von einem hohen Gerüſte 


H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. 


oder Hauſe herunter, und zuckt dann kon— 
vulſiviſch zuſammen, wovon er gewöhnlich 
ſofort wieder erwacht. Bei Tſchega muß 
es ſich ohne Zweifel ähnlich verhalten: ſie 
zuckt im erſten Schlafe genau ebenſo zu— 
ſammen, erwacht ſofort und ſchmiegt ſich 
dann um ſo feſter an mich an, indem ſie 
noch lange die anfangs geſchilderte Bewe— 
gung des Küſſens macht, verbunden mit 
dem wehmüthigen, klagenden Ton. 

Wenn ich auf dieſe Weiſe das Leben mei- 
nes durchaus niemals künſtlich gezähmten 
Affen in ausführlicherer Weiſe geſchildert 
habe, ſo verlange ich natürlich nicht, daß ſich 
etwa „Nichtintereſſirende“ beſonders dafür 
erwärmen ſollen, aber ich glaube doch, für 
Fachkreiſe gerade durch dieſe ausführliche 
Schilderung manches Intereſſante, viel- 
leicht auch Neue und Anregende gebracht zu 
haben. Es war ja außerdem hier nicht meine 
Abſicht, eine „literariſche Leiſtung“ zu voll— 
führen, denn ich gehöre auf dieſem Gebiete 
durchaus zu den Laien; was ich aber ge— 
ſchrieben habe, ſo ſchlicht und anſpruchslos 
es iſt, ebenſo wahr iſt es. Ich habe nicht 
übertrieben, nichts fortgelaſſen, nichts hin= 
zugefügt! Die eine Überzeugung habe ich 
jedenfalls gewonnen, und zwar nicht aus 
Büchern oder durch Erzählungen, ſondern 
durch den Augenſchein: daß der Affe ein 
Tier iſt, das in wirklich vollkommner 
Weiſe nachzudenken und zu überlegen im 
Stande iſt. Bedenkt man nun, daß die 
Kluft zwiſchen einem auf ſo niedriger 
Stufe ſtehenden Java-Affchen und einem 
Schimpanſe oder Gorilla noch immer eine 
ſehr große iſt, fo kann die logiſche Fol: 
gerung wohl keinen Augenblick zweifel— 
haft ſein. 


Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die 
moderne Pſychologie. 


Von 


Zr n der Pſychologie find neuer— 


hervorgetreten, die man als 


N Fundamentalfragen bezeich- 
8 nen darf und über welche die 


Wiſſenſchaft nicht aufgehört hat und nicht 
aufhören wird, zu denken und zu forſchen. 
Die eine dieſer Grundfragen wurde von 
neuem in hohem Maße angeregt durch 
Prof. Guſtav Jäger; es iſt die Frage 
nach dem Weſen und nach der Natur der 
Seele; ſie iſt verknüpft mit der weiteren 
Frage, ob die Seele als ſolche neben 
dem ſog. Geiſte (den Jäger davon 
unterſcheide) eine eigene geſon— 
derte Exiſtenz friſtet und ihr dem— 
gemäß ein beſonderes Subſtrat 
zuzuſprechen ſei. Die zweite, wiederum 
neu belebte Grundfrage iſt die nach dem 
ſog. Seelenvermögen, das iſt die 
Frage, wie man ſich genauer die Natur 
und Geartung der Seele zu denken habe. 
Durch den Streit, in welchen vor kurzem 
zwei hervorragende Forſcher (Profeſſor 
Wundt und Horwicz) hierüber geraten 


Dis dings zwei Fragen wieder 


Vrof. Dr. ©. Caspari. 


ſind, iſt auch dieſe Fundamentalfrage wie— 
der zu einer brennenden geworden, und 


wir werden daher in einem ſpäteren Artikel 


| 


Gelegenheit nehmen, auch hierüber zu ſpre— 
chen. Zunächſt aber ſoll uns hier die erſte 
Frage über die Exiſtenz der Seele über— 
haupt beſchäftigen. Wir werden der Be— 
antwortung dieſes Problems näher kom— 
men, wenn wir uns mit dem Begriff der 
Seele und mit der Entſtehung deſſelben 
zugleich bekannt machen. Über die Ent— 
ſtehung und urſprüngliche Entwicklung der 
Vorſtellung von der Seele hat ſich Schreiber 
dieſer Zeilen in feiner Urgeſchichte ?) ge— 
nauer geäußert; außerdem hat noch jüngſt 
Prof. Fritz Schultze dieſe Frage ein— 
gehender in dieſer Zeitſchrift“ ) behandelt, 
ſo daß wir uns auf wenige Erörterungen 
hierüber beſchränken können. 

Die Unterſuchungen über die Urge— 
ſchichte der Vorſtellung „Seele“ führen uns 
in eine Zeit, wo wilde Naturvölker eben— 

*) Vgl. Caspari, Urgeſchichte der Menjd- 


heit, 2. Auflage, Bd. II, S. 114 ff. 
*) Vgl. dieſe Zeitſchrift, Jahrg. III, S. 247. 


3 


296 O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pfychologie. 


ſowenig wie die Kinder eine Reihe von 
beſtimmten Begriffen und Anſchauungen 
zu bilden und zu würdigen imſtande ſind. 


Schreiber dieſes hat nachgewieſen, daß 
hierzu vor allem die Vorſtellungen über 


Tod und Seele gehören. Wie ſind nun 


dieſe ſo eingreifenden Grundvorſtellungen 
aufgetaucht und in welcher Form? Ich 
vermag bezüglich der hier zu gebenden 


Völkerpſychologen, daß ſie der prähiſtori— 


ſchen Anthropologie und Archäologie nicht 
die genügende Aufmerkſamkeit ſchenken. 
Weshalb ſoll der Forſcher ſich nicht berech— 
tigterweiſe die Frage vorlegen dürfen, ob 
die Seelenvorſtellung ſchon in einer Zeit 
unter den Völkern entſtehen konnte, wo 
man die Metalle, Feuer und Steinſchliff 
nicht kannte, folglich die für den Seelenbe— 


Antwort nicht in allen Stücken die An | griff und feine Apperzeptionen jo wichtig 


ſichten zu teilen, welche uns Fritz Schultze 
in ſeinen trefflichen Aufſätzen über die 
Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung Seele 
gegeben hat. Durchgehen wir das uns 


ſchichtliche Material, ſo ſtoßen wir auf 


erſcheinenden Hilfsvorſtellungen, wie feu— 


rige Wärme, Rauch, Schatten, verzehrendes 


und ſich durch Dampf unſichtbar verflüchti— 


gendesElement, Abſcheid ungldesRauchs 
vorliegende ethnologiſche, reſp. völkerge⸗ 


ſehr verſchiedene Anſchauungen. Will man 


dieſelben klaſſifiziren, ſo darf man zu die— 
ſem Zweck von keinen bloßen Voraus— 
ſetzungen über das ſog. kindliche Denken des 
Naturmenſchen ausgehen, ſondern man 


muß die Summe aller ethnologiſchen Daten 
zuſammennehmen, um ſie im Verein mit 


andern Vorſtellungen, die gleichzeitig ent— 
ſtanden ſein müſſen, innerhalb eines hiſto— 
riſchen (reſp. prähiſtoriſchen) Geſammt— 
rahmens zu erklären. Hält man ſich empi— 
riſch hiervon fern und unterſucht nur den 
Seelenbegriff für ſich, ohne ſich in anthro— 
pologiſcher Beziehung die zugleich wichtige 
Frage vorzulegen, in welcher prähiſtoriſchen 
Epoche der betreffende Begriff wohl ap— 


von der Flamme), noch nicht vor Augen tra— 
ten, weil man die Erzeugung der Wärme, 
d. h. das Feuer, ſo wie es der Menſch 
ſpäter verwerten und betrachten lernte, 
noch nicht kannte? Ferner, wenn man über 
die Entſtehung von Seele, Leben und Tod 
ſpricht, weshalb ſoll man dann die Vor— 
ſtellung der Zeugung (ein den Menſchen 
ſo unmittelbar und lebhaft intereſſirender 
Vorgang) außer acht laſſen? Betrachtet 
man nun alle hierher gehörigen Vorſtel— 
lungsgruppen im Zuſammenhange, jo 
überſieht man raſch, daß die feuerloſe 
Steinzeit noch wenig geeignet war zur 
Bildung aller hier zur Geltung kommen— 
den Vorſtellungskomplexe. Die Vorſtel— 


lung der Zeugung als Feuerreibung und 


perzipirt ſein könnte, ſo verfällt man in ein 
bloßes Raten und Mutmaßen. Wie man 


pſychologiſch keinen hiſtoriſchen Charakter 
ohne die Zeitumſtände, unter denen er 
wirkte, beurteilen kann, ſo auch keinen Be— 
griff und keine Vorſtellung ohne Hinblick 
auf die äußere prähiſtoriſche Kulturepoche, 
unter welcher er allein geprägt werden 
konnte. Es iſt noch immer der Fehler vieler 


Entzündung des lebengebenden Funkens, 
ferner die Vorſtellung, daß die Wärme 
(Leben) innerhalb des materiellen Leibes 
etwas völlig Geſondertes war, das 
ſich abſcheiden und verflüchtigen 
konnte und im Körper wohnte, wie der 
Funke im Stein und im Holze, alles das 


konnte ſicherlich zu einer Zeit, wo man den 


Funken als Wärme überhaupt nicht kannte, 


keinen allgemeinen Boden gewinnen. Das 


O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pfyhologie. 297 


Weſentlichſte der Merkmale über die eigent— 
liche Bildung der Seelenvorſtellung iſt nun 


vor allem die Geſondertheit der Seele 


gegenüber ihrer Umhüllung, dem 
Leibe. Von hier aus unterſcheiden ſich 
ſogleich alle diejenigen Völker, welche ei— 

klaren Seelenbegriff entwickeln, von 
jenen andern, die denſelben nur in abge— 
blaßter Form ausbilden. Daß der Körper 
im Tode kalt wurde, hatte die Folgerung 
immerhin noch nicht genau nachziehen kön— 
nen, daß die Wärme im Körper etwas 
völlig Geſondertes war, das ſich abſchei— 
den und wie der Vogel den Bauer ver— 
laſſen konnte. Die nur halb entwickelten 
Vorſtellungen über Leben, Tod und Seele, 
ſo wie dieſelben nach unſerer Anſicht in 
der Vorfeuerzeit exiſtirten, werden uns 
hier nicht beſchäftigen; hierüber ſei nur in 
kurzem bemerkt, daß Kraft, Mut, Leben 
und Körper der früheſten Beobachtungs— 
weiſe gemäß mit einander verſchmolzen 
waren. War der Leib gebrochen, ſo auch 
Mut und Leben, dies ſowohl im Schlafe 
wie im Tode, welcher letztere nur als 
Fortdauer des Schlafes erſchien. Sofort 
aber mußten ſich dieſe naiven Anſchauun 
gen ändern, als man auf Stoffe und Er— 
ſcheinungen aufmerkſam wurde, die ſich 
als Hauch und Wärme abſchieden, in— 
dem der Körper erkaltete. Hier liegt die 
urſprüngliche Beobachtung, die zum See— 
lenbegriff hinführte. 

Wenn hiernach die Seele ein Begriff 
iſt, deſſen weſentlichſtes Srundmerkmalihre 
Geſondertheit und Spezifität dem 
Leibe gegenüber ausmacht, ſo daß 
ihre Abſcheidung von demſelben 
nach dem Tode gefolgert wurde, ſo 


leuchtet ein, daß wir nur allen denjenigen 
Völkern eine Seelenvorſtellung zuſprechen | 


können, welche ſich eben dieſe Seele als 
Atem, Dampf (Pneuma), Rauch, Funken, 
Feuer, Wärme und Schatten vorſtellten. 
Freilich findet ſich, daß die größte Anzahl 
der Völker in dieſer oder ähnlicher Geſtalt 
die Seelenvorſtellung entwickelt, wenn— 
gleich einzelnen Stämmen ein klarer Aus— 
druck hierüber mangelt. 

Wichtig iſt es nun, zu bemerken, daß 
die Frage nach dem Sitze der im Leibe 
geſonderten Seele eine erſt ſpätere iſt. 
Wenn wir daher bei einigen Völkern, z. 
B. bei den Hebräern, finden, daß ſie das 
Blut als Seele betrachten, während außer— 
dem ihr Nephesch und Ruach zugleich 
den von Gott eingeblaſenen Atem, ſowie 
das Lebengebende und Geiſtige überhaupt 
bedeuten, ſo läßt das erkennen, daß man 
Herz und Blut wiederum (bei ſchon weite— 
rem Fortſchritt)als Sitz dieſes geſon— 
derten Atemdampfes im Körper 
auffaßte. Im Sanskrit haben wir ät— 
man und präna, im Griechiſchen psyche 
und pneuma, im Lateiniſchen animus, 
anima, animal, im Slaviſchen ſteht duch 
für Seele und Atem. Wenn die griechi— 
ſchen Philoſophen ſpäter ihrem pneuma 
einen dreiteiligen Sitz im Leibe angewie— 
ſen haben, ſo bleibt doch unverkennbar, 
daß die Vorſtellung des ſich abſcheidenden 
Atems den Grund zu früheſter Apperzep— 
tion abgegeben hat. Ich vermag daher der 


Anſchauung Fritz Schultzes nicht zuzu— 


ſtimmen. Ihm zufolge wurde zuerſt nach 
dem Sitz des Lebens (Pulſe, Herz und 
Blut) gefragt. Nach meiner Anſchauung 
entdeckte man mit dem Atem und der 
Körperwärme zuerſt ein Prinzip, das ſich 
vom Körper ſondern und abſchei— 
den ließ. Bisher war unter der tieriſch— 
naiven Weltanſchauung (wie auch noch 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 


38 


Sg 


298 O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Piychologie. 


heute bei einigen Naturvölkern) Körper 
und Leben eines. Die Seele exiſtirte 
noch nicht. Erſt jetzt, im Atem und in der 
Wärme, die man ſich als ein geſondertes 
lebendiges Feuer oder als einen Dampf 
(Hauch, Pneuma) im Körper vorſtellte, 
war das Subſtrat für die ſich vom Kör— 
per ſcheidende Seele gefunden. Erſt nach 
dieſer allgemeinen Beobachtung wandte 
man ſich alsdann zur Unterſuchung, an 
welchen vornehmſten Körperſtellen 
wohl dieſes Pneuma ſitzen und ſei— 
nen Aufenthaltsort haben könnte, 
und nun erſt kam man auf die Beſtandteile 
von Blut, Herz, Leber, Pulſe, Haupt u. ſ. w. 

Halten wir alſo daran feſt, daß die 
Sonderung und Abſcheidung vom 
Körper den Hebek für die ſich ins 
Unſichtbare verflüchtigende ſog. 
Seele und ihre Vorſtellung gege— 
ben hatte. Wie Rauch und Dampf gen 
Himmel ſteigen, wenn man den Körper 
auf dem Altar oder dem Scheiterhaufen 
verbrennt, wie der Funke dem geſchlagenen 
Stein entſpringt, wie der Rauch ſich ins 
Unſichtbare (Überſinnliche) verflüchtigt, 
wenn er ſich vom brennenden Körper ab— 


ſcheidet, jo die Seele — dieſelbe war eben 


das ſich vom Körper ſondernde und ab— 
ſcheidende Prinzip ſelbſt. Wir ſehen, bei 
der Entſtehungsgeſchichte der Seelenvor— 
ſtellung handelt es ſich um die Einſicht in 
ein Prinzip, das man dem Materiellen 
und Körperlichen relativ gegenüber— 
ſtellte; wir haben hier zugleich die erſte 
Ausbildung des Begriffes vom Unſicht— 
baren, Überſinnlichen und rein 
Geiſtigen. Welche Erfahrungen des frü— 
heſten, prähiſtoriſchen Volkslebens konn— 
ten die Anregung zu dieſer eigentümlichen 


Vorſtellung des Unſichtbaren darbieten? 


Ich möchte mit Rückſicht auf die völker— 
pſychologiſchen und anthropologiſchen For— 
ſchungen daran feſthalten, daß der Begriff 
der unſichtbaren, überirdiſchen Gottheit eine 
Wurzel in den Erlebniſſen des Familien— 
und Gemeindelebens hatte, während er die 
andre mit dem der Seelenvorſtellung teilt, 
nämlich die der Erhebung ihres 
Subſtrats in die überirdiſche Höhe 
(Himmel) und in die Region, in wel— 
cher ſich das Sichtbare (Sinnliche), 
ähnlich dem Rauch, verflüchtigt 
zum Unſichtbaren. Die Frage, welches 
Erlebnis zur Bildung der Unſichtbar— 
keits vorſtellung die erſte Gelegenheit 
gegeben hat, iſt oft aufgeworfen worden. 
Einige, wie Lubbock, Tylor u. a., ver— 
weiſen in dieſer Hinſicht auf den Traum, 
andere auf den Schatten, aber auch Steine 
und Häuſer werfen Schatten, zudem folgt 
derſelbe doch ſtets dem Körper und hängt 
ihm ſichtbar an; wie ſehr er daher auch 
die Phantaſie ergötzt, wie wenig er körper— 
lich greifbar erſcheint, den Hebel für die 
Vorſtellung einer völligen Trennung 
und Abſcheidung vom Körper ins 
Unſichtbare iſt auch ſein Bild nicht 
imſtande abzugeben. Dennoch muß 
zugeſtanden werden, daß die Schattenvor— 
ſtellung über die Seele unter ſo vielen 
Völkern verbreitet iſt, daß man gut thun 
wird, dem Gedankengang weiter nachzu- 
forſchen, der darauf hinführen konnte, den 
körperlichen Schatten vom Körper loszu— 
löſen, um ihn ins völlig Unſichtbare (Über— 
ſinnliche) ſich verflüchtigen zu late 

Wir beſtehen nun darauf, daß hier 
Thatſachen und allgemeine Erfahrungen 
zugrunde gelegen haben, die während des 
allmählichen Überganges der Steinzeit in 
die Metallzeit die Beobachtung mehr und 


O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pſychologie. 


mehr auf die Abſcheidung und Verflüch— 
tigung von Dampf und Gaſen, die 
ſich von brennenden Stoffen und Kör— 
pern trennten, hinführten. Auch das flak— 
kernde Feuer warf körperliche Schatten, 
und die zum Himmel emporſteigenden 
Dampfſäulen mit ihren mächtigen Schat— 
ten, die zugleich mit dem Licht des Feuers 
kamen und verſchwanden, waren gewiß 
allgemein auffällig. Bei hervorragenden 
Gelegenheiten, wo ſich das Volk an den 
Opferſtätten gemeinſam verſammelte, wur— 
den gemeinſame und objektive Beobach— 
tungen gemacht, die allgemeingiltig wur— 
den. Zu ihnen gehörte neben anderem 
ſicherlich auch der Hinweis auf Rauch und 
Schatten, die als etwas an ſich Flüchtiges 
und Körperliches zum Himmel ſteigend ins 
völlig Unſichtbare verſchwanden, ſich gleich— 
ſam allmählich immaterialiſirten. Nun iſt 
es richtig, daß nicht alle Völker ihren 
Seelenbegriff derart vergeiſtigten, 
wie die höchſten Kulturvölker; aber den 
Anſatz zu dieſer Immaterialiſation 
im Hinweis auf Atem, Dunſt, Dampf, 
Hauch und Schatten und, was das wich— 
tigſte iſt, auf deren Loslöſung vom 
Leibe und Körper, beſitzen beinahe alle 
Naturvölker hinſichtlich der Vorſtellungen, 
die ſie ſich über die Seele bilden. 

Von dieſem Geſichtspunkte aus erhält 
weiter die Geſchichte der Vorſtellung Seele 
ihr volles Verſtändnis. Die Seele war et— 
was Luftiges und Flüchtiges, fie konnte 
ſich wie der Vogel in die Lüfte erheben 
und wandern, — ſo konnte ſich bei den 
Egyptern eine wunderbare Seelenwande— 
rungslehre und eine Geſchichte der Seele 
im abgeſchiedenen Jenſeits mit ihren Schick— 
ſalen ausbilden. Wie ſchon oben hervorge— 
hoben, iſt es wichtig, in der Geſchichte dieſer 


299 


Vorſtellung das Frühere von dem Späteren 
zu unterſcheiden. War die Uranſchauung 
die geweſen, daß man Leib und Leben für 
untrennbar hielt, ſo daß der Kannibale 
meinte, mit dem Leibe auch das Leben 
(d. h. Mut und Kraft) des Feindes zu ver— 
zehren, ſo ſuchte man ſpäter die entflohene 
Seele im unſichtbaren Jenſeits und 
gab ihr ſogar im Metallzeitalter den Leib 
mit auf den Weg, den man zu dieſem 
Zweck auf Scheiterhaufen verbrannte; ja 
nicht nur dies, um zugleich alles Hab und 
Gut eines Fürſten mit ins Jenſeits zu 
ſchaffen, verbrannte man mit ſeinem Leibe 
auch deſſen Frauen und Pferde, ſowie 
andere zeitliche Güter, die man ins Feuer 
warf. Unter ſolchen Geſichtspunkten er— 
klärt ſich uns die weitgehende Sitte der 
Leichenverbrennung bei den Metallvölkern. 
Erſt nach dieſer Zeit, wo ſchon tieferes 
Nachdenken lebendig wurde, wurde der 
Leib näher unterſucht, um im Käfige des 
Leibes die Orte zu entdecken, in denen ſich 
die luftige und flüchtige Seele aufhielt. 
Das führte nun zu allen den weiteren 
Vorſtellungen, wie wir ſie in hervorragen— 
der Weiſe bei den Griechen und andern 
Völkern antreffen, Vorſtellungen, die wäh— 
rend des Mittelalters allerlei wunderliche 
Ausbildungen erfuhren und ſtets im Zu— 
ſammenhange mit den allgemeinen Welt— 
anſchauungen ſtanden, die ſich an den 
Grundunterſchied von Materialismus und 
Spiritualismus anlehnten. Noch heute 
ſuchen wir in gewiſſer Weiſe nach dem Sitz 
der Seele, und ob wir ihn im Nerven— 
ſyſtem überhaupt, oder wie Descartes 
in der Zirbeldrüſe, oder im Balken in der 
Varolsbrücke, oder im ſog. Flourensſchen 
Lebensknoten finden wollen, — das bleibt 
ſich im Prinzipe ganz gleich. Wenn nun 


* 
300 O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pfychologie. 


Guſtav Jäger wieder auf eine ältere 
Anſchauung zurückgreift und die Seele ſo— 
wohl vom Körper, als auch vom Geiſte 
geſchieden wiſſen will, als ein mittleres 
und zwar als ein Pneuma (Dunſt, Hauch, 
Geruchsſtoff), ſo reiht ſich dieſe Anſchauung 
völlig in den Rahmen ein, der alle Vor— 
ſtellungen in dieſer Hinſicht umgiebt — 
nämlich in die Allgemeinanſchauung, daß 


die Seele etwas Flüchtiges und vom Leibe 


im engern Sinne relativ Getrenntes iſt. 
Dennoch, jo müſſen wir vom pſychologi— 
ſchen Geſichtspunkte behaupten, ſind alle 
dieſe Anſichten über die Seele roh und 
naiv, ſie unterſcheiden ſich nur dem Grade 
nach von alledem, was man, wie wir 


ſahen, in allerfrüheſter Zeit darüber an- 


nahm und feſtſtellte. 


Die moderne Pſychologie, die immer 


mehr von den Ergebniſſen der durch Kant 
reformirten Erkenntnislehre abhängig ge— 
worden iſt, hat ſich über die Naivetät die— 
ſer Anſichten zu erheben geſucht, und wir 
wollen nun im folgenden zuſehen, welche 
Anknüpfungspunkte ſie hierzu benutzte. 
Die Erkenntnislehre fußt zunächſt auf 
Grundthatſachen, die von vornherein 
dem Intellekt aufgenötigt werden, bevor 
er noch daran geht, mit ſeinem Auge über— 
haupt in die Außenwelt hinein zu ſinnen 
und zu forſchen. Dieſe Grundthatſache iſt 
die Unterſcheidung überhaupt, d. h. 
die ſich unabweislich aufdrängende That— 
ſache der Trennung einer erlebten Innen— 


d. h. vom unmittelbaren Innern trennen 
und ſomit als Objekt anſehen und wahr— 
nehmen. Zunächſt ſind dies die über die 
Grenze unſeres Leibes hinaus liegenden 
Gegenſtände; zu dem objektiv (äußerlich) 
Wahrgenommenen geſellen ſich aber eine 
große Reihe von Leibesteilen. Daß unſere 
Haare, Nägel, Finger, Arme, Füße nicht 
unmittelbar mit unſerm Innern identiſch 
ſind, leuchtet von ſelbſt ein, genauer unter- 
ſucht aber geſellen ſich dieſen Teilen ſelbſt 
die Endapparate der Sinne hinzu, denn 
unſer Inneres kann im Traume fühlen, 
vorſtellen und wollen, ohne daß die äuße— 


ren Sinne mitwirken. Damit treten pſycho— 


logiſch betrachtet ſelbſt große Partien des 
Nervenſyſtems noch zu dem Gebiete hinzu, 
das wir Außenwelt nennen und zu den 
Objekten zählen müſſen. Was bleibt nun 


demgegenüber für unſer Inneres als Sub— 
jekt in der Unterſcheidung übrig? Offen— 


Nervenapparate vollzieht. 


welt gegenüber alledem, was wir Außen- 


welt nennen —es iſt die Grundthatſache der 
Trennung von Subjekt und Objekt, ohne 
welche wir nicht denken und wiſſenſchaftlich 
leben und atmen können. 


bar alle in uns verlaufenden Vor— 
ſtellungen, Empfindungen, Gefühle und 
Willensimpulſe, alſo alle diejenigen Teile 


hinter den Endapparaten der Sinne, in 


welchen nachweislich ſich dieſe Vorgänge 
gleichzeitig abſpielen. Die Phyſiologen 
haben in dieſer Beziehung längſt erforſcht, 


daß der Verlauf dieſer ſpezifiſch innerlichen 


Vorgänge ſich in den Zentralteilen der 
Zugleich iſt 
feſtgeſtellt worden, daß es hauptſächlich 
Prozeſſe elektriſcher Natur ſind, die als 
Begleiterſcheinungen in den Nerven ver— 
laufen und teilweiſe den inneren Empfin— 


dungen parallel gehen. Was wir aber 


Sehen wir nun zu, was wir thatſäch⸗ 


lich als ein uns Außerliches empfinden, 


thatſächlich nicht wiſſen und beobachten 
können, iſt dies: wie ſich hier der 
äußere Prozeß als elektro-chemi— 
ſcher Vorgang in den innern der 


Vorſtellung und Gefühle u. ſ. w. 


I 


O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Piychologie. 


verwandelt. Hier iſt uns eine Grenz— 
ſcheide gezogen, die von der Natur an— 
gelegt iſt und die wir nicht überſpringen 
können; denn um dies zu vermögen, müßte 
erſtens jeder ſein eigenes Gehirn gleich— 
zeitig mit ſeinen Gefühlen, Vorſtellungen 
und Willensimpulſen wahrnehmen können, 
oder wir müßten das innere Gehirn un— 
ſeres Nebenmenſchen ſo durchſchauen, daß 
wir ſeine Nervenprozeſſe und gleichzeitig 
ſeine Vorſtellungen und deren Rückver— 
wandelung als unmittelbar ſich deckende 
Objekte wahrnehmen. 

Wer Du Bois-Reymonds Vortrag 
über die Grenzen der Naturerkenntnis ge- 
leſen hat, wird nicht im Zweifel ſein dar- 
über, daß unſer phyſiologiſches (äußeres) 
Forſchen dort aufhört, wo wir die Domäne | 
des Innern (als Subjekt) anheben ſehen, 
die dort beginnt, wo alle äußeren Bewe- 
gungen in eine Empfindung umſchlagen, 
um ſo im Innern zu verlaufen als Vor— 
ſtellungen, Gefühle, Willensimpulſe u. ſ. w. 
Wir können Du Bois-Reymond in die— | 
ſer Beziehung um fo mehr glauben, als 
wir ihm die oben erwähnte Entdeckung 
verdanken, daß in unſern Nervenprozeſſen 
elektriſche Vorgänge ſtattfinden. | 

Wir ſehen alfo, wie ſich Subjekt und 
Objekt als inneres und äußeres ſcheiden. 
Zum ſogenannten Innern gehören alle 
Vorgänge der ſogenannten inneren Wahr— 
nehmung, das ſind alle inneren Vorſtel— 
lungen, einbegriffen das Gedächtnis und 
Bewußtſein, ferner alle Empfindungen und 
Gefühle von Luft und Unluft, endlich 
alle Willensanſtöße und Strebungen. In 
das Gebiet der äußeren Wahrnehmungen 
fallen neben der ſogenannten Außenwelt 
alle Körperteile und deren Vorgänge, bei 
denen wir nicht gleichzeitig unter Beobach- 


+ 


301 


tung ihres äußeren Verlaufs in das In— 
nere derſelben blicken können, um ſo zu er— 
kennen, was ſie bei ihrer äußeren Bewe— 
gung innerlich für ſich erleben. In dieſer 
Hinſicht ſind uns aber die Prozeſſe des 
vegetativen Lebens im Leibe ebenſo fremd, 
wie die Bewegung toter Steinchen, die auf 
einen Stoß einen Berg herabrollen. For— 
ſchen wir, was ſie bei dieſem Stoß inner— 
lich in ſich erleben, ſo geben ſie darauf 
ebenſo wenig Antwort wie unſer Magen, 


a 


der, wenn er Hunger hat, nicht, wie der - 


Laie glaubt, wirklich ſeinen eigenen Hun— 
ger fühlt und wahrnimmt, ſondern nur be— 
ſtimmte Nerven reizt, die wir dann in den 
Zentralorganen als Hunger empfinden. 
Erſt in die Zentralapparate des Nerven— 


ſyſtems verlegen wir regelmäßig die Vor— 


gänge, wo ſich das Objekt (Außenwelt) mit 
dem Subjekte verbindet. Die Art aber, 
wie dieſe Verbindung cauſaliter ſtattfin— 


det, iſt, wie geſagt, ein pſychologiſches reſp. 


philoſophiſches Problem. 

Wenden wir uns nun nach dieſen er— 
kenntnistheoretiſchen Vorerörterungen zur 
Vorſtellung über die Seele zurück. Wir haben 
feſtgeſtellt, daß uns die Unterſcheidung auf 


das Verhältnis von einem Inneren zu einem 


Außeren (Subjekt und Objekt) hinführt. 
Bilden wir uns den Begriff Seele, ſo 
leuchtet ein, daß mit ihm nichts äußeres, 
nichts in die Sphäre der Objekte fallendes 
gemeint ſein kann. Niemand, der ſich 
über die primitiven Vorſtellungen der 


Naturvölker und der Alten erhoben hat, 


wird daher verlangen wollen, die Seele 
zu ſehen; denn ſie iſt eben nichts objektives 


und äußeres, ſondern das Innere ſelbſt, 


ſie iſt die rein innerlich wirkende Kraft 


im Körper. Damit ſtimmt auch die ety— 


mologiſche Herleitung unſeres deutſchen 


4 302 O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Piychologie. | 


Wortes „Seele“. Das Wort Seele wird 
nach Adelung von Sawl, Sahl, nach 
Grimm von Saiwa, Saivala, Sahl abge⸗ 
leitet und bedeutet eine rauſchende, treibende 
Kraft. Es hängt zuſammen mit Saal und 
Siel und bezeichnet hier einen innern, hoh— 
len Raum, eine Höhle und Kanal. Wirkende, 
treibende Kraft und innerer Höhlenraum 
ſind alſo die Grundbedeutungen der Wur— 
zel. Die Bedeutung des inneren, hohlen 
Raumes und treibender Kraft zeigt heute 
noch der Inhalt des Wortes Seele und 
feiner Nebenbedeutungen. Seele nennt man 
in der Geſchützgießerei den inneren hohlen 
Raum des Kanonenrohres, dem die trei— 
bende Kraft des Schuſſes zukommt, gegen— 
über dem Gehäuſe. Im Gänſekiel, beim 
Spinnen ꝛc. bezeichnet man mit Seele die 
inneren Hohlräume, in welchen ſich Luft, 
bezw. beim Spulen die Spindel befindet. 
Sehen wir weiter zu, wie ſich der Ge— 
brauch und die Bedeutung des Wortes 
geſtaltet hat, ſo ſchließt ſichdie Verwendung 
dem bisher geſagten an. Wir nennen irgend 
eine Perſon die Seele der Familie, die 
Seele des Staates oder Seele einer Ver— 
ſchwörung, um zu bezeichnen, daß jemand 
die treibende Kraft derſelben ſei. Seele 
iſt ſomit das treibende, wirkende Weſen 
gegenüber ſeinem Anhang und ſeiner Um— 
gebung, die ihm als Stütze, als Körper, 
als Hülle und als Gehäuſe dient. Ob— 
wohl man nun innerhalb der Seele wie— 
der von einem Geiſte und Gemüte redet, 
ſo wird damit doch die Seele nicht dem 
Geiſte gegenüber zu einem Äußeren, Ob— 
jektiven. Wenn Platon der Seele eine 


dreigeteilte Geſtalt verleiht und einen Teil 


in die Leber, den anderen in die Bruſt und 
den dritten in das Haupt verlegt, ſo ſteht 
er mit dieſer Anſchauung eben noch den 


primitiven Vorſtellungen nahe, wie ſie die 
Naturvölker ausbildeten. Wer heute aber 
von dem Begriffe Seele Gebrauch macht, 
muß ſich die oben erwähnte erfenntnis- 
theoretiſche Unterſcheidung vor Augen füh— 
ren über Inneres und Außeres als Sub— 
jekt und Objekt. Hiernach muß alsdann 
Seele immer das Terrain des rein In⸗ 
neren (des Subjekts) bedeuten, und 
niemals kann ſie im Körper als wirkende 
Kraft etwas anderes ſein. Will man nun, 
wie ſpäter geſchah, innerhalb des Seelen— 
innern nochmals Geiſt, Gemüt, Verſtand, 
Vernunft u. ſ. w. unterſcheiden, ſo iſt eine 
ſolche Trennung rein innerlich und 
pſychologiſch, und ein Forſcher, der 
ſich mit Unterſuchungen der Sinnes- oder 
anderer Körperorgane beſchäftigt, darf, 
ohne Verwirrungen anzurichten, ſich des 
Wortes „Seele“ nicht bei Phänomenen be— 
dienen, die über das ſogenannte Innere 
(als Bewußtſein, Vorſtellung ꝛc.) hinaus⸗ 
fallen. Selbſt die ſogenannten Inſtinkte 
gehören, wie man nicht unterlaſſen darf 
zu bemerken, dem Gebiete des rein Innern 
(der Seele, dem Subjekt) an; denn was ſie 
auch ſein mögen, ſie ſind ſtets mit unklaren 
Vorſtellungen und Gefühlen reſp. Willens- 
impulſen vermiſcht, in denen das Bewußtſein 
nur ſchwach und tief herabgedrückt erſcheint. 

Werfen wir nun die Frage auf, ob 
es ein Mittleres zwiſchen Innerem und 


Außerem, zwiſchen Subjekt und Objekt 


geben kann, ſo muß dieſe Frage vom Ge— 
ſichtspunkte der modernen Pſychologie ver- 
neint werden. Nur wenn man ſich 
einer Seelenvorſtellung überläßt, wie ſie 
in naiver Weiſe die Naturvölker und die 
Alten bildeten, kann man ſich den Körper 
geſpalten denken in Geiſt, Seele (Inſtinkt), 
ſinnliche Organe u. ſ. w. Es ſcheint offen— 


O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Psychologie. 303 


bar, als habe Jäger ſich zu dieſen primi— 
tiven Seelenvorſtellungen zurückgewandt. 
Ob dies aber zum Nutzen ſeiner Forſchun— 


gen oder zum Schaden der pſychologiſchen 
Wiſſenſchaft und ihrer Fortſchritte gefche- 


hen iſt, das iſt eine andere Frage. Es er- 


ſcheint wiſſenſchaftlich wichtig, daß alle Ge— 
biete genau abgegrenzt werden, um Ver— 
wirrungen zu verhüten. Phyſiologie und 
Pſychologie, ſo innig ſie zuſammengehören, 
forſchen ohne Zweifel auf verſchiedenen 
Terrains. Der Phyſiologe erfaßt die 
Erſcheinungen des Inneren von äu— 
ßerer, körperlicher Seite, er konſtatirt 
zunächſt nur äußere Bewegung. Die 
Pſychologie arbeitet mit rein inneren Vor— 
ſtellungen, Empfindungen u. ſ. w., d. h. 
mit Bewegungen unſeres Inneren. Es 
muß nochmals hervorgehoben werden, daß 
die Umſetzung Beider ein pſychologiſches 
und erkenntnistheoretiſches Problem ein— 
ſchließt mit Rückſicht auf Unterſuchungen, 
die im rein ſinnesphyſiologiſchen Gebiete 
nicht zum Abſchluß gebracht werden können. 
Die hier anzuſtellenden Forſchungen erge— 
ben aber, daß ein Mittleres zwiſchen Sub— 
jekt und Objekt, das man gegenüber einer 
Unterſcheidung von Körper und Geiſt als 
Seele anſetzt, nicht angenommen wer— 
den kann. Denn entweder iſt dieſes mitt— 
lere Dritte ein Inneres (Vorſtellung, Be- 
wußtſein ꝛc), jo fällt es ſchon dem Geiſte 
zu, oder es gehört dem Außeren, das iſt 
dem Körper an. Die Ausdrücke Geiſt und 
Seele dürfen zu einer ſolchen Trennung 
nicht verführen; denn ſie ſind, vom andern 
pſychologiſchen Geſichtspunkte aus geſehen, 
im grunde einerlei; beide fallen in das 
Terrain des Subjekts (des Inneren). Wer 


hier Unterſchiede von neuem ziehen will, 
verfällt, wir wiederholen, den veralteten 
naiven Seelenanſchauungen. Dabei ſei 
bemerkt, daß auch das deutſche Wort Geiſt 
wieder mit ſeiner Bedeutung etymologifch 
auf die Bedeutung Seele zurückführt. Geiſt, 
Geſcht, Giſcht bedeutet wie Pon und ani- 
ma ein Hauchen, Rauſchen, Brauſen, deutet 
alſo auf das Weſen der im Innern des 


Körpers treibenden Kraft. Wir erfehen hier- 


aus, daß man im grunde die Seele als 
ſolche nicht entdecken kann; denn das 
Innere läßt ſich als Inneres eben nicht 
äußerlich aufdecken. Die Seele als das 
Terrain des Inneren iſt aber für die innere 
Wahrnehmung längſt entdeckt, ſie iſt von 
hier aus geſehen ein Komplex von pſychiſchen 
Erſcheinungen, die ihren Verlauf in den Zen— 
tralorganen des Nervenapparates haben. 
Die Frage aber, ob man für das 
Subjekt (als Inneres, Seele ꝛc) einen 
beſtimmten Punkt ausfindig machen darf, 
als ſogenannten feſten Seelenſitz, iſt 
rein phyſiologiſcher Natur. Wir wiſſen, 
daß die moderne Phyſiologie heute ſoweit 
vorgeſchritten iſt, um mit hoher Wahrſchein— 
lichkeit dieſe Frage zu verneinen. Doch 
ſind die hierüber zu verfolgenden Unter— 
ſuchungen, die im weiteren darauf hinfüh— 
ren würden, zu erforſchen, ob man neben 
einem beweglichen phyſiſchen 
Schwerpunkt im Körper auch einen 
beweglichen pſychiſchen Schwer— 
punkt in den Zentralorganen der 
Nervenapparate anzuſetzen ein 
Recht habe, nicht mehr hierher ge— 
hörig; denn was uns zunächſt hier be— 
ſchäftigte, war nur die Bedeutung des 
Begriffes und der Vorſtellung „Seele.“ 


EN 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Der große Komet von 1880. 


I die die Mücken und Nachtſchmetter— 


linge die Lampe, fo umſchwärmen 


die aus ungeheurer Ferne heran— 
eilenden Kometen die Sonne, aber keiner, 
von dem man weiß, iſt der Sonne ſo nahe 
gekommen, wie der vom Winter 1880, der 
ſich dem ſtrahlenden Licht-und Wärmeherde 
unſeres Weltſyſtems am 27. Januar 1880 
bis auf den eilften Teil des Sonnendurch— 
meſſers (17,000 Meilen) genähert hat. 
Bekanntlich wurde zu Anfang Februar 
d. J. auf den europäiſchen Sternwarten 
eine hochgeſpannte Erwartung erregt durch 
ein von der Sternwarte zu Kordoba in 
der argentiniſchen Republik durch den 
Aſtronomen Gould abgeſandtes Tele— 
gramm, welches kurz beſagte: „Großer 
Komet paſſirt die Sonne nord— 
wärts.“ Schon nach einigen Tagen 
wurde dieſe Erwartung enttäuſcht durch 
ein zweites Telegramm deſſelben Aſtrono— 
men, welches eben ſo kurz lautete: „Komet 
geht ſüdwärts.“ Der Widerſpruch wurde 


dahin aufgeklärt, daß es ſich um einen 


Kometen gehandelt habe, welcher der Sonne 
ſo nahe gekommen ſei, daß er, wie der 
große Komet von 1843, innerhalb weniger 


Tage bei ſeinem überaus ſchnellen Um⸗ 
ſchwung um die Sonne einen vollſtändigen 
Wechſel der Bewegungsrichtung erfahren 
habe. Seitdem ſind nähere Nachrichten 
über die von den Sternwarten der ſüd— 
lichen Halbkugel, insbeſondere am Kap 
der guten Hoffnung, angeſtellten Beobach— 
tungen jenes Kometen eingegangen, und 
es hat ſich herausgeſtellt, daß er ſich in 
der That in ganz derſelben Bahn bewegt 
hat, wie der große Komet von 1843, 
wenngleich er bei weitem nicht ſo hell ge— 
worden iſt, wie jener, welcher bekanntlich 
zur Zeit ſeiner größten Sonnennähe am 
Tage dicht neben der Sonne wahrgenom— 
men wurde. Der diesjährige Komet iſt 
aber ſonſt dem großen Kometen von 1843 
auch darin ähnlich geweſen, daß er einen 
mächtigen, etwa 40 — 50 Grad langen 
Schweif entwickelt hat, und die Berech— 
nung der Bahnelemente läßt keinen Zweifel 
darüber, daß es ſich hier um ein und den— 
ſelben unſerem Sonnenſyſtem angehörigen 
Kometen, mit einer Umlaufszeit von 36 
Jahren 11 Monaten, handelt. Bekannt⸗ 
lich hatte man jenen Kometen bei ſeinem 
vorigen Erſcheinen mit dem Namen des 
ariſtoteliſchen ausgezeichnet, weil er unter 


m 


Annahme einer viermal fo langen Umlaufs— 


zeit — 147,5 Jahre) mit dem 371 vor 
Chriſti Geb. von Ariſtoteles beobachteten 
Kometen durch Zwiſchenerſcheinungen ver— 
bunden werden konnte. Den Umſtand, 
warum man dieſen im Jahrhundert nahe— 
zu dreimal wiederkehrenden Kometen bis— 
her ſo ſelten beobachtet hat, erklärt ſich 
leicht aus den Eigentümlichkeiten ſeiner 
Bahn, die ſo lang geſtreckt iſt, daß die 
kleine Axe, bei einer zweiundzwanzigfachen 
Länge der großen Axe, kaum die Länge 
des Durchmeſſers einer Erdbahn erreicht 
und eine ſo eigentümliche Lage hat, daß 


der Komet für das unbewaffnete Auge 


immer nur ganz kurze Zeit ſichtbar ſein 
kann, nämlich in der für die früheren Jahr— 
hunderte allein in Betracht kommenden 
nördlichen Hemiſphäre ſtets nur dann, 
wenn ſeine Sonnennähe entweder im Fe— 


bruar und März oder im Oktober und No- | 


vember ſtattfindet. Wenn daher der Komet 
irgendwo einmal in ſeinem Glanze geſehen 


worden iſt, ſo geht ſeine nächſte, nächſt⸗ 


nächſte und drittnächſte Erſcheinung unbe— 
merkt vorüber und erſt die viertnächſte tritt 
wieder unter ähnlichen Sichtbarkeitsbedin— 
gungen auf, ſo daß ſich der erwähnte Irr— 
tum über die Umlaufszeit leicht erklärt. 
Zu dieſem von Prof. E. Weiß in Wien 
hervorgehobenen Umſtand kommt nun noch 
die ſchnelle Abnahme ſeines Glanzes. Der 
Komet entwickelt bei ſeiner Annäherung 
an die Sonne ſeinen ſchönen Schweif eben— 
ſo überraſchend ſchnell, wie er nachher ver— 
ſchwindet, in wenigen Wochen iſt die kurz 
vorher ſo großartige Erſcheinung ſelbſt 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


dem Teleſkope entſchwunden. Durch dieſe 
Schnelligkeit feines Vorüberganges bei der 
Sonne erklärt ſich wohl die mangelhafte | 
Berechnung der Bahnelemente im Jahre 


1843, die eben nur durch die diesjährigen 


305 


Beobachtungen auf der ſüdlichen Hemi— 
ſphäre korrigirt werden konnte. Die unge— 
heure Schweifentwicklung dieſes Kometen, 
zuſammengehalten mit der großen Nähe, 
in welcher er bei dem anziehenden Geſtirn 
vorübereilt, laſſen wieder jene alten, un— 
gelöſten Fragen auftauchen, woraus die 
Kometen beſtehen, und auf welche Weiſe 
die ungeheure Schweifbildung zu erklären 
iſt. Handelt es ſich wirklich, wie Zöllner 
glaubt, um die ſchnelle Verdunſtung einer 
von der Sonnenelektrizität abgeſtoßenen 
Materie in dem Millionen Meilen langen 
Schweife, oder iſt derſelbe nur, wie 
früher in dieſen Blättern zu zeigen ver— 
ſucht wurde“), eine bloße optiſche Erſchei— 
nung? Vielleicht wird gerade dieſer Komet 
durch die Rapidität ſeiner Veränderungen 
bei ſeinen nächſten Erſcheinungen zur Lö— 
ſung dieſer Frage das ſeinige beitragen; 
einſtweilen müſſen wir uns damit begnü— 
gen, durch ſeine neueſte Erſcheinung die 
Gewißheit erhalten zu haben, nicht mehr 
auf den alleinigen Beſitz des Halleyſchen 
Kometen in unſerm Syſteme angewieſen 


zu ſein, ſofern ſeine teleſkopiſchen Neben— 


buhler für die große Menge überhaupt 
nicht mitzählen. 


Die aufrechtſtehenden Baumſtämme 
der Oleinkohlenſchichten, 
welche in unſerer Zeitſchrift vielfache Er— 
örterungen gefunden haben!), weil fie zu 
der Hypotheſe Kuntzes vom ſchwimmen— 
den Steinkohlenwalde Veranlaſſung gege— 
ben hatten, erfahren eine ſehr einfache 
Erklärung in einigen Beobachtungen von 

*) Kosmos, Bd. III, S. 29 


) Kosmos, Bd. IV, S. 33 u. 
S. 239. 


7 
430; Bd. VI, 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4.“ 


U 


306 


Matthieu Williams, die derſelbe kürz— 
lich (Journal of Sciences, Ser. III, Vol. II 
1880, p. 81) veröffentlicht hat. Derſelbe 
ſah nämlich im Sommer 1855 den Boden 
des in einem tiefen Thale zwiſchen wald— 
bedeckten Wänden gelegenen Achenſees mit 
einem förmlichen Wald von Baumſtämmen 
und Aſten bedeckt, unter denen er durch 
Schwimmen und Tauchen nicht wenige er— 
kannte, die aufrecht ſtanden, die Wurzeln 
im lehmigen Schlamme begraben, als ob 
ſie daſelbſt gewachſen und überflutet wor— 
den wären. Ein emporgebrachter, arm— 
dicker Aſt war ſtark vermodert, fo daß ſich 
die Jahresringe zum Teil leicht von ein— 
ander löſen ließen. Über die Entſtehung 
dieſes untergeſunkenen Waldes konnte kein 
Zweifel ſein, denn an den waldigen Ufern 
ſah man lange, entwaldete Streifen, in 
denen offenbar durch gewaltig angeſchwol— 
lene Gewitterſtröme die Bäume in den 
See geriſſen worden waren. Da viele 
dieſer Bäume mit ihrem Wurzelgeflecht 
eine Menge Erde mitgeführt haben werden, 
erklärt es ſich leicht, daß ſie in aufrechter 
Stellung zu Boden ſanken und dort feſtge— 
gehalten werden mußten, während andere 
Stämme ſo lange im Waſſer ſchwimmen, 
bis ſie ſich voll ſaugen und dann in den 
verſchiedenſten Stellungen zu Boden ſinken. 

In ſpätern Jahren hat dieſer Beobach— 
ter dieſelben Vorkommniſſe vielfach in noch 
größerem Maßſtabe in den Fjorden Nor— 
wegens beobachtet, woſelbſt die Waldla— 
winen eine bekannte Erſcheinung ſind; 
ähnliche, gewaltige, mit donnerartigem 
Getöſe vor ſich gehende Waldſtürze, bei 
denen große Strecken im Zuſammenhange 
verſinken, hat Bates als eine am Ama— 
zonenſtrome gewöhnliche Erſcheinung in 
ſeinem bekannten Buche „Der Naturforſcher 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


am Amazonas“ beſchrieben. Wohl nicht 
mit Unrecht wendet Williams dieſe Er— 
ſcheinungen auf die Erklärung mancher 
Vorkommniſſe in den Steinkohlenlagern 
an, wobei es ſich natürlich ſowohl um tiefe 
Landſeeen und marine Buchten, als um 
Flußmündungen handeln kann. Das weit— 
ausgebreitete Wurzelwerk der Sigillarien— 
bäume mußte dieſes aufrechte Unterſinken 
wohl noch beſonders begünſtigen. 


Ahulichkteit vou Blumen und Früchlen. 


Daß Blumen und Früchte in mehreren 
ihrer hervorſtechendſten Eigentümlichkeiten 
übereinſtimmen, iſt ſchon wiederholt und 
mit Recht hervorgehoben worden. Beide 
locken durch augenfällige Farbe, angeneh— 
men Duft und beſondere, ſehr häufig 
zuckerhaltige Genußmittel Tiere an ſich, 
die, ihrem eigenen Nahrungsbedürfniſſe 
folgend, ohne es zu wiſſen und zu wollen, 
ihre freie Ortsbewegung zum Nutzen der 
im Boden feſtgewurzelten Pflanze ver— 
wenden und ihr die weſentlichſten Lebens— 
dienſte leiſten: die Blumen ihre Kreuzungs— 
vermittler, die ihnen eine reichliche und 
entwicklungsfähige Nachkommenſchaft ver— 
ſchaffen, die Früchte ihre Ausſäer, die die 
erzeugten Nachkommen an neue, zum Teil 
günſtigere Wohnſitze verpflanzen. Aber 
kein einziger Fall dürfte vielleicht bis jetzt 
bekannt fein, in dem die Ähnlichkeit zwi— 
ſchen Blumen und Früchten überraſchender 
in die Augen ſpränge, als in einem Bei— 
ſpiele, über das mir mein Bruder Fritz 
1 in einem Briefe vom 11. Febr. 
d. J. von Südbraſilien aus mit folgenden 


| Worten berichtet: 


„Im Küſtengebiete ii eine Clusia 


‚ (Guttifera) häufig, ein Strauch mit gro— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ßen, glänzenden, lederartigen Blättern und 
weißen, duftenden, zweihäuſigen Blumen. 
In der Nähe von Cambiu ſtießen wir auf 
einen ſolchen Strauch (ſpäter am Itajahy 
auf noch mehrere), der mit ganz fremd— 
artigen Blumen bedeckt ſchien. Bei nähe— 
rem Zuſehen waren es aber nicht Blu— 
men, ſondern die aufgeſprungenen, ganz 
blumenähnlichen Früchte. 
In der Mitte eine abge— 
ſtumpfte Mittelſäule mit 
fünf vorſpringenden Kan— 
ten und ebenſoviel ein— 
ſpringenden Winkeln. Um ſie breiten ſich 
ſternförmig die fünf Klappen der Frucht 
aus; Säule und Klappen weißlich. Auf 
jedem dieſer anſcheinenden Blumenblätter 
liegt ein länglicher mennigroter Körper — 
der in eine weiche, ölreiche, rote Maſſe ein— 
gebettete Samen.“ 
Lippſtadt, 1880. 
Hermann Müller. 


Aeber die fogenannte Jungferngeburt 
(Parthenogenesis) 
hat der Profeſſor der vergleichenden Em— 
bryologie am College de France Bal⸗ 
biani in ſeine voriges Jahr erſchienenen 
Leons sur la génération des vertébrés“) 
ein ſehr intereſſantes Kapitel aufgenommen, 
aus welchem wir an dieſer Stelle die nach— 
ſtehende neue Deutung jener merkwürdigen 
Erſcheinung berichten wollen. Seit dem 
Jahre 1845 haben Wittich, von Sie— 
bold und zahlreiche andere Forſcher in 
den Eiern zahlreicher Spinnen und Krebs— 
tiere eine Zelle entdeckt, über deren Be— 
deutung ſie ſich keine Rechenſchaft geben 
konnten; nachher iſt dieſelbe auch bei 


) Paris. Octave Doin, 1879. 


= 


307 


zahlreichen Wirbeltieren erkannt und von 
Milne Ewards als embryobildende Zelle 
(Cellule ou Vesicule embryogene) be= 
zeichnet worden. Dieſe Zelle iſt wie ges 
wöhnlich mit einem nucleus (nebſt nucle- 
olus) verſehen, welcher von Protoplasma 
umgeben iſt. Die beiden erſteren Elemente 
ſind in der Regel nicht ſchwierig zu erken— 
nen, aber das Protoplasma iſt oft von 
dem des Eies nicht zu unterſcheiden, weil 
es dieſelbe Brechbarkeit beſitzt. Nur in den 
Spinneneiern iſt es infolge einer Verän— 
derung ſeiner Subſtanz deutlicher. Der 
Kern färbt ſich durch Karmin rot (bei den 
Spinnen ſehr langſam infolge der Dichtig— 
keit ſeiner Hüllen). Dieſes embryogene 
Bläschen entſteht durch Abknospung von 
einer der Epithelzellen, welche das Ei in 
dem Graafſchen Follikel umgeben. In das 
Ei eindringend, bewahrt dieſe Zelle ihre 
Individualität, ihr Protoplasma ver— 
ſchmilzt nicht mit dem Dotter, dieſer wird 
vielmehr von der Zelle durchbrochen, die 
ſich darin eine Höhlung gräbt, in der ſie 
wie eingefaßt liegt. Mitunter iſt der Durch— 
bruchsweg längere Zeit erkennbar, ge— 
wöhnlich ſchließt er ſich durch Annäherung 
der Wände wieder völlig . . . 

„Der epitheliale Urſprung des em— 
bryogenen Bläschens macht es zu einem 
der Samenzelle analogen Element, wel— 
ches auch auf das Ei eine ähnliche Wir— 
kung ausüben muß, wie ein Spermatozoid. 
Man wird mir einwerfen, daß dieſe Zelle 
weder die Geſtalt, noch die Struktur, noch 
die Beweglichkeit der gewöhnlichen Samen— 
fädchen beſitze. Aber wir kennen eine große 
Anzahl von Tieren, bei denen dieſe Ele— 
mente weder Fadengeſtalt noch Beweglich— 
keit beſitzen. So z. B. bei faſt allen Kru— 


ſtern, bei den chilognathen Tauſendfüßern, 


„ 


308 


wo ſie ſtrahlige und ſtarre Zellen oder 
(gleichfalls unbewegliche) Stäbchen bilden. 
Bei den Nematoiden unter den Würmern 
ſind es kleine gerundete, zuweilen kern— 
haltige Zellen mit oder ohne amöboide Be— 
wegung. Die fadenförmige Bildung und 
Beweglichkeit iſt demnach nicht immer für 
die Samentierchen charakteriſtiſch. 

Es geſchieht nun unter dem Einfluß 
einer Art von Befruchtung, die von dem 
das männliche Element vorſtellenden, em— 
bryogenen Bläschen ausgeübt wird, daß 
ſich der Keim in dem weiblichen Ei bildet. 
Man findet in der That, daß ſich ſtets um 
dieſes Element die plaſtiſchen Granula— 
tionen anlegen. 

Da die embryogene Zelle ein urſprüng— 
lich männliches Element iſt, ſo begreift 
man, daß ihre Wirkung ſich in gewiſſen 
Fällen nicht auf die Bildung des Keimes 
beſchränken wird. Sie wird hinreichen, 
auf eine mehr oder weniger vollſtändige 
Art entweder die erſten Phaſen der Ei— 
entwicklung einzuleiten oder die vollſtän— 
dige Entwicklung zu bedingen und ein voll— 
kommnes Tier zu erzeugen, d. h. den Vor— 
gang, welchen man als Parthenogeneſis 
bezeichnet. 

Es giebt in der That wiſſenſchaftlich 
feſtgeſtellte Fälle, die beweiſen, daß bei 
mehreren Tierarten und ſogar bei Wirbel— 
tieren nicht befruchtete Eier fähig werden, 


ſich mehr oder weniger vollſtändig zu ent- 


wickeln. 

Biſchof hat zuerſt (1844) die Keim— 
furchung nichtbefruchteter Eier beim Fro— 
ſche, der Hündin und dem Mutterſchwein 
beobachtet, und ſeitdem ſind ähnliche Fälle 
von einer großen Anzahl von Beobachtern 
feſtgeſtellt worden. So von Henſen 
(1869) beim Kaninchen, von Agaſſiz und 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Burnett bei amerikaniſchen Schellfiſchen, 
von Oellacher (1872) bei der Henne. 
Aber bei keinem Wirbeltier ſchreitet die 
Entwicklung bis zur Bildung eines voll— 
kommenen Individuums fort. 
Anders bei den Wirbelloſen, bei denen 
es viele Arten giebt, deren Eier ſich ohne 
Befruchtung vollſtändig entwickeln können. 
Dieſe Thatſache iſt ſeit lange bei dem 
Seidenwurm bekannt und alle Seiden— 
züchter kennen ſie. Bei dieſem Spinner iſt 
die Zahl der ohne Paarung fruchtbaren 
Eier ſehr veränderlich unter den einzelnen 
Individuen. Die parthenogenetiſchen Ge— 


lege ſind gewöhnlich viel weniger reichlich 


als die normalen, und die Zahl der zur 
Ausſchlüpfung gelangenden Eier iſt ſehr 
beſchränkt. Barthelemy hat bei ſeinen 
Beobachtungen (1859) nur ein einziges 
mal ein Gelege beinahe vollſtändig zur 
Entwicklung kommen ſehen. Überhaupt iſt 
das Gelege ſpärlich (diffieile); anſtatt der 
gewöhnlichen Ziffer von 3 — 400 Eiern 
liefert es etwa 40 — 50, von denen ſich nur 
eine ſehr kleine Zahl entwickelt, um kleinen 
Räupchen das Daſein zu geben, die keine 
große Lebenskraft zu beſitzen ſcheinen; die 


Mehrzahl der Eier überlebt den Winter 


nicht und man findet im Frühling die mei— 
ſten Larven tot in ihren Schalen. Um ſich 
von dieſem Phänomen Rechenſchaft zu 
geben, hat Barthelemy auf den Herma— 
phroditismus des Eies hingewieſen, denn 
das Tier ſelbſt iſt niemals hermaphrodi— 
tiſch. Es war ein die Wahrheit ſtreifender 
Geiſtesblick, den ſein Urheber nicht be— 
gründen konnte. 

Bei vielen andern Schmetterlingen 


iſt es ſicher, daß nur eine ſehr kleine Zahl 


von Männchen vorhanden iſt; bei den 
Pſychiden iſt die Jungferngeburt ganz ge— 


b 0 


wöhnlich. Unter den Hautflüglern finden 
ſich zahlreiche Gallwespen=(Cynips-) Arten, 
deren Männchen nicht bekannt ſind. Wie 
man weiß, hat der deutſche Bienenzüchter 
Dzierzon die Parthenogeneſis bei der 
Biene entdeckt. Die Beobachtungen, welche 
er als Züchter gemacht hat, ſind durch 
Siebold und Leuckardt vom anatomi— 
ſchen Geſichtspunkte aus beſtätigt wor— 
den, und er vermochte von der Erſcheinung 
eine bereits dem Ariſtoteles ungefähr 
bekannte Erklärung zu geben: die Königin— 
Mutter legt nach ihrem Willen befruchtete 
oder nicht befruchtete Eier, dieſe erzeugen 
die Männchen oder Drohnen, jene die 
Weibchen oder Arbeiterinnen. 

Jedermann weiß, daß die Blattläuſe 
ſich während der warmen Jahreszeit ohne 
Mitwirkung der Männchen durch Lebendig— 
gebären fortpflanzen. Jedes Junge wird 
in wenigen Tagen ein dickes Weibchen, 
welches ſeinerſeits Eier legt, und ſo geht 
es fort bis zum Herbſt. In dieſem Zeit— 
punkt iſt die letzte durch Jungferngeburt 
lebendiggeborne Generation geſchlechtlich. 
Die Paarung und darauf das Gelege fin— 
den ſtatt, und die Eier überwintern, um 


im Frühling auszukriechen und lebendig= | 


gebärenden Blattläuſen das Leben zu ge— 
ben. Bonnet in Genf hat innerhalb 
dreier Monate zehn lebendiggeborne Ge— 
nerationen beobachtet, Kyber hat Kolo— 


nien von Aphis rosae in einem geheizten 


Zimmer gehalten und ſie während vier 
Jahren ſich fortpflanzen ſehen, ohne daß 
ſie eine einzige geſchlechtliche Generation 
hervorbrachten. 

Verfolgen wir kurz den Vorgang der 
ungeſchlechtlichen Erzeugung bei den Blatt— 
läuſen, wie ihn Balbiani zuerſt (1869 
bis 1870) ermittelt hat. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


309 


Der Reproduktionsapparat der leben— 
diggebärenden Blattlaus, die immer ein 
Weibchen iſt, zeigt ſich nach demfelben 
Typus wie der Eierſtock aller Inſekten ge— 
baut. Er beſteht aus Bündeln von je nach 
den Arten mehr oder weniger zahlreichen 
Röhren, welche letzteren hintereinander 
eine Reihe von Kammern oder Zellen ent— 
halten, in denen ſich bei der Blattlaus 
nicht Eier, ſondern Embryonen, oder viel— 
mehr Eier, die ſich ſehr ſchnell in Embryo— 
nen umwandeln, entwickeln. 

Die eiführenden Zellen oder Kammern 
der Inſekten ſind die Aequivalente der 
Eierſtock-Follikel bei den Wirbeltieren. 
Zwiſchen dem jüngſten Ei und der Zell— 
maſſe, welche das Ende jeder Röhre bildet, 
entſtehen fortwährend neue Eier, woraus 
folgt, daß ſich die Scheide der Eiröhren 
beſtändig verlängert. Jedes Ei entwickelt 
ſich für ſich in einer Zelle der Eiröhre. 
Solcher Röhren finden ſich bei der Blatt— 
laus 4— 7 auf jeder Seite. 

Am Ende jeder Scheide oder Röhre 
befindet ſich eine aus einer Häufung kleiner 
Zellen gebildete kugelförmige Erweiterung: 
es iſt dies die Keimkammer. In der Mitte 
befindet ſich eine Zelle, welche fortwährend 
an ihrem hinteren Teil durch Knospung 
eine Reihenfolge geſtielter Zellen hervor— 
treten läßt. Jede dieſer geſtielten Zellen 
ſtellt ein Eichen dar. 

In dem Maße, wie es ſich entwickelt, 
ſetzt ſich dieſes Eichen in Beziehung zu der 
Wandung des Eierſtockrohres, welches mit 
einem Epithel austapezirt iſt, und drängt 
dieſelbe zurück, um ſich darin eine Aufent— 
haltszelle für alle Phaſen ſeiner embryo— 
nalen Entwickelung zu bilden. Unter dem 
Einfluſſe dieſer Berührung zwiſchen Ei 
und Epithel bringt eine in der Nähe des 


310 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


hinteren Eipoles gelegene Epithelzelle 
durch Sproſſung ein kleines Zellenhäufchen 
hervor, das auf der Wandung der eifüh— 
renden Scheide einen Vorſprung erzeugt. 
Von dieſen Zellenhäufchen erhebt ſich eine 
Knospe, welche das immerfort wachſende 
Eichen zuſammendrückt, es am Berührungs— 
punkte zurückdrängt und ſich darin durch Zu— 
rückſchieben eine kleine Kammer aushöhlt. 

Dieſe Knospe iſt ein embryogenes Bläs— 
chen und das Homologon eines Samen— 
kernes (Spermatoblaste) der männlichen 
Geſchlechtsdrüſe. Aber dieſer Spermato— 
blaſt iſt, wie wir ſehen werden, einer ferne— 
ren und unabhängigen Entwickelung fähig. 

Sobald dieſe Zellknospe oder Sper— 
matoblaſt den Eidotter berührt hat, wirkt 
er auf denſelben nach Art eines männlichen 
Elementes. Man ſieht alsdann in der That 
an der Oberfläche des Eies die Keimbläs— 
chen ſich bilden und den Embryo ſich ent— 
wickeln. Bald nimmt die Epithelknospe, 
der man auf Grund ihrer befruchtendenWir— 
kung den Namen eines „Androblaſt“ bei— 
legen kann, an Umfang zu, und treibt auf 
ihrer geſammten Oberfläche Tochterzellen 
hervor. Dieſe Zellen ſind mit den Lappen 
der Wirbeltier-Spermatoblaſten identiſch, 
welche gleichfalls durch Knospung einer 
Epithel-Mutterzelle erzeugte wahre Zel— 
len ſind. 

Der Stiel der Androblaſten trennt ſich 
von der eiführenden Scheide, und die be— 
freite Maſſe des letzteren begiebt ſich an 
die innere Fläche des Embryo-Bauches. 
Dieſe Maſſe ſpielt keine weitere Rolle, ſie 
lebt und entwickelt ſich auf eigene Fauſt in 
den Organen des Inſekts und beſteht ſelbſt 
in dem erwachſenen Tiere weiter, woſelbſt 
ſie die grüne oder gelbe Subſtanz ausmacht, 
die man bei allen Blattläuſen wahrnimmt. 


So iſt, um es zuſammenzufaſſen, das 
Ei oder weibliche Element durch die Epi— 
thelknospe als männliches Element befruch— 
tet worden und aus dieſer Befruchtung iſt 
die Entwickelung des Eies bis zur Aus— 
bildung des vollendeten Tieres erfolgt. 
Noch mehr, die Epithelknospe iſt ihrerſeits 
durch das weibliche Ei befruchtet worden 
und hat ſich in einen wahren Spermato— 
blaſten umgebildet. 

Verlaufen die Dinge bei den andern 
Tierarten, welche ſich ohne Mitwirkung 
des Männchens entwickeln, ebenſo wie bei 
den Blattläuſen? Iſt das neue Weſen 
dort ebenfalls das Reſultat dieſer Vor— 
befruchtung des Eies durch das Eier— 
ſtock⸗Epithel? Bis jetzt iſt das noch nicht 
feſtgeſtellt. Aber alle dieſe Thatſachen, 
welche uns für jetzt den gewöhnlichen Ge— 
ſetzen zu entſchlüpfen ſcheinen, werden ſich 
ſicherlich eines Tages in dieſelben einord— 
nen, „und die Ausnahme von heute wird,“ 
wie der große Dichter und Naturforſcher 
Goethe ſagt, „morgen die Regel bilden“. 


Die Organifalion und Klaffilikafion 


der höheren Aleduſen-Akraspeden 


bildete den Gegenſtand einer Mitteilung 
von Prof. Häckel in der Februarſitzung 
der Jenaiſchen Geſellſchaft für Medizin und 
Naturwiſſenſchaft, aus deren Sitzungsbe— 
richten wir das Folgende entnehmen: 
Die höheren Meduſen, welche Gegen— 
baur (1856) als Akraspeden zuſam— 
menfaßte (Phanerocarpae von Eſch— 
ſcholtz, Steganophthalmae von Forbes), 
ſind durch die genaueren Unterſuchun— 
gen der letzten Jahre mehr und mehr als 
eine ſelbſtändige Hauptgruppe der Neſſel— 
tiere erkannt worden. Dieſe Hauptgruppe 


— . ERREGER N 


ſteht der anderen, äußerlich ſehr ähn— 
lichen Hauptgruppe der niederen Meduſen 
oder Kraspedoten (Cryptocarpae oder 
Gymnophthalmae) in wichtigen Bezie— 
hungen ſchroff gegenüber und iſt durch 
keinerlei wahre „Übergangsfor- 
men“ phylogenetiſch mit ihr verbunden. 
Die auffallende Ahnlichkeit, welche zwiſchen 
einigen Meduſen-Familien beider Haupt: 
gruppen beſteht und welche oft zur Ver— 
wechſelung beider geführt hat, beruht nicht 
auf wahrer Stammverwandtſchaft, auf 
Vererbung gleicher Eigenſchaften von 
einer gemeinſamen Stammform, ſon— 
dern vielmehr auf der Convergenz von 
Formen, welche ſehr verſchiedene diver— 
gente Ausgangspunkte beſitzen, welche aber 
in Folge von Anpaſſung an gleiche Exi— 
ſtenz-Bedingungen ſich bis zur Berührung 
genähert haben. Meine eigenen, auf ein ſehr 
reiches Beobachtungsmaterial gegründeten 
Unterſuchungen haben mich zu der Über— 
zeugung geführt, daß Akraspeden und 
Kraspedoten verſchiedenen Urſprungs 
und in ähnlicher Weiſe aus zweierlei ver— 
ſchiedenen Polypen-Gruppen hervorgegan— 
gen ſind. Die Akraspeden beſitzen ganz 
allgemein und ohne Ausnahme Gaſtral— 
Filamente (Magenfäden) und, nach 
Hertwig, entodermale Gonaden 
(d. h. Geſchlechtsdrüſen); dagegen fehlt 
ihnen ein echtes Segel, ſie ſtammen ſowohl 
ontogenetiſch als phylogenetiſch ab von Be— 
cher-(Skypho-) Polypen, d. h. von Poly: 
pen, deren Magenraum durch vier in ter— 
radiale Taeniolen (oder vorſpringende 
longitudinale Leiſten der Magenwand) in 


vier perradiale peripheriſche Niſchen ge 


teilt wird (Scyphistoma, Stephanoscy- 
phus, Spongicola). Man kann daher die 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Akraspeden auch als Skyphomeduſen 


311 


(Ray-Lankeſter) bezeichnen; ihre charak— 
teriſtiſchen Gaſtral- Filamente entwickeln 
ſich (gleich denjenigen der ſtammverwand— 
ten Korallen) aus den Taeniolen der Sky— 
phopolypen. Auf der andern Seite fehlen 
jene typiſchen Gaſtral-Filamente gänzlich 
den Kraspedoten, welche aber dafür ſtets 
ein echtes Velum und (nach Hertwig) 
exodermale Gonaden beſitzen; die Kras 
pedoten ſtammen ſowohl ontogenetiſch als 
phylogenetiſch ab von Hydropolypen, d. h. 
von Polypen, deren Magenwand keine in— 
terradialen Täniolen bildet und deren 
Magenraum daher einfach iſt. Die Kras— 
pedoten werden deshalb mit Recht als 
„Hydromeduſen“ bezeichnet (Bietor 
Carus). 

Die Phylogenie der Neſſeltiere 
(Acalephae oder Cnidariae — Zoophyta 
oder Coelenterata im engeren Sinne! —) 
dürfte mithin jetzt in der Geſtalt des nach- 
folgenden Stammbaumes ihren naturge— 
treuen Ausdruck finden: Die gemeinſame 
Stammform bilden Hydropolypen oder 
Hydrarien einfachſter Art, nahe verwandt 
der heutigen Hydra. Aus dieſer entwickel- 
ten ſich zunächſt als zwei divergirende Haupt— 
gruppen einerſeits die Hydropolypen (ohne 
Taeniolen), anderſeits die Skyphopolypen 
(mit Taeniolen). Aus verſchiedenen Grup— 
pen der Hydropolypen entwickelten ſich 
einerſeits die Hydromenen (die Hydro— 
korallen, die eigentlichen Sertularien ꝛc.), 
d. h. Hydropolypen, welche niemals Medu— 
ſen bilden, anderſeits die Kraspedoten 
oder Hydromeduſen. In ganz analoger 
Weiſe entwickelten ſich aus verſchiedenen 
Gruppen der Skyphopolypen einerſeits die 
Korallen oder Anthozoen, welche niemals 
Meduſen bilden, anderſeits die Akraspeden 
oder Skyphomeduſen. Von den Kraspe— 


312 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


doten (und zwar von der Ordnung der wandten der Ktenophoren ſind heutzutage 
Anthomeduſen) find phylogenetiſch ſo- noch die Pteronemiden (Ctenaria, Gem- 
wohl die Ktenophoren als die Siphono- | maria), diejenigen der Siphonophoren hin— 
phoren abzuleiten, die nächſten Stammver- gegen die Kodoniden (Codonium, Sarsia).*) 


Hypothetiſcher Stammbaum der Neſſeltiere— a 
(Acalephae vel Cnidariae): 
SIPHONOPHORAE | Cubomedusae 
Discomedusae 
CTENOPHORAE 
| Peromedusae 
Trachomedusae | | | Ephyroniae 
| RUN | 8 Cpbyra) 
Narcomedusae Anthomedusae Stauromedusae 
f 
Leptomedusae i | 
Trachylinae Leptolinae : Tesseroniae 
(Tessera) 
—ͤͤ —é •—„D—— 
TE ee — — 8 
Craspedotae Acraspedae 
(Hydromedusae) (Seyphomedusae) 
HyYDROMENAE | CORALLA 
(Sertulariae) i (Anthozoa) 
5 
(Hydrocoralla) | 
50 
Hydropolypi - Scyphopolypi 
(Hyarostoma) f (Seyphostoma) 
| ah: | 
HyYDRARIA 
(Hydra) 
Gastraea 


Wenn demnach die Abſtammung beider wegs, daß der Begriff Meduſe deshalb 
Meduſen-Legionen von verſchiedenen Poly- als ſolcher aufzugeben ſei. Vielmehr wird 
pengruppen gegenwärtig als höchſt wahr— es s für das Syſtem (welches als ſolches 
ſcheinlich, wenn nicht als ſicher, angeſehen 7 ee mein „Syſtem der Medufen“, 
werden darf, jo folgt daraus doch keines— 20, 108. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ja doch mehr oder weniger künſtlich bleiben 
muß) von Vorteil ſein, die Klaſſe der 
„Meduſen“, wie es früher geſchah, beizu— 
behalten, und als zwei „Subklaſſen“ oder 
„Legionen“ die Kraspedoten (Hydro- 
medusae) und die Akraspeden (Scypho- 
medusae) zu unterſcheiden; beide zeigen 
höchſt intereſſante Analogien in ihrer ſtufen— 
weiſen Entwicklung. 

Die Akraspeden oder Skyphome— 
duſen wurden bisher ganz vorzugsweiſe 
durch diejenige formenreiche Gruppe von 
großen und ſchönen Meduſen repräſentirt, 
welche wir Discomedusae oder Disco- 
phorae („Scheibenquallen“ im engeren 
Sinne) nennen ( Rhizostomeae und 
Semaeostomeae von Agaſſiz). In vielen 
Werken (auch aus neuerer Zeit) werden 
die „Ordnungen“ der Akraspeden und 
Diskomeduſen als identiſch betrachtet. In 
der That aber bilden die Discomedusae 
nur eine von den vier Ordnungen der 
Akraspeden⸗Legion, und dieſer ſtehen als 
drei gleichwertige Ordnungen gegenüber 
die Stauromedusae, Peromedusae und 
Cubomedusae. Allerdings kann man aber 
auch wieder dieſe drei letzteren in einer 
Sublegion als Tesseroniae zuſammen⸗ 
faſſen, und dieſen als zweite Sublegion 
die Ephyroniae (— Discomedusae) gegen- 
überſtellen. Die große Anzahl von neuen, 
zum Teil höchſt merkwürdigen und inter: 
eſſanten Meduſen, welche ich aus beiden 
Sublegionen unterſuchen konnte, hat mich 
zu der folgenden, ganz veränderten Auf— 
faſſung des Akraspeden-Syſtems geführt. 

Die Stammgruppe aller Akraspeden 
bildet die Familie der Teſſeriden, mit der 
prototypiſchen Stamm-Gattung Tessera 
und der zunächſt davon abgeleiteten Tes- 
serantha. Tessera, die einfachſte und 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 


313 


älteſte unter allen akraspeden Meduſen, 
gleicht im weſentlichſten einem freiſchwim— 
menden Skyphoſtoma-Polypen, deſſen 
„Mundſcheibe“ oder Periſtom ſich zu einer 
konkaven „Subumbrella“ vertieft hat und 
an vier interradialen Knotenpunkten 
(oder „Septalknoten“) mit den vier Tae- 
niolen oder gaſtralen „Längsleiſten“ der 
Umbrella verwachſen iſt. Dadurch zerfällt 
der geſammte, urſprünglich einfach becher- 
förmige Gaſtralraum in einen einfachen 
Zentralmagen und vier weite peripheriſche 
„Magentaſchen“; letztere ſind noch nicht 
durch vollſtändige Septa, ſondern blos 
durch jene vier interradialen Hauptknoten, 
die primären Septalknoten oder „Ver— 
wachſungsknoten“, von einander getrennt. 
An der Axialſeite dieſer letzteren entwik— 
keln ſich die Gaſtralfilamente und die Ge— 
ſchlechtsdrüſen; und zwar ſitzt urſprüng⸗ 
lich an der Axialſeite jedes der vier Haupt⸗ 
knoten nur ein einziges einfaches Gaſtral— 
filament, und unmittelbar davor eine 
einfache hufeiſenförmige Gonade, deren 
Konvexität nach innen, deren beide Schenkel 
nach außen gegen den Schirmrand gerich— 
tet ſind und gewöhnlich den Hauptknoten 
umfaſſen. Tessera beſitzt noch keine Sinnes⸗ 
kolben oder „Randkörper“, ſondern an 
deren Stelle acht einfache Tentakeln (vier 
perradiale und vier interradiale). Die nahe 
verwandte Tesserantha beſitzt außerdem 
noch acht adradiale Tentakeln, ſowie im 
Magen zahlreiche Gaſtralfilamente, welche 
in Doppelreihen auf den vier interradialen 
Taeniolen aufſitzen. 

| Unter den bisher bekannten Akraspe⸗ 

den gab es nur eine einzige Art, welche 
dieſen beiden Teſſeriden nächſt verwandt 
iſt und ſich ihnen unmittelbar anſchließt, 

nämlich das Depastrum cyathiforme 


40 


314 


Goſſe, welches zuerſt von Sars als Lu- 
cernaria cyathiformis, ſpäter von All- 
mann als Carduella cyathiformis be- 
ſchrieben wurde. In allen weſentlichen Ver— 
hältniſſen der Organiſation mit Tessera 
und noch mehr mit Tesserantha überein- 
ſtimmend, unterſcheidet ſich Depastrum 
durch die große Zahl der Tentakeln, welche 
am Schirmrande in mehreren Reihen über— 
einanderſtehen, ſowie namentlich dadurch, 
daß der Schirm mittelſt eines langen, 
aboralen Stieles am Meeresboden befeitigt 
iſt. Die nahe verwandte, ebenfalls feſt— 
ſitzende Depastrella hat nur eine einzige 
Reihe von Tentakeln. 

An dieſe primitiven und höchſt inſtruk— 
tiven Teſſeriden, welche für alle Akras— 
peden den phylogenetiſchen und morpholo— 
giſchen Ausgangspunkt bilden, ſchließen 
ſich unmittelbar die nächſtverwandten Lu— 
zernariden an, die durch die Monogra— 
phien von Keferſtein, Clark, Kling, Taſchen— 
berg u. a. neuerdings ſo genau bekannt ge— 
worden ſind. In allen weſentlichen Ver— 
hältniſſen des Körperbaues ſtimmen die 
Luzernariden mit den Teſſeriden überein, 
unterſcheiden ſich aber dadurch, daß die 
acht urſprünglichen Prinzipal-Tentakeln 
(vier perradiale und vier interradiale) ent— 
weder in „Randanker“ umgewandelt 
oder verloren gegangen ſind. Hingegen iſt 
der Schirmrand zwiſchen denſelben in acht 
adradiale hohle Randlappen oder 
„Arme “ausgezogen, deren jeder ein Büſchel 
von hohlen, geknöpften Tentakeln trägt. 

Die beiden Familien der Teſſeriden 
und Luzernariden konſtituirenzuſammen 
die Akraspeden-Ordnung der Staurome— 
dusae, die ſich von den drei übrigen Ord— 
nungen durch die urſprüngliche Ein— 
fachheit ihrer Organiſation unterſcheidet, 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


namentlich aber durch den Mangel be— 
ſonderer Sinneskolben. Die drei 
anderen Ordnungen beſitzen allgemein ſol— 
che Sinneskolben („Randkörper“ oder 
Rhopalia); dieſe ſind phylog enetiſch 
aus den Prinzipal-Tentakeln der 
Tessera (und ihres Stamm-Polypen 
Scyphostoma) entſtanden, und beſtehen 
aus einer eigentümlichen Verbindung eines 
akuſtiſchen und eines optiſchen Organes 
(Otolithen-Sack und Ocellus). Die Pero— 
meduſen beſitzen vier interradiale 
Sinneskolben (in den Radien der Tae— 
niolen und Gonaden), die Kubomeduſen 
hingegen vier perradiale Sinnes— 
kolben (in den Radien des Mundkreuzes 
und der Mittellinien der vier Magentaſchen), 
die Disko me duſen endlich acht oder 
zahlreiche Sinneskolben (vier perra— 
diale und vier interradiale, oft dazu noch 
viele acceſſoriſche). 

Von Tessera, der oftonemalen Stamm: 
form aller Akraspeden (und zunächſt 
der Stauromeduſen), laſſen ſich die 
Stammformen der drei anderen Ordnun— 
gen mit Leichtigkeit ableiten. Pericolpa, 
die Stammform der Peromeduſen (mit 
vier interradialen Sinneskolben und vier 
perradialen Tentakeln) iſt aus Tessera 
dadurch entſtanden, daß ſich die vier 
interradialen Tentakeln der letzteren in 
Rhopalien verwandelten. Procharagma, 
die Stammform der Kubomeduſen (mit 
vier perradialen Sinneskolben und vier 
interradialen Tentakeln), entwickelte ſich 
umgekehrt aus Tessera dadurch, daß deren 
vier perradiale Tentakeln ſich in Rhopa— 
lien umbildeten. Ephyra endlich, die 
Stammform der Diskomeduſen, hat ſich 
von Tessera am weiteſten entfernt, indem 
alle acht Tentakeln derſelben zu Sinnes— 


kolben ſich geſtalteten, in der Mitte zwischen 
dieſen entwickelten ſich acht ſukkurſale, ad— 
radiale Tentakeln (Nausithoe, Pelagia ꝛc). 


hin als drei divergirende Hauptäſte des 
Akraspeden-Stammes, aus deſſen gemein— 
ſamer Wurzelgruppe, den Stauromeduſen, 
phylogenetiſch abzuleiten, und zwar bildet 
deſſen urſprüngliche Stammform das Teſſe— 
ridengenus Tessera (eine freiſchwimmende 
oftonemale Scyphoſtomaform). Obwohl 
die Ontogeneſe der drei Teſſeronien-Ord— 
nungen zur-Zeit noch völlig unbekannt iſt, 
ſo läßt ſich doch vorausſagen, daß ſie alle 
während ihrer individuellen Entwicklung 
ein Tessera-förmiges Stadium durchlaufen 
werden (Tesserula); in ähnlicher Weiſe, 
wie alle Ephyronien (oder Diskomeduſen) 
ein Ephyra-förmiges Stadium durchlaufen 
(Ephyrula). 

Die Peromeduſen bilden eine höchſt 
merkwürdige und eigentümlich entwickelte 
Akraspeden-Ordnung, die bisher ſo gut wie 
unbekannt war. Die Abbildungen der 
Charybdea periphylla von Péron und 
Leſueur, ſowie der Charybdea bicolor 
von Quoy und Gaimard, zeigen nur 
leere Gallertſchirme von Peromeduſen. 
Die einzige Abbildung (ohne Beſchreibung), 
welche einen Teil ihrer Organiſation (ſehr 
unvollſtändig und teilweiſe falſch) zeigt, 
iſt diejenige, welche Mertens gegeben 
und Brandt als Dodecabostrycha dubia 
aufgeführt hat. Ich konnte zahlreiche wohl— 
erhaltene Peromeduſen genau unterſuchen, 
darunter koloſſale Tiefſeemeduſen der 
Challenger-Expedition. Sie zerfallen in 
zwei Familien: I. Pericolpidae: mit vier 
perradialen Tentakeln, vier interradialen 
Sinneskolben und acht adradialen Rand— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


315 


lappen (Pericolpa, Perierypta) — und 
II. Periphyllidae: mit zwölf Tentakeln 


(vier perradialen und acht adradialen), 
Die drei Ordnungen der Peromeduſen, 
Konomeduſen und Diskomeduſen ſind mit 


mit vier interradialen Sinneskolben und 
ſechzehn Randlappen, die mit jenen alter— 
niren (Peripalma, Periphylla). Die Sin⸗ 
neskolben ſind ähnlich wie bei Nausithoe 
gebaut. Bei allen Peromeduſen iſt das 
Gaſtrokanalſyſtem von höchſt eigentüm— 
lichem Bau. Der weite Magen zerfällt in 
drei Abteilungen, einen Baſalmagen (mit 
vier interradialen Taeniolen und Filament— 
reihen), einen Zentralmagen (mit vier per— 
radialen Oſtien) und einen Buckalmagen 
(mit vier perradialen Backentaſchen); leb- 
terer ragt als muskulöſes „Mundrohr“ 
frei in die Schirmhöhle hinein. Die vier 
perradialen Oſtien des Zentralmagens 
führen in einen koloſſalen ( der Sub— 
umbrella umfaſſenden Ringſinus; die Tei— 
lung des letzteren in vier weite Magen— 
taſchen (homolog jenen der Charybdeiden) 
wird nur dadurch angedeutet, daß ſeine 
Subumbralwand durch vier interradiale 
Septalknoten (in der Mitte der Sinus— 
höhe) mit der Umbralwand des Schirms 
verwächſt. Beiderſeits dieſer „Verwach— 
ſungsknoten“ entwickeln ſich in der Sub— 
umbralwand des Ringſinus die Gonaden 
(in Form von vier Paar wurſtförmigen 
Geſchlechtswülſten). Vom unteren oder 
oder oralen Rande des Ringſinus gehen 
Taſchen in die Randlappen, ſowie Kanäle 
in die hohlen Tentakeln und Sinneskolben 
hinein. Ein mächtiger marginaler Ring- 
muskel bildet ein Velarium mit acht oder 
ſechzehn Feldern. 

Die Kubomeduſen zerfallen in zwei 
Familien, Charybdeiden und Chirodropi— 
den. Die Charybdeiden haben vier ein— 
fache interradiale Tentakeln und keine 


316 


Taeniolen an der Umbralwand der vier 
Magentaſchen; bald iſt ihr Velarium (oder 
Pſeudovelum) einfach, ohne Velarkanäle 
und ohne Frenula (Procharagma, Pro- 
charybdis), bald von Velarkanälen durd)- 
zogen und durch vier perradiale Frenula 
an die Subumbrella angeheftet (Charyb- 
dea, Tamoya). Die Chirodropiden haben 
vier interradiale Tentakelbüſchel, ſowie 
fingerförmige oder büſchelförmige Täniolen 
an der Umbralwand der vier Magentaſchen 
(Chirodropus, Chiropsalmus). 

Die drei Ordnungen der Staurome— 
duſen, Peromeduſen und Kubomeduſen 
können in der Sublegion der Tesseroniae 
zuſammengefaßt werden, weil ſie den ur— 
ſprünglichen Teſſeracharakter der Akras— 
pedenform viel getreuer konſervirt haben, 
als die Discomedusae. Bei allen Tesse- 
roniae iſt der Schirm hochgewölbt, koniſch 
oder vierſeitig-pyramidal, und die Gonaden 
entwickeln ſich zentrifugal, in der Sub— 
umbralwand der vier weiten Magentaſchen; 
ſie haben entweder gar keine Sinneskolben 
(Stauromedusae) oder nur vier (Pero- 
medusae und Cubomedusae). In der 
Jugend durchlaufen ſie wahrſcheinlich alle 
die Teſſeraform (Tesserula). 

In dieſen und anderen wichtigen Be— 
ziehungen erſcheinen die Discomedusae, 
welche wir als Ephyroniae den Tessero— 
niae gegenüberſtellen, viel weiter von der 
Teſſeraform entfernt. Bei allen Ephyro- 
niae iſt der Schirm flachgewölbt, ſcheiben— 
förmig abgeplattet, und die Gonaden ent— 
wickeln ſich zentripetal in der Subumbral- 
wand des Magens ſelbſt; fie haben min- 
deſtens acht Sinneskolben, oft noch mehr. 
In der Jugend durchlaufen ſie wahrſchein— 
lich alle die Ephyraform (Ephyrula). Die 
Ephyronien oder Diskomeduſen zerfallen 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


in drei Unterordnungen: I. Cannostomae: 


mit einfachem, vierſeitig prismatiſchen 
Mundrohr (Ephyridae, Nausithoidae, 
Atollidae ꝛc.). II. Semostomae: mit vier 
faltigen Mundlappen (Pelagidae, Cyanei- 
dae, Aurelidae 2c.). III. Rhizostomae: 
mit verwachſenen Mundarmen (Cepheidae, 
Leptobrachidae, Crambessidae 2c.). 

Syſtem der Akraspeden-Legion. 
(Scyphomeduſen oder Phanerokarpen). 
Meduſen mit Gaſtralfilamenten und mit 
entodermalen Gonaden, ohne echtes Velum. 

I. Sublegion: Tesseroniae. Akras⸗ 
peden ohne Sinneskolben oder mit vier 
Sinneskolben; ſtets mit vier weiten Ma⸗ 
gentaſchen. Gonaden in der Subumbral- 
wand der Magentaſchen, mit zentrifugalem 
Wachstum. Schirm hochgewölbt, koniſch. 
Phylogenetiſche Stammform und onto— 
genetiſche Larvenform: Tessera. 

I. Ordnung: Stauromedusae. Keine 
Sinneskolben. Gonaden vier hufeiſenför— 
mige Geſchlechtsdrüſen (oder acht adradiale 
Wülſte) in der Subumbralwand der vier 
Magentaſchen. — 1. Familie: Tesseridae. 


Keine Randlappen, acht oder ſechzehn ein: 


fache Tentakeln (oder zahlreiche Tentakeln) 
am Schirmrande. (Genera: Tessera, Tes- 
serantha, Depastrella, Depastrum.) — 
2. Familie: Lucernaridae. Acht adradi- 
ale hohle Randlappen (oder Arme), deren 
jeder ein Tentakelbündel trägt. (Genera: 
Lucernaria, Haliclystus, Halimocya- 
thus, Craterolophus.) 

II. Ordnung: Peromedusae. Vier 
interradiale Sinneskolben. Vier Magen: 
taſchen zu einem weiten Ringſinus zuſam⸗ 
mentretend, nur durch vier einfache Ver— 
wachſungsknoten getrennt. Vier Paar 
wurſtförmige Gonaden in der Subumbral- 
wand des Ningſinus.— 3. Familie: Peri- 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


colpidae: vier perradiale Tentakeln, acht 
adradiale Randlappen. (Genera: Peri— 
colpa, Pericrypta.) — 4. Familie: Peri- 
phyllidae: zwölf Tentakeln (vier perradi- 
ale und acht adradiale), ſechzehn Rand— 
lappen. (Genera: Peripalma, Periphylla.) 

III. Ordnung: Cubomedusae. Vier 
perradiale Sinneskolben, vier interradiale 
Tentakeln oder Tentakelbüſchel. Gonaden 
vier Paar Geſchlechtsblätter, welche längs 
der interradialen Septa befeſtigt ſind und 
frei in die Magentaſchen hineinragen. — 
5. Familie: Charybdeidae: vier einfache 
interradiale Tentakeln mit oder ohne Pe— 
dalien. Keine Taeniolen an der Umbral— 
wand der Magentaſchen. (Genera: Pro- 
charagma, Procharybdis, Charybdea, 
Tomoya.) — 6. Familie: Chirodropidae: 
vier interradiale Pedalien, deren jeder ein 
Tentakelbüſchel trägt. Einfache fingerför— 
mige oder zuſammengeſetzte büſchelförmige 
Taeniolen an der Umbralwand der Magen: 
taſchen. (Genera: Chiropsalmus, Chiro- 
dropus.) 

II. Sublegion: Ephyroniae. Akras⸗ 
peden mit acht oder mehr Sinneskolben 
(vier perradialen und vier interradialen, 
oft noch acceſſoriſchen). 16— 32 oder mehr 
Magentaſchen (oder Radialkanäle). Go⸗ 
naden in der Subumbralwand des Magens, 
mit zentripetalem Wachstum. Schirm flach— 
gewölbt, ſcheibenförmig. Phylogenetiſche 
Stammform und ontogenetiſche Larven— 
form Ephyra. 

IV. Ordnung: Discomedusae. (L. Un⸗ 
terordnung: Cannostomae. II. Unterord— 
nung: Semostomae. III. Unterordnung: 
Rhizostomae.) | 


| 
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0 


317 


Das Bruftbein der Dinosaurier. 


Wie Prof. O. C. Marfh, der uner- 
müdliche Erforſcher der vorzeitlichen Tier- 
welt Amerikas, berichtet, hat das Pale— 
Muſeum neuerlich ein nahezu vollſtändiges 
Skelett von Brontosaurus excelsus, ei⸗ 
nem der größten bekannten Dinoſaurier, 
erhalten. Dieſes mächtige Gerippe befand 
ſich nahezu in der Lage, in welche die 
Knochen beim Tode naturgemäß fallen 
mußten, und glücklicherweiſe war der 
Schulterbogen in ausgezeichneter Erhal— 
tung befindlich. Die Rabenbeine befanden 
ſich jederſeits in Verbindung mit ihren re— 
ſpektiven Schulterknochen, und zwiſchen 
ihnen lagen zwei platte Knochen, die offen— 
bar zum Bruſtbein gehört haben. Dieſe 
ebenſo intereſſante als unerwartete Ent— 
deckung hebt die Hauptunſicherheit hinſicht— 
lich des Schultergürtels der Dinoſaurier 
und zeigt außerdem eine neue, bisher bei 
erwachſenen Tieren niemals beobachtete 
Stufe in der Entwicklung dieſer Bildung 
an. Dieſe beiden Bruſtbeinknochen ſind 
im Umriß faſt oval, oben konkav und un— 
ten konvex. Sie ſind gepaart und in ihrer 
urſprünglichen Stellung nahezu oder voll- 
ſtändig in der Mittellinie mit einander 
verbunden. Das vordere Ende jedes Kno— 
chens iſt beträchtlich verdickt und es iſt 
dort eine deutliche Facette für die Ver— 
bindung mit dem Rabenbein vorhanden. 
Das hintere Ende iſt dünn und unregel— 
mäßig. Der innere vordere Rand jedes 
Knochens iſt glatt und gerundet und macht 
eine Verbindung mit einem epiſternalen Ele⸗ 
mente nicht wahrſcheinlich, ſo den Mangel 


| eines ſolchen erklärend. Sie waren augen— 
ſcheinlich durch Knorpel von den Raben- 
beinen getrennt. Vielleicht die nächſte Ana— 


4 


318 


logie zu dieſem Bruſtbein wird unter den 
lebenden Tieren bei unausgebildeten Vö— 
geln angetroffen. Eine ſtarke Ahnlichkeit 
iſt in dem Schultergürtel des jungen 
amerikaniſchen Straußes bemerkbar. Wenn 
die Verknöcherung des Bruſtbeins bei dem— 
ſelben auf dieſer frühen Stufe beharrte, 
würde faſt genau die bei der Gattung 
Brontosaurus beobachtete Bildung erhal— 
ten werden, und dies iſt offenbar die echte 
Erklärung der foſſilen Bildungen. Es iſt 
mehr als wahrſcheinlich, daß bei vielen 
Dinoſauriern das Bruſtbein lange knorplig 
oder ſo unvollſtändig verknöchert blieb, 
daß es gewöhnlich nicht erhalten iſt. Ei— 
nige Exemplare der Gattung Camptonotus, 
die nahezu in ihrer natürlichen Lage ge— 
funden wurden, ermangelten anſcheinend 
eines verknöcherten Bruſtbeins. Die be— 
deutende Größe und das zweifellos an— 
ſehnliche Alter des oben erwähnten Bronto— 
saurus-Exemplars mag vielleicht die Ur— 
ſache der vollkommenen Entwicklung ſeines 
Bruſtbeins geweſen fein. (American Jour- 
nal of Science. May 1880.) 


Ein fünfzehiger Naubvogel. 

Im Dezember vorigen Jahres wurde 
in hieſiger Gegend beim Treiben ein wohl— 
genährter Rauchfußbuſſard (Archibu- 
teo lagopus J.) geſchoſſen und mir vorge: 
zeigt. Der Wintergaſt war ein ganz nor— 
males Exemplar bis auf die Füße, welche 
ſofort durch ihr unſymmetriſches Verhal— 
ten auffielen. Der linke Fuß glich ganz 
dem anderer Rauchfußbuſſarde, nur war 
die Hinterzehe auf ihrer Außenſeite noch 
mit einer weit kleineren Zehe verſehen, 
welche jedoch faſt bis zur Krallenwurzel 
von der Hornbedeckung ihrer Mutterzehe 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


(wenn anders hier Zehenteilung vorliegen 
mochte) umſchloſſen war; die Kralle der 
Anhangzehe war halb ſo ſtark wie die 
andere, und alles deutete darauf hin, 
daß der Fuß normal funktionirte. Was 
beim Abſtreifen auffiel, war die etwas 
ſchwächere Entwicklung der Schenkel- und 
Unterſchenkelmuskeln, welche die Deutung 
eines geringern Gebrauchs zuläſſig machte. 

Der rechte Fuß hat ein merkwürdiges 
Anſehen: fünf Zehen ſtehen nach vorn, ſo 
zwar, daß die drei normalen Vorderzehen 
auf der Innenſeite des Laufes die Geſell— 
ſchaft von zwei gleich großen, der inneren 
Vorderzehe ähnlich gebildeten Seitenzehen, 
welche bedeutend höher hinaufgerückt ſind 
und eigentlich eine Hinterzehe hätten wer— 
den ſollen, erhalten haben. Dieſe abnor— 
men Zehen hängen als nicht funktioni— 
rendes, überflüſſiges Anhängſel vom Lauf 
herab. Der letztere iſt doppelt ſo ſtark als 
am linken Fuße und hinten breit abge— 
plattet. Die Nacktheit und ſonſtige auf 
ſtarken Gebrauch hinweiſende Beſchaffen— 
heit der hintern Laufſeite beweiſt, was ich 
der Mitteilung wert erachte, daß dieſer 
Vogel auf der ganzen Sohle des rechten 
Laufes geſeſſen haben muß. Die Schenkel— 
muskeln ſind demgemäß höchſt kräftig ent— 
wickelt geweſen, und die lange und dichte 
Befiederung des Unterſchenkels zeigt durch 
ihr Abſtehen an der Ferſenbeuge, daß die 
Ferſe zum Tragen des Körpers benutzt 
wurde; der rechte Lauf iſt kürzer als der 
linke. Bei dem Mangel einer Hinterzehe 
als ſolcher, d. h. als eines zangen- oder 
daumenartig ſich den Vorderzehen entgegen— 
ſetzenden, den Fuß zum Greiforgan ſtem— 
pelnden Gliedes, kann der rechte Fuß nur 
zum Sitzen, nicht aber zum Ergreifen 
der Beute gedient haben. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Der zierliche linke Fuß mag leicht da— 
neben geſetzt worden oder, was mir wahr— 
ſcheinlicher iſt, in die Bauchfedern zurück— 
gezogen worden ſein; er diente als Greif— 
fuß zum Erhaſchen der Beute, welche faſt 
ausſchließlich aus kleineren Nagern beſteht. 
Mißgeboren, wie er war, mußte alſo unſer 
Vogel eine ſeltene Arbeitsteilung eintreten 
laſſen, indem er den rechten Fuß zum Dar— 
aufruhen, den linken aber zum Fangen 
der Beute benutzte. 

Mainz. W. von Reichenau. 


Die vorhiſtoriſche Zeit in Eguplen. 


Die archäologiſchen Unterſuchungen der 
Gräber aus der „alten Zeit“ haben bekannt 


lich ergeben, daß Egypten damals ein un— 
gemein fruchtbares, herdenreiches Land 
geweſen, ähnlich wie das altteſtamen— 
tariſche Paläſtina in den Zeiten der Erz— 
väter, und erſt nachher durch einen im 
geſammten Morgenlande ſichtbaren Klima— 
wechjel*) zu einem trockenen, einzig auf die 
Befruchtung durch den Nil angewieſenem 
Lande geworden ſei. Für dieſen Erfah— 
rungsſchluß hat neuerlich Delamotte, 
einer der gründlichſten Kenner Egyptens 
und der alten Geographie in dem Bulletin 
de la societ€ de geographie commerciale 
1880 neuere Beweiſe erbracht, denen wir 
das Folgende entnehmen. Er weiſt zu— 


nächſt nach, daß der Nil urſprünglich keines- 
wegs der einzige Strom dieſes Landes ge⸗ 


weſen, ſondern daß das prähiſtoriſche 


Egypten eine Menge anderer Flüſſe ge- 


*) Vgl. Kosmos, Bd. IV, S. 506. 


319 


habt habe, welche jedoch ſeit Jahrtauſenden 
ausgetrocknet ſind. Nur ihre Flußbetten 
ſeien übrig geblieben und würden ſelbſt 
noch von den heutigen Egyptern Bahr-El⸗ 
Abjad, d. h. Flüſſe ohne Waſſer genannt. 
Jetzt ſeien dieſe ausgetrockneten Flußbet— 
ten nichts als große Sandlager, in denen 
Linant und Somard ebenſo große La— 
ger von Flußkonchylien vorgefunden haben. 
Im Zuſammenhange mit dieſem Flußreich— 
tum des prähiſtoriſchen Egyptens hat na— 
türlich auch eine größere Fruchtbarkeit des 
Bodens und reichere Bevölkerung beſtan— 
den. In prähiſtoriſcher Zeit war nach De— 
lamotte die geſammte Ebene von Kar— 
tum, mit einer Senkung von 16 Metern, 
ein großer See, aus welchem der Nil ent— 
ſprang. Die Katarakte waren vor Jahr— 
tauſenden ungleich höher, ihre Granit— 
und Porphyrdämme hielten den Strom 
auf und teilten die Waſſermaſſen in viele 
kanalartige Nebenarme, welche rechts und 
links von dem Nil ausſtrömten und das 
Land bewäſſerten. Dieſe Felſendämme ver- 
loren jedoch ſeit zwei bis drei Jahrtauſen— 
den an Maſſe und Höhe, ſo daß die Neben— 
ſtröme verſiegten und verſandeten, und das 
Waſſer nur noch in das Nilbett ſelbſt ſich 
ergoß. Um die jetzigen Bahr-El-Abjad 
wieder mit Waſſer zu füllen und das Land 
von neuem zu befruchten, ſchlägt Dela— 
motte vor, die Felſendämme der Kata— 
rakte wieder zu erhöhen und Schleuſen zu 
bauen, wozu natürlich vorher die genaueſte 
Landesaufnahme durch geſchickte Inge— 
nieure erforderlich ſein würde. 


— 


r. Guido Hauck, Profeſſor der de— 

ſkriptiven Geometrie und Graphoſtatik 

an der königlich techniſchen Hochſchule 
zu Berlin. Die ſubjektive Per— 
ſpektive und die horizontalen 
Kur vaturen des doriſchen Styles 
Eine perſpektiviſch-äſthetiſche 
Studie. Eine Feſtſchrift zur fünfzig— 
jährigen Jubelfeier der techniſchen Hoch— 
ſchule zu Stuttgart. Stuttgart. Ver— 
lag von Konrad Wittwer. 1879. XII 
u. 147 Seiten, 2 Tafeln. 

Die mathematiſche Aſthetik iſt noch eine 
ſehr junge Wiſſenſchaft und noch dazu eine 
ſolche, deren Charakter als Wiſſenſchaft 
nicht einmal allſeitig anerkannt wird. In 
Ulrieiszeitſchrift für Philoſophie hat erſt 
vor kurzem eine Autorität erſten Ranges, 
Schlömilch, die Anſicht ausgeſprochen, 
daß es völlig hoffnungslos ſei, mathema— 
tiſche Prinzipien auf die Geſetze der Schön— 
heitslehre anwenden zu wollen; eine Dis— 
ziplin ſchließe die andere aus. Die Extra— 
vaganzen Zeiſings, von denen dieſer 
hochverdiente Mann ja durchaus nicht frei— 
zuſprechen iſt, mögen ein ſo herbes Urteil 
wohl guten Teils hervorgerufen haben. 
Immerhin hoffen wir, daß daſſelbe ge— 
eignete Kräfte nicht abhalten werde, ſich 


Literatur und Kritik. 


immer von neuem an den hier vorliegenden — 


ſchwierigen Problemen zu verſuchen und 
ſo vielleicht durch die That den Beweis 
zu erbringen, daß Schlömilchs Auf— 
faſſung eine allzu ſkeptiſche geweſen ſei. 
Jene drei Entwicklungsſtufen, welche 
wir bei einem nahe verwandten Gegen— 
ſtande “), nämlich bei der mechaniſchen 
Theorie der Blattſtellung, unterſchieden 
haben, finden wir bei genauerem Zuſehen 
auch hier vor. Wer als der erſte Streif—⸗ 
züge auf ein Grenzgebiet zweier weit aus— 
einander liegenden Wiſſenſchaften unter- 
nimmt, bleibt notwendigerweiſe leicht an 
Außerlichkeiten kleben und nimmt als höch— 
ſtes und einzig maßgebendes Grundgeſetz 
eine zunächſt dem Auge ſich darbietende, 
häufig wiederkehrende Erſcheinung, die aber 
ſelbſt wieder nur eine der vielen Mani- 
feſtationen einer viel weiter zurückliegenden 
Norm darſtellt, die wiederum als Unter— 
fall in einer noch mehr verborgenen Ge— 
ſetzmäßigkeit enthalten ſein kann. So iſt 
es Zeiſing mit ſeinem Geſetze des gol— 
denen Schnittes ergangen, an welchem 
zweifellos ſehr viel Wahres iſt. Gewiß 


) Vergl. unſern Aufſatz in dieſer Zeit— 
ſchrift, „Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau 
des Pflanzenkörpers“, Bd. IV, S. 270 ff. 


würde daſſelbe weit früher und energiſcher 
zu allgemeiner Anerkennung durchgedrun— 
gen ſein, wenn nicht der geiſtreiche Forſcher 
ſeine Leiſtung in allerdings ſehr verzeih— 


licher Weiſe überſchätzt und nun etwas 


kritiklos“), insbeſondere aber ohne jede 
Rückſicht auf mechaniſche Kauſalität, all- 
überall nach Bethätigungen ſeines Geſetzes 
geſucht und ſolche auch zu finden geglaubt 
hätte.“) Einen wichtigen Nachtrag zu 
Zeiſings Ergebniſſen lieferte ſodann P. 
Langer in ſeiner Schrift: „Die Grund— 
probleme der Mechanik“ (Halle 1878), in- 
dem er, den Zeiſingſchen Satz mit den Gra— 
vitationserſcheinungen verknüpfend, den 
Nachweis führte, daß eine nach äußerer 
und innerer Proportion geteilte Strecke 
nicht unter allen Umſtänden äſthetiſch gün— 
ſtig wirke, ſondern nur dann, wenn ihre 
Richtung eine vertikale ſei, ſchritt er ge— 
wiſſermaßen von der erſten zur zweiten 
Stufe vor; die empiriſch an einzelnen Fällen 
erkannte Wahrheit war, mit den nötigen 
Einſchränkungen allerdings, als kauſal ge— 
rechtfertigt erkannt worden. Die dritte 
Stufe haben wir heute noch nicht erreicht, 

) Vergl. den Aufſatz des Verf.: „Adolph 
Zeiſing als Mathematiker.“ (Zeitſchr. f. Math. 
u. Phyſ., 21. Bd. Hiſt. liter. Abth., S. 157 ff.) 

) Es wird indes nicht zu leugnen ſein, 
daß der feinſinnige Mann bei aller Kühuheit 
ſeiner Konzeptionen doch hie und da auch in 
Materien, die ſich gegen feſte Regeln irgendwel— 
cher Art ſehr ſpröde zu verhalten ſcheinen, das 
richtige getroffen hat. So hat jüngſt Lehnbach 
in den „Jahrb. f. Philol. u. Pädag.“ auf eine 
merkwürdige Beſtätigung des Zeiſingſchen Satzes 
hingewieſen: bei der überwiegenden Mehrzahl 
als gut anerkannter Hexameter liegt die ſoge— 
nannte Zäſur nicht etwa in der Mitte, ſondern 
ſie teilt den Vers in zwei Teile von der Länge 
a und b jo, daß wirkliche die Proportion (a + b) 
: a an b mit großer Annäherung zu recht 
beſteht. 


Literatur und Kritik. 


321 


ein Werk, wie das Schwendenerſche, 
welches die mathematiſche Botanik auf 
durchaus rationeller, d. h. mechaniſcher Ba— 
ſis begründet, iſt auf dem Gebiete der ma— 
thematischen Aſthetik noch nicht geſchrieben 
worden und wird auch ſobald noch nicht ge— 
ſchrieben werden. Um ſo dankbarer aber hat 
man zu ſein für jede Leiſtung, welche uns 
wenigſtens wieder um ein Stück vorwärts 
bringt und Bauſteine zu dem künftig aufzu— 
richtenden Gebäude ſo weit herrichtet, daß 
ſie dereinſt nur am paſſenden Ort verwendet 
zu werden brauchen. Ein Buch dieſer Art iſt 
das vorliegende, deſſen Verfaſſer als ſcharf— 
ſinniger Geometer bereits ſich bekannt ge— 
macht hatte, ehe man noch von ihm wußte, 


daß er auch in künſtleriſcher Hinſicht in 


dem Maße das Zeug beſitze, wie wir es 
jetzt durch ſeine Schrift erfahren, und wie 
es freilich auch zur Löſung ſeiner Doppel— 
aufgabe unumgänglich nötig war. Schon 
die Erwägung, daß faſt alle hervorragen— 
den Künſtler früherer Zeit, ein Jan van 
Eyck, Brunelleschi, Raffael“), 
Dürer, auch als beſonders gründliche Ken— 
ner des perſpektiviſchen Zeichnens gerühmt 
werden, mußte den Gedanken nahe legen, 
daß nicht blos die formale Weiterausbil— 
dung der perſpektiviſchen Methoden, ſon— 
dern auch die Unterſuchung der perſpekti— 
viſchen Grundgeſetze mit Bezug auf deren 
äſthetiſche Bedeutung Pflicht der Wiſſen— 
ſchaft ſei. Nach dieſer letzteren Richtung hin 
nun hat Herr Hau d ſein Arbeitsgebiet 
5 Bezüglich dieſes in allen Sätteln gerech— 
ten Malers kann man neue und intereſſante 
Aufſchlüſſe vergleichen, welche Pietro Riccardi 
in feinen „Cenni sulla storia della geodesia 
in Italia dalle prime epoche fin oltre alla 
metä del secolo XV“ (Modena, 1879, p. 47 ff.) 
gegeben hat. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 


ee 


1 


322 


gelangt, welche, ſofern ſie auch teilweiſe 
nur als vorläufige betrachtet werden dür— 
fen, doch immer von jedem Freunde exak— 
ter Forſchung gekannt zu werden verdienen. 

Bekanntlich beruht die geometriſche 
Perſpektive weſentlich auf dem Prinzipe 
der ſogenannten Camera obscura, die 
Pupille wird als Punkt angenommen, durch 
welchen die Lichtſtrahlen hindurchpaſſiren, 
um dann auf der Netzhaut des Auges ein 
zwar verkehrtes, aber ſonſt in allen Teilen 
dem Licht entſendenden Gegenſtande ähn— 
liches Bildchen zu entwerfen. Für prak— 
tiſche Zeichnungszwecke reicht die durch dieſe 
Hypotheſe gewährte Genauigkeit denn auch 
vollſtändig hin, allein hier, wo es ſich um den 


Urgrund aller bezüglichen Erſcheinungen, 


handelt, müſſen auch die Modalitäten des 
Sehprozeſſes einem eingehenden Studium 
unterzogen werden. Dies thut denn unſer 
Verfaſſer auch, geſtützt auf eine Reihe be— 
kannter Wahrheiten der phyſiologiſchen 
Optik, wie man ſie hauptſächlich Helmholtz 
und Wundt verdankt. Das Auge iſt kein 
ruhender photographiſcher Apparat, wel— 
cher die Lichtſtrahlen ohne Aktion ſeiner— 
ſeits auf ſich wirken ließe, ſondern eine 
ſich raſch nach allen Richtungen hin bewe— 
gende Kugel, deren Axe bald der einen, 
bald der andern Stelle des gerade betrach— 
teten Objekts zugewandt iſt, ſo daß das 


Netzhautbild durchaus nicht immer Ge— 


ſichtsvorſtellungen zu erzeugen braucht, 
welche mit ſeiner eigenen Form überein— 
ſtimmen. Der ſehr komplizirte Mechanis— 
mus der Augenbewegungen wird ſehr aus— 
führlich beſchrieben, die Augenmuskeln er— 
möglichen dem Augapfel eine Seitwärts— 
drehung um eine vertikale und eine Auf— 
und Abwärtsdrehung um eine horizontale 
Rotationsaxe, außerdem aber noch eine ſo— 


Literatur und Kritik. 


genannte Raddrehung oder Rollung. Dieſe 
letztere aber ermüdet das Auge am leichte- 
ſten, und unwillkürlich ſucht es dieſelbe zu 
vermeiden. Iſt alſo ein Akt der Betrachtung 
durch die Beſchaffenheit des Betrachteten 
mit weniger Raddrehungen verbunden, als 
ein anderer, ſo wird erſterer vom Auge 
jedenfalls mit mehr Bequemlichkeit und 
Behagen ausgeführt, als letzterer. Hierin 
liegt ſchon ein wichtiger Fingerzeig: „Das 
Auge bevorzugt im Falle freier Wahl die— 
jenige Bewegung, welche die relativ klein— 
ſten Raddrehungen bedingt.“ Ein Bild 
beiſpielweiſe wird unter ſonſt gleichen Um— 
ſtänden einen verhältnismäßig wohlgefäl— 
ligen Eindruck hervorbringen, wenn es ſo 
angelegt iſt, daß das beſchauende Auge zu 
einem Minimum unangenehmer Drehun- 
gen ſich gezwungen ſieht, und es kommt 
darauf an, die für dieſes Verhältnis maß— 
gebenden Elemente theoretiſch zu fixiren. 
Bezeichnet man jenen Punkt, in welchem 
die Axe des normal ſtehenden, d. h. ohne 
beſondere Muskelanſpannung adjuſtirten 
Auges die Bildebene trifft, als den Fixa— 
tionspunkt, ſo wird die Bewegungsrich— 
tung, welche der am Bilde hingleitende 
Blick einſchlägt, im allgemeinen durch drei 
Eigenſchaften eines beſtimmten Bildpunktes 
beſtimmt, nämlich durch deſſen Entfernung 
vom Fixationspunkt, von ſeiner Lichtſtärke 
und von der unmittelbar vorher innegehal— 
tenen Bewegungsrichtung. Gewiſſe Leit— 
linien des Bildes müſſen alſo ſo beſchaffen 
ſein, daß das ihnen folgende Auge zugleich 
unbewußt nach Bedingungen ſich richtet, 
welche aus den ſoeben erwähnten Normen 
abgezogen ſind. Es tritt nun aber noch 
eine wichtige Eigenſchaft der Augenbewe— 
gungen hinzu. Durch unmittelbare geome— 
triſche Betrachtung läßt ſich nämlich zeigen, 


daß eine gerade Linie, welche das Auge 
von der oben gekennzeichneten Primärſtel— 
lung aus verfolgt, auch als gerade Linie 
geſehen wird, wogegen die Netzhautabbil— 
dung jeder Geraden, welche das Auge von 
irgend einer anderen Sekundärſtellung aus 
durchläuft, gekrümmt wird. Insbeſondere 
aber erſcheint eine horizontale Linie unter 
ſolchen Umſtänden konkav gegen die Seh— 
axe gebogen. Beim binokularen Sehen 
verhält ſich, wie Hering dargethan hat, 
im weſentlichſten alles ähnlich; was die 
Herrſchaft anlangt, welche wir zufolge der 
Beweglichkeit unſerer Halsmuskeln über 
unſeren Kopf und damit zugleich über un— 
ſer Auge ausüben können, ſo wenden wir 


dieſelbe dazu an, dem letzteren die Einſtel— 


lung nach der lein ſchärfſtes Fixiren) zu— 
laſſenden Primärſtellung zu erleichtern. 
Iſt all' dies wahr, ſo ſieht man that— 
ſächlich in jedem Augenblicke viele Linien 
krumm, die in Wirklichkeit gerade und als 
ſolche uns hinlänglich genau bekannt ſind, 
um in gewöhnlichen Fällen der betreffen— 
den Augentäuſchung eingedenk zu werden. 
Natürlich iſt auch der Betrag dieſer Ver— 
zerrung ein äußerſt geringfügiger, und es 
bedarf einer gewiſſen Übung, dieſelbe un— 
ter beſonders günſtigen Verhältniſſen wahr— 
zunehmen; hervorgehoben werden vom 
Verfaſſer zu dieſem Zweck namentlich die 
Illuminationen. Auch bei vertikalen Linien 
ergiebt ſich eine Kurvatur, doch wird uns 
dieſelbe infolge unſeres ſtatiſchen „Bewußt— 
ſeins“ noch weit weniger leicht zum Be— 
wußtſein kommen. Auf dieſe neue Auf— 
faſſung gründet nun der Verfaſſer ſein 
Prinzip einer verallgemeinerten Perſpek— 
tive: Unter der Vorausſetzung, daß die 
Zeichnung eines Gegenſtandes keine ſkla— 
viſche Kopie, ſondern eine freie Wieder— 


Literatur und Kritik. 


323 N 


gabe des empfangenen Eindruckes ſein 
ſoll, kann man von dieſem ſubjektiven An— 
ſchauungsbilde eines von zwei Dingen 
verlangen, daß nämlich die ſcheinbare 
Größe jeder Strecke proportional dem 
Geſichtswinkel ſein, oder daß die Geſammt— 
heit gerader Linien des Originales als 
Komplex gerader Linien ſich reproduziren 
muß. Unerläßlich bleibt für jede Art der 
Auffaſſung, daß alle vertikalen Geraden 
dieſe ihre Eigenſchaft beibehalten und daß 
die auf der primären Axe ſenkrechte Ge— 
rade, der Horizont, wieder als horizontale 
Gerade) erſcheint —im übrigen kann ent- 
weder das „Prinzip der Konformität“ oder 
aber das „Prinzip der Kollinearität“ das 
vorwaltende ſein. Beiden Grundſätzen in 
ein und derſelben Zeichnung mit mathe— 
matiſcher Genauigkeit rechnung zu tragen, 
iſt unmöglich; ſtrenge Durchführung des 
einen oder andern Prinzipes würde zu 
Härten und Unregelmäßigkeiten führen, 
und ſo erwächſt für die wiſſenſchaftliche 
Zeichnungskunſt neben ihrer bisherigen 
geometriſch-techniſchen noch eine zweite 
äſthetiſche Aufgabe, welche der Verfaſſer 
(S. 41) mit folgenden Worten formulirt: 
„Die Perſpektive lehrt die Herſtellung von 
Kompromiſſen in dem Konflikt zwiſchen 
der Bedingung der Kollinearität und der 
Konformität — zum Zweck der bildlichen 
Darſtellung von Naturobjekten.“ 

Dies wird denn nun weiter im Detail 
ausgeführt. Um einen konkreten Anhalts— 
punkt zu gewinnen, wird ein und derſelbe 
Gegenſtand, eine Doppelreihe prismatiſcher 

) Von der richtigen Wahl dieſes Horizontes 
hängt, wie wir hier des näheren erfahren und 
wie inſtinktiv wohl ſchon mancher ſelbſt in Ge— 
mäldegalerien bemerkt hat, der Effekt eines Bil— 
des in hohem Grade ab. Hauck giebt hierüber 
den Künſtlern beherzigenswerte Winke. 


324 


Säulen, das einemal in konformer, das 
anderemal in kollinearer Perſpektive wie— 
dergegeben und darauf aufmerkſam ge— 


Naturtreue entſpreche. Verzerrungen im 
konformen Sinne werden durchſchnittlich 
dem geübten Auge minder unſympathiſch 
ſein, als ſolche im kollinearen. Wir er— 
halten ſodann einen höchſt intereſſanten 
Einblick in die Geſchichte der perſpektivi— 
ſchen Zeichnung, wobei zumal die pom— 
pejaniſche Wandmalerei Beachtung findet; 
je ſchärfer die wiſſenſchaftliche Begründung 
der perſpektiviſchen Lehrſätze wurde, um— 
ſomehr trat die kollineare Anſchauung in 
den Vordergrund. Große Künſtler freilich, 
wie Raffael, wußten durch Ausgleichung 
der Gegenſätze jenen harmoniſchen Ge— 
ſammteindruck zu erzielen, welcher ihren 
Werken in ſo unübertrefflicher Vollkommen— 
heit eigen, und auch bei modernen Meiſtern 
kann man in manchen Fällenkonſtatiren, daß 
und wie ihr Genie dem überwältigenden 
Einfluſſe des allzuſtarren Kollinearitäts 
prinzipes ſich entringt. Recht merkwürdig in 
dieſer Beziehung ſind die Beobachtungen, 
welche Herr Hauck an einem Gemälde der 
Berliner Nationalgalerie (Graebs Epi— 
taphien der Mansfeldſchen Grafenfamilie) 
angeſtellt hat und an dieſem Orte mitteilt. 
Ein Exkurs über die — meiſtenteils über— 
ſchätzte — Mitwirkung der Illuſion und 
über die Anfertigung von Bildern auf ge— 


krümmten Oberflächen“) beſchließt den 


mehr theoretiſchen erſten Teil der Hauck— 
ſchen Schrift. 


Literatur und Kritik. 


es alſo mit Vaſen- oder, wie ſie hier heißen, 
mit keramiſchen Abbildungen zu thun, ſo drängt 
erſichtlich das Prinzip des Konformen das Kol- geſchränkter Alleinherrſchaft. 


Indes folgt demſelben noch ein An— 
hang „über phyſiſche und pſychiſche For— 


menfreude“, der, an das frühere an— 
macht, daß erſteres Bild im allgemeinen 
mehr als letzteres den Anforderungen der 


knüpfend, äſthetiſche Fragen an ſich be— 
handelt und für die Möglichkeit einer 
Anwendung exakter Beobachtungsweiſen 
auf Themata der Schönheitslehre plaidirt. 
Man hat es hier ſelbſtverſtändlich nur mit 
Aphorismen zu thun, die aber den Keim 
zu weiterer Ausarbeitung in ſich tragen. 
So erklärt der Verfaſſer z. B. die bekannte 
Wahrnehmung, daß aus Kreisbogen zu— 
ſammengeſetzte Pſeudoellipſen, auch wenn 
der Fehler ein geringer iſt, einen unſchönen 
Anblick gegenüber der reinen geometriſchen 
Form gewähren, dadurch, daß das Auge 
mit Leichtigkeit eine ſtetige mathematiſche 
Kurve verfolgt, dagegen die Unſtetigkeits— 
punkte in der Kontur erſt ſozuſagen über— 
winden muß. Die Zeiſingſche Teilung 
nach der sectio aurea wird auf das „Prin— 
zip der Wiederholung der Geſammtform 
in den Details“ zurückgeführt — eine Idee, 
die allerdings noch der tieferen Begrün— 
dung bedarf, vorläufig jedoch nicht wohl 
dazu dienen kann, den an ſich richtigen 
aber viel zu ſpeziellen Satz —worauf oben 
ſchon angeſpielt worden — einem allgemei— 
neren Grundgedanken zu ſubſumiren. 

Die zweite Abteilung unſerer Feſt—⸗ 
ſchrift verfolgt die Tendenz, durch An— 
wendung der entwickelnden Grundſätze auf 


ein ſchwieriges archäologiſches Problem 


ſowohl deren Verwendbarkeit nachzuwei— 
ſen, als auch indirekt die Richtigkeit der— 
ſelben in ein neues Licht zu ſtellen. Im 


Jahre 1838 machte Profeſſor Hoffer in 


. en Athen die wichtige Entdeckung, daß an 
*) Iſt dieſe Fläche eine konvexe, hat man BR, 


linearitätsprinzip energiſch zurück, und hier öff⸗ 
net ſich ſonach jenem ein Feld ziemlich unein⸗ 


7 


; 


einer Reihe althelleniſcher Bauwerke von 
klaſſiſchem Styl, wie z. B. am Parthenon, 
Theſeion und an den Propyläen die hori— 
zontalen architektoniſchen Linien nicht Ge— 
rade, ſondern vielmehr, nach oben konvexe, 
Kurven ſeien. Penrohl nahm die Hoffer— 


een 


nicht nur beſtätigt, ſondern konſtatirte auch 
ganz die gleiche Erſcheinung bei den Tem— 
peln von Nemea im Peloponnes und von 
Päſtum in Unteritalien. Da nun an dem 
Faktum nicht mehr zu zweifeln war, ſo 
begann für die Altertumsforſcher das 
ſchwierige Werk der Aufklärung. Böt— 


des Stereobates zu Hülfe, welche gegen 
die Enden hin, wo der Widerſtand auf— 
hörte, ſich am ſtärkſten fühlbar gemacht 
habe; Thierſch war der Anficht, der grie— 
chiſche Baumeiſter ſei ſich des Umſtandes 
bewußt geweſen, daß bei der perſpektivi— 


ſchen Baues eine ſcheinbare Krümmung 


wärtskrümmung der fraglichen Linie be— 
gegnen wollen; Penrohl griff auf Zöll— 


„ 4 


und noch andere Argumente von ſichtlich 


ſchiedenen Gelehrten ins Feld geführt. 
In ausführlicher Darlegung des Für und 
Wider ſucht der Verfaſſer dieſe Theorien, 
obwohl er denſelben eine teilweiſe ſekun— 
däre Bedeutung zugeſteht, zu widerlegen; 


wenig Gewicht auf die merkwürdige That— 
ſache gelegt, daß die Korrekturen ausſchließ— 
lich bei doriſchen, nicht aber bei Bauten 
irgend eines anderen Bauſtiles uns ent— 


namentlich, meint er, habe man viel zu | 


ſchen Meſſungen mit äußerſter Genauig- 
keit wieder auf und fand deſſen Nefultate | 


Literatur und Kritik. 


tiche r nahm als Grund eine Komprimirung 


ſchen Schräganſicht eines parallelopipedi- 
nach unten eintritt, und habe derſelben 
durch das Korrektiv einer abſichtlichen Auf- 
ners Pſeudoſkopie der Linienmuſter zurück, 


geringerer Berechtigung wurden von ver- 


tig belebt. 


325 


gegentreten. Dem gegenüber weiſt er auf 
„das perſpektiviſche Bewußtſein“ der Hel— 
lenen hin, durch welches ganz und voll „die 
perſpektiviſchen Kenntniſſe“ unſeres von 
der Natur entfernteren Zeitalters erſetzt 
worden ſeien. Gerade aus dieſem Grunde 
dachten und empfanden die Griechen naiver 
als wir, und da, wie wir ſahen, nach des 
Verfaſſers Anſicht das Kollinearitätsprin— 
zip anerzogen wird, ſo war die Perſpek— 
tive der Griechen bei weitem mehr eine 
konforme, als eine kollineare. Als Beispiel 
hierfür wird auch die Entaſis oder Säu— 
lenanſchwellung beigebracht, als deren 
Prototyp die Hyperbel gelten kann. Im 
Ganzen haben alſo die griechiſchen Archi— 
tekten ihre Grundriſſe und Entwürfe im— 
mer genau nach dem ſubjektiven Empfin⸗ 
dungsbilde ausgeführt, und dies war eben 
ein konformes; die graphiſche und infolge 
deſſen ſpäter auch die materielle Darſtel— 
lung war eine „konſtruktive Imitirung der 
Erſcheinungsform“. Der Detailbeweis, 
den der Autor für dieſe ſeine Anſicht antritt, 
iſt ein ſo verzweigter, daß wir ihm nicht 
Schritt für Schritt nachzufolgen vermögen; 
als Nerv des Beweiſes erſcheint die von 
der Mitte nach außen hin fortſchreitende 
Verkürzung des Abſtandes zwiſchen je zwei 
aufeinanderfolgenden Säulen, denn die— 
ſelbe richtet ſich genau nach den Regeln, 
welche die ſubjektive, d. h. mehr oder min— 
der konforme, Perſpektive an die Hand 
giebt. Natürlich ſpielen auch noch andere 
Motive mit, ſo beſonders die „jungirende 
Funktion der Kurvaturen“. 

Die Darſtellungsweiſe Haucks iſt 
eine lebendige, friſche; durch Beiſpiele und 
inſonderheit auch inſtruktive pädagogiſche 
Winke wird der Entwicklungsgang anmu— 
Dieſem erſten Hefte ſeiner 


326 


Prolegomena zu einer künftigen mathema— 
tiſchen Aſthetik gedenkt er weitere Beiträge 
folgen zu laſſen, über welche wir uns freuen 
werden auch in dieſen Blättern berichten 
zu können. 
Ansbach. Prof. S. Günther. 
Unterſuchungen über den Farben— 
ſinn der Naturvölker von Dr. 
Hugo Magnus, Dozent der Augen— 
heilkunde zu Breslau. Mit einem chro— 
molithographiſchen Fragebogen. Jena, 
Guſtav Fiſcher. 1880. 50 Seiten in 8. 
Dieſe Broſchüre zeigt ſchlagend, wie 
ſchwierig es iſt, ſich von einem einmal ein— 
geſchlagenen Irrwege wieder auf die ge— 
rade Straße der Forſchung zurückzufinden. 
Nachdem ich in meiner Kritik der erſten 
Schrift des Herrn Verfaſſers“) auf die Not— 
wendigkeit, Unterſuchungen über den Far— 


benſinn der Naturvölker anzuſtellen, hinge- 


wieſen hatte, fand der Verfaſſer in Herrn 
Dr. Pechuel Löſche in Leipzig einen 


Ethnologen, der dieſe Unterſuchung aus- 
führte und durch eingeſandte Fragebogen 


(die freilich meines Erachtens ſehr un— 
geeignet hergeſtellt waren!) bei zahlreichen 
Naturvölkern Nachfragen anzuſtellen be— 


Literatur und Kritik. 


gann, in wiefern ſie die einzelnen Farben 


unterſcheiden und benennen könnten. Das 
Reſultat war hier, wie in zahlreichen an— 


deren Unterſuchungsfällen, die früher ange- 


ſtellt wurden, genau dasjenige, welches ich 
im Jahre 1877 vorausgefagt hatte: ſämmt— 
liche Völker konnten alle Farben, auch Blau 
und Grün, ſehr wohl von einander unter— 
ſcheiden, aber viele hatten nur einen Aus— 
druck für beide Farben und manche gar 
keinen. Im höchſten Grade ſonderbar und 
die Sachlage auf den Kopf ſtellend iſt es 
) Kosmos, Bd. I, S. 264 ff. 


demnach, wenn Herr Magnus auf S. 44 


zwar ſeinen früheren Irrtum eingeſteht, 


aber nichtsdeſtoweniger ſich rühmt, dieſen 
Irrtum der „Anhänger der Ent— 
wicklungstheorie“ (11) widerlegt zu 
haben. „Wir haben uns überzeugt,“ ſagt 
der ſeltſame Mann, „daß die Anhänger 
der Entwicklungstheorie, ſobald ſie 
einen derartigen Schluß zogen, nämlich 
daß der Farbenſinn des Menſchen erſt ſeit 


Homer entwickelt worden jet, ohne noch — 


andere Beweismittel zu Hülfe zu nehmen, 
einen Irrweg gewandelt ſind und erheb— 
lich über das Ziel hinweggeſchoſſen haben.“ 

Das iſt in der That die ärgſte Ver— 
ſchleierung der Wahrheit, die mir in dieſer 
Angelegenheit vorgekommen iſt. Mir iſt 
kein namhafter Anhänger der Entwicklungs- 
theorie bekannt, der dieſes Hirngeſpinſt 
einiger Philologen und Arzte geteilt hätte; 
wohl aber iſt Herrn Magnus ſehr genau 
bekannt, daß von Darwiniſtiſcher Seite 
das genaue Ergebnis feiner überdem längft 
von andern Seiten überholten Unter— 
ſuchungen mit Beſtimmtheit vorhergeſagt 
worden iſt, —welchen Umſtand er indeſſen 
vollſtändig zu verſchweigen für gut hält. 
Im übrigen iſt er noch lange nicht von 
ſeinem Hirngeſpinſt befreit und glaubt 
trotz des vollkommen negativen Ergebniſſes 
ſeiner Unterſuchungen, wie aus vielen 
Stellen ſeiner Schrift erhellt, noch immer, 
daß die Perzeptionsfähigkeit der Natur— 
völker für Grün und Blau dennoch nicht 
völlig entwickelt ſei. „Ausdrücke wie 
Spracharmut, ungenügende Entwicklung 
der Sprache u. ſ. w.,“ ſagt er S. 36, 
„vermögen gewiß das Thatſächliche an 
der Erſcheinung in ſehr charakteriſtiſcher 
Weiſe zu bezeichnen, aber eine Erklärung 
der Erſcheinung bieten ſie doch eigentlich 


nicht dar; denn fie erklären ebenſowenig 
das Warum der ungenügenden Sprach— 
entwicklung, als ſie auch nicht den gering— 
ſten Aufſchluß geben über die ſo eigen— 
tümliche Geſetzmäßigkeit, welcher dieſer 
Entwicklungsfehler in ſo auffälliger Weiſe 
unterliegt. Sie vermögen uns weder zu 
ſagen, warum die mangelhafte Farben— 
terminologie mit ſo eigenartiger Regel— 
mäßigkeit ſich im Gebiete der kurzwelligen 
Farben bewegt, noch erklären ſie uns, 
warum die Farbennomenklatur gerade am 
roten Ende des Spektrums am ſchärfſten 
entwickelt ſein mag und warum ſie gegen 
das blaue Ende hin immer undeutlicher 
wird, und zwar noch dazu in einem ganz 
geſetzmäßigen Gange.“ 
Ich habe für dieſes „Wunder“ nicht 
blos einen, ſondern gleich drei zuſammen— 
wirkende Erklärungen angegeben, nament— 
darauf aufmerkſam gemacht, daß die Men— 
ſchen nur für die Farben beſondere Worte 
haben, die ſie färben können, und daß 
grün und blau und violett diejenigen Farb— 
ſtoffe ſind, die der Menſch zuletzt ermittelt. 
Herr Grant Allen, den Gladſtone 
auf meinen Eſſay aufmerkſam machte, hat 
meinen Wink beſſer verſtanden und daher 
auf ſeinen Fragebogen ausdrücklich die 
Frage hinzugefügt: Welche Pigmente wiſ— 


|» ſen die betreffenden Völker anzuwenden? 


Und ſiehe da, es ergab ſich, daß diejenigen 
Wilden, die grün und blau zu färben 
wußten, auch beſondere Worte für dieſe 
Pigmente haben. Darin liegt alſo das 
große Geheimnis, über welches Herr 
Magnus noch immer phantaſirt. Was 
das Bezeichnen zweier naheſtehenden Far— 
ben mit einem Worte betrifft, ſo will ich 
den Verfaſſer auf ein noch viel haar— 
ſträubenderes Beiſpiel mitten im gebilde— 


Literatur und Kritik. 


327 


ten Deutſchland aufmerkſam machen. Im 
ſüdlichen Thüringen und nördlichen Bayern 
bezeichnet man ſalzig und ſauer mit dem 
letzteren Worte, und wenn die Köchin, wie 
man in Norddeutſchland ſagt, verliebt ge— 
weſen iſt, ſo ſagt man, die Suppe ſei 
ſauer, und ebenſo heißt das Kompott, dem 
der Zucker fehlt, auch ſauer. Sollten die 
lieben Meininger und Hildburghauſener 
vielleicht in der Entwicklung des Geſchmacks 
nach der ſalzigen Seite noch zurück ſein? 
K. 


Die Sprachenwelt in ihrem geſchicht— 
lich-literariſchen Entwicklungsgange zur 
Humanität. Bearbeitet von Dr. J. A. 
Manitius. 1. Band: Aſien, Afrika 
und Auſtralien. Leipzig 1879. C. A. 
Kochs Verlagsbuchhandlung (J. Sen— 
gebuſch). 

Das vorliegende Buch iſt von einem 
etwas zurückliegenden Standpunkte der 
Sprachforſchung verfaßt, wie ihn etwa W. 
v. Humboldt, Laſſen und Max Müller 
einnahmen, und ſeine Tendenz ſpricht ſich 
genau in folgenden Worten der Einleitung 
aus: „Es iſt demnach, ſagt der Verfaſſer, 
die geſammte ſittliche und geiſtige Bildung 
des Menſchengeſchlechts, von der früheſten 
Zeit an bis zu uns herauf, als eine un— 
unterbrochene, in und durch ſich zuſammen— 
hängende Erziehung ſämmtlicher Völker 
der Erde zu betrachten, da Gott die Na— 
tionen der alten wie der neuen Welt durch 
ſein allmächtiges Werde an das Licht ge— 
rufen und für das Licht beſtimmt hat, daß 
ſich aber Alles in dem Reiche der Natur 
wie des Geiſtes nach einem weiſen Geſetze 
des Schöpfers nur allmählich emporbilden 
kann und ſoll.“ Ohne ein tieferes Einge— 
hen auf Weſen und Urſprung der Sprache 


. 


y - 14 „ 
25 x 
. PR = 
398 Literatur und Kritik. * » 


überhaupt und der einzelnen Sprachen im 

Beſondern wird unter Einſtreuung einer 

reichen Anzahl von Überſetzungen zahlrei— 

cher poetiſchen Citate mehr eine Art ver— 
gleichender Litteraturgeſchichte, als ein Werk 
über Sprachen geboten. Im übrigen läßt 
fich eine ganz anerkennenswerte Belehrung 
über die allgemeinſten Züge der Sprache 
und Litteratur der drei Weltteile aus dem 

Buche ſchöpfen. 

Kinnorlieder Althebr äifche Dichtungen 
in metriſcher Übertragung von Dr. 
Martin Schultze. Leipzig, Ernſt 
Günthers Verlag, 1879. 120 S. in 12. 

In dieſem kleinen Buche werden 

Leſer dreier ſehr verſchiedener Kategorien 

ihre Rechnung finden: 1) Freunde der 

Poeſie, 2) Bibelforſcher und Theologen, 

3) Kulturgeſchichtsforſcher überhaupt. Der 

durch die Metrik und bisweilen durch den 

Reim wirkſam gehobene Gedankenparal— 

lelismus dieſer Kinnor- (d. i. Harfen—) 

Lieder erweckt dem Leſer nicht nur infolge 

ihrer kunſtvollen Übertragung eine Ahnung 

von ihrer originalen Schönheit, ſondern 
ſie bieten auch ein tieferes kulturhiſtori— 
ſches Intereſſe dar, da ſie zum Teil 
die älteſten Teile der Bibel darſtellen. 
Wie der gelehrte Verfaſſer bereits in un— 
ſerer Zeitſchrift?) zu zeigen unternahm, 
ſtellt ein Teil Erntelieder dar, die erſt von 
der ihren Sinn nicht erfaſſenden Nachwelt 
in Epen umgewandelt wurden, wie das 
ſchöne Deborahlied. Ein anderes Gedicht, 

„Die zehn Stämme“ (Richter 5, 14— 18), 

wird von dem Herausgeber treffend mit 

dem angelſächſiſchen Wandererliede und 
dem homeriſchen Schiffskatalog verglichen. 
) Kosmos, Bd. I, S. 153. 


Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig. 


hier genügen, auf die deutſche Überſetzung, 


Ein ſehr intereſſanter Fund ſcheint das 
„Fuchslied“ aus dem Hohenliede (2, 15): 

Fangt uns doch die kleinen Füchſe! 

Sie verderben unſern Wein, 

Und der Weinſtock trägt ſchon Trauben; 

Fangt die kleinen Füchſe ein! — * 
zu ſein, denn es iſt nach Schultzes An— 5 
ſicht ein harmloſes Spielliedchen, wie es | 
Kinder der verſchiedenſten Nationalitäten 
und Zeitalter beim Ringelreigen fingen. 
Man erkennt, wie verſchiedenartige Ele- 
mente in die heilige Schrift hineingeraten 
ſind und wie unentbehrlich ſelbſt in den J 
poetiſchen Teilen die kritiſche Sonde iſt. | | 
Die Ausftattung des kleinen Buches iſt 
überaus geſchmackvoll und anheimelnd. 1 | 


Die Tropenwelt, nebſt Abhandlungen 
verwandten Inhalts von Alfred Ruſ⸗ 
ſel Wallace. Autoriſirte deutſche 
Überſetzung von Dr. David Bruns. 
Braunſchweig, Vieweg u. Sohn, 1879. 

Da wir bei dem Erſcheinen der eng- 

liſchen Ausgabe?) ausführlich auf dieſes * 

ebenſo lebendig als anregend geſcheichene 

Buch hingewieſen, auch bereits damals eini- 

ge längere Proben daraus in dieſer Zeit⸗ 

ſchrift“ ) wiedergegeben haben, ſo mag es 


die als eine durchaus gelungene bezeichnet 
werden darf, kurz hinzuweiſen. Das Buch 

zieht das Fazit aus einer ganzen Reihe von 
Beobachtungen verſchiedener Reiſender und 
Naturforſcher, die in den Tropen gelebt 
haben, und giebt auf wenigem Raum ſehr 
gediegene Überſichten nebſt Erläuterungen 
zahlreicher wichtiger Probleme. Die Aus- 
ſtattung iſt derjenigen aller Werke des be— 

rühmten naturhiſtoriſchen Verlags ent— 

ſprechend. 


) Bd. IV, S. 247. — *) Bd. IV. 


Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums 
Daſein. 


ie ſoeben von mir veröffent— 
lichte Monographie der mexi— 
kaniſch-karaibiſchen Spongien 
ſchließt mit den Worten: „Sie 
it für die Deszendenzlehre 
und für Darwin.“ Faſt an 
demſelben Tage, wo ich mein Opus ge— 
druckt in die Hände bekam, las ich“) Mo— 
ritz Wagners Erklärung, daß die Spon— 
gien die geeignetſten Organismen ſeien, 
„für die formbildende Wirkung einer 
dauernden individuellen Abſonderung, 
ohne jede Mitwirkung einer Selektion 
durch den Kampf ums Daſein, einen un— 
widerlegbaren Beweis zu erbringen“. 
Dieſer auf den erſten Blick handgreifliche 
Gegenſatz der Meinungen bedarf einer 
Erläuterung, wodurch er ausgeglichen und 
womit der Konfuſion, die durch ihn im 
Urteile des außerhalb der Fachkreiſe ſtehen— 
den Laien angerichtet werden könnte, be— 
gegnet wird. 

Ich will mir zu dieſem Zwecke zunächſt 
erlauben, auseinanderzuſetzen, wie ich zu 
dem oben angeführten Satze als dem Re— 
ſultate einermühſamen Detailunterſuchung, 


*) Im Juniheft des Kosmos. 


Von 


Oskar Schmidt. 


der Fortſetzung einer ganzen Reihe ſeit 
zwanzig Jahren geführter Spezialarbeiten 
auf demſelben Gebiete, gekommen bin. 
Erſt dann wollen wir damit vergleichen, wie 
M. Wagner die Sache ſeinerſeits anſieht. 
Es wird, deſſen ſind wir ſchon jetzt ſicher, 
weſentlich auf eine etwas engere oder wei— 
tere Faſſung von Begriffen und Aus— 
drücken ankommen, während in der Sache 
der verehrte Münchner Forſcher von uns 
kaum abweicht. 

Ohne Frage ſind die Spongien unter 
den lebenden Organismen die flüſſigſten. 
Es giebt unter ihnen viele „gute Arten“, 
die ſich im Stadium einer gewiſſen Be— 
ſtändigkeit befinden, aber noch viel mehr 
ſchlechte. Dies Miteinandergehen von, gut“ 
und „ſchlecht“ mag hier einmal beſonders 
betont werden, weil die Vorſtellung noch 
vielfach verbreitet iſt, daß die Arten alle— 
ſammt entweder für beſtändig oder für 
unbeſtändig angeſehen werden müßten. 
Unter den vielen Formen der Reihen 
ſchlechter Arten befindet ſich nun wieder 
eine große Anzahl, bei denen wir vergeb— 
lich nach den zwingenden Urſachen oder 
nach den durch das Variiren geleiſteten 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 


42 


f 


330 


Vorteilen ſuchen. Es mögen deren oft vor— 


handen ſein, aber der Beobachtung unzu— 


gänglich; eben ſo oft und häufiger werden 


wir aber die Veränderung und Abweichung 
in der Geſammtform und in den feineren 
Formbeſtandteilen auf Rechnung der Ver— 
änderlichkeit ſchlechthin ſetzen müſſen. Ab— 
ſolut grundlos iſt natürlich in jedem ein— 
zelnen Falle die Veränderung nicht, ſei es, 
daß der Anſtoß im Organismus ſelbſt oder 
von der Umgebung angeregt wird. Aber 
die Folgen der Veränderung ſind für den 
phyſiologiſchen Wert gleich null. Gleich— 
wohl können ſolche Veränderungen ſich 
vererben und fixiren. Die Maſſe ſolcher 
thatſächlich vorhandenen rein morphologi— 
ſchen Varietäten und mehr oder minder 
ſchlechter Arten, welche die Klaſſe der 
Spongien aufweiſt, fordert ſchon an ſich 
zur Beſchränkung der Anſicht auf, als ob 
ſie in kürzeſter Friſt durch Kreuzung mit 
den nicht variirten Individuen wieder ni— 
vellirt werden müßten. Aber bereitwillig 
geben wir zu, ja es iſt ſelbſtverſtändlich 
und nie von Darwin und ſeinen An— 
hängern in Abrede geſtellt worden, daß 
zur Konſervirung ſolcher morphologiſcher 
Varietäten die Abſonderung außerordent— 
lich viel beiträgt. Alle, welche die neuere 
Litteratur der Spongien etwas verfolgt 
haben, wiſſen, daß die Verzeichniſſe über— 
reich an ſolchen, gewiſſermaßen gleichgilti— 
gen Arten und Abarten ſind, dasjenige 
meiner mexikaniſchen Spongien nicht min— 
der. Daß dieſe Fälle „für die Deszendenz— 
lehre“ ſprechen, wird nur von ſolchen pro— 
blematiſchen Naturforſchern geleugnet, wel— 


« 


che nichts als die Varietäten innerhalb der 


feſten Arten gelten laſſen. 
Eine andere Reihe von Fällen, welche 


aber unmittelbaren Anſchluß an obige 


Oskar Schmidt, Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein. 


haben, umfaßt die Umformung einfacherer 


tuypiſcher Grundbeſtandteile der Spongien— 


ordnungen und -familien in ſcheinbar ganz 
neue Organe, welche zur Aufſtellung neuer 
Gattungen und Arten oder Varietäten— 
gruppen geeignet ſind. An ſolchen Beob— 
achtungen habe ich dieſesmal eine beſon— 
ders reiche Ernte gehalten, namentlich bei 
den Hexaktinelliden und den Lithiſtiden, 
weniger bei den übrigen Abteilungen. Bei 
den Hexaktinelliden iſt mir der Nachweis 
gelungen, die ſcheinbar abweichendſten 
Kieſelkörper, auch ſolche, welche bisher 
ganz unvermittelt ſtanden, nach ihrer Ent— 
ſtehung als Modifikationen der Grund— 
geſtalt zu erklären, welche der ganzen 
höchſt intereſſanten und anſprechenden Ab— 


teilung das charakteriſtiſche Gepräge giebt. 


Ich konnte auch wiederholt den Zuſammen— 
hang lebender Formen mit foſſilen kon— 
ſtatiren, wobei ſich ergab, daß die Deca— 
dence der gegenwärtigen Hexaktinelliden 
ſich u. a. in dem Abhandenkommen der 
einſt viel mehr verbreiteten Deckſchichten 
ausſpricht. Ganz unverändert iſt dieſe 
Oberflächenbildung bei Cystispongia, ei— 
nem Kreideſchwamm, geblieben, der mit 
geringen Modifikationen noch heute uns 
als Cystispongia superstes entgegentritt. 
Wir müſſen neben dem Erſcheinen neuer 
morphologiſcher Arten die Erſchöpfung 
und das Verſchwinden der Arten einſt— 
weilen noch als eine Thatſache hinnehmen, 
deren Urſachen mit dem Worte Erſchöpfung 
geahnt werden ſollen. Ich habe ferner den 
Zuſammenhang von Gattungen aufgefun— 
den, die nach dem bisherigen Wiſſen ein— 
ander gar nichts anzugehen ſchienen, alſo 
z. B. gezeigt, daß der bekannte, durch ſeine 
äußerſte Zierlichkeit des Kieſelnetzwerkes 
ausgezeichnete Aphrocallistes in ſeinen 


— 


Oskar Schmidt, Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Dafein. 


Anfängen der nicht minder berühmten 
Farrea gleicht und ſich in feinem ganz 
eigentümlichen Bau nur durch das eine 
Moment entfaltet, daß viele der grund— 
legenden ſechsſtrahligen Nadeln in den 
Winkeln zweier Axen von den typiſchen 
Sechsſtrahlern abweichen. 

Wir ſind hier immer noch im Gebiete 
der rein morphologiſchen Umbildungen, 
wo von Funktionswechſel, erhöhter Tei— 
lung der Arbeit, Fortſchritt der Organi— 
ſation nichts zu merken iſt. Nur die all— 
gemeine Tendenz zur Verkümmerung konn— 
ten wir aus dem Zurücktreten der Deck— 
bildungen entnehmen. 

Weiter hat mich die Unterſuchung der 
Lithiſtiden gebracht. Zunächſt glaube ich 
den, allerdings auch auf einer Art von Ver— 
kümmerung beruhenden, Zuſammenhang 
zweier Hauptabteilungen dieſer Ordnung, 
der Tetraktinelliden und Rhizomorinen, 
gezeigt zu haben. Zittel hatte in ſeinen 
höchſt wichtigen Unterſuchungen über die 
foſſilen Spongien angenommen, daß aus 
den unregelmäßigeren, mit meiſt drei— 


ſtrahligen Skelettkörpern verſehenen Rhizo⸗ 


morinen ſich die durch vierſtrahlige Skelett— 
körper charakteriſirten Tetrakladinen ent— 
wickelt hätten. Ich habe, glaube ich, ſehr 
wahrſcheinlich gemacht, daß der umgekehrte 
Gang ſtattfand. Daneben und im engen 
Zuſammenhange mit dieſem Nachweiſe war 
es mir von großem Intereſſe, die Ent— 
ſtehung der ſogenannten Oberflächen- oder 
Rindenkörper zu verfolgen, welche ſich bei 
Gattungen beider Abteilungen finden. In 
dieſen Gattungen haben wir es mit Diffe— 
renzirungen zu thun, welche ganz offenbar 
von einem Fortſchritt begleitet ſind. Die Dif- 
ferenzirung führt zur Bildung einer Rin— 


331 


ſameren Schutz bietet als da, wo die Skelett— 
körper, ohne jene Modifikation einer Geſtalt— 
anpaſſung, auch die oberſte Körperſchicht 
bilden. Der Hauptherd, wo dieſe Umbil— 
dung der Skelettkörper in Rindenkörper 
ſtattgefunden hat, ſind die Tetrakladinen, 
und zwar ſtammt die eine Sorte, die der 
geſtielten Scheiben, von der vorherrſchen— 
den Art der die Lithiſtiden charakteriſiren— 
den Skelettkörper, die andere, nämlich die 
Gabelanker, von den vierſtrahligen Kieſel— 
teilen, durch welche ſich die engſten ver— 
wandtſchaftlichſten Beziehungen der Lithi— 
ſtiden zu der noch jetzt ſehr reich vertrete— 
nen Ordnung der Tetraktinelliden erhärten 
laſſen. Von jenen Tetrakladinen ſind die 
Skelettkörper auf verſchiedene Gattungen 
von Rhizomorinen vererbt worden, das 
heißt, während Tetrakladinen ſich dadurch 
in Rhizomorinen umwandelten, daß die 
indifferenten Skelettkörper von dem ſtreng 
vierſtrahligen Typus abwichen, behielten 
die zu beſtimmter Leiſtung adaptirten Rin— 
denkörper den mit ihrer Leiſtung im Ein— 
klang ſtehenden Typus bei. Aber auch 
innerhalb ſolcher Rhizomorinen, welche 
von ihren Vorfahren keine Rindenkörper 
ererbt hatten, haben ſich in einem Falle 
(Neopelta) ſolche gebildet, und zwar 
wiederum nachweislich auf demſelben Wege 
wie dort, durch Anpaſſung der Skelett— 
körper an die Oberflächenverhältniſſe. Die 
Reſultate meiner Studien an den Lithi— 
ſtiden Discodermia, Collectella, Coral- 
listes, Neopelta waren mir daher, wie 
meine ſämmtlichen früheren Spongien— 
arbeiten, Beſtätigungen „für die Deszen— 
denzlehre und für Darwin“. Übergänge, wo 
man hingreift, und dieſelben oft verbunden 
mit Vervollkommnungen durch Befeſtigung 


denſchicht, welche dem Innern einen wirk- und Vererbung von vorteilhaften Verän— 
L ) 


Nein 


332 Oskar Schmidt, Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein. 


derungen. Das iſt eben die Entſtehung 
von Arten nach Darwiniſtiſchem Prinzip.“) 
Noch viel klarer und überzeugender 
ſind nun aber eine andere Reihe von 
Fällen der Artentſtehung, welche teils die 
Hexaktinelliden, teils und vorzüglich die 
Ankerſchwämme oder Tetraktinelliden be— 
treffen. Der Unterſchied zwiſchen den obi— 
gen und den gleich zu beſprechenden Er— 
ſcheinungen iſt der, daß dort die Erklärung 
durch die Hypotheſe der vorteilhaften und 
fortſchrittlichen Anpaſſung nur aus all— 
gemeinen Gründen als die am meiſten 
naturgemäße und richtige ſich ergiebt, 
während ich nunmehr die Entſtehung von 
Arten, reſp. die Bildung von vorteilhaften 
neuen Organen, welche die neuen Formen 
von den alten unterſcheiden, auf die An— 
paſſung an ganz beſtimmt vorliegende 
Verhältniſſe nachweiſen kann. Es iſt alſo 
abermals zwiſchen hier und dort nur ein 
Unterſchied dem Grade nach: Überwindung 
von Hinderniſſen und von Mächten, welche 
den Individuen feindlich ſind und von den 
beſten und ſtärkſten der letzteren überwunden 
werden. Ich ſpreche von der Entſtehung der 
Schutz- und der Befeſtigungsapparate, wo— 
durch eine Anzahl von Spongien ſich vom 
Stamm abgezweigt und ihre Exiſtenz auf 
ungünſtigem Boden ermöglicht haben. 
Die Entwicklung der Spongien aus 
zarten, bewimperten Larven, die Lebens— 
verhältniſſe der meiſten rechtfertigen die 
Annahme, daß feſter Grund der Nieder— 
laſſung und Anſiedlung am günſtigſten 
und naturgemäßeſten ſei. Es braucht nicht 
gerade ein Felſen zu ſein; ein Algenſtengel, 
Krebsrücken, eine Muſchel thun dieſelben 
Dienſte. In allen dieſen, den weitaus ge— 
*) Es ift eine wiederholte Entſtehung von 
Rhizomorinen aus Tetrakladinen anzunehmen. 


—— 


wöhnlichſten Fällen geſchieht das Anſäſſig— 
machen auf die einfachſte Weiſe, durch 
Ankleben mittelſt nackter Zellen oder proto— 
plasmatiſcher Maſſe, welche ja eine Haupt— 
eigentümlichkeit darin ſucht, daß ſie klebrig 
iſt. Sie wird bald dichter und feſter, bäckt 
mehr und mehr an ihrer Unterlage an 
und ſehr bald iſt die junge Spongie „an— 


gewachſen“. Das iſt ganz offenbar der, 


allgemeinere und urſprüngliche Vorgang. 
Ich habe nun ſchon früher gezeigt und 
belege es in meiner neuen Monographie 
mit den frappanteſten Beiſpielen, wie in 
den verſchiedenſten Familien mit der An— 
paſſung an Schlamm- und Sandgrund 
jene Organe gezüchtet worden ſind, die 
Schutzſiebe und Wurzeln vom verſchieden— 
ſten Ausſehen und Umfang, in denen dieſe, 
ihrem Urſprung nach oft weit von einander 
abſtehenden Schlammbewohner konver— 
giren. Mit dieſen neu erworbenen Ein— 
richtungen verbindet ſich oft genug eine 
größere Konzentration des Spongienleibes, 
welches gleichbedeutend erſcheint mit höhe— 
rer Entwicklung. Ich glaube, daß man 
ſich dieſer Auffaſſung nicht verſchließen 
kann, wenn man lieſt, was ich in meinem 
Werke (7. ff.) über Tisiphonia und Fango- 
philina und ihr Verhältnis zu den näch— 
ſten Verwandten beigebracht habe, von 
den vielen anderen früher und jetzt er— 
läuterten Fällen nicht zu ſprechen. Daher 
wiederum „für Darwin“. 

Aber unſer verehrter Mitarbeiter iſt 
der Anſicht, daß ich hätte ſagen müſſen: 
„für Moritz Wagner“; denn er hat 
jetzt gefunden, daß ſein Prinzip und das 
Darwinſche ſich ausſchließen. Er erklärt, 
daß alle die Umwandlungen, wie ſie un— 
erſchöpflich reich in der Spongienklaſſe 
vorliegen, ihre „zwingende Urſache“ in 


. 


Oskar Schmidt, Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein. 


der Abſonderung haben. Wagner hat 
zur Erhärtung ſeiner Migrationstheorie, 
jo viel ich ſehe, in feinen jüngſt im Kosmos 
erſchienenen Aufſätzen weſentlich neues 
nicht gebracht. Er hat den Kampf ums 
Daſein im allgemeinen nicht geleugnet und 
die Ausleſe, dieſes punctum saliens, 
ausdrücklich anerkannt, indem er unter die 
wirkſamen Faktoren der Artbildung auf— 
nimmt die „Ausprägung und Entwicklung 
individueller Merkmale der erſten 
Koloniſten in deren Nachkommen bei blut— 
verwandter Fortpflanzung“. Wenn er 
aber, um gleich den Kern der Sache zu 
bezeichnen, ſagt: „Nach der Selektions— 
theorie iſt der Kampf ums Dafein, nach 
der Separationstheorie die räumliche Ab— 
ſonderung die nächſte zwingende Urſache 
der Artbildung“), fo verwechſelt er 
die causa occasionalis mit der 
causa efficiens. Es iſt unſerm Streiter 
für die Abſonderung ſeit Jahren von Dar— 
win und allen Anhängern der Selektions— 
prinzipien zugeſtanden, daß von Anfang 
an auf die Iſolirung, als ein die Selektion 
im Kampfe ums Daſein begünſtigendes 
Moment, wohl zu wenig Gewicht gelegt 
worden ſei. Aber weiter als eine häufige 
Gelegenheit für die Wirkſamkeit der Dar— 
winiſtiſchen Prinzipien iſt ſie nicht. Sind 
die Auswanderer Schwächlinge, ſo gehen 
ſie zugrunde. Das wußten die Römer gar 
gut, wenn ſie das ver sacrum weihten. 
Doch was ſage ich das dem unter uns am 
weiteſten Gereiſten! Wenn es dem Kolo— 
niſten an den Kragen geht, mögen das 
nun europäiſche Menſchen im Kampfe 
gegen Indianer ſein, oder Spongien, die 


) Kosmos, IV, I, S. 3. 


333 


vom Rande ihres heimatlichen Felsſtückes 
in den Schlamm fallen, dann gewinnt der 
am beſten mit Waffen und individueller 
Kraft verſehene. Unbedingt iſt jede Iſo— 
lirung nur die Gelegenheit, nie die zwin— 
gende mechaniſche Urſache zur Umbildung. 
Die Konzeſſion, welche Darwin an Mo— 
ritz Wagner gemacht hat, geht über das, 
was wir oben auch als ſelbſtverſtändlich 
bezeichnet haben, nicht hinaus: Modifika— 
tionen, „which are neither of advantage 
or disad vantage of the modified organ- 
ism“. Es iſt ja niemals ernſtlich beſtritten 
worden, daß, wenn von Auswanderern 
ſchon eine beſtimmte Anlage mitgebracht 
wird, dieſelbe unter günſtigen äußeren 
Verhältniſſen zu einem Charakter ſich be— 
feſtigen kann. Sowie ein ſolcher Charakter 
mit einem minimalen Vorteile für den in— 
dividuellen Träger verbunden iſt, tritt die 
Konkurrenz und die Selektion ein. Kon— 
kurrenz tritt überall ein, wo veränderte 
Lebensverhältniſſe erhöhte oder neue An— 
ſprüche an den Organismus machen. Da— 
bei iſt die Konkurrenz unter Artgenoſſen 
nur ein ſpezieller Fall im struggle for life. 

In dieſer Weiſe und viel eindringlicher 
iſt die ſog. Migrationstheorie ſchon wieder— 
holt von Haeckel, Weismann, neueſtens 
von Semper auf ihr richtiges Verhältnis 
zur Selektionstheorie zurückgeführt wor— 
den. Wenn ich dennoch auch das Wort in 
der Angelegenheit genommen habe, ſo war 
es in der Hoffnung, daß gerade die nähere 
Betrachtung der Spongien, von welcher 
wir beide, M. Wagner und ich, aus— 
gingen, den ſehr verehrten Biologen über— 
zeugen könnte, wie die Abſonderung ohne 
Konkurrenz und Selektion nichts oder ſehr 
wenig vermag. 


Skizzen aus der Entwicklungsgeſchichte der Entwick- 
lungsgeſchichte. 


Ernſt Krauſe. 


m Schluſſe des vorigen Jahr— 
hunderts und in den erſten 
Jahrzehnten des laufenden 
finden wir die Entwicklungs— 
geſchichte ganz allgemein von 
den Ideen der „Naturphi— 
loſophen“ beherrſcht, und die Natur— 
forſcher bemüht, dieſes Joch abzuſchütteln. 
Es iſt nicht ganz leicht, aus den zum Teil 
höchſt dunkeln Ausſprüchen der erſteren eine 
genau entſprechende Vorſtellung von dem 
zu erlangen, was ſie eigentlich gewollt ha— 
ben; wir können nur im allgemeinen die 
Geſichtspunkte charakteriſiren, von denen 
ſie ausgingen, um den Kampf Baers und 
Cuviers gegen fie zu begreifen. Zunächſt 
muß zugegeben werden, daß die Grundidee 
der neuen Schule, welche die Welt und 
ihre Bewohner als veränderliche, ſich zu 
höherer Vollkommenheit erhebende Größen 


anſah, eine bloße Umbildung der Leibniz 


Bonnetſchen Idee von einer Stufenleiter 
war, in welche ſich alle Organismen ein— 
ordnen laſſen ſollten. Buffon hatte dieſe 


U 


Idee weiter ausgebildet, im Süßwaſſer— 
polypen die vermeintliche Mittelſtufe von 
Pflanzen und Tieren erkannt, und die Idee 
eines allgemeinen Grundtypus al— 
ler Tiere aufgeſtellt. „Wenn wir,“ ſo 
ſchrieb er 1753, „aus der grenzenloſen Ver— 
ſchiedenheit, welche die lebendige Natur 
uns darbietet, den Körper eines Tieres oder 
ſelbſt den des Menſchen auswählen, um uns 
ſeiner als Modell für die Vergleichung der 
Körper anderer organiſcher Weſen zu be— 
dienen, ſo werden wir finden, daß, obgleich 
alle dieſe Weſen eine ihnen eigentümliche 
Individualität beſitzen und nur durch un— 
endlich feine Abſtufungen von einander un— 
terſchieden ſind, zur ſelben Zeit ein pri— 
mitiver und allgemeiner Plan vor— 
handen iſt, dem wir auf einer langen 
Strecke folgen können, und von dem die 
Ausartungen weit geringer ſind, als die— 
jenigen von der mehr äußern Ahnlichkeit. 
Nicht zu gedenken der Organe der Ver— 
dauung, Zirkulation und Fortpflanzung, 


welche allen Tieren gemeinſam ſind, und 


neee 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. | 


335 


ohne welche das Tier aufhören würde, ein chen Prinzipien „das einfache Tier in dem 


Tier zu ſein, und weder fortfahren könnte 


Hauptverſchiedenheit des äußern Anſehens 
bedingen, eine ſchlagende Ahnlichkeit vor— 
handen, welche unwiderſtehlich zuder Idee 


eines einzigen Vorbildes führt, dem 


alle nachgebildet zu ſein ſcheinen“.“) 

Dieſe Stelle, auf welche ſich Goethe 
in ſeinen Werken wiederholt bezieht, bil— 
dete den Ausgangspunkt der Naturauffaſ— 
ſung des großen Dichters und der natur— 
philoſophiſchen Schule, in deren Mitte er 
ſtand, bis gegen das Jahr 1830. Seine 
Beobachtung der ſich „bildenden und um— 
bildenden Pflanze“, des Gemeinſamen im 
Knochenbau der Tiere, die Auffindung des 
als trennenden Charakter des Menſchen von 
den Tieren betrachteten Zwiſchenkiefers bei 
dem erſteren mußte ihn mit dem Buffonſchen 
Gedanken des Urtypus (dessin primitif 
et general) oder der Einheit des Typus 
befreunden, wobei er warnt, denſelben als 
„Unité du plan“ aufzufaſſen, welche Idee 


zu Mißverſtändniſſen führe. „Ich war völ— 


lig überzeugt,“ ſchrieb Goethe in den Tags 
und Jahresheften von 1790, „ein allge— 
meiner, durch Metamorphoſe ſich erhebender 
Typus gehe durch die ſämmtlichen organi— 
ſchen Geſchöpfe hindurch, laſſe ſich in allen 
ſeinen Teilen auf gewiſſen mittleren Stu— 
fen gar wohl beobachten und müſſe auch 
da noch anerkannt werden, wo er ſich auf 
der höchſten Stufe der Menſchheit ins Ver— 
borgene beſcheiden zurückzieht.“T Demgemäß 
ſuchte er in ſeiner 1796 verfaßten Abhand— 
lung über die Bedeutung der vergleichen— 
den Anatomie nach entwicklungsgeſchichtli— 


*) Histoire naturelle T. IV. (1753), 
p. 379 ff. 


zuſammengeſetzteren Menſchen wieder zu 
zu exiſtiren, noch ſich fortzupflanzen, ſo iſt 
im geringſten derjenigen Teile, welche die 


entdecken,“ nachdem er im Voraus be— 
merkt, daß er hier vorzüglich die Wirbel— 


tiere im Auge habe. 


Dieſe Schlüſſe waren die ganz natür— 
lichen und beinahe unvermeidlichen Folgen 
des bereits wiederholt hervorgehobenen 
Umſtandes, daß man das Studium der 
Entwicklungsgeſchichte an den Wirbeltieren 
begonnen und bis dahin ausſchließlich fort— 
geſetzt hatte. Dabei war nun früh die 
Ahnlichkeit der vorübergehenden Entwick— 
lungszuſtände der höheren Wirbeltiere mit 
den bleibenden Formen der niedern Wir— 
beltiere aufgefallen, und ſchon 1793 hatte 
Karl Heinrich Kielmeyer (1765 — 
1844) den Grundſatz aufgeſtellt, daß der 
Embryo höherer Tiere die Formenzuſtände 
niederer Klaſſen durchlaufe, eine Er— 
kenntnis, die durch den philoſophiſchen Un— 
fug, der in der Folge damit getrieben wurde, 
nichts von ihrer Fruchtbarkeit einbüßte. 
Kielmeyer ſelbſt ſtand entwicklungsge— 
ſchichtlichen Unterſuchungen fern, und wir 
wiſſen nicht, wie weit der geiſtreiche Mann 
in ſeinen aus jener Erkenntnis gezogenen 
Schlüſſen gegangen iſt, da er ſehr wenig 
Gedrucktes hinterlaſſen hat, doch ſcheinen 
ſeine Anſichten einen bedeutenden Einfluß 
auf die naturphiloſophiſche Schule geäu— 
ßert zu haben. 

Aus dieſen Grundlagen baute ſich die 
„Naturphiloſophie“ im engern Sinne als 
eine an ſich folgerichtige und unvermeidliche, 
wenn auch in ihren Schlüſſen zu weitge— 
hende, und ſich in einzelnen Köpfen in ein 
myſtiſches Träumen verlierende Weltan— 
ſchauung auf. Ihre allgemeinen Grund— 
ſätze, daß die Welt entwickelt, nicht erſchaf— 
fen jet, daß die organischen Weſen und 


4 


336 


Grundkräfte nicht von denen der anorga— 
niſchen Körper verſchieden ſeien, daß der 
Menſch ins Tierreich hineingehöre und aus 
demſelben emporgeſtiegen ſei, gelten heute 
als allgemein anerkannte Wahrheiten und 
wir haben demnach keine Urſache, dieſe Er— 
kenntnisſtufe an ſich gering zu ſchätzen. Bei 
dem vielgeſchmäheten Oken finden wir, 
gerade wie bei Lamarck, die Idee eines 
allmählichen Aufbaus der höheren Orga— 
niſationen aus den niederen, und beiden 
iſt gemeinſam, daß ſie die einzelnen Klaſſen 
der Tiere nach dem Beſitz oder dem Fehlen 
beſtimmter Organſyſteme und nicht nach 
einem Grundtypus abgrenzten, etwa ſo, 
wie wir noch heute Tiere mit Leibeshöhle 
und ohne Leibeshöhle gegenüberſtellen. 
„Die Natur,“ ſchrieb Lamarck in ſeiner 
1809 erſchienenen Philosophie zo00lo- 
gique*), „hat nicht gleich anfangs die her— 
vorragendſten Fähigkeiten der Tiere ſchaf— 
fen können, denn dieſe können nur mit Hilfe 
höchſt komplizirter Organſyſteme zu Stande 
kommen. Sie hat nun, um ſolche Organ— 
ſyſteme ins Daſein zu rufen, allmählich die 
Mittel dazu vorbereiten müſſen. Die Na— 
tur hat alſo, um bei den Organismen den 
Zuſtand der Dinge, den wir wahrnehmen, 
herbeizuführen, direkt, d. h. ohne irgend 
welchen organiſchen Vorgang, nur die ein— 
fachſt organiſirten Tiere und Pflanzen her— 
vorbringen müſſen, und ſie erzeugt dieſel— 
ben noch tagtäglich in derſelben Weiſe an 
günſtigen Orten und zu günſtigen Zeiten. 
Dadurch nun, daß ſie dieſen Organismen, 
die ſie ſelbſt erſchaffen hat, die Fähigkeiten 
der Ernährung, des Wachstums, der Fort— 
pflanzung und der jeweiligen Vererbung 
der in der Organiſation erworbenen Fort— 
ſchritte verlieh, und daß ſie allen organiſch 


deutſche Ausgabe von A. Lang, S. 142. 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


erzeugten Individuen endlich dieſe näm— 
lichen Fähigkeiten übertrug, wurden die 
Organismen aller Klaſſen und aller Ord— 
nungen mit der Zeit und durch die unend— 
liche Verſchiedenartigkeit der immer wech— 
ſelnden Verhältniſſe nach und nach her— 
vorgebracht.“ 

Hieran ſchließt Lamarck Betrachtun— 
gen über die Stufenleiter der Tiere, deren 
einzelne, von den Anfängen bis zu dem 
höchſten Organismus hinaufführende Stu— 
fen nach dem Beſitz gewiſſer Organſyſteme 
und deren relativer Ausbildung abgegrenzt 
werden. So wird die unterſte Klaſſe der 
Tiere, zu welcher er Monaden, Wechſeltier— 
chen, Kugeltierchen und Infuſorien zählt, 
durch den Mangel jeglicher Organe charak— 
teriſirt, nicht einmal eine Magenhöhle, nach 
Lamarck das niederſte Organ, tft bei ihnen 
vorhanden. Bei der nächſt höhern Stufe, 
den Polypen, iſt dieſes primitivſte Organ, 
die Magenhöhle, vorhanden, dagegen feh— 
len noch die ſpeziellen Organe der At— 
mung, des Kreislaufes und der Nerven. In 
die nächſt höhere Stufe rechnet er die 
Strahltiere und niedern Würmer, bei denen 
die Anfänge eines Nervenſyſtems ohne 
Zentralorgane ſich fänden, dagegen ein 
Kreislaufſyſtem noch fehle. Die Ringel— 
würmer mit den Kruſtern, Inſekten und 
Mollusken werden zu den beiden nächſt 
höheren Klaſſen (3. und 4. Stufe) gerech— 
net, bei denen die Organe der Atmung, 
des Kreislaufs und Nervenſyſtems fort— 
gebildet ſeien, um in der 5. und 6. Stufe 
(den niedern und höhern Wirbeltieren) ihre 
höchſte Vollendung zu erreichen. Von der 
Art, wie er ſich die Aufeinanderfolge der 
einzelnen Organſyſteme und ihrer Funk— 
tionen konſtruirte, mag als Beiſpiel ſeine 
allerdings nicht ganz ſtichhaltige Betrach— 


L 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


tung über die Aufeinanderfolge von Wil— 


lensnerven-, Muskel- und Sinnesnerven- 


Syſtem dienen: „Da es anerkannt iſt,“ 
ſagt er, „daß Muskelthätigkeit ſtattfinden 
kann ohne den Nerveneinfluß, ſo folgt dar— 
aus, daß das Muskelſyſtem erſt nach der 
Anlegung des allereinfachſten oder am 
wenigſten komplizirten Nervenſyſtems hat 
gebildet werden können . . . . Ich glaube 
berechtigt zu ſein, aus dieſen Betrachtun— 
gen zu ſchließen, daß das Muskelſyſtem 
ſpäter als das Nervenſyſtem in ſeiner ein— 
fachſten Zuſammenſetzung gebildet worden 
iſt, daß aber die Fähigkeit, vermittelſt der 
muskulöſen Organe Thätigkeiten und Orts— 
bewegungen auszuführen, bei den Tieren 
derjenigen, Senſationen erfahren zu kön— 
nen, vorausgegangen iſt.“ “) 

In gewiſſem Sinne ähnliche Anſichten 
hatte Oken in ſeiner 1806 erſchienenen 
Abhandlung „Über die Entwicklung der 
wiſſenſchaftlichen Syſtematik“ ausgeſpro— 
chen. „Jede Tierklaſſe,“ ſagt er darin, 
„und jede Tiergattung iſt charakteriſirt 
durch den ausſchließlichen Beſitz eigentüm— 
licher Organe . . . Der Menſch iſt die Ver— 
einigung aller Tiercharaktere, die Tiere 
ſind daher nur einzelne Ausbildungen ein— 
zelner dieſer Charaktere, folglich ſind ſie 
nichts anderes als totale Darſtellungen 
einzelner Organe des Menſchen, und dieſes 
in ihnen rein auskriſtalliſirte Organ iſt ihr 
Weſen und ihre Form, dieſes einzelne 
Organ iſt das ganze Tier, während es 
im Menſchen nur einen kleinen Teil aus— 
macht. Dieſe einzelnen zur Totalität 
gekommenen, oder zu einem ganzen Tier 
gewordenen Organe ſind im höchſten Über— 
maße entwickelt und überhaupt in Geſtalt 
und Aktion am reinſten, unvermiſchteſten 
12 313. 


337 


ausgeprägt. Denn alle anderen Organe 
ſind ja unterdrückt, ſobald die Idee der 
Tierheit in einzelne Tiere zerfällt; eben 
darin beruhet ja die Möglichkeit der vie— 
len Tierformen, ohne doch vom Grund— 
typus abzuweichen, daß ſich Organe auf 
Koſten der andern ausbilden, daß die 
Nahrung u. ſ. w., die allen zugeführt 
werden ſollte, vorzüglich ſich nur auf ein 
Syſtem wirft; würden durch das ganze 
Tierreich alle Organe in jedem Tiere gleich 
ſtark ernährt, ſo wäre ſchlechterdings keine 
Verſchiedenheit der Tiere zu denken, alle 
müßten ganz dieſelbe Form, und zwar, 
weil ſich alle im Gleichgewicht entwickel— 
ten, die menſchliche haben, nur würde 
das eine dieſer Tiere größer, das andere 
kleiner ſein als das andere . . . Aller 
Unterſchied der Tiere von einan— 
der beruht auf dieſer übermäßigen 
Ausbildung eines Syſtems bei 
Vernachläſſigung der andern . . . 
Wenn aller Tierunterſchied in dem 
Ungleichgewicht der Organe liegt, 
ſo muß notwendig alle Klaſſifika— 
tion auf dieſes nämliche Prinzip 
gegründet fein... Vor allem tft 
klar, daß ſo viele einſeitige Aus— 
bildungen von Organen wirklich 
vorhanden ſind, als überhaupt Or— 
gane in die Idee der Tierheit ge— 
hören; da aber das überwichtige Organ 
die Tierklaſſe beſtimmt, ſo muß auch 
die Natur ſo viele Klaſſen produzirt 
haben, als ſie Tierorgane in ſich trägt. 
Wir haben hiermit den Schlüſſel zur Sy— 
ſtematik ſchon gefunden, wenn wir nur 
einmal zu der Hauptthüre hineingegangen 
ſind, die uns den Anblick der Zahl und 
Natur der Organe der Tierheit überhaupt 
freigiebt; denn das Tierreich iſt nur das 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 


43 


@ 


338 


zerſchnittene individuale Tier, deſſen los— 
getrennte Organe dasſelbe ſpezifiſche Leben 
fortleben, welches ſie im Individuum leb— 
ten, nur jetzt ungebunden von andern 
Organen.“) Es gehört nicht hierher, 
weiter zu verfolgen, wie Oken nach dieſen 
Prinzipien die ſämmtlichen Tiere in Darm-, 
Gefäß-, Atem- und Fleiſchtiere einteilte. 
In der Gegenüberſtellung dieſer we— 
nigen Sätze ſehen wir den ganzen Gegen— 
ſatz der Naturauffaſſung dieſer beiden 
taturphiloſophen, die alle beide das Tier— 
reich nach dem ausſchließlichen Beſitz ge— 
wiſſer Organe klaſſifiziren wollten, alſo 
in der Syſtematik von demſelben Prinzip 
ausgingen. Bei Lamarck baut ſich das 
höhere Tier mit Organen auf, die dem 
niedern Tier nach und nach zugewachſen 


7 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


ſind, bei Oken find die Tiere nur unregel- 


mäßige Entwicklungen aus jenem „weit 


zurück verfolgbaren Grundſchema“ Buf- 


fons [dessin primitif et général qu'on 
peut suivre tres-loin], welches nur im 
Menſchen vollkommen ausgeführt iſt. Der 


Menſch, als „das Maß aller Dinge“, wie 


Protagoras geſagt, iſt alſo jener dem 
geſammten Tierreiche zugrunde liegende 
Typus, und da der Menſch ſich in feiner 
Entwicklung aus jenen Organen aufbaut, 


die in den einzelnen Klaſſen des Tierreichs 
zur einſeitigen Ausbildung gekommen ſind, 
jo iſt das erreich der „durchleuchtende 


Embryo des Menſchen“. In weiterer Aus— 
führung dieſer Ideen durfte dann Schel— 
ling jenes der geſammten lebendigen 


Vom erſten Ringen dunkler Kräfte 
Bis zum Erguß der erſten Lebensſäfte. 
Dieſe Ideen fanden in ihrer apriori— 
ſtiſchen und darum der Philoſophie deſto 
mundgerechteren Faſſung nur zu viel Bei— 
fall und beherrſchten denn auch die Ent— 
wicklungsgeſchichte lange Zeit vollſtändig. 
Die neueren und genaueren Beobachter, 
Pander und Baer voran, konnten ja die 


Kielmeyerſche Behauptung, daß die Em— 
bryonen der höheren Wirbeltiere den voll— 


endeten niedern Wirbeltieren ähnlich ſeien 
und daß in ihnen Zuſtände des Blutum— 
laufs, der Atmungs- und Ausſcheidungs— 
organe, ja äußere Formbildungen auf— 
träten, die den bleibenden Zuſtänden der 
unteren Stufen genau entſprechen, nicht 
leugnen, und als Martin Heinrich 
Rathke gegen das Ende des dritten Jahr— 
zehnts unſeres Jahrhunderts auch an den 
Embryonen der höheren luftatmenden 


Wirbeltiere das Auftreten der Kiemen— 


ſpalten der Fiſche erkannt hatte, ſchien die 
Idee des im Tierreich „durchleuchtenden 
Embryo des Menſchen“ vollends zu trium— 
phiren. 

Sie hatte einen tapfern Bundesge— 
noſſen in Etienne Geoffroy Saint— 
Hilaire (1772— 1844) gefunden, der 
das Studium der vergleichenden Anatomie, 
welches Oken unaufhörlich predigte, mit 
großem Erfolg betrieben und nebenbei dem 
Studium der menſchlichenMiß bildungen 


obgelegen hatte. Die Mißgeburten, welche 


Schöpfung zugrunde liegende Urbild von 


der Natur ſprechen laſſen: 
Ich bin der Gott, den ſie im Buſen hegt, 
Der Geiſt, der ſich in allem regt, 
* 
) 


Oken und Kieſer, Beiträge zur ver- 
gleichenden Zoologie, Anatomie und Phyſiologie. 
1806. S. 103-106. 


teufliſchen Umganges 


man lange Jahrhunderte nur als Straf— 
gerichte, Wunderzeichen und Folgen eines 
betrachtet hatte, 
wurden durch ihn in die Reihe der natür— 
lichen Entwicklungsergebniſſe eingereiht. 
In der Idee war dies bereits durch Mon— 
taigne (1533 — 1592) geſchehen, der in 


feiner bewunderungswürdigen Unbefan— 
genheit erkannte, daß auch die Mißgebur— 
ten Erzeugniſſe der Natur ſind, die nach 
ihren Geſetzen erklärt werden müſſen. 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 339 


Studien „Über menſchliche Monſtruoſi— 


täten“, und er faßte ſein Urteil über die 


„Ce que nous appellons monstres,“ 


ſchrieb er über dieſelben, „ne le sont 


pas a Dieu, qui voit en l’immensite de 
rachen, Haſenſcharte, mit im Körper ver— 


son ouvrage linfinite des formes qu'il 
y a comprinses. Et est à croire que 
cette figure qui nous estonne, se rap- 
porte et tient & quelque autre figure 
de mesme genre, incognu à l'homme. 
De sa toute sagesse il ne part rien que 
bon et commun et reiglé: mais nous 
n’en voyons pas l’assortiment et la re- 
lation.“ *) 

Die ſpätere Zeit war darüber nicht 


einfachen Mißgeburten in die Worte zu— 
ſammen: „Ce qui manque dans les mon- 
stres simples rélève un arrét, ce qu'ils 
ont de trop un excès de developpe- 
ment.“ Die Mißgeburten mit Wolfs— 


bliebenen Hoden, die Mikrokephalen u. |. w. 
ſtellen Hemmungen der regelrechten Ent— 
wicklung des menſchlichen Embryos dar, 


bei denen der Körper Formen und Bil— 


jo klar. Im Anfang des vorigen Jahr 
hunderts fand in der franzöſiſchen Akademie 
eine lange Diskuſſion zwiſchen Lemery 


und Winslow ſtatt, in welcher der letztere 


behauptete, die Mißgeburten entſtänden 


aus monſtröſen Keimen, die ſeit aller Ewig— 
keit dazu präformirt und prädeſtinirt ſeien, 
ſich zu Zwergen, Krüppeln, Doppelgeſtal— 
ten u. ſ. w. zu entwickeln. Lemer y äußerte 


dungen behält, die in beſtimmten, unter 
dem Menſchen ſtehenden Tierklaſſen als 
normale und charakteriſtiſche Bildungen 
auftreten, die aber für den regelrecht ent— 
wickelten menſchlichen Embryo nur Durch— 
gangsſtationen ſind. Dieſe wohlbegrün— 
dete und in der bekannten Vogtſchen Mikro— 
kephalentheorie aufrecht erhaltene Hem— 
mungstheorie Geoffroys wurde nun 
von einigen deutſchen Naturphiloſophen 
auf das geſammte Tierreich übertragen. 
Denn ebenſogut, wie man den Mikro— 


kkephalen als einen Menſchen charakteriſirt, 


die für ſeine Zeit kühne, aber im grunde 


doch weniger als die andere an Blasphemie 


ſtreifende Meinung, der Keim könne nor⸗ 


mal geweſen und erſt durch Zufälligkeiten 


und äußere Einflüſſe in eine widernatür— 
liche Entwicklungsrichtung gedrängt wor— 
den ſein. Dieſelbe Idee, auf entwicklungs— 
geſchichtliche Studien näher begründet, 
vertraten in Deutſchland Joh. Friedrich 


Meckel und in Frankreich der ältere 


Geoffroy in ſeinen 1822— 34 erſchie— 


nenen und ſpäter von ſeinem Sohne Iſi⸗ 


dor in demſelben Sinne fortgeſetzten 


0 Essais de Montaigne. Londres 1754. 
T. 6, p. 266. 


deſſen Gehirnausbildung auf derjenigen 
der letzten Vorſtufe des Menſchen, näm— 
lich des Affen, ſtehen geblieben iſt, ſo 
konnte man dieſen ſelbſt als einen nicht 
ganz fertig gewordenen Menſchen, und die 
unter ihm ſtehenden Tiere als ſchon auf 
früheren Stufen ſtehen gebliebene, „ge— 
hemmte“ Aſpiranten der Menſchenwürde 
betrachten, die niederſten aber als die er— 
ſten Anläufe der Natur zur Menſchwer— 
dung. Der Menſch ſelbſt alſo war jener 
im Anfange aller Schöpfung als Ziel vor— 
geſtellte Urtypus, die Menſchwerdung 


das alle Entwicklung regelnde Prinzip 


oder Leitmotiv, daher ſei alle Entwicklung 
im grunde dieſelbe, nur in den einzelnen 


340 


Klaſſen auf verſchiedenen Stufen gehemmt 
und aufgehalten. 

Das iſt Idee und Urſprung der be— 
rühmten Hemmungstheorie, welche 
lange Zeit das leitende Prinzip einer Reihe 
von Forſchern auf dem Gebiete der Ent— 
wicklungsgeſchichte blieb. Indem Geof— 
froy die Skelette des Vogels und Fiſches 
mit dem menſchlichen verglich, konnte er 
unzweifelhaft nachweiſen, daß ihre Ver— 
ſchiedenheiten viel geringer erſchienen, 
wenn des höherſtehenden Tieres Teile vor 
ihrer vollkommnen Ausbildung mit den 
entſprechenden Teilen des ausgebildeten 
niederen Tieres verglichen wurden. Er 
zeigte dies vorzugsweiſe am Schädel, wäh— 
rend andere Naturforſcher, wie Meckel, 
Tiedemann, Serres, von Baer, 
Rathke ähnliche Übereinſtimmungen der 
vorübergehenden Entwicklungszuſtände des 
Nervenſyſtems, Blutumlaufs, der Herzbil— 
dung, Geſchlechts- und Ausſcheidungsor— 
gane höherer Tiere mit den bleibenden der 
Fiſche, Amphibien und Reptile nachwieſen. 
Die Theorie der Hemmungsbildungen ver— 
vollkommnete ſich durch dieſe und ähnliche 
Unterſuchungen immer mehr und Serres 
zögerte nicht, ſie in allen ihren Konſequen— 
zen zu verteidigen. Die Stufenleiter der 
tieriſchen Organismen und die Einheit 
ihres Planes ſchien damit feſtgeſtellt, denn 
nach dieſer Annahme waren gewiſſermaßen 
alle Tiere nur ein und dasſelbe Tier (das 
„individuale Tier“ Okens), deſſen Teile 
früher oder ſpäter auf beſtimmten Stufen 
der Entwicklung angehalten, jedesmal die 
Merkmale einer andern Klaſſe, Familie 
oder Gattung erkennen ließen. 

„Einige Verteidiger,“ erzählt Baer“), 


) Über Entwicklungsgeſchichte der Tiere. I. 
1828. S. 200. 


NS 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


9 


„wurden ſo eifrig, daß ſie nicht mehr von 
Ahnlichkeit (der Fötalformen mit niedern 
Tieren), ſondern von völliger Gleichheit 
ſprachen und thaten, als ob die Überein— 
ſtimmung in jeder Einzelnheit nachgewie— 
ſen wäre. Noch kürzlich laſen wir in einer 
Schrift über den Blutlauf des Embryo: 
nicht eine Tierform laſſe der Embryo des 
Menſchen aus. Man lernte allmählich die 
verſchiedenen Tierformen als aus einander 


entwickelt ſich denken . . . Unterſtützt durch 


die Erfahrung, daß in den älteren Schich— 
ten keine Reſte von Wirbeltieren vorkom— 
men, glaubte man erweiſen zu können, 
daß eine ſolche Umformung der verſchie— 
denen Tierformen wirklich hiſtoriſch be— 
gründet ſei, und erzählte endlich ganz ernſt— 
haft und im einzelnen, wie ſie aus einan— 
der entſtanden wären. Nichts war leichter. 
Ein Fiſch, der ans Land ſchwimmt, möchte 
dort gern ſpazieren gehn, wozu er ſeine 
Floſſen nicht gebrauchen kann. Sie ver— 
ſchrumpfen in der Breite aus Mangel an 
Übung und wachſen daher in die Länge. 
Das geht über auf Kinder und Enkel ei— 
nige Jahrtauſende hindurch. Da iſt es 
denn kein Wunder, daß aus den Floſſen 
zuletzt Füße werden. Noch natürlicher iſt 
es, daß der Fiſch auf der Wieſe, da er 
kein Waſſer findet, nach Luft ſchnappt. 
Dadurch treibt er endlich in einer ebenſo 
langen Friſt Lungen hervor, wozu nur er— 
fordert wird, daß einige Generationen ſich 
unterdes ohne Atmung behalfen. — Der 
lange Hals der Reiher rührt daher, daß 
ihre Stammeltern dieſen Teil oft aus— 
ſtreckten, um Fiſche zu fangen. Die Jun— 
gen bekamen nun ſchon etwas ausgezogene 
Hälſe mit auf die Welt und kultivirten 
dieſelbe Unart, die ihren Nachkommen noch 
längere Hälſe gab, woraus denn zu hoffen 


Er 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


iſt, daß wenn die Erde nur recht alt wird, 
der Hals der Reiher gar nicht mehr zu 
meſſen ſein werde.“ 

Man ſieht hieraus, Baer polemiſirte 
in ſeinen jüngeren Jahren ebenſo lebhaft 
gegen Lamarck, wie er in ſeinen älteren 
Jahren gegen Darwin polemiſirt hat. 
Und doch ging ſeine Polemik nur aus dem 
Mißverſtändnis hervor, daß er glaubte, 
ihre Theorien ſetzten das einreihige Tier— 
ſyſtem als unausweichliche Konſequenz vor— 
aus, woran nicht einmal Lamarck, ge— 


ſchweige Darwin gedacht hat. Geoffroy 


hatte allerdings in demſelben Jahre (1828) 
ſeine Schrift: Sur le principe de l’unite 
de composition organique veröffentlicht, 
aber dieſe Einheit keineswegs ſo einſeitig 
aufgefaßt, wie Baer ſie, immer von der 
Entwicklungsgeſchichte der Wirbeltiere aus— 
gehend, verſtand. Dieſer hielt freilich 
damals und ſpäter die einreihige Entwick— 
lung des geſammten Tierſtammes für die 
notwendige Konſequenz der Lamarckſchen 
Anſichten. „Eine unvermeidliche Folge je— 
ner als Naturgeſetz betrachteten Vorſtel— 
lungsweiſe,“ ſo fährt Baer nach der De— 
monſtration am Reiher fort, „war die, 
daß eine früher herrſchende, ſeitdem ziem— 
lich allgemein als unbegründet betrachtete 
Anſicht von der einreihigen Stufenfolge 
der verſchiedenen Tierformen allmählich 
wieder feſtern Fuß gewann und, wenn auch 
oft nicht deutlich ausgeſprochen, ja ſelbſt 
ohne Bewußtſein der Forſcher, bei Urteilen 
über tieriſche Formen in Anwendung kam. 
Auch muß man geſtehen, daß, wenn jenes 
Naturgeſetz angenommen wurde, die Kon— 
ſequenz ebenfalls die Annahme dieſer An— 
ſicht forderte. Man hatte dann nur einen 
Weg der Metamorphoſe, den der ferne— 
ren Ausbildung, entweder erreicht in einem 


341 


Individuum (die individuelle Meta— 
morphoſe) oder durch die verſchiedenen 
Tierformen (die Metamorphoſe des 
Tierreichs), und die Krankheit durfte 
man geradezu eine rückſchreitende Me— 
tamorphoſe nennen, weil eine einreihige 
Metamorphoſe, wie eine Eiſenbahn, nur 
vorwärts und rückwärts gehen läßt, nicht 
zur Seite.“) 

Das Verhältnis der individuellen zur 
allgemeinen Metamorphoſe des Tierreichs 
oder, wie wie wir heute ſagen würden, 
der Ontogenie zur Phylogenie mußte, 
wenn es überhaupt beſtand, natürlich am 
beſten durch das genaue Studium der Ent— 
wicklungsgeſchichte eines beſtimmten Tieres 
kontrollirt werden können. Für Baer, 
der längſt ſeine Aufmerkſamkeit auf die 
durchgreifende Verſchiedenheit der einzel— 
nen Tierklaſſen in ihrem Grundtypus ge— 
richtet hatte, war es klar, daß ihr gegen— 
ſeitiges Verhältnis in keinem Falle als ein— 
reihige Fortbildung gefaßt werden könne. 
„Eine einreihige Fortbildung, wenn auch 
nur als logiſcher Begriff, ſcheint aber für 
die bleibenden Tierformen ganz notwen— 
dig, wenn ſie ſich in der Entwicklung der 
Individuen wiederholen ſoll.“ Wir erken— 
nen jetzt leicht den Trugſchluß, dem er hier 
unterlag. Allerdings muß jedes Lebeweſen 
nach der neueren Weltanſchauung das 
Endglied eines beſondern („geraden“) Ent: 
wicklungszweiges ſein, allein Baer ſchien 
nicht ſehen zu wollen, daß trotz der not— 
wendigen gegenſeitigen Divergenz dieſer 
Zweige ein Zuſammenhang, ein Ausſtrah— 
len aus gemeinſamem Stamme ſtattfinden 
konnte, ſo daß die Deszendenzlinie jedes— 
mal von der Zweigſpitze bis zur Wurzel, 


) A. a. O., S. 201. 


342 


aber die andern Zweige beiſeite laſſend, 
verfolgt werden könne. 

Mit Mißtrauen prüfte er die Theorie 
an der Entwicklungsgeſchichte des Hühn— 
chens, und ſeine erſten Unterſuchungen 
überzeugten ihn ſogleich, daß der weſent— 
liche Charakter des Wirbeltiertypus ſo 
ungemein früh im Hühnerembryo durch— 
blickt und alsbald die geſammte fernere 
Entwicklungsfolge beherrſcht, daß an ein 
Durchlaufen der verſchiedenen Klaſſen der 
wirbelloſen Tiere nicht gedacht werden 
könne. Schon 1823 trug er dieſe, Wahres 
und Falſches miſchende Erkenntnis in ei— 
ner Diſſertation“) vor, der die Theſis an— 
gehängt iſt: Legem a naturae scrutato— 
ribus proclamatam „evolutionem, quam 
prima aetate quodque subit animal, evo- 
lutioni, quam in animalium serie ob- 
servandam putant, respondere“ a na- 
tura alienam esse contendo. Daß die 
Wirbeltiere in ihrer allgemeinen Entwick— 
lung nicht erſt durch die Zuſtände z. B. der 
Gliedertiere und Sterntiere hindurchgehen, 
ließ ſich leicht beweiſen, aber nicht einmal 
die Säugetiere gehen durch die Zuſtände 
der Vögel hindurch, und die Vögel ſind 
in ihrer beſondern Richtung viel höher 
entwickelt als die Säugetiere, welche auf 
ihrem ganzen Leibe keine einzige Feder 
haben, ſondern nur dünne Federſchafte, 
„ſo daß wir,“ läßt er die Vögel ſprechen, 


5 


können, nie ſich frei vom Erdboden er— 
heben, wollen höher organiſirt ſein, als 
wir!“ Weniger berechtigt und auch von 
ihm ſelber ſpäter widerlegt, war der Ein— 
wurf, daß vom Standpunkte des obigen 
Geſetzes im Embryo keine Verhältniſſe 
vorkommen dürften, die nicht wenigſtens 
in einzelnen Tieren bleibende ſeien. So 
z. B. dürfte der Embryo keinen heraus— 
hängenden Dotterſack haben, weil kein 
Tier ſeinen Futterbeutel derartig mit ſich 
herumſchleppe. Später gab er ſelbſt zu, 
daß dieſer Vorratsſack eine bloße Mitgift 
der Mutter des Tieres ſei. 

Zum mindeſten glaubte Baer vier 
durch die Entwicklungsgeſchichte unverein— 
bare Typen im Tierreich erkannt zu haben, 
den peripheriſchen oder ſtrahligen Typus 
(Strahltiere), den gegliederten oder Längen— 
typus (Gliedertiere), den maſſigen oder 
Molluskentypus und den Wirbeltiertypus. 
„Typus,“ ſagt er, „nenne ich das La— 
gerungs verhältnis der organiſchen 
Elemente und der Organe. Dieſes 
Lagerungsverhältnis iſt der Ausdruck von 
gewiſſen Grundverhältniſſen in der Rich— 
tung der einzelnen Beziehungen des Lebens, 
z. B. des aufnehmenden und ausſcheiden— 
den Poles. Der Typus iſt von der Stufe 
der Ausbildung durchaus verſchieden, 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


ſo daß derſelbe Typus in mehreren Stufen 


„ſchon im Neſte weiter ſind, als ſie (die 
mehreren Typen erreicht wird. Der Grad 


Säugetiere) jemals kommen“. „. . . An 
der Fähigkeit zu fliegen haben allein die 
Fledermäuſe, die unter ihnen die vollkom— 
menſten ſcheinen, teil, die andern nicht. 
Und dieſe Säugetiere, die ſo lange nach 
der Geburt ihr Futter nicht ſelbſt ſuchen 

) Dissertatio de fossilium mammalium 
reliquiis. Regismont. 1823. 4. 


der Ausbildung beſtehen kann und umge— 
kehrt dieſelbe Stufe der Ausbildung in 


der Ausbildung des tieriſchen Körpers 
beſteht in einem größeren oder geringeren 
Maße der Heterogenität der Elementar— 
teile und der einzelnen Abſchnitte eines 


zuſammengeſetzten Apparates in der grö— 


ßeren hiſtologiſchen und morpho— 
logiſchen Sonderung. Je gleichmäßi— 


ger die ganze Maſſe des Leibes iſt, deſto 


geringer die Stufe der Ausbildung. Eine 


höhere Stufe iſt es, wenn ſich Nerv und 


Muskel, Blut und Zellſtoff ſcharf ſondern. 


Das Produkt aus der Stufe der 
Ausbildung mit dem Typus giebt 
erſt die einzelnen größeren Grup— 
pen von Tieren, die man Klaſſen 
genannt hat. In der Verwechslung des 
Grades der Ausbildung mit dem Typus 
der Bildung ſcheint mir der Grund man— 
cher mißlungenen Klaſſifikation und in der 
offenbaren Verſchiedenheit beider Verhält— 
niſſe ſchon hinlänglicher Beweis zu liegen, 
daß die verſchiedenen Formen der Tiere 
nicht eine einſeitige Fortbildung der Tiere 
von der Monade bis zum Menſchen dar— 
ſtellen.““) 5 

In der Unterſcheidung der Entwick— 
lungshöhe vom Grundtypus ging Baer 
1827 über Geoffroy und Cuvier hin— 
aus, von denen der erſtere in ſeiner Theorie 
der Konnexionen die Idee des hindurch— 
wirkenden Grundtypus erfaßt, Cu vier 
aber ebenſo wie Lamarck nicht genau 
genug erwogen hatte, daß jeder Typus 
auf verſchiedenen Entwicklungsſtufen vor— 
kommen kann, wodurch die täuſchenden Ahn— 
lichkeiten zwiſchen verſchiedenen Typen an— 
gehörenden, auf gleicher Entwicklungsſtufe 
ſtehenden Organismen entſtehen, vor wel— 
chen Baer warnte. Wir haben hier ſo— 
wohl die erſte klare Erkenntnis jener Ent— 
wicklungsverhältniſſe, die R. Owen ſpäter 
mit den glücklichen Ausdrücken der Homo— 
logie und Analogie unterſchieden hat, 
als auch die deutliche Erläuterung jenes 
Hauptgeſetzes der fortſchreitenden Vervoll— 

*) A. a. O., S. 208 u. 209. Die Zitate 
wurden der leichteren Überſicht wegen ineinander- 
geſchoben. 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


343 


kommnung, welches ſpätere Morphologen 
als Differentiation oder Arbeitstei— 
lung unter den Organen bezeichnet haben. 

Während jedoch Baer von einer 
Grundverſchiedenheit und Unvereinbarkeit 
der vier Typen ausging, ſuchte Geoffroy 
die Buffonſche Anſicht von der Einheit des 
Typus dadurch zu retten, daß er die Mög— 
lichkeit der Zurückführung des einen Typus 
auf den andern, die Übergänge und Ana— 
logien derſelben ins Auge faßte. Es war 
die Zeit der „geiſtreichen“, in neuerer Zeit 
wieder aufgelebten Vergleiche, in denen 
das Inſekt wegen ſeines Bauchmarks als 
ein umgekehrtes, auf dem Rücken kriechen— 
des Wirbeltier und ſein Schlundring als 
ein durchbohrtes Gehirn betrachtet wurde. 
So wollte Geoffroy (1822) den ur— 
ſprünglichen Wirbelkörper für einen Ring 
oder ein Rohr anſehen, um darin eine 
Analogie mit den Ringen der Ringeltiere 
finden zu können, und verteidigte ſpäter 
(1830) die Idee von Meyraux und 
Laurencet, nach welcher die Kephalo— 
poden zu dem Wirbeltiertypus Analogien 
zeigen ſollten, mit Eifer, weil ſie die „Ein— 
heit des Typus“ begünſtigte. Bekanntlich 
rief dieſe Parteinahme den berühmten 
Streit in der franzöſiſchen Akademie zwi— 
ſchen Cuvier und Geoffroy hervor, dem 
Goethe ſo viele Betrachtungen gewidmet 
hat und den er für wichtiger erklärt haben 
ſoll, als die gleichzeitig ausgebrochene 
Julirevolution. Aber ſchon zwei Jahre 
vor Cuvier hatte ſich Baer ganz in dem— 
ſelben Sinne gegen die von Geoffroy 
vertretenen Prinzipien erklärt. „Es ſcheint 
mir,“ ſchrieb er 1828, „daß aus längſt— 
verfloſſener Zeit ſich eine Menge von Vor— 
ſtellungen, die auf der Anſicht von einer 
Stufenleiter beruhen, fortgepflanzt haben 


Be 


344 
und, ohne daß wir es wüßten, unſer An- 
ſicht von der organiſchen Verwandtſchaft 
eine Farbe geben, die nicht aus der Unter— 


daß die Kephalopoden oder die Krebſe ſich 


anſicht? Aus einer unmittelbaren und 
freien Vergleichung der Organiſation kön— 


lusken. Gehen dieſe Verſuche, zwiſchen 
zwei entlegenen Ländern Brücken zu ſchla— 
gen, nicht aus dem Beſtreben hervor, jedes 
Glied auf zwei Seiten anzuknüpfen? ..“) 

Baer hatte recht. Es war das Auf— 
treten der Panzerfiſche als Nachfolger der 
Trilobiten in den älteſten. ſiluriſchen 
Schichten, welches dieſe Verſuche wachrief. 
Allein ihm und Cuvier konnte es nicht 
ſchwer werden, dieſe Anſichten Geoffroys 
und ſeiner Geſinnungsgenoſſen zu wider— 
legen, und Goethes Parteigenoſſe unter— 
lag, obwohl er in unſern Augen der weiter— 
ſchauende war. Geoffroy hatte vom phi— 
loſophiſchen Standpunkte recht, einen Zu— 
ſammenhang auch der verſchiedenſten Typen 


unter einander, die Möglichkeit eines ge— 
meinſamen Urſprungs aus derſelben Wur— 
zel ins Auge zu faſſen, allein an beſtimmte 
Eigentümlichkeiten der weiteſt divergirenden 
und ausgebildetſten Formen anknüpfend 
und von dem entſchuldbaren Irrtum aus— 
gehend, daß die höchſtentwickelten Glieder— 
tiere oder Weichtiere am nächſten an die 
niederſten Wirbeltiere hinanreichen müß— 
ten, machte er ſeinen Gegnern den Sieg 
leicht. „Uns iſt dieſes ein merkwürdiges 
Beiſpiel,“ ſchreibt Goethe mit ebenfo 
) A. a. O., S. 238. 


ſuchung ſtammt. Sind die Behauptungen, 


an die Fiſche anſchließen oder gar in fie 
übergehen, nicht Ausdrücke dieſer Grund 
Geiſtes war die natürliche Folge des Auf— 


nen ſie doch wohl nicht hervorgegangen | 
ſein. Ebenſo unbegreiflich iſt die Verbin- 
dung zwiſchen den Echinodermen und Mol- 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


großem Scharfſinn als Vertrauen in die 
Sache Geoffroys, „welchen großen 
Schaden es bringe, wenn der Streit um 
höhere Anſichten bei Einzelnheiten zur 
Sprache kommt.““) 

Wie dem auch ſein mag, dieſer Streit 
und das Unterliegen des tieferblickenden 


baus der Entwicklungsgeſchichte als Wiſſen— 
ſchaft durch einſeitiges Studium der Ent— 
wicklungsgeſchichte an den höchſten Tieren. 
Nachdem Erasmus Darwin und La— 
marck die Abſtammung der höheren Tiere 


von den niederen gepredigt hatten, hätte 


es wohl nahe gelegen, dieſen Aufbau mit 
der Beobachtung der Entwicklung der nie— 
derſten Tiere zu beginnen, und hier hätte 
man bei der größeren Einfachheit der in 
betracht kommenden Verhältniſſe ohne 
Zweifel viel leichter die von der Natur— 
philoſophie geforderte Übereinſtimmung 
der erſten Entwicklungsſtufen aller Tiere 
erkannt. Beweis dafür iſt, daß Baer bei 
dem erſten flüchtigen Blick auf die Ent— 
wicklungsgeſchichte der Meduſen ſofort die 
Gaſtrulalarve erkannte, deutlich beſchrieb 
und erkennbar abbildete, die er bei ſpezi— 
eller Verfolgung dieſer Unterſuchungen 
leicht bei der Mehrzahl ſeiner Typen wie— 
dergefunden haben würde. Aber jedenfalls 
lag es näher, an das bekanntere, den Wir— 
beltierkörper anzuknüpfen, um von der 
Beobachtung ſeiner Entwicklung langſam 
Schritt für Schritt zurückgehend, unter 
Abweiſung der erſten Früchte der Erkennt— 
nis nach manchen Irrwegen ſchließlich doch 
bei einer den erſten Ahnungen der Natur— 
philoſophen naheſtehenden Erkenntnis an— 
zulangen. 

N *) In feinem 1830 geſchriebenen Bericht 
über dieſen Streit. 


* 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


Es iſt ebenſo lehrreich als intereſſant, 
dieſen allmählichen mühſamen Erkenntnis— 
weg, der hier weniger einer Bergerſtei— 
gung als dem Hinabklettern in einen ſtei— 
len, dunklen Schacht gleicht, bei Baer zu 
verfolgen. Er geht von der Überzeugung 
aus, die Typen ſeien ohne Beziehung auf 
einander. In jedem Entwicklungsſtadium 
gehört jedes Tier von unten herauf ſeinem 
ſpeziellen Typus an, die Entwicklung ſelbſt 
beſteht nur in der Differentiation der Ge— 
webe und Organe. „Vor allen Dingen iſt 
es klar,“ ſchreibt er, „daß die Verhältniſſe, 
welche wir den höhern und niedern Grad der 
Ausbildung des Tieres genannt haben, 
ganz übereinſtimmen mit der in der Ent— 
wicklungsgeſchichte des Individuums im— 
mer mehr hervortretenden hiſtologiſchen 
Sonderung. In dieſer Hinſicht iſt alſo 
große Übereinſtimmung. Die Grundmaſſe, 
aus der der Embryo beſteht, iſt überein— 
ſtimmend mit der Körpermaſſe der einfach— 
ſten Tiere. In beiden ſind wenig beſtimmte 
Formen, ein geringer Gegenſatz von Tei— 


len, und die hiſtologiſche Sonderung bleibt 


noch hinter der morphologiſchen zurück. 
Wenn wir nun die niederen Tiere über— 
blicken, in einigen mehr innere Ausbildung 
bemerken als in andern und ſie dann nach 
dieſer Ausbildung in eine Reihe ſtellen 
oder aus einander entwickelt uns denken, 
ſo iſt es notwendig, daß wir in der einen 


wirklich hiſtoriſch begründeten Folge und 


in der andern, genetiſch gedachten Reihe 
eine Übereinſtimmung eben in dieſer 
fortgehenden innern Sonderung finden, 
und es laſſen ſich alſo eine Menge Über— 
einſtimmungen zwiſchen dem Embryo höhe— 
rer Tiere und der bleibenden Form niede— 
rer Tiere nachweiſen. 

„Dadurch iſt aber noch nicht erwieſen, 


4; 


daß jeder Embryo einer höhern Tierform 


allmählich die niederen Tierformen durch— 
laufe. Vielmehr ſcheint ſich der Typus 
jedes Tieres gleich anfangs im Embryo 
zu fixiren und die ganze Entwicklung zu 
beherrſchen. 

„Unſere Erzählung der Entwicklungs— 
geſchichte des Hühnchens iſt nur ein langer 
Kommentar zu dieſer Behauptung. Die 
Wirbelſäule iſt der zuerſt ſich ſondernde 
Teil. Von dieſer erheben ſich die Rücken— 
platten, bald treten auch die Bauchplatten 
hervor und das Rückenmark ſondert ſich. 
Alle dieſe Bildungsmomente treten ſehr 
früh auf, und man ſieht, daß von jetzt ab 
von einer Übereinſtimmung mit einem wir— 
belloſen Tiere nicht mehr die Rede ſein 
darf, daß vielmehr die Verhältniſſe, welche 
den weſentlichen Charakter der Wirbel— 
tiere bilden, die erſten ſind, die auftreten. 
Es iſt aber der Anfang der Entwicklungs— 
geſchichte für alle Klaſſen von Wirbeltieren 
ſehr ähnlich. Deshalb können wir nicht 
blos für die Vögel, ſondern allgemeiner 
ſagen: Der Embryo des Wirbeltiers 
iſt ſchon anfangs ein Wirbeltier, 
und hat zu keiner Zeit Übereinſtimmung 
mit einem wirbelloſen Tiere. Eine blei— 
bende Tierform aber, welche den Typus 
der Wirbeltiere hätte, und eine ſo geringe 
hiſtologiſche und morphologiſche Sonde— 
rung, wie die Embryonen der Wirbel— 
tiere, iſt nicht bekannt. Mithin durch— 
laufen die Embryonen der Wirbel— 
tiere in ihrer Entwicklung garkeine 
(bekannten) bleibenden Tierformen. 

„Sollte ſich aber für die Entwicklungs- 
geſchichte des Individuums als Inhaber 
einer beſonderen organischen Form gar kein 
Geſetz finden laſſen? Ich glaube, ja, und 
will verſuchen, es aus folgenden Betrach— 


Kosmos, Jahrg. IV. Heft 5. 


4 


346 Ernſt Krauſe, 


Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


tungen zu entwickeln. Die Embryonen der därme heraus, es tritt ein Unterſchied in 


Säugetiere, 


Vögel, Eidechſen, Schlangen, den Extremitäten ein, und der Schnabel 


wahrſcheinlich auch Schildkröten, ſind in | wächſt hervor; die Lungen rücken nach oben, 


frühern Zuſtänden einander ungemein ähn- 
lich im ganzen ſowie in der Entwicklung 
der einzelnen Teile, ſo ähnlich, daß man 


oft die Embryonen nur nach der Größe | 
Entwicklung der Flügel und Luftſäcke, 


unterſcheiden kann. Ich beſitze zwei kleine 
Embryonen in Weingeiſt, für die ich ver— 


ſäumt habe, die Namen zu notiren, und ich 
bin jetzt durchaus nicht im Stande, die | 
Landvogel. Der Schnabel, die Füße gehen 


Klaſſe zu beſtimmen, der ſie angehören. 
Es können Eidechſen, kleine Vögel, oder 
ganz junge Säugetiere ſein. So überein— 
ſtimmend iſt Kopf- und Rumpfbildung in 
dieſen Tieren. Die Extremitäten fehlen 
aber jenen Embryonen noch. Wären ſie 
auch da, auf der erſten Stufe der Ausbil— 
dung begriffen, ſo würden ſie doch nichts 
lehren, da die Füße der Eidechſen und 
Säugetiere, die Flügel und Füße der Vö— 
gel, ſowie die Hände und Füße der Men— 
ſchen ſich aus derſelben Grundform ent— 
wickeln. Je weiter wir alſo in der Ent— 
wicklungsgeſchichte der Wirbeltiere zurück— 
gehen, deſto ähnlicher finden wir die Em— 
bryonen im ganzen und in den einzelnen 
Teilen. Erſt allmählich treten die Charak— 
tere hervor, welche die größern und dann 
die, welche die kleineren Abteilungen der 
Wirbeltiere bezeichnen. Aus einem all- 
gemeineren Typus bildet ſich alſo 
der ſpeziellere hervor. Das bezeugt 
die Entwicklung des Hühnchens in jedem 
Momente. Im Anfange iſt es, wenn der 
Rücken ſich ſchließt, Wirbeltier und nichts 
weiter. Indem es ſich vom Dotter ab— 
ſchnürt, die Kiemenplatten verwachſen und 
der Harnſack hervortritt, zeigt es ſich als 
Wirbeltier, das nicht frei im Waſſer leben 
kann. Erſt ſpäter wachſen die beiden Blind— 


| 


die Bruſtſäcke ſind in der Anlage kennt— 


| lich, und man kann nicht mehr zweifeln, 


daß man einen Vogel vor ſich habe. Wäh— 
rend ſich der Vogelcharakter durch weitere 


durch Verwachſung der Mittelfußknorpel 
u. ſ. w. noch mehr ausbildet, verliert ſich 


die Schwimmhaut, und man erkennt einen 


aus einer allgemeinen Form in eine be— 


ſondere über, der Kopf bildet ſich aus, der 


Magen hatte ſich ſchon früher in zwei Höh— 
lungen geſchieden, die Naſenſchuppe er— 


ſcheint. Der Vogel erhält den Charakter der 


Hühnervögel und endlich desHaushuhns.“) 

Ich habe dieſe klaſſiſche Zuſammen— 
faſſung unverkürzt geben wollen, um dar— 
an die Vermutung knüpfen zu können, wie 
der Verfaſſer durch rein logiſche Folgerun— 
gen aus dieſen Beobachtungen zur Erkennt— 
nis höherer, ſeinen unmittelbaren Beob— 
achtungen widerſtreitender Wahrheiten ge— 
langen mußte. Er hatte geſehen, daß das 
Gemeinſame einer größeren Tiergruppe ſich 
früher im Embryo bildet, als das Beſon— 
dere, und mußte wohl ſchließen, daß dieſes 
Geſetz auch über den Wirbeltiertypus hin— 
aus wirken müſſe, und daß die Beſonder— 
heit des Wirbeltiertypus ſich aus einer grö— 
ßeren, das geſammte Tierreich umfaſſen— 
den Allgemeinheit entwickelt haben müßte. 
Die wenigen genauen Beobachtungen, die 
er und andere Beobachter damals über die 
erſte Entwicklung von Vertretern der andern 
Typen gemacht hatten, waren einer der— 
artigen Verallgemeinerung auch keineswegs 
entgegen. Baer ſagt darüber: „Eine un— 

4) A. a. O., S. 220—221. 


BE 


— 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


mittelbare Folge, ja nur ein veränderter 
Ausdruck des oben Gezeigten iſt es, wenn 
wir ſagen: Je verſchiedener zwei 
Tierformen ſind, um deſto mehr 
muß man in der Entwicklungsge— 
ſchichte zurückgehen, um eine Über— 
einſtimmung zu finden Dieſe 
Bemerkungen führen uns zu der Frage, 
ob wir denn nicht immer weiter zurückgehend 
auf eine Stufe gelangen können, wo auch 
die Embryonen der Wirbeltiere und der 
Wirbelloſen übereinſtimmen. Ich werde 
in einem ſpätern Zuſatze zu erweiſen ſuchen, 
daß auch die gegliederte Tierreihe mit 
einem Primitivſtreifen ihre Entwicklung 
beginnt. In dieſem kurzen Momente würde 
alſo Übereinſtimmung zwiſchen ihnen und 
den Wirbeltieren ſein. In dem eigentli— 
chen Keimzuſtande iſt aber wahrſcheinlich 
Übereinſtimmung unter allen Embryonen, 
die aus einem wahren Ei ſich entwickeln. 
Hierin liegt ein weſentlicher Grund, den 
Keim für das Tier ſelbſt anzuſehen ... 
Je weiter wir alſo in der Entwicklung zu— 
rück gehen, um deſto mehr finden wir auch 
in ſehr verſchiedenen Tieren eine Überein— 
ſtimmung. Wir werden hierdurch zu der 
Frage geführt: ob nicht im Beginne der 
Entwicklung alle Tiere im weſentlichen ſich 
gleich ſind, und ob nicht für alle eine ge— 
Da der 
Keim das unvollkommene Tier iſt, ſo kann 
man nicht ohne Grund behaupten, daß die 
einfache Blaſenform die gemeinſchaftliche 
Grundform iſt, aus der ſich alle Tiere 
nicht nur der Idee nach, ſondern hiſtoriſch 
entwickeln.“) 

Mit dieſer Verallgemeinerung erreichte 
Ba er, feiner Zeit vorgreifend, eines der 
letzten greifbaren Reſultate der Entwick— 


*) A. a. O., S. 223—224. 


347 


lungsgeſchichte. Er hatte gezeigt, wie ſich 
aus der völlig homogenen Grundmaſſe des 
Keims das im Aufbau höchſt Heterogene 
durch hiſtologiſche Sonderung erzeugt, nun 
ſuchte er auch auf das Urſprüngliche der 
Form zurückzugelangen und kam auf die Bla⸗ 
ſenform, ſtatt auf die Kugelform der einfa— 
chen Zelle, welche erſt eine ſpätere Genera— 
tion erkannte. Seine Arbeit war im gewiſſen 
Sinne eine das ganze Gebiet reformirende, 
vor allem hatte er das Vorurteil der Na— 
turphiloſophen, daß die Idee der Menſch— 
werdung hinter aller tieriſchen Entwicklung 
ſtünde und jenes treibende Motiv bilde, 
welches Sennert, Morus, Morin und 
Stahl in einer Art Seele ſuchten, wider— 
legt, er hatte gezeigt, daß die Anfänge der 
Entwicklung nur auf den unterſten Stufen 
dieſelben ſeien, daß die Wege dann immer 
auseinanderliefen, daß zuerſt die Klaſſe, 
dann die Abteilung, hierauf die Gattung, 
endlich Art und Individuum ſich aus den 
gleichen Anfängen hervorbilde und aus— 
präge. Wir müſſen uns wundern, daß er 
nicht noch ein wenig weiter ging, denn er 
ſtellte ſchon 1828 ein Schema der Tiere 
nach ihrer Entwicklungsgeſchichte auf, das, 
wenn man von der ſpätern Trennung der 
Strahltiere in Pflanzentiere und Stachel— 
häuter abſieht, unſern heutigen genetiſchen 
Vorſtellungen vom Tierreiche ſogar in ſo 
weit entſpricht, als darin Amnioten und 
amnionloſe Wirbeltiere bereits als die bei— 
den Hauptgruppen geſchieden und unter 
den erſteren wieder Vögel und Reptilien 
als zuſammengehörige Gruppe (Huxleys 
Sauropſiden!) den Säugetieren gegen— 


übergeſtellt werden. Sogar die einzelnen 


Abteilungen der Säugetiere ſchied er nach 


ihrer Entwicklungsgeſchichte und zeigte auf 


dieſe Weiſe klar, daß das natürliche 


348 


Syſtem der Tiere nur ein genetiſches ſein 
könne. 

Er ahnte das hinter dieſemFFortſchreiten 
aus dem Allgemeinſten in das Beſonderſte 
der Bildung ſtehende Grundgeſetz und ſprach 
es in den ſchönen Worten aus: „Hat 
aber das eben ausgeſprochene allgemeinſte 
Reſultat Wahrheit und Inhalt, ſo iſt es 
ein Grundgedanke, der durch alle Formen 
und Stufen der tieriſchen Entwicklung 
geht und alle einzelnen Verhältniſſe be— 
herrſcht. Derſelbe Gedanke iſt es, der im 
Weltraum die verteilte Maſſe in Sphären 
ſammelte und dieſe zu Sonnenſyſtemen ver— 
band, derſelbe, der den verwitterten Staub 
an der Oberfläche der metalliſchen Plane— 
ten in lebendige Formen verwandeln ließ. 
Dieſer Gedanke iſt aber nichts als das 
Leben ſelbſt, und die Worte und Silben, 
in welchen es ſich ausſpricht, ſind die ver— 
ſchiedenen Formen des Lebendigen.“ ) 
Nirgends wohl, dürfen wir hinzuſetzen, iſt 
der Gedanke des Monismus ſchöner aus— 
geſprochen worden. 

Baers Arbeiten wirkten befruchtend, 
wie keine andern auf das Studium der 
Entwicklungsgeſchichte und riefen eine all— 
gemeine Begeiſterung für dieſelbe hervor. 
War Wolff der Begründer dieſer Wiſſen— 


ſchaft, ſo wird Baer in aller Zeit den 


Ruhm in Anſpruch nehmen dürfen, der 
Baumeiſter des Gebäudes geweſen zu ſein, 
auf welches wir Deutſche mit beſonderem 
Stolz zurückblicken. Denn auch der weit 
aus wichtigſte Teil der ſpätern Arbeit 
wurde von deutſchen Forſchern geleiſtet. 


lich. 


Hier ſind vor allem noch die Arbeiten von 
Martin Heinrich Rathke in Königs— 
berg ſowohlüber die Entwicklungsgeſchichte 
der Wirbelloſen (Krebſe, Inſekten, Mollus- 
9 A. a. O., S. 264. 


Ernft Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


ken) als der Wirbeltiere, ferner die muſter— 
gültigen Unterſuchungen von Wilhelm 
Biſchof in München über die Entwicklung 
der Säugetiere und die von Johannes 
Müller in Berlin über die Stachelhäu— 
ter zu erwähnen. 

Dieſe älteren Unterſuchungen hatten 
die von Baer entdeckte Thatſache beſtä— 
tigt, daß in den Eiern aller Tiere bis zum 
Menschen, deſſen Ei Baerzuerſt?) erkannte, 
die Entwicklung von dem Keimbläschen 
ausgeht, aber wie das Keimbläschen ſelbſt 
und die aus ihm hervorgehenden Keim— 
blätter, die ſchon Wolff beſchrieben hat— 
te, entſtehen, klar zu erkennen, blieb einer 
jüngern Generation vorbehalten. Schon 
Wolff hatte ausgeſprochen, daß ſich der 
Pflanzenkörper aus Zellen aufbaue, deren 
elementarer Charakter aber von ihm nicht 
klar erkannt wurde, ſondern erſt 1838 von 
Schleiden in Jena nach ſeiner wahren 
Bedeutung gewürdigt wurde. Unmittel— 
bar darauf wendete Theodor Schwann 
in Berlin, ein Schüler Johannes Mül— 
lers, dieſe Entdeckung auf den Tierleib 
an, und nachdem man ſchließlich das Wer— 


man, daß das Ei der Tiere und Pflanzen 
in ſeiner Urform urſpünglich eine einfache 
Zelle iſt, die ſich erſt durch wiederholte 
Teilung zu dem Zellenkomplex entwickelt, 
den wir als Keimblaſe kennen gelernt haben. 
Nun wurden einige ſchon früher gemachte 


Beobachtungen über die früheſten Entwid=. 


lungszuſtände der Embryonen erſt verſtänd— 
Einige ausländiſche Forſcher, wie 
Prevorſt und Dumas (1824) und Rus⸗ 


coni (1836), hatten nämlich bemerkt, daß 


die Entwicklung mit einer Furchung (seg- 


) 1827, nicht 1837, wie es im erſten 
Artikel durch einen Druckfehler heißt. 


— 


den des Eies ſelbſt verfolgt hatte, fand - 


* 


mentation) des Ei-Inhalts beginne, die 
durch immerwährende Wiederholung in 
den meiſten Fällen erſt zwei, dann vier, 
acht, ſechzehn u. ſ. w. Zellen liefert, welche 
einen kleinen Zellenhaufen bilden, der die 
Grundlage der weiteren Entwicklung dar— 
ſtellt. Dieſe Furchungen und aus ihnen her— 
vorgehende Zellhäufchen waren in der Folge 
häufiger beobachtet worden, aber erſt Ro— 
bert Remak in Berlin verſtand es 1851, 
in ſeinen ausgezeichneten Unterſuchungen 


nachzuweiſen. Er zeigte gegen Reichert, 


klärt hatte, wie die Zellen des durch wie— 
derholte Teilung entſtandenen Häufchens 
ſich ſchließlich in mehrere Lagen ſondern 
und die ſchon von Wolff beobachteten 
Keimblätter bilden, von denen alſo jedes 
urſprünglich aus einer einfachen Zellen— 


nur den erſten Urſprung der Gewebe, 
ſondern er machte auch auf die in dieſen 
Zellen und den von ihnen zuſammengeſetz— 


aufmerkſam, wobei übrigens die früher 
mitgeteilten Baerſchen Anſichten nur un— 
weſentlich modifizirt wurden. 


Erkenntnis war, daß das Auftreten der 
beiden primären Keimblätter als der An— 
fang aller weiteren Differenzirung durch 
das geſammte Tierreich erkannt wurde, 
mit Ausnahme der allerniederſten Tiere, 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


349 


bei denen überhaupt keine weitere Diffe— 

renzirung ſtattfindet, weil ſie zeit ihres 
Lebens entweder aus einer einfachen Zelle 
oder aus einer Geſellſchaft gleichwerti— 
ger Zellen beſtehen. Der berühmte eng— 
liſche Naturforſcher Thomas Huxley 
erkannte 1849 dieſe Keimblätter in dem 
Körper der Pflanzentiere, den ſie vielfach 


ausſchließlich zuſammenſetzen, ſo daß keine 


weitere Vermehrung der Schichten ſtatt— 


findet, und bezeichnete das äußere die— 


über die Entwicklung der Wirbeltiere denUr⸗ 
ſprung der Keimblätter aus dieſen Zellen | 


der die Frage mehr verwirrt als aufge- | 


ſchicht beſteht. Remak zeigte hierin nicht 


ſer Blätter, aus welchem ſich die äußere 
Haut und das Fleiſch entwickelt, als das 
Außenblatt oder Ectoderm, und das 
innere Blatt, aus welchem die Organe der 
Ernährung und Fortpflanzung hervor— 
gehen, als das Innenblatt oder Ento— 
derm. Allmählich wurde das Auftreten 
dieſer beiden primären Keimblätter als 
gleichmäßiger Anfang der Arbeitsteilung 
unter den durch Teilung vermehrten Zel— 
len der Keime aller Tierkreiſe erkannt, ſo 
daß alſo hier eine Homologie der erſten 
Entwicklung auch der verſchiedenſten Typen 


deutlich erkannt wurde. Die Bedeutung 


ten Blättern eingetretene Arbeitsteilung 


Der wichtigſte Fortſchritt der ſpätern 


aller dieſer Beobachtungsthatſachen konnte 
aber erſt viel ſpäter erkannt werden, nach— 
dem in der Darwinſchen Theorie die 
Leuchte für alle auf dem weiten Ozean 
der Biologie umherirrenden Forſcher auf— 
gegangen und damit auch der entwicklungs— 
geſchichtlichen Forſchung der Kompaß in 
die Hand gedrückt worden war, welcher 
ihr eine beſtimmte Richtung gab und das 


Pfadfinden erleichterte. 


(Schluß folgt.) 


9 


Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


Bon 


(mM) habe bei früheren Gelegen- 
ee heiten, insbefondere in meinem 
e Aufſatze „Die Inſekten als 
i unbewußte Blumenzüchter“ ), 
N in allgemeinen Umriſſen dar— 
S zulegen verſucht, wie aus den 
Windblütlern erſt einfache, offene, allgemein 
zugängliche, dann mehr und mehr beſtimm— 
ten Beſucherkreiſen angepaßte Blumen her— 
vorgegangen ſein mögen, und dabei auch 
die beſondere Geſchmacksrichtung einerſeits 
der fäulnisſtoffliebenden Dipteren, andrer— 
ſeits der Tagfalter in bezug auf Farben 
und Düfte berückſichtigt und zur Erklärung 
ihrer Züchtungsprodukte benutzt, im übri— 
gen aber die den einzelnen Anpafjungs- 
ſtufen der Blumen eigentümlichen Farben 
unberückſichtigt gelaſſen. Die geordnete 
Zuſammenſtellung meiner in den letzten 
ſechs Sommern (1874 — 79) auf den Al- 
pen geſammelten Beobachtungen hat mir 
nun Veranlaſſung gegeben, die Entwick— 


lung der Blumenfarben in umfaſſenderer 


Weiſe in betracht zu ziehen und dabei na— 
mentlich auch die Frage ins Auge zu faſſen: 
*) Kosmos, Bd. III, Heft 4—6. 


Dr. Hermann Müller. 


Iſt die Entwicklung der Blumen 
von urſprünglichen, allgemein zu— 
gänglichen zuſpäteren, auf gewiſſe 
Beſucherkreiſe beſchränkten Anpaſ— 
ſungsſtufen von der Entwicklung 
beſtimmter, in gleicher Ordnung auf 
einander gefolgter Blumenfarben 
begleitetgeweſenund welches iſt, im 
bejahenden Falle, die ſtattfindende 
Reihenfolge? Oder ſind die ver— 
ſchiedenen Blumenfarben in ganz 
verſchiedener Reihenfolge aus ein— 
ander hervorgegangen und — abge— 
ſehen von den Dipteren- und Fal— 
terblumen — ohne erkennbaren Zu— 


ſammenhang mit den Anpaſſungs— 


ſtufen der Blumen? 

Zur Beantwortung dieſer Frage habe 
ich die auf den Alpen von mir geſammel— 
ten Beobachtungen auf dreierlei Weiſe zu 
verwerten geſucht: 

a. ſummariſch, indem ich ſämmtliche 
von mir näher unterſuchte Blumen nach 
den Anpaſſungsſtufen, auf denen ſie ſtehen, 
klaſſifizirte und die ſo gebildeten Ab— 
teilungen in bezug auf ihre Blumen— 


<> We 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


farben und den Inſektenbeſuch mit einan— 
der verglich; 

b. phylogenetiſch, indem ich in den— 
jenigen Familien, in denen die mir näher 
bekannten Arten einen deutlichen Fortſchritt 
von niederen zu höheren Anpaſſungsſtufen 
erkennen ließen (ſie ſind in meinem letzten 
Aufſatze behandelt), dieſe ebenfalls in Be— 
zug auf ihre Blumenfarbe und die ihnen 
zuteil werdenden Kreuzungsvermittler ins 
Auge faßte; 

c. ontogenetiſch (nur an einem ein— 
zigen Beiſpiele durchgeführt), indem ich 
die in der individuellen Entwicklung nach 
einander auftretenden Blumenfarben als 
Wiederholung der in der Stammesentwick— 
lung nach einander aufgetretenen nachwies. 
A. Summariſche Behandlung der Frage. 

Um die ganze Summe der von mir 
beobachteten Blumenbeſuche *) in der an— 
gegebenen Richtung zu verwerten, habe ich 
ſämmtliche beobachteten Blumen nach An— 
paſſungsſtufen und Farben geordnet und 
dann umfaſſende ſtatiſtiſche Tabellen an— 
gefertigt, aus denen die Beteiligung der 
verſchiedenen Zweige des Inſektenſtammes 
am Beſuche dieſer verſchiedenen Blumen— 
abteilungen leicht erſichtlich iſt. Da es ſich 
hierbei vor allem um eine klare Geſammt— 
überſicht handelte, ſo mußten bei Aufſtel— 
lung dieſer ſtatiſtiſchen Tabellen alle fei— 
neren Abſtufungen ſowohl der Farben als 
der Formanpaſſung der Blumen vernach— 
läſſigt werden. Ich bin dadurch zu folgen— 
den Ergebniſſen gelangt: 

1) Pollenblumen, d. h. einfache, 
offene, regelmäßige Blumen, die keinen 
Honig abſondern, ſondern ihren Kreuzungs— 

) 5712 verſchiedenartige Beſuche, ausge— 


führt von 841 verſchiedenen Inſektenarten an 
422 verſchiedenen Blumen. 


351 


vermittlern nur Pollen darbieten. Faſſen 
wir ihre Blumenfarben ins Auge, ſo ſcheint 
die aufgeworfene Frage ſogleich beim er— 
ſten zu ihrer Löſung gethanen Schritte ver— 
neint werden zu müſſen. Denn ſchon un— 
ter den Pollenblumen, die doch zu den ur— 
ſprünglichſten zu gehören ſcheinen, finden 
wir alle Hauptblumenfarben vertreten: 
Weiß (Spiraea Aruncus, Ulmaria, Ane- 
mone-Arten, Sambucus), Gelb (Helian- 
themum, Anemone alpina, Papaver alpi- 
num), Roth (Papaver Rhoeas, Rosa), 
Blau (Hepatica, Anagallis coerulea, So- 
lanum Dulcamara). Bei einer Betrach— 
tung des Inſektenbeſuchs der einzelnen Pol— 
lenblumen zeigt ſich aber, daß nur diejeni— 
gen von ihnen rote oder blaue Blumen— 
farbe beſitzen, die ausſchließlich oder vor— 
wiegend von Bienen und Schwebfliegen, 
alſo von bereits auf einer hohen Anpaſ— 
ſungsſtufe ſtehenden Blumengäſten beſucht 
und gekreuzt werden. Da überdies manche 
roten und blauen Pollenblumen ganz un— 
zweideutige Anpaſſungen an Pollen ſam— 
melnde Bienen beſitzen, Verbascum, Ana- 
gallis und Tradescantia z. B. augenfäl- 
lige Haare an den Staubfäden*), die den 
Pollen ſammelnden Bienen nicht nur die 
Stelle, wo ſie ſich anklammern müſſen, auf 
den erſten Blick kennzeichnen, ſondern auch 
für das Anklammern ſelbſt die nötigen 
Stützpunkte gewähren, ſo unterliegt es kei— 
nem Zweifel, daß auf manche Pollenblu— 
men, trotz faſt unveränderter Beibehaltung 
ihres einfachen Baues, die Blumenaus— 
wahl der Bienen nachträglich züchtend ein— 
gewirkt hat, und es iſt ſehr wahrſcheinlich, 


) Vergl. Delpino, Ult. oss. II, fasc. II, 
p. 296—98. Auch Solanum Dulcamara deutet 
Delpino (daſelbſt, p. 295), wie ich glaube, mit 
Recht, als Pollen ſammelnden Bienen angepaßt. 


) 


352 


daß die roten und blauen Pollenblumen 
überhaupt ihren hochbegabten thatſächlichen 
Kreuzungsvermittlern ihre Blumenfarbe 
verdanken. 

Von den auf tiefſter Stufe ſtehenden 
Pollenblumen hat alſo nach zwei verſchie— 
denen Richtungen hin eine Weiterentwick— 
lung ſtattgefunden: 1) durch wirkſameres 
Herbeilocken nach Pollen gehender Inſekten, 
namentlich der eifrigſten und als Kreu— 
zungsvermittler wirkſamſten, der Schweb— 
fliegen und Bienen, 2) durch Abſonderung 
von Honig, und zwar zunächſt von völlig 
offen liegendem, unmittelbar ſichtbarem 
Honig, wodurch eine größere Mannigfal— 
tigkeit verſchiedener Inſektenabteilungen 
herbeigelockt wurde. Die erſtere dieſer 
Entwicklungsrichtungen konnte natürlich 
nicht weiter als bis zur vollſtändigen An— 
paſſung an Pollen ſammelnde Bienen, da— 
mit aber auch zur Ausprägung aller von 
dieſen gezüchteten Blumenfarben führen; 
der letzteren dagegen ſtand, durch die Mög— 
lichkeit ſtufenweiſe tieferer Bergung des 
Honigs, ein viel weiterer Spielraum für 
Anpaſſungen offen, und ſie hat in der That 
zu einer ganzen Reihe von Anpaſſungsſtu— 
fen geführt, die wir nun in Betracht zie— 
hen wollen. 

2) Die tiefſte dieſer Anpaſſungsſtufen 
bilden diejenigen einfachen regelmä— 
ßigen Blumenformen, die völlig 
offenliegenden, unmittelbar ſicht— 
baren, freiabgeſonderten Honig 
darbieten. Es gehören dahin Veratrum, 
Rhamnus, Alchemilla, die meiſten Saxi— 
fragen und Umbelliferen, Euphorbia u. ſ.w., 
im Ganzen 42 der von mir unterſuchten 
Alpenblumen. Mit Ausnahme dreier Um— 
belliferen (Pimpinella rubra, Gaya, Me- 
um), die wahrscheinlich durch die intenſivere 


4 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. | 


Lichteinwirkung der Alpen ihr Weiß zu 
Roſenrötlich geſteigert haben, und der präch— 
tig roten honigreichen Azalea procumbens, 
die zu 80% von hochgeſteigerten Blumen— 
gäſten (Bienen, Faltern, Schwebfliegen) 
beſucht wird, beſitzen ſie ſämmtlich grün— 
gelbe, gelbe oder weiße Blumenfarbe; die 
weißen Blumenblätter ſind bei einigen mit 
gelben, die gelben Blumenblätter bei Saxi— 
fraga aizoides mit orangeroten Sprenkel— 
flecken geziert; ſie werden ſämmtlich ſehr 
überwiegend (durchſchnittlich zu 85%) von 
kurzrüſſeligen Inſekten, hauptſächlich Dip— 
teren, beſucht und haben daher ohne Zwei— 
fel deren Blumenauswahl die Ausprägung 
ihrer Farbe zu verdanken, die geſprenkel— 
ten weißblumigen Arten wahrſcheinlich den 
unter den Dipteren durch Farbenſinn aus— 
gezeichneten Syrphiden; jedenfalls gilt 
dies wenigſtens von der zierlich rotge— 
ſprenkelten Saxifraga rotundifolia. An 
dieſer wurden nämlich wiederholt zwei zier— 
liche Schwebfliegen (Sphegina clunipes 
und Pelecocera scaevoides) beobachtet, 
die in augenſcheinlichem Ergötzen vor den 
Blüten ſchwebten, dann anflogen, um Nek— 
tar zu ſaugen oder Pollen zu verzehren, 
dann wieder vor der Blüte ſchwebend ſich 
an ihrem Anblick weideten u. ſ. f., und 
zwar in ſolcher Häufigkeit, daß dieſe beiden 
Arten allein offenbar die wichtigſte Rolle 
als Kreuzungsvermittler und damit als 
unbewußte Blumenzüchter ſpielten. 

3) Blumen mit teilweiſe gebor— 
genem Honig, der nur unter günſti— 
gen Umſtänden unmittelbar ſicht— 
bar iſt. Es gehören dahin Sedum, Ra— 
nunculus, die meiſten Cruziferen, Alſineen 
und Roſifloren, im ganzen 61 der von mir 
unterſuchten Alpenblumen. 

Mit der teilweiſen Bergung des Honigs 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


ſinkt die Zahl der verſchiedenen Beſucher— 


arten (von durchſchnittlich 18 auf 12 für 


jede Blumenart) herab. Statt der nun 
wegbleibenden kurzrüſſeligſten finden ſich 
aber zahlreichere langrüſſeligere und blu— 
meneifrigere Beſucher ein, die an Zahl der 
Arten zwar den wegbleibenden nicht gleich— 
kommen, an Individuenzahl aber, und noch 
mehr an Zahl der von ihnen ausgeführten 
Blumenbeſuche, fie bedeutend übertreffen. 


Die Zahl der Bienen- und Falterarten | 


ſteigert ſich nämlich mit der teilweiſen Ber— 
gung des Honigs von 14 auf 30%; die 
Zahl der Bienenarten wird mehr als ver— 
dreifacht, die Zahl der kurzrüſſeligen Bie— 
nenarten ſogar mehr als verfünffacht. Die 
vorherrſchenden Blumenfarben dieſer An— 
paſſungsſtufe ſind intenſives Gelb und 
Weiß. Die ſchmutzig grüngelbe Blumen— 
farbe, die bei völlig offener Lage des glän— 
zenden Nektars ſich als ebenſo wirkſam 
erwies wie Weiß oder Gelb, reicht bei 
teilweiſer Bergung deſſelben zur Anlockung 
nicht mehr aus und kommt nicht mehr in 


Anwendung. Außerdem ergiebt ſich aus 


den von mir aufgeſtellten ſtatiſtiſchen Ta— 
bellen, daß gelbe Blumen mit teilweiſer 
Honigbergung zahlreichere verſchiedene 
Inſektenarten an ſich locken, als weiße, 
durchſchnittlich etwa die doppelte Zahl. 
Dieſe Steigerung der Anlockung betrifft 
aber die verſchiedenen Abteilungen der 


Inſekten in jo ungleichem Grade, daß da- 


durch ihr verhältnismäßiger Anteil am 
Blumenbeſuche bedeutend verſchoben wird. 
Im großen und ganzen laſſen ſich hiernach 
die Blumen mit teilweiſer Honigbergung, 
wie nach der Farbe, ſo auch nach der Ge— 
ſellſchaft ihrer unbewußten Züchter, in 
zwei Klaſſen teilen: weiße, die unter dem 
überwiegenden Einfluſſe der Dipteren ſte— 


353 


hen, und gelbe, die von Dipteren und kurz— 
| rüſſeligen Bienen gleichzeitig ſtark beein- 
flußt werden. Nur einige wenige Alpen— 
blumen dieſer Anpaſſungsſtufe zeigen rote 
Blumenfarben: Empetrum nigrum, von 
deſſen Farbe und Inſektenbeſuch daſſelbe 
gilt, wie von Azalea procumbens; San- 
guisorba, deſſen Schwärzlichpurpur von 
Fliegen gezüchtet ſein dürfte“), und Ra- 
nunculus glacialis, bei dem es zweifel— 
haft bleibt, ob er nur wie Pimpinella 
rubra ꝛc. intenſiver Belichtung oder zu— 
gleich der Blumenauswahl der thatſächlich 
an ſeiner Kreuzung ſich beteiligenden Tag— 
falter ſein Rot verdankt. 

4) Blumen mit vollſtändig ge— 
borgenem Honig, die eine beſtimm— 
te Anpaſſung an einen beſonderen 
Beſucherkreis noch nicht erlangt 
haben. Es gehören dahin z. B. Allium, 
Sempervivum, die nicht falterblütigen 
Sileneen, Geranium, Myosotis, Veronica, 
Thymus, Calluna u. a., zuſammen 66 der 
von mir unterſuchten Arten, die keine ge— 
ſchloſſenen Blumengeſellſchaften bilden, zu— 
dem aber die Scabiosa-, Phyteuma-, Vale- 
riana-Arten und Kompoſiten, zuſammen 84 
Arten, die als geſchloſſene Blumengeſell— 


ſchaften wirken, im ganzen alſo 150 Arten. 


Es iſt nun höchſt auffallend, wie mit 
der völligen Bergung des Honigs unter 
den Kreuzungsvermittlern die langrüſſeli— 
geren intelligenteren, und gleichzeitig unter 
den Blumenfarben die roten, violetten 
und blauen in den Vordergrund treten. 

Der Beſuch der kurzrüſſeligen Inſekten, 
der mit teilweiſer Bergung des Honigs 
bereits von 85% auf 70% herabgeſunken 
war, ſinkt nämlich mit feiner vollſtändigen 
Bergung in noch weit ſtärkerem Verhält— 
9 Vergl. Kosmos, Bd. III, S. 320. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 


354 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


nis, von 70% bis zu 36% der Beſucher- haben (Polygonum viviparum, Polemo- 


zahl und noch darunter. Umgekehrt ſteigert 
ſich aber dafür die Zahl der Bienen- und 
Falter-Arten nun in dem Grade, daß ſie 


der beſuchenden Arten 63% ausmachen, 
an Individuenzahl und noch mehr an Zahl 
der von ihnen ausgeführten Blumenbe— 
ſuche aber in noch ungleich ſtärkerem Ver— 
hältniſſe im entſcheidenden Übergewichte 
ſind. Gleichzeitig treten uns rote, violette 
und blaue Blumenfarben nun ſo zahlreich 
entgegen, daß ſie die weißen, gelblichweißen 
und gelben an Menge überwiegen. Von 
den 150 unterſuchten Arten dieſer Anpaſ— 
ſungsſtufe ſind nicht weniger als 82 von 
roter, violetter oder blauer Blumenfarbe. 

Wenn es ſchon an ſich kaum zweifel— 
haft ſein kann, daß diejenigen Blumenbe— 
ſucher, die als Kreuzungsvermittler im be— 
deutenden Übergewichte ſind, auch als un— 
bewußte Blumenzüchter die wichtigſte Rolle 


ſpielen müſſen, daß alſo im vorliegenden 


Falle die Ausprägung ſo zahlreicher roter, 
violetter und blauer Blumen hauptſächlich 
der Blumenauswahl der zu ſo ſtarkem 
Übergewichte gelangten Bienen und Falter 
zuzuſchreiben iſt, ſo wird dieſe Schlußfol— 
gerung noch zwingender dadurch, daß die 
Ausprägung der Blumenformen, die wir 
auf dieſer Anpaſſungsſtufe finden, zu ganz 
derſelben Annahme hindrängt. Statt der 
offenen, regelmäßigen, nach oben gekehrten 
Blumenformen der vorhergehenden Abtei— 
lungen treffen wir nämlich hier vielfach ſol— 
che, bei denen die Baſalteile der Kelchblät— 
ter oder der Blumenblätter zu einer Röhre 
verwachſen ſind (Sileneen, Myosotis, Ve- 
ronica, Androsace u. a.), andere, die ſich 
nach der Seite gewendet und im Zuſammen— 
hange damit bilateral ſymmetriſch geſtaltet 


nium u. a.), noch andere, die ſich mit Bei⸗ 
behaltung der Regelmäßigkeit mehr oder 


weniger nach unten gekehrt haben (Solda- 
zuſammen nun ſchon von der Geſammtzahl 


nella, Vaccinium Vitis idaea), endlich auch 
ſolche, deren Blütenteile ſo feſt zuſammen— 
ſchließen, daß ein Inſekt mit nicht faden— 
förmig dünnem Ruſſel ſie aus einander 
zwängen muß, um zum Honig zu gelangen 
(Rubus idaeus, saxatilis), lauter Über— 
gänge zu einſeitiger Anpaſſung an Falter 
oder Bienen, die deren blumenzüchtenden 
Einfluß unzweifelhaft bekunden. 

Wir haben ſo eben nur die verhält- 


nismäßige Beteiligung der Falter, Bie— 


nen und kurzrüſſeligen Inſekten am Beſuche 
der Blumen mit völlig geborgenem Honig 


ins Auge gefaßt. Eine andere Frage iſt es, 


wie die abſolute Häufigkeit des Inſektenbe— 
ſuches durch die völlige Bergung des Honigs 
geändert wird. 

Während wir durch den Übergang von 
völlig offener zu teilweiſe geborgener Lage 
des Honigs die durchſchnittliche Zahl ver— 
ſchiedener Beſucherarten von 18 auf 12 her— 
abſinken ſehen, indem weit mehr kurzrüſſeli— 
ge und dumme Gäſte wegbleiben, als lang— 
rüſſelige und intelligentere hinzutreten, wird 
dagegen bei vollſtändiger Honigbergung der 
weitere Verluſt an unbrauchbareren Beſu— 
chern durch viel ſtärkeres Herbeiſtrömen 
der brauchbareren ſelbſt der Zahl der Arten 
nach reichlich erſetzt. Es kommen nämlich 
durchſchnittlich 12,7 verſchiedene Beſucher— 
arten auf jede nicht zur Geſellſchaftsbil— 
dung fortgeſchrittene Blumenart dieſer An— 
paſſungsſtufe. Die meiſten Blumen mit 
völlig geborgenemHonig (84 von 150) haben 
aber durch Vereinigung zu geſchloſſenen 
Geſellſchaften, die nun mit vereinter Kraft 
anlocken, ihre Wirkung auf die in der Luft 


DB 
J 
1 3 


L 


umberfliegenden Blumengäſte noch ſehr 
ſtark geſteigert. Jeder dieſer Blumenge— 
ſellſchaften mit völlig geborgenem Honig 


Beſucherarten zu teil. 

Eine weitere Frage, die uns hier ge— 
rade in erſter Linie intereſſirt, iſt die, wie 
die verſchiedenen Blumenfarben dieſer An— 
paſſungsſtufe ſich in ihrer Wirkung auf die 
verſchiedenen Beſucherkreiſe unterſcheiden. 
Geeignetes Material zu ihrer Beantwor— 
tung bieten vor allem die gelblichweißen, 
gelben, roten und blauen Blumengeſell— 
ſchaften der Kompoſiten, Phyteuma- und 
Skabioſa⸗Arten dar, die ſich nur in der 
Blumenfarbe weſentlich unterſcheiden, wäh— 
rend ſie in den übrigen auf den Inſekten— 
beſuch Einfluß übenden Bedingungen an— 
nähernd gleich ſind. Wie ein Vergleich 
derſelben ergiebt, werden von den Faltern 
die roten und blauen Blumengeſellſchaften 
weit reichlicher beſucht, als die gelblich— 
weißen und gelben, und zwar am ſtärkſten 
von allen die blauen, am ſchwächſten die 
gelblichweißen. Entgegengeſetzt verhalten 
ſich die kurzrüſſeligen Gäſte, die im Gegen— 
teile von gelblichweißen und gelben Blu— 
mengeſellſchaften mit völlig geborgenem 
Honig ſehr viel ſtärker angelockt werden, 
als von roten und blauen, bei weitem am 
ſchwächſten von den blauen. Die langrüſſe— 
ligen Bienen, auf den Alpen hauptſächlich 
durch Hummeln vertreten, erweiſen ſich 
auch den Blumenfarben gegenüber als die 
intelligenteſten Blumengäſte, indem ſie ſich 
in ihrer Blumenauswahl weit weniger 
durch die Farben, als durch den Nahrungs— 
wert der Blumen beſtimmen laſſen. 

Meine bereits früher“) ausgeſprochene 
Vermutung, daß dieſelbe Vorliebe der 

*) Kosmos, Bd. III, S. 417, 418. 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


355 


Tagfalter für gewiſſe Farben, welche ſich 


in dem von ihnen durch geſchlechtliche Aus— 
leſe gezüchteten eigenen Putzkleide aus- 
werden durchſchnittlich 21,9 verſchiedene 


ſpricht, auch ihre Blumenauswahl beein— 


| fluſſen möge, erhält durch denſelben Ver— 


gleich des Inſektenbeſuches verſchieden ge— 
färbter Blumengeſellſchaften eine neue 
Stütze. Bei den vier beſuchteſten Blumen— 
geſellſchaften von a. gelblichweißer, b. gel— 
ber, e. roter und d. blauer Farbe kommen 
nämlich von der Geſammtzahl verſchiede— 
ner Beſucherarten auf Bläulinge (Lycae- 
na): a. O, b. 1, c. 1,9, d. 8%, bei den 
Blumengeſellſchaften dieſer vier Farben 
insgeſammt: a. O, b. 2,4, C. 2,5, d. 7,9%. 

5) Dipterenblumen. Ich habe 
bereits früher“) auseinandergeſetzt, wie 
es gekommen ſein mag, daß als Anpaſſun— 
gen an fäulnisſtoffliebende Dipteren Efel=, 
Fallen- und Täuſchblumen von ſchmutzi— 
gen, meiſt gelblichen oder ſchwärzlich pur— 
purnen Färbungen zur Ausprägung ge— 
langt ſind, während gewiſſe, ſelbſt zier— 
lich gefärbte Schwebfliegen ſich die mit 
ſcharf abſtehender, weißer Mitte gezierten 
und von dunkleren Strahlen durchzogenen 
roſafarbenen und himmelblauen Blumen 
von Veronica urticifolia und Chamae- 
drys gezüchtet haben. Auch von den Al— 
penblumen haben diejenigen, denen (wie 
z. B. Cynanchum Vincetoxicum) aus⸗ 
ſchließlich oder (wie z. B. Veratrum) vor— 
wiegend durch fäulnisſtoffliebende Dipteren 
Kreuzung zu teil wird, ſchmutzige, grün— 
gelbe oder gelbliche oder auch (wie z. B. 
nicht ſelten Saxifraga Aizoon) ſchwärzlich 
purpurn punktirte oder, wie Sanguisorba, 
ganz ſchwärzlich purpurne Blumen, und 
von den reinen Blumenfarben der Züch— 
tungsprodukte der Schwebfliegen liefern 
9 Kosmos, Bd. III, S. 4—6. 


— 


356 


uns hier die zierlichen ſchneeweißen Blüten⸗ 
ſterne der Moehringia muscosa und die 
bereits charakteriſirten Blumen der Saxi- 


| 
| 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


Wenn nämlich eine Biene Blumen ver— 


ſchiedenen Baues, die zur Gewinnung des 


fragia rotundifolia neue Belege. Gleich- 
zeitig lernen wir aber unter den Alpen- 


blumen außer den drei bisher bekannten 
noch eine vierte Kategorie von Dipteren— 


blumen kennen, ſolche nämlich, die nach 


der Farbe und dem Baue ihrer Blüten 
eben ſo gut auch von den kurzrüſſeligen 
Bienen ausgebeutet und gekreuzt werden 
könnten, in Folge der außerordentlichen 
Bienenarmut ihrer Wohnorte aber ſich in 
dem faſt ausſchließlichen Beſitze der Dip— 
teren befinden. Es ſind die beiden in Ver— 
wandtſchaft und Blütenbau weit von ein— 


raſchend ähnlichen Viola biflora und Toz- | 


zia alpina. 

6) Bienenblumen. In Bezug auf 
die Beteiligung der übrigen Hymenopteren— 
abteilungen an der Kreuzung und unbe— 
wußten Züchtung der Blumen habe ich 
meinen früheren Aufitellungen”) fo wenig 
neues hinzuzufügen, daß ich mich hier auf 
die Bienen beſchränken kann. Wie im Tief- 
land, ſo verdanken wir auch auf den Al— 
pen den bei weitem größten Teil des Reich— 
tums nicht nur an Blumenformen, ſondern 
auch an Blumenfarben dieſen nahrungsbe— 
dürftigſten, arbeitſamſten, einſichtigſten 
und geſchickteſten aller blumenbeſuchenden 
Inſekten, und auch die von ihnen gezüch— 
tete Farbenmannigfaltigkeit läßt ſich, eben 
ſo wie der Formenreichtum der Bienen— 
blumen, aus der überwiegenden Intelli— 
genz der Bienen erklären. Denn in ihrem 
eigenſten Intereſſe mußte eine weitgehende 
Farbendifferenzirung liegen. 

8 *) Kosmos, Bd. II, S. 476-495. 


Honigs und Pollens verſchiedene Bearbei— 
tung erfordern, ohne Wahl, wie ſie ihr 
gerade in den Weg kommen, ausbeutet, 
ſo braucht ſie dazu offenbar erheblich mehr 
Zeit, als wenn ſie erſt unmittelbar nach— 
einander alle Blumen der einen Art, dann 
unmittelbar nacheinander alle Blumen der 


andern Artin Angriff nimmt. Das hatſelbſt 
dann ſeine volle Richtigkeit, wenn die aus— 


gebeuteten Blumen bei übrigens gleichem 
Bau nur in der Röhrenlänge differiren 


und daher nur ein verſchieden langes Vor— 
ſtrecken des Rüſſels nötig machen. Ihrer 
geſteigerten Intelligenz entſprechend haben 
ander abſtehenden, in Größe, Umriß und 
ſattgelber Farbe der Blumen aber über- 


daher, wie die Beobachtung gezeigt hat, 
die langrüſſeligen Bienen die Gewohnheit 
angenommen, ſich andauernd an dieſelbe 
Blumenart zu halten. Setzen wir nun 
den Fall, daß von zwei in ihrem Bau et— 
was verſchiedenen, in der Farbe aber völ— 
lig gleichen Blumen bei der einen eine 
Farbenabänderung auftritt, die ſich den 
Augen der Biene auf den erſten Blick kennt— 
lich macht, ſo wird es der Biene offenbar 
vorteilhafter ſein, ſich andauernd an dieſe 
Färbung zu halten, die ihr gleichartige 
Blumenarbeit und damit raſcheren Erfolg 
ſichert, als an die andere, die Verwechſe— 
lungen und damit Zeitverluſt verurſacht. 
Die beſonders gefärbte Abart empfängt 
alſo am regelmäßigſten und in derſelben 
Zeit am häufigſten die Wohlthat der Kreu— 
zung, hinterläßt in Folge deſſen die zahl— 
reichſte und kräftigſte Nachkommenſchaft 
und bleibt daher ſchließlich die allein über— 
lebende. Sobald daher der Farbenſinn 
der Bienen ſich ſoweit ausgebildet hatte, 
daß ſie auch kleinere Farbendifferenzen leicht 
wahrnahmen, und ſobald ihre Erfahrung 


in der Blumenarbeit ſich ſoweit geſteigert 
hatte, daß ſie möglichſt andauernd die ein— 
mal in Angriff genommene Blumenart 
verfolgten, mußten ſie auch, ſoweit auf— 
tretende Farbenabänderungen Gelegenheit 
dazu boten, verwandte Bienenblumen, die 
an denſelben Standorten gleichzeitig neben 
einander blühten, zu verſchiedenen Farben 
züchten. 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


Dadurch iſt nun eine bemerkenswerte 
Eigentümlichkeit der Bienenblumen zur 


Ausprägung gelangt, die bis jetzt voll- 


ſtändig überſehen worden zu ſein ſcheint. 


Während nämlich die einem gemiſchten Be⸗ 


ſucherkreiſe kurzrüſſeliger Gäſte angepaß— 
ten Blumenformen gewöhnlich durch um— 
faſſende Gruppen verwandter Arten hin— 
durch dieſelbe (meiſt weiße oder gelbe) 
Blumenfarbe beſitzen, ſelbſt wenn mehrere 
dieſer Arten gleichzeitig an demſelbenStand— 
orte blühen, ſind dagegen nächſtverwandte 
Bienenblumen deſſelben Standortes in der 
Regel von verſchiedener Farbe, die ſie auf 
den erſten Blick unterſcheiden läßt, und 
nur in ſelteneren Fällen hat ſich bei Bie— 
nenblumen dieſelbe Blumenfarbe auf eine 
mannigfach differenzirte Nachkommenſchaft 
unverändert vererbt. 

Zum Nachweiſe dieſes bedeutungsvollen 
Unterſchiedes wird es genügen, wenn ich 
an folgende allbekannte Thatſachen erin— 
nere. Von Umbelliferen, Euphorbia, Al- 
chemilla, Salix, Ranunculus, Potentilla, 
Alſineen und Kruziferen, wie überhaupt von 
Blumengattungen und Familien mit offe— 
nem oder nur teilweiſe geborgenem Honig, 
finden wir ſehr gewöhnlich mehrere Arten 
derſelben weißen oder gelben Blumenfarbe 
gleichzeitig neben einander blühen, und ſelbſt 
ſo einſichtige Blumengäſte wie die Honig— 
biene ſieht man z. B. die Blüten von Ra- 


357 


nunculus acris, bulbosus und repens, die 
von Potentilla verna und alpestris, die- 
jenigen verſchiedener Salix-Arten ꝛc., ohne 
Unterſchied nacheinander und durcheinander 
ausbeuten. 

Auch bei Blumen mit bereits völlig 
geborgenem, aber doch noch einer gemiſch— 
ten Geſellſchaft ziemlich kurzrüſſeliger Gäſte 
zugänglichem Honig iſt das Nebeneinan— 
derblühen gleichgefärbter Arten derſelben 
Gattung äußerſt häufig, z. B. bei Semper- 
vivum, Mentha, Androsace, Phyteuma 
und vielen Kompoſiten, beſonders Cicho— 
riazeen. 

Daß dagegen nahverwandteund gleich— 
zeitig blühende Bienenblumen deſſelben 
Standortes in ihrer Farbe in der Regel 
weit auseinandergehen oder ſonſt in Größe 
oder Höhe über dem Boden ſich auffallend 
unterſcheiden, zeigen uns Aconitum Lyco- 
ctonum (gelb) und Napellus (blau); La- 
mium album. (weiß), maculatum (roth) 
und Galeobdolon luteum (gelb); Salvia 
glutinosa (gelb) und pratensis (blau); 
Teucrium montanum (weiß) und Chamae- 
drys (purpurn); Pedicularis tuberosa 
(weißgelb) und verticillata (purpurn); 
Trifolium badium (gelb bis braun), mon- 
tanum (kleine weiße, hochſtehende Köpfchen), 
repens (größere weiße, tiefſtehende Köpf— 
chen), pratense nivale (noch größere, 
ſchmutzig weiße), alpinum (purpurn) und 
zahlreiche andere Beiſpiele, beſonders aus 
den bienenblumigen Familien der Labiaten 
und Papilionazeen.“) 


) Ausnahmen bietet namentlich die gelbe 
Blumenfarbe dar, die ſich z. B. in gewiſſen 
Zweigen der Papilionazeenfamilie ſo ſtreng ver— 
erbt zu haben ſcheint, daß Abänderungen, die 
natürlich für die Züchtung differirender Blumen— 
farben immer die notwendige Vorbedingung bil— 


den, gar nicht aufgetreten ſein mögen. So fin⸗ 


7 


358 


Wenn dieſe Farbendifferenzirung, wie 
ich glaube, durch das Unterſcheidungsver— 
mögen und Unterſcheidungsbedürfnis der 
Bienen zur Ausprägung gelangt iſt, ſo 
dürfen wir uns nicht wundern, bei den | 
Bienenblumen nicht nur Weiß, Gelb, Rot, | 
Violett, Blau, Braun und ſelbſt Schwärz— 
lich (Bartsia) in den verſchiedenſten Ab— 
ſtufungen vertreten zu finden, ſondern auch 
mehrere Farben an derſelben Blume in 
mannigfachſter Weiſe kombinirtzu ſehen. Ich 
erinnere nur an Polygala Chamaebuxus, 
Viola tricolor, Cerinthe major, Galeop- 
sis versicolor, Astragalus depressus, 
alpinus und zahlreiche andere Papilio— 
nazeen. 

Dieſelben unbewußten Blumenzüchter, 
die aus rein praktiſchem Intereſſe ſich und 
uns die bunteſte Farbenmannigfaltigkeit 
der Blumen gezüchtet haben, die langrüſſe— 
ligen Bienen, haben, wo ein Bedürfnis oder 
eine Möglichkeit der Differenzirung für ſie 
nicht vorlag, rote, violette und blaue Blu— 
men vor gelben, weißgelben und weißen ent— 
ſchieden bevorzugt. Unter den 422 von 
mir unterſuchten Alpenblumen ſind näm— 
lich gerade 100 Bienenblumen, und von 
dieſen ſind nur 34 von weißer, weißgelber 
oder gelber Blumenfarbe, dagegen 66 in 
den verſchiedenſten Abſtufungen rot, violett 
oder blau gefärbt oder wenigſtens mit einer 
oder mehreren dieſer Farben gezeichnet. 
Ein ähnliches Verhältnis ſtellt ſich heraus, 
wenn man die geſammte deutſche und 
Schweizer Flora in betracht zieht; dann 
kommen nämlich auf 152 Bienenblumen 
von weißer, weißgelber oder gelber Blu- 
menfarbe 330, alſo ebenfalls etwa doppelt 


den ſich in der Ebene verſchiedene Genista-Arten, 
auf den Alpen Coronilla vaginalis und Hippo- 
erepis comosa von völlig gleicher Blumenfarbe 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


ſo viel Bienenblumen, die rot, violett oder 
blau gefärbt oder wenigſtens mit der einen 
oder andern dieſer Farben gezeichnet ſind. 

Bei fo eminent praktiſchen Blumen— 
gäſten, die mit raſtloſem Eifer nur auf 
das Zuſammenbringen möglichſt großer 
Mengen von Blumennahrung bedacht ſind, 
wie die Bienen, iſt die Annahme einer nicht 
zugleich praktiſch nützlichen Farbenlieb— 
haberei jedenfalls ſehr unwahrſcheinlich. 
Sehr wohl aber mag ſich durch die Erfah— 
rung, daß rote, violette und blaue Blumen 
im ganzen von kurzrüſſeligen Inſekten viel 
weniger beſucht und ausgeplündert wer— 
den, als weiße und gelbe, eine größere 
Sympathie für die erſteren als für den 
Nahrungserwerb vorteilhafter Charakter— 
zug der Bienen ausgebildet haben. 

7) Falterblumen. Daß dieſelbe 
Farbenliebhaberei auch den Faltern inne— 
wohnt, geht aus der ſchon früher?) von 
mir nachgewieſenen Thatſache hervor, daß 
die Tagfalterblumen der deutſchen und 
Schweizer Flora faſt ſämmtlich rot oder 
(Globularia) blau gefärbt ſind. Nur die— 
jenigen machen eine leicht erklärbare Aus— 
nahme, welche aus bereits ausgeprägten 
Hummelblumen erſt nachträglich in falter— 
reicherer Alpengegend zu Falterblumen 
umgezüchtet worden ſind (Viola calcarata, 
Rhinanthus alpinus, Cyclostigma). 

Ein ſummariſcher Überblick über die 
Anpaſſungsſtufen der Blumen, ihre Far— 
ben und ihren Inſektenbeſuch ſcheint hier— 
nach für eine teilweiſe bejahende Antwort 
der oben aufgeworfenen Frage zu ſprechen. 
Um ſicher zu gehen, habe ich jedoch vor 
der Formulirung eines Urteils dieſelben 


ſehr häufig vergeſellſchaftet und gleichzeitig in 


Blüte. 
*) Kosmos, Bd. III, Heft 5; Bd. VI, Heft 6. 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


Verhältniſſe auch erſt noch von der ent— 
gegengeſetzten Seite aus ſummariſch über— 
blickt, indem ich die blumenbeſuchenden 
Inſekten nach ihren Anpaſſungsſtufen 
klaſſifizirte und die von ihnen beſuchten 
Blumen nach Anpaſſungsſtufe und Farbe 
geordnet zu ſtatiſtiſchen Tabellen zuſam— 
menſtellte. Das Ergebnis iſt ein durchaus 
beſtätigendes. Kurzrüſſelige, in der Blu— 
menausbeutung ungeübte Inſekten beſu— 
chen allgemein viel mehr weiße, weißgelbe 
und gelbe Blumen, als rote, violette und 
blaue; langrüſſelige, in der Blumenaus— 
beute geübte verhalten ſich entgegengeſetzt. 
Das geht ſowohl aus dem Überblick über 
die größeren am Blumenbeſuche beteilig— 
ten Inſektenabteilungen, als innerhalb 
derſelben aus dem Vergleich ihrer auf 
verſchiedener Anpaſſungsſtufe ſtehenden 
Unterabteilungen unzweideutig hervor. 

Von je 100 verſchiedenartigen Blumen— 
beſuchen kommen z. B. à. auf weiße, weiß— 
gelbe und gelbe (einſchließlich der grünlich— 
gelben) Blumen, b. auf rote, violette und 
blaue Blumen: bei den Käfern a. 76,8, 
b. 23,2; bei den weniger blumentüchtigen 
Dipteren a. 85,8, b. 14,2; bei den blumen— 
tüchtigeren Dipteren (Bombyliden, Konopi— 
den, Empiden, Syrphiden) a. 67,9, b. 30,3; 
bei den Wespen im weiteren Sinne (Hyme— 
nopteren außer den Bienen) a. 81,2, 
b. 18,8; bei den kurzrüſſeligen Bienen 
(Melitta Kirby) a. 63,8, b. 36,2; bei 
den langrüſſeligen Bienen (Apis Kirby) 
a. 36,6, b. 63,3; bei den Faltern a. 43,8, 
b. 56,1. Bei den Faltern würde ohne 
Zweifel b gegen a noch viel ſtärker im 
Übergewicht ſein, wenn nicht die große 
Überzahl, in der ſie auf den Alpen umher— 
flattern, ſie zu häufigen Beſuchen auch 
ihnen weniger entſprechender Blumen ver- 


359 


anlaßte. Bei den einzelnen Zweigen des 
Hymenopterenſtammes geſtaltet ſich das— 
ſelbe Verhältnis folgendermaßen: 

Bei den Nichtbienen zuſammen: à. 81,2, 
b. 18,8; bei den Bienen zuſammen: à. 42,9, 
b. 57,1; innerhalb der Nichtbienen bei den 
Blattwespen: a. 84, b. 15,4; bei den 
Schlupfwespen und Verwandten: a. 90,0, 
b. 10,0; bei den Grab- und Goldwespen: 
a. 75,4, b. 24,6; bei den Ameiſen: à. 79,1, 
b. 20,9; bei den echten Wespen: a. 79,4, 
b. 20,6; innerhalb der Bienen bei den kurz— 
rüſſeligen Bienen (Melitta K.): a. 63,8, 
b. 36,2; bei den langrüſſeligen Bienen außer 
Honigbiene und Hummel: a. 48,9, b. 51,1; 
bei der Honigbiene: a. 39,3, b. 60,7; bei 
den ſtaatenbildenden Hummeln (Bombus): 
a. 35,3, b. 64,7; bei den Schmarotzerhum— 
meln (Psithyrus): a. 22,2, b. 77,8. Auch 
das letzte dieſer Ergebniſſe, daß nämlich 
die Kuckuckshummeln in der Bevorzugung 
roter und blauer Blumen noch viel weiter 
gehen als die ſtaatenbildenden, iſt gewiß 
nichts weniger als zufällig. Der Sorge 
für ihre Nachkommenſchaft überhoben und 
nur mit ihrer eigenen Ernährung beſchäf— 
tigt, können ſie eben frei ihren Liebhabe— 
reien nachgehen, wie man ſie ja in der 
That in größter Gemächlichkeit ihre Blu— 
menarbeit verrichten ſieht, während die 
Staatenhummeln auf möglichſt vollſtändige 
Ausbeutung der umgebenden Blumenwelt 
bedacht ſein müſſen. 

Selbſt innerhalb der Ordnung der 
Dipteren läßt ſich die mit der Blumen— 


tüchtigkeit zunehmende Vorliebe für rote 


und blaue Blumenfarben in verſchiedenen 
Familien deutlich nachweiſen. So kommen 
z. B. bei den kurzrüſſeligen dunkel ein— 
farbigen Syrphiden (Cheilosia und Chry- 


sogaster) von je 100 Blumenbeſuchen auf 


360 Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


rote, violette und blaue Blumen 15,3, 
bei den kurzrüſſeligen zierlich gefärbten 
(Melanostoma, Melithreptus, Syrphus) 
26,4, bei den langrüſſeligſten (Volucella 
und Khingia) 77,2, bei den mit den lang— 
rüſſeligſten Syrphiden an Rüſſellänge 
wetteifernden Bombyliden 75,0. Zu ähn— 
lichen Ergebniſſen führt der Vergleich 
blumenſteter und nicht blumenſteter Dip— 
terenfamilien, der Vergleich verſchiedener 
Museidengattungen u. a. m. 

Selbſtverſtändlich können dieſe That— 
ſachen über den Einfluß chemiſcher und 
phyſikaliſcher Urſachen auf die Blumen— 
farben keinerlei Auskunft geben. So 
gut bei Kryptogamen (Chara, Polytri- 
chum) und Windblütlern (Larix, Corylus) 
infolge der das Blühen begleitenden che— 
miſchen Vorgänge lebhaft rote Farben 
hervortreten und für die Vegetation der 
ſkandinaviſchen Hochebenen ein durch die 
andauernde Belichtung hervorgerufener 
roter Farbenton im allgemeinen charakte— 
riſtiſch iſt“), mögen auch unter den ur— 
ſprünglichſten Blumen ſolche von roter Farbe 
geweſen ſein. Soweit aber die Ausprä— 
gung der Farben durch die Blumenaus— 
wahl der Inſekten bedingt geweſen iſt (und 
wir können ganz ſicher ſein, daß gegen 
dieſen Einfluß der phyſikaliſche und che— 
miſche, obwohl er ſtets ſeine notwendige 
Vorbedingung bildet, weit zurückſteht), 
ſind wir wohlberechtigt, folgende Sätze 
als durch die vorliegenden Thatſachen 
wahrſcheinlich gemacht hinzuſtellen: 

1) Aasfliegen und ſonſtige fäulnisſtoff— 
liebende Dipteren bevorzugen als Blumen— 


gäſte diejenigen Farben und Gerüche, durch 


die ſie zu ihren gewöhnlichen Nahrungs- 
*) Kosmos, Bd. VII, S. 141. 


quellen geleitet werden. Sie züchten daher, 
wo ſie als Kreuzungsvermittler das ent— 
ſcheidende Übergewicht haben, trübe, 
ſchmutzig gelbe, leichenfarbig fahlbläuliche 
(Unterlippe von Ophrys muscifera!) und 
ſchwärzlich purpurne Blumenfarben. 

2) Bei den übrigen kurzrüſſeligen und 
der Gewinnung der Blumennahrung we— 
nig oder gar nicht angepaßten Blumen— 
gäſten iſt ein ſolcher Zuſammenhang zwi— 
ſchen der Farbe ihrer urſprünglichen Nah— 
rung und derjenigen der von ihnen bevor— 
zugten Blumen nicht zu erkennen. Wohl 
aber ſteht feſt, daß ſie von weißen und 
gelben Blumen ſtärker angelockt werden, 
als von roten, violetten und blauen. 

3) Der Übergang von Windblütigkeit 
zur Inſektenblütigkeit und die Ausprägung 


men (Pollenblumen, Blumen mit unmittel— 
bar ſichtbarem oder nur teilweiſe geborge— 
nem Honig) konnte natürlich nur unter 
dem kreuzungsvermittelnden Einfluſſe kurz— 
rüſſeliger, der Gewinnung der Blumen— 
nahrung noch nicht angepaßter Inſekten 
erfolgen. Es konnten alſo auch anfänglich 
nur einerſeits die oben bezeichneten trüben, 
andererſeits weiße, weißgelbe und gelbe 
Blumenfarben gezüchtet werden. 

4) Sobald die gegenſeitige Anpaſſung 
der Blumen und ihrer Kreuzungsvermittler 
bis zur Bildung vertiefter Safthalter und 
verlängerter Rüſſel fortgeſchritten war!), 
waren weniger lichtvolle Blumenabände— 
rungen, da ſie vorwiegend von den aus— 
gebildetſten, eifrigſten, alſo auch für die 


ſten aufgeſucht wurden, offenbar den Blu— 
men von Vorteil; ebenſo aber auch den 
| Inſekten die Fähigkeit, dieſe konkurrenz— 
) Vergl. Kosmos, Bd. III, S. 408-411. 


— 


der niederſten Anpaſſungsſtufen der Blu- 


Kreuzungsvermittlung brauchbarſten Gä⸗ 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


freieren Honigquellen leicht aufzufinden. 
Wie Röhrenlänge und Rüſſellänge, ſo 
mußten ſich alſo nun auch die Ausbildung 
weniger lichtvoller Farben ſeitens der 
Blumen und der Fähigkeit, ſie zu unter— 
ſcheiden, ſeitens der Inſekten gegenſeitig 
ſteigern. Die Züchtung roter, violetter 
und blauer Blumen (die oft, aber keines— 
wegs immer, in dieſer Reihenfolge fort— 
geſchritten iſt) mußte daher auf der An— 
paſſungsſtufe der Blumen mit völlig gebor— 
genem Honig, und die gleichzeitige Aus— 
bildung der Fähigkeit, dieſe Farben leicht 
zu unterſcheiden, auf der Anpaſſungsſtufe 
mäßig langrüſſeliger Falter, Bienen und 
Fliegen (Syrphiden, Bombyliden) ihren 
Anfang nehmen. 

5) Von den auf dieſe Weiſe zu einem 
ausgebildeten Farbenſinn gelangten Blu— 
mengäſten konnten diejenigen, welche nur 
für ihre eigene Beköſtigung zu ſorgen hat— 
ten (Falter, Schwebfliegen), ſich der Be— 


vorzugung ihrer Lieblingsfarben frei über- 


laſſen. Durch ihre Blumenauswahl ge— 
langten daher nur rote, violette und blaue 
Schwebfliegen- und Falterblumen zur Aus— 
prägung. 

6) Dagegen waren diejenigen mit aus— 
geprägtem Farbenſinn begabten Blumen— 
gäſte, die nicht nur ſich ſelbſt mit Blumen— 
nahrung zu beköſtigen, ſondern auch für 
ihre Brut möglichſt maſſenhaft Pollen und 
Honig zuſammenzuſchleppen hatten (Bie- 
nen), zu vielſeitigerer Ausbeutung der 
Blumenwelt und damit, wie oben gezeigt, 
zur Züchtung mannigfaltiger Blumenfar— 


ben veranlaßt. In hervorragendem Grade 


gilt dies, wegen der koloſſalen Steigerung 
ihres Nahrungsbedarfs, von den Geſell— 
ſchaftsbienen, insbeſondere den Hummeln. 

7) Bollenblumen hatten um jo mehr 


361 


Ausſicht, von langrüſſeligen Bienen und 
Schwebfliegen bevorzugt zu werden, je 
weniger kurzrüſſeliges und zur Kreuzungs— 
vermittlung untauglicheres Geſchmeiß ſich 
auf ihnen einfand. Sobald daher die An— 
paſſung blumenbeſuchender Inſekten bis 
zur Ausbildung von langrüſſeligen Bienen 
und Schwebfliegen fortgeſchritten war, 
konnten die urſprünglich weißen und gel— 
ben Farben der Pollenblumen von den 
genannten Langrüſſlern in Rot, Violett 
und Blau umgezüchtet werden und wurden 
zum Teil in dieſer Richtung umgezüchtet. 

8) Durch die Blumenauswahl der 
Abend- und Nachtfalter konnten natürlich 
nur Blumenfarben gezüchtet werden, die 
„in der Dämmerungsſtunde, wenn bei 
Abweſenheit der Sonne das Himmels— 
gewölbe noch eine Fülle blauen Lichts 
herniederſtrahlt““), oder im Halbdunkel 
der Nacht ſich leicht bemerkbar machen, 
d. h. violette und blaue“) oder blaßge— 
färbte und ſchneeweiße.““ “) 

B. Phylogenetiſche Behandlung der 
Frage. 

Wenn wir diejenigen Blumenfamilien, 
deren genealogiſche Verzweigung ſich aus 
ihren Beſtäubungseinrichtungen erkennen 
läßt, vom Geſichtspunkte der Entwicklung 
der Blumenfarben ins Auge faſſen, ſo 
ſehen wir, wie ſich die ſoeben ermittel— 
ten allgemeinen Beziehungen im einzelnen 
geſtaltet haben. In bezug auf Karyo— 
phylleen und Boragineen iſt dies bereits 
in meinem letzten Aufſatze gezeigt worden. 
Einige weitere Beiſpiele folgen hier: 

*) Dr. E. Krauſe, Kosmos, Bd. III, 
S. 48. 

) Hesperidenblumen Braſiliens, Kosmos, 
Bd. IV, S. 481; Crocus, Kosmos, Bd. VI, 
S. 449. 

ec) Convolvulus sepium, Platanthera etc. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 


46 


362 


Bei den Liliazeen dürfte die Farbe 
der Perigonblätter urſprünglich, wie bei 
Paris noch jetzt, grünlich geweſen ſein, ſo 


daß ſich die Blüten zunächſt nur durch die ab- 
weichende Farbe der Befruchtungsorgane 
den Inſekten bemerkbar machten. Wäh— | 
rend dann aus den urſprünglich honig- 
den, aus einer lebhaften zu einer trüben 


loſen Blüten ſolche mit unmittelbar ſicht— 


barem und dann ſolche mit teilweiſe ge— | 


borgenem Honig wurden, prägten ſich durch 


die Blumenauswahl der kurzrüſſeligen 


Kreuzungsvermittler grüngelbe (Vera— 


trum) und gelbe (Tofieldia, Gagea), 
menhange mit der Anpaſſung der Blumen 


grünlichweiße und weiße (Lloydia, An— 


thericum) Blumenfarben aus, und die 
kreis geändert. Bei den Sedumarten, deren 
Honig noch unmittelbar ſichtbar und allge— 
mein zugänglich iſt, find die Blumen grüne 


Perigonblätter übernahmen ſo allein die 
Funktion der Bemerkbarmachung. Erſt 
als Grabwespen, Bienen, langrüſſeligere 
Fliegen und Falter als Kreuzungsvermitt— 


ler eine vorwiegende Rolle zu ſpielen be 
gannen und ſich Blumen züchteten, welche 


dem großen Heere der kurzrüſſeligen Gäſte 
nicht mehr zugänglich waren, gelangten 
auch rote, violette und blaue Blumen zur 
Wulfeni, deſſen Honig noch tiefer gebor- 
gen liegt und dem hauptſächlich Hummeln 


Ausprägung. Innerhalb der Gattung Al- 
lium z. B. beſitzen die Arten mit zugäng— 
licherem Honig (ursinum, Victoriale) noch 
weiße, diejenigen mit feſter umſchloſſenem, 
beſonders von Grabwespen, Bienen, Fal— 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


die nachtfalterblumige Paradisia in blen⸗ 


dendes Weiß gekleidet; das erſt nachträg— 


lich den Schwärmern anheimgefallene Ei- 
lium Martagon iſt, ſeit es aufgehört hat, 
eine Tagfalterblume zu ſein und von ſei— 
nen Kreuzungsvermittlern nach Maßgabe 
ſeiner Blumenfarbe ausgewählt zu wer— 


Farbe hinabgeſunken. 


Eben fo hat ſich bei den Kraffula- 
zeen die Blumenfarbe im engen Zuſam— 


an einen weiteren oder engeren Beſucher— 


lich gelb, gelb oder weiß, bei Semper 


vivum Funkii, montanum, arachnoideum, 
tectorum, die von einer gemiſchten Geſell— 
ſchaft von Bienen, Faltern und langrüſſe— 
ligen Fliegen ausgebeutet und gekreuzt 
werden, purpurrot, bei Sempervivum 


als Kreuzungsvermittler dienen, aus pur— 


tern und langrüſſeligen Fliegen ausgeben: | 
tetem Honig (z. B. rotundum) rote Perigon- 
blätter. Welche Farbenmannigfaltigkeit 


ſich auch in der Familie der Liliazeen die 


Bienen gezüchtet haben, zeigt ein einziger 
Blick auf die Gattungen Tulipa, Fritilla- 


ria, Scilla, Muscari, Hyacinthus, Aspa- 
ragus und Convallaria. Dagegen halten 
ſich die Falterblumen innerhalb der oben 
(Satz 5 und 8) ihnen geſteckten Grenzen. 


Unſere tagfalterblumige Liliazee (Lilium 
bulbiferum) ſehen wir in feuriges Rot, 


purrot in ſchwefelgelb umgezüchtet, nur 
noch am Grunde der Blumenblätter, als 


faſt erloſchene Erinnerung an purpurblu— 
mige Ahnen, einen kleinen Reſt der Pur— 
purfarbe zeigend. Die ſchön rot gefärbten 
Kraſſula- und Echeveria-Arten weiſen durch 
ihre engröhrige Korolle ebenfalls auf lang— 
rüſſelige Inſekten (vermutlich Falter) als 
ihre Kreuzungsvermittler und unbewußten 
Züchter hin. 

Von allen von mir unterſuchten alpi— 
nen Saxifragen hat nur oppositifolia 
völlig geborgenen Honig, nur ihr werden 
häufig Tagfalter als Kreuzungsvermittler 


4 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


zu teil, nur fie iſt mit prächtigem Rot ge— 


ſchmückt. 

Unter den Ranunkulazeen haben 
wieder diejenigen urſprünglicheren Formen, 
die in einer offenen, regelmäßigen Blüte 
nur Pollen oder neben demſelben ziemlich 
allgemein zugänglichen Honig darbieten, 
meiſt weiße oder gelbe Blumenfarben, nur 
bei Myosurus, der mit ſeinem noch höchſt 
ſchwankenden Zahlenverhältnis der Blüten— 
teile vielleicht zu den urſprünglichſten Ra— 


nunkulazeenformen gehört und völlig offe- 


nen Honig darbietet, ſind die Blumenblätter 
grüngelb. Von der roten Farbe des Ranun- 
culus glacialis und der blauen des Leber— 
blümchens (Hepatica) war bereits oben 
die Rede. Alle ſonſtigen blauen und vio— 
letten Ranunkulazeen, die ich näher kenne 
(Pulsatilla, Delphinium, Aquilegia, Aco- 
nitum), ſind mehr oder weniger ausge: 
prägte Hummelblumen. 

Ich überlaſſe es dem Leſer, die übri— 
gen in meinem vorigen Aufſatze beſproche— 
nen Familien von demſelben Geſichtspunkte 
aus zu durchmuſtern, und bemerke nur, 
daß mir weder auf den Alpen noch im 

Tieflande irgend ein Beiſpiel bekannt ge— 
worden iſt, das mit den oben aufgeſtellten 
Sätzen in Widerſpruch ſtünde. 


C. Ontogenetiſche Behandlung der 
Frage. 

Wir ſind zu dem Schluſſe geführt 
worden, daß, abgeſehen von den fäulnis— 
ſtoffliebenden Dipteren, durch die ſechs— 
beinigen Kreuzungsvermittler urſprünglich 
nur weiße, weißgelbe und gelbe, erſt ſpä— 
ter, auf einer gewiſſen höheren beiderſeiti— 
gen Anpaſſungsſtufe, auch rote, violette und 
blaue Blumen gezüchtet worden ſind. Alle 
diejenigen mir bekannten Fälle, in denen 
im Laufe der Entwicklung einer einzelnen 


363 


Blume nach einander verſchiedene Farben 
hervortreten, können, nach dem biogeneti— 
ſchen Grundgeſetz, als Beſtätigungen dieſes 
Schluſſes gelten. Denn immer nur ſehen 
wir in denſelben rote, violette und blaue 
Blumenfarben aus weißen oder gelben her— 
vorgehen, niemals umgekehrt. Ich brauche 
zum Belege deſſen an die in meinem vori— 
gen Aufſatze bereits erwähnten Beiſpiele 
(Myosotis, Pulmonaria, Echium etc.) nur 
eben flüchtig zu erinnern und nur auf Vi- 
ola, als in dieſer Beziehung beſonders 
lehrreich, hier näher einzugehen. 

Das kurzſpornigſte mir bekannte Veil— 
chen, Viola biflora, iſt von gelber, das un- 
ausgebildetſte Stiefmütterchen (V. trico- 
lor var. arvensis) von weißgelber Blumen- 
farbe. Bei phylogenetiſcher Behandlung 
der Frage werden wir alſo das Violett 
und Blau höher ausgebildeter Viola-Arten 
als aus Weißgelb oder Gelb hervorge— 
gangen betrachten müſſen. Die großblumi— 
gen bunten Stiefmütterchen, die auf Ackern 
bei Lippſtadt hie und da vorkommen, be— 
ſonders aber die zahlreichen Abänderun— 
gen der Viola tricolor var. alpestris, die 
auf den Alpen unterhalb der Baumgrenze 
wachſen, liefern in eingehendſter Weiſe die 
ontogenetiſche Beſtätigung dieſes phyloge— 
netiſchen Schluſſes. 

Bei der einen dieſer ſubalpinen Abän⸗ 
derungen (wir wollen ſie mit A bezeichnen) 
iſt die Blume unmittelbar nach dem Auf— 
blühen (A!) etwa 16 bis 17mm lang, 
12 bis 13 mm breit und ausſchließlich mit 
drei verſchiedenen Schattirungen von Gelb 
gefärbt, die beiden oberen Blumenblätter 
nämlich weißgelb, die beiden ſeitlichen er— 
heblich dunkler, etwa zitrongelb, das un— 
paare unterſte noch dunkler, zwiſchen zitron- 
und orangegelb, nur feine Baſis iſt inner- 


364 


halb der als Saftmal dienenden ſchwarzen 
Strichelchen, dieſes verſtärkend, orangegelb. 
Im Verlaufe des Blühens wachſen nun 
die Blumenblätter, während die drei unte— 
ren ſich gleichzeitig etwas intenſiver färben 
und die beiden oberen einen äußerſt ſchwa— 
chen, kaum bemerkbaren Anhauch von 
Blau bekommen, bis die ganze Blume et— 
wa 24mm Länge und 19mm Breite er— 
reicht hat (A2). Nur die Baſis der beiden 
oberen Blumenblätter iſt bis dahin deut— 
lich bläulich geworden. Während nun die 
ausgewachſene Blüte älter wird und ihre 
Blumenblätter ein wenig weiter ausein— 
ander treten läßt, ſtellt ſich dieſelbe bläu— 
liche Farbe auch am Rande der beiden 
oberen Blumenblätter ein, dehnt ſich von 
da beiderſeits abwärts aus und verteilt 
ſich in verwaſchener Weiſe zwiſchen das 
Weißgelb der ganzen Fläche. Die inten— 
ſiv gelbe Farbe des unteren Blumenblattes 
bleibt während dieſer Zeit dieſelbe, wäh— 
rend die der beiden ſeitlichen vom Rande 
her etwas verblaßt. 

Nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze 
dürfen wir annehmen, daß das Einzel— 
weſen hier in raſchem Verlaufe nur die— 
ſelbe Reihenfolge von Entwicklungsſtufen 
durchläuft, die ſeine Ahnen langſam nach 
einander erreicht haben. 

Ein Fortſchritt in der Entwicklung 
einer Generationsreihe wird nun bekannt— 
lich oft dadurch erreicht, daß von den Stamm— 
eltern erworbene vorteilhafte Eigentüm— 
lichkeiten, auf die Nachkommen vererbt, 
bei dieſen ſchon in jugendlicherem Alter 
auftreten, und daß dann von den Nach— 
kommen im Laufe ihrer weiteren Entwick— 
lung weitere vorteilhafte Eigentümlichkeiten 
neu hinzu erworben werden. 
| Eine zweite Abänderung (B) ſcheint da— 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


“ 


nach einer weiter fortgeſchrittenen Ausbil— 
dungsſtufe anzugehören, als die oben be— 
ſchriebene (A). Denn kurz nach dem Auf— 
blühen gleichen ihre Blüten (B) ganz den 
oben aufgeblüten; aber ehe ſie noch die 
Größe von A? erlangt haben, find fie ſchon 
bei der Färbung von As angelangt (B?), ja 
ſogar inſofern ſchon etwas über dieſelbe 
hinaus, als das Gelb der mittleren Blumen— 
blätter von den Rändern her weiter ein— 
wärts verblaßt iſt. Als weitere fortge— 
ſchrittene Entwicklungsſtufe kennzeichnet ſich 
die Form B auch dadurch, daß ihre Blumen 
eine bedeutendere Größe erreichen. Schon 
ehe ſie völlig ausgewachſen ſind (BB), ha— 
ben ſie 24mm Länge und 19 mm Breite 
erreicht. In ihrer Färbung ſind ſie dann 
über A3 ſchon weit hinausgegangen; 
auf ihren beiden oberen Blumenblättern 
iſt das Weißgelb durch das Blau ſchon faſt 
völlig verdrängt, bis auf eine kleine Stelle 
an der Baſis; auf dem blaßgelb ge— 
wordenen Randteile der mittleren Blumen— 
blätter hat ſich vom Rande her die blaue 
Farbe ebenfalls deutlich ſichtbar eingeſtellt. 
Auf ihrer letzten Entwicklungsſtufe (B) 


beſitzt dieſe Form intenſiv violettblaue obere 
Blumenblätter, und auf ihren mittleren 


Blumenblättern iſt der verblaßte Randteil 
von einem zwar nicht ganz ſo intenſiven, 
aber doch ſehr entſchiedenen Violettblau 
eingenommen. 

Ich kann dieſer Stufenleiter auf ver— 
ſchiedener Entwicklungshöhe ihrer Blumen— 
formen angekommener Formen der V. al- 
pestris noch drei weitere Glieder hinzu— 
fügen. Einerſeits nämlich findet ſich auf 
den Alpen ſehr häufig und maſſenhaft, oft 
ausgedehnte Wieſenabhänge bedeckend, Vio— 
la alpestris mit rein gelben Blumen, die zu— 
weilen bedeutende Größe erreichen, aber auch 


Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 


im ausgebildetſten Zuſtande keine Spur von 
Violett oder Blau zeigen, alſo in bezug auf 
Blumenfarbe der Stammform noch näher 
ſtehen, als die oben mit A bezeichnete. 
Andererſeits fand ich bei Malix (31/5 79) 
eine Form C, und im Tuorsthale (2/6 79) 
eine Form D, welche beide über die Farben— 
entwicklung der Form B noch hinausgehen. 

Bei C erreichen die Blumen 29 mm 
Länge und 22 — 23 mm Breite; ihre obe— 
ren Blumenblätter ſind dunkelviolett, die 
beiden ſeitlichen etwas heller, blau, das 
untere erſt gelblichweiß, dann hellblau, 
ſchließlich den beiden mittleren gleichge— 
färbt. Nur das Saftmal der Unterlippe 
iſt von Anfang an orangegelb. 

Bei D erreichen die Blumen 30 mm 
Länge, 27 mm Breite. Die beiden oberen 
Blumenblätter ſind geſättigt dunkelviolett, 
die drei übrigen ſchon vom Aufblühen an 
ſattblau, nur das Saftmal orangegelb. 
Selbſt in ganz geſchloſſenen Knospen find die 
unteren Blumenblätter ſattblau, in noch 
jüngeren blaulich, in noch jüngeren weiß. 

Indem dieſe Thatſachen das Hervor— 
gehen der violetten und blauen Violafar— 
ben aus der gelben Schritt für Schritt dar— 
thun, beweiſen ſie zugleich, daß die gelbe 
Blumenfarbe, mit der Viola calcarataſz. B. 
auf dem Albulapaſſe) ausnahmsweiſe auf— 
tritt, nur ein Rückfall in urelterliche Cha- 
raktere iſt. Ebenſo dürften die roten und 
weißen Abänderungen, in denen viele ſonſt 
blaublühende Bienenblumen bisweilen auf— 
treten (3. B. Polygala vulgaris, comosa, 
alpestris, Myosotis palustris, Ajuga 
reptans, gene vensis und pyramidalis) auf 
Atavismus zurückzuführen ſein und ſomit 
auf das Hervorgegangenſein dieſer blauen 
Blumenfarben ausRot und Weiß hindeuten. 


365 


| Kehren wir nun, zum Schluſſe unferer 
Betrachtung, zu der am Eingange derſelben 
aufgeworfenen Frage zurück, ſo müſſen 
wir dieſe, mit einigen Einſchränkungen, 
bejahen. 

In der That iſt die Entwicklung der 
Blumen von urſprünglichen, allgemein zu— 
gänglichen zu ſpäteren, auf beſtimmte Be— 
ſucherkreiſe beſchränkten Anpaſſungsſtufen 
von einer fortſchreitenden Entwicklung der 
Blumenfarben begleitet geweſen. Rot, Vio— 
lett, Blau ſind immer erſt ſpäter gezüchtet 
worden als Weiß oder Gelb. Wir haben 
aber keinen Grund anzunehmen, daß die 
Entwicklung verſchiedener Blumenfarben 
immer von einer und derſelben Grundfarbe 
ausgegangen ſei '“), und ſicher iſt die Reihen— 
folge der auseinander hervorgegangenen 
Farben nicht immer dieſelbe geweſen. ““) 

Die Fähigkeit, rote, violette und blaue 
Farben zu unterſcheiden, haben die blumen— 
ſuchenden Fleiſch- und Aasfliegen in ge— 
wiſſem Grade jedenfalls ſchon durch die 
Übung im Aufſuchen ihrer urſprünglichen 
Nahrungsquellen erlangt. Dagegen ſcheint 
ſie ſich bei den Faltern (oder deren Stamm— 
eltern!), Bienen und langrüſſeligen Fliegen 
(Syrphiden, Konopiden) erſt gleichzeitig und 
im engeren Zuſammenhange mit der Aus— 
bildung langer Rüſſel entwickelt zu haben. 

) Bei Liliazeen und Ranunkulazeen z. B. 
ſcheint aus urſprünglichem Gelbgrün zunächſt 
einerſeits Weiß, andererſeits Gelb hervorgegan— 
gen zu ſein. In anderen Fällen dagegen könnte 
ganz wohl die urſprüngliche Farbe der Blüten— 
hüllen weiß (wie bei der windblütigen Luzula 
nivea) oder gelb (wie bei Luzula lutea) oder 
rot (wie bei Larix) geweſen fein. 

) Blau z. B. hat ſich bei Viola jeden- 
falls aus Gelb, bei Hepatica, Echium, Pul- 

| monaria und anderen Boragineen dagegen wahr— 
ſcheinlich aus Rot entwickelt. 


Die Geſchichte der Schrift. 


Ein im Londoner Royal Institution gehaltener Vortrag 


ie Geſchichte der Schrift iſt 
in großem Maßſtabe die Ge— 
IE ſchichte des menschlichen Gei- 
& tes. Genau wie etwas einem 
abſtrakten Gedanken Ahn— 
liches ohne eine Sprache ir— 
gend welcher Art unmöglich iſt, ſo iſt es 
ſchwer, ohne Schrift ſich einen Begriff von 
einer fortſchreitenden Ziviliſation oder ei— 
ner entwickelten Kultur zu machen. Das 
geübte Gedächtnis iſt ohne Zweifel fähig, 
wunderbare Thaten zu vollbringen, wie 
wir von den Hindus lernen können, welche 
mittelſt desſelben lange Jahrhunderte hin— 
durch nicht blos Gedichte, ſondern ſogar 
wiſſenſchaftliche Werke ganz wohl aufbe— 
wahrt haben; nichtsdeſtoweniger hat das 
Gedächtnis eine Grenze, und die meiſten 
von uns, denke ich, würden mißvergnügt 
ſein, ihm allein die Erinnerung ihrer eige— 


nen Gedanken und Entdeckungen, geſchweige 


denn diejenigen anderer anzuvertrauen. 


von 


Vrof. A. H. Sayce. 


Wenn die Sprache dem Menſchen die 


Macht des 
verlieh, ſo hat ihn die Schrift befähigt, 


zuſammenhängenden Denkens 


Es giebt eine auffallende Analogie 
zwiſchen der Geſchichte der Sprache und 
der Schrift. Beide ſind von einem niedern 
Anfange entſprungen. Die Sprache be— 
gann mit wenigen Tönen und Ausrufen, 
welche eine gleich geringe Zahl von Ideen 
verſinnlichten und ausdrückten; das Schrei— 
ben begann mit der Abbildung ſolcher 
Gegenſtände, wie ſie ſich dem Geſichts— 
kreiſe der erſten Zeichner darboten. Wie 
früh dies in der Geſchichte unſers Ge— 
ſchlechts geſchehen iſt, wurde uns neuer— 
dings durch archäologiſche Nachforſchungen 
erſchloſſen. Gleich dem Kinde vergnügte 
ſich der Urmenſch durch Abzeichnen der 
Dinge, die er um ſich ſah, und gleich früh— 
entwickelten Kindern zeigte er mitunter ein 
bemerkenswertes Talent in Ausübung die— 
ſer Kunſt. Die Zeichnungen des Rens 
und anderer Tiere, welche mittelſt roher 
Kieſelſteinwerkzeuge auf Rentierhorn oder 


Mammutzahn eingeritzt in den Höhlen 


Frankreichs und Englands gefunden wur— 
den, ſind häufig von hohem Verdienſt und 


beweiſen, daß beträchtliche Geſchicklichkeit 
dasſelbe zu entwickeln und zu gebrauchen. in der Zeichnenkunſt mit der niederſten 


Wildheit in andern Richtungen vergeſell— 
ſchaftet geweſen ſein mag. Es iſt dies eine 
Lektion, die wir bereits von den Eskimos 


erhalten haben, deren Gravirungen auf 


Walfiſchknochen denen europäiſcherKünſtler 
nicht unwürdig ſind, oder von den Buſch— 
männern Südafrikas, die ſich ſeit lange 
in der Abbildung von Tiergeſtalten auf 
der glatten Oberfläche der Felſen hervor— 
gethan haben. Aber jene Zeitgenoſſen des 
Rentiers und Mammuts, welche zu dem 
Zeitalter der polirten Steinwerkzeuge ge— 
hörten, in welchem England und Frankreich 
noch ſechs Monate im Jahre unter einer 
Decke von Gletſchern und feſtem Eiſe la— 
gen, waren nicht die erſten, welche die 
Zeichnenkunſt im Weſten ausübten. Eine 
bemerkenswerte, im vergangenen Jahre in 
den Pyrenäen gemachte Entdeckung hat 
erwieſen, daß lange vor ihnen, als Höhlen— 
bär, Höhlenhyäne und andre ausgeſtorbene 
Urtiere noch in der alten Welt exiſtirten 
und als die Geographie Europas weit von 
derjenigen unſerer Tage abwich, Menſchen 
vorhanden waren, welche ihre Muße an— 
wendeten, um ſowohl die ſie umgebenden 
Tiere als ſich ſelbſt abzubilden. In einer 
Höhle der älteren Steinzeit oder paläo— 
lithiſchen Periode ſind eine Anzahl von 
Zähnen des Höhlenbärs gefunden worden, 
die mit Zeichnungen verziert waren, von 
denen einige menſchliche Weſen darſtellten, 
die, wie es den Beobachtern erſcheint, 
gleich dem Mammut mit langem Haar 
bedeckt waren. Ich habe mitunter darüber 
geträumt, daß die Sprache ſelbſt ihren 
erſten Anlauf und Fortſchritt der Malerei 
zu danken haben möchte. Es wird erzählt, 
daß zwei Chineſen, die daran verzweifel— 
ten, einander mit Hilfe einer Sprache zu 
verſtehen, die ſo mancherlei verſchiedene 


A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 


ä 
367 


| Begriffe mit demſelben Laut bezeichnet, ihre 
Zuflucht zur Schrift genommen haben, und 
die meiſten von uns erinnern ſich noch, wie 
unſere eigenen Anſtrengungen zum Leſen— 
lernen und unſere Bekanntſchaft mit un— 
ſerer Mutterſprache durch den Gebrauch 
von Bildern unterſtützt wurden. Ein Appell 
an das Auge iſt ſichrer und eindrucksvoller 
als ein Appell an das Ohr, und wir er— 
kennen Gegenſtände leichter an ihrer bild— 
lichen Darſtellung als an ihrem Namen. 
Nach alledem mag es deshalb nicht para— 
dox erſcheinen, ſich einzubilden, daß die 
Anfänge der Schrift älter ſein mögen, als 
die Anfänge der Sprache, daß Menſchen 
früher Zeichnungen entwarfen, als ſie ar— 
tikulirte Laute ausſtießen. 

Sei dies, wie es ſei, die Entwicklung 
der Schrift wurde bald weit durch diejenige 
der Sprache überholt. Die Sprache be— 
fähigte den Menſchen, ſich Ideen zu ſchaf— 
fen und ihrer ſich wieder zu erinnern; ſeine 
Zeichnungen waren blos Abbildungen vor— 
handener Gegenſtände. Bis er dem Auge 
Begriffe ſowohl als Gegenſtände darſtellen 
konnte, war ſeine Schrift in der That ein 
ſehr armſeliges Werk. Es iſt eine bloße 
Artigkeit, ſie als Schrift zu bezeichnen. 
Aber es kam eine Zeit, in welcher ein 
großer Schritt vorwärts gemacht wurde. 
Die Begriffe, welche ergänzt werden muß— 
ten, wenn man die Gemälde der einzelnen 
Gegenſtände ſchrittweiſe zu einer Geſchichte 
verband, wurden endlich in den Bildern 
ſelbſt geleſen. Ein paar Beine z. B. ge— 
langten dazu, nicht mehr blos eines Men— 
ſchen Beine, ſondern ebenſowohl den Be— 
griff des Gehens zu bezeichnen. Die Schrift 
begann aus ihrem Jugendalter herauszu— 
treten, aufzuhören, blos maleriſch zu ſein 
und ideographiſch zu werden. 


8 


368 


Dies iſt der Punkt, an welchem die 
Entwicklung der Schrift unter einigen 
Menſchenraſſen ſtehen geblieben iſt. So 
haben gewiſſe nordamerikaniſche Indianer— 
ſtämme ſeit lange eine Kunſt beſeſſen, mit 
einander zu korreſpondiren und magiſche 
Zeichen und Verfluchungen auf Felſen 
und Baumrinde zu ſchreiben mit Hilfe von 


Gemälden und Begriffszeichen (Ideogra- 
phen). Wenn dieſe Hieroglyphen, wie wir 
ſie bezeichnen dürfen, gemalt werden, wird 


das Schriftſyſtem Kekinowin genannt, 


und einige der darin angewendeten male 


riſchen Symbole ſind merkwürdig genug. 
Ein Krieger z. B. wird durch das Bild 
der Sonne mit Augen und Naſe nebſt 
zwei daran hängenden Linien dargeſtellt, 
weil er ſo kühn und ſtark wie die große 
Leuchte des Tages ſein muß. Eine auf— 
wärts gehaltene Hand mit ausgeſpreizten 


Fingern bedeutet Tod und eine Anzahl in 


einander befindlicher Kreiſe: Zeit. Dieſes 
Schriftſyſtem iſt unter den Mikmaks zu 
ſolcher Ausbildung gelangt, daß zu Wien 
ein gänzlich in demſelben geſchriebenes re⸗ 
ligiöſes Werk, welches nicht weniger als 
5701 verſchiedene Zeichen enthält, publi— 
zirt worden iſt. 

Sobald die Schrift zur ideographiſchen 
Stufe fortſchreitet, hört die genauere Aus— 
führung der äußeren Gegenſtände natür— 
lich auf, notwendig zu ſein. Wenn es ein— 
mal feſtgeſtellt iſt, daß ein paar Beine den 
Begriff des Gehens ausdrücken ſollen, 
dann iſt die genauere Ausführung der 
Beine nicht länger eine Notwendigkeit. 
Die beiden Linien eines Winkels können 
die Idee ebenſo wirkſam darſtellen, wie 
ein ſorgſam gezeichnetes Beinpaar. Ge— 
dächtnis und Verſtand werden durch ſie 
ebenſowohl angeregt als das Auge, und | 


A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 


wir können uns gleich leicht erinnern, daß 
der Begriff des Gehens durch die beiden 


Linien oder durch die beiden Beine dar- 


geſtellt iſt. Wir werden infolge deſſen 
finden, daß, ſobald das ideographiſche 


Stadium der Schrift erreicht iſt, die For- 


men ihrer Symbole auszuarten beginnen. 
Gerade wie die Laute, aus denen die 
Worte zuſammengeſetzt ſind, im Laufe der 
Zeit durch phonetiſchen Verfall dahin— 
ſchwinden ohne irgendeine notwendige Ab— 
ſchwächung ihrer Bedeutung, ſo werden 
auch die Geſtalten der Schriftcharaktere 
unbeſchadet ihrer Bedeutung verändert 
und modifizirt. Es verurſacht weniger 
Mühe, die menſchliche Geſtalt durch ein 
paar gekreuzte Linien darzuſtellen, als 
durch eine ausgearbeitete Malerei, und 
wenn das Symbol verſtändlich bleibt, 
wird die weniger umſtändliche Darſtellung 
unzweifelhaft die ältere erſetzen. Male— 
reien gehen nicht allein in anbetracht ihres 
innern Sinnes, ſondern auch ihrer äußern 
Form nach in Begriffszeichen über. 

So iſt die große Erfindung gemacht 
worden. Begriffe können dem Auge nicht 
durch gegenſtändliche Malereien wachge— 
rufen werden, ſondern nur durch die eigen— 
mächtige Beſtimmung, daß ein beſtimmtes 


Zeichen für eine beſtimmte Idee ſtehen ſoll. 


Die Malereien des Urmenſchen ſind Cha— 


raktere geworden. Sie wenden ſich nicht . 


mehr an die äußern Sinne, ſondern an 
das Gedächtnis. Kurz, es iſt ein Schrift— 
ſyſtem erfunden, welches wie eine Sprache 
erlernt werden kann. Es iſt nur noch übrig, 
die Erfindung zu vervollkommnen, zu ent— 
decken, wie das geſammte Reich der menſch— 
lichen Ideen durch die wenigſten und ein— 
fachſten Zeichen ausgedrückt werden kann. 

Aber die Entwicklung und Vervoll— 


— 
ET TEL = IN EEE 
Fun = 2 — — — — — — u Bun 


rn 


A. H. Sayce, Die 


kommnung der Erfindung war ein lang— 
ſamer und allmählicher Vorgang. Wenn 
wir auf vergangene Zeiten zurückblicken, 
ſcheint es uns ſonderbar, daß die Charak— 
tere nicht auf einmal in ein Alphabet um— 
gewandelt wurden, deren Buchſtaben nur 
noch Laute bedeuteten. Wir mögen fragen, 
warum die Menſchen ſo lange Zeit brauch— 
ten, um herauszubringen, daß es ganz 
ebenſo leicht iſt, Laute zu ſymboliſiren, als 
das viel mehr Unerfaßliche, die Idee. In— 
deſſen, was uns einleuchtend ſcheint, war 
keineswegs einleuchtend, bevor die Kennt— 
nis und Erfahrung, welche wir erben, 
langſam und mühſam erworben worden 
war. Keine große Entdeckung, wie dieſe, 
iſt jemals auf einmal gemacht worden, 
durch einen Sprung. Sie mußte vorberei— 
tet und herbeigeführt werden; die Zeit 
mußte, wie wir ſagen, dafür reifen. Und 
die Geſchichte der Schrift iſt dieſelbe wie 
diejenige aller andern großen Entdeckun— 
gen. Da die Begriffe ſich vervielfältigen, 
wurde es unmöglich befunden, für jeden 


von ihnen beſondere Charaktere zu finden, 


noch weniger ſich ihrer insgeſammt zu er— 
innern. Zuerſt wurde der Schwierigkeit 
durch Verbindung zweier oder mehrerer 
Begriffszeichen entſchlüpft, um dadurch eine 
neue Idee auszudrücken, die in andere, be— 
reits bekannte und durch Zeichen darſtell— 
bare Ideen zerlegt wurde. 

So hatten die alten Babylonier be— 
ſondere Charaktere, um „Waſſer“ und 
„Auge“ zu bezeichnen; durch Verbindung 
dieſer beiden gelangten ſie dazu, dem Ver— 


ſtande des Leſers die Bezeichnung einer 


„Thräne“ vorzuführen. So wurde anderer— 
ſeits, da die Sonne durch einen Kreis dar— 
geſtellt wurde, ein Monat ſchnell durch 
Einſchreiben des Zahlzeichens für dreißig 


Geſchichte der Schrift. 


369 


in den Kreis, die dreißig Tage des Mond— 
monats bezeichnend, dargeſtellt. 

Dieſe Art Begriffe auszudrücken, mag 
als klaſſifikatoriſch bezeichnet werden. Die 
Begriffe wurden, einer unter dem andern, 
in Klaſſen geordnet, und gerade wie wir 
einen Begriff definiren, indem wir ihn zu 
einer Spezies eines andern, mehr umfaſſen— 
den Begriffs machen, wurden neue Be— 
griffszeichen durch Aneinanderſetzung von 
zweien oder mehreren gebildet, eins um 
die Gattung, und eins um die Spezies 
zu bezeichnen. So wird, wie Dr. Legge 
gezeigt hat, eine verheiratete „Frau“ oder 
„Gattin“ in der alten chineſiſchen Schrift 
durch die beiden Begriffszeichen für „Weib“ 
und „Beſen“ bezeichnet, ſofern der chine— 
ſiſche Begriff einer ſorgſamen Hausfrau 
derjenige eines weiblichen Weſens war, 
die das Haus durch beſtändiges Kehren 
rein erhält. So ſtanden auch in dem hiero— 
glyphiſchen Syſtem, aus welchem die Keil— 
ſchrift der Babylonier und Aſſyrier ent— 
ſprang, die Begriffszeichen für „groß“ 
und „Mann“ ſtatt „König“, welcher als 
eine beſondere Spezies des Männerge— 
ſchlechts betrachtet wurde. Dagegen wurde 
der Begriff „Vater“ maleriſch durch den 
„Neſtmacher“ und derjenige eines „Ge— 
fängniſſes“ durch „Haus der Finſternis“ 
ausgedrückt. 

Aber nach alledem blieb eine Grenze 
für die Zahl der Begriffe, die durch Be— 
griffszeichen ausgedrückt werden konnten. 
Da Ziviliſation und Kultur fortſchritten, 
fand es die Bilderſchrift ſchwierig, mit den 
neuen Begriffen, welche beſtändig ins Da— 
ſein gerufen wurden, Schritt zu halten. 
Und ſogar wenn Mittel entdeckt wurden, 
ſie alle darzuſtellen, wurde dem Gedächt— 
nis die Bürde übergroß und unerträglich, 


3 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 


47 


370 


A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 


ein Lebensalter wurde erforderlich, um ein | einen einzelnen Laut, ſondern eine Silbe 


Schriftſyſtem zu erlernen, welches durch 
beſondere Bildzeichen oder Bildgruppen 
alle die mannigfaltigen Begriffsbildungen 
des ziviliſirten Lebens zu bezeichnen ver— 
ſuchte. Ein ziviliſirtes Volk gerät überdies 
notwendig mit ſeinen Nachbarn in Berüh— 
rung. Es kann verſucht werden, ſich gleich 
den Egyptern des alten Reichs oder den 
Japaneſen einer jüngern Zeit in ſchwei— 
gender Iſolirung abzuſchließen, aber frü— 
her oder ſpäter werden die umringenden 
Völker ſich Aufmerkſamkeit erzwingen, 
wenn nicht auf friedlichem Wege, ſo durch 
alle Eventualitäten des Krieges. Dann 
kommt die Frage, wie durch Schrift fremde 
Eigennamen ausgedrückt werden ſollen, 
die keinen Sinn in der Sprache derjenigen 
beſitzen, die ſich ihrer erinnern möchten? 
Auf dieſe Frage giebt es nur eine Ant— 
wort, nur eine Löſung der Schwierigkeit. 
Man mußte aufhören, die Darſtellung 
von Gegenſtänden und Ideen zu verſuchen 
und mußte an ihrer Stelle Worte, das 
heißt Laute, darſtellen. Der Tag, an 
welchem dieſe Thatſache der menſchlichen 
Intelligenz aufdämmerte, war einer der 
wichtigſten unſers Geſchlechts. Ein Al— 
phabet wurde möglich und mit ihm die 
faſt unbegrenzte Macht, die Gedanken und 
Bedürfniſſe der Menſchheit auszudrücken. 


Aber es erforderte noch einige Zeit, 
’ | 


bevor die Möglichkeit verwirklicht wurde. 
Große Entdeckungen werden, wie ſchon vor— 
hin bemerkt, nicht auf einmal gemacht; ein— 
fach, wie ſie erſcheinen, nachdem ſie gemacht 
ſind, mußten ſie dennoch langſam und 
Schritt für Schritt vorwärts gebracht wer— 
den. Dem Alphabet ging eine Silben— 
ſchrift vorauf, d. h. ein Syſtem von Schrift— 
zeichen, in welchem jedes einzelne nicht 


bezeichnete. Daß es ſo kam, war faſt unver— 


meidlich. Wir teilen naturgemäß unſere 


Worte nicht in Buchſtaben, ſondern in Sil— 
ben und eine Silbe ſtand häufig für ein 
Wort. Dies war beſonders der Fall bei 
den drei leitenden Erfindern der Schrift, 
den Chineſen, Egyptern und der akkadiſchen 
Bevölkerung des urſprünglichen Chaldäas. 
Viele der von dieſen Nationen gebrauch— 
ten Begriffszeichen ſtellten nicht blos Be— 
griffe, ſondern auch einzelne Silben vor, 
und es war einleuchtend, daß ſie ange— 
wendet werden konnten, um beide auszu— 
drücken. Im Akkadiſchen bezeichnete das 
Wort bat beiſpielsweiſe „ſterben“ und 
wurde durch das Bild eines Leichnams dar— 
geſtellt, aber bat bedeutete auch „Feſtung“ 
und ſo wurde das urſprüngliche Zeichen 
eines Leichnams in das Bild einer „Um— 
friedigung“ eingefügt, wenn die letztere 
eine Feſtung oder Zitadelle bezeichnen ſollte. 

Sobald die Gewohnheit ſich feſtgeſetzt 
hatte, den Charakteren als phonetiſche 
Werte ihre Ausſprache als Begriffszeichen 
beizulegen, breitete ſie ſich reißend aus, bis 
jedes Bildzeichen ſowohl eine ihm eigene 
rein phonetiſche, als begriffliche Bedeutung 
hatte. Der Vorgang wurde ohne Zweifel 
ſtark durch den Verfall und die Zerſetzung 
der alten Schriftgemälde befördert; es war 
leichter, ein Schriftzeichen, welches ſeine ur— 
ſprüngliche Bildform verloren hatte, als 
bloßen Vertreter einer Silbe zu behandeln, 
als eins, welches noch als ein getreues Bild 
irgend eines Naturgegenſtandes verharrte. 
Aber der Vorgang war von einer großen 
Erleichterung begleitet. Begriffszeichen tra— 
ten oft, wie wir geſehen haben, für mehr 
als einen Begriff ein, oder derſelbe Begriff 
mochte unter verſchiedenen Namen bekannt 


N 


A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 371 


ſein; wenn daher das alte ideographiſche 
Syſtem in eine ſillabariſches verwan— 
delt wurde, ſo ſtellt jedes Begriffszeichen 
mehr als eine Silbe vor. Die Polyphonie 
jedes Zeichens, d. h. das Vermögen meh— 
rere phonetiſche Werte zu bezeichnen, iſt ein 
großer Stein des Anſtoßes für die Ent— 
zifferer der egyptiſchen und aſſyriſchen In— 
ſchriften geweſen und nur allmählich aus 
dem Wege geräumt worden. Sie war auch 
den Egyptern und Aſſyrern ſelbſt ein Stein 
des Anſtoßes, und verſchiedene Erfindun— 
gen wurden gemacht, um ihn zu vermeiden. 
Weshalb es niemals feſtgeſetzt ward, ihn 
völlig aus dem Weg zu ſchaffen, indem man 
jeden Charakter auf den Ausdruck einer 
einzelnen Silbe beſchränkte, muß wahr— 
ſcheinlich derſelben Urſache zugeſchrieben 
werden, welche uns ſo zähe an unſerem 
eigenen polyphonen Alphabet feſtkleben 
läßt, ich meine dem eingebornen Konſerva— 
tivismus des menſchlichen Gemüts. In ir— 
gend einer Weiſe war es einer ſpätern Zeit 
und den fremden Entleihern der aſſyriſchen 
Silbenſchrift überlaſſen, eine Verbeſſerung 
vorzunehmen, die uns ebenſo einleuchtend 
als notwendig erſcheint. Bis dahin konnte 


alſo ein aſſyriſches Schriftzeichen nicht blos 


begrifflich, ſondern auch als Vertreter meh— 
rerer beſtimmter und verſchiedener Laute 
gebraucht werden. Nehmen wir z. B. das 
Zeichen, welches, wie wir geſehen haben, 
urſprünglich einen Leichnam bedeutet. Da 
das gebräuchliche Wort für einen Leichnam 
im Akkadiſchen bat war, ſo blieb bat der 
gewöhnliche phonetiſche Wert des Zeichens, 
aber außer der Silbe bat bezeichnete es auch 
die Silben mit, til und be und konnte, ganz 
wie der Schreibende wollte, für die Bezeich— 
nung irgend eines dieſer Silbenlaute ge— 
braucht werden. 


In dem achten Jahrhundert vor un— 
ſerer Zeitrechnung wurde die aſſpriſche 
Schriftweiſe von den Völkerſchaften ange— 
nommen, welche zu jener Zeit Armenien 
im Norden und Medien im Oſten bewoh— 
ten, und die erſte große Reform wurde in 
der Beſchränkung jedes Zeichens auf den 
Ausdruck einer einzelnen Silbe eingeführt. 
Um indeſſen die Silben darzuſtellen, wurde 
eine ziemliche Menge von Charakteren er— 
fordert, an der Seite von ba z. B., war 
es nötig bi, be und bu zu haben, und jeder, 
der leſen und ſchreiben zu lernen wünſchte, 
mußte ein gutes Gedächtnis haben. Es 
war den Perſern vorbehalten, die letzte 
Verbeſſerung an dem Keilſchrift-Syſtem zu 
machen, indem fie erfindungsreich ein Alpha— 
bet herauszogen. Und der Weg, auf wel— 
chem ſie dazu kamen, war folgender: Eine 
gewiſſe Zahl von Charakteren wurde ge— 
nommen, ihre Bedeutung als Begriffszei— 
chen ins Perſiſche überſetzt, und der beſon— 
dere Laut, mit welchem jedes dieſer per— 
ſiſchen Worte begann, wurde dem Schrift— 
zeichen als ſein alphabetiſcher Wert bei— 
gelegt. 

Was die vereinten Anſtrengungen meh— 
rerer verſchiedener Raſſen und Nationen 
in dem Falle der Keilſchriftzeichen der 
Aſſyrer und Babylonier erforderte, wurde 
ohne Hilfe und allein von dem wunder— 
baren Volke des alten Egypten vollbracht. 
Das Aſhmolean-Muſeum in Oxford ent— 
hält eines der älteſten Monumente der 
Ziviliſation in der Welt, wenn es nicht 
thatſächlich das allerälteſte iſt. Es iſt der 
Denkſtein eines Grabes, welches die letzte 
Ruheſtätte eines Beamten ausmachte, der 
zur Zeit des Königs Sent aus der zweiten 
Dynaſtie lebte, deren Datum durch Ma— 
riette auf mehr als 6000 Jahre zurück— 


372 A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 


geſetzt wird. Der Stein iſt mit jener zar— 
ten und vollendeten Skulptur bedeckt, wel— 
che die früheſte Periode der egyptiſchen Ge— 
ſchichte auszeichnet und unvergleichlich hö— 
her ſteht, als die ſteife und konventionelle 
Kunſt der ſpäteren egyptiſchen Zeitalter, 
die wir in unſern europäiſchen Muſeen zu 
ſehen gewöhnt ſind. Aber er iſt außerdem 
mit etwas noch Koſtbarerem alsfeine Skulp— 
tur bedeckt: mit Hieroglyphen, welche zei— 
gen, daß die egyptiſche Schrift ſogar in 
dieſer fernen Epoche eine ausgebildete und 
vollendete Kunſt war, hinter welcher lange 
Jahre früherer Entwicklung lagen. Die 
hieroglyphiſchen Charaktere find jedoch nicht 
allein als Bildzeichen und Ideographen, 
ſondern auch bereits zum Ausdruck von 
Silben und Buchſtaben gebraucht, indem 
z. B. der Name des Königs in Buch— 
ſtaben geſchrieben iſt. In den Händen der 
egyptiſchen Schreiber machte indeſſen die 
egyptiſche Schrift niemals einen ferneren 
Fortſchritt. Mit dem Fall des ſogenann— 
ten alten Reiches (ungefähr 3500 v. Ch.) 
ſchwand die friſche und expanſive Kraft des 
Volkes dahin. Das egyptiſche Leben und 
Denken verſteinerte ſich, und durch die lange 
Reihe der folgenden Jahrhunderte glich 
Egypten einer ſeiner eigenen Mumien, in— 
dem es getreulich die Geſtalt und Züge 
eines vergangenen Zeitalters und eines Le— 


bens, welches in ſeinen Adern aufgehört 
hatte zu pulſiren, aufbewahrte. Bis zur 
Einführung des Chriſtentums beſtand die 
einzige an der egyptiſchen Schrift vorge— 
gangene Anderung in der Erfindung einer 
fließenderen Schrift, welche in ihrer frü- 
heren und einfacheren Form die hieratiſche 
und in ihrer ſpäteren Geſtalt die demotiſche 
genannt wurde. 

Aber was die Egypter ſelbſt zu thun 


unterließen, wurde von unternehmenden 
und wißbegierigen Fremden vollbracht. 
Für mehrere Jahrhunderte nach dem Fall 
des alten Reiches war Egypten dem Verfall 
und inneren Unruhen anheimgefallen, und 
wenn es wiederum im Lichte der Geſchichte 
auftaucht, ſo iſt es unter den Fürſten des 
hundertthorigen Thebens in der als mitt— 
leres Reich bekanntenPeriode. Während die— 
ſe Fürſten Theben mit Tempeln und Granit— 
koloſſen verzierten und in den Felſen von 
Beni⸗Haſſan Gräber für ſich aushöhlten, 
geſchah es, daß ums Jahr 2700 v. Ch. eine 
kleine Anzahl von Einwanderern, ſieben und 
dreißig im ganzen, im Delta ankam. Es 
waren Schäfer und Rinderhirten von der 
Küſte Phöniziens und Paläſtinas, und wie 
mit einer inſtinktiven Ahnung der großen 
Rolle, die ihre Nachkommen ſpäter in der Ge— 
ſchichte Egyptens ſpielen ſollten, wurde ihre 
Ankunft in Malerei und Hieroglyphen auf 
den Wänden eines der Gräber vonBeni-Haſ— 
ſan verewigt. Dort können wir ſie noch in 
Mennigfarbe und Ocker porträtirt ſehen, 
und in ihren Habichtsnaſen und ſchwarzen 
Haaren die Züge der Schäferkönige, wel— 
che Nordegypten 600 Jahre unter ihrem 
Szepter behielten, wie auch der Kinder 
Israels und der ſpätern Bevölkerung des 
Deltas. Denn es kam eine Zeit, wo die 
Egypter aus dem reichen und fruchtbaren 
Lande des Deltas, dem erſten Sitze ihrer 
Macht und Ziviliſation, ausgetrieben und 
ihre Plätze eingenommen wurden von den 
Händlern von Tyrus und Sidon und den 
Ackerbauvölkern Südkanaans. Von dieſer 
Zeit empfing das Delta einen neuen Na— 
men bei den Unterthanen der Pharaonen, 
es wurde Kaphtor oder Großphönizien 
genannt, ſeit hier die phöniziſchen Semiten 
ein reiches Gebiet und weitere Länder, ſich 


A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 


auszubreiten, fanden, als in dem eigenen 
engen Küſtenſtrich ihrer Heimat. 

Dieſe phöniziſchen Anſiedler ſind es, 
denen wir unſer jetziges Alphabet verdan— 
ken. Sie waren, wie ich geſagt habe, ein 
unternehmendes Volk, und ihre kommerzi— 
elle Geſchäftigkeit lehrte ſie bald den Wert 
der Schrift ſchätzen, welche ihre egyptiſchen 
Nachbarn beſaßen. Aber ſie waren, wie 
Geſchäftsleute zu werden pflegen, nicht 
blos ein unternehmendes, ſondern auch ein 
praktiſches Volk, ſie empfanden nichts von 
jener konſervativen Ehrfurcht vor der Ver— 
gangenheit, welche unter den Egyptern 
Wechſel und Neuerung verhinderte, und 
nahmen, als ſie ſo in Egypten in die 
Schule kamen, nicht das geſammte be— 
ſchwerliche Hieroglyphenſyſtem mit ſeinen 
Ideographen, Silbenzeichen und ſeiner 
Polyphonie mit nach Hauſe, ſondern blos 
ihr Alphabet. Alles übrige wurde beiſeite 
geworfen ;ſie fanden zweiundzwanzig Buch— 
ſtabenzeichen ausreichend, um all ihr Den— 
ken und Sprechen aufzuzeichnen, und 
nahmen demgemäß blos zweiundzwanzig 
Zeichen mit. Dieſe zweiundzwanzig Zeichen 
ſtellen das ſogenannte phöniziſche Alphabet 
dar, welches von den Phöniziern einerſeits 
den Hebräern und andererſeits den Grie— 
chen überliefert ward, von denen es durch 
die Römer auf uns gekommen iſt. Die 
egyptiſchen Charaktere wurden von den 
Phöniziern des Deltas nicht in ihren hiero— 
glyphiſchen, ſondern in ihren hieratiſchen 
Formen entliehen, wie zwei oder drei Bei— 
ſpiele deutlich machen werden. 

Das neue Alphabet nahm ſchließlich 
ſeinen Weg von dem Delta nach der alten 
Heimat der Phönizier an der Küſte von 


Paläſtina. Bereits in der Zeit Davids 
hatten die alten Syrier, ihre Geſchichts- 


1 


373 


ſchreiber und Reichsannalen, und Hiram 
von Tyrus ſchrieb, wie uns erzählt wird, 
Briefe an König Salomon. Das phöni— 
ziſche Alphabet, wie wir es nunmehr nen— 
nen können, wurde den Israeliten zugleich 
mit andern Kulturelementen überbracht 
und die benachbarten Völker von Edom, 
Ammon und Moabempfingen es zuderſelben 
Zeit. Auch waren bereits den Buchſtaben 
Namen beigelegt worden, die von phö— 
niziſchen Worten, welche mit den betreffen— 
den Buchſtaben des Alphabets anfingen, 
herſtammten; a zum Beiſpiel wurde aleph, 
„ein Ochs“, b beth, „ein Haus“, genannt 
und ſo weiter. Auf dieſe Weiſe wurde die 
Bedeutung jedes Buchſtabens um ſo leichter 
dem Gedächtnis der phöniziſchen Schul— 
knaben eingeprägt, gerade wie in unſeren 
heutigen Kinderſtuben der Gedanke herrſcht, 
daß wir weniger Schwierigkeit finden, un— 
ſer A-B-C zu lernen, wenn wir belehrt 
werden, daß „A ein Affe wäre, der einen 
Apfel frißt“ “), als wenn uns einfach ge— 
jagt würde, A wäre A. Namen und Buch— 
ſtaben wurden gleichzeitig in die Grenz— 
länder Phöniziens eingeführt, und im Laufe 
der Zeit wurden Inſchriften in den neuen 
Charakteren ſowohl auf Stein eingegraben, 
als auch auf das vergänglichere Material 
des Papyrus oder der Baumrinde gemalt. 
Das älteſte auf uns gekommene Monu— 
ment mit dem phöniziſchen Alphabet iſt 
der vor einigen Jahren in der Gegend von 
Dibon entdeckte Moabiter Stein, welcher 
an die Eroberungen und Bauten des Kö— 
nigs Meſha, des Zeitgenoſſen von Ahab, 
erinnert. Die in den Charakteren dieſes 
Steines angewendeten Formen müſſen die— 
ſelben geweſen ſein, wie die von den jüdi— 


*) Anm. d. Überſ. Im Engliſchen heißt 
es: „A was an archer, who shot a frog.“ 


374 


ſchen Propheten beim Niederſchreiben ihrer 
Prophezeiungen und hiſtoriſchen Erinne— 
rungen aus ihrer Zeit gebrauchten. 
Mittlerweile hatten die nördlichen 
Nachbarn der Phönizier, welche am Golfe 
von Antiochia wohnten, Handelsreiſen in 
den fernen Weſten unternommen und gleich- 
zeitig mit den Waaren und den Gefäßen 
des Oſtens eine Bekanntſchaft mit dem 
Alphabet verbreitet. Sie hatten die Be— 
wohner Kleinaſiens und der benachbarten 
Inſeln im Beſitz einer Silbenſchrift ge— 
funden, deren Urſprung noch ein Rätſel 
iſt, aber als ſie weiter weſtlich gegen die 
Inſeln des Ageiſchen Meeres und zu den 


Buchten Griechenlands vordrangen, ent— 
deckten ſie ein gänzlich ſchriftloſes und ſo— 
gar mit den Anfängen der Schriftmalerei 
unbekanntes Volk. Unter dieſem Volke, 
welches wir jetzt Griechen nennen, errich— 
teten ſie bald Kolonien, deren wichtigſte 
in Theben und auf den Inſeln Melos und 
Thera lagen. Die Inſel Thera war wahr— 
ſcheinlich der erſte Fleck auf europäiſchem 
Boden, auf welchem Worte in geſchrie— 
bene Symbole übertragen wurden. Die 
älteſten griechiſchen Inſchriften gehören, 
wie von kompetenten Autoritäten ange— 
nommen wird, nach Thera, und das Al— 
phabet dieſer Inſchriften iſt das älteſte 
Alphabet, welches wir kennen. Die Ge— 
ſtalten dieſer Schriftzeichen zeigen eine ſo 
nahe Ahnlichkeit mit denen des Moabiter 
Steins, um unſern Schluß zu rechtfertigen, 
daß das Ahnenalphabet, von dem die von 
Moab und Thera beide abſtammten, das— 
ſelbe, und daß das Datum der In— 
ſchriften von Thera nicht ſehr entfernt 
von demjenigen der Inſchrift des Königs 
Meſha war. In dieſem Fall wird es in 


Griechenland während des neunten Jahr— 


A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 


hunderts vor unſerer Zeitrechnung einge— 
führt worden ſein. 

Die Griechen ſelbſt glaubten, daß die 
alte phöniziſche Kolonie im böotiſchen 
Theben die Quelle und das Zentrum ge— 
weſen, von welchem das Alphabet über 
das Land ausgebreitet worden ſei. Kad— 
mos, der „Oſtliche“, wie ſein Name ſa— 
gen will, war ſein mythiſcher Erfinder, 
obgleich ſpätere Legenden vermeldeten, 
wie der geſchickte Palamedes und der 
Poet Simonides in der Folge neue Buch— 
ſtaben hinzugefügt hätten. Aber dieſe Le— 
genden gehören insgeſammt zu den Fabeln 
des litterariſchen Zeitalters; der Kern von 
Wahrheit, den ſie enthalten, iſt die That— 
ſache, daß das griechiſche Alphabet aus 
Phönizien kam. Es iſt eine Thatſache, für 
welche thatſächlich noch das Wort Alpha— 
bet ſelbſt Zeugnis ablegt; alphabet oder 
alpha, beta, die beiden erſten Buchſtaben 
des Alphabets, ſind beide, wie wir ge— 
ſehen haben, phöniziſche Worte. 

Es würde langweilig und überflüſſig 
ſein, den Schickſalen des Alphabets wei— 
ter zu folgen, nachdem es einmal feſten 
Fuß auf europäiſchem Boden gefaßt hatte. 
Die Formen und in manchen Fällen die 
Bedeutungen der Schriftzeichen wechſelten 
allmählich und manche derſelben unter— 
lagen beſonderen Modifikationen in ver— 
ſchiedenen Teilen der griechiſchen Welt. 
Eine geringe Praxis befähigt uns, durch 
einen bloßen Blick auf die Formen der 
Buchſtaben, ſofort zu unterſcheiden, zu wel— 
chem ſpeziellen Zweige der griechiſchen 
Raſſe eine Inſchrift gehört. 

Gleich den Phöniziern vor ihnen, be— 


zahlten die Griechen die empfangene Wohl— 


that, indem ſie dieſelbe in ihrem Alphabet 


den noch weiter weſtlichen Nationen über— 


0 


A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 


brachten. Die griechiſchen Kolonien in 
Sizilien und Süditalien, meiſtens doriſcher 
Abkunft, brachten das doriſche Alphabet 


mit ſich und demgemäß verwandten die 


Eingebornen Süditaliens, als ſie zuerſt 


zu ſchreiben begannen, das doriſche Al- 


phabet ihrer Nachbarn. Von da geſchah 
es, daß die Lateiner und wir ſelbſt nach 
ihnen, dem Buchſtaben R einen Schwanz 


anhefteten, der in dem alten phöniziſchen 


Alphabete fehlt; von hier auch haben wir 


durch die Römer den Buchſtaben @ geerbt, 


der in allen griechiſchen Alphabeten mit 


Ausnahme des doriſchen, verloren gegan- 


gen iſt. Andererſeits lernten die Etrusker, 
jenes geheimnisvolle Volk Norditaliens, 
die Kunſt, Vaſen zu formen und zu be— 
malen, von athenienſiſchen Töpfern, und 
da die letzteren die Gewohnheit hatten, 


die Namen der auf dieſen Darſtellungen 


abgebildeten Götter und Heroen darüber 
zu ſchreiben, ſo lernten die Etrusker zur 
ſelben Zeit das altattiſche oder joniſche 
Alphabet. Wir brauchen nur die Alpha— 
bete Etruriens und Athens neben einander 
zu ſtellen, um uns ſofort von dieſer That— 
ſache zu überzeugen. R zum Beiſpiel wird 
in beiden durch das ſchwanzloſe P wieder— 
gegeben, wir ſuchen vergeblich in beiden 
nach E, und die beiden verſchiedenen Zei— 
chen, welche einſt für die Gaumenlaute e und 
k ſtanden, ſind in eins verſchmolzen. Al— 
phabete können, gleich Worten, durch rich— 
tige Frageſtellung veranlaßt werden, ihre 
eigene Geſchichte ſowohl wie diejenige des 
Volkes, welches ſie anwendete, zu erzählen. 

Die Alphabete des weſtlichen Europas 
ſind die geraden Abkömmlinge des römi— 
ſchen. Unſere (ſogenannten lateiniſchen) 
Anfangsbuchſtaben ſind identiſch mit den— 
jenigen, die auf den Monumenten der ewi— 


375 


gen Stadt eingegraben wurden, und wir 
können mit Hilfe gleichzeitiger Dokumente 
die aufeinanderfolgenden Anderungen ver— 
folgen, welche dieſe Anfangsbuchſtaben 
in die kleineren Typen der Druckerpreſſe 
oder unſerer Handſchrift verwandelt ha— 
ben. Auf ſolche Weiſe wurde AN, A, @ 
auf der einen, und N, a auf der andern, 
während b und b zu B rückwärts ver— 
folgt werden kann durch die Mittelſtufen 
B. B, P. &, und 5. 

Aber beim Entleihen oder Ableiten 
eines Alphabets von dem andern hat ſtets 
eine große Schwierigkeit überwunden wer— 
den müſſen. Nicht bei zwei Völkern iſt die 
Ausſprache genau die nämliche, vielmehr 
differirt ſie, allgemein geſprochen, ſehr 
weit. Infolge deſſen werden die von dem 
einen Volke mit den Buchſtaben des Al— 
phabets verknüpften Laute nicht in allen 
Fällen mit denjenigen übereinſtimmen, die 
von dem andern mit denſelben Buchſtaben 
verbunden werden. Es wird ſich ferner 
häufig ereignen, daß Laute in einer Sprache 
fehlen werden, die in einer andern ſehr 
im Gebrauche ſind. Bei der Entleihung 
eines Alphabetes wird es daher nötig ſein, 
mehr zu thun als es einfach zu übertragen; 
es muß angepaßt werden, gerade wie die 
Ausſprache franzöſiſcher Worte wie Paris 
oder Marseille dem Genius der engliſchen 
Ausſprache angepaßt worden ſind. Neue 
Laute mußten den altenBuchſtaben beigelegt 
werden, neue Buchſtaben mußten erfunden 
oder aus alten umgeformt werden, wäh— 
rend einige der alten Buchſtaben völlig 
verſchwunden ſind. Es iſt indeſſen nicht 
oft vorgekommen, daß ein Alphabet in ſo 
wiſſenſchaftlicher Weiſe angenommen und 
angepaßt worden iſt, daß es ſogar an— 
nähernd all die eigentümlichen Lautabän— 


376 


derungen der Sprache der Entleiher aus- 
drückt. Allgemein geſprochen iſt die An— 
paſſung in roher und ſchnellfertiger Weiſe 
geſchehen, und diejenigen, welche davon 
Gebrauch machen, ſind oft in Streit ge— 
raten, ob die Worte nach ihrer Ausſprache 
klar verſtändlich ſeien in der Niederſchrift. 
Oft iſt auch das Alphabet bei einem ſchrift— 
loſen Volke oder bei einer Raſſe, die 
bisher eine verſchiedene Schreibweiſe an— 
wendeten, nicht gewiſſenhaft und mit Über— 
legung eingeführt worden. Die meiſten un— 
ſerer weſteuropäiſchen Alphabete ſind all— 
mählich in dasjenige hineingewachſen, was 
ſie durch die langſam wirkende Kraft der 
Zeit und Umſtände und die auf einander 
folgenden Verbeſſerungsverſuche einzelner 
Perſonen geworden ſind. Wir können z. B. 
nicht mit irgend wirklichem Zutrauen ſa— 
gen, daß das engliſche Alphabet z. B. in 
demſelben Sinne entliehen und angepaßt 
worden ſei, in welchem es ſelbſt entliehen 
und angepaßt wird, um die Laute 
eines polyneſiſchen Dialektes darzuſtellen. 
Von der Zeit an, in welcher es zuerſt auf 
dieſem Inſellande unter der Geſtalt des 
ſogenannten angelſächſiſchen Alphabets 
eingeführt worden iſt, hat es eine fort— 
laufende Geſchichte, eine Geſchichte von 
langſamer und mitunter kaum merklicher 


Anderung und Entwicklung durchgemacht, 


welche, wenn es ihr geſtattet geweſen wäre, 
ohne Einhalt und Hindernis vorwärts zu 
ſchreiten, zu einem leidlich brauchbaren 
Werkzeug zur Darſtellung und Einprägung 
unſerer Worte geführt haben würde. Aber 
ſie war unglücklicherweiſe vor nahezu 400 
Jahren durch die Erfindung der Buch— 
druckerkunſt plötzlich gehemmt. Die Be— 
dingungen der Buchdruckerpreſſe ſtereoty— 
pirten das Alphabet und die Rechtſchrei— 


A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 


GT — —— 
N 
0 
7 
u 


bung der Zeit mit all ihren Unvoll- 
kommenheiten und, was noch mehr, ſie 


fixirten die Ausſprache der Worte, welche 


jene Rechtſchreibung zu ſymboliſiren ver— 
ſuchte. Es war vergeblich, daß ein geſun— 


der Unabhängigkeitsſinn lange vorzuwal— 
ten fortfuhr unter jener großen Zahl ge— 
bildeter Engländer, die weder Drucker, 
noch Autoren, noch Schulmeiſter waren, und 
daß es noch bis zum Ende des letzten 
Jahrhunderts als keine Schande für ir— 
gend ein gebildetes Mitglied der Ariſto— 
kratie galt, ſeine Rechtſchreibung einzu— 
richten, wie es ihm bequem dünkte. Wir 
brauchen blos die hinterlaſſenen Original— 
handſchriften einiger der hervorragendſten 
Engländer des achtzehnten Jahrhunderts 
zu unterſuchen, um zu entdecken, daß ſie 
noch fähig waren, die Freiheit der Privat— 
rechtſchreibung gegen die Tyrannei der 
Druckerpreſſe aufrecht zu erhalten. 

Denn eine Sprache und ihre Aus— 
ſprache müßte trotz aller Anſtrengungen 
der Drucker und Pedanten, ihr eine enge 
Jacke anzulegen, von Generation zu Gene— 
ration wechſeln. Wir haben nur nötig, 
unſere Ohren zu gebrauchen, um wahrzu— 
nehmen, daß ſelbſt in dieſem gegenwärti— 
gen Augenblick die Ausſprache des gebilde— 
ten Engliſch in langſamer, aber ſicherer Ver— 
änderung begriffen iſt. Ich möchte wiſſen, 
wie Viele noch an dieſem Abend wie ich 
ſelbſt, an der alten Ausſprache von either 
und neither feſthalten und noch nicht zu 
dem immer wachſenden Lager derjenigen 
übergegangen ſind, welche den reinen Vokal 
der erſten Silbe in einen Diphthong ver— 
wandeln, oder die in der Betonung von con- 
template und retinue noch nach der Weiſe 
unſerer Großeltern mit dem gekrönten 


Poeten übereinſtimmen? So lange eine 


= 


A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 


Sprache lebt, muß ſie wachſen und ſich | buchſtabiren, ohne zu wiſſen weshalb, au— 


verändern, gleich einem lebenden Organis— 


mus, und bevor dieſe Thatſache nicht von 
unſeren Schulmeiſtern anerkannt iſt, wer- 
den unſere Kinder niemals die wahre Na- 


tur der Sprache, die ſie ſprechen, und die 
zu ihrem Eigentum machen. Der Wechſel, 


Ausſprache des Engliſchen vor ſich ge— 
gangen, iſt größer, als ohne Mühe ein— 
geſehen wird. Sollte Jener noch einmal wie— 
derkommen, um unter uns zu leben, ſo 
würde das Engliſch, was wir ſprechen, ihm 
faſt ſo unverſtändlich ſein, wie ein auſtrali— 


ſcher Jargon, der Thatſache zum Trotze, daß 


unſer Wörterbuch und unſere Grammatik 
nur leicht von den ſeinigen abweichen. 
Aber ein geläufiges Wort klingt fremd, wenn 
ſeine Ausſprache auch noch ſo wenig ver— 
ändert wird, und wenn die äußere Form 
einer ganzen Gruppe von Worten verän— 


dert iſt, würde ſich ſelbſt der geſchickteſte 


Philologe in Verlegenheit befinden. 


ſchmackter ſein, als der Verſuch, eine er— 


loſchene Phaſe der Ausſprache zu mumi- 


ficiren, beſonders wenn der Mumiendeckel 
in ſeiner beſten Zeit nur eine rohe und un— 
zureichende Hülle war, die nur ſchwach und 
entfernt die Züge des darunter befindlichen 
Leichnams porträtirte? Die engliſche Recht— 
ſchreibung iſt eine bloße Reihe von will— 
kürlichen Rätſeln, eine Sammlung der wil— 
den Spekulationen und Etymologieen eines 
vorwiſſenſchaftlichen Zeitalters und des lau— 
niſchen Ungefährs unwiſſender Buchdrucker 
geworden. Sie iſt kaum zu etwas ande— 
rem gut, als unſere Sprache zu entſtellen, 
die Erziehung zu erſchweren und falſche 
Etymologieen nach ſich zu ziehen. Wir 


Grammatik, die ſie in der Kindheit lernen, 


ßer daß es in den Wörterbüchern ſo vor— 
geichriebenift. Als man Voltaire erzählte, 
daß a-g-u-e ague und p-l-a-g-u-e plague 
ausgeſprochen würde, erwiderte er, er 
wünſche, daß das kalte Fieber (ague) die 
eine Hälfte der engliſchen Sprache und die 


| Peſt (plague) die andere Hälfte hole, aber 
der ſeit den Tagen Shakeſpeares in der 


der Fehler liegt nicht in der engliſchen 


Sprache, ſondern in der engliſchen Recht— 


ſchreibung. 

Die Unwiſſenheit iſt ſowohl die Ur— 
ſache unſerer ſchlechten Orthographie, wie 
ſie die Urſache des meiſten Mißgeſchicks 
iſt, welches die Welt betrübt. Die kleine 
Skizze der Geſchichte der Schrift, welche 
wir ſoeben kurz verfolgt haben, hat uns 
den Zweck gezeigt, dem die Schrift nach— 
ſtreben ſollte, das Endziel, in welchem die 
Anſtrengungen der früheren Jahrhunderte 


ihre Erfüllung finden ſollten. Die Schrift 


ſollte klar, glatt und ſo genau wie mög— 
lich den individuellen Klang der Wörter 


darſtellen, und wenn ſie das nicht thut, iſt 
Kann deshalb irgend etwas abge— 


ſie nicht viel über jene Kindheitsſtufen des 
Wachstums vorgeſchritten, durch welche 
wir ihren Kampf um den Fortſchritt beob— 
achtethaben. Die Hauptlaute einer Sprache 
ſollten jeder ſein eigenes Zeichen haben, 
das beſonders geſetzt wird, um ihn zu be— 
zeichnen, und jedes Symbol ſollte einen 
Laut und nur dieſen Laut bezeichnen. Wir 
ſollten niemals nur einen Augenblick we— 
gen der Ausſprache eines Eigennamens 


oder eines Wortes, welches wir niemals - 


ausſprechen hörten, zu zögern haben. Bis 
wir ein Alphabet haben, welches dieſe Be— 
dingungen erfüllt, iſt unſer Schriftſyſtem 
noch unvollkommen und irreführend und 
unſere Ziviliſation iſt nach dieſer Seite 
weniger vorgerückt, als die der alten Hindus. 


1 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 


48 


378 


Wir dürfen wohl die wilden Raſſen des 
weſtlichen oder ſüdlichen Amerikas beneiden, 
welche die Miſſionare mit entſprechenden 
und rationellen Alphabeten verſehen haben, 
um in ihnen ihre erſten litterariſchen Ver— 
ſuche niederzuſchreiben. Ein Alphabet, wel— 
ches uns geſtattet, den Laut e auf dreizehn 
verſchiedene Arten auszudrücken, welches 
keine ſpeziellen Zeichen für ſo häufige 
Laute wie th in then oder a in man hat 
und dennoch haſſenswerte und unnötige 
Buchſtaben wie ce und x beſitzt, iſt ſeines 
Namens unwürdig und noch mehr deſſen, 
das Endreſultat aller jener Mühſal und 
Gedankenarbeit zu ſein, die das phöniziſche 
Alphabet zuerſt zurichtete, um die Idiome 
von Athen und Rom dadurch auszudrücken. 
Mitunter erzählt man uns, daß die Refor— 
men unſeres Alphabets die Etymologieen 
unſrer Worte zerſtören würde. Wiederum 
nur Unwiſſenheit iſt die Urſache einer ſo 
vorſchnellen Behauptung. Die Wiſſenſchaft 
der Etymologie hat mit Lauten und nicht 
mit Buchſtaben zu ſchaffen, und keine wahre 
Etymologie iſt da möglich, wo wir nicht 
die genaue Weiſe kennen, in welcher die 
Worte ausgeſprochen wurden. Die ge— 
ſammte Wiſſenſchaft der vergleichenden 
Philologie iſt auf die Annahme gegrün— 
det, daß die alten Hindus, Griechen, Rö— 
mer und Gothen nahezu ſo ſchrieben, wie 
ſie ausſprachen, oder, mit anderen Worten, 
die glücklichen Beſitzer wirklicher Alphabete 
waren. Es liegt in uns ſelbſt, zu beſtimmen, 
ob wir auch ſo glücklich ſein werden. 

Ich kenne die praktiſchen Schwierig— 
keiten, welche auf dem Reformwege liegen, 
aber ich weiß auch, daß ſie nicht unüberſteig— 
lich find. Es iſt nicht durch Faullenzerei und 
durch Scheu vor Mühe und Anſtrengung 


A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 


geweſen, daß England den Platz gewon— 
nen hat, welchen es jetzt unter den Völ— 
kern der Welt einnimmt, und der Wert 
eines Dinges wird durch die Arbeit ge— 
meſſen, die nötig war, es zu vollbringen. 
Nach alledem iſt die Einführung eines 
neuen Alphabets nicht viel verlangt. Es 
iſt nicht mehr, als von den alten Phöni— 
ziern des Deltas, von den Griechen, Rö— 
mern, ja auch von unſern eigenen Ahnen 
verlangt und erlangt wurde. Und viele 
von ihnen hatten obendrein ihre geliebten 
Idole aufzugeben, bevor ſie es annehmen 
konnten. Ich bilde mir ein, es muß den 
angelſächſiſchen Runenſchneidern einen ſo 
harten Kampf gekoſtet haben, die neumo— 
diſchen Alphabete der römiſchen Miſſionare 
anzunehmen, wie es irgend einem von uns 
koſten kann, das Alphabet der Drucker 
aufzugeben für eines, welches bequem 
unſer eigenes glänzendes Sprach-Erbe aus— 
drückt. Aber damit kein Mißverſtändnis 
über die Sache bleibe: Es iſt nicht eine 
Reform der Rechtſchreibung, wie es oft irr— 
tümlich und unrechtmäßig ausgeſprochen 
wird, ſondern ein reformirtes Alphabet, 
was verlangt wird. Wir können zu gutem 
Zweck nicht mit unvollkommnen und ver— 
brauchten Inſtrumenten arbeiten. Die 
höhere Landwirtſchafterfordert den Dampf— 
pflug und nicht das primitive Werkzeug 
des egyptiſchen Bauers. Wenn die Ge— 
ſchichte der Schrift uns etwas gelehrt hat, 
ſo iſt es, daß die Schrift der Vervollkomm— 
nung zugänglich iſt, und daß das, was in 
alten Tagen durch diejenigen geſchehen iſt, 
deren Ziviliſation wir als eine der unſri— 
gen untergeordnete betrachten dürfen, auch 
durch uns ſelbſt vollbracht werden kann.“) 

9 Vgl. Nature, Nr. 538—539 (1880). 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


George Darwins Rechnungen über 
die ſäkularen Anderungen der Nlond— 
und Planekenbewegungen durch den 
Einfluß der Gezeiten. 


enn die Erde eine ganz feſte Maſſe 

ohne alle Flüſſigkeiten wäre,“ ſo 
ſchrieb der alles erwägende Kant in ſei— 
ner 1755 veröffentlichten Allgemeinen 
Naturgeſchichte der Erde und des 
Himmels, „ſo würde die Anziehung we— 
der der Sonne noch des Mondes etwas 
thun, ihre freien Axendrehung zu verän— 
dern. In dem Falle aber, daß die Maſſe 
eines Planeten eine beträchtliche Menge des 
flüſſigen Elementes in ſich faßt, werden 
die vereinigten Anziehungen des Mondes 
und der Sonne, indem ſie dieſe flüſſige Ma— 
terie bewegen, der Erde einen Teil dieſer 
Erſchütterung eindrücken. Die Erde befindet 
ſich in ſolchenUmſtänden. Das Gewäſſer des 
Ozeans bedeckt wenigſtens den dritten Teil 
ihrer Oberfläche und iſt durch die Attrak— 
tion der gedachten Himmelskörper in un— 
aufhörlicher Bewegung, und zwar nach ei— 
ner Seite, die der Axendrehung gerade 
entgegengerichtet iſt. Es verdient alſo er— 
wogen zu werden, ob dieſe Urſache nicht 


. 


der Umwälzung einige Veränderungen zu— 
zuziehen vermögend ſei.“ Kant ſtellte eine 
Rechnung an, welche ergab, daß zwei Mil— 
lionen Jahre hinreichen würden, die Be— 
wegungskraft der Erde aufzuzehren, wenn 
die Kraft der Fluten bis ans Ende gleich 
bliebe, und die Erde zu gleicher Dichtig— 
keit mit dem Waſſer angenommen würde. 
Nach dieſer Rechnung müßte aber, wie er 
hinzuſetzt, in zweitauſend Jahren die Jah— 
reslänge um 8,5 Stunden verkürzt wer— 
den, und er ſchließt dieſe Betrachtungen 
mit der Bemerkung: „Nun ſollten billig 
die Zeugniſſe der Geſchichte herbeigeführt 
werden, um die Hypotheſe zu unterſtützen; 
allein ich muß geſtehen, daß ich keine Spu— 
ren einer ſo wahrſcheinlich zu vermutenden 
Begebenheit antreffen kann und andern da— 
her das Verdienſt überlaſſe, dieſen Man— 
gel womöglich zu ergänzen.“ 

Dieſe intereſſante Frage wurde im 
Jahre 1848 von Robert Mayer von 
Heilbronn, dem Entdecker der mechaniſchen 
Wärmetheorie, wieder aufgenommen, und 
derſelbe berechnete, daß die Tageslänge 
in Folge der Verlangſamung der Axen— 
drehung in einem Zeitraume von 2500 
Jahren um ½¼16 Sekunde vergrößert wer— 
den würde, doch hält er auch dieſe kleinere 


380 


Ziffer nach den inzwiſchen bekannt gewor— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


aus der Kant-Laplaceſchen Theorie er— 


denen genaueren Daten über die Erddich- ſchloſſenen. 
tigkeit u. ſ. w. nur unter der Bedin- 


gung für annähernd richtig, daß ſich in— 
zwiſchen die Temperaturverhältniſſe und 
der Erddurchmeſſer nicht weſentlich ge— 
ändert hätten. i 

Inzwiſchen kamen verſchiedene Aſtro— 
nomen, Hanſen, Adams und Delau— 
nay (1863— 65), von einer andern Seite 


Über die allgemeinen Reſultate dieſer 


in ihrem ſpezielleren Teile nur Mathema— 


wegen der von ihnen bemerkten Säkular⸗ 
änderung der mittleren Länge des Mondes 


auf einen ähnlichen Schluß, nämlich daß 
die Tagesdauer jet Hipparchs Tagen um 
den 85. Teil einer Sekunde zugenommen 
haben müſſe, und ſie fanden ſchließlich keine 
andere kosmiſche Urſache, der ſie dieſe Ver— 
änderung zuſchreiben konnten, als die Ge— 
zeiten-Reibung. Eine Reihe hierauf be 
züglicher Unterſuchungen ſind nun in den 
Jahren 1878— 1880 von Mr. George 
H. Darwin der königlichen Geſellſchaft 
der Wiſſenſchaften in London vorgelegt 


die Erde als ein zähflüſſiger Körper be— 
trachtet werden dürfe, was im weſentlichen 
zu denſelben Reſultaten führt, wie die aus— 


gehende Rechnung, ſich aber beſſer auf die 
älteren Zuſtände der Erde anwenden läßt, 
bei denen es ſich mehr um die Reibung 
dichterer Maſſen handelte. Zugleich hat 


gemeiner gefaßt, daß er auch die Wirkun— 
gen derſelben Urſache auf die Achſenrich— 
tungen und Bahnformen ſtudirte und zu 
dem Schluſſe kam, daß man, von dieſer 


Urſache ausgehend, die jetzigen Verhält- 


niſſe von einem Anfangszuſtande ableiten 


Erde 
ſchließlich von den Gezeiten der Meere aus— | 
tellit die Ausdrücke Erde und Mond ge: 
braucht werden . . . . Es ſcheint, daß wir, 


müſſe, der ziemlich verſchieden iſt von dem 


tikern und Aſtronomen zugänglichen Rech— 
nungen hat ihr Urheber kürzlich in einem 
Artikel der engliſchen Zeitſchrift Nature 
(Nr. 532. 1880) einen Bericht erſtattet, 


dem wir das folgende wörtlich entnehmen: . 


„Wir wiſſen,“ ſagt der Verfaſſer, 
„daß keine feſten Körper vollkommen ſtarr 
oder vollkommen unelaſtiſch ſind, und daß 
keine Flüſſigkeiten der innern Reibung er— 
mangeln, weshalb die in irgend einem 
Planeten erregten Gezeiten, mögen ſie nun 
in ozeaniſchen Gezeiten oder in körperlicher 
Verzerrung beſtehen, Reibung hervorbrin— 


gen müſſen. Daraus folgt, daß die dyna⸗ 


miſche Unterſuchung in einiger Ausdeh— 
nung auf gegenwärtige Planeten und Sa— 
telliten anwendbar ſein muß. Was mich 
anbetrifft, ſo glaube ich, daß dies den Schlüſ— 


ſel zur Geſchichte des Syſtems giebt, aber 
worden, Unterſuchungen, in denen ur- 
ſprünglich davon ausgegangen wurde, daß 


vielleicht wird hier der Kritik ein weites 
Feld eröffnet. 

„Die Unterſuchung ſoll ſich hier in ihrer 
ſpeziellen Anwendung auf den Fall der 
und des Mondes richten und 
deshalb werden anſtatt Planet und Sa— 


wenn wir die durch die Gezeitenreibung 


in das Syſtem der Erde und des Mondes 
Darwin das Problem noch in ſofern all- 


hervorgebrachten Anderungen in der Zeit 
rückwärts verfolgen, zu einem Anfangs— 
zuſtand geführt werden, der ſich wie folgt 
darſtellen läßt: 

„Mond und Erde werden als anfangs 
nahezu einander berührend gefunden; der 
Mond kehrte der Erde ſtets dieſelbe Seite 
zu oder war in ſehr langſamer Bewegung 


| 
4 
91 
+ 
A 
3 
2 
9 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


der Erdoberfläche gegenüber befindlich; 


| 


381 


minimum, in welchem das Syſtem von 


das ganze Syſtem kreiſte innerhalb 2—4 ſeinem Anfangsſtadium nad) eben erfolg: 


Stunden um eine Axe, deren Neigung zur 
Ekliptik einen Winkel von 11045“ oder 
etwas weniger betrug, und der Mond be— 
wegte ſich in einer kreisrunden Bahn, de— 
ren Ebene nahezu mit der des Erdäquators 
zuſammenfiel. 

„Dieſe Anfangsbildung unterſtellt, 
daß der Mond durch das Zerreißen eines 
urſprünglichen Planeten, der die vereinig— 
ten Maſſen der Erde und des Mondes in 
ſich ſchloß, infolge ſchneller Rotation oder 


ter Zerreißung in zwei Körper bis zu ſei— 
nem jetzigen Zuſtande fortgeſchritten ſein 
könnte, vierundfünfzig Millionen Jahre 


beträgt. Die thatſächlich durch dieſe Um— 


anderer Urſachen hervorgebracht wurde. 
trächtlichen Anſpruch auf Annahme ha— 


In einer früheren Arbeit habe ich das 


Zuſammentreffen nachgewieſen, daß die | 
kürzeſte Umdrehungszeit einer flüffigen | 


»Maſſe von derſelben mittleren Dichtigkeit 
wie die Erde, welche noch mit einer ellip— 
toidiſchen Gleichgewichtsform verträglich 


iſt, zwei Stunden und vierundzwanzig 


Minuten beträgt und daß, wenn der Mond 
in dieſer Zeitperiode um die Erde kreiſte, 


die Oberflächen der beiden Körper mit 


einander in Berührung ſein mußten. 

„Die Zerreißung des urſprünglichen 
Planeten in zwei Teile iſt ein Gegenſtand 
der Spekulation, aber wenn ein Planet 
und ein Satellit in der oben beſchriebenen 
anfänglichen Konfiguration gegeben ſind, 
dann würde notwendigerweiſe ein dem 
unſrigen ſehr ähnliches Syſtem unter dem 
Einfluſſe der Gezeitenreibung entwickelt 
werden müſſen. 

„Die Theorie fordert, daß im Raume 
nicht genug zerſtreute Materie vorhanden 
ſei, um den Bewegungen der Erde und 
des Mondes durch den Raum materiellen 


Widerſtand zu leiſten. Auch wird eine hin- 


reichende Zeitdauer verlangt. In einer 
früheren Arbeit zeigte ich, daß das Zeit— 


änderungen eingenommene Zeit wird ſicher— 
lich viel länger ſein. 

„Es ſcheint mir, daß eine auf einer 
vera causa beruhende Theorie, welche die 
Längen des jetzigen Tages und Monates, 
die Schiefe der Ekliptik, die Neigung und 
Exzentrizität der Mondbahn in quantita= 
tive Beziehung zu einander bringt, be— 


ben muß. 
„Es wurde konſtatirt, daß die periodi— 


ſchen Zeiten des Umlaufs ſowie der Um— 


drehung des Mondes und der Erde bis 


zu einer gemeinſamen Periode von zwei 


bis vier Stunden rückwärts verfolgt wer— 
den können. In einer früheren Arbeit war 
die gemeinſame Periode zu einer Länge 
von etwas über fünf Stunden gefunden 
worden; aber jenes Reſultat war einge— 
ſtandenermaßen auf einer teilweiſen Ver— 
nachläſſigung der Sonnenanziehung baſirt. 
. .. Die Periode von zwei bis vier Stun— 
den iſt hier angegeben, weil es für den 
Mond aus mechaniſchen Gründen unmög— 
lich iſt, in weniger als zwei Stunden um 
die Erde zu kreiſen, und es ungewiß iſt, 
wie die Zerreißung des urſprünglichen 
Planeten ſtattfand. 

„Aber wenn Gezeitenreibung das 
Agens geweſen iſt, durch welches Erde 
und Mond in ihr jetziges gegenſeitiges 
Verhältnis gebracht worden ſind, ſo müſ— 
ſen ähnliche Anderungen auch in den übri— 
gen Syſtemen vor ſich gegangen ſein, 
welche das Sonnenſyſtem zuſammenſetzen. 


. 


9 


382 


Ich will deshalb einige Bemerkungen über 
die andern Satelliten und Planeten machen. 

„An erſter Stelle iſt es im ſtrengſten 
Einklang mit der Theorie, daß der Mond 
der Erde ſtets dieſelbe Seite zuwenden 
mußte. Helmholtz war, glaube ich, der 
erſte, welcher ſchloß, daß die Gezeiten— 
reibung die Urſache der Reduktion der 
Axendrehung des Mondes bis zur Iden— 
tität mit ſeiner Kreisbewegung ſei. Es iſt 
in dieſem Zuſammenhange intereſſant, zu 
bemerken, daß das Teleſkop zu zeigen 
ſcheint, daß die Jupitersmonde und wenig— 
ſtens einer der Saturnmonde ebenfalls die— 
ſelbe Eigentümlichkeit beſitzen. 

„Der Vorgang, durch welchen die 
Gezeitenreibung die Anderungen in der 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Konfiguration eines Planeten und Satel- 


liten hervorbringt, iſt eine Zerſtörung von 
Energie (oder vielmehr ihre teilweiſe Um— 
wandlung in Wärme im Planeten mit 
teilweiſer Wiederverteilung) und eine Über— 
tragung von dem Winkelmomente der Pla— 
netenumdrehung auf dasjenige des Kreis— 


umlaufs der beiden Körper um ihr gemein- 


ſchaftliches Trägheitszentrum. 

„Nun hat ein großer Planet ſowohl 
mehr Rotationsenergie, als auch mehr 
Winkelmoment, woher zu erwarten iſt, 
daß große Planeten in ihren Umwand— 
lungen langſamer vorwärts ſchreiten wer— 
den, als kleinere. 

„Mars iſt der kleinſte von Monden 
begleitete Planet und bei ihm allein fin— 
den wir einen geſchwinder, als der Planet 
rotirt, umlaufenden Mond. Dies wird 


auch das ſchließliche Schickſal unſeres Mon- 


des ſein, weil, nachdem vereinigte Mond— 
und Sonnen-Gezeitenreibung die Erd— 
rotation zu einer Gleichheit mit des Mon— 


Gezeitenreibung fortfahren wird, ſie noch 
weiter zu vermindern, ſo daß die Erde 
langſamer rotiren wird, als der Mond 
umläuft. a 
„Bevor dies jedoch bei uns geſchehen 
kann, muß der Mond zu einer ungeheuren 
Entfernung von der Erde zurückweichen 
und die Erde muß 40 — 50 Tage, ſtatt 
24 Stundem zu einer Umdrehung gebrau— 
chen. Aber die Marsmonde ſind ſo klein, 
daß ſie nur eine ſehr kleine Strecke von 
ihrem Planeten zurückzuweichen brauchten, 
bevor die Sonnen-Gezeitenreibung die 


Planetenrotation bis unter den Mond— 
umlauf verminderte. Der ſchleunige Um— 


lauf des innern Marsmondes mag alſo 
im gewiſſen Sinne als eine Erinnerung 
an die urſprüngliche Rotation des Plane— 
ten um ſeine Axe betrachtet werden. 

„Die Planeten Jupiter und Saturn 
ſind ſehr viel größer als die Erde; 
hier ſehen wir die Planeten mit großer 
Schnelligkeit rotiren und die Monde in 
kurzen Zeiträumen umlaufen. Die Nei— 
gungen der Bahnen der Jupitersmonde 


zu ihren eigenen Ebenen ſind vom Ge— 


ſichtspunkte der vorliegenden Theorie ſehr 
intereſſant. 

„Das Saturnſyſtem iſt viel komplizir⸗ 
ter als das Jupiterſyſtem; es erſcheint 


teilweiſe in einem frühen Entwidlungszu- 


ſtande und teilweiſe weit vorgeſchritten. 
„Die Details der Mondbewegungen 
ſind kaum genau genug bekannt, um ge— 
wichtige Argumente für oder gegen dieſe 
Theorie zu liefern. 
„Ich habe bis jetzt nicht den Fall ei— 


nes von mehreren Satelliten begleiteten 


Planeten oder Sterns unterſucht, aber 
vielleicht werden künftige Unterſuchungen 


des Kreislauf reduzirt hat, die Sonnen- ferneres Licht ſowohl auf den Fall des 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Saturns als des geſammten Sonnen— 
ſyſtems ſelbſt werfen. 

„Die berühmte Nebelhypotheſe von 
Laplace und Kant nimmt an, daß ein 
rotirender Nebel einen Ring abſchleuderte, 
welcher zuletzt ſich zu einem Planeten oder 
Satelliten verdichtete, und daß der Zentral— 
teil des Nebels fortfuhr, ſich zuſammen— 
zuziehen und den Kern der Sonne und 
des Planeten bildete. Die hier vorgeſchla— 
gene Theorie iſt eine beträchtliche Modi— 
fikation dieſer Anſchauung, denn ſie nimmt 
an, daß die Zerreißung des Zentralkörpers 


nicht eher eintrat, als bis er teilweiſe ver— 


dichtet war und nahezu ſeine jetzigen Di— 


menſionen erreicht hatte.“ 


Aber die Flora iſolirter Inſeln im 
allgemeinen und der oftlfrieſiſchen im 
beſonderen 
hat Dr. W. Behrens in Braunſchweig 
in dem letzten Jahresbericht der „Natur— 
wiſſenſchaftlichen Geſellſchaft von Elber— 
feld“ einige biologiſche Bemerkungen mit— 
geteilt, die wir um ſo lieber hier wieder— 
geben, weil ſie Bemerkungen über die 
Frage nach der Entſtehung der Blumen— 
farbe enthalten, der Dr. Hermann Mül— 
ler im vorliegenden Hefte unſrer Zeit— 
ſchrift eine längere Arbeit gewidmet hat. 

„Im Jahre 1875,“ erzählt der Ver— 
faſſer, „hatte ich Gelegenheit gehabt, die 
Flora einiger oſtfrieſiſchen Inſeln genauer 
unterſuchen zu können. Neuerlich bin ich 
durch das Studium verſchiedener pflanzen— 
geographiſchen Schriften auf dieſes Thema 
zurückgekommen; ich will verſuchen, hier 
einige, vielleicht neue, allerdings nur frag— 
mentariſche biologiſche Bemerkungen über 


383 


die Flora der oſtfrieſiſchen Inſeln nieder— 
zulegen. 

Die Schriften, welche ich im Auge 
habe, ſind die Arbeiten über die Floren 
der meiſten ozeaniſchen Inſeln, wie ſie ſich 
in den verſchiedenſten Werken und Zeit— 
ſchriften zerſtreut finden?); ferner A. R. 
Wallace: „On the peculiar relations 
of plants and insects as exhibited in 
islands“**) und ein Aufſatz von Bonnier 
und Flahault: „Observations sur les 
modifications des vegetaux suivant les 
conditions physiques du milieu.“ ***) 

Wallace bringt die Armut kleiner 
Inſeln an Pflanzen mit der Inſektenarmut 
in Verbindung. Die Inſekten ſind als 
Beſtäuber für die Pflanzen unumgänglich 
notwendig; fehlen ſie, ſo gehen die auf 
die Inſeln durch Luft- und Waſſerſtrö— 
mung gelangten Pflanzen zu grunde; 
ebenſo, wenn die auf der Inſel vorkom— 
menden Inſekten nicht für die Beſtäubung 
angeſchwemmter Pflanzen paſſen. Es er— 
klärt ſich hieraus die ſeltſam fragmenta— 
riſche Natur mancher Inſelfloren, auch 
das Vorherrſchen gewiſſer Ordnungen und 
Gattungen. Die große Armut an Schmet— 
terlingen und Hymenopteren auf den öſt— 
lichen Inſeln des ſtillen Ozeans hat die 
Spärlichkeit und die ſo merkwürdige Ver— 
teilung der Pflanzen auf dieſen Inſeln zur 
Folge. Hingegen finden ſich auf den Fidji— 
Inſeln viele Schmetterlinge und entſpre— 
chend auch mannigfaltigere Gewächſe mit 
auffallenden, für jene Thiere leicht er— 
kennbaren Blüten. Auf Juan-Fernandez 

*) ef. Griſebach, Die Vegetation der 
Erde, a. a. O. f 

**) Nature, 1879. Nr. 358, p. 406-408. 

***) Annales des sciences naturelles. 
Partie botanique, 6e serie. Tome VII (1869). 


384 


hat man bis jetzt nur 5 Inſekten (3 Schmet⸗ 
terlinge und 2 Hautflügler) gefunden; es 
fehlen hier faſt ſämmtliche Blütenpflanzen, 
während die Farnkräuter ganz außer— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ordentlich vorherrſchen. Anderwärts, auf 
den Galapagosinſeln und Neuſeeland, ſind 


gleichfalls nur wenige Inſekten vorhan- 


den; Blütenpflanzen finden ſich jedoch in 
überwiegender Zahl, allein ihre Blüten 
ſind faſt ausſchließlich der Beſtäubung 


durch den Wind angepaßt, ſind alſo von 
dem Inſektenbeſuche unabhängig. Ja, auf 
Triſtan d'Acunha, wo faſt alle Inſekten 


fehlen, haben viele Pflanzen, z. B. ein 
Pelargonium, die Blütenfarbe als nutz— 


loſes Erbteil eingebüßt und im Laufe 


der Zeit farbloſe Blüten erhalten. (Einen 


anderen, ähnlichen Fall habe ich irgendwo 
geleſen: Pringlea antiscorbutica, eine 
endemiſche Crucifere von Kerguelen, ſcheint 


| 


urſprünglich windblütig geweſen zu ſein; 
für die Wahrſcheinlichkeit des von den 
vorkommt, bildet fie an den vor Wind ges 
ſchützten Stellen ſolche bisweilen noch aus.) 


während ſie gewöhnlich ohne Blütenblätter 


Wallace erzählt uns ſchließlich, daß auf 
ſehr vielen Inſeln die bevölkernden Pflan— 


zen größtenteils windblütig geworden 


ſind, während gleichzeitig der Duft ihrer 
Blüten ſchwand: Verhältniſſe, welche durch 
die Inſektenarmut jener Lokalitäten her— 
vorgebracht werden. 

Es iſt eine bekannte Thatſache, daß 


an denjenigen Orten (z. B. auf dem Hoch- 


gebirge, in den Polargegenden), die im gan— 


zen eine ſpärliche Inſektenfauna beſitzen, | 


die Pflanzen große und durch lebhafte 
Farben ſchon von weitem in die Augen 


fallende Blüten beſitzen. Man erklärt die— | 


jes dadurch, daß an jenen Orten nur ſol— 
chen Blütenpflanzen genügender Inſekten— 


beſuch und genügende Kreuzung zu teil 


. 
wird, die den emſigen Beſtäubern ſchon 
von weitem auffallen, alſo mit Leichtigkeit 
gefunden werden können. Die weniger 
auffälligen würden von den Beſtäubern 
übergangen werden, würden feine Beſtäu- 
bung erfahren und daher im Laufe der 
Zeit (im Kampf um die Exiſtenz) unter⸗ 
gehen. Die großen Blüten der Pflanzen 
von Hochalpen und Polarländern ſind alſo 
die Produkte einer durch die Inſekten be— 
werkſtelligten, natürlichen Zuchtwahl.“) 
Gegen dieſe Erklärung wendet ſich die 
oben citirte Arbeit von Bonnier und 
Flahault, welche beweiſen wollen, daß 
die Größe und Färbung der Korolle von 
dem Inſektenbeſuch unabhängig iſt, daß 
ſie ſich vielmehr richtet nach der Beleuch— 
tungsintenſität, welcher die Pflanzen unter 
verſchiedenen Breitengraden und in ver— 
ſchiedenen Elevationen ausgeſetzt find. **) 
Bezüglich der dort erbrachten Gründe 


beiden Forſchern ausgeſprochenen Satzes 
müſſen wir auf ihre Abhandlung ſelbſt 
verweiſen, die Darlegung würde uns hier 
zu weit führen. Es mag jedoch hinzuge— 
fügt werden, daß Sachs“) und Aske— 
naſyc) in ihren Unterſuchungen über den 
Einfluß des Lichtes auf die Bildung der 
Blütenfarbe zu dem Reſultate gelangt ſind, 
daß letztere ſich unabhängig von erſterem 
entwickelt. 

Ich glaube hier für die Annahme, daß 
die Größe der Blüte und die Intenſität 
ihrer Färbung von der beſtäubenden In— 
) Anm. d. Red. Vergleiche hiergegen je— 
doch die Bemerkungen von Dr. H. Müller, 
Kosmos, Bd. J, ©. 541. 

) Anm. d. Red. Vergl. Kosmos, Bd. VII, 
S. 141. ' 

s) Sachs, Bot. Ztg. 1863, 1865. 

) Askenaſy, ibid. 1876. 


N 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ſektenwelt abhängig iſt, einige neue That⸗ 


ſachen vorbringen zu können. Für die Un— 
terſuchung dieſes Phänomens iſt meiner 
Meinung die Flora der oſtfrieſiſchen In— 
ſeln ſehr geeignet. Denn auch für ſie gilt 
der von Wallace ausgeſprochene Satz, 
daß auf den kleineren Inſeln gewöhnlich 
Inſektenarmut herrſcht und abhängig da— 
von die Flora ſehr unentwickelt iſt. Die 
Inſektenfauna der oſtfrieſiſchen Inſeln iſt 
bis jetzt noch nicht genauer unterſucht wor— 
den; diejenigen Gründe, aus welchen ich 
die große Spärlichkeit folgere, habe ich 
bei einer Beſprechung von Cerastium te- 
trandrum auseinander geſetzt.“) Bezüg- 
lich der Flora liegen aber ſehr genaue 
Daten vor; nach den fleißigen Zuſammen— 
ſtellungen von Büchenau““) ergeben ſich 


Pflanzenarten: 
Borkum 271. 
Norderney 229. 
Langeroog. . 184. 
Spiekeroog , 162. 
Juiſt 156. 
Wangeroog 155. 
Baltrum 126. 


Als ich zu Ende Mai 1875 das ab— 
geſchloſſene Eiland Spiekeroog beſuchte, 
eine Zeit, zu welcher die Frühlingsflora 


von blühenden Pflanzen im ganzen 22 
Arten, alſo 15% aller dort bis jetzt ge— 
ſammelten. Die genannten 22 Arten laſ— 
ſen ſich in zwei Gruppen teilen, nämlich 
in ſolche, welche windblütig oder anemo- 
phil ſind (7 Arten — 32) und ſolche, 
deren Beſtäubung durch Inſekten geſchieht, 


(15 Arten = 68%), alſo entomophile 
Ta RE nur die ſchon von weitem erkennbare Ar- 


) cf. Flora 1878, S. 229, 230. 
*) Büchenau in Abhandlungen, heraus- 


385 1 


Pflanzen. Die blühenden Frühlingspflan⸗ 
zen von Spiekeroog waren die folgenden: 

I. Anemophile Arten (7 — 320). 
Plantago Coronopus, Rumex Acetosella, 
Triglochin maritimum, Triglochin pa- 
lustre, Luzula campestris, Carex are- 
naria, Carex vulgaris. 

II. Entomophile Arten (15 = 680). 
Cochlearia danica, Viola canina lanci- 
folia, Viola tricolor sabulosa, Cerastium 
hemidecandrum, Cerastium tetrandrum, 
Cerastium triviale, Erodium cicutarium, 
Lotus corniculatus, Potentilla anserina, 
Bellis perennis, Senecio vulgaris, Taraxa- 
cum officinale, Myosotis hispida, Arme- 
ria vulgaris maritima, Salix sepens. 

Zunächſt die Bemerkung, daß die An— 
zahl der anemophilen Pflanzen (32%) im 
Vergleich zu den entomophilen (68% ,) 
eine ungemein große iſt. — Bezüglich des 
Standortes auf der Inſel laſſen ſich gleich— 
falls anemophile und entomophile Pflan— 
zen ſondern. Die der Beſtäubung durch 
den Wind angepaßten wachſen vorzüglich 
in der Nähe des Wattſtrandes, auf den 
Wieſendiſtrikten der Inſel, welche den hef— 


tigen, um jene Zeit faſt unaufhörlich 


wehenden Winden ungehinderten Zutritt 
der Inſel ſich entfaltet hat, fand ich dort 


| 


gegeben vom Naturwiſſenſchaftlichen Verein zu | 
| durch welche man ſchon beim erſten An— 


Bremen, Bd. IV, S. 260 — 271. 


geſtatten. Die entomophilen hingegen ve— 
getiren faſt ausnahmslos in den Dünen, 
jenen oft ſo wandelbaren Sandhügeln, 
zwiſchen welchen ſich tiefe, vor dem Winde 
geſchützte Thäler ausbreiten, die der In— 
ſektenwelt als willkommne Wohnſtätten 
dienen. Nur hier entfaltet ſich denn auch 
im Frühling ein farbenreicher Blumenflor, 
während ſich auf das grüne Weideland 


meria maritima hinauswagt. 
Es iſt nun eine auffallende Thatſache, 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 


49 


386 


blick jener Dünenflora überraſcht wird, 
daß ſehr viele der entomophilen Früh— 
lingspflanzen viel ſchöner, d. h. intenſiver 
gefärbte und größere Blüten beſitzen, als 
dieſelben Arten auf dem Feſtlande, nur 
wenige Meilen von ihnen entfernt. 

Von den in Rede ſtehenden 15 ento— 
mophilen Pflanzen waren durch dieſes 
Merkmal folgende 7 (alſo die Hälfte) aus— 
gezeichnet; 

1) Lotus corniculatus L. Blüten tief 
orangegelb und teilweiſe rot angeflogen. 

2) Viola canina L. var. lancifolia 
Thore, Blüten tiefer blau als bei der 
Normalform, größer und viel zahlreicher. 
Auf Spiekeroog fanden ſich noch Exemplare 
mit vollſtändig weißen Blüten. 

3) Viola tricolor L. var. sabulosa 
DO. gleichfalls durch große und intenſiv 
gefärbte Blüten ausgezeichnet. 

4) Taraxacum officinale Wigg. Blü⸗ 
tenköpfchen groß, ſehr dichtblütig, geſättigt 
orangegelb, oft ins Rötliche ziehend (nicht 
ſchwefelgelb wie auf dem Kontinente). 

5) Senecio vulgaris L., desgleichen; 
Blütenköpfchen groß. 

6) Armeria vulgaris L. Dieſe Pflanze 
nimmt auf den Inſeln einen höchſt eigen— 
tümlichen Habitus an. Sie iſt niedriger 
als die Kontinentalform, der Stengel be— 
haart, die Blätter bewimpert, die Blüten— 
köpfchen wie die einzelnen Blüten ſind 


groß und von ſchön rot-violetter, zarter 
Farbe. Sie bildet den Hauptbeſtandteil der 
ſendiſtrikte deſſelben. 


Weidelandflora; wenn man vom Strande 
her ſich ihren Standorten nähert, ſo be— 
merkt man ſchon von weitem die von ihr 
bedeckten, hellroſafarbenen Flächen. Will— 
denow hat ſie als eigene Art maritima 
anſehen wollen; mit Büchenau*) bin ich 


) Büchenau, a. a. O. S. 266. 


— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


jedoch der Meinung, daß ſie nur eine Lo— 
kalform von A. vulgaris darſtellt. 

Die hier angeführten Daten ſprechen 
für ſich ſelbſt. Die ärmliche Inſelflora 
bietet, wenigſtens im Frühlinge, wenn 
nur ſehr wenige Inſektenarten das ſturm— 
gepeitſchte Eiland bevölkern, dieſen weni— 
gen Gäſten ihre auffallenden, den ſüßen 
Nahrungsſtoff enthaltenden Blüten dar. 
Die auffälligſten Blüten werden von den 
in der Einöde einzeln umherirrenden In— 
ſekten am leichteſten bemerkt, ihre Beſtäu— 
bung wird dem entſprechend regelmäßiger 
vor ſich gehen, als die der unſcheinbareren 
Nebenbuhler: ſie allein haben deshalb 
Ausſicht auf Nachkommenſchaft. Daß die 
Blütengröße und Farbe hier nicht mit 
geographiſcher Breite, nicht mit Sonnen— 
beleuchtung und dergl. zuſammenhängt, 
iſt klar: der Beobachter, welcher der Inſel 
den Rücken kehrt, betritt ſchon nach halb— 
ſtündiger Fahrt auf ſchwankender Scha— 
luppe das Feſtland wieder, wo ihm die ſo 
eben verlaſſenen Bekannten, jedoch in bläſ— 
ſeren Blütenfarben und umſchwirrt von 
zahlreichen Inſekten, entgegentreten. 

Daraus ergeben ſich folgende Sätze: 

1) Die Flora der oſtfrieſiſchen Inſeln 
beſitzt verhältnismäßig mehr anemophile 
Pflanzen, als die der Kontinental-Gegen— 
den Nordweſtdeutſchlands. 

2) Die Flora der Dünenthäler der 
Inſeln beſitzt weniger anemophile Pflan— 
zen, als die dem Winde exponirten Wie— 


3) Die Inſektenfauna der Inſeln iſt 
im Vergleich zum naheliegenden Feſtlande 
arm, die Kreuzungsvermittlung entomo— 
philer Blüten durch dieſelbe daher erſchwert. 
4) Viele Pflanzen der Inſeln, zumal die 
der Frühlingsflora, unterſcheiden ſich, ähn— 


| 


. 


lich wie die der Hochalpen und Polargegen— 
den, durch Auffälligkeit der Blüten; ſie 
ſind deshalb zumal durch intenſivere Ko— 
rollenfärbung von den gleichen Species 
des nahen Feſtlandes teilweiſe verſchieden. 
5) Die Intenſität der Korollenfärbung 
wächſt nicht, wie Bonnier und Fla— 
hault annehmen, proportional mit der 
geographiſchen Breite, iſt nicht abhängig von 
der Inſolation, ſondern ſie iſt abhängig 
von der mehr oder minder großen Spärlich— 
keit der beſtäubenden Inſekten, ſo zwar, daß 
ſie der Menge der pollenübertragenden 
Tiere etwa umgekehrt proportional iſt. 


Die Duftorgane des männlichen 


Liguſterſchwärmers 
(Sphinx Ligustri). 

Seit Dr. Fritz Müller in Braſilien 
die Funktion wenigſtens einer Klaſſe von 
Schmetterlingsſchuppen, der Duftſchup— 
pen, entdeckte, hat man letztere bei vielen 
Schmetterlingen vorgefunden und ſich von 
ihrer Thätigkeit überzeugt. In den erſten 
Tagen des Juni prüfte ich denn auch der 
Puppe entſchlüpfte Liguſter- und Kiefern— 
ſchwärmer hinſichtlich dieſes intereſſan— 
ten Punktes und fand ſogleich beim An— 
faſſen des lebenden Schwärmers ſowohl, 
als auch beim Drücken auf den Hinterleib 
des toten Inſektes“) die am Rande der 
Unterſeite des erſten Hinterleibsringes 
ſpielenden Duftorgane (Fig. 1). Dieſel⸗ 
ben beſtehen aus je einem Büſchel, ſchon 
bei unbewaffnetem Auge leicht auffallen— 
der, Haarſchuppen, welcher ausgebreitet 
und eingezogen wird. Beim Ausbreiten 
der beiden ſymmetriſch angebrachten Duftor— 


| * Der Druck auf den Hinterleib ſpannt 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


387 


gane ſtrömt bei Sphinx Ligustri ein deut— 
licher, noch in der Entfernung eines hal— 
ben Meters bemerkbarer Moſchusduft aus, 
welcher in Wegfall kommt, ſobald der 
Schwärmer ſich zur Ruhe begiebt, wobei 
nämlich der ganze Apparat in einer Falte 
verſchwindet. Schon mit bloßem Auge ge— 
wahrt man, daß je ein Duftorgan aus ei— 
nem nach Art eines Beſens zuſammenge— 
fügten Büſchel einzelner Haarſchuppen be— 
ſteht, die am untern Ende feſt anein— 
ander liegen, nach oben aber ſtrahlig aus— 
einander ſtehen. Das Mikroſkop zeigt uns 
aber bei 140 bis 200maliger Ver: 
größerung ſehr deutlich, daß wir in dieſer 
Vereinigung von Haarſchuppen mehr als 
einen bloßen Duftſchuppenkomplex, daß 
wir ein komplizirtes Organ darin vor 
Augen haben. Die Haarſchuppen (Fig. 5, 
dd d. . . .) find Kapillarröhren, welche ich 
allmählich nach der Spitze hin verdünnen 
und mit Bläschen einer eigentümlichen Sub— 
ſtanz, dem Dufte, angefüllt ſind. Säßen 
dieſe Haarſchuppen, die Dufthaare wol— 
len wir ſie nennen, nun ausſchließlich mit 
einer einfachen Wurzel (wu bei Fig. 8 u. 9) 
gleich den gewöhnlichen Deckſchuppen in 
Grübchen des Chitinſkelettes loſe eingeſteckt, 
fo bliebe es unerklärt, wie ſie gerade nur bei 
Erregung des Schwärmers funktioniren 
könnten; das iſt aber auch nicht der Fall. 
Die Dufthaare (Fig. 5, ddd....) ſind 
nicht, gleich den Deckſchuppen, auf dem 
Chitinpanzer eingelenkt, ſondern wurzeln 
(Fig. 5, wu wu) in einem gemeinſchaftlich 
ſie umſchließenden Hautſacke (sss), wel— 
cher eine weiße, wolkige Maſſe enthält 
und durch Muskelzug (mm) angeſpannt 
werden kann. Sämmtliche Dufthaare ſte— 
hen geſchloſſen neben einander (Fig. 3a) 
und ſind durch ein Band (Fig. 6, ba) un⸗ 


nämlich die noch friſchen Muskeln ſtraff an. 


388 


I] 


9. 


* 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Funktionirende Duftorgane (DD) des Liguſterſchwärmers, mit unbewaffnetem Auge geſehen. 
Ein ſolches (D) in der Ruhe, d. h. in der es umſchließenden Muskelfalte (t), begrenzt 
und zugedeckt von haarähnlichen Grenzſchuppen (8). 


. Dasjelbe, aus den umgebenden Muskeln und der Falte herausgenommen, im Ruheſtand; 


3b natürliche Größe. 


in Erregung. Durch ſeitlichen Muskelzug iſt die Falte (f), worin das Duftorgan ruhte, 


breit geöffnet und letzteres ausgeſpreizt worden; 4b natürliche Größe. 

Duftorgan, Wurzelpartie (200 mal vergr.). Die Dufthaare (d) ſtecken mit der Wurzel 
(wu) in einer durch einen Sack (s) nach außen abgeſchloſſenen weißen Maſſe (ma); zu beiden 
Seiten dieſes Sackes ſieht man die den Duftapparat in Funktion ſetzenden Muskeln (m.) 
Unteres Ende eines Dufthaares; ca iſt ein Stück des mit Moſchusduft angefüllten Ka— 
pillarrohres, ba ein Stück des ſämmtliche Dufthaare zu einem einheitlich funktionirenden 
Organ verbindenden Bandes, welches bei Fig. 5 ebenfalls ſichtbar iſt; wu die zangen— 
förmige, farbloſe Wurzel, welche in der weißen Maſſe ſich befindet. 

Oberes Ende (Spitze) eines Dufthaares, zeigt bei ca das zufällig leere Ende der Kapillar— 
röhre, welche übrigens mit Moſchusduft gefüllt iſt. 

Die einfachen Wurzeln gewöhnlicher Hinterleibsſchuppen. 

Eine Kielſchuppe, gleichfalls mit einfacher Wurzel und flach. 


8 


ter einander über der Wurzel verbunden, 
und zwar ſo feſt, daß man kein einziges 
verliert, wenn auch ein Apparat aus der 
Chitinumhüllung am Ende der Falte 
(Fig. 4a, f) mit Anſtrengung herausgezo— 
gen wird. Die Wurzel (wu bei Fig. 6) 
iſt zangenförmig geſtaltet und von zarter, 
wahrſcheinlich membranartiger Beſchaffen— 
heit. Die Art und Weiſe der Funktion 
der Duftorgane denke ich mir nun folgen— 
dermaßen: Wird der Schmetterling erregt, 
ſo wirkt ſein Nervenſyſtem auf die Mus— 
keln, welche die Falte (Fig. 2 u. 41) aus⸗ 
einanderbreiten, ſo daß ihre Mulde kahn— 
förmig ſich öffnet und uns das ſichere Ge— 
wahrſam des offenbar hochwichtigen Or— 
ganes zeigt. Gleichzeitig ziehen die Mus— 
keln (mm, Fig. 5) am gemeinſamen Bande 
(ba, Fig. 5 u. 6) ſämmtlicher Dufthaare, 
infolge deſſen letztere nachgeben und, die 
gemeinſchaftliche Form einer Rute oder 
eines Beſens verlierend, einen Strahlen— 
büſchel (Fig. 4) bilden. Der Trichter des 
letzteren erweitert und verengert ſich fort— 
während beim Spiel der Muskeln, bleibt 
ſtarr geöffnet, wenn dieſelben ſtraff ange— 
zogen ſind, ſchließt ſich dagegen und fällt 
ſchließlich in die Falte zuſammen, wenn 
jeglicher Muskelzug aufhört. Die Mus— 
keln ziehen aber auch den die Dufthaar— 
wurzeln (wu) umhüllenden Sack (s bei 
Fig. Za u. Fig. 5) ſtraff, wodurch ein Druck 
der ihn ausfüllenden weißen Maſſe (Duft— 
maſſe?) auf die weichen Wurzeln erfolgt, der 
die Duftmaſſe durch das höchſtfeine Kapillar— 
rohr ausſpritzen läßt, wie man aus teilweiſe 
leergewordenen Spitzen der Dufthaare ei— 
nerſeits und dem nur von der Stelle des 
Duftorganes ausſtrömenden Moſchusduft 
andererſeits ſchließen muß. Trotz öfterem 
Gebrauche werden die Dufthaare nicht 


1 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


389 


leer, entweder weil die Duftmaſſe ſehr 
ausdehnungsfähig und im verdünnten 
Grade die ſehr enge und folglich ohne 
Druck keinen Luftaustauſch zulaſſende 
Röhre auszufüllen imſtande iſt, oder weil 
die weiche Wurzel einen Teil der faſt zellen— 
artig wolkig um dieſelbe lagernden weißen 
Maſſe, die ganz anders ausſieht als die 
Muskeln und ziemlich ſicher auch etwas 
anderes iſt, aufnimmt und ſolchergeſtalt 
den verlorenen Inhalt vermöge ihrer Quell— 
barkeit und des horror vacui der Ka— 
pillarröhre wieder erſetzt. 

Wie kommt es, daß unſere Sphinxe 
gerade die Duftorgane auf der Unterſeite 
haben, und welche Bedeutung haben die— 
ſelben? müſſen wir uns fragen. Bezüglich 
der Bedeutung hat uns Fritz Müller 
bereits aufgeklärt. Wir wiſſen jetzt, daß 
ſie Korrelationsprodukte der Geſchlechts— 
teile ſind, geeignet zur geſchlechtlichen 
Anregung oder Reizung des Weib— 
chens (Bewerbung). Die geſchlechtliche 
Annäherung beim Genus Sphinx findet 
aber nur im Fluge ſtatt. Die beiden Ge— 
ſchlechter wirbeln im tollſten Fluge mit zu— 
gekehrter Unterſeite oder Vorderſeite 
(denn die Augen ſind auch etwas nach, unten“ 
gerichtet) um einander, krümmen den Hin— 
terleib und wenn das Weibchen genügend 
erregt iſt, was es durch Hervorſtrecken der 
Legeröhre bekundet, ſo erfaßt die Zange 
des Männchens das Hinterleibsende, und 
die Begattung iſt vollzogen. Verkehrt 
ſitzend findet man nächſten Tages zuweilen 
noch das Paar an einem Baumſtamme 
vereinigt, um ſich ſpäteſtens bei einbrechen— 
der Dämmerung zu trennen. Das Weib— 
chen beſitzt an Stelle der Duftorgane nur 
Rudimente, vergleichbar dem rudimentä— 
ren penis (clitoris) des Weibes oder den 


390 


rudimentären (weiblichen) Zitzen des Man— 
nes, als eine Folge der Vererbung ur— 
ſprünglich eingeſchlechtlicher Errungen— 
ſchaften, ohne welche jede ſtarke ſexuelle 
Verſchiedenheit ſchwer zu erklären wäre. 
Wenn nämlich das Weib nicht alle Teile 
des Mannes der Anlage nach beſäße, 
wie könnten ſich aus unbefruchteten 
Bieneneiern Drohnen entwickeln — ohne 
Zuthat des Männchens?) 

Während die Färbung des Leibes und 
der hinteren Flügel der duftenden Sphinxe 
mir ein faſt bedeutungsloſes Ergeb— 
nis ihrer Schuppenkonſtruktion zu ſein 
ſcheint, indem ſelbige in tiefer Dämmerung 
dem ſchwachglühenden Auge kaum als eine 
leuchtende auffallen dürfte, analog der 
Farbe der Sphinxblumenkronen, welche 
dieſe Wirkung entſchieden ausübt (weiße 
Petunia, gelbe Nachtkerze, helle Schweizer— 
hoſe, Geisblatt), müſſen wir einer wich— 
tigen Beziehung gedenken, welche zwiſchen 
dem Geſchlechtsdufte und dem Nahrungs— 
dufte beſteht. Keine Blüten werden näm— 
lich von den von mir beobachteten Duft— 
faltern mehr geliebt, als ſolche, welche 
ihren eigenen Geſchlechtsduft nach— 
äffen. Winden- und Liguſterſchwärmer 
beſuchen am liebſten die moſchusduf— 
tende Schweizerhoſe (Weigelia), dann 
die einen betäubenden Honig-Moſchus— 
duft aushauchende Petunie; die Zygänen, 
welche ihren honigduftenden Reiz— 
apparat am letzten Hinterleibsring zu beiden 
Seiten der Zange in Geſtalt zweier gelber, 
wohlgefüllter Blaſen mit darauf befind— 
lichen Haarſchuppen aufzuweiſen haben, 
treiben ſich zu halben Dutzenden auf der 
honigduftenden Scabioſe und Flocken— 
blume herum. Die Richtigkeit der Jäger— 

m x) Vgl. Kosmos. I. S. 505. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


8 


7 


Noiré'ſchen Anſicht, daß Geruch, Ge— 
ſchmack und Geſchlechtsſinn in ihrer nahen 
urſächlichen Zuſammengehörigkeit unter 
Affinität zu begreifen ſeien, wird hier— 
durch weſentlich beſtätigt. Andere Nacht— 
falter, wie z. B. der große Hollunder— 
ſpanner, folgen gleich den Tagfaltern bei 
geſchlechtlicher Annäherung auf Entfernung 
zuerſt dem Auge, in der Nähe erſt dem ſie 
ſicher machenden Dufte. Das Weibchen 
übt dabei jedoch keine willkürliche 
Wahl aus.“) 

Mainz. W. von Reichenau. 


Aber die Variabilität der Alilch⸗ 
drüſen bei den Schafen der niederen 


Cevennen 

legte Dr. V. Tayon, Dozent an der land— 
wirtſchaftlichen Lehranſtalt von Mont— 
pellier, der Pariſer Akademie der Wiſſen— 
ſchaften in den Sitzungen vom 19. April 
und 3. Mai 1880 mehrere intereſſante 
Arbeiten vor, aus denen wir das nachfol— 
gende entnehmen: 

Darwin drückt ſich in ſeinem Buche 
über das Variiren der Pflanzen und Tiere 
unter dem Einfluſſe der Domeſtikation hin— 
ſichtlich der Euter der Schafe wie folgt 
aus: „Das Vorhandenſein eines Milch— 
drüſenpaares iſt ein gewiſſes Kennzeichen 
der Gattung Ovis, ſowie der benachbarten 


Formen; indeſſen hat Hodgſon bemerkt, 


daß dieſer Charakter ſelbſt bei den wahren 
und echten Schafen nicht abſolut beſtändig 
iſt, denn er hat mehr als einmal bei den 
9 Vgl. 1) Die Nefter und Eier der Vögel 
(vom Verf.). Leipzig, Ernſt Günthers Verlag. 
1880. S. 92. — 2) Entomologiſche Nachrichten. 


Jahrg. 1879. S. 224. — 3) Dr. Rößler in den 
Naſſ. Jahrbüchern f. Naturkunde. Jahrg. XXVXI. 


u. XXXII. S. 240. 


— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Cagias (einer am Fuße des Himalaya do— 
meſtizirten Raſſe) vier Zitzen tragende In— 
dividuen bemerkt. Dieſer Fall iſt um ſo 
bemerkenswerter, als ein Teil oder Organ, 
welches im Verhältnis zu demſelben Teile 
bei verwandten Gruppen in einer geringen 
Zahl vorhanden iſt, gewöhnlich nur wenig 
der Variation unterliegt.“) 

Wir haben zum erſten Male während 
des Januars bei Herrn von Saint-Maurice 
zu Tonnels, unweit Montpellier, in einer 
aus 40 Larzak-Schafen, 20Cauſſinards und 
einigen gekreuzten Individuen (Larzak-Bar⸗ 
barin und Cauſſinard-Barbarin) drei Schafe 
mit vier ſämmtlich milchgebenden Zitzen 
getroffen. Zwei dieſer Tiere waren Lar— 
zaks, das dritte Larzak-Barbarin.““) 

Jedes von ihnen hat ein mit vier Zitzen 
verſehenes Lamm geworfen. In derſelben 
Herde zeigte ein Widder der letzterwähnten 
Baſtardraſſe 4 gleiche Warzen. Die Cauſſi⸗ 
nards hatten alle nur 2 ſichtbare Zitzen. 

In Folge dieſer Beobachtung faßten 
wir den Entſchluß, in das Land zu gehen, 
wo man die Schafmilch ausbeutet, in der 
Hoffnung, dieſe Thatſache verallgemeinern 


) Dritte deutſche Ausgabe (1878), I. S. 104. 

**) Anm. d. Red. Über die hier erwähn— 
ten Schafraſſen iſt folgendes zu bemerken: Das 
Barbarin oder franzöſiſche Fettſchwanzſchaf iſt 
nach Bohm, „Schafzucht“, Bd. 2, S. 474 offen⸗ 
bar nur ein von Algier herüber gebrachter Stamm 
des berberiſchen oder algieriſchen Fettſchwanz⸗ 
ſchafes und unterſcheidet ſich nach Moll und 
Gayot von demſelben durch geringere Größe, 
ſchwächeren Schwanz, Hornloſigkeit und kürzere 
Wolle. Es wird hauptſächlich in den ſüdlicheren 


Departements von Frankreich, und zwar in Ge- | 


genden, in denen das Merinoſchaf nicht gedeiht, 
gezüchtet. Die Larzaks und Cauſſinards ſind lo— 
kale Varietäten, die nach dem Causse de Lar- 


zak und nach den übrigen Plateaux des Caus- 


ses der ſüdlichen Cevennenausläufer benannt find. 


391 


zu können. Wir begaben uns gegen Ende 
des Februars auf das Plateau von Lar— 
zak nach Caylar, einem in 833 m Höhe be— 
legenen Dorfe des Departement l'Herault, 
zu der Herde des Herrn Salze, die aus 
90 Tieren der Larzakraſſe beſtand. Wir 
haben daſelbſt nur ein einziges mit vier 
Zitzen (die ſämmtlich Milch geben) verſehe— 
nes Schaf angetroffen. Zu Sankt Felix 
hatten beinahe alleLarzak-Barbarin-Schafe 
der aus 110 Tieren beſtehenden Herde 
vier Zitzen. In la Cavalerie (Aveyron), 
dem Mittelpunkte der wichtigen und alten 
Produktion, haben wir mehr als 4000 
Schafe unterſucht und bei einer großen 
Zahl derſelben vier Zitzenkonſtatirt. Ebenſo 
in Roquefort und Lauras. 

Die Entwicklung der ſupplementären 
Zitzen oder Euter ſcheint, trotz aller großen 
Unterſchiede, welche vorkommen, nach einer 
gewiſſen Ordnung ſtattzufinden. Die bei— 
den hintern Zitzen ſind immer voluminös 
und oft ſtärker entwickelt als die anderen. 
Sie entſprechen in ihrer Lage den norma— 
len Zitzen. Die vordern beiden oder vier 
überzähligen Zitzen ſind gewöhnlich kleiner 
und geben nicht immer Milch. Mitunter 
iſt nur eine überzählige Zitze, ſei es auf 
der linken oder der rechten Seite, aber im— 
mer vorn belegen. Die überzähligen Eu— 
ter treten alſo ohne Ausnahme an den vor 
der Drüſe belegenen Teilen auf, während 
ſich das Gegenteil bei unſern Milchkühen 
zeigt (Sanſon). 

Die Gegenwart von vier Zitzen iſt 
alſo bei den Schafen der untern Cevennen 
eine ſehr gewöhnliche Thatſache. Wir ha— 
ben fie zu Caylar, Saint Felix, La Cava- 


lerie, Roquefort u. ſ. w. konſtatirt. Es iſt 


kaum zu bezweifeln, daß man dieſe Dispo— 
ſition auch an andern Punkten, wo die 


N 


392 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Milchinduſtrie eine hohe Vollendung er- 


reicht, finden wird, z. B. zu Camares und 
Saint Maurice. Bei allen dieſen Milch— 
ſchafen iſt eine allgemeine Tendenz zur Hy— 
pertrophie vorhanden, anfangs einfach, 
dann mit Vermehrung der Zitzenzahl. 

Wenn wir irgend einen mit vier Zitzen 
verſehenen Ahnen der Schafe kennten, ſo 
könnten wir an einen einfachen Rückſchlag 
auf ein typiſches Urſchaf mit vier Zitzen, 
welches zu einer gegebenen Zeit gelebt 
hätte, denken. 

Wenn die vier Zitzen in den Käſe— 
fabriken geſucht würden, dann könnte man 
glauben, daß ein oder mehrere Schafe mit 
vier Zitzen gelegentlich ohne nachweisbare 
Urſache erſchienen ſeien, und daß ein in— 
telligenter Züchter ſie abſichtlich konſervirt 
und verbreitet hätte. 

Die Tiere mit vier Zitzen ſind, wie 
wir es geſagt haben, oft Kreuzungen von 
Larzak und Barbarin; ja es iſt ſogar 
ſchwer, abſolut reine Barbarins anzutref— 
fen; die 1810 durch den General Soli— 
gnac erfolgte Einführung der Merinos 
zu Labaume hat Spuren bei vielen Tieren 
mit vier Zitzen zurückgelaſſen. Man würde 


ſich fragen können, ob dieſe Kreuzungen 


mit den Merinos und Barbarins nicht eine 
gewiſſe Rolle bei der Erſcheinung der neuen 
Zitzen geſpielt haben. 

„Gewiſſe Eigentümlichkeiten,“ ſagt 
Darwin, „welche, die unmittelbaren El— 
tern nicht charakteriſiren, von ihnen alſo 
auch nicht herſtammen können, erſcheinen 
öfter in der Nachkommenſchaft zweier ge— 
kreuzten Raſſen, während ſie niemals oder 


wenigſtens höchſt ſelten auftreten, ſo lange 


man ſich enthält, ſie zu kreuzen.“ 
Endlich können ſicherlich das Alter 
der Milchſchafe in den niederen Cevennen 


und die ſpezielle Behandlung, der ſie un— 
terworfen werden, als modifizirende Ur— 
ſachen angeſprochen werden. 

Mehrere Dokumente erlauben uns 
thatſächlich zu verſichern, daß die Schaf— 
herden von Larzak ſeit langen Jahrhun— 
derten zur Milchwirtſchaft benutzt wurden. 
Plinius ſpricht von den Käſen des Berges 
Luzara (Lozere), welche man zu feiner Zeit 
von Nimes nach Rom brachte. Bose, der 
Geſchichtsſchreiber von Rouergue, konſta— 
tirt, daß im Jahre 1070 Flotard von Cor- 
nus, als er dem Kloſter von Conques eine 
Landſchenkung machte, unter ihren Ein— 
künften zwei Käſe aufzählte, welche ihm 
durch ebenſoviele aus den Felſenhöhlen von 
Roquefort wiedererſtattet werden mußten. 

Die Milchergiebigkeit hat ſich demnach 
ſeit Jahrhunderten langſam von Genera- 
tion zu Generation übertragen und ver— 
mehren können. Die Züchter von ehemals 
und ſelbſt die von heute haben, indem ſie 
immer die Lämmer der beſten Milchſchafe 
auswählten, unbewußt Reſultate erzielt, 
an welche ſie nicht haben denken können. 

Fügen wir dem vorſtehenden hinzu, 
daß man die Schafe auf eine beſondere, 
der Aufmerkſamkeit würdige Art behan— 
delt. Die Melkung kann in drei verſchie— 
dene Operationen geteilt werden. Die erſte 
beſteht darin, alle Milchdrüſen zugleich 
zwiſchen beiden Händen zu drücken, als ob 
man einen Schwamm auspreßt. Die zweite 
oder eigentliche Melkung wird wie bei den 
andern Milchtieren ausgeführt. Wenn die 
Drüſen keine Milch mehr zu enthalten 
ſcheinen, operirt der Schäfer mittelſt der 
Massage oder Soubatage weiter. Erfchlägt 
die drüſigen Teile kräftig mit dem Hand— 
rücken und führt dann eine neue Melkung 
aus. Nach dieſem neuen Zuge wird die 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Maſſage von neuem mit derſelben Heftig⸗ 
tigkeit ausgeführt. So wird von gefchid- | 


ten Schäfern fortgefahren, bis die Drüfen 
auch nicht die kleinſte Milchmenge mehr 
liefern. Wir haben dieſer Methode zu— 
ſchauen und ihre Nützlichkeit erkennen kön— 
nen. Sie veranlaßt gleichzeitig eine völ— 


lige Entleerung der Drüſen und einen 


ſtarken Blutzufluß zu denſelben. 

Kurz, eine ausgedehnte Ausleſe und 
die eben beſchriebene beſondere Behand— 
lungsweiſe haben zuſammen wirken müſ— 
ſen, um das Volum der beiden Euter zu 
vermehren und die Erſcheinung von 2, 4 
oder 6 neuen Zitzen hervorzurufen. 

Es iſt nicht zu bezweifeln, daß wir in 
kurzer Zeit im Beſitz einer vierzitzigen 
Schafraſſe ſein würden, wenn die Züchter 
ſich mehr als bisher darauf verlegen woll— 
ten, dieſe merkwürdige Abart zu erhalten 
und zu fixiren.“ 

Dieſen Mitteilungen fügte Herr V. 
Ta yon in der Sitzung der Pariſer Aka— 
demie vom 3. Mai 1880 die folgenden 
hinzu: 

„Am 15. Februar habe ich bei dem 
Eigentümer Herrn Gauthier zu Launas 
ein mit ſechs gleichmäßig entwickelten Zitzen 
verſehenes Schaf von den Larzakplateaux 
unterſucht. Das männliche Schaf, welches 
ſie nährte, zeigte ſeinerſeits vier Warzen 
und nahm nach Belieben die eine oder 
andere der ſechs Zitzen. Herr Gauthier 
hat mir verſichert, daß er im vorigen Jahre 
ein mit acht, ſämmtlich Milch gebenden 
Zitzen verſehenes Larzakſchaf dem Metzger 
übergeben habe. Am 30. April habe ich 
Gelegenheit gehabt, in meinem Laborato— 
rium in der landwirtſchaftlichen Lehranſtalt 
von Montpellier ein mit vier Zitzen ver— 
ſehenes Larzakmutterſchaf zu unterſuchen. 


| 


393 


Eine ſorgfältige Sektion geftattet mir zu 
verſichern, daß jede von den Zitzen einer 
unabhängigen und iſolirten Milchdrüſe ent— 
ſpricht. Man findet, wie bei der Kuh, zwei— 
ſeitige Drüfen, die durch eine mittelſtän— 


dige, aus gelbem Faſergewebe gebildete 


Scheidewand getrennt werden. Die beiden 
Euter derſelben Seite ſind nur durch ein 
wenig feſtes Bindegewebe (tissu conjonctif 
peu serré) von einander geſondert, aber 
im übrigen völlig ſelbſtändig. 

„Schließlich habe ich noch in der Um— 
gegend von Saint-Georges eine Ziege mit 
vier Zitzen geſehen, was anzudeuten ſcheint, 
daß bei allen Tieren, deren Zitzen anormal 
funktioniren, eine Neigung zur Hypertro— 
phie und Vermehrung der Milchdrüſen 
vorhanden iſt.“ (Revue internationale 
des Sciences par L. de Lanessan. 
Mai et Juin 1880.) 


Zur hiſtoriſchen Entwicklung des 
Farbenlinnes. 

In der Mai-Sitzung der Berliner An- 
thropologiſchen Geſellſchaft hielt Herr Ober— 
ſtabsarzt Dr. Rabl-Rükhard über die 
in den letzten Jahren vielfach von wiſſen— 
ſchaftlicher Seite ventilirte Frage über die 
Entwicklung des Farbenſinnes einen Vor— 
trag, dem wir kurz nach dem Bericht der 
„Voſſiſchen Zeitung“ folgendes entnehmen: 

Herr Dr. Hugo Magnus, der be— 
kannte Breslauer Ophthalmolog, war be— 
kanntlich lediglich auf Grund ſprachlicher 
Beweiſe zu dem auffallenden Schluß ge: 
langt, daß den Griechen der homeriſchen 
Zeit, ja ſelbſt den Zeitgenoſſen des Pytha— 
goras und Kenophanes, die beide im ſechs— 
ten Jahrhundert vor Chr. Geb. lebten, die 
Unterſcheidung der lichtſchwächeren Farben 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 


50 


394 


des Spektrums, des Grün und Blau ab- 
gegangen ſei. Dieſen Ausführungen wurde 
bald darauf von zwei Seiten entgegenge— 
treten, durch Herrn Ernſt Krauſe in der 
Zeitſchrift „Kosmos““ ), und durch den Vor— 
tragenden, Dr. Rabl-Rükhard, und da— 
bei geltend gemacht, daß es unlogiſch ſei, 
die Entwicklung des ſprachlichen Ausdrucks 
zum Maßſtab der Höhe der phyſiologiſchen 
Leiſtung des Sinnesorganes zu machen, 
da beide auch auf anderen Gebieten durch— 
aus nicht mit einander Schritt halten. Es 
wurden u. a. die altegyptiſchen bildlichen 
Darſtellungen dafür als Beweis ins Feld 
geführt, daß jenes uralte Volk die Farben 
korrekt angewendet und ſomit korrekt ge— 
ſehen hatte. Wenn dieſe Bilder die Bäume 
grün, das Waſſer des Nil blau, das Gold 
gelb, das Kupfer rot zeigen, ſo kann man 
doch unmöglich annehmen, daß das Volk, 
für welches ſie berechnet waren, Grün und 
Blau als nicht von einander verſchiedene 
Farben anſah. 

Gleichzeitig mit dieſen Erörterungen 
fiel die Veröffentlichung eines Verfahrens, 
die Farbenblindheit zu erkennen, zuſam— 
men, nachdem die frühere Methode, nach 
welcher der zu Unterſuchende die Farbe 
eines bunten Papierſtreifens anzugeben 
hatte, deshalb als mangelhaft erkannt 
worden war, weil weniger gebildete Per— 

) Bd. 1, S. 264 (1877). In Anbetracht 
der vielfachen, zum Teil unqualifizirbaren Ver— 
ſuche, mir das geringe Verdienſt, die Geigerſche 
Träumerei zuerſt gründlich widerlegt zu haben, 
wegzunehmen, bin ich Herrn Oberſtabsarzt Dr. 


Rabl-Rükhard doppelt dankbar, daß er ſo⸗ 


wohl vor der Naturforſcher-Verſammlung in 
Baden-Baden, als auch in der Berliner Anthro— 
pologiſchen Geſellſchaft Veranlaſſung genommen 
hat, die Priorität einer ihm völlig unbekannten 
Perſon in dieſer Angelegenheit gebührend zu 
wahren. K 


Be 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ſonen aus mangelnder Uebung und Un— 
ſicherheit in der Bezeichnung der Farben 
dabei irrtümlich für farbenblind gehal— 
ten werden konnten. Dieſes neue Holm— 
gren'ſche Verfahren, bei dem der zu Prü— 
fende ohne irgend eine Farbenbezeichnung 
aus einer Anzahl von bunten Wollproben 
diejenigen herauszuſuchen hatte, die in der 
Farbe gleich oder ähnlich waren, zeigte ſich 


zugleich als ein außerordentlich geeignetes 


Mittel, den Farbenſinn der Naturvölker 
zu unterſuchen. Wenn nämlich wirklich, 
wie Dr. Magnus zu beweiſen verſucht 
hatte, der Farbenſinn, d. h. die phyſio— 
logiſche Leiſtung des Sehorgans in Bezug 


auf die Unterſcheidung der verſchiedenen 


Farben ſich in der relativ kurzen Zeit von 
Homer bis jetzt ſo vervollkommnet hat, 
mußte die Annahme ſehr nahe liegen, daß 
noch jetzt gewiſſe rohe Völkerſchaften, deren 
Kultur eine primitive und deren geiſtige 
Entwicklung eine weit zurückgebliebene 
war, mit Bezug auf die Farbenunterſchei— 
dung auf dem Standpunkt der Homeri— 


ſchen Zeit verharrten. 


Bereits 1877 wurden auf Holmgren's 
Veranlaſſung von den imNorden Schwedens 
anſäſſigen Arzten derartige Unterſuchungen 
bei den Lappländern angeſtellt. Bis jetzt ſind 
269 Fälle unterſucht worden, von denen 158 
Männer mit ca. 6 Proz. und 111 Weiber 
mit noch nicht ganz 1 Proz. farbenblind 
waren. Weiterhin legte Holmgren im 
Beginn des Jahres 1878 dem Chef und 
dem Arzt der letzten Vega-Expedition die 
Unterſuchung der Polarvölker dringend 
ans Herz. Auch die in Deutſchland vor— 
geſtellten Nubier und Lappen wurden un— 
terſucht. Während die Reſultate der letz— 
ten Forſchungen bereits durch die wert— 
volle und exakte Arbeit des Prof. Schö— 


— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ler in der Berliner Zeitſchrift für Ethno— 


— 


0) 


39 


Sie achten überhaupt ſehr wenig auf Far: 


logie veröffentlicht find, liegen abermals ben. Ferner prüfte Herr Dr. Alm quiſt 


zwei Publikationen auf dieſem Felde vor. 


Ein ſchwediſcher Aufſatz Holmgrens, 
„Beitrag zur Beleuchtung der Frage über 
die hiſtoriſche Entwicklung des Farben- 
obgleich auch unter dieſem Volk die Be— 


ſinnes“ und eine Broſchüre von Magnus: 
„Unterſuchungen über den Farbenſinn der 
Naturvölker.“ Ueber die Ergebniſſe beider 
Arbeiten ſtattet der Vortragende einen Be— 
richt ab. 

Der Arzt der „Vega“, Herr Dr. 
Almquiſt, hat, getreu der an ihn von 
Holmgren gerichteten Mahnung, die Ge— 
legenheit benutzt und verſchiedene Polar— 
völker, mit denen die Expedition in Be— 
rührung trat, unterſucht. Von nicht ganz 
20 Lappen und 10 Samojeden erwies ſich 
je Einer als farbenblind, alle anderen wa— 
ren normal. Reichlichere Gelegenheit bot 
ihm der längere Aufenthalt in dem Win— 
terquartier am Vorgebirge Serdze bei den 


Tſchuktſchen. Hier unterſuchte er 300 Per- 
| mittelft der Holmgren’shen Methode, 


ſonen, d. h. etwa den zehnten Teil des 


ganzen Volkes. Die Holmgren'ſche Me- 


thode kam, ohne Vermittelung von Dol— 


metſchern leicht zur Anwendung. Von den 


300 Geprüften konnten 27 nicht als nor— 
malſehend bezeichnet werden; von dieſen 


dürften neun, und zwar lauter Männer, 


vollſtändig farbenblind ſein. Was die 


Farbenbezeichnung dieſer Leute anbelangt, 


ſo haben ſie ein viel gebrauchtes Wort für 


Rot; Gelb nennen ſie meiſt Weiß, Grün 


oft Weiß oder Schwarz, geſättigtes Blau 
aber ſie iſt doch immer eine außerordent— 
liche Minderzahl gegenüber der Zahl Nor— 


faſt immer Schwarz. Selten bezeichnen 
ſie farbige Gegenſtände anders als Rot, 
Weiß oder Schwarz. 
und im Spektrum unterſcheiden ſie ſprach— 
lich drei Farbenbänder, die ſie Rot, Weiß, 
Schwarz oder Rot, Weiß, Blau nennen. 


Im Regenbogen 


in Port Clarence auf der amerikaniſchen 
Seite des Beringsſundes und auf der 
Inſel Lawrence 125 Eskimos. Von die— 
ſen erwies ſich nur Einer als farbenblind, 


zeichnung der Farben höchſt unvollſtändig 
iſt. Dieſe Unterſuchungen, namentlich die 
der Tſchuktſchen, ſind von außerordentlicher 
Wichtigkeit für die Entſcheidung der vor— 
liegenden Frage. Wir haben hier offen— 
bar ein Volk vor uns, das auf einer äu— 
ßerſt niedrigen, faſt prähiſtoriſchen Bil— 
dungsſtufe verharrt, und abgeſchloſſen von 
allem Verkehr mit ziviliſirten Völkern in 
einer verhältnismäßig farbloſen Umgebung 
lebt. Wie die Zeitgenoſſen Homer's be— 
zeichnen ſie am Regenbogen nur drei Far— 
ben; wie bei dieſen, ſind ihre Benennungen 
der lichtſchwachen Farben des Spektrums, 
Grün und Blau, unvollſtändig und un— 
beſtimmt. Trotzdem erwies die Prüfung 


daß ſich unter ihnen nur 3 Proz. vollſtän— 
dig Farbenblinde befanden, alſo eine Zahl, 
die der Mittelzahl unter Männern zivili— 
ſirter Nationen entſpricht. Rechnen wir 
die 18 Fälle, wo die Unterſuchung zwei— 
felhaft blieb, als unvollſtändig farbenblind, 
und nehmen an, daß die Hälfte der Unter— 
ſuchten Weiber waren, ſo kommen wir aufl2 
Proz. Farbenblinde, ja ſelbſt wenn wir alle 
27 Fälle als wirklich farbenblind anſehen, 
auf 18 Proz. Die Zahl iſt relativ hoch, 


malſehender. Und trotzdem ſteht der Sprach— 
gebrauch auf ungefähr derſelben niedrigen 
Stufe, wie bei Homer. Es geht aus die— 
ſem einen Beiſpiel alſo mit Sicherheit her— 


! 


I 


396 


vor, daß es ein Fehler iſt, aus der Un— 
vollkommenheit der ſprachlichen Bezeich— 
nung eines Volkes auf die Unvollſtändig— 
keit ſeiner Sinneswahrnehmung zu ſchlie— 
ßen, weil Beide eben nicht Hand in Hand 
mit einander gehen. 

Ein dritter Weg, eine Vorſtellung von 
der Entwicklung des Farbenſinnes zu ge— 
winnen, wäre der einer möglichſt ausge— 
dehnten Unterſuchung von rohen, unzivili— 
ſirten Völkern und einer Vergleichung der 
ſo erhaltenen Prozentzahlen mit denen, 
welche die Zahl der Farbenblinden unter 
einer ziviliſirten Bevölkerung ausdrücken. 
Bis jetzt iſt die Geſammtzahl derartiger 
Unterſuchungen nicht groß, dahin gehören 
die von dela Renondidre an 693 Erwach— 
ſenen aus verſchiedenen Volksraſſen Algiers 
angeſtellten. Leider begründen ſich dieſel— 
ben auf der Favre'ſchen Benennungs— 
methode der Farben und ſind ſomit unzu— 
verläſſig. Vergleicht man die gefundene 
Prozentzahl 3,40 mit der, welche Favre 
nach derſelben Methode bei der franzöſi— 
ſchen Bevölkerung konſtatirte, ſo erſcheint 
die Zahl der farbenblinden Afrikaner ver— 
hältnismäßig ſogar niedrig gegen die der un— 
terſuchten Franzoſen. Ferner hat Dr. Bur— 
nett in Waſhington nach Holmgren's 
Methode die Schüler der Negerſchulen im 
Columbiadiſtrikt unterſucht. Er fand unter 
3040 Kindern nur drei Viertel Prozent 
Farbenblinde, darunter 1349 Knaben mit 
1,6 Proz. und 1691 Mädchen mit 0,11 
Proz.; unvollkommen farbenblind waren 
zudem 1,87 Proz. Mädchen und 5,7 Proz. 
Knaben. Alſo auch dieſe Unterſuchungen 
ergaben keine höheren Prozente Farben— 
blinder, als beiziviliſirten Völkern. Holm— 
gren macht in Bezug hierauf den Ein— 
wand, daß die in einem ziviliſirten Lande 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


geborenen Negerkinder ſchwerlich zu den 
unziviliſirten Völkern gerechnet werden 
können. Dem Vortragenden ſcheint dieſer 
Einwurf nicht ſtichhaltig zu ſein. Wir 
haben es hier doch immerhin mit einer 
Generation zu thun, die mehr oder weni— 
ger direkt von einem rohen Naturvolk ab— 
ſtammt und deren Kulturerbteil kaum zwei 
Jahrhunderte alt iſt. Es liegt wol viel 
näher, anzunehmen, daß der Farbenſinn 
der urſprünglichen Stammeltern jener Ne— 
gerkinder auf derſelben Entwicklungsſtufe 
ſich befand, wie der der ziviliſirten Natio— 
nen. Bekanntlich haben auch die Unter— 
ſuchungenüber die Nubier *), Lappländer 2c. 
keinen Beleg für die Annahme ergeben, 
daß der Farbenſinn unter dieſen Völkern 
geringer entwickelt ſei, als bei den zivili— 
ſirten Nationen. 

Der Anthropolog Herr Schaaffhau— 
ſen in Bonn ſtellte die Behauptung auf, 
daß Kinder eine unvollkommnere Wahr— 
nehmung für Farbenabſtufungen haben, 
als Erwachſene Wir würden hiermit den 
vierten Weg der Unterſuchung betreten, 
nämlich den der Prüfung des Farbenſinnes 
in ſeiner Entwicklung in den verſchiede— 
nen Lebensaltern. Holmgren, der den— 
ſelben gleichfalls ins Auge faßte, und dem 
wir gewiß eine nicht gewöhnliche Erfah— 
rung und Übung in der Prüfung zutrauen 
können, erklärt eine ſolche erſt bei geiſtig 
vorgeſchrittenen Kindern von 3—4 Jah— 
ren für möglich. 

So viel über die Holmgrenſchen Ver— 
öffentlichungen. Was nun die Unter— 


) Anmerk. der Red. Profeſſor Schöler 
fand bei ſeiner Unterſuchung der Nubier, daß 
ihnen die Bezeichnungen für alle Farbentöne 
zwiſchen Orange und Grün fehlten! (Zeitſchrift 
für Ethnologie 1880. 1. Heft.) 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ſuchungen von Dr. Magnus betrifft, ſo 
geſteht dieſer Gelehrte jetzt offen und ehrlich 


ein, daß er ſich über die Tragweite der durch 
| 
ger 


ſprachvergleichende Unterſuchungen 
wonnenen Erkenntniſſe getäuſcht und Kon— 
ſequenzen aus denſelben gezogen habe, die 
mit dem thatſächlichen Verhältnis nicht 
identiſch ſind. Er ſtellt nunmehr u. a. 
folgende Sätze auf: 

1) Alle unterſuchten Naturvölker beſitzen 


einen Farbenſinn, der in ſeinen Grenzen mit 
dem der ziviliſirten Nationen im allgemei- 


nen übereinſtimmt. Doch ſcheint innerhalb 
dieſer allgemeinen Grenzen inſofern eine 
Verſchiedenheit ſtattfinden zu können, als 
einige Naturvölker eine größere Energie 
in der Empfindung der langwelligen Far— 
ben bethätigten und eine ausgeſprochene 
Gleichgiltigkeit gegen die Farben kurzer 
Wellenlänge an den Tag legten. 

2) Die Farbenempfindung und die Far— 
benbezeichnung decken ſich nicht; d. h. aus 
dem Mangel der letzteren darf man nicht 
auf das gleichzeitige Fehlen der Empfindung 
ſchließen. 

3) Die Farbenempfindung und Far— 
benbezeichnung ſtehen bei ſehr vielen Na— 
turvölkern in einem eigentümlichen Miß— 
verhältnis, inſofern bei gut entwickelter 
Empfindung eine nur höchſt mangelhafte 
Farbenterminologie vorhanden iſt. 

Was das Material betrifft, welches 
Dr. Magnus zu dieſer Anderung ſeiner 
Anſicht geführt hat, fo hebt Herr Dr. Rabl— 
Rükhard nur einiges daraus als inte— 
reſſant hervor: Dr. Magnus hatte im Ver— 
ein mit Dr. Pechuel-Löſche eine Farben— 
tafel und einen Fragebogen entworfen, der 
an Arzte, Miſſionäre, überſeeiſche Handels— 
häuſer ꝛc. mit der Bitte um Ausfüllung 
überſendet wurde. Solcher Fragebogen 


397 


wurden im ganzen 61 mehr oder minder 
vollſtändig ausgefüllt. Aus denſelben geht 
u. a. hervor, in wie direkter Beziehung 
die Farbenbezeichnung zu dem Bedürfnis 
und der täglichen Beobachtung ſteht. Die 


Hirtenvölker Afrikas, z. B. die Kaffern, 


Herero, Baſuto ꝛc. ſind wohlbewandert in 
der Bezeichnung der Farben Schwarz, 
Grau, Weiß und Gelb, wie ſie bei ihrem 
Vieh vorkommen. Die Kaffern beſitzen ſo— 
gar, obgleich bei ihnen noch kein beſonde— 
rer Ausdruck für Grün und Blau exiſtirt, 
eine äußerſt entwickelte Nomenklatur für 
die Färbungen und Zeichnungen ihres 
Viehes. 

Laſſen wir alſo ganz die phyſiologiſche 
Seite der Entwicklung des Farbenſinnes 
aus dem Spiele, ſo bildet die Differenzi— 
rung der ſprachlichen Ausdrücke für die 
verſchiedenen Farben an ſich ſchon genug 
des Intereſſanten. Es ſcheint daraus her— 
vorzugehen, daß zunächſt das Rot als 
Farbe eine ſchärfere Bezeichnung erhält. 
Holmgren fand auf anderem Wege, 
nämlich bei der Prüfung der ſprachlichen 
Entwicklung von Kindern, ganz dasſelbe. 
Er macht ferner darauf aufmerkſam, daß 
in zahlreichen Fällen Erwachſene aus den 
ungebildeteren Ständen dieſelbe Vorliebe 
für das Rot und dieſelbe Sicherheit in der 
Bezeichnung desſelben zeigen, während ſie 
ſich gegen blaue und grüne Färbungen 
gleichgiltig und in der Bezeichnung un— 
ſicher verhalten. Ebenſo ſpielen die lang— 
welligen Farben, die in der Malerei ja 
auch als „warme“ bezeichnet werden, Rot 
und Gelb, eine hervorragende Rolle in 
Schmuck, Nationaltracht und Uniform. 
So ſteht es jetzt um die Frage der phyſio— 
logiſchen Entwicklung des Farbenſinnes. 
Sie iſt vom hiſtoriſch-linguiſtiſchen Gebiet 


2 


398 


völlig auf das phyſiologiſch-naturwiſſen— 
ſchaftliche hinübergedrängt worden und 
wird, wenn überhaupt, nur durch ſtatiſti— 
ſche Zuſammenſtellungen möglichſt ausge— 
dehnter Unterrichtsreſultate an Lebenden 
ſicher beantwortet werden können. 

In der Juniſitzung derſelben Geſell— 
ſchaft wurde über dieſen Vortrag eine 
Diskuſſion eröffnet: 

Prof. R. Hartmann machte einige 
Bemerkungen über die Arbeiten der afri— 
kaniſchen Bewohner. Dieſe Leute zeichnen 
ſich durch eine geſchickte Auswahl von 
Gelb, Rotbraun u. ſ. w. bei der Wahl 
ihrer Farbenzuſammenſtellungen aus; dieſe 
Farben haben einen dunklen Ton und wir— 
ken angenehm aufs Auge. Bei dieſer, 
großen Geſchmack verratenden Bewegung 
in den mittleren Farben, welche dem Red— 
ner bei ſeinem Aufenthalte in Afrika ſehr 
gefallen hat, fragt man ſich unwillkürlich, 
ob bei dieſen Völkern überhaupt von ei— 
nem Mangel an Farbenſinn geſprochen 
werden könne. Prof. Lazarus bittet, daß 
die Beobachtungen zur Unterſuchung des 
Farbenſinnes namentlich an Kindern fort— 
geſetzt werden mögen. Es handelt ſich bei 
den letzteren um eine intereſſante pſycho— 
logiſche Frage. Der Grund, warum un— 
ſere Kinder die Farbenbezeichnungen nicht 
verſtehen, liegt weſentlich darin, daß das 
Auge der einzige Sinn iſt, bei dem in der 
Regel zu gleicher Zeit mehrere Wahrneh— 
mungen gegeben werden. 


Die Erfindung des Pfluges 
bildete den Gegenſtand einer Abhandlung, 
welche Edw. Tylor in der Sitzung des 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


zu 


Londoner Anthropologiſchen Inſtitus am 
24. Februar c. las. Das erſte landwirt— 
ſchaftliche Hilfsmittel ſcheint nach ihm in 
einem zugeſchnitzten, 4 — 5 Fuß langen 
Stabe beſtanden zu haben, wie ihn viele 
wilde Völker benutzen, um Wurzeln aus— 
zuroden, Früchte herunterzuholen. In einer 
ſpätern Zeit wurde der Stab gebogen und 
als Hacke gebraucht, wie ihn die nordame— 
rikaniſchen Indianer in dieſer Form noch 
gebrauchen. In Südſchweden zeigen lange 
Landzüge Spuren eines frühen Ackerbaus, 
den die Eingebornen einem vorhiſtoriſchen 
Volke zuſchreiben, welches ſie die Hacker 
nennen, deren rohe Hacke ein Fichtenſtamm 
mit einem kurzen, hervorſpringenden, zuge— 
ſpitzten Zweige war, wie er ſtets den my— 
thologiſchen Rieſen in die Hand gegeben 
wird. Später kam ein größeres Inſtru— 
ment derſelben Art in Gebrauch, welches 
nicht wie die Hacke gebraucht, ſondern 
durch Menſchen oder Ochſen gezogen wurde. 
Darſtellungen dieſer primitiven Pflüge 
werden auf egyptiſchen Gemälden und Bas— 
reliefs gefunden. Der Pflug iſt in ſeinem 
Urſprung prähiſtoriſch, wie die ihm beige— 
legte religibſe Weihe bei Griechen, Chineſen 
und Egyptern beweiſt. Als Beweis dafür 
kann auch der Name Sita (Furche) ange— 
führt werden, welcher Bramahs Gattin 
beigelegt wurde. Ein hölzerner, mit Eiſen 
beſchlagener Haken war die nächſte Ver— 
beſſerung, und in Virgils Zeiten finden wir 
einen mit Rädern verſehenen Pflug in Ge— 
brauch, der wenig verſchieden war von 


den beſten, die noch vor einem Jahr— 
hundert in Europa gebraucht wurden. 
(Nature No. 541, March 1880.) 


Litteratur und Kritik. 


as Religionsweſen der rohe— 

ſten Naturvölker von Guſtav 

Roskoff. Leipzig, F. A. Brockhaus, 
1880. 179 S. in 8. 

Das vorliegende Buch iſt eine Art 
Antikritik, in welchem der Verfaſſer ſeine 
in der „Geſchichte des Teufels“ gemachte 
Behauptung, daß auch bei den roheſten 
Völkern Spuren von religiöſen Vorſtel— 
lungen wahrgenommen werden, gegen 
einige, auf grund der gegenteiligen Be— 
hauptungen Lubbock's gemachten Ein— 
wände vertheidigt. Natürlich kommt hier 
alles darauf an, wie weit man den Be— 
griff der Religion ausdehnt, ob man blos 
die katholiſchen, oder alle chriſtlichen, oder 
überhaupt die mondtheiſtiſchen, oder gar 
auch die polytheiſtiſchen und fetiſchiſti— 
ſchen Kultusformen als Religionen aner— 
kennen will. Der Verfaſſer dehnt den 
Begriff der Religion mit Recht auf jeg— 
lichen Glauben an Überſinnliches aus 
und zeigt, daß zu einem ſolchen mit 
Furcht durchſättigten Glauben alle Völker 


der Erde, die man kennen gelernt hat, ge— 


langt waren, und daß die gegenteiligen 
Annahmen einzelner Reiſenden und Miſſio— 
nare entweder auf mangelhafter Beobach— 
tung, falſcher Frageſtellung, auf zu hohen 


Bo) 


Anſprüchen oder wohl auch auf vorgefaß— 
ten Meinungen beruhen. Wie den alten 
Ariern die Urbewohner Indiens als, ade va“ 
erſchienen, ſo bezeichneten die Griechen jeden 
Anhänger des Chriſtentums als Atheiſten, 
weil er ihre Götter verleugnete, ebenſo 
gelten heute die Darwiniſten und alle 
Philoſophen, welche die Offenbarung leug— 
nen und nicht an die Unfehlbarkeit des 
Papſtes glauben, als Atheiſten und reli— 
gionsloſe Menſchen, und noch viel mehr 
mußten es vielen Miſſionaren die Men— 
ſchen ſein, die gar nichts ihrer eigenen 
Religion vergleichbares beſaßen. 

Um nun die Notwendigkeit einer All— 
verbreitung der niederen Religion nachzu— 
weiſen, giebt der auf dem Standpunkte der 
Entwicklungstheorie ſtehende Verfaſſer 
zunächſt eine vortreffliche Schilderung des 
leiblichen und geiſtigen Zuſtandes des Na— 
turmenſchen (S. 124— 125): „.. Er 
ſieht ſich von Gefahren umgeben und ſtets 
im harten Kampfe mit der Außenwelt, die 
ihm daher im feindlichen Lichte erſcheint. 
Namentlich muß ſie ihm feindlich erſchei— 
nen, wenn ſie der Erfüllung ſeines Grund— 
triebes, der Selbſterhaltung, hemmend ent— 
gegentritt. So lange er jenen befriedigen 
kann, bleibt die Außenwelt von ihm wenig 


400 


oder gar nicht beachtet und er lebt in einem 
gewiſſen Grade geiſtiger Dumpfheit da— 
hin, in einem Seelenzuſtande, den man 
mit dem des Träumenden verglichen hat. 
2 Er hat noch nicht das klare, ge— 
feſtete Bewußtſein von ſeiner eigenen Na— 
tur, ſondern lebt noch mehr oder weniger 
in der Natur ſelbſt, die ihn umgiebt. Weil 
die Scheidelinie zwiſchen dieſer und ſeinem 
bewußten Geiſte noch nicht klar und ſcharf 
gezogen iſt, fühlt er ſich mit der Tierwelt 
befreundet. So erklärt ſich die unter Wil— 
den herrſchende Vorſtellung, daß ſie von 
Tieren abſtammen, daß der Geiſt der Ah— 
nen oft in Tiergeſtalt erſcheine; daß der 
Wilde die Tiere als ſelbſtbewußte Weſen 
betrachtet, denen er ſeine Gedanken mit— 
teilt und von ihnen verſtanden zu werden 
glaubt; daß die Rothäute die Tiere ihre 
jüngern Brüder zu nennen pflegen ꝛc. Ein 
Analogon des noch nicht völlig erſtarkten 
Selbſtbewußtſeins bieten die Kinder in 
der Periode, in welcher ſie das Ich zu ge— 
brauchen anfangen und wieder zeitweiſe, 
wie vorher, in der dritten Perſon von ſich 
ſprechen. . . . . In der geiſtigen Dämme— 
rung des Wilden bleibt die Scheidelinie 
zwiſchen ſeinem Ich und der objektiven 
Natur gewiſſermaßen eine fluktuirende. 
Aus dem Mangel an ſcharfem Unterſchei— 
den zwiſchen Subjektivem und Objektivem, 
zwiſchen Einbildung und Wirklichkeit, er— 
klärt es ſich, daß der Wilde Träume als 
objektiv verurſachte Geſtaltungen auffaßt 
und ihnen große Bedeutung zuerkennt.“ 
„Man pflegt gewöhnlich Kinder die 
größten Egoiſten zu nennen. In bezug 
auf ſchon Herangewachſene liegt ein be— 
rechtigter Tadel darin, der ſie für uner— 


zogen erklärt, weil durch die Erziehung 
univerſelle Menſchen aus Egoiſten werden denken. Er genießt und geht im Genuſſe 


Litteratur und Kritik. 


ſollen. Kleine unmündige Kinder können 
nicht anders, als egoiſtiſch ſein, und der 
Säugling kann die Bruſt der Mutter nicht 
loslaſſen, wenn dieſe darob auch des Todes 
würde. Das Kind will zunächſt leben, es 
folgt dem Grundtriebe der Selbſterhal- 
tung. Dieſer Grundtrieb macht ſich auch 
im Wilden ſehr vernehmlich geltend und 
die Schilderungen der Reiſenden ſind in 
dieſer Hinſicht gewiß richtig; unberechtigt 
iſt aber die vorwurfsvolle Verachtung, die 
ſich dabei auszuſprechen pflegt. Man ver— 
gißt, daß der Wilde eben ein unerzogener 
Menſch iſt, daß er, bei ſeinen Umſtänden 
außerhalb des erziehenden Einfluſſes der 
geſchichtlichen Entwicklung ſtehend, nicht 
anders ſein kann, als er iſt. Wie das 
Kind alles, was es ergreifen kann, zum 
Munde führt, ſo bezieht der Wilde alles 
auf ſich, und ſein Streben iſt, alles mit 
ſeinem Daſein in Einheit zu ſetzen . . . .“ 

Man hat ſich oft darüber verwundert, 
was der Wilde, wenn er nicht durch Hunger 
in Thätigkeit geſetzt iſt, im Faullenzen 
leiſten kann; man braucht aber dazu nicht 
in die amerikaniſchen Urwälder zu gehen. 
3 Auch in dieſer Beziehung zeigen ſich 
Abſtufungen. Der Wilde erhebt ſich von 


ſeinem Lager nur, wenn ihn der Hunger 


dazu treibt, Nahrung zu ſuchen; der Halb— 
gebildete arbeitet nur, um zu leben und das 
Leben zu genießen; der -Gebildete findet 
ſein Leben in vernünftiger Thätigkeit und 
den Lebensgenuß in freier Arbeitſamkeit. . . 

So lange dem Wilden die Mittel zur 
Befriedigung ſeiner ſinnlichen Bedürfniſſe 
zur Hand ſind, er ſich in Harmonie mit 
ſich und ſeiner Außenwelt fühlt, liegt es 
im Weſen ſeines Zuſtandes, weder über 
die Welt, noch über ſich ſelbſt weiter zu 


Litteratur und Kritik. 


auf und erinnert inſofern an das Tier. 


Er fühlt das phyſiſche Wohlbehagen, führt 
es aber nicht zum Bewußtſein. Ahnlich 
verhält es ſich mit dem Zuſtande der Ge— 
ſundheit, dem harmoniſchen Zuſammen— 
wirken der organiſchen Thätigkeiten zur 
Darſtellung des vollen Lebens, worüber 
der Geſunde gewöhnlich auch nicht nach— 
denkt, ſo lange er im Beſitze der Geſund— 
heit iſt . . . Die Aufmerkſamkeit und das 
Denken darüber ſtellt ſich erſt ein, wenn 
dieſe Harmonie geſtört iſt. So wird die 
Aufmerkſamkeit des Wilden erſt bei der 
aufgehobenen Harmonie der ihn umgeben— 
den Natur auf gewiſſe Erſcheinungen hin— 
gelenkt, durch welche er ſein Daſein ge— 
fährdet ſieht oder glaubt. Solche ſeine 
Exiſtenz bedrohenden Erſcheinungen, die 
nicht vom Menſchen herrühren, erwecken 
in ihm nicht nur das Gefühl der Furcht, 
ſondern es taucht in ſeinem Geiſte zugleich 
die Annahme einer Urſache auf, die er, 
weil er ſie ſinnlich nicht wahrnehmen kann, 
für eine überſinnliche halten muß . . . 


„Weil der Menſch überhaupt im Hori- 


zonte ſeiner Anſchauungen lebt, die er ob— 
jektivirt, und der Wilde von der Qualität 
der auf ihn geübten Wirkung auf die 
Qualität der Urſache ſchließt, ſo kann er 
als Urſache einer für ihn ſchlimmen Er— 
ſcheinung . . . auch nur eine ſchlimme an— 
nehmen, . . ein ſchlimmes, beſonderes We— 
ſen hinter der ſchlimmen Erſcheinung er— 
kennen. Der Unklarheit ſeines Denkens 
gemäß umhüllt der Schleier des Geheim— 
nisvollen dieſes böſe Weſen; er hegt Furcht 
vor ihm, weil deſſen Macht ſeine Exiſtenz 
gefährden kann, und da er es mit den 
Sinnen nicht wahrnimmt, anerkennt er es 
als überſinnliches, mächtiges bö— 
ſes Weſen, d. h. nach unſerm Sprach— 


— 


gebrauch als Dämon. Der Wilde kann 
dieſes Weſen ſich nicht anders vorſtellen, 
denn als ein dem Menſchen ähnliches, mit 
Willen handelndes, aber mit ungleich grö— 
ßerer Macht ausgerüſtetes Weſen. Er 
ſchreibt ihm die Macht zu, durch Natur— 
erſcheinungen dem Menſchen zu ſchaden, 
Krankheiten, Tod, überhaupt alles zu be— 
wirken, was das menſchliche Daſein in 
Frage ſtellt . . . Und jo knüpft ſich der 
erſte Gottesbegriff, wie Lubbock bemerkt, 
faſt immer an ein böſes Weſen. 

„Der Glaube an Zauberei, der mit dem 
an böſe Weſen in unzertrennlicher Verbin— 
dung ſteht, findet ſich bei allen Völker— 
ſtämmen, die auf niedriger und niedrigſter 
Stufe ſtehen, bei Jäger-, Fiſcher- und 
Hirtenvölkern . . . Die Zauberei ſoll die 
Übel, welche die Wilden bedrohen oder 
befallen haben, beſeitigen . . . Der Wider— 
ſpruch, in welchen ſich der Wilde mit der 
Natur verſetzt ſieht, ſoll durch Zauberei 
gelöſt werden. Weil der Wilde alle ihm 
ungünſtigen Erſcheinungen von einer übel- 
geſinnten, überſinnlichen Macht, von ei— 
nem oder mehreren böſen Dämonen ab- 
leitet, die er als Anſtifter aller Übel er— 
kennt und fürchtet, ſo ſucht er ſie gelegent— 
lich durch Gaben, Opfer u. ſ. w. zu be— 
ſchwichtigen, womit aber einer dauernden 
Sicherheit ſeines Daſeins keine genügende 
Gewähr geleiſtet iſt. Gegen ſichtbare 
Feinde, die ihn bedrohen, gegen wilde 
Tiere, feindliche Menſchen ſetzt er ſeine 
eigene Kraft ein, ſie zu bekämpfen und zu 
bewältigen, aber der überſinnlichen, über— 
menſchlichen Macht gegenüber fühlt er ſich 
zu unmächtig. Sein Selbſtgefühl und 
Selbſtbewußtſein nötigt ihn aber um der 
Erhaltung willen, ſich von der Natur zu 
befreien, die Herrſchaft über ſie zu gewin— 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 


51 


402 


nen. Sein Selbſtbewußtſein kann ſich nicht 
mit der zeitweiligen Beſchwichtigung der 
feindlichen Naturmacht durch Sühnegaben 
begnügen; er will poſitiv beſtimmend auf 


ſie einwirken, ſein Selbſt zum Herrn über 
feſtſtellen. Damit kommen wir zu der 


ſie ſetzen. Zu unmächtig, durch eigene 
Kraft die Naturgewalten ſich zu unter— 


werfen . . . fühlt er ſich innerlich gedrängt, 
zu einer höheren, überſinnlichen Macht 


ſeine Zuflucht zu nehmen, deren Anerken— 
nung aus der Tiefe ſeines Gemütes auf— 
taucht, mit deren Hilfe er ſeine Individua— 
lität durch das Zaubern ſicherzuſtellen 
ſucht. Dieſe höhere, überſinnliche Macht, 
in deren Namen er Zauberei treibt, muß 
notwendig als eine ihm freundliche, gün— 
ſtige anerkannt ſein, weil er von ihr die 
Abwehr und Bewältigung der ihm feind— 
lichen Naturmacht erwartet . . . Das Zau— 
bern iſt die Reaktion des Selbſtbe— 
wußtſeins gegen die Natur, welche als 
feindliche, die menſchliche Individualität 
gefährdende Macht gedacht wurde . . .“ 
Der Verfaſſer ſchildert nun die Mittel 
der Zauberei bei den niedrigſtehenden Völ— 
kern, den Fetiſchdienſt, die Totemwählerei, 
das Tabu-Machen u. ſ. w. und zeigt, wie 
in allen dieſen Einzelheiten die Keime 
der höheren Religion liegen, das Abhän— 
gigkeitsgefühl, Entſagung, Reinigung, 
Opfer, Beſchwörung und Gebet, wobei er 
darauf hindeutet, wie gar manche Kultus— 
handlungen der höheren Religionen ſich 
kaum über den Begriff des Zauberns er— 
heben, wenn z. B. dem Gebet eine die 
natürliche Ordnung umwerfende Kraft 
beigemeſſen wird. Alle jene alten Zauber— 
mittel ſind in unſerm Aberglauben, der 
ſich als die überlebte Religion (das Über— 
lebſel, superstitio) darſtellt, erhalten; 
man kann keinen Unterſchied zwiſchen 


Litteratur und Kritik. 


Glauben und Aberglauben machen, und 


ſelbſt der vom Verfaſſer vorgeſchlagene 
Ausweg, nur das unmoraliſche Wünſchen 


als Aberglauben zu brandmarken, verfängt 
nicht, denn dieſer Begriff läßt ſich nicht 


Schlußunterſuchung, ob Sittlichkeit und 
Religion in einem urſprünglichen Zuſam— 
menhange ſtehen. Der Verfaſſer bejaht 
dieſe Frage im Gegenſatze zu Waitz, 
Tylor und Lubbock. 

„Die Thatſache,“ ſagt er (S. 155), 
„daß im geſammten Altertum Religion 
und Sittlichkeit (Staat) in unmittelbarer 
Einheit auftreten, daß ſie ferner nur in— 
nerhalb der Menſchenwelt wahrzunehmen, 
alſo dem Menſchen allein eigentümlich 
ſind, ſchon dieſe Thatſachen könnten zu der 
Annahme hinleiten, daß ſie im menſch— 
lichen Weſen ihren Grund haben müſſen, 
und, da die Funktionen des menſchlichen 
Geiſtes als eines Organismus auch orga— 
niſch auf einander bezogen ſind, wohl auch 
Religioſität und Sittlichkeit in einem or— 
ganiſchen Zuſammenhange ſtehen. Es kön— 
nen alſo nicht „zwei weſentlich verſchiedene 
Quellen“, ſondern nur zwei verſchie— 
dene Punkte oder Seiten ſein, von 
welchen aus das Menſchengemüt an- 
geregt wird, und das Gemüt iſt die 
Quelle, aus welcher Religioſität und Sitt— 
lichkeit fließen.“ 

Wir glauben im Gegenteil, daß Waitz 
vollkommen durch ſeine Studien berechtigt 
war, zu ſagen: „Die ſittlichen Vorſtellun— 
gen entſpringen aus einer weſentlich an— 
deren Quelle, als die Religion; beide tre— 


ten überhaupt erſt auf einer höheren Kul— 


turſtufe des Menſchen in irgend eine Be— 
ziehung zu einander.“ Ref. weiß nicht, 
wie Waitz dieſen Satz begründet hat. 


a 


Litteratur und Kritik. 


Allein er möchte hervorheben, daß auch 
ihm die Quellen der Moral und Religion 


als gänzlich verſchiedene erſcheinen: die 


Moral iſt ein Bedürfnis der menſch— 
lichen Geſellſchaft, die Religion 
ein Bedürfnis des Einzelnen, dar— 


um hat auch die Geſellſchaft das aner— | 
kannte Recht, Übertretungen der Geſell— | 


ſchaftsmoral zu beſtrafen, nicht aber dem 
Einzelnen wegen ſeiner religiöſen Anſich— 
ten zu nahe zu treten. Die Verbindung 
beider, die ja in neueſter Zeit in den An— 
erbietungen der Kurie, die Maſſen zu zü— 
geln, ſehr in den Vordergrund tritt, war 


lediglich das Werk geſchickter Theokraten 


und älterer Geſetzgeber. Ihre Abſicht iſt 


dabei vorwiegend politiſcher Natur gewe- 


ſen, wie man ſogleich erkennt, wenn man 
die allerſeits fühlbar gewordene Notwen— 


digkeit erwägt, Gerechtigkeitspflege und 


Kirche zu trennen. Der Staat überläßt 
mit Recht nur diejenigen moraliſchen Aus— 
ſchreitungen, die er wegen ihrer Allver— 
breitung nicht beſtrafen kann, Mangel an 
Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, ehelicher 
Treue u. ſ. w. der Kirchenzucht; mit wel— 
chem Erfolge, lehren die klerikal regierten 
Länder. Nichts verträgt ſich im Gegenteil 
beſſer, als ſog. „Religion“ und Unmoralität. 

Abgeſehen von dieſer kleinen Meinungs— 
verſchiedenheit glaubt Referent nicht zu 
irren, wenn er das an den Quellen ge— 
ſchöpfte Buch als eine der klarſten und 
lehrreichſten Darſtellungen des Religions— 
weſens der roheſten Naturvölker betrachtet 
und allen Leſern dieſer Zeitſchrift an— 
gelegentlichſt empfiehlt. 


403 


La Teoria di Darwin, Criticamente 
exposta da Giovanni Canestrini 
(Biblioteca Scientifica Internazionale, 
Vol. XXV). Milano, Fratelli Dumo- 
lard, 1880. 350 P. in 8. 


Der Verfaſſer des vorliegenden Bu- 


ches, Profeſſor der Zoologie, Anatomie 
und vergleichenden Phyſiologie an der 
Univerſität Padua, hatte bereits vor drei 
Jahren ein Buch über die Darwinſche 
Theorie (La Teoria dell’ Evoluzione. To- 
rino, 1877) veröffentlicht, welches einen 
mehr einleitenden Charakter hatte, wäh— 
rend das vorliegende die Theorie ſelb— 
ſtändig weiter zu bauen ſucht und eine 
große Anzahl eigener Beobachtungen und 
Gedanken bringt. Für den deutſchen Leſer 
wird es von beſonderem Intereſſe ſein, 
darin die beſondere Phyſiognomie zu ſtu— 
diren, welche dieſe Theorie durch italieni— 
ſche Forſcher, wie Beccari, Bianconi, 
Berti-Pichat, Buccola, Caneſtrini, 
Filippi, Forſyth Major, Mante— 
gazza u.a. erhalten hat, über deren Arbeiten 
unſer geſchätzter italieniſcher Mitarbeiter 
uns meiſtens auf dem laufenden hielt. 
In dem vorliegenden Buche ſind die 
beiden erſten Kapitel dem bibliſchen Schö— 
pfungsberichte und deſſen Kritik gewidmet; 
die beiden folgenden behandeln die künſt— 
liche Züchtung und das fünfte das Varia— 
tionsvermögen der Pflanzen und Tiere. In 
dem ſechſten und ſiebenten Kapitel wird 
die Vererbung in trefflicher Weiſe darge— 
ſtellt und namentlich in dem erſteren findet 
ſich eine längere Abhandlung „Über die Ur— 
ſache, welche das Geſchlecht beſtimmt“, von 
der wir unfern Leſern in einem unſerer näch— 
ſten Hefte eine Überſetzung zu bieten ge— 
denken, weil das Buch aus äußerlichen Ur— 


ſachen kaum in deutſcher Überſetzung er 


I 


404 


ſcheinen wird. Eine in dem darauffolgen— 
den Kapitel mitgeteilte und durch eine 
Abbildung illuſtrirte Beobachtung des Ver— 
faſſers über eine merkwürdige Abnormität 
wollen wir hier gleich wiedergeben. 

„Ich will hier,“ ſagtderVerfaſſer S. 170, 
„einen Fall von Atavismus mitteilen, den ich 
kürzlich an einem menſchlichen Schädel be— 
obachten konnte, der von Levico ſtammt, 
woſelbſt ihn mein Aſſiſtent Dr. Lamberto 
Moſchen fand. Der beſagte Schädel be— 
ſitzt außer den beiden gewöhnlichen Hinter— 
haupthöckern eine dritte, hervorſpringende 
Gelenkfläche, die ſich in der Mitte des 
vordern Randes des großen Hinterhaupt— 
loches befindet. Sie hat einen elliptiſchen 
Umriß, deren große, der Randlinie folgende 
Axe 12 Millimeter lang iſt, während die 
kleinere 9 Millimeter beträgt. Andere Fälle 
einer ähnlichen Anomalie wurden von 
Vitali Vitale!) beobachtet, der ihre 
große Wichtigkeit nicht erkannte. In Wahr— 
heit, hier handelt es ſich nicht um einen 
bedeutungsloſen Scherz der Natur, ſondern 
um eine Rückſchlagserſcheinung auf die— 
jenigen älteſten Ahnen des Menſchen, 
welche, gleich den heutigen Vögeln und 
Reptilien, ein dreifaches Hinterhauptgelenk 
beſaßen. Denn der ſogenannte einzige Hin— 
terhauptshöcker dieſer Wirbeltierklaſſen iſt 
in Wahrheit ein dreifacher, indem zu ſeiner 


Bildung drei verſchiedene Hinterhaupts- 


knochen zuſammenwirken.“ 

Solchen höchſt wichtigen Beobachtungen 
begegnet man an verſchiedenen Stellen des 
Buches. Das achte und neunte Kapitel behan— 
delt die natürliche Zuchtwahl und ihre Folge— 
erſcheinungen (Mimiery ꝛc.), das zehnte 
giebt eine ſehr intereſſante Vergleichung von 


) Arch. per l’Antropol. e l’Etnologia. 


Vol. IX, p. 180, Firenze, 1879. 


Litteratur und Kritik. 


Juſtinkt und Verſtand, während das elfte 
die geſchlechtliche Zuchtwahl, das zwölfte 
die Anwendung der Darwinſchen Theorie 
auf den Menſchen, und das dreizehnte einen 
Rückblick nebſt Schlußbetrachtungen ent— 
hält. Das ganze iſt eine wertvolle Berei— 
cherung der Darwiniſtiſchen Literatur ſo— 
wohl in Hinblick auf die geſchickte Dar— 
ſtellung und Gruppirung des geſammten 
Materials, als durch originelle Ideen, von 
denen wir beſonders noch dasjenige her— 
vorheben möchten, was der Verfaſſer als 
„geſellſchaftliche Zuchtwahl“ (Velezione 
civile) bezeichnet. N 


Aurel Andersſohn. Die Theorie 
vom Maſſendruckaus der Ferne in 
ihren Umriſſen dargeſtellt. Bres— 
lau. Verlag von Eduard Trewendt. 
1880. IX u. 71 S. 8 Tafeln. 

In unſerm Berichte über Iſenkrahes 
„Räthſel der Schwerkraft“ thaten wir be— 
reits der intereſſanten Arbeiten des Herrn 
Andersfohn*) in Breslau Erwähnung, 
durch welche an Stelle der Newtonſchen 
Gravitation eine mechaniſche Erklärung 


für die kosmiſchen Anziehungsphänomene 


gewonnen werden ſollte. Einer Reihe klei— 
nerer Publikationen hat jetzt der Verfaſſer 
eine größere ſyſtematiſche Schrift folgen 
laſſen. Die hier vorgetragene Theorie hat 
viel Ahnlichkeit mit jener der ſtrahlenden 
Materie, reſp. des vierten Aggregatzuſtan— 
des, für welche jetzt von Seiten engliſcher 
Phyſiker (Crookes u. ſ. w.) Propaganda 
gemacht wird; die Welträume ſind erfüllt 
von einem imponderablen Fluidum, durch 
welches die Bewegung nach allen Seiten 
fortgeleitet wird; ein Springbrunnen, aus 


deſſen Zentrum durch radiale Ausflußröh— 


Damals irrtümlich „Auerbach“ genannt. 


N — 
N 

1 

4 

4 


Litteratur und Kritik. 


ren nach allen Seiten hin Waſſer geſen— 
det wird, repräſentirt das Attraktionszen— 
trum, und wenn eine leichte Kugel auf dieſe 
Waſſerſtrahlen geworfen wird, ſo ſieht 


405 


men. Allein ſobald wird denn doch noch 


man ſie, wie man nicht erwarten ſollte, 


zentripetal zu der Offnung hin getrieben. 
Dies iſt das Fundamentalinſtrument des 
Verfaſſers, der Grundverſuch, auf welchem 
er ſeine Theorie vom Maſſendruck in erſter 
Linie begründet. 

Zu einer eingehenderen Kritik fühlen 
wir uns heute noch nicht genügend vorbe— 


reitet. Indeß ſeien zwei Punkte ſpeziell her- 
vorgehoben. Solange der eifrige und ge- 


ſchickte Verfaſſer ſich lediglich auf eine re— 
flektirende Erläuterung ſeiner Anſichten 
beſchränkt und es unterläßt, in exakt rech— 
neriſcher Weiſe zu zeigen, daß ſeine Theo— 
rie mit der Newtonſchen in Bezug auf alle 
einzelnen Erſcheinungen zu konkurriren im 
ſtande ſei, ſo lange wird er auf ſorgfältige 
Prüfung und eventuelle Zuſtimmung ſei— 
tens mathematiſch geſchulter Naturforſcher 
kaum rechnen dürfen. Und zweitens iſt 
der ſehr nette, zerlegbare Weltglobus, eine 
mehrfach prämiirte und patentirte Erfin— 
dung Herrn Andersſohns, durchaus keine 
fo ſichere Stütze für feine Hypotheſe; viel- 


mehr kann derſelbe, worin wir keinen Nach— 


teil erblicken, recht wohl auch von einem 
Newtonianer beim Unterricht benützt wer— 
den. Referent iſt, wie die Leſer des Kos— 
mos wiſſen, kein Anhänger der Fernwir— 
kungen um jeden Preis), er hält eine Zu— 
rückführung derſelben auf kinetiſche Vor— 
gänge für möglich und hat auch von die— 
ſem neueſten Verſuch, eine ſolche zu erzie— 


kein Werk geſchrieben werden, welches nicht 
blos bezüglich des darauf verwandten 
Geiſtes, ſondern auch bezüglich des greif— 
baren Erfolges mit Newtons „mathema— 
tiſchen Grundlagen der Naturphiloſophie“ 
ſich meſſen könnte. 

Ansbach. Prof. S. Günther. 


Lorenz Ofen. Eine biographiſche Skizze 
von Alexander Ecker. Mit dem Por— 
trät Okens und einem Fakſimile der 
Nr. 195 des erſten Bandes der Iſis. 
Stuttgart, E. Schweizerbart'ſche Ver— 
lagsbuchhandlung (E. Koch) 1880. 220 
S. in 8. 

Neben der von dem Verfaſſer auf der 
vorjährigen Naturforſcher-Verſammlung 
gehaltenen Gedächtnißrede zu Okens hun— 
dertjähriger Geburtstagsfeier, bringt die— 
ſes Buch eine Anzahl erläuternder Zuſätze 
und eine ganze Reihe von Briefen, die 
teils von ihm geſchrieben, teils an ihn 
gerichtet waren. Namentlich durch dieſe 


Zuſätze und Briefe erhalten wir ein leben— 


len, mit großem Intereſſe Kenntnis genom— 


) Vergl. z. B. die Programmſchrift von 
ziehungskraft iſt auf Bewegung nicht zurück— 


Gilles, einem energiſchen Champion der Lehre 
von der unvermittelten Wirkung durch den Raum, 


diges Bild des berühmten Naturphiloſo— 
phen, der durch Wort und Schrift ſo un— 
gemein vielſeitig und im allgemeinen förder— 
lich auf das wiſſenſchaftliche und politiſche 
Leben unſrer Nation eingewirkt hat. Seine 
Forſchungen ſind nur auf entwicklungs— 
geſchichtlichem Gebiete förderlich geweſen, 
und ſeine philoſophiſchen Anſichten 
waren zum Teil mehr irreführend als nütz— 
lich, aber ſeine agitatoriſche Thätigkeit für 
die Befreiung des Univerſitätslebens, der 
litterariſchen Kritik und andrer öffentlichen 
Angelegenheiten aus höchſt verrotteten Zu— 


welche den Titel führt: „Die Newtonſche An— 


führbar“ (Düſſeldorf, 1880). 


406 


ſtänden, feine Bemühungen für die Ver— 
breitung der Wiſſenſchaft im Volke und 
des perſönlichen Verkehrs der Gelehrten 
untereinander, müſſen dem Manne, der ſo 
richtig empfand und ſo unerſchrocken die 


Wahrheit bekannte, für alle Zeit ein liebe- 


volles Andenken im Herzen der deutſchen 
Nation ſichern. Wir gewinnen dabei einen 
höchſt charakteriſtiſchen Einblick in die Zu— 
ſtände des Univerſitätslebens im Beginne 
des neunzehnten Jahrhunderts, ſo daß wir 
uns bald ſelbſt erklären können, wie ein 
Mann von ſolchem Freimut trotz des 
günſtigen perſönlichen Eindrucks, den ſein 
Auftreten überall hervorrief, überall zum 
Enfant terrible werden mußte. Die That— 
ſachen ſprechen hier ſo für ſich ſelber, daß 
der Herausgeber gar nichts zu den mitge— 
teilten Dokumenten hinzuzuſetzen braucht, 
um unſere Sympathieen für den überall 
Gemaßregelten zu erwecken, wobei Goethe 
in einem weniger günſtigen Lichte erſcheint, 
als der Oken freundlich geſinnte Großher— 
zog von Weimar. Die Unterſuchung we— 
gen der ſehr ſelten gewordenen Beſchrei— 


bung des Wartburgfeſtes in der hier durch 
Lichtdruck reproducirten Iſisnummer iſt 


mit der durch ſie erzeugten Aufregung 
höchſt ergötzlich zu leſen. Unter den Brie— 
fen iſt nächſt der Korreſpondenz zwiſchen 
Oken und Schelling namentlich die— 
jenige zwiſchen Döllinger, Pander, 
d' Alton, Baer und Oken intereſſant. 
Man ſieht, mit welcher Liebe und Achtung 


die Väter der neueren Entwicklungsge- 


Litteratur und Kritik. 


* * * Pr er | 
ſchichte zu ihm aufblickten; man lädt ihn 
von allen Seiten ein, nach München zu 


kommen, um die neuen entwicklungsge— 
ſchichtlichen Entdeckungen zu ſehen, die 
man mit Aufopferung von 3000 Hühner— 
eiern dort gemacht, aber Oken, deſſen 


entwicklungsgeſchichtliches Syſtem längſt 
fertig war, bleibt trotz der wärmſten Ein— 
ladungen zu Hauſe, er glaubt nicht recht 
an den Forſchritt, und nimmt noch 1829 
gegen Baer, der gar nichts mehr davon 
hielt, die Idee von dem Durchlaufen der 
Tierklaſſen durch den Embryo als ſeine 
Idee in Anſpruch (S. 170). Zwanzig Jahre 
vorher hatte Tiedemann an ihn geſchrie— 
ben: „Vor einigen Wochen habe ich die 
Metamorphoſe der Fröſche beobachtet und 
eine Menge dieſer Fröſche zergliedert, wo— 
bei ich auf folgenden Satz geſtoßen bin: 
die Fröſche durchlaufen während ihrer 
Metamorphoſe die Organiſation der Anne— 
liden, der Mollusken, der Fiſche, und erſt 
zuletzt werden ſie Amphibien. Was ſagen 
Sie dazu?“ (S. 129.) So kommt man⸗ 
ches Moment, ſowohl aus der Geſchichte 
der Wiſſenſchaft als aus der Zeitgeſchichte 
hier zur Beſprechung, und auf vieles fal— 
len merkwürdige Streiflichter. Das Buch 
iſt eine wertvolle Abſchlagszahlung auf 
eine eingehendere Biographie Okens, 
denn ſie erweckt den Wunſch, mehr von 
dem Manne zu erfahren, der ſeine Mei— 
nung ſo gerade herausſagte und ſo oft 
den Nagel auf den Kopf traf. 
Der heliocentriſche Standpunkt der 
Weltbetrachtung. Grundlegungen 
zu einer wirklichen Naturphiloſophie von 
Dr. Alfons Bilharz. Stuttgart. 
Verlag der J. G. Cotta'ſchen Buch— 
handlung. 1879. XVI u. 326 S. 
Referent muß bedauern, dieſe Schrift 
nicht verſtanden zu haben. Ob dies an ihr 
oder an ihm ſelbſt liegt, kann er natürlich 
nicht entſcheiden, vermutet jedoch das 
erſtere. Der Verfaſſer operirt gerne mit 
mathematiſchen Formeln; aus der gonio— 


Litteratur und Kritik. 


metriſchen Relation tang 4 — 1 zieht 
er z. B. (S. 103) den Schluß, „daß das 
Geſetz von der Rectangularität der freien 

oder Bewegungskraft darin begründet iſt, 

daß Raum und Zeit die Aprioriformen der 

Erkenntnis ſind“; S. 237 iſt von „dem 
Vorzeichen des moraliſchen Differentiales“ 
die Rede. Derartige Verknüpfungen von 
Begriffen heterogener Disziplinen machen 
ſtets den Eindruck geiſtreicher, aber zweck— 
loſer Spielereien, beſtenfalls willkürlicher 
Spekulationen, und ſo ſehr man im all— 
gemeinen die Erſchließung neuer Wiſſens— 
gebiete für die mathematiſche Deduktion 
wünſchen mag, ſo wird man in ſolchem 
Analogienſpiel doch keinen wirklichen Fort— 
ſchritt erkennen können. Es kann wohl ſein, 
daß das gewandt geſchriebene und ſelbſt— 
bewußt auftretende Buch bei vielen Leſern 
Glück machen wird, denen die exakte Form 


der Darſtellung imponirt; in anderen 


Kreiſen dagegen wird man ſich trotz der 
mathematiſchen Außenſeite — vielleicht 
auch gerade wegen derſelben — ablehnend 
gegen dieſe Erneuerung einer glücklicher— 
weiſe überwundenen Periode naturphilo— 
ſophiſcher Konſtruktion verhalten. 


Ansbach. Prof. S. Günther. 
Eneyklopädie der Naturwiſſen— 
ſchaften. Verlag von Eduard Tre— 


wendt in Breslau. 

Es gereicht uns zur Freude, das rüſtige 
Fortſchreiten eines Werkes zu ſehen, dem 
wir unſere beſten Sympathieen zuwenden. 
Außer der durch mehrere Lieferungen be— 
gonnenen botaniſchen Abteilung liegen be— 
reits zwei vollſtändige Bände vor, näm— 
lich der erſte Band des von Dr. Schlö— 
milch redigirten Handbuchs der Mathe— 


407 


matik, und der erſte Band des von Prof. 
Guſtav Jäger redigirten Handwörter— 
buchs der Zoologie, Anthropologie und 
Ethnologie. Einen vorzüglichen Schatz 
enthält das Werk in den ethnologiſchen 
Artikeln Hellwalds, die ihren Gegen— 


ſtand in der That erſchöpfend behandeln 


und in erſtaunlicher Vollſtändigkeit auf— 
treten. Sehr wertvoll ſind uns außerdem 
in der Schlußlieferung des erſten Bandes 
die Artikel: Boreale Fauna, Brackwaſſer— 


fauna, Brachiopoden u. a. von Prof. E. 


von Martens, ſowie Bothriocephalus 
von Dr. Weinland, Bovina von Dr. A. 
von Mojſiſovies und Brieftaube von 
Prof. Röckel erſchienen; die phyſiologi— 
ſchen Artikel des Herausgebers zeichnen 
ſich, wie immer, durch Originalität der 
Anſchauung aus. Im allgemeinen läßt 
ſich ſchon jetzt ſagen, daß ſämmtliche 
Aufgaben bei dieſer komplizirten Leiſtung 
in guten Händen ruhen und daß jeder 
Mitarbeiter beſtrebt iſt, fein beſtes zu lei— 
ſten. So darf man hoffen, in nicht allzu— 
ferner Zeit ünſere naturhiſtoriſche Lite— 
ratur durch ein höchſt brauchbares Nach— 
ſchlagewerk bereichert zu ſehen. 


Die Sprache des Kindes. Eine An— 
regung zur Erforſchung des Gegenſtan— 
des von Dr. Fritz Schultze, Profeſſor 
der Philoſophie und Pädagogik. Leip— 
zig, Ernſt Günthers Verlag, 1880. 
Seit Charles Darwin ſeine „Bio— 

graphiſche Skizze eines kleinen Kindes“ *) 

und Preyer ſeine „Unterſuchungen 
über die Phyſiologie der Neugeborenen“ 

im dritten Bande unſerer Zeitſchrift mit— 

teilte, iſt die Beobachtung der geiſtigen 

und körperlichen Entwicklung des Kindes, 
) Kosmos I, S. 367. 


je 


welche früher faſt nur von Laien und 
Pädagogen in Angriff genommen worden 
war, als ein ſehr verheißungsvolles For— 
ſchungsfeld von Biologen, Phyſiologen, 
Pſychologen, Sprachforſchern und Beob— 
achtern aller Art anerkannt worden. Die 
höchſt anziehende Studie von Prof. Fritz 
Schultze, die ebenfalls zuerſt im, Kosmos“ 
erſchien, liegt hier in einer durch mannig— 
fache Zuſätze und Anmerkungen bereicher— 
ten Geſtalt vor und braucht unſern Leſern 
wohl nur in dem auf dem Titel ausge— 
drückten Sinne, als „Anregung zu weite— 
ren Forſchungen“, empfohlen zu werden, 
ein Zweck, dem Weiterempfehlung in gebil— 
dete Familien am beſten entſprechen würde. 
Prof. Dr. E. L. Taſchenbergs Prak— 
tiſche Inſektenkunde oder Natur— 
geſchichte aller derjenigen Inſekten, mit 
welchen wir in Deutſchland nach den 
bisherigen Erfahrungen in nähere Be— 
rührung kommen können, nebſt Angabe 
der Bekämpfungsmittel gegen die ſchäd— 
lichen unter ihnen. 5 Teile mit 326 Ab— 
bildungen. Bremen, W. Heinſius, 1880. 
Was wir den erſten beiden Teilen 
dieſes Werkes nachrühmen konnten, gilt 
auch von den drei letzten, welche die 
Schmetterlinge, Zweiflügler, Kaukerfe und 
Schnabelkerfe behandeln; ſie bieten eine 
gediegene Beſchreibung und die beſten 
bisher bekannt gewordenen Mittel zur Be— 
kämpfung derſelben, eine Art von „Höl— 
lenzwang“, um die kleinen Scharen des 
Teufels wirkſam zu bekämpfen, denn die 
ſchädlichen Inſekten ſind bekanntlich ins— 


Litteratur und Kritik. 


gemein Schöpfungen Belzebubs, des Flie— 
gendämons. In dem Titel iſt inſofern 
eine kleine Ungenauigkeit vorhanden, als 
dieſes Buch nicht „alle diejenigen Inſek— 
ten, mit welchen wir in Deutſchland in 
nähere Berührung kommen können“, be— 
ſchreibt — von der Schar unſerer Tag— 
falter ſind beiſpielsweiſe nur ſechs berück— 
ſichtigt —, ſondern nur diejenigen, mit 
denen wir in unliebſame Berührung 
kommen können. Außerſt praktiſch ſind 
offenbar die am Schluſſe ſtehenden „Al— 
phabetiſchen Verzeichniſſe der Geſchädig— 
ten mit Angabe der Schädiger.“ Die Aus— 
ſtattung iſt in jeder Beziehung lobenswert. 


Meyers deutſches Jahrbuch für die 
politiſche Geſchichte und die 
Kulturfortſchritte der Gegen— 
wart (18791880). Leipzig, Verlag 
des Bibliographiſchen Inſtitutes, 1880. 
1003 S. in 8. 

In einem handlichen Bande die Fort— 
ſchritte und Ereigniſſe eines ganzen Jah— 
res auf den Gebieten des Staatenlebens, 
der Litteratur und ſchönen Künſte und der 
Naturwiſſenſchaften zu geben, iſt ein, wie 
es uns ſcheint, ſehr glücklicher Gedanke, 
dem wir unſererſeits um ſo lebhafter zu— 
ſtimmen müſſen, als den Fortſchritten des 
Darwinismus in dieſem Jahrgang ein 
über zwanzig Seiten langer Bericht ein— 
geräumt iſt. Das ganze Buch iſt ſo prak— 
tiſch gedacht und ausgeführt, wie die mei— 
ſten Unternehmungen des bibliographiſchen 
Inſtituts, und verdient nach jeder Richtung 
warme Anerkennung. 


— 


Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig. 


Jur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.“ 


Noch eine Betrachtung über die Erziehung der Zukunft. 


Von 


dem verſuchen, einige An- 
Md 
ben, wie wir uns eine 
künftige Erziehung in den 
Wahrheiten der „einheit— 
lichen Weltanſchauung auf grund der Ent— 
wicklungslehre“ denken, ſo ſcheint es vor 
allem notwendig, zu definiren, was wir 
unter Erziehung verſtehen. Da wir aber 
in dieſer Frage vielfach von der herrſchen— 
den Auffaſſung abweichen, ſo werden wir 
uns klarer darüber werden, wenn wir zu— 
vor an der Hand der bisherigen Doktrinen 
darlegen, was wir nicht darunter ver— 
ſtehen. 
Kant““) verſteht unter Erziehung 


*) Vergl. „Zur Würdigung erſchütterter 
Autoritäten.“ Kosmos, Bd. V, S. 165 ff. 

%) Kant in feinen ſparſamen und zer— 
ſtreuten Bemerkungen über Pädagogik wird, 
nicht minder als alle ſpäteren bekannten Päda- 
gogen, in den entſcheidendſten Punkten von der 
Pſychologie nur allzuoft im ſtiche gelaſſen und 
vielfach in die ſchreiendſten Widerſprüche ver— 
wickelt. Das Geheimnis ihres Mißerfolgs liegt 


3 


Nenn wir es in nachſtehen- 


eutungen darüber zu ges | 


Theodor Vuy. 


„die Wartung, Disziplin und Unterwei— 
ſung nebſt der Bildung“ und ſetzt zu ihrer 
erfolgreichen Wirkung drei Hauptpunkte 
im Charakter des Kindes voraus: 1) Ge— 
horſam, 2) Wahrhaftigkeit, 3) Geſelligkeit 
und Frohſinn: „denn nur das fröhliche 
Herz allein iſt fähig, Wohlgefallen 
an dem Guten zu empfinden.“ 

Ahnlich findet Fichte als Anknü— 
pfungspunkt für jede Erziehung im Men— 
ſchen den „Trieb nach Achtung“, Peſta— 
lozzi die „Liebe“. 

Schon in unſerm früheren Artikel ha— 
ben wir nachgewieſen, wie traurig es mit 
dieſen im ganzen richtigen, wenn auch ein— 
ſeitigen Vorausſetzungen beſtellt iſt und 
wie der Mangel an Wahrheit auf ſeiten 


einzig und allein darin, daß ſie die Wahrheit 
des biogenetiſchen Grundgeſetzes in ſeiner An— 
wendung auf die Erziehungslehre ignorirten, 
d. h. den einzig richtigen Weg bei der Erziehung 
des Kindes, wie ihn die Natur im großen und 
ganzen bei der Entwicklung der Körper- und 
Sinnesorgane vorgezeichnet hat, nicht zu finden 
wußten. Peſtalozzi ahnte ihn, unklar, inſtinkt⸗ 
mäßig, vermochte ihm aber nicht zu folgen. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 


52 


410 


der Autorität nicht nur die drei Kantiſchen 
Vorausſetzungen ſchon bedeutend gelockert 
habe, ſondern auch den nach Fichte im— 
manenten und unausrottbaren „Affekt der 
Achtung“ ernſtlich in Frage zu ſtellen 
drohe. 

Wir haben zur Bekämpfung dieſer 
drohenden Eventualitäten ebendort Stel— 
lung genommen gegen die vielgeprieſenen 
preußiſchen „Beſtimmungen vom 15. Okt. 
1872% die ſowohl eine wahrhaftige Über— 
einſtimmung und Einheitlichkeit der Lehre, 
als auch eine genügende und harmoniſche 
Ausbildung des zu Lehrenden unmöglich 
machen, ja in gewiſſer Beziehung ein 
Rückſchritt gegen die Stiehlſchen Regula— 
tive ſeien, die andrerſeits allerdings jeden 
Fortſchritt in der Erkenntnis ausſchließen. 

Nach der Schablone, die für die „Be— 
ſtimmungen“ gedient hat, ſind mehr oder 
minder auch die übrigen deutſchen Schul— 
geſetze und verordnungen ausgearbeitet. 
Alle ſind bemüht, dem Volke nicht nur für 
den öffentlichen Schul-, ſondern auch 
„Kirchſchuldienſt wohl vorbereitete“ Leh— 
rer zu geben (königl. ſächſ. Geſetz vom 22. 
Aug. 1876) und „gewährleiſten nicht nur 
das Aufſichtsrecht auf die Religions- und 


Sittenlehre“, ſondern auch das ganze „tt 


liche und religiöſe Leben an den Unter— 
richts- und Erziehungsanſtalten“ der kirch— 
lichen Oberbehörde (kgl. bayr. Verordnung 
vom 29. Sept. 1866). 

Blicken wir über die Grenzen unſers 


deutſchen Vaterlandes hinaus, ſo iſt in 


England bis zur Stunde noch gar keine 
leitende und beaufſichtigende Zentralbe— 
hörde für den vielfach in haarſträubender 


Weiſe verkommenen Volksunterricht ge— 
Lehrkörper mit den betreffenden Kirchen— 


ſchaffen. In Frankreich richtet ſich die 


ganze Fürſorge auf die alles überwuchern- 


Theodor Vuy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. 


den bureaukratiſchen Vorſchriften und An— 
ordnungen, und die Verbreitung natur— 
wiſſenſchaftlicher Kenntniſſe bis in die 
höchſten Unterrichtsſtufen beſchränkt ſich 
auf die „notions des sciences physiques 
et d'histoire naturelle, applicables 
aux usages de la vie“ (Programme 
des Examens :2c.), ein Beweis für die 
einſeitige Dreſſur, die man den wiſſens— 
durſtigen Stellenjägern jedes Alters und 
jedes Standes an Stelle einer Erziehung 
dort angedeihen läßt. a 
Entwicklungsfähig in unſerem Sinne 
erſcheint uns höchſtens das öſterreichiſche 
Organiſationsſtatut der Bildungsanitalten. 
für Volksſchullehrer vom 26. Mai 1874, 
das in auffallender Weiſe gegen ſämmtliche 
deutſche Emanationen dieſer Art kontra— 
ſtirt. Schon die miniſterielle Ausführungs— 
verordnung verweiſt als „Ziel und Zweck“ 
der betreffenden Bildungsanſtalten und als 
eine „höchſt wichtige erziehliche Aufgabe“ 
derſelben nur auf § 56, der wörtlich ſo 
lautet: „Die Bildungsanſtalten haben 
den künftigen Beruf ihrer Zöglinge als 


Jugend- und Volksſchullehrer ſtets im Auge 


zu halten. Es gehört zu den weſentlichen 
Aufgaben ſämmtlicher Lehrer, durch Un— 
terricht, Wort und Beiſpiel zu ſittlich-reli— 
giöſer Erziehung der Zöglinge mitzuwirken, 
ſie zur Selbſtändigkeit im Denken und 
Thun, zur Genauigkeit in der Pflicht— 
erfüllung, zu geſetzlichem Sinn, zur An— 
hänglichkeit an den Kaiſer und zur Vater— 
landsliebe zu erziehen.“ Es folgt darauf 
in $ 57, deſſen Inhalt die Einführungs— 
verordnung mit keiner Silbe gedenkt, die 


kühle Beſtimmung: „Bezüglich der reli— 


giöſen Übungen der Zöglinge hat ſich der 


behörden ins Einvernehmen zu ſetzen und, 


et 


f 


im Falle eine Einigung nicht er— 
zielt wird, die Entſcheidung der Landes— 
ſchulbehörde einzuholen.“ () (Das Lehr— 
ziel der Religionslehre [2 St., ſpäter nur 
1 St. w.] wird von den kirchlichen Ober— 
behörden beſtimmt und durch die Landes— 
ſchulbehörde vorgezeichnet.) Allerdings 
liegt, öſterreichiſchen Verhältniſſen ange— 
meſſen, der Hauptnachdruck des ganzen 
Statuts auf einer weniger zur Erziehung 
geeigneten Disziplin, dem Sprachunterricht, 
wie denn die miniſterielle Verordnung feſt— 
ſetzt, daß „aller Unterricht zugleich Sprach— 
unterricht zu fein habe“. Immerhin iſt Um: 
fang und Ziel des naturgeſchichtlichen Unter— 
richts nach bewandten Umſtänden verſtän— 
dig bemeſſen. „In jedem Sommer wird 
derſelbe durch Exkurſionen unterſtützt“, und 
„auf allen Unterrichtsſtufen iſt das Er— 
klären der Erſcheinungen in der Natur, 


namentlich der landwirtſchaftlich wichtig- 


ſten, beſonders zu berückſichtigen“. 

Uns will es ſcheinen, als ob es, wie 
geſagt, möglich ſei, daß dieſes, von einem 
aufgeklärten, guten Willen zeugende Statut 
bei richtiger Handhabung mit der Zeit 
Lehrkräfte hervorbringen könnte, die den 
Weg zu einer rationellen Methode und 
wünſchenswerten Weiterentwicklung in un— 
ſerm Sinne finden müßten. 

Wenden wir uns dagegen zu dem 
Ziele zurück, das unſere deutſchen amt— 
lichen Beſtrebungen erreichen, ſo kann 
daſſelbe nicht anders als himmelweit von 
dem aufgeſteckten verſchieden ſein. Statt 
der erhofften harmoniſchen Ausbildung in 
ſittlicher und geiſtiger Richtung ſehen wir 
eine durch alle „gebildete“ Klaſſen gehende 
Unſicherheit, Unreife und Zerfahrenheit 
der Anſchauungen auf ethiſchem und in— 
tellektuellem Gebiet, ein eitles Haſchen 


Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. 


411 


nach Schlagwörtern, ein Prunken mit 
falſch verſtandenen Prinzipien, die im 
beſten Falle ſo weit von einem wirklich 
objektiven Werte entfernt ſind, wie die 
landläufige Humanitätsduſelei von einer 
richtigen Einſicht in die uns regierenden 
Naturgeſetze. Dieſe Richtung ſpiegelt ſich 
denn auch deutlich in unſerer Tagespreſſe 
und den Revüen, den wahren Fortbildungs— 
ſchulen unſers gebildeten Volkes, wieder. 
Hier löſen ſich die Evangelien des Kirchen— 
fürſten und des Atheiſten, des Militärs 
und des Sozialiſten in der bunteſten, un— 
vermitteltſten Weiſe ab und laſſen den 
aufklärungsſüchtigen Leſer darnach genau. 
ſo urteilsfähig, wie er vorher geweſen iſt. 

Man wäre ſchließlich vielleicht noch 
berechtigt, zu fordern, daß die Schule dem 
Menſchen in ſeinem angebornen, alles 
überwältigenden Streben nach Glückſelig— 
keit in dieſer und „jener“ Welt die nötige 
Grundlage liefere, mittelſt deren ihm jenes 
höchſte Gut einigermaßen erkennbar und 
erreichbar werde. 

Nichts von alledem. Kenntniſſe werden 
gerade ſo wenig und viel verbreitet, um 
dem heranwachſenden Herrn der Schöpfung 
keinen Zweifel über ſeinen Wert und die 
Anſprüche zu laſſen, die er an die Güter 
dieſer Welt zu erheben nicht müde wird, 
und Bedürfnisloſigkeit wird nur noch dort 
gepredigt und geübt, wo man durch den 
Verzicht auf die irdiſche Wurſt die himm— 
liſche Speckſeite zu erlangen hofft. Nir— 
gends ein feſter Halt, nirgends ein Kom— 
paß, nirgends eine Autorität, die die 
glaubensſüchtige Menge nach einem er— 
ſehnten Ziele führte. 

Wenn es uns nun dennoch gelänge, 
eine Autorität zu finden, zu deren Leitung 
wir das Vertrauen haben könnten, daß ſie 


412 


unter einheitlicher, harmoniſcher Ausbil— 
dung aller Kräfte, Anlagen und Fähig— 
keiten des Individuums demſelben den 
Weg zur wohlverſtandenen Glückſeligkeit 


zu ebnen vermöchte, ſo wäre uns damit 


wohl der Begriff nebſt der Wiſſenſchaft 
der Erziehung aufgegangen. 

Wir meinen, dieſe Autorität iſt ge— 
funden. 
Naturganze, an der Hand der Entwick— 


lungslehre, muß uns in den ſtand ſetzen, 


ſowohl über den relativen Wert und Un— 
wert unſrer ſelbſt wie unſrer Umgebung 
in einer Weiſe klar zu werden, die nur 
veredelnd und beglückend auf uns wirken 
kann. 

Die Einſicht in die Naturgeſetze wird 
es uns ermöglichen, den unſern Leiſtungen 
angemeſſenen Teil der materiellen Güter 
einerſeits leichter zu erringen und andrer— 
ſeits die vielbegehrte Richtſchnur nicht im 
materiellen Überfluſſe zu ſuchen, ſondern 
in einer Beſchränkung unſerer Bedürfniſſe 
auf das Notwendige und Erreichbare, unter 
Anſammlung eines abgerundeten Fonds 
von Kenntniſſen, der uns über die bangen 
Zweifel, Hoffnungen und Befürchtungen 
bezüglich „jener“ Welt hinweghilft. 


Wie wir zu dieſer Art Kenntniſſe ge- 


langen? Auf keinem der eingeſchlagenen 
Wege. Ob konfeſſionelle oder Simultan— 
ſchule, ſie befinden ſich beide gleich weit 
von unſerm Ideal entfernt. Die konfeſſio— 
nelle Schule erfüllt — wie die Stiehlſchen 
Regulative — eine Hauptforderung der 
Pädagogik: die Einheitlichkeit der Erzie— 
hung — im beſten Falle. 

Wenn der Lehrer von dem Glauben 
an ſeine alleinſeligmachende Religion er— 
füllt iſt und jede Unterrichtsſtunde um die 
Sätze ſeiner Kirche, wie um ein Ideal, zu 


Theodor Vuy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. 


gruppiren, alles damit in Einklang zu 
ſetzen und zu durchgeiſtigen verſteht, wer— 
den ſeine Kinder einen abgerundeten und 


einheitlichen Schatz mit nach Haufe nehmen 


— um im ſpätern Leben das Ideal zumeiſt 
als ein Trugbild zu erkennen und einen 


um ſo tiefern Fall aus allen Illuſionen 


zu thun; vorausgeſetzt, daß nicht ſchon 


Eine richtige Einſicht in das 


| 


häusliche Lehre und Beiſpiel dieſen „Fall“ 
vor der Zeit herbeiführen. 

Iſt der Lehrer, wie in der Regel, nicht 
der ideale und gläubige Mann, ſo wird 
das Reſultat mit nachſtehendem zuſammen— 
fallen. 

In den Simultanſchulen iſt die un- 
vermittelte Scheidung der religiöſen Unter— 
weiſung und der übrigen Unterrichtsſtun— 


den eine unverſiegbare Quelle der Wider— 
ſprüche, des Mißtrauens, des Unglaubens 


und der Lüge. Die beſcheidenen Kenntniſſe 
in den Realien werden zwar objektiver ge— 
geben werden können als im erſten Falle; 
in ihren Kreiſen aber reifen gerade die 


Früchte, die unſere Zeit kennzeichnen. 


Ehe wir uns nun zum poſitiven Teile 
unſerer Betrachtungen wenden, erübrigt 


uns nur noch, eine Frage ins Auge zu 


faſſen: die nach dem Ziel und dem Um— 
fang der Erziehung. 

Wir können uns auch ferner darin 
nur an das Gegebene halten. 

Der Kampf ums Daſein wird immer 
ſchwerer auf dieſer beſten der Welten. Um 
im Schweiße ſeines Angeſichts ſein täg— 
liches Brot eſſen zu können und daneben 
eine Anzahl bevorzugter Konſumenten zu 
erhalten, deren Aufgabe es iſt, den er— 
worbenen Kulturſchatz zu hüten und zu 
mehren, wird die Maſſe der Produzenten 
immer mehr Stunden des Tages und Tage 
des Jahres zu Körper und Geiſt tötender 


D 


Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. 


413 


Arbeit heranziehen müſſen. Allerdings die Macht, den Willen und die Einſicht 


wird die Auffaſſungsgabe von Generation 
zu Generation wachſen; daß aber die tiefe 
Kluft, die den wahren Gebildeten von der 


Mitteilung und Verbreitung poſitiver 
Kenntniſſe ausgefüllt werden könnte, wird 
niemand zu behaupten wagen. Wir ſind 
jedoch der Anſicht, daß nicht aus Oppor— 
tunitätsgründen hier eine eſoteriſche, dort 
eine qualitativ verſchiedene exoteriſche 
Lehre gelehrt werden dürfe. Die Wahr— 
heit iſt nur eine, und dieſe Wahrheit iſt 
die Weltbeherrſcherin, mögen wir uns an— 
erkennend vor ihr beugen oder Vogel— 
Strauß⸗artig uns vor ihr verbergen. Iſt 
Ricardos ehernes Lohngeſetz nicht ob— 
jektive, herrſchende Wahrheit, wenn auch 
unſere Optimiſten mit Händen und Füßen 
dagegen ankämpfen? Geht die natürliche 
Ausleſe einen andern Gang, je nachdem 
wir ſie bejahen oder verneinen? Was wir 
dem Volke mitteilen, ſei die als rein und 
lauter erkannte Wahrheit. Die Geſittung 
wird dadurch nicht zu Schaden kommen. 

Es handelt ſich jedoch darum, dieſe 
Wahrheit in einer Form mitzuteilen, die 
nicht nur ein gläubiges Hinnehmen der 
Reſultate verlangt, ſondern auch eine Ein— 
ſicht vermittelt in den Gang, der zu dieſen 
Reſultaten geführt hat. 

Wir können nach dem oben Geſagten 
nicht erwarten, daß jemals das Ideal in 
dieſer Richtung allgemeiner wird, nämlich 
die mit allen Unterrichtsmitteln ausgeſtat— 
tete, unabhängige und harmoniſch gebil— 
dete, das Erziehungsgeſchäft mit der er— 
forderlichen Hingebung, Ausdauer und 
Einſicht übernehmende Familie. Wir müſ— 
ſen an die öffentlichen Schulen anknüpfen 
unter Aufſicht einer Zentralbehörde, welche 


hat, darüber zu wachen, daß das Niveau 
der Volksbildung ſich überall möglichſt 


| gleihmäßig auf einer Höhe erhalte, die 
Maſſe des Volkes trennt, jemals durch die 


bei einer geſchickt geleiteten ſechsklaſſigen 
Volksſchule mit einer Anzahl von 24 bis 
30 Unterrichtsſtunden (abgeſehen vom 
Turnen) zu erreichen iſt. 

Dem Schüler werden auf der unter— 
ſten Stufe die Sinne geweckt, er wird auf— 
merken, ſprechen und leſen gelehrt, 
wobei man ſich jedoch nur des durch reich— 
liche Anſchauung unterſtützten mündlichen 
Unterrichts bediene; ebenſo werden die 
Elemente des Rechnens experimentell, 
unter Zuhilfenahme der Rechenmaſchine, 
beigebracht. Es iſt nicht zu überſehen, daß 
hier, wie beim geſammten folgenden Unter— 


richt, demſelben die anziehendſte, leben— 


digſte Form gegeben werde, um dem Kinde 


die ungewohnte Thätigkeit des Denkens 


und Aufmerkens von vornherein zu einer 
angenehmen zu machen. Aus demſelben 
Grunde ſind raſchere Abwechslung des 
Unterrichts, zahlreiche kurze und erholende 
Unterbrechungen deſſelben erforderlich. 
Jede Ermüdung iſt zu vermeiden; Mit— 
teilung von Regeln, Auswendiglernen 
ſtreng auszuſchließen; ſchon hier iſt dem 
Verlangen nach Glückſeligkeit die beſtimmte 
Richtung und Genugthuung zu geben. 
Im Anſchluß daran wollen wir gleich 
hier bemerken, daß die Grammatik aus 
der Volksſchule überhaupt fernbleiben 
ſollte. Eine achtſame Behandlung der Un— 
terrichtsſprache ſeitens des Lehrers, ſowie 
die mündliche und ſchriftliche Ausdrucks— 
weiſe ſeitens des Schülers, zuſammenge— 
halten mit einer mäßigen, bis in die höchſte 
Stufe praktiſch und umſichtig geleiteten 
Lektüre proſaiſcher und poetiſcher Muſter— 


ae er 


414 


ſtücke dürfte hinreichen, den in dieſer Rich- 
tung geſtellten Anforderungen des ſpätern 
Lebens zu genügen. 

Den ſich an die „vier Spezies“ ſpäter 
anreihenden Unterricht in der Mathe— 
matik wünſchten wir nur wenig über das 
Ziel der heutigen Mittelſchule erweitert, 
ſo zwar, daß der Schüler in den ſpäteren, 
feine Lehrzeit begleitenden Fortbildungs- 
ſchulen im ſtande iſt, den ſeinem Beruf zu— 
grunde liegenden Zweig der Mechanik und 
Technik, von deſſen Kenntnis ein ſo großer 
Teil ſeiner künftigen Wohlfahrt abhängt, 
ſich völlig zu eigen zu machen. 

Bezüglich der Methode iſt jedoch der 
Unterricht in der Arithmetik und Raum— 
lehre, wie ſchon bemerkt, weit anregender 
und fruchtbarer zu machen, als es gewöhn— 


lich geſchieht, und zwar durch Kultivirung 


des gern geübten Zeichnens, umfaſſendere 
Anwendung konkreter Maße, geradliniger 
(ſtereometriſcher) Körper u. dgl. Es ge— 
nügt nicht, daß man den alten Satz „Vom 
Einfachen zum Zuſammengeſetzten“ oder 
„Vom Konkreten zum Abſtrakten“ beachte; 
der Lehrer wiſſe von den Lehrbüchern ab— 
zuſehen, die Schüler ſelbſt ſich mutig durch 
die Schwierigkeiten durchkämpfen zu laſſen 
und ſie auf eigne Entdeckungen zu leiten. 

Nachdem auf der erſten Stufe neben 
der Pflege des Körpers (Turnen und Ge— 
ſang), wie angedeutet, die oben berührten 
Lehrſtoffe in ihren erſten Elementen in 
Angriff genommen ſind, wage man ſchon 
auf der zweiten Stufe daneben auf die 
Realien überzugehen. 

Wir ſind dafür, allem bisherigen ent— 
gegen, mit der phyſikaliſchen Geo— 
graphie (im weiteſten Sinne) zu begin— 
nen. Die Fenſterſcheiben, eine Glasſchüſſel 
mit Waſſer, einige Geſteinsarten und ein 


Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. 


Globus geſtatten bei geſchickter Hand— 
habung den Schüler über die Bodengeſtal— 


tung, die atmoſphäriſchen Erſcheinungen, 


die auffallendſten Naturerſcheinungen, die 
ganze Erd- und Weltbildung nach und 
nach eine Überſicht gewinnen zu laſſen, 
wie ſie bisher auf niederen und mittleren 
Schulen, ja überhaupt noch gar nicht er— 
reicht iſt. In dieſes Unterrichtsfach gerade 
möchten wir den Schwerpunkt der ganzen 
Erziehung verlegt wiſſen; alle anderen 
Disziplinen ſollten von ihm ausſtrahlen, 
alle andern immer wieder auf ſeine Lehren 
zurückführen. Mehr aber als irgendwo gilt 
es hier, die jungen Hörer zu Mithandeln— 
den zu machen, ſie mit ſich und ſich mit 
ihnen von Fortſchritt zu Fortſchritt, von 
Entdeckung zu Entdeckung zu führen. Der 
Lehrer hüte ſich aber, zu früh mit Be— 
griffen zu operiren. Man laſſe eine Er— 
ſcheinung nach der andern, eine Wahrheit 
nach der andern vor den Augen der Schü— 
ler entſtehen und faſſe erſt dann vorſichtig 
die Erfahrungen in eine Verallgemeinerung 
zuſammen. 

Wenn auf der zweiten Stufe etwa ein 
Viertel der Unterrichtsſtunden dieſem Lehr— 
fach gewidmet wird, ſollte er auf den 
höheren Stufen bis zur Hälfte der Unter— 
richtsſtunden beanſpruchen dürfen. Es iſt 
nicht erforderlich, daß die poſitiven Kennt— 
niſſe in quantitativer Hinſicht mit jeder 
Stufe eine weſentliche Erweiterung er— 
fahren. Wenn irgendwo, iſt hier das 
Herbartſche Wort, der Unterricht ſolle 
„zeigen, verknüpfen, lehren, philoſophi— 
ren“, mit dem richtigen Verſtändnis auf 
den oberen Stufen wahr zu machen. 

Wer wird als der erſte dem verſtän— 
digen Lehrer einen Leitfaden hierzu in die 
Hand drücken? 


Be 


Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.“ 


Von der Chemie raten wir gänzlich ab; 
ſie paßt höchſtens in Real- und Gewerbe— 
ſchulen. Das Wiſſenswerteſte über die 
Exiſtenz der hauptſächlichſten Elemente 
wird ſchon in dem Lehrſtoff des obigen 
Faches ſeine Stelle finden können. Die 
zu jedem weitern Schritt nötigen Verſuche 
erfordern eine ſolche ernſte Konzentration 
des Intereſſes und eine Reife des Urteils, 
wie ſie nur ſelten ſogar in den höheren 
Klaſſen des Gymnaſiums angetroffen wird. 
Wir möchten deshalb dieſe Disziplin, ebenſo 
wie ein tieferes Eingehen in die Phyſik 
und Geologie, überhaupt auf die höhe— 
ren techniſchen Unterrichtsanſtalten be— 
ſchränkt wiſſen, die mehr der Verbreitung 
notwendiger und nützlicher Spezialkennt— 
niſſe der betreffenden Berufsarten dienen 
jollen.*) 

Sit durch jene Unterweiſung ein eini- 
germaßen feſter Boden/gewonnen, fo kann 
auf der folgenden Stufe im Sommer zur 
Botanik, im Winter zur Zoologie 
übergegangen werden. Dabei iſt aber nicht 
ernſtlich genug vor einem Überwuchern der 
Syſtematik und dem Auswendiglernen zu 
warnen. Ein Herausgreifen und Verglei— 
chen allgemein bekannter, die Hauptklaſſen 
vertretender Typen in concreto wird da— 
gegen Lehrer wie Schüler gemeinſam in 
der anregendſten Weiſe zu Ahnlichkeiten 
und Unterſcheidungen in der Entwicklung 
der verſchiedenen Organe führen und ſie 
unvermerkt zur Feſtſtellung der notwendi— 
gen ſyſtematiſchen Anhalte veranlaſſen. 
Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß dieſer 


*) Anm. d. Red. Hierin können wir dem 
Herrn Verfaſſer nicht beiſtimmen. Die Grund— 
lehren der Chemie und Phyſik find für das täg— 
liche Leben eines jeden beinahe ebenſo unent— 


behrlich wie die Mathematik, und erfordern zu 


415 


Lehrgang durch regelmäßige, womöglich 


allwöchentliche Exkurſionen unterſtützt wer— 


den muß. Wenn der Lehrer hier die ganze 


Klaſſe beim Sammeln und Vergleichen zu 
beteiligen verſteht, konſequent darauf hält, 
daß kein Organismus (Pflanze oder Tier) 
aus ſeinen Lebensbedingungen geriſſen 
und getötet werde, es ſei denn im Inter— 
eſſe der Wiſſenſchaft oder im ehrlichen 
Kampfe für Leben und Wohlfahrt, dann 
wird ſich bald eine warme Teilnahme und 
Liebe für die organiſche Natur entwickeln, 
die ſich nicht nur in unklaren ſympathiſchen 
Gefühlen für Waldesluft und Vogelſang 
zeigen, ſondern auch in der Sorgfalt und 
Schonung für Blatt und Blume, für 
Wurm, Spinne, Käfer, Froſch, Nachtigall 
bethätigen wird. Der ſpäter ſo ſtark auf 
uns eindringende Kampf ums Daſein in 
Verbindung mit dem Auftreten äſthetiſcher 
Bedürfniſſe wird uns vor ſentimentalen 
oder buddhiſtiſchen Übertreibungen ſchützen. 

Auf dieſe Weiſe muß es gelingen, 
ſchon auf den mittleren Stufen einen ge— 
wiſſen Einblick in den Zuſammenhang des 
Naturganzen, ſowie eine annähernd ſichere 
Erklärung der alltäglichen Naturerſchei— 
nungen zu gewinnen. Auf den beiden 
obern Stufen ſind die gewonnenen Kennt— 
niſſe noch weiter zu befeſtigen und zu ver— 
tiefen, ohne im einzelnen viel weiter dar— 
über hinauszugehen, als es die künftigen 
Bedürfniſſe bei Garten-, Feld- und Wald- 
kultur erfordern. 

Indeſſen iſt es natürlich unbedingt 
notwendig, daß der Menſch von ſeiner 


ihrer Aufnahme viel weniger Anſtrengung des 
Geiſtes als dieſe, die doch niemand entbehren 
wollen wird. Viel eher würde unſers Erachtens 
für die Volksſchule die Zoologie und Botanik zu 
entbehren ſein. 


416 


bisherigen Ausnahmeſtellung mit in die 
Reihe der objektiv zu betrachtenden Orga- 


nismen gezogen wird. Mit Hilfe mikro— 


ſkopiſcher Zeichnungen iſt die mannigfache 


Differenzirung der in der Anlage überein— 
ſtimmenden Organe klarzulegen. Feſt und 
verſtändig iſt auf der oberſten Stufe der 
Schleier vor den Geheimniſſen der Ent— 
ſtehung und Entwicklung des menſchlichen 
Weſens zu lüften und die notwendigen 
Winke für das künftig ihm obliegende, 
ſeither ſo arg vernachläſſigte Erziehungs— 
geſchäft anzuknüpfen. Es ſpricht alles da— 
für, daß bei einer ſolchen Unterweiſung 
die bisher anerzogene faule Überhebung 
einer wohlbegründeten Beſcheidenheit und 
Strebſamkeit weichen wird, und die „My— 
ſterien“ der Geſchlechtsunterſchiede, die 
gerade die geweckteſten Jünglinge infolge 
der Mangelhaftigkeit und Verkehrtheit der 
Erziehung ſo oft in die drohendſten Sümpfe 
locken, werden zum großen Teil ihre ge— 
fährlichſten Lockungen verlieren. Das auf 
ſolche Weiſe gewonnene Reſultat wird ſich 
aber in der Zukunft dauernder, lebendiger 
und entwicklungsfähiger erweiſen, als das 
bisher beliebte, durch Jahre geübte Ein— 
pauken unverſtandener Unterſcheidungs— 
merkmale. 

Aber auch dem nach unſerer Anſicht 
erſt ſpäter anzuhebenden Unterricht in der 
politiſchen Geographie und in der 
Geſchichte möchten wir eine durchgehende 
Reform wünſchen. 

Hat der Schüler, nach früheren An— 
deutungen, eine anſchauliche, klare und 
zuſammenhängende Kenntnis von der Bo— 
dengeſtaltung und den phyſikaliſchen Ver— 
hältniſſen ſeines Erdteils erlangt und ſei— 
nen Vorrat an Erfahrungen und Begriffen 
erweitert, ſo möge ihm, etwa mit der dritten 


Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. 


Stufe, die für nötig gehaltene politiſche 
Einteilung deſſelben beigebracht werden. 
Am beten geſchieht dies aber unſeres Erach— 
tens in enger Verbindung mit der Geſchichte. 
Letztere iſt ſeither lediglich Kriegs— 
und Fürſtengeſchichte geweſen. Volks- und 
Kulturgeſchichte, aus der unſere heutigen 
Zuſtände herausgewachſen und durch de— 
ren Kenntnis allein ſie verſtändlich ſind, 
iſt nahezu gänzlich unberückſichtigt geblie— 
ben. Was Wunder, daß uns überall die 
unbegreiflichſten Widerſprüche entgegen— 
treten und dem Schüler Urteile zugemutet 
werden, die unſern heutigen Begriffen von 2 
Recht und Moral geradezu ins Geſicht | 
ſchlagen? So pflegt man ſich gemeiniglich 3 
darauf zu beſchränken, den Urſprung der 5 
europäiſchen Kultur in einer Anzahl mit? 
geteilter Biographien nachzuweiſen, deren ö 
Helden, bei heutigem Licht beſehen, nicht 
viel mehr als eitle Klopffechter waren, 
im beſten Falle heißblütige, ehrgeizige 
Kirchturmpolitiker, die nebenbei, ſo oft 
ihren Erfolgen ein Damm entgegengeſetzt 
wurde, ſofort bei der hand waren, den 
großen Nachbar und Erbfeind zu Hilfe zu 
rufen. Unvermittelt, wie unſere Schulen 
dieſe griechiſchen Größen bisher kennen 
lernten, iſt es ganz unbegreiflich, daß man 
ihnen jene Prototypen des Partikularis— 
mus heutzutage noch zur Nacheiferung 
empfehlen kann! Auch die ſogenannte * 
griechiſche Kunſt erſcheint ihnen wie vom N 
Himmel geſchneit. Der Athener Perikles 
und ſein künſtleriſcher und kriegeriſcher 
Generalſtab taucht inſelgleich aus dem 
dunklen Meere und gilt dabei mit ſei— 
nen verfeinerten Bedürfniſſen für ein blo— 
ßes Beiſpiel der geſammten Bevölkerung 
Griechenlands. Es fällt niemandem ein, 
danach zu fragen, wo die Mittel zu 4 


4 


— 


dem luxuriöſen Leben dieſer Auserwählten 
herkamen und wie ſie beſchafft wurden. 
Eine eingehendere Kenntnis der ſtaatlichen, 
wirtſchaftlichen und Familienverhältniſſe 

auf der griechiſchen Halbinſel, der Zuſam— 
menhang der griechiſchen Kultur mit den 
älteren Kulturen Aſiens und Egyptens 
wird vollſtändig mit Stillſchweigen über— 
gangen. Unſerer modernen Entwicklung 
entgegen kommt ſogar das ſtaatenbildende, 
in der Amalgamirung fremder Elemente 
ſo überaus geſchickte, durch und durch vom 
ſtolzeſten Nationalgefühl getragene Römer— 
volk zu kurz. 

Faſt bei keinem Unterrichtszweig, ſoll— 
ten wir meinen, tritt die antiquirte, gänz— 
lich untaugliche und verwirrende Methode 
ſo zutage, wie beim Geſchichtsunterricht. 

Wie ſchön ließe ſich an die noch ſicht— 
baren Spuren unſerer altariſchen Geſit— 
tung anknüpfen, die uns nach Aſien ver— 
weiſt, wo wir — die Chineſen beiſeite 
laſſend —vom Ganges aus ihre mehr oder 
weniger ausführlich und lebendig ſprechen— 
den Züge über Babyloner, Aſſyrer, Phö— 
niker verfolgen können, bis wir ſie, auf 
dieſer Reiſe reichlich mit ſemitiſchen und 
egyptiſchen Elementen untermiſcht, endlich 
auch in Griechenland Wurzel faſſen ſehen, 
wo ſie, dank dem Zuſammentreffen günſti— 
ger Verhältniſſe, eine ſo raſche und frucht— 
bare Entwicklung fand. Wenn daneben 
die beſtimmenden Einflüſſe des Klimas, 
der Raſſenanlagen, der Volksſchichtung, 
des Sklavenweſens u. ſ. w. nicht überſehen 
werden, ſo werden wir auch die angedeu— 
teten Kehrſeiten in der Entwicklung des 
griechiſchen Volkes nicht länger zu ver— 
ſchweigen brauchen und den verhältnis— 
mäßig raſchen Niedergang uns erklären 
können. 


Theodor Vuy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. 


SU, 


Ihr Staatenkomplex, feine Bewohner 
und Lenker werden uns greifbarer, allge— 
mein menſchlicher, aber auch verſtändlicher 
erſcheinen, wenn wir erkennen, daß jede 
dieſer „Größen“ ein Kind ſeiner Zeit und 
dieſe Zeit das Produkt einer natürlichen 
Entwicklung war. 

Wie ſodann die Kultur zu den Römern 
überging und von dieſen darauf, verwebt 
mit dem roten Faden des Chriſtentums, 
zu den übrigen Abendländern, davon ge— 
ben die eingeführten Lehrbücher, trotz ihrer 
haarſträubenden Einſeitigkeit, ſchon genü— 
genden Aufſchluß. 

Wenn die Schule auf dieſe Weiſe ge— 
lernt hat, die relativen Vorzüge und Nach— 
teile eines jeden Kulturzuſtandes und eines 
jeden Staatsweſens als das notwendige 
Produkt des „Volkswillens“, ſeiner Raſſe— 
anlagen, der klimatiſchen Verhältniſſe des 
Landes anzuſehen, wird ein weſentlicher 
Grund zu politiſcher und ſozialer Unzu— 
friedenheit, die in dieſer wie in jeder an— 
dern Art perverſer Kundgebung größten— 
teils auf Unwiſſenheit beruht, beſeitigt ſein. 

So gewiß, wie auf die Dauer das 
herrſchende Prinzip ſich nur halten kann, 
wenn es das Durchſchnittsmaß der Volks— 
bildung und des Volkswillens repräſentirt, 
ſo gewiß iſt eine Steigerung zu Beſſerem 
an leitender Stelle nur durch allmähliche 
Hebung und Steigerung der Volksbildung 
und des Volkswillens herbeizuführen. 

Wir halten es völlig an der Zeit, 
wenn, erſt hier angelangt, dem engeren 
Vaterland und der herrſchenden Dynaſtie 
ein breiterer Raum gegönnt wird. Der 
Schüler wird darnach verſtehen, warum 
die erſten Anfänge im Aufſteigen der letz— 
teren auf dem wirklichen und gegründeten 
Recht des Stärkeren beruhen mußte, und 


Kosmos, Jahrg. IV. Heft 6. 


on 
= 


418 


wie die lange, bis in die Neuzeit reichende 
rückſichtsloſe Geltendmachung deſſelben — 
gewollt oder ungewollt — zur Erfüllung 
des Geſetzes vom Überleben des Paſſen— 
deren führte. 

Es bleibt uns nicht mehr viel zu un— 
ſerer gewünſchten Reform zu ſagen. 

Die Pflege fremder Sprachen hal— 
ten wir für die Volksſchule durchaus ent— 
behrlich. Sie bildet mit ihren Anforde— 


rungen an geiſttötendes Auswendiglernen 


einen Ballaſt, der in den meiſten Fällen 
weggeworfen wird, ſobald das Kind die 


Schule verläßt. Die Stunden der Volks- 
erziehung ſind aber zu knapp bemeſſen, 
als daß wir nicht wünſchen ſollten, ſie 
mit rein erziehlichem Stoff ausgefüllt zu 


ſehen. 


Geſang und Turnen könnten gleich— 


Theodor Vuy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. 


Wort, „die Religion an und für ſich ent— 
halte keinen Antrieb zu wirken“, täglich 
ſeine Beſtätigung findet. Die Moral da— 
gegen beſteht doch jedenfalls darin, ſich 
und andern das Leben ſo vollkommen wie 
möglich zu geſtalten. Es kann dies aber 


nur in möglichſt vollkommener Anpaſſung 


an den geſellſchaftlichen Organismus, dem 
wir angehören, geſchehen. Je beſſer wir 
deſſen Vertrauen in unſere Zuverläſſigkeit 
und Leiſtungsfähigkeit zu entſprechen wiſ— 
ſen, ein um ſo tauglicheres und vollkomm— 
neres Glied werden wir ſein, um ſo mehr 
Glück werden wir auf uns und unſre Um— 
gebung ziehen. 

Wenn der Lehrer daher die Liebe zur 
Wahrheit und Wiſſenſchaft in den Herzen 


| ſeiner Pflegebefohlenen anzufachen weiß; 
wenn jede Unterrichtsſtunde auch eine 


falls noch vernunftgemäßer betrieben wer- 
den. In betreff des erſteren können wir 
nicht dringend genug vor dem ſonderbaren 
Ehrgeiz warnen, über das vorhandene 


Verſtändnis gehende Kompoſitionen zum 


Vortrag bringen zu wollen, ſtatt bei der 


dankbaren Pflege und geſchmackvollen Ein- 


übung unſerer einfachen melodiöſen Volks— 


lieder zu beharren. Das Turnen muß weit 


fleißiger betrieben, alle Kräfte, auch die 
geiſtigen, dabei gleichmäßiger in Anſpruch 
genommen und geübt werden.“) 

Wo bleibt aber die, wenn ſchon nicht 
religiöſe, ſo doch moraliſche Ausbildung? 
höre ich von allen Seiten fragen. 

Ich bemerke darauf, daß Fichtes 


*) Wir möchten hierbei beſonders auf die 
trefflichen Bemerkungen über dieſen Gegenſtand 
in dem Buche des Prof. Dr. G. Jäger, 
„Die menſchliche Arbeitskraft“. München, 1878, 
S. 425 u. ff. verweiſen. 


Stunde der Erziehung zu jener Vollkom— 
menheit iſt; wenn der Lehrer es verſteht, 
durch die Art ſeiner Unterweiſung die 
Neigungen und Begehrungen der Jugend 
fort und fort an ſeine Darſtellungen zu 
feſſeln; wenn er ſeine Zöglinge von Fort— 
ſchritt zu Fortſchritt, von Entdeckung zu 
Entdeckung führt; kurz, wenn er ſich durch 
eine möglichſt einheitliche, konſequente und 
erfolgreiche Handhabung des Unterrichts 
die Liebe und Achtung ſeiner Schüler zu 
ſichern, ſie durch ſeine Erziehung in einen 
Zuſtand der Glückſeligkeit zu verſetzen 
weiß, dann wird ſeine Perſon und ſein 
Wort eine Autorität, einen Zauber und 
einen Wetteifer, ihm zu gefallen und ihm 
nachzuahmen, ausüben, deſſen Wirkung 
keine Art des religiöſen Unterrichts, möge 
ſie nun in Geboten, Heiligengeſchichten 
oder Biographien berühmter Männer be— 


ſtehen, zu erreichen vermag. 


Skizzen aus der Eutwicklungsgeſchichte der Entwick- 
lungsgeſchichte. 


Von 


ie Extravaganzen der natur— 
plhiloſophiſchen Schule in 
% Oken, Schelling und ihren 
Nachfolgern hatten, wie auf 
ſyſtematiſchem Gebiete, ſo 


ſpekulation erzeugt, daß das Wort Natur— 


wurde. Zufrieden, weder die Entwicklung 


auch auf dem ſpeziellen der | 
Entwicklungsgeſchichte eine ſolche Abnei-⸗ 
gung gegen alle wiſſenſchaftliche Über- 
tigte, daß man jene als embryonale 
philoſoph zum Schimpfwort geworden 
war und auch das Gute, was dieſe Rich- 
tung angeregt hatte, lange völlig verkannt | 


des Lebens der Welt noch die des Einzeln- 
ja in einem Plane das frühere im Hin— 


weſens erklären zu können, legte man das 
gequälte Haupt nochmals im Schoße des 
Moſes zur Ruhe und nahm an, daß alle 


Ernſt Krauſe. 


III. 


Tieren, namentlich durch die Arbeiten von 
Karl Vogt und Agaſſiz, ſolche kennen, 
die eine neue Entwicklungsreihe eröffnen, 
und nannte ſie bibelfeſt prophetiſche 
Typen, während man der Thatſache, daß 
die allgemeinen Charaktere der älteſten 
Fiſche in den Embryonen der heute leben— 
den wiederkehren, einfach dadurch abfer— 


Formen bezeichnete und gar von ſyn— 
thetiſchen ſprach, welche die Organiſa— 
tionen ſpäter getrennter Formen vereinigt 
haben ſollten, ſomit ein für allemal das 
frühere nach dem ſpäteren benennend, weil 


blick auf das ſpätere angelegt wird. Ein 


verſchämtes Hindurchwirken der natur— 


verführeriſchen Ahnlichkeiten und Über- 
Zieh aller Entwicklung auch ihre Ur— 


gangsformen ſowohl zwiſchen den embryo— 


nalen und ausgebildeten, als zwiſchen 
Braun, Agaſſiz u. a. geäußerten Ideen 


ihnen und den ausgeſtorbenen, durch die 
Paläontologie bekannt gewordenen Weſen 
im „Schöpfungsplan“ begründet ſeien. 
Man lernte unter den ausgeſtorbenen 


philoſophiſchen Idee, daß der Menſch als 
ſache ſei, blieb in dieſen von Link, 


überall erkennbar, während die Kraft- und 


Staoffſchule durch die Kühnheit ihres Rück— 


| 


gangs auf Lamarck und die Eneyklopä— 


420 


dienſt und wegen ihrer Unfähigkeit, den 
natürlichen Entwicklungsweg plauſibel zu 
machen, die beſonneneren Forſcher nur 
noch mehr zurückſtieß. 

Auf dieſe Weiſe mußte das nicht un— 
vorbereitet und doch plötzlich auftauchende 
Licht der Darwinſchen Theorie im erſten 
Augenblick mehr blenden als erleuchten, 
und nur allmählich und nicht ohne Schmer— 
zensrufe gewöhnten ſich die Naturforſcher 
an dieſes neue Licht und begannen die Dinge 
der Welt bei demſelben von neuem zu be— 
trachten. Gerade in der Entwicklungsge— 
ſchichte war nun aber die Oken-Geoffroy— 
ſche Entwicklungs-Idee, die als ſolche mit 
der Darwinſchen ihre Vergleichspunkte 
darbot, am gründlichſten durch Baer und 
ſeine Schüler widerlegt worden. Johan— 
nes Müller in Berlin, der ganz in Baers 
Fußtapfen getreten war, fand an der na— 
turphiloſophiſchen Lehre nur noch ſoviel 
wahr, daß jeder Embryo anfangs nur den 
Typus ſeiner Abteilung an ſich trage, wo— 
raus ſich erſt ſpäter der Typus der Klaſſe, 
Ordnung, Familie, Gattung und Art her— 
vorbilde. Baer hatte als Schlußergebnis 
aller ſeiner Studien prägnanter den Satz 
hingeſtellt: „Die Entwicklungsge— 
ſchichte des Individuums iſt die Ge— 
ſchichte der wachſenden Individua— 
lität in jeglicher Beziehung“, der 
ſich, weil ſtreng richtig, nur dadurch mit 
dem andern Satze vereinigen läßt, daß eben 
die Geſchichte des Individuums auf den 
früheren Stufen völlig zuſammenfällt 
mit derjenigen ſeiner Art, Gattung, Familie, 
Ordnung und Klaſſe. Weniger allgemein 
richtig ſind einige andere Sätze Johan— 
nes Müllers. Er glaubte, daß die Rei— 
henfolge der Entwicklung durch die Wich— 
tigkeit der betreffenden Organe geregelt 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


werde, indem die wichtigſten ſtets zuerſt 
gebildet würden, eine Meinung, die für die 
teleologiſche Richtung der geſammten äl— 
teren Naturauffaſſung charakteriſtiſch iſt. 
Darwins Lehre, „daß alle die zahl— 
loſen Arten, Gattungen und Familien or— 
ganiſcher Weſen, von denen die Welt be— 
völkert wird, jede in ihrer beſondern Klaſſe 
oder Gruppe, von gemeinſamen Eltern ab— 
ſtammen“, wurde zuerſt von Huxley in 
England, Oskar Schmidt in Deutſch— 
land und Fritz Müller in Braſilien auf 
das Studium der Entwicklungsgeſchichte 
angewendet. Mit glücklichem Griffe nahm 
der letztere, ein Schüler Johannes Mül— 
lers, die Entwicklungsgeſchichte der for— 
menreichen Gruppe der Krebstiere in An— 
griff, um daran die Wahrheit oder Falſch— 
heit der neuen Lehre zu erproben. Ent— 
hielt ſie die Wahrheit, ſo mußten ſich 
dieſe Tiere bei all ihrer großen Man— 
nigfaltigkeit auch durch die Entwicklungs— 
geſchichte als Glieder einer großen Fa— 
milie erweiſen. Nun war ihm aufge— 
fallen, daß jene Baer- und Müllerſchen 


Geſetze, daß Tiere ſich um ſo ähnlicher 
würden, je weiter man in ihrer Entwick— 
lungsgeſchichte zurückgeht, und daß ſich die 
wichtigſten Organe immer zuerſt anlegen 
ſollten, gerade bei den Krebstieren keines— 
wegs immer zutreffen. Viele der nieder— 
ſten Krebſe erheben ſich in ihrer geſamm— 
ten Organiſation nicht viel über ihre ſechs— 
füßige Larvenform mit werkzeugloſem 
Munde und einfachem Rückenauge, dem 
von dem däniſchen Naturforſcher Fried— 
rich Müller ſogenannten Nauplius. Mit 
einer im allgemeinen ähnlichen Nauplius— 
form beginnen auch die Rankenfüßler und 
Schmarotzerkrebſe ihre Entwicklung als 


freilebige Larve, worauf ſie ſich ſpäter auf 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


ſchwimmenden Hölzern, Klippen oder leben— 
den Tieren feſtſetzen und in einer rückläu— 
figen Metamorphoſe nicht nur alle Krebs— 
ähnlichkeit verlieren, ſondern ſchließlich ſo— 
gar alle Tierähnlichkeit, ſo daß die einen als 
Weichtiere (Entenmuſcheln), die anderen 


überhaupt nicht mehr als Tiere angeſehen 


wurden, bevor man ihre Entwicklungsge— 
ſchichte kannte. Sprach die gemeinſame Ent— 


wicklung jo grundverſchiedener Endformen | 


aus einer den niederſten Krebstieren nahe— 
ſtehenden Anfangsform nun allerdings ſehr 
für Darwin, jo ſtritt das Fehlen der ge— 
dachten jüngſten Larvenform (des Nau— 
plius)in der Entwicklung unſerer Flußkrebſe, 
Krabben und anderer höheren Krebstiere, 
ebenſo ſehr gegen Darwin als gegen Baer, 
nach deſſen Anſicht ja alle Tiere desſelben 
Typus um ſo ähnlicher ſein ſollten, je wei— 
ter man in ihrer Entwicklung zurückgeht. 
Im Jahre 1862 entdeckte Fritz Müller 
jedoch auch bei Garneelen, alſo einer hö— 
heren Kruſterform, die Nauplius-Larve*), 
ſo daß die Annahme, alle, auch die höch— 
ſten Kruſter, ſeien aus einer und derſel— 
ben, dem Nauplius ähnlichen Grundform 
hervorgegangen, keine Schwierigkeiten mehr 
bot, da man nun wohl annehmen mußte, 
diejenigen der Garneele verwandten hö— 
hern Kruſter, welche die Naupliusform 
in ihrer perſönlichen Entwicklung nicht zei— 
gen und nahezu fertig aus dem Ei aus— 
kriechen, ſeien einer Abkürzung des Entwick— 
lungsprozeſſes unterlegen. Indem Fritz 
Müller die Entwicklung jener Seegar— 
neele weiter verfolgte, ſah er ſie nach der 
Naupliusform durch eine Reihe anderer 
Formen hindurchgehen, die man früher, wie 
den Nauplius, wegen ihrer Ahnlichkeit mit 
) Tro chels Archiv für Naturgeſchichte 
1863. J S8. 


421 


völlig ausgebildeten mittleren Krebsformen 
als beſondere Tiere betrachtet und Zo&a, 
Mysis u. ſ. w. genannt hatte. Er legte 


dieſe Studien in dem zwar nicht für wei— 


tere Kreiſe berechneten, aber in zoologi— 
ſchen Kreiſen zur fruchtbarſten Wirkung 
gelangten kleinen Buche: Für Darwin) 


nieder, indem er ſchloß, daß jene Nau— 


plius-, Zo&a- und Mysis-Formen mehr oder 
weniger getreue Nachbilder der Ahnen die— 
ſer Garneele ſeien. Im Gegenſatz zu den 
Tieren, bei welchen die ganze Entwicklung 
im Ei verläuft, oder bei denen eine oder 
mehrere Larvenformen verloren gegangen 
ſind, erklärte er ſich dieſes regelrechte Durch— 
laufen mannigfacher, ebenſovielen Klaſſen 
der niedern Kruſter entſprechender Larven— 
formen als eine durch die gleichmäßigen 
Bedingungen des Meereslebens faſt unver— 
ändert erhaltene Wiederholung des Weges, 
auf welchem ſich dieſe hochentwickelte Kru— 
ſterart langſam im Laufe der Zeiten aus 
niedern Arten entwickelt habe. 

Man wird leicht erkennen, daß dieſer 
Schluß Fritz Müllers, den Haeckel in 
der abgekürzten Form: Die Entwicklung 
des Individuums (Ontogeneſe) iſt 
die gedrängte Wiederholung der 
Stammesgeſchichte (Phylogeneſe) 
zum „biogenetiſchen Grundſatz“ erhoben 
hat, nicht eine Folgerung aus der Theorie 
der Hemmungsbildungen, ſondern vielmehr 
die Umkehrung derſelben iſt; bei jener 
wurden die niedern Tiere aus dem höhern, 
bei dieſem werden die höhern aus den nie— 
dern Tieren hergeleitet. Der lange ge— 
ahnte Zuſammenhang zwiſchen Ontogeneſe 
und Phylogeneſe, der ja ſchon den Spe— 
kulationen Erasmus Darwins über die 
Bedeutung der rudimentären Organe zu 

*) Leipzig, 1864. 


Grunde lag, war ſo an einer geeigneten 
Tierklaſſe beſtätigt, und die daraus gezo— 
genen Schlüſſe erwieſen ſich von der weit— 
tragendſten Bedeutung und Fruchtbarkeit. 
Vor allem wurde damit das Rätſel von 
der Gelehrſamkeit der Keimſeele Sen— 
nerts, Morus und Morins gelöſt, wel— 
ches Bayle und ſeine Zeitgenoſſen ſo ſehr 
erſchreckte, denn da die perſönliche Entwick— 
lung nunmehr nur als die Wiederholung 
eines ſehr allmählich mit denkleinſtenSchrit— 
ten begonnenen und unzählige male von 
neuemzurückgelegten, immer einige Schritte 
weiter ausgedehnten Weges aufgefaßt 
wird, ſo ſchwindet jene auf den erſten An— 
blick unüberwindlich erſchienene Schwierig— 
keit in nichts zuſammen. Denn wenn man, 
wie ſchon Erasmus Darwin betonte, 
zugiebt, daß jeder Organismus in irgend 
einer Richtung neue Fähigkeiten erwirbt 
und die Wiedererzeugungskraft derſelben 
ſeinen Nachkommen vererbt, ſo ſieht man 
leicht, wie ſich aus den geringfügigſten An— 
ſätzen durch dieſes Erinnerungsvermögen 
der lebenden Materie das Wunderbarſte 
aufbauen muß; der Entwicklungsprozeß 
wird dadurch zu einem — ich will nicht ſa— 
gen, in ſeinem innerſten Weſen begreif— 
baren, — aber zu einem verſtändlichen, 
weil durch immerwährende Wiederholung 
eben ſo ſicher eingelernten, mechaniſchen 
Vorgang, wie wir durch Übung jede belie— 
bige Kunſtfertigkeit uns aneignen, um ſie 
nachher ohne Bewußtſein auszuüben. 
Fritz Müller faßte jedoch nicht blos 
die Fälle ins Auge, wo die möglichſt ge— 
treuliche Wiederholung des Ahnenweges 
in der perſönlichen Entwicklung klar vor— 


liegt, ſondern auch die ſchon angedeuteten, 


wo es anders kam. „Die Urgeſchichte 
der Art,“ ſchrieb er 1863, „wird in 


| 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


ihrer Entwicklungsgeſchichte um ſo 
vollſtändiger erhalten ſein, je län— 
ger die Reihe der Jugendzuſtände 
iſt, die ſie gleichmäßigen Schrittes 
durchläuft, und um ſo treuer, je 
weniger ſich die Lebensweiſe der 
Jungen von der der Alten entfernt 
und je weniger die Eigentümlich— 
keiten der einzelnen Jugendzuſtän— 
de, als aus ſpätern in frühere Ju— 
gendzuſtände zurückverlegt oder 
als ſelbſtändig erworben ſich auf— 
faſſenlaſſen.““) Daß ſolcheZuſammen— 
ziehungen und Abänderungen des urſprüng— 
lichen Entwicklungsweges ſtattfinden, iſt 
eine Thatſache, die ſich vielfach in der 
Natur aufdrängt und ſich auch bei den 
Krebstieren darin darſtellt, daß viele der— 
ſelben faſt ihre geſammte Entwicklung in 
einem Ei durchmachen und als beinahe 
ausgebildete Tiere dasſelbe verlaſſen. 
Wahrſcheinlich ſind es in den meiſten Fäl— 
len äußere Umſtände geweſen, die eine 
ſolche abgekürzte Entwicklung begünſtigten. 
So haben wir in der Neuzeit Fröſche ken— 
nen gelernt, die auf den vulkaniſchen In— 
ſeln Weſtindiens leben, in deſſen poröſem 
Tuffboden ſich keine dauernden Waſſer— 
tümpel halten. Dieſe Fröſche können dem— 
nach ihre Entwicklung nicht als Kaul— 
quappen im Waſſer durchmachen und ent— 
wickeln ſich daher im Ei vollſtändig. In 
ihrer Entwicklung iſt daher auch ganz wie 
bei den höheren Wirbeltieren (Amnioten) 
die Kiemenentwicklung völlig unterdrückt, 
und ähnliches findet mit vielen Organ— 
bildungen ſtatt, die nicht als Bauſteine 
neuer Organbildungen dienen, denn in 
dieſem Falle müſſen ſie, wenn auch unbe— 
nutzt, in der Entwicklungeſchichte immer 
900, 8 


55 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 423 


von neuem erſcheinen, wie z. B. die Kiemen— 
bögen des Wirbeltier-Embryos. Fritz 
Müller faßte dieſe Erkenntnis in den 
Satz zuſammen: „Die in der Entwick— 
lungsgeſchichte erhaltene geſchicht— 
liche Urkunde wird allmählich ver— 
wiſcht, indem die Entwicklung ei— 
nen immer geraderen Weg vom Ei 
zum fertigen Tier einſchlägt, und 
ſie wird häufig gefälſcht durch den 
Kampf ums Daſein, den die frei— 
lebenden Larven zu beſtehen ha— 
ben.“) Dieſer ſpäter von Haeckel als 
Cenogeneſe bezeichnete Vorgang wurde 
durch Fritz Müller ſpeziell als Urſache 
der ſo höchſt ſeltſam verlaufenden Inſekten— 
metamorphoſe erkannt. Um nur das in 
die Augen ſpringendſte zu erwähnen, ſo 
iſt es ja klar, daß der Puppenzuſtand der 
Inſekten kein Nachbild eines aktiven Ahnen 
ſein kann, er iſt vielmehr das Nachbild ei— 
nes durch äußere Umſtände (Kälte und 
Trockenheit) erzwungenen paſſiven Zu— 
ſtandes, einer Einſpinnung oder eines 
Jahreszeitenſchlafes, der nun der Entfal— 
tung des vollkommnen Inſekts voraufgeht 
und dieſem für ſeine Exiſtenz und Fortpflan— 
zung ev. die geſammte gute Jahresperiode 
ſichert. Dieſes ſelbſtändige Variiren der 
Larven ſcheint übrigens, wie Weis mann 
ſpäter wahrſcheinlich gemacht hat, das Ziel 
der Entwicklung nicht weſentlich zu beein— 
fluſſen; trotz aller Kürzung und Abände— 
rung der Entwicklung entſteht immer wie— 
der die eingeprägte Endform; wie bei der 
Kurzſchrift werden nur die Charaktere ge— 
ändert, aber der Inhalt muß derſelbe 
bleiben. Würtenberger und Weis— 
mann haben, um dies gleich hier zu er— 
wähnen, ſpäter (1875 und 76) zu zeigen 


geſucht, wie die jüngſt erworbenen Ab— 
änderungen durch ſpätere in der Entwick— 
lungsgeſchichte des Individuums fortlau— 
fend weiter zurückgedrängt werden, wor— 
aus ſich' dann erklärt, daß in Familien, 
deren Arten einen ſehr großen Wechſel 
durchgemacht haben, die urſprünglichſten 
Formen ſo zuſammengedrängt erſcheinen, 
daß ſie faſt unkenntlich werden und da— 
durch der Anſchein der abgekürzten Ent— 
wicklung entſteht, in welchem die Ahnen— 
formen ganz ſummariſch durcheilt werden. 

Wir erkennen leicht, wie in dieſen ent— 
wicklungsgeſchichtlichen Geſetzen das Mit— 
tel entdeckt wurde, die Darwinſche Theorie 
zu beweiſen, den von ihr geforderten 
Stammbaum der lebenden Weſen, den die 
lückenreiche paläontologiſche Überlieferung 
höchſtens in vereinzelten Zweigen zu lie— 
fern verſpricht, und die geſammten natür— 
lichen Verwandtſchaften der Lebeweſen aus 
ihrer eigenen Entwicklung zu entziffern. 
Auf dieſem Gebiete nun gab Ernſt 
Haeckel in ſeiner 1866 erſchienenen „Ge— 
nerellen Morphologie“ den gewaltigſten 
Anſtoß und legte in ſeinen ſo vielfach miß— 
verſtandenen Stammbäumen den Spezial— 
forſchern auf dem Gebiete der vergleichen— 
den Entwicklungsgeſchichte ebenſoviele 
Fragebogen und Arbeitspläne vor, deren 
Anerkennung oder Ablehnung durch ent— 
ſcheidende Beobachtungen für die Wiſſen— 
ſchaft gleich wichtig geworden iſt, und die 
darum eine unvergleichlich größere Be— 
deutung erlangt haben, als die homeriſchen 
Stammbäume, mit denen ſie von unein— 
geweihter Seite ſpöttiſch verglichen wur— 
den. Haeckels Werk lieferte durch Auf— 
ſtellung eines gemeinſamen, an der Wurzel 
zuſammenhängenden Stammbaums des 
Reiches aller Lebeweſen die erforderliche 


/ 


424 


ſyſtematiſche Grundlage der Darwinſchen 
Theorie, wie ſie unentbehrlich war, wenn 
die darin vorhandenen Lücken in ſyſtema— 
tiſcher Arbeit ausgefüllt werden ſollten. 

Das Wort Baers: „Die Entwick— 
lungsgeſchichte iſt der wahre Lichtträger 
für Unterſuchungen über organiſche Kör— 
per; bei jedem Schritte findet ſie ihre 
Anwendung, und alle Vorſtellungen, wel— 
che wir von den gegenſeitigen Verhält— 
niſſen der organiſchen Körper haben, wer— 
den den Einfluß unſerer Kenntnis der Ent— 
wicklungsgeſchichte erfahren“), wurde 
nun mit einemmale lebendig, und dieſe 
Studien nahmen ſeit der Anregung durch 
Darwin, Fritz Müller und Haeckel 
die Führung der biologiſchen Wiſſenſchaft. 
Das Studium der Entwicklungsgeſchichte 
bot ſeitdem nicht mehr blos das ſpezielle 
Intereſſe an dem Vorgange ſelbſt, ſondern 
erhob ſich durch die Beziehungen auf die 
allgemeine Anſchauung der Natur als ei— 
nes einheitlichen Ganzen zu höheren gei— 
ſtigen Genüſſen. Erſt jetzt wußte man wirk— 
lich, zu welchem Zwecke man Entwicklungs— 
geſchichte ſtudirte, nämlich um die Geheim— 
niſſe des Gewordenen aus dem Werden zu 
entſchleiern und dem Schöpfungsvorgange, 
ſoweit dies möglich iſt, nachträglich beizu— 
wohnen. 

Wir können hier nicht die zahlloſen 
Arbeiten über Entwicklungsgeſchichte, die 
nun erſchienen, aufzählen, ſondern wollen 
nur bei einigen der wichtigſten verweilen. 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


Als eine der folgenſchwerſten muß dar 
unter die des ruſſiſchen Zoologen Auguſt 
Kowalewsky betrachtet werden, der im 


Herbſt 1866 zufällig kurz nach einander 
die Entwicklung einer Aſeidie und des 
Lanzetttieres ſtudirte und dabei die merk— 

5) A. a. 


O 
D., 


S. 231. 


würdigſte Übereinſtimmung der erſten Ent⸗ 
wicklungsſtufen beider wahrnahm, trotz— 
dem daß das erſtere Tier zu den Wirbel— 
loſen und das letztere an die unterſte Stufe 
der Rückenmarks- oder Wirbeltiere geſtellt 
werden muß. Durch dieſe gänzlich uner— 
wartete und alle Zoologen überraſchende, 
aber bei allen Nachprüfungen ſtichhaltig 
befundene Entdeckung war ſomit der ſo 
lange vergeblich geſuchte Anſchluß der 
Wirbeltiere an die Wirbelloſen, jene Ver— 
einbarkeit der höheren und niederen Tiere 
nachgewieſen, an welche Baer nicht ge— 
glaubt hatte und über welche Cuvier mit 
Geoffroy in ſo heftigen Streit geraten 
war. Gerade dasjenige Organ, welches 
Baer als typiſch für die Wirbeltiere be— 
zeichnet hatte, die Rückenſaite, zeigte ſich 
dabei als vorübergehende Bildung in den 
Embryonen von Tieren, die ſpäter meiſt 
eine rückſchreitende Metamorphoſe durch— 
machen, indem ſie ſich einer feſtſitzenden 
Lebensweiſe anpaſſen. Das wichtigſte war 
dabei die außerordentliche Ahnlichkeit der 
unterſten Entwicklungsſtufen zweier Tiere, 
von denen das eine ſeine nächſten Ver— 
wandten unter den Würmern, das andere 
unter den Wirbeltieren beſitzt, Entwick— 
lungsſtufen, die bei den höheren Wirbel— 
tieren nach den oben entwickelten Grund— 
geſetzen undeutlich geworden zu ſein pfle— 
gen, die aber um ſo wichtiger ſind, als ſie 


die ſchon früher von Huxley bemerkte 


Homologie der primären Keimblätter durch 
das Geſammttierreich bewieſen. 

Durch dieſe Verknüpfung der höher— 
ſtehenden Organismen mit den niederen, 
die ſich jetzt von ſelbſt als eine genetiſche 
aufdrängte, gewann natürlich das Stu— 
dium der letzteren noch an Intereſſe, und 


hier ſind nun vor allen andern die Ar— 


beiten Ernſt Haeckels bahnbrechend ge— 
worden. Schon im Jahre 1862 hatte er 
die Radiolarien monographiſch bearbeitet, 
und von fundamentaler Bedeutung für die 
Biologie wurden dann ſeine 1870 ver— 
öffentlichten „Studien über Moneren und 
andere Protiſten“. Sie machten uns mit 
Organismen bekannt, die keine Organe 
haben, mit Lebeweſen, die nur aus einem 
Klümpchen belebten Schleimes beſtehen und 
einfacher gar nicht einmal gedacht werden 
können. Noch mehr, dieſe Weſen, die am An— 
fange aller Entwicklung ſtehen, haben ſelbſt 
gar keine andere Entwicklung, als daß ſie 
über ihr urſprüngliches Maß hinauswachſen 
und ſich dann in zwei Hälften teilen. In ihnen 
erhielt alſo die berühmte „Stufenleiter“ 
einen Anfang, der Stammbaum des Le— 
bens eine Wurzel, wie ſie die Naturphilo— 
ſophie nicht beſſer hätte erdenken können, 
zumal da auch die höchſten Lebeweſen ihr 
Daſein als kernloſes Schleimklümpchen 
beginnen. Schon in ſeiner „Generellen 
Morphologie“ hatte Haeckel gezeigt, daß 
man beſſer thue, dieſe und eine Reihe an— 
derer einfachſter Organismen, über die 
bisher ein endloſer Streit zwiſchen Bota— 
nikern und Zoologen geherrſcht hatte, ob 
man ſie zu den Pflanzen oder zu den Tie— 
ren ſtellen ſollte, in ein neutrales Zwiſchen— 
reich, das Reich der Protiſten oder Ur— 
weſen, zu ſtellen, welches man als gemein— 
ſame Wurzel des Pflanzen- und Tierreichs 
betrachten könne. Im Laufe der Zeit hat 
ſich dieſer Begriff dahin ausgedehnt, daß 
man dahin alle Lebeweſen rechnet, deren 
Entwicklung nicht über den Wert einer 
einzelnen Zelle oder einer Vereinigung 
aus gleichwertigen Zellen hinausgeht, 
bei denen alſo noch keinerlei Arbeitsteilung 


unter den Elementarbeſtandteilen des Kör— 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


425 


pers aufgetreten iſt. Innerhalb des Pro— 
tiſtenreiches finden ſich hingegen alle nur 
wünſchenswerten Übergänge von dem blo— 
ßen ſich teilenden Schleimklümpchen zum 
kernhaltigen Schleimklümpchen, zur um— 
grenzten Zelle, deren Wandungen Wim— 
pern, Geißeln und allerlei proviſoriſche 
Organe bilden, und zu maulbeerartigen 
Häufungen ſolcher Zellen, die ſich ſpäter 
trennen und durch wiederholte Teilungen 
neue Kugelhäufchen bilden. 

Zu dieſen niederſten Lebeweſen oder 
Protiſten hatte man früher auch die Mee— 
res- und Süßwaſſerſchwämme oder Spon— 
gien gerechnet, die in den Jahren 1869 
bis 71 für Haeckel das Material zu dem 
Verſuche einer analytiſchen Löſung 
des Problems von der Entſtehung 
der Arten gaben. Schon im Jahre 1867 
hatte die Einfachheit des Baues der Kalk— 
ſchwämme an den Küſten der Inſel Lanza— 
rote ſeine Aufmerkſamkeit erregt und die 
Vermutung nahegelegt, daß ſie vielleicht 
die geeignetſte Tiergruppe ſeien, um daran 
die erſten Schritte der Organiſation zu ent— 
rätſeln. Ein Aufenthalt an der norwegi— 
ſchen Küſte (Sommer 1869) und ein zwei— 
ter auf der Inſel Leſina (Frühjahr 1871) 
bot neben dem Studium unzähliger, in 
zahlreichen Sammlungen enthaltener Kalk— 
ſchwämme das erforderliche, umfangreiche 
Material, um dieſe Fragen zu prüfen. 
Das Reſultat wurde in der „Monographie 
der Kalkſchwämme““) niedergelegt, mit 
welcher eine neue Epoche der Entwicklungs— 
geſchichte anhebt: die Epoche der Abrun— 
dung nach unten und der kauſalen Erklä— 
rung der erſten Schritte aller tieriſchen 
Entwicklung. 

Haeckels Studien hatten zunächſt er— 


*) Berlin, 1872. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 


54 


426 


geben, daß die als vollendete Geſtalten 
äußerſt mannigfach und wandelbar in For— 
men und Farben erſcheinenden Schwämme 
in ihrer Jugend ſämmtlich einem topf- oder 
ſackförmigen Kalkſchwamm (Olynthus) 
gleichen, der demnach, wenn man ſich die 
ſeinen Wandungen eingelagerten Kalk— 
nadeln wegdachte, ein Nachbild des Ahnen 
aller Schwämme, alſo des unbekannten 
Urſchwamms(Protascush), darſtellen konnte. 
Die Entwicklungsgeſchichte dieſes Olynthus 
verlief im weſentlichen in derſelben Weiſe, 
wie die erſte Entwicklung aller niederſten 
Tiere, namentlich der Pflanzentiere, ſo 
daß damit die Zugehörigkeit der Schwamm— 
tiere zu den Pflanzentieren und die Not— 
wendigkeit der Entfernung aus dem Pro— 
tiſtenreiche dargethan wurde. Die Ahn— 
lichkeit dieſer Entwicklung iſt ſo groß, daß 
wir als ſchematiſch völlig zutreffendes Bild 
derſelben die bildliche Darſtellung der er— 
ſten, ebenfalls von Haeckel beobachteten 


Entwicklung eines ganz verſchiedenen Tie 
res, einer Koralle des Roten Meeres, be- 


nützen können. 

Wir ſehen auf der beiſtehenden Ab— 
bildung, wie ſich aus dem anfangs kern— 
loſen, einer Monere gleichenden Ei (A) 
des Pflanzentiers anfangs durch Abſchei— 
dung eines einfachen Kerns einer Kernzelle 


(B) und dann durch wiederholte Teilung 


oder ſogenannte Furchung (Segmentation) 
in 2, 4, 8, 16, 32 u. ſ. w. Zellen (C, D) 
ſchließlich ein Zellhäufchen gebildet hat, 


welches ſchon von verſchiedenen früheren 


Beobachtern geſehen worden war und 


Maulbeerkeim (Morula, Fig. D, E) ges | 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


ner einfachen Zellenlage umſpannten Hohl— 
kugel (6) auseinanderrücken, entſteht die 
Keimblaſe (Blastula oder Blastosphaera, 
Fig. 1, G), die man aber nicht mit der 
Keimdarmblaſe verwechſeln darf, welche 
Baer als den gemeinſamen Ausgangs— 
punkt aller Tierentwicklung betrachtet hatte. 
Indem ſich dieſe Keimblaſe an einer Stelle 
zurückſtülpt (F, ), entſteht ſchließlich durch 
Aneinanderlegen der Wandungen bei voll— 
ſtändiger Verdrängung der Furchungs— 
höhle durch Einſtülpung (Invaginatio) der 
Becherkeim oder die Darmlarve (Gastrula, 
Fig. I. J, K) mit einer aus zwei Zellen— 
lagen, dem Außenblatt (Exoderma oder 
Ectoderma) und dem Innenblatt (Ento- 
derma), beſtehenden Wandung, die ſich 
mit dem verſchloſſenen, dem Urmunde ent— 
gegengeſetzten Pol nach kurzem Umher— 
ſchwärmen feſtſetzt und unmittelbar zu dem 
ähnlich geſtalteten Schwamm auswächſt, 
der ſich in der Regel nur dadurch weſent— 
lich von der Gaſtrulalarve unterſcheidet, 
daß er die äußeren Wimpern verloren hat, 
während ſeine Wandungen von einem Po— 
renſyſtem durchbohrt werden. 

Bei der Beobachtung dieſer frei im 
Meere umherſchwimmenden Larvenformen, 
die ſich, wie man ſieht, zu ihrer Bewegung 
teilweiſe beſonderer Wimpern bedienen, 
wird es klar, daß man es in dieſen erſten 


| Entwicklungsphaſen, ebenſowohl wie in 


nannt wurde. Dadurch, daß ſich inmitten 
dieſer Zellengemeinſchaft Flüſſigkeit ab- 


ſondert und die urſprünglich einen dichten 


der Nauplius-, Zoea- und Myſisform der 
Krebſe, mit den Nachbildern der Ahnen 
jenes Schwammes und jener Koralle zu 
thun hat, von denen ſie abſtammen. Wenn 
ſchon Baer aus der Gleichheit der im Ei 
der höheren Tiere ſehr veränderten An— 
fangsformen der Entwicklung ſchloß, daß 
dieſer Keim immer das Tier ſelbſt vor— 


Haufen bildenden Zellen zu einer von ei- ſtelle, um wieviel mehr werden wir es bei 


n 


nnn 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 427 


Fig. 1. Entwicktungsſtufen von Monoxenia Dar winii, einer Koralle des Roten Meeres, 
nach Haeckel. 

A. Monerula. B. Kernzelle (Cytula). C, D. Produkte der erſten und zweiten Furchung. 

E. Maulbeerkeim (Morula). F, G. Blaſenkeim (Blastula). H. Längsſchnitt des eingeſtülpten 

Blaſenkeimes. I, K. Darmlarve (Gastrula).— 


dieſen munter umherflanirenden Larven 
thun müſſen. Und in der That finden die 
Stufen A—6 zahlreiche noch heute le— 
bende Ebenbilder im Reiche der Protiſten; 
fo find A und B den Moneren und Amö— 
ben gleichwertig und die ferneren Stufen 
gleichen den ſogenannten Synamöben oder 
Kugeltierchen, deren Entwicklungsgang 
mit der Bildung einer kugligen Gemeinde 
gleichwerter Zellen abgeſchloſſen iſt und 
durch Trennung und Neufurchung der ein— 
zelnen Gemeindeglieder immer wieder von 
vorn anfängt. Eben deshalb kann man 
dieſe Synamöben auch von den einfachen 
Amöben kaum trennen, ſie bilden die oberſte 
Stufe der Protiſten oder Urweſen, unter 
deren Zellen eine dauernde Arbeitsteilung 
noch nicht eingetreten iſt. 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


Anders liegt der Fall bei der ſoge— 
nannten Gaſtrulalarve, bei der eine deut— 
liche Verſchiedenheit der die Doppelwan— 
dung zuſammenſetzenden Schichten ſchon 
auf den erſten Blick in die Augen ſpringt, 
und auch daraus, daß nur die äußeren 
derſelben mit Wimpern verſehen ſind, 
welche die Bewegung und Erneuerung 
des Waſſers an der Oberfläche bewirken, 
hervorgeht. Wenn ihr in der Jetztwelt ein 
lebendes Weſen entſpräche, ſo müßte dies 
unbedingt unter die wirklichen Tiere ge— 
rechnet werden, und demgemäß unterſchei— 
det Haeckel als echte, wirkliche Tiere 
(Metazoen) von den Urweſen (Protozoen) 
alle diejenigen, die in ihrer Entwicklung, 
wenn auch noch fo wenig, über die Darm— 
larve hinausgehen. 


Fig. 2. Gaſtrulaformen von ſechs Vertretern der Hauptklaſſen des Tierreichs. 
A. Pflanzentier (Gastrophysema). B. Wurm (Sagitta). C. Seeſtern (Uraster). D. Krebs 
(Nauplius). E. Schnecke (Limnaeus). F. Wirbeltier (Amphioxus). — In ſämmtlichen Figuren 
bedeutet e Hauptblatt( Exoderma), i Darmblatt (Entoderma), d Urdarm, o Urmund,s Furchungshöhle. 


U 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


Da nun Vertreter ſämmtlicher fünf 
oder ſechs Hauptklaſſen der Tiere in ihrer 
individuellen Entwicklung deutlich dieſe 
Gaſtrulalarve erkennen laſſen (Fig. 2), ſo 
erklärte Haeckel bereits 1872: „Aus 
dieſer Identität der Gaſtrula bei Reprä— 
ſentanten der verſchiedenſten Tierſtämme 
von den Spongien bis zu den Vertebraten 
ſchließe ich nach dem biogenetiſchen Grund— 
geſetze auf eine gemeinſame Deszendenz 
der tieriſchen Stämme von einer einzigen 
unbekannten Stammform, welche im we— 
ſentlichen der Gaſtrula gleichgebildet war: 
der Gastraea.” “) Dies iſt die berühmte, viel 
angefochtene, aber mit jedem Tage ſieg— 
reichere Gaſträatheorie, von der im 
vollſten Maße das Baerſche Motto gilt: 
„Simplex est sigillum veritatis!“ 

Wir müſſen hier einen Augenblick ver— 
weilen, um uns den unſchätzbaren Gewinn 
klar zu machen, den die moniſtiſche Welt— 
anſchauung aus der Gaſträatheorie zu ziehen 
vermag. Sie lehrt uns erſt die früheſten 
Entwicklungszuſtände der Embryonen ver— 
ſtehen, indem ſie die Entſtehungsweiſe und 
Homologie der erſten beiden Keimblätter 
durch das geſammte Tierreich erläutert 
und dadurch jene mechaniſche Erklärung 
der Entwicklung von unten herauf anbahnt, 
die ſchon Wolff forderte und die Baer 
gegen Serres geltend machte (als dieſer 
ein getrenntes Auftauchen der Organe im 
Ei wahrzunehmen glaubte), indem er ihn 
darauf hinwies, daß die Entwicklung im- 
mer nur von einem Gegebenen weiter gehen 
könne und daß kein Organ aus nichts ent— 
ſtehen oder von ungefähr dazu wachſen 
könne, ſondern immer nur durch fernere 
Differenzirung einer ſchon vorhandenen 


*) Haeckel, Die Kalkſchwämme, S. 467. 


429 


Grundmaſſe oder durch Umbildung eines 
vorhandenen Organs. 

Sehen wir zu, wie ſich Haeckel die 
Entſtehung der hypothetiſchen Gafträa 
und mit ihr der beiden Keimblätter aus 
einer der einfachen Keimblaſe gleichwerti— 
gen Synamöbe vorſtellt. Er dachte ſich 
den Vorgang ſo, daß die einſchichtige 
Zellengemeinde angefangen haben mag, 
eine Stelle ihrer Oberfläche vorzugsweiſe 
der Nahrungsaufnahme zu widmen. Da 
es für dieſen Zweck vorteilhafter ſein 
mußte, wenn dieſe Stelle etwas geſchützt 
lag, ſo bildete ſich durch natürliche Züch— 
tung allmählich ein Grübchen, welches ſich 
im Fortſchreiten dieſes Prozeſſes immer 
weiter vertiefte und, indem ſich die Er— 
nährungsfunktionen ganz hierher zurück— 
zogen, zu einem vollkommenen Magen 
wurde. Das ganze Tier iſt nichts als ein 
ſchwimmender Magen und daher iſt der 
zugleich Form und Funktion bezeichnende 
Namen Gastraea beſonders glücklich ge— 
wählt. Es iſt von zwei Zellenſchichten, 
den Grundlagen aller ſpäteren Gewebe, 
gebildet, die ein Reſſort des Außern und 
ein Reſſort des Innern bilden: dem Haut— 
blatt, welchem die Bewegung und Orien— 
tirung obliegt, und dem Magenblatt, 
welches hauptſächlich der Nahrungsauf— 
nahme dient. 

Wir ſehen ſo den Aufbau des tieri— 
ſchen Körpers ganz den Gedanken La— 
marcks gemäß, der den Magen als das 
urſprünglichſte Organ des Tieres bezeich— 


net hatte, mit dem Magen beginnen und 


ſo auch jene alte, durch die fleiſchfreſſen— 
den Pflanzen ſehr in die Enge getriebene 
Definition des Tieres als „Magenbeſitzer“ 


gerechtfertigt. Die Ernährung iſt eben die 


Grundfunktion alles Lebens und darum 


Ma 


| 


430 


der Ausbau ihrer Organe im Tier- und 
Pflanzenreiche das erſte Geſchäft der na— 
türlichen Zuchtwahl. Darin liegt die lo— 
giſche Seite der Gaſträatheorie. Es braucht 
wohl kaum geſagt zu werden, daß dieſer 
Urmagen und dieſer Urmund keine Homo— 
loga des Wirbeltiermagens und -mundes 
ſind; nur unter den Pflanzentieren iſt dies 


teilweis der Fall, im Verlaufe der Ent: | 
wicklung der übrigen Tiere aber werden 


Fig. 3, 4. 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


ſie regelmäßig, der letztere durch einen 
meiſt am entgegengeſetzten Pole entſtehen— 
den Nachmund und der erſtere durch eine 
aus dem Darmblatt entſtehende Speiſe— 
röhre, erſetzt, ebenſo wie die urſprüng— 
lichen Bewegungs-, Atmungs-, Fortpflan⸗ 
zungsorgane, die ſich nach und nach durch 
weitere Differenzirung der beiden Keim— 
blätter ausbildeten, ſpäter durch neue 
Organe ausgelöſt wurden. 


Haliphysema primordiale nach Haeckel, von außen und im Längsſchnitt. 


d Urdarm, m Urmund, g Magenblatt (Entoderma), h Hauptblatt (Exoderma), e amöboide Eichen. 


Eine weſentliche Stärkung ihrer an— 
fangs ſtark beſtrittenen Poſition hätte die 
Gaſträatheorie — wenn nicht ſchon in der 


Logik allein ihre Stärke läge — in der Ent⸗ 
deckung einer Reihe von „Gaſträaden der 


Gegenwart“, d. h. von jetzt lebenden Tie— 
ren finden können, die in ihrer geſammten 


Entwicklung nur wenig über die Organi- 
ſationshöhe der Gaſträa hinausgehen. 


Mehrere dieſer von Haeckel in ſeinen 
„Studien zur Gaſträatheorie“ *) zuerſt 
nach ihrer Stellung im Naturreiche ge— 
würdigten Weſen wurden von ihm 
ſelbſt entdeckt, andere in älteren natur— 
hiſtoriſchen Werken beſchrieben gefunden, 
deren Verfaſſer ſie zum Teil völlig miß— 
verſtanden hatten. Als Haeckel im Jahre 
} *) Biologiſche Studien, 2. Heft, Jena, 1877. 


— 


4 


1869 an der norwegiſchen Küſte nach 


Kalkſchwämmen ſuchte, fand er dort einen 


kleinen, wenige Millimeter langen Schlauch, 
der ihn wegen der Ahnlichkeit, welche er 
mit der oben beſchriebenen einfachſten Form 
der Kalkſchwämme (Olynthus) darbot, 
lebhaft intereſſirte und der wahrſcheinlich 
identiſch mit einem ſchon früher von Bower— 
bank als Meerfläſchchen (Haliphysema) 
beſchriebenen Organismus war, den dieſer 
unter die Schwämme geſtellt hatte. Zu 
den Schwämmen gehören die Meerfläſch— 
chen aber eigentlich nicht, denn ihre Wan— 
dungen entbehren gänzlich der Poren und 
Kanalſyſteme, die für die Schwämme ſo 
charakteriſtiſch ſind. Im Jahre 1876 fand 
Haeckel eine verwandte Form (Haliphy- 
sema primordiale, Fig. 3 u. 4) in der Bucht 
von Ajaccio auf Korſika. Sie ſtellt einen 
ſpindelförmigen, höchſtens 2 Millimeter 
langen, in der Regel auf Algen feſtge— 
wachſenen Schlauch dar, deſſen äußere 
Haut in dem untern Teile mit Sandkörn— 
chen, in dem obern mit mundwärts gerich— 
teten Kieſelnadeln eingepanzert iſt. Ein 
Längsſchnitt offenbart ſofort die charakte— 
riſtiſche Organiſation eines einfachen Ga— 
ſträaden. Die dicke Wandung der ſpindel— 
förmigen Höhlung beſteht nur aus zwei 
völlig verſchiedenen Schichten, den beiden 
primären Keimblättern, Entoderm und 
Exoderm. Das Entoderm beſteht nur aus 
einer einzigen Schicht von Geißelzellen, 
zwiſchen denen einzelne amöboide Eier zer— 
ſtreut liegen. Das Exoderm dagegen, in 
welchem die fremden Panzerſtoffe aus— 
ſchließlich eingebettet liegen, bildet ein 
ſogenanntes Syneytium, wie bei den 
Schwämmen und in vielen andern tieri— 
ſchen Geweben, ſofern die ſtrenge Um— 
grenzung der Zellen verloren gegangen 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


431 


und eine gegenfeitige Verſchmelzung ein- 
getreten iſt; die maſſenhaft in dem Ge— 
webe eingeſtreuten Zellkerne zeigen aber 
deutlich die echte Keimblattnatur auch die— 
ſer Schicht. In der Mundöffnung bildet 
eine Spirale ſtärker entwickelter Wimper— 
zellen einen Strudelapparat, der dazu 
dient, das Waſſer im Innern zu erneuern 
und Nahrung herbeizuſchwemmen. 

Zwei in den Hauptverhältniſſen ähn— 
liche Gaſträaden derſelben Gattung (Ha— 
liphysema echinoides und H. globigerina, 
Fig. 5 und 6) erhielt Haeckel aus Ber— 
gen und von den Far-Oer-⸗Inſeln zuge- 
ſandt, von denen die erſte ihren kugeligen, 
auf einem langen Stiele ſtehenden Bauch 
ſehr zierlich mit Kieſelnadeln aller Art 
eingepanzert hat, während die letztere ſich 
ganz in die zierlichen Beſtandteile des 
Tiefſeeſchlammes, Globigerinen und Ra— 
diolarien aller Arten gekleidet hat. Es iſt 
ein Rätſel, wie dieſe wenig beweglichen 
Weſen im Stande ſind, dieſe meiſt gleich— 
langen Nadeln zu erlangen und ſo zierlich 
der Außenſchicht einzufügen. 

Neben dieſen durch die früher bekann— 
ten, auf die Zahl fünf geſtiegenen Gaſträ— 
aden, gelang es Haeckel in Smyrna eine 
ſechſte (Gastrophysema dithalamium, 
Fig. 6) zu entdecken, die von dem größten 
Intereſſe iſt und ihm erſt zu dem wahren 
Verſtändnis der erſteren verhalf. Bei die— 
ſer Gaſträade iſt inſofern eine Fortbildung 
eingetreten, als der Innenraum ſich durch 
Einſchnürung in zwei Höhlen geteilt hat, 
deren obere Abteilung die Nahrung auf— 
nimmt, während ſich in dem unteren Teile 
die Eier ausbilden. Die Gaſträaden ſind 
nämlich die älteſten und niederſten Tiere, 
bei denen ſich, ſoviel bekannt, ein Gegen— 
ſatz der Geſchlechter und eine wirkliche Be— 


432 


fruchtung ausgebildet hat. Haeckel konnte 
die Entwicklung der Keimzellen bis zur 


Gaſtrulaform (Fig. 2A) beobachten, die 


ſich in nichts von der bei anderen Tieren 
bekannten Gaſtrula unterſcheidet. Die wei— 


tere Entwicklung ſah er nicht, aber ſie wird 
bilden, wenn es ſich um höhere Pflanzen— 
tiere handelt. 


ohne Zweifel in derſelben Weiſe wie bei 
den Pflanzentieren erfolgen, an deren un— 
terſte Grenze die Phyſemarien zu ſtellen 
ſind. Bei den übrigen Pflanzentieren 
ſetzt ſich die Gaſtrulalarve nach längerem 
Umherſchwärmen mit ihrem dem Munde 


4 M HUNGER x. 


2 


Haliphysema echinoides. 30: J. 
Nach Haeckel. 

m Urmund, e Exoderm, i Entoderm, 

v Magenhöhle, o Eichen. 


Fig. 5. 


8 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


entgegengeſetzten Pole feſt, verliert die 
äußeren Wimpern, um dafür innere zu 
entwickeln und feine Wandungen zu 
durchlöchern, wenn es ein Schwamm 
werden will, oder die ſtrahlig die Mund— 
öffnung umgebenden Tentakel hervorzu— 


In der That iſt nichts natürlicher, als 


den ſtrahligen Typus der Pflanzentiere 


davon herzuleiten, daß ſie aus ſolchen früh 
vor Anker gegangenen Gaſträaden entſtan— 


Fig. 6. Haliphysema globigerina. 100: 1. 
Nach Haeckel. 
G K Globigerina. O Orbulina. T Textilaria. 
E II u. D Radiolarien. 


er 


den find, während ſich bei Gaſträaden, die 
ſchwimmend blieben oder auf feſter Un— 
terlage zu kriechen begannen, ebenſo na— 
turgemäß der allen übrigen Tieren ge— 
meinſame bilaterate Typus mit ſeinem 


Gegenſatz von vorn und hinten, oben und 


unten, rechts und links herausbilden mußte. 
Wir haben hier dieſen Spekulationen nicht 
weiter zu folgen und wollen nur bemer— 
ken, daß es ebenſo wie unter den Pflan— 
zentieren auch unter den Wurmtieren ſolche 
giebt, die kaum oder nur höchſt unerheblich 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


433 


über die Organiſationshöhe der Gaſträaden 


hinausgekommen find. Bei ihnen entwickelt 


ſich dann ebenſo wie bei manchen Pflanzen— 
tieren aus den primären Keimblättern ein 
mittleres Keimblatt (Meſoderm), aus dem 
die ſekundären Keimblätter und die Organe 
der vom Magen abgeſchloſſenen Leibes— 
höhle in der Ontogeneſe hervorgehen. 

In dieſer Weiſe knüpfen ſich alſo 
die Entſtehung der beiden Haupttypen 
des Tierreichs, der ſtrahlige und der 
zweiſeitig ſymmetriſche, unmittelbar an die 


Fig. 7, 8. Gastrophysema dithalamium Haeck. Außere Anſicht 
b Bruthöhle, y enge Einſchnürung zwiſchen ihr und der Magenhöhle, d Drüfenzellen des Magens, 
a Geißelſpirale, n Kerne des Synzytium, g junge Gaſtrulalarven, k Geißelzellen des Magenblatts. 
Die übrigen Buchſtaben wie in Fig. 5. 


. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 


434 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


fernere Entwicklung der Gaſträaden; die 
ideale Gaſträa läßt ſich als die letzte gemein— 
ſame Grundform, als das eigentliche Urtier 
auffaſſen, von dem alle höheren Tiere ab— 
zuleiten ſind. Und deshalb eben kehrt ſie in 
der Entwicklung aller Tiere wieder. 
Freilich nicht in unveränderter Geſtalt! 
Und darum wurde ihr Vorkommen in dem 
Entwicklungsgange namentlich der höheren 


Tiere, wo ihre urſprünglich einfache Ge— | 
tiſches Produkt iſt und darum notwendig 


ſtalt ſehr verändert iſt, lange verkannt, 
bis Rauber ihr Vorhandenſein im Hüh— 
nerembryo und van Beneden im Kanin— 
chenei erkannte, wonach man ſie dann als 
gemeinſame Durchgangsſtufe aller Tiere 
anerkannte. Die ſtarke Umbildung (Ceno— 


geneſe) eines ſo frühen Entwicklungsſtadi— | 


ums, namentlich bei höheren Tieren mit 
langer Geſchichte, iſt um jo weniger ver: 
wunderlich, als ſich meiſt die Urſachen der 
nachträglichen Umbildung nachweiſen laſ— 
ſen. Zunächſt darf man nicht vergeſſen, 
daß die Gaſträaden ſelbſt eine ſehr ver— 
ſchiedene Lebensweiſe führen können. So 
find die Dicyemiden nach van Beneden 
ſchmarotzende Gaſträaden, die wie die 
meiſten echten Schmarotzer keiner eigent— 
lichen Magenhöhlung bedurften. Bei ihnen 
ſind daher Urdarm und Urmund verloren 
gegangen. Diejenige Zelle der erſten Fur— 
chung, welche die Magenwandzellen lie— 
fern ſollte, teilt ſich daher gar nicht mehr, 
ſondern wächſt blos und wird von den 
durch fernere Teilung entſtehenden Haut— 
blattzellen bis zur Schließung des Ur— 
mundes umkleidet. Im Gegenſatz zu der 
totalen Furchung, welche die regelmä— 
ßige Gaſtrula, die Urdarmlarve (Archi- 
gastrula) liefert, ſehen wir eine ſolche ab— 
geleitete Gaſtrulaform durch ungleiche 
oder partielle Furchung bei den meiſten 


derjenigen Tiere entſtehen, deren Keim 


| nicht als Larve frei im Waſſer lebt und 


ſeine Nahrung nicht ſelbſt erwirbt, ſondern 
von der Mutter Dotternahrung mit auf 
den Weg erhält und ſich im geſchloſſenen 
Ei bis zu einer mehr oder weniger weit 
ausgedehnten Stufe entwickelt, bevor er 
ſelbſtändig ſeine Nahrung erwirbt. Man 
muß bedenken, daß dieſer Nahrungsdotter 
in allen Fällen ein ſekundäres, cenogene— 


von Einfluß auf die Geſtaltung des eigent— 
lichen Keimes ſein muß. Haeckel hat im 
erſten Hefte ſeiner „Studien zur Gaſträa— 
theorie“ und ſpäter in der überaus klaren 
Neubearbeitung dieſer erſten Entwicklungs— 
prozeſſe in der neueſten Auflage der „An— 
thropogonie“ dieſe Ableitungsformen un— 
ter die drei Hauptformen des meiſt bei 
den Säugetieren vorkommenden Hauben— 
keimes (Amphigastrula), des bei den Fi— 
ſchen und eierlegenden Amnioten verbrei— 
teten Scheibenkeimes (Discogastrula) und 
der namentlich bei Kruſtern und Inſekten 
durch blos die Oberfläche treffende Fur— 
chung entſtehenden Perigastrula geordnet. 
Damit man aber nicht verſucht werde, in 
dieſen nachträglichen Ableitungsformen 
typiſche Grundverſchiedenheiten zu ſuchen, 


ſei erwähnt, daß dieſe Formen in denſel— 


ben Tierklaſſen auch nebeneinander vor— 
kommen, ſo z. B. die charakteriſtiſche Hau— 
bengaſtrula vieler höheren Wirbeltiere 
auch bei zahlreichen Kalkſchwämmen. 

Der ſo oft in dieſen Blättern betonte 
Übelſtand, daß man die entwicklungsge— 
ſchichtlichen Studien, ſtatt an niederen Tie— 
ren, an dem Hühnchen begonnen hat, deſ— 
ſen Gaſtrula durch das reiche Dottermate— 
rial ſehr ſtark cenogenetifch verändert und 


in die ſogenannte Keimſcheibe 3 


e 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


wurde, gab die Veranlaſſung, daß die 
erſten Entwicklungszuſtände der Tiere fo 
lange unbekannt blieben und ſelbſt heute 
noch vielfach mißverſtanden werden. Noch 
ungünſtiger liegt der Fall bei den Säuge— 
tieren, deren Stamm ja von demjenigen 
eierlegender Tiere abgeleitet werden muß, 
und bei denen daher eine ſo ſtarke wiederholte 
Umprägung ſtattgefunden haben muß, daß 
man den Scharfſinn van Benedens be— 
wundern muß, der ſich in dieſem Wirrſal 
zurechtgefunden hat. Es glückte demſel— 
ben, zu zeigen, daß die in den vorigen 


0 
Fig. 9. Gaſtrula des Kaninchens. 
e Hautblatt (Exoderma). i Darmblatt (Ento- 
derma), d o Darmblattzellen, welche die Ur— 
darmhöhle und die Urmundöffnung ausfüllen. 


Artikeln mehrfach erwähnte Keimblaſe der 


Säugetiere keineswegs, wie man anfangs 


glaubte, mit der Blastula (Fig. 16 F) des 
urſprünglichen Entwicklungsganges iden— 
tiſch iſt. Die Entſtehung dieſes beſſer als 
Keimdarmblaſe (Gastrocystis) zu bezeich— 
nenden Entwicklungsſtadiums aus der vor— 
hergehenden Amphigastrula der Säuge— 
tiere iſt nach van Beneden die folgende: 
„Der Urmund der Amphigastrula ver⸗ 


ſchwindet, indem die Entodermzelle, welche 
den Dotterpfropf bildete, in das Innere 


des kugeligen Keimes zu den anderen Zel— 


435 


len des Darmblattes tritt. Der Säugetier— 
keim bildet jetzt eine ſolide Kugel (Fig. 9), be— 
ſtehend aus einem zentralen Haufen dunkler, 
polyedriſcher, größerer Entodermzellen und 
einer peripheriſchen Hülle, welche aus einer 
einzigen Schicht von helleren, rundlichen, 
kleineren Exodermzellen zuſammengeſetzt iſt. 
Nun ſammelt ſich an einer Stelle zwiſchen 
beiden Keimblättern klare, helle Flüſſig— 
keit an, und dieſe wächſt bald ſo bedeu— 
tend, daß ſich die Exodermhülle zu einer 
großen kugeligen Blaſe ausdehnt. Die 
Maſſe der dunkleren Entodermzellen, welche 
eine Kugel von viel kleinerem Durchmeſſer 
bildete, bleibt an der Stelle des Dotter— 
pfropfs mit dem Exoderm im Zuſammen— 
hange. Sie flacht ſich hier erſt halbkugelig, 
darauf linſenförmig, dann ſcheibenförmig 
ab, indem ſich die Entodermzellen verſchie— 
ben und in Geſtalt einer kreisrunden Scheibe 
in einer Schicht ausbreiten. So entſteht 
an einer Stelle der Keimdarmblaſenwand 
die bekannte kreisrunde Keimſcheibe 
der Säugetiere, welche man mit van 
Beneden als Keimdarmſcheibe be— 
zeichnen kann. Dieſe allein beſteht aus den 
beiden primären Keimblättern — einer äu— 
ßeren Schicht heller Exodermzellen, einer 
inneren Schicht trüber Entodermzellen —, 


während die ganze übrige Wand der 


Keimdarmblaſe blos aus einer Schicht 
Exodermzellen beſteht.““) 

Wir ſehen hier deutlich, wie der von 
früheren Beobachtern als erſter Keim der 
Säugetiere betrachtete Gastrodiscus eine 
ſehr veränderte Ableitungsform der Gaſtru— 
lalarve darſtellt, die namentlich dadurch 
entſtanden iſt, daß die Vorfahren der Säuge- 
tiere als eierlegende Tiere ein reichliches 
Nahrungsmaterial in die Gaſtrula auf— 
9 Haeccke el, Biologiſche Studien, S. 256. 


436 


nahmen. Der Leib des Säugetierembryos 
wird einzig aus dem Gaſtrodiskus gebil— 
det, während der übrige Teil der Gaſtro— 
cyſtenwand den vergänglichen Dotterſack 
oder die Nabelblaſe darſtellt. Die Nabel— 
blaſe der Säugetiere verhält ſich, wie zu— 
erſt Oken völlig klar erkannt hat, homo— 
log dem Dotterſack der Vögel und Rep— 
tilien, und daraus geht klar hervor, was 
auch aus anderen Gründen der vergleichen— 
den Ontogenie ſchon längſt wahrſcheinlich 
war, daß der kleine und unbedeutende 
Dotterſack der Säugetiere ſtark zu— 
rückgebildet iſt, das Rudiment oder 
ſchwache Ueberbleibſel von einem viel grö— 
ßeren und bedeutenderen Dotterſack, wel— 
chen die Vorfahren der Säugetiere be— 
ſaßen. „Vielleicht,“ ſetzt Haeckel hinzu, 
„iſt dieſer letztere bei den Monotremen 
noch heute vorhanden, vielleicht noch bei 
einem Teile der Marſupialien. Jedenfalls 
ſteht zu erwarten, daß die richtige, leider 
faſt noch ganz unbekannte Keimesgeſchichte 
dieſer beiden niederen Säugetierklaſſen uns 
noch viele wichtige Aufſchlüſſe über die 
Ontogenie der Placentalien und ihre ceno— 
genetiſche Entſtehung aus älteren Kei— 
mungsformen geben wird. Das cenogene— 
tiſche Anpaſſungsverhältnis, welches die 
Rückbildung des rudimentären Dotterſacks 
der Säugetiere veranlaßt hat, liegt klar 
auf der Hand. Es iſt die Anpaſſung an 
den lange dauernden Aufenthalt im Ute— 
rus der lebendig gebärenden Säugetiere, 
deren Vorfahren ſicher eierlegende waren. 
Indem der Proviantvorrat des mächtigen 
Nahrungsdotters, welchen die eierlegenden 
Vorfahren dem gelegten Ei mit auf den 
Weg gaben, durch die Anpaſſung an den 
längeren Aufenthalt im Fruchtbehälter bei 
ihren lebendiggebärenden Epigonen über— 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


flüſſig wurde, und indem hier das mütter— 
liche Blut in der Uteruswand ſich zur wich— 
tigſten Nahrungsquelle geſtaltete, mußte 
natürlich der überflüſſig gewordene Dot— 
terſack durch „embryonale Anpaſſung“ zu— 
rückgebildet werden.““) Nach dieſen An— 
deutungen, auf welche wir hier eingehen 
zu müſſen glaubten, um die früher er— 
wähnten Anſichten Hallers über die Con— 
tinuität der Dotterhaut mit dem Embryo 
und diejenige Baers über die Keimblaſe 
in das rechte Licht zu ſtellen, iſt es klar, 
wie weit die erſten Keimungsprozeſſe der 
Vögel und Säugetiere, — bei denen das 
Studium begann, von der urſprünglichen 
Form entfernt ſind, wie aus der Archi— 
gaſtrula erſt eine Amphigaſtrula, dann 
eine Diskogaſtrula geworden iſt, um wie— 
der zur Amphigaſtrula zurückzukehren, ſo 
daß die bloße Gaſtrulation ſchon ein rudi— 
mentäres Organ — das Nabelbläschen — 
als Spur ihrer Wandlungen zurückließ. 
Die Schwierigkeit, ſich aus dieſem Laby— 
rinth auf die einfache Gaſtrula zurückzu— 
finden, erklärt die Unmöglichkeit, der die 
älteren Forſcher gegenüberſtanden, die 
erſten Schritte der Wirbeltierentwicklung 
zu begreifen und ſie mit derjenigen der 
niederen Tiere in Einklang zu bringen; ſie 
erklärt auch einen Teil der Oppoſition 
heute lebender Forſcher gegen die Gaſträa— 
theorie. Viele unter ihnen, welche die 
Giltigkeit des biogenetiſchen Grundgeſetzes 
vollkommen anerkennen, zögerten dennoch, 
eben durch dieſe Unregelmäßigkeiten der 
Gaſtrulation abgeſchreckt, der ſo einfachen 
und einleuchtenden Gaſträatheorie zuzu— 
ſtimmen. Einige dieſer Forſcher wollten 
in dieſen erſten Furchungs- und Teilungs— 
prozeſſen überhaupt nichts weiter als die 
) A. a. O., S. 257. 


Entſtehung des Baumateriales zum Em: 
bryo erblicken, womit dann aber die Kette 
des kauſalen Zuſammenhanges jäh zerriſ— 
ſen und die Entſtehung der beiden pri— 
mären Keimblätter unerklärt gelaſſen 
wird. Einige Beobachter behaupteten, ge— 
ſehen zu haben, daß ſich die Gaſtrulalarve 


dern auch bisweilen durch einfache Spal— 
tung (Delaminatio) der einfachen Blaſtula— 
ſchicht, wie ſie bei einem Kalkſchwamm 
und bei der Rüſſelqualle (Geryonia) beob— 
achtet worden ſein ſoll. Bei dem Kalk— 
ſchwamm iſt dieſe Angabe durch F. E. 
Schultze widerlegt worden, und wenn 
der andere höchſt vereinzelte Fall ſich wirk— 
lich bewähren ſollte, ſo würde er als eine 
ſeltene cenogenetiſche Ausnahme daſtehen, 
die in keiner Weiſe gegen die Regel ins 
Gewicht fällt. Im Übrigen haben zwei 
ausgezeichnete ausländiſche Embryologen, 
Ed. van Beneden*) und Ray-Lan— 
keſter““) die Gaſträatheorie bei ihren zum 
Teil vorhin erwähnten tiefer eindringen— 
den Arbeiten ſo lichtgebend gefunden und 
ſo treffend mit Thatſachen bewieſen, daß 
ſie ſeitdem als die beſte Theorie, die wir 
zur Erklärung der erſten tieriſchen Ent— 
wicklungsſtufen beſitzen, von der Mehr— 
zahl der entwicklungsgeſchichtlichen For— 
ſcher anerkannt wird. 

Zwar giebt es einige unter ihnen, 
die ſie allerdings nicht annehmen können, 
weil ſie jeden Zuſammenhang zwiſchen 
Hhuunterſuchungen über die erſten Phaſen 
der Reifebefruchtung und Entwicklung des Ka— 
ninchens und über die Dizyemiden. Bulletins 
de l' Académie royale de Belgique. T. XL, 
XLI u. XLII (1875 76). 

**) E. Ray -Lankester, Quarterly 
Journal of microsc. Science. Vol. XV (1875), 
p. 163. 


1 


nicht überall durch Invaginatio bilde, ſon⸗ 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 437 


Phylogenie und Ontogenie leugnen, wie 
z. B. Wilhelm His und Alexander 
Götte. Der Letztere kommt für uns nicht 
in betracht, da er als Motiv aller Entwick— 
lung ein der Materie nicht inhärentes 
„Grundgeſetz“ aufſtellt, alſo einen weſent— 
lich dualiſtiſchen Standpunkt einnimmt. 
His ſuchte ihr dagegen eine andere me— 
chaniſche Erklärung entgegenzuſtellen, die 
in der That ſehr — mechaniſch iſt. In 
ſeiner Rektoratsrede „Über die Bedeutung 
der Entwicklungsgeſchichte für die Auffaſ— 
fung der lebenden Natur“ ) ſtellt derſelbe 
ſeine in dem 1875 erſchienenen Werke 
„Unſere Körperform“ weiter entwickelte 
Theorie mit folgenden Worten dar: „Der 
Keim des Wirbeltier-Eies iſt ein flaches, 
blattförmiges Gebilde. Dies Gebilde 
wächſt von dem Eintritte der Entwicklung 
ab fort und fort, es nimmt dabei an Flä— 
chenausdehnung und an Dicke zu. Das 
Wachstum aber erfolgt nicht überall mit 
gleicher Energie, es ſchreitet in den zen— 
tralen Teilen raſcher voran, als in den 
peripheriſchen. Die notwendige Folge hier— 
von muß die Entſtehung von Faltungen 
ſein, da eine ſich dehnende Platte nur dann 
flach bleiben kann, wenn ihre Dehnung an 
allen Punkten dieſelbe iſt. Solche Falten 
treten nun, wie oben erwähnt, in der That 
ein, und mit ihnen die erſten fundamenta— 
len Gliederungen der Keimſcheibe. Nicht 
nur die Abgrenzung von Kopf und Rumpf, 
von rechts und links, von Stamm und 
Peripherie, nein auch die Anlage der 
Gliedmaßen, ſowie die Gliederung des Ge— 
hirns, der Sinnesorgane, der primitiven 
Wirbelſäule, des Herzens und der zuerſt 
auftretenden Eingeweide laſſen ſich mit 
zwingender Notwendigkeit als mechaniſche 
) Leipzig, 1870, S. 32. 


438 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


Folgen der erſten Faltenentwicklung de— 
monſtriren.“ Die vier Extremitäten der 
Wirbeltiere ſollen hiernach „den vier Ecken 
eines Briefes ähnlich, durch die Kreuzung 
von vier den Körper umgrenzenden Fal— 
ten“ entſtehen! 

Sollte man es wohl für möglich hal— 
ten, daß ein Univerſitätslehrer ſo kindi— 
ſchen Blödſinn ſchwatzen könnte, wie er in 
dieſer von Haeckel ſcherzhaft als „Brief— 
kouverttheorie“ bezeichneten Erklärung zu 
Tage kommt? Abgeſehen von der Unwahr— 
heit, mit der ſie debütirt, da keineswegs 
der Keim aller Wirbeltiere anfangs als 
flache Scheibe erſcheint, entbehrt ſie der 
Hauptſache, nämlich eines jeden kauſalen 
Hintergrundes, der uns ſagt, wie die flache 
Scheibe dazu kommt, ſich zu bilden und 
ſo in die Breite zu gehen, warum ſie es in 
anderen Fällen nicht thut u. ſ. w. Für 
die Wiederkehr der Ahnenformen in der 
Jugendgeſchichte der Nachkommen und für 
die Rückſchlagsformen und rudimentären 
Organe hat ſie keine irgend plauſible Er— 
klärung, wenn man nicht etwa den von 
Haeckel treffend als „Höllenlappentheo— 
rie“ bezeichneten Scherz ſo nennen will. 
Während die Phylogenie in den rudimen— 
tären Organen die verkümmerten Reſte 
uralter, längſt außer Dienſt geſtellter Or— 


gane erblickt, die bei den Vorfahren wirk- 


liche Funktionen ausübten, betrachtet His 
ſie als „embryologiſche Reſiduen, den Ab— 
fällen vergleichbar, welche beim Zuſchnei— 
den eines Kleides, auch bei der ſparſam— 
ſten Verwendung des Stoffes, ſich nicht 
völlig vermeiden laſſen.“ „Höllenlappen 
alſo,“ ruft Haeckel mit Recht“), „welche 
die ſchlaue Schneiderin „Natur“ beiſeite 
) Haeckel, Ziele und Wege der heutigen 
Entwicklungsgeſchichte. Jena, 1875, S. 27. 


ſteckt und hinter den Ofen in die „Hölle“ 
wirft!“ 

Zwiſchen ſolchen Erklärungen, die 
ſchlimmer ſind, als gar keine, und der 
durch tauſend und abertauſend Thatſachen 
unterſtützten, welche die Darwinſche The— 
orie an die Hand giebt, ſollte wohl von 
irgend einem Schwanken bei denkenden Be— 
urteilern nicht die Rede ſein können. Man 
kann den Dualiſten begreifen und achten, 
der in jeder neuen Dehnung und Streckung 
jedes einzelnen Embryo die unmittelbare 
Hand Gottes ſieht, wenn man auch Bayle 
Recht geben wird, daß die Berufung auf 
Gott kein Philoſophiren iſt, aber einen 
ſolchen Aberwitz wie die „mechaniſche Er— 
klärung“ von His kann man wirklich nur 
mit Humor genießen. 

Alle ſolche „mechaniſchen“ Theorien 
müſſen dem geſunden Menſchenverſtande 
unannehmbar bleiben, weil ſie einerſeits 
keine wirklich kauſale Erklärung anbah— 
nen, warum der Embryo ſo viele Umwege 
einſchlagen muß, um zu einem auf gerade— 
rem Wege zu erreichenden Ziele zu gelan— 
gen — wie wir dies bei der abgekürzten 
Entwicklung manchmal ausgeführt ſehen — 
und uns vor allem die Erklärung ſchuldig 
bleiben, warum der Embryo höherer Tiere 
die Organiſationsſtufen niederer Abteilun— 
gen durchläuft und deshalb unter Umſtän— 
den auf früheren Stufen ſtehen bleiben 
kann, bei dem ſogenannten Rückſchlag 
auf die Ahnenform. Suchen wir uns 
einmal klar zu machen, was hierbei eigent— 
lich ſtattfindet, jo werden wir alsbald fin— 
den, daß auch dieſe Erſcheinung ſchon für 
ſich gebieteriſch die Annahme des biogene— 
tiſchen Grundgeſetzes fordert. Bekanntlich 
tritt ein ſolcher Rückſchlag am häufigſten 
nach einer Baſtarderzeugung, der 


— 


— 


Vermiſchung zweier zwar verwandter, 
aber doch hinlänglich verſchiedener For— 


erfahrungsgemäß nur möglich bei 


ſolchen einander naheſtehenden 


Weſen, die eine nahezu gleiche 
Entwicklungsweiſe bewahrt haben, 
weil ſie in nicht zu ferner Vorzeit 
aus einer gemeinfamen Stamm— 
form hervorgegangen ſind. Entfern— 
ter ſtehende Formen, deren Entwicklungs— 
weiſe ſchon lange eine ſehr verſchiedene ge— 
worden iſt, deren Wege ſich alſo auch in der 
individuellen Entwicklung früh trennen, kön— 
nen ſich zu keiner gemeinſamen Entwicklung 
verbinden, ihre Geſchlechtsprodukte üben 
vielmehr gar keine befruchtende Wirkung 
mehr auf einander, weil die ſpätere Di— 
vergenz der Entwicklung einen rückwirken— 
den und modifizirenden Einfluß ſchon auf 
die erſten Entwicklungsſtufen ausgeübt hat. 
„Die Entwicklungsgeſchichte iſt,“ wie Baer 
ſagt, „die Geſchichte der ſich entwickelnden 
Individualität in jeglicher Beziehung.“ 
Schon Ei und Samenzelle bergen ja alle 
ihre ſpäteſten Erwerbungen und ſind, ob— 
wohl morphologiſch vielleicht nicht zu un— 
terſcheiden, doch in ihrem Weſen durchaus 
individuell. Die Gaſtrula des einen Tie— 
res, ſo ähnlich ſie derjenigen eines andern 
ſein mag, iſt von Anfang an z. B. eine 
Pflanzentier- oder Wurmgaſtrula und die 
der beſondern Art. Aber wie nun in je— 
dem Keime ſich die Eigentümlichkeiten von 
Männchen und Weibchen vermiſchen, ſo 
können ſolche Formen, deren Vorgeſchichte 
es ihnen möglich macht, in ihrer Entwick— 
lung eine weite Strecke, beinahe bis zu 
Ende denſelben Weg zu gehen, mit einan— 
der gekreuzt werden, während zwei andere, 
wenn auch ganz nahe verwandte Arten, 


8 


men ein. Die Baſtarderzeugung tft 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 439 


von denen die eine in ihrer Keimesgeſchichte 
eine cenogenetiſche Einwirkung erfahren 
hat, keinenfalls Baſtarde liefern werden. 

Denken wir uns nun, daß bei der Ent— 
ſtehung eines Baſtardembryos die Ent— 
wicklung bei dem Punkte angekommen ſei, 
wo eigentlich die Wege des väterlichen 
und mütterlichen Anteils ſich trennen müß— 
ten. Was wird nun geſchehen? Von der 
einen Seite iſt dieſe, von der andern jene 
Direktion eingeboren. Es wird alſo in der 
Regel eine diagonale Richtung befolgt 
werden müſſen, deren Lage wahrſcheinlich 
von der relativen Lebenskräftigkeit der 
beiden Komponenten beſtimmt wird und 
zugleich davon, ob mehr oder weniger 
Samenfäden in die weibliche Zelle einge— 
treten ſind. Je ſtärker die Zugkraft und 
je länger alſo die väterliche Seite des 
Kräfteparallelogramms iſt, deſto weniger 
weit wird die Diagonale von ihr divergi— 
ren und umgekehrt. Wir können uns bild— 
lich die nach Vollendung des letzten gemein— 
ſamen Schrittes drohende Verwirrung aus— 
malen, durch die in einen gewiſſen Wider— 
ſtreit tretenden ferneren Entwicklungsten— 
denzen, die erſt jetzt in ihrer ganzen Schärfe 
auftreten. Oftmals werden ſich dieſelben 
ausgleichen, aber in anderen Fällen wird 
der Embryo noch einige unſichere Schritte 
nach der einen oder andern Richtung thun, 
aber im allgemeinen bei der Ahnen— 
form ſtehen bleiben, die beiden 
elterlichen Arten geme inſam war, 
es wird ein partieller oder vollſtändiger 
Rückſchlag eintreten. Das iſt wohl die 
einfachſte Erklärung der Rückſchlagstendenz 
der Baſtarde.“) 

) Vergl. dagegen Fritz Müller, Kos— 


mos, Bd. II, S. 56, der eine auf den erſten 
Anblick ähnliche, aber doch weſentliche verſchie— 


2 


440 


Wenn wir uns der erwähnten rück— 
wirkenden Kraft der individuellen Weiter— 
entwicklung auf die Geſchlechtsprodukte 
erinnern, ſo werden wir leicht verſtehen, 
weshalb dieſelben ſo gewöhnlich bei Ba— 
ſtarden ihre Entwicklungsfähigkeit völlig 
einbüßen. Sie beſitzen nicht mehr die durch 
unzählige Wiederholungen eingeprägte, 
einheitliche Entwicklungsenergie der Eltern, 
ihr „Gedächtnis“ iſt getrübt, es fehlt die 
Übung, den neuen Weg nochmals zu fin— 
den. Das ſind natürlich nur Worte und 
Umſchreibungen, aber ſie eröffnen uns ei— 
nen Begriff ſowohl von der Urſache der 
Rückſchlagsneigung als von derjenigen der 
herrſchenden Unfruchtbarkeit der Baſtarde. 
Sie machen uns auch begreiflich, warum 
Baſtarde, wenn ſie unter glücklichen Um— 
ſtänden einmal fruchtbar geworden ſind, 
es in ihrer Deszendenz bleiben können, 
ſofern ſich der „diagonale Entwicklungs— 
weg“ mit jeder Wiederholung mehr be— 


dene Anſicht: Ausgleichung der Divergenzen zweier 
Arten zur Urſprungsrichtung, aufſtellt. Dieſe An- 
ſicht würde eine Spaltung der Ahnenform in 
zwei einander ergänzende Hälften vorausſetzen, 


feſtigen kann. Wie man aber dieſe und 
andere Erſcheinungen der Entwicklungs— 
geſchichte anders als durch das biogenetiſche 
Grundgeſetzerklären wollte, iſt unerfindlich. 

Wir glauben, daß noch mancherlei auf 
dem Gebiete der tieriſchen Entwicklungs— 
geſchichte entdeckt werden wird und daß 
noch manche auch der beſten heutigen Theo— 
rien Modifikationen erfahren werden. Aber 
die allgemeine Grundlage dürfte geſichert 
ſein und wir haben in ihr, was das wich— 
tigſte iſt, eine Theorie, die ſich begreifen 
läßt. Wir brauchen nicht mehr an die tiefe 
Gelehrſamkeit, die Morin im Keime woh— 
nend dachte, zu glauben, und uns in der 
Verzweiflung, ſie zu begreifen, dem ab— 
gründigſten Aberglauben zuzuflüchten; und 
daß wir ſo glücklich ſind, eine von den 
unterſten bis zu den oberſten Stufen ab— 
gerundete Entwicklungsgeſchichte zu be— 
ſitzen, verdanken wir weſentlich dem Fleiße 
und Scharfblick deutſcher Forſcher. 
während es ſich doch bei neuen Arten um Neu— 
erwerbungen handelt, die beim Rückſchlag 
nicht ausgeglichen, ſondern eliminirt, aus— 
geſchieden werden. 


Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 


Die Variabilität der Alpenblumen. 


Von 
Dr. Hermann Müller. 


em unverſöhnlichſten Gegenſatz 
„„nicht nur gegen Ch. Darwins 
„Selektionstheorie, ſondern ge— 
Fr O gen die Deszendenztheorie über— 
e haupt ſteht der für die Linné— 
“ſche Schule charakteriſtiſche 
Glaube an die Konſtanz der Arten. Die 
übrigen Vorausſetzungen, aus denen die 
Selektionstheorie als unabweisbare Kon— 
ſequenz ſich ergiebt: die Vermehrung der 
organiſchen Weſen in geometriſcher Pro— 
greſſion, das dadurch unvermeidliche Zu— 
grundegehen zahlloſer Individuen jeder 
Art im unentwickelten Zuſtand, die Erb— 
lichkeit individueller Eigentümlichkeiten — 
wird auch jeder Anhänger der alten Schule 
ohne beſondere Schwierigkeit als unbe— 
ſtreitbare Thatſache anerkennen. Daß aber 
Tier⸗ oder Pflanzenarten von den in latei— 
niſchem Lapidarſtil ihnen aufgeprägten 
Diagnoſen in dem Grade ſollten abweichen 
können, um aus individuellen Abänderun— 
gen im Laufe der Zeiten verſchiedene Raſ— 
ſen, Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w. 
werden zu laſſen, iſt mit dem Glauben an 
die innerhalb gewiſſer Grenzen abſolute 


Konſtanz der Arten unvereinbar. Daß es 
ſich aber hier in der That nur um einen 
von früher Jugend an eingeſogenen Glau— 
ben, nicht um eine auf Thatſachen gegrün— 
dete Überzeugung handelt, dürfte wohl 
ohne weiteres jedem klar werden, der mit 
offenem Auge auch für die individuellen 
Abänderungen — jahrelang irgendwelches 
Gebiet organiſcher Formen durchmuſtert. 
Ich habe bei meinen Unterſuchungen 
von Alpenblumen auch die mir ungeſucht 
begegnenden Beiſpiele von Variabilität 
derſelben aufgezeichnet und dieſelben in 
meinem jetzt unter der Preſſe befindlichen 
Werke über Alpenblumen!) geordnet zu— 
ſammengeſtellt. Die Anſicht, daß es für 
jeden Anhänger der Entwicklungslehre von 
einigem Intereſſe ſein müßte, zu ſehen, 
wie die ſeiner Auffaſſung der organiſchen 
Welt zugrunde liegende Vorausſetzung 
hinlänglicher Variabilität ſich in irgend— 
einem ſpeziellen Gebiete thatſächlich be— 
gründet zeigt, veranlaßt mich, die wichtig— 


*) Alpenblumen, ihre Befruchtung durch 
Inſekten und ihre Anpaſſungen an dieſelben. 
Leipzig, Wilh. Engelmann. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 


56 


442 


ſten von mir zuſammengeſtellten That— 
ſachen hier mitzuteilen. 
A. Abänderung der Blumenfarben. 

Aus Schübelers Verſuchen!) wiſſen 
wir, daß mit der Dauer intenſiver Licht— 
einwirkung die Intenſität der Blumenfar— 
ben, ſo wie der Pflanzenfarben überhaupt, 
ſich ſteigert. Die Alpen haben nun zwar 
vor dem umgebenden Tieflande keine län— 
gere Belichtungszeit, wohl aber eine leich— 
ter durchſtrahlbare Atmoſphäre voraus; 
auch das kann, wenn Schübelers Schluß— 
folgerungen begründet ſind, auf die Farben 
der Alpenblumen nicht ohne Einfluß ſein, 
und wir werden kaum zweifeln können, daß 
die durchſchnittlich etwas intenſivere und 
glänzendere Farbe der Alpenblumen eine 
direkte Folge der intenſiveren Belichtung iſt. 

Eine ſolche direkte phyſikaliſche Wir— 
kung kann uns nun zwar gewiſſe klima— 
tiſche Abänderungen (3. B. die roſenröt— 
liche Blumenfarbe der alpinen Pimpinel- 
la magna), aber niemals die Anpaſſungen 
der Farben und Formen der Blumen an 
ihre Kreuzungsvermittler, niemals über— 
haupt die Anpaſſungen gewiſſer Lebeweſen 
an ihnen fördernd oder feindlich entgegen— 
tretende andere, verſtändlich machen. Den 
notwendigen Ausgangspunkt ſolcher An— 
paſſungen bilden vielmehr vererbungsfä— 
hige individuelle Abänderungen, die nur 
indirekt durch äußere Einflüſſe bedingt 
ſein können. 

Um bei den Farben der Alpenblumen 


ſtehen zu bleiben, ſo müſſen, wenn dieſel— | 
ben durch Naturausleſe erklärbar fein ſol— 
len, 1) verſchiedene Pflanzenindividuen der— 
ſelben Art, was die Hervorbringung von 
Blumenfarben betrifft, auf dieſelben phy— | 
ſikaliſchen Einwirkungen verſchieden, wenn | 
Kosmos, Jahrg. IV, Heft 2, S. 141 fl. 


Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


auch nur ungleich empfindlich, reagiren, ſo 
daß unter ganz gleichen äußeren Umſtän— 
den individuelle Farbenvarietäten auftre— 
ten; 2) müſſen dieſe erblich ſein, ſo daß 
ſie durch fortgeſetzte Ausleſe fixirt und zu 
reinen Raſſen ausgeprägt werden können. 
Daß beides bei unſeren Kulturblumen that— 
ſächlich der Fall iſt, haben die Blumen— 
farbenzüchtungen unſerer Gärtner durch 
direkten Verſuch tauſendfältig bewieſen. 
Daß beides aber in gleicher Weiſe auch 
für die Blumen im Naturzuſtande gilt, geht 
indirekt aus den thatſächlich vorliegenden 
Erſcheinungen kaum weniger unzweideu— 
tig hervor, wofür nachfolgende Beiſpiele 
als Belege dienen mögen. 

Pimpinella magna kommt auf den 
Alpen allerdings in der Regel in der roſen— 
farbigen, von Hoppe P. rubra getauften 
Abart vor; in gleicher Meereshöhe finden 
ſich aber, wenn auch weit ſeltner, auch 
weißblumige Exemplare. 

Myotis, Polygala, Campanula, Echi- 
um treten auf den Alpen durchſchnittlich 
dunkler und glänzender blau auf, als in 
der Ebene; doch ſind auch blaſſere Abän— 
derungen nicht ſelten. Primula farinosa 
erreicht auf den Alpen zwar in einem gro— 
ßen Teile ihrer Exemplare ein intenſive— 
res Rot als es bei den pommerſchen Exem— 
plaren jemals vorkommt, ein noch größerer 
Teil bietet aber alle Farbenabſtufungen 
bis zu Blaßlila dar. Achillea Millefolium 


kommt auf den Alpen (wie übrigens auch 


im Tieflande) an denſelben Standorten mit 
weißen und mit ſchwächer oder ſtärker ro— 
ſenroten Blumenformen vor (ebenſo in der 
Ebene Anemone nemorosa, ſelbſt bis zu 
ziemlich kräftigem Karminrot). Von Lo- 
tus corniculatus finden ſich neben rein 
gelbblumigen Exemplaren andere, deren 


Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


Blumen ſich zu Ende der Blütezeit orangerot 
färben und ſo (wie andere Blumen, z. B. 
Ribes aureum in allen Exemplaren) noch 
zuletzt die Augenfälligkeit der Blumenge— 
ſellſchaft ſteigern und zugleich ihren intelli— 
genten Kreuzungsvermittlern nutzloſe Ver— 
ſuche an bereits ausgebeuteten und befruch— 
teten Blumen erſparen. 

Während in allen dieſen Beiſpielen, 
deren Zahl ſich leicht vervielfältigen ließe, 
die Empfindlichkeit der verſchiedenen In— 
dividuen derſelben Art gegen dieſelbe äu— 
ßere Einwirkung die mannigfachſten Ab— 
ſtufungen darbietet, kommen, wie bei den 
Gartenblumen ſo auch bei den wildwach— 
ſenden, andere Fälle vor, in denen einzelne 
Individuen urplötzlich und aus völlig un— 
bekannten Urſachen von allen übrigen weit 
abweichen; z. B.: 

Von Pinguicula alpina fand ich mit- 
ten unter vielen Tauſenden von weißen 
Blumen mit zwei gelbgefärbten Ausbuch— 
tungen“) ein paar einzelne dicht neben ein— 
ander ſtehendeStöcke, wahrſcheinlich Schöß— 
linge desſelben Individuums, an deren 
Blumen die drei Lappen der Unterlippe 
ganz gelb gefärbt waren, und die beiden 
Ausſackungen im Blüteneingange ſich nur 
durch noch etwas dunkleres und intenſive— 
res Gelb auszeichneten. Von Polygala 
Chamaebuxus fand ich unter Tauſenden 
von Exemplaren mit Blumen der gewöhn— 
lichen Färbung eine kleine Gruppe wahr— 
ſcheinlich ebenfalls demſelben Stocke ent— 
ſproſſener Exemplare, bei denen die als 
Fahne dienenden ſeitlichen Kelchblätter, 
anſtatt gelblichweiß, ſchön purpurn gefärbt 
waren. Mitten unter vielen Tauſenden 
von Blumen der Saxifraga aizoides mit 
goldgelber Grundfarbe und orangefarbe— 

*) Kosmos, Bd. III, S. 334. 


443 


nen Tüpfelflecken der Blumenblätter fand 
ich am Bernina eine kleine Gruppe, deren 
Blumenblätter bis auf einen ſchmalen 
orangegelben Saum brennend orangerot 
ohne Tüpfelflecken, und deren Nektarien 
dunkel karmin- bis zinnoberrot waren. 

Die Erblichkeit dieſer in freier Na— 
tur vorkommenden individuellen Abände— 
rungen der Blumenfarben ergiebt ſich in— 
direkt aus folgender Erwägung: 

Daß und wie von verſchiedenen Kreu— 
zungsvermittlern verſchiedene Blumenfar— 
ben bevorzugt werden, iſt in meinem letz— 
ten Aufſatze („Über die Entwicklung der 
Blumenfarben“) gezeigt worden. Wenn 
nun die nachgewieſenen individuellen Ab— 
änderungen der Blumenfarben erblich ſind, 
ſo muß in denjenigen Fällen, wo eine 
Blume nur von einem ganz beſtimmten 
Beſucherkreiſe gekreuzt und immer nur eine 
beſtimmte ihrer Farbenabänderungen be— 
vorzugt wird, dieſe mit mindeſtens derſelben 
(wegen der vielmal längeren zur Verfü— 
gung ſtehenden Zeit ſogar mit noch grö— 
ßerer) Sicherheit ausgeprägt werden, mit 
der der Gärtner durch bewußte Auswahl 
beſtimmte Blumenfarben erzielt. Wo da— 
gegen ein gemiſchter Beſucherkreis mit ver— 
ſchiedener Farbenauswahl ſich gleichzeitig 
an der Kreuzungsvermittlung einer Blume 
beteiligt, muß dieſelbe, wenn verſchiedene 
erbliche individuelle Abänderungen auftre— 
ten, die der Farbenliebhaberei verſchiedener 
Kreuzungsvermittler entſprechen, dauernd 
in einem unentſchiedenen Schwanken zwi— 
ſchen verſchiedenen Blumenfarben verhar— 
ren. Der thatſächliche Befund der Blumen— 
farben entſpricht, wie gleich gezeigt wer— 
den ſoll, dieſer aus der Vorausſetzung der 
Erblichkeit der individuellen Farbenabän— 
9 Kosmos, Bd. VII, S. 350. 


8 


444 


derungen gezogenen Konſequenz und läßt 
alſo auf die Richtigkeit dieſer Voraus— 
ſetzung zurückſchließen. 

In der That ſehen wir diejenigen Blu— 
men, an deren Kreuzung ſich eine gemiſchte 
Geſellſchaft mit verſchiedener Farbenaus— 
wahl beteiligt, nicht ſelten zwiſchen ver— 
ſchiedenen von ihren Kreuzungsvermittlern 
bevorzugten Farben völlig unentſchieden 
ſchwanken: Von den Alpenblumen, die of— 
fenen, unmittelbar ſichtbaren Honig dar— 
bieten und kurzrüſſelige Inſekten mannig— 
facher Art anlocken, blüht z. B. Saxifraga 
aizoon bald rein weiß, bald weiß mit 
ſchwärzlich purpurnen Sprenkelflecken; 8. 
exarata bald weiß, bald gelblich; 8. 
muscoides bald grünlich weiß, bald gelb— 
lich weiß, nach Koch auch rein gelb (v. ero- 
cea) oder ſchwärzlich-purpurn (V. atropur- 
purea). Die Pollenblume Anemone al- 
pina blüht an denſelben Standorten gelb 
und daneben weiß. 

Bei manchen Falterblumen ſchwankt 
die Farbe ebenſo wie die Tageszeit, in 
der ihre Kreuzungsvermittler fliegen. So 
ſchwanken z. B. Gymnadenia conopsea 
und Daphne striata, die ſowohl von Tag— 
wie von Nachtfaltern beſucht und gekreuzt 
werden, zwiſchen roſenroter und ſchneewei— 
ßer Blumenfarbe, während die mehr auf 
Nachtfalter angewieſeneGymnadenia odo- 
ratissima mehr den blaſſen Farbenabſtu— 
fungen zuneigt. Crocus, dem da, wo ich 
ihn in Maſſe zu beobachten Gelegenheit 
hatte?), vorzugsweiſe Abend- und Nacht- 
falter als Kreuzungsvermittler zu teil wer— 


den, ſchwankt daſelbſt zwiſchen dem bei 
klarem Himmel unmittelbar nach Sonnen— 
untergang am vorteilhafteſten wirkenden | 
Violett und dem in tieferer Dämmerung | 
9 Kosmos, Bd. VI, ©. 448 ff. 


8 N 


Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


wirkſamſten Weiß, während derſelbe Cro- 
cus an einem ſüdlicheren Standorte (Val 
Camonica), wo ihn Nieca beobachtete 
und häufig von Tagfaltern beſucht fand, 
nur Schwankungen zwiſchen Weiß und 
Roſenrot darbot. 

Bei denjenigen Blumen dagegen, de— 
nen ausſchließlich von einem ſo beſtimmt 
ihnen angepaßten Beſucherkreiſe, wie z. B. 
Hummeln oder Tagfaltern, die Wohlthat 
der Kreuzung zu teil wird, pflegt in der 
Regel auch eine ganz beſtimmte Farbe zur 
Ausprägung zu gelangen und faſt aus— 
ſchließlich aufzutreten, wie das an den 
Hummelblumen und Tagfalterblumen be— 
reits in meinem früheren Aufſatze hinläng— 
lich gezeigt worden iſt. 

Dieſe letzte Regel hat jedoch einige 
ſehr bemerkenswerte Ausnahmen, die uns 
auf den Atavismus als eine beſondere 
Urſache gewiſſer Abänderungen, auch von 
Blumenfarben, hinweiſt. Zahlreiche Blu— 
men nämlich, die von urſprünglich gelber, 
roter oder weißer Farbe durch die un— 
bewußte Züchtung einſichtigerer Kreu— 
zungvermittler zu Rot, Violett oder Blau 
fortgeſchritten ſind, fallen bisweilen in eine 
urſprünglichere Farbe wieder zurück. Ich 
erinnere nur an Ajuga genevensis, Poly- 
gala- und Myosotis-Arten, die aus der 
blauen bisweilen in die violette, roſenrote 
oder weiße, an Salvia pratensis, die bis- 
weilen im Freien, und Hepatica, die ſehr 
leicht in der Kultur in die roſenrote Farbe 
zurückfallen, ſowie an die bereits in mei— 
nem vorigen Aufſatze erwähnte gelbe Ab— 
änderung von Viola calcarata. 

B. Schwankungen der Blumengröße und 
mit denſelben zuſammenhängende Ab— 
änderungen. 

Wie die Abänderungen der Blumen— 


— 


farbe, ſo müſſen ſich alle Blumenabände— 
rungen überhaupt auf 

a. unmittelbare phyſikaliſche Wir— 
kungen, 

b. vererbungsfähige individuelle Ab— 
änderungen, 

c. durch Ausleſe mehr oder weniger 
befeſtigte Abänderungen, 

d. Rückfälle in urelterliche Merkmale zu: 
rückführen laſſen; oder mit anderen Worten: 

Als Urſachen der Abänderungen kon— 
kurriren: 

a. äußere phyſikaliſche Einflüſſe, 


viduellen Anlage, 

C. die die letzteren erhaltende und an— 
häufende Wirkung einer beſtimmt gerich— 
teten Ausleſe zur Fortpflanzung, 

d. die Rückerinnerung des ſich geſtal— 
tenden Organismus an die in früheren 
Generationen geübten Thätigkeiten.“) 

Welcher der vier Fälle oder welche Kom— 
bination derſelben aber bei irgend einer 
gegebenen Blumenabänderung vorliegt, iſt 
in der Regel ſchwieriger zu unterſcheiden. 

Schwankungen der Blumengröße ſind 
auch bei den Alpenblumen etwas ſo gewöhn— 
liches, daß faſt jede meiner Einzelbeſchrei— 
bungen ſolche nachweiſt. In wiefern dieſe 
Schwankungen nun, wenn ſie als erbliche 
individuelle Abänderungen auftreten, durch 
Steigerung oder Verringerung der Augen— 
fälligkeit die Reichlichkeit des Inſektenbe— 
ſuchs und dadurch mittelbar auch die Na— 
turzüchtung der Blumen in ausgedehnter 
Weiſe beeinfluſſen können, habe ich bereits 


*) Samuel Butler, Kosmos, Bd. V, 
S. 22—38; Ewald Hering, Über das Ge— 
dächtnis als eine allgemeine Funktion der or— 
ganiſchen Materie. Zweite Auflage. Wien, Ge— 
rolds Sohn. 1876. 


b. innere Eigentümlichkeiten der indi⸗ 


Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 445 


in einem früheren Auffage*) dargethan, 
der auch für manche neuen Fälle von 
Blumenpolymorphismus, die mir auf den 
Alpen begegnet ſind, eine Erklärung enthält. 

Auch darauf, daß mit der Verkleine— 
rung der Blumen nicht ſelten eine Ver— 
minderung der Zahl der Blütenteile ver— 
bunden erſcheint, wurde bereits in jenem 


Aufſatze hingewieſen. Die Betrachtung 


der Alpenblumen hat aber gerade hierfür 
ſo zahlreiche neue Belege geliefert, daß es 
ſich wohl der Mühe verlohnt, die wichtig— 
ſten derſelben hier zuſammenzuſtellen, um 
ſo mehr, als andere Beiſpiele ſich ihnen 
zugeſellen, die auch nach der entgegen— 
geſetzten Seite hin eine gewiſſe Abhängigkeit 
der Zahl der Blütenteile von der Blumen— 
größe beweiſen. In vielen Fällen 
ſinkt und ſteigt mit der Blumen— 
größe auch die Zahl der Blüten— 
teile. Belege: 

Unter den urſprünglich 5zähligen Roſa— 
zeen ſind diekleinblumigſten (Alchemilla**) 
4Jzählig, ausnahmsweiſe ſogar 3zählig ge— 
worden, ihre Blumenblätter ſind ver— 
ſchwunden, die Zahl ihrer Stempel iſt auf 
1 reduzirt, nur ſelten findet noch einmal 
ein Rückſchlag der Kelchblätter und Staub— 
gefäße in die Fünfzahl ſtatt. Dagegen 
bringen die großblumigenPotentilla-Arten, 
anſtatt 5, bisweilen 6 oder 7, die Geum— 
Arten 6—8, Dryas 7—9 Kelch- und 
Blumenblätter hervor und die Zahl der 
Staubgefäße ſteigert ſich in noch ungleich 
ſtärkerem Verhältnis. 1 

Bon den Gentiana-Arten zeigen die 


) Das Variiren gefärbter Blütenhüllen ꝛc. 


Kosmos, Bd. II, S. 11, 128. 


au) Die mit * bezeichneten Arten find in 
meinem Werke über Alpenblumen durch Abbil— 
dungen erläutert. 


Pe 


446 Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


kleinblumigen (campestris“, tenella* und | finden ſich bisweilen 6zählige, niemals 4“ 


nana“) große Hinneigung zur Vierzählig— 
keit, während die großblumige punctata* 
6=, 7 und 8zählige Blüten hervorbringt. 
(Bei den höher entwickelten Coelanthe- 
und bei den Cyclostigma-Arten! ſcheint 
dagegen mit dem beſtimmteren Bau auch 
die Fünfzahl ſich weiter befeſtigt zu haben.) 

Beſonders auffällig hat ſich bei den 
Kraſſulazeen mit der Größe der Blumen 
die Zahl der Blütenteile geſteigert und 
vermindert. Sempervivum arachnoideum 
hat 9—11, montanum 9—12, Funkii* 
10—13, tectorum 11—13, die noch 
großblumigere Wulfeni 13—16zählige 
Blüten, wogegen bei unſeren kleinblumig— 
ſten Kraſſulazeen nur 4= und zzählige 
Blüten vorkommen. 

Bei der kleinblumigen Rhamnus pu- 
mila“ ſind ähnlich wie bei Alchemilla die 
Blüten 4zählig geworden und die Blumen— 
blätter oft bis auf 0 reduzirt; doch kommt 
auch ein Rückfall in 5zählige Blüten mit 
der vollen Zahl der Blumenblätter nicht 
eben ſelten vor. 

Die kleinen und bereits Jzähligen 
Blüten von Thesium alpinumè und Aspe- 
rula taurina® ſinken (wie Alchemilla) 


nicht ſelten ſogar zur Dreizähligkeit hin— 


ab; die kleinblumigen Exemplare von Par- 
nassia palustris“ haben nur 3 Frucht— 
blätter ſtatt 4 und auf jedem Stamino— 
dium nur 7 geſtielte Knöpfchen (Schein— 
nektarien) ſtatt 9 oder 11. 

Sechszählige Blüten mit 3 Stempeln 
habe ich unter allen Saxifraga-Arten nur 
bei der großblumigſten (aizoides) gefunden. 

Primula farinosa“ neigt in der nord— 
deutſchen Tiefebene zu einer Verbreite— 
rung, auf den Alpen zu einer Verſchmä— 
lerung det Saumlappen der Korolle; dort 


zählige, hier bisweilen 4zählige, niemals 
6zählige Blüten. 


Wenn alle dieſe Fälle kaum einen 


Zweifel geſtatten, daß in der That zwi— 
ſchen Blumengröße und Zahl der Blüten— 
teile ein urſächlicher Zuſammenhang be— 


ſteht, fo giebt es dagegen zahlreiche andere 


Beiſpiele, in denen uns eine Abänderung 
der Zahl aller oder gewiſſer Blütenteile als 
eine von der Blumengröße ganz unabhän— 
gige individuelle Eigentümlichkeit entgegen— 
tritt. So fand ich z. B., ohne erkennbaren 
Zuſammenhang mit der Blumengröße, 
einzelne 4zählige Blüten bei Crocus ver- 
nus“, 6zählige und Zwiſchenſtufen zwi— 
ſchen 6- und 5zähligen bei Sedum atra- 
tum, 4⸗, 5 und 6zählige und Zwiſchen— 
ſtufen bei Saxifraga oppositifolia“, 6- 
zählige bei Soldanella pusilla® und Aza- 
lea procumbens*, Verdopplung eines ein— 
zelnen Blumenblattes und des vor ihm 
ſtehenden Staubgefäßes bei Saxifraga 
oppositifolia* und muscoides*, höchſt 
ſchwankende Zahl und Anordnung der 
Kelch- und Blumenblätter bei Trollius*, 
3—6 Kelchblätter, 1—3 Blumenblätter 
bei Ranunculus parnassifolius“, 1—5 
Blumenblätter bei Ranunculus pyre- 
naeus, ein gablig geteiltes und an jedem 
Gabelaſt eine entwickelte Anthere tragen— 
des Filament bei Arenaria biflora“ u. ſ. w. 

Als Atavismus endlich dürfte es, au— 
ßer den bereits genannten Fällen, aufzu— 
faffen fein, wenn Veronica aphylla“ bis- 
weilen einmal mit 5 Blumenblättern, 
Sanguisorba, anſtatt mit 4, mit 5 Kelch— 
blättern und Staubgefäßen auftritt; wenn 
bei Cotoneaster vulgaris“ und Aconitum 
Napellus* die Griffelzahl, ſtatt 3, noch 
ſehr oft 4 oder 5 beträgt, oder bei Stel- 


\ 
5 
In 

* 

77 


e 


a 


Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


laria cerastiodes“, ſtatt 3, ſehr gewöhn— 
lich 4, bisweilen 5; bei Arenaria biflora“, 
ſtatt 3, nur ſelten 4 oder 5; bei Rubus 
saxatilis*, ſtatt 3, bisweilen 4; bei Di- 
anthus superbus“, ſtatt 2, bisweilen 3 
oder 4; oder wenn bei Valeriana tripte- 
ris“, ſtatt 3, hie und da einmal 4 Staub» 
gefäße vorkommen.“ 

C. Variabilität der Stellung und Ge— 
ſtalt der ganzen Blumen und ihrer 
Teile. 

Wie zwiſchen Blumengröße, ſo findet 
auch zwiſchen Stellung und Geſtalt der 
Blumen ein unverkennbarer Zuſammen— 
hang ſtatt. In zahlloſen Fällen iſt von 
nächſtverwandten Blumenformen die eine 
gerade nach oben oder unten gerichtet und 
nach allen Seiten gleich geſtaltet, die an— 
dere nach der Seite gerichtet und nach 
rechts und links gleich, nach unten und 
oben aber verſchieden geſtaltet. Und zwar 
läßt ſich dieſer Unterſchied von den Blüten 
desſelben Individuums bis zu umfaſſen— 
den ſyſtematiſchen Abteilungen verfolgen. 
Einige wenige Beiſpiele werden genügen, 
dies darzuthun. 

An demſelben Stocke ſind bei Saxi- 
fraga stellaris“ die gerade nach oben ges 
richteten Blüten regelmäßig, die ſeitlich 
gerichteten zum Teil bilateral ſymmetriſch 
geſtaltet und mit gelben Flecken gezeichnet. 
Innerhalb derſelben Art finden ſich bei 
Soldanella pusilla Stöcke mit ſenkrecht 
herabhangenden, ringsum gleichgeſtalteten 
Blumenglocken (forma pendula“ m.), an⸗ 
dere mit ſchräg abwärts geneigten, unten 
etwas weiter ausgebreiteten Blumenglocken 
(forma inclinata“ m.). In derſelben Gat— 
tung Pyrola haben die Arten uniflora* 
und minor gerade nach unten gekehrte, 
regelmäßige Blumen mit zentralem und in 


447 


der Richtung der Axe verlaufendem Griffel, 
wogegen in den nach der Seite gerichteten 
Blumen von P. rotundifolia“ der Griffel 
ſich nach unten gebogen vorſtreckt, die 
Staubgefäße ſich aufwärts biegen und 
von den Blumenblättern die drei unteren 
an Größe die beiden oberen übertreffen. 
Innerhalb derſelben Familie ſehen wir 
die Gattung Geranium* regelmäßige, nach 
oben gerichtete Blüten hervorbringen, wo— 
gegen in den ſeitlich gerichteten Blüten 
von Erodium die unteren Blumenblätter 
ſich verlängern und die oberen ein beſon— 
deres Saftmal erlangen. Innerhalb der— 
ſelben Ordnung (der Leguminoſen) bieten 
uns die Papilionazeen und Mimoſazeen 
entſprechende Beiſpiele dar. Jeder Pflan— 
zenkenner wird die Zahl dieſer Beiſpiele 
ohne weiteres aus eigener Erinnerung 
vervielfältigen können. Dagegen iſt kein 
einziges Beiſpiel bekannt, in dem von zwei 
nächſtverwandten Blumenformen die eine 
ſenkrecht nach unten oder oben gerichtet 
und bilateral ſymmetriſch, die andere ſeit— 
lich gerichtet und regelmäßig geſtaltet 
wäre. Ein urſächlicher Zuſammenhang 
zwiſchen Stellung und Geſtalt der Blumen 
findet alſo unzweifelhaft ſtatt. Es fragt 
ſich nur, in welchem Grade auch hier einer— 
ſeits unmittelbar phyſikaliſche Wirkung, 
andererſeits vererbungsfähige individuelle 
Eigentümlichkeiten, infolge deren auf die— 
ſelbe äußere Einwirkung das eine Indi— 
viduum erheblich, ein anderes weniger, ein 
drittes gar nicht reagirt, eine Rolle ſpielen. 

Schon bei den Blüten desſelben Stockes 
tritt eine ſolche individuelle Verſchiedenheit 
auffallend zutage. Bei Saxifraga stella- 
ris z. B. beſitzen keineswegs alle, ſondern 
nur ein mehr oder weniger großer Teil 
der ſeitlich gerichteten Blüten, und dieſe 


448 Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


in verſchiedenem Grade, die bilateral ſym— 
metriſche Form und Zeichnung. Daß bei 


Berberis-, Campanula-, Gentiana-Arten 


und in zahlloſen anderen Fällen die Blu— 


men häufig nichts weniger als ſenkrecht | 
gerichtet und trotzdem regelmäßig geſtaltet 


ſind, iſt allbekannt. Seitliche Stellung 
kann alſo, muß aber nicht unbedingt eine 
nach oben und unten verſchiedene Ausbil- 
dung der Form zur Folge haben. Bei 
vielen Arten wirkt eine Abweichung der 
Blumen von der ſenkrechten Stellung gar 
nicht formverändernd ein; bei den Arten, 
wo ſie formändernd einwirkt, thut ſie es 
nicht unmittelbar an allen Pflanzenſtöcken, 
bei den reagirenden Pflanzenſtöcken nicht an 
allen Blumen, bei den reagirenden Blu— 
men endlich in ſehr ungleichem Grade. 

Haben dann die ſymmetriſch geſtalte— 
ten Blumen vor den regelmäßigen keinen 
beſonderen Vorteil voraus, und bei völlig 
offener Lage des Honigs läßt ſich ein ſol— 
cher in der That kaum erkennen, ſo kann 
eine Naturausleſe der erſteren ſelbſtver— 
ſtändlich nicht ſtattfinden, und es bleibt bei 
dem individuellen Schwanken, wie es uns 
Saxifraga stellaris darbietet. Gewährt 
dagegen die ſymmetriſche Geſtaltung den 
Blumen einen entſcheidenden Vorteil, z. B. 
eine Bevorzugung ſeitens der Kreuzungs— 
vermittler, ſo muß ſie, wenn geeignete 
individuelle Abänderungen auftreten, durch 
Naturausleſe zur feſten und alleinigen Aus— 
prägung gelangen. | 

Käme es vor, daß durch unmittelbare 
pyyſikaliſche Wirkung der Stellung alle 
ſeitlich geſtellte Blüten einer Pflanze um— 
geſtaltet würden, ſo müßten wir auch ſol— 
che Pflanzen mit lauter bilateral ſymme— 
triſchen Blüten finden, bei denen die ver— 
ſchieden geſtalteten unteren und oberen 


Blütenteile keinen verſchiedenen Lebens— 
dienſt leiſteten, und irgend ein Vorteil der 
ſymmetriſchen Geſtaltung für das Leben 
der Pflanze überhaupt nicht aufzufinden 
wäre. Thatſächlich aber läßt ſich in allen 
mir näher bekannten Fällen, wo urſprüng— 
lich ſenkrecht geſtellte regelmäßige Blumen 
zugleich mit ſeitlicher Stellung Symmetrie 
der Geſtalt als befeſtigte Eigentümlichkeit 
erlangt haben, ein entſcheidender Vorteil 
erkennen, den die ſymmetriſchen Blüten 
vor den regelmäßigen voraushatten. In 
der Regel beſteht derſelbe darin, daß die ver— 
längerten unteren Blumenblätter den Kreu— 
zungsvermittlern eine bequemere Stand— 
fläche zum Gewinnen des meiſt völlig ge— 
borgenen Honigs darbieten (wie z. B. bei 
Erodium), was dieſe natürlich zu einer Be— 
vorzugung der ſymmetriſchen vor den re— 
gelmäßigen Blüten veranlaſſen mußte; oft 
außerdem oder allein in einer Begünſti— 
gung oder Sicherung regelmäßiger Kreu— 
zung durch die Beſucher (Verbascum, Ve— 
ronica, Lopezia ete.), was ebenfalls ſchließ— 
liches alleiniges Überleben der ſymmetri— 
ſchen Blüte zur Folge haben mußte. 

Senkrechte regelmäßige Blüten pflegen 
zwar in der Regel auch nach allen Seiten 
gleichmäßig abzuändern, wie z. B. bei 
Soldanella pusilla“ der aus dem ſoge— 
nannten Schlundſchuppen gebildete, als 
Saftdecke dienende Schirm, der bald mehr, 
bald weniger ausgebildet auftritt; aber 
ausnahmslos iſt dies doch keineswegs der 
Fall. Auch völlig unabhängig von der 
Stellung kommen Unregelmäßigkeiten der 
Geſtaltung der Blumen vor. Der ſchiefe 
Narbenknopf der langgriffeligen Blüten 
von Primula integrifolia“, das verdop— 
pelte Blumenblatt nebſt davor ſtehendem 
Staubgefäß in Blüten von Saxifraga mus- 


N 
| 
| 


. — 


| 
| 
| 
I 


9 


Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


coides* und oppositifolia“, das gabeltei— 
lige Staubgefäß in einer Blüte von Are- 
naria biflora®, die höchſt unregelmäßige 
Entwicklung der Blumenblätter und Nek— 
tarien bei Ranunculus parnassifolius“ 
und pyrenaeus“ ſind dafür ganz unzwei— 
deutige Belege. Auch derartige individu— 
elle Abänderungen können, wenn ſie dem 
Inhaber einen entſcheidenden Vorteil ge— 
währen, durch Naturausleſe zu dauernden 
Eigentümlichkeiten ausgeprägt werden, wie 
die nach der Seite gebogenen Griffel der 
gerade nach unten gerichteten Blumen von 
Lilium Martagon (und Methonica glo— 
riosa) beweiſen. 

Aus dem allem ſcheint klar hervor— 
zugehen, daß zwar die Stellung der Blu— 
men auf ihre Geſtaltung unzweifelhaft 
einwirkt, daß namentlich zum Übergang 


urſprünglich regelmäßiger Blumenformen 


in ſymmetriſche in der Regel ſeitliche Stel— 
lung den erſten Anſtoß gegeben hat, daß 
aber die Fixirung ſymmetriſcher Blumen- 
formen nur durch vererbungsfähige indivi— 
duelle Abweichungen und durch das ſchließ— 
lich alleinige Überleben der vorteilhaften 
Abänderungen zu Stande gekommen iſt. 


Und was von der Fixirung, gilt ſelbſtver- 


ſtändlich auch von der weiteren Ausprä— 
gung ſymmetriſcher Blumenformen. Auch 
wenn ſie bereits ſo befeſtigt ſind, daß ſie 
nie mehr oder nur noch höchſt ausnahms— 
weiſe in die regelmäßige Urform zurück— 
fallen, treten mannigfache neue individuelle 
Abänderungen an ihnen auf. Auch dieſe 
erlangen, wenn ſie nutzlos ſind, wie z. B. 
die Nebennektarien in den Blüten von Va- 
leriana montana“, feine weitere Verbrei— 
tung. Wenn ſie dagegen von entſcheiden— 
dem Vorteile ſind, wie z. B. die beſonders 


tiefe Honigbergung von Falterblumen in 


449 


einer von Makrogloſſen reichbeſuchten Ge— 

gend (Viola calcarata“ u. a.) oder die un⸗ 
ſymmetriſche Verdrehung der Blumen von 
Pedicularis asplenifolia“ ), fo werden auch 
ſie durch Naturausleſe zu konſtanten Merk— 
malen ausgeprägt. 

Auch in Bezug auf die Stellung und 
Geſtalt der Blumen oder einzelner Blüten— 
teile haben wir den Rückfall in urelterliche 
Eigentümlichkeiten als eine beſondere Klaſſe 
von Abänderungen beſonders zu berück— 
ſichtigen. Die mannigfachen Zwiſchenſtu— 
fen zwiſchen ſenkrecht nach unten gerichteter 
und wagerechter oder ſchräg abwärts fal— 
lender Blumenſtellung bei Lilium Marta- 
gon“, zwiſchen gar nicht gedrehter und halb 
umgedrehter Blumenſtellung bei Nigritel- 
la angustifolia“, zwiſchen ausgeprägter 
Schlagbaumform und Hufeiſenform bei den 
Staubgefäßen der weiblichen Blüten von 
Salvia pratensis“, zwiſchen zungen- und 
röhrenförmigen Blüten bei Senecio car- 
niolicus* find uns als bald mehr, bald 
weniger gelungene Rückerinnerungen der 
Blumen an eine unter andern Lebens— 
bedingungen durchlebte Vergangenheit am 
leichteſten verſtändlich. 


D. Variabilität der Entwicklungsreihen— 
folge und Verteilung der Geſchlechter, 
der Sicherung der Kreuzung bei eintre— 
tendem, der Ermöglichung ſpontaner 
Selbſtbefruchtung bei ausbleibendem 
Inſektenbeſuch. 

Wie durch die nachgewieſene Varia— 
bilität der bisher beſprochenen Merkmale 
die außerordentliche Mannigfaltigkeit der 
Blumenfarben und Formen, Größen und 
Zahl enverhältniſſe unſerem Verſtändniſſe 
näher gerückt wird, ſo läßt uns ein Ein— 
blick in die Variabilität der Entwicklungs— 

*) Kosmos, Bd. III, S. 493. 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 


57 


450 


reihenfolge und Verteilung der Geſchlech— 
ter begreifen, wie die Blumen im ſtande 
ſind, ihre Fortpflanzungsart veränderten 
Lebensbedingungen anzupaſſen und, je nach— 
dem der Beſuch der Kreuzungsvermittler 
geſichert oder zweifelhaft iſt, ſich auf aus— 


ſchließliche oder blos ermöglichte Kreuzung 
durch dieſelben und auf den Notbehelf ſpon- 
taner Selbſtbefruchtung einzurichten. Um 


die Betrachtung dieſer Variabilität mit Aus⸗ 


ſicht auf Erfolg in Angriff nehmen zu können, 
müſſen wir uns erſt über die urſprüngliche 


Verteilung und Entwicklungsreihenfolge 
der Geſchlechter zu orientiren ſuchen. 


Da der erſte Urſprung der Blumen 


auf Windblütler zurückzuführen iſt, die ge— 
legentlich ihres Pollens wegen von Inſek⸗ 
ten beſucht und dabei zufällig auch gekreuzt 
wurden, ſo kann es kaum zweifelhaft ſein, 
daß diejenigen Eigentümlichkeiten, welche 


den Beſuch kreuzungsvermittelnder Inſek⸗ 


ten und Kreuzung durch denſelben völlig 
ſichern, in der Regel nur langſam und all— 
mählich erworben worden ſind. 

Entweder nämlich erfolgte der Über— 
gang von der Windblütigkeit zur Inſek— 
tenblütigkeit mit Beibehaltung der ur— 
ſprünglichen Trennung der Geſchlechter, 
wie bei Salix, und dann konnte aller— 
dings ein Klebrigwerden des Pollens und 
damit ein Verzicht auf die Kreuzungsver— 
mittlung des Windes natürlich nicht eher 
durch Naturausleſe zur Ausprägung ge— 
langen, als bis durch Steigerung der dar— 
gebotenen Genußmittel (Honigabſonderung 
in beiderlei Blüten) ein die Kreuzung ſichern— 
der Inſektenbeſuch erreicht worden war. 

Oder es traten zwitterblütige Abän— 
derungen auf, die die Möglichkeit ſpontaner 
Selbſtbefkuchtung eröffneten, und denen 
es daher auch ſchon bei noch unſicherem 


| 


Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


Inſektenbeſuch vorteilhaft war, klebrigen 
Pollen zu beſitzen und infolgedeſſen durch 
gelegentlichen Inſektenbeſuch leichter ge— 
kreuzt zu werden: dann konnte natürlich 
ein Aufgeben des Notbehelfs der ſpontanen 
Selbſtbefruchtung nicht eher erfolgen, als 
bis durch Steigerung der Augenfälligkeit, 


der dargebotenen Genußmittel ꝛc. ein die 


Kreuzung ſichernder Inſektenbeſuch erreicht 
worden war. Im erſteren Falle tritt die 
Pflanze mit voller Sicherung der Kreuzung 
in die Inſektenblütigkeit ein, im letzteren 
muß ſie ſich zur Sicherung der Kreuzung 
erſt langſam emporarbeiten. Der erſtere 
Fall iſt eine ſeltene Ausnahme (ich weiß nur 
Salix anzuführen), der letztere iſt die Regel. 

In allen mir bekannten Pflanzenfami— 
lien, in denen urſprüngliche, d. h. auf nie— 


derſter Anpaſſungsſtufe ſtehende Blumen 
erhalten geblieben ſind, ohne ungewöhn— 


lich geſteigerte Anlockung erlangt zu haben, 
entwickeln ſich in der That in denſelben 
die beiden Geſchlechter ſoweit gleichzeitig 


und ſind ſo zu einander geſtellt, daß bei 


ausbleibendem Inſektenbeſuche eigener Pol— 
len auf die Narbe gelangt. Abgeſehen von 
Salix (und vielleicht mir unbekannten, in 


gleichem Falle befindlichen Inſektenblüt— 


lern) ſind alſo höchſt wahrſcheinlich alle 
Blumen urſprünglich zwitterblütig und ſo 
weit homogam geweſen, daß ſie ſich bei 


| ausbleibendem Inſektenbeſuche ſelbſt be— 
fruchteten. Erſt mit dem allmählichen Er— 


werb der den Inſektenbeſuch ſteigernden 
Eigentümlichkeiten iſt bei vielen Blumen 
eine derartige räumliche oder zeitliche 
Trennung der Geſchlechter zur Ausprä— 
gung gelangt, die bei eintretendem Inſek— 
tenbeſuche eine Kreuzung getrennter Stöcke 
durch denſelben überwiegend wahrſchein— 
lich oder unausbleiblich macht, dagegen die 


5 


BES 


1 
1 
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1 
1 
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2 


entbehrlich gewordene ſpontane Selbſtbe- 


fruchtung oft auch der Möglichkeit nach 
beſeitigt. Zahlreiche Blumen laſſen uns 


nun noch heute diejenige Variabilität er- 


kennen, die den notwendigen Ausgangs: 
punkt dieſer Ausprägung bilden mußte. 
So ſehen wir Dryas octopetala und 
ebenſo Saxifraga oppositifolia® noch heute 
zwiſchen homogamer, proterandriſcher und 
proterogyner Entwicklung ſchwanken, Saxi- 
fraga tridactylites in der einen Gegend 
zur Proterandrie, in der anderen zur Pro— 
terogynie fortgeſchritten, die übrigen Saxi— 
fraga-Arten in verſchiedenem Grade der 
Ausprägung teils proterandriſch, teils 
proterogyniſch geworden. Ebenſo ſchwankt 


Epilobium Fleischeri“ noch völlig un- 


entſchieden zwiſchen homogamer, prote— 
randriſcher und proterogyniſcher Ent— 
wicklung, während E. angustifolium aus- 
geprägt proterandriſch iſt und E. origani— 
folium * ſich proterogyn entwickelt, aber 
regelmäßig ſelbſt beſtäubt. Auch in den 
Gattungen Sedum, Gentiana, Globula- 
ria haben ſich gewiſſe Arten der Proteran— 
drie, andere der Proterogynie zugewandt. 

Für den Übergang von Homogamie 
zu ausgeprägter Proterogynie laſſen uns 
die betrachteten Alpenblumen außer den 
bereits angeführten noch manche andere 
Schwankungen und Abſtufungen erkennen. 
Einige“) ſchwanken noch zwiſchen homo— 
gamer und proterogyner, andere **) zwi— 
ſchen ſchwächer und ſtärker ausgeprägter 


) Ranunculus alpestris, Veronica alpi- 
na*, Gentiana campestris*, Soldanella al- 
pina*, Ribes petraeum*. h 

*) Sedum atratum*, Pulsatilla verna- 
lis*, Anemone alpina, Geum montanum. 

) Tofieldia calyculata*, Sedum re- 
pens*, Saxifraga androsacea*, Ranunculus 


Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


| 


451 


einen gewiſſen Grad von Proterogynie er— 
reicht, der bei zeitig eintretendem Inſek— 
tenbeſuche Kreuzung ſichert, dann aber 
ſpontane Selbſtbefruchtung zuläßt; nur 
wenige?) ſind zu ſo ausgeprägter Prote— 
rogynie fortgeſchritten, daß ſpontaneSelbſt— 
beſtäubung nur noch ſpärlich oder gar 
nicht mehr vorkommt. 

Weit größer iſt die Zahl derjenigen 
Blumen, die zu ausgeprägter Proterandrie 
gelangt ſind. Außer zahlreichen in ver— 
ſchiedenen Gattungen verteilten oder be— 
ſondere Gattungen bildenden Arten (3. B. 
Lloydia*, Veratrum“, Parnassia“, Aro- 
nia, Polemonium *) ſind die meiſten Arten 
der Gattungen Saxifraga und Gentiana, 
alle mir bekannten der Gattungen Allium, 
Sempervivum, Aquilegia, Aconitum, 
Delphinium, die überwiegende Mehrzahl 
der Alſineen und Labiaten, und wohl 
ohne Ausnahme alle Sileneen, Umbelli— 
feren, Dipſaceen, Kampanulaceen und 
Kompoſiten proterandriſch, und zwar zum 
großen Teile ſo ausgeprägt, daß ſpontane 
Selbſtbeſtäubung nicht mehr oder nur 
noch ausnahmsweiſe erfolgt. Proterandrie 
iſt alſo jedenfalls in vielen Fällen ſchon 
von den Stammeltern jetzt artenreicher 
Gattungen, ganzer Familienzweige und 
ſelbſt umfangreichſter Familien ausgebildet 
und auf alle Abkömmlinge vererbt worden. 

Von dem Variiren der Entwicklungs— 
pyrenaeus, parnassifoliusk, montanus, Ara- 
bis bellidifolia, Draba aizoides*, Hutchin- 
sia alpina, Myricaria germanica*, Cotone- 
aster vulgaris*, Rubus saxatilis*, Fragaria 
vesca, Veronica aphylla*, Gentiana tenella*. 

) Saxifraga Seguieri*, S. muscoides*, 
Geum reptans; bei Bartsia alpina“ und 
Gentiana punctata* iſt ſpontane Selbſtbe— 
fruchtung mehr durch die Stellung der Narbe 
als durch Proterogynie verhindert. 


EEE 8 


452 


Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


reihenfolge führt uns nun die Proteran— | jondern auch von dieſer zur reinen Diözie 
drie unmittelbar zum Variiren der Vertei- darſtellt. Außerdem kommen bei ihr an groß— 


lung der Geſchlechter hinüber. Denn in 


zahlreichen Fällen find ausgeprägte Pro- 
terandriften, die von Inſekten überreich 
mehr innerhalb einer und derſelben Art, 
ſondern auf verſchiedene Arten derſelben 


beſucht wurden und bei denen die Blu— 
mengröße verſchiedener Stöcke variirte, da— 


durch zur Gynodiözie, zur Diözie und zur 


polygamen Triözie fortgeſchritten. 
wir uns dieſe Umbildungen als unaus— 
bleibliche Folgen der kaum beſtreitbaren 


Wie 


Thatſache erklären können, daß augenfälli⸗ 
gere Blumen durchſchnittlich von Inſekten 


eher beſucht werden, als unſcheinbarere, 
habe ich in dem bereits oben zitirten Auf— 
ſatzs) dargelegt. Von den Alpenblumen, 
die uns dieſe Formen von Geſchlechterver— 
teilung darſtellen, will ich deshalb hier 
blos diejenigen herausgreifen, die uns 
durch Schwankungen und Übergänge das 
Entſtehen derſelben vor Augen rücken. 
Mehrere der auf den Alpen vorkom— 
menden ausgeprägten Proterandriſten tre— 
ten an manchen Orten eingeſtaltig auf, 
mit lauter großblumigen, unter ſich über— 
einſtimmenden Stöcken, anderswo mit va— 
riabler Blumengröße und zweigeſtaltig, 
nämlich mit großblumigen, ausgeprägt pro— 
terandriſchen, und kleinblumigeren, rein 
weiblichen Stöcken. Es gilt dies nament— 
lich von Geranium silvaticum * und Sal- 


blumigen Stöcken, wahrſcheinlich durch Ata— 
vismus, bisweilen homogame Blüten vor. 
Noch deutlicher ausgebildet, aber nicht 


Gattung verteilt, tritt uns derſelbe Über— 
gang in der Gattung Valeriana entgegen, 
in der ſich an die proterandriſche V. offici- 
nalis die gynodiöziſche V. montana“ und 
an dieſe die rein diöziſche V. tripteris“ 
aufs engſte anſchließt. 

Außer den mancherlei ſonſtigen ver— 
ſchiedenen Arten von Geſchlechtervertei— 
lung, die ich in dem oben erwähnten früheren 
Aufſatze zu erklären verſucht habe, ſcheint 
mir auch der Blütenpolymorphismus der 


Alchemilla-Arten, ebenſo der von Rhus 


Cotinus*) u. a., auf das Variiren der 


Blumengröße zurückzuführen zu ſein. Mit 


der allmählichen Verkleinerung der Blu— 


men hat ſich nämlich nicht nur, wie be— 


reits oben beſprochen wurde, die Zahl der 


Kelchblätter und Staubgefäße auf 4 oder 


reichend. 


via pratensis“, wahrſcheinlich auch von Si. 


lene nutans und Dianthus superbus.“ 
Bei Geranium silvaticum * kommen 


überdies an manchen Orten, wo es gyno— 


diöziſch auftritt, an den großblumigen 

Stöcken die Stempel nie mehr zur vollen 

Entwicklung (Albula), ſo daß uns dieſe 

nämliche Blumenart nicht nur den Über— 

gang von Eingeſtaltigkeit zur Gynodiözie, 
9 Kosmos, Bd. II, S. 11, 128. 


3, die der Stempel auf 1, die der Blu— 
menblätter auf 0 reduzirt, ſondern auch 
für die geringe Zahl der noch übrigen Ge— 
ſchlechtsteile erſcheint der Nahrungszufluß 
des winzigen Blütchens nicht mehr aus— 
Vielmehr erfolgt bei voller Ent— 
wicklung der Staubgefäße eine Verküm— 
merung des Stempels und bei voller Ent— 
wicklung des Stempels eine Verkümme— 
rung der Staubgefäße, ſo daß alle Über— 
gänge von in beiden Geſchlechtern ſchwa— 
chen Zwitterblüten einerſeits zu rein männ— 
lichen, andererſeits zu rein weiblichen vor— 
kommen. 

Hr *) H. Müller, Befruchtung der Blumen, 
S. 157, Fig. 49. 


Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


453 


Aber auch in vielen Fällen, wo ein rungszufluß und Verkümmerung des weib— 


Herabſinken der Blumengröße und der 
Zahl der Blütenteile nicht oder nur in ge— 


| 
| 
| 


ringem Grade jtattgefunden hat, ſcheint 


ein Verkümmern der weiblichen Befruch- 
tungsorgane durch vermindertenNahrungs⸗ 


zufluß bedingt zu ſein. Anemone alpina, 
Geum reptans und montana, Dryas octo- 
petala bieten alle Abſtufungen der Ver— 
kümmerung der Stempel bis zu völligem 
Schwinden derſelben und ſomit den voll— 
ſtändigen Übergang von Zwitterblütigkeit 
zu Androdiözie dar. Bei ihnen allen 
findet ein durchgreifender Unterſchied der 
Blumengröße zwiſchen männlichen und 
zweigeſchlechtigen Blüten zwar nicht ſtatt; 
aber durchſchnittlich ſind doch die männ— 
lichen merklich kleiner. 

Veratrum album“ hat 1) rein zwit— 
terblütige Stöcke, 2) andere, deren ſpätere, 
ſchwächlichere Seitenzweige etwas kleinere, 
rein männliche Blüten mit ſtark verküm— 
merten Stempeln tragen, und außerdem 


3) ſchwächliche Stöcke, die überhaupt nur 


ſolche männliche Blüten hervorbringen, ſo 
daß hier der Übergang von Zwitterblütig— 


keit zur Andromonözie und von dieſer zur 


Androdiözie vorliegt. 

Astrantia minor“ hat, wie manche 
andere Umbelliferen, neben den proteran— 
driſchen Zwitterblüten rein männliche mit 
mehr oder weniger verkümmerten weib— 
lichen Befruchtungsorganen. Je ſchwäch— 
licher die Pflänzchen ſind, um ſo geringer 
iſt die Zahl der zweigeſchlechtigen Blüten, 
die ſchwächlichſten Exemplare produziren 
ausſchließlich rein männliche. Es findet 
alſo hier ein ganz allmählicher Übergang von 
Andromonözie zu Androdiözie ſtatt, und 


auch hier iſt ein Zuſammenhang zwiſchen 


Schwächlichkeit oder verringertem Nah— 


lichen Geſchlechts unverkennbar. 

Mag nun die ſoeben in bezug auf den 
Urſprung der Andromonözie und Andro— 
diözie ausgeſprochene Vermutung richtig 
ſein oder nicht; jedenfalls ſteht ſo viel feſt, 
daß die Entwicklung der Geſchlechtsorgane 
bei vielen Pflanzen von Einwirkungen des 
Klimas und Bodens leicht beeinflußt wird, 
und daß dadurch eine Veränderung der 
Geſchlechterverteilung auch unabhängig 
von der Blumenauswahl der Inſekten und 
von langſam wirkender Naturausleſe her— 
vorgebracht werden kann. Ich führe als 
Belege dafür noch folgende an Alpenblu— 
men gemachte Beobachtungen an: 

Bei Sedum repens*, Draba aizoi- 


des“, Stellaria cerastioides*, Veronica 
alpina“ fand ich an rauhen, hochalpinen 


| 
I 


Standorten nicht felten die Staubgefäße 
in krankhaftem, mehr oder weniger ver— 
kümmertem Zuſtande, bei Lloydia sero— 
tina“, Saxifraga bryoides*, Cherleria 
sedoides“ außerdem bisweilen auch die 
Narben. 

Von Aquilegia atrata zog ich in mei- 
nem Garten aus Samen des Berliner 
botaniſchen Gartens zahlreiche Stöcke, von 
denen die ſchwächlichſten lauter rein männ— 


liche Blüten hervorbrachten, während die 


kräftigeren, ebenſo wie alle auf den 
Alpen von mir beobachteten Exemplare 
nur proterandriſche Zwitterblüten trugen. 
Die urſprünglich eingeſtaltige Pflanze iſt 
alſo im Kulturzuſtande androdiöziſch ge— 
worden. 

Bei Polemonium coeruleum“ traten 
in meinem Garten an manchen Stöcken 
neben den gewöhnlichen proterandriſchen 
nicht ſelten weit kleinere rein weibliche 
Blüten auf, während ich auf den Alpen 


454 Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


auch ſeine Blumen nur zweigeſtaltig ge— 
ſehen habe. 

Bei Saponaria ocymoides fand Hil— 
debrand, vermutlich an Gartenexem— 
plaren, männliche, weibliche und zweige— 
ſchlechtige Blüten auf demſelben Stocke, 
mit überwiegender Anzahl der eingeſchlech— 
tigen. Mir ſelbſt iſt es, obgleich ich auf 
den Alpen oft danach geſehen habe, nie 
gelungen, dort andere Stöcke aufzufinden, 
als ſolche mit lauter ausgeprägt proteran— 
driſchen zweigeſchlechtigen Blüten. 

Draba aizoides* fand Hildebrand!) 
(im Garten?) fo ausgeprägt proterogyn, daß 
Selbſtbeſtäubung verhindert war; meine 
Alpenexemplare waren dagegen proterogyn 
mit Ermöglichung ſpontaner Selbſtbeſtäu— 
bung. 

Bei Pulmonaria azurea“ iſt nach 
Hildebrand“ ) „keine kurzgriffelige und 
langgriffelige Form vorhanden, wenn auch 
gerade nicht die Antheren der Narbe an— 
liegen.“ Auf den Alpen fand ich dieſelbe 
Blume immer nur ausgeprägt lang- und 
kurzgriffelig (dimorph heteroſtyl). 

Alle dieſe Beiſpiele von Variabilität 
der Geſchlechterverteilung teils im wilden, 
teils im kultivirten Zuſtande werden noch 
übertroffen von dem Schwanken, welches in 
dieſer Beziehung Polygonum viviparum“ 
zeigt, das von Axell in Schweden!“ “) 
gynodiöziſch mit ausgeprägt proterandri— 
ſchen Zwitterblüten, von mir bei Fran— 


*) F. Hildebrand, Vergleichende Unter— 
ſuchungen über die Saftdrüſen der Cruciferen. 
Berlin, 1879. S, 12, 13. 

*) F. Hildebrand, Die Geſchlechterver— 
theilung bei den Pflanzen. Leipzig, 1867. S. 11; 
Pulm. azurea, S. 37. 

##*) Severin Axell, Om anondningarna 
för de fanerogama växternas befruktning. 
Stockholm, 1869. pp. 26, 45, 47, 48, 112. 


zenshöh gynodiöziſch mit homogamen Zwit— 
terblüten, im Oberengadin eingeſtaltig ho— 
mogam mit allen Übergängen zur Andro— 
monözie und Androdiözie gefunden wurde.“) 

Obgleich wir nun über die Urſachen 
dieſer Variabilität noch faſt völlig im Dun— 


keln ſind und höchſtens einen Teil der an— 


geführten Fälle mit einiger Wahrſchein— 
lichkeit als direkt von Klima und Nah— 
rungszufluß abhängig betrachten dürfen, 
von vererbungsfähigen individuellen Ab— 
änderungen der Geſchlechterverteilung aber 
einen direkten Beweis noch nicht beſitzen, 
ſo können wir doch indirekt mit voller Si— 
cherheit ſchließen, daß auch derartige erb— 
liche individuelle Abänderungen ziemlich 
häufig auftreten. Denn in zahlreichen Fäl— 
len ſehen wir die Blumen auch in bezug auf 
die Befruchtungsart verſchiedenen Lebens— 
bedingungen ſich anpaſſen und, wenn die 
Reichlichkeit des Inſektenbeſuchs zunimmt, 
eine erhöhte Sicherung der Kreuzung, wenn 
dagegen der Inſektenbeſuch ſpärlicher wird, 
bei offen gehaltener Möglichkeit der Kreu— 
zung eine Sicherung der ſpontanen Selbſt— 
befruchtung gewinnen. 

Gypsophila repens“ blüht z. B. an be⸗ 
ſonders inſektenreichen ſonnigen Abhängen 
ſo ausgeprägt proterandriſch, daß keine 
ſpontane Selbſtbefruchtung ſtattfindet; an 
weniger günſtigen Standorten befruchtet 
ſie ſich einfach dadurch, daß das Aufſpringen 
der Antheren etwas früher eintritt, bei 


ausbleibendem Inſektenbeſuche regelmäßig 


ſelbſt. 
Ebenſo iſt Geranium pyrenaicum 
„) Die angeführten Beiſpiele zeigen zugleich, 
wie notwendig es iſt, bei Beſchreibung und Ab— 
bildung ſpezieller Beſtäubungseinrichtungen ir— 


gend einer Blume Wohnort und Lebensbedingun— 


gen derſelben mit anzugeben. 


proterandriſch, in Weſtfalen mit regelmä— 
ßig erfolgender, auf den Alpen, wo ihm 


gender ſpontaner Selbſtbeſtäubung. 

Die ebenfalls proterandriſche Digita- 
lis lutea“ verzichtet auf den Vogeſen, wo 
ich ſie reichlich von Bombus hortorum be— 
ſucht fand, gänzlich auf den Nothbehelf 
ſpontaner Selbſtbefruchtung, indem ſie 
ihre Narben erſt nach dem Abblühen aller 
Staubgefäße entfaltet; auf den Alpen da— 
gegen, wenigſtens im Suldenthale, wo ſie 
in der Regel von Bombus terrestris ohne 
den Entgelt der Kreuzungsvermittlung räu— 
beriſch ausgeplündert wird, entwickelt ſie 
ihre Narbenpapillen ſchon gleichzeitig mit 
dem zweiten Antherenpaare zur Reife und 
beſtäubt ſich regelmäßig ſelbſt. 

Arabis alpina“ begünſtigt Kreuzung 


und erſchwert Selbſtbeſtäubung, indem fie | 


jedes längere Staubgefäß nach dem be— 
nachbarten kürzeren hinkehrt; in anderen 


Fällen aber kehrt ſie die pollenbedeckte 


Seite aller Antheren der Narbe zu und 
macht ſo ſpontane Selbſtbeſtäubung ſchließ— 
lich unausbleiblich. 

Lloydia serotina“ beſtäubt ſich auf 
dem rauhen Albulupaſſe bei ausbleiben— 
dem Inſektenbeſuche regelmäßig ſelbſt; in 
dem geſchützten inſektenreicheren Heuthale 
dagegen verlängert ſie ihren Griffel, ſo 
daß die Antheren von der Narbe überragt 
werden und ſpontane Selbſtbeſtäubung 
nicht erfolgen kann. 

Wir haben in dem hiermit beendeten 


Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 


reichlicherer Inſektenbeſuch zuteil wird, mit 
gar nicht oder nur ausnahmsweiſe erfol- 


455 


Rückblick faſt nur ſolche Beiſpiele von Va— 
riabilität der Farbe, der Größe, der Zahl 
der Blütenteile, der Stellung und Geſtalt 
der Blumen, der Entwicklungsreihenfolge 
und Verteilung der Geſchlechter, der An— 
paſſung an wechſelnden Inſektenbeſuch zu— 
ſammengeſtellt, die mir auf den Alpen 
innerhalb der Grenzen derſelben Art be— 
gegnet ſind. Um die Bedeutung dieſer 
Variabilität in ihrem ganzen Umfange zu 
würdigen, müßten wir durch die lange 
Reihe der von mir betrachteten Alpenblu— 
men hindurch jedesmal von denſelben Ge— 
ſichtspunkten aus die Arten derſelben Gat— 
tung, die Gattungen derſelben Familie ver— 
gleichend ins Auge faſſen, d. h. den weſent— 
lichſten Inhalt des Hauptteiles meines 
Alpenblumenwerkes an uns vorüberziehen 
laſſen, was ich jedem Leſer, der ſich näher 
für Blumenkunde intereſſirt, hiermit em— 
pfohlen haben möchte. Wer auch nur in 
bezug auf eine einzige natürliche Abtei— 
lung der Blumen dieſen Vergleich durch— 
führt, wird ſich wohl kaum der Überzeu— 
gung verſchließen können, daß eine Varia- 
bilität, wie wir ſie als thatſächlich noch 
beſtehend kennen gelernt haben, die Blu— 
men in ausreichendem Grade befähigen 
mußte, nicht zu plötzlichen Veränderungen 
der Lebensbedingungen ſich immer von 
neuem anzupaſſen, ſo ſich immer weiter zu 
differenziren und im Laufe ungemeſſener 
Zeiträume aus einigen wenigen einfachen 
urſprünglichen Blumenformen zu der er— 
ſtaunlichen Mannigfaltigkeit zu entwickeln, 
die uns heute vorliegt. 


— — —— 


Erfaſſen und Begreifen. 


Eine ſpracchphiloſophiſche Studie 


von 


Teopold 


Während wir unter dem 
„Darwinismus“ die na— 
türliche Entwicklungsge— 
ſchichte der Welt, die in 
ihrem Forſchungsmateri— 
ale ebenſo unerſchöpflich, 
wie ſie ſelbſt unendlich iſt, verſtehen, zeigt 
die Bibel, worunter ich zunächſt das „Alte 
Teſtament“ verſtanden wiſſen will, aller— 
dings im großen und ganzen die gegen— 
teilige Anſchauung, da in ihr alles, was 
in der Welt geſchieht, von jeher geſchehen 
iſt und noch geſchehen wird, nach menſch— 
lich künſtlicher, in höherer Übertragung 
dieſer Denkweiſe: nach göttlicher Anord— 
nung erfolgt und nicht auf dem natür— 
lichen Wege, wo alle Weltformen aus 
dem Stoffe nach kauſaler Entwicklung her— 
vorgehen. Allein durch die Darwiniſtiſche 
Entwicklungslehre hat unſere Kenntnis des 
Altertums, insbeſondere der bibliſchen 
Archäologie, einen neuen Aufſchwung ge— 
nommen, und was uns bisher als myſtiſch 
an ihr erſchien und nur verworrene und 
verſchwommene Ideen in uns erzeugte, das 


Einſtein. 


bekommt nun allmählich ſinnlich greifbare 
Geſtalt. Wie es eine Zeit gab, wo man 
noch die verſteinerten Funde der Pflanzen— 
und Tierwelt für Naturſpiele erklärte, in 
denen ſich der Weltbaumeiſter gefallen, 
bis er es nach und nach zu den vervoll— 
kommneten lebendigen Typen dieſer an— 
organiſchen Bildungen gebracht, alſo iſt 
auch bereits die Zeit gekommen, wo man 
die bibliſchen Sagengebilde weder mehr 
als wirkliche Ereigniſſe, die einſt wort— 
wörtlich der heilige Geiſt ſeinen frommen 
Erleuchteten in die Feder diktirte, noch 
als die märchenhaften Stilübungen eines 
Romanſchreibers aus der guten alten Zeit 
auffaßt. Aber was ſind ſie denn, wenn 
ſie weder das eine noch das andere, weder 
Wahrheit noch Dichtung ſein ſollten? Die 
Wahrheit liegt auch hier in der Mitte und 
erſt die natürliche Entwicklungsgeſchichte 
giebt uns hierüber die merkwürdigſten 
und intereſſanteſten Aufſchlüſſe. Ich will 
mich hier nicht damit beſchäftigen, von 
bibliſchen kulturhiſtoriſchen Zeitabſchnitten 
zu reden, wie der Naturhiſtoriker von 


— 


8 


paläontologiſchen Schichten ſpricht, wo die. 


tieferen Lagen ältere organiſche Gebilde 
aufweiſen, als die entwickelteren der höhe— 
ren Lagen, ſo wenig ich die Transforma— 
tion des urbibliſchen Geiſtes durch Esra 


und ſeine Kollegen analog der Trans- 


mutation der Naturobjekte infolge zwin— 
gender Einwirkungen von außen her bloß— 
zulegen beabſichtige; denn ſolche Unter— 
ſuchungen würden Bände füllen. Ich will 
mich hier nur an die Sprache der Bibel 
ſelbſt halten, als dasjenige Organ, wel— 
ches uns die Denkweiſe der Hebräer in 


der Vorzeit enthüllt und vermittelt. Denn 


wie ſelbſt Profeſſor A. Wigand aus 
Marburg in ſeinem Werke gegen den 
Darwinismus zugeben muß, „iſt ſchon der 
Umſtand bedeutungsvoll, daß man an den 
Sprachen hiſtoriſch nachweiſen kann, daß 
ſie ſich wirklich im Laufe der Zeit verän— 
dern und dabeizugleich eine Differenziirung, 
eine Spaltung in weitere Verzweigungen 
erfahren — mit anderen Worten, daß die 
Stämme, Aſte und Zweige des Sprach— 
baumes nachweislich als lebendige Spra— 
chen wirklich exiſtirt haben“. Ich befinde 
mich alſo, wenn ich ſprachlichen Boden 
betrete, ſelbſt nach Herrn Wigands An— 
ſchauung auf Darwiniſtiſchem Boden, auf 
dem Boden der natürlichen Entwicklung; 
denn ich weiß, daß oft das gewöhnlichſte 
Wort, das unſeren Lippen entfährt, ſeine 
hundert⸗, ja tauſendjährige Geſchichte hat, 
um mich Darwiniſtiſch auszudrücken: ſeine 
Deszendenztheorie, ſeine Selektion und 
ſeine Transmutation, ja daß ganze Spra- 
chen im Laufe der Zeit erlöſchen, wie die 
Völker, mit denen ſie aufgewachſen. Denn 
die Sprache iſt eben ſo gut ein im Fluſſe 
des allmählichen Wachstums Begriffenes, 
welches einmal den Kulminationspunkt 


Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. 


457 


ſeiner höchſten Blüte erreicht und dann 
allmählich wieder abſtirbt, wie alles, was 
der natürlichen Entwicklung angehört, dar— 
um das univerſelle Weltgebäude eigentlich 
kein Gebäude oder Kunſtprodukt iſt, ſon— 
dern ein Naturprodukt, daher auch die 
alten Weiſen in mythologiſcher Weiſe die 
Gottheit als Weltenbaum, welcher 
als höchſte Frucht den Menſchen 
trage, perſonifizirt haben. Dieſer iſt auch 
nach Radenhauſens trefflichem Aus— 
ſpruche das Gehirn der Erde, und es 
reift — man geſtatte mir die weitere Aus— 
malung dieſes Gleichniſſes —in dieſer Ge— 


hirnkapſel wiederum der Weltſamen, wel— 


cher alle Beſtandteile des Univerſums en 
miniature in ſich vereinigt. Auch iſt die— 
ſes ein endgiltiger Beweis, daß wie der 
Same die erſte Anlage, zugleich aber auch 
die letzte Beſtimmung der Frucht, ſomit 
das Endreſultat des ganzen Baumes iſt, 
ſo auch der Weltſamen im Gehirn des 
Menſchen, als der letzten Frucht des Wel— 
tenbaumes, wieder nichts anderes enthalten 
und hervorbringen könne, als dieſe Welt. 
Dieſes Darwinſche Bild iſt uns aber nur 
dann verſtändlich, wenn wir uns des Ein— 
heitsgedankens in der unzähligen Vielheit 
und Mannigfaltigkeit der Weſen bewußt 
ſind, wonach das letzte und höchſte Glied 
der Schöpfung nur die ontogenetiſche Wie— 
derholung und damit die Geſammtſumme 
der ganzen phylogenetiſchen Schöpfungs— 
reihe iſt, im letzten Grunde ebenſo einfach, 
wie die Zahl tauſend nichts anderes be— 
zeichnet, als die ſummariſche Verdichtung 
aller ihr vorangegangenen Einſe oder Ein— 
heiten, ſowie auch das Wort Gott nichts 
anderes beſagt, als die Summe aller 
Weſenheiten als höchſte Potenz des All— 
ſeins. Es iſt ja eben deshalb dieſes Wort 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 


58 


N 458 
für den alltäglichen Gebrauch von ſo welt— 
erlöſender Bedeutung; denn es umfaßt 
das höchſte und das tiefſte, das geheimſte 
Wohl und Wehe des Menſchen, die Erlö— 
ſung von den Geheimniſſen und Rätſeln 
dieſer Welt in einem einzigen Worte 
durch das Wort, daher der Apoſtel 
Johannes ſeine Offenbarung alſo an— 
fängt: „Im Anfang war das Wort, und 
das Wort war bei Gott, und Gott war 


das Wort. Dasſelbige war im Anfang 


bei Gott. Alle Dinge ſind durch dasſel— 
bige gemacht, und ohne dasſelbige iſt nichts 
gemacht, was gemacht iſt“ ꝛc. Ich hätte 
hier allerdings gute Gelegenheit, dieſen 
myſteriöſen Satz, in welchem der Apoſtel 
das Sprachwunder mit dem Schö— 
pfungswunder konfundirt, einer nicht 
unintereſſanten Erörterung zu unterziehen; 
allein auch das würde mich zu weit von 
dem Gegenſtande ablenken, den ich hier zu 
bearbeiten gedenke und zu welchem mir 
der ſchöne Aufſatz des Herrn Profeſſor 
Schultze im Aprilheft dieſer Zeitſchrift: 


über „Die Sprache des Kindes“ die 
Feder in die Hand gedrückt hat. Derſelbe 


ſagt darin S. 27, „daß ſchon frühe im 
Kindesleben die Epoche eintritt, wo die 
Außenwelt mächtig auf das Kind ein— 
ſtürmt, und es dadurch angeregt wird, 


auch ſeinerſeits thätig auf die Welt einzu- 


wirken, indem es nach den Dingen greift, 
ſie fortgeſetzt in die Hand nehmen will, 
ſie rüttelt und ſchüttelt, ſie betaſtet, an 
Mund und Naſe führt und ſo eine Fülle 
neuer Merkmale entdeckt, die ihm das 


Sehen allein nicht vermitteln konnte. 
Darwinſche Geſetz von der allmählichen 
Entwicklung alles Seienden — des Kör— 


Der Sehling iſt zum Greifling ge— 
worden; erſt wo das Kind mit der Hand 
die Dinge erfaßt, begreift, behan— 
delt, umgeſtaltet, beginnt ſein eigent— 


Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. 


liches Handeln, beginnt ſeine wahrhaft 


menſchliche Wirkſamkeit. Aber die 
Eindrücke, die nun ſchon durch alle Sinne 
einziehen, erregen mächtige Begierden in 
dem Kinde, die fernen Dinge winken, lok— 


ken, ziehen unwiderſtehlich an — es beginnt 


dem Zuge zu folgen, es rutſcht, kriecht, 
geht, läuft — es wird Läufling; und 
nun erſt gewinnt es aus ſeinem bisherigen, 
gewiſſermaßen pflanzlichen Feſtgewurzelt— 
ſein die Freiheit, deren es bedarf, um in die 
Welt einzudringen und die Welt in ſich 
eindringen zu laſſen. Nun aber flutet die 
Fülle der gewonnenen Vorſtellungen ſo 
gewaltig in ihm, nun wird die Spannung 
ſo überſtark, daß der pſychiſche Inhalt ſich 
bahn bricht, daß er überſprudelt in der 
Sprache, daß das Kind in die Periode des 
Sprechlings eintritt, wo nun eine zeit— 
lang nichts ſo zauberiſchen Reiz für das 
Kind hat, als das Üben und Lernen der 
ſchwierigen Kunſt, die mehr als alles an— 
dere den Menſchen an den Menſchen bin— 
det. Nicht blos muß alſo erſt der ge— 
ſammte körperliche Apparat, es muß 
auch erſt die Seele bis zu einem hohen 
Grade entwickelt ſein, ehe das Kind zu dem 
höchſten geiſtgebornen Kunſtwerk, zu der 
Sprache gelangen kann.“ 

Soweit die lebenswahren, weil aus 
der unmittelbaren Anſchaulichkeit des kind— 
lichen Wachstums hervorgegangenen Worte 
des feinfühlenden Pſychologen Dr. Fritz 
Schultze, zu deren Illuſtration ich mir 


nun erlaube, den Kommentar aus der Ur— 


ſprache der Bibel zu liefern, weil die— 
ſelbe ganz beſonders dazu geeignet iſt, das 


perlichen wie des Geiſtigen, auch in dieſem 
göttlichen Buche nachzuweiſen, ohne deſſen 


8 


zu 


Hinterlaſſenſchaft uns von der hebräi- 
ſchen Sprache ſicherlich nicht mehr hinter- 


blieben wäre, als von ihrer Schweſter, der 
phöniziſchen Sprache, deren ganze auf uns 
gekommene Literatur nur in wenigen ſpär— 
lichen Trümmern beſteht. 

Die hebräiſche Sprache hat, wie ſchon 
der gelehrte Joſeph Löw eingeſtand, 
wenn er gleich Theologe von Profeſſion 
war, äußerſt wenig abſtrakte Wörter. Das 
ſinnliche Gepräge des hebräiſchen Wort— 
materials iſt daher ganz beſonders dazu 
geeignet, den rohſinnlichen, materialiſti— 
ſchen Begriffsinhalt zu verrathen, aus wel— 
chem dieſes oder jenes Wort in der Urzeit, 


da es ſich gebildet und Jahrtauſende lang 
im Gebrauche geblieben, hervorgegangen 
merkt, daß darin nur ganz konkrete 
Gegenſtände und Verhältniſſe vorkommen, 


Ein ſolches Wörterpaar iſt nun: 
jad Hand, und jada Serkennen, 


iſt. 


wiſſen, begreifen, während jadah — | 
namentlich die Wörter mit den Endungen 


werfen bedeutet. 


Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. 


Jad wie jada gehören augenjchein- 
lich zu dem nämlichen Wortſtamme und 


jedem Denkenden muß ſich ſofort die Frage 
aufdrängen. Wieſo iſt es zu erklären, daß 


von dieſen beiden ſich ſo gleichlautenden, 


vom nämlichen Stamme herkommenden 
Worten jedes eine ſo ganz andere Bedeu— 
tung hat, das eine einen Körperteil be— 
zeichnend, das andere eine geiſtige Thä— 
tigkeit? 

Die Antwort hierauf, die Löſung die— 
ſes Rätſels finden wir einzig und allein 


im Darwinismus, d. h. in dem Zurückgehen 
auf den Urzuſtand der Menſchheit, wo ihr 
geiſtiges Weſen ſich noch nicht entwickelt 


hatte. Und wir haben nicht allein in der 
„Sprache der Bibel“, ſondern in ähnlicher 
Weiſe auch in den anderen Sprachen, na— 
mentlich im Sanskrit, wie ich ſpäter zeigen 
will, die Beweiſe, daß die Erhebung des 


459 


Menſchen zu einem denkenden, geiſtigen, 
ſelbſtbewußten Weſen, die Heraufarbei— 
tung zu vernünftigem Handeln eine all— 
mähliche geweſen iſt, wo immer das eine 
aus dem andern, das höhere aus dem nie— 
drigeren mit mathematiſcher Nothwendig— 
keit hervorgegangen (nicht durch plötz— 
liche ſinaitiſche Offenbarungskünſte), und 
daß deswegen Ausdrücke, welche ſpäter 
zur Bezeichnung der geiſtigen Natur, 
des geiſtigen Lebens des Menſchen ge— 
braucht wurden, urſprünglich ſich auf 


ſeine körperliche bezogen haben. Dieſes 
phylogenetiſche Ergebnis ſtimmt genau zu 
dem ontogenetiſchen des Herrn Schultze, 


wo er von dem Wortſchatz und der Syntax 
der Kinderſprache handelt und dabei be— 
alſo alle abſtrakten Begriffe fehlen, 


„heit und „keit“, unge, „nis e, wo⸗ 
bei er nicht vergißt, die Philologen und 


Pädagogen auf die Wichtigkeit der Erfor— 


ſchung des Entwicklungsprozeſſes von der 
konkreten zu den abſtrakten Beziehungen 
aufmerkſam zu machen. Kennt doch nur 


derjenige den ganzen Lauf eines Fluſſes 


und fein Gebiet, der ihn von feiner Mün— 
dung bis zu ſeinem Urſprung zurückver— 
folgt, und ſo iſt es auch mit jedem einzel— 
nen Worte. Beginnen wir demgemäß un— 
ſere Unterſuchung, und der alte Satz: „Es 
iſt nichts in unſerem Geiſte, was nicht 
zu vor in unſeren Sinnen geweſen,“ wird 
auch hier ſeine Beweiskraft erproben. 

Es iſt in der That nicht ſchwer zu begrei= 
fen, daß unſere Hände einſt, d. h. im vor— 
menſchlichen Affenzuſtande, Füße, unſere 
Finger = Zehen (digitus), unſere Ar— 
me = Beine waren, da wir uns ſelbſt noch 


— 


) 


460 


der Zeit erinnern mögen, wo wir auf allen 
Vieren herumgekrochen ſind. Allein indem 
ich an dieſe Rückerinnerung gemahne, fällt 
es mir bei, daß unſer Gedächtniß mit nich— 
ten ſo weit zurück zu reichen vermag. Nur 
das kriechende Bild, das wir von unſeren 
kleinen Nachkommen noch täglich vor Augen 
haben, belehrt uns, daß wir in gleicher 
Weiſe unſere erſten Bewegungsfunktionen 
ausgeführt haben. Wir wiſſen aber auch 
aus dieſen alltäglichen Exempeln, wie un— 
gemein ſchwer es dem kleinen Kindchen 
wird, welche ungeheuere, anfangs nur allzu 
oft verſagende Kraftanſtrengungen es Wo— 
chen, ja Monate lang aufwenden muß, um 
endlich den tieriſchen, vierbeinigen Zuſtand 
zu überwinden und ſich zum „Zweihän— 
der“ aufzurichten, welche Haltung ihm be— 
kanntlich erſt ſeine eigentlich menſchliche 
Geſtalt verleiht. Was in der Geſchichte 
des einzelnen Menſchen nach Monaten 
zählt, das bedarf in der Stammesgeſchichte 
der menſchheitlichen Entwicklung minde— 
ſtes ſo vieler Jahrtauſende, und erinnere 
ich hier nebenbei an den Vergleich der 
Götterjahre zu den Menſchenjahren nach 
den Worten des 95. Pſalms: „Tauſend 
Jahre ſind vor dir wie ein Tag, der geſtern 
vergangen.“ In dieſe Aufrichtungsperiode 
des menſchlichen Körpers, die man füglich 
die wahre Auferſtehung des Menſchen— 
geiſtes nennen kann, fällt eben der Sprach— 
und Vernunftbildungsprozeß, und wie die— 
ſer zunächſt durch die Dienſte der Hand 
gefördert wird, das zu zeigen iſt ja das 
Ziel dieſer Abhandlung. Dem Urmenſchen 
war nun die Hand das erſte Organ, durch 
welches er ſich über das Tier hinaus em— 
porſchwang zur höheren Erkenntnis, und 
inſofern verdankt er zunächſt dieſer Hand, 
als dem Werkzeuge des Handelns, die 


Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. 


erſten Antriebe zu menſchlichem Denken 
und Handeln und getreulich hat daher 
ſeine Sprache Hand und Erkenntnis 
in einer Wurzel aufbewahrt. Wenn 
Buffon jagt: „Der Stil iſt der Menſch“, 
wonach ſein Geiſt an ſeiner Ausdrucks— 
weiſe zu erkennen iſt, ſo iſt nicht nur die 
Sprache des Mundes — die Zunge — 
der Dolmetſcher dieſes Geiſtes, ſondern 
ſchon die Geberden der Hand, die heute 
noch unſere Rede begleiten und oft mehr 
und ſicherer wirken, als alle Worte der 
Lautſprache, daher das Wort Manieren 
von der Hand — manus, dagegen Geſten 
von Geiſt, wie dieſer ſelbſt vom Gäh— 
renden oder Giſchtenden. Ja, die 
Sprache der Hand iſt die älteſte Sprache 
des Naturmenſchen geweſen und Reiſende 
verſichern, daß ſie mit dieſer Sprache, den 
einfachen Gedankenzeichen der Hand, beſſer 
mit den Wilden zurechtkommen, als mit 
der künſtlichen Sprache des Mundes. 
Dieſes vorausgeſchickt, will ich nun 
den innigen Zuſammenhang, den ich zwi— 
ſchen dem hebräiſchen Handwort jad und 
dem Erkenntniswort jada konſtatirte, auch 
zwiſchen jad und dem alten Wurzelwort 
man herſtellen. Stammt ja unſer deut— 
ſches Wort: Menſch vom Sanskritworte: 
manuscha und dieſes ſelbſt wieder von 
man, welches Geiſt, denkenden Geiſt, be— 
deutet; dasſelbe Wort lautet in der latei— 
niſchen Sprache mens; der Menſch iſt alſo 
das denkende, das geiſtige Weſen. Aber 
dasſelbe alte Sanskritwort man, welches 
Denken, Geiſt bedeutet, muß urſprüng— 
lich eine Bezeichnung für noch etwas an— 
deres, etwas Körperliches, und zwar 
für die Hand geweſen ſein; das müſſen 
wir daraus ſchließen, daß die lateiniſche 
Sprache die Hand manus nennt, was 


— 


offenbar von demſelben Sanskritworte her- 
ſtammt. Damit man mich nicht etwa will— 
kürlicher, eigenmächtiger Herleitungen be— 
ſchuldige, nehme ich mein hebräiſch-deut— 
ſches Wörterbuch von Friedr. Schulz, 


zur Hand, alſo einer Zeit, wo man an 


Grundſätzen noch nicht dachte. Dieſer lei— 
tet ſad von jadah ab, weil die alten Gram— 


wurzel herſtammen laſſen, und er giebt ſo— 


mit dieſem Worte figürlich bezeichnet wer— 
den. Ich will daraus nur hervorheben, 
daß damit auch ein Denkmal bezeichnet 
wird (eine ausgeſtreckte Hand), und daß 
man in der alten Zeit Zeichen in die 
rechte Hand oder auf den rechten Arm 
brannte von heiligen Städten oder Gott— 
heiten (Jeſ. 49, 17; 2. Moſ. 13, 9), wor: 
auf ich das Legen der Tephillin (Gebets— 
riemen, Phylaktorien) als ſpäteres Er— 
ſatzmittel beziehe, indem das Einritzen von 
Zeichen (Tätowiren!) in der nachexiliſchen 
Zeit verboten wurde (3. Moſ. 19, 28), da 
noch Ezechiel vom Stigmatiſiren eines 
Thaw, d. i. eines Kreuzes (X), in die 
Stirne des Sklaven ſpricht (Ezech. 9, 46); 
denn das Kreuz war dem Sonnengott ge— 
heiligt, daher nach Einführung des bild— 
loſen Monotheismus verpönt, und die 
Sklaverei noch in Altisrael heimiſch. Auch 
führt dieſer Gewährsmann an, daß im 
Buche Samuel die Vorderfüße oder Ta— 
tzen des Bären Hände genannt werden, 


*) 2. Moſ. 13, 16 findet ſich das Wort 
totaphoth, was wohl die hebraiſirte Form des 


weiland Profeſſor der Theologie, Super- 
intendent, Konſiſtorialrat und erſtem Burg- 
prediger in Gießen aus dem Jahre 1796 


Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. 


ſprachliche Forſchung nach Darwiniſtiſchen 


matiker jedes Nomen von einer Verbal- 


461 


ganz, der neueren zoologiſchen Nomenkla— 
tur gemäß. 

Nun gelangt er zur Form hoda — 
Hand aufheben oder bekennen, ſodann ja- 
dah — werfen oder ausſäen. Wie jodeh 
bekennen, fo iſt hithwatha — von ſich 
ſelbſt etwas bekennen oder beichten; ſo— 
dann thoda nicht nur — Bekenntnis, ſon— 
dern insbeſondere — Lob Gottes, Dank— 
ſagung und Dankopfer, ſogar äsch dath 
— eine lange Feuerſäule (gewöhnlich dath 
— Gefeß), und ſicherlich iſt noch der Name 
Juda oder Jehuda ein mit der Hand in 


| Verbindung ſtehender Wortbegriff; denn 


dann alle übertragenen Ausdrücke an, die 
weſen, auch im Segen Jakobs es von ihm 


da er der Haupt- und Königsſtamm ge— 


heißt: „Jehuda, dir huldigen (joducha) 
deine Brüder“, ſo iſt das nicht ein bloßes 
Wortſpiel, ſondern drückt auch den mit er— 
hobener Rechten geleiſteten Huldi— 
gungseid aus. So dachte es ſich wenig— 
ſtens der Dichter im 1. Moſ. 49, 7, wo 
er dem ſterbenden Patriarchen Jakob dieſe 
Worte in den Mund legt. Bedenken wir 
aber, daß Juda dieſen ſeinen Namen ſchon 
längſt hatte, bevor er die Königswürde 
erlangte, dann ſind wir genötigt, Jehuda 
von hod - Glanz, Schönheit abzulei— 
ten, vielleicht vom Sonnengotte aus, 
da viele alte Völker nach dieſem ſich nann— 
ten. Dann läßt ſich auch der ſpäter dazu 
gekommene Begriff der Majeſtät und Herr— 
lichkeit mit dem Herrſcherſtabe in der Hand 
ꝛc. leicht damit vereinigen. 

Alsdann geht er auf die zweite Form 
jada über, nämlich: erkennen, wiſſen, wo— 
her daath — die Erkenntnis, das Wiſſen, 
die Erfahrung; es liegt darin auch der 
Begriff des Legens, Niederlegens, Über— 
legens, Begreifens, Einſehens, Be— 
merkens oder Beobachtens und Billigens; 


Tätowirens iſt; vgl. damit 2. Moſ. 13, 9. 
* 


462 


ferner deah — die Meinung; mada — 
Wiſſenſchaft; moda — ein Bekannter, Ver⸗ 
wandter, die Verwandtſchaft; jiddoni = 
Weisſager, der aus der Hand die Zeichen 
deutet, und ſelbſt madua — warum? 


weswegen? von mah deah welch' ein Ge- 
danke! Auch wird jada ſelbſt noch von 
der Fortpflanzung im höheren, menſch-⸗ 
hu = was iſt das? 


lich-bewußten Sinne gebraucht, wie z. B. 
in dem Satze: „Adam erkannte (jada) 


oder Begriffen handelnde Menſch, der ſich 
letztere nach langen Erfahrungen durch 
beſonnenes Nachdenken geſammelt, weiß 
allein, um was es ſich eigentlich bei der 
Fortpflanzung handelt: um die Verewi— 
gung ſeiner Gattung, ſeines Geſchlechtes. 


Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. 


auch Maſſe und die Wiederholungszahl 
Male; ebenſo iſt manah ein Gewicht wie 
mina, wozu auch die Wörter Münze und 
Minute zu rechnen ſind; daher manch: 
eine Portion, Gabe, von Handſchätzung 
und Handgabe hergeleitet. So iſt man 
auch Fragepartikel, daher die Israeliten 
beim Anblick des Manna fragten: man 
Denn man heißt 


überhaut: was? bedeutet den fragenden, 
ſein Weib.“ Denn erſt der nach Vernunft 


Auch das Ausſtrecken (jadah) der Hand, 
um die Frucht, welche die Unſterblichkeit 


verleiht (den ſamenreichen Granatapfel, 
bei den Syrern Symbol der Fruchtbar⸗ 


keit“) zu pflücken, bringt uns wieder die 
Gemeinſchaft von jad und jada in Erinne— 
rung, und ſo verbleibt mir noch, den zwei— 
ten Begriffskreis, nämlich den des Wortes 
man zu erſchöpfen, welches im Hebräiſchen 
wie im Arabiſchen als Zeitwort manah ſo 
viel wie zu einem Zweck beſtimmen, da— 
her auch zählen, berechnen heißt, na— 
mentlich von der göttlichen Beſtimmung, 


wie z. B. es im Hiob: man. So iſt im 


Jeſ. das große Glück — Gad (nach Einigen: 
Jupiter, nach Anderen: die Sonne), da— 
gegen Meni das kleine Fatum, nach Eini— 
genvon: Venus, nach Anderen vom Monde 
hergenommen, alſo vom Zählen, weil 
die älteſten Völker ihr Zeitmaß nach Mond— 
jahren berechneten. So bedeutet monim 

) S. darüber meine „Prähiſtoriſchen Ent— 
deckungen auf dem Gebiete der hebr. Sprache“ 
im „Ausland“, Nr. 18 d. J. 


bei allem Neuen ſtutzenden Geiſt. Eigent— 
lich bezeichnet auch hier man — Gabe, 
nämlich die Mondesgabe, da man den 
Tau, der in der Nacht fällt, dem Monde 
zuſchrieb, und die Bibel meldet, daß das 
Manna unter dem Tau lag. Auch mia 
— die Art, als unterſchiedliche Unterord— 
nung unter den Gattungsbegriff, gehört 
hierher. Nehmen wir ſchließlich noch das 
unſcheinbar kleine deutſche Wörtchen: man, 
welches thatſächlich nichts iſt, als — ähn— 
lich einer durch langen Gebrauch abge— 
ſchliffenen Münze — das uralte Wort für 
Mann, Menſch, manuscha, Denken 
und Geiſt bedeutend, urſprünglich aber 
— wie aus dem betr. manus noch zu er— 


kennen — die Hand, ſo haben wir auch 


hier dieſelbe Erſcheinung wie in der hebräi— 


ſchen Sprache. Iſt es ja noch heute die 


Hand, mit welcher jetzt noch alle auf tie— 
ferer Bildungsſtufe ſtehenden Menſchen, 
alſo auch alle Kinder ohne Ausnahme 
gleich den erſten Menſchen, die Dinge 
erſt greifen, angreifen, anfaſſen, 
um zu wiſſen, was ſie ſind, d. h. um ſie 
zu erkennen. Deswegen hat ſich den 
früheſten Menſchen zur Bezeichnung die— 
ſes Erkennens kein paſſenderes Wort 
dargeboten, als eben das von der Hand, 
hebr. jad, abgeleitete, gerade wie noch in 
unſerer deutſchen Sprache nicht ſowohl 


dasjenige Thun und Arbeiten, was mit 
der Hand verrichtet wird, ein Handeln 
genannt wird, ſondern vielmehr dasjenige, 


wozu wir meiſt gar keine Hand mehr brau- 
chen, das Thun unſeres Geiſtes, unſere Wil- 
lensäußerungen, unſere Entſchlüſſe, unfere | 


Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. 


Thaten. So haben wir uns an eine Menge 


ſolcher Wortbildungen gewöhnt, ohne wei— 
ter darüber nachzudenken, wie ſie zu dieſer 
jetzigen Bedeutung kamen, und genauer 


die hebräiſchen, von denen wir zunächſt 
geſprochen haben. Wir gebrauchen die 
Worte wahrnehmen, vernehmen, er— 
faſſen, begreifen ausſchließlich zur 
Bezeichnung einer rein geiſtigen Thätigkeit. 
Wie kommen aber dieſe Wortbildungen zu 
einer ſolchen Bedeutung, Wortbildungen, 
in welchen die Worte nehmen, faſſen, 
greifen enthalten ſind? Was hat denn 
unſer geiſtiges Thun, unſer denken, ver— 
ſtehen, erkennen, wiſſen mit dem 
nehmen, faſſen und greifen zu 
thun? Antwort: Unſer Erkennen und 
Wiſſen iſt, wie ſchon bemerkt, in der Ur— 
zeit unſeres Geſchlechts nur dadurch zu 
ſtande gekommen und kommt teilweiſe 
ſelbſt jetzt noch in unſerer Kindheit da— 
durch zu ſtande, daß wir eben die Dinge, 
die wir noch nicht kennen, in die Hand 


— 


463 


nehmen, um ſie näher zu betrachten, 
daß wir ſie anfaſſen, daß wir nach 
ihnen greifen und ſie mit der Hand 
ergreifen, und daher die Worte wahr— 
nehmen, erfaſſen, begreifen. Und 
daß dieſe Erklärung durchaus keine will— 
kürliche, ſondern im natürlichen, ge— 
ſchichtlichen Entwicklungsgang 
thatſächlich begründet iſt, dafür zeugt 


ſchließlich noch, daß ſogar die Bezeichnung 
betrachtet beweiſen ſie uns dasſelbe, wie 


des ganzen Menſchen als dieſes kör— 


perlich-geiſtigen Weſens in den ver— 


ſchiedenſten Sprachen heute noch ganz 
dasſelbe erkennen läßt. Schon ein Blick 
auf alle die wichtigen Verrichtungen der 


Hand, von den roheſten Anfängen der 


Waffen- und Geräteverfertigung 
bis zu den ſinnreichſten Produktio— 
nen der höchſten kunſtgewerblichen Kultur, 
macht uns ja ſo recht die Darwiniſtiſche 
Lehre von der allmählichen Entwicklung 
und Vervollkommnung des Menſchen— 
geiſtes klar und wir können, geſtützt auf 
dieſe Wahrnehmungen, getroſt den Satz 
als kulturhiſtoriſche Wahrheit aufſtellen, 
daß mit der Hand die Arbeit, mit der 
Arbeit die Kultur begonnen und daß nur 
durch dieſe Kultur der vorweltliche 
Affenmenſch zum Menſchen über- 
haupt geworden iſt. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Die Nolle des Meeres bei dem großen 


Abkühlungsprogelfe der Erde. 
n der Sitzung der Pariſer Akademie 
der Wiſſenſchaften vom 24. Mai die— 
ſes Jahres legte der Aſtronom Faye 


eine geiſtvolle Arbeit über die ſäkularen 
Variationen der mathematiſchen Geſtalt 


der Erde vor. Er erinnert darin zunächſt 
daran, daß die Richtung des Pendels durch 
die Nachbarſchaft eines Berges oder ſelbſt 
eines einfachen Hügels abgelenkt wird. 
Auf dieſe Weiſe hat bekanntlich Maske— 
lyne aus der Anziehung des Berges She— 


Hochplateaux handelt, um Gebirgs-Maſ— 


ſive von beträchtlicher Ausdehnung, dann 
iſt der Phyſiker überraſcht — und feine | 


Überraſchung währt ſeit hundert Jahren —, 
keine dieſen ungeheuren Maſſen entſpre— 
chenden Ablenkungen zu finden. Daher 
ſtammt die ſehr verbreitete, wohl etwas 
naive Meinung, daß dieſe Gebirgs-Maſ— 


ſive weite Höhlungen bedecken, deren leerer 


Raum den Überſchuß der Maſſe, die man 


über das Meeresniveau hervorragen ſieht, 


kompenſiren. 


Die Beobachtung der Schwingungs— 


| 


dauer des Pendels führt zu einem ana— 
logen, aber noch mehr verwirrenden Re— 
ſultate. Bouguer und Poiſſon haben 
die Korrektion gegeben, welche man von 


der beobachteten Schwere abziehen muß, 
um der Anziehung des Kontinents, auf 


welchem man operirt, Rechnung zu tragen. 
Aber man hat bemerkt, daß dieſe Korrek— 


tur nur den Mangel an Übereinſtimmung 
der Maße vermehrte. Es kann in dieſer 


Hinſicht nichts Frappanteres geben, als 
die letzten Beobachtungen der Engländer 


in Indien. In dieſer langen Folge von 
Meſſungen, die bis in das Innere des 
hallien in Schottland die Dichtigkeit der 
Erdkugel berechnet. Aber wenn es ſich um 


Gebirgsſtocks des Himalaya vordrangen, 
ergab ſich nicht das geringſte Anzeichen 
von dem Vorhandenſein dieſes Maſſives, 
während man mit demſelben Inſtrument 
eine Anziehungsdifferenz zwiſchen Fuß und 
Gipfel einer der egyptiſchen Pyramiden 
finden würde. Aber damit noch nicht ge— 


nug: an Stelle des Überſchuſſes von An— 
ziehung, deſſen man ſich auf den Konti— 


nenten verſah, fand ſich ein Mangel an 
Anziehung zu konſtatiren, als wenn eine 
ungeheure Höhle nicht allein unter den 
Gebirgs-Maſſiven, ſondern unter einem 
ganzen Kontinente und zwar unter jedem 
Kontinente ſich erſtrecke. 


U 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Noch eine größere Sonderbarkeit trat 
dabei zu Tage. Man hat mit dem Pen— 
del überall, auf dem Kontinente, an den 
Küften, auf dem hohen Meere, auf Inſeln 
und Korallenbänken experimentirt. Aber 
wenn man anfing, die Ergebniſſe dieſer 
Expeditionen zu vereinigen und zu ver— 


gleichen, wenn man ſie nach der Formel 


von Clair aut berechnete, ſo hat man ge— 


Kontinenten zu gering iſt — trotz des Über— 


ſchuſſes der Materie, die dort über das Ni- 


veau des Meeres emporſteigt — die Schwer— 
kraft über den Meeren im Gegenteil ſtets 
zu groß iſt, und zwar um ſo viel, daß ein 
augenſcheinliches Defizit hervortritt. Mit 


Ausnahme von zweien wurden ſämmtliche: 


zu ſtarke Anziehungen auf offenem Meere 
beobachtet; mit Ausnahme von einer, alle 
zu ſchwachen auf den Kontinenten. 

Es reicht ſomit nicht aus, mit den Geo— 
däten anzunehmen, daß es unter den Kon— 
tinenten Höhlungen giebt, man müßte mit 
noch ſtärkeren Gründen behaupten, daß es 


im offenen Meere und unter jeder Inſel Ma— | 
terien von einer beträchtlichen Dichte gäbe. | 
Das Schweigen der Entmutigung hat ſich 


nach und nach hinſichtlich dieſes erſtaun— 
lichen Widerſpruchs fühlbar gemacht, und 
die Verwirrung der Geiſter hat nicht we— 
nig dazu beigetragen, den Aufſchwung der 


wiſſenſchaftlichen Unternehmungen unſerer 
Marine zurückzuhalten. Aber ſo oft man 


in andern Ländern dieſe Schwerkraftmeſ— 
ſungen wieder aufgenommen hat, iſt jedes— 


mal derſelbe Widerſpruch wieder erſchienen. 
Er ſtellt ſich augenſcheinlich mit befonderer 


Kraft bei Gelegenheit der letzten indiſchen 


Meſſungen der Engländer dar: dem Hi 
de der Meere trifft man bei 4000 Meter 
Tiefe eine ſehr niedrige Temperatur von 


malaya zum Trotze ergaben alle Anziehun— 
gen in Engliſch-Indien negative Ergebniſſe. 


ki 


465 


Schon ſeit lange ift dieſe Unwirkſam— 
keit des Himalaya, welche uns heute auf 
doppelte Weiſe ſo frappant erſcheint, be— 
kannt. Sie wurde zum erſten Male durch 
den Erzbiſchof Pratt von Kalkutta in ei— 


ner Abhandlung hervorgehoben, die in Eng— 


land viel Aufſehen erregte. Der könig— 
liche Aſtronom Sir G. Airy verſuchte da— 


| mals ſelbſt eine Erklärung zu geben. Er 
funden, daß, wenn die Schwerkraft auf den 


nimmt an, daß dieſes Maſſiv, von ungefähr 
gleicher Dichtigkeit mit den Oberflächen— 
ſchichten der Erde, infolge ſeines Gewichtes 
mit ſeiner Grundfläche in die noch flüſſi— 
gen Schichten des Erdinnern tauche, de— 
ren Dichtigkeit größer iſt, ſo daß dadurch 
der Überſchuß ſeiner Anziehungskraft in 
der Höhe durch den Mangel der Anzie— 
hung der unten verdrängten Flüſſigkeit 
ausgeglichen wird. Aber dieſe geiſtvolle 
Schlußfolge würde ſich nicht den auf off— 
nem Meer beobachteten, in umgekehrtem 


Sinne ſprechenden Pendel-Erſcheinungen 


anpaſſen. Pratt ſchließt daraus einzig, 
ohne damit ein phyſiſche Urſache bezeichnen 
zu wollen, daß die Dinge ſich ſo verhalten, 
als wenn es unter den Kontinenten einen 
Mangel und unter den Meeren einen Über— 
ſchuß von Materie gäbe, ſo daß jede bis 
zum Mittelpunkt der Erde fortgeſetzte Ver— 
tikalſäule in jeder Region dieſelbe anzie— 
hende Kraft auf einem Punkte der Ober— 
fläche beſäßen. 

Damit iſt nur die Frage geſtellt, aber 
keine Löſung gegeben. 
Dieſe Löſung, meint Faye, könnte 
wohl im folgenden liegen. Unter den 
Meeren ſchreitet die Erkaltung der 
Erdkugel ſchneller und tiefer fort, 
als unterden Kontinenten. Im Grun— 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 


59 


466 


1° — 1,5 an. Beidiefer ſelben Tiefe würde 
man unter einem Kontinente 1604 = 
149° antreffen. So ftellt die feſte Ober— 
fläche der Erde ſich unter den beiden nach— 
folgend erörterten Bedingungen ſehr un— 
ähnlich dar. Unter einem Kontinente wird 


die Oberfläche eines 4 Kilometer tief lie- 


genden Niveaus durch eine darüber lie— 
gende, für die Wärme beinahe undurch— 


dringliche Schicht auf 149° erhalten; wenn | 


überhaupt ein Wärmeſtrom hindurchdringt, 
ſo iſt er beinahe unmerklich und kann nur 
zu einer Erkaltung um einen kleinen Bruch— 
teil eines Grades beitragen. Dort ver— 
mehrt ſich die Erdkruſte in der Folge der 
Zeitalter kaum an Dicke. Unter dem Meere 
dagegen iſt die in derſelben Tiefe belegene 
Oberfläche in beinahe unmittelbarer Wech— 
ſelwirkung mit der Kälte des Raumes, 
die ſich auf 10 anſtatt der 150° beziffert, 
und anſtatt über ſich eine der Wärme un— 
durchdringliche Schicht von 4 Kilometern 
zu haben, hat ſie eine Waſſerſchicht über 
ſich, die ſicherlich ſehr wenig leitend iſt, 
in welcher aber der geringſte Wärmezufluß 
unmittelbar durch die Polarſtrömungen 
abſorbirt wird. Derſelbe Unterſchied fin— 
det ſich noch tiefer wieder, denn die Durch— 
tränkung der Schichten, auf denen das Meer 
ruht, dringt ſehr viel tiefer, als die unter 
den Kontinenten; daher eine fernere ra— 
pidere Abkühlung nicht durch Leitung, 
ſondern durch vertikales Aufſteigen des er— 
hitzten Waſſers in poröſen Schichten. Von 
einer je älteren Epoche die gegenwärtigen 
Meeresbecken datiren, um ſo dicker wird 
die Kruſte ſein, auf welcher ſie ruhen, im 
Verhältnis zu derjenigen der Kontinente. 
Schließlich werden die poröſen Subſtanzen, 
welche Waſſerdampf in mehr oder weniger 
diſſoziirtem Zuſtande enthalten, unter den 


e 9 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Kontinenten näher an der Oberfläche 
liegen, als unter den Meeren. (Revue 
scientifique. Juin 1880. No. 49.) 


Aber den Einfluß der Bewegung 
und anderer phyſikaliſchen Verhäll— 
niſſe des Waffers auf die Formen der 
Vaſſerpflanzen 
hat Dr. W. Behrens in Braunſchweig in 
dem letzten Jahresberichte der Naturwiſ— 
ſenſchaftlichen Geſellſchaft zu Elberfeld 
einen vorläufigen Bericht, dem ſpeziellere 


Unterſuchungen folgen ſollen, veröffent— 
licht, aus dem wir das Nachſtehende 


größtenteils wörtlich entnehmen: 


„Es iſt eine ſehr merkwürdige That— 
ſache, daß ſolche Pflanzen, die untergetaucht 
im Waſſer oder auf der Oberfläche desſel— 
ben leben, je nach der ſtärkeren oder ge— 
ringeren Bewegung des flüſſigen Elemen— 
tes eine verſchiedenartige Geſtalt des Sten— 
gels, der Blätter und anderer Organe an— 
nehmen. Die Pflanze, welche in einem 
fließenden Gewäſſer wächſt, ſo zwar, 
daß ſie auf dem Grunde desſelben feſtge— 
wurzelt iſt, wird durch die bewegende Kraft 
des Waſſers einen Druck, reſpektive einen 
Zug zu erleiden haben, welcher der Kraft 
der ſich fortbewegenden Flüſſigkeit gerade— 
zu proportional iſt. Bietet nun eine Pflan— 
zenart, welche zugleich in ſtehenden, in 
langſam undin ſchnell fließenden Ge— 
wäſſern wächſt, gewiſſe Abweichungen, die 
aber für jede Art von Gewäſſern konſtant 


ſind, fo liegt es auf der Hand, daß dieſe 


durch die kinetiſchen Einflüſſe des Waſſers 
hervorgerufen wurden. 

Pflanzen, welche nur in einer Art von 
Gewäſſern angetroffen werden, können 


— 


ſelbſtverſtändlich äquivalente Variationen 
ihr verhält ſich der Querdurchmeſſer des 


nicht aufzuweiſen haben. So unſer einhei— 
miſcher Froſchbiß, Hydrocharis Morsus 
ranae. Das ſchöne Pflänzchen wird nur 
auf der Oberfläche ſtehender Gewäſſer 
(Gräben, Teiche) ſchwimmend angetroffen; 
ſeine Blätter ſind ſtets breit-nierenförmig, 
nie anders geſtaltet. Ebenſo verhält ſich 
der ſüdamerikaniſche Vertreter der Hydro— 
charideen, Trianea bogotensis, welche ihre 
glänzenden, ei-nierenförmigen Blätter nur 
auf unbewegten Waſſerflächen ausbreitet. 

Sehr mannigfach aber iſt im Gegenſatze 
hierzu die Variabilität der Blätter des 
Laichkrautes, Potamogeton natans, das 
ſowohl in ſtehenden wie in fließenden Ge— 
wäſſern angetroffen wird. Unſere gewöhn— 
liche Form der Teiche, P. natans vulga- 
ris“), hat ſchwimmende, ovale Blätter, 
deren Querdurchmeſſer ſich zum Längen— 
durchmeſſer verhält wie 1 zu 1,5. Ganz 
anders iſt die Blattgeſtalt im fließenden 
Waſſer; ſie wird deſto ſchmäler und län— 
ger, je ſtärker der Strom iſt“ ); in reißend 
ſtrömenden Waſſergräben wird ſie ſchmal 
lanzettlich. So findet ſich beiſpielsweiſe 
an derartigen Lokalitäten auf der Inſel 
Borkum eine Form, die dem Schraderſchen 


) Mertens und Koch, Deutſchlands 
Flora. Bd. I. S. 857. — Koch et Ziz, 
Catalogus plantar. Palat., p. 18 (P. natans 
L. et auct.). 

) Mertens und Koch führen (a. a. O., 
S. 837 840) eine ganze Reihe ſolcher Varie— 
täten und Untervarietäten der Pflanzen auf und 
geſtehen ſchließlich, daß es gar nicht möglich ſei, 
ſie alle zu beſchreiben: „Man könnte leicht noch 
mehrere, weniger auffallende Abarten aufſtellen; 
wir halten aber eine ſolche Vermehrung unbe— 
deutender Abarten für eine Bürde der Wiſſen— 
ſchaft, denn es findet niemand mit Sicher— 
heit wieder, was man gemeint hat“ (a. a. O., 
S. 840). 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ä 


467 


Potamogeton serotinus“) entſpricht; bei 


Blattes zum Längendurchmeſſer wie 1 zu 3. 

Pflanzen, welche ſich in hohem Grade 
für die Unterſuchung über den Einfluß 
des Waſſers auf die Ausbildung der 
Phyllome eignen, ſind die Waſſerranunkeln 


(Batrachium).“ ) Denn einesteils kom— 


men manche Arten derſelben in allen Sor— 
ten von Gewäſſern vor und andernteils 
beſitzen ſie zwei Arten von Blättern (we— 
nigſtens in der Mehrzahl der Fälle), näm— 
lich ſchildförmige ſchwimmende und borſt— 
lich-vielſpaltige, zerſchlitzte untergetauchte. 
Auch ſind ſie nicht exkluſiv an das Süß— 
waſſer gebunden, ſondern ſie finden ſich 
ſogar, wenn auch vereinzelter, in den 
Brackwaſſern der Küſte, wo ihr dichtes 
Blättergewirr häufig von dem muntern 
Volke der Granatkrebſe (Crangon und 
Hippolyte) bewohnt wird. Endlich trotzen 
ſie ſelbſt dem Austrocknen des Waſſers mit 
Erfolg; ſie laſſen ſich daher in verſchie— 
denartigſten Umgebungen und unter den 
heterogenſten äußeren Einflüſſen ſtudiren. 

Wenn zunächſt das in hochgelegenen 
Schweizerſeen ſich findende zierliche Ba— 
trachium Rionii Lagger sp., welches ich 


*) Koch, Taſchenbuch der deutſchen Flora, 
S. 479. 

*) Schon Erasmus Darwin (The 
Temple of Nature, p. 30) und Lamarck hat⸗ 
ten die Waſſerranunkeln in dieſer Richtung ſtu— 
dirt. Der letztere ſagte darüber in ſeiner Philo— 
ſophie der Zoologie (deutſche Ausgabe von A. 
Lang, S. 118): So lange der Ranunculus 
aquaticus ins Waſſer eingetaucht iſt, ſo ſind 
ſeine Blätter ganz fein ausgeſchnitten mit haar— 
förmigen Ausſchnitten; erreichen aber die Sten— 
gel dieſer Pflanze die Oberfläche des Waſſers, 
ſo werden die Blätter, die ſich in der Luft ent— 
wickeln, verbreitert, abgerundet und einfach ge— 
lappt. Wenn es einigen Schößlingen derſelben 


4 


468 Kleinere Mitteilungen 


nur ſehr flüchtig unterſuchen konnte, aus- 


geſchloſſen wird, ſo dürften ſich die zentral- 


europäiſchen Arten von Batrachium wohl 
auf folgende vier Formenreihen reduziren 
laſſen: 
1) Batrachium hederaceum E. Meyer, 
2) Batrachium aquatile E. Meyer, 
3) Batrachium divaricatum Wimmer, 
4) Batrachium fluitans Wimmer. 
Batrachium hederaceum, weniger 


eine Waſſerpflanze als vielmehr eine 


Sumpfpflanze, iſt eine ſehr typiſche Er— 
ſcheinung; durch die eine Form flächen— 
artiger, nierenförmiger, etwas eingelapp— 


ſcharf umgrenzt.“) 


Batrachium aquatile, eine Pflanze, 


welche bereits Dioskorides bekannt war 
und von ihm Bargayıov (de m. m. 2,206) 


und Journalſchau. 


Batrachium divaricatum, die nur in 
Teichen und anderen ſtillſtehenden Ge— 
wäſſern vorkommt, variirt daher bezüg— 
lich der Blattgeſtalt kaum. Alle Blätter 
ſind ſubmers, fein geſchlitzt, die Zipfel 
ſtarr und rund um den Stengel verteilt, 
ſo daß ſie in eine faſt kreisförmige Fläche 


ausgebreitet ſind. Dadurch erhält die 
Pflanze den ihr eigentümlichen Habitus, 


der ſie ſofort von dem ſonſt ähnlichen B. 
aquatile unterſcheidet. Ob ſie auch mit 


ſchwimmenden, flächenförmigen Blättern 


vorkommt, weiß ich nicht; ich habe nie 


| ſolche angetroffen, auch in den Floren 
ter Blätter, durch die kleinen Blüten, durch 
den eigentümlichen Wuchs iſt dieſe Art 


genannt wurde, bietet uns ein wahres 
Chaos von „Varietäten“. Es iſt eine von 


den Arten, die Linné als ſchlechte be— 
zeichnet haben würde, die aber heutzutage, 
wo man das Dogma von der Artkonſtanz 


aufgegeben, als gute angeſehen werden 


müſſen, inſofern als ſie zu denen gehören, 


die eine Inkonſtanz ad oculus demon- 


ſtriren. Sie ſoll unten noch genauer be— 
ſprochen werden. 

Pflanze gelingt, im feuchten, aber nicht unter 
Waſſer ſtehenden Boden zu treiben, ſo ſind ihre 
Stengel kurz und ihre Blätter nicht in haar— 
förmige Ausſchnitte geteilt, wodurch der Ra— 


nunculus hederaceus entſteht, welchen die Bo- 


taniker als eine beſondere Art betrachten. 

) Meines Wiſſens hat nur Spenner 
(Koch, a. a. O., Bd. IV, S. 148) einſt ver⸗ 
ſucht, die Pflanze mit B. aquatile (im Sinne 
Kochs) als Ranunculus Hydrocharis zu ver— 
einigen. Übrigens ſoll, laut De Candolle 


(Systema naturale, Vol. I, p. 234) B. tri- 


keine diesbezüglichen Bemerkungen ge— 
funden. 

Batrachium fluitans iſt die robuſteſte 
Form der kosmopolitiſchen“) Gattung. 
Sie findet ſich in ſchnellfließenden Bächen 
und Strömen, ſelbſt in größeren (3. B. 
der Weſer). Schon De Candolle war 
es bekannt, daß die Länge ihres ſubmerſen 
Blattzipfels auf den Einfluß des ſtrömen— 
den Waſſers zurückzuführen ſei, indem er 
ſagt: „Foliorum laciniae aquarum motu 
elongantur et parallelae flunt.“ *) In 
kleineren Flüſſen, z. B. in der Ocker unter— 
halb des Harzes, nehmen jedoch die Blatt— 
zipfel bisweilen auch eine ſpreitenförmige 
Beſchaffenheit an, welches Verhältnis 
zogen), eine franzöſiſche Form, den Übergang zu 
B. aquatile vermitteln. De Candolle, I. c.: 


„Species omnino media inter Ranunculum 
hederaceum et aquatilem.“ 


) Die Gattung Batrachium iſt durch die 


gemäßigten Zonen beider Halbkugeln verbreitet. 


Bevölkert doch das zwergige B. biternatum Sn. 
die Waſſerläufe, welche ſich in die Magelhaeni— 


ſche Meerenge ergießen. Das Vaterland von B. 


fluitans und B. aquatile iſt Europa, Zentral 


aſien und das gemäßigte Nordamerika. 


partitum DC. sp. (jetzt zu B. aquatile ge- 


**) De Candolle, 1. c. p. 236. 


Ba 


* 


. 


wahrſcheinlich Garcke“) im Auge hat, 
wenn er ſagt, daß B. fluitans bisweilen 
mit ſchwimmenden Blättern abändere. 
Auch dieſe Art iſt „durch ſo auffallende 
und ſtandhafte Kennzeichen von den ver— 
wandten Arten geſchieden, daß man auch 
nicht einen Augenblick an ihrer ſpezifiſchen 
Verſchiedenheit zweifeln darf; im Freien 
wird ſie auch niemand mit den beiden 
vorhergehenden verwechſeln“, wie Koch“) 
bemerkt. 

Kehren wir jedoch, nachdem wir die 
Hauptformen von Batrachium kennen 
lernten, zu dem polymorphen B. aquatile 
zurück. Die Pflanze kommt zunächſt be— 
treffs der Beblätterung in zwei Grund— 
formen, nämlich mit ſchwimmenden, flächen— 
förmigen und untergetauchten, borſtlichen 
Blättern, zweitens nur mit untergetauchten 
borſtlichen Blättern vor. Die erſte Form 
mit zwei Blattſorten mag die ungleich— 
blättrige, B. heterophyllum, die letzte die 
haarförmige, B. trichophyllum, heißen. 

B. aquatile heterophyllum findet ſich 
vorzüglich in langſam fließenden Gräben, 
Bächen, in wenig bewegten Armen kleiner 
Flüſſe. Iſt das Waſſer nur ſehr langſam 
bewegt, ſo ſind die ſchwimmenden Blätter 
faſt kreisrund und ſchildförmig, es finden ſich 
an dem Rande nur fünf ganz ſchwache Ein— 
kerbungen; dieſe Form müßte B. aquatile 
heterophyllum peltatum genannt werden. 

In ſchneller fließenden Wäſſern geht 
dieſe Form allmählich in eine Reihe von 
Variationen über, welche alle durch die 
abweichende Geſtalt der ſchwimmenden 
Blätter charakteriſirt ſind: je ſchneller 


) Garde, Flora von Nord- und Mittel- 
deutſchland, 1871, S. 9. 
) Koch, Deutſchlands Flora, Bd. IV, 


S. 153. 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


469 


nämlich das Waſſer, in welchem ſie wach— 
ſen, fließt, eine deſto ſtärkere Teilung, 
Lappen- und Zipfelbildung tritt an den 
in Rede ſtehenden Organen auf. Ich habe 
bis jetzt etwa dreißig ſolcher Abweichungen 
aufgefunden: hier mögen nur einige der— 
ſelben aufgezählt werden. Hinzugefügt 
werden mag noch, daß mir die reichſte 
Ausbeute diejenigen künſtlichen Waſſer— 
ſtraßen lieferten, welche unter der Bezeich— 
nung Siel (holländiſch zijl) die weidereichen 
Marſchgegenden Oſtfrieslands durchziehen, 
um ſchließlich in das Meer abzufließen. 

In etwas ſchneller fließenden Gewäſ— 
ſern werden die Blätter allmählich fünf— 
lappig; die Lappen ſind größer oder klei— 
ner, ganzrandig oder mit wenigen Ein— 
kerbungen verſehen, ihr Geſammtumriß iſt 
nierenförmig. Zwiſchen voriger und dieſer 
Form finden ſich zahlreiche Übergänge. 
Sie müßte den Namen B. aquatile hetero- 
phyllum quinquelobatum führen. 

An ſie ſchließt ſich die Form B. aqua- 
tile heterophyllum tripartitum. Die bei— 
den Baſallappen der ſchwimmenden Blät— 
ter ſind vollſtändig geſchwunden, die drei 
anderen keilförmig, ihrerſeits ſtark gekerbt, 
ſo daß die Kerben oft kurze Zipfel bilden. 
Das ganze Blatt iſt kleiner als bei den vori- 
gen, zumal die zu unterſt am Stengel be— 
findlichen; ſie ſind den benachbarten borſt— 
lichen bezüglich der Form ſchon in gewiſ— 
ſem Grade ähnlich. Dieſe Form findet ſich 
in ziemlich ſchnell fließenden Gräben. 

Ein noch weiterer Schritt zur Um— 
wandlung der flächenförmigen Blätter in 
borſtliche findet ſich bei einer Form an 
ähnlichen Lokalitäten, die ich in Oſtfries— 
land und bei Braunſchweig angetroffen 
habe und von der ich nicht weiß, ob ſie 
| ſchon beſchrieben iſt. Die ſchwimmenden 


470 


Blätter find in der Jugend dreiteilig und 
beſitzen einen tief gekerbten Rand. Beim 
ſpäteren Auswachſen ſtrecken ſich die durch 


die Kerbung gebildeten Zipfel ſehr in die 


Länge, werden einander parallel und äh— 
neln dann den Borſtenzipfeln der unterge— 
tauchten Blätter ungemein. Sie ſind je— 
doch an ihrer Baſis durch eine faſt kreis— 
runde Fläche grünen Blattparenchyms mit 
einander vereinigt und unterſcheiden ſich 
auch durch die Form des Blattſtieles von 
den wirklich borſtlichen Blättern. Dieſe 
Varietät mag „B. aquatile heterophyl- 
lum laciniatum“ heißen. 

Schließlich ſchwinden im ſehr ſtark be— 
wegten Waſſer auch dieſe Andeutungen 
flächiger Blätter und es reſultirt dann die 
bekannte Pflanze mit nur einer Sorte unter— 
getauchter, borſtlicher Blätter: B. tricho- 
phyllum. 

Eine äußerſt merkwürdige Varietät 
des B. aquatile entſteht jedoch ſowohl aus 
der gleichblättrigen wie aus der verſchie— 
denblättrigen, wenn im Frühjahr das 
Waſſer des Grabens oder der Sumpf— 
lache, in welcher das junge Batrachium— 
pflänzchen keimte, allmählich austrocknete; 
die Waſſerpflanze wird nämlich in dieſem 
Falle zum Landgewächs. Der Stengel 
richtet ſich auf, bleibt aber kurz; er bedeckt 
ſich dicht mit Blättern, welche eine ſchöne 
laubgrüne Farbe beſitzen und ſämmtlich 
in ſehr viele fädliche, aber etwas dicke und 
ſtarre, kurze und ſaftige Zipfel geteilt ſind. 
Hierdurch entſteht dann die von den Sy— 
ſtematikern als Batrachium succulen- 
tum“) (Ranunculus pantothrix #**) be- 
ſchriebene Form, die wohl immer als zu 


) Vergl. Mertens und Koch, a. a. O., 
Bd. IV, S. 151. 
) De Candolle, 1. e., T. I, p. 234. 


7 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


B. aquatile gehörend erkannt wurde. Sie 
würde alſo B. aquatile succulentum ge— 
nannt werden müſſen. 

Dieſes ſind einige der vielen Varie— 
täten, welche durch das umgebende Me— 
dium an den Pflanzen erzeugt werden. 
Alle genannten, im Waſſer lebenden Va— 
rietäten können aber noch unabhängig von 
der Blattform bezüglich der Beſchaffenheit 
ihrer Blätter variiren, eine Eigentümlich— 
keit, die mit der Ausbildung der die unter— 
getauchten Blätter durchziehenden Fibro— 
vaſalſtränge in Verbindung gebracht wer— 
den muß. Hebt man nämlich eine unter— 
getauchte Pflanze von B. aquatile aus 
dem Waſſer heraus, ſo fallen in einem 
Falle die Blätter ſchlaff zuſammen, indem 
ſie etwa die Geſtalt eines Pinſels anneh— 
men, während ſie andernfalls ſtarr aus— 
gebreitet bleiben, ihre Borſtenzipfel (wie 
im Waſſer) nach allen Richtungen gerade 
ausſtreckend. Die erſte Form wollen wir 
als die ſchlaffe (laxa), die zweite als die 
ſtarre (rigida) unterſcheiden. Endlich va— 
riiren alle bis jetzt genannten Formen von 


B. aquatile in der Blütengröße: die Blü— 


tenblätter ſind entweder groß, während ſich 
an Staubgefäßen etwa 30 vorfinden (ma— 
cranthum), oder die Kronblätter find klein 
und die Anzahl der Staubgefäße beträgt 
5—15 (mieranthum).*) 

Zur bequemeren Überficht mag die 
folgende Tabelle alle hier beſprochenen 
Hauptformen von B. aquatile zuſammen⸗ 
faſſen. a 

A. Formen des ſchnellfließenden Waſſers: 

Batrachium aquatile trichophyllum. 

1) B. aq. tr. laxum macranthum, 
) Dieſe Variation wurde von Tauſch 


als Ranunculus paueistamineus, von Chair 
als R. trichophyllus bezeichnet. 


ER 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


2) B. aq. tr. laxum micranthum, 

3) - - - rigidum macranthum, 

4)- - - - 
B. Formen des langſamer fließenden, 


reſp. ſtehenden Waſſers: 
Batrachium aquatile heterophyllum. 


micranthum. 


5) B. ag. het. lax. lacin. macr., 


GN mien, 
RRrrigid. maer., 
R micr,, 
9)- - «ex. tripart. macr,, 
RR - micr., 
rigid. mar, 
D RR re — mier., 
13) - - lax. 5 lobat. maer., 
14)- - - - - micr., 
15) rigid. macr., 
GO E - mier., 
17) - lex. peltat. macr., 
I mien, 
19)- - rigid. macr., 
2 „ - mier. 


C. Landformen: 
Batrachium aquatile succulentum. 


21) B. aq. suc. macranthum, 
22)- - micranthum. 

Wie bemerkt, ſoll die vorſtehende Ta— 
belle nichts vollſtändiges bieten. Mit Abſicht 
wurden ganze Formengruppen fortgelaſ— 
fen; fo kann man z. B. bei dem verſchieden— 
blättrigen dreiteiligen und fünflappigen 


B. aquatile eine geſpitzte und eine trun- 


kate Form unterſcheiden, je nachdem die 
beſprochenen Blattzipfel zugeſpitzt oder 
abgeſtutzt ſind ꝛc. Ferner betrifft unſere 
ganze Auseinanderſetzung nur die Süß— 
waſſerformen vom Waſſerhahnenfuß; die 
Brackwaſſerformen, zu denen ich auch B. 
Baudotii Godr. sp. und B. confusum 
Godr. sp. rechne, find zunächſt ausge: 
ſchloſſen, da meine Unterſuchungsreihe 


471 


über dieſelben noch bei weitem nicht voll— 


ſtändig iſt. 
Soviel zunächſt über die Batrachien. 


Möge dieſe kurze Zuſammenſtellung an— 


geſehen werden als ein allgemein gehalte— 
ner Vorläufer für eine ſpäter zu publi— 
zirende Abhandlung, in welcher die ana— 
tomiſchen Ergebniſſe niedergelegt werden 
ſollen, die ſich an dieſem Orte ohne Ab— 
bildungen nicht klar machen ließen. 

Für die hartnäckigen Skeptiker, welche 
mit wahrem Eigenſinn die Konſtanz der 
Arten verteidigen, ſind ſolche Auseinander— 
ſetzungen vor allem lehrreich. Das ein— 


gehende Studium einer Art mit allen ih— 


ren Varietäten, Untervarietäten, Formen, 
ſelbſt individuellen Verſchiedenheiten kann 
eben ſehr intereſſant und von Belang für 
biologiſche Fragen werden; freilich nur 
dann, wenn man beſtrebt iſt, die Urſachen, 
die Kauſalitätsbedingungen, welche jenen 
Abweichungen zugrunde liegen, eingehend 


und vorurteilsfrei zu würdigen. Hingegen 


das Unterſuchen und Beſchreiben poly— 
morpher Pflanzenarten, wie Rubus, Scle- 
ranthus, Hieracium, Salix und anderer, 
nur um ihrer ſelbſt willen und mit der 
Tendenz, ſie in möglichſt viele ſelbſtändige, 
geſonderte Arten zu zerſpalten, das über— 
laſſen wir getroſt ſolchen — welche nichts 
beſſeres zu thun haben. 


Eine Süß waſſermeduſe.“) 
Wenn man auch mitunter in Fluß⸗ 
mündungen mit brackiſchem Waſſer ver— 


) Dieſer Artikel giebt einen Auszug aus 
einer Reihe von Artikeln, die in den Juni- und 
Julinummern der engliſchen Zeitſchriften Nature 
(Jr. 555 558) und Popular Seience-Review 
erſchienen ſind. 


) 


472 


irrte Meduſen beobachtet hat, ſo war doch 
bisher keine im ſüßen Waſſer lebende Me— 
duſe bekannt. Um ſo mehr mußte es den 
Sekretär der Londoner Botaniſchen Geſell— 
ſchaft, Sowerby, in Erſtaunen verſetzen, 
als er am 10. Juni dieſes Jahres in dem 
Becken des Victoria regia-Haufes im 
Regent-Park Maſſen von meduſenartigen 
Tieren wahrnahm, von denen er alsbald 
den ausgezeichneten Kennern niederer Or— 
ganismen, Prof. Geo. J. Allmann und 


Prof. Ray Lankeſter, Exemplare zu näs | 


herer Unterſuchung mitteilte. Beide be— 
ſtätigten zu ihrer größten Überraſchung 
ſofort, daß es ſich um echte Meduſen han— 
dele, die mit ausländiſchen Pflanzen ein— 


geſchleppt ſein müſſen. Woher? iſt ſchwer 
zu ſagen, denn die Viktorien werden in 


dem mehrere Monate trocken liegenden 
Becken regelmäßig aus Samen gezogen, 
und ſeit zwölf Monaten war keine neue 
Pflanze dort eingeführt worden. Wahr— 
ſcheinlich ſtammen ſie aus Weſtindien, von 
wo die letzten Einführungen hergekommen 


ſind. Jedenfalls haben ſie ſich in dem 85 


bis 90 Fahrenheit warmen Waſſer des 
Beckens ganz munter befunden, denn ſie 
haben ſich ſtark vermehrt, und vielleicht iſt 
Ausſicht vorhanden, unſere Süßwaſſer— 
aquarien mit dieſer neuen und intereſſan— 
ten Tierklaſſe zu bereichern, da die kleinen 
Daphnien, von denen ſie dort leben, ſich 


überall finden. 


Die Meduſe gehört zu der Abteilung 
der nacktäugigen Meduſen (Gymnophthal- 
mae) von Forbes. Die meiſten ſind nur 
wie eine halbe Erbſe groß, aber einige 
haben bis zu einem halben Zoll Durch— 
meſſer erreicht. Sie ſtellen eine nahezu 
halbkugelige Glocke dar, von deren Mitte 
ein langer Magen bis etwas über den 


Kleinere Mitteilungen 


und Journalſchau. 


Rand der Glocke herabhängt. Die Glocke 


oder Umbrella wird von vier Strahl— 
kanälen durchzogen, welche von dem An— 


ſatzpunkte des Magenrohres ausgehen und 


zum Rande der Glocke laufen. Innerhalb 
dieſer Kanäle befinden ſich die ovale Säcke 
darſtellenden Generationswerkzeuge (Go⸗ 
naden), welche entweder Eier oder Samen— 
fäden enthalten, da die Tiere eingeſchlecht— 
lich ſind. Die Offnung der Glocke wird, 
wie bei allen nacktäugigen Meduſen, durch 
eine Membran (das Velum oder den 
Schleier) verengt, der ſich von dem Rande 
der Scheibe nach innen ausbreitet und 
welcher eine große Zahl von Fangarmen 
(Tentakeln) trägt, von denen vier größer 
und länger als die übrigen ſind und den 
vier Radialkanälen in ihrer Stellung ent— 
ſprechen. Bei größeren Exemplaren zählte 
Profeſſor Lankeſter ſieben ſekundäre Ten— 
takel in jedem Zwiſchenraum zwiſchen zwei 
primären Tentakeln, während die Zwiſchen— 
räume zwiſchen je zwei ſekundären Ten— 
takeln durch je ſieben tertiäre Tentakeln 
eingenommen werden. Dies ergiebt 240 
als die Totalzahl der Tentakeln bei einem 
ganz ausgebildeten Tiere. Die längs der 
Anheftungslinie des Velums befindlichen 
Randbläschen (Otozyſten), welche man für 
Gehörsorgane anſieht, erreichten die Zahl 
80, und von jedem derſelben erſtreckt ſich 
ein feiner Kanal in das Velum, eine Eigen— 
tümlichkeit, welche, wie Lankeſter meint, 
wahrſcheinlich die neue Meduſe zum Ver— 
treter einer neuen Familie oder Unterord— 
nung erheben wird. 

Was die genauere ſyſtematiſche Stel— 
lung des ſo unerwartet gefundenen neuen 
Tieres angeht, ſo weichen die Meinungen 
der beiden Beobachter einigermaßen von 
einander ab. Ray Lankeſter, der die 


———4—äñ — — 
, 
* 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


473 


Meduſe zuerſt beſchrieben und Craspeda- hervortretend durch die ſchon erwähnte 


custa Sowerbii genannt hat, dieſen Na— 


men aber unnötigerweiſe zu gunſten des 


Allmannſchen Namens 
Victoria zurückgezogen hat, glaubt, daß 
die neue Meduſe zu den Trachomedu— 


Limnocodium 


ſen, Familie Petasidae in Haeckels 
„Syſtem der Meduſen“ (1880), gehöre 
und der von Fritz Müller beſchriebenen 


Aglauropsis der braſilianiſchen Küſte zu— 
nächſt ſtehe, während Allmann meint, 
ſie ſtehe zwiſchen Trachomeduſen und Lepto— 
meduſen, den letzteren näher. Da aber 
Ray Lankeſter bereits die Entwicklungs— 
geſchichte des neuen Organismus beobach— 
tet und ſie mit der einer echten Tracho— 
meduſe übereinſtimmend gefunden hat, ſo 
folgen wir ſeiner Klaſſifizirung in dem 
nachſtehenden. 

Das Tier bietet die gemeinſamen Cha— 
raktere der von den Narkomeduſen geſchie— 
denen Trachomeduſen dar, inſofern als 
ſeine Genitalſäcke oder Gonaden im Laufe 
der Radialkanäle verteilt ſind. Es ſtimmt 


Eigentümlichkeit, daß zentrifugale, blind 
auslaufende Kanäle von den Randbläs— 
chen in den Schleier ausſtrahlen. 

Die Tentakeln ſtehen am Rande der 
flachen Scheibe mit lang herunterhängen— 
den viereckigen Röhrenmagen in drei über— 
einandergeſtellten Kreiſen, und zwar ſind 
4 primäre, 28 ſekundäre (in Gruppen von 
7 Stück) und 192 tertiäre, in Gruppen 
zu 6 Stück ſtehende Tentakeln vorhanden. 
Von den Tentakeln aller drei Horizonte 
gehen Mantelſpangen zum Neſſelring. 
Randbläschen oder Otozyſten wurden bei 
größeren Exemplaren an achtzig Stück 
bemerkt, Randkörper mit lichtbrechenden 
Medien (Ocelli) fehlen gänzlich. 

Merkwürdig iſt, daß trotz der großen 
Zahl der Männchen kein Weibchen beob— 
achtet wurde, die alſo, wie bei manchen 
andern Trachylinen, den Männchen gegen— 
über in Minderzahl vorzukommen ſcheinen. 


Die Entwicklung iſt eine direkte und der 


mit ſämmtlichen Tracholinen (Trachome- 


dusae und Narcomedusae) darin überein, 
daß es endodermale Randkörperchen (Oto— 


zyſten) beſitzt und ferner ſolide Tentakeln 


mit knorpliger Axe, Mantelſpangen und 
den bei manchen Tracholinen beobachteten 
Neſſelring aufweiſt. 

Unter den Trachomeduſen gehört ſie 
zu den Petasidae, die durch vier Radial— 
kanäle, in deren Verlauf die vier Gonaden 
liegen, und durch den langen röhrenförmigen 
Magen ohne Magenſtiel charakteriſirt ſind. 


große Zahl ihrer Tentakeln, welche alle 
ſolid ſind und durch ihre ſehr zahlreichen 
Randbläschen (Otozyſten) ausgezeichnet. 


Ferner iſt ſie unter allen Hydromeduſen 


RER 


Embryo mit den vier kleinen primären 
Tentakeln gleicht ſtark demjenigen der 
Rüſſelqualle (Geryonia), alſo der typi— 
ſchen Trachomeduſenform. 

Über die Phyſiologie dieſes inter— 
eſſanten Tieres hat George J. Ro— 
manes einige Mitteilungen gemacht, de— 
nen wir das folgende entnehmen. 

Die natürlichen Bewegungen desſelben 
gleichen genau denen ſeiner marinen Ver— 
wandten, beſonders derer, die nicht fort— 


während ſchwimmen, ſondern in Pauſen. In 


dem 85° 
Unter den Petaſiden iſt ſie durch die 


CH 


Fahrenheit warmen Waſſer des 
Viktoriahauſes ſind die Pauſen häufig 
und der Rhythmus der Bewegungen un— 
regelmäßig, was dem Tiere einen Anſchein 
von Intelligenz giebt, beſonders jüngeren 
Individuen. Im kältern Waſſer (65 bis 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 


60 


. 


474 


75° F.) find die Bewegungen regelmäßiger | 
| pfindlich gegen ſüßes Waſſer, und da die 


und beſtändiger, ſo daß Romanes nach 


ſeinen mit marinen Arten gemachten Er- 
„ „ I 
fahrungen ſchließt, daß die Temperatur 


des natürlichen Wohnorts dieſer Meduſe 
nicht ſo hoch ſein kann, wie die des Waſ— 
ſers in dem Viktoriahauſe. Im Waſſer 
dieſer Temperatur ſteigt das Maß des 
Rhythmus zuweilen zu enormer Höhe, bis 


auf drei Pulſationen in der Sekunde. 
Aber durch allmähliche Abkühlung des 


Waſſers kann man, gerade wie bei den 
marinen Arten, dieſes Maß bedeutend 


beträgt das Maximalverhältnis, welches 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Alle marinen Meduſen ſind ſehr em— 


Süßwaſſerart wahrſcheinlich von marinen 
Ahnen abſtammen muß!), fo ſcheint es eine 
intereſſante Frage zu ſein, in wie weit 
dieſe Spezies an Seewaſſer möchte gewöhnt 
werden können. Der Vergleichung wegen 
will ich zuerſt kurz die Wirkungen des ſüßen 
Waſſers auf marine Arten beſchreiben. “) 
Wenn eine in Seewaſſer lebhaft ſchwim— 
mende nacktäugige Meduſe plötzlich in Süß— 
waſſer verſetzt wird, wird ſie augenblicklich 
zuſammenfallen, bewegungslos werden und 


herabmindern, und in Waſſer von 65% F. auf den Boden des Gefäßes ſinken. Dort 


Romanes beobachtet hat, SO Pulſatio- 
nen in der Minute. Während die von 


ihm unterſuchten marinen Arten höchſtens 
75 F. Waſſerwärme ertrugen, wurden 


Se 


der neuen Süßwaſſerart erſt 100 F. ge— | 


fährlich; während andrerſeits die marinen 
Arten irgendwelche Kältegrade ohne Ab— 


ſterben aushalten, ſogar nach Gefrieren 
und vorſichtigem Auftauen ihre Pulſatio- 


nen wieder beginnen, iſt dies nicht mit der 
Süßwaſſermeduſe der Fall. Sie wurde 
durch Gefrieren völlig getötet. 

Das Tier ſucht das Sonnenlicht. Wenn 


eine Seite des Behälters beſchattet wird, 
ſammeln ſich alle auf der andern unbe- 


ſchattet gebliebenen. Ferner ſchwimmen 
Oberfläche des Waſſers, aber wenn die 
Sonne untergeht, ſinken ſie ebenfalls un— 
ter und können nicht länger geſehen wer— 
den. In allen dieſen Gewohnheiten glei— 
chen ſie vielen Meeres-Arten. Sie ſind 
nicht ſelbſtleuchtend. 

In einigen Viviſektionsverſuchen ver— 
hielten ſie ſich teils ähnlich, teils ſehr ver— 
ſchieden von beſtimmten marinen Arten. 


und andauernd geſchwächt. 


wird ſie bewegungslos bleiben, bis ſie 
ſtirbt, aber wenn ſie vorher wieder in See— 
waſſer zurückverſetzt wird, wird ſie ſich wie— 
der erholen, vorausgeſetzt, daß ſie nicht zu 
lange im Süßwaſſer geweſen iſt. Sie 
überleben nach Romanes Erfahrungen 
niemals einen Zeitraum von 15 Minuten, 
können dagegen einen ſolchen von zehn Mi— 
nuten und pflegen allgemein einen ſolchen 
von fünf Minuten zu überleben. Aber 
obgleich ſie auf unbeſtimmte Zeit zu 
leben fortfahren, iſt ihre Kraft erſichtlich 
Inzwiſchen 
überdauert im Süßwaſſer die Reizbarkeit 
noch eine kurze Zeit die Lebensfähigkeit 
und Stiel wie Tentakeln ſind kräftig zu— 


rückgezogen. 
fie während der Tagesſtunden oben an den — — 1. 


*) Anm. der Red. Ausgehend von der 
enormen Zahl mariner Arten hält der Verfaſſer 
die Abſtammung der alleinſtehenden Süßwaſſer— 
meduſe von ihnen mit Recht für wahrſcheinlicher, 
als den umgekehrten Fall. Allein da wir auch 
Süßwaſſerſchwämme und -polypen haben, wäre 
der letztere Fall dennoch nicht undenkbar, und 


namentlich könnte die Meduſe denkbarerweiſe von 


unbekannten Süßwaſſerpolypen abſtammen. 
) Der genauere Bericht befindet ſich Philos. 


Transact. Vol. CLXVII, p. 744. 


6 


waſſer⸗Meduſe zurückkehren, jo iſt, wenn 


wird, ungefähr in den erſten fünfzehn Se— 
kunden kein Wechſel in ihren Bewegungen 


gezogen ſeien mögen. Aber dann, oder ei— 
nige Sekunden ſpäter, tritt eine Reihe von 
zwei oder drei toniſchen Krampfanfällen 
ein, die von einander durch einen Zwiſchen— 
raum von wenigen Sekunden getrennt ſind. 


krampfartigen Konvulſionen, welche ver— 
ſchiedene Teile der Glocke unregelmäßig 


rechnet, hört alle Bewegung auf, und die 


von Reizbarkeit vorhanden. Nach fünf 
Minuten langem Aufenthalt in Süßwaſ— 
ſer zurückverſetzt, tritt unmittelbar ein ſtar— 
ker und anhaltender toniſcher Krampf ein, 
welcher der Totenſtarre gleicht, und das 
Tier bleibt für ungefähr 20 Minuten re— 
gungslos. Leichte krampfartige Zuſam— 
menziehungen, welche indeſſen nicht die 
ganze Glocke, ſondern nur Teile betreffen, 
beginnen dann ſich zu erheben. Die to— 
niſchen Krämpfe fahren fort, allmählich an 
Stärke zuzunehmen und geben dem Um— 
riſſe des Randes eine ſehr unregelmäßige 
Form; die krampfartigen Zuſammenzie— 
hungen werden ſchwächer und weniger häu— 


keit bleibt indeſſen noch für einige Zeit be— 


einer Reihe rhythmiſcher Kontraktionen ge— 
folgt. 


fig, bis fie zuletzt erlöſchen. Die Reizbar- 
ſtehen, ein Kniff mit der Pincette iſt von 


Der Tod tritt erſt nach einigen 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Wenn wir jetzt zu dem Fall der Süß⸗ 


| 
| 


fie zuerſt in Seewaſſer von 85“ F. getaucht 


| zu bemerken, obwohl die Tentakeln zurück- 


Während der nächſten halben Minute wer— | 
den die gewöhnlichen Zuſammenziehungen 
fortſchreitend ſchwächer, bis ſie in bloßen 


Stunden mit ſtarker und unregelmäßiger 
Zuſammenziehung ein. 

Wenn die Einwirkung des Seewaſſers 
nur zwei Minuten gedauert hat, tritt eine 
ähnliche Reihe von Erſcheinungen ein, aus— 
genommen, daß die freiwilligen krampfar— 
tigen Bewegungen in viel kürzerer Zeit 
als zwanzig Minuten eintreten. Aber eine 
Einwirkung von ſogar nur einer Minute 
bewirkt einen tötlichen Ausgang, wenige 
Stunden nachdem die Meduſe in Süßwaſ— 
ſer zurückverſetzt worden iſt. 

Die Berührung mit Seewaſſer bewirkt 
ein opaliſirendes Ausſehen und eine Zer— 


ſetzung der Gewebe, welche genau den 


treffen, erlöſchen. Nach ungefähr einer 
Minute, von der erſten Eintauchung an ge 


Einwirkungen des ſüßen Waſſers auf die 
Meerqualle gleicht. In Seewaſſer geſetzt 
ſchwimmt unſere Meduſe an der Ober— 


fläche infolge ihres geringeren ſpezifiſchen 


Glocke verharrt in teilweiſer Zuſammen- 
ziehung paſſiv. Es iſt dann keine Spur 


Gewichtes. 

In verdünntem Seewaſſer (50%) 
treten die vorangehenden toniſchen Kräm— 
pfe nicht ein, aber alle übrigen Phaſen 
ſind dieſelben, wenngleich auf eine längere 
Periode verteilt. In noch ſtärker verdünn— 
tem Seewaſſer (1:4 oder 6) tritt eine 
ſchrittweiſe Einbuße an Lebhaftigkeit ein, bis 
alle Bewegung aufhört, worauf kurz darauf 
auch die Reizbarkeit aufhört, während Ten— 
takeln und Magenrohr ausgebreitet blei— 
ben. Nach einer Stunde fortgeſetzter Ein— 
wirkung entwickelt ſich langſam und fort— 
ſchreitend eine intenſive Totenſtarre, ſo 
daß die Glocke zuletzt faſt zu einem Nichts 
zuſammengeſchrumpft iſt. Eine Einwir— 


kung weniger Minuten in dieſer Stärke 


geſtattet dem Tiere nachherige Wiederer— 
holung, wenn es in ſüßes Waſſer zurück— 
verſetzt wird. In noch ſchwächeren Mi— 
ſchungen (1:8 oder 1:10) dauert die Le— 
bendigkeit lange Zeit, aber das Tier wird 


475 


I 
| 


I 


476 


nach und nach weniger und weniger ener— 
giſch, bis es zuletzt nur noch ſchwache Pul— 
ſationen auf Reizung vollführt. In noch 
ſchwächeren Löſungen (1:12 oder 1:15) 
hält die Lebendigkeit ſtundenlang an und 
in Löſungen von 1:15—1:18 ſchwimmt 
die Meduſe tagelang. 

Man kann aus dieſer Darſtellung 
ſehen, daß die Süßwaſſermeduſe noch em— 
pfindlicher gegen Seewaſſer iſt, als die 
nacktäugigen Seewaſſermeduſen gegen Süß— 
waſſer. Ferner iſt die Süßwaſſermeduſe 
über alle Vergleiche empfindlicher gegen 
Seewaſſer, als die Seewaſſerarten gegen 
zunehmende Salzigkeit. Denn Romanes 
hat früher gefunden, daß die Seewaſſer— 
arten eine Eintauchung in geſättigte Salz— 
löſung mehrere Stunden überleben. Wäh— 
rend ſie in ſolcher Löſung mit ausgedehn— 
tem Rohr und Tentakeln bewegungslos 
verharren, etwa wie die in eine Miſchung 
von See- und Süßwaſſer (1:5) gebrachte 
Süßwaſſermeduſe, findet hier jedoch der 
große Unterſchied ſtatt, daß während der 
kleine Salzzuſatz dem Leben der letzteren 
verhängnisvoll iſt, hier die reichliche Ver— 
mehrung des Salzes keinen nachhaltig 
ſchädlichen Einfluß auf die marine Art 
äußert. 

„Es möchte ſcheinen,“ ſchließt Roma— 
nes ſeinen intereſſanten Bericht, „daß 
eine viel weniger tiefe phyſiologiſche Ver— 


änderung erfordert werden würde, um eine 
kanntlich iſt der Leuchtapparat bei dem flü— 


Meeresqualle für das Leben in Salzlake 
umzuwandeln, als um ſie zu befähigen, 


im ſüßen Waſſer zu leben. Dennoch iſt 
licher Subſtanz an der Bauchſeite des fünf— 
die Umwandlung ſtattgefunden und fo 


die letztere diejenige Richtung, in welcher 


vollkommen Platz gegriffen hat, daß 
nunmehr Seewaſſer auf die modifizirte 
Art giftiger wirkt, als Süßwaſſer auf die 


a 2 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


unmodifizirte. Darüber kann kein Zweifel 
ſein, daß die Umwandlung allmählich vor 
ſich ging — wahrſcheinlich bei den Ahnen 
der Süßwaſſermeduſe ſchrittweiſe hervor— 
gerufen wurde, während ſie durch die bracki— 
ſchen Waſſer der Flußmündungen höher 
und höher in das ſüße Waſſer der Flüſſe vor— 
drangen — und es würde, glaube ich, ſchwie— 
rig ſein, einen bemerkenswerteren Fall tiefer 
phyſiologiſcher Anderung bei Anpaſſung 
an veränderte Lebensbedingungen nachzu— 
weiſen. Wenn ein gegen Süßwaſſer ſo 
äußerſt intolerantes Tier, wie die See— 
meduſe, alle ſeine Gewebe trotzdem ſo ver— 
ändert haben kann, um ſich dem Gedeihen 
im ſüßen Waſſer anzupaſſen, und ſogar 
nach einer minutenlangen Einwirkung ſei— 
nes urväterlichen Elementes zu ſterben, ſo 
können wir ſicherlich keinen Grund finden, 
warum irgend ein Tier auf Erden oder in 
der See oder ſonſtwo nicht ſollte mit der 
Zeit befähigt worden ſein, ſein Element 
zu wechſeln.“ 


Das Leuchten der Johanniswürmchen 
iſt trotz der vielfachen Unterſuchungen, 
die dieſer poetiſchen Erſcheinung unſerer 
Sommerabende gewidmet wurden, bisher 
nur hinſichtlich der morphologiſchen und 
anatomiſchen Seite enträtſelt worden, 
während die phyſiologiſche und chemiſche 
Seite vollkommen im Dunkeln lag. Be— 


gelloſen Weibchen am ſtärkſten entwickelt, 
und beſteht aus einer Anhäufung von gelb— 


ten, ſechsten und ſiebenten Hinterleibs— 
ringes, woſelbſt ſie von einer dünnen, durch— 
ſichtigen Haut bedeckt iſt. Unter dem Mi— 
kroſkop zeigt ſich der Leuchtapparat aus 


a 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 477 


reihenweiſe angeordneten Lappen beſtehend, 


die mit großen Zellen eines körnigen Pro— 


toplasmas angefüllt ſind. In die Mitte 


jedes dieſer Lappen dringt ein Tracheen— 
ſtamm, der zahlreiche Aſte zu den Zel— 
len ſendet. Außer dem Weibchen geht 
der Leuchtapparat auch der Larve und dem 


Männchen nicht völlig ab. Bei der erſte— | 


ven, die dem Weibchen, namentlich beim 
großen Johanniswürmchen (Lampyrisnoc- 
tiluca) ſehr ähnlich ſieht, iſt der Leucht— 
apparat rudimentärer und liegt im ſieben— 
ten Ringe, beim Männchen funktionirt er 
nur bei dem kleinen Johanniswürmchen 
(L. splendidula) kräftig und iſt bei der 
anderen deutſchen Art faſt verkümmert. 
Über die phyſiologiſche Seite dieſer merk— 


deshalb zur Erleichterung der Unterſuchung 
nach einem Mittel, es von der Willkür des 


würdigen Erſcheinung hat nun kürzlich der 


Naturforſcher Jouſſet de Bellesme 
auf Grund mehrjähriger Studien eine Ar— 
beit“) veröffentlicht, der wir das nachfol— 
gende entnehmen. Das Licht des Weib— 
chens vom großen Johanniswürmchen tft 
bis auf 150 — 200 Meter erkennbar und 
in unmittelbarer Nähe kann man dabei 


| ſcher als elektriſcher. Die letzteren erwie— 


leſen. Im Vergleich zu dem gelblichen 


Phosphoreszenzlichte des Phosphors iſt 


ſich in der That, denn während das elek— 


das Licht etwas grünlich, und bei genau 


erer Betrachtung des Leuchtapparats an 
den verſchiedenen Teilen desſelben ungleich | 


hell. Spektroſkopiſch unterſucht, ergaben 


alle drei Hinterleibsringe ein übereinſtim— 
mendes linienfreies Spektrum, in welchem 
das Grün am ſtärkſten, Rot ſchwächer, 
die brechbareren Anteile am wenigſten 
entwickelt ſind, ſo daß das Violett bei— 


nahe gänzlich fehlt. Zerdrückt verbrei⸗ 


ten ſie einen eigenartigen zwiebelartigen 


Geruch. 


nung ſtellt ſich ſo dar, als ob die durch 


9 Journal de PAnatomie et de la Phy- 


siologie, T. XVI, Nr. 2, 1880. 


Gas ausſcheiden, wie die lebende Zelle 


| trifft, ſo ſchließt Jouſſet, daß er gas= 


die noch lebenden Tiere leuchteten dann 


N 


Wie ſchon Kölliker bemerkt hat, ſteht 
das Leuchten unter dem Einfluß des Wil— 
lens und Jouſſet de Bellesme ſuchte 


Tieres unabhängig zu jeder Zeit zu erre— 
gen, welches er in der Elektrizität und an— 
deren Nervenreizen, die oft erſt nach 68 
Sekunden wirkten, fand. Entfernung der 
Kopfganglien durch einen ſcharfen Schnitt 
lieferte den ſichern Beweis, daß das Leuch— 
ten eine willkürliche Thätigkeit iſt, denn 


nicht mehr von ſelbſt, ſondern nur infolge 
äußerer Reize, und zwar ſowohl mechani— 


ſen ſich als die bequemſten für das Ex— 
periment. 

Zunächſt ſuchte der Experimentator die 
Annahme Matteuccis zu prüfen, ob wirk— 
lich die Berührung mit dem Sauerſtoff 
der Luft eine weſentliche Bedingung für 
das Zuſtandekommen des Leuchtens ſei, 
wie dieſer Forſcher aus der Veräſtelung 
der Atmungsröhren in den Leuchtorganen 
geſchloſſen hatte. Die Annahme beſtätigte 


triſch gereizte Organ jedesmal lebhaft auf— 
leuchtete, ſo lange es ſich in Sauerſtoff 
oder atmoſphäriſcher Luft befand, blieb 
dieſes Leuchten ſofort aus, wenn es in ein 
indifferentes Gas, wie Stickſtoff, Kohlen— 
ſäure oder Waſſerſtoffgas gebracht wurde. 
Was den ausgeſchiedenen Leuchtſtoff be— 


förmiger Art ſein müſſe, da für feſte 
oder flüſſige Stoffe durchaus kein Aus— 
führungsgang vorhanden ſei. Die Erſchei— 


den Willensnerven gereizten Organe ein 


478 


Kohlenſäure ausſcheidet, aber ein Gas, wel— 
ches in dem Augenblick, wo es an die Luft 
tritt und mit Sauerſtoff in Berührung 
kommt, leuchtend wird. Wir kennen bis— 
her nur ein einziges Gas, das Phosphor— 
waſſerſtoff, welches dieſe Eigenſchaft be— 
ſitzt, aber die Winzigkeit der ausgeſchiede— 
nen Gasmenge erlaubte weder die Iden— 
tität feſtzuſtellen, noch zu widerlegen. Mög— 
licherweiſe giebt es eine phosphorhaltige 
organiſche Verbindung, welcher dieſe Ei— 
ſchaft in erhöhtem Maße eigen iſt. 
Referent möchte hier an eine Erfahrung 
erinnern, die der Chemiker G. Maclean 
in Princetown vor einigen Jahren ge— 
macht hat. Derſelbe ſah am Abend eines 
Tages, an welchem er mit Phosphorwaſ— 
ſerſtoff gearbeitet und ohne Zweifel auch 
eine gewiſſe Menge deſſelben eingeatmet 
hatte, ſeinen ganzen Körper wie faules 
Holz leuchten, als ob aus den Poren ein 
leuchtender Körper ausgeſchieden würde. 
Allem Anſchein nach iſt der leuchtende 
Körper nicht vorrätig gebildet, ſondern 
wird erſt durch die Nerventhätigkeit er— 
zeugt, um dann ſogleich zu verbrennen. 
Daß die Zellen lebendig ſein müſſen, um 
dieſen Stoff zu bilden, ergaben beſtimmte 
Verſuche. Während nämlich die Zellen, 
wenn das Leuchtorgan zerriſſen wurde, in— 
folge des mechaniſchen Reizes eine Zeit 
hindurch neuen Leuchtſtoff produzirten und 
fortleuchteten, erloſch das Leuchten ſofort, 
wenn die Zellen durch Zerreiben zerjtört 
wurden. Ebenſo hoben giftige Subſtan— 
zen und lähmende Dämpfe, wie z. B. 
Atherdampf, das Leuchtvermögen auf, und 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


7 
„Es iſt daher gewiß,“ ſchließt Jouſſet 
de Bellesme, „daß das Leuchten ein 
Ergebnis der Lebensthätigkeit in den Zel— 
len iſt und daß das Johanniswürmchen 
keine fertiggebildete leuchtende Subſtanz 
vorrätig hat, ſondern dieſelbe in dem 
Maße erzeugt, wie es dieſelbe braucht. 
Sobald irgend ein Reiz ſeine Leuchtzellen 
trifft, ſei es ein Nervenreiz oder ein ande— 
rer, ſo funktioniren dieſelben und erzeugen 
die leuchtende Subſtanz, welche in dem 
Maße ihrer Abſcheidung bei der Berüh— 
rung mit der Luft, welche durch die zahl— 
reichen, die Zellenhäufchen desLeuchtorgans 
in allen Richtungen durchziehenden Tra— 
cheen herbeigeſchafft wird, zerſetzt und vom 
Luftſauerſtoff verbrannt wird, ohne ſich 
anhäufen zu können.“ Jouſſet de Bel— 
lesme geht noch weiter und zieht aus ſei— 
nen Beobachtungen folgende allgemeine 
Schlüſſe: „Meine Unterſuchungen über die 
Lampyris und die Experimente, die ich an 
den Noktiluken gemacht habe, veranlaſſen 
mich,“ ſagt er, „die Phosphorescenz als 
eine allgemeine Fähigkeit des Protoplas- 
mas zu betrachten, die in einer Entbindung 
von Phosphorwaſſerſtoff beſteht. Dieſe 
Anſchauungsweiſe läßt uns leicht begrei— 
fen, auf welche Art ſo viel niedere, des 
Nervenſyſtems ermangelnden Tiere phos— 
phoreseirend ſind. Ferner bietet ſie uns 
den Vorteil, die Phänomene der Phos— 


phorescenz an lebenden Tieren mit den— 


die Reize blieben alsdann unwirkſam. 


Auch zeigte ſich bei lange fortgeſetzter 
Reizung wie bei allen nervöſen Thätigkei— 
ten ſchließlich Ermüdung der Leuchtorgane. 


PPP 


jenigen zu verknüpfen, die man an mecha— 
niſchen Materien beobachtet, welche in der 
Zerſetzung begriffen ſind. Wir haben da 
ein Beiſpiel mehr von einer Erſcheinung 
der biologiſchen Ordnung, welches ſich ſehr 
genau auf eine chemiſche Urſache zurück— 


| führen läßt.“ 


Ob der Vorgang bei anderen Leucht— 


tieren ein ähnlicher iſt, muß dahingeſtellt 
bleiben, bei den niederſten Leuchttieren der 
Meere würde man wahrſcheinlich kaum auf 
willkürliches Leuchten ſchließen können 
und eher ein einfaches Antworten auf äu— 
ßere Reize annehmen dürfen. Was den 
etwaigen Vorteil des Leuchtens für 
das Inſekt angeht, aus welchem man 
ſich die natürliche Züchtung dieſes Ver— 
mögens erklären könnte, ſo hat man ſeit 
alter Zeit angenommen, es handle ſich 


hauptſächlich für das geſchlechtstüchtige 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


479 


mittel für fremde Nachttiere. Der Um— 
ſtand, daß man das Leuchten mehr bei 
ungeflügelten als bei geflügelten Arten, 
die einer Gefahr leichter entfliehen können, 
trifft, und ihr zwiebelartiger Geruch deu— 
tet nämlich darauf hin, daß das Leuchten 
für das Nachttier dieſelbe Bedeutung ha— 
ben könnte, welches die grelle Trutzfarbe 
für das Tagtier beſitzt. Gleichwohl 


werden ſie nicht völlig dadurch geſchützt. 
In einer Note zu ſeinem „Botaniſchen 


Weibchen darum, dem Männchen jetz 


nen Aufenthalt aus der Ferne zu ver— 
rathen, und einige Naturforſcher haben 
gefunden, daß es genüge, an einem war— 
men Juniabend ein leuchtendes Weibchen 
auf der offenen Hand zum Fenſter hinaus— 
zuhalten, um alsbald ein oder mehrere 
Männchen anzulocken. Auch Jouſſet de 
Bellesme teilt dieſe Anſicht und führt 
dafür an, daß der Leuchtſtoff zur Zeit der 
Eireife am ſtärkſten abgeſchieden wird, 
ähnlich wie die Milchdrüſen und ähnliche 
mit den geſchlechtlichen Funktionen in Wech— 


tötlich verbrannt.“ 


ſelwirkung ſtehende Organe zur betreffen- 


den Zeit ihre Abſonderung beginnen. 
Referent muß hiergegen einwenden, daß 


bei einigen Arten nicht nur die Männchen, 


ſondern auch die geſchlechtsuntüchtigen 


Larven ſehr ſtark leuchten, und daß die 


erleichterte Auffindung der Weibchen kaum 
der Hauptnutzen ſein kann, da die Ge— 


ſchlechter jo vieler anderer Nachtinſekten 


einander einzig durch den Geruchsſinn oder 


das Gehör geleitet zu finden wiſſen. Viel- 


mehr nützt dieſen Nachttieren ihr Leuchten 


wahrſcheinlich als Vorteil für das tägliche 


Leben, ſei es, um ihre Feinde zu erſchrecken, 


oder um neugierige Thiere, von denen ſie 
leben, herbeizuziehen, oder als Erkennungs⸗ 


Garten““) erzählt Erasmus Darwin das 
Folgende: „Auf Jamaika werden in eini— 
gen Jahreszeiten die Feuerfliegen des 
Abends in großer Maſſenhaftigkeit wahr— 
genommen. Wenn ſie ſich auf den Boden 
ſetzen, verſchlingt ſie der Ochſenfroſch gie— 
rig, was zu einer ſonderbaren, aber grau— 
ſamen Methode, dieſe Thiere auszurotten, 


Anlaß gegeben zu haben ſcheint. Wenn 


nämlich rot glühende Stückchen von Holz— 
kohle des Abends in der Dämmerung, un— 
ter ſie geworfen werden, ſpringen ſie dar— 
nach und werden, ſie haſtig verſchlingend, 
Der Ochſenfroſch ſoll 
den Anſiedlern in den ſüdlichen Provinzen 
der Vereinigten Staaten wegen ſeiner 
überlauten Stimme allerdings ſehr ver— 
haßt ſein, allein ich kann nicht finden, daß 
derſelbe bis nach Jamaika verbreitet wäre. 
Sei dem, wie ihm wolle, die von mir ſchon 
anderwärts ausgeſprochene Vermutung, 
daß das Leuchten gewiſſer Nachttiere zu 
den ſeinen Eigentümern nützlichen War— 
nungsſignalen gehören dürfte, ſcheint 
mir die weitaus wahrſcheinlichſte. K. 


) The Loves of Plants, Canto IV. 
Londoner 2. Ausg. von 1790, S. 149. 


— — — —— — 


© 


480 


Analomiſche Abereinſlimmung im 
SHkefett ſoſſiler Replilien mik dem— 
jenigen pfacenfalofer Säugetiere. 

Die Abſtammung der Säugetiere iſt 
bekanntlich noch ein Rätſel und obwohl 
Huxley neuerdings mit Nachdruck darauf 
hingewieſen hat, daß wir die Ableitung 
nur bei Amphibien ſuchen dürfen?), find 
doch gewiſſe, bei ausgeſtorbenen Reptilien 
der älteſten Sekundärepochen gefundene 


Übereinſtimmungen von hohem Intereſſe, 


da ſie uns den gemeinſamen Urſprung 
der beiden Gruppen illuſtriren. In der 


Sitzung der Londoner Geologiſchen Geſell- 


ſchaft vom 28. April d. J. las Prof. Owen 
eine Abhandlung über neue, in Südafrika 
gefundene Reptilreſte aus der Triaszeit, 
die auffallende Analogieen in dieſem Sinne 
darboten. Schon früher hatte Owen wie— 


derholt auf die verſchiedenartigen Ahn⸗ 


lichkeiten dieſer Reptile mit Raubtieren 
hingewieſen. Überreſte, die kürzlich in 
Graaf Reinet gefunden und von E. J. 
Dunn eingeſendet wurden, ſind in dieſer 
Beziehung ſehr merkwürdig. Sie beſtehen 
in einigen Thoraxwirbeln mit den Rüden der 


Rippen, einem Bruſtbein, einem Schulter— | 
blatt und einem rechten Oberarmbein, die | 
thropologiſchen Inſtituts vom 13. April 


in einer Felsmaſſe eingebettet gefunden 
wurden, ſowie in einem Becken, Oberſchenkel— 
bein und Phalangen in einer anderen 
Maſſe. 
denen von Dieynodon und Oudenodon 
überein. Der mutmaßliche Bruſtbeinkno— 
chen iſt von einer gerundeten hexagonalen 
Geſtalt und wird von dem Verfaſſer als 
der vordere Knochen des eigentlichen Bruſt— 
beins betrachtet, der bei jetzt lebenden 


Eidechſen gewöhnlich unverknöchert, da- 


) Kosmos, V, S. 463. 


Die Wirbel ſtimmen nahe mit 
Nachfolgende nach einem Bericht der Na— 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


Bi 


gegen wohl verknöchert bei Ornithorhyn- 
chus iſt. Auch im Schulterblatt findet 
Owen Ahnlichkeit mit demjenigen von 


Ornithorhynchus. Das Oberarmbein er— 


innert in ſeinen allgemeinen Verhältniſſen 
ebenfalls ſehr an diejenigen der Monotre— 
men. Die Endphalangen werden als 
breit und ſtumpf beſchrieben, wahrſchein— 
lich eingerichtet, um zum graben beſtimmte 
Klauen zu tragen wie bei Echidna, deſſen 
Oberſchenkelbein dem gefundenen gleicht. 
Owen hat dem Tiere, welches eigentüm— 
liche Vermutungen über die Verwandt— 
ſchaft der afrikaniſchen Triasreptile mit 
den heute lebenden niederſten Säugetieren 
Auſtraliens, Tasmaniens und Neu-Gui⸗ 
neas erweckt, den Namen Platypodosaurus 
robustus beigelegt, in Anſpielung auf dieſe 
Eigentümlichkeiten und die Breite des Ober— 
armbeins, welche bei einer Länge von 10 ½ 
Zoll an dem diſtalen Ende ſechs Zoll be— 
trägt. (Nature, Nr. 551, 1880.) 


Die Wilwenlökung und andere Ve— 


gräbniszeremonien auf den Fioſchi— 
—Inſeln.“ 
In der Sitzung des engliſchen An— 


ce. wurde eine Schilderung der Begräbnis— 
zeremonien auf dieſen Inſeln von Reverend 
Lorimer Fiſon verleſen, der wir das 


ture (Nr. 549) entnehmen. Im Allgemeinen 
iſt unter den Sitten der Fidſchiinſulaner 
ſo wenig Gleichförmigkeit vorhanden, daß 
keine Beſchreibung der Sitten des einen 
Tribus etwa für alle gelten könnte. Die 
Erdroſſelung der Witwen, um ſie mit 
ihren verſtorbenen Männern zu begraben, 


— 


8 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


ſcheint dagegen überall ſtattgefunden zu 
haben. Der Witwe eigener Bruder voll— 
bringt die Operation und wird darauf mit 
einem bemerkenswerten Reſpekt von den 
Kindern ſeines Schwagers behandelt, welche 
ihm ein Stück Land übergeben, über wel— 
chem die Erdroſſelungsſchnur aufgehängt 
wird. Sollte er hingegen unterlaſſen, ſeine 
Schweſter zu erwürgen, ſo wird er verach— 
tet und muß ſich ſchämen, ſein Geſicht zu 
zeigen. Wenn eine Ehefrau erdroſſelt wer— 
den ſoll, ſo läßt man ſie niederknieen und 
der Strick (ein Streifen einheimiſchen Ge— 
webes) wird rings um ihren Nacken ge— 
legt. Dann wird ihr geſagt, ſie ſolle ſo 
tief wie möglich ausatmen, und wenn ſie 
nicht weiter mehr könne, ihre Hand als 
Signal ausſtrecken, worauf der Strick 
zuſammengezogen wird und bald alles 
vorüber iſt. Man glaubt, daß unmittel— 
bar Empfindungsloſigkeit auf das Anzie— 
hen des Strickes folgt, wenn dieſe Anwei— 


fung befolgt worden iſt, während, ſobald 
nicht bedeutende Fortſchritte gemacht hat. 


Inhalation erfolgt war, ein mit Leiden 
verknüpfter Zwiſchenraum eintritt. 
Eine Entſchuldigung für die Witwen— 


erdroſſelung kann in dem Glauben der 


Fidſchiinſulaner gefunden w&den, daß fie 
eine notwendige Vorſichtsmaßregel ſei, denn 
an einer gewiſſen Stelle auf dem Wege 
zum Hades (Mbulu) liegt als Wache ein 
ſchrecklicher Gott, Nangga-nangga, wel— 
cher den Geiſtern der Unverheirateten ge— 
genüber völlig unverſöhnlich iſt. Beſon— 


zu denen er alle männlichen Geiſter rech— 


481 


Haupt und bricht ſie entzwei, indem er ſie 
gegen einen hervorragenden Felſen ſchleu— 
dert. Weiber kommen leichter davon. 
Wenn das Weib vor ihrem Gatten ſtirbt, 
ſchneidet der Witwer ſeinen Bart ab und 
legt ihn unter ihre linke Schulterhöhle. 
Dieſer dient als ihr Trauſchein, und wenn 
ſie ihndemNangga-manggavorzeigt, erlaubt 
er ihr, vorbeizuziehen. Auf der Inſel Va— 
nua Levu wird ein anerkannter Held von 
der übrigen Herde dadurch nach ſeinem 
Tode ausgezeichnet, daß man den rechten 
Arm aus dem Grabhügel hervorſehen 
läßt, und die Vorübergehenden rufen mit 
Bewunderung: „O die Hand, welche die 
Menſchen erſchlug!“ Für einige Tage 
nach dem Hingang eines regierenden Häupt— 
lings gewinnt, wenn der Tod dem Volke 
bekannt wird, die wildeſte Anarchie die 
Oberhand. Die Idee ſcheint zu walten, 
daß der tote Mann nicht eher vollkommen 
dahin ſei und ſeine Autorität dem Nach— 
folger übergeben habe, bevor die Verweſung 


Daher wird der Tod eines regierenden 
Häuptlings 4—10 Tage lang ſorgſam 
verheimlicht. Bei mehreren Stämmen wird 


der Begräbnisplatz ihres Häuptlings in 
tiefem Geheimnis gehalten, damit nicht 
diejenigen, welche er während ſeiner Le— 


benszeit beleidigt hat, Rache nehmen kön— 
nen, indem ſie ſeinen Körper hervorziehen, 


ſchänden oder gar auffreſſen können. Da— 
her wird der Raſen der Oberfläche mit 
ders wild verfährt er gegen Junggeſellen, 


net, die nicht in Begleitung ihrer Weiber 
zu ihm kommen. Taub gegen ihre Pro- 
teſte ergreift er ſie, hebt ſie über ſein | 
9 Vergl. den Artikel: „Die Ablöſung der | 


Menſchenopfer“ Bd. III, ©. 68. 


äußerſter Sorgfalt emporgehoben und mit 
jo wenig Kenntlichkeit als möglich wieder . 
darauf gelegt. 

Höhlenbegräbniſſe ſind auf den Fidſchi— 
inſeln häufig, obgleich keineswegs all— 
gemein; in einigen Fällen werden künſt— 
liche Höhlen gemacht, entweder auf der 


Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 


61 


482 


Seite eines Hügels oder durch Abtäu— 


fung eines ſenkrechten Schachtes. In eine 


Seitenkammer legt man den verſtorbenen 


Häuptling und ſein erdroſſeltes Weib un- 


ter ihn. Ein Stein ſchließt den Eingang 
zu der Kammer und hält die Erde ab, mit 


welcher der Schacht gefüllt wird. Bei dem | 


Tode des Königs vom Nakeloſtamme kom— 
men drei alte Männer mit Fächern in ihren 
Händen und geleiten den Geiſt des Königs 
zu den Ufern des Fluſſes. Hier rufen ſie 


nach Themba, dem Charon der Nakelos, 
fein Canoe herüber zu bringen, und war- 


ten, bis ſie eine Welle gegen die Küſte 


rollen ſehen, welche, wie ſie ſagen, durch 


die Annäherung des unſichtbaren Bootes 


an Bord, Herr!“ und laufen vorwärts 


um ihr Leben, denn kein menſchliches Auge 


darf die Einſchiffung erblicken. Das Grab 


Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 


N 


wird halbmannstief gegraben, der Körper 


hineingelegt und eine alte Cocosnuß mit 
einem Stein, aufgeſchlagen und fo gehal— 
ten, daß die Milch auf das Haupt des 
Leichnams läuft. Das Fleiſch der Nuß 
wird dann von den drei Alteſten gegeſſen 
und das Grab zugefüllt. 


Baptanodon. 

Hinſichtlich des für die Deszendenz— 
theorie höchſt wichtigen Sauriers, den er 
Sauranodon getauft hatte“), macht Pro— 
feſſor O. C. Marſh im Juniheft des 
American Journal of Science darauf 


aufmerkſam, daß dieſer Name zurückgezo— 
verurſacht wird; alsdann wenden ſie ihre 
Geſichter ab, deuten mit ihren Fächern 
ſüdlich nach dem Fluß, rufen laut: „Geh' 


gen werden müſſe, da er bereits von 
Jourdan einem juraſſiſchen Reptil bei— 
gelegt worden iſt. Er ſchlägt deshalb vor, 
das Tier Baptanodon und die Klaſſe 
Baptanodontidae zu nennen. 

*) Vergl. Kosmos, Bd. VII, S. 74. 


Litteratur und Kritik. 


ie Neſter und Eier der Vögel 
in ihren natürlichen Beziehungen be— 
trachtet. Ein Beitrag zur Ornitho— 
pſychologie, Ornithophyſiologie und zur 
Kritik der Darwinſchen Theorien, be— 


arbeitet von Wilh. von Reichenau, | 
Konſervator des Mainzer zoologifchen | 
Leipzig, Ernſt Günthers 


Muſeums. 
Verlag, 1880. 110 S. in 8. 

Ein anmutendes Buch, ſowohl ſeinem 
Gegenſtande, als der flotten Darſtellung 
und dem Ideenreichtum nach, welches unter 
den zahlreichen Spezialfreunden der gefie— 
derten Welt auf eine gute Aufnahme rech— 


dasjenige, was man in den ornithologiſchen 
Werken von Brehm, Baldamus und 
Ruß vergebens ſucht, nämlich eine Philo— 
ſophie der Vogelnatur, Erklärungsverſuche 
ihrer Kunſtfertigkeiten, Triebe, der Brut— 
methode, ihres äußeren Gewandes u. ſ. w., 
wobei der Verfaſſer von den durch Wal— 


lace und Seidlitz aufgeſtellten Geſichts- 


punkten weiter baut. Nachdem Reichenau 


im erſten Kapitel „den Urheber von Neſt 


und Ei“ geſchildert hat, geht er im zwei- 
(Sylva Sylvarum Exper. 851 852) über 
„ſelbſtbrütende Neſter“ und „Bebrütungs- den Urſprung der Zierden des Männchens 
neſter“ teilt und nach ihren reſpektiven | ausſprach: Praecipua horum omnium cau- 


ten zu den Neſtern ſelbſt über, die er in 


Vollendungsſtufen ordnet. Das dritte Ka— 
pitel behandelt, in der Hauptſache den 
Ideen von Wallace folgend, die Bezie— 
hungen zwiſchen der Farbe des Vogels, ins— 
beſondere des Weibchens und der Niſtart, 
ſofern den offenbrütenden Weibchen in der 
Regel Schutzfarben eigen ſind, die ſie ihren 
Verfolgern verbergen. Im Eingange des 
folgenden Kapitels wird die früheſte Er— 
kenntnis der ſympathiſchen Färbungen der 
Vogeleier Gloger (1829) zugeſchrieben, 
während ſie bereits 35 Jahre früher in dem— 
ſelben Sinne von Erasmus Darwin be— 


trachtet wurden. Im fünften Kapitel werden 
nen dürfte. Es enthält ſo ziemlich alles 


nähere Beziehungen zwiſchen der Farbe 
des Vogels und dem Brutgeſchäft verfolgt. 
Bekanntlich hatte Manteg azza verſucht, 
die geſchlechtlichen Farben der männlichen 
Vögel aus einem Überfluß an Lebensener— 
gie, d. h. als einen Luxus, den nur ſie ſich 
erlauben können, aufzufaſſen, während alle 
überflüſſigen Säfte des Weibchens meiſt 
dem Eierlegen und Brüten gewidmet werden 
müßten, ſo daß es nicht an äußeren Putz 
denken könnte. Es iſt dies faſt dieſelbe Mei— 
nung, welche bereits Baco von Verulam 


MD | 


25 


484 


sa (procul dubio), quia mares quam foe- 
minae intensius calent, quod vel ex 
eo colligas, quod mares tenella aetate si- 
miles sint foeminis. Sie Eunuchi et ani- 
mantia castrata culuscumque generis pro 
priusad foeminas accedunt. Reichenau 
hat dieſe Beziehungen indeſſen weiter ver— 
folgt, als Mantegazza und Wallace, 
und daraus folgende fünf Schlußfolger— 
ungen abgeleitet: 


Litteratur und Kritik. 


ſchäft, legt entweder mehrere Eier, welche 
es dem Männchen überläßt, oder aber nur 
ſehr wenige, wenn es ſelbſt brütet. (Waſſer— 
treter [Phalaropus] und Laufhühnchen[Tur— 
nix — Adler [Aquilal.) 


In den letzten Kapiteln wird Dar- 


wins geſchlechtliche Zuchtwahltheorie im 


weſentlichen mit den Wallaceſchen Grün— 


den bekämpft. Wir ſtimmen dem Verfaſſer 


1) Iſt das Weibchen eines auffallend 


ausgeſtatteten Männchens gleichfalls mit 
auffallenden Charakteren ausgeſtattet, ſo 
findet bei ihm während der Fortpflanzungs— 
periode wenig Verluſt an Lebensenergie 
ſtatt. Solche Vögel legen meiſt in Höhlen 
wenig weiße Eier, faſt immer nur einmal 
im Jahre. (Papageien, Hechte ꝛc.) 

2) Iſt das Weibchen eines auffallen— 
den Männchens nicht auffallend, wohl gar 
ſympathiſch gefärbt, oder fehlen ihm ſonſt 
die männlichen Charaktere (Geſang), fo fin— 
det bei ihm viel Verluſt an Lebensenergie 
ſtatt. Derartige Weibchen legen entweder 
viele Eier, oft zweimal im Jahre, oder 
große Eier von durchſchnittlich ſympathiſcher 
Färbung in offene Neſter. (Henne, Droſ— 
ſeln ꝛc.) 

3) Iſt das Weibchen eines auffallenden 
Männchens nur einfach ausgeſtattet und 
legt es nur ein Ei oder deren zwei, ſo über— 
nimmt es das ganze übrige Brutgeſchäft 
ohne männliche Hülfe. (Paradiesvogel.) 

4) Iſt das Weibchen eines auffallenden 
Männchens einfacher ausgeſtattet und brü— 
tet nicht, ſo legt es doch viele große Eier. 
(Strauß.) 

5) Iſt das Weibchen eines Vogels auf— 
fallender in Farbe oder Größe und Lebens— 
mut, als ſein Männchen, ſo hat es wenig 
Verluſt an Lebensenergie beim Brutge— 


durchaus bei, wenn er ſagt, daß weder 
„die Naturausleſe noch die Weiberausleſe 
auch nur einen bunten Spritzer auf das 
Gewand eines Männchens zu zaubern ver— 


mögen“ (S. 93). Allein darin wird ihm 


auch Darwin vollkommen Recht ge— 
ben. Natur- und Weiberleſe können nichts 
erſchaffen, aber ſie können zur Erhaltung und 
Steigerung eines entſtandenen beitragen. 
Wenn aber Reichenau, die Anſichten 
Mantegazzas, Beccaris und Wal— 


laces miteinander paarend, ferner ſagt: 


„Das Männchen erhält nicht die bunten 
oder ſonſt auffallenden Charaktere durch 
einen Zufall, welcher durch Liebhaberei der 
Weibchen eine beſtimmte Richtung erhält, 
ſondern durch das Geſetz, welches die über— 
ſchüſſige Lebensenergie in die mit den Ge— 
ſchlechtsteilen in Korrelation befindlichen 
und mit ihnen vornehmlich gereizten Teile 
des peripheriſchen Organismus hineintre— 
ten und ſich ihnen anpaſſen läßt“ (S. 106), 
ſo muß Referent entſchieden bei der An— 
ſicht verharren, daß dieſe Erklärung höch— 
ſtens andeutet, woher das Rohmaterial 
herſtammt, deſſen ſich die geſchlechtliche 
Zuchtwahl bedient, um ihren Schmuck dar— 
aus zu züchten. Allein auch hinſichtlich 
dieſes Rohmaterials habe ich eine viel 
fruchtbarere Vermutung bei Baco gefun— 
den. Ariſtoteles hatte die Frage aufge— 
worfen, warum unter den Säugetieren 


. 


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} 
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NG 


Litteratur und Kritik. 


nicht ebenſo ſchön rot, blau und grün ge— 
färbte Tiere vorkämen, wie bei den Vö— 
geln, und darauf geantwortet, der vor— 
wiegende Aufenthalt der Vögel in der 
Sonne, der Säuger im Schatten ſei die 
Urſache. Dies beſtreitet Ba co (Sylva Syl- 
varum Exper. 5) durchaus und er ſagt mit 
einer merkwürdigen Sicherheit: Verissi- 
ma causa est, quod humor excremen- 
titius animantium, qui aeque constituit 
plumas in avibus ac pilos in bestiis, in 
avibus tenuiori et delicatiori colatura 
Dieſe 
mit ſo großer Zuverſicht ausgeſprochene 
Anſicht Bacos, daß die Farben der Vö— 
gel aus den Abfallſtoffen entſtehen, iſt vor 
vielen Jahren durch den elſäſſiſchen Chemi— 
ker Sace inſofern experimentell erwieſen 
worden, daß er bei Papageien und andern 
Vögeln mit glänzenden Federn nachwies, 
daß die ſonſt ſo bedeutende Harnſäure— 


transmittatur, quam in bestiis. 


Ausſcheidung bei der Mauſerung auf ein 


Minimum herabſank, wahrſcheinlich weil 
ſie zur Bildung und Färbung der neuen 
Federn verbraucht wurde. Nun iſt einer— 
ſeits bekannt, daß man aus der Harnſäure 
prachtvoll metallglänzende Farben gewin— 
nen kann, und andererſeits, daß der Kot 
der farbenprächtigſten Tierklaſſen (Repti⸗ 
lien und Vögel) am reichſten an Harnſäure 
iſt; es wäre daher eine dankenswerte 
Aufgabe für einen Chemiker, zu unterſu— 
chen, ob bei der Mauſerung das pracht- 
voll gefärbte Männchen einer Vogelart, 
deſſen Weibchen unſcheinbar gefärbt iſt, 
nicht viel weniger Harnſäure ausſcheidet, 
als dieſes. Dann würde ſich vielleicht die 
vermutete höhere Lebensenergie der Männ— 
chen auf eine beſſere Ausnützung der Ab— 
fallſtoffe reduziren. 

Aber möge auch eine höhere Lebens— 


485 


energie des Männchens das Rohmaterial 
zu ſeiner geſchlechtlichen Zierde — die aber 
anderswo dem Weibchen eigen iſt! — lie— 
fern, zu geſchmackvollen Zeichnungen, Kon— 
traſten und Übergängen kann es doch wohl 
nur durch eine geiſtig auswählende Thä— 
tigkeit gelangen. Wahrſcheinlich liegt die 
Wahrheit in der Mitte und zwar in fol— 
gender Weiſe: Erasmus Darwin hat 
bereits hervorgehoben, daß nicht das ſchö— 
nere, ſondern das kräftigere Männchen das 
Weibchen in Beſitz nähme, und daß dem— 
nach durch die geſchlechtliche Zuchtwahl nur 
die Stärke, aber nicht die Schönheit ge— 
ſteigert werden könnte. Wenn nun aber 
die überſchüſſige Lebenskraft die Urſache 
ſchönerer Färbungen wäre, ſo müßten ja 
alle jene geſchlechtlichen Zierraten bei dem 
ſtärkſten Männchen auch am lebhafte— 
ſten zu Tage treten, die Schönheit würde 
alſo vermöge der ihr von Natur verbün— 
deten Kraft ſiegen, ſo daß doch immer die 
geſchlechtliche Zuchtwahl, wenn auch in 
dieſem Falle die Wahl des Männchens, 
das beſtimmende bliebe, da die weniger 
kräftigen und daher weniger ſchönen Männ— 
chen nicht zur Fortpflanzung gelangten. 
Aber wie oft mag es nicht überdem vor— 
kommen, daß der weibliche Vogel, wenn 
auch heimlich, den beſiegten, aber ſchönern 
Liebhaber dem ſtärkern vorzieht, ebenſo 
wie Helena dem Menelaus ihren Paris 
vorzog. Vor allem muß konſtatirt werden, 
daß die Theorien von Manteg azza, 
Wallace und Reichenau kein eigent— 
liches Prinzip an die Stelle der geſchlecht— 
lichen Zuchtwahl zu ſetzen wiſſen, welches 
die geſchmackvolle Steigerung der Zier— 
raten erklärt. Man muß auch berückſich— 
tigen, daß an die Stelle des ſchönen Ge— 
fieders oft ein ſchöner Geſang der Männ— 


486 


chen tritt, ein Vorzug, den man wahrjchein- 
lich nicht mit überſchüſſigen Säften er— 
klären können wird, und den man ſogar 
im Menſchenleben durch kein beſſeres Mit— 
kel zu ſteigern weiß, als durch Wettge— 
ſänge und Preiszuteilung von der Hand 
ſchöner Frauen. 

Aber trotz aller dieſer Meinungsver— 
ſchiedenheiten ſtehe ich nicht an, das Reiche— 
nauſche Buch für einen ſehr wertvollen 
Beitrag zur Erklärung der uns umringen— 
den Rätſel zu erklären und ſeine leben— 
dige Lektüre jedermann angelegentlich an— 
zuraten. 2 


Der Realismus der modernen Na— 
turwiſſenſchaft im Lichte der von 
Berkeley und Kant angebahnten Er- 
kenntniskritik. Kritiſche Streifzüge von 
Dr. Anton von Leclair. Prag, 1879. 
Verlag von Tempsky. IX u. 283 S. 

Einem ſtreitbareren und zielbewußte— 
ren Kämpen für die phänomenale Auffaſ— 
ſung des Naturganzen ſind wir noch nicht 
begegnet. Überzeugt davon, daß viele Er— 
kenntnistheoretiker, insbeſondere ſolche, die 
auch zugleich als Naturforſcher thätig ſind, 
bei aller Maskirung dieſes ihres eigent— 
lichen Standpunktes nur wenig über den 

„naiven Realismus des vulgären Körper— 

glaubens“ ſich erheben, unternimmt es der 

Verfaſſer, durch eingehende Analyſe irgend 

einer als Exempel herausgegriffenen na— 

turwiſſenſchaftlichen Frage gewiſſe Wider— 
ſprüche und Zirkelſchlüſſe der modernen 

Erkenntnislehre nachzuweiſen. Er wählt 

hierzu John Stuart Mills teleologifche 

Ausſprüche über das Auge und die nach 

beſtimmt geſetzmäßigem Plane erfolgte Zu— 

ſammenſetzung der das Sehorgan bilden— 
den Beſtandteile. Unbewußt oder halbbe— 


Litteratur und Kritik. 


wußt denkt ſich Mill und Jeder, der in 
ähnlicher Weiſe Naturphiloſophie betreibt, 
doch immer wieder ein neues Auge hinter 
jenem, deſſen Einrichtung ſtudirt wird, und 
es entſteht ſo eine für die Gewinnung 
wirklicher Erkenntnis abſolut nutzloſe Re- 
gressio in infinitum, ſofern man ſich nicht 
von vornherein mit Entſchiedenheit auf 
den von allem Beiwerk gereinigten Boden 
des Kantſchen Kritizismus ſtellt und z. B. 
im vorliegenden, konkreten Falle eingeſteht 
(S. 14), „daß die Durchſichtigkeit der licht— 
brechenden Medien im Auge des A unmit- 
telbar nur für das Bewußtſein eines Beob— 
achters B beſteht, daß ferner auch die in— 
direkte Erkenntnis auf Seiten des Beſitzers 
A ſelbſt überhaupt nur unter Voraus- 


ſetzung des Senſationsphänomens, das ges 


netiſch „erklärt“ werden ſoll, gewonnen 
werden kann, daß alſo der Zuſammenhang 
jener Durchſichtigkeit mit dem normalen 
Sehakt in jedem Falle — als bare That— 
ſache — lediglich durch das Zeugnis der 
ſinnlichen Erfahrung ſelbſt konſtatirt und 
geſtützt werden kann.“ Dieſer Satz bildet 
das Fundament für die weitere, unſeres 
Erachtens faſt durchaus ſehr glückliche Po— 
lemik des Verfaſſers. Gegen den ſeiner 
Zeit ſo fröhlich ins Kraut geſchoſſenen 
rohen Materialismus führt er wahre Keu— 
lenſchläge, die ſicher ihren Mann treffen. 
Auch ſonſt iſt die Schrift reich an ſcharf— 
ſinnigen Bemerkungen, ſo z. B. S. 45, wo 
denen, die die Frage nach den „Antezeden— 
tien“ des Bewußtſeins überhaupt nur ſtel— 
len, nachgewieſen wird, daß ſie mit dieſer 


Frageſtellung ſchon eines der unzweifelhaft f 


ſchwierigſten Probleme der Erkenntnisthe— 
orie, dasjenige der „Zeit“ ganz en pas- 
sant im realiſtiſchen Sinne mit erledigen. 
Vom „Ding an ſich“ will unſer Verfaſſer 


Litteratur und Kritik. 


nichts wiſſen und thut dar, daß jeder Ver— 
ſuch, aus dem Komplex der Bewußtſeins⸗ 
thatſachen, als dem für uns Menſchen ein— 
zig und allein Sicheren und Gewußten, 
auf irgend ein wie immer beſchaffenes 
Transzendentes ſchließen zu wollen, in 
ſich verfehlt iſt. Man kann ja nicht leug— 
nen, daß dieſe ſchroffe Reinigung des Im— 


manenzbereiches von allen Einflüſſen einer 


angeblich vorhandenen Außenwelt für un— 
ſere anerzogenen Anſchauungen und Ge— 
fühle etwas äußerſt Fremdartiges hat und 
ganz allmählich verdaut ſein will; es er— 
ſcheint höchſt paradox, wenn der Verfaſ— 
ſer Clauſius' Schlüſſe über die ihrem 
Maximum zuſtrebende Entropie des Welt— 
alls aus dem Grunde zurückweiſt, weil der— 
artige Ereigniſſe mangels eines dieſelben 
in ſich aufnehmenden und kontrollirenden 
Menſchengeiſtes jeder Realität entbehren, 
oder wenn er den paläontologiſchen Dis— 
ziplinen zur Pflicht macht, nicht ohne wei— 
teres Rückſchlüſſe auf Zeitperioden zu wa— 
gen, in welchen es noch keine Menſchen 
gab. Allein wir wüßten nicht, was unter 
dem Geſichtspunkt des reinen Denkens — 
und ein anderer darf für den Philoſophen 
nicht maßgebend ſein, ja gar nicht exiſti— 
ren — gegen dieſe kritiziſtiſchen Rekrimina— 
tionen ſollte geltend gemacht werden können. 

Erhöhtes Intereſſe gewinnt die Dar— 
ſtellung des Autors noch dadurch, daß er 
in umfänglichen Anmerkungen Auszüge 
aus den Schriften hervorragender Forſcher 
mitteilt und deren Verhältnis zu ſeinen 
eigenen Überzeugungen prüft. Die Art 
und Weiſe ſeines Auftretens gegen gewiſſe 
Pächter der Unfehlbarkeit, ſo z. B. gegen 
David Strauß, iſt nicht ſelten etwas 
derb, allein dem eigenen Stil der Be— 


\ 


kämpften völlig angemeſſen. Leicht lesbar 


TRITT 
487 


kann das Buch nicht genannt werden, viel- 
mehr erfordert es wirkliches Studium; die 
Bilder ſind wohl immer geiſtreich, aber 
ab und zu etwas geſucht und muten dem 
Leſer etwas viel zu. Wenn z. B. (S. 59) 
von der „gegen Himmel ragenden Rieſen— 
geſtalt des Antelao“ geſprochen wird, fo 
vergißt der Verfaſſer, daß nicht Alle, die 
ſich für ſeine philoſophiſche Denkart inter— 
eſſiren, ſo genau mit der Topographie der 
Ampezzaner Dolomiten vertraut ſein wer— 
den, als er ſelber. Das hindert uns indes 
nicht, den Leſern dieſer Zeitſchrift, denen 
eine korrekt phänomenaliſtiſche Betrachtung 
des Naturgeſchehens ja ſchon öfter in de— 
ren Spalten geboten ward, die Leclair— 
ſche Schrift warm zur Kenntnisnahme zu 
empfehlen. 
Ansbach. 


Prof. S. Günther. 


Die Alpenpflanzen. Nach der Natur 
gemalt von Joh. Seboth. Mit Text 
von Ferdinand Graf und einer An— 
leitung zur Kultur der Alpenpflanzen 
von Joh. Petraſch, kek. Hofgärtner 
im Grazer botaniſchen Garten. Bd. J. 
Prag, 1879. Verlag von F. Tempsky. 
Auch in Lieferungen à 1 Mark. 

Diejenigen unſrer Leſer, die durch 
die zahlreichen Aufſätze unſerer Zeitſchrift 
über die Alpenflora ein tieferes Intereſſe 
für die ſchönen und eigenartigen, durch die 
beſondern Verhältniſſe des mitteleuropät- 
ſchen Hochgebirges gezüchteten Blumen ge— 
wonnen haben und ſie näher kennen zu 
lernen wünſchen, werden es uns Dank 
wiſſen, wenn wir ſie auf die im Erſchei— 
nen begriffenen, muſtergiltigen Abbildun— 
gen derſelben aufmerkſam machen, die 
von dem Maler Seboth nach der Natur 


a 


488 Litteratur und Kritik. 


entworfen wurden und im Farbendruckaus— 
geführt ſind. Man kann ſich nichts An— 
mutigeres denken, als dieſe Bilder, welche 
die glückliche Mitte zwiſchen botaniſchen 
Fakſimiles und künſtleriſchen Porträts inne— 
halten. Der Maler hat nicht darauf ge— 
halten, in ſeinen Porträts, wie der alte 


Denner, jedes Wärzchen und Härchen 


mikroſkopiſch getreu wiederzugeben, ſon— 
dern vielmehr die allgemeine Erſcheinung 
zu packen und das Pflanzenbild erkennbar 
für jeden, der die Pflanze jemals in der 
Natur geſehen, in ſeiner ganzen leuchten— 
den Farbenpracht vorzuführen. Der Far— 
bendruck eignete ſich dazu ganz vorzüglich, 
und es war eine gute, nur bei dieſer Tech— 
nik durchführbare Idee, die zahlreichen 
ſchneeweiß blühenden Alpenkinder auf ei— 
nem zarten gelbbräunlichen Grunde zu 
drucken, von dem ſich die weißen Blüten 
höchſt wirkſam abheben. Die Pflanzen 
mit farbigen Blumen ſind dagegen auf wei— 
ßem Grund gedruckt. Der Text enthält 
eine genaue Beſchreibung der dargeſtell— 
ten Pflanzen und iſt von dem berühmten 
Alpenpflanzen-Kenner Prof. A. Kerner 
einer ſorgſamen Reviſion unterzogen wor— 
den, was um ſo dankenswerter iſt, als ſich 
infolge einer tötlichen Krankheit des erſten 
Herausgebers verſchiedene Irrtümer ein— 
geſchlichen hatten. Der neue Herausgeber, 
Hofgärtner Petraſch, hat eine wertvolle 
Anleitung zur Zucht der Alpenpflanzen in 


an 


der Ebene dem erſten Bande hinzugefügt. 
Was die Auswahl betrifft, ſo ſoll jeder 
Band hundert Pflanzenporträts bringen, 
ſo daß die intereſſanteſten Alpenpflanzen 
in wenigen Bänden dargeſtellt ſein werden. 
Man wird dann ein Werk haben, welches 
ſich ebenſo wohl als eine ſchöne Erinne— 
rung an unvergeßliche Wanderungen in 
dieſen herrlichen Regionen empfiehlt, wie 
auch zum müheloſen Beſtimmen ſelbſt ge— 
ſammelter Pflanzen, und als Illuſtration 
fremder touriſtiſcher und wiſſenſchaftlicher 
Schilderungen eignet. Die Anordnung iſt 
nach dem natürlichen Syſtem und die Aus— 
wahl ganz zweckmäßig ſo getroffen, daß, 
um die Einförmigkeit zu vermeiden, in je— 
dem Bande Vertreter der Hauptfamilien 
zu finden ſind. So bringt z. B. der erſte 
Band 12 Ranunkulazeen, 5 Karyophyleen, 
6 Roſazeen, 5 Saxifrageen, 16 Kompoſi— 
ten, 7 Enziane und 10 Primeln. Ein voll- 
ſtändiges Regiſter im Schlußbande wird. 
die ſchnelle Auffindung jeder einzelnen Art 9 
ermöglichen. Dem ganzen Werk ſieht man 
es an, daß ſein Verleger als begeiſterter 
Verehrer dieſer ſo vielen Menſchen ver— 
borgenen Schönheiten ſein Buch mit Liebe 
geplant und ohne irgend welche Hinder— 
niſſe zu ſcheuen durchgeführt hat. Beſon— 
ders iſt bei dieſer gediegenen Ausſtattung 
der ſehr billige Preis hervorzuheben, wel— 
cher bei dem lieferungsweiſen Erſcheinen 
die Anſchaffung ſehr erleichtert. K. 


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Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig. 


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