Full text of "Kosmos"
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Kosmos.
1 Zeitichrift
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bel ich Wellauſchauung auf Grund der Enlwicklungslehre
unter Mitwirkung
von
B. Carneri (Wien), Prof. Dr. O. Caspari (Heidelberg), Charles Darwin (Down),
Prof. Dr. J. Delboeuf (Lüttich), Dr. A. Dodel-Port (Zürich), Dr. W. O. Focke (Bremen),
Dr. Forſyth Major (Florenz), Prof. Dr. S. Günther (Ansbach), Prof. Dr. E. Haeckel (Jena),
Prof. Dr. Th. v. Heldreich (Athen), Fr. v. Hellwald (Stuttgart), Dr. F. Hilgendorf (Berlin),
f Prof. Dr. R. Hörnes (Graz), Prof. Dr. G. Jäger (Stuttgart), Sir John Lubbock (London),
Prof. O. C. Marſh (New-⸗Haven), Prof.Dr. C. Mehlis (Dürkheim), Pr. Fritz Müller (Itajahy),
Dr. Herm. Müller (Lippſtadt), Dr. C. du Prel (München), Prof. Dr. W. Preyer (Jena),
Wo. Reichenau Mainz), Prof.Dr. Oskar Schmidt (Straßburg), Prof.Dr. Fritz Schultze (Dresden),
Dr. G. Seidlitz (Königsberg), Herbert Spencer (London), Dr. H. Vaihinger (Straßburg),
N Prof. Dr. Mor. Wagner (München), Dr. Wernich (Berlin), Dr. J. F. Weinland (Eßlingen),
Prof. Dr. A. e (Freiburg), Prof. Dr. L. Wittmack (Berlin), L. Würtenberger (Karlsruhe),
Prof. Dr. R. Zimmermann (Vien)
und anderen namhaften Forſchern auf den Gebieten des Darwinismus
herausgegeben
* von
Dr. Eruſt Krauſe.
VII. Dam.
Teipzig,
Ernſt Günther's Verlag
(Karl Alberts).
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1
Be
Verzeichnis der Mitarbeiter
am ſiebenten Bande des Kosmos.
2
Dr. O. Böttger (210— 213), Prof. Dr. O. Caspari (79—84, 84—87, 295— 303),
Dr. O. Dammer (100 —112), Charles Darwin (72 —-74, 7778), Prof.
J. Delboeuf (42 —68, 113-136), Dr. A. Dodel⸗Port (11 — 22), Leop. Einſtein
(456 — 463), Prof. Dr. S. Günther (320 —326, 404 — 405, 406 —407, 486-487),
Prof. Dr. E. Haeckel (310—317), Prof. Dr. R. Hoernes (69 — 72), Th. H. Huxley
(249—256), Dr. E. Krauſe (191—203, 257—275, 334—339, 419-440),
Dr. H. Kühne (184 — 190), Dr. Fritz Müller (148 — 152), Dr. Herm. Müller
(219-235, 236—238, 276—287, 306 307, 350— 365, 441455), W. von
Reichenau (217 —218, 318—319, 387-390), Prof. A. H. Sayce (366-378),
Prof. Dr. Osk. Schmidt (329 — 333), H. Schneider (288 — 294), Prof. Dr.
Fritz Schultze (23 — 41), Theod. Buy (409 —418), Prof. Dr. Mor. Wagner
(110, 89—99, 169183), J. E. Zilliken (238 — 244).
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Inhalt des fiebenten Bandes.
—
Über die Entſtehung der Arten durch M Von Prof. Dr. Moritz
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Das amphibiſche Verhalten 5 Prothallien von beet Von Dr. A.
Dodel-Port. Mit Illuſtrationen .
Die Sprache des Kindes. Von Prof. Dr. Fritz Eher.
Der Schlaf und die Träume. Von Prof. J. Delboeuf . . 42.
Das Syſtem der chemiſchen Elemente. Von Dr. O. Dammer UNE
Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. Von Dr. H.
Kühne. nennen
Die Baſtard-Theorie. Von Dr. Ernſt Krauſe f a
Zur bevorjteherden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie Von T. H.
Huxley. 5 A
Skizzen aus der Sa picgsgeſchichte 555 Entwickungsgeſchichte Wu Dr.
Ernſt Rraufe : . N AT ae
Die Bedeutung der Alpenblumen für die Weener Von Dr. H. Müller
Beobachtungen an einem Affen. Von H. Schneider
Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne boo Von
Prof. Dr. O. Caspari.
Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein. Von Prof, Dr.
Oskar Schmidt.
Über die Entwicklung der Blümenfarben. Von Dr. Fenn Müller
Die Geſchichte der Schrift. Von Prof. A. H. Sadce . SE
Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. Von Th. Buy.
Die Variabilität der Alpenblumen. Von Dr. Hermann Müller .
Erfaſſen und Begreifen. Eine ſprachphiloſophiſche Studie von Leopold Einſtein
VI Inhalt.
„Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Die Unvollſtändigkeit der paläontologiſchen Überlieferung. Von Prof. R.
Hoernes N
Die geſchlechtlichen Fürbungen gewisser Schmetierle Von Ch. Darwin
Die Glieder von Sauranodon. Mit Illuſtrationen
Fruchtbarkeit von Baſtarden zwiſchen der gemeinen und chief Gaus.
Von Ch. Darwin
Künſtliche Diamanten
Die Wirkungen des he Spuntenlichben auf Die Pflanzen 95
Polarländer
Über die Phäodarien. C
Die Putzfüße der Kruſter. Von Dr. Fritz Müller. Mit Illuſtrationen .
Ein Analogon des Beutelknochens der höheren Säuger.
Die Experimente des Magnetiſeurs Hanſen vom anden
Standpunkte
Die egyptiſchen Mumien und Baubgemäte
Eine fruchtbare Mauleſelin.
Archaeopteryx lithographica .
Die antidarwiniſtiſchen Vorträge in bel 1 vn . t Beologkithen
Reichsanſtalt in Wien
Über ein neues, äußerſtes Glied in der Reihe be locken Rohfennien .
Konſtante Skalaridenbildung des Gehäuſes bei einer Landſchnecke. Von Dr.
O. Böttger
Die Stegoſaurier. Mit Illustrationen
Pliozän-Hirſche im obern Arnothale . ee
Eine Pantoffeln ſäugende Hündin. Von W. v. 1
Der große Komet von 1880 .
Die aufrechtſtehenden Baumſtämme der Steinkohlenſchic ben 5
Ahnlichkeit von Blumen und Früchten. Von Dr. Hermann Müller .
Über die ſogenannte Jungferngeburt (Parthenogenesis) . 3
Die Organiſation und Klaſſifikation der höheren Meduſen— Alraspeden. Von
Prof. Dr. E. Haeckel
Das Bruſtbein der Dinoſaurier 8
Ein fünfzehiger Raubvogel. Von W. v. Reichen
Die vorhiſtoriſche Zeit in Egypten
George Darwins Rechnungen über die ſäkularen Anderungen der Mond.
und Planetenbewegungen durch den Einfluß der Gezeiten .
Über die Flora iſolirter Inſeln im allgemeinen und der oſtfrieſiſchen im
beſondern
Seite
Inhalt.
Die Duftorgane des männlichen Liguſterſchwärmers. Von W. v. Reichenau.
Mit Illuſtrationen
Über die Variabilität der Milchdrüſen bei ben Schafen 5 ern inen
Zur hiſtoriſchen Entwicklung des Farbenſinns . SET: ENTER
Die Erfindung des Pfluges
Die Rolle des Meeeres bei dem 5 Abkühlungsprozeß Ber Erde
Über den Einfluß der Bewegung und andrer phyſikaliſcher 1 des
Waſſers auf die Formen der oe Fire
Eine Süßwaſſermeduſe ER 5
Das Leuchten der Johanniswürmchen A
Anatomiſche Übereinſtimmung im Skelett foſſiler Reptilien mit 580
placentaloſer Säugetiere . NT
Die Witwentötung und andere era re mane le 5 Fidschi Inſeln
Baptanodon
Litteratur und Kritik.
Hellwald, Fr. v., Der vorgeſchichtliche Menſch. (Von O. Caspari).
Kohn, A. und Mehlis, Dr. C., Materialien zur Vorgeſchichte des .
im öſtlichen Europa. II. Teil. (Von O. Caspari).
Pagenſtecher, A, Allgemeine Zoologie. I. — III. Teil. N
Lockyer, J. Norman, Die Beobachtung der Sterne ſonſt und jetzt.
Hanſtein, Dr. v., Das Protoplasma als Träger der pflanzlichen und tieri—
ſchen Lebensverrichtungen
Engler, Dr. A., Verſuch einer Entwicklungsgeſchichte der tie
Florengebiete der nördlichen Hemiſphäre. 5 >
Chriſt, H., Das Pflanzenleben der Schweiz .
Der zoologiſche Garten. Zeitſchrift ꝛc..
Mehlis, Dr. C., Bilder aus Deutſchlands Vorzeit
Frerichs, Dr. H., Über Naturerkenntnis
Schneider, G. H., Herrn Prof. Dr. Jägers ec Entdeckung der
Seele :
Gaſton Bonniers 1 Biderleguing der en blauer
(Von Dr. H. Müller). 5
Darwin, Ch., und Krauſe, E., Erasmus Wein 115 fein Stellung in
der Geſchichte der Deszendenztheorie. (Von Dr. H. Müller)
Morſelli, II Suicidio, Saggio di. Statistica morale e comparata. (Von
J. E. Zilliken). s
Bergel, Dr. J., Studien über die daatarwiffenſchaftliche Renntniffe ver
Talmudiſten FFC
VIII ö Inhalt.
Behrens, Dr. W. J., Methodiſches, Lehrbuch der genen Botanik.
Sachs, K., Aus den Llanos. 58 ME. ©
Lauth, Dr. J. F., Aus Egyptens Vorzelt m
Dodel-Port, Dr. A., Illuſtrirtes Pflanzenleben.
Hauck, Prof. Dr. Guido, Die ſubjektive Perſpektive und bie G9
Kurvaturen des doriſchen Stils. (Von Prof. Dr. S. Günther).
Magnus, Dr. H., Unterſuchungen über den Farbenſinn der Naturvölker .
Manitius, Dr. J. A., Die Sprachenwelt in ihrem e en
Entwicklungsgange zur Humanität A 5
Schultze, Dr. M., Kinnorlieder .
Wallace, Alfr. R., Die Tropenwelt
Roskoff, Das Religionsweſen der roheſten Naturvölker
Caneſtrini, Giov, La Teoria di Darwin Tape
Andersſon, Aur., Die Theorie vom Maſſendruck aus de ee (Bon
Prof. Dr. S. Günther)
Ecker, Al., Lorenz Oken. Eine biographiſche Stizze
Bilharz, Dr. Alf., Der heliozentriſche Standpunkt der Weltbetrachtung.
(Von Prof. Dr. S. Günther) .
Enzyklopädie der Naturwiſſenſchaften. N a
Schultze, Prof. Dr. Fr., 95 e des Kindes 5
Taſchenberg, Prof. Dr. E. L., Praktiſche Inſektenkunde .
Meyers Deutſches Jahrbuch für die politiſche 5 85 und die Kultur⸗
fortſchritte der Gegenwart . Re .
Reichenau, W. v., Die Neſter und Eier En Vögel 5
Leclair, Dr. A. v., Der Realismus der modernen Rating (Lon
Prof. Dr. S. Günther) f |
Seboth, Graf und Petraſch, Die Albenpflazen t
.
Über die Eutſtehung der Arten durch Abſonderung.
Von
nter dem Titel „Die Dar—
win'ſche Theorie und das
Migrationsgeſetz der Or—
J ganismen“ erſchien 1868
eine kleine Schrift, welche
den hochbedeutſamen Einfluß der Wan—
derungen und iſolirten Kolonien auf die
Bildung der Arten nachzuweiſen ver—
ſuchte. Die vom Verfaſſer gezogenen
Schlüſſe ſtützten ſich teilweiſe auf eigene
Erfahrungen und Beobachtungen, welche
meiſt an ausnehmend günſtigen und für
die Frage der Artbildung höchſt lehr—
reichen Lokalitäten angeſtellt wurden.
Zum größeren Teil aber waren die der
geographiſchen Verbreitung der Organis—
men entnommenen Thatſachen dieſer
Schrift bereits hinreichend bekannt, doch
nach des Verfaſſers Anſicht von Darwin
und den Anhängern ſeiner Lehre in un—
genügender Weiſe beachtet, gedeutet und
verwertet worden. Keine andere natur—
wiſſenſchaftliche Disciplin ſcheint mir
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PN
5 Moritz Wagner.
aber in Bezug auf die wirklichen
Vorgänge bei dem Bildungsprozeß der
Arten deutlichere Fingerzeige zu geben
als die Chorologie der Organismen, d. h.
die Lehre aller in das Gebiet der Tier—
und Pflanzengeographie einſchlagenden
Erſcheinungen.
Wenn die genannte Schrift unter
den Fachmännern mehr Widerſpruch als
Zuſtimmung fand, ſo lag — ganz ab—
geſehen von der Oppoſition, welcher jede
neue Anſicht begegnet, die einen noch
nicht genügend aufgeklärten Naturprozeß
in einer von den herrſchenden Anſchau—
ungen abweichenden Weiſe zu erklären
verſucht — die Schuld wohl an einem
Grundfehler der Schrift. Der Verfaſſer
machte damals den falſchen Verſuch, die
Migrationstheorie mit der Darwin'ſchen
Zuchtwahllehre zu kombiniren, während
doch beide Theorieen in einem Haupt—
punkt, nämlich bezüglich der zwingenden
mechaniſchen Urſache, durch welche jeder
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1.
„
1
2 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
neue Formenkreis ſich bilden muß, be—
trächtlicher von einander abweichen, als
es bei oberflächlicher Betrachtung er—
ſcheint.
Der ſcharfſinnige Zoologe Auguſt
Weismann hatte dieſen Fehler auch
gleich von Anfang an richtig erkannt,
und ich bin ihm dafür aufrichtigen Dank
ſchuldig. Zwar hat Weismann zugleich
einen Verſuch gemacht, das Migrations—
geſetz zu widerlegen, doch wohl nur
wegen deſſen damaliger ungenügenden
Begründung und mangelhaften Faſſung.
Dieſer geiſtvolle Forſcher ging von einer
falſchen Vorausſetzung aus, deren Irr—
tum er ſeitdem ſelbſt erkannt zu haben
ſcheint.
Weismann's Hauptargument gegen
die Migrationstheorie ſtützte ſich bekannt—
lich auf die foſſilen Planorbiden in dem
für die Abſtammungslehre ſo inſtruktiven
und durch die Unterſuchungen Dr. Hilgen—
dorf's und deſſen wiſſenſchaftlichen Streit
mit Profeſſor Sandberger berühmt ge—
wordenen Thal von Steinheim in Württem—
berg, welches Weismann leider niemals
ſelbſt unterſucht hat. Daß die dortigen
geognoſtiſchen Verhältniſſe ebenſo wie
die morphologiſchen Veränderungen der
tertiären Planorbis multiformis bei un—
befangener Prüfung zwar der Lamarck—
Darwinſchen Descendenztheorie eine ſtarke
Stütze bieten, aber ebenſo beſtimmt einer
Entſtehung der Formen durch Zuchtwahl
im Kampfe ums Daſein widerſprechen,
dies glaube ich in den von mir 1877 pu—
blizirten „Naturwiſſenſchaftlichen Streit—
fragen“ genügend bewieſen zu haben.“)
) Vgl. Kosmos Bd. II, S. 265 u. Bd. V,
10 ff.
05
—
Gegen meine Deutung der Verhält—
niſſe des Steinheimer Thales und der
Geſtaltveränderungen ſeiner für die Ent—
wicklungstheorie jo hochwichtigen miocänen
Planorbiden wurde von den Darwiniſten
keine Einſprache erhoben. Selbſt Herr
Georg Seidlitz machte bei der deut—
ſchen Naturforſcherverſammlung zu Mün—
chen 1877 dem Verfaſſer mündlich das
Zugeſtändnis: daß er eine der Darwin—
ſchen Zuchtlehre günſtige Deutung der
Formveränderungen bei den Steinheimer
Planorbiden nicht zu geben vermöge.
Hätten ſcharfſinnige Naturforſcher wie
Weismann, Haeckel, Nägeli, welche
als eifrige Anhänger der Zuchtwahllehre
die Migrationstheorie bekämpften, Ge—
legenheit gehabt, als Beobachter und
Sammler andere beſonders wichtige Län—
der und Lokalitäten zu durchforſchen, wo
an dem Vorkommen der lebenden en—
demiſchen Arten die Formbildung als
einfache Wirkung der räumlichen Ab—
ſonderung mit überzeugender Klarheit
ſich offenbart, ſie würden wahrſcheinlich
gleichfalls eine von der Darwinſchen Se—
lektionstheorie abweichende Auffaſſung des
artbildenden Prozeſſes gewonnen haben.
Solche höchſt inſtruktive Areale, welche
in Mitteleuropa fehlen, zeigen uns ſämmt—
liche ozeaniſche Archipele und mitunter
ſelbſt die Inſelgruppen eines geſchloſſenen
Meeres wie der griechiſche Archipel. Hier
hat der erfahrene Malakologe Dr. Böttger
auf jeder einzelnen Inſel eine eigentüm—
liche Clauſilienform, alſo der Sonderungs—
theorie günſtige ähnliche Fakta nachge—
wieſen, wie ſie ſchon früher Gulick in noch
weit großartigerer Weiſe an dem Vor—
kommen der Achatinellen auf den Sandwich—
inſeln, wie ſie Trubelle an denheliceen der
Ai 1 uf p 8
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 8
Azoren und kanariſchen Inſeln, und Cleſſin
ſelbſt an einigen Süßwaſſermollusken der
bairiſchen Seen nachgewieſen hat. Die
inſelartig zerſtreuten Dafen der Sahara,
die iſolirten Andeſitkoloſſe im Hochland
von Quito, die getrennten Vulkangruppen
Armeniens und wahrſcheinlich alle ähn—
lich geformten iſolirten Berggruppen zei—
gen uns aber durchaus analoge
Thatſachen: d. h. endemiſche, eng—
begrenzte Speziesformen und kon—
ſtante lokale Varietäten in über—
raſchend großer Zahl.
Selbſt ein ſo begeiſterter Ultra—
Darwiniſt wie Georg Seidlitz würde,
wenn er die dortigen Vorkommniſſe mit
eigenen Augen beobachtet hätte, durch die
bedeutſamen Thatſachen, die dort für die
formbildende Wirkung der räumlichen Ab—
ſonderung ohne jede weſentliche Mit—
beteiligung eines Konkurrenzkampfes ein
ſo beſtimmtes Zeugnis ablegen, vielleicht
zu einer richtigeren Auffaſſung des Pro—
zeſſes der Artbildung gedrängt worden
ſein. Er würde nicht einer hypotheti—
ſchen Zuchtwahl, von der bei den en—
demiſchen inſularen Formen keine Spur
zu erkennen iſt, Wirkungen zuſchreiben,
für welche die Iſolirung eine viel ein—
fachere und natürlichere Erklärung giebt.
Die zahlreichen endemiſchen Formen der
Inſeln, Oaſen, iſolirten Vulkangruppen
u. ſ. w. hatten gewiß keine andere Ent—
ſtehungsurſache als z. B. der Lepus
Huxleyi auf der Inſel Porto Santo,
der ein thatſächliches Produkt der Iſo—
lirung iſt, oder das europäiſche Meer—
ſchweinchen, welches durch einfache Ver—
ſetzung einer braſilianiſchen Cavia aperea
nach Südeuropa entſtanden iſt, oder die
neue Nachtfalterart der Gattung Sa—
turnia, welche aus der Verſetzung einiger
Puppen der Saturnia luna von Texas
nach der Schweiz ſprungweiſe ſich bildete.
Eine Wiederholung ähnlicher Verſuche
mit räumlicher Abſonderung variabler
Arten, wie ſie der ſchweizeriſche Entomo—
loge Boll mit dem erwähnten texani⸗
ſchen Nachtfalter gemacht, könnte ſolche
Beiſpiele gewiß zu tauſenden vermehren.
Wo ſind neben ſolchen direkten Beweiſen
von Entſtehung neuer Spezies durch Iſo—
lirung die Beweiſe einer Artbildung durch
Zuchtwahl im Kampfe ums Daſein gegen—
über der abſorbirenden Wirkung der freien
Kreuzung? Die gänzlich negativen Re—
ſultate in unſern botaniſchen Gärten, wo
niemals in den mit Individuen einer
gleichen Art bepflanzten Beeten — wie
z. B. der Gattung Hieracium im bo—
taniſchen Garten zu München — eine
individuelle Varietät zur Entſtehung
einer konſtanten neuen Form führte,
liefern vielmehr einen ſchlagenden Gegen—
beweis.
Je länger und eingehender ich die
einzelnen Vorkommniſſe der geographi—
ſchen Verbreitung aller nächſtverwandten
Arten der formenreichſten Typen des
Tier- und Pflanzenreiches, ſowie der lo—
kalen Varietäten auf Kontinenten und
Inſeln ſtudirte und je unbefangener ich
meine eigenen vieljährigen Wahrnehmun—
gen als Sammler damit vergleichend
prüfte, deſto beſtimmter gewann ich die
tiefe Überzeugung: daß die durch aktive
und paſſive Migration in der Natur
ſtattfindende räumliche Abſonderung nicht
nur für die geographiſche Verteilung
der Formengruppen, wie ſie thatſächlich
beſteht, ſondern auch für die geheimnis—
volle Urſache ihrer Entſtehung ſelbſt eine
4 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
einfachere und höchſt wahrſcheinlich rich—
tigere Erklärung biete, als die Darwin—
ſche Lehre von einer „natural selection“
im „struggle for life“.
Die ganze Geſchichte der Natur—
wiſſenſchaft beſtätigt die alte Erfah—
rung: daß die nächſtliegenden und ein—
fachſten Vorgänge in der Natur meiſt
am ſpäteſten erkannt, am ſchwerſten ganz
verſtanden werden. Dieſelbe lehrt auch,
daß die große Mehrzahl der Forſcher
gegen jede neue Theorie oder Hypotheſe,
auch wenn ſie von guten Gründen und
Thatſachen unterſtützt wird, gewöhnlich
ſkeptiſch und ablehnend ſich verhält, ſo—
bald dieſelbe einen feſtgewurzelten Irr—
tum aufzudecken verſucht oder eine herr—
ſchende Theorie, wenn nicht beſeitigt, doch
weſentlich berichtigt. Der Schreiber dieſer
Zeilen war daher auch wohl darauf ge—
faßt, daß beſonders die eifrigen Anhän—
ger der in vielfacher Beziehung ſo an—
ziehenden und beſtechenden Selektions—
theorie ſich am ſtärkſten gegen jede von
ihr abweichende Auffaſſung der Vorgänge
der Formbildung ſträuben würden, auch
wenn ſie einige Berechtigung der auf
Thatſachen ſich ſtützenden Gründe und
Schlüſſe nicht ganz zu beſtreiten ver—
möchten. f
Da ſich in die wiſſenſchaftliche Po—
lemik hierüber ſchon vor Jahren einige
Mißverſtändniſſe eingeſchlichen, will ich
verſuchen, die beiden Theorien in mög—
lichſt gedrängter Form hier nebeneinander
darzulegen, und bitte zugleich um gütige
Nachſicht, wenn ich
wiederhole.
Vielen Bekanntes
Jeder aufmerkſame Leſer,
der meine ſeit 1875 in verſchiedenen Zeit—
ſchriften publizirten Aufſätze nicht kennt,
wird dadurch wenigſtens in den Stand
dividuelle
geſetzt, den weſentlichen Unterſchied, der
zwiſchen den beiden Auffaſſungen des
formbildenden Prozeſſes beſteht, klar zu
erkennen und ſeine Meinung in dieſer
Streitfrage ſich ſelbſt zu bilden.
Beide Theorien, die Zuchtwahllehre
wie die Abſonderungstheorie, haben nur
die beiden Grundurſachen oder, richtiger
geſagt, die Grundbedingungen der Art—
bildung mit einander gemein, nämlich
die individuelle Variabilität und die Ver—
erbungsfähigkeit neuer Merkmale. Dieſe
beiden Ausgangspunkte des Prozeſſes der
Formbildung dürfen nicht mit der zwin—
genden mechaniſchen Urſache der Ent—
ſtehung neuer Arten und konſtanter Va-
rietäten verwechſelt werden. Aus dieſen
zwei erſten Faktoren, ohne welche die
Artbildung überhaupt unmöglich wäre,
würde in der Natur ebenſo wenig eine
neue Spezies wirklich hervorgehen, wie
aus dem bloßen Daſein von Männchen
und Weibchen im Thierreich ein neues
Individuum entſtehen könnte, wenn der
Zeugungsakt nicht dazu käme. Die in—
Variabilität und die Ver—
erbungsfähigkeit perſönlicher Merkmale
ſind in ihrer formbildenden Wirkſamkeit
teils durch den abſorbirenden Einfluß
der Kreuzung, teils durch gleiche Lebens—
bedingungen im gleichen Wohngebiet der
Art gebunden. In den letzteren beiden
Faktoren liegt ein konſervatives, die Er—
haltung der Speziesform begünſtigendes
Moment. Ein anderer Faktor, eine trei—
bende und zwingende mechaniſche Urſache,
muß im Naturleben eingreifen, um gegen
dieſes konſervative Moment zu reagiren
und die Entſtehung neuer Arten that—
ſächlich zu bewirken.
Nach der Darwinſchen Selektions—
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 5
theorie tritt die Wirkung dieſer Urſache
in Thätigkeit mit dem Erſcheinen günſtig
variirender Individuen, deren morpho—
logiſche Abweichungen vom normalen
Typus der Stammart entweder, wie in
den meiſten Fällen, angeborene oder
erworbene, d. h. durch äußere Einflüſſe
hervorgebracht ſind. Dieſe vorteilhafter
organiſirten individuellen Varietäten ha—
ben bei der Konkurrenz mit den nor—
malen Individuen der gleichen Art die
Tendenz und Fähigkeit, ſich ſtärker als
dieſe zu vermehren und ſie allmählich
entweder lebensunfähig zu machen oder
zu verdrängen und zu erſetzen. Der
thätige Hauptfaktor in dieſem Prozeß iſt
der Kampf ums Daſein, welcher gerade
zwiſchen den Individuen der gleichen Art
am intenſivſten herrſchen muß.
Dieſen artbildenden Prozeß kann
man ſich nur ſo lange unterbrochen den—
ken, als nicht einzelne vorteilhaft ab—
weichende Variationen auftreten. Da aber
die Entſtehung derſelben in den meiſten
Fällen aus uns noch unbekannten inne—
ren (phyſiologiſchen) Urſachen erfolgt
und, wie Darwin, Huxley und die
meiſten überzeugten Anhänger der Evolu—
tionstheorie ausdrücklich zugeben, von den
äußeren Verhältniſſen völlig unab—
hängig iſt, ſo muß das Auftreten
folder ſpontaner Varietäten auch zu
allen Zeiten möglich ſein und kommt
auch thatſächlich oft genug in einzelnen
Individuen vor. Lange dauernde Ruhe—
perioden, während welcher die artbildende
Thätigkeit völlig ſuspendirt ſein ſoll, wie
Seidlitz ſich dieſelben irrigerweiſe denkt,
ſind daher mit dem ganzen Weſen der
Selektionstheorie im entſchiedenſten
Widerſpruch und gerade vom Stand—
punkt des konſequenten Darwinismus
völlig unannehmbar.
Das Geſetz der Artbildung nach der
Separationstheorie dagegen lautet wie
folgt:
Jede fonftante neue Form (Art
oder Varietät) beginnt ihre Bil-
dung mit der Iſolirung einzelner
Emigranten, welche vom Wohn—
gebiet einer noch im Stadium der
Variabilität ſtehenden Stammart
dauernd ausſcheiden. Die wirk—
ſamen Faktoren dieſes Prozeſſes
ſind: 1) Anpaſſung der eingewan—
derten Koloniſten an die äußeren
Lebensbedingungen (Nahrung,
Klima, Bodenbeſchaffenheit, Kon—
kurrenz) eines neuen Standorts.
2) Ausprägung und Entwicklung
individueller Merkmale der erſten
Koloniſten in deren Nachkommen
beiblutverwandter Fortpflanzung.
Dieſer formbildende Prozeß
ſchließt ab, ſobald bei ſtarker In—
dividuenvermehrung die nivelli—
rende und kompenſirende Wirkung
der Maſſenkreuzung ſich geltend
macht und diejenige Gleichförmig—
keit hervorbringt und erhält,
welche jede gute Spezies oder
konſtante Varietät charakteriſirt.
In größter Kürze geſagt: nach
der Selektionstheorie iſt der Kampf
ums Daſein, nach der Separa—
tionstheorie die räumliche Abſon—
derung die nächſte zwingende Ur—
ſache der Artbildung.
Da der Lebenskampf bekanntlich am
intenſivſten zwiſchen den Individuen der
gleichen Art ſtattfindet, ſo müßte ſeine
formbildende Wirkung in der Regel am
6 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
ſtärkſten an Punkten zu erkennen ſein,
wo dieſe Individuen am dichteſten bei—
ſammen wohnen, alſo gewöhnlich nahe
dem Mittelpunkt des Verbreitungsgebietes
der Art. Alle Thatſachen der Tier—
und Pflanzengeographie ſprechen
auf das Entſchiedenſte dagegen.
räumliche Sonderung durch
aktive oder paſſive Emigration einzelner
Individuen entzieht hingegen dieſe Emi—
gration der Konkurrenz mit ihren Art—
genoſſen. Dieſe getrennt vom Wohn—
gebiet der Stammart entſtehenden Neu—
bildungen finden daher ſtets bei einer
weſentlichen Minderung und Abſchwächung
des Kampfes ums Daſein ſtatt. Die
Thatſachen der Tier- und Pflan—
zengeographie, die ſehr beträcht—
liche Trennung der Entſtehungs—
centren aller vikariirenden Arten
und Varietäten, die kettenförmige
Anordnung ihrer Wohngebiete,
die ſtarke Abweichung ihrer Ver—
breitungsgrenzen —all' dieſe hoch—
bedeutſamen Faktader Verbreitung
der Organismen geben ein beredtes
Zeugnis für die Richtigkeit dieſer
Behauptung.
Beide Theorien der Artbildung ſind
bei ſo tiefer Grundverſchiedenheit in der
Auffaſſung der zwingenden mechaniſchen
Urſache kaum vereinbar, wenn ſie auch,
wie ich ſchon oben bemerkte, die beiden
Grundurſachen, die individuelle Varia—
tionsfähigkeit und die Vererbungsfähig—
keit neuer perſönlicher Merkmale mit
einander gemein haben.
Gegen die Darwinſche Zuchtwahl—
lehre wurde unter verſchiedenen gewicht—
vollen Einwänden und Bedenken beſon—
ders ein Haupteinwand geltend gemacht,
Die
welcher von den Anhängern der Selek—
tionstheorie niemals widerlegt worden
iſt. Der Botaniker Wigand hat mit
Recht bemerkt, daß dieſer Einwand zur
Widerlegung der Selektionstheorie allein
ſchon hinreichen könnte.
Die abſorbirende und kompenſirende
Wirkung der Kreuzung macht unter den
geſchlechtlich differenzirten Organismen
und unter den zahlreichen Zwittern, die
ſich gegenſeitig befruchten, neue konſtante
Formbildungen im gleichen Wohn—
gebiet unmöglich. Jedes neue mor—
phologiſche Merkmal, auch wenn es dem
Träger entſchieden vorteilhaft iſt, wird
durch die freie Kreuzung mit normalen
Individuen wieder reduzirt und in die
normale Speziesform zurückgedrängt.
Bei unbeſchränkter Kreuzung muß die
große Individuenzahl ſtets die Siegerin
über die kleine bleiben.
Alle Erfahrungen der künſtlichen
Züchtung, ſowohl von Seite der Bota—
niker, wie der Zoologen, haben den un—
umſtößlichen Beweis geliefert: daß be—
ginnende Varietäten, welche nicht durch
räumliche Abſonderung gegen die normale
Individuenmaſſe der Stammart geſchützt
ſind, der abſorbirenden Wirkung der
Kreuzung verfallen. Keine neue Raſſe von
domeſtizirten Tieren und Pflanzen kann,
wie durch viele Verſuche, am ſchlagendſten
und beſtimmteſten von den Botanikern
Koelreuter und Gärtner, erwieſen
wurde, ohne künſtliche Abſonderung
diſtinkt und konſtant erhalten werden.
Individuelle Varietäten, auch mehr
oder minder vorteilhafte, kommen bei
allen Pflanzen- und Tierarten im freien
Naturleben faſt unausgeſetzt vor. Unter
den häufigſten Pflanzen unſerer Ebenen
|
WTV ae
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 7
und Gebirge wird man immer einzelne
Exemplare finden, welche durch Höhe
des Stengels, Form des Blattes, Größe
oder intenſivere Farbe der Blüte ſich
ein wenig von den normalen Individuen
unterſcheiden und auszeichnen. Man
könnte wohl annehmen, daß ſolche indi—
viduelle Merkmale, wie z. B. große und
kräftiger gefärbte Blüten, welche die
Inſekten ſtärker anziehen und die Ver—
breitung des Pollens begünſtigen, ihren
Trägern Vorteil bringen und ſie ſtärker
vermehren müßten. Da aber die freie
Kreuzung mit normalen Artgenoſſen dieſe
Merkmale ſchon in den folgenden Gene—
rationen wieder verkleinert, vermindert
und abſchwächt, ſo verſchwinden ſolche
individuelle Abweichungen auch immer
wieder, ohne eine neue konſtante Form
zu hinterlaſſen, ohne eine Spezies aus—
zuprägen.
Unter den Tierarten unſerer Wald—
und Steppenfauna wird man ebenſo oft
einzelne Individuen beobachten können,
welche in Form oder Farbe ſehr kleine
individuelle Differenzen zeigen. Manche
Haſen, Hirſche, Wölfe haben Beine,
welche um einige Linien länger als die
gewöhnlichen ſind und ihnen bei der Flucht
oder Verfolgung nur Vorteil bringen
könnten. Aber der Vorteil vererbt ſich
niemals durch eine Reihe von Genera—
tionen, da ihn jede Kreuzung mit der
überwiegenden Zahl der gewöhnlichen
Artgenoſſen abſchwächt. Man kennt wohl
Gebirgswölfe mit etwas längeren Beinen
als die der Ebene, aber ſie ſind auf
eine beſtimmte, abgegrenzte Gebirgs—
lokalität in ihrem Vorkommen beſchränkt
und daher offenbar Produkte der Ab—
ſonderung und nicht der Zuchtwahl, denn
unter den Steppenwölfen mit weiter
|
|
|
|
zuſammenhängender Verbreitung kommt
dieſe Abart nicht vor. Wo aber eine
neue Wolfsart auftritt, wie z. B. in
den argentiniſchen Pampas, in Patago—
nien, auf den Falklandsinſeln u. ſ. w.
deuten die trennenden Schranken durch
Meere oder große räumliche Entfernung
ſtets auf die Abſonderung als wirkende
Urſache, nicht auf eine Entſtehung
durch Selektion. In der großen
Mehrzahl der Fälle ſind die vikariirenden
Formen entweder räumlich getrennt oder
ſie berühren ſich bei gemeinſchaftlichem
Vorkommen nur ſporadiſch an einzelnen
Lokalitäten und meiſt nur an den äußer—
ſten Grenzen ihrer Wohngebiete.
Gegen die nivellirende Wirkung der
„Kreuzung, die jedes perſönliche Merkmal
einzelner Varietäten in ihren Nachkommen
reduzirt und ausjätet, iſt daher eine
Steigerung und Fortentwicklung morpho—
logiſcher Merkmale im gleichen Wohn—
gebiet neben der Mutterform einfach un—
möglich und ihre Entſtehung iſt auch
weder in der freien Natur noch im do—
meſtizirten Zuſtand bei ungehinderter
Kreuzung jemals beobachtet worden.
Wenn auch zahlreiche Fälle von geſelligem
Vorkommen nächſtverwandter Arten und
Varietäten bei Pflanzen und Tieren un—
beſtritten exiſtiren, ſo beweiſen ſie doch
durchaus nicht, daß dieſelben am gleichen
Standort entſtanden ſind, ſondern im
Gegenteil liefert die Beobachtung der
meiſt ſehr abweichenden Grenzen
ihrer Verbreitungsgebiete ſtarke Wahr—
ſcheinlichkeitsgründe für die iſolirte lokale
Entſtehung an nahe gelegenen, ſporadiſch
abgeſonderten oder wenigſtens früher
getrennten Standorten, welche erſt in
8 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
Folge der Individuenvermehrung und
Verbreitung wieder aufhörten, iſolirt zu
ſein. Ungenügende Dauer der Abſon—
derung bringt im günſtigſten Fall ſchlechte
Arten hervor, d. h. Spezies mit ſchwan—
kenden Merkmalen und zahlreichen Über—
gängen, wie ſie thatſächlich bei vielen
Alpenpflanzen, z. B. der Gattung Hie-
racium, auftreten.
Einen ſtarken Gegenbeweis gegen die
Naturzüchtung durch den Kampf ums
Daſein haben die mißglückten Verſuche
einer Raſſenverbeſſerung der freiweiden—
den halbwilden Rinder und Pferde in
den Pampas der argentiniſchen Staaten,
in den Llanos von Venezuela, in den
Savannen der Provinzen Guanacaſte und
Chiriqui in Centralamerika, ebenſo wie
in den ſüdruſſiſchen Steppen geliefert.“
Die Beſitzer dieſer frei weidenden Heerden
hatten gehofft, durch Einfuhr einer ge—
ringen Zahl ſtarker Stiere aus Anda—
luſien, kräftiger Hengſte aus England,
der Berberei, Arabien, den turkomaniſchen
Steppen u. ſ. w., die Raſſe zu veredeln.
Die Reſultate haben den ſchlagenden
Beweis geliefert, daß eine kleine Zahl
von Individuen, wenn dieſe auch höchſt
vorteilhaft konſtituirt und ihren Mit—
bewerbern an Kraft weit überlegen ſind,
bei freier Kreuzung gegen die Individuen—
maſſe des gewöhnlichen Schlages keine
nachhaltige Verbeſſerung oder Verände—
rung der Raſſe hervorzubringen vermag.
Der Kampf ums Daſein hätte in den
ausgedehnten Steppen der genannten
Länder, wo die frei weidenden Tiere in
ganz natürlichen Verhältniſſen ſich befin—
den, eine ausgezeichnete Gelegenheit ge—
habt, ſeine Macht zu erproben. Er hat
ſich aber, obwohl durch eine Ausleſe
höchſt ausgezeichneter Prachtexemplare
unterſtützt, gänzlich unfähig erwieſen,
formbildend zu wirken. Eine natür—
liche Zuchtwahl hat thatſächlich
nicht ſtattgefunden, obwohl ihr
die beſten Mittel dazu geboten
waren. 5
Bei den niederſten Organismen, welche
durch Teilung oder Knoſpenbildung ſich
fortpflanzen, bei denen alſo keine Kreu—
zung ſtattfindet, genügt die Gleichheit
der Lebensbedingungen, beſonders eine
annähernde Gleichheit der Nahrungsver—
hältniſſe in demſelben Wohnbezirk, um
die Gleichförmigkeit der Spezies zu erhal—
ten und zu befeſtigen.
riabilität und Mobilität, maſſenhaftes
gedrängtes Beiſammenwohnen begünſtigen
bei den niederen Organismen dieſe kon—
ſervative Tendenz der Natur zur Erhal—
tung der Spezies. Einzelne Varietäten,
welche durch zufällige örtliche Verhält—
niſſe einer Nahrungsbegünſtigung im
Verbreitungsbezirk der Stammart ſich
bilden können, verſchwinden wieder, wenn
dieſe Nahrungsbegünſtigung nicht lange
Zeit fortdauert, was im gleichen Wohn—
bezirk bei großer Individuenzahl undenk—
bar iſt. Auch bei den niederſten Orga—
nismen vermag daher nur die räumliche
Abſonderung weniger Individuen eine
längere Dauer dieſes Nahrungsvorteils zu
ſichern und damit konſtante Neubildungen
herbeizuführen.
Der Lebenskampf, der Kampf um
Raum, Nahrung und Fortpflanzung kann
und muß aber allerdings in zahlreichen
Fällen den erſten Anſtoß zur aktiven
Migration, zur räumlichen Ausſcheidung
einzelner Individuen geben. Sein Ein—
fluß auf die Artbildung iſt aber dann
Geringere Va-
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
immer nur ein indirekter und in den
meiſten Fällen, ja in allen Fällen der
paſſiven Migration, vollzieht ſich die
iſolirte Kolonienbildung ohne dieſen An—
ſtoß. Der nächſtwirkſame Faktor bleibt
in allen Fällen die Abſonderung.
Wenn der Kampf ums Daſein im
Haushalt der Natur raſtlos thätig iſt,
Mißgeburten und Schwächliche auszujäten
und ſelbſt günſtig abnorme Individuen
im Tierreich durch die Verfolgung ihrer
normalen Artgenoſſen zu vertilgen oder
zur Auswanderung zu zwingen, ſo wirkt
er thatſächlich für die Erhaltung,
nicht für die Veränderung der
normalen Speziesform im gleichen
Wohngebiet. Selbſt an der Regulirung
des relativen numeriſchen Individuen—
beſtandes der verſchiedenen im gleichen
Areal ſeßhaften Arten hat der Kampf
ums Daſein einen weit geringeren An—
teil, als ein anderer mächtigerer Faktor,
der völlig ſelbſtſtändig neben ihm beſteht
und deſſen Wirken nicht mit dem ſeinigen
verwechſelt werden darf: das Altern
der Art.
Es iſt eine jetzt ziemlich allgemein
angenommene Anſicht, daß die Arten
ihre Jugend, ihr Mannesalter, ihr Grei—
ſenthum haben und zuletzt aus Alters—
ſchwäche ſterben, analog den Individuen.
Das Seltenerwerden, das allmähliche
Erlöſchen der Arten vollzieht ſich unter
normalen Verhältniſſen durch ihre ab—
nehmende Reproduktion und ſchwindende
Widerſtandskraft gegen äußere Einflüſſe.
Der Vertilgungsfaktor des Konkurrenz—
kampfes mit anderen mitlebenden For—
men kann das Erlöſchen ausſterbender
Arten wohl häufig beſchleunigen, iſt aber
niemals die Haupturſache ihres Ver—
9
ſchwindens, welches auch ohne dieſen
Konkurrenzkampf von ſelbſt eintritt.
Es wäre barer Unſinn zu behaupten,
daß die zahlloſen Säugetiere der Tertiär—
zeit, all die gewaltigen Rüſſelträger, Wie—
derkäuer, Raubtiere u. ſ. w., die für ihre
Lebensweiſe meiſt vortrefflich organiſirt
waren, nur dem Konkurrenzkampf oder den
klimatiſchen Veränderungen erlagen, da ſie
doch damals, wo die menſchliche Kultur noch
nicht ihre Wanderungen beſchränkte, volle
Freizügigkeit hatten und das ihnen paſ—
ſendſte Klima ſich wählen konnten. Sie
erlagen einfach dem Geſetze der Zeit,
weil ihre Form ſich ausgelebt hatte.
Jede Art, wenn einmal durch genü—
gende Dauer der Abſonderung vom
Wohngebiet der Stammart fertig gebil—
det, bleibt konſtant, d. h. ohne eine
weſentliche äußere Geſtaltveränderung
bis zu ihrem natürlichen Erlöſchen aus
Altersſchwäche. Ihr Rückgang wird durch
innere (phyſiologiſche) Veränderungen ein—
geleitet und manifeſtirt ſich durch abneh—
mende Individuenzahl, indem die Zahl
der Geburten oder individuellen Neu—
bildungen nicht mehr die Zahl der
Sterbefälle deckt. Die durch Abſonde—
rung entſtandene jüngere Art überlebt
durchſchnittlich die Stammform, wie der
Sohn den Vater, wie das Kind den
Greis, nicht weil ſie äußerlich vorteil—
hafter geſtaltet iſt, ſondern weil ſie die
innere Jugend für ſich hat. Jede Neu—
bildung der Form verleiht ihr auch neue
Lebenskraft und der phylogenetiſche Pro—
zeß der Typenbildung iſt auch in dieſer
Beziehung der Ontogeneſis völlig analog.
Die Zahl der Syſtematiker unter
den Botanikern, Zoologen und Paläon—
tologen, welche an der Anſicht einer
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1.
10 Moritz Wagner, Über die Entſte hung der Arten durch Abſonderung.
gewiſſen Konſtanz der guten Art, eines
konſervativen Prinzips in der Spezies—
form, aus Erfahrung und Ueberzeugung
feſthalten, iſt noch immer ziemlich groß
und ich glaube, daß gerade ſie ein beſon—
deres Intereſſe daran haben ſollten, ſich
mit der Auffaſſung einer Entſtehung der
Arten durch räumliche Abſonderung zu
befreunden. Dieſelbe paßt in Wirklich—
keit zur deseriptiven Syſtematik weit
beſſer als die Selektionstheorie, nach
welcher die Spezies in einem fortdauern—
den Transmutationsprozeß entweder ſich
wirklich befindet oder doch ſich befinden
kann, denn jede zufällige Entſtehung
abnormer, günſtig geſtalteter, individueller
Varietäten müßte dieſen Umgeſtaltungs—
prozeß in Fluß bringen und von einer
morphologiſchen Konſtanz der Spezies,
wie ſie die Syſtematik verlangt, könnte
nicht die Rede ſein. Mit dem Begriff
der morphologiſchen Konſtanz jeder fixir—
ten Spezies gewinnt aber nicht nur der
geſchloſſene Formenkreis, den wir Art
nennen, ſondern auch die Syſtematik, die
ihn beſchreibt, beträchtlich an Werth.
Ich werde in den folgenden Auf-
ſätzen eine Reihe von Thatſachen ſowohl
aus dem fremdländiſchen, als aus un—
ſern mitteleuropäiſchen Faunen anführen,
welche bedeutſame Zeugniſſe für die Rich-
tigkeit der Abſonderungslehre enthalten
und von den Darwiniſten bisher fait
unbeachtet geblieben ſind. Der große
britiſche Forſcher ſelbſt hat in jüngſter
Zeit der Separationstheorie eine nicht
unbedeutende Konzeſſion gemacht, indem
er ſeinen Irrtum einer Überſchätzung des
Einfluſſes des Kampfes ums Daſein offen
zugeſtand und nach aufmerkſamer Lektüre
der unter dem Titel „Naturwiſſenſchaftliche
Streitfragen“ erſchienenen Aufſätze an
den Verfaſſer folgendes ſchrieb: „In my
opinion the greatest error which I
have committed has been not allowing
sufficient weight to the direct action
of the environment i. e. food, climate,
etc. independently of natural
selection. Modifications thus caused,
which are neither of advantage or
disadvantage to the modified organism,
would be especially favoured, as I
can now see chiefly through your
observations by isolation in a small
area, where only a few individuals
lived under nearly uniform conditions.
When I wrote the ‚origin of species‘
and for some years afterwards, I
could find little good evidence of the
the
Now there is a large body of evidence
and Your case of the Saturnia is
direct ation of environment.
one of the most remarkable of which
I have heard.“
(Fortſetzung folgt.)
Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von
Polypodiaceen.
Ein botaniſcher Beitrag zum biogenetiſchen Grundgeſetz.
Mit drei phototypiſchen Illuſtrationen.
ie Ontogeneſis oder die
Entwicklung des Indi—
viduums iſt eine kurze
und ſchnelle, durch die
Geſetze der Vererbung
|
|
|
|
und Anpaſſung bedingte Wieder-
holung (Rekapitulation)der Phylo—
geneſis oder der Entwicklung des
zugehörigen Stammes, d. h. der
Vorfahren, welche die Ahnenkette
des betreffenden Individuums
bilden.“)
So lautet das biogenetiſche Grund—
geſetz, das in den zoologiſchen Kreiſen
zu einer Popularität gelangte, wie dies
bis heute in botaniſchen Kreiſen nicht in
jener Ausdehnung der Fall war. Still—
ſchweigend oder laut iſt das biogenetiſche
Grundgeſetz allerdings auch von den
meiſten namhaften Vertretern der bota—
niſchen Biologie anerkannt worden; aber
*) Häckel, Nat. Schöpf.⸗Geſch. 5. Aufl. p. 276.
Von
Dr. Arnold Dodel-Vort.
zur eigentlichen Popularität gelangte es
nicht, obſchon die wiſſenſchaftliche Bo—
tanik, ſpeciell die vergleichende Entwick—
lungsgeſchichte, für den Ausbau der Ab—
ſtammungslehre während der letzten zwei
Jahrzehnte ein wuchtiges und über—
wältigendes Material abgegeben hat.
Aber es fehlte bis zur Stunde in der
Reihe botaniſcher Thatſachen, die als
Belege für das biogenetiſche Grundgeſetz
dienen, jenes einzige, ſo mächtige und
überzeugende Moment, das den „Kiemen—
bögen“ und „Kiemenſpalten“ des Säuge—
tier⸗-Embryos an die Seite geſtellt wer—
den könnte. Wohl könnte man in den
als wahrhaftige Archegonien erkannten
Corpuscula der Gymnoſpermen-Samen—
knoſpe einen ebenſo gewichtigen und
ebenſo wertvollen Beleg für die Wahr—
heit des Häckelſchen Grundgeſetzes er—
blicken; allein zur Populariſirung in
den weiteſten Kreiſen eignet ſich dieſer
botaniſche Beleg keineswegs in dem
12 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen.
Maße, wie die angeführten zoologiſchen
Illuſtrationsobjekte. Und doch iſt ſehr
zu wünſchen, daß es ſich die wiſſen—
ſchaftliche Botanik angelegen ſein laſſe,
in der Populariſirung des biogeneti—
ſchen Grundgeſetzes an ihrer Stelle
nicht hinter der Zoologie zurückzuſtehen.
Es würde ſich auch lohnen, heute
ſchon die diesbezüglichen frappanteſten
Belege aus der botaniſchen Entwickelungs—
geſchichte einmal in gemeinverſtändlicher
Form zuſammenzuſtellen; vielleicht würde
ſich dann herausſtellen, daß das dies—
ſeitige Material im Ganzen und Großen
dennoch ſehr zur Allgemeinverbreitung ge—
eignet und wohl ebenſo überzeugend wäre,
als es das zoologiſche Material für die
Populariſirung des biogenetiſchen Grund—
geſetzes ſchon längſt geweſen iſt und nochiſt.
Im Sinne dieſer Anregung möge
das Nachſtehende aufgenommen und von
Berufenen einer Kritik unterzogen werden.
Bei der Bearbeitung unſeres „ana—
tomiſch-phyſiologiſchen Atlas der Botanik
für Hoch- und Mittelfchulen” *) ſahen
wir uns genötigt, die Entwickelungs—
geſchichte des Farn-Prothalliums aus
eigener Anſchauung kennen zu lernen,
um die für unſer Tafelwerk unbedingt not—
wendigen, kolorirten Originalzeichnungen
zu gewinnen. Es wurden daher von
uns im Winter 1878179 zahlreiche jün—
gere und ältere Prothallien von Poly—
podiaceen unterſucht, und verſchiedene
Kulturen aus Sporen von Aspidium
Filix mas gezüchtet. Die Originaltafel
mit dem „Aspidium-Prothallium“
(Heft 3 unſeres Atlas) wurde denn
auch im Verlauf des letzten Winters von
*) J. F. Schreiber in Eßlingen 1878/79.
meiner Mitarbeiterin,
Frau Karolina
Dodel-Port, hergeſtellt, indes ich das
Unterſuchungsmaterial zur Kontrole weiter
züchtete. Figur 5 der genannten Atlas—
Tafel ſtellt ein Prothallium von As-
pidium violascens Link dar,
welches — obwohl längſt befruchtet und
mit einer anſehnlichen jungen Farn—
pflanze ausgeſtattet — völlig geſund und
intakt war. Dieſes Prothallium wurde
am 27. Dezember 1878 in Waſſer unter
dem Deckglas unterſucht, am gleichen
Tage mit Hülfe des Prismas gezeichnet
und das Bild für die genannte Tafel
firirt. Von jenem Tage an blieb das
Prothallium ſammt der jungen Farn—
pflanze unter dem Deckglas in Waſſer
liegen und für längere Zeit in feuchter
Kammer (unter einer Glasglocke) zur
Dispoſition aufbewahrt.
Am 3. Februar 1879, alſo nach
38⸗tägiger Überſchwemmung, gelangte
dasſelbe Prothallium zu einer neuen
Reviſion unter das Mikroſkop. Wie groß
war mein Erſtaunen, das Unterſuchungs—
objekt in einem Stadium anzutreffen,
wie ich es hier, in Fig. 1 bei 13-facher
Vergrößerung für das phototypiſche Cliché
darzuſtellen verſuchte! Die junge Farn—
pflanze (EW bis EB Fig. 1) war total
abgeſtorben, alle Gewebe der Wurzel,
der Stammanlage, des Fußes und des
Blattes waren gebräunt und in Zerſetzung
übergegangen; die leiſeſte Bewegung des
Deckgläschens drohte alle dieſe Theile zu
zerreißen. Auch am überſchwemmten Pro—
thallium ſelbſt waren an verſchiedenen
Stellen, hauptſächlich am hintern lälteſten)
Teil der Mittelrippe, dann aber auch zu
beiden Seiten auf der einſchichtigen Zell—
fläche, ſowie am Rande größere und
j
Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen.
kleinere Gewebepartieen abgeſtorben
(t, t, t); die Zellmembranen waren dort
lebhaft braun gefärbt, die Plasmakörner
verſchwunden oder in mißfarbigen Klum—
pen beiſammen, während die benachbarten
Zellen (in unſerer Figur alſo die nicht
ſchraffirten Teile des Prothalliums)
ganz normal, geſund ſchienen. Alle
Rhizoide des Prothalliums dagegen
waren abgeſtorben, ihre Inſertionsſtellen
auf den Zellen des Mittelrippen-Polſters
gebräunt und ſcharf konturirt. Einen
überraſchenden, höchſt eigentümlichen An—
blick boten dagegen die ca. 150 kon—
fervenartigen Adventivſproſſe dar,
die aus den verſchiedenſten geſunden Pro—
thallium-Partieen ihren Urſprung nah—
men. Der Anblick erſchien mir ſo befrem—
dend, daß ich ſofort mit Hülfe des Pris—
mas eine möglichſt genaue, 40-fach ver—
größerte Zeichnung aufnahm und das
ganze Bild zur genaueren und leichteren
Orientirung am Mikroſkop ſelbſt mit den
natürlichen Farben kolorirte. Die hier
beigefügte Fig. 1 iſt möglichſt genau
nach dieſem, vom 3. Februar 1879 da—
tirten Bilde angefertigt. Alle abgeſtor—
benen Teile des Prothalliums ſind dunkel
ſchraffirt; auf den nicht ſchraffirten, ge—
ſunden Teilen des Prothalliums wird der
Leſer ohne Mühe die beiläufig 150 Ad—
ventiv⸗Sproſſe (As As As) in ihrer natür—
lichen Anordnung erkennen.
Das Objekt blieb nun weitere Wo—
chen und Monate unter demſelben Deck—
glaſe in Waſſer liegen und wurde in
der Folge von mir bis Ende März zur
Gewinnung einer großen Zahl von mi—
kroſkopiſchen Zeichnungen über die ver—
ſchiedenen Entwickelungsſtufen der Ad—
ventivſproſſe benützt.
ſuchung weiter zu betreiben.
13
Das Auftreten der letzteren und ihre
eigenartige Entwickelung veranlaßte mich
zu einem Verſuch, ähnliche Erſcheinungen
auch an andern Prothallien einzuleiten.
Es wurden daher mehrere jüngere und
ältere, befruchtete und unbefruchtete Pro—
thallien von verſchiedenen Polypodiaceen
aus den Gewächshäuſern des botaniſchen
Gartens entnommen, in gleicher Weiſe
überſchwemmt, und da meine Erwartun—
gen nicht getäuſcht wurden, ward endlich
eine große Zahl von geſunden Pro—
thallien zum Teil im Waſſer unter Deck—
gläſern, zum Teil freiliegend in einem
Trinkglas weiter kultivirt; in allen Fällen
mit gleichem Erfolg.
Es zeigte ſich alſo, daß wir es hier—
bei mit einer ganz regelmäßigen Er—
ſcheinung zu thun haben, und es mußte
ſich der Wunſch aufdrängen, dieſe ſon—
derbare Thatſache weiter zu verfolgen.
Mit dem Beginn des Sommerſemeſters,
da ich wegen anderer Atlas-Blätter und
wegen der Vorleſungen anderweitig voll—
auf in Anſpruch genommen wurde, fehlte
mir die Zeit und Ruhe, um die Unter—
Da ſich
einer meiner Schüler meldete, um ſich
ein Thema zu einer ſelbſtändigen Arbeit
zu erbitten und auf meinem mikroſkopiſchen
Laboratorium zu arbeiten, ſo zögerte ich
nicht, demſelben das damals vorhandene,
ſehr intereſſante und reichhaltige Mate—
rial (etliche Dutzend Prothallien mit Ad—
ventivſproſſen) zur weiteren Unterſuchung
einzuhändigen, um dort fortzuſetzen, wo
ich aufgehört hatte. Da nun aber dieſer
mein Nachfolger in der vorliegenden
Aufgabe mit Ende des Sommerſemeſters
von hier abging, ohne daß ich bis heute
erfahren konnte, ob und wo derſelbe die
.
f 14 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Bolypodiaceen.
diesbezüglichen Unterſuchungen fortſetzt,
ſo erachte ich es als Pflicht, dieſe von
mir bis Ende März 1879 gewonnenen
und gewiß nicht bedeutungsloſen Re—
Aspidium violascens Link.
Fig. 1. Altes Prothallium
mit der jungen beblätterten Farn—
pflanze nebſt 150 protonematiſchen Adventiv-
prothallien. Vergr. 13.
Fig 2. Zwei protonematiſche Adventivprothallien, von
demſelben Objekt wie Fig. 1, aber 1½ Monat älter.
Vergr. 40. (Gez. 5. Febr. u. 25. März 1879.)
ſultate hier niederzulegen, da ich über— punkte für eine Reihe weiterer Unter—
bBeugt bin, daß dieſelben als Ausgangs- ſuchungen dienen können.
2 Mi 2 , *
——
Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 15
Ich brauche wohl nicht beſonders
hervorzuheben, daß ich ſelbſtverſtändlich
durchaus nur die Reſultate meiner eige—
nen, nicht aber die Ergebniſſe der unter
meiner Leitung von dem erwähnten
Schüler angeſtellten Beobachtungen hier
mitteile.
Zunächſt iſt hervorzuheben, daß unſer
in Fig. 1 dargeſtelltes Prothallium von
Aspidium violascens unter dem Deck—
glas auf dem Rücken lag; die abgeſtorbe—
nen Archegonien und Antheridien, ſowie
der auf der Unterſeite vorſpringende Ge—
webewulſt der Mittelrippe und die hier
entſpringenden Rhizoiden des Prothal—
lliums ſind alſo aufwärts gerichtet. An dem
gegen den Scheitel S abfallenden Vorder—
rand des Gewebewulſtes der Mittelrippe
ſehen wir eine größere Anzahl der ober—
flächlichen geſunden Prothalliumzellen in
halbkugelige bis keulenförmige Papillen
ausgewachſen. Dies ſind die erſten An—
fänge protonematiſcher Adventivſproſſe,
welche mit ihrem Fuß auf der Pro—
thalliumzelle ſtehen, aus welcher ſie je
ihren Urſprung nehmen, ohne durch eine
Querwand gegen dieſelbe abgegrenzt zu
ſein. Derartige papillenartige, intenſiv
grün gefärbte Sproßanfänge ſehen wir
auch auf den beiden ſeitlichen Lappen
des Mutterprothalliums, rechts und links
vom Scheitel 8, ſowie zerſtreut auf den
hinteren Theilen, ſtellenweiſe am Rand
und in unmittelbarer Nähe der abge—
ſtorbenen Prothalliumſtücke. Etwas weiter
entwickelt ſind die Adventivſproſſe auf
der Fläche des rechten Flügels. Dort
ſind manche Sproſſe zu fädigen, kon—
fervenartigen Gebilden herangewachſen,
die aus 2, 3, 4 und mehr Zellen
beſtehen. In allen Fällen iſt die Scheitel—
ziger
zelle des Fadens am reichlichſten mit
Chlorophyll ausgeſtattet; dort treffen
wir auch in der Regel einen großen
Zellkern, den wir in den unteren, meiſt
längeren und oft unregelmäßig gekrümm—
ten und ausgebuchteten Zellen manchmal
umſonſt ſuchen. Das chlorophyllhaltige,
wie das farbloſe Plasma wandert aus den
älteren Protonema-Teilen in der Regel
gegen den Scheitel des Fadens. An den
hinterſten Teilen der beiden Seitenlappen
des Mutterprothalliums ſehen wir die
protonematiſchen Adventivſproſſe bereits
zu beträchtlich langen Fäden heran—
gewachſen, die zum Teil ſchon aus mehr
als 4 Zellen beſtehen. Auffallend iſt
der Umſtand, daß der unterſte, alſo
älteſte Teil eines ſolchen fädigen Vor—
keimes ſich niemals durch eine Querwand
von der mütterlichen Zelle abgrenzt, aus
welcher der Faden entſpringt. Der Fuß
des Protonemas iſt alſo im eigentlichſten
Sinne des Wortes ein Teil des mütter—
lichen Prothalliums, was namentlich an
Fig. 2 und Fig. 3, B, D, E, F und
G deutlich wird.
In dem Stadium, das durch Fig. 1
repräſentirt wird, zeigte noch kein ein—
von den 150 Adventivſproſſen
irgend eine Verzweigung. Im Verlauf
der folgenden zwei Monate wuchſen dieſe
Gebilde jedoch zu beträchtlicherer Größe
heran und bekundeten eine große Nei—
gung zu ſeitlicher Verzweigung,
wie Fig. 2 und 3 zeigen. Auch
treten vielerorts Rhizoide (h rh rh.
Fig. 2 und 3) auf, die ſich ſchon in
ihrer früheſten Anlage durch Querwände
gegen die Protonemazellen abgrenzten,
aus denen ſie entſprangen. In vielen
Fällen entwickelten ſich die Rhizoiden nicht
16 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen.
weiter, ſondern blieben auf dem Stadium Ich habe dieſelben mit Rückſicht auf
einer kleinen farbloſen Papille ſtehen. chronologiſche Folge und Differenzirung
Von den zahlreichen weiteren Ent- alphabetiſch mit A, B bis K bezeichnet.
wicklungsſtadien, die ich in vielen ſtark Indem ich auf die betreffende Figur
vergrößerten Figuren fixirt habe, ſtellte verweiſe, will ich verſuchen, in Kürze das
ich in Fig. 3 die am meiſten charak- weitere Schickſal jener 150 Adventiv-
teeriſtiſchen und lehrreichſten zuſammen. ſproſſe zu ſkizziren.
II
a
Fig. 3. Adventivprothallien aus einem alten überſchwemmten Prothallium von Aspidium violascens.
Nach der Natur gezeichnet von Arnold Dodel-Port, Februar und März 1879.
B, C, D und E aus Randzellen des mütterlichen Prothalliums entſpringend.
A, F, G, H, J, K aus Flächenzellen des mütterlichen Prothalliums hervorgehend.
Vergrößerung 80: 1.
Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 17
In A Fig. 3 erkennen wir den
Anfang eines Adventivſproſſes, der aus
einer Flächenzelle des mütterlichen Pro—
thalliums hervortritt. Er erweist ſich
als papillenartige Erhöhung, die
reichlich mit grünem Plasma erfüllt —
über das Niveau des mütterlichen Pro—
thalliums vorſpringt.
In B derſelben Figur iſt eine Rand—
zelle des mütterlichen Prothalliums zu
einem keulenförmigen Adventivſproß aus—
gewachſen, ohne daß bis zu dieſem Ent—
wicklungsſtadium eine Querwand gebildet
wurde.
C it ein aus 9 Zellen beſtehender
protonematiſcher Adventivſproß, deſſen
oberſte Zellen ſich raſch nach einander
geteilt haben, indes die unterſte, die
ſogenannte Fußzelle, bereits ein zäpfchen—
artiges Rhizoid gebildet hat; letzteres iſt
durch eine Wand von der Fußzelle ab—
gegrenzt. Gezeichnet am 12. Februar
1879, alſo 47 Tage nach eingetretener
Überſchwemmung.
D. Ein ausnehmend langes proto—
nematiſches, unverzweigtes Adventivpro—
thallium, das aus 15 chlorophyllhaltigen
Zellen beſteht und wie kein anderer Ad—
ventivſproß den konfervenartigen Cha—
rakter beibehielt. Gez. am 25. März
1879, alſo beinahe drei Monate nach
eingetretener Überſchwemmung.
E. Ein kürzeres Adventivprothallium
von gleichem Alter, dicht neben dem
vorerwähnten (D) ſtehend und wie dieſes
aus einer Randzelle des mütterlichen
Prothalliums hervorgegangen. Es iſt
ähnlich wie ein Laubmoosvorkeim ver—
zweigt und zeigt trotz ſeines Alters (drei
Monate) noch nirgends eine Andeutung
für beginnende höhere Differenzirung.
F. Ein verzweigtes protonematiſches
Adventivprothallium, welches aus einer
Flächenzelle hervorging und, ſich wie ein
Moosvorkeim unregelmäßig verzweigend,
bedeutend in die Länge wuchs, ehe an
einem der Zweige beim Scheitel s die
erſte Zellteilung zur Bildung eines flächen—
förmigen Thallus ſtattfand. Bei rh ein
normal entwickeltes Rhizoid. Gez. am
19. März 1879, 12 Wochen nach der
Überflutung.
G. Ein konfervenartiges Adventiv—
prothallium, aus einer Flächenzelle her—
vorgegangen, im untern und mittlern
Teil eine einfache, unverzweigte Zellreihe
darſtellend, während von der Scheitel—
zelle s bereits durch zwei ſchiefe Wände
eine Zellteilung eingeleitet wurde, welche
zur Bildung einer Zellfläche führt.
Gez. am 8. Februar 1879.
H. Ein ähnliches Adventivprothal—
lium wie G; am Scheitel des konferven—
artigen Gebildes iſt jene charakteriſtiſche
Zellteilung zur Bildung eines flächen—
förmigen Thallus bereits weiter gediehen,
ſo daß letzterer ſchon aus 6 Flächen—
zellen beſteht, die reichlich mit Chloro—
phyll ausgeſtattet ſind. Gez. 12. Februar
1879.
J. Ein Adventivſproß mit proto—
nematiſchem Unterteil und flächenförmi—
gem Thallus am obern, jüngern Teil.
Am Scheitel dieſer durch unregelmäßige
Teilungen entſtandenen Zellfläche ſehen
wir 3 reichlich mit Plasma ausgeſtattete
Zellen s s, die momentan die Funktionen
von Scheitelzellen übernehmen. Gez. am
18. Februar 1879.
K. Ein flächenförmiges, mehrfach
verzweigtes Adventivprothallium, mit ſei—
nem unterſten, konfervenartigen Proto—
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1.
2
3
18 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen.
nema auf einer Flächenzelle des mütter—
lichen Prothalliums ſtehend und an die—
ſem unterſten Teil, der ebenfalls eine
einfache Zellreihe darſtellt, bereits ein
männliches Organ, das normal ent—
wickelte Antheridium ant., tragend.
2, E., ut, gi, und z, die jüngeren
Zweige des Flächenprothalliums, bei h
eine farbloſe, außergewöhnlich große
Haarzelle, die als abortirtes Antheridium
zu betrachten iſt; bei rh am protonema—
tiſchen Fuß eine hübſch entwickelte Rhi—
zoidzelle. Gez. am 10. März 1879.
Damit ſind die hauptſächlichſten For—
men der 150 Adventivſproſſe ſkizzirt.
Andere Typen entwickelten ſich an dem
mütterlichen Prothallium nicht mehr, ob—
ſchon das Objekt ein ganzes Halbjahr
in Waſſer unter dem Deckglas kultivirt
und weiter beobachtet wurde. Dagegen
zeigten die übrigen zahlreichen über—
ſchwemmten Prothallien verſchiedener
Polypodiaceen (Aſpidium- und Adiantum—
arten) nicht nur dieſe konfervenartigen
Adventivſproſſe, ſondern auch eine Un—
zahl von Abſtufungen zwiſchen proto—
nematiſchen, fädigen, und zwiſchen brei—
ten, zungen- oder lappenförmigen Ad—
ventivſproſſen. Dieſe letzteren bildeten
ſich namentlich an untergetauchten jun—
gen Prothallien, die noch keine befruch—
teten Archegonien beſaßen, alſo noch
keinen beblätterten Embryo zu ernähren
hatten, während die alten, längſt be—
fruchteten Prothallien vorwiegend
aber keineswegs ausſchließlich — fädige
Adventivſproſſe bildeten.
Es iſt hervorzuheben, daß dieſe
fädigen und die flächenförmigen Adven—
tivſproſſe von beliebigen Stellen des
Mutterprothalliums entſpringen können
und zwar ſowohl an der Rücken- als
an der Bauchſeite (allerdings vorwiegend
an letzterer). In der Unregelmäßigkeit
der Verzweigung und in der Bildung
von bizarren Formen ſtimmen beiderlei
Adventivſproſſe, die fädigen wie die
flächenförmigen, mit einander überein.
Und wie uns Fig. 3 belehrt, können
fädige Adventivſproſſe früher oder ſpä—
ter in flächen förmige Prothallien über—
gehen und ſich in der Folge ganz regel—
mäßig ſo entwickeln, wie die aus keimen—
den Sporen hervorgehenden jungen Pro—
thallien.
Es wurde bereits ſchon von andern
Beobachtern gelegentlich die Bildung von
derartigen Adventivſproſſen erwähnt und
darauf hingewieſen, daß letztere ſich vom
Mutterprothallium ablöſen und ſich ſelb—
ſtändig weiter entwickeln können. Unſere
Kulturverſuche zeigen, daß dies bei ver—
ſchiedenen Farnarten an überſchwemmten
Prothallien regelmäßig ſtattfindet und
daß die Entwicklung der Adventivſproſſe
eine ähnliche iſt, wie die Entwicklung
der aus keimenden Sporen gezogenen
Prothallien.
Um die Gleichartigkeit der Entwick—
lung protonematiſcher Adventivſproſſe und
der Prothallien, die aus keimenden Sporen
hervorgehen, zur Anſchauung zu bringen,
habe ich in Fig. 4 eine Reihe von
jungen Prothallien aus den keimenden
Sporen von Aspidium Filix mas,
einer mit Aspidium violascens ſehr nahe
verwandten Farnſpecies, zuſammengeſtellt.
Vergleichen wir Fig. 3 mit neben—
ſtehender Fig. 4, ſo finden wir in
letzterer gar nichts Neues, als daß an
der Stelle der mütterlichen Prothallium—
zelle, aus welcher der Adventivſproß her—
\
2
Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 19
vorging, hier (in Fig. 4) die Sporenhaut
sp, sp liegt, in welcher der Fuß des proto—
nematiſchen Sporenprothalliums ſteckt.
In A und B Fig. 4 ſehen wir
die normalen Anfänge zu ganz regel—
rechten Sporenprothallien.
ſich am Scheitel des Protonemas bereits
die Zellfläche.
C und D find zwei gabelig ver—
zweigte Protonema, die erſt 11½ Monate
lang auf Torf, dann aber noch einen
Monat lang unter Waſſer kultivirt
wurden.
E ein junges Sporenprothallium
(Protonema), deſſen Fuß gabelig ver—
zweigt iſt (1 Monat und 20 Tage alt,
auf Torf kultivirt).
F, G, H und J auf ſehr feucht
gehaltenem Torf kultivirt. Dieſe Fi—
guren ſind ohne weiteres ſelbſtverſtänd—
lich; ſie gleichen ſo ſehr den fädigen
Adventivprothallien von Aspidium vio—
lascens (Fig. 1), daß wir fie nach der
Entfernung der Sporenhäute gar nicht
mehr von einander zu unterſcheiden ver—
möchten.
Nachdem wir die thatſächlichen Re—
ſultate unſerer Beobachtungen verglei—
chend zuſammengeſtellt haben, erübrigt
uns noch, dieſelben nach ihrem phylo—
genetiſchen Werthe zu prüfen. Ohne Mühe
laſſen ſich daraus Argumente gewinnen,
die — mit den anderweitigen entwick—
lungsgeſchichtlichen Befunden in Einklang
ſtehend — ſehr geeignet erſcheinen, um
auf die Phylogeneſis der Polypodiaceen
und der Farne überhaupt einiges Licht
zu werfen.
Für den Biologen iſt es keine Frage,
daß die Mooſe einſtmals aus grünen
verzweigten Waſſer-Algen hervorgingen.
Bei B bildet
Daß dem ſo iſt, zeigt uns heute noch
das Keimpflänzchen aus der Laubmoos—
Spore, das ja als vielverzweigter Vor—
keim (Protonema) mit fädigen, ver—
zweigten Algen ſo große Ahnlichkeit hat,
daß der Uneingeweihte dasſelbe leicht für
eine Confervacee anſieht. Der Laubmoos—
vorkeim rekapitulirt die Entwicklungs—
ſtufe der algenähnlichen Vorfahren der
Mooſe überhaupt. Es iſt auch gezeigt
worden, daß der Uebergang vom kon—
fervenartigen Vorkeim der Laubmooſe
zum beblätterten Moosſtämmchen keines—
wegs ein unverſtändlich-ſchroffer, ſondern
ein leicht kontrollirbarer iſt und wir
haben uns daran gewöhnt, im algenähn—
lichen Laubmoosvorkeime ſelbſt die höher
differenzirte beblätterte Stengelpflanze
morphologiſch vorgezeichnet zu ſehen.
Bekanntlich verhält ſich ja das fädige
Moos-Protonema lange Zeit, monate,
ſogar jahrelang als ſelbſtändige
Pflanze, die erſt unter günſtigen Um—
ſtänden durch die Bildung beblätterter
Sproſſe aus ihrem Algen-Stadium heraus-
tritt, die niedrige Entwicklungsſtufe ihrer
Vorfahren verlaſſend.
Wenn wir nun ferner in Betracht
ziehen, daß die niederſten Mooſe, aus
der Abtheilung der Lebermooſe, ſich bis
heute noch nicht über die Differenzirung
eines Thalloms hinaus erhoben haben,
ſondern immer noch einen Thallus dar—
ſtellen, der weder Stamm noch Blätter
unterſcheiden läßt und an ſeinen niedri—
gen vegetativen Thallom-Teilen die Ge—
ſchlechtsorgane bildet, die im Weſent—
lichen dieſelben ſind, wie die Archegonien
und Antheridien am Farn-Prothallium,
ſo finden wir hier die Brücke in der
Differenzirung der Farnkräuter
20 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen.
aus lebermoosartigen Vorfahren.
Der Aufbau des Farnprothalliums und
die Entwicklung ſeiner Geſchlechtsorgane
erinnert fo ſehr an die morphologiſche
Ausſtattung der niedrigen Lebermooſe,
daß ſich hier — ſelbſt für den ober—
flächlichen Beobachter — die genetiſche
Verwandtſchaft zwiſchen Farnprothallien
einerſeits und Lebermoos-Thallus ande—
rerſeits unwillkürlich aufdrängt.
Fig. IV.
den
Dieſe beiderlei Objekte ſcheinen faſt
ausſchließlich darin ſich verſchieden zu
verhalten, daß der Lebermoos-Thallus
ſich beliebig verzweigt, während die Ver—
zweigung des Farn-Prothalliums in der
Regel unterbleibt.
Protonematiſche Prothallien aus keimen—
Sporen von Aspidium Filix mas.
Vergrößerung 72.
. Keimende Spore, 25 Tage nach der Ausſaat,
auf feuchtem Torf. Gez. 30. Jan. 1879.
. Keimpflanze, 2 Monate 7 Tage nach der
Ausſaat auf Torf. Gez. 12. März 1879.
C. Keimpflanze, erſt 1½ Monate auf Torf,
dann einen ganzen Monat unter Waſſer
kultivirt.
. Ebenſo, alſo 2½ Monate nach der Ausſaat.
. Keimpflanze, 1 Monat 20 Tage alt, auf
Torf kultivirt.
G, H und J, Keimpflanzen, 2 Monate alt,
auf Torf kultivirt.
Gez. 20. März 1879.
Gez. 25. Febr. 1879.
Gez. 27. März 1879.
Wenn wir nun aber ſehen, daß
die Prothallien der Bolypodiaceen
unter gewiſſen Umſtänden ſich
ganz regelmäßig verzweigen, indem
ſie bei andauernder längerer Überſchwem—
mung eine Menge von Adventiv-Sproſſen
Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 21
bilden, die ſich in allen Beziehungen
ganz ähnlich verhalten, wie die jungen
Prothallien, die aus den keimenden Farn—
Sporen hervorgehen; wenn wir ſehen,
daß die morphologiſche Gliederung der
überſchwemmten Prothallien ſich in ähn— |
licher Weiſe geſtaltet, wie die Gliederung
niedriger Lebermooſe; wenn wir ſehen,
daß die vegetativen Zellen alter Farn—
Prothallien in der Regel bei langan—
dauernder Überſchwemmung konferven—
artige Vorkeime treiben, ganz ähnlich, wie
die keimenden Moos- und Farnſporen:
ſo glauben wir hierin eine Hypotheſe
beſtätigt zu ſehen, die im Farn-Prothal—
lium die Wiederholung eines Stücks der
Stammesgeſchichte unſerer Farne erblickt.
Dadurch gewinnen denn auch die
protonematiſchen, konferven-artigen Ge—
bilde, die den Anfang zu den Sporen—
Prothallien, wie zu den überſchwemmten
Adventiv-Prothallien der Polypodiaceen
bilden, eine untrügliche Bedeutung
Dieſe Zellreihen, die — wie wir oben
geſehen haben — ſich auch verzweigen
können, ſind die Analoga der fädigen,
konfervenartigen Moosvorkeime und als
ſolche ſtellen ſie eine tiefere Enwicklungs—
ſtufe der Vorfahren unſerer Farne dar,
jener Vorfahren, die als konfervenartige
Waſſeralgen die Stammeltern der nie—
drigen Lebermooſe darſtellten, aus wel—
chen ſpäter die Farne hervorgingen.
Unter dieſem Geſichtspunkte muß uns
die regelmäßig auftretende Adventivſproß—
Bildung überſchwemmter Farnprothallien
doppelt wichtig erſcheinen. Durch die
Überflutung verſetzen wir das
Farnprothallium unter ähnliche
äußere Verhältniſſe, unter denen
die fernen Vorfahren der Farne
%
gelebt haben. Durch die Vererbung
ſind dem Farnprothallium von ſeinen
alten waſſerbewohnenden Vorfahren
Eigenſchaften übertragen worden, die es
befähigen, konfervenähnliche Sproſſe zu
bilden, welche nur zur Entwicklung gelan—
gen, wenn das Prothallium lange Zeit
überflutet bleibt, während dieſe Fähig—
keit nur latent vorhanden iſt, ſo lange das
Prothallium als Landpflanze exiſtirt.
Das Farn-Prothallium beſitzt dem—
nach amphibiſche Gewohnheiten; es
ſteht in ſeinem vegetativen und re—
produktiven Verhalten in der Mitte
zwiſchen ausſchließlichem Waſſerbe—
wohnereinerſeits und demausſchließ—
lichen Landbewohner andrerſeits.
Das in Fig. 1 dargeſtellte Objekt,
jenes bereits mit einem beblätterten Embryo
und nebſtdem mit 150 Adventivſproſſen
verſehene alte Farnprothallium repräſentirt
ſammt ſeinen Anhängen die drei Haupt—
Etappen auf dem Entwicklungs—
gange der Farnkräuter überhaupt:
a. Die protonematiſchen Adventivpro—
thallien As, As repräſentiren die pri—
mitive Entwicklungsſtufe der konferven—
artigen, waſſerbewohnenden Vor—
fahren der Lebermooſe, aus denen die
Farne hervorgingen.
b. Das Mutterprothallium ſelbſt reprä—
ſentirt die zweite Etappe; die Entwick—
lungsſtufe eines zur Bildung von Zwei—
gen befähigten amphibiſchen Leber—
mooſes, das wir als den Vorfahren der
Polypodiaceen zu betrachten haben.
c. Das beblätterte und bewurzelte
Farnpflänzchen ſelbſt iſt die dritte Etappe,
die in den geſchlechtsloſen, ſporenbilden—
den eigentlichen Farnpflanzen zur Gel—
tung gelangte Anpaſſung ans Land.
22 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen.
Somit hätten wir in dem proto—
nematiſchen konfervoiden Anfang
des Farnprothalliums, wie er ſich
ſowohl bei der keimenden Spore als auch
bei der Adventiv-Sproßbildung über—
ſchwemmter Prothallien regelmäßig bildet,
ſodann im flächenartig entwickelten
Prothallium ſelbſt und endlich in der
beblätterten, durch geſchlechtliche
Befruchtung erzeugten ſporen—
bildenden Farnpflanze — in die—
ſen drei Hauptmomenten der On—
togeneſis unſerer Farne eine ab—
gekürzte, aber ſcharf ſkizzirte
Wiederholung der Phylogeneſis.
Auch die Sphäre der geſchlechtlichen
und ungeſchlechtlichen Fortpflanzung und
der hierbei zum Ausdruck gelangende
Generationswechſel bei den grünen, fädi—
gen Waſſeralgen einerſeits und bei den
Farnen anderſeits bietet nicht mehr jene
Schwierigkeiten der Vergleichung zwiſchen
Stammeltern und Descendenten, wie das
früher der Fall war.
Auch bei den grünen konfervenartigen
Algen treffen wir bereits einen regel—
mäßigen Generationswechſel mit geſchlecht—
licher und ungeſchlechtlicher Fortpflanzung.
Ja, ſelbſt an der unterſten Grenze des
pflanzlichen Geſchlechtslebens, dort wo ſich
zwei gleichwertige Zooſporen zur Bildung
einer Zygoſpore kopuliren, wie dies bei
den Ulothricheen der Fall iſt, finden wir
ſchon den Gegenſatz zwiſchen geſchlecht—
licher und ungeſchlechtlicher Fortpflanzung,
zwiſchen geſchlechtlicher und ungeſchlecht—
licher Generation vorgezeichnet, und vom
Standpunkt der vergleichenden Entwick—
lungsgeſchichte ergiebt ſich zur Evidenz:
1) Die Kopulation zweier anſcheinend
gleichartiger Schwärmſporen, wie ſie
z. B. bei Ulothrix zonata*) ſtattfindet,
iſt der Prototyp aller geſchlechtlichen
Vorgänge bei den höheren Pflanzen. Die
eine der beiden kopulirenden Schwärm—
ſporen iſt als Spermatozoid, die andere
Schwärmſpore dagegen als Ooſphäre,
Eizelle, „Keimbläschen“, zu betrachten.
2) Die aus der Kopulation zweier
Schwärmſporen hervorgehende Zygoſpore
iſt das Analogon der Ooſpore bei den
Ooſporeen und zugleich das Analogon für
die durch geſchlechtliche Befruchtung er—
zeugte geſchlechtsloſe Generation der
Mooſe, die ſogenannte „Moosfrucht“.
3) Die geſchlechtsloſe, ſporenbildende
Farnpflanze, das Produkt eines Ge—
ſchlechtsprozeſſes am Farnprothallium, iſt
der geſchlechtsloſen Generation der Mooſe,
alſo der ſogen. Moosfrucht gleichzuſetzen
und ſomit als Analogon der Zygoſpore
konfervenartiger Waſſeralgen aufzufaſſen.
Es iſt unnötig, die Analogieen weiter
auszuführen. Ich meine aber, daß durch
die Entdeckung der regelmäßig
eintretenden Adventiv-Sproßbil—
dung an überſchwemmten Pro—
thallien unſerer Farne ein wert—
voller Ausgangspunkt für eine
Reihe vielverſprechender neuer
Unterſuchungen gewonnen iſt, die
nicht verfehlen werden, auf die
genetiſchen Beziehungen zwiſchen
den Farnen und ihren ältern
Stamm-Vorfahren neues Licht zu
verbreiten.
*) Vgl. Dodel-Port, An der untern Grenze
des pflanzlichen Geſchlechtslebens. Kosmos, I. Bd.,
S. 219— 233.
Die Sprache des Kindes,
uch hier wohnen die Götter“
Philoſoph über die Thür
einer niedrigen Hütte. „Auch
hier wohnen und walten die
Götter der Naturgeſetze!“ könnte man
mit Recht über den kleinen Mund des
ſtammelnden Säuglings ſchreiben, deſſen
Lippen eben erſt ſich nur wie zu einem
unbeholfenen Gezwitſcher eröffnen. Aber
man denkt wenig daran, die Entwick—
lungen dieſes lallenden Mundes zu be—
obachten, ihre Eigentümlichkeiten zu er—
forſchen, ihre Geſetze feſtzuſtellen, und
doch ſcheint es, als ob von hier aus
eine Fülle von Licht nicht blos auf
ſchwierige Probleme der vergleichenden
Sprachwiſſenſchaft, ſondern auch auf das
vielumſtrittene Rätſel des Urſprungs und
der Entſtehung der Sprache geworfen
werden könne. Es iſt ſchwer, das Dunkel
vergangener Aonen aufzuhellen — aber
tritt nicht in jedem Kinde das Wunder
der Sprachwerdung uns von neuem ent—
gegen? Könnte man hier im Entwicklungs—
prozeß des individuellen Lebens nicht
ſchrieb einſt ein griechifcher-
Von
Vrof. Dr. Fritz Schultze.
vielleicht die flüchtigen Erſcheinungen
wiedererfaſſen, die im großen Strome
der univerſellen Entwicklung längſt vor—
übergerauſcht ſind? Es ſcheint mir ſo,
und weit entfernt, alle Aufgaben, welche
die Entwicklung der Sprache des Kindes
uns ſtellt, gelöſt zu haben oder auch
nur löſen zu können, möchte ich deshalb
auf Grund meiner eigenen und der von
andern gemachten ſpärlichen Beobachtun—
gen wenigſtens eine Anregung zur Be—
arbeitung des Problems geben; ich möchte
die Perſpektiven eröffnen, in welche die
Kinderſprache uns hineinblicken läßt, und,
ſoweit ich es vermag, die Geſichtspunkte
aufſtellen, unter denen mir der Gegen—
ſtand behandelt werden zu müſſen ſcheint.
Der Römer nannte den Säugling
infans, ein Weſen, das nicht ſpricht.
Warum kann das Kind noch nicht ſpre—
chen? Die Frage ſcheint überflüſſig, ja
thöricht, und doch, ſobald wir bedenken,
daß dieſe Frage von den verſchiedenen
metaphyſiſchen Standpunkten aus abſo—
lut verſchieden beantwortet werden kann,
daß ein Platon ſie ganz anders löſen
24 Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes.
*
würde als ein Locke, oder ein Darwin,
daß gerade in ihr — da in der Gewinnung
der artikulirten Wortſprache doch erſt die
eigentliche Menſchwerdung beſchloſſen liegt
— alle anthropologiſchen und pſychologi—
ſchen und damit überhaupt philoſophiſchen
Streitfragen zuſammentreffen; ja, wenn
wir bedenken, daß, wenn die Kinder
gleich mit vollſtändiger Sprache geboren
würden, dies eine abſolut andere als
die beſtehende Weltordnung vorausſetzen
würde, ſodaß mithin die wirklich vorhan—
dene Sprachentwickelung des Kindes
auch auf die wirklich exiſtirende Welt—
ordnung mehr als irgend eine andere
Erſcheinung einen erklärenden und bewei—
ſenden Rückſchluß geſtattet: ſo wird die
Frage jeden Schein von Trivialität ver—
lieren und ſich als eine im höchſten Maße
tiefſinnige und inhaltsreiche erweiſen. Es
iſt indeſſen nicht unſere Abſicht, all' dieſe
philoſophiſchen Abgründe hier auszumeſſen
— wir beantworten die Frage hier einfach
dahin: Das Kind kann nicht ſprechen, weil
es weder körperlich noch geiſtig genügend
entwickelt iſt. Es gilt nun aber dieſen Satz
in ſeine einzelnen Faktoren aufzulöſen.
Was zunächſt die körperliche Ent—
wicklung anbetrifft, ſo muß natürlich vor
allen Dingen der zum Sprechen nötige
leibliche Apparat ſoweit ausgebaut ſein,
daß, wie auf einem vollſtändigen muſi—
kaliſchen Inſtrumente die Melodie, auf
ihm die Polyphonie der Sprache ertönen
könne. Dem Sprachinſtrument des Kin—
des aber fehlen noch eine ganze Fülle
von Saiten, Pfeifen und Regiſtern. Die
Werkzeuge des Sprechens ſind die Lungen,
die Luftröhre, der Kehlkopf mit den Stimm—
bändern, die Mundhöhle mit Zunge, Gau—
menſegel, Gaumen, Zähnen und Lippen.
Dieſen geſammten Apparat können wir
mit einer Orgel vergleichen, in welcher
Lunge und Luftröhre den Windkaſten ver—
treten, der Kehlkopf die Pfeife bildet und
die Mundhöhle das Anſatzrohr iſt. Die
Lunge erzeugt den Luftſtrom, der „Stimm—
ton und die Kehlkopfgeräuſche““) bilden
ſich im Kehlkopf; jenachdem die Stimm—
bänder ſich weiter öffnen oder enger zuſam—
mentreten, entſteht der tiefere oder höhere
Ton. Daß nun der Ton gerade diejenige
Form annimmt, die wir als den beſtimmten
Vokal a oder o u. ſ. w. und den beſtimmten
Konſonanten b oder fu. |. w. kennen, das
iſt Sache des Anſatzrohres, deſſen in ſei—
nen Teilen (Lippen, Zähne, Zunge u. ſ. w.)
verſchiedener Stellung („Artikulations—
form“ je ein beſtimmter Sprachlaut,
Vokal oder Konſonant, entſpricht.
Wenn wir zuerſt den Atmungsap—
parat der Lungen in Betracht ziehen, ſo
zeigt ſich ſogleich, daß dieſer ſich bei dem
Kinde noch nicht in dem Maße ausgebaut
hat, wie es für die Anforderungen, welche
das artikulirte Sprechen an ihn ſtellt,
notwendig iſt. Denn es bedarf, um
dieſes hervorzubringen, erſtens eines
ſtarken Ausatmungsſtromes, zwei—
tens eines genau regulirten Aus—
atmungsſtromes. Die vom verlänger—
ten Mark aus innervirte Atmung geht
bekanntlich ſo vor ſich, daß die Bruſt—
muskeln den Bruſtkorb wie eine Har—
monika auseinanderziehen; die Lungen,
feſt und hermetiſch an die Innenſeite des
Bruſtkorbes angeheftet, folgen dieſem Aus—
dehnungszug, und in den ſich dadurch
bildenden luftleeren Raum dringt nun
von außen die Luft ein, die dann bei
*) Sievers, Grundzüge der Lautphyſio—
logie. Leipzig, 1876. S. 174.
Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes.
der nach dem Aufhören der Muskelſpan—
nung eintretenden Verengerung der Bruſt⸗
die für das Sprechen ſo wichtigen Zähne.
höhle wieder ausgeſtoßen wird. Wenn
jo während der Einatmung die Bruſt-
höhle in ihrem Breiten- und Tiefendurch—
meſſer erweitert wird, erfährt ſie gleich—
zeitig auch eine Vergrößerung in ihrer
Längsachſe dadurch, daß das Zwerchfell
bei der Inſpiration abwärts ſteigt, wäh—
rend es bei der Ausatmung ſeine nach
oben gerichtete Gewölbeform wieder ein—
nimmt. Es zeigt ſich nun, daß bei dem
Säugling die Bruſtmuskeln noch ſehr ge—
ring entwickelt ſind, daß die Atmung viel
mehr durch das Herabſinken des Zwerch—
fells als durch eine kräftige Ausdehnung
des Bruſtkorbes zu Stande kommt, und
daß deshalb die Atembewegungen nicht
blos oberflächlicher, ſondern auch unregel—
mäßiger erfolgen als im ſpätern Alter.“)
Das artikulirte Sprechen erfordert ja
aber gerade ſtarke und regelmäßige Atem—
züge; es erfordert, daß man nach ſeinem
Belieben die eingezogene Luft in grö—
ßeren oder geringeren Mengen wieder aus
der Bruſt entlaſſen könne, daß man alſo
im Stande ſei, den Atmungsmechanismus
bald beſchleunigt wirken zu laſſen, bald
ihn zu hemmen, alles Kraftäußerungen,
die der Säugling noch nicht zu leiſten
im Stande iſt. Dazu kommt, daß auch
der Kehlkopf noch ſehr klein und in ſeiner
Form noch unentwickelt, ſeine Muskulatur
noch unfertig, die beliebige Spannung
und Verengerung der Stimmbänder noch
nicht möglich ift.”*) Ebenſo verhält es ſich
*) S. Vierordt, Phyſiologie des Kindes—
alters in Gerhard, Handbuch der Kinderkrank—
heiten, Bd. I, S. 130 u. S. 131.
) S. Henke, Zur Anatomie des Kindes-
alters in Gerhardt, I. c. Bd. I, S. 300.
25
mit der Zunge, den Lippen und den ſie
bewegenden Muskeln; gänzlich fehlen noch
Als weiteres Hemmnis macht ſich die
ungenügende Entwicklung des Gehörs
geltend. Neugeborene Kinder ſind be—
kanntlich gegen Geräuſche außerordentlich
unempfindlich; die Trommelhöhle derſel—
ben iſt bei der Geburt mit einer ſchlei—
migen Subſtanz angefüllt, und wenn dieſe
auch ſehr bald verſchwindet, ſo hat doch
das Trommelfell noch nicht die ſenkrechte
Stellung, in der es ſich ſpäter befindet; es
ſteht vielmehr wagerecht, wodurch das
Hören unzweifelhaft erſchwert wird.“) Be—
obachtungen zeigen, daß durchſchnittlich erſt
von der dritten bis achten Woche nach der
Geburt an, das Kind klare und deutliche
Gehörseindrücke empfängt. Das Gehör
aber iſt es vorzugsweiſe, welches das
Kind wahrſcheinlich rein reflektoriſch an—
regt, die gehörten Schälle oder Laute
mit den Stimmwerkzeugen nachzubilden,
weshalb ja taubgeborene Kinder auch
ſtumm bleiben. So lange mithin das Kind
noch nicht klar hört, bleibt auch die An—
regung zum Beginnen der Sprechverſuche
aus, ſodaß alſo die unvollſtändige Aus—
bildung des Ohres einen bedeutenden An—
teil an der urſprünglichen Sprachloſig—
keit des Säuglings hat. Wir werden,
dem entſprechend, auch ſehen, daß der An—
fang des erſten Lallens mit dem Beginn
der eigentlichen Empfänglichkeit des Ohres
für deutliche Eindrücke zuſammenfällt.
Wir müſſen endlich noch den unfertigen
Zuſtand des Gehirns, beſonders des Groß—
hirns, ins Auge faſſen. Was hat aber die
Gehirnentwicklung mit der Sprachentwick—
lung zu thun? Alle Bewegung des menſch—
— Vierordt, I. c. S. 200 f.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1.
26 Fritz Schultze, Die
lichen Körpers geht vom Nervenſyſtem aus.
Auch die Sprache iſt, rein ihrer körperlichen
Mechaniknach betrachtet, Musfelbewegung, |
deren Innervation mithin richtig und voll—
ſtändig funktionirende nervöſe Centralor-
gane vorausſetzt. Nun finden alle diejeni—
gen Bewegungen, welche wir als bewußte,
intelligente und zweckmäßige bezeichnen,
ihr Centralorgan in den Hemiſphären des
Großhirns, mit deſſen Hinwegnahme wirk—
lich ſpontane und intelligente zweckmäßige
Handlungen bekanntlich nicht mehr zu
Stande kommen. Es ſind aber unter allen
intelligenten zweckmäßigen Bewegungs—
erſcheinungen des Organismus die Sprech—
bewegungen offenbar diejenigen, in denen
Intelligenz und Zweckmäßigkeit im höch—
ſten Grade zu Tage treten, und es wer—
den daher die Muskeln der Sprachwerk—
zeuge vor allem vom Großhirn aus in—
nervirt müſſen. Einen Beweis dafür bildet,
abgeſehen von den direkten Verſuchen von
Hitzig und Fritzſch, Nothnagel, Fer—
rier u.a., die intereſſante Krankheitserſchei—
nung der Sprachlähmung oder Aphaſie.
Der Patient ſtellt die Begriffe und Wör—
ter völlig intakt vor, er hört ſie und ver—
ſteht ſie, von anderen geſprochen, aber
er iſt ſelbſt trotz aller Mühe durchaus
nicht im Stande, ein Wort auszuſprechen,
alſo die Muskeln ſeiner Stimmwerkzeuge
in Bewegung zu ſetzen. In den meiſten
Fällen zeigte ſich bei derartigen Leiden—
den eine Zerſtörung eines Großhirnteiles,
vorzüglich des hintern Drittels der unte—
ren Stirnwindung und des Inſellappens.“)
Was nun den Säugling anbetrifft, ſo
zeigt die anatomische Unterſuchung gerade
die Partie des Gehirns noch ſehr unvoll—
kommen ausgebildet, durch welche die
*) Vgl. Wundt, Phyſiol, Pſycholog. S. 229.
Sprache des Kindes.
Verbindung zwiſchen der Großhirnrinde
und den Gehirnteilen an der Baſis des
Gehirns hergeſtellt wird. Dieſe Verbin—
dungslinie durchläuft von oben nach unten
die Stationen vom Großhirn aus zum ſog.
Linſenkern und Streifenhügel, von da
durch den Hirnſchenkelfuß zum verlängerten
Mark und Rückenmark. Die verbindenden
Leitungsbahnen zwiſchen den vorderen
Lappen des Großhirns und den Streifen—
hügeln ſind aber eben beim Säugling noch
ſehr unentwidelt*), ſodaß alſo in der noch
mangelhaften Gehirnbildung uns ein fer—
nerer Grund für die Unfähigkeit des Säug-
lings zum Sprechen entgegentritt.
Der zum Sprechen nötige körperliche
Apparat befindet ſich bei dem Säugling
noch nicht im Stadium der zureichenden
Vollendung — aber auch die pſpychiſche
Entfaltung ſteht noch weit hinter dem
Maße des geiſtigen Hochdrucks zurück,
ohne welchen das körperliche Hebelwerk
der Sprachmaſchinerie gar nicht in Be—
wegung geſetzt wird, auch wenn es ſonſt
fertig entwickelt wäre. Das Sprüchwort
ſagt: Wem das Herz voll iſt, fließt der
Mund über. Wir interpretiren dieſen
Satz dahin, daß, wer wirklich etwas zu
ſagen hat, in wem der Vorſtellungsinhalt
eine ſo mächtige Spannkraft entwickelt
hat, daß für denſelben ein Ausweg ſich
öffnen muß, daß dieſem die Sprache
wie mit mechaniſcher Notwendigkeit vom
Munde ſtrömt. Aber dieſe pſychiſche Span—
nung, dieſer Hochdruck des Vorſtellungs—
inhalts fehlt ja dem Säugling noch ganz
und gar — er hat noch nichts zu ſagen,
im Schreien entlädt ſich vorläufig noch
zu voller Befriedigung ſein geſammter,
in wenigen körperlichen Bedürfniſſen er—
* S. Vierordt, 1. c. S. 182f.
Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 27
ſchöpfter Empfindungsinhalt, er fühlt des-
halb auch noch nicht das Bedürfnis der
Rede, es drängt ihn pſychiſch noch nicht,
die körperlichen Bewegungen hervorzu—
bringen, durch welche der Geiſt ſich nach
außen projizirt, und wenn der kindliche
Geiſt auch kraft der Vererbung weit
entfernt iſt, eine tabula rasa zu ſein,
ſo fehlen ihm anfangs doch noch alle
rein empiriſch zu gewinnenden Vorſtel—
lungen, die ihm aus der Außenwelt erſt
in dem Maße zufließen können, als ſich
derſelben die Thore ſeiner Sinne nach
und nach und verhältnismäßig ſehr lang—
ſam und ſtufenweiſe erſchließen. So wie
das Tier während ſeines ganzen Lebens
nicht genügend geiſtigen Inhalt beſitzt,
um das zwingende Bedürfnis einer wirk—
lichen Artikulationsſprache zu empfinden,
ſo hat auch das Kind allerdings nur
ungefähr in den erſten fünfzehn Monaten
ſeines Lebens noch nicht den Vorſtellungs—
inhalt, deſſen expandirende Kraft in
Worten zum Vorſchein käme, und die
Beobachtung des Ganges der pſpychiſchen
Entwicklung zeigt uns deshalb auch die
Thatſache, daß die Sprachäußerung, das
eigentliche Erlernen der Sprache erſt da
eintritt, wo nicht blos eine relativ ſehr
bedeutende körperliche, ſondern auch eine
relativ ebenſo bedeutende pſychiſche Ent—
wicklung ſich ſchon vollzogen hat.
Der Säugling, in den erſten Wochen
faſt fortgeſetzt und ſpäter noch den größten
Teil des Tages im Schlafe liegend,
empfängt quantitativ wie qualitativ nur
ſehr wenige Eindrücke von der Außen—
welt; ein erſtes bewußtes, freudiges, wenn
auch ſehr beſchränktes Verſtändnis für
Eindrücke und Teilnahme an denſelben
zeigt ſich in dem beginnenden Lächeln
EB.
des Kindes, und wir nennen deshalb auch
die erſte noch ſtumpfe Epoche des Kin—
des die des Säuglings (das ſog. dumme
Vierteljahr), die zweite ſchon lichtere
die des Lächlings. Aber der Lächling
iſt noch nicht völlig Herr ſeines Seh—
ſinnes; er vermag weder ſchon per—
ſpektiviſch zu ſehen, noch hat er die
Ausdauer, einen Gegenſtand im Blicke
zu fixiren. Dies tritt erſt ein in der
dritten Entwicklungsepoche, welche wir
die des Sehlings nennen, und die des—
halb von ſo grundlegender Bedeutung
iſt, weil nun erſt, nachdem der Geſichts—
ſinn völlig erſchloſſen iſt, die Fülle der
Geſtalten in den kindlichen Geiſt ein—
ſtrömt, und ein volleres, regeres und beweg—
teres Vorſtellungsleben beginnt. Jetzt
erſt, wo die Außenwelt mächtiger auf
das Kind einſtürmt, wird es angeregt,
nun auch ſeinerſeits thätig auf die Welt
einzuwirken, indem es — ein neuer
wichtiger Abſchnitt — nach den Dingen
greift, ſie fortgeſetzt in die Hand nehmen
will, ſie rüttelt und ſchüttelt, ſie betaſtet,
an Mund und Naſe führt, und ſo eine
Fülle neuer Merkmale entdeckt, die ihm
das Sehen allein nicht vermitteln konnte.
Der Sehling iſt zum Greifling gewor—
den: erſt wo das Kind mit der Hand die
Dinge erfaßt, begreift, behandelt,
umgeſtaltet, beginnt ſein eigentliches
Handeln, beginnt feine wahrhaft menſch—
liche Wirkſamkeit. Aber noch beherrſcht
der Greifling die Welt erſt auf Armes—
länge; er kann noch nicht gehen, ſo
müſſen die Dinge noch zu ihm, er kann
nicht zu ihnen kommen, ſo ſteht es noch
ſchlecht um ſeine Beherrſchung der Welt.
Aber die Eindrücke, die nun ſchon durch
alle Sinne einziehen, erregen mächtige
28 Fritz Schultze, Die
Begierden in dem Kinde, die fernen Dinge
winken, locken, ziehen unwiderſtehlich an
— es beginnt dem Zuge zu folgen, es
rutſcht, kriecht, geht, läuft — es wird
Läufling! und nun erſt gewinnt es aus
ſeinem bisherigen, gewiſſermaßen pflanz—
lichen Feſtgewurzeltſein die Freiheit, deren
es bedarf, um in die Welt einzudringen
und die Welt in ſich eindringen zu laſſen.
Nun aber flutet die Fülle der gewon—
nenen Vorſtellungen ſo gewaltig in ihm,
nun wird die Spannung ſo überſtark,
daß der pſychiſche Inhalt ſich Bahn bricht,
daß er überſprudelt in der Sprache, daß
das Kind in die Periode des Sprech—
lings eintritt, wo nun eine Zeit lang
nichts ſo zauberiſchen Reiz für das Kind
hat, als das Üben und Lernen der ſchwie—
rigen Kunſt, die mehr als alles andere
den Menſchen an den Menſchen bindet.“)
Nicht blos muß alſo erſt der geſammte kör—
perliche Apparat, es muß auch erſt die
Seele bis zu einem hohen Grade ent—
wickelt ſein, ehe das Kind zu dem höchſten
geiſtgeborenen Kunſtwerk, zu der Sprache,
gelangen kann.
Die Frage, warum kann das kleine
Kind noch nicht ſprechen? haben wir da—
mit, wenn auch nur in fkizzenhafter
Weiſe, beantwortet, und wir gehen nun
über zu der eigentlichen Sprachenentwick—
lung ſelbſt. i
Unter Sprache verſtehen wir im all-
gemeinen alle diejenigen Mittel, durch
welche ein empfindendes Weſen ſeine
inneren pſychiſchen Vorgänge (Empfin—
dungen, Vorſtellungen, Gefühle, Ge—
danken) äußerlich kundgiebt. Dieſe äußer—
liche Kundgebung beſteht allemal in
) Sigismund, Kind und Welt, Braun—
ſchweig, 1856.
Sprache des Kindes.
Bewegungserſcheinungen, die durch gewiſſe
Teile des Körpers: Geſichtsmuskeln (Mi—
mik), Gliederbewegung (Gliedergeberden),
Stimmwerkzeuge (Lautgeberde und arti—
kulirte Sprache) hervorgebracht werden.
Wir unterſcheiden alſo: Geberden—
ſprache und Wortſprache, und zer—
legen die erſtere wieder in Gliedge—
berdenſprache (Mimik, Geſtikulation)
und Lautgeberdenſprache, welche
letztere dadurch charakteriſirt iſt, daß in
ihr nicht der Laut als ſolcher, ſondern
die beſondere Modulation deſſelben die
Beſonderheit der zum Ausdruck treiben—
den Empfindung zu erkennen giebt; ſie
umfaßt alſo das ganze Gebiet der In—
terjektionen, dazu das Winſeln, Stöhnen,
Achzen, Weinen, Lachen, Schreien u. ſ. w.,
bei denen ja bekanntlich ein und derſelbe
Laut, z. B. ach!, in den allerverſchieden—
ſten Modulationen, alſo zur Veräußer—
lichung ſehr verſchiedener Empfindungen
(Freude, Schmerz, Erſtaunen) hervorge—
bracht wird. Hinſichtlich der Sprachent—
wicklung des Kindes kommt alſo nicht
blos die artikulirte, ſondern auch die
Geberdenſprache in Betracht.
Für den gebildeten Erwachſenen hat
die Geberdenſprache eine ſehr geringe Be—
deutung; bei dem neapolitaniſchen Lazza—
rone ſpielt dieſelbe ſchon eine wichtige
Rolle; unter verſchiedenen Stämmen der
Indianer von Nord- und Südamerika bil—
det die Geberdenſprache oftmals das ein—
zige Verſtändigungsmittel, ja wir hören
von wilden Horden, deren Wortſprache
ſo unvollkommen iſt, daß ſie zur Ver—
vollſtändigung derſelben der Geberden—
ſprache gar nicht entraten können, ſodaß
eine genügende Verſtändigung in dunkler
Nacht nur am Lagerfeuer möglich ſein
— ee
Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 29
ſoll. Das kleine Kind ſchreit; wir unter—
ſcheiden ſehr wohl, ob ſeine Lautgeberde
Hunger, Schmerz oder Zorn ausdrückt.
Das etwas größere Kind macht eine ab—
wehrende oder heranwinkende Handbewe—
gung, es bedient ſich der Gliedergeberden—
ſprache. Wir wiſſen aber, daß für das
normal entwickelte Kind die Geberden—
ſprache nur eine ſehr untergeordnete Be—
deutung hat, weil die Erwachſenen in der
Wortſprache und nicht in Geberden zu
ihm reden und weil es die Dienſte, welche
ihm die Wortſprache leiſtet, ſehr bald
erkennt und zu würdigen weiß. Wir
wiſſen aber auch, daß dem unglücklichen
Kinde, welches taub geboren oder bald
nach der Geburt taub geworden iſt und
deshalb ſtumm bleibt, die Geberdenſprache
die fehlende Wortſprache erſetzen muß,
und es iſt tröſtlich zu ſehen, wie aus—
drucksvoll ein ſolches Kind ſich in Ge—
berden zu verſtändigen weiß, und welch
relativ hoher Ausbildung dieſe vorzugs—
weiſe an den Geſichtsſinn, und nur zum
kleinen Teil auch an den Taſtſinn ſich wen—
dende Sprache fähig iſt. Das taubſtumme
Kind deutet entweder auf die von ihm
gemeinten Gegenſtände, wenn ſie anwe—
ſend und ſichtbar ſind, oder es zeichnet
mit der Hand die Umriſſe des Gegen—
ſtandes in die Luft, entwirft von ihm
eine ſogenannte Luftzeichnung. Nicht aber
als ob es den Gegenſtand mit all ſeinen
Einzelheiten nachzeichnete, es bildet viel—
mehr in aller Kürze nur das Merk—
mal des Gegenſtandes nach, welches ihm
beſonders aufgefallen iſt und ihm beſon—
aber verſchiedenen Kindern an demſelben
Gegenſtande, je nach den Umſtänden, unter
denen er ihnen zuerſt oder hauptſächlich
1
entgegentrat, ſehr verſchiedene Merkmale
als die beſonders charakteriſtiſchen auf,
ſodaß alſo jedes Kind hinſichtlich ſeiner
Ausdrucksweiſe in Geberden individuelle
Eigentümlichkeiten und Abweichungen
zeigt. Das eine Kind bezeichnet ſeinen
Vater durch die geberdliche Nachahmung
des Drehens am Barte, weil dieſes zu—
fällig zu den Gewohnheiten ſeines Vaters
gehört, ein anderes Kind hat eine andere
Bezeichnung für denſelben; das eine Kind,
wenn es auf ſeine Haare weiſt, meint
ſeinen Bruder, weil derſelbe ſich durch
rote Haare auszeichnet, das andere Kind
hat für den Bruder eine durchaus ver—
ſchiedene Bezeichnung. Trotz ſolcher in—
dividuellen Abweichungen zeigen die taub—
ſtummen Kinder aber, ohne daß ſie mit
einander in Berührung traten, doch eine
merkwürdige Übereinſtimmung in ihrer
Geberdenſprache, ſodaß die Verſtändigung
zwiſchen zwei ſich bis dahin fremden Kindern
ohne weiteres vor ſich geht, was uns
nicht wundern kann, da ja im Großen
und Ganzen dieſelben Erſcheinungen auf
die gleichmäßig organiſirten Weſen auch
denſelben Eindruck machen und ſomit rein
reflektoriſch auch denſelben Ausdruck in
Mienen, Geberden u. ſ. w. auslöſen
müſſen. Die individuellen Differenzen wer—
den in der Anſtalt, in welcher die Kin—
der gemeinſam unterrichtet werden, vol—
lends abgeſchliffen zu einer allgemein gül—
tigen Geberdenſprache, welche ſich zu den
individuellen Beſonderheiten dann etwa
verhält, wie die Schriftſprache zu den
Lokaldialekten, und die dann in ihrer
ders charakteriſtiſch erſcheint. Nun fallen
chen zu verfügen weiß, ſodaß Erzählun—
vollen Entwicklung über etwa 5000 Zei—
gen, Gebete, Predigten u. ſ. w. in aus⸗
drucksvoller Weiſe in ihr zum Vortrage
22
30 Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes.
gebracht werden können. Da die Geber—
denſprache aber alles in anſchaubarer,
ſichtbarer, alſo auch ganz ſinnlicher Weiſe
darſtellen muß, rein begriffliche Abſtrak—
tionen ſich aber in ſinnlicher, ſichtbarer
Form nicht ausdrücken laſſen, ſo zeigt
ſich klar, daß die Geberdenſprache doch
in verhältnismäßig ſehr enge Grenzen
eingeſchloſſen iſt, wie ja denn auch das
Denken des Taubſtummen, der nicht auf
die artikulirte Wortſprache hin und in
ihr unterrichtet iſt, ein ſehr beſchränktes
bleibt, und deshalb in der deutſchen Me—
thode des Unterrichts der Taubſtummen
in der Wortſprache eine wirkliche Ten—
denz zur Erlöſung, Befreiung und Ent—
wicklung des Geiſtes dieſer Stiefkinder
der Natur liegt, gegenüber der franzö—
ſiſchen Methode, die in der Ausbildung
der bloßen Geberdenſprache ihre Befrie—
digung findet. Intereſſant iſt es und ein
ſchöner Beweis für die Einheitlichkeit der
menſchlichen Geiſtesart, daß, wie ange—
ſtellte Proben erwieſen haben, der euro—
päiſche Taubſtumme, der Südſeeinſulaner,
der Chineſe, die Lappländerin ſich unter
einander ohne Weiteres lebhaft und ver—
ſtändlich in der Geberdenſprache zu unter:
halten wußten. Die Geberdenſprache des
Kindes hat hier für uns nur eine neben—
ſächliche Bedeutung; wir wenden uns
unſerem eigentlichen Thema, dem Ent—
wicklungsgang der Wortſprache des Kin—
des, zu.
Im Großen und Ganzen fällt die
Ausbildung der kindlichen Wortſprache,
das eigentliche Sprechenlernen des Kin—
des in das 6., 7. und 8. Vierteljahr
nach der Geburt. Die individuellen Ver—
ſchiedenheiten ſind hier allerdings nicht
gering; trotzdem laſſen ſich zwei allgemeine
Sätze aufſtellen, erſtens der, daß die
Mädchen früher und leichter ſprechen ler—
nen als die Knaben; zweitens, daß das
Sprechenlernen nach dem Laufenlernen
eintritt. Damit ſoll nicht geſagt ſein,
daß nicht viele Kinder ſchon Wörter ver—
ſtehen, ja einige Wörter ſprechen können,
noch ehe ſie den Laufkurſus begannen;
im Gegenteil iſt dies faſt immer der Fall.
Aber es iſt auch intereſſant, zu bemer—
ken, wie das Kind, gewiſſermaßen nach
der Maxime, daß man gründlich zur Zeit
nur eines betreiben könne, während der
Erlernung der Lokomotion die Sprach—
entwicklung faſt ganz zur Seite ſchiebt
und die linguiſtiſche Aufgabe erſt wieder
aufnimmt, wenn die lokomotoriſche abge—
ſchloſſen iſt. Nur bei kränklichen, beſon—
ders rhachitiſchen Kindern kehrt ſich das
Verhältnis um, und geht der Sprechling
dem Läufling voran. Auch hinſichtlich
des Anfangs der eigentlichen Sprach—
erlernungsperiode ſind die individuellen
Verſchiedenheiten ſo groß, daß man den
Termin dieſes Beginns unmöglich nach
Tagen, Wochen, ja ſelbſt nach Monaten
ein für alle Mal fixiren kann. Wir kön⸗
nen daher jene ſchon oben angeführten
Entwicklungsabſchnitte auch nur als rela—
tive gegen einander abgrenzen, ſodaß die
Länge der Dauer eines jeden Abſchnitts
und der Beginn eines neuen je nach der
günſtigeren oder ungünſtigeren körperlichen
und geiſtigen Anlage der beſonderen kind—
lichen Individualität variirt. Doch bleibt
der allgemeine Satz dabei feſtſtehen, daß
die eigentliche Spracherlernungsperiode in
das 6., 7. und 8. Vierteljahr fällt, ſo—
daß mit dem Ende des 2. Lebensjahrs
das normal entwickelte Kind im Stande
it, ſeine Meinung in einem kleinen aſyn⸗
Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes.
thetiſchen Satze darzuſtellen. Mit alledem
iſt aber auch wiederum keineswegs geſagt,
daß der erſte elementarſte Anfang
der Sprachentwicklung überhaupt
nicht ſchon viel früher gemacht würde;
in der That, er tritt ſchon ein in der
erſten Entwicklungsperiode beim Säug—
ling, ja, wir können das Schreien, in
welchem der vokaliſche Laut ä zu Tage
tritt, und müſſen es ſogar ſchon als
erſten elementaren Anfang betrachten. Wir
betonten aber oben, daß das Gehör in—
takt und entwickelt ſein müſſe, wenn von
ihm aus das Kind zur Nachbildung ge—
hörter Laute angeregt werden ſolle, und
ſetzten den Zeitpunkt, von wo an dieſes
der Fall ſei, ungefähr in die dritte
Lebenswoche. Die Wirkung des um dieſen
Termin erſchloſſenen Hörſinnes zeigt ſich
nun bald. Ungefähr in der Mitte des
erſten Vierteljahres hört man plötzlich
aus dem Munde des behaglich daliegen—
den Kindes die lieblichen Klänge hervor—
brechen, welche man als Lallen oder
Papeln bezeichnet. Es ſind die Laute:
Ma, Ba, Bu, die als Mamamama ...,
Babababa . . . ., Bubububu . . .. (letzte⸗
res zwiſchen B und W) in raſcher Folge
hinter einander erſcheinen; dazu ebenſo
in raſcher Wiederholung Appa-appa—
appa . . .., anne⸗anne⸗anne .. .., auch
ebub-ebub⸗ebub . . . .; dazu tritt noch ein
durch Vibriren der Lippen erzeugtes
Brrrr. . . . und ein, wie mir ſcheint, gut-
turales erre-erre, das ſich aber bald
völlig wieder verliert. Vielfach zeigt
ſich auch ein hä, hä, hä (kurz das ä)
unter den erſten Lauten.
Ein Fortſchritt wird hinſichtlich dieſer
Lalllaute im zweiten Vierteljahre nicht
gemacht, ja es kann vorkommen, daß
31
dieſelben wochenlang ganz unterbleiben.
Aber mit dem dritten Vierteljahre
tritt eine neue Entwicklungsphaſe ein.“)
Immer deutlicher bildet ſich der Ge—
hörſinn des Kindes aus; war es bisher
nur im Stande, paſſiv zuzuhören,
ſo kommt es jetzt dahin, aktiv hören
zu wollen, es beginnt mit Aufmerk—
ſamkeit zu horchen. Es findet freu—
diges Intereſſe an Tönen und Klängen.
Es hört draußen den Hund bellen und
will ans Fenſter, ihn zu ſehen; es hört
draußen die Stimme ſeiner Mutter und
beginnt freudig zu zappeln; nach dem
Rhythmus einer leicht ins Ohr fallenden
Muſik hüpft es auf dem Arme ſeiner
Wärterin; mit großem Vergnügen rüttelt
und ſchüttelt es ſelbſtthätig ſeine Klapper.
Alles das zeigt, wie das Hören ihm
Luſtgefühle erweckt, deren Wiederholung
es horchend herbeiwünſcht. Der ſtärkeren
Anregung entſpringen nun neue Lall—
laute, es treten zu den früheren hinzu
die Laute: bäbäbäbä . . ., dädädädä . . . .,
(das ä kurz); dazu ein gedehntes fu-fu-fu,
das auch oftmals als ein fbusfbu er-
ſcheint. Alle dieſe neuen Laute, ebenſo
wie die älteren, werden jetzt mit viel
mehr Kraft ausgeſtoßen, als es bei den
älteren im Anfang der Fall war. Über—
haupt iſt es mit dem ſchläfrigen Schreien,
wie es im erſten ſogen. dummen Viertel—
jahre als langgedehntes ä—ä ä zu Tage
trat, vorbei — das Schreien klingt ſehr
energiſch, helle Jubeltöne laſſen ſich
hören, und das Kind liebt es, viele
Minuten lang ſeine Reduplikationen wie
dädädädä, babababa ꝛc. mit großer
Geſchwindigkeit zu üben.
*) Man vergl. hierüber auch Sigismunds
Darſtellung der betr. Entwicklungsepochen.
N
n
32
Das Ergebnis dieſer erſten drei Vier—
teljahre find alſo die Lalllaute: Ma,
Ba, Bu, Appa, Anne, Ebub, Bä, Fä,
Fu, Fbu. Darin treten alſo auf die Vo—
kale: A (ſchon im erſten Schreien erſchei—
nend, ſpäter als Lalllaut verwendet), A
und U; und an Konſonanten die Lippen—
laute P, B, M, F und die Zungen—
laute D und N; dazu das gewiſſermaßen
zwiſchen Vokalen und Konſonanten
ſtehende H.
Warum verfügt denn das Kind in
ſeiner Konſonantur zuerſt nur über Lip—
pen- und Zungenlaute? Doch wohl
deshalb, weil durch die Ernährungsthä—
tigkeit des Kindes, durch das Saugen,
gerade die Muskulatur der Lippen und
Zungen zuerſt geſtärkt und gekräftigt
wird. Beim Saugen müſſen ſich näm-
lich zuerſt die Lippen feſt und hermetiſch
um die Nahrungsquelle (die Bruſtwarze
oder deren Erſatz) herumlegen; jetzt muß
die Zunge rückwärts gezogen werden;
dadurch entſteht ein luftverdünnter Raum
im Munde, in welchen nun die Nahrungs-
flüſſigkeit eintritt; fo werden alſo gerade
durch das Saugen Lippen und Zunge
fortgeſetzt in Anſpruch genommen und
geſtärkt. An Konſonanten finden ſich beim
Kinde alſo zuerſt nur die ſieben: P,
B, M, F, D, N, H; und es iſt inter⸗
eſſant, daß dies beinahe dieſelben Lippen—
und Zungenlaute ſind, welche ſich als
die einzigen in den Sprachen gewiſſer
Naturvölker finden. So zeigen die Süd—
ſeedialekte von Rimatara, Rurutu, Tubuai,
Raivavai nur die ſieben Konſonanten:
P, W, M, T, N, Ng und R (welches
letztere, wie oben geſagt, ja unter den
Lalllauten auftritt, aber nur um ſehr
bald völlig zu verſchwinden, und in der
Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes.
eigentlichen ſpäteren Hauptſpracherler—
nungsperiode erſt wieder hervorzutreten).
Die Maori Neuſeelands haben die neun
Konſonanten P, W, M, T, N, H, R, K
(welches letztere erſt im letzten Stadium
der Sprachentwicklung vom Kinde her—
vorgebracht wird).
Schon hier erklärt uns die Kinder—
ſprache das Rätſel, warum über den
ganzen Erdkreis bei allen Völkern das
Wort für Vater und Mutter gebildet
iſt aus einem Vokal in Verbindung ent-
weder mit einem Lippen- oder einem
Zungenlaut und daher überall lautet:
Papa, Mama, Baba, Wawa, Fafa,
Nana, Dada u. ſ. w. Es ſind das die
erſten artikulirten Silben, die das Kind
aus dem oben angeführten phyſiologiſchen
Grunde überhaupt zu bilden vermag,
und es iſt ſehr begreiflich, daß die
—
Eltern dieſe erſten Lalllaute des Kindes,
gewiſſermaßen ſeine erſte Anrede an
Vater und Mutter, auf ſich bezogen und
davon ihren Namen empfingen. Hin⸗
ſichtlich der europäiſchen Sprachen iſt die
Thatſache bekannt genug; es zeigt ſich aber
auch, daß in 57 bei Lubbock') angeführten
Negerſprachen der Vatername labial
Papa, Baba, Wawa, Fa, Tafa, in 17
Negerſprachen lingual Da, Dada, Tada,
Ada, Oda lautet; daß der Mutter-
name in 15 Negerſprachen labial als
Ba, Ma, Mama, Ama, Omma, in 33
Negerſprachen lingual als Na, Nana,
Ne, Ni, Pde erſcheint.
Aus dem Lallen des Kindes erklärt
ſich uns ferner auch die bekannte Nei—
gung der Kinderſprache zur Bildung von
Reduplikationen, wie ſie uns ja ſchon in
Papa und Mama entgegentreten. Das
*) Origins of eivilisation p. 323 fgde.
ey
3
Fritz Schultze, Die
Lallen beſteht ſelbſt ja in nichts anderem,
als einem fortgeſetzten Wiederholen der—
ſelben Silben, die Gewohnheit bleibt
und überträgt ſich auch auf ſpätere
Wortbildungen, wie Memmen ( eſſen),
Mille-mille — Milch), Täub-täub —
Taube), Wauwau u. ſ. w. Auch dieſe
Erſcheinung findet ihre Analogie in dem
häufigen Vorkommen ſolcher Redupli—
kationswörter in den Sprachen der
Naturvölker. Nach Lubbock finden
ſich im Engliſchen, Deutſchen, Fran—
zöſiſchen, Griechiſchen auf 1000 Wörter
nur ungefähr 2— 3 ſolcher Verdopp—
lungswörter, im braſilianiſchen Tupi
dagegen 66, im Hottentottiſchen 75, im
Tonga 166 und im Neuſeeländiſchen 169,
wie z. B. ahi-ahi —= Abend, aki-aki —
Vogel, awa-awa = Thal, awanga-wanga
— Hoffnung u. ſ. f.
Wenn uns auch im Lallen der erſten
drei Vierteljahre offenbar ſchon höchſt
wichtige elementare Anfänge des Spre—
chens entgegentreten, ſo kommt der eigent—
liche große Prozeß der Sprachbildung
doch, wie ſchon gejagt, erſt ſpäter zu
Stande. Ehe wir aber dazu übergehen,
ihn zu ſchildern, müſſen wir erſt noch
der wichtigen Thatſache Erwähnung thun,
daß das Kind die Bedeutung vieler zu
ihm geſprochenen Wörter ſchon verſteht,
ehe es ſelbſt mit dem Verſuche beginnt,
ſie nachzuſprechen, daß alſo das Ver—
ſtehenlernen der Wörter dem Sprechen—
lernen vorangeht. Das kann uns nicht
Wunder nehmen. Es hörte und ſah
z. B. häufig den Hund bellen, es wurde
ihm dabei ſtets der ſchallnachahmende
Laut Wauwau vorgeſagt. Dieſer Laut
Wauwau und das Gehör- und Geſichtsbild
des bellenden Hundes verſchmelzen nach
Sprache des Kindes. 33
bekannten pſychologiſchen Geſetzen in ihm,
ſo daß der geſprochene Laut Wauwau
in ihm die Vorſtellung „Hund“, wie
der geſehene und gehörte Hund in ihm
das Lautbild Wauwau naturgemäß er—
weckt, ſo daß alſo es nunmehr verſteht,
was Wauwau bedeutet, was das Wort
heißt. So geht es aber in all den
Fällen, welche im Leben des Kindes
häufiger hervortreten und ſein Intereſſe
erwecken, wie Licht, Fenſter, Straße u. ſ. f.,
und Sigismund „Kind und Welt“
giebt an, daß ſein Knabe die Bedeutung
von mehr als zwanzig Wörtern ſchon
gekannt habe, ehe er ſie ſelbſt nachzu—
ſprechen angefangen hätte. Bei vielen
Wörtern, wie z. B. lobenden oder
tadelnden, Freude oder Trauer aus—
drückenden Interjektionen (pfui, ei u.
ſ. w.) erkennt das Kind die Bedeutung
derſelben auch ſehr bald aus der be—
gleitenden drohenden oder freundlichen
Miene des Sprechenden, und Eſchricht
in ſeinem Vortrage: „Wie lernen Kinder
ſprechen?“ Berlin, 1853 (der, nebenbei
geſagt, das eigentliche Problem, welches
in jener Frage liegt, ſo gut wie gar
nicht berührt, ſondern ſich vorzugsweiſe
auf die Taubſtummheit der Kinder be—
zieht), hat recht, wenn er (S. 17) dar—
auf aufmerkſam macht, daß das Kind,
während es auf die Anrede horcht, nicht
den Mund, ſondern das Auge und die
Mienen des Sprechenden betrachte, um
den allgemeinen Sinn der Rede daraus
zu entnehmen. So verſteht das Kind
eher und beſſer die Worte, als es ſelbſt
ſie zu ſprechen vermöchte, gerade wie
auch der Hund wohl den Sinn gewiſſer
Worte ſeines Herrn verſteht, ohne daß
er ſie ſprechen könnte, gerade wie auch
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1.
=
34 Fritz Schulze, Die Sprache des Kindes.
wir eine fremde Sprache leichter und
beſſer verſtehen, als wir uns in ihr
ausdrücken können.
Wir wenden uns nun der Schilde—
rung der Sprachentwicklung in der eigent—
lichen Sprechlingsperiode zu und werfen
hier zuerſt die Frage auf, in welcher
Reihenfolge das Kind die Lautele—
mente der Sprache, Vokale und Konſo—
nanten, allmählich in ſeine Gewalt bringt.
Hier beſtätigt die Beobachtung den all—
gemein giltigen Satz, den ich als das zu
Grunde liegende Geſetz hinſtellen möchte,
daß die Sprachlaute im Kinder—
munde in einer Reihe hervorge—
bracht werden, die von den mit
der geringſten phyſiologiſchen
Anſtrengung zu Stande kommen—
den Lauten allmählich übergeht
zu den mit größerer, und endet bei
der mit größter phyſiologiſcher
Anſtrengung zu Stande gebrach—
ten Sprachlauten. Unter phyſiolo—
giſcher Anſtrengung verſtehen wir hier
das Maß der Nerven- und Muskelarbeit,
welche nötig iſt, um die zur Hervor—
bringung eines Sprechlautes notwendige
Stellung der Stimmwerkzeuge herbeizu—
führen. Dieſes Geſetz bezieht ſich auf
die Vokale wie auf die Konſonanten.
Betrachten wir zuerſt die Vokaliſation.
Man muß nach Helmholtz zwei
Reihen von Vokalen unterſcheiden, näm—
lich die Reihe
A — O — U
und die Reihe
AE
Bei den Vokalen A, O, U bildet
die Mundhöhle vom Kehlkopf an bis zu
den Lippen nur eine einzige ununter—
brochene Schallröhre, die ſich an keiner
Stelle verengert; es iſt alſo auch nur
ein einziger Schallraum vorhanden,
mithin bildet ſich auch nur ein Reſonanz—
ton, ſodaß alſo A, O, U die Vokale
mit einem Reſonanzton ſind. Bei
den Vokalen A, E, J, O, U dagegen
wird durch die Erhebung des vorderen
Teiles der Zunge nach dem harten Gau—
men hinauf eine Verengerung, ein Spalt
zwiſchen Zunge und hartem Gaumen ge—
bildet, ſodaß die Schallröhre, welche vor—
her nur einen Schallraum bildet, jetzt
deren zwei, einen vorderen und einen
hinteren, beſitzt. In Folge davon ent—
ſtehen zwei Reſonanztöne, ſodaß A, E,
J, O, Ü die Vokale mit zwei Re—
ſonanztönen ſind.
Um A hervorzubringen, wird der
Mund nur mäßig geöffnet, die Zunge
zieht ſich nur um ein geringes aus ihrer
„Indifferenz — oder Ruhelage“, d. h.
aus der Lage, in welcher ſie ſich beim
ruhigen Atmen befindet, nach rückwärts;
bei O wird die Zunge um etwas weiter
zurückgezogen und zugleich der Lippenſpalt
um etwas verengert; bei U wird die
Zunge in ihrer Geſammtheit am weiteſten
nach rückwärts gezogen und mit ihrem
hinteren Theil gegen den Gaumen er—
hoben, während die ein wenig vorge—
ſtreckten Lippen ſich zu einer engen, kreis—
förmigen Offnung zuſammenziehen.
Bei A, E, J wird, wie oben ge—
ſagt, der vordere Theil der Zunge gegen
den harten Gaumen erhoben, und zwar
am wenigſten bei A, mehr bei E, am
meiſten bei J, bei welchem letzteren alſo
zwiſchen erhobener Zungenſpitze und har—
tem Gaumen nur ein enger Spalt übrig
bleibt, durch welchen der Luftſtrom aus—
) Sievers, Lautphyſiologie, S. 15.
r
Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes.
fließt. Bei O und U verhält ſich die
Zunge faſt ebenſo wie bei E und J,
nur daß bei O und U noch hinzukommt,
daß die Lippen kreisförmig verengert
werden, ähnlich wie bei O und U.
In welcher Reihenfolge treten nun
die Vokale in der Kinderſprache allmäh—
lich hervor? Meine Beobachtungen, die
in ihren Ergebniſſen mit denen Sigis—
munds ſehr gut übereinſtimmen, zeigen
als den erſten Vokal das A, welches
ſchon im Schreilaut erklingt, als zweiten
A, welches in ſehr reiner Weiſe ſchon
im Papeln hervortritt; dann folgt U,
O tritt erſt nach U auf. Der Grund da—
von iſt wohl folgender: A und U bilden
in der Reihe A, O, U infofern die Ex—
treme, als bei A Lippen und Zunge am
wenigſten, bei U am meiſten aus der
Indifferenzlage gerückt ſind. O liegt in
dieſer Hinſicht in der Mitte; es ſcheint
alſo dem Kinde eher zu gelingen, gewiſſer—
maßen im Anlauf, die der A-Stellung
extrem entgegengeſetzte U-Stellung zu
gewinnen, als in exakter Weiſe die feine
Mittelſtellung des O zu erlangen, wozu
offenbar ſchon ein geübteres und ausge—
bildeteres Akkomodations- und Inner⸗—
vationsgefühl gehört, wie ja doch überall
die ſchroffer hervortretenden Gegenſätze
leichter erfaßt werden, als die dazwiſchen
liegenden feineren Übergangsnuancen.
E, J, O, U treten ſämmtlich erſt
nach den ſoeben genannten Vokalen (A,
A, U, O) hervor, was nicht Wunder
nehmen kann, da bei ihnen allen die phy—
ſiologiſche Anſtrengung eine ſehr große
iſt; muß doch bei allen der vordere Teil
der Zunge beträchtlich gehoben, und bei
O und U auch noch eine ſchwierige Lip—
penſtellung hervorgebracht werden. Die
35
Schwierigkeit wächſt aber in der Reihe
bei jedem folgenden Vokal um einen
Grad, und ſo kommt es, daß zuerſt von
ihnen E geſprochen wird, J aber über—
haupt erſt ſehr ſpät ſich einſtellt. O,
beſonders aber U machen dem Kind enorme
Schwierigkeiten, es ſetzt zuerſt trotz alles
Vorſprechens ſtets E und J dafür z. B.
ſchen ſtatt ſchön, iber ſtatt über, wie in
vielen deutſchen Dialekten.
Wir ſagten, auch E trete erſt nach
A, A, U, O hervor, nämlich das lange
E iſt gemeint, welches wir in See, geh
u. a. ſprechen. Denn der Laut hähähä,
den das Kind ſchon in der Papelperiode
ausſpricht, enthält ein wirkliches ä, das
vom Kinde wegen ſeines ſchwächlichen
Exſpirationsſtromes nur ſehr kurzatmig,
gewiſſermaßen nur als Achtelnote, nicht
als ganze Note hervorgeſtoßen wird. Fer—
ner iſt das E, welches wir eben in den
Papellauten anne-anne, oder ange-ange
geſchrieben haben, nicht das E in See
und geh, ſondern der Laut, welcher ent—
ſteht, wenn wir z. B. nicht Tan- nén oder
fän-gen, ſondern wie gewöhnlich Tänn'n,
fäng'n ausſprechen. Die Vokale treten
alſo in folgender Reihe nach einander
in dem Entwicklungsprozeß des kindlichen
Sprechens hervor: A, A, U, O, E, J,
O, U, eine Reihe, in der hinſichtlich der
phyſiologiſchen Anſtrengung eine allmäh—
liche Steigerung ſtattfindet. Die Diph—
tonge folgen ſich meinen Beobachtungen
nach in dieſer Reihe: zuerſt Ei (ſchon
ſehr früh, früher als E und I), dann
Au (zuerſt durch A erſetzt), zuletzt Eu
und Au, wofür das Kind anfänglich ſtets
Ei ſagt.
Gehen wir jetzt zu den Konſonanten
über. Auch hier müſſen wir erſt einige
2,
FF
Ergebniſſe der lautphyſiologiſchen Unter
ſuchungen voranſchicken. Die Konſonan—
ten entſtehen, wenn durch plötzliche Schlie—
ßung oder Verengung der Mundhöhle
an irgend einer Stelle der erſpirirte
Luftſtrom in unregelmäßige Schwingun—
gen verſetzt und ſomit Geräuſche erzeugt
werden. Der Verſchluß kann erſtens
vermittelſt der Lippen hergeſtellt werden;
ſo ergeben ſich die Lippenlaute: P,
B, M, F (und B mit identiſch), W,
und zwar entweder nur mit den Lippen,
ſo ergeben ſich die Laute P, B, M,
oder durch Anlegen der oberen Zahn—
reihe an die Unterlippe, ſo entſtehen F
(V) W. Der Verſchluß kann zweitens
durch Anlegen der Zungenſpitze an die
Zähne oder den harten Gaumen gebildet
werden; ſo erhalten wir die Zungenlaute:
T, D, N, L, 8, Sch. Der Verſchluß
kann drittens entſtehen durch das An—
legen des hinteren Teils der Zunge oder
des Zungenrückens an den harten Gau—
men; ſo entſpringen die Gaumenlaute
K, G, Ng (wie in jung), Ch, Jot.
Innerhalb jeder dieſer drei Gruppen
der Lippen-, Zungen- und Gaumenlaute
ſind nun wieder drei Abteilungen zu
unterſcheiden. Die erſte Abteilung
umfaßt die Verſchlußlaute, welche
entſtehen durch ein plötzliches Verſchließen
und unmittelbar ſich daran fügendes
Wiederaufbrechen der Mundhöhle, ent—
weder vermittelſt der Lippen: P, B, oder
vermittelſt Zungenſpitze und Zahnreihe,
36 Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes.
reſp. Gaumens: T, D; oder vermittelſt
Zungenrückens und Gaumens K, G.
Die zweite Abteilung enthält die
Reſonanten, welche ſich bilden, wenn,
während der Verſchluß beſtehen bleibt,
ein Luftſtrom durch die Naſe ſtreicht;
den Verſchluß bilden die Lippen = M;
oder Zungenſpitze mit Zahnreihe und
Gaumen — N; oder Zungenrücken und
Gaumen — Ng. In der dritten Ab—
teilung ſtehen die Reibungsge—
räuſche, welche ſich bilden, wenn durch
einen vermittelſt der Lippen und Zahn—
reihe (F, W) oder vermittelſt der Zungen—
ſpitze und des Gaumens (S, Sch, L)
oder vermittelſt des Zungenrückens und
Gaumens (Ch, Jot) hergeſtellten Spalt
ein Luftſtrom hindurchgetrieben und da—
durch ein Geräuſch hervorgerufen wird.
Dieſen drei Abteilungen ſchließt ſich end—
lich als vierte noch die der Zitter—
laute an, welche erzeugt werden, wenn
die nur loſe verſchloſſene Verſchlußſtelle
durch die Exſpiration in Schwingungen
verſetzt wird. In dieſer Abteilung ſteht
nur das N in feinen drei verſchiedenen
Formen als Lippen-R, Zungen-R und
Gaumen-R. Z iſt nur = Tſ; X = Kſ.
H iſt ein Mittelding zwiſchen Konſonant
und Vokal, einfach erzeugt durch einen
ſtarken aus der Kehle hervorgetriebenen
Luftſtrom. Die folgende Tabelle wird
am beſten die gegebenen Erklärungen in
kürzeſter Form verdeutlichen:
Verſchlußlaute Reſonanten Reibungsgeräuſche Zitterlaute
Lippenlaute P B M F (V) W̃ R labiale
Zungenlaute T D N L S Sch R linguale
Gaumenlaute K G Ng Ch Jot R gutturale
zum
In welcher Reihenfolge lernt nun
das Kind die Konſonanten ausſprechen?
Auch hier haben mich meine Beobach—
tungen das oben aufgeſtellte Geſetz ge—
lehrt, nach welchem das Kind die Laute
hervorbringen lernt in einer Stufenfolge,
die von den mit geringſter phyſiologiſcher
Anſtrengung verbundenen Lauten auf—
wärts ſteigt zu den mit größeren Anſtren—
gungen verknüpften. Wenn wir uns an
die oben aufgeſtellte Tabelle halten, ſo
können wir das allgemeine Beobachtungs-
ergebnis ſo ausdrücken: Es wächſt die
phyſiologiſche Schwierigkeit in der Rich—
tung von oben nach unten von
den Lippen- zu den Gaumenbuch—
ſtaben. Die letzteren treten deshalb auch
beim Kinde erfahrungsmäßig am ſpäteſten
von allen hervor.
Verfolgen wir die Richtung von
links nach rechts, ſo müſſen wir hier
eine Unterſcheidung machen. Bei den
Lippen- und Zungenlauten wächſt
die Schwierigkeit in der Richtung
von links nach rechts; bei den Gau—
menbuchſtaben aber umgekehrt (wenn
wir das R gutturale hier erſt ganz bei
Seite laſſen wollen) wächſt die Schwie—
rigkeit für das Kind in der Richtung
von rechts nach links. K und G
lernt das Kind am ſpäteſten von allen
Lauten; hat es auch alle übrigen ſchon
in der Gewalt, ſo ſagt es doch noch
ſtatt Karl — Tarl und ſtatt Gott —
Dott; ſtatt Junge ſagt es Junne. R
wird früher als K und G, doch ſpäter
als die übrigen Laute gelernt (ſtatt
Friede ſagt es Fiede; ſtatt Rot —
Hot). Wir wollen dieſe allgemeinen
Aufſtellungen noch mehr im Einzelnen
erläutern. Unter den oben angeführten
Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 37
Papellauten finden ſich an Konſonanten
P, B, M, F, W, D, N, H — wie wir
ſehen (wenn wir H außer Acht laſſen)
lauter Lippen- und Zungenlaute. Unter
den Lippenlauten lernt es ein deut—
liches W' ſpäter ſagen als F; wie der
Verſuch zeigt, iſt die phyſiologiſche An—
ſtrengung bei W auch entſchieden größer
als bei F. Unter den Zungenlauten lernt
es am ſpäteſten L, S, Sch, aber L vor
S, und S vor Sch (3. B. Saf [das
Scharf] ſtatt Schaf). Über die Gaumen—
laute iſt das Nöthige bereits geſagt. Ich
glaube ungefähr das Richtige zu treffen,
wenn ich behaupte, daß das Kind die
geſammte Konſonantur ſich aneignet in
den ſechs nachſtehenden, der phyſiologiſchen
Schwierigkeit wie der Zeit nach auf ein—
ander folgenden Abſchnitten. P, B, M,
F, W, D, N bilden den Inhalt der
erſten Stufe ſeines Könnens. Den
zweiten Abſchnitt bilden L und S; den
dritten Ch und Jot; den vierten
Sch, den fünften R, den ſechſten Ng,
K und G. Man kann dieſe Abſchnitte
deshalb mit Recht unterſcheiden, weil
wirklich ſtets zwiſchen dem vorhergehenden
und dem folgenden Abſchnitt eine geraume
Zeit, manchmal mehrere Wochen, ja Mo—
nate verſtreichen, ehe die folgende Station
erobert wird. Es iſt für den Beobachter
allemal ein Ereignis, wenn endlich
wieder etwas neues zu Tage tritt. Doch
will ich dieſe ſechs Abſchnitte nur mit
Vorſicht aufſtellen, weil ich mein dieſer
Stufenfolge zu Grunde liegendes Be—
obachtungsmaterial noch lange nicht für
genügend halte, um ohne weiteres dog—
matiſche Sicherheit für die mir allerdings
vorläufig als richtig erſcheinenden Sätze
in Anſpruch zu nehmen. So macht es
9
38 Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes.
z. B. noch einen wichtigen Unterſchied,
ob einem für das Kind mühſamen Kon—
ſonanten ein Vokal oder ein anderer
Konſonant folgt. Wenn im erſtern Fall
das Kind den ſchwierigen Konſonanten
auch ſchon zu ſprechen vermag, ſo iſt
damit doch noch nicht geſagt, daß es ihn
auch im letztern Fall beherrſcht — im
Gegenteil, dies iſt vielfach nicht der
Fall: es ſagt z. B. ſchon deutlich Schaf
ſtatt des früheren Saf (ſcharfes S);
aber es ſagt noch flafen ſtatt ſchlafen;
und kann es auch ſchon ſchlafen ſagen,
ſo ſpricht es deshalb doch lange noch nicht
Straße — Schtraße, in welchem die Ver—
bindung von drei an ſich ſchon müh—
ſamen Konſonanten ihm lange Zeit die
größte Schwierigkeit bereitet, ſondern
Traſſe.
Wir werfen jetzt, nachdem wir dieſe
Ergebniſſe hinſichtlich der Vokaliſation
und Konſonantur gewonnen haben, die
neue wichtige Frage auf, wie das Kind,
ſolange es jene ſchwierigen Laute und
Lautverbindungen der höheren Entwick—
lungsabſchnitte noch nicht zu ſprechen ver—
mag, mit denjenigen ihm zu Gehör ge—
brachten Wörtern verfährt, welche gerade
ſolche ſchwierigen Laute in ſich enthalten.
Es iſt bekannt, daß die Kinder ſolche
Wörter verſtümmeln. Aber geht dieſe
Verſtümmelung geſetzlos vor ſich? Im
Gegenteil, es zeigen ſich dabei ganz feſte
Lautverſchiebungsgeſetze, nach denen das
Kind unbewußt die Umwandlung vor—
nimmt. Meine Beobachtungen haben mich
zu folgendem Lautverſchiebungs—
oder Verſtümmelungs- oder Ver—
wandlungsgeſetz der Kinderſprache ge—
führt: Für den dem Kinde noch un—
ausſprechbaren Laut (Vokal oder |
Konſonant) ſetzt daſſelbe den die—
ſem ſchwierigen Laute nächſtver—
wandten, mit geringerer phyſio—
logiſcher Schwierigkeit ſprech—
baren Laut, und wenn es auch
dieſen noch nicht zu beherrſchen
vermag, ſo läßt es ihn einfach
ganz und gar weg.
So ſetzt es hinſichtlich der Vokale
z. B. ſtatt ö ſtets e, ſtatt ü ſtets i, ſo—
lange ihm ö und ü noch nicht geläufig
ſind; ja es geht ſoweit, daß es für das
Anfangs ſchwierige i ſogar a ſubſtituirt,
z. B. den Vogel, der ihm als Pippip
bezeichnet wird, Pappap nennt. Statt
eu oder äu ſetzt es ei, ſtatt au einen nach
a hinüberklingenden Laut. Hinſichtlich
der Konſonanten zeigt ſich erſtens, daß
das Kind im Anfang der Sprachentwick—
lung die Konſonanten derſelben
Gruppe überhaupt leicht verwechſelt,
daß ihm dieſelben mehr oder weniger
ununterſchieden in einander überfließen:
ſo M und B beides Lippenbuchſtaben, z. B.
Bond ſtatt Mond, ſo W und B, z. B.
Baſſe ſtatt Waſſer, ſo F und W, z. B.
Faffaf ſtatt Waſſer. Zweitens: es läßt
den oder die ſchwierigen Konſonanten ein—
fach aus: ſo ſagt es anfänglich Ti ſtatt
Tiſch, Ha ſtatt Hals, O für Ohr, Mu
für Mund. Drittens: es ſubſtituirt dem
ſchwierigen Konſonanten den dieſem, in
derſelben Reihe liegenden, nächſtverwand—
ten Konſonanten: z. B. ſtatt der Gaumen⸗
laute Zungenlaute, und zwar für den
harten Laut (Tenuis) der ſchwierigen
Gruppe auch die Tenuis der leichteren
Gruppen, für den weichen (Media) dort,
die Media hier, z. B. ſtatt Karl Tarl
(nicht Darl), für Gott Dott (nicht Tott).
Viertens: dieſe Verſchiebung, welche in
4
den hier gegebenen Beifpielen nur um einen
Schritt nach rückwärts erfolgt iſt, kann
unter Umſtänden gewiſſermaßen durch
mehrere Stationen hindurch rück—
wärts geführt werden; Station A iſt zu
Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes.
ſchwierig, aber auch die nächſtliegende Sta-
tion B iſt noch nicht erreichbar, fo beſchränkt
ſonant beſtimmt den Anfangskonſonant:
ſich das Kind auf die dieſer nächſtliegende
Station C; z. B. Waſſer kann es an—
fänglich nicht ſagen, aber auch noch nicht
Wafwaf, es ſagt vielmehr Faffaf — das
wenn man will, vier Stationen:
heißt zuerſt Faffaf (die Reduplikation
39
der Endkonſonant nach dem Anfangskon—
ſonant, und zwar ſo, daß der Endkon—
ſonant identiſch wird mit dem des An—
fangs; Topf wird Tot, aus Stuhl
wird Tut, aus Ball Bab (oder richtiger
Bapp), aus Bock Bop, aus Setzen Ses
u. ſ. f., oder auch umgekehrt der Endkon—
z. B. aus Schultze wird Lullul — alſo
der für das Kind leichtere Konſonant
vertreibt in dieſen Fällen den ſchwereren
Wort Waſſer durchläuft alſo drei, oder
Es
iſt ſchon oben erklärt), dann Wafwaf,
darauf Waſſe (ohne r), zuletzt erſt Waſſer.
Fünftens: das Kind wendet gelegent-
lich bei beſonders komplizirten Worten
beide Mittel an: Ausfallenlaſſen und
Verwandeln. Statt Großmama, ein Wort,
in welchem das Groß von Schwierigkeiten
(G, R, S) förmlich umlagert iſt, ſagt es
zuerſt einfach weglaſſend: Omama. Spä⸗
ter läßt es aus und verſchiebt zugleich:
es läßt R weg, verſchiebt Gin D —
und ſagt Doßmama. Es wäre nun ſehr
intereſſant, dieſe Verſchiebungsgeſetze der
Kinderſprache zu vergleichen mit denen
der Völkerſprachen untereinander und
innerhalb jeder einzelnen hinſichtlich ihrer
verſchiedenen Entwicklungsſtadien — doch
muß ich dieſe Aufgabe völlig dem
Linguiſten überlaſſen. Ich habe hier in—
deſſen noch auf einige andere merkwürdige
Eigentümlichkeiten der Kinderſprache hin—
zuweiſen. Nämlich ſech ſtens: Innerhalb
einer Lautgruppe wirkt die Abänderung
iſt aber klar, daß man nicht von einer
eines Lautes häufig auch zugleich auf
einen anderen Laut der Gruppe ein, ſodaß
dieſer in Gefolge jenes ſich mitverändert.
Bei einſilbigen Wörtern z. B. richtet ſich
und ſetzt ſich an die Stelle. Siebentens
will ich hier die Neigung zur Redupli—
kation noch einmal hervorheben. So wird
auf Grund dieſer Neigung und der vor—
hergehenden Geſetze z. B. Kette zu Tettet,
Stiefel zu Tittit, Dorchen zu Dodo u. ſ. f.
Faſſen wir alle die aufgeſtellten Regeln
ins Auge, ſo erklärt ſich uns nun völlig,
wie z. B. Bertha — Depta, Gretchen
— Dita, Schultze zuerſt — Lullul, ſpäter
— Lollo, Wurſtbrot — Fofpoop, Onkel
Paul = Olla Oppa (ſpäter Olten Paul)
u. ſ. w. wird. Es geht alſo erſtens
auch noch daraus hervor, daß ein und
daſſelbe Wort in den verſchiede—
nen Stadien der ſich entwickelnden
Sprache eines und deſſelben Kindes
in ſehr verſchiedener Geſtalt er—
ſcheint, daß alſo jedes Wort einen viel-
fältigen Entwicklungsprozeß durchläuft,
ehe es die in der Sprache der Erwach—
ſenen feſtſtehende Geſtalt erreicht. In
wie weit hier die ontogenetiſche Ent—
wicklung mit der phylogenetiſchen
übereinſtimmt, muß der Entſcheidung des
Sprachforſchers überlaſſen bleiben; ſo viel
einzigen bei allen Kindern identiſchen,
ja nicht einmal von einer in einem
und demſelben Kinde identiſchen Kin—
40
derſprache reden kann, ſondern nur von
einem ſich fortgeſetzt verwandelnden Ent—
wicklungsprozeß in der Sprache des
Kindes, den genau und in allen ſeinen
Verzweigungen darzulegen, erſt ganz aus—
führliche Vokabularien angelegt werden
müßten, wie ſie bis jetzt ja noch nicht
exiſtiren.“) Intereſſant iſt es zu ſehen, wie
Naturvölker in ganz ähnlicher Weiſe wie
unſere Kinder und wahrſcheinlich alſo auch
nach ähnlichen Verwandlungsgeſetzen die
Wörter europäiſcher Sprachen ſich mund—
gerecht machen. So ſagten die Tahitier für
Cook O-Tute, gerade ſo wie Sigismunds
Knabe den Namen des Kapitäns aus—
ſprach. So machten die, nur die oben an—
geführten neun Konſonanten beſitzenden
Maori, die nach Hochſtetter zu den Eng—
ländern ſagten: „Eure Sprache geht zwar
in unſer Ohr, aber nicht wieder aus dem
Munde heraus,“ aus Samuel = Se:
mara, aus Friedrich — Waritarihi,
aus David — Rawiri, aus New Zea—
land — Niutireni, aus Governor —
Kawana, aus Victoria the queen of
England — Wikoria te Kuini o
Ingireni.
Über den Wortſchatz der Kinder—
ſprache einerſeits und die Syntax der—
ſelben andererſeits können wir uns kurz
faſſen. Über den Wortſchatz, den das
Kind in ſeiner Rede zu Tage treten läßt,
iſt zu ſagen, daß derſelbe ſehr klein iſt
(allerdings verſteht es mehr Wörter,
als es ſelbſt ſpricht), und daß er ſich,
wie natürlich, nur auf die wenigen dem
Kinde zugänglichen und ihm intereſſanten,
ganz konkreten Gegenſtände und Verhält—
*) Vgl. die bei Sigismund, Kind und
Welt, S. 136 ff. angeführten Wörter.
Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes.
niſſe bezieht, daß in ihm alſo alle ab—
ſtrakten Beziehungen, z. B. die Wörter
auf ſchaft, ung, nis, heit, keit u. ſ. w.
noch ganz und gar fehlen. Es wäre ge—
wiß nicht blos für die Sprache, ſondern
beſonders für die Pſychologie und Pä—
dagogik wichtig, den Entwicklungsprozeß
der Kinderſprache von den konkreten zu
den abſtrakten Beziehungen im Einzelnen
zu erforſchen, obwol ſich vermuten läßt,
daß hierbei außerordentliche Verſchieden—
heiten hinſichtlich der einzelnen Indivi—
duen je nach ihrer Anlage und ihren
Lebensverhältniſſen zu Tage treten wer—
den, doch fehlt bis jetzt das Beobachtungs—
material hinſichtlich dieſes Prozeſſes noch
allzu ſehr.
Hinſichtlich der ſyntaktiſchen Ver—
hältniſſe iſt zu ſagen, daß die Kinder—
ſprache ſich Anfangs ganz und gar auf
der Stufe der fog. aſynthetiſchen
Sprachen befindet, ſodaß alſo jede Art
der Flexion, Deklination, Konjugation,
Komparation, alle Präpoſitionen und
Konjunktionen zuerſt völlig fehlen und das
Kind ſeine Wortfragmente ohne jede Ver—
bindung einfach nebeneinander ſtellt nach
der Regel, die auch die Geberden der
Taubſtummenſprache in ihrer Aufeinan—
derfolge beherrſcht, daß das dem Kinde
am wichtigſten Erſcheinende von ihm mit
beſonderer Betonung hingeſtellt wird.
Die von Sigismund mitgetheilte „Erſte
Erzählung“ ſeines 20 Monate alten
Knaben iſt ein Beiſpiel für dieſe aſyn—
thetiſche Satzbildung: „Atten — Beene
— Titten — Bach — Eine — Puff
— Anna“, ſprach er mit ziemlich
langen Zwiſchenpauſen und leb—
haftem Geberdenſpiel. Das ſollte
heißen: „Wir waren heute im Garten,
haben Beeren und Kirſchen gegeſſen,
dann in den Bach Steine geworfen
und ſind der Anna begegnet.“ Erſt ſehr
allmählich entwickelt das Kind aus dieſen
formlos neben einander geſtellten viel—
deutigen Wortblöcken jene fein geglie—
derten Wortſtatuen der flektirenden
Sprache, bei denen aus jedem noch
ſo kleinen Gliede Geiſt und Verſtändnis
auf das klarſte hervorleuchtet.
In der Einleitung zu dieſem Verſuch
habe ich die Meinung ausgeſprochen, daß
durch die genaue Erforſchung des Ent—
wicklungsganges der Kinderſprache ſich
unzweifelhaft eine Menge ſprachtheo—
retiſcher Probleme würden löſen
laſſen — ich möchte nun allerdings hin—
zufügen, daß zu einem ſolchen Zwecke
die Beobachtungen viel weiter reichen
müßten, als das bei dem mir zu Gebote
ſtehenden, noch ſehr mangelhaften Mate—
rial der Fall iſt. Ein Hauptmangel iſt
der, daß ſich meine und ebenſo die vor—
trefflichen Beobachtungen Sigismunds
nur auf deutſche Kinder ſtützen; es müßten
die Beobachtungen nicht allein auf Kin—
der verſchiedenſter Nationen ausgedehnt,
ſondern auch der Einfluß berückſichtigt
werden, welchen auf die Entwicklung
der Sprache eines Kindes der beſon—
dere Dialekt ſeiner Umgebung
ausübt. Ich glaube aber auch, daß für
die Praxis gewiſſer Zweige der Päda—
gogik aus ſolchen Unterſuchungen ein
großer Gewinn beſonders in Beziehung
auf die Methodik derſelben ſich ergeben
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1.
Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 41
loſen Mühe, mit welcher der Lehrer taub—
ſtummen und ſchwachſinnigen Kindern
das Sprechen beibringt. Die Erfolge
auf dieſem Gebiete ſind bisher viel mehr
der unglaublichen Geduld und der liebe—
vollen Hingebung der Lehrer an ihre
Aufgabe als einer wirklich wiſſenſchaft—
lichen und theoretiſch begründeten Methode
zu verdanken. Aber ich bin überzeugt,
wenn man genauer die Entwicklung der
Kinderſprache kennte, wenn man genauer
wüßte, in welcher phyſiologiſch natur—
gemäßen Reihenfolge die einzelnen Laute
und Lautverbindungen auf und aus ein—
ander folgen, wenn man ferner die natür—
liche pſychologiſche Entwicklungsfolge der
einzelnen Wortklaſſen“) kennte, jo würde
man den Unterricht dieſer Taubſtummen
und Schwachſinnigen wirklich methodiſch
einrichten, von phyſiologiſch und pſycho—
logiſch Leichterem zum Schwererem konti—
nuirlich aufſteigen, alſo wirklich rationell
verfahren und damit Zeit und Mühe
erſparen können. Und daß auch fur die
Methodik des Sprachunterrichts bei nor—
malen Kindern dabei manch wichtiges Er—
gebnis zum Vorſchein käme, ſcheint mir
fraglos zu ſein. Auch von der Sprache
des Kindes gilt das Rückertſche Wort
aus der „Weisheit des Brahmanen“:
„Mit jeder Sprache, die du mehr
erlernſt, befreiſt Du einen bis dahin in
Dir gebundenen Geiſt.“
) Für die „Psychologie der Konjunktionen“
verweiſe ich auf T. Ziller, Einleitung in die
allgemeine Pädagogik, $. 18, als ein Beiſpiel
würde. Man erinnere ſich der grenzen— | und Vorbild.
Der Schlaf und die Träume.)
Von
J. Delboeuf,
Profeſſor an der Univerſität Lüttich.
A SE giebt wohl kein Thema,
2 N Y welches die mürriſchen Philo—
8 = „ ſophen von dem lachenden
5 Jaonien, der Wiege Heraklits
E des Traurigen, bis zu dem
trüben Oſtſeelande, der Heimat desfinſtern
Schopenhauer, in jedem Jahrhundert und
unter allen Klimaten mit mehr Vorliebe
behandelt haben, als dasjenige der Lei—
den der Menſchen. Die religiöſen Schrift—
ſteller ihrerſeits, die Paskal und Boſſuet,
verfehlten niemals, obwohl ſie die Größe
der menſchlichen Seele prieſen, auch deren
Niedrigkeit vor ihr Forum zu for—
dern. Es möchte ſomit unmöglich er—
ſcheinen, dem troſtloſen Gemälde unſerer
Schwäche und unſeres Nichts neue Züge
*) Der obige Auſfſatz erſchien zuerſt in
Th. Ribots Revue philosophique (Octobre
et Novembre 1879), ift aber von dem Herrn
Verfaſſer für die deutſche Ausgabe mit Aende—
rungen und Zuſätzen verſehen worden.
ſeine Rolle ſpielen zu laſſen.
f Blick auf einige neuere Abhandlungen.
hinzuzufügen. Und dennoch vergißt man
darin, ein ganzes Dritteil unſeres Seins
Jeden
Tag werden wir ſozuſagen uns ſelbſt
entführt durch einen phantaſtiſchen, bi—
zarren und launiſchen Genius, der ſich
ein boshaftes Vergnügen daraus macht,
die Gegenſätze des Guten und des Böſen,
des Laſters und der Tugend zu ver—
ſchmelzen. Zu gewiſſen Stunden des
Tages wird der rechtſchaffenſte Menſch
ohne Gewiſſensbiſſe die ſcheußlichſten
Unthaten begehen, er wird zum Räuber,
Mörder, Blutſchänder und Meineidigen
werden; die junge und keuſche Gattin
wird ſich den indecenteſten Handlungen
hingeben; die ſchamhafte Nonne wird
ſchmutzige Reden ihrem Munde ent—
ſchlüpfen laſſen; der fromme Prieſter,
durch ſeine Leidenſchaft oder Phantaſie
verführt, wird vor keiner Heiligtums—
ſchändung zurückſchrecken. Wenn die An—
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
fechtung ihr Ende erreicht hat, und wir
wieder in den Beſitz unſeres Selbſt zu—
rückkehren, würden wir oftmals das, was
wir geträumt haben, andern nicht ein—
mal zu erzählen, noch ſelbſt es in unſer
Gedächtnis zurückzurufen wagen. Be—
unruhigt fragen wir uns, ob wir nicht
im Grunde unſres Weſens einen haſſens—
werten Gärungsſtoff beherbergen, der
uns jeden Augenblick zum Verbrechen
treiben kann. Wir verfluchen dieſe un—
bekannte Macht, welche, von unſerer
Seele Beſitz ergreifend, ihren beſten
Eigenſchaften die ſchlimmſten unterſchiebt.
Aber im Gegenſatze hierzu und ganz
ebenſo häufig iſt die Thätigkeit des
Schlummers wohlthätig und tröſtlich.
Sie verſetzt uns für einige Augenblicke
in die Mitte der teuren Weſen, die
wir verloren haben, zurück; ſie läßt den
Kranken ſeine Leiden, den Unglücklichen
ſein Elend vergeſſen; ſie giebt dem Ge—
lähmten die Beweglichkeit, dem Tauben
das Gehör, dem Blinden das Geſicht,
dem Gefangenen die Freiheit, dem armen
verlaſſenen Mädchen das Glück der erſten
Liebe wieder. Zu kurze Illuſionen, die
nur dazu dienen, die herbe Wirklichkeit
noch bitterer zu geſtalten!
Der Zauberſtab des Traums ver
wandelt die erbärmlichſte Hütte in ein
verzaubertes Schloß; er löſt die Zunge
des Stammlers und flößt ihm eine hin⸗
reißende Beredſamkeit ein; er treibt den
Furchtſamen, den furchtbarſten Gefahren
zu trotzen; er liefert dem Forſcher den
Schlüſſel zu den geheimnisvollſten Erſchei—
nungen; er verleiht ſelbſt unſerm ſchweren
und am Boden kriechenden Körper wunder—
bare Flügel, die ihn ohne Anſtrengung
mitten durch die Unendlichkeit tragen.
43
Bedarf es mehr, um zu erklären,
daß man den Träumen zu allen Zeiten
einen übernatürlichen Charakter zuge—
ſchrieben hat? Man betrachtet ſie als
Botſchafter der Gottheit, — wahre oder
trügeriſche, je nach ihrer Art; — ſie
enthüllen die Geheimniſſe der Zukunft,
und wer ihre Sprache zu enträtſeln weiß,
wird darin ohne Mühe Verheißungen
oder Drohungen entdecken. Und wenn
wir, uns nicht weiter an die Mei—
nungen des großen Haufens kehrend,
die Männer der Wiſſenſchaft fragen,
hören wir ſie, ganz im Beginne ihres
Kampfes gegen den Aberglauben, eine
überraſchende Theorie aufſtellen: die
Träume, weit entfernt Götter zu offen—
baren, ſollen ſie erſchaffen haben;
unſer Geiſt, welcher im Schlafe Phan—
tome außerordentliche Dinge vollbringen
ſah, legte ihnen eine wirkliche Exiſtenz
bei, und begabte ſie mit einer furcht—
baren Macht: ſo wurde der Himmel be—
völfert.*) Außerdem hat man gejagt,
daß die Bilder derer, die nicht mehr
ſind, indem ſie uns in der Stille der
Nächte beſuchen, den Glauben an ein
Jenſeits erweckt haben und daß die
Geiſter der Könige oder gefürchteter
Häuptlinge unmerklich zum Range gött—
licher Weſen erhöht worden ſind, welche
das Schickſal der Lebenden in ihren
Händen halten. Auf dieſe Weiſe würden
die ſeltſamen Kinder der Erſchöpfung
und der Nacht, welche uns beim Er—
wachen Abſcheu oder Mitleid, Lachen
oder Verachtung einflößen, die Religionen
erſchaffen haben, und das religiöſe Gefühl,
welches nach einer guten Zahl von Philo—
luneretius, de Rerum Natura, V,
1168 fl.
\
44
ſophen vielleicht der einzige unterſchei—
dende Charakter iſt, durch welchen ſich der
Menſch über das Tier erhebt, würde
keinen andern Urſprung beſitzen. Die Re—
ligion, Tochter der Finſternis, die Wiſſen—
ſchaft, Tochter des Lichts: würde nicht
dieſer Raſſengegenſatz hinreichen, um uns
ihre unaufhörlichen Konflikte, ihren un—
vereinbaren Gegenſatz zu erklären?
Die den Träumen ſtets beigelegte
Wichtigkeit ſollte vermuten laſſen, daß
man früh mit ihrem Studium begonnen
habe, und heute zu gewiſſen genauen
und abſchließenden Begriffen über ihren
Charakter und ihre Urſachen gelangt ſei.
Nichts von alledem! Aus dem Alter—
tum könnten wir nur einige meiſterhafte
Seiten des Ariſtoteles über dieſen Gegen—
ſtand erwähnen, und die Neuzeit be—
treffend, konnte Maudsley') ganz kürz⸗
lich die folgenden Zeilen ſchreiben: „Das
Studium der Träume iſt vernachläſſigt
worden, und dennoch verſpräche es für
einen geſchickten und kompetenten Beob—
achter, der es mit Fleiß und Methode
unternehmen wollte, ergiebig zu werden;
für die Arzte im beſondern würde es
wahrſcheinlich höchſt lehrreich ſein.“
Was den gegenwärtigen Stand der
Wiſſenſchaft vom Traume betrifft, habe
ich nicht genug Autorität, um ihn zu
ſchätzen. Ich werde mich deshalb begnügen,
die Worte Vierordts zu eitiren, deſſen
Kompetenz unbeſtreitbar iſt. „Was die
Aufſtellung einer phyſiologiſchen Theorie
des Schlafes betrifft,“ jagt er“), „fo
kann man noch nicht daran denken.
*) The pathology of Mind (1879) p. 49.
aer) Grundriß der Phyſiologie des Menſchen,
5. Aufl. Tübingen, 1877, S. 653. a
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
Wozu dieſes allgemeine Bedürfniß einer
periodiſchen Verminderung oder teilweiſen
Aufhebung der phyſiſchen und pſychiſchen
Thätigkeiten? Welches ſind die ohne
Zweifel zahlreichen, körperlichen wie pſy—
chiſchen Bedingungen, welche den phyſio—
logiſchen Schlaf herbeiführen und um—
gekehrt während des Schlummers un—
merklich das Erwachen vorbereiten? Wie
ſind endlich die feſtgeſtellten Formen be—
ſchaffen, unter welchen die Funktionen des
Schlafenden ſich nach Quantität und Qua⸗
lität darſtellen? Das ſind alles Fragen,
auf welche eine Antwort unmöglich iſt.“
Dennoch iſt, beſonders ſeit einiger
Zeit, kein Mangel an neu erſchienenen
Werken über den Schlaf und die Träume.
Ohne von den klaſſiſch gewordenen Bü-
chern von Alfred Maury und Albert
Lemoine zu ſprechen, und indem ich
mich auf die beiden letzten Jahre be—
ſchränke, habe ich ein Werkchen von
Serge Sergudyeff“), eine ruſſiſch
geſchriebene Arbeit von N. Grote“),
einen Band von dreihundert Seiten von
Heinrich Spitta“ ), Privatdozenten an
der Univerſität Tübingen, ein noch um—
fangreicheres Werk von Paul Rade—
fto +), eine Broſchüre von C. Binz if),
eine andere von Paul Dupuyrry),
*) Le sommeil et le système nerveux,
preparation à l’etude de la veille et du
sommeil. Geneve, 1877.
**) Les r&ves, comme l'objet d'analyse
scientifique. Kiev, 1878.
k) Die Schlaf- und Traumzuſtände der
menſchlichen Seele ꝛc. Tübingen, 1878.
+) Schlaf und Traum, eine phyſiologiſch⸗
pſychologiſche Unterſuchung. Leipzig, 1879.
Ii) über den Traum. Bonn, 1878.
tr) Etude psycho-physiologique sur le
sommeil. Bordeaux, 1879.
N
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 45
Profeſſor der mediziniſchen Fakultät von
Bordeaux, anzuführen. Ich habe ohne
Zweifel die Liſte nicht erſchöpft, und
vielleicht vorzügliche Werke überſehen.
Ich würde außerdem Werke über Phy—
ſiologie und Pathologie zu erwähnen
haben, in denen der Schlaf Gegenſtand
ausführlicher Kapitel iſt, die einen Band
für ſich bilden könnten. So z. B. wid—
met ihm Maudsley in dem bereits
citirten Werke beinahe 100 Seiten,
und Stricker, Profeſſor an der Wiener
Univerſität, hat ſeinen „Vorleſungen über
allgemeine und experimentelle Patho—
logie” *) eine Art Kurſus der Pſychologie
folgen laſſen, welcher nicht weniger als
elf Kapitel einnimmt und zahlreiche
neue und eigene Geſichtspunkte über die
Natur der Träume enthält, obwohl er
die Erklärung der Geiſteskrankheiten zum
ſpeziellen Gegenſtande hat.
Ich werde nicht lange bei der origi—
nellen, aber wenig ernſthaften Arbeit
Sergudyeffs verweilen. Der Verfaſſer
beginnt mit der Aufſtellung, daß der Schlaf
eine weſentlich vegetative Funktion (2) ſei,
da er Allem, was lebt, nötig iſt und
zum Zweck hat, den Organismus in ſei—
nem normalen Zuſtande zu erhalten. Es
find alſo drei Dinge zu entdecken; 1) die
Subſtanz (l’aliment), dem Schlafe wie
dem Wachen erforderlich, 2) das Organ,
3) der Mechanismus.
Eine Subſtanz (aliment) iſt nicht un⸗
bedingt eine greif- und wägbare Materie;
nichts hindert zu ſchließen, daß der Ge—
genſtand des Wachens und Schlafens
eine ätheriſche oder dynamiſche Form
oder Kraft ſei. Was Sergusyeff dar-
unter verſteht, bin ich außer Stande,
*) Wien, 1879. 21.— 23. Vorleſung.
zu begreifen. Er hat mir überhaupt den
Eindruck hinterlaſſen, über Ather, Bewe—
gung, Kraft und Materie nur verwirrte
und widerſprechende Begriffe zu haben.
Was das Organ des Schlafes betrifft,
ſo müſſe es wahrſcheinlich der große
Sympathikus ſein. Denn einerſeits kennt
man den Sitz dieſer Funktion nicht, und
andererſeits nicht die Funktion dieſes
Apparates. Dieſer Schluß iſt nicht von
der äußerſten Sicherheit. Aber der Autor
begnügt ſich mit Recht nicht mit dieſem
einfachen logiſchen Argumente. Er er—
innert daran, daß die Sektion der ſym—
pathiſchen Nerven Veranlaſſung zu kalo—
riſchen Erſcheinungen giebt, welche man
nicht den ſo herbeigeführten Veränderun—
gen des Blutumlaufs zuſchreiben kann,
und deren Erklärung noch nicht gefunden
iſt. Nun würde die Wärmezunahme ſich
leicht durch Hemmung einer vegetativen
und centripetalen Bewegung erklären,
während des Wachens würde man Kraft
anhäufen, während des Schlummers den
Überſchuß ausgeben. Grade das Gegen—
teil hiervon entſpricht der allgemeinen
Meinung. Ich bin nicht Phyſiologe und
kann die Schlüſſe Sergudyeffs nicht
diskutiren. Ich hätte einzig zu erfahren
begehrt — und erwartete das immer
als Schlußargument —, bis zu welchem
Punkte die Tiere, denen man den ſym—
pathiſchen Nerv zerſchneidet, den Schlaf
verlieren, und ob z. B. der Hund, bei
welchem noch nach 18 Monaten der Wärme—
überſchuß nachweisbar war, dieſe ganze
Zeit hindurch nicht beinahe wie gewöhn—
lich geſchlafen hätte.
Der meinem Gefühl nach unfrucht—
bare Verſuch Sergusyeffs, ſcheint
mir geeignet, erkennen zu laſſen, mit
— ——
46 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
welcher tiefen Dunkelheit das phyſiolo—
giſche Problem umhüllt iſt. Dieſer Schrift—
ſteller hat ſeine Aufgabe gewiß ernſthaft
erfaßt; er hat ſich zahlreichen Unter—
ſuchungen unterzogen und, begabt mit der.
Gewandtheit eines erfinderiſchen Geiſtes,
von gebahnten Pfaden auszugehen geſucht.
Was ich auch von dem Ergebnis ſeiner
Anſtrengungen denken mag, dieſen Be—
mühungen kann ich nur Beifall zollen.
Das Werkchen von Binz habe ich
nicht geleſen, aber einen Bericht darüber
in der „Berliner kliniſchen Wochenſchrift“
geſehen. In den philoſophiſchen Monats-
heften hat Böhm viel Gutes darüber
geſagt. Sich auf die Thatſache ſtützend,
daß Opium, Haſchiſch, Ather u. ſ. w.,
dem Traum und Schlaf analoge Zuſtände
hervorbringen, ſchließt Binz, daß dieſe
Erſcheinungen pathologiſcher Natur ſeien,
und von einer Störung der pſychiſchen
Thätigkeit herrührten. Es iſt mir ſchwer,
zu begreifen, daß man ein ſo allgemeines,
ſo beſtändiges und ſo wohlthätiges Phä—
nomen, wie den natürlichen Schlaf, ſei er
von Träumen begleitet oder nicht, als patho—
logiſchen Zuſtand auffaſſen und irgend
einer Störung zuſchreiben könnte. Aber
ich halte hier ein, aus Beſorgnis, den Ge—
danken von Binz vollkommen zu fälſchen.
Das Werkchen von Dupuy habe
ich geleſen und darin den merkwürdigen
Bericht über einige jener intereſſanten
Phänomene, denen Maury den Namen
der hypnagogiſchen Hallueinationen “) bei—
*) Anmerk. d. Red. Unter hypnagogi⸗
ſchen Hallucinationen verſteht Maury die be—
ſonders häufigen Hallucinationen in den Über—
gangszuſtänden zwiſchen Schlaf und Wachen,
welche die älteren deutſchen Autoren als Halb
ſchlaf bezeichnet haben.
gelegt hat und ferner die Kritik einiger
Theorien des Schlafes gefunden. Dieſer
letztere Teil iſt ſehr oberflächlich, aber
erhebt allerdings auch keine Anſprüche.
Ich werde nichts über das Werk von
N. Grote ſagen, da ich nur die Schluß—
folgerungen deſſelben, wie ſie A. H. in
der Ribotſchen Revue Philosophique?)
mitgeteilt hat, kenne. Sie ſind intereſſant
genug, um hier wiederholt zu werden: „Die
ſubjektiven ſenſoriellen Erregungen wer—
den wegen der Abweſenheit der Kontrolle
der Sinne und der Intelligenz für Wirk—
lichkeiten genommen. Die Traumfaktoren
ſind hauptſächlich die Erinnerungen, die
Gewohnheiten, die Sinneseindrücke, und
die organiſchen Empfindungen, welche den
vegetativen Prozeß während des Schla—
fes begleiten und ferner die unbewußte
Gehirnthätigkeit oder die automatiſche
Arbeit gewiſſer weniger ermüdeter oder
ſtärker erregter Teile des Gehirns, welche
unverſehens fantaſtiſche Bilder, groteske
Verbindungen fragmentariſcher Vorſtel—
lungen von zufälliger Miſchung, wie die
Bilder eines Kaleidoſkopes, liefern. In—
deſſen giebt es immer ein mehr oder
weniger deutliches Band zwiſchen den
ſich folgenden Ideen, weil der Schlaf
nicht die Geſetze der Ideen-Aſſociation
außer Kraft ſetzt, und die Ideen fort—
fahren, durch Ahnlichkeit oder Kontraſt
oder nach Übereinſtimmung der gegen—
ſeitigen Beziehung von Urſache und Wir—
kung, Zweck und Mittel ſich hervorzu—
rufen — genau, wie das bei den Irr—
ſinnigen ſtattfindet, bei denen gewiſſe
Teile des Gehirns ihre Thätigkeit dem
Bewußtſein aufdrängen, und es ſo völlig
in Beſitz nehmen, daß ſie die objektiven
*) November 1878, p. 544.
Sinneseindrücke verdunkeln, welche die
pſychiſche Arbeit auf den erſten Weg
zurückführen könnten.“ Dieſer Satz ſcheint
mir ſehr gut den gegenwärtigen Zuſtand
des Wiſſens über dieſe Frage auszu—
drücken.
Ich möchte ein gleiches Urteil über
die beiden inhaltsreichen Kapitel fällen,
in denen Maudsley ſich mit dem Schlaf
und Hypnotismus beſchäftigt hat, und
daraus die ziemlich ſonderbare Behaup—
tung hervorheben, „daß die Ideen eine
natürliche Tendenz beſitzen, ſich in dra—
matiſcher Form zu ordnen und zu ver—
binden, wenngleich ſie unter ſich keine
bekannten Beziehungen haben, oder ſelbſt
gänzlich unabhängig, ſogar antagoni—
ſtiſch ſind“.“) Noch mehr, fie würden
nach ſeiner Meinung „eine Fähigkeit zur
aufbauenden Gruppirung haben, dank
welcher die Ideen ſich nicht blos ſam—
meln, ſondern neuen Produktionen den
Urſprung geben würden.“ Das heißt
ein wenig allzu vornehm den auf die
dramatiſche und ſchöpferiſche Macht des
Traumes bezüglichen Schwierigkeiten aus—
weichen. Aber Stärke iſt ſehr oft, ſich
einem derartigen Gegenſtande gegenüber
mit Worten zu begnügen, und Mauds—
ley ſelbſt täuſcht ſich nicht über die ver—
zwickten Erklärungen, welche er von den
ſonderbaren Erſcheinungen der Erinne—
rungskraft giebt, welche die Träume dar—
bieten. „Welches auch die Bedeutung
derſelben ſei, ſagt er“), fie iſt eine zweifel—
loſe Thatſache.“
Eine ganz beſonders gehaltvolle Über—
ſicht iſt diejenige, in welcher er die Be—
dingungen aufzählt, welche den Urſprung
und Charakter der Träume beſtimmen.
) A. a. O. S. 15—16.— **) Ebendaſ. S. 20.
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
47
Er klaſſifizirt ſie unter ſechs Hauptſtücke:
1) die vorhergegangene Erfahrung, ſei
ſie perſönlich oder ererbt, aus welcher
die Elemente des Traumes beinahe ſtets
geſchöpft ſind; 2) die Eindrücke auf
den einen oder andern Sinn, der mehr
oder weniger wach geblieben iſt; 3) die
organiſchen Eindrücke, welche ihre Urſache
im Zuſtande der Eingeweide, des Blut—
umlaufs, der Atmung oder der Geſchlechts—
organe haben; 4) die Muskelempfind—
lichkeit, welche eine Qual erzeugt und von
der Art herrührt, wie man liegt; 5) der
Blutumlauf im Gehirn und 6) der Zu—
ſtand des wohlgekräftigten oder erſchöpf—
ten, friſchen oder ſchlaffen Nervenſyſtems,
welches durch Blutarmut oder Reichtum
erregt wird ꝛe.
Maudsley hat ſich im Allgemeinen
mit den Zuſtänden des Schlafes und
Traumes nur beiläufig und von dem Ge—
ſichtspunkte der Analogie beſchäftigt, die
ſie mit dem Irrſinn darbieten. Er hat
gleichwohl mit einer großen Klarheit
mehrere Fragen in Angriff genommen,
welche ſich daran knüpfen und die Un—
zulänglichkeit unſerer Kentniſſe über die—
ſen Gegenſtand empfinden laſſen.
Spitta hat ſich die Aufgabe geſetzt,
zu zeigen, daß die Erſcheinungen der Ver—
nunft, des Traumes, der Hallueination
ſich untereinander durch zahlreiche und
feine Abſtufungen verknüpfen, daß ſie
zum Teil zuſammenfallen und denſelben
phyſiologiſchen Geſetzen unterworfen ſind.
Sein Werk iſt mit jugendlichem und poe—
tiſchem Schwunge geſchrieben, was einiger—
maßen der Schärfe des Ausdrucks ſchadet,
die man in einer wiſſenſchaftlichen Ab—
handlung zu finden wünſcht. Im Augen—
blicke, wo man eine Beweisführung er—
48 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
wartet, trifft man auf eine farbige und
reiche Beſchreibung, welche angenehm ein—
nimmt, aber nicht viel lehrt, und dieſe
Arten von Überraſchungen wiederholen
ſich nur zu oft. Aus bloßem Unwillen über
dieſen liebenswürdigen Fehler möchte ich
nicht ein ſo ſtrenges Urteil, wie Böhm
in der oben eitirten Zeitſchrift, über dieſes
Buch fällen. Man findet darin Gelehr—
ſamkeit, feine Analyſen, geiſtreiche Be—
merkungen.
Das, was nach Spitta den tiefen
Schlaf charakteriſirt, iſt das völlige Ver—
ſchwinden des Bewußtſeins. Wenn man
träumt oder ſich im ſomnambulen Zu-
ſtande befindet, hat man Bewußtſein, aber
nicht das feiner Perſon, welches das Vor:
recht des wachen Zuſtandes iſt. Es iſt
dieſes unglücklicher Weiſe allzu elaſtiſche
Kriterium, welches ihm zur Erklärung
dient, warum die Träume gewöhnlich
bizarr und unzuſammenhängend ſind,
weshalb ſie bei dem Träumer kein Er⸗
ſtaunen hervorrufen, weshalb, wenn ſie
verbrecheriſch ſind, keine Scham noch Ge—
wiſſensbiſſe ſie begleiten. Durch den
Mangel an Selbſtbewußtſein erklärt man
die Sicherheit und Geſchicklichkeit des
Nachtwandlers, auf den Dächern zu
ſpazieren, die Phänomene der Ekſtaſe und
die Verdopplung der Perſönlichkeit, welche
uns z. B. in unſern Träumen andern
Perſonen unſere eigenen Gedanken bei—
legen läßt.
Es iſt ein fernerer Deus ex machina,
welcher in dem Buche Spittas eine
ganz ebenſo wichtige Rolle ſpielt. Es iſt
das Gemüt.
Das „Gemüt“ ſchläft niemals. Das
Gemüt iſt der größte Feind des Schlum—
mers, und wenn es die Seele in Be—
ſchlag nimmt, giebt es keine Ruhe mehr.
Lärm, Liſt, Geſchäftigkeit, Projekte, nichts
ſetzt von dem Augenblicke an, wo das
Gemüt nicht mehr beteiligt iſt, dem
Schlafe ein Hindernis entgegen. Aber
wenn es erregt iſt, z. B. wenn man von
der Idee eingenommen iſt, daß man zu
einer beſtimmten Stunde aufſtehen muß,
iſt der Schlaf leicht und ein Nichts ge—
nügt, ihn zu unterbrechen. Die für alle
andern Geräuſche taube Mutter erwacht
bei der geringſten Bewegung ihres Kin—
des. Die Träume, welche ſich der Er—
innerung bieten, ſind diejenigen, welche
lebhaft unſer Gemüt erregt haben. Die
Sorge oder ein ſchlechtes Gewiſſen halten
uns wach; ſo groß iſt das Übergewicht
des Gemüts auf den Verſtand, welcher
vergeblich den Schlaf zurückrufen möchte.
Der Traum iſt „die unfreiwillige
und bewußte Nachaußen-Projektion einer
Reihe von Vorſtellungen der Seele wäh—
rend des Schlummers, eine Projektion,
welche verurſacht, daß letztere für den
Schläfer den Anſchein der objektiven
Wirklichkeit annehmen“. Die Aufeinander⸗
folge und Verkettung der Bilder unter
einander gehorchen den Geſetzen der Aſſo—
ciation und der Reproduktion der Ideen,
aber nicht dem Kauſalitätsgeſetze“): Der
Traum iſt unlogiſch. Was die von Des—
cartes aufgeworfene Frage: „An wel—
chen Zeichen kann man den wachen Zu—
ſtand von dem des Träumens unterſchei—
den?“ anbetrifft, ſo erklärt Spitta ſie
für imaginär und hypothetiſch““); ſicher
keine Antwort auf dieſe Frage.
Im Wachen iſt unſere Welt zugleich
die der andern Menſchen, im Schlafe iſt ſie
unſere eigene; die zentripetale Stetigkeit
) S. 111 ff. — 5) S. 112.
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J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
erfährt ein Hemmnis; die Ideenbildung
wird häufig unterbrochen, und da das
Selbſtbewußtſein nicht da iſt, um ſie zu
leiten und die Deutung der äußern Ein—
drücke durch die Intelligenz naturgemäß
unvollkommen, wenn nicht gleich Null iſt,
ſo ſieht man ohne Mühe, warum die
Träume dunkel, ordnungs- und zuſammen—
hangslos ſind. Es iſt vielmehr erſtaun—
lich, daß wir manchmal logiſche Träume
haben. Dieſe müſſen ſolchen Geiſtern
eigentümlich ſein, bei denen es eine feſte
Gewohnheit iſt, ihre Ideeen immer lo—
giſch zu verketten.“)
Das Buch von Radeſtock, welches
kurz nach dem von Spitta erſchien, iſt
in demſelben Geiſte abgefaßt; aber der
Verfaſſer beſteht mehr auf die phyſio—
logiſche Seite der Frage und verwendet
eine große Seitenzahl, um die Wichtig—
keit der Träume für die Phyſiologie der
verſchiedenen Völker darzuthun.
Dieſes dem Prof. Wundt gewidmete
Buch iſt intereſſant, thatſachenreich, mit
Methode und Klarheit geſchrieben, leicht
lesbar, aber es iſt nicht frei von Neben—
werk.
Es umfaßt zehn Kapitel. Das erſte
beſchäftigt ſich mit dem Einfluß des Schla—
fes und der Träume ſowohl auf die In—
dividuen, als auf die Nationen. Man
findet darin die verſchiedenen Meinungen
geſammelt, welche die Alten und die
Neueren über die Träume ausgeſprochen
haben. „Sie bilden einen Hauptfaktor
in dem Glauben an die Unſterblichkeit
der Seele,“ und ihre Rolle in der poli—
tiſchen Geſchichte iſt fern davon, gering
geachtet zu werden: es reicht hin, die
delphiſchen Orakel, die Viſionen Moha—
) S. 116 ff.
49
mets und die Hallueinationen der Jeanne
d' Are zu erwähnen.
Im folgenden Kapitel berichtet Rade—
ſtock die zahlreichen Erklärungen, welche
die Poeten und Philoſophen aller Zeiten
von den Träumen gegeben haben; dann
ſeine Anſichten über die Natur der Ver—
bindung von Seele und Körper, „welche
nur zwei verſchiedene Seiten eines und
deſſelben Weſens ſind“ auseinanderſetzend,
ſchließt er daraus auf die Notwendigkeit,
ſich beim Studium des Schlafes und der
Träume nicht ausſchließlich an die phy—
ſiſchen Erſcheinungen zu halten, indem
man die körperlichen vernachläſſigt.
Das dritte Kapitel iſt der „normalen
und anormalen“ reproduzirenden Thä—
tigkeit gewidmet. Alles wechſelt in der
Natur, die Seele ebenſowohl wie der
Körper. Aber das Vergangene findet ſich
dem Gegenwärtigen durch das Gedächt—
nis verbunden. Die Reproduktion kann
zweierlei Formen annehmen; je nach—
dem das erneuerte Bild weniger oder
ebenſo lebhaft iſt als das Original-
gemälde, unterſcheidet man Erinnerung
und Hallueination (Illuſion). Die
Reproduktion hat ihre Wurzel in der Ideen—
aſſociation, deren Geſetze wohlbekannt
ſind, im Geſetz der Ahnlichkeit, des Kon—
traſtes, der Gleichzeitigkeit und Aufein—
anderfolge. Radeſtock beſchäftigt ſich,
nach dem Beiſpiele der meiſten Pſycho—
logen, nicht mit dem letzten dieſer Prin—
zipien. Die Ideen folgen nicht nur
einander, ſondern ſie verbinden und ver—
ſchmelzen ſich manchmal, ebenſo wie die
Empfindungen ſich untereinander ver—
ſchlingen. So z. B. liefert das Vor—
ſtellungsbild der Axt, an diejenigen der
Gehölze und des Zimmermanns erinnernd
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1.
—
22
und ſich mit ihnen vereinigend, das zu
ſammengeſetzte Bild eines mit Holzſpalten
beſchäftigten Mannes. Die Verſchieden—
heit zwiſchen der Erinnerung und der
Hallueination hängt von der Stärke der
Erregung ab, zwiſchen beiden giebt es
alle nur denkbaren Übergänge. Die Hallu—
eination iſt eine Reproduktion, welche
einen der Wirklichkeit vergleichbaren Glanz
beſitzt. Der Hauptfaktor der Illuſion
iſt alſo notwendig die Erhöhung der Reiz—
barkeit des Centralnervenſyſtems.
Ich bemerke im Vorbeigehen, daß
dies keine Erklärung, ſondern eine bloße
Hypotheſe iſt. Das Unbekannte kann nicht
dazu dienen, das Dunkle aufzuhellen.
Ich muß hinzuſetzen, daß der Schluß nicht
ſtreng aus den Vorderſätzen folgt: die
Illuſion könnte auch aus der Schwächung
des peripheriſchen Nervenſyſtems ent—
ſtehen. Was die Definition der Hallu—
eination betrifft, ſo hat ſie eine wahre
Seite, aber ſie iſt ſicher unvollſtändig.
Das von dem Autor zur Stütze ſeiner
Theſe eitirte Beiſpiel iſt geeignet, dieſe
Unzulänglichkeit zu zeigen. Brierre de
Boismont erzählt von einem Maler,
welcher im Stande war, das ähnliche
Portrait einer Perſon zu malen, welche
er nur einziges Mal geſehen hatte. Die
Zahl der Male thut überhaupt nichts
zur Sache. Ich frage, ob der Künſtler,
welcher in der Erinnerung eine abweſende
Perſon mit ſolcher Lebhaftigkeit ſieht,
daß er genau ihre Züge wiedergeben
kann, unter der Herrſchaft einer Hallu—
eination iſt? Entſchieden nein. Es bedarf
noch eines andern Umſtandes, es it
nötig, daß die Perſon der Spielball einer
Illuſion ſei, und dem Gegenſtande, der
ganz in ihm ſteckt, eine äußere und gegen—
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
wärtige Exiſtenz zuerteilt, ſelbſt wenn
ſein Verſtand ihm ſagt, daß er im Irr—
tum ſei.
Radeſtock wird auf dieſe Weiſe da—
zu veranlaßt, einen flüchtigen Blick auf die
Erregungsmittel des Nervenſyſtems, Stech—
apfel, Belladonna, Haſchiſch u. ſ. w., dann
auch auf das Faſten und die Sinnes—
erregungen zu werfen. Unvermeidlich
treten bei dieſer ſchwierigen Materie oft
genug an die Stelle der Ideen Worte:
Nerven, Zellen, Gehirn und Mark, ſo—
weit man etwas darüber weiß, kommen
mehr als nötig dabei in Rede. Trotz
dieſer Kritik freue ich mich, erklären zu
können, daß dieſe geſammte Abteilung
nüchterne und inhaltsreiche Überſichten
enthält.
Endlich ſind wir zur Definition des
Traumes vorgedrungen: er iſt die
Fortſetzung der Geiſtesthätigkeit
während des Schlafes.
Ariſtoteles hat geſagt: der Traum
iſt weſentlich das durch die Sinnesein—
drücke hervorgebrachte Bild, wenn man
im Schlafe iſt, und ſo weit, als man
ſchläft.“) Dieſe Erklärung iſt unendlich
vorzuziehen, ja ich muß ſagen, ſie iſt
nicht übertroffen worden. Schwach den
Hahnenſchrei hören, wenn man ſchläft,
iſt kein Träumen, ſagt der Stagirite,
denn dieſes Hören iſt die Thätigkeit der
wachen Seele und nicht der ſchlafenden.
Nichts kann richtiger ſein. Alſo iſt nicht
jede Seelenthätigkeit während des Schla—
fes notwendig ein Traum; ich träume
nicht, wenn ich gegen Morgen noch
ſchlummernd dunkel die Geräuſche des
Hauſes oder der Straße vernehme; aber
ich träume, wenn ich einer Unterhaltung
*) Von den Träumen, Kap. III.
—
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
beizuwohnen glaube, welche gar nicht
ſtattfindet. Daraus folgt, daß die De—
finition des Traumes von derjenigen des
Schlafes abhängig iſt. Ich werde auf
dieſen wichtigen Punkt ſpäter zurückzu—
kommen haben.
Das folgende Kapitel handelt ein—
gehend vom Schlafe, ſeinen Urſachen
und feinen Eigentümlichkeiten. Von den
Urſachen ſprechend, welche den Schlaf
begünſtigen oder hervorrufen, wie die
Ruhe, Körperlage u. ſ. w., eitirt Rade—
ſtock die Erfahrungen, welche der
Preyer'ſchen Theorie widerſprechen.
Man weiß, daß dieſer Naturforſcher auf—
geſtellt hat, der Schlaf wäre von der
Gegenwart eines Ermüdungsſtoffes ab—
hängig, der analog der Milchſäure ſei
und von der Ermüdung erzeugt würde.
Er hat dementſprechend die Wirkungen
der Einführung genannter Subſtanz unter
die Haut und in den Magen ſtudirt,
und glaubte feſtſtellen zu können, daß
ſie Schlafſucht herbeiführe. Nach Lothar
Meyer ſcheinen dieſe Wirkungen aber
nicht entfernt beſtändig zu ſein.
Die phyſiologiſche Erklärung des
Schlafes betreffend, verſichert der Ver—
faſſer, daß keine vorhanden iſt, und daß
er nicht verſuchen würde, eine zu geben.
Er begnügt ſich damit, ſeine phyſiologi—
ſchen Wirkungen auseinanderzuſetzen,
welche bekannt genug ſind, um hier mit
Stillſchweigen übergangen zu werden.
Streitiger ſind ſeine pſychologiſchen Wir—
kungen. Gewiſſe Autoren behaupten, daß
während des Schlafes das Bewußtſein
unterdrückt ſei, andere halten es aufrecht.
Der berühmte Fechner hat über dieſen
Punkt eine ganz originelle Meinung. Nach
ihm erreicht das Bewußtſein im Moment
51
des Einſchlafens ſeinen Nullpunkt, und
nimmt, wenn man eingeſchlafen iſt, einen
negativen Wert an. Ich habe in früheren
Artikeln“) hinreichend die „negativen Em—
pfindungen“, wie fie der Vater der Pſy—
chophyſik definirt hat, kritiſirt, und nicht
nötig auf den noch ſeltſameren Begriff
des negativen Bewußtſeins einzugehen.
Radeſtock macht, in der Abſicht den
Knoten zu löſen, wie Spitta, die Unter—
ſcheidung zwiſchen Selbſtbewußtſein und
einfachem Bewußtſein. Das erſtere iſt
unterdrückt, aber das zweite beſteht fort;
denn jede Vorſtellung iſt notwendiger—
weiſe bewußt, ſonſt iſt ſie nur eine ein—
fache Dispoſition (Wundt).
Ich meinesteils bin niemals dahin
gelangt, mir eine klare Idee von dem
zu machen, was man unter Selbſtbewußt—
ſein verſteht, ſofern man es dem ein—
fachen Bewußtſein gegenüberſtellt. Ich
würde viel beſſer den Ausdruck des
Nichtſelbſtbewußtſeins verſtehen. Ich
würde ſo die von jedem empfindenden
Weſen untrennbare Fähigkeit bezeichnen,
kraft welcher es einem Außendinge die
Urſache ſeiner Empfindungsarten zu—
ſchreibt. Auf dieſe Weiſe würde man
in den Erſcheinungen, welche in uns vor—
gehen, die unbewußten, die bewußten
und diejenigen unterſcheiden, welche von
dem Bewußtſein des äußeren Urſprungs
begleitet ſind. Aber der Augenblick iſt
noch nicht da, mich bei dieſer Unter—
ſcheidung aufzuhalten.
Es giebt keinen völligen Gegenſatz
zwiſchen Wachen und Schlafen. Im
Schlafe find die pſychiſchen Thätigkeiten
vermindert, aber nicht aufgehoben. In
0 Ribots Revue philosophique, März
1877 und Januar bis Februar 1878.
N
52
der That, wie lebhaft auch die Bilder
unfrer Träume fein mögen, fie jind
ſchwächer und dunkler als die des Wa—
chens. Man kann ſomit dieſen Schluß
aufſtellen: Im tiefen Schlafe iſt, ebenſo
wie die organiſchen und vegetativen Funk—
tionen herabgedrückt ſind, die pſpychiſche
Thätigkeit auf ein Minimum reduzirt,
ohne deshalb gänzlich aufgehoben zu ſein.
Das fünfte Kapitel hat die Elemente
des Traumes zu ſeinem Gegenſtande. Es
iſt eines der beſten und vollſtändigſten
des ganzen Buches. Es werden darin
die Wirkungen der ſinnlichen und orga—
niſchen Eindrücke und ihre Verwandlun—
gen in den Träumen geſchildert, ebenſo
die Rolle, welche das Gedächtnis darin
ſpielt. Da ich indeſſen keine wirklich
neue Idee darin entdecke, überhebt mich
die Analyſe, welche ich weiter oben
von der denſelben Gegenſtand behan—
delnden Abteilung des Maudsleyſchen
Werkes gegeben habe, länger dabei zu
verweilen. Es würden jedoch ſehr inter—
eſſante Studien in dieſer Richtung an—
geſtellt werden können. Kein Zweifel,
daß viele unſrer Träume nur die Dra—
matiſirung unſerer während des Schlum—
mers empfangenen Eindrücke ſind. So
träumen die Perſonen, welche gelegent—
lich oder gewöhnlich Atmungsbeſchwer—
den haben, von engen Gängen, oder ein—
ſtürzenden Plafonds, von Höhlen und
Katakomben, von Menſchengedränge oder
in die Bruſt ſtoßenden Wagendeichſeln,
mit einem Worte, von lauter Scenen,
bei denen man erſtickt oder Luftmangel
erleidet. Die Beziehung iſt klar. Nun
würde man, dieſe Beziehungen verfolgend,
nach aller Wahrſcheinlichkeit zu einer
phyſiologiſchen Klaſſifikation der Träume
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
gelangen, und mit einem Schlage zu
einer Klaſſifikation der wirklichen Vor—
gänge, vom Geſichtspunkte ihrer Wirkung
auf unſere Körper durch die Vermittlung
des Geiſtes.“)
Das folgende Kapitel hat zum Zweck,
die Verſchiedenheit zwiſchen Träumen und
wachem Denken darzulegen. Es iſt dies,
wie ich ſchon erwähnt habe, ein Punkt
von der höchſten Wichtigkeit, und müßte
zu einem der Angelpunkte der gefamm-
ten Schlaf- und Traumtheorie gemacht
werden. Radeſtock behandelt ihn mit
ſeiner ihm eignen Feinheit und Gelehr—
ſamkeit. Obwohl dem Problem an—
ſcheinend noch näher gerückt werden kann,
ſind beinahe alle ihm gewidmeten Seiten
ausgezeichnet, voll von richtigen, oft tiefen
Bemerkungen, und bilden ein ſehr be—
friedigendes und wohlgeordnetes Ganzes.
Ich muß geſtehen, ſelten etwas mit
mehr Vergnügen geleſen zu haben. Setzen
wir hinzu, daß der Gedanke darin im—
mer klar, durchſichtig und in einem ein—
fachen, leichten und natürlichen Stile
ausgedrückt erſcheint.
Der Traum iſt beweglich und wech—
ſelnd. Nichts iſt gewöhnlicher als darin
eine Katze in ein Mädchen, einen Baum
in eine Kirche verwandelt zu ſehen.
Dennoch — ich halte darauf, es ſchon
jetzt auszuſprechen — habe ich hinſicht—
lich dieſer angeblichen Verwandlungen
meine Bedenken. Ich frage mich, ob
das wirkliche Verwandlungen ſind? Wenn
) Nicht als ob es an Verſuchen die Träume
zu klaſſificiren fehlte, aber ſie find eutweder
willkürlich in ihren Details oder ſie fußen auf
bloßen Gefühls- und Sprachunterſcheidungen
(angenehme und unangenehme, hiſtoriſche, pro—
phetiſche Träume u. ſ. w.).
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 53
man derartige Träume erzählt, ſagt man
niemals, daß die Katze ſich in ein jun—
ges Mädchen, oder der Baum in eine
Kirche verwandelt habe, ſondern man
ſagt z. B.: Ich ſpielte mit einer Katze,
aber im Augenblicke darauf war es keine
Katze mehr, ſondern ein junges Mäd—
chen. Oder auch: ich war anfangs unter
einem Baume, aber ohne zu wiſſen wie,
befand ich mich mitten in einer Kirche.
Nun, meiner Meinung nach, hat man
dann anfangs von einer Katze und dann
von einem jungen Mädchen geträumt,
und es iſt unſer Geiſt, der, ſei es im
Schlafe oder häufiger beim Munter—
werden, eine Verwandlung unterſchiebt,
die nicht beſonders im Traum konſtatirt
wurde, nur um ſich ſelbſt die Kontinuität
gewiſſer anderer Teile des Traumes zu
erklären. In Wirklichkeit würde dabei
ein einfacher Erſatz eines Bildes durch
ein anderes, ohne innere und allmähliche
Umwandlung, ſtattfinden. Dieſe wenigen
Worte genügen für den Augenblick und
ich fahre fort.
Der Traum iſt voll Lebhaftigkeit
und Uebertreibung. Woher könnte das
kommen, wenn nicht von einer Anderung
im Blutumlauf, welche die Reizbarkeit
des Centralnervenſyſtems erhöht? Wie—
der eine Hypotheſe an Stelle einer Er—
klärung. Der Verfaſſer fügt indeſſen
hinzu, daß die im Schlafe empfundenen
Gefühle niemals die Intenſität derjeni—
gen beſitzen, welche uns während des
Wachens bewegen. Man kann vor Freude
oder Furcht ſterben, aber es giebt kein
Beiſpiel von tötlichen Träumen.“) Ich
*) Anmerk. d. Red. Wer kann das
behaupten, da doch niemand tötliche Träume er—
zählen kann? Der Verfaſſer erwähnt in einer
glaube, daß dieſe Einſchränkung ſich
ebenſo genau auf die Traumbilder ſelbſt
erſtrecken dürfte, deren Lebhaftigkeit nach
meiner Anſicht ganz relativ iſt.
Der Traum ſpielt ſich unabhängig
von jeder Intervention des Willens ab.
Dieſe wahre Behauptung iſt als all—
gemeine Aufſtellung vielleicht zu abſolut.
Ich träumte eines Tages von einem
meiner Freunde, der ſeit lange, aber
nur vor dem Civilamt getraut iſt. Er
glaubte endlich, ich weiß nicht aus wel—
chen, von ſeinen Prinzipien abgeleiteten
Urſachen — ſo träumte ich — ſeinen
Bund durch den Prieſter einſegnen laſſen
zu müſſen. Bei dieſer Gelegenheit mußte
es einen Aufzug geben. Dieſe Neuigkeit
hatte die ganze Gemeinde auf die Beine
gebracht. Neugierig wie die andern,
begab ich mich zur Kirche; ich hielt vor
allem darauf, das Geſicht des Gatten
zu ſehen. Ich durchbreche den Haufen
und es gelingt mir, bis zur erſten Reihe
vorzudringen. Indeſſen — der Zug
kam nicht. Um die Zeit zu töten, dachte
ich beim Warten an Dinge aller Art.
Die Ungeduld packte mich; ich hatte das
beſtimmte Gefühl, daß ich aufwachen
würde, ich hörte den Morgenlärm im
Hauſe, aber mit aller Kraft willens,
dem Vorüberziehen dieſes originellen
Zuges beizuwohnen, machte ich An—
ſtrengungen, um mich wieder einzu—
ſchläfern und meinen Traum als Traum
zu beenden. Sie waren erfolglos. Ich
erwachte ſehr wider Willen, ohne meine
Neugierde befriedigt zu haben.
Anmerkung einer ſeiner Familie bekannten jun⸗
gen Perſon, von der man erzählt habe, daß ihr
Haar, infolge eines ſchrecklichen Traumes, plötz—
lich weiß geworden ſei.
54 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
Dieſer Traum ſcheint mir geeignet
zu beſtätigen, was ich oben geſagt habe.
Das Selbſtbewußtſein iſt die ausgeſpro—
chene Empfindung der Wirklichkeit als
ſolche, ſo daß im Traume immer Bewußt—
ſein, möge es noch ſo gering ſein,
vorhanden ſein müßte, denn es iſt nicht
glaublich, daß man jemals von der Wirk—
lichkeit gänzlich abgetrennt wäre.
Der Traum iſt der Schöpfer neuer
Kombinationen, aber ſeine Erzeugniſſe
haben ſelten einigen Werth. Beinahe
ſtets ſind ſeine Erfindungen reine
Dummheiten, wie die der Verrückten.
Es tritt alſo im Traume Schwächung
der Urteils- und Denkfähigkeit ein. Man
findet ganz natürlich, daß die Huſaren
auf der Firſte eines Daches exerziren,
oder daß man die Alpen im Gefolge
Hannibals überſchreitet. Dieſe Sonder—
barkeiten beruhen nach dem Verfaſſer
auf freiwilligen Aſſociationen und As—
ſimilationen, wobei das Geſetz der Ahn—
lichkeit den größten Anteil hat, ebenſo
wie das Band, welches gewiſſe körper—
liche Eindrücke mit den Ideen vereint,
welche ſie gewöhnlich hervorrufen.
Oft zeigt ſich auch in den Träumen
die unter dem Namen der Teilung
oder Verdopplung der Perſön—
lichke it bekannte Erſcheinung: man legt
ſeine eigenen Gedanken und Empfindun—
gen einer andern Perſon bei. Zu den
ſchon bekannten Beiſpielen möchte ich ein
anderes, nach allen Beziehungen äußerſt
vollſtändiges, hinzufügen.
In einer Geſellſchaft von Freunden
brachte ich eines Abends unter andern
Geſprächsgegenſtänden dieſe Frage von
der Verdopplung der Perſönlichkeit aufs
Tapet. Ich erzählte den ſeltſamen Fall von
|
van Göns, welcher, als er noch Schüler
war und den Ehrgeiz empfand, immer
der Erſte in der Klaſſe zu ſein, eines
Tages träumte, daß der Lehrer ihm
einen lateiniſchen Satz zu überſetzen gäbe.
Van Göns konnte nicht damit fertig
werden, aber dieſer Umſtand quälte ihn
noch nicht ſo ſehr als der, einen ſeiner
Mitſchüler Zeichen machen zu ſehen, die
anzeigen ſollten, daß er den Sinn er—
faßt habe. Der Lehrer mußte endlich
dieſen Schüler fragen, welcher die Stelle,
ohne den geringſten Fehler zu machen,
überſetzte und damit den erſten Platz er—
oberte. Dieſer Traum war der Gegen—
ſtand einiger Erörterungen; dann wurde
von andern Dingen geſprochen. Unſere
Unterhaltung fand zu einer Zeit ſtatt,
wo man ſich ſtark für die ſpäter ver—
wirklichten Drohungen intereſſirte, welche
der Atna ſeit einiger Zeit vernehmen
ließ. In derſelben Nacht nun legte
ſich mein Freund, der Profeſſor Spring
— welcher die Specialität erfinderiſcher
Träume kultivirt — im Traume darauf,
ein Mittel zu erfinden, welches geſtattet,
die Eruptionen mehrere Tage im voraus
anzukündigen. Man kann heute ſchon in
einem gewiſſen Maßſtabe die Stürme
vorausſagen und ihren wahrſcheinlichen
Gang beſchreiben, warum ſollte man nicht
daſſelbe für die vulkaniſchen Phänomene
verſuchen? Aber Spring mochte noch
ſo viel in ſeinem Hirne wühlen, er
brachte nichts heraus. Da fällt ihm
ein, über dieſen Punkt einen Gelehrten
ſeiner Bekanntſchaft, er weiß nicht mehr
welchen, zu konſultiren. Er begiebt ſich
zu ihm, findet ihn glücklicherweiſe zu
Haus und legt ihm ſeine Verlegenheit
dar. Der Freund ergreift ſofort die
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 55
Idee und liefert ihm im Augenblick die
geſuchte Löſung. Es würde ſich nur
darum handeln, in den Boden an Punk—
ten in gewiſſer Entfernung von einander
thermoelektriſche Säulen einzuſenken, die
unter ſich und mit einer Centralſtation
verbunden wären, um von dem unter—
irdiſchen Steigen der Lavamaſſen benach—
richtigt zu werden. Spring bewun—
derte die Erfindung ſehr und kehrte von
der Leichtigkeit der Auffaſſung ſeines
Freundes, des Naturforſchers, entzückt
nach Hauſe zurück.
Radeſtock erklärt dieſe Seltſamkeit
wie folgt:
Sie verdankt nach ſeiner Meinung
ihren Urſprung der Schwächung eines
der Elemente des Selbſtbewußtſeins. Das
Selbſtbewußtſein ſchließt die Vereinigung
und Verbindung einer gewiſſen Anzahl
von Ideen, Gefühlen, Willensäußerun—
gen und Erinnerungen mit einer und
derſelben Perſon und außerdem die Auf—
merkſamkeit und thätige Beobachtung in
ſich. Nun iſt im Schlafe dieſer letzte
Faktor beſeitigt und der erſte bleibt
allein. Der Menſch empfindet dann ſein
Ich nur noch in beſchränkter Weiſe; er
betrachtet ſich nicht mehr als den ein—
zigen Träger ſeiner Ideen, und er be—
zieht einen Teil davon auf fremde We—
ſen. Das iſt, ſcheint mir, mehr eine
Beſchreibung, als eine Erklärung der
Thatſache. Was mich betrifft, ſo bin
ich ſtark in Verſuchung, darin ganz ein—
fach die Dramatiſirung jener Gewohn—
heit der Gedanken zu erkennen, ſich in
Dialogform zu offenbaren. Im Augen—
blick, wo ich ſchreibe, plaudere ich mit
einem Leſer, den ich mir einbilde und
dem ich die Einwürfe und Zweifel bei—
lege, wenn ich mich nicht klar glaube
oder mir ſelbſt nicht traue. Nun könnte
ich auch ebenſogut ſeine Rolle nehmen
und in ſeinen Mund die Antworten und
Löſungen legen. Ich beſchränke mich
darauf, dieſe Idee anzudeuten, da es
meine Abſicht nicht iſt, eine vollſtändige
Abhandlung über die Träume zu liefern.“)
) Nachträglicher Zuſatz des Ver—
faſſers.
Ich bin im Beſitz einer neuen Thatſache,
die dieſer Anſicht eine Stütze, ja ſogar einen
hohen Grad von Wahrſcheinlichkeit giebt.
Einer meiner Freunde, ein trefflicher Bür—
ger, welcher, da er ſich für pſychologiſche Fragen
intereſſirt, mir mitunter von ſeinen Träumen
Rechenſchaft giebt, ſteht im Begriff, ſich ein Haus
bauen zu laſſen. In der Baukunſt ſo unwiſſend
wie ein Karpfen, hat er nichtsdeſtoweniger jei-
nen Einteilungsplan, und wie Herr Pencil,
einer der Töpffer ſchen Helden, bemerkt er alle
Tage mit mehr Vergnügen, daß er damit zu—
frieden iſt. Dieſer Plan vereinigt, wie es ſcheint,
alle Arten ſchwer vereinbarer Eigenſchaften, er
iſt originell und rationell, praktiſch und künſt⸗
leriſch, kurz ein Meiſterwerk. Der Urheber die—
ſes achten Weltwunders ſpaziert zu jeder Tages-
ſtunde in ſeinen Zimmerprojekten umher, wo—
bei er ihre Verbindung lobt, ihre Dispoſition
preiſt und ihre Anordnung bewundert. Eine
ſeiner Lieblingserholungen beſteht darin, ſich
einzubilden, daß er dieſe Wohnung Beſuchern
zeige, die ſich auf etwas wahrhaft Schönes ver—
ſtehen, und er wirft ſich in die Bruſt, wenn er
die Lobeserhebungen entgegennimmt, welche die
ſo tief erwogenen Einrichtungen dieſes unver—
gleichlichen Gebäudes ihnen auf Schritt und
Tritt entlocken. Seine naive Eitelkeit malt un⸗
endliche Variationen dieſes Themas aus. Kürz—
lich, weich in ſeinem Lehnſtuhl ausgeſtreckt, fängt
er in feinem Kopfe ein kleines Drama an. Ber-
mögensverluſte zwangen ihn, dieſes Haus zu
verkaufen, welches, man merke wohl, noch nicht
aus der Erde emporgewachſen iſt. Ein Lieb—
haber findet ſich ein, und er läßt ihn von Etage
zu Etage bis zum Boden reiſen, dann bis zum
56 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
In dem geſammten Verlauf des Ka—
pitels giebt uns alſo Radeſtock, einen
nach dem andern, die beſondern Charak—
tere, welche die Träume von den gegen—
Keller hinabſteigen, wobei er ihm den Beſuch
keines Winkels ſeines Eigentums erläßt. Wie
alle diejenigen, welche vor ihm die Gunſt ge—
noſſen hatten, in das Heiligtum eingelaſſen zu
werden, war der Liebhaber entzückt und ließ
ſich bei jeder Wendung Zeichen einer unbe—
ſchränkten Anerkennung entſchlüpfen. Auf dieſen
angenehmen Gedankenpfaden läßt ſich mein
Freund im Schlummer gehen und plötzlich ſind
die Rollen vertauſcht. Nunmehr iſt er derjenige,
welcher ſich einem Eigentümer gegenüber befin—
det, der gezwungen iſt, zu vermieten oder zu
verkaufen, er iſt es, welcher von den zahlloſen
Annehmlichkeiten dieſer wohldurchdachten Woh—
nung entzückt iſt, und von Überraſchung zu
Überraſchung wandert, von dem Erſtaunen zur
Bewunderung und von der Bewunderung zur
Ekſtaſe übergeht. Dabei muß man ein letztes
Detail nicht vergeſſen. Unſer in einen Beſucher
umgewandelte Bürger kannte keineswegs die
Wohnung, welche man ihm zeigte, und nichts—
deſtoweniger war es diejenige, deren Plan er
entworfen und deren Vorteile ihm ein anderer
auseinanderſetzte.
Dieſe Beobachtung iſt charakteriſtiſch und
wirft die lebhafteſten Lichter auf das „Verdopp⸗
lung des Ichs“ genannte Phänomen. Verſuchen
wir denn bis zur Wurzel dieſer Art von Offen
barung vorzudringen. Ich ſetze mich für einen
Augenblick an die Stelle meines Freundes und
will zu analyſiren ſuchen, was in mir im
Augenblicke des Wachens vor ſich gehen wird.
Ich gehe und komme in mein projektirtes
Haus, aber dieſes bewundernde Ich iſt offenbar
nicht das wirkliche Ich, welches ein Haus in
Steinen und Ziegeln bewohnt und auf einem
Stuhl neben ſeinem Feuer ſitzt. Dieſes vaga—
bondirende Ich iſt ein Doppelgänger meines
ſitzenden Ichs, das ihm auf ſeiner Promenade
überall mit den Augen folgt und Zeuge ſeiner
Verzückungen iſt. Ich ſehe mich, die Zimmer
durchſchreiten, die Treppen auf- und abſteigen,
die Thüren und die Schränke öffnen. In Summa,
ſtändlichen Ideen unterſcheiden. Er ſpricht
z. B. noch von dem Kauſalitätsbegriff
im Traume, von der Unmoralität des
Traumes, und bei dieſer Gelegenheit hat
ich führe ein Alter Ego, ein anderes Ich, durch
das zukünftige Bauwerk, als ob ich einen
Fremden darin umherführte.
Und die Sache noch näher betrachtend,
kann ich dieſes eingebildete, verſchwommene und
unbeſtimmte Weſen, welches meine Phantaſie
ein ideales Haus durchlaufen läßt, ebenſo gut
zu einem Fremden machen. Aber welches auch
der Charakter ſei, mit welchem es mir gefällt,
ihn zu bekleiden, es bleibt im Grunde eine
Emanation von mir, in Wirklichkeit bin
ich es ſelbſt.
Das geht noch weiter: es kann dabei eine
Verdreifachung des Ichs geben. Eine zweite
Emanation von mir kann dem Fremden bei
ſeinem Beſuche folgen, und nun iſt das Haus
von zwei Weſen bevölkert. Ich könnte, der—
geſtalt fortfahrend, darin eine unendliche Per—
ſonenzahl einführen. Der Fremde könnte z. B.
von einem Freunde begleitet ſein, dem er ſeine
Eindrücke mitteilen würde; ich würde ihrer
Unterhaltung beiwohnen und könnte noch ohne
Mühe Kombinationen wie die erſinnen: z. B.
daß ſie eine fremde Sprache ſprechen, deren
Kenntnis ſie bei mir nicht vermuten, die mir
aber ebenſo vertraut wie ihnen ſelbſt iſt. Der
Einfachheit wegen halten wir uns an die Ver—
dreifachung. Von zwei Perſonen, die ich in
das Haus geſetzt habe, trägt die eine den Namen
des Ichs, die andere den eines Nicht-Ichs. Die
letztere, wird angenommen, habe noch nichts ge—
ſehen, die erſtere zeigt ihr alles. Iſt nun von
dieſen beiden Individuen eines im Vorzuge,
das wahre Ich? Offenbar ſind ſie beide von
gleichem Range. Von zweien meiner Emana—
tionen kann alſo der eine dieſelbe Sache wiſſen
und die andere ſie nicht wiſſen. Es giebt dabei
kein anderes Geheimnis, als jenes ewige Ge—
heimnis, welches alle Phänomene der Seele
umgiebt.
Habe ich jetzt nötig, auf den Schlaf zu—
rückzukommen? Wer ſieht nicht, daß, was im
Schlafe geſchieht, immer eine Verdopplung des
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 57
er zu unterſuchen, bis zu welchem Punkte
man für das, was man im Schlafe thut,
verantwortlich gemacht werden kann. Er
beſpricht, wie ſehr die Träume gewöhn—
lich, außer bei Kindern, flüchtig ſind und
wenig in der Erinnerung zurücklaſſen.
Er handelt dann auf zwei Seiten von
der Illuſion, zu deren Spielball uns
die Träume machen. In dieſer Hinſicht
unterſcheiden ſich die Träume in der That
von andern Produktionen der Einbildungs—
kraft, deren illuſoriſchen Charakter wir
ohne Mühe erkennen. Das iſt meiner
Anſicht nach ein anderer weſentlicher,
fundamentaler und Hauptpunkt jeder
Traumtheorie, und der Verfaſſer geht
mit zu vieler Leichtigkeit darüber hin.
Er ſagt, wie immer, treffliche Sachen,
aber er beruhigt nicht alle Zweifel.
Laſſen wir ihm das Wort.
Neben der Auffaſſungskraft be—
ſitzt das Bewußtſein die nicht weniger
wichtige Fähigkeit der Unterſcheidung.
Der Menſch trennt ſeine Vorſtellungen
von einander; in dem Verein ſeiner gei—
ſtigen Thätigkeiten unterſcheidet er die
dauernden Gruppen und die beſondern
und veränderlichen Eindrücke; er klaſſi—
fizirt und ordnet ſeine Ideen nach ge—
Ichs iſt, weil das wirkliche Ich „tout nu dans
son lit“ ſchläft, und daß das Ich des Traumes,
erwacht, angekleidet, ſprechend und geſtikulirend,
ein anderes als dieſes iſt? Und was das Phä—
nomen betrifft, welches man als Verdopplung
des Ichs bezeichnet hat, ſo iſt es in letzter Zer—
gliederung eine Verdreifachung des Ichs. Aber
da es nicht zwei Ichs, eins dem andern gegen—
über, geben kann, ſo wird das eine von beiden
fingirten Ichs notwendig „verandert“ (alternisé),
wenn ich dieſen Ausdruck ſchmieden darf. Der
Liebhaber und der Eigentümer waren wohl das—
ſelbe Ich. Im gewöhnlichen Leben iſt ohne
# das Ich der Eigentümer, aber im
wiſſen Geſichtspunkten in umſchriebenen
Kreiſen, in welche er nur die einander
ähnlichen bringt und die unähnlichen aus—
ſondert. Er weiß ferner zwiſchen den
ſchwächeren Erinnerungsbildern und den
ſtärkeren Eindrücken der Gegenwart zu
unterſcheiden, und unter dieſen letzteren
zwiſchen denen, welche aus ſeinem eignen
Körper und denen, die von außen ſtam—
men. Dadurch lernt er ſeinen eigenen
Körper den äußern Dingen, welche Ein—
drücke auf ihn machen, entgegenſetzen und
ſein eigenes Ich als Summe der körperlichen
Eindrücke und geiſtigen Thätigkeiten ebenſo
andern Weſen gegenüberſtellen, denen er
eine unabhängige Exiſtenz in der Art der
Seinigen zuerkennt. Dies bewirkt, daß er
im Zuſtande des Wachens und der Geſund—
heit weiß, daß eine Erinnerung eine andre
Sache iſt als eine unmittelbare Anſchau—
ung, und daß er in den meiſten Fäl—
len ein Produkt ſeiner Einbildunskraft
von einem vorhandenen Dinge unter—
ſcheiden kann, wenn er auch nicht immer
mit Klarheit über das urteilen mag,
was ſpeziell objektiv und ſubjektiv an der
ganzen Verſtellung iſt. Aber im Traume
oder im Delirium verhält es ſich anders
damit. Hier verleiht die Steigerung der ner—
Leben der Einbildung giebt es nichts ſonder—
bares dabei, daß es der Liebhaber iſt.
Dieſe „Veranderung“ iſt eine der gewöhn—
lichſten Operationen und ſie kann mehr oder
weniger vollſtändig ausfallen. Wenn ich mir
meine Kindheit zurückrufe, „verandere“ ich mich
in ein Kind; wenn ich mir meine ehemalige
Unwiſſenheit zurückrufe, „verandere“ ich mich in
einen Ignoranten. Und, halt, — denn jeder
Pſychologe iſt verpflichtet, ſogar feine Schwächen
einzugeſtehen, wenn er glaubt, dadurch Licht auf
irgend ein dunkles Problem zu werfen — ich
muß mich noch einmal „verandern“: jener gute
Bürgersmann nämlich bin ich ſelbſt.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1.
58 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
vöſen Centralthätigkeit den Produkten der
Phantaſie eine Lebhaftigkeit, welche ge—
wöhnlich nur die Eigentümlichkeit un—
mittelbarer Eindrücke iſt und die Thätig—
keit der Seele lahmlegt. Wir halten alles
für wahr, was unſre Einbildungskraft
uns darbietet, das Vergangene wird ge—
genwärtig, wir nehmen unſre Hoffnungen
und unſre Wünſche für Thatſachen, ab—
ſolut unmögliche Ungeheuerlichkeiten für
Wirklichkeiten. Manchmal geſchieht uns
daſſelbe, wenn wir, ohne zu ſchlafen, uns
gehen laſſen, um die freiwilligen Narren
unſrer Einbildungskraft zu ſein. Aber
dieſe Fälle ſind ſelten, „weil die Rück—
erinnerungen nicht ganz die Kraft un—
mittelbarer Eindrücke haben und wir die
Fähigkeit beſitzen, uns nach der realen
Welt zu orientiren.“ Im Schlafe hin—
gegen empfangen wir von außen nur
geſchwächte Eindrücke, denn wenn ſie ſich
etwas verſtärkten, würden ſie das Er—
wachen herbeiführen; ſie ſind unfähig,
das Bewußtſein zu einer Reaktion anzu—
regen und der Träumer konſtruirt ſich
ohne Nachrichten aus der Welt, die er
bewohnt, eine neue aus ſeinen eigenen
Ideen. Daher das oben erwähnte hera—
klitiſche Wort, daß im Traume jeder
ſeine Welt für ſich habe, während im
Wachen dieſelbe Welt allen gemeinſam
iſt. Erſt gegen Morgen, mit der An—
näherung des Aufwachens, werden wir
wieder für die äußern Dinge empfäng—
lich; die höhern Geiſtesthätigkeiten ſetzen
ſich wieder in Gang und die Illuſion
erbleicht.
Ich habe dieſe Stelle beinahe in
ihrer ganzen Ausdehnung wiedergegeben.
Wie man ſieht, iſt das ſehr gut geſagt,
und manche werden ſogar denken, daß
dem nichts hinzuzufügen ſei; meiner An—
ſicht nach enthält der Satz, den ich zivi-
ſchen Gänſefüße geſetzt habe, das Prin—
zip der Löſung. Und dennoch beharre
ich auf meiner Anſicht. Ich ſitze hier
vor meinen mit Papieren bedeckten Tiſch
und ſchreibe vorliegende Zeilen. Ich
glaube nicht, das Opfer eines Traumes
zu ſein; aber wie es Descartes geſagt
hat, ich habe manchmal Ahnliches ge—
träumt, ſogar, indem ich mir zum Über—
fluſſe in meinem Traume ſagte, daß ich
nicht träume. Ganz neuerdings hatte ich
einen äußerſt komplizirten, wohl geord—
neten und intereſſanten Traum. Plötzlich
ſage ich mir, daß er aufgezeichnet zu
werden verdiene, und immer weiter träu—
mend, bringe ich ihn ſorgſam auf Brouil—
lonpapier. Träume ich nicht noch in
dieſem Augenblick, wo ich ihn ins Reine
ſchreibe? Man wird mir ſagen, daß ich
mich nach der Außenwelt orientiren könne,
ſehr wahr; die Sonne glänzt, eine er—
friſchende Briſe ſpielt im Laubwerk vor
meinem Fenſter, von ferne höre ich das
Rollen der Wagen und eine Kinder—
trompete zerreißt mein Ohr — aber macht
alles das nicht einen Teil meines Trau—
mes aus? Sagt Radeſtock nicht ſelbſt
in den von mir unterſtrichenen Worten,
daß man in der Mehrzahl der Fälle
die Einbildungen von wirklichen Dingen
unterſcheiden könne? Es giebt alſo Fälle,
in denen man es nicht kann. Bin ich
nicht in einem dieſer Fälle, und wenn
ſich das auch nur ein Mal ereignet, wo—
durch kann ich mich vergewiſſern, daß
das nicht immer ſtattfindet? In einer
Note, die in den Text gehört hätte, er—
zählt Radeſtock von einem polniſchen
Studenten, mit welchem er in einer wiſ—
*
5
5
N
10
f
;
f
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 59 9
ſenſchaftlichen Geſellſchaft bekannt gewor—
den. Dieſer Student iſt Nachtwandler
geweſen, und heute paſſirt es ihm oft
im Traume, das Bewußtſein zu haben,
daß alles, was er träumt, nicht wahr
ſei, und dennoch weichen die falſchen
Bilder nicht. Ich habe Verrückte gekannt,
welche in der nämlichen Lage waren.
Wie iſt das möglich? Was heißt Bewußt—
ſein der Wirklichkeit? Ich wiederhole,
man kann in einem gewiſſen Maße den—
ken, daß Radeſtock alles geſagt hat,
was er zu ſagen nötig hatte, aber ich
würde eine detaillirtere, eindringlichere
und tiefere Analyſe dieſes beſondern Punk— |
tes gewünjcht haben.
Dieſen nämlichen Mangel an Tiefe
muß ich noch hinſichtlich des neunten
Kapitels hervorheben. Ich ſage nichts
vom ſiebenten und achten Kapitel, in
denen vom Somnambulismus und der
Verſchiedenheit der Träume die Rede iſt,
weil mich dies zu weit führen würde.
In dieſem Kapitel vergleicht der Verfaſſer
den Wahnſinn mit dem Traume. „Der
Wahnſinn iſt ein wacher Traum,“ hat
Kant geſagt. Der Autor liefert nicht
viel mehr als einen Commentar zu dieſem
Ausſpruch; er giebt ſich ſeiner Vorliebe
für Beſchreibungen hin, in denen er ſtets
glücklich iſt, aber unglücklicherweiſe wendet
er viele Bilder, Metaphern und Vergleiche
an, die ihre Reize haben, aber der So—
lidität ermangeln. Die Vergleichung muß
die Erklärung aufhellen und kräftigen,
aber nicht deren Platz einnehmen. Nun
iſt Radeſtock, von Vergleichungen zu
Beſchreibungen und von Beſchreibungen
zu Vergleichungen übergehend, dahin ge—
langt, mich mit Gewalt Ahnlichkeiten und
Analogieen erblicken zu laſſen und die
Dinge fo wohl zu umnebeln und zu ver- |
mengen, daß ich nicht mehr weiß, wo
der Unterſchied zwiſchen dem ſchlafenden
Menſchen, welcher träumt, und dem Ver—
rückten ſteckt. Und dennoch iſt Niemand
im Zweifel; der Verrückte iſt weder ein
Träumer noch ein Nachtwandler.
Die Schlußfolgerung des Werkes for—
mulirt der Verfaſſer wie folgt: „Durch
zahlreiche, aber allmähliche und unteilbare
Abſtufungen geht das wache Bewußtſein
in das des Schlafes und Traumes über,
und zwiſchen der Geſundheit und Krank—
heit der Seele findet man in keiner
Weiſe eine beſtimmte Grenze, ſondern es
exiſtirt ein großes Zwiſchengebiet der
Wirrſale und Unordnungen. Niemand
würde beſtimmt zu ſagen im Stande ſein,
wo der Verſtand aufhört und der Aber—
witz beginnt.“
Sehr gut; aber mein ganzes Weſen
revoltirt gegen dieſe Folgerung, welche
alle Dinge zuſammenwirft und in letzter
Analyſe die Vernunft unterdrückt und
aus dem Weltall jagt. Daraus, daß es
Zwiſchenglieder zwiſchen den beiden ent—
gegengeſetzten Zuſtänden giebt, folgt noch
nicht, daß das eine das andre ſei. Zwi—
ſchen der krummen und der geraden Li—
nie giebt es alle möglichen Übergänge,
aber es giebt nur eine gerade Linie;
zwiſchen O und 1 giebt es alle denkbaren
Werte, aber keiner von ihnen iſt das
Nichts und keiner die Einheit.
Stricker, deſſen Ideen ich jetzt dar—
legen will, hat bis jetzt, ſoviel mir be—
kannt, kein Werk über Pſychologie heraus—
gegeben, und ſelbſt die Kapitel, welche
den Schluß ſeiner pathologiſchen Bor- |
leſungen ausmachen, werden gewiſſen Leu-
ten vom Fach als reines Nebenwerk er—
60 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
ſcheinen. Aber man kann ſich nur des—
halb beglückwünſchen, daß der gelehrte
Profeſſor in dieſem Falle den Vorwurf
eines Mangels an Einheit auf ſich ge—
laden hat. Es iſt mir ſelten vergönnt
geweſen, lebendigere, klarere und eigen—
artigere Seiten über zum Teil abge—
droſchene Gegenſtände zu leſen. Ich werde
in meinem Bericht der eigenen Anordnung
der Vorleſungen des Meiſters folgen.
Unterſcheiden wir zuerſt zwiſchen dem
potentiellen und aktuellen Wiſſen.
In irgend einem Augenblick meines Da—
ſeins kann ich nur an einen ſehr kleinen
Teil deſſen, was ich weiß, denken. Das,
was ich denke, iſt das lebendige (ak—
tuelle) Wiſſen; der Reſt bildet das
verborgene (potentielle) Wiſſen. Das
lebendige Wiſſen iſt dem Bewußtſein im
engern Sinne gegenwärtig. Wo iſt der
Sitz des Bewußtſeins? das iſt eine un—
lösbare und teilweiſe müßige Frage.
Genug, daß die Abhängigkeit der Seelen—
thätigkeit von der Gehirnthätigkeit eine
ausgemachte Sache iſt. Ob die Zelle
allein pſychiſch thätig iſt, und ob die ver—
bindenden Nerven nur phyſiſch als ein—
fache Leitungsapparate thätig ſind, iſt
ſtreitig. Wenn jedoch ein Taubſtummer
die Glocke zieht, und ſein blinder Be—
gleiter ſie hört, werden weder der erſte
noch der zweite ſagen können, „man hat
geläutet“, in dem Sinne, welchen ein
gewöhnlicher Menſch dieſem Satze bei—
legt. Läßt dieſer Vergleich nicht lebhaft
die Unmöglichkeit erkennen, eine Iſolirung
der pſychiſchen Centren zuzulaſſen?
Ich lege den andern Menſchen ein
dem meinigen ähnliches Bewußtſein bei.
Darin iſt kein unbewußtes Urteil.
Dieſer Glaube erklärt ſich ganz einfach
durch Ideen-Aſſociation. Wenn ich ein
Möbel in Form eines Schrankes ſehe,
vermuthe ich, daß es einen Hohlraum
einſchließt, obwohl ich niemals bewußter
Weiſe das Urteil gebildet habe, daß jeder
Schrank hohl iſt.
Unſere Ideen erhalten wir urſprüng—
lich aus der Erfahrung, in zweiter Reihe
aus dem Gedächtnis. Warum übertragen
wir die Urſache unſrer Eindrücke nach
außen? Durch eine Gewohnheitswirkung.
Hier kann keine Rede von angeborner
Fähigkeit ſein: Wenn ein Mann während
langer Jahre ſtets einen Helm auf dem
Kopfe getragen hätte und ihn nach dem
Abnehmen noch ſpürte, würde man da
von angeborner Fähigkeit ſprechen?
Die Sinnesorgane ſind, wie ſchon
Johannes Müller gezeigt hat, nur die
Vorpoſten des Gehirns. Das Ich, ob
gleich am klarſten im Kopfe vorgeſtellt,
wird dennoch nicht von der Hirnſchale
begrenzt, es reicht ebenſo weit, wie die
Empfindungsnerven. Das iſt eine durch
die Thatſache, daß die Kranken anato—
miſche Kenntniſſe erwerben, bewieſene
Behauptung. Denken wir uns ein mit
Waſſer gefülltes Becken, von welchem ho—
rizontale Röhren ausgehen, die in Pfei—
fenköpfe endigen, in welche das Waſſer
eintritt. Wenn man nun kleine Kieſel in
die Pfeifenköpfe wirft, wird ſich die
Welle bis in das Becken fortpflanzen,
aber wird ſich dort merklich geſchwächt
erweiſen. Wir werden die Bewegung
an der Oberfläche im Becken und in
dem Pfeifenkopfe ſehen, aber nicht in
der Verbindungsröhre. Das iſt die Idee,
welche wir uns vom Gehirn, den Sinnes—
organen und ihren Beziehungen machen
können.
en
rn A”
2 an
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
Wir ſind geneigt, eine Auffaſſung
als direkt, wirklich und objektiv zu be—
trachten, wenn das Bewußtſein von dem,
was ſich an den peripheriſchen Nerven-
endungen abſpielt, in den Vordergrund
tritt. Dieſe Projektionsfähigkeit iſt nach
und nach erworben worden; aber einmal
erworben, verſetzen wir kraft derſelben
die Urſache jeder Erregung der peri—
pheriſchen Nervenendungen nach außen
und knüpfen an das Vorwiegen ihrer
Phänomene die Idee, daß wir uns unter
der Wirkung einer äußern Urſache befinden,
und daß wir einen äußern Gegenſtand
empfinden. Aber wir täuſchen uns oft.
Die Träume geben uns alle Tage den
Beweis davon. Wo iſt alſo das Kri—
terium für die Richtigkeit dieſes Urteils
über das Außenſein? Wir werden das
ſpäter ſehen. Inzwiſchen bemerken wir,
daß ein illuſoriſches Bild ſeiner Natur
nach ausſchließlich perſönlich iſt, während
ein objektives Bild mehreren gemeinſam
ſein kann. Darin liegt ein erſtes, ganz
praktiſches Kennzeichen.
Die normalen Erinnerungsbilder
ſind nichts weiter als Reproduktionen
der Sinneseindrücke. Die andern, z. B.
das Bild einer Venus von Milo zu
Pferde, ſind „phantaſtiſch“; ſie enthal—
ten mehr als das in Wirklichkeit Er—
blickte. Dieſer Art ſind die Traum—
bilder.
Ideen, die man zur ſelben Zeit hat,
verknüpfen ſich. Von dieſen Verknüpfun⸗
gen ſind die einen ablösbar, die andern
nicht. Ich kann das Bild eines Theater—
ſaales von dem der Zuſchauer trennen,
aber ich kann nicht die Idee des Ortes
oder der Ausdehnung davon ablöſen.
Sprechen wir jetzt von den Illuſio—
61
nen der Sinne. Es giebt da Verſchie—
denheiten unter den Hallueinationen,
z. B. zwiſchen denjenigen des Einſchla—
fens und der Träume. In den Träumen
giebt es zunächſt einen Szenenwechſel,
ich bin an einem eingebildeten Orte,
ohne Kenntnis meiner wirklichen Um—
gebung, und falls ich davon irgend einen
Eindruck erhalte, mache ich ihn meiner
Phantaſie dienſtbar und verwebe ihn in
den Traum. Ferner handelt es ſich
nicht einzig um Illuſion im Traum.
Wenn ich von Räubern träume und
von Furcht ergriffen bin, ſo iſt dieſe
Furcht reell und logiſch und beſteht manch—
mal noch beim Erwachen. Schließlich
haben die Ideen im Traume eine an—
dere Art ſich zu verketten als im Wachen.
Bei der Hallueination im Gegenteil iſt
meine Aufmerkſamkeit vom Anfange an
herabgeſtimmt; ich kann nicht leicht den
Ankunftsaugenblick der Trugbilder fixiren;
nichtsdeſtoweniger bleibe ich orientirt,
und wenn ſie fort ſind, weiß ich, daß
ich dieſe Bilder geſehen habe, und auch,
daß ich ſie von dem Orte aus geſehen
habe, wo ich mich befinde. Außerdem
beobachtet man ſich dabei nicht ſelbſt,
man nimmt keinen Teil am Spiel der
Akteure, man empfindet weder Freude,
noch Furcht, noch Zorn; man bleibt in
abſoluter Gleichgültigkeit. Endlich man
denkt nicht, man ſucht nicht ſeine Ideen
zu ſammeln, man gleicht einer ſehenden
Maſchine. N
Die Phantaſiebilder ſind Erinnerungs—
bilder; aber die Erinnerung reicht nicht
aus, die Illuſion zu erklären, denn man
glaubt an die Realität nur, wenn die
Nervenendungen intereſſirt ſind. Wenn
ich zum Beiſpiel die Sonne betrachte
—
62
ſo werde ich ſie noch einige Augen—
blicke nach dem Schließen der Augen
ſehen, und ich werde ſie außer mir
ſehen, ſo lange das Bild dauert;
aber ſobald es erloſchen iſt und ich er-
innere mich des urſprünglichen und des
Folgebildes von neuem, erſcheint keines
von beiden mehr außen. Zehn oder
zwanzig Jahre nach dem Erblinden träumt
man noch von Formen und Farben, aber
nach und nach überwiegen die auf Gehör
und Gefühl bezüglichen Ideen, bis mit
der Länge der Zeit Geſichtsträume ganz
aufhören. Somit iſt ohne die peri—
pheriſchen Nerven und ihre Thätigkeit
die Illuſion nicht möglich.
Nach der Hypotheſe von Lazarus
und Hagen”) nehmen die peripheriſchen
Nerven, falls ſie in einem geeigneten Zu—
ſtande ſind, wenn die Bilder im Hirne
entſtehen, an der Erregung Theil. An
dieſer Teilnahme ſpinnt ſich der Traum
an. Selbſt bei den normalen Erinnerun—
gen kann man immer ein wenig Illuſion
nachweiſen, weil die innere Erregung ſich
bis zu den peripheriſchen Nervenendungen
fortpflanzt. Hier nimmt Stricker ſeinen
Vergleich mit dem Becken und den Pfeifen
wieder auf. Erinnerung findet nur ſtatt,
wenn die Wellen im Becken entſtehen.
Werden die Röhren mit erſchüttert, ſo
wird die Erinnerung plaſtiſch; aber wenn
*) Anmerk. der Red. Die in Rede
ſtehende unhaltbare Hypotheſe iſt nicht von La—
zarus und Hagen, ſondern bereits von Gib—
bert, Johannes Müller und Brewſter auf—
geſtellt, und von uns, in einem Buche über
die Naturgeſchichte der Geſpenſter (Weimar, 1863,
S. 353— 394), ausführlich widerlegt worden,
wie denn auch der Verfaſſer des obigen Artikels
ſpäter gewichtige Gründe dagegen anführt. Vergl.
Kosmos VI, S. 159.
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
der Pfeifenkopf eine Welle empfängt, be—
ginnt die Illuſion; es iſt als ob ein
Steinchen hineingeworfen werde.
Beſchäftigen wir uns einen Augen—
blick mit dem Bewegungsbegriff. Wir
wiſſen nicht, wie der Muskel uns ſeine
Nachrichten mitteilt, aber das Daſein eines
Muskelſinnes iſt nicht zweifelhaft. Die
Frage, wie in uns die Vorſtellung der Be—
wegung entſteht, iſt ſchwierig und hat noch
keine befriedigende Löſung erfahren. Mög—
lich, daß dieſe Vorſtellung einfach aus den
Zeichen entſteht, welche wir von den ſen—
ſiblen Nerven der Haut, der Bänder, der
Gelenke und der Knochen, und außerdem
durch das Sehen und Hören der Be—
wegung empfangen. Wie es auch damit
ſei, der Wille kann, wie folgt, erklärt
werden: Der Eindruck bringt durch Re—
flex auf das Organ eine Muskelkontraktion
zu Stande. Der Eindruck und die Be—
wegung können ſich jeder in einem be—
ſtimmten Teil des Gehirnes abmalen.
Nehmen wir jetzt an, daß der Teil, wo
die Empfindung ihren Eindruck hinter—
laſſen hat, durch eine fremde Urſache er—
regt wird, welche alſo dort ein Erinne—
rungsbild aufweckt, und daß die Erregung
ſich bis zu dem Punkte ausbreitet, wo
die Bewegung, deren Bild ſo erneuert
wird, eingedrückt iſt: wir werden dann
ſagen können, daß die Bewegung gewollt
iſt, und die Bewegung, die ſich von dieſem
Punkte zu dem Muskel auf demſelben
Wege fortpflanzt, welche das Bild der
Bewegung im umgekehrten Sinne ver—
folgt hatte, um ſich dem Gehirn einzu—
prägen, wird freiwillig genannt wer—
den. Man darf durchaus nicht aus dem
Geſicht verlieren, daß man nicht wollen
kann, was man ſchon vollführt hat. Bei
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 63
dieſer Gelegenheit hebe ich jenes ſubtile,
aber tiefe Paradoxon hervor, welches
wert iſt, von allen, die ſich mit dem
Problem der Willensfreiheit beſchäftigen,
erwogen zu werden: ob, wenn uns die
logiſchen Handlungen als Notwen—
digkeiten erſcheinen, mit noch ſtärkerem
Grunde die unlogiſchen als ſolche be—
trachtet werden müſſen, denn es verſteht
ſich von ſelbſt, daß, da jeder vorzieht,
logiſch zu handeln, wenn er kann, es wider
Willen geſchieht, wenn er unlogiſch handelt.
Sehen wir zu, wie alles das ſich mit
der Theorie über die Beurteilung der
Außendinge verknüpft. Zu den wichtigſten
unſrer innern Auffaſſungen muß man die
der Beziehungen der Vorſtellungen unter
einander rechnen. Wenn ich ſage, die
Pferde laufen, drücke ich nicht nur
eine gedachte, ſondern eine der äußern
Wirklichkeit entſprechende Beziehung aus.
Man hat einen Unterſchied zwiſchen den
erſten und zweiten Qualitäten des Stoffes
gemacht, und geſagt, die einen, wie die
Ausdehnung, Geſtalt, Bewegung, Ruhe,
Undurchdringlichkeit und Zahl ſeien allein
objektiv, die andern, wie Farbe, Geruch,
Geſchmack u. ſ. w. ſeien nur ſubjektiv.
Berkeley verneint ein Begründetſein
dieſer Unterſcheidung. Ich kann indeſſen,
ſagt Stricker, ohne Bedenken zugeben,
daß das, was außer mir der Farben—
empfindung entſpricht, keine Farbe ſei,
aber ich kann nicht denken, daß das nicht
Bewegung und Widerſtand ſei, was außer
mir den Ideen, die ich von Bewegung
und Widerſtand habe, entſpricht; dieſe
Ideen ſind in derjenigen der Materie
mit einbegriffen, während die Ideen von
Farbe, Geruch u. ſ. w. ihr einfach erſt
zuerteilt ſind.
Es iſt der Muskel-Prozeß, welcher
uns zu den Ideen der Bewegung, des
Widerſtandes und der von ihnen ab—
hängigen (Volum, Maſſe, Geſchwindig—
keit, Zeit, Ort u. ſ. w.) führt, und in
dieſer Beziehung ſind auch ſie etwas Sub—
jektives; aber wir begreifen nicht, daß
dieſem Subjektiven nicht eine analoge
Wirklichkeit entſprechen ſollte. Bezeichnen
wir zum Unterſchiede von den Sinnes—
qualitäten die übrigen von außen gekom—
menen Kennzeichen. Wir erblicken von
den Außendingen Qualität und Verhält—⸗
nis, und beide ſind unauflöslich in jeder
Vorſtellung von der Materie verbunden.
Wir können uns weder eine Maſſe ohne
Farbe, noch eine Bewegung ohne ein
ſinnliches Objekt denken. Die Erfah:
rungen ordnen ſich in meinem Gehirn den
Verhältniſſen entſprechend, und dieſer Ord—
nung gemäß bringe ich die Ideen von
den Außendingen untereinander in Be—
ziehung und urteile über ſie. Ich bin
ſomit im Rechte, zu verſichern, daß meine
Urteile über die Verhältniſſe der Dinge,
die wahrhaften Bilder dieſer Verhält—
niſſe ſind.
Wenn dem ſo iſt, in welchem Fall
kann man behaupten, daß ein Urteil
falſch iſt, und daß der Geiſt deſſen, der
es fällt, geſtört iſt? Wo iſt das Kenn—
zeichen der Störung? Locke kennt nur
Erfahrungsurteile, Kant hat die Urteile
a priori und die Urteile a posteriori
unterſchieden. Die einen kann ich nicht
anders denken, und betrachte ſie wie not—
wendige, die andern fälle ich auf Grund
meiner Erfahrungen. Der Irrtum kann
nur dieſe treffen. Der geſunde Menſch
erläutert die Gründe ſeiner Meinung, der
Verrückte ſpricht fie wie ein a priori-
64
Urteil aus: es iſt fo, weil es fo ift.
Woher wiſſen Sie, fragt man einen Wahn—
ſinnigen, daß Ihr Wirt die Abſicht hat,
Sie zu vergiften? — Ich weiß darüber
nichts, aber es iſt ſo, war die Antwort.
Dieſe Irrtümer des Urteils haben alſo
ihre Quelle nicht in irgend einer Illuſion
der Sinne, und die Motive ſind gänzlich
innere. Man kann demzufolge die nach—
ſtehende Definition formuliren: Jedes die
Außenwelt betreffende a posteriori-Urtetl,
welches nach Art eines a priori-Urteils
für wahr gehalten wird, muß als eine
Verirrung betrachtet werden. Die Worte
nach Art eines a priori-Urteils bedeuten
„ohne den Verhältniſſen der Außenwelt
Rechnung zu tragen und ſelbſt im Wider—
ſpruch mit denſelben“.“ Was die über
Dinge der innern Erfahrung gefällten
Urteile a posteriori — ich bin krank,
ich bin glücklich, ich bin weiſe — be—
trifft, ſo fehlt uns das Kriterium, wenig—
ſtens falls ſie nicht von extravaganten,
das Außere betreffenden Urteilen —
z. B. man hat mich vergiftet, ich bin reich,
man bewundert mich — begleitet ſind.
Auf welche Weiſe entſtehen unver—
nünftige Ideen? Eine weſentliche Beding—
ung iſt, daß dieſe Urteile beherrſchend
oder andauernd (fix) ſeien. Indeſſen ſind
nicht alle fixen Ideen notwendig krank—
haft: derartige find z. B. diejenigen, welche
ein Vermögensverluſt, die Betrachtung
einer entfernten Gefahr einflößt. Der
Unterſchied zwiſchen dieſen und jenen
macht die Kenntnis, ob ſie von einer wirk—
lichen Urſache abhängen oder nicht, und
ob die widerlegende Gegenüberſtellung
mit der Wirklichkeit ſie zu zerſtören ver—
mag oder nicht. Wenn eine gewiſſe Ideen—
reihe ſich häufig ohne merkliche äußere
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
Urſache wiederholt, dann müſſen wir an—
nehmen, daß im Gehirn ein begrenzter
Teil Nervengewebe vorhanden iſt, wel—
cher unter der Einwirkung innerer Er—
regungen thätig iſt und eine hohe Reiz—
barkeit beſitzt. Und von dem Augenblicke,
wo die fixe Idee für wahr gehalten
wird, iſt Wahnſinn vorhanden, wohlver—
ſtanden, wenn das Urteil äußere Dinge
betrifft oder Urteile dieſer Art hineinzieht.
Jemand, der ſich eines Vorgefühls von
Unglück nicht erwehren kann, braucht
darum noch nicht verrückt zu ſein.
Wie iſt die Möglichkeit eines irrigen
Glaubens an äußere, nicht vorhandene
Verhältniſſe zu erklären? Durch den Bruch
der Beziehungen, welche die herrſchenden
Ideen und einen Teil des potentiellen
Wiſſens verbinden. Einige Betrachtungen
über den Schlaf und die Träume ſind
geeignet, dieſe Anſicht zu unterſtützen.
Jedes Organ ſtrebt nach der Thätig—
keit zur Ruhe. Gewiſſe Ruhezuſtände des
Gehirns nennen wir Schlaf. Wenn wir
ſchlafen wollen, beſeitigen wir die äußern
Erregungen; aber die Ermüdung führt
gewöhnlich den Schlaf ganz natürlich her—
bei, indem ſie die Erregungen unwirkſam
macht. Dennoch gilt nicht, was vom
Muskelſyſtem gilt, auch vom Nervenſyſtem,
welches die Überarbeitung, beſonders gegen
das Alter von vierzig Jahren, überreizt
und nicht abſpannt, ſei es, daß der Blut—
zufluß fortdauert, oder die Erregbarkeit
zunimmt. Diejenigen, welche das Nerven—
ſyſtem in Thätigkeit erhalten, gelangen
nicht zum Einſchlafen, außer durch An—
wendung von 2—3 Gramm Chloral,
welches die Nerventhätigkeit verlangſamt
und lähmt. Es würde ohne Zweifel beſſer
ſein, ſeine Zuflucht zur Muskelermüdung
;
I
.
*
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
zu nehmen, welche naturgemäß zum Schlaf
vorbereitet. Der Schlaf dauert gewöhn—
lich bis zur Wiederkehr der Gehirnerreg—
barkeit, und während dieſer ganzen Zeit
empfängt man keinen Eindruck von der
Außenwelt, giebt es kein lebendiges Wiſſen,
keine aktuelle Kenntnis, und ſogar das
potentielle Wiſſen ſendet keine Erinnerung.
Nach und nach kehrt die Erregbarkeit
wieder, und mit ihr als Anfang der
Traum. Es erheben ſich Erinnerungen, die
mehr oder weniger deutlich wahrgenom—
menenen Erregungen von außen ver—
ſchlingen ſich darin, und ſo entſteht der
Traum. Wir haben weiter oben geſehen,
daß wenn die Traumobjekte als wirkliche
aufgefaßt werden, dies daher kommt, weil
die innere Bewegung ſich bis zu den pe—
ripheriſchen Endungen der Sinnesnerven
ausbreitet. Aber weshalb werde ich ge—
täuſcht? Weshalb bin ich das Opfer der
Traum⸗Illuſion? Wenn ich die Stimme |
eines Freundes vernehme, erweckt ſie in
meiner Seele eine Menge Ideenverknü—
pfungen, integrirende Teile des potentiellen
Wiſſens, welche verurſachen, daß ich mir
dieſen Freund vorſtelle. Aber, wenn der
Freund gegen Morgen kommt, um mich
zu ſprechen, während ich in einem Traum
befangen bin, ruft mir ſeine Stimme nicht
dieſe Ideen hervor, ſondern andere, die
zu meinem Traume paſſen. Und deshalb
geben ſie weder zur Berichtigung, noch
zum Widerſpruch Anlaß.
Etwas ähnliches geht beim Wahn—
ſinn vor ſich. Die Geiſteskranken verſtehen
nicht ihre fixen Ideen mit ihren Auf—
faſſungen zu verbinden; ſie können in
ihrer Tollheit logiſch ſein, aber ſie kön—
nen ſie nicht motiviren. Sie ſtammt da—
her, daß iſolirte Funktionen ſtark hervor—
65
treten, während andere unthätig werden.
Gewiſſe Hirnteile funktioniren zu oft,
dadurch wird eine Idee herrſchend, und
damit wächſt die Tendenz, ſie für wahr
zu halten. Andere Teile funktioniren zu
wenig, und das iſt die Urſache, daß dieſe
Tendenz nicht unterdrückt, und der Irr—
tum nicht verbeſſert wird.
Faſſen wir dieſe lange Analyſe in
ein Wort zuſammen. Der Traum be—
wirkt, wie die Viſionen des Wahnſinns
Illuſion, weil er die Peripherie hinein—
zieht, und er täuſcht, weil die Verbin—
dungen des Subjekts mit der Außenwelt
zur Zeit unterbrochen ſind, Bande, die
ihren Ausdruck im potentiellen Wiſſen
haben. In der Arbeit von Radeſtock
haben wir einen ähnlichen, aber weniger
klar ausgedrückten Schluß gefunden.
Ich kann hier nicht alle Punkte der
von Stricker berührten Lehre diskutiren.
Ich werde nur zwei eng auf meinen
Gegenſtand bezügliche aufnehmen.
Nach ihm iſt es eine Bedingung für
das Eintreten der Illuſion, daß die peri—
pheriſchen Organe unter der Thätigkeit
des Centralſyſtems in Bewegung geſetzt
werden. Zunächſt iſt das eine reine Hy—
potheſe; noch mehr, buchſtäblich genom—
men, halte ich ſie für den Thatſachen
entgegenſtehend. Ich kenne eine heute
84 Jahr alte Perſon, welche im Alter
von dreißig Jahren taub wurde. Seit
einem Jahrzehnt iſt ſie abſolut taub und
empfindet die ſtärkſten Geräuſche nicht
mehr. Man kann nur ſchriftlich mit ihr
verkehren. Nun, in ihren Träumen ver—
ſteht ſie immer und ohne alle Mühe die
Perſonen, mit denen ſie ſpricht, und
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1.
66 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
träumt niemals, daß man ihr ſchreiben
müſſe, um ſich ihr verſtändlich zu machen.
Ein anderes Beiſpiel. Der berühmte
Phyſiker Plateau iſt, wie bekannt, vor
ungefähr 35 Jahren blind geworden.
Ich habe ihn gebeten, mir die Natur
ſeiner Geſichtsempfindungen während des
Wachens und Schlafens ſchildern zu wol—
len. Hier folgt, was er mir antwortete:
1. Im Allgemeinen träume ich, daß
ich ſehe; einigemal auch träume ich, daß
ich nicht ſehe; andre Male träume ich,
daß meine Augen heilen und daß ich
wieder zu ſehen anfange. Wenn ich
träume, daß ich nicht ſehe, gehe ich ge—
wöhnlich in einer Straße, die ich kenne;
aber nach einiger Zeit finde ich mich
nicht mehr zurecht, und alsdann kommt
gewöhnlich Jemand, um mich unter den
Arm zu faſſen, Jemand den ich kenne
oder nicht kenne, und führt mich.
2. Wenn ich träume, daß ich ſehe,
geſchieht es oft von Gebirgslandſchaften;
ich träume nur äußerſt ſelten von Ex—
perimenten oder Inſtrumenten; die Dinge,
welche ich ſehe, haben ihre natürliche
Farbe.
3. Im wachen Zuſtande ſehe ich bei—
nahe ſtets in der Einbildung den Ort,
wo ich mich befinde und die anweſenden
Perſonen.
4. Wenn ich im Traume, ſei es un—
bekannte Perſonen oder meine Kinder
ſehe, ſehe ich nur ſehr ungenau ihre
Phyſiognomie.
In dieſem Punkte macht es Jeder—
mann wie Plateau. Steht man mit
Fremden, welche man nur aus ihren
Briefen oder ihren Werken kennt, in Cor—
reſpondenz, ſo ſchreibt man ihnen meiſt
ohne Grund eine beſtimmte Körperbeſchaf—
von a priori-Urteilen.
fenheit zu, und wenn man von ihnen
träumt, haben ſie notwendig einen Kör—
per und ein Geſicht. Das Fehlen intak—
ter peripheriſcher Organe beeinträchtigt
alſo die Wirſamkeit der Einbildungskraft
nicht.
Dieſe beiden Thatſachen, welche, da
ich ſie nicht geſucht, ſondern angetroffen
habe, zweifellos nicht allein ſtehen, be—
weiſen, daß der Sinn des Wortes Peri⸗
pherie der Präciſirung bedarf. Man kann
ihn nicht buchſtäblich nehmen, und müßte
die Peripherie weniger als Körperober—
fläche verſtehen.
Hier iſt der zweite Punkt. Die Ur-
teile der Wahnſinnigen haben, ſoweit ſie
wahnwitzig ſind, ſagt Stricker, die Form
Es iſt das eine
pikante Definition, welche ſicherlich rich—
tige Seiten hat. Aber kann man nichts
daran ausſetzen? Unſere Antipathien und
Sympathien ſind zum Beiſpiel keineswegs
vernünftiger. 5
Man kann, ohne geiſtesgeſtört zu ſein,
wie ein Axiom behaupten, daß eine be—
ſtimmte Perſon böſe oder gut, falſch oder
aufrichtig, hart oder nachgiebig ſei. Iſt
es denn notwendig ein Anzeichen von
Geiſtesſtörung, zu glauben, daß ſie gegen
uns von ſchlechten Abſichten erfüllt ſei,
daß ſie uns z. B. zu vergiften ſuche?
Gehen wir weiter. Was ſind die
Eingebungen des Genies, wenn nicht An—
ticipationen a priori? Und beruht ſchließ—
lich aller Glaube, alle intime und abſo—
lute Überzeugung auf dem Verſtande?
Der Glaube, der Zweifel, ſind Urteile,
welche mehr oder weniger motivirt wer—
den können, aber man iſt ſeines Glau—
bens und ſeines Zweifels gewiß. Dieſe
allgemeine und höhere Gewißheit iſt not—
Wahnſinn? Iſt derjenige, welcher ohne
armen Melancholiker gekannt, welcher nur
über einen Punkt delirirte: der Anblick
des Kupfers verſetzte ihn in unausſprech—
lichen Schrecken. Er räſonnirte über ſeine
Averſion. Das Kupfer bedeckt ſich mit
Grünſpan, dieſer Grünſpan beſchmutzt
die Hände, und man kann alſo unab—
ſichtlich dadurch ſich ſelbſt, ja was noch
ſchlimmer, andere vergiften. Das iſt eine
vernünftige Schlußfolge; iſt ſie darum
weniger das Zeichen einer Geiſtesſtörung?
Andrerſeits giebt es junge Mädchen, welche
beim Anblick einer Fledermaus, einer
Raupe, einer unſchädlichen Eidechſe in Ohn—
macht fallen; ſie würden nicht im Stande
ſein, ihren Widerwillen zu rechtfertigen,
wem würde beifallen zu behaupten, daß
man ſie in ein Irrenhaus bringen müßte?
Kommen wir zum Schluſſe. Die
ſubjektive Gewißheit, der Glaube, wie ich
fie anderwärts*) genannt habe, begleitet
notwendig unſere Urteile, unſere Be—
jahungen, unſere Verneinungen, unſere
Zweifel. Dieſe Gewißheit iſt von dem
menſchlichen Geiſte unzertrennlich. Wenn
ich in einem Traume oder in einem An—
falle von Irrſinn urteile, daß zwei mal
zwei fünfe machen, dann iſt dieſe Be—
hauptung in meinen Augen ebenſo zweifel—
los als die andere, zwei mal zwei machen
vier, für diejenigen, welche bei gutem
Verſtande ſind. Hier die Probe davon.
In einer Nacht träumte ich von einem
Deutſchen Café, in welchem ich ein Glas
Bier getrunken hatte. Es handelt ſich
*) ©. meine Logique scientifique, be-
ſonders die Vorrede.
1
wendig a priori; iſt fie die Folge von
Grund mißtrauiſch iſt, wie dies ſo oft
der Fall, wahnſinnig? Ich habe einen
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 67
darum, 371½ Centimes zu bezahlen. Dieſe
Zahl iſt nicht ſo ſonderbar, als ſie er—
ſcheint, es iſt der Werth von dreißig
Pfennigen, oder dreizehntel Mark in fran—
zöſiſchem Geld. Wenigſtens erkäre ich mir
ſie ſo. Ich näherte mich dem Zahltiſch und
legte dort zuerſt ein Stück von 20 Cen-
times, dann eins von 10 Centimes hin.
Die Dame, vor welcher ich dieſes Geld
hinlegte, fand dabei nicht ihre Rechnung
und machte mir das bemerklich. Ich er—
ſtaunte darüber. „Madame,“ ſagte ich,
„machen denn nicht 20 und die Hälfte
von 20 37½?“ Die Dame ſchien es
nicht zu begreifen. Vergebens verſuchte
ich, ihr es klar zu machen, meine Gründe
wollten ihr nicht einleuchten. Es näherten
ſich Kellner und gaben mir Recht; die
Dame beharrt in ihrem Irrtum; die Bür—
ger miſchten ſich darein und gaben ihr Un—
recht. Endlich verwirrt und dumm gemacht,
hört ſie auf, darauf zu beſtehen, und ich
gehe endlich davon, ſtark in meinem Rechte,
mit ruhigem Gewiſſen, aber mich mehr
und mehr über dieſe ſeltſame Geiſtesver—
wirrung einer Geſchäftsfrau entzückend,
welche nicht einſieht, daß 20 und die
Hälfte von 20 genau 371, ausmachen.
Die wiſſenſchaftliche Gewißheit iſt von
einer andern Natur. Sie iſt mit dem
ſpekulativen Zweifel verträglich. So kann
ich ſehr wohl den vom wiſſenſchaftlichen
Standpunkte völlig legitimen Zweifel aus—
ſprechen, ob ich im gegenwärtigen Augen—
blick nicht etwa träume oder toll bin.
Das pſychologiſche Problem des Trau—
mes berührt ſich alſo ebenſowohl mit der
Theorie der Gewißheit als mit der Theorie
des Gedächtniſſes. Unter dem erſten Ge—
ſichtspunkt betrachtet, bringt es mehrere
verſchiedene Fragen mit ſich.
68 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
1) Auf welchem Gunde ruht der Glaube
im Allgemeinen und der an eine äußere
Wirklichkeit im Beſondern?
2) Warum glaubt man, wenn man
wacht, nicht an die Realität ſeiner Träu—
mereien, und warum glaubt man, wenn
man träumt, an die Realität ſeiner Träume?
3) Warum ſchreibt man beim Er—
wachen ſeinen Träumen einen lügneriſchen
Charakter zu? Welches ſind die Motive
dieſer Beimeſſung? Giebt es in dieſer
Hinſicht ein abſolutes Kriterium der Ge—
wißheit? 0
. 4) Warum mißt der Irrſinnige feinen
Verirrungen Glauben bei? An welchem
Zeichen erkennen wir die Phantaſien eines
geſtörten Gehirns, und welches iſt der lo—
giſche Wert deſſelben? Gibt es ein ſicheres
Kriterium?
Dieſe Zeilen waren geſchrieben, als
ich einige Seiten von V. Egger mit—
geteilt erhielt, auf denen dieſer junge
Gelehrte mit einer großen Feinheit ein
ſeltſames Beiſpiel von Verdopplung ana—
lyſirt. Das ſcheinbare Ich ſpricht einen
abſurden und unzuſammenhängenden Satz
aus, ein Pſeudo-Nicht-Ich, welches ihn
nicht verſteht, verlangt eine Erklärung,
ohne ſie erhalten zu können. Der Leſer
wird gut thun, dieſen Artikel und den
meinigen zu vergleichen. Er wird ſich
auch fragen können, ob in dem oben er—
zählten Traum das durch die deutſche
Dame gezeigte Erſtaunen, beim Anhören
der enormen Leiſtung, daß 20 und die
Hälfte von 20 genau 37½ machen, nicht
der Beweis iſt, daß mir noch ein Schein
von guter Vernunft geblieben war? Als
ich beim Erwachen geſucht habe, ausfindig
zu machen, was mich zu einer ſo un—
gereimten Addition habe verleiten können,
bemerkte ich ſogleich, daß ich im Schlafe
das unbeſtimmte Gefühl von der Ent—
ſtehung der Zahl 371, gehabt haben
muß, welche in der That gleich iſt:
20 10 5
ne
2 hg
(Schluß folgt.)
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Die Anvoländigkeit der paläonlo—
I bgiſchen Aberlieferung.
err Theodor Fuchs, Kuſtos am
k. k. Hof⸗Muſeum in Wien, hat
ſein wird, und jedenfalls zeigt ſchon die
in der Sitzung der Geologiſchen Reichs—
anſtalt vom 16. Dezember vor. Jahres
einen Vortrag „Über die präſumirte
Unvollſtändigkeit der paläontologiſchen
Überlieferung“ gehalten), der mich zu
einigen Entgegnungen veranlaßt. Zweck
dieſes Vortrages, der nur als Einleitung
eines größeren Feldzuges gegen die Des—
cendenzlehre betrachtet werden kann, war,
darzulegen, daß es mit „der von den
Anhängern der Darwinſchen Lehre mit
ſo grellen Farben ausgemalten Unvoll—
ſtändigkeit“ nicht ſo ſchlimm beſtellt ſei,
daß „die betreffenden Darſtellungen der
Darwiniſtiſchen Schule zum großen Teile
auf argen Übertreibungen beruhen, daß
im Gegenteile die Überlieferung früherer
Faunen und Floren in gewiſſen Teilen
eine außerordentlich vollſtändige ſei, und
daß überhaupt der gegenwärtige Stand
der Paläontologie bei richtig angewand—
ter Kritik einen vollkommen verläßlichen
Boden abgebe, um Fragen ſo allgemei—
ner Natur, wie die Darwinſche Lehre
ſie aufſtelle, mit Sicherheit zu diskutiren“.
) Verhandlungen der k. k. Geologiſchen
Reichsanſtalt in Wien, 1879, Nr. 16, S. 355.
Der Vortragende verſprach, dieſe
Behauptungen auf Grundlage ſtatiſtiſcher
Daten nachzuweiſen, indeſſen glaube ich, daß
ihm dies ohne arge Verdrehung und falſche
Auslegung der Thatſachen kaum möglich
Behandlung des Gegenſtandes in dem in
Rede ſtehenden Vortrage, daß Fuchs, um
einen Angriffspunkt gegen die Descendenz—
lehre zu gewinnen, die bisher allgemein
angenommene Lückenhaftigkeit der palä—
ontologiſchen Überlieferung durch ziemlich
ſophiſtiſche Argumente bekämpfen will.
Folgen wir dem Vortragenden in
ſeiner Beweisführung, ſo haben wir uns
zunächſt mit nachſtehenden Sätzen zu be—
faſſen, welche ich wohl am beſten wort—
getreu citire. Fuchs ſagt, man müſſe,
um eine richtige Grundlage zu gewinnen,
vor allen Dingen zwei Gruppen von
Organismen unterſcheiden:
„a) Solche, welche vermöge ihrer wei—
chen Körperbeſchaffenheit, ihres Aufent—
haltes oder ihrer Lebensweiſe überhaupt
nur durch das exzeptionelle Zuſammen—
treffen ſeltener Umſtände als Foſſilien
erhalten werden können, wie z. B. Dual-
len, Aseidien, Inſekten, Vögel, kleine
Säugethiere, krautartige Pflanzen ꝛc.“
„b) Solche, welche widerſtandskräftige
Hartteile beſitzen und in Folge ihres
Aufenthaltes und ihrer Lebensweiſe im
70 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
regelmäßigen Fortgange der Sediment—
bildung notwendigerweiſe in die neuen
Terrainbildungen eingeſchloſſen und als
Foſſilien der Nachwelt überliefert wer—
den müſſen, wie z. B. Korallen, Echino—
dermen, Conchylien ꝛc.“
„Organismen der erſten Kategorie
werden nur ausnahmsweiſe erhalten wer—
den, und bei ihnen iſt die Überlieferung
thatſächlich auch eine äußerſt fragmentöſe.“
„Bei den Tieren der zweiten Kate—
gorie jedoch iſt die Erhaltung im foſſilen
Zuſtand keineswegs durch ausnahmsweiſe
Zufälligkeiten bedingt; ſondern dieſelbe
iſt vielmehr die notwendige Folge der
normalen Sedimentbildung und bei dieſer
iſt die paläontologiſche Überlieferung
auch erfahrungsgemäß eine äußerſt voll—
ſtändige.“ — Soweit Fuchs.
Es iſt nun klar, daß der unbefangene
Beurteiler ſchon darin, daß die erſte
Gruppe von Organismen nur ausnahms—
weiſe der paläontologiſchen Unterſuchung
zugängliche Reſte darbietet, während von
der zweiten nur die Hartteile erhalten
blieben, eine weſentliche Lücke in der
paläontologiſchen Ueberlieferung ſehen
muß. Denn es iſt klar, daß die Deu—
tung äußerer Schalen oder iſolirter Hart—
teile der inneren Skelette eine ziemlich
unſichere iſt und keineswegs die Kenntnis
des ganzen Organismus erſetzen kann.
Fuchs führt mehrere Beiſpiele für die
Vollſtändigkeit der Erhaltung der Orga—
nismen ſeiner zweiten Kategorie, und
unter anderen auch die folgenden an:
„Appelius fand im tyrrheniſchen Meer
337 Arten ſchalentragender Conchylien;
von dieſen 337 Arten konnte er jedoch
300 auch in der quaternären Panchina
von Livorno nachweiſen und man hätte
demnach die Fauna des tyrrheniſchen
Meeres aus den Foſſilien mit großer
Vollſtändigkeit kennen lernen können.“
„Die Anzahl einheimiſcher Huftiere
in Europa beträgt 20. Alle dieſe 20
Arten ohne Ausnahme ſind aber bereits
foſſil in den Diluvialablagerungen Eu—
ropas aufgefunden worden, und man
würde daher, blos auf das Studium der
foſſilen Reſte geſtützt, die Huftierfauna
Europa's vollſtändig kennen gelernt haben.“
Wenn Fuchs hier behauptet, daß man
im Stande ſei, die gegenwärtige Fauna
des Tyrrhener Meeres auch durch die
Unterſuchung der quaternären Foſſilien
mit großer Vollſtändigkeit kennen zu ler—
nen, oder daß man die recente Huftierfauna
Europa's blos auf das Studium der
foſſilen Reſte der Diluvialablagerungen
geſtützt, vollſtändig erforſchen könne, ſo
iſt er offenbar ſchon deshalb im Irr—
tume, weil von den foſſilen Formen
nur die Hartteile vorliegen. Niemand
wird es wohl heute wagen, mit aller
Beſtimmtheit die vollſtändige Identität
der zwanzig diluvialen und recenten Huf—
tiere blos aus dem Grunde zu behaup—
ten, weil die Hartteile ihrer Skelette
große Uebereinſtimmung zeigen. Die klei—
nen Verſchiedenheiten, welche wir jedoch
auch an den Skeletten faſt ausnahmslos
beobachten können, mögen vielleicht von
noch größeren im Bau der Weichteile,
in der Farbe der Haare und in den
Lebensgewohnheiten begleitet geweſen ſein,
— Unterſchiede, die uns veranlaſſen wür—
den, von verſchiedenen Arten zu ſprechen,
wenn wir eben die diluvialen Huftiere
nicht in Rudimenten ihres Skelettes, ſon—
dern „mit Haut und Haar“ in allen
Teilen ihres Weſens unterſuchen könn—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ten. Dieſe Unſicherheit, welche ſich in
Folge der mangelhaften Überlieferung
des paläontologiſchen Materiales ſchon
dann geltend macht, wenn wir von jüngſt
vergangenen Perioden und ihren Lebe—
weſen ſprechen, tritt noch mehr hervor,
wenn es ſich um weiter zurück liegende
Epochen und ihre organiſche Welt
handelt. Wenn wir heute von zahl—
reichen älteren Organismen (Conularien,
Receptaculiten, Tabulate Corallen, viele
paläozoiſche Pflanzen ꝛc. ꝛc.) nicht mit
Sicherheit wiſſen, welchen Gruppen der
organiſchen Reiche wir ſie zuweiſen
ſollen, ſo danken wir dies doch in erſter
Linie der Mangelhaftigkeit des Mate—
riales.
Allein abgeſehen von dieſer, von Fuchs
gänzlich unberückſichtigten Seite der Un—
vollſtändigkeit der paläontologiſchen Über—
lieferung, begegnen wir einer ebenſo
bedeutſamen, in der Zerſtörung urſprüng—
lich vorhandener, im Allgemeinen der Er—
haltung zugänglicher Hartteile der Or—
ganismen. In der Reihe der Formatio—
nen finden wir zahlreiche Bildungen, in
welchen dieſe früher vorhandenen Hart—
teile mehr oder minder zerſtört, bis zur
Unkenntlichkeit umgewandelt oder gänz—
lich fortgeſchafft werden. In den Ab—
ſätzen der Tiefſee iſt, wie Fuchs ſelbſt
an anderer Stelle behauptet, die Auf—
löſung der kalkigen Gehäuſe allgemeine
Regel, aber auch in den Seichtwaſſer—
Bildungen iſt die Zerſtörung und Um—
wandlung derſelben eine ungemein häufige
Erſcheinung. Ich erinnere, um nur das
naheliegendſte Beiſpiel anzuführen, an
das Vorherrſchen von Sandſteinen mit
Steinkernen und Hohldrücken und das un—
gemein ſeltenere Auftreten der Sande mit
71
erhaltenen Conchylien in den Sarmati—
ſchen Ablagerungen des Wiener Beckens.
Fuchs ſelbſt hat in einer höchſt in—
tereſſanten Mitteilung über die Entſtehung
der Aptychen-Kalke?) dargelegt, wieſo
es denn komme, daß im oberen Jura
und in den Kreidebildungen ſo häufig
plattige Kalkſteine und Mergelkalke auf—
treten, welche paläontologiſch durch den
ſonderbaren Umſtand ſich auszeichnen, daß
ſie faſt gar nichts Anderes als Aptychen
und Belemniten enthalten, indem er die
Zerſtörung aller anderen Reſte als Ur—
ſache dieſer auffallenden Erſcheinung mit
überzeugenden Gründen nachwies. Fuchs
hat damals die Berechtigung der Annahme,
daß im Meere noch unter der Waſſer—
bedeckung während der im Gange befind—
lichen Sedimentbildung Auflöſungsprozeſſe
im ausgedehnteſten Maßſtabe ſtattfinden,
durch Hinweis auf die Erfahrung der
Challenger-Expedition über die Löſung der
Kalkgehäuſe in großer Meerestiefe, und
auf die analogen Beobachtungen der deut—
ſchen Expedition zur Erforſchung der Oſt—
ſee, ſowie durch Erörterung der Bildung der
Skulptur⸗Steinkerne nachgewieſeu. Auch
die Petrefaktenarmut des Flyſches wurde
von Fuchs in die Diskuſſion gezogen.
Ich ſehe mich nicht in der Lage, ſeiner
Deutung des Flyſches als Produkt von
Schlammvulkanen vollſtändig beizupflich—
ten, da der Flyſch gewiß nur zum geringſten
Teile (Argille scagliose und ihre Des—
cendenzen) als wirkliche Schlammvulkan—
bildung aufgefaßt werden kann, und vermag
deshalb nicht in der eruptiven Natur des
Flyſches den Hauptgrund ſeiner Petre—
*) Sitzungsberichte der K. Akademie der
Wiſſenſchaften in Wien, mathem.-naturw. Kl. J.
76. Bd, 1877, S. 329.
72 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
faktenarmut zu ſehen; wol aber erblicke | demnach Aufgabe der Geologen und Pa—
ich denſelben in der von Fuchs erſt in
zweiter Linie angeführten Thatſache und
in der Zerſtörung der urſprünglich vor—
handenen, in den Flyſch eingebetteten
Tierreſte. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß
ich hierbei nicht wie Fuchs an die auf—
löſenden Wirkungen der mit verſchiedenen
Gaſen imprägnirten Schlammmaſſen, ſon—
dern an die ganz allgemeine Erſcheinung
der Auflöſung und Wegführung des kohlen—
ſauren Kalkes durch kohlenſäurehaltige Ge—
wäſſer während und nach der Sedimen—
tirung denke. So ſehen wir eine von
Fuchs früher geäußerte Meinung, der
wir in ihren Grundzügen vollſtändig bei—
pflichten müſſen, in direktem Widerſpruch
mit deſſen, im Vortrage vom 16. De—
zember v. J. geäußerten Anſichten.
Gegen die letzteren können jedoch noch
viel ſchwerer wiegende Gründe vorge—
bracht werden. Die neueren Anſichten
über die Chorologie der Sedimente laſſen
ſich unmöglich mit den Behauptungen des
Vortrages vom 16. Dezember vereinigen.
Das Weſen der Lückenhaftigkeit der
paläontologiſchen Überlieferung beruht,
wie Mojſiſovies gezeigt hat“), auf dem
fortwährenden Wechſel heteromeſiſcher, he—
terotopiſcher und heteropiſcher Bildungen,
und dieſe Lückenhaftigkeit iſt daher mit
der in der Reihe der Formationen allent
halben nachweisbaren Anderung der phy—
ſikaliſchen Bedingungen notwendig ver—
knüpft; ſie iſt um ſo größer, je weniger
Terrain die geologiſche und paläontolo—
giſche Forſchung auf der Erdbodenfläche
erſchloſſen hat, und je ungenauer die be—
treffenden Unterſuchungen ſind. Es iſt
a ) Vgl. Mojſiſovics, Dolomitriffe, S. 7
u. 8, ſowie Kosmos, Bd. VI. S. 13 u. fgde.
läontologen, dieſe Lückenhaftigkeit durch
Ausdehnung und Vertiefung ihrer Studien
zu bekämpfen, um, ſo weit es möglich iſt,
die Entwicklung der Organismen durch
die iſomeſiſchen, iſotopiſchen und iſopiſchen
Bildungen zu verfolgen. Dabei dürfen
wir uns weder durch die vorläufig gähnen—
den Lücken in unſeren Kenntniſſen, noch
durch andere Schwierigkeiten abſchrecken
laſſen, denn wollten wir die Leuchte der
Descendenzlehre von uns werfen, ſo hätten
in der That die Foſſilien höchſtens noch
für den Raritätenſammler, nicht aber für
die wiſſenſchaftliche Forſchung Intereſſe.
Es iſt nicht zu leugnen, „daß auch ſchon
der gegenwärtige Stand der Paläonto—
logie bei richtig angewandter Kritik
einen Boden abgiebt, um Fragen ſo all—
gemeiner Natur, wie die darwiniſche Lehre
fie aufſtellt, zu diskutiren;“ — inwieweit
jedoch dieſer Boden „vollkommen zu—
verläßlich“ und inwieweit eine derartige
Diskuſſion mit Sicherheit möglich iſt,
darüber giebt uns nur die genaue Ein—
ſicht der thatſächlich vorhandenen Lücken—
haftigkeit unſerer Kenntnis Aufſchluß.
Graz. Prof. R. Hoernes.
Die geſchlechllichen Färbungen
gewiſſer Schmellerlinge.
Dr. Schulte in Fürſtenwalde hat
mich auf die ſchönen Farben aufmerkſam
gemacht, welche auf allen vier Flügeln
eines Schmetterlings, der Diadema bo-
lina, erſcheinen, wenn man von einem be—
ſtimmten Punkte aus darauf hinblickt. Die
beiden Geſchlechter dieſes Schmetterlings
differiren bedeutend in der Färbung. Die
Flügel des Männchens ſind, wenn von
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 73
hinten betrachtet, ſchwarz mit ſechs Flecken
von reinem Weiß und bieten eine ele—
gante Erſcheinung dar; aber von vorn
geſehen, in welcher Stellung, wie Dr.
Schulte bemerkt, das ſich dem Weib—
chen nähernde Männchen von erſterem ge—
ſehen werden würde, erſcheinen die weißen
Flecken mit einem Hofe von ſchönem Blau
umgeben. Mr. Butler zeigte mir auch
im britiſchen Muſeum ein analoges und
noch auffallenderes Beiſpiel aus der Gat—
tung Apatura, bei welchem die Geſchlech—
ter gleichfalls in der Färbung differiren
und bei dem Männchen die prachtvollſten
blauen und grünen Tinten einzig einer
davor ſtehenden Perſon ſichtbar ſind. Fer—
ner erſcheinen bei verſchiedenen Arten von
Ornithoptera die Hinterflügel des Männ—
chens von einem ſchönen Goldgelb, aber
nur, wenn von vorn geſehen; dies gilt
auch für O. magellanus, aber hier ha—
ben wir, wie mir Mr. Butler zeigte,
eine partielle Ausnahme, denn die Hinter—
flügel wechſeln, wenn von hinten betrach—
tet, aus der Goldfarbe in ein blaſſes,
iriſirendes Blau. Ob dieſe letztere Farbe
irgend eine ſpezielle Bedeutung hat, könnte
einzig durch Jemand ausgemittelt werden,
der das Benehmen des Männchens in
ſeiner Naturheimat beobachten könnte.
Schmetterlinge ſchließen, wenn ſie in Ruhe
ſind, ihre Flügel zuſammen ihre Unter—
flächen, welche oft dunkel gefärbt ſind,
können dann allein geſehen werden, und
dies dient, wie allgemein angenommen
wird, als Schutzmittel. Aber wenn
die Männchen den Weibchen den Hof
machen, ſenken und erheben ſie abwech—
ſelnd die Flügel, indem ſie dadurch die
brillant gefärbte obere Fläche enthüllen,
und es ſcheint der natürliche Schluß, daß
ſie in dieſer Weiſe handeln, um die Weib—
chen zu bezaubern oder zu erregen. Durch
die oben beſchriebenen Fälle iſt dieſe
Schlußfolge noch wahrſcheinlicher gemacht,
da die volle Schönheit des Männchens
einzig von dem Weibchen geſehen werden
kann, wenn es gegen daſſelbe vorrückt.
Wir werden dadurch an die ausgeklügelte
und abwechslungsreiche Art erinnert, in
welcher die Männchen mancher Vögel,
z. B. der Pfauhahn, Argusfaſan u. A.,
ihr wundervolles Gefieder möglichſt vor—
teilhaft vor ihren ungeſchmückten Freun—
dinnen entfalten.
Die Betrachtung dieſer Fälle veran—
laßt mich, einige Bemerkungen darüber
hinzuzufügen, in wie weit Bewußtſein
bei der erſten Erwerbung gewiſſer In—
ſtinkte, einſchließlich geſchlechtlicher Schau—
ſtellungen, notwendigerweiſe ins Spiel
kömmt; denn da alle Männchen derſelben
Art ſich in' gleicher Weiſe benehmen,
während ſie den Weibchen den Hof ma—
chen, dürfen wir folgern, daß die Schau—
ſtellung jetzt inſtinktiv geworden iſt. Die
meiſten Naturkundigen ſcheinen zu glau—
ben, daß jeder Inſtinkt zuerſt mit Be—
wußtſein ausgebildet wurde, aber dies
ſcheint mir ein irriger Schluß für viele
Fälle, wenngleich zutreffend für andere.
Vögel, die in verſchiedener Weiſe erregt
werden, nehmen ſeltſame Stellungen an
und ſträuben ihr Gefieder; und wenn die
Aufrichtung der Federn in einer beſon—
dern Art einem dem Weibchen den Hof
machenden Männchen vorteilhaft war, ſo
ſcheint mir nicht irgend welche Unwahr—
ſcheinlichkeit vorhanden zu ſein, daß dieſe
begünſtigte Thätigkeit vererbt wurde, und
wir wiſſen, daß beim Menſchen oft häß—
liche Angewohnheiten und unbewußt an—
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1.
10
74 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
genommene neue Geberden vererbt wer—
den. Wir können einen verſchiedenen Fall
nehmen (welcher, wie ich glaube, bereits
von jemand angeführt wurde), denjenigen
junger Erdvögel, welche ſich ſelbſt un—
mittelbar nach dem Ausſchlüpfen aus dem
Ei niederkauern und verſtecken, wenn ſie
in Gefahr ſind; hier ſcheint es kaum
möglich, daß die Gewohnheit gleich nach
der Geburt und ohne Erfahrung mit
Bewußtſein könnte erworben worden ſein.
Aber wenn ſolche junge Vögel, welche,
wenn erſchreckt, bewegungslos ſaßen,
öfter vor Raubtieren bewahrt blieben,
als ſolche, welche zu entfliehen ſuchten,
ſo kann die Gewohnheit des Nieder—
kauerns ohne irgend welches Bewußtſein
von Seiten der jungen Vögel erworben
worden ſein. Dieſes Raiſonnement wen—
det ſich mit beſondrer Kraft auf ſolche
jungen Schreit- und Waſſervögel an,
deren Alten ſich ſelbſt nicht verbergen,
wenn ſie in Gefahr kommen. Hinwie—
derum ein Rebhuhnweibchen fliegt, wenn
Gefahr vorhanden, eine kurze Strecke von
ihren dicht niedergekauert zurückgelaſſenen
Jungen fort, fliegt dann in der faſt
jedem bekannten Manier, als wenn ſie
gelähmt wäre, aber ungleich einem wirk—
lich verwundeten Vogel, dicht über dem
Boden hin; ſie macht ſich ſelbſt bemerk—
bar. Nun iſt es mehr als zweifelhaft,
ob jemals irgend ein Vogel mit hin—
reichendem Intellekt exiſtirte, der fähig
geweſen wäre, zu denken, daß er einen
Hund oder andern Feind von ſeinen Jun—
gen hinweglocken könnte, wenn er das
Benehmen eines wunden Vogels nach—
ahmen würde. Denn dies ſetzt voraus,
daß er ſolches Benehmen an einem ver—
wundeten Kameraden beobachtet hätte
und wüßte, daß es einen Feind zur Ver—
folgung reizen würde. Viele Naturfor—
ſcher nehmen beiſpielsweiſe jetzt an, daß
das Schloß einer Muſchel durch die Er—
haltung und die Vererbung allmählicher
nützlicher Variationen gebildet worden
ſei, indem die Individuen mit einer et—
was beſſer konſtruirten Schale in größe—
rer Zahl erhalten wurden, als diejenigen
mit einer weniger gut eingerichteten;
warum ſollten nicht vorteilhafte Abän—
derungen in den ererbten Handlungen
eines Rebhuhns in gleicher Weiſe erhal—
ten worden ſein, ohne einen Gedanken
oder bewußte Abſicht ihrerſeits, ebenſo—
wohl als in dem Beiſpiele der Muſchel,
deſſen Schalenſchloß unabhängig vom Be—
wußtſein modifizirt und verbeſſert wor—
den iſt? Charles Darwin.
Die Glieder von Hauranodon.
Im Februarheft des „American Jour—
nal of Science“ (Bd. XIX, S. 169, 1880)
macht Prof. Marſh folgende hochwichtige
Mitteilungen über den Bau der Füße von
Sauranodon, welche die älteren Studien
Gegenbaurs über die Ableitung der
Wirbeltierfüße von der Floſſe der Se—
lachier und über die von dem gewöhn—
lichen Typus abweichende Form der Hali—
ſaurier-Füße weſentlich ergänzen.
„Seitdem die erſte Art der neuen
Gattung (Sauranodon natans) von dem
Verfaſſer beſchrieben worden ift*), ſind
acht weitere Exemplare derſelben Gruppe
entdeckt und dem PYale-Muſeum einver—
leibt worden. Bei dreien derſelben iſt
der Schädel erhalten, aber auch dort ſind
keine Andeutungen von Zähnen vorhanden,
ſo daß wir dieſe Reptilien als vollkom—
5 Kosmos, Bd. V, S. 139.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
men zahnlos betrachten müſſen. Der Schä—
del zeigt in vielen Punkten Übereinſtim—
mung mit demjenigen von Ichthyosaurus.
Auch die Wirbel ſind denen dieſer Gattung
ſehr ähnlich. In den Charakteren der Seiten—
glieder bietet Sauranodon einige Züge von
ſpeziellem Intereſſe. Die vordern und
hintern Gliedmaßen ſind wohl entwickelt
und dem Schwimmen angepaßt. Dieſe Ex—
tremitäten ſind weniger ſpezialiſirt, als
diejenigen irgend eines andern bekannten,
über den Fiſchen ſtehenden Wirbeltieres.
In der Vorderpfote iſt das Ober—
armbein allein ſpezialiſirt. Unter dem—
ſelben ſind die Knochen des Vorderarms,
die Handwurzel-, Mittelhand- und Finger—
Knochen im Weſentlichen runde, frei in das
urſprüngliche Knorpelgewebe eingepflanzte
Scheiben. Der Speichenknochen darf viel—
leicht als eine teilweiſe Ausnahme be—
trachtet werden, da ſein freier Rand nahezu
gerade und etwas dünner als der übrige
Rand iſt. Es ſind da drei Knochen von faſt
gleicher Größe in der erſten Reihe unter dem
Oberarmbein vorhanden. Das Speichen—
bein kann mit Gewißheit durch ſeine Stel—
lung identifizirt werden. Der nächſte Kno—
chen entſpricht augenſcheinlich dem Mittel
knochen (Intermedium), und der dritte oder
90
75
andere äußere dem Ellenbein. In der folgen—
den Reihe ſind vier halbkreisförmige Kno—
chen vorhanden, und fünf in der nächſten
Reihe. Dieſe repräſentiren die Handwurzel—
knochen. Ferner ſind ſechs Mittelhandkno—
chen und auch ſechs wohl entwickelte Finger
vorhanden, von denen jeder aus zahlreichen
Phalangen zuſammengeſetzt iſt, welche alle
frei und von nahezu kreisrunder Form ſind.
Im Hintergliede iſt der Aufbau weſent—
lich derſelbe. Das äußere Ende des Ober—
armbeins hat drei deutliche Facetten, und
von dieſen iſt die mittelſte die breiteſte.
Zunächſt unter dem Oberarmbein und
mit ihm eingelenkt ſind drei Knochen,
welche anſcheinend Schienbein, Inter—
medium und Wadenbein repräſentiren,
wenn auch das erſtere allein nach ſeiner
Geſtalt und Stellung beſtimmt werden
kann. Die nächſte Reihe enthält vier runde
Knochen, und die folgende fünf, wie in
dem hier folgenden Holzſchnitt dargeſtellt
iſt. Dieſe entſprechen den Fußwurzel—
knochen, und in der nächſten Reihe ſind
die ſechs Mittelfußknochen. Es ſind hier
ſechs Zehen vorhanden. Die äußern Pha—
langen ſind klein und kreisförmig; da ihre
genaue Stellung nicht beſtimmt werden
konnte, ſo wurden ſie unſchattirt gelaſſen.
S n
* 8000er,
Linke Hinterſchaufel von Sauranodon discus Marsh von unten geſehen. Ein Achtel der natür—
lichen Größe.
f. Oberſchenkelbein, t. Schienbein, 1. Mittelbein, t“ Wadenbein,
I. u. V. erſte und fünfte Zehe.
76 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Die obige Figur ſtimmt im Weſent—
lichen mit den andern erhaltenen Schau—
feln überein und mag alſo als das typiſche
Glied bei dieſer Reptilklaſſe betrachtet wer—
den. Die auffallendſten Züge in dieſem
Sauranodon-Fuße find die drei mit dem
Oberſchenkelbein artikulirenden Knochen
und die ſechs vollſtändigen Zehen. Dieſe
Charaktere markireneine Entwicklungsſtufe,
die tiefer als diejenige irgend eines bekannten
luftatmenden Wirbeltieres ſteht und einzig
in den Gliedern von Ichthyosaurus an—
nähernd erreicht wird. Die Bildung von
Quer-Segmenten iſt in den fünf erſten
Reihen deutlich erkennbar, wenn man Ober—
arm⸗ oder Oberſchenkelbein als das erſte
Segment, das der Propodial-Knochen!)
betrachtet. Wenn die drei Knochen der
zweiten Reihe (Epipodial-Knochen) richtig
gedeutet wurden, ſo iſt das Mittelſte das
Intermedium. Seine Stellung in den
Schaufeln beider bekannten Arten von
Sauranodon zeigt an, daß ſein wahrer
Platz in dem Segmente iſt, wo es ge—
funden worden iſt. Wenn dem ſo iſt,
ſo folgt, daß es in dem Differenzirungs—
fortſchritt dieſer Knochen ſchrittweiſe von
ſeiner urſprünglichen Stellung zwiſchen
den Randknochen der zweiten oder epipo—
dialen Reihe hinausgedrängt worden iſt
in die dritte oder meſopodiale Reihe,
wo wir es jetzt finden.
Bei Ichthyosaurus iſt das Mittelbein
(Intermedium) nicht gänzlich aus der epipo—
Der Bedarf allgemeiner Bezeichnungen
für die korreſpondirenden Segmente der vordern
und hintern Gliedmaßen der luftatmenden Tiere
iſt offenbar. Während wir die paſſenden Aus—
drücke Phalangen und Metapodialknochen für die
äußern Teile der Extremitäten beſitzen, ſind keine
gebräuchlichen Namen für die obern Teile vor—
handen. Daher werden die folgenden vorgeſchlagen:
dialen Reihe ausgeſchloſſen, bei Plesiosau-
| rus und allen andern Reptilen iſt der Prozeß
im Weſentlichen vollendet. Bei einigen Am—
phibien trennt dieſer Knochen noch die untern
Enden der beiden ſpezialiſirten Knochen
über ihm. Sauranodon markirt eine ältere
und höchſt intereſſante Stufe in der Diffe—
renziation und zeigt in Zuſammenhang
mit den hier eitirten Beiſpielen genommen,
klar an, wie der Übergang vollführt wurde.
Die ſechs vollſtändigen Zehen in den
Gliedern von Sauranodon ſtellen einen
vorher bei keinem luftatmenden Wirbel—
tier beobachteten Charakter dar. Einige
Amphibien bewahren Überbleibſel eines
ſechſten Fingers und Ichthyosaurus hat
öfters an der Außenſeite der Phalangen
eine oder mehrere Reihen von Randknöchel—
chen, welche offenbar verlorne Zehen dar—
ſtellen. Von dieſen Ausnahmen abgeſehen,
wird die normale Zahl von fünf Zehen
nicht überſchritten.
Sauranodon discus Marsh.
Eine Vergleichung der verſchiedenen
jetzt bekannten Exemplare von Saurano-
don zeigt zwei verſchiedene Spezies an,
die, wie folgt, unterſchieden werden können:
Die typiſche Spezies (Sauranodon natans)
hat einen mehr verlängerten Geſichtsteil
des Schädels und eine ſchlankere Schnauze.
Die Wirbel ſind kurz und tief ausgehöhlt,
ja ſogar beinahe durchbohrt. Der Kopf
des Oberarmbeins iſt nur ſehr leicht konvex.
Ein zweites Exemplar, welches in feinen ſpe—
Vorderglied: | Hinterglied:
Propodial⸗K.: Oberarm-K. Oberſchenkel-K.
Epipodial⸗K. : Ellen- u. Spei⸗Schien- u. Wa⸗
chen⸗K. denbein.
Meſopodial-K.: Handwurzel⸗K. Fußwurzel-K.
Metapodial K.: Mittelhand-K. Mittelfuß-K.
Phalangial-K.: Finger-K. Zehen-K.
3
4
2
N
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
zifiſchen Hauptcharakteren mit dem Typus
|
|
|
übereinſtimmt, hat ein faſt freisförmiges |
Rabenbein mit nur leichter Ausrandung.
In der hier beſchriebenen Spezies,
welche auf den größeren Teilen eines
Skeletts baſirt iſt, erſcheint das Raben—
bein tiefer ausgerandet und der Kopf des
Oberarmbeins iſt gerundet, beinahe eben
ſo ſehr wie derjenige des Oberſchenkel—
beins; die Schaufeln ſind im Verhältniß
zu ihrer Größe auch breiter als in der
typiſchen Art.
Das hier beſchriebene Exemplar deutet
ſei.
auf ein ungefähr 12 Fuß langes Reptil.
Es ſtammt aus den obern Juraſchichten
von Wyoming, und wurde in der Reihe
wiederholen. Eine Paarung dieſer Vögel
war deshalb um eine Nuance beweis—
kräftiger als die von Mr. Eyton ver—
anſtaltete, welcher Bruder und Schweſter
verſchiedener Bruten paarte. Da in einer
mariner Ablagerungen gefunden, welche
der Verfaſſer Sauranodon-Schichten
genannt hat.
Fruchtbarkeit von Daftarden
zwiſchen der gemeinen und chineſiſchen
Gans.
In meinem Buche über den „Urſprung
der Arten” *) habe ich, auf die ausge-
zeichnete Autorität des Herrn Eyton
hin, die Thatſache mitgeteilt, daß Ba—
ſtarde zwiſchen der gemeinen und der
chineſiſchen Gans (Anser cygnoides)
vollkommen unter einander fruchtbar ſind,
was unter den bis jetzt bekannten That—
ſachen hinſichtlich der Fruchtbarkeit von
Baſtarden die merkwürdigſte iſt, denn
gegen Haſen und Kaninchen hegen viele
Perſonen Zweifel. Ich war deshalb er-
freut, durch die Güte des Rev. Dr.
Goodacre, welcher mir Bruder und
Schweſter von derſelben Brut abgab, die
Gelegenheit zu erhalten, den Verſuch zu
*) Fünfte deutſche Ausgabe, S. 324.
benachbarten Landwirtſchaft zahme Gänſe
vorhanden und meine Vögel zum Herum—
laufen geneigt waren, wurden ſie in einen
großen Käfig geſperrt. Aber nach eini—
ger Zeit bemerkten wir, daß zur Be—
fruchtung der Eier täglich der Beſuch
eines Teiches (während dem ſie über—
wacht wurden) unumgänglich notwendig
Das Reſultat des erſten Eierſetzens
war, daß drei Vögel ausgebrütet wur—
den; zwei andere waren vollkommen aus—
gebrütet, aber gelangten nicht dazu die
Schale zu durchbrechen; die übrigen,
zuerſt gelegten Eier waren unbefruchtet.
Von einer zweiten Anzahl wurden zwei
Eier ausgebrütet. Ich würde gedacht
haben, daß dieſe geringe Zahl von blos
fünf am Leben gebliebenen Vögeln einem
gewiſſen Grade von Unfruchtbarkeit bei den
Eltern zuzuſchreiben ſei, hätte nicht Herr
Eyton acht Baſtarde von einer einzigen
Bebrütung erzielt. Mein geringer Erfolg
mag vielleicht zum Teil der Einſchließung
der Eltern und ihrer ſehr engen Ver—
wandtſchaft zuzuſchreiben ſein. Die fünf
Baſtarde, Enkel der reinen Vorfahren,
waren äußerſt ſchöne Vögel und glichen
in jeder Einzelheit ihren hybriden Eltern.
Es erſcheint überflüſſig, die Fruchtbarkeit
dieſer Hybriden mit irgend welcher rei—
nen Spezies feſtzuſtellen, da dies ſchon
durch Dr. Goodacre geſchehen iſt, und
nach Mr. Blyth und Kapitain Hutton
jede nur mögliche Abſtufung zwiſchen
ihnen häufig in Indien und gelegentlich
in England geſehen werden kann.
7
Die Thatſache dieſer beiden, ſo leicht
zu paarenden Gänſe iſt merkwürdig we—
gen ihrer Verſchiedenheit, welche einige
Ornithologen veranlaßt hat, ſie in ge—
trennte Gattungen oder Untergattungen
merklich von der gemeinen durch die An—
ſchwellung an der Baſis des Schnabels,
welche die Geſtalt des Schädels beein—
flußt, durch den ſehr langen Hals mit
einem daran herunterlaufenden Streifen
dunkler Federn, in der Zahl der Kreuz—
beinwirbel, in der Geſtalt des Bruſt—
beins*), ferner auffallend in dem Trom—
petenton der Stimme und nach Mr.
Dixon“) in der Brutperiode obwohl
dies von andern verneint worden iſt. Im
wilden Zuſtande bewohnen die beiden
Arten verſchiedene Gegenden.“ ) Mir ift
bekannt, daß Dr. Goodaere zu glauben
geneigt iſt, daß Anser cygnoides blos
eine durch Züchtung erhaltene Varietät
der gemeinen Gans ſei. Er zeigt, daß
in all den oben erwähnten Kennzeichen
parallele oder faſt parallele Variationen
bei andern Tieren durch Domeſtikation
entitanden ſeien. Aber es würde, glaube
ich, ganz unmöglich ſein, ſo viele zu—
ſammmen vorkommende und kon—
ſtante Unterſchiede, wie in dieſem Falle,
zwiſchen zwei domeſticirten Varietäten der—
0h) Charles worth's „Mag. of Nat. Hist.“
Vol. IV, new series, 1840, p. 90. — F. T.
Eyton, „Remarks on the Skeletons of the
Common and Chinese Goose.“
**) Ornamental and Domestic Poultry“,
1848, p. 85.
** Dr. L. v. Schrencks „Reiſen und Er-
forſchungen im Amurland“, Bd. I, S. 457.
zu bringen. Die chineſiſche Gans differirt
78 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ſelben Spezies zu finden. Wenn dieſe
beiden Spezies als Varietäten klaſſifizirt
werden, ſo muß es auch mit Pferd und
Eſel, Haſe und Kaninchen geſchehen.
Die Fruchtbarkeit der Baſtarde in
dem gegenwärtigen Falle hängt wahr—
ſcheinlich in einem begrenzten Grade
von der reproduktiven Fähigkeit aller
Anatidae ab, die durch veränderte Be—
dingungen ſehr wenig beeinflußt wird
und davon, daß beide Spezies ſeit ſehr
langer Zeit domeſticirt find. Denn die
von Pallas aufgeſtellte Anſicht, daß
Domeſtikation dahin wirke, die faſt voll—
ſtändige Unfruchtbarkeit gekreuzter Spe—
zies wegzuſchaffen, wird um ſo wahr—
ſcheinlicher, je mehr wir über die Ge—
ſchichte und den vielfachen Urſprung der
meiſten unſerer Haustiere lernen. Dieſe
Anſicht, falls ſie bewahrheitet werden
kann, entfernt eine Schwierigkeit für die
Annahme der Descendenz-Theorie, denn
ſie zeigt, daß gegenſeitige Unfruchtbarkeit
kein ſicheres und unabänderliches Kenn—
zeichen der Artverſchiedenheit iſt. Wir
haben indeſſen viel beſſere Beweiſe für
dieſen Hauptpunkt in der Thatſache zweier
Individuen derſelben Form ungleichgriff—
licher Pflanzen, welche ſo ſicher zu der—
ſelben Art gehören, als zwei Individuen
irgend einer Art, und welche gekreuzt,
weniger Samen ergeben als die normale
Zahl beträgt, während die von ſolchen
Samen erhaltenen Pflanzen in dem Falle
von Lythrum salicaria ebenſo unfrucht—
bar ſind, als die unfruchtbarſten Ba—
ſtarde.
Charles Darwin.
—
—
Hellwalds Werk
über den vorgeſchichllichen Menfchen.
A ohl als eines der beſten Werke,
die uns unter den jüngſt erſchie—
nenen einen Geſammtüberblick er—
öffnen über die Forſchungen auf anthropo—
logiſchem und prähiſtoriſchem Gebiete,
muß das von Friedrich von Hellwald
jetzt in der zweiten Auflage!) vor—
liegende angeſehen werden. — Nicht nur
die Reichhaltigkeit und Vollſtändigkeit
des Gebotenen muß den Leſer einneh—
men, ſondern die ganze Verarbeitung
des Stoffes, welche von neuen, in der
Wiſſenſchaft erſt jetzt zur Geltung ge—
kommenen Geſichtspunkten unternommen
wurde, bezeugt uns, daß hier eine
wichtige literariſche Arbeit vor-
liegt, die man nicht ohne großes wiſſen—
ſchaftliches Intereſſe aus der Hand legen
kann. Nach einer mehrere Kapitel um—
) Der vorgeſchichtliche Menſch. Ur—
ſprung und Entwicklung des Menſchengeſchlechts.
Für Gebildete aller Stände. Urſprünglich her—
ausgegeben von Wilhelm Bär. Zweite völlig
umgearbeitete Auflage von Friedrich v. Hell-
wald. Leipzig bei O. Spamer, 1880.
Literatur und Kritik.
faſſenden allgemeinen Einleitung aus den
Gebieten der Paläontologie, Geologie,
Ethnologie und Völkerpſychologie, wen—
det ſich der Verfaſſer zu dem Abſchnitt
über „Die vorgeſchichtlichen Zeitalter“.
In dieſem werden die Grundfragen be—
handelt, welche die junge anthropologiſche
Wiſſenſchaft bewegen, und die Entſchei—
dung hierüber hat zugleich die Methode
für die neue Darſtellung des Geſammt—
materials an die Hand gegeben. Be—
trachten wir uns dieſes Kapitel daher
genauer. Zuerſt behandelt der Verfaſſer
die Frage nach der Dauer der Urzeit,
und hebt das Reſultat hervor: daß ſich
die ganz enorme Reihe urgeſchichtlicher
Fundſtücke, welche in das geſellſchaftliche
Leben der Urzeit einen Einblick geſtat—
ten, und womit ſein Buch eingehender
ſich beſchäftigen will, auf weitaus
ſpätere, der Gegenwart unendlich
näher gerückte Epochen bezieht. So
ſehr wir aber in neuerer Zeit in der
Anthropologie allmählich zu dieſer Über—
zeugung gekommen ſind, ſo wenig ſind
wir im ſtande, eine genauere Chronologie
über die rückwärts liegenden Zeiträume
anzugeben. An einem treffenden Bei—
ſpiele wird uns das erläutert: „Man
80
findet in einem Torfmoor in der Tiefe
von 1,5m eine Medaille aus dem 13.
Literatur und Kritik.
Jahrhundert und in 9m Tiefe eine bron-
zene Hacke. Da nun ein Torflager von
1,5m Mächtigkeit 600 Jahre gebraucht
hat, um ſich zu bilden, ſo hat die Bil—
dung einer Schicht von 9m offenbar
3000 Jahre in Anſpruch genommen.
organiſche Ablagerungen und Schichten—
bildungen ſich nur im Herbſt und
nicht auch während des Sommers
nach ſehr großen Regengüſſen und
Durchſpülungen des Landes in
großem Maßſtabe erzeugen könn—
ten. — Die genaue Altersfrage, fo
Dieſe Argumentation ſetzt voraus, daß
die Torfbildung ganz regelmäßig ver—
laufe; dies iſt aber unglücklicherweiſe
nicht der Fall. Es würde nun in Frage
kommen, ob man Ablagerungen anderer
Art auffinden kann, in Bezug auf welche
ſich die Schichtenbildung ſo verhielte, daß
ſich an einer Maßeinheit als Vergleichs—
punkt eine Altersberechnung vornehmen
ließe. Hier verweiſt uns nun der Ver—
faſſer auf die intereſſanten Entdeckungen
des Ingenieurs Nene Kerviler bei Ge—
legenheit des Flottenbaſſins in Penhoust.
Das aufmerkſame Studium der Bai von
Penhouét hat in der That gezeigt, daß
die Schichten des durch die Loire abge—
lagerten Alluviums genau gezählt wer—
den können, ähnlich wie man die Jahres—
ringe eines Baumes zu zählen und hier—
nach das Alter deſſelben zu beſtimmen
vermag. Bis zu einer Tiefe von 8m it
die Bildung der Ablagerungen abſolut
regelmäßig. Dabei kommt in Betracht,
daß die oberſte Lage aus organiſchen
Reſten gebildet wird, die ſich vorzugs—
weiſe durch den Blätterfall im Herbſt
anſetzt, während in den übrigen Jahres—
zeiten nur Schichten von Sand und Thon
eingeſchlemmt werden.
Inwieweit Herr Kerviler in die—
ſer Hinſicht recht hat, müſſen weitere
Beobachtungen lehren; denn immerhin
müßte genau feſtgeſtellt werden, daß
ſcheint uns daher, wird in der Anthropo—
logie immerhin mit Vermutungen ver—
ſetzt bleiben, über welche wir in der
Forſchung nicht völlig hinauskommen.
Begnügen wir uns mit dem allgemeinen
Reſultat, das nach dieſer Seite hin die
größte Wahrſcheinlichkeit hat, und dieſes
lehrt uns, wie Hellwald richtig ſagt:
„daß die Urzeit, welche die bisherigen
Funde der Forſchung erſchloſſen, ſich nur
auf wenige Jahrtauſende erſtreckt.“
Es folgen nun eine Reihe von Er—
örterungen über den Begriff der Ur—
geſchichte. Wenn die Geſchichte jedesmal
von da ab ſich erhellt, wo wir Belege
und Zeugniſſe monumentaler und ſchrift—
licher Art aufzuweiſen haben, ſo zeigt es
ſich, daß der Eintritt der Völker in die—
ſelbe ein vielfach verſchiedener war. Wäh—
rend ſich z. B. die Römer zur Zeit der
Gründung Roms im Stadium des Prä-
hiſtoriſchen bewegen (denn wir beſitzen
von dieſem Volke aus der ſog. Königs—
zeit keine Denkmäler und Urkunden),
ſtand Agypten ſchon lange unter der
Sonne einer weit zurückreichenden Ge—
ſchichte, und damit erhärtet ſich der Satz,
daß die Grenzen des Hiſtoriſchen und
Prähiſtoriſchen über den Umkreis der Völ—
ker gezogen, keineswegs eine iſochrone Linie
bildet, ſondern bei den verſchiedenen Völ—
kern verſchieden liegt, bei den Agyptern
in ziemlicher Höhe beginnend und bei den
unkultivirten Stämmen ſelbſt jetzt is
== — ä
Literatur und Kritik. 81
unter den Nullpunkt ſinkend. Ob man überzeugend, daß man in der anthropo—
weiterhin aber, wie Hellwald geneigt
cheint, den Satz erhärten kann: „daß
N 6 erh
die ſich faſt ausſchließlich auf den Nor—
den und Weſten Europas beziehen, über
jene Zeitgrenze hinausführt, mit welcher
die geſchichtliche Kenntnis der orien—
taliſchen Völker des Altertums ihren
Anfang nimmt, muß vorläufig dahin—
geſtellt bleiben. Wir haben gar keine
Anhaltepunkte für den Nachweis, wann
die erſten und mongoloidenartigen Stämme
das nach grönländiſch geartete Europa
betreten haben; es iſt aber kein Grund
abzuſehen, weshalb das nicht in jener
frühen Zeit ſchon ſtattgefunden haben
könnte, in welcher (vielleicht kurz nach Erfin—
dung des Feuerzündens) an eine wirkliche
Kultur ſelbſt bei den am höchſten entwickel—
ten Stämmen noch nicht zu denken war.
Der Verfaſſer wendet ſich nun zu
der wichtigſten Frage: ob die bisherige
Periodenteilung der Urgeſchichte in eine
ſogenannte Stein-, Bronze- und Eiſen—
periode ein Schema darſtellt, das man
auf den Kulturfortſchritt aller Länder
und Völker auszudehnen im Stande iſt.
Ueber dieſe Frage hat ſich Hellwald
bereits ausführlicher in einer Reihe von
trefflichen Artikeln in dieſer Zeitſchrift
geäußert.“) Die von Herrn Hoſtmann
gebrachten Einwände hatten das alte
herrſchende Syſtem, mit welchem man all—
gemein das obige Schema der Perioden—
teilung adoptirt hatte, bereits ſehr ſtark
erſchüttert. Hellwald kommt dieſem
Forſcher entgegen und was von ihm
beigebracht wird, iſt in allen Stücken ſo
7 * „Europas vorgeſchichtliche Zeit“, Kos—
mos, II. Bd.
teilung als zu
keine der urgeſchichtlichen Entdeckungen,
logiſchen Wiſſenſchaft die alte Perioden—
Grabe getragen be—
trachten kann. Es fehlt uns der Raum,
die einzelnen Gründe hier aufzuführen,
die ſchließlich zu dem Satze hinführen:
„daß zunächſt die verſchiedenen Unter—
abteilungen, in welche die Archäologen
die beiden großen Zeiträume der vor—
metalliſchen und der Metallzeit zerlegen,
lediglich und nur einen lokalen
Wert beſitzen, und Niemand ſich darf
verleiten laſſen, die Verhältniſſe einer
Völkergruppe auf die anderen zu über—
tragen.“ Wir ſtimmen Hellwald nicht
nur bei in alledem, was er ausführt
gegen die Trennung eines allgemeinen
paläolithiſchen und neolithiſchen Zeit—
alters, ſondern auch die Abteilung von
Mammutzeit und Rentierzeit halten wir
mit ihm für durchaus hinfällig. Sehr
belehrend ſind insbeſondere die Ausfüh—
rungen über die ſog. Rentierzeit und
der Nachweis, daß das Rentier noch
in hiſtoriſcher Zeit im Rheinlande vor—
kam. Gerard ſagt uns über die Ver—
tilgung der heute bei uns nicht mehr
vorkommenden Tiere: „Das Rentier
verſchwand unter der Regierung des Au—
guſtus. Hierauf kamen das Elen, das
Wiſent, der Auerochs, das wilde Pferd,
die Gemſe, der Steinbock, der Luchs, der
Bär, der Damhirſch und Edelhirſch an
die Reihe.“
Im Anſchluß an alle die Beweis—
gründe, die von Hoſtmann und Anderen
beigebracht wurden gegen das Feſthalten
der Unterabteilungen, Beweisgründe, denen
Hellwald zuſtimmt, möchte Schreiber
dieſes zugleich die vielleicht nicht ganz un—
berechtigte Frage aufwerfen, ob man nicht
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1.
11
82
auch die ſtrenge Scheidung der Vor—
geſchichte in eine allgemeine vor—
metalliſche Zeit und Metallzeit
anfechten darf? Hierüber ſchreibt Hell—
wald: „Über allen Zweifel erhaben iſt
und bleibt es, daß die ſogenannte Stein—
zeit, welche in die älteſte Menſchenperiode
zurückleitet, der Bearbeitung der
Metalle voranging, genau wie unſere
Kinder bei ihren Spielen und Verrich—
tungen des Steines als Hammer oder
Werkzeuges ſich noch heute bedienen. Es
würde gegen die geſunde Vernunft ver—
ſtoßen, anzunehmen, der Menſch habe erſt,
nachdem er einmal das Metall kennen
gelernt, ſich dem Steine zugewendet;
einer ſolchen Hypotheſe widerſprechen auch
alle bisher bei Naturvölkern und ander—
wärts gemachten Beobachtungen.“ In
Bezug auf dieſe Grundfrage wird man
ſich zugleich klar werden müſſen über den
Begriff Metall. Hinſichtlich vieler Merk—
male, unter ihnen auch das der Schwere,
unterſcheiden ſich die Metalle genau ge—
nommen nicht von den Steinen, zumal
wenn wir darauf achten, daß die meiſten
nicht in gediegenem Zuſtande, ſondern im
Zuſtande chemiſcher Verbindungen (als
Erze) vorkommen. Achtet man hierauf, ſo
muß man zugeben, daß ſicherlich in der
feuerloſen Steinzeit, wo man die Neſter
der Feuerſteine in den Kalkgebirgen aus—
zubeuten und zu finden verſtand, auch die
ſchimmernden Metalle, und zwar dieſe nur
als glänzende, ſchwere Steine bekannt ge—
weſen ſein müſſen. Nun kennen wir in der
That einige Völker, wie Indianer und
Polarvölker, welche gediegenes Kupfer
oder aber das ſogenannte Meteoreiſen in
ähnlicher Weiſe zu Werkzeugen verarbeite—
ten, wie das mit den Steinen geſchah.
Literatur und Kritik.
Lebten nun dieſe Völker, als ſie dieſer rohen
Technik mit den Metallen oblagen, im
Stein- oder im Metallzeitalter? Schrei—
ber dieſes antwortet hierauf kategoriſch:
Im Steinzeitalter. Denn wie man auch
über den Begriff Metall denken mag,
derſelbe wird erſt dann zu Recht beſtehen,
wenn man an ihm als weſentlichſtes
Merkmal ſeine Schmelzbarkeit ſetzt.
Die Vorbedingung für die Schmelzbar—
keit und die ſich daran anſchließende Me—
talltechnik war daher die Kenntnis des
Feuers, d. h. die Verbindung von
Feuer und Metall. Es iſt nun recht
gut denkbar, daß im ſüdweſtlichen Aſien
und im angrenzenden Afrika Völker
neben einander lebten, welche die Metalle
zu Schmuckſtücken (Amuletten) und Zier—
raten roh verarbeiteten, ähnlich wie Bern—
ſtein und Elfenbein, ohne die Schmelz—
barkeit derſelben zu kennen, während
andre, nach dieſe Seite hin erfinderiſcher
angelegte Völker, wie z. B. die Turaner,
ſchon zur ſelben Zeit mit der Schmelz—
barkeit, Guß- und Schmiedekunſt derſelben
bekannt waren.) Unter ſolcher Anſchau—
ung ſehen wir dann die Steinzeit (Stein—
Metallzeit) und Metallzeit mindeſtens
ebenfalls ſo unmerklich ineinander über—
gehen, daß auch hier in Bezug auf dieſe
Grundperioden der Satz ausgeſprochen
werden muß: Stein- und Metallzeit
find Zeiträume von lediglich lo—
kalem Wert, auch dieſe ſind durch die
relativen Übergänge mit einander ver—
7 ) Wie man ſich von geiftiger und völker—
pſychologiſcher Seite aus den Übergang zur Ent—
deckung der Schmelzbarkeit der glänzenden Me—
tallſteine zu denken hat, darüber hat ſich Schreiber
dieſes in ſeiner Urgeſchichte genauer ausgeſprochen.
Vergl. „Urgeſchichte der Menſchen“, 2. Aufl.,
Bd. II, p. 206 ff. (Leipzig bei Brockhaus).
Literatur und Kritik, 83
bunden, fließen in einander vielfach über |
und ſpielen und laufen bei verſchiedenen
Völkern neben einander her. Auch hier
darf man ſich alſo nicht verleiten laſſen,
die Verhältniſſe einer Völkergruppe auf
die andere zu übertragen; denn während
z. B. einige eine ganz allmähliche, lang—
währende Übergangsperiode von Stein—
und Metallzeit durchmachten, ſodaß beide
Zeitalter ſich kaum noch trennen laſſen,
iſt das Entgegengeſetzte oft bei Nach—
barvölkern der Fall geweſen, welche ſich
ohne vermittelnde Übergänge die Erfin—
dung des anderen aneigneten und nach—
ahmten. Wenn es ſich aber, wie wir
hiernach ſehen, inißlich verhält in Bezug
auf die ſcharfe Unterſcheidung der Grund—
perioden, Steinzeit und Metallzeit, ſo iſt
das ſelbſtverſtändlich in noch viel höherem
Maße der Fall bezüglich der Unterabtei—
lungen von Bronze- und Eiſenzeit. Daß
dieſe Einſchnitte nur noch von ſehr rela—
tiver und ganz lokaler Bedeutung ſind,
wird jetzt zweifelsohne von allen Anthro—
pologen zugegeben werden müſſen.
Da nun, wie wir aus Obigem erſehen,
alle dieſe bisher angenommenen Grenzen
ſich verwiſchen und hinfällig werden,
mußte ſich Hellwald entſchließen, die
ganze Periodenteilung hinſichtlich der Dar—
ſtellung der Vorgeſchichte fallen zu laſſen,
und es waren neue Wege einzuſchlagen.
Die hiermit geſtellte neue Aufgabe hat
der Verfaſſer befriedigend gelöſt. Um alles
Wiſſenswerte in einen Rahmen zu faſſen
hat er ſich zunächſt an die geographiſchen
Verhältniſſe der Völker gehalten, und
iſt alsdann in Bezug auf die eentral—
europäiſchen Forſchungen in der Beſchrei—
bung zugleich zu den archäologiſchen
Unterſchiedsmerkmalen, ſo wie ſie ſich in
Sammlungen und an den Fundorten bie—
ten, übergegangen. So werden im Hin—
blick auf die am meiſten durchforſchten
Gegenden, die Höhlen Weſteuropas, die
Höhlen und Stationen Mitteleuropas,
und dann die Menſchenreſte aus den
Höhlen und Stationen in einem beſon—
dern Kapitel behandelt. Hierauf folgt ein
Abſchnitt, der alles Gefundene zu einem
Bilde über die Urkultur der erſten Euro—
päer zuſammenfaßt. Dann folgt die Dar—
ſtellung der Muſchelhügel, der nordiſchen
Steinartefakte und die Steingräber, end—
lich die Pfahlwerke und die germanifchen
Altertümer. Nach unſerm Dafürhalten
ſind die Betrachtungen über Pfahlwerke
etwas zu gekürzt ausgefallen, namentlich
iſt die Frage nach dem Zweck und der
Bedeutung der Pfahlbauten nur in we—
nigen Worten behandelt, obwohl hier—
über noch manches zu ſagen bleibt; auch
iſt es auffällig, daß der ethnologiſche
Teil dieſes Kapitels, über welchen in der
erſten Auflage viele Einzelheiten berich—
tet wurden, beinahe ganz fortgeblieben
iſt. Die Pfahlbauten werden, ebenſo wie
die anderen Erſcheinungen der prähiſto—
riſchen Welt, nur hinreichend verſtänd—
lich, wenn man ſie in Analogie ſetzt mit
dem, was wir hierüber noch heute bei wil—
den, zurückgebliebenen Völkern aufweiſen
können. Die hierhergehörigen Hinweiſun—
gen auf ethnologiſche Analogieen vermiſſen
wir daher bei dieſem wichtigen Abſchnitte
nur ungern. Allein abgeſehen von derlei
kleineren Unebenheiten, macht das Werk,
wie ſchon im Eingange bemerkt, einen
ſo ſehr befriedigenden Eindruck, daß wir
dem Verfaſſer ſowohl wie dem Verleger,
der wiederum alles angewandt hat, um
durch graphiſche Darſtellung der Vor—
— — —
ſtellung und Phantaſie zu Hülfe zu Toms |
men, in jeder Hinſicht nur Dank wiſſen
können. Jeder, der ſich an dem heutigen
Stande der prähiſtoriſchen Wiſſenſchaft,
ſowie über Anthropologie, Archäologie
und Kulturgeſchichte unterrichten will,
empfehlen wir daher das Hellwaldſche
Werk auf das Angelegentlichſte. —
Heidelberg. O. Caspari.
Materialien zur Vorgeſchichte des
Menſchen im öſtlichen Europa.
Nach polniſchen undruſſiſchen Quellen be-
arbeitet und herausgegeben von Albin
Kohn und Dr. C. Mehlis. Zweiter
Band. Mit 32 Holzſchnitten, 6 lith.
Tafeln und einer archäologiſchen Fund—
karte. Jena bei H. Coſtenoble, 1879.
Der zweite Teil dieſes ſchon nach dem
Erſcheinen des erſten Bandes im Kosmos!
beſprochenen Werkes liegt uns vollendet
vor und ſchließt ſich hinſichtlich des Reich—
tums der Fundzuſammenſtellungen dem
erſten Bande ebenbürtig an. Dem Werke
iſt zugleich eine Karte beigegeben, die
von hohem Werte iſt. Wir überſehen auf
ihr das ganze Gebiet mit ſeinen Fund—
ſtätten, das von Forſchern begangen und
ausgebeutet wurde. Den nördlichiten
Punkt bildet Petersburg, in deſſen Um—
gebung Kurgane mit Gräbern bezeichnet
ſind, nach Oſten hin ſtellen die Städte
Jaroslaw, Pereslaw und Moskau die
Grenze dar, und ſelbſt aus dem Süden
werden uns noch hervorragende Grab—
kurgane vorgeführt, die in der Nähe von
Kertſch und auf der Tamaniſchen Halb—
inſel aufgefunden wurden. Das Studium
der Karte zeigt uns freilich auch, wie
viel nach Oſten hin der Spezialforſchung
) Bd. V, S. 157.
84 Literatur und Kunſt. |
|
zu thun noch übrig bleibt. Weite Flächen
ſind noch zu durchforſchen; aber dennoch
müſſen wir der ruſſiſchen Regierung ſo—
wol wie den ſelbſtändigen ſlaviſchen An—
thropologen und Forſchern ſehr dankbar
ſein für die große Mühe, die ſie in dem
ſpärlich bevölkerten, weiten Lande that—
ſächlich aufgewandt haben, um die oft mäch—
tigen Erdhügel der Kurgane offen zu
legen und den Fund zu gewinnen. Die 5
Kurgane, welche uns hier im erſten Kapitel 1
des zweiten Bandes beſchrieben werden,
ſind die in der Nähe des ſchwarzen Meeres
auf der Tamaniſchen Halbinſel gelegenen.
Daß die Kurgane in Polen, Galizien,
Lithauen, Ruthenien und Groß-Rußland
ſich von denen der Umgegend von Kertſch
und Tamanien vielfach hinſichtlich der
Funde und anderer Charakteriſtika unter—
ſcheiden, durfte man vorausſetzen, die e
Eigenartigkeit ihrer Lage rechtfertigt da—
her vollkommen ihre geſonderte Behand—
lung und Darſtellung. Wie zu vermuten,
treffen wir an dieſen Orten die Spuren,
welche auf die Verbindung der altklaſſiſchen
Kultur zurückweiſen. Ob aber die geſam—
melten Funde ausreichen, weitere Schlüſſe
in ethnologiſcher Hinſicht, d. h. bezüglich der
hier vor ſich gegangenen Völkerentwicklung
zu ziehen, müſſen wir bezweifeln. Gerade
dieſe Gegenden ſind, wie richtig erwähnt
wird, vielfach der Tummelplatz zahlreicher
Wandervölker geweſen. Die Küſtenſtrecken
des ſchwarzen Meeres ſind, wie die Fluß—
thäler der Wolga, der Donau und des
Rheins, als große Verkehrswege und
Heerwege zu betrachten, wo vieles Ein—
zelne ſich aus den verſchiedenſten Zeiten
abgelagert hat. Die hier angetroffenen
Kurgane ſind daher in dieſen Gegenden l
zwar um ſo intereſſanter, aber in der |
Literatur und Kritik. 85
Beurteilung und bezüglich der zu ziehen-
den Schlüſſe mahnen uns dieſe Funde
zu großer Vorſicht. Die Herren Autoren
haben denn auch nur unter größerer Re—
ſerve einige Andeutungen in dieſer Hin—
ſicht zu machen verſucht, denen wir großen—
teils beiſtimmen. In den Kurganen
Lithauens werden nur Menſchenreſte, keine
Tierreſte angetroffen, hier in dieſen
Gegenden finden ſich neben dem Menſchen
auch die Reſte von beſtatteten Pferden.
Wer die Bedeutung des Pferdes für die
dort heute noch lebenden Völkerſchaften
in Erwägung zieht, wird hierin nichts
Befremdliches finden. Daß dieſe Sitte
der Beigabe von Pferden in Begräbnis—
ſtätten auf eine Verſchiedenheit hindeutet
zwiſchen den Bevölkerungen von Lithauen
und Tamanien, erſcheint ſelbſtverſtändlich,
weitere Schlüſſe aber auf eine eigenartige
Raſſe u. ſ. w. werden ſich daraus nicht
ableiten laſſen. Daß die in dieſen Gegen—
den befindlichen Grabſtätten ſehr oft be—
raubt gefunden werden, nimmt inſofern
Wunder, als unter allen Völkern, ins—
beſondere unter denen, welche mit der
alten Kulturwelt in Verbindung ſtanden,
die Heiligkeit und Unantaſtbarkeit der
Gräber hochgehalten und Frevel in dieſer
Hinſicht ſchonungslos beſtraft wurde.
Wenn dennoch hier Beraubungen ſehr häu—
fig ſind, ſo darf man annehmen, daß
Plünderung und Raub durch den Wechſel
der Bevölkerungen, welche Sitten und
Gewohnheiten der Vorfahren nicht mehr
achteten, nicht geſcheut wurden. Oft ſind
die Plünderungen der Kurgane wol eben—
ſo mühſelig und umſtändlich geweſen, wie
die Nachgrabungen, welche wir noch heute
nur mit großen Koſten zu bewerkſtelligen
im Stande ſind. Wenn man daher alles
das nicht geſcheut hat, muß man vor—
ausſetzen, daß das Räuberweſen, ohne
von der Obrigkeit überwacht zu werden,
hier ungeſtört ſein Handwerk treiben konnte.
Der hohe Wert der Funde mochte zu dieſem
Unweſen ganz beſonders anreizen, iſt doch
in einer der hier geöffneten Grabſtätten
ein Fußring aus maſſivem Golde, im
Gewichte von ¼ Pfund, aufgefunden
worden, der ſich jetzt im Kaiſerlichen
Kabinette aufbewahrt findet. Daß die
hier liegenden Gräber ſchon in der klaſſi—
ſchen Zeit beraubt wurden, wie uns die
Herren Autoren andeuten, läßt ſich aus
oben entwickelten Gründen kaum annehmen.
Im hohen Grade beachtenswert ſind
die Spuren, welche auf die Beziehungen
zur griechiſchen Plaſtik hindeuten. So
wurden bei Sjenna zwei Grabſteine auf—
gefunden, deren eines mit der Figur
eines ſeythiſchen Reiters, der andere mit
dem Kopfe eines Mannes verziert war.
Die unteren Teile dieſer Grabſteine
ſind nicht gefunden worden, ebenſo iſt
auch das Grab, zu welchem ſie gehört
haben, nicht entdeckt worden. Wenn uns
weiter aber hinzugefügt wird, daß es
wahrſcheinlich iſt, daß das Grab, zu wel—
chem ſie gehört haben, zerſtört und be—
raubt und die Steine umhergeworfen
wurden, ſo läßt ſich die Triftigkeit dieſer
Bemerkung nicht ermeſſen. Solche Zu—
ſätze ſind in einem Sammelwerk oft be—
denklich, fie präbccupiren das Urteil, das
endgiltig doch nur gefällt werden kann
durch eine genaue Unterſuchung des That—
beſtandes und der Umgebung; denn nicht
überall, wo Bildwerke angetroffen werden,
hat man an ihren direkten Zuſammenhang
mit Grabſtätten zu denken. Oft genug
ſind Bildwerke, die anderen Zwecken
15
dienten, um ſie vor Feinden und Räubern
zu ſchützen, in Grabkammern gerettet und
hier nur aufbewahrt worden.
Der nun folgende Abſchnitt iſt den ſog.
Burg- oder Ringwällen gewidmet. Daß in
dieſen Stätten nicht immer nur Feſtungen
oder Verteidigungswerke, ſondern zugleich
auch altheidniſche Verſammlungsorte und
Opferſtätten geſucht werden müſſen, darf
man im Allgemeinen wol mit Recht be—
haupten. Ob man aber Grund hat, die Ring—
wälle genauer einzuteilen in Schlöſſer,
Opferſtätten und Gerichtsſtätten, muß je—
denfalls (hier geben wir Dr. Szule Recht)
bezweifelt werden, noch weniger aber hat
man ein Recht, mit ſeinen Hypotheſen
noch weiter auszuholen, um hier die Pal—
ladien für Heiligtümer, Schutzgötter und
Kriegszeichen zu ſuchen, nach Art der
altgriechiſchen Akropolen. Die Frage über
die Bedeutung und den Zweck der Ring—
wälle iſt noch keineswegs zum Abſchluß
gekommen, ſie befindet ſich noch in dem—
ſelben Stadium, wie vor vielen Jah—
ren — die Frage über den Zweck der
Pfahlbauten. Mit dieſer Frage ſteht ſie
ſogar in einem gewiſſen Zuſammenhange.
Daß ſehr viele Pfahlbauten-Anſiede—
lungen Verteidigungszwecken dienten, wird
heute allgemein angenommen. Daß die
Sitte, zu ſolchem Zweck das Waſſer
zu benutzen, ſich ſpäterhin ablöſte mit
jener anderen, ſich hinter Steinwällen
zu ſchützen und weiterhin Schlöſſer und
Burgen zu bauen, iſt leicht begreiflich.
Je mehr man mit Hülfe von Schiffs—
werkzeugen den Thalbau belagern lernte,
um ihn alsdann durch Brand zu zerſtören,
deſto mehr mußte das Pfahlbauweſen in ſich
hinfällig werden. Viele der ſog. Burg—
und Ringwälle ſcheinen in der That den
Literatur und Kritik.
Übergang von der Waſſerveſte (Pfahlbau)
zur Steinveſte (Burg), die wir bis tief
in die hiſtoriſche Zeit hinein antreffen,
darzuſtellen, doch darf man freilich nicht
behaupten, daß alle Funde dieſer Art
dem ganz gleichen Zweck gedient haben.
Daß das Volk, welches den eigentlichen
Zweck dieſer Baudenkmale heute nicht mehr
kennt, dennoch eine Sage hierüber aus—
gebildet hat, iſt erklärlich, intereſſant nun
iſt es, daß vielen der Ringwälle jener
Gegend der Name „Schwedenſchanze“
erteilt wird. Der Verfaſſer ſagt in Be—
zug darauf mit Recht: „Das Gedächtnis
des Volkes reicht eben gewöhnlich blos
bis zur letzten großen Kataſtrophe zurück;
hier die Invaſion der Schweden. Bei
Dürkheim liegende prähiſtoriſche Wohn—
ſtätten werden von den Landleuten als
ein „franzöſiſches Barackenlager“ bezeich-
net. Es iſt ſonſt nicht bekannt, daß an
dieſem Punkte franzöſiſche Truppen ſich
aufhielten; allein die Phantaſie des Volkes
ſubſummirt alle möglichen Denkmäler den
Erinnerungen der Jüngſtvergangenheit.
Es iſt dies eine rückläufige Sagenbildung.
Dieſer Ausdruck „rückläufige Sagenbil—
dung“ nimmt ſich ſonderbar aus und iſt
mythologiſch ſchwerlich ſtatthaft. Der Fort—
gang und die Entwicklung jedes Mythus
kennt eben eine ganze beſtimmte Phaſe,
innerhalb der mit der Wurzel fälſchliche
Hiſtoriſirungen vorgenommen werden.
Wir haben alſo in dieſen Wendungen
keine eigentümliche Sagenbildung, ſon—
dern einen ganz beſtimmten Prozeß al—
ler Sagenbildung überhaupt vor uns.“)
Das dritte Kapitel iſt nun der anthro—
pologiſchen Schädellehre gewidmet. Die
N) S. Caspari, „Die Urgeſchichte der
Menſchheit“, 2. Aufl., Bd. II, S. 243 ff.
Literatur und Kritik.
Herren Autoren haben ſich augenſchein—
lich bemüht, hier ſo exakt wie möglich
zu verfahren. Alle Zahlenbeſtimmungen
und Meſſungen finden ſich im Hinblick
auf hervorragende Craniologen in beſon—
deren Vergleichstabellen überſichtlich zu—
ſammengeſtellt. Wenn das gewonnene
Reſultat dem Aufwand von Mühe hier
nicht entſpricht, ſo liegt das, wie heute
wohl mehr und mehr erkannt wird, an
der Unfertigkeit der craniologiſchen Wiſ—
ſenſchaft. Die Craniologie überhaupt iſt
weit davon entfernt, mehr als bloße,
vage Anhaltepunkte zu liefern. Die Reihe
der Momente, die von den verſchieden—
ſten Seiten zuſammenkommen müſſen, um
ethnologiſch ſichere Beſtimmungen zu lie—
fern, iſt zu groß, als daß man der Cra—
niologie und ihren zum Teil unſicheren
Ergebniſſen allein folgen könnte.
Als viertes und letztes Kapitel finden
ſich eine Reihe von archäologiſchen Ein—
zelobjekten behandelt, die ſich dem Syſtem,
das von den Autoren zur Darſtellung
gewählt wurde, nicht völlig einfügen
ließen. — Der Raum verbietet uns, die—
ſelben hier einzeln zu betrachten, und ſo
beſchränken wir uns darauf, dieſelben
hier nur zu erwähnen. Es ſind Blei—
plättchen, welche im Bug gefunden wur—
den, auf denen ſich Geſichte und Zeichen
befinden, die heute noch ihrer Deutung
harren, ferner eine eiſerne Lanzenſpitze
und Steine mit Runenſchrift; ſteinerne
Frauen, welche in Rußland und Galizien
gefunden worden ſind; zufällige Funde
in Kaliſch und Umgegend, Funde am
Gogloſee; der Michalkower Schatz, Funde
bei Slaboszewo 2c., endlich vorhiſtoriſche
Gräber bei Czekonow und Niwiadoma in
Polen. — Hieran ſchließt ſich noch ein
87
Anhang über Einzelfunde, welche ſich in
der „Zeitſchrift für Ethnologie“ nieder—
gelegt finden; ein dem Werke beigegebe—
nes Sachregiſter vervollſtändigt das Ganze.
Blicken wir zurück auf die Summe der
hier aufgebotenen Arbeit, ſo müſſen wir
den Herren Verfaſſern unſere Anerken—
nung zollen für den großen Fleiß, mit
dem ſie ſachlich unparteiiſch alles ſam—
melten, was für die hier behandelten
Terrains von anthropologiſchem und ethno—
logiſchem Intereſſe war. Es fehlt frei—
lich noch viel, bevor wir uns ein mög—
lichſt richtiges Bild über die Ein- und
Auswanderungen und die wichtigſten
Sitten und Gewohnheiten der Völker—
ſtämme eben jener Gegenden machen
können, aber zugeſtanden muß werden,
daß durch den uns gelieferten Einblick
der ſehr dunkle Schleier ſich inſofern ein
wenig gelüftet hat, als uns bezüglich einer
Reihe von Anhaltepunkten doch die Grund—
linien erkennbar werden, auf denen ſich
das prähiſtoriſche Leben des europäiſchen
Oſtens entwickelte. Für dieſen uns ge—
lieferten erſten Geſammteinblick und flüch—
tigen Ueberblick müſſen wir den Herren
Verfaſſern in jeder Weiſe dankbar fein.
Heidelberg. O. Caspari.
Allgemeine Zoologie oder Grund—
geſetze des tieriſchen Baues und
Lebens. Von H. Alexander Pa—
genſtecher. Erſter bis dritter Teil.
Mit 433 Textabbildungen. Berlin,
Wiegandt, Hempel und Parey.
Für unſre Zeit, in welcher die Zoologie
gleich allen andern Naturwiſſenſchaften
ſo ins Breite gegangen iſt, daß nicht nur
der Laie, ſondern auch der auf einem Spe-
N
88
zialfelde beſchäftigte Forſcher fürchten muß, |
den Überblick zu verlieren, muß ein Werk,
wie das in den vorliegenden Bänden be—
gonnene als geradezu unſchätzbar bezeich—
net werden, und zwar für Lehrer ſowohl
als für Lernende. Gewiß war es nicht
leicht, in unſerer Zeit der Gährung und
Parteiſpaltung auf biologiſchem Gebiete
eine ſolche Arbeit in Angriff zu nehmen;
daß ſich der Verfaſſer durch dieſe, die
innern vermehrenden äußern Schwierig—
keiten nicht hat zurückſchrecken laſſen,
müſſen wir um ſo dankbarer anerkennen.
Auch hat er nach unſerem Bedünken,
wenn auch nicht mit völliger Parteiloſig—
keit, ſo doch mit einem ſeltenen Grade
derſelben, die widerſtreitenden Anſichten
und Meinungen verglichen, und jeder,
ſo gut es ihm möglich war, ihr Recht
widerfahren laſſen. In der Darſtellung
iſt dem Hiſtoriſchen ein bedeutender Raum
gewidmet, und dies erſcheint uns an einem
ſolchen Werke ein bedeutender, fernerer
Vorzug: man erfährt nicht nur das That—
ſächliche, ſondern auch wie es im Ringen
der Geiſter erkannt und bewährt wor
den iſt.
Der erſte, ſchon 1875 erſchienene Band
beginnt mit einleitenden Betrachtungen
über die Grundſätze und Geſchichte der
Literatur und Kritik. »
Naturerkenntnis, geht ſodann zur Be⸗
trachtung der allgemeinen Eigenſchaften
tieriſcher Körper (einfache Beſtandteile,
Form und Aufbau der tieriſchen Körper,
Individualität und Pleomorphie) über,
und ſchließt mit einer Darſtellung der
Klaſſifikation und Lehre von der Art,
immer von hiſtoriſchen Geſichtspunkten
ausgehend und die nebeneinander her—
gehenden Meinungen berückſichtigend. Der
zweite 1877 erſchienene Band zeigt, wie
dem Verfaſſer mit der Fortführung des
Werkes die Luſt an demſelben gewachſen
iſt, denn er behandelt auf 528 Seiten
lediglich die Nahrungsaufnahme und Ver—
dauung in vergleichender Darſtellung, und
zwar ſind dieſe Gegenſtände ſo durchſich—
tig behandelt, daß ſelbſt der Laie dem
Verfaſſer bequem folgen kann, wie dies
in ähnlichen Werken nur ſelten der Fall
zu ſein pflegt. Dasſelbe gilt von dem
dritten 1878 erſchienenen Teil, der auf
419 Seiten die Atmung und Stimm—
bildung behandelt. Wir können dem wohl—
geplanten, vorzüglich ausgeführten und
ausgeſtatteten Werke nur unſre volle An—
erkennung zollen und wünſchen, daß es
dem Verfaſſer bald vergönnt ſein möge,
dieſes Denkmal deutſchen Fleißes durch
den Schlußband zu krönen. K.
Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig.
Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
Von
Moritz Wagner.
Bu zeorg Seidlitz hat gegen
ö X die Theorie der Artbildung
durch Abſonderung, für de-
ren Richtigkeit die vorherr—
ſchend kettenförmige Vertei—
lung der nächſtverwandten Speziesformen
auf Kontinenten und Inſeln allein ſchon
einen unwiderlegbaren Beweis liefert, die
vielbekannte Erſcheinung der Mimiery
ins Treffen geführt. Die Migrations-
theorie, meint Seidlitz, vermöge die
Nachahmung oder „Ausrüſtung“,
wie er die Erſcheinung nicht eben glück—
lich benennt, das „ganze Heer ſchützen—
der Ahnlichkeiten“, welche zwiſchen ſo
vielen Tieren und den Pflanzen, auf denen
ſie leben, unzweifelhaft beſteht, nicht zu
erklären, während die Darwinſche Selek—
tionstheorie nach der Meinung des Herrn
Seidlitz für dieſe Erſcheinung eine ganz
befriedigende Erklärung darbieten ſoll.
In Wirklichkeit verhält ſich aber die
Sache gerade umgekehrt. Prüft man alle
Die Alimicry.
| Umftände, unter welchen die zahlloſen
Fälle von „Mimiery“ vorkommen, ge—
nau und unbefangen, ſo erkennt man
vielmehr die ungeheure Unwahr—
ſcheinlichkeit ihrer Entſtehung durch
eine Ausleſe im Kampfe ums Daſein, wäh—
rend zahlreiche Thatſachen für ihre Ent—
ſtehung durch einfachen Standortswechſel
der Tiere ein beredtes Zeugnis liefern.
Selbſt unter den Forſchern, welche
feſt an die Richtigkeit der Descendenz—
theorie glauben und den Werken Dar—
wins den vollen Tribut ihrer Bewun—
derung zollen, haben einige gegen die
Erklärung der Mimiery durch bloße Zucht—
wahl ſtarke Bedenken ausgeſprochen. Schon
die Entſtehung der erſten ihrer Futter
pflanze täuſchend ähnlichen Tiervarietät
würde, wie Lange richtig bemerkt, nach
der Selektionstheorie ſchwierig zu erklä-
ren ſein und noch viel ſchwieriger die
häufige Wiederholung ähnlicher Fälle.
Der erfahrene britiſche Entomologe Ben-
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2.
12
90
net hat in einem zu Liverpool gehalte—
nen geiſtvollen Vortrage, worin er all
ſeine Bedenken gegen die Darwinſche
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
Zuchtwahllehre zuſammenfaßte, ſehr gut
nachgewieſen: daß die übereinſtimmende
Ahnlichkeit vieler Inſekten mit den Zwei—
gen oder Blättern der Pflanzen, von
denen ſie ſich nähren, mit der Farbe
und Form der Baumrinde oder der ab—
gefallenen dürren Blätter des Waldes,
auf denen ſie kriechen oder ruhend ſitzen,
mit der Färbung und Zeichnung der
Blumen, auf denen ſie ſich vorzugsweiſe
niederlaſſen, und ſelbſt mit den anorga—
niſchen Beſtandteilen des Bodens, auf
dem ſie ſich aufhalten, oft durch eine
ganze Reihe täuſchender Züge ſtattfindet,
welche den Beobachter in das größte
Erſtaunen ſetzen.
Bis durch bloßen Zufall der ſpontan
entſtehenden Variation, die ja der Natur
der Sache nach auch in jeder andern,
alſo auch nicht paſſenden Richtung er—
folgen könnte und durch die mit ihr
operirende Zuchtwahl Formenanpaſſungen,
Farbennuancen, Zeichnungsſtriche u. ſ. w.
ſich ſo übereinſtimmend zuſammenfinden,
wie man ſie in der Natur zwiſchen den
Inſekten und den Pflanzen ihres Stand-
ortes ſo oft findet, müßte, wie Bennet
mit Recht bemerkt und wie auch Lange
mit Nachdruck hervorhebt: „eine ſolche
Kulmination von günſtigen Zufällen er—
forderlich ſein, daß die Wahrſcheinlich—
keitszahlen dafür geradezu ins ungeheure
führen würden.“
Die unter vielen Schmetterlingen,
Käfern und vorzüglich ihren Larven vor—
kommenden täuſchenden Ahnlichkeiten be—
ſonders hinſichtlich der Farbe und oft
auch der Form mit den Stämmen, Zwei—
fallendes, rätſelhaftes Phänomen die En-
die Diskuſſion der Darwinſchen Theorien
Mimiery (Nachäfferei) viele neue Bei—
träge erbrachte und ehe dieſelbe mit an—
gen, Blättern oder Blüten der Pflanzen,
auf denen ſie leben, und ſelbſt mit den
Erdklümpchen, dem Sand oder Geſteine
des Bodens, auf dem ſie mit Vorliebe
ruhend ſitzen, ja ſelbſt mit den Exkre—
menten anderer Tiere, hatten als ein auf—
tomologen ſchon lange beſchäftigt, bevor
zu dieſer Erſcheinung mit der Benennung
dern Erſcheinungen bei der Frage nach
den Urſachen der Entſtehung der Arten
wiſſenſchaftlich verwertet wurde.
Der Verfaſſer dieſes Aufſatzes er⸗
innert ſich aus feinen Jugendjahren noch
lebhaft der Geſpräche, die er darüber
mit Dr. Karl Küſter in Erlangen und
mit andern entomologiſchen Freunden in
München und Augsburg führte. Uns
fehlte damals freilich der hellſtrahlende
Leuchtturm, welchen erſt viel ſpäter das
Darwinſche Buch: „Über den Urſprung
der Arten“ aufgerichtet hat, indem es
die beiden Grundurſachen jeder Form—
bildung: die individuelle Variabilität und
die Vererbungsfähigkeit angeborner und
erworbener perſönlicher Merkmale uns
licht und klar vor die Augen brachte.
Doch über die eigentliche Urſache des
ſeltſamen Ahnelns fo vieler Inſekten mit
den Pflanzen, auf denen ſie leben, hatte
ich ſchon damals nahezu dieſelbe Ver—
mutung, die ſpäter zur feſten Überzeugung
wurde, nachdem den entomologiſchen Be—
obachtungen der Heimat ein vieljähriges
Sammlerleben in außereuropäiſchen Län—
dern gefolgt war.
Die Erſcheinung der Mimiery halte
ich für die einfache Folge des allen
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
Tieren angebornen Schutztriebes, der
ſie in dem Suchen und der Wahl eines
paſſenden Standorts oder ſichern Ver—
ſtecks mit richtigem Inſtinkt leitet. Auch
die niederen Tiere haben ein Bewußt—
ſein oder doch eine dunkle Ahnung der
ihre Exiſtenz bedrohenden Gefahren; ſie
ſuchen ihnen auszuweichen und ſind ſtets
auf ihrer Hut. Viele Käfer laſſen ſich
vom Zweige fallen und ſtellen ſich tot,
wenn eine Menſchenhand oder ein Vogel
ihnen naht. Der Schmetterling, der noch
kurz zuvor als Puppe unbeweglich ruhte,
weiß die Flügel ſogleich zur Flucht zu
benützen und nach einem Standort zu
fliehen, der ihm Sicherheit zu bieten
ſcheint. Kein Inſekt macht klügere Ma—
növer, um dem Auge und der verfol—
genden Hand ihres Hauptfeindes, des
Menſchen, zu entgehen, als die Bett—
wanze, deren Schlauheit geradezu Er—
ſtaunen erregt. Während ſie bei ange—
zündetem Licht auf das hurtigſte davon—
läuft und ſich verſteckt, bleibt ſie bei
anbrechender Morgendämmerung weder
im Bettkiſſen noch in der Leibwäſche des
Schläfers, ſondern ſucht die Riſſe, Löcher
und Lücken des hölzernen Bettgeſtelles,
der Wandtapeten oder Bilderrahmen auf,
zu denen ihre Farbe oder Form paßt,
und wo ſie nicht leicht bemerkt wird.
Die Larven zahlreicher Inſekten machen
es ähnlich, um ſich durch ein paſſendes
Verſteck gegen die Verfolgungen der Vö—
gel, der Ichneumoniden oder anderer
Feinde zu ſchützen, und es kommen da—
bei oft die merkwürdigſten Fälle von
Mimiery zu ſtande.
Jeder Lepidopterologe kennt die Raupe
einer unſerer gemeinſten Bandphalänen,
Catocala nupta, und weiß, wie ſchwer
91
es ſeinem ſuchenden Auge geworden und
wie vieljährige Übung dazu gehörte, die
Raupe dieſes Nachtfalters, welche am Tage
gewöhnlich zwiſchen den Riſſen und Run—
zeln der Rinde alter Weidenſtämme ſitzt,
von dieſen zu unterſcheiden. Die Raupe
imitirt nämlich in Form und Farbe ihres
ganzen Baues, in allen Einzelnheiten
ihrer Glieder die Rinde alter Baumſtämme
ſo vollkommen, daß die weniger geübten
Augen unſerer Begleiter, auch wenn wir
nahezu auf die Stelle hindeuteten, wo
die Raupe ſaß, dieſe doch oft nicht zu
bemerken vermochten. Dieſer ausgezeich—
nete Fall von Miniery findet hier aber
nur am Tage ſtatt, wo die Raupe der
Catocala nupta durch die inſektenfreſſen⸗
den Vögel größeren Gefahren ausgeſetzt
iſt, als bei Nacht. Mit einbrechender
Dunkelheit tritt dieſelbe regelmäßig ihre
Wanderung aufwärts an und beſucht die
Zweige und Blätter des alten Weiden—
baumes zu ihrem Fraße, um dann ge—
gen Anbruch des Morgens regelmäßig
wieder herabzuſteigen, und in einer ihr
ähnelnden Runzel der Stammrinde un—
bemerkt und ſicher zu ruhen.
Hier erkennen wir vor unſern Augen
ein frappantes Beiſpiel, wie die ſchützende
Ahnlichkeit zwiſchen dem Tier und ſei—
nem Standort nur durch die täglich
wiederholte Wanderung einer Raupe her—
vorgebracht wird. Wenn dieſelben auch
am Tage auf den grünen Zweigen des
Baumwipfels ſitzen bliebe, dann fände
ſie dort keinen Schutz und es würde dann
auch gar keine „Mimiery“ vorhanden ſein.
Die auf der Dornſchlehe lebende
Raupe der ſchönen gelben Bandphaläne
Catocala paranympha iſt ein noch
auffallenderes Beiſpiel von ſchützender
———
92
Ahnlichkeit. Durch ihre Farbe und Form
und beſonders durch den dornähnlichen
Zapfen auf ihrem Rücken ſieht dieſelbe
dem Zweige ihrer Futterpflanze höchſt
täuſchend ähnlich und bleibt daher auch
am Tage auf den Zweigen ſitzen, ohne
mit jeder Morgendämmerung, wie die
obengenannte Raupe einer verwandten
Art, eine Wanderung nach dem Stamm
anzutreten. Obgleich die Raupe von G.
paranympha auch das Laub verſchiedener
Obſtbäume verzehrt, ſo legt doch der
Nachtfalter, wenn Dornſchlehen in der
Nähe ſind, ſeine Eier in der Regel nur
auf dieſe. Der vererbte Erhaltungstrieb
leitet alſo den Schmetterling faſt immer
zur richtigen Wahl der ſeine Larve er—
nährenden und zugleich ſchützenden Pflanze.
Zu ſeiner eigenen Sicherheit wählt jedoch
derſelbe Nachtfalter während der Tages—
ruhe einen ganz anderen Aufenthalt. Man
ſieht ihn ſtets mit verſteckten Hinterflü—
geln an alten Baumſtämmen von Wei—
den, Eichen, Linden u. ſ. w. ſitzen, wo
dieſer Zufluchtsort zur Farbe und Zeich—
nung ſeiner Vorderflügel paßt und ihn
ſchwer erkenntlich macht.
Einen beſonders merkwürdigen Be—
weisfall, wie die Mimiery lediglich durch
Ligration und bewußte Wahl des Stand—
orts bei unſeren Nachtſchmetterlingen ent—
ſteht, lieferte uns vor vielen Jahren die
ſogenannte Dammallee am Lechufer bei
Augsburg, welche ich als Fundort man—
cher ſchönen Phalänenarten mit andern
entomologiſchen Sammlern oft zu beſu—
chen pflegte. An den Stämmen der alten
Weidenbäume, mit welchen der Lechdamm
beſtanden, hielten ſich mit Vorliebe ver-
ſchiedene Noctuen mit grauen oder bräun—
lichen Oberflügeln, darunter beſonders die
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
Bandphaläne Catocala electa auf. In
der Nähe wurde einſt in ausgedehntem
Umfang der Bretterzaun einer Wieſe auf—
geſchlagen, welche der Beſitzer zu einer
Bleiche beſtimmte. So lange der neue
Zaun die friſche Farbe des Holzes hatte,
war er von dieſen Phalänen gemieden.
Als derſelbe aber mit der Zeit eine wet—
tergraue Farbe bekam, ſetzten ſich all—
mählich auch viele Nachtſchmetterlinge auf
denſelben, doch gewöhnlich nur ſolche, die
wie die genannte Bandphaläne oder wie
gewiſſe Arten der Gattung Cucullia eine
graue Färbung der Vorderflügel hatten und
der grauen Bretterwand ähnlicher ſahen,
als der Farbe der nächſten Baumſtämme.
Eine analoge Mimiery, welche in ein:
fachſter Weiſe durch den Inſtinkt des
Schutzes und der Selbſterhaltung her—
vorgebracht wird, läßt ſich auf unſern
Alpenwieſen beobachten, wo mehr Blu—
men verſchiedener Farben gemiſcht durch—
einander ſtehen, als auf den Wieſen der
Ebene. Betrachtet man dort die zahlreichen
gelben Tagfalter der Gattung Colias, die
weißen Falter der Gattung Pontia, ſo
ſieht man ſie im Sonnenſchein des Tages
auf den verſchiedenſten Blumen ſich nieder—
laſſen, weil die ungemeine Schnelligkeit
ihres Fluges ſie gegen die Verfolgung der
Vögel hinreichend ſchützt. Dagegen bemerkt
man bei einbrechender Abenddämmerung
die verſchieden gefärbten Arten vorzugs-
weiſe diejenigen Blumenkronen aufſuchen,
die mit ihrer Farbe übereinſtimmen. Die
dunkelgefärbten Tagfalter, z. B. die Arten
der Gattung Hipparchia, laſſen ſich dagegen
vorzugsweiſe im Wald auf düſter gefärbten
Standorten, wie Baumſtämmen oder
Felſen, mit geſchloſſenen Flügeln nieder
und finden hier den beſtmöglichen Schutz.
a
1
Ein beſtätigendes Experiment für diefe
„Mimiery“ kann man in jeder Kammer
anſtellen, deren Wände mit Decken ver—
ſchiedener Farbe behängt ſind. Läßt man
daſelbſt die verſchieden gefärbten Tag- oder
Nachtfalter, die aus der Puppe gekrochen,
fliegen, ſo wird man bemerken, daß der
mit geſchloſſenen Flügeln ruhende Falter
in der Regel diejenige Wanddecke aufſucht,
welche mit ſeiner Farbe übereinſtimmt.
Unter den Raupen gewährt beſonders
die artenreiche Familie der Spanner (Geo-
metridae) ungemein viele Beiſpiele von
überraſchender Mimiery, d. h. Überein⸗
ſtimmung von Form und Farbe dieſer
Spannerraupen mit den Zweigen und
Blättern der Bäume, auf denen ſie leben
und die der leitende Inſtinkt der Selbit-
erhaltung ſie finden ließ. Auch aus den
übrigen Ordnungen der Inſekten, den Co-
leopteren, Hemipteren, Orthopteren u. ſ. w.
laſſen ſich im freien Naturleben tauſende
von Fällen nachweiſen, wo die ſchützende
Ahnlichkeit zwiſchen dem Inſekt und der
Pflanze in augenſcheinlicher Weiſe durch
aktive Zuwanderung und Schutzaufent⸗
halt des erſteren hervorgebracht wurde.
Jeder Käferſammler, welcher die Kü—
ſtenländer Nordafrikas beſucht und die dort
ſo eigentümlichen, individuenreichen Arten
der merkwürdigen Gattung Sepidium beob—
achtet hat, wird mit Verwunderung bemer—
ken, wie dieſe auf nackter oder nur mit dürf—
tiger Vegetation bedeckter Erde vorkom—
menden ſchwerfälligen Käfer, welche bei
ihrer geringen Lokomotionsfähigkeit ihren
Feinden fo leicht zum Opfer fallen wür—
den, den Erdklümpchen des Bodens meiſt
täuſchend ähnlich ſehen und daher faſt
immer pflanzenloſe Stellen zu ihrem
Standort aufſuchen. Die nordafrikaniſchen
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
93
Rüſſelkäfer der Gattung Brachycerus, die
beſonders in Kleinaſien und Armenien ſo
artenreichen Bockkäfer der Gattung Dor-
cadion, welche durch geſchloſſene Flügel—
decken zum Fluge unfähig ſind, ſuchen
ſich ebenſo zu ſchützen, indem ſie auf
Erde, Sand oder Steinen ſitzen, die ihrer
Farbe genau entſprechen.
Selbſt das geübteſte Auge des Samm—
lers unterſcheidet den am ſüdlichen Abhang
des Kaukaſus und in den Waldgegenden
Georgiens vorkommenden, eigentümlich ge—
formten Laufkäfer Carabus septemcari-
natus nur äußerſt ſchwer von den dür-
ren Blättern und den modernden herab—
gefallenen Baumäſten, unter denen er
ſich aufzuhalten pflegt. Viel bekannt durch
ſeine Ahnlichkeit mit einem dürren Blatt
iſt Mormolyce phyllodes auf Java, ein
äußerſt bizarr geſtalteter Käfer, der dort
im Waldboden in Höhen von 2000 — 30007
neben faulen Blättern ſeinen Aufenthalt
in inſtinktiver Vorſicht wählt. Die imi-
tirende Ahnlichkeit vieler Orthopteren der
Tropenzone, worunter beſonders Arten
der Familie der Phasmiden oder Ge—
ſpenſtheuſchrecken und der Mantiden oder
Hangheuſchrecken, mit den Zweigen, Blät⸗
tern und ſelbſt Stacheln der Pflanzen, die
ſie vorzugsweiſe bewohnen, in Bezug auf
Form, Zeichnung, Farbe u. ſ. w. iſt
oft höchſt überraſchend. Doch mindert
ſich die Verwunderung über dieſe häu—
figen Beiſpiele von „Mimiery“ gar ſehr,
wenn man bedenkt, wie unendlich man⸗
nigfaltig gerade in der Tropenzone die
Formen und Farben der Pflanzenwelt und
neben ihnen der Inſekten ſind, und wie
wenig ſchwer es nicht nur den exiſtiren—
den Inſektenarten, ſondern auch ihren von
Zeit zu Zeit ſpontan entſtehenden indivi—
94
duellen abnormen Varietäten wird, unter
dieſen zahlloſen, verſchiedenartigen Pflan—
zen diejenigen ähnelnden Formen und Far—
ben zu finden und auf denſelben ſich vor—
zugsweiſe aufzuhalten, welche ihnen gegen
Verfolger Schutz durch Ahnlichkeit oder
gutes Verſteck gewähren.
Daß aus inneren (phyſiologiſchen)
Urſachen, die ganz unabhängig von den
äußeren Verhältniſſen ſind, Individuen,
welche in ihren morphologiſchen Merk—
malen vom normalen Typus ihrer Stamm:
art ungewöhnlich ſtark abweichen, be—
ſonders unter den ſehr fruchtbaren Arten
zuweilen auftreten, iſt eine unbeſtrittene
Thatſache. Es iſt ebenſo begreiflich und
natürlich, daß ſolche ſtark abnorme In⸗
dividuen, vom Inſtinkt der Selbſterhal—
tung getrieben, teils um den Gefahren
zu entgehen, die ihnen eine auffallende
Farbe oder Form bringt, teils um den
Neckereien ihrer normalen Artgenoſſen ſich
zu entziehen, verhältnismäßig leichter
und öfter dazu kommen, auf einem an-
dern Boden, auf andern Pflanzen als
die Futterpflanze der Stammart, einen
ihrer Variation entſprechenden neuen
Standort zu ſuchen.
Um einem ſonderbaren Mißverſtänd—
niſſe zu begegnen, welches ſich Johan—
nes Huber und ihm nachredend Georg
Seidlitz zu ſchulden kommen ließen, be—
tone ich hier ausdrücklich das Wort „ver—
hältnismäßig“. Die abſolute Zahl
normaler oder vom Durchſchnittstypus
der Stammart nur ſehr wenig differiren—
der Emigranten, welche ſich vom Wohngebiet
der Stammart abſondern, muß ſelbſtver—
ſtändlich ſehr viel größer ſein als die Zahl
ſehr abnormer Emigranten, die ja über—
haupt immer nur ſelten als ſpontane
Varietäten unter der Individuenmaſſe der
Stammart auftreten. Bei ganz normalen
oder mit nur ſehr geringer individueller
Abweichung ausgeſtatteten Emigranten
kann nur der größere oder geringere Grad
von Verſchiedenheit der äußeren Lebens—
bedingungen des neuen Standorts im Ver—
gleich mit dem früheren Areal für die
Bildung wenig abweichender Spezies oder
lokaler Varietäten maßgebend ſein. Emi—
granten von ſtärkerer individueller Abwei—
chung werden die Formveränderungen ſtei—
gern und bei genügender Dauer der Iſo—
lirung ſtets „gute“ Arten ausprägen.
Sehr abnorme Individuen, die räumlich
ſich abſondernd der Kreuzung ſich ent—
ziehen, müſſen, beſonders wenn ſie durch
günſtigen Zufall ihre iſolirte Kolonie an
einem Standort mit ſtark differirenden
äußeren Lebensbedingungen gründen, not—
wendig zu einer noch größeren morpholo—
giſchen Differenzirung führen, aus welcher
ſelbſt neue Gattungen hervorgehen können.
Hier will ich auch eine beſonders
merkwürdige, von verſchiedenen Samm—
lern und Beobachtern des Tierlebens der
Tropenzone, namentlich von Bates und
Wallace gut beſchriebene Erſcheinung
erwähnen. Gewiſſen Formengruppen von
Schmetterlingen, welche wegen ihres wi—
derlichen Geſchmackes oder Geruches von
verfolgenden Vögeln gemieden werden,
haben ſich ähnlich gefärbte Schmetter—
linge, die aber ganz anderen Gattungen
angehören, zugeſellt und halten ſich zu
ihrem Schutze vorzugsweiſe unter ihnen
auf. Mit der Darwinſchen Zuchtwahl—
lehre und dem Kampf ums Daſein als
Hauptfaktor der Formbildung würde die—
fer hochintereſſante Fall von Mimiery
nur eine ſehr gezwungene und unwahr—
Ei ea:
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
ſcheinliche Erklärung zulaſſen. Mit der
Separationstheorie erklärt ſich dagegen
die Erſcheinung auf eine ſehr einfache
und natürliche Weiſe. Abnorme, in Farbe
oder Zeichnung von ihren Stammarten
ſtärker als gewöhnlich abweichende In—
dividuen haben ſich von dieſen abgeſon—
dert und einer andern Formengruppe von
Schmetterlingen zugeſellt, zu der ihre
individuelle Variation beſſer paßt. Der
allen Tieren angeborene Schutz- und Er—
haltungstrieb dieſer variirenden Indivi—
duen hat damit in doppelter Weiſe ſei—
nen Zweck oder — wenn man lieber
das Baerſche Wort wählen will —
ſeine „Zielſtrebigkeit“ erreicht. Die
Emigranten haben in der neuen Geſell—
ſchaft von Schmetterlingen anderer Gat—
Zeichnung Ahnlichkeit hatte und die ſie
von Vögeln unbeläſtigt ſahen, beſſeren
Schutz gefunden und durch lokale Ab—
ſonderung von der normalen Stammart,
indem ſie dem abſorbirenden Einfluß der
Kreuzung ſich entzogen, zugleich ihre in—
entwickelt und fixirt.
Eine andere höchſt lehrreiche Beob—
achtung von ausgezeichneter Mimiery
verdanken wir der wiſſenſchaftlichen Welt—
expedition der engliſchen Korvette Chal—
lenger. Dieſelbe ſcheint uns mehr als
irgend eine andere geeignet, auf die Ur—
ſache der merkwürdigen Erſcheinung ein
helles Schlaglicht zu werfen. Von die—
ſer Expedition wurde zuerſt die Fauna
der Tanginſeln des Sargaſſomeeres ge—
nauer unterſucht. In dieſem Meer ſehen
wir den aus zahlloſen ſchwimmenden
Pflanzeninſeln des Sargassum bacciferum
dividuellen Merkmale ungehindert fort-
dition, welche 1875 die äußerſt merk—
inſeln gefunden.
tungen, mit denen aber ihre Farbe und
95
Atlantiſchen Ozean zwiſchen 22 und 26°
N. B. an der verhältnismäßig ruhigen
Stelle liegt, die ſüdlich von dem großen
Aquatorialſtrom begrenzt iſt, nördlich und
weſtlich vom Golfſtrom und öſtlich vom
Guineaſtrom, der ſüdwärts fließt. Die
gefiederten Zweige dieſer olivenfarbigen
Alge erreichen mitunter eine Länge von
300 Metern und ſitzen an dicken, durch
runde Luftgefäße über dem Waſſer ge—
haltenen Stielen.
Die wahrſcheinliche Stammpflanze
dieſer ſchwimmenden Alge, welche von
dieſer nur wenig abweicht, hat Agardt
auf den Klippen von Neufundland ent—
deckt. Später wurde eine ganz nahe ver—
wandte Form auch auf den Bermuda—
Von den Zeiten des
Columbus bis auf den heutigen Tag
hat die fließende Alge des Sargaſſo—
archipels, welcher der große Entdecker
ihren Namen gab, die Aufmerkſamkeit
und das Intereſſe aller wiſſenſchaftlichen
Reiſenden, die jene Stelle des Ozeans
berührten, auf ſich gezogen.
Die Zoologen der Challenger-Expe—
würdige Fauna des Sargaſſoarchipels in
eingehender Weiſe unterſuchten, haben
gefunden, daß dieſelbe aus Arten beſteht,
welche fait ſämmtlich dieſen Pflanzen—
inſeln eigen ſind — eine Thatſache, welche
die formbildende Wirkung der Migration
und Iſolirung glänzend beſtätigt. Frap—
pantere Beiſpiele von Mimiery, als ſie
dort vorkommen, laſſen ſich kaum ir—
gendwo nachweiſen. Faſt alle Tiere die—
ſer Algeninſeln imitiren in der Form
und noch mehr in der Farbe ihre ſchwim—
mende Heimat. Ein goldenes Olivenfarb'
herrſcht unter dem Olivengrün aller Schat-
3 Archipel, welcher im nördlichen
4
tirungen der treibenden Algenmaſſen vor
und dieſelbe Farbe iſt auch faſt ſämmt—
lichen Mollusken, Kruſtern und kleinen
Fiſchen eigen, welche ſie bewohnen. Uns
ter dieſen ſelbſt bemerkt man wieder
zahlreiche geringere oder ſtärkere lokale
Varietäten und auch ſie legen ein ſchla—
gendes Zeugnis für den verändernden
Einfluß der Iſolirung ab. Auch der Schutz—
trieb, der die individuellen Varietäten
drängt, vorzugsweiſe diejenigen Farben—
nuancen der auch unter ſich viel vari—
irenden Algen aufzuſuchen, welche ihrer
eigenen Farbe am meiſten entſprechen
und ſie daher am beſten ſchützen, deutet
klar auf die einfache Urſache dieſer ſchüz—
zenden Mimiery hin.
Nautilograpsus minutus iſt der Name
einer dort vorkommenden eigentümlichen
kleine Krabbe, welche in zahlloſen In—
dividuen auf den Algenbüſchen ſchwärmt
und von einer Inſel zur andern über—
geht. „Es iſt ſonderbar — heißt es im
zoologifchen Bericht des Challenger —
zu ſehen, wie dieſes kleine, ſtark vari—
irende Geſchöpf in der Farbe meiſt mit
dem Gegenſtand correſpondirt, den es ge—
rade bewohnt.“ Neben dieſer Krabbe iſt
eine kleine, muſchelloſe Molluske Scillaea
pelagica ein faſt ebenſo häufiger Be—
wohner und auch ſie ſchützt ihre Farbe
gegen die Seemöwen, die raubſpähend
zahlreich über dieſem Meere fliegen. Auch
ein grotesker kleiner Fiſch, Antenarius
marmoratus, deſſen Länge 5 Centimeter
nicht überſchreitet, gehört zu dieſer endemi—
ſchen Sargaſſo-Fauna. Er iſt es, welcher
die eigentümlichen Neſter aus Seetang
mittels Fäden aus einer klebrigen Sekre—
tion zuſammenrollt, die man im Bett des
Golfſtroms ſo häufig ſchwimmend antrifft.
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
Befragt man über die Urſache der
Entſtehung dieſer eigentümlichen Fauna
und ihrer Mimiery-Erſcheinungen die Dar—
winſche Zuchtwahllehre, ſo kommt man
mit ihr ſchon in große Verlegenheit, auch
nur die erſte Erſcheinung der tieriſchen
Bewohner dieſer ſchwimmenden Tang—
inſeln ohne Zuhilferufen der Migrations-
theorie zu erklären. Als Einwanderer aus
dem Norden haben dieſe Algen die Stamm:
eltern ihrer jetzigen Tierbevölkerung ſicher
nicht mitgebracht, denn ihrer Urheimat
fehlen die analogen Formen. Die erſten
Anſiedler müſſen daher Emigranten aus
dem umgebenden Meer geweſen ſein, denn
hier leben die nächſt verwandten Arten
und Gattungen, welchen aber die eigen—
tümliche Färbung der Sargaſſotiere fehlt.
Unter den Millionen von Individuen
dieſer nächſtverwandten Arten von Kru—
ſtern und Weichtieren, wie ſie in den
umgebenden Teilen des atlantiſchen Oce-
ans, beſonders im Antillenmeer, vor—
kommen, bemerkt man jedoch nicht ſel—
ten verſchiedene Farbennüancen, wie man
bei der Ebbe an den Küſten der weſt—
indiſchen Inſeln ſich genau überzeugen
kann. Beſonders die dunkelgrauen oder
braunen Krabben zeigen ziemlich häufig
individuelle Abweichungen von lichterer
Färbung, welche mitunter ins Grünliche
und Gelbliche ſpielen. Solche Varietäten,
vom angebornen Schutztrieb geleitet, wer—
den ſtets geneigter ſein, von ihren nor—
malen Artgenoſſen ſich abzuſondern und
eine Zufluchtsſtätte mit korreſpondirender
Färbung zu ihrer Sicherheit zu ſuchen.
Es iſt dagegen höchſt unwahrſcheinlich,
daß normale Individuen dieſer Seetier—
arten von dunkler Färbung ſich eben ſo
leicht von ihren Artgenoſſen abſondern
Bi
jollten, um einen neuen Aufenthalt zu
wählen, der ihnen nur Nachteile und
vermehrte Gefahr bringen würde, da fie |
dann auf dieſen ſchwimmenden Inſeln
den ſcharfen Augen der Raubmöwen mehr
ausgeſetzt wären als im Meere. Der allen
Tieren angeborne Erhaltungstrieb, wel—
cher gegenüber der raſtlos drohenden Ge
fahren ihre Sinne ſchärft, drängt See—
tiere ſogut wie Landtiere, den paſſend—
ſten Standort zu ſuchen, der ihrer Farbe
und Form entſpricht. In jedem Falle
aber war es die Abſonderung und Iſo—
lirung von Seebewohnern, welche den
Pflanzeninſeln des Sargaſſomeeres die
erſten Koloniſten lieferte und damit auch
den Anſtoß zu der eigentümlichen For—
menbildung dieſer Fauna gab.
Auch der merkwürdige Umſtand, daß
die „ſchützende Ahnlichkeit“, die dort zwi—
ſchen Tier und Pflanze herrſcht, nicht
nur ein allgemeiner Charakterzug dieſer
endemiſchen Fauna iſt, ſondern daß die—
ſelbe Erſcheinung auch als lokales Ge—
präge der zahlloſen ſchwimmenden Inſeln
in hundertfachen Farbennüancen von Oli—
vengrün und Gelb ſich wiederholt, iſt der
Annahme günſtig, daß nicht die Thätig—
keit einer Zuchtwahl durch den Kampf
ums Daſein, welche gerade auf ſo be—
ſchränktem Raum eine unglaubliche Cul—
mination von Zufällen erfordern müßte,
ſondern die aktive Migration, welche,
veranlaßt durch den natürlichen Schutz—
trieb der Tiere, Ähnliches zu Ahnlichem
drängt, als einfache Urſache wirkt.
Auch die Erfahrung der künſtlichen Züch—
tung, daß jede neue Variation nicht nur
die Fähigkeit, ſondern ſelbſt eine ſtarke
Tendenz zeigt, ihre Merkmale ſchon in den
nächſten Generationen im verſtärkten Maße
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 9
. ——
7
auszuprägen, hilft zur Erklärung der lo—
kalen Varietäten dieſer Tanginſelbewoh—
ner, denen hier die erleichterte Wande—
rung von einer Inſel zur andern auch das
Auffinden der geeignetſten Standorte ſo
leicht machte. Die Erſcheinung der Mimi—
ery war daher im Sargaſſomeer ein ebenſo
natürliches Produkt der Migration und
Iſolirung, wie die „ſchützende Ahnlichkeit“,
welche die Raupen der früher erwähn—
ten Bandphaläne durch das Anſchmiegen
an die Runzeln alter Baumſtämme bei
täglicher Wanderung vor unſern Augen
vollziehen.
Die bekannte Thatſache der überein—
ſtimmenden Farbenähnlichkeit, welche zwi—
ſchen dem Boden der Steppen, der Wü—
ſten, der ſchneebedeckten Polarzone und
ihrer Tierbewohner im Allgemeinen vor—
herrſcht, iſt gleichfalls als eine großartige
Mimiery-Erſcheinung aufgefaßt worden
und kann auch mit Recht als ſolche gelten.
Wollten aber die Darwiniſten nach
der gewöhnlichen Vorſtellung der Selek—
tionstheorie annehmen, daß Steppen, Wü—
ſten und arktiſche Schneeflächen urſprüng—
lich von einer mannigfaltig gefärbten
Fauna bewohnt waren, von der die un—
günſtiger gefärbten Formen als nicht vor—
teilhaft im Laufe der Zeit durch Ausleſe
im Daſeinskampf beſeitigt wurden und
erloſchen, ſo wäre dieſe Vorſtellung ganz
gewiß ein ſehr großer Irrtum. Hätten
ſolche Faunen mit vielfach gemiſchten Far—
ben je beſtanden, ſo wäre es von An—
fang an ſchon unbegreiflich, warum die
bunt oder dunkelgefärbten, mithin un—
vorteilhaft organiſirten Tierarten in Ge—
genden geblieben wären, wo ſie mit ſpär—
licherer Nahrung zugleich weit mehr Ge—
fahren ausgeſetzt waren, während die
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2.
98 Moritz Wagner, Über die Entftehung der Arten durch Abſonderung.
benachbarten, bewaldeten Grenzgebiete ih—
nen reichhaltigere Nahrung und mehr
Sicherheit boten, und die Wanderung
dorthin ihnen ſtets offen ſtand. Die Sa—
hara iſt jedenfalls erſt ſeit der jüngern
Tertiärzeit trocknes Land. Die arktiſchen
Flächen hatten während der Miocänpe—
riode noch keinen Schnee. Ihre jetzige Tier—
welt haben ſie erſt ſeitdem durch Ein—
wanderung erhalten.
Wenn aus den Wald- und Buſch—
ebenen des nördlichen Sudan oder vom
ſüdlichen Fuße des Atlasgebirges indi—
viduelle Spielarten mit korreſpondirender
Färbung vorzugsweiſe nach dem Steppen—
gürtel zogen, welcher von beiden Seiten
in allmählichen Übergängen die große
Sandwüſte von der Waldzone ſcheidet,
jo folgten fie durchaus nur ihrem natür—
lichen Inſtinkt, d. h. dem angebornen ver—
erbten Schutztrieb, der die Tiere ſtets
nach Wohngebieten und Standorten mit
ſympathiſcher Färbung lockt, wenn ihnen
ſolche erreichbar ſind. Hellere Abarten
mit ins Gelbliche ſpielender Färbung, wel—
che unter den bräunlichen Arten der Steppe
als mehr oder minder abweichende indi—
viduelle Variationen von Zeit zu Zeit
erſcheinen, werden dem angebornen Schutz—
trieb und der Erfahrung entſprechend leicht
dazu gekommen ſein, in die zugänglichen
Oaſen der angrenzenden Wüſte einzuwan—
dern. Die räumliche Abſonderung und
dauernde Iſolirung paßte dieſe Einwan—
derer ihrer neuen Heimat an, d. h. ſie
prägte die in ihrer Variationsrichtung
liegenden Formen mit Unterſtützung der
veränderten äußeren Lebensbedingungen
ſo aus, wie wir ſie heute ſehen.
Einen intereſſanten Beleg zu dieſer
durch zahlreiche Thatſachen unterſtützten
Annahme liefert in Egypten das Vor—
kommen eines Wüſtenmonitors in naher
Nachbarſchaft neben dem gewöhnlichen
Flußmonitor, doch von dieſem ſtets räum—
lich abgeſondert. Der Monitor oder die
Warneidechſe des Nils, Varanus niloti-
cus, iſt das bekannte große Reptil, wel—
ches neben dem Krokodil nicht nur den
Nil, ſondern alle größeren Flüſſe Nord—
afrikas bewohnt und Fiſche, Amphibien,
Mollusken, vorzugsweiſe aber die Eier
des Krokodils verzehrt. Seine Farbe iſt
braungrau mit ſchwarzbrauner, netzförmi—
ger Zeichnung. Zuweilen beobachtet man
unter ihnen auch heller gefärbte Indi—
viduen, welche ſich aber nicht erhalten,
ſondern bei der Kreuzung mit den normal
gefärbten Artgenoſſen wieder verſchwinden.
In der dem Nilthal angrenzenden
Wüſte kommt eine vikariirende Form die—
ſes Nilmonitors vor, der Varanus are-
narius, welcher ähnlich der Farbe des
Wüſtenbodens hellgrau gefärbt und nach
größter Wahrſcheinlichkeit aus Emigran—
ten der ſporadiſch erſcheinenden helleren
Spielart des benachbarten Nilmonitors
entſtanden iſt. Dieſer Wüſtenmonitor hat
mit der Abſonderung von ſeinem frühern
feuchten Standort und durch die Über—
ſiedlung auf trockenem Boden auch ſeine
Lebensweiſe geändert, indem er ſtatt der
Fiſche und Krokodileier vorzugsweiſe In—
ſekten und kleinere Reptilien, im Ganzen
eine viel ſpärlichere Nahrung verzehrt.
Mit dem Wechſel ſeines Standortes und
ſeiner Nahrung hat ſich nebſt der Farbe
auch die Form in Folge des Nichtge—
brauchs der Schwimmorgane entſprechend
abgeändert. Der Nilmonitor hat befannt-
lich einen etwas zuſammengedrückten, zum
Schwimmen geeigneten Schwanz mit einem
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
Rückenkiel, der aus zwei Reihen Schup—
pen gebildet iſt. Seinem Nachbar und
nächſtverwandten Vetter, dem Wüſten—
monitor, fehlt dieſer Rückenkiel, und der
Schwanz hat eine cylindriſche Form be—
kommen, die zum Schwimmen nicht ge—
eignet iſt. Auch die Zahnbildung hat ſich in—
folge der veränderten Nahrung abgeändert.
Wenn man bedenkt, daß ſämmtliche
Arten der Gattung Monitor in allen Län—
dern, wo ſie vorkommen, Flußbewohner
ſind, mit Ausnahme eines einzigen ana—
logen Falles auf der Inſel Timor, ſo drängt
ſich die wohlbegründete Annahme, daß
hier durch den einfachen Akt der Mi—
gration und Separation eine gute neue Art
entſtanden iſt, überzeugend von ſelber auf.
Die Einwanderung ſolcher ſympathiſch
gefärbten Spielarten eines Flußbewoh—
ners in die Wüſte, zu der ihre Varia—
tion paßte, iſt im Grunde nicht auffal—
lender, als die Migration von bräunlichen
oder gelblichen Wiederkäuern, Nagern,
Raubtieren, Vögeln, Reptilien, Arachni—
den, Käfern, Schmetterlingen u. ſ. w. aus
den Wald- und Buſchgegenden des Su—
dan und der Berberei nach dem buſch—
loſen Steppenrand und den Oaſen der
Sahara. Antilopen, Nager, Hühnervögel
von entſprechender Färbung lockte der
Schutztrieb, Raubtiere von ſympathiſcher
Färbung, wie Löwe, Schakal, Fennek,
gewiſſe Falken der Nahrungstrieb bei
ihren Migrationen aus den Nachbarge—
bieten. Dunkelgefärbte oder ſehr bunt
gefleckte Arten, wie der Leopard, folgten
nicht, ſondern blieben einfach in der an—
grenzenden Waldzone. Auch der braune
Bär der alten Welt und der große ame—
rikaniſche Bär der Rocky-Mountains über:
99
ſchreiten nur ſelten die nördliche Buſch—
waldgrenze, während der weiße Bär eben
ſo ſorgſam innerhalb der ſeiner Farbe
entſprechenden arktiſchen Flächen des ewi—
gen Schnees verbleibt und die Hypotheſe
rechtfertigt: daß die weißen Tiere des
Nordens aus zugewanderten Albinos der
Nachbarländer entſtanden ſind, wo ſolche
als ſpontane Varietäten bei kälterem Kli—
ma öfter erſcheinen als im Süden. In
der ältern Tertiärzeit, wo auf Spitzber—
gen und Grönland noch Palmen wuch—
ſen, gab es dort noch keinen Schnee.
Weiße Tiervarietäten hätten daſelbſt noch
keinen Schutz gefunden, alſo auch keinen
Trieb zur Einwanderung gehabt.
Wir haben bei uns das näher lie—
gende Beiſpiel des im Winter weiß ge—
färbten Alpenhaſen, der mit Vorliebe in
den höheren, ſchneereichen Gebirgsregionen
verweilt, und unſeres braunen Feldhaſen,
der zu ſeinem Aufenthalt den Waldboden der
Ebene mit ſeinen dürren Blättern vorzieht
und damit, ebenſo wie jener und wie zahl—
loſe andere vom Schutztrieb geleiteten Tier—
arten durch Beziehen oder Feſthalten eines
mit ihrer Farbe korreſpondirenden Stand—
orts, die „Mimiery“ ſelbſt hervorbringt.
Das „Heer der ſchützenden Ahnlich-
keiten“ iſt weit entfernt, im Widerſpruch
mit der Separationstheorie zu ſein, wie
Seidlitz irrig meint, ſondern findet ge—
rade durch den Schutztrieb, die Migra—
tion und den Standortswechſel der Va—
rietäten und Arten, welche ſympathiſche
Farben und Formen zu einander geſellt,
ihre natürlichſte Erklärung — was auch
der genannte geiſtvolle Forſcher bei un—
befangener Prüfung der Thatſache zuletzt
ſelber zugeben dürfte.
(Fortſetzung folgt.)
ie Anſicht von einem Urſtoff,
aus dem alle vorhandenen
Dinge herſtammen, iſt ſehr
alt. Alle Vorſtellungen aber,
welche man ſich über die letz—
ten Beſtandteile der Materie bildete,
wurden einzig und allein mit Hülfe der
Spekulation erlangt und waren ihrer
ganzen Auffaſſung nach rein metaphy—
ſiſch. Die Perſer und namentlich die
Magier hielten das Feuer für den Ur—
ſtoff aller Dinge, die Agypter aber das
Waſſer, und es iſt wahrſcheinlich, daß
Thales von Milet, welcher ebenfalls
das Waſſer als Grundprinzip aller Dinge
betrachtete, dieſe Hypotheſe von den Agyp—
tern entlehnte. Sein Schüler Anaxi—
menes gab der Luft den Vorzug, wäh—
rend Pythagoras die Lehre von den
vier Elementen: Feuer, Luft, Waſſer
und Erde begründete, welche dann von
Empedokles weiter ausgebildet wurde
und den entſchiedenſten Beifall fand.
Dieſe Lehre hat in der Faſſung, welche
hindurch die Wiſſenſchaft beherrſcht und
Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
Von
Dr. Otto Dammer.
iſt namentlich auf die Entwickelung der
Chemie von größtem Einfluß geweſen.“)
Ariſtoteles nimmt einen Urſtoff
an, der ſich nach Schwegler“) in fol—
gender Weiſe definiren läßt: „Der Ur—
ſtoff (die Materie) in ſeiner Abſtraktion
von der Form gedacht, iſt das völlig
Prädikatloſe, Unbeſtimmte, Unterſchieds—
loſe, dasjenige, was allem Werden als
Bleibendes zu grunde liegt und die ent—
gegengeſetzteſten Formen annimmt, das
aber ſelbſt ſeinem Sein nach von allem
Gewordenen verſchieden iſt und an ſich
gar keine beſtimmte Form hat, dasjenige,
was die Möglichkeit zu allem, aber nichts
in Wirklichkeit iſt.“ Von dieſem Urſtoff
unterſcheidet Ariſtoteles die Elemente,
die Grundbeſtandteile der Dinge, die der
Art nach nicht weiter teilbar ſind und
die ganz andre Eigenſchaften beſitzen,
als die zuſammengeſetzten Körper, die
Produkte aus den Elementen. Dieſe Ele—
*) Lorſcheid, Ariſtoteles' Einfluß auf die
; 87 ; | Entwickelung der Chemie. Münfter, 1872,
ihr Ariſtoteles gab, viele Jahrhunderte 5 i
**) Schwegler, Geſchichte der Philoſophie.
Stuttgart, 1857.
Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
mente, die fo weit eine gewiſſe Ahnlich-
keit mit den modernen zu haben ſcheinen,
ſind aber in einander verwandelbar, da
ſie gewiſſermaßen Allotropien des Urſtoffs
darſtellen, der in jedem Element als
Träger von Eigenſchaften (Gegenſätzen),
natürlich nur von phyſikaliſchen, auftritt.
Indem Ariſtoteles nun vier Eigen—
ſchaften: kalt-, warm-, trocken-, feucht-
ſein, als die wichtigſten, auf welche alle
übrigen zurückgeführt werden können,
hinſtellt, gelangt er zu vier Elementen,
welche als Träger je einer Paarung je—
ner Gegenſätze erſcheinen. Folgendes
Schema zeigt die Reihenfolge der Ele—
Feuer
N 8 0 45
N 22
2 2
2 —
5 Urſtoff =
NR
Waſſer
mente, die gemeinſamen Eigenſchaften
und die Fähigkeit derſelben, ſich in ein—
ander zu verwandeln. Dem Trocken- und
Kaltſein entſpricht alſo die Erde, dem
Kalt⸗ und Feuchtſein das Waſſer, dem
Feucht- und Warmſein die Luft und dem
Warm- und Trockenſein das Feuer. Je—
dem Element kommen demnach zwei Haupt—
eigenſchaften zu, aber eine vorzugsweiſe:
Erde gehört mehr dem Trocknen als dem
Kalten, Waſſer mehr dem Kalten als
dem Flüſſigen, Luft mehr dem Flüſ—
ſigen als dem Warmen und Feuer mehr
dem Warmen als dem Trocknen an. So—
fern nun das Werden zu Entgegenge—
ſetztem aus Entgegengeſetztem geſchieht
101
und alle Elemente vermöge ihrer ent—
gegengeſetzten Unterſchiede in einem Ge—
genſatz zu einander ſtehen, können ſie auch
in einander übergehen und alles kann aus
allem werden, nur ſchneller oder lang—
ſamer, je nachdem nur eine oder zwei
Eigenſchaften gewechſelt werden müſſen.
Aus der Vereinigung der Elemente aber
entſtehen zuſammengeſetzte Körper, deren
Eigenſchaften von dem Verhältnis abhän—
gen, in welchem jene zuſammengetreten
ſind, und zwar enthält jeder zuſammen—
geſetzte Körper ſtets alle vier Elemente.“
Durch die innere Kraft ſeiner Phi—
loſophie, durch das tiefere Eindringen in
den ganzen Umfang des Wiſſens iſt Ari—
ſtoteles der Lehrer des Menſchengeſchlechts
geworden und hat, wie nie ein Sterb—
licher vor oder nach ihm, einen Einfluß,
errungen, welcher bis in die neueſte Zeit
bemerkbar geweſen iſt. Namentlich das
Mittelalter ſtand vollſtändig unter dem
Einfluß des Stagiriten und es kann da—
her nicht auffallen, daß auch die erſten
Beſtrebungen auf dem Gebiet der Che—
mie ariſtoteliſche Leitung erkennen laſſen.
Hier aber hatte man ſich vor allem dem
Studium der Metalle gewidmet, welche
durch ihre Eigenſchaften und ihre Stel—
lung im Haushalt der Menſchen beſon—
deres Intereſſe darboten. Man muß die
ariſtoteliſchen Vorſtellungen von der Na—
tur der Elemente im Auge behalten, wenn
man die Bemühungen, die Metalle in
einander zu verwandeln, welche ſo lange
die herrſchende blieben, richtig würdigen
will. Aber auch abgeſehen von allen theo—
retiſchen Spekulationen mußte die Mög—
lichkeit der Metallverwandlung denjenigen,
welche die Zuſammenſetzung der Körper
nicht ſicher zu ermitteln vermochten, bei
.
102 Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
der Verarbeitung der Erze einleuchten.
Daher reichen auch die Bemühungen, Gold
zu machen, ſehr weit zurück und zeigen
ſich ſchon im 4. Jahrhundert in Agyp—
ten, welches bis um die Mitte des 7.
Jahrhunderts Mittelpunkt dieſer Thätig—
keit blieb, um alsdann den Arabern den
Vortritt zu laſſen. Die von den letzteren ein—
geleitete Periode der Alchemie ſteht ganz
beſonders unter der Herrſchaft des Ge—
dankens von der Möglichkeit der Metall—
verwandlung, aber die Alchemiſten wa—
ren durchaus von wiſſenſchaftlichem Geiſte
beſeelt und nichts iſt unbegründeter, als
die Alchemie mit der Goldmacherkunſt der
ſpäteren Zeit zu identifiziren. „Die Al—
chemie,“ ſagt Liebig, „iſt niemals etwas
anderes als die Chemie geweſen, ihre
beſtändige Verwechslung mit der Gold—
macherei des 16. und 17. Jahrhunderts
iſt die größte Ungerechtigkeit. Die Al—
chemie war die Wiſſenſchaft, ſie ſchloß
alle techniſch-chemiſchen Gewerbzweige in
ſich ein.“ Und ſie erweiterte, können wir
hinzufügen, den Kreis erkannter chemi—
ſcher Thatſachen außerordentlich. Gleich—
zeitig aber gelangte man auch zu einer
weiteren Ausbildung der ariſtoteliſchen
Anſchauungen über die Elemente und ſchon
bei Geber finden wir die Anſicht aus—
geſprochen, daß alle Metalle aus „Schwe—
fel“ und „Queckſilber“ zuſammengeſetzt
ſeien. Man ſah Glanze und Kieſe als
Metalle an, fand als Beſtandteile der—
ſelben Schwefel und konſtatirte die Um—
wandlung dieſer vermeintlichen Metalle
in Blei, Eiſen, zum Teil ſogar (da man—
che Glanze und Kieſe Silber und Gold
enthalten) in edle Metalle. Letztere ſoll—
ten reicher an Queckſilber ſein, die un—
edlen Metalle dagegen mehr Schwefel
enthalten. Dieſe Anſichten blieben lange
herrſchend, man behielt die Lehre des
Ariſtoteles bei und betrachtete Schwe—
fel und Queckſilber als die näheren, die
vier alten Elemente als die entfernten Be—
| ſtandteile der Metalle. Im 15. Sahrhun-
dert fügte Baſilius Valentinus dem
Schwefel und Queckſilber als dritten
Grundbeſtandteil noch das „Salz“ hinzu
und lehrte, daß dieſe nicht nur in den
Metallen, ſondern in allen Körpern ent—
halten ſeien und daß die augenfälligen
Verſchiedenheiten der letzteren durch un—
gleiche Proportion, Reinheit und Fixation
der Grundbeſtandteile bedingt würden. Da—
bei wurde zuerſtausgeſprochen, daß die letz—
teren keineswegs mit dem metalliſchen Queck—
ſilber, dem gewöhnlichen Schwefel und Salz
identiſch ſeien.
Fanden dieſe Lehren durch Paracel—
ſus noch kräftige Unterſtützung und weitere
Ausbildung, ſo begann doch damals bereits
eine lebhafte Gegenſtrömung ſich geltend zu
machen, als deren erſter Vertreter van Hel—
mont (1667) zu nennen iſt. Die neuere
Zeit aber datirt von dem Auftreten des Ir—
länders Robert Boyle, derzuerſt die Not—
wendigkeit betonte, zwiſchen metaphyſiſchen
und chemiſchen Elementen zu unterſcheiden,
und verlangte, daß die Chemie zunächſt
ſich begnügen ſolle, die für ſie nicht weiter
zerlegbaren Beſtandteile der Körper nach—
zuweiſen. Er wollte die näheren Beſtand—
teile der Körper feſtſtellen und dieſelben
ſo lange als Elemente betrachten, bis
es gelungen ſei, ſie als noch zuſammen—
geſetzt nachzuweiſen. Die Metalle be—
trachtete er noch als zuſammengeſetzte
Körper und glaubte an ihre Verwandel—
barkeit. Durch theoretiſche Spekulationen
gelangte er zu dem Schluß, daß die Ele—
3
mente aus einer und derſelben Urmaterie
beſtehen und daß ihre Verſchiedenheit auf
der verſchiedenen Größe, Geſtalt ꝛc. ihrer
kleinſten Teilchen beruhe. Dieſe Anſichten
Boyles fanden zunächſt geringe Beach—
tung, man blieb bei der Annahme von
Grundbeſtandteilen als Trägern gewiſſer
Beſtandteile ſtehen, Willis, Lefebvre
und Lemery fügten den drei alchemiſchen
Elemente noch zwei weitere, Waſſer und
Erde, hinzu und im 18. Jahrhundert trat
Stahl nach dem Vorgange Bechers mit
ſeiner Phlogiſtontheorie hervor, welche
ebenfalls noch auf ariſtoteliſchen Anſchau—
ungen fußte und deren bedeutendſte Ver—
treter immer noch von Erde, Waſſer,
Licht und Feuer als den unzerlegbaren
Subſtanzen ſprachen, unter dieſen Benen—
nungen aber freilich etwas ganz anderes
verſtanden als Ariſtoteles. Die Ideen
Boyles wirkten indes fort und mit der
Entwickelung der Phlogiſtontheorie nah—
men auch die Anſichten darüber, was Ele—
mente ſeien, immer beſtimmtere Geſtalten
an, ſodaß nach dem Sturz jener Theo—
rie, welche die Metalle wie alle brenn—
baren Körper als phlogiſtonhaltig betrach—
tet hatte, die neue Lehre von den Elemen—
ten annähernd in der Geſtalt fixirt werden
konnte, in welcher ſie noch heute gilt.
Man bezeichnet gegenwärtig als Ele—
mente diejenigen Körper, welche bisher
nicht weiter zerlegt werden konnten und
die man daher nach dem heutigen Stande
des Wiſſens als chemiſch einfache an—
ſehen muß. Dieſer Begriff des chemi—
ſchen Elements als des nicht weiter in
materiell Verſchiedenes Spaltbaren bil—
det den erſten Fundamentalſatz der heu—
tigen wiſſenſchaftlichen Chemie und wird
immer beſtehen bleiben, ſelbſt wenn ſich
Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
103
einige oder alle jetzt als chemiſch einfach
betrachteten Körper als noch weiter zer—
legbar erweiſen ſollten. Mit dem Begriff
des chemiſchen Elements trat dann jene
alte Vorſtellung von der Unzerſtörbarkeit
der Materie in Verbindung und ſo ent—
ſtand der weitere Fundamentalſatz von
der Unwandelbarkeit der Elemente, der
ſeit Lavoiſiers Verſuchen über die viel
behauptete Umwandlung von Waſſer in
Erde nicht mehr beſtritten worden iſt und
der in allen chemiſchen Thatſachen ſeine
Beſtätigung findet. Endlich vollzog ſich
auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts
die Ausbildung der Atomtheorie, welche
zuerſt von Leukipp um 500 v. Chr. auf⸗
geſtellt und nicht viel ſpäter von De—
mokrit ausführlich entwickelt worden war.
Während aber die Alten, und, wie wir
geſehen haben, auch Boyle, die Verſchie—
denheit aller Dinge von der Verſchieden—
heit ihrer Atome an Zahl, Größe, Ge—
ſtalt und Ordnung ableiteten, nahm der
engliſche Chemiker Dalton zuerſt in be—
ſtimmter Weiſe die Exiſtenz qualitativ,
verſchiedener Elementaratome an und
ſchrieb dieſen beſtimmte, für die verſchie—
denen Elemente charakteriſtiſche Gewichte
zu. „Wie der Begriff des chemiſchen Ele—
mentes, ſo wird auch der Begriff des
chemiſchen Atoms, als der durch chemiſche
Vorgänge nicht weiter ſpaltbaren Menge
elementarer Materie, immer beſtehen blei—
ben. Für die Chemie iſt die Frage, ob
die chemiſchen Atome urſprünglich ein—
heitliche und abſolut unteilbare Weſen
ſeien, von feinem Belang. Mag immer—
hin der Nachweis geliefert werden, daß
die chemiſchen Atome aus Teilchen fei—
nerer Ordnung gebildet ſind, oder mag
die von William Thomſon begründete
—
104
Theorie der Wirbelringe oder irgend eine
ähnliche Vorſtellung, die die Atome als
aus kontinuirlicher Materie entſtanden auf-
faßt, durch die Fortſchritte der Erkennt⸗
niß ihre Beſtätigung finden, der Begriff
der chemiſchen Atome wird dadurch nicht
aufgehoben. Der Chemiker wird eine Erz |
klärung ſeiner Einheiten ſtets mit Freude
begrüßen, denn die Chemie bedarf nur
zunächſt, nicht aber zuletzt der Atome“
(Kekulé).
Sieht man von einigen neueſten Ent—
deckungen ab, ſo beträgt die Zahl der
chemiſchen Elemente gegenwärtig 64. Von
dieſen nehmen aber nur etwa 12 an der
Bildung der Hauptmaſſe der Erdrinde,
der Pflanzen und Tiere und der Atmo—
ſphäre Teil, die übrigen werden ſämmt—
lich, wenn auch zum Teil ſehr allgemein
verbreitet, nur ſparſam und in geringe—
rer Menge gefunden, manche ſind ſogar
ſehr ſelten und nur in wenigen Minera—
lien nachgewieſen. Daß aber die Zahl
der wirklich vorhandenen Elemente noch
keineswegs erſchöpft iſt, beweiſt allein
ſchon die Thatſache, daß immerfort noch
neue Elemente entdeckt werden, wenn
auch dieſe jüngſten Entdeckungen immer
nur ſolche Körper betreffen, die für den
Haushalt der Natur von ſehr geringer
Bedeutung ſind. Viele angeblich neue
Elemente haben ſich überdies in der Folge
als Miſchungen erwieſen.
Bei der verhältnismäßig großen Zahl
der Elemente lag das Bedürfnis nahe,
ſie in Gruppen zu bringen und man
folgte bis in die neueſte Zeit dem Vor—
ſchlage von Berzelius, welcher unter Be—
tonung einiger weniger oberflächlicher
Eigenſchaften die Elemente in Metalle
und Nichtmetalle (unpaſſend Metalloide
Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
genannt) teilte. Man ging dann auch
weiter, teilte die Nichtmetalle in Oxyge—
noide und Metalloide, die Metalle in
Leicht- und Schwermetalle, erſtere in Al—
kali⸗, Erdalkali- und Erdmetalle, letztere
in unedle und edle. Dieſe ganze Grup—
pirung hat aber geringen Wert, weil ſie
die chemiſche Natur der Elemente viel zu
wenig berückſichtigt, durch die z. B. Tel—
lur, Arſen und Antimon entſchieden zu
den Nichtmetallen gewieſen werden. Man
hat ſich daher ſeit lange bemüht, an die
Stelle des künſtlichen ein natürliches Sy—
ſtem zu ſetzen und dieſe Beſtrebungen
haben ſich als ſehr dankbar erwieſen. Man
gewann größere Sicherheit in der An—
weiſung der Stelle, welche ein beſtimm—
tes Element im Syſtem einnimmt, und
erzielte den Vorteil, daß nicht nur die
gegenſeitigen Beziehungen der Elemente
zu einander überſichtlicher hervortraten,
ſondern auch neue Beziehungen aufgedeckt,
neue Wege zum Erforſchen des Weſens
der Elemente angebahnt wurden.
Daß die Elemente in der That, wie
man bisher mehr oder minder ausdrück—
lich angenommen hat, unzerlegbare Stoffe
ſeien, iſt ſchon aus dem Grunde ſehr un—
wahrſcheinlich, weil man dann die Exi—
ſtenz von 60 und vielleicht viel mehr
grundverſchiedenen Urmaterien annehmen
müßte. Jene Annahme wird aber noch
unwahrſcheinlicher gegenüber den Be—
ziehungen, welche die Atomgewichte der
verſchiedenen Elemente zu einander zei—
gen. Dieſe Beziehungen hatten bereits
1815 Prout veranlaßt, den Waſſerſtoff
als die einzige Urmaterie, aus welcher
alle anderen Elemente hervorgegangen
ſeien, zu betrachten. Er nahm deshalb
an, daß die Atomgewichte aller Elemente
Tr er re EEE EEE EEE
Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
ganze Vielfache vom Atomgewicht des
Waſſerſtoffs ſeien, aber alle ſpätern ge—
naueren Beſtimmungen der Atomgewichte
haben gezeigt, daß dieſe Anſicht auch in
der Form, welche ihr Dumas gab, in—
dem er annahm, daß Waſſerſtoff viel—
leicht aus 2 oder 4 Atomen beſtehe und
die Atomgewichte der Elemente Vielfache
von 0,5 oder 0,25 mit ganzen Zahlen
ſeien, nicht aufrecht erhalten werden könne.
Immerhin bleibt auffällig, daß, worauf
Marignac aufmerkſam machte, die Mehr—
zahl der Atomgewichte nahezu ganze Zah⸗
len ſind, wie z. B.
Lithium 7,01
Stickſtoff 14,01
Sauerſtoff 15,96
Natrium 22,99
Schwefel 31,98
Kalium 39,04
Dieſe Thatſache verdient jedenfalls die
höchſte Beachtung und wird früher oder
ſpäter eine Erklärung finden, welche dann
vielleicht auch ohne weiteres erkennen
läßt, wie die Atomgewichte anderer Ele—
mente, z. B. von
Chlor 35,37
Brom . 79,75
Jod 126,53
Silber . 107,66
ſo erheblich von ganzen Zahlen abwei—
chen können. Von irgendwie erheblichen
Fehlern in der Beſtimmung dieſer Atom—
gewichte kann keine Rede ſein, die Zah—
len ſind vielmehr bis auf 0,001, und
einige, wie die von Chlor und Silber,
auf 0,0001 ihres Wertes genau be—
ſtimmt, während allerdings die Atom—
gewichte anderer Elemente nachweislich
Fehler enthalten, die bei vielen mehrere
Hundertteile und bei einigen ſogar Zehn—
teile ihres Wertes betragen können. Erſt
wenn über alle Atomgewichte ſo aus—
105
gezeichnete Arbeiten wie die von Stas
vorliegen, wird es möglich ſein, den ur—
ſächlichen Momenten der Beziehungen, in
denen die Atomgewichte zu einander ſtehen,
mit größerer Ausſicht auf Erfolg nach—
zuſpüren. Aber auch ſchon jetzt laſſen
ſich die intereſſanteſten Verhältniſſe nach—
weiſen, und die überraſchendſten That—
ſachen geben den unwiderleglichen Be—
weis, daß die Forſchung ſich hier auf
dem richtigen Wege nach einem hohen
Ziel befindet. Döbereiner zeigte zuerſt,
daß in vielen Gruppen von je drei ver—
wandten Elementen, welche er „Triaden“
nannte, das Atomgewicht des einen Ele—
ments nahezu das arithmetiſche Mittel
aus dem der beiden andern iſt. Addirt man
z. B. das Atomgewicht des Chlors 35,37
zu dem des Jods 126,52 und dividirt
die Summe durch 2, ſo erhält man
80,95, während das gefundene Atom—
gewicht des Broms — 79,75 iſt. Ebenſo
berechnet ſich das Atomgewicht des Na—
triums aus dem Atomgewichte des Ka—
liums (39,04) und des Lithiums (7,01)
zu 23,02, während es zu 22,99 be⸗
ſtimmt worden iſt. Derartige Triaden
laſſen ſich mehrere zuſammenſtellen und
aus je drei Triaden ſogar Enneaden be—
rechnen. Rundet man die Atomgewichte
im Sinne der Prout ſchen Hypotheſe ab,
ſo ergeben ſich Regelmäßigkeiten, welche
an die homologen Reihen der organi—
ſchen Chemie erinnern:
Unterſchied:
Sauerſtoff O 16
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2.
16
Schwefel 8 32 5
Selen Se 80 N
Tellur Te 128 nn
Lithium I 16
Natrium Na 23 16
Kalium K 39
14
106
Alle derartigen Unterſuchungen wa—
ren früher bei der Unſicherheit der Atom—
gewichtsbeſtimmungen und ſo lange noch
die Atomgewichte mit den Aquivalent—
gewichten fort und fort verwechſelt wur—
den, ſehr ſchwankend, und erſt nachdem
Cannizzaro den vermeintlichen Wider—
ſpruch zwiſchen den Regeln von Avo—
gadro und von Dulong und Petit
durch den Nachweis, daß erſtere zunächſt
nur das Molekulargewicht, letztere da—
gegen das Atomgewicht beſtimme, geho—
ben und dadurch beiden Regeln ihre
gegenwärtig allgemein anerkannte Be—
deutung beigelegt hatte, gewannen die
Beziehungen zwiſchen den Atomgewichten
eine größere Gleichförmigkeit. Im Jahre
1864 gab Lothar Meyer!) eine Zu—
ſammenſtellung der Elemente nach der
Größe der Atomgewichte und zugleich nach
dem chemiſchen Wert, worauf Mendele—
jeff“) 1869 eine ähnliche, weiter durch—
geführte Zuſammenſtellung folgen ließ
und entſchiedener als bisher geſchehen be—
tonte, daß phyſikaliſches und chemiſches
Verhalten der Elemente durch die Größe
ihrer Atomgewichte beſtimmt werde, ſo
daß die Eigenſchaften Funktionen, und
zwar periodiſche Funktionen der
Atomgewichte ſind. Ordnet man da—
her die Elemente einfach nach der Größe
ihrer Atomgewichte, ſo ſieht man beim
Durchgehen einer ſolchen Reihe die Eigen—
ſchaften von Glied zu Glied ſich ändern,
bis bei einer gewiſſen Differenz der Atom—
gewichte die Eigenſchaften mehr oder we—
niger vollſtändig und zwar in derſelben
Reihenfolge wiederkehren. So bilden
thium (Li = 7,01), Natrium (Na =
Li⸗
) Die modernen Theorien der Chemie.
3. Aufl. Breslau, 1877.— ) Zeitſchr. f. Chemie.
Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
22,99) und Kalium (K = 39,04) der-
artige Wiederholungspunkte; auf jedes
dieſer Alkalimetalle folgt ein Erdalkali—
metall (Beryllium, Be — 9,3, Magne—
ſium, Mg 23,94, Calcium, Ca =
39,9) und auf dieſe Erdalkalimetalle fol—
gen dann wieder Elemente, die einander
ähnlich ſind und ähnliche Differenzen der
Atomgewichte zeigen. Bricht man die Reihe
bei Elementen ähnlicher Natur ab, ſo
erhält man eine Anzahl von kürzeren
Reihen, welche ſich ſo neben einander
ſtellen laſſen, daß in den Horizontal—
reihen die Elemente nach der Größe der
Atomgewichte auf einander folgen, wäh—
rend in den Vertikalreihen die chemiſch
ähnlichen Elemente, nach natürlichen Fa—
milien geordnet, zuſammenſtehen. In der
folgenden Tabelle iſt dies mit 58 Ele—
menten, deren Atomgewichte bis jetzt feſt
beſtimmt wurden, außerdem mit 6 Ele—
menten geſchehen, deren Atomgewichte
vermutungsweiſe angenommen werden.
Um eine richtige Gruppirung zu ermög—
lichen, ſind einige Elemente, deren Atom—
gewicht als noch nicht ſicher beſtimmt
gelten darf, umgeſtellt worden: Tellur
vor Jod, Osmium vor Iridium und
Platin und dieſe wieder vor Gold.
Vergleicht man die Glieder einer Ver—
tikalreihe mit einander, ſo bemerkt man,
daß dieſelben in ſehr ungleichem Grade
ſich ähnlich ſind. Gewöhnlich ſind in einer
7—8 Elemente umfaſſenden Gruppe 4—5
näher mit einander verwandt als die übri—
gen, welche dann unter ſich wieder Ahn—
lichkeit zeigen. So bilden die 5 Alkali—
metalle Lithium, Natrium, Kalium, Ru—
bidium und Cäſium eine engere Gruppe,
während die drei Schwermetalle Kupfer,
Silber, Gold unter ſich wieder in manchen
.
Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
Li
7,01
0,59
11,9
Na
22,99
0,97
23,7
K
39,04
0,86
45,4
Cu
63,3
8,8
22
Rb
99,2
1,52
56,1
Ag
107,66
Au
196,2
19,3
10,2
Be?
9,3
2,1
4,4
Mg
23,94
1,74
13,8 |
Ca
39,90
257
25,4
Zn
64,9
71,15
9,1
Sr
81,2
2,50 |
34,9
Cd
111,6
8,65
12,9
BIC | NINO
1150
V
(Diam.),
41 3,6 | — —
e 8
„3 28 30,96 31,98
2,56 2,49 2,3 2,04
10% 11% 13, 157
nee
— 48 51,2 | 52,4
„„
ns 2,
Ga 2 As | Se
ber 4 78
5,96 — 5,67 4,6
i 1 6169
1 Zr Nb Mo
89,6 90 94 95,8
415 6%
“DT 119,0 1
In | Sn | Sb Te
113,4 117,3 122 1232
7,42 7,29 6,7 6,25
15,3 16,1 18,2 20,8
Ce | La Di
13.101391 ,.147
Er Ta Wo
170,6 — 1382 | 184
— — 10,8 19,3
an Pe 16,9 9,6
TI PD Bi
203,6 206,4 210 —
11,86 11,830 9,82 —
FF
III, | U
2339 240
— 7,7 — 18,3
— 30,4 — 13,1
F
1,7 101 15,06 19 —
er
35,37 —
1538 —
(flüssig) |
Mn | Fe
54,3 55,9
8,0 7,8
6,9 762
Br
r
N
(flüssig)
? Ru
— 103,
l
— 9,2
J
126,53 —
4985 —
25,6 —
0s
199,6
i
— 9,3
107
Co Ni
38,6 33,60
SH. 88
69 6, 7
Rh Pd
104, 106,2
12,1 11,5
86.109
Jr Pt
196,7 196,7
21,15|21,15
93 9,3
108
Eigenſchaften übereinſtimmen, mit jenen
aber nur in einzelnen Punkten, beſon—
ders im Iſomorphismus mancher Ver—
bindungen und in dem Vermögen, ſich mit
einem einzigen Atom eines Salzbildners zu
vereinen, übereinkommen. In den Hori—
zontalreihen trifft man von Element zu Ele—
ment einen bald mehr, bald wenigerſchroffen
Wechſel in den Eigenſchaften, bei genauerer
Unterſuchung aber zeigt ſich derſelbe eben—
falls durch ein Geſetz beherrſcht und ab—
hängig von der Größe der Atomgewichte.
Recht deutlich tritt dies bei Vergleichung
der Atomvolumina der Elemente her—
vor. Man kann zwar das Atomvolumen,
d. h. den Raum, welchen die Maſſe des
Atoms erfüllt, nicht nach abſolutem Maß
meſſen, wohl aber nach einer relativen
Maßeinheit, indem man die Räume ver—
gleicht, welche von den Atomgewichten
proportionalen Maſſen der verſchiedenen
Elemente erfüllt werden. Nimmt man
zur Einheit des ſpezifiſchen Gewichts das
Waſſer und zur Einheit des Volumens
den Raum, welcher von der Gewichts—
einheit des Waſſers eingenommen wird,
fo ergiebt ſich das Atomvolumen durch
Diviſion des ſpecifiſchen Gewichts d in
Schon
früher hatte man beobachtet, daß ähn—
liche Elemente ein gleiches oder nahezu
gleiches Atomvolum beſitzen, daß dasſelbe
bei andern mit dem Atomgewicht wächſt;
zu tieferem Verſtändnis gelangte man aber
erſt, als Lothar Meyer das Atomvo—
lum als periodiſche Funktion der Atom—
gewichte erklärte. In der nach der Größe
der Atomgewichte geordneten Reihe der
Elemente nimmt das Atomvolumen pe—
riodiſch und allmählich ab und zu und in
A
das Atomgewicht A: V = na:
Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
einer graphiſchen Darſtellung, in welcher
man die Atomgewichte als Abſeiſſen und
die entſprechende Atomvolumina als Or—
dinaten einträgt, erhält man durch Ver—
bindung der Endpunkte der letzteren eine
Kurve, welche durch 5 Maxima in 6 Ab—
ſchnitte zerlegt wird und aus deren Ver—
lauf man ſofort erkennt, daß die Atom—
volumina wie auch andere phyſikaliſche
und chemiſche Eigenſchaften eine periodi—
ſche Funktion der Größe ihres Atomge—
wichtes ſind. An allen entſprechenden Stel—
len der einander ähnlichen Kurvenſtücke
ſtehen auch Elemente mit ähnlichen Eigen—
ſchaften. Die Maxima der Kurve werden
durch leichte, die drei letzten Maxima
durch ſchwere Metalle gebildet; beſonders
beachtenswert iſt aber, daß auch bei glei—
chem oder nahezu gleichem Atomvolumen
die Eigenſchaften ſehr verſchieden ſind,
je nachdem das Element auf ſteigendem
oder fallendem Kurvenaſt liegt, je nach—
dem ihm alſo ein kleineres oder größe—
res Atomvolumen zukommt als dem Ele—
ment mit nächſt größerem Atomgewicht.
Dehnbarkeit zeigen die Elemente, wel—
che in einem Maximum oder Minimum
der Kurve liegen oder unmittelbar auf
ein ſolches folgen; alle leicht flüſſi—
gen, flüchtigen und gasförmigen
Elemente befinden ſich auf den aufſtei—
genden Kurvenäſten, die ſtrengflüſſigen
im oder nahe am Minimum oder auf
den abſteigenden Aſten. Jedes Element,
das ein größeres Atomvolumen beſitzt,
als das ihm unmittelbar mit nächſt klei—
nerem Atomgewicht vorhergehende, iſt
leichtflüſſig und flüchtig, ſeine Molekeln
laſſen ſich leicht von einander trennen.
Umgekehrt iſt ſtrengflüſſig und ſchwer—
flüchtig jedes Element, deſſen Atom—
0 _
12
Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
volumen kleiner oder doch nicht größer iſt
als das des vorhergehenden Elements
mit nächſt kleinerem Atomgewicht. Wor—
auf dieſe Beziehungen beruhen, iſt bis
jetzt nicht näher anzugeben.
Die beſprochenen Eigenſchaften der
Elemente ſtehen in nahem Zuſammenhang
mit dem innern Gefüge der Maſſe, be—
ſonders mit der Kriſtallform und der
Ausdehnung durch die Wärme, und
es zeigt ſich, daß die im oder nahe am
Maximum befindlichen Elemente faſt durch—
weg regulär kriſtalliſiren, während die
auf ſteigender Kurve liegenden flüchtigen
mehr oder weniger ſpröden Elemente nicht
regulär kriſtalliſiren. Ferner beſitzen die
letzten Elemente faſt ausnahmslos zwi—
ſchen O0 und 1009 einen größeren Aus—
dehnungsfoeffizienten als die am Mini—
mum ſtehenden ſtrengflüſſigen. Auch für
die Brechung des Lichtes durch die Ele—
mente, die Leitungsfähigkeit für
Wärme und Elektrizität, ſowie für
die ſpezifiſche Wärme ſind Beziehungen
zur Größe des Atomgewichts nachweisbar.
Nicht minder als die phyſikaliſchen
109
zeigen ſich nun aber auch die chemiſchen
Eigenſchaften der Elemente als pe—
riodiſche Funktionen der Atomgewichte.
So wechſelt das elektrochemiſche Ver—
halten regelmäßig in der Weiſe, daß
die Elemente auf fallender Kurve poſitiv,
auf ſteigender negativ elektriſch ſind. Ver—
gleicht man die auf verſchiedenen, einan—
der entſprechenden Kurvenſtücken ſtehen—
den Elemente mit einander, ſo zeigen ſich
die poſitiven und negativen Eigenſchaf—
ten ſehr verſchieden ſtark ausgeprägt. Be—
ſonders fällt auf, daß in der Nähe der
Minima des Atomvolumens die chemi—
ſchen Gegenſätze ſehr gemildert ſind, wäh—
rend ſie in der Nähe der Maxima ſchroff
hervortreten. Eine Anhäufung von viel
Maſſe in wenig Raum ſcheint alſo der
Entwickelung eines ausgeprägt poſitiven
oder negativen chemiſchen Charakters nicht
günſtig zu ſein. Schärfer läßt ſich die
Abhängigkeit des chemiſchen Wertes
in ſeiner Abhängigkeit von der Größe des
Atomgewichts verfolgen. So bilden die
Anfangsglieder der Hauptgruppe folgende
Verbindungen mit Chlor oder Waſſerſtoff:
einwertig zweiwertig dreiwertig vierwertig dreiwertig zweiwertig einwertig
LiCl Be Cl. BC], CH, NH, OH, FH
NaCl Mg Cl. , E. PH, SH, CH
Der chemiſche Wert fteigt alſo allmählich von 1 auf 4 und nimmt dann ebenſo regelmäßig wieder ab.
Ag C! | cacı,
Die größte Regelmäßigkeit zeigt ſich
jedoch in der Zuſammenſetzung der Oxyde,
Hydroxyde und Hydride oder, da die letz—
teren wenig zahlreich ſind, in deren ent—
ſprechenden Methylverbindungen oder Me—
thiden, die ein den Hydriden ganz ana—
loges Verhalten zeigen:
Ahnliches findet ſich in andern Reihen:
InCl,; | Sncl, | SbH, |
De. JH
Oxyde Hydroxyde Hydride | Methide
Na,0 | Na0M)| — | Na(CH,)
Mg,0, Mg(OH,| — | Mg(CH,),
Al,0, Al(OH) ], — AI(CH,),
Si,0, Si(OH), SiH, Si(CH,),
PO | Po(oH), PH, | P(CH,),
8,0, |‚S0,(OH), SH, S(CH,),
C1,0, ‚CIO,(0H)) CIH CI(CH,)
110
Um die Regelmäßigkeit hervortreten zu
laſſen, find ohne Berückſichtigung der Mo—
lekulargewichte alle Formeln in über—
einſtimmender Weiſe geſchrieben worden.
Im Allgemeinen wächſt, wie man ſieht,
in der nach der Größe der Atomgewichte
geordneten Reihe der Elemente die Quan—
tität Sauerſtoff, welcher von einem Atom
eines anderen Elements gebunden wird,
von Glied zu Glied um ein halbes Atom,
jedoch nie weiter als bis zu 4 Atomen,
worauf ſie wieder plötzlich auf ein hal—
bes Atom zurückſinkt. Ganz verſchieden
aber vom Sauerſtoff verhalten ſich, wie
die Tabelle zeigt, der Waſſerſtoff und
die einwertigen Radikale. Auf Grund die—
ſer Regelmäßigkeit kann man ausſprechen:
Der chemiſche Wert der Elemente, wie er
ſich aus der Zuſammenſetzung ihrer Ver—
bindungen ergiebt, iſt ebenfalls eine pe—
riodiſche Funktion des Atomgewichts.
Seine Perioden fallen mit den Perioden
des allgemeinen chemiſchen Charakters
nahe zuſammen; bis zum Kalium fällt
je eine derſelben und von da ab je zwei
auf eine Periode des Atomvolumens.
Die angegebenen Beziehungen zwi—
ſchen den Eigenſchaften der Elemente und
den Atomgewichten ſind, wenn uns auch
das allgemeine Geſetz, welches dieſelben be—
herrſcht, noch unbekannt iſt, für eine Syſte—
matik der Elemente von hohem Wert.
Sie haben außerdem Anregung zu neuen
Atomgewichtsbeſtimmungen gegeben und
dadurch die Berichtigung mancher älteren,
ungenauen Angabe herbeigeführt. So
hatte, um nur ein Beiſpiel anzuführen,
Bunſen das Atomgewicht des Cäſiums
an der zuerſt dargeſtellten, ſehr geringen
Quantität dieſes ſeltenen Elements vor—
läufig zu 123,4 beſtimmt. Dieſe Zahl |
Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
ſtört aber die Regelmäßigkeit der Dif—
ferenzen zwiſchen den Atomgewichten der
Alkalimetalle.
Differenz:
15,98
16,05
46,16
38,20
Lithium 7,01
Natrium 22,99
Kalium 39,04
Rubidium 85,20
Cäſium 123,40
Daraufhin hat Johnſon und Al—
len das Atomgewicht des Cäſiums noch
einmal beſtimmt und — 132,7 gefun⸗
den, welche Zahl gleich darauf auch von
Bunſen beſtätigt wurde. Hierdurch aber
ergiebt ſich eine Differenz von 47,5 ge—
gen Rubidium und damit die vorauszu—
ſetzende Regelmäßigkeit.
Bei Betrachtung der obigen Tabelle fal-
len Lücken auf, welche durch die bekannten
Elemente nicht auszufüllen ſind. Nach Men—
delejeff fehlen hier Elemente, welche noch
zu entdecken ſind, und nach der Stellung,
welche ihnen das Syſtem von vornherein
anweiſt, laſſen ſich ihre Eigenſchaften im
Voraus beſtimmen. Mendelejeff führte
dieſe Beſtimmungen aus und gab z. B.
an, daß ein Element (von ihm proviſo—
riſch Ekaaluminium genannt) zu ent—
decken ſei, deſſen Atomgewicht etwa 68,
deſſen ſpezifiſches Gewicht etwa 6 und
deſſen Atomvolumen annähernd 11,5 be—
trage. Hier haben wir alſo denſelben Fall
wie in der Aſtronomie, wo Leverrier
durch Rechnung auf die Exiſtenz eines
bis dahin nicht beobachteten Planeten
ſchloß und genau angab, zu welcher Zeit
derſelbe an einem beſtimmten Ort er—
ſcheinen werde. Und ſo wie Galle Le—
verriers Rechnungen durch Auffindung
des Planeten Neptun glänzend beſtätigte,
fo fand auch Lecoq de Boisbaudran
das Gallium, deſſen Atomgewicht 69,8,
—
Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
deſſen ſpezifiſches Gewicht 5,9 und deſſen
Atomvolumen 11,8 beträgt. Auch in einem
zweiten Falle ſcheint ſich die Vorherſage
Mendelejeffs zu beſtätigen, indem
Cleve das von Nilſon entdeckte Scan—
dium für Mendelejeffs Ekabor hält
und angiebt, daß die an dieſem neuen
Element aufgefundenen Eigenſchaften ſehr
gut mit den von Mendelejeff gefor—
derten übereinſtimmen. „Die Vorausbe—
ſtimmung der Eigenſchaften der noch feh—
lenden Elemente,“ ſagt Lothar Meyer,
„iſt jedenfalls eine der reizvollſten, aber
auch ſchwierigſten Aufgaben der chemi—
ſchen Wiſſenſchaft. Sie entbehrt nicht
ganz der Ahnlichkeit mit der Vorausbe—
rechnung eines noch unentdeckten Plane—
ten. Iſt aber auch die Aufgabe der des
Aſtronomen nicht unähnlich, ſo dürfen
wir darum nicht überſehen, daß die Hülfs—
mittel zu ihrer Löſung, über welche die
Chemie gebietet, zur Zeit noch ſehr viel
ſchwächer und unzuverläſſiger ſind als
die von dem einheitlichen Prinzip des
Newtonſchen Gravitationsgeſetzes aus—
gehenden, von Maß und Zahl getrage—
nen Theorien der Aſtronomie. Sind wir
uns aber der Schwäche unſerer Waffen
bewußt, ſo wird es immerhin erlaubt
ſein, unſere Kräfte dadurch zu erproben,
daß wir die Eigenſchaften der noch un—
entdeckten Elemente nach möglichſter Wahr—
ſcheinlichkeit vorausbeſtimmen, um ſie ſpä—
ter vielleicht mit den wirklich beobachte—
ten vergleichen und danach den Wert
oder Unwert unſerer theoretiſchen Spe⸗
kulationen beurteilen zu können.“
Keinem Zweifel kann es unterliegen,
daß die auf die Atomgewichtszahlen ba—
ſirte Syſtematik der Elemente die Grund—
lage einer künftigen vergleichenden Af—
111
finitätslehre ſein und bleiben wird; die
Unterſuchungen über die Beziehungen der
Atomgewichte zu einander deuten aber
noch auf ein ferneres Ziel, welches ſeit
langer Zeit geahnt, ſich immer ſchärfer
zu zeigen beginnt, nämlich die Erkennt—
nis der Natur der Elemente. An—
geſichts der oben vorgeführten Thatſachen
wird man ſich kaum noch der Vorſtel—
lung verſchließen können, daß wie die
Moleküle aus Atomen, ſo die Atome aus
Einheiten höheren Grades beſtehen, daß
die Elemente in der That nicht chemiſch
einfache, ſondern zuſammengeſetzte Kör—
per ſind. In dieſer Hinſicht liegen mehrere
Hypotheſen vor. So glaubt, um nur
eine derſelben anzuführen, Zängerle
aus den beobachteten Regelmäßigkeiten
innerhalb einer natürlichen Gruppe ſchlie—
ßen zu dürfen, daß die zu einer ſolchen
gehörenden Elemente Kombinationen dreier
Urelemente ſind, und daß ſich demnach
das Atomgewicht irgend eines chemiſchen
Elementes durch die Formel bDA+cE-+dI
ausdrücken laſſe, wo b, c, d die Anzahl,
A, E, I die Gewichte der Atome der
Urelemente bedeuten.
Wichtiger erſcheinen augenblicklich die
Experimentalunterſuchungen, welche auf
das Zuſammengeſetztſein der Elemente hin—
deuten. In dieſer Hinſicht iſt Lockyer
durch ſpektralanalytiſche Arbeiten zu weit—
gehenden Schlüſſen gelangt“) und Fleck
hat, ebenfalls auf ſpektroſkopiſche Ver—
ſuche geſtützt, die Vermutung ausgeſpro—
chen, daß das Calcium kein elementarer
Körper ſei. Dieſer Anſicht iſt Cappell
beigetreten, da er fand, daß die Licht—
ſtärke, welche die blaue 8-Linie des Cal—
ciumſpektrums im Induktionsfunken zeigt,
) Vgl. Kosmos, Bd. VI. S. 219 u. fgde.
112 Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente.
für die in der Natur vorkommenden Geſteine
und Kriſtalle des Caleits unter weſent—
lich gleichen Bedingungen des Experimen—
tes beträchtlichen Differenzen unterworfen
iſt. Die d-Linie ſcheint für ſich allein
einen elementaren Körper zu repräſenti—
ren, der ſich in den Calcium enthalten—
den Körpern in ſehr verſchiedener Menge
findet. „Was aber von dieſer Linie gilt,
wird notwendiger Weiſe auch von den
andern Linien des Calciums gelten müſ—
ſen, da die abnehmende Lichtſtärke der
einen notwendig die Zunahme der Licht—
ſtärke bei andern Linien bedingt. Ver—
allgemeinert man dieſe Schlüſſe auf alle
Körper und giebt die Annahme ihrer für
elementar gehaltenen Beſchaffenheit auf,
ſo erſcheint es am natürlichſten, anzu—
nehmen, daß die wahre Zahl der Ele—
mente ſo groß iſt wie diejenige der me—
präſentirt wird.“ Die hier wiedergege—
bene Anſicht dürfte wohl einer Modifi—
cirung bedürfen, an dieſer Stelle aber
genügt es, die thatſächlichen Ergebniſſe
der Unterſuchung vorgeführt zu haben.
Zu ähnlichen Reſultaten ſind, wie
früher in dieſen Blättern (Bd. VI. S. 59)
mitgeteilt wurde, Victor Meyer hin—
ſichtlich des Chlors und Groß hinſichtlich
des Schwefels gelangt, und der Glaube
an die Einfachheit unſrer ſogenannten
Elemente iſt ſo gründlich erſchüttert, daß
Raoul Pictet in Genf ſoeben mit po—
ſitiven Vorſchlägen hervorgetreten iſt, die
das Ziel verfolgen, koloſſale paraboliſche
Hohlſpiegel zu konſtruiren, um mit ihrer
Hülfe zunächſt die ſogenannten Metalloide,
dann die Metalle in ihre Beſtandteile
zu zerſetzen. Man darf auf den Erfolg
dieſer Verſuche um ſo mehr geſpannt ſein,
talliſchen Linien und daß jeder Körper | als ein pofitives Ergebnis keineswegs mit
in ſeinem elementaren Zuſtande durch | Sicherheit zu erwarten iſt.
eine und zwar nur durch eine Linie re-
en
Der Schlaf und die Träume,
J. Delboeuf,
Profeſſor an der Univerſität Lüttich.
der Glaube im allgemeinen,
und der Glaube an eine äußere
Wirklickkeit im befondern ?
einer Gewohnheit. Kraft einer
Gewohnheit legen wir dem
5 durch den Spiegel zurückge—
worfenen Bilde ein körperliches Weſen
bei, kraft einer Gewohnheit glaubt der
Hallueinirende an die Wirklichkeit feiner
Viſionen.
Es giebt etwas außer mir, es giebt
ein Nicht-Ich — das iſt das erſte be—
wußte, von dem empfindenden Weſen
gefällte Urteil. Und von dem Tage, an
welchem es dieſes Urteil gefällt hat, da—
tirt ſeine erſte Wahrnehmung: es unter—
ſcheidet ſich von den Dingen der Um—
gebung und lernt ſie kennen.
1. Auf welchem Grunde rulit
Ihre Beziehungen zu der Theorie von der Gewißheit.
Durch eine ſpätere Erfahrung ſtellt
es feſt, daß das empfindende, innere Ich
einer äußeren Hülle verbunden iſt, welche
es nach Art einer fremden und unab⸗
5 hängigen Sache wahrnimmt: hier liegt
nn har eder Glaube iſt das Ergebnis
der Urſprung des Gegenſatzes, welchen
das Bewußtſein zwiſchen Seele und Kör—
per aufſtellt. Für jedes empfindende We—
ſen iſt der eigene Körper ein Objekt der
Wahrnehmung.
Für den Augenblick habe ich nicht
nötig, mich weiter über dieſe Präliminar—
feſtſtellungen zu verbreiten, da ich es mit
hinreichend ausführlichen Entwicklungen
in einer andern Abhandlung?) gethan
und darauf ſpäter zurückzukommen habe.
Jede Wahrnehmung (perception) iſt
im ſtande, ganz oder zum Teil in den Zu—
ſtand der Vorſtellung (conception) über—
*) La Psychologie comme science naturelle.
Paris et Bruxelles.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2.
114
zugehen. Seit lange haben die Phyſio—
logen Wahrnehmung und Vorſtellung un—
terſchieden. Die Wahrnehmung iſt das
Bild eines äußern Gegenſtandes, wie es
ſich in unſerm Geiſte unter der direkten
und gegenwärtigen Einwirkung dieſes Ge—
genſtandes bildet. Die Wahrnehmung iſt
immer begrenzt. So erhalte ich den Ge—
ſichtseindruck eines Pferdes oder den Ge—
fühlseindruck einer Stecknadel, wenn das
Pferd gegenwärtig auf mein Auge oder
die Nadel auf mein Taſtgefühl wirkend,
in mir die Idee von dieſem Pferde oder
von dieſer Nadel, als äußere und auf
meine Empfindung wirkende Urſache, ent—
ſtehen läßt.
Ein anderes iſt das Bild eines früher
aufgenommenen Gegenſtandes, das in Ab—
weſenheit deſſelben, oder wenigſtens außer—
halb des Bereiches ſeiner unmittelbaren
Einwirkung in meinem Geiſte hervorge—
rufen wird. Derart iſt die Idee, die ich
von einem Pferde oder einer Nadel habe,
die ich nicht ſehe, oder welche ich in dem
Augenblick, wo ich dieſe Idee habe, nicht
empfinde. Das ſo hervorgebrachte Bild
iſt ein Erinnerungsbild.
Neben dieſe Bilder, deren Gegen—
ſtand nicht mehr gegenwärtig iſt, ordnen
ſich naturgemäß und notwendig die Ein—
bildungen ein, welche nicht einem wirk—
lichen Gegenſtande entſprechen und das
Erzeugnis der abſichtlichen oder unab—
ſichtlichen Verbindungen der in den Zu—
ſtand von Erinnerungsbildern überge—
gangenen Eindrücke ſind. Derart ſind die
Ideen, die ich mir von einem Centauren,
einer Chimäre oder einem Baume in
Menſchengeſtalt mache. In denſelben Rang
mit dieſen Einbildungen, welche man phan—
taſtiſche nennen kann, muß man ferner
|
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
diejenigen ſtellen, welche man als natur—
wiſſenſchaftliche, hiſtoriſche, künſtleriſche
u. ſ. w. klaſſifiziren könnte. So iſt man
dahin gelangt, ſich die Fauna und Flora
der Urepochen vorzuſtellen, ſo macht man
ſich Ideen von Ländern, welche man nie
beſucht hat; ſo giebt man dem Homer,
Moſes, Confucius, Alexander,
Cäſar beſtimmte Geſichtsformen, und ſo
haben die Griechen in unvergänglichem
Marmor die Züge aller ihrer Götter
und aller ihrer Heroen fixirt.
Die Erinnerungs- und Phantaſiebil—
der ſind Vorſtellungen. Allerdings be—
ſchränken ſich unſere Vorſtellungen nicht
auf materielle Bilder. Dank der Sprache,
mit der er begabt iſt, treibt der Menſch
das Vermögen der Abſtraktion bis zu
einem ſehr hohen Grade und gelangt
dahin, ſich die einer körperlichen Dar—
ſtellung unzugänglichen Dinge vorzuſtellen,
wie z. B. die Tugend, die Pflicht, die
Güte, die Kraft. Da wir in dem Fol—
genden nur ſelten benötigt ſein werden,
von dieſer berechtigten Ausdehnung der
Bedeutung des Wortes „Vorſtellung“
Gebrauch zu machen, ſo wird es uns bei—
nahe ausſchließlich dazu dienen, um die Bil—
der zu bezeichnen, welche die Frucht einer
direkten Auffaſſung geweſen ſind, oder
wie dieſe entſtanden ſind. Ich habe nie—
mals die direkte Auffaſſung eines Cen—
tauren oder Cäſars haben können, aber
dank den Büchern und den künſtleriſchen
Darſtellungen machen ſie mir die Wir—
kung, als wären ſie der Gegenſtand einer
ſolchen, oder könnten es geweſen ſein.
Die Wahrnehmungen ſind immer le—
bendig (actuell). Die Vorſtellungen kön—
nen lebendig oder ſchlummernd (potentiell)
ſein. Die Vorſtellung iſt lebendig, wenn
—
A
Her en EEE pe
Fe
ig
fie dem Geiſte ſichtbar iſt, den Gegen—
ſtand der Aufmerkſamkeit bildet, einen
ſie im Augenblicke nicht den Gegenſtand
des inneren Sehens ausmacht. Man darf
dieſes ſchlummernde Vermögen nicht mit
der Potentialität verwechſeln, wie ſie
Ariſtoteles verſteht. Für ihn würde
eine beſtimmte Vorſtellung, welche noch
nicht gebildet wäre, aber es ſein könnte,
potentialiter vorhanden ſein; während eine
ſchlummernde Vorſtellung eine ſolche iſt,
welche wenigſtens ſchon einmal unter der
Form des Sinneseindrucks oder der Wahr—
nehmung Daſein gewonnen hatte. Ich
habe nicht fortwährend mein ganzes Wiſ—
ſen, alle meine Erinnerungen, alle meine
Ideen gegenwärtig. Nur ein Teil, ein
unendlich geringer Teil dieſes Wiſſens
kann jedesmal in einem gegebenen Augen—
blick Gegenſtand eines Bewußtſeins-Aktes
ſein, der Reſt bleibt in der Dunkelheit
der Bewußtloſigkeit verſenkt, und ſtellt
das potentielle Wiſſen Strickers dar.
Nach den Bedürfniſſen des Moments tau—
chen die Elemente des potentiellen Wiſ—
ſens an das Tageslicht empor, indem ſie
diejenigen in den Schatten zurückdrängen,
welche ſich einen Augenblick vorher im
vollen Lichte befanden. Solcherart iſt
das beſtändige Spiel des Geiſteslebens.
Der Kürze halber werde ich unter
Vorſtellungen, wenn ich ſie nicht ſpeziell
als ſchlummernde bezeichne, nur die le—
bendigen verſtehen.
Die reale oder fiktive Vorſtellung hat,
allgemein geſprochen, ihrem Charakter ge—
mäß, ihren Urſprung in einem vorher—
gegangenen Sinneseindruck. Ich kann mir
weder Pferd, noch Centaur vorſtellen,
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
115
wenn ich noch kein Pferd geſehen habe.
Teil des Bewußtſeinszuſtandes ausmacht.
Sie iſt im Gegenteil ſchlummernd, wenn
Aber von dem Augenblicke, wo ich den
Eindruck eines Pferdes erhalten habe,
werde ich davon in ungeſchwächter Weiſe
— tauſend Thatſachen beweiſen das —
die potentielle Vorſtellung bewahren, ob—
wohl es geſchehen kann, daß die Gelegen—
heit niemals kommt, dieſe Vorſtellung aus
der Möglichkeit in die Wirklichkeit zu
rufen. Das iſt für den Augenblick ganz
gleichgültig.
Aber hier trifft man auf eine Be—
merkung von der höchſten Wichtigkeit,
nämlich, daß die lebendige Vorſtellung
nicht möglich iſt, ſo lange der Gegen—
ſtand auf unſre Sinne wirkt. Mit einem
Worte, die Wahrnehmung und die Vor—
ſtellung eines und deſſelben Gegenſtandes
können im Bewußtſein nicht gleichzeitig
exiſtiren: die erſtere löſcht vollſtändig die
letztere aus. Die Wirklichkeit nimmt uns
eiferſüchtiger Weiſe ganz in Beſchlag;
die geſammte Gedankenwelt verſchwindet
vor ihr wie die Sterne vor der Sonne.
Dieſe Erfahrung iſt unſchwer zu ma—
chen. Man verſuche ſich lebhaft ein be—
kanntes Gemälde vorzuſtellen. Die Sache
iſt leicht, wenn man die Augen ſchließt,
das Bild wird ſelbſt einen bis zur
Illuſion gehenden Glanz gewinnen. Ein
Maler kann ein Porträt aus dem Ge—
dächtnis zeichnen. Wenn man die Augen
weit geöffnet hat, wird die dazu erfor—
derliche Anſtrengung ſchon unbequemer
ſein, man muß ſozuſagen durch die Kraft
des Willens ihre Sehkraft unterdrücken,
ſie im Angeſicht der Dinge, welche ihre
Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen könnten,
mit Blindheit ſchlagen. Aber wenn man
ſeine Blicke auf einen beſtimmten Gegen—
ſtand, z. B. einen Kupferſtich fixirt, ſo
N
116
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
wird es beinahe unmöglich ſein, das in dete Gewißheit ſchwierig, wenn nicht un—
Gedanken vorgeſtellte Gemälde zu ſehen.
Aber ganz ſicher wird man am wenigſten
dazu gelangen, wenn man das Gemälde
ſelbſt vor ſich hat und es betrachtet.
Ein anderes Beiſpiel. Jeder verſteht
es, mehr oder weniger gut im Geiſte
eine bekannte Melodie zu ſingen. Ge—
räuſch legt der Ausübung dieſer Fähig—
keit gewiſſe Schwierigkeiten in den Weg,
aber eine verſchiedene Melodie, welche
ſich in der Nachbarſchaft hören läßt, ſtört
ſie noch mehr und um ſo ſtärker, je mehr
ſie ſich durch Bewegung und Rhythmus
der gewählten nähert. Sind endlich die
beiden Geſänge gleich, ſo iſt jeder Ver—
ſuch, die inneren Noten zu hören, abſolut
vergeblich.
Der Glaube an das Daſein des
wahrgenommenen Objekts drängt ſich uns
auf. Descartes hat geſagt: „Ich denke,
darum bin ich;“ er würde mit ebenſoviel
Grund haben hinzufügen können: ich
mache Wahrnehmungen, alſo giebt es
ein wahrgenommenes Objekt. Ich wieder—
hole es: Selbſtbewußtſein haben iſt, exak—
ter ausgedrückt, Bewußtſein des Nichtſelbſt.
Ohne Zweifel, der Glaube an unſre eigenen
Empfindungen iſt logiſch das erſte und
dient jeder Art von Glauben als abſolutes
Modell, aber der Glaube an eine äußere
Wirklichkeit, welcher Art ſie auch ſein
möge, iſt ihm an Intenſität gleich. Ebenſo
ſicher wie ich weiß, daß ich exiſtire, weiß
ich auch, daß ich nicht alles bin, was
exiſtirt. Wenn die Empfindung der Wirk—
lichkeit ſich ſchwächt, verdunkelt ſich die—
jenige des Ich's in gleichem Maße. Es
iſt dies dasjenige, was im Traume, in
der Trunkenheit, im Wahnſinn ſtattfin—
det. In dieſem Fall wird eine begrün—
möglich zu erhalten ſein.
Der Grund alles Glaubens iſt alſo
das Gefühl einer äußern, auf unſre Sinne
einwirkenden Realität, und dieſes Gefühl
iſt die Frucht einer Gewohnheit, welche
das Individuum von ſeinen Ahnen er—
erbt und ſeitdem nicht aufgehört hat,
durch ſeine eigene Erfahrung zu ver—
ſtärken.
2. Warum glaubt man im Wachen nicht
an die Realität feiner Träumereien, und
warum glaubt man im Traume daran?
Hinſichtlich ihrer weſentlichen phyſio—
logiſchen Kennzeichen weicht die Vorſtel—
lung mithin nicht von der Wahrnehmung
ab. Der Unterſchied zwiſchen beiden be—
ruht auf einem äußeren Umſtand, der
Gegenwart oder Abweſenheit des Objekts
derſelben. Nun erfaſſe ich das Objekt
nur durch das Zwiſchenglied meines Em—
pfindungsvermögens, wie kann ich alſo
erkennen, ob eine Vorſtellung nicht eine
Wahrnehmung iſt? Oder ferner: Wodurch
kann ich mich vergewiſſern, daß eine Wahr—
nehmung nicht eine Vorſtellung iſt, und
daß ein wirklicher Gegenſtand da iſt, dem
ſie entſpricht? Liegt darin nicht eine ma—
terielle Unmöglichkeit?
Eine der Perſonen von Daudets
„Nabob“ giebt mir eine ausgezeichnete An—
knüpfung, um auf dieſe Frage zu ant—
worten:
„Herr Joyeuſe war ein
Mann von fruchtbarer, erſtaunlicher Ein—
bildungskraft. Die Ideen wirbelten bei
ihm mit der Geſchwindigkeit der Spreu—
hülſen im Umkreiſe eines Siebes. Im
Bureau hielt ihn noch die Beſchäftigung
e
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
mit den Zahlen durch ihren poſitiven
Charakter feſt; aber draußen entſchädigte
ſich ſein Geiſt für dieſes unbarmherzige
wöhnung an einen Weg, deſſen geringſte
Eigenheiten er kannte, gaben den Fähig—
keiten ſeiner Einbildungskraft vollkommene
Freiheit. Er erfand dann außerordent—
liche Abenteuer, hinreichend, um zwanzig
Roman-⸗Feuilletons zu füllen.
„So zum Beiſpiel erblickte Herr
Joyeuſe, indem er auf dem rechten Trot—
toir — er wählte immer dieſes — zum
Faubourg Saint-Honors hinaufſtieg, einen
ſchweren Wäſcherin-Karren, der im ſchnel—
len Trab dahinging, geführt von einer
Frau, deren auf einem Wäſchebündel
ſitzendes Kind ein wenig überneigte.
„Das Kind!“ ſchrie der erſchreckte
Bonhomme, „geben Sie Acht auf das
Kind!“
„Seine Stimme verlor ſich im Stra—
ßenlärm und ſein Mahnruf im Dunkel
der Vorſehung. Die Karre fuhr vor—
über; einen Augenblick verfolgte er ſie
mit dem Auge, und ging dann ſeines
Wegs; aber das in ſeinem Geiſte an—
geſponnene Drama fuhr fort, ſich mit
tauſend Umwegen zu entwickeln. . . . . .
Das Kind war geſtürzt. . . ... Die Rä⸗
der mußten ſogleich darüber hinweggehen. ..
Herr Joyeuſe ſprang vor, rettete das
kleine, dem Tode ganz nahe Weſen, allein
die Deichſel traf ihn mitten in die Bruſt
und er fiel in ſeinem Blut gebadet nie—
der. Darauf ſah er ſich inmitten der
angeſammelten Volksmenge zum Apothe—
ker getragen. Man legte ihn auf eine
Tragbahre, um ihn in ſeine Wohnung hin—
aufzutragen, dann hörte er plötzlich den
herzzerreißenden Schrei ſeiner heißgelieb—
117
ten Töchter, als ſie ihn in dieſem Zu—
ſtande erblickten. Und dieſer verzweifelte
| Schrei traf ihn bis ins Herz, er vernahm
Handwerk. Das Spazierengehen, die Ge
mein theurer Papa. .... daß er ihn ſelbſt
ihn ſo beſtimmt, ſo tiefgehend: „Papa,
zum großen Staunen der Vorübergehen—
den auf der Straße ausſtieß, mit einer
heiſern Stimme, die ihn aus den Ban—
den ſeines erfinderiſchen Alps befreite.“
Der Verfaſſer fügt ein wenig wei—
terhin folgende einſichtige Worte hinzu:
„Die Raſſe dieſer wachen Träumer,
bei denen ein zu beſchränktes Geſchick un—
angewendete Kräfte, heroiſche Fähigkei—
ten unterdrückt, iſt zahlreicher als man
glaubt. Der Traum iſt das Ventil, durch
welches alles das mit ſchrecklichem Auf—
ſieden verdunſtet, ein Ofenrauch mit bald
zerfloſſenen, ſtrömenden Bildern. Aus die—
ſen Viſionen gehen die einen ſtrahlend,
die andern niedergebeugt und faſſungslos
hervor, indem ſie ſich am Boden und
immer am Boden wiederfinden.“ “)
Wer von uns iſt nicht jezuweilen
dieſer durch den berühmten Erzähler ſo
wohl beſchriebene wache Träumer gewe—
ſen? Wo wäre eine Literatur, die ſich
nicht dieſes Typus bemächtigt hätte,
dem man auf dem Theater und bis zu
den Fabeln herab begegnet? War es
nicht aus Indien, von wo uns durch eine
Reihe allmählicher Umbildungen dieſe köſt—
liche Perrette zukam, welche in einem Freu—
denrauſch den Milchtopf, in welchem ſie
ein ganzes Vermögen ſah, hinwirft? Je—
dermann kennt die geiſtvollen Commentare
des Poeten auswendig:
Quel esprit ne bat la campagne?
Qui ne fait chäteaux en Espagne
Picrochole, Pyrrhus, la laitière, enfin tous,
*) Le Nabab. Ch. V. La famille Joyeuse.
118
Autant les sages que les fous.
Chacun songe en veillant; il n’est rien de
plus doux;
Une flatteuse erreur emporte alors nos ämes:
Tout le bien du monde est à nous,
Toutes les honneurs, toutes les femmes.
Quand je suis seul, je fais au plus brave
un defi;
Je m'écarte, je vais detröner le sophi;
On m’elit roi, mon peuple m’aime;
Les diademes vont sur ma tete pleuvant:
Quelque accident fait-il que je rentre en
moi-meme,
Je suis Gros-Jean comme devant.*)
Es iſt alſo ein „accident“, ein Zwi—
ſchenfall nötig, um den Träumer wieder
zu ſich ſelbſt zu bringen, hier iſt es der
unglückſelige Freudenſprung der Milchfrau,
dort der von Herrn Joyeuſe ausgeſtoßene
Schrei. Aber wie wirkt dieſer Zwiſchen—
fall? Offenbar durch den Contraſt. Ich
ſuche für den Moment die Thatſache nur
feſtzuſtellen, nicht zu erklären. Zwiſchen
dem Eindruck, welchen Herr Joyeuſe
von den Reden empfing, die er nur in
ſeiner Einbildung hörte, und demjenigen,
welchen ihm die wirklich von ihm ſelbſt
ausgeſprochenen Worte verurſachten, war
der Unterſchied ſo markirt, daß er ſich
nicht enthalten konnte, ſie auf zwei ent—
gegengeſetzte Urſachen zu beziehen, und
er ſchloß, daß die Urſache auf der einen
Seite eingebildet, auf der andern wirk—
lich war. Ebenſo mußte wohl die hüb—
ſche Perrette, welche ſoviel Intereſſe an
den Sprüngen der Kuh und ihres Kälb—
chens nahm, mit traurigem Blicke von
allen dieſen eingebildeten Gütern Abſchied
Anm. d. Überſetzers. Die Verſe find
aus Lafontaines Laitiere. Da aber der
deutſche Leſer dieſe Stelle kaum auswendig wiſ—
ſen wird, habe ich ſie (ſtatt der vom Verfaſſer
zitirten Anfangs- und Schlußverſe) vollſtändig
wiedergegeben.
"Se EN HERE
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
nehmen, als die unbarmherzige Wirklich—
keit ihren Blicken die vergoſſene Milch
zeigte. Die Illuſion war nicht mehr mög—
lich. Was fehlt nun den Träumereien,
um für Träume gehalten zu werden?
Sehr wenig, es reicht hin, daß der Träu—
mer im Schlafe ſei. Wenn Herr Joyeuſe,
anſtatt ſich nach ſeinem Bureau zu be—
geben, ſeinen Roman während der Mit—
tagsruhe in ſeinem Lehnſtuhl begonnen
und ſich unmerklich in den Schlummer
hinübergeträumt hätte, ſo wäre die phy—
ſiologiſche Erſcheinung nicht verſchieden
geweſen. i
Der Traum wird alſo durch einen
gänzlich phyſiologiſchen Umſtand charak—
teriſirt; er erzeugt ſich im Schlafzu—
ſtande. Auf dieſe Art gewinnen wir
unſrerſeits die Erklärung des Ariſto—
teles zurück: „Das durch die Bewe—
gung der Sinneseindrücke, während man
ſchläft und ſoweit man ſchläft, erzeugte
Bild, das iſt der Traum.“ “)
Erläutern wir dieſe Erklärung, ſehen
wir zu, warum Ariſtoteles, nachdem
er geſagt hat: „wenn man ſchläft,“ hin—
zuſetzt: „ſoweit man ſchläft.“
„Der Traum“, ſagt er, „iſt nicht jedes
Bild, welches uns während des Schlafes
erſcheint; denn es paſſirt uns manchmal,
daß wir in einer gewiſſen Weiſe Ge—
räuſche, Licht, einen Geruch, und eine
Berührung empfinden, — ſchwach aller—
dings und wie von ferne. So z. B. wird
man mitunter im Schlafe einen ſchwachen
Lichtſchein undeutlich erblicken, welchen
man im Schlafe für den einer Lampe
nehmen wird, und bei ſeinem Erwachen
wird man erkennen, daß es wirklich das
Licht einer Lampe war, und ebenſo wird
) Von den Träumen, Kap. III.
7
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
es mit dem Krähen der Hähne und dem
Bellen der Hunde gehen, welches man
beim Erwachen wirklich vorfindet. Manch—
mal wird man auf Fragen antworten.
Dies kommt daher, daß, ebenſo wie das
Wachen, der Schlaf nur teilweiſe iſt.“
Dies iſt eine Bemerkung von tiefer
Wahrheit. Wie oft paſſirt es mir nicht,
gegen die Stunde des Erwachens zum
Beiſpiel in einen angenehmen, obwohl voll—
kommen bizarren und ganz unwahrſchein—
lichen Traum verſenkt zu ſein, und zur
ſelben Zeit über meinem Kopfe die Schritte
und das Geplauder der ihre Toilette
machenden Kinder zu vernehmen, un—
ter mir das Gehen und Kommen der
Diener, welche den Eßſaal reinigen und
den Frühſtückstiſch bereiten? Ich ſchlafe
in Bezug auf meinen Traum; ich bin
wach für dieſe verſchiedenen Geräuſche,
welche die Wiederkehr des Lebens an—
zeigen, — Erſcheinungen der nämlichen
Art bieten ſich in der Stunde dar, in
welcher man ſich anſchickt, einzuſchlafen.
Und giebt es nicht ferner, allgemein
geſprochen, in dieſen beiden Übergangs—
zuſtänden ein ſchrittweiſes Eindringen, ſei
es des Wachens in den Schlaf oder des
Schlafs in den wachen Zuſtand? Es
giebt alſo Augenblicke, wo man nur teil—
weiſe wacht oder ſchläft. Der Bediente,
den man beauftragt hat, zum Wecken an
die Thür zu klopfen, wendet ſich an den
Teil der Seele, der bereits hört und
die äußern Geräuſche wahrnimmt. Denn
wie würde er ohne dies dahin gelangen,
uns aufzuwecken? Wie könnte man ihm ant—
worten? Nun, obwohl dieſe Wahrnehmung
im Schlafe ſtattfindet, iſt ſie ſicherlich kein
Traum. Schließen wir denn, und ſparen die
Benennung Traum für diejenigen Bilder
119
und Vorſtellungen, welche ſich unſerm Geiſte
darbieten, während und ſoweit wir ſchlafen.
Darin haben wir ein erſtes und un—
terſcheidendes Merkmal des Traumes.
Man ſieht mühelos, daß dieſe Definition
ſich völlig gegenüber den Hallueinationen
eines Irren, den Delirien eines Fieber—
kranken, den wollüſtigen Ekſtaſen eines
Opiumrauchers, den Tollheiten eines Be—
trunkenen bewährt. Der Traum, die Hal—
lueination, das Delirium, die Ekſtaſe,
die Trunkenheit ſind das, was ſie ſind,
und als ſolche charakteriſirt, auf Grund
des phyſiologiſchen Zuſtandes der Perſon,
bei welcher ſie ſich zeigen. Man ſpricht
ohne Zweifel in der gewöhnlichen Rede—
weiſe von den Träumen eines Ir—
ren; aber in wiſſenſchaftlicher Sprache
muß man in derſelben Weiſe, wie der
Wahnſinn und der Schlaf zwei verſchie—
dene phyſiologiſche Zuſtände ſind, ebenſo
die phantaſtiſchen Bilder, welche ſich dem
geſunden Menſchen während des Schlafes
zeigen, und die chimäriſchen Vorſtellun—
gen eines Irren, eines Fiebernden und
eines wahren Trunkenboldes von ein—
ander unterſcheiden.“
Indeſſen iſt es nötig, der Einſchrän—
kung des Ariſtoteles ihr ganzes Ge—
wicht zu geben. Erinnern wir uns deſ—
ſen, was Stricker ſagt. Ich träume
von Räubern und ich habe Furcht; die
Briganten exiſtiren nicht, aber meine
Furcht iſt vorhanden. Gehört dieſe Furcht
meiner Seele, ſoweit ſie ſchläft? Eine
Mutter ſieht im Traume ihr einziges
Kind in einen Abgrund rollen und es
zerreißt ihr Herz. Iſt die Angſt, welche
ſie empfindet, nicht eine Wirklichkeit?
Der Beweggrund iſt eingebildet, ich gebe
es zu, aber wird dadurch die Empfin—
120
dung verändert? Iſt der Schmerz oder
das Vergnügen, welche wir bei der Mit—
teilung einer falſchen Neuigkeit empfin—
den, darum weniger Schmerz oder Ver—
gnügen? Ein anderes Beiſpiel. Ich träume,
daß ich mit meinen Freunden, die ich
eingeladen habe, im Kaffeehauſe bin; ich
mache anſtalt, für alle die Zeche zu be—
zahlen, und nehme im geheimen die Zu—
ſammenrechnung vor. Iſt nun dieſe Ope—
ration eine Thätigkeit meines Geiſtes,
ſoweit er unter der Herrſchaft des Schla—
fes ſteht? Wenn ich, erwacht, denke, daß
zwei mal zwei vier machen, wechſelt die—
ſes Urteil ſeinen Charakter, wenn ich es
im Traume ausdrücke? Iſt dieſe Folge
der Ideen, dieſe Anwendung der gram—
matikaliſchen Regeln die Thätigkeit des
eingeſchlafenen Menſchen? oder ſollten ſie
vielleicht ihren Urſprung in einem Teile
der Seele haben, welcher niemals ſchläft?
Wir haben früher geſehen, daß Spitta
dem Gemüt die Eigenſchaft zuerteilte,
niemals zu ſchlafen. Man kann, ſcheint
mir, das Gebiet der Thätigkeiten, welche
ſich der Umnebelung des Schlummers
entziehen, noch erweitern. Mit einem
Worte, die Gewohnheiten ſchlafen
nicht. Der Teil, welcher ſchläft, iſt der—
jenige, welcher augenblicklich aufgehört
oder beinah aufgehört hat, in Verbin—
dung mit der Außenwelt zu ſein. Man
muß alſo ſorge tragen, zu unterſcheiden,
was der Traum ſelbſt iſt, und was von
dem Eindrucke des Traumes herrührt.
Noch ein Beiſpiel, um die Aufhel—
lung dieſes Punktes zu vollenden. In
den letzten Ferien hatte ich meinen Kin—
dern verſprochen, mit ihnen eine Tages—
erfurfion zu machen. Tags vorher wur—
den alle Einrichtungen dafür getroffen.
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
Es mußte mit dem erſten Zuge abge—
fahren, dann auf einer beſtimmten Sta—
tion ausgeſtiegen und der Weg zu Fuß
fortgeſetzt werden. Wir mußten dazu früh
aufſtehen. Gegen fünf Uhr morgens kommt
die Magd, mir mitzuteilen, daß es regnet
und daß der Regen andauern zu wollen
ſcheint. Der Spaziergang wurde gezwun—
generweiſe aufgeſchoben. Ich ſchlafe wie—
der ein und träume von ſchönem Wetter.
Das Exkurſionsprojekt kommt mir wieder
in den Kopf: ich hatte unrecht gehabt,
nicht trotz der Drohungen des Himmels
aufzubrechen, wir würden nunmehr an
der Station ſein, wo wir auszuſteigen
hatten, und wir würden einen ſchönen
Tag vor uns haben; man ſollte doch
in unſerm Klima niemals vergeſſen, wie
ſehr das Wetter von einem Augenblick
zum andern wechſeln kann; manch liebes
mal war es mir paſſirt, daß ich mich
bei Regenwetter auf den Weg machte
und eine Stunde nach meinem Aufbruch
die Sonne glänzen ſah. Kurz, ich über—
ließ mich allen den Reflexionen, welche
ich im wachen Zuſtande nicht unterlaſſen
haben würde zu machen, wenn das Wet—
ter ſich wirklich zum beſſern gewendet
hätte. War es der eingeſchlafene Menſch,
welcher ſie anſtellte? Ich denke nicht.
Es war der Menſch aller Tage.
Im Traume — und dadurch unter—
ſcheidet er ſich von der Träumerei —
iſt die Illuſion vollſtändig. Der Grund
davon iſt einfach. Der wache Träumer,
um mich des glücklichen Ausdrucks Dau—
dets zu bedienen, gefällt ſich in den
Seitenſprüngen ſeiner Einbildungskraft,
er überläßt ſich derſelben mit Bewußt—
ſein und leitet ſie ſogar oft, aber er
weiß, daß er unter der Herrſchaft einer
3
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
mehr oder weniger freiwilligen Lüge ſteht.
Dieſes ausgeſprochene Bewußtſein ent—
ſtammt einzig dem Umſtande, daß er
nicht von der umgebenden Welt abge—
trennt iſt. Herr Joyeuſe ſieht die Häuſer,
ellbogt (v. s. v.) die Vorübergehenden,
erfaßt Worte, Schreie, Geräuſche jeder
Art; und dieſe Eindrücke, obwohl ge—
ſchwächt durch die Abwendung der Ge—
danken, kontraſtiren immer noch vermöge
ihrer Stärke mit den weichen und relief—
loſen Eindrücken, welche in ſeiner Fabel
durch die eingebildete Offizin des Apo—
thekers, den umringenden Menſchenhaufen
und die ihm in den Mund gelegten Re—
flexionen geliefert werden. Die Verwechs—
lung iſt nicht möglich. Das Haus, die
Menſchenanſammlung, die Stimmen, alles
das iſt deutlich eine Schöpfung ſeiner
erfinderiſchen Einbildungskraft.
Im Traume fehlt dieſer Vergleichs—
punkt; unſre müden Sinne führen uns
nur noch verſchwommene und abgeſtumpfte
Eindrücke zu; unſre thätigſten Organe,
vor allem das Auge, funktioniren nicht
mehr; und nunmehr ſtellen die an die
Oberfläche unſers Hirns ſchwimmenden
Bilder eine eingebildete Welt dar, der
wir den Charakter der Wirklichkeit leihen,
kraft der eingewurzelten Gewohnheit, um
uns ſtets eine von uns verſchiedene und
ſogar uns entgegengeſetzte Welt zu ſehen.
Es iſt mithin natürlich, daß ich im Traume
meine eigenen Ideen, welche urſprünglich
gegenſtändlichen Urſprungs geweſen ſind,
zurückverkörpere, denn ſelbſt das wirk—
liche Leben iſt nur eine Kette von Ver—
körperungen. Denn, vergeſſen wir das
nicht, wir ſehen die Dinge nicht wirklich,
wir empfinden nur die Eindrücke, welche
ſie uns zuſenden, und ſchließen, daß ſie
9
121
als Urſache dieſer Eindrücke exiſtiren.
Der Traum erſchafft alſo keine Illuſion.
Die Illuſion ſtammt einzig daher, daß
wir nur mit einer beträchtlich vermin—
derten Energie die Eindrücke empfinden,
welche wir von den Außendingen em—
pfangen. Man ſetze neben die Szene der
Einbildung eine Szene der Wirklichkeit
mit ihrem Glanze und ihren Farben,
und das Phantaſiegebilde erbleicht. Wenn
man gemeint hat, daß „unſre Erinne—
rungen ſich mit mehr Lebhaftigkeit wäh—
rend unſerer Träume zeichnen als im
wachen Zuſtande“ “), jo hat man rela—
tive und abſolute Lebendigkeit verwechſelt.
Man kann das alle Tage beobachten
und ich habe es wohl zwanzig mal an
mir ſelbſt beobachtet. Ich komme vom
Diner, fühle mich wenig disponirt, mich
ſogleich an die Arbeit zurückzubegeben;
ich ſtrecke mich vor dem brennenden Ka—
min in einen Lehnſtuhl und nehme einen
Roman zur Hand. Die Kinder ſpielen,
lachen, ſchreien und ſtürmen im Korridor.
Immer in meinem Buche leſend, folge
ich den Szenen, die ſich neben mir ab—
ſpielen. Nach und nach überlaſſe ich mich
der Schläfrigkeit, die Worte und Ge—
räuſche werden mehr und mehr unbe—
ſtimmt, ich ſetze meinen Roman in einem
Halbtraum fort und endige dann ſehr
häufig damit, eine Rolle darin zu ſpie—
len. Der Schlaf hat die Oberhand ge—
wonnen. Aber dieſer Zuſtand dauert nur
kurze Zeit. Am Ende von fünf oder zehn
Minuten erreichen die Rufe und das La—
chen von neuem mein Ohr, die Traum—
figuren erbleichen langſam und ich mache
zuweilen Anſtrengungen, ſie aufleben zu
*) Alfr. Maury, Le sommeil et les
reves, ch. 5 p. 98.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2.
Io,
122
laffen und zu fixiren, aber die Bilder
der Kleinen legen ſich darüber, anfangs
durchſichtig, ſo daß ich noch beide er—
blicke, dann werden ſie immer ſolider, ihre
Umriſſe zeichnen ſich ſchärfer, Schatten und
Licht machen ſich bemerklich, die Fiktion
verſchwindet, um der gewiſſen und eifer—
ſüchtigen Wirklichkeit platz zu machen;
ich bin erwacht.
So werden alſo, allgemein ausge—
drückt, unſre Vorſtellungen als ſolche er—
kannt, dank der vorwiegenden Lebendig—
keit der Wahrnehmungen, auf welche ſie
ſich projiziren, wenn wir erwacht ſind;
aber aus demſelben Grunde bewirken ſie
in unſern Träumen die Illuſion, weil
unſre Wahrnehmungen dann ſtumpf und
glanzlos ſind. Während des Wachens
machen ſie den Eindruck eines Fleckens
auf einem leuchtenden Grunde, während
des Schlummers erhellen ſie ſich, weil
der Grund dunkel wird. Auch haben die
Gemälde, welche unſre Träume uns vor—
führen, beinahe niemals einen Hinter-
grund (cadre).
Dieſe ſo einfache Erklärung findet
ſich ſchon bei Ariſtoteles.“) „Die
Träume,“ ſagte er, „ſind Überreſte von
Sinneserregungen, denn eine jede derſelben
läßt in der Seele einen dauernden Ein—
druck zurück. Am Tage gehen die innern
Bewegungen wegen der Eindrücke, die
wir empfangen, und der Geſchäftigkeit des
Denkens unbemerkt vorüber, wie ein kleines
Feuer vor einem immenſen Brande, und die
Unannehmlichkeiten und leichteren Ver—
gnügungen verſchwinden vor den größeren
Übeln und Vergnügungen. Aber wenn
während der Nacht unſre Sinne unthätig,
weil ohnmächtig ſind, ſo laſſen ſie jene im
*) Von den Träumen, Kap. III
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
Wachen unmerklichen Bewegungen zum
Zentrum der Empfindung zurückkehren,
wo ſie dann vollkommen ſichtbar werden.“
In den neueren Zeiten war es Hob—
bes, welcher dieſe Theorie am klarſten
dargelegt hat.“) „Ebenſo,“ ſagt er, „wie die
durch den Fall eines Steines in ruhi—
gem Waſſer hervorgebrachte Bewegung
nicht zu Ende iſt, wenn der Stein den
Grund erreicht hat, ſo beſteht der durch
einen Gegenſtand auf das Gehirn her—
vorgebrachte Eindruck noch nachher, wenn
der Gegenſtand ſchon aufgehört hat, ein—
zuwirken, und obwohl die Empfindung
nicht mehr da iſt, beſteht doch die Vor—
ſtellung. Iſt man wach, ſo iſt dieſe Vor—
ſtellung getrübt, weil immer irgend ein
Objekt gegenwärtig iſt, welches die Augen
und Ohren erregt und reizt, aber im
Schlafe erſcheinen die Bilder, die Über—
bleibſel der Sinneserregungen, ſtark und
deutlich, weil es dann keine wirkliche
Sinneserregung giebt; in der That, der
Schlaf iſt die Aufhebung der Sinnes—
thätigkeit“ ), und ſomit find die Träume
die Einbildungen derer, welche ſchlafen.“
Dieſe im Grunde elementare Idee
hat ſich ohne Zweifel allen denen dar—
geſtellt, die ſich mit den Träumen beſchäf—
tigt haben, wir find ihr bei Radeſtock
begegnet. Aber abgeſehen von den bei—
den eben eitirten Autoren weiß ich nicht,
ob ſich andre dabei aufgehalten und ſie
zum Angelpunkt ihrer Theorien gemacht
haben.““) Ich leſe zum Beiſpiel bei Al-
A ) Von der menſchlichen Natur. Kap. III.
) „Man erkennt, daß der Menſch ſchläft,
wenn er nicht empfindet.“ (Ariſtoteles a. a.
O. Kap. I.)
, Anm. d. Red. Dies iſt in meiner
„Naturgeſchichte der Geſpenſter“ geſchehen. Ahn—
lich dem ſogleich folgenden Vergleiche Mairans
ä
—
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 123
fred Maury“): „Damit alſo unſer Geiſt
die Verſchiedenheit von Idee und äuße—
rer Sinneserregung erfaſſe, muß er die
beiden Ordnungen der Erregungen mit ein—
ander vergleichen, die Wirklichkeit dem,
was bloße Vorſtellung iſt, entgegenſtellen
können. Wenn alle Sinne des Ekſtati—
ſchen ſich in demſelben Zuſtande befän—
den, wie diejenige des wachen Menſchen,
ſo würden die äußern Eindrücke ihn ſo—
gleich zu der Empfindung der Wirklichkeit
zurückrufen, und er würde nicht die Viſionen
für Thatſachen nehmen; was jedoch nicht
ſtattfindet.“ Darin iſt beſſer, als ich es ver—
möchte, das ganze Fundament der Traum—
theorie ausgedrückt. Aber Maury hat nur
bei Gelegenheit der Ekſtaſe daran gedacht.
Maine de Mairan! “ ſagt nahe—
zu dasſelbe: „Im gewöhnlichen Zuſtande
findet ſich die momentane Überzeugung,
welche die Phantome der Einbildungskraft
mit ſich bringen, fortwährend durch die
lebhafteren Eindrücke der wirklichen Ge—
genſtände zerſtört, welche ſie auslöſchen, wie
das Licht des Tages das einer Lampe aus—
löſcht.“ Unglücklicherweiſe ſchreibt dieſer
Autor, deſſen ſtrenge Logik durch den Geift
eines Syſtems getrübt wurde, dem Willen
das Verſchwinden dieſer vergeblichen Bil—
der zu, und wenn ſie ſich uns im Schlafe
aufdrängen, geſchieht es, weil wir da völ—
lig paſſiv ſind, denn der Schlaf charak—
teriſirt ſich nach ihm einzig durch die Ab—
weſenheit des Willens.
werden dort (S. 253) in der Einleitung der den
Traum betreffenden Kapitel die Traumbilder mit
den Bildern der Laterna magica auf der Wand
verglichen, welche ſo lange unſichtbar ſind, wie
die Lichter im Saale brennen.
) A. a. O. Kap. X, S. 242.
**) Nouvelles considerations sur le som-
meil. 2. Partie, edit. Cousin T. II. p. 251.
*
Es iſt alſo der verhältnismäßige Man—
gel an Glanz und Relief, welcher die
Vorſtellung von der Wahrnehmung unter—
ſcheidet, und man kann im Allgemeinen
ſagen, daß die Vorſtellung im Traume
noch weniger abſoluten Glanz beſitzt,
als im Wachen. Es iſt die allmähliche
Schwächung der Eindrücke, welche verur—
ſacht, daß die ferne Vergangenheit uns wie
ein langer Traum erſcheint, und manch—
mal werden die Spuren der Exeigniſſe fo
ſchwach, daß man ſich fragt, ob ſie wirk—
lich ſtattgefunden haben, oder ob man
ihnen nur im Traume beigewohnt hat.
Ich entferne mich darin von der all—
gemein angenommenen Meinung. Hören
wir Garnier“), der uns ſagt, daß
„die Verſchiedenheit zwiſchen Wahr—
nehmung und Vorſtellung nicht in der
Lebhaftigkeit der einen und der andern
liegt, nicht ein Gradunterſchied, ſondern
eine Verſchiedenheit der Natur“ ſei. Nach
ihm ſind die Traumvorſtellungen ſo deut—
lich, daß er, vom Irrſinn ſprechend, ſagt:
„Solange der Irrſinn andauert, nimmt
die Vorſtellung dieſelbe Stärke und die—
ſelbe überſprudelnde Kraft (saillie) an,
wie in den Träumen“. Dieſe letzteren
Worte enthalten einen offenbaren Irrtum.
3. Warum legt man beim Erwachen fei-
nen Träumen einen teügerifhen Charak-
ter bei? Welches find die Motive diefer
Beimeffung? Giebt es in diefer Hinſickt
ein abfolutes Kriterium der Gewißlieit?
Jedermann weiß, daß Descartes ſich
beinahe das nämliche Problem geſtellt hat,
und kennt auch ſeine Antwort: „Aber
chette, 1865. T. I. p. 455-465.
124 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
uns mitunter in Betreff wenig deutlicher
und ſehr entfernter Dinge täuſchen, han—
delt es ſich doch um viele andere, an de—
nen man vernünftigerweiſe nicht zweifeln
kann, obwohl wir ſie nur durch ihre Ver—
mittlung kennen, z. B. daß ich hier bin,
neben dem Feuer ſitzend, mit einem Haus—
rock bekleidet, dieſes Papier zwiſchen den
Händen haltend und andre Dinge dieſer
Art. . . . . Dennoch habe ich hier zu er—
wägen, daß ich ein Menſch bin und in
Folge deſſen die Gewohnheit habe, zu
ſchlafen und mir in meinen Träumen die—
ſelben Dinge und mitunter weniger wahr—
ſcheinliche vorzuſtellen. . . . . Wie oft iſt
es mir paſſirt, des Nachts zu denken, daß
ich an dieſem Orte war, daß ich ange—
kleidet war, daß ich neben dem Feuer ſaß,
obgleich ich ganz nackt in meinem Bette
lag! Es ſcheint mir wohl jetzt, daß ich
nicht mit den Augen des Schlafes dieſes
Papier betrachte, daß dieſer Kopf, den ich
ſchüttle, nicht eingelullt iſt, daß ich mit
Abſicht und Vorbedacht dieſe Hand aus—
ſtrecke und fie fühle; was im Schlaf ge—
ſchieht, ſcheint nicht ſo klar und ſo beſtimmt,
wie alles dies. Aber, indem ich ſorgfältig
darüber nachdenke, erinnere ich mich, oft
durch ähnliche Illuſionen im Schlafe ge—
täuſcht worden zu ſein, und indem ich
bei dieſem Gedanken ſtehen bleibe, ſehe
ich ſo offenbar, daß es keine gewiſſen Kenn—
zeichen giebt, durch welche man klar das
Wachſein vom Schlaf unterſcheiden kann,
daß ich darüber ganz erſtaunt bin, und mein
Erſtaunen iſt ein derartiges, daß es bei—
nahe im Stande iſt, mich zu überzeugen,
daß ich ſchlafe.““)
Descartes richtet ſodann alle ſeine
Anſtrengungen darauf, um den Zweifel,
) Meditation premiere (Anfang).
mit welchem er anfangen zu müſſen glaubt,
zu zerſtreuen, und er löſt, wie folgt, die
Schwierigkeit, welche er glaubt erheben
zu ſollen: „Gewiß iſt mir dieſe Betrach—
tung ſehr dienlich, nicht allein, um alle
die Irrtümer zu erkennen, denen meine
Natur unterworfen iſt, ſondern auch um
ſie zu vermeiden und um ſie leichter zu
verbeſſern: denn da ich weiß, daß alle
meine Sinne mir gewöhnlicher das Wahre
als das Falſche hinſichtlich der Dinge mel—
den, welche die Bequemlichkeiten oder Un—
bequemlichkeiten des Körpers betreffen, und
da ich mich beinahe immer mehrerer von
ihnen bedienen kann, um eine und die—
ſelbe Sache zu unterſuchen, und da ich
außerdem mein Gedächtnis gebrauchen
kann, um die gegenwärtigen Erkenntniſſe
den vergangenen zu verbinden und zu ver—
knüpfen, ſowie meine Vernunft, welche be—
reits alle die Urſachen meiner Irrtümer
entdeckt hat: ſo brauche ich in Zukunft
nicht mehr zu fürchten, daß ſich Falſch—
heit in den Dingen vorfindet, welche mir
am gewöhnlichſten durch meine Sinne dar—
geſtellt werden. Und ich muß alle die Zwei—
fel dieſer letzten Tage als übertrieben und
lächerlich verwerfen, beſonders dieſe ſo all—
gemeine Ungewißheit, den Schlaf be—
treffend, den ich nicht vom Wachſein un—
terſcheiden konnte; denn jetzt finde ich einen
ſehr bemerkenswerten Unterſchied darin,
daß unſer Gedächtnis niemals
unſre Träume miteinander und
mit der ganzen Folge unſres Le—
bens verbinden und verknüpfen
kann, ſo wie es die Dinge, welche
uns im wachen Zuſtande begegnen,
zu verknüpfen pflegt. Und in der
That, wenn Jemand, während ich wache,
mir ganz plötzlich erſchiene und ebenſo
3260
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
verſchwände, wie es die Bilder thun, die
ich im Schlafe ſehe, dergeſtalt, daß ich
nicht bemerken könnte, von wo er käme
und wohin er ginge, ſo würde es nicht
ohne Grund ſein, wenn ich ihn, ſtatt für
einen wirklichen Menſchen, vielleicht für
ein in meinem Gehirn gebildetes Geſpenſt
oder ein Phantom hielte, ähnlich denje—
nigen, welche ſich geſtalten, während ich
ſchlafe. Aber wenn ich Dinge erblicke,
von denen ich beſtimmt ſowohl den Ort
erkenne, von welchem ſie kommen, als den—
jenigen, wo ſie ſind, und die Zeit, zu
welcher ſie mir erſcheinen, und wenn ich
ohne irgend eine Unterbrechung die Em—
pfindung, die ich davon habe, mit der
Folge meines übrigen Lebens verknüpfen
kann, ſo bin ich ganz verſichert, daß ich
ſie im Wachen und nicht im Schlafe er—
blicke. Ich darf an der Wahrheit jener
Dinge in keiner Weiſe zweifeln, wenn,
nachdem ich alle meine Sinne, mein Ge—
dächtnis und meine Vernunft herbei—
gerufen habe, um ſie zu unterſuchen, mir
nichts von einem von ihnen hinterbracht
worden iſt, was im Widerſtreit mit dem—
jenigen ſtände, was mir durch die an—
dern hinterbracht worden iſt. Denn dar—
aus, daß Gott kein Täuſcher iſt, folgt
notwendig, daß ich darin nicht getäuſcht
werde.“)
Das iſt ganz die Kontrolle der Sinne
und der Intelligenz, ſo wie ſie Grote
und alle Autoren definirt haben. Wir
leſen bei Albert Lemoine: „Die Zu—
ſammenhangsloſigkeit der Bilder iſt für
uns das einzige unterſcheidende Kennzei—
125
Zutrauen, welches wir in die objektive
Wirklichkeit der Traumbilder ſetzen, liegt
zum großen Teil daran, daß wir weder
freiwillig noch unfreiwillig von unſern Sin—
nen Gebrauch machen können, um die Be—
ziehungen der einen durch die andern zu
korrigiren.“ “) Ich kenne wahrhaftig
nur einen Sinn, welcher ſich erlaubt, die
andern zu korrigiren: es iſt der Taſtſinn,
welcher uns zum Beiſpiel geſtattet, uns
zu vergewiſſern, daß die von dem Spiegel
reflektirten Bilder keine Körper beſitzen.
Jedoch wem fällt es jemals ein, im wa⸗
chen Zuſtande die Perſonen, Bäume und
Häuſer zu berühren, um ſich zu überzeugen,
daß dies wirkliche Körper ſind? Und an—
drerſeits, inwieweit behütet denn das
Zeugnis des Gefühls den Hallueinirenden
davor, durch die Phantome, welche er ſieht
oder hört, getäuſcht zu werden? Schließ—
lich kann die Kontrolle, welche mir in
Wirklichkeit erlaubt, den angezweifelten
Gegenſtand zu verificiren, nicht im Traume
ausgeübt werden.
Wir haben geſehen, daß der wache
Zuſtand durch die Lebhaftigkeit der em—
pfangenen Eindrücke charakteriſirt wird.
Aber das iſt nicht alles. Dieſe Eindrücke
ſind außerdem logiſch miteinander ver—
kettet. Man weiß, wie Descartes ſagt,
woher ſie kommen, was vorangegangen,
was ihnen gefolgt iſt. Und was ver—
ſchafft ihnen dieſe Eigentümlichkeit? Die
Außenwelt, in welcher ſich die Ereigniſſe
gemäß dem Kauſalitätsgeſetz folgen. Der
Bewohner von Lüttich kann ſich nur un—
ter der Bedingung, dorthin geſchafft zu
chen der Träume.“ “) Und ferner: „Das | fein, in Paris befinden. Das iſt die Ord—
) Meditation sixieme (Ende).
) Du sommeil. Paris, 1855. p. 108.
nung der Dinge. Ja, wenn wir in den
*) Ibid. p. 112.
Ländern der taufend und einen Nacht oder
in den Zaubergärten der Armide lebten,
ſo iſt es klar, daß wir über gewöhnliche
Lebensabenteuer anders urteilen würden.
Es braucht nur jemand, wie der berühmte
Ritter von la Mancha, einen robuſten
Glauben an die Macht der Zauberer zu
haben oder mit dem gewöhnlichen Aber—
glauben des Volkes erfüllt zu ſein, um
unmögliche Dinge als unbeſtreitbare That—
ſachen zu betrachten! Aber die Natur auf
der einen Seite, die geſellſchaftliche At—
moſphäre, der wir zugehören, auf der an—
dern, haben unſrem Geiſte eine Erzieh—
ung und beſondere Richtungen verliehen,
und wir weigern uns, als wirklich zu be—
trachten, was mit unſerer Erfahrung un—
verträglich iſt. Dieſe Erfahrung — brauche
ich es zu ſagen? — iſt niemals abge—
ſchloſſen. Jeder teilt mehr oder weniger
die Vorurteile ſeiner Zeit; Tacitus zwei—
felte weder die Auguren noch die Orakel an.
Alles, was in abſolutem Widerſpruch
mit den Geſetzen ſteht, deren weltregie—
rende Macht ich erkannt habe, wird von
mir entſchieden als imaginär angeſehen.
Läßt mir ein Traum einen toten Freund
aufleben, ſo werde ich nicht zögern, meine
Viſion zu bezeichnen, wie es ſich gehört.
Ebenſo, wenn die dargeſtellte Scene in—
nere Widerſprüche darbietet, wenn z. B.
ein Toter ſich darin bewegt und ſpricht.
Unter dieſem Geſichtspunkt haben Des—
cartes und A. Lemoine Recht und ich
unterſchreibe ihre Worte. Aber manch—
mal iſt der Traum völlig wahrſcheinlich
und in allen ſeinen Teilen verkettet.
Eines Tages verlangte eins meiner
kleinen Mädchen, 8 ½ Jahr alt, in mei—
ner Gegenwart von ſeiner Mutter ein
Spielzeug, welches ſich in einer Boden—
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
kammer im Hauſe ſeiner Großmutter fin—
den ſollte, bei welcher wir damals wa—
ren. Nach der Beſchreibung, die es davon
machte, ſollte es einen großen, den Ra—
chen weit öffnenden Froſch vorſtellen. Man
antwortete ihm, daß man ein ſolches Spiel—
zeug nicht kenne, niemals geſehen habe,
daß es nicht exiſtire. Die Kleine begann
ſodann es genau zu beſchreiben, erörterte
ſehr beſtimmt den Platz, wo es ſich befände;
ihre Großmutter habe es ihr gezeigt und
verſprochen, es ihr zu ſchenken, wenn ihre
Eltern es erlauben wollten. Wir hatten
die denkbarſte Mühe, ſie zu überzeugen,
daß alles das nur ein Traum wäre. Die—
ſer Traum war ſo wohl verkettet und ver—
knüpfte ſich durch ſo viele Bande mit den
alltäglichen Dingen!
Je weniger die Intelligenz des Kin—
des entwickelt iſt, deſto weniger wird
es von Unwahrſcheinlichkeiten überraſcht.
Zwiſchen vier und fünf Jahren alt, hatte
ich meinen mehr als ſechs Jahre ältern
Bruder verloren. Dieſer Bruder hatte
ſchöne Soldaten und anderes Spielzeug,
das er ſehr in acht nahm und vorſichtig
außerhalb des Bereichs meiner Hände
hielt. Weder von ſeiner Krankheit, noch
von ſeinem Tode bewahre ich eine Er—
innerung. Ich erinnere mich blos, daß
ich meine Mutter eines Tages frug, wo
Henri wäre, und daß ſie antwortete, er
wäre auf dem Lande. Ich begehrte jenes
ſchöne Spielzeug, welches man pietät—
voll in einen Schrank geſtellt hatte. Und
eine Nacht träumte ich, daß in dieſem
Schranke ſich Marionetten, Harlequins
(ich ſehe ſie noch!) befinden, die mit
Sprache begabt wären. Beim Aufwachen
verlangte ich ſie mit Beharrlichkeit und
inſtändiger Bitte. Umſonſt verſuchte meine
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
\
Mutter, mir die Abſurdität dieſer Ein-
bildung begreiflich zu machen; für mich
war das kein Traum, und ich beharrte
in der Überzeugung, daß das Motiv ihrer
Weigerung wäre, die Traditionen meines
Bruders zu erhalten, und daß mir die
Benutzung dieſer Wunderdinge für immer
verſagt ſein würde.
Die Illuſion entſteht alſo aus der
Lebhaftigkeit und der relativen Logik
der Eindrücke. Ich habe nicht nötig, be—
merklich zu machen, daß zum Fortbeſte—
hen der Illuſion nach dem Erwachen noch
andre Bedingungen gehören. Wenn meine
Kleine das Spielzeug in einem Phantaſie—
gemach und nicht in dieſer ihr bis auf
die geringſten Einzelnheiten bekannten
Bodenkammer geſehen hätte, wenn ſie
nicht mit ihrer Großmutter, ſondern mit
einer unbekannten Perſon davon geſpro—
chen, oder nicht ihr Geſicht und ihre ge—
gewöhnlichen Kleider geſehen hätte, würde
ſie leicht erkannt haben, daß ſie der Narr
eines Traumes ſei. Es iſt alſo, wenig—
ſtens, wenn der Irrtum andauernd ſein
ſoll, nötig, daß die kleinſten Details des
Traumes der Wirklichkeit und Wahrſchein—
lichkeit entſprechend ſeien, es gehört außer—
dem dazu, daß ſie ſich auf den Hinter—
grund unſers alltäglichen Lebens pro—
jiziren. Nun, wie wir geſehen haben,
zeichnet ſich die Traumſzene auf einem
verſchwommenen und einförmigen Hinter—
grunde ab; ſie iſt iſolirt. Die Traum—
bilder gleichen darin den auf Goldgrund
ausgeführten Gemälden der älteſten Ma—
lerſchulen oder den Tänzergruppen, welche
die Wände der Häuſer in Pompeji zie—
ren und von denen man nicht weiß, ob
ſie ſich in der Luft oder auf dem Bo—
den befinden.
127
Wenn ich in den Straßen der Stadt,
die ich bewohne, ſpazieren gehe, ſo bin
ich Eindrücken unterworfen, welche zum
Teil immer dieſelben bleiben. Wenn ich
darin einer bekannten Perſon begegne
und ſie anrede, ſo verknüpfen ſich dieſe
Begegnung und Unterredung mit ſo ver—
trauten Eindrücken und empfangen damit
den Stempel der Authentizität. Dieſes
Begegnis iſt ſozuſagen in den idealen
Stadtplan eingeſchrieben. Ohne Zweifel
hängt dieſe Authentizität noch von andern
Dingen ab, und der Leſer wird ohne
weiteres ſehen, inwiefern dieſe Ausein—
anderſetzung unvollſtändig iſt. Es iſt z.
B. nötig, daß ich dieſen Freund kommen
und davongehen ſehe, daß er ſich ſelber
ähnlich ſei und bleibe, daß er ſeinem
Charakter und ſeinen Beziehungen gemäß
handle; andernfalls werde ich leicht arg—
wöhnen, daß ich ihn im Traume geſehen
habe. Aber wenn keine dieſer Unwahr—
ſcheinlichkeiten vorhanden iſt, kann ich mich
anders als durch äußerliche Kennzeichen
überzeugen, daß das Begegnis nicht wirk—
lich war? Wenn ich z. B. träume, daß
ich meine Arbeitslampe brennend gelaſſen
habe, und daß ich aufgeſtanden und nach
dem Auslöſchen wieder ins Bett zurück—
gekehrt bin, wie ſollte ich mich, wenn
Zimmer und Lampe ihr gewöhnliches Aus—
ſehen darboten, beim Aufwachen über—
zeugen können, daß alles das reine Sl
luſion geweſen? Wie könnte ich es, wenn
nicht wenigſtens jemand neben mir gewacht
hätte und mir verſicherte, daß ich nicht
aufgeſtanden wäre, oder wenn ich keine
zwingenden Gründe hätte zu glauben, daß
ich meine Lampe vor dem Niederlegen
ausgelöſcht habe?
Aber gewöhnlich iſt das entſcheidende
128
Kriterium des Traumes das Aufwachen.
Perrette und Herr Joyeuſe werden durch
einen Zufall aus ihren Träumereien ge—
weckt: der Zufall, welcher den Traum
verſcheucht, iſt das Erwachen. Der wahr—
ſcheinlichſte Traum, in deſſen Kombina—
tionen nur Wirklichkeiten eingeführt wur—
den, erſcheint mir von dem Augenblicke
an, in welchem ich mich „ganz nackt in
meinem Bette“ finde, in ſeinem lügneri—
ſchen Charakter. Ich verurteile als Il—
luſion alles, was ſich zwiſchen dem Augen—
blick des Niederlegens und des Aufwachens
begeben hat. Es giebt keine Ausnahmen,
außer für Spezialfälle wie der eben be—
ſchriebene. Aber man wird bemerken, daß
es ſich dort um eine iſolirte Handlung
in der Mitte der Nacht handelte, ſozu—
ſagen ohne Verbindung mit dem, was
folgte und voranging. Dennoch nötigen
uns dieſe Ausnahmen, welche nicht blos
theoretiſch ſind, die Frage: Beſitzen wir im
Hinblick auf die Träume ein Kriterium der
Gewißheit? verneinend zu beantworten.“)
Nein, es giebt keins. Es iſt kein un—
fehlbares und univerſales Kennzeichen da,
welches uns erlaubte, mit einer abſoluten
Sicherheit zu behaupten, daß ein Traum
ein Traum war und nichts weiter. Aber
es iſt das kein großes Unglück, voraus—
geſetzt, daß wir ein Kriterium des wah—
ren Zuſtandes beſitzen, ein Kriterium,
welches uns, wenn wir es befragen, ver—
gewiſſert, daß wir nicht träumen. Nun
fragt ſich, kann man im Wachen daran
zweifeln, daß man wacht?
) Anm. d. Red. Wie ſehr der Herr
Verf. recht hat, beweiſen die Träume, aus denen
man nicht direkt aufwacht, die einem erſt ſpäter
einfallen und dann von den wirklichen Erleb—
niſſen nicht mehr zu unterſcheiden ſind.
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
Man weiß, was dem Soſius geſchieht.“)
Merkur will ihm Namen und Identität
rauben. Dieſe Anmaßung empört ihn.
.. Je ne puis m'anéantir pour toi,
Et soufirir un discours si loin del’apparence.
Etre ce que je suis esf-il en ta puissance?
Et puis-je cesser d’&tre moi?
S'avisa-t-on jamais d'une chose pareille?
Et peut-on démentir cents indices pressans?
Röve-je? Est-ce que je sommeille?
Ai-je l’esprit troublé par des transports
puissans?
Ne sens-je pas bien que je veille?
Ne suis-je pas dans mon bon sens?
Mon maitre Amphitryon ne m’a-t-il pas
commis
Avenir en ces lieux vers Alemène sa femme?
Soſius läßt ſo die Folge der Er—
eigniſſe an ſich vorübergehen und findet
darin die Logik der Wirklichkeit wieder.
Aber da er ſieht, daß Merkur mit Um—
ſtänden bekannt iſt, welche er allein zu
wiſſen glaubte, wird ſeine Gewißheit er—
ſchüttert:
Il a raison. A moins d’ötre Sosie
On ne peut pas savoir tout ce qu'il dit;
Et, dans l’etonnement, dont mon äme est
saisie,
Je commence, à mon tour, à le croire unpetit.
Merkur vervielfältigt die Beweiſe, in—
dem er immer intimere Details entſchleiert.
Soſius' Erſtaunen verdoppelt ſich:
Il ne ment pas d'un mot à chaque repartie; N
Et de moi, je commence àdouter tout de bon.
Pris de moi par la force il est déjà Sosie,
Il pourrait bien encore l’etre par la raison.
Pourtant quand je me täte et que je me
rappelle,
Il me semble que je suis moi.
Oü puis-je rencontrer quelque clarté fidele
Pour demeler ce que je vois.
) Anm. d. Red. Die folgende Stelle
iſt aus Molières Amphitryon (Akt J, Sz. II).
Calderons Schauſpiel „Das Leben ein Traum“
böte ähnliche Illuſtrationen zu dieſem Kapitel.
—
Man kennt den Schluß, bei welchem
ſein Verſtand ſtille ſteht:
Je ne saurais nier, aux preuves qu'on expose,
Que tu ne sois Sosie, et j'y donne ma voix.
Mais, si tu l’es, dis-moi que je sois:
Car enfin faut il bien que je sois quelque
chose.
Dieſe Geſchichte von einer Perſon,
welche dahin gelangt, Zweifel an ihrer
eigenen Identität zu hegen, iſt auf ſehr
viele Arten in Szene geſetzt worden. Jede
Ortlichkeit beſitzt fie ſozuſagen in ihrer
Legende. In Lüttich iſt es ein Seifen—
ſieder, welchen die Mönche eines Abends
totbetrunken in einer Straßenecke auf—
raffen und in ihr Kloſter bringen. Man
wäſcht, friſirt und tonſurirt ihn, ſteckt
ihn in eine Kutte und legt ihn in eine
Zelle. Am Morgen bei ſeinem Erwachen
begrüßen ihn die Brüder und fragen nach
ſeinem Befinden. Der arme Teufel ver—
ſucht vergeblich ſeine Ideen zu ſammeln.
Man ſucht ihn zu überzeugen, daß ſein
ganzes vergangenes Leben ein Traum war.
Er kann ſich nicht entſchließen, es zu glau—
ben, aber noch weniger begreift er, wie
er in dieſe Kleidung und in dieſes Bett
kommt. Man reicht ihm einen Spiegel;
er iſt nicht ſicher, ſich zu erkennen. „Geh,“
ſagt er endlich zu einem der Beiſtehen—
den, „geh nachſehen, ob Agidius der Sei—
fenſieder in ſeiner Krambude an der Brücke
iſt. Wenn er nicht da iſt, bin ich es,
aber wenn er da iſt, ſo mag mich der
Teufel holen, wenn ich weiß, wer ich bin.“)
Man ſage mir nicht, daß das Fabeln
ſind und daß man Fabeln nicht disku—
) Shakeſpeare hat im Prolog der be—
zähmten Widerſpenſtigen denſelben Gegenſtand
auf die Bühne gebracht. Chriſtoph Sly: „Bin
ich ein Lord? Oder iſt es etwa ein Traum, den
ich träume? Oder habe ich bis auf dieſen Tag
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
129
tiren ſolle. Mein Argument iſt ernſthaft.
Man beſeitige die Unwahrſcheinlichkeit der
Thatſache oder der komiſchen Übertrei—
bung, ſo malen uns Soſius und Agidius
trefflich die Verlegenheiten der Intelli—
genz, welche das Raiſonnement dazu ver—
führt, zu bezweifeln, was ſie ſich nicht
hindern kann, zu glauben. Ich zweifle ge—
wiß nicht an meiner Identität; indeſſen
giebt es Narren, die ſich einbilden, der
Kaiſer von China zu ſein, und andere,
welche ſich erinnern, Ludwig XVII. ge—
weſen zu ſein. Bin ich etwa der Spiel—
ball einer ähnlichen Tollheit? Bin ich
wirklich derjenige, welcher ich zu ſein
glaube? Mit einem Worte, worin beſteht
das Kennzeichen des vernünftigen Zu—
ſtandes? Dies iſt die Frage, der wir uns
zuwenden.
A. Warum hat der Irre Zutrauen zu fei-
nen Herirrungen? An welchen Beicen er-
kennen wir die Einbildungen eines geftörten
Hiens, und welches ift deſſen logiſcher Mert?
Giebt es ein höheres Kriterium?
Wir ſahen, worin ſich Traum und
Träumerei gleichen und unterſcheiden.
Beiderſeits bildet eine Folge mehr oder
weniger gut verknüpfter Vorſtellungen das
Grundgewebe. Allein in der Träumerei
beſtehen ſie zugleich mit beſtimmten Wahr—
nehmungen, welche, obwohl infolge un—
ſerer Unaufmerkſamkeit geſchwächt, nichts—
deſtoweniger durch ihre Beſtimmtheit und
ihr Relief die Täuſchung und den Mangel
der Lebendigkeit bemerklich machen. Im
geträumt? Ich ſchlafe nicht; ich ſehe, ich höre,
ich ſpreche; ich rieche dieſe angenehmen Düfte...
Bei meinem Leben, ich bin ein wirklicher Lord,
und weder ein Keſſelflicker, noch Chriſtoph Sly.“
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2.
130
Traume dagegen find die etwa ſtattfin—
denden Wahrnehmungen fo verſchwommen
und fo dunkel, daß unſre Vorſtellungen
gen, deren Intereſſe auf einer optiſchen
durch Kontraſt Glanz gewinnen, und die
Unmöglichkeit, in der wir uns befinden,
einen Vergleich anzuſtellen, bewirkt, daß
wir, darin einer angebornen und unwider—
ſtehlichen Gewohnheit folgend, die Objekte
unſerer Ideen für äußere Wirklichkeiten
nehmen.
Der Wahnſinn, über den ich einige
Worte ſagen werde, hat ſeinen beſtimmten
Platz von meinem Standpunkte zwiſchen
Traum und Träumerei: die Vorſtellungen
des Narren, ſoweit er Narr iſt, haben den—
ſelben Glanz wie ſeine Wahrnehmungen.
Man erinnere ſich der trefflichen Per—
rette, die ſich den lachendſten Fernſichten
hingiebt und ſich bereits im Beſitze einer
Kuh und eines Kälbchens ſieht. Nehmen
wir an, daß die brave Frau ſich einbilde,
ſie wirklich zu beſitzen, und wir werden
eine arme Irrſinnige vor uns haben. Durch
alle ihre Sinne gleichzeitig getäuſcht, wird
ſie dieſelbe nicht allein weiden ſehen, ſon—
dern auch blöken hören, ſie wird ihre Kuh
in eingebildete Eimer melken und in einer
Milchwirthſchaft, die nicht exiſtirt, Milch—
ſatten und Butterſtücke aufſtellen, welche
ebenſowenig exiſtiren.
Es würde indeſſen vorkommen können,
daß das Auge allein der Sitz des Irrtums
wäre. Dann wird es der Unglücklichen
niemals gelingen, ihre Tiere, welche bei
ihrer Annäherung entfliehen, mit der Hand
zu berühren. Sie wird ſich in ihrer Toll—
heit ſagen, daß ein boshafter Genius ſie
quäle und an der Ausübung ihrer bäuri—
ſchen Pflichten hindere; ſie wird ſich ſchließ—
lich die Sache auf eine in ihren Augen
wahrſcheinliche Art erklären und Gott weiß,
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
bis wohin die Logik der falſchen Unter—
ſtellungen ſie führen kann.
Man kennt jene Art der Schauſtellun—
Illuſion beruht. Auf der Bühne bewegen
ſich wirkliche Schauſpieler und auch un—
greifbare Schatten, deren Körper den De—
gen und den Keulen keinerlei Widerſtand
bieten, welche plötzlich erſcheinen und ebenſo
verſchwinden. Nehmen wir einen Augen—
blick an, daß der Schauſpieler ein Opfer
dieſes Spiels ſein könnte. Er wird eine
Perſon vor ſich haben, welche er ſehen,
aber nicht fühlen kann. Wird er ſich ſagen,
daß das eine Illuſion iſt? Vielleicht. Aber
welcher Sinn wird der getäuſchte ſein?
Das Geſicht, welches ſieht, was nicht da
iſt, oder der Taſtſinn, welcher nicht fühlt,
was da iſt? Auf die Erfahrung geſtützt,
wird er möglicherweiſe dahin gelangen,
ſich von einem Irrtum in ſeinen Geſichts—
wahrnehmungen zu überführen, aber es
iſt auch möglich, daß er den Verſtand dar—
über verliert.
Der unglückliche Wahnſinnige, welcher
den Bauch mit Fröſchen und Kröten er—
füllt zu haben glaubt und welcher, wenn
ihr ihn durch Demonſtration zu heilen
ſucht, ſie mit ſeinen Händen packt und euch
vor Augen hält oder ins Geſicht wirft,
iſt ohne Zweifel Opfer einer traurigen Il—
luſion, aber wie ſollte ſie nicht entſtehen
können? Sind denn die Gründe unſers
Glaubens an die wirklichen Dinge von
einer verſchiedenen Natur? Daher dieſer
auf den erſten Blick paradoxe, aber nichts—
deſtoweniger ſtreng logiſche Schluß: auch
der Hallueinirende gehorcht einem Natur—
geſetz, wenn er an die Wahrhaftigkeit der
phantaſtiſchen Bilder glaubt, die feinen
Geiſt umringen. Darin handelt er genau
I
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
wie ich, der ich in dieſem Momente innigſt
der Geräuſche, die er hört und ſieht, er
überzeugt bin, daß ich eine Feder in der
Hand, Papier vor mir habe und daß ich
darauf das Reſultat meiner Reflexionen
niederſchreibe. Und eben ſo gut wie ich
als einen Unſinn den Verſuch von irgend
einem betrachten würde, der mich zu über—
zeugen ſuchen wollte, daß ich träume, muß
er uns für ſolche, die ſchlechte Späße ma—
chen, anſehen, wenn wir die Exiſtenz deſ—
ſen, was er alle Tage ſieht, hört und mit
Händen fühlt, verneinen und in Zweifel
ziehen.
„Hören wir,“ ſagt Albert Lemoine,
„die Antwort einer Hallueinirenden *), wel—
cher der Arzt ihren Irrtum demonſtriren
wollte. „Wie erkennt man die Gegen—
ſtände?“' frug fie. ‚Weil man ſie ſieht und
fühlt.“ ‚Nun, ich ſehe, höre und fühle die
Dämonen, welche außer mir find, und ich
fühle auf die deutlichſte Weiſe diejenigen,
welche in meinem Innern ſind. Warum
wollen Sie, daß ich das Zeugnis meiner
Sinne verleugne, während alle Menſchen
es als die alleinige Quelle ihrer Kennt—
niſſe anrufen?‘ Und wenn man ihr zum
Beweiſe das Beiſpiel der andern Irren
vorlegte, deren Irrtum ſie erkannte: „Was
mein Auge ſieht und mein Ohr hört, das
fühlt meine Hand. Die Kranken, von de—
nen Sie ſprechen, täuſchen ſich, der eine
ihrer Sinne wird durch den andern wider—
legt, ich, im Gegenteil, habe das Gewicht
aller für mich.““) So,“ fährt der Ver⸗
) A. a. O. S. 114. Das Zitat iſt aus
Bayle, Revue medicale, 1820.
) Anm. d. Red. Ludwig v. Baczko
in Königsberg ſah, hörte und fühlte die Gebilde
ſeiner Einbildungskraft, ohne daran zu glauben.
Wiederholt erſchien ihm eine borſtige Schlange,
131
wach, an die Wirklichkeit der Bilder und
wird dadurch ſogar geweckt und kann aus
dieſem Grunde nicht an der Wahrheit des
Zeugniſſes ſeiner Sinne zweifeln.“
Wie die Analyſe des Schlafes, ſo führt
uns alſo auch die des Wahnſinns dazu,
die Phänomene, welche er darbietet, in
zwei Teile zu ſondern und von dem, was
krankhaft iſt, dasjenige zu unterſcheiden,
was naturgemäß kraft unſerer vorherge—
gangenen Erfahrung aus unſeren geiſtigen
Gewohnheiten und unferen Inſtinkten folgt.
Der ſchlafende Menſch ſieht manchmal
einen Stock lebendig werden, ein Möbel
ſprechen, einen Menſchen ſich in die Ge—
ſtalt eines Vogels kleiden. Die Poeten,
dieſe freiwilligen Träumer, bevölkern die
Wälder mit verzauberten Bäumen, welche
bluten, wenn man ſie verwundet, welche
bitten oder Drohungen ausſtoßen, welche
plötzlich zu Ungeheuern oder zu Frauen
werden, um uns zu erſchrecken oder uns
zu rühren. Der ſchlafende Menſch iſt ein
vorübergehend Getäuſchter; die Poeten
ſind freiwillig Betrogene. Aber es giebt
auch unfreiwillige und unverbeſſerliche
Narren, welche Windmühlen für Rieſen,
ſchmutzige Bauerndirnen für Prinzeſſinnen
und Marionetten für Perſonen von Fleiſch
und Knochen anſehen. Der Grund ihrer
Illuſionen iſt uns bekannt, er beſteht darin,
daß die nichtigen Bilder ihres Hirns ſich
mit derſelben Lebhaftigkeit wie die wirk—
lichen Bilder aufdrängen. Wenn ſie nicht
an der Wahrheit der letzteren zweifeln,
die erſt im Zimmer umherkroch, dann ſich über
ſeine Füße und zuletzt auf ſeinen Schoß legte,
wobei er die ſteifen Borſten mit den Händen
fühlte. S. meine „Naturgeſchichte der Geſpenſter“
S. 341-343.
132
warum ſollten fie es den andern gegen—
über thun?
In dem Zimmer, in welchem ich dieſe
Zeilen ſchreibe, ſind an der mir gegen—
überſtehenden Wand Stiche aufgehängt.
Ich bin abſolut ſicher, daß ſie da ſind.
Wenn ich nun täglich über oder neben
lich ſicher ſtehen bleiben, wenn die Erſchei—
ihnen andere nicht vorhandene Stiche ſähe,
wenn ich mir einbildete, ſie zu berühren,
abzunehmen, abzuſtäuben, wenn ich mich
zu erinnern glaubte, von wo und wie ich
ſie erhalten hätte, ſo müßte ich vernunft—
gemäß an ihre Exiſtenz glauben. Ich bin
und fühle mich wach, wenn ich die erſteren
ſehe, warum ſollte ich zu träumen glauben,
wenn ich die andern erblicke? Hat meine
irrige Meinung nicht meinen berechtigten
Glauben zum Bürgen? Die Verſicherung
meiner Verwandten, daß das eine wahn—
ſinnige Idee ſei, könnte momentan eine ge—
wiſſe Verwirrung in meine Seele werfen;
aber ich werde mich wohl leichter und ver—
nunftgemäßer überzeugen, daß ſie ein
Komplott geſchloſſen haben, um ſich über
mich zu mokiren, als daß ich das beſtän—
dige Zeugnis meiner Sinne in Zweifel
ziehen follte.*) Wenn ich nicht weiß, wie
dieſe Gemälde dorthin gekommen ſind,
werde ich eher an einen Gedächtnisfehler,
als an einen fortdauernden Irrtum glau—
ben. Wenn endlich dieſe Gemälde ſich nicht
abnehmen laſſen, werde ich in eine große
Unruhe geſtürzt werden. Ich werde mir
ſagen, daß ich das Opfer eines böſen Trau—
mes bin; wenn ich in abergläubiſchen Ideen
erzogen worden bin, werde ich eine Inter—
vention diaboliſcher Mächte argwöhnen;
wenn ich endlich die Erfahrung beſitze, daß
) „Nachdem er vergeblich gegen dieſe Macht,
welche ihn beherrſcht, gekämpft, wird er (der
Kranke) ſehr häufig zu irrigen Auslegungen ge—
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
derartige Illuſionen die Wirkung einer
Krankheit ſein können, werde ich mir Rechen—
ſchaft von meinem Zuſtande geben, wie es
dabei auch geſchehen kann, daß ich meinen
Vorteil daraus ziehe. Man kennt den Ab—
grund Pascals und die Hölle Descar—
tes'. Bei dieſem Schluſſe werde ich ziem—
nungen vorübergehend, ausſetzend oder pe—
riodiſch ſind, da die Gründe des Zweifels
in dieſem Falle mächtiger ſind, als die
Gründe des Glaubens.
Ich habe einen flüchtigen Blick auf die
verſchiedenen Arten der Hallueinationen
geworfen, von der ausgeſprochenſten Toll—
heit an bis zu der einfachſten geiſtigen
Krankheit. Man wird bemerken, daß die
Illuſionen darin durchaus motivirt ſind
und daß der Hallueinirende darauf acht—
giebt, gerade weil er nach allen andern
Rückſichten mit der Außenwelt in Verbin—
dung ſteht. Es iſt dies, was ihnen einen
Charakter von Zuſammenhang giebt, den
man ſehr ſelten in den Träumen an—
trifft. Aber er iſt von einer von den Ver—
rücktheiten ganz verſchiedenen Natur. Die
Wahnſinnigen und gewiſſe melancholiſche
Verrückte, deren Zuſtand hauptſächlich von
einer Anämie oder einer Gehirnerſchöpfung
herrührt, haben Ideen, deren Wunder—
lichkeit keineswegs denen unſrer Träume
weicht. Ein Gärtner, welcher ein Bündel
Weiden trägt, verwandelt ſich in ihren
Augen in einen Gensdarmen, der ihren
Feind ins Gefängnis führt. Ich habe eine
junge Mutter gekannt, welche, durch auf—
einanderfolgende Niederkunften geſchwächt,
vorübergehend den Verſtand verlor. Sie
führt; er ſchreibt z. B. die ihn beherrſchenden
Ideen einem fremden Weſen zu.“ (Baillarger,
zitirt v. Maury, a. a. O. chap. VII p. 158.)
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
bildete ſich z. B. ein, daß die Hühnchen,
welche die Köchin ſchlachtete, ihre eigenen
Kinder wären, und nichts war ergreifen—
der zu ſehen und zu hören, als ihre müt=
terliche Angſt. Es fand dabei eine jener
Aufeinanderlegungen der Bilder ſtatt, von
denen ich weiter oben geſprochen habe.
Man muß die Erklärung dieſer und ande—
rer ähnlicher Fälle in der Einſchläferung
der Empfänglichkeit ſuchen, was eine An—
näherung zwiſchen dieſen Krankheitsformen
und dem Schlafe zuläßt.
Es gehört nicht zu meinem Plan, die
möglichen Urſachen des Irrſinns aufzu—
ſuchen. Dennoch kann die Frage unter
einem völlig theoretiſchen und völlig pſy—
chologiſchen Geſichtspunkt betrachtet wer—
den. Es folgt aus dem, was ich bis hier—
her gejagt habe, daß die Hallueinationen
von zwei oder mehr Urſachen herrühren
können. Entweder rühren ſie nämlich da—
her, daß die irrigen Vorſtellungen einen
demjenigen der Wahrnehmungen vergleich—
baren Glanz gewonnen haben, oder im
Gegenteil daher, daß die Wahrnehmungs—
fähigkeit ſich bis zu dem Grade geſchwächt
hat, daß die Bilder der Wirklichkeit eben—
ſo grau und ſtumpf geworden ſind, wie
die Phantaſiebilder. Es iſt möglich, daß
dieſe beiden Urſachen häufig zuſammen—
wirken, aber das iſt ein Punkt, den ich
nicht zu unterſuchen habe.
Aber wie es auch darum ſtehe, man
kann auf die Verirrungen des Wahnſinns
die Erklärung ausdehnen, welche Ari—
ſtoteles von den Träumen giebt, und
ſagen, indem man ſie ein wenig erwei—
tert, daß ſie dem Verrückten angehören,
ſoweit er verrückt iſt. Zwiſchen den Vor—
ſtellungen des Verrückten und denen des
vernünftigen Menſchen giebt es alſo kei—
133
nen Unterſchied in pſychologiſcher Bezieh—
ung, die Verſchiedenheit iſt phyſiologiſch
oder beſtimmter geſagt, rein pathologiſch.
Ich gehe jetzt zu den andern Fragen
über, deren Erörterung ich noch ſchuldig
bin. Die erſte iſt, zu wiſſen, an welchem
Kennzeichen man praktiſch eine Vorſtel—
lung von einer Wahrnehmung unterſchei—
den kann, in dem Augenblicke, wo beide
den gleichen Glanz beſitzen. Die Antwort
iſt ſehr einfach. Die Vorſtellung iſt durch—
aus perſönlich, die Wahrnehmung Allen
gemeinſam. Die Stiche in meinem Zim—
mer kann Jedermann ſehen, Jeder berüh—
ren; diejenigen, welche ſich in meiner Ein—
bildung befinden, ſind Allen unzugänglich
außer mir ſelbſt.
In Betreff von Wahrnehmungen und
Vorſtellungen iſt alſo das Zeugnis der
andern Menſchen das einzige Kriterium,
welches uns leiten kann. Aber dieſes Kri—
terium iſt unglücklicherweiſe nicht unfehl—
bar. Geſchieht es nicht mitunter, daß ganze
Volksmaſſen wunderbare Erſcheinungen
ſehen? In ſeinem ſo lehrreichen Buche
„Über das Studium der Natur“?) erwähnt
Herr Houze au, der Direktor des Brüſ—
ſeler Obſervatoriums, der von den Rö—
mern in ihre Gräber geſtellten Grablam—
pen und daß zahlreiche Zeugen verſichert
haben, ſie noch brennend geſehen zu ha—
ben, als das Innere der Gräber ans Licht
gezogen wurde. Das iſt eine vollkommen
unmögliche und im übrigen ſehr leicht feſt—
zuſtellende Thatſache. Was leſen wir nun
zum Beiſpiel in den Protokollen über die
Eröffnung eines römiſchen Grabes auf der
Inſel von Niſida bei Neapel, welche Porta
) De l’etude de la Nature. Bruxelles,
1876, p. 99.
134
geſammelt hat?“) „Würdige, geehrte, ver
ſchiedenen Profeſſionen angehörende Män—
ner, unter andern eine namhafte Magi-
ſtratsperſon, bezeugen,“ ſagt Houzeau,
„mit ihren Augen, auf die ſicherſte und
zweifelloſeſte Art, chemiſche Wunder ge—
ſehen zu haben, welche für ſie nur ein
verlornes Geheimnis waren.“ Mitten im
achtzehnten Jahrhundert wurden die Wun—
der des Diaconus Paris von einer Beweis—
menge geſtützt, wie ſie die beſtbeglaubig—
ten hiſtoriſchen Ereigniſſe ſchwerlich vor—
weiſen könnten. Endlich, was noch ſtär—
ker iſt, ſehen wir nicht in unſern Tagen
Philoſophen, Gelehrte, Naturforſcher, die
Fechner, Zöllner, Ulrici, Wallace
u. ſ. w. durch die ſpiritiſtiſchen Gaukeleien
eines Slade myſtifizirt werden?
Indeſſen, allgemein geſagt, ſind die
Ideen eines Verrückten, ſoweit er verrückt
iſt, unmitteilbar; ſie ſind nicht im Stande,
ſich andern aufzudrängen; auch iſt er im—
mer geneigt, ſeine Unglücksgefährten als
Wahnſinnige und die Beſucher von außen—
her als bornirte und verblendete Leute zu
betrachten. Und nichts deſtoweniger bringt
uns eine weitere Überlegung in Verwir—
rung. Daß nämlich Menſchen von Genie
durch viel weniger kluge Leute als ſie ſelbſt
für Narren gehalten werden! Um nur
ein aus der Gegenwart genommenes Bei—
ſpiel anzuführen, wie viele berühmte Per—
ſonen haben beim Anfang nicht an die
Zukunft der Eiſenbahnen, ja nicht einmal
an ihre praktiſche Ausführbarkeit glau—
ben wollen? Und wenn die Irrenhäuſer
Erfinder des Perpetuum mobile und an—
derer phyſikaliſch unmöglicher Maſchinen
beherbergen, haben ſie ſich nicht auch manch—
*) Magia naturalis. Große Ausgabe von
1589, lib. XII, von Houzeau zitirt.
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
mal über einen höherſtehenden Träumer
geſchloſſen? Daher dieſes im Grunde ab—
ſurde, aber für den Haufen wahre Sprich—
wort, daß das Genie und die Tollheit
mehr als einen Berührungspunkt darbieten.
Wir ſind noch nicht am Ende der
Schwierigkeiten. Es iſt vorgekommen, daß
Verrückte dahin gelangt ſind, andere Ver—
rückte zur Annahme ihrer tollſten An—
maßungen zu bringen. Herr Spring,
der Verfaſſer der Symptomatologie ou
Traite des accidents morbides, erzählte
mir eines Tages, daß er in einem Ir—
renhauſe einen Gott Vater gekannt habe,
der ſich eine gewiſſe Anzahl von Anbe—
tern verſchafft hatte. Und ſieht man nicht
in Wirklichkeit ganze Nationen, große
menſchliche Geſellſchaften an die Unfehl—
barkeit eines Menſchen glauben, den in
letzter Inſtanz andere Menſchen mit die—
ſem Vorrecht bekleidet haben? 5
Alles wohl betrachtet und alles wohl
erwogen, wird man fatalerweiſe immer
wieder zu dieſem anderwärts von mir aus—
geſprochenen?) Schluß zurückgeführt, daß
wenn einerſeits die Wahrheit exiſtirt, an-
dererſeits das abſolute Kriterium der Wahr—
heit nicht exiſtirt, daß man unterſcheiden
muß zwiſchen ſubjektiver und objektiver
Gewißheit; daß unſre Überzeugung, fo
feſt ſie auch ſei, nicht begründet werden
kann; daß die Wahrheit für uns nur einen
ganz proviſoriſchen Charakter haben kann.
Thatſächlich wird der einzige Grund, wel—
cher uns eine Aufſtellung verwerfen läßt,
aus den Widerſprüchen geſchöpft, welche
ſie mit andern von uns für wahr gehal—
tenen Aufſtellungen darbietet. Wie auch
) Man ſehe meine Logique scientifique.
Bruxelles et Liege, 1865, und meine Logique
algorithmique, ibidem 1877.
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
die Zahl der letzteren ſich täglich zu ver-
mehren ſtrebt, nichts ſtellt uns ſicher, daß
nicht eines Tages neue Widerſprüche auf—
tauchen werden; die Geſchichte der Wiſ—
ſenſchaften hat uns nur zu ſehr an dieſe
Art von Überraſchungen gewöhnt.
Aber wenn das Mißtrauen in unſer
Wiſſen durch die ſchwachen Seiten unſe—
rer intellektuellen Fähigkeiten gerechtfer—
tigt wird, ſo ergreifen wir im Gegenteil
hiermit den wahren Probirſtein des Ver—
nunftzuſtandes. Wie jedes andere Phäno—
men hat der Irrtum ſeine Urſache, er iſt
von dieſem Geſichtspunkte erklärbar und
in irgend einer Art logiſch. Dieſe Ur—
ſache beſteht in einer unvollkommenen
Anſchauung der Dinge.“) Sich korrigi—
ren heißt mehr und beſſer ſehen. Ohne
Zweifel iſt der menſchliche Geiſt nicht ge—
halten, alles zu ſehen, aber er müßte ſich
hüten, die Exiſtenz deſſen, was er nicht
ſieht, zu leugnen. Es iſt nun dieſe — ent—
ſchuldbare aber unkluge — Verneinung,
welche die Quelle aller unſerer falſchen
Urteile bildet. Dieſe Unvollkommenheit
unſerer Natur geſtattet, wenn einmal gründ—
lich erkannt, Niemanden eine abſolute und
rückhaltloſe wiſſenſchaftliche Überzeugung
in Betreff irgend einer Wahrheit zu ha—
ben. Gewiß, wenn es ſich um den ſub—
jektiven Glauben handelt, ſo iſt es uns
unmöglich, denſelben demjenigen zu ver—
ſagen, was ſich uns augenblicklich auf—
drängt, ſelbſt dem Irrtum. Dieſes ge—
wöhnliche und durchaus praktiſche Ver—
trauen ſchließt das Zögern aus. Aber
wenn es ſich um die überlegte Anhänger—
ſchaft handelt, ſo iſt es immer am Orte und
wir müſſen dem Zweifel ſeinen Platz gön—
*) Man vergleiche meine Logique algo-
rithmique, 4. Teil.
135
nen. Es giebt keine Behauptung, ſo ſicher
ſie uns erſcheinen mag, die nicht der Ge—
genſtand eines Zweifels ſein könnte. Die—
ſer Zweifel, welcher ſich durchaus mit der
Gewißheit verbündet, iſt der ſpekulative
Zweifel. Es iſt ein ſpekulativer Zweifel,
den Descartes ausſprach, als er ſich,
ſeine Meditationen ſchreibend, frug, ob er
nicht träume. Der Zweifel iſt, wie man
ſieht, nicht allein mit der bewußten und
überlegten Überzeugung vereinbar, ſon—
dern kann ſogar nur mit ihr exiſtiren. Wenn
Descartes nicht völlig wach und nicht
völlig ſicher geweſen wäre, es zu ſein,
würde er ſich nicht die Frage in dem Sin—
ne geſtellt haben, den er ihr gab. So—
ſius und Agidius der Seifenſieder würden
nicht an ſich ſelbſt gezweifelt haben, wenn
ſie nicht beigutem Verſtande geweſen wären.
Der ſpekulative Zweifel iſt thatſäch—
lich kein aufrichtiger, kein wahrer Zwei—
fel, wie ihn manchmal der wachende wie
der ſchlafende und der verrückte Menſch
empfindet. Er iſt im Grunde ein ganz
theoretiſcher Zweifel, welcher ſich auf Dinge
erſtreckt, an denen man im Grunde kei—
neswegs zweifelt und der ſich durch all—
gemeine und höhere Betrachtungen recht—
fertigt. Dieſer Zweifel, der das Urteil
nicht trübt, iſt die Mitgift des im vollen
Beſitz ſeiner Vernunft befindlichen Gei—
ſtes und zur ſelben Zeit das unterſchei—
dende, ausreichende und abſolute Zeichen
der durchgearbeiteten Gewißheit.
Dieſer Schluß iſt beim erſten Anblick
fremdartig, und wird manchen Geiſtern
troſtlos erſcheinen. Er wird den verzwei—
felnden und verzweifelten Philoſophen zum
neuen Thema dienen, und ſie werden ihn
zu einen Grundtext nehmen, um den Men-
ſchen zu einem herabgekommenen Tanta⸗
; 136
J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume.
lus der Wahrheit zu machen. So ſchlimm zum Teil irrige, zum Teil unvollkommene
iſt unſer Geſchick nicht.
ſchöpflichen Ozean der Wahrheit getaucht,
iſt es uns nicht verſagt, unſre Lippen dar—
an zu erfriſchen. Ohne Zweifel, wenn
In den uner-
Überſetzung. Iſt man nicht in jüngſter
Zeit ſo weit gegangen, die Feſtigkeit der
Grundſätze der Geometrie anzuzweifeln?
man die ganze menſchliche Wiſſenſchaft als
eine Sammlung von nebeneinander auf-
geſtapelten und aufeinander einflußloſen
Wahrheiten, Falſchheiten, und Dunkel-
heiten betrachtet, und wenn man ferner
als das Ziel der Vernunft die Vermeh—
rung der Summe des Wahren und die
Beſchränkung der Gebiete des Irrtums und
des Unbekannten betrachtet, da wird man
von dem Tage an, wo man erkennt, daß
man keine Gewißheit erlangen kann, ſich
von Mutloſigkeit hinreißen laſſen und nach
der Vernichtung des Denkens ſtreben. Aber
beruhigen und tröſten wir uns. Wenn
die abſolute Gewißheit uns entgeht und
immer entſchlüpfen wird, ſo wird die re—
lative und unbegrenzt fortſchreitende Ge—
wißheit, die einzige unſrem endlichen Ver—
ſtande zugängliche, unſrem Ehrgeiz genü—
gen und im Stande ſein, ihn zu befriedi—
gen. Die Wahrheit iſt eine. Es giebt
keine Wahrheiten, ſondern nur die Wahr—
heit. Die Worte „beſondere, teilweiſe
Wahrheit“ ſtellen, ſtreng geſprochen, einen
ungenauen Ausdruck und gewiſſermaßen
einen Unſinn dar. Alle unſre Wiſſenſchaften,
ſelbſt die am meiſten poſitiven, geben von
der Wahrheit eine zum Teil zweifelhafte,
Hat man nicht die Fundamente der Lo—
gik in Frage geſtellt?
Die Wahrheit zeigt ſich unſern Augen
ſtets nur vom Kopfe bis zu den Füßen
verſchleiert, und wie der Göttin von Sais
wird keine menſchliche Hand ihr den Schleier
wegziehen. Aber dieſer Schleier wird von
Tag zu Tag durchſichtiger, weil unſer
Blick immer durchdringender, immer ſchär—
fer wird. Die Wahrheit gehört alſo nicht
zu den Dingen, deren Eroberung wir voll—
enden, indem wir ſie Stück für Stück in
Beſchlag nehmen; ſie gehört vielmehr zu
denen, deren völliger Beſitz uns verſagt
iſt, die man aber anbeten muß, und der
man ſich immer inniger annähern kann,
indem man die Berührungspunkte und die
Bindemittel vermehrt. Hüten wir uns ein—
zig vor der Selbſtüberſchätzung und dem
Rauſch der erſten Einblicke und erſten Um—
armungen. Das iſt der Anfang des Wiſ—
ſens zu wiſſen, daß man nichts weiß; ver—
geſſen wir noch weniger, daß man nie—
mals das ganze Nichts weiß. Die Be—
ſcheidenheit, das Mißtrauen, der Zweifel
find die Zeichen des wahren Wiſſens. Iſt
die Selbſtgenügſamkeit nicht die gewöhn—
liche Begleiterin der Unwiſſenheit und der
Beſchränktheit?
Hünftliche Diamanten.
5?
10 die in England kürzlich gelun—
gene Darſtellung künſtlicher Dia—
manten hat F. W. Rudler im Aprilheft
des laufenden Jahrgangs von W. S.
Dallas' Popular Science Review einen
Artikel veröffentlicht, aus welchem wir un—
ter Hinzuziehung des von Prof. Stokes
der Royal Society von London am 26.
Februar vorgelegten Berichtes das Fol-
gende entnehmen:
Vor ungefähr drei Monaten erregte
der Induſtrielle James Maktear in
Glasgow in allen Kreiſen ein nicht unbe—
trächtliches Aufſehen durch die Mitteilung,
daß das lange umworbene Problem der
künſtlichen Herſtellung farbloſer und durch—
ſichtiger Kohlenkriſtalle, die den Diaman—
ten vergleichbar, wenn nicht identiſch wä—
ren, ihm endlich gelungen ſei. Indeſſen
erwieſen ſich ſeine Angaben als verfrüht,
die vermeintlichen Diamanten hielten einer
genauen Unterſuchung von Prof. Maske—
lyne und Dr. Flight nicht ſtand, ſie ſchei—
nen aus einer Kieſelverbindung beſtanden
zu haben.
Es iſt wohl in bezug auf andre Dinge
geſagt worden, daß die „mißglückten An—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
| läufe der Vergangenheit den Triumph der
|
Zukunft vorbereiten“. Auch auf unſere an-
gehenden Diamantfabrikanten iſt dies Wort
nicht unanwendbar. Kaum waren Mak—
tears Unterſuchungen von der Offentlich—
keit verſchwunden, als H. A. Allen von
Sheffield denſelben Anſpruch für Dr. R.
S. Marsden erhob, und bevor dieſes
zweite Verfahren veröffentlicht wurde,
brachte J. Ballantyne Hannay, ein jun—
ger Glasgower Chemiker, wirkliche künſt—
liche Diamanten zu ſtande.
Seit längerer Zeit iſt Hannay mit
einer ſehr intereſſanten Unterſuchungsreihe
beſchäftigt geweſen, die ihn unerwartet zu
dieſer Entdeckung geführt hat. Um dieſe
Unterſuchungen zu würdigen, iſt es nötig,
auf einen Gegenſtand zurückzukommen, der
beim erſten Anblick keine Beziehung zur
künſtlichen Darſtellung der Diamanten zu
haben ſcheint.
Vor mehr als einem halben Jahrhun—
dert machte Cagniard de la Tour einige
bemerkenswerte Experimente, um den Ein—
fluß der Hitze auf in ſtarken Gefäßen ein—
geſchloſſene Flüſſigkeiten feſtzuſtellen. Dieſe
Unterſuchung wurde ſpäter durch An—
drews in Belfaſt fortgeführt. Er zeigte
z. B., daß Kohlenſäuregas über eine ge—
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2.
18
138
wiſſe Temperatur hinaus durch Druck nicht
verflüſſigt werden kann; aber das ſo zu—
ſammengepreßte Gas nimmt ein Verhalten
an, welches weder das einer Flüſſigkeit,
noch das eines Gaſes iſt. Man erniedrige
die Temperatur und es wird eine wahre
Flüſſigkeit; man erniedrige den Druck und
es wird zum wahren Gaſe. Es wurde ge—
funden, daß die beiden phyſikaliſchen Zu—
ſtände der Flüſſigkeit und Gasförmigkeit
durch unmerkliche Stufen in einander über—
gehen, jo daß die Kontinuität zwiſchen die—
ſen beiden Zuſtänden vollſtändig iſt. Jene
beſondere Temperatur, über welcher der
Druck das Gas nicht mehr verflüſſigt,
wurde ſein kritiſcher Punkt genannt.
Zurückkehrend zu den Experimenten von
Cagniard de la Tour und Andrews,
bei denen Flüſſigkeiten in geſchloſſenen
Röhren erhitzt wurden, wollen wir anneh—
men, ein feſter Körper ſei in der bis über
ihren kritiſchen Punkt erhitzten Flüſſigkeit
aufgelöſt. Was wird geſchehen? Die Flüſ—
ſigkeit wird in den gasförmigen Zuſtand
übergehen, aber was wird dabei aus dem
feſten Körper werden? Dieſe Frage ſtellte
ſich Hannay bei ſeinen in Verbindung
mit Herrn Hogarth angeſtellten Verſu—
chen. Beim erſten Anblick möchte als wahr—
ſcheinlich angenommen werden, daß der
feſte Körper, wenn er nicht ſelbſt bei der
Temperatur flüchtig iſt, bei welcher das
Löſungsmittel in gasförmige Geſtalt über—
geht, in feſter Geſtalt ausgeſchieden wer—
den würde.
Der Verſuch widerlegte indeſſen dieſe
Annahme völlig. Es wurde bald bemerkt,
daß der feſte Körper in manchen Fällen
nicht abgeſchieden wurde, ſondern in dem
Gaſe wie in einer Flüſſigkeit gelöſt blieb.
Der Gebrauch des allgemeinſten Löſungs—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
mittels, des Waſſers, war bei dieſen Ver—
ſuchen ausgeſchloſſen, teils weil ſein kriti—
ſcher Punkt ungewöhnlich hoch liegt, teils
weil es bei hoher Temperatur und ſtarkem
Druck eine ungewöhnlich ſtark auflöſende
Kraft auf die Glaswandungen ausübt.
Als geeigneter wurde Alkohol gefunden,
und viele der erſten Verſuche von Hannay
und Hogarth wurden mit einer Auflö—
ſung von Jodkalium in Alkohol ange—
ſtellt. Eine ſtarke Röhre wurde ungefähr
zur Hälfte mit einer Auflöſung von Jod—
kalium in Alkohol gefüllt, zugeſchmolzen
und darauf im Luftbade bis über den kri—
tiſchen Punkt des Alkohols hinaus erhitzt.
Der Alkohol wurde gasförmig und das
Jodkalium blieb, anſtatt niedergeſchlagen
zu werden, in dem Gaſe gelöſt. Sogar
wenn die Temperatur auf 380% C. (d. h.
150° über den kritiſchen Punkt) erhöht
wurde, behauptete das Alkoholgas noch
ſeine löſende Kraft auf das Salz. Inzwi—
ſchen wurde es durch eine geiſtreiche An—
ordnung möglich, ein Stückchen des Jodids
der Wirkung des überhitzten Gaſes aus—
zuſetzen, und man ſah, wie es ſich in dem
unſichtbaren Löſungsmittel langſam auf—
löſte. Aber wenn man langſam die gas—
förmige Auflöſung von dem Drucke be—
freite, unter welchem ſie ſich befunden, ſo
wurde das Jodkalium entweder als eine
Wolke von zarten, ſchneeförmigen Kriſtal—
len oder als eine kriſtalliniſche Decke, wie
Rauhfroſt, auf der Röhrenwandung ab—
geſchieden. Wurde hingegen der Druck
wieder vermehrt, ſo löſten ſich die Kriſtalle
von neuem und verſchwanden allmählich.
Da ähnliche Verſuche auch mit ſchwer—
löslichen Körpern gelangen, und beiſpiels—
weiſe Kieſelſäure, Thonerde und Zinkoxyd
unter ſtarkem Druck in überhitztem Waſſer—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
dampf in beträchtlicher Menge aufgelöft
wurden, und da auch dieſe gaſigen Löſun—
gen die feſten Körper faſt immer in kri—
ſtalliniſcher Geſtalt ausſchieden, ſo lag es
nahe, auch den Kohlenſtoff, der allen ge—
wöhnlichen Löſungsmitteln, den Säuren
und Alkalien, Alkoholen und Athern wi—
derſteht und ſich nur im geſchmolzenen
Gußeiſen auflöſt, aus welchem er in gra—
phitähnlichen Schuppen auskriſtalliſirt, den
neuen Löſungsmitteln zu unterwerfen. Wie
es ſcheint, hat das Aufſehen, welches Mak—
tears Verſuche in Glasgow erregten, die
beiden genannten Chemiker veranlaßt, ein—
ſchlägige Experimente anzuſtellen, da ſich
ja die feſten Körper in kriſtalliniſcher Ge—
ſtalt aus den gaſigen Löſungsmitteln aus—
ſchieden.
Indeſſen mußte Hannay bei ſeinen
erſten Verſuchen bemerken, daß keines ſei—
ner gasförmigen Löſungsmittel hinreichte,
Kohle in irgend einer Form, als Graphit,
Holzkohle oder Lampenruß, aufzulöſen. Es
mußte alſo auf einem Umwege vorgegan—
gen werden, um das vorgeſteckte Ziel zu
erreichen. Kohlenſtoff iſt bekanntlich durch
die Zahl der flüchtigen Verbindungen aus—
gezeichnet, die er im Stande iſt, mit dem
Waſſerſtoff zu bilden. Nun fand Han—
nay, daß wenn ein Kohlenſtoff und Waſ—
ſerſtoff enthaltendes Gas in Gegenwart
gewiſſer Metalle, wie Magneſium oder
Natrium, einer hohen Rotglut unter ſtar—
kem Druck ausgeſetzt wird, der Kohlen—
waſſerſtoff zerſetzt wird, indem ſich der
Waſſerſtoff mit den Metallen, zu denen er
bei hoher Temperatur ſtarke Verwandt—
ſchaft hat, verbindet, während der Kohlen—
ſtoff ausgeſchieden wird. Um die hohen
Temperaturen und den ſtarken Druck wirken
1 zu können, wendete Hannay für
139
dieſe Verſuche ſtarke, Flintenläufen ähn—
liche Eiſenröhren von ungefähr ½ Zoll
innerer Weite bei 3¼ Zoll äußerer Dicke
an, und ſelbſt dieſe wurden im Lauf der
Experimente meiſtens (neunmal von zehn—
mal) aufgeriſſen.
Es erſchien wahrſcheinlich, daß der bei
dieſer Zerſetzung in Freiheit geſetzte Koh—
lenſtoff im Momente feiner Bildung und
in statu nascenti in dem Gaſe aufgelöſt
und bei Nachlaß des Druckes in kriſtal—
liniſchem Zuſtande abgeſchieden werden
möchte. Hannay hat gefunden, daß es,
um die Kohle in dem gewünſchten kriſtal—
liniſchen Zuſtande zu erhalten, nötig iſt,
daß eine hitzebeſtändige Stickſtoffverbin—
dung zugegen ſei. Als dieſe Bedingungen
erfüllt wurden, hatte der Experimentator
die Genugthuung, daß ſich die Kohle in der
That in diamantähnlicher Form ausſchied.
Dieſe diamantartige Kohle iſt nicht
nur durch den Entdecker ſelbſt, ſondern
auch durch Profeſſor Maskelyne, eine
ausgezeichnete mineralogiſche Autorität, ge—
nau unterſucht worden. Erſtens, was die
Härte, die am meiſten charakteriſtiſche und
wertvollſte Eigenſchaft der Diamanten, an-
betrifft, ſo hat ſich gezeigt, daß Hannays
Kriſtalle leicht tiefe Furchen in einen Sa—
phir gruben, alſo eine angreifende Kraft
zeigten, welche keine Subſtanz als eben
der Diamant beſitzt. In Hinſicht auf die
Kriſtallform iſt wenig zu ſagen, da die
vorhandenen Stücke eher Diamantſplittern
als Kriſtallen gleichen. Doch in einem
Falle ſah Maskelyne oktaödriſche Spalt—
flächen, und Hannay hat auf das Vor—
handenſein der für Diamantkriſtalle ſo cha—
rakteriſtiſch gekrümmten Flächen aufmerk—
ſam gemacht. Optifch verhalten ſich die
Kriſtallfragmente ganz nach Erwartung,
140
und ermangelten nicht, ein entſprechendes
ſpezifiſches Gewicht (3,5) zu zeigen. Die
chemiſchen Kennzeichen endlich laſſen nichts
zu wünſchen übrig. In dem Voltaiſchen
Bogen erhitzt, ſchwillt dieſe Kohle auf und
wird ſchwarz, grade wie der Diamant,
während er wie gewöhnlich in Sauerſtoff
verbrennt und reine Kohlenſäure liefert.
Der Verſuch zeigte, daß der künſtliche Kri—
ſtallkörper 97,85 „ Kohlenſtoff enthält.
Alle dieſe Beweislinien konvergiren in dem
Punkte, daß wir es hier mit einer Subſtanz
zu thun haben, die nach allen Richtungen
nicht mehr und nicht weniger als Diamantiſt.
Es ſcheint alſo, daß Hannay die Na—
tur ſo erfolgreich nachgeahmt hat, um
einen von dem natürlichen Edelſtein nicht
zu unterſcheidenden Körper hervorzubrin—
den. In Verbindung mit dieſer intereſſan—
ten Entdeckung erheben ſich indeſſen natur—
gemäß zwei Fragen: Erſtens, iſt die künſt⸗
liche Subſtanz auf demſelben Wege er—
zeugt worden, wie der natürliche Dia—
mant? Und zweitens, kann das künſtliche
Produkt in ſolcher Menge und mit ſolcher
Leichtigkeit erzeugt werden, um mit Vorteil
auf den Markt gebracht werden zu können?
Die erſte Frage iſt nicht ſo leicht zu
beantworten. Die Natur hat einen ſolchen
Reichtum an Hilfsmitteln zu ihrer Verfü—
gung, daß ſie, um zu einem beſondern Ziel
zu gelangen, keineswegs auf ein einziges
Hilfsmittel angewieſen iſt. Nichts mög—
licher, als daß der Diamant der einen Ort⸗
lichkeit in der einen und ein anderer in
anderer Weiſe gebildet ſein könnte. In
der That ſind die Bedingungen ſeines Vor—
kommens in verſchiedenen Teilen der Welt
einander ſo unähnlich, um es höchſtwahr—
ſcheinlich zu machen, daß z. B. die Dia—
manten Braſiliens und Südafrikas durch
ſeien.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ganz verſchiedene Prozeſſe hervorgebracht
Es iſt daher möglich, das Han—
nay einen Weg der Natur, Diamanten
hervorzubringen, nachgeahmt hat, aber auch
dann läge es noch weit entfernt, anzunehmen,
daß alle Diamanten ſo entſtanden ſeien.
Es war ein altes alchemiſtiſches Dogma,
daß „Vulkan eine zweite Natur iſt, die
genau nachahmt, was die erſte mit Zeit
und Umwegen bewirkt“. Dieſem Grund—
ſatze gehorchend, hat Hannay den Vulkan
zu ſeinem gehorſamen Diener gemacht, aber
ein gut Teil deſſen, was wir über den na—
türlichen Diamanten gewiſſer Lokalitäten
wiſſen, richtet ſich dahin, anzudeuten, daß
Vulkan nicht allerwärts ſeiner Erzeugung
vorgeſtanden hat. „Wir ſind gänzlich un—
bekannt mit der Art ſeiner Bildung in der
Natur“, hat ein berühmter Chemiker kürz—
lich geſagt, „das einzige Ding, welches als
gewiß betrachtet werden kann, iſt, daß er
nicht in hoher Temperatur gebildet wurde“.
Nach allem Anſcheine iſt die Diaman—
ten⸗Erzeugung ein Gegenſtand von blos
wiſſenſchaftlichem Intereſſe; die praktiſche
Frage für das unwiſſenſchaftliche Volk lau—
tet: Kann Hannay ſein Produkt in hin:
reichender Menge erzeugen, um den Dia—
mantenmarkt dadurch zu beeinfluſſen? Edel—
ſteinbeſitzer mögen ſich indeſſen durch die
Verſicherung beruhigen laſſen, daß für jetzt
die künſtlichen Diamanten ſehr klein und
koſtbar ſind. Wenn der Chemiker ſeine
wohlausgedachte Operation beendet hat
und das Eiſenrohr öffnet, ſo findet er, daß
ſeine Diamanten nicht wie diejenigen Sind—
bads „von erſtaunlicher Größe“ ſind. Sie
ſind vielmehr von erſtaunlicher Kleinheit.
Aber wären ſie auch nicht größer als Na—
delköpfe, das Experiment wird doch ein
wertvoller Triumpf der Wiſſenſchaft blei—
Sr
4
r =
F
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ben. Freilich kann man nicht wiſſen, ob
die Induſtrie nicht dennoch Mittel finden
wird, die wiſſenſchaftliche Methode auszu—
beuten und größere Kriſtalle zu erzeugen.
Die Virkungen des ununferbrochenen
Honnenlichkes auf die Pflanzen der
| Volarländer.
Prof. Schübeler in Chriſtiania, der
ſeit nahezu dreißig Jahren mit der Be—
obachtung der klimatiſchen Einflüſſe auf
die Pflanzenwelt beſchäftigt iſt, hat in eini—
gen kürzlich erſchienenen Nummern der
ſkandinaviſchen Zeitſchrift, Naturen“ feine
Studien über den Einfluß der nordiſchen
Belichtungsverhältniſſe dargelegt, über
welche wir nach einem Referat der engli—
ſchen Zeitſchrift,, Nature“, Nr. 535 (1880),
das Folgende mitteilen.
Die erſte ſeiner Beobachtungsreihen be—
zieht ſich auf den Winterweizen und wurde
aus demſpeziellen Geſichtspunkt unternom—
men, feſtzuſtellen, welche Wirkung das faſt
ununterbrochene Sonnenlicht des kurzen
ſkandinaviſchen Sommers auf die aus frem—
dem Samen erwachſenen Pflanzen ausübt.
Die Experimente wurden mit Samenproben
von Beſſarabien und Ohio angeſtellt und in
beiden Fällen wurde bemerkt, daß die Ori—
ginalfarbe der Körner ſchrittweiſe jedes
Jahr eine ſeit dem erſten Jahr bemerk—
bare reichere und dunklere Färbung an—
nahmen, bis ſie endlich zu der gelbbrau—
nen Färbung des heimiſchen norwegiſchen
Winterweizens angekommen waren. Ahn—
liche Reſultate wurden mit Mais, ver⸗
ſchiedenen Arten von Garten- und Feld—
Gartenpflanzen, wie Sellerie, Perſilie u.f. !
w., erhalten. In keinem Falle hat Dr.
|
141
Schübeler gefunden, daß eine eingeführte
Pflanze, die fähig war, in Norwegen kul—
tivirt zu werden, an Farbenintenſität nach
fortgeſetzter Kultur verlor, während in
Bezug auf manche der gemeinen Garten—
blumen Mitteleuropas, wie er glaubt,
mit Gewißheit behauptet werden kann, daß
ſie nach ihrer Acelimatiſation in Norwe—
gen ſowohl einen Größezuwachs, als eine
Erhöhung der Farbe erlangten. Dieſe ver—
änderten Bedingungen werden um ſo zwin—
gender offenbar, je weiter nach Norden
wir gehen, natürlich in den Grenzen der
Vegetationsfähigkeit der verſchiedenen
Pflanzen. So iſt von Prof. Wahlberg
in Stockholm beobachtet worden, daß Epi-
lobium angustifolium, Lychnis sylve-
stris, Geranium sylvaticum und viele
andere in Lapmarken und den ſüdlicheren
Provinzen Schwedens gemeine Pflanzen
in dem erſteren einen Wuchs und einen
Farbenglanz zeigen, wie er in den letzte—
ren nicht bekannt iſt. Der Wechſel bei
Veronica serpyllifolia und Trientalis eu-
ropaea iſt bemerkenswert, indem die erſtere,
je weiter man nach Norden kommt, aus
einem blaſſen in ein dunkles Blau über-
geht, und die letztern von weiß in Roſen—
farbe. Es iſt bemerkenswert, daß ein ro—
ter Ton für die Vegetation der ſkandina—
viſchen Hochebenen (Fjelds) im allgemeinen
charakteriſtiſch iſt, und zwar gleicherweiſe
bemerkbar in den blauen, gelben, grünen
und weißen Färbungen.
Die Farbe iſt indeſſen nicht die all—
einige, durch das ununterbrochene Tages—
licht des ſkandinaviſchen Sommers beein—
flußte Eigenſchaft der Pflanzen, denn nach
Erbſen ſowie Bohnen und gewiſſen andern
Prof. Schübeler iſt das Aroma aller
wilden und dort kultivirbaren Früchte viel
größer, als dasjenige derſelben Früchte,
wenn fie in ſüdlicheren Ländern gewach—
ſen ſind.
bei Erdbeeren, Kirſchen und den verſchie—
denen Arten von wilden Sumpf- und Wald—
beeren. In Bekräftigung dieſer Erfahrung
hat Prof. Flückiger in Straßburg ge⸗
funden, daß der norwegiſche Wacholder
eine viel höhere Ausbeute von ätheri—
ſchem Ol giebt, als aus dem in Zentral-
europa gewachſenen Strauch erhalten wer—
den kann. Dieſer Überſchuß an Aroma
iſt in den nördlichen Pflanzen und Früch—
ten mit einem niedrigeren Süßigkeitsgrade
vergeſellſchaftet. So ermangeln die gemeine
Goldtropfenpflaume (golden-drop-plum*)
und die Mirabelle (greengage) von Chri-
ſtiania oder Drontheim, obwohl ſie groß,
wohlgefärbt und aromareich ſind, ſo ſehr
der Süßigkeit, daß ſie denen, welche dieſe
Früchte in Frankreich oder Süddeutſchland
gegeſſen haben, unreif erſcheinen.
Dr. Edmund Göze, welcher lange in
Coimbra gewohnt hat, teilte Dr. Schübe—
ler mit, daß ſeine Beobachtungen über die
Früchte Portugals ihn in den Stand ſetzten,
feine (Schübelers) Anſicht über die ver—
ſchiedenen Bedingungen, von denen das
Verhältnis von Aroma und Süßigkeit ab—
hängig iſt, zu bekräftigen. Die in großer
Zahl unweit Coimbra wachſenden Erdbee—
ren ſind, wie er ſagt, groß, äußerſt ſüß,
ermangeln aber im übrigen beinahe gänz—
lich des Aromas und Geſchmacks. Die—
ſelbe Bemerkung paßt auf die portugieſi—
ſchen Weine, wenn man ſie mit den höchſt
geſchmackreichen Erzeugniſſen der rheini—
ſchen und anderer nördlicher Weinberge
vergleicht, und eine Erwägung dieſer ver—
*) Anm. d. Red. Es kommt hier wohl
auf die Sorten ſpeziell nicht an. Als Coés golden
drop finde ich die im Deutſchen „Violette Jeru—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ſchiedenen Bedingungen veranlaßt ihn, als
Dies iſt beſonders bemerkbar
eine feſtgeſtellte Thatſache anzunehmen, daß
Licht in demſelben Verhältnis zum Aroma
ſteht, wie die Wärme zur Süßigkeit.
Dieſer mit Geſchmacksſteigerung ver—
bundene Zuwachs an Aroma, wie er von
der ununterbrochenen Wirkung des Son—
nenlichts hervorgebracht wird, hat die Fol—
ge, einige unſerer höchſt ſchmackhaften Gar—
tengewächſe in Skandinavien faſt unge—
nießbar zu machen. So hat Dr. Schübe—
ler gefunden, daß die gemeine weiße Stock—
ſellerie, welche nahe bei Chriſtiania mit
ſorgfältiger Beobachtung der in England
befolgten Methode gezogen wurde, und
welche im äußern Anſehen nicht von der
auf den Covent-Garden-Markt gebrachten
unterſchieden werden konnte, im Vergleich
mit den milderen, angenehm ſchmeckenden
engliſchen Gewächſen einen ſcharfen, uner—
freulichen Geſchmack beſaß. Daſſelbe gilt
vom Knoblauch, Schalotten und Zwiebeln,
und dieſe Wahrnehmungen werden nicht
allein durch die ſeit dreißig Jahren fortge—
ſetzten Beobachtungen Schübelers, ſon—
dern auch durch die übereinſtimmenden
Zeugniſſe verſchiedener ſeiner Kollegen be—
ſtätigt, die gleich ihm praktiſche Verſuche
mit der Acclimatiſation fremder Gewächſe
in Norwegen machten. Von dieſem Ge—
ſichtspunkt ſind einige Beobachtungen Dr.
Schübelers von ſpeziellerem Intereſſe,
und bei der gegenwärtig niedrigen Stufe
der induſtriellen Entwicklung Norwegens
würde ihre praktiſche Verwendung höchſt
wichtig ſein. So zeigt er, daß während in
Holland, Deutſchland und Mittelrußland
Leinöl im Verhältnis von 3—4 % vom
ſalemspflaume“ genannte Zwetſche bezeichnet; un—
ter greengage wird andrerſeits in England auch
die Reine-Claude verftanden.
—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Gewicht der Pflanzen, aus denen man es
erhält, genommen wird, unkultivirte nor—
wegiſche Pflanzen im Ertrage zwiſchen 4
und 8 % variirten. Ferner überzeugten
ihn ſeine Experimente über den Ertrag
an ätheriſchem Lavendelöl, daß in Chri—
ſtiania oder Drontheim gewachſene Pflan—
zen, verglichen mit denen von Merton, die
bisher als die vorzüglichſten in der Welt
galten, dieſe bei weitem an Aroma über—
trafen, und er iſt der Anſicht, daß die Kul-
teſten und klarſten Nächten und blieben
tur dieſer Pflanze in den norwegiſchen Kü—
ſtenländern mit zweifelloſem Erfolge ein—
geführt werden könnte.
Während Dr. Schübeler nicht zögert,
zu behaupten, daß Licht Aroma erzeuge,
wie die Wärme Süßigkeit hervorbringt,
iſt er nicht im Stande geweſen, feſtzuſtel—
len, welchen Einfluß beide auf die Erzeu—
gung vegetabiliſcher Alkaloide haben. In
Verbindung Mit feinen eigenen Beobach—
tungen berichtet er einige merkwürdige Ein—
zelnheiten, die Wirkung des ununterbroche—
nen Sonnenſcheins auf die Pflanzen be—
treffend, welche er von intelligenten Be—
wohnern erhalten hat, die unter ſeiner
Anleitung gewiſſe Experimente ausgeführt
haben. So wurde ſowohl zu Alten in Weſt—
Finnmarken, als zu Stamſund auf den
Lofoten beobachtet, daß Pflanzen von Aca-
cia lophanta ihre Blätter während zweier
Monate oder länger, ſo lange die Sonne
über dem Horizont blieb, niemals zuſam—
menlegten. Zu Alten wurde ein Verſuch
angeſtellt, bei welchem die Hälfte der Krone
einer Akazie während der Nacht beſchattet
wurde, und das Ergebnis war, daß nach
ungefähr zwanzig Minuten die beſchatteten
Blätter ſich zuſammenzulegen begannen und
geſchloſſen blieben, bis die Pflanze wieder
Er der Mitternachtsſonne ausge—
|
143
ſetzt wurde, worauf nach einiger Zeit die
Blätter ſich wieder langſam zu entfalten
begannen. Zu Stamſund wurde beobach—
tet, daß, wenn die Akazien auf der Nord—
ſeite eines Hauſes aufgeſtellt wurden, wel—
che teilweiſe durch ein benachbartes Fjeld
beſchattet wurde, die Blättchen ſich auf—
wärts wendeten, ohne ſich indeſſen völlig
zu ſchließen und dasſelbe wurde bei Re—
genwetter beobachtet. Die Blätter von
Mimosa pudica ſchloſſen ſich in den lich—
für einige Stunden zurückgefaltet.
Ohne die weiteren Details von Dr.
Schübelers zahlreichen Experimenten
aufzuzählen, wollen wir ihre Reſultate
im folgenden kurz zuſammenfaſſen:
1. Der Weizen, welcher in niedriger
liegenden Ländereien gewachſen iſt, kann
mit Erfolg auf den Hochebenen (Fields)
kultivirt werden, und kommt auf ſolchen
Höhen trotz der niedrigen Mittel-Tempe—
ratur ſogar früher zu Reife. Solches Ge—
treide, welches ſeit mehreren Jahren auf
der höchſten Ortlichkeit, die fein Gedeihen
noch zuließ, kultivirt worden war, wurde,
wenn es an feinen urſprünglichen Stand—
ort zurückverſetzt worden war, früher rei—
fend gefunden, als die andern unbewegt
gebliebenen Sorten. Dasſelbe Reſultat iſt
bemerkbar bei Getreide, welches von einem
ſüdlichen nach einem nördlicheren Stand—
orte und zurück verpflanzt worden war.
2. Von einer ſüdlichen Lokalität ein—
geführte Sämereien, nehmen in den mit
ihrem Gedeihen verträglichen Grenzen an
Größe und Gewicht zu, und dieſe ſelben
Samen nehmen, nach ihrer mehr ſüdlichen
Heimat zurückgebracht, wieder bis zu ihren
früheren Dimenſionen ab. Ein ähnlicher
Wechſel iſt bei den Blättern und Knospen
Le
144
verſchiedener Baumarten und anderer
Pflanzen bemerkbar. Ferner wurde ge—
funden, daß Pflanzen, die in nördlicher
Lokalität gezogen waren, ſowohl härter
als größer wurden, als die im Süden
gezogenen, und überdies fähiger, heftigen
Kältegraden zu widerſtehen.
3. Je weiter wir — in gewiſſen be—
ſtimmten Grenzen — nach Norden gehen,
um ſo energiſcher iſt die Entwicklung der
Farbſtoffe in Blumen, Blättern und Sa—
men. Gleicherweiſe wird das Aroma oder
der Geſchmack verſchiedener Pflanzen oder
Samen an Intenſität vermehrt, und die
Menge der zuckerartigen Subſtanz in dem
Verhältnis vermindert, je weiter nach Nor—
den (in den Grenzen ihrer Kultivirungs—
Aber die Phäodarien, eine neue
Gruppe kieſelſchaliger mariner
Ahizopoden.
In der Sitzung vom 12. Dez. 1879
der Jenaiſchen Geſellſchaft für Medizin
und Naturwiſſenſchaft hielt Prof. Haeckel
den nachſtehenden Vortrag, den wir als
Ergänzung ſeiner in dieſen Blättern zuerſt
erſchienenen Arbeit über das Protiſten—
reich“) vollſtändig aus den Sitzungs—
berichten dieſer Geſellſchaft mitteilen:
Die Phäodarien bilden eine formen—
reiche und in mehrfacher Beziehung ſehr
ausgezeichnete Gruppe von großen mari—
nen Rhizopoden, die zwar vorläufig am
beſten nach den Radiolarien angeſchloſſen
werden, aber von den typiſchen Radiola—
rien (Sphärideen, Diseideen, Cyrtideen,
Cricoideen ꝛc.) nicht weniger abweichen als
die Acanthometren. Bisher waren von
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
den Phäodarien nur ſehr wenige Formen
bekannt, welche ſämmtlich zuerſt von mir
1859 in Meſſina beobachtet und in mei—
ner Monographie der Radiolarien 1862
als Vertreter von drei. verſchiedenen Fa—
milien beſchrieben wurden, nämlich
1. Aulacanthida (Genus: Aula-
cantha).
2. Aulosphaerida (Genus: Aulo-
sphaera).
3. Coelodendrida (Genus: Coe—
lodendrum).
Außerdem hatte ich daſelbſt noch zwei an-
dere, hierher gehörige Formen beſchrieben,
nämlich Thalassoplancta, welche ich zu den
Thalaſſoſphäriden, und Dietyocha, welche
ich zu den Acanthodesmiden geſtellt hatte.
Ein ganz neues Licht wird auf dieſe
intereſſanten Rhizopoden durch die Entdeck—
ungen der Challenger-Expedition gewor—
fen, welche auch von den typiſchen Radio—
larien eine ſolche Fülle neuer Formen aus
den Abgründen des pacifiſchen Ozeans zu
Tage gefördert hat, daß ich jetzt bereits
über zweitauſend neue Arten zu unterſchei—
den im Stande geweſen bin. Außer die—
ſen haben die Tiefſeeforſchungen des „Chal—
lenger“ auch eine Menge neuer, bisher
völlig unbekannter Tiefſee-Phäodarien
ans Licht gefördert, während deren An—
zahl in den von mir unterſuchten pela—
giſchen Oberflächen-Präparaten der Chal—
lenger-Sammlung weniger beträchtlich iſt.
Über einige der eigentümlichſten Formen
von dieſen neuen Tiefſee-Phäodarien hat
bereits John Murray 1876 einen kur—
zen Bericht abgeſtattet und dieſelben mit
dem Namen Challengeridae belegt.“) Der-
ſelbe hebt als charakteriſtiſch hervor einer—
=) Proceed. of the Royal Soc. 1876,
Vol. 24, p. 471, 535, 556, Pl. 24, Fig. 1—6..
%) Kosmos, Bd. III, S. 10, 105 u. 215.
—
1
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ſeits die äußerſt zierliche und feingefen-
ſterte Gitterſtruktur ihrer großen, auffal—
lend geformten Kieſelſchalen, andererſeits
die konſtante Anweſenheit von großen,
ſchwarzbraunen Pigmentmaſſen, welche
außerhalb der Zentralkapſel in der Sar—
kode zerſtreut ſind.
In der neuen Anordnung der Radio—
larien, welche ich 1878 in meiner Schrift
über „das Protiſtenreich“ gab, hatte ich
die vorher erwähnten, mit hohlen Kieſel—
rohren ausgeſtatteten Phäodarien als eine
beſondere Ordnung der Radiolarien unter
dem Namen Pansolenia zuſammengefaßt:
„Skelett beſteht aus einzelnen hohlen Röh—
ren, welche bald locker zerſtreut, bald in
radialer, bald in konzentriſcher Anordnung
verbunden find.” “)
Dieſelbe Gruppe wurde 1879 von
Richard Hertwig in ſeinem Werke über
den „Organismus der Radiolarien“ als
beſondere Ordnung dieſer Klaſſe unter der
Bezeichnung Tripyleae aufgeführt mit fol=
gender Charakteriſtik: „Monozoe einker—
nige Radiolarien; Kapſelmembran doppelt,
mit einer Hauptöffnung und zwei Neben—
öffnungen; Skelett kieſelig, von Röhren
gebildet.‘ **)
Weder die von Hertwig vorgeſchla—
gene Benennung Tripyleae, noch meine
frühere Bezeichnung Pansoleniae ſind auf
alle die Rhizopoden anwendbar, welche ich
gegenwärtig in der Gruppe der Phaeoda-
riae zuſammenfaſſe. Denn nur ein Teil
derſelben beſitzt in der doppelten Membran
der Zentralkapſel die drei Offnungen, wel—
che für alle „Tripyleae“ charakteriſtiſch fein
ſollten; und nur bei einem Teile derſelben
wird das Kieſelſkelett durch „hohle Röh—
8 *) Protiſtenreich, S. 102.
8 J. C. p. 133, p. 87.
145
ren“ gebildet („Pansoleniae“). Dagegen
beruht ein eigentümlicher und auffallender
Charakter aller dieſer Rhizopoden, wie
zuerſt von Murray!) hervorgehoben
wurde, auf der beſtändigen Anweſenheit
großer, dunkelbrauner Pigmentkörner, wel—
che exzentriſch außen um die Zentralkapſel
gelagert ſind und einen großen Teil ihrer
Oberfläche bedecken. Der Kürze halber
will ich dieſen extrakapſularen, dunkeln Pig-
menthaufen als das Phäodium bezeichnen
(So oder ꝙνͤ,ne — dunkel, braun,
dämmerig). Allerdings ſind die Phäodel—
len oder die großen, braunen Körner des
Phäodiums nicht echte Pigmentzellen, wie
Murray“) damals angab; denn ein ech—
ter Zellkern iſt in denſelben nicht nachzu—
weiſen. Auch iſt die Natur des eigentüm—
lichen Pigments dieſer Pſeudozellen noch
nicht näher bekannt. Allein die anſehnliche
Quantität und die auffallende Konſtanz,
in welcher das Phäodium bei allen Phäo—
darien ſich findet, während es allen typi—
ſchen Radiolarien fehlt, verleiht ihm ge—
wiß einen hohen Grad von ſyſtematiſcher
Bedeutung. Zur Zeit ſcheinen mir die be—
ſtändige Anweſenheit des exrzentrifchen
Phäodiums und die eigentümlich gebaute
doppelte Membran der Zentralkapſel die
einzigen ſyſtematiſch verwertbaren Merk—
male zu ſein, welche alle Phäodarien von
allen übrigen Radiolarien trennen.
Die Größe der Phäodarien tft meiſtens
ſehr anſehnlich im Verhältniſſe zu den übri—
gen Radiolarien, deren Durſchnittsmaß ſie
bedeutend übertreffen. Die meiſten Phäo—
darien ſind mit bloßem Auge ſichtbar und
viele erreichen 1, —Imm Durchmeſſer und
darüber. Die anſehnliche Zentralkapſel iſt
meiſtens kugelig oder ſphäroidal, oft aber
9 1876, 1. c. p. 536. — **) J. c. p. 536.
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Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2.
19
146
auch eiförmig oder länglichrund; in vielen
Fällen monaxon, in anderen dipleuriſch.
Ihre Membran iſt ſehr feſt und ſtets dop—
pelt, die äußere ſehr dick, die innere dünn.
Die Offnung derſelben, durch welche die
Pſeudopodien austreten, iſt von ſehr eigen—
tümlicher Struktur, welche R. Hertwig*)
genau beſchrieben hat. Viele Phäodarien
haben nur eine ſolche Offnung („Monopy-
leae“), andere deren zwei, an entgegenge—
ſetzten Polen der Zentralkapſel („Amphi-
pyleae“); ſehr viele, vielleicht die meiſten,
haben drei Öffnungen, eine größere Haupt—
öffnung und zwei kleinere Nebenöffnungen
(„Tripyleae“); noch andere endlich haben
eine größere Anzahl von Offnungen, welche
regelmäßig oder unregelmäßig verteilt ſind
(„Sporopyleae“). Trotz dieſer eigentümli—
chen Struktur und trotz der anſehnlichen
Größe hat dennoch die Zentralkapſel aller
Phäodarien nur den Formwert einer einzi—
gen, einfachen Zelle. Das beweiſt das mi—
krochemiſche Verhalten ihres Protoplasma—
Inhalts und des davon umſchloſſenen Kerns.
Dieſer Zellkern (von mir 1862 als „Bin—
nenbläschen“ beſchrieben) iſt bläschenför—
mig und von ſehr anſehnlicher Größe, in—
dem ſein Durchmeſſer meiſtens über die
Hälfte, oft ?/, oder / von demjenigen der
Zentralkapſel beträgt. Bald umſchließt er
einen großen Nukleolus, bald mehrere.
Der extrakapſulare Weichkörper iſt bei
allen Phäodarien durch zwei charakteriſti—
ſche Eigentümlichkeiten ausgezeichnet; er—
ſtens durch die beträchtliche Quantität der
extrakapſularen Sarkode, welche viel vo—
luminöſer iſt als die intrakapſulare; und
zweitens durch die darin angehäuften Phä—
odellen oder „dunkeln Pigmentkörner“. Die
Farbe derſelben iſt meiſt dunkelbraun, oft
*) 1878, 1. c.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
auch grünlich oder dunkelgrün. Der Mutter-
boden der Pſeudopodien iſt ſehr mächtig
und von einer voluminöſen, oft von Va—
kuolen durchſetzten Gallerte eingeſchloſſen,
durch welche die ausſtrahlenden Pſeudo—
podien hindurchtreten. Die Phäodellen oder
die eigentümlichen Pigmentkörner, welche
das mächtige Phäodium zuſammenſetzen,
ſind von ſehr verſchiedener Form und Größe,
ebenſo wie das exzentriſche Phäodium ſelbſt.
Bald hüllt letzteres den größten Teil der
Kapſel, bald nur eine Seite derſelben ein.
Die extrakapſularen gelben Zellen, welche
bei den typiſchen Radiolarien allgemein
verbreitet ſind, fehlen den Phäodarien all—
gemein.
Das Kieſelſkelett iſt bei den Phäoda—
rien ſtets extrakapſular und ebenfalls von
ſehr eigentümlicher Form und Zuſammen—
ſetzung. Obwohl die einzelnen Hauptfor—
men dieſer Gruppe im ganzen entſprechende
Vertreter unter den typiſchen Radiolarien
haben, ſind ſie doch meiſtens leicht von
dieſen zu unterſcheiden. Nur bei einer klei—
nen Abteilung (welche den nackten Thalaſſi—
kollen entſpricht) fehlt das Kieſelſkelett ganz
(Phaeodinidae). Alle anderen Phäodarien
haben ein eigentümliches Kieſelſkelett, nach
deſſen Bildung ich im ganzen in dieſer Le—
gion 4 Ordnungen und 10 Familien un—
terſcheide:
I. Ordnung: Phaeoeystia: Kieſel—
ſkelett fehlt entweder ganz oder beſteht aus
hohlen Nadeln, welche außerhalb der Zen—
tralkapſel bald zerſtreut, bald regelmäßig
angeordnet ſind.
1. Familie: Phaeodinidae: Kieſelſke—
lett fehlt ganz. Genera: Phaeodina, Phae-
ocolla.
2. Familie: Cannorhaphidae: Kiefel-
ſkelett beſteht aus zahlreichen einzelnen, hoh—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
len Nadeln (Cavispicula) oder hohlen Git- |
terſtückchen (Caviretula), welche rings in
der Peripherie des extrakapſularen Weich—
körpers zerſtreut, meiſtens tangential ge—
lagert ſind. Genera: Cannorhaphis, Tha-
lassoplancta, Dictyocha.
3. Familie: Aulacanthidae: Kiefel-
ſkelett beſteht aus hohlen Radialſtacheln,
welche rings von der Oberfläche der Zen—
tralkapſel ausgehen und die extrakapſulare
Gallerte durchſetzen. Die Oberfläche der
letzteren iſt gewöhnlich mit einem dichten
Mantel von feinen, hohlen Kieſelnadeln
bedeckt, welche tangential gelagert und mit
einander verfilzt find. Genera: Aulacan-
tha, Aulancora, Aulographium.
II. Ordnung. Phaeogromia: Kie⸗
ſelſkelett beſteht aus einer einzigen Gitter—
ſchale, welche bald kugelig, bald eiförmig
oder verſchieden geſtaltet, oft dipleuriſch,
ſtets aber mit einer großen Hauptöffnung
oder Mündung verſehen iſt (ſeltener mit
mehreren ſolchen Mündungen). Oft finden
ſich hohle Stacheln und an deren Baſis
eigentümliche Porenfelder.
4. Familie: Challengeridae: Kieſel⸗
ſkelett beſteht aus einer einaxigen oder di—
pleuriſchen, oft bilateral zuſammengedrück—
ten und gekielten Gitterſchale, welche meiſt
eiförmig oder länglich rund, und an einem
Pole der Axe mit einer weiten Mündung
verſehen iſt. Dieſe Mündung iſt ſelten ein—
fach, meiſt mit einem hohlen Zahn be—
waffnet oder in eine oder mehrere, oft
veräſtelte hohle Röhren fortgeſetzt. Die
Gitterſtruktur der Kieſelſchale gleicht meiſt
derjenigen der Diatomeen; in jedem ſechs—
eckigen Feldchen findet ſich ein feiner Po—
rus.“) Genera: Challengeria, Tuscarora,
*) Vgl. Murray, 1876, 1. c. Taf. 24,
Fig. 1, 2, 4.
147
Gazelletta, Porcupinia, Entocannula,
Lithogromia.
5. Familie: Castanellidae: Kieſelſkelett
beſteht aus einer einfachen kugeligen Git—
terſchale, welche an einer Stelle ihrer Ober—
fläche eine weite (oft mit beſonderen Fort—
ſätzen umgebene) Mündung beſitzt. Mei—
ſtens iſt die Gitterſchale mit ſoliden oder
hohlen Stacheln bedeckt. Genera: Casta-
nella, Castanidium, Castanissa, Casta-
nopsis, Castanura.
6. Familie: Circoporidaè: Kieſelſkelett
beſteht aus einer ſubſphäriſchen oder po—
lyedriſchen Kieſelſchale, von der nach ver—
ſchiedenen Richtungen hohle, radiale Röh—
ren (einfach oder veräſtelt, oft mit Wimper—
quirlen beſetzt), ausſtrahlen, und welche
eine große Mündung, ſowie zerſtreute Po—
renfelder beſitzt. Die Poren bilden mei—
ſtens Kränze um die Baſis der Stacheln.“
Genera: Circoporus, Circospathis, Circo-
stephanus, Porostephanus, Porospathis.
III. Ordnung: Phaeosphaeria:
Kieſelſkelett beſteht aus zahlreichen hohlen
Röhren, welche in eigentümlicher Weiſe zu
einem großen, meiſt kugeligen oder poly—
edriſchen Gitterkörper verbunden ſind.
7. Familie: Aulosphaeridae: Kiefel-
ſchale einer Gitterkugel oder ein polyedri—
ſcher Gitterkörper, deſſen einzelne Gitter—
balken hohle Röhren find. Von den Knoten—
punkten des Gitterwerkes ſtrahlen gewöhn—
lich hohle Stacheln aus.““) Genera: Au-
losphaera, Aulodictyum, Auloplegma.
8. Familie: Cannosphaeridae: Kieſel—
ſkelett beſteht aus einer einaxigen, kugeligen
oder eiförmigen, einfachen Markſchale, wel—
*) Vgl. Murray, 1876, 1. c. Taf. 24,
Fig. 5, 6.
) Vgl. Haeckel, Monogr. der Radiol.,
1862, S. 357, Taf. X, XI.
148
che durch hohle Radialſtäbe mit einer zuſam—
mengeſetzten äußeren Rindenſchale verbun—
den iſt; letztere beſteht aus hohlen Röhren,
welche eine weitmaſchige Gitterkugel zuſam—
menſetzen, und von den Knotenpunkten der
letzteren gehen einfache und veräſtelte hohle
Radialſtacheln aus.“) Genera: Canna-
cantha, Cannosphaera, Coelacantha.
IV. Ordnung: Phaeoconchia: Kie—
ſelſkelett beſteht aus zwei getrennten, gegit—
terten Klappen, gleich einer Muſchelſchale;
oft ſitzen auf dem Scheitel beider Klappen
einfache oder veräſtelte hohle Röhren.
9. Familie: Concharida: Kieſelſkelett
beſteht aus zwei halbkugeligen oder linſen—
förmigen, mit der Konkavität einander zu—
gekehrten Gitterſchalen, deren Ränder ge—
wöhnlich mit einer Zahnreihe beſetzt ſind.
Die Zähne greifen gleich den Schloßzähnen
einer Muſchelſchale ineinander.“) Genera:
Concharium, Conchopsis, Conchidium,
Conchoceras.
10. Familie: Coelodendridae: Kieſel—
ſkelett beſteht aus zwei halbkugeligen oder
linſenförmigen, mit der Konkavität einan-
der zugekehrten Gitterſchalen. Von den
beiden entgegengeſetzten Polen der Haupt—
axe (oder von den Scheitel-Mittelpunkten
der Halbkugeln) gehen einfache oder baum—
förmig verzweigte hohle Stacheln ab.““)
Genera: Coelodendrum, Coelothamnus,
Coelodrymus, Coelothauma.
Wenn man die Organiſation aller vor—
ſtehend angeführten Phäodarien verglei—
chend überblickt, ſo läßt ſich der Charakter
dieſer Rhizopodengruppe folgendermaßen
definiren.
) Vgl. Hertwig, Le. 1879. p. 91, Taf. IX.
**) Vgl. Murray, 1876, J. c. Pl. 24, Fig. 3.
Fr), Vgl. Haeckel, Monogr. d. Rad., 1862,
S. 360, Taf. XIII, Fig. 1—4; Taf. XXXL,
Fig. 1—3.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Die Phäodarien ſind einzellige Rhizo—
poden, deren großer Zellenleib (oder die
Zentralkapſel) einen mächtigen Nucleus
(oder Binnenbläschen) einſchließt. Die Zell—
membran iſt ſtets doppelt, von einer oder
mehreren großen Offnungen durchbrochen,
durch welche das intrakapſulare Protoplas—
ma mit dem viel voluminöſeren extrakap—
ſularen kommunizirt. In letzterem liegt
exzentriſch das Phäodium, eine eigentüm—
liche, mächtige Anhäufung von dunkeln
Pigmentkörnern (oder Phäodellen). Die—
ſer ganze Körper iſt umſchloſſen von einer
dicken, oft mit Vakuolen erfüllten Gallert—
hülle, welche die zahlreichen Pſeudopodien
radial durchſetzen, um über ihre Oberfläche
frei auszuſtrahlen. Mit ſehr wenigen Aus—
nahmen (Phäodiniden) findet ſich allgemein
ein ſehr entwickeltes, ſtets extrakapſulares
Kieſelſkelett, welches gleich den verſchiede—
denen Gruppen der typiſchen Radiolarien
ſehr mannigfaltige, oft höchſt zierliche und
vielfach zuſammengeſetzte Formen bildet,
meiſt ausſtrahlend in hohle Kieſelröhren.
Die Vutzfüße der Kruſter.
Wie ſelbſt bei nahe verwandten Tieren
die verſchiedenſten Teile zu demſelben Dien—
ſte herangezogen werden können, dafür giebt
die Reinigung der Kiemenhöhle bei Krab—
ben und Krebſen ein hübſches Beiſpiel. Die
Kiemen dieſer Tiere ſitzen am Grunde der
Füße oder über ihnen an den Seiten des
Leibes. Über ſie her wölbt ſich von oben,
ſie vollſtändig deckend und jederſeits eine
geräumige Kiemenhöhle bildend, der Pan—
zer der Kopfbruſt. Ein beſtändiger Waſ—
ſerſtrom durch die Kiemenhöhle wird un—
terhalten durch das Spiel einer großen,
r
muskelreichen Platte, die außen dem hin—
teren Kiefer anſitzt. Bei den Langſchwän—
zen (Garneelen, Flußkrebs, Hummer) bleibt
ein langer Spalt offen längs des unteren
Randes des Panzers, und durch dieſen tritt
Die Süßwaſſergarneelen der Gattung
Palaemon benutzen zur Reinigung des Lei—
bes und namentlich auch der Kiemenhöhle
das vorderſte Fußpaar. Während das
zweite Fußpaar bei manchen Arten kräf—
tige Scheeren trägt, und bei alten Männ-
chen bisweilen den Körper weit an Länge
übertrifft, iſt das erſte zart und ſchlank
und ſeine kleinen Scheeren kaum als
Waffe zu Angriff oder Verteidigung zu be—
nutzen; ſeine Gelenke geſtatten meiſt der
Bewegung der einzelnen Glieder einen wei—
ten Spielraum und namentlich iſt die Hand
ſo frei eingelenkt, daß ſie ſich nach allen
Seiten biegen kann. Am Anfang der Hand
ſtehen mehrere Gruppen kurzer, gekrümm—
ter, am inneren Rande kammförmig ge—
zähnter Borſten (Fig. 2 a, Fig. 3). Die
Außenſeite beider Finger trägt mehrere
Büſchel langer, gerader, ſteifer Borſten, die
mit kurzen, ſpitzen Dörnchen fiedrig beſetzt
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
7
149
der Atemſtrom ein und zu den Seiten des
Mundes wieder aus. Wie mit dem Atem—
| ſtrome etwa eindringende fremde Körper
wieder entfernt werden, hat man erſt bei
wenigen dieſer Tiere beobachtet.
„ %
Fig. 1. Vorderfuß eines Palaemon aus dem Itajahy, 5 mal vergrößert. Fig. 2. Scheere oder
Hand dieſes Fußes, ſtärker vergrößert. Fig. 3. Eine der Borſten a; Fig. 4. eine der Borſten b,
noch ſtärker vergrößert.
| find (Fig. 2 b, Fig. 4) und der geſchloſſe—
nen Hand ein bürſtenartiges Ausſehen ge—
ben. Endlich ſind die einander zugewand—
ten Innenränder der Finger mit je einer
Reihe weitläufig ſtehender, ſchief nach der
Spitze der Finger gerichteter Zähne be—
ſetzt, welche zwei ineinander greifende Käm—
me bilden. Schon dieſe Ausrüſtung mit
Bürſten und Kämmen würde wie die große
Beweglichkeit der vorderen Scheerenfüße
ſchließen laſſen, daß dieſelben als Putz—
füße dienen, und die Beobachtung lebender
Tiere beſtätigt es. Man ſieht dieſe zarten,
beweglichen Gliedmaßen überall am Leibe
und namentlich auch in der Kiemenhöhle
herumtaſten, bürſten oder auch mit der Hand
zufaſſen, um Schmutzteilchen zu entfernen.
Übrigens ſind die vorderen Scheerenfüße
nicht ausſchließlich Putzfüße; ſchon bei der
Arbeit des Putzens bemerkt man nicht ſel—
ten, daß ſie dieſes oder jenes, was ſie da—
150
bei erwischt, zum Munde führen, und es
ſind die Scheeren dieſer Füße, welche von
den Leichen größerer Tiere kleine Fleiſch—
ſtückchen abzupfen und in den Mund ſchie—
ben. Außerdem haben ſie, nach Henſens
ſchöner Beobachtung, noch ein drittes wich—
tiges Amt zu verſehen. Im Grundgliede
der vorderen Fühler hat Palaemon, wie
viele andere Garneelen, eine nach oben
mit einem Schlitz geöffnete Höhle, deren
Wand Hörhaare trägt, und in der man als
Hörſteine ein Häufchen feinen Sandes fin—
det. Bei jeder Häutung geht mit der in—
neren Haut der Ohrhöhle auch der Hör—
ſand verloren, aber ſofort leſen die kleinen
Scheeren neue Sandkörnchen auf und ſtek—
ken ſie ins Ohr, um den Verluſt zu erſetzen.
Henſen ließ einen Palaemon der Oſtſee
in einem Glaſe mit filtrirtem Salzwaſſer
ſich häuten, deſſen Boden mit Kriſtallen
von Harnſäure bedeckt war; ſchon nach drei
Stunden hatte das friſchgehäutete Tier
eine große Menge Harnſäurekriſtalle in
beiden Ohrhöhlen. Es ſind dieſe Garneelen
(und einige andere Langſchwänze) wohl
die einzigen Tiere, die ihre Sinne durch
äußere Hülfsmittel ſchärfen, indem ſie, wie
wir aus Quarz Brillen ſchleifen, ſo aus
Quarzkörnchen ſich ein Mikrophon kon—
ſtruiren. Kein Wunder, daß Farres Ent—
deckung dieſer Thatſache anfangs wenig
Glauben fand. Doch zurück von dieſer Ab—
ſchweifung.
Bei anderen Garneelen, z. B. Alpheus
und Hippolyte, haben die beiden Scheeren—
fußpaare ihre Rolle vertauſcht. Das erſte
iſt bei weitem ſtärker und trägt oft zu
Schutz und Trutz überaus kräftige Schee—
ren; das zweite iſt dünn, ſchmächtig, mit
nur kleiner Scheere verſehen, und ſeine
Beweglichkeit iſt dadurch geſteigert, daß
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
der Unterarm in eine Reihe kleinerer Glie—
der zerfallen iſt. Als ich am Meere wohnte,
habe ich verſäumt, mir die lebenden Tiere
darauf anzuſehen, aber ich zweifle nicht,
daß bei ihnen das zweite Scheerenfußpaar
die Reinigung der Kiemenhöhle beſorgt.
Statt des erſten oder zweiten iſt bei
manchen Krebſen das letzte (fünfte) Fuß—
paar in Putzfüße verwandelt und ſcheint
dann keine weitern Dienſte zu leiſten. So
bei den Einſiedlerkrebſen, den Porzellan—
krebſen, den Galatheiden, von denen ich
eine im Quellgebiet des Uruguay häufige
Aeglea lebend beobachtete, bei der Tatuira
(Hippa) u. ſ. w. Wie das erſte Fußpaar
von Palaemon haben dieſe Putzfüße, welche
die Beſchreiber in Muſeen aufgeſtapelter
Leichen als verkümmerte, ſcheinbar nutz—
loſe Anhänge zu bezeichnen pflegen, dünne,
ſehr beweglich mit einander verbundene
Glieder, tragen gewöhnlich am Ende eine
kleine Scheere und find mit Bürſten, Käm⸗
men und anderen namenloſen Putzwerk⸗
zeugen reichlich ausgerüſtet. Ich habe ſie
bei allen genannten Tieren in Thätigkeit
geſehen. Sie dienen hauptſächlich zur Rei—
nigung der Kiemenhöhle. Ich wurde zuerſt
auf ihre Bedeutung aufmerkſam bei einer
Porcellana, die als Gaſt bei einem großen
Nöhrenwurm(Chaetopterus) lebt, und wel—
cher wegen des reichlichen Schleimes, den
ihr Wirt abſondert, Reinlichkeit beſonders
not thut. Ein eiertragendes Weibchen die—
ſer Porcellana hielt ich einige Zeit leben—
dig, um die junge Brut zu erhalten;
daſſelbe ließ ſeine durch Länge und Beweg—
lichkeit ausgezeichneten Putzfüße faſt nie
ruhen; bald ſenkte es ſie tief in ſeine Kie—
menhöhle, bald kehrte es ſeinen Rücken ab,
bald fuhr es damit zwiſchen den Eiern
herum, wie ein Bäcker, der Teig knetet.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Beim Flußkrebſe, dem Hummer, den
Languſten (Palinurus) und manchen an—
deren Langſchwänzen ſcheint keins der fünf
151
menhöhle zu beſorgen, und es wäre wohl
der Mühe wert, durch Beobachtung leben—
der Flußkrebſe feſtzuſtellen, ob nicht auch
Fußpaare geeignet, die Reinigung der Kie— ſie eine beſondere Vorrichtung dazu beſitzen.
Kieferfüße einer Bachkrabbe (Trichodactylus), 2 mal vergrößert. — Fig. 5. Vorderer, Fig. 6. mitt-
lerer, Fig. 7. hinterer oder äußerer Kieferfuß; a. äußerer, i. innerer Aſt. fl. Flederwiſch (ap—
pendix flabelliformis) zum Fegen der Kiemenhöhle.
Bei den Krabben legt ſich der untere
Rand des Panzers eng an den Leib an und
es bleibt in der Regel für den Eintritt
des Waſſers in die Kiemenhöhle nur über
dem erſten Fußpaare ein enger Spalt, der
den Füßen unzugänglich iſt. Hier trägt
nun jeder der ſechs Kieferfüße außen an
ſeinem Grunde einen langen, rückwärtsge—
richteten, in die Kiemenhöhle ragenden An—
hang, eine Art Flederwiſch, der die Geſtalt
eines ſchmalen Blattes oder eines Säbels
hat und mit langen Haaren umſäumt iſt.
Der Flederwiſch der vorderen Kieferfüße
liegt nach außen, der der mittleren und
hinteren nach innen von den Kiemen, zwi—
ſchen ihnen und der Wand der Kiemenhöhle
ſich auf und ab bewegend und beide abfe—
gend. Ein Teil der Haare am Rande der
Flederwiſche — bisweilen ſind es nur we—
nige, gewöhnlich wohl die Mehrzahl, bis—
weilen alle — iſt nach dem Ende zu mit
einer Doppelreihe von Zähnen oder Haken
beſetzt, deren Zahl und Geſtalt je nach den
Arten ſo verſchieden iſt, daß ſich aus ihnen
Haare von den in der Kiemenhöhle liegenden Anhängen der Kieferfüße. — Fig. 8. Trichodactylus.
Fig. 9. Gelasimus. Fig. 10. Sesarma. Fig. 11. Lupea. Fig. 12. Hepatus.
0
4
.
152
eine reiche Muſterkarte von Kammformen
zuſammenſtellen läßt. Ich gebe davon eine
kleine Probe.
Mit dieſer Ausrüſtung der Haare iſt
13
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
übrigens die Putzvorrichtung noch nicht
abgeſchloſſen; auch dieſe Haare werden
ihrerſeits wieder ausgekämmt. In der
Mittellinie der Kiemen findet ſich an der
Fig. 13. Kieme einer neugebornen Bachkrabbe (Trichodactylus), 45 mal vergrößert. Dieſe Art
verläßt das Ei als fertige Krabbe, wie es Weſtwood bei einer Landkrabbe (Gecarcinus) gejehen.
Fig. 14. Die vogelkopfähnlichen Gebilde, ſtärker vergrößert. Fig. 15. Eines der Vogelköpfchen
von der Kieme einer erwachſenen Bachkrabbe, 90 mal vergrößert.
der Innenwand der Kiemenhöhle zuge—
wandten Seite eine Reihe vorſpringender
Knöpfchen, deren jedes einen abwärts ge—
richteten, geraden oder leicht gebogenen
Dorn trägt. Das Ganze ſieht aus wie ein
langſchnabliger Vogelkopf. Wenn die Fle—
derwiſche zwiſchen Kiemen und innerer
Wand der Kiemenhöhle auf und ab fegen,
werden die den Haaren etwa anheftenden
Schmutzteilchen durch dieſe Vogelköpfchen
abgeſtreift werden. Bis jetzt kenne ich
dieſe Einrichtung erſt von einer einzigen
Art, doch iſt anzunehmen, daß ſie auch bei
vielen anderen Krabben ſich finde.
Itajahy, 29. Dez. 1879.
Fritz Müller.
Ein Analogon des Beulelknochens
bei höheren Säugern.
In der Sitzung der Royal Society vom
5. Februar 1880 hielt Profeſſor Huxley
einen Vortrag über gewiſſe als Beuteltier—
Erbſchaften verdächtige Muskelbildungen
bei verſchiedenen Raubtieren, aus welchem
wir nach dem Berichte der Nature (Nr. 537,
S. 362) das Folgende entnehmen.
Im Jahre 1871 gab Huxley in ſei—
nem Manual of the Anatomie of Verte-
brated Animals p. 417 folgende kurze
Beſchreibung einer beim Hunde beobach—
teten anatomiſchen Bildung: „Im Mus—
kelſyſtem des Hundes bietet die Inſertion
der Sehne des äußeren ſchiefen Bauchmus—
kels einige intereſſante Eigentümlichkeiten
dar. Die äußern und hintern Faſern die—
ſes Muskels endigen in ein Bündel, wel—
ches ſich als Fascia lata teilweiſe über den
Schenkel fortſetzt, und teilweiſe einen Bo—
gen (Pouperts Ligament) über die Schen—
kelgefäße bildet. Durch ihr inneres Ende
iſt es der Außenſeite eines dreieckigen Fa—
ſerknorpels inſerirt, deſſen breite Baſis an
dem vordern Rande des Schambeins zwi—
ſchen ſeinem Höcker und der Schambein—
fuge befeſtigt iſt, während ſeine Spitze in
der Bauchwand liegt. Die innere Flechſe
des äußern ſchiefen Muskels vereinigt ſich
mit der Flechſe des innern ſchiefen Mus—
kels, um den innern Pfeiler des Bauch—
rings zu bilden und iſt der inneren Seite
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
des dreieckigen Faſerknorpels inſerirt. Der
Kammmuskel (Pectineus) iſt an der Bauch—
ſeite, der äußere Teil der Flechſe des gera—
den Bauchmuskels an der Rückenſeite des
Knorpels befeſtigt; aber der Hauptteil die—
ſer Flechſe iſt dem Schambein dahinter in—
ſerirt. Dieſer Faſerknorpel ſcheint den Beu—
telknochen oder -Knorpel der Kloaken- und
Beuteltiere zu repräſentiren.“
Die einzige Bezugnahme auf dieſe Auf—
ſtellung, welche ich geſehen habe, findet ſich
in Prof. Macaliſters „Introduction to
the Systematic Zoologie and the Mor-
phologie of Vertebrate Animals“ (1878)
p. 265:
Prof. Huxley beſchreibt einen „mar—
ſupialen“ Faſerknorpel über dem Scham—
bein, von deſſen vorderer Oberfläche der
Kammmuskel ausgeht. Ich habe mich ver—
geblich von ſeiner Exiſtenz als einer kon—
ſtanten Bildung bei vielen Hunden, bei
dem gemeinen und bengaliſchen Fuchſe, beim
Dingo, Schakal, Canis pallipes und Wolf
zu überführen geſucht.“
Die Ausdrucksweiſe dieſer Stelle macht
es nicht völlig klar, ob der Verfaſſer die
Bildung in keinem Falle angetroffen hat,
aber nicht in Abrede ſtellen will, daß ſie
gelegentlich bei den von ihm erwähnten
Caniden vorkommen mag, oder ob er ihn
gelegentlich, aber nicht konſtant, bei allen
oder einigen derſelben gefunden hat.
Unter dieſen Umſtänden mag die Ver—
öffentlichung der Thatſache wünſchenswert
ſein, daß ich, als ich kürzlich zu Verglei—
chungszwecken einen männlichen und weib—
lichen Fuchs, und einen männlichen und
weiblichen Hund ſezirte, nicht die geringſte
Schwierigkeit gefunden habe, die Exiſtenz
der 1871 von mir beſchriebenen Bildung
bei allen vieren zu demonſtriren. Und der
153
einzige Ausdruck, welcher in jener Beſchrei—
bung eine Modifikation zu erfordern ſcheint,
iſt die Benennung „Faſerknorpel“. Ich
erinnere mich nicht, ob ich damals die Bil—
dung einer mikroſkopiſchen Unterſuchung
unterwarf oder nicht; aber bei den jüngſt
unterſuchten Stücken enthält die dreieckige
Platte trotz ihrer Feſtigkeit und Dichtig—
keit keine wahren Knorpelzellen, ſondern
iſt gänzlich aus Faſergeweben zuſammen—
geſetzt, welche in der Mitte der Platte
untereinander parallel liegen, während ſie
an den verdickten Enden eng mit einander
verflochten ſind.
Eine Vergleichung dieſer dreieckigen
Faſerplatte beim Fuchs mit den Beutel—
knochen von Phalangista vulpina zeigt,
daß die Faſerplatte des erſteren Tieres ge—
nau dem Baſalteil der Beutelknochen des
letzteren entſpricht. Es mag deshalb als
Epipubis-Ligament bezeichnet und muß als
eine Bildung derſelben Ordnung betrachtet
werden, wie das rudimentäre Schlüſſelbein
und die rudimentäre große Zehe der Ca-
nidae, d. h. als die Überbleibſel eines Or—
gans, welches bei den Ahnenformen jener
Gruppe voll entwickelt war.
Es iſt in Verbindung mit dieſer Deu—
tung der Thatſachen intereſſant zu bemer—
ken, daß bei dem noch lebenden Thylacinus,
der ſo merkwürdige Übereinſtimmungen mit
den Hunden darbietet, das Epipubis-Liga—
ment nicht verknöchert iſt. Da indeſſen die
Canidae ſicherlich ſeit der eozänen Epoche
exiſtirt haben, ſo iſt keine Wahrſcheinlich—
keit für ein direktes genetiſches Band zwi—
ſchen den Hunden und Beutelwölfen vor—
handen. Die lebenden fleiſchfreſſenden
Beuteltiere ſtammen deutlich ſämmtlich von
Ahnenformen ab, die durch den Beſitz einer
daumenähnlichen großen Zehe ausgezeichnet
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2.
20
154
waren, eine Eigentümlichkeit, welche we—
der bei den Hunden, wenn ſie eine große
Zehe beſitzen, noch bei irgend einem an—
dern fleiſchfreſſenden Tier mit fünfzehigem
Hinterfuß repräſentirt iſt. Indeſſen ſind
die frühe Geburt der Jungen und die Ent—
wicklung eines Beutels bei den Weibchen
Beweiſe von der Abſtammung der jetzt le—
benden Beuteltiere von der direkten Linie,
durch welche die Säugetiere von dem Orni—
thodelphen-Typus aus vorgeſchritten ſind.
Daß die Ahnen aller Säugetiere verknö—
cherte oder knorplige Epipuben beſaßen,
iſt, wie mir ſcheint, höchſt wahrſcheinlich,
aber es folgt nicht daraus, daß ſie die
Art und Weiſe der Beuteltiere hatten, die
Jungen zu tragen und zu nähren.
Die Experimente des däniſchen
„Alagneliſeurs“ Hanſen vom enlwick—
lungsgeſchichllichen Standpunkte,
Für denjenigen, der auch den nervöſen
Apparat der Menſchen bei aller ſeiner wun—
derbaren Vollkommenheit für das Produkt
allmählicher Ausbildung betrachtet, müſſen
gewiſſe anormale Zuſtände des Menſchen,
bei denen derſelbe ſeiner höchſten geiſtigen
Fähigkeiten entkleidet erſcheint, beſonders
lehrreich ſein. Dieſe höchſten Fähigkeiten
beruhen in dem, was wir als bewußtes
Denken und Handeln bezeichnen, Fähig—
keiten, welche die Descartesſche Schule
bekanntlich den Tieren ganz abſprach, und
die auch jetzt lebende Pſychologen den Tie—
ren nur in einem ſehr beſchränkten Maße
zugeſtehen wollen.“) Gewiß ſind dieſe Pſy—
chologen im Unrechte, aber ebenſo gewiß
iſt es, daß das Reich der bewußten See—
*) Vgl. Kosmos, Bd. V, S. 238.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
lenthätigkeit beim Tiere ein erheblich ein—
geſchränkteres iſt als beim Menſchen. Nun
treten aber beim Menſchen teils freiwillig,
teils durch gewiſſe Manipulationen begün—
ſtigt, leicht Zuſtände ein, bei denen trotz
ungeſchwächter Thätigkeit der Sinne, das
Bewußtſein auf ein Minimum eingeſchränkt
iſt, in denen der Menſch alſo künſtlich auf
eine tierähnliche Stufe hinabgedrückt er—
ſcheint, und qus denen deshalb, worauf
Ref. wohl zuerſt aufmerkſam gemacht hat,
wahrſcheinlich mancherlei über das Ver—
hältniß von Tier- und Menſchenſeele zu ler—
nen ſein möchte. Es ſind dies die Zuſtände
des ſogenannten „magnetiſchen Schlafes“,
oder, wie man ſie jetzt lieber nennt, des
Hypnotismus.
Niemand hat vielleicht in neuerer Zeit
mehr zur Aufklärung dieſer Körperzuſtände
beigetragen, als der däniſche Magnetiſeur
Hanſen, welcher, ſeit einigen Jahren die
Großſtädte des Kontinents bereiſend, an
vielen Orten die ſcheinbar unerklärlichſten
und wunderbarſten Experimente gezeigt hat.
Seine Art zu experimentiren iſt gewöhnlich
die, daßeraus den fich freiwillig darbietenden
Beſuchern ſeiner Vorſtellungen einige ihm
beſonders geeignet erſcheinende Perſonen,
teils von ſeinem Kennerblick, teils von eini—
gen Vorverſuchen geleitet, auswählt und
mit ihnen ſeine Schauſtellungen beginnt—
Er läßt dieſelben in der Regel zuerſt einige
Zeit auf ein facettirtes, ſtark funkelndes
Stück Glas hinſtarren. Nach dieſer Vor—
bereitung macht er einige Striche über den
Kopf, wie um ſie zu „magnetiſiren“, drückt
ihnen ſodann, leiſe die Wangen ſtreichelnd,
Augen und Mund zu und behauptet, daß
ſie beide ohne ſeine Erlaubnis nicht mehr
öffnen könnten. Er löſcht mit ihrem Wil—
len ihr Gedächtnis aus, verſichert, daß
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ſie ohne ſeinen Willen weder ihren Namen
nennen, noch das Alphabet herſagen könn—
ten; daß ſie zu vollſtändig von feinem Wil-
len abhängigen Maſchinen geworden ſeien.
Demgemäß befiehlt er ihnen zu beten und
den Himmel offen zu ſehen, ſagt ihnen, der
Teppich ſei ein See, auf dem ſie ſchwim—
men müßten, der Stuhl ſei ein Pferd, auf
dem ſie reiten, oder ein Tiger, den ſie be—
kämpfen ſollten, er redet ihnen vor, eine
dargereichte Kartoffel ſei eine Birne, die
ſie verſpeiſen müßten, und die „Magneti—
ſirten“ führen alles das aus, ohne ſich ſpä—
ſer deſſen zu erinnern.
Damit gehen einige weitere Experi—
mente hand in hand, bei denen Hanſen
durch einige Striche ihre Muskeln in Starr—
krampf verſetzt und unempfindlich macht.
Er legt ſolche Perſonen mit den äußerſten
Körperenden auf zwei auseinandergezogene
Stühle und ſtellt ſich auf die freihängende
Mitte des Körpers; er ſtellt ſich ebenſo
auf die wagerecht ausgeſtreckten Füße einer
ſitzenden Perſon, die von einem Diener im
Stuhl feſtgehalten wird u. ſ. w. Nach
dem Schluß der Experimente erweckt er
die in einem ſchlafähnlichen Zuſtand be—
findlichen Perſonen, indem er ſie anbläſt
oder ihnen laut „Wach!“ zuruft, und dieſel—
ben ſind dann wieder im normalen Zuſtand.
Ein Injurienprozeß, den Hanſen in
Wien gegen eine Perſon angeſtrengt hat,
welche ihn während der Vorſtellung als
„Schwindler“ bezeichnet hatte, ergab als
ziemlich ſicher, daß bei dieſen Vorſtellun—
gen eine Menge Täuſchungen unterlaufen,
indem teils rohe, mechaniſche Mittel an—
gewandt wurden, bei Perſonen, die ſich
nicht ſo leicht in jene Zuſtände verſetzen
laſſen, teils mislungene Experimente als
gelungene hingeſtellt wurden, teils Simu—
155
lationen ſtattfanden, ſofern manche Per—
ſonen ſtets die Komödie mitſpielen, zu der
ſie ſich einmal hergegeben haben, und bei
vollem Bewußtſein dem „Magnetiſeur“ auf
ſeinen Befehl folgen, beten, ſchwimmen und
tanzen, wie es verlangt wird. Überdies
iſt von dem Experiment, welches in den
Vorſtellungen das meiſte Aufſehen zu er—
regen pflegt, von dem Stehen eines Men—
ſchen auf dem Bauch einer nur an der
Schulter und an den Füßen geſtützten Per—
ſon bekannt, daß dasſelbe ſchon früher von
in Deutſchland herumreiſenden Künſtlern
gezeigt wurde, ohne daß dieſelben ſich vor—
her in Starrkrampf verſetzen ließen. Es
iſt einfach ein ſonſt von den ſogen. „Sim—
ſons“ gezeigtes und in Brewſters „Let-
ters on natural Magic“ (deutſche Aus—
gabe, Berlin 1833) abgebildetes Experi—
ment, welches, wie ſchon damals vonDr.De—
ſaguliers gezeigt worden iſt, von jeder—
mann ohne Starrkrampf ausgeführt wer—
den kann. So miſcht ſich dieſen Vorſtel—
lungen, wie gewöhnlich, eine gute Doſis
Täuſchung des Publikums bei; man muß
dies als eine leidige Konſequenz der öf—
fentlichen Schauſtellungen hinnehmen, wel—
che eben vorausſetzen und verlangen, daß
alle Experimente gelingen müſſen.
Indeß iſt hier nicht alles Betrug und
Täuſchung, vielmehr hat eine Anzahl mit der
exakten Forſchungsmethode genau vertrau—
ter Naturforſcher die Experimente Hanſens
nachgeahmt, geprüft und zum Teil wun—
derbarere Reſultate erhalten als er ſelbſt.
Prof. Fritz Schultze in Dresden hat dar—
über in Vorträgen, Prof. Rühle mann in
Chemnitz in der „Gartenlaube“ berichtet,
Prof. Dr. Adolf Weinhold in Chem—
nitz und Prof. Dr. Rudolf Heidenhain
in Breslau haben in beſondern Vorträgen
156
und Brofcehüren *) Darſtellungen ihrer Ver-
ſuche und Erklärungen gegeben. Alle dieſe
Beobachter gehen davon aus, daß weder
Hanſen noch irgend ein anderer Mag—
netiſeur eine andere Macht als die des
erfahrenen Experimentators beſitzt, daß kei—
ne Kraft von ihm auf die Individuen, mit
denen er erbeitet, überſtrömt, daß vielmehr
alle weſentlichen Bedingungen zum Gelin—
gen dieſer Experimente allen Menſchen ei—
gen ſind und in einer mehr oder weniger
ausgeſprochenen Dispoſition des Nerven—
ſyſtems beruhen. Alle Beobachter ſtimmen
darin überein, daß es ſich um Herbeifüh—
rung eines ſeit längerer Zeit den Phyſio—
logen und Pſychologen bekannten Gehirn—
zuſtands, des ſog. Hypnotismus, handelt,
deſſen Eintritt durch ſehr verſchiedenartige
Veranſtaltungen herbeigeführt werden
kann, die indeß darin übereinſtimmen, daß
ein beſtimmter Sinneseindruck eine längere
Zeit auf ein Individuum wirken muß. Han—
ſen bedient ſich des ſchon vor vierzig Jah—
ren von dem engliſchen Chirurgen Braid
empfohlenen Anſchauens glänzender Kör—
per, andere „magnetiſiren“ mit regelmäßig
über den Körper der Verſuchsperſonen ge—
führten Strichen, Heidenhain fand das
anhaltende Behorchen einer tickenden Ta—
ſchenuhr ebenſo wirkſam; es ſcheint ſich
alſo im weſentlichen um die Fortſetzung
eintöniger Sinneseindrücke zu handeln, wel—
che beſtimmte Teile des Zentralnervenſy—
ſtems ſei es ermüden oder überreizen.
Der Hypnotismus iſt, wie Heidenhain
ſehr ſchön ausgeführt und dargelegt hat,
ein Zuſtand, bei welchem Sinneseindrücke
durch die ſchmale Spalte der nicht ganz
*) „Hypnotiſche Verſuche.“ Von Prof. Dr.
Adolf F. Weinhold, Chemnitz, 1880; — „Der
ſogenannte tieriſche Magnetismus.“ Von Dr.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
geſchloſſenen Augen, durch Ohr, Naſe und
Zunge leicht aufgenommen werden, aber
nicht zum Bewußtſein kommen, weshalb
die hypnotiſchen Perſonen auch nach dem
Erwachen nicht wiſſen, was man mit ihnen
gemacht hat. Der Reiz überſchreitet nicht
die „Bewußtſeinsſchwelle“, wie die Pſycho—
logen ſagen, gleichwohl iſt ſein Eindruck
vorhanden, und wie man ſich eines Traums
nachträglich erinnert, wenn man tags darauf
an ähnliche Dinge denkt, ſo kann auch der
hypnotiſch Geweſene durch Anſpielungen
an dasjenige erinnert werden, was er in
jenem Zuſtand gethan hat. Dagegen ſind
jene ſchwachen, nicht zum Bewußtſein kom—
menden Eindrücke ſehr geeignet, ſofort Be—
wegungen auszulöſen, ähnlich den unbe—
wußt gewordenen Bewegungen der Hand—
arbeiten, des Schreibens, Klavierſpielens
u. ſ. w., zu denen nur allgemeine Impulſe
nötig ſind. Wie wir automatiſch das Auge
ſchließen und die Hand vorhalten, wenn
uns ein unabwendbarer Schlag, Stoß oder
Fall droht, ſo ſind alle Handlungen des
Hypnotiſchen zu vollführten Reflexbewe—
gungen geworden; die äußere Anregunglöſt
bei ihnen, ohne zum Bewußtſein zu kommen,
die entſprechende Bewegung unmittelbar
aus. Es iſt der Zuſtand eingetreten, den
Carpenter vor vielen Jahren als „un—
bewußte Gehirnthätigkeit“ bezeichnet hat.
Hierbei kommen nun für das Verſtänd—
nis insbeſondere eine Menge Handlungen
in Betracht, die ſchon im gewöhnlichen Le—
ben unwiderſtehlich und ohne Bewußtſein
nachgeahmt werden. Jedermann kennt die
anſteckende Macht des Gähnens und des
Lachens. Unzählige Menſchen ſind voll—
Rudolf Heidenhain, ord. Profeſſor der Phy-
ſiologie und Direktor des Phyſiologiſchen In—
ſtituts zu Breslau. Leipzig, 1880.
J
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
kommen unvermögend, einen lachenden
Menſchen anzuſehen, ohne mitzulachen. Re—
ferent kannte einen älteren Theater-Enthu—
ſiaſten, der unbewußt das geſammte Mie—
nenſpiel der im Momente handelnden
Hauptperſonen in ſeinem Antlitze repro—
duzirte. Dieſe Nachahmungsſucht iſt nicht
nur den Affen, ſondern auch dem Natur—
menſchen in einem außerordentlichen Grad
eigen; die Wilden benahmen ſich den Zivi—
liſirten gegenüber an vielen Orten nicht
nur wie die Affen, indem ſie alle ihre Be—
wegungen nachahmten, ſondern auch wie
die Papageien, indem ſie alles, was dieſe
ſprachen, nachplapperten, und zwar mit
einer ganz erſtaunlichen Geſchicklichkeit und
Auffaſſungsgabe. Auch bei unſern Kin—
dern iſt dieſe Nachahmungsſucht in einem
ſtarken Maße vorhanden, und wahrſcheinlich
trägt ſie weſentlich dazu bei, daß ſie ſprechen
lernen. Erſt beim Erwachſenen wird
dieſe Nachahmungsſucht durch Erziehung
herabgemindert, aber die Dispoſition bleibt
und iſt, wie die Verſuche mit Hypnotiſchen
gezeigt haben, auch noch bei Erwachſenen
vorhanden, wenn ſie bei thätigen Sinnes—
organen ihres Bewußtſeins beraubt ſind.
Sie ſind alſo dann nach dieſer Richtung
in den Zuſtand des wirklichen Naturmen—
ſchen zurückverſetzt, und ihr Seelenzuſtand
kann vielleicht am nächſten mit dem eines
nichtdenkenden, aber inſtinktiv nachahmen—
den Tieres verglichen werden, was dieſen
Verſuchen ein höheres Intereſſe gibt.
Alles, was man verlangt oder ihnen
vormacht, machen ſie nach, und um den
Hypnotiſchen eine Kartoffel als Birne eſſen
zu laſſen, braucht man ihm dieſelbe nur
in den Mund zu ſtecken und dazu hörbare
Kaubewegungen zu machen. Ebenſo ahmt
der Hypnotiſche die Hand- und Fußbewe—
z
157
gungen des „Magnetiſeurs“ nach, ſoweit
er ſie ſieht und hört; eine heimlich hinter
ſeinem Rücken geballte Fauſt ahmt er nicht
nach, weil er ſie nicht ſieht. Dagegen ge—
langen andere Verſuche, namentlich die
Nachahmung des Sprechens, nicht, und hier
haben Prof. Berger in Breslau und Prof.
Weinhold in Chemnitz als Experimenta—
toren Hanſen weit übertroffen. Erſterer
erinnerte ſich des Goltz' chen Froſchver—
ſuchs, bei welchem Fröſche, die ihres Hirns
beraubt ſind, deutlich quarren und quaken,
ſobald man ihnen den Rücken ſtreicht. Eine
ähnliche Reflexthätigkeit, die ſich als eine
Art Seufzen vernehmbar machte, kam nun
auch bei Menſchen zu Stande, und es zeigte
ſich, daß ſie das Geſprochene nachzureden
begannen, wenn man zugleich mit der Hand
einen leichten Druck in der Nackengegend
ausübte. Weinhold fand ferner, daß
Worte, die man mittels eines Schalltrich—
ters gegen die Nackengegend oder gegen die
Magengrube richtet, von dem Hypnotiſchen
nachgeſprochen werden, mögen ſie nun einen
Sinn haben und in einer dem Hypnotiſchen
bekannten Sprache geſprochen werden oder
nicht. Dadurch kommt auch die Magen—
grube, mit welcher bekanntlich die Som—
nambulen hören und’ ſehen wollten, zu
Ehren. Der Grund ſcheint zu ſein, daß
in beiden Körpergegenden ſenſible Faſern
des Nervus vagus verlaufen, die mit den
Sprachwerkzeugen in Verbindung ſtehen.
Eine andere, mit der Abweſenheit des
Bewußtſeins in Verbindung ſtehende Er—
ſcheinung iſt die, daß die Muskeln der Hyp—
notiſchen unempfindlich gegen Schmerzen
ſind und leicht in Starrkrampf gerathen,
wenn man wiederholt leicht darüber hin—
ſtreicht. Daß man ohne Bewußtſein keinen
Schmerz empfindet, iſt durch die analogen
158
Zuſtände der Chloroformirung 2e. ohne wei—
teres verſtändlich, und der Muskelkrampf
beruht vielleicht nur darauf, daß die zuſam—
menziehenden Nerven einſeitig gereizt wer—
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den, während die antagoniſtiſch wirkenden
Organe außer Thätigkeit ſind. Die Erfah—
rung hat gezeigt, daß dieſe hypnotiſchen Zu—
ſtände nebſt der Empfindungsloſigkeit gegen
Schmerz und der Krampfneigung im all—
gemeinen um ſo leichter eintreten, je öfter
ſie ſchon erzeugt worden ſind, ſodaß ſchließ—
lich, wie Heidenhain fand, der bloße
Befehl oder die Androhung, jemand zu
einer beſtimmten Stunde aus der Ferne
zu magnetiſiren, genügen kann, dieſen mit
der Uhr in der Hand in Schlaf zu ſenken.
Wir erhalten dadurchauchein leichteres Ver—
ſtändnis für die oft beobachtete Anſteckung
von Krämpfen in Nonnenklöſtern und Er—
ziehungsanſtalten, und es liegt eine ernſte
Mahnung darin, derartige Verſuche mit
einer Perſon nicht unbefugt zu wiederholen,
und namentlich nicht mit nervöſen unverhei—
ratheten Frauen, bei denen ſolche Zuſtände
leicht bleibend werden und zu beſtimmten
Zeiten regelmäßig wiederkehren. Auch die
halbſeitigen Krämpfe, Lähmungserſcheinun—
gen und Empfindungsloſigkeiten, wie ſie bei
hyſteriſchen Frauen ſo oft beobachtet wer—
den und neuerdings zu den ſehr intereſſan—
ten Verſuchen über Metallotherapie Anlaß
gegeben haben, gelang es auf dieſe Weiſe
zu erzeugen, kurz ein ganzer Komplex myſte—
riöſer Erſcheinungen ſcheint hier der induk—
tiven Wiſſenſchaft die erſte Handhabe zur
genauern Unterſuchung zu bieten.
Was nun das Weſen dieſer Erſchei—
nung betrifft, ſo ſcheint, wie Heidenhain
meint, die Urſache des hypnotiſchen Zu—
ſtandes in einer Thätigkeitshemmung der
Ganglienzellen der Großhirnrinde geſucht
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
werden zu müſſen, welche durch jene an—
haltenden Eindrücke des Gehörs- Geſichts—
oder Gefühlsſinn bewirkt wird. Die neu—
ern Unterſuchungen über das Gehirn haben
uns dahin geführt, in der Großhirnrinde
den Sitz des Bewußtſeins und der bewuß—
ten Willensimpulſe zu ſuchen, während die
andern Gehirnteile als Träger ſolcher gei—
ſtigen Thätigkeiten bekannt ſind, welche,
wie z. B. die Sinnesempfindungen, Bewe—
gungen, das Gleichgewichtsgefühl u. ſ. w.,
bei den Hypnotiſchen unbeeinflußt ſind.
Wir dürfen nicht vergeſſen, daß das Be—
wußtſein nur eine Begleiterſcheinung der
Körperthätigkeiten iſt, welches im gewöhn—
lichen Leben nur dazu dient, mit Aufmerk—
ſamkeit die Dinge zu erkennen und Fertig—
keiten durch Nachahmung zu erwerben. So—
bald wir eine Thätigkeit wie das Gehen,
Sprechen, Schreiben, Tanzen, irgendeine
Hand- oder Stimmfertigkeit erlernt haben,
können wir dieſelbe ohne Bewußtſein aus—
führen.“) Vor einigen Jahren hat man in
Paris einen ausgedienten Soldaten beob—
achtet, bei dem jener Zuſtand infolge einer
Gehirnverletzung durch eine Schußwunde
eingetreten war. Dieſer ſogenannte „Au—
tomatmenſch“ verfiel von Zeit zu Zeit in
Zuſtände von Bewußtloſigkeit, in welchem
er eine Menge von Obliegenheiten des täg—
lichen Lebens erfüllte, ohne mit der Außen—
welt eine andere Verbindung zu haben als
die des Hautgefühls. Wir wiederholen
es: Das Wichtigſte an dieſen Erſcheinun—
gen iſt, daß ſie uns den Menſchen in einem
ſeiner höhern Fähigkeiten entkleideten Zu—
ſtande zeigen und deshalb ſehr nützlich für
das Studium der niedern ſeeliſchen Thätig—
keiten und des Nervenmechanismus werden
können. E. K.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Die egypfifchen Mumien und Wand
ungenügende Zeit zur Verwandlung von
gemälde
von Tieren und Pflanzen, die noch heute
in Egypten leben, ſind bekanntlich ſeit den
Tagen Cuviers häufig als Beweiſe für.
die Konſtanz der Lebensformen angeführt
worden, und noch in neuerer Zeit iſt dies
von Flourens, de Quatrefages und
Bateman geſchehen. Was die Mumien
betrifft, ſo könnten nur genauere Unter—
ſuchungen, als ſie bisher angeſtellt wor—
den ſind, beweiſen, daß die betreffenden
Tiere wirklich in jeder Beziehung den heute
lebenden, ſelbſt in den noch erkennbaren
Teilen, gleichen, denn wie Forſyth Major
vor kurzem in dieſen Blättern (Bd. VI,
S. 359) gezeigt hat, iſt wenigſtens die
ebenfalls behauptete Identität heute leben—
der Tiere mit quaternären illuſoriſch, und
wenn es ſich auch bei den egyßptiſchen
Mumien um ein verhältnismäßig geringe—
res Alter handelt, ſo darf man doch die
Identität nicht ohne weiteres behaupten.
Was ferner die aus den Wandgemälden
gezogenen Schlüſſe betrifft, ſo hat J. W.
Slater im Märzhefte des laufenden Jahr—
gangs vom Quarterly Journal of Science
(S. 166) ein ſehr treffendes Gegenargument
beigebracht. Die Wandmalereien ſtellen
nicht nur Tiere und Pflanzen, ſondern ſo—
gar Menſchenraſſen, wie Neger, Araber
und Juden, mit allen den Merkmalen dar,
welche dieſe Raſſen heute zeigen. Nun
zweifelt aber niemand daran, daß dieſe
Raſſen, obwohl fie fett 3—4000 Jahren
unveränderlich erſcheinen, bloße Varietäten
einer Stammraſſe ſind. Alles, was man
aus dieſen Wandgemälden alſo ſchließen
159
könnte, wäre, daß 3—4000 Jahre eine
Menſchen, Tieren und Pflanzen ſind,
wenn ſie unter wenig veränderten Klima—
und Lebensverhältniſſen in demſelben
Lande geblieben ſind.
Eine fruchlbare Alauleſelin
iſt bekanntlich ſo ſelten, daß die Alten ſie
in ähnlichem Sinne, wie wir den weißen
Raben, zur Bezeichnung höchſt ſeltener Vor—
kommniſſe ſprüchwörtlich verwendeten. Nun
berichtet Dr. Yaudell, daß ſich im Jar-
din des Plantes in Paris ein ſolches Phä—
nomen befinde, welches bereits ſechs Junge
zur Welt gebracht habe, und zwar zwei
vom Zebra, zwei vom Eſel und zwei vom
Pferde. Man ſieht alſo auch hier die
Wahrheit des alten Sprüchworts beſtätigt:
Ce n'est que le premier pas qui coüte,
Archaeopteryx lithographica.
Unſere neulich (Bd. VI, S. 228) aus-
geſprochene Befürchtung, daß auch das
neue Exemplar des in Deutſchland ge—
fundenen hochintereſſanten Mittelgliedes
zwiſchen Vögeln und Reptilien nach dem
Auslande gehen würde, iſt glücklicher—
weile noch in letzter Stunde beſeitigt wor—
den. Profeſſor Beyrich in Berlin hat
daſſelbe für die dortige Sammlung, dem
Vernehmen nach um den Kaufpreis von
20,000 Mark, erworben. Hinſichtlich der
Beſchaffenheit dieſes Exemplars verweiſen
wir unſere Leſer auf obigen ausführlichen
Artikel.
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=
Literatur und Kritik.
I. Beobachtung der Sterne
Alſonſt und jetzt von J. Norman
Lockyer. Autoriſirte deutſche Aus—
gabe, überſetzt von G. Siebert.
Braunſchweig, Friedrich Vieweg und
Sohn, 1880. 552 S. in 8, mit 217
in den Text eingedruckten Holzſchnitten.
Der berühmte Aſtrophyſiker, über def
ſen ſpektralanalytiſche Unterſuchungen und
Spekulationen wir öfter in dieſer Zeit—
ſchrift zu berichten hatten, giebt in dieſem
Buche eine reich illuſtrirte Geſchichte der
Beobachtungsmethoden und Hülfsmittel
der Aſtronomie von den älteſten Zeiten
bis zu den modernſten Fortſchritten. Wenn
man ſein überaus klar und anregend ge—
ſchriebenes Buch lieſt, ſo überkommt uns
ein Bedauern, daß die in demſelben be—
folgte hiſtoriſche Methode nicht überall an—
wendbar iſt. Denn eine Darſtellung, die
mit den erſten rohen Anſchauungen und
Beobachtungsmitteln beginnt, gibt nicht
nur auf ihren erſten Seiten die dem Men-
ſchengeiſte zunächſtliegenden und alſo leicht—
faßlichſten Anſchauungen und Deutungen,
ſondern ſie läßt den Leſer den ganzen Ent—
wicklungsprozeß der Menſchheit auf dem be-
treffenden Forſchungsgebiete durchmachen.
Zwiſchen dem Geiſte der lernenden Menſch—
heit und dem lernenden Individuum be—
ſteht aber ein Parallelismus, der dieſe
Methode zur naturgemäßeſten und geſun—
deſten macht, der geſundeſten ſchon deshalb,
weil er die Umwege und Irrtümer der
Forſchung nicht vernachläſſigt und ſie
für die Zukunft deſto ſicherer vermeiden
lehrt. Freilich ſind dieſe Umwege viel zu
weit, als daß ſie in der Schule berückſich—
tigt werden könnten, die Maſſe des Lehr—
ſtoffs iſt zu groß, als daß dort tiefer auf
die Geſchichte der einzelnen Disziplinen
eingegangen werden könnte, es muß des—
halb dem Lernbegierigen überlaſſen blei—
ben, dieſe Verbindung des jetzigen Men—
ſchen mit ſeiner Kindheit, die Entwicklungs—
geſchichte jeglicher Seite ſeiner Kenntniſſe
nachträglich zu ſtudiren.
Dazu bietet nun dieſes Buch eine treff—
liche Gelegenheit. Es iſt, wie ſchon er—
wähnt, keine Geſchichte der Aſtronomie, ſon—
dern eine Geſchichte der Beobach—
tungsmethoden, die ſoweit mit aus—
führlichen mathematiſchen, phyſikaliſchen
und chemiſchen Erörterungen durchflochten
iſt, um uns zum vollen Verſtändnis der in
der Neuzeit durch die außerordentlichſten
Erfolge belohnten Beobachtungskunſt des
Himmels zu verhelfen. Das Werk teilt
1 5
Literatur und Kritik.
ſich naturgemäß in ſechs Bücher, von de—
nen das erſte die vorteleſkopiſche Zeit von
Hipparch und Ptolemäus bis auf Ty—
cho Brahe ſchildert, deſſen Inſtrumente
uns durch zahlreiche, nach alten Stichen ko—
pirte Abbildungen vorgeführt werden. Das
zweite Buch iſt ausſchließlich dem Teleſkop,
ſeiner Fortbildung, Herſtellung und Auf—
ſtellung gewidmet, wobei die phyſikaliſchen
Geſetze, auf denen die verſchiedenen For—
men und Verbeſſerungen beruhen, ausführ—
lich erörtert werden. Im dritten Buche
handelt es ſich um die Inſtrumente zur
Meſſung von Zeit und Raum, während
das vierte und fünfte Buch den modernen
Meridianbeobachtungen und dem Aquato—
real gewidmet ſind. In dem ſechſten und
und letzten Buche endlich wird die phyſi—
kaliſche Aſtronomie, die jüngſte an Erfol—
gen reiche Entwicklungsperiode der Wiſſen—
ſchaft, mit ihren ſpektralanalytiſchen und
photographiſchen Methoden und Inſtru—
menten geſchildert und dadurch der hoff—
nungsvollſte Eindruck für die Zukunft die—
ſer „königlichen Wiſſenſchaft“ bei dem Le—
ſer zurückgelaſſen.
Man ſieht es dem Buche an, daß es
aus Vorträgen entſtanden iſt, die einem
großen und gemiſchten Zuſchauerkreiſe die
oft ſchwierigen Einzelnheiten verſtändlich
zu machen ſuchten: ſo leicht faßlich und
klar iſt das Ganze gehalten. Überſetzung und
Ausſtattung ſind muſterhaft. Alle Freunde
der Sternkunde werden an dem ausgezeich—
neten Buche ihre Freude haben.
Das Protoplasma als Träger der
pflanzlichen und tieriſchen Lebensverich—
tungen für Laien und Fachgenoſſen dar—
geſtellt von Dr. Johannes von Han-
ſtein, Prof. an der Univerſität Bonn.
161
Mit ſechs Holzſchnitten. Heidelberg,
Carl Winters Univerfitätsbuchhdl.
1880. 312 Seiten mit 8 Holzſchnitten.
In dieſem kleinen Buche wird in drei
Hauptabſchnitten (1. die organiſche Zelle,
2. die Bildung der organiſchen Gewebe
und 3. der Lebensträger) Weſen und Funk—
tion des Grundſtoffs alles Lebens ſo ein—
fach und anſchaulich und dabei doch ſo tief
eingehend dargeſtellt, daß wir dieſes kleine
Buch angelegentlichſt allen unſern Leſern
zum Studium empfehlen möchten. Und
zwar trotz der wunderlichen Schlußfolge—
rungen (303 - 307), daß, weil die Deszen—
denz- und Zuchtwahltheorie offenbar falſch
ſeien, die Arten aber nicht unmittelbar aus
dem anorganiſchen Stoff geformt fein könn—
ten, jede Gattung, ja jede Art (S. 307)
ihren beſonderen Stammbaum gehabt
haben müſſe, ſo daß von einer wirklichen
Blutsverwandtſchaft keine Rede ſein könne,
vielmehr die Formähnlichkeit nur die not-
wendige Folge einerſeits einer ebenſo ähnli—
chen Begabung der Urkeime und deren plan-
gerechter Entwicklung, andererſeits des mor—
phologiſchen Grundgeſetzes, daß „ähnliche
Bedürfniſſe ähnliche Geſtalten bedingen“,
wäre. „Wie heute aus den Eiern und Samen
der Tierleib, der Baum ſich immer wieder
aus derſelben Geſtaltung herausbildet, ſo
kann jedem Urkeim feine ganze Geſtaltungs—
regel als virtuelle Begabung von Anfang an
mit auf den Weg gegeben ſein. Was heute
jede Eizelle an ſolcher Begabung ererbt,
muß die erſte Zelle jeder Reihe auch, da
ſie nicht erben konnte, ſonſt irgendwoher
erhalten haben“ (S. 304). Ein netter
Baſtard Leibniz-Wigand-Darwin—
ſcher Ideen, der hier zum beſten ge—
geben wird! Sieht denn der Herr Verfaſ—
ſer nicht ein, daß dieſer Ideenbaſtard eben—
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2.
162.
ſo unfruchtbar fein muß, wie die Tier- und
Pflanzenbaſtarde? Wozu bedarf das ge—
ſchaffene Weſen einer Entwicklung? Und
wäre es nicht beſſer, ſtatt von Stamm—
bäumen der einzelnen Arten zu reden,
dieſe zweig- und aſtloſen Artſtammbäume
lieber gleich als Stamm-Hopfenſtangen zu
bezeichnen? Die neuere Weltanſchauung
muß man entweder ganz leugnen oder ganz
anerkennen; die Halbheit ſolcher Anſchau—
ungen wie die Hanſteinſchen muß auf
beiden Seiten 1 erregen.
Verſuch einer Entwicklungsge—
ſchichte der
Florengebiete der nördlichen
Hemiſphäre von Dr. Adolph
Engler. Mit einer chromolithogra—
phiſchen Karte. Leipzig, Wilh. Engel:
mann, 1879. 202 S. in 8.
Dieſes Werk, welches zugleich den erſten
Teil einer allgemeinen Entwicklungsge—
ſchichte der Pflanzenwelt ſeit der Tertiär—
epoche bildet, ſucht, den Fußtapfen Ungers,
Ettingshauſens, Heers und Sapor—
tas folgend, die heutige Verteilung der
Pflanzen aus der Länder-Konfiguration in
den unmittelbar voraufgegangenen Epochen
der Vorwelt zu erklären, und damit der
Pflanzengeographie diejenige genetiſche
Grundlage zu geben, die von dem bedeu—
tendſten Pflanzengeographen der letzten
Zeiten, von Griſebach, nur zu ſehr ver—
nachläſſigt worden war. So viel auch
Klima und Bodenbeſchaffenheit — die von
letzterem beinahe allein in Rechnung gezo—
genen Faktoren — zur Erklärung der ak—
tuellen Geſtaltung der Flora und Fauna
beitragen, ſo vermögen ſie doch die Grund—
geſetze der geographiſchen Verbreitung nicht
aufzuklären und laſſen uns über den all—
extratropiſchen
Literatur und Kritik.
gemeinen Zuſammenhang im Unflaren.
Mit Recht iſt der Verfaſſer hierbei nur bis
zur Tertiärperiode zurückgegangen, da ja
die meiſten der heute vorhandenen Gat—
tungen, ja ſogar die Mehrzahl der Fami—
lien nicht weiter zurückverfolgt werden kön—
nen. Von der arktiſchen Flora der Mio—
cänzeit ausgehend, gelangt der Verfaſſer
über Nordaſien nach Europa, wobei die
Rolle der Hochgebirge beſonders in Be—
tracht gezogen wird und mannigfache neue
und geiſtreiche Aufſtellungen gemacht wer—
den. In manchen Punkten, beſonders über
das Verhältnis der europäiſchen Flora zur
aſiatiſchen, kommt der Verfaſſer zu ähn—
lichen Schlüſſen, wie ſie faſt gleichzeitig
von John Ball“) aufgeſtellt wurden, ohne
indeſſen die Meinung deſſelben über den
Urſprung und den primitiven Charakter
der Gebirgspflanzen zu teilen. Die Ein—
flüſſe der Glazial-Periode auf die Vertei—
lung der Pflanzen, ihr Rückzug und die
Vorbereitung des gegenwärtigen Zuſtan—
des werden in der zweiten Hälfte des Bu—
ches geſchildert, worauf ein letztes Kapitel
die durch die Ausbreitung des Menſchen
bewirkten Anderungen der Flora behan—
delt. Ein ungemeiner Reichtum ſpezieller
Kenntniſſe iſt hier in knapper, aber klarer
Darſtellung zu einem erſten Entwurf ver—
wertet worden, welcher die Grundlinien
ergiebt, nach denen die Pflanzen-Geogra—
phie, die bisher eine Wiſſenſchaft der Ober—
fläche war, in die Tiefe hinabſteigen muß,
um dort die ſichern Wurzeln ihres Ge—
deihens zu finden.
Statt eines näheren Eingehens wollen
wir hier die von dem Herrn Verfaſſer auf—
geſtellten leitenden Ideen 5 Ar⸗
beit wiedergeben:
9 Vgl. Kosmos, Bd. VI, S. 257.
1. Die gegenwärtige Verbreitung der
Pflanzen iſt nicht blos bedingt durch die
jetzt auf der Erde herrſchenden klimati—
ſchen Bedingungen und die Bodenver—
hältniſſe.
2. Ein wahres Verſtändnis der Ver—
breitung der Pflanzen iſt nur dann mög—
lich, wenn man die allmähliche Entwicklung
derſelben zu ermitteln ſucht.
3. Hierzu iſt vor allem notwendig die
Berückſichtigung der verwandtſchaftlichen
Verhältniſſe, in welchen die Formen eines
Gebietes oder mehrerer Gebiete zu ein—
ander ſtehen. Die bloße Pflanzenſtatiſtik
läßt einen Einblick in die Entwicklungs—
Rgeſchichte nicht gewinnen.
4. Ferner iſt es notwendig, die Ver—
breitungsverhältniſſe zu berückſichtigen,
welche in den früheren geologiſchen Perio—
den herrſchten und die verwandtſchaftlichen
Verhältniſſe der ausgeſtorbenen Formen
mit den gegenwärtig noch exiſtirenden in
Betracht zu ziehen.
5. Der Wechſel in der Verteilung von
Waſſer und Land, welcher namentlich ſeit
der Tertiärperiode ſtattgefunden hat, iſt
für die Entwicklungsgeſchichte der Floren—
gebiete von großer Bedeutung.
6. Namentlich iſt es von Wichtigkeit,
wenn durch Rückgang des Waſſers oder
von Gletſchern oder auch durch Hebung
eines Landes neues Terrain eröffnet wird,
auf dem ſich die Formen der benachbarten
Gebiete anſiedeln können und ihre neuge—
bildeten Varietäten Platz zur Entwicklung
vorfinden.
7. Die Beobachtung lehrt, daß nahe
verwandte Formen einer Artengruppe kol—
lokal entſtehen.
8. Allmählich verbreiten ſich die For—
men eines Formenkreiſes, ſoweit Boden—
Literatur und Kritik.
163
verhältniſſe, klimatiſche Verhältniſſe und
Konkurrenz anderer Pflanzen es geſtatten.
9. So können nahe verwandte For—
men auch an entferntere Teile eines gro—
ßen Gebietes gelangen und ſich nun ſelb—
ſtändig weiter entwickeln.
10. So lange noch in dem größeren,
umfaſſenden Gebiet der alte Zuſammen—
hang des Terrains fortbeſteht, iſt auch die
Zuſammengehörigkeit der Formen mehr
oder weniger leicht zu erkennen.
11. Wenn aber geologiſche Ereigniſſe
eine Iſolirung der früher zuſammenhän—
genden Teile bewirken, dann iſt die ſelb—
ſtändige Entwicklung der verwandten For—
men mehr begünſtigt.
12. So entſtehen korreſpondirende oder
vikariirende Varietäten, Arten, Gruppen,
Gattungen, Gattungsgruppen.
13. Wenn auch annehmbar iſt, daß
eine Art an zwei gleichartigen, aber ge—
trennten Orten eines Gebietes gleichartige
oder wenig verſchiedene Varietäten erzeugt,
ſo iſt es doch nicht denkbar, daß nun an
beiden Orten fortdauernd dieſelben Ver—
hältniſſe und Urſachen auf dieſelbe Varie—
tät einwirken, und im Lauf der Zeit an
beiden Orten die Nachkommenſchaft der
zuerſt entſtandenen Varietäten ſich in durch—
aus gleicher Weiſe entwickelt.
14. Scharf abgegrenzte, an getrenn—
ten Gebieten vollkommen identiſche Arten
können demzufolge nicht die Summe ihrer
Eigenſchaften gleichzeitig an zwei oder
mehr getrennten Gebieten gewonnen haben.
15. Die geologiſchen Ereigniſſe haben
ſehr oft eine Iſolirung früher zuſammen—
gehöriger Gebiete und der dieſelben be—
wohnenden Pflanzen bewirkt. Mit Ver⸗
ſenkung eines Teiles des Gebietes unter
Waſſer oder in anderer Weiſe wurde ſehr
164
oft ein Teil der Formen, welche als Binde:
glieder zwiſchen den verſchiedenen Formen
der mehr entfernten Teile die Zuſammen—
gehörigkeit zu einem Verwandtſchaftskreis
erkennen ließen, vernichtet.
16. Darauf beruht das Vorkommen
verwandter Arten oder Gruppen an ge—
trennten Gebieten, ohne daß noch andere
verwandte Formen in dem dazwiſchen lie—
genden in anderer Weiſe veränderten Ge—
biet gefunden werden.
17. Demzufolge hat namentlich die
Verwandlung von Seebecken, deren Ufer
ehemals bewaldet waren, in trockene Step—
pen oder Wüſten das Verſchwinden vieler
Formen zur Folge gehabt, welche früher
jetzt getrennte Standorte und getrennte
Formen verbanden.
18. Wenn in getrennten Gebirgs—
ſyſtemen urſprünglich nahe verwandte For—
men Hochgebirgsvarietäten bilden, welche
den in höheren Regionen herrſchenden Ver—
hältniſſen ſich allmählich anpaſſen, ſo ſind
dieſe ſpäter zu Arten gewordenen Varie—
täten im ſtande, bei eintretender Erniedri—
gung der Temperatur ſich zu erhalten,
während die in den wärmeren Regionen
der Ebene verbliebenen Formen nun nach
wärmeren Landſtrichen wandern oder un—
tergehen müſſen.
19. Aus 17 und 18 geht hervor, daß
in Ländern von hohem Alter, namentlich
in gebirgigen Gegenden, deren Vegetation
ſeit langem nicht durch geologiſche Ereig—
niſſe vollſtändig vernichtet wurde, ein rei—
cher Endemismus herrſchen muß.
20. Endemiſche Formen können aber
auch in verhältnismäßig jungen Gebieten
reichlich auftreten, wenn nämlich dieſe Ge—
biete, wie die aſiatiſchen Steppen, die
amerikaniſchen Prärien oder die ſüdameri—
Literatur und Kritik.
kaniſchen Pampas, durch ihre Beſchaffen—
heit nur einer beſchränkten Zahl von Ve—
getationsformen die nötigen Exiſtenzbe—
dingungen gewähren.
21. Der Unterſchied zwiſchen alten und
neuen Florengebieten mit reichem Ende—
mismus beſteht gewöhnlich darin, daß in
den älteren Gebieten die Artenzahl der
Gattungen eine geringere, in den neueren
die Artenzahl einzelner Gattungen gewöhn—
lich eine ſehr große iſt.
22. Bei einigen Familien finden wir,
daß ihre natürlichen Gruppen ſich auf ein—
zelne geographiſche Gebiete beſchränken;
dies hängt bisweilen damit zuſammen, daß
einzelne dieſer Gruppen phyſiologiſche Ei—
gentümlichkeiten beſitzen, welche in einem
klimatiſch Scharf charakteriſirten Gebiete von
beſonderem Vorteil ſind. Es hat aber das
auch häufig darin ſeinen Grund, daß von
einem Entwicklungszentrum nach verſchie—
denen Richtungen hin verſchiedene Formen
gelangten, die nun in den getrennten Ge—
bieten Ausgangspunkte natürlicher Grup—
pen wurden. Es findet alſo im großen
dasſelbe ſtatt, was wir bei kleineren For—
menkreiſen auch wahrnehmen.
23. In großen Gebieten, welche im
Lauf der geologiſchen Epochen nur wenig
Veränderungen unterworfen waren, konn—
ten ſich ſolche Gattungsgruppen wohl er—
halten; wir finden daher dieſe Erſcheinung
nur in den tropiſchen und ſubtropiſchen
Gebieten, während wir in den ſeit der Ter—
tiärperiode mehrfach veränderten Gebieten
ähnliche Erſcheinungen innerhalb einer
Gattung häufiger wahrnehmen.
24. Daß auch im tropiſchen Gebiet
nur wenige Familien eine Beſchränkung
ihrer Gruppen auf beſtimmte geographi—
ſche Gebiete zeigen, hat einerſeits in dem
Pr
verſchiedenen Alter der einzelnen Familien,
andererſeits in der verſchiedenen Dauer
der Keimfähigkeit der Samen ſeinen Grund. |
Samen mit lang andauernder Keimfähig—
keit ſind für lange Wanderungen mehr be—
fähigt, als ſolche, welche bald keimen müſ— |
fen, um zur Entwicklung zu gelangen.
25. Die große Mehrzahl der tropiſchen
Pflanzenfamilien, alſo der Familien, von
welchen ein hohes Alter vorausgeſetzt wer—
den darf oder nachgewieſen iſt, zeigt eine
ſehr unregelmäßige Verteilung, oft nahe
verwandte Gattungen auf der öſtlichen und
weſtlichen Hemiſphäre.
26. Die Unterſuchung der Verbrei—
tungsverhältniſſe der foſſilen Pflanzen
zeigt uns, daß viele Gattungen, welche
jetzt auf eine Art oder ein enges Gebiet
beſchränkt ſind, noch in der jüngeren Ter—
tiärperiode mehr Arten oder ein größeres
Verbreitungsgebiet beſaßen.
27. Daraus ergibt ſich, daß wir die
Heimat einer Pflanze oder einer Pflanzen—
gruppe nicht immer da zu ſuchen haben,
wo dieſelbe jetzt exiſtirt oder am reichſten
entwickelt iſt.
28. Ferner iſt daraus erſichtlich, daß
artenarme oder monotypiſche Gattungen
in den meiſten Fällen Reſte von früher
viel reicher entwickelten Typen ſind.
29. Die Erhaltung von monotypifchen
Gattungen in einem Gebiet iſt meiſt etwas
Zufälliges und für das Gebiet nur inſo—
fern von Bedeutung, als ſie zeigt, daß in
demſelben frühere Verhältniſſe längere Zeit
fortgedauert haben; die monotypiſchen Gat—
tungen eignen ſich daher nur zur Charak—
teriſirung größerer Gebiete, in denen ſie
allgemein verbreitet ſind, aber nicht zur
Charakteriſirung engerer Gebiete.
| 30. Für die Feſtſtellung der engeren
Literatur und Kritik.
165
Florengebiete innerhalb eines größeren Ge—
bietes eignen ſich am beſten Gattungen,
welche in einem ſolchen auf der Höhe ihrer
| Entwicklung ſtehen und in anderen Gebie-
ten gar nicht oder nur ſpärlich vertreten ſind.
31. Scharfe Grenzen zwiſchen den ein—
zelnen Florengebieten exiſtiren nicht, ſon—
dern es greifen immer Elemente des einen
in das andere hinüber und zwar in den
verſchiedenen Epochen der Erdgeſchichte in
verſchiedenem Grade.
32. Die Pflanzengeſchichte zeigt, daß
einzelne Typen ſich bis in die Gegenwart
in formenreicher Entwicklung erhalten ha—
ben, während andere eine Abnahme, noch
andere eine bedeutende Zunahme ihrer For—
menkreiſe erkennen laſſen; die pflanzenſta—
tiſtiſchen und pflanzengeographiſchen Ver—
hältniſſe reichen aber da nicht aus, um
das relative Altersverhältnis der einzelnen
Familien zu einander feſtzuſetzen.
33. Dagegen iſt es wohl möglich, in-
nerhalb eines engen Formenkreiſes, ſogar
innerhalb einer Familie mit eingehendſter
Berückſichtigung der morphologiſchen Ver—
hältniſſe und der geographiſchen Verbrei—
tung der verwandten Formen eine relative
Altersbeſtimmung vorzunehmen, die auf
wiſſenſchaftlichen Wert Anſpruch machen
darf.
34. Daraus, daß mit Sicherheit die
Entwicklung zahlreicher jetzt exiſtirender
Formen bis in die Tertiärperiode zurück—
reicht, folgt nicht, daß nicht ſpäter noch
neue Arten entſtanden ſind.
35. Ebenſo folgt aus der unverän—
derten Erhaltung einiger tertiären Formen
nicht, daß überhaupt die Arten unveran-
derlich ſind.
36. Bei der Bildung von Varietäten
wirken innere Urſachen. Wenn wir in ein—
—
166
zelnen geographiſchen Gebieten, die durch
ein eigentümliches Klima charakteriſirt find,
einen großen Reichtum von Formen fin—
den, die dieſem Klima angepaßt zu ſein
ſcheinen, ſo hat dies darin ſeinen Grund,
daß das Klima, ſekundär wirkend, die wei—
tere Entwicklung gewiſſer, vorher ſchon er—
zeugter Formen begünſtigt, der Entwick—
lung und Ausbreitung anderer Formen
aber hemmend entgegentritt.
m — nn —. *
Das Pflanzenleben der Schweiz von
H. Chriſt. Mit vier Vegetationsbil—
dern in Tondruck nach Original-Auf—
nahme von C. Janslin, vier Pflan—
zenzonenkarten in Farbendruck und einer
Tafel der Höhengrenzen verſchiedener
Gewächſe, 2—4. (Schluß)-Lieferung.
Zürich, Friedrich Schultheß, 1879.
Wir haben unſere Leſer ſchon früher
(Bd. VI, S. 161) bei dem Erſcheinen der
erſten Lieferung auf dieſes ausgezeichnete
Werk aufmerkſam gemacht. Jetzt, nachdem
es vollendet vorliegt, können wir den gün—
ſtigen Eindruck, den uns die erſte Liefe—
rung hervorbrachte, lediglich wiederholen.
Es gibt keine gründlichere, überſichtlichere,
klarere Schilderung des an Formen und
Problemen reichen Gebietes der Alpenflora
als die vorliegende, und wer jemals mit
den Augen des Botanikers oder Pflanzen—
Geographen die Schweiz durchwandert hat,
wird das Werk mit ebenſo reichem Genuß
als Belehrung leſen. Unſere Abſicht, auf
das Kapitel über die Entſtehung der Schwei—
zerflora näher einzugehen, iſt uns indeſſen
nach dem Erſcheinen des betreffenden Ka—
pitels in der letzten Lieferung als nutzlos
erſchienen. Der Herr Verfaſſer iſt über
das Werden zu keinen poſitiven Anſchau—
ungen gelangt, und obwohl er feſthält,
Literatur und Kritik.
„daß die aufſteigende Reihe im Sinne
der ſtufenweiſen Klärung, Vervollkomm—
nung und idealen Vollendung auch in der
Geſchichte der Pflanzenwelt klar zu Tage
liegt,“ ſo hält er doch jedes Unterſuchen
und Ableiten der Geſetze, nach denen dieſe
„ideale Vollendung“ vor ſich gegangen
ſein könnte, offenbar für eine Art Einbruch
in das geheime Archiv Gottes, und er ruft
(S. 450) zornig aus: „Spielend glaubt
eine ſolche Naturbetrachtung die ewig dunkle
Frage von der Entſtehung aller Dinge zu
löſen und merkt dabei kaum, daß ſie nur
das alte Chaos und die alte Nacht wieder
herſtellt.“ In der That, das merkt fie
kaum, und dieſes Anathema wird ihr da—
her wie eine „Offenbarung“ klingen. Dieſe
Befangenheit den neueren Fortſchritten der
Wiſſenſchaft gegenüber berührt indeſſen
den Werth des Werkes, welches es ja nur
mit dem gegenwärtigen Zuſtande zu thun
hat, wenig oder gar nicht, und wir machen
es uns grade deshalb zur doppelten Pflicht,
denſelben in vollem Maße anzuerkennen.
Die Ausſtattung iſt eine ſehr gediegene,
die Vegetationsbilder ſind charakteriſtiſch
und die Karten, welche die Verbreitung
einer anſehnlichen Reihe charakteriſtiſcher
oder merkwürdiger Arten graphiſch dar—
ſtellen, find höchſt überſichtlich.
Der Zoologiſche Garten. Zeitſchrift
für Beobachtung, Pflege und Zucht
der Tiere. Redigirt von F. C. Noll.
Frankfurt a. M. In Commiſſion bei
Mahlau und Waldſchmidt
enthält in dem uns vorliegenden Jahr—
gang 1879 wie immer eine ſehr große
Mannigfaltigkeit von Artikeln, Berichten
und Correſpondenzen, die jeden Tierfreund
auf das höchſte intereſſiren müſſen und
2
eine Mitteilung
beſonderm Intereſſe.
\
Literatur und Kritik. 167
ſich auf alle Zweige der Tierpflege und valle laſſen uns insgeſammt nur den kur— |
des Tierlebens überhaupt erftreden. von zen Zeitraum vom Ende der Eiszeit bis |
befonderem Intereſſe darunter ſind drei zur Ausrottung des Heidentums am Mittel-
Artikel über die Lebensdauer der Tiere rhein verfolgen. Wenn in Freitags Ah—
im Hamburger zoologiſchen Garten von nen ein beſtimmtes Geſchlecht den rothen
Direktor Dr. Bolau, acht Artikel mit Faden bildet, an dem ſich die Begeben
Beobachtungen am Orang Utan von Dr. heiten aufreihen, ſo iſt hier die Landſchaft |
Mar Schmidt und fünf Artikel über das einende Element dieſer mit Geſtalten
Tierleben und Tierpflege in Irland von der Vorzeit belebten Nebelbilder, und zwar
Ernſt Friedel. Von den mannigfachen, | die mittelrheinifche Landſchaft, welche den
dem Aquarium gewidmeten Artikeln iſt dreifachen Vorzug beſitzt, ſtets das Theater
des Redakteurs über großer Vorgänge im erſten Jahrtauſend
Meeresleuchten im Zimmer-Aquarium von unſerer Zeitrechnung gebildet zu haben, in
Unter den Mit- ſeinem mit Lebensſpuren aller Epochen ge—
arbeitern bemerken wir die Gebrüder | düngten Boden reiche Zeugniſſe zu bewah—
Karl und Adolf Müller, Dr. Frdr. ren und drittens dem Verfaſſer von außen
Knauer, K. Th. Liebe, H. v. Na- und innen auf das genaueſte bekannt zu
thuſius, E. von Homeyer, Dr. W. ſein. Freilich ſind es nicht viel mehr als
Stricker, Prof. L. Glaſer, H. Schacht, lebende Bilder, die er gibt, eine Jagd,
H. von Roſenberg und viele andere ein Totenopfer, ein Überfall, eine Rache,
Namen von gutem Klange, jo daß dieſe | eine Bekehrung u. ſ. w., aber Bilder mit
Zeitſchrift ihrer Aufgabe als „gemein- | möglichiter Treue des hiſtoriſchen und ſelbſt
ſames Organ für Deutſchland und an- des vorhiſtoriſchen Kolorits. Sicherlich muß
grenzende Gebiete“ beſtens gerecht wird man erſtaunt fein, daß ſich aus einem ge—
und den weiteſten Kreiſen zu empfehlen iſt. fundenen Dolch, einer Spange und einem
— ä — Linnenfetzen ſo viel Koſtümkunde und Sit—
Bilder aus Deutſchlands Vorzeit tengeſchichte rekonſtruiren ließ; es wäre
von Dr. C. Mehlis. Jena, Hermann noch die Aufgabe eines großen Dichter—
Coſtenoble, 1879. 127 Seiten in 12. genius, dieſen Geſtalten wirkliches Leben
In dieſem der zehnten Jahresverſamm- einzuhauchen, wie es Scheffel mit viel—
lung der deutſchen Anthropologiſchen Ge- leicht weniger Studium, aber mit der un—
ſellſchaft gewidmeten und deshalb auf das endlichen Ueberlegenheit der Phantaſie in
geſchmackvollſte ausgeſtatteten Bändchen ſeinem Ekkehard gethan. Durch das Meh—
läßt der Verfaſſer acht hiſtoriſche Gemälde lisſche Buch glauben wir in der Über—
auf dem feſten Grunde ſorgfältiger Quel- treibung der gekünſtelten Freitag ſchen
len-, reſp. Gräberforſchung vor unfern Ahnenſprache einen Zug feiner Ironie
Augen vorüberziehen, ungefähr in der gehen zu ſehen. Wie unfehlbar iſt nicht
Weiſe Chidhers des Unſterblichen: „Und die komiſche Wirkung, wenn er ſagt (S. 28):
abermals nach fünftauſend Jahren bin „Und thränenden Auges wandte ſich Schön—
ich deſſelbigen Weges gefahren.“ Aber hier Siglinde dem Dorfe zu, in einer der Hüt—
find die Pauſen kürzer und die 8 Inter- ten aus dem ſchöngeglätteten Kruge das
r
168 Literatur und Kritik.
Waſſer zu entleeren, in den Bottich, in
welchem Rüben und Kraut und die Rippe
des Schweines lagen, zum Mahle zu die—
nen den Familiengenoſſen der Hütte“; oder
wenn Siglinde mit wahrhaft Auerbach—
ſchem Pathos der Radaberga auf ihre
Frage: „Was iſt gefaltet deine Stirn
und warum umſchleiert dein dunkles
Augenpaar?“ erwidert: „Die Sehnſucht
malt mir den Schleier um das Antlitz und
Loki, der Arge, führt den Wahn mir in
den Sinn, den Liebtrauten mögen zur Un—
treue verführt haben die dunkelgelockten
Schönen, denen das Feuer aus den Augen
zuckt.“ Man kann die Verirrung der ge—
nannten Dichter, Naturmenſchen ſo ge—
künſtelt ſprechen zu laſſen, nicht beſſer per—
ſifliren, und dieſe humorvolle Behandlung
giebt dem an ſich etwas trockenen Stoffe
eine ſehr erwünſchte Würze. Die typo—
grapiſche Ausſtattung iſt ſehr ſplendid und
gereicht der Verlagshandlung zur höchſten
Ehre.
Dr. Hermann Frerichs, Über Na—
turerkenntnis. Bremen 1879, J.
Kühtmann. 36 S.
In dieſer ſehr gut geſchriebenen klei—
nen Arbeit werden uns namentlich die
Grenzen unſeres Erkenntnisvermögens,
über die wir gerne hinwegzuſehen pfle—
gen, vorgerückt. Es iſt das ebenſo ver—
dienſtlich als leſenswert, nur hätten wir
gewünſcht, von dem Verfaſſer ſtärker be—
tont zu hören, daß uns dieſe Erkenntnis
nicht hindern darf, weiter zu forſchen,
denn jene Grenzen ſind doch nicht mehr
die engen, welche ſie früher waren, und
der Naturforſcher gleicht dem Gebirgs—
bewohner, der aus dem engen Thalkeſſel
mit völlig verhülltem Blick immer höher
an den Wänden emporklimmt, und aus
den unterwegs ſich darbietenden entzücken—
den Ausblicken in die Ferne die Herr-
lichkeit ahnt, die ſich ihm aufthun werde,
wenn er den für unerſteiglich geltenden
„Gipfel der Erkenntnis“ erreichen könnte!
Herrn Profeſſor Dr. Jägers ver—
meintliche Entdeckung der Seele
von G. H. Schneider. Leipzig, Am—
broſius Abel, 1879. 62 S. in kl. 8.
Dieſes Schriftchen nimmt ungefähr
denſelben Standpunkt ein, wie das Referat
unſerer Zeitſchrift über Jägers intereſſan—
tes Buch.“) Es verkennt keineswegs die
Bedeutung der Jägerſchen Beobachtun—
gen an ſich, ſondern bekämpft einzig die
denſelben untergelegte Deutung. Vor al—
lem hebt der Verfaſſer hervor, daß der
Geruchsſinn nicht eine ſo ausſchließliche
Herrſchaft im Sinnes- und Seelenleben
der Tiere ausübt, wie Jäger anzunehmen
ſcheint, und weiſt dies namentlich an der
Hand ſeiner zahlreichen eigenen Beobach—
tungen über die große Rolle des Geſichts—
ſinns im Tierſeelenleben nach, die ja wohl
von niemandem bezweifelt wird. Der Ver—
faſſer operirt mit Thatſachen und voneigent—
licher Polemik, wie ſie der Titel erwarten
läßt, iſt in dem flüſſig geſchriebenen und
leicht lesbaren Büchelchen wenig zu finden.
99 Kosmos, Bd. VI, S. 321.
+
Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig.
N
n
4 |
a
Über die Eutſtehung der Arten durch Abſonderung.
a N durch ihre Hahn ea und
Lebensweiſe beſonders ge—
eignet iſt, für die form—
bildende Wirkung einer
dauernden individuellen Abſon—
derung, ohne jede Mitwirkung ei—
ner Selektion durch den Kampf
ums Daſein, einen unwiderleg—
baren Beweis zu erbringen. Dieſe
Klaſſe iſt der Erforſchung ihrer individu—
ellen Entwicklung ſchwerer zugänglich als
die meiſten andern Abteilungen des Tier—
reiches und wurde daher erſt in neuerer
Zeit von den Zoologen genauer unterſucht
und erkannt. Spongien oder Schwämme
nennen wir jene tieriſchen Organismen von
höchſt eigentümlichem Bau, welche mit
Ausnahme einer einzigen Gattung, die im
ſüßen Waſſer vorkommt, auf dem Grunde
des Meeres, befeſtigt an iſolirten Stand—
orten, leben und während ihrer ganzen in—
dividuellen Lebensdauer abgeſondert blei—
ben. Die verdienſtvollen Unterſuchungen
Von
or Moritz Wagner.
III.
Lieberkühns über Spongilla, das mei—
ſterhafte monographiſche Werk Ernft
Haeckels über die Kalkſchwämme und die
trefflichen Arbeiten Oskar Schmidts
über die Spongien im allgemeinen und
diejenigen des Adriatiſchen Meeres im be—
ſondern haben uns die nähere Kenntnis
dieſer wichtigen Tierklaſſe aufgeſchloſſen.
Die bleibende räumliche Abſonderung
der einzelnen Schwämme oder Schwamm—
ſtöcke, welche jede Konkurrenz der Artge—
noſſen, jede Mitbeteiligung einer Ausleſe
im Kampfe ums Daſein ſchon durch dieſe
dauernde individuelle Iſolirung von ſelbſt
ausſchließt, eignet dieſe Tierklaſſe ganz
vorzüglich zur Prüfung der Streitfrage:
ob die Wirkung der Migration und Iſo—
lirung bei einfachem Wechſel des Stand—
orts, welchen ſtets eine Anderung der
Nahrungsverhältniſſe begleitet und der
gleichzeitig die ungehinderte Fortentwick—
lung der perſönlichen Merkmale des Kolo—
niſten begünſtigen muß, auch für ſich allein
ſchon genügt, um eine namhafte morpho—
logiſche Abweichung von ſeinem Mutter-
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3.
22
170
ſtock hervorzubringen? Das Ergebnis der
Unterſuchung antwortet auf dieſe Frage
mit einem entſchiedenen Ja.
Die normale Fortpflanzung der Spon—
gien geſchieht bekanntlich durch befruchtete
Eier. Männliche und weibliche GGenerations—
organe (Spermatozoen und Eier) entwickeln
ſich entweder in ein und demſelben Stock
oder in getrennten Stöcken und Individuen.
Die männlichen Spermazellen bewegen ſich
mittels ihrer Geißelbewegung zu den weib—
lichen nackten Eizellen und dringen in ihr
Inneres ein. Damit wird bei den Schwäm—
men der einfache Befruchtungsakt voll—
zogen. Aus dem befruchteten Ei entſteht
durch deſſen totale Furchung ein maulbeer—
förmiger Körper mit einer Zentralhöhle
verſehen, aus welchem durch eine Diffe—
renzirung der Zellen eine Larve hervorgeht,
die am vordern Teil mit Flimmerzellen,
am hintern mit großen kugeligen oder ver—
ſchmolzenen Zellen verſehen iſt.
Die flimmernde Larve (Planula), wel-
che bei den Kalkſchwämmen zuweilen ſchon
winzige Skelettnadeln beſitzt, ſondert ſich
ganz vom Mutterkörper ab und ſchwärmt
aus, d. h. ſie wandert frei im
Meere umher. Nachdem ſie eine zeit—
lang in aktiver Migration umherge—
ſchwommen, bezieht fie einen vom Mutter-
ſtock ſtets getrennten, mehr oder weniger
entfernten neuen Standort. Dies geſchieht,
indem ſie an irgend einer ihr paſſenden
Stelle des Meerbodens ſich niederſenkt,
feſtheftet und dauernd ſich anſiedelt. An
dieſem iſolirten Standort beginnt nun in
den mannigfaltigſten Formen der Aufbau
und die Geſtaltung des merkwürdigen
chung einen ſo hohen Grad. Jeder räum—
lich abgeſonderte Stock, jede iſolirte In-
Spongienſkeletts, aus Kalknadeln, Horn—
faſern oder Kieſelnadeln beſtehend. Die
Abſonderung dieſer wunderbaren Gebilde
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
geſchieht aus der äußern Sarkodinenſchicht,
dem ſogenannten Exoderm, welches in Ver—
bindung mit der innern Zellenſchicht bei
den Spongien den Weichteilen der höheren
Tiere entſpricht und alle Funktionen der
Empfindung, Reſpiration, Ernährung und
Fortpflanzung erfüllt. g
Zwiſchen den Zellen der Körperſub—
ſtanz treten bei den Schwämmen ſchlauch—
oder blaſenförmige Hohlräume auf, welche
von kleineren, je eine Wimper tragenden
Zellen ausgekleidet werden und in die Ka—
näle münden. Die Kanäle führen zu den
Aus- und Einſtrömungsöffnungen, die oft
durch beſondere Nadeln geſtützt werden.
Der durch die Wimpern unterhaltene
Strom des umgebenden Waſſers führt
Nahrungsſtoffe an den Zellen vorbei, von *
denen jede einzelne nach Art der Amöben
Nahrung in ſich aufnehmen kann.“
Daß bei dieſem Bildungsprozeß der
einzelnen Spongienſtöcke von der Lage und
Beſchaffenheit ihres iſolirten Standortes
und ſeiner Nahrungsbedingungen, ſowie
von der individuellen Variationsfähigkeit
des in Larvenform zugewanderten, feſt—
angeſiedelten Koloniſten alles abhängt,
und daß der Einfluß eines Konkurrenz—
kampfes, eines struggle for life mit den
verwandten Stammgenoſſen bei dieſer Ent—
ſtehungs- und Lebensweiſe vollſtändig
ausgeſchloſſen iſt, wird niemand zu
beſtreiten vermögen. Die Formenmannig—
faltigkeit iſt beſonders bei den Kalk—
ſchwämmen, die wir dank der ausgezeich—
neten Monographie Haeckels ſehr genau
kennen, ungemein groß. Bei keiner andern
Tierklaſſe erreicht die individuelle Abwei—
dividuenkolonie unterſcheidet ſich von an—
|
Moritz Wagner, Über die Entftehung der Arten durch Abſonderung.
deren, nicht immer weit entfernten Stöcken
in einem Grade, welcher den Grad des
gewöhnlichen morphologiſchen Artunter—
ſchiedes anderer Tierklaſſen mitunter ſelbſt
überſchreitet. Der ſubjektiven Auffaſſung
des Syſtematikers iſt bei dieſer ungemei—
nen Formenmannigfaltigkeit der Spongien
ein weites Feld geöffnet und die Feſtſtel—
lung von Spezies und Gattungen begegnet
daher wirklich oft großen Schwierigkeiten.
Wie ſehr die aktiven Migrationen
der flimmernden Larven und oft auch die
paſſive Migration eines von ſeinem ur—
ſprünglichen Standort losgeriſſenen und
von den Meeresſtrömungen mit ſeiner Un—
terlage weit fortgetragenen Schwammes
zu dieſer Vielgeſtaltigkeit beitragen muß,
fällt in die Augen. Ob die freiſchwim—
mende Planula bei ihrer Wanderung zu—
fällig in eine wärmere oder kältere Meeres—
ſtrömung gerät, ob ſie nach der Mündung
eines Stromes, der viele organiſche Reſte
in das Meer trägt, oder fern davon an
einem für die Nahrungsſtoffe, die ſie be—
darf, minder günſtigen Punkt ſich auf den
Boden ſenkt, um ſich feſtzuſetzen, ob lokale
Umſtände, wie z. B. eine größere oder ge—
ringere Meerestiefe des Standorts, die Er—
nährung durch die Beſtandteile des den
Schwammſtock umſpülenden Waſſers be—
günſtigen oder benachteiligen, all das muß
ſelbſtverſtändlich mächtig dazu beitragen,
die individuelle Variationsfähigkeit des
iſolirten Koloniſten entweder zu unter—
ſtützen oder zu beeinträchtigen. Jeden-
falls bleibt hier die Abſonderung
ſelber die eigentliche, anſtoßgeben—
de, nächſte mechaniſche Urſache aller
Geſtaltveränderungen.
Haeckel iſt in den der Biologie der
Kalkſchwämme gewidmeten Kapiteln ſeines
inhaltreichen Werkes einer Unterſuchung
der Frage nach der causa efficiens, welche
zu den Formabweichungen dieſer merkwür—
digen Organismen den Anſtoß giebt, viel-
leicht abſichtlich aus dem Wege gegangen.
Ob dies geſchehen, weil er merkte, daß
gerade die Entſtehungs- und Lebensweiſe
der Calciſpongien jeder weſentlichen Mit—
beteiligung einer Zuchtwahl oder Ausleſe
durch den Kampf ums Daſein widerſpricht,
will ich nicht behaupten. In ſeinen kurzen
Bemerkungen über die „Urheimate“
oder „Schöpfungsmittelpunkte“, die
man richtiger „Entſtehungszentren“
nennen ſollte, macht Haeckel jedoch der
Migrationstheorie eine weſentliche Kon—
zeſſion. Er bemerkt dort Bd. J, S. 448:
„Daß hier wie überall in der or—
ganiſchen Welt die mannigfalti—
gen, beſonders von Moritz Wagner
gewürdigten Migrationen eine
große Rolle ſpielen und die „Ent—
ſtehung der Arten“ vielfach ver—
mitteln, kann mit Sicherheit ange—
nommen werden. Für die Chorologie
der Kalkſchwämme wird hierbei namentlich
der Umſtand in betracht zu ziehen ſein, daß
dieſelben nicht nur als freiſchwimmende
Flimmerlarven weit umherſchwimmen und
ſich durch aktive Wanderung ausbreiten
können, ſondern daß ſie auch ſich mit be—
ſonderer Vorliebe auf Seepflanzen, na—
mentlich auf Fucus- und Sargaſſum-Arten
anſiedeln, welche leicht von ihrem Stand—
ort losgeriſſen und dann durch Strömun—
gen über weite Meeresſtrecken ſchwimmend
fortgeführt werden können. Eine ziemliche
Anzahl, beſonders von pazifiſchen und in—
diſchen Kalkſchwämmen, iſt bis jetzt blos
auf ſolchen ſchwimmenden Tangen ange—
troffen worden und es iſt daher ſehr die
Frage, ob ihre urſprüngliche Heimat nicht
weit von ihrem Fundort entfernt war.
Jedenfalls iſt in dieſen paſſiven Wan—
derungen ein vorzügliches Mittel für die
weite geographiſche Verbreitung vieler
Calciſpongien gegeben.“
Mit dieſen Außerungen Haeckels, in
denen wir ein bemerkenswertes Zugeſtänd—
nis zu unſern Anſichten erkennen, ſind wir
ſelbſtverſtändlich vollkommeneinverſtanden.
Indeſſen wäre es uns doch lieber geweſen,
wenn der geiſtvolle Forſcher ſich bei dieſer
Gelegenheit über folgende Fragen beſtimmt
geäußert hätte: Welchen Anteil kann an
der Entſtehung neuer morphologiſcher Merk—
male die Zuchtwahl durch den Kampf ums
Daſein bei tieriſchen Gebilden haben, deren
Lebensweiſe bei dauernder, individueller
Iſolirung dieſen Konkurrenzkampf zwiſchen
den Artgenoſſen ſo gut wie unmöglich
macht? Hat die Bezeichnung Selektion
hier noch einen Sinn für Formbildungen,
die doch ſo einfach nur durch die zwei Fak—
toren der veränderten Nahrungsbedingun—
gen des neuen Standortes und der in—
dividuellen Variationsfähigkeit iſolirter
Koloniſten zuſtande kommen?
Die Migration vermittelt bei den Cal—
eiſpongien als zwingende, mechaniſche
Urſache die Artbildung nicht nur viel—
fach, wie Haeckel zugeſteht, ſondern offen—
bar ganz allein. Gerade die außeror—
dentliche Formenmannigfaltigkeit bei einer
durch individuelle Abſonderung ſo ausge—
zeichneten Ordnung des Tierreiches ſcheint
uns das beredteſte Zeugnis für die Richtig—
keit der Separationstheorie zu ſein.
Die paſſiven Wanderungen, welche
die auf Fucusarten und andern Algen feſt—
— = 5 N 3 + |
ſitzenden Schwämme mit den losgeriſſenen
Pflanzen oft durch weite Meere unfreiwil—
1
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
lig machen, ſind nicht nur ein vorzügliches
Mittel zu der ſehr weiten geographiſchen
Verbreitung, wie Haeckel richtig bemerkt,
ſondern auch ein noch ausgezeichneteres
Mittel, um durch außerordentliche Verän—
derungen in den äußeren Lebensbedingun—
gen jene ſtärkere morphologiſche Differen—
zirung hervorzurufen, die wir thatſächlich
bei ihnen ſehen. Dafür liefert gerade das
Faktum, daß ſo manche ausgezeichnete
Gattungen und Arten von Kalkſchwämmen
ausſchließlich nur auf ſolchen ſchwimmen—
den Fucusarten beobachtet worden ſind,
einen Beweis, wie ihn die Separa—
tionstheorie ſich nicht günſtiger
wünſchen konnte. *
Betrachten wir zum Vergleich mit den
Spongien eine andere Tierklaſſe und wäh—
len wir aus derſelben eine nicht minder
formenreiche Gruppe aus, welche durch
ausgezeichnetſte Lokomotionsfähigkeit und
ſonſtige individuelle Lebensweiſe ſich im
ſchroffſten Gegenſatz zu den oben beſchrie—
benen Organismen befindet. Wir können
uns in der That den Schwämmen gegenüber
keinen ſtärkeren Kontraſt denken, als die
äußerſt mobile und zu den höchſten Leiſtun—
gen aktiver Migration befähigte Klaſſe
der Vögel, und wir finden in derſelben eine
Familie, welche durch geographiſche Ver—
breitung und lokales Vorkommen der ver—
ſchiedenen Gattungen, Arten und Varie—
täten, ebenſo wie durch ihren merkwürdigen
Formenreichtum ganz ungemein geeignet
iſt, uns belehrende Aufſchlüſſe über die Ur—
ſache der Entſtehung dieſes Formenreich—
tums zu geben. 2
Die Familie der Trochiliden zeigt uns
34 Gattungen mit nahezu 500 beſchriebe—
nen Arten und vielen konſtanten lokalen
Varietäten. Die wirkliche Artenzahl dürfte
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
wohl doppelt ſo groß ſein, da gerade die
Gegenden, wo ſie am zahlreichſten erſchei—
nen, die ausgedehnten Waldlandſchaften
im Quellgebiete der großen ſüdamerikani—
ſchen Ströme und der ganzen öſtlichen Ge—
hänge der tropiſchen Anden, in ornitholo-
giſcher Beziehung noch ſehr wenig durch—
forſcht ſind.
So auffallend der Formenreichtum die
ſer Vogelfamilie iſt, ſo hat dieſelbe doch in
ihren Hauptzügen ſehr viel übereinſtim—
mendes. Der Schnabel der Trochiliden iſt
immer lang und dünn, die lange Zunge
geſpalten. Die Flügel ſind lang und ſpitz,
die Füße ſehr klein, dünn und ſchwach.
173
Schnee der Andeſitkegel bei Quito über
15,000 Meereshöhe.
Während ziemlich viele Arten echte
Wandervögel ſind und daher eine ſehr
weite geographiſche Verbreitung haben, be—
ſteht doch die weit überwiegende Zahl aus
wirklichen Stand vögeln, welche oft einen
ſehr eng begrenzten Wohnbezirk inne haben
und dieſen nicht leicht verlaſſen. Hier zeigt
ſich aber der wichtige Umſtand, daß letztere,
die Standſpezies, ſtets' vikariirende,
| d. h. jehrnaheverwandte Arten oder lo—
kale Varietäten meist in nächſter Nach—
Aber neben dieſen die ganze große Fami-
lie charakteriſirenden Zügen — welche ſtau—
nenswerte Mannigfaltigkeit von morpho—
logiſchen Eigentümlichkeiten in der Größe,
Form, Zeichnung, Farbe der Federn, be-
ſeonders bei der Unterfamilie Trochilinae,
den Kolibris im engeren Sinne, zu deren aus
ſchuppenartigen Federn gebildetem Kehl—
ſchild eine wunderbare Pracht der Metall—
farben und Zeichnungen, ſowie die verſchie
denartigen Formen von Federzierden an
Kopf, Schwanz, Füßen u. ſ. w. ſich geſellt!
Die Trochiliden ſind auf den Weltteil
Amerika beſchränkt, da fie trotz ihrer außer-
ordentlichen Flugkraft den weiten Ozean
nach beiden Seiten doch nicht zu überſchrei—
nen die verſchiedenen Gattungen und Ar—
ten die verſchiedenſten Klimate der geogra—
Südſpitze Patagoniens und dem Feuerland
und nordwärts bis zur Hudſonsbai und
und in allen Regionen, von den heißen Kü—
ſtenebenen beider Ozeane bis zum ewigen
ten vermochten. In Amerika aber bewoh-
phiſchen Breite wie der Meereshöhe. Man
findet fie vom Äquator bis zur äußerſten
Labrador, alſo durch 120 Parallelkreiſe,
barſchaft ihres Areals und doch ge—
wöhnlich räumlich abgetrennt uns zeigen,
während bei den Wanderarten die vikariiren—
den Formen im gleichen Areale faſt immer
gänzlich fehlen und erſt jenſeits der tren—
nenden Gebirgsketten erſcheinen oder, wenn
es deren in demſelben Verbreitungsgebiet
giebt, doch immer nur an ſporadiſchen Lü—
cken derſelben auftreten.
So z. B. iſt in den Pampas von Pata—
gonien und an der ſüdlichen Küſte von
Chile der Rieſe unter den amerikaniſchen
Kolibris, Patagona gigas Viellot, bis zur
höchſten Region der Anden in Bolivia ver—
breitet, wo ihn Warzewicz zwiſchen 12,000
bis 14,000“ Höhe fand. Innerhalb dieſes
weiten Verbreitungsgebietes ſehen wir kei—
ne andere ihm ſehr nahe ſtehende Form.
Dagegen iſt eine andere Art, Eustephanus
galeritus, nach Darwin's Mitteilung ſogar
noch weiter verbreitet. Dieſer Kolibri geht
von Tierra del fuego, wo ihn Kapitän
King inmitten eines Schneeſturmes fand,
durch ganz Chile und einen Teil von Bo-
livia und Peru bis gegen 10S. B.,über
einen Raum von 2500 engl. T Meilen.
Eine noch größere Verbreitung hat in Nord—
amerika der allen Spaziergängern in den
174
Wäldern bei den Niagarafällen und in Ka-
nada ſo bekannte und häufige Trochilus |
colubris, ein überaus mobiler Wandervo- |
gel, der im Sommer bis Labrador, unter
61 nordwärts, im Winter bis Mexiko und
der Weſtküſte von Guatemala bis gegen den
Parallel 15° ziebt. Dagegen überſchrei—
tet dieſe Art nicht die Rocky Mountains,
ſondern geht nur bis zum öſtlichen Fuß die-
ſes gewaltigen Gebirges. Erſt jenſeits des— |
jelben tritt als ſein eigentlicher Stellver-
treter der Trochilus Alexandri an der Weſt⸗ |
küſte Nordamerikas auf, der im Sommer |
bis nach Britifch = Columbia zieht und im |
Winter ſeine Station im ſüdweſtlichen Me⸗
rifo einnimmt, aber von der vikariirenden
Form des Oſtens ſtets räumlich ſcharf
geſchieden bleibt.
Andere ſehr merkwürdige und weit ver-
breitete, wandernde Arten unter dieſen
Trochiliden ſind Lampornis mango, Peta-
sophora serrirostris, Cometes sparganu-
rus, Chrysolampis moschitus. Überaus
viel zahlreicher, als ſolche ein ſehr großes
Territorium bewohnende Spezies ſind in
dieſer amerikaniſchen Familie die Stand⸗
vögel im ſtrengſten Wortſinne Trochiliden⸗
arten, deren Wohnbezirk ſich ſeltſamerweiſe
oft auf ein ganz enges Areal beſchränkt,
von dem wohl einzelne Individiduen oder
Paare mitunter emigriren, welches ſie aber
in größerer Zahl nie zu verlaſſen ſcheinen.
Standvögeln der großen Koli-
brifamilien zeigt uns aber die formbildende
Wirkung der räumlichen Abſonderung die
überraſchendſten Reſultate. „Jede Höhen—
ſtufung der amerikaniſchen Kordilleren —
ſchreibt der erfahrene britiſche Ornithologe
Gould — hat ihre eigentümliche Form
von Kolibri. Die Arten wechſeln etwa von
tauſend zu tauſend Fuß auf den verſchie⸗
Bei dieſen
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
tikaler Richtung. Jeder ſehr hohe iſo—
nach der Lokalität gewöhnlich konſtante
ſeinen eigenen Kolibri, der von den vikari⸗
denen Gehängen von der Baſis bis zur
Schneeregion.“ Gould hätte hinzufügen
können: Auch in horizontaler Richtung tritt
bei den iſolirten Vulkanen und Andeſit—
kegeln derſelbe Artenwechſel ein, wie in ver—
lirte Kegel beſitzt in der oberen Re—
gion eine oder mehrere Arten, die
ihm ganz eigentümlich ſind, und in
der Regel zeigen dieſelben die näch—
ſte Verwandtſchaft mit der Nach—
barart auf den nächſt gelegenen
Bergen.
Am auffallendſten offenbart ſich dieſe
merkwürdige Thatſache bei der auf die höch-
ſten Andesregionen beſchränkten, äußerſt
charakteriſtiſchen Gattung Oreotrochilus,
deren Arten oder Spielarten in den Ein-
zelheiten der Farbe und der Zeichnung je
Differenzen aufweiſen. Der koloſſale Berg
Akonkagua in Chile hat an dem von
Brid ges dort in der Region von 10,0007
entdeckten Oreotrochilus Leucopleurus
irenden Arten in Bolivia und Peru ent:
ſchieden abweicht. Die Vulkane Koto—
paxi und Pichincha beſitzen in der Re—
gion von 10,000 bis 14,0007 eine ihnen
eigene Art, die aber auf den hohen Nach— |
barbergen Chimboraſſo, Antiſana,
Tunguragua und Kay ambe fehlt und
dort durch andere ſehr ähnliche, aber doch 4
konſtant abweichende Arten erjegt wird. 2
Wenn man dieſe auch nur als lokale Was
rietäten betrachten will, ſo iſt es doch
immerhin überaus lehrreich und für die
zwingende mechaniſche Urſache der Form:
bildung bedeutſam genug, wie hier die
räumliche Abſonderung ſelbſt in ſo gro—
ßer Nähe und bei faſt völliger Gleichheit
e-
der äußeren Lebensbedingungen verän—
So z. B. hat der von Lattre entdeckte
Oreotrochilus Chimborazo, welcher auf
den Berg, deſſen Namen er trägt, aus—
ſchließlich beſchränkt, bis zur Höhe von
16,000“ kleine Dipteren auf dem ewigen
Schnee jagend) vorkommt, unter der blauen
Kehle ſtets einen grünen Streifen, der ſei—
nem nächſten Nachbar Oreotrochilus Pi-
chincha, welcher den nach ihm benannten
Vulkan bewohnt, ganz fehlt.
Analoge, intereſſante Fakta zeigt uns die
Gattung Ramphomicron. Der von Bour—
eier auf dem Vulkan Pichincha entdeckte
R. Stanleyi hat an der Kehle einen großen
metallſchimmernden Fleck, der oben ſma—
ragdgrün, unten rubinroth iſt, aber bei den
vikariirenden Arten dieſer Gattung, die auf
andern iſolirten Bergen von Ekuador, Ko—
lumbia, Peru und Bolivia vorkommen, ent—
weder durch andere Farben und Zeichnun—
gen erſetzt iſt oder auch ganz fehlt. Der—
ſelbe Vulkan beſitzt in ſeinen mittleren und
oberen Regionen noch einige andere ihm
eigentümliche Trochilidenarten, welche bis
jetzt an keinem anderen Berge gefunden
wurden. Darunter iſt der von Dr. Jame—
fon entdeckte, hochintereſſante, düſter ge—
färbte Eriocnemis lugens eine der auf—
fallendſten, ſtreng endemiſchen Formen.
Eine gute Anzahl anderer Spezies,
welche beſonders der unermüdliche Samm—
ler Warzewicz auf den iſolirten, erlo—
ſchenen Vulkanen in Zentral- und Süd—
Amerika ſammelte und Gould beſchrieb,
ſind gleichfalls ſtreng endemiſch, d. h. in
ihrem Vorkommen auf einen eng begrenz—
ten Standort, meiſt auf einen einzigen Berg
beſchränkt, ſo der prachtvolle Kolibri Se—
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
175
laphorus Seintilla mit rubinrother Kehle,
dernd wirkt und in der Regel den Anſtoß
zu irgend einer konſtanten Variation giebt.
grünem Rücken und weißem Bauche, wel—
chen der genannte Naturforſcher am Vulkan
von Chiriqui in der Höhe von 9000 ent-
deckte, und den ich ſpäter am gleichen Fund—
orte in einer etwas niedrigeren Region
ſammelte.
Auch einige der tief eingeſchnittenen
Eroſionsſchluchten in den Anden, die ſoge—
nannten Quebradas und Barrancas, zei—
gen uns merkwürdigerweiſe ganz eigen—
tümlich ſtreng endemiſche Arten, welche bis
jetzt noch nirgend ſonſtwo gefunden wur—
den. So z. B. iſt die prachtvolle Art Eu—
genia imperatrix, welcher Gould
der Gemahlin Napoleon III. zu Ehren die—
ſen ſyſtematiſchen Namen gab und in ſei—
nem großen Trochilidenwerk abbildete, auf
den einzigen Standort einer tiefen Bar—
ranca der Hochebene von Quito beſchränkt
und bis jetzt, ſo viel wir wiſſen, noch in kei—
ner anderen Gegend gefunden worden.
Ahnliche Beiſpiele von ſtreng iſolirtem
Vorkommen endemiſcher Arten könnten wir
noch in beträchtlicher Zahl anführen. Da
dieſe Angaben jedoch ſtets von dem unver—
meidlichen ſyſtematiſchen Namen begleitet
ſein müßten, ſo unterlaſſen wir das nähere
Eingehen, um den der Ornithologie un—
kundigen Leſer nicht zu ermüden.
Faſſen wir die Reſultate der Choro—
logie der Trochiliden für die vorliegende
Frage in kurzen Worten zuſammen. Alle
wandernden, weitverbreiteten Arten dieſer
formenreichen Vogelfamilie zeigen inner—
halb ihrer großen Verbreitungsgebiete nur .
ſelten vikariirende, d. h. ſehr ähnliche, nächſt
verwandte Spezies unter oder auch neben
ſich. Letztere treten aber gewöhnlich erſt
jenſeits der trennenden Schranken angren-®
zender Hochgebirge auf. Wo Ausnahmen
2
176
von dieſer Regel ſtattfinden, deutet die ver—
gleichende Unterſuchung der chorologiſchen
Verhältniſſe ſtets auf abgeſonderte Stand—
orte an den von der Stammart noch unbe—
ſetzten ſporadiſchen Lücken hin, welche den
Einwanderern eine Iſolirung von genü—
gender Dauer geſtatteten.
Bei den an Zahl bedeutend vorherr—
ſchenden Standvögeln dieſer großen Fami—
lie, deren Arten in ihrer Verbreitung auf
Areale von geringer oder mäßiger Ausdeh—
nung ſich beſchränken, erſcheinen dagegen
die vikariirenden Arten und Varietäten
überaus zahlreich und gewöhnlich in naher
Nachbarſchaft. In horizontaler Richtung
ſehen wir den Wechſel der Arten in den
geſchloſſenen Plateaux und Hochthälern
der Kordilleren oder auf iſolirten Kegel—
bergen in Intervallen von 10 bis 20 Mei—
len, in vertikaler Richtung in kürzeren Zwi—
ſchenräumen von 1000 bis 1500 Fuß von
einander getrennt. Erſcheint die ganzgleiche
Art ſporadiſch an verſchiedenen, ſehr weit
von einander getrennten Standorten ohne
lokale Variation, ſo deutet die Seltenheit
der Speziesform, ihre äußerſt geringe In—
dividuenzahl, ſtets ihr hohes Alter an.
Alternde Arten, die das Stadium der
Variationsfähigkeit überſchritten haben,
ſind, wie die Thatſachen lehren, auch bei
dauernder räumlicher Abſonderung einzel—
ner Emigranten unfähig, neue Formen zu
bilden. Alle Fakta der Geographie und
Chorologie der Trochiliden find den Re—
ſultaten der Separationstheorie entſchie—
den günſtig.
Betrachten wir vergleichungsweiſe die
geographiſche Verbreitung und das lokale
Vorkommen einiger anderer morphologiſch
beſonders charakteriſtiſcher Familien und
Gattungen des Tierreiches, deren Lebens—
weiſe und Lokomotionsfähigkeit zu den
Schwämmen wie zu den Luft bewohnenden
Vögeln in gleich ſchroffem Gegenſatz ſtehen.
Wenn trotz dieſes Gegenſatzes die chorolo—
giſchen Ergebniſſe die gleichen Argumente
für die Migration und Iſolirung als zwin—
gende Urſache der Artbildung liefern, ſo muß
uns dies bedeutſam genug erſcheinen. Wir
wählen hier beiſpielsweiſe aus der Klaſſe
der Reptilien und der Ordnung der Ophi—
dier, eine durch ihre morphologiſchen Merk—
male wie durch die räumliche Verbreitung
gleich intereſſante Gattung, an welcher der
formbildende Einfluß der geographiſchen
Abſonderung trotz ihrer verhältnismäßig
nicht großen Spezieszahl ſich beſtimmt ge—
nug erkennen läßt.
Die Gattung der Klapperſchlangen,
Crotalus, iſt gleichfalls auf Amerika be—
ſchränkt. Eine von ihr ſyſtematiſch abge—
trennte, nahe verwandte ältere Genusform
der Giftſchlangen, die Gattung Trigonoce-
phalus, hat dagegen ihre Repräſentanten
ſowohl in der alten wie in der neuen Welt.
Doch bedingt auch bei dieſem Genus die
geographiſche Trennung und nicht das
Klima zwei weſentliche morphologiſche Un—
terſchiede, ſo daß die Syſtematiker aus den—
ſelben zwei Untergattungen gemacht haben.
Sämmtliche amerikaniſche Arten der Gat—
tung Trigonocephalus haben nur einrei—
hige, ſämmtliche aſiatiſchen Spezies dage—
gen zweireihige Subcaudalſchilder.
Die verſchiedenen Arten der durch eine
Klapper am Schwanzende ausgezeichneten
Gattung Crotalus bewohnen entweder
wirklich getrennte oder in der Ausdehnung
der Peripherie ihrer Grenzen bedeutend
abweichende Areale, die aber doch wie die
Ringe einer Kette aneinander gereiht ſind
und auf die räumliche Sonderung als die
.
*
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
„
ge
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
zwingende Urſache der Artbildung deutlich
genug hinweiſen. Die ſehr charakteriſtiſche
Gattung iſt offenbar von einem gemein-
ſamen Urſprungszentrum ausgegangen,
don welchem aus die Emigranten in ver—
ſchiedenen Richtungen ſich verbreiteten.
Crotalus durissus, die bekannteſte
nördliche Form der Klapperſchlangen mit
vielen lokalen Varietäten geht im öſtlichen
Nordamerika vom 45.“ N. B. bis Texas.
Von dieſer Speziesform räumlich geſchieden
tritt weiter ſüdlich Crotalus rhombifer ein.
Im Südweſten der Vereinigten Staaten
auf trockene Savannen beſchränkt, erſcheint
C. miliarius als ſtellvertretende Form.
Im nordweſtlichen Quellgebiet des Miſſiſ—
ſippi am Fuße der Rocky Mountains ſehen
wir als nächſt verwandte vikariirende Spe—
zies C. tergeminus eintreten; während im
ſüdlichen Texas und Nordamerika C. con—
fluentus dieſe Nachbarform erſetzt.
weſtlichen Kolumbia, Venezuela und Bra—
ſilien häufig vorkommenden Form C. bor—
ridus, der bekannteſten und verbreitetſten
aller Klapperſchlangen. Nach der Sepa—
rationstheorie dürfte als Hypotheſe a pri-
ori angenommen werden, daß in den da—
zwiſchenliegenden, noch ſehr wenig erforſch—
ten zoologiſchen Provinzen Mittelamerikas
andere, noch unbeſchriebene Arten vorkom⸗
men müßten. In der That hat ſich dieſe
Hypotheſe auch teilweis bereits beſtätigt,
indem die von mir in Koſtarika geſammelte
Klapperſchlange von dem erfahrenen Rep—
tilienkenner Dr. Fitzinger nach genauer
Unterſuchung als eine neue „gute“ Spe—
zies erkannt wurde.
Von der Ordnung der Krokodilinen,
welche von den Zoologen früher mit den
17
*
Eidechſen zu einer Ordnung vereinigt war,
jetzt aber allgemein als eine morphologiſch
ſcharf getrennte Gruppe durch die ganze
Bildung des Skeletts, beſonders des Schä—
dels, wie auch der Ernährung-, Cirku—
lations- und Generationsorgane betrach—
tet wird, hat nur eine Gattung, die der
eigentlichen Krokodile, ihre Vertreter in—
nerhalb der warmen Zone der alten wie
der neuen Welt. Auch von dieſer ſicherlich
uralten Gattung ſind aber die einzelnen
Arten und Varietäten geographiſch ge—
trennt und meiſt auch an den Grenzen ihres
Verbreitungsgebietes genügend abgeſon—
dert. Selbſt das gemeine afrikaniſche Kro—
kodil des Nils zeigt uns vier verſchiedene,
räumlich geſonderte, lokale Varietäten, wel—
che als in einzelnen konſtanten Merkmalen
von einander abweichend von Dumeril
beſchrieben wurden. Die durch größere
räumliche Entfernung getrennten Arten,
Ein weites Gebiet trennt die letztge—
nannte Art von der ſüdamerikaniſchen, im
wie Crocodilus biporcatus an den Fluß—
mündungen Hindoſtans und der Sunda—
inſeln, C. galeatus bis jetzt nur in Siam
gefunden, C. catakractus an der Küſte des
ſüdweſtlichen Afrika, C. Gravesi im Kongo,
ſowie die in den Flüſſen der Antillen und
Südamerika vorkommenden Krokodilarten
ſind morphologiſch ſcharf genug getrennt,
um ganz im Einklang mit ihrer geographi—
ſchen Abſonderung als „gute“ Spezies be—
trachtet zu werden.
Analoge Thatſachen der geographiſchen
Verbreitung zeigt uns die nächſt verwandte
amerikaniſche Familie der Alligatoren. Die—
ſelbe iſt auf die warme Zone 30° bis 34°.
S. B. beſchränkt und ſämmtliche Arten er—
ſcheinen in abgeſonderten Provinzen. Bei
der noch immer ungenügenden und unvoll—
ſtändigen Erforſchung der Küſtenländer des
tropiſchen Amerika durfte man der Sonde—
L
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3.
178
rungstheorie zufolge a priori als jehr wahr⸗
ſcheinlich annehmen, daß in der weiten
Lücke zwiſchen Mexiko einerſeits, Kolumbia
und Peru andererſeits, noch einige unbe—
ſchriebene Arten vorkommen müßten, wel-
che als nächſte Verwandte von Alligator
Lucius im Norden, A.sclerops in Guyana
und A. punctatus in den Antillen ſich dar—
ſtellen würden. Dieſe hypothetiſche An—
nahme wurde auch bereits teilweiſe beſtä—
tigt. Die von mir aus dem Weſten des
Staates Panama (Provinz Chiriqui) mit⸗
gebrachte Art hat ſich durch die genaue
Unterſuchung Siebolds und Fitzingers
wirklich als eine neue gute Spezies der
Gattung Alligator ganz in Übereinſtim⸗
mung mit den Poſtulaten der Separations⸗
theorie ergeben und berechtigt uns zur An—
nahme, daß auch die weiter nordwärts
im Nikaragua-See und in den Flüſſen
am Guatamala vorkommenden, bis jetzt
noch nicht unterſuchten Alligatoren ſo—
wohl von den ſüdlichen als von den nörd—
lichen Arten dieſer Gattung morphologiſch
abweichen.
Aus der Klaſſe der Säugetiere iſt es
die Ordnung der Primaten und in dieſer
ſind es beſonders die afrikaniſchen Affen—
gattungen, welche durch ihr chorologiſches
Vorkommen, die weite Trennung der Ent—
ſtehungszentren und die kettenförmige Auf—
einanderfolge der Wohnareale ausgezeich—
nete Argumente für die Theſe liefern: daß
in den Wanderungen und in den Iſolirungen
der von einer gemeinſamen Urheimat aus-
gegangenen Individuen die züchtende Ur—
ſache der Arten liegt und daß eine Selektion
durch den Kampf ums Daſein dabei gar
keine oder nur eine äußerſt geringe mitwir⸗
kende Rolle ſpielte. Die durch Migration
von einem gemeinſamen Ausgangspunkt,
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
den man früher „Schöpfungszentrum“
nannte, ſich verbreitenden Affenindividuen
mußten da, wo ein durch Entfernung oder
mechaniſche Schranken die Iſolirung be—
günſtigender Wohnort ſie lange Zeit gegen
die Kreuzung mit der Stammart ſchützte,
zu veränderten Formen ſich ausprägen.
Jeder iſolirte- Standort, wo der Koloniſt
von der Maſſenkonkurrenz ſeiner Artgenoſ—
ſen befreit iſt, bringt auch eine Anderung
in den Nahrungsverhältniſſen mit ſich und
muß die individuellen Merkmale der
Stammeltern in ihren Nachkommen weiter
entwickeln. Afrika, der an Tierformen,
namentlich aus der Klaſſe der Säugetiere,
reichſte Erdteil, it durch ſeine Raumver—
hältniſſe und vertikale Gliederung unter
allen Kontinenten auch der geeignetſte, in
der geographiſchen Verteilung der Arten
die einfache Urſache ihrer Bildung erken—
nen zu laſſen.
Ausſchließlich afrikaniſch iſt die Affen—
gattung Cercopithecus, die „Meerkatzen“,
von denen nahezu 30 Arten bekannt ſind,
welche die Küſtenländer des gewaltigen
Weltteils innerhalb der heißen Zone be—
wohnen und ſich von dort auch teilweiſe
nach den höheren Stufen und Plateaux der
Binnenländer verbreitet haben. Vom jüd-
lichen Kafferland ſehen wir die verſchiede—
nen Spezies im weiten Halbringe einerſeits,
in nordöſtlicher Richtung gegen Mozam—
bique, Abeſſinien, Nubien, andererſeits in
nordweſtlicher Richtung durch Guinea nach
dem Senegal auf einander folgen. Die vom
Kontinent abgeſonderten Inſeln Zanzibar
und Fernando haben der Iſolirungstheorie
genau entſprechend ihre eigenen Spezies.
Einige Arten von ſehr weiter Verbreitung,
wie z. B. Cercopithecus sabaeus, gehen
unverändert durch die ganze Breite des
TR u ee
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
Kontinents von Senegambien bis Kordo—
fan, Sennar, Abeſſinien. Die Maſſen—
wanderungen, der ſtarke Nachſchub vieler
Individuen der gleichen Art, verhinderte
auch bei dieſer Art neue Speziesbildungen,
welche ohne eine Iſolirung von genügender
Dauer nicht zuſtande kommen können.
Die große Mehrzahl der afrikaniſchen
Affenarten zeigt uns entweder ſcharf ge—
trennte oder doch in der Ausdehnung ihrer
Grenze ſehr abweichende Areale, wo die
verſchiedenen Nachbarſpezies gewöhnlich
nur an den Enden ihrer Verbreitungs—
gebiete ſich berühren. Immer aber folgen
dieſe Wohnbezirke der Arten auf einander,
wie die Ringe einer Kette oder wie die
Maſchen eines Netzes. Die Nachbarſpezies
ſtehen ſich in der Regel morphologiſch ein—
ander näher, als die ferner wohnenden
Arten, wenn auch bei letzteren die klima—
tiſchen Verhältniſſe ihrer Standorte ſich
mitunter beinahe gleichen, während Nach—
bararten, beſonders auf den nächſten Ge—
birgsſtufen, oft weſentlich verſchiedene
Klimate bewohnen. Nur bei ſtarken Ab—
weichungen in den äußeren Lebensbeding—
ungen des Nachbargebietes kommen auch
ſtärkere morphologiſche Sprünge vor.
Dieſe zoo-geographiſchen Thatſachen
ſind mit der Separationstheorie ganz im
Einklang, ebenſo das Faktum der meiſt durch
große Entfernungen getrennten Entſte—
hungszentren oder Urheimate der Arten.
Letzterer Umſtand aber, auf deſſen Bedeu—
tung wir großes Gewicht legen, iſt dage—
gen in ſcharfem Widerſpruch mit der Dar—
win'ſchen Selektionstheorie, welcher zu—
folge in dem am dichteſten bevölkerten Zen—
trum des Wohngebietes der Stammart
oder doch nahe demſelben bei einem inten—
ſiven Kampfe ums Daſein durchſchnittlich
179
die Chancen für neue Formbildungen am
größten ſein müßten.
Analoge Thatſachen der Verbreitung
der Spezies, wie der Anreihung ihrer
Wohnareale zeigen uns auch andere arten—
reiche Affengattungen, wie z. B. die afri—
kaniſche Gattung der Paviane (Cynocepha-
lus), die ſüdaſiatiſche Gattung der Schlank—
affen (Semnopithecus) und die anthropo—
morphe Gattung der Gibbons (Hylobates),
deren gute Arten nach neueren Forſchun—
gen in größerer Zahl ſich zeigen, als man
früher angenommen hatte.
Der formbildende Einfluß der räum—
lichen Trennung tritt bei letztgenannter
Gattung auffallend hervor. Die geogra—
phiſch auf einander folgenden Inſeln Su—
matra, Java, Solo, Borneo haben jede
ihre beſondere Art von Gibbon. Die Halb—
inſel Malakka und das Innere von Kam—
bodſcha haben wieder ihre beſondere ein—
heimiſche Spezies. Wenn auf der großen
Inſel Sumatra neben dem Siamang noch
eine zweite Art der Ungko (Hylobates
variegatus) in verſchiedenen lokalen Va—
rietäten auftritt, ſo ſind doch Umfang und
Grenzen der Wohnbezirke beider Spezies
von einander abweichend. 0
Unter den Arten der platyrhinen
Affengattungen Amerikas herrſchen in der
räumlichen Verteilung ähnliche Verhält—
niſſe. Wo größere Lücken in der geogra—
phiſchen Verbreitung vorkommen, wie z. B.
bei dem ſüdamerikaniſchen Genus Chryso-
thrix, darf man immer auf die Erſchei—
nung einer neuen Art gefaßt ſein. So hat
die von mir im Nordweſten des Staates
Panama geſammelte, dem zoologiſchen
Muſeum Münchens zugehörige Art dieſer
Gattung, welche dort ausſchließlich nur in
der Provinz Chiriqui vorzukommen ſcheint,
180
in den ſüdöſtlichen Provinzen Panamas
aber fehlt und von ihren ſüdamerikani—
ſchen Verwandten ſehr weit abgetrennt iſt,
durch vergleichende Unterſuchung ſich als
eine neue gute Spezies ergeben, wie nach
ihrer geographiſchen Abſonderung und in
voller Übereinſtimmung mit dem Poſtulate
der Separationstheorie a priori anzuneh—
men war.
Auch in der formenreichen Klaſſe der
Fiſche offenbart die vergleichende Betrach—
tung der geographiſchen Verbreitung der
Gattungen, Arten und das lokale Vor—
kommen mancher auf ein enges Wohnge—
biet beſchränkten Varietäten zahlreiche That—
ſachen, welche für die Theorie der Form—
bildung durch räumliche Abſonderung nur
eine günſtige Deutung zulaſſen. Wirklich
kosmopolitiſche Arten fehlen unter den
Fiſchen. Wenn die zuſammenhängenden
Meere ihren ſchwimmenden Bewohnern
ein unermeßliches Wandergebiet offen laſ—
ſen, ſo wird daſſelbe doch niemals von den
einzelnen Arten in ſeiner vollen Ausdeh—
nung benützt. Die Fiſche des hohen Mee—
res zeigen uns meiſt andere Spezies als
die Fiſche der Küſtenregionen. Die Gat—
tungen und Arten wechſeln auch oft mit
den größeren Tiefen. Wenngleich bei vie—
len Arten die Verbreitungsgebiete ſehr
groß ſind, ſo haben ſie doch immer ihre
Grenzen, die, wenn auch im gewiſſen Sinn
dehnbar und veränderlich, doch auf große
Diſtanzen nur von einzelnen Emigranten,
ſehr ſelten aber von ganzen Individuen—
maſſen überſchritten werden.
Ein ſchmaler Iſthmus wie die Land—
enge von Panama ſcheidet zwei ſpezifiſch
ganz verſchiedene Faunen, wenn ſie auch
generiſch die größte Ahnlichkeit mit einan—
der zeigen. Aber auch ohne die trennende
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
Schranke eines Kontinents wechſeln die
Arten bei großer Entfernung ſelbſt unter
den gleichen Breiten. Jede Inſelgruppe,
wenn ſie fern von einem Kontinent und
von anderen Archipeln liegt, ja ſelbſt ein—
zelne, fernliegende Inſeln, wie St. Helena,
Aszenſion und Waihu, beſitzen an ihren
Küſten faſt nur eigentümliche Spezies, ob—
wohl dieſelben meiſt weit verbreiteten Gat—
tungen angehören. Sämmtliche Seefiſche,
welche die wiſſenſchaftliche Expedition des
britiſchen Schiffes Beagle von dem Archi—
pel der Galapagos mitbrachte, waren
durchaus endemiſche Arten, welche an
der gegenüberliegenden Küſte Südameri—
kas nie beobachtet wurden. Der Hawal—
archipel, die Fidſchiinſeln, die Samoa—
gruppe, die Marqueſas haben ebenſo ihre
beſonderen endemiſchen Arten. Bei ozeani—
ſchen Archipeln, welche, wie die Kanariſchen
Inſeln, die Madeiragruppe, die Azoren,
nicht ſehr weit entfernt von einander liegen,
ſinkt dagegen die Prozentzahl der ende—
miſchen Spezies beträchtlich.
Die vikariirenden Arten der Seefiſche
ſcheinen, ſoweit die bisherigen Unterſu—
chungen ihres Vorkommens reichen, auf
eine ähnliche geographiſche Verteilung,
wenn auch mit viel größeren Verbreitungs—
gebieten, hinzudeuten, wie die vikariiren—
den Arten aller ſehr formenreichen Gat—
tungen der Landtiere, namentlich der In—
ſekten. Die Wohnareale mit ihren oft
wechſelnden Grenzen ſind ſtets aneinander
gereiht, wie die Maſchen eines Netzes, und
die Nachbararten ſind ſich in der Regel
morphologiſch ähnlicher, als die in den
entfernten Gebieten vorkommenden Arten,
wenn auch letztere unter den gleichen Pa—
rallelkreiſen erſcheinen.
Wenn man aus dem Umſtande der ſehr
b
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
weiten Verbreitung vieler Arten von Süß—
waſſerfiſchen durch verſchiedene, jetzt ge—
trennte Flußgebiete und Seebecken ein Argu—
ment gegen die formbildende Wirkung der
Iſolirung deduziren wollte, ſo würdeman ſich
bedeutend irren. Der Fall gehört eben zu den
vielen Fällen, wo nach Goethes richtiger
Bemerkung das Naturgeſetz ſich oberfläch—
lich verbirgt, bei eingehender Unterſuchung
ſich aber doch offenbart und uns auch den
Grund des ſcheinbaren Widerſpruches der
Thatſache mit der Theorie enthüllt.
Die jetzigen Stromſyſteme Europas,
Nordaſiens und Nordamerikas ſind verhält—
nismäßig von ſehr rezentem Urſprung. Die
eingefurchten Flußbetten, in welchen die Ge—
wäſſer gegenwärtig laufen, bildeten ſich
erſt ſehr allmählich ſeit der Eiszeit. Ihre
Eroſionsfurchen gehören, wie auch die mei—
ſten Becken der Süßwaſſerſeen in ihrer ge—
genwärtigen Ausdehnung, der quaternären
Periode an. Noch in der Diluvialzeit über—
deckten die ſüßen Waſſer ſehr weite Lan—
desſtrecken und begünſtigten die Maſſen—
wanderung, nicht aber die Iſolirung ein—
zelner Individuen ihrer Tierbewohner.
Dazu kommt noch ein wichtiger Umſtand
in der Lebensweiſe der Süßwaſſerfiſche,
von denen nicht wenige Arten auch das
Meerwaſſer gut vertragen und von einer
Flußmündung zur andern wandernkönnen.
Dieſe Umſtände erklären die ſehr weite
Verbreitung vieler Arten von Süßwaſſer—
fiſchen, ohne der Theorie der Formbildung
durch Abſonderung zu widerſprechen. Im
Gegenteil liefert das Vorkommen von ausge-
zeichneten, vikariirenden Nachbararten und
Varietäten in den Gebirgswäſſern, wo der
ſchmale Damm der Waſſerſcheide die Fiſche
meiſt ſcharf und beſtimmt trennt und die
dauernde Abſonderung weniger Individuen
181
begünſtigt, auch bei gewiſſen weitverbrei—
teten Fiſchgattungen, z. B. der Gattung
Salmo und noch mehr bei einigen beſon—
ders charakteriſtiſchen, tropiſchen Siluriden,
ſchlagende Argumente für die Lehre der
Artbildung durch räumliche Sonderung.
Das Genus Salmo gehört zu den weit—
verbreitetſten, artenreichſten Gattungen und
zeigt beſonders unter den Bachforellen
neben den verwandten guten Arten auch
eine außerordentlich große Zahl lokaler
Varietäten, bei denen beſonders die Ab—
weichungen in Form und Farbe der Fle—
cken thatſächlich von ihrer räumlichen Tren—
nung herrühren. Identiſche Arten haben
auch bei den Forellen in der Regel ein
großes zuſammenhängendes Verbreitungs—
gebiet. Die nördliche Form unſerer euro—
päiſchen Forelle, Salmo fario L., welche
maſſenhaft über ſchmale Meere ſchwimmt,
kommt in Island, Skandinavien, Irland
und Schottland faſt gleichförmig mit 59
bis 60 Wirbeln vor. Die zentraleuropäi—
ſche Form, Salmo Ausonii, hat nur 56
bis 58 Wirbel. Auf den ſüdlichen Gehän—
gen der Alpen wird dieſelbe durch eine in
der Farbe und Form der Flecken abwei—
chende Spielart erſetzt. Nordafrika, Weſt—
aſien, Zentralaſien, Indien, China, Japan,
Nordamerika haben ihre eigentümlichen
Forellenarten.
An dem gleichen Abfall des Gebirges
haben die neben einander in gleicher Rich—
tung fließenden Bäche in der Regel iden—
tiſche Spezies. Auf dem entgegengeſetzten
Abfall der Waſſerſcheiden treten aber faſt
in allen Hochgebirgen mehr oder minder
charakteriſtiſche Spielarten auf, welche in
der Farbe und Form der Flecken von der
| Nachbarform des andern Abfalls merklich
differiren. Nicht nur die beiden Gehänge
182 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. E
der Alpen, ſondern auch die Waſſerſcheiden
des Kaukaſus, Albrus und Taurus zeigen
uns in den zwei verſchiedenen Richtungen
der Flußläufe konſtante Varietäten. Ge—
gen die Annahme, dieſe Erſcheinung auf
Rechnung der Verſchiedenheit des Klimas
und der Temperatur in den einerſeits nach
Süden, anderſeits nach Norden fließenden
Gebirgsbächen zu ſetzen, ſpricht der Um—
ſtand: daß auch die nach der Meridianrich—
tung ſtreichenden Hochgebirge, wie die Rocky
Mountains von Nordamerika und die
Kordilleren von Südamerika, bei ganz glei—
chen klimatiſchen Verhältniſſen beider Ge—
birgsgehänge dennoch dieſelbe plötzliche An—
derung der Faunen zeigen.
Aus den Rocky Mountains giebt der
amerikaniſche Reiſende Richardſon fol—
gende intereſſante Notiz: Wenn alte Trap—
per, welche dort bis zur Waſſerſcheide em—
porſteigen, ſich mitunter auf den Plateaux
verirren und an dem oft ſchlangenartig ge—
wundenen Laufe der Bäche nicht zu erken—
nen vermögen, ob dieſe dem atlantiſchen
oder dem ſtillen Ozean zufließen, pflegen
ſie, um ſich zu orientiren, die Angel aus—
zuwerfen. Die rote oder ſchwarze Flecken—
farbe der gefangenen Forellen giebt ihnen
dann genaue Auskunft, nach welchem Ozean
der Bach ſich wendet.
Eine der merkwürdigſten zoo-geogra—
phiſchen Thatſachen, welche für die vorlie—
gende Streitfrage beſonders bedeutſam iſt,
bietet uns das Vorkommen einiger Arten
von Siluriden in den Gewäſſern der höch—
ſten Andesregionen des äquatorialen Ame—
rika. Dort wurde von Alexander von
Humboldt im Hochland von Quito ein
ſeltſam geſtalteter, kleiner Fiſch aus der
Familie der Welſe entdeckt, welchen die
Eingebornen Prenadilla nennen, und den
Humboldt unter dem Namen Pimelodus
Cyclopum beſchrieb. Der berühmte fran—
zöſiſche Naturforſcher Bouſſaingault
brachte 30 Jahre ſpäter aus demſelben
Hochlande eine zweite Art vom öſtlichen
Gehänge der Waſſerſcheide, ſowie auch
eine Zahl von Exemplaren der vom Chim—
boraſſo und Pichincha in weſtlicher Rich—
tung ſtrömenden Bäche nach Paris.
Die nähere Unterſuchung durch Cuvier
und den erfahrenen Ichthyologen Valen—
ciennes ergab, daß die Fiſche wirklich zwei
verſchiedenen Arten angehören, deren mor—
phologiſche Abweichung trotz ihrer ſonſti—
gen großen Ahnlichkeit dieſen Forſchern be—
trächtlich genug erſchien, um ſogar zwei
verſchiedene Gattungen aus ihnen zu
machen. Die gabelförmig zugeſpitzten, et—
was umgebogenen Zähne, wie ſie nach dem
Ausſpruch des genannten franzöſiſchen
Ichthyologen ſonſt bei keiner andern bekann—
ten Welsart vorkommen, ſind für beide
Fiſcharten charakteriſtiſche Eigentümlichkei—
ten, ebenſo wie die kleinen Stacheln, mit
denen der erſte Strahl der Bruſt- und
Bauchfloſſen unterhalb beſetzt iſt und durch
welche die kleinen Höhlenfiſche befähigt wer—
den, auf dem Boden der ſehr reißenden
Gebirgsbäche gleichſam zu klettern. Beide
Fiſche ſind, wie neuere Nachforſchungen,
die auf meine Veranlaſſung in Imbabura
und Riobamba angeſtellt wurden, durchaus
beſtätigten, ſtets Nachbararten, aber
durch die Waſſerſcheide in ihrem
Vorkommen ſcharf getrennt.
Das Vorkommen dieſer beiden
endemiſchen Welsarten gehört zu
den wichtigſten Thatſachen, welche
uns die Chorologieder Organismen
in Bezug auf die mechaniſche Urſa—
che der Entſtehung der Arten dar—
Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung.
bietet. Schon Antonio de Ulloa hatte
in ſeinem 1792 zu Madrid erſchienenen
„Noticias Americanas“ die ungeheure In—
dividuenzahl der in den ſtehenden Waſſern
kleiner Seen und Weiher noch mehr als
in den Bächen vorkommenden Prenadillen
erwähnt. Dieſelben wurden während ſei—
ner Anweſenheit in der Provinz Imbabura
von den Indianern an den ſeichten Stellen
der Seen ſogar in Sieben gefangen. Die
gefräßigen, kleinen, ſchwach ſehenden Fiſche
beißen, wie ich mich ſelbſt während meines
längeren Aufenthaltes im Hochlande von
Quito oft überzeugte, an den verſchieden—
ſten Ködern und werden von den Indianer—
buben mit den roheſten Angeln, wie z. B.
mit umgebogenen Stecknadeln, an welche
ſie Würmer, Schnecken und Fliegen befe—
ſtigen, aus dem Waſſer gezogen. Haupt—
nahrung der Prenadillen ſcheinen die klei—
nen Dipteren zu ſein, die dort in keiner
Jahreszeit fehlen.
Der See von Colta bei Alt-Riobamba
(10,340 P. F.), der kleine Gebirgsſee am
Fuße des Capac-Urcu (11,5257 ebenſo wie
die Seen der Provinz Imbabura haben
immer nur eine Form der Prenadillas.
Nirgendwo wurde ein gemeinſames Vor—
kommen der beiden Arten und ebenſowenig
das Vorkommen von zwei Varietäten in
einem gemeinſamen Seebecken beobachtet.
183
Trotz der ungeheuren Individuenzahl
dieſer eigentümlichen Welſe in den hochge—
legenen Gewäſſern der Anden, wo der
Kampf ums Daſein zwiſchen den gefräßi—
gen Fiſchen in intenſivſter Weiſe geführt
wird, und daher alle Bedingungen für eine
Selektion im Darwin'ſchen Sinn günſtig
liegen, hat ſich im gleichen Seebecken, am
gleichen Gehänge der Waſſerſcheide in der
oberſten Region keine zweite Spezies ge—
bildet. Dagegen ſehen wir eine ſolche
nahe verwandte, mit derſelben eigentümli—
chen Zahnform und ähnlichen Stachelfloſ—
ſen verſehene, ſonſt aber morphologiſch
weſentlich abweichende „gute Art“ jenſeits
der ſchmalen, aber trennenden Schranke der
Waſſerſcheide am entgegengeſetzten Ge—
hänge erſchienen.
Unter den zahlreichen induk—
tiven Beweiſen, welche die Choro—
logie der Organismen in dem Vor—
kommen der ſogenannten vikari—
irenden Formen darbietet, kenne
ich keinen Fall, der ein beredteres
Zeugnis gegen die Selektion im
Darwinſchen Sinn und für die
artbildende Wirkung der räum—
lichen Sonderung enthält, wie
das Vorkommen der beiden vikari—
irenden Wels arten im Hochland
von Quito.
Über einen toten Punkt in der Phyfiologie der
I usgehend von den wenig be—
—friedigenden Erklärungen, die
in den Lehrbüchern der Phy—
ſtandekommens der Herzer—
weiterung gegeben ſind, drängt ſich mir
die Überzeugung auf, daß der Grund
dieſer auffallenden Thatſache in letzter
Inſtanz in der bisherigen einſeitigen Be—
handlung und Beurteilung der Erſchei⸗
nungen liegt, welche uns die phyſiolo—
giſche Thätigkeit der Muskelzelle darbietet.
Als Hauptfaktor der Herzdilatation fin-
det man entweder den in der Bruſt—
höhle herrſchenden negativen Druck oder
aber die Elaſtizität angeführt, mit wel—
cher das Herz nach abgelaufener Kon—
traktion in ſeinen eigentlichen Ruhezuſtand
zurückſchnellen ſoll; von der einen Seite
faßt man alſo die Erweiterung der Herz—
höhlen als paſſiven, von der andern
als aktiven Vorgang auf. So legt Prof.
J. Ranke den Hauptnachdruck auf den
negativen Druck in der Bruſthöhle.
höh
Schon a priori ift es in hohem
Dr. H.
ſiologie von der Art des Zus
Muskelzelle.
Von
Kühne.
ſchwankender Faktor bei der Füllung des
Herzens mit Blut die Hauptrolle ſpielen
ſollte, auf der doch in erſter Linie die
Möglichkeit der feineren Anpaſſung an
die wechſelnden Blutbedürfniſſe der übri—
gen Körperteile beruht. Ausſchlaggebend
in dieſer Frage iſt indeſſen die bekannte
Thatſache, daß das Herz nicht allein bei
geöffneter Bruſthöhle mit künſtlich unter—
haltener Reſpiration normal pulſirt, fon-
dern ſogar nach vollſtändiger Trennung ö
aller ſeiner Verbindungen mit dem übrigen
Organismus noch eine zeitlang fortfährt,
ſich rhythmiſch zu kontrahiren und zu di—
latiren — unter Umſtänden alſo, wo von
einem negativen Drucke keine Rede mehr
ſein kann; wobei kaum darauf hin—
gewieſen zu werden braucht, daß letzterer
in der Bruſthöhle auch unter phyſiolo—
giſchen Verhältniſſen keineswegs konſtant
iſt, ſondern bei mannigfachen Vorgängen,
wie z. B. bei der Stuhlentleerung, durch
Preſſen in den poſitiven übergeht. Dieſe
Gründe dürften wohl genügen, um jene
Erklärungsweiſe des Zuſtandekommens
Grade unwahrſcheinlich, daß ein ſo | der Herzerweiterung abzuweiſen.
Gehen wir nun zu dem von anderer
Seite beſonders betonten Faktor der Ela—
ſtizität über, jo möchte es ſich zunächſt
empfehlen, den Begriff der letzteren feſt—
zuſtellen. Wir nennen einen feſten Kör—
per elaſtiſch, der ſeine durch äußern Zug
oder Druck veränderte frühere Form
alsbald wieder anzunehmen vermag,
wenn die äußere Kraft zu wirken auf—
hört. Geſtützt auf dieſe Definition kön—
nen wir ohne Bedenken ſehr viele tieri-
ſche Gewebe für mehr oder weniger ela—
ſtiſch erklären: Knochen, Knorpel, Sehnen,
Bänder und vor allem die elaſtiſchen
Häute, die, wo ſie auch immer vor—
kommen mögen — in Verbindung mit
dem willkürlichen Muskel oder im Zir—
kulationsapparate — ihre durch eine
äußere Kraft veränderte Form und Lage
wieder annehmen, ſobald die äußere
Beeinfluſſung aufhört. Anders ſieht es
aber mit den ſupponirten elaſtiſchen
Eigenſchaften der Muskelzelle aus, die
man, geſtützt auf die bekannten Experi—
mente E. Webers, als erwieſen annimmt.
Letzterer machte ſeine Beobachtungen an
lebensfriſchen Muskeln, die er aufhing
und mit einem Gewichte belaſtete. Aus
der nach Abnahme deſſelben allmäh—
lich erfolgenden Wiederverkürzung des
Muskels ſchloß er auf deſſen elaſtiſche
Eigenſchaften. Schon eine oberflächliche
Betrachtung läßt uns derartige Verſuche
als zweifelhaft erkennen, weil eine durch
Zug ungewöhnlich ausgedehnte Muskel—
zelle immerhin noch ſoviel Kontraktions—
fähigkeit behalten haben kann, um ſich,
wenn auch langſam, auf die frühere
Länge zurückzuziehen. Nehmen wir trotz—
dem den Muskel als elaſtiſch an, ſo
kann ſich dieſe Eigenſchaft doch nur
H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle.
185
auf den verlängerten Muskel beziehen,
der ſich durch ſeine ihm innewohnende
Elaſtizität verkürzt, nicht aber auf den
| verkürzten Muskel, der ſich verlängert.
Nun tritt aber bei den Hohlmuskeln die
Höhlenerweiterung nach der Muskelver—
kürzung ein; wir müßten hier alſo an—
nehmen, daß der kontrahirte Muskel
ſich durch ſeine eigentümlichen elaſtiſchen
Eigenſchaften verlängerte, was herzlich
ſchlecht mit den Experimenten E. Webers
| ſtimmen würde.
Fernerhin vermiſſen wir aber noch
die in der Definition der Elaſtizität po—
ſtulirte äußere Kraft, die der betreffen—
den Formveränderung des Körpers vor—
aufgehen muß, und zum Schluß möchten
wir noch darauf hinweiſen, daß es doch
ohne Zweifel kaum ſtatthaft erſcheint,
die zweckmäßigen Bewegungen eines ſo
hochſtehenden Gewebes, die ſich mit einer
ſo wunderbaren Präziſion anpaſſen und
in den nächſten Beziehungen zum Nerven—
ſyſteme ſtehen, von einer Körpereigen—
ſchaft abhängig zu machen, die, ſelbſt
toten Körpern zukommend, noch nirgends
als motoriſchen Reizen zugängig erkannt
worden iſt. N
Dies dürfte wohl genügen, um auch
die Elaſtizität als Hauptfaktor der Herz—
erweiterung von der Hand zu weiſen,
denn die im Peri- und Endokardium
vorhandenen, wirklich elaſtiſchen Faſern
können nur dann die Kontraktion un—
terſtützen, wenn fie durch die dilatirende
Kraft vorher ausgedehnt wurden.
Da nun aber im Herzen bekanntlich
keine Muskelanordnung beſteht, durch de—
ren Kontraktion eine Erweiterung der
Herzhöhlen bewirkt werden könnte, ſo
bleibt uns zuletzt nur noch übrig, mit
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3.
186
einigen Worten den Faktor der Erſchlaf—
fung zu beſprechen, der ja auch hin und
wieder von Phyſiologen bei der Erklä—
rung der Herzerweiterung gebraucht wird.
Erſchlaffungszuſtand der willkürlichen
Muskeln etwas näher, ſo finden wir,
daß dieſer Ausdruck ziemlich unglücklich ge—
giſchen Zuſtänden des Muskels keiner
befindet, auf den er mit Recht angewen—
det werden kann.
jede Muskelwunde, und jeder durchſchnit—
tenen Sehne folgt eine Muskelverkürzung,
genannten Muskeltonus geführt haben.
Ebenſo läßt ſchon die oberflächliche Be—
trachtung eines pulſirenden Herzens, mag
es nun noch Blut führen oder vollſtän—
kennen, und auch die Art und Weiſe der
Erweiterung der kleineren Arterien macht
auf den Beobachter entſchieden den Ein—
druck des aktiven Vorſichgehens, wenn man
quellen umgeſehen hat, durch welche die—
ſer aktive Vorgang geleiſtet werden könnte.
| Nach den obigen Auseinanderſetzun—
gen ſind wir gezwungen anzunehmen,
wie es die Herzerweiterung iſt, in der Art
genehmen Lücke vorliegt, jo bleibt uns
zur Erklärung dieſes auffallenden Um—
ſtandes nur übrig, auf die elementare
Betrachten wir zunächſt den ſogenannten
wählt iſt, weil ſich unter den phyſiolo-
In der That klafft
Erſcheinungen, die zur Annahme des ſo-⸗
dig aus feinen Verbindungen herausge-
trennt fein, von Erſchlaffung nichts er-
ſich auch bis jetzt vergebens nach den Kraft-
daß wir uns hier vor einem ſogenann-
ten toten Punkte in der Phyſiologie be
finden. Wenn es unſern eminenten For-
ſchern auf dieſem Gebiete bis jetzt nicht
gelungen iſt, eine ſo wichtige Bewegung,
ihres Zuſtandekommens klarzuſtellen, und
hiermit die Thatſache einer recht unan-
H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle.
phyſiologiſche Thätigkeit der Muskelzelle
' zu rekurriren und nachzuſehen, ob ſich
nicht etwa ſchon hier Urſachen finden
| lafjen, welche unſer mangelhaftes Wiſſen
auf dieſem Gebiete erklären.
In der That wird bei der Prüfung der
phyſiologiſchen Arbeiten über die Thätig—
keit der Muskelzelle der auffallende Um—
ſtand unſere Aufmerkſamkeit erregen, daß
es immer nur der Vorgang der Muskel-
verkürzung iſt, den man eingehend behan—
delt, während die Verlängerung der Mus—
kelzelle ſtets als paſſiv vor ſich gehend
gelehrt und im Übrigen kaum der Beachtung
werth gehalten wird. Daß dieſe Anſchauung
unberechtigt iſt, läßt ſich leicht am lebens—
friſchen Muskel experimentell beweiſen.
Trennen wir einen dazu geeigneten langen
| Muskel mit feinen Sehnen von den Anſatz—
punkten, iſoliren ihn auf einer glatten,
horizontalen Fläche und reizen ihn auf
die bekannte Weiſe zu einer kräftigen
Kontraktion, ſo beobachten wir zunächſt,
daß er ſich verbreitert und verkürzt und
dann, nach aufgehobener Reizung ſich ver—
längernd, annähernd wieder in ſeine frü—
here Lage zurückgleitet, wobei nicht allein
ſeine eigentlichen bewegenden Elemente,
ſondern auch die zu ihm gehörigen Seh—
nen, Fett- und Bindegewebe mit fort—
geriſſen werden, womit eine Arbeitslei—
ſtung erwieſen iſt, die, ſo unbedeutend ſie
in dem vorliegenden Falle auch ſein mag,
dennoch den Ausgangspunkt einer durch—
greifenden Veränderung unſerer Anſchau—
ungen über die Phyſiologie der Muskel—
zelle bildet, und uns in den Stand ſetzt, nicht
allein die oben erwähnten Lücken aus—
zufüllen, ſondern auch überhaupt einen
| weſentlichen Fortſchritt in der Mustel-
phyſiologie anzubahnen.
Wie es möglich fein konnte, die Wie—
derverlängerung der Muskelzelle ſo lange
Zeit als ganz nebenſächlich zu behandeln,
begreift ſich nur aus dem Mißbrauche
eines Wortes, deſſen eigentlichen Sinn
man ſich vorher nicht recht klar gemacht
hatte. Es iſt der Erſchlaffungsbegriff,
der, ganz ungerechtfertigterweiſe auf die
Muskelthätigkeit angewendet, die For—
ſchung faſt ganz einſeitig auf die hervor—
ſtechendere Erſcheinung der Muskelkon—
traktion lenkte. Wo hat man aber jemals
einen phyſiologiſch erſchlafften Muskel be—
obachtet? Hält eine Muskelgruppe zehn
Pfund, nachdem ſie vorher funfzehn Pfund
gehalten hatte, ſo iſt das doch gewiß
kein Grund, ſie deshalb als im Erſchlaf—
fungszuſtande befindlich zu erklären! Über—
dies iſt durch die allgemeine Annahme des
Muskeltonus ja von vornherein zugegeben,
daß es ſich bei der phyſiologiſchen Thä—
tigkeit der Muskelzelle nur um einen
größeren oder geringeren Kontraktions—
zuſtand handelt, wobei nebenbei nicht
außer Acht zu laſſen iſt, daß es keines⸗
wegs die Muskelverkürzung allein iſt,
welche Arbeit leiſtet, da derſelbe Muskel
in derſelben Lage und von derſelben
Länge ſehr verſchiedene Laſten in der—
ſelben Stellung halten kann. Ein wei⸗
terer Grund der auf dieſem Gebiete herr—
ſchenden einſeitigen Anſchauungen iſt in
der übertriebenen Bedeutung zu finden,
welche an ſogenannten lebensfriſchen Mus-
keln angeſtellten Experimenten beigelegt
wurde, während man doch nur patholo—
giſche Erſcheinungen vor ſich hatte. Die
nach künſtlichen Reizen eintretende Zuk⸗
kung ſteht allerdings zu der nachfolgen—
den Wiederverlängerung des Muskels in
ſo ſchroffem Gegenſatze und macht ſich
H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle.
187
ſo hervorragend als aktiv geltend, daß
daraus das Einſchleichen des Wortes Er—
ſchlaffung leicht erklärlich wird; indeſſen
läßt ſich noch ein anderer und noch ſchwe—
rer wiegender Grund anführen, warum
bis jetzt immer nur die Muskelkontrak—
tion als aktiver Vorgang angeſehen wurde,
nämlich die ganz auffällige Vernachläſ—
ſigung der Lehre von dem Weſen der
Reize. Will man ſich über den Begriff
des Reizes näher unterrichten, ſo wird
man zu ſeinem Erſtaunen finden, daß
er in manchen gangbaren Lehrbüchern
der Phyſiologie (Ranke, Vierordtu. a.)
in den Inhaltsregiſtern keine Stelle ge—
funden hat und nur ganz nebenſächlich be—
handelt iſt. Die Einteilung in mechani—
ſche, phyſikaliſche und chemiſche Reize wird
für genügend angeſehen, auf genaue De—
finitionen wird kein beſonderer Wert ge—
legt und über das eigentliche Weſen der
Reize verlautet ſo gut wie nichts. De—
finiren wir den Reiz als eine Verände—
rung der Lebensbedingungen und halten
wir uns ſtreng an dieſe Definition, ſo
iſt es ganz unmöglich, ſich einen ein—
fachen Reiz vorzuſtellen, denn das
Aufhören des primären Reizes ſetzt
ſtets eine zweite Veränderung, die
ebenfalls reizend wirken muß, voraus.
Iſt es nun nicht denkbar, daß die
auf die Zuckung folgende Verlängerung
des Muskels, angeregt durch das Auf—
hören des primären Reizes, aktiv vor
ſich geht? Vertiefen wir den Reiz—
begriff in dieſer Weiſe, ſo fällt damit
ein wichtiger Einwurf, der wenigſtens
gegen den aktiven Vorgang der Ver—
längerung der willkürlichen Muskeln leicht
gemacht werden könnte: daß uns näm—
lich keine künſtlichen Reize bekannt ſeien, )
188
welche ihn auslöſen könnten. In Bezug auf
dieſen Einwurf darf in der That nicht ver—
geſſen werden, daß noch nie ein natürlicher
Reiz künſtlich nachgemacht worden, alle
künſtlichen Reizungen nur pathologiſche Er— |
ſcheinungen zur Folge haben können und
das Weſen der phyſiologiſchen Reize uns
ſo gut wie unbekannt iſt. Dem gröberen
Mechanismus der Muskelbewegungen kön—
nen wir vielleicht auf die Spur kommen,
wenn wir die Bedeutung der ſogenann—
ten Hemmungsnerven feſtzuſtellen ſuchen,
die als Träger von musfelverlängernd
wirkenden Reizen ſehr wohl eintreten
können. Wie ſchon oben bemerkt, handelt
es ſich bei der phyſiologiſchen Muskel—
thätigkeit um Reize und aus dieſen
reſultirende Kräfte, welche im ſtande
ſind, das Bewegungsorgan bei verſchie—
denen Widerſtänden in einer beſtimmten
Länge zu halten.
Die Auslöſung der hierzu nötigen ent—
gegengeſetzten Bewegungen durch eine und
dieſelbe Nervenart hat ſchon von vorn—
herein ſehr viel Unwahrſcheinliches, weil
es ſich kaum annehmen läßt, daß es die—
ſelbe Kraft iſt, welche die Muskelzellen—
moleküle in kurzer und langer Anordnung
aufſtellt. Um dieſen Vorgang zu begrei—
fen, iſt es nötig, noch einen andern Reiz
vorauszuſetzen, der die ſpezielle Aufgabe
hat, diejenige Kraft auszulöſen, welche
durch die Längsanordnung der Moleküle
die Muskelzelle verlängert. Nur die An—
nahme einer ſolchen ſo zu ſagen zügel—
artigen Beherrſchung der Bewegungen,
die denen größerer antagoniſtiſcher Mus—
kelgruppen vollkommen analog iſt, läßt
uns deren wunderbar ſcharfe Anpaſſung
an die feinſten Anforderungen ver—
ſtehen, die jeden Augenblick an ſie ge—
H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle.
ſtellt werden können. Eine Begründung
für die Richtigkeit dieſer Anſchauungen
| liefern uns nun die ſogenannten Hem—
mungsnerven, die als ſolche jedoch ihren
Namen kaum verdienen. Wählen wir zu
näherer Betrachtung den N. vagus, ſo
finden wir zunächſt als ſicher konſtatirte
Thatſache, daß ſeine Reizung bei An—
paſſungsſtörungen nicht allein die Herz—
bewegungen nicht hemmt, ſondern ſie ſo—
gar zu erhöhter Leiſtung anſpornt, ein
Vorgang, der ſeine ganz zwangloſe Er—
klärung in der weiteren Thatſache findet,
daß bei ſtärkerer Vagusreizung die Dila—
tation des Herzens eine immer ausgie—
bigere wird, bis zuletzt das Herz im Zu—
ſtande der Erweiterung ſtill ſteht. Unter
dieſen Umſtänden bleibt uns nur der Schluß
übrig, den Vagus als Verlängerungsnerven
der Herzmuskelfaſern anzuſehen, der durch
Einſtellung derſelben in die gewünſchte
Länge den einzigen haltbaren Faktor der
Erweiterung der Herzhöhlen liefert, nach—
dem ſowohl der negative Druck in der
Bruſthöhle, als auch die Elaſtizität als
ganz ungeeignet zur Erklärung dieſer
Funktion oben nachgewieſen wurden. Aber
auch im Vagusſtamme ſind nicht aus—
ſchließlich dieſe Art von Nervenfaſern
enthalten, auch hier ſind ſie mit ihren
Antagoniſten, den exeito-motoriſchen,
vermiſcht, wenn ſich letztere auch in
der Minorität befinden; es iſt deshalb
nicht zu verwundern, wenn künſtliche
Reizungen nicht immer reine Reſultate
ergeben.
In den motoriſchen Nerven der willkür—
lichen Muskeln findet nun eine derartige
gröbere Trennung beider Nervenarten
überhaupt nicht ſtatt, woraus ſich auch
die Schwierigkeit ergibt, jede einzelne
H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle.
künſtlich zu reizen; wir werden ſtets beide
treffen, und nur von der weiteren Ent—
wickelung der Reizlehre im allgemeinen
läßt ſich in der Zukunft die Beſeitigung
dieſes Übelſtandes erwarten. Daß es
wirklich Reize giebt, welche rein muskel—
verlängernd wirken, wird durch die un—
mittelbar hautrötende Eigenſchaft der
Wärme bewieſen, während niedrige Tem—
peraturen bekanntlich zunächſt Gefäß—
kontraktion hervorrufen. Ferner ergiebt
ſich aus der Wirkung von Digitalis und
anderer Mittel, daß die Doſirung der
Reize von der einſchneidendſten Bedeutung
in der uns beſchäftigenden Frage iſt.
Wir werden danach vollberechtigt ſein —
geſtützt auf die Thatſache der Arbeits—
leiſtung während der Muskelverlängerung
und den ſichern Nachweis von Nerven
(N. vagus 2c.), die vorwaltend antago—
niſtiſche Faſern führen — die alte, ganz
einſeitige und jede weitere Forſchung hem—
mende Theorie der Muskelbewegungen
fallen zu laſſen und die antagoniſtiſche
an ihre Stelle zu ſetzen.
Wie klar ſteht dann der Mechanis—
mus der Herzbewegungen vor unſern
Augen! Indem wir uns von dem grund—
falſchen und durch keine einzige That—
ſache geſtützten Erſchlaffungsbegriffe frei
machen, ſtellt ſich uns jede Phaſe der
Herzaktion als einzig von der Länge der
Muskelfaſern abhängig dar, die, von der
Reizung zweier antagoniſtiſcher Nerven
beſtimmt, ſtets nur einem größeren oder
geringeren Kontraktionsgrade entſpricht.
Die urſächlichen Momente der Erweite—
rung und Verengerung der Herzhöhlen
ſind dadurch in befriedigendſter Weiſe
klar geſtellt, und für die übrigen Teile
des Zirkulationsapparates gilt dasſelbe.
189
Die Bewegungen der Blutgefäße ſind
nur dann allſeitig beurteilt, wenn ſtreng
feſtgehalten wird, daß jede Formverän—
derung der ihnen zu Grunde liegenden
Muskelfaſern als aktiver Vorgang auf—
zufaſſen iſt, wobei ihre Verlängerung der
Erweiterung, ihre Verkürzung aber der
Verengerung des Gefäßrohrs entſpricht.
Was die willkürlichen Muskeln betrifft,
ſo ſind zwar, ſoviel ich weiß, noch keine
künſtlichen Reize bekannt, welche rein
muskelverlängernd wirken, indeſſen iſt nach
dem Obigen kaum ein Zweifel an ana—
logen Verhältniſſen ihrer Bewegungs—
mechanismen erlaubt. Sehr ſtark zu Gun—
ſten der antagoniſtiſchen Theorie ſpricht
ihre Erklärungskraft. Während man
früher nicht einmal die gröbſten Herz—
bewegungen erklären konnte, iſt uns jetzt
der Mechanismus der allerſubtilſten Be—
wegungen leicht verſtändlich, und nähere
Prüfungen der neuen Theorie von kom—
petenter Seite werden ſowohl ihre Be—
rechtigung, wie auch ihre volle Bedeu—
tung für den Fortſchritt der Phyſiologie
der Muskelzelle darthun. Beiläufig ver—
dient noch hervorgehoben zu werden, daß
der Bewegungsmodus der einzelnen Mus—
kelzelle dem antagoniſtiſchen Zuſammen—
wirken größerer Muskelgruppen, wie z. B.
der Streck- und Beugemuskeln, vollfom-
men analog iſt. Ebenſo wie das Zuſtande—
kommen jeder coordinirten phyſiologiſchen
Bewegung nur durch Zuſammenwirken
antagoniſtiſcher Muskelgruppen ermöglicht
wird, geht auch die elementare Aktion
der Muskelzelle durch die entgegengeſetzte
Thätigkeit zweier Kräfte vor ſich, welche
ihren Kontraktionsgrad beſtimmen und die
genaue Einſtellung ihrer Moleküle in voll—
kommenſter Weiſe ſichern.
—
7
190
Als Rekapitulation mögen folgende
Sätze dienen:
1. Die Unmöglichkeit, die Herz:
dilatation auf der Baſis der bisher gültig
geweſenen Theorie der Muskelbewegungen
zu erklären, beweiſt die Unzulänglichkeit
der letzteren.
2. Durch den Nachweis einer Arbeits-
leiſtung durch Verlängerung von Mus—
kelfaſern iſt die Annahme der ausſchließ—
lichen Aktivität der Muskelkontraktion
als unhaltbar hingeſtellt.
3. Da ein phyſiologiſcher Erſchlaf—
fungszuſtand der Muskeln noch nirgends
konſtatirt wurde, ſo iſt jede phyſiologi—
ſche Formveränderung der Muskelzelle
als aktiv vor ſich gehend anzuſehen, wo—
bei auch der Faktor der Elaſtizität aus—
geſchloſſen iſt.
4. Die eigentümliche Innervation
des Herzens durch antagoniſtiſche Nerven
giebt uns den Schlüſſel zum beſſern Ber:
ſtändniſſe der Muskelbewegungen über—
haupt.
5. Die Molekularverſchiebung, welche
die Verlängerung der Muskelzelle herbei—
führt, wird durch einen Nervenreiz aus—
H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle.
gelöſt, der dem Kontraktionsreize entgegen—
geſetzt iſt.
6. Jede Phaſe zwiſchen äußerſter
Herzkontraktion und Dilatation iſt dem—
nach durch eine beſtimmte Länge der ſtets
aktiven Muskelfaſern bedingt, die ihrer—
ſeits wieder von zügelartig wirkenden
antagoniſtiſchen Nerven abhängt, womit
die offenbare Saugkraft des Herzens ihre
endgültige Erklärung findet.
7. Da ſich auch an den willkür⸗
lichen Muskeln ein permanenter, aktiver
Zuſtand, der ſchon längſt mit dem Na-
men Muskeltonus bezeichnet wurde, nach—
weiſen läßt, ſo liegt es nahe, auch bei
ihnen einen dem obigen analogen Mecha—
nismus vorauszuſetzen.
Schon in dem Artikel über die organi—
ſchen Anpaſſungsmechanismen in ihren Be—
ziehungen zur Heilkunde“) habe ich auf die
hervorragende Rolle hingewieſen, welche
die antagoniſtiſchen Nerven bei der An-
paſſung ſpielen. Die vorliegende Theo—
rie der feinen Muskelbewegung iſt als
ein weiterer Verſuch anzuſehen, die all—
gemeine Verbreitung dieſes wichtigen
organiſchen Vorganges nachzuweiſen.
*) Kosmos, Bd. II. S. 312 u. fgde.
Die Baſtard-Theorie
zur Erklärung der Weſen- Mannigfaltigkeit.
n dem Feldzuge gegen die Dar—
“winſche Theorie, welchen der
Kuſtos am k. k. Hofmuſeum in
Wien, Herr Theodor Fuchs,
neuerlich eröffnet hat), greift
derſelbe, um die Variationstendenz der
Tiere und Pflanzen zu erklären, zu einer
Theorie zurück, die man als den älteſten
Verſuch betrachten muß, die natürliche
Verwandtſchaft der Naturweſen unter ein—
ander nach natürlichen Prinzipien zu er—
klären, nämlich zu der ſeit mehr als hun—
dert Jahren in völlige Vergeſſenheit ge—
ratenen Baſtardirungshypotheſe. Seit
Jahrhunderten haben nämlich nicht nur
zahlreiche Kirchenſchriftſteller, ſondern auch
angeſehene Naturforſcher, darunter Linné,
der ältere Gmelin und Bonnet, ſich
der Meinung zugeneigt, es ſei im Ur—
anfange nur eine beſchränkte Anzahl ſo—
wohl von Pflanzen- als von Tiergattungen
erſchaffen worden, dieſe aber hätten ſich
durch allſeitige geſchlechtliche Vermiſchung
vermehrt und ſo ſeien nicht nur die un—
zähligen Arten, ſondern namentlich die
*) Kosmos, Bd. VII, S. 69.
Von
Ernſt Krauſe.
allmählichen Übergänge und Zwiſchenfor—
men erzeugt worden, welche die Anhänger
der neueren Schule diametral entgegen-
geſetzt deuten.
Da Erasmus Darwin, der Groß—
vater des Reformators der Biologie, in
feiner Zoonomie angedeutet hat, daß er
gerade durch dieſen Gedanken Linnés
zur Aufſtellung ſeiner von Lamarck wei—
tergeführten Anſichten gelangt ſei, ſo habe
ich in meinem ſoeben erſchienenen Buche
über denſelben?) die Geſchichte dieſer
Theorie ausführlicher und — wie ich
vermute — überhaupt zum erſten male
behandelt, ohne freilich daran zu denken,
daß dieſe Theorie noch einmal zum Gegen—
ſtande wiſſenſchaftlicher Deduktionen ge—
macht werden könnte. Umſomehr erſcheint
es mir aber angezeigt, das in jenem Buche
*) Erasmus Darwin und feine Stel—
lung in der Geſchichte der Descen denz—
theorie von Ernſt Krauſe. Mit ſeinem Le-
bens- und Charakterbilde von Charles Dar-
win. Nebſt Lichtdruck-Porträt und Holzſchnitten.
Leipzig, Ernſt Günthers Verlag. 1880. — Siehe
das Referat in dem literariſchen Teil dieſes
Heftes. b
ER En ee
192
zerftreute Material hier durch einige fer—
nere Nachweiſe ergänzt darzuſtellen.
Die ältere Geſchichte der Baſtarde iſt,
wenn man von den wenigen Bemerkungen
des Ariſtoteles und einiger anderer
Naturforſcher abſieht, eine im weſentlichen
theologiſche und philoſophiſche. In den
Baſtarden ſah man aus der Vermiſchung
zweier verſchiedener Lebeweſen neue For—
men hervorgehen, welche die Charaktere
der Eltern vereinigt zeigten und als neue
durch die Kunſt erzeugte Weſen gelten
konnten, da man zunächſt keine ſichere
Kunde von in der freien Natur vorkom—
menden Baſtarden beſaß. Die in der Natur-
erklärung zum höchſten Anſehen gelangte
platoniſche Philoſophie, die Lehre von den
vorher erſchaffenen und in den lebenden
Weſen verkörperten Ideen, geriet in die
ſchiefe Lage, Kopulation und Baſtardirung
der Ideen annehmen zu müſſen, und die
Schöpfungslehre in die nicht weniger
ſchwierige Alternative, entweder auch
dieſe Weſen als Gottes Geſchöpfe zu
betrachten oder das Entſtehen und Fort—
leben ungeſchaffener Weſen zugeſtehen zu
müſſen.
Ich kenne die patriſtiſche Literatur
nicht genau genug, aber aus dem Umſtande,
daß die neueren Theologen, die ſich mit
dem Gegenſtande beſchäftigt haben, ſich
nicht wie ſonſt in ſolchen Doktorfragen
auf die Anſichten der Kirchenväter beru—
fen, ſchließe ich, daß dieſe dem bedenk—
lichen Thema ausgewichen ſind. Die Frage,
wie ſich dieſe Tiere zum Schöpfungspro—
blem ſtellen, ſcheint vielmehr ſich erſt im
Mittelalter erhoben zu haben und viel—
leicht erſt durch den Streit der Nomina—
liſten und Realiſten brennend geworden
zu ſein. Wie ich aus einem Buche von
Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie.
Abraham van der Mylius*) ent—
nehme, ſcheint ſie zuerſt durch Rupert
von Deutz (F 1135) in feinen Bibel-
kommentarien (I, Cap. 57) ausführlicher
behandelt worden zu ſein. Derſelbe neigte
anſcheinend der Meinung zu, daß dieſe
Baſtarderzeugungen nicht in das natür—
liche Schöpfungswerk gehörten und nur
durch die ſündhafte Kunſt der Menſchen
hineingebracht worden ſeien, und er beruft
ſich dabei auf 3. Moſe 19, 19: „Meine
Satzungen ſollt ihr halten, daß du dein
Vieh nicht laſſeſt mit anderlei Vieh zu
ſchaffen haben, und dein Feld nicht beſäeſt
mit mancherlei Samen und kein Kleid an
dich komme, das mit Wolle und Leinen
gemenget iſt.“
Man unterſuchte nun zunächſt, wer
der Erſte geweſen ſei, der die Kunſt der
Baſtardirung gewiſſermaßen erfunden und
dieſe ſündhaften Geſchöpfe in die Welt
gebracht habe. Da wieſen die Rabbinen
nun auf eine Bibelſtelle hin (1. Moſe 36,
24), die in der Vulgata heißt: Iste est
Ana, qui invenit aquas calidas in soli-
tudine, cum pasceret asinos Sebeon pa-
tris sui, in welcher fie eine falſche Lesart
(jamin ſtatt jemin im Urtext) witterten,
weshalb auch Luther überſetzte: „Das
iſt der Ana, der in der Wüſte Maulpferde
erfand, da er ſeines Vaters Zibeons Eſel
hütete.“ So warf man nun alle Schuld
auf Ana und ſah in der vorherrſchenden
Unfruchtbarkeit der Mauleſel den Beweis,
daß dieſe Geſchöpfe mit dem Fluche be—
haftet ſeien. Freilich ſahen die einſichti—
geren Theologen wohl ein, daß damit die
Frage ſelbſt nicht erſchöpft ſei, und die
ſpäteren Verfaſſer von Geneſiskommenta—
9 De Generatione Animalium et Mi-
gratione Populorum. Salzburg, 1670. —
—
N
Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie.
rien, wie z. B. Molina ( 1600), Mar-
tinengus ( 1600), Gregor von Va—
lenzia (+ 1603), Pererius (+ 1610)
und Cornelius a Lapide (7 1637),
neigten mehr oder weniger ausgeſprochen
dazu, auch die Baſtarde als wirkliche Ge—
ſchöpfe Gottes anzuerkennen.
Mit dieſer Wandlung der Anſichten
hatte es eine eigentümliche, für unſern
Gegenſtand ſehr lehrreiche Bewandtnis.
Der gewöhnliche Mann, wenn er Tiere
und Pflanzen betrachtet, empfindet unwill—
kürlich das, was wir „natürliche Ver—
wandtſchaft“ nennen. Er fühlt aber nicht
nur die Verwandtſchaft nach der einen
Seite, z. B. die der Hyäne mit den Katzen,
ſondern auch die mit den Hunden, und
nach ſeinen mit dem Mauleſel gemachten
Erfahrungen macht er einen Baſtard von
Wolf und Panther daraus. Noch heute
ſehen wir immerfort ſolche zoologiſche
Mythen entſtehen. So iſt noch in neueſter
Zeit eine weichhaarige, ſchwanzloſe Katzen—
art (rabbit cat) der Boſtoner Naturfor—
ſchenden Geſellſchaft als Baſtardraſſe von
Kaninchen und Katze vorgeführt worden;
aus Mexiko kommen fortwährend Geſchich—
ten über dort gefundene Baſtarde zwiſchen
Hund und Schwein, zu denen, wie Pagen—
ſtecher ſcharfſinnig bemerkt, wahrſchein—
lich der Naſenbär (Nasua) die unſchuldige
Veranlaſſung giebt, und ſo wird von den
Jägern in Pernambuco das nur an den
Seiten Schilder tragende Gürteltier Scle—
roderma Bruneti für einen Baſtard zwi—
ſchen Gürteltier und Ameiſenfreſſer (Ta—
mandua) angeſehen. Dieſe zoologiſchen
Märchen zirkulirten ſchon im Altertum,
und die zuſammengeſetzten Namen Leo-
pardus und Cameleo-pardus find Denk—
male dieſer Proben der Volkszoologie. Es
193
iſt leicht zu verſtehen, daß ſich ſolche Mythen
beſonders an abſonderliche Geſtalten wie
die Giraffe hefteten, die wie eine natürliche
Mißgeburt, als Baſtard von Kamel und
Leopard — letzterer angeblich ſelber ein
Baſtard von Löwe und Panther! — be—
trachtet wurde.
Diversum confusa genus panthera camelo
ſingt Horaz in ſeiner Epiſtel an
Auguſtus. Auch das Zebra (Hippotigris)
galt als einen Baſtard von Tiger und
Pferd oder Tiger und Hirſchkuh, und auf
dieſe Sage über das in den Triumph—
zügen nach afrikaniſchen Feldzügen nach
Rom gekommene Tier (Dio Caſſius
erwähnt es unter obigem Namen) ſcheint
Horaz jene Zeilen ſeiner Epode an das
römiſche Volk gemünzt zu haben, in denen
er ſolche Vermiſchungen als Unmöglich—
keiten hinſtellt:
Novaque monstra junxerit libidine
Mirus amor, juvet ut tigres subsidere cervis,
Adulteretur et columba milüo.
Auch unter den Pflanzen glaubte
man ähnliche Beiſpiele nachweiſen zu kön—
nen, und eine Melde, welche eine oberfläch—
liche Ahnlichkeit in der Geſtalt der Blät—
ter mit dem Stechapfel darbietet, mit dem
ſie obendrein als Schuttpflanze vermiſcht
vorkommt, wurde von den alten Botanikern
für einen Baſtard von Melde und Stech—
apfel angeſehen, darnach Chenopodium
hybridum getauft und ſogar für giftig aus—
gegeben, wie der Name „Sautod“ beweiſt.
Dieſe Ideen erlangten aber eine be—
deutende Popularität, als nach der Ent—
deckung Amerikas eine Menge neuer und
fremdartiger Tiere und Pflanzen, von de—
nen weder die alten Schriftſteller, noch die
Herbarii und Bestiarii, das Speculum
Naturae und der Hortus sanitatis des
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3.
25
194
Mittelalters eine Ahnung hatten, von den
Seefahrern mitgebracht, plötzlich vor den
erſtaunten Blicken erſchienen. „Mein Gott,
wie verwundern wir uns darob,“ ruft
Mylius aus, „wenn wir derartige ſelt—
ſame Tiere aus ſo fern entlegenen Orten
zu ſehen bekommen! Wie genau betrachten
wir alle ihre Lineamenten, Geſtalt, Haar—
farben, ja ganze Leiber! Als ob ſie vom
Himmel herabgeregnet wären!“ Die da—
mals eben mit der Erkenntnis der wahren
Natur der Foſſilien in die Schranken ge—
tretene Schule der Diluvianiſten mußte
ungeſäumt in Noahs Arche Platz für den
ungeheuren Zuwachs ſchaffen. Hatten ſchon
die Kirchenväter mit der Unterbringung
der altweltlichen Tiere Not genug gehabt,
namentlich hinſichtlich der Fragen, wie
Noah die wilden Tiere verhindert habe,
die zahmen zu freſſen, und womit er beide
ernährt habe, ſo wuchs nun mit einem
male die Schwierigkeit ins ungeheure.
Schon in einigen der älteſten dieſer Schrif—
ten, nämlich in Joh. Buteo's Buche: De
Arca Noé (Lugd. 1559) und in der In-
quisitio in fabricam Arcae Noae des 1588
verſtorbenen Matthäus Hoſt aus Frank—
furt a. O. wird die Platzfrage brennend
und es trat angeſichts des Reichtums der
Natur das Beſtreben hervor, in dem Raum—
überſchlage die Zahl der unterzubringen—
den Tierarten möglichſt zu verringern, um
den durch die in der Bibel angegebenen
Größenverhältniſſe berechenbaren Raum
als völlig ausreichend zu erweiſen.
Dazu bot nun der Glauben an die Ba—
ſtardnatur unzähliger wilder Tiere eine will—
kommene Gelegenheit. Natürlich brauchte
man dieſe Miſchlinge nicht beſonders neben
ihren Eltern unterzubringen, und das war
keine ganz unbedeutende Erleichterung für
Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie.
eine Zeit, in der man nicht etwa blos ein
Drittel aller Tiere für Baſtarde der an—
dern beiden Drittel hielt, ſondern an eine
ſchrankenloſe Vermiſchbarkeit aller Tiere
untereinander und nach dem Beiſpiele der
von Pferd und Eſel abſtammenden Maul-
tiere und Mauleſel von jedem Paar zwei
neue Formen ableiten zu können glaubte.
So hielt man ſchon im Altertum verſchie—
dene wilde Schafraſſen für Baſtarde zwi—
ſchen Schaf und Ziege, und zwar ſollte
das Mufflon aus Widder und Ziege, der
Tityrus aus Ziegenbock und Schaf ent—
ſtanden ſein. Die Hyäne wurde für einen
Baſtard von Wolf und Pantherweibchen,
der Schakal für einen ſolchen zwiſchen
Wolf und Hund oder Wolf und Fuchs an—
geſehen; aus Wolf und Hirſchkuh ſollte
der Luchs, aus Kuh und Pferd oder aus
Kuh und Eſel das Gnuentſtanden ſein u.ſ.w.
In manchen dieſer Beiſpiele iſt wenig—
ſtens ein gewiſſes Gefühl der natürlichen
Verwandtſchaft leitend geweſen, aber die
geiſtlichen Autoren führten das Prinzip
bald völlig ad absurdum. Daß der be—
kannte Jeſuit Athanaſius Kircher in
ſeinem Buche über die Arche Noäh das
Murmeltier für einen Baſtard von Dachs
und Eichhorn und das Gürteltier für einen
ſolchen von Igel und Schildkröte?) erklärte
— ſollte doch auch Schlange und Muräne
ſich fruchtbar paaren! — das wurde frei—
lich dem aufgeklärteren Altmann zu ſtark
und er erklärte, daß er wohl den Leopar—
wandtſchaft des Gürteltiers mit der Schildkröte
iſt bei dem amerikaniſchen Klerus auf guten
Boden gefallen, und noch heute verſpeiſt man
dort, wie uns Carl Sachs (Aus den Llanos,
Leipzig 1879, S. 168) erzählt, die ſehr wohl—
ſchmeckenden Armadille als Schildkröten in den
Faſten, und macht alsdann große Jagd auf ſie.
Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. 195
den für einen Baſtard von Löwe und
Panther halten wolle, aber das Murmel—
tier ſei eine Art Dachs und gehöre mit
dieſen zu den Schweinen! Nachdem auch
der berühmte Reiſende Sir Walter Ra—
legh in ſeiner 1640 zuerſt gedruckten
History of the world ſich für die Anſicht
erklärt hatte, daß Noah nur wenige Grund—
formen in die Arche hätte aufzunehmen
brauchen, die ſich nachher durch Baſtardi—
rung und Ausartung vermehrt hätten, und
nachdem berühmte Naturforſcher der Zeit,
wie Aldrovandi, Gesner, Scheuch—
zer u. A. keine eigentlichen Bedenken ge—
gen die Baſtardirungshypotheſe beigebracht
zur Erklärung gewiſſer Bibelſchwierigkeiten
geeignetſte Lehrmeinung hoher Geiſtlichen,
z. B. der engliſchen Biſchöfe Wilkins und
Stillingfleet, ja verſchiedene Autoren
unſerer Zeit, wie z. B. Maegregor und
Prof. Zöckler in Greifswald, haben noch
in neueren Schriften die Anſicht verteidigt,
daß Noah nur die Grundformen der Tiere
zu erhalten brauchte, die ſich dann nach
der Sintflut durch Ausartung oder Ba—
ſtardirung vermehrt hätten. Doch hat
Zöckler neuerdings dieſe Anſicht wegen
ihrer bedenklichen Konzeſſionen an den
Darwinismus entſchieden verleugnet.
Dabei trat nun das Beſtreben in den
Vordergrund, namentlich die häßlichen
und ſchädlichen Tiere für Baſtarde und
Ausartungen zu erklären, um dem Schöpfer
den Vorwurf, ſie überhaupt erſchaffen zu
haben, zu erſparen; ja einige Autoren gin—
gen ſchließlich ſo weit, die Baſtardzeugun—
gen ſammt der allgemeinen Verſchlechte—
rung der Tier- und Pflanzenwelt für direkte
Folgen des Sündenfalls und der Sintflut
anzuſehen. Vor der Sintflut ſei die ganze
Erde ein bewohnbares Land geweſen, durch
dieſelbe ſeien aber ſo viel Einöden, Ge—
birge und unbewohnbare Zonen entſtanden,
daß nicht nur viele Tiere aus Mangel an
genügender Pflanzennahrung zu Raub—
tieren wurden, ſondern auch durch die dich—
tere Zuſammendrängung zu allerlei Ba—
ſtardirungen gedrängt wurden, aus denen
dann zahlloſe Mißgeburten, namentlich die
Affen, entſtanden. Im Paradieſe gab es
weder Raubtiere noch Baſtarde. So ſchreibt
D. S. Büttner in feinem Buche Rudera
Diluvii Testes (Leipzig, 1710), S. 106:
„Ich bin auch deſſen ſehr überredet: Es
werde ſich dißfalls eine Anderung mit
hatten, wurde dieſelbe für einige Zeit die
den haben. Da viele Thiere, welche zuvor
Thieren, die Nahrung betreffende, gefun—
Erdfrüchte, Graß, Geſtäude, Obſtfrüchte
gefreſſen, hernach wegen Mangel und da—
her erfolgten Hungers, Fleiſch freſſen ler—
nen, welches noch die Thiere bezeugen
müſſen, die ſowohl Fleiſch als oberzählte
vegetabilia, dieſe aber viel lieber genüſſen.
Gleichfalls iſt wahrſcheinlich, daß nachdem
die Thiere enger zuſammenwohnen müſſen,
ſie in eine ſchändliche und unnatürliche
Vermiſchung unter einander gerathen, wel—
che theils Affen, Meerkatzen, Leo—
parden und andre Thiere zulänglich zeu—
gen, und der bekannte Urſprung der Maul—
eſelallenWiderſpruch allein nehmen kann.“
Jemehr dieſe Anſichten herrſchend wur—
den, um ſo dringender trat nun auch an
Theologen und Philoſophen die Aufgabe
heran, die Frage zu unterſuchen, ob, wenn
die halbe Lebewelt aus Baſtarden beſtünde,
nicht auch dieſe auf göttliche Schöpfungs—
akte zurückgeführt werden müßten, da doch
wohl nicht ein ſo großer Teil der Schö—
pfung ungöttlichen Urſprungs ſein könne.
Die ſchon oben erwähnten Theologen gin—
196
gen in ihren Kommentarien über das Sechs—
tagewerk größtenteils hierbei von dem durch
die Kirchenväter Baſilius, Ambroſius
und Auguſtinus herausgearbeiteten
Prinzip der mittelbaren Schöpfung
(creatio indirecta) aus. Es gäbe eine
Menge Tiere, die von Gott am ſechſten
Tage noch nicht in Wirklichkeit, ſondern
nur in der Idee erſchaffen wären und zu
denen Auguſtinus ſogar den Menſchen
gerechnet hatte. Zu dieſen nicht unmittel—
bar erſchaffenen Tieren müſſe man z. B.
die erſt aus der Fäulnis anderer entſtehen—
den Tiere rechnen. Man glaubte befannt-
lich nach dem Beiſpiele des Ariſtoteles
allgemein, daß alle niedern Tiere und ſo—
gar einige Fiſche (Aale) und Vögel (Ber—
nikelgänſe) ſich nicht auf geſchlechtlichem
Wege vermehrten, ſondern aus der Zer—
ſetzung und Umwandlung organiſcher Sub—
ſtanzen entſtänden. Schon bei Iſidor
von Sevilla (+ 738) finden wir dabei
die Meinung, daß nicht aus jeglichem ver—
weſenden Fleiſche jede beliebige Sorte von
Bienen und Fliegen entſtünde, oder etwa,
wie ſpäter Moufetus in ſeinem Theatrum
insectorum meinte, daß die kampfesmuti—
gen Bienen aus Löwenfleiſch und die fei—
gen aus Rindfleiſch entſtünden, ſondern
jeglicher Tierart ſei es eingepflanzt, bei
ihrer Verweſung eine beſtimmte Art von
niedern Tieren zu erzeugen, und zwar ſoll—
ten aus Rindern Bienen, aus Pferden
Käfer, aus Maultieren Heuſchrecken, aus
Krebſen Skorpione u. ſ. w. hervorgehen.
Dieſen Anſichten entſprechend, lehrte nun
van den Steen (Cornelius a Lapi—
de, 7 1637) in feinen Kommentarien zum
Pentateuch ad diem VI, Lect. 24: „Mi-
nuta animalia, quae ex sudore, exhala-,
tione aut putrefactione nascuntur, uti
Ernſt Krauſe, Die Baſtard-Theorie.
pullices, mures aliique vermiculi, non
fuerunt hoc sexto die creata formaliter
sed potentialiter et quasi in seminali
ratione, quia scilicet illa hoc die creata
sunt, ex quorum certa affectione haec
naturaliter erant exoritura.“ Soweit
dieſe Tiere ſchädlich oder läſtig für den
Menſchen waren, wollte man ſie nicht un—
mittelbar von Gott erſchaffen ſein laſſen,
ja es gab eine Anzahl von Theologen, die
alle Tiere und Pflanzen urſprünglich un—
ſchädlich ſein ließen und erſt von dem Sün—
denfall ihre Umwandlung zum ſchlechteren
herleiteten. Daſſelbe Prinzip der hindurch
wirkenden Schöpfungsidee wurde von geiſt—
lichen Skribenten bald darauf noch viel
weiter ausgedehnt. So ſollten nach Atha—
naſius Kircher auch Pflanzen, welche
tierähnliche Blüten oder Früchte tragen,
z. B. die Orchideen, aus verweſenden Tier—
körpern entſtehen, und die den Bienen,
Mücken, Fliegen und Spinnen ähnlichen
Ophrysarten ſollten, ſtatt aus dieſen Tie—
ren zu entſtehen, auch direkt aus deren
Ahnen, d. h. aus dem Fleiſche verſchiede—
ner Vierfüßler, hervorgehen können. Hier
wirkt die creatio indirecta alſo durch zwei
Stufen hindurch, und zwar mit gelegent—
licher Überſpringung der Mittelftufe.*)
1
In einer ganz ähnlichen Weiſe glaubte
man nun auch die Baſtarderzeugung aus
denſelben Grundſätzen erklären zu können,
und anknüpfend an die eben geſchilderte
Schöpfung der Fäulnistiere meinte nun
van den Steen, auch die Baſtarde ſeien
auf dieſem Wege am ſechſten Tage mit—
telbar von Gott miterſchaffen worden.
Es iſt dabei nun ſehr intereſſant für das
Verſtändnis der analogen Gedanken Lin—
nes und Bonnets, zu ſehen, wie van
) Vgl. Erasmus Darwin, S. 227.230.
3
Ernſt Krauſe, Die Baſtard⸗Theorie. 197
den Steen alsbald die Baſtardtheorie
ſowohl zur Erklärung der faſt erſchrecken—
den Tiermannigfaltigkeit überhaupt, als
beſonders für diejenige der fremden Erd—
teile anwendet. „Hybrides,“ ſagt er, „i.
e. animalia, quae ex congressu diver-
sarum specierum generantur, uti mulus
ex equa et asino, lynx ex lupo et cer-
va, ex hirco et ove tityrus, ex leaena
et pardo leopardus, haec inquam non
necesse est dicere, hoc die esse creata.
— In Africa in dies novae oriuntur
monstrorum species atque oriri possunt
ex nova aliarum et aliarum specierum
sive animalium commixtione. Haec com-
mixtio est praeter naturam et adulte-
rina.“
In Übereinſtimmung damit hatte auch
Mylius*) das Thema behandelt. In den
hitzigen und dürren Wüſten Afrikas kämen
die wilden Tiere von weit entlegenen Orten
an den feuchten Oaſen zuſammen, um ih—
ren Durſt zu ſtillen, und es werde an die—
ſen Rendezvousplätzen der aus allen Welt—
gegenden herbeiſtrömenden Tiere „durch
allerhand Vermiſchungen immerdar was
Neues und Ungewöhnliches erzeugt, um das
alte Sprüchwort Africa semper aliquid
novi wahrzumachen“. Alle dieſe Baſtard—
tiere ſeien nicht immediate von Gott ge—
ſchaffen, denn Gott habe „jegliches Tier
nach ſeiner Art gemacht“, wie Moſes
fünfmal wiederhole. „Nun werden aber
dieſe Thiere, als Maulthiere und derglei—
chen Baſtarde mehr, nicht nach ihrer Art,
ſondern aus einem andern Geſchlecht er—
zeuget. Denn das Maulthier gehöret ja
weder zu der Art der Pferde noch der
Eſel, ſo zeuget auch weder der Wolf noch
) De Origine Animalium. Deutſche Aus-
gabe 1670, S. 289 ff.
das Wildſtück ihnen ein gleichförmiges
Tier, nemblich einen Luchſen. Woraus
dann der Schluß zu machen, daß der all—
mächtige Gott dergleichen Thier im An—
fang nicht würcklich und immediate er—
ſchaffen habe. — Andertens. Hat der all—
weiſe Gott geboten: daß alle Thiere, wel—
che er durch ſein Göttliches Wort erſchaf—
fen, ſich ſollen beſaamen und vermehren,
auch jedes nach ſeiner Art die Erde erfül—
len. Weßwegen er ſie dann auch geſegnet,
und ihnen gebotten hat, daß ſie wachſen,
ſich vermehren, auch die Waſſer und Er—
den erfüllen ſollten. Seid fruchtbar
und mehret euch. Nun ſind aber die
Baſtardthiere unfruchtbar; können ſich
dannenhero dieſes Segens nicht theilhaf—
tig machen. Folget alſo darauß, daß die
Baſtardthiere von Gott anfänglich nit
erſchaffen worden. — Drittens Was
von Gott herkommt, iſt ordentlich, wie
Paulus ſagt. Nun aber ſeynd dieſe Arten
der Baſtardthiere nicht nach dem ordent—
lichen Lauff der Natur. Kann alſo Gott
dieſe Thiere im erſten Anfang nicht er—
ſchaffen haben, ſondern Gott hat allein
denjenigen Thieren, von welchen ſolche
Baſtardarten hernach erzeuget worden, die
Krafft und Haupturſachen eingepflanzet,
daß ſie mit der Zeit, ſolche auß ihrer Art
abgewichne und geſchlagene Thiere, auff
die Welt gebracht haben. Und kommen
dergleichen Geſchlechter, unter die anderer
Thiere, als wie die unehelichen Kinder
und Baſtarden öffters in ein Eheliches
Geſchlecht, unrechtmäßig eingedrungen wer—
den.“ (sic!)
Dieſen Anſichten widerſprachen aber
andere damalige Autoritäten und Nie—
venbergius*) wies auf das nicht ſeltene
) Hist. natur., Lib. V, c. 21.
198
Vorkommen von fruchtbaren Mauleſelin—
nen zum Beweiſe dafür hin, daß auch dieſe
Tiere am ſechſten Tage mittelbar erſchaf—
fen ſeien und deshalb auch Fortpflanzungs—
fähigkeit beſäßen.
Von einem wirklichen Intereſſe bei
dieſem theologiſchen Streite iſt nur der
Umſtand, daß der große Linné der Idee
beitrat, Baſtardirung könne die Urſache
der Vermehrung einer urſprünglich be—
ſchränkten Zahl von Urformen geworden
ſein und die allmählichen Übergänge er—
klären, welche ſich zwiſchen den meiſten
Pflanzen und Tieren finden. Leibniz’
kontinuirliche Reihe der Schöpfungsformen
hätte dann nur auf die Wurzelformen An—
wendung gefunden, die Reihe ſei durch
Baſtardirung um Mittelformen bereichert
worden. Linns ſchrieb im ſechſten Bande
ſeiner Amoenitates academicae, 1763,
p. 296: „Suspicio est, quam diu fovi,
neque jam pro veritate indubia vendi-
tare audeo, sed per modum hypothe-
seos propono: quod scilicet omnes spe-
cies ejusdem generis ab initio unam
constituerint speciem, sed postea per
generationes hybridas propagatae sint.“
Godron*)fagt, Linns ſei hierin dem
Beiſpiel Gmelins gefolgt, der in einer
Inauguraldiſſertation vom Jahre 1749
ebenfalls den Gedanken ausgeſprochen hat,
daß die Arten der Pflanzen vielleicht nur
die Baſtarde der urſprünglich erſchaffenen
Gattungen untereinander ſeien. Gmelins
Abhandlung hat den Titel: Joann. Georg.
Gmelini Med. D. sermo academicus de
novorum vegetabilium post creationem
divinam exortu. die 22. Aug. 1749
) De l’espece et des races dans les
etres organisés. 2. edit. Paris, 1872, T. I,
p. S—9.
Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie.
—
ans
publice reeitatus. Tübing. Ehrhard, und
in derſelben wird in der That auseinander—
geſetzt, wie durch Baſtardirung die weni—
gen urſprünglich erſchaffenen Pflanzenfor—
men beträchtlich vermehrt worden ſein
könnten, ohne daß darin eine Entweihung
der göttlichen Majeſtät gefunden werden
dürfe, welche ja die Geſchlechtsorgane und
damit die Möglichkeit der Baſtardirung
der Pflanzen gegeben habe. Er glaubt
auch, daß manche von den älteren Schrift—
ſtellern beſchriebene Pflanzen, welche die
neueren Botaniker nicht auffinden konnten,
vielleicht ſolche Hybriden geweſen wären,
die wieder eingegangen und zu den
Urformen zurückgekehrt ſeien. Dieſe be—
merkenswerteſte Stelle findet ſich auf
Seite 78 dieſer Diſſertation und lautet
wie folgt:
7 nullum supererit dubium
plantas novas subinde oriri citra novam
Divini artificis ereationem, et tandem
ita multiplicari, ut plantarum instar ali-
arum primitus creatae videantur. Nihil
quidem Majestati Divinae hie contra-
rium subesse existimo, quum novus
ejusmodi plantae ortus ipsiis illis or-
ganis perficiatur, quae DEVS in plantis
creavit, adeoque virtus illa, plantas no-
vas ex se generandi plantis in creatione
concessa credi possit. Sed dubito, an
ex unico hocce exemplo quaestio ita
decidi queat, ne metus contrarii adhuc
obtineat. Multae quidem adhue plantae
sunt, a veteribus recensitae, quarum
notitiam hodie nullam habemus, et su-
spicio facile oriri de illis posset, Hibri-
dae hujus generationis modo supposito,
fuisse illas hibridas et paullatim eva-
nuisse et ad pristinas species rediisse.“
Es iſt merkwürdig genug, daß Linné
—
—
dieſer Idee Geſchmack abgewinnen konnte,
da er doch ſchwerlich geglaubt hat, daß ſich
Tiere oder Pflanzen, die man zu verſchie—
denen Gattungen rechnet, fruchtbar unter—
einander vermiſchen könnten, was ſchon die
Arten ſo ſelten thun, da ſelbſt fruchtbare
Mauleſel zu den Seltenheiten zählen. Eine
Veranlaſſung für Linné, die alte Idee
wieder aufzunehmen, mögen aber Koel—
reuters 1761 veröffentlichte Verſuche ge—
geben haben, in denen die Idee, durch Ba—
ſtardirung neue Pflanzen zu erzeugen und
eine Art in eine andere überzuführen, prak—
tiſch verwirklicht ſchien.
Auch Bonnet fand andiefer Idee Ge—
ſchmack, und obwohl er urſprünglich in der
ununterbrochenen Reihenfolge der Lebens—
formen den Plan des in geſetzmäßiger Stu—
fenordnung ſtattgefundenen Schöpfungs—
werkes erkennen wollte, glaubte er doch
auch, daß die urſprüngliche Reihe der
Grundformen noch nachträglich durch Ba—
ſtardformen und klimatiſche Veränderungen
interpolirt worden ſei und daß ſich ſo die
frappanten Zwiſchenformen und Übergänge
von der einen Art zur andern am beſten er—
klären ließen. Er ſagt im fünften Bande
feiner Oeuvres d'histoire naturelle et
de philosophie (Ed. Neuchatel 1779,
p. 230) in einem „Que le nombre des
espèces peut s’etre acerü par des con-
jonctions fortuites“ überſchriebenen Ab—
ſchnitte: „On ne peut douter, que les
especes qui existaient au commence-
ment du monde, ne fussent moins nom-
breuses, que celles qui existent aujour-
dhui. La diversite et la multitude des
conjonctions, peut-etre meme encore la
diversité des elimats et des nourritures
ont donné naissance à des nouvelles
especes ou à des individus intermedi-
Ernſt Krauſe, Die Baſtard-Theorie.
199
aires. Ces individus s’etant unis à leur
tour, les nuances se sont multipliees,
et en se multipliant elles sont devenues
moins sensibles. Le Poirier parmi les
plantes, la Poule parmi les oiseaux, le
Chien parmi les quadrupedes, nous
fournissent des exemples frappants de
cette verite, Et que n'aurions nous point
à dire à cet égard, des varietes qui s’ob-
servent parmi les Hommes, sortis origi-
nairement de deux individus!“
Übrigens iſt ſchon im Altertum die
Meinung ausgeſprochen worden, daß die
einzelnen Arten artenreicher Geſchlechter
die Reſultate von Baſtardirungen ſein
könnten. In dem merkwürdigen, dem
Ariſtoteles zugeſchriebenen Buche de
mirabilibus auscultationibus findet ſich
Capitel LXI (Ed. Beckmann, S. 127)
die Darlegung, wie die verſchiedenen
Arten der Adler, Geyer und Habichte
durch Baſtardzeugung fortwährend ent—
ſtünden. Die Stelle ſcheint verderbt und
iſt von Geſſner, Natalis de Comi—
tibus, Beckmann u. A. ziemlich ver—
kehrt wiedergegeben. Richtiger hat ſie
Plinius verſtanden, der offenbar mit die—
ſer Stelle (oder ihrer Quelle) vor Augen
(X. 3. 3) ſchrieb: „Der Meeradler (Ha—
liaetos) bildet keine beſondere Art für
ſich, ſondern entſteht durch Paarung mit
andern Adlerarten. Den von ihnen ſelbſt
erzeugten nennt man Ossifragus (unſer
Fiſchadler), von dem wieder die kleinen
Geyer (im ſogenannten Ariſtoteles ſind auch
die Habichte genannt) abſtammen, auch
wohl einzelne größere, die ſich aber
nicht fortpflanzen.“ Niemand habe das
Neſt derſelben geſehen, fügt, die Un—
fruchtbarkeit dieſer Baſtarderzeugungen
beſtätigend, die erſtere Quelle hinzu. |
I ——ͤ——
200
Eine, wie mir ſcheinen will, auf den—
ſelben Anſchauungskreis hinauslaufende
Hypotheſe über die Entſtehung der Arten
iſt nun neuerlich von Herrn Theodor
Fuchs, Kuſtos am k. k. zoologiſchen Mu—
ſeum in Wien, in einem Vortrage „Über
die geſchlechtliche Affinität als Baſis der
Speziesbildung“ entwickelt worden, den er
in der Sitzung vom 3. Dezember 1879 der
dortigen Zoologiſch-botaniſchen Geſell—
ſchaft gehalten hat, vielleicht ohne daß es
ihm bekannt geweſen, daß er damit nur
eine ſehr alte Anſicht erneuert und ſehr il—
luſtre Vorgänger auf dieſem Erklärungs—
wege gehabt hat. Um ſeine Schlußfolge
möglichſt getreu wiederzugeben, möge hier
ein Stück des mutmaßlich von ihm ſelbſt
verfaßten Referates über dieſen Vortrag
aus dem XXIX. Bande der Sitzungs-
berichte dieſer Geſellſchaft in wörtlichem
Abdrucke folgen:
„Die einzelnen Arten ſind von Haus
aus weder einfache, noch gleichwertige,
ſondern ſie ſind zuſammengeſetzte Grö—
ßen, deren Natur und Umfang von der
Anzahl und Beſchaffenheit der konſtitui—
renden Elemente, ſowie von dem Grade
ihrer Verſchmelzung abhängt.
Iſt eine Art nur aus einander ſehr ähn—
lichen Individuen entſtanden, und ſind die—
ſelben ſehr innig mit einander verſchmol—
zen, ſo werden wir eine ſehr engbegrenzte,
homogene Art haben; iſt eine Art hin—
gegen aus der Verſchmelzung von Indivi—
duen hervorgegangen, welche morpholo—
giſch ſehr verſchieden ſind, und iſt die Aus—
gleichung der individuellen Charaktere nur
unvollkommen erfolgt, ſo werden wir das
vor uns haben, was wir eine polymorphe
Art nennen.
Variabilität und Polymorphismus ſind
Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie.
keine ſekundären, ſondern primäre
Erſcheinungen, und die Varietäten einer
Art ſind keineswegs Neubildungen, ſon—
dern ſtellen nur die nicht vollſtändig
verwiſchten Reſte der urſprünglichen
Stammformen vor, aus deren Vereinigung
und Verſchmelzung die betreffende Art
entſtand.
Ebenſo iſt es klar, daß auf Grund—
lage dieſer Anſchauungen die Züchtung
verſchiedener Raſſen aus einer und derſel—
ben Art, auf dem Wege der Auswahl und
Iſolirung, nichts anderes iſt als die Zer—
legung einer zuſammengeſetzten Größe in
ihre näheren Elemente.
Die Variabilität einer Art iſt nicht un—
begrenzt, ſondern beſchränkt durch die Be—
ſchaffenheit der Stammformen, aus deren
Vereinigung ſie hervorgegangen.
Die naturhiſtoriſche Erfahrung, daß
die Individuen einer und derſelben Art
in der Regel unter einander vollkommen
fruchtbar ſind, die Individuen verſchiede—
ner Arten aber nicht, darf nicht in dem
Sinne aufgefaßt werden, daß dieſe phyſio—
logiſche Eigentümlichkeit jeder einzelnen
Art bei ihrer Erſchaffung gleichſam als
Mitgift mitgegeben wurde; denn nicht die
Art iſt das urſprünglich Gegebene und die
geſchlechtliche Affinität eine ihrer Eigen—
ſchaften, ſondern, umgekehrt, die geſchlecht—
liche Affinität iſt das urſprünglich Gege—
bene und die Bildung der Art nur eine
Folge derſelben.
Würden eine Art A und eine andere
Art B unter einander vollkommen frucht—
bar ſein, ſo müßten ja dieſe beiden Arten,
woferne keine äußeren Hinderniſſe entge—
genſtehen, in kurzer Zeit zu einer Art ver—
ſchmelzen, und dieſes Einbeziehen und Ver—
ſchmelzen der Formen müßte ſich ſoweit
Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie.
ausdehnen, als überhaupt die vollkommene
Affinität reicht.
Viele Tierarten, welche ſich im freien
Naturzuſtande nicht kreuzen, können im Zu—
ſtande der Domeſtikation dazu gebracht
werden und die Folge davon ſind unſere
vielgeſtaltigen Haustiere, welche äußerlich
ganz wie polymorphe Arten erſcheinen.
fie aus der Verſchmelzung verſchiedener wil-
der Stammformen entſtanden ſind (Hund,
Rind) auch bei anderen (Schaf, Ziege,
Huhn) iſt dies kaum mehr zu bezweifeln.
Durch die Zucht des Menſchen ſind
allerdings neue Arten künſtlich gebildet
worden, aber nicht in dem Sinne, daß er aus
mütterliche Form darſtellen würde) mit
einer Art mehrere machte, ſondern viel—
mehr, daß er aus mehreren ſcheinbar
eine (allerdings ſehr polymorphe) machte.
Indem der Menſch verſchiedene wilde
Tierarten durch Auswahl und Iſolirung
in ihre Elemente zerlegte und dieſelben wie-
der durch Baſtardirung in mannigfacher
Weiſe kombinirte, erzielte er die große
Menge von verſchiedenen Raſſen, welche
unſere Haustiere thatſächlich aufweiſen.
Das Weſen dieſer Züchtung beſteht
aber der Hauptſache nach nur in der ver—
ſchiedenartigen Kombinirung und Miſchung
bereits vorhandener Elemente und nicht in
der Neubildung von ſolchen.“ So weit Fuchs.
Es iſt nicht zu verkennen, daß dieſe
Auffaſſungsart viel Beſtechendes für ſich
hat und auf viele Zuhörer und Leſer als
einfache Erklärung der Variationstendenz
vieler Pflanzen und Tiere einen bedeuten—
den Eindruck machen wird, denn es laſſen
ſich gar manche ſcheinbare Stützen dafür
anführen. Es iſt nämlich allſeits bekannt,
zeigen, in die elterlichen Formen zurückzu—
ſchlagen, ſich alſo wieder in die Compo—
nenten der Kreuzung zu zerſetzen. Als be—
kannteſtes und ſo zu ſagen perpetuirliches
Beiſpiel eines ſolchen Rückſchlagens kann
der berühmte Baſtard zwiſchen dem Gold—
regen (Cytisus Laburnum) und C. pur—
| pureus betrachtet werden, der durch Steck—
Bei mehreren polymorphen Haustieren
iſt es bereits ſehr ſicher nachgewieſen, daß
linge weitverbreitet iſt, und neben un—
fruchtbaren Baſtardblüten fruchtbare Blü—
ten der beiden elterlichen Arten, ſowie
allerlei Miſchungen beider Formen durch—
einander zeigt. Man erzählt, daß dieſe
von Poiret Cytisus Adami getaufte Art
zuerſt in dem Garten des Gärtner Adam
zu Vitry bei Paris durch Befruchtung der
Blüten des Goldregens (welche alſo die
dem Blumenſtaube der rothen Art erzeugt
worden ſei, aber leider weiß man dies
nicht gewiß, und nach anderer Nachricht
wären die beiden Arten nur aufeinander
gepfropft geweſen.
Aber mögen dieſe oder ähnliche Fälle
von Rückſchlag der Baſtarde in Stamm—
arten noch ſo verführeriſch klingen, um die
ſtarke Variationstendenz gewiſſer Pflan—
zen und Tiere zu erklären, ſo wird doch
jede ſorgfältige Erwägung aller Umſtände
ergeben, daß die Baſtardirungstheorie
durchaus nicht geeignet iſt, die Mannig—
faltigkeit der Naturweſen und die zahl—
reichen Übergänge der Formen zu erklären,
wenn wir nicht annehmen wollen, die
Eigenſchaften der Lebeweſen ſeien ehe—
mals ganz andere geweſen als heute. Denn
wenn man aufſtellt, daß unſere Arten durch
Kreuzung entſtanden ſeien, ſo müßte man
doch mindeſtens an eine Kreuzung weit
auseinander ſtehender Formenkreiſe, d. h.
daß Baſtardformen eine große Neigung | ſogenannter Gattungen untereinander den-
201 9
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2
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3.
26
202
Ernſt Krauſe, Die Baſtard-Theorie.
ken. Nun weiß man aber, wie ſchwer, ja Haſe und Kaninchen u. ſ. w., aber man
weiß nicht, ob dieſe Tiere ſich auch im
ſelbſt unmöglich es oft iſt, Nachkommen
von zwei einander ſogar ziemlich naheſte—
henden Arten derſelben Gattung — dieſe
Bezeichnungen in dem gewöhnlichen Sinne
genommen — zu erhalten. So z. B. hat
man noch keine Baſtarde zwiſchen Apfeln
und Birnen erzielen können, und ſelbſt die
Pfropfung, die ſonſt unter Gattungen der—
ſelben Familie gewöhnlich ziemlich leicht
gelingt, führt hier ſo ſelten zu einem glück—
lichen Reſultate, daß der Dr. Neubert
aus Cannſtatt auf der vorjährigen Natur—
forſcherverſammlung auf ein Unikum diefer |
Art beſonders aufmerkſam machte, einen |
Apfelbaum in Fellbach bei Stuttgart, der
alle Jahre zugleich weiß und rot blüht,
und Apfel und Birnen neben einander
trägt. Es handelt ſich hier um ein verein—
zeltes Gelingen einer ſolchen wahrſchein—
lich in Folge bloßer Verwechſelung der
Reiſer geſchehenen Pfropfung, und der
Mann, der dieſes Kunſtſtück vor dreizehn
ſehen“auf feinen „ungeſchickten“,inzwiſchen
nach Amerika ausgewanderten Bruder.
völlig und beiderſeits wilden Zuſtand mit
einander fruchtbar paaren. Die ſo erziel—
ten Baſtarde ſind entweder ganz unfrucht—
bar oder nur für wenige Generationen
fruchtbar, wenn ſie nicht völlig in die
Stammraſſen zurückſchlagen. Aus einer
Stelle des Ariſtoteles, in welcher von
in Syrien lebenden „Mauleſeln“ die Rede
iſt, die ſich begatten und Junge gebären,
hat man ſchließen wollen, daß dies in war
men Ländern überhaupt nicht ungewöhnlich
ſei, aber die genaue Betrachtung der Stelle
zeigt, daß Ariſtoteles hier von Wildeſeln
(Hemippus oder Onager), nicht aber von
Baſtarden ſpricht. Franzöſiſche Schriftſtel—
ler haben erzählt, daß derſelbe Fall in
Algier ebenfalls häufig vorkomme, aber
Gratiolet erinnert an das ungeheure
Aufſehen, welches im Jahre 1838 im fran—
zöſiſchen Algier bei allen Muſelmännern
durch die Nachricht veranlaßt wurde, daß
Jahren vollbracht hat, leugnet die Urhe⸗
berſchaft obendrein und ſchiebt das „Ver-
Im Gegenteil hat bereits Buffon
die Möglichkeit fruchtbarer Kreuzung und
Erzeugung unbegrenzt ſich fortpflanzender
Baſtarde für ein Kriterium der Varietä-
ten im Gegenſatze zu den guten, völlig ge—
trennten Arten angeſehen. Allerdings lie—
fert die Vermiſchung verſchiedener domeſti—
in der Nähe von Biskra eine Maultierſtute
trächtig geworden ſei. „Das Entſetzen dar—
über“, erzählt Gratiolet, „verbreitete
ſich ringsum, die Araber glaubten, das
Ende der Welt ſtehe bevor, und verſuchten
durch längeres Faſten den Zorn des Him—
mels abzuwenden. Glücklicher Weiſe ver—
warf die Maultierſtute. Aber noch lange
nachher erzählten die Araber von dieſem
„ hchrecklichen Vorfalle“, was gewiß nicht
zirten Tiere mit andern domeſtizirten oder
wilden Tieren verwandter Art leicht Ba—
ſtarde. So paaren ſich Pferd, Eſel, Dſchig-
getai und Zebra fruchtbar unter einander,
ebenſo Hund, Wolf und Schakal; Pak, Zebu
und Hausrind; Kamel und Dromedar,
Vikung und Alpaka, Steinbock und Ziege,
geſchehen wäre, wenn dieſer Fall dort
öfter vorkäme.
Wir müſſen daher ſchließen, daß die
Möglichkeit einer fruchtbaren Baſtar—
dirung nur unter Arten derſelben Gat—
tung möglich iſt, namentlich zwiſchen ſo—
genannten beginnenden Arten, und
in dieſem Sinne wird ſie heute im
Ernſt Krauſe, Die Baſtard⸗Theorie. 203
vollendeten Gegenſatze zu der alten Auf—
faſſung als beſtes Erkennungsmittel einer
ſogenannten unveränderlichen Art von den
Vertretern der Art-Conſtanz betrachtet.
Wie ſollte daher eine dauerhafte Vermi—
ſchung weitauseinander ſtehender Gattun—
gen möglich ſein? Es giebt zwar viele Er—
zählungen darüber, aber ſie ſind insge—
ſammt wenig glaublich. So erwähnt Bel—
lonius eine fruchtbare Kreuzung zwiſchen
Pferd und Hirſchkuh, deren Ergebnis ſich
am Hofe Franz J. befunden haben ſoll,
und Hellenius erzählt von einer frucht—
baren Kreuzung zwiſchen Widder und Reh—
kuh, deren Baſtarde durch zwei Generatio—
nen mit dem Vater gekreuzt wurden und
wieder in deſſen Typus zurückſchlugen. Aber
die vermeintliche Rehkuh war, wie A. de
Quatrefages bemerkt, vielmehr das den
Berichterſtattern nicht genauer bekannte
Wildſchaf (Moufflon) geweſen. So mag es
mit manchen dieſer Erzählungen ſtehen.
Andrerſeits bezeugt gerade das Zurück—
ſchlagen der Baſtarde auf die Stamm—
arten, wie wenig Baſtardirung zur Erzeu—
gung neuer Arten beigetragen haben kann.
Was die noch von Iſidor Geoffroy—
Saint-Hilaire vertretene Meinung an—
betrifft, daß bei den Baſtarden eine völlige
Fuſion der Eigenſchaften beider Eltern,
unter Hervorbringung alſo eines wirklichen
Novums ſtattfinde, ſo haben die gründ—
lichen, namentlich an den Schädeln von
Schweinebaſtarden durch Nathuſius an—
geſtellten Unterſuchungen vielmehr erge—
ben, daß eine Miſchung aus einem Anteil
der väterlichen und einem Anteil der müt—
terlichen Eigenſchaften, aber keineswegs
ein Durchſchnitt aus allen Eigenſchaften
beider Eltern entſtehe. Es iſt im weitern
Kreiſe nicht anders, als wie Goethe im
engeren Kreiſe von ſich ſelber eingeſtand:
„Vom Vater hab' ich die Natur, des Lebens
ernſtes Führen, vom Mütterchen die Froh—
natur und Luſt zum Fabuliren.“ Die
Möglichkeit der Baſtardirung überhaupt
zeigt aber anderſeits, wie ſchon Locke aus—
einanderſetzte, daß die Arten keine unver—
änderlichen Formen, d. h. Verkörperungen
unwandelbarer Ideen ſind.
Im Übrigen wird jeder Verſuch, die
Variationstendenz ſowohl als die Man—
nigfaltigkeit von Tier- und Pflanzen—
reihen durch Vermiſchung von Endglie—
dern zu erklären, ſchließlich an den That—
ſachen der Paläontologie ſcheitern müſſen,
denn dieſe Anſicht würde ein gleichzeitiges
Vorhandenſein der Anfangs- und End—
glieder jeder Reihe vorausſetzen, und die
Entwicklung der Pferde z. B. ginge nicht
von Eohippus durch Oro-, Meso-, Mio-
und Pliohippus zum Equus, ſondern letz—
teres müßte ſchon in den Eozänſchichten
ſich finden, um mit dem Eohippus die Mit—
telformen hervorzubringen. Herr Fuchs
hält dem Anſcheine nach, wie man aus
einer ſpätern Deduktion deſſelben (vergl.
weiterhin S. 208) erſieht, auch die foſ—
ſilen Übergangsformen für „Miſchformen“.
Das klingt ſeltſam, aber zu ähnlichen er—
fahrungswidrigen Schlüſſen wird jeder ge—
trieben werden, der es verſuchen will, die—
ſer längſt verblichenen Hypotheſe in irgend
einer Form neues Leben einzuhauchen.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Die ankidarwiniſtiſchen Vorträge in
den Sitzungen der k. k. Geologiſchen
Neichsanftalt in Wien.
er eingehenden Beſprechung des erſten
PVortrages ) laſſen wir hier ein kür—
zeres Referat der beiden nächſten folgen.
Da wir auf eine eingehende Beſprechung
verzichten müſſen und darauf vertrauen,
daß die Unanwendbarkeit der meiſten hier
aufgeſtellten Folgerungen unſern Leſern
unmittelbar ins Auge fallen wird, erlauben
wir uns nur einige Fragezeichen und kurze
Bemerkungen einzuſtreuen. In der Sitzung
vom 20. Jan. ſprach Herr Th. Fuchs
„Über einige Grunderſcheinungen in der
geologiſchen Entwicklung der organiſchen
Welt“ und ging darin nach einigen Vor—
bemerkungen | zur ausführlicheren Be—
ſprechung folgender Punkte über:
1. Die Periodizität. Die Ent:
wicklung der organiſchen Welt erfolgt
nicht durch eine kontinuirlich gleichmäßig
fortſchreitende Veränderung, ſondern durch
eine periodiſch eintretende Umformung der
Organismen. Es wechſeln längere Zeit—
räume relativer Ruhe mit kürzeren Epochen
der Umwandlung. (?? Red.)
ee) Kosmos, S 69—72 dieſes Bandes.
Der Grad der Umwandlung iſt nicht
ein durchſchnittlich gleich bleibender, ſon—
dern wechſelt im regelmäßigen Rhythmus
ſeine Intenſität. Reihen leichter Verände—
rungen wechſeln in regelmäßiger Weiſe
mit Perioden tiefer greifender Umgeſtal—
tung ab. (? Red.).
Die Darwiniſtiſche Schule ſucht dieſe
periodiſchen Umgeſtaltungen durch eine
periodiſche Veränderung der äußeren Le—
bensverhältniſſe zu erklären, indem ſie
gleichzeitig annimmt, daß die verſchiedenen
Grade der Umgeſtaltung von der verſchie—
denen Intenſität dieſer äußeren Verände—
rungen bedingt werden. (? Red.)
Der Vortragende ſucht das Unzurei—
chende dieſer Vorſtellungsweiſe nachzu—
weiſen.
Wir kennen die phyſikaliſchen Mo—
mente, welche in der Jetztzeit den Charak⸗
ter der Lebewelt beſtimmen, und vermögen
deren Effekt zu beurteilen. Wir kennen die
Fauna des feſten Landes, des Süßwaſſers
und des Meeres, die Fauna des Strandes
und die Fauna der Tiefſee, die Fauna der
Tropen und die Fauna der höheren Brei—
ten. Wir wiſſen aber auch, welche Folgen
eine Veränderung in den äußeren Lebens—
verhältniſſen nach ſich zieht. Wenn ein
trockener Landſtrich verſumpft, ſo verwan—
Kleinere Mitteilungen und Jonrnalſchau.
deln ſich keineswegs die xerophilen Pflan—
zen in Sumpfpflanzen, ſondern die erſteren
ſterben allmählich aus und die Sumpf—
pflanzen wandern ein. Wenn ein Meeres—
becken allmählich ausgeſüßt wird, ſo ent—
ſteht die Süßwaſſerfauna keineswegs aus
einer Umwandlung der Meeresfauna, ſon—
dern die Meerestiere ſterben allmählich
aus und die Süßwaſſertiere wandern all—
mählich ein. Wenn das Klima in Europa
allmählich kälter würde, würden ſich nicht
die gegenwärtig daſelbſt lebenden Tiere
und Pflanzen in arktiſche verwandeln,
ſondern es würden diejenigen Arten, wel—
che das rauhere Klima nicht zu vertragen
vermöchten, ausſterben und dafür die ark—
tiſchen Tiere und Pflanzen weiter nach
Süden rücken.
Wenn die Sahara durch eine Verän—
derung der meteorologiſchen Verhältniſſe
regelmäßige und ausgiebige Regen erhielte,
ſo würden ſich gewiß nicht die jetzigen
Wüſtenpflanzen in neue Pflanzenarten ver—
wandeln, ſondern das ganze Gebiet würde
durch einwandernde Mediterranpflanzen
okkupirt werden; würden die klimatiſchen
Verhältniſſe tropiſchen Charakter anneh—
men, ſo würde ganz einfach die tropiſche
Flora Sudans weiter nach Norden rücken.
Alle dieſe Erſcheinungen laſſen ſich
aber auch bei den foſſilen Faunen und
Floren nachweiſen.
Wir mögen jeden beliebigen geologi—
ſchen Zeitabſchnitt in betracht ziehen, ſo
finden wir darin Land-, Süßwaſſer- und
Meeresbildungen, Strandbildungen und
Bildungen der Tiefſee, Ablagerungen höhe—
rer und Ablagerungen niederer Breiten,
wir ſehen den Übergang von Meeresbil-
dungen in Süßwaſſerbildungen, von Süß⸗
205
Landes, und in vielen Fällen iſt es auch
gelungen, Wanderungen der Faunen von
Nord nach Süd, von Süd nach Nord nach—
zuweiſen. Alle dieſe Veränderungen haben
aber gar nichts mit jenen Veränderungen
zu thun, durch welche die Unterſcheidung
verſchiedener geologiſcher Stufen bedingt
wird, nichts zu thun mit der Umwandlung
der juraſſiſchen Fauna in die kretaziſche,
der kretaziſchen in die tertiäre, und es folgt
hieraus, daß dieſe Veränderungen in eine
ganz andere Kategorie gehören und gar
nichts gemein haben mit jenen, die durch
einen Wechſel der äußeren Lebensverhält—
niſſe hervorgerufen und bedingt werden.
Man pflegt zwar häufig zu ſagen, daß
die Umänderung der Fauna in eine an—
dere, wie wir ſie von einer geologiſchen
Epoche zur anderen finden, durch uns un—
bekannte äußere Kräfte hervorgebracht
werde; dieſer Ausſpruch iſt jedoch vom
Standpunkte der exakten Naturforſchung
durch gar nichts zu rechtfertigen. Wir
können, auf dem Boden der Erfahrung
ſtehend, nur ſagen, daß die Kräfte, welche
die Umänderung hervorbrachten, uns un—
bekannt ſind, ob es aber Kräfte der äuße—
ren phyſiſchen Natur ſind, wiſſen wir nicht,
da es ebenſogut innere phyſiologiſche Kräfte
ſein können.
2. Koordinirtheit der Faunen
und Floren der einzelnen geologi—
ſchen Zeitabſchnitte. Wenn wir die
Floren zweier verſchiedener Provinzen, et—
wa Spaniens und Kleinaſiens, mit ein—
ander vergleichen, ſo können wir in den—
ſelben drei Elemente unterſcheiden:
a. Eine große Anzahl identiſcher Arten.
b. Eine ebenfalls große Anzahl voll—
kommen heterogener Arten, welche zu ver—
waſſerbildungen in Bildungen des feſten | ſchiedenen Gattungen gehören oder doch
206
feine nähere Verwandtſchaft zu einander
zeigen.
c. Eine kleine Anzahl vikariirender,
d. h. ſolcher Arten, welche, ohne gerade
ident zu ſein, ſich doch ſo nahe ſtehen, daß
man ſie als Varietäten einer Grundart
betrachten könnte.
Genau daſſelbe finden wir aber, wenn
wir die Faunen zweier unmittelbar auf⸗
einander folgenden geologiſchen Zeitab—
ſchnitte, etwa die Fauna der erſten und
zweiten Mediterranſtufe, oder des älteren
und jüngeren Pliozäns mit einander ver⸗
gleichen. Auch hier finden wir eine große
Anzahl identiſcher, eine große Anzahl he—
terogener und eine kleine Anzahl vikari—
irender Arten, und wir können es als all—
gemeinen Grundſatz aufſtellen, daß die
Faunen und Floren zweier aufeinander
folgender geologiſcher Zeitabſchnitte ſich
ähnlich verhalten wie Faunen und Floren
zweier benachbarter tier- oder pflanzen⸗
geographiſcher Bezirke.
Da nun aber die Faunen und Floren
verſchiedener geographiſcher Bezirke als
koordinirte Größen aufgefaßt werden und
Niemand behaupten wird, daß die eine
durch die Umwandlung einer andern ent⸗
ſtanden iſt, ſo muß man konſequenter Weiſe
dieſe Vorſtellung wohl auch auf die zeit-
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
geſtreut vereinzelte Vorläufer der ſpätern
Fauna.
5) An einem beſtimmten Zeitpunkte an⸗
gelangt, verſchwindet mit einemmal die
große Mehrheit der bisher herrſchenden
Typen und ebenſo raſch entfalten die bis—
her gleichſam unterdrückt geweſenen Vor-
läufer der neuen Zeit einen außerordent—
lichen Formenreichtum.
Die neue Fauna erſcheint daher durch—
aus nicht als eine direkte Fortſetzung der
vorhergehenden, die neuen Typen ſind kei—
neswegs aus einer Umwandlung der Ty—
pen hervorgegangen, welche in der vorher—
gehenden Fauna die herrſchenden waren,
die beiden Faunen ſcheinen ſich vielmehr
aus gemeinſamer unbekannter Tiefe, wie
aus gemeinſamer unbekannter Baſis neben⸗
einander zu erheben; ſie verhalten ſich auch
hier wie zwei koordinirte Größen und kei—
neswegs wie eine Stammform und eine
abgeleitete Form.
Dieſes iſt das Reſultat, wenn wir z.
B. die Fauna der Tertiärzeit mit jener der
meſozoiſchen Periode, oder wenn wir die
meſozoiſche Fauna mit der paläozoiſchen ver⸗
gleichen. In beiden Fällen hat die jüngere
lich auf einander folgenden Faunen und
Floren anwenden. (So! Wo liegt da die
Konſequenz? Red.)
Wenn man die Faunen oder Floren
größerer geologiſcher Zeitabſchnitte mit ein—
ander vergleicht, um zu erfahren, wie ſich
die ältere Fauna in die jüngere verwan⸗
delt, ſo findet man regelmäßig folgendes:
a) Zwiſchen den herrſchenden charak—
teriſtiſchen Typen der älteren Fauna
finden ſich gleichſam unregelmäßig ein—
Fauna der älteren gegenüber nicht den
Charakter eines Umwandlungsproduktes,
ſondern den Charakter einer Neubildung.
(2 Red.)
Die allgemein herrſchende Regel, daß
neue Typen nach wenigen iſolirten Vor—
läufern ſogleich eine große Mannigfaltig-
keit an Gattungen und Arten entwickeln,
iſt namentlich von Barrande zu wieder—
holten Malen hervorgehoben worden, in—
dem derſelbe zugleich betonte, daß dieſe Er—
ſcheinung im direkten Gegenſatz zu den For—
derungen der Darwinſchen Lehre ſtünden.
Hier iſt nun der Punkt, wo von Seite
U
r
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
der Anhänger Darwin's ſtets auf die Un—
vollſtändigkeit unſerer Kenntniſſe hingewie—
daß bei fortgeſetzter Forſchung ſich die
erforderliche Anzahl der Vorläufer ſchon
finden werde.
Der Vortragende wendet ſich nun mit
Nachdruck gegen ein derartiges Vorgehen,
indem er hervorhebt, wie vollſtändig unzu—
läſſig eine derartige einſeitige und willkür—
liche Korrektur unſerer Erfahrung ſei.
Wenn ein Uhrmacher, der ein Uhrrad
um die Hälfte zu klein gemacht, ſich dadurch
zu helfen ſuchte, daß er das Rad mit einer
Lupe vergrößerte, würde nicht Jedermann
lächeln über einen ſolchen Akt der Selbſt—
täuſchung? Und wird nicht trotzdem dieſe
Selbſttäuſchung täglich von Seite der Dar—
winiſten geübt, ſo oft es ſich darum han—
delt, ſtatiſtiſche Diſſonanzen mit einander
und mit den Forderungen die Lehre in Ein—
klang zu bringen? Die künſtliche Vergrö—
ßerung, welche man anwendet, beſteht in
der Eskomptirung der noch zu erhoffenden
Funde, man wendet dieſe künſtliche Ver—
größerung aber nur auf der einen Seite
an und redet ſich ein, man habe dadurch
das Mißverhältnis aufgehoben, das erfor—
derliche Gleichgewicht wieder hergeſtellt!
(Welcher Vergleich! Red.)
3. Die behauptete Ergänzung
des naturhiſtoriſchen Syſtems durch
die Foſſilien. Der Vortragende beſpricht
die allgemein adoptirte Anſicht, daß unſer
naturhiſtoriſches Syſtem durch die Mitein—
beziehung der Foſſilien ergänzt werde, und
ſucht den Nachweis zu liefern, daß dies
wohl in einem gewiſſen idealen Sinne, kei—
neswegs aber im Sinne der Darwinſchen
Lehre der Fall ſei.
Verſteht man unter der Ergänzung des
207
Syſtems die Bereicherung desſelben durch
b neue Typen, ſo iſt dies jedenfalls richtig.
ſen wird, indem ſie die Überzeugung nähren,
Verſteht man darunter jedoch den
direkten Nachweis der wirklichen Stamm—
formen, ſo iſt dies entſchieden unrichtig.
Wenn wir die Huftiere betrachten, ſo
iſt es allerdings richtig (alſo doch! Red.),
daß durch die foſſilen Anchitherien, Ano—
plotherien, Oreodonten ꝛc. viele Lücken
teilweiſe ausgefüllt werden, welche die ge—
genwärtig lebenden Huftiergruppen tren—
nen, andererſeits iſt es aber ebenſo richtig,
daß durch die Dinoceraten, Brontotherien,
Sivatherien u. ſ. w. neue Typen gegeben
wurden, welche ſich außerhalb der bekann—
ten Huftiertypen ſtellen und ohne im Min—
deſten irgend welche Lücke auszufüllen,
im Gegenteile nur ihrerſeits neue Lücken
ſchaffen.
Dasſelbe Reſultat erhalten wir aber
immer wieder, wir mögen welche Gruppe
immer betrachten.
Die weitaus überwiegende Mehrzahl
der meſozoiſchen Typen, wie die Dino—
ſaurier, die Dieynodonten, die Sauropte—
rygier, die Ganoiden, die Ammoniten, die
Belemniten, die Nerineen, Pleurotomarien
2c. ꝛc. füllen durchaus keine Lücken der
gegenwärtigen Schöpfung aus, es ſind
vielmehr neue Formen, neue Typen, wel—
che, ohne welche Lücken auszufüllen, nur
neue Lücken ſchaffen, neue Rätſel aufgeben.
Daſſelbe zeigt in noch verſtärktem
Maße die paläozoiſche Fauna.
Wenn wir die ſogenannten Zwiſchen—
formen, wie fie die früheren Schöpfungs—
epochen uns liefern, näher ins Auge faſ—
ſen, ſo ſtellt es ſich faſt regelmäßig her—
aus, daß wir dieſelben nicht als die wirk—
lichen direkten Vorfahren und Stammfor—
men der jetzt lebenden Organismen be—
Be
208
trachten können, ſondern daß dieſelben nur
der problematiſchen gemeinſamen Stamm—
form näher ſtehen als die betreffenden
lebenden Formen und ſo gewiſſermaßen
unſerer Phantaſie in dem Beſtreben, ſich
ein Bild der wirklichen Stammform zu
bilden, zur Hilfe kommen.
Bei ideeller geiſtiger Auffaſſung des
Syſtems erſcheint dies allerdings als ein
großer Fortſchritt (wie ſo? R.), keineswegs
aber vom Darwiniſtiſchen Standpunkt aus,
der das naturhiſtoriſche Syſtem für einen
wirklichen und reellen Stammbaum hält
und unter den Foſſilien effektiv die wirk—
lichen materiellen Glieder ſucht.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
die Darwiniſchen Erforderniſſe iſt jedoch
durch dieſen Fund gar nichts gewonnen,
denn nicht nur, daß man von den Gliedern
a6 —a keines gefunden hat, ſtellt ſich viel—
mehr noch die Notwendigkeit heraus, die
Glieder bs, bs, b! nachzuweiſen, die An—
zahl der fehlenden Glieder iſt demnach
nicht verringert, ſondern vermehrt, die ef—
fektive Lücke iſt nicht ausgefüllt, ſondern
erweitert, die geſtellte Aufgabe nicht ver—
kleinert, ſondern vergrößert worden.
Da nun, wie bereits erwähnt, in
der weitaus größten Mehrzahl der bekann—
ten Fälle die neuen, vermittelnd auftreten—
den foſſilen Typen nicht direkte Vorläufer,
nicht Jugendformen und embryonale For—
men der lebenden Organismen, ſondern
vielmehr Miſchformen und Zwiſchenformen
darſtellen, welche ſich gewiſſermaßen zwi—
ſchen die bekannten Formenreihen hinein—
ſtellen, ſo geht daraus hervor, daß unſer
naturhiſtoriſches Syſtem durch die foſſilen
A In beiſtehender Skizze
‘ möge a eine Stammform
41 bezeichnen, aus welcher ſich
a ö B einerſeits durch al—a® die
97 > Form A, anderſeits durch
4 Ri jes bi, bo, b3 die Form B ent-
a 1 zo: wickelt.
1 421 Stellen wir uns nun
a 1 vor, daß X eine uns be⸗
kannte lebende Form vorſtellt, jo erwächſt
uns nun die Aufgabe, unter den Foſſilien
die Glieder as, ad, at, as, a?, an bis zur
Stammform a zu ſuchen.
Stellen wir uns nun weiter vor, daß
wir thatſächlich keines dieſer Glieder, wohl
aber die Form B finden, welche zwar kein
direkter Vorfahre von A iſt, aber doch der
gemeinſamen Stammform a näher ſteht
als dieſes, was ergiebt ſich hieraus?
Für das ideelle Bedürfnis iſt der Fund,
die Form B, ein großer Fortſchritt, weil ſie
der Stammform a näherſtehend uns der
Vorſtellung derſelben näher führt“), für
*) Wieſo ein großer Fortſchritt, wenn es
nach dem Herrn Verfaſſer keine Stammformen
giebt? Red.
Organismen wohl in ideeller Richtung er—
gänzt wird, daß jedoch im Darwiniſtiſchen
Sinne die vorhandenen Lücken dadurch
nicht ausgefüllt, ſondern vielmehr ins Un—
endliche erweitert werden. (Das verſtehe,
wer es kann! Neue Formen können wohl
neue Lücken ſchaffen, aber doch die alten
nicht erweitern. Red.)
Zur Erläuterung weiſtder Vortragende
auf die bekannte, meiſterhafte Arbeit Pro—
feſſor Claus’ über den Stammbaum der
Kruſtazeen hin. Prof. Claus“) hatte es
verſucht, auf Grundlage der Unterſuchung
der lebenden Kruſtazeen die Grundzüge
eines Stammbaumes der Kruſtazeen zu
entwerfen, und zog ſodann auch die foſ—
) Unterſuchungen zur Erforſchung der ge
nealogiſchen Grundlage des Cruſtaceenſyſtems.
Ein Beitrag zur Deszendenzlehre. Wien, 1876.
**
denſelben Stützen für ſeinen Stammbaum
zu finden. Was war aber das Reſultat da—
von? Wir finden es auf Seite 103, und
es lautet folgendermaßen:
„Leider ſind wir freilich zur Erfor—
ſchung der Abſtammung der Kruſtazeen
auf die aus den jetzt lebenden Organismen
gewonnenen Erfahrungen ſo gut als be—
ſchränkt. Die foſſilen Kruſtazeenreſte, ſo
groß auch die Fülle von Formen iſt, die
uns von den älteſten, verſteinerungsfüh—
renden Schichten bis zur Diluvialzeit vor—
liegen, bieten für unſere Aufgabe erſtaun—
lich ſpärliche Anhaltspunkte, nicht einmal
ausreichend, um zur Kontrolle auf die Rich—
tigkeit unſerer Ableitungen verwertet wer—
den zu können. Auch auf dem Gebiete der
Kruſtazeen tritt die Paläontologie neben
Anatomie und Entwicklungsgeſchichte total
in den Hintergrund.“
In ſeinem dritten Vortrage (am 17.
Februar) ſprach Herr Th. Fuchs „Über
die ſogenannten Mutationen und
Zonen in ihrem Ver hältniſſe zur
Entwicklung der organiſchen Welt“
und knüpfte dabei, um auf ein konkretes
Beiſpiel einzugehen, an die bekannte, in
den Schriften der Geologiſchen Reichs—
anſtalt erſchienene Arbeit Profeſſor Neu—
mayrs „Über unvermittelt auftretende
Cephalopodentypen im Jura Mitteleuro—
pas“, welche Arbeit in neuerer Zeit in
einer anderen „Zur Kenntnis der Fauna
des unterſten Lias in den Nordalpen“ eine
teilweiſe Ergänzung gefunden hat.
Nach einigen Vorbemerkungen, die kei—
nen unmittelbaren Bezug zu dem Thema
haben, bemerkte der Vortragende, daß
dieſe Arbeit in dem Reſultate gipfle, daß
wir im mitteleuropäiſchen Jura eine un-
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ſilen Formen heran, in der Hoffnung, in
209
unterbrochene, kontinuirliche Reihe von 33
verſchiedenen Faunen vor uns haben, von
denen eine jede durch eine kleine Umände—
rung der vorhergehenden entſtanden ſei,
durch eine Umänderung, welche beiläufig
den Wert einer ſogen. Mutation habe.
Unvermittelt auftretende Typen wer—
den als Einwanderer aus anderen Ent—
wickelungsgebieten und mithin nur für lo—
kale Erſcheinungen erklärt.
Was für die Juraformation gilt, muß
wohl auch in analoger Weiſe für die übrigen
Formationen Geltung haben, und wenn
bei denſelben auch bisher eine ähnliche,
auf Mutationen gegründete Zoneneintei—
lung noch nicht faktiſch durchgeführt wurde,
ſo können wir doch die Anzahl der in ihnen
enthaltenen Zonen nach Analogie der in
der Juraformation nachgewieſenen inner—
halb gewiſſer Grenzen abſchätzen.
Ich habe dies nach einem, wie ich
glaube, übertriebenen Maßſtabe gethan
und erhalte dabei, vom Unterſilur ange—
fangen bis zur Gegenwart, doch nicht mehr
als 153 Zonen.
153 mal hat ſich alſo ſeit dem Silur
bis zur Gegenwart die Fauna geändert
und alles, was ſeit Beginn des Silur auf
Erden gelebt hat, alles, was noch auf
Erden von Organismen vorhanden iſt,
alles dies muß ſich bei konſequenter An—
wendung der leitenden Idee aus den Or—
ganismen des Silur entwickelt haben, und
zwar einfach dadurch, daß dieſe Organis—
men 153 mal mutirten.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3.
Silur |
Devon gn 40
m)
Bas m Hl. 3
Jura 8
Heide. a
Känozoiſche . . 20
153
27
210
Der Verfaſſer zeigt nun weiter, daß
auch dieſe Zahl noch zu groß iſt und daß
man, auf Neumayrs Prämiſſen weiter
bauend, auf 70 oder gar auf blos 24
Mutationen komme, durch die ſich nach
dieſer Anſicht die heutige Lebewelt aus
der ſiluriſchen gebildet haben ſollte. Wir
gehen aber nicht näher darauf ein, weil
uns dieſer geſammte dritte Vortrag nur
ein einziges großes Mißverſtändniß zu ſein
ſcheint.
Aber ein neues, äußerſtes Glied in
der Neihe der amorphen Kohlenarken.
Die Kohle als Überreſt organiſcher
Weſen, namentlich von Pflanzen, findet
ſich in den Schichten der Erde bekanntlich
in ſehr verſchiedenen Stufen der Zerſetzung.
Bei der langſamen Verweſung, wie ſie
unter Waſſer oder in der Erde vor ſich
geht, gehen zuerſt Sauerſtoff, Waſſerſtoff
und Stickſtoff fort, und das Endziel dieſes
Prozeſſes würde ein mehr oder weniger
reiner, von obigen Stoffen freier Kohlen—
ſtoff ſein. Man unterſcheidet in populärer
Ausdrucksweiſe drei Hauptgruppen, die
man Braunkohlen, Steinkohlen und An—
thrazite nennt, unter denen ſich aber Über—
gänge aller Art finden, ſo daß man eigent—
lich viel mehr Stufen unterſcheiden müßte.
Es iſt natürlich, daß die älteren Kohlen—
lager weiter vorgeſchrittene Zerſetzungs—
produkte, d. h. kohlenſtoffreichere Kohlen
enthalten müſſen, die ihre ehemalige Struk—
tur vollkommener eingebüßt haben, als die
jüngeren, und daher findet man in der
Tertiärformation, in den Kreide- und Jura—
ſchichten die noch deutliche Holzſtruktur
zeigenden Braunkoͤhlen, in den permiſchen
und karboniſchen Schichten die dichteren
|
|
|
2
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Steinkohlen, in den karboniſchen, devoni—
ſchen und ſiluriſchen Schichten dagegen
Anthrazite, die älteſten bisher bekannten
amorphen Kohlen. Natürlich iſt dieſe Al—
tersklaſſifikation keine bindende, denn je
nach der Lokalität und den Umſtänden kann
hier oder da eine ſchnellere oder langſamere
Karboniſirung vor ſich gegangen fein, und ſo
kommen bisweilen Anthrazite in karboni—
ſchen Schichten, und Steinkohlen in den
gewöhnlich nur Anthrazite enthaltenden
älteren Schichten vor.
Eine wohl unterſcheidbare noch ältere
Modifikation iſt nun neuerdings an den
nordweſtlichen Ufern des Onegaſees von
A. Inoſtranzeff unterſucht und charak—
teriſirt worden, worüber wir einem Be—
richte im „Neuen Jahrbuch für Minera—
logie, Geologie und Paläontologie“ (1880,
I, S. 97) das folgende entnehmen.
Man hatte von dort eine ſogenannte
„ſchwarze Olonezer-Erde“ in den Handel ge—
bracht und Anſtalten getroffen, die vermeint—
lichen Steinkohlenlager auszubeuten. Bei
einer genaueren Unterſuchung der Profile
fand nun Inoſtranzeff, daß die dort an—
ſtehenden Thonſchiefer zur huroniſchen For—
mation gehören, was der von ihnen ein—
geſchloſſenen, vermutlich von den älteſten
organiſchen Weſen herrührenden Kohle ein
um ſo höheres wiſſenſchaftliches Intereſſe
verlieh. In der That entſpricht ſie nach
ihren phyſikaliſchen und chemiſchen Eigen—
ſchaften den Vorausſetzungen, die man
einer ſo alten Kohle gegenüber hegen
mußte. In den reinſten Proben zeigt ſie
einen ſchwarzen, diamantartigen Metall—
glanz, der ſich ſelbſt durch ein Erhitzen bis
zur dunklen Rotglut nicht verliert und nach
einer Behandlung mit ſchwacher Salzſäure
nur noch eklatanter auftritt. Dieſe Kohle
)
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 211
beſitzt ferner eine überraſchende, zwiſchen
3 ½ und 4 in der Skala ſtehende Härte,
ſo daß ſie isländiſchen Spath mit Leichtig—
keit ritzt. Das ſpez. Gewicht wurde —
1,841 gefunden.
Unter ihren chemiſchen Eigenſchaften
fällt am meiſten die ſchwere Verbrennlich—
keit auf. Ein Gramm gepulverter Probe
war in einem offenen Tiegel über einem
Gasbrenner erhitzt, erſt nach neun Stun⸗
den völlig verbrannt, während ein gleich—
ſchweres Stück dichten Graphits unter den—
ſelben Umſtänden ſchon in 3 ½ Stunden
verbrennt. Die chemiſche Analyſe ergab
eine Zuſammenſetzung der friſchen Kohle
reinſter Qualität aus 90,50 % Kohlen—
ſtoff, 0,40% Waſſerſtoff, 0,41% Stick⸗
ſtoff, 1,01 %ĩ” Aſche und 7,76% Waſſer.
Der Kohlenſtoffgehalt der völlig ausge—
trockneten Kohle wurde durch Verbrennung
in trockenem Sauerſtoff auf 98,11% be—
ſtimmt. Durch dieſen Kohlenſtoffreichtum
bei bedeutend vermindertem Waſſerſtoff—
gehalt, ſowie durch die Anweſenheit von
Stickſtoff und das Fehlen von Sauerſtoff
unterſcheidet ſich die Olonezer Kohle von
| allen bisher unterſuchten Kohlenarten,
auch den kohlenſtoffreichſten Anthraziten.
Im Kohlenſtoffgehalt dem Graphit nahe—
kommend, weicht ſie von dieſem in ihrem
chemiſchen Verhalten durchaus ab. Sie
liefert nämlich bei Behandlung mit oxydi—
renden Mitteln durchaus keine Graphit—
ſäure, ſondern verhält ſich wie gewöhn—
licher amorpher Kohlenſtoff.
Auch die genauere Vergleichung ihrer
phyſikaliſchen Eigenſchaften mit denen des
Anthrazits und Graphits ergab, daß ſie
ſich ſowohl von der kohlenſtoffreichſten
amorphen Kohle, dem Anthrazit, als von
dem kriſtalliniſchen Graphit weſentlich un—
1 ——
terſcheidet. In der Härte übertrifft ſie
| ſehr erheblich beide, denn die Härte des
Anthrazits überſteigt nicht 2 — 2,5, die
des Graphits iſt noch geringer (1 — 2).
Nach ihrem ſpezifiſchen Gewichte und der
Leitungsfähigkeit für Elektrizität ſteht ſie
dem Graphit näher als dem Anthrazit.
Nach allen Richtungen ſtellt ſo die
Olonezer Kohle ein höchſt merkwürdiges
äußerſtes Glied in der Reihe der bis jetzt be—
kannten Kohlen organiſchen Urſprungs dar.
Konſtante Hkafaridenbildung des
Gehäuſes bei einer Landſchnecke und
regelmäßige Vererbung dieſer Eigen—
ſchaft bei ihrer Nachkommenfchaft.
Von einem ganz wunderbaren Faktum
haben uns die Herren H. Blanc und C.
A. Weſterlund in ihrem ſoeben erſchiene—
nen „Apergu sur la faune malacologique
de la Grèce, Naples, 1879, p. 32“ Nach—
richt gegeben. Sie beſchreiben daſelbſt
als fragliche Subſpezies von Patula ru-
pestris Drap., einer auch in Deutſchland
in Kalkgebieten häufigen kleinen Schnecken—
art, eine konſtant ſkalarid auftretende He—
licee unter dem Namen chorismenostoma
Blanc. Dieſe Form wird vom Berg Ma—
coleſſos in Böotien, wo fie ſich in Maſſe
finde, und von der Inſel Syra aus der Um:
gebung des Dorfes St. Georgios ange—
geben. Ich war vor wenigen Tagen ſo
glücklich, von der eifrigen Naturforſcherin
Frl. Joſéphine Thieſſe in Chalkis, der
Entdeckerin dieſer Form am erſtgenannten
Fundorte, ein ganzes Glas voll (50 Expl.)
dieſer wunderbaren Schnecke zu erhalten,
und ich kann nach eingehendſter Prüfung
derſelben nur beſtätigen, daß die Herren
N
212
Blanc und Weſterlund richtig geſehen
haben, d. h. daß die vorliegende Schnecke
in der That zu Pat. rupestris Drap. ge—
hört, und daß ſie als konſtante Skalaride
aufgefaßt werden muß. Bei allen vorlie—
genden Stücken vom Berg Macoleſſos iſt
nämlich der letzte Umgang der Schale nach
Art der Gattung Vermetus weit abgelöſt,
vollkommen röhrenförmig, und die Schnecke
iſt mithin als echte und zweifelloſe Ska—
laride zu betrachten.
Vergeſſen dürfen wir nicht, daß ſchon
Roth in feinem Spicilegium Moll., Mün-
chen, 1855, p. 7 auf dieſe in Attika nicht gar
ſeltene Abnormität aufmerkſam macht; aber
daß dieſelbe an gewiſſen Lokalitäten kon—
ſtant und ohne Vermiſchung mit der Stamm—
form auftritt, daß ſie ſeit Jahren von Ge—
neration zu Generation ſich erneut, daß
mithin die bis jetzt allgemein für patholo—
giſch gehaltene ſkalaride Gehäuſebildung
ſich unter Umſtänden vererbt, iſt neu und
angeſichts des Hilgendorff-Sandberger—
ſchen Streites über die Planorbiden des
Steinheimer Beckens und ſeine wirklichen
und vermeintlichen Skalaridenformen ge—
wiß nicht blos von theoretiſchem Intereſſe!
Schon v. Ihering kam zu der An—
ficht *), daß es ſich in den Steinheimer Ska—
lariden nicht um Mißbildungen im Sinne
S. Cleſſins, die ihre Form niemals den
Nachkommen vererben ſollten, handelt, ſon-
dern um echte, durch Übergänge verbun
dene, aber in beſtimmten Schichten mehr
oder minder ſtark fixirte Varietäten einer
einzigen Spezies. Unſer von Frl. Thieſſe
zuerſt beobachteter Fall der konſtanten erb—
lichen Skalaridenbildung läßt ſomit von
Iherings Vermutung als eine durchaus
) Amtl. Bericht der 50. Verſ. d. Naturf.
München, 1877, S. 159.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
gerechtfertigte und folgenreiche Thatſache
erſcheinen.
Es muß allerdings zugegeben werden,
daß an zwei der genannten Fundorte, in
Attika (Roth) und auf Syra (Blanc) ge—
legentlich auch typiſche Stücke von Pat.
rupestris unter den Skalariden vorkom—
men, aber könnte das nicht ſehr einfach als
ein Rückſchlag in die urſprüngliche Art zu
deuten ſein? Auf dem Macoleſſos dagegen
lebt die Form ſicher nur ſkalarid in tau—
ſenden von Stücken ohne jede Miſchung
mit normalen Exemplaren.
Über die näheren Verhältniſſe des
Vorkommens dieſer intereſſanten Schnecke
ſchreibt mir Frl. Thieſſe d. d. 30. März 80
Folgendes:
„Je ne puis pas attribuer à aucune
cause quelconque la difformite des Pa-
tula rupestris du Mt. Macolessos. Pour
mon compte je ne crois pas que ce soit
une difformite; puisque tous les indivi-
dus sont pareils. Ce n'est donc pas un
hasard! Je les trouve dans un ravin du
Mt. Macolessos. Elles ne sont pas collées
sur les rochers comme les autres Pat.
rupestris (normales), mais collees au
dessous des pierres comme les Pupa
rhodia Roth. Exposition nord; hauteur
500-600 metres du niveau de la mer.“
An eine jedesmal von Neuem wirkende
Urſache, welche die Loslöſung des letzten
Gehäuſeumgangs verurſachen könnte, iſt
natürlich ebenſowenig zu denken, wie an
den Fall, daß die normalen Stücke der
Schnecke vor ihrer vollkommenen Entwicke—
lung ſämmtlich zu Grunde gegangen ſein
ſollten. Bleibt demnach nur die einzige
Möglichkeit, daß in der That die vorlie—
gende Skalaridenform auf dem Wege iſt,
eine neue Spezies zu bilden, und daß
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ſie ihre ſo auffallende Eigentümlichkeit nun
ſchon ſeit wenigſtens einem Vierteljahr—
hundert konſtant vererbt. Ich zweifle nicht
daran, daß Pat. rupestris chorismeno-
stoma dazu berufen iſt, der Lehre von der
Unmöglichkeit der Vererbung urſprünglich
pathologiſcher Bildungen einen gründlichen
Stoß zu verſetzen.“)
Frankfurt a. M.
Dr. O. Boettger.
Die Olegoſaurier.
Marſh vor kurzem (American Journal
of Science, March 1880) einige inter-
eſſante Einzelheiten veröffentlicht, aus de—
nen wir das folgende entnehmen:
Unter den Charakteren, welche die ty—
piſche Gattung Stegosaurus von allen an-
deren bekannten Dinoſauriergruppen un—
terſcheiden, ſind bisher die folgenden auf—
gefallen: 1. Alle Knochen des Skeletts
ſind ſolid. 2. Das Oberſchenkelbein iſt ohne
dritten Rollhügel. 3. Der Kamm an dem
äußern Höcker des Oberſchenkelbeins, wel—
cher bei den Vögeln den Kopf vom Schien—
und Wadenbein trennt, iſt rudimentär oder
fehlend. 4. Das Schienbein iſt mit den
angrenzenden Fußwurzelknochenenden ver—
knöchert.
Der Schädel der Stegoſaurier iſt,
ſoweit bekannt, merkwürdig klein. In ſei—
nen hauptſächlichſten Zügen ſtimmt er mit
*) Für etwaige Intereſſenten bemerke ich,
daß das Naturhiſtoriſche Inſtitut „Linnaea“ in
Frankfurt a. M. zahlreiche Exemplare der ge—
nannten Schnecke auf Lager hält und ſie zum
geben in der Lage iſt.
**) Vgl. Kosmos, Bd. VI, ©. 388.
213
dem der Brückeneidechſe (Hatteria) von
Neuſeeland näher überein, als mit dem
irgend eines andern Reptils. Die Quadrat-
beine waren fixirt und ein Quadratjoch—
bogen vorhanden. Die Kinnladen waren
kurz und maſſig.
Über das Gehirn der Dinoſaurier
war bisher wenig bekannt, aber glücklicher—
weiſe war bei einem Exemplar des Stego-
saurus die Gehirnkapſel wohl erhalten
und anſcheinend ohne Verzerrung. Die
nachſtehenden Figuren zeigen die betreffen—
den Teile des Schädels mit einem Abguß
Über dieſe vor einigen Jahren neu—
entdeckte Dinofauriergruppe**) hat O. C.
des Gehirnes darin und darunter in der
Seitenanſicht. Das Gehirn dieſes Reptils
war ſtark verlängert und ſeine am meiſten
auffallenden Züge beſtehen in der großen
Ausdehnung der Sehhügel (op) und den
kleinen Hemiſphären des Vorderhirns (c).
Die letzteren übertrafen im Querdurch—
meſſer nur wenig den des verlängerten
Markes (m). Das Kleinhirn (ob) war ganz
klein. Der Sehnerv (on) entſpricht in ſei—
ner Größe der der Sehhügel. Die Riech—
lappen (ol) waren von bedeutender Größe.
Als Ganzes war dieſes Gehirn mehr ei—
dechſen- als vogelartig. Intereſſant iſt die
Vergleichung mit dem Gehirn eines jun—
gen Alligators, welches dem hier abgebil—
deten ähnlich iſt, nur daß das Großhirn
bedeutend an Breitenausdehnung zugenom—
men hat. Das Maſſenverhältnis beider
Gehirne auf ungefähr gleichgroße Tiere
abgeſchätzt, ergiebt, daß die heutigen Alli—
gatoren ein ungefähr hundertmal größeres
Gehirn haben, als die Stegoſaurier im
Verhältnis zu ihrer Körpergröße. Im Ver—
gleich zu Morosaurus und andern Dino—
eden e e ab | ſauriern, die Marſh unterſuchen konnte,
beſaß Stegosaurus unter allen bis jetzt
bekannten foſſilen und lebenden Land—
214
wirbeltieren, imBerhältnis zu ſeinerͤKörper—
größe, daskleinſte Gehirn. Es brauchtnicht
daran erinnertzu werden, daß dieſe beſonders
an den Großhirnlappen — die hier dieſen
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Namen nicht verdienen — hervortretenden
Erſcheinungen auf das ſchönſte mit den von
MarſhaufgeſtelltenGeſetzen über das Ge—
hirnwachstum in der Zeit übereinſtimmten.
A. von oben, B. von der Seite geſehen.
ol Riechlappen, e Großhirn, op Sehhügel, on Sehnerv, cb Kleinhirn, m verlängertes Mark,
f Augenhöhlen, k“ Schläfengruben, oc Hinterhauptshöcker.
Die Zähne des Stegosaurus waren | tilien ſehr ſchnell abgenutzt und durch
ſehr zahlreich und von meiſt langer
Die Kronen ſind
cylindriſcher Form.
meiſt in der Quere zuſammengedrückt und
mit dünner Emaille bedeckt. Die Kinn—
lade enthält nur eine einzelne Reihe
von in Gebrauch befindlichen Zähnen,
aber daneben mehr Erſatzzähne, als je—
mals bei einem Reptil beobachtet wurden.
Fünf Erſatzzähne in verſchiedenen Ent—
in der Höhle gefunden, in welcher die
Wurzel des im Gebrauche befindlichen
Zahnes ſteckte. Sie wurden, wie es
ſcheint, von dieſen pflanzenfreſſenden Rep⸗
durch neue erſetzt. i
Die Wirbel find ſämmtlich beider:
ſeits, wenn auch nur leicht, an der Gelenk—
fläche ausgehöhlt und alle ohne Luft- oder
Markhöhlungen. Zum Teil ſind ſie mit
langen Rückendornen verſehen, und na—
mentlich ſcheinen die vordern Schwanz—
wirbel eingerichtet geweſen zu ſein, einen
ſchweren Hautpanzer zu tragen. Die Zahl
wicklungszuſtänden wurden in einem Falle
der Kreuzbeinwirbel konnte bei obiger Art
nicht feſtgeſtellt werden.
Die Vorderbeine waren ſehr kräf—
tig und verſchiedenen Bewegungsarten an—
9 Vgl. Kosmos, Bd. II, S. 421.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
215
gepaßt; der Schultergürtel vom echten ähnlichen vor mehreren Jahren in Eng—
land gefundenen Dinoſaurier (Omosau—
Dinoſauriertypus.
Von Becken und Hinterbeinen,
die nicht vollſtändig vorhanden ſind, ſcheint,
Oberſchenkelbein iſt bei weitem der größte
Knochen im ganzen Skelett. Es iſt be—
merkenswert lang und ſchlank und in ſei—
nen Endbildungen ſowohl den Vögeln als
den Dinoſauriern ähnlich. Auch die Unter—
ſchenkelknochen zeigen mancherlei Analo—
gien mit dem Vogeltypus.
Eine der merkwürdigſten Eigentüm—
lichkeiten des Stegosaurus bildet die Rei—
henfolge von Verknöcherungen ſeines An—
griffs- und Schutzpanzers. Dieſelben be—
ſtehen aus zahlreichen Dornen, zum Teil
von bedeutender Größe und Macht und
aus vielen Knochenplatten von verſchieden—
artiger Größe und Geſtalt, wohlgefügt,
um das Tier gegen Angriffe zu ſchützen.
Einzelne dieſer Platten haben einen Meter
Durchmeſſer. Die Dornen waren von ver—
ſchiedenen Geſtalten und variirten ſehr in
der Größe. Einige derſelben ſind mehr
als zwei Fuß lang. Dieſe Dornen zeigen
eine runzlige, ſchiefe Baſis, und ihre Sei—
ten ſind mit Gefäßeindrücken und Gruben
verſehen, ähnlich den knöchernen Gehörn—
kernen der Huftiere. Sie waren augen—
ſcheinlich mit einer hornigen Subſtanz be—
deckt und bildeten bei Lebzeiten eine ſehr
mächtige Waffe. Von den größeren Dor—
nen ſind neun bei einem Skelett gefunden
worden, daneben mannigfache kleinere.
Möglich, daß ſie einen Kamm auf dem mit
breiten Schildern beſetzten Rücken gebildet
haben, wie man es bei einigen anderen
Dinoſauriern angenommen hat. Jedenfalls
ſcheinen viel mehr Panzerplatten, als Dor—
nen vorhanden geweſen zu ſein. Bei einem
rus) hat Owen angenommen, daß die
wenigen daſelbſt gefundenen Dornen an
ſoweit erkennbar, daſſelbe zu gelten, das
der Handwurzel befeſtigt waren. Dieſes
Tier war im übrigen ſo ähnlich gebaut,
daß es wahrſcheinlich mit zu den Stego—
ſauriern gerechnet werden muß, doch weiß
man nicht, ob es ebenfalls Hautſchilder
beſaß.
Die beiden bisher bekannten Stego-
saurus- Arten waren ungefähr dreißig
Fuß lange Pflanzenfreſſer und wahrſchein—
lich mehr oder weniger Waſſertiere. Es
wäre möglich, daß der Unterſchied zwiſchen
beiden Arten nur ein ſexueller wäre, da
nur bei dem Skelette der einen Art Dor—
nen gefunden worden ſind.
Das Mißverhältniß in der Länge der
Vorder- und Hinterbeine war bei Stego—
saurus wahrſcheinlich größer, als bei ir—
gend einem andern bekannten Dinoſaurier
und läßt annehmen, daß ſie bei ihren Be—
wegungen am Lande mehr oder weniger
zweibeinig geweſen ſind. Die ſehr kurzen,
mächtiger, freier Bewegung fähigen Vor—
derglieder mögen wohl bewaffnet mit
Dornen und höchſt wirkſam zur Verteidi—
gung geweſen ſein, der Rücken war augen—
ſcheinlich ebenſowohl mit Angriffs- als mit
Schutzwaffen verſehen. Auf dieſe Weiſe
muß Stegosaurus bei Lebzeiten von allen
bisher entdeckten Dinoſauriern bei weitem
den ſeltſamſten Anblick dargeboten haben.
Die Überbleibſel der hier beſchriebe—
nen Tiere ſtammen ſämmtlich aus den At-
lantoſaurus- Schichten des oberen Jura
von Kolorado und Wyoming. Durch ihre
Auffindung haben Arthur Lakes, W.
H. Reed und S. W. Williſton der
Wiſſenſchaft wichtige Dienſte erwieſen.
216
Prfiozän-Sirfche im oberen Arnolhale.
In einer der vorjährigen Sitzungen
der Societä Toscana di Scienze Naturali
führte Dr. C. J. Forſyth Major folgende
Pliozän-Hirſche als im oberen Arnothale
vorkommend an:
1. Cervus (Eucladoceros) Sedgwickii
Fal c.-C. dicranius Nestii M. S. S.
2. Cervus ctenoides N estii, ähnlich
dem C. tetraceros Dawkins im Pliozen
von Seyrolles (Puy de Dome)
3. Cervus Perrieri Croiz. e Job.
4. Cervusetuariarum Croiz.eJob.?
5. Cervus Nestii F. Major.
6. Cervus Nestii F. Major (neue
Spezies?) und ſchließt nachſtehende all—
gemeine Betrachtungen daran an:
Der Parallelismus zwiſchen der onto—
genetiſchen und phylogenetiſchen Entwick—
lung der Hirſche, wie er von Gaudry und
Boyd Dawkins nachgewieſen wurde“),
macht es zuweilen ſchwer, zu entſcheiden,
ob eine gewiſſe Art von Geweih eine er—
wachſene oder eine junge Form konſtituirt.
So iſt z. B. der C. Sedgwickii Falc. des
Foreſtbed aller Wahrſcheinlichkeit nach nur
eine nicht erwachſene Form von C. diera-
nius Nestii im florentiner Muſeum, ſowie
das am ſelben Orte aufbewahrte Geweih,
welches B. Dawkins dem C. etuariarum
zuſchreibt, weiter nichts ſein könnte, als
eine nicht ausgewachſene Form von G.“
Perrieri Cr. et Job. oder von C. Nestii
F. Major.
*) Anm. d. Red. Dieſelben haben bekannt⸗
lich gezeigt, daß die älteſten Cerviden, in denen
noch Hirſch und Antilope verſchmolzen waren,
ein ſehr einfaches Gehörn beſaßen, welches ſich
nur an der Spitze einfach gabelte und nicht regel-
mäßig abgeworfen wurde, weshalb es auch die
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Die Hirſche mit ſehr komplexem Ge—
weih, d. h. C. dicranius und C. etenoides
kommen hauptſächlich aus der Umgegend
von Figline (oberes Arnothal), die mit ein—
facherem Gehörn (C. Perrieri, Nestii etc.)
meiſtens von San Giovanni und Monte—
varchi. Da die einfach gehörnten Hirſche
in der geologiſchen Folge zuerſt erſcheinen,
ſo iſt es nicht unmöglich, daß die Ablage—
rungen der Umgegend von Figline, woher
die Überreſte der genannten Hirſche her—
rühren, erheblich jünger ſind, als die der
Umgegend von San Giovanni und Monte—
varchi, der Fundſtätte des C. Perrieri;
dieſe Annahme wird auch durch andere
Thatſachen bekräftigt.
Um Mißyverſtändniſſe zu vermeiden,
muß jedoch hervorgehoben werden, daß
die Fauna der C. dieranius und ctenoides
jedenfalls der quaternären vorhergeht; wie
andrerſeits die Fauna von C. Perrieri uns
bedingt nach der von Kaſino kommt.
Die pliozänen Hirſche, deren Geweihe
3 und 4 Spitzen beſitzen, gehören alſo, ſo—
viel man nach dem Gehörn urteilen kann,
zur Gruppe der heute in der öſtlichen Re—
gion (nach Wallace) lebenden Hirſche, d. h.
zur Gruppe der Axis, Russa, C. ta&vanus
C. manchurius. Boyd Dawkins ſchließt
daraus, daß die öſtliche Region den Axidae
eine ſichere Zuflucht vor jenen Veränderun—
gen gewährt habe, welche ſie zwangen, ſich
von Europa zurückzuziehen.
Man kann jedoch noch zwei andere Fälle
annehmen:
bekannte Roſe am Grunde nicht beſaß. Bei etwas
jüngeren Hirſchen wurden dann anſcheinend nur
die Spitzen abgeworfen und es blieb ein langer
Fuß ſtehen, auf dem ſich die Spitze ergänzte,
worauf ſchließlich von den Nachkommen das
geſammte Geweih abgeworfen wurde.
Be
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
1. daß zur Pliozänzeit auch in der
öſtlichen Region bereits dieſe Hirſchgruppe
exiſtirt habe, von der die heute lebenden
Abkömmlinge ſeien. Daß man ſie bisher
noch nicht in der öſtlichen Region gefunden,
iſt von keinem großen Werte als Wider—
legung dieſer Annahme.
2. daß die Axidae der europäiſchen
Pliozäns, wie die heutigen Axidae der öſt—
lichen Region, ſich unabhängig die einen
von den andern entwickelt haben, von Stäm-
men, die vielleicht unter ſich verſchiedener
waren, als es ihre Endprodukte ſind. So
z. B. wurden von Marſh in Nordamerika
40 Intermediär-Arten gefunden, welche
den Übergang vom Eohippus des unteren
Eozens zum quaternären Equus zeigen.
Andrerſeits beſitzen wir in Europa vom
Mittel-Eozen an eine in den älteren Ablage—
rungen weniger vollſtändige, aber in den
rezenteren gewiß nicht weniger kontinuir—
liche Serien, ohne daß man bisher eine
Identität in den Gattungen hätte konſta—
tiren können, ausgenommen am Endaus—
lauf einer jeden Serie, welchen das Genus
Equus bildet. — Ein Paläontologe, der
zur mittleren Miozänzeit kontemporän in
Europa mit dem Anchitherium, in Amerika
mit dem Miohippus gelebt hätte und der
ſich über die Glieder, welche dieſen beiden
Gattungen in ihrer betreffenden Serie
vorausgehen, Rechenſchaft abgelegt hätte,
würde haben vorausſagen können, daß
eine Zeit kommen würde, — wenn die in
den vorhergehenden Epochen begonnenen
Übergänge in derſelben Richtung ſich wei—
ter entwickeln, d. h. einerſeits die Reduk—
tion der ſeitlichen Metatarſen und Meta—
karpen (zugleich mit der größeren Entwick—
lung der mittleren Metakarpen und Meta-
nannte Läufigkeit oder Menſtruation natur—
tarſen), andrerſeits die größere Verlänge—
den Erſcheinungen:
217
rung des Körpers der Molare, zuſammen
mit den Modifikationen in der Faltung der
Glaſur u. ſ.w. — wo ſich gewiſſe Formen
entwickeln würden, die auch in der that
nach dem Mittelmiozän gelebt haben, und
die wir Hipparion, Equus Stenonis, E.
caballus in Europa — Protohippus, Plio-
hippus, Equus curvidens u. ſ. w. in Ame—
rika nennen. In derſelben Weiſe können wir
heute vorausſetzen, daß wenn den heutigen
Vertretern der Gattung Equus hinreichende
Zeit gelaſſen wird, die beiden ſeitlichen
Metakarpen und Metatarſen immer mehr
abnehmen werden, bis ſie nicht mehr ge—
trennt exiſtiren, ſondern nur noch in ihren
Proximalteilen vorhanden, vollſtändig mit
dem mittleren Metakarpus und Meta—
tarſus verſchmolzen ſein werden und in—
folge deſſen weitere Veränderungen in
den Karpus- und Tarſusknochen ſtattfin—
den werden.
Das vergleichende Studium ähnlicher
Parallelformen in zwei Regionen und in
Epochen, in denen man die Emigrations—
möglichkeit aus der einen in die andere
ausſchließen kann, wie im alten Tertiär
Europas und Nordamerikas, wird uns mit
der Zeit beſſer, als wir es heute wiſſen, leh—
ren, welche Charaktere einer gewiſſen Form
prädeſtinirt ſind — wenn es erlaubt
iſt, dieſen einigermaßen kompromittirten
Ausdruck in der Wiſſenſchaft anzuwenden
und welche aceidentell erworben wurden.
Eine Vankloffeln ſäugende Hündin.
Meine anderthalbjährige Hühnerhün—
din „Leda“ überraſchte mich mit folgen—
Schon zweimal habe ich bemerkt, daß
dieſelbe, unbegattet, zu der auf die ſoge—
_—— ——
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3.
218
gemäß folgenden Wurfzeit Milcheinſchuß
bekommt und dann ſehr unruhig wird.
Hiernach iſt der Milcheinſchuß unabhängig
geworden von der Entwickelung der Em—
bryonen, hält ſich aber an deren, in der
Gewohnheit des mütterlichen Organismus
gleichſam imaginär liegenden, Erſchei—
nungsfriſt. Vor einigen Wochen fand erſt
wieder ein ſolcher wurfzeitlicher Milchein—
ſchuß ſtatt, der von intereſſanten pſychiſchen
Vorgängen begleitet war. Die Hündin
war gegen Menſchen ſehr liebebedürftig,
aber bös gegen andere Hunde, was man ihr
ſonſt entſchieden nicht nachſagen kann; be—
ſchäftigte man ſich nicht mit ihr, ſo konnte
man es vor dem ewigen Gewinſel gar
nicht aushalten.
und auf ihren Lieblingsplatz am Ofen legte
Auf den Stubenboden
fie ſich nicht mehr, verlangte dagegen wei-
che Unterlage, was ſie dadurch zu erkennen
gab, daß ſie auf eine wollene Decke, ſonſt
nur als Nachtlager dienend, oder gar in
die Betten ſich zu legen unterſtand. Dem
Tiere thuen die angeſchwollenen Milch-
drüſen auf dem harten Boden weh, dachte
ich, und würde dieſen Erſcheinungen keine
weitere Aufmerkſamkeit zugewendet haben,
hätte ich nicht plötzlich eine Manie an der
Hündin wahrgenommen, ein altes Fuchs—
fell zu lecken, zu flohbeißen und auf ihr |
Lager zu ſchleppen. Dasſelbe geſchah mit
Taſchentüchern und andern weichen, trans—
portablen Gegenſtänden, wie Abwiſchlap—
pen, Filzpantoffeln, Strümpfen und ähn—
lichen in Haushaltungen vorkommenden
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Dingen. Auch den übrigen Perſonen fiel
dies veränderte Benehmen Leda's ſehr
auf. Eines Morgens entdeckte ich aber, daß
genannte Gegenſtände mit dem Maule an
die Zitzen geſchoben wurden und, da ſie
nicht ſaugen wollten, ſo leckte die Hündin
ſich ſelbſt ſo lange, bis etwas Milch her—
vortrat. Alle Prozeduren, wie fie die Mut—
ter mit jungen Hunden vornimmt, wurden
von der niemals Junge geworfen habenden
Hündin mit ein Paar Filzpantoffeln aus—
geführt; namentlich war das Verlangen
augenſcheinlich, die imaginären Kinder ſau—
gen zu lehren und durch Lecken zur Von—
ſichgabe der Loſung zu bewegen, welche,
ſo lange die Jungen ſaugen, bekanntlich
von der Hündin gefreſſen wird. Daß wir
es hierbei nicht mit einem am Individuum,
ſondern an der kontinuirlichen Art haften—
den Phänomen zu thun haben, liegt auf
der Hand. Das ganze merkwürdige Ge—
baren muß als erbliche Gewohnheit auf—
gefaßt werden, geknüpft an die reguläre
Fortpflanzungsart und Jungenbehandlung
des Stammes, bei dem in der Freiheit
ein Nichtbelegtwerden und Nichtwerfen
einer Hündin wohl gar nicht vorkommt.
Auch bei den Vögeln kommt etwas Ana—
loges vor, bezüglich deſſen ich auf meine
eben im Verlage dieſer Zeitſchrift erſchie—
nene Abhandlung über „Die Neſter und
Eier der Vögel in ihren natürlichen Be—
ziehungen“ zu verweiſen mir erlaube.
Mainz.
Wilhelm von Reichenau.
Literatur und Kritik.
Gafton Vonniers angebliche Wider—
legung der modernen Blumenkheorie.“
n zahlreichen Aufſätzen des Kosmos
iſt die Sprengel-Darwinſche Blumen—
theorie als eine wohlbegründete dar—
geſtellt und ſind die mannigfachſten Rätſel
der Blumenwelt auf grund derſelben zu
löſen verſucht worden. Wenn daher plötz—
lich ein umfaſſendes Werk erſcheint, deſſen
Verfaſſer den Anſpruch erhebt, auf grund
vieljähriger biologiſcher Beobachtungen be—
wieſen zu haben, daß dieſe ganze Theorie
weiter nichts als ein Phantaſiegebilde ſei,
daß Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen
und Inſekten überhaupt gar nicht exiſtiren,
ſo können die Leſer dieſer Zeitſchrift gewiß
mit Recht verlangen, mit den Thatſachen
und Schlüſſen, auf die der Gegner ſich ſtützt,
ſoweit bekannt gemacht zu werden, daß
ihnen dadurch ein eigenes Urteil über die
Stichhaltigkeit derſelben ermöglicht wird.
Das Gaſton-Bonnierſche Werk zerfällt
in einen kritiſchen, einen anatomiſchen und
einen phyſiologiſchen Teil. Da ſich von
) Les Nectaires, étude critique, ana-
tomique et physiologique par Gaston Bon-
nier, maitre de conférences à l’Ecole nor-
dieſen drei Teilen nur der erſte mit der
modernen Blumentheorie beſchäftigt, ſo
haben wir es hier ausſchließlich mit ihm
zu thun. In dieſem Teile giebt der Ver—
faſſer zunächſt einen geſchichtlichen Über—
blick über die bis jetzt veröffentlichten Un—
terſuchungen und Erklärungsverſuche und
unternimmt es endlich, dieſelben durch ei—
gene Beobachtungen und Verſuche zu wi—
derlegen. Um aber zunächſt den Geſammt—
eindruck dieſes „kritiſchen“ Teiles zu
bezeichnen und thatſächlich zu begründen,
ſo muß leider geſagt werden, daß es wohl
ſchwer ſein dürfte, in der geſammten wiſ—
ſenſchaftlichen Literatur einkritikloſeres
Machwerk, einen größeren Gegenſatz zwi—
ſchen eingebildeter und wirklicher Leiſtung,
zwiſchen Anmaßung und Erfolg ausfindig
zu machen.
Der geſchichtliche Überblick läßt erken—
nen, daß der Verfaſſer ſich mit den wich—
tigſten, die moderne Blumentheorie betref—
fenden Arbeiten hinreichend eingehend be—
kannt gemacht hat. Seine Darſtellung
dieſer Theorie aber zeigt, daß er von dem
Weſen derſelben, ſowie von dem der Se—
male supérieure. (Extrait des Annales des
Sciences naturelles, Botanique, 6me série,
Tome VIII.) Paris, 1879. G. Masson.
220 Literatur
lektionstheorie überhaupt nicht das min—
deſte Verſtändnis gewonnen hat.
Sein eigener Bericht über ſeine biolo—
giſchen Beobachtungen legt von bedeuten—
den Anſtrengungen und großer Ausdauer
Zeugnis ab. Denn acht Jahre hindurch
(187178) hat der Verfaſſer in verſchie—
denen Gegenden Frankreichs, der Pyre—
näen, der Alpen und Skandinaviens Be—
obachtungen geſammelt, die ſich auf etwa
800 Pflanzenarten erſtrecken. Aber durch
die Kritikloſigkeit der angewandten Beob—
achtungsmethode hat er ſich von vornherein
der Möglichkeit beraubt, ſelbſt über die
erſten und einfachſten Fragen, welche die
Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und
Inſekten betreffen, ein richtiges Urteil zu
gewinnen. Die Frucht ſeiner achtjährigen
Anſtrengungen iſt daher die, daß nicht eine
einzige ſeiner Beobachtungen das wirklich
beweiſt, was ſie beweiſen ſoll.
Der Verfaſſer blickt auf die bisherigen
Leiſtungen auf dem Gebiete der Blumen—
erklärung wie auf lächerliche Hirngeſpinnſte
herab und bildet ſich ein, durch eigene Be—
obachtungen und Verſuche mit mathema—
tiſcher Schärfe unantaſtbare Ergebniſſe
gewonnen zu haben. Aber ſeine Beweis—
führung iſt weiter nichts als eine ununter—
brochene Kette unbegründeter Vorausſez—
zungen, grober logiſcher Fehler, willkür—
licher Verdrehungen und für die in betracht
kommenden Fragen bedeutungsloſer Be-
Frag 9
obachtungen und Schlüſſe. Und das End—
ergebnis eines ſo beiſpielloſen Aufwandes
in wiſſenſchaftliche Form gekleideten Un—
ſinns iſt weiter nichts als eine Beiſeite—
werfung jedes Verſuchs einer Blumen—
erklärung überhaupt, eine vollſtändige ta—
bula rasa, auf die der Verfaſſer als das
eine neue Epoche der Wiſſenſchaft begrün-
8
und Kritik.
dende Geſammtergebnis ſeiner eigenen Un—
terſuchungen den Satz ſchreiben kann: „Die
nektarhaltigen Gewebe, mögen ſie in oder
außer der Blüte vorkommen, mögen ſie
eine Flüſſigkeit nach außen treten laſſen
oder nicht, bilden beſondere Nahrungsvor—
räte in direkter Beziehung mit dem Leben
der Pflanze.“
Wir wenden uns zunächſt zu den all—
gemeinen Mißverſtändniſſen:
1. Gaſton Bonnier hat weder von
dem Weſen der modernen Blumen—
theorie, noch von dem der Selek—
tionstheorie überhaupt das min—
deſte Verſtändnis gewonnen.
Während thatſächlich die Darwinſche
Selektionstheorie den Zweckbegriff aus der
Betrachtung auch der organiſchen Welt ver—
bannt, erblickt Bonnier in derſelben und
in ihrer Anwendung auf die moderne Blu—
mentheorie nur teleologiſche Spekula—
tionen. In jedem Satze ſeiner Charakte—
riſtik der modernen Blumentheorie ſtellt
er dieſelbe in unzweideutigſter Weiſe als
unveränderte Fortſetzung und Weiterent—
wickelung der Sprengel'ſchen teleologi—
ſchen Anſchauungen dar, ohne von der
Elimination der Teleologie durch Ch.
Dar win auch nur eine Silbe zu erwäh—
nen. Ausdrücklich erklärt er, daß in Be—
zug auf die Rolle der Nektarien bei der
Befruchtung in Deutſchland, England und
Italien jetzt teleologiſche Betrachtungen
herrſchen.
Das Sachsſche Lehrbuch der Botanik,
das allerdings gerade bei der Beſprechung
der Blüteneinrichtungen in rein teleologi—
ſcher Ausdrucksweiſe abgefaßt iſt, bietet
ihm die bewußt oder unbewußt willkom—
mene Gelegenheit, einige der wichtigſten
Sätze der modernen Blumentheorie in rein
1
e
Literatur und Kritik. 991
teleologiſcher Faſſung wörtlich zu zitiren.?)
Auch ein großer Teil ſeiner Einwürfe ge—
gen dieſe Theorie hat, wie ſich ſpäter zei—
gen wird, nur bei roheſter teleologiſcher
Auffaſſung derſelben irgend welchen Sinn.
Noch am Schluſſe feines ganzen Werkes er—
klärt er, in Bezug auf alle Vertreter der mo—
dernen Blumentheorie, ſich mit der Hinwei—
ſung auf einige Sätze Claude Bernards
begnügen zu können: „Das Geſetz der
phyſiologiſchen Finalität iſt in jedem leben—
den Weſen beſonders und nicht außer ihm.
Der lebende Organismus iſt für ſich ſelbſt
gemacht, hat ſeine eigenen inneren Geſetze.
Er arbeitet für ſich und nicht für andere.“
Wenn wir alſo nicht die ziemlich voll—
ſtändige Literaturkenntnis des Verfaſſers
als Beweis gelten laſſen wollen, daß er
wider beſſeres Wiſſen die ganze moderne
Blumentheorie als auf teleologiſcher Vor—
ausſetzungen beruhend dargeſtellt habe, ſo
bleibt eben nur die Möglichkeit übrig, daß
es ihm trotz des Studiums der einſchlä—
gigen Literatur nicht gelungen iſt, von dem
Weſen dieſer Theorie, ſowie der Selektions—
theorie überhaupt irgend welches Verſtänd—
nis zu gewinnen.
2. Durch die Kritikloſigkeit der
von ihm angewandten Beobach—
tungsmethode hat ſich Gaſton Bon—
nier von vornherein der Möglich—
keit beraubt, ſelbſt über die erſten
und einfachſten Fragen, welche die
Wechſelbeziehungen zwiſchen Blu—
men und Inſekten betreffen, ein
richtiges Urteil zu gewinnen.
2) Ich habe gegen dieſe rein teleologiſche
Ausdrucksweiſe des ſo hervorragenden, auf dem
Standpunkte der Selektionstheorie ſtehenden For—
ſchers bereits früher (Befruchtung der Blumen,
S. 425) meine Bedenken geäußert. Durch den
Um beurteilen zu können, wie die Stei—
gerung der Augenfälligkeit der Blumen,
ihr Duft, die Reichlichkeit des Honigs, die
Bergung deſſelben u. ſ. f. auf den In—
ſektenbeſuch wirken, muß man natürlich im
Stande ſein,den geſammten Beſucher—
kreis ſolcher Blumen mit einander verglei—
chen zu können, die, wenn ſie in allen übrigen
auf den Inſektenbeſuch Einfluß übenden
Bedingungen möglichſt gleich ſind, nur
in der Augenfälligkeit oder nur im Duft
u. ſ. w. erheblich differiren. Man muß
alſo ſelbſtverſtändlich, als erſte Vorbe—
dingung für derartige Vergleiche, an hin—
reichend zahlreichen und mannigfaltigen
Blumen längere Zeit hindurch ſämmtliche
beſuchende Inſekten beobachtet, eingeſam—
melt, beſtimmt und zu überſichtlichen Liſten
zuſammengeſtellt haben, wie ich ſelbſt es in
meinem Werke über Befruchtung der Blu—
men durch Inſekten auszuführen verſucht
habe. Sobald man irgend eine umfaſſende
Abteilung von Blumenbeſuchern von der
Beobachtung ausſchließt, erhält man na—
türlich ein verkehrtes Reſultat. Man ſtreiche
z. B. aus der tabellariſchen Überſicht des
Inſektenbeſuchs der häufigſten Kompoſiten
und Umbelliferen, die ich auf S. 413 mei—
nes Werkes gegeben habe, blos die Bie—
nen (Apiden) oder blos die Fliegen (Di-
pteren), und das intereſſante Ergebnis die—
ſer Überſicht iſt vollſtändig vernichtet.
Wenn man ſich aber gar auf die Beob—
achtung einer engbegrenzten Zahl geſchick—
teſter und einſichtigſter Blumenbeſucher,
der Hummeln und Honigbienen, beſchränkt,
ſo giebt man damit von vornherein jede
begriffsverwirrenden Gebrauch, den G. Bon—
nier von den Sachs'ſchen Sätzen macht, wird
die Berechtigung dieſer Bedenken wohl klar ge—
nug bewieſen.
222
thatſächliche Grundlage preis, von der aus
ſich über die Wirkung der Farbe, des
Duftes ꝛc. auf den Inſektenbeſuch ein Ur—
teil gewinnen läßt. Denn die einſichtigſten
Beſucher wiſſen (wie ich unter anderm auch
im Kosmos, Bd. III, S. 494 gezeigt habe)
den Honig auch in den unſcheinbarſten und
geruchloſeſten Blumen mit Leichtigkeit auf—
zufinden. Die ſtaatenbildenden Bienen
(Honigbienen und Hummeln) beuten da—
her, infolge des vervielfachten Nahrungs—
bedürfniſſes und der geſteigerten Arbeits—
teilung der Geſellſchaft, die allermannig—
faltigſten honigloſen und honighaltigen
Blumen aller Größen und Farben mit
gleicher Emſigkeit aus, ſo daß ſie von den
Eigentümlichkeiten der Farbe, des Dufts,
der Honigabſonderung ꝛc. unter ſämmt⸗
lichen blumenbeſuchenden Inſekten den
höchſten Grad von Unabhängigkeit erlangt
haben. Es kann daher zur Löſung der hier
in betracht kommenden Fragen eine un—
zweckmäßigere Beobachtungsmethode über—
haupt gar nicht ausgeſonnen werden als
die, die farben- und düfteliebenden Falter
und die vielen hunderte kurzrüſſeligerer
Inſekten, die als Reagentien auf die
Wirkung mancher Blumeneigentümlichkei—
ten allein brauchbar ſind, von der Beob—
achtung auszuſchließen und dieſelbe auf
Hummeln und Honigbienen zu beſchränken.
Dieſe denkbar unfruchtbarſte aller Beob-
achtungsmethoden iſt es aber, die Gaſton,
Bonnier von vornherein auserwählt und
acht Jahre hindurch unverändert in An-
wendung gebracht hat. Vollſtändige Be—
ſucherliſten für die einzelnen Blumenarten
aufzuſtellen, findet er unnütz für derartige
Unterſuchungen und langweilig für den
Leſer. Wer nach ſolchen Verlangen trage,
könne fie ja für zahlreiche Blumen in mei-
Literatur und Kritik.
nem weitſchichtigen (vaste) Werke über
Befruchtung der Blumen durch Inſekten
nachſehen. Er ſelbſt habe es vorgezogen,
ſeine Beobachtungen auf Hymenopteren,
in der Regel ſogar auf Bienen allein zu
beſchränken. Nur in einigen beſonders in—
tereſſanten Fällen habe er auch andere
Inſekten ins Auge gefaßt. Eine genauere
Durchſicht der Bonnierſchen Arbeit läßt
ſogar erkennen, daß ſeine Beſchränktheit
in bezug auf Mannigfaltigkeit der ins
Auge gefaßten Arten noch vielmal größer
iſt, als man nach ſeiner eigenen Angabe
vermuten ſollte. Denn es werden im gan—
zen überhaupt nur 20 Bienen- und 3
Wespenarten angeführt, und ſelbſt von
dieſen die überwiegende Mehrzahl nur in
ganz vereinzelten Fällen. In der Regel
beſchränken ſich die biologiſchen Beobach—
tungen und Verſuche Bonniers auf Ho—
nigbienen und unbeſtimmte Hummeln, in
vielen Fällen ſogar ausſchließlich auf die
Honigbiene. Die beſonders intereſſanten
Fälle, in denen Bonnier auch die übri—
gen Blumenbeſucher feſtgeſtellt zu haben
angiebt, hat er leider für ſich behalten!
Es iſt nun höchſt komiſch zu ſehen, wie
tollkühn Herr Gaſton Bonnier mit ſei—
nen ſoeben gekennzeichneten, für den
vorliegenden Zweck denkbar unbrauch—
barſten Waffen umſpringt, um mit einem
Streich ganze Regimenter ſachgemäßer
Beobachtungen vom Boden zu fegen, als
daß ich es mir verſagen könnte, irgend
welchen Abſchnitt ſeiner Beweisführung
herauszugreifen, um eine Probe ſeiner
Leiſtungen vorzuführen. Dieſelbe kann zu—
gleich als thatſächliche Begründung der
dritten oben aufgeſtellten Behauptung
dienen:
3. Gaſton Bonniers Beweis—
1
„Kw mb. .ũ ũc tete
Fr —
führung tft weiter nichts als eine |
ununterbrochene Kette unbegrün—
deter Vorausſetzungen, grober lo—
giſcher Fehler, willkürlicher Ver—
drehungen und für die in betracht
kommenden Fragen bedeutungs—
loſer Beobachtungen und Schlüſſe.
Ein kleines Stück dieſer Kette wird
genügen, uns, wenn wir es einer qualita—
tiven Analyſe unterwerfen, die genannten
Beſtandteile erkennen zu laſſen. Ich wähle
dazu G. Bonniers Beweis, daß die
Blumenfarbe auf die Anlockung
der Inſekten ohne Einfluß ſei. Er
ſtützt denſelben zunächſt auf die Erfah—
rungen der Bienenzüchter, denen die trüb—
gefärbten Blüten der weiblichen Weiden,
des Ahorn, der Reſeda, des Epheu als
eine wichtige Quelle für die Honigbienen
bekannt ſeien, wogegen die Chryſanthemum—
arten, die Roſen, die Lilien und eine große
Zahl anderer augenfälliger Blümen nicht
beſucht würden. Daß es außer der Honig—
biene noch Tauſende anderer blumenbeſu—
chender Inſekten giebt, die auf die An—
lockung der Blumen in ganz anderer Weiſe
reagiren, kümmert natürlich Herrn Gaſton
Bonnier, der ſich über die Logik aller
bisherigen Blumenforſcher weit erhaben
weiß, ebenſowenig als die ihm wohlbe—
kannte Thatſache, daß für Rosa centi-
folia 3) von mir nicht weniger als 35, für
Chrysanthemum leucanthemum #) ſo—
gar 72 verſchiedenartige Beſucher feſtge—
ſtellt worden ſind.
Nachdem er ſo mit geſchloſſenen Au—
gen mit Hilfe der Bienenväter dieſen er—
ſten Sieg errungen hat, beginnt er auf
eigene Fauſt einen wahren Windmühlen—
3) Hermann Müller, Befruchtung der
Blumen, S. 205. — ) Daſelbſt, S. 394.
Literatur und Kritik. 223
—
kampf gegen zwei ſeiner eigenen Einbil—
dung entſprungene, wohl noch keinem Ver—
treter der modernen Blumentheorie jemals
in den Sinn gekommene Gedanken: daß
nämlich die unſcheinbarſten Blumen zu—
gleich die honigärmſten, die am lebhafteſten
gefärbten zugleich die honigreichſten, und
daß deshalb unter allen Umſtänden die er—
ſteren ſpärlich, die letzteren reichlich beſucht
ſein müßten — und läßt als Sturmkolonnen
gegen dieſe eingebildeten Feinde zwei Li—
ſten ſelbſtbeobachteter Blumen vorrücken:
1. trübgefärbte, ſehr honigreiche Blumen,
die er reichlich von Honigbienen und Hum—
meln beſucht fand; 2. lebhaft gefärbte
Blumen, die nach ſeiner eigenen Beobach—
tung entweder honiglos ſind oder kaum
oder gar nicht von Inſekten beſucht wer—
den. Die zarte Rückſicht, den Leſer mit
langweiligen Beſucherliſten zu verſchonen,
weiß Bonnier ſelbſt im Kampfe fo
gut zu beobachten, daß er jenen in der
ganzen erſten Liſte, die nicht weniger als
ein halbes Hundert reichbeſuchter Blumen
umfaßt, mit nur drei Beſuchernamen be—
helligt, aber ſelbſt dafür durch die neue
Entdeckung entſchädigt, daß Erica carnea s)
grüne Blüten beſitze, die nur von Hyme—
nopteren beſucht werden! In der zweiten
Liſte iſt die Verſchonung des Leſers mit
ermüdenden Einzelheiten ſogar noch weiter
getrieben, indem hier in voller Nacktheit
39 Blumennamen ſich verzeichnet finden.
Was braucht ſich der Leſer darum zu be—
kümmern, welche dieſer 39 Blumen Bon—
nier honiglos, welche er inſektenlos befun—
den hat? Er weiß ja aus ſeinem eigenen
Munde, daß alle bisherigen Blumenfor—
ſcher nur teleologiſche Phantaſten waren
und daß er der erſte in exakter Weiſe auf
Beobachtung und Experiment ſich ſtützende
Blumenforſcher iſt. Der Leſer kann ſich
alſo, ohne ſich ſelbſt weiter um die That—
ſachen zu kümmern, auf die überlegene
Beobachtungs- und Urteilsfähigkeit Bon—
niers unbedingt verlaſſen. Und wenn ſich in
dieſer zweiten Liſte auch zahlreiche Blu—
men verzeichnet finden, die von anderen
Beobachtern ſowohl honighaltig, als auch
reich beſucht gefunden wurden (wie z. B.
Atragene, Chrysanthemum, Dryas), ſo
muß das der geneigte Leſer eben der
Beſchränktheit dieſer anderen Beobachter
zugute halten, die ſich noch nicht zur Kunſt
des Herrn Verf. aufgeſchwungen haben,
aus einer einzelnen Bienenart über den
geſammten Inſektenbeſuch einer Blume zu
urteilen.
Nachdem ſo Bonnier auch die beiden
ſeiner eigenen Einbildung entſprungenen
Rieſen zu eigener Befriedigung glücklich
zu Boden geſtreckt hat, läßt er mit gleicher
Kühnheit zwei wirklich aufgeſtellte Erklä—
rungen ſich gegenſeitig vernichten. Die
größere Farbenpracht der Alpenblumen
iſt bekanntlich von mehreren Seiten aus
der großen Spärlichkeit der Alpeninſekten
erklärt worden ), während man anderer—
ſeits aus dem gänzlichen Fehlen blumen—
beſuchender Inſekten die Blumenloſigkeit
des rauhen, ſturmgepeitſchten Kerguelen—
landes, den Mangel von Düften und leb—
haften Farben in ſeiner Flora erklärt hat.
Nach Bonnier ſtehen dieſe beiden Erklärun—
gen im abſoluteſten Widerſpruch mit ein—
ander, während die bisherigen Blumen—
forſcher, gleich anderen beſchränkten Men—
ſchenkindern, bisher die Anſicht hegten,
daß bei ſtarkem Angebot und ſchwacher
Nachfrage geſteigerte Reklame ſehr wohl
N 6) Vgl. Kosmos, Bd. I, S. 396 u. 541.
*
Literatur und Kritik.
von Erfolg ſein könne, daß dagegen nach
gänzlichem Ausſterben aller Nachfrage hal—
tenden Individuen jede Reklame erfolglos
ſein müſſe.
Den vierten Streich richtet Bonnier
gegen die Bedeutung, die ich ſelbſt der
Augenfälligkeit der Blumen zuſchreibe. Er
ſcheint es aber für einen zu leichten Sieg
zu halten, meine einfache und klare Be—
hauptung: „Unter übrigens gleichen
Bedingungen wird eine Blumen—
art um ſo reichlicher von Inſekten
beſucht, je aug enfälliger ſie iſt,“
zu widerlegen, und zieht es wohl blos
aus dieſem Grunde vor, den Satz, den er
mir in den Mund legen will, vorher nach
ſeinem eigenen Geſchmacke ſelbſt zurecht
zu machen — natürlich mit Ingredienzen,
die meinen eigenen Ausſprüchen entnom—
men ſind. Schon meine folgende allge—
meine Behauptung bietet dazu hinreichen—
den Stoff dar. Sie lautet: „Wenn
nächſtverwandte und in ihrer Blü—
teneinrichtung übrigens überein—
ſtimmende Blumenfoͤrmen in der
Augenfälligkeit und zugleich in der
Sicherung der Fremdbeſtäubung
bei eintretendem, der Sichſelbſt—
beſtäubung bei ausbleibendem In—
ſektenbeſuche differiren, ſo hat
unter übrigens gleichen Umſtänden
ohne Ausnahme diejenige die am
meiſten geſicherte Fremd beſtäubung,
deren Blumen die augenfälligſten
ſind und deren Inſektenbeſuch in
Folge deſſen der reichlichſte iſt.“
Dieſer Satz bezieht ſich zwar nicht auf die
Wirkung der Blumenfarben auf den In—
ſektenbeſuch, um die es ſich hier handelt,
ſondern auf die Beſtäubungsanpaſſungen
der Blumen. Aber ein ſo kleinliches Be—
1
—
#
Literatur und Kritik.
denken kann den Gedankenflug
Gaſton Bonnier nicht hemmen. Viel—
mehr gelingt es ihm mit größter Leichtig—
keit, aus meinen beiden ſo eben buchſtäb—
lich wiedergegebenen Sätzen einen völlig
neuen, ſeinen eigenen Bedürniſſen entſpre—
chenden Satz zu gewinnen, für den ich
mich um ſo mehr zu bedanken habe, als
ich ſelbſt ſicher niemals auf denſelben ge—
kommen ſein würde. Er lautet: „Ohne
Ausnahme iſt bei den ſich nahe ſte—
henden Pflanzen die Augenfällig—
keit der Blume proportional dem
Inſektenbeſuche und der Entwicke—
lung der Blüteneinrichtung hin—
ſichtlich der Kreuzbefruchtung.“
Wer dieſe von Bonnier präparirte und mir
in den Mund gelegte Behauptung mit
meinen eigenen Worten vergleicht, wird
nicht umhin können, dem Umwandlungs—
talente des Herrn Bonnier volle Bewunde—
rung zu zollen. Wie geſchickt ſind durch
Beſeitigung des läſtigen ceteris paribus
und durch Vermiſchung, Abkürzung und
Verdunkelung beide Sätze mit einem Male
völlig wehrlos gemacht! Was für dumme
Teufel ſind dagegen alle früheren Blumen—
forſcher geweſen, die ſich bei Bekämpfung
anderer Anſichten mit knechtiſcher Unfrei—
heit an die eigenen Worte des Gegners
zu klammern pflegten! Faſt noch mehr
aber als die freie Umwandlung fremder
Ausſprüche muß uns im vorliegenden
Falle die geniale Art der Beweisführung
in Erſtaunen ſetzen, die ſelbſt vom Zwange
der Logik ſich gänzlich befreit hat. „Durch
eine präziſe Beobachtung“ ſtellte Bonnier
feſt, daß die weißlichen, honigreicheren
Blumen von Teucrium Scorodonia häufi-
ger von den Honigbienen beſucht wurden,
als die roten, honigärmeren von T. Cha-
eines
225
maedrys, daß auch bei vier Alliumarten die
Häufigkeit der Beſuche der Honigbiene der
Augenfälligkeit der Blumen nicht propor—
tionial war, und ſchließt daraus: „Man
ſieht, daß es zwiſchen der Augen—
fälligkeit und dem häufigen Be—
ſuche der Inſekten keine Beziehung
giebt.“ Um dieſen Sieg noch unzweifel—
hafter zu machen, wird auch von unſeren
drei gewöhnlichen Ribesarten, der Stachel—
beere, der ſchwarzen und der roten Johan—
nisbeere noch mitgeteilt, daß ſie von Honig—
bienen und Hummeln nicht im Verhältnis
ihrer Augenfälligkeit, ſondern ihrer Honig—
menge beſucht gefunden wurden.
Inzwiſchen ſind aber die beiden der
Einbildung des Herrn Verf. entſprunge—
nen und von ihm kühn zu Boden geſtreck—
ten Rieſen, die wir oben kennen lernten,
in ſeiner Einbildung wieder lebendig ge—
worden, und er ſchlägt ſie noch einmal
tot, indem er nachweiſt, daß es auch
unter den Orchideen lebhaft gefärbte, ſehr
augenfällige Blumen ohne Honig, und
anderſeits honighaltige, unſcheinbare Blu—
men giebt. Aber auch der von ihm ſelbſt
präparirte und mir in den Mund gelegte
Satz läßt ihm noch keine Ruhe. Er führt
deshalb gegen ihn noch an, daß er auch
Reseda odorata und luteola reichlich von
Hymenopteren beſucht fand, während er
auf der weit auffälligeren Polonisia gra-
veolens kein einziges Inſekt finden konnte.
Es folgt nun als fünfter gegen die Be—
deutung der Blumenfarben von Herrn Bon—
nier ausgeführter Streich eine Beobach—
tung von ſolcher Einfachheit und Klarheit,
daß man ſie recht wohl auch einem gewöhn—
lichen Menſchenkinde zutrauen könnte, wenn
nicht Herrn Bonniers überlegene Genialität
doch auch hier wieder darin ſich zu erken—
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3.
226
nen gäbe, daß er aus dem Beſuche einiger
Bienen und Hummeln ein entſchiedenes
Urteil über den geſammten Inſektenbeſuch
ſich zu bilden vermag. Um nämlich zu
ſehen, obdie Farbe eine gewiſſeRolle
ſpielt, wenn die übrigen Bedingun—
gen ganz dieſelben ſind, wurden ver—
ſchiedenfarbige Varietäten derſelben Art,
rote, weiße und blaß roſafarbene Blumen
von Althaea rosea, rote und weiße von
Digitalis purpurea und Epilobium spica-
tum, weiße und blaue von Centaurea Cya-
nus, weiße und gelbe von Brassica olera-
cea, in Bezug auf die Häufigkeit ihres
Bienen- und Hummelbeſuches mit einander
verglichen und kein Unterſchied in dieſer
Beziehung zwiſchen ihnen gefunden.
Der ſechſte Hieb des Herrn Verf. gegen
die Erklärung der Blumenfarbe richtet ſich
direkt gegen die Genauigkeit meiner Be—
obachtungen und veranlaßt mich dadurch,
zunächſt als Kampfrichter zurückzutreten,
die Akten dem Leſer ſelbſt in vollem Wort—
laute vorzulegen und dann erſt einige Be—
merkungen hinzuzufügen.
In Bezug auf den Beſenſtrauch heißt
es auf S. 242 meines Buches über Be—
fruchtung der Blumen durch Inſekten:
„Bei Sarothamnus scoparius ſind, ebenſo
wie bei Cytisus Laburnum, am Grunde
der Fahne dunklere Linien zu ſehen, welche
nach dem Blütengrunde zuſammenlaufen
und, wenn die Blume Honig enthielte, nur
als Saftmal gedeutet werden könnten; aber
hier haben die Blüten weder frei abge—
ſonderten Honig, noch, wie bei Cytisus
Laburnum, einen ſaftreichen Wulſt um die
Einfügungsſtelle der Fahne. In dieſem
Falle können die dunkleren Linien der Fahne
alſo nur entweder eine nutzlos gewordene
Eigentümlichkeit honigführender Stamm—
Literatur und Kritik.
eltern ſein, oder ſie können der Pflanze
in ſofern nützen, als ſie die zum erſtenmale
dieſe Blumen beſuchenden Bienen zunächſt
zur Hoffnung auf Honig und damit
zu den zum Herabdrücken des Schiffchens
nötigen Bewegungen veranlaſſen. Erfolgt
nun die Exploſion, ſo ſieht ſich die Biene
zwar in ihrer Hoffnung auf Honig ge—
täuſcht, findet aber, ſobald ſie ſich vom
erſten Schrecken erholt hat, ihre Mühe
durch eine ſo reiche Pollenernte belohnt,
daß ſie nun andere Blüten in der bloßen
Abſicht, Pollen zu ſammeln, in glei—
cher Weiſe bearbeitet.“ — Gegen dieſeErklä—
rung führt Bonnier folgende nach ſeiner An—
ſicht meine Erklärung vernichtende Bemer—
kungen zu Felde:
„Einer der Gründe, die man an—
geführt hat, um der Farbe der Blumen—
blätter eine anlockende Rolle zuzuſchreiben,
iſt der, daß die Bienen auf gewiſſe nicht
honighaltige Blumen gehen, nicht blos
um den Pollen zu ſammeln, ſondern mit
ihrem Rüſſel im Grunde der Blüte ſu—
chen, in der Hoffnung, da Honig zu fin—
den.“) Hermann Müller behauptet den
häufigen Beſuch der Honigbienen auf den
Blüten von Ulex®) und Sarothamnus,
wo ſie fo in unerklärlicher Weiſe (ainsi in-
definiment) einen Nektar ſuchen, der nicht
exiſtirt. Lub bock zitirt Genista tinctoria.
Ich habe Gelegenheit gehabt, dieſe Blu—
men in Eure reichlich von Honigbienen
beſucht zu ſehen. Wenn Müller ein an—
5) Obgleich ich gegen dieſe mir zugeſchrie—
bene Anſicht nichts einzuwenden habe, ſo muß
ich doch ausdrücklich ausdrücklich konſtatiren, daß
ich die von dem Verf. mir zugeſchriebenen Worte
nicht gebraucht habe.
) Auch dieſe Angabe hat Bonnier nur ſei—
ner eigenen Phantaſie entnommen. Ich habe Ulex
noch niemals zu unterſuchen Gelegenheit gehabt.
r
deres Verfahren, als eine ſo einfache ober—
flächliche Unterſuchung angewandt hätte,
würde er geſehen haben, daß dieſe angeb—
liche Hoffnung auf Honig von den In—
ſekten verwirklicht wird. Bei Ulex enthält
der äußere Teil der Staubgefäßröhre, wie
bei Cytisus, nur weniger anatomiſch diffe—
renzirt, ein honigreiches Gewebe. Bei Saro—
thamnus ſind dieſelben Teile und auch der
Kelch reichlich mit zuckrigen Stoffen ver—
ſehen. Unter dem Mikroſkop ſieht man bei
ſchwacher Vergrößerung zu einer Zeit
des Mehltaues (!) die Oberfläche dieſer
Organe mit feinen Nektartröpfchen bedeckt.
In einigen Fällen habe ich ſogar ſehr große,
mit bloßem Auge ſichtbare Tropfen geſehen.
Dieſer im Kropf (jabot) der Bienen in
dem Augenblicke, wo ſie dieſe Ginſterarten
beſuchen, geſammelte Honig, hat ſich durch
die Analyſe als verhältnismäßig ſehr reich
an Saccharoſe und Glykoſe erwieſen; er
enthält viel weniger Waſſer, als die mei—
ſten Nektararten. Das erklärt die Gier der
Inſekten bei ſeinem Einſammeln viel beſſer,
als eine beſtändig getäuſchte Hoff—
nung.“) Der zu Gunſten der Rolle der
Farbe angeführte Grund hat alſo keinen
Wert; er beruht auf ſchlecht beobach—
teten Thatſachen.“
Und in welchem einzelnen Punkte,
darf ich wohl fragen, hat mir Herr
Bonnier eine unrichtige Beobachtung
nachgewieſen? Hat er beim Beſenſtrauch
in normalem Zuſtande frei abgeſon—
derten Nektar aufgefunden? Nein! Hat
er den Beweis geliefert oder auch nur zu
liefern behauptet, daß die Honigbienen in
den Blüten des Beſenſtrauchs die honig—
reichen Gewebe der Staubgefäßröhre oder
Literatur und Kritik.
„
des Kelches anbohren und ausſaugen? Aber—
mals nein! Mich ſelbſt trifft alſo höchſtens
die Bemerkung — als einen Vorwurf kann
ich fie nicht anerkennen —, daß ich die
Blüten des Beſenſtrauchs nur im nor—
malen Zuſtande, nicht zu einer Zeit
des Honigtaues beobachtet habe, während
Herrn Gaſton Bonniers eigene, ſieges—
jubelnde Bemerkung mit nicht weniger als
drei erdichteten Angaben verunziert tft und
mit einem Satze ſchließt, der das gerade
Gegenteil von dem ausſagt, was aus
ſeiner Behauptung wirklich folgt. Denn
wenn thatſächlich die Honigbienen durch
den Nektar des honighaltigen Zellgewebes
zu andauerndem Beſuche des Beſenſtrauchs
angelockt werden, wie Bonnier meint, ſo läßt
ſich gegen die Deutung der am Grunde
der Fahne ſichtbaren dunkleren Linien als
Saftmale eben gar nichts mehr einwenden,
und Bonnier ſelbſt hat dann das letzte Be—
denken gegen eine Erklärung beſeitigt, die
er widerlegt zu haben ſich einbildet.
Um nun endlich die Frage, ob lebhafte
Farben die Inſekten mehr anlocken als
wenig augenfällige, durchſchneidend zu er—
ledigen (trancher definitivement), rückt
Bonnier zu ſeinem ſiebenten Angriffe das
ſchwere Geſchütz folgender biologiſcher
„Experimente“ ins Feld: Vor eine Reihe
von Bienenſtöcken legt er in gleicher Ent—
fernung von denſelben ein rotes, ein
grünes, ein gelbes und ein weißes honig:
beſtrichenes Viereck, alle vier von gleicher
Größe, hin und beobachtet, daß auf allen
eine immer ſteigende und mit dem Schtwin-
den des Honigs wieder abnehmende Zahl
von Honigbienen ſich einfindet, ohne daß
zwiſchen der Wirkung der verſchiedenen
ti von zul gel cher Farben ein erheblicher Unterſchied ſich
Hoffnung geſprochen.
herausſtellt. Und da in der Vorſtellung
228 Literatur und Kritik.
des Herrn Bonnier von allen Käfern, Flie—
gen, Faltern u. ſ. w. ſelbſtverſtändlich
ganz daſſelbe gelten muß, wie von der
Honigbiene, ſo iſt damit der Gedanke, daß
die Farben der Blumen als Anlockung der |
Inſekten irgend eine Rolle ſpielen könnten,
durchſchlagend widerlegt.
Aber ſelbſt mit dieſem ſiebenten, ent—
ſcheidenden Siege giebt ſich Herr Bonnier
noch nicht zufrieden. Er wendet ſich viel—
mehr nach demſelben ſofort wieder gegen
mich, ſchreibt mir mit bereits erprobtem
Umwandlungstalente die Behauptung zu:
„daß bei den für Selbſtbefruchtung einge—
richteten Blumen die Farben wenig augen—
fällig ſeien, während die der Kreuzbe—
fruchtung angepaßten Arten reich gefärbte
Korollen beſitzen“, und erklärt es zur Wi—
derlegung dieſes (ſelbſtverfertigten!)
Satzes für hinreichend, die Verſuchs-Er—
gebniſſe Ch. Darwins zu betrachten.
„In der Liſte, die er von den ſelbſtſterilen
Pflanzen giebt, findet man Reseda odo-
rata und lutea und die größte Zahl der
Orchideen mit trüben Blüten, dagegen fin—
det man in ſeiner Liſte ſelbſtfertiler Pflanzen
61 bis 63 Arten, deren Blumenkrone reich
an Farbſtoffen iſt. Das von H. Müller
verkündete Geſetz wird alſo durch die Ver—
ſuche Darwins vollſtändig widerlegt.“
„Als allgemeines Ergebnis der vor—
hergehenden Beobachtungen und Verſuche
können wir ſchließen:
„Die Entwickelung der Farben
bei den Blütenorganen und die des
Nektars fallen nicht zuſammen (ne
sont pas concordants).
„Unter denſelben Bedingungen
ſind die am meiſten gefärbten Blü—
ten nicht die am meiſten von In—
ſekten beſuchten.
„Die Augenfälligkeit der Blü—
ten iſt nicht proportional ihrer An—
paſſung an Kreuzbefruchtung.“
Der Wert dieſer Sätze ergiebt ſich aus
den Beweiſen, auf die ſie ſich ſtützen, von
ſelbſt. Gehen wir deshalb ohne weitere
Bemerkung zum Schluſſe des ganzen gegen
die Bedeutung der Blumenfarben gerich—
teten Abſchnittes über. Es bilden den—
ſelben: Verſuche in bezug auf das
Sprengelſche Geſetzüber die honig—
haltigen dikliniſchen Pflanzen.
Nach Sprengels auch von mir ver—
tretener Anſicht werden die augenfälligeren
männlichen Blüten dieſer Pflanzen durch—
ſchnittlich früher beſucht als die weiblichen,
und dadurch Kreuzung begünſtigt. Bon—
nier glaubt dieſe Anſicht durch folgenden
Verſuch widerlegt zu haben:
Er pflanzte zwei große Zweige von
Salix aurita, an deren jedem nur 150
gerade in Blüte befindliche Kätzchen ge—
laſſen wurden (die männlichen mit durch—
ſchnittlich 200, die weiblichen mit durch—
ſchnittlich 160 entwickelten Blüten), in glei—
cher Entfernung vor eine Reihe von Bie—
nenſtöcken auf und zählte ſiebenmal nach ein—
ander, in Zwiſchenräumen von jedesmal
einer Viertelſtunde, die Bienen auf jedem
der beiden Zweige.
Durchſchnittlich verhielt ſich die Bie—
nenzahl auf dem männlichen zu der auf
dem weiblichen Zweige wie 95:90, und
ſchon bei der erſten Zählung wurden ſo—
wohl auf dem männlichen als auf dem
weiblichen Zweige Bienen getroffen, auf
letzterem 11, auf erſterem 10. Ahnliche
Reſultate erhielt Bonnier mit Ribes alpi-
num, Asparagus (nach Bonnier monzziſch!)
und Bryonia dioica. Der Verſuch iſt ge—
rade ſo ſinnreich und gerade ſo entſchei—
1
e
3
dend, als wenn man, um zu erfahren,
welches von zwei Wirtshäuſern eines Or—
tes größere Anziehung auf die Gäſte aus—
übe, einem nahrungsbedürftigen Volks—
haufen freien Zutritt und freien Genuß
in denſelben geſtattete. Herrn Gaſton
Bonnier genügen aber ſeine Ver—
ſuche, um als Ergebnis derſelben aus—
zuſprechen:
„Bei den nektarhaltigen dikli—
niſchen Blüten gehen die Bienen
nicht erſt auf die männlichen, dann
auf die weiblichen Blüten, und die |
größere Augenfälligkeit der männ— |
lichen Blüten iſt ohne Bedeutung.“
Das Unverſtändnis G. Bonniers
für die Theorie, die er widerlegt zu haben
ſich einbildet, die Unfruchtbarkeit ſeiner
Beobachtungsmethode, die Armſeligkeit
ſeiner Beweisführung haben wir hinrei—
chend kennen gelernt, um für unſere
Blumentheorie im ganzen von ihm nichts
mehr zu fürchten zu brauchen. Aber ver—
ſetzt nicht trotzdem vielleicht der eine oder
andere ſeiner Angriffe irgend welchem ein—
zelnen, untergeordneten Teile dieſer Theorie
einen Schlag, der Deckung oder Rückzug
nötig macht? Um auch darüber uns völlig
beruhigen zu können, bleibt nichts anderes
übrig, als das ganze Heer der feindlichen
Einwendungen an uns vorüberziehen zu
laſſen und dieſelben, je nachdem es ſich
paßt, einzeln oder abteilungsweiſe zu ent—
waffnen. Viele dieſer Einwendungen des
Herrn Verfaſſers ſind ihm nur durch ſeine
Nichtbeachtung des bereits Klargeſtellten
ermöglicht worden und werden daher mit
einem kurzen Hinweis auf daſſelbe abge—
than werden können. Manche andere ſind
nur aus der grob teleologiſchen Auffaſ—
Literatur und Kritik.
229
mentheorie unterlegt, und machen es nö—
tig, dieſe Auffaſſung noch vor der zuſam—
menhängenden Vorführung des Wider—
legungsverſuches näher zu kennzeichnen.
Gaſton Bonnier ſtellt ſich die An—
paſſungen, mit denen die moderne Blu—
mentheorie zu thun hat, nicht, wie wir,
als auf natürlichem Wege allmählich ge—
wordene vor, bei denen irgend welche neu
auftretende Funktion zunächſt von bereits
vorhandenen, aber urſprünglich anderen
Funktionen dienenden Organen ausgeübt
wird, dann durch verſchiedene Abſtufungen
die allmähliche Ausprägung eines beſon—
deren Organes zu ſtande kommt, endlich
unter veränderten Lebensbedingungen nicht
ſelten die Funktion deſſelben wieder er—
liſcht oder ſich umändert, während das
Organ unverändert oder allmählich ver—
kümmernd ſich forterbt oder umbildet.
Nach ſeiner Auffaſſung müßten wir viel—
mehr jede Blumeneigentümlichkeit, der wir
eine phyſiologiſche Deutung geben wollen,
als von vornherein in der Weiſe fertig
erſchaffen auffaſſen, daß fie einen
einzigen beſtimmten Zweck voll—
kommen und unter allen Umitän-
den erfüllt und daß auch ſie allein
dieſen Zweck erfüllt. Wird die einem
Organe zugeſchriebene Funktion irgendwo
ohne dieſes Organ ausgeübt, oder tritt
daſſelbe Organ in gewiſſen Fällen funk—
tionslos auf, ſo nimmt das Herr Gaſton
Bonnier als Beweis, daß das Organ
und die ihm zugeſchriebene Funktion nichts
mit einander zu thun haben. Ebenſo fin—
det er es unmöglich, anzunehmen, daß die—
ſelbe organiſche Bildung gleichzeitig oder
unter verſchiedenen Umſtänden verſchiedene
Lebensdienſte leiſte, oder daß ſie ihren be—
Br
ſung verſtändlich, die er unſerer Blu— | ſtimmten Lebensdienſt unvollkommen leiſte
230
oder daß andere Bildungen denſelben
Dienſt leiſten. In jedem dieſer Fälle ruft
er aus: „Das Organ und die ihm zuge—
ſchriebene Funktion ſtimmen nicht zuſam—
men“ (ne sont pas concordants), und die
gegebene Deutung wird damit als leeres
Hirngeſpinſt beiſeite geworfen, ſo daß er
zu dem Schlußergebniſſe gelangt: „Man
kann nicht zugeben, daß es eine
gegenſeitige Anpaſſung zwiſchen
Blumen und Inſekten giebt.“
Wir haben unſere antiteleologiſche Er—
klärung der gegenſeitigen Anpaſſungen
zwiſchen den Blumen und den ihre Kreu—
zung vermittelnden Inſekten bereits ſo
wiederholt und ſo eingehend auseinander—
geſetzt, daß Herr Bonnier, der die einſchlä—
gige Literatur kennt, durch ſein vollſtändi—
ges Ignoriren unſerer Auffaſſung nur be—
weiſt, daß er dieſelbe entweder nicht ver—
ſtehen kann oder nicht verſtehen will. In
dem einen wie in dem andern Falle würde
es ſelbſtverſtändlich völlig nutzlos ſein,
gegen die grobteleologiſche Auffaſſung, die
er unſerer Blumentheorie unterlegt, hier
nochmals zu Felde zu ziehen. Wir werden
uns daher in der Regel damit begnügen,
diejenigen Einwendungen des Herrn Verf.,
die nur von ſeiner willkürlichen Vor—
ausſetzung aus irgend welchen Sinn ha—
ben, einfach durch ein in Klammern geſetz—
tes Ausrufungszeichen () zu kennzeichnen.
Als zwei Thatſachen, die eigentlich
ſchon für ſich allein hinreichend wären, die
Unzulänglichkeit der modernen Blumen—
theorie in bezug auf die Bedeutung der
Nektarien zu beweiſen, führt Bonnier zu—
nächſt an, daß bei Melittis Melissophyl-
lum, obgleich fie die übrigen die Labiaten
auszeichnenden Blumeneigentümlichkeiten
beſitze, die Nektarien verkümmert ſeien und
Literatur und Kritik.
daß man bei ihr weder Nektar noch beſu—
chende Inſekten beobachte () 10, daß da—
gegen bei Vicia sativa die Nektarien der
Nebenblätter, obgleich ſie der Anlockung
durch Farbe und Duft, des Saftmals und
der Beziehung zur Kreuzbefruchtung ent—
behren, von der Honigbiene ausgebeutet
werden (). Dann beginnt der planmäßige
Widerlegungsverſuch:
§ 1. Allgemeine Betrachtungen.
Obgleich es zahlreiche Inſektenblüten
giebt, die ihren Beſuchern nur Pollen dar—
bieten, ſchreibt Sachs allen Inſektenblü—
ten Nektarien zu (was offenbar für unſere
Blumentheorie ſehr gleichgiltig iſt. Ref.).
Darwins Verſuche beweiſen die vor—
teilhaften Wirkungen der Kreuzung. Aber
bei ungünſtigem Wetter bleibt der Inſek—
tenbeſuch aus und es erfolgt keine Kreu—
zung. Inſekten können den Pollen auch
von einer Varietät auf eine andere, von
einer Art auf eine andere übertragen. In
vielen Fällen endlich findet vorwiegend
Selbſtbefruchtung ſtatt (ö).
§ 2. Beobachtungen und Ver—
ſuche über die Schutzorgane des
Nektars.
a. Safthalter. Hohle Sporne wer—
den in der Regel als Safthalter gedeutet.
Bei vielen Orchideen giebt es indes hohle
Sporne ohne Nektar ()). H. Müller und
beſonders Delpino beſchreiben als Saft—
halter die Zwiſchenräume zwiſchen den
Staubgefäßen und dem Ovarium, zwiſchen
10) Für die Genauigkeit dieſer Bonnierſchen
Bemerkung iſt es, abgeſehen von ſeinen Inſek—
tenbeobachtungen überhaupt, jedenfalls bezeich—
nend, daß er an Melittis Melissophyllum we—
der ſpontane Selbſtbefruchtung, noch beſtändige
Sterilität bemerkt hat, obgleich doch eines von
beiden die notwendige Folge völlig ausbleiben—
den Inſektenbeſuches ſein müßte.
Literatur und Kritik.
der Blumenkrone und dem Kelch, die Röhre
der Gamopetalen u. ſ. w.; aber man weiß,
daß dieſe Einrichtungen ebenſowohl auch
bei den nicht nektarhaltigen Blumen exi—
ſtiren. Es iſt alſo unmöglich, anzunehmen,
daß ſie in der beſondern Abſicht getroffen
ſeien, die zuckerhaltige Flüſſigkeit aufzu—
nehmen. Andererſeits haben zahlreiche
Blumen (z. B. Umbelliferen) Nektar ohne
beſondere Safthalter (ö).
Die Entwickelung von Spornen
in den Blütenorganen und dieje—
nige des Nektars fallen alſo nicht
notwendig zuſammen. 11)
b. Schutz des Nektars. Die umge—
kehrte Stellung der Blumen kann nicht als
Schutz des Nektars gedeutet werden, da
auch viele honiglofe Blumen eine umge—
kehrte Stellung haben (). Der Haarring
in der Corolla der Labiaten kann nicht als
Schutz des Nektars gedeutet werden, da
ihn auch nektarloſe Labiaten beſitzen ();
überdies ſteigt bei nektarreichen Labiaten
das Niveau der zuckerigen Flüſſigkeit
meiſt über den Haarring hinaus. 12) Es
giebt zahlreiche ungeſchützte Nektarien (Um—
belliferen, Hedera u. a.) und dagegen
Haare im Innern honigloſer Blüten (h.
Bei denjenigen Boragineen, deren Blumen—
röhre ſelbſt eng genug iſt, um keine Tröpf—
chen hineinzulaſſen (Myosotis), oder deren
Blüten nach unten gekehrt ſind, dienen die
Schuppen, Falten oder Haare der Blumen-
11) Gegen dieſen naiven Satz, der etwas
Allbekanntes als neue Entdeckung hinſtellt, und
die Blumentheorie, gegen die er gerichtet iſt, gar
nicht berührt, wird wohl niemand etwas einzu—
wenden haben.
2) Belege giebt Bonnier nicht. Nach meinen
Beobachtungen iſt ſein Ausſpruch mindeſtens eine
ſtarke Übertreibung.
231
krone nicht als Saftdecke (nicht als Saft—
decke gegen Regen, wohl aber gegen un—
berufene Gäſte. Ref.).
Verſuche: 1. Zehn ihrer Haare künſt—
lich beraubte Blüten von Symphoricarpus
racemosa wurden eben jo häufig von
Bienen und Wespen beſucht gefunden, als
zehn unverſehrt gelaſſene, und zwar ſelbſt
während eines andauernden Regens, ohne
daß ſie durch das auf die Blüten fallende
Waſſer aufgehalten zu werden ſchienen. !“)
2. Zehn ihrer Schuppen künſtlich be—
raubte Blüten von Lycopsis arvensis ent-
hielten nach einem ſtarken Regen durch—
ſchnittlich ebenſoviel Nektar wie zehn un—
verſehrt gelaſſene. 13)
Die Entwickelung innerer Schup—
pen der Blumenkrone, von Haaren
im Innern der Blüte 2c. und die des
Nektars fallen alſo nicht notwen—
dig zuſammen. (Siehe Anm. 11!)
§S 3. Beobachtungen und Ver—
ſuche über die Anlockung zu den
Nektarien.
1. Farbe. Dieſer Abſchnitt iſt be—
reits hinreichend beſprochen worden.
2. Gefärbte Flecken und Strei—
fen. Eine große Zahl von Blumen mit
ſehr entwickelten Flecken und Streifen ſind
honiglos oder werden nicht von Inſekten
beſucht (mehrere Clematis und Anemone,
viele Papaveraceen, einige Dianthus,
Agrostemma, Ononis, Rosa, Gentiana,
Melittis, Cyclamen, eine ſehr große Zahl
13) Daß ſich, nach der Anſicht der heutigen
Blumenforſcher, Schutzmittel des Nektars nicht
blos gegen Regen, ſondern auch gegen unberu—
fene Gäſte ausgebildet haben, wird von Bonnier
auch hier einfach ignorirt, obwohl ihm die ein-
ſchlägige Literatur ſehr wohl bekannt iſt. Seine
obigen Verſuche ſind daher ganz bedeutungslos.
232
von Orchideen, Tulipa, Fritillaria, Lilium,
Crocus ꝛc.). 10
Darwin ſagt, daß ſich Saftmale viel
häufiger bei unregelmäßigen als bei regel—
mäßigen Blumen finden, was Bonnier
beſtreitet. (Bedeutungslos!)
Lubbock hat gezeigt, daß nach leichter
Verſchiebung des Nektartröpfchens am
Grunde eines Blumenblattes die beſu—
chende Biene zum Wegſaugen deſſelben
mehr Zeit braucht. Wie Bonnier richtig
bemerkt, iſt das überhaupt der Fall, wenn
man ſie in ihrer angenommenen Gewohn—
heit der Honiggewinnung ſtört. (Die Aus—
prägung einer beſtimmten Art der Honig—
gewinnung und die unmittelbare Anwen—
dung derſelben auf zum erſten male be—
ſuchte Blumen kann aber durch beſonders
gefärbte Linien der Blumenkrone, die nach
dem nicht unmittelbar ſichtbaren Honig
zuſammenlaufen, offenbar ſehr erleichtert
und begünſtigt werden. Die Bemerkung
des Verf. iſt alſo nicht, wie er ſich einbil—
det, eine Widerlegung, ſondern nur eine
Beſtätigung der dem Saftmal zugeſchrie—
benen Funktion. Ref.)
Die Entwickelung der Flecken
und Streifen auf der Corolla ſteht
alſo in keiner Beziehung (n'est pas
correlatif de) mit derjenigen des
Nektars. (Ich kann für dieſe Behaup—
14) Wohlweislich führt der Verf. keine be—
ſtimmte Blumenart als Beleg ſeiner Behaup—
tung an, ſondern nur unbeſtimmte Arten be—
ſtimmter Gattungen. Kein Sterblicher, der nicht
ſämmtliche Arten dieſer Gattungen kennt, wird
daher im ſtande ſein, Bonniers Behauptung ganz
zu widerlegen. Freilich ſinkt auch die Glaubwür⸗
digkeit derſelben mit der Unbeſtimmtheit der Be—
lege auf null herab, Für ſämmtliche von mir
unterſuchten Arten der von Bonnier genannten
|
Literatur und Kritik.
tung in den vorhergehenden Angaben des
Verf. auch nicht die Spur eines Beweiſes
erkennen. Ref.)
3. Größe der Blumenkrone. Die
anlockende Rolle, die man derſelben zu—
ſchreibt, ſagt Bonnier, ſei hauptſächlich
auf meinen Vergleich einiger Geranium—
arten gegründet. 15) Einerſeits aber ſeien
von mir mehrere Geraniumarten von dieſem
Vergleich ausgeſchloſſen worden 16); an—
dererſeits habe er ſelbſt keine Beziehung
zwiſchen der Größe der Blumenkrone und
dem Inſektenbeſuche der von ihm ſelbſt
beobachteten Geraniumarten gefunden.“)
Übrigens gebe es zahlreiche große, honig—
loſe Blumen, die ſpärlich, und zahlreiche
kleine, honigreiche, die reichlich von Inſek—
ten beſucht würden. (Nochmalige Geltend—
machung des bereits beleuchteten Unſinns!)
Alſo: Die Entwicklung der gro—
15) Bonnier weiß nicht oder will wohl
vielmehr nicht wiſſen, daß ich mich nicht auf die—
ſen einen, ſondern auf 15 zu demſelben Ergeb—
niſſe führende Vergleiche geſtützt habe! Vgl. H.
Müller, Befr. der Bl., S. 426. 2
10) Von ſelbſtbeobachteten Arten habe ich
ausgeſchloſſen G. sanguineum, wie ausdrück—
lich angegeben, wegen abweichenden Standorts,
G. robertianum wegen ſeiner (7mm) tiefen
Honigbergung. Gaſton Bonnier zeigt ſich auch
hier, ſowohl bei ſeiner Beurteilung meines Ver—
gleichs, als bei ſeinen eigenen an Geraniumarten
angeſtellten Beobachtungen, als endlich bei ſeiner
Aufzählung großblumiger, ſchwach beſuchter und
kleinblumiger, ſtark beſuchter Pflanzen über jeg—
lichen Zwang der Logik weit erhaben! Die For—
derung, daß, wenn die Wirkung einer variabeln
Bedingung durch vergleichende Beobachtungen feſt—
geſtellt werden ſoll, alle übrigen Bedingungen
möglichſt gleich hergeſtellt werden müſſen, iſt ihm
offenbar nur eine lächerliche Kleinigkeitskrämerei.
*) Sehr natürlich, wenn man nur die
Bienen als Inſekten betrachtet und überdies
ſämmtliche Bedingungen, die auf den Inſekten—
Gattungen iſt ſeine Behauptung nicht zutreffend. beſuch Einfluß haben, gleichzeitig variiren läßt!
1 0
*
Literatur und Kritik.
233
ßen Dimenſionen der Blumenkrone | honigreiche und ſehr beſuchte Blumen mit
entſpricht nicht der des Nektars (was
auch noch niemand je behauptet hat; der
Verf. kämpft wieder einmal gegen Wind—
mühlen); ſie iſt unabhängig von dem
häufigen Beſuche der Inſekten.
(Daß der häufige Beſuch der Inſekten
nicht die Blumenkronen vergrößert, wird,
außer Herrn Rev. Henslow, wohl jeder
ohne weiteres zugeben. Daß aber Blumen
mit größerer, lebhafter gefärbter Corolla
unter übrigens gleichen Umftänden |
nicht reichlicher von Inſekten beſucht wer—
den, als ſolche mit kleinerer, dafür hat G.
Beweiſes beigebracht.)
4. Duft. Von Roſen, Lilien, gefüll—
ten Nelken und vielen anderen wohlriechen—
den Gartenblumen wird, nach Bonnier,
ſozuſagen kein Inſekt angelockt.
Die Blüten des Weißdorn (Crataegus
oxyacantha) ſind, nach Bonnier,
gleicher Augenfälligkeit ſtärker duftend und
dabei ſchwächer von Inſekten beſucht als
die des Schwarzdorns (Prunus spinosa).
Zahlreiche Arten der Gattungen Achil-
lea, Tanacetum, Chrysanthemum, Rosa,
Orchis ꝛc. ſind, nach Bonnier, duftend
und zugleich honiglos oder nicht von In—
ſekten beſucht. 189
Andererſeits giebt es zahlreiche ſehr
18) Herr Bonnier hätte meine „langwei—
ligen“ Beſucherliſten nicht durchzuleſen, ſondern
nur mit einem Blicke anzuſehen gebraucht, um
dieſe und ſeine folgenden Behauptungen als
ziemlich albern zu erkennen. Denn für Rosa
centifolia habe ich 35, für Crataegus oxya-
cantha 57, für Prunus spinosa 27, für
Tanacetum 27, für Chrysanthemum leu-
canthemum 72, für Achillea, Millefolium
und Ptarmica 87 verſchiedenartige Beſucher feſt—
geftellt. Übrigens gilt auch hier z. Th. Anm. 14.
bei
wenig hervortretendem Duft.
tungslos !)
Faſt alle ſehr honighaltigen Pflanzen
lafjen zur Zeit eines ſtarken Honigtaues
den von den Bienenzüchtern ſogenannten
Honigduft erkennen. Dieſer, aber nicht der
Wohlgeruch irgend welcher flüchtigen Ole,
der ſie oft zu honigloſen Blumen führen
würde, kann die Honigbienen anlocken. 9)
Alſo: Die Entwickelung der
Wohlgerüche bei den Pflanzen und
die des Nektars fallen nicht zuſam—
(Bedeu:
men. (Richtig, aber als Einwand gegen
Bonnier auch nicht den Schatten eines
die Blumentheorie wiederum bedeutungs—
los. Ref.)
„Der zuckerhaltige Stoff iſt es, der die
Inſekten (in Bonnier's Munde gleichbedeu—
| tend mit Bienen) anzieht, unabhängig von
allen Blumenanpaſſungen. Sie wiſſen ihn
in den dunkelſten und am wenigſten duf—
tenden Blumen zu finden.“ 20)
§. 4. Beobachtungen und Erfah—
rungenüber die gegenſeitige Anpaſ—
ſung der Inſekten und der Blumen.
„Nach dem S. 25 zitirten Ausſpruche
von Sachs könnte man glauben, daß ein
gegebenes Inſekt immer eine beſtimmte
Blumenart beſuche, daß es ſie immer auf
19) Bonnier legt den modernen Blumen—
forſchern die Anſicht unter, daß alle Pflanzen—
düfte als Anlockungsmittel der Kreuzungsver—
mittler dienen, obwohl Kerner viele derſelben
ausdrücklich als Schutzmittel gedeutet hat. Er
kennt auch in dieſem Falle nur die Honigbiene
als blumenbeſuchendes Inſekt und denkt gar nicht
daran, die ekelhaften Düfte vieler Aasfliegen—
blumen, die würzigen vieler Falterblumen auch
nur mit einer Silbe zu erwähnen.
20) Vgl. meine Bemerkung über die Un—
fruchtbarkeit der Bonnierſchen Beobachtungsme—
thode S. 221, 222.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3.
I 234
dieſelbe Weiſe beſuche, daß alle Organe
der Blume, und insbeſondere die Nektarien
ſtimmte Stellung des angepaßten Inſekts
die Kreuzung bewirkt werde. Es iſt aber
nichts davon der Fall.“ 21) Denn:
„1. Ein unddieſelbe Blume kann
von einem und demſelben Inſekte
auf mehrere verſchiedene Arten be—
ſucht werden. “()
Daß dies der Fall, iſt längſt be—
kannt und von mir bereits in zahlreichen
Fällen, die Bonnier einfach ignorirt, feſt—
geſtellt. Wenn derſelbe in dieſer Thatſache
einen Einwurf gegen unſere Blumentheorie
erblickt, ſo iſt dies wiederum nur in ſofern
von Intereſſe als es ſeine grob teleologi—
ſche Auffaſſung derſelben kennzeichnet.
2. Anderung der Blüte ohne
merkliche Modifikation des Inſek—
tenbeſuchs. Um zu zeigen, daß die Form
der Corolla nicht notwendig den beſuchen—
den Inſekten angepaßt ſei, weiſt Bonnier
darauf hin, daß er Honigbienen den Honig
einiger Blumen noch nach dem Abfallen der
Blumenblätter habe ſaugen ſehen, ohne zu
bedenken, daß bei allen Bienenblumen mit
der Entfernung der Corolla die ſonſt ge—
ſicherte Kreuzung durch Bienen vereitelt
oder zu einem bloßen Zufalle gemacht wird.
Weiter führt Bonnier an: „Kurr hat
bei 32 Pflanzenarten die Blumenkrone ent—
21) Bonnier macht es ſich in der That mög—
lichſt leicht, indem er aus einem Lehrbuche der
Botanik, das die Wechſelbeziehungen zwiſchen
Blumen und Inſekten, in teleologiſcher Faſſung,
nur eben andeutet, einen einzelnen Satz heraus—
greift und als Inbegriff einer umfaſſenden Lehre
bekämpft. Er ſcheint wirklich keine Ahnung da—
von zu haben, daß er damit wieder nur einen
ſeiner Windmühlenkämpfe ausführt, von denen
dieſe Lehre ganz unberührt bleibt.
derart berechnet ſeien, daß durch die bes
Literatur und Kritik.
fernt, ohne einen Unterſchied in der Menge
| der hervorgebrachten Samenkörner zu beo—
bachten.“ Aber dieſe Angabe iſt der Haupt—
ſache nach erdichtet und beweiſt daher
nur die große Unzuverläſſigkeit Gaſt on
Bonnierſcher Angaben.
3. Die Inſekten können Nah:
rung von der Pflanze entnehmen,
ohne Befruchtung zu bewirken. (ö)
4. Der Inſektenbeſuch der⸗
ſelben Pflanze differirt nach der
Menge des von ihren Blüten ab—
geſonderten Honigs. (!)
In manchen Blumen (z. B. Pulmona—
ria officinalis) kann, wie Bonnier richtig be—
merkt, ein und daſſelbe Inſekt (3 B. die
Honigbiene) den Honig, wenn er in gerin—
ger Menge abgeſondert iſt und daher in
der Blumenkronenröhre wenig emporſteigt,
nicht erreichen, wenn er dagegen in reich—
licher Menge abgeſondert iſt und höher
emporſteigt, kann es ihn erreichen. Andere
Blumen (Sambucus Ebulus, Draba verna
u. a.) ſondern unter günſtigen Witterungs—
verhältniſſen Honig ab, während unter
ungünſtigen Umſtänden die Honigabſonde—
rung unterbleibt. Auch nach der Meeres—
höhe und geographiſchen Breite kann die
Honigabſonderung ein und derſelben Pflan—
zenart variiren. Ein und dieſelbe Pflanzen—
art müßte alſo, wenn es eine Anpaſſung
gäbe, unter verſchiedenen Umſtänden ver—
ſchiedenen Beſucherkreiſen angepaßt fein. (J)
Es giebt nach dem Verf. wenige Formen,
die unter ſich weniger angepaßt ſind, als
faſt alle Blumen und Inſekten, die
ſie am meiſten beſuchen: Medicago lupu-
lina und Apis mellifica 22), Caltha pa-
lustris und Andrena etc.
25) Medicago lupulina iſt wie andere Pa—
pilionaceen den Bienen angepaßt. Daß bei ihr
W Zi
. ei
1 —
Bekanntlich werden Hymenopteren beim
Beſuche von Asklepiasblüten ſehr oft an
den Krallen feſtgehalten, ohne ſich wieder
los machen zu können. Die Nukka-Motte,
welche die Pukkablüten beſucht, verzehrt
die Eier: Das ſind, wie man zugeſtehen
wird, ſeltſame gegenſeitige Anpaſſungen.?s)
5. Beobachtungen über die Ent—
fernung der nicht angepaßten In—
ſekten.
Da auch alle unter dieſer Überſchrift
vorgebrachten Einwände nur von Bonniers
grob teleologiſcher Vorausſetzung aus ir—
gend welchen Sinn haben und thatſächlich
nichts Neues darbieten, ſo begnügen wir
uns, ſeine Schlußſätze mitzuteilen: „Man
der ganze Mechanismus ſich ungewöhnlich ver—
kleinert hat, thut ſeiner Wirkſamkeit, wie der
Erfolg zeigt, keinen Eintrag. Gerade bei M. lup.
iſt übrigens von Ch. Darwin durch den Ver—
ſuch bewieſen, daß ſie, gegen den Zutritt der
Bienen abgeſchloſſen, viel weniger fruchtbar iſt.
Caltha palustris fand ich von 7 verſchieden—
artigen Fliegen, 1 Käfer, 4 Bienen, darunter
1 Andrena, beſucht! Ich kann übrigens nicht
erkennen, weshalb Andrena und Caltha nicht
zu einander paſſen ſollten, ſondern finde im
Gegenteile beide auf ſich entſprechender Anpaſ—
ſungsſtufe ſtehend. Vgl. meine Bemerkung über
Halictus und Ranunculus (Weitere Beobach-
tungen, I, S. 50). Weitere Belege als dieſe zwei
nichtsſagenden führt der Verf. überhaupt nicht an
und ſpricht dabei von faſt allen Blumen.
23) Die Anführung der Asclepias beweiſt
nur von neuem die teleologiſche Begriffsverwir—
rung des Herrn G. Bonnier; die Anführung
der Yucca-Motte in der Weiſe, wie es hier geſchieht,
iſt dagegen geradezu als eine Fälſchung zu be—
zeichnen. Denn dem Verf., der Rileys Ori—
ginalaufſatz zitirt, muß ſehr wohl bekannt ſein,
daß nach den Beobachtungen dieſes Forſchers die
Vucca-Motte nicht die Eier, ſondern nur
einen kleinen Teil der Eier von Yucca
verzehrt und für die übrigen die einzige Be—
fruchtungsvermittlerin iſt.
Literatur und Kritik.
235
kann nicht ſagen, daß die Farbe oder der
Geruch die nicht angepaßten Inſekten aus—
ſchließt.?“) Man kann nicht ſagen, daß die
Blumen zum Zwecke haben, durch ihre
Form gewiſſe, angeblich der Kreuzbefruch—
tung nicht angepaßte Inſekten zu entfernen.
6. Rolle der Dichogamie und
Heteroſtylie. Darüber hat der Verf.
weiter nichts zu bemerken, als daß Axell
über die Bedeutung der Kreuzung und
Selbſtbefruchtung anders geurteilt hat,
als Darwin, Delpino, Hilde brand
und 9. Müller. (Gleichgültig!)
7. Nektarien ohne äußeren Nek—
tar. Auch bei allen honigloſen Pflanzen
giebt es, nach Bonnier, in gewiſſen Blüten—
teilen Zuckeranhäufungen, die man Nek—
tarien ohne Nektar nennen kann. In eini⸗
gen Fällen werden dieſe nektarhaltigen
Gewebe von beſuchenden Inſekten aufge—
riſſen und der zuckerige Stoff gewonnen,
in anderen nicht. Auf dieſe letzteren iſt
die von der modernen Blumentheorie den
Nektarien zugeſchriebene Rolle, wie der
Verf. richtig bemerkt, nicht anwendbar. Noch
weniger aber, fügen wir hinzu, können ſie
einen Einwand gegen dieſelbe begründen.
Im Gegenteil! Wenn ſich zuckerhaltige Ge—
webe in den Blütenteilen aller Pflanzen fin—
den, und wenn, worauf Bonnier nachdrück—
lich beſteht, eine Grenze zwiſchen abſondern—
den und nicht abſondernden Nektarien ſich
in keiner Weiſe ziehen läßt, ſo begreift man
um ſo leichter, wie beim Übergange der
Windblütler zur Inſektenblütigkeit, bei
verſchiedenen Pflanzen in verſchiedener
Weiſe Nektarien durch Naturausleſe zur
Ausbildung gelangen konnten. Mit dem
24) Wenn aus dem „nicht“ ein „nicht un⸗
bedingt“ gemacht wird, ſo können wir uns mit
dieſem Satze einverſtanden erklären.
236
letzten entſcheidenden Streiche, den Herr
Gaſton Bonnier unſerer Blumentheorie
zu verſetzen meint, giebt er derſelben alſo
nur eine neue Stütze.
Wir überlaſſen daher den Herrn Ver—
faſſer gern dem Hochgefühl, mit dem
er in §. 5 die Schlußfolgerungen ſeiner
vorhergehenden Prüfungen in die Sätze
zuſammendrängt: „Mankann nicht zu—
geben, daß es gegenſeitige Anpaſ—
ſungen zwiſchen Blumen und In—
ſekten giebt. Die moderne Theo—
rie über die Rolle der Nektarien
erſcheint ungenügend,“ — undſcheiden
von ihm mit dem beruhigenden Bewußt—
ſein, daß er, in blindem Eigendünkel mit
kindiſchen Waffen bemüht, eine der um—
faſſendſten und beſtbegründeten Theorien
zu vernichten, derſelben nur einige neue
Stützen beizubringen vermocht hat.
Hermann Müller.
Erasmus Darwin und ſeine Stel—
lung in der Geſchichte der Des—
zendenztheorie. Von Ernſt Krauſe.
Mit ſeinem Lebens- und Charakterbilde
von Ch. Darwin. Nebſt Lichtdruck—
Porträt und Holzſchn. Leipzig, Ernſt
Günthers Verlag, 1880. 236 S. in 8“.
Die kleine Skizze über Erasmus
Darwins wiſſenſchaftliche und poetiſche
Werke, welche zuerſt im Februarheft des
vorigen Jahrganges dieſer Zeitſchrift er—
ſchien, ſodann auf Veranlaſſung der Fa—
milie Darwin ins Engliſche überſetzt wurde,
liegt hier in beträchtlich erweiterter und
vervollkommneter Geſtalt vor. Sie hat
nach zwei Seiten hin ein ſehr erhöhtes
Intereſſe gewonnen: einerſeits durch eine
72 Druckſeiten umfaſſende Einleitung von
Charles Darwin, in welcher derſelbe
Literatur und Kritik.
über die Herkunft ſeiner Familie und über
den Lebensgang ſeines Großvaters berich—
tet, indem er darin Bemerkungen über die
Überlieferung gewiſſer körperlicher und
geiſtiger Eigentümlichkeiten durch mehrere
Generationen knüpft; andererſeits durch
einen ungemeinen Reichtum von neuem
zuverläſſigem Material für eine Geſchichte
der Deszendenztheorie bis zu Erasmus
Darwins Zeit, welches der deutſche Ver—
faſſer als Frucht mannigfacher Spezial—
ſtudien, teils im Text, teils in nachträg—
lichen Anmerkungen, in engen Raum zu—
ſammengedrängt, hier niedergelegt hat.
Beide Erweiterungen des urſprüng—
lichen kurzen Aufſatzes wirken vereint da—
hin zuſammen, das Lebensbild des Groß—
vaters von Charles Darwin, der als
Menſch, Philoſoph und Dichter ſeine Zeit—
genoſſen gewaltig überragt hat, in ſchar—
fen Zügen vor uns auszuprägen und zu—
gleich durch Klarlegung zahlreicher Fäden
geſchichtlichen Zuſammenhanges unſerem
Verſtändniſſe näher zu rücken. Gleichzeitig
wird unſere Kenntnis des Enkels nicht nur
dadurch weſentlich vertieft, daß wir viele
ſeiner Eigentümlichkeiten als vom Groß—
vater ererbt erkennen und von den meiſten
Fragen, deren wiſſenſchaftliche Löſung das
große Lebenswerk des Enkels bildet, ſchon
des Großvaters Geiſt poetiſch angeregt
ſehen, wir lernen außerdem auch den
großen Naturforſcher hier von einer ganz
neuen Seite kennen, nämlich als gemüt—
und humorvollen Berichterſtatter über Le—
ben und Haushalt ſeiner Familie in alten
Zeiten, wobei nicht nur jenes unbedingte
Feſthalten an der hiſtoriſchen Treue und
das milde Urteil hervortritt, welches alle
ſeine Schriften kennzeichnet, ſondern auch
eine Vorliebe für kulturgeſchichtliche Ein—
Literatur und Kritik.
zelheiten, die dem Leſer neu ſein wird.
Wir erfahren daraus, daß die älteſten
Vorfahren der Familie, von denen etwas
bekannt iſt, während des ſiebzehnten Jahr-
hunderts im Staatsdienſte ſtanden und
teilweiſe durch ihre Anhänglichkeit an die
Sache des unglücklichen Königs Karl
ſchwere Einbußen an ihrem Vermögen er—
litten. Schon unter den älteren Mitglie—
dern zeigte ſich eine deutliche Hinneigung
zur Naturforſchung und Poeſie, die dann
bei Erasmus Darwin in einer ſehr en—
gen und ſeltenen Verbindung auftrat,
während der Sinn für Naturerkenntnis,
und zwar im allgemeinen in der von ihm
inaugurirten Richtung, nicht nur in ſeinem
berühmten Enkel die allgemein gewürdig—
ten Früchte getragen, ſondern auch in einer
Schar von Urenkeln — wir nennen nur
Francis und George Darwin und
Francis Galton — weiter blüt. So
wird die Familie ſelbſt zu einer Demon—
ſtration für die Vererbung erworbener
Eigentümlichkeiten.
Aus der Jugend von Erasmus
Darwin wird ein humoriſtiſcher Brief—
wechſel mit ſeiner drei Jahre älteren
Schweſter mitgeteilt, in welchem die Frage
erörtert wird, ob die Schweine, ſeitdem
die Teufel in ſie fuhren und ſie in den
See ſtürzten, als Fiſche uud Faſtenſpeiſe
zu gelten haben, wobei einerſeits ein in—
tereſſanter Bericht über die Mäßigkeit der
Lebensweiſe jener guten alten Zeit ge—
geben wird, anderſeits die erſten Andeu—
tungen der Mäßigkeitsbeſtrebungen her—
vortreten, die in Erasmus' Leben und
Wirken eine ſo bedeutende Rolle ſpielen.
Der Verfaſſer ſchildert hierauf kurz deſſen
Studiengang, ſeine Niederlaſſung als
Arzt, ſeine Werbung um Marie Ho—
237
ward, mit einem humoriſtiſchen Liebes—
briefe, ſeine ſchnell zunehmende Praxis
und ſeinen Umgang mit zahlreichen Män—
nern der Wiſſenſchaft und Praxis. Es be—
finden ſich unter dieſen größtenteils lebens—
langen Freunden eine Reihe der bedeutend—
ſten Männer jener Zeit, von denen wir
als in Deutſchland bekannte nur den Sohn
des vielgenannten Populärphiloſophen
Reimarus, Watt und Boulton, die
Väter der Dampfinduſtrie, Brindley,
den Schöpfer des engliſchen Kanalweſens,
den berühmten Thonwaarenfabrikanten
Wedgwood, Edgeworth, den Vater der
noch immer hochgeſchätzten Schriftſtellerin,
Hutton, den Reformator der Geologie,
und J. J. Rouſſeau nennen. Nach Mit⸗
teilung mancher zum Teil ſehr origineller
Briefe verweilt der Verfaſſer etwas län—
ger bei einigen Punkten in der Biographie
ſeines Großvaters von Miß Seward,
um deren gänzliche Haltloſigkeit darzu—
thun. Wenn je das Sprüchwort: „Gott
behüte mich vor meinen Freunden u. ſ. w.“
für Jemand zur verhängnisvollen Wirk—
lichkeit geworden iſt, ſo geſchah dies dem
älteren Darwin, deſſen „Freundin“ ihn
in der That ärger verleumdet hat, als
ſeine ſchlimmſten Feinde. Man muß die
Mäßigung bewundern, mit welcher der
Enkel ihre durchaus haltloſen Verläſte—
rungen widerlegt und uns den Schlüſſel
zu dieſem Verhalten in verſchmähter Liebe
nachweiſt. Nicht weniger herzgewinnend
iſt die Art, in welcher der Verfaſſer ſeinen
Großvater gegen den Vorwurf des Athe—
ismus verteidigt. Seine ſeltene Objektivi—
tät tritt ferner in der Schilderung des
Niederganges von Erasmus Darwins
poetiſchem Ruhmesglanze hervor, und nach
aller und jeder Richtung wird der Leſer
durch die Unbefangenheit des Urteils und |
durch die edle Einfachheit der Darſtellung
erquickt.
E. Krauſes unbeſtreitbares Verdienſt
iſt es, Charles Darwin zu dieſer authen-
tiſchen Auskunft über ſeinen Großvater und
ſeine Familie veranlaßt zu haben, und dies
allein würde hinreichen, ihm unſere Dank—
barkeit für den von ihm geſchriebenen Teil
der vorliegenden Schrift, der dieſe Anre—
gung gegeben hat, zu ſichern. Aber auch
an und für ſich iſt dieſer zweite Teil nicht
weniger leſenswert als der von Charles
Darwin geſchriebene erſte; jeder von bei—
den fordert den andern als notwendig zu
ſeiner Ergänzung.
Ernſt Krauſe eröffnet ſeinen Teil mit
einer gedrängten Schilderung der allge—
meinen Weltanſchauung, die er, namentlich
ſoweit ſie den Urſprung der Lebeweſen be—
trifft, von der Griechenzeit an bis zu den
Tagen Erasmus Darwins verfolgt,
ſchildert dann deſſen Anteil an der Fort—
bildung derſelben ausführlicher und ſchließt
mit einer reichen Folge von Anmerkungen,
in denen viele originelle Einzelheiten erör—
tert und ausgeführt werden. Seine Arbeit
zeigt nicht allein klar, daß nicht Lamarck,
ſondern Erasmus Darwin als der Be—
gründer der Deszendenztheorie betrachtet
werden muß, ſondern iſt auch als eine erſte
Skizze von der Entwicklung der Deszendenz—
theorie in den älteren Zeiten wertvoll. Ein
ſpäterer Geſchichtsſchreiber derſelben dürfte
in dieſer kleinen Schrift eine reichere Fund—
grube zuverläſſigen Materials finden, als
ſie irgend wo ſonſt bis jetzt exiſtirt.
Hermann Müller.
Literatur und Kritik.
Il Suicidio, Saggio di Statistica
morale e comparata; opera pre-
miata dal R. Istituto Lombardo; Bi-
blioteca Scientifica Internazionale,
vol. XXI. Milano, Fratelli Dumolard,
1879.
Die internationale wiſſenſchaftliche
Bibliothek iſt um ein neues Werk von
höchſtem Intereſſe bereichert worden, in—
dem der verdienſtvolle Direktor der Pro—
vinzial-Irrenanſtalt in Macerato, Prof.
E. Morſelli, dafür eine höchſt wichtige
und in mancher Hinſicht vollendete Studie
der vergleichenden Moralſtatiſtik unter dem
Titel „Der Selbſtmord“ (Il Suicidio) ge—
liefert hat. Es iſt dies ein Werk, welches
uns jedenfalls das vollſtändigſte Material
vorführt, das bis jetzt über dieſe nachdenk—
liche Erſcheinung unſerer geſellſchaftlichen
Zuſtände geſammelt wurde.
Wir können, um dem deutſchen Leſer
eine vorläufige Idee von dieſem Werke zu
geben, nichts beſſeres thun, als dem aus—
gezeichneten Überblick folgen, den Herr
E. Regalia in dem Archivio per !’An-
tropologia etc. über den Inhalt des vor—
liegenden Bandes giebt.
Um die breite Grundlage dieſer Stu—
dien darzulegen, wollen wir hier nur an—
deuten, daß, während Esquirol 200
Fälle beobachtete, Kayſer 2800, Que—
telet 30,000, Lisle 52,000, Guerry
60,000, Wagner und Oettingen
120,000, der Autor ſelbſt nicht weniger
als 300,000 derſelben unterſuchte, ein
Material, welches gewiß zu allgemeinen
Schlußfolgerungen berechtigt und uns in
der That zu überraſchenden Konſequenzen
von pſychologiſcher und ſozialer Wichtig—
keit führt.
Vor allem konſtatirt der Autor, daß
n
der Selbſtmord durchaus nicht mehr va—
riirt als andere Erſcheinungen phy—
ſiologiſcher und organiſcher Natur,
derſelbe mithin auch nicht in ein der Sta—
tiſtik nicht zugängliches Gebiet gebannt
werden darf, — wie dies in erſter Linie
das Zunehmen und die Regelmäßig—
keit des Selbſtmordes in den zivili—
ſirten Staaten aufs deutlichſte beweiſt.
Welches aber ſind denn die Urſachen
dieſes ſich unter ſo manchen verſchiedenen
Umſtänden zeigenden Phänomens? Sollte
das Klima vielleicht die Anzahl der Selbſt—
mörder beeinfluſſen oder gar beſtimmen?
Dies ſcheint jedoch, nach den Durchſchnitts—
zahlen der verſchiedenen Staaten zu ur—
teilen, inſofern nicht der Fall zu ſein, als
dieſelben durchaus keinen beſtimmten
und abſoluten Einfluß des Klimas dar—
thun. Nur ſteht im allgemeinen, Europa
betreffend, ſo viel feſt, daß der Süden
(Italien, Spanien und Portugal) das
Minimalverhältnis zeigt, während das—
ſelbe zunimmt, je mehr wir uns dem Zen—
trum, und zwar dem 50. Breitegrade,
nähern.
Aber auch die Jahreszeiten zeigen
deutlich eine Regelmäßigkeit im Vorkom—
men des Selbſtmordes, und zwar bemerkt
man, daß beim freiwilligen Tode wie beim
Wahnſinn nicht ſo ſehr die intenſe
Wärme in der vorgerückten Som—
merſaiſon, ſondern mehr die erſte
Wärme des Frühjahrs und Sommers
einwirken, welche den Organismus in einer
Zeit treffen, wo derſelbe noch ungewöhnt
iſt und ſich unter dem Eindrucke der kal—
ten Jahreszeit befindet. Eigentümlich ſind
die Unterſuchungsreſultate bezüglich der
Tage und Stunden, wie auch, nach
Oettingen, das häufigere Vorkommen
Literatur und Kritik.
239
der weiblichen Selbſtmorde in den zwei
Wochenhälften, Sonnabend ausgenommen,
in umgekehrtem Verhältniſſe zu den
männlichen. Die Maximalſtunden find von
6 Uhr morgens bis Mittag, während das
Minimum in die Stunden vor Sonnen—
aufgang fällt. Die tägliche Verteilung
der Selbſtmorde geht alſo parallel mit der
Geſchäftsthätigkeit, der Arbeit, mit dem
Geräuſch, welches das Leben der modernen
Geſellſchaft charakteriſirt, und nicht mit dem
Schweigen, der Ruhe und Abſonderung.
Ethnologiſch ordnet ſich die Fre—
quenz des Selbſtmordes in Europa in ab—
nehmender Reihe wie folgt:
In erſter Linie ſtehen die Süd- und
Mitteldeutſchen, dann kommen die Nord—
deutſchen, dann die Skandinavier, Kelto—
Romanen, Angloſachſen, Magyaren, Flam—
länder, Nordſlaven, Finnen, Kelten, Süd—
ſlaven und Slovenen, Italo-Romanen und
Latiner.
Für Italien insbeſondere wird das
Faktum konſtatirt, daß die Häufigkeit des
Selbſtmordes im allgemeinen in den ver—
ſchiedenen Teilen des Landes in direktem
Verhältnis zur Statur ſteht und daß die
Neigung zum Selbſtmorde vom Süden
zum Norden zunimmt, im Maße wie all—
mählich die Statur der Italiener zunimmt.
Selbſtverſtändlich dürfen ſolche Beziehun—
gen zwiſchen Selbſtmord und Statur als
ethniſches Kriterium nur im allgemeinen
Sinne genommen werden, da natürlich,
wie zu erwarten war, Ausnahmen vor—
handen ſind.
Nehmen wir andere anthropolo—
giſche Charaktere der zwei Hauptvolks—
typen Europas mit in betracht, jo finden
wir von Oſt nach Nordweſt gehend die
Spur von der Einwanderung der Arier
240
oder Blonden, mit großer Neigung
Literatur und Kritik.
zum Selbſtmord bei hoher Statur. Das
breite Band, welches der Autor auf ſeiner
geographiſchen Karte des Selbſtmordes
„suicidigen“ nennt, deutet uns die Rich—
tung und den Weg an, welchen in jenen
entlegenen Zeiten jene ſtarke und zähe
Raſſe einſchlug, die ſich nach ſo vielen
Jahrhunderten an der Spitze der Zivili—
ſation befinden ſollte.
Betreffs der Sitten erkennt der Au—
tor, daß die Statiſtik impotent iſt, in Zahlen
einen ſo komplexen Einfluß zu beſtimmen.
Bei den niederen Völkern finden wir
Selbſtmorde faſt nur durch Hunger oder
Fanatismus veranlaßt; ſo z. B. konſtatirt
man bei den in Newyork, alſo unter einer
höheren Raſſe lebenden Negern in ſieben
Jahren 9 Fälle auf eine Million, während
die Weißen nicht weniger als 140 aufzuwei—
ſen haben. Seine Betrachtung über die
ſozialen Einflüſſe ſchließt der Autor
mit den Worten: „Wer in dem beſtändi—
gen Kampfe, den der Menſch gegen die
Natur und ſich ſelbſt zu kämpfen hat, die
erſte Urſache ſeiner Fortſchritte und auch
ſeiner Übel erkennt, dem erſcheint der
Selbſtmord als was er wirklich iſt: ein un—
vermeidliches und notwendiges Phänomen
in der Kulturentwicklung der Menſchheit.“
Den gewaltigen Einfluß des religiö—
ſen Gefühls verkennt der Autor nicht,
obwohl er denſelben als rein „phyſiolo—
giſch“ bezeichnet. Aus ſeinen Unterſu—
chungen des ſpeziellen Einfluſſes ver—
ſchiedener Glaubensbekenntniſſe
ſchließt er, daß wirklich bewieſen nur das
Faktum tft, daß die proteſtantiſchen
Länder die katholiſchen in der Anzahl
der Selbſtmorde übertreffen.
Bekenntniſſe ſtellt ſich in erſter Linie fo:
Proteſtanten, Katholiken, Juden;
dann folgt aber gleich eine zweite: Pro—
teſtanten, Juden, Katholiken. Bei den
Muhamedanern iſt der Selbſtmord ſelten,
doch konſtatirte man bereits, daß derſelbe
bei den Arabern in Algier im Zunehmen
begriffen iſt. Jedenfalls ſind der Natur
der religiöfen Glaubensbekenntniſſe jene
ſchrecklichen Selbſtmord-Epidemien zuzu—
ſchreiben, welche uns die indiſchen Reiſen—
den mit ſo ſchwarzen Farben als bei den
Bekennern Buddhas und Brahmas vorkom—
mend ſchildern. Statiſtiſche Daten fehlen
uns jedoch hierüber. f
In allen Ländern hat es ſich erwieſen,
daß Selbſtmord und Geiſteskrankheiten.
hauptſächlich in den Klaſſen vorkommen,
welche die Ziviliſation mit der Gabe der
Bildung beglückt hat; und dies iſt der
Fall ſowohl in Deutſchland und Frank—
reich wie in Italien und England; kurz,
es gilt dies für ganz Europa. Ferner ſind
es die ein höheres Niveau von all—
gemeiner Kultur beſitzenden Länder,
welche das größte Kontingent zum frei—
willigen Tode liefern.
Der Einfluß der öffentlichen Mo—
ralität iſt in dieſer Frage ſehr ſchwer zu
erfaſſen, umſomehr, als man ſich über den
Begriff von „öffentlicher Moral“ nicht
leicht verſtändigen wird. Gewiß ſind die
den moraliſchen Satzungen am meiſten er—
gebenen und die häuslichen Affekte am
lebhafteſten empfindenden Völker (wie Ger—
manen und Skandinavier) durchaus nicht
die dem Selbſtmorde abgeneigten, wenn
nicht ſogar das Gegenteil. Die von der
Statiſtik in betracht gezogenen Sozial—
phänomene, welche den Moralitätsgrad
Eine Klaſſifizirung der vorherrſchenden eines Landes ausdrücken, ſind nur die
Literatur
ten. Der Vergleich dieſer Daten mit de—
nen des Selbſtmordes führt zu keinem kla—
ren und befriedigenden Reſultate; Mor—
ſelli glaubt nur ſchließen zu dürfen, daß
dort, wo der jährliche Durchſchnitt der
freiwilligen Todesfälle eine ſtarke Zus |
und Kritik.
Verbrechen und unehelichen Gebur⸗
nahme aufweiſt, man auch im allgemeinen
ein gleichzeitiges Zunehmen des Verbrecher
ſtandes bemerkt. Wo die Vergehen gegen
das Eigentum vorherrſchen, ſind die Selbſt—
morde häufiger als dort, wo Blutsver—
brechen oft vorkommen.
Den Einfluß der allgemeinen wirt—
ſchaftlichen Verhältniſſe behandelt
der Autor mit großer Umſicht und Bered—
ſamkeit, doch genügt es auch hier, die all—
gemeinen Thatſachen anzudeuten. Jahre
von Mißernten, allgemeinem Notſtande
und Finanzkriſen zeigen eine konſtante Zu—
nahme in der Proportion von Geiſtes—
kranken, und alles, was zur Verſchlechte—
rung der wirtſchaftlichen Verhältniſſe eines
Landes oder einer Menſchenklaſſe beiträgt,
iſt dort auch Urſache zum Selbſtmord. Die
Wirkung iſt jedoch nicht augenblicklich: der
Sozial-Organismus braucht, ebenſo wie
der individuelle, eine gewiſſe Zeit, damit
ſich die durch den ſchädlichen Einfluß her—
vorgebrachte Störung in ihren Konſequen—
zen entwickle.
Aus dem Vergleich zwiſchen den frü—
heren und heutigen politiſchen Re—
gierungsformen und aus der Zu—
nahme der Selbſtmorde erſah man,
daß letztere in dem Maße ſtattfand, wie
ſich die zuerſt konzentrirten Kräfte nach
und nach aus einander teilten, und der
Begriff und die freiere Ausübung des In—
dividualismus (Self help) in das Volks—
gewiſſen eindrang. Den Beweis dieſer
241
größeren individuellen Teilnahme an den
allgemeinen politiſchen Phaſen beſitzen wir
in der augenſcheinlichen Abnahme der frei—
willigen Todesfälle während Revolutions—
und Kriegszeiten. Jedoch werden unſere
Nachkommen beſſer als wir die Wirkungen
der höheren Gehirnſenſibilität und Gehirn—
funktion ſchätzen können.
Der allgemeine Gang des Selbſtmor—
des folgt der Bevölkerungszunahme
und übertrifft dieſe ſogar in faſt ganz Eu—
ropa. Wenn, nach Wappäus, eine ge—
wiſſe Bevölkerungsdichtigkeit zum materi—
ellen und moraliſchen Fortſchritte nötig iſt,
ſo vermehrt dieſelbe aber auch die Schwie—
rigkeiten des Lebens, die Konkurrenz, die
Armut, die Auswanderung und die Wir—
kungen der wirtſchaftlichen Störungen.
Dennoch ſcheint der Einfluß auf die An—
zahl der Selbſtmorde nicht groß, oder we—
nigſtens nicht abſolut zu ſein.
Daß in den Städten die Anzahl der
Selbſtmorde die auf dem Lande über—
trifft, läßt ſich durch die mannigfachen
Kontakte und Reibungen, denen das Stadt—
leben ausgeſetzt iſt, erklären. Doch iſt die—
ſer Einfluß der Stadt nicht ſo allgemein
und ausſchließlich. Das Stadtleben iſt ein
wirkſamer Modifikator des menſchlichen
Willens, doch wirkt es nicht auf alle an—
deren ſozialen und individuellen Faktoren
neutraliſirend. Die relative Intenſität des
Selbſtmordes bietet in einem gegebenen
Diſtrikte dieſelben Charaktere, welche Be—
völkerung man auch immer in betracht zie—
hen mag; wenn die Intenſität der Stadt
eine große iſt, ſo iſt ſie es auch auf dem
Lande; in jener nimmt ſie ab, parallel mit
dem allgemeinen Durchſchnitt.
Das Kapitel über die Einflüſſe der
individuellen biologiſchen und ſo—
Kosmoß, IV. Jahrg. Heft 3.
242
zialen Verhältniſſe beginnt mit einer
Abhandlung über den Begriff „morali—
ſche Freiheit“. Dem Schluſſe des Ver—
faſſers ſtimmen wir durchaus bei: daß die
Mannigfaltigkeit der in den Individuen
wirkenden Urſachen „eine unendliche
und entſprechende Mannigfaltig—
keit von Wirkungen erzeugt; daher
der täuſchende Anſchein, als ob dieſe
Wirkungen den Charakter der individuellen
Spontaneität beſäßen“.
Geſchlechtlich iſt in allen Ländern
das Verhältuis von 1 Frau zu 3 oder 4
Männern, wie auch die Proportion des
Verbrechens 1:4 oder 5 iſt. In Italien
ſind die ſexuellen Mittel während 1864/77
auf 100 Selbſtmorde: 79,7 männliche und
20,3 weibliche. Woher rührt das große
Übergewicht des männlichen Elementes?
Der Verf. findet, daß die Frau haupt—
ſächlich durch phyſiſche Urſachen dazu
geführt wird (Wahnſinn, Pellagra, Ge—
hirnkrankheiten), während beim Manne
Beweggründe vorwalten, welche direkt von
den Lebensſchwierigkeiten und dem Kampf
ums Daſein abhängen.
Hören wir nun, was der Verf. betreffs
des Alters ſagt: „Die Phyſiologie und
die Embryogenie beweiſen, daß die menſch—
liche Entwicklung die Phaſen der ganzen
Serie der Lebeweſen darſtellt: von den
Primordialzuſtänden bis zur Vervollkomm—
nung des Organismus. Wenden wir dies
Prinzip im Bereiche der Soziologie an, ſo
können wir annehmen, daß die Evolution
des Individuums in ſich die der ganzen
Geſellſchaft verkörpert, beſonders in den
moraliſchen (pſychologiſchen) Erſcheinun-
gen. Die Tendenz zum Verbrechen variirt
in den menſchlichen Geſellſchaften je nach
ihrem Organiſationszuſtande, und auch
Literatur und Kritik.
beim Individuum iſt dieſelbe am höchſten in
dem der vollſtändigen Reife vorhergehenden
Zeitraume vorhanden. Dieſes pſychologiſche
Zuſammentreffen wiederholt ſich beim
Selbſtmord, aber in umgekehrter Weiſe.
Der freie Tod iſt der ziviliſirteſten Geſell—
ſchaft eigen. Dieſer Kollektivdifferenz ent—
ſpricht ein verſchiedener Grad in der ſelbſt—
mörderiſchen Tendenz je nach dem Alter
des Individuums; ſie nimmt in beiden Ge—
ſchlechtern in direktem Verhältniſſe zum
Alter zu. In ganz Europa iſt der Selbſt—
mord frühzeitiger bei dem weiblichen als
bei dem männlichen Geſchlecht; bei erſterem
herrſcht er unter 30 bis höchſtens 35 Jahren
vor, bei letzterem von 40 Jahren an.
Der Autor beſteht dann auf der nicht
genug gewürdigten Wichtigkeit des Zivil—
ſtandes und zeigt, wie die Liebe und die
Familie aus der Umwandlung des ur—
ſprünglichen geſchlechtlichen Bedürfniſſes
entſprangen. Aus den weiteren Betrach—
tungen geht hervor, daß Witwenſchaft,
Trennung und Cölibat einen ſchädlichen,
die Ehe einen wohlthätigen Einfluß aus—
üben.
Die beiden Abſätze über die Profeſ—
ſion und die ſoziale Stellung ſind reich
an Vergleichen und wichtigen Betrachtun—
gen; wir heben hier blos daraus hervor,
daß Soldaten und Gefangene, bei denen,
trotz ſo mancher Unterſchiede, durch den mit—
telſt der Disziplin auf den individuellen
Willen ausgeübten Druck eine gewiſſe Über—
einſtimmung exiſtirt, einen bedeutenden
Tribut zur Selbſtmordſtatiſtik beitragen.
„Der Autor ſpricht dann von den be—
ſtimmenden Beweggründen, welche
wir ebenfalls in den Bereich der Sta—
tiſtik ziehen können, welch letztere uns
| lehrt, daß bei gegebenen Verhältniſſen
—
—
Literatur und Kritik. a 243
einer geſelligen Vereinigung eine beſtimmte
Anzahl Individuen ſich das Leben nehmen
werden.
Der Alkoholismus liefert dem Selbit-
morde eine beträchtliche Anzahl Opfer;
in Deutſchland 56% ,q in Schweden (vor
24 Jahren 65½½ %) jetzt nur 11,2 %,
in Italien nur 1¼ bei dem männlichen
und 0,16 % bei dem weiblichen Geſchlechte.
Hand in hand mit den phyſiſchen Urſachen
geht die Armut (miseria), worin Italien
das Primat beſitzt. Die Selbſtmorde we—
gen Armut ſtimmen wieder mit denen we—
gen Pellagra überein; Armut und Pel—
lagra ſind alſo Schweſtern und es ſcheint
die Annahme nicht begründet, daß Pellagra
allein vom Gebrauch des verdorbenen Mais
herrühre.
Nach dem Verf. iſt die Meinung von
Ferrus und Despine, beim verſtandes—
geſunden Menſchen ſei der Selbſtmord
meiſtens von edlen und generöſen Gefüh—
len herzuleiten, nicht richtig. Je näher
man die beſtimmenden Urſachen unter—
ſucht, findet man, daß ſie das Erzeugnis
eines raffinirten egoiſtiſchen Gefühles ſind.
Die Selbſtmorde aus erhabenen und groß—
mütigen Beweggründen kommen vor, ſind
aber äußerſt ſelten. Man bedenke, wie die
Reihe der beſtimmenden Gründe ſich auf
einen einzigen zurückführen läßt, auf die
Verzweiflung darüber, das nicht erreicht
und verloren zu haben, was man im
erregten Zuſtande der Leidenſchaft mehr
als das Leben ſchätzte.
Die die Natur der Gründe modifizi—
renden Einflüſſe ſind dieſelben, welche auf
die allgemeine Dispoſition der Selbſt—
morde einwirken. Während im Süden die
Leidenſchaften, Liebe, Armut wirken, ſind
es im Norden Alkoholismus, und in Mittel—
europa, wo auch die größere Kultur ihren
Sitz hat, das taedium vitae und die
Schande oder Furcht vor Strafen.
Der Wahnſinn entſteht faſt in demſelben
Maße, in welchem Klima es auch ſein
mag, während die anderen Urſachen, be—
ſonders die moraliſchen, je nach dem Grade
und beſonderen Charakter der Ziviliſation
variiren müſſen.
Die Betrachtung der Art und Weiſe
und des Ortes, wie und wo der Selbſt—
mord geſchieht, beweiſt, daß in einer Geſell—
ſchaft von Menſchen, welche unter denſelben
phyſiologiſchen und moraliſchen Bedin—
gungen leben, auch die Natur und die
Anzahl der Mittel zur Ausführung des
Selbſtmordes immer dieſelben bleiben, in—
ſofern dieſelbe an der allgemeinen Regel—
mäßigkeit der ſozialen Erſcheinungen teil—
nimmt.
Die Wahl der Mittel wurde ſchon
von Guerry als regelgemäß erkannt.
Sie wird von zwei Hauptmotiven geleitet:
von der Sicherheit des Ausgangs
und dem Mangel oder der Kürze des
Schmerzes. Eine wichtige ſtatiſtiſche
Thatſache iſt es, daß die Wahl beſtändig
von Jahr zu Jahr in einer beſtimmten
Gruppe von Menſchen dieſelbe iſt, woraus
auch um ſo augenſcheinlicher der modifizi—
rende Einfluß erhellt, den die äußeren
Bedingungen auf den menſchlichen Willen
ausüben.
Die von den beiden Geſchlechtern
getroffene Wahl zeigt überall eine wunder—
bare Regelmäßigkeit und Beſtändigkeit;
worin ſich die Fälle zwiſchen beiden Ge—
ſchlechtern am meiſten unterſcheiden, iſt im
Gebrauch der Feuerwaffen. Eigentümlich
iſt auch der Unterſchied in der Wahl mit
dem Alter und derſozialen Stellung.
244
In Betreff des Ortes, wo der Selbſt—
mord geſchieht, beſteht ein Unterſchied zwi-
ſchen den beiden Geſchlechtern. Die Frau,
deren Reich um den häuslichen Herd iſt,
ſcheint ſich z. B. gegen den Selbſtmord im
Freien oder an öffentlichen Plätzen zu
ſträuben. |
Im zweiten Teile des Werkes, Syn—
theſis, Natur und Therapie des
Selbſtmordes, entwickelt der Verf.
allgemeine philoſophiſche Betrachtungen,
die wir hier nur eben andeuten können:
Alle individuellen Verſchiedenheiten ſind
rein nebenſächlich. Das Vorhandenſein
von univerſellen, konſtanten und (wenn
ſich die äußeren Bedingungen nicht mo—
difiziren) notwendigen Geſetzen beſchränkt
die einem jeden angewieſene Aktions-
ſphäre auf Minimalgrenzen und beweiſt,
daß die pſychiſchen Thätigkeiten den näm—
lichen Einflüſſen und denſelben langſamen
Umwandlungen nach Zeit und Raum unter—
worfen ſind, denen alle anderen Thätig—
keiten des lebenden Organismus und der
Art unterſtehen; es iſt ſogar bemerkens—
wert, daß letztere unregelmäßiger und
weniger klar von bekannten Urſachen ab—
hängen, als der Selbſtmord. Nach der ge—
machten Analyſis kommen wir zu dem Gene—
ralſchluſſe: Der Selbſtmord iſt eine Folge
des Kampfes ums Daſein und der menſch—
lichen Ausleſe, welche ſich nach dem Ent—
wicklungsgeſetze der Kulturvölker vollzieht.
Die einzige Prophylaxis gegen den
Wahnſinn und Selbſtmord beſtände darin,
die Lebenskonkurrenzzwiſchen den Menſchen
zu verringern, während heute Alles dahin
ſtrebt, dieſelbe überall und in allen menſch—
lichen Thätigkeitszweigen zu vermehren.
Das einzige ſo ſehr ſchwer in die Praxis
zu bringende und ſo ſtark verpönte Mittel
Literatur und Kritik.
wäre: die übermäßige Vermehrung der
Kämpfenden zu zügeln! Die ganze Kur
kann daher nur prophylaktiſch ſein und be—
ſteht einzig darin: Im Menſchen die Kräfte
zu entwickeln, um ein gewiſſes Ziel im
Leben zu erreichen, kurz, dem moraliſchen
Charakter Kraft und Energie zu verleihen.
Florenz. J. E. Zilliken.
Studien über die naturwiſſen—
ſchaftlichen Kenntniſſe der Tal—
mudiſten von Dr. Joſeph Bergel,
Leipzig, W. Friedrich, 1880.102 S. in 8.
Dieſe kleine Schrift giebt in acht Ab—
ſchnitten, die der menſchlichen Anatomie,
Phyſiologie, Pathologie, Zoologie, Chemie,
Geologie, Phyſik und Aſtronomie gewid—
met ſind, eine Blumenleſe der natur—
wiſſenſchaftlichen Anſchauungen, Kenntniſſe
und Irrtümer der Talmudiſten, wobei
manche intereſſante Streitfragen zur Erör—
terung kommen. An die Erörterung moſai—
ſcher Vorſchriften über reine und unreine
Tiere, Fleiſchgenuß und Zubereitung, Sab—
bathgeſetze, Geſellſchaftsverhältniſſe knü—
pfen ſich ſubtile Erörterungen, z. B. ob man
am Sabbath in den Thermen von Tiberias
kochen dürfe, was Rabbi Joſe verneint,
da ihr Waſſer immerhin durch unterirdi—
ſche Feuer (Höllenfeuer) erhitzt werde. Die
Arzte des vorigen Jahrhunderts, welche
an eine Selbſtentſtehung der Paraſiten im
tieriſchen Körper glaubten, werden von
einem alten Rabbi beſchämt, welcher vor—
ſchreibt: Würmer, die in der Leber gefun—
den werden, zu ſpeiſen, iſt verboten, weil
ſie von auswärts dahin gelangt ſind. Ein
Mangel des Buches iſt, daß viele der an—
gezogenen Stellen nur im hebräiſchen Ur—
texte mitgeteilt werden, was eine allge—
=
Literatur und Kritik.
meine Brauchbarkeit verhindert. Viel eher
hätte dagegen der Kommentar des Ver—
faſſers eingeſchränkt werden dürfen, zumal
er keineswegs auf der Höhe der natur—
wiſſenſchaftlichen Anforderungen unſerer
Zeit ſteht. So bemerkt der Verfaſſer zu
der rabbiniſchen Fabel, daß ein Toten—
gräber in einem engen unterirdiſchen Ka—
nale einen Hirſch verfolgt und erſt ſpäter
erfahren habe, daß er in der Höhle eines
Schenkelknochen von Og, König von Ba—
ſchan, gejagt habe, und daß er einmal in
der Augenhöhle des Abſalonſchädels bis an
die Naſe verſunken ſei: „Die aufgefun—
denen ägyptiſchen wie amerikaniſchen Mu—
mien, welche zum Teil älter ſind, als die
Skelette von Og und Abſalon, ſowie die
Abbildungen menſchlicher Figuren auf al—
ten Monumenten zeigen durchaus keine
größeren Geſtalten, als die jetztlebenden.
Die erwähnten Rieſenſkelette müßten dem—
nach, wenn deren Angabe nicht auf Täu—
ſchung beruht, ganz iſolirt daſtehen“ (S. 9).
Ahnlich klingt es, wenn der Kommentar
S. 90 über die Sternſchnuppen bemerkt:
„Erſt in neuerer Zeit ſchenkte man denſel—
ben mehr Aufmerkſamkeit und fand, daß
die Sternſchüſſe von außerhalb unſerer
Atmoſphäre, von entfernten Himmelskör—
pern herabkommen, was mit der talmu—
diſchen Anſicht, daß ſie am Orion vorüber—
gehen, übereinſtimmen möchte.“ Abgeſehen
von dieſen Erläuterungen dürfte Jeder,
der ſich mit der Geſchichte irgend eines na—
turhiſtoriſchen Faches beſchäftigt, hier ganz
intereſſante Beiträge finden.
Methodiſches Lehrbuch der ällge-
meinen Botanik für höhere Lehran—
ſtalten. Nach dem neueſten Standpunkte
der Wiſſenſchaft von Dr. Wilh. Jul.
245
Behrens. Mit zahlreichen Original—
abbildungen in 400 Figuren vom Ver—
faſſer nach der Natur auf Holz gezeich—
net. Braunſchweig, Schwetſchke und
Sohn (M. Bruhn), 1880. 337 S. in 8.
Endlich ein Lehrbuch der Botanik, wel—
ches der neuen Weltanſchauung Rechnung
trägt. Unſere bisherigen Lehrbücher be—
ſchränkten ſich darauf, dem Lernenden not—
dürftig die Terminologie beizubringen, um
ihn nur ſchnell zum Beſtimmen der Pflanzen
zu befähigen und den „deſkriptiven Natur—
forſcher“ vorzubereiten, oder verloren ſich in
ein Detail, welches man den Handbüchern
überlaſſen ſollte, wie das Sachsſche Lehr—
buch. Das vorliegende Buch iſt aus der
Praxis entſtanden, wie man dem Verfaſſer
aufs Wort glaubt, und fördert den ſtreb—
ſamen Schüler nach rein induktiver Methode
ſo weit, daß er nachher ohne Zagen bei dem
gelehrteſten Profeſſor ſeine botaniſchen Stu—
dien fortſetzen können wird. Es iſt in fünf
Abſchnitte getheilt, deren erſter die Morpho—
logie enthält, alſo dasjenige, was die ge—
wöhnlichen Elementarwerke lediglich zu
bringen pflegen. Derzweite (Biologie) iſt ein
erſter Verſuch, die bewährte Unterrichts—
methode von Dr. Hermann Müller zum
Gemeingut zu machen, indem er die für die
Schüler ungemein anregenden Beſtäu—
bungsverhältniſſe, die Wechſelbeziehungen
zwiſchen Blumen und Inſekten in vortreff—
licher Weiſe darſtellt. Auch der dritte
Abſchnitt, die Diagrammatik oder Geo—
metrie der Blüte, enthält einen mehr
oder weniger neuen Schritt, indem er
die Eichlerſchen Blütendiagramme in
umfaſſenderem Maße als es ſeither ge—
ſchehen, in den Schulunterricht zieht, und
zwar nicht, um die Schüler von der leben—
den Pflanze zu emanzipiren, ſondern um
246
Literatur und Kritik.
ihnen zur Erläuterung und zum haftenden | Anhängern über die Deutung der von
Verſtändnis desjenigen, was ſie ſehen, zu
verhelfen. In richtiger Stufenfolge behan—
delt der vierte Abſchnitt Anatomie und Phy—
ſiologie, und der fünfte die Kryptogamen.
Da der Verfaſſer bittet, ihm Verbeſſerungs—
vorſchläge zugänglich zu machen, ſo möchte
Referent ſeiner nochmaligen Erwägung em—
pfehlen, ob es nicht doch beſſer ſein würde,
die zur Morphologie gehörige Diagram—
matik vor die Biologie zu ſtellen, den zwei—
ten und dritten Abſchnitt ihre Stellen tau—
ſchen zu laſſen. Einen weitern Vorzug des
Buches ſtellen auch die vorzüglichen, von
dem Verfaſſer mit wenigen Ausnahmen
nach der Natur auf Holz gezeichneten und
unter ſorgfältiger Kontrolle geſchnittenen
Abbildungen dar, ſo daß hier durch ver—
ſtändnisvolles Zuſammenwirken von Ver—
faſſer und Verleger eine höchſt vollendete
Leiſtung erzielt wurde. Wir bitten alle
Lehrer der Botanik, ſich dieſes Buch ge—
nau anzuſehen. K.
Karl Sachs, Aus den Llanos, Schil—
derung einer naturwiſſenſchaftlichen Rei—
ſe nach Venezuela. Leipzig, Veit & Comp.
1879. 369 S. in 8., mit Abbildungen.
Der durch einen Unfall in den Alpen
der Wiſſenſchaft zu früh entriſſene Ver—
faſſer dieſes Buches war auf Koſten der
Humboldtſtiftung nach Südamerika ge—
gangen, hauptſächlich mit dem Auftrage,
die Gymnotenfrage zu löſen. Unter Hum—
boldts Beobachtungen und Naturſchilde—
rungen giebt es kaum eine bekanntere als
die der elektriſchen Aale (Gymnoten) und
ihres Kampfes mit den Steppenroſſen in
den Llanos von Venezuela. Humboldt
hatte Europa verlaſſen, als der Streit
zwiſchen Volta und Gal va ni und ihren
Galva ni entdeckten Thatſachen zu voller
Höhe entbrannt war, und er ſelber hatte
ſich kurz vorher in ſeinem Werk „Über die
gereizte Muskel- und Nervenfaſer“ für
das Daſein einer tieriſchen Elektrizität aus—
geſprochen. Der Anblick der gewaltigen
Zitteraale, deren Körper ſcheinbar aus je—
dem ſeiner Teile willkürlich einen nieder—
ſchmetternden Blitz entſandte, war daher
für ihn vom hinreißendſten Intereſſe. Aber
leider hatte er Europa etwas zu früh ver—
laſſen, um noch Nachricht von der Ent—
deckung der Säule durch Volta zu erhal—
ten, welche über dieſes Gebiet wenigſtens
den erſten Schimmer von Helligkeit ver—
breitete, und ſo kam es, daß die damals
von ihm angeſtellten Verſuche, trotz allem
darin entfalteten Eifer und Geſchick, weder
für die Lehre von den elektromotoriſchen
Organen, noch für die damit nahverwand—
te von den Nerven und Muskeln ausgie—
bige Frucht trugen. Merkwürdigerweiſe
ſind ſeitdem über drei Viertel Jahrhun—
derte verfloſſen, ohne daß in Südamerika
eine einzige Beobachtung am Zitteraale
angeſtellt worden wäre, obſchon dieſe Fi—
ſche wiederholt nach Europa, beſonders
nach London gebracht wurden, wo Fara—
day daran eine berühmte Verſuchsreihe
ausführte.
Dr. Sachs hatte ſich mit einem mög—
lichſt vollſtändigen hiſtologiſchen und elek—
trophyſiologiſchen Apparate am 26. Sep:
temper 1876 in Hamburg eingeſchifft, war
am 21. Oktober in La Guayra gelandet,
und hatte in Caracas bei dem kaiſerlich
deutſchen Geſchäftsträger und General—
Konſul, Dr. Stamman, den zuvorkommend—
ſten Empfang gefunden. Nachdem er ſich
in Caracas mit den nötigen Empfehlungs—
F
briefen und Ausrüſtungsgegenſtänden ver—
ſehen, hatte er die Kordillere überſchritten
und war am 19. November in Raſtro, einem
armſeligen Dorf in der Steppe, eingetrof—
fen, welches einſt die Stätte von Hum—
boldts eigenen Verſuchen war, und wo
dem Dr. Sachs ein reicher Grundbeſitzer,
Don Carlos Palazios, „EI Rey de
los Llanos“ genannt, ein Haus zur Ver—
fügung geſtellt hatte. Hier aber fand ſich
Dr. Sachs in feinen Erwartungen ſchlimm
getäuſcht. Die Sumpfwaſſer in der Nähe
des Dorfes, welche zu Humboldt's Zeit
von Gymnoten wimmelten, gaben nicht
einen her und hauchten um ſo gefährlichere
Miasmen aus. Die Vorſtellung, nach
Humboldts Beſchreibung Gymnoten
zu fangen, indem man, um ſie zu erſchöp—
fen, erſt Pferde oder Maultiere von ihnen
erſchlagen läßt, wurde von allen Llaneros
mit Gelächter aufgenommen, kein Wunder,
da Dr. Sachs die Mula, die ihn von
Caracas in die Steppe trug, mit 270 ſpa—
niſchen Talern bezahlen mußte. Beſſer ge—
ſtalteten ſich die Verhältniſſe im benach—
barten Kalabozo, einer anſehnlichen Stadt
mit vielen Bequemlichkeiten, wohin ſich
Dr. Sachs nun begab. Der General
Guancho Rodriguez nahm ſich freund—
lich ſeiner an und ritt mit ihm drei Stun—
den weit nach dem Rio Urituku, einem
wilden, von prächtigem Urwald umgebe—
nen Fluſſe, in deſſen Gewäſſern das Ver—
derben in vielfacher Geſtalt kauerte: denn
es wimmelte von Alligatoren, gefräßigen
Karibenfiſchen, tückiſchen Stachelrochen
und glücklicher Weiſe auch von Gymnoten.
Der Verfaſſer kam hier und ſpäter in
Beſitz eines ausreichenden Materials, um
die Fragen zu löſen, die ſich namentlich auf
den Bau der den größten Teil des Körpers
Literatur und Kritik.
Bo. III, S. 91.
247
fullenden elektriſchen Organe bezogen, wobei
auch die Frage, ob dieſe Tiere bis zu einem
gewiſſen Grade Immunität gegen den eige—
nen Schlag beſitzen, bejahend beantwortet
wurde. Leider gelang es aber nicht, die
für unſere Betrachtungsweiſe der Natur
intereſſanteſte Frage nach der Entwick—
lungsgeſchichte dieſer elektriſchen Aale zu
löſen, um Andeutungen darüber zu erhal—
ten, wie ſich dieſe Organe im Laufe einer
natürlichen Entwicklung zu einer ſo wir—
kungsvollen Waffe haben ausbilden können.
Es glückte Dr. Sachs nicht, junge Em—
bryonen zu erhalten oder den Fortpflan—
zungsweg zu beobachten. Glücklicherweiſe
war dieſes Problem inzwiſchen von Prof.
Babuſchin durch Beobachtungen an alt—
weltlichen Zitterfiſchen in befriedigender
Weiſe gelöſt und gezeigt worden, daß dieſe
Organe aus Muskelgewebe entſtehen.“)
Die Schilderungen der Erlebniſſe des
Verfaſſers ſind ſehr lebendig und anziehend,
Szenen ſeines Naturforſcherlebens, Aben—
teuer, Schilderungen der Natur und der
geſellſchaftlichen und politiſchen Zuſtände
wechſeln in unterhaltender Reihe mit ein—
ander ab, ſo daß die Lektüre einen ſehr
angenehmen und nachhaltigen Eindruck hin—
terläßt. Die Ausſtattung iſt trefflich.
Aus Egyptens Vorzeit von Dr. J. F.
Lauth. Erſtes Heft: Die prähiſtori—
ſche Zeit, Berlin, Theodor Hofmann,
1879. 100 S. in 8.
Dieſes erſte Heft des der Archäologie
und Geſchichte Egyptens gewidmeten Wer—
kes beſchäftigt ſich nicht, wie der Neben—
titel erwarten laſſen könnte, mit der prähi—
ſtoriſchen Zeit im Sinne der Anthropologie,
— Vergl. Kosmos, Bd. I, S. 255 und
248
ſondern mit der mythiſchen Zeit, aus der
ſchriftliche Überlieferungen exiſtiren. Der
Verfaſſer ſucht darin nachzuweiſen, daß die
Sagen vom Paradieſe, von der Sintflut
und vom Turm zu Babel nicht blos in Aſ—
ſyrien, ſondern auch im alten Egypten ein—
heimiſch waren, und eine zum Teil ähnliche
Faſſung wie dort beſaßen. Die Flutſage
ſchöpft Lauth aus der Ergänzung eines
im Grabe Seti J. gefundenen Textes durch
einen Papyrus des Muſeum von Bulag
und erzählt, wie Ra nach allgemeinem Rat—
ſchluß der Götter das ſeine Majeſtät läſtern—
de Menſchengeſchlecht im Waſſer umkom—
men ließ, bis auf die Bewohner eines Schif—
fes. Weniger vollkommen gelingt dem Ver—
faſſer der Nachweis der Turmſage, der ſich
eigentlich darauf beſchränkt, daß Heliopo—
lis, die uralte Stadt On oder Anu, im
Altertum als das egyptiſche Babylon galt
und ein aſtronomiſches Obſervatorium, ähn—
lich der Stufenpyramide von Babylon be—
ſaß, das Haus Benben oder Belbel. Hin—
ſichtlich des Paradieſes zeigt der Verfaſſer,
daß die Gefilde Elyſiums aus dem egyp—
tiſchen Sochet (Gefilde) Aalu entſtanden
ſind, ebenſo wie das griechiſche Acherunti
aus der „göttlichen Unterwelt“ (Acheru-
nuti) der Egypter abgeleitet iſt. Das
Paradies galt bei den Egyptern ebenſo wie
bei vielen andern Völkern zugleich als die
Urheimat und als das Ziel der Seelen nach
dem Tode. Das Buch regt viele wichtige
Fragen der vergleichenden Mythologie an,
Literatur und Kritik.
und wir dürfen auf die Fortſetzung ge—
ſpannt ſein.
Illuſtrirtes Pflanzenleben. Ge—
meinverſtändliche Originalabhandlun—
gen über die wichtigſten und intereſſan—
teſten Fragen der Pflanzenkunde, nach zu—
verläſſigen Arbeiten der neueſten wiſſen—
ſchaftlichen Forſchungen. Mit zahlrei—
chen Original-Illuſtrationen von Dr.
Arnold Dodel-Port. Zürich, Ver:
lag von Cäſar Schmidt, 1880. Lief.
J und II, S. 1— 112, gr. 8.
Man muß nach dem Titel nicht etwa
erwarten, daß hier ein Seitenſtück zu
Brehms „Illuſtrirtem Tierleben“ eröff—
net wird; der Verfaſſer will vielmehr, wie
er im Proſpekt ſagt, darin die intereſſan—
teſten Tagesfragen der wiſſenſchaftlichen
Botanik in anſchaulicher, leicht verſtänd—
licher Sprache und in einer Weiſe, die dem
gegenwärtigen Stande der Wiſſenſchaft ent—
ſpricht, behandeln. Darnach iſt der Stoff
journalartig in bunter Reihe angeordnet,
und auf zwei Artikel über niedere Pilze,
Miasmen und Kontagien folgt ein ſolcher
über fleiſchfreſſende Pflanzen — ſehr anzie—
hende Themata, die mit einer gründlichen
Kenntnis behandelt und reich durch neuge—
zeichnete Abbildungen teils in Steindruck,
teils in Holzſchnitt und Lichtdruck illuſtrirt
ſind. Wir zweifeln nicht, daß dieſe Schil—
derungen vielen Leſern Freude machen
werden.
Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig.
Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der e
Theorie.
Eine im Londoner Royal Institution gehaltene Vorleſung
4
iele von Ihnen werden mit
dem Anblick dieſes kleinen,
grün gebundenen Buches
vertraut ſein. Es iſt ein
Exemplar der erſten Aus-
gabe von Darwins „Ori-
gin of Beleg und trägt das Datum
feiner Vollendung — des erſten Oktobers
1859. Nur wenige Monate ſind deshalb
noch erforderlich, um die volle Zahl der
einundzwanzig!) ſeit feinem Geburtstage
verfloſſenen Jahre zu vervollſtändigen.
Diejenigen, deren Gedächtnis ſie bis
zu dieſer Zeit zurückführt, werden ſich er—
innern, daß das Kind bemerkenswert leb—
haft war und daß eine große Anzahl aus—
gezeichneter Perſonen die Außerungen ſei—
ner kräftigen Individualität mißverſtänd—
lich für bloße Ungezogenheit nahm; ein
in der That ſehr munterer Aufruhr umtobte
ſeine Wiege. Meine Erinnerungen an dieſe
Periode ſind beſonders lebhaft, denn da
ich eine zärtliche Zuneigung zu dem Kinde,
welches mir ſo merkwürdig viel zu ver—
) Nach altem ſächſiſchen Recht beginnt die
Großjährigkeit mit erreichtem 21. Jahre.
von
C. H. Hunley.
ſprechen ſchien, gefaßt hatte, war ich für
einige Zeit in den Obliegenheiten einer
Art von Hilfsamme (under-nurse) thätig
und bekam ſo meinen Teil von den Stür—
men, welche ſogar das ſtarke Leben dieſer
jungen Kreatur bedrohten. Für einige
Jahre war das unzweifelhaft heiße Arbeit,
aber erwägend, wie höchſt unliebſam die
Erſcheinung des neuen Ankömmlings für
diejenigen geweſen ſein muß, die ſich nicht
auf den erſten Anblick darin verliebten,
denke ich, daß man es unſerm Zeitalter
zur Ehre anzurechnen habe, daß der Krieg
nicht grimmiger geworden iſt und daß die
mehr bittern und unverantwortlichen An—
griffsformen ſo ſchnell verſchwanden.
Ich ſpreche von dieſer Periode wie
von einer vergangenen und begrabenen,
weil ich daran nur ein hiſtoriſches, faſt
hätte ich geſagt: antiquariſches Intereſſe
habe. Denn während der zweiten Exiſtenz—
dekade des „Urſprungs der Arten“ nahm
die Oppoſition, obwohl keineswegs er—
loſchen, ein verſchiedenes Ausſehen an.
Auf ſeiten aller derer, die einige Urſache
hatten, ſich ſelbſt zu achten, gewann ſie
Rosmos, IV. Jahrg. Heft 4.
250
einen durchaus reſpektvollen Charakter.
Zu dieſer Zeit begann auch der Dümmſte
einzuſehen, daß das Kind keine Neigung
hatte, an angeborner Schwäche oder einer
Kinderkrankheit zugrunde zu gehen, viel—
mehr zu einer tapfern Perſönlichkeit aus—
gewachſen war, für welche bloßes gutes
Schelten oder Drohen mit der Birkenrute
weggeworfene Mühe war.
In der That, diejenigen, welche den
Fortſchritt der Wiſſenſchaft in den letzten
zehn Jahren beobachtet haben, werden mir
völlig beiſtimmen, wenn ich verſichere, daß
es kein Feld der biologiſchen Unterſuchung
giebt, auf welchem der Einfluß des „Ur—
ſprungs der Arten“ nicht verfolgbar wäre;
die erſten Männer der Wiſſenſchaft in je—
dem Lande ſind entweder ausgeſprochene
Kämpfer für ſeine leitenden Doktrinen oder
enthalten ſich doch in jeder Weiſe, ihnen
Oppoſition zu machen; eine Schar von
jungen und glühenden Forſchern ſtrebt
vorwärts und ſucht Anregung und Füh—
rung in Darwins großem Werke; und die
allgemeine Lehre der Entwicklung findet
in den Erſcheinungen der Biologie eine
feſte Operationsbaſis, von der ſie ihre Er—
oberungen über das geſammte Reich der
Natur ausdehnen kann.
Die Geſchichte warnt uns indeſſen,
daß es das gewöhnliche Schickſal neuer
Wahrheiten iſt, als Ketzereien zu beginnen
und als Aberglauben zu enden; und wie
die Dinge jetzt ſtehen, iſt es kaum vor—
ſchnell, zu prophezeien, daß in weiteren
zwanzig Jahren die neue, unter dem Einfluß
des heutigen Tages erzogene Generation
in Gefahr ſein wird, die Hauptlehren des
„Urſprungs der Arten“ mit ebenſo gerin—
gem Nachdenken und vielleicht mit ebenſo—
wenig Urteil aufzunehmen, wie ſo manche
T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie.
unſerer Zeitgenoſſen ſie vor zwanzig Jah—
ren verwarfen.
Gegen ein ſolches Ende wollen wir Alle
dringende Wünſche richten; denn der wiſ—
ſenſchaftliche Geiſt iſt von höherem Wert
als ſeine Erzeugniſſe, und durch Unver—
nunft geſtützte Wahrheiten ſind verhäng—
nisvoller als mit Vernunft verteidigte Irr—
tümer. Heut iſt das Weſen des wiſſen—
ſchaftlichen Geiſtes Kritik. Sie ſagt uns,
daß, zu welcher Lehre auch unſer Anlauf
führe, wir antworten müſſen: „Nimm ſie
an, wenn du ſie bewältigen kannſt.“ Der
Daſeinskampf gilt nicht weniger in der
intellektuellen als in der phyſiſchen Welt.
Eine Theorie iſt eine Denkſpezies und ihr
Exiſtenzrecht geht hand in hand mit ihrem
Vermögen, der Ausrottung durch ihre
Gegner zu widerſtehen.
Von dieſem Geſichtspunkte aus ſcheint
mir, daß es nur ein ärmlicher Weg ſein
würde, die Großjährigkeit des „Urſprungs
der Arten“ zu feiern, wollte ich nur bei den
Thatſachen ſeiner weitreichenden Wirkung
und des großen Gefolges eifriger Schüler
weilen, die beſtrebt ſind, die Lehre fort—
zuentwickeln und ſie auszubreiten. Laßt uns
vielmehr jenen wunderbaren Meinungsum—
ſchwung erſuchen, ſich ſelbſt zu rechtfertigen;
laßt uns unterſuchen, ob ſich irgendetwas
ſeit 1859 ereignet hat, welches mit ver—
nünftigen Gründen erklären kann, warum
ſo viele anbeten, was ſie verbrannt haben,
und verbrennen, was ſie anbeteten. Auf
dieſem Wege allein können wir die Mittel
erwerben, zu beurteilen, ob die wahrge—
nommene Bewegung ein bloßer Wirbel
der Mode iſt oder ob ſie wirklich eins iſt
mit dem unwiderſtehlichen Strom des gei—
ſtigen Fortſchrittes und gleich ihm ſicher
| vor rückſchrittlicher Reaktion.
|
75
T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie.
Jeder Glaube iſt das Produkt zweier
Faktoren: der erſte iſt der Zuſtand des
Verſtandes, dem der Beweis zu gunſten
jenes Glaubens dargeboten wird; der
zweite iſt die zwingende Logik des Bewei—
ſes ſelbſt. Nach beiden Richtungen ſcheint
mir die Geſchichte der biologiſchen Wiſſen—
ſchaften eine ausführliche Erklärung der
während der letzten zwanzig Jahre vor—
gegangenen Veränderung zu erheiſchen;
Axioms
eine kurze Betrachtung der hervorragend
ſten Ereigniſſe dieſer Geſchichte wird uns be= |
fähigen, zu verſtehen, warum der „Ur—
ſprung der Arten“, wenn er heute erſchiene,
einer von der ihm 1859 bereiteten ganz
verſchiedenen Aufnahme beg gegnen würde.
Vor einundzwanzig Jahren war trotz
des von Hutton begonnenen und von
Lyell mit ſeltener Kenntnis und Geduld
fortgeſetzten Werkes die herrſchende Auf—
faſſung der Urgeſchichte der Erde der Ka—
taſtrophentheorie zugeneigt. Große und
plötzliche phyſiſche Revolutionen, groß—
artige Schöpfungen und Austilgungen le—
bender Weſen bildeten die übliche Ma—
ſchinerie des durch das falſch gebrauchte
Genie Cuviers in Mode gekommenen
geologiſchen Epos. Es wurde nachdrück—
lich behauptet und gelehrt, daß das Ende
jeder geologiſchen Epoche durch einen Um—
ſturz bezeichnet geweſen ſei, durch welchen
jedes lebende Weſen von der Erdkugel
weggefegt wurde, um durch eine funkel—
nagelneue Schöpfung erſetzt zu werden,
wenn die Welt wieder zur Ruhe gekom—
men war. Ein Naturſchema, das anſchei—
nend nach dem Bilde einer Folge von
Whiſtrobbers, mit wechſelnden und nach
jedem Robber die Karten zuſammenwer-
fenden Spielern, modellirt war, ſchien nie—
mand vor den Kopf zu ſtoßen.
|
251
Ich mag mich täuſchen, aber ich be—
zweifle, daß in der Jetztzeit noch eine klare
Vorſtellung von dieſen aufgegebenen Mei—
nungen vorhanden iſt. Der Fortſchritt der
wiſſenſchaftlichen Geologie hat das Fun—
damentalprinzip des Uniformitarianismus,
nach welchem die Erklärung des Vergan—
genen in dem Studium des Gegenwärtigen
geſucht werden muß, zu dem Range eines
erhoben; und die wilden Speku—
lationen der a er denen wir
alle vor einem Vierteljahrhundert mit Ehr—
furcht lauſchten, würden am heutigen Tage
kaum einen einzigen geduldigen Zuhörer
finden. Kein beobachtender Zoologe denkt
im Traume daran, die Erklärung irgend—
eines vor Millionen von Jahren geſchehe—
nen Ereigniſſes außerhalb der Ordnung
bekannter natürlicher Urſachen zu ſuchen,
ebenſowenig als er ſich der gleichen Ab—
ſurdität in Hinblick auf laufende Ereig—
niſſe ſchuldig machen möchte.
Die Wirkung dieſes Meinungsum—
ſchwunges auf die biologische Spekulationiſt
klar. Denn wenn es keine allgemeinen pe—
riodiſchenNaturkataſtrophen gegeben hat —
was veranlaßte die angenommenen allge—
1 Austilgungen und Neuſchöpfungen
des Lebens, welche die entſprechenden bio—
logiſchen Kataſtrophen darſtellen? Und
wenn derartige Unterbrechungen des ge—
wöhnlichen Laufes der Natur weder in
der organiſchen noch in der unorganiſchen
Welt ſtattfanden, welche Alternative iſt da
für die Annahme der Evolutionstheorie?
Die Evolutionstheorie iſt in der Bio—
logie das notwendige Ergebnis von der
logiſchen Anwendung der Grundſätze des
Uniformitarianismus auf die Erſcheinun—
gen des Lebens. Darwin iſt der natür—
liche Nachfolger von Hutton und Lyell,
252
und der „Urſprung der Arten“ die natür—
liche Folge der „Prinzipien der Geologie“.
Die Grundlehre des „Urſprungs der
Arten“ wie aller Formen der auf die Bio—
logie angewendeten Evolutionstheorie iſt,
„daß alle die zahlloſen Arten, Gattungen
und Familien organiſcher Weſen, von
denen die Welt bevölkert wird, jede in
ihrer beſondern Klaſſe oder Gruppe,
von gemeinſamen Eltern abſtammen und
alle im Laufe der Zeiten abgeändert wor—
den ſind.““)
Und in Hinblick auf die Thatſachen
der Geologie folgt, daß alle lebenden Tiere
und Pflanzen „die geraden Abkömmlinge
derjenigen ſind, welche lange vor der Si—
lurepoche lebten.“ ““)
Es iſt eine klare Folge dieſer Theorie
der „Abſtammung mit Abänderung“, wie
ſie mitunter genannt wird, daß alle Pflan—
zen, und Tiere, wie verſchieden ſie auch
jetzt ſein mögen, in der einen oder andern
Zeit durch direkte oder indirekte Mittel—
ſtufen mit einander verbunden geweſen
und daß der von verſchiedenen Gruppen
organiſcher Weſen dargebotene Anſchein
von Iſolirung unwirklich ſein muß.
Kein Teil von Darwins Werk wi—
derſprach direkter den Voreingenommen—
heiten der Naturforſcher vor zwanzig Jah—
ren, als dieſer. Und ſolche Voreingenom—
menheiten waren ſehr entſchuldbar, denn
zu jener Zeit ließ ſich unzweifelhaft ſehr
viel anführen zu gunſten der Konſtanz der
Arten und des Vorhandenſeins großer
Lücken zwiſchen den verſchiedenen Grup-
pen der organiſchen Weſen, zu deren Aus—
füllung keine Wahrſcheinlichkeit vorhan—
den war.
*) Darwin, erſte engl. Aufl., p. 457.
**) Ebendaſ., p. 458.
T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie.
Aus verſchiedenen Gründen, wiſſen—
ſchaftlichen und unwiſſenſchaftlichen, iſt
ſehr viel aus der Kluft zwiſchen dem Men—
ſchen und dem Reſte der höheren Säuge—
tiere gemacht worden, und es iſt kein
Wunder, daß die Entſcheidung ſich zuerſt
an dieſen Punkt der Kontroverſe knüpfte.
Ich habe kein Verlangen, vergangene und
glücklich vergeſſene Kontroverſen zu er—
neuern, aber ich muß die einfache That—
ſache feſtſtellen, daß die Unterſchiede im
Gehirn und anderen Charakteren, von de—
nen man 1860 ſo hitzig verſichert hat, daß
ſie den Menſchen von allen Tieren trennten,
ſämmtlich als nicht vorhanden erwieſen
worden und die entgegengeſetzte Doktrin
jetzt allgemein angenommen und gelehrt
wird.
Aber es gab andere Fälle, bei denen
der weite Riß im Körperbau zwiſchen der
einen Tiergruppe und der andern durch—
aus nicht künſtlich eingebildet war; und
ſolchen wirklich vorhandenen Lücken in der
Organiſation konnte Darwin einzig durch
die Annahme rechnung tragen, daß die
Übergangsformen, welche einſt exiſtirt
hätten, untergegangen ſeien. In einer
bemerkenswerten Stelle *) jagt er:
„Wir mögen ſogar der Verſchieden—
heit ganzer Klaſſen von einander — z. B.
der Vögel von allen anderen Wirbeltieren
— durch den Glauben rechnung tragen,
daß viele tieriſche Lebensformen gänzlich
verloren gegangen ſind, durch welche die
erſten Urzeuger der Vögel mit den erſten
Urzeugern der Wirbeltierklaſſen früher
verbunden geweſen ſind.“
Gegneriſche Kritiken machten ſich lu—
ſtig über derartige Folgerungen. Ohne
Zweifel war es leicht, durch angenomme—
) A. a. O., S. 431.
—
T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. 253
nes Ausſterben ſich aus der Schwierigkeit
zu ziehen; aber wo war der leiſeſte Be—
weis, daß ſolche Mittelformen zwiſchen
Vögeln und Reptilien, wie ſie die Hypo—
theſe erforderte, jemals exiſtirt hatten?
Und darauf folgte wahrſcheinlich eine Ti—
rade über dieſes ſchreckliche Verlaſſen der
Fußtapfen Baconiſcher Induktion.
Aber der Fortſchritt der Erkenntnis
hat Darwin bis zu einem Grade gerecht—
fertigt, welcher ſchwerlich vorausgeſehen
werden konnte. Im Jahre 1862 wurde
das Exemplar des Archaeopteryx, wel—
ches bis vor zwei oder drei Jahren das
einzige geblieben war, entdeckt und erwies
ſich als ein Tier, welches in ſeinen Federn
und dem größern Teil feiner Organiſation
ein wahrer Vogel iſt, während es in an—
deren Punkten ein entſchiedenes Reptil iſt.
Im Jahre 1875 vervollſtändigte die
Entdeckung der gezähnten Vögel der nord—
amerikaniſchen Kreideformation durch Pro—
feſſor Marſh die Reihe der Übergangs—
formen zwiſchen Vögeln und Reptilien und
verſetzte Darwins Behauptung, daß
„viele tieriſche Lebensformen gänzlich ver—
loren gegangen ſind, durch welche die er—
ſten Urzeuger der Vögel mit den erſten
Urzeugern der andern Wirbeltierklaſſen
früher verbunden geweſen find“, aus dem
Bereiche der Hypotheſe in das der bewie—
ſenen Thatſache.
Im Jahre 1859 ſchien eine ſehr ſcharfe
und klare Lücke zwiſchen Wirbelloſen und
Wirbeltieren vorhanden zu ſein, und zwar
nicht allein in ihrem Bau, ſondern, was
ſchwerwiegender war, in ihrer Entwick—
lung. Ich meine nicht, daß wir jetzt ſchon
die genauen Verwandtſchaftsketten zwiſchen
beiden kennen, aber die Unterſuchungen
Kowalewskys und anderer über die
Entwicklung des Lanzetttieres und der
Manteltiere beweiſen über allen Zweifel,
daß die Verſchiedenheiten, welche eine förm—
liche Barriere zwiſchen beiden bilden ſoll—
ten, nicht vorhanden ſind. Es iſt nun nicht
länger eine Schwierigkeit vorhanden, um
zu verſtehen, wie der Wirbeltiertypus aus
dem der Wirbelloſen entſtanden ſein mag,
wenn auch der volle Beweis der Art und
Weiſe, in welcher der Übergang thatſäch—
lich bewirkt wurde, noch fehlen mag.
Andererſeits ſchien im Jahre 1859
eine nicht weniger ſcharfe Trennungslinie
zwiſchen den beiden großen Gruppen der
blühenden und blütenloſen Pflanzen vor—
handen zu ſein. Einzig infolge der von
Hofmeiſter begonnenen Reihe wertvoller
Unterſuchungen ſind die außerordentlichen
und ganz unerwarteten Abänderungen des
Geſchlechtsapparates bei den Lycopodia—
ceen, Rhizokarpeen und Gymnoſpermen
ans Licht gekommen, durch welche die
Mooſe und Farne ſchrittweiſe mit der
phanerogamiſchen Abteilung der vegetabi—
liſchen Welt verbunden worden ſind.
Ebenſo haben wir erſt ſeit dem Jahre
1859 jenen Kenntnisreichtum von den
niederſten Formen des Lebens erworben,
der die Vergeblichkeit eines jeden Verſuches
zeigt, die niederſten Pflanzen von den nie—
derſten Tieren zu trennen, und beweiſt,
daß die beiden Reiche der lebenden Natur
ein gemeinſames Grenzland beſitzen, wel—
ches entweder beiden oder keinem angehört.
Es wird demnach bemerkt werden, daß
die geſammte Tendenz der biologiſchen
Unterſuchungen ſeit 1859 ſich in der Rich—
tung bewegt hat, die Schwierigkeiten zu
entfernen, welche die ſcheinbaren Unter—
brechungen der Reihen zu jener Zeit ſchu—
fen; und die Anerkennung der Abſtufung
254
ift der erſte Schritt zur Annahme der
Evolutionstheorie.
Als einen andern großen Faktor in
der Hervorbringung des Meinungsum—
ſchwungs, der unter den Naturforſchern
platzgegriffen hat, betrachte ich den er—
ſtaunlichen Fortſchritt, der im Studium
der Entwicklungsgeſchichte gemacht worden
iſt. Vor zwanzig Jahren entbehrten wir
nicht allein einer genauen Kenntnis des
Entwicklungsmodus vieler Gruppen der
Pflanzen und Tiere, ſondern auch die Un—
terſuchungsmethoden waren roh und un—
vollkommen. Zur gegenwärtigen Zeit giebt
es keine wichtige Gruppe von organiſchen
Weſen, deren Entwicklung nicht ſorgſam
ſtudirt worden wäre, und die modernen
Methoden der Härtung und Verfertigung
von Durchſchnitten befähigen den Embryo—
logen, die Natur des Vorgangs in jedem
Falle mit einem Grade von Vollendung
und Genauigkeit zu beſtimmen, der für
diejenigen, deren Gedächtnis ſie rückwärts
zu den Anfängen der neueren Hiſtologie
geleitet, wahrhaft erſtaunlich iſt. Und die
Ergebniſſe dieſer embryologiſchen Unter—
ſuchungen ſind in voller Harmonie mit den
Erforderniſſen der Evolutionslehre. Die
erſten Anfänge aller höheren Formen des
tieriſchen Lebens ſind einander ähnlich,
und wie ſehr immer die Verhältniſſe ihres
erwachſenen Zuſtandes abweichen, ſo gehen
ſie doch von gemeinſamer Grundlage aus.
Und zwar iſt der Entwicklungsprozeß der
Pflanze oder des Tieres von ihrem erſten
Ei- oder Keimzuſtande an ein wahrer Evo—
lutionsprozeß — ein Fortſchritt von faſt
formloſer zu mehr oder weniger hoch or—
ganiſirter Materie, kraft der dieſer Materie
einwohnenden Eigenſchaften.
Denjenigen, welche mit dem Prozeß
T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie.
der Entwicklung vertraut ſind, erſcheinen
alle A-priori-Einwürfe gegen die Theorie
der Evolution des Lebens kindiſch. Wer
irgend einmal die ſtufenweiſe Bildung eines
| zuſammengeſetzten Tieres aus der Proto—
plasmamaſſe, die den weſentlichen Be—
ſtandteil des Froſch- und Hühnereies dar—
ſtellt, verfolgt hat, hatte hinreichende Be—
weiſe dafür vor ſeinen Augen, daß eine
ähnliche Entwicklung der Tierwelt von der
gleichen Grundlage aus in irgend einer
Weiſe möglich iſt.
Noch ein anderes Forſchungsergebnis
hat reichlich beigetragen zu der Beſeitigung
der im Jahre 1859 landläufigen Einwürfe
gegen die Evolutionstheorie. Nämlich der
durch allmähliche Unterſuchungen gelieferte
Beweis, daß Darwin die Unvollkommen—
heit des geologischen Berichtes nicht über—
ſchätzt hat. Wir bedürfen keiner ſchlagen—
deren Illuſtration hierfür, als eine Ver—
gleichung unſerer Kenntnis der tertiären
Säugetierfauna mit derjenigen von 1859.
Gaudrys Unterſuchungen der Foſſilien
von Bifermi wurden1868 veröffentlicht, die—
jenigen von Leidy, Marſh und Cope
über die Foſſilien der weſtlichen Gebiete
Nordamerikas ſind faſt gänzlich erſt ſeit
1870 erſchienen, diejenigen von Filhol
über die Phosphorite von Quercy 1878.
Die allgemeine Wirkung dieſer Unterſu—
chungen iſt geweſen, uns eine Mannigfal—
tigkeit von ausgeſtorbenen Tieren zuzufüh—
ren, deren Exiſtenz vorher kaum vermutet
wurde, gerade als wenn Zoologen mit
einem bisher unentdeckten Lande bekannt
geworden wären, welches ſo reich an neuen
Lebensformen iſt, wie Braſilien und Süd—
afrika einſt den Europäern entgegentraten.
In der That, die foſſile Fauna der weſt—
lichen Gebiete Nordamerikas ſchickt ſich
—
T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. 255
durch ihren Reichtum an, an Intereſſe und
Wichtigkeit diejenigen aller anderen ter—
tiären Ablagerungen zuſammengenommen
zu überbieten; dabei haben ſich dieſe Un—
terſuchungen, mit Ausnahme derjenigen
in den amerikaniſchen Tertiärſchichten, nur
über ſehr beſchränkte Gebiete erſtreckt, und
zu Pikermi waren fie auf einen äußerſt
engen Raum begrenzt.
Die erwähnten ſcheinen mir die Haupt—
ereigniſſe in der Geſchichte des Wiſſens—
fortſchrittes der letzten zwanzig Jahre zu
ſein, welche für das veränderte Empfinden
in betracht kommen, mit welchem die Evo—
lutionslehre gegenwärtig von denen be—
trachtet wird, die dem Fortſchritte der bio—
logischen Wiſſenſchaft in denjenigen Pro—
blemen gefolgt ſind, die indirekt auf jene
Lehre Bezug haben.
Aber alles dies bleibt nur ſekundärer
Beweis. Er mag Widerſpuch entfernen,
aber keine Zuſtimmung erzwingen. Pri—
märer und direkter Beweis kann nur von
der Paläontologie geliefert werden. Der
geologiſche Bericht muß, ſobald er ſich der
Vollſtändigkeit nähert, wenn er auf ge—
eignete Weiſe befragt wird, entweder eine
bejahende oder eine verneinende Antwort
geben. Wenn Evolution ſtattgefunden hat,
wird ſie dort ihre Spur gelaſſen haben;
wenn ſie nicht ſtattgefunden, wird ſie dort
ihre Widerlegung finden.
Welches war der Stand der Dinge
im Jahre 1859? Laßt uns Darwin ſelbſt
hören, bei em man ſtets verſichert ſein
kann, das gegen ihn Sprechende ſo ſtark
als möglich zu hören.
„Warum iſt bei dieſer Lehre von der
Austilgung einer Unendlichkeit von ver—
bindenden Gliedern zwiſchen den lebenden
und ausgeſtorbenen Bewohnern, und in
jeder folgenden Periode zwiſchen den er—
loſchenen und noch älteren Arten, nicht
jede geologiſche Formation mit ſolchen
Bindegliedern erfüllt? Warum liefert
nicht jede Sammlung foſſiler Überreſte
vollen Beweis für die Abſtufung und Ver—
änderung der Lebensformen? Wir begeg—
nen einem ſolchen Beweiſe nicht, und dies
tft der deutlichſte uud plauſibelſte von den
vielen Einwürfen, die gegen meine Theorie
vorgebracht werden können.““)
Nichts konnte für die Oppoſition ver—
wendbarer ſein, als dieſes charakteriſtiſche
offene Geſtändnis, unmittelbar verflochten
mit einer Anerkennung, daß die Anſich—
ten des Verfaſſers durch die Thatſachen
der Paläontologie widerlegt würden. Aber
thatſächlich machte Darwin ein ſolches
Zugeſtändnis nicht. Was er in Wirklich—
keit ſagte, iſt nicht, daß der paläontologi—
ſche Beweis gegen ihn ſei, ſondern daß
er nicht entſchieden zu ſeinen Gunſten ſei,
und ohne zu verſuchen, die Thatſache ab—
zuſchwächen, rechnet er dabei auf die
Mangelhaftigkeit und Unvollkommenheit
jenes Beweiſes.
Welches iſt der Stand dieſer Ange—
legenheit jetzt, nachdem der Zuwachs un—
ſerer Kenntnis hinſichtlich der tertiären
Säugetiere auf das Fünfzigfache geſtiegen
iſt und ſich in manchen Richtungen ſogar
der Vollſtändigkeit nähert?
Einfach der, daß, wenn die Evolutions—
lehre nicht bereits exiſtirte, die Paläonto—
logen ſie erfunden haben müßten, ſo un—
widerſtehlich wird ſie durch das Studium
der Überreſte der ſeit 1859 ans Licht ge—
brachten tertiären Säugetiere dem Ver—
ſtande aufgezwungen.
Unter den Foſſilien von Pikermi fand
) A. a. O,, S. 463.
256
—
T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie.
Gaudry die aufeinanderfolgenden Stu: ſend Wegen modifizirt worden; Raſſen
fen, durch welche die alten Zibethkatzen | haben ſich erhoben, welche, ſich befeſtigend,
in die mehr modernen Hyänen übergingen;
auf dieſe Weiſe eine entſprechende Zahl
durch die tertiären Ablagerungen des weſt— | ſekundärer Arten hervorgebracht haben.“
lichen Amerika verfolgte Marſh die Spur |
der aufeinanderfolgenden Formen, durch
welche der alte Grundſtamm des Pferdes
in feine jetzige Form übergegangen iſt,
unzählige weniger vollſtändige Nach—
weiſe des Entwickelungsmodus anderer
Gruppen der höheren Säugetiere ſind er—
halten worden.
In der wertvollen Abhandlung über
die Phosphorite von Querey, auf welche
ich hingewieſen habe, beſchreibt Filhol
nicht weniger als ſiebzehn Varietäten der
Gattung Cynodictis, welche den ge—
ſammten Zwiſchenraumzwiſchen denZibeth—
katzen und dem bärenartigen Hunde Am—
phicyon ausfüllen; auch weiß ich keinen
ſoliden Grund zu einem Einwurf gegen
die Annahme, daß wir in dieſer Cy—
nodictis-Amphicyon-Gruppe den ge—
ſammten Grundſtock beſitzen, aus welchem
alle Zibethkatzen, Katzen, Hyänen und
Hunde und vielleicht auch die Waſchbären
und Bären hervorgegangen ſind. Im Ge—
genteil, es läßt ſich ſehr viel zu ihren Gun—
ſten ſagen. Im Laufe ſeiner Schlußfol—
gerungen bemerkt Fil hol:
„Während der Epoche der Phospho—
rite fand ein großer Wechſel in den tie—
riſchen Formen ſtatt, und faſt dieſelben
Typen, welche heute exiſtiren, wurden von
einander geſondert.
„Unter dem Einfluſſe natürlicher Be—
dingungen, von denen wir keine genaue
Kenntnis haben, wenn auch Spuren von
ihnen erkennbar ſind, ſind Arten auf tau—
Im Jahre 1859 wurde eine Sprache,
von der das Vorſtehende eine unabſicht—
liche Umſchreibung iſt, wo ſie im Urſprung
der Arten vorkam, als wilde Spekulation
verſpottet: jetzt iſt ſie eine nüchterne Dar-
ſtellung der Schlüſſe, zu denen ein ſcharf—
ſinniger und kritiſch geſtimmter Forſcher
durch umfaſſendes und geduldiges Studium
der Thatſachen der Paläontologie geleitet
wird. Ich wage zu wiederholen, was ich
ſchon oben geſagt habe, daß die Evolution,
ſoweit ſie die tieriſche Welt angeht, nicht
länger ein Spekulation, ſondern die Feſt—
ſtellung eines hiſtoriſchen Faktums iſt.
Sie nimmt ihren Platz an der Seite jener
angenommenen Wahrheiten, denen die Phi—
loſophen aller Schulen Rechnung zu tra—
gen haben.
Wenn alſo am erſten Tage des näch—
ſten Oktobers der „Urſprung der Arten“
in das Alter der Großjährigkeit tritt, wer—
den die Verſprechungen ſeiner Jugend reich
erfüllt ſein; und wir werden gerüſtet ſein,
dem verehrten Verfaſſer des Buches zu gra—
tuliren, nicht allein dazu, daß die Größe ſei—
nes Werkes und ſein dauernder Einfluß
auf den Fortſchritt der Wiſſenſchaft ihm
einen Platz neben unſerem Harvey er—
worben haben; ſondern noch mehr dazu, daß
er gleich Harvey lange genug gelebt hat,
um Verleumdung und Widerſpruch zu über—
dauern und den Stein, welchen die Bau—
leute verwarfen, zum Grundſtein des Baues
werden zu fehen.*)
*) Nature, Vol. XXIII, N. 549, 1880.
Skizzen aus der Eutwicklungsgeſchichte der Entwick-
lungsgeſchichte.“
Von
Ernſt Krauſe.
N ährend Ad. Wurtz einſt
mit geringer Berechtigung
E ausrief, die Chemie ſei
eine franzöſiſche Wiſſen—
ſchaft, ſo kann man mit
f vollſtem Recht von der
Entwicklungsgeſchichte ſagen, ſie ſei eine
deutſche Wiſſenſchaft, denn die geſammte
Grundlage nebſt dem Aufbau iſt deut—
ſchem Fleiße zu danken. Zwar glaubte
Kaspar Friedrich Wolff, der Grün—
der dieſer Wiſſenſchaft, an das Buch des
Ariſtoteles über die Entſtehung der Tiere
anknüpfen zu ſollen, in welchem jener die
Ewigkeit der Individuen leugnete und be—
hauptete, ſie entſtänden durch eine aufein—
anderfolgende Neubildung (Epigenesis)
aller ihrer Teile, allein dieſe wahre Er—
kenntnis gründete ſich mehr auf logiſches
Denken als auf ausreichende Beobachtung
und mußte erſt von deutſchen Forſchern
*) In dieſen „Skizzen“ wird nur die aus—
führlichere Schilderung einiger Epiſoden beab—
ſichtigt, während für die zuſammenhängende Dar—
= == *
I.
im harten Kampfe der Wiſſenſchaft wieder—
gewonnen und zum unveräußerlichen Eigen—
tum erworben werden.
Das Studium der Entwicklungsge—
ſchichte hat gleich bei ſeiner erſten Wieder—
aufnahme durch Fabricius ab Aqua—
pendente (um 1600) dadurch Schiffbruch
gelitten, daß es bei den denkbar ſchwierig—
ſten Objekten, dem menſchlichen Fötus und
dem Hühnerei, begonnen wurde und daß
man, ſtatt den Vorgang an dem Keim
niederer Tiere zu beobachten, wo man ein—
fachere Verhältniſſe angetroffen hätte, aus
Bequemlichkeitsrückſichten immer wieder
zum Hühnerei griff, weil man es jederzeit
in jedem Bebrütungsſtadium haben konnte.
Die ſich hierbei dem Blicke darbietenden
komplizirteren Verhältniſſe boten keine ge—
eignete Handhabe zur Widerlegung und
Beſeitigung einiger durch Ariſtoteles
ſelbſt verſchuldeten wilden Spekulationen
ſtellung auf die ausgezeichnete hiſtoriſche Ueberſicht
in den Eingangskapiteln von Haeckels Anthro—
pogenie verwieſen wird.
Komos, IV. Jahrg. Heft 4.
33
— ———
258
und Theorien über die elternloſe Zeugung
von Tieren und Pflanzen, und infolge
deſſen blieb die geſammte Entwicklungs—
geſchichte lange ein bloßer Spielball der
einander ablöſenden philoſophiſchen Sy—
ſteme und Träumereien.
Den Standpunkt der Ratloſigkeit in
dieſen Dingen malt uns im ſiebzehnten
Jahrhundert das Verhalten des großen
Harvey, der in ſeinem epochemachenden
Werke über die Erzeugung der Tiere die
Möglichkeit einer doppelten Entſtehungs—
weiſe, 1) durch Verwandlung (Metamor—
phosis) und 2) durch Neubildung (Epi—
genesis) zugab, die erſtere für die niederen,
die andere für die höheren Tiere. In dem—
ſelben Geiſte vertrugen ſich alſo die ein—
ander diametral gegenüberſtehenden Theo—
rien des ewigen Seins und des Werdens,
die des achtzehnten und die des neunzehn—
ten Jahrhunderts noch mit einander, wie in
irgend einer foſſilen Form noch die Ge—
ſtalten divergirender Entwicklungswege
verſchmolzen ruhen. Ebendeshalb kann er
aber auch weder als der Verkünder der
einen noch der andern Theorie gelten, ob—
wohl er beide ſehr klar unterſchied.
„Wir haben gefunden,“ ſchreibt er!),
„daß etwas ſowohl in der Kunſt als in
der Natur auf zweierlei Weiſe entſtehen
kann, erſtens aus einem bereits vorhande—
nen Stoffe, wie ein Bettgeſtell aus Holz,
eine Bildſäule aus Stein, wenn nämlich
der geſammte Stoff des künftigen Baus
ſchon vorhanden iſt, ehe dieſer feine Ge-
ſtalt erlangt hat, oder bevor das Werk
angefangen wurde. Die zweite Art iſt,
wenn der Stoff zugleich mit der Geſtal—
tung auch entſteht. Nach der erſten Art
*) De Generatione Animalium Exer-
eit. XLV.
Ernſt Krauſe, Eutwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
bearbeitet der Künſtler den vorhandenen
Stoff, er nimmt das überflüſſige weg und
zuletzt bleibt die Bildſäule übrig. Nach
der zweiten Manier verfertigt z. B. ein
Töpfer ein gleiches Bild wie der Bild—
hauer, aus Thon, indem er immermehr
von dem Material hinzufügt und ihm ſeine
Geſtalt giebt, wobei er das Material zu—
gleich zubereitet und das Bild macht, ſtatt
es herauszubilden. Eine gleiche Bewandt—
nis hat es mit der Zeugung der Tiere.
Einige werden aus einem ſchon fertigen
Stoffe vollends gebildet und aus einer
Geſtalt in die andere umgewandelt, und
alle Teile werden gleichzeitig durch eine
Verwandlung geboren und unterſchieden,
woraus dann ein vollkommnes Tier her—
vorgeht. Andere Tiere hingegen, bei denen
ein Teil nach dem andern gebildet wird,
werden darnach aus demſelben Stoffe zu—
gleich ernährt, vergrößert und gebildet.
Der Aufbau dieſer Tiere geht von einem
deſſelben erhält das Tier auch die übrigen
Glieder. Von ſolchen Tieren ſagen wir,
daß ſie durch Hinzufügung der Teile (Epi—
genesis) nach und nach entſtehen; es wird
nämlich ein Teil nach dem andern hervor—
gebracht, und das verſteht man eigentlich
unter einer Geburt oder Zeugung, wenn
ein Teil eher da iſt als der andere.
„In der erſten Weiſe findet die Zeu—
gung der Inſekten ſtatt. Hier wird durch
eine Verwandlung (Metamorphosis) ein
Wurm aus einem Ei geboren, oft werden
auch aus einem verfaulenden oder ver—
gehenden Stoffe, wo eine Feuchtigkeit aus?
trocknet oder eine trockene Maſſe feucht
wird, die urſprünglichen Weſen erzeugt.
Daraus wird, wie aus einer Raupe, wenn
ſie zu ihrer vollen Größe gelangt iſt, oft-
Anfangsteile aus und durch Vermittlung
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 259
mals auch aus einer Puppe, durch eine
Verwandlung ein Schmetterling oder eine
Fliege in ihrer vollen Größe geboren.
Sie wird ſeit ihrem erſten Hervorkommen
nicht im geringſten größer. Vollkommnere
Tiere aber, die Blut haben, werden durch
eine Hinzufügung der Teile (Epigenesis)
geboren, nach der Geburt werden ſie auch
größer . . . Man bezeichnet die Bienen,
Bremſen, Schmetterlinge und alle diejeni—
gen, die aus einer Raupe durch Metamor—
phoſe entſtehen, als ſolche Tiere, die durch
Selbſtzeugung entſtehen und ihr Geſchlecht
nicht erhalten. Aber ein Löwe oder ein
Hahn entſtehen niemals durch Selbſtzeu—
gung, ſetzen vielmehr ein Etwas voraus,
welches ſeinesgleichen als Art erzeugt und
den Stoff zu ſeiner Hervorbringung liefert.
In der Hervorbringung durch Verwand—
lung (Metamorphosis) erhalten die Tiere
eine Geſtalt wie durch ein eingedrücktes
Siegel, oder eine ſchon vorher fertige
Form, das geſammte Weſen wird verän—
dert. Ein ſolches Tier hingegen, welches
durch Hinzufügung der Teile (Epigenesis)
fortgepflanzt wird, zieht den Stoff zugleich
heran, bereitet und verbraucht denſelben,
indem es feine Geſtalt erhält und wächſt. .“
So hatte alſo Harvey das richtige
in bezug auf die Entſtehung der Wirbel—
tiere erkannt, nur hinſichtlich der niederen
Tiere, über deren Entſtehungsweiſe eine
Menge Märchen umliefen, unterlag auch
er dem allgemeinen Irrtum. Die Entwick—
lung dieſer Tiere wurde nun damals durch
einen der geſchickteſten Zergliederer aller
Zeiten, durch Johann Swammerdam
(16371685), zum Gegenſtande eines
eindringlichen und erfolgreichen Studiums
gemacht. Durch einen beſondern Kunſt—
griff, indem er nämlich die beginnende
Verpuppung abwartete und die Raupe
abhäutete, wenn ſie bereits aufgehört
hatte, zu freſſen, gelang es ihm, den
Schmetterling nicht nur in der Puppe,
ſondern ſogar ſchon in der Raupe nachzu—
weiſen, und nachdem er auch die Raupe
im Ei vorgebildet geſehen zu haben glaubte,
rief er entzückt: „Um in zwei Worten eine
Meinung zu äußern, ich glaube, daß es
gar keine wahre Erzeugung in der Natur
giebt und noch viel weniger eine zufällige
Entſtehung; ſondern die Entſtehung der
Weſen iſt nur eine Enthüllung ihrer ſchon
exiſtirenden Keime.“
Man ſieht leicht, wie ihn die von
Harvey betonte Umwandlung dieſer Tiere
in ihrer geſammten Weſenheit, das plötz—
liche Hervorgehen eines in allen ſeinen
Teilen neuen Weſens täuſchte. Er begann
nun, dieſelbe Metamorphoſe in allen Natur—
weſen zu ſuchen. In dem ſchwarzen Pünkt—
chen des befruchteten Froſchlaichs ſah er
bereits die fertige Kaulquappe, und auch
der Menſch kröche als Räupchen aus einem
Ei, verpuppe ſich dann in allerlei Hüllen,
aus denen er ſchließlich hervorkomme,
„ebenſo wie ein gehäutetes Haft oder
Schillebold die Mutter (verläßt), um ein
neues Leben und neue Nahrung anzuneh—
men . . . Doch kommt dieſes elende Ge—
ſchöpf (d. h. der Menſch) dem Glück des
Hafts oder des Schillebolds bei weitem
nicht bei. Denn dieſe werden in einem
Augenblick vollkommen geboren, dahin—
gegen der elende Menſch, der in Thränen
geboren wird, noch lange Zeit Kummer
und Beſchwernis, ſowie der Froſch ſeinen
Schwanz, nach ſich ſchleppt, bevor er zu
reifen Jahren und Verſtande kommt.““)
N ) Swammerdam, Bibel der Natur,
Leipzig, 1752, S. 313.
260
Auch bei den Pflanzen ſei es ebenſo, die
junge Nelke liege, wenn man das Ver—
größerungsglas anwende, ſchon deutlich
vorausgebildet in ihrem Samen, obwohl
alle ihre Liebesſeufzer — ſo bezeichnet
Swammerdam ihren Duft — ver—
geblich geweſen ſeien und gar keine
geſchlechtliche Vermiſchung ſtattgefunden
habe. Kurz, es giebt keine Neuerzeugung
in der Natur, ſondern nur eine Enthüllung
(Evolution) ſchon vorhandener Keime —
der verkörperten Ideen Platos!
Wer konnte glücklicher über dieſe Ent—
deckung ſein, als die beklagenswerten Phi—
loſophen, welche ſchon damals, wie Dre—
lincourt, der Lehrer Boerhaaves,
bemerkt, wohlgezählte 252 Hypotheſen
über das Weſen der Zeugung ihrem Hirne
ausgepreßt hatten, von deren Laſt ſie nun
mit einem male befreit waren, da es nach
Swammerdams Entdeckung gar keine
Zeugung mehr gab. „Die Philoſophie,“
ſchrieb Bonnet mit einer rührenden Offen—
heit, „hat, nachdem ſie ihre Unfähigkeit
erkannt hatte, die Bildung der organiſchen
Körper mechaniſch zu erklären, den glück—
lichen Einfall gehabt (aimagine heureuse-
ment), daß ſie in der Geſtalt von Keimen
oder organiſirten Körpern ſchon in ganz
kleiner Form vorhanden waren.“ “) An
die von Heraklit aufgeſtellte Theorie der
Panſpermie, nach welcher das geſammte
Weltall mit organiſchen Keimen erfüllt ſei,
die durch die Zeugung einen Boden zur
Entfaltung fänden, anknüpfend, glaubte
man aller Schwierigkeiten überhoben zu
jein, indem man annahm, alle organiſchen
Weſen, die ſich jemals in der Welt ent—
wickeln ſollten, ſeien gleich bei der erſten
*) Considerations sur les corps orga-
nises, S. 1.
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
Schöpfung von Gott mit einem male fer—
tig erſchaffen und als Keime in einander
geſchachtelt worden, ſo daß ſich immer einer
nach und aus dem andern entwickeln könne.
Nun wollte man natürlich auch von kei—
ner wirklichen Metamorphoſe der Inſekten
und Fröſche mehr etwas wiſſen. Es handle
ſich, verficherte Malebranche, der Schüler
des Carteſius, nur um eine äußere Um—
wechſelung der Kleider und Waffen. Das
Tier wirft eine Hülle ab, und immer iſt es
ein neues; „Gott,“ ruft der fromme Pater,
„hat' in einer einzigen Mücke alle diejenigen
geformt, welche davon ausgehen ſollten.“
Wie „glücklich“, um mit Bonnet zu
reden, dieſe Erfindung war, die ich an ei—
nem andern Orte eine körperliche Wieder—
belebung der Platoniſchen Ideen ge—
nannt habe, ergiebt ſich ſchon aus der viel—
ſeitigen Verwendung, welche dieſelbe als—
bald fand. Leibniz wußte ſie geſchickt
mit ſeinem religiös-philoſophiſchen Syſtem
zu verweben und ſagte: „Ich glaube, daß
die Seelen, welche eines Tages menſch—
liche Seelen werden ſollen, wie diejenigen
anderer Weſen, in den Voreltern bis auf
Adam vorhanden geweſen ſind, und in—
folge deſſen von Anbeginn und immer in
einer Art von organiſchem Körper exiſtirt
haben.“) „Dies vorausgeſetzt,“ ſagt er an
einer andern Stelle, „wird es klar ſein,
daß ein Weſen, welches nicht zu leben an—
fängt, auch niemals zu leben aufhören
kann, und daß der Tod, ebenſo wie die
Zeugung, nur eine Umwandlung deſſelben
Weſens iſt, deſſen Maſſe ſich bald ver—
mehrt, bald vermindert.“ Auch die Phy—
ſiologie konnte das neue Theorem gut ge—
brauchen. Wie ſchwer war es nicht, die
Bildung aller einzelnen Organe des leben—
D Theodicde, $ 91.
—
den Körpers zu erklären, nun brauchte man
gar nichts zu erklären, „denn,“ ſo ſagte
A. von Haller, der berühmteſte Phyſio—
loge des vorigen Jahrhunderts, „alle Ein—
geweide und ſogar die Knochen waren
ſchon vorher gebaut und im Keime gegen—
wärtig, obgleich in einem faſt flüſſigen
Zuſtande“.“) Auch das Herz war fertig
da und wartete nur des Augenblickes, in
welchem es durch den äußern Anſtoß der
Befruchtung zu ſchlagen beginnen ſollte.
Um dieſe Träumereien zu begreifen,
müſſen wir uns erinnern, daß wir uns in
der Zeit der Entdeckung und erſten An—
wendung des Mikroſkops befinden. Mit
Staunen hatte man geſehen, wie ein ver—
ſchwindender Punkt durch dieſes Inſtru—
ment zu einer auf das feinſte organiſirten
Geſtalt ausgedehnt werden konnte; ſo ſtand
alſo hinter der ſichtbaren Welt eine noch
viel wunderbarere, dem bloßen Auge un—
ſichtbare Welt, und nichts hinderte, in je—
dem Pünktchen des vergrößerten Bildes
wieder einen ebenſolchen vergrößerbaren
Keim und ſo in infinitum zu vermuten.
Dazu kam nun die erregbare Phantaſie
der mit unvollkommnen Inſtrumenten ar—
beitenden Forſcher. Ein geſchicktes Mikro—
ſkopiren iſt ein neues Sehenlernen, und
wer mit erregbarer Phantaſie ins Mikro—
ſkop ſchaut, kann, wie unzählige Beiſpiele
dargethan haben, alles ſehen, was er ſehen
will. Kein Wunder, daß man jetzt begann,
in den kleinſten Keimen bereits die voll—
kommen ausgeſtaltete Miniaturausgabe
des künftigen Weſens zu erkennen. Nun
hatte der junge Mediziner Ludwig von
Hammen aus Danzig im Jahre 1677
in einem Tropfen männlicher Samen—
) Citirt von Blumenbach, Über den
Bildungstrieb, Ausgabe von 1791, S. 23.
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
261
flüſſigkeit ſchier unzählige lebendige Weſen
(animalcula) mit dem Mikroſkop entdeckt,
und bald ſahen der Maler Gautier und
der Akademiker Hartſoeker in dem
menſchlichen Samentierchen die leibhafti—
gen Seelen des Herrn von Leibniz zap—
peln und bildeten ſie als zuſammengebo—
gene menſchliche Geſtalten, wie die Kinder
im Mutterleibe ſitzend, zu jedermanns
Gemütsergötzung deutlich ab.“)
Daraus entſtand die große Frage: Sind
die Keime im väterlichen oder im mütterlichen
Körper in einander geſchachtelt vorhan—
den? Iſt das Animalculum des Männchen
das präformirte Weſen, welches im Ovulum
nur ſeine Wiege und Nahrung findet, oder
it das Oyulum des Weibchen dieſer Schach—
telkeim? Leibniz neigte mit Leeuwen—
hoek, Hartſoeker und dem Abbé Spal—
lanzani zu der Partei der Animalku—
liſten, Haller und Bonnet dagegen
zu derjenigen der Ovuliſten, und am
beſten zogen ſich ſchließlich diejenigen aus
der Sache, welche zweierlei präformirte
Keime, Seelen- und Körperkeime, annah—
men, die erſt bei der Zeugung mit einan—
der verbunden würden. Jean Paul
hat ſich in den „Grönländiſchen Pro—
zeſſen““ !) bekanntlich den Animalkuliſten
-angefchloffen, um dem „groben Ahnen—
ſtolz“ wenigſtens einen Funken von Be—
rechtigung laſſen zu können. Da nach die—
ſer Theorie nämlich der jüngſte Junker in
der That ſchon bei allen Thaten ſeiner Ur—
Ur⸗Ahnen, bei ihren ruhmreichen Feld—
und Raubzügen körperlich dabei geweſen,
Man findet dieſe Abbildungen in Gau⸗
tiers Generation de homme et des ani-
maux, Paris, 1750, 12 und in Hartſoekers
Essay de Dioptrique, Paris, 1694, 4.
) Sämmtliche Werke, Ausgabe von 1841,
Bd 9, S. Nl.
—
fo dürfe er ſich immerhin etwas auf dieſe
mit feinen Ahnen gemeinschaftlich verübten
Thaten einbilden.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß dieſe
präformirten Keime, die materiell gewor—
denen ewigen Ideen Platons, unter ein—
ander mit einer unabänderlichen Verſchie—
denheit begabt, gedacht wurden. Sogar
das männliche und weibliche Geſchlecht
war nach Leeuwenhoek bereits den Ani—
malkulis ſeit Ewigkeit eigen, und da nun
keine Veränderung an ihnen denkbar war,
ſo mußten alle Verſchiedenheiten der In—
dividuen von Anfang an in ihnen gelegen
haben. So wurde die Präformations—
theorie zur natürlichen Ergänzung der
Prädeſtinationstheorie. Um nun zu er—
klären, wie es komme, daß die lebenden
Tiere und Pflanzen teilweiſe eine gewiſſe
Ahnlichkeit mit einander darbieten, ſo nah—
men Leibniz und Bonnet an, der
Schöpfer ſei bei der Bildung der Keime
nach einer beſtimmten kontinuirlichen Rei—
henfolge vorgegangen, indem er von dem
niedrigeren zu dem höheren aufſtieg, wes—
halb ſich alle Weſen, obwohl ſie an ſich
unveränderlich ſind, in eine einzige gerade
Stufenleiter vom Mineral zum einfachſten
Pflänzchen, von dieſem zum Pflanzentier,
und vom Tiere ſelbſt zum Menſchen, ja
zum Engel anordnen ließen.
Die geſchickteren Mikroſkopiker, wie
Leeuwenhoek und andere, geſtanden
bald zu, daß man die Geſtalt des künfti—
gen Tieres nicht im Samentierchen erken—
nen könne, was ſie aber einzig auf eine
der Kraft ihrer Mikroſkope ſpottende Klein—
heit derſelben deuteten. Ihre Lebendigkeit
mußte für die Unſichtbarkeit der Form ein—
treten, aber das fernere Bedenken, daß
man, wenn man den präformirten Keim
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
—
in den Samentierchen ſuchen wollte, eine
ungeheure Verſchwendung derſelben zu—
geben mußte, führte die beſonneneren
Präformiſten immer mehr dazu, im Ovu—
lum die aus der Unſichtbarkeit in die Sicht—
barkeit gewachſene jüngſte Keimhülle zu
ſuchen. Man mußte natürlich, um durch
ſeine Berufung auf das Unſichtbare nicht
allen Halt in der Welt des Wirklichen zu
verlieren, annehmen, daß die Keime ſich
nach und nach immer mehr ausdehnten,
um kurz vor ihrem Inslebentreten als
deutliche präformirte Keime im Körper der
Mutter ſichtbar zu werden, wie man denn
die ganze unmittelbare Deszendenz eines
Huhnes in ſeinem Eierſtocke und einer
Pflanze in ihrem Fruchtknoten ſchon vor
ſtattgehabtem Verkehr mit dem Männchen
vorgebildet findet. In ſeinem auf dieſes
Verhalten begründeten „Entwurf einer
Geſchichte der organiſirten Körper vor
ihrer Befruchtung“, in welchem das gleiche
Alter aller Menſchen von Adam bis auf
die damalige Welt herab betont und auf
rund ſechstauſend Jahre berechnet wurde,
hatte Bonnet der Idee Bazins beige—
pflichtet, „daß wir,“ um mit Blumen—
bach“) zu reden, „ſeit der lieben langen
Zeit, da wir mit Kain und Abel und den
200,000 Millionen übrigen Menſchen zu—
ſammenſteckten, die der gemeinen Rechnung
nach ſeitdem vor uns dahingegangen ſind,
kurz ſeit der erſten Schöpfung, zwar in—
kognito und ſchlaftrunken, aber doch nicht
ganz ohne Bewegung brach gelegen haben,
und daß wir während der 57 Jahrhun—
derte, eh' uns die Reihe traf, daß wir
durch den oberwähnten Reiz (der Zeugung)
entwickelt wurden, doch immer nach und
nach ſachte gewachſen ſind: wir konnten
) A. a. O., S. 24.
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
uns nämlich bei Kains Schweſter ſchon ein
bißchen mehr ausdehnen, als bei ihrer
Mutter, wo fie ſelbſt nebſt ihren Geſchwi-
ſtern noch bei uns lag und uns den Raum
beengte; und ſo kriegten wir mit jeder
neuen Entwicklung eines unſerer Vorfahren
ein geräumiger Logis, und das that uns
wohl, da ſtreckten wir uns mehr und mehr,
bis endlich die Reihe der Entwicklung auch
an uns kam!“
Natürlich mußten die nächſten zum Her—
vortreten auch ſchon ſichtbarlich in Er—
ſcheinung treten, und hier boten die ſchon
vor aller Befruchtung ſichtbaren jungen
Eier im Tierkörper und die Samenanlagen
im Fruchtknoten einen ſcheinbaren Beweis
für die Wahrheit der Präformations—
theorie. Noch viel lauter ſprechende Be—
weiſe lieferten aber gewiſſe vorzeitige Ent—
wicklungen, wie die ſproſſenden Blumen
der ſogenannten Roſenkönige, die „ſchwan—
geren Orangen“, die eine junge Frucht ent—
halten, und die Vogeleier, welche in ihrer
Schale ſchon ein zweites vollſtändig aus—
gebildetes Ei mit Schale bergen. Das
waren Antizipationen der künftigen Ent—
wicklung. Linné wendete die neue Lehre
alsbald auf die Botanik an und wies auf
die Zweige hin, die auseinander hervor—
knospen und deren Keime von Anfang an
in der erſten Knospe zuſammengeſchoben
vorhanden geweſen ſein müßten, wie man
ſolche mehrjährige Vorausbildung von
Knospen in den Zwiebeln von Scilla- und
Ornithogalum - Arten erkennen könne.
Weniger reichlich genährt, verlängern ſich
dieſe Zweige nicht in infinitum, ſondern
bringen am Ende eine Blüte hervor, mit
welcher jeder weitern Verlängerung des
Endes dieſes Zweiges ein Ziel geſetzt er—
ſcheint. Deshalb glaubte Linné, mit dem
263
Blühen ſei eine ſechsjährige Blattknospen—
entwicklung des Zweiges, in den ſechs
Blattkreiſen der vollkommnen Blüte anti-
zipirt, die Blüte ſelbſt ſei dem Schmetter—
ling zu vergleichen.
Nichts aber kam der Theorie, daß es
keine wahre Erzeugung in der Natur gebe,
mehr zugunſten, als die 1740 gemachten
Beobachtungen Bonnets über die Fort—
pflanzung der Blattläuſe. Dieſe Tiere
pflanzen ſich während des größten Teils
der wärmern Jahreszeit anſcheinend ohne
jede Mitwirkung der Männchen fort, in—
dem immer nur Weibchen zur Welt kom—
men, die nach wenigen Tagen wieder Eier
legen, aus denen Weibchen hervorkom—
men, und ſo fort durch zehn oder mehr
Generationen, bis am Ende der Saiſon
auch Männchen erſcheinen, während, wie
Balbiani neuerdings wahrſcheinlich ge—
macht hat!), in dem erſteren Falle eine
Art Selbſtbefruchtung ſtattfindet. Hier
ſchien nun die Ineinanderſchachtelung der
Keime und die Entbehrlichkeit der Be—
fruchtung, dieſer ganze Luxus der Männ—
chen offenbar, und dieſer Schein wurde
nach Kräften für die herrſchende und von
den erſten Autoritäten der Zeit unterſtützte
Lehre ausgenützt. Juſt als man ſolche
Beſtätigungen brauchen konnte, wies dann
auch ein Dr. Otto auf einen von ſeinem
Großvater beobachteten und durch den
namhaften Leibmedikus Clauder in den
Annalen der Kaiſerlich Leopoldiniſchen
Akademie ſeinerzeit beſchriebenen Fall hin,
in welchem eine Müllerfrau mit einem be—
reits in guter Hoffnung befindlichen Kinde
niedergekommen ſei. „Acht Tage darnach
wird das kleine dickleibige Mädchen,“ ſo
) S. den Bericht über Balbianis Studien
in den Kleineren Mitteilungen dieſes Heftes.
264
erzählt Otto mit den Worten feines Groß—
vaters, „mit großen Wehtagen und Un—
ruhe befallen, ſehr weinend und ängſtlich,
daß alle die Umſtehenden nicht anders
vermeint, als es würde im Nu ſterben.
Inmittelſt gebiert das kranke Kind ordent—
licher Weiſe ein artiges, vollſtändiges,
lebendiges Töchterlein in der Länge des
mittleren Fingers, welches auch getauft
worden. Bei der Geburt iſt alles an After—
bürde und andere Unreinigkeit abgegangen,
beide Kinder aber ſind kurz folgende Tage
darauf geſtorben.““) Haller hat dieſe
Geſchichte ſelbſt unter den beſten Beweiſen
für die Präformationstheorie aufgeführt,
und man kann es daher dem wackern Geiſt—
lichen nicht verdenken, der in einem von
Blumenbach angeführten lateiniſchen
Briefe ſeinen Gewiſſensbedenken darüber
Luft gemacht hat, ob man ſolche Kinder
acht Tage alter Mädchen eigentlich taufen
dürfe? Die Anhänger der männlichen Keim—
bewahrung (Animalkuliſten) ſpielten übri—
gens dem von Haller protegirten Müller—
kinde gegenüber einen in den Schriften
der Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften
an die Offentlichkeit gebrachten Abbs aus,
dem, nachdem er „mitten in einem Ver—
ſuche über das Zeugungsgeſchäfte ſehr zur
Unſichtbare jubelte ihm alle Welt zu, und
Unzeit unterbrochen“ hernach ein verhär—
tetes Kindlein — on y distinguoit la tete,
les pieds et les yeux — aus dem Leibe
geſchnitten werden mußte!
Es handelte ſich nun höchſtens noch
darum, auch am Embryo höherer Tiere
das Vorher-Vorhandenſein deſſelben und
die Geringfügigkeit der bis zur Reife nöti—
gen äußeren Umbildungen nachzuweiſen.
) D. C. Ottonis Epistola de foetu puer-
pera seu de foetu in foetu. Weißenfels,
1748, 8. Citirt von Blum enbach.
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
In der That glaubten Malpighi und
Croune ſchon in unbebrüteten Hühner—
eiern das Miniaturbild des nur heran—
wachſenden Vogels geſehen zu haben, ja
der letztere konnte es mit ſeinen ſcharfen
Augen ſogar in ſogenannten Windeiern
von Hennen, die nie mit einem Hahn zu
thun gehabt hatten, erkennen. Dieſer
Traum hatte ſich nun zwar nicht bewährt,
aber von ſeinem Grundſatze der Unſicht—
barkeit und urſprünglichen Flüſſigkeit aller
feſten Teile ausgehend, ſuchte A. von
Haller noch am 13. Mai 1758 in einer
Sitzung der von ihm präſidirten Göttingi—
ſchen Geſellſchaft der Wiſſenſchaften die
Präformation des Küchelchens im Ei nach—
zuweiſen, indem er darauf hinwies, daß
die Haut des Dotters im bebrüteten Ei
in die des daran hängenden Küchelchens,
und die Blutgefäße des letzteren in die
Adern der ſogenannten Figura venosa
des Dotters unmittelbar übergingen. Nun
aber habe der Dotter mit ſeiner Haut
ſchon im Eierſtock der unbefruchteten Henne
präexiſtirt, folglich nach aller Wahrſchein—
lichkeit auch zugleich mit derſelben, obgleich
unſichtbar, das damit zuſammenhän—
gende Hühnchen. Trotz dieſer geſchraubten
Erklärung mit ihrer Berufung auf das
Bonnet ſchrieb am 30. Oktober 1758
an Haller: Vos poulets m’enchantent:
je n'avois pas espéré que le secret de
la Generation commenceroit sitöt à se
devoiler. C'est bien vous, monsieur, qui
avait sgu prendre la Nature sur le fait.“
Um den Jubel eines ſo ſcharfſinnigen
Mannes wie Bonnet, um die allgemeine
Zuſtimmung der erſten Geiſter der Zeit
zu begreifen, muß man ſich der vollkom—
menen Ratloſigkeit erinnern, in welcher
befanden, wenn es galt, die Neubildung
eines organiſchen Weſens durch die Zeu—
gung zu begreifen. Die Epigeneſistheorie
war ja, wie wir geſehen haben, bereits
von Ariſtoteles aufgeſtellt worden, aber
jedermann, der der Sache tiefer nachge—
gangen war, fühlte ſich unfähig, ſie zu
begreifen. Dieſem Problem gegenüber
hatte ſich daher eine vollkommene Re-
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
1
265
ſich Forſchung und Philoſophie jener Zeit den, der betitelt iſt: „Ob die allgemeinen
Geſetze der Bewegung zur Bildung der
Tiere zureichen?“ und welcher ſo lehrreich
iſt, daß ich ihn in etwas abgekürzter Form
hier wiedergeben will, weil er am beſten
erklärt, weshalb Bayle und alle ſcharf—
ſinnigen Köpfe feiner Zeit der Präforma⸗
|
tionstheorie, die doch nur ein Verzicht auf
jede Erklärung iſt, zuflüchteten:
ſignation aller Geiſter bemächtigt. Ein
Naturphiloſoph des ſechzehnten Jahrhun-
nicht philoſophiren. Will man zu den all—
zu behauptet, es ſchiene ihm viel leichter
derts, Franz Titelmann, hatte gerade—
begreiflich, daß Gott unmittelbar Pflanzen
und Tiere hervorbringe, als daß der männ—
liche Samen (foetidissima, et vix nomi-
nanda substantia, quam absque abomi-
natione nemo conspicit) die Kraft haben
ſolle, jene wunderbaren Organe der Lebe—
weſen hervorzubringen, gegen welche alle
Werkzeuge der Phyſiker und Mathematiker
Pfuſchereien ſeien. Man hatte von einer
vis plastica, der Vorgängerin des nisus
formativus Blumenbachs, geſprochen,
die alles erklären ſollte, und Daniel
Sennert (1572 — 1637) ſuchte die
Schwierigkeit zu löſen, indem er ſagte,
eine Artſeele ſei ſchon im männlichen Sa—
men enthalten und bilde den Leib mit ſei—
„Will man,“ ſagt Bayle, „zu Gott,
als der unmittelbaren Urſache (der Ent-
ſtehung) ſeine Zuflucht nehmen, ſo heißt das
gemeinen Geſetzen von der Mitteilung der
Bewegung ſeine Zuflucht nehmen, ſo iſt dies
eine armſelige Hilfe: denn weil nach dem
Bekenntniſſe aller philoſophiſchen Parteien
dieſe Geſetze nicht vermögend ſind, ich will
Idee, eine in ſeinem Buche De Genera-
tione viventium ausgeſponnene Hypo⸗
theſe, die ſpäter von Stahl aufgenommen
wurde und urſprünglich, wenn auch in
modifizirter Geſtalt, das Glaubensbekennt—
nis aller Anhänger der Epigeneſistheorie
ausmachte.
Dieſe Hypotheſe iſt ſehr treffend von
Bayle in dem Artikel „Sennert“ ſeines
Lexikons in einem Abſchnitt widerlegt wor—
nicht ſagen eine Mühle oder Uhr, ſondern
nur das allergröbſte Werkzeug hervorzu—
bringen, das man in der Werkſtatt eines
Schloſſers ſieht; wie ſollten ſie vermögend
ſein, den Körper eines Hundes oder auch
einer Roſe und eines Granatapfels hervor—
zubringen? Will man zu den Sternen oder
ewigen Ideen ſeine Zuflucht nehmen; ſo iſt
dies eine erbärmliche Freiſtatt. Hier muß
eine Urſache ſein, welche einen Begriff von
ihrem Werke hat und die Mittel kennt,
dasſelbe zu verfertigen. Denn alles dies
nen Organen nach der ihr immanenten
iſt denjenigen nötig, welche eine Uhr oder
ein Schiff machen; wieviel mehr muß es
ſich bei demjenigen finden, welches die Or—
ganiſation der lebendigen Körper voll—
bringt? Es iſt wohl gewiß, daß die Sterne
keinen Begriff von einem menſchlichen Kör—
per haben, und daß ihnen desſelben Bil—
dungsart unbekannt iſt. Die Peripatetiker
geben zu, daß die „ewigen Ideen“ der Pflan—
zen und Tiere nicht wiſſen, wie die Mate—
rie gebildet werden muß, um ihr die Werk—
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4.
34
266
zeuge zu geben, welche in einem Baume
und in einem Küchlein ſind. Sie ſind alſo
nicht die Urſache dieſer Organiſation. Die—
jenigen, welche ſagen, daß ſie die Urſache
derſelben ſeien, ob ſie gleich das künſtliche
dieſes Werkes nicht wiſſen, ſind tauſend—
mal lächerlicher als diejenigen, welche ſag—
ten, daß der Menſch von ungefähr eine Uhr
machen könnte, ohne daß er jemals einen
Begriff davon gehabt; ohne daß er wüßte,
was er macht und was er ſucht. Dieſer
Einwurf ſtürzt Sennerts Lehre, denn er
würde ſich nimmermehr erkühnen zu ſagen,
daß die Seele, welche er in den Samen
von Pflanzen und Tieren angenommen hat,
den Begriff von allen Werkzeugen derPflan—
zen und Tiere hätte und die Art wüßte, wie
dieſelben zu bilden und an ihren Platz zu
ſetzen wären. Man hätte ihm alſo eine
ſehr bedeutende Erleichterung geboten,
wenn man ihm gelehrt hätte, daß organi—
ſirte Tierchen in dem Samen wären, denn
es iſt viel leichter zu begreifen, daß eine
mit dergleichen Tierchen vereinigte Seele
ſie im Wachſen machen kann, als daß ſie
einen Tropfen flüſſige Materie organiſi—
ren und in einen Hundskörper verwan—
deln könnte.
„Ich kenne geſchickte Perſonen, welche
ſich rühmen, zu begreifen, daß die allge—
meinen Geſetze von der Mitteilung der
Bewegung, ſo einfach und von ſo geringer
Zahl ſie auch ſeien, zureichend wären,
einen foetus wachſen zu laſſen, inſofern
man vorausſetzt, daß ſie ihn organiſirt
finden. Allein ich bekenne meine Schwäche,
ich kann dies nicht begreifen. Nach meinem
Bedünken iſt es notwendig, daß, wenn ein
kleines organiſirtes Stäubchen ein Huhn,
ein Hund, ein Kalb und dergl. werden ſoll,
eine vernünftige Urſache die Bewegung
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
der Materie leiten muß, eine Urſache, ſage
ich, welche den Begriff dieſer kleinen Ma⸗
ſchine beſitzt, und die Mittel hat, dieſelbe
auszudehnen und nach ihrem richtigen
Ebenmaße zu vergrößern. Man wird mir
zugeben, daß es nicht begreiflicher iſt, anzu—
nehmen, daß die Geſetze der Bewegung die
einzige Urſache von der Erbauung eines.
kleinen Hauſes ſeien, als es begreiflich iſt,
daß ſie es in einen großen Palaſt verivan-
deln, wo jedes Zimmer, jede Thür, jedes
Fenſter u. ſ. w. eben dieſelben Verhältniſſe
behält, welche der Baumeiſter des kleinen
Hauſes beobachtet hat. (Ich erkenne, wohl
zu bemerken, an, daß zwiſchen der Vergrö—
ßerung eines Hauſes und dem Wachstum
des Fötus der Unterſchied iſt, daß die Or—
gane des Fötus Formen ſind, durch wel—
che die neuen Wachstumsſtoffe durchdrin—
gen und ſich ausbreiten können, wovon bei
einem kleinen Hauſe keine Rede wäre.)
Wenn dieſe zwei Sachen gleich ſchwer ſind,
warum wollen wir glauben, daß die Ge—
ſetze der Bewegung, welche unvermögend
ſind, einen Punkt der Materie zu organi—
ſiren, die Fähigkeit haben ſollten, wenn
ſie dieſelbe organiſirt finden, ſie in ein
tauſendmal größeres Tier zu verwandeln,
und alle Verhältniſſe in einer faſt unend—
lichen Zahl von Werkzeugen zu beobach—
ten, welche jo verſchiedener Natur find,
einige weich, einige flüſſig, einige hart
u. ſ. w.? Ich würde es alſo für ſehr
wahrſcheinlich halten, daß das Wachstum
des Fötus, welcher, wenn man will, vom
Anfange der Welt an organiſirt ſein mag,
von einer beſonderen Urſache bewirkt werde,
die einen Begriff von dieſem Werke und
die Mittel hat, es zu vergrößern; wie z. B.
ein Baumeiſter den Begriff von einem Ge—
F
14
bäude und die Mittel hat, daſſelbe zu ver— | |
größern, wenn er einen Riß ausführt, den
er ganz fertig findet und vor ſich auf den
Tiſch legt. Es werden mir unzählige Leute
zugeben, daß ſich die Tiere in der Gebär—
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
267
muß, von Gott erhalten hat. Die Schwie—
mutter entwickeln, daß ſie ſich darinnen
ernähren; daß ſie darinnen durch die Füh—
rung einer Vorſehung wachſen: allein ſie
werden wollen, daß Gott alle dieſe Wir—
kungen regiere. Ich antworte ihnen, daß
ſie die Frage verändern: denn wir ſuchen
hier nicht die erſte Urſache, den allgemei—
nen Urheber aller Dinge, wir ſuchen hier
nur die letzte Urſache, den Grund von ei—
ner jeden Wirkung. Wenn man Gott bei
dieſer Unterſuchung für die ganze Urſache
ausgiebt, ſo heißt dies nicht philoſophiren.
Man ſage mir doch, wenn es vernünftige
Einwohner in den Planeten gäbe, welche
auf die Erde und in eins von unſern Häu—
ſern kämen, den Gebrauch der Zimmer,
der Fenſter, der Thüren, der Schlöſſer u.
ſ. w. errieten und endlich nur die Vor—
ſehung Gottes bewunderten, welche ein ſo
bequemes Gebäude für den Menſchen auf—
geführt hätte, würde man ſie nicht mit
gutem Grunde für Dummköpfe halten?
Sie würden nicht wiſſen, daß dieſes Ge—
bäude durch Menſchen aufgeführt worden
und daß ein menſchlicher Baumeiſter die
Lage der Steine, der Dielen u. ſ. w. nach
ſeinen vorgeſetzten Abſichten eingeſetzt
hätte. Es iſt freilich wahr, daß der Menſch
dieſen Verſtand von Gott erhalten hat;
allein Gott iſt nicht die nächſte, die natür—
liche und unmittelbare Urſache dieſes Ge—
bäudes. Wir wollen ebendaſſelbe in Ab—
ſicht auf die Organiſation der Bäume und
der Tiere ſagen; ſie iſt der beſonderen
Führung irgend einer andern Urſache un—
terworfen, welche den Verſtand und die
rigkeit liegt darin, dieſe Urſache zu beſtim—
men . . . Heinrich Morus, welcher die
Präexiſtenz der Seele geglaubt hat, lehrte“),
daß ſie, indem ſie ſich mit der Materie
vereinige, ſich ſelbſt darin eine organiſche
Wohnung baue. Dieſe Meinung wird da—
mit beſtritten, daß wir nicht wiſſen, was
man thun muß, um die Nerven, die Beine,
die Adern u. ſ. w. zu ordnen. Man könnte
ſagen, daß die Seele alle dieſe Be—
griffe vergeſſe, ſobald ihre Woh—
nung fertig iſt, weil die Grobheit der
Werkzeuge des menſchlichen Körpers den
Zuſammenhang zerreißt, den ſie zuvor mit
den ſehr ſubtilen zufälligen Urſachen hatte.
Allein ich möchte lieber vorausſetzen, daß
die Seele ſelbſt die Bewegungen nicht re—
giere, welche ihren Fötus wachſen laſſen;
ich wollte dieſe Regierung lieber einem
fremden Geiſte zueignen . ..“
Man erſieht, daß ſich hier in der Be—
trachtung der Entwicklungsgeſchichte die
Keime einer Philoſophie des Unbe—
wußten ausbildeten, wie ſie noch in un—
ſerm Jahrhundert möglich geweſen iſt.
Allein Bayle erinnerte ſich wohl der gro—
ßen Gelehrſamkeit, welche Johann Bap—
tiſte Morin (1583— 1656) dieſer Keim—
ſeele zuſchreiben mußte“), um fie ihres
*) De Anima, Lib. II, Cap. IV.
++) Die Worte Morins lauten iu der Über-
ſetzung wie folgt: „Ich glaube, die phyſiſche, jub-
ſtantielle Form der zuſammengeſetzten Körper
(mit Ausnahme der Vernunftſeele) iſt nichts
anderes, als der körperloſe Samengeiſt jedes
Dinges, derſelbe, dem Severinus die eigen—
tümlichen und ſpezifiſchen inneren Signaturen
der Farbe, des Geruchs und Geſchmackes und
die wunderbare, ihm von Gott im Anfang der
Schöpfung mitgeteilte Wiſſenſchaft (scientia)
Geſchicklichkeit, die man dabei anwenden zuſchreibt, durch welche der von wirkſamen Ur—
I
7
Amtes würdig walten zu laſſen, und er
ſchauderte vor dieſer ungeheuren unbe—
wußten Gelehrſamkeit ſo zurück, daß er
ſich lieber der Bonnet-Leibnizſchen Hypo—
theſe zuwandte, bei der alle dieſe Schwie—
rigkeiten wegfielen. Und ſo ging es jeder—
mann und darum freute ſich die geſammte
gelehrte Welt, als Haller die Präfor—
mationstheorie 1758 feierlichſt als feſtge—
gründet anerkannte.
Aber ſchon im Jahre nach dieſem
„Triumph“ der Präformationstheorie
wagte der Zögling des Königlich Preußi—
Kaspar Friedrich Wolff, in ſeiner am
28. Nov. 1759 zu Halle verteidigten Pro—
ſich gemütvoll ausdrückte, „die erquickende
Freude am Neuwerden in der Natur ver—
darb, indem ſie die luſtigen, farbenreichen
ſachen zur Erzeugung gereizte Geiſt irgendeines
Samens zuerſt das dem zu erzeugenden Dinge
kongruente Element herbeizieht . . . und darauf
der Verarbeitung und Organiſation deſſelben
obliegt, und ſo regelrecht nach der ihm einge—
bornen und ihm weſentlichen Wiſſenſchaft (scien-
tia), daß alle Blumen derſelben Pflanze unter ſich
und alle Blätter und Früchte unter ſich in allen
Kennzeichen übereinſtimmen, und ferner überein—
ſtimmen mit den Blättern, Blüten und Früchten
irgendeiner andern Pflanze derſelben Spezies: was
nur mit der dem Vermögen ſolches Samens ein—
er in den Spinngeweben, Bienenwaben und
offen liegt, auf andre Weiſe aber unter Zuſtim—
mung der Vernunft nicht begriffen werden kann.“
So ſchloß alſo Morin hundertundfünfzig Jahre
ſchen Collegium medico-chirurgicum,
gepflanzten mechaniſchen Wiſſenſchaft (scientia |
mechanica) und deſſen weſentlichen Eigentümlich⸗
keiten leicht begriffen werden kann, gleichſam als
das regelmäßige Werk irgendeines Verſtandes, wie
den übrigen Erzeugniſſen der Tiere noch klarer
Verjüngungen mit der Theorie vom ewi-
268 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
gen Sein umflorte“. Während nun die
Anhänger der Evolutionstheorie immer
nur das Längſtfertige im Ei oder Samen
geſucht hatten, konnte den Neuſchöpfer der
von Ariſtoteles betonten, aber kaum
durch eigene Forſchungen begründeten Epi—
geneſistheorie auch die genaueſte Zerglie—
derung des Fertigen nicht befriedigen, er
wollte nun einmal das „Werden“ ſehen und
ſein Blick vertiefte ſich zunächſt in die beiden
„Vegetationspunkte“ an den beiden End—
polen der Pflanze. Er ſah dort am obern :
Pol, wie die Verſchiedenheit der Laub- und
Blütenblätter ſich aus gleichen Anfängen
entwickelte, und ohne ſich, wie Linné, in
ſchimmernden Vergleichen der Blüte mit
motionsſchrift über die Theorie der zeugung
den Kampf gegen jene damals alle Geiſter |
beherrſchende Theorie, welche ihm, wie er
Schmetterlingen u.ſ.w. zu ergehen, erkannte
er, daß alle Organe der Pflanze ſich auf
die beiden Grundformen von Stengel und
Blatt zurückführen laſſen und daß die
Blüte aus Kreiſen verwandelter Blätter
beſtehe. Auch die Zuſammenſetzung dieſer
Grundorgane aus den entfernteren Ele—
vor Erasmus Darwin, daß man auch den
Pflanzen und allen Keimen eine denkende Seele
beilegen müſſe, welche den der Pflanze nötigen
Nahrungsſtoff auswählt und verteilt. „Nichts
Abſurderes kann ausgeklügelt werden,“ fährt
Morin fort, „als daß jene Ahnlichkeit der Blü—
ten, Blätter und Früchte eines Baumes in
Farbe, Geruch, Geſchmack und Form aus der
bloßen Bewegung der Atome hervorgehe, von
welcher Stand und Ordnung derſelben abhän—
gig ſeien. Unter allen Blüten, Blättern und
Früchten eines Apfelbaumes komme nicht eine
einzige Blüte. Blatt oder Frucht der Birne
oder irgendeiner andern Pflanze aus der Be—
wegung derſelben Atome zum Vorſchein. Wenn
hier alſo nicht irgendeine ſpezifiſche „Wiſſen—
ſchaft“ im Spiele ſei, würden gar keine be—
ſtimmten Spezies, ſondern nur chimäriſche For-
men entſtehen können.“ Man findet den latei—
niſchen Urtext dieſer Stellen bei Bayle im
Artikel „Morin“.
—
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
menten der Zellen und Gefäße erkannte
er deutlich und zeigte, daß die Gefäße
nachträgliche Bildungen ſeien, wobei die
Stengelorgane, die ſozuſagen das Tranſit—
geſchäft zu beſorgen hätten, als vorzugs—
weiſe aus Kanälen, die Blätter hingegen,
als Aufſpeicherungsorgane, als vorzugs—
weiſe aus Zellen beſtehend erkannt wurden.
Daſſelbe, was Wolff für die Ent—
wicklungsgeſchichte der Pflanze leiſtete,
konnte er mit ſeinem durch die Beobach—
tung dieſer einfacheren Verhältniſſe ge—
ſchärften Blick auch für die Entwicklungs—
geſchichte der Tiere ſchaffen, nämlich die
exakte Grundlage aller künftigen Forſchung
auf dieſem Gebiete. In ſeiner bereits 1768
erſchienenen Arbeit über die Bildung des
Darmkanals“) zeigte Wolff auf das
klarſte, daß von irgend einer Vorausbil—
dung dieſer oder anderer Organe im
Hühnerei umſoweniger die Rede ſein könne,
als ſelbſt in den erſten Tagen der Bebrü—
tung keine Spur von der demſelben eigen—
tümlichen Röhrenform vorhanden ſei, daß
vielmehr der geſammte Embryo urſprüng—
lich die Geſtalt eines flachen, ovalen Blat—
tes darbiete, welches, anfangs einfach,
ſich ſpäter in mehrere Blätter teilt, deren
innerſtes durch Verwachſung der einander
genäherten Ränder ſchließlich zu dem
Darmkanale wird, deſſen Ausbildung er
von Anfang bis zu Ende verfolgte. In—
dem er ferner erkannte, daß aus den übri—
gen Blättern in ähnlicher Weiſe durch
Zuſammenſchließung die übrigen Organ—
ſyſteme entſtehen, wie das Nerven-, Muskel-
und Gefäßſyſtem, und daß dieſelbe Bil—
dungsweiſe bei andern Wirbeltieren wieder—
kehrt, wurde er nicht nur der erſte Ent—
) De formatione intestinorum. Petrop.
1768—69.
269
decker jener wunderbaren Gleichförmigkeit
der Entſtehung aller Organſyſteme aus
denſelben Grundlagen, die Pander 1817
zu der berühmten Keimblättertheorie er—
hob, ſondern er wies ſeine Kollegen mit
Nachdruck auch auf den tiefern Sinn dieſer
Entſtehung aus gleichen Grundformen hin,
die, wie er ahnte und ausſprach, „in eng—
ſter Verbindung mit der Erzeugung und der
geſammten Natur der Tiere“ ſtehen müſſe.
Wolffs Arbeiten brachten nicht den
reformatoriſchen Eindruck hervor, den man
heute vorausſetzen möchte, und dies erklärt
ſich vollkommen durch die allzu beſcheidene
Art ſeines Auftretens. Nicht wie ein Neu—
erer und Bekämpfer der herrſchenden Schule
trat er in die Schranken, ſondern wie ein
bloßer Erneuerer und Vertreter der Ari—
ſtoteliſchen Anſicht vom Werden, d. h. alſo
einer längſt abgethanen Theorie. Auch die
Taktik ſeiner Gegner trug nicht wenig dazu
bei, den in ſeinem Vaterlande verkannten
und förmlich zur Auswanderung nach Pe—
tersburg gedrängten Forscher bei uns inVer—
geſſenheit zu bringen, fo daß Goethe ſpäter
ſeinen „trefflichen Vorarbeiter“, wie er
ſich ausdrückte, förmlich „entdecken“ mußte.
Statt ihn nämlich zu bekämpfen und da—
durch ſeine Streitluſt zu reizen, lieferte
Hal ler ſelbſt in den „Göttinger Gelehrten
Anzeigen“ von 1760 eine ſehr anerken—
nende Rezenſion ſeiner Erſtlingsſchrift und
trat mit ihm in einen Briefwechſel, und
die bloße Ablehnung der neuen Theorie,
der Machtſpruch Hallers: „Nulla est
epigenesis“ brachten in jener Zeit des
blühendſten Autoritätsglaubens dieſelbe
Wirkung hervor, wie die gründlichſte Wi—
derlegung. Es ſoll nicht geſagt werden,
daß Haller, einmal durch freundliches
Entgegenkommen und andererſeits durch
270
vornehmes Schweigen den als gefährlich
erkannten Gegner abſichtlich mundtot zu
machen geſucht habe, denn eine ſolche
Handlungsweiſe lag wohl nicht in ſeinem
Charakter, aber der Mangel an Kampf:
luſt auf Wolffs Seite kam ihm entgegen,
und die thatſächliche Folge des vermiede—
nen Streites war das Vergeſſen, welches
ſich über Wolffs Entdeckungen und Schrif—
ten breitete, der deutlichſte Beweis dafür,
daß auch ein neuer Forſchungsweg nur im
Kampfe um ſeine Berechtigung und ſeinen
innern Wert zu der ihm gebührenden An—
erkennung gelangen kann und daß über-
haupt nichts dem Fortſchritt der Wiſſen⸗
ſchaft förderlicher iſt als der Streit, nichts
* ſchädlicher als der Frieden.
Die das Studium der Entwicklungs-
geſchichte geradezu negirende Präforma—
tions- oder Evolutionstheorie im älteren
Sinne mußte ſchließlich an Altersſchwäche
ſterben und vorher zum Geſpötte der Nicht—
fachleute werden, ehe ſie von den Fach-
leuten aufgegeben wurde. Am wirkſam—
ſten wurde ſie, und zwar mit den Waffen
des Spottes und Witzes, um die Neige
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
als den erwachſenen Weſen, während ſich
doch der Embryo, wie ſpäter E. v. Baer
hervorhob, vielmehr durch Einfachheit oder,
wie er ſich ausdrückte, „Grobheit“ ſeines
Baues dem vollendeten Weſen gegenüber
auszeichnet. Darwin, der Wolffs
Schriften nicht gekannt zu haben ſcheint,
faßte den Begriff der Epigeneſe wohl am
tiefſten, indem er einesteils betonte, daß
der junge Keim — für den er das Sper-
matozoid hielt —eine Fortſetzung des Va—
ters ſei, die auch die neueſten Erwerbun⸗
gen deſſelben entfalten müſſe, andererſeits
aber aus eigener Machtvollkommenheit
befähigt ſei, über denſelben hinauszugehen.
Der witzige Blumenbach, ehemals,
wie beinahe alle damaligen Anatomen und
Philoſophen, ein eifriger Hallerianer und
Evolutioniſt, wurde im Sommer 1789
durch die Beobachtung der Reproduktions⸗
fähigkeit des Armpolypen zur Theorie der
Neubildung bekehrt. Es ſchien ihm nicht
denkbar, daß das Reproduktionsvermögen
der niedern Tiere nach der Präformations⸗
theorie erklärbar ſein könne. Natürlich
war dieſer bedenkliche Umstand den An⸗
des Jahrhunderts von Blumen bach und
Goethe in Deutſchland, und von Eras— |
mus Darwin in England bekämpft.
Während Goethe ſchon in ſeiner Kam— |
pagne in Frankreich ſich bitter beklagte,
daß „die ſtarre Vorſtellungsart, nichts
könne werden als was ſchon ſei, ſich aller
Geiſter bemächtigt“ habe, wurde Eras—
mus Darwin durch die Millionen der
ineinander geſchachtelten Keime an die
zwanzigtauſend auf einer Nadelſpitze tan—
zenden Teufelchen des heiligen Antonius
erinnert, und betonte ſarkaſtiſch, daß dieſe
Theorie ja den Embryonen in ihrer Klein—
heit einen viel wunderbareren Bau zumute,
hängern der Theorie nicht entgangen.
„Man muß annehmen,“ hatte ſchon Ré⸗
aumur in einer 1712 erſchienenen Ab—
handlung über die Reproduktion der Krebs⸗
ſcheeren geſagt, „daß dieſe kleinen Beine,
welche wir wachſen ſehen, in kleinen Eiern
eingeſchloſſen waren und daß, nachdem ein
Teil des Beines abgeſchnitten wurde, die—
ſelben Säfte, welche ſonſt dazu dienten,
dieſen Teil zu ernähren und wachſen zu
laſſen, nunmehr angewendet werden, um
den in dieſen Eiern enthaltenen Erſatzteil
ſich entwickeln und wachſen zu laſſen“.
Obgleich Neaumur mit feinem geſunden
Menſchenverſtande ausgeſprochenerweiſe
*
err Ba a a a u
N
—
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
nicht glaubte, daß jemand dieſe weither—
geholte Erklärung annehmen würde, blieb
doch Bonnet nichts weiter übrig, als die
Unzahl der präformirten Keime noch durch
ein Magazin von „Flickkeimen“ (des ger-
mes reparateurs“) zu vermehren, die
nur das enthalten, was häufiger auszu—
beſſern iſt, wie ſich vorſichtige Hausfrauen
beizeiten Erſatzſtückegewiſſer, häufig ſchad—
haft werdender Kleiderſtellen beſorgen.
Blumenbach konnte dieſen Notkei⸗
men keinen Geſchmack abgewinnen, er wies
darauf hin, daß der Erſatz verlorener Teile
in der Regel mit Subſtanzverluſt der be—
nachbarten verbunden iſt, und ſuchte na—
mentlich aus der Betrachtung der unvor—
hergeſehenen Bildungen der Natur, der
Gallen, Roſenäpfel, Baſtarde und Mißge—
burten, zu beweiſen, daß in den Säften
der Organismen ein körperliches, geſtal—
tendes Vermögen wirkſam ſei, welches er
den Bildungstrieb (nisus formativus)
nannte. Er ſchloß demnach: „daß keine
präformirten Keime präexiſtiren, ſondern
daß in den vorher rohen, ungebildeten Zeu—
gungsſtoff der organiſchen Körper, nachdem
er zu ſeiner Reife und an den Ort ſeiner
Beſtimmung gelangt iſt, ein beſonderer,
dann lebenslang thätiger Trieb rege wird,
ihre beſtimmte Geſtalt anfangs anzuneh—
men, dann lebenslang zu erhalten, und
wenn ſie ja etwa verſtümmelt werden, wo⸗
möglich wieder herzuſtellen.“) Blumen:
bach geſteht ſelbſt zu, daß er damit nur
die Taufe einer qualitas occulta vollzo—
gen, indeſſen legte er damit wenigſtens
die formbildende Urſache in die Lebeweſen
ſelbſt und gab die Neubildung aller Ge—
* Bonnet, Oeuvres completes. T. VI,
P. 267.
a/ Q., S. 31.
271
ſtalten und ihr Veränderungsvermögen
durch äußere Umſtände zu. Durch ihre
Beeinflußbarkeit glaubte er ſich nun er:
klären zu können, daß nicht nur auf geſetz⸗
mäßige Weiſe Mißgeburten und Baſtarde
— deren Formen daher auch geſetzmäßige
und darum wiederkehrende ſeien — ent—
ſtehen könnten, ſondern daß auch tieriſche
Bildungen im Menſchen aufträten, und
männliche Tiere oftmals äußerlich die Kenn—
zeichen von weiblichen darbieten könnten.
„Bekanntlich haben die Weiber,“ ſagt
er“), „nach dem ordentlichen Laufe der Na—
tur zur Aufnahme ihrer neuempfangenen
Frucht ein einfaches Organ. Die mehr—
ſten übrigen Säugetiere hingegen ein dop—
peltes. Nun aber ſind die Fälle nicht ſel—
ten, wo man auch bei Frauenzimmern
einen förmlichen ſolchen tieriſchen uterus
bicornis gefunden, ſo daß es dann von dieſer
Seite geſchienen, als wenn wirklich die
Iphigenia verſchwunden und ein Reh an
ihre Stelle gezaubert wäre.“ Den ver-
meintlichen „Schlüſſel,“ welchen Blu—
menbach für dieſe richtige Beobachtung
giebt, daß der Bildungstrieb nämlich bei
der Bildung der einen Art organiſcher
Körper zuweilen die für eine andere Art
beſtimmte Richtung annähme, iſt, wie
man leicht erkennt, kein Schlüſſel, wenn
nicht wenigſtens ein einheitlicher Urſprung
der beiden Richtungen des Bildungstriebes
vorausgeſetzt wird, was nicht geſchieht.
Gegen dieſe Unzulänglichkeit und We—
ſenloſigkeit des erſt in neuerer Zeit zu
einem gewiſſen Inhalte gelangten Blumen⸗
bachſchen — Wortes wandte ſich Wolff
in einer beſonderen Schrift““), die auch dar-
A a. O., S. 108:
**) Von der eigentümlichen und weſentlichen
Kraft der vegetabiliſchen und animaliſchen Sub-
ſtanz. St. Petersburg, 1789. 4.
272
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
um intereſſant iſt, weil ſich durch Miß-“ Zweck iſt es, die Prinzipien der Pflanzen—
verſtändnis aus ihr, und nicht, wie man
gewöhnlich angiebt, aus Blumenbach,
der perhorreszirte Begriff der Lebenskraft
entwickelt zu haben ſcheint.
„Sollte unter dieſem Trieb,“ ſagt
Wolff, „eine einfache Kraft verſtanden
werden, ſo könne man nur gleiche Wirkungen
von ihr erwarten, ſie könne nur eine Art
organiſcher Körper, nicht aber unzählige
hervorbringen. Wollte man aber die Ver—
ſchiedenheiten der Bildungen aus ſekundä—
ren Wirkungen erklären, ſo werde der Be—
griff des Bildungstriebes auf den der allen
Organismen gemeinſamen Ernährungs—
kraft zurückgeführt. Dieſe Nutritionskraft
äußere ſich zwar ſchließlich nur in der Anzie—
hung gleichartiger und in der Fernhaltung.
(Abſtoßung) fremdartiger Stoffe, aber ſie
ſei in dem Einzelweſen ſo individuell, daß
man auch der Pflanzenart eine Art unbe—
wußt mit Gefühl und Geſchmack begabter
Ernährungsſeele zugeſtehen müſſe, die eine
ihr allein eigentümliche Art der Stoffan—
eignung und Stofforganiſirung beſitze.“
Hier berührt ſich Wolffs Anſchauung
ziemlich innig mit derjenigen von Eras—
mus Darwin, der ebenfalls keinen be—
ſtimmt gerichteten Bildungstrieb, ſondern
vielmehr ein Vermögen, ſich den äußeren
Umſtänden anzupaſſen, in Pflanzen und
Tieren ſelbſt ſuchte.“) Aber Wolff ging
weiter, und nichts zeigt deutlicher, wie voll—
kommen in ihm der Geiſt unſeres Jahr—
hunderts lebendig war, als ein Ausſpruch,
den er ſchon in feiner Theoria generatio-
nis gethan“), woſelbſt er jagt: „Mein
9 Erasmus Darwin. Leipzig, 1880.
S. 177 ff.
**) 8.71. Schol. II. Vergl. Alfr. Kirch—
hoff, Die Idee der Pflanzenmetamorphoſe bei
Wolff und Goethe. Berlin, 1867. S. II.
entwickelung und deren Grundgeſetze er—
fahrungsmäßig zu finden, und wenigſtens
zu zeigen, daß die vollendete Pflanze nicht
ein Ding iſt, zu deſſen Hervorbringung die
Naturkräfte gar nicht hinreichten, welche
vielmehr die ſchöpferiſche Allmacht (d. h.
die Präformation) verlange.“ Niemals
iſt vor Kant und Darwin die Notwen—
digkeit einer mechaniſchen, oder ſagen
wir moniſtiſchen Auffaſſung entſchiedener
betont worden, als in dieſen Worten
Wolffs.
Wie ſchon erwähnt, galt der Prophet
in ſeinem Vaterlande nichts, und ſeine Auf—
forderung zur Beobachtung des Werdens,
ſeine Verkündigung einer höheren Auf—
faſſung der Natur verhallten ſo vollſtändig
vor dem Rufe „Es giebt kein Werden!“,
daß der deutſche Naturforſcher Ludwig
Oken im Jahre 1806 von neuem die
Entwickelungsgeſchichte des Darmkanals
zu ſtudiren begann, ohne übrigens zu ſo
klaren Ergebniſſen zu kommen, wie der
ſcharfſinnige Vorgänger, von deſſen Arbeit
er keine Ahnung hatte. Man hat die dies—
bezüglichen Arbeiten Okens in ſpäterer
Zeit mit ſehr geringſchätzigem Auge ange—
ſehen, weil er nicht unterlaſſen konnte,
jeden Augenblick ſeine Augen von dem mit
großer Genauigkeit beobachteten Objekte
emporzuheben und in die Ferne zu ſchauen,
um ſich aus dem beſonderen zu allgemei—
nen Reſultaten zu erheben.
Mit Recht ſagte aber Karl Ernſt
Baer von ihm, daß ſeine Unterſuchungen
der „Wendepunkt für eine richtigere Er—
kenntnis des Eies der Säugetiere geworden
ſind“. Wenn man die entwicklungsge—
ſchichtlichen Arbeiten Okens genauer be—
—
trachtet, ſo drängt ſich die Empfindung auf, |
Ernſt Kraufe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
als habe man eine fortwährende unausge-
ſprochene Oppoſition gegen jenes Wort
Hallers vor ſich, „daß kein Teil im Tier—
körper vor dem andern gemacht worden ſei,
ſondern alle zugleich erſchaffen worden
ſeien“. Oken erkannte nun deutlich ein
Vorauseilen der Entwickelung des einen
Organſyſtems vor dem anderen und baute
darauf, von der Idee des allgemeinen Zu—
ſammenhanges der Tierformen ausgehend,
ſofort ein Syſtem, in welchem die Abtei—
lungen nach dem Vorwiegen der einen oder
andern Organentwickelung abgegrenzt wur—
den. „Aller Unterſchied der Tiere von ein—
ander beruht auf der übermäßigen Aus—
bildung eines Syſtems bei Vernachläſſi⸗
gung der andern,“ ſagt er“), nur im Men⸗
ſchen ſeien alle Organe harmoniſch ausge—
bildet, und das Tierreich ſei der „durch—
leuchtende Embryo des Menſchen“. So
ſehr dieſes übereifrige Fruchtpflücken vom
Baume der Erkenntnis den entwicklungs—
geſchichtlichen Studien ſelbſt geſchadet hat,
ſo findet ſich doch mancher geniale Fingerzeig
auch in dieſem Teile ſeiner Arbeiten, und
als Beiſpiel mag nur darauf hingewieſen
werden, wie er ſchon 1806 die Zähne von
den Knochen getrennt und zu den Hautbil-
dungen geſtellt wiſſen wollte.“)
In ruhigere Bahnen und auf eine ge—
ſichertere Grundlage wurde das Studium
der Entwicklungsgeſchichte erſt wieder zu—
rückgeführt, nachdem Meckel 1812 das
Wolffſche Werk über die Entwickelungsge-⸗
ſchichte des Darmkanals ins Deutſche über— |
jest und auf den außerordentlichen Wert
des Werkes hingewieſen hatte. Es war in
*) Oken und Kieſer, Beiträge zur ver-
gleichenden Zoologie, Anatomie und Phyſiologie. |
Bamberg u. Würzburg, 1806. S. 104.
MA D. 109.
273
Würzburg, wo der Gedanke Wurzel ſchlug,
die von ihren erſten Anläufen bis zu dem
böchſten Ausbau ſpezifiſch deutſche Wiſſen—
|
ſchaft der Entwicklungsgeſchichte weiter
zu bauen. Über das Aufkeimen des Ge—
dankens hat uns Karl Ernſt von Baer
in dem Vorwort ſeiner Entwicklungsge—
ſchichte der Tiere“) genau unterrichtet. Der
berühmte Biolog Döllinger äußerte ge—
gen Baer den Wunſch, „daß ein junger
Naturforſcher unter ſeinen Augen eine
neue Reihe von Unterſuchungen über die
Entwicklungsgeſchichte des Hühnchens an—
ſtelle,“ indem er hinzufügte, daß er auf
wichtige Reſultate hoffe. Baer veran-
laßte ſeinen Freund Chriſtian Pander,
dieſe Unterſuchungsreihe, zu welcher be—
deutendere Mittel gehörten, als er damals
aufwenden konnte, vorzunehmen, und als
Reſultat legte letzterer in feiner 1817 er—
ſchienenenPromotionsſchrift eine auf Wolff—
ſcher Grundlage vollendete Entwicklungs—
geſchichte des Hühnchens mit der ſchon in
erſterer angeregten „Keimblättertheorie“
vor. Nach ihm zerfällt die blattartige Keim—
anlage des Hühnereis ſchon am erſten
Bebrütungstage in ein äußeres Haut- und
ein inneres Schleimblatt, zwiſchen denen
ſich ſpäter eine dritte Schicht, das Gefäß—
blatt entwickelt, um die Grundlagen zur
Ausbildung der verſchiedenen Organſyſte—
me zu liefern. 5
Zuerſt in der Abſicht, die Panderſche
Arbeit beſſer zu verſtehen, ſie gleichſam mit
lebendigen Illuſtrationen zu leſen, nahm
Baer 1819 dieſe Unterſuchung ſelbſt auf,
und führte ſie ſpäter auf Burdachs Ver—
anlaſſung in Königsberg, wo er ſich habili—
tirt hatte, weiter, und zu einem ſolchen
) Erſter Teil. Königsberg, 1828.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4.
35
274
Grade der Vollendung, daß er nächſt Wolff,
dem Begründer, als Vollender die größ—
ten Verdienſte um die Erforſchung der
Entwicklungsgeſchichte der Wirbeltiere er
warb. Nachdem er mancherlei darüber in
kleineren Abhandlungen veröffentlicht hatte,
legte er den geſammten Schatz ſeiner Be—
obachtungen in ſeinem ſchon zitirten großen
Fundamentalwerke nieder, deſſen beide
Bände in dem langen Zwiſchenraum von
1828 — 183) erſchienen. Das große Er—
gebnis desſelben iſt die allgemeine Über—
einſtimmung in der erſten Entwicklung
aller Wirbeltiere, vom Hühnchen bis zum
Menſchen, deſſen winziges, kaum mit blo—
ßem Auge erkennbares Ei Baer zuerſt
(1837) entdeckte. Er unterſchied zunächſt
das obere animale Keimblatt, aus dem
ſich die Organe der tieriſchen Funktionen
(Empfindung und Bewegung) bilden, von
dem unteren vegetativen Blatt, aus dem
die Organe der ſogenannten vegetativen
Thätigkeiten (Ernährung, Verdauung,
Blutbildung, Atmung, Abſonderung und
Fortpflanzung) hervorgehen. Jedes dieſer
primären Keimblätter ſpaltet ſich wieder
in zwei ſekundäre Blätter, das obere in
die Hautſchicht, aus der die Bedeckungen
des Körpers und das Rückenmark nebſt allen
davon ausſtrahlenden nervöſen Organen
hervorgehen, und die Fleiſchſchicht, aus
der Muskeln und Knochen entſtehen. Eben—
ſo ſpaltet ſich das untere oder vegetative
Keimblatt in zwei neue Blätter, von denen
aus dem oberen (Gefäßſchicht) Herz und
Adern, Nieren und Geſchlechtsorgane, aus
dem untern (Schleimſchicht) der Darm—
kanal mit allen ſeinen Nebenorganen und
die Lunge gebildet werden.
Von größter Wichtigkeit war ferner
ſein Nachweis eines ſchon auf den erſten
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
Stufen erkennbaren, für alle Wirbeltiere
typiſchen Organes, der Chorda dorsalis
oder des Rückenſtabes, aus dem ſich die
Wirbelſäule entwickelt. In dieſem frühen
Auftreten eines bleibenden und charakte—
riſtiſchen Organes erkannte er das in allen
Veränderungen der Entwicklungen blei—
bende Grundſchema des Wirbeltiertypus,
und ſeine Verſchiedenheit von der Ent—
wicklung der übrigen Tierkreiſe, in denen
ſich ebenſo früh ein anderer Spezialtypus
andeutet. Von dieſen Beobachtungen aus—
gehend, unternahm er die Scheidung der
Tiere in vier von Grund aus verſchiede—
nen Haupttypen: Wirbeltiere, Gliedertiere,
Weichtiere und Strahltiere, welche Cuvier
und Rudolphi ungefähr um dieſelbe
Zeit, von ſyſtematiſchen und vergleichend
anatomiſchen Geſichtspunkten ausgehend,
aufgeſtellt hatten. Damit wurde Baer
zugleich der Begründer der verg leichen—
den Entwicklungsgeſchichte und mit
ſeinem Hinweis auf die Wichtigkeit des
Studiums der Entwicklung der niederen
Tiere hebt die neue Zeit an, die wir im
nächſten Kapitel betrachten wollen.
Baer iſt Zeit ſeines Lebens nicht über
die Unvereinbarkeit der vier Entwicklungs-
typen hinausgekommen. Mit vollem Recht
kämpfte er gegen die aus den Zeiten der
Präformationslehre von den Naturphilo—
ſophen hinübergenommene, und nun im
andern Sinne gedeutete kontinuirliche Ent—
wicklungsreihe, die man „wie eine Eiſen—
bahn nur vorwärts und rückwärts gehen
läßt, aber nicht zur Seite“, und er konnte
ſich auch ſpäter, als man ſie in viele Ne—
benlinien gehen ließ und nur den gemein—
ſamen Ausgangspunkt behauptete, nicht
mehr von jener vorgefaßten Meinung tren—
nen. Sein Werk wird darum nichts von
ſeinem Ruhme verlieren, das richtige Ver:
ſtändnis der Thatſachen der Entwicklungs—
geſchichte mußte eben durch den faſt unver—
meidlichen, aber doch verhängnisvollen
Umſtand erſchwert werden, daß man mit
dem Studium der komplizirteren Verhält—
niſſe der höchſten Tiere, ſtatt mit den ein—
facheren der niederſten das Werk begonnen
hatte, ein beim Dache angefangenes Ge—
bäude, dem man nun nachträglich vorſich—
tig die Fundamente und Pfeiler unterſchie—
ben mußte, um es in die Höhe des wahren
Wertes und weitſchauenden Glanzes zu
heben. Baer überſchätzte ſeine Arbeit am
wenigſten. Die Einfachheit ſeiner Funde
erfüllte ihn mit Hoffnung, denn „die Ein—
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 275
RN
fachheit,“ fo ſchrieb er als Motto auf fein
Buch, „iſt das Siegel der Wahrheit“.
Er wußte, daß der Bau dieſer Wiffen-
ſchaft noch nicht vollendet war und ſchrieb
1828: „Noch manchem wird ein Preis zu
teil werden. Die Palme aber wird der
Glückliche erringen, dem es vorbehalten
iſt, die bildenden Kräfte des tieriſchen
Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder
Lebensrichtungen des Weltganzen zu—
rückzuführen. Der Baum, aus welchem
ſeine Wiege gezimmert werden ſoll, hat
noch nicht gekeimt.“ Glücklicherweiſe war
letzteres der größte Irrtum Ba ers, der
Baum zur Wiege Darwins war damals
längſt gefallen.
Die Bedentung der Alpenblumen für die Blumentheorie.
Von
75 ES nſere Blumentheorie grün—
es det ſich auf die Voraus-
1 ſetzung der vorteilhaften
Wirkung der Kreuzung.
So oft aus Kreuzung her—
vorgegangene Nachkom—
men — ſo behaupten wir — mit aus Selbſt—
befruchtung hervorgegangenen in ernſten
Wettkampf verſetzt werden, bleiben die
erſteren Sieger. Nur wo dieſer Wettkampf
erſpart bleibt, kann auch Selbſtbefrucht—
ung oft viele Generationen hindurch der
Fortpflanzung genügen. Bei Blumen, de—
nen regelmäßig hinreichender Inſektenbe—
ſuch zu teil wurde, mußten daher, durch
Naturausleſe, Kreuzung begünſtigende
oder ſichernde Abänderungen zur Aus—
Inſektenbeſuche dagegen Abänderungen,
die ſpontane Selbſtbefruchtung ermöglich—
ten oder ſicherten, ohne jedoch daneben
gelegentliche Kreuzung auszuſchließen. Den
direkten Beweis für dieſe grundlegenden
Sätze finden wir in den im erſten Hefte
des Kosmos beſprochenen Verſuchen Dar—
wins“) „Über die Wirkungen der Kreu—
9 Kosmos, Bd. I, Heft 1, S. 57.
Dr. Hermann Müller.
zung und Selbſtbefruchtung im Pflanzen—
reiche“, einen indirekten in den Blüten—
einrichtungen der Pflanzen überhaupt, be—
ſonders aber in denen der Blumen.
Bei den darauf unterſuchten Blumen
hat ſich nämlich, wie ich zuerſt in meinem
Buche über „Befruchtung der Blumen
durch Inſekten“ in umfaſſender Weiſe dar—
gethan habe, als allgemeine Regel, die
nur einige wohl erklärbare Ausnahmen
darbietet, herausgeſtellt, daß Blumen,
denen ſtets hinreichender Inſektenbeſuch
zu teil wird, in der That ausſchließlicher
Kreuzung durch denſelben angepaßt ſind,
daß dagegen in dem Grade, als ihr In—
ſektenbeſuch unſicherer iſt, in ihrer Blüten—
einrichtung, neben der Beibehaltung der
prägung gelangen, bei unzureichendem
Möglichkeit der Kreuzung, Ermöglichung
oder Begünſtigung ſpontaner Selbſtbe—
fruchtung ſtattfindet. Kreuzung ergiebt ſich
alſo, wie aus den direkten Verſuchen Dar—
wins, ebenſo auch aus der Betrachtung
der Beſtäubungseinrichtungen der Blumen
erhellt, durchaus als die vorteilhaftere
Art der Befruchtung. Und wenn einerſeits
das Experiment den Vorzug unmittelbarer
Beweiskraft hat, ſo läßt ſich andrerſeits
Ns
Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie.
der indirekte Beweis aus den Beſtäubungs—
einrichtungen in viel größerem Umfange
erbringen. Es iſt vielleicht kaum ſchwieri—
ger, ihn an einigen hundert Blumen durch—
zuführen, als das Experiment an einigen
wenigen. Wenn ferner er auch für ſich
allein uns wohl kaum befriedigen könnte,
ſo erlangt er doch, mit den Ergebniſſen
der Darwinſchen Verſuche zuſammenge—
nommen, volle Überzeugungskraft und
führt uns ſogar noch einen Schritt weiter
als dieſe.
Aus den elfjährigen Verſuchen Dar—
wins geht nämlich nicht hervor, und es
würde vielleicht ſelbſt aus hundertjährigen
nicht hervorgehen, ob die Fähigkeit ge-
wiſſer Blumen, durch ſpontane Selbſtbe—
fruchtung ſich fortzupflanzen, eine be—
ſchränkte oder unbegrenzte iſt. Aus den
Blüteneinrichtungen dagegen können wir
ſchließen, daß ſie ihre Grenzen haben muß.
Denn wäre ſie unbegrenzt, ſo würde die
kleiſtogame Blütenform die vorteilhafteſte
mit ausſchließlich kleiſtogamen Blüten aus—
prägen müſſen. Thatſächlich iſt uns aber
nicht eine einzige Blume bekannt, die ſich
ausſchließlich durch ſpontane Selbſtbe⸗
fruchtung fortpflanzt.
Die Unterſuchung der Beſtäubungs—
einrichtungen der Blumen im Zuſammen—
hange mit ihrem thatſächlichen Inſekten—
beſuche ſcheint mir deshalb, wenn auch
erſt in zweiter Linie beweiskräftig, nun
eine nicht weniger weſentliche Stütze un—
ſerer Blumentheorie zu bilden, als der ex—
perimentelle Nachweis, daß aus Kreuzung
in der That kräftigere Nachkommen her—
vorgehen, als aus Selbſtbefruchtung.
Faſt alle bisher veröffentlichten der—
artigen Unterſuchungen waren im Tief—
277
lande, alſo unter anſcheinend weit günſtige—
ren Bedingungen, als ſie das Hochgebirge
darbietet, angeſtellt. In meinem jetzt unter
der Preſſe befindlichen Buchen) werden zum
erſtenmale die Blüteneinrichtungen und der
thatſächliche Inſektenbeſuch von mehreren
hundert Alpenblumen mitgeteilt. Indem
nun dieſe Beobachtungen den umfaſſenden
Nachweis liefern, daß bis zu den äußer—
ſten Vorpoſten des Blumenlebens, bis zum
ewigen Schnee hinauf, dieſelbe Regel gilt,
daß auch dort ſpontane Selbſtbefruchtung
niemals als alleiniger Befruchtungsmodus,
ſondern nur als Notbehelf bei ausbleiben—
der Kreuzung in Anwendung kommt, daß
auch dort Kreuzung immer und überall,
wo ſie zu haben iſt, als die vorteilhaftere
Fortpflanzungsart zur Geltung gelangt,
ſichern ſie der Blumentheorie nicht nur
eine breitere thatſächliche Grundlage, ſon—
dern zugleich eine weſentlich neue Stütze,
deren ſie bedürftig war. Sobald aber die
Grundlage unſerer Theorie geſichert iſt,
ſein und es hätten ſich zahlreiche Pflanzen
können wir ſie nach verſchiedenen Rich—
tungen hin zu einem wirklichen Fortſchritte
unſerer Erkenntnis der Blumenwelt in
Anwendung bringen:
1) können wir bei jeder einzelnen
Blumenart von der Kenntnis der Form
zum Verſtändnis der Funktion fortſchrei—
ten und für die bisher von den Botanikern
faſt ausſchließlich berückſichtigten morpho—
logiſchen Merkmale die biologiſche Erklä—
rung gewinnen. Wir werden dies mit ei—
niger Sicherheit zwar nur ſelten als Stu—
benbotaniker, durch Unterſuchung unſerer
Gartenblumen, erreichen können, wohl
aber, wenn wir die Blumen an ihren na—
*) Alpenblumen, ihre Befruchtung durch
Inſekten und ihre Anpaſſungen an dieſelben.
Leipzig, Wilh. Engelmann.
278 Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie.
türlichen Wohnorten aufſuchen und in
ihren mannigfachen Beziehungen zu ihrer
Umgebung, zu anderen gleichzeitig eben—
daſelbſt blühenden Arten, zu kreuzungs⸗
vermittelnden und plündernden Tieren, ins
Auge faſſen;
2) können wir Gruppen auf dieſe Weiſe
erforſchter, nächſtverwandter Arten ver—
gleichend überblicken, als aus dem näm—
lichen Stamme divergirend hervorgegan—
gene oder aufeinander gefolgte Entwicke—
lungsſtufen uns verſtändlich machen und
ſo für die ſyſtematiſche Gliederung, wenig—
ſtens der letzten Auszweigungen der Blu—
menſtammbäume, den genetiſchen Zuſam—
menhang und die ihn bedingenden biolo—
giſchen Momente ermitteln;
3) können wir die in den verſchiede—
nen, auf dieſe Weiſe durchforſchtenPflanzen—
abteilungen in ihrer natürlichen Aufein—
anderfolge zu tage getretenen Anpaſſungs—
ſtufen der Blumen, zuſammen mit den An—
paſſungsſtufen der als ihre Kreuzungs—
vermittler beobachteten Inſekten, benutzen,
um von der allmählichen Ausprägung der
Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und
Inſekten zu ihrer heutigen Mannigfaltig⸗
keit ein beſtimmtes, auf Thatſachen ge—
ſtütztes Geſammtbild zu gewinnen.
Die an den Alpenblumen von mir an-
geſtellten Unterſuchungen ſind nun, wie
ich glaube, nicht nur für das Fundament
unſerer Blumentheorie, ſondern auch für
ihren Ausbau in den drei fveben bezeich-
neten Richtungen von Bedeutung. Denn
J) iſt durch dieſelbe erreicht worden, daß
wir nun von mehreren hundert Alpen—
blumen der verſchiedenſten Familien und
Anpaſſungsſtufen durch Beobachtung an
Ort und Stelle nicht nur die Beftäubungs-
einrichtung, ſondern auch in einigem Um:
fange den Inſektenbeſuch und die Wechſel—
beziehungen zwiſchen beiden kennen, wor—
aus ſich ein Einblick in die Eigentümlich—
keiten der einzelnen Blumen ergiebt;
2) habe ich im unmittelbaren Anſchluß
an diejenigen Familien, aus denen mir
eine größere Zahl auf verſchiedener Ent—
wickelungshöhe ſtehender Formen vorlagen,
jedesmal einen vergleichenden Rückblick
über dieſelben gegeben und ihren genea—
logiſchen Zuſammenhang, ſoweit er ſich,
aus den Beſtäubungseinrichtungen erken—
nen läßt, klar zu legen verſucht.
3) Wie und in welcher Aufeinander—
folge die verſchiedenenen Anpaſſungsſtufen
der Blumen zur Ausprägung gelangt ſein
mögen, habe ich bereits in meinem Auf—
ſatze „Die Inſekten als unbewußte Blumen⸗
züchter““) in allgemeinen Umriſſen darzu⸗
ſtellen verſucht, großenteils, wie den Leſern
dieſer Zeitſchrift bekannt, auf grund mei—
ner an den Alpenblumen geſammelten Be-
obachtungen. Eine weſentliche Vervoll—
ſtändigung hat dieſe Skizze nun dadurch
erfahren, daß ich auch von der ſtufenwei—
ſen Entwickelung der Blumenfarben aus
den vorliegenden Beobachtungen ein Ge—
ſammtbild zu gewinnen und in meinem
Alpenblumen-Werke darzuſtellen verſucht
habe.
Von grundlegender Wichtigkeit für
alle dieſe drei Richtungen, nach denen ich
in dieſem Buche die Blumentheorie weiter
auszubauen verſucht habe, ſind Tauſende
von Einzelbeobachtungen, die einen großen
Teil deſſelben füllen, hier aber ſelbſtredend
nicht wiedergegeben werden können. Auch
in bezug auf die einzelnen eingehend er—
örterten und durch Abbildungen veran—
ſchaulichten Alpenblumen muß ich den Leſer
9 Kosmos, Bd. III.
4
S u
Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie.
auf das demnächſt erſcheinende Werk ſelbſt
verweiſen. Nur die in bezug auf Ver—
wandtſchaftsverhältniſſe von Blumen ge—
wiſſer Familien und auf Entwickelung von
Blumenfarben erlangten allgemeinen Er—
gebniſſe erſcheinen mir von hinreichend all—
gemeinem Intereſſe, um hier Platz finden
zu dürfen.
Bei den Liliazeen (im weiteren
Sinne) läßt ſich aus den Blumeneinrich—
tungen der betrachteten Formen ſchließen,
daß ihre Stammeltern offene, regelmäßige,
honigloſe Blüten beſeſſen haben, die nur
von Pollen aufſuchenden Inſekten beſucht
und gekreuzt wurden und im Notfall durch
ſpontane Selbſtbefruchtung ſich fortpflanz—
ten. Erſt nach der Spaltung in verſchie—
dene Familienzweige hat ein Teil der Li—
liazeen die Abſonderung offenen, allgemein
zugänglichen Honigs, teils aus den Peri—
gonblättern, teils aus den Fruchtblättern
erlangt, während ein anderer Teil honig—
los“) geblieben iſt. Die letzteren werden
noch heute entweder nur von Pollenſamm—
lern und Pollenfreſſern gekreuzt (Tulipa)
oder ſind zu Täuſchblumen geworden, die
dumme, fäulnisſtoffliebende Fliegen an ſich
locken (Paris).““) Die aus den Frucht—
blättern Honig abſondernden Liliazeen
haben zum teil offene Blüten mit allge—
mein zugänglichem Honig behalten (Tofiel-
dia, Anthericum), zum teil haben ſie durch
Zuſammenſchließen der Blumenblätter ei—
nem beſchränkteren, aber doch noch ſehr
gemiſchten Beſucherkreis (Allium), oder
auch einer beſtimmten langrüſſeligen In—
ſektenform ſich angepaßt (Paradisia: Nacht-
faltern und Schwärmern), oder ſie ſind
*) D. h. ohne Abſonderung von Nektar
nach außen.
) Kosmos, Bd. III, S. 336.
1
279
durch Zuſammenwachſen der Blütenhülle
zu einer kürzeren oder längeren Glocke zu
Bienenblumen (Convallaria verticillata)
oder Hummelblumen (C. Polygonatum)
geworden.
Die aus den Perigonblättern Honig
abſondernden Liliazeen ſind ebenfalls teils
völlig oder ziemlich offenblumig geblieben
und vorzugsweiſe von kurzrüſſeligen In—⸗
ſekten, namentlich Dipteren, in Beſchlag
genommen und auf ſie als Kreuzungsver—
mittler angewieſen (Veratrum, Gagea,
Lloydia), teils ſchließen ihre unverwachſen
bleibenden Perigonblätter zu herabhan—
genden Glocken zuſammen, die von Bienen
befruchtet werden (Fritillaria), teils haben
ſich ihre Nektarien zu engen, gedeckten Rin—
nen umgebildet, die nur Faltern zugäng—
lich ſind (Lilium); endlich hat ſich bei den
letzteren wiederum eine Umprägung von
Tagfalterblumen (eine ſolche iſt noch Li-
lium bulbiferum) zu Schwärmerblumen
(L. Martagon) vollzogen. Dieſe mannig-
fachen Anpaſſungen ſind faſt alle mit faſt
völliger Beibehaltung der Regelmäßigkeit
der Blumenform vor ſich gegangen; nur
die Anpaſſung an Falter (Paridisia, Li-
lium) und die Wagerechtſtellung der Blü—
‚ten bei Anthericum hat eine unregel—
mäßige Biegung der Befruchtungsorgane,
beſonders des Griffels, mit ſich geführt.
Ein Rückblick auf die Orchideen der
Alpen zeigt, daß über der Grenze des
Baumwuchſes faſt nur noch falterblumige
Arten dieſer Familie vorkommen, während
in tieferen Regionen mehr und mehr an—
deren Beſucherkreiſen angepaßte Formen
verbreitet ſind. Von neun Orchideenarten,
die von der Baumgrenze aufwärts noch in
großer Häufigkeit auftreten oder in dieſer
Region ſogar ihre hauptſächliche Verbrei—
—
0
280
tung haben, ſind nämlich 6 (Orchis ustu—
lata und globosa, Gymnadenia conopsea
und odoratissima, Nigritella angustifolia
und Platanthera solstitialis) unzweifel-
haft, 2 (Gymnadenia albida und Peri-
stylus viridis), nach ihrem engen Sporn—
eingange zu ſchließen, höchſt wahrſchein—
lich Falterblumen. Während hiernach von |
den hochalpinen Orchideen mindeſtens ¾,
wahrſcheinlich ſogar den Schmetter—
lingen angepaßt ſind (nur bei Chamae-
orchis alpina iſt dies ſicher nicht der
Fall“), kommen z. B. in Weſtfalen von 35 |
verſchiedenen Orchideenarten nur 6, alſo
nur wenig über ¼ auf die Schmetterlinge,
und ſelbſt dieſe wenigen wurden meiſt nur
ſehr ſpärlich von Faltern beſucht gefunden,
während unter den hochalpinen, falterblu—
migen Orchideen namentlich Nigritella
angustifolia ein wahrer Tummelplatz der
mannigfaltigſten Schmetterlinge iſt (es
wurden nicht weniger als 47 verſchiedene
Falterarten auf ihr beobachtet).
Die Craſſulazeen ſind durch die in
offenbarem Zuſammenhang mit der Va—
riation der Größe erfolgte Abänderung
der Zahl der Blütenteile ““) von beſonde—
rem Intereſſe. Mit der Verkleinerung der
Blumen iſt die urſprüngliche Fünfzahl der
Blütenteile bei Bulliardia auf 4, bei Til-
laea auf 3 herabgeſunken; dagegen hat
ſie ſich mit der Vergrößerung der Blumen
bei Sedum von 5 bis zu 7, bei den be-
trachteten Sempervivum- Arten ſogar ſtu—
fenweiſe bis zu 16 geſteigert.
Von den Saxifragen ſagt ihr gründ— |
*) Denſelben Geſichtspunkt habe id) bereits
in meinem Aufſatze „Das Variiren der Größe
gefärbter Blütenhüllen“, Kosmos, Bd. II, S. 134,
geltend gemacht.
Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie.
lichſter Kenner Dr. A. Engler, der nicht
weniger als 162 verſchiedene Arten mono—
graphiſch bearbeitet hat: „Die Blüten aller
Saxifragen find protandriſch, d. h. ihre
Staubblätter entwickeln ſich vor Entfal—
tung der Narbe und verſtäuben, ehe die
Narbe in der Lage iſt, den Pollen ihrer
Blüte anzunehmen.“ “) Es verdient daher
gewiß Erwähnung, daß unter 13 von mir
eingehender unterſuchten und abgebildeten
alpinen Saxifraga-Arten 3 proterogyn ſind,
d. h. gerade im Gegenteil die Narben vor
den Staubgefäßen entwickeln, nämlich Se-
guieri, muscoides und androsacea, wäh—
rend die hochalpine oppositifolia, ebenſo
wie im Tieflande tridactylites, an der
einen Lokalität proterandriſch, an der an—
dern proterogyn auftritt.
Eine beſonders bemerkenswerte Eigen—
tümlichkeit der ausgeprägt proterogynen
Arten iſt die außerordentliche Größever—
ſchiedenheit ihrer Blumen im erſten, weib—
lichen, und im zweiten, männlichen Zu—
ſtande. Nach dem Verſchrumpfen der Nar-
ben wachſen ſie nämlich noch in dem Grade,
| daß ſich ihr Durchmeſſer fait auf das Dop—
pelte oder ſelbſt darüber hinaus ſteigert.
Offenbar wird dadurch die für die Kreuzung
der Blumen geeignete Reihenfolge der
Beſuche eines und deſſelben Inſekts we—
ſentlich begünſtigt, da Inſekten im allge—
meinen die augenfälligeren Blumen früher
beſuchen, als die ihnen weniger in die
Augen fallenden. Bei den proterandriſchen
Arten findet eine derartige Blumenver—
größerung im zweiten Entwickelungsſtadi—
um nicht ſtatt.
Auch unſere Kenntniß der Gattung
Viola wird durch die eingehendere Be—
| Ns 5 Dr. A. Engler, Monographie der Gat—
tung Saxifraga L. Breslau, 1872. S. 26.
eee
4
trachtung der alpinen Arten weſentlich er—
weitert. Denn während unſere Tieflands—
veilchen, ſoweit bekannt, ſämmtlich den
Bienen angepaßt ſind und von den Fal—
tern nur eine untergeordnete Mitwirkung
an der Kreuzungsvermittlung erfahren,
treffen wir auf den Alpen einerſeits die
aus einer Bienenblume zu einer Falter:
blume umgezüchtete Viola calcarata, an-
dererſeits die auf einer niederen Anpaſ—
ſungsſtufe ſtehen gebliebene, kurzrüſſeligen
Dipteren angepaßte V. biflora. An der
Kreuzungsvermittlung der letzteren betei—
ligt ſich in ſehr untergeordneter Weiſe
auch eine ſehr kleine Biene (Halictus cy-
lindricus), aber in ſo wenig geſchickter
und zweckmäßiger Weiſe, daß ſie uns ge—
rade dadurch den Übergang einer Bienen—
art zur Ausnützung eines bis dahin den
Dipteren angehörigen Veilchens in ſeinen
erſten Anfängen klar vor Augen legt und
uns verſtändlich macht, wie die urfprüngs
lich kurzrüſſeligen Dipteren angepaßten
Veilchen ſpäter großenteils zu Bienen⸗
blumen haben ausgeprägt werden können.
Ebenſo bietet uns für den Übergang der
bienenblumigen V. tricolor in die falter⸗
blumige V. calcarata die in der ſubalpi—
nen Region häufige var. alpestris der er⸗
ſteren ſowohl in bezug auf Blütenbau als
auf thatſächlichen Inſektenbeſuch eine lehr—
reiche Zwiſchenſtufe dar.
Die Karyophylleen zeigen in be—
ſonders einfacher und klarer Weiſe den
Übergang von offenen, geruchloſen Blüten
mit allgemein zugänglichem Honig, mit
weißlicher oder gelblicher Blumenfarbe
lingsarten beſucht gefunden. Gleichwohl
und mit einem ſehr gemiſchten Beſucher—
kreiſe, der haupſächlich aus Dipteren be—
ſteht, zu becherförmigen und röhrenförmi—
gen Blumenbildungen mit immer tiefer
Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie.
281
geborgenem Honig und dadurch immer
engerer Beſchränkung des Beſucherkreiſes,
mit immer vorwiegenderer Beteiligung der
Schmetterlinge und gleichzeitig immer ent—
ſchiedenerer Ausprägung lieblichen Wohl—
geruchs, roter Blumenfarbe, feiner Zeich—
nung um den Blüteneingang herum und
zierlicher Auszackung und Zerſchlitzung
des Blütenumriſſes. Die Ausprägung die—
ſer uns ſelbſt ſo angenehm berührenden
Blumeneigentümlichkeiten in gleichem Ver—
hältniſſe mit der vorwiegenden Beteiligung
der Falter an der Kreuzungsvermittlung
läßt kaum einen Zweifel, daß ſie durch
deren Blumenauswahl gezüchtet worden
ſind. Und zwar ſcheint von dieſen auf
Rechnung der Falter zu ſetzenden Züch—
tungsprodukten zuerſt die rote Farbe, zu—
letzt erſt der liebliche Wohlgeruch zur Aus—
prägung gelangt zu ſein. Denn die erſtere
finden wir bereits bei Formen, an deren
Kreuzungsvermittlung ſich auch Bienen
noch erheblich beteiligen (z. B. Lychnis
flos cuculi), während den letzteren ſelbſt
ausgeprägtere Tagfalterblumen (Silene
acaulis, Saponaria ocymoides) noch ver—
miſſen laſſen.
Der große Falterreichtum der Alpen
ſpricht ſich, wie bei den Orchideen, ſo auch
bei den Karyophylleen nicht nur darin aus,
daß eine verhältnismäßig große Zahl ihrer
die Alpen bewohnenden Arten Falterblu—
men ſind, ſondern auch in dem außeror—
dentlich reichen Falterbeſuche, der einzel—
nen derſelben zu teil wird. Saponaria
ocymoides z. B. wurde von 32, Silene
acaulis von 31 verſchiedenen Schmetter—
vermag die einzige Macroglossa stellata-
rum mit ihrer hervorragenden Rüſſellänge
und ihrer ſtaunenswerten Leiſtungsfähig—
\
a
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4.
36
282
keit im Blumenfreuzen*) das ganze Heer
der Tagfalter in dem Grade aus dem
Felde zu Schlagen, daß ſie ſich zwei Nel—
ken der Alpen (Dianthus silvestris und
superbus) zu ihrer alleinigen Ausnützung
gezüchtet hat.
Die ſtufenweiſe Steigerung der ur—
ſprünglich offenblumigen Karyophylleen bis
zu langröhrigen Schwärmerblumen iſt mit
voller Beibehaltung der Regelmäßigkeit
und der nach oben gekehrten Stellung der
Blüten erfolgt. Die Neigung, in dieſer
Beziehung abzuändern und ſeitlich gerich—
tete oder ſenkrecht abwärtshängende Blu—
menabänderungen darzubieten, die von
den Bienen als Ausgangspunkt zur Züch—
tung von Bienenblumen hätten benutzt
werden können, ſcheint, ſoweit meine Be—
kanntſchaft mit derſelben reicht, der ganzen
Karyophylleen-Familie vollſtändig fremd
geblieben zu ſein.
Die Roſifloren ſind faſt durchweg
auf einer ziemlich niedrigen Stufe der
Anpaſſung an kreuzungsvermittelnde In—
ſekten ſtehen geblieben. Außer Geum ri—
vale, das durch feine glockig geſchloſſenen,
nickenden Blumen den Hummeln angepaßt
erſcheint und thatſächlich faſt nur von
Hummeln, von dieſen aber mit beſonderer
Vorliebe beſucht wird““), finden wir unter
ihnen keine einzige ausgeprägte Bienen- oder
Falterblume, dafür aber um ſo mannig—
fachere Abſtufungen von den niedrigſten,
urſprünglichſten Blumenformen, die in
offener, regelmäßiger Blüte nur Pollen
darbieten (Spiraea Ulmaria und Arun-
) Siehe Kosmos, Bd. III, ©. 425.
*) Bei Lippſtadt z. B. laſſen die Hummeln,
ſobald Geum rivale aufgeblüht iſt, die in der
Nähe wachſende Primula elatior, die ſie bis
dahin unausgeſetzt in großer Zahl beſucht haben,
faſt unberührt.
Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie.
cus) oder daneben völlig offen liegenden
Honig (Sibbaldia, Alchemilla, Aronia)
zu ſolchen, die den Honig im Grunde eines
flachen oder tiefen, napfförmigen bis tief
becherförmigen Kelches bergen und ſo den
Inſektenbeſuch immer mehr beſchränken,
bis endlich die Bienen wenigſtens einen
vorwiegenden Anteil an der Kreuzungs—
vermittlung nehmen. Von beſonderem In—
tereſſe ſind von dieſen Abſtufungen einige
gerade unter den Alpenblumen vertretene
Arten, die eine nicht ſehr tiefe, aber honig—
reiche Schale durch die zuſammenneigenden
Blumenblätter und Staubgefäße ſo über—
decken, daß der reiche Honigvorrat nur
höhlengrabenden Hymenopteren bequem
zugänglich bleibt, die gewohnt ſind, den
Kopf zwiſchen Hinderniſſen hindurchzu—
drängen. Die wenig tiefe Lage des Honigs
dieſer Blumen (Cotoneaster, Rubus sa-
xatilis) macht es wahrſcheinlich, daß ſie
von noch ziemlich kurzrüſſeligen Hymenop—
teren (Grabwespen, echten Wespen) ge—
züchtet worden find, und die Felſenmispel
(Cotoneaster vulgaris) kennzeichnet ſich
auch durch den ihr thatſächlich zu teil wer—
denden Inſektenbeſuch noch heute als Wes—
penblume. Ich fand ſie nämlich an den—
ſelben Felsblöcken und Klippen, an denen
die Steinwespe, Polistes biglumis, ihr
eine nackte, einſchichtige, geſtielte Wabe
bildendes Neſt angekittet hatte, und aus—
ſchließlich von dieſer, von ihr aber ſehr
häufig beſucht.
Wie die Familie der Ranunkulazeen,
ſo enthält auch die der Roſazeen einzelne
Windblütler. Während aber die wind—
blütigen Ranunkulazeen (Thalictrum) mit
ihren wenig ausgebreiteten Narben und
bei einigen Arten noch etwas kleberigem
Pollen von der Inſektenblütigkeit zur
Windblütigkeit zurückgekehrt zu fein ſchei—
nen, macht unter den Roſazeen die inſekten—
blütige Sanguisorba mit ihrem Büſchel
divergirender Narben vielmehr den Ein—
druck, der Abkömmling eines Poterium-
ähnlichen Windblütlers zu ſein.
Die Papilionazeen haben einſeitige
Anpaſſung an einen beſtimmten Beſucher—
kreis höhlengrabender Hymenopteren ſchon
von ihren gemeinſamen Stammeltern er—
erbt, und laſſen daher einen Fortſchritt
von niederen zu höheren Anpaſſungs—
erkennen.
Die Boragineen ſtehen in ihrer
Ausbildungsrichtung in einem bemerkens—
werten Gegenſatze zu den Karyophylleen.
gepaßt fanden, ſind dagegen bei den Bora—
gineen alle Formen mit tiefer geborge—
nem Honig den Bienen angepaßt. Für
das Verſtändnis der beiderlei Anpaſſun—
beide Familien vergleichend zu überblicken.
ihren niederen Anpaſſungsſtufen völlig
offene, allgemein zugängliche Blüten von
fachen kurzrüſſeligen Inſekten, vorwiegend
werden. Allmählich tritt tiefere Bergung
des Honigs und damit Beſchränkung des
Beſucherkreiſes auf eine engere Zahl lang—
und mehr an der Kreuzungsvermittlung
beteiligen, kommen ſtatt der weißen immer
ſchönere, rote Blumenfarben zur Ausprä—
gung. Zahlreiche rote Tag- und weiße
der Kreuzungsvermittlung der Falter an-
gen kann es daher nur förderlich ſein, |
meiſt weißer Blumenfarbe, die von mannig-
rüſſeliger Fliegen, Bienen und Falter ein,
und in dem Grade, als Tagfalter ſich mehr
Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 283
Nachtfalterblumen find jedoch die höchſten
ſtufen nur innerhalb engerer Grenzen
Blumenleiſtungen, zu welchen die Familie
der Karyophylleen ſich aufgeſchwungen hat.
Eine andere Anpaſſungsrichtung hat ſie,
ſoweit ſich aus den betrachteten Formen er—
kennen läßt, überhaupt nicht eingeſchlagen.
Andere Blumenfarben als Weiß und Rot
ſcheinen nur bei ſehr vereinzelten Arten
vorzukommen (3. B. Gelblich-grün bei Si-
lene chlorantha, Schwefelgelb bei Sapo-
naria lutea, die ich beide nicht näher
kenne); bienen- oder hummelblütige Kary—
ophylleen ſind, bis jetzt wenigſtens, nicht
bekannt.
Während wir bei letzteren die höher ent-
wickelten Blumenformen immer einfeitiger |
Die Boragineen dagegen haben einen
gewiſſen Grad von Bergung des Honigs
im Grunde einer kurzen Blumenröhre offen—
bar ſchon von ihren Stammeltern ererbt.
Schon auf der unterſten Stufe (Asperugo,
Echinospermum, Omphalodes, Myoso—
tis) ſehen wir ſie von einem gewählteren
Kreiſe von Fliegen (beſonders Syrphiden),
Bienen und Faltern beſucht und gekreuzt
und mit roten, violetten und blauen Far—
ben geſchmückt, die wir wohl als das
Züchtungsprodukt dieſer Gäſte betrachten
Die Karyophylleen zeigen uns auf
dürfen. Doch weiſt uns der bei vielen
Arten im Laufe der individuellen Entwick—
jedoch von Dipteren, beſucht und gekreuzt
lung erkennbare Fortſchritt in der Aus—
bildung der Blumenfarbe (Weiß, Roſenrot,
Blau bei verſchiedenen Myosotis-Arten,
Gelb, Bläulich, Violett bei M. versicolor,
Rot, Violett, Blau bei Pulmonaria u. ſ. w.)
mit Beſtimmtheit darauf hin, daß auch
hier Weiß und Gelb die zuerſt entwickelten
Blumenfarben geweſen ſind, und daß ſich,
wenigſtens in vielen Fällen Violett und
Blau erſt aus dem Rot entwickelt haben,
eine Annahme, die uns zugleich die weißen
und roſenroten Abänderungen violett- und
blaublumiger Arten (Myosotis, Anchusa,
284
ge
Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie.
Symphytum) als Rückfall in urelterliche
Eigentümlichkeiten verſtändlich macht.
Von den bezeichneten Anfängen aus
iſt dann die Familie der Boragineen in
verſchiedenen Richtungen zur Anpaſſung
an Bienen und Hummeln fortgeſchritten.
Pulmonaria hat durch einfache Verlänge-
rung der Röhre die weit überwiegende
Mehrzahl aller Nicht-Hummeln vom Ge—
nuſſe des Honigs ausgeſchloſſen und durch
ausgeprägte dimorphe Heteroſtylie Kreu—
zung bei eintretendem Hummelbeſuche ge—
ſichert. Anchusa hat eine noch wirkſamere
Beſchränkung auf Bienen durch Verſchlie—
ßung des Blüteneinganges erreicht und
lokal ebenfalls Anfänge zur Ausbildung
dimorpher Heteroſtylie gemacht (teste War—
ming), die aber noch nirgends zur Durch—
führung gelangt ſind. Echium hat, ohne
andere Gäſte auszuſchließen, durch Anpaſ—
ſung der Blumenform an die den Bienen
bequemſte Bewegungsweiſe einen erſtaun—
lich reichlichen und mannigfaltigen Bienen—
beſuch und durch Proterandrie und her—
vorragende Stellung der entwickelten Nar—
ben Sicherung der Kreuzung erlangt. Bo—
rago kehrt ſeine Blüten nach unten, legt
ſeine Antheren zu einem den Blütenein—
gang verſchließenden Kegel zuſammen und
ſchließt dadurch alle diejenigen Beſucher
vom Honiggenuſſe aus, welche nicht, wie
die Bienen, von unten angeklammert, ihren
Rüſſel zwiſchen eng zuſammenſchließenden
Teilen hineinzudrängen vermögen. Sym—
phytum und Cerinthe endlich erfordern
zur Gewinnung ihres Honigs nicht blos
dieſelben Anſtrengungen, ſondern über—
dies, da ſie denſelben im Grunde einer
langen, nach unten gekehrten Glocke ber—
gen, einen langen Rüſſel des von unten
angeklammerten Inſekts, und ſind daher
nur Hummeln und eben ſo langrüſſeligen
Bienen zugänglich.
Wie in andern Familien, ſo ſehen wir
auch bei den Boragineen von den Bienen die
verſchiedenſten Blumenfarben gezüchtet.
Von den Skrophulariazeen laſſen
ſich meinem früher gegebenen Rückblicke“)
auch die auf den Alpen von mir beobachteten
Arten einordnen. Dieſe geben ihm aber nicht
allein eine breitere thatſächliche Unterlage,
ſondern vertiefen auch unſeren Einblick, na—
mentlich in Bezug auf die mit Beſtreuungs—
einrichtungen ausgerüſteten Arten. Denn an
Euphrasia lutea, welche von den früher
betrachteten Arten die niedrigſte Entwick—
lungsſtufe der Beſtäubungsmechanismen
darſtellt, ſchließt ſich nun Tozzia alpina
als eine noch niedrigere Stufe an, und
es iſt bemerkenswert, daß ſie ſich ſowohl
durch ihre Farbe als durch ihren thatſäch⸗
lichen Inſektenbeſuch als Dipterenblume
kennzeichnet. Während wir bisher von dem—
jenigen Familienzweige der Skrophularia—
zeen, der ſich durch loſen, ausſtreubaren
Pollen auszeichnet, den Rhinanthazeen, nur
1) den Bienen und Fliegen, 2 ausſchließ—
lich den Bienen, namentlich Hummeln, an⸗
gepaßte Blumenformen kannten, kennen
wir nun von demſelben Familienzweig:
1) eine den Dipteren angepaßte Form
(Tozzia); dann liegen uns 2) in den Eu-
phrasia-Arten eine Anzahl von Blumenfor—
men vor, die neben Fliegen teils ebenſo—
viel, teils ſelbſt noch mehr Bienen als
Kreuzungsvermittler an ſich locken, 3) kennen
wir in den Arten der Gattungen Rhinan-
thus, Melampyrum, Bartsia und Pedicu—
laris eine noch weit größere Zahl noch hö—
her ausgebildeter Beſtreuungsmechanis—
men, die urſprünglich ganz ausſchließlich
9 Befruchtung der Blumen, S. 303305.
n EEE
4 .
Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie.
Bienen und zwar hauptſächlich den nah—
unſerer wildlebenden Bienen, den Hum—
meln, angepaßt waren und größtenteils
auch geblieben ſind (Hummelblumen). Nur
in der Gattung Rhinanthus hat ſich beim
Vordringen in falterreiche Gegenden die
Hummelblume erſt der gleichzeitigen, dann
der ausſchließlichen Kreuzung durch Fal—
ter angepaßt, fo daß wir 4) in Rhinanthus
Alectorolophus eine Hummel- und Falter:
Blume und 5) in Khinanthus eine Falter:
blume beſitzen. Bei letzterer iſt der Be—
ſtreuungsmechanismus wohl noch vorhan—
den, aber die Thür, welche zu den ihn in
Bewegung ſetzenden Hebeln führt, iſt ver—
ſchloſſen; er kommt daher wenigſtens den
normal ſaugenden eigentlichen Kreuzungss |
vermittlern, den Faltern, gegenüber nicht
P. palustris ſchärfer vom Fruchtknoten
abſetzt und bei den Rhinanthus-Arten zu
mehr als Beſtreuungsmechanismus in An—
wendung.
In Bezug auf die Vervollkommnungs⸗
ſtufen der Beſtreuungseinrichtungen inner—
halb dieſes Familienzweiges verweiſe ich
auf meinen frühern Rückblick. In dem—
ſelben würde Bartsia neben Melampyrum
zu ſtellen ſein, die Pedicularis-Arten mit
annähernd wagrechter Korolla (verticilla-
ta, palustris) und die mit noch ſymmetriſch
geſtellter Unterlippe verſehene P. recutita
vor P. silvatica, während endlich die nicht
blos ihre Unterlippe, ſondern auch ihre
ſchnabelförmig verlängerte Oberlippe un—
ſymmetriſch nach einer Seite drehenden Ar—
ten (rostrata, tuberosa, asplenifolia) in
einſeitiger Anpaſſung an Hummeln noch
über P. silvatica hinausgehen, obwohl ſie
offenbar einem anderen Zweige der Gat—
tung angehören. f
Beſonders lehrreich iſt die Familie der
Skrophulariazeen überhaupt, insbeſondere
285
aber auch der durch Beſtreuungseinrich—
rungsbedürftigſten und blumeneifrigſten
tungen ausgezeichnete Zweig derſelben,
durch die allmählichen Abſtufungen, die
er in der Ausbildung der Nektarien dar—
bietet. Zunächſt ſcheidet ein Teil eines be—
reits vorhandenen Organes, und zwar hier
der unterſte Teil der Außenwand des
Fruchtknotens, aus ſeinem Zellgewebe Saft
ab, und zwar erſt ringsum (Tozzia), dann
vorzugsweiſe oder ausſchließlich nach unten
(Euphrasia). Mit der Steigerung dieſer
ſeiner neuen phyſiologiſchen Funktion ver—
dickt ſich das ausſcheidende Gewebe und
hebt ſich allmählich ſtärker und ſtärker her—
vor, bei Euphrasia minima als faſt un⸗
merklicher, bei E. salisburgensis und Pe—
dicularis asplenifolia als deutlicher Höcker,
bei P. verticillata und recutita als ſtark
vorſpringende Anſchwellung, die ſich bei
einem vorn an der Unterſeite des Frucht—
knotens hervortretenden, ſich mit Nektar
füllenden Napfe geſtaltet, der endlich bei
Rh. alpinus in ſchönſter Ausbildung vor—
liegt. So führt uns eine Reihe von Ab—
ſtufungen von der Saftausſcheidung eines
bereits vorhandenen, aber urſprünglich
einer ganz anderen Funktion dienenden
Organes zur Ausbildung eines beſonderen
Nektariums.
Die Labiaten ſind, ebenſo wie die
Papilionazeen, in ihrer großen Mehrzahl
ausgeprägte Bienen- und Hummelblumen.
Nur haben auf der einen Seite Mentha,
Thymus und einige andere Gattungen
zwar Blumenkronenröhren mit völlig ge—
borgenem Honig, ſind aber übrigens noch
nicht einſeitig den Bienen oder überhaupt
nur höhlengrabenden Hymenopteren ange—
paßt und werden thatſächlich von einer ge—
en
286 Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie.
miſchten Geſellſchaft nicht ganz kurz rüſſe—
liger Inſekten beſucht und befruchtet. Sie
ſtehen ohne Zweifel den Stammeltern der
Familie noch am nächſten und ſtellen die—
jenige niedere Anpaſſungsſtufe dar, von
der uns die bienen- und hummelblütigen
Labiaten zur Ausprägung gelangt ſind.
Auf der anderen Seite haben wir, nach
Errera“), in Monarda eine falterblumige
Labiate; ſie iſt jedenfalls aus einer Bienen—
oder Hummelblume erſt nachträglich zu
einer Falterblume umgezüchtet worden.
Über die geſchichtliche Entwickelung der
Gattung Gentiana habe ich bereits vor
Jahren aus den Blüten-Einrichtungen der
alpinen Arten eine Überſicht abgeleitet und
veröffentlicht“), die jetzt nur durch G. cili-
ata eine Erweiterung erfährt. Dieſe ge—
hört demjenigen Familienzweige an, der
aus dem unterſten Teile der Korolla Ho—
nig abſondert. Durch Franſen der Blu—
menblätter haben ihre Blüten einen un—
vollkommnen Schutz gegen nutzloſe Beſu—
cher erlangt und durch Verengung der
Blumenglocke Berührung ſowohl der Nar—
ben als der Antheren durch die beſuchenden
Hummeln geſichert. So ſtellt ſie eine eigen—
tümliche hummelblütige Untergattung
(Crossopetalum) dar, aus der ſich erſt durch
Vervollkommnung des Franſengitters und
noch engeres Anſchließen der Korolla an
das Ovarium die hummel- und falterblü—
tige Untergattung Endotricha entwickelt
haben dürfte.
Die Primulazeen bieten in ihren Blü—
tenformen mannigfache Abſtufungen dar
*) LEO Errera & Gustave Gevaert,
Sur la structure et les modes de fécon—
dation des fleurs. Bruxelles, 1879, p. 95-98.
) Vgl. Kosmos, Bd. I, S. 162. Dort
von offenen, honigloſen oder mit allgemein
zugänglichem Honig verſehenen Blumen
bis zu ſolchen, die durch die Art ihrer Honig—
bergung und ihren ganzen Blütenbau einem
beſtimmten engeren oder weiteren Kreiſe
langrüſſeliger und blumeneifriger Inſek—
ten (Bienen, Falter) angepaßt ſind. Die
Regelmäßigkeit der Blumenformen iſt bei
keiner dieſer Anpaſſungen in bedeutendem
Grade verloren gegangen. Die von mir
unterſuchten alpinen Primulazeen gehören
nur drei Gattungen an, die ſich ſämmtlich
durch Abſonderung von Nektar aus der
Fruchtknotenwand und durch mehr oder
weniger tiefe Bergung desſelben ſchon viel
weiter als z. B. Trientalis und Lysimachia
von der Stammform entfernt haben. Die
Androsace-Arten bergen ihren Nektar im
Grunde einer zwar kurzen Röhre, deren
Eingang aber in ähnlicher Weiſe wie bei
Myosotis jo bedeutend verengt iſt, daß
nur ein gewählter Kreis zwar zum Teil
ziemlich kurzrüſſeliger, aber durchaus blu—
meneifriger und blumenſteter Gäſte (Fal-
ter, Bienen, blumenſteter Fliegen) Zutritt
zu demſelben behält. Die Soldanella-Arten
haben ſich durch Umbildung der Korolle
zu einem mehr oder weniger geneigten oder
herabhangenden Glöckchen, durch enges
Zuſammenſchließen der Antheren um den
Griffel herum und verſchiedengradige Aus—
bildung eines den Honigzugang verengen—
den Schirmes mehr oder weniger eng den
Bienen und Hummeln, die Primula-Arten
im Tieflande (P. elatior, officinalis) den
Hummeln, auf den Alpen den Tagfaltern
(farinosa, integrifolia, villosa, viscosa,
minima) und Tagſchwärmern (longiflora)
angepaßt.
Auch unſere Kenntnis der Erikazeen
ift ſtatt Cyclanthera Cyelostigma zu ſetzen! wird durch die Hinzunahme der alpinen
1
Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie.
Arten nach mehreren Richtungen hin we—
ſentlich erweitert. Während uns nämlich
die bisher betrachteten Erica Calluna- und
Vaceinium-Arten unſeres Tieflandes nur
mehr oder weniger durchgeführte Anpaſ—
ſungen einer glockigen Korolle an Bienen
zeigen, mit völliger Beibehaltung der Re—
gelmäßigkeit (nur bei Calluna biegen ſich
Stempel und Staubgefäße in die obere
Hälfte der Blüte), lernen wir in Arcto—
staphylos*) eine noch hochgradigere An—
paſſung gleicher Art, in den beiden Rhodo—
dendron-Arten dagegen Hummelblumen mit
wagrecht geſtellter, ſymmetriſch geſtalteter
Blumenröhre, in Erica carnea**)eine aus
einer Bienenblume gezüchtete Tagfalter—
blume, in Azalea procumbens endlich eine
der Stammform der Familie noch weit
näherſtehende einfachere, urſprünglichere
Blumenform kennen.
Mein früherer Überblick über die Ka—
prifoliazeenk“ ) umfaßt bereits mannig—
fache Abſtufungen von regelmäßigen, offe—
nen, honigloſen (Sambucus) oder mit völlig
offenem Honig ausgerüſtetenBlumen (Ado—
) Kosmos, Bd. III, S. 490.
) Kosmos, Bd. VI, S. 449.
er) Befruchtung der Blumen, S. 367.
287
xa, Viburnum) bis zu ſolchen, die im Grunde
langer Röhren ausſchließlich den langrüſ—
ſeligen Schwärmern zugänglichen Honig
bergen (Lonicera Caprifolium und Peri—
clymenum). Durch die Hinzunahme der
alpinen Arten ſchalten ſich dieſen Abſtu—
fungen noch vier ſehr intereſſante Anpaſ—
ſungen an beſtimmte Beſucherkreiſe ein:
1) eine bereits mit trichterförmiger Korolle
ausgerüſtete, aber hauptſächlich Fliegen
anlockende Blumenform (Linnaea), 2) eine
Loniceraform, deren Honig zwar ziemlich
flach geborgen, aber doch durch eine Saft—
decke ſo gut verwahrt liegt, daß nur oder
vorzugsweiſe Bienen ihn ausbeuten und
die Blumen kreuzen (L. nigra), 3) eine
andere Art dieſer Gattung, die nach ihren
Anpaſſungen und dem thatſächlich ihr zu
teil werdenden Inſektenbeſuch den Namen
einer Wespenblume verdient (L. alpigena);
endlich 4) eine ausgeprägte Hummelblume
(L. coerulea).
Die Familien der Ranunkulazeen,
Gruciferen, Umbelliferen, Compoſiten u. a.
ſind hier unerwähnt geblieben, weil meine
früher gegebenen Rückblicke auf dieſelben
durch die Hinzunahme der Alpenblumen
keine weſentliche Umgeſtaltung erfahren.
Sen
Beobachtungen an einem Affen.
Von
N 3 handelt ſich — zur Beru-
higung des Leſers ſei es
voraus bemerkt — in die—
ſem Artikel nicht darum,
unter dem Deckmantel der
gewählten Überſchrift Pro—
ſelyten für den Darwinismus zu werben,
noch gedenkt der Verfaſſer ſich in lang—
atmigen Beſchreibungen über die Höhe der
Kulturſtufe, auf die er, ohne Mühe und.
Arbeit zu ſcheuen, einen der geiſtig ent—
wickelteren Affen, alſo mindeſtens einen
Schimpanſe oder Gorilla, durch ſeine
neueſte Abrichtungsmethode gebracht, zu
ergehen. Es ſoll vielmehr nur ein ge—
wöhnliches, auf ganz niederer Stufe ſte—
hendes kleines Javaäffchen, auf welches
nie die geringſte Mühe zur Abrichtung
verwandt iſt, in ſeinem Thun und Trei—
ben, in ſeinem Verkehr mit den Menſchen
und in ſeinem ungekünſtelten und natür—
lichen Gebaren geſchildert werden, und ich
glaube, daß ſolche Beobachtungen für ei—
nen ernſten Forſcher wohl ebenſoviel In—
tereſſe haben dürften, als Beobachtungen
über die Abrichtungsfähigkeit.
H. Schneider.
Die große Vorliebe, welche ich ſtets
für Affen gehabt habe, rief immer leb—
hafter den Wunſch in mir wach, ſolch ein
Tier zu beſitzen, und ſo faßte ich mir denn
vor etwa viertehalb Jahren ein Herz und
bat den Direktor unſeres zoologiſchen Gar—
tens, Herrn Dr. Bodinus, mir ein Ex—
emplar von einem der hier in größter Zahl
vorhandenen Affen zu überlaſſen. Ich fand
bei Herrn Dr. Bodinus — dem ich, be—
kannt mit feiner Sorge für das Schickſal
fortgegebener Tiere, die beſte Behandlung
zugeſichert hatte — freundliches Gehör
und durfte mir bald darauf gegen mäßigen
Preis ein Javaäffchen in einem zugebun—
denen Korbe holen. Ich ſchildere den Trans—
port nicht näher und erwähne nur, daß
ſich das Tier in dem verbundenen Korbe
ſehr ungeberdig benahm und daß ich froh
war, meine Wohnung erreicht zu haben.
Aber feine Aufnahme im Hauſe mußich ein—
gehender ſchildern und zunächſt bemerken,
daß meine Frau alle meine voraufge—
gangenen Erzählungen von einem Affen
lediglich für Scherz gehalten hatte;
ja als ich tags zuvor ein altes Eich—
H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. 289
hörnchenbauer zum Empfange des Affen
wohnlich hergerichtet hatte, lächelte ſie
leicht ihr Erſtaunen ausmalen, als ich
mit einem wirklichen, leibhaftigen Affen
nach Hauſe kam: ich, mit dem im Korbe
ſchreienden und tobenden Affen, meine
Frau mit dem Dienſtmädchen, ſprachlos,
und meine kleine Tochter mit verzweiflungs—
vollem Geſicht, das Kleid der Mutter feſt—
haltend — ein Vorwurf für einen Maler!
Ich mußte recht viele gute Worte ge—
ben, um die Überführung des Tieres in
das Bauer zu erwirken — dann erſt
kam ich einigermaßen zu Atem und
redete nun meiner Frau in allen Ton—
arten freundlich zu, ſich des Tieres an—
zunehmen, allein vergebens — meinem
Zureden wurde hartnäckiges Stillſchwei—
gen entgegengeſetzt. Der Krieg war alſo
erklärt, während ich mich alsbald auf
mein Bureau begeben mußte! Jetzt trat
aber auch gleichzeitig die Ernüchterung bei
mir ein und ich fing an zu überlegen:
„Häuslicher Unfrieden eines Affen wegen?
Unmöglich! Der ſcheußliche Geruch des
Tieres im Zimmer! Das Tier wird dir
für Hunderte von Mark Haushaltungs—
gegenſtände verderben und vernichten! Es
wird jeden, der ſich ihm nähert, beißen
und kratzen! Außerdem iſt ja das Bauer
viel zu klein und zu leicht gebaut; am Ende
gar — wahrhaftig — wenn es den dünnen
Draht auseinander biegt, kann es ſich mit
Leichtigkeit befreien — niemand iſt im
ſtande, es zu fangen und zu bändigen!“
Alle dieſe Gedanken ſchoſſen mir auf
meinem Wege zum Bureau durch den Kopf.
„Wenn du nur erſt einmal wieder zu Hauſe
*
wärſt und mit deiner Frau ein vernünfti—
ges Wort ſprechen könnteſt; ſie wird ſich
noch halb ungläubig, halb ſpöttiſch, un-
gewiß, worauf das ganze wohl hinaus-
laufen würde. Es kann ſich demnach jeder
ja bis heut Abend beruhigt und einiger—
maßen in die Situation gefunden haben!
Vielleicht — es wäre ja immerhin mög—
lich —iſt das Tier recht artig und fie findet
Gefallen an ihm — doch daran iſt ja
nicht zu denken.“
Endlich kam auch der Abend heran;
ich trete zu Hauſe ein; mein erſter Blick
trifft meine Frau, die ſich zwar abgewandt
hat — ich merke indeſſen, daß ſie lächelt.
Gott ſei Dank! ein Unglück hatte alſo der
Affe jedenfalls noch nicht angerichtet! Ich
wünſche freundlich „guten Abend“ und
trete an das Bauer heran. Was iſt das?
Die Thür ſteht offen, das Bauer leer!
Meine Frau nimmt jetzt langſam ein klei—
nes Tuch von ihrem Schoß und darunter
liegt, zuſammengekauert, mein Affe und
ſchläft! Darauf war ich nicht vorbereitet,
eher hätte ich ja den Einſturz des Him—
mels für möglich gehalten, als dies!
Der Affe, durch die Berührung mun—
ter geworden, beginnt nun alle jene Ge—
berden auszuführen, wie man ſolche täg—
lich an einem erwachenden Kinde beobach—
ten kann; er reckt und ſtreckt ſich in allen
Dimenſionen, er gähnt — mit zugekniffe—
nen Augen — laut hörbar, reibt ſich die
Augen mit der Fauſt und kratzt ſich am
ganzen Körper; dann aber, wie durch Fe—
derkraft, ſchnellt er in die Höhe, um ſich
ein wenig auszutoben, aber ein kräftiger
Griff und — hinein in das Bauer! Wie
aber hatte ſich das Blatt gewendet! Meine
Frau bat inſtändigſt, das „niedliche,
artige, poſſirliche Tierchen“ doch nicht in
den engen Raum zu ſperren und noch ein
wenig herumſpielen zu laſſen! Alle meine
Einwendungen, daß Affen oft falſch und
1
ih
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4.
37
hinterliſtig wären, halfen nichts — er
ſollte durchaus noch ſpielen; warum auch
nicht? er hatte ja ſchon den ganzen Nach—
mittag — während meiner Abweſenheit —
im Zimmer geſpielt! Ich mußte alſo ſchon
nachgeben und ihn noch weiter ſpielen laſſen.
Die Hauptſchwierigkeit war alſo glück—
lich beſeitigt, nur eins ging mir noch im
Kopfe herum: das Bauer war entſchie—
den viel zu klein und zu leicht, und an die
Ausgabe für ein großes Bauer hatte vor—
her meine Seele nicht gedacht, zumal der
Wirtſchaftsetat durch Bezahlung des Affen
ohnehin etwas ſtark belaſtet war. Doch
auch dieſe letzte Sorge ſollte ſehr bald
ſchwinden. Als ich tags darauf um Mit—
tag nach Hauſe kam, präſentirte ſich mir
mein Affe in einem großen ſchönen Bauer.
Meine Frau hatte ſchon aus Liebe zu dem
„allerliebſten“ Tierchen ihre Spargroſchen
angewandt und mich damit überraſcht.
Eine ſolche Umwandlung kann ſich nur
vollziehen, wenn durch ein lebendiges Bei-
ſpiel alle über das Halten von Affen im
Munde des Volkes befindlichen Erzählun—
gen und ſonſtige Hiſtörchen Lügen ge—
ſtraft und ſolche einfach zu den Ammen-
märchen oder in das Bereich der Fabeln
verwieſen werden; um dies aber recht
klar und deutlich von vornherein zu zeigen,
habe ich es nicht für überflüſſig gehalten,
H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen.
gegenüber im Vorteil ſind, und ich habe
ſo recht Gelegenheit, dies beim Spielen
meines Affen mit meinem kleinen, eben-
des Tieres Eintritt in meine Behauſung
was ſie nicht haben ſoll oder nicht freſſen
ſtänden hier wiederzugeben, und will
mit allen Einzelnheiten und Nebenum—
in nachſtehendem nun das tägliche Leben
des Tieres im Bauer und außerhalb
deſſelben, wie auch ſelbſtverſtändlich ſeine
Unarten, ſchildern.
Es iſt ja bekannt, wie ſehr die Affen
durch den Gebrauch ihrer Hände, noch dazu
ihrer vier Hände, allen anderen Tieren
falls ſehr flinken Bologneſer Seidenſpitz
zu beobachten. Meine kleine Affin, die ich
von jetzt ab kurzweg bei ihrem Namen
„Tſchega“ nennen werde, ſpielte eines
Tages im Zimmer; plötzlich ſetzt ſie mit
ihrer ſprüchwörtlich gewordenen Geſchwin—
digkeit über den Tiſch fort und führt eine
vor mir ſtehende, noch halb mit Kaffee ge—
füllte Taſſe mit ſich fort, ohne daß ich im
ſtande geweſen wäre, dies zu verhindern;
ich will ihr nacheilen, die Taſſe fortzuneh—
men, ſie flüchtet indeſſen, aufrecht gehend,
nach dem grünen Rippsſopha, das ich im
Geiſte ſchon geliefert ſah; ich hielt es
daher für ratſam, ſie nicht zu jagen,
ſondern ihr vielmehr gütlich zuzureden,
was denn auch zur Folge hatte, daß ſie
auf der Sophalehne, aufrecht ſtehend, mit
aller Gemütsruhe den Kaffee austrank,
alsdann vom Sopha herab zur Erde klet—
terte und die Taſſe hinſtellte; es iſt dabei
nicht ein Tropfen verſchüttet worden.
Das Benehmen Tſchegas iſt faſt durch—
weg das eines verzogenen, ungezogenen
Kindes. So lange man freundlich mit ihr
ſpricht, iſt ſie ungeheuer artig und ſpielt
in ihrer originellen, oft tölpelhaften Weiſe
um uns herum; verſagt man ihr aber den
geringſten Wunſch oder nimmt ihr etwas,
darf, fort, ſo erhebt ſie ein fürchterliches,
kreiſchendes Geſchrei, ſträubt ſich mit Hän—
den und Füßen und geht auch auf den
Betreffenden — vorausgeſetzt, daß ich
mich nicht in allzugroßer Nähe befinde —
aufrecht mit feſt angelegten Ohren zu.
Infolge meines ihr wohlbekannten abſolu-
ten Mangels an Neigung, mich einſchüchtern
zu laſſen, wird fie natürlich letzteres mir
gegenüber nicht wagen, wenigſtens für
gewöhnlich nicht, allein in einem Falle,
den ich weiterhin erwähnen werde, ver—
ſuchte ſie auch das.
„Gehorchen“ iſt ihre ſchwache Seite;
ſie klettert beim Spielen an mir auf und
ab und würde ſomit jeden Augenblick
zu greifen ſein, ja, ſie ſetzt ſich, wenn ich
Karten ſpiele, auf meinen Arm und
blättert fortwährend in den Karten her-
um, oder ſie viſitirt meine ſämmtlichen |
Taſchen, wobei ihr die Uhr den Haupt:
ſcherz bereitet, aber ſobald ſie merkt,
daß ſie gegriffen werden ſoll, hilft alles |
Zureden nichts, und wenn fie auch das
„Beſteigen der Gardinen“ ſeit einer beim
erſten Verſuch empfangenen Tracht Prügel
unterläßt, ſo wird ſie doch immer die
äußerſten Winkel unter Sophas oder Bet-
ten aufſuchen. Iſt man ihr endlich dort
ganz nahe auf den Leib gerückt, ſo daß ſie
das Unglück, ergriffen zu werden, vor ſich
ſieht, ſo macht ſie ein ganz verzweif—
lungsvolles Geſicht, die Zähne feſt auf—
einander gepreßt und weit geöffnete
Lippen, wobei ſie einen eigentümlich
ſchmatzenden Ton ſchnell hinter einander
ausſtößt, ſo lange ſie eben noch fürchtet,
Schläge zu bekommen. Sobald ihr aber die
Gefahr vorüber zu ſein ſcheint und man
das erſte freundliche Wort zu ihr ſpricht,
weiß ſie ſich vor Liebenswürdigkeit gar
nicht zu laſſen; fie hält meinen Hals feſt
umklammert, ſchließt die Ohren eng an
den Kopf an, wobei ſich jene Hautfalten |
auf der Stirn bilden, die dem Tiere ein
ſo unendlich gutmütiges Ausſehen geben,
und macht nun mit den Lippen unzählige
male eine ganz reizende Bewegung des
Küſſens, die ſie ſo lange fortſetzt, als man
H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen.
291
mit ihr ſpricht. Auch wenn ſie im tiefſten
Schlafe liegt und ich zu einem Dritten
von ihr ſpreche — ſofort blickt ſie auf und
macht jene Bewegung, verbunden zwiſchen—
durch mit einem klagenden, etwas wim—
mernden, nach äh-ho-hä klingenden Ton.
Soll Tſchega von mir Prügel bekom—
men, ſo ergiebt ſie ſich, einmal ergriffen,
vollſtändig in ihr Schickſal; ſie würde ſich
dies aber in keinem Falle von einem an—
dern, auch nicht von meiner Frau, gefallen
laſſen, und hierin unterſcheidet ſie ſich ſehr
weſentlich von einem Hunde, der ſich ja
von jedem Familienmitgliede ſchlagen läßt
und hinterher noch wedelnd um Ver—
zeihung bittet. Hier möchte ich des Falles er—
wähnen, in dem auch ich nicht ganz vor
ihr ſicher bin: Schlage ich das Tier, was,
beiläufig bemerkt, niemals von Bedeutung
und wohl zu ertragen iſt, ſo hält es, wie
geſagt, ruhig ſtill mit ſeinem verzweif—
lungsvollen Geſicht; iſt nun aber meine
Frau im Zimmer, ſo ſpringt dieſe gewöhn—
lich ſchnell zu, um es zu ſchützen — und
ſo wie Tſchega Hilfe wittert und weiß,
daß ſie von meiner Frau wirklich geſchützt
oder erfaßt iſt, bedarf es einer ſehr ſchnel—
len und geſchickten Bewegung von mir,
um nicht in aller Eile einen kleinen Biß
wegzubekommen, wobei ſie einige male
ſchnell hintereinander einen gewiſſermaßen
triumphirenden, gluckſenden und ruckenden
Ton ausſtößt.
Es iſt dies Benehmen — ich wieder—
hole — total anders als das eines Hundes
im ähnlichen Falle, allein es iſt, um es ge—
radeheraus zu ſagen, menſchlicher!
Hat Tſchega irgend eine Tollheit be—
gangen, ſo wird ſie ſich ſofort, ſelbſt wenn
es niemand geſehen hat, durch ihr böſes
Gewiſſen verraten. Trete ich in das Zim—
292
mer, und fie drückt fich mit jenem verzweif—
lungsvollen Geſicht und Zähnefletſchen in
die äußerſte Ecke des Bauers, ſo weiß ich
poſitiv, daß ſie, wie man treffend zu ſagen
pflegt, „etwas ausgefreſſen hat!“ und
richtig; da hat fie denn irgend eine ſtarke
Stange Draht vom Bauer losgebogen oder
dem Kinde eine Puppe fortgenommen oder
H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen.
ſonſt eine Ungezogenheit begangen. Alſo
auch in dieſem Falle iſt ihr Beneh—
men genau das eines Kindes, deſſen
wiſſen verrät.
Ich könnte nicht behaupten, daß Tſche—
ga beim Freſſen gierig wäre, wenigſtens
iſt dies nur der Fall, wenn es gilt,
etwas zu erlangen, was man ihr gutwillig
nicht geben würde! So greift ſie wohl in
aller Eile mit beiden Händen in einen But—
tertopf oder in eine Kaffeebüchſe und ſtopft
ſich dann die beiden fehr tiefen Backen—
taſchen ſo voll, daß ſie hernach wohl eine
halbe Stunde daran zehren kann, ſonſt aber,
bei ihrer gewöhnlichen Mahlzeit, iſt ſie oft
furchtbar langweilig. Wird ihr eine kleine
Taſſe Milch ſo in das Bauer gehalten, daß
das Licht den Schatten eines Stäbchens
über die Milch wirft, ſo ſieht ſie minuten—
lang den Schatten an, greift mit den Häns |
den danach und ſieht dann höchſt vertvun-
dert, daß ſie nichts in der Hand hat.
Schließlich wird noch die Taſſe von allen
Seiten, von oben und von unten revidirt,
und dann endlich bequemt ſie ſich zu trinken.
Ahnlich geht es beim Eſſen zu, ſie ißt auch
nicht die dünnſte Schale oder Haut; grüne
Bohnen werden erſt ganz ſorgfältig an den
verbotene Früchte am beſten ſchmecken, und
daß Tſchega — wie ich vorher erwähnte —
nur dann flink iſt, wenn es etwas zu er—
haſchen giebt, was ſie nicht haben ſoll,
meinen Plan, wenn es gilt, ihr Medika—
mente einzugeben: Rhabarber ſchmeckt ihr
nicht; hat ſie ſich nun den Magen verdor—
ben, ſo ſpiele ich mit einem Stückchen Rha—
barber; Tſchega ſieht lange neugierig zu,
allein ich wehre ſehr energiſch ab, damit
ſie das Stück nur ja nicht bekomme; plötz—
ſcheues Benehmen ſofort das böſe Ge
greifen und damit verſchwinden iſt das
lich fällt es mir aus der Hand — danach
Werk eines Momentes von Seiten Tſche—
gas! Ich eile nun hinterher, ihr das Stück
zu entreißen — vergeblich — es iſt bereits
in größter Schnelligkeit verzehrt. In glei—
cher Weiſe laſſe ich ſie Natron einnehmen,
nur mit dem Unterſchiede, daß ſie bei die—
ſer Gelegenheit auch gleichzeitig eine kleine
Düte unumgänglicherweiſe mit verzehren
muß.
Eine merkwürdige Erſcheinung iſt die,
daß Tſchega mein kleines Töchterchen un—
geheuer haßt. In meiner Gegenwart ſpielt
ſie zwar ruhig um ſie herum, allein ich
würde nicht wagen, auch nur einen Blick
von dem Kinde abzuwenden, ich glaube,
ſie würde das Kind in gefährlicher Weiſe
beißen. Kommt das Kind nur in die Nähe
des Bauers, ſo ſtreckt die Affin beide Arme
ſo lang wie möglich zum Bauer heraus,
um es heranzuziehen, und wenn ſie ſeine
Hand erlangen könnte, ich bin überzeugt,
dieſelbe würde rein zerfleiſcht werden, ſo
groß iſt der Haß des Tieres gegen das Kind.
Wie ich übrigens höre, ſollen Affen ſtets zu:
Seiten abgefaſert und ſelbſt die dünne Haut |
Gefühl der Eiferſucht, teils aus dem Be—
von einer Nuß wird vorher entfernt.
Ich baue nun darauf, daß — wie es
Kindern böſe ſein, was teils aus einem
wußtſein der Überlegenheit hervorzugehen
auch bei dem Menſchen der Fall iſt — | ſcheint; das wäre wenigſtens für mich
die einzige und gleichzeitig natürlichſte
Erklärung. |
Sehr intereſſant iſt es, das Spie—
len des Affen mit meinem kleinen vorer—
wähnten Seidenſpitz männlichen Geſchlechts
zu beobachten. Während der Hund hier rein
durch geſchlechtliche Empfindung geleitet
wird, liegt ſolche dem weiblichen Affen voll—
ſtändig fern, und der letztere übt nun an
demHunde, der ſchließlich ganz ermattet, lech—
zend und mit heraushängender Zunge hinter
ihm hertrollt, die allertollſten Streiche aus.
Zunächſt geht er ſcheinbar auf die Lieb—
koſungen ein, plötzlich ſchnellt er hoch empor |
und packt den Hund ins Genick, ſchüttelt ihn,
wirft ihn hin und iſt auch ſchon wieder da— |
vongelaufen — alles das Werk eines Mo—
mentes; oder aber, er ſitzt ihm plötzlich auf
dem Rücken oder zieht ihn an einer Hin—
terpfote rückwärts das ganze Zimmer durch
hinter ſich her — ein beſonders poſſirlicher
gehabt, zu beobachten, wie ſich das weib—
Anblick — u. ſ. w.
Geradezu überraſchend war mir fol⸗
gendes: Nach langer Jagd ſpringt der
Affe auf das Sofa — der Hund, entſpre⸗
chend langſamer, folgt; der Affe ſpringt
vom Sofa auf den Tiſch — der Hund
nach; jetzt ſpringt der Affe auf der dem
Sofa gegenüberliegenden Seite vom Tiſch
hinunter — dem Hunde iſt das aber zu hoch
und er bleibt, dem Affen nachſehend, ſtehen.
Dieſen Moment benutzt der Affe, faßt die
Tiſchdecke mit beiden Händen an: ein kräf—
tiger Ruck — und die Tiſchdecke ſammt dem
Hund liegen an der Erde! Unterdeß ſich
der Hund langſam und höchſt verwundert
aus der Tiſchdecke entwickelt, iſt mein Affe
längſt wieder auf dem Fenſterbrett und
klatſcht mit dem ſichtlichſten Zeichen des
Vergnügens über den gelungenen Streich
wiederholt in die Hände.
H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen.
293
Es zeigt dies von einem abſoluten
Nachdenken und Überlegen, wie es von
einem ſo kleinen und verhältnismäßig tief
ſtehenden Tierchen, das ebenſo wenig wie
ſeine Vorfahren jemals unter Menſchen
gelebt hat, geradezu bewundernswürdig iſt.
Des Abends vor dem Zubettegehen
wird Tſchega nach allen Regeln der Kunſt
„abgehalten“ und zwar — zum Fenſter hin—
aus. Tſchega hat nämlich wie alle Kinder
eine ungeheure Angſt um ihr Leben und in
der höchſten Angſt wird ſie ſich — wieder—
um wie alle Kinder — beſchmutzen. Ich
öffne nun einfach das Fenſter und laſſe ſie
hinausſehen, thue wohl auch, als ob ich ſie
hinausſtoßen will. Sowie ſie den Abgrund
vor ſich gewahr wird, erſchrickt ſie heftig und
— befriedigt ſofort ihre Bedürfniſſe. Als—
dann geht es zu Bett! Tſchega ſchläft ſeit
nunmehr drei Jahren ſtets in meinem Arm.
Ich habe hier wiederum recht Gelegenheit
liche Tier zum männlichen Menſchen, und
das männliche Tier zum weiblichen Men—
ſchen hingezogen fühlt. Der Hund ſchläft
einzig und allein im Arme meiner Frau,
während Tſchega wie geſagt nur bei mir
ſchläft. Wird ſie von meiner Frau gerufen,
geht ſie wohl auch zu ihr und ſchläft ein,
doch nach einer Stunde iſt ſie bereits wie—
der bei mir. Ich habe den rechten Arm
um ihren Hals gelegt, und ſie hält mit
ihrem linken Arm meinen Hals umfaßt,
während ihre rechte Hand in meiner linken
ruht; ſo ſchläft ſie feſt die ganze Nacht hin—
durch. Sehr ſelten wird ſie einmal mun—
ter, vollführt aber dann auch ſofort wieder
dumme Streiche, kitzelt mich, zieht mich
leiſe an den Haaren oder vollführt ihre
Lieblingsbeſchäftigung, indem ſie thut, als
wenn ſie Ungeziefer ſuche. Wache ich auf,
294
fo bekommt fie einen leiſen Schlag, wird
darob ſehr empfindlich, legt ſich hin und
ſchläft weiter.
Damit Tſchega nicht etwa des Nachts
einmal dem Bette meiner kleinen Tochter
einen unliebſamen Beſuch abſtatte, trägt
ſie ein Halsband, von dem aus wiederum
eine Schlinge um meinen Hals führt.
Dieſe Vorſicht erwies ſich in der erſten
Zeit als ſehr weiſe. Wollte Tſchega davon—
laufen, ſo kam ſie nur wenige Schritte
weit, da ich durch den Ruck an meinem
Halſe notwendigerweiſe aufwachen mußte.
Allein ſie hat ſich auch hierin zu helfen ge—
wußt, und es zeigt dies wieder von einem
eminenten geiſtigen Überlegen: Wacht das
Tier jetzt einmal auf, ohne daß ich es be—
merke oder doch ohne daß ich es zu be—
merken ſcheine, ſo verhält es ſich vorläu—
fig ganz ruhig und rührt ſich nicht, als—
dann löſt es ganz leiſe mit den zierlichen
Fingerchen das Ende des Halsbandes aus
der Oſe, entfernt den Dorn, legt das
Halsband mit größter Vorſicht bei Seite,
ſchnellt dann wie von Federkraft getrieben
in die Höhe und läuft davon, oder beſſer
geſagt, will davonlaufen, denn mein Schlaf
iſt ein ſo wenig feſter, daß ich bei der lei—
ſeſten Bewegung des Tieres erwache und
dann als Erſatz wenigſtens meine Freude
daran habe, mit welcher Ruhe, Sicher—
heit und Geſchicklichkeit ſich das Tier zu
befreien ſucht.
Zum Schluſſe möchte ich noch Folgen—
des erwähnen. Das Einſchlafen des Tieres
führt ſehr häufig eine Erſcheinung mit ſich,
die wohl auch jedem Menſchen bekannt iſt.
Der Menſch träumt im Halbſchlummer
oft, er fiele von einem hohen Gerüſte
H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen.
oder Hauſe herunter, und zuckt dann kon—
vulſiviſch zuſammen, wovon er gewöhnlich
ſofort wieder erwacht. Bei Tſchega muß
es ſich ohne Zweifel ähnlich verhalten: ſie
zuckt im erſten Schlafe genau ebenſo zu—
ſammen, erwacht ſofort und ſchmiegt ſich
dann um ſo feſter an mich an, indem ſie
noch lange die anfangs geſchilderte Bewe—
gung des Küſſens macht, verbunden mit
dem wehmüthigen, klagenden Ton.
Wenn ich auf dieſe Weiſe das Leben mei-
nes durchaus niemals künſtlich gezähmten
Affen in ausführlicherer Weiſe geſchildert
habe, ſo verlange ich natürlich nicht, daß ſich
etwa „Nichtintereſſirende“ beſonders dafür
erwärmen ſollen, aber ich glaube doch, für
Fachkreiſe gerade durch dieſe ausführliche
Schilderung manches Intereſſante, viel-
leicht auch Neue und Anregende gebracht zu
haben. Es war ja außerdem hier nicht meine
Abſicht, eine „literariſche Leiſtung“ zu voll—
führen, denn ich gehöre auf dieſem Gebiete
durchaus zu den Laien; was ich aber ge—
ſchrieben habe, ſo ſchlicht und anſpruchslos
es iſt, ebenſo wahr iſt es. Ich habe nicht
übertrieben, nichts fortgelaſſen, nichts hin=
zugefügt! Die eine Überzeugung habe ich
jedenfalls gewonnen, und zwar nicht aus
Büchern oder durch Erzählungen, ſondern
durch den Augenſchein: daß der Affe ein
Tier iſt, das in wirklich vollkommner
Weiſe nachzudenken und zu überlegen im
Stande iſt. Bedenkt man nun, daß die
Kluft zwiſchen einem auf ſo niedriger
Stufe ſtehenden Java-Affchen und einem
Schimpanſe oder Gorilla noch immer eine
ſehr große iſt, fo kann die logiſche Fol:
gerung wohl keinen Augenblick zweifel—
haft ſein.
Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die
moderne Pſychologie.
Von
Zr n der Pſychologie find neuer—
hervorgetreten, die man als
N Fundamentalfragen bezeich-
8 nen darf und über welche die
Wiſſenſchaft nicht aufgehört hat und nicht
aufhören wird, zu denken und zu forſchen.
Die eine dieſer Grundfragen wurde von
neuem in hohem Maße angeregt durch
Prof. Guſtav Jäger; es iſt die Frage
nach dem Weſen und nach der Natur der
Seele; ſie iſt verknüpft mit der weiteren
Frage, ob die Seele als ſolche neben
dem ſog. Geiſte (den Jäger davon
unterſcheide) eine eigene geſon—
derte Exiſtenz friſtet und ihr dem—
gemäß ein beſonderes Subſtrat
zuzuſprechen ſei. Die zweite, wiederum
neu belebte Grundfrage iſt die nach dem
ſog. Seelenvermögen, das iſt die
Frage, wie man ſich genauer die Natur
und Geartung der Seele zu denken habe.
Durch den Streit, in welchen vor kurzem
zwei hervorragende Forſcher (Profeſſor
Wundt und Horwicz) hierüber geraten
Dis dings zwei Fragen wieder
Vrof. Dr. ©. Caspari.
ſind, iſt auch dieſe Fundamentalfrage wie—
der zu einer brennenden geworden, und
wir werden daher in einem ſpäteren Artikel
|
Gelegenheit nehmen, auch hierüber zu ſpre—
chen. Zunächſt aber ſoll uns hier die erſte
Frage über die Exiſtenz der Seele über—
haupt beſchäftigen. Wir werden der Be—
antwortung dieſes Problems näher kom—
men, wenn wir uns mit dem Begriff der
Seele und mit der Entſtehung deſſelben
zugleich bekannt machen. Über die Ent—
ſtehung und urſprüngliche Entwicklung der
Vorſtellung von der Seele hat ſich Schreiber
dieſer Zeilen in feiner Urgeſchichte ?) ge—
nauer geäußert; außerdem hat noch jüngſt
Prof. Fritz Schultze dieſe Frage ein—
gehender in dieſer Zeitſchrift“ ) behandelt,
ſo daß wir uns auf wenige Erörterungen
hierüber beſchränken können.
Die Unterſuchungen über die Urge—
ſchichte der Vorſtellung „Seele“ führen uns
in eine Zeit, wo wilde Naturvölker eben—
*) Vgl. Caspari, Urgeſchichte der Menjd-
heit, 2. Auflage, Bd. II, S. 114 ff.
*) Vgl. dieſe Zeitſchrift, Jahrg. III, S. 247.
3
296 O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pfychologie.
ſowenig wie die Kinder eine Reihe von
beſtimmten Begriffen und Anſchauungen
zu bilden und zu würdigen imſtande ſind.
Schreiber dieſes hat nachgewieſen, daß
hierzu vor allem die Vorſtellungen über
Tod und Seele gehören. Wie ſind nun
dieſe ſo eingreifenden Grundvorſtellungen
aufgetaucht und in welcher Form? Ich
vermag bezüglich der hier zu gebenden
Völkerpſychologen, daß ſie der prähiſtori—
ſchen Anthropologie und Archäologie nicht
die genügende Aufmerkſamkeit ſchenken.
Weshalb ſoll der Forſcher ſich nicht berech—
tigterweiſe die Frage vorlegen dürfen, ob
die Seelenvorſtellung ſchon in einer Zeit
unter den Völkern entſtehen konnte, wo
man die Metalle, Feuer und Steinſchliff
nicht kannte, folglich die für den Seelenbe—
Antwort nicht in allen Stücken die An | griff und feine Apperzeptionen jo wichtig
ſichten zu teilen, welche uns Fritz Schultze
in ſeinen trefflichen Aufſätzen über die
Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung Seele
gegeben hat. Durchgehen wir das uns
ſchichtliche Material, ſo ſtoßen wir auf
erſcheinenden Hilfsvorſtellungen, wie feu—
rige Wärme, Rauch, Schatten, verzehrendes
und ſich durch Dampf unſichtbar verflüchti—
gendesElement, Abſcheid ungldesRauchs
vorliegende ethnologiſche, reſp. völkerge⸗
ſehr verſchiedene Anſchauungen. Will man
dieſelben klaſſifiziren, ſo darf man zu die—
ſem Zweck von keinen bloßen Voraus—
ſetzungen über das ſog. kindliche Denken des
Naturmenſchen ausgehen, ſondern man
muß die Summe aller ethnologiſchen Daten
zuſammennehmen, um ſie im Verein mit
andern Vorſtellungen, die gleichzeitig ent—
ſtanden ſein müſſen, innerhalb eines hiſto—
riſchen (reſp. prähiſtoriſchen) Geſammt—
rahmens zu erklären. Hält man ſich empi—
riſch hiervon fern und unterſucht nur den
Seelenbegriff für ſich, ohne ſich in anthro—
pologiſcher Beziehung die zugleich wichtige
Frage vorzulegen, in welcher prähiſtoriſchen
Epoche der betreffende Begriff wohl ap—
von der Flamme), noch nicht vor Augen tra—
ten, weil man die Erzeugung der Wärme,
d. h. das Feuer, ſo wie es der Menſch
ſpäter verwerten und betrachten lernte,
noch nicht kannte? Ferner, wenn man über
die Entſtehung von Seele, Leben und Tod
ſpricht, weshalb ſoll man dann die Vor—
ſtellung der Zeugung (ein den Menſchen
ſo unmittelbar und lebhaft intereſſirender
Vorgang) außer acht laſſen? Betrachtet
man nun alle hierher gehörigen Vorſtel—
lungsgruppen im Zuſammenhange, jo
überſieht man raſch, daß die feuerloſe
Steinzeit noch wenig geeignet war zur
Bildung aller hier zur Geltung kommen—
den Vorſtellungskomplexe. Die Vorſtel—
lung der Zeugung als Feuerreibung und
perzipirt ſein könnte, ſo verfällt man in ein
bloßes Raten und Mutmaßen. Wie man
pſychologiſch keinen hiſtoriſchen Charakter
ohne die Zeitumſtände, unter denen er
wirkte, beurteilen kann, ſo auch keinen Be—
griff und keine Vorſtellung ohne Hinblick
auf die äußere prähiſtoriſche Kulturepoche,
unter welcher er allein geprägt werden
konnte. Es iſt noch immer der Fehler vieler
Entzündung des lebengebenden Funkens,
ferner die Vorſtellung, daß die Wärme
(Leben) innerhalb des materiellen Leibes
etwas völlig Geſondertes war, das
ſich abſcheiden und verflüchtigen
konnte und im Körper wohnte, wie der
Funke im Stein und im Holze, alles das
konnte ſicherlich zu einer Zeit, wo man den
Funken als Wärme überhaupt nicht kannte,
keinen allgemeinen Boden gewinnen. Das
O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pfyhologie. 297
Weſentlichſte der Merkmale über die eigent—
liche Bildung der Seelenvorſtellung iſt nun
vor allem die Geſondertheit der Seele
gegenüber ihrer Umhüllung, dem
Leibe. Von hier aus unterſcheiden ſich
ſogleich alle diejenigen Völker, welche ei—
klaren Seelenbegriff entwickeln, von
jenen andern, die denſelben nur in abge—
blaßter Form ausbilden. Daß der Körper
im Tode kalt wurde, hatte die Folgerung
immerhin noch nicht genau nachziehen kön—
nen, daß die Wärme im Körper etwas
völlig Geſondertes war, das ſich abſchei—
den und wie der Vogel den Bauer ver—
laſſen konnte. Die nur halb entwickelten
Vorſtellungen über Leben, Tod und Seele,
ſo wie dieſelben nach unſerer Anſicht in
der Vorfeuerzeit exiſtirten, werden uns
hier nicht beſchäftigen; hierüber ſei nur in
kurzem bemerkt, daß Kraft, Mut, Leben
und Körper der früheſten Beobachtungs—
weiſe gemäß mit einander verſchmolzen
waren. War der Leib gebrochen, ſo auch
Mut und Leben, dies ſowohl im Schlafe
wie im Tode, welcher letztere nur als
Fortdauer des Schlafes erſchien. Sofort
aber mußten ſich dieſe naiven Anſchauun
gen ändern, als man auf Stoffe und Er—
ſcheinungen aufmerkſam wurde, die ſich
als Hauch und Wärme abſchieden, in—
dem der Körper erkaltete. Hier liegt die
urſprüngliche Beobachtung, die zum See—
lenbegriff hinführte.
Wenn hiernach die Seele ein Begriff
iſt, deſſen weſentlichſtes Srundmerkmalihre
Geſondertheit und Spezifität dem
Leibe gegenüber ausmacht, ſo daß
ihre Abſcheidung von demſelben
nach dem Tode gefolgert wurde, ſo
leuchtet ein, daß wir nur allen denjenigen
Völkern eine Seelenvorſtellung zuſprechen |
können, welche ſich eben dieſe Seele als
Atem, Dampf (Pneuma), Rauch, Funken,
Feuer, Wärme und Schatten vorſtellten.
Freilich findet ſich, daß die größte Anzahl
der Völker in dieſer oder ähnlicher Geſtalt
die Seelenvorſtellung entwickelt, wenn—
gleich einzelnen Stämmen ein klarer Aus—
druck hierüber mangelt.
Wichtig iſt es nun, zu bemerken, daß
die Frage nach dem Sitze der im Leibe
geſonderten Seele eine erſt ſpätere iſt.
Wenn wir daher bei einigen Völkern, z.
B. bei den Hebräern, finden, daß ſie das
Blut als Seele betrachten, während außer—
dem ihr Nephesch und Ruach zugleich
den von Gott eingeblaſenen Atem, ſowie
das Lebengebende und Geiſtige überhaupt
bedeuten, ſo läßt das erkennen, daß man
Herz und Blut wiederum (bei ſchon weite—
rem Fortſchritt)als Sitz dieſes geſon—
derten Atemdampfes im Körper
auffaßte. Im Sanskrit haben wir ät—
man und präna, im Griechiſchen psyche
und pneuma, im Lateiniſchen animus,
anima, animal, im Slaviſchen ſteht duch
für Seele und Atem. Wenn die griechi—
ſchen Philoſophen ſpäter ihrem pneuma
einen dreiteiligen Sitz im Leibe angewie—
ſen haben, ſo bleibt doch unverkennbar,
daß die Vorſtellung des ſich abſcheidenden
Atems den Grund zu früheſter Apperzep—
tion abgegeben hat. Ich vermag daher der
Anſchauung Fritz Schultzes nicht zuzu—
ſtimmen. Ihm zufolge wurde zuerſt nach
dem Sitz des Lebens (Pulſe, Herz und
Blut) gefragt. Nach meiner Anſchauung
entdeckte man mit dem Atem und der
Körperwärme zuerſt ein Prinzip, das ſich
vom Körper ſondern und abſchei—
den ließ. Bisher war unter der tieriſch—
naiven Weltanſchauung (wie auch noch
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4.
38
Sg
298 O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Piychologie.
heute bei einigen Naturvölkern) Körper
und Leben eines. Die Seele exiſtirte
noch nicht. Erſt jetzt, im Atem und in der
Wärme, die man ſich als ein geſondertes
lebendiges Feuer oder als einen Dampf
(Hauch, Pneuma) im Körper vorſtellte,
war das Subſtrat für die ſich vom Kör—
per ſcheidende Seele gefunden. Erſt nach
dieſer allgemeinen Beobachtung wandte
man ſich alsdann zur Unterſuchung, an
welchen vornehmſten Körperſtellen
wohl dieſes Pneuma ſitzen und ſei—
nen Aufenthaltsort haben könnte,
und nun erſt kam man auf die Beſtandteile
von Blut, Herz, Leber, Pulſe, Haupt u. ſ. w.
Halten wir alſo daran feſt, daß die
Sonderung und Abſcheidung vom
Körper den Hebek für die ſich ins
Unſichtbare verflüchtigende ſog.
Seele und ihre Vorſtellung gege—
ben hatte. Wie Rauch und Dampf gen
Himmel ſteigen, wenn man den Körper
auf dem Altar oder dem Scheiterhaufen
verbrennt, wie der Funke dem geſchlagenen
Stein entſpringt, wie der Rauch ſich ins
Unſichtbare (Überſinnliche) verflüchtigt,
wenn er ſich vom brennenden Körper ab—
ſcheidet, jo die Seele — dieſelbe war eben
das ſich vom Körper ſondernde und ab—
ſcheidende Prinzip ſelbſt. Wir ſehen, bei
der Entſtehungsgeſchichte der Seelenvor—
ſtellung handelt es ſich um die Einſicht in
ein Prinzip, das man dem Materiellen
und Körperlichen relativ gegenüber—
ſtellte; wir haben hier zugleich die erſte
Ausbildung des Begriffes vom Unſicht—
baren, Überſinnlichen und rein
Geiſtigen. Welche Erfahrungen des frü—
heſten, prähiſtoriſchen Volkslebens konn—
ten die Anregung zu dieſer eigentümlichen
Vorſtellung des Unſichtbaren darbieten?
Ich möchte mit Rückſicht auf die völker—
pſychologiſchen und anthropologiſchen For—
ſchungen daran feſthalten, daß der Begriff
der unſichtbaren, überirdiſchen Gottheit eine
Wurzel in den Erlebniſſen des Familien—
und Gemeindelebens hatte, während er die
andre mit dem der Seelenvorſtellung teilt,
nämlich die der Erhebung ihres
Subſtrats in die überirdiſche Höhe
(Himmel) und in die Region, in wel—
cher ſich das Sichtbare (Sinnliche),
ähnlich dem Rauch, verflüchtigt
zum Unſichtbaren. Die Frage, welches
Erlebnis zur Bildung der Unſichtbar—
keits vorſtellung die erſte Gelegenheit
gegeben hat, iſt oft aufgeworfen worden.
Einige, wie Lubbock, Tylor u. a., ver—
weiſen in dieſer Hinſicht auf den Traum,
andere auf den Schatten, aber auch Steine
und Häuſer werfen Schatten, zudem folgt
derſelbe doch ſtets dem Körper und hängt
ihm ſichtbar an; wie ſehr er daher auch
die Phantaſie ergötzt, wie wenig er körper—
lich greifbar erſcheint, den Hebel für die
Vorſtellung einer völligen Trennung
und Abſcheidung vom Körper ins
Unſichtbare iſt auch ſein Bild nicht
imſtande abzugeben. Dennoch muß
zugeſtanden werden, daß die Schattenvor—
ſtellung über die Seele unter ſo vielen
Völkern verbreitet iſt, daß man gut thun
wird, dem Gedankengang weiter nachzu-
forſchen, der darauf hinführen konnte, den
körperlichen Schatten vom Körper loszu—
löſen, um ihn ins völlig Unſichtbare (Über—
ſinnliche) ſich verflüchtigen zu late
Wir beſtehen nun darauf, daß hier
Thatſachen und allgemeine Erfahrungen
zugrunde gelegen haben, die während des
allmählichen Überganges der Steinzeit in
die Metallzeit die Beobachtung mehr und
O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pſychologie.
mehr auf die Abſcheidung und Verflüch—
tigung von Dampf und Gaſen, die
ſich von brennenden Stoffen und Kör—
pern trennten, hinführten. Auch das flak—
kernde Feuer warf körperliche Schatten,
und die zum Himmel emporſteigenden
Dampfſäulen mit ihren mächtigen Schat—
ten, die zugleich mit dem Licht des Feuers
kamen und verſchwanden, waren gewiß
allgemein auffällig. Bei hervorragenden
Gelegenheiten, wo ſich das Volk an den
Opferſtätten gemeinſam verſammelte, wur—
den gemeinſame und objektive Beobach—
tungen gemacht, die allgemeingiltig wur—
den. Zu ihnen gehörte neben anderem
ſicherlich auch der Hinweis auf Rauch und
Schatten, die als etwas an ſich Flüchtiges
und Körperliches zum Himmel ſteigend ins
völlig Unſichtbare verſchwanden, ſich gleich—
ſam allmählich immaterialiſirten. Nun iſt
es richtig, daß nicht alle Völker ihren
Seelenbegriff derart vergeiſtigten,
wie die höchſten Kulturvölker; aber den
Anſatz zu dieſer Immaterialiſation
im Hinweis auf Atem, Dunſt, Dampf,
Hauch und Schatten und, was das wich—
tigſte iſt, auf deren Loslöſung vom
Leibe und Körper, beſitzen beinahe alle
Naturvölker hinſichtlich der Vorſtellungen,
die ſie ſich über die Seele bilden.
Von dieſem Geſichtspunkte aus erhält
weiter die Geſchichte der Vorſtellung Seele
ihr volles Verſtändnis. Die Seele war et—
was Luftiges und Flüchtiges, fie konnte
ſich wie der Vogel in die Lüfte erheben
und wandern, — ſo konnte ſich bei den
Egyptern eine wunderbare Seelenwande—
rungslehre und eine Geſchichte der Seele
im abgeſchiedenen Jenſeits mit ihren Schick—
ſalen ausbilden. Wie ſchon oben hervorge—
hoben, iſt es wichtig, in der Geſchichte dieſer
299
Vorſtellung das Frühere von dem Späteren
zu unterſcheiden. War die Uranſchauung
die geweſen, daß man Leib und Leben für
untrennbar hielt, ſo daß der Kannibale
meinte, mit dem Leibe auch das Leben
(d. h. Mut und Kraft) des Feindes zu ver—
zehren, ſo ſuchte man ſpäter die entflohene
Seele im unſichtbaren Jenſeits und
gab ihr ſogar im Metallzeitalter den Leib
mit auf den Weg, den man zu dieſem
Zweck auf Scheiterhaufen verbrannte; ja
nicht nur dies, um zugleich alles Hab und
Gut eines Fürſten mit ins Jenſeits zu
ſchaffen, verbrannte man mit ſeinem Leibe
auch deſſen Frauen und Pferde, ſowie
andere zeitliche Güter, die man ins Feuer
warf. Unter ſolchen Geſichtspunkten er—
klärt ſich uns die weitgehende Sitte der
Leichenverbrennung bei den Metallvölkern.
Erſt nach dieſer Zeit, wo ſchon tieferes
Nachdenken lebendig wurde, wurde der
Leib näher unterſucht, um im Käfige des
Leibes die Orte zu entdecken, in denen ſich
die luftige und flüchtige Seele aufhielt.
Das führte nun zu allen den weiteren
Vorſtellungen, wie wir ſie in hervorragen—
der Weiſe bei den Griechen und andern
Völkern antreffen, Vorſtellungen, die wäh—
rend des Mittelalters allerlei wunderliche
Ausbildungen erfuhren und ſtets im Zu—
ſammenhange mit den allgemeinen Welt—
anſchauungen ſtanden, die ſich an den
Grundunterſchied von Materialismus und
Spiritualismus anlehnten. Noch heute
ſuchen wir in gewiſſer Weiſe nach dem Sitz
der Seele, und ob wir ihn im Nerven—
ſyſtem überhaupt, oder wie Descartes
in der Zirbeldrüſe, oder im Balken in der
Varolsbrücke, oder im ſog. Flourensſchen
Lebensknoten finden wollen, — das bleibt
ſich im Prinzipe ganz gleich. Wenn nun
*
300 O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pfychologie.
Guſtav Jäger wieder auf eine ältere
Anſchauung zurückgreift und die Seele ſo—
wohl vom Körper, als auch vom Geiſte
geſchieden wiſſen will, als ein mittleres
und zwar als ein Pneuma (Dunſt, Hauch,
Geruchsſtoff), ſo reiht ſich dieſe Anſchauung
völlig in den Rahmen ein, der alle Vor—
ſtellungen in dieſer Hinſicht umgiebt —
nämlich in die Allgemeinanſchauung, daß
die Seele etwas Flüchtiges und vom Leibe
im engern Sinne relativ Getrenntes iſt.
Dennoch, jo müſſen wir vom pſychologi—
ſchen Geſichtspunkte behaupten, ſind alle
dieſe Anſichten über die Seele roh und
naiv, ſie unterſcheiden ſich nur dem Grade
nach von alledem, was man, wie wir
ſahen, in allerfrüheſter Zeit darüber an-
nahm und feſtſtellte.
Die moderne Pſychologie, die immer
mehr von den Ergebniſſen der durch Kant
reformirten Erkenntnislehre abhängig ge—
worden iſt, hat ſich über die Naivetät die—
ſer Anſichten zu erheben geſucht, und wir
wollen nun im folgenden zuſehen, welche
Anknüpfungspunkte ſie hierzu benutzte.
Die Erkenntnislehre fußt zunächſt auf
Grundthatſachen, die von vornherein
dem Intellekt aufgenötigt werden, bevor
er noch daran geht, mit ſeinem Auge über—
haupt in die Außenwelt hinein zu ſinnen
und zu forſchen. Dieſe Grundthatſache iſt
die Unterſcheidung überhaupt, d. h.
die ſich unabweislich aufdrängende That—
ſache der Trennung einer erlebten Innen—
d. h. vom unmittelbaren Innern trennen
und ſomit als Objekt anſehen und wahr—
nehmen. Zunächſt ſind dies die über die
Grenze unſeres Leibes hinaus liegenden
Gegenſtände; zu dem objektiv (äußerlich)
Wahrgenommenen geſellen ſich aber eine
große Reihe von Leibesteilen. Daß unſere
Haare, Nägel, Finger, Arme, Füße nicht
unmittelbar mit unſerm Innern identiſch
ſind, leuchtet von ſelbſt ein, genauer unter-
ſucht aber geſellen ſich dieſen Teilen ſelbſt
die Endapparate der Sinne hinzu, denn
unſer Inneres kann im Traume fühlen,
vorſtellen und wollen, ohne daß die äuße—
ren Sinne mitwirken. Damit treten pſycho—
logiſch betrachtet ſelbſt große Partien des
Nervenſyſtems noch zu dem Gebiete hinzu,
das wir Außenwelt nennen und zu den
Objekten zählen müſſen. Was bleibt nun
demgegenüber für unſer Inneres als Sub—
jekt in der Unterſcheidung übrig? Offen—
Nervenapparate vollzieht.
welt gegenüber alledem, was wir Außen-
welt nennen —es iſt die Grundthatſache der
Trennung von Subjekt und Objekt, ohne
welche wir nicht denken und wiſſenſchaftlich
leben und atmen können.
bar alle in uns verlaufenden Vor—
ſtellungen, Empfindungen, Gefühle und
Willensimpulſe, alſo alle diejenigen Teile
hinter den Endapparaten der Sinne, in
welchen nachweislich ſich dieſe Vorgänge
gleichzeitig abſpielen. Die Phyſiologen
haben in dieſer Beziehung längſt erforſcht,
daß der Verlauf dieſer ſpezifiſch innerlichen
Vorgänge ſich in den Zentralteilen der
Zugleich iſt
feſtgeſtellt worden, daß es hauptſächlich
Prozeſſe elektriſcher Natur ſind, die als
Begleiterſcheinungen in den Nerven ver—
laufen und teilweiſe den inneren Empfin—
dungen parallel gehen. Was wir aber
Sehen wir nun zu, was wir thatſäch⸗
lich als ein uns Außerliches empfinden,
thatſächlich nicht wiſſen und beobachten
können, iſt dies: wie ſich hier der
äußere Prozeß als elektro-chemi—
ſcher Vorgang in den innern der
Vorſtellung und Gefühle u. ſ. w.
I
O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Piychologie.
verwandelt. Hier iſt uns eine Grenz—
ſcheide gezogen, die von der Natur an—
gelegt iſt und die wir nicht überſpringen
können; denn um dies zu vermögen, müßte
erſtens jeder ſein eigenes Gehirn gleich—
zeitig mit ſeinen Gefühlen, Vorſtellungen
und Willensimpulſen wahrnehmen können,
oder wir müßten das innere Gehirn un—
ſeres Nebenmenſchen ſo durchſchauen, daß
wir ſeine Nervenprozeſſe und gleichzeitig
ſeine Vorſtellungen und deren Rückver—
wandelung als unmittelbar ſich deckende
Objekte wahrnehmen.
Wer Du Bois-Reymonds Vortrag
über die Grenzen der Naturerkenntnis ge-
leſen hat, wird nicht im Zweifel ſein dar-
über, daß unſer phyſiologiſches (äußeres)
Forſchen dort aufhört, wo wir die Domäne |
des Innern (als Subjekt) anheben ſehen,
die dort beginnt, wo alle äußeren Bewe-
gungen in eine Empfindung umſchlagen,
um ſo im Innern zu verlaufen als Vor—
ſtellungen, Gefühle, Willensimpulſe u. ſ. w.
Wir können Du Bois-Reymond in die— |
ſer Beziehung um fo mehr glauben, als
wir ihm die oben erwähnte Entdeckung
verdanken, daß in unſern Nervenprozeſſen
elektriſche Vorgänge ſtattfinden. |
Wir ſehen alfo, wie ſich Subjekt und
Objekt als inneres und äußeres ſcheiden.
Zum ſogenannten Innern gehören alle
Vorgänge der ſogenannten inneren Wahr—
nehmung, das ſind alle inneren Vorſtel—
lungen, einbegriffen das Gedächtnis und
Bewußtſein, ferner alle Empfindungen und
Gefühle von Luft und Unluft, endlich
alle Willensanſtöße und Strebungen. In
das Gebiet der äußeren Wahrnehmungen
fallen neben der ſogenannten Außenwelt
alle Körperteile und deren Vorgänge, bei
denen wir nicht gleichzeitig unter Beobach-
+
301
tung ihres äußeren Verlaufs in das In—
nere derſelben blicken können, um ſo zu er—
kennen, was ſie bei ihrer äußeren Bewe—
gung innerlich für ſich erleben. In dieſer
Hinſicht ſind uns aber die Prozeſſe des
vegetativen Lebens im Leibe ebenſo fremd,
wie die Bewegung toter Steinchen, die auf
einen Stoß einen Berg herabrollen. For—
ſchen wir, was ſie bei dieſem Stoß inner—
lich in ſich erleben, ſo geben ſie darauf
ebenſo wenig Antwort wie unſer Magen,
a
der, wenn er Hunger hat, nicht, wie der -
Laie glaubt, wirklich ſeinen eigenen Hun—
ger fühlt und wahrnimmt, ſondern nur be—
ſtimmte Nerven reizt, die wir dann in den
Zentralorganen als Hunger empfinden.
Erſt in die Zentralapparate des Nerven—
ſyſtems verlegen wir regelmäßig die Vor—
gänge, wo ſich das Objekt (Außenwelt) mit
dem Subjekte verbindet. Die Art aber,
wie dieſe Verbindung cauſaliter ſtattfin—
det, iſt, wie geſagt, ein pſychologiſches reſp.
philoſophiſches Problem.
Wenden wir uns nun nach dieſen er—
kenntnistheoretiſchen Vorerörterungen zur
Vorſtellung über die Seele zurück. Wir haben
feſtgeſtellt, daß uns die Unterſcheidung auf
das Verhältnis von einem Inneren zu einem
Außeren (Subjekt und Objekt) hinführt.
Bilden wir uns den Begriff Seele, ſo
leuchtet ein, daß mit ihm nichts äußeres,
nichts in die Sphäre der Objekte fallendes
gemeint ſein kann. Niemand, der ſich
über die primitiven Vorſtellungen der
Naturvölker und der Alten erhoben hat,
wird daher verlangen wollen, die Seele
zu ſehen; denn ſie iſt eben nichts objektives
und äußeres, ſondern das Innere ſelbſt,
ſie iſt die rein innerlich wirkende Kraft
im Körper. Damit ſtimmt auch die ety—
mologiſche Herleitung unſeres deutſchen
4 302 O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Piychologie. |
Wortes „Seele“. Das Wort Seele wird
nach Adelung von Sawl, Sahl, nach
Grimm von Saiwa, Saivala, Sahl abge⸗
leitet und bedeutet eine rauſchende, treibende
Kraft. Es hängt zuſammen mit Saal und
Siel und bezeichnet hier einen innern, hoh—
len Raum, eine Höhle und Kanal. Wirkende,
treibende Kraft und innerer Höhlenraum
ſind alſo die Grundbedeutungen der Wur—
zel. Die Bedeutung des inneren, hohlen
Raumes und treibender Kraft zeigt heute
noch der Inhalt des Wortes Seele und
feiner Nebenbedeutungen. Seele nennt man
in der Geſchützgießerei den inneren hohlen
Raum des Kanonenrohres, dem die trei—
bende Kraft des Schuſſes zukommt, gegen—
über dem Gehäuſe. Im Gänſekiel, beim
Spinnen ꝛc. bezeichnet man mit Seele die
inneren Hohlräume, in welchen ſich Luft,
bezw. beim Spulen die Spindel befindet.
Sehen wir weiter zu, wie ſich der Ge—
brauch und die Bedeutung des Wortes
geſtaltet hat, ſo ſchließt ſichdie Verwendung
dem bisher geſagten an. Wir nennen irgend
eine Perſon die Seele der Familie, die
Seele des Staates oder Seele einer Ver—
ſchwörung, um zu bezeichnen, daß jemand
die treibende Kraft derſelben ſei. Seele
iſt ſomit das treibende, wirkende Weſen
gegenüber ſeinem Anhang und ſeiner Um—
gebung, die ihm als Stütze, als Körper,
als Hülle und als Gehäuſe dient. Ob—
wohl man nun innerhalb der Seele wie—
der von einem Geiſte und Gemüte redet,
ſo wird damit doch die Seele nicht dem
Geiſte gegenüber zu einem Äußeren, Ob—
jektiven. Wenn Platon der Seele eine
dreigeteilte Geſtalt verleiht und einen Teil
in die Leber, den anderen in die Bruſt und
den dritten in das Haupt verlegt, ſo ſteht
er mit dieſer Anſchauung eben noch den
primitiven Vorſtellungen nahe, wie ſie die
Naturvölker ausbildeten. Wer heute aber
von dem Begriffe Seele Gebrauch macht,
muß ſich die oben erwähnte erfenntnis-
theoretiſche Unterſcheidung vor Augen füh—
ren über Inneres und Außeres als Sub—
jekt und Objekt. Hiernach muß alsdann
Seele immer das Terrain des rein In⸗
neren (des Subjekts) bedeuten, und
niemals kann ſie im Körper als wirkende
Kraft etwas anderes ſein. Will man nun,
wie ſpäter geſchah, innerhalb des Seelen—
innern nochmals Geiſt, Gemüt, Verſtand,
Vernunft u. ſ. w. unterſcheiden, ſo iſt eine
ſolche Trennung rein innerlich und
pſychologiſch, und ein Forſcher, der
ſich mit Unterſuchungen der Sinnes- oder
anderer Körperorgane beſchäftigt, darf,
ohne Verwirrungen anzurichten, ſich des
Wortes „Seele“ nicht bei Phänomenen be—
dienen, die über das ſogenannte Innere
(als Bewußtſein, Vorſtellung ꝛc.) hinaus⸗
fallen. Selbſt die ſogenannten Inſtinkte
gehören, wie man nicht unterlaſſen darf
zu bemerken, dem Gebiete des rein Innern
(der Seele, dem Subjekt) an; denn was ſie
auch ſein mögen, ſie ſind ſtets mit unklaren
Vorſtellungen und Gefühlen reſp. Willens-
impulſen vermiſcht, in denen das Bewußtſein
nur ſchwach und tief herabgedrückt erſcheint.
Werfen wir nun die Frage auf, ob
es ein Mittleres zwiſchen Innerem und
Außerem, zwiſchen Subjekt und Objekt
geben kann, ſo muß dieſe Frage vom Ge—
ſichtspunkte der modernen Pſychologie ver-
neint werden. Nur wenn man ſich
einer Seelenvorſtellung überläßt, wie ſie
in naiver Weiſe die Naturvölker und die
Alten bildeten, kann man ſich den Körper
geſpalten denken in Geiſt, Seele (Inſtinkt),
ſinnliche Organe u. ſ. w. Es ſcheint offen—
O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Psychologie. 303
bar, als habe Jäger ſich zu dieſen primi—
tiven Seelenvorſtellungen zurückgewandt.
Ob dies aber zum Nutzen ſeiner Forſchun—
gen oder zum Schaden der pſychologiſchen
Wiſſenſchaft und ihrer Fortſchritte gefche-
hen iſt, das iſt eine andere Frage. Es er-
ſcheint wiſſenſchaftlich wichtig, daß alle Ge—
biete genau abgegrenzt werden, um Ver—
wirrungen zu verhüten. Phyſiologie und
Pſychologie, ſo innig ſie zuſammengehören,
forſchen ohne Zweifel auf verſchiedenen
Terrains. Der Phyſiologe erfaßt die
Erſcheinungen des Inneren von äu—
ßerer, körperlicher Seite, er konſtatirt
zunächſt nur äußere Bewegung. Die
Pſychologie arbeitet mit rein inneren Vor—
ſtellungen, Empfindungen u. ſ. w., d. h.
mit Bewegungen unſeres Inneren. Es
muß nochmals hervorgehoben werden, daß
die Umſetzung Beider ein pſychologiſches
und erkenntnistheoretiſches Problem ein—
ſchließt mit Rückſicht auf Unterſuchungen,
die im rein ſinnesphyſiologiſchen Gebiete
nicht zum Abſchluß gebracht werden können.
Die hier anzuſtellenden Forſchungen erge—
ben aber, daß ein Mittleres zwiſchen Sub—
jekt und Objekt, das man gegenüber einer
Unterſcheidung von Körper und Geiſt als
Seele anſetzt, nicht angenommen wer—
den kann. Denn entweder iſt dieſes mitt—
lere Dritte ein Inneres (Vorſtellung, Be-
wußtſein ꝛc), jo fällt es ſchon dem Geiſte
zu, oder es gehört dem Außeren, das iſt
dem Körper an. Die Ausdrücke Geiſt und
Seele dürfen zu einer ſolchen Trennung
nicht verführen; denn ſie ſind, vom andern
pſychologiſchen Geſichtspunkte aus geſehen,
im grunde einerlei; beide fallen in das
Terrain des Subjekts (des Inneren). Wer
hier Unterſchiede von neuem ziehen will,
verfällt, wir wiederholen, den veralteten
naiven Seelenanſchauungen. Dabei ſei
bemerkt, daß auch das deutſche Wort Geiſt
wieder mit ſeiner Bedeutung etymologifch
auf die Bedeutung Seele zurückführt. Geiſt,
Geſcht, Giſcht bedeutet wie Pon und ani-
ma ein Hauchen, Rauſchen, Brauſen, deutet
alſo auf das Weſen der im Innern des
Körpers treibenden Kraft. Wir erfehen hier-
aus, daß man im grunde die Seele als
ſolche nicht entdecken kann; denn das
Innere läßt ſich als Inneres eben nicht
äußerlich aufdecken. Die Seele als das
Terrain des Inneren iſt aber für die innere
Wahrnehmung längſt entdeckt, ſie iſt von
hier aus geſehen ein Komplex von pſychiſchen
Erſcheinungen, die ihren Verlauf in den Zen—
tralorganen des Nervenapparates haben.
Die Frage aber, ob man für das
Subjekt (als Inneres, Seele ꝛc) einen
beſtimmten Punkt ausfindig machen darf,
als ſogenannten feſten Seelenſitz, iſt
rein phyſiologiſcher Natur. Wir wiſſen,
daß die moderne Phyſiologie heute ſoweit
vorgeſchritten iſt, um mit hoher Wahrſchein—
lichkeit dieſe Frage zu verneinen. Doch
ſind die hierüber zu verfolgenden Unter—
ſuchungen, die im weiteren darauf hinfüh—
ren würden, zu erforſchen, ob man neben
einem beweglichen phyſiſchen
Schwerpunkt im Körper auch einen
beweglichen pſychiſchen Schwer—
punkt in den Zentralorganen der
Nervenapparate anzuſetzen ein
Recht habe, nicht mehr hierher ge—
hörig; denn was uns zunächſt hier be—
ſchäftigte, war nur die Bedeutung des
Begriffes und der Vorſtellung „Seele.“
EN
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Der große Komet von 1880.
I die die Mücken und Nachtſchmetter—
linge die Lampe, fo umſchwärmen
die aus ungeheurer Ferne heran—
eilenden Kometen die Sonne, aber keiner,
von dem man weiß, iſt der Sonne ſo nahe
gekommen, wie der vom Winter 1880, der
ſich dem ſtrahlenden Licht-und Wärmeherde
unſeres Weltſyſtems am 27. Januar 1880
bis auf den eilften Teil des Sonnendurch—
meſſers (17,000 Meilen) genähert hat.
Bekanntlich wurde zu Anfang Februar
d. J. auf den europäiſchen Sternwarten
eine hochgeſpannte Erwartung erregt durch
ein von der Sternwarte zu Kordoba in
der argentiniſchen Republik durch den
Aſtronomen Gould abgeſandtes Tele—
gramm, welches kurz beſagte: „Großer
Komet paſſirt die Sonne nord—
wärts.“ Schon nach einigen Tagen
wurde dieſe Erwartung enttäuſcht durch
ein zweites Telegramm deſſelben Aſtrono—
men, welches eben ſo kurz lautete: „Komet
geht ſüdwärts.“ Der Widerſpruch wurde
dahin aufgeklärt, daß es ſich um einen
Kometen gehandelt habe, welcher der Sonne
ſo nahe gekommen ſei, daß er, wie der
große Komet von 1843, innerhalb weniger
Tage bei ſeinem überaus ſchnellen Um⸗
ſchwung um die Sonne einen vollſtändigen
Wechſel der Bewegungsrichtung erfahren
habe. Seitdem ſind nähere Nachrichten
über die von den Sternwarten der ſüd—
lichen Halbkugel, insbeſondere am Kap
der guten Hoffnung, angeſtellten Beobach—
tungen jenes Kometen eingegangen, und
es hat ſich herausgeſtellt, daß er ſich in
der That in ganz derſelben Bahn bewegt
hat, wie der große Komet von 1843,
wenngleich er bei weitem nicht ſo hell ge—
worden iſt, wie jener, welcher bekanntlich
zur Zeit ſeiner größten Sonnennähe am
Tage dicht neben der Sonne wahrgenom—
men wurde. Der diesjährige Komet iſt
aber ſonſt dem großen Kometen von 1843
auch darin ähnlich geweſen, daß er einen
mächtigen, etwa 40 — 50 Grad langen
Schweif entwickelt hat, und die Berech—
nung der Bahnelemente läßt keinen Zweifel
darüber, daß es ſich hier um ein und den—
ſelben unſerem Sonnenſyſtem angehörigen
Kometen, mit einer Umlaufszeit von 36
Jahren 11 Monaten, handelt. Bekannt⸗
lich hatte man jenen Kometen bei ſeinem
vorigen Erſcheinen mit dem Namen des
ariſtoteliſchen ausgezeichnet, weil er unter
m
Annahme einer viermal fo langen Umlaufs—
zeit — 147,5 Jahre) mit dem 371 vor
Chriſti Geb. von Ariſtoteles beobachteten
Kometen durch Zwiſchenerſcheinungen ver—
bunden werden konnte. Den Umſtand,
warum man dieſen im Jahrhundert nahe—
zu dreimal wiederkehrenden Kometen bis—
her ſo ſelten beobachtet hat, erklärt ſich
leicht aus den Eigentümlichkeiten ſeiner
Bahn, die ſo lang geſtreckt iſt, daß die
kleine Axe, bei einer zweiundzwanzigfachen
Länge der großen Axe, kaum die Länge
des Durchmeſſers einer Erdbahn erreicht
und eine ſo eigentümliche Lage hat, daß
der Komet für das unbewaffnete Auge
immer nur ganz kurze Zeit ſichtbar ſein
kann, nämlich in der für die früheren Jahr—
hunderte allein in Betracht kommenden
nördlichen Hemiſphäre ſtets nur dann,
wenn ſeine Sonnennähe entweder im Fe—
bruar und März oder im Oktober und No- |
vember ſtattfindet. Wenn daher der Komet
irgendwo einmal in ſeinem Glanze geſehen
worden iſt, ſo geht ſeine nächſte, nächſt⸗
nächſte und drittnächſte Erſcheinung unbe—
merkt vorüber und erſt die viertnächſte tritt
wieder unter ähnlichen Sichtbarkeitsbedin—
gungen auf, ſo daß ſich der erwähnte Irr—
tum über die Umlaufszeit leicht erklärt.
Zu dieſem von Prof. E. Weiß in Wien
hervorgehobenen Umſtand kommt nun noch
die ſchnelle Abnahme ſeines Glanzes. Der
Komet entwickelt bei ſeiner Annäherung
an die Sonne ſeinen ſchönen Schweif eben—
ſo überraſchend ſchnell, wie er nachher ver—
ſchwindet, in wenigen Wochen iſt die kurz
vorher ſo großartige Erſcheinung ſelbſt
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
dem Teleſkope entſchwunden. Durch dieſe
Schnelligkeit feines Vorüberganges bei der
Sonne erklärt ſich wohl die mangelhafte |
Berechnung der Bahnelemente im Jahre
1843, die eben nur durch die diesjährigen
305
Beobachtungen auf der ſüdlichen Hemi—
ſphäre korrigirt werden konnte. Die unge—
heure Schweifentwicklung dieſes Kometen,
zuſammengehalten mit der großen Nähe,
in welcher er bei dem anziehenden Geſtirn
vorübereilt, laſſen wieder jene alten, un—
gelöſten Fragen auftauchen, woraus die
Kometen beſtehen, und auf welche Weiſe
die ungeheure Schweifbildung zu erklären
iſt. Handelt es ſich wirklich, wie Zöllner
glaubt, um die ſchnelle Verdunſtung einer
von der Sonnenelektrizität abgeſtoßenen
Materie in dem Millionen Meilen langen
Schweife, oder iſt derſelbe nur, wie
früher in dieſen Blättern zu zeigen ver—
ſucht wurde“), eine bloße optiſche Erſchei—
nung? Vielleicht wird gerade dieſer Komet
durch die Rapidität ſeiner Veränderungen
bei ſeinen nächſten Erſcheinungen zur Lö—
ſung dieſer Frage das ſeinige beitragen;
einſtweilen müſſen wir uns damit begnü—
gen, durch ſeine neueſte Erſcheinung die
Gewißheit erhalten zu haben, nicht mehr
auf den alleinigen Beſitz des Halleyſchen
Kometen in unſerm Syſteme angewieſen
zu ſein, ſofern ſeine teleſkopiſchen Neben—
buhler für die große Menge überhaupt
nicht mitzählen.
Die aufrechtſtehenden Baumſtämme
der Oleinkohlenſchichten,
welche in unſerer Zeitſchrift vielfache Er—
örterungen gefunden haben!), weil fie zu
der Hypotheſe Kuntzes vom ſchwimmen—
den Steinkohlenwalde Veranlaſſung gege—
ben hatten, erfahren eine ſehr einfache
Erklärung in einigen Beobachtungen von
*) Kosmos, Bd. III, S. 29
) Kosmos, Bd. IV, S. 33 u.
S. 239.
7
430; Bd. VI,
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4.“
U
306
Matthieu Williams, die derſelbe kürz—
lich (Journal of Sciences, Ser. III, Vol. II
1880, p. 81) veröffentlicht hat. Derſelbe
ſah nämlich im Sommer 1855 den Boden
des in einem tiefen Thale zwiſchen wald—
bedeckten Wänden gelegenen Achenſees mit
einem förmlichen Wald von Baumſtämmen
und Aſten bedeckt, unter denen er durch
Schwimmen und Tauchen nicht wenige er—
kannte, die aufrecht ſtanden, die Wurzeln
im lehmigen Schlamme begraben, als ob
ſie daſelbſt gewachſen und überflutet wor—
den wären. Ein emporgebrachter, arm—
dicker Aſt war ſtark vermodert, fo daß ſich
die Jahresringe zum Teil leicht von ein—
ander löſen ließen. Über die Entſtehung
dieſes untergeſunkenen Waldes konnte kein
Zweifel ſein, denn an den waldigen Ufern
ſah man lange, entwaldete Streifen, in
denen offenbar durch gewaltig angeſchwol—
lene Gewitterſtröme die Bäume in den
See geriſſen worden waren. Da viele
dieſer Bäume mit ihrem Wurzelgeflecht
eine Menge Erde mitgeführt haben werden,
erklärt es ſich leicht, daß ſie in aufrechter
Stellung zu Boden ſanken und dort feſtge—
gehalten werden mußten, während andere
Stämme ſo lange im Waſſer ſchwimmen,
bis ſie ſich voll ſaugen und dann in den
verſchiedenſten Stellungen zu Boden ſinken.
In ſpätern Jahren hat dieſer Beobach—
ter dieſelben Vorkommniſſe vielfach in noch
größerem Maßſtabe in den Fjorden Nor—
wegens beobachtet, woſelbſt die Waldla—
winen eine bekannte Erſcheinung ſind;
ähnliche, gewaltige, mit donnerartigem
Getöſe vor ſich gehende Waldſtürze, bei
denen große Strecken im Zuſammenhange
verſinken, hat Bates als eine am Ama—
zonenſtrome gewöhnliche Erſcheinung in
ſeinem bekannten Buche „Der Naturforſcher
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
am Amazonas“ beſchrieben. Wohl nicht
mit Unrecht wendet Williams dieſe Er—
ſcheinungen auf die Erklärung mancher
Vorkommniſſe in den Steinkohlenlagern
an, wobei es ſich natürlich ſowohl um tiefe
Landſeeen und marine Buchten, als um
Flußmündungen handeln kann. Das weit—
ausgebreitete Wurzelwerk der Sigillarien—
bäume mußte dieſes aufrechte Unterſinken
wohl noch beſonders begünſtigen.
Ahulichkteit vou Blumen und Früchlen.
Daß Blumen und Früchte in mehreren
ihrer hervorſtechendſten Eigentümlichkeiten
übereinſtimmen, iſt ſchon wiederholt und
mit Recht hervorgehoben worden. Beide
locken durch augenfällige Farbe, angeneh—
men Duft und beſondere, ſehr häufig
zuckerhaltige Genußmittel Tiere an ſich,
die, ihrem eigenen Nahrungsbedürfniſſe
folgend, ohne es zu wiſſen und zu wollen,
ihre freie Ortsbewegung zum Nutzen der
im Boden feſtgewurzelten Pflanze ver—
wenden und ihr die weſentlichſten Lebens—
dienſte leiſten: die Blumen ihre Kreuzungs—
vermittler, die ihnen eine reichliche und
entwicklungsfähige Nachkommenſchaft ver—
ſchaffen, die Früchte ihre Ausſäer, die die
erzeugten Nachkommen an neue, zum Teil
günſtigere Wohnſitze verpflanzen. Aber
kein einziger Fall dürfte vielleicht bis jetzt
bekannt fein, in dem die Ähnlichkeit zwi—
ſchen Blumen und Früchten überraſchender
in die Augen ſpränge, als in einem Bei—
ſpiele, über das mir mein Bruder Fritz
1 in einem Briefe vom 11. Febr.
d. J. von Südbraſilien aus mit folgenden
| Worten berichtet:
„Im Küſtengebiete ii eine Clusia
‚ (Guttifera) häufig, ein Strauch mit gro—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ßen, glänzenden, lederartigen Blättern und
weißen, duftenden, zweihäuſigen Blumen.
In der Nähe von Cambiu ſtießen wir auf
einen ſolchen Strauch (ſpäter am Itajahy
auf noch mehrere), der mit ganz fremd—
artigen Blumen bedeckt ſchien. Bei nähe—
rem Zuſehen waren es aber nicht Blu—
men, ſondern die aufgeſprungenen, ganz
blumenähnlichen Früchte.
In der Mitte eine abge—
ſtumpfte Mittelſäule mit
fünf vorſpringenden Kan—
ten und ebenſoviel ein—
ſpringenden Winkeln. Um ſie breiten ſich
ſternförmig die fünf Klappen der Frucht
aus; Säule und Klappen weißlich. Auf
jedem dieſer anſcheinenden Blumenblätter
liegt ein länglicher mennigroter Körper —
der in eine weiche, ölreiche, rote Maſſe ein—
gebettete Samen.“
Lippſtadt, 1880.
Hermann Müller.
Aeber die fogenannte Jungferngeburt
(Parthenogenesis)
hat der Profeſſor der vergleichenden Em—
bryologie am College de France Bal⸗
biani in ſeine voriges Jahr erſchienenen
Leons sur la génération des vertébrés“)
ein ſehr intereſſantes Kapitel aufgenommen,
aus welchem wir an dieſer Stelle die nach—
ſtehende neue Deutung jener merkwürdigen
Erſcheinung berichten wollen. Seit dem
Jahre 1845 haben Wittich, von Sie—
bold und zahlreiche andere Forſcher in
den Eiern zahlreicher Spinnen und Krebs—
tiere eine Zelle entdeckt, über deren Be—
deutung ſie ſich keine Rechenſchaft geben
konnten; nachher iſt dieſelbe auch bei
) Paris. Octave Doin, 1879.
=
307
zahlreichen Wirbeltieren erkannt und von
Milne Ewards als embryobildende Zelle
(Cellule ou Vesicule embryogene) be=
zeichnet worden. Dieſe Zelle iſt wie ges
wöhnlich mit einem nucleus (nebſt nucle-
olus) verſehen, welcher von Protoplasma
umgeben iſt. Die beiden erſteren Elemente
ſind in der Regel nicht ſchwierig zu erken—
nen, aber das Protoplasma iſt oft von
dem des Eies nicht zu unterſcheiden, weil
es dieſelbe Brechbarkeit beſitzt. Nur in den
Spinneneiern iſt es infolge einer Verän—
derung ſeiner Subſtanz deutlicher. Der
Kern färbt ſich durch Karmin rot (bei den
Spinnen ſehr langſam infolge der Dichtig—
keit ſeiner Hüllen). Dieſes embryogene
Bläschen entſteht durch Abknospung von
einer der Epithelzellen, welche das Ei in
dem Graafſchen Follikel umgeben. In das
Ei eindringend, bewahrt dieſe Zelle ihre
Individualität, ihr Protoplasma ver—
ſchmilzt nicht mit dem Dotter, dieſer wird
vielmehr von der Zelle durchbrochen, die
ſich darin eine Höhlung gräbt, in der ſie
wie eingefaßt liegt. Mitunter iſt der Durch—
bruchsweg längere Zeit erkennbar, ge—
wöhnlich ſchließt er ſich durch Annäherung
der Wände wieder völlig . . .
„Der epitheliale Urſprung des em—
bryogenen Bläschens macht es zu einem
der Samenzelle analogen Element, wel—
ches auch auf das Ei eine ähnliche Wir—
kung ausüben muß, wie ein Spermatozoid.
Man wird mir einwerfen, daß dieſe Zelle
weder die Geſtalt, noch die Struktur, noch
die Beweglichkeit der gewöhnlichen Samen—
fädchen beſitze. Aber wir kennen eine große
Anzahl von Tieren, bei denen dieſe Ele—
mente weder Fadengeſtalt noch Beweglich—
keit beſitzen. So z. B. bei faſt allen Kru—
ſtern, bei den chilognathen Tauſendfüßern,
„
308
wo ſie ſtrahlige und ſtarre Zellen oder
(gleichfalls unbewegliche) Stäbchen bilden.
Bei den Nematoiden unter den Würmern
ſind es kleine gerundete, zuweilen kern—
haltige Zellen mit oder ohne amöboide Be—
wegung. Die fadenförmige Bildung und
Beweglichkeit iſt demnach nicht immer für
die Samentierchen charakteriſtiſch.
Es geſchieht nun unter dem Einfluß
einer Art von Befruchtung, die von dem
das männliche Element vorſtellenden, em—
bryogenen Bläschen ausgeübt wird, daß
ſich der Keim in dem weiblichen Ei bildet.
Man findet in der That, daß ſich ſtets um
dieſes Element die plaſtiſchen Granula—
tionen anlegen.
Da die embryogene Zelle ein urſprüng—
lich männliches Element iſt, ſo begreift
man, daß ihre Wirkung ſich in gewiſſen
Fällen nicht auf die Bildung des Keimes
beſchränken wird. Sie wird hinreichen,
auf eine mehr oder weniger vollſtändige
Art entweder die erſten Phaſen der Ei—
entwicklung einzuleiten oder die vollſtän—
dige Entwicklung zu bedingen und ein voll—
kommnes Tier zu erzeugen, d. h. den Vor—
gang, welchen man als Parthenogeneſis
bezeichnet.
Es giebt in der That wiſſenſchaftlich
feſtgeſtellte Fälle, die beweiſen, daß bei
mehreren Tierarten und ſogar bei Wirbel—
tieren nicht befruchtete Eier fähig werden,
ſich mehr oder weniger vollſtändig zu ent-
wickeln.
Biſchof hat zuerſt (1844) die Keim—
furchung nichtbefruchteter Eier beim Fro—
ſche, der Hündin und dem Mutterſchwein
beobachtet, und ſeitdem ſind ähnliche Fälle
von einer großen Anzahl von Beobachtern
feſtgeſtellt worden. So von Henſen
(1869) beim Kaninchen, von Agaſſiz und
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Burnett bei amerikaniſchen Schellfiſchen,
von Oellacher (1872) bei der Henne.
Aber bei keinem Wirbeltier ſchreitet die
Entwicklung bis zur Bildung eines voll—
kommenen Individuums fort.
Anders bei den Wirbelloſen, bei denen
es viele Arten giebt, deren Eier ſich ohne
Befruchtung vollſtändig entwickeln können.
Dieſe Thatſache iſt ſeit lange bei dem
Seidenwurm bekannt und alle Seiden—
züchter kennen ſie. Bei dieſem Spinner iſt
die Zahl der ohne Paarung fruchtbaren
Eier ſehr veränderlich unter den einzelnen
Individuen. Die parthenogenetiſchen Ge—
lege ſind gewöhnlich viel weniger reichlich
als die normalen, und die Zahl der zur
Ausſchlüpfung gelangenden Eier iſt ſehr
beſchränkt. Barthelemy hat bei ſeinen
Beobachtungen (1859) nur ein einziges
mal ein Gelege beinahe vollſtändig zur
Entwicklung kommen ſehen. Überhaupt iſt
das Gelege ſpärlich (diffieile); anſtatt der
gewöhnlichen Ziffer von 3 — 400 Eiern
liefert es etwa 40 — 50, von denen ſich nur
eine ſehr kleine Zahl entwickelt, um kleinen
Räupchen das Daſein zu geben, die keine
große Lebenskraft zu beſitzen ſcheinen; die
Mehrzahl der Eier überlebt den Winter
nicht und man findet im Frühling die mei—
ſten Larven tot in ihren Schalen. Um ſich
von dieſem Phänomen Rechenſchaft zu
geben, hat Barthelemy auf den Herma—
phroditismus des Eies hingewieſen, denn
das Tier ſelbſt iſt niemals hermaphrodi—
tiſch. Es war ein die Wahrheit ſtreifender
Geiſtesblick, den ſein Urheber nicht be—
gründen konnte.
Bei vielen andern Schmetterlingen
iſt es ſicher, daß nur eine ſehr kleine Zahl
von Männchen vorhanden iſt; bei den
Pſychiden iſt die Jungferngeburt ganz ge—
b 0
wöhnlich. Unter den Hautflüglern finden
ſich zahlreiche Gallwespen=(Cynips-) Arten,
deren Männchen nicht bekannt ſind. Wie
man weiß, hat der deutſche Bienenzüchter
Dzierzon die Parthenogeneſis bei der
Biene entdeckt. Die Beobachtungen, welche
er als Züchter gemacht hat, ſind durch
Siebold und Leuckardt vom anatomi—
ſchen Geſichtspunkte aus beſtätigt wor—
den, und er vermochte von der Erſcheinung
eine bereits dem Ariſtoteles ungefähr
bekannte Erklärung zu geben: die Königin—
Mutter legt nach ihrem Willen befruchtete
oder nicht befruchtete Eier, dieſe erzeugen
die Männchen oder Drohnen, jene die
Weibchen oder Arbeiterinnen.
Jedermann weiß, daß die Blattläuſe
ſich während der warmen Jahreszeit ohne
Mitwirkung der Männchen durch Lebendig—
gebären fortpflanzen. Jedes Junge wird
in wenigen Tagen ein dickes Weibchen,
welches ſeinerſeits Eier legt, und ſo geht
es fort bis zum Herbſt. In dieſem Zeit—
punkt iſt die letzte durch Jungferngeburt
lebendiggeborne Generation geſchlechtlich.
Die Paarung und darauf das Gelege fin—
den ſtatt, und die Eier überwintern, um
im Frühling auszukriechen und lebendig= |
gebärenden Blattläuſen das Leben zu ge—
ben. Bonnet in Genf hat innerhalb
dreier Monate zehn lebendiggeborne Ge—
nerationen beobachtet, Kyber hat Kolo—
nien von Aphis rosae in einem geheizten
Zimmer gehalten und ſie während vier
Jahren ſich fortpflanzen ſehen, ohne daß
ſie eine einzige geſchlechtliche Generation
hervorbrachten.
Verfolgen wir kurz den Vorgang der
ungeſchlechtlichen Erzeugung bei den Blatt—
läuſen, wie ihn Balbiani zuerſt (1869
bis 1870) ermittelt hat.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
309
Der Reproduktionsapparat der leben—
diggebärenden Blattlaus, die immer ein
Weibchen iſt, zeigt ſich nach demfelben
Typus wie der Eierſtock aller Inſekten ge—
baut. Er beſteht aus Bündeln von je nach
den Arten mehr oder weniger zahlreichen
Röhren, welche letzteren hintereinander
eine Reihe von Kammern oder Zellen ent—
halten, in denen ſich bei der Blattlaus
nicht Eier, ſondern Embryonen, oder viel—
mehr Eier, die ſich ſehr ſchnell in Embryo—
nen umwandeln, entwickeln.
Die eiführenden Zellen oder Kammern
der Inſekten ſind die Aequivalente der
Eierſtock-Follikel bei den Wirbeltieren.
Zwiſchen dem jüngſten Ei und der Zell—
maſſe, welche das Ende jeder Röhre bildet,
entſtehen fortwährend neue Eier, woraus
folgt, daß ſich die Scheide der Eiröhren
beſtändig verlängert. Jedes Ei entwickelt
ſich für ſich in einer Zelle der Eiröhre.
Solcher Röhren finden ſich bei der Blatt—
laus 4— 7 auf jeder Seite.
Am Ende jeder Scheide oder Röhre
befindet ſich eine aus einer Häufung kleiner
Zellen gebildete kugelförmige Erweiterung:
es iſt dies die Keimkammer. In der Mitte
befindet ſich eine Zelle, welche fortwährend
an ihrem hinteren Teil durch Knospung
eine Reihenfolge geſtielter Zellen hervor—
treten läßt. Jede dieſer geſtielten Zellen
ſtellt ein Eichen dar.
In dem Maße, wie es ſich entwickelt,
ſetzt ſich dieſes Eichen in Beziehung zu der
Wandung des Eierſtockrohres, welches mit
einem Epithel austapezirt iſt, und drängt
dieſelbe zurück, um ſich darin eine Aufent—
haltszelle für alle Phaſen ſeiner embryo—
nalen Entwickelung zu bilden. Unter dem
Einfluſſe dieſer Berührung zwiſchen Ei
und Epithel bringt eine in der Nähe des
310 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
hinteren Eipoles gelegene Epithelzelle
durch Sproſſung ein kleines Zellenhäufchen
hervor, das auf der Wandung der eifüh—
renden Scheide einen Vorſprung erzeugt.
Von dieſen Zellenhäufchen erhebt ſich eine
Knospe, welche das immerfort wachſende
Eichen zuſammendrückt, es am Berührungs—
punkte zurückdrängt und ſich darin durch Zu—
rückſchieben eine kleine Kammer aushöhlt.
Dieſe Knospe iſt ein embryogenes Bläs—
chen und das Homologon eines Samen—
kernes (Spermatoblaste) der männlichen
Geſchlechtsdrüſe. Aber dieſer Spermato—
blaſt iſt, wie wir ſehen werden, einer ferne—
ren und unabhängigen Entwickelung fähig.
Sobald dieſe Zellknospe oder Sper—
matoblaſt den Eidotter berührt hat, wirkt
er auf denſelben nach Art eines männlichen
Elementes. Man ſieht alsdann in der That
an der Oberfläche des Eies die Keimbläs—
chen ſich bilden und den Embryo ſich ent—
wickeln. Bald nimmt die Epithelknospe,
der man auf Grund ihrer befruchtendenWir—
kung den Namen eines „Androblaſt“ bei—
legen kann, an Umfang zu, und treibt auf
ihrer geſammten Oberfläche Tochterzellen
hervor. Dieſe Zellen ſind mit den Lappen
der Wirbeltier-Spermatoblaſten identiſch,
welche gleichfalls durch Knospung einer
Epithel-Mutterzelle erzeugte wahre Zel—
len ſind.
Der Stiel der Androblaſten trennt ſich
von der eiführenden Scheide, und die be—
freite Maſſe des letzteren begiebt ſich an
die innere Fläche des Embryo-Bauches.
Dieſe Maſſe ſpielt keine weitere Rolle, ſie
lebt und entwickelt ſich auf eigene Fauſt in
den Organen des Inſekts und beſteht ſelbſt
in dem erwachſenen Tiere weiter, woſelbſt
ſie die grüne oder gelbe Subſtanz ausmacht,
die man bei allen Blattläuſen wahrnimmt.
So iſt, um es zuſammenzufaſſen, das
Ei oder weibliche Element durch die Epi—
thelknospe als männliches Element befruch—
tet worden und aus dieſer Befruchtung iſt
die Entwickelung des Eies bis zur Aus—
bildung des vollendeten Tieres erfolgt.
Noch mehr, die Epithelknospe iſt ihrerſeits
durch das weibliche Ei befruchtet worden
und hat ſich in einen wahren Spermato—
blaſten umgebildet.
Verlaufen die Dinge bei den andern
Tierarten, welche ſich ohne Mitwirkung
des Männchens entwickeln, ebenſo wie bei
den Blattläuſen? Iſt das neue Weſen
dort ebenfalls das Reſultat dieſer Vor—
befruchtung des Eies durch das Eier—
ſtock⸗Epithel? Bis jetzt iſt das noch nicht
feſtgeſtellt. Aber alle dieſe Thatſachen,
welche uns für jetzt den gewöhnlichen Ge—
ſetzen zu entſchlüpfen ſcheinen, werden ſich
ſicherlich eines Tages in dieſelben einord—
nen, „und die Ausnahme von heute wird,“
wie der große Dichter und Naturforſcher
Goethe ſagt, „morgen die Regel bilden“.
Die Organifalion und Klaffilikafion
der höheren Aleduſen-Akraspeden
bildete den Gegenſtand einer Mitteilung
von Prof. Häckel in der Februarſitzung
der Jenaiſchen Geſellſchaft für Medizin und
Naturwiſſenſchaft, aus deren Sitzungsbe—
richten wir das Folgende entnehmen:
Die höheren Meduſen, welche Gegen—
baur (1856) als Akraspeden zuſam—
menfaßte (Phanerocarpae von Eſch—
ſcholtz, Steganophthalmae von Forbes),
ſind durch die genaueren Unterſuchun—
gen der letzten Jahre mehr und mehr als
eine ſelbſtändige Hauptgruppe der Neſſel—
tiere erkannt worden. Dieſe Hauptgruppe
— . ERREGER N
ſteht der anderen, äußerlich ſehr ähn—
lichen Hauptgruppe der niederen Meduſen
oder Kraspedoten (Cryptocarpae oder
Gymnophthalmae) in wichtigen Bezie—
hungen ſchroff gegenüber und iſt durch
keinerlei wahre „Übergangsfor-
men“ phylogenetiſch mit ihr verbunden.
Die auffallende Ahnlichkeit, welche zwiſchen
einigen Meduſen-Familien beider Haupt:
gruppen beſteht und welche oft zur Ver—
wechſelung beider geführt hat, beruht nicht
auf wahrer Stammverwandtſchaft, auf
Vererbung gleicher Eigenſchaften von
einer gemeinſamen Stammform, ſon—
dern vielmehr auf der Convergenz von
Formen, welche ſehr verſchiedene diver—
gente Ausgangspunkte beſitzen, welche aber
in Folge von Anpaſſung an gleiche Exi—
ſtenz-Bedingungen ſich bis zur Berührung
genähert haben. Meine eigenen, auf ein ſehr
reiches Beobachtungsmaterial gegründeten
Unterſuchungen haben mich zu der Über—
zeugung geführt, daß Akraspeden und
Kraspedoten verſchiedenen Urſprungs
und in ähnlicher Weiſe aus zweierlei ver—
ſchiedenen Polypen-Gruppen hervorgegan—
gen ſind. Die Akraspeden beſitzen ganz
allgemein und ohne Ausnahme Gaſtral—
Filamente (Magenfäden) und, nach
Hertwig, entodermale Gonaden
(d. h. Geſchlechtsdrüſen); dagegen fehlt
ihnen ein echtes Segel, ſie ſtammen ſowohl
ontogenetiſch als phylogenetiſch ab von Be—
cher-(Skypho-) Polypen, d. h. von Poly:
pen, deren Magenraum durch vier in ter—
radiale Taeniolen (oder vorſpringende
longitudinale Leiſten der Magenwand) in
vier perradiale peripheriſche Niſchen ge
teilt wird (Scyphistoma, Stephanoscy-
phus, Spongicola). Man kann daher die
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Akraspeden auch als Skyphomeduſen
311
(Ray-Lankeſter) bezeichnen; ihre charak—
teriſtiſchen Gaſtral- Filamente entwickeln
ſich (gleich denjenigen der ſtammverwand—
ten Korallen) aus den Taeniolen der Sky—
phopolypen. Auf der andern Seite fehlen
jene typiſchen Gaſtral-Filamente gänzlich
den Kraspedoten, welche aber dafür ſtets
ein echtes Velum und (nach Hertwig)
exodermale Gonaden beſitzen; die Kras
pedoten ſtammen ſowohl ontogenetiſch als
phylogenetiſch ab von Hydropolypen, d. h.
von Polypen, deren Magenwand keine in—
terradialen Täniolen bildet und deren
Magenraum daher einfach iſt. Die Kras—
pedoten werden deshalb mit Recht als
„Hydromeduſen“ bezeichnet (Bietor
Carus).
Die Phylogenie der Neſſeltiere
(Acalephae oder Cnidariae — Zoophyta
oder Coelenterata im engeren Sinne! —)
dürfte mithin jetzt in der Geſtalt des nach-
folgenden Stammbaumes ihren naturge—
treuen Ausdruck finden: Die gemeinſame
Stammform bilden Hydropolypen oder
Hydrarien einfachſter Art, nahe verwandt
der heutigen Hydra. Aus dieſer entwickel-
ten ſich zunächſt als zwei divergirende Haupt—
gruppen einerſeits die Hydropolypen (ohne
Taeniolen), anderſeits die Skyphopolypen
(mit Taeniolen). Aus verſchiedenen Grup—
pen der Hydropolypen entwickelten ſich
einerſeits die Hydromenen (die Hydro—
korallen, die eigentlichen Sertularien ꝛc.),
d. h. Hydropolypen, welche niemals Medu—
ſen bilden, anderſeits die Kraspedoten
oder Hydromeduſen. In ganz analoger
Weiſe entwickelten ſich aus verſchiedenen
Gruppen der Skyphopolypen einerſeits die
Korallen oder Anthozoen, welche niemals
Meduſen bilden, anderſeits die Akraspeden
oder Skyphomeduſen. Von den Kraspe—
312 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
doten (und zwar von der Ordnung der wandten der Ktenophoren ſind heutzutage
Anthomeduſen) find phylogenetiſch ſo- noch die Pteronemiden (Ctenaria, Gem-
wohl die Ktenophoren als die Siphono- | maria), diejenigen der Siphonophoren hin—
phoren abzuleiten, die nächſten Stammver- gegen die Kodoniden (Codonium, Sarsia).*)
Hypothetiſcher Stammbaum der Neſſeltiere— a
(Acalephae vel Cnidariae):
SIPHONOPHORAE | Cubomedusae
Discomedusae
CTENOPHORAE
| Peromedusae
Trachomedusae | | | Ephyroniae
| RUN | 8 Cpbyra)
Narcomedusae Anthomedusae Stauromedusae
f
Leptomedusae i |
Trachylinae Leptolinae : Tesseroniae
(Tessera)
—ͤͤ —é •—„D——
TE ee — — 8
Craspedotae Acraspedae
(Hydromedusae) (Seyphomedusae)
HyYDROMENAE | CORALLA
(Sertulariae) i (Anthozoa)
5
(Hydrocoralla) |
50
Hydropolypi - Scyphopolypi
(Hyarostoma) f (Seyphostoma)
| ah: |
HyYDRARIA
(Hydra)
Gastraea
Wenn demnach die Abſtammung beider wegs, daß der Begriff Meduſe deshalb
Meduſen-Legionen von verſchiedenen Poly- als ſolcher aufzugeben ſei. Vielmehr wird
pengruppen gegenwärtig als höchſt wahr— es s für das Syſtem (welches als ſolches
ſcheinlich, wenn nicht als ſicher, angeſehen 7 ee mein „Syſtem der Medufen“,
werden darf, jo folgt daraus doch keines— 20, 108.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ja doch mehr oder weniger künſtlich bleiben
muß) von Vorteil ſein, die Klaſſe der
„Meduſen“, wie es früher geſchah, beizu—
behalten, und als zwei „Subklaſſen“ oder
„Legionen“ die Kraspedoten (Hydro-
medusae) und die Akraspeden (Scypho-
medusae) zu unterſcheiden; beide zeigen
höchſt intereſſante Analogien in ihrer ſtufen—
weiſen Entwicklung.
Die Akraspeden oder Skyphome—
duſen wurden bisher ganz vorzugsweiſe
durch diejenige formenreiche Gruppe von
großen und ſchönen Meduſen repräſentirt,
welche wir Discomedusae oder Disco-
phorae („Scheibenquallen“ im engeren
Sinne) nennen ( Rhizostomeae und
Semaeostomeae von Agaſſiz). In vielen
Werken (auch aus neuerer Zeit) werden
die „Ordnungen“ der Akraspeden und
Diskomeduſen als identiſch betrachtet. In
der That aber bilden die Discomedusae
nur eine von den vier Ordnungen der
Akraspeden⸗Legion, und dieſer ſtehen als
drei gleichwertige Ordnungen gegenüber
die Stauromedusae, Peromedusae und
Cubomedusae. Allerdings kann man aber
auch wieder dieſe drei letzteren in einer
Sublegion als Tesseroniae zuſammen⸗
faſſen, und dieſen als zweite Sublegion
die Ephyroniae (— Discomedusae) gegen-
überſtellen. Die große Anzahl von neuen,
zum Teil höchſt merkwürdigen und inter:
eſſanten Meduſen, welche ich aus beiden
Sublegionen unterſuchen konnte, hat mich
zu der folgenden, ganz veränderten Auf—
faſſung des Akraspeden-Syſtems geführt.
Die Stammgruppe aller Akraspeden
bildet die Familie der Teſſeriden, mit der
prototypiſchen Stamm-Gattung Tessera
und der zunächſt davon abgeleiteten Tes-
serantha. Tessera, die einfachſte und
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4.
313
älteſte unter allen akraspeden Meduſen,
gleicht im weſentlichſten einem freiſchwim—
menden Skyphoſtoma-Polypen, deſſen
„Mundſcheibe“ oder Periſtom ſich zu einer
konkaven „Subumbrella“ vertieft hat und
an vier interradialen Knotenpunkten
(oder „Septalknoten“) mit den vier Tae-
niolen oder gaſtralen „Längsleiſten“ der
Umbrella verwachſen iſt. Dadurch zerfällt
der geſammte, urſprünglich einfach becher-
förmige Gaſtralraum in einen einfachen
Zentralmagen und vier weite peripheriſche
„Magentaſchen“; letztere ſind noch nicht
durch vollſtändige Septa, ſondern blos
durch jene vier interradialen Hauptknoten,
die primären Septalknoten oder „Ver—
wachſungsknoten“, von einander getrennt.
An der Axialſeite dieſer letzteren entwik—
keln ſich die Gaſtralfilamente und die Ge—
ſchlechtsdrüſen; und zwar ſitzt urſprüng⸗
lich an der Axialſeite jedes der vier Haupt⸗
knoten nur ein einziges einfaches Gaſtral—
filament, und unmittelbar davor eine
einfache hufeiſenförmige Gonade, deren
Konvexität nach innen, deren beide Schenkel
nach außen gegen den Schirmrand gerich—
tet ſind und gewöhnlich den Hauptknoten
umfaſſen. Tessera beſitzt noch keine Sinnes⸗
kolben oder „Randkörper“, ſondern an
deren Stelle acht einfache Tentakeln (vier
perradiale und vier interradiale). Die nahe
verwandte Tesserantha beſitzt außerdem
noch acht adradiale Tentakeln, ſowie im
Magen zahlreiche Gaſtralfilamente, welche
in Doppelreihen auf den vier interradialen
Taeniolen aufſitzen.
| Unter den bisher bekannten Akraspe⸗
den gab es nur eine einzige Art, welche
dieſen beiden Teſſeriden nächſt verwandt
iſt und ſich ihnen unmittelbar anſchließt,
nämlich das Depastrum cyathiforme
40
314
Goſſe, welches zuerſt von Sars als Lu-
cernaria cyathiformis, ſpäter von All-
mann als Carduella cyathiformis be-
ſchrieben wurde. In allen weſentlichen Ver—
hältniſſen der Organiſation mit Tessera
und noch mehr mit Tesserantha überein-
ſtimmend, unterſcheidet ſich Depastrum
durch die große Zahl der Tentakeln, welche
am Schirmrande in mehreren Reihen über—
einanderſtehen, ſowie namentlich dadurch,
daß der Schirm mittelſt eines langen,
aboralen Stieles am Meeresboden befeitigt
iſt. Die nahe verwandte, ebenfalls feſt—
ſitzende Depastrella hat nur eine einzige
Reihe von Tentakeln.
An dieſe primitiven und höchſt inſtruk—
tiven Teſſeriden, welche für alle Akras—
peden den phylogenetiſchen und morpholo—
giſchen Ausgangspunkt bilden, ſchließen
ſich unmittelbar die nächſtverwandten Lu—
zernariden an, die durch die Monogra—
phien von Keferſtein, Clark, Kling, Taſchen—
berg u. a. neuerdings ſo genau bekannt ge—
worden ſind. In allen weſentlichen Ver—
hältniſſen des Körperbaues ſtimmen die
Luzernariden mit den Teſſeriden überein,
unterſcheiden ſich aber dadurch, daß die
acht urſprünglichen Prinzipal-Tentakeln
(vier perradiale und vier interradiale) ent—
weder in „Randanker“ umgewandelt
oder verloren gegangen ſind. Hingegen iſt
der Schirmrand zwiſchen denſelben in acht
adradiale hohle Randlappen oder
„Arme “ausgezogen, deren jeder ein Büſchel
von hohlen, geknöpften Tentakeln trägt.
Die beiden Familien der Teſſeriden
und Luzernariden konſtituirenzuſammen
die Akraspeden-Ordnung der Staurome—
dusae, die ſich von den drei übrigen Ord—
nungen durch die urſprüngliche Ein—
fachheit ihrer Organiſation unterſcheidet,
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
namentlich aber durch den Mangel be—
ſonderer Sinneskolben. Die drei
anderen Ordnungen beſitzen allgemein ſol—
che Sinneskolben („Randkörper“ oder
Rhopalia); dieſe ſind phylog enetiſch
aus den Prinzipal-Tentakeln der
Tessera (und ihres Stamm-Polypen
Scyphostoma) entſtanden, und beſtehen
aus einer eigentümlichen Verbindung eines
akuſtiſchen und eines optiſchen Organes
(Otolithen-Sack und Ocellus). Die Pero—
meduſen beſitzen vier interradiale
Sinneskolben (in den Radien der Tae—
niolen und Gonaden), die Kubomeduſen
hingegen vier perradiale Sinnes—
kolben (in den Radien des Mundkreuzes
und der Mittellinien der vier Magentaſchen),
die Disko me duſen endlich acht oder
zahlreiche Sinneskolben (vier perra—
diale und vier interradiale, oft dazu noch
viele acceſſoriſche).
Von Tessera, der oftonemalen Stamm:
form aller Akraspeden (und zunächſt
der Stauromeduſen), laſſen ſich die
Stammformen der drei anderen Ordnun—
gen mit Leichtigkeit ableiten. Pericolpa,
die Stammform der Peromeduſen (mit
vier interradialen Sinneskolben und vier
perradialen Tentakeln) iſt aus Tessera
dadurch entſtanden, daß ſich die vier
interradialen Tentakeln der letzteren in
Rhopalien verwandelten. Procharagma,
die Stammform der Kubomeduſen (mit
vier perradialen Sinneskolben und vier
interradialen Tentakeln), entwickelte ſich
umgekehrt aus Tessera dadurch, daß deren
vier perradiale Tentakeln ſich in Rhopa—
lien umbildeten. Ephyra endlich, die
Stammform der Diskomeduſen, hat ſich
von Tessera am weiteſten entfernt, indem
alle acht Tentakeln derſelben zu Sinnes—
kolben ſich geſtalteten, in der Mitte zwischen
dieſen entwickelten ſich acht ſukkurſale, ad—
radiale Tentakeln (Nausithoe, Pelagia ꝛc).
hin als drei divergirende Hauptäſte des
Akraspeden-Stammes, aus deſſen gemein—
ſamer Wurzelgruppe, den Stauromeduſen,
phylogenetiſch abzuleiten, und zwar bildet
deſſen urſprüngliche Stammform das Teſſe—
ridengenus Tessera (eine freiſchwimmende
oftonemale Scyphoſtomaform). Obwohl
die Ontogeneſe der drei Teſſeronien-Ord—
nungen zur-Zeit noch völlig unbekannt iſt,
ſo läßt ſich doch vorausſagen, daß ſie alle
während ihrer individuellen Entwicklung
ein Tessera-förmiges Stadium durchlaufen
werden (Tesserula); in ähnlicher Weiſe,
wie alle Ephyronien (oder Diskomeduſen)
ein Ephyra-förmiges Stadium durchlaufen
(Ephyrula).
Die Peromeduſen bilden eine höchſt
merkwürdige und eigentümlich entwickelte
Akraspeden-Ordnung, die bisher ſo gut wie
unbekannt war. Die Abbildungen der
Charybdea periphylla von Péron und
Leſueur, ſowie der Charybdea bicolor
von Quoy und Gaimard, zeigen nur
leere Gallertſchirme von Peromeduſen.
Die einzige Abbildung (ohne Beſchreibung),
welche einen Teil ihrer Organiſation (ſehr
unvollſtändig und teilweiſe falſch) zeigt,
iſt diejenige, welche Mertens gegeben
und Brandt als Dodecabostrycha dubia
aufgeführt hat. Ich konnte zahlreiche wohl—
erhaltene Peromeduſen genau unterſuchen,
darunter koloſſale Tiefſeemeduſen der
Challenger-Expedition. Sie zerfallen in
zwei Familien: I. Pericolpidae: mit vier
perradialen Tentakeln, vier interradialen
Sinneskolben und acht adradialen Rand—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
315
lappen (Pericolpa, Perierypta) — und
II. Periphyllidae: mit zwölf Tentakeln
(vier perradialen und acht adradialen),
Die drei Ordnungen der Peromeduſen,
Konomeduſen und Diskomeduſen ſind mit
mit vier interradialen Sinneskolben und
ſechzehn Randlappen, die mit jenen alter—
niren (Peripalma, Periphylla). Die Sin⸗
neskolben ſind ähnlich wie bei Nausithoe
gebaut. Bei allen Peromeduſen iſt das
Gaſtrokanalſyſtem von höchſt eigentüm—
lichem Bau. Der weite Magen zerfällt in
drei Abteilungen, einen Baſalmagen (mit
vier interradialen Taeniolen und Filament—
reihen), einen Zentralmagen (mit vier per—
radialen Oſtien) und einen Buckalmagen
(mit vier perradialen Backentaſchen); leb-
terer ragt als muskulöſes „Mundrohr“
frei in die Schirmhöhle hinein. Die vier
perradialen Oſtien des Zentralmagens
führen in einen koloſſalen ( der Sub—
umbrella umfaſſenden Ringſinus; die Tei—
lung des letzteren in vier weite Magen—
taſchen (homolog jenen der Charybdeiden)
wird nur dadurch angedeutet, daß ſeine
Subumbralwand durch vier interradiale
Septalknoten (in der Mitte der Sinus—
höhe) mit der Umbralwand des Schirms
verwächſt. Beiderſeits dieſer „Verwach—
ſungsknoten“ entwickeln ſich in der Sub—
umbralwand des Ringſinus die Gonaden
(in Form von vier Paar wurſtförmigen
Geſchlechtswülſten). Vom unteren oder
oder oralen Rande des Ringſinus gehen
Taſchen in die Randlappen, ſowie Kanäle
in die hohlen Tentakeln und Sinneskolben
hinein. Ein mächtiger marginaler Ring-
muskel bildet ein Velarium mit acht oder
ſechzehn Feldern.
Die Kubomeduſen zerfallen in zwei
Familien, Charybdeiden und Chirodropi—
den. Die Charybdeiden haben vier ein—
fache interradiale Tentakeln und keine
316
Taeniolen an der Umbralwand der vier
Magentaſchen; bald iſt ihr Velarium (oder
Pſeudovelum) einfach, ohne Velarkanäle
und ohne Frenula (Procharagma, Pro-
charybdis), bald von Velarkanälen durd)-
zogen und durch vier perradiale Frenula
an die Subumbrella angeheftet (Charyb-
dea, Tamoya). Die Chirodropiden haben
vier interradiale Tentakelbüſchel, ſowie
fingerförmige oder büſchelförmige Täniolen
an der Umbralwand der vier Magentaſchen
(Chirodropus, Chiropsalmus).
Die drei Ordnungen der Staurome—
duſen, Peromeduſen und Kubomeduſen
können in der Sublegion der Tesseroniae
zuſammengefaßt werden, weil ſie den ur—
ſprünglichen Teſſeracharakter der Akras—
pedenform viel getreuer konſervirt haben,
als die Discomedusae. Bei allen Tesse-
roniae iſt der Schirm hochgewölbt, koniſch
oder vierſeitig-pyramidal, und die Gonaden
entwickeln ſich zentrifugal, in der Sub—
umbralwand der vier weiten Magentaſchen;
ſie haben entweder gar keine Sinneskolben
(Stauromedusae) oder nur vier (Pero-
medusae und Cubomedusae). In der
Jugend durchlaufen ſie wahrſcheinlich alle
die Teſſeraform (Tesserula).
In dieſen und anderen wichtigen Be—
ziehungen erſcheinen die Discomedusae,
welche wir als Ephyroniae den Tessero—
niae gegenüberſtellen, viel weiter von der
Teſſeraform entfernt. Bei allen Ephyro-
niae iſt der Schirm flachgewölbt, ſcheiben—
förmig abgeplattet, und die Gonaden ent—
wickeln ſich zentripetal in der Subumbral-
wand des Magens ſelbſt; fie haben min-
deſtens acht Sinneskolben, oft noch mehr.
In der Jugend durchlaufen ſie wahrſchein—
lich alle die Ephyraform (Ephyrula). Die
Ephyronien oder Diskomeduſen zerfallen
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
in drei Unterordnungen: I. Cannostomae:
mit einfachem, vierſeitig prismatiſchen
Mundrohr (Ephyridae, Nausithoidae,
Atollidae ꝛc.). II. Semostomae: mit vier
faltigen Mundlappen (Pelagidae, Cyanei-
dae, Aurelidae 2c.). III. Rhizostomae:
mit verwachſenen Mundarmen (Cepheidae,
Leptobrachidae, Crambessidae 2c.).
Syſtem der Akraspeden-Legion.
(Scyphomeduſen oder Phanerokarpen).
Meduſen mit Gaſtralfilamenten und mit
entodermalen Gonaden, ohne echtes Velum.
I. Sublegion: Tesseroniae. Akras⸗
peden ohne Sinneskolben oder mit vier
Sinneskolben; ſtets mit vier weiten Ma⸗
gentaſchen. Gonaden in der Subumbral-
wand der Magentaſchen, mit zentrifugalem
Wachstum. Schirm hochgewölbt, koniſch.
Phylogenetiſche Stammform und onto—
genetiſche Larvenform: Tessera.
I. Ordnung: Stauromedusae. Keine
Sinneskolben. Gonaden vier hufeiſenför—
mige Geſchlechtsdrüſen (oder acht adradiale
Wülſte) in der Subumbralwand der vier
Magentaſchen. — 1. Familie: Tesseridae.
Keine Randlappen, acht oder ſechzehn ein:
fache Tentakeln (oder zahlreiche Tentakeln)
am Schirmrande. (Genera: Tessera, Tes-
serantha, Depastrella, Depastrum.) —
2. Familie: Lucernaridae. Acht adradi-
ale hohle Randlappen (oder Arme), deren
jeder ein Tentakelbündel trägt. (Genera:
Lucernaria, Haliclystus, Halimocya-
thus, Craterolophus.)
II. Ordnung: Peromedusae. Vier
interradiale Sinneskolben. Vier Magen:
taſchen zu einem weiten Ringſinus zuſam⸗
mentretend, nur durch vier einfache Ver—
wachſungsknoten getrennt. Vier Paar
wurſtförmige Gonaden in der Subumbral-
wand des Ningſinus.— 3. Familie: Peri-
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
colpidae: vier perradiale Tentakeln, acht
adradiale Randlappen. (Genera: Peri—
colpa, Pericrypta.) — 4. Familie: Peri-
phyllidae: zwölf Tentakeln (vier perradi-
ale und acht adradiale), ſechzehn Rand—
lappen. (Genera: Peripalma, Periphylla.)
III. Ordnung: Cubomedusae. Vier
perradiale Sinneskolben, vier interradiale
Tentakeln oder Tentakelbüſchel. Gonaden
vier Paar Geſchlechtsblätter, welche längs
der interradialen Septa befeſtigt ſind und
frei in die Magentaſchen hineinragen. —
5. Familie: Charybdeidae: vier einfache
interradiale Tentakeln mit oder ohne Pe—
dalien. Keine Taeniolen an der Umbral—
wand der Magentaſchen. (Genera: Pro-
charagma, Procharybdis, Charybdea,
Tomoya.) — 6. Familie: Chirodropidae:
vier interradiale Pedalien, deren jeder ein
Tentakelbüſchel trägt. Einfache fingerför—
mige oder zuſammengeſetzte büſchelförmige
Taeniolen an der Umbralwand der Magen:
taſchen. (Genera: Chiropsalmus, Chiro-
dropus.)
II. Sublegion: Ephyroniae. Akras⸗
peden mit acht oder mehr Sinneskolben
(vier perradialen und vier interradialen,
oft noch acceſſoriſchen). 16— 32 oder mehr
Magentaſchen (oder Radialkanäle). Go⸗
naden in der Subumbralwand des Magens,
mit zentripetalem Wachstum. Schirm flach—
gewölbt, ſcheibenförmig. Phylogenetiſche
Stammform und ontogenetiſche Larven—
form Ephyra.
IV. Ordnung: Discomedusae. (L. Un⸗
terordnung: Cannostomae. II. Unterord—
nung: Semostomae. III. Unterordnung:
Rhizostomae.) |
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0
317
Das Bruftbein der Dinosaurier.
Wie Prof. O. C. Marfh, der uner-
müdliche Erforſcher der vorzeitlichen Tier-
welt Amerikas, berichtet, hat das Pale—
Muſeum neuerlich ein nahezu vollſtändiges
Skelett von Brontosaurus excelsus, ei⸗
nem der größten bekannten Dinoſaurier,
erhalten. Dieſes mächtige Gerippe befand
ſich nahezu in der Lage, in welche die
Knochen beim Tode naturgemäß fallen
mußten, und glücklicherweiſe war der
Schulterbogen in ausgezeichneter Erhal—
tung befindlich. Die Rabenbeine befanden
ſich jederſeits in Verbindung mit ihren re—
ſpektiven Schulterknochen, und zwiſchen
ihnen lagen zwei platte Knochen, die offen—
bar zum Bruſtbein gehört haben. Dieſe
ebenſo intereſſante als unerwartete Ent—
deckung hebt die Hauptunſicherheit hinſicht—
lich des Schultergürtels der Dinoſaurier
und zeigt außerdem eine neue, bisher bei
erwachſenen Tieren niemals beobachtete
Stufe in der Entwicklung dieſer Bildung
an. Dieſe beiden Bruſtbeinknochen ſind
im Umriß faſt oval, oben konkav und un—
ten konvex. Sie ſind gepaart und in ihrer
urſprünglichen Stellung nahezu oder voll-
ſtändig in der Mittellinie mit einander
verbunden. Das vordere Ende jedes Kno—
chens iſt beträchtlich verdickt und es iſt
dort eine deutliche Facette für die Ver—
bindung mit dem Rabenbein vorhanden.
Das hintere Ende iſt dünn und unregel—
mäßig. Der innere vordere Rand jedes
Knochens iſt glatt und gerundet und macht
eine Verbindung mit einem epiſternalen Ele⸗
mente nicht wahrſcheinlich, ſo den Mangel
| eines ſolchen erklärend. Sie waren augen—
ſcheinlich durch Knorpel von den Raben-
beinen getrennt. Vielleicht die nächſte Ana—
4
318
logie zu dieſem Bruſtbein wird unter den
lebenden Tieren bei unausgebildeten Vö—
geln angetroffen. Eine ſtarke Ahnlichkeit
iſt in dem Schultergürtel des jungen
amerikaniſchen Straußes bemerkbar. Wenn
die Verknöcherung des Bruſtbeins bei dem—
ſelben auf dieſer frühen Stufe beharrte,
würde faſt genau die bei der Gattung
Brontosaurus beobachtete Bildung erhal—
ten werden, und dies iſt offenbar die echte
Erklärung der foſſilen Bildungen. Es iſt
mehr als wahrſcheinlich, daß bei vielen
Dinoſauriern das Bruſtbein lange knorplig
oder ſo unvollſtändig verknöchert blieb,
daß es gewöhnlich nicht erhalten iſt. Ei—
nige Exemplare der Gattung Camptonotus,
die nahezu in ihrer natürlichen Lage ge—
funden wurden, ermangelten anſcheinend
eines verknöcherten Bruſtbeins. Die be—
deutende Größe und das zweifellos an—
ſehnliche Alter des oben erwähnten Bronto—
saurus-Exemplars mag vielleicht die Ur—
ſache der vollkommenen Entwicklung ſeines
Bruſtbeins geweſen fein. (American Jour-
nal of Science. May 1880.)
Ein fünfzehiger Naubvogel.
Im Dezember vorigen Jahres wurde
in hieſiger Gegend beim Treiben ein wohl—
genährter Rauchfußbuſſard (Archibu-
teo lagopus J.) geſchoſſen und mir vorge:
zeigt. Der Wintergaſt war ein ganz nor—
males Exemplar bis auf die Füße, welche
ſofort durch ihr unſymmetriſches Verhal—
ten auffielen. Der linke Fuß glich ganz
dem anderer Rauchfußbuſſarde, nur war
die Hinterzehe auf ihrer Außenſeite noch
mit einer weit kleineren Zehe verſehen,
welche jedoch faſt bis zur Krallenwurzel
von der Hornbedeckung ihrer Mutterzehe
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
(wenn anders hier Zehenteilung vorliegen
mochte) umſchloſſen war; die Kralle der
Anhangzehe war halb ſo ſtark wie die
andere, und alles deutete darauf hin,
daß der Fuß normal funktionirte. Was
beim Abſtreifen auffiel, war die etwas
ſchwächere Entwicklung der Schenkel- und
Unterſchenkelmuskeln, welche die Deutung
eines geringern Gebrauchs zuläſſig machte.
Der rechte Fuß hat ein merkwürdiges
Anſehen: fünf Zehen ſtehen nach vorn, ſo
zwar, daß die drei normalen Vorderzehen
auf der Innenſeite des Laufes die Geſell—
ſchaft von zwei gleich großen, der inneren
Vorderzehe ähnlich gebildeten Seitenzehen,
welche bedeutend höher hinaufgerückt ſind
und eigentlich eine Hinterzehe hätten wer—
den ſollen, erhalten haben. Dieſe abnor—
men Zehen hängen als nicht funktioni—
rendes, überflüſſiges Anhängſel vom Lauf
herab. Der letztere iſt doppelt ſo ſtark als
am linken Fuße und hinten breit abge—
plattet. Die Nacktheit und ſonſtige auf
ſtarken Gebrauch hinweiſende Beſchaffen—
heit der hintern Laufſeite beweiſt, was ich
der Mitteilung wert erachte, daß dieſer
Vogel auf der ganzen Sohle des rechten
Laufes geſeſſen haben muß. Die Schenkel—
muskeln ſind demgemäß höchſt kräftig ent—
wickelt geweſen, und die lange und dichte
Befiederung des Unterſchenkels zeigt durch
ihr Abſtehen an der Ferſenbeuge, daß die
Ferſe zum Tragen des Körpers benutzt
wurde; der rechte Lauf iſt kürzer als der
linke. Bei dem Mangel einer Hinterzehe
als ſolcher, d. h. als eines zangen- oder
daumenartig ſich den Vorderzehen entgegen—
ſetzenden, den Fuß zum Greiforgan ſtem—
pelnden Gliedes, kann der rechte Fuß nur
zum Sitzen, nicht aber zum Ergreifen
der Beute gedient haben.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Der zierliche linke Fuß mag leicht da—
neben geſetzt worden oder, was mir wahr—
ſcheinlicher iſt, in die Bauchfedern zurück—
gezogen worden ſein; er diente als Greif—
fuß zum Erhaſchen der Beute, welche faſt
ausſchließlich aus kleineren Nagern beſteht.
Mißgeboren, wie er war, mußte alſo unſer
Vogel eine ſeltene Arbeitsteilung eintreten
laſſen, indem er den rechten Fuß zum Dar—
aufruhen, den linken aber zum Fangen
der Beute benutzte.
Mainz. W. von Reichenau.
Die vorhiſtoriſche Zeit in Eguplen.
Die archäologiſchen Unterſuchungen der
Gräber aus der „alten Zeit“ haben bekannt
lich ergeben, daß Egypten damals ein un—
gemein fruchtbares, herdenreiches Land
geweſen, ähnlich wie das altteſtamen—
tariſche Paläſtina in den Zeiten der Erz—
väter, und erſt nachher durch einen im
geſammten Morgenlande ſichtbaren Klima—
wechjel*) zu einem trockenen, einzig auf die
Befruchtung durch den Nil angewieſenem
Lande geworden ſei. Für dieſen Erfah—
rungsſchluß hat neuerlich Delamotte,
einer der gründlichſten Kenner Egyptens
und der alten Geographie in dem Bulletin
de la societ€ de geographie commerciale
1880 neuere Beweiſe erbracht, denen wir
das Folgende entnehmen. Er weiſt zu—
nächſt nach, daß der Nil urſprünglich keines-
wegs der einzige Strom dieſes Landes ge⸗
weſen, ſondern daß das prähiſtoriſche
Egypten eine Menge anderer Flüſſe ge-
*) Vgl. Kosmos, Bd. IV, S. 506.
319
habt habe, welche jedoch ſeit Jahrtauſenden
ausgetrocknet ſind. Nur ihre Flußbetten
ſeien übrig geblieben und würden ſelbſt
noch von den heutigen Egyptern Bahr-El⸗
Abjad, d. h. Flüſſe ohne Waſſer genannt.
Jetzt ſeien dieſe ausgetrockneten Flußbet—
ten nichts als große Sandlager, in denen
Linant und Somard ebenſo große La—
ger von Flußkonchylien vorgefunden haben.
Im Zuſammenhange mit dieſem Flußreich—
tum des prähiſtoriſchen Egyptens hat na—
türlich auch eine größere Fruchtbarkeit des
Bodens und reichere Bevölkerung beſtan—
den. In prähiſtoriſcher Zeit war nach De—
lamotte die geſammte Ebene von Kar—
tum, mit einer Senkung von 16 Metern,
ein großer See, aus welchem der Nil ent—
ſprang. Die Katarakte waren vor Jahr—
tauſenden ungleich höher, ihre Granit—
und Porphyrdämme hielten den Strom
auf und teilten die Waſſermaſſen in viele
kanalartige Nebenarme, welche rechts und
links von dem Nil ausſtrömten und das
Land bewäſſerten. Dieſe Felſendämme ver-
loren jedoch ſeit zwei bis drei Jahrtauſen—
den an Maſſe und Höhe, ſo daß die Neben—
ſtröme verſiegten und verſandeten, und das
Waſſer nur noch in das Nilbett ſelbſt ſich
ergoß. Um die jetzigen Bahr-El-Abjad
wieder mit Waſſer zu füllen und das Land
von neuem zu befruchten, ſchlägt Dela—
motte vor, die Felſendämme der Kata—
rakte wieder zu erhöhen und Schleuſen zu
bauen, wozu natürlich vorher die genaueſte
Landesaufnahme durch geſchickte Inge—
nieure erforderlich ſein würde.
—
r. Guido Hauck, Profeſſor der de—
ſkriptiven Geometrie und Graphoſtatik
an der königlich techniſchen Hochſchule
zu Berlin. Die ſubjektive Per—
ſpektive und die horizontalen
Kur vaturen des doriſchen Styles
Eine perſpektiviſch-äſthetiſche
Studie. Eine Feſtſchrift zur fünfzig—
jährigen Jubelfeier der techniſchen Hoch—
ſchule zu Stuttgart. Stuttgart. Ver—
lag von Konrad Wittwer. 1879. XII
u. 147 Seiten, 2 Tafeln.
Die mathematiſche Aſthetik iſt noch eine
ſehr junge Wiſſenſchaft und noch dazu eine
ſolche, deren Charakter als Wiſſenſchaft
nicht einmal allſeitig anerkannt wird. In
Ulrieiszeitſchrift für Philoſophie hat erſt
vor kurzem eine Autorität erſten Ranges,
Schlömilch, die Anſicht ausgeſprochen,
daß es völlig hoffnungslos ſei, mathema—
tiſche Prinzipien auf die Geſetze der Schön—
heitslehre anwenden zu wollen; eine Dis—
ziplin ſchließe die andere aus. Die Extra—
vaganzen Zeiſings, von denen dieſer
hochverdiente Mann ja durchaus nicht frei—
zuſprechen iſt, mögen ein ſo herbes Urteil
wohl guten Teils hervorgerufen haben.
Immerhin hoffen wir, daß daſſelbe ge—
eignete Kräfte nicht abhalten werde, ſich
Literatur und Kritik.
immer von neuem an den hier vorliegenden —
ſchwierigen Problemen zu verſuchen und
ſo vielleicht durch die That den Beweis
zu erbringen, daß Schlömilchs Auf—
faſſung eine allzu ſkeptiſche geweſen ſei.
Jene drei Entwicklungsſtufen, welche
wir bei einem nahe verwandten Gegen—
ſtande “), nämlich bei der mechaniſchen
Theorie der Blattſtellung, unterſchieden
haben, finden wir bei genauerem Zuſehen
auch hier vor. Wer als der erſte Streif—⸗
züge auf ein Grenzgebiet zweier weit aus—
einander liegenden Wiſſenſchaften unter-
nimmt, bleibt notwendigerweiſe leicht an
Außerlichkeiten kleben und nimmt als höch—
ſtes und einzig maßgebendes Grundgeſetz
eine zunächſt dem Auge ſich darbietende,
häufig wiederkehrende Erſcheinung, die aber
ſelbſt wieder nur eine der vielen Mani-
feſtationen einer viel weiter zurückliegenden
Norm darſtellt, die wiederum als Unter—
fall in einer noch mehr verborgenen Ge—
ſetzmäßigkeit enthalten ſein kann. So iſt
es Zeiſing mit ſeinem Geſetze des gol—
denen Schnittes ergangen, an welchem
zweifellos ſehr viel Wahres iſt. Gewiß
) Vergl. unſern Aufſatz in dieſer Zeit—
ſchrift, „Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau
des Pflanzenkörpers“, Bd. IV, S. 270 ff.
würde daſſelbe weit früher und energiſcher
zu allgemeiner Anerkennung durchgedrun—
gen ſein, wenn nicht der geiſtreiche Forſcher
ſeine Leiſtung in allerdings ſehr verzeih—
licher Weiſe überſchätzt und nun etwas
kritiklos“), insbeſondere aber ohne jede
Rückſicht auf mechaniſche Kauſalität, all-
überall nach Bethätigungen ſeines Geſetzes
geſucht und ſolche auch zu finden geglaubt
hätte.“) Einen wichtigen Nachtrag zu
Zeiſings Ergebniſſen lieferte ſodann P.
Langer in ſeiner Schrift: „Die Grund—
probleme der Mechanik“ (Halle 1878), in-
dem er, den Zeiſingſchen Satz mit den Gra—
vitationserſcheinungen verknüpfend, den
Nachweis führte, daß eine nach äußerer
und innerer Proportion geteilte Strecke
nicht unter allen Umſtänden äſthetiſch gün—
ſtig wirke, ſondern nur dann, wenn ihre
Richtung eine vertikale ſei, ſchritt er ge—
wiſſermaßen von der erſten zur zweiten
Stufe vor; die empiriſch an einzelnen Fällen
erkannte Wahrheit war, mit den nötigen
Einſchränkungen allerdings, als kauſal ge—
rechtfertigt erkannt worden. Die dritte
Stufe haben wir heute noch nicht erreicht,
) Vergl. den Aufſatz des Verf.: „Adolph
Zeiſing als Mathematiker.“ (Zeitſchr. f. Math.
u. Phyſ., 21. Bd. Hiſt. liter. Abth., S. 157 ff.)
) Es wird indes nicht zu leugnen ſein,
daß der feinſinnige Mann bei aller Kühuheit
ſeiner Konzeptionen doch hie und da auch in
Materien, die ſich gegen feſte Regeln irgendwel—
cher Art ſehr ſpröde zu verhalten ſcheinen, das
richtige getroffen hat. So hat jüngſt Lehnbach
in den „Jahrb. f. Philol. u. Pädag.“ auf eine
merkwürdige Beſtätigung des Zeiſingſchen Satzes
hingewieſen: bei der überwiegenden Mehrzahl
als gut anerkannter Hexameter liegt die ſoge—
nannte Zäſur nicht etwa in der Mitte, ſondern
ſie teilt den Vers in zwei Teile von der Länge
a und b jo, daß wirkliche die Proportion (a + b)
: a an b mit großer Annäherung zu recht
beſteht.
Literatur und Kritik.
321
ein Werk, wie das Schwendenerſche,
welches die mathematiſche Botanik auf
durchaus rationeller, d. h. mechaniſcher Ba—
ſis begründet, iſt auf dem Gebiete der ma—
thematischen Aſthetik noch nicht geſchrieben
worden und wird auch ſobald noch nicht ge—
ſchrieben werden. Um ſo dankbarer aber hat
man zu ſein für jede Leiſtung, welche uns
wenigſtens wieder um ein Stück vorwärts
bringt und Bauſteine zu dem künftig aufzu—
richtenden Gebäude ſo weit herrichtet, daß
ſie dereinſt nur am paſſenden Ort verwendet
zu werden brauchen. Ein Buch dieſer Art iſt
das vorliegende, deſſen Verfaſſer als ſcharf—
ſinniger Geometer bereits ſich bekannt ge—
macht hatte, ehe man noch von ihm wußte,
daß er auch in künſtleriſcher Hinſicht in
dem Maße das Zeug beſitze, wie wir es
jetzt durch ſeine Schrift erfahren, und wie
es freilich auch zur Löſung ſeiner Doppel—
aufgabe unumgänglich nötig war. Schon
die Erwägung, daß faſt alle hervorragen—
den Künſtler früherer Zeit, ein Jan van
Eyck, Brunelleschi, Raffael“),
Dürer, auch als beſonders gründliche Ken—
ner des perſpektiviſchen Zeichnens gerühmt
werden, mußte den Gedanken nahe legen,
daß nicht blos die formale Weiterausbil—
dung der perſpektiviſchen Methoden, ſon—
dern auch die Unterſuchung der perſpekti—
viſchen Grundgeſetze mit Bezug auf deren
äſthetiſche Bedeutung Pflicht der Wiſſen—
ſchaft ſei. Nach dieſer letzteren Richtung hin
nun hat Herr Hau d ſein Arbeitsgebiet
5 Bezüglich dieſes in allen Sätteln gerech—
ten Malers kann man neue und intereſſante
Aufſchlüſſe vergleichen, welche Pietro Riccardi
in feinen „Cenni sulla storia della geodesia
in Italia dalle prime epoche fin oltre alla
metä del secolo XV“ (Modena, 1879, p. 47 ff.)
gegeben hat.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4.
ee
1
322
gelangt, welche, ſofern ſie auch teilweiſe
nur als vorläufige betrachtet werden dür—
fen, doch immer von jedem Freunde exak—
ter Forſchung gekannt zu werden verdienen.
Bekanntlich beruht die geometriſche
Perſpektive weſentlich auf dem Prinzipe
der ſogenannten Camera obscura, die
Pupille wird als Punkt angenommen, durch
welchen die Lichtſtrahlen hindurchpaſſiren,
um dann auf der Netzhaut des Auges ein
zwar verkehrtes, aber ſonſt in allen Teilen
dem Licht entſendenden Gegenſtande ähn—
liches Bildchen zu entwerfen. Für prak—
tiſche Zeichnungszwecke reicht die durch dieſe
Hypotheſe gewährte Genauigkeit denn auch
vollſtändig hin, allein hier, wo es ſich um den
Urgrund aller bezüglichen Erſcheinungen,
handelt, müſſen auch die Modalitäten des
Sehprozeſſes einem eingehenden Studium
unterzogen werden. Dies thut denn unſer
Verfaſſer auch, geſtützt auf eine Reihe be—
kannter Wahrheiten der phyſiologiſchen
Optik, wie man ſie hauptſächlich Helmholtz
und Wundt verdankt. Das Auge iſt kein
ruhender photographiſcher Apparat, wel—
cher die Lichtſtrahlen ohne Aktion ſeiner—
ſeits auf ſich wirken ließe, ſondern eine
ſich raſch nach allen Richtungen hin bewe—
gende Kugel, deren Axe bald der einen,
bald der andern Stelle des gerade betrach—
teten Objekts zugewandt iſt, ſo daß das
Netzhautbild durchaus nicht immer Ge—
ſichtsvorſtellungen zu erzeugen braucht,
welche mit ſeiner eigenen Form überein—
ſtimmen. Der ſehr komplizirte Mechanis—
mus der Augenbewegungen wird ſehr aus—
führlich beſchrieben, die Augenmuskeln er—
möglichen dem Augapfel eine Seitwärts—
drehung um eine vertikale und eine Auf—
und Abwärtsdrehung um eine horizontale
Rotationsaxe, außerdem aber noch eine ſo—
Literatur und Kritik.
genannte Raddrehung oder Rollung. Dieſe
letztere aber ermüdet das Auge am leichte-
ſten, und unwillkürlich ſucht es dieſelbe zu
vermeiden. Iſt alſo ein Akt der Betrachtung
durch die Beſchaffenheit des Betrachteten
mit weniger Raddrehungen verbunden, als
ein anderer, ſo wird erſterer vom Auge
jedenfalls mit mehr Bequemlichkeit und
Behagen ausgeführt, als letzterer. Hierin
liegt ſchon ein wichtiger Fingerzeig: „Das
Auge bevorzugt im Falle freier Wahl die—
jenige Bewegung, welche die relativ klein—
ſten Raddrehungen bedingt.“ Ein Bild
beiſpielweiſe wird unter ſonſt gleichen Um—
ſtänden einen verhältnismäßig wohlgefäl—
ligen Eindruck hervorbringen, wenn es ſo
angelegt iſt, daß das beſchauende Auge zu
einem Minimum unangenehmer Drehun-
gen ſich gezwungen ſieht, und es kommt
darauf an, die für dieſes Verhältnis maß—
gebenden Elemente theoretiſch zu fixiren.
Bezeichnet man jenen Punkt, in welchem
die Axe des normal ſtehenden, d. h. ohne
beſondere Muskelanſpannung adjuſtirten
Auges die Bildebene trifft, als den Fixa—
tionspunkt, ſo wird die Bewegungsrich—
tung, welche der am Bilde hingleitende
Blick einſchlägt, im allgemeinen durch drei
Eigenſchaften eines beſtimmten Bildpunktes
beſtimmt, nämlich durch deſſen Entfernung
vom Fixationspunkt, von ſeiner Lichtſtärke
und von der unmittelbar vorher innegehal—
tenen Bewegungsrichtung. Gewiſſe Leit—
linien des Bildes müſſen alſo ſo beſchaffen
ſein, daß das ihnen folgende Auge zugleich
unbewußt nach Bedingungen ſich richtet,
welche aus den ſoeben erwähnten Normen
abgezogen ſind. Es tritt nun aber noch
eine wichtige Eigenſchaft der Augenbewe—
gungen hinzu. Durch unmittelbare geome—
triſche Betrachtung läßt ſich nämlich zeigen,
daß eine gerade Linie, welche das Auge
von der oben gekennzeichneten Primärſtel—
lung aus verfolgt, auch als gerade Linie
geſehen wird, wogegen die Netzhautabbil—
dung jeder Geraden, welche das Auge von
irgend einer anderen Sekundärſtellung aus
durchläuft, gekrümmt wird. Insbeſondere
aber erſcheint eine horizontale Linie unter
ſolchen Umſtänden konkav gegen die Seh—
axe gebogen. Beim binokularen Sehen
verhält ſich, wie Hering dargethan hat,
im weſentlichſten alles ähnlich; was die
Herrſchaft anlangt, welche wir zufolge der
Beweglichkeit unſerer Halsmuskeln über
unſeren Kopf und damit zugleich über un—
ſer Auge ausüben können, ſo wenden wir
dieſelbe dazu an, dem letzteren die Einſtel—
lung nach der lein ſchärfſtes Fixiren) zu—
laſſenden Primärſtellung zu erleichtern.
Iſt all' dies wahr, ſo ſieht man that—
ſächlich in jedem Augenblicke viele Linien
krumm, die in Wirklichkeit gerade und als
ſolche uns hinlänglich genau bekannt ſind,
um in gewöhnlichen Fällen der betreffen—
den Augentäuſchung eingedenk zu werden.
Natürlich iſt auch der Betrag dieſer Ver—
zerrung ein äußerſt geringfügiger, und es
bedarf einer gewiſſen Übung, dieſelbe un—
ter beſonders günſtigen Verhältniſſen wahr—
zunehmen; hervorgehoben werden vom
Verfaſſer zu dieſem Zweck namentlich die
Illuminationen. Auch bei vertikalen Linien
ergiebt ſich eine Kurvatur, doch wird uns
dieſelbe infolge unſeres ſtatiſchen „Bewußt—
ſeins“ noch weit weniger leicht zum Be—
wußtſein kommen. Auf dieſe neue Auf—
faſſung gründet nun der Verfaſſer ſein
Prinzip einer verallgemeinerten Perſpek—
tive: Unter der Vorausſetzung, daß die
Zeichnung eines Gegenſtandes keine ſkla—
viſche Kopie, ſondern eine freie Wieder—
Literatur und Kritik.
323 N
gabe des empfangenen Eindruckes ſein
ſoll, kann man von dieſem ſubjektiven An—
ſchauungsbilde eines von zwei Dingen
verlangen, daß nämlich die ſcheinbare
Größe jeder Strecke proportional dem
Geſichtswinkel ſein, oder daß die Geſammt—
heit gerader Linien des Originales als
Komplex gerader Linien ſich reproduziren
muß. Unerläßlich bleibt für jede Art der
Auffaſſung, daß alle vertikalen Geraden
dieſe ihre Eigenſchaft beibehalten und daß
die auf der primären Axe ſenkrechte Ge—
rade, der Horizont, wieder als horizontale
Gerade) erſcheint —im übrigen kann ent-
weder das „Prinzip der Konformität“ oder
aber das „Prinzip der Kollinearität“ das
vorwaltende ſein. Beiden Grundſätzen in
ein und derſelben Zeichnung mit mathe—
matiſcher Genauigkeit rechnung zu tragen,
iſt unmöglich; ſtrenge Durchführung des
einen oder andern Prinzipes würde zu
Härten und Unregelmäßigkeiten führen,
und ſo erwächſt für die wiſſenſchaftliche
Zeichnungskunſt neben ihrer bisherigen
geometriſch-techniſchen noch eine zweite
äſthetiſche Aufgabe, welche der Verfaſſer
(S. 41) mit folgenden Worten formulirt:
„Die Perſpektive lehrt die Herſtellung von
Kompromiſſen in dem Konflikt zwiſchen
der Bedingung der Kollinearität und der
Konformität — zum Zweck der bildlichen
Darſtellung von Naturobjekten.“
Dies wird denn nun weiter im Detail
ausgeführt. Um einen konkreten Anhalts—
punkt zu gewinnen, wird ein und derſelbe
Gegenſtand, eine Doppelreihe prismatiſcher
) Von der richtigen Wahl dieſes Horizontes
hängt, wie wir hier des näheren erfahren und
wie inſtinktiv wohl ſchon mancher ſelbſt in Ge—
mäldegalerien bemerkt hat, der Effekt eines Bil—
des in hohem Grade ab. Hauck giebt hierüber
den Künſtlern beherzigenswerte Winke.
324
Säulen, das einemal in konformer, das
anderemal in kollinearer Perſpektive wie—
dergegeben und darauf aufmerkſam ge—
Naturtreue entſpreche. Verzerrungen im
konformen Sinne werden durchſchnittlich
dem geübten Auge minder unſympathiſch
ſein, als ſolche im kollinearen. Wir er—
halten ſodann einen höchſt intereſſanten
Einblick in die Geſchichte der perſpektivi—
ſchen Zeichnung, wobei zumal die pom—
pejaniſche Wandmalerei Beachtung findet;
je ſchärfer die wiſſenſchaftliche Begründung
der perſpektiviſchen Lehrſätze wurde, um—
ſomehr trat die kollineare Anſchauung in
den Vordergrund. Große Künſtler freilich,
wie Raffael, wußten durch Ausgleichung
der Gegenſätze jenen harmoniſchen Ge—
ſammteindruck zu erzielen, welcher ihren
Werken in ſo unübertrefflicher Vollkommen—
heit eigen, und auch bei modernen Meiſtern
kann man in manchen Fällenkonſtatiren, daß
und wie ihr Genie dem überwältigenden
Einfluſſe des allzuſtarren Kollinearitäts
prinzipes ſich entringt. Recht merkwürdig in
dieſer Beziehung ſind die Beobachtungen,
welche Herr Hauck an einem Gemälde der
Berliner Nationalgalerie (Graebs Epi—
taphien der Mansfeldſchen Grafenfamilie)
angeſtellt hat und an dieſem Orte mitteilt.
Ein Exkurs über die — meiſtenteils über—
ſchätzte — Mitwirkung der Illuſion und
über die Anfertigung von Bildern auf ge—
krümmten Oberflächen“) beſchließt den
mehr theoretiſchen erſten Teil der Hauck—
ſchen Schrift.
Literatur und Kritik.
es alſo mit Vaſen- oder, wie ſie hier heißen,
mit keramiſchen Abbildungen zu thun, ſo drängt
erſichtlich das Prinzip des Konformen das Kol- geſchränkter Alleinherrſchaft.
Indes folgt demſelben noch ein An—
hang „über phyſiſche und pſychiſche For—
menfreude“, der, an das frühere an—
macht, daß erſteres Bild im allgemeinen
mehr als letzteres den Anforderungen der
knüpfend, äſthetiſche Fragen an ſich be—
handelt und für die Möglichkeit einer
Anwendung exakter Beobachtungsweiſen
auf Themata der Schönheitslehre plaidirt.
Man hat es hier ſelbſtverſtändlich nur mit
Aphorismen zu thun, die aber den Keim
zu weiterer Ausarbeitung in ſich tragen.
So erklärt der Verfaſſer z. B. die bekannte
Wahrnehmung, daß aus Kreisbogen zu—
ſammengeſetzte Pſeudoellipſen, auch wenn
der Fehler ein geringer iſt, einen unſchönen
Anblick gegenüber der reinen geometriſchen
Form gewähren, dadurch, daß das Auge
mit Leichtigkeit eine ſtetige mathematiſche
Kurve verfolgt, dagegen die Unſtetigkeits—
punkte in der Kontur erſt ſozuſagen über—
winden muß. Die Zeiſingſche Teilung
nach der sectio aurea wird auf das „Prin—
zip der Wiederholung der Geſammtform
in den Details“ zurückgeführt — eine Idee,
die allerdings noch der tieferen Begrün—
dung bedarf, vorläufig jedoch nicht wohl
dazu dienen kann, den an ſich richtigen
aber viel zu ſpeziellen Satz —worauf oben
ſchon angeſpielt worden — einem allgemei—
neren Grundgedanken zu ſubſumiren.
Die zweite Abteilung unſerer Feſt—⸗
ſchrift verfolgt die Tendenz, durch An—
wendung der entwickelnden Grundſätze auf
ein ſchwieriges archäologiſches Problem
ſowohl deren Verwendbarkeit nachzuwei—
ſen, als auch indirekt die Richtigkeit der—
ſelben in ein neues Licht zu ſtellen. Im
Jahre 1838 machte Profeſſor Hoffer in
. en Athen die wichtige Entdeckung, daß an
*) Iſt dieſe Fläche eine konvexe, hat man BR,
linearitätsprinzip energiſch zurück, und hier öff⸗
net ſich ſonach jenem ein Feld ziemlich unein⸗
7
;
einer Reihe althelleniſcher Bauwerke von
klaſſiſchem Styl, wie z. B. am Parthenon,
Theſeion und an den Propyläen die hori—
zontalen architektoniſchen Linien nicht Ge—
rade, ſondern vielmehr, nach oben konvexe,
Kurven ſeien. Penrohl nahm die Hoffer—
een
nicht nur beſtätigt, ſondern konſtatirte auch
ganz die gleiche Erſcheinung bei den Tem—
peln von Nemea im Peloponnes und von
Päſtum in Unteritalien. Da nun an dem
Faktum nicht mehr zu zweifeln war, ſo
begann für die Altertumsforſcher das
ſchwierige Werk der Aufklärung. Böt—
des Stereobates zu Hülfe, welche gegen
die Enden hin, wo der Widerſtand auf—
hörte, ſich am ſtärkſten fühlbar gemacht
habe; Thierſch war der Anficht, der grie—
chiſche Baumeiſter ſei ſich des Umſtandes
bewußt geweſen, daß bei der perſpektivi—
ſchen Baues eine ſcheinbare Krümmung
wärtskrümmung der fraglichen Linie be—
gegnen wollen; Penrohl griff auf Zöll—
„ 4
und noch andere Argumente von ſichtlich
ſchiedenen Gelehrten ins Feld geführt.
In ausführlicher Darlegung des Für und
Wider ſucht der Verfaſſer dieſe Theorien,
obwohl er denſelben eine teilweiſe ſekun—
däre Bedeutung zugeſteht, zu widerlegen;
wenig Gewicht auf die merkwürdige That—
ſache gelegt, daß die Korrekturen ausſchließ—
lich bei doriſchen, nicht aber bei Bauten
irgend eines anderen Bauſtiles uns ent—
namentlich, meint er, habe man viel zu |
ſchen Meſſungen mit äußerſter Genauig-
keit wieder auf und fand deſſen Nefultate |
Literatur und Kritik.
tiche r nahm als Grund eine Komprimirung
ſchen Schräganſicht eines parallelopipedi-
nach unten eintritt, und habe derſelben
durch das Korrektiv einer abſichtlichen Auf-
ners Pſeudoſkopie der Linienmuſter zurück,
geringerer Berechtigung wurden von ver-
tig belebt.
325
gegentreten. Dem gegenüber weiſt er auf
„das perſpektiviſche Bewußtſein“ der Hel—
lenen hin, durch welches ganz und voll „die
perſpektiviſchen Kenntniſſe“ unſeres von
der Natur entfernteren Zeitalters erſetzt
worden ſeien. Gerade aus dieſem Grunde
dachten und empfanden die Griechen naiver
als wir, und da, wie wir ſahen, nach des
Verfaſſers Anſicht das Kollinearitätsprin—
zip anerzogen wird, ſo war die Perſpek—
tive der Griechen bei weitem mehr eine
konforme, als eine kollineare. Als Beispiel
hierfür wird auch die Entaſis oder Säu—
lenanſchwellung beigebracht, als deren
Prototyp die Hyperbel gelten kann. Im
Ganzen haben alſo die griechiſchen Archi—
tekten ihre Grundriſſe und Entwürfe im—
mer genau nach dem ſubjektiven Empfin⸗
dungsbilde ausgeführt, und dies war eben
ein konformes; die graphiſche und infolge
deſſen ſpäter auch die materielle Darſtel—
lung war eine „konſtruktive Imitirung der
Erſcheinungsform“. Der Detailbeweis,
den der Autor für dieſe ſeine Anſicht antritt,
iſt ein ſo verzweigter, daß wir ihm nicht
Schritt für Schritt nachzufolgen vermögen;
als Nerv des Beweiſes erſcheint die von
der Mitte nach außen hin fortſchreitende
Verkürzung des Abſtandes zwiſchen je zwei
aufeinanderfolgenden Säulen, denn die—
ſelbe richtet ſich genau nach den Regeln,
welche die ſubjektive, d. h. mehr oder min—
der konforme, Perſpektive an die Hand
giebt. Natürlich ſpielen auch noch andere
Motive mit, ſo beſonders die „jungirende
Funktion der Kurvaturen“.
Die Darſtellungsweiſe Haucks iſt
eine lebendige, friſche; durch Beiſpiele und
inſonderheit auch inſtruktive pädagogiſche
Winke wird der Entwicklungsgang anmu—
Dieſem erſten Hefte ſeiner
326
Prolegomena zu einer künftigen mathema—
tiſchen Aſthetik gedenkt er weitere Beiträge
folgen zu laſſen, über welche wir uns freuen
werden auch in dieſen Blättern berichten
zu können.
Ansbach. Prof. S. Günther.
Unterſuchungen über den Farben—
ſinn der Naturvölker von Dr.
Hugo Magnus, Dozent der Augen—
heilkunde zu Breslau. Mit einem chro—
molithographiſchen Fragebogen. Jena,
Guſtav Fiſcher. 1880. 50 Seiten in 8.
Dieſe Broſchüre zeigt ſchlagend, wie
ſchwierig es iſt, ſich von einem einmal ein—
geſchlagenen Irrwege wieder auf die ge—
rade Straße der Forſchung zurückzufinden.
Nachdem ich in meiner Kritik der erſten
Schrift des Herrn Verfaſſers“) auf die Not—
wendigkeit, Unterſuchungen über den Far—
benſinn der Naturvölker anzuſtellen, hinge-
wieſen hatte, fand der Verfaſſer in Herrn
Dr. Pechuel Löſche in Leipzig einen
Ethnologen, der dieſe Unterſuchung aus-
führte und durch eingeſandte Fragebogen
(die freilich meines Erachtens ſehr un—
geeignet hergeſtellt waren!) bei zahlreichen
Naturvölkern Nachfragen anzuſtellen be—
Literatur und Kritik.
gann, in wiefern ſie die einzelnen Farben
unterſcheiden und benennen könnten. Das
Reſultat war hier, wie in zahlreichen an—
deren Unterſuchungsfällen, die früher ange-
ſtellt wurden, genau dasjenige, welches ich
im Jahre 1877 vorausgefagt hatte: ſämmt—
liche Völker konnten alle Farben, auch Blau
und Grün, ſehr wohl von einander unter—
ſcheiden, aber viele hatten nur einen Aus—
druck für beide Farben und manche gar
keinen. Im höchſten Grade ſonderbar und
die Sachlage auf den Kopf ſtellend iſt es
) Kosmos, Bd. I, S. 264 ff.
demnach, wenn Herr Magnus auf S. 44
zwar ſeinen früheren Irrtum eingeſteht,
aber nichtsdeſtoweniger ſich rühmt, dieſen
Irrtum der „Anhänger der Ent—
wicklungstheorie“ (11) widerlegt zu
haben. „Wir haben uns überzeugt,“ ſagt
der ſeltſame Mann, „daß die Anhänger
der Entwicklungstheorie, ſobald ſie
einen derartigen Schluß zogen, nämlich
daß der Farbenſinn des Menſchen erſt ſeit
Homer entwickelt worden jet, ohne noch —
andere Beweismittel zu Hülfe zu nehmen,
einen Irrweg gewandelt ſind und erheb—
lich über das Ziel hinweggeſchoſſen haben.“
Das iſt in der That die ärgſte Ver—
ſchleierung der Wahrheit, die mir in dieſer
Angelegenheit vorgekommen iſt. Mir iſt
kein namhafter Anhänger der Entwicklungs-
theorie bekannt, der dieſes Hirngeſpinſt
einiger Philologen und Arzte geteilt hätte;
wohl aber iſt Herrn Magnus ſehr genau
bekannt, daß von Darwiniſtiſcher Seite
das genaue Ergebnis feiner überdem längft
von andern Seiten überholten Unter—
ſuchungen mit Beſtimmtheit vorhergeſagt
worden iſt, —welchen Umſtand er indeſſen
vollſtändig zu verſchweigen für gut hält.
Im übrigen iſt er noch lange nicht von
ſeinem Hirngeſpinſt befreit und glaubt
trotz des vollkommen negativen Ergebniſſes
ſeiner Unterſuchungen, wie aus vielen
Stellen ſeiner Schrift erhellt, noch immer,
daß die Perzeptionsfähigkeit der Natur—
völker für Grün und Blau dennoch nicht
völlig entwickelt ſei. „Ausdrücke wie
Spracharmut, ungenügende Entwicklung
der Sprache u. ſ. w.,“ ſagt er S. 36,
„vermögen gewiß das Thatſächliche an
der Erſcheinung in ſehr charakteriſtiſcher
Weiſe zu bezeichnen, aber eine Erklärung
der Erſcheinung bieten ſie doch eigentlich
nicht dar; denn fie erklären ebenſowenig
das Warum der ungenügenden Sprach—
entwicklung, als ſie auch nicht den gering—
ſten Aufſchluß geben über die ſo eigen—
tümliche Geſetzmäßigkeit, welcher dieſer
Entwicklungsfehler in ſo auffälliger Weiſe
unterliegt. Sie vermögen uns weder zu
ſagen, warum die mangelhafte Farben—
terminologie mit ſo eigenartiger Regel—
mäßigkeit ſich im Gebiete der kurzwelligen
Farben bewegt, noch erklären ſie uns,
warum die Farbennomenklatur gerade am
roten Ende des Spektrums am ſchärfſten
entwickelt ſein mag und warum ſie gegen
das blaue Ende hin immer undeutlicher
wird, und zwar noch dazu in einem ganz
geſetzmäßigen Gange.“
Ich habe für dieſes „Wunder“ nicht
blos einen, ſondern gleich drei zuſammen—
wirkende Erklärungen angegeben, nament—
darauf aufmerkſam gemacht, daß die Men—
ſchen nur für die Farben beſondere Worte
haben, die ſie färben können, und daß
grün und blau und violett diejenigen Farb—
ſtoffe ſind, die der Menſch zuletzt ermittelt.
Herr Grant Allen, den Gladſtone
auf meinen Eſſay aufmerkſam machte, hat
meinen Wink beſſer verſtanden und daher
auf ſeinen Fragebogen ausdrücklich die
Frage hinzugefügt: Welche Pigmente wiſ—
|» ſen die betreffenden Völker anzuwenden?
Und ſiehe da, es ergab ſich, daß diejenigen
Wilden, die grün und blau zu färben
wußten, auch beſondere Worte für dieſe
Pigmente haben. Darin liegt alſo das
große Geheimnis, über welches Herr
Magnus noch immer phantaſirt. Was
das Bezeichnen zweier naheſtehenden Far—
ben mit einem Worte betrifft, ſo will ich
den Verfaſſer auf ein noch viel haar—
ſträubenderes Beiſpiel mitten im gebilde—
Literatur und Kritik.
327
ten Deutſchland aufmerkſam machen. Im
ſüdlichen Thüringen und nördlichen Bayern
bezeichnet man ſalzig und ſauer mit dem
letzteren Worte, und wenn die Köchin, wie
man in Norddeutſchland ſagt, verliebt ge—
weſen iſt, ſo ſagt man, die Suppe ſei
ſauer, und ebenſo heißt das Kompott, dem
der Zucker fehlt, auch ſauer. Sollten die
lieben Meininger und Hildburghauſener
vielleicht in der Entwicklung des Geſchmacks
nach der ſalzigen Seite noch zurück ſein?
K.
Die Sprachenwelt in ihrem geſchicht—
lich-literariſchen Entwicklungsgange zur
Humanität. Bearbeitet von Dr. J. A.
Manitius. 1. Band: Aſien, Afrika
und Auſtralien. Leipzig 1879. C. A.
Kochs Verlagsbuchhandlung (J. Sen—
gebuſch).
Das vorliegende Buch iſt von einem
etwas zurückliegenden Standpunkte der
Sprachforſchung verfaßt, wie ihn etwa W.
v. Humboldt, Laſſen und Max Müller
einnahmen, und ſeine Tendenz ſpricht ſich
genau in folgenden Worten der Einleitung
aus: „Es iſt demnach, ſagt der Verfaſſer,
die geſammte ſittliche und geiſtige Bildung
des Menſchengeſchlechts, von der früheſten
Zeit an bis zu uns herauf, als eine un—
unterbrochene, in und durch ſich zuſammen—
hängende Erziehung ſämmtlicher Völker
der Erde zu betrachten, da Gott die Na—
tionen der alten wie der neuen Welt durch
ſein allmächtiges Werde an das Licht ge—
rufen und für das Licht beſtimmt hat, daß
ſich aber Alles in dem Reiche der Natur
wie des Geiſtes nach einem weiſen Geſetze
des Schöpfers nur allmählich emporbilden
kann und ſoll.“ Ohne ein tieferes Einge—
hen auf Weſen und Urſprung der Sprache
.
y - 14 „
25 x
. PR =
398 Literatur und Kritik. * »
überhaupt und der einzelnen Sprachen im
Beſondern wird unter Einſtreuung einer
reichen Anzahl von Überſetzungen zahlrei—
cher poetiſchen Citate mehr eine Art ver—
gleichender Litteraturgeſchichte, als ein Werk
über Sprachen geboten. Im übrigen läßt
fich eine ganz anerkennenswerte Belehrung
über die allgemeinſten Züge der Sprache
und Litteratur der drei Weltteile aus dem
Buche ſchöpfen.
Kinnorlieder Althebr äifche Dichtungen
in metriſcher Übertragung von Dr.
Martin Schultze. Leipzig, Ernſt
Günthers Verlag, 1879. 120 S. in 12.
In dieſem kleinen Buche werden
Leſer dreier ſehr verſchiedener Kategorien
ihre Rechnung finden: 1) Freunde der
Poeſie, 2) Bibelforſcher und Theologen,
3) Kulturgeſchichtsforſcher überhaupt. Der
durch die Metrik und bisweilen durch den
Reim wirkſam gehobene Gedankenparal—
lelismus dieſer Kinnor- (d. i. Harfen—)
Lieder erweckt dem Leſer nicht nur infolge
ihrer kunſtvollen Übertragung eine Ahnung
von ihrer originalen Schönheit, ſondern
ſie bieten auch ein tieferes kulturhiſtori—
ſches Intereſſe dar, da ſie zum Teil
die älteſten Teile der Bibel darſtellen.
Wie der gelehrte Verfaſſer bereits in un—
ſerer Zeitſchrift?) zu zeigen unternahm,
ſtellt ein Teil Erntelieder dar, die erſt von
der ihren Sinn nicht erfaſſenden Nachwelt
in Epen umgewandelt wurden, wie das
ſchöne Deborahlied. Ein anderes Gedicht,
„Die zehn Stämme“ (Richter 5, 14— 18),
wird von dem Herausgeber treffend mit
dem angelſächſiſchen Wandererliede und
dem homeriſchen Schiffskatalog verglichen.
) Kosmos, Bd. I, S. 153.
Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig.
hier genügen, auf die deutſche Überſetzung,
Ein ſehr intereſſanter Fund ſcheint das
„Fuchslied“ aus dem Hohenliede (2, 15):
Fangt uns doch die kleinen Füchſe!
Sie verderben unſern Wein,
Und der Weinſtock trägt ſchon Trauben;
Fangt die kleinen Füchſe ein! — *
zu ſein, denn es iſt nach Schultzes An— 5
ſicht ein harmloſes Spielliedchen, wie es |
Kinder der verſchiedenſten Nationalitäten
und Zeitalter beim Ringelreigen fingen.
Man erkennt, wie verſchiedenartige Ele-
mente in die heilige Schrift hineingeraten
ſind und wie unentbehrlich ſelbſt in den J
poetiſchen Teilen die kritiſche Sonde iſt. | |
Die Ausftattung des kleinen Buches iſt
überaus geſchmackvoll und anheimelnd. 1 |
Die Tropenwelt, nebſt Abhandlungen
verwandten Inhalts von Alfred Ruſ⸗
ſel Wallace. Autoriſirte deutſche
Überſetzung von Dr. David Bruns.
Braunſchweig, Vieweg u. Sohn, 1879.
Da wir bei dem Erſcheinen der eng-
liſchen Ausgabe?) ausführlich auf dieſes *
ebenſo lebendig als anregend geſcheichene
Buch hingewieſen, auch bereits damals eini-
ge längere Proben daraus in dieſer Zeit⸗
ſchrift“ ) wiedergegeben haben, ſo mag es
die als eine durchaus gelungene bezeichnet
werden darf, kurz hinzuweiſen. Das Buch
zieht das Fazit aus einer ganzen Reihe von
Beobachtungen verſchiedener Reiſender und
Naturforſcher, die in den Tropen gelebt
haben, und giebt auf wenigem Raum ſehr
gediegene Überſichten nebſt Erläuterungen
zahlreicher wichtiger Probleme. Die Aus-
ſtattung iſt derjenigen aller Werke des be—
rühmten naturhiſtoriſchen Verlags ent—
ſprechend.
) Bd. IV, S. 247. — *) Bd. IV.
Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums
Daſein.
ie ſoeben von mir veröffent—
lichte Monographie der mexi—
kaniſch-karaibiſchen Spongien
ſchließt mit den Worten: „Sie
it für die Deszendenzlehre
und für Darwin.“ Faſt an
demſelben Tage, wo ich mein Opus ge—
druckt in die Hände bekam, las ich“) Mo—
ritz Wagners Erklärung, daß die Spon—
gien die geeignetſten Organismen ſeien,
„für die formbildende Wirkung einer
dauernden individuellen Abſonderung,
ohne jede Mitwirkung einer Selektion
durch den Kampf ums Daſein, einen un—
widerlegbaren Beweis zu erbringen“.
Dieſer auf den erſten Blick handgreifliche
Gegenſatz der Meinungen bedarf einer
Erläuterung, wodurch er ausgeglichen und
womit der Konfuſion, die durch ihn im
Urteile des außerhalb der Fachkreiſe ſtehen—
den Laien angerichtet werden könnte, be—
gegnet wird.
Ich will mir zu dieſem Zwecke zunächſt
erlauben, auseinanderzuſetzen, wie ich zu
dem oben angeführten Satze als dem Re—
ſultate einermühſamen Detailunterſuchung,
*) Im Juniheft des Kosmos.
Von
Oskar Schmidt.
der Fortſetzung einer ganzen Reihe ſeit
zwanzig Jahren geführter Spezialarbeiten
auf demſelben Gebiete, gekommen bin.
Erſt dann wollen wir damit vergleichen, wie
M. Wagner die Sache ſeinerſeits anſieht.
Es wird, deſſen ſind wir ſchon jetzt ſicher,
weſentlich auf eine etwas engere oder wei—
tere Faſſung von Begriffen und Aus—
drücken ankommen, während in der Sache
der verehrte Münchner Forſcher von uns
kaum abweicht.
Ohne Frage ſind die Spongien unter
den lebenden Organismen die flüſſigſten.
Es giebt unter ihnen viele „gute Arten“,
die ſich im Stadium einer gewiſſen Be—
ſtändigkeit befinden, aber noch viel mehr
ſchlechte. Dies Miteinandergehen von, gut“
und „ſchlecht“ mag hier einmal beſonders
betont werden, weil die Vorſtellung noch
vielfach verbreitet iſt, daß die Arten alle—
ſammt entweder für beſtändig oder für
unbeſtändig angeſehen werden müßten.
Unter den vielen Formen der Reihen
ſchlechter Arten befindet ſich nun wieder
eine große Anzahl, bei denen wir vergeb—
lich nach den zwingenden Urſachen oder
nach den durch das Variiren geleiſteten
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5.
42
f
330
Vorteilen ſuchen. Es mögen deren oft vor—
handen ſein, aber der Beobachtung unzu—
gänglich; eben ſo oft und häufiger werden
wir aber die Veränderung und Abweichung
in der Geſammtform und in den feineren
Formbeſtandteilen auf Rechnung der Ver—
änderlichkeit ſchlechthin ſetzen müſſen. Ab—
ſolut grundlos iſt natürlich in jedem ein—
zelnen Falle die Veränderung nicht, ſei es,
daß der Anſtoß im Organismus ſelbſt oder
von der Umgebung angeregt wird. Aber
die Folgen der Veränderung ſind für den
phyſiologiſchen Wert gleich null. Gleich—
wohl können ſolche Veränderungen ſich
vererben und fixiren. Die Maſſe ſolcher
thatſächlich vorhandenen rein morphologi—
ſchen Varietäten und mehr oder minder
ſchlechter Arten, welche die Klaſſe der
Spongien aufweiſt, fordert ſchon an ſich
zur Beſchränkung der Anſicht auf, als ob
ſie in kürzeſter Friſt durch Kreuzung mit
den nicht variirten Individuen wieder ni—
vellirt werden müßten. Aber bereitwillig
geben wir zu, ja es iſt ſelbſtverſtändlich
und nie von Darwin und ſeinen An—
hängern in Abrede geſtellt worden, daß
zur Konſervirung ſolcher morphologiſcher
Varietäten die Abſonderung außerordent—
lich viel beiträgt. Alle, welche die neuere
Litteratur der Spongien etwas verfolgt
haben, wiſſen, daß die Verzeichniſſe über—
reich an ſolchen, gewiſſermaßen gleichgilti—
gen Arten und Abarten ſind, dasjenige
meiner mexikaniſchen Spongien nicht min—
der. Daß dieſe Fälle „für die Deszendenz—
lehre“ ſprechen, wird nur von ſolchen pro—
blematiſchen Naturforſchern geleugnet, wel—
«
che nichts als die Varietäten innerhalb der
feſten Arten gelten laſſen.
Eine andere Reihe von Fällen, welche
aber unmittelbaren Anſchluß an obige
Oskar Schmidt, Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein.
haben, umfaßt die Umformung einfacherer
tuypiſcher Grundbeſtandteile der Spongien—
ordnungen und -familien in ſcheinbar ganz
neue Organe, welche zur Aufſtellung neuer
Gattungen und Arten oder Varietäten—
gruppen geeignet ſind. An ſolchen Beob—
achtungen habe ich dieſesmal eine beſon—
ders reiche Ernte gehalten, namentlich bei
den Hexaktinelliden und den Lithiſtiden,
weniger bei den übrigen Abteilungen. Bei
den Hexaktinelliden iſt mir der Nachweis
gelungen, die ſcheinbar abweichendſten
Kieſelkörper, auch ſolche, welche bisher
ganz unvermittelt ſtanden, nach ihrer Ent—
ſtehung als Modifikationen der Grund—
geſtalt zu erklären, welche der ganzen
höchſt intereſſanten und anſprechenden Ab—
teilung das charakteriſtiſche Gepräge giebt.
Ich konnte auch wiederholt den Zuſammen—
hang lebender Formen mit foſſilen kon—
ſtatiren, wobei ſich ergab, daß die Deca—
dence der gegenwärtigen Hexaktinelliden
ſich u. a. in dem Abhandenkommen der
einſt viel mehr verbreiteten Deckſchichten
ausſpricht. Ganz unverändert iſt dieſe
Oberflächenbildung bei Cystispongia, ei—
nem Kreideſchwamm, geblieben, der mit
geringen Modifikationen noch heute uns
als Cystispongia superstes entgegentritt.
Wir müſſen neben dem Erſcheinen neuer
morphologiſcher Arten die Erſchöpfung
und das Verſchwinden der Arten einſt—
weilen noch als eine Thatſache hinnehmen,
deren Urſachen mit dem Worte Erſchöpfung
geahnt werden ſollen. Ich habe ferner den
Zuſammenhang von Gattungen aufgefun—
den, die nach dem bisherigen Wiſſen ein—
ander gar nichts anzugehen ſchienen, alſo
z. B. gezeigt, daß der bekannte, durch ſeine
äußerſte Zierlichkeit des Kieſelnetzwerkes
ausgezeichnete Aphrocallistes in ſeinen
—
Oskar Schmidt, Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Dafein.
Anfängen der nicht minder berühmten
Farrea gleicht und ſich in feinem ganz
eigentümlichen Bau nur durch das eine
Moment entfaltet, daß viele der grund—
legenden ſechsſtrahligen Nadeln in den
Winkeln zweier Axen von den typiſchen
Sechsſtrahlern abweichen.
Wir ſind hier immer noch im Gebiete
der rein morphologiſchen Umbildungen,
wo von Funktionswechſel, erhöhter Tei—
lung der Arbeit, Fortſchritt der Organi—
ſation nichts zu merken iſt. Nur die all—
gemeine Tendenz zur Verkümmerung konn—
ten wir aus dem Zurücktreten der Deck—
bildungen entnehmen.
Weiter hat mich die Unterſuchung der
Lithiſtiden gebracht. Zunächſt glaube ich
den, allerdings auch auf einer Art von Ver—
kümmerung beruhenden, Zuſammenhang
zweier Hauptabteilungen dieſer Ordnung,
der Tetraktinelliden und Rhizomorinen,
gezeigt zu haben. Zittel hatte in ſeinen
höchſt wichtigen Unterſuchungen über die
foſſilen Spongien angenommen, daß aus
den unregelmäßigeren, mit meiſt drei—
ſtrahligen Skelettkörpern verſehenen Rhizo⸗
morinen ſich die durch vierſtrahlige Skelett—
körper charakteriſirten Tetrakladinen ent—
wickelt hätten. Ich habe, glaube ich, ſehr
wahrſcheinlich gemacht, daß der umgekehrte
Gang ſtattfand. Daneben und im engen
Zuſammenhange mit dieſem Nachweiſe war
es mir von großem Intereſſe, die Ent—
ſtehung der ſogenannten Oberflächen- oder
Rindenkörper zu verfolgen, welche ſich bei
Gattungen beider Abteilungen finden. In
dieſen Gattungen haben wir es mit Diffe—
renzirungen zu thun, welche ganz offenbar
von einem Fortſchritt begleitet ſind. Die Dif-
ferenzirung führt zur Bildung einer Rin—
331
ſameren Schutz bietet als da, wo die Skelett—
körper, ohne jene Modifikation einer Geſtalt—
anpaſſung, auch die oberſte Körperſchicht
bilden. Der Hauptherd, wo dieſe Umbil—
dung der Skelettkörper in Rindenkörper
ſtattgefunden hat, ſind die Tetrakladinen,
und zwar ſtammt die eine Sorte, die der
geſtielten Scheiben, von der vorherrſchen—
den Art der die Lithiſtiden charakteriſiren—
den Skelettkörper, die andere, nämlich die
Gabelanker, von den vierſtrahligen Kieſel—
teilen, durch welche ſich die engſten ver—
wandtſchaftlichſten Beziehungen der Lithi—
ſtiden zu der noch jetzt ſehr reich vertrete—
nen Ordnung der Tetraktinelliden erhärten
laſſen. Von jenen Tetrakladinen ſind die
Skelettkörper auf verſchiedene Gattungen
von Rhizomorinen vererbt worden, das
heißt, während Tetrakladinen ſich dadurch
in Rhizomorinen umwandelten, daß die
indifferenten Skelettkörper von dem ſtreng
vierſtrahligen Typus abwichen, behielten
die zu beſtimmter Leiſtung adaptirten Rin—
denkörper den mit ihrer Leiſtung im Ein—
klang ſtehenden Typus bei. Aber auch
innerhalb ſolcher Rhizomorinen, welche
von ihren Vorfahren keine Rindenkörper
ererbt hatten, haben ſich in einem Falle
(Neopelta) ſolche gebildet, und zwar
wiederum nachweislich auf demſelben Wege
wie dort, durch Anpaſſung der Skelett—
körper an die Oberflächenverhältniſſe. Die
Reſultate meiner Studien an den Lithi—
ſtiden Discodermia, Collectella, Coral-
listes, Neopelta waren mir daher, wie
meine ſämmtlichen früheren Spongien—
arbeiten, Beſtätigungen „für die Deszen—
denzlehre und für Darwin“. Übergänge, wo
man hingreift, und dieſelben oft verbunden
mit Vervollkommnungen durch Befeſtigung
denſchicht, welche dem Innern einen wirk- und Vererbung von vorteilhaften Verän—
L )
Nein
332 Oskar Schmidt, Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein.
derungen. Das iſt eben die Entſtehung
von Arten nach Darwiniſtiſchem Prinzip.“)
Noch viel klarer und überzeugender
ſind nun aber eine andere Reihe von
Fällen der Artentſtehung, welche teils die
Hexaktinelliden, teils und vorzüglich die
Ankerſchwämme oder Tetraktinelliden be—
treffen. Der Unterſchied zwiſchen den obi—
gen und den gleich zu beſprechenden Er—
ſcheinungen iſt der, daß dort die Erklärung
durch die Hypotheſe der vorteilhaften und
fortſchrittlichen Anpaſſung nur aus all—
gemeinen Gründen als die am meiſten
naturgemäße und richtige ſich ergiebt,
während ich nunmehr die Entſtehung von
Arten, reſp. die Bildung von vorteilhaften
neuen Organen, welche die neuen Formen
von den alten unterſcheiden, auf die An—
paſſung an ganz beſtimmt vorliegende
Verhältniſſe nachweiſen kann. Es iſt alſo
abermals zwiſchen hier und dort nur ein
Unterſchied dem Grade nach: Überwindung
von Hinderniſſen und von Mächten, welche
den Individuen feindlich ſind und von den
beſten und ſtärkſten der letzteren überwunden
werden. Ich ſpreche von der Entſtehung der
Schutz- und der Befeſtigungsapparate, wo—
durch eine Anzahl von Spongien ſich vom
Stamm abgezweigt und ihre Exiſtenz auf
ungünſtigem Boden ermöglicht haben.
Die Entwicklung der Spongien aus
zarten, bewimperten Larven, die Lebens—
verhältniſſe der meiſten rechtfertigen die
Annahme, daß feſter Grund der Nieder—
laſſung und Anſiedlung am günſtigſten
und naturgemäßeſten ſei. Es braucht nicht
gerade ein Felſen zu ſein; ein Algenſtengel,
Krebsrücken, eine Muſchel thun dieſelben
Dienſte. In allen dieſen, den weitaus ge—
*) Es ift eine wiederholte Entſtehung von
Rhizomorinen aus Tetrakladinen anzunehmen.
——
wöhnlichſten Fällen geſchieht das Anſäſſig—
machen auf die einfachſte Weiſe, durch
Ankleben mittelſt nackter Zellen oder proto—
plasmatiſcher Maſſe, welche ja eine Haupt—
eigentümlichkeit darin ſucht, daß ſie klebrig
iſt. Sie wird bald dichter und feſter, bäckt
mehr und mehr an ihrer Unterlage an
und ſehr bald iſt die junge Spongie „an—
gewachſen“. Das iſt ganz offenbar der,
allgemeinere und urſprüngliche Vorgang.
Ich habe nun ſchon früher gezeigt und
belege es in meiner neuen Monographie
mit den frappanteſten Beiſpielen, wie in
den verſchiedenſten Familien mit der An—
paſſung an Schlamm- und Sandgrund
jene Organe gezüchtet worden ſind, die
Schutzſiebe und Wurzeln vom verſchieden—
ſten Ausſehen und Umfang, in denen dieſe,
ihrem Urſprung nach oft weit von einander
abſtehenden Schlammbewohner konver—
giren. Mit dieſen neu erworbenen Ein—
richtungen verbindet ſich oft genug eine
größere Konzentration des Spongienleibes,
welches gleichbedeutend erſcheint mit höhe—
rer Entwicklung. Ich glaube, daß man
ſich dieſer Auffaſſung nicht verſchließen
kann, wenn man lieſt, was ich in meinem
Werke (7. ff.) über Tisiphonia und Fango-
philina und ihr Verhältnis zu den näch—
ſten Verwandten beigebracht habe, von
den vielen anderen früher und jetzt er—
läuterten Fällen nicht zu ſprechen. Daher
wiederum „für Darwin“.
Aber unſer verehrter Mitarbeiter iſt
der Anſicht, daß ich hätte ſagen müſſen:
„für Moritz Wagner“; denn er hat
jetzt gefunden, daß ſein Prinzip und das
Darwinſche ſich ausſchließen. Er erklärt,
daß alle die Umwandlungen, wie ſie un—
erſchöpflich reich in der Spongienklaſſe
vorliegen, ihre „zwingende Urſache“ in
.
Oskar Schmidt, Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein.
der Abſonderung haben. Wagner hat
zur Erhärtung ſeiner Migrationstheorie,
jo viel ich ſehe, in feinen jüngſt im Kosmos
erſchienenen Aufſätzen weſentlich neues
nicht gebracht. Er hat den Kampf ums
Daſein im allgemeinen nicht geleugnet und
die Ausleſe, dieſes punctum saliens,
ausdrücklich anerkannt, indem er unter die
wirkſamen Faktoren der Artbildung auf—
nimmt die „Ausprägung und Entwicklung
individueller Merkmale der erſten
Koloniſten in deren Nachkommen bei blut—
verwandter Fortpflanzung“. Wenn er
aber, um gleich den Kern der Sache zu
bezeichnen, ſagt: „Nach der Selektions—
theorie iſt der Kampf ums Dafein, nach
der Separationstheorie die räumliche Ab—
ſonderung die nächſte zwingende Urſache
der Artbildung“), fo verwechſelt er
die causa occasionalis mit der
causa efficiens. Es iſt unſerm Streiter
für die Abſonderung ſeit Jahren von Dar—
win und allen Anhängern der Selektions—
prinzipien zugeſtanden, daß von Anfang
an auf die Iſolirung, als ein die Selektion
im Kampfe ums Daſein begünſtigendes
Moment, wohl zu wenig Gewicht gelegt
worden ſei. Aber weiter als eine häufige
Gelegenheit für die Wirkſamkeit der Dar—
winiſtiſchen Prinzipien iſt ſie nicht. Sind
die Auswanderer Schwächlinge, ſo gehen
ſie zugrunde. Das wußten die Römer gar
gut, wenn ſie das ver sacrum weihten.
Doch was ſage ich das dem unter uns am
weiteſten Gereiſten! Wenn es dem Kolo—
niſten an den Kragen geht, mögen das
nun europäiſche Menſchen im Kampfe
gegen Indianer ſein, oder Spongien, die
) Kosmos, IV, I, S. 3.
333
vom Rande ihres heimatlichen Felsſtückes
in den Schlamm fallen, dann gewinnt der
am beſten mit Waffen und individueller
Kraft verſehene. Unbedingt iſt jede Iſo—
lirung nur die Gelegenheit, nie die zwin—
gende mechaniſche Urſache zur Umbildung.
Die Konzeſſion, welche Darwin an Mo—
ritz Wagner gemacht hat, geht über das,
was wir oben auch als ſelbſtverſtändlich
bezeichnet haben, nicht hinaus: Modifika—
tionen, „which are neither of advantage
or disad vantage of the modified organ-
ism“. Es iſt ja niemals ernſtlich beſtritten
worden, daß, wenn von Auswanderern
ſchon eine beſtimmte Anlage mitgebracht
wird, dieſelbe unter günſtigen äußeren
Verhältniſſen zu einem Charakter ſich be—
feſtigen kann. Sowie ein ſolcher Charakter
mit einem minimalen Vorteile für den in—
dividuellen Träger verbunden iſt, tritt die
Konkurrenz und die Selektion ein. Kon—
kurrenz tritt überall ein, wo veränderte
Lebensverhältniſſe erhöhte oder neue An—
ſprüche an den Organismus machen. Da—
bei iſt die Konkurrenz unter Artgenoſſen
nur ein ſpezieller Fall im struggle for life.
In dieſer Weiſe und viel eindringlicher
iſt die ſog. Migrationstheorie ſchon wieder—
holt von Haeckel, Weismann, neueſtens
von Semper auf ihr richtiges Verhältnis
zur Selektionstheorie zurückgeführt wor—
den. Wenn ich dennoch auch das Wort in
der Angelegenheit genommen habe, ſo war
es in der Hoffnung, daß gerade die nähere
Betrachtung der Spongien, von welcher
wir beide, M. Wagner und ich, aus—
gingen, den ſehr verehrten Biologen über—
zeugen könnte, wie die Abſonderung ohne
Konkurrenz und Selektion nichts oder ſehr
wenig vermag.
Skizzen aus der Entwicklungsgeſchichte der Entwick-
lungsgeſchichte.
Ernſt Krauſe.
m Schluſſe des vorigen Jahr—
hunderts und in den erſten
Jahrzehnten des laufenden
finden wir die Entwicklungs—
geſchichte ganz allgemein von
den Ideen der „Naturphi—
loſophen“ beherrſcht, und die Natur—
forſcher bemüht, dieſes Joch abzuſchütteln.
Es iſt nicht ganz leicht, aus den zum Teil
höchſt dunkeln Ausſprüchen der erſteren eine
genau entſprechende Vorſtellung von dem
zu erlangen, was ſie eigentlich gewollt ha—
ben; wir können nur im allgemeinen die
Geſichtspunkte charakteriſiren, von denen
ſie ausgingen, um den Kampf Baers und
Cuviers gegen fie zu begreifen. Zunächſt
muß zugegeben werden, daß die Grundidee
der neuen Schule, welche die Welt und
ihre Bewohner als veränderliche, ſich zu
höherer Vollkommenheit erhebende Größen
anſah, eine bloße Umbildung der Leibniz
Bonnetſchen Idee von einer Stufenleiter
war, in welche ſich alle Organismen ein—
ordnen laſſen ſollten. Buffon hatte dieſe
U
Idee weiter ausgebildet, im Süßwaſſer—
polypen die vermeintliche Mittelſtufe von
Pflanzen und Tieren erkannt, und die Idee
eines allgemeinen Grundtypus al—
ler Tiere aufgeſtellt. „Wenn wir,“ ſo
ſchrieb er 1753, „aus der grenzenloſen Ver—
ſchiedenheit, welche die lebendige Natur
uns darbietet, den Körper eines Tieres oder
ſelbſt den des Menſchen auswählen, um uns
ſeiner als Modell für die Vergleichung der
Körper anderer organiſcher Weſen zu be—
dienen, ſo werden wir finden, daß, obgleich
alle dieſe Weſen eine ihnen eigentümliche
Individualität beſitzen und nur durch un—
endlich feine Abſtufungen von einander un—
terſchieden ſind, zur ſelben Zeit ein pri—
mitiver und allgemeiner Plan vor—
handen iſt, dem wir auf einer langen
Strecke folgen können, und von dem die
Ausartungen weit geringer ſind, als die—
jenigen von der mehr äußern Ahnlichkeit.
Nicht zu gedenken der Organe der Ver—
dauung, Zirkulation und Fortpflanzung,
welche allen Tieren gemeinſam ſind, und
neee
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. |
335
ohne welche das Tier aufhören würde, ein chen Prinzipien „das einfache Tier in dem
Tier zu ſein, und weder fortfahren könnte
Hauptverſchiedenheit des äußern Anſehens
bedingen, eine ſchlagende Ahnlichkeit vor—
handen, welche unwiderſtehlich zuder Idee
eines einzigen Vorbildes führt, dem
alle nachgebildet zu ſein ſcheinen“.“)
Dieſe Stelle, auf welche ſich Goethe
in ſeinen Werken wiederholt bezieht, bil—
dete den Ausgangspunkt der Naturauffaſ—
ſung des großen Dichters und der natur—
philoſophiſchen Schule, in deren Mitte er
ſtand, bis gegen das Jahr 1830. Seine
Beobachtung der ſich „bildenden und um—
bildenden Pflanze“, des Gemeinſamen im
Knochenbau der Tiere, die Auffindung des
als trennenden Charakter des Menſchen von
den Tieren betrachteten Zwiſchenkiefers bei
dem erſteren mußte ihn mit dem Buffonſchen
Gedanken des Urtypus (dessin primitif
et general) oder der Einheit des Typus
befreunden, wobei er warnt, denſelben als
„Unité du plan“ aufzufaſſen, welche Idee
zu Mißverſtändniſſen führe. „Ich war völ—
lig überzeugt,“ ſchrieb Goethe in den Tags
und Jahresheften von 1790, „ein allge—
meiner, durch Metamorphoſe ſich erhebender
Typus gehe durch die ſämmtlichen organi—
ſchen Geſchöpfe hindurch, laſſe ſich in allen
ſeinen Teilen auf gewiſſen mittleren Stu—
fen gar wohl beobachten und müſſe auch
da noch anerkannt werden, wo er ſich auf
der höchſten Stufe der Menſchheit ins Ver—
borgene beſcheiden zurückzieht.“T Demgemäß
ſuchte er in ſeiner 1796 verfaßten Abhand—
lung über die Bedeutung der vergleichen—
den Anatomie nach entwicklungsgeſchichtli—
*) Histoire naturelle T. IV. (1753),
p. 379 ff.
zuſammengeſetzteren Menſchen wieder zu
zu exiſtiren, noch ſich fortzupflanzen, ſo iſt
im geringſten derjenigen Teile, welche die
entdecken,“ nachdem er im Voraus be—
merkt, daß er hier vorzüglich die Wirbel—
tiere im Auge habe.
Dieſe Schlüſſe waren die ganz natür—
lichen und beinahe unvermeidlichen Folgen
des bereits wiederholt hervorgehobenen
Umſtandes, daß man das Studium der
Entwicklungsgeſchichte an den Wirbeltieren
begonnen und bis dahin ausſchließlich fort—
geſetzt hatte. Dabei war nun früh die
Ahnlichkeit der vorübergehenden Entwick—
lungszuſtände der höheren Wirbeltiere mit
den bleibenden Formen der niedern Wir—
beltiere aufgefallen, und ſchon 1793 hatte
Karl Heinrich Kielmeyer (1765 —
1844) den Grundſatz aufgeſtellt, daß der
Embryo höherer Tiere die Formenzuſtände
niederer Klaſſen durchlaufe, eine Er—
kenntnis, die durch den philoſophiſchen Un—
fug, der in der Folge damit getrieben wurde,
nichts von ihrer Fruchtbarkeit einbüßte.
Kielmeyer ſelbſt ſtand entwicklungsge—
ſchichtlichen Unterſuchungen fern, und wir
wiſſen nicht, wie weit der geiſtreiche Mann
in ſeinen aus jener Erkenntnis gezogenen
Schlüſſen gegangen iſt, da er ſehr wenig
Gedrucktes hinterlaſſen hat, doch ſcheinen
ſeine Anſichten einen bedeutenden Einfluß
auf die naturphiloſophiſche Schule geäu—
ßert zu haben.
Aus dieſen Grundlagen baute ſich die
„Naturphiloſophie“ im engern Sinne als
eine an ſich folgerichtige und unvermeidliche,
wenn auch in ihren Schlüſſen zu weitge—
hende, und ſich in einzelnen Köpfen in ein
myſtiſches Träumen verlierende Weltan—
ſchauung auf. Ihre allgemeinen Grund—
ſätze, daß die Welt entwickelt, nicht erſchaf—
fen jet, daß die organischen Weſen und
4
336
Grundkräfte nicht von denen der anorga—
niſchen Körper verſchieden ſeien, daß der
Menſch ins Tierreich hineingehöre und aus
demſelben emporgeſtiegen ſei, gelten heute
als allgemein anerkannte Wahrheiten und
wir haben demnach keine Urſache, dieſe Er—
kenntnisſtufe an ſich gering zu ſchätzen. Bei
dem vielgeſchmäheten Oken finden wir,
gerade wie bei Lamarck, die Idee eines
allmählichen Aufbaus der höheren Orga—
niſationen aus den niederen, und beiden
iſt gemeinſam, daß ſie die einzelnen Klaſſen
der Tiere nach dem Beſitz oder dem Fehlen
beſtimmter Organſyſteme und nicht nach
einem Grundtypus abgrenzten, etwa ſo,
wie wir noch heute Tiere mit Leibeshöhle
und ohne Leibeshöhle gegenüberſtellen.
„Die Natur,“ ſchrieb Lamarck in ſeiner
1809 erſchienenen Philosophie zo00lo-
gique*), „hat nicht gleich anfangs die her—
vorragendſten Fähigkeiten der Tiere ſchaf—
fen können, denn dieſe können nur mit Hilfe
höchſt komplizirter Organſyſteme zu Stande
kommen. Sie hat nun, um ſolche Organ—
ſyſteme ins Daſein zu rufen, allmählich die
Mittel dazu vorbereiten müſſen. Die Na—
tur hat alſo, um bei den Organismen den
Zuſtand der Dinge, den wir wahrnehmen,
herbeizuführen, direkt, d. h. ohne irgend
welchen organiſchen Vorgang, nur die ein—
fachſt organiſirten Tiere und Pflanzen her—
vorbringen müſſen, und ſie erzeugt dieſel—
ben noch tagtäglich in derſelben Weiſe an
günſtigen Orten und zu günſtigen Zeiten.
Dadurch nun, daß ſie dieſen Organismen,
die ſie ſelbſt erſchaffen hat, die Fähigkeiten
der Ernährung, des Wachstums, der Fort—
pflanzung und der jeweiligen Vererbung
der in der Organiſation erworbenen Fort—
ſchritte verlieh, und daß ſie allen organiſch
deutſche Ausgabe von A. Lang, S. 142.
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
erzeugten Individuen endlich dieſe näm—
lichen Fähigkeiten übertrug, wurden die
Organismen aller Klaſſen und aller Ord—
nungen mit der Zeit und durch die unend—
liche Verſchiedenartigkeit der immer wech—
ſelnden Verhältniſſe nach und nach her—
vorgebracht.“
Hieran ſchließt Lamarck Betrachtun—
gen über die Stufenleiter der Tiere, deren
einzelne, von den Anfängen bis zu dem
höchſten Organismus hinaufführende Stu—
fen nach dem Beſitz gewiſſer Organſyſteme
und deren relativer Ausbildung abgegrenzt
werden. So wird die unterſte Klaſſe der
Tiere, zu welcher er Monaden, Wechſeltier—
chen, Kugeltierchen und Infuſorien zählt,
durch den Mangel jeglicher Organe charak—
teriſirt, nicht einmal eine Magenhöhle, nach
Lamarck das niederſte Organ, tft bei ihnen
vorhanden. Bei der nächſt höhern Stufe,
den Polypen, iſt dieſes primitivſte Organ,
die Magenhöhle, vorhanden, dagegen feh—
len noch die ſpeziellen Organe der At—
mung, des Kreislaufes und der Nerven. In
die nächſt höhere Stufe rechnet er die
Strahltiere und niedern Würmer, bei denen
die Anfänge eines Nervenſyſtems ohne
Zentralorgane ſich fänden, dagegen ein
Kreislaufſyſtem noch fehle. Die Ringel—
würmer mit den Kruſtern, Inſekten und
Mollusken werden zu den beiden nächſt
höheren Klaſſen (3. und 4. Stufe) gerech—
net, bei denen die Organe der Atmung,
des Kreislaufs und Nervenſyſtems fort—
gebildet ſeien, um in der 5. und 6. Stufe
(den niedern und höhern Wirbeltieren) ihre
höchſte Vollendung zu erreichen. Von der
Art, wie er ſich die Aufeinanderfolge der
einzelnen Organſyſteme und ihrer Funk—
tionen konſtruirte, mag als Beiſpiel ſeine
allerdings nicht ganz ſtichhaltige Betrach—
L
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
tung über die Aufeinanderfolge von Wil—
lensnerven-, Muskel- und Sinnesnerven-
Syſtem dienen: „Da es anerkannt iſt,“
ſagt er, „daß Muskelthätigkeit ſtattfinden
kann ohne den Nerveneinfluß, ſo folgt dar—
aus, daß das Muskelſyſtem erſt nach der
Anlegung des allereinfachſten oder am
wenigſten komplizirten Nervenſyſtems hat
gebildet werden können . . . . Ich glaube
berechtigt zu ſein, aus dieſen Betrachtun—
gen zu ſchließen, daß das Muskelſyſtem
ſpäter als das Nervenſyſtem in ſeiner ein—
fachſten Zuſammenſetzung gebildet worden
iſt, daß aber die Fähigkeit, vermittelſt der
muskulöſen Organe Thätigkeiten und Orts—
bewegungen auszuführen, bei den Tieren
derjenigen, Senſationen erfahren zu kön—
nen, vorausgegangen iſt.“ “)
In gewiſſem Sinne ähnliche Anſichten
hatte Oken in ſeiner 1806 erſchienenen
Abhandlung „Über die Entwicklung der
wiſſenſchaftlichen Syſtematik“ ausgeſpro—
chen. „Jede Tierklaſſe,“ ſagt er darin,
„und jede Tiergattung iſt charakteriſirt
durch den ausſchließlichen Beſitz eigentüm—
licher Organe . . . Der Menſch iſt die Ver—
einigung aller Tiercharaktere, die Tiere
ſind daher nur einzelne Ausbildungen ein—
zelner dieſer Charaktere, folglich ſind ſie
nichts anderes als totale Darſtellungen
einzelner Organe des Menſchen, und dieſes
in ihnen rein auskriſtalliſirte Organ iſt ihr
Weſen und ihre Form, dieſes einzelne
Organ iſt das ganze Tier, während es
im Menſchen nur einen kleinen Teil aus—
macht. Dieſe einzelnen zur Totalität
gekommenen, oder zu einem ganzen Tier
gewordenen Organe ſind im höchſten Über—
maße entwickelt und überhaupt in Geſtalt
und Aktion am reinſten, unvermiſchteſten
12 313.
337
ausgeprägt. Denn alle anderen Organe
ſind ja unterdrückt, ſobald die Idee der
Tierheit in einzelne Tiere zerfällt; eben
darin beruhet ja die Möglichkeit der vie—
len Tierformen, ohne doch vom Grund—
typus abzuweichen, daß ſich Organe auf
Koſten der andern ausbilden, daß die
Nahrung u. ſ. w., die allen zugeführt
werden ſollte, vorzüglich ſich nur auf ein
Syſtem wirft; würden durch das ganze
Tierreich alle Organe in jedem Tiere gleich
ſtark ernährt, ſo wäre ſchlechterdings keine
Verſchiedenheit der Tiere zu denken, alle
müßten ganz dieſelbe Form, und zwar,
weil ſich alle im Gleichgewicht entwickel—
ten, die menſchliche haben, nur würde
das eine dieſer Tiere größer, das andere
kleiner ſein als das andere . . . Aller
Unterſchied der Tiere von einan—
der beruht auf dieſer übermäßigen
Ausbildung eines Syſtems bei
Vernachläſſigung der andern . . .
Wenn aller Tierunterſchied in dem
Ungleichgewicht der Organe liegt,
ſo muß notwendig alle Klaſſifika—
tion auf dieſes nämliche Prinzip
gegründet fein... Vor allem tft
klar, daß ſo viele einſeitige Aus—
bildungen von Organen wirklich
vorhanden ſind, als überhaupt Or—
gane in die Idee der Tierheit ge—
hören; da aber das überwichtige Organ
die Tierklaſſe beſtimmt, ſo muß auch
die Natur ſo viele Klaſſen produzirt
haben, als ſie Tierorgane in ſich trägt.
Wir haben hiermit den Schlüſſel zur Sy—
ſtematik ſchon gefunden, wenn wir nur
einmal zu der Hauptthüre hineingegangen
ſind, die uns den Anblick der Zahl und
Natur der Organe der Tierheit überhaupt
freigiebt; denn das Tierreich iſt nur das
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5.
43
@
338
zerſchnittene individuale Tier, deſſen los—
getrennte Organe dasſelbe ſpezifiſche Leben
fortleben, welches ſie im Individuum leb—
ten, nur jetzt ungebunden von andern
Organen.“) Es gehört nicht hierher,
weiter zu verfolgen, wie Oken nach dieſen
Prinzipien die ſämmtlichen Tiere in Darm-,
Gefäß-, Atem- und Fleiſchtiere einteilte.
In der Gegenüberſtellung dieſer we—
nigen Sätze ſehen wir den ganzen Gegen—
ſatz der Naturauffaſſung dieſer beiden
taturphiloſophen, die alle beide das Tier—
reich nach dem ausſchließlichen Beſitz ge—
wiſſer Organe klaſſifiziren wollten, alſo
in der Syſtematik von demſelben Prinzip
ausgingen. Bei Lamarck baut ſich das
höhere Tier mit Organen auf, die dem
niedern Tier nach und nach zugewachſen
7
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
ſind, bei Oken find die Tiere nur unregel-
mäßige Entwicklungen aus jenem „weit
zurück verfolgbaren Grundſchema“ Buf-
fons [dessin primitif et général qu'on
peut suivre tres-loin], welches nur im
Menſchen vollkommen ausgeführt iſt. Der
Menſch, als „das Maß aller Dinge“, wie
Protagoras geſagt, iſt alſo jener dem
geſammten Tierreiche zugrunde liegende
Typus, und da der Menſch ſich in feiner
Entwicklung aus jenen Organen aufbaut,
die in den einzelnen Klaſſen des Tierreichs
zur einſeitigen Ausbildung gekommen ſind,
jo iſt das erreich der „durchleuchtende
Embryo des Menſchen“. In weiterer Aus—
führung dieſer Ideen durfte dann Schel—
ling jenes der geſammten lebendigen
Vom erſten Ringen dunkler Kräfte
Bis zum Erguß der erſten Lebensſäfte.
Dieſe Ideen fanden in ihrer apriori—
ſtiſchen und darum der Philoſophie deſto
mundgerechteren Faſſung nur zu viel Bei—
fall und beherrſchten denn auch die Ent—
wicklungsgeſchichte lange Zeit vollſtändig.
Die neueren und genaueren Beobachter,
Pander und Baer voran, konnten ja die
Kielmeyerſche Behauptung, daß die Em—
bryonen der höheren Wirbeltiere den voll—
endeten niedern Wirbeltieren ähnlich ſeien
und daß in ihnen Zuſtände des Blutum—
laufs, der Atmungs- und Ausſcheidungs—
organe, ja äußere Formbildungen auf—
träten, die den bleibenden Zuſtänden der
unteren Stufen genau entſprechen, nicht
leugnen, und als Martin Heinrich
Rathke gegen das Ende des dritten Jahr—
zehnts unſeres Jahrhunderts auch an den
Embryonen der höheren luftatmenden
Wirbeltiere das Auftreten der Kiemen—
ſpalten der Fiſche erkannt hatte, ſchien die
Idee des im Tierreich „durchleuchtenden
Embryo des Menſchen“ vollends zu trium—
phiren.
Sie hatte einen tapfern Bundesge—
noſſen in Etienne Geoffroy Saint—
Hilaire (1772— 1844) gefunden, der
das Studium der vergleichenden Anatomie,
welches Oken unaufhörlich predigte, mit
großem Erfolg betrieben und nebenbei dem
Studium der menſchlichenMiß bildungen
obgelegen hatte. Die Mißgeburten, welche
Schöpfung zugrunde liegende Urbild von
der Natur ſprechen laſſen:
Ich bin der Gott, den ſie im Buſen hegt,
Der Geiſt, der ſich in allem regt,
*
)
Oken und Kieſer, Beiträge zur ver-
gleichenden Zoologie, Anatomie und Phyſiologie.
1806. S. 103-106.
teufliſchen Umganges
man lange Jahrhunderte nur als Straf—
gerichte, Wunderzeichen und Folgen eines
betrachtet hatte,
wurden durch ihn in die Reihe der natür—
lichen Entwicklungsergebniſſe eingereiht.
In der Idee war dies bereits durch Mon—
taigne (1533 — 1592) geſchehen, der in
feiner bewunderungswürdigen Unbefan—
genheit erkannte, daß auch die Mißgebur—
ten Erzeugniſſe der Natur ſind, die nach
ihren Geſetzen erklärt werden müſſen.
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 339
Studien „Über menſchliche Monſtruoſi—
täten“, und er faßte ſein Urteil über die
„Ce que nous appellons monstres,“
ſchrieb er über dieſelben, „ne le sont
pas a Dieu, qui voit en l’immensite de
rachen, Haſenſcharte, mit im Körper ver—
son ouvrage linfinite des formes qu'il
y a comprinses. Et est à croire que
cette figure qui nous estonne, se rap-
porte et tient & quelque autre figure
de mesme genre, incognu à l'homme.
De sa toute sagesse il ne part rien que
bon et commun et reiglé: mais nous
n’en voyons pas l’assortiment et la re-
lation.“ *)
Die ſpätere Zeit war darüber nicht
einfachen Mißgeburten in die Worte zu—
ſammen: „Ce qui manque dans les mon-
stres simples rélève un arrét, ce qu'ils
ont de trop un excès de developpe-
ment.“ Die Mißgeburten mit Wolfs—
bliebenen Hoden, die Mikrokephalen u. |. w.
ſtellen Hemmungen der regelrechten Ent—
wicklung des menſchlichen Embryos dar,
bei denen der Körper Formen und Bil—
jo klar. Im Anfang des vorigen Jahr
hunderts fand in der franzöſiſchen Akademie
eine lange Diskuſſion zwiſchen Lemery
und Winslow ſtatt, in welcher der letztere
behauptete, die Mißgeburten entſtänden
aus monſtröſen Keimen, die ſeit aller Ewig—
keit dazu präformirt und prädeſtinirt ſeien,
ſich zu Zwergen, Krüppeln, Doppelgeſtal—
ten u. ſ. w. zu entwickeln. Lemer y äußerte
dungen behält, die in beſtimmten, unter
dem Menſchen ſtehenden Tierklaſſen als
normale und charakteriſtiſche Bildungen
auftreten, die aber für den regelrecht ent—
wickelten menſchlichen Embryo nur Durch—
gangsſtationen ſind. Dieſe wohlbegrün—
dete und in der bekannten Vogtſchen Mikro—
kephalentheorie aufrecht erhaltene Hem—
mungstheorie Geoffroys wurde nun
von einigen deutſchen Naturphiloſophen
auf das geſammte Tierreich übertragen.
Denn ebenſogut, wie man den Mikro—
kkephalen als einen Menſchen charakteriſirt,
die für ſeine Zeit kühne, aber im grunde
doch weniger als die andere an Blasphemie
ſtreifende Meinung, der Keim könne nor⸗
mal geweſen und erſt durch Zufälligkeiten
und äußere Einflüſſe in eine widernatür—
liche Entwicklungsrichtung gedrängt wor—
den ſein. Dieſelbe Idee, auf entwicklungs—
geſchichtliche Studien näher begründet,
vertraten in Deutſchland Joh. Friedrich
Meckel und in Frankreich der ältere
Geoffroy in ſeinen 1822— 34 erſchie—
nenen und ſpäter von ſeinem Sohne Iſi⸗
dor in demſelben Sinne fortgeſetzten
0 Essais de Montaigne. Londres 1754.
T. 6, p. 266.
deſſen Gehirnausbildung auf derjenigen
der letzten Vorſtufe des Menſchen, näm—
lich des Affen, ſtehen geblieben iſt, ſo
konnte man dieſen ſelbſt als einen nicht
ganz fertig gewordenen Menſchen, und die
unter ihm ſtehenden Tiere als ſchon auf
früheren Stufen ſtehen gebliebene, „ge—
hemmte“ Aſpiranten der Menſchenwürde
betrachten, die niederſten aber als die er—
ſten Anläufe der Natur zur Menſchwer—
dung. Der Menſch ſelbſt alſo war jener
im Anfange aller Schöpfung als Ziel vor—
geſtellte Urtypus, die Menſchwerdung
das alle Entwicklung regelnde Prinzip
oder Leitmotiv, daher ſei alle Entwicklung
im grunde dieſelbe, nur in den einzelnen
340
Klaſſen auf verſchiedenen Stufen gehemmt
und aufgehalten.
Das iſt Idee und Urſprung der be—
rühmten Hemmungstheorie, welche
lange Zeit das leitende Prinzip einer Reihe
von Forſchern auf dem Gebiete der Ent—
wicklungsgeſchichte blieb. Indem Geof—
froy die Skelette des Vogels und Fiſches
mit dem menſchlichen verglich, konnte er
unzweifelhaft nachweiſen, daß ihre Ver—
ſchiedenheiten viel geringer erſchienen,
wenn des höherſtehenden Tieres Teile vor
ihrer vollkommnen Ausbildung mit den
entſprechenden Teilen des ausgebildeten
niederen Tieres verglichen wurden. Er
zeigte dies vorzugsweiſe am Schädel, wäh—
rend andere Naturforſcher, wie Meckel,
Tiedemann, Serres, von Baer,
Rathke ähnliche Übereinſtimmungen der
vorübergehenden Entwicklungszuſtände des
Nervenſyſtems, Blutumlaufs, der Herzbil—
dung, Geſchlechts- und Ausſcheidungsor—
gane höherer Tiere mit den bleibenden der
Fiſche, Amphibien und Reptile nachwieſen.
Die Theorie der Hemmungsbildungen ver—
vollkommnete ſich durch dieſe und ähnliche
Unterſuchungen immer mehr und Serres
zögerte nicht, ſie in allen ihren Konſequen—
zen zu verteidigen. Die Stufenleiter der
tieriſchen Organismen und die Einheit
ihres Planes ſchien damit feſtgeſtellt, denn
nach dieſer Annahme waren gewiſſermaßen
alle Tiere nur ein und dasſelbe Tier (das
„individuale Tier“ Okens), deſſen Teile
früher oder ſpäter auf beſtimmten Stufen
der Entwicklung angehalten, jedesmal die
Merkmale einer andern Klaſſe, Familie
oder Gattung erkennen ließen.
„Einige Verteidiger,“ erzählt Baer“),
) Über Entwicklungsgeſchichte der Tiere. I.
1828. S. 200.
NS
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
9
„wurden ſo eifrig, daß ſie nicht mehr von
Ahnlichkeit (der Fötalformen mit niedern
Tieren), ſondern von völliger Gleichheit
ſprachen und thaten, als ob die Überein—
ſtimmung in jeder Einzelnheit nachgewie—
ſen wäre. Noch kürzlich laſen wir in einer
Schrift über den Blutlauf des Embryo:
nicht eine Tierform laſſe der Embryo des
Menſchen aus. Man lernte allmählich die
verſchiedenen Tierformen als aus einander
entwickelt ſich denken . . . Unterſtützt durch
die Erfahrung, daß in den älteren Schich—
ten keine Reſte von Wirbeltieren vorkom—
men, glaubte man erweiſen zu können,
daß eine ſolche Umformung der verſchie—
denen Tierformen wirklich hiſtoriſch be—
gründet ſei, und erzählte endlich ganz ernſt—
haft und im einzelnen, wie ſie aus einan—
der entſtanden wären. Nichts war leichter.
Ein Fiſch, der ans Land ſchwimmt, möchte
dort gern ſpazieren gehn, wozu er ſeine
Floſſen nicht gebrauchen kann. Sie ver—
ſchrumpfen in der Breite aus Mangel an
Übung und wachſen daher in die Länge.
Das geht über auf Kinder und Enkel ei—
nige Jahrtauſende hindurch. Da iſt es
denn kein Wunder, daß aus den Floſſen
zuletzt Füße werden. Noch natürlicher iſt
es, daß der Fiſch auf der Wieſe, da er
kein Waſſer findet, nach Luft ſchnappt.
Dadurch treibt er endlich in einer ebenſo
langen Friſt Lungen hervor, wozu nur er—
fordert wird, daß einige Generationen ſich
unterdes ohne Atmung behalfen. — Der
lange Hals der Reiher rührt daher, daß
ihre Stammeltern dieſen Teil oft aus—
ſtreckten, um Fiſche zu fangen. Die Jun—
gen bekamen nun ſchon etwas ausgezogene
Hälſe mit auf die Welt und kultivirten
dieſelbe Unart, die ihren Nachkommen noch
längere Hälſe gab, woraus denn zu hoffen
Er
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
iſt, daß wenn die Erde nur recht alt wird,
der Hals der Reiher gar nicht mehr zu
meſſen ſein werde.“
Man ſieht hieraus, Baer polemiſirte
in ſeinen jüngeren Jahren ebenſo lebhaft
gegen Lamarck, wie er in ſeinen älteren
Jahren gegen Darwin polemiſirt hat.
Und doch ging ſeine Polemik nur aus dem
Mißverſtändnis hervor, daß er glaubte,
ihre Theorien ſetzten das einreihige Tier—
ſyſtem als unausweichliche Konſequenz vor—
aus, woran nicht einmal Lamarck, ge—
ſchweige Darwin gedacht hat. Geoffroy
hatte allerdings in demſelben Jahre (1828)
ſeine Schrift: Sur le principe de l’unite
de composition organique veröffentlicht,
aber dieſe Einheit keineswegs ſo einſeitig
aufgefaßt, wie Baer ſie, immer von der
Entwicklungsgeſchichte der Wirbeltiere aus—
gehend, verſtand. Dieſer hielt freilich
damals und ſpäter die einreihige Entwick—
lung des geſammten Tierſtammes für die
notwendige Konſequenz der Lamarckſchen
Anſichten. „Eine unvermeidliche Folge je—
ner als Naturgeſetz betrachteten Vorſtel—
lungsweiſe,“ ſo fährt Baer nach der De—
monſtration am Reiher fort, „war die,
daß eine früher herrſchende, ſeitdem ziem—
lich allgemein als unbegründet betrachtete
Anſicht von der einreihigen Stufenfolge
der verſchiedenen Tierformen allmählich
wieder feſtern Fuß gewann und, wenn auch
oft nicht deutlich ausgeſprochen, ja ſelbſt
ohne Bewußtſein der Forſcher, bei Urteilen
über tieriſche Formen in Anwendung kam.
Auch muß man geſtehen, daß, wenn jenes
Naturgeſetz angenommen wurde, die Kon—
ſequenz ebenfalls die Annahme dieſer An—
ſicht forderte. Man hatte dann nur einen
Weg der Metamorphoſe, den der ferne—
ren Ausbildung, entweder erreicht in einem
341
Individuum (die individuelle Meta—
morphoſe) oder durch die verſchiedenen
Tierformen (die Metamorphoſe des
Tierreichs), und die Krankheit durfte
man geradezu eine rückſchreitende Me—
tamorphoſe nennen, weil eine einreihige
Metamorphoſe, wie eine Eiſenbahn, nur
vorwärts und rückwärts gehen läßt, nicht
zur Seite.“)
Das Verhältnis der individuellen zur
allgemeinen Metamorphoſe des Tierreichs
oder, wie wie wir heute ſagen würden,
der Ontogenie zur Phylogenie mußte,
wenn es überhaupt beſtand, natürlich am
beſten durch das genaue Studium der Ent—
wicklungsgeſchichte eines beſtimmten Tieres
kontrollirt werden können. Für Baer,
der längſt ſeine Aufmerkſamkeit auf die
durchgreifende Verſchiedenheit der einzel—
nen Tierklaſſen in ihrem Grundtypus ge—
richtet hatte, war es klar, daß ihr gegen—
ſeitiges Verhältnis in keinem Falle als ein—
reihige Fortbildung gefaßt werden könne.
„Eine einreihige Fortbildung, wenn auch
nur als logiſcher Begriff, ſcheint aber für
die bleibenden Tierformen ganz notwen—
dig, wenn ſie ſich in der Entwicklung der
Individuen wiederholen ſoll.“ Wir erken—
nen jetzt leicht den Trugſchluß, dem er hier
unterlag. Allerdings muß jedes Lebeweſen
nach der neueren Weltanſchauung das
Endglied eines beſondern („geraden“) Ent:
wicklungszweiges ſein, allein Baer ſchien
nicht ſehen zu wollen, daß trotz der not—
wendigen gegenſeitigen Divergenz dieſer
Zweige ein Zuſammenhang, ein Ausſtrah—
len aus gemeinſamem Stamme ſtattfinden
konnte, ſo daß die Deszendenzlinie jedes—
mal von der Zweigſpitze bis zur Wurzel,
) A. a. O., S. 201.
342
aber die andern Zweige beiſeite laſſend,
verfolgt werden könne.
Mit Mißtrauen prüfte er die Theorie
an der Entwicklungsgeſchichte des Hühn—
chens, und ſeine erſten Unterſuchungen
überzeugten ihn ſogleich, daß der weſent—
liche Charakter des Wirbeltiertypus ſo
ungemein früh im Hühnerembryo durch—
blickt und alsbald die geſammte fernere
Entwicklungsfolge beherrſcht, daß an ein
Durchlaufen der verſchiedenen Klaſſen der
wirbelloſen Tiere nicht gedacht werden
könne. Schon 1823 trug er dieſe, Wahres
und Falſches miſchende Erkenntnis in ei—
ner Diſſertation“) vor, der die Theſis an—
gehängt iſt: Legem a naturae scrutato—
ribus proclamatam „evolutionem, quam
prima aetate quodque subit animal, evo-
lutioni, quam in animalium serie ob-
servandam putant, respondere“ a na-
tura alienam esse contendo. Daß die
Wirbeltiere in ihrer allgemeinen Entwick—
lung nicht erſt durch die Zuſtände z. B. der
Gliedertiere und Sterntiere hindurchgehen,
ließ ſich leicht beweiſen, aber nicht einmal
die Säugetiere gehen durch die Zuſtände
der Vögel hindurch, und die Vögel ſind
in ihrer beſondern Richtung viel höher
entwickelt als die Säugetiere, welche auf
ihrem ganzen Leibe keine einzige Feder
haben, ſondern nur dünne Federſchafte,
„ſo daß wir,“ läßt er die Vögel ſprechen,
5
können, nie ſich frei vom Erdboden er—
heben, wollen höher organiſirt ſein, als
wir!“ Weniger berechtigt und auch von
ihm ſelber ſpäter widerlegt, war der Ein—
wurf, daß vom Standpunkte des obigen
Geſetzes im Embryo keine Verhältniſſe
vorkommen dürften, die nicht wenigſtens
in einzelnen Tieren bleibende ſeien. So
z. B. dürfte der Embryo keinen heraus—
hängenden Dotterſack haben, weil kein
Tier ſeinen Futterbeutel derartig mit ſich
herumſchleppe. Später gab er ſelbſt zu,
daß dieſer Vorratsſack eine bloße Mitgift
der Mutter des Tieres ſei.
Zum mindeſten glaubte Baer vier
durch die Entwicklungsgeſchichte unverein—
bare Typen im Tierreich erkannt zu haben,
den peripheriſchen oder ſtrahligen Typus
(Strahltiere), den gegliederten oder Längen—
typus (Gliedertiere), den maſſigen oder
Molluskentypus und den Wirbeltiertypus.
„Typus,“ ſagt er, „nenne ich das La—
gerungs verhältnis der organiſchen
Elemente und der Organe. Dieſes
Lagerungsverhältnis iſt der Ausdruck von
gewiſſen Grundverhältniſſen in der Rich—
tung der einzelnen Beziehungen des Lebens,
z. B. des aufnehmenden und ausſcheiden—
den Poles. Der Typus iſt von der Stufe
der Ausbildung durchaus verſchieden,
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
ſo daß derſelbe Typus in mehreren Stufen
„ſchon im Neſte weiter ſind, als ſie (die
mehreren Typen erreicht wird. Der Grad
Säugetiere) jemals kommen“. „. . . An
der Fähigkeit zu fliegen haben allein die
Fledermäuſe, die unter ihnen die vollkom—
menſten ſcheinen, teil, die andern nicht.
Und dieſe Säugetiere, die ſo lange nach
der Geburt ihr Futter nicht ſelbſt ſuchen
) Dissertatio de fossilium mammalium
reliquiis. Regismont. 1823. 4.
der Ausbildung beſtehen kann und umge—
kehrt dieſelbe Stufe der Ausbildung in
der Ausbildung des tieriſchen Körpers
beſteht in einem größeren oder geringeren
Maße der Heterogenität der Elementar—
teile und der einzelnen Abſchnitte eines
zuſammengeſetzten Apparates in der grö—
ßeren hiſtologiſchen und morpho—
logiſchen Sonderung. Je gleichmäßi—
ger die ganze Maſſe des Leibes iſt, deſto
geringer die Stufe der Ausbildung. Eine
höhere Stufe iſt es, wenn ſich Nerv und
Muskel, Blut und Zellſtoff ſcharf ſondern.
Das Produkt aus der Stufe der
Ausbildung mit dem Typus giebt
erſt die einzelnen größeren Grup—
pen von Tieren, die man Klaſſen
genannt hat. In der Verwechslung des
Grades der Ausbildung mit dem Typus
der Bildung ſcheint mir der Grund man—
cher mißlungenen Klaſſifikation und in der
offenbaren Verſchiedenheit beider Verhält—
niſſe ſchon hinlänglicher Beweis zu liegen,
daß die verſchiedenen Formen der Tiere
nicht eine einſeitige Fortbildung der Tiere
von der Monade bis zum Menſchen dar—
ſtellen.““) 5
In der Unterſcheidung der Entwick—
lungshöhe vom Grundtypus ging Baer
1827 über Geoffroy und Cuvier hin—
aus, von denen der erſtere in ſeiner Theorie
der Konnexionen die Idee des hindurch—
wirkenden Grundtypus erfaßt, Cu vier
aber ebenſo wie Lamarck nicht genau
genug erwogen hatte, daß jeder Typus
auf verſchiedenen Entwicklungsſtufen vor—
kommen kann, wodurch die täuſchenden Ahn—
lichkeiten zwiſchen verſchiedenen Typen an—
gehörenden, auf gleicher Entwicklungsſtufe
ſtehenden Organismen entſtehen, vor wel—
chen Baer warnte. Wir haben hier ſo—
wohl die erſte klare Erkenntnis jener Ent—
wicklungsverhältniſſe, die R. Owen ſpäter
mit den glücklichen Ausdrücken der Homo—
logie und Analogie unterſchieden hat,
als auch die deutliche Erläuterung jenes
Hauptgeſetzes der fortſchreitenden Vervoll—
*) A. a. O., S. 208 u. 209. Die Zitate
wurden der leichteren Überſicht wegen ineinander-
geſchoben.
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
343
kommnung, welches ſpätere Morphologen
als Differentiation oder Arbeitstei—
lung unter den Organen bezeichnet haben.
Während jedoch Baer von einer
Grundverſchiedenheit und Unvereinbarkeit
der vier Typen ausging, ſuchte Geoffroy
die Buffonſche Anſicht von der Einheit des
Typus dadurch zu retten, daß er die Mög—
lichkeit der Zurückführung des einen Typus
auf den andern, die Übergänge und Ana—
logien derſelben ins Auge faßte. Es war
die Zeit der „geiſtreichen“, in neuerer Zeit
wieder aufgelebten Vergleiche, in denen
das Inſekt wegen ſeines Bauchmarks als
ein umgekehrtes, auf dem Rücken kriechen—
des Wirbeltier und ſein Schlundring als
ein durchbohrtes Gehirn betrachtet wurde.
So wollte Geoffroy (1822) den ur—
ſprünglichen Wirbelkörper für einen Ring
oder ein Rohr anſehen, um darin eine
Analogie mit den Ringen der Ringeltiere
finden zu können, und verteidigte ſpäter
(1830) die Idee von Meyraux und
Laurencet, nach welcher die Kephalo—
poden zu dem Wirbeltiertypus Analogien
zeigen ſollten, mit Eifer, weil ſie die „Ein—
heit des Typus“ begünſtigte. Bekanntlich
rief dieſe Parteinahme den berühmten
Streit in der franzöſiſchen Akademie zwi—
ſchen Cuvier und Geoffroy hervor, dem
Goethe ſo viele Betrachtungen gewidmet
hat und den er für wichtiger erklärt haben
ſoll, als die gleichzeitig ausgebrochene
Julirevolution. Aber ſchon zwei Jahre
vor Cuvier hatte ſich Baer ganz in dem—
ſelben Sinne gegen die von Geoffroy
vertretenen Prinzipien erklärt. „Es ſcheint
mir,“ ſchrieb er 1828, „daß aus längſt—
verfloſſener Zeit ſich eine Menge von Vor—
ſtellungen, die auf der Anſicht von einer
Stufenleiter beruhen, fortgepflanzt haben
Be
344
und, ohne daß wir es wüßten, unſer An-
ſicht von der organiſchen Verwandtſchaft
eine Farbe geben, die nicht aus der Unter—
daß die Kephalopoden oder die Krebſe ſich
anſicht? Aus einer unmittelbaren und
freien Vergleichung der Organiſation kön—
lusken. Gehen dieſe Verſuche, zwiſchen
zwei entlegenen Ländern Brücken zu ſchla—
gen, nicht aus dem Beſtreben hervor, jedes
Glied auf zwei Seiten anzuknüpfen? ..“)
Baer hatte recht. Es war das Auf—
treten der Panzerfiſche als Nachfolger der
Trilobiten in den älteſten. ſiluriſchen
Schichten, welches dieſe Verſuche wachrief.
Allein ihm und Cuvier konnte es nicht
ſchwer werden, dieſe Anſichten Geoffroys
und ſeiner Geſinnungsgenoſſen zu wider—
legen, und Goethes Parteigenoſſe unter—
lag, obwohl er in unſern Augen der weiter—
ſchauende war. Geoffroy hatte vom phi—
loſophiſchen Standpunkte recht, einen Zu—
ſammenhang auch der verſchiedenſten Typen
unter einander, die Möglichkeit eines ge—
meinſamen Urſprungs aus derſelben Wur—
zel ins Auge zu faſſen, allein an beſtimmte
Eigentümlichkeiten der weiteſt divergirenden
und ausgebildetſten Formen anknüpfend
und von dem entſchuldbaren Irrtum aus—
gehend, daß die höchſtentwickelten Glieder—
tiere oder Weichtiere am nächſten an die
niederſten Wirbeltiere hinanreichen müß—
ten, machte er ſeinen Gegnern den Sieg
leicht. „Uns iſt dieſes ein merkwürdiges
Beiſpiel,“ ſchreibt Goethe mit ebenfo
) A. a. O., S. 238.
ſuchung ſtammt. Sind die Behauptungen,
an die Fiſche anſchließen oder gar in fie
übergehen, nicht Ausdrücke dieſer Grund
Geiſtes war die natürliche Folge des Auf—
nen ſie doch wohl nicht hervorgegangen |
ſein. Ebenſo unbegreiflich iſt die Verbin-
dung zwiſchen den Echinodermen und Mol-
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
großem Scharfſinn als Vertrauen in die
Sache Geoffroys, „welchen großen
Schaden es bringe, wenn der Streit um
höhere Anſichten bei Einzelnheiten zur
Sprache kommt.““)
Wie dem auch ſein mag, dieſer Streit
und das Unterliegen des tieferblickenden
baus der Entwicklungsgeſchichte als Wiſſen—
ſchaft durch einſeitiges Studium der Ent—
wicklungsgeſchichte an den höchſten Tieren.
Nachdem Erasmus Darwin und La—
marck die Abſtammung der höheren Tiere
von den niederen gepredigt hatten, hätte
es wohl nahe gelegen, dieſen Aufbau mit
der Beobachtung der Entwicklung der nie—
derſten Tiere zu beginnen, und hier hätte
man bei der größeren Einfachheit der in
betracht kommenden Verhältniſſe ohne
Zweifel viel leichter die von der Natur—
philoſophie geforderte Übereinſtimmung
der erſten Entwicklungsſtufen aller Tiere
erkannt. Beweis dafür iſt, daß Baer bei
dem erſten flüchtigen Blick auf die Ent—
wicklungsgeſchichte der Meduſen ſofort die
Gaſtrulalarve erkannte, deutlich beſchrieb
und erkennbar abbildete, die er bei ſpezi—
eller Verfolgung dieſer Unterſuchungen
leicht bei der Mehrzahl ſeiner Typen wie—
dergefunden haben würde. Aber jedenfalls
lag es näher, an das bekanntere, den Wir—
beltierkörper anzuknüpfen, um von der
Beobachtung ſeiner Entwicklung langſam
Schritt für Schritt zurückgehend, unter
Abweiſung der erſten Früchte der Erkennt—
nis nach manchen Irrwegen ſchließlich doch
bei einer den erſten Ahnungen der Natur—
philoſophen naheſtehenden Erkenntnis an—
zulangen.
N *) In feinem 1830 geſchriebenen Bericht
über dieſen Streit.
*
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
Es iſt ebenſo lehrreich als intereſſant,
dieſen allmählichen mühſamen Erkenntnis—
weg, der hier weniger einer Bergerſtei—
gung als dem Hinabklettern in einen ſtei—
len, dunklen Schacht gleicht, bei Baer zu
verfolgen. Er geht von der Überzeugung
aus, die Typen ſeien ohne Beziehung auf
einander. In jedem Entwicklungsſtadium
gehört jedes Tier von unten herauf ſeinem
ſpeziellen Typus an, die Entwicklung ſelbſt
beſteht nur in der Differentiation der Ge—
webe und Organe. „Vor allen Dingen iſt
es klar,“ ſchreibt er, „daß die Verhältniſſe,
welche wir den höhern und niedern Grad der
Ausbildung des Tieres genannt haben,
ganz übereinſtimmen mit der in der Ent—
wicklungsgeſchichte des Individuums im—
mer mehr hervortretenden hiſtologiſchen
Sonderung. In dieſer Hinſicht iſt alſo
große Übereinſtimmung. Die Grundmaſſe,
aus der der Embryo beſteht, iſt überein—
ſtimmend mit der Körpermaſſe der einfach—
ſten Tiere. In beiden ſind wenig beſtimmte
Formen, ein geringer Gegenſatz von Tei—
len, und die hiſtologiſche Sonderung bleibt
noch hinter der morphologiſchen zurück.
Wenn wir nun die niederen Tiere über—
blicken, in einigen mehr innere Ausbildung
bemerken als in andern und ſie dann nach
dieſer Ausbildung in eine Reihe ſtellen
oder aus einander entwickelt uns denken,
ſo iſt es notwendig, daß wir in der einen
wirklich hiſtoriſch begründeten Folge und
in der andern, genetiſch gedachten Reihe
eine Übereinſtimmung eben in dieſer
fortgehenden innern Sonderung finden,
und es laſſen ſich alſo eine Menge Über—
einſtimmungen zwiſchen dem Embryo höhe—
rer Tiere und der bleibenden Form niede—
rer Tiere nachweiſen.
„Dadurch iſt aber noch nicht erwieſen,
4;
daß jeder Embryo einer höhern Tierform
allmählich die niederen Tierformen durch—
laufe. Vielmehr ſcheint ſich der Typus
jedes Tieres gleich anfangs im Embryo
zu fixiren und die ganze Entwicklung zu
beherrſchen.
„Unſere Erzählung der Entwicklungs—
geſchichte des Hühnchens iſt nur ein langer
Kommentar zu dieſer Behauptung. Die
Wirbelſäule iſt der zuerſt ſich ſondernde
Teil. Von dieſer erheben ſich die Rücken—
platten, bald treten auch die Bauchplatten
hervor und das Rückenmark ſondert ſich.
Alle dieſe Bildungsmomente treten ſehr
früh auf, und man ſieht, daß von jetzt ab
von einer Übereinſtimmung mit einem wir—
belloſen Tiere nicht mehr die Rede ſein
darf, daß vielmehr die Verhältniſſe, welche
den weſentlichen Charakter der Wirbel—
tiere bilden, die erſten ſind, die auftreten.
Es iſt aber der Anfang der Entwicklungs—
geſchichte für alle Klaſſen von Wirbeltieren
ſehr ähnlich. Deshalb können wir nicht
blos für die Vögel, ſondern allgemeiner
ſagen: Der Embryo des Wirbeltiers
iſt ſchon anfangs ein Wirbeltier,
und hat zu keiner Zeit Übereinſtimmung
mit einem wirbelloſen Tiere. Eine blei—
bende Tierform aber, welche den Typus
der Wirbeltiere hätte, und eine ſo geringe
hiſtologiſche und morphologiſche Sonde—
rung, wie die Embryonen der Wirbel—
tiere, iſt nicht bekannt. Mithin durch—
laufen die Embryonen der Wirbel—
tiere in ihrer Entwicklung garkeine
(bekannten) bleibenden Tierformen.
„Sollte ſich aber für die Entwicklungs-
geſchichte des Individuums als Inhaber
einer beſonderen organischen Form gar kein
Geſetz finden laſſen? Ich glaube, ja, und
will verſuchen, es aus folgenden Betrach—
Kosmos, Jahrg. IV. Heft 5.
4
346 Ernſt Krauſe,
Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
tungen zu entwickeln. Die Embryonen der därme heraus, es tritt ein Unterſchied in
Säugetiere,
Vögel, Eidechſen, Schlangen, den Extremitäten ein, und der Schnabel
wahrſcheinlich auch Schildkröten, ſind in | wächſt hervor; die Lungen rücken nach oben,
frühern Zuſtänden einander ungemein ähn-
lich im ganzen ſowie in der Entwicklung
der einzelnen Teile, ſo ähnlich, daß man
oft die Embryonen nur nach der Größe |
Entwicklung der Flügel und Luftſäcke,
unterſcheiden kann. Ich beſitze zwei kleine
Embryonen in Weingeiſt, für die ich ver—
ſäumt habe, die Namen zu notiren, und ich
bin jetzt durchaus nicht im Stande, die |
Landvogel. Der Schnabel, die Füße gehen
Klaſſe zu beſtimmen, der ſie angehören.
Es können Eidechſen, kleine Vögel, oder
ganz junge Säugetiere ſein. So überein—
ſtimmend iſt Kopf- und Rumpfbildung in
dieſen Tieren. Die Extremitäten fehlen
aber jenen Embryonen noch. Wären ſie
auch da, auf der erſten Stufe der Ausbil—
dung begriffen, ſo würden ſie doch nichts
lehren, da die Füße der Eidechſen und
Säugetiere, die Flügel und Füße der Vö—
gel, ſowie die Hände und Füße der Men—
ſchen ſich aus derſelben Grundform ent—
wickeln. Je weiter wir alſo in der Ent—
wicklungsgeſchichte der Wirbeltiere zurück—
gehen, deſto ähnlicher finden wir die Em—
bryonen im ganzen und in den einzelnen
Teilen. Erſt allmählich treten die Charak—
tere hervor, welche die größern und dann
die, welche die kleineren Abteilungen der
Wirbeltiere bezeichnen. Aus einem all-
gemeineren Typus bildet ſich alſo
der ſpeziellere hervor. Das bezeugt
die Entwicklung des Hühnchens in jedem
Momente. Im Anfange iſt es, wenn der
Rücken ſich ſchließt, Wirbeltier und nichts
weiter. Indem es ſich vom Dotter ab—
ſchnürt, die Kiemenplatten verwachſen und
der Harnſack hervortritt, zeigt es ſich als
Wirbeltier, das nicht frei im Waſſer leben
kann. Erſt ſpäter wachſen die beiden Blind—
|
die Bruſtſäcke ſind in der Anlage kennt—
| lich, und man kann nicht mehr zweifeln,
daß man einen Vogel vor ſich habe. Wäh—
rend ſich der Vogelcharakter durch weitere
durch Verwachſung der Mittelfußknorpel
u. ſ. w. noch mehr ausbildet, verliert ſich
die Schwimmhaut, und man erkennt einen
aus einer allgemeinen Form in eine be—
ſondere über, der Kopf bildet ſich aus, der
Magen hatte ſich ſchon früher in zwei Höh—
lungen geſchieden, die Naſenſchuppe er—
ſcheint. Der Vogel erhält den Charakter der
Hühnervögel und endlich desHaushuhns.“)
Ich habe dieſe klaſſiſche Zuſammen—
faſſung unverkürzt geben wollen, um dar—
an die Vermutung knüpfen zu können, wie
der Verfaſſer durch rein logiſche Folgerun—
gen aus dieſen Beobachtungen zur Erkennt—
nis höherer, ſeinen unmittelbaren Beob—
achtungen widerſtreitender Wahrheiten ge—
langen mußte. Er hatte geſehen, daß das
Gemeinſame einer größeren Tiergruppe ſich
früher im Embryo bildet, als das Beſon—
dere, und mußte wohl ſchließen, daß dieſes
Geſetz auch über den Wirbeltiertypus hin—
aus wirken müſſe, und daß die Beſonder—
heit des Wirbeltiertypus ſich aus einer grö—
ßeren, das geſammte Tierreich umfaſſen—
den Allgemeinheit entwickelt haben müßte.
Die wenigen genauen Beobachtungen, die
er und andere Beobachter damals über die
erſte Entwicklung von Vertretern der andern
Typen gemacht hatten, waren einer der—
artigen Verallgemeinerung auch keineswegs
entgegen. Baer ſagt darüber: „Eine un—
4) A. a. O., S. 220—221.
BE
—
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
mittelbare Folge, ja nur ein veränderter
Ausdruck des oben Gezeigten iſt es, wenn
wir ſagen: Je verſchiedener zwei
Tierformen ſind, um deſto mehr
muß man in der Entwicklungsge—
ſchichte zurückgehen, um eine Über—
einſtimmung zu finden Dieſe
Bemerkungen führen uns zu der Frage,
ob wir denn nicht immer weiter zurückgehend
auf eine Stufe gelangen können, wo auch
die Embryonen der Wirbeltiere und der
Wirbelloſen übereinſtimmen. Ich werde
in einem ſpätern Zuſatze zu erweiſen ſuchen,
daß auch die gegliederte Tierreihe mit
einem Primitivſtreifen ihre Entwicklung
beginnt. In dieſem kurzen Momente würde
alſo Übereinſtimmung zwiſchen ihnen und
den Wirbeltieren ſein. In dem eigentli—
chen Keimzuſtande iſt aber wahrſcheinlich
Übereinſtimmung unter allen Embryonen,
die aus einem wahren Ei ſich entwickeln.
Hierin liegt ein weſentlicher Grund, den
Keim für das Tier ſelbſt anzuſehen ...
Je weiter wir alſo in der Entwicklung zu—
rück gehen, um deſto mehr finden wir auch
in ſehr verſchiedenen Tieren eine Überein—
ſtimmung. Wir werden hierdurch zu der
Frage geführt: ob nicht im Beginne der
Entwicklung alle Tiere im weſentlichen ſich
gleich ſind, und ob nicht für alle eine ge—
Da der
Keim das unvollkommene Tier iſt, ſo kann
man nicht ohne Grund behaupten, daß die
einfache Blaſenform die gemeinſchaftliche
Grundform iſt, aus der ſich alle Tiere
nicht nur der Idee nach, ſondern hiſtoriſch
entwickeln.“)
Mit dieſer Verallgemeinerung erreichte
Ba er, feiner Zeit vorgreifend, eines der
letzten greifbaren Reſultate der Entwick—
*) A. a. O., S. 223—224.
347
lungsgeſchichte. Er hatte gezeigt, wie ſich
aus der völlig homogenen Grundmaſſe des
Keims das im Aufbau höchſt Heterogene
durch hiſtologiſche Sonderung erzeugt, nun
ſuchte er auch auf das Urſprüngliche der
Form zurückzugelangen und kam auf die Bla⸗
ſenform, ſtatt auf die Kugelform der einfa—
chen Zelle, welche erſt eine ſpätere Genera—
tion erkannte. Seine Arbeit war im gewiſſen
Sinne eine das ganze Gebiet reformirende,
vor allem hatte er das Vorurteil der Na—
turphiloſophen, daß die Idee der Menſch—
werdung hinter aller tieriſchen Entwicklung
ſtünde und jenes treibende Motiv bilde,
welches Sennert, Morus, Morin und
Stahl in einer Art Seele ſuchten, wider—
legt, er hatte gezeigt, daß die Anfänge der
Entwicklung nur auf den unterſten Stufen
dieſelben ſeien, daß die Wege dann immer
auseinanderliefen, daß zuerſt die Klaſſe,
dann die Abteilung, hierauf die Gattung,
endlich Art und Individuum ſich aus den
gleichen Anfängen hervorbilde und aus—
präge. Wir müſſen uns wundern, daß er
nicht noch ein wenig weiter ging, denn er
ſtellte ſchon 1828 ein Schema der Tiere
nach ihrer Entwicklungsgeſchichte auf, das,
wenn man von der ſpätern Trennung der
Strahltiere in Pflanzentiere und Stachel—
häuter abſieht, unſern heutigen genetiſchen
Vorſtellungen vom Tierreiche ſogar in ſo
weit entſpricht, als darin Amnioten und
amnionloſe Wirbeltiere bereits als die bei—
den Hauptgruppen geſchieden und unter
den erſteren wieder Vögel und Reptilien
als zuſammengehörige Gruppe (Huxleys
Sauropſiden!) den Säugetieren gegen—
übergeſtellt werden. Sogar die einzelnen
Abteilungen der Säugetiere ſchied er nach
ihrer Entwicklungsgeſchichte und zeigte auf
dieſe Weiſe klar, daß das natürliche
348
Syſtem der Tiere nur ein genetiſches ſein
könne.
Er ahnte das hinter dieſemFFortſchreiten
aus dem Allgemeinſten in das Beſonderſte
der Bildung ſtehende Grundgeſetz und ſprach
es in den ſchönen Worten aus: „Hat
aber das eben ausgeſprochene allgemeinſte
Reſultat Wahrheit und Inhalt, ſo iſt es
ein Grundgedanke, der durch alle Formen
und Stufen der tieriſchen Entwicklung
geht und alle einzelnen Verhältniſſe be—
herrſcht. Derſelbe Gedanke iſt es, der im
Weltraum die verteilte Maſſe in Sphären
ſammelte und dieſe zu Sonnenſyſtemen ver—
band, derſelbe, der den verwitterten Staub
an der Oberfläche der metalliſchen Plane—
ten in lebendige Formen verwandeln ließ.
Dieſer Gedanke iſt aber nichts als das
Leben ſelbſt, und die Worte und Silben,
in welchen es ſich ausſpricht, ſind die ver—
ſchiedenen Formen des Lebendigen.“ )
Nirgends wohl, dürfen wir hinzuſetzen, iſt
der Gedanke des Monismus ſchöner aus—
geſprochen worden.
Baers Arbeiten wirkten befruchtend,
wie keine andern auf das Studium der
Entwicklungsgeſchichte und riefen eine all—
gemeine Begeiſterung für dieſelbe hervor.
War Wolff der Begründer dieſer Wiſſen—
ſchaft, ſo wird Baer in aller Zeit den
Ruhm in Anſpruch nehmen dürfen, der
Baumeiſter des Gebäudes geweſen zu ſein,
auf welches wir Deutſche mit beſonderem
Stolz zurückblicken. Denn auch der weit
aus wichtigſte Teil der ſpätern Arbeit
wurde von deutſchen Forſchern geleiſtet.
lich.
Hier ſind vor allem noch die Arbeiten von
Martin Heinrich Rathke in Königs—
berg ſowohlüber die Entwicklungsgeſchichte
der Wirbelloſen (Krebſe, Inſekten, Mollus-
9 A. a. O., S. 264.
Ernft Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
ken) als der Wirbeltiere, ferner die muſter—
gültigen Unterſuchungen von Wilhelm
Biſchof in München über die Entwicklung
der Säugetiere und die von Johannes
Müller in Berlin über die Stachelhäu—
ter zu erwähnen.
Dieſe älteren Unterſuchungen hatten
die von Baer entdeckte Thatſache beſtä—
tigt, daß in den Eiern aller Tiere bis zum
Menschen, deſſen Ei Baerzuerſt?) erkannte,
die Entwicklung von dem Keimbläschen
ausgeht, aber wie das Keimbläschen ſelbſt
und die aus ihm hervorgehenden Keim—
blätter, die ſchon Wolff beſchrieben hat—
te, entſtehen, klar zu erkennen, blieb einer
jüngern Generation vorbehalten. Schon
Wolff hatte ausgeſprochen, daß ſich der
Pflanzenkörper aus Zellen aufbaue, deren
elementarer Charakter aber von ihm nicht
klar erkannt wurde, ſondern erſt 1838 von
Schleiden in Jena nach ſeiner wahren
Bedeutung gewürdigt wurde. Unmittel—
bar darauf wendete Theodor Schwann
in Berlin, ein Schüler Johannes Mül—
lers, dieſe Entdeckung auf den Tierleib
an, und nachdem man ſchließlich das Wer—
man, daß das Ei der Tiere und Pflanzen
in ſeiner Urform urſpünglich eine einfache
Zelle iſt, die ſich erſt durch wiederholte
Teilung zu dem Zellenkomplex entwickelt,
den wir als Keimblaſe kennen gelernt haben.
Nun wurden einige ſchon früher gemachte
Beobachtungen über die früheſten Entwid=.
lungszuſtände der Embryonen erſt verſtänd—
Einige ausländiſche Forſcher, wie
Prevorſt und Dumas (1824) und Rus⸗
coni (1836), hatten nämlich bemerkt, daß
die Entwicklung mit einer Furchung (seg-
) 1827, nicht 1837, wie es im erſten
Artikel durch einen Druckfehler heißt.
—
den des Eies ſelbſt verfolgt hatte, fand -
*
mentation) des Ei-Inhalts beginne, die
durch immerwährende Wiederholung in
den meiſten Fällen erſt zwei, dann vier,
acht, ſechzehn u. ſ. w. Zellen liefert, welche
einen kleinen Zellenhaufen bilden, der die
Grundlage der weiteren Entwicklung dar—
ſtellt. Dieſe Furchungen und aus ihnen her—
vorgehende Zellhäufchen waren in der Folge
häufiger beobachtet worden, aber erſt Ro—
bert Remak in Berlin verſtand es 1851,
in ſeinen ausgezeichneten Unterſuchungen
nachzuweiſen. Er zeigte gegen Reichert,
klärt hatte, wie die Zellen des durch wie—
derholte Teilung entſtandenen Häufchens
ſich ſchließlich in mehrere Lagen ſondern
und die ſchon von Wolff beobachteten
Keimblätter bilden, von denen alſo jedes
urſprünglich aus einer einfachen Zellen—
nur den erſten Urſprung der Gewebe,
ſondern er machte auch auf die in dieſen
Zellen und den von ihnen zuſammengeſetz—
aufmerkſam, wobei übrigens die früher
mitgeteilten Baerſchen Anſichten nur un—
weſentlich modifizirt wurden.
Erkenntnis war, daß das Auftreten der
beiden primären Keimblätter als der An—
fang aller weiteren Differenzirung durch
das geſammte Tierreich erkannt wurde,
mit Ausnahme der allerniederſten Tiere,
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
349
bei denen überhaupt keine weitere Diffe—
renzirung ſtattfindet, weil ſie zeit ihres
Lebens entweder aus einer einfachen Zelle
oder aus einer Geſellſchaft gleichwerti—
ger Zellen beſtehen. Der berühmte eng—
liſche Naturforſcher Thomas Huxley
erkannte 1849 dieſe Keimblätter in dem
Körper der Pflanzentiere, den ſie vielfach
ausſchließlich zuſammenſetzen, ſo daß keine
weitere Vermehrung der Schichten ſtatt—
findet, und bezeichnete das äußere die—
über die Entwicklung der Wirbeltiere denUr⸗
ſprung der Keimblätter aus dieſen Zellen |
der die Frage mehr verwirrt als aufge- |
ſchicht beſteht. Remak zeigte hierin nicht
ſer Blätter, aus welchem ſich die äußere
Haut und das Fleiſch entwickelt, als das
Außenblatt oder Ectoderm, und das
innere Blatt, aus welchem die Organe der
Ernährung und Fortpflanzung hervor—
gehen, als das Innenblatt oder Ento—
derm. Allmählich wurde das Auftreten
dieſer beiden primären Keimblätter als
gleichmäßiger Anfang der Arbeitsteilung
unter den durch Teilung vermehrten Zel—
len der Keime aller Tierkreiſe erkannt, ſo
daß alſo hier eine Homologie der erſten
Entwicklung auch der verſchiedenſten Typen
deutlich erkannt wurde. Die Bedeutung
ten Blättern eingetretene Arbeitsteilung
Der wichtigſte Fortſchritt der ſpätern
aller dieſer Beobachtungsthatſachen konnte
aber erſt viel ſpäter erkannt werden, nach—
dem in der Darwinſchen Theorie die
Leuchte für alle auf dem weiten Ozean
der Biologie umherirrenden Forſcher auf—
gegangen und damit auch der entwicklungs—
geſchichtlichen Forſchung der Kompaß in
die Hand gedrückt worden war, welcher
ihr eine beſtimmte Richtung gab und das
Pfadfinden erleichterte.
(Schluß folgt.)
9
Über die Entwicklung der Blumenfarben.
Bon
(mM) habe bei früheren Gelegen-
ee heiten, insbefondere in meinem
e Aufſatze „Die Inſekten als
i unbewußte Blumenzüchter“ ),
N in allgemeinen Umriſſen dar—
S zulegen verſucht, wie aus den
Windblütlern erſt einfache, offene, allgemein
zugängliche, dann mehr und mehr beſtimm—
ten Beſucherkreiſen angepaßte Blumen her—
vorgegangen ſein mögen, und dabei auch
die beſondere Geſchmacksrichtung einerſeits
der fäulnisſtoffliebenden Dipteren, andrer—
ſeits der Tagfalter in bezug auf Farben
und Düfte berückſichtigt und zur Erklärung
ihrer Züchtungsprodukte benutzt, im übri—
gen aber die den einzelnen Anpafjungs-
ſtufen der Blumen eigentümlichen Farben
unberückſichtigt gelaſſen. Die geordnete
Zuſammenſtellung meiner in den letzten
ſechs Sommern (1874 — 79) auf den Al-
pen geſammelten Beobachtungen hat mir
nun Veranlaſſung gegeben, die Entwick—
lung der Blumenfarben in umfaſſenderer
Weiſe in betracht zu ziehen und dabei na—
mentlich auch die Frage ins Auge zu faſſen:
*) Kosmos, Bd. III, Heft 4—6.
Dr. Hermann Müller.
Iſt die Entwicklung der Blumen
von urſprünglichen, allgemein zu—
gänglichen zuſpäteren, auf gewiſſe
Beſucherkreiſe beſchränkten Anpaſ—
ſungsſtufen von der Entwicklung
beſtimmter, in gleicher Ordnung auf
einander gefolgter Blumenfarben
begleitetgeweſenund welches iſt, im
bejahenden Falle, die ſtattfindende
Reihenfolge? Oder ſind die ver—
ſchiedenen Blumenfarben in ganz
verſchiedener Reihenfolge aus ein—
ander hervorgegangen und — abge—
ſehen von den Dipteren- und Fal—
terblumen — ohne erkennbaren Zu—
ſammenhang mit den Anpaſſungs—
ſtufen der Blumen?
Zur Beantwortung dieſer Frage habe
ich die auf den Alpen von mir geſammel—
ten Beobachtungen auf dreierlei Weiſe zu
verwerten geſucht:
a. ſummariſch, indem ich ſämmtliche
von mir näher unterſuchte Blumen nach
den Anpaſſungsſtufen, auf denen ſie ſtehen,
klaſſifizirte und die ſo gebildeten Ab—
teilungen in bezug auf ihre Blumen—
<> We
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
farben und den Inſektenbeſuch mit einan—
der verglich;
b. phylogenetiſch, indem ich in den—
jenigen Familien, in denen die mir näher
bekannten Arten einen deutlichen Fortſchritt
von niederen zu höheren Anpaſſungsſtufen
erkennen ließen (ſie ſind in meinem letzten
Aufſatze behandelt), dieſe ebenfalls in Be—
zug auf ihre Blumenfarbe und die ihnen
zuteil werdenden Kreuzungsvermittler ins
Auge faßte;
c. ontogenetiſch (nur an einem ein—
zigen Beiſpiele durchgeführt), indem ich
die in der individuellen Entwicklung nach
einander auftretenden Blumenfarben als
Wiederholung der in der Stammesentwick—
lung nach einander aufgetretenen nachwies.
A. Summariſche Behandlung der Frage.
Um die ganze Summe der von mir
beobachteten Blumenbeſuche *) in der an—
gegebenen Richtung zu verwerten, habe ich
ſämmtliche beobachteten Blumen nach An—
paſſungsſtufen und Farben geordnet und
dann umfaſſende ſtatiſtiſche Tabellen an—
gefertigt, aus denen die Beteiligung der
verſchiedenen Zweige des Inſektenſtammes
am Beſuche dieſer verſchiedenen Blumen—
abteilungen leicht erſichtlich iſt. Da es ſich
hierbei vor allem um eine klare Geſammt—
überſicht handelte, ſo mußten bei Aufſtel—
lung dieſer ſtatiſtiſchen Tabellen alle fei—
neren Abſtufungen ſowohl der Farben als
der Formanpaſſung der Blumen vernach—
läſſigt werden. Ich bin dadurch zu folgen—
den Ergebniſſen gelangt:
1) Pollenblumen, d. h. einfache,
offene, regelmäßige Blumen, die keinen
Honig abſondern, ſondern ihren Kreuzungs—
) 5712 verſchiedenartige Beſuche, ausge—
führt von 841 verſchiedenen Inſektenarten an
422 verſchiedenen Blumen.
351
vermittlern nur Pollen darbieten. Faſſen
wir ihre Blumenfarben ins Auge, ſo ſcheint
die aufgeworfene Frage ſogleich beim er—
ſten zu ihrer Löſung gethanen Schritte ver—
neint werden zu müſſen. Denn ſchon un—
ter den Pollenblumen, die doch zu den ur—
ſprünglichſten zu gehören ſcheinen, finden
wir alle Hauptblumenfarben vertreten:
Weiß (Spiraea Aruncus, Ulmaria, Ane-
mone-Arten, Sambucus), Gelb (Helian-
themum, Anemone alpina, Papaver alpi-
num), Roth (Papaver Rhoeas, Rosa),
Blau (Hepatica, Anagallis coerulea, So-
lanum Dulcamara). Bei einer Betrach—
tung des Inſektenbeſuchs der einzelnen Pol—
lenblumen zeigt ſich aber, daß nur diejeni—
gen von ihnen rote oder blaue Blumen—
farbe beſitzen, die ausſchließlich oder vor—
wiegend von Bienen und Schwebfliegen,
alſo von bereits auf einer hohen Anpaſ—
ſungsſtufe ſtehenden Blumengäſten beſucht
und gekreuzt werden. Da überdies manche
roten und blauen Pollenblumen ganz un—
zweideutige Anpaſſungen an Pollen ſam—
melnde Bienen beſitzen, Verbascum, Ana-
gallis und Tradescantia z. B. augenfäl-
lige Haare an den Staubfäden*), die den
Pollen ſammelnden Bienen nicht nur die
Stelle, wo ſie ſich anklammern müſſen, auf
den erſten Blick kennzeichnen, ſondern auch
für das Anklammern ſelbſt die nötigen
Stützpunkte gewähren, ſo unterliegt es kei—
nem Zweifel, daß auf manche Pollenblu—
men, trotz faſt unveränderter Beibehaltung
ihres einfachen Baues, die Blumenaus—
wahl der Bienen nachträglich züchtend ein—
gewirkt hat, und es iſt ſehr wahrſcheinlich,
) Vergl. Delpino, Ult. oss. II, fasc. II,
p. 296—98. Auch Solanum Dulcamara deutet
Delpino (daſelbſt, p. 295), wie ich glaube, mit
Recht, als Pollen ſammelnden Bienen angepaßt.
)
352
daß die roten und blauen Pollenblumen
überhaupt ihren hochbegabten thatſächlichen
Kreuzungsvermittlern ihre Blumenfarbe
verdanken.
Von den auf tiefſter Stufe ſtehenden
Pollenblumen hat alſo nach zwei verſchie—
denen Richtungen hin eine Weiterentwick—
lung ſtattgefunden: 1) durch wirkſameres
Herbeilocken nach Pollen gehender Inſekten,
namentlich der eifrigſten und als Kreu—
zungsvermittler wirkſamſten, der Schweb—
fliegen und Bienen, 2) durch Abſonderung
von Honig, und zwar zunächſt von völlig
offen liegendem, unmittelbar ſichtbarem
Honig, wodurch eine größere Mannigfal—
tigkeit verſchiedener Inſektenabteilungen
herbeigelockt wurde. Die erſtere dieſer
Entwicklungsrichtungen konnte natürlich
nicht weiter als bis zur vollſtändigen An—
paſſung an Pollen ſammelnde Bienen, da—
mit aber auch zur Ausprägung aller von
dieſen gezüchteten Blumenfarben führen;
der letzteren dagegen ſtand, durch die Mög—
lichkeit ſtufenweiſe tieferer Bergung des
Honigs, ein viel weiterer Spielraum für
Anpaſſungen offen, und ſie hat in der That
zu einer ganzen Reihe von Anpaſſungsſtu—
fen geführt, die wir nun in Betracht zie—
hen wollen.
2) Die tiefſte dieſer Anpaſſungsſtufen
bilden diejenigen einfachen regelmä—
ßigen Blumenformen, die völlig
offenliegenden, unmittelbar ſicht—
baren, freiabgeſonderten Honig
darbieten. Es gehören dahin Veratrum,
Rhamnus, Alchemilla, die meiſten Saxi—
fragen und Umbelliferen, Euphorbia u. ſ.w.,
im Ganzen 42 der von mir unterſuchten
Alpenblumen. Mit Ausnahme dreier Um—
belliferen (Pimpinella rubra, Gaya, Me-
um), die wahrscheinlich durch die intenſivere
4
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. |
Lichteinwirkung der Alpen ihr Weiß zu
Roſenrötlich geſteigert haben, und der präch—
tig roten honigreichen Azalea procumbens,
die zu 80% von hochgeſteigerten Blumen—
gäſten (Bienen, Faltern, Schwebfliegen)
beſucht wird, beſitzen ſie ſämmtlich grün—
gelbe, gelbe oder weiße Blumenfarbe; die
weißen Blumenblätter ſind bei einigen mit
gelben, die gelben Blumenblätter bei Saxi—
fraga aizoides mit orangeroten Sprenkel—
flecken geziert; ſie werden ſämmtlich ſehr
überwiegend (durchſchnittlich zu 85%) von
kurzrüſſeligen Inſekten, hauptſächlich Dip—
teren, beſucht und haben daher ohne Zwei—
fel deren Blumenauswahl die Ausprägung
ihrer Farbe zu verdanken, die geſprenkel—
ten weißblumigen Arten wahrſcheinlich den
unter den Dipteren durch Farbenſinn aus—
gezeichneten Syrphiden; jedenfalls gilt
dies wenigſtens von der zierlich rotge—
ſprenkelten Saxifraga rotundifolia. An
dieſer wurden nämlich wiederholt zwei zier—
liche Schwebfliegen (Sphegina clunipes
und Pelecocera scaevoides) beobachtet,
die in augenſcheinlichem Ergötzen vor den
Blüten ſchwebten, dann anflogen, um Nek—
tar zu ſaugen oder Pollen zu verzehren,
dann wieder vor der Blüte ſchwebend ſich
an ihrem Anblick weideten u. ſ. f., und
zwar in ſolcher Häufigkeit, daß dieſe beiden
Arten allein offenbar die wichtigſte Rolle
als Kreuzungsvermittler und damit als
unbewußte Blumenzüchter ſpielten.
3) Blumen mit teilweiſe gebor—
genem Honig, der nur unter günſti—
gen Umſtänden unmittelbar ſicht—
bar iſt. Es gehören dahin Sedum, Ra—
nunculus, die meiſten Cruziferen, Alſineen
und Roſifloren, im ganzen 61 der von mir
unterſuchten Alpenblumen.
Mit der teilweiſen Bergung des Honigs
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
ſinkt die Zahl der verſchiedenen Beſucher—
arten (von durchſchnittlich 18 auf 12 für
jede Blumenart) herab. Statt der nun
wegbleibenden kurzrüſſeligſten finden ſich
aber zahlreichere langrüſſeligere und blu—
meneifrigere Beſucher ein, die an Zahl der
Arten zwar den wegbleibenden nicht gleich—
kommen, an Individuenzahl aber, und noch
mehr an Zahl der von ihnen ausgeführten
Blumenbeſuche, fie bedeutend übertreffen.
Die Zahl der Bienen- und Falterarten |
ſteigert ſich nämlich mit der teilweiſen Ber—
gung des Honigs von 14 auf 30%; die
Zahl der Bienenarten wird mehr als ver—
dreifacht, die Zahl der kurzrüſſeligen Bie—
nenarten ſogar mehr als verfünffacht. Die
vorherrſchenden Blumenfarben dieſer An—
paſſungsſtufe ſind intenſives Gelb und
Weiß. Die ſchmutzig grüngelbe Blumen—
farbe, die bei völlig offener Lage des glän—
zenden Nektars ſich als ebenſo wirkſam
erwies wie Weiß oder Gelb, reicht bei
teilweiſer Bergung deſſelben zur Anlockung
nicht mehr aus und kommt nicht mehr in
Anwendung. Außerdem ergiebt ſich aus
den von mir aufgeſtellten ſtatiſtiſchen Ta—
bellen, daß gelbe Blumen mit teilweiſer
Honigbergung zahlreichere verſchiedene
Inſektenarten an ſich locken, als weiße,
durchſchnittlich etwa die doppelte Zahl.
Dieſe Steigerung der Anlockung betrifft
aber die verſchiedenen Abteilungen der
Inſekten in jo ungleichem Grade, daß da-
durch ihr verhältnismäßiger Anteil am
Blumenbeſuche bedeutend verſchoben wird.
Im großen und ganzen laſſen ſich hiernach
die Blumen mit teilweiſer Honigbergung,
wie nach der Farbe, ſo auch nach der Ge—
ſellſchaft ihrer unbewußten Züchter, in
zwei Klaſſen teilen: weiße, die unter dem
überwiegenden Einfluſſe der Dipteren ſte—
353
hen, und gelbe, die von Dipteren und kurz—
| rüſſeligen Bienen gleichzeitig ſtark beein-
flußt werden. Nur einige wenige Alpen—
blumen dieſer Anpaſſungsſtufe zeigen rote
Blumenfarben: Empetrum nigrum, von
deſſen Farbe und Inſektenbeſuch daſſelbe
gilt, wie von Azalea procumbens; San-
guisorba, deſſen Schwärzlichpurpur von
Fliegen gezüchtet ſein dürfte“), und Ra-
nunculus glacialis, bei dem es zweifel—
haft bleibt, ob er nur wie Pimpinella
rubra ꝛc. intenſiver Belichtung oder zu—
gleich der Blumenauswahl der thatſächlich
an ſeiner Kreuzung ſich beteiligenden Tag—
falter ſein Rot verdankt.
4) Blumen mit vollſtändig ge—
borgenem Honig, die eine beſtimm—
te Anpaſſung an einen beſonderen
Beſucherkreis noch nicht erlangt
haben. Es gehören dahin z. B. Allium,
Sempervivum, die nicht falterblütigen
Sileneen, Geranium, Myosotis, Veronica,
Thymus, Calluna u. a., zuſammen 66 der
von mir unterſuchten Arten, die keine ge—
ſchloſſenen Blumengeſellſchaften bilden, zu—
dem aber die Scabiosa-, Phyteuma-, Vale-
riana-Arten und Kompoſiten, zuſammen 84
Arten, die als geſchloſſene Blumengeſell—
ſchaften wirken, im ganzen alſo 150 Arten.
Es iſt nun höchſt auffallend, wie mit
der völligen Bergung des Honigs unter
den Kreuzungsvermittlern die langrüſſeli—
geren intelligenteren, und gleichzeitig unter
den Blumenfarben die roten, violetten
und blauen in den Vordergrund treten.
Der Beſuch der kurzrüſſeligen Inſekten,
der mit teilweiſer Bergung des Honigs
bereits von 85% auf 70% herabgeſunken
war, ſinkt nämlich mit feiner vollſtändigen
Bergung in noch weit ſtärkerem Verhält—
9 Vergl. Kosmos, Bd. III, S. 320.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5.
354
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
nis, von 70% bis zu 36% der Beſucher- haben (Polygonum viviparum, Polemo-
zahl und noch darunter. Umgekehrt ſteigert
ſich aber dafür die Zahl der Bienen- und
Falter-Arten nun in dem Grade, daß ſie
der beſuchenden Arten 63% ausmachen,
an Individuenzahl und noch mehr an Zahl
der von ihnen ausgeführten Blumenbe—
ſuche aber in noch ungleich ſtärkerem Ver—
hältniſſe im entſcheidenden Übergewichte
ſind. Gleichzeitig treten uns rote, violette
und blaue Blumenfarben nun ſo zahlreich
entgegen, daß ſie die weißen, gelblichweißen
und gelben an Menge überwiegen. Von
den 150 unterſuchten Arten dieſer Anpaſ—
ſungsſtufe ſind nicht weniger als 82 von
roter, violetter oder blauer Blumenfarbe.
Wenn es ſchon an ſich kaum zweifel—
haft ſein kann, daß diejenigen Blumenbe—
ſucher, die als Kreuzungsvermittler im be—
deutenden Übergewichte ſind, auch als un—
bewußte Blumenzüchter die wichtigſte Rolle
ſpielen müſſen, daß alſo im vorliegenden
Falle die Ausprägung ſo zahlreicher roter,
violetter und blauer Blumen hauptſächlich
der Blumenauswahl der zu ſo ſtarkem
Übergewichte gelangten Bienen und Falter
zuzuſchreiben iſt, ſo wird dieſe Schlußfol—
gerung noch zwingender dadurch, daß die
Ausprägung der Blumenformen, die wir
auf dieſer Anpaſſungsſtufe finden, zu ganz
derſelben Annahme hindrängt. Statt der
offenen, regelmäßigen, nach oben gekehrten
Blumenformen der vorhergehenden Abtei—
lungen treffen wir nämlich hier vielfach ſol—
che, bei denen die Baſalteile der Kelchblät—
ter oder der Blumenblätter zu einer Röhre
verwachſen ſind (Sileneen, Myosotis, Ve-
ronica, Androsace u. a.), andere, die ſich
nach der Seite gewendet und im Zuſammen—
hange damit bilateral ſymmetriſch geſtaltet
nium u. a.), noch andere, die ſich mit Bei⸗
behaltung der Regelmäßigkeit mehr oder
weniger nach unten gekehrt haben (Solda-
zuſammen nun ſchon von der Geſammtzahl
nella, Vaccinium Vitis idaea), endlich auch
ſolche, deren Blütenteile ſo feſt zuſammen—
ſchließen, daß ein Inſekt mit nicht faden—
förmig dünnem Ruſſel ſie aus einander
zwängen muß, um zum Honig zu gelangen
(Rubus idaeus, saxatilis), lauter Über—
gänge zu einſeitiger Anpaſſung an Falter
oder Bienen, die deren blumenzüchtenden
Einfluß unzweifelhaft bekunden.
Wir haben ſo eben nur die verhält-
nismäßige Beteiligung der Falter, Bie—
nen und kurzrüſſeligen Inſekten am Beſuche
der Blumen mit völlig geborgenem Honig
ins Auge gefaßt. Eine andere Frage iſt es,
wie die abſolute Häufigkeit des Inſektenbe—
ſuches durch die völlige Bergung des Honigs
geändert wird.
Während wir durch den Übergang von
völlig offener zu teilweiſe geborgener Lage
des Honigs die durchſchnittliche Zahl ver—
ſchiedener Beſucherarten von 18 auf 12 her—
abſinken ſehen, indem weit mehr kurzrüſſeli—
ge und dumme Gäſte wegbleiben, als lang—
rüſſelige und intelligentere hinzutreten, wird
dagegen bei vollſtändiger Honigbergung der
weitere Verluſt an unbrauchbareren Beſu—
chern durch viel ſtärkeres Herbeiſtrömen
der brauchbareren ſelbſt der Zahl der Arten
nach reichlich erſetzt. Es kommen nämlich
durchſchnittlich 12,7 verſchiedene Beſucher—
arten auf jede nicht zur Geſellſchaftsbil—
dung fortgeſchrittene Blumenart dieſer An—
paſſungsſtufe. Die meiſten Blumen mit
völlig geborgenemHonig (84 von 150) haben
aber durch Vereinigung zu geſchloſſenen
Geſellſchaften, die nun mit vereinter Kraft
anlocken, ihre Wirkung auf die in der Luft
DB
J
1 3
L
umberfliegenden Blumengäſte noch ſehr
ſtark geſteigert. Jeder dieſer Blumenge—
ſellſchaften mit völlig geborgenem Honig
Beſucherarten zu teil.
Eine weitere Frage, die uns hier ge—
rade in erſter Linie intereſſirt, iſt die, wie
die verſchiedenen Blumenfarben dieſer An—
paſſungsſtufe ſich in ihrer Wirkung auf die
verſchiedenen Beſucherkreiſe unterſcheiden.
Geeignetes Material zu ihrer Beantwor—
tung bieten vor allem die gelblichweißen,
gelben, roten und blauen Blumengeſell—
ſchaften der Kompoſiten, Phyteuma- und
Skabioſa⸗Arten dar, die ſich nur in der
Blumenfarbe weſentlich unterſcheiden, wäh—
rend ſie in den übrigen auf den Inſekten—
beſuch Einfluß übenden Bedingungen an—
nähernd gleich ſind. Wie ein Vergleich
derſelben ergiebt, werden von den Faltern
die roten und blauen Blumengeſellſchaften
weit reichlicher beſucht, als die gelblich—
weißen und gelben, und zwar am ſtärkſten
von allen die blauen, am ſchwächſten die
gelblichweißen. Entgegengeſetzt verhalten
ſich die kurzrüſſeligen Gäſte, die im Gegen—
teile von gelblichweißen und gelben Blu—
mengeſellſchaften mit völlig geborgenem
Honig ſehr viel ſtärker angelockt werden,
als von roten und blauen, bei weitem am
ſchwächſten von den blauen. Die langrüſſe—
ligen Bienen, auf den Alpen hauptſächlich
durch Hummeln vertreten, erweiſen ſich
auch den Blumenfarben gegenüber als die
intelligenteſten Blumengäſte, indem ſie ſich
in ihrer Blumenauswahl weit weniger
durch die Farben, als durch den Nahrungs—
wert der Blumen beſtimmen laſſen.
Meine bereits früher“) ausgeſprochene
Vermutung, daß dieſelbe Vorliebe der
*) Kosmos, Bd. III, S. 417, 418.
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
355
Tagfalter für gewiſſe Farben, welche ſich
in dem von ihnen durch geſchlechtliche Aus—
leſe gezüchteten eigenen Putzkleide aus-
werden durchſchnittlich 21,9 verſchiedene
ſpricht, auch ihre Blumenauswahl beein—
| fluſſen möge, erhält durch denſelben Ver—
gleich des Inſektenbeſuches verſchieden ge—
färbter Blumengeſellſchaften eine neue
Stütze. Bei den vier beſuchteſten Blumen—
geſellſchaften von a. gelblichweißer, b. gel—
ber, e. roter und d. blauer Farbe kommen
nämlich von der Geſammtzahl verſchiede—
ner Beſucherarten auf Bläulinge (Lycae-
na): a. O, b. 1, c. 1,9, d. 8%, bei den
Blumengeſellſchaften dieſer vier Farben
insgeſammt: a. O, b. 2,4, C. 2,5, d. 7,9%.
5) Dipterenblumen. Ich habe
bereits früher“) auseinandergeſetzt, wie
es gekommen ſein mag, daß als Anpaſſun—
gen an fäulnisſtoffliebende Dipteren Efel=,
Fallen- und Täuſchblumen von ſchmutzi—
gen, meiſt gelblichen oder ſchwärzlich pur—
purnen Färbungen zur Ausprägung ge—
langt ſind, während gewiſſe, ſelbſt zier—
lich gefärbte Schwebfliegen ſich die mit
ſcharf abſtehender, weißer Mitte gezierten
und von dunkleren Strahlen durchzogenen
roſafarbenen und himmelblauen Blumen
von Veronica urticifolia und Chamae-
drys gezüchtet haben. Auch von den Al—
penblumen haben diejenigen, denen (wie
z. B. Cynanchum Vincetoxicum) aus⸗
ſchließlich oder (wie z. B. Veratrum) vor—
wiegend durch fäulnisſtoffliebende Dipteren
Kreuzung zu teil wird, ſchmutzige, grün—
gelbe oder gelbliche oder auch (wie z. B.
nicht ſelten Saxifraga Aizoon) ſchwärzlich
purpurn punktirte oder, wie Sanguisorba,
ganz ſchwärzlich purpurne Blumen, und
von den reinen Blumenfarben der Züch—
tungsprodukte der Schwebfliegen liefern
9 Kosmos, Bd. III, S. 4—6.
—
356
uns hier die zierlichen ſchneeweißen Blüten⸗
ſterne der Moehringia muscosa und die
bereits charakteriſirten Blumen der Saxi-
|
|
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
Wenn nämlich eine Biene Blumen ver—
ſchiedenen Baues, die zur Gewinnung des
fragia rotundifolia neue Belege. Gleich-
zeitig lernen wir aber unter den Alpen-
blumen außer den drei bisher bekannten
noch eine vierte Kategorie von Dipteren—
blumen kennen, ſolche nämlich, die nach
der Farbe und dem Baue ihrer Blüten
eben ſo gut auch von den kurzrüſſeligen
Bienen ausgebeutet und gekreuzt werden
könnten, in Folge der außerordentlichen
Bienenarmut ihrer Wohnorte aber ſich in
dem faſt ausſchließlichen Beſitze der Dip—
teren befinden. Es ſind die beiden in Ver—
wandtſchaft und Blütenbau weit von ein—
raſchend ähnlichen Viola biflora und Toz- |
zia alpina.
6) Bienenblumen. In Bezug auf
die Beteiligung der übrigen Hymenopteren—
abteilungen an der Kreuzung und unbe—
wußten Züchtung der Blumen habe ich
meinen früheren Aufitellungen”) fo wenig
neues hinzuzufügen, daß ich mich hier auf
die Bienen beſchränken kann. Wie im Tief-
land, ſo verdanken wir auch auf den Al—
pen den bei weitem größten Teil des Reich—
tums nicht nur an Blumenformen, ſondern
auch an Blumenfarben dieſen nahrungsbe—
dürftigſten, arbeitſamſten, einſichtigſten
und geſchickteſten aller blumenbeſuchenden
Inſekten, und auch die von ihnen gezüch—
tete Farbenmannigfaltigkeit läßt ſich, eben
ſo wie der Formenreichtum der Bienen—
blumen, aus der überwiegenden Intelli—
genz der Bienen erklären. Denn in ihrem
eigenſten Intereſſe mußte eine weitgehende
Farbendifferenzirung liegen.
8 *) Kosmos, Bd. II, S. 476-495.
Honigs und Pollens verſchiedene Bearbei—
tung erfordern, ohne Wahl, wie ſie ihr
gerade in den Weg kommen, ausbeutet,
ſo braucht ſie dazu offenbar erheblich mehr
Zeit, als wenn ſie erſt unmittelbar nach—
einander alle Blumen der einen Art, dann
unmittelbar nacheinander alle Blumen der
andern Artin Angriff nimmt. Das hatſelbſt
dann ſeine volle Richtigkeit, wenn die aus—
gebeuteten Blumen bei übrigens gleichem
Bau nur in der Röhrenlänge differiren
und daher nur ein verſchieden langes Vor—
ſtrecken des Rüſſels nötig machen. Ihrer
geſteigerten Intelligenz entſprechend haben
ander abſtehenden, in Größe, Umriß und
ſattgelber Farbe der Blumen aber über-
daher, wie die Beobachtung gezeigt hat,
die langrüſſeligen Bienen die Gewohnheit
angenommen, ſich andauernd an dieſelbe
Blumenart zu halten. Setzen wir nun
den Fall, daß von zwei in ihrem Bau et—
was verſchiedenen, in der Farbe aber völ—
lig gleichen Blumen bei der einen eine
Farbenabänderung auftritt, die ſich den
Augen der Biene auf den erſten Blick kennt—
lich macht, ſo wird es der Biene offenbar
vorteilhafter ſein, ſich andauernd an dieſe
Färbung zu halten, die ihr gleichartige
Blumenarbeit und damit raſcheren Erfolg
ſichert, als an die andere, die Verwechſe—
lungen und damit Zeitverluſt verurſacht.
Die beſonders gefärbte Abart empfängt
alſo am regelmäßigſten und in derſelben
Zeit am häufigſten die Wohlthat der Kreu—
zung, hinterläßt in Folge deſſen die zahl—
reichſte und kräftigſte Nachkommenſchaft
und bleibt daher ſchließlich die allein über—
lebende. Sobald daher der Farbenſinn
der Bienen ſich ſoweit ausgebildet hatte,
daß ſie auch kleinere Farbendifferenzen leicht
wahrnahmen, und ſobald ihre Erfahrung
in der Blumenarbeit ſich ſoweit geſteigert
hatte, daß ſie möglichſt andauernd die ein—
mal in Angriff genommene Blumenart
verfolgten, mußten ſie auch, ſoweit auf—
tretende Farbenabänderungen Gelegenheit
dazu boten, verwandte Bienenblumen, die
an denſelben Standorten gleichzeitig neben
einander blühten, zu verſchiedenen Farben
züchten.
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
Dadurch iſt nun eine bemerkenswerte
Eigentümlichkeit der Bienenblumen zur
Ausprägung gelangt, die bis jetzt voll-
ſtändig überſehen worden zu ſein ſcheint.
Während nämlich die einem gemiſchten Be⸗
ſucherkreiſe kurzrüſſeliger Gäſte angepaß—
ten Blumenformen gewöhnlich durch um—
faſſende Gruppen verwandter Arten hin—
durch dieſelbe (meiſt weiße oder gelbe)
Blumenfarbe beſitzen, ſelbſt wenn mehrere
dieſer Arten gleichzeitig an demſelbenStand—
orte blühen, ſind dagegen nächſtverwandte
Bienenblumen deſſelben Standortes in der
Regel von verſchiedener Farbe, die ſie auf
den erſten Blick unterſcheiden läßt, und
nur in ſelteneren Fällen hat ſich bei Bie—
nenblumen dieſelbe Blumenfarbe auf eine
mannigfach differenzirte Nachkommenſchaft
unverändert vererbt.
Zum Nachweiſe dieſes bedeutungsvollen
Unterſchiedes wird es genügen, wenn ich
an folgende allbekannte Thatſachen erin—
nere. Von Umbelliferen, Euphorbia, Al-
chemilla, Salix, Ranunculus, Potentilla,
Alſineen und Kruziferen, wie überhaupt von
Blumengattungen und Familien mit offe—
nem oder nur teilweiſe geborgenem Honig,
finden wir ſehr gewöhnlich mehrere Arten
derſelben weißen oder gelben Blumenfarbe
gleichzeitig neben einander blühen, und ſelbſt
ſo einſichtige Blumengäſte wie die Honig—
biene ſieht man z. B. die Blüten von Ra-
357
nunculus acris, bulbosus und repens, die
von Potentilla verna und alpestris, die-
jenigen verſchiedener Salix-Arten ꝛc., ohne
Unterſchied nacheinander und durcheinander
ausbeuten.
Auch bei Blumen mit bereits völlig
geborgenem, aber doch noch einer gemiſch—
ten Geſellſchaft ziemlich kurzrüſſeliger Gäſte
zugänglichem Honig iſt das Nebeneinan—
derblühen gleichgefärbter Arten derſelben
Gattung äußerſt häufig, z. B. bei Semper-
vivum, Mentha, Androsace, Phyteuma
und vielen Kompoſiten, beſonders Cicho—
riazeen.
Daß dagegen nahverwandteund gleich—
zeitig blühende Bienenblumen deſſelben
Standortes in ihrer Farbe in der Regel
weit auseinandergehen oder ſonſt in Größe
oder Höhe über dem Boden ſich auffallend
unterſcheiden, zeigen uns Aconitum Lyco-
ctonum (gelb) und Napellus (blau); La-
mium album. (weiß), maculatum (roth)
und Galeobdolon luteum (gelb); Salvia
glutinosa (gelb) und pratensis (blau);
Teucrium montanum (weiß) und Chamae-
drys (purpurn); Pedicularis tuberosa
(weißgelb) und verticillata (purpurn);
Trifolium badium (gelb bis braun), mon-
tanum (kleine weiße, hochſtehende Köpfchen),
repens (größere weiße, tiefſtehende Köpf—
chen), pratense nivale (noch größere,
ſchmutzig weiße), alpinum (purpurn) und
zahlreiche andere Beiſpiele, beſonders aus
den bienenblumigen Familien der Labiaten
und Papilionazeen.“)
) Ausnahmen bietet namentlich die gelbe
Blumenfarbe dar, die ſich z. B. in gewiſſen
Zweigen der Papilionazeenfamilie ſo ſtreng ver—
erbt zu haben ſcheint, daß Abänderungen, die
natürlich für die Züchtung differirender Blumen—
farben immer die notwendige Vorbedingung bil—
den, gar nicht aufgetreten ſein mögen. So fin⸗
7
358
Wenn dieſe Farbendifferenzirung, wie
ich glaube, durch das Unterſcheidungsver—
mögen und Unterſcheidungsbedürfnis der
Bienen zur Ausprägung gelangt iſt, ſo
dürfen wir uns nicht wundern, bei den |
Bienenblumen nicht nur Weiß, Gelb, Rot, |
Violett, Blau, Braun und ſelbſt Schwärz—
lich (Bartsia) in den verſchiedenſten Ab—
ſtufungen vertreten zu finden, ſondern auch
mehrere Farben an derſelben Blume in
mannigfachſter Weiſe kombinirtzu ſehen. Ich
erinnere nur an Polygala Chamaebuxus,
Viola tricolor, Cerinthe major, Galeop-
sis versicolor, Astragalus depressus,
alpinus und zahlreiche andere Papilio—
nazeen.
Dieſelben unbewußten Blumenzüchter,
die aus rein praktiſchem Intereſſe ſich und
uns die bunteſte Farbenmannigfaltigkeit
der Blumen gezüchtet haben, die langrüſſe—
ligen Bienen, haben, wo ein Bedürfnis oder
eine Möglichkeit der Differenzirung für ſie
nicht vorlag, rote, violette und blaue Blu—
men vor gelben, weißgelben und weißen ent—
ſchieden bevorzugt. Unter den 422 von
mir unterſuchten Alpenblumen ſind näm—
lich gerade 100 Bienenblumen, und von
dieſen ſind nur 34 von weißer, weißgelber
oder gelber Blumenfarbe, dagegen 66 in
den verſchiedenſten Abſtufungen rot, violett
oder blau gefärbt oder wenigſtens mit einer
oder mehreren dieſer Farben gezeichnet.
Ein ähnliches Verhältnis ſtellt ſich heraus,
wenn man die geſammte deutſche und
Schweizer Flora in betracht zieht; dann
kommen nämlich auf 152 Bienenblumen
von weißer, weißgelber oder gelber Blu-
menfarbe 330, alſo ebenfalls etwa doppelt
den ſich in der Ebene verſchiedene Genista-Arten,
auf den Alpen Coronilla vaginalis und Hippo-
erepis comosa von völlig gleicher Blumenfarbe
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
ſo viel Bienenblumen, die rot, violett oder
blau gefärbt oder wenigſtens mit der einen
oder andern dieſer Farben gezeichnet ſind.
Bei fo eminent praktiſchen Blumen—
gäſten, die mit raſtloſem Eifer nur auf
das Zuſammenbringen möglichſt großer
Mengen von Blumennahrung bedacht ſind,
wie die Bienen, iſt die Annahme einer nicht
zugleich praktiſch nützlichen Farbenlieb—
haberei jedenfalls ſehr unwahrſcheinlich.
Sehr wohl aber mag ſich durch die Erfah—
rung, daß rote, violette und blaue Blumen
im ganzen von kurzrüſſeligen Inſekten viel
weniger beſucht und ausgeplündert wer—
den, als weiße und gelbe, eine größere
Sympathie für die erſteren als für den
Nahrungserwerb vorteilhafter Charakter—
zug der Bienen ausgebildet haben.
7) Falterblumen. Daß dieſelbe
Farbenliebhaberei auch den Faltern inne—
wohnt, geht aus der ſchon früher?) von
mir nachgewieſenen Thatſache hervor, daß
die Tagfalterblumen der deutſchen und
Schweizer Flora faſt ſämmtlich rot oder
(Globularia) blau gefärbt ſind. Nur die—
jenigen machen eine leicht erklärbare Aus—
nahme, welche aus bereits ausgeprägten
Hummelblumen erſt nachträglich in falter—
reicherer Alpengegend zu Falterblumen
umgezüchtet worden ſind (Viola calcarata,
Rhinanthus alpinus, Cyclostigma).
Ein ſummariſcher Überblick über die
Anpaſſungsſtufen der Blumen, ihre Far—
ben und ihren Inſektenbeſuch ſcheint hier—
nach für eine teilweiſe bejahende Antwort
der oben aufgeworfenen Frage zu ſprechen.
Um ſicher zu gehen, habe ich jedoch vor
der Formulirung eines Urteils dieſelben
ſehr häufig vergeſellſchaftet und gleichzeitig in
Blüte.
*) Kosmos, Bd. III, Heft 5; Bd. VI, Heft 6.
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
Verhältniſſe auch erſt noch von der ent—
gegengeſetzten Seite aus ſummariſch über—
blickt, indem ich die blumenbeſuchenden
Inſekten nach ihren Anpaſſungsſtufen
klaſſifizirte und die von ihnen beſuchten
Blumen nach Anpaſſungsſtufe und Farbe
geordnet zu ſtatiſtiſchen Tabellen zuſam—
menſtellte. Das Ergebnis iſt ein durchaus
beſtätigendes. Kurzrüſſelige, in der Blu—
menausbeutung ungeübte Inſekten beſu—
chen allgemein viel mehr weiße, weißgelbe
und gelbe Blumen, als rote, violette und
blaue; langrüſſelige, in der Blumenaus—
beute geübte verhalten ſich entgegengeſetzt.
Das geht ſowohl aus dem Überblick über
die größeren am Blumenbeſuche beteilig—
ten Inſektenabteilungen, als innerhalb
derſelben aus dem Vergleich ihrer auf
verſchiedener Anpaſſungsſtufe ſtehenden
Unterabteilungen unzweideutig hervor.
Von je 100 verſchiedenartigen Blumen—
beſuchen kommen z. B. à. auf weiße, weiß—
gelbe und gelbe (einſchließlich der grünlich—
gelben) Blumen, b. auf rote, violette und
blaue Blumen: bei den Käfern a. 76,8,
b. 23,2; bei den weniger blumentüchtigen
Dipteren a. 85,8, b. 14,2; bei den blumen—
tüchtigeren Dipteren (Bombyliden, Konopi—
den, Empiden, Syrphiden) a. 67,9, b. 30,3;
bei den Wespen im weiteren Sinne (Hyme—
nopteren außer den Bienen) a. 81,2,
b. 18,8; bei den kurzrüſſeligen Bienen
(Melitta Kirby) a. 63,8, b. 36,2; bei
den langrüſſeligen Bienen (Apis Kirby)
a. 36,6, b. 63,3; bei den Faltern a. 43,8,
b. 56,1. Bei den Faltern würde ohne
Zweifel b gegen a noch viel ſtärker im
Übergewicht ſein, wenn nicht die große
Überzahl, in der ſie auf den Alpen umher—
flattern, ſie zu häufigen Beſuchen auch
ihnen weniger entſprechender Blumen ver-
359
anlaßte. Bei den einzelnen Zweigen des
Hymenopterenſtammes geſtaltet ſich das—
ſelbe Verhältnis folgendermaßen:
Bei den Nichtbienen zuſammen: à. 81,2,
b. 18,8; bei den Bienen zuſammen: à. 42,9,
b. 57,1; innerhalb der Nichtbienen bei den
Blattwespen: a. 84, b. 15,4; bei den
Schlupfwespen und Verwandten: a. 90,0,
b. 10,0; bei den Grab- und Goldwespen:
a. 75,4, b. 24,6; bei den Ameiſen: à. 79,1,
b. 20,9; bei den echten Wespen: a. 79,4,
b. 20,6; innerhalb der Bienen bei den kurz—
rüſſeligen Bienen (Melitta K.): a. 63,8,
b. 36,2; bei den langrüſſeligen Bienen außer
Honigbiene und Hummel: a. 48,9, b. 51,1;
bei der Honigbiene: a. 39,3, b. 60,7; bei
den ſtaatenbildenden Hummeln (Bombus):
a. 35,3, b. 64,7; bei den Schmarotzerhum—
meln (Psithyrus): a. 22,2, b. 77,8. Auch
das letzte dieſer Ergebniſſe, daß nämlich
die Kuckuckshummeln in der Bevorzugung
roter und blauer Blumen noch viel weiter
gehen als die ſtaatenbildenden, iſt gewiß
nichts weniger als zufällig. Der Sorge
für ihre Nachkommenſchaft überhoben und
nur mit ihrer eigenen Ernährung beſchäf—
tigt, können ſie eben frei ihren Liebhabe—
reien nachgehen, wie man ſie ja in der
That in größter Gemächlichkeit ihre Blu—
menarbeit verrichten ſieht, während die
Staatenhummeln auf möglichſt vollſtändige
Ausbeutung der umgebenden Blumenwelt
bedacht ſein müſſen.
Selbſt innerhalb der Ordnung der
Dipteren läßt ſich die mit der Blumen—
tüchtigkeit zunehmende Vorliebe für rote
und blaue Blumenfarben in verſchiedenen
Familien deutlich nachweiſen. So kommen
z. B. bei den kurzrüſſeligen dunkel ein—
farbigen Syrphiden (Cheilosia und Chry-
sogaster) von je 100 Blumenbeſuchen auf
360 Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
rote, violette und blaue Blumen 15,3,
bei den kurzrüſſeligen zierlich gefärbten
(Melanostoma, Melithreptus, Syrphus)
26,4, bei den langrüſſeligſten (Volucella
und Khingia) 77,2, bei den mit den lang—
rüſſeligſten Syrphiden an Rüſſellänge
wetteifernden Bombyliden 75,0. Zu ähn—
lichen Ergebniſſen führt der Vergleich
blumenſteter und nicht blumenſteter Dip—
terenfamilien, der Vergleich verſchiedener
Museidengattungen u. a. m.
Selbſtverſtändlich können dieſe That—
ſachen über den Einfluß chemiſcher und
phyſikaliſcher Urſachen auf die Blumen—
farben keinerlei Auskunft geben. So
gut bei Kryptogamen (Chara, Polytri-
chum) und Windblütlern (Larix, Corylus)
infolge der das Blühen begleitenden che—
miſchen Vorgänge lebhaft rote Farben
hervortreten und für die Vegetation der
ſkandinaviſchen Hochebenen ein durch die
andauernde Belichtung hervorgerufener
roter Farbenton im allgemeinen charakte—
riſtiſch iſt“), mögen auch unter den ur—
ſprünglichſten Blumen ſolche von roter Farbe
geweſen ſein. Soweit aber die Ausprä—
gung der Farben durch die Blumenaus—
wahl der Inſekten bedingt geweſen iſt (und
wir können ganz ſicher ſein, daß gegen
dieſen Einfluß der phyſikaliſche und che—
miſche, obwohl er ſtets ſeine notwendige
Vorbedingung bildet, weit zurückſteht),
ſind wir wohlberechtigt, folgende Sätze
als durch die vorliegenden Thatſachen
wahrſcheinlich gemacht hinzuſtellen:
1) Aasfliegen und ſonſtige fäulnisſtoff—
liebende Dipteren bevorzugen als Blumen—
gäſte diejenigen Farben und Gerüche, durch
die ſie zu ihren gewöhnlichen Nahrungs-
*) Kosmos, Bd. VII, S. 141.
quellen geleitet werden. Sie züchten daher,
wo ſie als Kreuzungsvermittler das ent—
ſcheidende Übergewicht haben, trübe,
ſchmutzig gelbe, leichenfarbig fahlbläuliche
(Unterlippe von Ophrys muscifera!) und
ſchwärzlich purpurne Blumenfarben.
2) Bei den übrigen kurzrüſſeligen und
der Gewinnung der Blumennahrung we—
nig oder gar nicht angepaßten Blumen—
gäſten iſt ein ſolcher Zuſammenhang zwi—
ſchen der Farbe ihrer urſprünglichen Nah—
rung und derjenigen der von ihnen bevor—
zugten Blumen nicht zu erkennen. Wohl
aber ſteht feſt, daß ſie von weißen und
gelben Blumen ſtärker angelockt werden,
als von roten, violetten und blauen.
3) Der Übergang von Windblütigkeit
zur Inſektenblütigkeit und die Ausprägung
men (Pollenblumen, Blumen mit unmittel—
bar ſichtbarem oder nur teilweiſe geborge—
nem Honig) konnte natürlich nur unter
dem kreuzungsvermittelnden Einfluſſe kurz—
rüſſeliger, der Gewinnung der Blumen—
nahrung noch nicht angepaßter Inſekten
erfolgen. Es konnten alſo auch anfänglich
nur einerſeits die oben bezeichneten trüben,
andererſeits weiße, weißgelbe und gelbe
Blumenfarben gezüchtet werden.
4) Sobald die gegenſeitige Anpaſſung
der Blumen und ihrer Kreuzungsvermittler
bis zur Bildung vertiefter Safthalter und
verlängerter Rüſſel fortgeſchritten war!),
waren weniger lichtvolle Blumenabände—
rungen, da ſie vorwiegend von den aus—
gebildetſten, eifrigſten, alſo auch für die
ſten aufgeſucht wurden, offenbar den Blu—
men von Vorteil; ebenſo aber auch den
| Inſekten die Fähigkeit, dieſe konkurrenz—
) Vergl. Kosmos, Bd. III, S. 408-411.
—
der niederſten Anpaſſungsſtufen der Blu-
Kreuzungsvermittlung brauchbarſten Gä⸗
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
freieren Honigquellen leicht aufzufinden.
Wie Röhrenlänge und Rüſſellänge, ſo
mußten ſich alſo nun auch die Ausbildung
weniger lichtvoller Farben ſeitens der
Blumen und der Fähigkeit, ſie zu unter—
ſcheiden, ſeitens der Inſekten gegenſeitig
ſteigern. Die Züchtung roter, violetter
und blauer Blumen (die oft, aber keines—
wegs immer, in dieſer Reihenfolge fort—
geſchritten iſt) mußte daher auf der An—
paſſungsſtufe der Blumen mit völlig gebor—
genem Honig, und die gleichzeitige Aus—
bildung der Fähigkeit, dieſe Farben leicht
zu unterſcheiden, auf der Anpaſſungsſtufe
mäßig langrüſſeliger Falter, Bienen und
Fliegen (Syrphiden, Bombyliden) ihren
Anfang nehmen.
5) Von den auf dieſe Weiſe zu einem
ausgebildeten Farbenſinn gelangten Blu—
mengäſten konnten diejenigen, welche nur
für ihre eigene Beköſtigung zu ſorgen hat—
ten (Falter, Schwebfliegen), ſich der Be—
vorzugung ihrer Lieblingsfarben frei über-
laſſen. Durch ihre Blumenauswahl ge—
langten daher nur rote, violette und blaue
Schwebfliegen- und Falterblumen zur Aus—
prägung.
6) Dagegen waren diejenigen mit aus—
geprägtem Farbenſinn begabten Blumen—
gäſte, die nicht nur ſich ſelbſt mit Blumen—
nahrung zu beköſtigen, ſondern auch für
ihre Brut möglichſt maſſenhaft Pollen und
Honig zuſammenzuſchleppen hatten (Bie-
nen), zu vielſeitigerer Ausbeutung der
Blumenwelt und damit, wie oben gezeigt,
zur Züchtung mannigfaltiger Blumenfar—
ben veranlaßt. In hervorragendem Grade
gilt dies, wegen der koloſſalen Steigerung
ihres Nahrungsbedarfs, von den Geſell—
ſchaftsbienen, insbeſondere den Hummeln.
7) Bollenblumen hatten um jo mehr
361
Ausſicht, von langrüſſeligen Bienen und
Schwebfliegen bevorzugt zu werden, je
weniger kurzrüſſeliges und zur Kreuzungs—
vermittlung untauglicheres Geſchmeiß ſich
auf ihnen einfand. Sobald daher die An—
paſſung blumenbeſuchender Inſekten bis
zur Ausbildung von langrüſſeligen Bienen
und Schwebfliegen fortgeſchritten war,
konnten die urſprünglich weißen und gel—
ben Farben der Pollenblumen von den
genannten Langrüſſlern in Rot, Violett
und Blau umgezüchtet werden und wurden
zum Teil in dieſer Richtung umgezüchtet.
8) Durch die Blumenauswahl der
Abend- und Nachtfalter konnten natürlich
nur Blumenfarben gezüchtet werden, die
„in der Dämmerungsſtunde, wenn bei
Abweſenheit der Sonne das Himmels—
gewölbe noch eine Fülle blauen Lichts
herniederſtrahlt““), oder im Halbdunkel
der Nacht ſich leicht bemerkbar machen,
d. h. violette und blaue“) oder blaßge—
färbte und ſchneeweiße.““ “)
B. Phylogenetiſche Behandlung der
Frage.
Wenn wir diejenigen Blumenfamilien,
deren genealogiſche Verzweigung ſich aus
ihren Beſtäubungseinrichtungen erkennen
läßt, vom Geſichtspunkte der Entwicklung
der Blumenfarben ins Auge faſſen, ſo
ſehen wir, wie ſich die ſoeben ermittel—
ten allgemeinen Beziehungen im einzelnen
geſtaltet haben. In bezug auf Karyo—
phylleen und Boragineen iſt dies bereits
in meinem letzten Aufſatze gezeigt worden.
Einige weitere Beiſpiele folgen hier:
*) Dr. E. Krauſe, Kosmos, Bd. III,
S. 48.
) Hesperidenblumen Braſiliens, Kosmos,
Bd. IV, S. 481; Crocus, Kosmos, Bd. VI,
S. 449.
ec) Convolvulus sepium, Platanthera etc.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5.
46
362
Bei den Liliazeen dürfte die Farbe
der Perigonblätter urſprünglich, wie bei
Paris noch jetzt, grünlich geweſen ſein, ſo
daß ſich die Blüten zunächſt nur durch die ab-
weichende Farbe der Befruchtungsorgane
den Inſekten bemerkbar machten. Wäh— |
rend dann aus den urſprünglich honig-
den, aus einer lebhaften zu einer trüben
loſen Blüten ſolche mit unmittelbar ſicht—
barem und dann ſolche mit teilweiſe ge— |
borgenem Honig wurden, prägten ſich durch
die Blumenauswahl der kurzrüſſeligen
Kreuzungsvermittler grüngelbe (Vera—
trum) und gelbe (Tofieldia, Gagea),
menhange mit der Anpaſſung der Blumen
grünlichweiße und weiße (Lloydia, An—
thericum) Blumenfarben aus, und die
kreis geändert. Bei den Sedumarten, deren
Honig noch unmittelbar ſichtbar und allge—
mein zugänglich iſt, find die Blumen grüne
Perigonblätter übernahmen ſo allein die
Funktion der Bemerkbarmachung. Erſt
als Grabwespen, Bienen, langrüſſeligere
Fliegen und Falter als Kreuzungsvermitt—
ler eine vorwiegende Rolle zu ſpielen be
gannen und ſich Blumen züchteten, welche
dem großen Heere der kurzrüſſeligen Gäſte
nicht mehr zugänglich waren, gelangten
auch rote, violette und blaue Blumen zur
Wulfeni, deſſen Honig noch tiefer gebor-
gen liegt und dem hauptſächlich Hummeln
Ausprägung. Innerhalb der Gattung Al-
lium z. B. beſitzen die Arten mit zugäng—
licherem Honig (ursinum, Victoriale) noch
weiße, diejenigen mit feſter umſchloſſenem,
beſonders von Grabwespen, Bienen, Fal—
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
die nachtfalterblumige Paradisia in blen⸗
dendes Weiß gekleidet; das erſt nachträg—
lich den Schwärmern anheimgefallene Ei-
lium Martagon iſt, ſeit es aufgehört hat,
eine Tagfalterblume zu ſein und von ſei—
nen Kreuzungsvermittlern nach Maßgabe
ſeiner Blumenfarbe ausgewählt zu wer—
Farbe hinabgeſunken.
Eben fo hat ſich bei den Kraffula-
zeen die Blumenfarbe im engen Zuſam—
an einen weiteren oder engeren Beſucher—
lich gelb, gelb oder weiß, bei Semper
vivum Funkii, montanum, arachnoideum,
tectorum, die von einer gemiſchten Geſell—
ſchaft von Bienen, Faltern und langrüſſe—
ligen Fliegen ausgebeutet und gekreuzt
werden, purpurrot, bei Sempervivum
als Kreuzungsvermittler dienen, aus pur—
tern und langrüſſeligen Fliegen ausgeben: |
tetem Honig (z. B. rotundum) rote Perigon-
blätter. Welche Farbenmannigfaltigkeit
ſich auch in der Familie der Liliazeen die
Bienen gezüchtet haben, zeigt ein einziger
Blick auf die Gattungen Tulipa, Fritilla-
ria, Scilla, Muscari, Hyacinthus, Aspa-
ragus und Convallaria. Dagegen halten
ſich die Falterblumen innerhalb der oben
(Satz 5 und 8) ihnen geſteckten Grenzen.
Unſere tagfalterblumige Liliazee (Lilium
bulbiferum) ſehen wir in feuriges Rot,
purrot in ſchwefelgelb umgezüchtet, nur
noch am Grunde der Blumenblätter, als
faſt erloſchene Erinnerung an purpurblu—
mige Ahnen, einen kleinen Reſt der Pur—
purfarbe zeigend. Die ſchön rot gefärbten
Kraſſula- und Echeveria-Arten weiſen durch
ihre engröhrige Korolle ebenfalls auf lang—
rüſſelige Inſekten (vermutlich Falter) als
ihre Kreuzungsvermittler und unbewußten
Züchter hin.
Von allen von mir unterſuchten alpi—
nen Saxifragen hat nur oppositifolia
völlig geborgenen Honig, nur ihr werden
häufig Tagfalter als Kreuzungsvermittler
4
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
zu teil, nur fie iſt mit prächtigem Rot ge—
ſchmückt.
Unter den Ranunkulazeen haben
wieder diejenigen urſprünglicheren Formen,
die in einer offenen, regelmäßigen Blüte
nur Pollen oder neben demſelben ziemlich
allgemein zugänglichen Honig darbieten,
meiſt weiße oder gelbe Blumenfarben, nur
bei Myosurus, der mit ſeinem noch höchſt
ſchwankenden Zahlenverhältnis der Blüten—
teile vielleicht zu den urſprünglichſten Ra—
nunkulazeenformen gehört und völlig offe-
nen Honig darbietet, ſind die Blumenblätter
grüngelb. Von der roten Farbe des Ranun-
culus glacialis und der blauen des Leber—
blümchens (Hepatica) war bereits oben
die Rede. Alle ſonſtigen blauen und vio—
letten Ranunkulazeen, die ich näher kenne
(Pulsatilla, Delphinium, Aquilegia, Aco-
nitum), ſind mehr oder weniger ausge:
prägte Hummelblumen.
Ich überlaſſe es dem Leſer, die übri—
gen in meinem vorigen Aufſatze beſproche—
nen Familien von demſelben Geſichtspunkte
aus zu durchmuſtern, und bemerke nur,
daß mir weder auf den Alpen noch im
Tieflande irgend ein Beiſpiel bekannt ge—
worden iſt, das mit den oben aufgeſtellten
Sätzen in Widerſpruch ſtünde.
C. Ontogenetiſche Behandlung der
Frage.
Wir ſind zu dem Schluſſe geführt
worden, daß, abgeſehen von den fäulnis—
ſtoffliebenden Dipteren, durch die ſechs—
beinigen Kreuzungsvermittler urſprünglich
nur weiße, weißgelbe und gelbe, erſt ſpä—
ter, auf einer gewiſſen höheren beiderſeiti—
gen Anpaſſungsſtufe, auch rote, violette und
blaue Blumen gezüchtet worden ſind. Alle
diejenigen mir bekannten Fälle, in denen
im Laufe der Entwicklung einer einzelnen
363
Blume nach einander verſchiedene Farben
hervortreten, können, nach dem biogeneti—
ſchen Grundgeſetz, als Beſtätigungen dieſes
Schluſſes gelten. Denn immer nur ſehen
wir in denſelben rote, violette und blaue
Blumenfarben aus weißen oder gelben her—
vorgehen, niemals umgekehrt. Ich brauche
zum Belege deſſen an die in meinem vori—
gen Aufſatze bereits erwähnten Beiſpiele
(Myosotis, Pulmonaria, Echium etc.) nur
eben flüchtig zu erinnern und nur auf Vi-
ola, als in dieſer Beziehung beſonders
lehrreich, hier näher einzugehen.
Das kurzſpornigſte mir bekannte Veil—
chen, Viola biflora, iſt von gelber, das un-
ausgebildetſte Stiefmütterchen (V. trico-
lor var. arvensis) von weißgelber Blumen-
farbe. Bei phylogenetiſcher Behandlung
der Frage werden wir alſo das Violett
und Blau höher ausgebildeter Viola-Arten
als aus Weißgelb oder Gelb hervorge—
gangen betrachten müſſen. Die großblumi—
gen bunten Stiefmütterchen, die auf Ackern
bei Lippſtadt hie und da vorkommen, be—
ſonders aber die zahlreichen Abänderun—
gen der Viola tricolor var. alpestris, die
auf den Alpen unterhalb der Baumgrenze
wachſen, liefern in eingehendſter Weiſe die
ontogenetiſche Beſtätigung dieſes phyloge—
netiſchen Schluſſes.
Bei der einen dieſer ſubalpinen Abän⸗
derungen (wir wollen ſie mit A bezeichnen)
iſt die Blume unmittelbar nach dem Auf—
blühen (A!) etwa 16 bis 17mm lang,
12 bis 13 mm breit und ausſchließlich mit
drei verſchiedenen Schattirungen von Gelb
gefärbt, die beiden oberen Blumenblätter
nämlich weißgelb, die beiden ſeitlichen er—
heblich dunkler, etwa zitrongelb, das un—
paare unterſte noch dunkler, zwiſchen zitron-
und orangegelb, nur feine Baſis iſt inner-
364
halb der als Saftmal dienenden ſchwarzen
Strichelchen, dieſes verſtärkend, orangegelb.
Im Verlaufe des Blühens wachſen nun
die Blumenblätter, während die drei unte—
ren ſich gleichzeitig etwas intenſiver färben
und die beiden oberen einen äußerſt ſchwa—
chen, kaum bemerkbaren Anhauch von
Blau bekommen, bis die ganze Blume et—
wa 24mm Länge und 19mm Breite er—
reicht hat (A2). Nur die Baſis der beiden
oberen Blumenblätter iſt bis dahin deut—
lich bläulich geworden. Während nun die
ausgewachſene Blüte älter wird und ihre
Blumenblätter ein wenig weiter ausein—
ander treten läßt, ſtellt ſich dieſelbe bläu—
liche Farbe auch am Rande der beiden
oberen Blumenblätter ein, dehnt ſich von
da beiderſeits abwärts aus und verteilt
ſich in verwaſchener Weiſe zwiſchen das
Weißgelb der ganzen Fläche. Die inten—
ſiv gelbe Farbe des unteren Blumenblattes
bleibt während dieſer Zeit dieſelbe, wäh—
rend die der beiden ſeitlichen vom Rande
her etwas verblaßt.
Nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze
dürfen wir annehmen, daß das Einzel—
weſen hier in raſchem Verlaufe nur die—
ſelbe Reihenfolge von Entwicklungsſtufen
durchläuft, die ſeine Ahnen langſam nach
einander erreicht haben.
Ein Fortſchritt in der Entwicklung
einer Generationsreihe wird nun bekannt—
lich oft dadurch erreicht, daß von den Stamm—
eltern erworbene vorteilhafte Eigentüm—
lichkeiten, auf die Nachkommen vererbt,
bei dieſen ſchon in jugendlicherem Alter
auftreten, und daß dann von den Nach—
kommen im Laufe ihrer weiteren Entwick—
lung weitere vorteilhafte Eigentümlichkeiten
neu hinzu erworben werden.
| Eine zweite Abänderung (B) ſcheint da—
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
“
nach einer weiter fortgeſchrittenen Ausbil—
dungsſtufe anzugehören, als die oben be—
ſchriebene (A). Denn kurz nach dem Auf—
blühen gleichen ihre Blüten (B) ganz den
oben aufgeblüten; aber ehe ſie noch die
Größe von A? erlangt haben, find fie ſchon
bei der Färbung von As angelangt (B?), ja
ſogar inſofern ſchon etwas über dieſelbe
hinaus, als das Gelb der mittleren Blumen—
blätter von den Rändern her weiter ein—
wärts verblaßt iſt. Als weitere fortge—
ſchrittene Entwicklungsſtufe kennzeichnet ſich
die Form B auch dadurch, daß ihre Blumen
eine bedeutendere Größe erreichen. Schon
ehe ſie völlig ausgewachſen ſind (BB), ha—
ben ſie 24mm Länge und 19 mm Breite
erreicht. In ihrer Färbung ſind ſie dann
über A3 ſchon weit hinausgegangen;
auf ihren beiden oberen Blumenblättern
iſt das Weißgelb durch das Blau ſchon faſt
völlig verdrängt, bis auf eine kleine Stelle
an der Baſis; auf dem blaßgelb ge—
wordenen Randteile der mittleren Blumen—
blätter hat ſich vom Rande her die blaue
Farbe ebenfalls deutlich ſichtbar eingeſtellt.
Auf ihrer letzten Entwicklungsſtufe (B)
beſitzt dieſe Form intenſiv violettblaue obere
Blumenblätter, und auf ihren mittleren
Blumenblättern iſt der verblaßte Randteil
von einem zwar nicht ganz ſo intenſiven,
aber doch ſehr entſchiedenen Violettblau
eingenommen.
Ich kann dieſer Stufenleiter auf ver—
ſchiedener Entwicklungshöhe ihrer Blumen—
formen angekommener Formen der V. al-
pestris noch drei weitere Glieder hinzu—
fügen. Einerſeits nämlich findet ſich auf
den Alpen ſehr häufig und maſſenhaft, oft
ausgedehnte Wieſenabhänge bedeckend, Vio—
la alpestris mit rein gelben Blumen, die zu—
weilen bedeutende Größe erreichen, aber auch
Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben.
im ausgebildetſten Zuſtande keine Spur von
Violett oder Blau zeigen, alſo in bezug auf
Blumenfarbe der Stammform noch näher
ſtehen, als die oben mit A bezeichnete.
Andererſeits fand ich bei Malix (31/5 79)
eine Form C, und im Tuorsthale (2/6 79)
eine Form D, welche beide über die Farben—
entwicklung der Form B noch hinausgehen.
Bei C erreichen die Blumen 29 mm
Länge und 22 — 23 mm Breite; ihre obe—
ren Blumenblätter ſind dunkelviolett, die
beiden ſeitlichen etwas heller, blau, das
untere erſt gelblichweiß, dann hellblau,
ſchließlich den beiden mittleren gleichge—
färbt. Nur das Saftmal der Unterlippe
iſt von Anfang an orangegelb.
Bei D erreichen die Blumen 30 mm
Länge, 27 mm Breite. Die beiden oberen
Blumenblätter ſind geſättigt dunkelviolett,
die drei übrigen ſchon vom Aufblühen an
ſattblau, nur das Saftmal orangegelb.
Selbſt in ganz geſchloſſenen Knospen find die
unteren Blumenblätter ſattblau, in noch
jüngeren blaulich, in noch jüngeren weiß.
Indem dieſe Thatſachen das Hervor—
gehen der violetten und blauen Violafar—
ben aus der gelben Schritt für Schritt dar—
thun, beweiſen ſie zugleich, daß die gelbe
Blumenfarbe, mit der Viola calcarataſz. B.
auf dem Albulapaſſe) ausnahmsweiſe auf—
tritt, nur ein Rückfall in urelterliche Cha-
raktere iſt. Ebenſo dürften die roten und
weißen Abänderungen, in denen viele ſonſt
blaublühende Bienenblumen bisweilen auf—
treten (3. B. Polygala vulgaris, comosa,
alpestris, Myosotis palustris, Ajuga
reptans, gene vensis und pyramidalis) auf
Atavismus zurückzuführen ſein und ſomit
auf das Hervorgegangenſein dieſer blauen
Blumenfarben ausRot und Weiß hindeuten.
365
| Kehren wir nun, zum Schluſſe unferer
Betrachtung, zu der am Eingange derſelben
aufgeworfenen Frage zurück, ſo müſſen
wir dieſe, mit einigen Einſchränkungen,
bejahen.
In der That iſt die Entwicklung der
Blumen von urſprünglichen, allgemein zu—
gänglichen zu ſpäteren, auf beſtimmte Be—
ſucherkreiſe beſchränkten Anpaſſungsſtufen
von einer fortſchreitenden Entwicklung der
Blumenfarben begleitet geweſen. Rot, Vio—
lett, Blau ſind immer erſt ſpäter gezüchtet
worden als Weiß oder Gelb. Wir haben
aber keinen Grund anzunehmen, daß die
Entwicklung verſchiedener Blumenfarben
immer von einer und derſelben Grundfarbe
ausgegangen ſei '“), und ſicher iſt die Reihen—
folge der auseinander hervorgegangenen
Farben nicht immer dieſelbe geweſen. ““)
Die Fähigkeit, rote, violette und blaue
Farben zu unterſcheiden, haben die blumen—
ſuchenden Fleiſch- und Aasfliegen in ge—
wiſſem Grade jedenfalls ſchon durch die
Übung im Aufſuchen ihrer urſprünglichen
Nahrungsquellen erlangt. Dagegen ſcheint
ſie ſich bei den Faltern (oder deren Stamm—
eltern!), Bienen und langrüſſeligen Fliegen
(Syrphiden, Konopiden) erſt gleichzeitig und
im engeren Zuſammenhange mit der Aus—
bildung langer Rüſſel entwickelt zu haben.
) Bei Liliazeen und Ranunkulazeen z. B.
ſcheint aus urſprünglichem Gelbgrün zunächſt
einerſeits Weiß, andererſeits Gelb hervorgegan—
gen zu ſein. In anderen Fällen dagegen könnte
ganz wohl die urſprüngliche Farbe der Blüten—
hüllen weiß (wie bei der windblütigen Luzula
nivea) oder gelb (wie bei Luzula lutea) oder
rot (wie bei Larix) geweſen fein.
) Blau z. B. hat ſich bei Viola jeden-
falls aus Gelb, bei Hepatica, Echium, Pul-
| monaria und anderen Boragineen dagegen wahr—
ſcheinlich aus Rot entwickelt.
Die Geſchichte der Schrift.
Ein im Londoner Royal Institution gehaltener Vortrag
ie Geſchichte der Schrift iſt
in großem Maßſtabe die Ge—
IE ſchichte des menschlichen Gei-
& tes. Genau wie etwas einem
abſtrakten Gedanken Ahn—
liches ohne eine Sprache ir—
gend welcher Art unmöglich iſt, ſo iſt es
ſchwer, ohne Schrift ſich einen Begriff von
einer fortſchreitenden Ziviliſation oder ei—
ner entwickelten Kultur zu machen. Das
geübte Gedächtnis iſt ohne Zweifel fähig,
wunderbare Thaten zu vollbringen, wie
wir von den Hindus lernen können, welche
mittelſt desſelben lange Jahrhunderte hin—
durch nicht blos Gedichte, ſondern ſogar
wiſſenſchaftliche Werke ganz wohl aufbe—
wahrt haben; nichtsdeſtoweniger hat das
Gedächtnis eine Grenze, und die meiſten
von uns, denke ich, würden mißvergnügt
ſein, ihm allein die Erinnerung ihrer eige—
nen Gedanken und Entdeckungen, geſchweige
denn diejenigen anderer anzuvertrauen.
von
Vrof. A. H. Sayce.
Wenn die Sprache dem Menſchen die
Macht des
verlieh, ſo hat ihn die Schrift befähigt,
zuſammenhängenden Denkens
Es giebt eine auffallende Analogie
zwiſchen der Geſchichte der Sprache und
der Schrift. Beide ſind von einem niedern
Anfange entſprungen. Die Sprache be—
gann mit wenigen Tönen und Ausrufen,
welche eine gleich geringe Zahl von Ideen
verſinnlichten und ausdrückten; das Schrei—
ben begann mit der Abbildung ſolcher
Gegenſtände, wie ſie ſich dem Geſichts—
kreiſe der erſten Zeichner darboten. Wie
früh dies in der Geſchichte unſers Ge—
ſchlechts geſchehen iſt, wurde uns neuer—
dings durch archäologiſche Nachforſchungen
erſchloſſen. Gleich dem Kinde vergnügte
ſich der Urmenſch durch Abzeichnen der
Dinge, die er um ſich ſah, und gleich früh—
entwickelten Kindern zeigte er mitunter ein
bemerkenswertes Talent in Ausübung die—
ſer Kunſt. Die Zeichnungen des Rens
und anderer Tiere, welche mittelſt roher
Kieſelſteinwerkzeuge auf Rentierhorn oder
Mammutzahn eingeritzt in den Höhlen
Frankreichs und Englands gefunden wur—
den, ſind häufig von hohem Verdienſt und
beweiſen, daß beträchtliche Geſchicklichkeit
dasſelbe zu entwickeln und zu gebrauchen. in der Zeichnenkunſt mit der niederſten
Wildheit in andern Richtungen vergeſell—
ſchaftet geweſen ſein mag. Es iſt dies eine
Lektion, die wir bereits von den Eskimos
erhalten haben, deren Gravirungen auf
Walfiſchknochen denen europäiſcherKünſtler
nicht unwürdig ſind, oder von den Buſch—
männern Südafrikas, die ſich ſeit lange
in der Abbildung von Tiergeſtalten auf
der glatten Oberfläche der Felſen hervor—
gethan haben. Aber jene Zeitgenoſſen des
Rentiers und Mammuts, welche zu dem
Zeitalter der polirten Steinwerkzeuge ge—
hörten, in welchem England und Frankreich
noch ſechs Monate im Jahre unter einer
Decke von Gletſchern und feſtem Eiſe la—
gen, waren nicht die erſten, welche die
Zeichnenkunſt im Weſten ausübten. Eine
bemerkenswerte, im vergangenen Jahre in
den Pyrenäen gemachte Entdeckung hat
erwieſen, daß lange vor ihnen, als Höhlen—
bär, Höhlenhyäne und andre ausgeſtorbene
Urtiere noch in der alten Welt exiſtirten
und als die Geographie Europas weit von
derjenigen unſerer Tage abwich, Menſchen
vorhanden waren, welche ihre Muße an—
wendeten, um ſowohl die ſie umgebenden
Tiere als ſich ſelbſt abzubilden. In einer
Höhle der älteren Steinzeit oder paläo—
lithiſchen Periode ſind eine Anzahl von
Zähnen des Höhlenbärs gefunden worden,
die mit Zeichnungen verziert waren, von
denen einige menſchliche Weſen darſtellten,
die, wie es den Beobachtern erſcheint,
gleich dem Mammut mit langem Haar
bedeckt waren. Ich habe mitunter darüber
geträumt, daß die Sprache ſelbſt ihren
erſten Anlauf und Fortſchritt der Malerei
zu danken haben möchte. Es wird erzählt,
daß zwei Chineſen, die daran verzweifel—
ten, einander mit Hilfe einer Sprache zu
verſtehen, die ſo mancherlei verſchiedene
A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift.
ä
367
| Begriffe mit demſelben Laut bezeichnet, ihre
Zuflucht zur Schrift genommen haben, und
die meiſten von uns erinnern ſich noch, wie
unſere eigenen Anſtrengungen zum Leſen—
lernen und unſere Bekanntſchaft mit un—
ſerer Mutterſprache durch den Gebrauch
von Bildern unterſtützt wurden. Ein Appell
an das Auge iſt ſichrer und eindrucksvoller
als ein Appell an das Ohr, und wir er—
kennen Gegenſtände leichter an ihrer bild—
lichen Darſtellung als an ihrem Namen.
Nach alledem mag es deshalb nicht para—
dox erſcheinen, ſich einzubilden, daß die
Anfänge der Schrift älter ſein mögen, als
die Anfänge der Sprache, daß Menſchen
früher Zeichnungen entwarfen, als ſie ar—
tikulirte Laute ausſtießen.
Sei dies, wie es ſei, die Entwicklung
der Schrift wurde bald weit durch diejenige
der Sprache überholt. Die Sprache be—
fähigte den Menſchen, ſich Ideen zu ſchaf—
fen und ihrer ſich wieder zu erinnern; ſeine
Zeichnungen waren blos Abbildungen vor—
handener Gegenſtände. Bis er dem Auge
Begriffe ſowohl als Gegenſtände darſtellen
konnte, war ſeine Schrift in der That ein
ſehr armſeliges Werk. Es iſt eine bloße
Artigkeit, ſie als Schrift zu bezeichnen.
Aber es kam eine Zeit, in welcher ein
großer Schritt vorwärts gemacht wurde.
Die Begriffe, welche ergänzt werden muß—
ten, wenn man die Gemälde der einzelnen
Gegenſtände ſchrittweiſe zu einer Geſchichte
verband, wurden endlich in den Bildern
ſelbſt geleſen. Ein paar Beine z. B. ge—
langten dazu, nicht mehr blos eines Men—
ſchen Beine, ſondern ebenſowohl den Be—
griff des Gehens zu bezeichnen. Die Schrift
begann aus ihrem Jugendalter herauszu—
treten, aufzuhören, blos maleriſch zu ſein
und ideographiſch zu werden.
8
368
Dies iſt der Punkt, an welchem die
Entwicklung der Schrift unter einigen
Menſchenraſſen ſtehen geblieben iſt. So
haben gewiſſe nordamerikaniſche Indianer—
ſtämme ſeit lange eine Kunſt beſeſſen, mit
einander zu korreſpondiren und magiſche
Zeichen und Verfluchungen auf Felſen
und Baumrinde zu ſchreiben mit Hilfe von
Gemälden und Begriffszeichen (Ideogra-
phen). Wenn dieſe Hieroglyphen, wie wir
ſie bezeichnen dürfen, gemalt werden, wird
das Schriftſyſtem Kekinowin genannt,
und einige der darin angewendeten male
riſchen Symbole ſind merkwürdig genug.
Ein Krieger z. B. wird durch das Bild
der Sonne mit Augen und Naſe nebſt
zwei daran hängenden Linien dargeſtellt,
weil er ſo kühn und ſtark wie die große
Leuchte des Tages ſein muß. Eine auf—
wärts gehaltene Hand mit ausgeſpreizten
Fingern bedeutet Tod und eine Anzahl in
einander befindlicher Kreiſe: Zeit. Dieſes
Schriftſyſtem iſt unter den Mikmaks zu
ſolcher Ausbildung gelangt, daß zu Wien
ein gänzlich in demſelben geſchriebenes re⸗
ligiöſes Werk, welches nicht weniger als
5701 verſchiedene Zeichen enthält, publi—
zirt worden iſt.
Sobald die Schrift zur ideographiſchen
Stufe fortſchreitet, hört die genauere Aus—
führung der äußeren Gegenſtände natür—
lich auf, notwendig zu ſein. Wenn es ein—
mal feſtgeſtellt iſt, daß ein paar Beine den
Begriff des Gehens ausdrücken ſollen,
dann iſt die genauere Ausführung der
Beine nicht länger eine Notwendigkeit.
Die beiden Linien eines Winkels können
die Idee ebenſo wirkſam darſtellen, wie
ein ſorgſam gezeichnetes Beinpaar. Ge—
dächtnis und Verſtand werden durch ſie
ebenſowohl angeregt als das Auge, und |
A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift.
wir können uns gleich leicht erinnern, daß
der Begriff des Gehens durch die beiden
Linien oder durch die beiden Beine dar-
geſtellt iſt. Wir werden infolge deſſen
finden, daß, ſobald das ideographiſche
Stadium der Schrift erreicht iſt, die For-
men ihrer Symbole auszuarten beginnen.
Gerade wie die Laute, aus denen die
Worte zuſammengeſetzt ſind, im Laufe der
Zeit durch phonetiſchen Verfall dahin—
ſchwinden ohne irgendeine notwendige Ab—
ſchwächung ihrer Bedeutung, ſo werden
auch die Geſtalten der Schriftcharaktere
unbeſchadet ihrer Bedeutung verändert
und modifizirt. Es verurſacht weniger
Mühe, die menſchliche Geſtalt durch ein
paar gekreuzte Linien darzuſtellen, als
durch eine ausgearbeitete Malerei, und
wenn das Symbol verſtändlich bleibt,
wird die weniger umſtändliche Darſtellung
unzweifelhaft die ältere erſetzen. Male—
reien gehen nicht allein in anbetracht ihres
innern Sinnes, ſondern auch ihrer äußern
Form nach in Begriffszeichen über.
So iſt die große Erfindung gemacht
worden. Begriffe können dem Auge nicht
durch gegenſtändliche Malereien wachge—
rufen werden, ſondern nur durch die eigen—
mächtige Beſtimmung, daß ein beſtimmtes
Zeichen für eine beſtimmte Idee ſtehen ſoll.
Die Malereien des Urmenſchen ſind Cha—
raktere geworden. Sie wenden ſich nicht .
mehr an die äußern Sinne, ſondern an
das Gedächtnis. Kurz, es iſt ein Schrift—
ſyſtem erfunden, welches wie eine Sprache
erlernt werden kann. Es iſt nur noch übrig,
die Erfindung zu vervollkommnen, zu ent—
decken, wie das geſammte Reich der menſch—
lichen Ideen durch die wenigſten und ein—
fachſten Zeichen ausgedrückt werden kann.
Aber die Entwicklung und Vervoll—
—
ET TEL = IN EEE
Fun = 2 — — — — — — u Bun
rn
A. H. Sayce, Die
kommnung der Erfindung war ein lang—
ſamer und allmählicher Vorgang. Wenn
wir auf vergangene Zeiten zurückblicken,
ſcheint es uns ſonderbar, daß die Charak—
tere nicht auf einmal in ein Alphabet um—
gewandelt wurden, deren Buchſtaben nur
noch Laute bedeuteten. Wir mögen fragen,
warum die Menſchen ſo lange Zeit brauch—
ten, um herauszubringen, daß es ganz
ebenſo leicht iſt, Laute zu ſymboliſiren, als
das viel mehr Unerfaßliche, die Idee. In—
deſſen, was uns einleuchtend ſcheint, war
keineswegs einleuchtend, bevor die Kennt—
nis und Erfahrung, welche wir erben,
langſam und mühſam erworben worden
war. Keine große Entdeckung, wie dieſe,
iſt jemals auf einmal gemacht worden,
durch einen Sprung. Sie mußte vorberei—
tet und herbeigeführt werden; die Zeit
mußte, wie wir ſagen, dafür reifen. Und
die Geſchichte der Schrift iſt dieſelbe wie
diejenige aller andern großen Entdeckun—
gen. Da die Begriffe ſich vervielfältigen,
wurde es unmöglich befunden, für jeden
von ihnen beſondere Charaktere zu finden,
noch weniger ſich ihrer insgeſammt zu er—
innern. Zuerſt wurde der Schwierigkeit
durch Verbindung zweier oder mehrerer
Begriffszeichen entſchlüpft, um dadurch eine
neue Idee auszudrücken, die in andere, be—
reits bekannte und durch Zeichen darſtell—
bare Ideen zerlegt wurde.
So hatten die alten Babylonier be—
ſondere Charaktere, um „Waſſer“ und
„Auge“ zu bezeichnen; durch Verbindung
dieſer beiden gelangten ſie dazu, dem Ver—
ſtande des Leſers die Bezeichnung einer
„Thräne“ vorzuführen. So wurde anderer—
ſeits, da die Sonne durch einen Kreis dar—
geſtellt wurde, ein Monat ſchnell durch
Einſchreiben des Zahlzeichens für dreißig
Geſchichte der Schrift.
369
in den Kreis, die dreißig Tage des Mond—
monats bezeichnend, dargeſtellt.
Dieſe Art Begriffe auszudrücken, mag
als klaſſifikatoriſch bezeichnet werden. Die
Begriffe wurden, einer unter dem andern,
in Klaſſen geordnet, und gerade wie wir
einen Begriff definiren, indem wir ihn zu
einer Spezies eines andern, mehr umfaſſen—
den Begriffs machen, wurden neue Be—
griffszeichen durch Aneinanderſetzung von
zweien oder mehreren gebildet, eins um
die Gattung, und eins um die Spezies
zu bezeichnen. So wird, wie Dr. Legge
gezeigt hat, eine verheiratete „Frau“ oder
„Gattin“ in der alten chineſiſchen Schrift
durch die beiden Begriffszeichen für „Weib“
und „Beſen“ bezeichnet, ſofern der chine—
ſiſche Begriff einer ſorgſamen Hausfrau
derjenige eines weiblichen Weſens war,
die das Haus durch beſtändiges Kehren
rein erhält. So ſtanden auch in dem hiero—
glyphiſchen Syſtem, aus welchem die Keil—
ſchrift der Babylonier und Aſſyrier ent—
ſprang, die Begriffszeichen für „groß“
und „Mann“ ſtatt „König“, welcher als
eine beſondere Spezies des Männerge—
ſchlechts betrachtet wurde. Dagegen wurde
der Begriff „Vater“ maleriſch durch den
„Neſtmacher“ und derjenige eines „Ge—
fängniſſes“ durch „Haus der Finſternis“
ausgedrückt.
Aber nach alledem blieb eine Grenze
für die Zahl der Begriffe, die durch Be—
griffszeichen ausgedrückt werden konnten.
Da Ziviliſation und Kultur fortſchritten,
fand es die Bilderſchrift ſchwierig, mit den
neuen Begriffen, welche beſtändig ins Da—
ſein gerufen wurden, Schritt zu halten.
Und ſogar wenn Mittel entdeckt wurden,
ſie alle darzuſtellen, wurde dem Gedächt—
nis die Bürde übergroß und unerträglich,
3
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5.
47
370
A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift.
ein Lebensalter wurde erforderlich, um ein | einen einzelnen Laut, ſondern eine Silbe
Schriftſyſtem zu erlernen, welches durch
beſondere Bildzeichen oder Bildgruppen
alle die mannigfaltigen Begriffsbildungen
des ziviliſirten Lebens zu bezeichnen ver—
ſuchte. Ein ziviliſirtes Volk gerät überdies
notwendig mit ſeinen Nachbarn in Berüh—
rung. Es kann verſucht werden, ſich gleich
den Egyptern des alten Reichs oder den
Japaneſen einer jüngern Zeit in ſchwei—
gender Iſolirung abzuſchließen, aber frü—
her oder ſpäter werden die umringenden
Völker ſich Aufmerkſamkeit erzwingen,
wenn nicht auf friedlichem Wege, ſo durch
alle Eventualitäten des Krieges. Dann
kommt die Frage, wie durch Schrift fremde
Eigennamen ausgedrückt werden ſollen,
die keinen Sinn in der Sprache derjenigen
beſitzen, die ſich ihrer erinnern möchten?
Auf dieſe Frage giebt es nur eine Ant—
wort, nur eine Löſung der Schwierigkeit.
Man mußte aufhören, die Darſtellung
von Gegenſtänden und Ideen zu verſuchen
und mußte an ihrer Stelle Worte, das
heißt Laute, darſtellen. Der Tag, an
welchem dieſe Thatſache der menſchlichen
Intelligenz aufdämmerte, war einer der
wichtigſten unſers Geſchlechts. Ein Al—
phabet wurde möglich und mit ihm die
faſt unbegrenzte Macht, die Gedanken und
Bedürfniſſe der Menſchheit auszudrücken.
Aber es erforderte noch einige Zeit,
’ |
bevor die Möglichkeit verwirklicht wurde.
Große Entdeckungen werden, wie ſchon vor—
hin bemerkt, nicht auf einmal gemacht; ein—
fach, wie ſie erſcheinen, nachdem ſie gemacht
ſind, mußten ſie dennoch langſam und
Schritt für Schritt vorwärts gebracht wer—
den. Dem Alphabet ging eine Silben—
ſchrift vorauf, d. h. ein Syſtem von Schrift—
zeichen, in welchem jedes einzelne nicht
bezeichnete. Daß es ſo kam, war faſt unver—
meidlich. Wir teilen naturgemäß unſere
Worte nicht in Buchſtaben, ſondern in Sil—
ben und eine Silbe ſtand häufig für ein
Wort. Dies war beſonders der Fall bei
den drei leitenden Erfindern der Schrift,
den Chineſen, Egyptern und der akkadiſchen
Bevölkerung des urſprünglichen Chaldäas.
Viele der von dieſen Nationen gebrauch—
ten Begriffszeichen ſtellten nicht blos Be—
griffe, ſondern auch einzelne Silben vor,
und es war einleuchtend, daß ſie ange—
wendet werden konnten, um beide auszu—
drücken. Im Akkadiſchen bezeichnete das
Wort bat beiſpielsweiſe „ſterben“ und
wurde durch das Bild eines Leichnams dar—
geſtellt, aber bat bedeutete auch „Feſtung“
und ſo wurde das urſprüngliche Zeichen
eines Leichnams in das Bild einer „Um—
friedigung“ eingefügt, wenn die letztere
eine Feſtung oder Zitadelle bezeichnen ſollte.
Sobald die Gewohnheit ſich feſtgeſetzt
hatte, den Charakteren als phonetiſche
Werte ihre Ausſprache als Begriffszeichen
beizulegen, breitete ſie ſich reißend aus, bis
jedes Bildzeichen ſowohl eine ihm eigene
rein phonetiſche, als begriffliche Bedeutung
hatte. Der Vorgang wurde ohne Zweifel
ſtark durch den Verfall und die Zerſetzung
der alten Schriftgemälde befördert; es war
leichter, ein Schriftzeichen, welches ſeine ur—
ſprüngliche Bildform verloren hatte, als
bloßen Vertreter einer Silbe zu behandeln,
als eins, welches noch als ein getreues Bild
irgend eines Naturgegenſtandes verharrte.
Aber der Vorgang war von einer großen
Erleichterung begleitet. Begriffszeichen tra—
ten oft, wie wir geſehen haben, für mehr
als einen Begriff ein, oder derſelbe Begriff
mochte unter verſchiedenen Namen bekannt
N
A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 371
ſein; wenn daher das alte ideographiſche
Syſtem in eine ſillabariſches verwan—
delt wurde, ſo ſtellt jedes Begriffszeichen
mehr als eine Silbe vor. Die Polyphonie
jedes Zeichens, d. h. das Vermögen meh—
rere phonetiſche Werte zu bezeichnen, iſt ein
großer Stein des Anſtoßes für die Ent—
zifferer der egyptiſchen und aſſyriſchen In—
ſchriften geweſen und nur allmählich aus
dem Wege geräumt worden. Sie war auch
den Egyptern und Aſſyrern ſelbſt ein Stein
des Anſtoßes, und verſchiedene Erfindun—
gen wurden gemacht, um ihn zu vermeiden.
Weshalb es niemals feſtgeſetzt ward, ihn
völlig aus dem Weg zu ſchaffen, indem man
jeden Charakter auf den Ausdruck einer
einzelnen Silbe beſchränkte, muß wahr—
ſcheinlich derſelben Urſache zugeſchrieben
werden, welche uns ſo zähe an unſerem
eigenen polyphonen Alphabet feſtkleben
läßt, ich meine dem eingebornen Konſerva—
tivismus des menſchlichen Gemüts. In ir—
gend einer Weiſe war es einer ſpätern Zeit
und den fremden Entleihern der aſſyriſchen
Silbenſchrift überlaſſen, eine Verbeſſerung
vorzunehmen, die uns ebenſo einleuchtend
als notwendig erſcheint. Bis dahin konnte
alſo ein aſſyriſches Schriftzeichen nicht blos
begrifflich, ſondern auch als Vertreter meh—
rerer beſtimmter und verſchiedener Laute
gebraucht werden. Nehmen wir z. B. das
Zeichen, welches, wie wir geſehen haben,
urſprünglich einen Leichnam bedeutet. Da
das gebräuchliche Wort für einen Leichnam
im Akkadiſchen bat war, ſo blieb bat der
gewöhnliche phonetiſche Wert des Zeichens,
aber außer der Silbe bat bezeichnete es auch
die Silben mit, til und be und konnte, ganz
wie der Schreibende wollte, für die Bezeich—
nung irgend eines dieſer Silbenlaute ge—
braucht werden.
In dem achten Jahrhundert vor un—
ſerer Zeitrechnung wurde die aſſpriſche
Schriftweiſe von den Völkerſchaften ange—
nommen, welche zu jener Zeit Armenien
im Norden und Medien im Oſten bewoh—
ten, und die erſte große Reform wurde in
der Beſchränkung jedes Zeichens auf den
Ausdruck einer einzelnen Silbe eingeführt.
Um indeſſen die Silben darzuſtellen, wurde
eine ziemliche Menge von Charakteren er—
fordert, an der Seite von ba z. B., war
es nötig bi, be und bu zu haben, und jeder,
der leſen und ſchreiben zu lernen wünſchte,
mußte ein gutes Gedächtnis haben. Es
war den Perſern vorbehalten, die letzte
Verbeſſerung an dem Keilſchrift-Syſtem zu
machen, indem fie erfindungsreich ein Alpha—
bet herauszogen. Und der Weg, auf wel—
chem ſie dazu kamen, war folgender: Eine
gewiſſe Zahl von Charakteren wurde ge—
nommen, ihre Bedeutung als Begriffszei—
chen ins Perſiſche überſetzt, und der beſon—
dere Laut, mit welchem jedes dieſer per—
ſiſchen Worte begann, wurde dem Schrift—
zeichen als ſein alphabetiſcher Wert bei—
gelegt.
Was die vereinten Anſtrengungen meh—
rerer verſchiedener Raſſen und Nationen
in dem Falle der Keilſchriftzeichen der
Aſſyrer und Babylonier erforderte, wurde
ohne Hilfe und allein von dem wunder—
baren Volke des alten Egypten vollbracht.
Das Aſhmolean-Muſeum in Oxford ent—
hält eines der älteſten Monumente der
Ziviliſation in der Welt, wenn es nicht
thatſächlich das allerälteſte iſt. Es iſt der
Denkſtein eines Grabes, welches die letzte
Ruheſtätte eines Beamten ausmachte, der
zur Zeit des Königs Sent aus der zweiten
Dynaſtie lebte, deren Datum durch Ma—
riette auf mehr als 6000 Jahre zurück—
372 A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift.
geſetzt wird. Der Stein iſt mit jener zar—
ten und vollendeten Skulptur bedeckt, wel—
che die früheſte Periode der egyptiſchen Ge—
ſchichte auszeichnet und unvergleichlich hö—
her ſteht, als die ſteife und konventionelle
Kunſt der ſpäteren egyptiſchen Zeitalter,
die wir in unſern europäiſchen Muſeen zu
ſehen gewöhnt ſind. Aber er iſt außerdem
mit etwas noch Koſtbarerem alsfeine Skulp—
tur bedeckt: mit Hieroglyphen, welche zei—
gen, daß die egyptiſche Schrift ſogar in
dieſer fernen Epoche eine ausgebildete und
vollendete Kunſt war, hinter welcher lange
Jahre früherer Entwicklung lagen. Die
hieroglyphiſchen Charaktere find jedoch nicht
allein als Bildzeichen und Ideographen,
ſondern auch bereits zum Ausdruck von
Silben und Buchſtaben gebraucht, indem
z. B. der Name des Königs in Buch—
ſtaben geſchrieben iſt. In den Händen der
egyptiſchen Schreiber machte indeſſen die
egyptiſche Schrift niemals einen ferneren
Fortſchritt. Mit dem Fall des ſogenann—
ten alten Reiches (ungefähr 3500 v. Ch.)
ſchwand die friſche und expanſive Kraft des
Volkes dahin. Das egyptiſche Leben und
Denken verſteinerte ſich, und durch die lange
Reihe der folgenden Jahrhunderte glich
Egypten einer ſeiner eigenen Mumien, in—
dem es getreulich die Geſtalt und Züge
eines vergangenen Zeitalters und eines Le—
bens, welches in ſeinen Adern aufgehört
hatte zu pulſiren, aufbewahrte. Bis zur
Einführung des Chriſtentums beſtand die
einzige an der egyptiſchen Schrift vorge—
gangene Anderung in der Erfindung einer
fließenderen Schrift, welche in ihrer frü-
heren und einfacheren Form die hieratiſche
und in ihrer ſpäteren Geſtalt die demotiſche
genannt wurde.
Aber was die Egypter ſelbſt zu thun
unterließen, wurde von unternehmenden
und wißbegierigen Fremden vollbracht.
Für mehrere Jahrhunderte nach dem Fall
des alten Reiches war Egypten dem Verfall
und inneren Unruhen anheimgefallen, und
wenn es wiederum im Lichte der Geſchichte
auftaucht, ſo iſt es unter den Fürſten des
hundertthorigen Thebens in der als mitt—
leres Reich bekanntenPeriode. Während die—
ſe Fürſten Theben mit Tempeln und Granit—
koloſſen verzierten und in den Felſen von
Beni⸗Haſſan Gräber für ſich aushöhlten,
geſchah es, daß ums Jahr 2700 v. Ch. eine
kleine Anzahl von Einwanderern, ſieben und
dreißig im ganzen, im Delta ankam. Es
waren Schäfer und Rinderhirten von der
Küſte Phöniziens und Paläſtinas, und wie
mit einer inſtinktiven Ahnung der großen
Rolle, die ihre Nachkommen ſpäter in der Ge—
ſchichte Egyptens ſpielen ſollten, wurde ihre
Ankunft in Malerei und Hieroglyphen auf
den Wänden eines der Gräber vonBeni-Haſ—
ſan verewigt. Dort können wir ſie noch in
Mennigfarbe und Ocker porträtirt ſehen,
und in ihren Habichtsnaſen und ſchwarzen
Haaren die Züge der Schäferkönige, wel—
che Nordegypten 600 Jahre unter ihrem
Szepter behielten, wie auch der Kinder
Israels und der ſpätern Bevölkerung des
Deltas. Denn es kam eine Zeit, wo die
Egypter aus dem reichen und fruchtbaren
Lande des Deltas, dem erſten Sitze ihrer
Macht und Ziviliſation, ausgetrieben und
ihre Plätze eingenommen wurden von den
Händlern von Tyrus und Sidon und den
Ackerbauvölkern Südkanaans. Von dieſer
Zeit empfing das Delta einen neuen Na—
men bei den Unterthanen der Pharaonen,
es wurde Kaphtor oder Großphönizien
genannt, ſeit hier die phöniziſchen Semiten
ein reiches Gebiet und weitere Länder, ſich
A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift.
auszubreiten, fanden, als in dem eigenen
engen Küſtenſtrich ihrer Heimat.
Dieſe phöniziſchen Anſiedler ſind es,
denen wir unſer jetziges Alphabet verdan—
ken. Sie waren, wie ich geſagt habe, ein
unternehmendes Volk, und ihre kommerzi—
elle Geſchäftigkeit lehrte ſie bald den Wert
der Schrift ſchätzen, welche ihre egyptiſchen
Nachbarn beſaßen. Aber ſie waren, wie
Geſchäftsleute zu werden pflegen, nicht
blos ein unternehmendes, ſondern auch ein
praktiſches Volk, ſie empfanden nichts von
jener konſervativen Ehrfurcht vor der Ver—
gangenheit, welche unter den Egyptern
Wechſel und Neuerung verhinderte, und
nahmen, als ſie ſo in Egypten in die
Schule kamen, nicht das geſammte be—
ſchwerliche Hieroglyphenſyſtem mit ſeinen
Ideographen, Silbenzeichen und ſeiner
Polyphonie mit nach Hauſe, ſondern blos
ihr Alphabet. Alles übrige wurde beiſeite
geworfen ;ſie fanden zweiundzwanzig Buch—
ſtabenzeichen ausreichend, um all ihr Den—
ken und Sprechen aufzuzeichnen, und
nahmen demgemäß blos zweiundzwanzig
Zeichen mit. Dieſe zweiundzwanzig Zeichen
ſtellen das ſogenannte phöniziſche Alphabet
dar, welches von den Phöniziern einerſeits
den Hebräern und andererſeits den Grie—
chen überliefert ward, von denen es durch
die Römer auf uns gekommen iſt. Die
egyptiſchen Charaktere wurden von den
Phöniziern des Deltas nicht in ihren hiero—
glyphiſchen, ſondern in ihren hieratiſchen
Formen entliehen, wie zwei oder drei Bei—
ſpiele deutlich machen werden.
Das neue Alphabet nahm ſchließlich
ſeinen Weg von dem Delta nach der alten
Heimat der Phönizier an der Küſte von
Paläſtina. Bereits in der Zeit Davids
hatten die alten Syrier, ihre Geſchichts-
1
373
ſchreiber und Reichsannalen, und Hiram
von Tyrus ſchrieb, wie uns erzählt wird,
Briefe an König Salomon. Das phöni—
ziſche Alphabet, wie wir es nunmehr nen—
nen können, wurde den Israeliten zugleich
mit andern Kulturelementen überbracht
und die benachbarten Völker von Edom,
Ammon und Moabempfingen es zuderſelben
Zeit. Auch waren bereits den Buchſtaben
Namen beigelegt worden, die von phö—
niziſchen Worten, welche mit den betreffen—
den Buchſtaben des Alphabets anfingen,
herſtammten; a zum Beiſpiel wurde aleph,
„ein Ochs“, b beth, „ein Haus“, genannt
und ſo weiter. Auf dieſe Weiſe wurde die
Bedeutung jedes Buchſtabens um ſo leichter
dem Gedächtnis der phöniziſchen Schul—
knaben eingeprägt, gerade wie in unſeren
heutigen Kinderſtuben der Gedanke herrſcht,
daß wir weniger Schwierigkeit finden, un—
ſer A-B-C zu lernen, wenn wir belehrt
werden, daß „A ein Affe wäre, der einen
Apfel frißt“ “), als wenn uns einfach ge—
jagt würde, A wäre A. Namen und Buch—
ſtaben wurden gleichzeitig in die Grenz—
länder Phöniziens eingeführt, und im Laufe
der Zeit wurden Inſchriften in den neuen
Charakteren ſowohl auf Stein eingegraben,
als auch auf das vergänglichere Material
des Papyrus oder der Baumrinde gemalt.
Das älteſte auf uns gekommene Monu—
ment mit dem phöniziſchen Alphabet iſt
der vor einigen Jahren in der Gegend von
Dibon entdeckte Moabiter Stein, welcher
an die Eroberungen und Bauten des Kö—
nigs Meſha, des Zeitgenoſſen von Ahab,
erinnert. Die in den Charakteren dieſes
Steines angewendeten Formen müſſen die—
ſelben geweſen ſein, wie die von den jüdi—
*) Anm. d. Überſ. Im Engliſchen heißt
es: „A was an archer, who shot a frog.“
374
ſchen Propheten beim Niederſchreiben ihrer
Prophezeiungen und hiſtoriſchen Erinne—
rungen aus ihrer Zeit gebrauchten.
Mittlerweile hatten die nördlichen
Nachbarn der Phönizier, welche am Golfe
von Antiochia wohnten, Handelsreiſen in
den fernen Weſten unternommen und gleich-
zeitig mit den Waaren und den Gefäßen
des Oſtens eine Bekanntſchaft mit dem
Alphabet verbreitet. Sie hatten die Be—
wohner Kleinaſiens und der benachbarten
Inſeln im Beſitz einer Silbenſchrift ge—
funden, deren Urſprung noch ein Rätſel
iſt, aber als ſie weiter weſtlich gegen die
Inſeln des Ageiſchen Meeres und zu den
Buchten Griechenlands vordrangen, ent—
deckten ſie ein gänzlich ſchriftloſes und ſo—
gar mit den Anfängen der Schriftmalerei
unbekanntes Volk. Unter dieſem Volke,
welches wir jetzt Griechen nennen, errich—
teten ſie bald Kolonien, deren wichtigſte
in Theben und auf den Inſeln Melos und
Thera lagen. Die Inſel Thera war wahr—
ſcheinlich der erſte Fleck auf europäiſchem
Boden, auf welchem Worte in geſchrie—
bene Symbole übertragen wurden. Die
älteſten griechiſchen Inſchriften gehören,
wie von kompetenten Autoritäten ange—
nommen wird, nach Thera, und das Al—
phabet dieſer Inſchriften iſt das älteſte
Alphabet, welches wir kennen. Die Ge—
ſtalten dieſer Schriftzeichen zeigen eine ſo
nahe Ahnlichkeit mit denen des Moabiter
Steins, um unſern Schluß zu rechtfertigen,
daß das Ahnenalphabet, von dem die von
Moab und Thera beide abſtammten, das—
ſelbe, und daß das Datum der In—
ſchriften von Thera nicht ſehr entfernt
von demjenigen der Inſchrift des Königs
Meſha war. In dieſem Fall wird es in
Griechenland während des neunten Jahr—
A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift.
hunderts vor unſerer Zeitrechnung einge—
führt worden ſein.
Die Griechen ſelbſt glaubten, daß die
alte phöniziſche Kolonie im böotiſchen
Theben die Quelle und das Zentrum ge—
weſen, von welchem das Alphabet über
das Land ausgebreitet worden ſei. Kad—
mos, der „Oſtliche“, wie ſein Name ſa—
gen will, war ſein mythiſcher Erfinder,
obgleich ſpätere Legenden vermeldeten,
wie der geſchickte Palamedes und der
Poet Simonides in der Folge neue Buch—
ſtaben hinzugefügt hätten. Aber dieſe Le—
genden gehören insgeſammt zu den Fabeln
des litterariſchen Zeitalters; der Kern von
Wahrheit, den ſie enthalten, iſt die That—
ſache, daß das griechiſche Alphabet aus
Phönizien kam. Es iſt eine Thatſache, für
welche thatſächlich noch das Wort Alpha—
bet ſelbſt Zeugnis ablegt; alphabet oder
alpha, beta, die beiden erſten Buchſtaben
des Alphabets, ſind beide, wie wir ge—
ſehen haben, phöniziſche Worte.
Es würde langweilig und überflüſſig
ſein, den Schickſalen des Alphabets wei—
ter zu folgen, nachdem es einmal feſten
Fuß auf europäiſchem Boden gefaßt hatte.
Die Formen und in manchen Fällen die
Bedeutungen der Schriftzeichen wechſelten
allmählich und manche derſelben unter—
lagen beſonderen Modifikationen in ver—
ſchiedenen Teilen der griechiſchen Welt.
Eine geringe Praxis befähigt uns, durch
einen bloßen Blick auf die Formen der
Buchſtaben, ſofort zu unterſcheiden, zu wel—
chem ſpeziellen Zweige der griechiſchen
Raſſe eine Inſchrift gehört.
Gleich den Phöniziern vor ihnen, be—
zahlten die Griechen die empfangene Wohl—
that, indem ſie dieſelbe in ihrem Alphabet
den noch weiter weſtlichen Nationen über—
0
A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift.
brachten. Die griechiſchen Kolonien in
Sizilien und Süditalien, meiſtens doriſcher
Abkunft, brachten das doriſche Alphabet
mit ſich und demgemäß verwandten die
Eingebornen Süditaliens, als ſie zuerſt
zu ſchreiben begannen, das doriſche Al-
phabet ihrer Nachbarn. Von da geſchah
es, daß die Lateiner und wir ſelbſt nach
ihnen, dem Buchſtaben R einen Schwanz
anhefteten, der in dem alten phöniziſchen
Alphabete fehlt; von hier auch haben wir
durch die Römer den Buchſtaben @ geerbt,
der in allen griechiſchen Alphabeten mit
Ausnahme des doriſchen, verloren gegan-
gen iſt. Andererſeits lernten die Etrusker,
jenes geheimnisvolle Volk Norditaliens,
die Kunſt, Vaſen zu formen und zu be—
malen, von athenienſiſchen Töpfern, und
da die letzteren die Gewohnheit hatten,
die Namen der auf dieſen Darſtellungen
abgebildeten Götter und Heroen darüber
zu ſchreiben, ſo lernten die Etrusker zur
ſelben Zeit das altattiſche oder joniſche
Alphabet. Wir brauchen nur die Alpha—
bete Etruriens und Athens neben einander
zu ſtellen, um uns ſofort von dieſer That—
ſache zu überzeugen. R zum Beiſpiel wird
in beiden durch das ſchwanzloſe P wieder—
gegeben, wir ſuchen vergeblich in beiden
nach E, und die beiden verſchiedenen Zei—
chen, welche einſt für die Gaumenlaute e und
k ſtanden, ſind in eins verſchmolzen. Al—
phabete können, gleich Worten, durch rich—
tige Frageſtellung veranlaßt werden, ihre
eigene Geſchichte ſowohl wie diejenige des
Volkes, welches ſie anwendete, zu erzählen.
Die Alphabete des weſtlichen Europas
ſind die geraden Abkömmlinge des römi—
ſchen. Unſere (ſogenannten lateiniſchen)
Anfangsbuchſtaben ſind identiſch mit den—
jenigen, die auf den Monumenten der ewi—
375
gen Stadt eingegraben wurden, und wir
können mit Hilfe gleichzeitiger Dokumente
die aufeinanderfolgenden Anderungen ver—
folgen, welche dieſe Anfangsbuchſtaben
in die kleineren Typen der Druckerpreſſe
oder unſerer Handſchrift verwandelt ha—
ben. Auf ſolche Weiſe wurde AN, A, @
auf der einen, und N, a auf der andern,
während b und b zu B rückwärts ver—
folgt werden kann durch die Mittelſtufen
B. B, P. &, und 5.
Aber beim Entleihen oder Ableiten
eines Alphabets von dem andern hat ſtets
eine große Schwierigkeit überwunden wer—
den müſſen. Nicht bei zwei Völkern iſt die
Ausſprache genau die nämliche, vielmehr
differirt ſie, allgemein geſprochen, ſehr
weit. Infolge deſſen werden die von dem
einen Volke mit den Buchſtaben des Al—
phabets verknüpften Laute nicht in allen
Fällen mit denjenigen übereinſtimmen, die
von dem andern mit denſelben Buchſtaben
verbunden werden. Es wird ſich ferner
häufig ereignen, daß Laute in einer Sprache
fehlen werden, die in einer andern ſehr
im Gebrauche ſind. Bei der Entleihung
eines Alphabetes wird es daher nötig ſein,
mehr zu thun als es einfach zu übertragen;
es muß angepaßt werden, gerade wie die
Ausſprache franzöſiſcher Worte wie Paris
oder Marseille dem Genius der engliſchen
Ausſprache angepaßt worden ſind. Neue
Laute mußten den altenBuchſtaben beigelegt
werden, neue Buchſtaben mußten erfunden
oder aus alten umgeformt werden, wäh—
rend einige der alten Buchſtaben völlig
verſchwunden ſind. Es iſt indeſſen nicht
oft vorgekommen, daß ein Alphabet in ſo
wiſſenſchaftlicher Weiſe angenommen und
angepaßt worden iſt, daß es ſogar an—
nähernd all die eigentümlichen Lautabän—
376
derungen der Sprache der Entleiher aus-
drückt. Allgemein geſprochen iſt die An—
paſſung in roher und ſchnellfertiger Weiſe
geſchehen, und diejenigen, welche davon
Gebrauch machen, ſind oft in Streit ge—
raten, ob die Worte nach ihrer Ausſprache
klar verſtändlich ſeien in der Niederſchrift.
Oft iſt auch das Alphabet bei einem ſchrift—
loſen Volke oder bei einer Raſſe, die
bisher eine verſchiedene Schreibweiſe an—
wendeten, nicht gewiſſenhaft und mit Über—
legung eingeführt worden. Die meiſten un—
ſerer weſteuropäiſchen Alphabete ſind all—
mählich in dasjenige hineingewachſen, was
ſie durch die langſam wirkende Kraft der
Zeit und Umſtände und die auf einander
folgenden Verbeſſerungsverſuche einzelner
Perſonen geworden ſind. Wir können z. B.
nicht mit irgend wirklichem Zutrauen ſa—
gen, daß das engliſche Alphabet z. B. in
demſelben Sinne entliehen und angepaßt
worden ſei, in welchem es ſelbſt entliehen
und angepaßt wird, um die Laute
eines polyneſiſchen Dialektes darzuſtellen.
Von der Zeit an, in welcher es zuerſt auf
dieſem Inſellande unter der Geſtalt des
ſogenannten angelſächſiſchen Alphabets
eingeführt worden iſt, hat es eine fort—
laufende Geſchichte, eine Geſchichte von
langſamer und mitunter kaum merklicher
Anderung und Entwicklung durchgemacht,
welche, wenn es ihr geſtattet geweſen wäre,
ohne Einhalt und Hindernis vorwärts zu
ſchreiten, zu einem leidlich brauchbaren
Werkzeug zur Darſtellung und Einprägung
unſerer Worte geführt haben würde. Aber
ſie war unglücklicherweiſe vor nahezu 400
Jahren durch die Erfindung der Buch—
druckerkunſt plötzlich gehemmt. Die Be—
dingungen der Buchdruckerpreſſe ſtereoty—
pirten das Alphabet und die Rechtſchrei—
A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift.
GT — ——
N
0
7
u
bung der Zeit mit all ihren Unvoll-
kommenheiten und, was noch mehr, ſie
fixirten die Ausſprache der Worte, welche
jene Rechtſchreibung zu ſymboliſiren ver—
ſuchte. Es war vergeblich, daß ein geſun—
der Unabhängigkeitsſinn lange vorzuwal—
ten fortfuhr unter jener großen Zahl ge—
bildeter Engländer, die weder Drucker,
noch Autoren, noch Schulmeiſter waren, und
daß es noch bis zum Ende des letzten
Jahrhunderts als keine Schande für ir—
gend ein gebildetes Mitglied der Ariſto—
kratie galt, ſeine Rechtſchreibung einzu—
richten, wie es ihm bequem dünkte. Wir
brauchen blos die hinterlaſſenen Original—
handſchriften einiger der hervorragendſten
Engländer des achtzehnten Jahrhunderts
zu unterſuchen, um zu entdecken, daß ſie
noch fähig waren, die Freiheit der Privat—
rechtſchreibung gegen die Tyrannei der
Druckerpreſſe aufrecht zu erhalten.
Denn eine Sprache und ihre Aus—
ſprache müßte trotz aller Anſtrengungen
der Drucker und Pedanten, ihr eine enge
Jacke anzulegen, von Generation zu Gene—
ration wechſeln. Wir haben nur nötig,
unſere Ohren zu gebrauchen, um wahrzu—
nehmen, daß ſelbſt in dieſem gegenwärti—
gen Augenblick die Ausſprache des gebilde—
ten Engliſch in langſamer, aber ſicherer Ver—
änderung begriffen iſt. Ich möchte wiſſen,
wie Viele noch an dieſem Abend wie ich
ſelbſt, an der alten Ausſprache von either
und neither feſthalten und noch nicht zu
dem immer wachſenden Lager derjenigen
übergegangen ſind, welche den reinen Vokal
der erſten Silbe in einen Diphthong ver—
wandeln, oder die in der Betonung von con-
template und retinue noch nach der Weiſe
unſerer Großeltern mit dem gekrönten
Poeten übereinſtimmen? So lange eine
=
A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift.
Sprache lebt, muß ſie wachſen und ſich | buchſtabiren, ohne zu wiſſen weshalb, au—
verändern, gleich einem lebenden Organis—
mus, und bevor dieſe Thatſache nicht von
unſeren Schulmeiſtern anerkannt iſt, wer-
den unſere Kinder niemals die wahre Na-
tur der Sprache, die ſie ſprechen, und die
zu ihrem Eigentum machen. Der Wechſel,
Ausſprache des Engliſchen vor ſich ge—
gangen, iſt größer, als ohne Mühe ein—
geſehen wird. Sollte Jener noch einmal wie—
derkommen, um unter uns zu leben, ſo
würde das Engliſch, was wir ſprechen, ihm
faſt ſo unverſtändlich ſein, wie ein auſtrali—
ſcher Jargon, der Thatſache zum Trotze, daß
unſer Wörterbuch und unſere Grammatik
nur leicht von den ſeinigen abweichen.
Aber ein geläufiges Wort klingt fremd, wenn
ſeine Ausſprache auch noch ſo wenig ver—
ändert wird, und wenn die äußere Form
einer ganzen Gruppe von Worten verän—
dert iſt, würde ſich ſelbſt der geſchickteſte
Philologe in Verlegenheit befinden.
ſchmackter ſein, als der Verſuch, eine er—
loſchene Phaſe der Ausſprache zu mumi-
ficiren, beſonders wenn der Mumiendeckel
in ſeiner beſten Zeit nur eine rohe und un—
zureichende Hülle war, die nur ſchwach und
entfernt die Züge des darunter befindlichen
Leichnams porträtirte? Die engliſche Recht—
ſchreibung iſt eine bloße Reihe von will—
kürlichen Rätſeln, eine Sammlung der wil—
den Spekulationen und Etymologieen eines
vorwiſſenſchaftlichen Zeitalters und des lau—
niſchen Ungefährs unwiſſender Buchdrucker
geworden. Sie iſt kaum zu etwas ande—
rem gut, als unſere Sprache zu entſtellen,
die Erziehung zu erſchweren und falſche
Etymologieen nach ſich zu ziehen. Wir
Grammatik, die ſie in der Kindheit lernen,
ßer daß es in den Wörterbüchern ſo vor—
geichriebenift. Als man Voltaire erzählte,
daß a-g-u-e ague und p-l-a-g-u-e plague
ausgeſprochen würde, erwiderte er, er
wünſche, daß das kalte Fieber (ague) die
eine Hälfte der engliſchen Sprache und die
| Peſt (plague) die andere Hälfte hole, aber
der ſeit den Tagen Shakeſpeares in der
der Fehler liegt nicht in der engliſchen
Sprache, ſondern in der engliſchen Recht—
ſchreibung.
Die Unwiſſenheit iſt ſowohl die Ur—
ſache unſerer ſchlechten Orthographie, wie
ſie die Urſache des meiſten Mißgeſchicks
iſt, welches die Welt betrübt. Die kleine
Skizze der Geſchichte der Schrift, welche
wir ſoeben kurz verfolgt haben, hat uns
den Zweck gezeigt, dem die Schrift nach—
ſtreben ſollte, das Endziel, in welchem die
Anſtrengungen der früheren Jahrhunderte
ihre Erfüllung finden ſollten. Die Schrift
ſollte klar, glatt und ſo genau wie mög—
lich den individuellen Klang der Wörter
darſtellen, und wenn ſie das nicht thut, iſt
Kann deshalb irgend etwas abge—
ſie nicht viel über jene Kindheitsſtufen des
Wachstums vorgeſchritten, durch welche
wir ihren Kampf um den Fortſchritt beob—
achtethaben. Die Hauptlaute einer Sprache
ſollten jeder ſein eigenes Zeichen haben,
das beſonders geſetzt wird, um ihn zu be—
zeichnen, und jedes Symbol ſollte einen
Laut und nur dieſen Laut bezeichnen. Wir
ſollten niemals nur einen Augenblick we—
gen der Ausſprache eines Eigennamens
oder eines Wortes, welches wir niemals -
ausſprechen hörten, zu zögern haben. Bis
wir ein Alphabet haben, welches dieſe Be—
dingungen erfüllt, iſt unſer Schriftſyſtem
noch unvollkommen und irreführend und
unſere Ziviliſation iſt nach dieſer Seite
weniger vorgerückt, als die der alten Hindus.
1
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5.
48
378
Wir dürfen wohl die wilden Raſſen des
weſtlichen oder ſüdlichen Amerikas beneiden,
welche die Miſſionare mit entſprechenden
und rationellen Alphabeten verſehen haben,
um in ihnen ihre erſten litterariſchen Ver—
ſuche niederzuſchreiben. Ein Alphabet, wel—
ches uns geſtattet, den Laut e auf dreizehn
verſchiedene Arten auszudrücken, welches
keine ſpeziellen Zeichen für ſo häufige
Laute wie th in then oder a in man hat
und dennoch haſſenswerte und unnötige
Buchſtaben wie ce und x beſitzt, iſt ſeines
Namens unwürdig und noch mehr deſſen,
das Endreſultat aller jener Mühſal und
Gedankenarbeit zu ſein, die das phöniziſche
Alphabet zuerſt zurichtete, um die Idiome
von Athen und Rom dadurch auszudrücken.
Mitunter erzählt man uns, daß die Refor—
men unſeres Alphabets die Etymologieen
unſrer Worte zerſtören würde. Wiederum
nur Unwiſſenheit iſt die Urſache einer ſo
vorſchnellen Behauptung. Die Wiſſenſchaft
der Etymologie hat mit Lauten und nicht
mit Buchſtaben zu ſchaffen, und keine wahre
Etymologie iſt da möglich, wo wir nicht
die genaue Weiſe kennen, in welcher die
Worte ausgeſprochen wurden. Die ge—
ſammte Wiſſenſchaft der vergleichenden
Philologie iſt auf die Annahme gegrün—
det, daß die alten Hindus, Griechen, Rö—
mer und Gothen nahezu ſo ſchrieben, wie
ſie ausſprachen, oder, mit anderen Worten,
die glücklichen Beſitzer wirklicher Alphabete
waren. Es liegt in uns ſelbſt, zu beſtimmen,
ob wir auch ſo glücklich ſein werden.
Ich kenne die praktiſchen Schwierig—
keiten, welche auf dem Reformwege liegen,
aber ich weiß auch, daß ſie nicht unüberſteig—
lich find. Es iſt nicht durch Faullenzerei und
durch Scheu vor Mühe und Anſtrengung
A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift.
geweſen, daß England den Platz gewon—
nen hat, welchen es jetzt unter den Völ—
kern der Welt einnimmt, und der Wert
eines Dinges wird durch die Arbeit ge—
meſſen, die nötig war, es zu vollbringen.
Nach alledem iſt die Einführung eines
neuen Alphabets nicht viel verlangt. Es
iſt nicht mehr, als von den alten Phöni—
ziern des Deltas, von den Griechen, Rö—
mern, ja auch von unſern eigenen Ahnen
verlangt und erlangt wurde. Und viele
von ihnen hatten obendrein ihre geliebten
Idole aufzugeben, bevor ſie es annehmen
konnten. Ich bilde mir ein, es muß den
angelſächſiſchen Runenſchneidern einen ſo
harten Kampf gekoſtet haben, die neumo—
diſchen Alphabete der römiſchen Miſſionare
anzunehmen, wie es irgend einem von uns
koſten kann, das Alphabet der Drucker
aufzugeben für eines, welches bequem
unſer eigenes glänzendes Sprach-Erbe aus—
drückt. Aber damit kein Mißverſtändnis
über die Sache bleibe: Es iſt nicht eine
Reform der Rechtſchreibung, wie es oft irr—
tümlich und unrechtmäßig ausgeſprochen
wird, ſondern ein reformirtes Alphabet,
was verlangt wird. Wir können zu gutem
Zweck nicht mit unvollkommnen und ver—
brauchten Inſtrumenten arbeiten. Die
höhere Landwirtſchafterfordert den Dampf—
pflug und nicht das primitive Werkzeug
des egyptiſchen Bauers. Wenn die Ge—
ſchichte der Schrift uns etwas gelehrt hat,
ſo iſt es, daß die Schrift der Vervollkomm—
nung zugänglich iſt, und daß das, was in
alten Tagen durch diejenigen geſchehen iſt,
deren Ziviliſation wir als eine der unſri—
gen untergeordnete betrachten dürfen, auch
durch uns ſelbſt vollbracht werden kann.“)
9 Vgl. Nature, Nr. 538—539 (1880).
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
George Darwins Rechnungen über
die ſäkularen Anderungen der Nlond—
und Planekenbewegungen durch den
Einfluß der Gezeiten.
enn die Erde eine ganz feſte Maſſe
ohne alle Flüſſigkeiten wäre,“ ſo
ſchrieb der alles erwägende Kant in ſei—
ner 1755 veröffentlichten Allgemeinen
Naturgeſchichte der Erde und des
Himmels, „ſo würde die Anziehung we—
der der Sonne noch des Mondes etwas
thun, ihre freien Axendrehung zu verän—
dern. In dem Falle aber, daß die Maſſe
eines Planeten eine beträchtliche Menge des
flüſſigen Elementes in ſich faßt, werden
die vereinigten Anziehungen des Mondes
und der Sonne, indem ſie dieſe flüſſige Ma—
terie bewegen, der Erde einen Teil dieſer
Erſchütterung eindrücken. Die Erde befindet
ſich in ſolchenUmſtänden. Das Gewäſſer des
Ozeans bedeckt wenigſtens den dritten Teil
ihrer Oberfläche und iſt durch die Attrak—
tion der gedachten Himmelskörper in un—
aufhörlicher Bewegung, und zwar nach ei—
ner Seite, die der Axendrehung gerade
entgegengerichtet iſt. Es verdient alſo er—
wogen zu werden, ob dieſe Urſache nicht
.
der Umwälzung einige Veränderungen zu—
zuziehen vermögend ſei.“ Kant ſtellte eine
Rechnung an, welche ergab, daß zwei Mil—
lionen Jahre hinreichen würden, die Be—
wegungskraft der Erde aufzuzehren, wenn
die Kraft der Fluten bis ans Ende gleich
bliebe, und die Erde zu gleicher Dichtig—
keit mit dem Waſſer angenommen würde.
Nach dieſer Rechnung müßte aber, wie er
hinzuſetzt, in zweitauſend Jahren die Jah—
reslänge um 8,5 Stunden verkürzt wer—
den, und er ſchließt dieſe Betrachtungen
mit der Bemerkung: „Nun ſollten billig
die Zeugniſſe der Geſchichte herbeigeführt
werden, um die Hypotheſe zu unterſtützen;
allein ich muß geſtehen, daß ich keine Spu—
ren einer ſo wahrſcheinlich zu vermutenden
Begebenheit antreffen kann und andern da—
her das Verdienſt überlaſſe, dieſen Man—
gel womöglich zu ergänzen.“
Dieſe intereſſante Frage wurde im
Jahre 1848 von Robert Mayer von
Heilbronn, dem Entdecker der mechaniſchen
Wärmetheorie, wieder aufgenommen, und
derſelbe berechnete, daß die Tageslänge
in Folge der Verlangſamung der Axen—
drehung in einem Zeitraume von 2500
Jahren um ½¼16 Sekunde vergrößert wer—
den würde, doch hält er auch dieſe kleinere
380
Ziffer nach den inzwiſchen bekannt gewor—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
aus der Kant-Laplaceſchen Theorie er—
denen genaueren Daten über die Erddich- ſchloſſenen.
tigkeit u. ſ. w. nur unter der Bedin-
gung für annähernd richtig, daß ſich in—
zwiſchen die Temperaturverhältniſſe und
der Erddurchmeſſer nicht weſentlich ge—
ändert hätten. i
Inzwiſchen kamen verſchiedene Aſtro—
nomen, Hanſen, Adams und Delau—
nay (1863— 65), von einer andern Seite
Über die allgemeinen Reſultate dieſer
in ihrem ſpezielleren Teile nur Mathema—
wegen der von ihnen bemerkten Säkular⸗
änderung der mittleren Länge des Mondes
auf einen ähnlichen Schluß, nämlich daß
die Tagesdauer jet Hipparchs Tagen um
den 85. Teil einer Sekunde zugenommen
haben müſſe, und ſie fanden ſchließlich keine
andere kosmiſche Urſache, der ſie dieſe Ver—
änderung zuſchreiben konnten, als die Ge—
zeiten-Reibung. Eine Reihe hierauf be
züglicher Unterſuchungen ſind nun in den
Jahren 1878— 1880 von Mr. George
H. Darwin der königlichen Geſellſchaft
der Wiſſenſchaften in London vorgelegt
die Erde als ein zähflüſſiger Körper be—
trachtet werden dürfe, was im weſentlichen
zu denſelben Reſultaten führt, wie die aus—
gehende Rechnung, ſich aber beſſer auf die
älteren Zuſtände der Erde anwenden läßt,
bei denen es ſich mehr um die Reibung
dichterer Maſſen handelte. Zugleich hat
gemeiner gefaßt, daß er auch die Wirkun—
gen derſelben Urſache auf die Achſenrich—
tungen und Bahnformen ſtudirte und zu
dem Schluſſe kam, daß man, von dieſer
Urſache ausgehend, die jetzigen Verhält-
niſſe von einem Anfangszuſtande ableiten
Erde
ſchließlich von den Gezeiten der Meere aus— |
tellit die Ausdrücke Erde und Mond ge:
braucht werden . . . . Es ſcheint, daß wir,
müſſe, der ziemlich verſchieden iſt von dem
tikern und Aſtronomen zugänglichen Rech—
nungen hat ihr Urheber kürzlich in einem
Artikel der engliſchen Zeitſchrift Nature
(Nr. 532. 1880) einen Bericht erſtattet,
dem wir das folgende wörtlich entnehmen: .
„Wir wiſſen,“ ſagt der Verfaſſer,
„daß keine feſten Körper vollkommen ſtarr
oder vollkommen unelaſtiſch ſind, und daß
keine Flüſſigkeiten der innern Reibung er—
mangeln, weshalb die in irgend einem
Planeten erregten Gezeiten, mögen ſie nun
in ozeaniſchen Gezeiten oder in körperlicher
Verzerrung beſtehen, Reibung hervorbrin—
gen müſſen. Daraus folgt, daß die dyna⸗
miſche Unterſuchung in einiger Ausdeh—
nung auf gegenwärtige Planeten und Sa—
telliten anwendbar ſein muß. Was mich
anbetrifft, ſo glaube ich, daß dies den Schlüſ—
ſel zur Geſchichte des Syſtems giebt, aber
worden, Unterſuchungen, in denen ur-
ſprünglich davon ausgegangen wurde, daß
vielleicht wird hier der Kritik ein weites
Feld eröffnet.
„Die Unterſuchung ſoll ſich hier in ihrer
ſpeziellen Anwendung auf den Fall der
und des Mondes richten und
deshalb werden anſtatt Planet und Sa—
wenn wir die durch die Gezeitenreibung
in das Syſtem der Erde und des Mondes
Darwin das Problem noch in ſofern all-
hervorgebrachten Anderungen in der Zeit
rückwärts verfolgen, zu einem Anfangs—
zuſtand geführt werden, der ſich wie folgt
darſtellen läßt:
„Mond und Erde werden als anfangs
nahezu einander berührend gefunden; der
Mond kehrte der Erde ſtets dieſelbe Seite
zu oder war in ſehr langſamer Bewegung
|
4
91
+
A
3
2
9
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
der Erdoberfläche gegenüber befindlich;
|
381
minimum, in welchem das Syſtem von
das ganze Syſtem kreiſte innerhalb 2—4 ſeinem Anfangsſtadium nad) eben erfolg:
Stunden um eine Axe, deren Neigung zur
Ekliptik einen Winkel von 11045“ oder
etwas weniger betrug, und der Mond be—
wegte ſich in einer kreisrunden Bahn, de—
ren Ebene nahezu mit der des Erdäquators
zuſammenfiel.
„Dieſe Anfangsbildung unterſtellt,
daß der Mond durch das Zerreißen eines
urſprünglichen Planeten, der die vereinig—
ten Maſſen der Erde und des Mondes in
ſich ſchloß, infolge ſchneller Rotation oder
ter Zerreißung in zwei Körper bis zu ſei—
nem jetzigen Zuſtande fortgeſchritten ſein
könnte, vierundfünfzig Millionen Jahre
beträgt. Die thatſächlich durch dieſe Um—
anderer Urſachen hervorgebracht wurde.
trächtlichen Anſpruch auf Annahme ha—
In einer früheren Arbeit habe ich das
Zuſammentreffen nachgewieſen, daß die |
kürzeſte Umdrehungszeit einer flüffigen |
»Maſſe von derſelben mittleren Dichtigkeit
wie die Erde, welche noch mit einer ellip—
toidiſchen Gleichgewichtsform verträglich
iſt, zwei Stunden und vierundzwanzig
Minuten beträgt und daß, wenn der Mond
in dieſer Zeitperiode um die Erde kreiſte,
die Oberflächen der beiden Körper mit
einander in Berührung ſein mußten.
„Die Zerreißung des urſprünglichen
Planeten in zwei Teile iſt ein Gegenſtand
der Spekulation, aber wenn ein Planet
und ein Satellit in der oben beſchriebenen
anfänglichen Konfiguration gegeben ſind,
dann würde notwendigerweiſe ein dem
unſrigen ſehr ähnliches Syſtem unter dem
Einfluſſe der Gezeitenreibung entwickelt
werden müſſen.
„Die Theorie fordert, daß im Raume
nicht genug zerſtreute Materie vorhanden
ſei, um den Bewegungen der Erde und
des Mondes durch den Raum materiellen
Widerſtand zu leiſten. Auch wird eine hin-
reichende Zeitdauer verlangt. In einer
früheren Arbeit zeigte ich, daß das Zeit—
änderungen eingenommene Zeit wird ſicher—
lich viel länger ſein.
„Es ſcheint mir, daß eine auf einer
vera causa beruhende Theorie, welche die
Längen des jetzigen Tages und Monates,
die Schiefe der Ekliptik, die Neigung und
Exzentrizität der Mondbahn in quantita=
tive Beziehung zu einander bringt, be—
ben muß.
„Es wurde konſtatirt, daß die periodi—
ſchen Zeiten des Umlaufs ſowie der Um—
drehung des Mondes und der Erde bis
zu einer gemeinſamen Periode von zwei
bis vier Stunden rückwärts verfolgt wer—
den können. In einer früheren Arbeit war
die gemeinſame Periode zu einer Länge
von etwas über fünf Stunden gefunden
worden; aber jenes Reſultat war einge—
ſtandenermaßen auf einer teilweiſen Ver—
nachläſſigung der Sonnenanziehung baſirt.
. .. Die Periode von zwei bis vier Stun—
den iſt hier angegeben, weil es für den
Mond aus mechaniſchen Gründen unmög—
lich iſt, in weniger als zwei Stunden um
die Erde zu kreiſen, und es ungewiß iſt,
wie die Zerreißung des urſprünglichen
Planeten ſtattfand.
„Aber wenn Gezeitenreibung das
Agens geweſen iſt, durch welches Erde
und Mond in ihr jetziges gegenſeitiges
Verhältnis gebracht worden ſind, ſo müſ—
ſen ähnliche Anderungen auch in den übri—
gen Syſtemen vor ſich gegangen ſein,
welche das Sonnenſyſtem zuſammenſetzen.
.
9
382
Ich will deshalb einige Bemerkungen über
die andern Satelliten und Planeten machen.
„An erſter Stelle iſt es im ſtrengſten
Einklang mit der Theorie, daß der Mond
der Erde ſtets dieſelbe Seite zuwenden
mußte. Helmholtz war, glaube ich, der
erſte, welcher ſchloß, daß die Gezeiten—
reibung die Urſache der Reduktion der
Axendrehung des Mondes bis zur Iden—
tität mit ſeiner Kreisbewegung ſei. Es iſt
in dieſem Zuſammenhange intereſſant, zu
bemerken, daß das Teleſkop zu zeigen
ſcheint, daß die Jupitersmonde und wenig—
ſtens einer der Saturnmonde ebenfalls die—
ſelbe Eigentümlichkeit beſitzen.
„Der Vorgang, durch welchen die
Gezeitenreibung die Anderungen in der
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Konfiguration eines Planeten und Satel-
liten hervorbringt, iſt eine Zerſtörung von
Energie (oder vielmehr ihre teilweiſe Um—
wandlung in Wärme im Planeten mit
teilweiſer Wiederverteilung) und eine Über—
tragung von dem Winkelmomente der Pla—
netenumdrehung auf dasjenige des Kreis—
umlaufs der beiden Körper um ihr gemein-
ſchaftliches Trägheitszentrum.
„Nun hat ein großer Planet ſowohl
mehr Rotationsenergie, als auch mehr
Winkelmoment, woher zu erwarten iſt,
daß große Planeten in ihren Umwand—
lungen langſamer vorwärts ſchreiten wer—
den, als kleinere.
„Mars iſt der kleinſte von Monden
begleitete Planet und bei ihm allein fin—
den wir einen geſchwinder, als der Planet
rotirt, umlaufenden Mond. Dies wird
auch das ſchließliche Schickſal unſeres Mon-
des ſein, weil, nachdem vereinigte Mond—
und Sonnen-Gezeitenreibung die Erd—
rotation zu einer Gleichheit mit des Mon—
Gezeitenreibung fortfahren wird, ſie noch
weiter zu vermindern, ſo daß die Erde
langſamer rotiren wird, als der Mond
umläuft. a
„Bevor dies jedoch bei uns geſchehen
kann, muß der Mond zu einer ungeheuren
Entfernung von der Erde zurückweichen
und die Erde muß 40 — 50 Tage, ſtatt
24 Stundem zu einer Umdrehung gebrau—
chen. Aber die Marsmonde ſind ſo klein,
daß ſie nur eine ſehr kleine Strecke von
ihrem Planeten zurückzuweichen brauchten,
bevor die Sonnen-Gezeitenreibung die
Planetenrotation bis unter den Mond—
umlauf verminderte. Der ſchleunige Um—
lauf des innern Marsmondes mag alſo
im gewiſſen Sinne als eine Erinnerung
an die urſprüngliche Rotation des Plane—
ten um ſeine Axe betrachtet werden.
„Die Planeten Jupiter und Saturn
ſind ſehr viel größer als die Erde;
hier ſehen wir die Planeten mit großer
Schnelligkeit rotiren und die Monde in
kurzen Zeiträumen umlaufen. Die Nei—
gungen der Bahnen der Jupitersmonde
zu ihren eigenen Ebenen ſind vom Ge—
ſichtspunkte der vorliegenden Theorie ſehr
intereſſant.
„Das Saturnſyſtem iſt viel komplizir⸗
ter als das Jupiterſyſtem; es erſcheint
teilweiſe in einem frühen Entwidlungszu-
ſtande und teilweiſe weit vorgeſchritten.
„Die Details der Mondbewegungen
ſind kaum genau genug bekannt, um ge—
wichtige Argumente für oder gegen dieſe
Theorie zu liefern.
„Ich habe bis jetzt nicht den Fall ei—
nes von mehreren Satelliten begleiteten
Planeten oder Sterns unterſucht, aber
vielleicht werden künftige Unterſuchungen
des Kreislauf reduzirt hat, die Sonnen- ferneres Licht ſowohl auf den Fall des
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Saturns als des geſammten Sonnen—
ſyſtems ſelbſt werfen.
„Die berühmte Nebelhypotheſe von
Laplace und Kant nimmt an, daß ein
rotirender Nebel einen Ring abſchleuderte,
welcher zuletzt ſich zu einem Planeten oder
Satelliten verdichtete, und daß der Zentral—
teil des Nebels fortfuhr, ſich zuſammen—
zuziehen und den Kern der Sonne und
des Planeten bildete. Die hier vorgeſchla—
gene Theorie iſt eine beträchtliche Modi—
fikation dieſer Anſchauung, denn ſie nimmt
an, daß die Zerreißung des Zentralkörpers
nicht eher eintrat, als bis er teilweiſe ver—
dichtet war und nahezu ſeine jetzigen Di—
menſionen erreicht hatte.“
Aber die Flora iſolirter Inſeln im
allgemeinen und der oftlfrieſiſchen im
beſonderen
hat Dr. W. Behrens in Braunſchweig
in dem letzten Jahresbericht der „Natur—
wiſſenſchaftlichen Geſellſchaft von Elber—
feld“ einige biologiſche Bemerkungen mit—
geteilt, die wir um ſo lieber hier wieder—
geben, weil ſie Bemerkungen über die
Frage nach der Entſtehung der Blumen—
farbe enthalten, der Dr. Hermann Mül—
ler im vorliegenden Hefte unſrer Zeit—
ſchrift eine längere Arbeit gewidmet hat.
„Im Jahre 1875,“ erzählt der Ver—
faſſer, „hatte ich Gelegenheit gehabt, die
Flora einiger oſtfrieſiſchen Inſeln genauer
unterſuchen zu können. Neuerlich bin ich
durch das Studium verſchiedener pflanzen—
geographiſchen Schriften auf dieſes Thema
zurückgekommen; ich will verſuchen, hier
einige, vielleicht neue, allerdings nur frag—
mentariſche biologiſche Bemerkungen über
383
die Flora der oſtfrieſiſchen Inſeln nieder—
zulegen.
Die Schriften, welche ich im Auge
habe, ſind die Arbeiten über die Floren
der meiſten ozeaniſchen Inſeln, wie ſie ſich
in den verſchiedenſten Werken und Zeit—
ſchriften zerſtreut finden?); ferner A. R.
Wallace: „On the peculiar relations
of plants and insects as exhibited in
islands“**) und ein Aufſatz von Bonnier
und Flahault: „Observations sur les
modifications des vegetaux suivant les
conditions physiques du milieu.“ ***)
Wallace bringt die Armut kleiner
Inſeln an Pflanzen mit der Inſektenarmut
in Verbindung. Die Inſekten ſind als
Beſtäuber für die Pflanzen unumgänglich
notwendig; fehlen ſie, ſo gehen die auf
die Inſeln durch Luft- und Waſſerſtrö—
mung gelangten Pflanzen zu grunde;
ebenſo, wenn die auf der Inſel vorkom—
menden Inſekten nicht für die Beſtäubung
angeſchwemmter Pflanzen paſſen. Es er—
klärt ſich hieraus die ſeltſam fragmenta—
riſche Natur mancher Inſelfloren, auch
das Vorherrſchen gewiſſer Ordnungen und
Gattungen. Die große Armut an Schmet—
terlingen und Hymenopteren auf den öſt—
lichen Inſeln des ſtillen Ozeans hat die
Spärlichkeit und die ſo merkwürdige Ver—
teilung der Pflanzen auf dieſen Inſeln zur
Folge. Hingegen finden ſich auf den Fidji—
Inſeln viele Schmetterlinge und entſpre—
chend auch mannigfaltigere Gewächſe mit
auffallenden, für jene Thiere leicht er—
kennbaren Blüten. Auf Juan-Fernandez
*) ef. Griſebach, Die Vegetation der
Erde, a. a. O. f
**) Nature, 1879. Nr. 358, p. 406-408.
***) Annales des sciences naturelles.
Partie botanique, 6e serie. Tome VII (1869).
384
hat man bis jetzt nur 5 Inſekten (3 Schmet⸗
terlinge und 2 Hautflügler) gefunden; es
fehlen hier faſt ſämmtliche Blütenpflanzen,
während die Farnkräuter ganz außer—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ordentlich vorherrſchen. Anderwärts, auf
den Galapagosinſeln und Neuſeeland, ſind
gleichfalls nur wenige Inſekten vorhan-
den; Blütenpflanzen finden ſich jedoch in
überwiegender Zahl, allein ihre Blüten
ſind faſt ausſchließlich der Beſtäubung
durch den Wind angepaßt, ſind alſo von
dem Inſektenbeſuche unabhängig. Ja, auf
Triſtan d'Acunha, wo faſt alle Inſekten
fehlen, haben viele Pflanzen, z. B. ein
Pelargonium, die Blütenfarbe als nutz—
loſes Erbteil eingebüßt und im Laufe
der Zeit farbloſe Blüten erhalten. (Einen
anderen, ähnlichen Fall habe ich irgendwo
geleſen: Pringlea antiscorbutica, eine
endemiſche Crucifere von Kerguelen, ſcheint
|
urſprünglich windblütig geweſen zu ſein;
für die Wahrſcheinlichkeit des von den
vorkommt, bildet fie an den vor Wind ges
ſchützten Stellen ſolche bisweilen noch aus.)
während ſie gewöhnlich ohne Blütenblätter
Wallace erzählt uns ſchließlich, daß auf
ſehr vielen Inſeln die bevölkernden Pflan—
zen größtenteils windblütig geworden
ſind, während gleichzeitig der Duft ihrer
Blüten ſchwand: Verhältniſſe, welche durch
die Inſektenarmut jener Lokalitäten her—
vorgebracht werden.
Es iſt eine bekannte Thatſache, daß
an denjenigen Orten (z. B. auf dem Hoch-
gebirge, in den Polargegenden), die im gan—
zen eine ſpärliche Inſektenfauna beſitzen, |
die Pflanzen große und durch lebhafte
Farben ſchon von weitem in die Augen
fallende Blüten beſitzen. Man erklärt die— |
jes dadurch, daß an jenen Orten nur ſol—
chen Blütenpflanzen genügender Inſekten—
beſuch und genügende Kreuzung zu teil
.
wird, die den emſigen Beſtäubern ſchon
von weitem auffallen, alſo mit Leichtigkeit
gefunden werden können. Die weniger
auffälligen würden von den Beſtäubern
übergangen werden, würden feine Beſtäu-
bung erfahren und daher im Laufe der
Zeit (im Kampf um die Exiſtenz) unter⸗
gehen. Die großen Blüten der Pflanzen
von Hochalpen und Polarländern ſind alſo
die Produkte einer durch die Inſekten be—
werkſtelligten, natürlichen Zuchtwahl.“)
Gegen dieſe Erklärung wendet ſich die
oben citirte Arbeit von Bonnier und
Flahault, welche beweiſen wollen, daß
die Größe und Färbung der Korolle von
dem Inſektenbeſuch unabhängig iſt, daß
ſie ſich vielmehr richtet nach der Beleuch—
tungsintenſität, welcher die Pflanzen unter
verſchiedenen Breitengraden und in ver—
ſchiedenen Elevationen ausgeſetzt find. **)
Bezüglich der dort erbrachten Gründe
beiden Forſchern ausgeſprochenen Satzes
müſſen wir auf ihre Abhandlung ſelbſt
verweiſen, die Darlegung würde uns hier
zu weit führen. Es mag jedoch hinzuge—
fügt werden, daß Sachs“) und Aske—
naſyc) in ihren Unterſuchungen über den
Einfluß des Lichtes auf die Bildung der
Blütenfarbe zu dem Reſultate gelangt ſind,
daß letztere ſich unabhängig von erſterem
entwickelt.
Ich glaube hier für die Annahme, daß
die Größe der Blüte und die Intenſität
ihrer Färbung von der beſtäubenden In—
) Anm. d. Red. Vergleiche hiergegen je—
doch die Bemerkungen von Dr. H. Müller,
Kosmos, Bd. J, ©. 541.
) Anm. d. Red. Vergl. Kosmos, Bd. VII,
S. 141. '
s) Sachs, Bot. Ztg. 1863, 1865.
) Askenaſy, ibid. 1876.
N
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ſektenwelt abhängig iſt, einige neue That⸗
ſachen vorbringen zu können. Für die Un—
terſuchung dieſes Phänomens iſt meiner
Meinung die Flora der oſtfrieſiſchen In—
ſeln ſehr geeignet. Denn auch für ſie gilt
der von Wallace ausgeſprochene Satz,
daß auf den kleineren Inſeln gewöhnlich
Inſektenarmut herrſcht und abhängig da—
von die Flora ſehr unentwickelt iſt. Die
Inſektenfauna der oſtfrieſiſchen Inſeln iſt
bis jetzt noch nicht genauer unterſucht wor—
den; diejenigen Gründe, aus welchen ich
die große Spärlichkeit folgere, habe ich
bei einer Beſprechung von Cerastium te-
trandrum auseinander geſetzt.“) Bezüg-
lich der Flora liegen aber ſehr genaue
Daten vor; nach den fleißigen Zuſammen—
ſtellungen von Büchenau““) ergeben ſich
Pflanzenarten:
Borkum 271.
Norderney 229.
Langeroog. . 184.
Spiekeroog , 162.
Juiſt 156.
Wangeroog 155.
Baltrum 126.
Als ich zu Ende Mai 1875 das ab—
geſchloſſene Eiland Spiekeroog beſuchte,
eine Zeit, zu welcher die Frühlingsflora
von blühenden Pflanzen im ganzen 22
Arten, alſo 15% aller dort bis jetzt ge—
ſammelten. Die genannten 22 Arten laſ—
ſen ſich in zwei Gruppen teilen, nämlich
in ſolche, welche windblütig oder anemo-
phil ſind (7 Arten — 32) und ſolche,
deren Beſtäubung durch Inſekten geſchieht,
(15 Arten = 68%), alſo entomophile
Ta RE nur die ſchon von weitem erkennbare Ar-
) cf. Flora 1878, S. 229, 230.
*) Büchenau in Abhandlungen, heraus-
385 1
Pflanzen. Die blühenden Frühlingspflan⸗
zen von Spiekeroog waren die folgenden:
I. Anemophile Arten (7 — 320).
Plantago Coronopus, Rumex Acetosella,
Triglochin maritimum, Triglochin pa-
lustre, Luzula campestris, Carex are-
naria, Carex vulgaris.
II. Entomophile Arten (15 = 680).
Cochlearia danica, Viola canina lanci-
folia, Viola tricolor sabulosa, Cerastium
hemidecandrum, Cerastium tetrandrum,
Cerastium triviale, Erodium cicutarium,
Lotus corniculatus, Potentilla anserina,
Bellis perennis, Senecio vulgaris, Taraxa-
cum officinale, Myosotis hispida, Arme-
ria vulgaris maritima, Salix sepens.
Zunächſt die Bemerkung, daß die An—
zahl der anemophilen Pflanzen (32%) im
Vergleich zu den entomophilen (68% ,)
eine ungemein große iſt. — Bezüglich des
Standortes auf der Inſel laſſen ſich gleich—
falls anemophile und entomophile Pflan—
zen ſondern. Die der Beſtäubung durch
den Wind angepaßten wachſen vorzüglich
in der Nähe des Wattſtrandes, auf den
Wieſendiſtrikten der Inſel, welche den hef—
tigen, um jene Zeit faſt unaufhörlich
wehenden Winden ungehinderten Zutritt
der Inſel ſich entfaltet hat, fand ich dort
|
gegeben vom Naturwiſſenſchaftlichen Verein zu |
| durch welche man ſchon beim erſten An—
Bremen, Bd. IV, S. 260 — 271.
geſtatten. Die entomophilen hingegen ve—
getiren faſt ausnahmslos in den Dünen,
jenen oft ſo wandelbaren Sandhügeln,
zwiſchen welchen ſich tiefe, vor dem Winde
geſchützte Thäler ausbreiten, die der In—
ſektenwelt als willkommne Wohnſtätten
dienen. Nur hier entfaltet ſich denn auch
im Frühling ein farbenreicher Blumenflor,
während ſich auf das grüne Weideland
meria maritima hinauswagt.
Es iſt nun eine auffallende Thatſache,
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5.
49
386
blick jener Dünenflora überraſcht wird,
daß ſehr viele der entomophilen Früh—
lingspflanzen viel ſchöner, d. h. intenſiver
gefärbte und größere Blüten beſitzen, als
dieſelben Arten auf dem Feſtlande, nur
wenige Meilen von ihnen entfernt.
Von den in Rede ſtehenden 15 ento—
mophilen Pflanzen waren durch dieſes
Merkmal folgende 7 (alſo die Hälfte) aus—
gezeichnet;
1) Lotus corniculatus L. Blüten tief
orangegelb und teilweiſe rot angeflogen.
2) Viola canina L. var. lancifolia
Thore, Blüten tiefer blau als bei der
Normalform, größer und viel zahlreicher.
Auf Spiekeroog fanden ſich noch Exemplare
mit vollſtändig weißen Blüten.
3) Viola tricolor L. var. sabulosa
DO. gleichfalls durch große und intenſiv
gefärbte Blüten ausgezeichnet.
4) Taraxacum officinale Wigg. Blü⸗
tenköpfchen groß, ſehr dichtblütig, geſättigt
orangegelb, oft ins Rötliche ziehend (nicht
ſchwefelgelb wie auf dem Kontinente).
5) Senecio vulgaris L., desgleichen;
Blütenköpfchen groß.
6) Armeria vulgaris L. Dieſe Pflanze
nimmt auf den Inſeln einen höchſt eigen—
tümlichen Habitus an. Sie iſt niedriger
als die Kontinentalform, der Stengel be—
haart, die Blätter bewimpert, die Blüten—
köpfchen wie die einzelnen Blüten ſind
groß und von ſchön rot-violetter, zarter
Farbe. Sie bildet den Hauptbeſtandteil der
ſendiſtrikte deſſelben.
Weidelandflora; wenn man vom Strande
her ſich ihren Standorten nähert, ſo be—
merkt man ſchon von weitem die von ihr
bedeckten, hellroſafarbenen Flächen. Will—
denow hat ſie als eigene Art maritima
anſehen wollen; mit Büchenau*) bin ich
) Büchenau, a. a. O. S. 266.
—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
jedoch der Meinung, daß ſie nur eine Lo—
kalform von A. vulgaris darſtellt.
Die hier angeführten Daten ſprechen
für ſich ſelbſt. Die ärmliche Inſelflora
bietet, wenigſtens im Frühlinge, wenn
nur ſehr wenige Inſektenarten das ſturm—
gepeitſchte Eiland bevölkern, dieſen weni—
gen Gäſten ihre auffallenden, den ſüßen
Nahrungsſtoff enthaltenden Blüten dar.
Die auffälligſten Blüten werden von den
in der Einöde einzeln umherirrenden In—
ſekten am leichteſten bemerkt, ihre Beſtäu—
bung wird dem entſprechend regelmäßiger
vor ſich gehen, als die der unſcheinbareren
Nebenbuhler: ſie allein haben deshalb
Ausſicht auf Nachkommenſchaft. Daß die
Blütengröße und Farbe hier nicht mit
geographiſcher Breite, nicht mit Sonnen—
beleuchtung und dergl. zuſammenhängt,
iſt klar: der Beobachter, welcher der Inſel
den Rücken kehrt, betritt ſchon nach halb—
ſtündiger Fahrt auf ſchwankender Scha—
luppe das Feſtland wieder, wo ihm die ſo
eben verlaſſenen Bekannten, jedoch in bläſ—
ſeren Blütenfarben und umſchwirrt von
zahlreichen Inſekten, entgegentreten.
Daraus ergeben ſich folgende Sätze:
1) Die Flora der oſtfrieſiſchen Inſeln
beſitzt verhältnismäßig mehr anemophile
Pflanzen, als die der Kontinental-Gegen—
den Nordweſtdeutſchlands.
2) Die Flora der Dünenthäler der
Inſeln beſitzt weniger anemophile Pflan—
zen, als die dem Winde exponirten Wie—
3) Die Inſektenfauna der Inſeln iſt
im Vergleich zum naheliegenden Feſtlande
arm, die Kreuzungsvermittlung entomo—
philer Blüten durch dieſelbe daher erſchwert.
4) Viele Pflanzen der Inſeln, zumal die
der Frühlingsflora, unterſcheiden ſich, ähn—
|
.
lich wie die der Hochalpen und Polargegen—
den, durch Auffälligkeit der Blüten; ſie
ſind deshalb zumal durch intenſivere Ko—
rollenfärbung von den gleichen Species
des nahen Feſtlandes teilweiſe verſchieden.
5) Die Intenſität der Korollenfärbung
wächſt nicht, wie Bonnier und Fla—
hault annehmen, proportional mit der
geographiſchen Breite, iſt nicht abhängig von
der Inſolation, ſondern ſie iſt abhängig
von der mehr oder minder großen Spärlich—
keit der beſtäubenden Inſekten, ſo zwar, daß
ſie der Menge der pollenübertragenden
Tiere etwa umgekehrt proportional iſt.
Die Duftorgane des männlichen
Liguſterſchwärmers
(Sphinx Ligustri).
Seit Dr. Fritz Müller in Braſilien
die Funktion wenigſtens einer Klaſſe von
Schmetterlingsſchuppen, der Duftſchup—
pen, entdeckte, hat man letztere bei vielen
Schmetterlingen vorgefunden und ſich von
ihrer Thätigkeit überzeugt. In den erſten
Tagen des Juni prüfte ich denn auch der
Puppe entſchlüpfte Liguſter- und Kiefern—
ſchwärmer hinſichtlich dieſes intereſſan—
ten Punktes und fand ſogleich beim An—
faſſen des lebenden Schwärmers ſowohl,
als auch beim Drücken auf den Hinterleib
des toten Inſektes“) die am Rande der
Unterſeite des erſten Hinterleibsringes
ſpielenden Duftorgane (Fig. 1). Dieſel⸗
ben beſtehen aus je einem Büſchel, ſchon
bei unbewaffnetem Auge leicht auffallen—
der, Haarſchuppen, welcher ausgebreitet
und eingezogen wird. Beim Ausbreiten
der beiden ſymmetriſch angebrachten Duftor—
| * Der Druck auf den Hinterleib ſpannt
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
387
gane ſtrömt bei Sphinx Ligustri ein deut—
licher, noch in der Entfernung eines hal—
ben Meters bemerkbarer Moſchusduft aus,
welcher in Wegfall kommt, ſobald der
Schwärmer ſich zur Ruhe begiebt, wobei
nämlich der ganze Apparat in einer Falte
verſchwindet. Schon mit bloßem Auge ge—
wahrt man, daß je ein Duftorgan aus ei—
nem nach Art eines Beſens zuſammenge—
fügten Büſchel einzelner Haarſchuppen be—
ſteht, die am untern Ende feſt anein—
ander liegen, nach oben aber ſtrahlig aus—
einander ſtehen. Das Mikroſkop zeigt uns
aber bei 140 bis 200maliger Ver:
größerung ſehr deutlich, daß wir in dieſer
Vereinigung von Haarſchuppen mehr als
einen bloßen Duftſchuppenkomplex, daß
wir ein komplizirtes Organ darin vor
Augen haben. Die Haarſchuppen (Fig. 5,
dd d. . . .) find Kapillarröhren, welche ich
allmählich nach der Spitze hin verdünnen
und mit Bläschen einer eigentümlichen Sub—
ſtanz, dem Dufte, angefüllt ſind. Säßen
dieſe Haarſchuppen, die Dufthaare wol—
len wir ſie nennen, nun ausſchließlich mit
einer einfachen Wurzel (wu bei Fig. 8 u. 9)
gleich den gewöhnlichen Deckſchuppen in
Grübchen des Chitinſkelettes loſe eingeſteckt,
fo bliebe es unerklärt, wie ſie gerade nur bei
Erregung des Schwärmers funktioniren
könnten; das iſt aber auch nicht der Fall.
Die Dufthaare (Fig. 5, ddd....) ſind
nicht, gleich den Deckſchuppen, auf dem
Chitinpanzer eingelenkt, ſondern wurzeln
(Fig. 5, wu wu) in einem gemeinſchaftlich
ſie umſchließenden Hautſacke (sss), wel—
cher eine weiße, wolkige Maſſe enthält
und durch Muskelzug (mm) angeſpannt
werden kann. Sämmtliche Dufthaare ſte—
hen geſchloſſen neben einander (Fig. 3a)
und ſind durch ein Band (Fig. 6, ba) un⸗
nämlich die noch friſchen Muskeln ſtraff an.
388
I]
9.
*
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Funktionirende Duftorgane (DD) des Liguſterſchwärmers, mit unbewaffnetem Auge geſehen.
Ein ſolches (D) in der Ruhe, d. h. in der es umſchließenden Muskelfalte (t), begrenzt
und zugedeckt von haarähnlichen Grenzſchuppen (8).
. Dasjelbe, aus den umgebenden Muskeln und der Falte herausgenommen, im Ruheſtand;
3b natürliche Größe.
in Erregung. Durch ſeitlichen Muskelzug iſt die Falte (f), worin das Duftorgan ruhte,
breit geöffnet und letzteres ausgeſpreizt worden; 4b natürliche Größe.
Duftorgan, Wurzelpartie (200 mal vergr.). Die Dufthaare (d) ſtecken mit der Wurzel
(wu) in einer durch einen Sack (s) nach außen abgeſchloſſenen weißen Maſſe (ma); zu beiden
Seiten dieſes Sackes ſieht man die den Duftapparat in Funktion ſetzenden Muskeln (m.)
Unteres Ende eines Dufthaares; ca iſt ein Stück des mit Moſchusduft angefüllten Ka—
pillarrohres, ba ein Stück des ſämmtliche Dufthaare zu einem einheitlich funktionirenden
Organ verbindenden Bandes, welches bei Fig. 5 ebenfalls ſichtbar iſt; wu die zangen—
förmige, farbloſe Wurzel, welche in der weißen Maſſe ſich befindet.
Oberes Ende (Spitze) eines Dufthaares, zeigt bei ca das zufällig leere Ende der Kapillar—
röhre, welche übrigens mit Moſchusduft gefüllt iſt.
Die einfachen Wurzeln gewöhnlicher Hinterleibsſchuppen.
Eine Kielſchuppe, gleichfalls mit einfacher Wurzel und flach.
8
ter einander über der Wurzel verbunden,
und zwar ſo feſt, daß man kein einziges
verliert, wenn auch ein Apparat aus der
Chitinumhüllung am Ende der Falte
(Fig. 4a, f) mit Anſtrengung herausgezo—
gen wird. Die Wurzel (wu bei Fig. 6)
iſt zangenförmig geſtaltet und von zarter,
wahrſcheinlich membranartiger Beſchaffen—
heit. Die Art und Weiſe der Funktion
der Duftorgane denke ich mir nun folgen—
dermaßen: Wird der Schmetterling erregt,
ſo wirkt ſein Nervenſyſtem auf die Mus—
keln, welche die Falte (Fig. 2 u. 41) aus⸗
einanderbreiten, ſo daß ihre Mulde kahn—
förmig ſich öffnet und uns das ſichere Ge—
wahrſam des offenbar hochwichtigen Or—
ganes zeigt. Gleichzeitig ziehen die Mus—
keln (mm, Fig. 5) am gemeinſamen Bande
(ba, Fig. 5 u. 6) ſämmtlicher Dufthaare,
infolge deſſen letztere nachgeben und, die
gemeinſchaftliche Form einer Rute oder
eines Beſens verlierend, einen Strahlen—
büſchel (Fig. 4) bilden. Der Trichter des
letzteren erweitert und verengert ſich fort—
während beim Spiel der Muskeln, bleibt
ſtarr geöffnet, wenn dieſelben ſtraff ange—
zogen ſind, ſchließt ſich dagegen und fällt
ſchließlich in die Falte zuſammen, wenn
jeglicher Muskelzug aufhört. Die Mus—
keln ziehen aber auch den die Dufthaar—
wurzeln (wu) umhüllenden Sack (s bei
Fig. Za u. Fig. 5) ſtraff, wodurch ein Druck
der ihn ausfüllenden weißen Maſſe (Duft—
maſſe?) auf die weichen Wurzeln erfolgt, der
die Duftmaſſe durch das höchſtfeine Kapillar—
rohr ausſpritzen läßt, wie man aus teilweiſe
leergewordenen Spitzen der Dufthaare ei—
nerſeits und dem nur von der Stelle des
Duftorganes ausſtrömenden Moſchusduft
andererſeits ſchließen muß. Trotz öfterem
Gebrauche werden die Dufthaare nicht
1
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
389
leer, entweder weil die Duftmaſſe ſehr
ausdehnungsfähig und im verdünnten
Grade die ſehr enge und folglich ohne
Druck keinen Luftaustauſch zulaſſende
Röhre auszufüllen imſtande iſt, oder weil
die weiche Wurzel einen Teil der faſt zellen—
artig wolkig um dieſelbe lagernden weißen
Maſſe, die ganz anders ausſieht als die
Muskeln und ziemlich ſicher auch etwas
anderes iſt, aufnimmt und ſolchergeſtalt
den verlorenen Inhalt vermöge ihrer Quell—
barkeit und des horror vacui der Ka—
pillarröhre wieder erſetzt.
Wie kommt es, daß unſere Sphinxe
gerade die Duftorgane auf der Unterſeite
haben, und welche Bedeutung haben die—
ſelben? müſſen wir uns fragen. Bezüglich
der Bedeutung hat uns Fritz Müller
bereits aufgeklärt. Wir wiſſen jetzt, daß
ſie Korrelationsprodukte der Geſchlechts—
teile ſind, geeignet zur geſchlechtlichen
Anregung oder Reizung des Weib—
chens (Bewerbung). Die geſchlechtliche
Annäherung beim Genus Sphinx findet
aber nur im Fluge ſtatt. Die beiden Ge—
ſchlechter wirbeln im tollſten Fluge mit zu—
gekehrter Unterſeite oder Vorderſeite
(denn die Augen ſind auch etwas nach, unten“
gerichtet) um einander, krümmen den Hin—
terleib und wenn das Weibchen genügend
erregt iſt, was es durch Hervorſtrecken der
Legeröhre bekundet, ſo erfaßt die Zange
des Männchens das Hinterleibsende, und
die Begattung iſt vollzogen. Verkehrt
ſitzend findet man nächſten Tages zuweilen
noch das Paar an einem Baumſtamme
vereinigt, um ſich ſpäteſtens bei einbrechen—
der Dämmerung zu trennen. Das Weib—
chen beſitzt an Stelle der Duftorgane nur
Rudimente, vergleichbar dem rudimentä—
ren penis (clitoris) des Weibes oder den
390
rudimentären (weiblichen) Zitzen des Man—
nes, als eine Folge der Vererbung ur—
ſprünglich eingeſchlechtlicher Errungen—
ſchaften, ohne welche jede ſtarke ſexuelle
Verſchiedenheit ſchwer zu erklären wäre.
Wenn nämlich das Weib nicht alle Teile
des Mannes der Anlage nach beſäße,
wie könnten ſich aus unbefruchteten
Bieneneiern Drohnen entwickeln — ohne
Zuthat des Männchens?)
Während die Färbung des Leibes und
der hinteren Flügel der duftenden Sphinxe
mir ein faſt bedeutungsloſes Ergeb—
nis ihrer Schuppenkonſtruktion zu ſein
ſcheint, indem ſelbige in tiefer Dämmerung
dem ſchwachglühenden Auge kaum als eine
leuchtende auffallen dürfte, analog der
Farbe der Sphinxblumenkronen, welche
dieſe Wirkung entſchieden ausübt (weiße
Petunia, gelbe Nachtkerze, helle Schweizer—
hoſe, Geisblatt), müſſen wir einer wich—
tigen Beziehung gedenken, welche zwiſchen
dem Geſchlechtsdufte und dem Nahrungs—
dufte beſteht. Keine Blüten werden näm—
lich von den von mir beobachteten Duft—
faltern mehr geliebt, als ſolche, welche
ihren eigenen Geſchlechtsduft nach—
äffen. Winden- und Liguſterſchwärmer
beſuchen am liebſten die moſchusduf—
tende Schweizerhoſe (Weigelia), dann
die einen betäubenden Honig-Moſchus—
duft aushauchende Petunie; die Zygänen,
welche ihren honigduftenden Reiz—
apparat am letzten Hinterleibsring zu beiden
Seiten der Zange in Geſtalt zweier gelber,
wohlgefüllter Blaſen mit darauf befind—
lichen Haarſchuppen aufzuweiſen haben,
treiben ſich zu halben Dutzenden auf der
honigduftenden Scabioſe und Flocken—
blume herum. Die Richtigkeit der Jäger—
m x) Vgl. Kosmos. I. S. 505.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
8
7
Noiré'ſchen Anſicht, daß Geruch, Ge—
ſchmack und Geſchlechtsſinn in ihrer nahen
urſächlichen Zuſammengehörigkeit unter
Affinität zu begreifen ſeien, wird hier—
durch weſentlich beſtätigt. Andere Nacht—
falter, wie z. B. der große Hollunder—
ſpanner, folgen gleich den Tagfaltern bei
geſchlechtlicher Annäherung auf Entfernung
zuerſt dem Auge, in der Nähe erſt dem ſie
ſicher machenden Dufte. Das Weibchen
übt dabei jedoch keine willkürliche
Wahl aus.“)
Mainz. W. von Reichenau.
Aber die Variabilität der Alilch⸗
drüſen bei den Schafen der niederen
Cevennen
legte Dr. V. Tayon, Dozent an der land—
wirtſchaftlichen Lehranſtalt von Mont—
pellier, der Pariſer Akademie der Wiſſen—
ſchaften in den Sitzungen vom 19. April
und 3. Mai 1880 mehrere intereſſante
Arbeiten vor, aus denen wir das nachfol—
gende entnehmen:
Darwin drückt ſich in ſeinem Buche
über das Variiren der Pflanzen und Tiere
unter dem Einfluſſe der Domeſtikation hin—
ſichtlich der Euter der Schafe wie folgt
aus: „Das Vorhandenſein eines Milch—
drüſenpaares iſt ein gewiſſes Kennzeichen
der Gattung Ovis, ſowie der benachbarten
Formen; indeſſen hat Hodgſon bemerkt,
daß dieſer Charakter ſelbſt bei den wahren
und echten Schafen nicht abſolut beſtändig
iſt, denn er hat mehr als einmal bei den
9 Vgl. 1) Die Nefter und Eier der Vögel
(vom Verf.). Leipzig, Ernſt Günthers Verlag.
1880. S. 92. — 2) Entomologiſche Nachrichten.
Jahrg. 1879. S. 224. — 3) Dr. Rößler in den
Naſſ. Jahrbüchern f. Naturkunde. Jahrg. XXVXI.
u. XXXII. S. 240.
—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Cagias (einer am Fuße des Himalaya do—
meſtizirten Raſſe) vier Zitzen tragende In—
dividuen bemerkt. Dieſer Fall iſt um ſo
bemerkenswerter, als ein Teil oder Organ,
welches im Verhältnis zu demſelben Teile
bei verwandten Gruppen in einer geringen
Zahl vorhanden iſt, gewöhnlich nur wenig
der Variation unterliegt.“)
Wir haben zum erſten Male während
des Januars bei Herrn von Saint-Maurice
zu Tonnels, unweit Montpellier, in einer
aus 40 Larzak-Schafen, 20Cauſſinards und
einigen gekreuzten Individuen (Larzak-Bar⸗
barin und Cauſſinard-Barbarin) drei Schafe
mit vier ſämmtlich milchgebenden Zitzen
getroffen. Zwei dieſer Tiere waren Lar—
zaks, das dritte Larzak-Barbarin.““)
Jedes von ihnen hat ein mit vier Zitzen
verſehenes Lamm geworfen. In derſelben
Herde zeigte ein Widder der letzterwähnten
Baſtardraſſe 4 gleiche Warzen. Die Cauſſi⸗
nards hatten alle nur 2 ſichtbare Zitzen.
In Folge dieſer Beobachtung faßten
wir den Entſchluß, in das Land zu gehen,
wo man die Schafmilch ausbeutet, in der
Hoffnung, dieſe Thatſache verallgemeinern
) Dritte deutſche Ausgabe (1878), I. S. 104.
**) Anm. d. Red. Über die hier erwähn—
ten Schafraſſen iſt folgendes zu bemerken: Das
Barbarin oder franzöſiſche Fettſchwanzſchaf iſt
nach Bohm, „Schafzucht“, Bd. 2, S. 474 offen⸗
bar nur ein von Algier herüber gebrachter Stamm
des berberiſchen oder algieriſchen Fettſchwanz⸗
ſchafes und unterſcheidet ſich nach Moll und
Gayot von demſelben durch geringere Größe,
ſchwächeren Schwanz, Hornloſigkeit und kürzere
Wolle. Es wird hauptſächlich in den ſüdlicheren
Departements von Frankreich, und zwar in Ge- |
genden, in denen das Merinoſchaf nicht gedeiht,
gezüchtet. Die Larzaks und Cauſſinards ſind lo—
kale Varietäten, die nach dem Causse de Lar-
zak und nach den übrigen Plateaux des Caus-
ses der ſüdlichen Cevennenausläufer benannt find.
391
zu können. Wir begaben uns gegen Ende
des Februars auf das Plateau von Lar—
zak nach Caylar, einem in 833 m Höhe be—
legenen Dorfe des Departement l'Herault,
zu der Herde des Herrn Salze, die aus
90 Tieren der Larzakraſſe beſtand. Wir
haben daſelbſt nur ein einziges mit vier
Zitzen (die ſämmtlich Milch geben) verſehe—
nes Schaf angetroffen. Zu Sankt Felix
hatten beinahe alleLarzak-Barbarin-Schafe
der aus 110 Tieren beſtehenden Herde
vier Zitzen. In la Cavalerie (Aveyron),
dem Mittelpunkte der wichtigen und alten
Produktion, haben wir mehr als 4000
Schafe unterſucht und bei einer großen
Zahl derſelben vier Zitzenkonſtatirt. Ebenſo
in Roquefort und Lauras.
Die Entwicklung der ſupplementären
Zitzen oder Euter ſcheint, trotz aller großen
Unterſchiede, welche vorkommen, nach einer
gewiſſen Ordnung ſtattzufinden. Die bei—
den hintern Zitzen ſind immer voluminös
und oft ſtärker entwickelt als die anderen.
Sie entſprechen in ihrer Lage den norma—
len Zitzen. Die vordern beiden oder vier
überzähligen Zitzen ſind gewöhnlich kleiner
und geben nicht immer Milch. Mitunter
iſt nur eine überzählige Zitze, ſei es auf
der linken oder der rechten Seite, aber im—
mer vorn belegen. Die überzähligen Eu—
ter treten alſo ohne Ausnahme an den vor
der Drüſe belegenen Teilen auf, während
ſich das Gegenteil bei unſern Milchkühen
zeigt (Sanſon).
Die Gegenwart von vier Zitzen iſt
alſo bei den Schafen der untern Cevennen
eine ſehr gewöhnliche Thatſache. Wir ha—
ben fie zu Caylar, Saint Felix, La Cava-
lerie, Roquefort u. ſ. w. konſtatirt. Es iſt
kaum zu bezweifeln, daß man dieſe Dispo—
ſition auch an andern Punkten, wo die
N
392
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Milchinduſtrie eine hohe Vollendung er-
reicht, finden wird, z. B. zu Camares und
Saint Maurice. Bei allen dieſen Milch—
ſchafen iſt eine allgemeine Tendenz zur Hy—
pertrophie vorhanden, anfangs einfach,
dann mit Vermehrung der Zitzenzahl.
Wenn wir irgend einen mit vier Zitzen
verſehenen Ahnen der Schafe kennten, ſo
könnten wir an einen einfachen Rückſchlag
auf ein typiſches Urſchaf mit vier Zitzen,
welches zu einer gegebenen Zeit gelebt
hätte, denken.
Wenn die vier Zitzen in den Käſe—
fabriken geſucht würden, dann könnte man
glauben, daß ein oder mehrere Schafe mit
vier Zitzen gelegentlich ohne nachweisbare
Urſache erſchienen ſeien, und daß ein in—
telligenter Züchter ſie abſichtlich konſervirt
und verbreitet hätte.
Die Tiere mit vier Zitzen ſind, wie
wir es geſagt haben, oft Kreuzungen von
Larzak und Barbarin; ja es iſt ſogar
ſchwer, abſolut reine Barbarins anzutref—
fen; die 1810 durch den General Soli—
gnac erfolgte Einführung der Merinos
zu Labaume hat Spuren bei vielen Tieren
mit vier Zitzen zurückgelaſſen. Man würde
ſich fragen können, ob dieſe Kreuzungen
mit den Merinos und Barbarins nicht eine
gewiſſe Rolle bei der Erſcheinung der neuen
Zitzen geſpielt haben.
„Gewiſſe Eigentümlichkeiten,“ ſagt
Darwin, „welche, die unmittelbaren El—
tern nicht charakteriſiren, von ihnen alſo
auch nicht herſtammen können, erſcheinen
öfter in der Nachkommenſchaft zweier ge—
kreuzten Raſſen, während ſie niemals oder
wenigſtens höchſt ſelten auftreten, ſo lange
man ſich enthält, ſie zu kreuzen.“
Endlich können ſicherlich das Alter
der Milchſchafe in den niederen Cevennen
und die ſpezielle Behandlung, der ſie un—
terworfen werden, als modifizirende Ur—
ſachen angeſprochen werden.
Mehrere Dokumente erlauben uns
thatſächlich zu verſichern, daß die Schaf—
herden von Larzak ſeit langen Jahrhun—
derten zur Milchwirtſchaft benutzt wurden.
Plinius ſpricht von den Käſen des Berges
Luzara (Lozere), welche man zu feiner Zeit
von Nimes nach Rom brachte. Bose, der
Geſchichtsſchreiber von Rouergue, konſta—
tirt, daß im Jahre 1070 Flotard von Cor-
nus, als er dem Kloſter von Conques eine
Landſchenkung machte, unter ihren Ein—
künften zwei Käſe aufzählte, welche ihm
durch ebenſoviele aus den Felſenhöhlen von
Roquefort wiedererſtattet werden mußten.
Die Milchergiebigkeit hat ſich demnach
ſeit Jahrhunderten langſam von Genera-
tion zu Generation übertragen und ver—
mehren können. Die Züchter von ehemals
und ſelbſt die von heute haben, indem ſie
immer die Lämmer der beſten Milchſchafe
auswählten, unbewußt Reſultate erzielt,
an welche ſie nicht haben denken können.
Fügen wir dem vorſtehenden hinzu,
daß man die Schafe auf eine beſondere,
der Aufmerkſamkeit würdige Art behan—
delt. Die Melkung kann in drei verſchie—
dene Operationen geteilt werden. Die erſte
beſteht darin, alle Milchdrüſen zugleich
zwiſchen beiden Händen zu drücken, als ob
man einen Schwamm auspreßt. Die zweite
oder eigentliche Melkung wird wie bei den
andern Milchtieren ausgeführt. Wenn die
Drüſen keine Milch mehr zu enthalten
ſcheinen, operirt der Schäfer mittelſt der
Massage oder Soubatage weiter. Erfchlägt
die drüſigen Teile kräftig mit dem Hand—
rücken und führt dann eine neue Melkung
aus. Nach dieſem neuen Zuge wird die
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Maſſage von neuem mit derſelben Heftig⸗
tigkeit ausgeführt. So wird von gefchid- |
ten Schäfern fortgefahren, bis die Drüfen
auch nicht die kleinſte Milchmenge mehr
liefern. Wir haben dieſer Methode zu—
ſchauen und ihre Nützlichkeit erkennen kön—
nen. Sie veranlaßt gleichzeitig eine völ—
lige Entleerung der Drüſen und einen
ſtarken Blutzufluß zu denſelben.
Kurz, eine ausgedehnte Ausleſe und
die eben beſchriebene beſondere Behand—
lungsweiſe haben zuſammen wirken müſ—
ſen, um das Volum der beiden Euter zu
vermehren und die Erſcheinung von 2, 4
oder 6 neuen Zitzen hervorzurufen.
Es iſt nicht zu bezweifeln, daß wir in
kurzer Zeit im Beſitz einer vierzitzigen
Schafraſſe ſein würden, wenn die Züchter
ſich mehr als bisher darauf verlegen woll—
ten, dieſe merkwürdige Abart zu erhalten
und zu fixiren.“
Dieſen Mitteilungen fügte Herr V.
Ta yon in der Sitzung der Pariſer Aka—
demie vom 3. Mai 1880 die folgenden
hinzu:
„Am 15. Februar habe ich bei dem
Eigentümer Herrn Gauthier zu Launas
ein mit ſechs gleichmäßig entwickelten Zitzen
verſehenes Schaf von den Larzakplateaux
unterſucht. Das männliche Schaf, welches
ſie nährte, zeigte ſeinerſeits vier Warzen
und nahm nach Belieben die eine oder
andere der ſechs Zitzen. Herr Gauthier
hat mir verſichert, daß er im vorigen Jahre
ein mit acht, ſämmtlich Milch gebenden
Zitzen verſehenes Larzakſchaf dem Metzger
übergeben habe. Am 30. April habe ich
Gelegenheit gehabt, in meinem Laborato—
rium in der landwirtſchaftlichen Lehranſtalt
von Montpellier ein mit vier Zitzen ver—
ſehenes Larzakmutterſchaf zu unterſuchen.
|
393
Eine ſorgfältige Sektion geftattet mir zu
verſichern, daß jede von den Zitzen einer
unabhängigen und iſolirten Milchdrüſe ent—
ſpricht. Man findet, wie bei der Kuh, zwei—
ſeitige Drüfen, die durch eine mittelſtän—
dige, aus gelbem Faſergewebe gebildete
Scheidewand getrennt werden. Die beiden
Euter derſelben Seite ſind nur durch ein
wenig feſtes Bindegewebe (tissu conjonctif
peu serré) von einander geſondert, aber
im übrigen völlig ſelbſtändig.
„Schließlich habe ich noch in der Um—
gegend von Saint-Georges eine Ziege mit
vier Zitzen geſehen, was anzudeuten ſcheint,
daß bei allen Tieren, deren Zitzen anormal
funktioniren, eine Neigung zur Hypertro—
phie und Vermehrung der Milchdrüſen
vorhanden iſt.“ (Revue internationale
des Sciences par L. de Lanessan.
Mai et Juin 1880.)
Zur hiſtoriſchen Entwicklung des
Farbenlinnes.
In der Mai-Sitzung der Berliner An-
thropologiſchen Geſellſchaft hielt Herr Ober—
ſtabsarzt Dr. Rabl-Rükhard über die
in den letzten Jahren vielfach von wiſſen—
ſchaftlicher Seite ventilirte Frage über die
Entwicklung des Farbenſinnes einen Vor—
trag, dem wir kurz nach dem Bericht der
„Voſſiſchen Zeitung“ folgendes entnehmen:
Herr Dr. Hugo Magnus, der be—
kannte Breslauer Ophthalmolog, war be—
kanntlich lediglich auf Grund ſprachlicher
Beweiſe zu dem auffallenden Schluß ge:
langt, daß den Griechen der homeriſchen
Zeit, ja ſelbſt den Zeitgenoſſen des Pytha—
goras und Kenophanes, die beide im ſechs—
ten Jahrhundert vor Chr. Geb. lebten, die
Unterſcheidung der lichtſchwächeren Farben
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3.
50
394
des Spektrums, des Grün und Blau ab-
gegangen ſei. Dieſen Ausführungen wurde
bald darauf von zwei Seiten entgegenge—
treten, durch Herrn Ernſt Krauſe in der
Zeitſchrift „Kosmos““ ), und durch den Vor—
tragenden, Dr. Rabl-Rükhard, und da—
bei geltend gemacht, daß es unlogiſch ſei,
die Entwicklung des ſprachlichen Ausdrucks
zum Maßſtab der Höhe der phyſiologiſchen
Leiſtung des Sinnesorganes zu machen,
da beide auch auf anderen Gebieten durch—
aus nicht mit einander Schritt halten. Es
wurden u. a. die altegyptiſchen bildlichen
Darſtellungen dafür als Beweis ins Feld
geführt, daß jenes uralte Volk die Farben
korrekt angewendet und ſomit korrekt ge—
ſehen hatte. Wenn dieſe Bilder die Bäume
grün, das Waſſer des Nil blau, das Gold
gelb, das Kupfer rot zeigen, ſo kann man
doch unmöglich annehmen, daß das Volk,
für welches ſie berechnet waren, Grün und
Blau als nicht von einander verſchiedene
Farben anſah.
Gleichzeitig mit dieſen Erörterungen
fiel die Veröffentlichung eines Verfahrens,
die Farbenblindheit zu erkennen, zuſam—
men, nachdem die frühere Methode, nach
welcher der zu Unterſuchende die Farbe
eines bunten Papierſtreifens anzugeben
hatte, deshalb als mangelhaft erkannt
worden war, weil weniger gebildete Per—
) Bd. 1, S. 264 (1877). In Anbetracht
der vielfachen, zum Teil unqualifizirbaren Ver—
ſuche, mir das geringe Verdienſt, die Geigerſche
Träumerei zuerſt gründlich widerlegt zu haben,
wegzunehmen, bin ich Herrn Oberſtabsarzt Dr.
Rabl-Rükhard doppelt dankbar, daß er ſo⸗
wohl vor der Naturforſcher-Verſammlung in
Baden-Baden, als auch in der Berliner Anthro—
pologiſchen Geſellſchaft Veranlaſſung genommen
hat, die Priorität einer ihm völlig unbekannten
Perſon in dieſer Angelegenheit gebührend zu
wahren. K
Be
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ſonen aus mangelnder Uebung und Un—
ſicherheit in der Bezeichnung der Farben
dabei irrtümlich für farbenblind gehal—
ten werden konnten. Dieſes neue Holm—
gren'ſche Verfahren, bei dem der zu Prü—
fende ohne irgend eine Farbenbezeichnung
aus einer Anzahl von bunten Wollproben
diejenigen herauszuſuchen hatte, die in der
Farbe gleich oder ähnlich waren, zeigte ſich
zugleich als ein außerordentlich geeignetes
Mittel, den Farbenſinn der Naturvölker
zu unterſuchen. Wenn nämlich wirklich,
wie Dr. Magnus zu beweiſen verſucht
hatte, der Farbenſinn, d. h. die phyſio—
logiſche Leiſtung des Sehorgans in Bezug
auf die Unterſcheidung der verſchiedenen
Farben ſich in der relativ kurzen Zeit von
Homer bis jetzt ſo vervollkommnet hat,
mußte die Annahme ſehr nahe liegen, daß
noch jetzt gewiſſe rohe Völkerſchaften, deren
Kultur eine primitive und deren geiſtige
Entwicklung eine weit zurückgebliebene
war, mit Bezug auf die Farbenunterſchei—
dung auf dem Standpunkt der Homeri—
ſchen Zeit verharrten.
Bereits 1877 wurden auf Holmgren's
Veranlaſſung von den imNorden Schwedens
anſäſſigen Arzten derartige Unterſuchungen
bei den Lappländern angeſtellt. Bis jetzt ſind
269 Fälle unterſucht worden, von denen 158
Männer mit ca. 6 Proz. und 111 Weiber
mit noch nicht ganz 1 Proz. farbenblind
waren. Weiterhin legte Holmgren im
Beginn des Jahres 1878 dem Chef und
dem Arzt der letzten Vega-Expedition die
Unterſuchung der Polarvölker dringend
ans Herz. Auch die in Deutſchland vor—
geſtellten Nubier und Lappen wurden un—
terſucht. Während die Reſultate der letz—
ten Forſchungen bereits durch die wert—
volle und exakte Arbeit des Prof. Schö—
—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ler in der Berliner Zeitſchrift für Ethno—
—
0)
39
Sie achten überhaupt ſehr wenig auf Far:
logie veröffentlicht find, liegen abermals ben. Ferner prüfte Herr Dr. Alm quiſt
zwei Publikationen auf dieſem Felde vor.
Ein ſchwediſcher Aufſatz Holmgrens,
„Beitrag zur Beleuchtung der Frage über
die hiſtoriſche Entwicklung des Farben-
obgleich auch unter dieſem Volk die Be—
ſinnes“ und eine Broſchüre von Magnus:
„Unterſuchungen über den Farbenſinn der
Naturvölker.“ Ueber die Ergebniſſe beider
Arbeiten ſtattet der Vortragende einen Be—
richt ab.
Der Arzt der „Vega“, Herr Dr.
Almquiſt, hat, getreu der an ihn von
Holmgren gerichteten Mahnung, die Ge—
legenheit benutzt und verſchiedene Polar—
völker, mit denen die Expedition in Be—
rührung trat, unterſucht. Von nicht ganz
20 Lappen und 10 Samojeden erwies ſich
je Einer als farbenblind, alle anderen wa—
ren normal. Reichlichere Gelegenheit bot
ihm der längere Aufenthalt in dem Win—
terquartier am Vorgebirge Serdze bei den
Tſchuktſchen. Hier unterſuchte er 300 Per-
| mittelft der Holmgren’shen Methode,
ſonen, d. h. etwa den zehnten Teil des
ganzen Volkes. Die Holmgren'ſche Me-
thode kam, ohne Vermittelung von Dol—
metſchern leicht zur Anwendung. Von den
300 Geprüften konnten 27 nicht als nor—
malſehend bezeichnet werden; von dieſen
dürften neun, und zwar lauter Männer,
vollſtändig farbenblind ſein. Was die
Farbenbezeichnung dieſer Leute anbelangt,
ſo haben ſie ein viel gebrauchtes Wort für
Rot; Gelb nennen ſie meiſt Weiß, Grün
oft Weiß oder Schwarz, geſättigtes Blau
aber ſie iſt doch immer eine außerordent—
liche Minderzahl gegenüber der Zahl Nor—
faſt immer Schwarz. Selten bezeichnen
ſie farbige Gegenſtände anders als Rot,
Weiß oder Schwarz.
und im Spektrum unterſcheiden ſie ſprach—
lich drei Farbenbänder, die ſie Rot, Weiß,
Schwarz oder Rot, Weiß, Blau nennen.
Im Regenbogen
in Port Clarence auf der amerikaniſchen
Seite des Beringsſundes und auf der
Inſel Lawrence 125 Eskimos. Von die—
ſen erwies ſich nur Einer als farbenblind,
zeichnung der Farben höchſt unvollſtändig
iſt. Dieſe Unterſuchungen, namentlich die
der Tſchuktſchen, ſind von außerordentlicher
Wichtigkeit für die Entſcheidung der vor—
liegenden Frage. Wir haben hier offen—
bar ein Volk vor uns, das auf einer äu—
ßerſt niedrigen, faſt prähiſtoriſchen Bil—
dungsſtufe verharrt, und abgeſchloſſen von
allem Verkehr mit ziviliſirten Völkern in
einer verhältnismäßig farbloſen Umgebung
lebt. Wie die Zeitgenoſſen Homer's be—
zeichnen ſie am Regenbogen nur drei Far—
ben; wie bei dieſen, ſind ihre Benennungen
der lichtſchwachen Farben des Spektrums,
Grün und Blau, unvollſtändig und un—
beſtimmt. Trotzdem erwies die Prüfung
daß ſich unter ihnen nur 3 Proz. vollſtän—
dig Farbenblinde befanden, alſo eine Zahl,
die der Mittelzahl unter Männern zivili—
ſirter Nationen entſpricht. Rechnen wir
die 18 Fälle, wo die Unterſuchung zwei—
felhaft blieb, als unvollſtändig farbenblind,
und nehmen an, daß die Hälfte der Unter—
ſuchten Weiber waren, ſo kommen wir aufl2
Proz. Farbenblinde, ja ſelbſt wenn wir alle
27 Fälle als wirklich farbenblind anſehen,
auf 18 Proz. Die Zahl iſt relativ hoch,
malſehender. Und trotzdem ſteht der Sprach—
gebrauch auf ungefähr derſelben niedrigen
Stufe, wie bei Homer. Es geht aus die—
ſem einen Beiſpiel alſo mit Sicherheit her—
!
I
396
vor, daß es ein Fehler iſt, aus der Un—
vollkommenheit der ſprachlichen Bezeich—
nung eines Volkes auf die Unvollſtändig—
keit ſeiner Sinneswahrnehmung zu ſchlie—
ßen, weil Beide eben nicht Hand in Hand
mit einander gehen.
Ein dritter Weg, eine Vorſtellung von
der Entwicklung des Farbenſinnes zu ge—
winnen, wäre der einer möglichſt ausge—
dehnten Unterſuchung von rohen, unzivili—
ſirten Völkern und einer Vergleichung der
ſo erhaltenen Prozentzahlen mit denen,
welche die Zahl der Farbenblinden unter
einer ziviliſirten Bevölkerung ausdrücken.
Bis jetzt iſt die Geſammtzahl derartiger
Unterſuchungen nicht groß, dahin gehören
die von dela Renondidre an 693 Erwach—
ſenen aus verſchiedenen Volksraſſen Algiers
angeſtellten. Leider begründen ſich dieſel—
ben auf der Favre'ſchen Benennungs—
methode der Farben und ſind ſomit unzu—
verläſſig. Vergleicht man die gefundene
Prozentzahl 3,40 mit der, welche Favre
nach derſelben Methode bei der franzöſi—
ſchen Bevölkerung konſtatirte, ſo erſcheint
die Zahl der farbenblinden Afrikaner ver—
hältnismäßig ſogar niedrig gegen die der un—
terſuchten Franzoſen. Ferner hat Dr. Bur—
nett in Waſhington nach Holmgren's
Methode die Schüler der Negerſchulen im
Columbiadiſtrikt unterſucht. Er fand unter
3040 Kindern nur drei Viertel Prozent
Farbenblinde, darunter 1349 Knaben mit
1,6 Proz. und 1691 Mädchen mit 0,11
Proz.; unvollkommen farbenblind waren
zudem 1,87 Proz. Mädchen und 5,7 Proz.
Knaben. Alſo auch dieſe Unterſuchungen
ergaben keine höheren Prozente Farben—
blinder, als beiziviliſirten Völkern. Holm—
gren macht in Bezug hierauf den Ein—
wand, daß die in einem ziviliſirten Lande
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
geborenen Negerkinder ſchwerlich zu den
unziviliſirten Völkern gerechnet werden
können. Dem Vortragenden ſcheint dieſer
Einwurf nicht ſtichhaltig zu ſein. Wir
haben es hier doch immerhin mit einer
Generation zu thun, die mehr oder weni—
ger direkt von einem rohen Naturvolk ab—
ſtammt und deren Kulturerbteil kaum zwei
Jahrhunderte alt iſt. Es liegt wol viel
näher, anzunehmen, daß der Farbenſinn
der urſprünglichen Stammeltern jener Ne—
gerkinder auf derſelben Entwicklungsſtufe
ſich befand, wie der der ziviliſirten Natio—
nen. Bekanntlich haben auch die Unter—
ſuchungenüber die Nubier *), Lappländer 2c.
keinen Beleg für die Annahme ergeben,
daß der Farbenſinn unter dieſen Völkern
geringer entwickelt ſei, als bei den zivili—
ſirten Nationen.
Der Anthropolog Herr Schaaffhau—
ſen in Bonn ſtellte die Behauptung auf,
daß Kinder eine unvollkommnere Wahr—
nehmung für Farbenabſtufungen haben,
als Erwachſene Wir würden hiermit den
vierten Weg der Unterſuchung betreten,
nämlich den der Prüfung des Farbenſinnes
in ſeiner Entwicklung in den verſchiede—
nen Lebensaltern. Holmgren, der den—
ſelben gleichfalls ins Auge faßte, und dem
wir gewiß eine nicht gewöhnliche Erfah—
rung und Übung in der Prüfung zutrauen
können, erklärt eine ſolche erſt bei geiſtig
vorgeſchrittenen Kindern von 3—4 Jah—
ren für möglich.
So viel über die Holmgrenſchen Ver—
öffentlichungen. Was nun die Unter—
) Anmerk. der Red. Profeſſor Schöler
fand bei ſeiner Unterſuchung der Nubier, daß
ihnen die Bezeichnungen für alle Farbentöne
zwiſchen Orange und Grün fehlten! (Zeitſchrift
für Ethnologie 1880. 1. Heft.)
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ſuchungen von Dr. Magnus betrifft, ſo
geſteht dieſer Gelehrte jetzt offen und ehrlich
ein, daß er ſich über die Tragweite der durch
|
ger
ſprachvergleichende Unterſuchungen
wonnenen Erkenntniſſe getäuſcht und Kon—
ſequenzen aus denſelben gezogen habe, die
mit dem thatſächlichen Verhältnis nicht
identiſch ſind. Er ſtellt nunmehr u. a.
folgende Sätze auf:
1) Alle unterſuchten Naturvölker beſitzen
einen Farbenſinn, der in ſeinen Grenzen mit
dem der ziviliſirten Nationen im allgemei-
nen übereinſtimmt. Doch ſcheint innerhalb
dieſer allgemeinen Grenzen inſofern eine
Verſchiedenheit ſtattfinden zu können, als
einige Naturvölker eine größere Energie
in der Empfindung der langwelligen Far—
ben bethätigten und eine ausgeſprochene
Gleichgiltigkeit gegen die Farben kurzer
Wellenlänge an den Tag legten.
2) Die Farbenempfindung und die Far—
benbezeichnung decken ſich nicht; d. h. aus
dem Mangel der letzteren darf man nicht
auf das gleichzeitige Fehlen der Empfindung
ſchließen.
3) Die Farbenempfindung und Far—
benbezeichnung ſtehen bei ſehr vielen Na—
turvölkern in einem eigentümlichen Miß—
verhältnis, inſofern bei gut entwickelter
Empfindung eine nur höchſt mangelhafte
Farbenterminologie vorhanden iſt.
Was das Material betrifft, welches
Dr. Magnus zu dieſer Anderung ſeiner
Anſicht geführt hat, fo hebt Herr Dr. Rabl—
Rükhard nur einiges daraus als inte—
reſſant hervor: Dr. Magnus hatte im Ver—
ein mit Dr. Pechuel-Löſche eine Farben—
tafel und einen Fragebogen entworfen, der
an Arzte, Miſſionäre, überſeeiſche Handels—
häuſer ꝛc. mit der Bitte um Ausfüllung
überſendet wurde. Solcher Fragebogen
397
wurden im ganzen 61 mehr oder minder
vollſtändig ausgefüllt. Aus denſelben geht
u. a. hervor, in wie direkter Beziehung
die Farbenbezeichnung zu dem Bedürfnis
und der täglichen Beobachtung ſteht. Die
Hirtenvölker Afrikas, z. B. die Kaffern,
Herero, Baſuto ꝛc. ſind wohlbewandert in
der Bezeichnung der Farben Schwarz,
Grau, Weiß und Gelb, wie ſie bei ihrem
Vieh vorkommen. Die Kaffern beſitzen ſo—
gar, obgleich bei ihnen noch kein beſonde—
rer Ausdruck für Grün und Blau exiſtirt,
eine äußerſt entwickelte Nomenklatur für
die Färbungen und Zeichnungen ihres
Viehes.
Laſſen wir alſo ganz die phyſiologiſche
Seite der Entwicklung des Farbenſinnes
aus dem Spiele, ſo bildet die Differenzi—
rung der ſprachlichen Ausdrücke für die
verſchiedenen Farben an ſich ſchon genug
des Intereſſanten. Es ſcheint daraus her—
vorzugehen, daß zunächſt das Rot als
Farbe eine ſchärfere Bezeichnung erhält.
Holmgren fand auf anderem Wege,
nämlich bei der Prüfung der ſprachlichen
Entwicklung von Kindern, ganz dasſelbe.
Er macht ferner darauf aufmerkſam, daß
in zahlreichen Fällen Erwachſene aus den
ungebildeteren Ständen dieſelbe Vorliebe
für das Rot und dieſelbe Sicherheit in der
Bezeichnung desſelben zeigen, während ſie
ſich gegen blaue und grüne Färbungen
gleichgiltig und in der Bezeichnung un—
ſicher verhalten. Ebenſo ſpielen die lang—
welligen Farben, die in der Malerei ja
auch als „warme“ bezeichnet werden, Rot
und Gelb, eine hervorragende Rolle in
Schmuck, Nationaltracht und Uniform.
So ſteht es jetzt um die Frage der phyſio—
logiſchen Entwicklung des Farbenſinnes.
Sie iſt vom hiſtoriſch-linguiſtiſchen Gebiet
2
398
völlig auf das phyſiologiſch-naturwiſſen—
ſchaftliche hinübergedrängt worden und
wird, wenn überhaupt, nur durch ſtatiſti—
ſche Zuſammenſtellungen möglichſt ausge—
dehnter Unterrichtsreſultate an Lebenden
ſicher beantwortet werden können.
In der Juniſitzung derſelben Geſell—
ſchaft wurde über dieſen Vortrag eine
Diskuſſion eröffnet:
Prof. R. Hartmann machte einige
Bemerkungen über die Arbeiten der afri—
kaniſchen Bewohner. Dieſe Leute zeichnen
ſich durch eine geſchickte Auswahl von
Gelb, Rotbraun u. ſ. w. bei der Wahl
ihrer Farbenzuſammenſtellungen aus; dieſe
Farben haben einen dunklen Ton und wir—
ken angenehm aufs Auge. Bei dieſer,
großen Geſchmack verratenden Bewegung
in den mittleren Farben, welche dem Red—
ner bei ſeinem Aufenthalte in Afrika ſehr
gefallen hat, fragt man ſich unwillkürlich,
ob bei dieſen Völkern überhaupt von ei—
nem Mangel an Farbenſinn geſprochen
werden könne. Prof. Lazarus bittet, daß
die Beobachtungen zur Unterſuchung des
Farbenſinnes namentlich an Kindern fort—
geſetzt werden mögen. Es handelt ſich bei
den letzteren um eine intereſſante pſycho—
logiſche Frage. Der Grund, warum un—
ſere Kinder die Farbenbezeichnungen nicht
verſtehen, liegt weſentlich darin, daß das
Auge der einzige Sinn iſt, bei dem in der
Regel zu gleicher Zeit mehrere Wahrneh—
mungen gegeben werden.
Die Erfindung des Pfluges
bildete den Gegenſtand einer Abhandlung,
welche Edw. Tylor in der Sitzung des
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
zu
Londoner Anthropologiſchen Inſtitus am
24. Februar c. las. Das erſte landwirt—
ſchaftliche Hilfsmittel ſcheint nach ihm in
einem zugeſchnitzten, 4 — 5 Fuß langen
Stabe beſtanden zu haben, wie ihn viele
wilde Völker benutzen, um Wurzeln aus—
zuroden, Früchte herunterzuholen. In einer
ſpätern Zeit wurde der Stab gebogen und
als Hacke gebraucht, wie ihn die nordame—
rikaniſchen Indianer in dieſer Form noch
gebrauchen. In Südſchweden zeigen lange
Landzüge Spuren eines frühen Ackerbaus,
den die Eingebornen einem vorhiſtoriſchen
Volke zuſchreiben, welches ſie die Hacker
nennen, deren rohe Hacke ein Fichtenſtamm
mit einem kurzen, hervorſpringenden, zuge—
ſpitzten Zweige war, wie er ſtets den my—
thologiſchen Rieſen in die Hand gegeben
wird. Später kam ein größeres Inſtru—
ment derſelben Art in Gebrauch, welches
nicht wie die Hacke gebraucht, ſondern
durch Menſchen oder Ochſen gezogen wurde.
Darſtellungen dieſer primitiven Pflüge
werden auf egyptiſchen Gemälden und Bas—
reliefs gefunden. Der Pflug iſt in ſeinem
Urſprung prähiſtoriſch, wie die ihm beige—
legte religibſe Weihe bei Griechen, Chineſen
und Egyptern beweiſt. Als Beweis dafür
kann auch der Name Sita (Furche) ange—
führt werden, welcher Bramahs Gattin
beigelegt wurde. Ein hölzerner, mit Eiſen
beſchlagener Haken war die nächſte Ver—
beſſerung, und in Virgils Zeiten finden wir
einen mit Rädern verſehenen Pflug in Ge—
brauch, der wenig verſchieden war von
den beſten, die noch vor einem Jahr—
hundert in Europa gebraucht wurden.
(Nature No. 541, March 1880.)
Litteratur und Kritik.
as Religionsweſen der rohe—
ſten Naturvölker von Guſtav
Roskoff. Leipzig, F. A. Brockhaus,
1880. 179 S. in 8.
Das vorliegende Buch iſt eine Art
Antikritik, in welchem der Verfaſſer ſeine
in der „Geſchichte des Teufels“ gemachte
Behauptung, daß auch bei den roheſten
Völkern Spuren von religiöſen Vorſtel—
lungen wahrgenommen werden, gegen
einige, auf grund der gegenteiligen Be—
hauptungen Lubbock's gemachten Ein—
wände vertheidigt. Natürlich kommt hier
alles darauf an, wie weit man den Be—
griff der Religion ausdehnt, ob man blos
die katholiſchen, oder alle chriſtlichen, oder
überhaupt die mondtheiſtiſchen, oder gar
auch die polytheiſtiſchen und fetiſchiſti—
ſchen Kultusformen als Religionen aner—
kennen will. Der Verfaſſer dehnt den
Begriff der Religion mit Recht auf jeg—
lichen Glauben an Überſinnliches aus
und zeigt, daß zu einem ſolchen mit
Furcht durchſättigten Glauben alle Völker
der Erde, die man kennen gelernt hat, ge—
langt waren, und daß die gegenteiligen
Annahmen einzelner Reiſenden und Miſſio—
nare entweder auf mangelhafter Beobach—
tung, falſcher Frageſtellung, auf zu hohen
Bo)
Anſprüchen oder wohl auch auf vorgefaß—
ten Meinungen beruhen. Wie den alten
Ariern die Urbewohner Indiens als, ade va“
erſchienen, ſo bezeichneten die Griechen jeden
Anhänger des Chriſtentums als Atheiſten,
weil er ihre Götter verleugnete, ebenſo
gelten heute die Darwiniſten und alle
Philoſophen, welche die Offenbarung leug—
nen und nicht an die Unfehlbarkeit des
Papſtes glauben, als Atheiſten und reli—
gionsloſe Menſchen, und noch viel mehr
mußten es vielen Miſſionaren die Men—
ſchen ſein, die gar nichts ihrer eigenen
Religion vergleichbares beſaßen.
Um nun die Notwendigkeit einer All—
verbreitung der niederen Religion nachzu—
weiſen, giebt der auf dem Standpunkte der
Entwicklungstheorie ſtehende Verfaſſer
zunächſt eine vortreffliche Schilderung des
leiblichen und geiſtigen Zuſtandes des Na—
turmenſchen (S. 124— 125): „.. Er
ſieht ſich von Gefahren umgeben und ſtets
im harten Kampfe mit der Außenwelt, die
ihm daher im feindlichen Lichte erſcheint.
Namentlich muß ſie ihm feindlich erſchei—
nen, wenn ſie der Erfüllung ſeines Grund—
triebes, der Selbſterhaltung, hemmend ent—
gegentritt. So lange er jenen befriedigen
kann, bleibt die Außenwelt von ihm wenig
400
oder gar nicht beachtet und er lebt in einem
gewiſſen Grade geiſtiger Dumpfheit da—
hin, in einem Seelenzuſtande, den man
mit dem des Träumenden verglichen hat.
2 Er hat noch nicht das klare, ge—
feſtete Bewußtſein von ſeiner eigenen Na—
tur, ſondern lebt noch mehr oder weniger
in der Natur ſelbſt, die ihn umgiebt. Weil
die Scheidelinie zwiſchen dieſer und ſeinem
bewußten Geiſte noch nicht klar und ſcharf
gezogen iſt, fühlt er ſich mit der Tierwelt
befreundet. So erklärt ſich die unter Wil—
den herrſchende Vorſtellung, daß ſie von
Tieren abſtammen, daß der Geiſt der Ah—
nen oft in Tiergeſtalt erſcheine; daß der
Wilde die Tiere als ſelbſtbewußte Weſen
betrachtet, denen er ſeine Gedanken mit—
teilt und von ihnen verſtanden zu werden
glaubt; daß die Rothäute die Tiere ihre
jüngern Brüder zu nennen pflegen ꝛc. Ein
Analogon des noch nicht völlig erſtarkten
Selbſtbewußtſeins bieten die Kinder in
der Periode, in welcher ſie das Ich zu ge—
brauchen anfangen und wieder zeitweiſe,
wie vorher, in der dritten Perſon von ſich
ſprechen. . . . . In der geiſtigen Dämme—
rung des Wilden bleibt die Scheidelinie
zwiſchen ſeinem Ich und der objektiven
Natur gewiſſermaßen eine fluktuirende.
Aus dem Mangel an ſcharfem Unterſchei—
den zwiſchen Subjektivem und Objektivem,
zwiſchen Einbildung und Wirklichkeit, er—
klärt es ſich, daß der Wilde Träume als
objektiv verurſachte Geſtaltungen auffaßt
und ihnen große Bedeutung zuerkennt.“
„Man pflegt gewöhnlich Kinder die
größten Egoiſten zu nennen. In bezug
auf ſchon Herangewachſene liegt ein be—
rechtigter Tadel darin, der ſie für uner—
zogen erklärt, weil durch die Erziehung
univerſelle Menſchen aus Egoiſten werden denken. Er genießt und geht im Genuſſe
Litteratur und Kritik.
ſollen. Kleine unmündige Kinder können
nicht anders, als egoiſtiſch ſein, und der
Säugling kann die Bruſt der Mutter nicht
loslaſſen, wenn dieſe darob auch des Todes
würde. Das Kind will zunächſt leben, es
folgt dem Grundtriebe der Selbſterhal-
tung. Dieſer Grundtrieb macht ſich auch
im Wilden ſehr vernehmlich geltend und
die Schilderungen der Reiſenden ſind in
dieſer Hinſicht gewiß richtig; unberechtigt
iſt aber die vorwurfsvolle Verachtung, die
ſich dabei auszuſprechen pflegt. Man ver—
gißt, daß der Wilde eben ein unerzogener
Menſch iſt, daß er, bei ſeinen Umſtänden
außerhalb des erziehenden Einfluſſes der
geſchichtlichen Entwicklung ſtehend, nicht
anders ſein kann, als er iſt. Wie das
Kind alles, was es ergreifen kann, zum
Munde führt, ſo bezieht der Wilde alles
auf ſich, und ſein Streben iſt, alles mit
ſeinem Daſein in Einheit zu ſetzen . . . .“
Man hat ſich oft darüber verwundert,
was der Wilde, wenn er nicht durch Hunger
in Thätigkeit geſetzt iſt, im Faullenzen
leiſten kann; man braucht aber dazu nicht
in die amerikaniſchen Urwälder zu gehen.
3 Auch in dieſer Beziehung zeigen ſich
Abſtufungen. Der Wilde erhebt ſich von
ſeinem Lager nur, wenn ihn der Hunger
dazu treibt, Nahrung zu ſuchen; der Halb—
gebildete arbeitet nur, um zu leben und das
Leben zu genießen; der -Gebildete findet
ſein Leben in vernünftiger Thätigkeit und
den Lebensgenuß in freier Arbeitſamkeit. . .
So lange dem Wilden die Mittel zur
Befriedigung ſeiner ſinnlichen Bedürfniſſe
zur Hand ſind, er ſich in Harmonie mit
ſich und ſeiner Außenwelt fühlt, liegt es
im Weſen ſeines Zuſtandes, weder über
die Welt, noch über ſich ſelbſt weiter zu
Litteratur und Kritik.
auf und erinnert inſofern an das Tier.
Er fühlt das phyſiſche Wohlbehagen, führt
es aber nicht zum Bewußtſein. Ahnlich
verhält es ſich mit dem Zuſtande der Ge—
ſundheit, dem harmoniſchen Zuſammen—
wirken der organiſchen Thätigkeiten zur
Darſtellung des vollen Lebens, worüber
der Geſunde gewöhnlich auch nicht nach—
denkt, ſo lange er im Beſitze der Geſund—
heit iſt . . . Die Aufmerkſamkeit und das
Denken darüber ſtellt ſich erſt ein, wenn
dieſe Harmonie geſtört iſt. So wird die
Aufmerkſamkeit des Wilden erſt bei der
aufgehobenen Harmonie der ihn umgeben—
den Natur auf gewiſſe Erſcheinungen hin—
gelenkt, durch welche er ſein Daſein ge—
fährdet ſieht oder glaubt. Solche ſeine
Exiſtenz bedrohenden Erſcheinungen, die
nicht vom Menſchen herrühren, erwecken
in ihm nicht nur das Gefühl der Furcht,
ſondern es taucht in ſeinem Geiſte zugleich
die Annahme einer Urſache auf, die er,
weil er ſie ſinnlich nicht wahrnehmen kann,
für eine überſinnliche halten muß . . .
„Weil der Menſch überhaupt im Hori-
zonte ſeiner Anſchauungen lebt, die er ob—
jektivirt, und der Wilde von der Qualität
der auf ihn geübten Wirkung auf die
Qualität der Urſache ſchließt, ſo kann er
als Urſache einer für ihn ſchlimmen Er—
ſcheinung . . . auch nur eine ſchlimme an—
nehmen, . . ein ſchlimmes, beſonderes We—
ſen hinter der ſchlimmen Erſcheinung er—
kennen. Der Unklarheit ſeines Denkens
gemäß umhüllt der Schleier des Geheim—
nisvollen dieſes böſe Weſen; er hegt Furcht
vor ihm, weil deſſen Macht ſeine Exiſtenz
gefährden kann, und da er es mit den
Sinnen nicht wahrnimmt, anerkennt er es
als überſinnliches, mächtiges bö—
ſes Weſen, d. h. nach unſerm Sprach—
—
gebrauch als Dämon. Der Wilde kann
dieſes Weſen ſich nicht anders vorſtellen,
denn als ein dem Menſchen ähnliches, mit
Willen handelndes, aber mit ungleich grö—
ßerer Macht ausgerüſtetes Weſen. Er
ſchreibt ihm die Macht zu, durch Natur—
erſcheinungen dem Menſchen zu ſchaden,
Krankheiten, Tod, überhaupt alles zu be—
wirken, was das menſchliche Daſein in
Frage ſtellt . . . Und jo knüpft ſich der
erſte Gottesbegriff, wie Lubbock bemerkt,
faſt immer an ein böſes Weſen.
„Der Glaube an Zauberei, der mit dem
an böſe Weſen in unzertrennlicher Verbin—
dung ſteht, findet ſich bei allen Völker—
ſtämmen, die auf niedriger und niedrigſter
Stufe ſtehen, bei Jäger-, Fiſcher- und
Hirtenvölkern . . . Die Zauberei ſoll die
Übel, welche die Wilden bedrohen oder
befallen haben, beſeitigen . . . Der Wider—
ſpruch, in welchen ſich der Wilde mit der
Natur verſetzt ſieht, ſoll durch Zauberei
gelöſt werden. Weil der Wilde alle ihm
ungünſtigen Erſcheinungen von einer übel-
geſinnten, überſinnlichen Macht, von ei—
nem oder mehreren böſen Dämonen ab-
leitet, die er als Anſtifter aller Übel er—
kennt und fürchtet, ſo ſucht er ſie gelegent—
lich durch Gaben, Opfer u. ſ. w. zu be—
ſchwichtigen, womit aber einer dauernden
Sicherheit ſeines Daſeins keine genügende
Gewähr geleiſtet iſt. Gegen ſichtbare
Feinde, die ihn bedrohen, gegen wilde
Tiere, feindliche Menſchen ſetzt er ſeine
eigene Kraft ein, ſie zu bekämpfen und zu
bewältigen, aber der überſinnlichen, über—
menſchlichen Macht gegenüber fühlt er ſich
zu unmächtig. Sein Selbſtgefühl und
Selbſtbewußtſein nötigt ihn aber um der
Erhaltung willen, ſich von der Natur zu
befreien, die Herrſchaft über ſie zu gewin—
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5.
51
402
nen. Sein Selbſtbewußtſein kann ſich nicht
mit der zeitweiligen Beſchwichtigung der
feindlichen Naturmacht durch Sühnegaben
begnügen; er will poſitiv beſtimmend auf
ſie einwirken, ſein Selbſt zum Herrn über
feſtſtellen. Damit kommen wir zu der
ſie ſetzen. Zu unmächtig, durch eigene
Kraft die Naturgewalten ſich zu unter—
werfen . . . fühlt er ſich innerlich gedrängt,
zu einer höheren, überſinnlichen Macht
ſeine Zuflucht zu nehmen, deren Anerken—
nung aus der Tiefe ſeines Gemütes auf—
taucht, mit deren Hilfe er ſeine Individua—
lität durch das Zaubern ſicherzuſtellen
ſucht. Dieſe höhere, überſinnliche Macht,
in deren Namen er Zauberei treibt, muß
notwendig als eine ihm freundliche, gün—
ſtige anerkannt ſein, weil er von ihr die
Abwehr und Bewältigung der ihm feind—
lichen Naturmacht erwartet . . . Das Zau—
bern iſt die Reaktion des Selbſtbe—
wußtſeins gegen die Natur, welche als
feindliche, die menſchliche Individualität
gefährdende Macht gedacht wurde . . .“
Der Verfaſſer ſchildert nun die Mittel
der Zauberei bei den niedrigſtehenden Völ—
kern, den Fetiſchdienſt, die Totemwählerei,
das Tabu-Machen u. ſ. w. und zeigt, wie
in allen dieſen Einzelheiten die Keime
der höheren Religion liegen, das Abhän—
gigkeitsgefühl, Entſagung, Reinigung,
Opfer, Beſchwörung und Gebet, wobei er
darauf hindeutet, wie gar manche Kultus—
handlungen der höheren Religionen ſich
kaum über den Begriff des Zauberns er—
heben, wenn z. B. dem Gebet eine die
natürliche Ordnung umwerfende Kraft
beigemeſſen wird. Alle jene alten Zauber—
mittel ſind in unſerm Aberglauben, der
ſich als die überlebte Religion (das Über—
lebſel, superstitio) darſtellt, erhalten;
man kann keinen Unterſchied zwiſchen
Litteratur und Kritik.
Glauben und Aberglauben machen, und
ſelbſt der vom Verfaſſer vorgeſchlagene
Ausweg, nur das unmoraliſche Wünſchen
als Aberglauben zu brandmarken, verfängt
nicht, denn dieſer Begriff läßt ſich nicht
Schlußunterſuchung, ob Sittlichkeit und
Religion in einem urſprünglichen Zuſam—
menhange ſtehen. Der Verfaſſer bejaht
dieſe Frage im Gegenſatze zu Waitz,
Tylor und Lubbock.
„Die Thatſache,“ ſagt er (S. 155),
„daß im geſammten Altertum Religion
und Sittlichkeit (Staat) in unmittelbarer
Einheit auftreten, daß ſie ferner nur in—
nerhalb der Menſchenwelt wahrzunehmen,
alſo dem Menſchen allein eigentümlich
ſind, ſchon dieſe Thatſachen könnten zu der
Annahme hinleiten, daß ſie im menſch—
lichen Weſen ihren Grund haben müſſen,
und, da die Funktionen des menſchlichen
Geiſtes als eines Organismus auch orga—
niſch auf einander bezogen ſind, wohl auch
Religioſität und Sittlichkeit in einem or—
ganiſchen Zuſammenhange ſtehen. Es kön—
nen alſo nicht „zwei weſentlich verſchiedene
Quellen“, ſondern nur zwei verſchie—
dene Punkte oder Seiten ſein, von
welchen aus das Menſchengemüt an-
geregt wird, und das Gemüt iſt die
Quelle, aus welcher Religioſität und Sitt—
lichkeit fließen.“
Wir glauben im Gegenteil, daß Waitz
vollkommen durch ſeine Studien berechtigt
war, zu ſagen: „Die ſittlichen Vorſtellun—
gen entſpringen aus einer weſentlich an—
deren Quelle, als die Religion; beide tre—
ten überhaupt erſt auf einer höheren Kul—
turſtufe des Menſchen in irgend eine Be—
ziehung zu einander.“ Ref. weiß nicht,
wie Waitz dieſen Satz begründet hat.
a
Litteratur und Kritik.
Allein er möchte hervorheben, daß auch
ihm die Quellen der Moral und Religion
als gänzlich verſchiedene erſcheinen: die
Moral iſt ein Bedürfnis der menſch—
lichen Geſellſchaft, die Religion
ein Bedürfnis des Einzelnen, dar—
um hat auch die Geſellſchaft das aner— |
kannte Recht, Übertretungen der Geſell— |
ſchaftsmoral zu beſtrafen, nicht aber dem
Einzelnen wegen ſeiner religiöſen Anſich—
ten zu nahe zu treten. Die Verbindung
beider, die ja in neueſter Zeit in den An—
erbietungen der Kurie, die Maſſen zu zü—
geln, ſehr in den Vordergrund tritt, war
lediglich das Werk geſchickter Theokraten
und älterer Geſetzgeber. Ihre Abſicht iſt
dabei vorwiegend politiſcher Natur gewe-
ſen, wie man ſogleich erkennt, wenn man
die allerſeits fühlbar gewordene Notwen—
digkeit erwägt, Gerechtigkeitspflege und
Kirche zu trennen. Der Staat überläßt
mit Recht nur diejenigen moraliſchen Aus—
ſchreitungen, die er wegen ihrer Allver—
breitung nicht beſtrafen kann, Mangel an
Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, ehelicher
Treue u. ſ. w. der Kirchenzucht; mit wel—
chem Erfolge, lehren die klerikal regierten
Länder. Nichts verträgt ſich im Gegenteil
beſſer, als ſog. „Religion“ und Unmoralität.
Abgeſehen von dieſer kleinen Meinungs—
verſchiedenheit glaubt Referent nicht zu
irren, wenn er das an den Quellen ge—
ſchöpfte Buch als eine der klarſten und
lehrreichſten Darſtellungen des Religions—
weſens der roheſten Naturvölker betrachtet
und allen Leſern dieſer Zeitſchrift an—
gelegentlichſt empfiehlt.
403
La Teoria di Darwin, Criticamente
exposta da Giovanni Canestrini
(Biblioteca Scientifica Internazionale,
Vol. XXV). Milano, Fratelli Dumo-
lard, 1880. 350 P. in 8.
Der Verfaſſer des vorliegenden Bu-
ches, Profeſſor der Zoologie, Anatomie
und vergleichenden Phyſiologie an der
Univerſität Padua, hatte bereits vor drei
Jahren ein Buch über die Darwinſche
Theorie (La Teoria dell’ Evoluzione. To-
rino, 1877) veröffentlicht, welches einen
mehr einleitenden Charakter hatte, wäh—
rend das vorliegende die Theorie ſelb—
ſtändig weiter zu bauen ſucht und eine
große Anzahl eigener Beobachtungen und
Gedanken bringt. Für den deutſchen Leſer
wird es von beſonderem Intereſſe ſein,
darin die beſondere Phyſiognomie zu ſtu—
diren, welche dieſe Theorie durch italieni—
ſche Forſcher, wie Beccari, Bianconi,
Berti-Pichat, Buccola, Caneſtrini,
Filippi, Forſyth Major, Mante—
gazza u.a. erhalten hat, über deren Arbeiten
unſer geſchätzter italieniſcher Mitarbeiter
uns meiſtens auf dem laufenden hielt.
In dem vorliegenden Buche ſind die
beiden erſten Kapitel dem bibliſchen Schö—
pfungsberichte und deſſen Kritik gewidmet;
die beiden folgenden behandeln die künſt—
liche Züchtung und das fünfte das Varia—
tionsvermögen der Pflanzen und Tiere. In
dem ſechſten und ſiebenten Kapitel wird
die Vererbung in trefflicher Weiſe darge—
ſtellt und namentlich in dem erſteren findet
ſich eine längere Abhandlung „Über die Ur—
ſache, welche das Geſchlecht beſtimmt“, von
der wir unfern Leſern in einem unſerer näch—
ſten Hefte eine Überſetzung zu bieten ge—
denken, weil das Buch aus äußerlichen Ur—
ſachen kaum in deutſcher Überſetzung er
I
404
ſcheinen wird. Eine in dem darauffolgen—
den Kapitel mitgeteilte und durch eine
Abbildung illuſtrirte Beobachtung des Ver—
faſſers über eine merkwürdige Abnormität
wollen wir hier gleich wiedergeben.
„Ich will hier,“ ſagtderVerfaſſer S. 170,
„einen Fall von Atavismus mitteilen, den ich
kürzlich an einem menſchlichen Schädel be—
obachten konnte, der von Levico ſtammt,
woſelbſt ihn mein Aſſiſtent Dr. Lamberto
Moſchen fand. Der beſagte Schädel be—
ſitzt außer den beiden gewöhnlichen Hinter—
haupthöckern eine dritte, hervorſpringende
Gelenkfläche, die ſich in der Mitte des
vordern Randes des großen Hinterhaupt—
loches befindet. Sie hat einen elliptiſchen
Umriß, deren große, der Randlinie folgende
Axe 12 Millimeter lang iſt, während die
kleinere 9 Millimeter beträgt. Andere Fälle
einer ähnlichen Anomalie wurden von
Vitali Vitale!) beobachtet, der ihre
große Wichtigkeit nicht erkannte. In Wahr—
heit, hier handelt es ſich nicht um einen
bedeutungsloſen Scherz der Natur, ſondern
um eine Rückſchlagserſcheinung auf die—
jenigen älteſten Ahnen des Menſchen,
welche, gleich den heutigen Vögeln und
Reptilien, ein dreifaches Hinterhauptgelenk
beſaßen. Denn der ſogenannte einzige Hin—
terhauptshöcker dieſer Wirbeltierklaſſen iſt
in Wahrheit ein dreifacher, indem zu ſeiner
Bildung drei verſchiedene Hinterhaupts-
knochen zuſammenwirken.“
Solchen höchſt wichtigen Beobachtungen
begegnet man an verſchiedenen Stellen des
Buches. Das achte und neunte Kapitel behan—
delt die natürliche Zuchtwahl und ihre Folge—
erſcheinungen (Mimiery ꝛc.), das zehnte
giebt eine ſehr intereſſante Vergleichung von
) Arch. per l’Antropol. e l’Etnologia.
Vol. IX, p. 180, Firenze, 1879.
Litteratur und Kritik.
Juſtinkt und Verſtand, während das elfte
die geſchlechtliche Zuchtwahl, das zwölfte
die Anwendung der Darwinſchen Theorie
auf den Menſchen, und das dreizehnte einen
Rückblick nebſt Schlußbetrachtungen ent—
hält. Das ganze iſt eine wertvolle Berei—
cherung der Darwiniſtiſchen Literatur ſo—
wohl in Hinblick auf die geſchickte Dar—
ſtellung und Gruppirung des geſammten
Materials, als durch originelle Ideen, von
denen wir beſonders noch dasjenige her—
vorheben möchten, was der Verfaſſer als
„geſellſchaftliche Zuchtwahl“ (Velezione
civile) bezeichnet. N
Aurel Andersſohn. Die Theorie
vom Maſſendruckaus der Ferne in
ihren Umriſſen dargeſtellt. Bres—
lau. Verlag von Eduard Trewendt.
1880. IX u. 71 S. 8 Tafeln.
In unſerm Berichte über Iſenkrahes
„Räthſel der Schwerkraft“ thaten wir be—
reits der intereſſanten Arbeiten des Herrn
Andersfohn*) in Breslau Erwähnung,
durch welche an Stelle der Newtonſchen
Gravitation eine mechaniſche Erklärung
für die kosmiſchen Anziehungsphänomene
gewonnen werden ſollte. Einer Reihe klei—
nerer Publikationen hat jetzt der Verfaſſer
eine größere ſyſtematiſche Schrift folgen
laſſen. Die hier vorgetragene Theorie hat
viel Ahnlichkeit mit jener der ſtrahlenden
Materie, reſp. des vierten Aggregatzuſtan—
des, für welche jetzt von Seiten engliſcher
Phyſiker (Crookes u. ſ. w.) Propaganda
gemacht wird; die Welträume ſind erfüllt
von einem imponderablen Fluidum, durch
welches die Bewegung nach allen Seiten
fortgeleitet wird; ein Springbrunnen, aus
deſſen Zentrum durch radiale Ausflußröh—
Damals irrtümlich „Auerbach“ genannt.
N —
N
1
4
4
Litteratur und Kritik.
ren nach allen Seiten hin Waſſer geſen—
det wird, repräſentirt das Attraktionszen—
trum, und wenn eine leichte Kugel auf dieſe
Waſſerſtrahlen geworfen wird, ſo ſieht
405
men. Allein ſobald wird denn doch noch
man ſie, wie man nicht erwarten ſollte,
zentripetal zu der Offnung hin getrieben.
Dies iſt das Fundamentalinſtrument des
Verfaſſers, der Grundverſuch, auf welchem
er ſeine Theorie vom Maſſendruck in erſter
Linie begründet.
Zu einer eingehenderen Kritik fühlen
wir uns heute noch nicht genügend vorbe—
reitet. Indeß ſeien zwei Punkte ſpeziell her-
vorgehoben. Solange der eifrige und ge-
ſchickte Verfaſſer ſich lediglich auf eine re—
flektirende Erläuterung ſeiner Anſichten
beſchränkt und es unterläßt, in exakt rech—
neriſcher Weiſe zu zeigen, daß ſeine Theo—
rie mit der Newtonſchen in Bezug auf alle
einzelnen Erſcheinungen zu konkurriren im
ſtande ſei, ſo lange wird er auf ſorgfältige
Prüfung und eventuelle Zuſtimmung ſei—
tens mathematiſch geſchulter Naturforſcher
kaum rechnen dürfen. Und zweitens iſt
der ſehr nette, zerlegbare Weltglobus, eine
mehrfach prämiirte und patentirte Erfin—
dung Herrn Andersſohns, durchaus keine
fo ſichere Stütze für feine Hypotheſe; viel-
mehr kann derſelbe, worin wir keinen Nach—
teil erblicken, recht wohl auch von einem
Newtonianer beim Unterricht benützt wer—
den. Referent iſt, wie die Leſer des Kos—
mos wiſſen, kein Anhänger der Fernwir—
kungen um jeden Preis), er hält eine Zu—
rückführung derſelben auf kinetiſche Vor—
gänge für möglich und hat auch von die—
ſem neueſten Verſuch, eine ſolche zu erzie—
kein Werk geſchrieben werden, welches nicht
blos bezüglich des darauf verwandten
Geiſtes, ſondern auch bezüglich des greif—
baren Erfolges mit Newtons „mathema—
tiſchen Grundlagen der Naturphiloſophie“
ſich meſſen könnte.
Ansbach. Prof. S. Günther.
Lorenz Ofen. Eine biographiſche Skizze
von Alexander Ecker. Mit dem Por—
trät Okens und einem Fakſimile der
Nr. 195 des erſten Bandes der Iſis.
Stuttgart, E. Schweizerbart'ſche Ver—
lagsbuchhandlung (E. Koch) 1880. 220
S. in 8.
Neben der von dem Verfaſſer auf der
vorjährigen Naturforſcher-Verſammlung
gehaltenen Gedächtnißrede zu Okens hun—
dertjähriger Geburtstagsfeier, bringt die—
ſes Buch eine Anzahl erläuternder Zuſätze
und eine ganze Reihe von Briefen, die
teils von ihm geſchrieben, teils an ihn
gerichtet waren. Namentlich durch dieſe
Zuſätze und Briefe erhalten wir ein leben—
len, mit großem Intereſſe Kenntnis genom—
) Vergl. z. B. die Programmſchrift von
ziehungskraft iſt auf Bewegung nicht zurück—
Gilles, einem energiſchen Champion der Lehre
von der unvermittelten Wirkung durch den Raum,
diges Bild des berühmten Naturphiloſo—
phen, der durch Wort und Schrift ſo un—
gemein vielſeitig und im allgemeinen förder—
lich auf das wiſſenſchaftliche und politiſche
Leben unſrer Nation eingewirkt hat. Seine
Forſchungen ſind nur auf entwicklungs—
geſchichtlichem Gebiete förderlich geweſen,
und ſeine philoſophiſchen Anſichten
waren zum Teil mehr irreführend als nütz—
lich, aber ſeine agitatoriſche Thätigkeit für
die Befreiung des Univerſitätslebens, der
litterariſchen Kritik und andrer öffentlichen
Angelegenheiten aus höchſt verrotteten Zu—
welche den Titel führt: „Die Newtonſche An—
führbar“ (Düſſeldorf, 1880).
406
ſtänden, feine Bemühungen für die Ver—
breitung der Wiſſenſchaft im Volke und
des perſönlichen Verkehrs der Gelehrten
untereinander, müſſen dem Manne, der ſo
richtig empfand und ſo unerſchrocken die
Wahrheit bekannte, für alle Zeit ein liebe-
volles Andenken im Herzen der deutſchen
Nation ſichern. Wir gewinnen dabei einen
höchſt charakteriſtiſchen Einblick in die Zu—
ſtände des Univerſitätslebens im Beginne
des neunzehnten Jahrhunderts, ſo daß wir
uns bald ſelbſt erklären können, wie ein
Mann von ſolchem Freimut trotz des
günſtigen perſönlichen Eindrucks, den ſein
Auftreten überall hervorrief, überall zum
Enfant terrible werden mußte. Die That—
ſachen ſprechen hier ſo für ſich ſelber, daß
der Herausgeber gar nichts zu den mitge—
teilten Dokumenten hinzuzuſetzen braucht,
um unſere Sympathieen für den überall
Gemaßregelten zu erwecken, wobei Goethe
in einem weniger günſtigen Lichte erſcheint,
als der Oken freundlich geſinnte Großher—
zog von Weimar. Die Unterſuchung we—
gen der ſehr ſelten gewordenen Beſchrei—
bung des Wartburgfeſtes in der hier durch
Lichtdruck reproducirten Iſisnummer iſt
mit der durch ſie erzeugten Aufregung
höchſt ergötzlich zu leſen. Unter den Brie—
fen iſt nächſt der Korreſpondenz zwiſchen
Oken und Schelling namentlich die—
jenige zwiſchen Döllinger, Pander,
d' Alton, Baer und Oken intereſſant.
Man ſieht, mit welcher Liebe und Achtung
die Väter der neueren Entwicklungsge-
Litteratur und Kritik.
* * * Pr er |
ſchichte zu ihm aufblickten; man lädt ihn
von allen Seiten ein, nach München zu
kommen, um die neuen entwicklungsge—
ſchichtlichen Entdeckungen zu ſehen, die
man mit Aufopferung von 3000 Hühner—
eiern dort gemacht, aber Oken, deſſen
entwicklungsgeſchichtliches Syſtem längſt
fertig war, bleibt trotz der wärmſten Ein—
ladungen zu Hauſe, er glaubt nicht recht
an den Forſchritt, und nimmt noch 1829
gegen Baer, der gar nichts mehr davon
hielt, die Idee von dem Durchlaufen der
Tierklaſſen durch den Embryo als ſeine
Idee in Anſpruch (S. 170). Zwanzig Jahre
vorher hatte Tiedemann an ihn geſchrie—
ben: „Vor einigen Wochen habe ich die
Metamorphoſe der Fröſche beobachtet und
eine Menge dieſer Fröſche zergliedert, wo—
bei ich auf folgenden Satz geſtoßen bin:
die Fröſche durchlaufen während ihrer
Metamorphoſe die Organiſation der Anne—
liden, der Mollusken, der Fiſche, und erſt
zuletzt werden ſie Amphibien. Was ſagen
Sie dazu?“ (S. 129.) So kommt man⸗
ches Moment, ſowohl aus der Geſchichte
der Wiſſenſchaft als aus der Zeitgeſchichte
hier zur Beſprechung, und auf vieles fal—
len merkwürdige Streiflichter. Das Buch
iſt eine wertvolle Abſchlagszahlung auf
eine eingehendere Biographie Okens,
denn ſie erweckt den Wunſch, mehr von
dem Manne zu erfahren, der ſeine Mei—
nung ſo gerade herausſagte und ſo oft
den Nagel auf den Kopf traf.
Der heliocentriſche Standpunkt der
Weltbetrachtung. Grundlegungen
zu einer wirklichen Naturphiloſophie von
Dr. Alfons Bilharz. Stuttgart.
Verlag der J. G. Cotta'ſchen Buch—
handlung. 1879. XVI u. 326 S.
Referent muß bedauern, dieſe Schrift
nicht verſtanden zu haben. Ob dies an ihr
oder an ihm ſelbſt liegt, kann er natürlich
nicht entſcheiden, vermutet jedoch das
erſtere. Der Verfaſſer operirt gerne mit
mathematiſchen Formeln; aus der gonio—
Litteratur und Kritik.
metriſchen Relation tang 4 — 1 zieht
er z. B. (S. 103) den Schluß, „daß das
Geſetz von der Rectangularität der freien
oder Bewegungskraft darin begründet iſt,
daß Raum und Zeit die Aprioriformen der
Erkenntnis ſind“; S. 237 iſt von „dem
Vorzeichen des moraliſchen Differentiales“
die Rede. Derartige Verknüpfungen von
Begriffen heterogener Disziplinen machen
ſtets den Eindruck geiſtreicher, aber zweck—
loſer Spielereien, beſtenfalls willkürlicher
Spekulationen, und ſo ſehr man im all—
gemeinen die Erſchließung neuer Wiſſens—
gebiete für die mathematiſche Deduktion
wünſchen mag, ſo wird man in ſolchem
Analogienſpiel doch keinen wirklichen Fort—
ſchritt erkennen können. Es kann wohl ſein,
daß das gewandt geſchriebene und ſelbſt—
bewußt auftretende Buch bei vielen Leſern
Glück machen wird, denen die exakte Form
der Darſtellung imponirt; in anderen
Kreiſen dagegen wird man ſich trotz der
mathematiſchen Außenſeite — vielleicht
auch gerade wegen derſelben — ablehnend
gegen dieſe Erneuerung einer glücklicher—
weiſe überwundenen Periode naturphilo—
ſophiſcher Konſtruktion verhalten.
Ansbach. Prof. S. Günther.
Eneyklopädie der Naturwiſſen—
ſchaften. Verlag von Eduard Tre—
wendt in Breslau.
Es gereicht uns zur Freude, das rüſtige
Fortſchreiten eines Werkes zu ſehen, dem
wir unſere beſten Sympathieen zuwenden.
Außer der durch mehrere Lieferungen be—
gonnenen botaniſchen Abteilung liegen be—
reits zwei vollſtändige Bände vor, näm—
lich der erſte Band des von Dr. Schlö—
milch redigirten Handbuchs der Mathe—
407
matik, und der erſte Band des von Prof.
Guſtav Jäger redigirten Handwörter—
buchs der Zoologie, Anthropologie und
Ethnologie. Einen vorzüglichen Schatz
enthält das Werk in den ethnologiſchen
Artikeln Hellwalds, die ihren Gegen—
ſtand in der That erſchöpfend behandeln
und in erſtaunlicher Vollſtändigkeit auf—
treten. Sehr wertvoll ſind uns außerdem
in der Schlußlieferung des erſten Bandes
die Artikel: Boreale Fauna, Brackwaſſer—
fauna, Brachiopoden u. a. von Prof. E.
von Martens, ſowie Bothriocephalus
von Dr. Weinland, Bovina von Dr. A.
von Mojſiſovies und Brieftaube von
Prof. Röckel erſchienen; die phyſiologi—
ſchen Artikel des Herausgebers zeichnen
ſich, wie immer, durch Originalität der
Anſchauung aus. Im allgemeinen läßt
ſich ſchon jetzt ſagen, daß ſämmtliche
Aufgaben bei dieſer komplizirten Leiſtung
in guten Händen ruhen und daß jeder
Mitarbeiter beſtrebt iſt, fein beſtes zu lei—
ſten. So darf man hoffen, in nicht allzu—
ferner Zeit ünſere naturhiſtoriſche Lite—
ratur durch ein höchſt brauchbares Nach—
ſchlagewerk bereichert zu ſehen.
Die Sprache des Kindes. Eine An—
regung zur Erforſchung des Gegenſtan—
des von Dr. Fritz Schultze, Profeſſor
der Philoſophie und Pädagogik. Leip—
zig, Ernſt Günthers Verlag, 1880.
Seit Charles Darwin ſeine „Bio—
graphiſche Skizze eines kleinen Kindes“ *)
und Preyer ſeine „Unterſuchungen
über die Phyſiologie der Neugeborenen“
im dritten Bande unſerer Zeitſchrift mit—
teilte, iſt die Beobachtung der geiſtigen
und körperlichen Entwicklung des Kindes,
) Kosmos I, S. 367.
je
welche früher faſt nur von Laien und
Pädagogen in Angriff genommen worden
war, als ein ſehr verheißungsvolles For—
ſchungsfeld von Biologen, Phyſiologen,
Pſychologen, Sprachforſchern und Beob—
achtern aller Art anerkannt worden. Die
höchſt anziehende Studie von Prof. Fritz
Schultze, die ebenfalls zuerſt im, Kosmos“
erſchien, liegt hier in einer durch mannig—
fache Zuſätze und Anmerkungen bereicher—
ten Geſtalt vor und braucht unſern Leſern
wohl nur in dem auf dem Titel ausge—
drückten Sinne, als „Anregung zu weite—
ren Forſchungen“, empfohlen zu werden,
ein Zweck, dem Weiterempfehlung in gebil—
dete Familien am beſten entſprechen würde.
Prof. Dr. E. L. Taſchenbergs Prak—
tiſche Inſektenkunde oder Natur—
geſchichte aller derjenigen Inſekten, mit
welchen wir in Deutſchland nach den
bisherigen Erfahrungen in nähere Be—
rührung kommen können, nebſt Angabe
der Bekämpfungsmittel gegen die ſchäd—
lichen unter ihnen. 5 Teile mit 326 Ab—
bildungen. Bremen, W. Heinſius, 1880.
Was wir den erſten beiden Teilen
dieſes Werkes nachrühmen konnten, gilt
auch von den drei letzten, welche die
Schmetterlinge, Zweiflügler, Kaukerfe und
Schnabelkerfe behandeln; ſie bieten eine
gediegene Beſchreibung und die beſten
bisher bekannt gewordenen Mittel zur Be—
kämpfung derſelben, eine Art von „Höl—
lenzwang“, um die kleinen Scharen des
Teufels wirkſam zu bekämpfen, denn die
ſchädlichen Inſekten ſind bekanntlich ins—
Litteratur und Kritik.
gemein Schöpfungen Belzebubs, des Flie—
gendämons. In dem Titel iſt inſofern
eine kleine Ungenauigkeit vorhanden, als
dieſes Buch nicht „alle diejenigen Inſek—
ten, mit welchen wir in Deutſchland in
nähere Berührung kommen können“, be—
ſchreibt — von der Schar unſerer Tag—
falter ſind beiſpielsweiſe nur ſechs berück—
ſichtigt —, ſondern nur diejenigen, mit
denen wir in unliebſame Berührung
kommen können. Außerſt praktiſch ſind
offenbar die am Schluſſe ſtehenden „Al—
phabetiſchen Verzeichniſſe der Geſchädig—
ten mit Angabe der Schädiger.“ Die Aus—
ſtattung iſt in jeder Beziehung lobenswert.
Meyers deutſches Jahrbuch für die
politiſche Geſchichte und die
Kulturfortſchritte der Gegen—
wart (18791880). Leipzig, Verlag
des Bibliographiſchen Inſtitutes, 1880.
1003 S. in 8.
In einem handlichen Bande die Fort—
ſchritte und Ereigniſſe eines ganzen Jah—
res auf den Gebieten des Staatenlebens,
der Litteratur und ſchönen Künſte und der
Naturwiſſenſchaften zu geben, iſt ein, wie
es uns ſcheint, ſehr glücklicher Gedanke,
dem wir unſererſeits um ſo lebhafter zu—
ſtimmen müſſen, als den Fortſchritten des
Darwinismus in dieſem Jahrgang ein
über zwanzig Seiten langer Bericht ein—
geräumt iſt. Das ganze Buch iſt ſo prak—
tiſch gedacht und ausgeführt, wie die mei—
ſten Unternehmungen des bibliographiſchen
Inſtituts, und verdient nach jeder Richtung
warme Anerkennung.
—
Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig.
Jur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.“
Noch eine Betrachtung über die Erziehung der Zukunft.
Von
dem verſuchen, einige An-
Md
ben, wie wir uns eine
künftige Erziehung in den
Wahrheiten der „einheit—
lichen Weltanſchauung auf grund der Ent—
wicklungslehre“ denken, ſo ſcheint es vor
allem notwendig, zu definiren, was wir
unter Erziehung verſtehen. Da wir aber
in dieſer Frage vielfach von der herrſchen—
den Auffaſſung abweichen, ſo werden wir
uns klarer darüber werden, wenn wir zu—
vor an der Hand der bisherigen Doktrinen
darlegen, was wir nicht darunter ver—
ſtehen.
Kant““) verſteht unter Erziehung
*) Vergl. „Zur Würdigung erſchütterter
Autoritäten.“ Kosmos, Bd. V, S. 165 ff.
%) Kant in feinen ſparſamen und zer—
ſtreuten Bemerkungen über Pädagogik wird,
nicht minder als alle ſpäteren bekannten Päda-
gogen, in den entſcheidendſten Punkten von der
Pſychologie nur allzuoft im ſtiche gelaſſen und
vielfach in die ſchreiendſten Widerſprüche ver—
wickelt. Das Geheimnis ihres Mißerfolgs liegt
3
Nenn wir es in nachſtehen-
eutungen darüber zu ges |
Theodor Vuy.
„die Wartung, Disziplin und Unterwei—
ſung nebſt der Bildung“ und ſetzt zu ihrer
erfolgreichen Wirkung drei Hauptpunkte
im Charakter des Kindes voraus: 1) Ge—
horſam, 2) Wahrhaftigkeit, 3) Geſelligkeit
und Frohſinn: „denn nur das fröhliche
Herz allein iſt fähig, Wohlgefallen
an dem Guten zu empfinden.“
Ahnlich findet Fichte als Anknü—
pfungspunkt für jede Erziehung im Men—
ſchen den „Trieb nach Achtung“, Peſta—
lozzi die „Liebe“.
Schon in unſerm früheren Artikel ha—
ben wir nachgewieſen, wie traurig es mit
dieſen im ganzen richtigen, wenn auch ein—
ſeitigen Vorausſetzungen beſtellt iſt und
wie der Mangel an Wahrheit auf ſeiten
einzig und allein darin, daß ſie die Wahrheit
des biogenetiſchen Grundgeſetzes in ſeiner An—
wendung auf die Erziehungslehre ignorirten,
d. h. den einzig richtigen Weg bei der Erziehung
des Kindes, wie ihn die Natur im großen und
ganzen bei der Entwicklung der Körper- und
Sinnesorgane vorgezeichnet hat, nicht zu finden
wußten. Peſtalozzi ahnte ihn, unklar, inſtinkt⸗
mäßig, vermochte ihm aber nicht zu folgen.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6.
52
410
der Autorität nicht nur die drei Kantiſchen
Vorausſetzungen ſchon bedeutend gelockert
habe, ſondern auch den nach Fichte im—
manenten und unausrottbaren „Affekt der
Achtung“ ernſtlich in Frage zu ſtellen
drohe.
Wir haben zur Bekämpfung dieſer
drohenden Eventualitäten ebendort Stel—
lung genommen gegen die vielgeprieſenen
preußiſchen „Beſtimmungen vom 15. Okt.
1872% die ſowohl eine wahrhaftige Über—
einſtimmung und Einheitlichkeit der Lehre,
als auch eine genügende und harmoniſche
Ausbildung des zu Lehrenden unmöglich
machen, ja in gewiſſer Beziehung ein
Rückſchritt gegen die Stiehlſchen Regula—
tive ſeien, die andrerſeits allerdings jeden
Fortſchritt in der Erkenntnis ausſchließen.
Nach der Schablone, die für die „Be—
ſtimmungen“ gedient hat, ſind mehr oder
minder auch die übrigen deutſchen Schul—
geſetze und verordnungen ausgearbeitet.
Alle ſind bemüht, dem Volke nicht nur für
den öffentlichen Schul-, ſondern auch
„Kirchſchuldienſt wohl vorbereitete“ Leh—
rer zu geben (königl. ſächſ. Geſetz vom 22.
Aug. 1876) und „gewährleiſten nicht nur
das Aufſichtsrecht auf die Religions- und
Sittenlehre“, ſondern auch das ganze „tt
liche und religiöſe Leben an den Unter—
richts- und Erziehungsanſtalten“ der kirch—
lichen Oberbehörde (kgl. bayr. Verordnung
vom 29. Sept. 1866).
Blicken wir über die Grenzen unſers
deutſchen Vaterlandes hinaus, ſo iſt in
England bis zur Stunde noch gar keine
leitende und beaufſichtigende Zentralbe—
hörde für den vielfach in haarſträubender
Weiſe verkommenen Volksunterricht ge—
Lehrkörper mit den betreffenden Kirchen—
ſchaffen. In Frankreich richtet ſich die
ganze Fürſorge auf die alles überwuchern-
Theodor Vuy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.
den bureaukratiſchen Vorſchriften und An—
ordnungen, und die Verbreitung natur—
wiſſenſchaftlicher Kenntniſſe bis in die
höchſten Unterrichtsſtufen beſchränkt ſich
auf die „notions des sciences physiques
et d'histoire naturelle, applicables
aux usages de la vie“ (Programme
des Examens :2c.), ein Beweis für die
einſeitige Dreſſur, die man den wiſſens—
durſtigen Stellenjägern jedes Alters und
jedes Standes an Stelle einer Erziehung
dort angedeihen läßt. a
Entwicklungsfähig in unſerem Sinne
erſcheint uns höchſtens das öſterreichiſche
Organiſationsſtatut der Bildungsanitalten.
für Volksſchullehrer vom 26. Mai 1874,
das in auffallender Weiſe gegen ſämmtliche
deutſche Emanationen dieſer Art kontra—
ſtirt. Schon die miniſterielle Ausführungs—
verordnung verweiſt als „Ziel und Zweck“
der betreffenden Bildungsanſtalten und als
eine „höchſt wichtige erziehliche Aufgabe“
derſelben nur auf § 56, der wörtlich ſo
lautet: „Die Bildungsanſtalten haben
den künftigen Beruf ihrer Zöglinge als
Jugend- und Volksſchullehrer ſtets im Auge
zu halten. Es gehört zu den weſentlichen
Aufgaben ſämmtlicher Lehrer, durch Un—
terricht, Wort und Beiſpiel zu ſittlich-reli—
giöſer Erziehung der Zöglinge mitzuwirken,
ſie zur Selbſtändigkeit im Denken und
Thun, zur Genauigkeit in der Pflicht—
erfüllung, zu geſetzlichem Sinn, zur An—
hänglichkeit an den Kaiſer und zur Vater—
landsliebe zu erziehen.“ Es folgt darauf
in $ 57, deſſen Inhalt die Einführungs—
verordnung mit keiner Silbe gedenkt, die
kühle Beſtimmung: „Bezüglich der reli—
giöſen Übungen der Zöglinge hat ſich der
behörden ins Einvernehmen zu ſetzen und,
et
f
im Falle eine Einigung nicht er—
zielt wird, die Entſcheidung der Landes—
ſchulbehörde einzuholen.“ () (Das Lehr—
ziel der Religionslehre [2 St., ſpäter nur
1 St. w.] wird von den kirchlichen Ober—
behörden beſtimmt und durch die Landes—
ſchulbehörde vorgezeichnet.) Allerdings
liegt, öſterreichiſchen Verhältniſſen ange—
meſſen, der Hauptnachdruck des ganzen
Statuts auf einer weniger zur Erziehung
geeigneten Disziplin, dem Sprachunterricht,
wie denn die miniſterielle Verordnung feſt—
ſetzt, daß „aller Unterricht zugleich Sprach—
unterricht zu fein habe“. Immerhin iſt Um:
fang und Ziel des naturgeſchichtlichen Unter—
richts nach bewandten Umſtänden verſtän—
dig bemeſſen. „In jedem Sommer wird
derſelbe durch Exkurſionen unterſtützt“, und
„auf allen Unterrichtsſtufen iſt das Er—
klären der Erſcheinungen in der Natur,
namentlich der landwirtſchaftlich wichtig-
ſten, beſonders zu berückſichtigen“.
Uns will es ſcheinen, als ob es, wie
geſagt, möglich ſei, daß dieſes, von einem
aufgeklärten, guten Willen zeugende Statut
bei richtiger Handhabung mit der Zeit
Lehrkräfte hervorbringen könnte, die den
Weg zu einer rationellen Methode und
wünſchenswerten Weiterentwicklung in un—
ſerm Sinne finden müßten.
Wenden wir uns dagegen zu dem
Ziele zurück, das unſere deutſchen amt—
lichen Beſtrebungen erreichen, ſo kann
daſſelbe nicht anders als himmelweit von
dem aufgeſteckten verſchieden ſein. Statt
der erhofften harmoniſchen Ausbildung in
ſittlicher und geiſtiger Richtung ſehen wir
eine durch alle „gebildete“ Klaſſen gehende
Unſicherheit, Unreife und Zerfahrenheit
der Anſchauungen auf ethiſchem und in—
tellektuellem Gebiet, ein eitles Haſchen
Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.
411
nach Schlagwörtern, ein Prunken mit
falſch verſtandenen Prinzipien, die im
beſten Falle ſo weit von einem wirklich
objektiven Werte entfernt ſind, wie die
landläufige Humanitätsduſelei von einer
richtigen Einſicht in die uns regierenden
Naturgeſetze. Dieſe Richtung ſpiegelt ſich
denn auch deutlich in unſerer Tagespreſſe
und den Revüen, den wahren Fortbildungs—
ſchulen unſers gebildeten Volkes, wieder.
Hier löſen ſich die Evangelien des Kirchen—
fürſten und des Atheiſten, des Militärs
und des Sozialiſten in der bunteſten, un—
vermitteltſten Weiſe ab und laſſen den
aufklärungsſüchtigen Leſer darnach genau.
ſo urteilsfähig, wie er vorher geweſen iſt.
Man wäre ſchließlich vielleicht noch
berechtigt, zu fordern, daß die Schule dem
Menſchen in ſeinem angebornen, alles
überwältigenden Streben nach Glückſelig—
keit in dieſer und „jener“ Welt die nötige
Grundlage liefere, mittelſt deren ihm jenes
höchſte Gut einigermaßen erkennbar und
erreichbar werde.
Nichts von alledem. Kenntniſſe werden
gerade ſo wenig und viel verbreitet, um
dem heranwachſenden Herrn der Schöpfung
keinen Zweifel über ſeinen Wert und die
Anſprüche zu laſſen, die er an die Güter
dieſer Welt zu erheben nicht müde wird,
und Bedürfnisloſigkeit wird nur noch dort
gepredigt und geübt, wo man durch den
Verzicht auf die irdiſche Wurſt die himm—
liſche Speckſeite zu erlangen hofft. Nir—
gends ein feſter Halt, nirgends ein Kom—
paß, nirgends eine Autorität, die die
glaubensſüchtige Menge nach einem er—
ſehnten Ziele führte.
Wenn es uns nun dennoch gelänge,
eine Autorität zu finden, zu deren Leitung
wir das Vertrauen haben könnten, daß ſie
412
unter einheitlicher, harmoniſcher Ausbil—
dung aller Kräfte, Anlagen und Fähig—
keiten des Individuums demſelben den
Weg zur wohlverſtandenen Glückſeligkeit
zu ebnen vermöchte, ſo wäre uns damit
wohl der Begriff nebſt der Wiſſenſchaft
der Erziehung aufgegangen.
Wir meinen, dieſe Autorität iſt ge—
funden.
Naturganze, an der Hand der Entwick—
lungslehre, muß uns in den ſtand ſetzen,
ſowohl über den relativen Wert und Un—
wert unſrer ſelbſt wie unſrer Umgebung
in einer Weiſe klar zu werden, die nur
veredelnd und beglückend auf uns wirken
kann.
Die Einſicht in die Naturgeſetze wird
es uns ermöglichen, den unſern Leiſtungen
angemeſſenen Teil der materiellen Güter
einerſeits leichter zu erringen und andrer—
ſeits die vielbegehrte Richtſchnur nicht im
materiellen Überfluſſe zu ſuchen, ſondern
in einer Beſchränkung unſerer Bedürfniſſe
auf das Notwendige und Erreichbare, unter
Anſammlung eines abgerundeten Fonds
von Kenntniſſen, der uns über die bangen
Zweifel, Hoffnungen und Befürchtungen
bezüglich „jener“ Welt hinweghilft.
Wie wir zu dieſer Art Kenntniſſe ge-
langen? Auf keinem der eingeſchlagenen
Wege. Ob konfeſſionelle oder Simultan—
ſchule, ſie befinden ſich beide gleich weit
von unſerm Ideal entfernt. Die konfeſſio—
nelle Schule erfüllt — wie die Stiehlſchen
Regulative — eine Hauptforderung der
Pädagogik: die Einheitlichkeit der Erzie—
hung — im beſten Falle.
Wenn der Lehrer von dem Glauben
an ſeine alleinſeligmachende Religion er—
füllt iſt und jede Unterrichtsſtunde um die
Sätze ſeiner Kirche, wie um ein Ideal, zu
Theodor Vuy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.
gruppiren, alles damit in Einklang zu
ſetzen und zu durchgeiſtigen verſteht, wer—
den ſeine Kinder einen abgerundeten und
einheitlichen Schatz mit nach Haufe nehmen
— um im ſpätern Leben das Ideal zumeiſt
als ein Trugbild zu erkennen und einen
um ſo tiefern Fall aus allen Illuſionen
zu thun; vorausgeſetzt, daß nicht ſchon
Eine richtige Einſicht in das
|
häusliche Lehre und Beiſpiel dieſen „Fall“
vor der Zeit herbeiführen.
Iſt der Lehrer, wie in der Regel, nicht
der ideale und gläubige Mann, ſo wird
das Reſultat mit nachſtehendem zuſammen—
fallen.
In den Simultanſchulen iſt die un-
vermittelte Scheidung der religiöſen Unter—
weiſung und der übrigen Unterrichtsſtun—
den eine unverſiegbare Quelle der Wider—
ſprüche, des Mißtrauens, des Unglaubens
und der Lüge. Die beſcheidenen Kenntniſſe
in den Realien werden zwar objektiver ge—
geben werden können als im erſten Falle;
in ihren Kreiſen aber reifen gerade die
Früchte, die unſere Zeit kennzeichnen.
Ehe wir uns nun zum poſitiven Teile
unſerer Betrachtungen wenden, erübrigt
uns nur noch, eine Frage ins Auge zu
faſſen: die nach dem Ziel und dem Um—
fang der Erziehung.
Wir können uns auch ferner darin
nur an das Gegebene halten.
Der Kampf ums Daſein wird immer
ſchwerer auf dieſer beſten der Welten. Um
im Schweiße ſeines Angeſichts ſein täg—
liches Brot eſſen zu können und daneben
eine Anzahl bevorzugter Konſumenten zu
erhalten, deren Aufgabe es iſt, den er—
worbenen Kulturſchatz zu hüten und zu
mehren, wird die Maſſe der Produzenten
immer mehr Stunden des Tages und Tage
des Jahres zu Körper und Geiſt tötender
D
Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.
413
Arbeit heranziehen müſſen. Allerdings die Macht, den Willen und die Einſicht
wird die Auffaſſungsgabe von Generation
zu Generation wachſen; daß aber die tiefe
Kluft, die den wahren Gebildeten von der
Mitteilung und Verbreitung poſitiver
Kenntniſſe ausgefüllt werden könnte, wird
niemand zu behaupten wagen. Wir ſind
jedoch der Anſicht, daß nicht aus Oppor—
tunitätsgründen hier eine eſoteriſche, dort
eine qualitativ verſchiedene exoteriſche
Lehre gelehrt werden dürfe. Die Wahr—
heit iſt nur eine, und dieſe Wahrheit iſt
die Weltbeherrſcherin, mögen wir uns an—
erkennend vor ihr beugen oder Vogel—
Strauß⸗artig uns vor ihr verbergen. Iſt
Ricardos ehernes Lohngeſetz nicht ob—
jektive, herrſchende Wahrheit, wenn auch
unſere Optimiſten mit Händen und Füßen
dagegen ankämpfen? Geht die natürliche
Ausleſe einen andern Gang, je nachdem
wir ſie bejahen oder verneinen? Was wir
dem Volke mitteilen, ſei die als rein und
lauter erkannte Wahrheit. Die Geſittung
wird dadurch nicht zu Schaden kommen.
Es handelt ſich jedoch darum, dieſe
Wahrheit in einer Form mitzuteilen, die
nicht nur ein gläubiges Hinnehmen der
Reſultate verlangt, ſondern auch eine Ein—
ſicht vermittelt in den Gang, der zu dieſen
Reſultaten geführt hat.
Wir können nach dem oben Geſagten
nicht erwarten, daß jemals das Ideal in
dieſer Richtung allgemeiner wird, nämlich
die mit allen Unterrichtsmitteln ausgeſtat—
tete, unabhängige und harmoniſch gebil—
dete, das Erziehungsgeſchäft mit der er—
forderlichen Hingebung, Ausdauer und
Einſicht übernehmende Familie. Wir müſ—
ſen an die öffentlichen Schulen anknüpfen
unter Aufſicht einer Zentralbehörde, welche
hat, darüber zu wachen, daß das Niveau
der Volksbildung ſich überall möglichſt
| gleihmäßig auf einer Höhe erhalte, die
Maſſe des Volkes trennt, jemals durch die
bei einer geſchickt geleiteten ſechsklaſſigen
Volksſchule mit einer Anzahl von 24 bis
30 Unterrichtsſtunden (abgeſehen vom
Turnen) zu erreichen iſt.
Dem Schüler werden auf der unter—
ſten Stufe die Sinne geweckt, er wird auf—
merken, ſprechen und leſen gelehrt,
wobei man ſich jedoch nur des durch reich—
liche Anſchauung unterſtützten mündlichen
Unterrichts bediene; ebenſo werden die
Elemente des Rechnens experimentell,
unter Zuhilfenahme der Rechenmaſchine,
beigebracht. Es iſt nicht zu überſehen, daß
hier, wie beim geſammten folgenden Unter—
richt, demſelben die anziehendſte, leben—
digſte Form gegeben werde, um dem Kinde
die ungewohnte Thätigkeit des Denkens
und Aufmerkens von vornherein zu einer
angenehmen zu machen. Aus demſelben
Grunde ſind raſchere Abwechslung des
Unterrichts, zahlreiche kurze und erholende
Unterbrechungen deſſelben erforderlich.
Jede Ermüdung iſt zu vermeiden; Mit—
teilung von Regeln, Auswendiglernen
ſtreng auszuſchließen; ſchon hier iſt dem
Verlangen nach Glückſeligkeit die beſtimmte
Richtung und Genugthuung zu geben.
Im Anſchluß daran wollen wir gleich
hier bemerken, daß die Grammatik aus
der Volksſchule überhaupt fernbleiben
ſollte. Eine achtſame Behandlung der Un—
terrichtsſprache ſeitens des Lehrers, ſowie
die mündliche und ſchriftliche Ausdrucks—
weiſe ſeitens des Schülers, zuſammenge—
halten mit einer mäßigen, bis in die höchſte
Stufe praktiſch und umſichtig geleiteten
Lektüre proſaiſcher und poetiſcher Muſter—
ae er
414
ſtücke dürfte hinreichen, den in dieſer Rich-
tung geſtellten Anforderungen des ſpätern
Lebens zu genügen.
Den ſich an die „vier Spezies“ ſpäter
anreihenden Unterricht in der Mathe—
matik wünſchten wir nur wenig über das
Ziel der heutigen Mittelſchule erweitert,
ſo zwar, daß der Schüler in den ſpäteren,
feine Lehrzeit begleitenden Fortbildungs-
ſchulen im ſtande iſt, den ſeinem Beruf zu—
grunde liegenden Zweig der Mechanik und
Technik, von deſſen Kenntnis ein ſo großer
Teil ſeiner künftigen Wohlfahrt abhängt,
ſich völlig zu eigen zu machen.
Bezüglich der Methode iſt jedoch der
Unterricht in der Arithmetik und Raum—
lehre, wie ſchon bemerkt, weit anregender
und fruchtbarer zu machen, als es gewöhn—
lich geſchieht, und zwar durch Kultivirung
des gern geübten Zeichnens, umfaſſendere
Anwendung konkreter Maße, geradliniger
(ſtereometriſcher) Körper u. dgl. Es ge—
nügt nicht, daß man den alten Satz „Vom
Einfachen zum Zuſammengeſetzten“ oder
„Vom Konkreten zum Abſtrakten“ beachte;
der Lehrer wiſſe von den Lehrbüchern ab—
zuſehen, die Schüler ſelbſt ſich mutig durch
die Schwierigkeiten durchkämpfen zu laſſen
und ſie auf eigne Entdeckungen zu leiten.
Nachdem auf der erſten Stufe neben
der Pflege des Körpers (Turnen und Ge—
ſang), wie angedeutet, die oben berührten
Lehrſtoffe in ihren erſten Elementen in
Angriff genommen ſind, wage man ſchon
auf der zweiten Stufe daneben auf die
Realien überzugehen.
Wir ſind dafür, allem bisherigen ent—
gegen, mit der phyſikaliſchen Geo—
graphie (im weiteſten Sinne) zu begin—
nen. Die Fenſterſcheiben, eine Glasſchüſſel
mit Waſſer, einige Geſteinsarten und ein
Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.
Globus geſtatten bei geſchickter Hand—
habung den Schüler über die Bodengeſtal—
tung, die atmoſphäriſchen Erſcheinungen,
die auffallendſten Naturerſcheinungen, die
ganze Erd- und Weltbildung nach und
nach eine Überſicht gewinnen zu laſſen,
wie ſie bisher auf niederen und mittleren
Schulen, ja überhaupt noch gar nicht er—
reicht iſt. In dieſes Unterrichtsfach gerade
möchten wir den Schwerpunkt der ganzen
Erziehung verlegt wiſſen; alle anderen
Disziplinen ſollten von ihm ausſtrahlen,
alle andern immer wieder auf ſeine Lehren
zurückführen. Mehr aber als irgendwo gilt
es hier, die jungen Hörer zu Mithandeln—
den zu machen, ſie mit ſich und ſich mit
ihnen von Fortſchritt zu Fortſchritt, von
Entdeckung zu Entdeckung zu führen. Der
Lehrer hüte ſich aber, zu früh mit Be—
griffen zu operiren. Man laſſe eine Er—
ſcheinung nach der andern, eine Wahrheit
nach der andern vor den Augen der Schü—
ler entſtehen und faſſe erſt dann vorſichtig
die Erfahrungen in eine Verallgemeinerung
zuſammen.
Wenn auf der zweiten Stufe etwa ein
Viertel der Unterrichtsſtunden dieſem Lehr—
fach gewidmet wird, ſollte er auf den
höheren Stufen bis zur Hälfte der Unter—
richtsſtunden beanſpruchen dürfen. Es iſt
nicht erforderlich, daß die poſitiven Kennt—
niſſe in quantitativer Hinſicht mit jeder
Stufe eine weſentliche Erweiterung er—
fahren. Wenn irgendwo, iſt hier das
Herbartſche Wort, der Unterricht ſolle
„zeigen, verknüpfen, lehren, philoſophi—
ren“, mit dem richtigen Verſtändnis auf
den oberen Stufen wahr zu machen.
Wer wird als der erſte dem verſtän—
digen Lehrer einen Leitfaden hierzu in die
Hand drücken?
Be
Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.“
Von der Chemie raten wir gänzlich ab;
ſie paßt höchſtens in Real- und Gewerbe—
ſchulen. Das Wiſſenswerteſte über die
Exiſtenz der hauptſächlichſten Elemente
wird ſchon in dem Lehrſtoff des obigen
Faches ſeine Stelle finden können. Die
zu jedem weitern Schritt nötigen Verſuche
erfordern eine ſolche ernſte Konzentration
des Intereſſes und eine Reife des Urteils,
wie ſie nur ſelten ſogar in den höheren
Klaſſen des Gymnaſiums angetroffen wird.
Wir möchten deshalb dieſe Disziplin, ebenſo
wie ein tieferes Eingehen in die Phyſik
und Geologie, überhaupt auf die höhe—
ren techniſchen Unterrichtsanſtalten be—
ſchränkt wiſſen, die mehr der Verbreitung
notwendiger und nützlicher Spezialkennt—
niſſe der betreffenden Berufsarten dienen
jollen.*)
Sit durch jene Unterweiſung ein eini-
germaßen feſter Boden/gewonnen, fo kann
auf der folgenden Stufe im Sommer zur
Botanik, im Winter zur Zoologie
übergegangen werden. Dabei iſt aber nicht
ernſtlich genug vor einem Überwuchern der
Syſtematik und dem Auswendiglernen zu
warnen. Ein Herausgreifen und Verglei—
chen allgemein bekannter, die Hauptklaſſen
vertretender Typen in concreto wird da—
gegen Lehrer wie Schüler gemeinſam in
der anregendſten Weiſe zu Ahnlichkeiten
und Unterſcheidungen in der Entwicklung
der verſchiedenen Organe führen und ſie
unvermerkt zur Feſtſtellung der notwendi—
gen ſyſtematiſchen Anhalte veranlaſſen.
Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß dieſer
*) Anm. d. Red. Hierin können wir dem
Herrn Verfaſſer nicht beiſtimmen. Die Grund—
lehren der Chemie und Phyſik find für das täg—
liche Leben eines jeden beinahe ebenſo unent—
behrlich wie die Mathematik, und erfordern zu
415
Lehrgang durch regelmäßige, womöglich
allwöchentliche Exkurſionen unterſtützt wer—
den muß. Wenn der Lehrer hier die ganze
Klaſſe beim Sammeln und Vergleichen zu
beteiligen verſteht, konſequent darauf hält,
daß kein Organismus (Pflanze oder Tier)
aus ſeinen Lebensbedingungen geriſſen
und getötet werde, es ſei denn im Inter—
eſſe der Wiſſenſchaft oder im ehrlichen
Kampfe für Leben und Wohlfahrt, dann
wird ſich bald eine warme Teilnahme und
Liebe für die organiſche Natur entwickeln,
die ſich nicht nur in unklaren ſympathiſchen
Gefühlen für Waldesluft und Vogelſang
zeigen, ſondern auch in der Sorgfalt und
Schonung für Blatt und Blume, für
Wurm, Spinne, Käfer, Froſch, Nachtigall
bethätigen wird. Der ſpäter ſo ſtark auf
uns eindringende Kampf ums Daſein in
Verbindung mit dem Auftreten äſthetiſcher
Bedürfniſſe wird uns vor ſentimentalen
oder buddhiſtiſchen Übertreibungen ſchützen.
Auf dieſe Weiſe muß es gelingen,
ſchon auf den mittleren Stufen einen ge—
wiſſen Einblick in den Zuſammenhang des
Naturganzen, ſowie eine annähernd ſichere
Erklärung der alltäglichen Naturerſchei—
nungen zu gewinnen. Auf den beiden
obern Stufen ſind die gewonnenen Kennt—
niſſe noch weiter zu befeſtigen und zu ver—
tiefen, ohne im einzelnen viel weiter dar—
über hinauszugehen, als es die künftigen
Bedürfniſſe bei Garten-, Feld- und Wald-
kultur erfordern.
Indeſſen iſt es natürlich unbedingt
notwendig, daß der Menſch von ſeiner
ihrer Aufnahme viel weniger Anſtrengung des
Geiſtes als dieſe, die doch niemand entbehren
wollen wird. Viel eher würde unſers Erachtens
für die Volksſchule die Zoologie und Botanik zu
entbehren ſein.
416
bisherigen Ausnahmeſtellung mit in die
Reihe der objektiv zu betrachtenden Orga-
nismen gezogen wird. Mit Hilfe mikro—
ſkopiſcher Zeichnungen iſt die mannigfache
Differenzirung der in der Anlage überein—
ſtimmenden Organe klarzulegen. Feſt und
verſtändig iſt auf der oberſten Stufe der
Schleier vor den Geheimniſſen der Ent—
ſtehung und Entwicklung des menſchlichen
Weſens zu lüften und die notwendigen
Winke für das künftig ihm obliegende,
ſeither ſo arg vernachläſſigte Erziehungs—
geſchäft anzuknüpfen. Es ſpricht alles da—
für, daß bei einer ſolchen Unterweiſung
die bisher anerzogene faule Überhebung
einer wohlbegründeten Beſcheidenheit und
Strebſamkeit weichen wird, und die „My—
ſterien“ der Geſchlechtsunterſchiede, die
gerade die geweckteſten Jünglinge infolge
der Mangelhaftigkeit und Verkehrtheit der
Erziehung ſo oft in die drohendſten Sümpfe
locken, werden zum großen Teil ihre ge—
fährlichſten Lockungen verlieren. Das auf
ſolche Weiſe gewonnene Reſultat wird ſich
aber in der Zukunft dauernder, lebendiger
und entwicklungsfähiger erweiſen, als das
bisher beliebte, durch Jahre geübte Ein—
pauken unverſtandener Unterſcheidungs—
merkmale.
Aber auch dem nach unſerer Anſicht
erſt ſpäter anzuhebenden Unterricht in der
politiſchen Geographie und in der
Geſchichte möchten wir eine durchgehende
Reform wünſchen.
Hat der Schüler, nach früheren An—
deutungen, eine anſchauliche, klare und
zuſammenhängende Kenntnis von der Bo—
dengeſtaltung und den phyſikaliſchen Ver—
hältniſſen ſeines Erdteils erlangt und ſei—
nen Vorrat an Erfahrungen und Begriffen
erweitert, ſo möge ihm, etwa mit der dritten
Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.
Stufe, die für nötig gehaltene politiſche
Einteilung deſſelben beigebracht werden.
Am beten geſchieht dies aber unſeres Erach—
tens in enger Verbindung mit der Geſchichte.
Letztere iſt ſeither lediglich Kriegs—
und Fürſtengeſchichte geweſen. Volks- und
Kulturgeſchichte, aus der unſere heutigen
Zuſtände herausgewachſen und durch de—
ren Kenntnis allein ſie verſtändlich ſind,
iſt nahezu gänzlich unberückſichtigt geblie—
ben. Was Wunder, daß uns überall die
unbegreiflichſten Widerſprüche entgegen—
treten und dem Schüler Urteile zugemutet
werden, die unſern heutigen Begriffen von 2
Recht und Moral geradezu ins Geſicht |
ſchlagen? So pflegt man ſich gemeiniglich 3
darauf zu beſchränken, den Urſprung der 5
europäiſchen Kultur in einer Anzahl mit?
geteilter Biographien nachzuweiſen, deren ö
Helden, bei heutigem Licht beſehen, nicht
viel mehr als eitle Klopffechter waren,
im beſten Falle heißblütige, ehrgeizige
Kirchturmpolitiker, die nebenbei, ſo oft
ihren Erfolgen ein Damm entgegengeſetzt
wurde, ſofort bei der hand waren, den
großen Nachbar und Erbfeind zu Hilfe zu
rufen. Unvermittelt, wie unſere Schulen
dieſe griechiſchen Größen bisher kennen
lernten, iſt es ganz unbegreiflich, daß man
ihnen jene Prototypen des Partikularis—
mus heutzutage noch zur Nacheiferung
empfehlen kann! Auch die ſogenannte *
griechiſche Kunſt erſcheint ihnen wie vom N
Himmel geſchneit. Der Athener Perikles
und ſein künſtleriſcher und kriegeriſcher
Generalſtab taucht inſelgleich aus dem
dunklen Meere und gilt dabei mit ſei—
nen verfeinerten Bedürfniſſen für ein blo—
ßes Beiſpiel der geſammten Bevölkerung
Griechenlands. Es fällt niemandem ein,
danach zu fragen, wo die Mittel zu 4
4
—
dem luxuriöſen Leben dieſer Auserwählten
herkamen und wie ſie beſchafft wurden.
Eine eingehendere Kenntnis der ſtaatlichen,
wirtſchaftlichen und Familienverhältniſſe
auf der griechiſchen Halbinſel, der Zuſam—
menhang der griechiſchen Kultur mit den
älteren Kulturen Aſiens und Egyptens
wird vollſtändig mit Stillſchweigen über—
gangen. Unſerer modernen Entwicklung
entgegen kommt ſogar das ſtaatenbildende,
in der Amalgamirung fremder Elemente
ſo überaus geſchickte, durch und durch vom
ſtolzeſten Nationalgefühl getragene Römer—
volk zu kurz.
Faſt bei keinem Unterrichtszweig, ſoll—
ten wir meinen, tritt die antiquirte, gänz—
lich untaugliche und verwirrende Methode
ſo zutage, wie beim Geſchichtsunterricht.
Wie ſchön ließe ſich an die noch ſicht—
baren Spuren unſerer altariſchen Geſit—
tung anknüpfen, die uns nach Aſien ver—
weiſt, wo wir — die Chineſen beiſeite
laſſend —vom Ganges aus ihre mehr oder
weniger ausführlich und lebendig ſprechen—
den Züge über Babyloner, Aſſyrer, Phö—
niker verfolgen können, bis wir ſie, auf
dieſer Reiſe reichlich mit ſemitiſchen und
egyptiſchen Elementen untermiſcht, endlich
auch in Griechenland Wurzel faſſen ſehen,
wo ſie, dank dem Zuſammentreffen günſti—
ger Verhältniſſe, eine ſo raſche und frucht—
bare Entwicklung fand. Wenn daneben
die beſtimmenden Einflüſſe des Klimas,
der Raſſenanlagen, der Volksſchichtung,
des Sklavenweſens u. ſ. w. nicht überſehen
werden, ſo werden wir auch die angedeu—
teten Kehrſeiten in der Entwicklung des
griechiſchen Volkes nicht länger zu ver—
ſchweigen brauchen und den verhältnis—
mäßig raſchen Niedergang uns erklären
können.
Theodor Vuy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.
SU,
Ihr Staatenkomplex, feine Bewohner
und Lenker werden uns greifbarer, allge—
mein menſchlicher, aber auch verſtändlicher
erſcheinen, wenn wir erkennen, daß jede
dieſer „Größen“ ein Kind ſeiner Zeit und
dieſe Zeit das Produkt einer natürlichen
Entwicklung war.
Wie ſodann die Kultur zu den Römern
überging und von dieſen darauf, verwebt
mit dem roten Faden des Chriſtentums,
zu den übrigen Abendländern, davon ge—
ben die eingeführten Lehrbücher, trotz ihrer
haarſträubenden Einſeitigkeit, ſchon genü—
genden Aufſchluß.
Wenn die Schule auf dieſe Weiſe ge—
lernt hat, die relativen Vorzüge und Nach—
teile eines jeden Kulturzuſtandes und eines
jeden Staatsweſens als das notwendige
Produkt des „Volkswillens“, ſeiner Raſſe—
anlagen, der klimatiſchen Verhältniſſe des
Landes anzuſehen, wird ein weſentlicher
Grund zu politiſcher und ſozialer Unzu—
friedenheit, die in dieſer wie in jeder an—
dern Art perverſer Kundgebung größten—
teils auf Unwiſſenheit beruht, beſeitigt ſein.
So gewiß, wie auf die Dauer das
herrſchende Prinzip ſich nur halten kann,
wenn es das Durchſchnittsmaß der Volks—
bildung und des Volkswillens repräſentirt,
ſo gewiß iſt eine Steigerung zu Beſſerem
an leitender Stelle nur durch allmähliche
Hebung und Steigerung der Volksbildung
und des Volkswillens herbeizuführen.
Wir halten es völlig an der Zeit,
wenn, erſt hier angelangt, dem engeren
Vaterland und der herrſchenden Dynaſtie
ein breiterer Raum gegönnt wird. Der
Schüler wird darnach verſtehen, warum
die erſten Anfänge im Aufſteigen der letz—
teren auf dem wirklichen und gegründeten
Recht des Stärkeren beruhen mußte, und
Kosmos, Jahrg. IV. Heft 6.
on
=
418
wie die lange, bis in die Neuzeit reichende
rückſichtsloſe Geltendmachung deſſelben —
gewollt oder ungewollt — zur Erfüllung
des Geſetzes vom Überleben des Paſſen—
deren führte.
Es bleibt uns nicht mehr viel zu un—
ſerer gewünſchten Reform zu ſagen.
Die Pflege fremder Sprachen hal—
ten wir für die Volksſchule durchaus ent—
behrlich. Sie bildet mit ihren Anforde—
rungen an geiſttötendes Auswendiglernen
einen Ballaſt, der in den meiſten Fällen
weggeworfen wird, ſobald das Kind die
Schule verläßt. Die Stunden der Volks-
erziehung ſind aber zu knapp bemeſſen,
als daß wir nicht wünſchen ſollten, ſie
mit rein erziehlichem Stoff ausgefüllt zu
ſehen.
Geſang und Turnen könnten gleich—
Theodor Vuy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.
Wort, „die Religion an und für ſich ent—
halte keinen Antrieb zu wirken“, täglich
ſeine Beſtätigung findet. Die Moral da—
gegen beſteht doch jedenfalls darin, ſich
und andern das Leben ſo vollkommen wie
möglich zu geſtalten. Es kann dies aber
nur in möglichſt vollkommener Anpaſſung
an den geſellſchaftlichen Organismus, dem
wir angehören, geſchehen. Je beſſer wir
deſſen Vertrauen in unſere Zuverläſſigkeit
und Leiſtungsfähigkeit zu entſprechen wiſ—
ſen, ein um ſo tauglicheres und vollkomm—
neres Glied werden wir ſein, um ſo mehr
Glück werden wir auf uns und unſre Um—
gebung ziehen.
Wenn der Lehrer daher die Liebe zur
Wahrheit und Wiſſenſchaft in den Herzen
| ſeiner Pflegebefohlenen anzufachen weiß;
wenn jede Unterrichtsſtunde auch eine
falls noch vernunftgemäßer betrieben wer-
den. In betreff des erſteren können wir
nicht dringend genug vor dem ſonderbaren
Ehrgeiz warnen, über das vorhandene
Verſtändnis gehende Kompoſitionen zum
Vortrag bringen zu wollen, ſtatt bei der
dankbaren Pflege und geſchmackvollen Ein-
übung unſerer einfachen melodiöſen Volks—
lieder zu beharren. Das Turnen muß weit
fleißiger betrieben, alle Kräfte, auch die
geiſtigen, dabei gleichmäßiger in Anſpruch
genommen und geübt werden.“)
Wo bleibt aber die, wenn ſchon nicht
religiöſe, ſo doch moraliſche Ausbildung?
höre ich von allen Seiten fragen.
Ich bemerke darauf, daß Fichtes
*) Wir möchten hierbei beſonders auf die
trefflichen Bemerkungen über dieſen Gegenſtand
in dem Buche des Prof. Dr. G. Jäger,
„Die menſchliche Arbeitskraft“. München, 1878,
S. 425 u. ff. verweiſen.
Stunde der Erziehung zu jener Vollkom—
menheit iſt; wenn der Lehrer es verſteht,
durch die Art ſeiner Unterweiſung die
Neigungen und Begehrungen der Jugend
fort und fort an ſeine Darſtellungen zu
feſſeln; wenn er ſeine Zöglinge von Fort—
ſchritt zu Fortſchritt, von Entdeckung zu
Entdeckung führt; kurz, wenn er ſich durch
eine möglichſt einheitliche, konſequente und
erfolgreiche Handhabung des Unterrichts
die Liebe und Achtung ſeiner Schüler zu
ſichern, ſie durch ſeine Erziehung in einen
Zuſtand der Glückſeligkeit zu verſetzen
weiß, dann wird ſeine Perſon und ſein
Wort eine Autorität, einen Zauber und
einen Wetteifer, ihm zu gefallen und ihm
nachzuahmen, ausüben, deſſen Wirkung
keine Art des religiöſen Unterrichts, möge
ſie nun in Geboten, Heiligengeſchichten
oder Biographien berühmter Männer be—
ſtehen, zu erreichen vermag.
Skizzen aus der Eutwicklungsgeſchichte der Entwick-
lungsgeſchichte.
Von
ie Extravaganzen der natur—
plhiloſophiſchen Schule in
% Oken, Schelling und ihren
Nachfolgern hatten, wie auf
ſyſtematiſchem Gebiete, ſo
ſpekulation erzeugt, daß das Wort Natur—
wurde. Zufrieden, weder die Entwicklung
auch auf dem ſpeziellen der |
Entwicklungsgeſchichte eine ſolche Abnei-⸗
gung gegen alle wiſſenſchaftliche Über-
tigte, daß man jene als embryonale
philoſoph zum Schimpfwort geworden
war und auch das Gute, was dieſe Rich-
tung angeregt hatte, lange völlig verkannt |
des Lebens der Welt noch die des Einzeln-
ja in einem Plane das frühere im Hin—
weſens erklären zu können, legte man das
gequälte Haupt nochmals im Schoße des
Moſes zur Ruhe und nahm an, daß alle
Ernſt Krauſe.
III.
Tieren, namentlich durch die Arbeiten von
Karl Vogt und Agaſſiz, ſolche kennen,
die eine neue Entwicklungsreihe eröffnen,
und nannte ſie bibelfeſt prophetiſche
Typen, während man der Thatſache, daß
die allgemeinen Charaktere der älteſten
Fiſche in den Embryonen der heute leben—
den wiederkehren, einfach dadurch abfer—
Formen bezeichnete und gar von ſyn—
thetiſchen ſprach, welche die Organiſa—
tionen ſpäter getrennter Formen vereinigt
haben ſollten, ſomit ein für allemal das
frühere nach dem ſpäteren benennend, weil
blick auf das ſpätere angelegt wird. Ein
verſchämtes Hindurchwirken der natur—
verführeriſchen Ahnlichkeiten und Über-
Zieh aller Entwicklung auch ihre Ur—
gangsformen ſowohl zwiſchen den embryo—
nalen und ausgebildeten, als zwiſchen
Braun, Agaſſiz u. a. geäußerten Ideen
ihnen und den ausgeſtorbenen, durch die
Paläontologie bekannt gewordenen Weſen
im „Schöpfungsplan“ begründet ſeien.
Man lernte unter den ausgeſtorbenen
philoſophiſchen Idee, daß der Menſch als
ſache ſei, blieb in dieſen von Link,
überall erkennbar, während die Kraft- und
Staoffſchule durch die Kühnheit ihres Rück—
|
gangs auf Lamarck und die Eneyklopä—
420
dienſt und wegen ihrer Unfähigkeit, den
natürlichen Entwicklungsweg plauſibel zu
machen, die beſonneneren Forſcher nur
noch mehr zurückſtieß.
Auf dieſe Weiſe mußte das nicht un—
vorbereitet und doch plötzlich auftauchende
Licht der Darwinſchen Theorie im erſten
Augenblick mehr blenden als erleuchten,
und nur allmählich und nicht ohne Schmer—
zensrufe gewöhnten ſich die Naturforſcher
an dieſes neue Licht und begannen die Dinge
der Welt bei demſelben von neuem zu be—
trachten. Gerade in der Entwicklungsge—
ſchichte war nun aber die Oken-Geoffroy—
ſche Entwicklungs-Idee, die als ſolche mit
der Darwinſchen ihre Vergleichspunkte
darbot, am gründlichſten durch Baer und
ſeine Schüler widerlegt worden. Johan—
nes Müller in Berlin, der ganz in Baers
Fußtapfen getreten war, fand an der na—
turphiloſophiſchen Lehre nur noch ſoviel
wahr, daß jeder Embryo anfangs nur den
Typus ſeiner Abteilung an ſich trage, wo—
raus ſich erſt ſpäter der Typus der Klaſſe,
Ordnung, Familie, Gattung und Art her—
vorbilde. Baer hatte als Schlußergebnis
aller ſeiner Studien prägnanter den Satz
hingeſtellt: „Die Entwicklungsge—
ſchichte des Individuums iſt die Ge—
ſchichte der wachſenden Individua—
lität in jeglicher Beziehung“, der
ſich, weil ſtreng richtig, nur dadurch mit
dem andern Satze vereinigen läßt, daß eben
die Geſchichte des Individuums auf den
früheren Stufen völlig zuſammenfällt
mit derjenigen ſeiner Art, Gattung, Familie,
Ordnung und Klaſſe. Weniger allgemein
richtig ſind einige andere Sätze Johan—
nes Müllers. Er glaubte, daß die Rei—
henfolge der Entwicklung durch die Wich—
tigkeit der betreffenden Organe geregelt
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
werde, indem die wichtigſten ſtets zuerſt
gebildet würden, eine Meinung, die für die
teleologiſche Richtung der geſammten äl—
teren Naturauffaſſung charakteriſtiſch iſt.
Darwins Lehre, „daß alle die zahl—
loſen Arten, Gattungen und Familien or—
ganiſcher Weſen, von denen die Welt be—
völkert wird, jede in ihrer beſondern Klaſſe
oder Gruppe, von gemeinſamen Eltern ab—
ſtammen“, wurde zuerſt von Huxley in
England, Oskar Schmidt in Deutſch—
land und Fritz Müller in Braſilien auf
das Studium der Entwicklungsgeſchichte
angewendet. Mit glücklichem Griffe nahm
der letztere, ein Schüler Johannes Mül—
lers, die Entwicklungsgeſchichte der for—
menreichen Gruppe der Krebstiere in An—
griff, um daran die Wahrheit oder Falſch—
heit der neuen Lehre zu erproben. Ent—
hielt ſie die Wahrheit, ſo mußten ſich
dieſe Tiere bei all ihrer großen Man—
nigfaltigkeit auch durch die Entwicklungs—
geſchichte als Glieder einer großen Fa—
milie erweiſen. Nun war ihm aufge—
fallen, daß jene Baer- und Müllerſchen
Geſetze, daß Tiere ſich um ſo ähnlicher
würden, je weiter man in ihrer Entwick—
lungsgeſchichte zurückgeht, und daß ſich die
wichtigſten Organe immer zuerſt anlegen
ſollten, gerade bei den Krebstieren keines—
wegs immer zutreffen. Viele der nieder—
ſten Krebſe erheben ſich in ihrer geſamm—
ten Organiſation nicht viel über ihre ſechs—
füßige Larvenform mit werkzeugloſem
Munde und einfachem Rückenauge, dem
von dem däniſchen Naturforſcher Fried—
rich Müller ſogenannten Nauplius. Mit
einer im allgemeinen ähnlichen Nauplius—
form beginnen auch die Rankenfüßler und
Schmarotzerkrebſe ihre Entwicklung als
freilebige Larve, worauf ſie ſich ſpäter auf
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
ſchwimmenden Hölzern, Klippen oder leben—
den Tieren feſtſetzen und in einer rückläu—
figen Metamorphoſe nicht nur alle Krebs—
ähnlichkeit verlieren, ſondern ſchließlich ſo—
gar alle Tierähnlichkeit, ſo daß die einen als
Weichtiere (Entenmuſcheln), die anderen
überhaupt nicht mehr als Tiere angeſehen
wurden, bevor man ihre Entwicklungsge—
ſchichte kannte. Sprach die gemeinſame Ent—
wicklung jo grundverſchiedener Endformen |
aus einer den niederſten Krebstieren nahe—
ſtehenden Anfangsform nun allerdings ſehr
für Darwin, jo ſtritt das Fehlen der ge—
dachten jüngſten Larvenform (des Nau—
plius)in der Entwicklung unſerer Flußkrebſe,
Krabben und anderer höheren Krebstiere,
ebenſo ſehr gegen Darwin als gegen Baer,
nach deſſen Anſicht ja alle Tiere desſelben
Typus um ſo ähnlicher ſein ſollten, je wei—
ter man in ihrer Entwicklung zurückgeht.
Im Jahre 1862 entdeckte Fritz Müller
jedoch auch bei Garneelen, alſo einer hö—
heren Kruſterform, die Nauplius-Larve*),
ſo daß die Annahme, alle, auch die höch—
ſten Kruſter, ſeien aus einer und derſel—
ben, dem Nauplius ähnlichen Grundform
hervorgegangen, keine Schwierigkeiten mehr
bot, da man nun wohl annehmen mußte,
diejenigen der Garneele verwandten hö—
hern Kruſter, welche die Naupliusform
in ihrer perſönlichen Entwicklung nicht zei—
gen und nahezu fertig aus dem Ei aus—
kriechen, ſeien einer Abkürzung des Entwick—
lungsprozeſſes unterlegen. Indem Fritz
Müller die Entwicklung jener Seegar—
neele weiter verfolgte, ſah er ſie nach der
Naupliusform durch eine Reihe anderer
Formen hindurchgehen, die man früher, wie
den Nauplius, wegen ihrer Ahnlichkeit mit
) Tro chels Archiv für Naturgeſchichte
1863. J S8.
421
völlig ausgebildeten mittleren Krebsformen
als beſondere Tiere betrachtet und Zo&a,
Mysis u. ſ. w. genannt hatte. Er legte
dieſe Studien in dem zwar nicht für wei—
tere Kreiſe berechneten, aber in zoologi—
ſchen Kreiſen zur fruchtbarſten Wirkung
gelangten kleinen Buche: Für Darwin)
nieder, indem er ſchloß, daß jene Nau—
plius-, Zo&a- und Mysis-Formen mehr oder
weniger getreue Nachbilder der Ahnen die—
ſer Garneele ſeien. Im Gegenſatz zu den
Tieren, bei welchen die ganze Entwicklung
im Ei verläuft, oder bei denen eine oder
mehrere Larvenformen verloren gegangen
ſind, erklärte er ſich dieſes regelrechte Durch—
laufen mannigfacher, ebenſovielen Klaſſen
der niedern Kruſter entſprechender Larven—
formen als eine durch die gleichmäßigen
Bedingungen des Meereslebens faſt unver—
ändert erhaltene Wiederholung des Weges,
auf welchem ſich dieſe hochentwickelte Kru—
ſterart langſam im Laufe der Zeiten aus
niedern Arten entwickelt habe.
Man wird leicht erkennen, daß dieſer
Schluß Fritz Müllers, den Haeckel in
der abgekürzten Form: Die Entwicklung
des Individuums (Ontogeneſe) iſt
die gedrängte Wiederholung der
Stammesgeſchichte (Phylogeneſe)
zum „biogenetiſchen Grundſatz“ erhoben
hat, nicht eine Folgerung aus der Theorie
der Hemmungsbildungen, ſondern vielmehr
die Umkehrung derſelben iſt; bei jener
wurden die niedern Tiere aus dem höhern,
bei dieſem werden die höhern aus den nie—
dern Tieren hergeleitet. Der lange ge—
ahnte Zuſammenhang zwiſchen Ontogeneſe
und Phylogeneſe, der ja ſchon den Spe—
kulationen Erasmus Darwins über die
Bedeutung der rudimentären Organe zu
*) Leipzig, 1864.
Grunde lag, war ſo an einer geeigneten
Tierklaſſe beſtätigt, und die daraus gezo—
genen Schlüſſe erwieſen ſich von der weit—
tragendſten Bedeutung und Fruchtbarkeit.
Vor allem wurde damit das Rätſel von
der Gelehrſamkeit der Keimſeele Sen—
nerts, Morus und Morins gelöſt, wel—
ches Bayle und ſeine Zeitgenoſſen ſo ſehr
erſchreckte, denn da die perſönliche Entwick—
lung nunmehr nur als die Wiederholung
eines ſehr allmählich mit denkleinſtenSchrit—
ten begonnenen und unzählige male von
neuemzurückgelegten, immer einige Schritte
weiter ausgedehnten Weges aufgefaßt
wird, ſo ſchwindet jene auf den erſten An—
blick unüberwindlich erſchienene Schwierig—
keit in nichts zuſammen. Denn wenn man,
wie ſchon Erasmus Darwin betonte,
zugiebt, daß jeder Organismus in irgend
einer Richtung neue Fähigkeiten erwirbt
und die Wiedererzeugungskraft derſelben
ſeinen Nachkommen vererbt, ſo ſieht man
leicht, wie ſich aus den geringfügigſten An—
ſätzen durch dieſes Erinnerungsvermögen
der lebenden Materie das Wunderbarſte
aufbauen muß; der Entwicklungsprozeß
wird dadurch zu einem — ich will nicht ſa—
gen, in ſeinem innerſten Weſen begreif—
baren, — aber zu einem verſtändlichen,
weil durch immerwährende Wiederholung
eben ſo ſicher eingelernten, mechaniſchen
Vorgang, wie wir durch Übung jede belie—
bige Kunſtfertigkeit uns aneignen, um ſie
nachher ohne Bewußtſein auszuüben.
Fritz Müller faßte jedoch nicht blos
die Fälle ins Auge, wo die möglichſt ge—
treuliche Wiederholung des Ahnenweges
in der perſönlichen Entwicklung klar vor—
liegt, ſondern auch die ſchon angedeuteten,
wo es anders kam. „Die Urgeſchichte
der Art,“ ſchrieb er 1863, „wird in
|
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
ihrer Entwicklungsgeſchichte um ſo
vollſtändiger erhalten ſein, je län—
ger die Reihe der Jugendzuſtände
iſt, die ſie gleichmäßigen Schrittes
durchläuft, und um ſo treuer, je
weniger ſich die Lebensweiſe der
Jungen von der der Alten entfernt
und je weniger die Eigentümlich—
keiten der einzelnen Jugendzuſtän—
de, als aus ſpätern in frühere Ju—
gendzuſtände zurückverlegt oder
als ſelbſtändig erworben ſich auf—
faſſenlaſſen.““) Daß ſolcheZuſammen—
ziehungen und Abänderungen des urſprüng—
lichen Entwicklungsweges ſtattfinden, iſt
eine Thatſache, die ſich vielfach in der
Natur aufdrängt und ſich auch bei den
Krebstieren darin darſtellt, daß viele der—
ſelben faſt ihre geſammte Entwicklung in
einem Ei durchmachen und als beinahe
ausgebildete Tiere dasſelbe verlaſſen.
Wahrſcheinlich ſind es in den meiſten Fäl—
len äußere Umſtände geweſen, die eine
ſolche abgekürzte Entwicklung begünſtigten.
So haben wir in der Neuzeit Fröſche ken—
nen gelernt, die auf den vulkaniſchen In—
ſeln Weſtindiens leben, in deſſen poröſem
Tuffboden ſich keine dauernden Waſſer—
tümpel halten. Dieſe Fröſche können dem—
nach ihre Entwicklung nicht als Kaul—
quappen im Waſſer durchmachen und ent—
wickeln ſich daher im Ei vollſtändig. In
ihrer Entwicklung iſt daher auch ganz wie
bei den höheren Wirbeltieren (Amnioten)
die Kiemenentwicklung völlig unterdrückt,
und ähnliches findet mit vielen Organ—
bildungen ſtatt, die nicht als Bauſteine
neuer Organbildungen dienen, denn in
dieſem Falle müſſen ſie, wenn auch unbe—
nutzt, in der Entwicklungeſchichte immer
900, 8
55
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 423
von neuem erſcheinen, wie z. B. die Kiemen—
bögen des Wirbeltier-Embryos. Fritz
Müller faßte dieſe Erkenntnis in den
Satz zuſammen: „Die in der Entwick—
lungsgeſchichte erhaltene geſchicht—
liche Urkunde wird allmählich ver—
wiſcht, indem die Entwicklung ei—
nen immer geraderen Weg vom Ei
zum fertigen Tier einſchlägt, und
ſie wird häufig gefälſcht durch den
Kampf ums Daſein, den die frei—
lebenden Larven zu beſtehen ha—
ben.“) Dieſer ſpäter von Haeckel als
Cenogeneſe bezeichnete Vorgang wurde
durch Fritz Müller ſpeziell als Urſache
der ſo höchſt ſeltſam verlaufenden Inſekten—
metamorphoſe erkannt. Um nur das in
die Augen ſpringendſte zu erwähnen, ſo
iſt es ja klar, daß der Puppenzuſtand der
Inſekten kein Nachbild eines aktiven Ahnen
ſein kann, er iſt vielmehr das Nachbild ei—
nes durch äußere Umſtände (Kälte und
Trockenheit) erzwungenen paſſiven Zu—
ſtandes, einer Einſpinnung oder eines
Jahreszeitenſchlafes, der nun der Entfal—
tung des vollkommnen Inſekts voraufgeht
und dieſem für ſeine Exiſtenz und Fortpflan—
zung ev. die geſammte gute Jahresperiode
ſichert. Dieſes ſelbſtändige Variiren der
Larven ſcheint übrigens, wie Weis mann
ſpäter wahrſcheinlich gemacht hat, das Ziel
der Entwicklung nicht weſentlich zu beein—
fluſſen; trotz aller Kürzung und Abände—
rung der Entwicklung entſteht immer wie—
der die eingeprägte Endform; wie bei der
Kurzſchrift werden nur die Charaktere ge—
ändert, aber der Inhalt muß derſelbe
bleiben. Würtenberger und Weis—
mann haben, um dies gleich hier zu er—
wähnen, ſpäter (1875 und 76) zu zeigen
geſucht, wie die jüngſt erworbenen Ab—
änderungen durch ſpätere in der Entwick—
lungsgeſchichte des Individuums fortlau—
fend weiter zurückgedrängt werden, wor—
aus ſich' dann erklärt, daß in Familien,
deren Arten einen ſehr großen Wechſel
durchgemacht haben, die urſprünglichſten
Formen ſo zuſammengedrängt erſcheinen,
daß ſie faſt unkenntlich werden und da—
durch der Anſchein der abgekürzten Ent—
wicklung entſteht, in welchem die Ahnen—
formen ganz ſummariſch durcheilt werden.
Wir erkennen leicht, wie in dieſen ent—
wicklungsgeſchichtlichen Geſetzen das Mit—
tel entdeckt wurde, die Darwinſche Theorie
zu beweiſen, den von ihr geforderten
Stammbaum der lebenden Weſen, den die
lückenreiche paläontologiſche Überlieferung
höchſtens in vereinzelten Zweigen zu lie—
fern verſpricht, und die geſammten natür—
lichen Verwandtſchaften der Lebeweſen aus
ihrer eigenen Entwicklung zu entziffern.
Auf dieſem Gebiete nun gab Ernſt
Haeckel in ſeiner 1866 erſchienenen „Ge—
nerellen Morphologie“ den gewaltigſten
Anſtoß und legte in ſeinen ſo vielfach miß—
verſtandenen Stammbäumen den Spezial—
forſchern auf dem Gebiete der vergleichen—
den Entwicklungsgeſchichte ebenſoviele
Fragebogen und Arbeitspläne vor, deren
Anerkennung oder Ablehnung durch ent—
ſcheidende Beobachtungen für die Wiſſen—
ſchaft gleich wichtig geworden iſt, und die
darum eine unvergleichlich größere Be—
deutung erlangt haben, als die homeriſchen
Stammbäume, mit denen ſie von unein—
geweihter Seite ſpöttiſch verglichen wur—
den. Haeckels Werk lieferte durch Auf—
ſtellung eines gemeinſamen, an der Wurzel
zuſammenhängenden Stammbaums des
Reiches aller Lebeweſen die erforderliche
/
424
ſyſtematiſche Grundlage der Darwinſchen
Theorie, wie ſie unentbehrlich war, wenn
die darin vorhandenen Lücken in ſyſtema—
tiſcher Arbeit ausgefüllt werden ſollten.
Das Wort Baers: „Die Entwick—
lungsgeſchichte iſt der wahre Lichtträger
für Unterſuchungen über organiſche Kör—
per; bei jedem Schritte findet ſie ihre
Anwendung, und alle Vorſtellungen, wel—
che wir von den gegenſeitigen Verhält—
niſſen der organiſchen Körper haben, wer—
den den Einfluß unſerer Kenntnis der Ent—
wicklungsgeſchichte erfahren“), wurde
nun mit einemmale lebendig, und dieſe
Studien nahmen ſeit der Anregung durch
Darwin, Fritz Müller und Haeckel
die Führung der biologiſchen Wiſſenſchaft.
Das Studium der Entwicklungsgeſchichte
bot ſeitdem nicht mehr blos das ſpezielle
Intereſſe an dem Vorgange ſelbſt, ſondern
erhob ſich durch die Beziehungen auf die
allgemeine Anſchauung der Natur als ei—
nes einheitlichen Ganzen zu höheren gei—
ſtigen Genüſſen. Erſt jetzt wußte man wirk—
lich, zu welchem Zwecke man Entwicklungs—
geſchichte ſtudirte, nämlich um die Geheim—
niſſe des Gewordenen aus dem Werden zu
entſchleiern und dem Schöpfungsvorgange,
ſoweit dies möglich iſt, nachträglich beizu—
wohnen.
Wir können hier nicht die zahlloſen
Arbeiten über Entwicklungsgeſchichte, die
nun erſchienen, aufzählen, ſondern wollen
nur bei einigen der wichtigſten verweilen.
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
Als eine der folgenſchwerſten muß dar
unter die des ruſſiſchen Zoologen Auguſt
Kowalewsky betrachtet werden, der im
Herbſt 1866 zufällig kurz nach einander
die Entwicklung einer Aſeidie und des
Lanzetttieres ſtudirte und dabei die merk—
5) A. a.
O
D.,
S. 231.
würdigſte Übereinſtimmung der erſten Ent⸗
wicklungsſtufen beider wahrnahm, trotz—
dem daß das erſtere Tier zu den Wirbel—
loſen und das letztere an die unterſte Stufe
der Rückenmarks- oder Wirbeltiere geſtellt
werden muß. Durch dieſe gänzlich uner—
wartete und alle Zoologen überraſchende,
aber bei allen Nachprüfungen ſtichhaltig
befundene Entdeckung war ſomit der ſo
lange vergeblich geſuchte Anſchluß der
Wirbeltiere an die Wirbelloſen, jene Ver—
einbarkeit der höheren und niederen Tiere
nachgewieſen, an welche Baer nicht ge—
glaubt hatte und über welche Cuvier mit
Geoffroy in ſo heftigen Streit geraten
war. Gerade dasjenige Organ, welches
Baer als typiſch für die Wirbeltiere be—
zeichnet hatte, die Rückenſaite, zeigte ſich
dabei als vorübergehende Bildung in den
Embryonen von Tieren, die ſpäter meiſt
eine rückſchreitende Metamorphoſe durch—
machen, indem ſie ſich einer feſtſitzenden
Lebensweiſe anpaſſen. Das wichtigſte war
dabei die außerordentliche Ahnlichkeit der
unterſten Entwicklungsſtufen zweier Tiere,
von denen das eine ſeine nächſten Ver—
wandten unter den Würmern, das andere
unter den Wirbeltieren beſitzt, Entwick—
lungsſtufen, die bei den höheren Wirbel—
tieren nach den oben entwickelten Grund—
geſetzen undeutlich geworden zu ſein pfle—
gen, die aber um ſo wichtiger ſind, als ſie
die ſchon früher von Huxley bemerkte
Homologie der primären Keimblätter durch
das Geſammttierreich bewieſen.
Durch dieſe Verknüpfung der höher—
ſtehenden Organismen mit den niederen,
die ſich jetzt von ſelbſt als eine genetiſche
aufdrängte, gewann natürlich das Stu—
dium der letzteren noch an Intereſſe, und
hier ſind nun vor allen andern die Ar—
beiten Ernſt Haeckels bahnbrechend ge—
worden. Schon im Jahre 1862 hatte er
die Radiolarien monographiſch bearbeitet,
und von fundamentaler Bedeutung für die
Biologie wurden dann ſeine 1870 ver—
öffentlichten „Studien über Moneren und
andere Protiſten“. Sie machten uns mit
Organismen bekannt, die keine Organe
haben, mit Lebeweſen, die nur aus einem
Klümpchen belebten Schleimes beſtehen und
einfacher gar nicht einmal gedacht werden
können. Noch mehr, dieſe Weſen, die am An—
fange aller Entwicklung ſtehen, haben ſelbſt
gar keine andere Entwicklung, als daß ſie
über ihr urſprüngliches Maß hinauswachſen
und ſich dann in zwei Hälften teilen. In ihnen
erhielt alſo die berühmte „Stufenleiter“
einen Anfang, der Stammbaum des Le—
bens eine Wurzel, wie ſie die Naturphilo—
ſophie nicht beſſer hätte erdenken können,
zumal da auch die höchſten Lebeweſen ihr
Daſein als kernloſes Schleimklümpchen
beginnen. Schon in ſeiner „Generellen
Morphologie“ hatte Haeckel gezeigt, daß
man beſſer thue, dieſe und eine Reihe an—
derer einfachſter Organismen, über die
bisher ein endloſer Streit zwiſchen Bota—
nikern und Zoologen geherrſcht hatte, ob
man ſie zu den Pflanzen oder zu den Tie—
ren ſtellen ſollte, in ein neutrales Zwiſchen—
reich, das Reich der Protiſten oder Ur—
weſen, zu ſtellen, welches man als gemein—
ſame Wurzel des Pflanzen- und Tierreichs
betrachten könne. Im Laufe der Zeit hat
ſich dieſer Begriff dahin ausgedehnt, daß
man dahin alle Lebeweſen rechnet, deren
Entwicklung nicht über den Wert einer
einzelnen Zelle oder einer Vereinigung
aus gleichwertigen Zellen hinausgeht,
bei denen alſo noch keinerlei Arbeitsteilung
unter den Elementarbeſtandteilen des Kör—
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
425
pers aufgetreten iſt. Innerhalb des Pro—
tiſtenreiches finden ſich hingegen alle nur
wünſchenswerten Übergänge von dem blo—
ßen ſich teilenden Schleimklümpchen zum
kernhaltigen Schleimklümpchen, zur um—
grenzten Zelle, deren Wandungen Wim—
pern, Geißeln und allerlei proviſoriſche
Organe bilden, und zu maulbeerartigen
Häufungen ſolcher Zellen, die ſich ſpäter
trennen und durch wiederholte Teilungen
neue Kugelhäufchen bilden.
Zu dieſen niederſten Lebeweſen oder
Protiſten hatte man früher auch die Mee—
res- und Süßwaſſerſchwämme oder Spon—
gien gerechnet, die in den Jahren 1869
bis 71 für Haeckel das Material zu dem
Verſuche einer analytiſchen Löſung
des Problems von der Entſtehung
der Arten gaben. Schon im Jahre 1867
hatte die Einfachheit des Baues der Kalk—
ſchwämme an den Küſten der Inſel Lanza—
rote ſeine Aufmerkſamkeit erregt und die
Vermutung nahegelegt, daß ſie vielleicht
die geeignetſte Tiergruppe ſeien, um daran
die erſten Schritte der Organiſation zu ent—
rätſeln. Ein Aufenthalt an der norwegi—
ſchen Küſte (Sommer 1869) und ein zwei—
ter auf der Inſel Leſina (Frühjahr 1871)
bot neben dem Studium unzähliger, in
zahlreichen Sammlungen enthaltener Kalk—
ſchwämme das erforderliche, umfangreiche
Material, um dieſe Fragen zu prüfen.
Das Reſultat wurde in der „Monographie
der Kalkſchwämme““) niedergelegt, mit
welcher eine neue Epoche der Entwicklungs—
geſchichte anhebt: die Epoche der Abrun—
dung nach unten und der kauſalen Erklä—
rung der erſten Schritte aller tieriſchen
Entwicklung.
Haeckels Studien hatten zunächſt er—
*) Berlin, 1872.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6.
54
426
geben, daß die als vollendete Geſtalten
äußerſt mannigfach und wandelbar in For—
men und Farben erſcheinenden Schwämme
in ihrer Jugend ſämmtlich einem topf- oder
ſackförmigen Kalkſchwamm (Olynthus)
gleichen, der demnach, wenn man ſich die
ſeinen Wandungen eingelagerten Kalk—
nadeln wegdachte, ein Nachbild des Ahnen
aller Schwämme, alſo des unbekannten
Urſchwamms(Protascush), darſtellen konnte.
Die Entwicklungsgeſchichte dieſes Olynthus
verlief im weſentlichen in derſelben Weiſe,
wie die erſte Entwicklung aller niederſten
Tiere, namentlich der Pflanzentiere, ſo
daß damit die Zugehörigkeit der Schwamm—
tiere zu den Pflanzentieren und die Not—
wendigkeit der Entfernung aus dem Pro—
tiſtenreiche dargethan wurde. Die Ahn—
lichkeit dieſer Entwicklung iſt ſo groß, daß
wir als ſchematiſch völlig zutreffendes Bild
derſelben die bildliche Darſtellung der er—
ſten, ebenfalls von Haeckel beobachteten
Entwicklung eines ganz verſchiedenen Tie
res, einer Koralle des Roten Meeres, be-
nützen können.
Wir ſehen auf der beiſtehenden Ab—
bildung, wie ſich aus dem anfangs kern—
loſen, einer Monere gleichenden Ei (A)
des Pflanzentiers anfangs durch Abſchei—
dung eines einfachen Kerns einer Kernzelle
(B) und dann durch wiederholte Teilung
oder ſogenannte Furchung (Segmentation)
in 2, 4, 8, 16, 32 u. ſ. w. Zellen (C, D)
ſchließlich ein Zellhäufchen gebildet hat,
welches ſchon von verſchiedenen früheren
Beobachtern geſehen worden war und
Maulbeerkeim (Morula, Fig. D, E) ges |
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
ner einfachen Zellenlage umſpannten Hohl—
kugel (6) auseinanderrücken, entſteht die
Keimblaſe (Blastula oder Blastosphaera,
Fig. 1, G), die man aber nicht mit der
Keimdarmblaſe verwechſeln darf, welche
Baer als den gemeinſamen Ausgangs—
punkt aller Tierentwicklung betrachtet hatte.
Indem ſich dieſe Keimblaſe an einer Stelle
zurückſtülpt (F, ), entſteht ſchließlich durch
Aneinanderlegen der Wandungen bei voll—
ſtändiger Verdrängung der Furchungs—
höhle durch Einſtülpung (Invaginatio) der
Becherkeim oder die Darmlarve (Gastrula,
Fig. I. J, K) mit einer aus zwei Zellen—
lagen, dem Außenblatt (Exoderma oder
Ectoderma) und dem Innenblatt (Ento-
derma), beſtehenden Wandung, die ſich
mit dem verſchloſſenen, dem Urmunde ent—
gegengeſetzten Pol nach kurzem Umher—
ſchwärmen feſtſetzt und unmittelbar zu dem
ähnlich geſtalteten Schwamm auswächſt,
der ſich in der Regel nur dadurch weſent—
lich von der Gaſtrulalarve unterſcheidet,
daß er die äußeren Wimpern verloren hat,
während ſeine Wandungen von einem Po—
renſyſtem durchbohrt werden.
Bei der Beobachtung dieſer frei im
Meere umherſchwimmenden Larvenformen,
die ſich, wie man ſieht, zu ihrer Bewegung
teilweiſe beſonderer Wimpern bedienen,
wird es klar, daß man es in dieſen erſten
| Entwicklungsphaſen, ebenſowohl wie in
nannt wurde. Dadurch, daß ſich inmitten
dieſer Zellengemeinſchaft Flüſſigkeit ab-
ſondert und die urſprünglich einen dichten
der Nauplius-, Zoea- und Myſisform der
Krebſe, mit den Nachbildern der Ahnen
jenes Schwammes und jener Koralle zu
thun hat, von denen ſie abſtammen. Wenn
ſchon Baer aus der Gleichheit der im Ei
der höheren Tiere ſehr veränderten An—
fangsformen der Entwicklung ſchloß, daß
dieſer Keim immer das Tier ſelbſt vor—
Haufen bildenden Zellen zu einer von ei- ſtelle, um wieviel mehr werden wir es bei
n
nnn
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 427
Fig. 1. Entwicktungsſtufen von Monoxenia Dar winii, einer Koralle des Roten Meeres,
nach Haeckel.
A. Monerula. B. Kernzelle (Cytula). C, D. Produkte der erſten und zweiten Furchung.
E. Maulbeerkeim (Morula). F, G. Blaſenkeim (Blastula). H. Längsſchnitt des eingeſtülpten
Blaſenkeimes. I, K. Darmlarve (Gastrula).—
dieſen munter umherflanirenden Larven
thun müſſen. Und in der That finden die
Stufen A—6 zahlreiche noch heute le—
bende Ebenbilder im Reiche der Protiſten;
fo find A und B den Moneren und Amö—
ben gleichwertig und die ferneren Stufen
gleichen den ſogenannten Synamöben oder
Kugeltierchen, deren Entwicklungsgang
mit der Bildung einer kugligen Gemeinde
gleichwerter Zellen abgeſchloſſen iſt und
durch Trennung und Neufurchung der ein—
zelnen Gemeindeglieder immer wieder von
vorn anfängt. Eben deshalb kann man
dieſe Synamöben auch von den einfachen
Amöben kaum trennen, ſie bilden die oberſte
Stufe der Protiſten oder Urweſen, unter
deren Zellen eine dauernde Arbeitsteilung
noch nicht eingetreten iſt.
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
Anders liegt der Fall bei der ſoge—
nannten Gaſtrulalarve, bei der eine deut—
liche Verſchiedenheit der die Doppelwan—
dung zuſammenſetzenden Schichten ſchon
auf den erſten Blick in die Augen ſpringt,
und auch daraus, daß nur die äußeren
derſelben mit Wimpern verſehen ſind,
welche die Bewegung und Erneuerung
des Waſſers an der Oberfläche bewirken,
hervorgeht. Wenn ihr in der Jetztwelt ein
lebendes Weſen entſpräche, ſo müßte dies
unbedingt unter die wirklichen Tiere ge—
rechnet werden, und demgemäß unterſchei—
det Haeckel als echte, wirkliche Tiere
(Metazoen) von den Urweſen (Protozoen)
alle diejenigen, die in ihrer Entwicklung,
wenn auch noch fo wenig, über die Darm—
larve hinausgehen.
Fig. 2. Gaſtrulaformen von ſechs Vertretern der Hauptklaſſen des Tierreichs.
A. Pflanzentier (Gastrophysema). B. Wurm (Sagitta). C. Seeſtern (Uraster). D. Krebs
(Nauplius). E. Schnecke (Limnaeus). F. Wirbeltier (Amphioxus). — In ſämmtlichen Figuren
bedeutet e Hauptblatt( Exoderma), i Darmblatt (Entoderma), d Urdarm, o Urmund,s Furchungshöhle.
U
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
Da nun Vertreter ſämmtlicher fünf
oder ſechs Hauptklaſſen der Tiere in ihrer
individuellen Entwicklung deutlich dieſe
Gaſtrulalarve erkennen laſſen (Fig. 2), ſo
erklärte Haeckel bereits 1872: „Aus
dieſer Identität der Gaſtrula bei Reprä—
ſentanten der verſchiedenſten Tierſtämme
von den Spongien bis zu den Vertebraten
ſchließe ich nach dem biogenetiſchen Grund—
geſetze auf eine gemeinſame Deszendenz
der tieriſchen Stämme von einer einzigen
unbekannten Stammform, welche im we—
ſentlichen der Gaſtrula gleichgebildet war:
der Gastraea.” “) Dies iſt die berühmte, viel
angefochtene, aber mit jedem Tage ſieg—
reichere Gaſträatheorie, von der im
vollſten Maße das Baerſche Motto gilt:
„Simplex est sigillum veritatis!“
Wir müſſen hier einen Augenblick ver—
weilen, um uns den unſchätzbaren Gewinn
klar zu machen, den die moniſtiſche Welt—
anſchauung aus der Gaſträatheorie zu ziehen
vermag. Sie lehrt uns erſt die früheſten
Entwicklungszuſtände der Embryonen ver—
ſtehen, indem ſie die Entſtehungsweiſe und
Homologie der erſten beiden Keimblätter
durch das geſammte Tierreich erläutert
und dadurch jene mechaniſche Erklärung
der Entwicklung von unten herauf anbahnt,
die ſchon Wolff forderte und die Baer
gegen Serres geltend machte (als dieſer
ein getrenntes Auftauchen der Organe im
Ei wahrzunehmen glaubte), indem er ihn
darauf hinwies, daß die Entwicklung im-
mer nur von einem Gegebenen weiter gehen
könne und daß kein Organ aus nichts ent—
ſtehen oder von ungefähr dazu wachſen
könne, ſondern immer nur durch fernere
Differenzirung einer ſchon vorhandenen
*) Haeckel, Die Kalkſchwämme, S. 467.
429
Grundmaſſe oder durch Umbildung eines
vorhandenen Organs.
Sehen wir zu, wie ſich Haeckel die
Entſtehung der hypothetiſchen Gafträa
und mit ihr der beiden Keimblätter aus
einer der einfachen Keimblaſe gleichwerti—
gen Synamöbe vorſtellt. Er dachte ſich
den Vorgang ſo, daß die einſchichtige
Zellengemeinde angefangen haben mag,
eine Stelle ihrer Oberfläche vorzugsweiſe
der Nahrungsaufnahme zu widmen. Da
es für dieſen Zweck vorteilhafter ſein
mußte, wenn dieſe Stelle etwas geſchützt
lag, ſo bildete ſich durch natürliche Züch—
tung allmählich ein Grübchen, welches ſich
im Fortſchreiten dieſes Prozeſſes immer
weiter vertiefte und, indem ſich die Er—
nährungsfunktionen ganz hierher zurück—
zogen, zu einem vollkommenen Magen
wurde. Das ganze Tier iſt nichts als ein
ſchwimmender Magen und daher iſt der
zugleich Form und Funktion bezeichnende
Namen Gastraea beſonders glücklich ge—
wählt. Es iſt von zwei Zellenſchichten,
den Grundlagen aller ſpäteren Gewebe,
gebildet, die ein Reſſort des Außern und
ein Reſſort des Innern bilden: dem Haut—
blatt, welchem die Bewegung und Orien—
tirung obliegt, und dem Magenblatt,
welches hauptſächlich der Nahrungsauf—
nahme dient.
Wir ſehen ſo den Aufbau des tieri—
ſchen Körpers ganz den Gedanken La—
marcks gemäß, der den Magen als das
urſprünglichſte Organ des Tieres bezeich—
net hatte, mit dem Magen beginnen und
ſo auch jene alte, durch die fleiſchfreſſen—
den Pflanzen ſehr in die Enge getriebene
Definition des Tieres als „Magenbeſitzer“
gerechtfertigt. Die Ernährung iſt eben die
Grundfunktion alles Lebens und darum
Ma
|
430
der Ausbau ihrer Organe im Tier- und
Pflanzenreiche das erſte Geſchäft der na—
türlichen Zuchtwahl. Darin liegt die lo—
giſche Seite der Gaſträatheorie. Es braucht
wohl kaum geſagt zu werden, daß dieſer
Urmagen und dieſer Urmund keine Homo—
loga des Wirbeltiermagens und -mundes
ſind; nur unter den Pflanzentieren iſt dies
teilweis der Fall, im Verlaufe der Ent: |
wicklung der übrigen Tiere aber werden
Fig. 3, 4.
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
ſie regelmäßig, der letztere durch einen
meiſt am entgegengeſetzten Pole entſtehen—
den Nachmund und der erſtere durch eine
aus dem Darmblatt entſtehende Speiſe—
röhre, erſetzt, ebenſo wie die urſprüng—
lichen Bewegungs-, Atmungs-, Fortpflan⸗
zungsorgane, die ſich nach und nach durch
weitere Differenzirung der beiden Keim—
blätter ausbildeten, ſpäter durch neue
Organe ausgelöſt wurden.
Haliphysema primordiale nach Haeckel, von außen und im Längsſchnitt.
d Urdarm, m Urmund, g Magenblatt (Entoderma), h Hauptblatt (Exoderma), e amöboide Eichen.
Eine weſentliche Stärkung ihrer an—
fangs ſtark beſtrittenen Poſition hätte die
Gaſträatheorie — wenn nicht ſchon in der
Logik allein ihre Stärke läge — in der Ent⸗
deckung einer Reihe von „Gaſträaden der
Gegenwart“, d. h. von jetzt lebenden Tie—
ren finden können, die in ihrer geſammten
Entwicklung nur wenig über die Organi-
ſationshöhe der Gaſträa hinausgehen.
Mehrere dieſer von Haeckel in ſeinen
„Studien zur Gaſträatheorie“ *) zuerſt
nach ihrer Stellung im Naturreiche ge—
würdigten Weſen wurden von ihm
ſelbſt entdeckt, andere in älteren natur—
hiſtoriſchen Werken beſchrieben gefunden,
deren Verfaſſer ſie zum Teil völlig miß—
verſtanden hatten. Als Haeckel im Jahre
} *) Biologiſche Studien, 2. Heft, Jena, 1877.
—
4
1869 an der norwegiſchen Küſte nach
Kalkſchwämmen ſuchte, fand er dort einen
kleinen, wenige Millimeter langen Schlauch,
der ihn wegen der Ahnlichkeit, welche er
mit der oben beſchriebenen einfachſten Form
der Kalkſchwämme (Olynthus) darbot,
lebhaft intereſſirte und der wahrſcheinlich
identiſch mit einem ſchon früher von Bower—
bank als Meerfläſchchen (Haliphysema)
beſchriebenen Organismus war, den dieſer
unter die Schwämme geſtellt hatte. Zu
den Schwämmen gehören die Meerfläſch—
chen aber eigentlich nicht, denn ihre Wan—
dungen entbehren gänzlich der Poren und
Kanalſyſteme, die für die Schwämme ſo
charakteriſtiſch ſind. Im Jahre 1876 fand
Haeckel eine verwandte Form (Haliphy-
sema primordiale, Fig. 3 u. 4) in der Bucht
von Ajaccio auf Korſika. Sie ſtellt einen
ſpindelförmigen, höchſtens 2 Millimeter
langen, in der Regel auf Algen feſtge—
wachſenen Schlauch dar, deſſen äußere
Haut in dem untern Teile mit Sandkörn—
chen, in dem obern mit mundwärts gerich—
teten Kieſelnadeln eingepanzert iſt. Ein
Längsſchnitt offenbart ſofort die charakte—
riſtiſche Organiſation eines einfachen Ga—
ſträaden. Die dicke Wandung der ſpindel—
förmigen Höhlung beſteht nur aus zwei
völlig verſchiedenen Schichten, den beiden
primären Keimblättern, Entoderm und
Exoderm. Das Entoderm beſteht nur aus
einer einzigen Schicht von Geißelzellen,
zwiſchen denen einzelne amöboide Eier zer—
ſtreut liegen. Das Exoderm dagegen, in
welchem die fremden Panzerſtoffe aus—
ſchließlich eingebettet liegen, bildet ein
ſogenanntes Syneytium, wie bei den
Schwämmen und in vielen andern tieri—
ſchen Geweben, ſofern die ſtrenge Um—
grenzung der Zellen verloren gegangen
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
431
und eine gegenfeitige Verſchmelzung ein-
getreten iſt; die maſſenhaft in dem Ge—
webe eingeſtreuten Zellkerne zeigen aber
deutlich die echte Keimblattnatur auch die—
ſer Schicht. In der Mundöffnung bildet
eine Spirale ſtärker entwickelter Wimper—
zellen einen Strudelapparat, der dazu
dient, das Waſſer im Innern zu erneuern
und Nahrung herbeizuſchwemmen.
Zwei in den Hauptverhältniſſen ähn—
liche Gaſträaden derſelben Gattung (Ha—
liphysema echinoides und H. globigerina,
Fig. 5 und 6) erhielt Haeckel aus Ber—
gen und von den Far-Oer-⸗Inſeln zuge-
ſandt, von denen die erſte ihren kugeligen,
auf einem langen Stiele ſtehenden Bauch
ſehr zierlich mit Kieſelnadeln aller Art
eingepanzert hat, während die letztere ſich
ganz in die zierlichen Beſtandteile des
Tiefſeeſchlammes, Globigerinen und Ra—
diolarien aller Arten gekleidet hat. Es iſt
ein Rätſel, wie dieſe wenig beweglichen
Weſen im Stande ſind, dieſe meiſt gleich—
langen Nadeln zu erlangen und ſo zierlich
der Außenſchicht einzufügen.
Neben dieſen durch die früher bekann—
ten, auf die Zahl fünf geſtiegenen Gaſträ—
aden, gelang es Haeckel in Smyrna eine
ſechſte (Gastrophysema dithalamium,
Fig. 6) zu entdecken, die von dem größten
Intereſſe iſt und ihm erſt zu dem wahren
Verſtändnis der erſteren verhalf. Bei die—
ſer Gaſträade iſt inſofern eine Fortbildung
eingetreten, als der Innenraum ſich durch
Einſchnürung in zwei Höhlen geteilt hat,
deren obere Abteilung die Nahrung auf—
nimmt, während ſich in dem unteren Teile
die Eier ausbilden. Die Gaſträaden ſind
nämlich die älteſten und niederſten Tiere,
bei denen ſich, ſoviel bekannt, ein Gegen—
ſatz der Geſchlechter und eine wirkliche Be—
432
fruchtung ausgebildet hat. Haeckel konnte
die Entwicklung der Keimzellen bis zur
Gaſtrulaform (Fig. 2A) beobachten, die
ſich in nichts von der bei anderen Tieren
bekannten Gaſtrula unterſcheidet. Die wei—
tere Entwicklung ſah er nicht, aber ſie wird
bilden, wenn es ſich um höhere Pflanzen—
tiere handelt.
ohne Zweifel in derſelben Weiſe wie bei
den Pflanzentieren erfolgen, an deren un—
terſte Grenze die Phyſemarien zu ſtellen
ſind. Bei den übrigen Pflanzentieren
ſetzt ſich die Gaſtrulalarve nach längerem
Umherſchwärmen mit ihrem dem Munde
4 M HUNGER x.
2
Haliphysema echinoides. 30: J.
Nach Haeckel.
m Urmund, e Exoderm, i Entoderm,
v Magenhöhle, o Eichen.
Fig. 5.
8
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
entgegengeſetzten Pole feſt, verliert die
äußeren Wimpern, um dafür innere zu
entwickeln und feine Wandungen zu
durchlöchern, wenn es ein Schwamm
werden will, oder die ſtrahlig die Mund—
öffnung umgebenden Tentakel hervorzu—
In der That iſt nichts natürlicher, als
den ſtrahligen Typus der Pflanzentiere
davon herzuleiten, daß ſie aus ſolchen früh
vor Anker gegangenen Gaſträaden entſtan—
Fig. 6. Haliphysema globigerina. 100: 1.
Nach Haeckel.
G K Globigerina. O Orbulina. T Textilaria.
E II u. D Radiolarien.
er
den find, während ſich bei Gaſträaden, die
ſchwimmend blieben oder auf feſter Un—
terlage zu kriechen begannen, ebenſo na—
turgemäß der allen übrigen Tieren ge—
meinſame bilaterate Typus mit ſeinem
Gegenſatz von vorn und hinten, oben und
unten, rechts und links herausbilden mußte.
Wir haben hier dieſen Spekulationen nicht
weiter zu folgen und wollen nur bemer—
ken, daß es ebenſo wie unter den Pflan—
zentieren auch unter den Wurmtieren ſolche
giebt, die kaum oder nur höchſt unerheblich
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
433
über die Organiſationshöhe der Gaſträaden
hinausgekommen find. Bei ihnen entwickelt
ſich dann ebenſo wie bei manchen Pflanzen—
tieren aus den primären Keimblättern ein
mittleres Keimblatt (Meſoderm), aus dem
die ſekundären Keimblätter und die Organe
der vom Magen abgeſchloſſenen Leibes—
höhle in der Ontogeneſe hervorgehen.
In dieſer Weiſe knüpfen ſich alſo
die Entſtehung der beiden Haupttypen
des Tierreichs, der ſtrahlige und der
zweiſeitig ſymmetriſche, unmittelbar an die
Fig. 7, 8. Gastrophysema dithalamium Haeck. Außere Anſicht
b Bruthöhle, y enge Einſchnürung zwiſchen ihr und der Magenhöhle, d Drüfenzellen des Magens,
a Geißelſpirale, n Kerne des Synzytium, g junge Gaſtrulalarven, k Geißelzellen des Magenblatts.
Die übrigen Buchſtaben wie in Fig. 5.
.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6.
434 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
fernere Entwicklung der Gaſträaden; die
ideale Gaſträa läßt ſich als die letzte gemein—
ſame Grundform, als das eigentliche Urtier
auffaſſen, von dem alle höheren Tiere ab—
zuleiten ſind. Und deshalb eben kehrt ſie in
der Entwicklung aller Tiere wieder.
Freilich nicht in unveränderter Geſtalt!
Und darum wurde ihr Vorkommen in dem
Entwicklungsgange namentlich der höheren
Tiere, wo ihre urſprünglich einfache Ge— |
tiſches Produkt iſt und darum notwendig
ſtalt ſehr verändert iſt, lange verkannt,
bis Rauber ihr Vorhandenſein im Hüh—
nerembryo und van Beneden im Kanin—
chenei erkannte, wonach man ſie dann als
gemeinſame Durchgangsſtufe aller Tiere
anerkannte. Die ſtarke Umbildung (Ceno—
geneſe) eines ſo frühen Entwicklungsſtadi— |
ums, namentlich bei höheren Tieren mit
langer Geſchichte, iſt um jo weniger ver:
wunderlich, als ſich meiſt die Urſachen der
nachträglichen Umbildung nachweiſen laſ—
ſen. Zunächſt darf man nicht vergeſſen,
daß die Gaſträaden ſelbſt eine ſehr ver—
ſchiedene Lebensweiſe führen können. So
find die Dicyemiden nach van Beneden
ſchmarotzende Gaſträaden, die wie die
meiſten echten Schmarotzer keiner eigent—
lichen Magenhöhlung bedurften. Bei ihnen
ſind daher Urdarm und Urmund verloren
gegangen. Diejenige Zelle der erſten Fur—
chung, welche die Magenwandzellen lie—
fern ſollte, teilt ſich daher gar nicht mehr,
ſondern wächſt blos und wird von den
durch fernere Teilung entſtehenden Haut—
blattzellen bis zur Schließung des Ur—
mundes umkleidet. Im Gegenſatz zu der
totalen Furchung, welche die regelmä—
ßige Gaſtrula, die Urdarmlarve (Archi-
gastrula) liefert, ſehen wir eine ſolche ab—
geleitete Gaſtrulaform durch ungleiche
oder partielle Furchung bei den meiſten
derjenigen Tiere entſtehen, deren Keim
| nicht als Larve frei im Waſſer lebt und
ſeine Nahrung nicht ſelbſt erwirbt, ſondern
von der Mutter Dotternahrung mit auf
den Weg erhält und ſich im geſchloſſenen
Ei bis zu einer mehr oder weniger weit
ausgedehnten Stufe entwickelt, bevor er
ſelbſtändig ſeine Nahrung erwirbt. Man
muß bedenken, daß dieſer Nahrungsdotter
in allen Fällen ein ſekundäres, cenogene—
von Einfluß auf die Geſtaltung des eigent—
lichen Keimes ſein muß. Haeckel hat im
erſten Hefte ſeiner „Studien zur Gaſträa—
theorie“ und ſpäter in der überaus klaren
Neubearbeitung dieſer erſten Entwicklungs—
prozeſſe in der neueſten Auflage der „An—
thropogonie“ dieſe Ableitungsformen un—
ter die drei Hauptformen des meiſt bei
den Säugetieren vorkommenden Hauben—
keimes (Amphigastrula), des bei den Fi—
ſchen und eierlegenden Amnioten verbrei—
teten Scheibenkeimes (Discogastrula) und
der namentlich bei Kruſtern und Inſekten
durch blos die Oberfläche treffende Fur—
chung entſtehenden Perigastrula geordnet.
Damit man aber nicht verſucht werde, in
dieſen nachträglichen Ableitungsformen
typiſche Grundverſchiedenheiten zu ſuchen,
ſei erwähnt, daß dieſe Formen in denſel—
ben Tierklaſſen auch nebeneinander vor—
kommen, ſo z. B. die charakteriſtiſche Hau—
bengaſtrula vieler höheren Wirbeltiere
auch bei zahlreichen Kalkſchwämmen.
Der ſo oft in dieſen Blättern betonte
Übelſtand, daß man die entwicklungsge—
ſchichtlichen Studien, ſtatt an niederen Tie—
ren, an dem Hühnchen begonnen hat, deſ—
ſen Gaſtrula durch das reiche Dottermate—
rial ſehr ſtark cenogenetifch verändert und
in die ſogenannte Keimſcheibe 3
e
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
wurde, gab die Veranlaſſung, daß die
erſten Entwicklungszuſtände der Tiere fo
lange unbekannt blieben und ſelbſt heute
noch vielfach mißverſtanden werden. Noch
ungünſtiger liegt der Fall bei den Säuge—
tieren, deren Stamm ja von demjenigen
eierlegender Tiere abgeleitet werden muß,
und bei denen daher eine ſo ſtarke wiederholte
Umprägung ſtattgefunden haben muß, daß
man den Scharfſinn van Benedens be—
wundern muß, der ſich in dieſem Wirrſal
zurechtgefunden hat. Es glückte demſel—
ben, zu zeigen, daß die in den vorigen
0
Fig. 9. Gaſtrula des Kaninchens.
e Hautblatt (Exoderma). i Darmblatt (Ento-
derma), d o Darmblattzellen, welche die Ur—
darmhöhle und die Urmundöffnung ausfüllen.
Artikeln mehrfach erwähnte Keimblaſe der
Säugetiere keineswegs, wie man anfangs
glaubte, mit der Blastula (Fig. 16 F) des
urſprünglichen Entwicklungsganges iden—
tiſch iſt. Die Entſtehung dieſes beſſer als
Keimdarmblaſe (Gastrocystis) zu bezeich—
nenden Entwicklungsſtadiums aus der vor—
hergehenden Amphigastrula der Säuge—
tiere iſt nach van Beneden die folgende:
„Der Urmund der Amphigastrula ver⸗
ſchwindet, indem die Entodermzelle, welche
den Dotterpfropf bildete, in das Innere
des kugeligen Keimes zu den anderen Zel—
435
len des Darmblattes tritt. Der Säugetier—
keim bildet jetzt eine ſolide Kugel (Fig. 9), be—
ſtehend aus einem zentralen Haufen dunkler,
polyedriſcher, größerer Entodermzellen und
einer peripheriſchen Hülle, welche aus einer
einzigen Schicht von helleren, rundlichen,
kleineren Exodermzellen zuſammengeſetzt iſt.
Nun ſammelt ſich an einer Stelle zwiſchen
beiden Keimblättern klare, helle Flüſſig—
keit an, und dieſe wächſt bald ſo bedeu—
tend, daß ſich die Exodermhülle zu einer
großen kugeligen Blaſe ausdehnt. Die
Maſſe der dunkleren Entodermzellen, welche
eine Kugel von viel kleinerem Durchmeſſer
bildete, bleibt an der Stelle des Dotter—
pfropfs mit dem Exoderm im Zuſammen—
hange. Sie flacht ſich hier erſt halbkugelig,
darauf linſenförmig, dann ſcheibenförmig
ab, indem ſich die Entodermzellen verſchie—
ben und in Geſtalt einer kreisrunden Scheibe
in einer Schicht ausbreiten. So entſteht
an einer Stelle der Keimdarmblaſenwand
die bekannte kreisrunde Keimſcheibe
der Säugetiere, welche man mit van
Beneden als Keimdarmſcheibe be—
zeichnen kann. Dieſe allein beſteht aus den
beiden primären Keimblättern — einer äu—
ßeren Schicht heller Exodermzellen, einer
inneren Schicht trüber Entodermzellen —,
während die ganze übrige Wand der
Keimdarmblaſe blos aus einer Schicht
Exodermzellen beſteht.““)
Wir ſehen hier deutlich, wie der von
früheren Beobachtern als erſter Keim der
Säugetiere betrachtete Gastrodiscus eine
ſehr veränderte Ableitungsform der Gaſtru—
lalarve darſtellt, die namentlich dadurch
entſtanden iſt, daß die Vorfahren der Säuge-
tiere als eierlegende Tiere ein reichliches
Nahrungsmaterial in die Gaſtrula auf—
9 Haeccke el, Biologiſche Studien, S. 256.
436
nahmen. Der Leib des Säugetierembryos
wird einzig aus dem Gaſtrodiskus gebil—
det, während der übrige Teil der Gaſtro—
cyſtenwand den vergänglichen Dotterſack
oder die Nabelblaſe darſtellt. Die Nabel—
blaſe der Säugetiere verhält ſich, wie zu—
erſt Oken völlig klar erkannt hat, homo—
log dem Dotterſack der Vögel und Rep—
tilien, und daraus geht klar hervor, was
auch aus anderen Gründen der vergleichen—
den Ontogenie ſchon längſt wahrſcheinlich
war, daß der kleine und unbedeutende
Dotterſack der Säugetiere ſtark zu—
rückgebildet iſt, das Rudiment oder
ſchwache Ueberbleibſel von einem viel grö—
ßeren und bedeutenderen Dotterſack, wel—
chen die Vorfahren der Säugetiere be—
ſaßen. „Vielleicht,“ ſetzt Haeckel hinzu,
„iſt dieſer letztere bei den Monotremen
noch heute vorhanden, vielleicht noch bei
einem Teile der Marſupialien. Jedenfalls
ſteht zu erwarten, daß die richtige, leider
faſt noch ganz unbekannte Keimesgeſchichte
dieſer beiden niederen Säugetierklaſſen uns
noch viele wichtige Aufſchlüſſe über die
Ontogenie der Placentalien und ihre ceno—
genetiſche Entſtehung aus älteren Kei—
mungsformen geben wird. Das cenogene—
tiſche Anpaſſungsverhältnis, welches die
Rückbildung des rudimentären Dotterſacks
der Säugetiere veranlaßt hat, liegt klar
auf der Hand. Es iſt die Anpaſſung an
den lange dauernden Aufenthalt im Ute—
rus der lebendig gebärenden Säugetiere,
deren Vorfahren ſicher eierlegende waren.
Indem der Proviantvorrat des mächtigen
Nahrungsdotters, welchen die eierlegenden
Vorfahren dem gelegten Ei mit auf den
Weg gaben, durch die Anpaſſung an den
längeren Aufenthalt im Fruchtbehälter bei
ihren lebendiggebärenden Epigonen über—
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
flüſſig wurde, und indem hier das mütter—
liche Blut in der Uteruswand ſich zur wich—
tigſten Nahrungsquelle geſtaltete, mußte
natürlich der überflüſſig gewordene Dot—
terſack durch „embryonale Anpaſſung“ zu—
rückgebildet werden.““) Nach dieſen An—
deutungen, auf welche wir hier eingehen
zu müſſen glaubten, um die früher er—
wähnten Anſichten Hallers über die Con—
tinuität der Dotterhaut mit dem Embryo
und diejenige Baers über die Keimblaſe
in das rechte Licht zu ſtellen, iſt es klar,
wie weit die erſten Keimungsprozeſſe der
Vögel und Säugetiere, — bei denen das
Studium begann, von der urſprünglichen
Form entfernt ſind, wie aus der Archi—
gaſtrula erſt eine Amphigaſtrula, dann
eine Diskogaſtrula geworden iſt, um wie—
der zur Amphigaſtrula zurückzukehren, ſo
daß die bloße Gaſtrulation ſchon ein rudi—
mentäres Organ — das Nabelbläschen —
als Spur ihrer Wandlungen zurückließ.
Die Schwierigkeit, ſich aus dieſem Laby—
rinth auf die einfache Gaſtrula zurückzu—
finden, erklärt die Unmöglichkeit, der die
älteren Forſcher gegenüberſtanden, die
erſten Schritte der Wirbeltierentwicklung
zu begreifen und ſie mit derjenigen der
niederen Tiere in Einklang zu bringen; ſie
erklärt auch einen Teil der Oppoſition
heute lebender Forſcher gegen die Gaſträa—
theorie. Viele unter ihnen, welche die
Giltigkeit des biogenetiſchen Grundgeſetzes
vollkommen anerkennen, zögerten dennoch,
eben durch dieſe Unregelmäßigkeiten der
Gaſtrulation abgeſchreckt, der ſo einfachen
und einleuchtenden Gaſträatheorie zuzu—
ſtimmen. Einige dieſer Forſcher wollten
in dieſen erſten Furchungs- und Teilungs—
prozeſſen überhaupt nichts weiter als die
) A. a. O., S. 257.
Entſtehung des Baumateriales zum Em:
bryo erblicken, womit dann aber die Kette
des kauſalen Zuſammenhanges jäh zerriſ—
ſen und die Entſtehung der beiden pri—
mären Keimblätter unerklärt gelaſſen
wird. Einige Beobachter behaupteten, ge—
ſehen zu haben, daß ſich die Gaſtrulalarve
dern auch bisweilen durch einfache Spal—
tung (Delaminatio) der einfachen Blaſtula—
ſchicht, wie ſie bei einem Kalkſchwamm
und bei der Rüſſelqualle (Geryonia) beob—
achtet worden ſein ſoll. Bei dem Kalk—
ſchwamm iſt dieſe Angabe durch F. E.
Schultze widerlegt worden, und wenn
der andere höchſt vereinzelte Fall ſich wirk—
lich bewähren ſollte, ſo würde er als eine
ſeltene cenogenetiſche Ausnahme daſtehen,
die in keiner Weiſe gegen die Regel ins
Gewicht fällt. Im Übrigen haben zwei
ausgezeichnete ausländiſche Embryologen,
Ed. van Beneden*) und Ray-Lan—
keſter““) die Gaſträatheorie bei ihren zum
Teil vorhin erwähnten tiefer eindringen—
den Arbeiten ſo lichtgebend gefunden und
ſo treffend mit Thatſachen bewieſen, daß
ſie ſeitdem als die beſte Theorie, die wir
zur Erklärung der erſten tieriſchen Ent—
wicklungsſtufen beſitzen, von der Mehr—
zahl der entwicklungsgeſchichtlichen For—
ſcher anerkannt wird.
Zwar giebt es einige unter ihnen,
die ſie allerdings nicht annehmen können,
weil ſie jeden Zuſammenhang zwiſchen
Hhuunterſuchungen über die erſten Phaſen
der Reifebefruchtung und Entwicklung des Ka—
ninchens und über die Dizyemiden. Bulletins
de l' Académie royale de Belgique. T. XL,
XLI u. XLII (1875 76).
**) E. Ray -Lankester, Quarterly
Journal of microsc. Science. Vol. XV (1875),
p. 163.
1
nicht überall durch Invaginatio bilde, ſon⸗
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 437
Phylogenie und Ontogenie leugnen, wie
z. B. Wilhelm His und Alexander
Götte. Der Letztere kommt für uns nicht
in betracht, da er als Motiv aller Entwick—
lung ein der Materie nicht inhärentes
„Grundgeſetz“ aufſtellt, alſo einen weſent—
lich dualiſtiſchen Standpunkt einnimmt.
His ſuchte ihr dagegen eine andere me—
chaniſche Erklärung entgegenzuſtellen, die
in der That ſehr — mechaniſch iſt. In
ſeiner Rektoratsrede „Über die Bedeutung
der Entwicklungsgeſchichte für die Auffaſ—
fung der lebenden Natur“ ) ſtellt derſelbe
ſeine in dem 1875 erſchienenen Werke
„Unſere Körperform“ weiter entwickelte
Theorie mit folgenden Worten dar: „Der
Keim des Wirbeltier-Eies iſt ein flaches,
blattförmiges Gebilde. Dies Gebilde
wächſt von dem Eintritte der Entwicklung
ab fort und fort, es nimmt dabei an Flä—
chenausdehnung und an Dicke zu. Das
Wachstum aber erfolgt nicht überall mit
gleicher Energie, es ſchreitet in den zen—
tralen Teilen raſcher voran, als in den
peripheriſchen. Die notwendige Folge hier—
von muß die Entſtehung von Faltungen
ſein, da eine ſich dehnende Platte nur dann
flach bleiben kann, wenn ihre Dehnung an
allen Punkten dieſelbe iſt. Solche Falten
treten nun, wie oben erwähnt, in der That
ein, und mit ihnen die erſten fundamenta—
len Gliederungen der Keimſcheibe. Nicht
nur die Abgrenzung von Kopf und Rumpf,
von rechts und links, von Stamm und
Peripherie, nein auch die Anlage der
Gliedmaßen, ſowie die Gliederung des Ge—
hirns, der Sinnesorgane, der primitiven
Wirbelſäule, des Herzens und der zuerſt
auftretenden Eingeweide laſſen ſich mit
zwingender Notwendigkeit als mechaniſche
) Leipzig, 1870, S. 32.
438 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
Folgen der erſten Faltenentwicklung de—
monſtriren.“ Die vier Extremitäten der
Wirbeltiere ſollen hiernach „den vier Ecken
eines Briefes ähnlich, durch die Kreuzung
von vier den Körper umgrenzenden Fal—
ten“ entſtehen!
Sollte man es wohl für möglich hal—
ten, daß ein Univerſitätslehrer ſo kindi—
ſchen Blödſinn ſchwatzen könnte, wie er in
dieſer von Haeckel ſcherzhaft als „Brief—
kouverttheorie“ bezeichneten Erklärung zu
Tage kommt? Abgeſehen von der Unwahr—
heit, mit der ſie debütirt, da keineswegs
der Keim aller Wirbeltiere anfangs als
flache Scheibe erſcheint, entbehrt ſie der
Hauptſache, nämlich eines jeden kauſalen
Hintergrundes, der uns ſagt, wie die flache
Scheibe dazu kommt, ſich zu bilden und
ſo in die Breite zu gehen, warum ſie es in
anderen Fällen nicht thut u. ſ. w. Für
die Wiederkehr der Ahnenformen in der
Jugendgeſchichte der Nachkommen und für
die Rückſchlagsformen und rudimentären
Organe hat ſie keine irgend plauſible Er—
klärung, wenn man nicht etwa den von
Haeckel treffend als „Höllenlappentheo—
rie“ bezeichneten Scherz ſo nennen will.
Während die Phylogenie in den rudimen—
tären Organen die verkümmerten Reſte
uralter, längſt außer Dienſt geſtellter Or—
gane erblickt, die bei den Vorfahren wirk-
liche Funktionen ausübten, betrachtet His
ſie als „embryologiſche Reſiduen, den Ab—
fällen vergleichbar, welche beim Zuſchnei—
den eines Kleides, auch bei der ſparſam—
ſten Verwendung des Stoffes, ſich nicht
völlig vermeiden laſſen.“ „Höllenlappen
alſo,“ ruft Haeckel mit Recht“), „welche
die ſchlaue Schneiderin „Natur“ beiſeite
) Haeckel, Ziele und Wege der heutigen
Entwicklungsgeſchichte. Jena, 1875, S. 27.
ſteckt und hinter den Ofen in die „Hölle“
wirft!“
Zwiſchen ſolchen Erklärungen, die
ſchlimmer ſind, als gar keine, und der
durch tauſend und abertauſend Thatſachen
unterſtützten, welche die Darwinſche The—
orie an die Hand giebt, ſollte wohl von
irgend einem Schwanken bei denkenden Be—
urteilern nicht die Rede ſein können. Man
kann den Dualiſten begreifen und achten,
der in jeder neuen Dehnung und Streckung
jedes einzelnen Embryo die unmittelbare
Hand Gottes ſieht, wenn man auch Bayle
Recht geben wird, daß die Berufung auf
Gott kein Philoſophiren iſt, aber einen
ſolchen Aberwitz wie die „mechaniſche Er—
klärung“ von His kann man wirklich nur
mit Humor genießen.
Alle ſolche „mechaniſchen“ Theorien
müſſen dem geſunden Menſchenverſtande
unannehmbar bleiben, weil ſie einerſeits
keine wirklich kauſale Erklärung anbah—
nen, warum der Embryo ſo viele Umwege
einſchlagen muß, um zu einem auf gerade—
rem Wege zu erreichenden Ziele zu gelan—
gen — wie wir dies bei der abgekürzten
Entwicklung manchmal ausgeführt ſehen —
und uns vor allem die Erklärung ſchuldig
bleiben, warum der Embryo höherer Tiere
die Organiſationsſtufen niederer Abteilun—
gen durchläuft und deshalb unter Umſtän—
den auf früheren Stufen ſtehen bleiben
kann, bei dem ſogenannten Rückſchlag
auf die Ahnenform. Suchen wir uns
einmal klar zu machen, was hierbei eigent—
lich ſtattfindet, jo werden wir alsbald fin—
den, daß auch dieſe Erſcheinung ſchon für
ſich gebieteriſch die Annahme des biogene—
tiſchen Grundgeſetzes fordert. Bekanntlich
tritt ein ſolcher Rückſchlag am häufigſten
nach einer Baſtarderzeugung, der
—
—
Vermiſchung zweier zwar verwandter,
aber doch hinlänglich verſchiedener For—
erfahrungsgemäß nur möglich bei
ſolchen einander naheſtehenden
Weſen, die eine nahezu gleiche
Entwicklungsweiſe bewahrt haben,
weil ſie in nicht zu ferner Vorzeit
aus einer gemeinfamen Stamm—
form hervorgegangen ſind. Entfern—
ter ſtehende Formen, deren Entwicklungs—
weiſe ſchon lange eine ſehr verſchiedene ge—
worden iſt, deren Wege ſich alſo auch in der
individuellen Entwicklung früh trennen, kön—
nen ſich zu keiner gemeinſamen Entwicklung
verbinden, ihre Geſchlechtsprodukte üben
vielmehr gar keine befruchtende Wirkung
mehr auf einander, weil die ſpätere Di—
vergenz der Entwicklung einen rückwirken—
den und modifizirenden Einfluß ſchon auf
die erſten Entwicklungsſtufen ausgeübt hat.
„Die Entwicklungsgeſchichte iſt,“ wie Baer
ſagt, „die Geſchichte der ſich entwickelnden
Individualität in jeglicher Beziehung.“
Schon Ei und Samenzelle bergen ja alle
ihre ſpäteſten Erwerbungen und ſind, ob—
wohl morphologiſch vielleicht nicht zu un—
terſcheiden, doch in ihrem Weſen durchaus
individuell. Die Gaſtrula des einen Tie—
res, ſo ähnlich ſie derjenigen eines andern
ſein mag, iſt von Anfang an z. B. eine
Pflanzentier- oder Wurmgaſtrula und die
der beſondern Art. Aber wie nun in je—
dem Keime ſich die Eigentümlichkeiten von
Männchen und Weibchen vermiſchen, ſo
können ſolche Formen, deren Vorgeſchichte
es ihnen möglich macht, in ihrer Entwick—
lung eine weite Strecke, beinahe bis zu
Ende denſelben Weg zu gehen, mit einan—
der gekreuzt werden, während zwei andere,
wenn auch ganz nahe verwandte Arten,
8
men ein. Die Baſtarderzeugung tft
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 439
von denen die eine in ihrer Keimesgeſchichte
eine cenogenetiſche Einwirkung erfahren
hat, keinenfalls Baſtarde liefern werden.
Denken wir uns nun, daß bei der Ent—
ſtehung eines Baſtardembryos die Ent—
wicklung bei dem Punkte angekommen ſei,
wo eigentlich die Wege des väterlichen
und mütterlichen Anteils ſich trennen müß—
ten. Was wird nun geſchehen? Von der
einen Seite iſt dieſe, von der andern jene
Direktion eingeboren. Es wird alſo in der
Regel eine diagonale Richtung befolgt
werden müſſen, deren Lage wahrſcheinlich
von der relativen Lebenskräftigkeit der
beiden Komponenten beſtimmt wird und
zugleich davon, ob mehr oder weniger
Samenfäden in die weibliche Zelle einge—
treten ſind. Je ſtärker die Zugkraft und
je länger alſo die väterliche Seite des
Kräfteparallelogramms iſt, deſto weniger
weit wird die Diagonale von ihr divergi—
ren und umgekehrt. Wir können uns bild—
lich die nach Vollendung des letzten gemein—
ſamen Schrittes drohende Verwirrung aus—
malen, durch die in einen gewiſſen Wider—
ſtreit tretenden ferneren Entwicklungsten—
denzen, die erſt jetzt in ihrer ganzen Schärfe
auftreten. Oftmals werden ſich dieſelben
ausgleichen, aber in anderen Fällen wird
der Embryo noch einige unſichere Schritte
nach der einen oder andern Richtung thun,
aber im allgemeinen bei der Ahnen—
form ſtehen bleiben, die beiden
elterlichen Arten geme inſam war,
es wird ein partieller oder vollſtändiger
Rückſchlag eintreten. Das iſt wohl die
einfachſte Erklärung der Rückſchlagstendenz
der Baſtarde.“)
) Vergl. dagegen Fritz Müller, Kos—
mos, Bd. II, S. 56, der eine auf den erſten
Anblick ähnliche, aber doch weſentliche verſchie—
2
440
Wenn wir uns der erwähnten rück—
wirkenden Kraft der individuellen Weiter—
entwicklung auf die Geſchlechtsprodukte
erinnern, ſo werden wir leicht verſtehen,
weshalb dieſelben ſo gewöhnlich bei Ba—
ſtarden ihre Entwicklungsfähigkeit völlig
einbüßen. Sie beſitzen nicht mehr die durch
unzählige Wiederholungen eingeprägte,
einheitliche Entwicklungsenergie der Eltern,
ihr „Gedächtnis“ iſt getrübt, es fehlt die
Übung, den neuen Weg nochmals zu fin—
den. Das ſind natürlich nur Worte und
Umſchreibungen, aber ſie eröffnen uns ei—
nen Begriff ſowohl von der Urſache der
Rückſchlagsneigung als von derjenigen der
herrſchenden Unfruchtbarkeit der Baſtarde.
Sie machen uns auch begreiflich, warum
Baſtarde, wenn ſie unter glücklichen Um—
ſtänden einmal fruchtbar geworden ſind,
es in ihrer Deszendenz bleiben können,
ſofern ſich der „diagonale Entwicklungs—
weg“ mit jeder Wiederholung mehr be—
dene Anſicht: Ausgleichung der Divergenzen zweier
Arten zur Urſprungsrichtung, aufſtellt. Dieſe An-
ſicht würde eine Spaltung der Ahnenform in
zwei einander ergänzende Hälften vorausſetzen,
feſtigen kann. Wie man aber dieſe und
andere Erſcheinungen der Entwicklungs—
geſchichte anders als durch das biogenetiſche
Grundgeſetzerklären wollte, iſt unerfindlich.
Wir glauben, daß noch mancherlei auf
dem Gebiete der tieriſchen Entwicklungs—
geſchichte entdeckt werden wird und daß
noch manche auch der beſten heutigen Theo—
rien Modifikationen erfahren werden. Aber
die allgemeine Grundlage dürfte geſichert
ſein und wir haben in ihr, was das wich—
tigſte iſt, eine Theorie, die ſich begreifen
läßt. Wir brauchen nicht mehr an die tiefe
Gelehrſamkeit, die Morin im Keime woh—
nend dachte, zu glauben, und uns in der
Verzweiflung, ſie zu begreifen, dem ab—
gründigſten Aberglauben zuzuflüchten; und
daß wir ſo glücklich ſind, eine von den
unterſten bis zu den oberſten Stufen ab—
gerundete Entwicklungsgeſchichte zu be—
ſitzen, verdanken wir weſentlich dem Fleiße
und Scharfblick deutſcher Forſcher.
während es ſich doch bei neuen Arten um Neu—
erwerbungen handelt, die beim Rückſchlag
nicht ausgeglichen, ſondern eliminirt, aus—
geſchieden werden.
Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte.
Die Variabilität der Alpenblumen.
Von
Dr. Hermann Müller.
em unverſöhnlichſten Gegenſatz
„„nicht nur gegen Ch. Darwins
„Selektionstheorie, ſondern ge—
Fr O gen die Deszendenztheorie über—
e haupt ſteht der für die Linné—
“ſche Schule charakteriſtiſche
Glaube an die Konſtanz der Arten. Die
übrigen Vorausſetzungen, aus denen die
Selektionstheorie als unabweisbare Kon—
ſequenz ſich ergiebt: die Vermehrung der
organiſchen Weſen in geometriſcher Pro—
greſſion, das dadurch unvermeidliche Zu—
grundegehen zahlloſer Individuen jeder
Art im unentwickelten Zuſtand, die Erb—
lichkeit individueller Eigentümlichkeiten —
wird auch jeder Anhänger der alten Schule
ohne beſondere Schwierigkeit als unbe—
ſtreitbare Thatſache anerkennen. Daß aber
Tier⸗ oder Pflanzenarten von den in latei—
niſchem Lapidarſtil ihnen aufgeprägten
Diagnoſen in dem Grade ſollten abweichen
können, um aus individuellen Abänderun—
gen im Laufe der Zeiten verſchiedene Raſ—
ſen, Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w.
werden zu laſſen, iſt mit dem Glauben an
die innerhalb gewiſſer Grenzen abſolute
Konſtanz der Arten unvereinbar. Daß es
ſich aber hier in der That nur um einen
von früher Jugend an eingeſogenen Glau—
ben, nicht um eine auf Thatſachen gegrün—
dete Überzeugung handelt, dürfte wohl
ohne weiteres jedem klar werden, der mit
offenem Auge auch für die individuellen
Abänderungen — jahrelang irgendwelches
Gebiet organiſcher Formen durchmuſtert.
Ich habe bei meinen Unterſuchungen
von Alpenblumen auch die mir ungeſucht
begegnenden Beiſpiele von Variabilität
derſelben aufgezeichnet und dieſelben in
meinem jetzt unter der Preſſe befindlichen
Werke über Alpenblumen!) geordnet zu—
ſammengeſtellt. Die Anſicht, daß es für
jeden Anhänger der Entwicklungslehre von
einigem Intereſſe ſein müßte, zu ſehen,
wie die ſeiner Auffaſſung der organiſchen
Welt zugrunde liegende Vorausſetzung
hinlänglicher Variabilität ſich in irgend—
einem ſpeziellen Gebiete thatſächlich be—
gründet zeigt, veranlaßt mich, die wichtig—
*) Alpenblumen, ihre Befruchtung durch
Inſekten und ihre Anpaſſungen an dieſelben.
Leipzig, Wilh. Engelmann.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6.
56
442
ſten von mir zuſammengeſtellten That—
ſachen hier mitzuteilen.
A. Abänderung der Blumenfarben.
Aus Schübelers Verſuchen!) wiſſen
wir, daß mit der Dauer intenſiver Licht—
einwirkung die Intenſität der Blumenfar—
ben, ſo wie der Pflanzenfarben überhaupt,
ſich ſteigert. Die Alpen haben nun zwar
vor dem umgebenden Tieflande keine län—
gere Belichtungszeit, wohl aber eine leich—
ter durchſtrahlbare Atmoſphäre voraus;
auch das kann, wenn Schübelers Schluß—
folgerungen begründet ſind, auf die Farben
der Alpenblumen nicht ohne Einfluß ſein,
und wir werden kaum zweifeln können, daß
die durchſchnittlich etwas intenſivere und
glänzendere Farbe der Alpenblumen eine
direkte Folge der intenſiveren Belichtung iſt.
Eine ſolche direkte phyſikaliſche Wir—
kung kann uns nun zwar gewiſſe klima—
tiſche Abänderungen (3. B. die roſenröt—
liche Blumenfarbe der alpinen Pimpinel-
la magna), aber niemals die Anpaſſungen
der Farben und Formen der Blumen an
ihre Kreuzungsvermittler, niemals über—
haupt die Anpaſſungen gewiſſer Lebeweſen
an ihnen fördernd oder feindlich entgegen—
tretende andere, verſtändlich machen. Den
notwendigen Ausgangspunkt ſolcher An—
paſſungen bilden vielmehr vererbungsfä—
hige individuelle Abänderungen, die nur
indirekt durch äußere Einflüſſe bedingt
ſein können.
Um bei den Farben der Alpenblumen
ſtehen zu bleiben, ſo müſſen, wenn dieſel— |
ben durch Naturausleſe erklärbar fein ſol—
len, 1) verſchiedene Pflanzenindividuen der—
ſelben Art, was die Hervorbringung von
Blumenfarben betrifft, auf dieſelben phy— |
ſikaliſchen Einwirkungen verſchieden, wenn |
Kosmos, Jahrg. IV, Heft 2, S. 141 fl.
Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
auch nur ungleich empfindlich, reagiren, ſo
daß unter ganz gleichen äußeren Umſtän—
den individuelle Farbenvarietäten auftre—
ten; 2) müſſen dieſe erblich ſein, ſo daß
ſie durch fortgeſetzte Ausleſe fixirt und zu
reinen Raſſen ausgeprägt werden können.
Daß beides bei unſeren Kulturblumen that—
ſächlich der Fall iſt, haben die Blumen—
farbenzüchtungen unſerer Gärtner durch
direkten Verſuch tauſendfältig bewieſen.
Daß beides aber in gleicher Weiſe auch
für die Blumen im Naturzuſtande gilt, geht
indirekt aus den thatſächlich vorliegenden
Erſcheinungen kaum weniger unzweideu—
tig hervor, wofür nachfolgende Beiſpiele
als Belege dienen mögen.
Pimpinella magna kommt auf den
Alpen allerdings in der Regel in der roſen—
farbigen, von Hoppe P. rubra getauften
Abart vor; in gleicher Meereshöhe finden
ſich aber, wenn auch weit ſeltner, auch
weißblumige Exemplare.
Myotis, Polygala, Campanula, Echi-
um treten auf den Alpen durchſchnittlich
dunkler und glänzender blau auf, als in
der Ebene; doch ſind auch blaſſere Abän—
derungen nicht ſelten. Primula farinosa
erreicht auf den Alpen zwar in einem gro—
ßen Teile ihrer Exemplare ein intenſive—
res Rot als es bei den pommerſchen Exem—
plaren jemals vorkommt, ein noch größerer
Teil bietet aber alle Farbenabſtufungen
bis zu Blaßlila dar. Achillea Millefolium
kommt auf den Alpen (wie übrigens auch
im Tieflande) an denſelben Standorten mit
weißen und mit ſchwächer oder ſtärker ro—
ſenroten Blumenformen vor (ebenſo in der
Ebene Anemone nemorosa, ſelbſt bis zu
ziemlich kräftigem Karminrot). Von Lo-
tus corniculatus finden ſich neben rein
gelbblumigen Exemplaren andere, deren
Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
Blumen ſich zu Ende der Blütezeit orangerot
färben und ſo (wie andere Blumen, z. B.
Ribes aureum in allen Exemplaren) noch
zuletzt die Augenfälligkeit der Blumenge—
ſellſchaft ſteigern und zugleich ihren intelli—
genten Kreuzungsvermittlern nutzloſe Ver—
ſuche an bereits ausgebeuteten und befruch—
teten Blumen erſparen.
Während in allen dieſen Beiſpielen,
deren Zahl ſich leicht vervielfältigen ließe,
die Empfindlichkeit der verſchiedenen In—
dividuen derſelben Art gegen dieſelbe äu—
ßere Einwirkung die mannigfachſten Ab—
ſtufungen darbietet, kommen, wie bei den
Gartenblumen ſo auch bei den wildwach—
ſenden, andere Fälle vor, in denen einzelne
Individuen urplötzlich und aus völlig un—
bekannten Urſachen von allen übrigen weit
abweichen; z. B.:
Von Pinguicula alpina fand ich mit-
ten unter vielen Tauſenden von weißen
Blumen mit zwei gelbgefärbten Ausbuch—
tungen“) ein paar einzelne dicht neben ein—
ander ſtehendeStöcke, wahrſcheinlich Schöß—
linge desſelben Individuums, an deren
Blumen die drei Lappen der Unterlippe
ganz gelb gefärbt waren, und die beiden
Ausſackungen im Blüteneingange ſich nur
durch noch etwas dunkleres und intenſive—
res Gelb auszeichneten. Von Polygala
Chamaebuxus fand ich unter Tauſenden
von Exemplaren mit Blumen der gewöhn—
lichen Färbung eine kleine Gruppe wahr—
ſcheinlich ebenfalls demſelben Stocke ent—
ſproſſener Exemplare, bei denen die als
Fahne dienenden ſeitlichen Kelchblätter,
anſtatt gelblichweiß, ſchön purpurn gefärbt
waren. Mitten unter vielen Tauſenden
von Blumen der Saxifraga aizoides mit
goldgelber Grundfarbe und orangefarbe—
*) Kosmos, Bd. III, S. 334.
443
nen Tüpfelflecken der Blumenblätter fand
ich am Bernina eine kleine Gruppe, deren
Blumenblätter bis auf einen ſchmalen
orangegelben Saum brennend orangerot
ohne Tüpfelflecken, und deren Nektarien
dunkel karmin- bis zinnoberrot waren.
Die Erblichkeit dieſer in freier Na—
tur vorkommenden individuellen Abände—
rungen der Blumenfarben ergiebt ſich in—
direkt aus folgender Erwägung:
Daß und wie von verſchiedenen Kreu—
zungsvermittlern verſchiedene Blumenfar—
ben bevorzugt werden, iſt in meinem letz—
ten Aufſatze („Über die Entwicklung der
Blumenfarben“) gezeigt worden. Wenn
nun die nachgewieſenen individuellen Ab—
änderungen der Blumenfarben erblich ſind,
ſo muß in denjenigen Fällen, wo eine
Blume nur von einem ganz beſtimmten
Beſucherkreiſe gekreuzt und immer nur eine
beſtimmte ihrer Farbenabänderungen be—
vorzugt wird, dieſe mit mindeſtens derſelben
(wegen der vielmal längeren zur Verfü—
gung ſtehenden Zeit ſogar mit noch grö—
ßerer) Sicherheit ausgeprägt werden, mit
der der Gärtner durch bewußte Auswahl
beſtimmte Blumenfarben erzielt. Wo da—
gegen ein gemiſchter Beſucherkreis mit ver—
ſchiedener Farbenauswahl ſich gleichzeitig
an der Kreuzungsvermittlung einer Blume
beteiligt, muß dieſelbe, wenn verſchiedene
erbliche individuelle Abänderungen auftre—
ten, die der Farbenliebhaberei verſchiedener
Kreuzungsvermittler entſprechen, dauernd
in einem unentſchiedenen Schwanken zwi—
ſchen verſchiedenen Blumenfarben verhar—
ren. Der thatſächliche Befund der Blumen—
farben entſpricht, wie gleich gezeigt wer—
den ſoll, dieſer aus der Vorausſetzung der
Erblichkeit der individuellen Farbenabän—
9 Kosmos, Bd. VII, S. 350.
8
444
derungen gezogenen Konſequenz und läßt
alſo auf die Richtigkeit dieſer Voraus—
ſetzung zurückſchließen.
In der That ſehen wir diejenigen Blu—
men, an deren Kreuzung ſich eine gemiſchte
Geſellſchaft mit verſchiedener Farbenaus—
wahl beteiligt, nicht ſelten zwiſchen ver—
ſchiedenen von ihren Kreuzungsvermittlern
bevorzugten Farben völlig unentſchieden
ſchwanken: Von den Alpenblumen, die of—
fenen, unmittelbar ſichtbaren Honig dar—
bieten und kurzrüſſelige Inſekten mannig—
facher Art anlocken, blüht z. B. Saxifraga
aizoon bald rein weiß, bald weiß mit
ſchwärzlich purpurnen Sprenkelflecken; 8.
exarata bald weiß, bald gelblich; 8.
muscoides bald grünlich weiß, bald gelb—
lich weiß, nach Koch auch rein gelb (v. ero-
cea) oder ſchwärzlich-purpurn (V. atropur-
purea). Die Pollenblume Anemone al-
pina blüht an denſelben Standorten gelb
und daneben weiß.
Bei manchen Falterblumen ſchwankt
die Farbe ebenſo wie die Tageszeit, in
der ihre Kreuzungsvermittler fliegen. So
ſchwanken z. B. Gymnadenia conopsea
und Daphne striata, die ſowohl von Tag—
wie von Nachtfaltern beſucht und gekreuzt
werden, zwiſchen roſenroter und ſchneewei—
ßer Blumenfarbe, während die mehr auf
Nachtfalter angewieſeneGymnadenia odo-
ratissima mehr den blaſſen Farbenabſtu—
fungen zuneigt. Crocus, dem da, wo ich
ihn in Maſſe zu beobachten Gelegenheit
hatte?), vorzugsweiſe Abend- und Nacht-
falter als Kreuzungsvermittler zu teil wer—
den, ſchwankt daſelbſt zwiſchen dem bei
klarem Himmel unmittelbar nach Sonnen—
untergang am vorteilhafteſten wirkenden |
Violett und dem in tieferer Dämmerung |
9 Kosmos, Bd. VI, ©. 448 ff.
8 N
Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
wirkſamſten Weiß, während derſelbe Cro-
cus an einem ſüdlicheren Standorte (Val
Camonica), wo ihn Nieca beobachtete
und häufig von Tagfaltern beſucht fand,
nur Schwankungen zwiſchen Weiß und
Roſenrot darbot.
Bei denjenigen Blumen dagegen, de—
nen ausſchließlich von einem ſo beſtimmt
ihnen angepaßten Beſucherkreiſe, wie z. B.
Hummeln oder Tagfaltern, die Wohlthat
der Kreuzung zu teil wird, pflegt in der
Regel auch eine ganz beſtimmte Farbe zur
Ausprägung zu gelangen und faſt aus—
ſchließlich aufzutreten, wie das an den
Hummelblumen und Tagfalterblumen be—
reits in meinem früheren Aufſatze hinläng—
lich gezeigt worden iſt.
Dieſe letzte Regel hat jedoch einige
ſehr bemerkenswerte Ausnahmen, die uns
auf den Atavismus als eine beſondere
Urſache gewiſſer Abänderungen, auch von
Blumenfarben, hinweiſt. Zahlreiche Blu—
men nämlich, die von urſprünglich gelber,
roter oder weißer Farbe durch die un—
bewußte Züchtung einſichtigerer Kreu—
zungvermittler zu Rot, Violett oder Blau
fortgeſchritten ſind, fallen bisweilen in eine
urſprünglichere Farbe wieder zurück. Ich
erinnere nur an Ajuga genevensis, Poly-
gala- und Myosotis-Arten, die aus der
blauen bisweilen in die violette, roſenrote
oder weiße, an Salvia pratensis, die bis-
weilen im Freien, und Hepatica, die ſehr
leicht in der Kultur in die roſenrote Farbe
zurückfallen, ſowie an die bereits in mei—
nem vorigen Aufſatze erwähnte gelbe Ab—
änderung von Viola calcarata.
B. Schwankungen der Blumengröße und
mit denſelben zuſammenhängende Ab—
änderungen.
Wie die Abänderungen der Blumen—
—
farbe, ſo müſſen ſich alle Blumenabände—
rungen überhaupt auf
a. unmittelbare phyſikaliſche Wir—
kungen,
b. vererbungsfähige individuelle Ab—
änderungen,
c. durch Ausleſe mehr oder weniger
befeſtigte Abänderungen,
d. Rückfälle in urelterliche Merkmale zu:
rückführen laſſen; oder mit anderen Worten:
Als Urſachen der Abänderungen kon—
kurriren:
a. äußere phyſikaliſche Einflüſſe,
viduellen Anlage,
C. die die letzteren erhaltende und an—
häufende Wirkung einer beſtimmt gerich—
teten Ausleſe zur Fortpflanzung,
d. die Rückerinnerung des ſich geſtal—
tenden Organismus an die in früheren
Generationen geübten Thätigkeiten.“)
Welcher der vier Fälle oder welche Kom—
bination derſelben aber bei irgend einer
gegebenen Blumenabänderung vorliegt, iſt
in der Regel ſchwieriger zu unterſcheiden.
Schwankungen der Blumengröße ſind
auch bei den Alpenblumen etwas ſo gewöhn—
liches, daß faſt jede meiner Einzelbeſchrei—
bungen ſolche nachweiſt. In wiefern dieſe
Schwankungen nun, wenn ſie als erbliche
individuelle Abänderungen auftreten, durch
Steigerung oder Verringerung der Augen—
fälligkeit die Reichlichkeit des Inſektenbe—
ſuchs und dadurch mittelbar auch die Na—
turzüchtung der Blumen in ausgedehnter
Weiſe beeinfluſſen können, habe ich bereits
*) Samuel Butler, Kosmos, Bd. V,
S. 22—38; Ewald Hering, Über das Ge—
dächtnis als eine allgemeine Funktion der or—
ganiſchen Materie. Zweite Auflage. Wien, Ge—
rolds Sohn. 1876.
b. innere Eigentümlichkeiten der indi⸗
Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 445
in einem früheren Auffage*) dargethan,
der auch für manche neuen Fälle von
Blumenpolymorphismus, die mir auf den
Alpen begegnet ſind, eine Erklärung enthält.
Auch darauf, daß mit der Verkleine—
rung der Blumen nicht ſelten eine Ver—
minderung der Zahl der Blütenteile ver—
bunden erſcheint, wurde bereits in jenem
Aufſatze hingewieſen. Die Betrachtung
der Alpenblumen hat aber gerade hierfür
ſo zahlreiche neue Belege geliefert, daß es
ſich wohl der Mühe verlohnt, die wichtig—
ſten derſelben hier zuſammenzuſtellen, um
ſo mehr, als andere Beiſpiele ſich ihnen
zugeſellen, die auch nach der entgegen—
geſetzten Seite hin eine gewiſſe Abhängigkeit
der Zahl der Blütenteile von der Blumen—
größe beweiſen. In vielen Fällen
ſinkt und ſteigt mit der Blumen—
größe auch die Zahl der Blüten—
teile. Belege:
Unter den urſprünglich 5zähligen Roſa—
zeen ſind diekleinblumigſten (Alchemilla**)
4Jzählig, ausnahmsweiſe ſogar 3zählig ge—
worden, ihre Blumenblätter ſind ver—
ſchwunden, die Zahl ihrer Stempel iſt auf
1 reduzirt, nur ſelten findet noch einmal
ein Rückſchlag der Kelchblätter und Staub—
gefäße in die Fünfzahl ſtatt. Dagegen
bringen die großblumigenPotentilla-Arten,
anſtatt 5, bisweilen 6 oder 7, die Geum—
Arten 6—8, Dryas 7—9 Kelch- und
Blumenblätter hervor und die Zahl der
Staubgefäße ſteigert ſich in noch ungleich
ſtärkerem Verhältnis. 1
Bon den Gentiana-Arten zeigen die
) Das Variiren gefärbter Blütenhüllen ꝛc.
Kosmos, Bd. II, S. 11, 128.
au) Die mit * bezeichneten Arten find in
meinem Werke über Alpenblumen durch Abbil—
dungen erläutert.
Pe
446 Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
kleinblumigen (campestris“, tenella* und | finden ſich bisweilen 6zählige, niemals 4“
nana“) große Hinneigung zur Vierzählig—
keit, während die großblumige punctata*
6=, 7 und 8zählige Blüten hervorbringt.
(Bei den höher entwickelten Coelanthe-
und bei den Cyclostigma-Arten! ſcheint
dagegen mit dem beſtimmteren Bau auch
die Fünfzahl ſich weiter befeſtigt zu haben.)
Beſonders auffällig hat ſich bei den
Kraſſulazeen mit der Größe der Blumen
die Zahl der Blütenteile geſteigert und
vermindert. Sempervivum arachnoideum
hat 9—11, montanum 9—12, Funkii*
10—13, tectorum 11—13, die noch
großblumigere Wulfeni 13—16zählige
Blüten, wogegen bei unſeren kleinblumig—
ſten Kraſſulazeen nur 4= und zzählige
Blüten vorkommen.
Bei der kleinblumigen Rhamnus pu-
mila“ ſind ähnlich wie bei Alchemilla die
Blüten 4zählig geworden und die Blumen—
blätter oft bis auf 0 reduzirt; doch kommt
auch ein Rückfall in 5zählige Blüten mit
der vollen Zahl der Blumenblätter nicht
eben ſelten vor.
Die kleinen und bereits Jzähligen
Blüten von Thesium alpinumè und Aspe-
rula taurina® ſinken (wie Alchemilla)
nicht ſelten ſogar zur Dreizähligkeit hin—
ab; die kleinblumigen Exemplare von Par-
nassia palustris“ haben nur 3 Frucht—
blätter ſtatt 4 und auf jedem Stamino—
dium nur 7 geſtielte Knöpfchen (Schein—
nektarien) ſtatt 9 oder 11.
Sechszählige Blüten mit 3 Stempeln
habe ich unter allen Saxifraga-Arten nur
bei der großblumigſten (aizoides) gefunden.
Primula farinosa“ neigt in der nord—
deutſchen Tiefebene zu einer Verbreite—
rung, auf den Alpen zu einer Verſchmä—
lerung det Saumlappen der Korolle; dort
zählige, hier bisweilen 4zählige, niemals
6zählige Blüten.
Wenn alle dieſe Fälle kaum einen
Zweifel geſtatten, daß in der That zwi—
ſchen Blumengröße und Zahl der Blüten—
teile ein urſächlicher Zuſammenhang be—
ſteht, fo giebt es dagegen zahlreiche andere
Beiſpiele, in denen uns eine Abänderung
der Zahl aller oder gewiſſer Blütenteile als
eine von der Blumengröße ganz unabhän—
gige individuelle Eigentümlichkeit entgegen—
tritt. So fand ich z. B., ohne erkennbaren
Zuſammenhang mit der Blumengröße,
einzelne 4zählige Blüten bei Crocus ver-
nus“, 6zählige und Zwiſchenſtufen zwi—
ſchen 6- und 5zähligen bei Sedum atra-
tum, 4⸗, 5 und 6zählige und Zwiſchen—
ſtufen bei Saxifraga oppositifolia“, 6-
zählige bei Soldanella pusilla® und Aza-
lea procumbens*, Verdopplung eines ein—
zelnen Blumenblattes und des vor ihm
ſtehenden Staubgefäßes bei Saxifraga
oppositifolia* und muscoides*, höchſt
ſchwankende Zahl und Anordnung der
Kelch- und Blumenblätter bei Trollius*,
3—6 Kelchblätter, 1—3 Blumenblätter
bei Ranunculus parnassifolius“, 1—5
Blumenblätter bei Ranunculus pyre-
naeus, ein gablig geteiltes und an jedem
Gabelaſt eine entwickelte Anthere tragen—
des Filament bei Arenaria biflora“ u. ſ. w.
Als Atavismus endlich dürfte es, au—
ßer den bereits genannten Fällen, aufzu—
faffen fein, wenn Veronica aphylla“ bis-
weilen einmal mit 5 Blumenblättern,
Sanguisorba, anſtatt mit 4, mit 5 Kelch—
blättern und Staubgefäßen auftritt; wenn
bei Cotoneaster vulgaris“ und Aconitum
Napellus* die Griffelzahl, ſtatt 3, noch
ſehr oft 4 oder 5 beträgt, oder bei Stel-
\
5
In
*
77
e
a
Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
laria cerastiodes“, ſtatt 3, ſehr gewöhn—
lich 4, bisweilen 5; bei Arenaria biflora“,
ſtatt 3, nur ſelten 4 oder 5; bei Rubus
saxatilis*, ſtatt 3, bisweilen 4; bei Di-
anthus superbus“, ſtatt 2, bisweilen 3
oder 4; oder wenn bei Valeriana tripte-
ris“, ſtatt 3, hie und da einmal 4 Staub»
gefäße vorkommen.“
C. Variabilität der Stellung und Ge—
ſtalt der ganzen Blumen und ihrer
Teile.
Wie zwiſchen Blumengröße, ſo findet
auch zwiſchen Stellung und Geſtalt der
Blumen ein unverkennbarer Zuſammen—
hang ſtatt. In zahlloſen Fällen iſt von
nächſtverwandten Blumenformen die eine
gerade nach oben oder unten gerichtet und
nach allen Seiten gleich geſtaltet, die an—
dere nach der Seite gerichtet und nach
rechts und links gleich, nach unten und
oben aber verſchieden geſtaltet. Und zwar
läßt ſich dieſer Unterſchied von den Blüten
desſelben Individuums bis zu umfaſſen—
den ſyſtematiſchen Abteilungen verfolgen.
Einige wenige Beiſpiele werden genügen,
dies darzuthun.
An demſelben Stocke ſind bei Saxi-
fraga stellaris“ die gerade nach oben ges
richteten Blüten regelmäßig, die ſeitlich
gerichteten zum Teil bilateral ſymmetriſch
geſtaltet und mit gelben Flecken gezeichnet.
Innerhalb derſelben Art finden ſich bei
Soldanella pusilla Stöcke mit ſenkrecht
herabhangenden, ringsum gleichgeſtalteten
Blumenglocken (forma pendula“ m.), an⸗
dere mit ſchräg abwärts geneigten, unten
etwas weiter ausgebreiteten Blumenglocken
(forma inclinata“ m.). In derſelben Gat—
tung Pyrola haben die Arten uniflora*
und minor gerade nach unten gekehrte,
regelmäßige Blumen mit zentralem und in
447
der Richtung der Axe verlaufendem Griffel,
wogegen in den nach der Seite gerichteten
Blumen von P. rotundifolia“ der Griffel
ſich nach unten gebogen vorſtreckt, die
Staubgefäße ſich aufwärts biegen und
von den Blumenblättern die drei unteren
an Größe die beiden oberen übertreffen.
Innerhalb derſelben Familie ſehen wir
die Gattung Geranium* regelmäßige, nach
oben gerichtete Blüten hervorbringen, wo—
gegen in den ſeitlich gerichteten Blüten
von Erodium die unteren Blumenblätter
ſich verlängern und die oberen ein beſon—
deres Saftmal erlangen. Innerhalb der—
ſelben Ordnung (der Leguminoſen) bieten
uns die Papilionazeen und Mimoſazeen
entſprechende Beiſpiele dar. Jeder Pflan—
zenkenner wird die Zahl dieſer Beiſpiele
ohne weiteres aus eigener Erinnerung
vervielfältigen können. Dagegen iſt kein
einziges Beiſpiel bekannt, in dem von zwei
nächſtverwandten Blumenformen die eine
ſenkrecht nach unten oder oben gerichtet
und bilateral ſymmetriſch, die andere ſeit—
lich gerichtet und regelmäßig geſtaltet
wäre. Ein urſächlicher Zuſammenhang
zwiſchen Stellung und Geſtalt der Blumen
findet alſo unzweifelhaft ſtatt. Es fragt
ſich nur, in welchem Grade auch hier einer—
ſeits unmittelbar phyſikaliſche Wirkung,
andererſeits vererbungsfähige individuelle
Eigentümlichkeiten, infolge deren auf die—
ſelbe äußere Einwirkung das eine Indi—
viduum erheblich, ein anderes weniger, ein
drittes gar nicht reagirt, eine Rolle ſpielen.
Schon bei den Blüten desſelben Stockes
tritt eine ſolche individuelle Verſchiedenheit
auffallend zutage. Bei Saxifraga stella-
ris z. B. beſitzen keineswegs alle, ſondern
nur ein mehr oder weniger großer Teil
der ſeitlich gerichteten Blüten, und dieſe
448 Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
in verſchiedenem Grade, die bilateral ſym—
metriſche Form und Zeichnung. Daß bei
Berberis-, Campanula-, Gentiana-Arten
und in zahlloſen anderen Fällen die Blu—
men häufig nichts weniger als ſenkrecht |
gerichtet und trotzdem regelmäßig geſtaltet
ſind, iſt allbekannt. Seitliche Stellung
kann alſo, muß aber nicht unbedingt eine
nach oben und unten verſchiedene Ausbil-
dung der Form zur Folge haben. Bei
vielen Arten wirkt eine Abweichung der
Blumen von der ſenkrechten Stellung gar
nicht formverändernd ein; bei den Arten,
wo ſie formändernd einwirkt, thut ſie es
nicht unmittelbar an allen Pflanzenſtöcken,
bei den reagirenden Pflanzenſtöcken nicht an
allen Blumen, bei den reagirenden Blu—
men endlich in ſehr ungleichem Grade.
Haben dann die ſymmetriſch geſtalte—
ten Blumen vor den regelmäßigen keinen
beſonderen Vorteil voraus, und bei völlig
offener Lage des Honigs läßt ſich ein ſol—
cher in der That kaum erkennen, ſo kann
eine Naturausleſe der erſteren ſelbſtver—
ſtändlich nicht ſtattfinden, und es bleibt bei
dem individuellen Schwanken, wie es uns
Saxifraga stellaris darbietet. Gewährt
dagegen die ſymmetriſche Geſtaltung den
Blumen einen entſcheidenden Vorteil, z. B.
eine Bevorzugung ſeitens der Kreuzungs—
vermittler, ſo muß ſie, wenn geeignete
individuelle Abänderungen auftreten, durch
Naturausleſe zur feſten und alleinigen Aus—
prägung gelangen. |
Käme es vor, daß durch unmittelbare
pyyſikaliſche Wirkung der Stellung alle
ſeitlich geſtellte Blüten einer Pflanze um—
geſtaltet würden, ſo müßten wir auch ſol—
che Pflanzen mit lauter bilateral ſymme—
triſchen Blüten finden, bei denen die ver—
ſchieden geſtalteten unteren und oberen
Blütenteile keinen verſchiedenen Lebens—
dienſt leiſteten, und irgend ein Vorteil der
ſymmetriſchen Geſtaltung für das Leben
der Pflanze überhaupt nicht aufzufinden
wäre. Thatſächlich aber läßt ſich in allen
mir näher bekannten Fällen, wo urſprüng—
lich ſenkrecht geſtellte regelmäßige Blumen
zugleich mit ſeitlicher Stellung Symmetrie
der Geſtalt als befeſtigte Eigentümlichkeit
erlangt haben, ein entſcheidender Vorteil
erkennen, den die ſymmetriſchen Blüten
vor den regelmäßigen voraushatten. In
der Regel beſteht derſelbe darin, daß die ver—
längerten unteren Blumenblätter den Kreu—
zungsvermittlern eine bequemere Stand—
fläche zum Gewinnen des meiſt völlig ge—
borgenen Honigs darbieten (wie z. B. bei
Erodium), was dieſe natürlich zu einer Be—
vorzugung der ſymmetriſchen vor den re—
gelmäßigen Blüten veranlaſſen mußte; oft
außerdem oder allein in einer Begünſti—
gung oder Sicherung regelmäßiger Kreu—
zung durch die Beſucher (Verbascum, Ve—
ronica, Lopezia ete.), was ebenfalls ſchließ—
liches alleiniges Überleben der ſymmetri—
ſchen Blüte zur Folge haben mußte.
Senkrechte regelmäßige Blüten pflegen
zwar in der Regel auch nach allen Seiten
gleichmäßig abzuändern, wie z. B. bei
Soldanella pusilla“ der aus dem ſoge—
nannten Schlundſchuppen gebildete, als
Saftdecke dienende Schirm, der bald mehr,
bald weniger ausgebildet auftritt; aber
ausnahmslos iſt dies doch keineswegs der
Fall. Auch völlig unabhängig von der
Stellung kommen Unregelmäßigkeiten der
Geſtaltung der Blumen vor. Der ſchiefe
Narbenknopf der langgriffeligen Blüten
von Primula integrifolia“, das verdop—
pelte Blumenblatt nebſt davor ſtehendem
Staubgefäß in Blüten von Saxifraga mus-
N
|
|
. —
|
|
|
I
9
Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
coides* und oppositifolia“, das gabeltei—
lige Staubgefäß in einer Blüte von Are-
naria biflora®, die höchſt unregelmäßige
Entwicklung der Blumenblätter und Nek—
tarien bei Ranunculus parnassifolius“
und pyrenaeus“ ſind dafür ganz unzwei—
deutige Belege. Auch derartige individu—
elle Abänderungen können, wenn ſie dem
Inhaber einen entſcheidenden Vorteil ge—
währen, durch Naturausleſe zu dauernden
Eigentümlichkeiten ausgeprägt werden, wie
die nach der Seite gebogenen Griffel der
gerade nach unten gerichteten Blumen von
Lilium Martagon (und Methonica glo—
riosa) beweiſen.
Aus dem allem ſcheint klar hervor—
zugehen, daß zwar die Stellung der Blu—
men auf ihre Geſtaltung unzweifelhaft
einwirkt, daß namentlich zum Übergang
urſprünglich regelmäßiger Blumenformen
in ſymmetriſche in der Regel ſeitliche Stel—
lung den erſten Anſtoß gegeben hat, daß
aber die Fixirung ſymmetriſcher Blumen-
formen nur durch vererbungsfähige indivi—
duelle Abweichungen und durch das ſchließ—
lich alleinige Überleben der vorteilhaften
Abänderungen zu Stande gekommen iſt.
Und was von der Fixirung, gilt ſelbſtver-
ſtändlich auch von der weiteren Ausprä—
gung ſymmetriſcher Blumenformen. Auch
wenn ſie bereits ſo befeſtigt ſind, daß ſie
nie mehr oder nur noch höchſt ausnahms—
weiſe in die regelmäßige Urform zurück—
fallen, treten mannigfache neue individuelle
Abänderungen an ihnen auf. Auch dieſe
erlangen, wenn ſie nutzlos ſind, wie z. B.
die Nebennektarien in den Blüten von Va-
leriana montana“, feine weitere Verbrei—
tung. Wenn ſie dagegen von entſcheiden—
dem Vorteile ſind, wie z. B. die beſonders
tiefe Honigbergung von Falterblumen in
449
einer von Makrogloſſen reichbeſuchten Ge—
gend (Viola calcarata“ u. a.) oder die un⸗
ſymmetriſche Verdrehung der Blumen von
Pedicularis asplenifolia“ ), fo werden auch
ſie durch Naturausleſe zu konſtanten Merk—
malen ausgeprägt.
Auch in Bezug auf die Stellung und
Geſtalt der Blumen oder einzelner Blüten—
teile haben wir den Rückfall in urelterliche
Eigentümlichkeiten als eine beſondere Klaſſe
von Abänderungen beſonders zu berück—
ſichtigen. Die mannigfachen Zwiſchenſtu—
fen zwiſchen ſenkrecht nach unten gerichteter
und wagerechter oder ſchräg abwärts fal—
lender Blumenſtellung bei Lilium Marta-
gon“, zwiſchen gar nicht gedrehter und halb
umgedrehter Blumenſtellung bei Nigritel-
la angustifolia“, zwiſchen ausgeprägter
Schlagbaumform und Hufeiſenform bei den
Staubgefäßen der weiblichen Blüten von
Salvia pratensis“, zwiſchen zungen- und
röhrenförmigen Blüten bei Senecio car-
niolicus* find uns als bald mehr, bald
weniger gelungene Rückerinnerungen der
Blumen an eine unter andern Lebens—
bedingungen durchlebte Vergangenheit am
leichteſten verſtändlich.
D. Variabilität der Entwicklungsreihen—
folge und Verteilung der Geſchlechter,
der Sicherung der Kreuzung bei eintre—
tendem, der Ermöglichung ſpontaner
Selbſtbefruchtung bei ausbleibendem
Inſektenbeſuch.
Wie durch die nachgewieſene Varia—
bilität der bisher beſprochenen Merkmale
die außerordentliche Mannigfaltigkeit der
Blumenfarben und Formen, Größen und
Zahl enverhältniſſe unſerem Verſtändniſſe
näher gerückt wird, ſo läßt uns ein Ein—
blick in die Variabilität der Entwicklungs—
*) Kosmos, Bd. III, S. 493.
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6.
57
450
reihenfolge und Verteilung der Geſchlech—
ter begreifen, wie die Blumen im ſtande
ſind, ihre Fortpflanzungsart veränderten
Lebensbedingungen anzupaſſen und, je nach—
dem der Beſuch der Kreuzungsvermittler
geſichert oder zweifelhaft iſt, ſich auf aus—
ſchließliche oder blos ermöglichte Kreuzung
durch dieſelben und auf den Notbehelf ſpon-
taner Selbſtbefruchtung einzurichten. Um
die Betrachtung dieſer Variabilität mit Aus⸗
ſicht auf Erfolg in Angriff nehmen zu können,
müſſen wir uns erſt über die urſprüngliche
Verteilung und Entwicklungsreihenfolge
der Geſchlechter zu orientiren ſuchen.
Da der erſte Urſprung der Blumen
auf Windblütler zurückzuführen iſt, die ge—
legentlich ihres Pollens wegen von Inſek⸗
ten beſucht und dabei zufällig auch gekreuzt
wurden, ſo kann es kaum zweifelhaft ſein,
daß diejenigen Eigentümlichkeiten, welche
den Beſuch kreuzungsvermittelnder Inſek⸗
ten und Kreuzung durch denſelben völlig
ſichern, in der Regel nur langſam und all—
mählich erworben worden ſind.
Entweder nämlich erfolgte der Über—
gang von der Windblütigkeit zur Inſek—
tenblütigkeit mit Beibehaltung der ur—
ſprünglichen Trennung der Geſchlechter,
wie bei Salix, und dann konnte aller—
dings ein Klebrigwerden des Pollens und
damit ein Verzicht auf die Kreuzungsver—
mittlung des Windes natürlich nicht eher
durch Naturausleſe zur Ausprägung ge—
langen, als bis durch Steigerung der dar—
gebotenen Genußmittel (Honigabſonderung
in beiderlei Blüten) ein die Kreuzung ſichern—
der Inſektenbeſuch erreicht worden war.
Oder es traten zwitterblütige Abän—
derungen auf, die die Möglichkeit ſpontaner
Selbſtbefkuchtung eröffneten, und denen
es daher auch ſchon bei noch unſicherem
|
Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
Inſektenbeſuch vorteilhaft war, klebrigen
Pollen zu beſitzen und infolgedeſſen durch
gelegentlichen Inſektenbeſuch leichter ge—
kreuzt zu werden: dann konnte natürlich
ein Aufgeben des Notbehelfs der ſpontanen
Selbſtbefruchtung nicht eher erfolgen, als
bis durch Steigerung der Augenfälligkeit,
der dargebotenen Genußmittel ꝛc. ein die
Kreuzung ſichernder Inſektenbeſuch erreicht
worden war. Im erſteren Falle tritt die
Pflanze mit voller Sicherung der Kreuzung
in die Inſektenblütigkeit ein, im letzteren
muß ſie ſich zur Sicherung der Kreuzung
erſt langſam emporarbeiten. Der erſtere
Fall iſt eine ſeltene Ausnahme (ich weiß nur
Salix anzuführen), der letztere iſt die Regel.
In allen mir bekannten Pflanzenfami—
lien, in denen urſprüngliche, d. h. auf nie—
derſter Anpaſſungsſtufe ſtehende Blumen
erhalten geblieben ſind, ohne ungewöhn—
lich geſteigerte Anlockung erlangt zu haben,
entwickeln ſich in der That in denſelben
die beiden Geſchlechter ſoweit gleichzeitig
und ſind ſo zu einander geſtellt, daß bei
ausbleibendem Inſektenbeſuche eigener Pol—
len auf die Narbe gelangt. Abgeſehen von
Salix (und vielleicht mir unbekannten, in
gleichem Falle befindlichen Inſektenblüt—
lern) ſind alſo höchſt wahrſcheinlich alle
Blumen urſprünglich zwitterblütig und ſo
weit homogam geweſen, daß ſie ſich bei
| ausbleibendem Inſektenbeſuche ſelbſt be—
fruchteten. Erſt mit dem allmählichen Er—
werb der den Inſektenbeſuch ſteigernden
Eigentümlichkeiten iſt bei vielen Blumen
eine derartige räumliche oder zeitliche
Trennung der Geſchlechter zur Ausprä—
gung gelangt, die bei eintretendem Inſek—
tenbeſuche eine Kreuzung getrennter Stöcke
durch denſelben überwiegend wahrſchein—
lich oder unausbleiblich macht, dagegen die
5
BES
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entbehrlich gewordene ſpontane Selbſtbe-
fruchtung oft auch der Möglichkeit nach
beſeitigt. Zahlreiche Blumen laſſen uns
nun noch heute diejenige Variabilität er-
kennen, die den notwendigen Ausgangs:
punkt dieſer Ausprägung bilden mußte.
So ſehen wir Dryas octopetala und
ebenſo Saxifraga oppositifolia® noch heute
zwiſchen homogamer, proterandriſcher und
proterogyner Entwicklung ſchwanken, Saxi-
fraga tridactylites in der einen Gegend
zur Proterandrie, in der anderen zur Pro—
terogynie fortgeſchritten, die übrigen Saxi—
fraga-Arten in verſchiedenem Grade der
Ausprägung teils proterandriſch, teils
proterogyniſch geworden. Ebenſo ſchwankt
Epilobium Fleischeri“ noch völlig un-
entſchieden zwiſchen homogamer, prote—
randriſcher und proterogyniſcher Ent—
wicklung, während E. angustifolium aus-
geprägt proterandriſch iſt und E. origani—
folium * ſich proterogyn entwickelt, aber
regelmäßig ſelbſt beſtäubt. Auch in den
Gattungen Sedum, Gentiana, Globula-
ria haben ſich gewiſſe Arten der Proteran—
drie, andere der Proterogynie zugewandt.
Für den Übergang von Homogamie
zu ausgeprägter Proterogynie laſſen uns
die betrachteten Alpenblumen außer den
bereits angeführten noch manche andere
Schwankungen und Abſtufungen erkennen.
Einige“) ſchwanken noch zwiſchen homo—
gamer und proterogyner, andere **) zwi—
ſchen ſchwächer und ſtärker ausgeprägter
) Ranunculus alpestris, Veronica alpi-
na*, Gentiana campestris*, Soldanella al-
pina*, Ribes petraeum*. h
*) Sedum atratum*, Pulsatilla verna-
lis*, Anemone alpina, Geum montanum.
) Tofieldia calyculata*, Sedum re-
pens*, Saxifraga androsacea*, Ranunculus
Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
|
451
einen gewiſſen Grad von Proterogynie er—
reicht, der bei zeitig eintretendem Inſek—
tenbeſuche Kreuzung ſichert, dann aber
ſpontane Selbſtbefruchtung zuläßt; nur
wenige?) ſind zu ſo ausgeprägter Prote—
rogynie fortgeſchritten, daß ſpontaneSelbſt—
beſtäubung nur noch ſpärlich oder gar
nicht mehr vorkommt.
Weit größer iſt die Zahl derjenigen
Blumen, die zu ausgeprägter Proterandrie
gelangt ſind. Außer zahlreichen in ver—
ſchiedenen Gattungen verteilten oder be—
ſondere Gattungen bildenden Arten (3. B.
Lloydia*, Veratrum“, Parnassia“, Aro-
nia, Polemonium *) ſind die meiſten Arten
der Gattungen Saxifraga und Gentiana,
alle mir bekannten der Gattungen Allium,
Sempervivum, Aquilegia, Aconitum,
Delphinium, die überwiegende Mehrzahl
der Alſineen und Labiaten, und wohl
ohne Ausnahme alle Sileneen, Umbelli—
feren, Dipſaceen, Kampanulaceen und
Kompoſiten proterandriſch, und zwar zum
großen Teile ſo ausgeprägt, daß ſpontane
Selbſtbeſtäubung nicht mehr oder nur
noch ausnahmsweiſe erfolgt. Proterandrie
iſt alſo jedenfalls in vielen Fällen ſchon
von den Stammeltern jetzt artenreicher
Gattungen, ganzer Familienzweige und
ſelbſt umfangreichſter Familien ausgebildet
und auf alle Abkömmlinge vererbt worden.
Von dem Variiren der Entwicklungs—
pyrenaeus, parnassifoliusk, montanus, Ara-
bis bellidifolia, Draba aizoides*, Hutchin-
sia alpina, Myricaria germanica*, Cotone-
aster vulgaris*, Rubus saxatilis*, Fragaria
vesca, Veronica aphylla*, Gentiana tenella*.
) Saxifraga Seguieri*, S. muscoides*,
Geum reptans; bei Bartsia alpina“ und
Gentiana punctata* iſt ſpontane Selbſtbe—
fruchtung mehr durch die Stellung der Narbe
als durch Proterogynie verhindert.
EEE 8
452
Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
reihenfolge führt uns nun die Proteran— | jondern auch von dieſer zur reinen Diözie
drie unmittelbar zum Variiren der Vertei- darſtellt. Außerdem kommen bei ihr an groß—
lung der Geſchlechter hinüber. Denn in
zahlreichen Fällen find ausgeprägte Pro-
terandriften, die von Inſekten überreich
mehr innerhalb einer und derſelben Art,
ſondern auf verſchiedene Arten derſelben
beſucht wurden und bei denen die Blu—
mengröße verſchiedener Stöcke variirte, da—
durch zur Gynodiözie, zur Diözie und zur
polygamen Triözie fortgeſchritten.
wir uns dieſe Umbildungen als unaus—
bleibliche Folgen der kaum beſtreitbaren
Wie
Thatſache erklären können, daß augenfälli⸗
gere Blumen durchſchnittlich von Inſekten
eher beſucht werden, als unſcheinbarere,
habe ich in dem bereits oben zitirten Auf—
ſatzs) dargelegt. Von den Alpenblumen,
die uns dieſe Formen von Geſchlechterver—
teilung darſtellen, will ich deshalb hier
blos diejenigen herausgreifen, die uns
durch Schwankungen und Übergänge das
Entſtehen derſelben vor Augen rücken.
Mehrere der auf den Alpen vorkom—
menden ausgeprägten Proterandriſten tre—
ten an manchen Orten eingeſtaltig auf,
mit lauter großblumigen, unter ſich über—
einſtimmenden Stöcken, anderswo mit va—
riabler Blumengröße und zweigeſtaltig,
nämlich mit großblumigen, ausgeprägt pro—
terandriſchen, und kleinblumigeren, rein
weiblichen Stöcken. Es gilt dies nament—
lich von Geranium silvaticum * und Sal-
blumigen Stöcken, wahrſcheinlich durch Ata—
vismus, bisweilen homogame Blüten vor.
Noch deutlicher ausgebildet, aber nicht
Gattung verteilt, tritt uns derſelbe Über—
gang in der Gattung Valeriana entgegen,
in der ſich an die proterandriſche V. offici-
nalis die gynodiöziſche V. montana“ und
an dieſe die rein diöziſche V. tripteris“
aufs engſte anſchließt.
Außer den mancherlei ſonſtigen ver—
ſchiedenen Arten von Geſchlechtervertei—
lung, die ich in dem oben erwähnten früheren
Aufſatze zu erklären verſucht habe, ſcheint
mir auch der Blütenpolymorphismus der
Alchemilla-Arten, ebenſo der von Rhus
Cotinus*) u. a., auf das Variiren der
Blumengröße zurückzuführen zu ſein. Mit
der allmählichen Verkleinerung der Blu—
men hat ſich nämlich nicht nur, wie be—
reits oben beſprochen wurde, die Zahl der
Kelchblätter und Staubgefäße auf 4 oder
reichend.
via pratensis“, wahrſcheinlich auch von Si.
lene nutans und Dianthus superbus.“
Bei Geranium silvaticum * kommen
überdies an manchen Orten, wo es gyno—
diöziſch auftritt, an den großblumigen
Stöcken die Stempel nie mehr zur vollen
Entwicklung (Albula), ſo daß uns dieſe
nämliche Blumenart nicht nur den Über—
gang von Eingeſtaltigkeit zur Gynodiözie,
9 Kosmos, Bd. II, S. 11, 128.
3, die der Stempel auf 1, die der Blu—
menblätter auf 0 reduzirt, ſondern auch
für die geringe Zahl der noch übrigen Ge—
ſchlechtsteile erſcheint der Nahrungszufluß
des winzigen Blütchens nicht mehr aus—
Vielmehr erfolgt bei voller Ent—
wicklung der Staubgefäße eine Verküm—
merung des Stempels und bei voller Ent—
wicklung des Stempels eine Verkümme—
rung der Staubgefäße, ſo daß alle Über—
gänge von in beiden Geſchlechtern ſchwa—
chen Zwitterblüten einerſeits zu rein männ—
lichen, andererſeits zu rein weiblichen vor—
kommen.
Hr *) H. Müller, Befruchtung der Blumen,
S. 157, Fig. 49.
Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
453
Aber auch in vielen Fällen, wo ein rungszufluß und Verkümmerung des weib—
Herabſinken der Blumengröße und der
Zahl der Blütenteile nicht oder nur in ge—
|
|
|
ringem Grade jtattgefunden hat, ſcheint
ein Verkümmern der weiblichen Befruch-
tungsorgane durch vermindertenNahrungs⸗
zufluß bedingt zu ſein. Anemone alpina,
Geum reptans und montana, Dryas octo-
petala bieten alle Abſtufungen der Ver—
kümmerung der Stempel bis zu völligem
Schwinden derſelben und ſomit den voll—
ſtändigen Übergang von Zwitterblütigkeit
zu Androdiözie dar. Bei ihnen allen
findet ein durchgreifender Unterſchied der
Blumengröße zwiſchen männlichen und
zweigeſchlechtigen Blüten zwar nicht ſtatt;
aber durchſchnittlich ſind doch die männ—
lichen merklich kleiner.
Veratrum album“ hat 1) rein zwit—
terblütige Stöcke, 2) andere, deren ſpätere,
ſchwächlichere Seitenzweige etwas kleinere,
rein männliche Blüten mit ſtark verküm—
merten Stempeln tragen, und außerdem
3) ſchwächliche Stöcke, die überhaupt nur
ſolche männliche Blüten hervorbringen, ſo
daß hier der Übergang von Zwitterblütig—
keit zur Andromonözie und von dieſer zur
Androdiözie vorliegt.
Astrantia minor“ hat, wie manche
andere Umbelliferen, neben den proteran—
driſchen Zwitterblüten rein männliche mit
mehr oder weniger verkümmerten weib—
lichen Befruchtungsorganen. Je ſchwäch—
licher die Pflänzchen ſind, um ſo geringer
iſt die Zahl der zweigeſchlechtigen Blüten,
die ſchwächlichſten Exemplare produziren
ausſchließlich rein männliche. Es findet
alſo hier ein ganz allmählicher Übergang von
Andromonözie zu Androdiözie ſtatt, und
auch hier iſt ein Zuſammenhang zwiſchen
Schwächlichkeit oder verringertem Nah—
lichen Geſchlechts unverkennbar.
Mag nun die ſoeben in bezug auf den
Urſprung der Andromonözie und Andro—
diözie ausgeſprochene Vermutung richtig
ſein oder nicht; jedenfalls ſteht ſo viel feſt,
daß die Entwicklung der Geſchlechtsorgane
bei vielen Pflanzen von Einwirkungen des
Klimas und Bodens leicht beeinflußt wird,
und daß dadurch eine Veränderung der
Geſchlechterverteilung auch unabhängig
von der Blumenauswahl der Inſekten und
von langſam wirkender Naturausleſe her—
vorgebracht werden kann. Ich führe als
Belege dafür noch folgende an Alpenblu—
men gemachte Beobachtungen an:
Bei Sedum repens*, Draba aizoi-
des“, Stellaria cerastioides*, Veronica
alpina“ fand ich an rauhen, hochalpinen
|
I
Standorten nicht felten die Staubgefäße
in krankhaftem, mehr oder weniger ver—
kümmertem Zuſtande, bei Lloydia sero—
tina“, Saxifraga bryoides*, Cherleria
sedoides“ außerdem bisweilen auch die
Narben.
Von Aquilegia atrata zog ich in mei-
nem Garten aus Samen des Berliner
botaniſchen Gartens zahlreiche Stöcke, von
denen die ſchwächlichſten lauter rein männ—
liche Blüten hervorbrachten, während die
kräftigeren, ebenſo wie alle auf den
Alpen von mir beobachteten Exemplare
nur proterandriſche Zwitterblüten trugen.
Die urſprünglich eingeſtaltige Pflanze iſt
alſo im Kulturzuſtande androdiöziſch ge—
worden.
Bei Polemonium coeruleum“ traten
in meinem Garten an manchen Stöcken
neben den gewöhnlichen proterandriſchen
nicht ſelten weit kleinere rein weibliche
Blüten auf, während ich auf den Alpen
454 Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
auch ſeine Blumen nur zweigeſtaltig ge—
ſehen habe.
Bei Saponaria ocymoides fand Hil—
debrand, vermutlich an Gartenexem—
plaren, männliche, weibliche und zweige—
ſchlechtige Blüten auf demſelben Stocke,
mit überwiegender Anzahl der eingeſchlech—
tigen. Mir ſelbſt iſt es, obgleich ich auf
den Alpen oft danach geſehen habe, nie
gelungen, dort andere Stöcke aufzufinden,
als ſolche mit lauter ausgeprägt proteran—
driſchen zweigeſchlechtigen Blüten.
Draba aizoides* fand Hildebrand!)
(im Garten?) fo ausgeprägt proterogyn, daß
Selbſtbeſtäubung verhindert war; meine
Alpenexemplare waren dagegen proterogyn
mit Ermöglichung ſpontaner Selbſtbeſtäu—
bung.
Bei Pulmonaria azurea“ iſt nach
Hildebrand“ ) „keine kurzgriffelige und
langgriffelige Form vorhanden, wenn auch
gerade nicht die Antheren der Narbe an—
liegen.“ Auf den Alpen fand ich dieſelbe
Blume immer nur ausgeprägt lang- und
kurzgriffelig (dimorph heteroſtyl).
Alle dieſe Beiſpiele von Variabilität
der Geſchlechterverteilung teils im wilden,
teils im kultivirten Zuſtande werden noch
übertroffen von dem Schwanken, welches in
dieſer Beziehung Polygonum viviparum“
zeigt, das von Axell in Schweden!“ “)
gynodiöziſch mit ausgeprägt proterandri—
ſchen Zwitterblüten, von mir bei Fran—
*) F. Hildebrand, Vergleichende Unter—
ſuchungen über die Saftdrüſen der Cruciferen.
Berlin, 1879. S, 12, 13.
*) F. Hildebrand, Die Geſchlechterver—
theilung bei den Pflanzen. Leipzig, 1867. S. 11;
Pulm. azurea, S. 37.
##*) Severin Axell, Om anondningarna
för de fanerogama växternas befruktning.
Stockholm, 1869. pp. 26, 45, 47, 48, 112.
zenshöh gynodiöziſch mit homogamen Zwit—
terblüten, im Oberengadin eingeſtaltig ho—
mogam mit allen Übergängen zur Andro—
monözie und Androdiözie gefunden wurde.“)
Obgleich wir nun über die Urſachen
dieſer Variabilität noch faſt völlig im Dun—
keln ſind und höchſtens einen Teil der an—
geführten Fälle mit einiger Wahrſchein—
lichkeit als direkt von Klima und Nah—
rungszufluß abhängig betrachten dürfen,
von vererbungsfähigen individuellen Ab—
änderungen der Geſchlechterverteilung aber
einen direkten Beweis noch nicht beſitzen,
ſo können wir doch indirekt mit voller Si—
cherheit ſchließen, daß auch derartige erb—
liche individuelle Abänderungen ziemlich
häufig auftreten. Denn in zahlreichen Fäl—
len ſehen wir die Blumen auch in bezug auf
die Befruchtungsart verſchiedenen Lebens—
bedingungen ſich anpaſſen und, wenn die
Reichlichkeit des Inſektenbeſuchs zunimmt,
eine erhöhte Sicherung der Kreuzung, wenn
dagegen der Inſektenbeſuch ſpärlicher wird,
bei offen gehaltener Möglichkeit der Kreu—
zung eine Sicherung der ſpontanen Selbſt—
befruchtung gewinnen.
Gypsophila repens“ blüht z. B. an be⸗
ſonders inſektenreichen ſonnigen Abhängen
ſo ausgeprägt proterandriſch, daß keine
ſpontane Selbſtbefruchtung ſtattfindet; an
weniger günſtigen Standorten befruchtet
ſie ſich einfach dadurch, daß das Aufſpringen
der Antheren etwas früher eintritt, bei
ausbleibendem Inſektenbeſuche regelmäßig
ſelbſt.
Ebenſo iſt Geranium pyrenaicum
„) Die angeführten Beiſpiele zeigen zugleich,
wie notwendig es iſt, bei Beſchreibung und Ab—
bildung ſpezieller Beſtäubungseinrichtungen ir—
gend einer Blume Wohnort und Lebensbedingun—
gen derſelben mit anzugeben.
proterandriſch, in Weſtfalen mit regelmä—
ßig erfolgender, auf den Alpen, wo ihm
gender ſpontaner Selbſtbeſtäubung.
Die ebenfalls proterandriſche Digita-
lis lutea“ verzichtet auf den Vogeſen, wo
ich ſie reichlich von Bombus hortorum be—
ſucht fand, gänzlich auf den Nothbehelf
ſpontaner Selbſtbefruchtung, indem ſie
ihre Narben erſt nach dem Abblühen aller
Staubgefäße entfaltet; auf den Alpen da—
gegen, wenigſtens im Suldenthale, wo ſie
in der Regel von Bombus terrestris ohne
den Entgelt der Kreuzungsvermittlung räu—
beriſch ausgeplündert wird, entwickelt ſie
ihre Narbenpapillen ſchon gleichzeitig mit
dem zweiten Antherenpaare zur Reife und
beſtäubt ſich regelmäßig ſelbſt.
Arabis alpina“ begünſtigt Kreuzung
und erſchwert Selbſtbeſtäubung, indem fie |
jedes längere Staubgefäß nach dem be—
nachbarten kürzeren hinkehrt; in anderen
Fällen aber kehrt ſie die pollenbedeckte
Seite aller Antheren der Narbe zu und
macht ſo ſpontane Selbſtbeſtäubung ſchließ—
lich unausbleiblich.
Lloydia serotina“ beſtäubt ſich auf
dem rauhen Albulupaſſe bei ausbleiben—
dem Inſektenbeſuche regelmäßig ſelbſt; in
dem geſchützten inſektenreicheren Heuthale
dagegen verlängert ſie ihren Griffel, ſo
daß die Antheren von der Narbe überragt
werden und ſpontane Selbſtbeſtäubung
nicht erfolgen kann.
Wir haben in dem hiermit beendeten
Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen.
reichlicherer Inſektenbeſuch zuteil wird, mit
gar nicht oder nur ausnahmsweiſe erfol-
455
Rückblick faſt nur ſolche Beiſpiele von Va—
riabilität der Farbe, der Größe, der Zahl
der Blütenteile, der Stellung und Geſtalt
der Blumen, der Entwicklungsreihenfolge
und Verteilung der Geſchlechter, der An—
paſſung an wechſelnden Inſektenbeſuch zu—
ſammengeſtellt, die mir auf den Alpen
innerhalb der Grenzen derſelben Art be—
gegnet ſind. Um die Bedeutung dieſer
Variabilität in ihrem ganzen Umfange zu
würdigen, müßten wir durch die lange
Reihe der von mir betrachteten Alpenblu—
men hindurch jedesmal von denſelben Ge—
ſichtspunkten aus die Arten derſelben Gat—
tung, die Gattungen derſelben Familie ver—
gleichend ins Auge faſſen, d. h. den weſent—
lichſten Inhalt des Hauptteiles meines
Alpenblumenwerkes an uns vorüberziehen
laſſen, was ich jedem Leſer, der ſich näher
für Blumenkunde intereſſirt, hiermit em—
pfohlen haben möchte. Wer auch nur in
bezug auf eine einzige natürliche Abtei—
lung der Blumen dieſen Vergleich durch—
führt, wird ſich wohl kaum der Überzeu—
gung verſchließen können, daß eine Varia-
bilität, wie wir ſie als thatſächlich noch
beſtehend kennen gelernt haben, die Blu—
men in ausreichendem Grade befähigen
mußte, nicht zu plötzlichen Veränderungen
der Lebensbedingungen ſich immer von
neuem anzupaſſen, ſo ſich immer weiter zu
differenziren und im Laufe ungemeſſener
Zeiträume aus einigen wenigen einfachen
urſprünglichen Blumenformen zu der er—
ſtaunlichen Mannigfaltigkeit zu entwickeln,
die uns heute vorliegt.
— — ——
Erfaſſen und Begreifen.
Eine ſpracchphiloſophiſche Studie
von
Teopold
Während wir unter dem
„Darwinismus“ die na—
türliche Entwicklungsge—
ſchichte der Welt, die in
ihrem Forſchungsmateri—
ale ebenſo unerſchöpflich,
wie ſie ſelbſt unendlich iſt, verſtehen, zeigt
die Bibel, worunter ich zunächſt das „Alte
Teſtament“ verſtanden wiſſen will, aller—
dings im großen und ganzen die gegen—
teilige Anſchauung, da in ihr alles, was
in der Welt geſchieht, von jeher geſchehen
iſt und noch geſchehen wird, nach menſch—
lich künſtlicher, in höherer Übertragung
dieſer Denkweiſe: nach göttlicher Anord—
nung erfolgt und nicht auf dem natür—
lichen Wege, wo alle Weltformen aus
dem Stoffe nach kauſaler Entwicklung her—
vorgehen. Allein durch die Darwiniſtiſche
Entwicklungslehre hat unſere Kenntnis des
Altertums, insbeſondere der bibliſchen
Archäologie, einen neuen Aufſchwung ge—
nommen, und was uns bisher als myſtiſch
an ihr erſchien und nur verworrene und
verſchwommene Ideen in uns erzeugte, das
Einſtein.
bekommt nun allmählich ſinnlich greifbare
Geſtalt. Wie es eine Zeit gab, wo man
noch die verſteinerten Funde der Pflanzen—
und Tierwelt für Naturſpiele erklärte, in
denen ſich der Weltbaumeiſter gefallen,
bis er es nach und nach zu den vervoll—
kommneten lebendigen Typen dieſer an—
organiſchen Bildungen gebracht, alſo iſt
auch bereits die Zeit gekommen, wo man
die bibliſchen Sagengebilde weder mehr
als wirkliche Ereigniſſe, die einſt wort—
wörtlich der heilige Geiſt ſeinen frommen
Erleuchteten in die Feder diktirte, noch
als die märchenhaften Stilübungen eines
Romanſchreibers aus der guten alten Zeit
auffaßt. Aber was ſind ſie denn, wenn
ſie weder das eine noch das andere, weder
Wahrheit noch Dichtung ſein ſollten? Die
Wahrheit liegt auch hier in der Mitte und
erſt die natürliche Entwicklungsgeſchichte
giebt uns hierüber die merkwürdigſten
und intereſſanteſten Aufſchlüſſe. Ich will
mich hier nicht damit beſchäftigen, von
bibliſchen kulturhiſtoriſchen Zeitabſchnitten
zu reden, wie der Naturhiſtoriker von
—
8
paläontologiſchen Schichten ſpricht, wo die.
tieferen Lagen ältere organiſche Gebilde
aufweiſen, als die entwickelteren der höhe—
ren Lagen, ſo wenig ich die Transforma—
tion des urbibliſchen Geiſtes durch Esra
und ſeine Kollegen analog der Trans-
mutation der Naturobjekte infolge zwin—
gender Einwirkungen von außen her bloß—
zulegen beabſichtige; denn ſolche Unter—
ſuchungen würden Bände füllen. Ich will
mich hier nur an die Sprache der Bibel
ſelbſt halten, als dasjenige Organ, wel—
ches uns die Denkweiſe der Hebräer in
der Vorzeit enthüllt und vermittelt. Denn
wie ſelbſt Profeſſor A. Wigand aus
Marburg in ſeinem Werke gegen den
Darwinismus zugeben muß, „iſt ſchon der
Umſtand bedeutungsvoll, daß man an den
Sprachen hiſtoriſch nachweiſen kann, daß
ſie ſich wirklich im Laufe der Zeit verän—
dern und dabeizugleich eine Differenziirung,
eine Spaltung in weitere Verzweigungen
erfahren — mit anderen Worten, daß die
Stämme, Aſte und Zweige des Sprach—
baumes nachweislich als lebendige Spra—
chen wirklich exiſtirt haben“. Ich befinde
mich alſo, wenn ich ſprachlichen Boden
betrete, ſelbſt nach Herrn Wigands An—
ſchauung auf Darwiniſtiſchem Boden, auf
dem Boden der natürlichen Entwicklung;
denn ich weiß, daß oft das gewöhnlichſte
Wort, das unſeren Lippen entfährt, ſeine
hundert⸗, ja tauſendjährige Geſchichte hat,
um mich Darwiniſtiſch auszudrücken: ſeine
Deszendenztheorie, ſeine Selektion und
ſeine Transmutation, ja daß ganze Spra-
chen im Laufe der Zeit erlöſchen, wie die
Völker, mit denen ſie aufgewachſen. Denn
die Sprache iſt eben ſo gut ein im Fluſſe
des allmählichen Wachstums Begriffenes,
welches einmal den Kulminationspunkt
Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen.
457
ſeiner höchſten Blüte erreicht und dann
allmählich wieder abſtirbt, wie alles, was
der natürlichen Entwicklung angehört, dar—
um das univerſelle Weltgebäude eigentlich
kein Gebäude oder Kunſtprodukt iſt, ſon—
dern ein Naturprodukt, daher auch die
alten Weiſen in mythologiſcher Weiſe die
Gottheit als Weltenbaum, welcher
als höchſte Frucht den Menſchen
trage, perſonifizirt haben. Dieſer iſt auch
nach Radenhauſens trefflichem Aus—
ſpruche das Gehirn der Erde, und es
reift — man geſtatte mir die weitere Aus—
malung dieſes Gleichniſſes —in dieſer Ge—
hirnkapſel wiederum der Weltſamen, wel—
cher alle Beſtandteile des Univerſums en
miniature in ſich vereinigt. Auch iſt die—
ſes ein endgiltiger Beweis, daß wie der
Same die erſte Anlage, zugleich aber auch
die letzte Beſtimmung der Frucht, ſomit
das Endreſultat des ganzen Baumes iſt,
ſo auch der Weltſamen im Gehirn des
Menſchen, als der letzten Frucht des Wel—
tenbaumes, wieder nichts anderes enthalten
und hervorbringen könne, als dieſe Welt.
Dieſes Darwinſche Bild iſt uns aber nur
dann verſtändlich, wenn wir uns des Ein—
heitsgedankens in der unzähligen Vielheit
und Mannigfaltigkeit der Weſen bewußt
ſind, wonach das letzte und höchſte Glied
der Schöpfung nur die ontogenetiſche Wie—
derholung und damit die Geſammtſumme
der ganzen phylogenetiſchen Schöpfungs—
reihe iſt, im letzten Grunde ebenſo einfach,
wie die Zahl tauſend nichts anderes be—
zeichnet, als die ſummariſche Verdichtung
aller ihr vorangegangenen Einſe oder Ein—
heiten, ſowie auch das Wort Gott nichts
anderes beſagt, als die Summe aller
Weſenheiten als höchſte Potenz des All—
ſeins. Es iſt ja eben deshalb dieſes Wort
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6.
58
N 458
für den alltäglichen Gebrauch von ſo welt—
erlöſender Bedeutung; denn es umfaßt
das höchſte und das tiefſte, das geheimſte
Wohl und Wehe des Menſchen, die Erlö—
ſung von den Geheimniſſen und Rätſeln
dieſer Welt in einem einzigen Worte
durch das Wort, daher der Apoſtel
Johannes ſeine Offenbarung alſo an—
fängt: „Im Anfang war das Wort, und
das Wort war bei Gott, und Gott war
das Wort. Dasſelbige war im Anfang
bei Gott. Alle Dinge ſind durch dasſel—
bige gemacht, und ohne dasſelbige iſt nichts
gemacht, was gemacht iſt“ ꝛc. Ich hätte
hier allerdings gute Gelegenheit, dieſen
myſteriöſen Satz, in welchem der Apoſtel
das Sprachwunder mit dem Schö—
pfungswunder konfundirt, einer nicht
unintereſſanten Erörterung zu unterziehen;
allein auch das würde mich zu weit von
dem Gegenſtande ablenken, den ich hier zu
bearbeiten gedenke und zu welchem mir
der ſchöne Aufſatz des Herrn Profeſſor
Schultze im Aprilheft dieſer Zeitſchrift:
über „Die Sprache des Kindes“ die
Feder in die Hand gedrückt hat. Derſelbe
ſagt darin S. 27, „daß ſchon frühe im
Kindesleben die Epoche eintritt, wo die
Außenwelt mächtig auf das Kind ein—
ſtürmt, und es dadurch angeregt wird,
auch ſeinerſeits thätig auf die Welt einzu-
wirken, indem es nach den Dingen greift,
ſie fortgeſetzt in die Hand nehmen will,
ſie rüttelt und ſchüttelt, ſie betaſtet, an
Mund und Naſe führt und ſo eine Fülle
neuer Merkmale entdeckt, die ihm das
Sehen allein nicht vermitteln konnte.
Darwinſche Geſetz von der allmählichen
Entwicklung alles Seienden — des Kör—
Der Sehling iſt zum Greifling ge—
worden; erſt wo das Kind mit der Hand
die Dinge erfaßt, begreift, behan—
delt, umgeſtaltet, beginnt ſein eigent—
Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen.
liches Handeln, beginnt ſeine wahrhaft
menſchliche Wirkſamkeit. Aber die
Eindrücke, die nun ſchon durch alle Sinne
einziehen, erregen mächtige Begierden in
dem Kinde, die fernen Dinge winken, lok—
ken, ziehen unwiderſtehlich an — es beginnt
dem Zuge zu folgen, es rutſcht, kriecht,
geht, läuft — es wird Läufling; und
nun erſt gewinnt es aus ſeinem bisherigen,
gewiſſermaßen pflanzlichen Feſtgewurzelt—
ſein die Freiheit, deren es bedarf, um in die
Welt einzudringen und die Welt in ſich
eindringen zu laſſen. Nun aber flutet die
Fülle der gewonnenen Vorſtellungen ſo
gewaltig in ihm, nun wird die Spannung
ſo überſtark, daß der pſychiſche Inhalt ſich
bahn bricht, daß er überſprudelt in der
Sprache, daß das Kind in die Periode des
Sprechlings eintritt, wo nun eine zeit—
lang nichts ſo zauberiſchen Reiz für das
Kind hat, als das Üben und Lernen der
ſchwierigen Kunſt, die mehr als alles an—
dere den Menſchen an den Menſchen bin—
det. Nicht blos muß alſo erſt der ge—
ſammte körperliche Apparat, es muß
auch erſt die Seele bis zu einem hohen
Grade entwickelt ſein, ehe das Kind zu dem
höchſten geiſtgebornen Kunſtwerk, zu der
Sprache gelangen kann.“
Soweit die lebenswahren, weil aus
der unmittelbaren Anſchaulichkeit des kind—
lichen Wachstums hervorgegangenen Worte
des feinfühlenden Pſychologen Dr. Fritz
Schultze, zu deren Illuſtration ich mir
nun erlaube, den Kommentar aus der Ur—
ſprache der Bibel zu liefern, weil die—
ſelbe ganz beſonders dazu geeignet iſt, das
perlichen wie des Geiſtigen, auch in dieſem
göttlichen Buche nachzuweiſen, ohne deſſen
8
zu
Hinterlaſſenſchaft uns von der hebräi-
ſchen Sprache ſicherlich nicht mehr hinter-
blieben wäre, als von ihrer Schweſter, der
phöniziſchen Sprache, deren ganze auf uns
gekommene Literatur nur in wenigen ſpär—
lichen Trümmern beſteht.
Die hebräiſche Sprache hat, wie ſchon
der gelehrte Joſeph Löw eingeſtand,
wenn er gleich Theologe von Profeſſion
war, äußerſt wenig abſtrakte Wörter. Das
ſinnliche Gepräge des hebräiſchen Wort—
materials iſt daher ganz beſonders dazu
geeignet, den rohſinnlichen, materialiſti—
ſchen Begriffsinhalt zu verrathen, aus wel—
chem dieſes oder jenes Wort in der Urzeit,
da es ſich gebildet und Jahrtauſende lang
im Gebrauche geblieben, hervorgegangen
merkt, daß darin nur ganz konkrete
Gegenſtände und Verhältniſſe vorkommen,
Ein ſolches Wörterpaar iſt nun:
jad Hand, und jada Serkennen,
iſt.
wiſſen, begreifen, während jadah — |
namentlich die Wörter mit den Endungen
werfen bedeutet.
Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen.
Jad wie jada gehören augenjchein-
lich zu dem nämlichen Wortſtamme und
jedem Denkenden muß ſich ſofort die Frage
aufdrängen. Wieſo iſt es zu erklären, daß
von dieſen beiden ſich ſo gleichlautenden,
vom nämlichen Stamme herkommenden
Worten jedes eine ſo ganz andere Bedeu—
tung hat, das eine einen Körperteil be—
zeichnend, das andere eine geiſtige Thä—
tigkeit?
Die Antwort hierauf, die Löſung die—
ſes Rätſels finden wir einzig und allein
im Darwinismus, d. h. in dem Zurückgehen
auf den Urzuſtand der Menſchheit, wo ihr
geiſtiges Weſen ſich noch nicht entwickelt
hatte. Und wir haben nicht allein in der
„Sprache der Bibel“, ſondern in ähnlicher
Weiſe auch in den anderen Sprachen, na—
mentlich im Sanskrit, wie ich ſpäter zeigen
will, die Beweiſe, daß die Erhebung des
459
Menſchen zu einem denkenden, geiſtigen,
ſelbſtbewußten Weſen, die Heraufarbei—
tung zu vernünftigem Handeln eine all—
mähliche geweſen iſt, wo immer das eine
aus dem andern, das höhere aus dem nie—
drigeren mit mathematiſcher Nothwendig—
keit hervorgegangen (nicht durch plötz—
liche ſinaitiſche Offenbarungskünſte), und
daß deswegen Ausdrücke, welche ſpäter
zur Bezeichnung der geiſtigen Natur,
des geiſtigen Lebens des Menſchen ge—
braucht wurden, urſprünglich ſich auf
ſeine körperliche bezogen haben. Dieſes
phylogenetiſche Ergebnis ſtimmt genau zu
dem ontogenetiſchen des Herrn Schultze,
wo er von dem Wortſchatz und der Syntax
der Kinderſprache handelt und dabei be—
alſo alle abſtrakten Begriffe fehlen,
„heit und „keit“, unge, „nis e, wo⸗
bei er nicht vergißt, die Philologen und
Pädagogen auf die Wichtigkeit der Erfor—
ſchung des Entwicklungsprozeſſes von der
konkreten zu den abſtrakten Beziehungen
aufmerkſam zu machen. Kennt doch nur
derjenige den ganzen Lauf eines Fluſſes
und fein Gebiet, der ihn von feiner Mün—
dung bis zu ſeinem Urſprung zurückver—
folgt, und ſo iſt es auch mit jedem einzel—
nen Worte. Beginnen wir demgemäß un—
ſere Unterſuchung, und der alte Satz: „Es
iſt nichts in unſerem Geiſte, was nicht
zu vor in unſeren Sinnen geweſen,“ wird
auch hier ſeine Beweiskraft erproben.
Es iſt in der That nicht ſchwer zu begrei=
fen, daß unſere Hände einſt, d. h. im vor—
menſchlichen Affenzuſtande, Füße, unſere
Finger = Zehen (digitus), unſere Ar—
me = Beine waren, da wir uns ſelbſt noch
—
)
460
der Zeit erinnern mögen, wo wir auf allen
Vieren herumgekrochen ſind. Allein indem
ich an dieſe Rückerinnerung gemahne, fällt
es mir bei, daß unſer Gedächtniß mit nich—
ten ſo weit zurück zu reichen vermag. Nur
das kriechende Bild, das wir von unſeren
kleinen Nachkommen noch täglich vor Augen
haben, belehrt uns, daß wir in gleicher
Weiſe unſere erſten Bewegungsfunktionen
ausgeführt haben. Wir wiſſen aber auch
aus dieſen alltäglichen Exempeln, wie un—
gemein ſchwer es dem kleinen Kindchen
wird, welche ungeheuere, anfangs nur allzu
oft verſagende Kraftanſtrengungen es Wo—
chen, ja Monate lang aufwenden muß, um
endlich den tieriſchen, vierbeinigen Zuſtand
zu überwinden und ſich zum „Zweihän—
der“ aufzurichten, welche Haltung ihm be—
kanntlich erſt ſeine eigentlich menſchliche
Geſtalt verleiht. Was in der Geſchichte
des einzelnen Menſchen nach Monaten
zählt, das bedarf in der Stammesgeſchichte
der menſchheitlichen Entwicklung minde—
ſtes ſo vieler Jahrtauſende, und erinnere
ich hier nebenbei an den Vergleich der
Götterjahre zu den Menſchenjahren nach
den Worten des 95. Pſalms: „Tauſend
Jahre ſind vor dir wie ein Tag, der geſtern
vergangen.“ In dieſe Aufrichtungsperiode
des menſchlichen Körpers, die man füglich
die wahre Auferſtehung des Menſchen—
geiſtes nennen kann, fällt eben der Sprach—
und Vernunftbildungsprozeß, und wie die—
ſer zunächſt durch die Dienſte der Hand
gefördert wird, das zu zeigen iſt ja das
Ziel dieſer Abhandlung. Dem Urmenſchen
war nun die Hand das erſte Organ, durch
welches er ſich über das Tier hinaus em—
porſchwang zur höheren Erkenntnis, und
inſofern verdankt er zunächſt dieſer Hand,
als dem Werkzeuge des Handelns, die
Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen.
erſten Antriebe zu menſchlichem Denken
und Handeln und getreulich hat daher
ſeine Sprache Hand und Erkenntnis
in einer Wurzel aufbewahrt. Wenn
Buffon jagt: „Der Stil iſt der Menſch“,
wonach ſein Geiſt an ſeiner Ausdrucks—
weiſe zu erkennen iſt, ſo iſt nicht nur die
Sprache des Mundes — die Zunge —
der Dolmetſcher dieſes Geiſtes, ſondern
ſchon die Geberden der Hand, die heute
noch unſere Rede begleiten und oft mehr
und ſicherer wirken, als alle Worte der
Lautſprache, daher das Wort Manieren
von der Hand — manus, dagegen Geſten
von Geiſt, wie dieſer ſelbſt vom Gäh—
renden oder Giſchtenden. Ja, die
Sprache der Hand iſt die älteſte Sprache
des Naturmenſchen geweſen und Reiſende
verſichern, daß ſie mit dieſer Sprache, den
einfachen Gedankenzeichen der Hand, beſſer
mit den Wilden zurechtkommen, als mit
der künſtlichen Sprache des Mundes.
Dieſes vorausgeſchickt, will ich nun
den innigen Zuſammenhang, den ich zwi—
ſchen dem hebräiſchen Handwort jad und
dem Erkenntniswort jada konſtatirte, auch
zwiſchen jad und dem alten Wurzelwort
man herſtellen. Stammt ja unſer deut—
ſches Wort: Menſch vom Sanskritworte:
manuscha und dieſes ſelbſt wieder von
man, welches Geiſt, denkenden Geiſt, be—
deutet; dasſelbe Wort lautet in der latei—
niſchen Sprache mens; der Menſch iſt alſo
das denkende, das geiſtige Weſen. Aber
dasſelbe alte Sanskritwort man, welches
Denken, Geiſt bedeutet, muß urſprüng—
lich eine Bezeichnung für noch etwas an—
deres, etwas Körperliches, und zwar
für die Hand geweſen ſein; das müſſen
wir daraus ſchließen, daß die lateiniſche
Sprache die Hand manus nennt, was
—
offenbar von demſelben Sanskritworte her-
ſtammt. Damit man mich nicht etwa will—
kürlicher, eigenmächtiger Herleitungen be—
ſchuldige, nehme ich mein hebräiſch-deut—
ſches Wörterbuch von Friedr. Schulz,
zur Hand, alſo einer Zeit, wo man an
Grundſätzen noch nicht dachte. Dieſer lei—
tet ſad von jadah ab, weil die alten Gram—
wurzel herſtammen laſſen, und er giebt ſo—
mit dieſem Worte figürlich bezeichnet wer—
den. Ich will daraus nur hervorheben,
daß damit auch ein Denkmal bezeichnet
wird (eine ausgeſtreckte Hand), und daß
man in der alten Zeit Zeichen in die
rechte Hand oder auf den rechten Arm
brannte von heiligen Städten oder Gott—
heiten (Jeſ. 49, 17; 2. Moſ. 13, 9), wor:
auf ich das Legen der Tephillin (Gebets—
riemen, Phylaktorien) als ſpäteres Er—
ſatzmittel beziehe, indem das Einritzen von
Zeichen (Tätowiren!) in der nachexiliſchen
Zeit verboten wurde (3. Moſ. 19, 28), da
noch Ezechiel vom Stigmatiſiren eines
Thaw, d. i. eines Kreuzes (X), in die
Stirne des Sklaven ſpricht (Ezech. 9, 46);
denn das Kreuz war dem Sonnengott ge—
heiligt, daher nach Einführung des bild—
loſen Monotheismus verpönt, und die
Sklaverei noch in Altisrael heimiſch. Auch
führt dieſer Gewährsmann an, daß im
Buche Samuel die Vorderfüße oder Ta—
tzen des Bären Hände genannt werden,
*) 2. Moſ. 13, 16 findet ſich das Wort
totaphoth, was wohl die hebraiſirte Form des
weiland Profeſſor der Theologie, Super-
intendent, Konſiſtorialrat und erſtem Burg-
prediger in Gießen aus dem Jahre 1796
Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen.
ſprachliche Forſchung nach Darwiniſtiſchen
matiker jedes Nomen von einer Verbal-
461
ganz, der neueren zoologiſchen Nomenkla—
tur gemäß.
Nun gelangt er zur Form hoda —
Hand aufheben oder bekennen, ſodann ja-
dah — werfen oder ausſäen. Wie jodeh
bekennen, fo iſt hithwatha — von ſich
ſelbſt etwas bekennen oder beichten; ſo—
dann thoda nicht nur — Bekenntnis, ſon—
dern insbeſondere — Lob Gottes, Dank—
ſagung und Dankopfer, ſogar äsch dath
— eine lange Feuerſäule (gewöhnlich dath
— Gefeß), und ſicherlich iſt noch der Name
Juda oder Jehuda ein mit der Hand in
| Verbindung ſtehender Wortbegriff; denn
dann alle übertragenen Ausdrücke an, die
weſen, auch im Segen Jakobs es von ihm
da er der Haupt- und Königsſtamm ge—
heißt: „Jehuda, dir huldigen (joducha)
deine Brüder“, ſo iſt das nicht ein bloßes
Wortſpiel, ſondern drückt auch den mit er—
hobener Rechten geleiſteten Huldi—
gungseid aus. So dachte es ſich wenig—
ſtens der Dichter im 1. Moſ. 49, 7, wo
er dem ſterbenden Patriarchen Jakob dieſe
Worte in den Mund legt. Bedenken wir
aber, daß Juda dieſen ſeinen Namen ſchon
längſt hatte, bevor er die Königswürde
erlangte, dann ſind wir genötigt, Jehuda
von hod - Glanz, Schönheit abzulei—
ten, vielleicht vom Sonnengotte aus,
da viele alte Völker nach dieſem ſich nann—
ten. Dann läßt ſich auch der ſpäter dazu
gekommene Begriff der Majeſtät und Herr—
lichkeit mit dem Herrſcherſtabe in der Hand
ꝛc. leicht damit vereinigen.
Alsdann geht er auf die zweite Form
jada über, nämlich: erkennen, wiſſen, wo—
her daath — die Erkenntnis, das Wiſſen,
die Erfahrung; es liegt darin auch der
Begriff des Legens, Niederlegens, Über—
legens, Begreifens, Einſehens, Be—
merkens oder Beobachtens und Billigens;
Tätowirens iſt; vgl. damit 2. Moſ. 13, 9.
*
462
ferner deah — die Meinung; mada —
Wiſſenſchaft; moda — ein Bekannter, Ver⸗
wandter, die Verwandtſchaft; jiddoni =
Weisſager, der aus der Hand die Zeichen
deutet, und ſelbſt madua — warum?
weswegen? von mah deah welch' ein Ge-
danke! Auch wird jada ſelbſt noch von
der Fortpflanzung im höheren, menſch-⸗
hu = was iſt das?
lich-bewußten Sinne gebraucht, wie z. B.
in dem Satze: „Adam erkannte (jada)
oder Begriffen handelnde Menſch, der ſich
letztere nach langen Erfahrungen durch
beſonnenes Nachdenken geſammelt, weiß
allein, um was es ſich eigentlich bei der
Fortpflanzung handelt: um die Verewi—
gung ſeiner Gattung, ſeines Geſchlechtes.
Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen.
auch Maſſe und die Wiederholungszahl
Male; ebenſo iſt manah ein Gewicht wie
mina, wozu auch die Wörter Münze und
Minute zu rechnen ſind; daher manch:
eine Portion, Gabe, von Handſchätzung
und Handgabe hergeleitet. So iſt man
auch Fragepartikel, daher die Israeliten
beim Anblick des Manna fragten: man
Denn man heißt
überhaut: was? bedeutet den fragenden,
ſein Weib.“ Denn erſt der nach Vernunft
Auch das Ausſtrecken (jadah) der Hand,
um die Frucht, welche die Unſterblichkeit
verleiht (den ſamenreichen Granatapfel,
bei den Syrern Symbol der Fruchtbar⸗
keit“) zu pflücken, bringt uns wieder die
Gemeinſchaft von jad und jada in Erinne—
rung, und ſo verbleibt mir noch, den zwei—
ten Begriffskreis, nämlich den des Wortes
man zu erſchöpfen, welches im Hebräiſchen
wie im Arabiſchen als Zeitwort manah ſo
viel wie zu einem Zweck beſtimmen, da—
her auch zählen, berechnen heißt, na—
mentlich von der göttlichen Beſtimmung,
wie z. B. es im Hiob: man. So iſt im
Jeſ. das große Glück — Gad (nach Einigen:
Jupiter, nach Anderen: die Sonne), da—
gegen Meni das kleine Fatum, nach Eini—
genvon: Venus, nach Anderen vom Monde
hergenommen, alſo vom Zählen, weil
die älteſten Völker ihr Zeitmaß nach Mond—
jahren berechneten. So bedeutet monim
) S. darüber meine „Prähiſtoriſchen Ent—
deckungen auf dem Gebiete der hebr. Sprache“
im „Ausland“, Nr. 18 d. J.
bei allem Neuen ſtutzenden Geiſt. Eigent—
lich bezeichnet auch hier man — Gabe,
nämlich die Mondesgabe, da man den
Tau, der in der Nacht fällt, dem Monde
zuſchrieb, und die Bibel meldet, daß das
Manna unter dem Tau lag. Auch mia
— die Art, als unterſchiedliche Unterord—
nung unter den Gattungsbegriff, gehört
hierher. Nehmen wir ſchließlich noch das
unſcheinbar kleine deutſche Wörtchen: man,
welches thatſächlich nichts iſt, als — ähn—
lich einer durch langen Gebrauch abge—
ſchliffenen Münze — das uralte Wort für
Mann, Menſch, manuscha, Denken
und Geiſt bedeutend, urſprünglich aber
— wie aus dem betr. manus noch zu er—
kennen — die Hand, ſo haben wir auch
hier dieſelbe Erſcheinung wie in der hebräi—
ſchen Sprache. Iſt es ja noch heute die
Hand, mit welcher jetzt noch alle auf tie—
ferer Bildungsſtufe ſtehenden Menſchen,
alſo auch alle Kinder ohne Ausnahme
gleich den erſten Menſchen, die Dinge
erſt greifen, angreifen, anfaſſen,
um zu wiſſen, was ſie ſind, d. h. um ſie
zu erkennen. Deswegen hat ſich den
früheſten Menſchen zur Bezeichnung die—
ſes Erkennens kein paſſenderes Wort
dargeboten, als eben das von der Hand,
hebr. jad, abgeleitete, gerade wie noch in
unſerer deutſchen Sprache nicht ſowohl
dasjenige Thun und Arbeiten, was mit
der Hand verrichtet wird, ein Handeln
genannt wird, ſondern vielmehr dasjenige,
wozu wir meiſt gar keine Hand mehr brau-
chen, das Thun unſeres Geiſtes, unſere Wil-
lensäußerungen, unſere Entſchlüſſe, unfere |
Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen.
Thaten. So haben wir uns an eine Menge
ſolcher Wortbildungen gewöhnt, ohne wei—
ter darüber nachzudenken, wie ſie zu dieſer
jetzigen Bedeutung kamen, und genauer
die hebräiſchen, von denen wir zunächſt
geſprochen haben. Wir gebrauchen die
Worte wahrnehmen, vernehmen, er—
faſſen, begreifen ausſchließlich zur
Bezeichnung einer rein geiſtigen Thätigkeit.
Wie kommen aber dieſe Wortbildungen zu
einer ſolchen Bedeutung, Wortbildungen,
in welchen die Worte nehmen, faſſen,
greifen enthalten ſind? Was hat denn
unſer geiſtiges Thun, unſer denken, ver—
ſtehen, erkennen, wiſſen mit dem
nehmen, faſſen und greifen zu
thun? Antwort: Unſer Erkennen und
Wiſſen iſt, wie ſchon bemerkt, in der Ur—
zeit unſeres Geſchlechts nur dadurch zu
ſtande gekommen und kommt teilweiſe
ſelbſt jetzt noch in unſerer Kindheit da—
durch zu ſtande, daß wir eben die Dinge,
die wir noch nicht kennen, in die Hand
—
463
nehmen, um ſie näher zu betrachten,
daß wir ſie anfaſſen, daß wir nach
ihnen greifen und ſie mit der Hand
ergreifen, und daher die Worte wahr—
nehmen, erfaſſen, begreifen. Und
daß dieſe Erklärung durchaus keine will—
kürliche, ſondern im natürlichen, ge—
ſchichtlichen Entwicklungsgang
thatſächlich begründet iſt, dafür zeugt
ſchließlich noch, daß ſogar die Bezeichnung
betrachtet beweiſen ſie uns dasſelbe, wie
des ganzen Menſchen als dieſes kör—
perlich-geiſtigen Weſens in den ver—
ſchiedenſten Sprachen heute noch ganz
dasſelbe erkennen läßt. Schon ein Blick
auf alle die wichtigen Verrichtungen der
Hand, von den roheſten Anfängen der
Waffen- und Geräteverfertigung
bis zu den ſinnreichſten Produktio—
nen der höchſten kunſtgewerblichen Kultur,
macht uns ja ſo recht die Darwiniſtiſche
Lehre von der allmählichen Entwicklung
und Vervollkommnung des Menſchen—
geiſtes klar und wir können, geſtützt auf
dieſe Wahrnehmungen, getroſt den Satz
als kulturhiſtoriſche Wahrheit aufſtellen,
daß mit der Hand die Arbeit, mit der
Arbeit die Kultur begonnen und daß nur
durch dieſe Kultur der vorweltliche
Affenmenſch zum Menſchen über-
haupt geworden iſt.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Die Nolle des Meeres bei dem großen
Abkühlungsprogelfe der Erde.
n der Sitzung der Pariſer Akademie
der Wiſſenſchaften vom 24. Mai die—
ſes Jahres legte der Aſtronom Faye
eine geiſtvolle Arbeit über die ſäkularen
Variationen der mathematiſchen Geſtalt
der Erde vor. Er erinnert darin zunächſt
daran, daß die Richtung des Pendels durch
die Nachbarſchaft eines Berges oder ſelbſt
eines einfachen Hügels abgelenkt wird.
Auf dieſe Weiſe hat bekanntlich Maske—
lyne aus der Anziehung des Berges She—
Hochplateaux handelt, um Gebirgs-Maſ—
ſive von beträchtlicher Ausdehnung, dann
iſt der Phyſiker überraſcht — und feine |
Überraſchung währt ſeit hundert Jahren —,
keine dieſen ungeheuren Maſſen entſpre—
chenden Ablenkungen zu finden. Daher
ſtammt die ſehr verbreitete, wohl etwas
naive Meinung, daß dieſe Gebirgs-Maſ—
ſive weite Höhlungen bedecken, deren leerer
Raum den Überſchuß der Maſſe, die man
über das Meeresniveau hervorragen ſieht,
kompenſiren.
Die Beobachtung der Schwingungs—
|
dauer des Pendels führt zu einem ana—
logen, aber noch mehr verwirrenden Re—
ſultate. Bouguer und Poiſſon haben
die Korrektion gegeben, welche man von
der beobachteten Schwere abziehen muß,
um der Anziehung des Kontinents, auf
welchem man operirt, Rechnung zu tragen.
Aber man hat bemerkt, daß dieſe Korrek—
tur nur den Mangel an Übereinſtimmung
der Maße vermehrte. Es kann in dieſer
Hinſicht nichts Frappanteres geben, als
die letzten Beobachtungen der Engländer
in Indien. In dieſer langen Folge von
Meſſungen, die bis in das Innere des
hallien in Schottland die Dichtigkeit der
Erdkugel berechnet. Aber wenn es ſich um
Gebirgsſtocks des Himalaya vordrangen,
ergab ſich nicht das geringſte Anzeichen
von dem Vorhandenſein dieſes Maſſives,
während man mit demſelben Inſtrument
eine Anziehungsdifferenz zwiſchen Fuß und
Gipfel einer der egyptiſchen Pyramiden
finden würde. Aber damit noch nicht ge—
nug: an Stelle des Überſchuſſes von An—
ziehung, deſſen man ſich auf den Konti—
nenten verſah, fand ſich ein Mangel an
Anziehung zu konſtatiren, als wenn eine
ungeheure Höhle nicht allein unter den
Gebirgs-Maſſiven, ſondern unter einem
ganzen Kontinente und zwar unter jedem
Kontinente ſich erſtrecke.
U
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Noch eine größere Sonderbarkeit trat
dabei zu Tage. Man hat mit dem Pen—
del überall, auf dem Kontinente, an den
Küften, auf dem hohen Meere, auf Inſeln
und Korallenbänken experimentirt. Aber
wenn man anfing, die Ergebniſſe dieſer
Expeditionen zu vereinigen und zu ver—
gleichen, wenn man ſie nach der Formel
von Clair aut berechnete, ſo hat man ge—
Kontinenten zu gering iſt — trotz des Über—
ſchuſſes der Materie, die dort über das Ni-
veau des Meeres emporſteigt — die Schwer—
kraft über den Meeren im Gegenteil ſtets
zu groß iſt, und zwar um ſo viel, daß ein
augenſcheinliches Defizit hervortritt. Mit
Ausnahme von zweien wurden ſämmtliche:
zu ſtarke Anziehungen auf offenem Meere
beobachtet; mit Ausnahme von einer, alle
zu ſchwachen auf den Kontinenten.
Es reicht ſomit nicht aus, mit den Geo—
däten anzunehmen, daß es unter den Kon—
tinenten Höhlungen giebt, man müßte mit
noch ſtärkeren Gründen behaupten, daß es
im offenen Meere und unter jeder Inſel Ma— |
terien von einer beträchtlichen Dichte gäbe. |
Das Schweigen der Entmutigung hat ſich
nach und nach hinſichtlich dieſes erſtaun—
lichen Widerſpruchs fühlbar gemacht, und
die Verwirrung der Geiſter hat nicht we—
nig dazu beigetragen, den Aufſchwung der
wiſſenſchaftlichen Unternehmungen unſerer
Marine zurückzuhalten. Aber ſo oft man
in andern Ländern dieſe Schwerkraftmeſ—
ſungen wieder aufgenommen hat, iſt jedes—
mal derſelbe Widerſpruch wieder erſchienen.
Er ſtellt ſich augenſcheinlich mit befonderer
Kraft bei Gelegenheit der letzten indiſchen
Meſſungen der Engländer dar: dem Hi
de der Meere trifft man bei 4000 Meter
Tiefe eine ſehr niedrige Temperatur von
malaya zum Trotze ergaben alle Anziehun—
gen in Engliſch-Indien negative Ergebniſſe.
ki
465
Schon ſeit lange ift dieſe Unwirkſam—
keit des Himalaya, welche uns heute auf
doppelte Weiſe ſo frappant erſcheint, be—
kannt. Sie wurde zum erſten Male durch
den Erzbiſchof Pratt von Kalkutta in ei—
ner Abhandlung hervorgehoben, die in Eng—
land viel Aufſehen erregte. Der könig—
liche Aſtronom Sir G. Airy verſuchte da—
| mals ſelbſt eine Erklärung zu geben. Er
funden, daß, wenn die Schwerkraft auf den
nimmt an, daß dieſes Maſſiv, von ungefähr
gleicher Dichtigkeit mit den Oberflächen—
ſchichten der Erde, infolge ſeines Gewichtes
mit ſeiner Grundfläche in die noch flüſſi—
gen Schichten des Erdinnern tauche, de—
ren Dichtigkeit größer iſt, ſo daß dadurch
der Überſchuß ſeiner Anziehungskraft in
der Höhe durch den Mangel der Anzie—
hung der unten verdrängten Flüſſigkeit
ausgeglichen wird. Aber dieſe geiſtvolle
Schlußfolge würde ſich nicht den auf off—
nem Meer beobachteten, in umgekehrtem
Sinne ſprechenden Pendel-Erſcheinungen
anpaſſen. Pratt ſchließt daraus einzig,
ohne damit ein phyſiſche Urſache bezeichnen
zu wollen, daß die Dinge ſich ſo verhalten,
als wenn es unter den Kontinenten einen
Mangel und unter den Meeren einen Über—
ſchuß von Materie gäbe, ſo daß jede bis
zum Mittelpunkt der Erde fortgeſetzte Ver—
tikalſäule in jeder Region dieſelbe anzie—
hende Kraft auf einem Punkte der Ober—
fläche beſäßen.
Damit iſt nur die Frage geſtellt, aber
keine Löſung gegeben.
Dieſe Löſung, meint Faye, könnte
wohl im folgenden liegen. Unter den
Meeren ſchreitet die Erkaltung der
Erdkugel ſchneller und tiefer fort,
als unterden Kontinenten. Im Grun—
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6.
59
466
1° — 1,5 an. Beidiefer ſelben Tiefe würde
man unter einem Kontinente 1604 =
149° antreffen. So ftellt die feſte Ober—
fläche der Erde ſich unter den beiden nach—
folgend erörterten Bedingungen ſehr un—
ähnlich dar. Unter einem Kontinente wird
die Oberfläche eines 4 Kilometer tief lie-
genden Niveaus durch eine darüber lie—
gende, für die Wärme beinahe undurch—
dringliche Schicht auf 149° erhalten; wenn |
überhaupt ein Wärmeſtrom hindurchdringt,
ſo iſt er beinahe unmerklich und kann nur
zu einer Erkaltung um einen kleinen Bruch—
teil eines Grades beitragen. Dort ver—
mehrt ſich die Erdkruſte in der Folge der
Zeitalter kaum an Dicke. Unter dem Meere
dagegen iſt die in derſelben Tiefe belegene
Oberfläche in beinahe unmittelbarer Wech—
ſelwirkung mit der Kälte des Raumes,
die ſich auf 10 anſtatt der 150° beziffert,
und anſtatt über ſich eine der Wärme un—
durchdringliche Schicht von 4 Kilometern
zu haben, hat ſie eine Waſſerſchicht über
ſich, die ſicherlich ſehr wenig leitend iſt,
in welcher aber der geringſte Wärmezufluß
unmittelbar durch die Polarſtrömungen
abſorbirt wird. Derſelbe Unterſchied fin—
det ſich noch tiefer wieder, denn die Durch—
tränkung der Schichten, auf denen das Meer
ruht, dringt ſehr viel tiefer, als die unter
den Kontinenten; daher eine fernere ra—
pidere Abkühlung nicht durch Leitung,
ſondern durch vertikales Aufſteigen des er—
hitzten Waſſers in poröſen Schichten. Von
einer je älteren Epoche die gegenwärtigen
Meeresbecken datiren, um ſo dicker wird
die Kruſte ſein, auf welcher ſie ruhen, im
Verhältnis zu derjenigen der Kontinente.
Schließlich werden die poröſen Subſtanzen,
welche Waſſerdampf in mehr oder weniger
diſſoziirtem Zuſtande enthalten, unter den
e 9
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Kontinenten näher an der Oberfläche
liegen, als unter den Meeren. (Revue
scientifique. Juin 1880. No. 49.)
Aber den Einfluß der Bewegung
und anderer phyſikaliſchen Verhäll—
niſſe des Waffers auf die Formen der
Vaſſerpflanzen
hat Dr. W. Behrens in Braunſchweig in
dem letzten Jahresberichte der Naturwiſ—
ſenſchaftlichen Geſellſchaft zu Elberfeld
einen vorläufigen Bericht, dem ſpeziellere
Unterſuchungen folgen ſollen, veröffent—
licht, aus dem wir das Nachſtehende
größtenteils wörtlich entnehmen:
„Es iſt eine ſehr merkwürdige That—
ſache, daß ſolche Pflanzen, die untergetaucht
im Waſſer oder auf der Oberfläche desſel—
ben leben, je nach der ſtärkeren oder ge—
ringeren Bewegung des flüſſigen Elemen—
tes eine verſchiedenartige Geſtalt des Sten—
gels, der Blätter und anderer Organe an—
nehmen. Die Pflanze, welche in einem
fließenden Gewäſſer wächſt, ſo zwar,
daß ſie auf dem Grunde desſelben feſtge—
wurzelt iſt, wird durch die bewegende Kraft
des Waſſers einen Druck, reſpektive einen
Zug zu erleiden haben, welcher der Kraft
der ſich fortbewegenden Flüſſigkeit gerade—
zu proportional iſt. Bietet nun eine Pflan—
zenart, welche zugleich in ſtehenden, in
langſam undin ſchnell fließenden Ge—
wäſſern wächſt, gewiſſe Abweichungen, die
aber für jede Art von Gewäſſern konſtant
ſind, fo liegt es auf der Hand, daß dieſe
durch die kinetiſchen Einflüſſe des Waſſers
hervorgerufen wurden.
Pflanzen, welche nur in einer Art von
Gewäſſern angetroffen werden, können
—
ſelbſtverſtändlich äquivalente Variationen
ihr verhält ſich der Querdurchmeſſer des
nicht aufzuweiſen haben. So unſer einhei—
miſcher Froſchbiß, Hydrocharis Morsus
ranae. Das ſchöne Pflänzchen wird nur
auf der Oberfläche ſtehender Gewäſſer
(Gräben, Teiche) ſchwimmend angetroffen;
ſeine Blätter ſind ſtets breit-nierenförmig,
nie anders geſtaltet. Ebenſo verhält ſich
der ſüdamerikaniſche Vertreter der Hydro—
charideen, Trianea bogotensis, welche ihre
glänzenden, ei-nierenförmigen Blätter nur
auf unbewegten Waſſerflächen ausbreitet.
Sehr mannigfach aber iſt im Gegenſatze
hierzu die Variabilität der Blätter des
Laichkrautes, Potamogeton natans, das
ſowohl in ſtehenden wie in fließenden Ge—
wäſſern angetroffen wird. Unſere gewöhn—
liche Form der Teiche, P. natans vulga-
ris“), hat ſchwimmende, ovale Blätter,
deren Querdurchmeſſer ſich zum Längen—
durchmeſſer verhält wie 1 zu 1,5. Ganz
anders iſt die Blattgeſtalt im fließenden
Waſſer; ſie wird deſto ſchmäler und län—
ger, je ſtärker der Strom iſt“ ); in reißend
ſtrömenden Waſſergräben wird ſie ſchmal
lanzettlich. So findet ſich beiſpielsweiſe
an derartigen Lokalitäten auf der Inſel
Borkum eine Form, die dem Schraderſchen
) Mertens und Koch, Deutſchlands
Flora. Bd. I. S. 857. — Koch et Ziz,
Catalogus plantar. Palat., p. 18 (P. natans
L. et auct.).
) Mertens und Koch führen (a. a. O.,
S. 837 840) eine ganze Reihe ſolcher Varie—
täten und Untervarietäten der Pflanzen auf und
geſtehen ſchließlich, daß es gar nicht möglich ſei,
ſie alle zu beſchreiben: „Man könnte leicht noch
mehrere, weniger auffallende Abarten aufſtellen;
wir halten aber eine ſolche Vermehrung unbe—
deutender Abarten für eine Bürde der Wiſſen—
ſchaft, denn es findet niemand mit Sicher—
heit wieder, was man gemeint hat“ (a. a. O.,
S. 840).
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ä
467
Potamogeton serotinus“) entſpricht; bei
Blattes zum Längendurchmeſſer wie 1 zu 3.
Pflanzen, welche ſich in hohem Grade
für die Unterſuchung über den Einfluß
des Waſſers auf die Ausbildung der
Phyllome eignen, ſind die Waſſerranunkeln
(Batrachium).“ ) Denn einesteils kom—
men manche Arten derſelben in allen Sor—
ten von Gewäſſern vor und andernteils
beſitzen ſie zwei Arten von Blättern (we—
nigſtens in der Mehrzahl der Fälle), näm—
lich ſchildförmige ſchwimmende und borſt—
lich-vielſpaltige, zerſchlitzte untergetauchte.
Auch ſind ſie nicht exkluſiv an das Süß—
waſſer gebunden, ſondern ſie finden ſich
ſogar, wenn auch vereinzelter, in den
Brackwaſſern der Küſte, wo ihr dichtes
Blättergewirr häufig von dem muntern
Volke der Granatkrebſe (Crangon und
Hippolyte) bewohnt wird. Endlich trotzen
ſie ſelbſt dem Austrocknen des Waſſers mit
Erfolg; ſie laſſen ſich daher in verſchie—
denartigſten Umgebungen und unter den
heterogenſten äußeren Einflüſſen ſtudiren.
Wenn zunächſt das in hochgelegenen
Schweizerſeen ſich findende zierliche Ba—
trachium Rionii Lagger sp., welches ich
*) Koch, Taſchenbuch der deutſchen Flora,
S. 479.
*) Schon Erasmus Darwin (The
Temple of Nature, p. 30) und Lamarck hat⸗
ten die Waſſerranunkeln in dieſer Richtung ſtu—
dirt. Der letztere ſagte darüber in ſeiner Philo—
ſophie der Zoologie (deutſche Ausgabe von A.
Lang, S. 118): So lange der Ranunculus
aquaticus ins Waſſer eingetaucht iſt, ſo ſind
ſeine Blätter ganz fein ausgeſchnitten mit haar—
förmigen Ausſchnitten; erreichen aber die Sten—
gel dieſer Pflanze die Oberfläche des Waſſers,
ſo werden die Blätter, die ſich in der Luft ent—
wickeln, verbreitert, abgerundet und einfach ge—
lappt. Wenn es einigen Schößlingen derſelben
4
468 Kleinere Mitteilungen
nur ſehr flüchtig unterſuchen konnte, aus-
geſchloſſen wird, ſo dürften ſich die zentral-
europäiſchen Arten von Batrachium wohl
auf folgende vier Formenreihen reduziren
laſſen:
1) Batrachium hederaceum E. Meyer,
2) Batrachium aquatile E. Meyer,
3) Batrachium divaricatum Wimmer,
4) Batrachium fluitans Wimmer.
Batrachium hederaceum, weniger
eine Waſſerpflanze als vielmehr eine
Sumpfpflanze, iſt eine ſehr typiſche Er—
ſcheinung; durch die eine Form flächen—
artiger, nierenförmiger, etwas eingelapp—
ſcharf umgrenzt.“)
Batrachium aquatile, eine Pflanze,
welche bereits Dioskorides bekannt war
und von ihm Bargayıov (de m. m. 2,206)
und Journalſchau.
Batrachium divaricatum, die nur in
Teichen und anderen ſtillſtehenden Ge—
wäſſern vorkommt, variirt daher bezüg—
lich der Blattgeſtalt kaum. Alle Blätter
ſind ſubmers, fein geſchlitzt, die Zipfel
ſtarr und rund um den Stengel verteilt,
ſo daß ſie in eine faſt kreisförmige Fläche
ausgebreitet ſind. Dadurch erhält die
Pflanze den ihr eigentümlichen Habitus,
der ſie ſofort von dem ſonſt ähnlichen B.
aquatile unterſcheidet. Ob ſie auch mit
ſchwimmenden, flächenförmigen Blättern
vorkommt, weiß ich nicht; ich habe nie
| ſolche angetroffen, auch in den Floren
ter Blätter, durch die kleinen Blüten, durch
den eigentümlichen Wuchs iſt dieſe Art
genannt wurde, bietet uns ein wahres
Chaos von „Varietäten“. Es iſt eine von
den Arten, die Linné als ſchlechte be—
zeichnet haben würde, die aber heutzutage,
wo man das Dogma von der Artkonſtanz
aufgegeben, als gute angeſehen werden
müſſen, inſofern als ſie zu denen gehören,
die eine Inkonſtanz ad oculus demon-
ſtriren. Sie ſoll unten noch genauer be—
ſprochen werden.
Pflanze gelingt, im feuchten, aber nicht unter
Waſſer ſtehenden Boden zu treiben, ſo ſind ihre
Stengel kurz und ihre Blätter nicht in haar—
förmige Ausſchnitte geteilt, wodurch der Ra—
nunculus hederaceus entſteht, welchen die Bo-
taniker als eine beſondere Art betrachten.
) Meines Wiſſens hat nur Spenner
(Koch, a. a. O., Bd. IV, S. 148) einſt ver⸗
ſucht, die Pflanze mit B. aquatile (im Sinne
Kochs) als Ranunculus Hydrocharis zu ver—
einigen. Übrigens ſoll, laut De Candolle
(Systema naturale, Vol. I, p. 234) B. tri-
keine diesbezüglichen Bemerkungen ge—
funden.
Batrachium fluitans iſt die robuſteſte
Form der kosmopolitiſchen“) Gattung.
Sie findet ſich in ſchnellfließenden Bächen
und Strömen, ſelbſt in größeren (3. B.
der Weſer). Schon De Candolle war
es bekannt, daß die Länge ihres ſubmerſen
Blattzipfels auf den Einfluß des ſtrömen—
den Waſſers zurückzuführen ſei, indem er
ſagt: „Foliorum laciniae aquarum motu
elongantur et parallelae flunt.“ *) In
kleineren Flüſſen, z. B. in der Ocker unter—
halb des Harzes, nehmen jedoch die Blatt—
zipfel bisweilen auch eine ſpreitenförmige
Beſchaffenheit an, welches Verhältnis
zogen), eine franzöſiſche Form, den Übergang zu
B. aquatile vermitteln. De Candolle, I. c.:
„Species omnino media inter Ranunculum
hederaceum et aquatilem.“
) Die Gattung Batrachium iſt durch die
gemäßigten Zonen beider Halbkugeln verbreitet.
Bevölkert doch das zwergige B. biternatum Sn.
die Waſſerläufe, welche ſich in die Magelhaeni—
ſche Meerenge ergießen. Das Vaterland von B.
fluitans und B. aquatile iſt Europa, Zentral
aſien und das gemäßigte Nordamerika.
partitum DC. sp. (jetzt zu B. aquatile ge-
**) De Candolle, 1. c. p. 236.
Ba
*
.
wahrſcheinlich Garcke“) im Auge hat,
wenn er ſagt, daß B. fluitans bisweilen
mit ſchwimmenden Blättern abändere.
Auch dieſe Art iſt „durch ſo auffallende
und ſtandhafte Kennzeichen von den ver—
wandten Arten geſchieden, daß man auch
nicht einen Augenblick an ihrer ſpezifiſchen
Verſchiedenheit zweifeln darf; im Freien
wird ſie auch niemand mit den beiden
vorhergehenden verwechſeln“, wie Koch“)
bemerkt.
Kehren wir jedoch, nachdem wir die
Hauptformen von Batrachium kennen
lernten, zu dem polymorphen B. aquatile
zurück. Die Pflanze kommt zunächſt be—
treffs der Beblätterung in zwei Grund—
formen, nämlich mit ſchwimmenden, flächen—
förmigen und untergetauchten, borſtlichen
Blättern, zweitens nur mit untergetauchten
borſtlichen Blättern vor. Die erſte Form
mit zwei Blattſorten mag die ungleich—
blättrige, B. heterophyllum, die letzte die
haarförmige, B. trichophyllum, heißen.
B. aquatile heterophyllum findet ſich
vorzüglich in langſam fließenden Gräben,
Bächen, in wenig bewegten Armen kleiner
Flüſſe. Iſt das Waſſer nur ſehr langſam
bewegt, ſo ſind die ſchwimmenden Blätter
faſt kreisrund und ſchildförmig, es finden ſich
an dem Rande nur fünf ganz ſchwache Ein—
kerbungen; dieſe Form müßte B. aquatile
heterophyllum peltatum genannt werden.
In ſchneller fließenden Wäſſern geht
dieſe Form allmählich in eine Reihe von
Variationen über, welche alle durch die
abweichende Geſtalt der ſchwimmenden
Blätter charakteriſirt ſind: je ſchneller
) Garde, Flora von Nord- und Mittel-
deutſchland, 1871, S. 9.
) Koch, Deutſchlands Flora, Bd. IV,
S. 153.
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
469
nämlich das Waſſer, in welchem ſie wach—
ſen, fließt, eine deſto ſtärkere Teilung,
Lappen- und Zipfelbildung tritt an den
in Rede ſtehenden Organen auf. Ich habe
bis jetzt etwa dreißig ſolcher Abweichungen
aufgefunden: hier mögen nur einige der—
ſelben aufgezählt werden. Hinzugefügt
werden mag noch, daß mir die reichſte
Ausbeute diejenigen künſtlichen Waſſer—
ſtraßen lieferten, welche unter der Bezeich—
nung Siel (holländiſch zijl) die weidereichen
Marſchgegenden Oſtfrieslands durchziehen,
um ſchließlich in das Meer abzufließen.
In etwas ſchneller fließenden Gewäſ—
ſern werden die Blätter allmählich fünf—
lappig; die Lappen ſind größer oder klei—
ner, ganzrandig oder mit wenigen Ein—
kerbungen verſehen, ihr Geſammtumriß iſt
nierenförmig. Zwiſchen voriger und dieſer
Form finden ſich zahlreiche Übergänge.
Sie müßte den Namen B. aquatile hetero-
phyllum quinquelobatum führen.
An ſie ſchließt ſich die Form B. aqua-
tile heterophyllum tripartitum. Die bei—
den Baſallappen der ſchwimmenden Blät—
ter ſind vollſtändig geſchwunden, die drei
anderen keilförmig, ihrerſeits ſtark gekerbt,
ſo daß die Kerben oft kurze Zipfel bilden.
Das ganze Blatt iſt kleiner als bei den vori-
gen, zumal die zu unterſt am Stengel be—
findlichen; ſie ſind den benachbarten borſt—
lichen bezüglich der Form ſchon in gewiſ—
ſem Grade ähnlich. Dieſe Form findet ſich
in ziemlich ſchnell fließenden Gräben.
Ein noch weiterer Schritt zur Um—
wandlung der flächenförmigen Blätter in
borſtliche findet ſich bei einer Form an
ähnlichen Lokalitäten, die ich in Oſtfries—
land und bei Braunſchweig angetroffen
habe und von der ich nicht weiß, ob ſie
| ſchon beſchrieben iſt. Die ſchwimmenden
470
Blätter find in der Jugend dreiteilig und
beſitzen einen tief gekerbten Rand. Beim
ſpäteren Auswachſen ſtrecken ſich die durch
die Kerbung gebildeten Zipfel ſehr in die
Länge, werden einander parallel und äh—
neln dann den Borſtenzipfeln der unterge—
tauchten Blätter ungemein. Sie ſind je—
doch an ihrer Baſis durch eine faſt kreis—
runde Fläche grünen Blattparenchyms mit
einander vereinigt und unterſcheiden ſich
auch durch die Form des Blattſtieles von
den wirklich borſtlichen Blättern. Dieſe
Varietät mag „B. aquatile heterophyl-
lum laciniatum“ heißen.
Schließlich ſchwinden im ſehr ſtark be—
wegten Waſſer auch dieſe Andeutungen
flächiger Blätter und es reſultirt dann die
bekannte Pflanze mit nur einer Sorte unter—
getauchter, borſtlicher Blätter: B. tricho-
phyllum.
Eine äußerſt merkwürdige Varietät
des B. aquatile entſteht jedoch ſowohl aus
der gleichblättrigen wie aus der verſchie—
denblättrigen, wenn im Frühjahr das
Waſſer des Grabens oder der Sumpf—
lache, in welcher das junge Batrachium—
pflänzchen keimte, allmählich austrocknete;
die Waſſerpflanze wird nämlich in dieſem
Falle zum Landgewächs. Der Stengel
richtet ſich auf, bleibt aber kurz; er bedeckt
ſich dicht mit Blättern, welche eine ſchöne
laubgrüne Farbe beſitzen und ſämmtlich
in ſehr viele fädliche, aber etwas dicke und
ſtarre, kurze und ſaftige Zipfel geteilt ſind.
Hierdurch entſteht dann die von den Sy—
ſtematikern als Batrachium succulen-
tum“) (Ranunculus pantothrix #**) be-
ſchriebene Form, die wohl immer als zu
) Vergl. Mertens und Koch, a. a. O.,
Bd. IV, S. 151.
) De Candolle, 1. e., T. I, p. 234.
7
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
B. aquatile gehörend erkannt wurde. Sie
würde alſo B. aquatile succulentum ge—
nannt werden müſſen.
Dieſes ſind einige der vielen Varie—
täten, welche durch das umgebende Me—
dium an den Pflanzen erzeugt werden.
Alle genannten, im Waſſer lebenden Va—
rietäten können aber noch unabhängig von
der Blattform bezüglich der Beſchaffenheit
ihrer Blätter variiren, eine Eigentümlich—
keit, die mit der Ausbildung der die unter—
getauchten Blätter durchziehenden Fibro—
vaſalſtränge in Verbindung gebracht wer—
den muß. Hebt man nämlich eine unter—
getauchte Pflanze von B. aquatile aus
dem Waſſer heraus, ſo fallen in einem
Falle die Blätter ſchlaff zuſammen, indem
ſie etwa die Geſtalt eines Pinſels anneh—
men, während ſie andernfalls ſtarr aus—
gebreitet bleiben, ihre Borſtenzipfel (wie
im Waſſer) nach allen Richtungen gerade
ausſtreckend. Die erſte Form wollen wir
als die ſchlaffe (laxa), die zweite als die
ſtarre (rigida) unterſcheiden. Endlich va—
riiren alle bis jetzt genannten Formen von
B. aquatile in der Blütengröße: die Blü—
tenblätter ſind entweder groß, während ſich
an Staubgefäßen etwa 30 vorfinden (ma—
cranthum), oder die Kronblätter find klein
und die Anzahl der Staubgefäße beträgt
5—15 (mieranthum).*)
Zur bequemeren Überficht mag die
folgende Tabelle alle hier beſprochenen
Hauptformen von B. aquatile zuſammen⸗
faſſen. a
A. Formen des ſchnellfließenden Waſſers:
Batrachium aquatile trichophyllum.
1) B. aq. tr. laxum macranthum,
) Dieſe Variation wurde von Tauſch
als Ranunculus paueistamineus, von Chair
als R. trichophyllus bezeichnet.
ER
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
2) B. aq. tr. laxum micranthum,
3) - - - rigidum macranthum,
4)- - - -
B. Formen des langſamer fließenden,
reſp. ſtehenden Waſſers:
Batrachium aquatile heterophyllum.
micranthum.
5) B. ag. het. lax. lacin. macr.,
GN mien,
RRrrigid. maer.,
R micr,,
9)- - «ex. tripart. macr,,
RR - micr.,
rigid. mar,
D RR re — mier.,
13) - - lax. 5 lobat. maer.,
14)- - - - - micr.,
15) rigid. macr.,
GO E - mier.,
17) - lex. peltat. macr.,
I mien,
19)- - rigid. macr.,
2 „ - mier.
C. Landformen:
Batrachium aquatile succulentum.
21) B. aq. suc. macranthum,
22)- - micranthum.
Wie bemerkt, ſoll die vorſtehende Ta—
belle nichts vollſtändiges bieten. Mit Abſicht
wurden ganze Formengruppen fortgelaſ—
fen; fo kann man z. B. bei dem verſchieden—
blättrigen dreiteiligen und fünflappigen
B. aquatile eine geſpitzte und eine trun-
kate Form unterſcheiden, je nachdem die
beſprochenen Blattzipfel zugeſpitzt oder
abgeſtutzt ſind ꝛc. Ferner betrifft unſere
ganze Auseinanderſetzung nur die Süß—
waſſerformen vom Waſſerhahnenfuß; die
Brackwaſſerformen, zu denen ich auch B.
Baudotii Godr. sp. und B. confusum
Godr. sp. rechne, find zunächſt ausge:
ſchloſſen, da meine Unterſuchungsreihe
471
über dieſelben noch bei weitem nicht voll—
ſtändig iſt.
Soviel zunächſt über die Batrachien.
Möge dieſe kurze Zuſammenſtellung an—
geſehen werden als ein allgemein gehalte—
ner Vorläufer für eine ſpäter zu publi—
zirende Abhandlung, in welcher die ana—
tomiſchen Ergebniſſe niedergelegt werden
ſollen, die ſich an dieſem Orte ohne Ab—
bildungen nicht klar machen ließen.
Für die hartnäckigen Skeptiker, welche
mit wahrem Eigenſinn die Konſtanz der
Arten verteidigen, ſind ſolche Auseinander—
ſetzungen vor allem lehrreich. Das ein—
gehende Studium einer Art mit allen ih—
ren Varietäten, Untervarietäten, Formen,
ſelbſt individuellen Verſchiedenheiten kann
eben ſehr intereſſant und von Belang für
biologiſche Fragen werden; freilich nur
dann, wenn man beſtrebt iſt, die Urſachen,
die Kauſalitätsbedingungen, welche jenen
Abweichungen zugrunde liegen, eingehend
und vorurteilsfrei zu würdigen. Hingegen
das Unterſuchen und Beſchreiben poly—
morpher Pflanzenarten, wie Rubus, Scle-
ranthus, Hieracium, Salix und anderer,
nur um ihrer ſelbſt willen und mit der
Tendenz, ſie in möglichſt viele ſelbſtändige,
geſonderte Arten zu zerſpalten, das über—
laſſen wir getroſt ſolchen — welche nichts
beſſeres zu thun haben.
Eine Süß waſſermeduſe.“)
Wenn man auch mitunter in Fluß⸗
mündungen mit brackiſchem Waſſer ver—
) Dieſer Artikel giebt einen Auszug aus
einer Reihe von Artikeln, die in den Juni- und
Julinummern der engliſchen Zeitſchriften Nature
(Jr. 555 558) und Popular Seience-Review
erſchienen ſind.
)
472
irrte Meduſen beobachtet hat, ſo war doch
bisher keine im ſüßen Waſſer lebende Me—
duſe bekannt. Um ſo mehr mußte es den
Sekretär der Londoner Botaniſchen Geſell—
ſchaft, Sowerby, in Erſtaunen verſetzen,
als er am 10. Juni dieſes Jahres in dem
Becken des Victoria regia-Haufes im
Regent-Park Maſſen von meduſenartigen
Tieren wahrnahm, von denen er alsbald
den ausgezeichneten Kennern niederer Or—
ganismen, Prof. Geo. J. Allmann und
Prof. Ray Lankeſter, Exemplare zu näs |
herer Unterſuchung mitteilte. Beide be—
ſtätigten zu ihrer größten Überraſchung
ſofort, daß es ſich um echte Meduſen han—
dele, die mit ausländiſchen Pflanzen ein—
geſchleppt ſein müſſen. Woher? iſt ſchwer
zu ſagen, denn die Viktorien werden in
dem mehrere Monate trocken liegenden
Becken regelmäßig aus Samen gezogen,
und ſeit zwölf Monaten war keine neue
Pflanze dort eingeführt worden. Wahr—
ſcheinlich ſtammen ſie aus Weſtindien, von
wo die letzten Einführungen hergekommen
ſind. Jedenfalls haben ſie ſich in dem 85
bis 90 Fahrenheit warmen Waſſer des
Beckens ganz munter befunden, denn ſie
haben ſich ſtark vermehrt, und vielleicht iſt
Ausſicht vorhanden, unſere Süßwaſſer—
aquarien mit dieſer neuen und intereſſan—
ten Tierklaſſe zu bereichern, da die kleinen
Daphnien, von denen ſie dort leben, ſich
überall finden.
Die Meduſe gehört zu der Abteilung
der nacktäugigen Meduſen (Gymnophthal-
mae) von Forbes. Die meiſten ſind nur
wie eine halbe Erbſe groß, aber einige
haben bis zu einem halben Zoll Durch—
meſſer erreicht. Sie ſtellen eine nahezu
halbkugelige Glocke dar, von deren Mitte
ein langer Magen bis etwas über den
Kleinere Mitteilungen
und Journalſchau.
Rand der Glocke herabhängt. Die Glocke
oder Umbrella wird von vier Strahl—
kanälen durchzogen, welche von dem An—
ſatzpunkte des Magenrohres ausgehen und
zum Rande der Glocke laufen. Innerhalb
dieſer Kanäle befinden ſich die ovale Säcke
darſtellenden Generationswerkzeuge (Go⸗
naden), welche entweder Eier oder Samen—
fäden enthalten, da die Tiere eingeſchlecht—
lich ſind. Die Offnung der Glocke wird,
wie bei allen nacktäugigen Meduſen, durch
eine Membran (das Velum oder den
Schleier) verengt, der ſich von dem Rande
der Scheibe nach innen ausbreitet und
welcher eine große Zahl von Fangarmen
(Tentakeln) trägt, von denen vier größer
und länger als die übrigen ſind und den
vier Radialkanälen in ihrer Stellung ent—
ſprechen. Bei größeren Exemplaren zählte
Profeſſor Lankeſter ſieben ſekundäre Ten—
takel in jedem Zwiſchenraum zwiſchen zwei
primären Tentakeln, während die Zwiſchen—
räume zwiſchen je zwei ſekundären Ten—
takeln durch je ſieben tertiäre Tentakeln
eingenommen werden. Dies ergiebt 240
als die Totalzahl der Tentakeln bei einem
ganz ausgebildeten Tiere. Die längs der
Anheftungslinie des Velums befindlichen
Randbläschen (Otozyſten), welche man für
Gehörsorgane anſieht, erreichten die Zahl
80, und von jedem derſelben erſtreckt ſich
ein feiner Kanal in das Velum, eine Eigen—
tümlichkeit, welche, wie Lankeſter meint,
wahrſcheinlich die neue Meduſe zum Ver—
treter einer neuen Familie oder Unterord—
nung erheben wird.
Was die genauere ſyſtematiſche Stel—
lung des ſo unerwartet gefundenen neuen
Tieres angeht, ſo weichen die Meinungen
der beiden Beobachter einigermaßen von
einander ab. Ray Lankeſter, der die
———4—äñ — —
,
*
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
473
Meduſe zuerſt beſchrieben und Craspeda- hervortretend durch die ſchon erwähnte
custa Sowerbii genannt hat, dieſen Na—
men aber unnötigerweiſe zu gunſten des
Allmannſchen Namens
Victoria zurückgezogen hat, glaubt, daß
die neue Meduſe zu den Trachomedu—
Limnocodium
ſen, Familie Petasidae in Haeckels
„Syſtem der Meduſen“ (1880), gehöre
und der von Fritz Müller beſchriebenen
Aglauropsis der braſilianiſchen Küſte zu—
nächſt ſtehe, während Allmann meint,
ſie ſtehe zwiſchen Trachomeduſen und Lepto—
meduſen, den letzteren näher. Da aber
Ray Lankeſter bereits die Entwicklungs—
geſchichte des neuen Organismus beobach—
tet und ſie mit der einer echten Tracho—
meduſe übereinſtimmend gefunden hat, ſo
folgen wir ſeiner Klaſſifizirung in dem
nachſtehenden.
Das Tier bietet die gemeinſamen Cha—
raktere der von den Narkomeduſen geſchie—
denen Trachomeduſen dar, inſofern als
ſeine Genitalſäcke oder Gonaden im Laufe
der Radialkanäle verteilt ſind. Es ſtimmt
Eigentümlichkeit, daß zentrifugale, blind
auslaufende Kanäle von den Randbläs—
chen in den Schleier ausſtrahlen.
Die Tentakeln ſtehen am Rande der
flachen Scheibe mit lang herunterhängen—
den viereckigen Röhrenmagen in drei über—
einandergeſtellten Kreiſen, und zwar ſind
4 primäre, 28 ſekundäre (in Gruppen von
7 Stück) und 192 tertiäre, in Gruppen
zu 6 Stück ſtehende Tentakeln vorhanden.
Von den Tentakeln aller drei Horizonte
gehen Mantelſpangen zum Neſſelring.
Randbläschen oder Otozyſten wurden bei
größeren Exemplaren an achtzig Stück
bemerkt, Randkörper mit lichtbrechenden
Medien (Ocelli) fehlen gänzlich.
Merkwürdig iſt, daß trotz der großen
Zahl der Männchen kein Weibchen beob—
achtet wurde, die alſo, wie bei manchen
andern Trachylinen, den Männchen gegen—
über in Minderzahl vorzukommen ſcheinen.
Die Entwicklung iſt eine direkte und der
mit ſämmtlichen Tracholinen (Trachome-
dusae und Narcomedusae) darin überein,
daß es endodermale Randkörperchen (Oto—
zyſten) beſitzt und ferner ſolide Tentakeln
mit knorpliger Axe, Mantelſpangen und
den bei manchen Tracholinen beobachteten
Neſſelring aufweiſt.
Unter den Trachomeduſen gehört ſie
zu den Petasidae, die durch vier Radial—
kanäle, in deren Verlauf die vier Gonaden
liegen, und durch den langen röhrenförmigen
Magen ohne Magenſtiel charakteriſirt ſind.
große Zahl ihrer Tentakeln, welche alle
ſolid ſind und durch ihre ſehr zahlreichen
Randbläschen (Otozyſten) ausgezeichnet.
Ferner iſt ſie unter allen Hydromeduſen
RER
Embryo mit den vier kleinen primären
Tentakeln gleicht ſtark demjenigen der
Rüſſelqualle (Geryonia), alſo der typi—
ſchen Trachomeduſenform.
Über die Phyſiologie dieſes inter—
eſſanten Tieres hat George J. Ro—
manes einige Mitteilungen gemacht, de—
nen wir das folgende entnehmen.
Die natürlichen Bewegungen desſelben
gleichen genau denen ſeiner marinen Ver—
wandten, beſonders derer, die nicht fort—
während ſchwimmen, ſondern in Pauſen. In
dem 85°
Unter den Petaſiden iſt ſie durch die
CH
Fahrenheit warmen Waſſer des
Viktoriahauſes ſind die Pauſen häufig
und der Rhythmus der Bewegungen un—
regelmäßig, was dem Tiere einen Anſchein
von Intelligenz giebt, beſonders jüngeren
Individuen. Im kältern Waſſer (65 bis
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6.
60
.
474
75° F.) find die Bewegungen regelmäßiger |
| pfindlich gegen ſüßes Waſſer, und da die
und beſtändiger, ſo daß Romanes nach
ſeinen mit marinen Arten gemachten Er-
„ „ I
fahrungen ſchließt, daß die Temperatur
des natürlichen Wohnorts dieſer Meduſe
nicht ſo hoch ſein kann, wie die des Waſ—
ſers in dem Viktoriahauſe. Im Waſſer
dieſer Temperatur ſteigt das Maß des
Rhythmus zuweilen zu enormer Höhe, bis
auf drei Pulſationen in der Sekunde.
Aber durch allmähliche Abkühlung des
Waſſers kann man, gerade wie bei den
marinen Arten, dieſes Maß bedeutend
beträgt das Maximalverhältnis, welches
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Alle marinen Meduſen ſind ſehr em—
Süßwaſſerart wahrſcheinlich von marinen
Ahnen abſtammen muß!), fo ſcheint es eine
intereſſante Frage zu ſein, in wie weit
dieſe Spezies an Seewaſſer möchte gewöhnt
werden können. Der Vergleichung wegen
will ich zuerſt kurz die Wirkungen des ſüßen
Waſſers auf marine Arten beſchreiben. “)
Wenn eine in Seewaſſer lebhaft ſchwim—
mende nacktäugige Meduſe plötzlich in Süß—
waſſer verſetzt wird, wird ſie augenblicklich
zuſammenfallen, bewegungslos werden und
herabmindern, und in Waſſer von 65% F. auf den Boden des Gefäßes ſinken. Dort
Romanes beobachtet hat, SO Pulſatio-
nen in der Minute. Während die von
ihm unterſuchten marinen Arten höchſtens
75 F. Waſſerwärme ertrugen, wurden
Se
der neuen Süßwaſſerart erſt 100 F. ge— |
fährlich; während andrerſeits die marinen
Arten irgendwelche Kältegrade ohne Ab—
ſterben aushalten, ſogar nach Gefrieren
und vorſichtigem Auftauen ihre Pulſatio-
nen wieder beginnen, iſt dies nicht mit der
Süßwaſſermeduſe der Fall. Sie wurde
durch Gefrieren völlig getötet.
Das Tier ſucht das Sonnenlicht. Wenn
eine Seite des Behälters beſchattet wird,
ſammeln ſich alle auf der andern unbe-
ſchattet gebliebenen. Ferner ſchwimmen
Oberfläche des Waſſers, aber wenn die
Sonne untergeht, ſinken ſie ebenfalls un—
ter und können nicht länger geſehen wer—
den. In allen dieſen Gewohnheiten glei—
chen ſie vielen Meeres-Arten. Sie ſind
nicht ſelbſtleuchtend.
In einigen Viviſektionsverſuchen ver—
hielten ſie ſich teils ähnlich, teils ſehr ver—
ſchieden von beſtimmten marinen Arten.
und andauernd geſchwächt.
wird ſie bewegungslos bleiben, bis ſie
ſtirbt, aber wenn ſie vorher wieder in See—
waſſer zurückverſetzt wird, wird ſie ſich wie—
der erholen, vorausgeſetzt, daß ſie nicht zu
lange im Süßwaſſer geweſen iſt. Sie
überleben nach Romanes Erfahrungen
niemals einen Zeitraum von 15 Minuten,
können dagegen einen ſolchen von zehn Mi—
nuten und pflegen allgemein einen ſolchen
von fünf Minuten zu überleben. Aber
obgleich ſie auf unbeſtimmte Zeit zu
leben fortfahren, iſt ihre Kraft erſichtlich
Inzwiſchen
überdauert im Süßwaſſer die Reizbarkeit
noch eine kurze Zeit die Lebensfähigkeit
und Stiel wie Tentakeln ſind kräftig zu—
rückgezogen.
fie während der Tagesſtunden oben an den — — 1.
*) Anm. der Red. Ausgehend von der
enormen Zahl mariner Arten hält der Verfaſſer
die Abſtammung der alleinſtehenden Süßwaſſer—
meduſe von ihnen mit Recht für wahrſcheinlicher,
als den umgekehrten Fall. Allein da wir auch
Süßwaſſerſchwämme und -polypen haben, wäre
der letztere Fall dennoch nicht undenkbar, und
namentlich könnte die Meduſe denkbarerweiſe von
unbekannten Süßwaſſerpolypen abſtammen.
) Der genauere Bericht befindet ſich Philos.
Transact. Vol. CLXVII, p. 744.
6
waſſer⸗Meduſe zurückkehren, jo iſt, wenn
wird, ungefähr in den erſten fünfzehn Se—
kunden kein Wechſel in ihren Bewegungen
gezogen ſeien mögen. Aber dann, oder ei—
nige Sekunden ſpäter, tritt eine Reihe von
zwei oder drei toniſchen Krampfanfällen
ein, die von einander durch einen Zwiſchen—
raum von wenigen Sekunden getrennt ſind.
krampfartigen Konvulſionen, welche ver—
ſchiedene Teile der Glocke unregelmäßig
rechnet, hört alle Bewegung auf, und die
von Reizbarkeit vorhanden. Nach fünf
Minuten langem Aufenthalt in Süßwaſ—
ſer zurückverſetzt, tritt unmittelbar ein ſtar—
ker und anhaltender toniſcher Krampf ein,
welcher der Totenſtarre gleicht, und das
Tier bleibt für ungefähr 20 Minuten re—
gungslos. Leichte krampfartige Zuſam—
menziehungen, welche indeſſen nicht die
ganze Glocke, ſondern nur Teile betreffen,
beginnen dann ſich zu erheben. Die to—
niſchen Krämpfe fahren fort, allmählich an
Stärke zuzunehmen und geben dem Um—
riſſe des Randes eine ſehr unregelmäßige
Form; die krampfartigen Zuſammenzie—
hungen werden ſchwächer und weniger häu—
keit bleibt indeſſen noch für einige Zeit be—
einer Reihe rhythmiſcher Kontraktionen ge—
folgt.
fig, bis fie zuletzt erlöſchen. Die Reizbar-
ſtehen, ein Kniff mit der Pincette iſt von
Der Tod tritt erſt nach einigen
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Wenn wir jetzt zu dem Fall der Süß⸗
|
|
fie zuerſt in Seewaſſer von 85“ F. getaucht
| zu bemerken, obwohl die Tentakeln zurück-
Während der nächſten halben Minute wer— |
den die gewöhnlichen Zuſammenziehungen
fortſchreitend ſchwächer, bis ſie in bloßen
Stunden mit ſtarker und unregelmäßiger
Zuſammenziehung ein.
Wenn die Einwirkung des Seewaſſers
nur zwei Minuten gedauert hat, tritt eine
ähnliche Reihe von Erſcheinungen ein, aus—
genommen, daß die freiwilligen krampfar—
tigen Bewegungen in viel kürzerer Zeit
als zwanzig Minuten eintreten. Aber eine
Einwirkung von ſogar nur einer Minute
bewirkt einen tötlichen Ausgang, wenige
Stunden nachdem die Meduſe in Süßwaſ—
ſer zurückverſetzt worden iſt.
Die Berührung mit Seewaſſer bewirkt
ein opaliſirendes Ausſehen und eine Zer—
ſetzung der Gewebe, welche genau den
treffen, erlöſchen. Nach ungefähr einer
Minute, von der erſten Eintauchung an ge
Einwirkungen des ſüßen Waſſers auf die
Meerqualle gleicht. In Seewaſſer geſetzt
ſchwimmt unſere Meduſe an der Ober—
fläche infolge ihres geringeren ſpezifiſchen
Glocke verharrt in teilweiſer Zuſammen-
ziehung paſſiv. Es iſt dann keine Spur
Gewichtes.
In verdünntem Seewaſſer (50%)
treten die vorangehenden toniſchen Kräm—
pfe nicht ein, aber alle übrigen Phaſen
ſind dieſelben, wenngleich auf eine längere
Periode verteilt. In noch ſtärker verdünn—
tem Seewaſſer (1:4 oder 6) tritt eine
ſchrittweiſe Einbuße an Lebhaftigkeit ein, bis
alle Bewegung aufhört, worauf kurz darauf
auch die Reizbarkeit aufhört, während Ten—
takeln und Magenrohr ausgebreitet blei—
ben. Nach einer Stunde fortgeſetzter Ein—
wirkung entwickelt ſich langſam und fort—
ſchreitend eine intenſive Totenſtarre, ſo
daß die Glocke zuletzt faſt zu einem Nichts
zuſammengeſchrumpft iſt. Eine Einwir—
kung weniger Minuten in dieſer Stärke
geſtattet dem Tiere nachherige Wiederer—
holung, wenn es in ſüßes Waſſer zurück—
verſetzt wird. In noch ſchwächeren Mi—
ſchungen (1:8 oder 1:10) dauert die Le—
bendigkeit lange Zeit, aber das Tier wird
475
I
|
I
476
nach und nach weniger und weniger ener—
giſch, bis es zuletzt nur noch ſchwache Pul—
ſationen auf Reizung vollführt. In noch
ſchwächeren Löſungen (1:12 oder 1:15)
hält die Lebendigkeit ſtundenlang an und
in Löſungen von 1:15—1:18 ſchwimmt
die Meduſe tagelang.
Man kann aus dieſer Darſtellung
ſehen, daß die Süßwaſſermeduſe noch em—
pfindlicher gegen Seewaſſer iſt, als die
nacktäugigen Seewaſſermeduſen gegen Süß—
waſſer. Ferner iſt die Süßwaſſermeduſe
über alle Vergleiche empfindlicher gegen
Seewaſſer, als die Seewaſſerarten gegen
zunehmende Salzigkeit. Denn Romanes
hat früher gefunden, daß die Seewaſſer—
arten eine Eintauchung in geſättigte Salz—
löſung mehrere Stunden überleben. Wäh—
rend ſie in ſolcher Löſung mit ausgedehn—
tem Rohr und Tentakeln bewegungslos
verharren, etwa wie die in eine Miſchung
von See- und Süßwaſſer (1:5) gebrachte
Süßwaſſermeduſe, findet hier jedoch der
große Unterſchied ſtatt, daß während der
kleine Salzzuſatz dem Leben der letzteren
verhängnisvoll iſt, hier die reichliche Ver—
mehrung des Salzes keinen nachhaltig
ſchädlichen Einfluß auf die marine Art
äußert.
„Es möchte ſcheinen,“ ſchließt Roma—
nes ſeinen intereſſanten Bericht, „daß
eine viel weniger tiefe phyſiologiſche Ver—
änderung erfordert werden würde, um eine
kanntlich iſt der Leuchtapparat bei dem flü—
Meeresqualle für das Leben in Salzlake
umzuwandeln, als um ſie zu befähigen,
im ſüßen Waſſer zu leben. Dennoch iſt
licher Subſtanz an der Bauchſeite des fünf—
die Umwandlung ſtattgefunden und fo
die letztere diejenige Richtung, in welcher
vollkommen Platz gegriffen hat, daß
nunmehr Seewaſſer auf die modifizirte
Art giftiger wirkt, als Süßwaſſer auf die
a 2
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
unmodifizirte. Darüber kann kein Zweifel
ſein, daß die Umwandlung allmählich vor
ſich ging — wahrſcheinlich bei den Ahnen
der Süßwaſſermeduſe ſchrittweiſe hervor—
gerufen wurde, während ſie durch die bracki—
ſchen Waſſer der Flußmündungen höher
und höher in das ſüße Waſſer der Flüſſe vor—
drangen — und es würde, glaube ich, ſchwie—
rig ſein, einen bemerkenswerteren Fall tiefer
phyſiologiſcher Anderung bei Anpaſſung
an veränderte Lebensbedingungen nachzu—
weiſen. Wenn ein gegen Süßwaſſer ſo
äußerſt intolerantes Tier, wie die See—
meduſe, alle ſeine Gewebe trotzdem ſo ver—
ändert haben kann, um ſich dem Gedeihen
im ſüßen Waſſer anzupaſſen, und ſogar
nach einer minutenlangen Einwirkung ſei—
nes urväterlichen Elementes zu ſterben, ſo
können wir ſicherlich keinen Grund finden,
warum irgend ein Tier auf Erden oder in
der See oder ſonſtwo nicht ſollte mit der
Zeit befähigt worden ſein, ſein Element
zu wechſeln.“
Das Leuchten der Johanniswürmchen
iſt trotz der vielfachen Unterſuchungen,
die dieſer poetiſchen Erſcheinung unſerer
Sommerabende gewidmet wurden, bisher
nur hinſichtlich der morphologiſchen und
anatomiſchen Seite enträtſelt worden,
während die phyſiologiſche und chemiſche
Seite vollkommen im Dunkeln lag. Be—
gelloſen Weibchen am ſtärkſten entwickelt,
und beſteht aus einer Anhäufung von gelb—
ten, ſechsten und ſiebenten Hinterleibs—
ringes, woſelbſt ſie von einer dünnen, durch—
ſichtigen Haut bedeckt iſt. Unter dem Mi—
kroſkop zeigt ſich der Leuchtapparat aus
a
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 477
reihenweiſe angeordneten Lappen beſtehend,
die mit großen Zellen eines körnigen Pro—
toplasmas angefüllt ſind. In die Mitte
jedes dieſer Lappen dringt ein Tracheen—
ſtamm, der zahlreiche Aſte zu den Zel—
len ſendet. Außer dem Weibchen geht
der Leuchtapparat auch der Larve und dem
Männchen nicht völlig ab. Bei der erſte— |
ven, die dem Weibchen, namentlich beim
großen Johanniswürmchen (Lampyrisnoc-
tiluca) ſehr ähnlich ſieht, iſt der Leucht—
apparat rudimentärer und liegt im ſieben—
ten Ringe, beim Männchen funktionirt er
nur bei dem kleinen Johanniswürmchen
(L. splendidula) kräftig und iſt bei der
anderen deutſchen Art faſt verkümmert.
Über die phyſiologiſche Seite dieſer merk—
deshalb zur Erleichterung der Unterſuchung
nach einem Mittel, es von der Willkür des
würdigen Erſcheinung hat nun kürzlich der
Naturforſcher Jouſſet de Bellesme
auf Grund mehrjähriger Studien eine Ar—
beit“) veröffentlicht, der wir das nachfol—
gende entnehmen. Das Licht des Weib—
chens vom großen Johanniswürmchen tft
bis auf 150 — 200 Meter erkennbar und
in unmittelbarer Nähe kann man dabei
| ſcher als elektriſcher. Die letzteren erwie—
leſen. Im Vergleich zu dem gelblichen
Phosphoreszenzlichte des Phosphors iſt
ſich in der That, denn während das elek—
das Licht etwas grünlich, und bei genau
erer Betrachtung des Leuchtapparats an
den verſchiedenen Teilen desſelben ungleich |
hell. Spektroſkopiſch unterſucht, ergaben
alle drei Hinterleibsringe ein übereinſtim—
mendes linienfreies Spektrum, in welchem
das Grün am ſtärkſten, Rot ſchwächer,
die brechbareren Anteile am wenigſten
entwickelt ſind, ſo daß das Violett bei—
nahe gänzlich fehlt. Zerdrückt verbrei⸗
ten ſie einen eigenartigen zwiebelartigen
Geruch.
nung ſtellt ſich ſo dar, als ob die durch
9 Journal de PAnatomie et de la Phy-
siologie, T. XVI, Nr. 2, 1880.
Gas ausſcheiden, wie die lebende Zelle
| trifft, ſo ſchließt Jouſſet, daß er gas=
die noch lebenden Tiere leuchteten dann
N
Wie ſchon Kölliker bemerkt hat, ſteht
das Leuchten unter dem Einfluß des Wil—
lens und Jouſſet de Bellesme ſuchte
Tieres unabhängig zu jeder Zeit zu erre—
gen, welches er in der Elektrizität und an—
deren Nervenreizen, die oft erſt nach 68
Sekunden wirkten, fand. Entfernung der
Kopfganglien durch einen ſcharfen Schnitt
lieferte den ſichern Beweis, daß das Leuch—
ten eine willkürliche Thätigkeit iſt, denn
nicht mehr von ſelbſt, ſondern nur infolge
äußerer Reize, und zwar ſowohl mechani—
ſen ſich als die bequemſten für das Ex—
periment.
Zunächſt ſuchte der Experimentator die
Annahme Matteuccis zu prüfen, ob wirk—
lich die Berührung mit dem Sauerſtoff
der Luft eine weſentliche Bedingung für
das Zuſtandekommen des Leuchtens ſei,
wie dieſer Forſcher aus der Veräſtelung
der Atmungsröhren in den Leuchtorganen
geſchloſſen hatte. Die Annahme beſtätigte
triſch gereizte Organ jedesmal lebhaft auf—
leuchtete, ſo lange es ſich in Sauerſtoff
oder atmoſphäriſcher Luft befand, blieb
dieſes Leuchten ſofort aus, wenn es in ein
indifferentes Gas, wie Stickſtoff, Kohlen—
ſäure oder Waſſerſtoffgas gebracht wurde.
Was den ausgeſchiedenen Leuchtſtoff be—
förmiger Art ſein müſſe, da für feſte
oder flüſſige Stoffe durchaus kein Aus—
führungsgang vorhanden ſei. Die Erſchei—
den Willensnerven gereizten Organe ein
478
Kohlenſäure ausſcheidet, aber ein Gas, wel—
ches in dem Augenblick, wo es an die Luft
tritt und mit Sauerſtoff in Berührung
kommt, leuchtend wird. Wir kennen bis—
her nur ein einziges Gas, das Phosphor—
waſſerſtoff, welches dieſe Eigenſchaft be—
ſitzt, aber die Winzigkeit der ausgeſchiede—
nen Gasmenge erlaubte weder die Iden—
tität feſtzuſtellen, noch zu widerlegen. Mög—
licherweiſe giebt es eine phosphorhaltige
organiſche Verbindung, welcher dieſe Ei—
ſchaft in erhöhtem Maße eigen iſt.
Referent möchte hier an eine Erfahrung
erinnern, die der Chemiker G. Maclean
in Princetown vor einigen Jahren ge—
macht hat. Derſelbe ſah am Abend eines
Tages, an welchem er mit Phosphorwaſ—
ſerſtoff gearbeitet und ohne Zweifel auch
eine gewiſſe Menge deſſelben eingeatmet
hatte, ſeinen ganzen Körper wie faules
Holz leuchten, als ob aus den Poren ein
leuchtender Körper ausgeſchieden würde.
Allem Anſchein nach iſt der leuchtende
Körper nicht vorrätig gebildet, ſondern
wird erſt durch die Nerventhätigkeit er—
zeugt, um dann ſogleich zu verbrennen.
Daß die Zellen lebendig ſein müſſen, um
dieſen Stoff zu bilden, ergaben beſtimmte
Verſuche. Während nämlich die Zellen,
wenn das Leuchtorgan zerriſſen wurde, in—
folge des mechaniſchen Reizes eine Zeit
hindurch neuen Leuchtſtoff produzirten und
fortleuchteten, erloſch das Leuchten ſofort,
wenn die Zellen durch Zerreiben zerjtört
wurden. Ebenſo hoben giftige Subſtan—
zen und lähmende Dämpfe, wie z. B.
Atherdampf, das Leuchtvermögen auf, und
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
7
„Es iſt daher gewiß,“ ſchließt Jouſſet
de Bellesme, „daß das Leuchten ein
Ergebnis der Lebensthätigkeit in den Zel—
len iſt und daß das Johanniswürmchen
keine fertiggebildete leuchtende Subſtanz
vorrätig hat, ſondern dieſelbe in dem
Maße erzeugt, wie es dieſelbe braucht.
Sobald irgend ein Reiz ſeine Leuchtzellen
trifft, ſei es ein Nervenreiz oder ein ande—
rer, ſo funktioniren dieſelben und erzeugen
die leuchtende Subſtanz, welche in dem
Maße ihrer Abſcheidung bei der Berüh—
rung mit der Luft, welche durch die zahl—
reichen, die Zellenhäufchen desLeuchtorgans
in allen Richtungen durchziehenden Tra—
cheen herbeigeſchafft wird, zerſetzt und vom
Luftſauerſtoff verbrannt wird, ohne ſich
anhäufen zu können.“ Jouſſet de Bel—
lesme geht noch weiter und zieht aus ſei—
nen Beobachtungen folgende allgemeine
Schlüſſe: „Meine Unterſuchungen über die
Lampyris und die Experimente, die ich an
den Noktiluken gemacht habe, veranlaſſen
mich,“ ſagt er, „die Phosphorescenz als
eine allgemeine Fähigkeit des Protoplas-
mas zu betrachten, die in einer Entbindung
von Phosphorwaſſerſtoff beſteht. Dieſe
Anſchauungsweiſe läßt uns leicht begrei—
fen, auf welche Art ſo viel niedere, des
Nervenſyſtems ermangelnden Tiere phos—
phoreseirend ſind. Ferner bietet ſie uns
den Vorteil, die Phänomene der Phos—
phorescenz an lebenden Tieren mit den—
die Reize blieben alsdann unwirkſam.
Auch zeigte ſich bei lange fortgeſetzter
Reizung wie bei allen nervöſen Thätigkei—
ten ſchließlich Ermüdung der Leuchtorgane.
PPP
jenigen zu verknüpfen, die man an mecha—
niſchen Materien beobachtet, welche in der
Zerſetzung begriffen ſind. Wir haben da
ein Beiſpiel mehr von einer Erſcheinung
der biologiſchen Ordnung, welches ſich ſehr
genau auf eine chemiſche Urſache zurück—
| führen läßt.“
Ob der Vorgang bei anderen Leucht—
tieren ein ähnlicher iſt, muß dahingeſtellt
bleiben, bei den niederſten Leuchttieren der
Meere würde man wahrſcheinlich kaum auf
willkürliches Leuchten ſchließen können
und eher ein einfaches Antworten auf äu—
ßere Reize annehmen dürfen. Was den
etwaigen Vorteil des Leuchtens für
das Inſekt angeht, aus welchem man
ſich die natürliche Züchtung dieſes Ver—
mögens erklären könnte, ſo hat man ſeit
alter Zeit angenommen, es handle ſich
hauptſächlich für das geſchlechtstüchtige
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
479
mittel für fremde Nachttiere. Der Um—
ſtand, daß man das Leuchten mehr bei
ungeflügelten als bei geflügelten Arten,
die einer Gefahr leichter entfliehen können,
trifft, und ihr zwiebelartiger Geruch deu—
tet nämlich darauf hin, daß das Leuchten
für das Nachttier dieſelbe Bedeutung ha—
ben könnte, welches die grelle Trutzfarbe
für das Tagtier beſitzt. Gleichwohl
werden ſie nicht völlig dadurch geſchützt.
In einer Note zu ſeinem „Botaniſchen
Weibchen darum, dem Männchen jetz
nen Aufenthalt aus der Ferne zu ver—
rathen, und einige Naturforſcher haben
gefunden, daß es genüge, an einem war—
men Juniabend ein leuchtendes Weibchen
auf der offenen Hand zum Fenſter hinaus—
zuhalten, um alsbald ein oder mehrere
Männchen anzulocken. Auch Jouſſet de
Bellesme teilt dieſe Anſicht und führt
dafür an, daß der Leuchtſtoff zur Zeit der
Eireife am ſtärkſten abgeſchieden wird,
ähnlich wie die Milchdrüſen und ähnliche
mit den geſchlechtlichen Funktionen in Wech—
tötlich verbrannt.“
ſelwirkung ſtehende Organe zur betreffen-
den Zeit ihre Abſonderung beginnen.
Referent muß hiergegen einwenden, daß
bei einigen Arten nicht nur die Männchen,
ſondern auch die geſchlechtsuntüchtigen
Larven ſehr ſtark leuchten, und daß die
erleichterte Auffindung der Weibchen kaum
der Hauptnutzen ſein kann, da die Ge—
ſchlechter jo vieler anderer Nachtinſekten
einander einzig durch den Geruchsſinn oder
das Gehör geleitet zu finden wiſſen. Viel-
mehr nützt dieſen Nachttieren ihr Leuchten
wahrſcheinlich als Vorteil für das tägliche
Leben, ſei es, um ihre Feinde zu erſchrecken,
oder um neugierige Thiere, von denen ſie
leben, herbeizuziehen, oder als Erkennungs⸗
Garten““) erzählt Erasmus Darwin das
Folgende: „Auf Jamaika werden in eini—
gen Jahreszeiten die Feuerfliegen des
Abends in großer Maſſenhaftigkeit wahr—
genommen. Wenn ſie ſich auf den Boden
ſetzen, verſchlingt ſie der Ochſenfroſch gie—
rig, was zu einer ſonderbaren, aber grau—
ſamen Methode, dieſe Thiere auszurotten,
Anlaß gegeben zu haben ſcheint. Wenn
nämlich rot glühende Stückchen von Holz—
kohle des Abends in der Dämmerung, un—
ter ſie geworfen werden, ſpringen ſie dar—
nach und werden, ſie haſtig verſchlingend,
Der Ochſenfroſch ſoll
den Anſiedlern in den ſüdlichen Provinzen
der Vereinigten Staaten wegen ſeiner
überlauten Stimme allerdings ſehr ver—
haßt ſein, allein ich kann nicht finden, daß
derſelbe bis nach Jamaika verbreitet wäre.
Sei dem, wie ihm wolle, die von mir ſchon
anderwärts ausgeſprochene Vermutung,
daß das Leuchten gewiſſer Nachttiere zu
den ſeinen Eigentümern nützlichen War—
nungsſignalen gehören dürfte, ſcheint
mir die weitaus wahrſcheinlichſte. K.
) The Loves of Plants, Canto IV.
Londoner 2. Ausg. von 1790, S. 149.
— — — —— —
©
480
Analomiſche Abereinſlimmung im
SHkefett ſoſſiler Replilien mik dem—
jenigen pfacenfalofer Säugetiere.
Die Abſtammung der Säugetiere iſt
bekanntlich noch ein Rätſel und obwohl
Huxley neuerdings mit Nachdruck darauf
hingewieſen hat, daß wir die Ableitung
nur bei Amphibien ſuchen dürfen?), find
doch gewiſſe, bei ausgeſtorbenen Reptilien
der älteſten Sekundärepochen gefundene
Übereinſtimmungen von hohem Intereſſe,
da ſie uns den gemeinſamen Urſprung
der beiden Gruppen illuſtriren. In der
Sitzung der Londoner Geologiſchen Geſell-
ſchaft vom 28. April d. J. las Prof. Owen
eine Abhandlung über neue, in Südafrika
gefundene Reptilreſte aus der Triaszeit,
die auffallende Analogieen in dieſem Sinne
darboten. Schon früher hatte Owen wie—
derholt auf die verſchiedenartigen Ahn⸗
lichkeiten dieſer Reptile mit Raubtieren
hingewieſen. Überreſte, die kürzlich in
Graaf Reinet gefunden und von E. J.
Dunn eingeſendet wurden, ſind in dieſer
Beziehung ſehr merkwürdig. Sie beſtehen
in einigen Thoraxwirbeln mit den Rüden der
Rippen, einem Bruſtbein, einem Schulter— |
blatt und einem rechten Oberarmbein, die |
thropologiſchen Inſtituts vom 13. April
in einer Felsmaſſe eingebettet gefunden
wurden, ſowie in einem Becken, Oberſchenkel—
bein und Phalangen in einer anderen
Maſſe.
denen von Dieynodon und Oudenodon
überein. Der mutmaßliche Bruſtbeinkno—
chen iſt von einer gerundeten hexagonalen
Geſtalt und wird von dem Verfaſſer als
der vordere Knochen des eigentlichen Bruſt—
beins betrachtet, der bei jetzt lebenden
Eidechſen gewöhnlich unverknöchert, da-
) Kosmos, V, S. 463.
Die Wirbel ſtimmen nahe mit
Nachfolgende nach einem Bericht der Na—
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
Bi
gegen wohl verknöchert bei Ornithorhyn-
chus iſt. Auch im Schulterblatt findet
Owen Ahnlichkeit mit demjenigen von
Ornithorhynchus. Das Oberarmbein er—
innert in ſeinen allgemeinen Verhältniſſen
ebenfalls ſehr an diejenigen der Monotre—
men. Die Endphalangen werden als
breit und ſtumpf beſchrieben, wahrſchein—
lich eingerichtet, um zum graben beſtimmte
Klauen zu tragen wie bei Echidna, deſſen
Oberſchenkelbein dem gefundenen gleicht.
Owen hat dem Tiere, welches eigentüm—
liche Vermutungen über die Verwandt—
ſchaft der afrikaniſchen Triasreptile mit
den heute lebenden niederſten Säugetieren
Auſtraliens, Tasmaniens und Neu-Gui⸗
neas erweckt, den Namen Platypodosaurus
robustus beigelegt, in Anſpielung auf dieſe
Eigentümlichkeiten und die Breite des Ober—
armbeins, welche bei einer Länge von 10 ½
Zoll an dem diſtalen Ende ſechs Zoll be—
trägt. (Nature, Nr. 551, 1880.)
Die Wilwenlökung und andere Ve—
gräbniszeremonien auf den Fioſchi—
—Inſeln.“
In der Sitzung des engliſchen An—
ce. wurde eine Schilderung der Begräbnis—
zeremonien auf dieſen Inſeln von Reverend
Lorimer Fiſon verleſen, der wir das
ture (Nr. 549) entnehmen. Im Allgemeinen
iſt unter den Sitten der Fidſchiinſulaner
ſo wenig Gleichförmigkeit vorhanden, daß
keine Beſchreibung der Sitten des einen
Tribus etwa für alle gelten könnte. Die
Erdroſſelung der Witwen, um ſie mit
ihren verſtorbenen Männern zu begraben,
—
8
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
ſcheint dagegen überall ſtattgefunden zu
haben. Der Witwe eigener Bruder voll—
bringt die Operation und wird darauf mit
einem bemerkenswerten Reſpekt von den
Kindern ſeines Schwagers behandelt, welche
ihm ein Stück Land übergeben, über wel—
chem die Erdroſſelungsſchnur aufgehängt
wird. Sollte er hingegen unterlaſſen, ſeine
Schweſter zu erwürgen, ſo wird er verach—
tet und muß ſich ſchämen, ſein Geſicht zu
zeigen. Wenn eine Ehefrau erdroſſelt wer—
den ſoll, ſo läßt man ſie niederknieen und
der Strick (ein Streifen einheimiſchen Ge—
webes) wird rings um ihren Nacken ge—
legt. Dann wird ihr geſagt, ſie ſolle ſo
tief wie möglich ausatmen, und wenn ſie
nicht weiter mehr könne, ihre Hand als
Signal ausſtrecken, worauf der Strick
zuſammengezogen wird und bald alles
vorüber iſt. Man glaubt, daß unmittel—
bar Empfindungsloſigkeit auf das Anzie—
hen des Strickes folgt, wenn dieſe Anwei—
fung befolgt worden iſt, während, ſobald
nicht bedeutende Fortſchritte gemacht hat.
Inhalation erfolgt war, ein mit Leiden
verknüpfter Zwiſchenraum eintritt.
Eine Entſchuldigung für die Witwen—
erdroſſelung kann in dem Glauben der
Fidſchiinſulaner gefunden w&den, daß fie
eine notwendige Vorſichtsmaßregel ſei, denn
an einer gewiſſen Stelle auf dem Wege
zum Hades (Mbulu) liegt als Wache ein
ſchrecklicher Gott, Nangga-nangga, wel—
cher den Geiſtern der Unverheirateten ge—
genüber völlig unverſöhnlich iſt. Beſon—
zu denen er alle männlichen Geiſter rech—
481
Haupt und bricht ſie entzwei, indem er ſie
gegen einen hervorragenden Felſen ſchleu—
dert. Weiber kommen leichter davon.
Wenn das Weib vor ihrem Gatten ſtirbt,
ſchneidet der Witwer ſeinen Bart ab und
legt ihn unter ihre linke Schulterhöhle.
Dieſer dient als ihr Trauſchein, und wenn
ſie ihndemNangga-manggavorzeigt, erlaubt
er ihr, vorbeizuziehen. Auf der Inſel Va—
nua Levu wird ein anerkannter Held von
der übrigen Herde dadurch nach ſeinem
Tode ausgezeichnet, daß man den rechten
Arm aus dem Grabhügel hervorſehen
läßt, und die Vorübergehenden rufen mit
Bewunderung: „O die Hand, welche die
Menſchen erſchlug!“ Für einige Tage
nach dem Hingang eines regierenden Häupt—
lings gewinnt, wenn der Tod dem Volke
bekannt wird, die wildeſte Anarchie die
Oberhand. Die Idee ſcheint zu walten,
daß der tote Mann nicht eher vollkommen
dahin ſei und ſeine Autorität dem Nach—
folger übergeben habe, bevor die Verweſung
Daher wird der Tod eines regierenden
Häuptlings 4—10 Tage lang ſorgſam
verheimlicht. Bei mehreren Stämmen wird
der Begräbnisplatz ihres Häuptlings in
tiefem Geheimnis gehalten, damit nicht
diejenigen, welche er während ſeiner Le—
benszeit beleidigt hat, Rache nehmen kön—
nen, indem ſie ſeinen Körper hervorziehen,
ſchänden oder gar auffreſſen können. Da—
her wird der Raſen der Oberfläche mit
ders wild verfährt er gegen Junggeſellen,
net, die nicht in Begleitung ihrer Weiber
zu ihm kommen. Taub gegen ihre Pro-
teſte ergreift er ſie, hebt ſie über ſein |
9 Vergl. den Artikel: „Die Ablöſung der |
Menſchenopfer“ Bd. III, ©. 68.
äußerſter Sorgfalt emporgehoben und mit
jo wenig Kenntlichkeit als möglich wieder .
darauf gelegt.
Höhlenbegräbniſſe ſind auf den Fidſchi—
inſeln häufig, obgleich keineswegs all—
gemein; in einigen Fällen werden künſt—
liche Höhlen gemacht, entweder auf der
Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6.
61
482
Seite eines Hügels oder durch Abtäu—
fung eines ſenkrechten Schachtes. In eine
Seitenkammer legt man den verſtorbenen
Häuptling und ſein erdroſſeltes Weib un-
ter ihn. Ein Stein ſchließt den Eingang
zu der Kammer und hält die Erde ab, mit
welcher der Schacht gefüllt wird. Bei dem |
Tode des Königs vom Nakeloſtamme kom—
men drei alte Männer mit Fächern in ihren
Händen und geleiten den Geiſt des Königs
zu den Ufern des Fluſſes. Hier rufen ſie
nach Themba, dem Charon der Nakelos,
fein Canoe herüber zu bringen, und war-
ten, bis ſie eine Welle gegen die Küſte
rollen ſehen, welche, wie ſie ſagen, durch
die Annäherung des unſichtbaren Bootes
an Bord, Herr!“ und laufen vorwärts
um ihr Leben, denn kein menſchliches Auge
darf die Einſchiffung erblicken. Das Grab
Kleinere Mitteilungen und Journalſchau.
N
wird halbmannstief gegraben, der Körper
hineingelegt und eine alte Cocosnuß mit
einem Stein, aufgeſchlagen und fo gehal—
ten, daß die Milch auf das Haupt des
Leichnams läuft. Das Fleiſch der Nuß
wird dann von den drei Alteſten gegeſſen
und das Grab zugefüllt.
Baptanodon.
Hinſichtlich des für die Deszendenz—
theorie höchſt wichtigen Sauriers, den er
Sauranodon getauft hatte“), macht Pro—
feſſor O. C. Marſh im Juniheft des
American Journal of Science darauf
aufmerkſam, daß dieſer Name zurückgezo—
verurſacht wird; alsdann wenden ſie ihre
Geſichter ab, deuten mit ihren Fächern
ſüdlich nach dem Fluß, rufen laut: „Geh'
gen werden müſſe, da er bereits von
Jourdan einem juraſſiſchen Reptil bei—
gelegt worden iſt. Er ſchlägt deshalb vor,
das Tier Baptanodon und die Klaſſe
Baptanodontidae zu nennen.
*) Vergl. Kosmos, Bd. VII, S. 74.
Litteratur und Kritik.
ie Neſter und Eier der Vögel
in ihren natürlichen Beziehungen be—
trachtet. Ein Beitrag zur Ornitho—
pſychologie, Ornithophyſiologie und zur
Kritik der Darwinſchen Theorien, be—
arbeitet von Wilh. von Reichenau, |
Konſervator des Mainzer zoologifchen |
Leipzig, Ernſt Günthers
Muſeums.
Verlag, 1880. 110 S. in 8.
Ein anmutendes Buch, ſowohl ſeinem
Gegenſtande, als der flotten Darſtellung
und dem Ideenreichtum nach, welches unter
den zahlreichen Spezialfreunden der gefie—
derten Welt auf eine gute Aufnahme rech—
dasjenige, was man in den ornithologiſchen
Werken von Brehm, Baldamus und
Ruß vergebens ſucht, nämlich eine Philo—
ſophie der Vogelnatur, Erklärungsverſuche
ihrer Kunſtfertigkeiten, Triebe, der Brut—
methode, ihres äußeren Gewandes u. ſ. w.,
wobei der Verfaſſer von den durch Wal—
lace und Seidlitz aufgeſtellten Geſichts-
punkten weiter baut. Nachdem Reichenau
im erſten Kapitel „den Urheber von Neſt
und Ei“ geſchildert hat, geht er im zwei-
(Sylva Sylvarum Exper. 851 852) über
„ſelbſtbrütende Neſter“ und „Bebrütungs- den Urſprung der Zierden des Männchens
neſter“ teilt und nach ihren reſpektiven | ausſprach: Praecipua horum omnium cau-
ten zu den Neſtern ſelbſt über, die er in
Vollendungsſtufen ordnet. Das dritte Ka—
pitel behandelt, in der Hauptſache den
Ideen von Wallace folgend, die Bezie—
hungen zwiſchen der Farbe des Vogels, ins—
beſondere des Weibchens und der Niſtart,
ſofern den offenbrütenden Weibchen in der
Regel Schutzfarben eigen ſind, die ſie ihren
Verfolgern verbergen. Im Eingange des
folgenden Kapitels wird die früheſte Er—
kenntnis der ſympathiſchen Färbungen der
Vogeleier Gloger (1829) zugeſchrieben,
während ſie bereits 35 Jahre früher in dem—
ſelben Sinne von Erasmus Darwin be—
trachtet wurden. Im fünften Kapitel werden
nen dürfte. Es enthält ſo ziemlich alles
nähere Beziehungen zwiſchen der Farbe
des Vogels und dem Brutgeſchäft verfolgt.
Bekanntlich hatte Manteg azza verſucht,
die geſchlechtlichen Farben der männlichen
Vögel aus einem Überfluß an Lebensener—
gie, d. h. als einen Luxus, den nur ſie ſich
erlauben können, aufzufaſſen, während alle
überflüſſigen Säfte des Weibchens meiſt
dem Eierlegen und Brüten gewidmet werden
müßten, ſo daß es nicht an äußeren Putz
denken könnte. Es iſt dies faſt dieſelbe Mei—
nung, welche bereits Baco von Verulam
MD |
25
484
sa (procul dubio), quia mares quam foe-
minae intensius calent, quod vel ex
eo colligas, quod mares tenella aetate si-
miles sint foeminis. Sie Eunuchi et ani-
mantia castrata culuscumque generis pro
priusad foeminas accedunt. Reichenau
hat dieſe Beziehungen indeſſen weiter ver—
folgt, als Mantegazza und Wallace,
und daraus folgende fünf Schlußfolger—
ungen abgeleitet:
Litteratur und Kritik.
ſchäft, legt entweder mehrere Eier, welche
es dem Männchen überläßt, oder aber nur
ſehr wenige, wenn es ſelbſt brütet. (Waſſer—
treter [Phalaropus] und Laufhühnchen[Tur—
nix — Adler [Aquilal.)
In den letzten Kapiteln wird Dar-
wins geſchlechtliche Zuchtwahltheorie im
weſentlichen mit den Wallaceſchen Grün—
den bekämpft. Wir ſtimmen dem Verfaſſer
1) Iſt das Weibchen eines auffallend
ausgeſtatteten Männchens gleichfalls mit
auffallenden Charakteren ausgeſtattet, ſo
findet bei ihm während der Fortpflanzungs—
periode wenig Verluſt an Lebensenergie
ſtatt. Solche Vögel legen meiſt in Höhlen
wenig weiße Eier, faſt immer nur einmal
im Jahre. (Papageien, Hechte ꝛc.)
2) Iſt das Weibchen eines auffallen—
den Männchens nicht auffallend, wohl gar
ſympathiſch gefärbt, oder fehlen ihm ſonſt
die männlichen Charaktere (Geſang), fo fin—
det bei ihm viel Verluſt an Lebensenergie
ſtatt. Derartige Weibchen legen entweder
viele Eier, oft zweimal im Jahre, oder
große Eier von durchſchnittlich ſympathiſcher
Färbung in offene Neſter. (Henne, Droſ—
ſeln ꝛc.)
3) Iſt das Weibchen eines auffallenden
Männchens nur einfach ausgeſtattet und
legt es nur ein Ei oder deren zwei, ſo über—
nimmt es das ganze übrige Brutgeſchäft
ohne männliche Hülfe. (Paradiesvogel.)
4) Iſt das Weibchen eines auffallenden
Männchens einfacher ausgeſtattet und brü—
tet nicht, ſo legt es doch viele große Eier.
(Strauß.)
5) Iſt das Weibchen eines Vogels auf—
fallender in Farbe oder Größe und Lebens—
mut, als ſein Männchen, ſo hat es wenig
Verluſt an Lebensenergie beim Brutge—
durchaus bei, wenn er ſagt, daß weder
„die Naturausleſe noch die Weiberausleſe
auch nur einen bunten Spritzer auf das
Gewand eines Männchens zu zaubern ver—
mögen“ (S. 93). Allein darin wird ihm
auch Darwin vollkommen Recht ge—
ben. Natur- und Weiberleſe können nichts
erſchaffen, aber ſie können zur Erhaltung und
Steigerung eines entſtandenen beitragen.
Wenn aber Reichenau, die Anſichten
Mantegazzas, Beccaris und Wal—
laces miteinander paarend, ferner ſagt:
„Das Männchen erhält nicht die bunten
oder ſonſt auffallenden Charaktere durch
einen Zufall, welcher durch Liebhaberei der
Weibchen eine beſtimmte Richtung erhält,
ſondern durch das Geſetz, welches die über—
ſchüſſige Lebensenergie in die mit den Ge—
ſchlechtsteilen in Korrelation befindlichen
und mit ihnen vornehmlich gereizten Teile
des peripheriſchen Organismus hineintre—
ten und ſich ihnen anpaſſen läßt“ (S. 106),
ſo muß Referent entſchieden bei der An—
ſicht verharren, daß dieſe Erklärung höch—
ſtens andeutet, woher das Rohmaterial
herſtammt, deſſen ſich die geſchlechtliche
Zuchtwahl bedient, um ihren Schmuck dar—
aus zu züchten. Allein auch hinſichtlich
dieſes Rohmaterials habe ich eine viel
fruchtbarere Vermutung bei Baco gefun—
den. Ariſtoteles hatte die Frage aufge—
worfen, warum unter den Säugetieren
.
.
|
—
}
|
j
NG
Litteratur und Kritik.
nicht ebenſo ſchön rot, blau und grün ge—
färbte Tiere vorkämen, wie bei den Vö—
geln, und darauf geantwortet, der vor—
wiegende Aufenthalt der Vögel in der
Sonne, der Säuger im Schatten ſei die
Urſache. Dies beſtreitet Ba co (Sylva Syl-
varum Exper. 5) durchaus und er ſagt mit
einer merkwürdigen Sicherheit: Verissi-
ma causa est, quod humor excremen-
titius animantium, qui aeque constituit
plumas in avibus ac pilos in bestiis, in
avibus tenuiori et delicatiori colatura
Dieſe
mit ſo großer Zuverſicht ausgeſprochene
Anſicht Bacos, daß die Farben der Vö—
gel aus den Abfallſtoffen entſtehen, iſt vor
vielen Jahren durch den elſäſſiſchen Chemi—
ker Sace inſofern experimentell erwieſen
worden, daß er bei Papageien und andern
Vögeln mit glänzenden Federn nachwies,
daß die ſonſt ſo bedeutende Harnſäure—
transmittatur, quam in bestiis.
Ausſcheidung bei der Mauſerung auf ein
Minimum herabſank, wahrſcheinlich weil
ſie zur Bildung und Färbung der neuen
Federn verbraucht wurde. Nun iſt einer—
ſeits bekannt, daß man aus der Harnſäure
prachtvoll metallglänzende Farben gewin—
nen kann, und andererſeits, daß der Kot
der farbenprächtigſten Tierklaſſen (Repti⸗
lien und Vögel) am reichſten an Harnſäure
iſt; es wäre daher eine dankenswerte
Aufgabe für einen Chemiker, zu unterſu—
chen, ob bei der Mauſerung das pracht-
voll gefärbte Männchen einer Vogelart,
deſſen Weibchen unſcheinbar gefärbt iſt,
nicht viel weniger Harnſäure ausſcheidet,
als dieſes. Dann würde ſich vielleicht die
vermutete höhere Lebensenergie der Männ—
chen auf eine beſſere Ausnützung der Ab—
fallſtoffe reduziren.
Aber möge auch eine höhere Lebens—
485
energie des Männchens das Rohmaterial
zu ſeiner geſchlechtlichen Zierde — die aber
anderswo dem Weibchen eigen iſt! — lie—
fern, zu geſchmackvollen Zeichnungen, Kon—
traſten und Übergängen kann es doch wohl
nur durch eine geiſtig auswählende Thä—
tigkeit gelangen. Wahrſcheinlich liegt die
Wahrheit in der Mitte und zwar in fol—
gender Weiſe: Erasmus Darwin hat
bereits hervorgehoben, daß nicht das ſchö—
nere, ſondern das kräftigere Männchen das
Weibchen in Beſitz nähme, und daß dem—
nach durch die geſchlechtliche Zuchtwahl nur
die Stärke, aber nicht die Schönheit ge—
ſteigert werden könnte. Wenn nun aber
die überſchüſſige Lebenskraft die Urſache
ſchönerer Färbungen wäre, ſo müßten ja
alle jene geſchlechtlichen Zierraten bei dem
ſtärkſten Männchen auch am lebhafte—
ſten zu Tage treten, die Schönheit würde
alſo vermöge der ihr von Natur verbün—
deten Kraft ſiegen, ſo daß doch immer die
geſchlechtliche Zuchtwahl, wenn auch in
dieſem Falle die Wahl des Männchens,
das beſtimmende bliebe, da die weniger
kräftigen und daher weniger ſchönen Männ—
chen nicht zur Fortpflanzung gelangten.
Aber wie oft mag es nicht überdem vor—
kommen, daß der weibliche Vogel, wenn
auch heimlich, den beſiegten, aber ſchönern
Liebhaber dem ſtärkern vorzieht, ebenſo
wie Helena dem Menelaus ihren Paris
vorzog. Vor allem muß konſtatirt werden,
daß die Theorien von Manteg azza,
Wallace und Reichenau kein eigent—
liches Prinzip an die Stelle der geſchlecht—
lichen Zuchtwahl zu ſetzen wiſſen, welches
die geſchmackvolle Steigerung der Zier—
raten erklärt. Man muß auch berückſich—
tigen, daß an die Stelle des ſchönen Ge—
fieders oft ein ſchöner Geſang der Männ—
486
chen tritt, ein Vorzug, den man wahrjchein-
lich nicht mit überſchüſſigen Säften er—
klären können wird, und den man ſogar
im Menſchenleben durch kein beſſeres Mit—
kel zu ſteigern weiß, als durch Wettge—
ſänge und Preiszuteilung von der Hand
ſchöner Frauen.
Aber trotz aller dieſer Meinungsver—
ſchiedenheiten ſtehe ich nicht an, das Reiche—
nauſche Buch für einen ſehr wertvollen
Beitrag zur Erklärung der uns umringen—
den Rätſel zu erklären und ſeine leben—
dige Lektüre jedermann angelegentlich an—
zuraten. 2
Der Realismus der modernen Na—
turwiſſenſchaft im Lichte der von
Berkeley und Kant angebahnten Er-
kenntniskritik. Kritiſche Streifzüge von
Dr. Anton von Leclair. Prag, 1879.
Verlag von Tempsky. IX u. 283 S.
Einem ſtreitbareren und zielbewußte—
ren Kämpen für die phänomenale Auffaſ—
ſung des Naturganzen ſind wir noch nicht
begegnet. Überzeugt davon, daß viele Er—
kenntnistheoretiker, insbeſondere ſolche, die
auch zugleich als Naturforſcher thätig ſind,
bei aller Maskirung dieſes ihres eigent—
lichen Standpunktes nur wenig über den
„naiven Realismus des vulgären Körper—
glaubens“ ſich erheben, unternimmt es der
Verfaſſer, durch eingehende Analyſe irgend
einer als Exempel herausgegriffenen na—
turwiſſenſchaftlichen Frage gewiſſe Wider—
ſprüche und Zirkelſchlüſſe der modernen
Erkenntnislehre nachzuweiſen. Er wählt
hierzu John Stuart Mills teleologifche
Ausſprüche über das Auge und die nach
beſtimmt geſetzmäßigem Plane erfolgte Zu—
ſammenſetzung der das Sehorgan bilden—
den Beſtandteile. Unbewußt oder halbbe—
Litteratur und Kritik.
wußt denkt ſich Mill und Jeder, der in
ähnlicher Weiſe Naturphiloſophie betreibt,
doch immer wieder ein neues Auge hinter
jenem, deſſen Einrichtung ſtudirt wird, und
es entſteht ſo eine für die Gewinnung
wirklicher Erkenntnis abſolut nutzloſe Re-
gressio in infinitum, ſofern man ſich nicht
von vornherein mit Entſchiedenheit auf
den von allem Beiwerk gereinigten Boden
des Kantſchen Kritizismus ſtellt und z. B.
im vorliegenden, konkreten Falle eingeſteht
(S. 14), „daß die Durchſichtigkeit der licht—
brechenden Medien im Auge des A unmit-
telbar nur für das Bewußtſein eines Beob—
achters B beſteht, daß ferner auch die in—
direkte Erkenntnis auf Seiten des Beſitzers
A ſelbſt überhaupt nur unter Voraus-
ſetzung des Senſationsphänomens, das ges
netiſch „erklärt“ werden ſoll, gewonnen
werden kann, daß alſo der Zuſammenhang
jener Durchſichtigkeit mit dem normalen
Sehakt in jedem Falle — als bare That—
ſache — lediglich durch das Zeugnis der
ſinnlichen Erfahrung ſelbſt konſtatirt und
geſtützt werden kann.“ Dieſer Satz bildet
das Fundament für die weitere, unſeres
Erachtens faſt durchaus ſehr glückliche Po—
lemik des Verfaſſers. Gegen den ſeiner
Zeit ſo fröhlich ins Kraut geſchoſſenen
rohen Materialismus führt er wahre Keu—
lenſchläge, die ſicher ihren Mann treffen.
Auch ſonſt iſt die Schrift reich an ſcharf—
ſinnigen Bemerkungen, ſo z. B. S. 45, wo
denen, die die Frage nach den „Antezeden—
tien“ des Bewußtſeins überhaupt nur ſtel—
len, nachgewieſen wird, daß ſie mit dieſer
Frageſtellung ſchon eines der unzweifelhaft f
ſchwierigſten Probleme der Erkenntnisthe—
orie, dasjenige der „Zeit“ ganz en pas-
sant im realiſtiſchen Sinne mit erledigen.
Vom „Ding an ſich“ will unſer Verfaſſer
Litteratur und Kritik.
nichts wiſſen und thut dar, daß jeder Ver—
ſuch, aus dem Komplex der Bewußtſeins⸗
thatſachen, als dem für uns Menſchen ein—
zig und allein Sicheren und Gewußten,
auf irgend ein wie immer beſchaffenes
Transzendentes ſchließen zu wollen, in
ſich verfehlt iſt. Man kann ja nicht leug—
nen, daß dieſe ſchroffe Reinigung des Im—
manenzbereiches von allen Einflüſſen einer
angeblich vorhandenen Außenwelt für un—
ſere anerzogenen Anſchauungen und Ge—
fühle etwas äußerſt Fremdartiges hat und
ganz allmählich verdaut ſein will; es er—
ſcheint höchſt paradox, wenn der Verfaſ—
ſer Clauſius' Schlüſſe über die ihrem
Maximum zuſtrebende Entropie des Welt—
alls aus dem Grunde zurückweiſt, weil der—
artige Ereigniſſe mangels eines dieſelben
in ſich aufnehmenden und kontrollirenden
Menſchengeiſtes jeder Realität entbehren,
oder wenn er den paläontologiſchen Dis—
ziplinen zur Pflicht macht, nicht ohne wei—
teres Rückſchlüſſe auf Zeitperioden zu wa—
gen, in welchen es noch keine Menſchen
gab. Allein wir wüßten nicht, was unter
dem Geſichtspunkt des reinen Denkens —
und ein anderer darf für den Philoſophen
nicht maßgebend ſein, ja gar nicht exiſti—
ren — gegen dieſe kritiziſtiſchen Rekrimina—
tionen ſollte geltend gemacht werden können.
Erhöhtes Intereſſe gewinnt die Dar—
ſtellung des Autors noch dadurch, daß er
in umfänglichen Anmerkungen Auszüge
aus den Schriften hervorragender Forſcher
mitteilt und deren Verhältnis zu ſeinen
eigenen Überzeugungen prüft. Die Art
und Weiſe ſeines Auftretens gegen gewiſſe
Pächter der Unfehlbarkeit, ſo z. B. gegen
David Strauß, iſt nicht ſelten etwas
derb, allein dem eigenen Stil der Be—
\
kämpften völlig angemeſſen. Leicht lesbar
TRITT
487
kann das Buch nicht genannt werden, viel-
mehr erfordert es wirkliches Studium; die
Bilder ſind wohl immer geiſtreich, aber
ab und zu etwas geſucht und muten dem
Leſer etwas viel zu. Wenn z. B. (S. 59)
von der „gegen Himmel ragenden Rieſen—
geſtalt des Antelao“ geſprochen wird, fo
vergißt der Verfaſſer, daß nicht Alle, die
ſich für ſeine philoſophiſche Denkart inter—
eſſiren, ſo genau mit der Topographie der
Ampezzaner Dolomiten vertraut ſein wer—
den, als er ſelber. Das hindert uns indes
nicht, den Leſern dieſer Zeitſchrift, denen
eine korrekt phänomenaliſtiſche Betrachtung
des Naturgeſchehens ja ſchon öfter in de—
ren Spalten geboten ward, die Leclair—
ſche Schrift warm zur Kenntnisnahme zu
empfehlen.
Ansbach.
Prof. S. Günther.
Die Alpenpflanzen. Nach der Natur
gemalt von Joh. Seboth. Mit Text
von Ferdinand Graf und einer An—
leitung zur Kultur der Alpenpflanzen
von Joh. Petraſch, kek. Hofgärtner
im Grazer botaniſchen Garten. Bd. J.
Prag, 1879. Verlag von F. Tempsky.
Auch in Lieferungen à 1 Mark.
Diejenigen unſrer Leſer, die durch
die zahlreichen Aufſätze unſerer Zeitſchrift
über die Alpenflora ein tieferes Intereſſe
für die ſchönen und eigenartigen, durch die
beſondern Verhältniſſe des mitteleuropät-
ſchen Hochgebirges gezüchteten Blumen ge—
wonnen haben und ſie näher kennen zu
lernen wünſchen, werden es uns Dank
wiſſen, wenn wir ſie auf die im Erſchei—
nen begriffenen, muſtergiltigen Abbildun—
gen derſelben aufmerkſam machen, die
von dem Maler Seboth nach der Natur
a
488 Litteratur und Kritik.
entworfen wurden und im Farbendruckaus—
geführt ſind. Man kann ſich nichts An—
mutigeres denken, als dieſe Bilder, welche
die glückliche Mitte zwiſchen botaniſchen
Fakſimiles und künſtleriſchen Porträts inne—
halten. Der Maler hat nicht darauf ge—
halten, in ſeinen Porträts, wie der alte
Denner, jedes Wärzchen und Härchen
mikroſkopiſch getreu wiederzugeben, ſon—
dern vielmehr die allgemeine Erſcheinung
zu packen und das Pflanzenbild erkennbar
für jeden, der die Pflanze jemals in der
Natur geſehen, in ſeiner ganzen leuchten—
den Farbenpracht vorzuführen. Der Far—
bendruck eignete ſich dazu ganz vorzüglich,
und es war eine gute, nur bei dieſer Tech—
nik durchführbare Idee, die zahlreichen
ſchneeweiß blühenden Alpenkinder auf ei—
nem zarten gelbbräunlichen Grunde zu
drucken, von dem ſich die weißen Blüten
höchſt wirkſam abheben. Die Pflanzen
mit farbigen Blumen ſind dagegen auf wei—
ßem Grund gedruckt. Der Text enthält
eine genaue Beſchreibung der dargeſtell—
ten Pflanzen und iſt von dem berühmten
Alpenpflanzen-Kenner Prof. A. Kerner
einer ſorgſamen Reviſion unterzogen wor—
den, was um ſo dankenswerter iſt, als ſich
infolge einer tötlichen Krankheit des erſten
Herausgebers verſchiedene Irrtümer ein—
geſchlichen hatten. Der neue Herausgeber,
Hofgärtner Petraſch, hat eine wertvolle
Anleitung zur Zucht der Alpenpflanzen in
an
der Ebene dem erſten Bande hinzugefügt.
Was die Auswahl betrifft, ſo ſoll jeder
Band hundert Pflanzenporträts bringen,
ſo daß die intereſſanteſten Alpenpflanzen
in wenigen Bänden dargeſtellt ſein werden.
Man wird dann ein Werk haben, welches
ſich ebenſo wohl als eine ſchöne Erinne—
rung an unvergeßliche Wanderungen in
dieſen herrlichen Regionen empfiehlt, wie
auch zum müheloſen Beſtimmen ſelbſt ge—
ſammelter Pflanzen, und als Illuſtration
fremder touriſtiſcher und wiſſenſchaftlicher
Schilderungen eignet. Die Anordnung iſt
nach dem natürlichen Syſtem und die Aus—
wahl ganz zweckmäßig ſo getroffen, daß,
um die Einförmigkeit zu vermeiden, in je—
dem Bande Vertreter der Hauptfamilien
zu finden ſind. So bringt z. B. der erſte
Band 12 Ranunkulazeen, 5 Karyophyleen,
6 Roſazeen, 5 Saxifrageen, 16 Kompoſi—
ten, 7 Enziane und 10 Primeln. Ein voll-
ſtändiges Regiſter im Schlußbande wird.
die ſchnelle Auffindung jeder einzelnen Art 9
ermöglichen. Dem ganzen Werk ſieht man
es an, daß ſein Verleger als begeiſterter
Verehrer dieſer ſo vielen Menſchen ver—
borgenen Schönheiten ſein Buch mit Liebe
geplant und ohne irgend welche Hinder—
niſſe zu ſcheuen durchgeführt hat. Beſon—
ders iſt bei dieſer gediegenen Ausſtattung
der ſehr billige Preis hervorzuheben, wel—
cher bei dem lieferungsweiſen Erſcheinen
die Anſchaffung ſehr erleichtert. K.
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Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig.
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S3IHYHEIT NOILNLILSNI NVINOSHLINS
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