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Full text of "Köpfe"

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MAXIMILIAN  HARDEN 

PROZESSE 

DRITTER  TEIL  DER  KÖPFE 


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MAXIMILIAN  HÄRDEN 

KOPFE 

DRITTER  TEIL 


ERSTES  BIS  DREIZEHNTES  TAUSEND 


VERLAG/ERICH  REISS/ BERLIN 

1913 


MAXIMILIAN  HARDEN 


KÖPFE  in. TEIL 


> 


ERSTES  BIS  DREIZEHNTES  TAUSEND 


VERLAG/ERICH  REISS/BERLIN 

1913 


UMSCHLAG    UND    EINBANDZEICHNUNG 
VON  PROFESSOR  WALTER  TIEMANN 


VON  DER  ERSTEN  AUFLAGE  DIESES  BUCHES 
KAMEN  ZWANZIG  EXEMPLARE  AUF  ECHT 
VAN  GELDER  BÜTTEN  GEDRUCKT,  IN 
GANZLEDER  GEBUNDEN  UND  HAND* 
SCHRIFTLICH  NUMERIERT,  ZUR  AUSGABE 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN,  BESONDERS 

DAS  OBERSETZUNGSRECHT 
COPYRIGHT  1913  BY  ERICH  REISS  VERLAG 


1 


INHALTSVERZEICHNIS 


0 


Sdte 

Richter  Pontius 11 

Therese  Humbert 29 

Per  Hauslehrer 51 

Das  Blumenmedium 81 

Gräfin  KwÜecka 93 

Moritz  Levy 157 

Fürst  Eulenburg 169 

Hau 287 

Schoenebecks 345 

Moltke  wider  Hardcn 409 

Stemickel 509 


RICHTER  PONTIUS. 


Freitag,  der  vierzehnte  Nisan  33;  der  Tag,  da  jeder  Haus^ 
vater  in  Israel  das  einjährige  Lamm  zum  Passahmahle  be^ 
reitet*  Wo  heute  der  Mutesarrif  von  Jerusalem  gjaurischen 
Gaffern  seinen  Harem  verbirgt,  steht,  dicht  neben  dem  auf 
den  Namen  des  Marcus  Antonius  getauften  Thurm,  der  alte 
Palast  des  Herodes.  Hier,  im  Prätorium,  gebietet  Rom, 
spricht,  im  Namen  des  Kaisers  Tiberius,  der  Prokurator  von 
Judaea  das  Recht.  Pontius  heißt  er  und  trägt,  zur  Erinnerung 
an  einen  dem  Ahnen  verliehenen  Ehrenspeer,  den  Beinamen 
des  Pilatus.  Ein  vornehmer  Römer,  der  sich  unter  dem  rück^ 
ständigen  Judenvolk  unbehaglich  (uhlt  und  von  diesem 
Volke  gehaßt  wird,  als  sei  er  der  Urheber  fortwirkenden 
Unheils.  Sein  Mühen,  die  Verwaltung  der  Provinz  zu  mo^ 
demisiren,  bessere  Verkehrsmittel  und  eine  dem  neuen  Be^ 
dür&iß  angepaßte  Vertheilung  der  öffentlichen  Arbeiten  zu 
schaffen,  scheitert  am  starren  Felsgestein  des  mosaischen  Ge^ 
setzes  und  bringt  ihm,  statt  Dankes,  nur  noch  stärkeren 
Widerhall  der  Volkswuth  ins  Haus.  Der  kühle,  im  Dienst 
nüchterner  Vernunft  erzogene  Praktiker  muß  überhitzten 
Schwärmern  ein  Gräuel  sein.  Er  will  ihnen  ein  helles,  luf^ 


11 


tiges  Wohngebäude  in  gutem  Römerstil  errichten;  sie  wollen 
in  ihrer  dumpfen,  luftlosen,  unfrohen  Gespensterwelt  weitere 
hausen,  wo  Schatten  nur,  talmudische  Schemen  herrschen  und 
jede  natürliche  Regung,  heute  wie  gestern,  als  Todsünde  gilt 

Rom  und  Judaea  verstanden  einander  niemals.  Wenn  der 
Prokurator  einen  nützlichen  Neubau  befiehlt,  schreien  die 
Juden  empört  auf;  wenn  er  vor  dem  Prätorium  zwei  Votiv^ 
tafeln  anbringen  läßt,  kreischen  sie,  der  Römerschmuck 
schände  die  Nachbarschaft  der  Heiligen  Mauer.  Seine  Strenge 
scheint  ihnen  grausamste  Härte,  seine  lächelnde  Ruhe  der 
Ausdruck  hochmüthiger  Verachtung.  Daß  er  gerecht  zu  sein 
sucht,  wollen  sie  nicht  sehen;  meiden  ihn,  wo  sies  können, 
und  beschuldigen  ihn  insgeheim  der  schimpflichsten  Laster. 
Am  Ende  giebt  er  sich  drein.  Mit  diesen  wunderlichen 
Leuten,  deren  schriller  Wesenston»  deren  grellbunte,  ewig 
überreizte  Phantastik  den  römischen  Rationalisten  an  das 
Zerrbild  Irrsinniger  mahnt,  ist  nichts  zu  machen.  Das  Ver^ 
nünftigste  ist,  sie  laufen  zu  lassen,  bis  sie  sich  die  Köpfe 
einrennen,  und  nur  dafür  zu  sorgen,  daß  sie  dem  Imperium 
gehorsam  bleiben  und  ihre  Steuer  zahlen.  Mit  ihren  Haar^ 
spaltereicn  und  Sektenfehden  mochten  sie  selbst  fertig  wer^ 
den;  ein  Glück,  wenn  ein  kultivirter  Mensch  sich  mit  dem 
spekulativen  Wust  solchen  rachsüchtigen  Gesindek  nicht  ab^ 
zugeben  braucht  und,  gelassen,  den  Wel^eist  schlürfen  kann. 

Jetzt,  seit  ein  paar  Monaten,  haben  die  Ruhlosen  schon  wieder 
Etwas;  irgendwo  eine  neue  Sekte,  die  den  Orthodoxen  zu 
schaffen  macht.  Ein  armer  Teufel  giebt  sich  für  den  König 

12 


der  Juden  aus  (Manche  behaupten  sogar:  fiir  den  Sohn 
Jahwes),  gaukek  dem  in  schmutzigem  Elend  hinsiechen^ 
den  Volk  Wunder  vor,  vermißt  sich,  den  heiligen  Tempel  des 
Herrn  niederzureißen  und  in  drei  Tagen  wiederaufzubauen, 
und  sein  Anhang  wächst  mit  jedem  Mond.  Der  Unfug  endet 
nicht.  Dieses  Volk  kommt  eben  nie  in  Ruhe.  Zwei  Dutzend 
Sekten:  und  immer  wieder  kltingelts  sich  irgendwo  zusamt 
men;  gestern  in  Samaria,  morgen  in  Galilaea.  An  jeder 
Straßenecke  stößt  man  auf  ein  streitendes  Grüppchen.  Das 
fuchtelt  mit  verrenkten  Armen  durch  die  Luft,  spricht  mit 
Händen,  Schultern,  mit  allen  Gliedern  und  rauft,  wenn  der 
Schimpfredestrom  stockt,  dem  Gegner  die  Barthaare  aus. 
Lallt  in  Hungerparoxysmen  gar  Einer  Worte  prophetischen 
Wahns,  dann  zerreißen  Zwei,  Drei  ihre  schmierigen  Kleider, 
schlagen  die  Brust,  wälzen  sich  auf  dem  Boden,  verwünschen 
sich  selbst,  ihre  Kinder  und  ihrer  Kinder  Samen.  So  fand 
sie  Coponius,  Caesars  Statthalter;  und  ganz  so  sind  sie  unter 
Tiberius  geblieben.  Ohne  Ekstasen  geht  es  im  Wortvolk 
nicht.  Dabei  eine  Ueberhebung,  der  die  Gestirne  kaum  eine 
Grenze  setzen.  Alles  wollen  sie  besser  wissen  als  andere 
Menschen,  deren  Nähe  schon  in  Festzeiten  ihre  Reinheit  be^ 
fleckt;  und  die  Römericultur,  die  sich  den  Erdkreis  untere 
warf,  soll  sich  in  Demuth  nun  asiatischem  Aberglauben  an^ 
passen.  Die  aus  Caesarea  nach  Jerusalem,  ins  Winterquartier, 
heimkehrenden  Truppen  durften  auf  dem  Adlerspeer  nicht 
das  Bild  des  Kaisers  tragen:  denn  Moses  hat  allen  Bildern 
kuk  verpönt.   Der  Prokurator,  der  aus  einer  zweihundert 

13 


Stadien  entfernten  Quelle  der  Hauptstadt  reines  Wasser  zu^ 
fuhren  wollte,  mußte  die  Arbeit  einstellen,  die  Röhren  wie^ 
der  aus  der  Erde  nehmen  lassen:  denn  sein  Beginnen  ward 
als  Sakrilegium  verschrien  und  Vitellius,  der  träge,  genu& 
süchtige  Ptokonsul  in  Syrien,  befsJil,  das  Aergemiß  schnell 
wegzuräumen.  Was  war  mit  diesen  Leuten  auch  anzufangen, 
die  dem  Schwerte  den  bloßen  Hals  boten  und  schworen, 
tausendmal  lieber  sei  ihnen  der  qualvollste  Tod  als  des  Sinais 
gesetzes  Verletzung?  Ihr  Gesetzl  Es  ist  ihnen,  seit  Sit  aus 
Egypten  geflohen  sind,  Vaterland,  Imperator,  Gott;  und 
seiner  Herrlichkeit  darf  sich  keine  Satzung  der  Gojim  ver^ 
gleichen.  Die  Hybris,  das  üppige,  furchtbare  Weib,  vor  dem 
einst  Hellas  erbebte,  schien  den  goldenen,  von  phoinikischem 
Purpur  strotzenden  Prunkwagen  durchs  Judäerland  gelenkt 
und  an  den  rosigen  Saugwärzchen  die  ganze  Judenheit  ge^ 
stillt  zu  haben.  Wir  sind  berufen,  nur  wir  auserwählt;  und 
ist  das  Gesetz  erfüllt,  das  heiligste,  uns  nur  gespendete, 
dann  naht  der  Maschiach,  der  Sproß  Davids  und  Erbe  des 
großen  Eliahu,  und  setzt  Israel  zum  Herrn  über  die  Welt. 
Und  solchen  Kinderglauben  sollten  Hysteriker  und  Be^ 
trüger  nicht  nützen?  In  kurzen  Zwischenräumen  versuchten 
Abenteurer  sich  in  der  Thaumaturgenrolle,  kündeten  Jahr^ 
marktzauberer  neue  Lehre,  gaben  Cerebrastheniker  sich  fiir 
den  Maschiach  aus.  Meist  versickerte  ihr  Wirken  bald;  £m# 
den  sie  aber  bei  der  Masse  Gehör,  so  schritt  der  Sanhedrin 
rächend  ein  und  klagte  die  Lästigen  des  Verbrechens  wider 
die  reine  Religion  Israek  an.  Im  Haus  des  Hohenpriesters 

14 


wurden  zwei  Kerzen  angezündet,  in  einem  Verschlag  horche 
ten  zwei  Zeugen:  und  der  mesith,  der  Verführer,  mußte  nun 
seine  Lästerrede  wiederholen.  Wenn  er  sich  willig  zum 
Widerruf  zeigte,  kam  er  glimpflich  davon;  blieb  er  aber  starr 
in  seinem  ketzerischen  Wollen,  so  zerrten  die  beiden  Zeugen 
ihn  vors  Tribunal  und  die  Strafe  der  Steinigung  war  ihm 
gewiß.  Der  Sanhedrin  hatte,  seit  Rom  in  Syrien  gebot,  nicht 
mehr  das  Recht,  Todesurtheile  vollstrecken  zu  lassen;  erst 
durch  die  Bestätigung  des  Prokonsuls  oder,  wenn  der  Vcr^ 
urtheilte  nicht  im  römischen  Biirgerrecht  saß,  des  Prokurators 
erhielten  sie  Rechtskraft.  Die  Menge,  Priester  und  Pharisäer 
an  ihrer  Spitze,  lief  also  vors  Prätorium  und  briillte,  bettelte, 
heulte,  bis  dem  Vertreter  des  Caesar  Augustus  die 
abgetrotzt,  abgeschmeichelt  war.  So  wars  immer;  zw« 
hatte  Pontius  das  alte  Schauspiel  erlebt.  Freitag,  am  vier^ 
zehnten  Nisan  des  Jahres  33,  sollte  ers  wieder  erleben. 

Heute  wenigstens  hatte  er  sich  ungestörte  Ruhestunden 
erhofft.  Der  dritte  Apriltag  des  julianischen  Kalenders;  der 
Tag,  an  dem  die  Juden  das  Passahlamm  essen  und  durch 
jeden  Schritt  ins  unreine  Römerhaus  sich  besudeln,  vom  Fest 
ausschließen  wtirden.  Auch  der  wüsteste  Aberglaube,  mochte 
Pontius  denken,  hat  also  seine  guten  Seiten.  Einerlei:  ein 
hartes  Schicksal  bleibts,  unter  dieser  dunklen  Sippschaft  ver» 
sauem  zu  miissen.  Wit  behaglich  könnte  man  jetzt  in  Bajae 
leben I  Im  April  ist  dort  Hochsaison;  die  ganze  reiche,  ele^ 
gante  Gesellschaft  der  Urbs  labt  sich  in  dieser  Zeit  an  den 
Aquae  Cumanae.  Man  träfe  alte  Freunde,  könnte  am  Aver^ 


15 


ner  See  bis  in  die  Nacht  hinein  plaudern»  mit  schönen 
Frauen  am  Strand  oder  in  der  Sibyllengrotte  schäkern,  bis 
bei  Misenum  die  Sonne  aufsteigt,  morgens  endlich  wieder 
einmal  frische  Austern  schlürfen  und  leichten  Landwein 
trinken;  und  der  alkalische  Säuerling  nebst  ein  paar  Schwer 
feidampf bädem  thäte  dem  erschlafften,  im  Orientklima  ge^ 
dunsenen  Leib  sicher  gut.  Hier  hat  man  gar  nichts.  Kaum 
einen  Menschen,  mit  dem  ein  philosophisch  gebildeter  Geist 
ein  Gespräch  (Uhren  kann.  Soll  man  etwa  über  Mischna  und 
Babylonischen  Talmud  schwatzen?  Nur,  um  sich  mit  den 
Leuten  leidlich  zu  stellen,  nur,  damit  sie  Einen  am  Hof  des 
Tiberius  nicht  länger  als  Tyrannen  und  Feind  ihres  Volkes 
anschwärzen?  Zu  solcher  Sklavengesinnung  emiedert  ein 
Pilatus  sich  nicht.  Was  also  bleibt?  Ein  paar  gute  Bücher; 
doch  man  kann  nicht  den  ganzen  Tag  lesen  und  wird  unter 
dieser  Sonne  so  matt,  daß  man  mählich  sogar  die  Mühe 
scheut,  seinen  Piaton  oder  Epikur  aufzurollen.  Bei  Tisch 
muß  man  sich,  wenn  man  nicht,  wie  der  Prokonsul,  für 
schweres  Geld  Leckerbissen  aus  der  Feme  verschreibt,  fast 
schon  in  die  hebräische  Speisesitte  bequemen.  Was  sonst? 
Claudia  Ptocula,  die  liebe  Hausfrau;  sehr  zärtlich,  ungemein 
wohlerzogen  und  dekorativ,  aber  der  lebemännisch  ver^ 
wohnte  Sinn  langt  nach  Abwechselung.  Und  was  hier  an 
Weibern  zu  haben  ist,  riecht  nach  Schminke,  Myrrhen  und 
Salben;  ist  fUr  einen  müden  Herrn  auch  gar  zu  hitzig.  Dicke 
Lippen,  feuchte,  runde  Augen,  geöltes  Haar  und  eine  Ueber^ 
fülle  gelblichen  Fleisches:  Barbarenkost,  mit  der  im  Felde 

16 


der  darbende  Krieger  vorliebnimmt,  die  den  an  feiner  zuge^ 
richtete  Mahlzeit  gewöhnten  Gaumen  aber  nicht  reizt.  Eher 
können  die  Syrerknaben  sich  sehen  lassen.  Doch  man  paßt 
den  Römern  hier  lauernd  stets  auf  den  Weg  und  wiirde 
jauchzen,  wenn  man  den  Landpfleger  als  Kinaeden  den  rö^ 
mischen  Hofdamen  denunziren  könnte.  Vor  neidischer 
Weiblichkeit  darf  nur  der  Höchste  blanke  Knaben  um^^ 
armen.  Nichts.  Als  einzige  Würze  Aerger  von  früh  bis 
spät.  Keine  Möglichkeit,  vernünftige  Kolonialpolitik  zu  trtu 
ben;  denn  die  Bräuche  und  Sitten  der  ehrenwerthen  Judäer 
sollen  ja  sorgsam  gewahrt  werden.  Doch  was  hilft  alles 
Stöhnen?  Ein  angenehmerer  Posten  ist  von  hier  aus  nicht 
zu  erhaschen;  jeden  noch  nicht  völlig  entfleischten  Knochen 
schnappt  die  Palastmeute  weg.  Also  hübsch  die  Zähne  zu» 
sammenbeißen  und  froh  sein,  daß  man  heute  wenigstens, 
am  Tage  des  Passahlammes,  vor  der  Judenhorde  Ruhe  hat. 

Ein  Getümmel,  dessen  Hall  allzu  oft  schon  in  sein  Ohr 
drang,  reißt  den  Römer  aus  tröstenden  Nachmittagsträumen. 
Nicht  mal  am  Feiertag  Rubel   Was  giebts  denn  wieder? 

Die  Juden  bringen  einen  Verbrecher.  Da  sie,  nach  ihrem 
Gesetz,  heute  nicht  ins  Prätorium  dürfen,  bleiben  sie  draußen 
und  bitten  den  Prokurator,  zu  ihnen  auf  die  Gabbatha  zu 
treten.  Auch  dieser  Tag  ako  vergällt!  Und  welcher  Misse«* 
that  ist  der  Mann  angeklagt,  den  sie  vor  meinen  Stuhl 
schleppen?  Er  ist  schon  überführt  und  verurtheilt.  Kajaphas, 
der  Hohepriester,  und  Hanan,  dessen  Schwiegervater,  haben 

2.  III  17 


ihn  selbst  verhört;  und  er  hat  nicht  geleugnet.  Ein  Volks* 
Verführer.  Hier,  in  Jerusalem,  hat  er  mit  seiner  Predigt  nur 
geringen  Erfolg  gehabt,  immerhin  aber  ein  paar  wohlhabende 
Bürger,  Joseph  von  Arimathia,  Nikodemus,  vielleicht  noch  Den 
oder  Jenen,  fiir  seine  Sache  gewonnen.  Doch  auf  dem  Lande, 
unten  in  Galilaea,  soll  das  Volk  ihm  in  hellen  Haufen  nach* 
gerannt  sein.  Läßt  sich  den  König  der  Juden  nennen  und  prahlt, 
er  könne  den  Tempel  Jahwes  zerstören  und  in  drei  Tagen  wieder 
aufbauen.  Derists?  Dem  ging  der  Ruf  ja  voran.  Der  neue  Ab* 
gott  aller  Elenden.  Den  haben  sie  auch  schon  in  der  Schlinge? 
Ja ;  zweier  Zeugen  Mund  sprach  gegen  ihn  und  er  hat  die  Aus* 
sage  verweigert.  Pontius  hebt  die  Achseln.  Ich  bin  nicht  Legat 
noch  Prokonsul,  habe  nicht  Gewalt  über  Leben  und  Tod;  die 
Pfaffen  mögen  ihr  Opfer  vor  das  Antlitz  des  Vitellius  führen. 
Das  sei  nicht  nöthig,  sagen  sie;  denn  da  Jesus  (so  heißt  der 
Verbrecher)  nicht  römischer  Bürger  sei,  brauche  das  Urtheil 
nur  vom  Landpfleger  bestätigt  zu  werden.  So  wolle  es  in  Judaea 
der  überUeferte  Brauch;  und  des  Kaisers  Majestät  habe  be* 
fohlen,  das  kanonische  Recht,  das  der  Talmud  vorschreibt,  mit 
der  Macht  des  Reiches  zu  schützen.  Pontius  wendet  sich  weg; 
der  Centurio  soll  ihm  den  Aerger  nicht  vom  Gesicht  ab* 
lesen,  soll  den  hohen  Vorgesetzten  nicht  knirschen  hören. 
Schlau  ist  die  Sippe.  Sie  weiß,  welche  Tonart  sie  pfeifen 
muß,  damit  alle  Puppen  tanzen.  Des  Kaisers  Majestät!  Die 
leise  Drohung  vrürde  selbst  den  faulen  Prokonsul  vom  Trikli* 
nium  scheuchen.  Schnell  die  Toga  her;  die  Riemen  der 
Sandalen  fester  gezogen,  träger  Bursch:  und  hinaus.   Weils 


18 


doch  nun  einmal  sein  muß.  Auf  den  Steinplatten  des  Vor^ 
hofes  steht  die  Bima,  der  Elphenbeinstuhl  des  Richters. 

Schon  sitzt  er  und  thront.   Was  habt  Ihr  vorzubringen? 

Pontius  hätte  mit  der  elenden  Denunziantengeschichte  am 
Liebsten  nichts  zu  thun  gehabt.  Und  während  er  auf  dem  Richter«: 
sitz  sinnt,  wie  er  sich  der  Amtsbiirde  noch  jetzt  entziehen  könne, 
während  aus  dem  wirren  Menschengeknäuel  zwanzig,  vierzig 
Stimmen  die  verabredete  Anklage  in  sein  Ohr  kreischen,  kommt 
aus  seinem  eigenen  Haus  eine  Warnung.  Claudia  Procula  läßt 
ihn  durch  einen  verschwiegenen  Boten  beschwören,  den  Ange^ 
klagten  zu  schonen ;  ein  Traum  habe  sie  gelehrt,  daß  dem  Gatten 
das  Blut  dieses  Gerechten  Unheil  bringen  werde.  Merkwürdig. 
Hatte  nicht  Calpumia  ihren  Gajus  Julius  mit  ähnlicher  Rede  ge^ 
warnt?  Der  blinden  Sektenwuth  ist  Alles  zuzutrauen.  Und 
wenn  der  zu  schmählichem  Tod  Verurtheilte  wirklich  ein  Ge^ 
rechter  wäre. . .  Des  Richters  Auge  sucht  ihn.  Ein  schöner,  sanft 
blickender  Kopf;  nichts  von  irrer  Schwärmerekstase;  und  die 
Gestalt  fast  noch  eines  Jünglings.  Ruhig  schaut  er,  mit  der 
Zuversicht  getroster  Unschuld;  und  in  dem  milden  Leuchte 
ten,  das  von  diesem  Haupt  über  den  fromm  zeternden  Pöbel 
hin  strahlt,  ist  eine  Hoheit,  daß  der  Fremdling  nicht  staunen 
würde,  wenn  er  vernähme:  Dieser  ist  wahrlich  der  König 
der  Juden I  Doch  er  ists  ja  nicht;  und  weil  ers  zu  sein  vor«* 
gab,  steht  er  vor  Gericht.  Pontius  steigt  von  der  Bima  herab. 
Diese  Sache  darf  ein  redlicher  Römer  nicht  nach  der  Alltags^ 
schnür  messen;  dem  Seelenkenncr  gebührt  hier  das  Wort. 
Auf  den  Wink  seines  Richters  folgt  Jesus  ihm  ins  Prätorium, 

r  19 


Der  Prokurator  will  allein  mit  ihm  sprechen;  unter  vier 
Augen.  Bist  Du,  fragt  er,  der  Judenkönig?  Der  Galiläer, 
dessen  Zunge  doch  immer  noch  das  zweischneidige  Schwert 
ist,  biegt  zuerst,  mit  alexandrinischer  Dialektik,  der  heiklen 
Frage  aus;  antwortet,  als  echter  Sohn  Israek,  mit  einer  Gegen^ 
frage:  Kam  Dir  selbst  solcher  Glaube  oder  haben  Andere 
Dir  ihn  eingeträuft?  Dann  aber  spricht  er  gelassen  das 
größte  Wort:  Mein  Reich  ist  nicht  von  dieser  Welt;  wäre 
es,  meine  Diener  würden  drum  kämpfen.  So  bist  Du,  Jesus 
von  Nazareth,  dennoch  ein  König?  Bin  ein  König,  auf  die 
Erde  gesandt,  die  Wahrheit  zu  zeugen;  und  den  Wahrha& 
tigen  ist  meine  Stimme  nicht  leerer  Schall.  Diese  Antwort 
gefallt  dem  Pilatus  nicht.  Stolze  Rede  kleidet  gekränkte  Un^ 
schuld  gut;  doch  die  Skepsis  des  Römers  wehrt  sich  gegen 
den  Irrwahn,  Wahrheit,  eine,  die  Allen  und  überall  wahr 
ist,  lasse  sich  vom  Weisen  nicht  erstreben  nur,  nein:  auch  als 
Privilegium  besitzen.  Er  lächelt,  blickt  zur  aufsteigenden 
Sonne  empor  und  fragt,  mit  kaum  vernehmbarem  Spott  in 
der  Stimme:  Was  ist  Wahrheit?  Danach  aber  besinnt  er  das 
rasche  Wort.  Wie  wäre  ein  gläubiger  palästinischer  Israelit 
in  die  Schule  des  Pyrrhon  und  Timon  aus  Phlius  gelangt? 
Seiner  Jugend,  die  in  der  Welt  Etwas  wirken  will,  wirds 
sicher  zum  Segen  sein,  daß  er  sich  nicht  auf  die  kahle  Fek«« 
klippe  verstieg,  wo  die  Skeptiker  brutlos  hausen.  Lange  be^ 
trachtet  der  Römer  den  Galiläer.  Beim  Mahl  möchte  er  ihn 
nicht  als  nächsten  Tischgenossen;  auch  beim  Tanz  heiterer 
Mädchen,  wenn  nach  der  Tafel  das  Gespräch  der  Ruhenden 


20 


von  den  höchsten  zu  den  niedersten  Dingen  flattert,  in 
frechem  Sprung  von  der  Gottheit  zur  Thierheit  hüpft,  sähe 
er  ihn  nicht  gern  neben  sich  auf  dem  Pfühl.  Roms  Kultur 
fehlt  ihm;  und  fragte  man  ihn  nach  dem  Werth  alter  und 
neuer  Philosophensysteme,  er  bliebe  die  Antwort  wohl 
schuldig.  Reinen  Sinnes  aber  ist  er  gewiß,  bis  auf  den 
Grund  der  Seele  ohne  Fleck;  und  nicht  gewöhnlichen 
Schlages.  Kein  Marktwundermann;  Keiner  von  Denen,  die 
Anderen  nachloben,  nachschimpfen,  nachplärren.  Pontius 
geht  hinaus  und  spricht  zu  den  Priestern  und  Pharisäern: 
Ich  finde  keine  Schuld  an  dem  Manne.  (Lukas  selbst,  der 
zu  den  kritischen  Evangelisten  gehört,  hat  den  Spruch  mit  den 
unzweideutigen  Worten  aufgezeichnet:  oidkv  eigtaxo)  ahiov 
ev  xq>  äv^Q(&7up  tovtq>.)  So  sprach  der  Richter  zum  Volk. 
Und  dennoch  war  der  Prozeß  nicht  zu  Ende;  wurde  das 
Verfahren  nicht  schnell  eingestellt.  Keine  Schuld  an  ihm? 
heulten  die  Juden.  Der  dem  Imperium  die  Steuer  weigert? 
Sich  einen  König  nennt,  des  Kaisers  Machtbereich  also  klei<* 
nert?  Keine  Schuld  an  Einem,  der  sich  erdreistet,  Gott  seines 
Fleisches  Vater  zu  heißen?  Wer  Diesen  der  Strafe  entzieht, 
sundigt  nicht  nur  gegen  unser  Gesetz,  sondern  frevelt  auch 
gegen  den  Kaiser  I  ^eder  sollte  die  Majestät  den  Landpfle^ 
ger  schrecken;  und  wieder  wirkte  die  Drohung.  Hinter  den 
sanften  Zügen  des  Mannes  aus  Nazareth  tauchte  der  düstere 
Gewitterkopf  des  Tiberius  auf.  Das  wäre  ein  Fressen  für  die 
Feinde  des  Pilatus!  Nein.  Noch  einmal  versucht  ers  in  Güte. 
Nach  altem  Brauch,  ruft  er  vom  Beinstuhl  ins  Gewimmel, 

21 


wird  vor  Passah  stets  ein  Verbrecher  begnadigt;  wollt  Ihr, 
so  gebe  ich  auf  der  Stelle  den  König  der  Juden  frei.  Zwei, 
drei  Sekunden  lang  schweigt  Alles,  schwankt  selbst  das  här^ 
teste  Herz;  schon  aber  hat  ein  schlauer  Priester  einen  anderen 
Namen  getuschelt,  der  von  Mund  nun  zu  Munde  fliegt,  und 
wie  ein  einziger  Schrei  dröhnt  es  jetzt  aus  allen  Kehlen: 
Jesus  Barrabas  sei  der  Feiertagsgnade  theilhaft,  doch  Dieser 
hier  büße  am  Kreuz  1  Jesus  Barrabas  saß  wegen  politischen 
Meuchelmordes  im  Gefangniß,  war  aber  während  einer  lAtUf 
terei  verhaftet  worden  und  in  Jerusalem  ein  Liebling  der 
Pöbelinstinktc  geblieben.  Ihn  wollten  sie  wiederhaben;  und 
der  Galiläer,  der  ärgere  Jesus,  sollte  am  Kreuz  verröcheln. 

Am  Kreuz?  Er  hatte,  sie  wolltens  beweisen,  das  Kirchenit 
dogma  angegriffen,  die  Glaubenssatzung  zu  brechen  getrach« 
tet.  Das  war,  als  Siinde  wider  das  mosaische  Gesetz,  mit  der 
Steinigung  zu  ahnden.  Die  Kreuzigung  war  eine  Römerstrafe. 
Aber  Judaea  wollte  Rom  die  Verantwortung  der  That  auflas 
den:  als  Feind  des  Kaisers  sollte  der  Galiläer  verurtheilt, 
gerichtet  werden;  wer  konnte  auch  wissen,  ob  Pontius  sich 
sonst  zur  Vollstreckung  des  Urtheiles  herbeigelassen  hätte? 
Nun  muß  er  nachgeben.  Zu  oft  schon  war  er  in  Rom  vtu 
klatscht  worden.  Er  zaudert  noch.  Vielleicht,  denkt  er,  ge^ 
nügt  der  Rachsucht  ein  kleines  Zugeständniß.  Er  befiehlt, 
den  Gefangenen  auszupeitschen,  und  duldet,  daß  die  aufge^ 
lesenen  Kolonialkriegsknechte  (rechtschaffene  Legionäre  hätn 
ten  sich  niemals  in  so  rüde  Ungebühr  emiedert)  dem  Armen 
eine  Domenkrone  aufs  Haupt  stiilpen,  ihn  in  Purpurfetzen 

22 


wickeln,  anspeien»  umtanzen,  umhöhnen.  Er  duldets;  und 
hofit,  die  Wuth  werde  nun  gesättigt  sein.  Umsonst.  Der 
Priesterfeind,  der  Volksverfuhrer  muß  sterben.  Nur  mit  Wa& 
fengewak  hätte  der  Prokurator  die  Tobenden  zu  bändigen 
vermocht;  und  durfte  er  wagen,  um  eines  jüdischen  Sektirers 
willen  den  Römerfrieden  der  Provinz  zu  stören?  Vergebens 
sucht  er  den  Herodes  Antipas  als  zuständigen  Richter  des 
Galiläers  vorzuschieben.  Er  muß,  nur  er  kann  entscheiden. 
Da  erst  fühlt  er  zu  Häupten  ein  großes  Schicksal.  Vor  allem 
Volk  wäscht  er  die  Hände,  hebt  sie  und  spricht:  Nicht  an 
meinen  Fingern  klebt  das  Blut  dieses  Gerechten!  Dann  giebt 
er  Barrabam  frei;  und  der  andere  Jesus  keucht  mit  seinem 
Kreuz  nach  Golgatha,  dem  Schädelberg,  die  Höhe  hinan. 

Auf  seine  Weise  hat  Pontius  sich,  als  Ironiker,  an  dem 
konservativen  Klüngel  gerächt,  der  ihm  die  Sanktion  des 
frommen  Mordes  abzwang.  Immer  wieder  gab  er,  ihren 
Ohren  zum  Aerger,  dem  vom  Sanhedrin  Verurtheilten  den 
Titel  des  Judenkönigs.  Er  ließ  ihn  emiedem,  zum  Spottbild 
ausputzen:  und  wies  ihn  dem  Volk  und  sagte:  Sehet  her: 
welch  ein  Mensch I  Zweimal  fragte  er  überlaut:  Soll  ich  Euren 
König  kreuzigen?  Schrieb  mit  eigener  Hand  über  das  Kreuz: 
»Jesus  von  Nazareth,  der  Juden  König«;  griechisch,  lateinisch, 
hebräisch.  Und  da  die  Priester  ihn  drängten,  die  Inschrift 
zu  ändern,  denn  Jener  sei  nicht  ihr  König,  gaukle  ihn  nur, 
ward  ihnen  zur  Antwort:  Was  ich  schrieb,  schrieb  ich.  Er 
wollte  ihnen  nicht  hehlen,  wie  er  sie,  wie  den  sittlichen  Werth 
ihres  Feindes  schätze.  Der  schwindende  Tag  fand  ihn  wohl 

23 


in  unfrohem  Sinnen.  Und  als  Joseph,  der  Rathsherr,  abends 
die  Botschaft  ins  Prätorium  brachte,  Jesus  sei  am  Kreuz  ge^ 
storben,  wollte  der  Prokurator  sie  kaum  glauben.  Hatte  der 
Römer  etwa  dem  diirftigen  Galiläer  Götterkraft  zugetraut? 

Er  ist  hart  behandelt  worden.  Von  Denen  zuerst,  die  ihm 
Dank  schuldig  waren.  Drei  Jahre  nach  Christi  Tod  entstani> 
den  im  Judäergebiet  neue  Unruhen.  Die  Männer  von  Sama» 
fla,  die  schon  den  Coponius  geärgert  und  seitdem  das  Wühlen 
nie  verlernt  hatten,  empörten  sich  wieder  einmal  gegen  die 
thronende  Gewalt;  und  nun  ging  es  nicht  ohne  Blut  ab. 
Was  Pontius  befürchtet  hatte,  geschah:  als  ein  launischer, 
bald  brutaler,  bald  schwächlicher  Herr  ward  er  dem  kaiser^ 
liehen  Zorn  empfohlen,  von  Vitellius  ohne  ein  Wort  der  Ver^ 
theidigung  preisgegeben  und  ungnädig,  zu  persönlicher 
Rechtfertigung,  nach  Rom  geladen.  Tiberius,  hoffte  er,  würde 
dem  treuen  Diener  nicht  lange  grollen;  doch  in  der  Stunde, 
da  der  Prokurator  vom  Schiff  auf  die  Italerküste  stieg,  holte 
Tiberius  in  Misenum  den  letzten  Seufzer  aus  siecher  Brust. 
Und  Caligula,  der  neue  Herr,  war  fiir  den  Knecht  aus  der 
Ostmark  nicht  zu  sprechen.  Der  Wunsch  des  Pilatus,  aus 
Judaea  erlöst  zu  sein,  war  jetzt  erfüllt,  —  doch  anders,  als 
ers  ersehnt  hatte.  Niemand  hielt  ihn  mehr;  in  Rom  konnte 
er,  konnte  in  Bajae  leben,  über  die  Welträthsel  mit  Freunden 
der  Weisheit  plaudern  und  im  Arm  graziler  Europäerinnen 
nachts  entschlummern.  Aber  ein  abgesetzter,  in  Ungnade 
weggejagter  Beamter  findet  nicht  leicht  Gefährten,  mit  denen 

24 


zu  wandeln  ihn  freut;  und  ohne  den  Landpflegersold  wird, 
wenn  man  sich  nach  alter  Gewöhnung  rührt,  die  Decke  bald 
zu  kurz.  Pontius  mag  als  ein  Mißvergnügter,  Einsamer  ge^ 
storben  sein.  Und  (and  noch  im  Grab  keine  Ruhe.  Frau 
Fama,  die  Tausendzüngige,  nahm  sich  seiner  allzu  liebevoll 
an.  In  Zerknirschung,  raunte  sie,  gab  der  Reuige  selbst  sich 
den  Tod;  der  Leichnam  ward  in  den  Tiber  geworfen,  doch 
das  Element  spie  ihn  wüthend  aus  und  man  mußte  die  aufs 
geblähte,  faulende  Menschenhülle  in  einen  Schweizersee  ver^ 
senken.  Da  brodelts  nun  über  ihm;  und  der  Sturm,  der  vor 
anderen  Wassern  stets  den  See  des  Pilatus  aufpeitscht,  singt 
das  Schreckenslied  von  dem  schlechten  Gerichtsherm,  der 
den  Heiland  der  Christenheit  unschuldig  fand  und  den^ 
noch  ans  Kreuz  schlagen  ließ.  Durch  das  ganze  Mittelalter 
tönt  die  grausige  Legende  vom  Richter;  und  mit  dem  Na^ 
men  Pontius  Pilatus  scheucht  die  Magd  fromme  Kinder  ins 
Bett. 

Dann  kamen  die  Rationalisten  über  den  Lebemann  der 
reinen  Vernunft.  Straußens  Unduldsamkeit  versagte  ihm  jeden 
mildernden  Umstand;  dem  pfaffischsten  aller  Pfaffenfresser 
war  Pontius  ein  glatter  Streber,  der,  um  seine  Pfründe  nicht 
einzubüßen,  wider  besseres  Wissen  das  Recht  gebeugt  hat. 
Renan,  der  sanftmüthige  Finder  der  piiti  sans  la  foi,  war 
auch  diesem  Angeschuldigten  ein  milderer  Richter;  für  den 
eleganten,  auf  seine  besondere  Weise  gutmüthigen  Schwäche 
ling  erbittet  er  lächelnd  möglichst  gelinden  Strafvollzug. 
Claudia  Procula,  die  unter  den  Heiligen  der  Griechenkirche 

25 


längst  in  der  Glorie  wohnt,  kündete  dennoch  Wahrheit:  das 
Blut  des  Gerechten  hat  Unheil  über  Pontius  gebracht. 

War  der  Mann  wirklich  so  schlimm?  Er  that,  was  die 
Staatsraison  heischte.  Nicht  er:  der  al^üdische  Rächerdrang 
einer  um  jeden  Preis  konservativen  Partei  schlug  den  Gali«* 
läer  ans  Kreuz.  Sein  Fehler  war,  daß  er  auch  im  Asiatenland 
Römer  blieb  und  sich  doch  hindern  ließ,  die  Römerwaffen 
zu  brauchen.  Dieser  Sünde  hat  sich,  bis  in  unsere  Tage  hinein, 
mancher  Landpfleger  schuldig  gemacht.  Aber  Pontius  war 
ein  Kopf,  nicht  nur  eine  Faust  noch  eine  Schreiberseele;  war 
vielleicht  der  einzige  Römer  der  tiberianischen  Zeit,  der  Ju^ 
daea  erkannte,  der  einzige  sicher,  der  den  Rabbi  von  Naza^ 
reth  richtig  sah.  Er  hat,  als  Erster  unter  den  Philosophen^ 
Schülern  der  guten  Gesellschaft,  in  dem  Volksverfuhrer  den 
König  geahnt,  der  das  Genie  Israels  aus  dem  gilbenden  Buch 
Mosis  befreien,  dem  jüdischen  Spiritualismus,  dem  Auszug 
seiner  geläuterten  Kraft  die  Erde  erobern  würde.  Als  Erster 
im  Bezirk  der  Christenerfahrung  freilich  auch  das  Schreckbild 
des  Richters  gelebt,  der  sich  von  außen  her  in  die  Entscheid: 
düng,  die  aus  seinem  Hirn  zu  gebärende,  stoßen  läßt  und, 
wenn  er  sie  in  Rechtskraft  gekündet  hat,  die  Hände  wäscht. 


26 


THERESE  HUMBERT 


i 


Zwölf  Tage  lang  ist  vor  dem  pariser  Schwurgericht  in 
Sachen  wider  Friedrich  Humbert,  seine  Ehefrau  Therese, 
seine  Schwäger  Emil  und  Romain  Daurignac  verhandelt 
worden.  Ob  Therese  Daurignac  im  Ehebett  geboren  oder 
ein  »natiirliches«  Kind  ist,  ob  ihr  Schwiegervater  Humbert, 
der  Justizminister,  ein  Gauner  war  und  ob  ein  ihm  fol^ 
gender  Justizminister,  Herr  Valle,  von  dem  Wucherer  Cattaui 
an  einer  goldenen  Kette  gehalten  ward:  das  Alles  braucht 
uns  nicht  zu  bekiimmem.  Wir  haben  nur  zu  fragen,  was 
wir  aus  der  tausendmal  beschnii£Felten  und  beschwatzten  Ge^ 
schichte  lernen  können.  Der  Tatbestand  ist  ein£ich;  er  schien 
nur  kompliziert,  weil  die  Taktik  der  Hauptangeklagten  und 
ihres  Verteidigers  ihn  in  dichte  Schleier  zu  hüllen  suchte. 

Zwanzig  Jahre  lang  hat  das  Ehepaar  Humbert  mit  seiner 
Tochter  Eva  und  den  Geschwistern  der  Frau,  Emil,  Romain, 
Marie  Daurignac,  auf  größtem  Fuße  gelebt.  Ihre  jährlichen 
Ausgaben  betrugen  ungefähr  vierhunderttausend  Francs.  Sie 
waren  im  £lysee  willkommene  Gäste,  der  Präsident  der 
Republik  kam  mit  seiner  Frau  zu  ihnen,  Minister,  Gene^ 
rale,  Künstler,  Gelehrte,  Parlamentarier,  Würdenträger  aller 

29 


Grade,  drängten  sich  an  ihren  Tisch,  und  wo  Tout^  Paris 
Feste  feierte,  war  Frau  Therese  Humbert  im  dichtesten 
Haufen  zu  finden.  Sie  ließ  die  berühmtesten  Weltschnei^ 
derfirmen,  Worth,  Paquin,  Doucet,  für  sich  arbeiten, 
trug  die  theuersten  Pelze,  kaufite  Landgüter,  Weinberge, 
umworbene  Bilder,  Bibelots,  Poterien  und  galt  als  eine  der 
reichsten  Frauen  der  üppigen  Lutetia.  Dabei  verbarg  sie  den 
Freunden  nicht,  daß  sie  ofit  in  Geldverlegenheit  war.  So 
gehts  Einem,  wenn  man  allzu  gewissenhaft  ist.  Ein  Erb«« 
schafitprozeß  um  hundert  Millionen.  Die  Prozeßgegner, 
zwei  angelsächsische  Brüder  Crawford,  sind  echte  Gentlemen, 
verkehren  intim  mit  den  Humberts  und  schlagen  einen  durchs 
aus  annehmbaren  Vergleich  vor.  Aber  sie  verbinden  damit 
Heirathpläne,  für  die  Eva  zu  jung  ist  und  gegen  die  Maries 
Mädchenempfinden  sich  lange  sträubt.  Schließlich  mag  man 
ja  auch  nichts  geschenkt  nehmen.  Das  Verständige  und  An^ 
ständige  ist,  dem  Recht  seinen  Lauf  zu  lassen.  Wenn  das 
Tempo  dieses  Laufes  nur  nicht  gar  so  langsam  wärel  Seit 
Jahrzehnten  schleppt  die  Sache  sich  durch  die  Gerichts^ 
instanzen:  und  noch  ist  kein  Ende  abzusehen.  Therese  muß 
den  Prozeß  gewinnen;  hat  ihn  eigentlich  schon  gewonnen. 
Der  beste  Beweis  dafiir  ist,  daß  die  hundert  Millionen  in 
ihrem  Geldschrank  liegen.  Doch  sie  sind  ihr  noch  nicht  in 
letzter  Instanz  zugesprochen;  und  das  Vermögen  vorher  an# 
zugreifen,  würde  eine  Dame  von  so  strenger  Rechtlichkeit 
Frevel  dünken.  Lieber  entleiht  sie  einstweilen  das  zum  Leben 
nöthige  Geld.    Dantur  opes  null!  nunc  nisi  divitibus,  sagt 

30 


Martial;  und  sein  nunc  reicht  bis  in  unsere  Tage.  Warum 
soll  man  den  Humberts  nicht  borgen?  Das  Geld  ist  da. 
Jeder  kanns  sehen:  gute  Staatsrentenbriefe  ruhen  in  Thet* 
reses  Eisenspind.  Die  ersten  Anwälte  Frankreichs  vertreten 
die  Prozeßparteien  und  bestätigen,  daß  die  Sache  för  die 
Crawfords  schlecht  steht  und  im  schlimmsten  (kaum  denk^ 
baren  Fall)  der  Familie  Humbert  ein  fetter  Vergleich  sicher 
ist.  Die  beste  Gesellschaft  von  Paris  verkehrt  bei  den  Leuten, 
ihr  politischer  und  gesellschaftlicher  Einfluß  wirkt  weithin, 
sie  sind  im  größten  Stil  wohlthätig,  haben,  um  dem  kleinen 
Mann  durchs  schwere  Leben  zu  helfen,  die  Rente  Magire, 
das  von  jeder  Gewinnabsicht  freie  Leibrenteninstitut,  ge:« 
schaflFen  und  kein  Verdacht  wagt  sich  auf  ihre  reine  Höhe. 
Auch  war  Friedrichs  Vater  Justizminister  und  als  das  Muster 
eines  sauberen,  der  Pflicht  getreuen  Staatsdieners  bekannt. 
Wer  trotzdem  noch  zaudert,  wird  durch  Thereses  Reden  ge^ 
reizt,  durch  Thereses  Zinsangebote  bezwungen.  Die  knickert 
und  feilscht  nicht  erst  lange:  jeder  Prozentsatz  wird  dem 
Darleiher  bewilligt.  Die  Schuldscheine  werden  so  ausgestellt, 
daß  der  Gläubiger  noch  auf  seine  Kosten  kommt,  selbst 
wenn  er  einen  Teil  des  vorgestreckten  Geldes  in  den  Rauche 
fang  schreiben  muß.  Kleine  und  große  Wucherer  langen 
nach  der  profitlichen  Ehre,  mit  Madame  Humbert  Geschäfte 
machen  zu  dürfen.  So  werden  in  zwei  Jahrzehnten  nach  und 
nach  ungefähr  ftinfzig  Millionen  zusammengeborgt;  dringt 
Einer  auf  Rückzahlung  des  Geliehenen,  dann  ist  schnell 
immer  ein  Anderer  bereit,  das  Loch  zu  stopfen.   Die  Ent^ 

31 


Scheidung,  der  Triumph  der  guten  Sache  naht  ja.  Die  Craw^ 
fords  sind  schon  recht  mürb:  und  wenn  Mariechen,  das  gute 
Kind,  sich  nicht  in  den  Kopf  gesetzt  hätte,  die  Frau  des 
Kammerpräsidenten  Deschanel  zu  werden,  der  sie  allerdings 
auch  zärtlich  umwirbt  . . .  Spät  erst  erwacht  das  Mißtrauen. 
Herr  Waldeck  ^Rousseau,  damals  noch  der  Kempner  von 
Paris,  der  juristische  Berather  der  stärksten  Kapitalisten,  nennt 
die  Sache  Crawford  contra  Humbert  in  einem  Plaidoyer  den 
größten  Schwindel  des  Jahrhunderts.  Der  geistreiche  Anti<» 
semit  Drumont  erö&et  in  seiner  »Libre  Parole«  einen  Feldzug 
gegen  Therese  und  deren  Sippschaft.  Und  endlich  setzt  der 
levantinische  Wucherer  Cattaui,  den  Herr  Valli  (später  Justiz^ 
minister)  vertritt,  einen  Gerichtsbeschluß  durch,  wonach  der 
Geldschrank  von  Amtes  wegen  zu  öffiien  und  der  Inhalt  zu 
prüfen  ist.  Der  Schrank  ist  leer.  Sämmtliche  Humberts  und 
Daurignacs  sind  am  Abend  vor  der  Ausführung  des  Gerichts«» 
beschlusses  entflohen.  Nach  Monaten  werden  sie  in  Madrid 
gefaßt  und  ins  pariser  Untersuchungsgefängnis  eingeliefert. 
Wahrend  der  langwierigen  Voruntersuchung  schweigt  The«^ 
rese,  die  längst  als  der  allein  leitende  Kopf,  der  Nenner  vor 
den  Nullen  erkannt  ist,  hartnäckig  und  erwidert  auf  alle 
Fragen  des  Richters  nur,  erst  vor  den  Geschworenen  werde 
sie  sprechen.  Dann  aber  so  ausführlich  und  rückhaltlos  offen, 
daß  die  Schaar  ihrer  Feinde  vernichtet  sein  und  sie,  unter  dem 
Jubel  der  Menge,  als  Siegerin  aus  dem  Schwurgerichtssaal 
schreiten  werde.  Die  Hauptverhandlung  beginnt.  Von  allen 
Gläubigem  hat  nur  einer,  Cattaui,  sich  dem  Verfahren  der 

32 


Staatsanwaltschaft  angeschlossen;  die  anderen  (der  Wucherer 
hat  nie  gern  mit  den  Gerichten  zu  tun)  erklären  im  Verhör,  daß 
sie  keine  Ansprüche  an  Frau  Humbert  haben,  und  einzelne 
geben  ihr  sogar  Ehrenatteste.  Auch  die  Leibrentner  zeigen 
si^h  befriedigt  und  Therese  kann  triumphirend  fragen,  wem 
sie,  außer  einem  abgefeimten  Hallunken,  denn  eigentlich 
klagbaren  Schaden  zugefügt  habe.  Sie  ist  sehr  redselig,  stellt 
sich,  wie  eine  Henne  vor  die  bedrohten  Küchlein,  als 
Schützerin  vor  die  drei  Jammermanner,  nimmt  alle  Verant^ 
wortlichkeit  auf  sich,  gibt  sich,  je  nach  dem  Bedürfhiß  der 
Stunde,  sentimental  oder  patzig,  beschuldigt  den  Vorsitzenden 
schnöder  Parteilichkeit,  schmeichelt  den  Geschworenen,  leug# 
net,  entstellt,  verdreht  Alles,  auch  das  unzweideutig  Bewiesene, 
biegt  allen  heiklen  Fragen  gewandt  aus,  sucht  unangenehme 
Aussagen  mit  Wortschwallen  wegzuschwemmen  und  ver^ 
kündet  immer  wieder,  hundertmal  mit  der  selben  Emphase: 
wenn  der  letzte  Zeuge  vernommen,  die  letzte  Plaidoirie  be«s 
endet  sei,  werde  sie  Alles  sagen.  Wo  die  Crawfords,  wo  die 
Millionen  sind.  »Je  dirai  tout.  Et  tout  sera  payi.«  Dann 
werde  man  staunen.  Ein  Familiengeheimniß.  Auch  ihr  gei> 
liebter  Friedrich  ahne  nichts.  Aber  die  Freisprechung  sei 
sicher  wie  das  Amen  in  der  Kirche  .  ,  .  Als  es  so  weit  ist, 
vernehmen  die  athemlos  Aufhorchenden  ein  wirres  Gefasel. 
Kindische  Phrasen  über  das  den  allerehrlichsten  Menschen 
Frankreichs  angethane  Unrecht.  Ein  endloses  Gestöhn  über 
das  Weh  einer  der  Pflicht  stets  treuen  Frau,  die  durch  nieder^ 
trächtige  Zettelungen  um  ihre  Habe  gebracht  und  in  den 

3.  iii  33 


Straßenkoth  geschleift  worden  sei.  Und  schließlich,  nach 
langem  Zögern,  der  bluff:  Crawford  heiße  R^gnier  und  sei 
der  Vetter  des  in  der  französischen  Legendengeschichte  be^ 
rüchtigten  Schuftes,  der,  in  Bismarcks  Auftrag,  Bazaine  in 
Metz  zum  Verrath  lockte.  Und  weil  die  hundert  Millionen 
aus  so  schmutziger  Quelle  kamen,  habe  sie,  die  zuverlässigste 
Patriotin,  geschwiegen,  geleugnet,  die  Tatsachen  anders  dar^ 
gestellt,  als  sie  sind.  »Maintenant  je  dirai  tout.  Et  tout  sera 
paye.«  Wo  die  hundert  Millionen  sind?  Crawford^Rignier 
wird  sie  schon  bringen.  Ein  sinnloses  Märchen.  Eine  von 
den  Geschichten,  die  der  Franzose  contes  ä  dormir  debout 
nennt.  Starr  sehen  Richter,  Geschworene,  Zuschauer  einander 
an.  Das  ist  die  große,  lange  verheißene  Enthüllung?  Ein 
Kichern  geht  durch  die  Reihen.  Doch  Therese  ist  nicht  zu 
beirren.  »Sie  werden  uns  freisprechen.  Sie  müssen.  Ich  werde 
heute  nachts  bei  meiner  Schwiegermutter  schlafen.  Die  Qual 
ist  beendet.  Schnell,  meine  Herren  Geschworenen!  Wir 
haben  volles  Vertrauen  zu  Ihnen,  denn  Sie  sind  unabhängige 
und  gewissenhafte  Bürger.  Schütteln  Sie  das  Gewicht  der 
ungeheuren  Verantwortlichkeit  ab,  das  seit  zwölf  Tagen  auf 
Ihrem  Herzen  lastet  1«  Schluß  der  Debatte.  Zweihundert^ 
achtundftinfzig  Schuldfragen  werden  verlesen.  Die  Jury  zieht 
sich  ins  Berathungzimmer  zurück.  Nach  sieben  Stunden  ver>« 
kündet  der  Schwurgerichtspräsident:  Fünf  Jahre  Zuchthaus 
für  das  Ehepaar  Friedrich  und  Therese  Humbert,  zwei  und 
drei  Jahre  Gefängnis  für  Emil  und  Romain  Daurignac. 
So  ungefähr  sieht  das  Skelett  der  Sache  aus.    Ungefähr; 

34 


ich  habe  die  Verhandlungstenogramme  im  »Journal«  mit  heißem 
Bemühen  gelesen,  trotz  dieser  unersprießlichen  Arbeit  Man# 
ches  aber  vielleicht  nicht  ganz  genau  wiedergegeben.  Un« 
erwähnt  blieb,  zum  Beispiel,  daß  Friedrich  Humbert  Abge^ 
ordneter  yrar  und  im  Palais^Bourbon,  wie  überall,  den  träu^ 
merischen  Künstler,  das  weltfremde  Kindergemüth  mimte  und 
daß  der  entscheidende  Gerichtsbeschluß  und  die  Flucht  der 
ehrenwerten  Familie  Folgen  der  Kanonade  waren,  die  Herr 
WaldecluRousseau  in  der  Zeitung  »Le  Matin«  gegen  sie  be^ 
ginnen  ließ.  Hundert  allerliebste  Einzelheiten;  deutsche 
Leser  würden  schon  mit  heiterem  Staunen  vernehmen,  welche 
Summen  Mama  Therese  jährlich  für  Hüte  ausgab.  Die  bnge 
genährte  Ho&ung  auf  eine  politische  Sensation  wurde  ge^ 
täuscht.  Staatsanwaltschaft  und  Vertheidigung  hatten  sich  von 
vom  herein  geeinigt,  das  Aktenbündel  nicht  aufzuschnüren, 
das  die  Bettelbriefe  und  Dankschreiben  bekannter  Politiker 
enthielt;  und  da  auch  die  Geschworenen  sich  nicht  neugierig 
zeigten,  erfuhr  man  nichts  von  der  schmierigen  Schacher^ 
machei,  die  Jahrzehnte  hindurch  Amter,  Pfründen,  Titel, 
Bändchen  und  Palmenabzeichen  vergab.  Kein  Mensch  küm^ 
merte  sich  diesmal  um  den  dossier  secret,  dessen  Entsiegelung 
anno  Dreyfus  so  stürmisch  begehrt  worden  war  (natürlich: 
damals  sollte  der  Große  Generalstab,  jetzt  konnte  die  regi^ 
rende  Bourgeoisie  bloßgestellt  werden).  Und  doch  stand  an 
der  Barre  der  selbe  Vertheidiger,  der  in  den  Fällen  Zola  und 
Dreyfus  so  wundervoll  gegen  Geheimnißkrämerei  und  Ver^ 
tuschung  gewettert  hatte:  Herr  Fernand  Gustave  Gaston  La^ 

3*  35 


bori.  Herr  Henri  Robert,  der  berühmteste  Kriminalanwalt 
von  Paris,  hatte,  als  er  die  Akten  kannte,  das  Mandat  zurück«« 
gegeben;  mit  dieser  Sache  und  dieser  Hauptklientin  schien 
ihm  nichts  zu  machen.  Herrn  Labori  plagte  kein  Skrupel. 
Ein  starkes  Temperament,  volksthümliche,  von  einer  klingen^ 
den  Stimme  unterstützte  Beredsamkeit,  schlauste  Berechnung 
aller  der  Rabulistenkunst  erreichbaren  Wirkungen  und  eine 
cränerie,  die  Händel  mit  dem  Gerichtshof  sucht,  nicht  meidet. 
Als  Anwalt  der  Humberts  hatte  der  Mann,  dem  selbst  De^ 
roulide  einst  »Bravo,  pour  le  talenti«  zurief,  eine  unbegrei& 
lieh  thörichte  Taktik  gewählt.  Die  Jury,  sagte  er,  müsse  frtu 
sprechen,  weil  nicht  unzweideutig  bewiesen  sei,  daß  die 
Crawfords  mit  ihren  Millionen  nicht  doch  irgendwo  im  Versteck 
leben.  Ein  tollkühner  Witz,  mit  dem  selbst  das  Gewissen 
wohlwollender  Laienrichter  nicht  zu  ködern  war.  Und  schließe 
lieh  half  er  Frau  Humbert  gar  noch  bei  ihrer  blitzdummen 
Enthüllung,  bereitete  den  Fehlschlag  mit  Siegermiene  rheto^ 
risch  vor  und  stellte  sich,  als  ob  er  fest  an  die  läppische  Mär 
glaube.  Dazu  hätten  Berryer,  Lachaud  und  die  anderen 
großen  französischen  Barreauredner  sich  nicht  hergegeben. 
Den  geächteten  dreyfiisard  aber  mochte  gerade  dieser  Schluß^ 
eflFekt  reizen.  Bazaine,  R6gnier,  in  doppelter  Gestalt  also  der 
gallischer  Phantasie  unentbehrliche  traitre,  im  Hintergrund 
Bismarck  als  Versucher  und  Satanas:  da  kann  der  Patriot 
sich  im  Bengallicht  zeigen.  »Der  Name,  den  Sie  hören  wer^ 
den,  weckt  in  jedem  Franzosenherzen  wehes  Erinnern  und 
heiße  Empörung.    Das   furchtbare   Geheimnis,   das   meine 

36 


Klientin  Ihnen  entschleiern  will,  wiegt  eben  so  schwer  wie 
die  ganze  Anklage.  Die  Crawfords  leben.  Die  hundert  Maß 
lionen  sind  vorhanden.«  Die  Klientin  aber  kam  über  dunkle 
Andeutungen  nicht  hinaus;  wahrscheinlich  wollte  es  der 
Vertheidiger^so.  Waren  die  Millionen  der  Sündensold  für  den 
metzer  Verrath?  Ist  Therese,  deren  Heimathpapiere  nicht  in 
Ordnung  sind,  Regniers  Tochter,  ein  »Kind  der  Liebe«,  und 
er£md  sie  den  Crawford^Roman  nur,  weil  sie  sich  schämte, 
Leben  und  Vermögen  einem  Landesverräther  zu  danken?  So 
ruhrende  Zweifel  sollte  die  Jury  ins  Berathungzimmer  mit« 
nehmen  .  »  .  Der  Obmann  der  Geschworenen  hat  einem 
Interviewer,  nach  dem  Schluß  der  Verhandlung,  gebeichtet, 
dieser  letzte  Streich  habe  dem  Faß  den  Boden  ausgeschlagen. 
Das  Ge&bel  war  allzu  dumm.  Friedrich  und  Therese  wurden 
der  Fälschung  und  des  Betruges  schuldig  gesprochen. 

Klaglicher  konnte  eine  Sache  nicht  enden,  die  durch  die 
Großartigkeit  des  Schwindels  selbst  redlichen  Leuten  impo:f 
nirt  hatte.  Das  Gerüst  der  Tragikomoedie  ist  aus  alten  Brei» 
tem  zusammengefügt.  Und  wer  den  Stoff  auf  die  Bühne 
bringen  will,  sollte  vorher  die  Volpone  von  Ben  Jonson,  den 
Turcaret  von  Le  Sage,  Balzacs  Mercadet,  Becques  Raben 
und  Zolas  Htötiers  Rabourdin  durchstudiren.  Neu  ist  nur 
der  Umfand  des  Betruges.  Der  junge  Schiller  ließ  seinen 
Fiesko  rufen :  »Den  Betrüger  adelt  der  Preis.  Es  ist  schimpf 
lieh,  eine  Börse  zu  leeren;  es  ist  frech,  eine  Million  zu  ver# 
untreuen;  aber  es  ist  namenlos  groß,  eine  Krone  zu  stehlen. 
Die  Schande  ninunt  ab  mit  der  wachsenden  Sünde.«    So 


37 


dachten  auch  die  Pariser,  da  sie  Frau  Humbert  mit  dem  Ehren^ 
namen  der  Grande  Thertee  schmückten.  Auf  blauen  Dunst 
fünfzig  Millionen  zusammenzupumpen,  ohne  einen  Heller 
eigenen  Vermögens  den  asinus  aureus  fUr  sich  arbeiten  zu 
lassen,  mit  Wuchergeld  politische  Macht  zu  erwerben,  Vlu 
nister,  Abgeordnete,  die  Häupter  der  Gelehrtenrepublik  am 
Fädchen  zu  lenken:  Das  dünkte  sie  groß.  Den  Betrüger 
adelt  der  Preis.  Und  statt  eines  starken  Schlußakkordes  nun 
das  Leierkastenlied  vom  Patriotenschmerz  und  von  Judas, 
dem  argen  Verräther,  und  seinen  durch  Zins  und  Zinseszins 
gemehrten  Silberlingen.  Statt  eines  wuchtig  niedersausenden 
Streiches  das  Gestammel  einer  Dutzendhochstaplerin.  Die 
Große  Therese  ist  so  uninteressant  geworden  wie  irgendein 
raseur,  dessen  undämmbarer  Redestrom  empfindliche  Leute 
nach  der  ersten  Qual  aus  seiner  Nähe  scheucht. 

Was  wir  aus  der  Geschichte  lernen  können?  Nicht  viel 
Neues  für  unsere  Erkenntnis  des  Menschen  als  politischen 
Thieres.  Seit  Apulejus  die  Metamorphosen  schrieb,  hat  das 
Wesen  des  aufrechten  \^erfußers  sich  wenig  geändert;  auch 
der  in  einen  Esel  verwandelte  Held  des  Numiders  £md 
Gauner  als  thronende  Herrscher,  Böcke  als  Gärtner,  Schafe 
als  Staatsschützer,  am  Altar  geile  Affen,  auf  dem  Richtersitz 
würdevoll  glotzendes  Rindvieh.  Und  unter  den  Dächern, 
die  der  Hinkende  Teufel  abdeckte,  sah  es  nicht  wesentlich 
anders  aus  als  in  den  Stuben  der  Humberts  und  Daurignacs. 
Der  alte  Adam  hat  sich  nicht  so  völlig  gewandelt,  wie  unsere 
Wissenschaftstutzer  vor  der  Homunkelphiole  wähnen,  ohne 

38 


des  weisen  Wortes  zu  achten,  daß  ein  abgesetzter  Gott  den 
goethischen  Teufel  gelehrt  haben  könnte:  »Wer  lange  lebt, 
iiat  viel  er&hren;  nichts  Neues  kann  fiir  ihn  auf  dieser  Welt 
geschehn.«  Der  Herkunft  gleißenden  Besitzes  und  fühlbarer 
Macht  wurde  nie  ängstlich  nachgefragt;  stets  schwieg  die 
Moral,  wenn  Gewinngier  in  Brünsten  schrie;  und  das  wich:« 
tigste  aller  Sittengesetze  heißt,  seit  den  Tagen  des  listen^ 
reichen  Odysseus:  Laß  Dich  niemals  auf  Schmugglerpfaden 
ertappen  I  Neu  war  nur  die  Größe  der  erschwindelten  Summe 
(aber  mußte  man  nach  Bontoux,  Lesseps,  Herz,  Arton  das 
Handwerk  nicht  ins  Große  treiben,  um  Kunden  zu  £mgen?); 
neu  besonders  die  Technik  des  Betruges.  Ein  Jahrzehnte  lang 
mit  Aufbietung  höchsten  Juristenschar&innes  geführter  Civil^ 
prozeß,  der  an  Gebühren  und  Sportein  mehr  als  eine  Million 
verschlingt,  alle  Gerichtsinstanzen  beschäftigt  und  in  dem 
Alles  erfunden  ist:  das  Objekt  und  die  Gegenpartei.  Das, 
hat  man  uns  oft  erzählt,  wäre  in  Deutschland  nicht  möglich; 
deutsche  Richter  und  Anwälte  hätten  die  Crawfords  mit  den 
hundert  Millionen  zu  sehen  verlangt  und  den  Schwindels 
versuch  schnell  durchschaut.  Wirklich?  Auch  in  unserem 
Civilprozeß  erscheinen  die  Parteien  nicht  persönlich  vor  der 
Kammer;  ein  richtig  ausgefülltes  Vollmachtformular  berech^ 
tigt  zur  Vertretung:  und  mit  der  Laterne  mag  man  den  An^ 
walt  suchen,  der,  wenn  er  hunderttausend  Mark  Vorschuß 
bekommen  hat,  an  der  Leibhaftigkeit  eines  so  solventen 
Wesens  zweifelt.  Solcher  Klient  lebt,  weil  er  zahlt.  Rechts«« 
lehrer  sollten  ihren  Seminaristen  die  Aufgabe  stellen:  Wäre 

39 


der  Prozeß  Humbert  c/a  Crawford  im  Bereich  des  Bürgern 
liehen  Gesetzbuches  möglich?  Die  Antworten  könnten  un:« 
serer  Civilprozeßordnung  eben  so  großen  Nutzen  bringen 
wie  Dostojewskijs  Verbrecherroman  einst  der  russischen  Straf«» 
rechtspflege.  Statt  uns  wieder  einmal  in  der  Herrlichkeit 
deutscher  Zustände  zu  sonnen,  sollten  wir  unsere  Richter 
dringend  bitten,  sich  ein  Beispiel  an  der  Behandlung  zu 
nehmen,  der  in  Paris  Angeklagte  und  Vertheidiger  sich  freuen 
durften.  Kein  barsches  Wort,  kein  Bemühen,  dem  Ange^ 
klagten  die  Fein  seiner  Lage  zu  schärfen;  joviale  Milde,  an 
den  heikelsten  Stellen  leise  Ironie  und  immer  eine  nicht  zu 
erschöpfende  Geduld.  Damit  sie  sich  so  sicher  und  frei 
fühle  wie  früher,  durfte  Therese  auf  der  Sünderbank  Spitzen^ 
Schleier  und  weiße  Handschuhe  tragen.  Sie  wurde  nicht  ein:» 
geschüchtert,  nie  angefahren,  wenn  sie  nervös  aufkreischte; 
sogar  derbe  Grobheiten  nahm  der  Vorsitzende  mit  lächelnder 
Ruhe  hin,  weil  er  sich  sagte :  Hier  kämpft  gegen  übermächtige 
Menschen  ein  entwa&etes,  im  Kerker  zermorschtes  Geschöpf 
um  sein  Bischen  Leben  und  solcher  Kampf  heischt  stets  ehr^ 
fiirchtiges  Mitleid,  —  mag  der  Kämpfer  auch  zur  Ausschuß^ 
waare  der  Schöpfring  gehören.  Man  muß  vor  berliner  Rich^ 
tem  gestanden,  muß  die  niederziehende  Schmach  einer  Lage 
empfimden  haben,  in  der  jedes  leidenschaftliche,  jedes  den 
groben  Ankläger  mit  den  guten  Waffen  stolzer  Satire  be^ 
fehdende  Wort  wie  die  Frechheit  eines  Strolches  geahndet 
wird,  um  den  Werth  so  humaner  Behandlungform  schätzen 
zu  können.  Auch  wer  nicht  einer  ehrlosen  Handlung  be« 

40 


zichtigt  ist,  kann  sich  bei  uns  nicht  frei  seiner  Haut  wehren. 
Jedes  Zufallswörtchen  erzürnt  die  Richter,  jagt  den  Proku^ 
rator  von  seinem  Stuhl,  trägt  dem  Angeschuldigten  am  Ende 
gar  eine  Ordnungstrafe  ein.  Nicht  wie  ein  Gebildeter  zu 
Gebildeten  darf  er  reden,  komisches  Mißverständniß  nicht 
witzig  lösen;  die  Wimper  darf  ihm  nicht  zucken,  wenn  er 
von  einer  dicken  Null  in  der  Sammetstreifenrobe,  ein  Wehr^ 
loser,  wie  ein  Spitzbube  gescholten,  wie  ein  lästiger  Landf 
Streicher  beschimpft  wird.  Dann  schweigt  der  Vertheidiger; 
der  Ankläger  nimmt  ja  nur  seine  berechtigten  Interessen 
wahr,  spricht,  vde  des  Landes  der  Brauch  ist,  und  ein  Pro^ 
test  des  Anwaltes  könnte  die  Stimmung  des  Gerichtshofes 
verderben;  man  macht  sich  also  grün,  um  nicht  von  den 
Ziegen  gefressen  zu  werden.  Dabei  sinnt  Niemand  Böses: 
so  war  es  immer;  imd  wer  als  Gentleman  behandelt  werden 
will,  soll  sich  vor  Anklagen  hüten.  Doch  Niemand  bedenkt 
auch,  wie  furchtbar  der  Mensch,  der  da  im  Käfig  hockt, 
vielleicht  schon  während  des  aufreibenden  Vorverfahrens  ge^ 
litten  hat,  wie  das  Bewußtsein,  hier  als  ein  Wesen  zweiter 
Klasse  zu  gelten,  seine  Vertheidigung  lähmt;  daß  er  erreg« 
barer  und  erregter  ist  als  seine  Richter,  die  in  ihm  den  zwei« 
undzwanzigsten  Fall  ihres  Wochenpensums  sehen;  daß  er, 
fast  schon  verzweifelnd,  um  Freiheit  und  Lebenslufr  ringt; 
und  daß  Menschenwürde  zur  Schonung  des  Unbewehrten 
verpflichtet.  Die  Moabiter  könnten  aus  der  pariser  Prozedur 
Manches  lernen;  den  Willen,  Menschliches  menschlich  zusehen. 
Einen  Mangel  aber  hatte  diese  Prozedur;  einen,  der  nur 

41 


ungerügt  bleiben  konnte,  weil  er  die  Möglichkeit  zu  Laboris 
billigem  Patriotentrumpf  schuf :  kein  psychiatrisch  Sachverstän» 
diger  wurde  vernommen.  Ist  die  Frage  nach  Thereses  strafe 
rechtlicher  Zurechnungfahigkeit  gar  nicht  aufgetaucht?  Sie 
hat  zwanzig  Jahre  lang  eine  Rolle  gespielt,  die  nur  eine  an;: 
nähernd  genialische  Intelligenz  ausfüllen  konnte,  und  an  den 
letzten  Tagen  der  Hauptverhandlung  dann  wie  ein  dummes 
Waschweib  geschwatzt.  Die  albernsten  Lügen;  ein  kindisches, 
ganz  unnöthiges  Ableugnen  klar  bewiesener  Thatsachen. 
Vielleicht  saß  Misogynie  zu  Gericht;  vielleicht  dachten  Ju:» 
risten  und  Laien:  So  sind  alle  Weibsen.  Sie  könnten  sich 
auf  Schopenhauer  berufen,  der  gesagt  hat:  »Die  Natur  hat 
dem  Weibe  nur  ein  Mittel  gegeben,  sich  zu  vertheidigen  und 
zu  schützen:  die  Verstellung;  es  ist  für  eine  Frau  so  selbstis 
verständlich,  zu  lügen,  wie  für  ein  Thier,  sich  seiner  natür* 
liehen  Wa£Fen  zu  bedienen.«  Lombroso,  der  in  Frankreich 
jetzt  mehr  Anhänger  hat  als  bei  uns,  citirt  in  seinem  schwäch«» 
sten  Buch  (»Das  Weib  als  Verbrecherin  und  Frostituirte«) 
noch  stärkere  Ausprüche  der  Weiberverachtung.  Das  Gesetze 
buch  des  Manu  entzieht  dem  Frauenzeugniß  jede  Beweis«» 
kraft.  In  Birma  dürfen  Frauen  nur  auf  der  Schwelle  des 
Gerichtssaales  ihre  Zeugenaussage  machen,  die  denn  auch 
nicht  für  voll  genommen  wird.  »In  vielen  Sprachen  hängt 
das  Wort  ,Eid'  und  ,Zeugniß'  (5^xog,  testis)  mit  dem  zu>s 
sammen,  das  die  Hoden  des  Mannes  bezeichnet«;  danach 
wäre  also  nur  der  Zeuger  zeugnißfahig.  Im  Türkenreich  gilt 
eines  Mannes  Rede  gleich  der  zweier  Weiber.  Zola:  »Frauen 

42 


sind  nickt  im  Stande,  präzis  auszusagen ;  sie  belügen  Jeden : 
den  Richter,  den  Geliebten»  die  Zofe,  sich  selbst.«  Als  Eid^ 
genossen  werden  noch  Seneca,  Möllere,  Balzac,  Flaubert, 
Stendhal  angeführt.  Auch  hartnäckiges  Leugnen  soll  bei 
Weibern  viel  öfter  als  bei  Männern  vorkommen;  so  habe 
eine  des  Giftmordes  Angeklagte  steif  und  fest  behauptet, 
die  schädliche  Vl^rkung  des  Arsens  sei  ihr  unbekannt  ge^ 
wesen.  Man  denke  .  . .  Mit  so  kirchenväterlicher  Asiaten« 
Weisheit  ist  im  Kulturkreis  des  Weltwestens  nichts  anzu« 
£mgen;  und  im  Lande  der  galanten  Gallier  ist  selbst  den 
verstaubtesten  Aktenwälzem  solches  Vorurtheil  nicht  zuzu« 
trauen.  Warum  aber  hat  man  die  Humbert  nicht  untersucht 
und  beobachtet?  Nicht  \^gnys  schwächliches,  zwölfinal  im 
Jahr  unreines  Kind  war,  mit  seinen  spezifischen  Weibeigen« 
Schäften,  zu  erforschen:  den  besonderen,  viel&ch  determinir« 
ten  Menschen,  der  da  tobte  und  greinte,  fluchte  und  säuselte, 
mußte  ein  Sachverständiger,  einer  aus  der  Schule  Bemheims 
oder  SuUys,  bis  in  des  Wesens  Kern  prüfen.  Dann  aber 
kam  Fernand  Gustave  Gaston  Labori  um  seinen  Redner« 
triumph.  Und  der  löhnt  den  robin  reicher  als  jeder  Mandant. 
Ich  mußte,  während  das  Auge  sich  durch  die  Riesenspalten 
der  Stenogramme  quälte,  immer  wieder  an  ein  kleines  Buch 
denken,  das  ich  vor  zwei  Jahren  gelesen  hatte.  Es  heißt: 
»Die  pathologische  Lüge  und  die  psychisch  abnormen 
Schwindler;  eine  Untersuchung  des  allmählichen  Ueber« 
ganges  eines  normalen  psychologischen  Vorganges  in  ein 
pathologisches  Symptom«;  der  Verfasser  ist  Herr  Dr.  Anton 

43 


E>elbrück,  einst  Foreis  Assistent,  dann  sein  selbständigster 
Schüler.  Ein  Anfang  erst;  doch  einer,  der  weit  in  dunkle  Pro:^ 
vinzen  der  Psyche  hineinleuchtet  Auf  der  dritten  Seite  schon 
stehen  Sätze,  die  im  Katechismus  des  Kriminalisten  nicht  fehlen 
dürften:  »Daß  es  zwischen  der  vollständig  normalen  Geistes:^ 
Beschaffenheit  und  geistiger  Krankheit  überall  keine  scharfen 
Grenzen  giebt,  ist  eine  Thatsache,  die  zwar  oft  hervorge« 
hoben,  jedoch  durchaus  noch  nicht  allgemein  anerkannt  ist. 
Und  doch  ist  die  richtige  Beurtheilung  gerade  dieser  Zu^ 
stände  praktisch,  namentlich  in  forensiscner  Beziehung,  von 
der  allergröfiten  Wichtigkeit«  Aus  dieser  Betrachtung  er^ 
giebt  sich  die  Nothwendigkeit,  den  Begriff  verminderter  Zu^ 
rechnungfahigkeit  in  die  Rechtspraxis  einzuführen.  Doch 
ich  will  nicht  mit  erborgter  ^ssenschaft  prunken,  die  Laien^ 
irrthum  vielleicht  um  den  stärksten  Theil  ihrer  Wirkung 
brächte,  sondern  einfach  berichten,  was  ich  in  dem  schmalen 
Buch  gefunden  habe.  Zunächst  einen  »Fall«  aus  der  schweif 
zerischen  Irrenheilanstalt  Burghölzli.  Ein  Dienstmädchen.  In 
Oesterreich  geboren.  Findelkind;  nach  anderer  Angabe  die 
Tochter  armer  Winzerl^  Ein  Geisdicher  empfiehlt  die  knapp 
Zwanzigjährige  einem  Grafen  als  Kindermädchen.  Sie  liest 
Romane,  vernachlässigt  die  ihrer  Obhut  anvertrauten  Kleinen 
und  erzählt  Jedem,  ders  hören  will,  sie  sei  Prinzessin  von 
Spanien  und  werde  nächstens  einen  Palast  und  ein  großes 
Vermj^en  erben.  Gewöhnliche  Au&chndderei?  Doch  nicht. 
Sie  wird  nach  einem  Starrkrampf  ins  Spital  geschafft  und  als 
bleichsüchtig  und  hysterisch  erkannt.  Aus  dem  Krankenhaus 

44 


kommt  sie  in  die  Schulschwestemanstalt.  Der  Graf  entläßt 
sie  aus  dem  Dienst,  weil  sie  unbrauchbar  ist  und  das  Blau 
vom  Himmel  lügt  Als  sie  von  Spanien  genug  hat,  redet  sie 
einem  ihr  befreundeten  Hausmadehen  vor,  sie  sei  die  außer« 
eheliche  Tochter  des  Königs  von  Rumänien  und  ihr  Onkel 
der  KardinakPrimas  von  Ungarn.  Dieser  Kirchenfurst  schreibt 
an  die  Freundin  seiner  Nichte  oft  Briefe;  Briefe  mit  groben 
grammatischen  Fehlem  zwar:  aber  ein  ungarischer  Kardinal 
braucht  doch  nicht  gutes  Deutsch  zu  schreiben.  Die  Briefe 
kommen  nie  mit  der  Post  vom  Magyarenglobus;  die  Nichte 
selbst  bringt  sie  der  Freundin:  sonst  könnte  einer  unter« 
schlagen  werden  und  den  Aufenthalt  der  gehaßten  Thron« 
prätendentin  verrathen.  Deshalb  schickt  sie  der  Kardinal 
durch  Boten,  die  mit  ihrem  Leben  fiir  die  richtige  Bestellung 
haften.  Forel  und  Delbrück  haben  die  Briefe  gelesen.  Viel 
pastoraler  Schwulst,  geringe  Schulbildung.  Die  Schrift  von 
Frauenhand,  aber  nicht  von  der  des  Kindermädchens.  Nach 
einigem  Zögern  leiht  die  Freundin  der  Pseudoprinzessin  eine 
ftir  ihre  Verhältnisse  beträchtliche  Summe.  Als  sie  sich  dann 
wieder  ungläubig  zeigt,  wird  sie  mit  Dolch  und  Revolver 
bedroht  und  muß  auf  den  von  zwei  Kerzen  beleuchteten  Km« 
zifix  schwören,  nie  zu  verrathen,  daß  die  Nichte  des  Kardi« 
nah  ihr  Geld  schulde.  Die  Suggestivkraft  der  Kranken  ist 
so  groß,  daß  der  Arzt,  zu  dem  sie  ins  Haus  kommt,  all  ihre 
Märchen,  Krafft«Ebing  später  noch  einzelne  glaubt.  Neue 
Wahngebilde  folgen;  aber  auch  neue  Abenteuer.  Ein  unga« 
rischer  Grundbesitzer  nimmt  die  Darbende  auf;  auch  er  hält 


45 


sie  fitr  eine  Königstochter.  Um  nicht  entdeckt  zu  werden, 
trägt  sie  Männerkleider,  manchmal  die  Uniform  eines  Jägern 
offiziers,  und  trinkt  und  raucht  wie  ein  im  Kasino  Erwachs 
sener.  Mit  dem  Dienstbuch  eines  Knechtes  flieht  sie  in 
Dienerlivree  nach  der  Schweiz,  giebt  sich  dort  zuerst  ftir 
einen  armen  Studenten,  später  (ur  einen  reichen  Erben  aus, 
entlockt  einem  P&rrer  neunhundert  Franken,  wird  verhaftet, 
als  Weib  rekognoszirt,  zu  vier  Monaten  Gefangniß  veruri» 
theilt,  nach  Burghölzli  gebracht,  dann  an  Oesterreich  ausge^ 
liefert  und  von  KraffuEbing  in  Graz  untersucht.  Seine  Dia«t 
gnose  lautet:  »Typischer  Fall  von  originärer  Paranoia.«  In 
Burghölzli  hatten  Forel  und  Delbrück,  neben  konträrer 
Sexualempfindung,  festgestellt:  »überschwängliche,  das  klare 
Denken  störende  Phantasie,  als  Folge  davon  instinktiver 
Hang  zu  Lüge  und  Täuschung.«  Sie  war  unerschöpflich  im 
Erfinden  wüster  Wundergeschichten;  dabei  überall  beliebt 
und  im  Besitz  einer  besonders  von  Frauen  kaum  abzuwehren^ 
den  Gewalt  über  den  Menschenwillen.  Vor  Gericht,  als  ihr 
hundert  Schwindeleien  nachgewiesen  sind,  nennt  sie  sich  das 
Opfer  schnöden  Truges,  verwahrt  sich  gegen  die  Annahme 
einer  Psychose  und  jammert,  daß  man  ihr,  die  stets  im  besten 
Glauben  gehandelt  habe,  jetzt  die  Ehre  rauben  wolle. 

Paranoia  oder  strafbarer  Betrug?  Dr.  Delbrück  antwortet: 
Ein  Grenzfall;  das  Wahnsystem  knüpft  sich  an  einen  bewußt 
ausgeführten  Betrug  und  aus  dem  ersten  wirren  Gesträhn 
wird,  weil  dem  Phantasieleben  alle  Hemmungen  fehlen, 
schnell  pathologische  Lügensucht.   Der  Arzt  schildert  auch 

46 


leichtere  Fälle,  Menschen  mit  normaler  vita  sexualis»  die  den^ 
noch  zu  psychisch  abnormen  Schwindlern  werden,  erinnert 
an  die  »retroaktiven  Halluzinationen«,  die  Gottfried  Keller, 
nach  eigener  Knabenerfahrung,  seinen  Grünen  Heinrich  tu 
leiden  ließ,  und  an  das  Wort,  das  Goethe  über  seinen  Jugend^ 
hang  zum  Renommiren  und  Fabuliren  sprach:  »Wenn  ich 
nicht  nach  und  nach,  meinem  Naturell  gemäß,  die  Luf^e«» 
stalten  und  V(^dbeuteleien  zu  kunstmäßigen  Darstellungen 
hätte  verarbeiten  lernen,  so  wären  solche  aufschneiderischen 
Anfange  gewiß  nicht  ohne  schlimme  Folgen  für  mich  ge« 
blieben.  Betrachtet  man  diesen  Trieb  (erfundene  Märchen 
als  Erlebnisse  zu  erzählen)  recht  genau,  so  möchte  man  in 
ihm  diejenige  Anmaßung  erkennen,  womit  der  Dichter  selbst 
das  Unwahrscheinlichste  gebieterisch  ausspricht  und  von 
einem  Jeden  fordert,  er  solle  Dasjenige  für  wirklich  erkennen, 
was  ihm,  dem  Erfinder,  auf  irgendeine  Weise  als  wahr  er^ 
scheinen  konnte.«  Das  gut  äquilibrirte  Gehirn,  sagt  Delbrück, 
scheidet  hier  den  Dichter  vom  »abnormen  Schwindler«.  Von 
schwerer  Allgemeinerkrankung  bis  zu  verminderter  Zurech^ 
nungfahigkeit  und  hypertrophischer,  alle  anderen  Him^ 
funktionen  überwuchernder  Phantasie  geleitet  der  Psychiater 
und  schlägt  schließlich  vor,  die  Fälle,  wo  Fälschung  des  Eu 
innems  sich  bewußter  Lüge  mischt,  unter  dem  (das  wichtigste 
Symptom  des  Seelenstandes  klar  bezeichnenden)  Kennwort 
Pseudologia  phantastica  zusammenzufassen. 

In  diese  morbide  Reihe  gehört  Frau  Therese  Humbert. 
Alle  Symptome,  die  Forel  und  Delbrück  aufzählen,  sind  an 

47 


ihr  sichtbar.  Sie  müßte  ein  Genie  sein,  wenn  sie  bewußten 
Sinnes  zwei  Jahrzehnte  lang  das  Lügengeknäuel  au£f  und 
abgewickelt  hätte,  und  eine  unheilbare  Paranoika,  wenn  sie 
wirklich  dem  Wahn  verfallen  wäre,  ihre  Schwurgerichtstaktik 
könne  zur  Freisprechung  führen.  Eine  Schwerkranke  wäre 
hundertmal  aus  der  Rolle  gefallen;  eine  Normalschwindlerin 
hätte  pariser  Geschworenen  nicht  täglich  zugemuthet,  die 
Humberts  und  Daurignacs  für  die  ehrUchsten  Leute  Ftsmk^ 
reichs  zu  halten.  Staunend  lauschten  Hunderttausende  dem 
wirren,  sinnlosen  Gedröhn  und  fragten,  fast  ärgerlich,  dann: 
Das  ist  die  Große  Therese,  die  den  geriebensten  Wucherern 
fünfzig  Millionen  abgelockt  hat?  ...  Sie  war  nie  groß,  war, 
mit  all  der  suggestiven  Gewalt,  die  man  so  oft  an  Hyste^ 
rischen  sieht,  ein  kränkelndes  Hirn,  das  Wahrheit  und  Lüge 
kaum  noch  zu  unterscheiden  vermochte,  und  wurde  zur 
blöden  Schwätzerin,  als  in  der  Gefangnißzelle  die  Nacht:» 
Wandlersicherheit  von  ihr  wich.  Die  Große  Therese,  das  den 
skeptischen  Parisem  durch  weiterwirkende  Autosuggestion 
aufgezwungene  Wahngebild,  hat  nie  gelebt.  Die  psychisch 
abnorme  Schwindlerin  Therese  Humbert  wird,  als  ein  Muster^ 
schulfall,  aus  den  Lehrbüchern  der  Psychiater,  die  muthig  aus 
Erlebtem  zu  lernen  trachten,  nie  wieder  verschwinden. 


48 


DER  HAUSLEHRER. 


Die  Verkäuferin  eines  Waarenhauses  ist  Mutter  geworden. 
Trotzdem  Emil  ihr  hundertmal  lachend  geschworen  hatte, 
bei  ihm  habe  sie  nichts  zu  fürchten;  er  kenne  den  Rummel 
und  sei  nicht  von  gestern.  Als  keine  Selbsttäuschung  dann 
mehr  half,  als  sie  ihm  das  süße  Geheimnis,  wies  im  Romanstil 
heißt,  ins  Ohr  flüstern  mußte,  ward  der  Obermüthige  blaß; 
ein  stiller  Abend  und  eine  frühe  Trennung.  Daß  sein  Vater 
in  solchen  Sachen  keinen  Spaß  verstand  und  einstweilen  des^ 
halb  nichts  zu  machen  war,  wußte  sie  ja.  »Also  Kopf  hoch, 
Brust  *raus  . . .  und  so  weiter I  Faule  Kiste;  aber  wir  werdens 
schon  fingern.«  Alles  war  auch  glimpflich  abgegangen.  Im 
Mai  hatten  die  Mädel  im  Rayon  die  Köpfe  zusammengesteckt. 
Enger  ließ  sich  das  Korset  nicht  schnüren;  und  eines  Tages, 
bei  starkem  Fremdenandrang,  gabs  eine  kleine  Ohnmacht. 
»Die  is  dranl«  Doch  sie  erholte  sich  schnell,  that  bis  zum 
Geschäftsschluß  stramm  ihren  Dienst  und  gestand,  sie  habe 
sich,  zum  ersten  Mal,  verleiten  lassen,  in  Haiensee  bis  nach 
Eins  zu  tanzen.  Nach  und  nach  kamen  die  bösen  Zünglein 
zu  Ruhe.  Und  Enül  hatte  einen  famosen  Einfall.  »Wozu 
sind  denn  die  blödsinnigen  Reformkleider  da?  M.W.  Fafon 


51 


V 


Regentonne.«  So  gings;  Und  Ende  August  lag  der  vier# 
zehntägige  Urlaub  gerade  günstig.  Fünf  Tage  Verspätung: 
der  gemüthllche  alte  Doktor  hatte  die  Verstauchung  des  linken 
Fußes  gern  bestätigt.  Fräulein  war  emsig  und  die  Kund^ 
Schaft  hatte  nicht  zu  klagen.  Das  Kind  war  in  dem  Land^ 
Städtchen  geblieben;  bei  der  würdigen  Dame,  die  es  (»Dis^ 
kretion  Ehrensache«!)  dem  Schoß  der  Mutter  entbunden  hatte. 
Auf  Emils  Rath.  >Sonst  rennste  jeden  zweiten  Tag  hin,  die 
Bande  riecht  Lunte  und  Du  fliegst  aufs  Pflaster.«  Die  Halten 
frau  verpflichtete  sich,  jeden  Monat  mindestens  einmal  Be<s 
rieht  zu  erstatten.  »Sie  sind  doch  an  keine  Engelmacherin  nich 
gekommen.«  Der  Doktor  verspricht,  von  Zeit  zu  Zeit  nach 
dem  Rechten  zu  sehen.  Auch  lebt  eine  Freundin  im  Ort. 
Die  meldet  im  Oktober,  das  Kleine  sehe  nicht  besonders 
aus;  sie  wolle  gewiß  nicht  hetzen,  aber  das  ewige  V(lmmem 
könne  Einem  das  Herz  abdrücken  und  mit  der  Sauberkeit 
sei  es  auch  nicht  allzu  weit  her.  Am  selben  Abend  noch  muß  Emil 
sich  hinsetzen  und  an  den  Doktor  schreiben.  »Damit  die 
liebe  Seele  Ruhe  hat:  Eingeschrieben.«  Antwort:  Unsinn; 
mit  dem  Würmchen  sei  ja  noch  nicht  viel  Staat  zumachen,  aber 
wir  haben  schon  kümmerlichere  durchgebracht,  und  wer  von 
Vernachlässigung  rede,  lüge  in  seinen  Hals;  die  Freundin  habe 
sichmitder  Kost&au  verzanktundfinde  seitdem  plötzlich  keinen 
guten  Faden  mehr  an  ihr.  »Na  alsol  Wieder  mal  unnütz  alar^ 
mirt.  Sei  friedlich  und  komm  ins  Apollo.«  Der  November» 
bericht  lautet  günstig.  »Mein  Oskar  holt  jeden  Morgen  die 
beste  Milch ;  und  überhaupt .  . .«  Zwischen  Weihnacht  und 

52 


Neujahr  kommt  die  Todesnachricht;  auf  einer  Postkarte: 
»Soeben  sanft  im  Herrn  entschlafen.  Näheres  brieflich. 
Bitten  Anweisung  für  Begräbnißkosten;  auch  wegen  dem 
Sarge.  ^Wir  sind  Alle  untröstlich.«  Der  junge  Arzt,  der  wäh^ 
rend  der  Festwochen  den  alten  vertritt,  macht  mit  dem  Toten«» 
schein  Schwierigkeiten.  Die  Obduktion  ergiebt:  völlig  unge^ 
nfigende  Ernährung,  Mangel  an  nothdürfdgster  Reinlichkeit, 
Anwendung  von  Schlafpulvem;  unmittelbare  Todesursache: 
Zuführung  verdorbener  Milch  und  als  Folge  Brechdurchfall, 
den  der  geschwächte  Organismus  nicht  mehr  überstand. 

Die  Staatsanwaltschaft  erhebt  die  Anklage  auf  Grund  des 
§  222  St  G  B  :  »Wer  durch  Fahrlässigkeit  den  Tod  eines 
Menschen  verursacht,  wird  mit  Gefangniß  bis  zu  drei  Jahren 
bestraft.  Wenn  der  Thäter  zu  der  Aufmerksamkeit,  welche  er 
aus  den  Augen  setzte,  vermöge  seines  Amtes,  Berufes  oder 
Gewerbes  besonders  verpflichtet  war,  so  kann  die  Strafe  bis  auf 
ftinf  Jahre  Gefangniß  erhöht  werden.«  Die  Haltefrau  wird  veri« 
haftet  Sensation  im  Städtchen.  Unter  zweihundert  Klatschen 
reien  wird  der  Behörde  auch  die  Geschichte  von  dem  Alarme 
brief  der  Freundin  zugetragen.  »Sie  haben  die  unvereheUchte 
Runge  also  gewarnt?«  »Jawohl,  Herr  Richter.«  »Eindringe 
lieh?«  »Jawohl,  Herr  Richter.«  »Mit  dem  Hinweis  auf  die 
fiir  Leib  und  Leben  des  Kindes  drohende  Gefahr?«  »Jait 
wohl,  Herr  Richter.«  «Und  trotzdem  hat  die  Mutter  nicht 
Veranlassung  genommen,  ihr  Kind  in  Sicherheit  zu  bringen?« 
»Nein,  Herr  Richter,  sie  hat  mir  'nen  pikirten  Brief  gei* 
schrieben.«   »Worauf  fithren  Sie  dieses  unmenschliche  Veri« 


53 


Eahren  zurück?«  »Gott,  Herr  Richter,  Die  ging  cait  Einem 
und  da  hatte  sie  wohl  mehr  ihr  Vergnügen  im  Kopf;  schon  als 
Kind  war  sie  mehr  für  Theater  und  so  was.«  »Da  Sie  Ihre  Pflicht 
in  vollstem  Maß  erfüllt  haben,  brauche  ich  Sie  auf  die  Heilig«» 
keit  des  Eides  nicht  ausdrücklich  hinzuweisen.  Es  wird  Ihnen, 
wie  ich  sehe,  schwer  genug,  eine  Jugendfreundin  zu  belasten. 
Gerichtsschreiber,  nehmen  Sie  zu  Frotokol:  ,Ich  kenne  die 
unverehelichte  Runge  von  Kindesbeinen  an  und  wir  sind 
bis  zu  dieser  Stunde  befreundet.  Doch  muß  ich  der  Wahri* 
heit  die  Ehre  geben  und,  nachdrücklich  auf  die  Heiligkeit 
des  Zeugeneides  hingewiesen,  aussagen,  daß  sie  schon  in 
der  Schulzeit  durch  bodenlosen  Leichtsinn  oft  Aergemiß  er«» 
regte  und  ich  mich  nicht  wunderte,  als  sie  sich  in  Berlin 
später  einem  lüderlichen  Lebenswandel  ergab.  Als  ihre  Un«» 
Zucht  Folgen  hatte,  kam  sie  hierher  und  fand  bei  der  Mohr 
Aufhahme,einerlangstderEngelmachereiverdächtigenFrauens^ 
person,  die  sie,  ohne  nähere  Erkundigung  einzuziehen,  ledige 
lieh  auf  Grund  eines  Zeitunginserates,  als  Kostkinder:« 
pflegerin  wählte.  Ich  muß  hier  noch  betonen,  daß  die  Runge 
sich  nicht  schämte,  sich  in  unserer  Stadt  öffentlich  im  Zu>« 
Stande  höchster  Schwangerschaft  mit  dem  Genossen  ihrer 
Unzucht  zu  zeigen.  Ihre  Kleidung  war  so,  wie  man  sie  bei 
Lustdimen  finden  soll.  Sie  wäre  also  in  der  Lage  gewesen, 
auskömmlich  fiir  ihr  Kind  zu  sorgen.  Auf  meinen  Brief, 
der  ihr  meldete,  das  Kind  sei  in  höchster  Gefahr  und  werde 
nicht  am  Leben  bleiben,  wenn  es  nicht  schleunig  von  der 
Mohr  weggenommen  werde,  hat  sie  mir  frech  geantwortet: 


54 


ich  wolle  nur  wieder  Stänkereien  machen  und  ihr  Angst  ein« 
jagen;  das  Kind  könne  gar  nicht  besser  aufgehoben  sein. 
Da  kh  die  Briefe  der  Runge  meinem  Bräutigam  verheim^* 
liehen  mußte,  wurden  sie  gleich  verbrannt  und  kann  ich  sie 
deshalb  nicht  an  Gerichtsstelle  schaffen.  Ich  muß  aber  ver# 
sichern,  daß  sie  auf  mich  den  denkbar  schlechtesten  Eindruck 
machten  und  ich  mir  schon  damals  sagte,  die  Runge  müsse 
nicht  das  geringste  Muttergefuhl  haben.  Namentlich  ist  mir 
peinlich  au%e£sillen,  daß  sie  in  der  Antwort  auf  meine  War« 
nung  weitschweifig  von  einem  mißvergnügten  Abend  tu 
zählte,  den  sie  mit  ihrem  Unzuchtgefahrten  in  einem  söge« 
nannten  Tingeltangel  verlebt  und  in  einer  Kneipe  beschlossen 
habe.  Ich  habe  davon  auch  meiner  Tante  Mittheilung  ge« 
macht,  der  Wachtmeisterswitwe  Päpke,  die  es  beschwören 
kann.  Mein  Brief  hat,  obwohl  er  in  den  stärksten  Aus« 
drücken  sAygtbßt  war  und  an  das  Gewissen  appellirte,  nicht 
die  VClrkung  gehabt,  die  Runge  zu  der  Aufmerksamkeit  an« 
zuhalten,  zu  welcher  sie  vermöge  ihres  Mutterberufes  be« 
sonders  verpflichtet  war.  Vielmehr  hat  sie  mir  in  cynisch 
roher  Weise  geantwortet,  ihre  Pflicht  auch  femer  vemach« 
lässigt  und  damit,  wie  ich  (est  überzeugt  bin,  aus  bloßer 
Vergnügungsucht  den  Tod  ihres  Kindes  verursacht' . . .  Ein« 
Wendungen  haben  Sie  natürlich  nicht?  Schön.  Das  Protokol 
ist  also  gemäß  §  186 St  PO  vorgelesen  und  von  der  Zeugin 
unterzeichnet  worden.  Sie  können  gehen.«  Der  Assessor 
bringt  dem  Staatsanwalt  selbst  die  Akte.  »Habe  *ne  feine 
Nummer  abgezogen  und  hoffe,  im  nächsten  Bericht  Einen 

55 


'raufzukommen.  Kegeln  Sie  abends?«  Und  erzählt  beim 
Frühschoppen  schmunzelnd,  in  der  Sache  Mohr  werde  es  noch 
Überraschungen  geben.  Am  nächsten  Tag  wird  auch  die 
Runge  verhaftet;  vom  Ladentisch  weg.  Da  die  Hausordnung 
ftir  solche  Fälle  sofortige  Entlassung  vorsieht»  weiß  sie,  daß 
sie  nicht  zurückkehren  und  der  Grund  der  Entlassung  im 
Abgangszeugniß  vermerkt  werden  wird.  Sie  ist  dringend  der 
fahrlässigen  Tötung,  begangen  am  eigenen  Kinde,  verdacht 
tig;  und  aus  aktenkundig  gemachten  Thatsachen  (ihrem  un^ 
züchtigen  Verhältnis  zu  dem  Buchhalter  Emil  Schirmer)  ist 
zu  schließen,  daß  sie  Spuren  derThat  vernichten  und  Zeugen 
zu  einer  falschen  Aussage  verleiten  werde ;  auch  ist  Fluchte 
verdacht  vorhanden.  Gemäß  §  1 12  St  F  O  war  also  ein  Haft« 
befehl  zu  erlassen;  die  Runge  darf  nicht  auf  freiem  Fuß  bleiben. 
Hauptverhandlung  in  der  Strafsache  wider  Mohr  und 
Runge  .  .  .  »Selbst  dieses  verthierte  Weibsbild  aber,  Hoher 
Gerichtshof,  kann  als  strafmildernd  noch  für  sich  anfuhren,  daß 
es  in  drückender  Armuth  lebte  und  von  der  Sorge  um  sein 
eigenes  Fleisch  und  Blut,  von  der  schweren  Arbeit  für  Mann 
und  Kinder  in  Anspruch  genommen  war.  "Wir  haben  gehört, 
daß  die  Schlafpulver  gegeben  wurden,  weil  der  Ehemann 
Mohr,  der  Ernährer  des  Hauses,  sonst  um  seine  Nachtruhe 
gekommen  und  nicht  im  Stande  gewesen  wäre,  das  fiir  den 
Haushalt  Unerläßliche  zu  verdienen ;  und  femer  ist  thatsäch^ 
lieh  fes^estellt,  daß  der  jüngste  Knabe  der  Angeschuldigten 
Mohr  ohne  dauernde  Schädigung  mit  der  selben  Milch  ge^ 
nährt  worden  ist  wie  das  Kostkind.  Das  entschuldigt  nichts, 

56 


erklärt  aber  Manches.  Doch  wie  soll  ich  Worte  finden,  um 
den  Leichtsinn,  die  Gewissenlosigkeit,  die  himmelschreiend 
niedrige  Gesinnung  der  Runge  zu  schildern,  die,  um  ihr 
Lasterleben  ungestört  fortsetzen  zu  können,  zur  Rettung  ihres 
Kindes  nicht  einen  Finger  rührte?  Ihres  eigenen  Kindes« 
Das  ist  der  wesentlichste  Unterschied.  Wtr  haben  gelernt, 
daß  zu  den  elementarsten  Empfindungen  des  Weibes  das 
Muttergefuhl  gehört.  Mehr  noch:  wir  wissen,  daß  sogar  im 
Thierreich  die  Mutter  Blut  und  Leben  freudig  (iir  ihr  Junges 
opfert.  Das  Geschöpf,  das  hier  vor  Ihnen  sitzt  und  (auch 
darauf  bitte  ich  zu  achten  1)  im  Verlauf  dieser  Verhandlung 
noch  keine  Thräne  vergossen  hat,  ist  unter  die  Stufe  derXhier^ 
heit  hinabgesunken.  Entsetzten  Blickes  sehen  wir  das  Bild 
ihres  Lebens  sich  vor  uns  entrollen.  Ich  erinnere  an  die  Aus^ 
sage  des  Fräuleins  Eppler,  einer  Jugendfreundin  der  Ange# 
klagten  Runge,  und  der  Witwe  Päpke,  einer  echten,  kernigen 
Soldatenfrau.  Diese  Zeuginnen,  die  ja  offenbar  bemüht 
waren,  so  weit  es  die  Eidespflicht  irgend  gestattet,  aus  christ^ 
lieber  Nächstenliebe  die  Runge  zu  entlasten,  haben  im  ganzen 
Gerichtsaal  ohne  Zweifel  den  Eindruck  der  Treue,  ehrenwerther 
Zuverlässigkeit  und  strengster  Wahrhaftigkeit  gemacht.  Und 
dennoch  ergab  auch  ihr  Zeugniß,  daß  die  Runge  geradezu 
frevelhaft  gehandelt  hat.  Sie  war  gewarnt  und  schlug  die 
Warnung  in  den  V(^nd.  Sie  wurde  für  leichte  Arbeit  über# 
reichlich  bezahlt,  hatte  (die  Ziffern,  die  der  durchaus  glaube 
wtirdige  Zeuge  Schirmer  uns  vortrug,  sind  nicht  einmal  von 
der  Vertheidigung  bestritten  worden)  von  ihrer  Unzucht  einen 

57 


Ertrag,  der  ihr  einen  weit  über  ihre  Verhältnisse  gehenden 
Luxus  ermöglichtei  und  ließ  ihr  Kind,  die  Frucht  ihrer  Lüste, 
in  Schmutz  und  Elend  verkommen.  Aufgedonnert  wie  eine 
öflFentliche  Dirne,  schritt  sie,  am  Arm  ihres  Buhlen,  als  habe 
sie  kein  Auge  zu  scheuen,  am  hellen  Tag  mit  den  sichtbaren 
Zeichen  der  Mutterschaft  durch  die  Straßen  eines  vom  Spü^ 
licht  der  Großstadt,  Gott  sei  Dank,  noch  verschonten  Ortes. 
Und  während  ihr  Kind  sich  in  Krämpfen  wand,  saß  sie 
unter  anderen  Freudenmädchen  und  lachte  über  die  plumpen 
Spaße  der  Clowns,  über  die  Zoten  bemalter  Frauenzimmer. 
Das  geschah,  nachdem  sie  eben  erst  von  der  Freundin  dringend 
gewarnt  und  die  Lebensgefahr  ihres  Kindes  ihr  zur  Kennte 
niß  gebracht  worden  war.  Ich  vermuthe  wohl  nicht  ohne 
Grund,  daß  sie  schamlos  in  den  Armen  der  Wollust  lag,  als 
der  Todesengel  dem  kleinen  Bett  nahte.  Wenn  jemals,  so 
hat  hier  Fahrlässigkeit  unter  erschwerenden  Umständen  den 
Tod  eines  menschlichen  Wesens  verursacht.  Fahrlässigkeit 
ist  die  pflichtwidrige  Nichtkenntnis  der  verursachenden  Be« 
deutungdes  Thuns  oder  Unterlassens.  Daß  die  geistigen  Fähig«« 
keiten  der  Angeklagten  hinreichten,  um  den  Erfolg  als  V(^r<( 
kung  des  Unterlassens  vorauszusehen,  kann  nicht  bezweifelt 
werden.  Wir  haben  nicht  ein  stumpfsinniges  Dienstmädchen 
vor  uns,  sondern  eine  gebildete,  ja,  rafiBnirte  Person,  deren 
Scharfblick  einen  Mangel  an  Kausalitätvorstellung  ausschließt. 
Trotzdem  ich  felsenfest  überzeugt  bin,  daß  sie  gleich  nach 
der  Geburt  den  Vorsatz  hatte,  ihr  uneheliches  Kind,  als  ein 
Hemmnis   ihres   lüderlichen   Treibens,   aus   dem  Wege  zu 


58 


räumen,  erlaubt  der  Buchstabe  des  Gesetzes  leider  nicht,  hier 
§  217  StG  B  anzuwenden.  Um  so  mehr  aber  sind  wir  ytu 
pflichtet,  die  volle  Strenge  des  Gesetzes  gegen  diese  unsitti» 
liehe  Person  walten  zu  lassen.  Giebt  es  einen  ernsteren  Be^ 
ruf,  ein  heiligeres  Amt  als  das  einer  Mutter?  In  meiner 
langen  Praxis  ist  mir  kein  Fall  vorgekommen,  der  so  alle 
Kriterien  des  §  222  StG  B,  Abs.  2,  deckt  wie  dieser;  keiner, 
der  die  mattherzige  Unzulänglichkeit  unserer  von  bischer 
Humanität  eingegebenen  Strafgesetze  so  deutlich  zeigt.  Hu^ 
manitätl  Gottes  Ebenbildern  wollen  wir  sie,  auch  wenn  sie 
irrten,  niemals  verweigern.  Dieses  entmenschte,  jeder  natura 
liehen  Regung  bare  Wesen  aber  .  .  .  .«  »Die  Strafkammer 
hat,  entsprechend  dem  Antrag  des  Herrn  Staatsanwaltes, 
gegen  die  Angeklagte  Runge  auf  das  höchste  Strafinaß  von 
fönf  Jahren  Gefangniß  erkannt.«  Von  Rechtes  wegen. 

Der  Herr  Kommerzienrath  Rudolf  Koch,  Direktor  der 
Deutschen  Bank  in  Berlin,  sucht  für  seine  Söhne  Heinrich 
und  Joachim,  Knaben  von  dreizehn  und  elf  Jahren,  einen 
Hauslehrer.  Auf  dem  nicht  mehr  ungewöhnlichen  Wege  des 
Inserates.  Er  würde  einem  nicht  Jahre  lang  vorher  erprobten 
Manne  nicht  för  eine  Viertelstunde  den  Kassenschlüssel  soi^ 
vertrauen,  würde  in  die  EflFektenabtheilung  der  Bank  selbst 
zu  untergeordneter  Arbeit  nie  einen  Menschen  aufiiehmen,  der 
nicht  klipp  und  klar  bewiesen  hätte,  daß  er  zuverlässig  und 
in  seinem  Beruf  tüchtig  ist.  Wenn  er  seinen  Kindern  einen 
Erzieher  sucht,  begnügt  er  sich  mit  einem  Inserat.  Er  könnte, 

59 


mit  einem  Jahreseinkommen  von  durchschnittlich  zwei^ 
hunderttausend  Mark,  einen  reifen  Mann  engagiren,  einen 
Doktor  oder  Professor  gar:  er  fahndet  nach  einem  Studenten. 
\^erzig  Offerten  laufen  ein.  Waren  in  der  Annonce  etwa 
»glänzende  Bedingungen«  verheißen  worden,  dann  hatten 
sich,  statt  der  vierzig,  vierhundert  Bewerber  gemeldet.  Die 
Wahl  fallt  auf  den  Studiosus  Dippold,  »weil  er  die  besten 
Empfehlungen  hat«.  Woher?  Danach  wird  nicht  ängstlich  ge# 
fragt.  Dippold  hat  im  ersten  Semester  wüst  gebummelt,  die 
Nächte  mit  Prostituirten  verbracht,  sich  einer  Lehrerstochter 
verlobt,  den  Vater  der  Braut  um  zweitausendsechshundert  Mark 
angepumpt  und  das  Geld  mit  gemietheten  Weibern  verludert. 
Als  der  Darleiher  davon  hörte,  hob  er  die  Verlobung  auf. 
Dippold  ließ  sich  dann  in  Berlin  immatrikuliren,  arbeitete 
aber  auch  hier  wenig  und  war  unter  den  Kommilitonen  als  ein 
roher,  jähzorniger,  fast  größenwahnsinniger  Lümmel  verrufen. 
Nicht  fähig,  einen  lateinischen  Satz  ohne  grobe  Fehler  zu 
bilden.  Verlumpt  und  verlogen.  Dabei  ein  Frömmler.  Des 
Morgens  bei  dem  Branntewein,  des  Mittags  bei  dem  Bier, 
des  Abends  bei  den  Mädchen  im  Nachtquartier;  in  der 
Zwischenzeit  schrieb  er  Briefe  über  den  gottseligen  Wandel 
des  Christenmenschen.  Einzige  Leistung:  ein  paar  Nachhilfen 
stunden,  die  ihm  nicht  einmal  die  Fortsetzung  des  Studiums 
ermöglichten;  also  ohne  Doktorhut  Kehrt.  Aber  er  hatte  »die 
besten  Empfehlungen«  und  bekam,  als  er  knapp  ein  halbes 
Jahr  in  der  Reichshauptstadt  war,  die  Stelle,  für  die  Hunderte 
redlicher  Jiinglinge,  Hunderte  gereifter  Pädagogen  zu  haben 


gewesen  wären.  Nach  kurzer  Zeit  sckon  wird  dem  Unbe# 
währten,  fast  noch  Fremden  gestattet,  mit  den  Zöglingen  nach 
Ziegenberg  bei  Ballenstedt  überzusiedehi.  Das  ist  ein  Gut 
des  Herrn  Bankdirektors  und  Kommerzienrathes.  Da  haust 
er  ohne  jede  Kontrole  mit  den  Knaben.  Papa  ist  von  Ge# 
Schäften  zu  sehr  in  Anspruch  genommen  und  kann  sich  um 
die  Erziehung  der  Kinder  nicht  kiimmem.  Mama  hat  nicht 
das  geringste  Verständniß  für  die  Kinderpsyche,  nicht  die 
dunkelste  Ahnung  von  den  Grundsätzen  modemer,  halb# 
wegs  modemer  Pädagogie  und  glaubt  ein&ch  blind,  was 
der  Hauslehrer  sagt  Ihre  Jungen  sollen  lernen,  vorwärts^ 
kommen,  Renommirsöhne  sein.  Gehts  ohne  Prügel  nicht,  so 
muß  eben  geprügelt  werden.  Dieses  Eltempaar,  das  einen 
Thiergartenpalast  bewohnt  und  ein  statthches  Landgut  hat, 
sorgt  nicht  einmal  dafiir,  daß  Heinz  und  Jojo  (Kosenamen 
gehören  auch  in  solcher  zärtlichen  Familie  zum  Thiergarten^ 
Stil)  so  gut  genährt  werden  wie  der  Sohn  ihres  Hausdieners 
oder  Pfortners.  Die  Knaben  hungern  und  frieren;  eine  mit 
Mus  beschmierte  Semmel  ist  für  sie  ein  Leckerbissen  und  sie 
werden  auf  Reisen  in  die  \^erte  Wagenklasse  gepfercht.  Wie 
sollten  Papa  und  Mama  daran  denken,  in  Ziegenberg  jeden 
Monat  mindestens  revidiren  oder  sich  etwa  gar  jede  Woche 
den  Küchenzettel  vorlegen  zu  lassen?  Wozu  hat  man  denn 
schließlich  einen  Hauslehrer?  Und  Mama  hatte  sich  ja  an^ 
fangs  wirklich  selbst  nach  Ziegenberg  bemüht,  Dippold  be^ 
richtet  Fürchterliches.  Beide  Knaben  treiben  Tag  und  Nacht 
Manustupration  und  sind  durch  keine  Ermahnung  von  diesem 

61 


Laster  abzubringen.  Sie  sind  ungeberdig,  faul,  frech»  ohne 
die  leiseste  Spur  sittlichen  Gefühles.  Der  Aelteste  hat  ge# 
stöhlen;  zuerst  im  Elternhaus,  wo  er  die  Kasse  des  Vaters 
erbrach  und  Edelsteine  bei  Seite  brachte,  dann  in  Restau^ 
rationen  und  Laden.  Er  hat  mit  Falschmiinzen  Automaten 
geplündert,  in  Kreditvereinen  allerlei  Waaren  gekauft,  ohne 
zu  zahlen,  und  das  erschwindelte  und  erstohlene  Geld  be# 
nutzt,  um  (ein  Dreizehnjähriger)  heimlich  mit  Prostituirten 
zu  verkehren.  Denen  hat  er  Goldringe  geschenkt  und  das 
Luderleben  erst  aufgegeben,  als  er  von  den  Frauenzimmern 
syphilitischangestecktwar.  Das  Alles  gesteht  er  selbst.  Zweifel? 
Hier  ist  seine  Namensunterschrift.  Fapa  ist  von  Geschäften 
in  Anspruch  genommen.  Und  Mama  glaubt,  »tief  er# 
schüttert«,  Alles,  was  Herr  Dippold  berichtet.  Sie  kennt 
ihre  Kinder  so  gut,  daß  sies  glauben  kann.  Sie  erkennt,  mit 
dem  Falkenblick  wachsamer  Mutterliebe,  den  Lehrer  so  genau, 
daß  sie  ihm  schreibt:  »Ich  bedaure  nur,  daß  Gott  Sie  nicht 
zwei  Jahre  früher  in  unser  Haus  geführt  hat;  manches 
Herzeleid  wäre  uns  dann  erspart  worden.«  Eines  Tages  wird 
ihr  gemeldet,  Dippold  habe  die  Knaben  grausam  geschlagen. 
Er  leugnet  auch  nicht.  Die  Züchtigung  sei  unbedingt  nothe 
wendig  gewesen,  er  werde  sie  aber  nicht  wiederholen,  denn 
sie  reiche  aus,  um  den  Jungen  das  ewige  Masturbiren  end^ 
lieh  abzugewöhnen.  Wenn  der  Schimmel  sich  an  einer  Glases 
Scherbe  verletzt  hätte,  wäre  »eine  Autorität«  gerufen  worden. 
Doch  Kinder  muß  man  streng  halten.  Und  Fapa,  der  jetzt 
gerade  Bilanzsitzungen  hat,  darf  nicht  beunruhigt  werden. 

62 


Ich  dachte,  sagt  die  Frau  Kommerzienrath,  »einen  Augenblick 
daran,  die  Knaben  nach  der  harten  Züchtigung  von  einem 
Arzt  untersuchen  zu  lassen,  that  es  aber  nicht,  weil  Herr  Dipi« 
pold  davon  abrieth.  Ich  wollte  auch  wegen  der  »geheimen 
Siinden'  einen  Arzt  zu  Rath  ziehen,  unterheß  es  aber,  weil 
Herr  Dippold  sagte,  er  habe  selbst  Medizin  studirt,  sei  viel 
in  Krankenhäusern  gewesen  und  verstehe  die  Sache  eben  so 
gut  wie  ein  anderer  Arzt.«  Ob  diese  Angabe  wahr  ist,  wird 
nicht  gepriiit.  In  einem  Haushalt,  der  sich  für  Zeit  und 
Ewigkeit  geschändet  fühlen  würde,  wenn  ein  Kutscher  ein^ 
mal  bei  Tisch  mitserviren  müßte,  wird  die  Erziehung,  Eu 
nährung,  Körperpflege,  ärzthche  Behandlung  der  Kinder 
einem  verbummelten  Studenten  anvertraut.  Dippold  miß^ 
handelt  die  Knaben.  Dippold  wird  vernommen  und  erklärt, 
die  Mißhandlung  sei  nöthig  gewesen,  eine  ärztliche  Untere 
suchung  Heinzens  und  Jojos  würde  ein  Fehler  sein  und 
auf  Therapie,  Hygiene  und  Prophylaxis  verstehe  er  sich  wie 
irgendein  Doktor.  Dippolds  Wort  entscheidet  und  Mama 
reist,  beruhigt,  getröstet,  entzückt,  nach  Berlin  zurück.  Durch 
Gottes  Fügung  ward  ein  Juwel  ihrem  Hause  gewonnen. 

Weihnachten  sind  die  Knaben  bei  den  Eltern  in  Berlin. 
Fapa  ist  offenbar  auch  während  der  Feiertage  von  den  Ge^ 
schälten  ganz  in  Anspruch  genommen.  Und  Mama  weiß 
zwar,  daß  Dippold  ihre  Kinder  lahmgeprügelt  hat,  kommt 
aber  nicht  auf  den  Einfall,  sie  jetzt  wenigstens  vom  Haus^ 
arzt  untersuchen  zu  lassen;  sieht  sich  nicht  einmal  selbst 
die  kleinen  Körperchen  an.  Ihre  mütterliche  Sorge  beschränkt 

63 


sich  auf  die  Nachforschung,  ob  die  Kinder  wirklich  onanireü. 
Wenn  sie  Dippoids  Angabe  glaubte»  war  sie  zehnfach  ver# 
pflichtet,  eine  »Kapazität«  um  Rath  zu  fragen;  denn  daß 
Knaben  von  elf  und  dreizehn  Jahren  täglich  zwölfinal,  £iin& 
zehnmal  oder  noch  öfter  thun,  was  Judas  Sohn  Onan 
(1.  Mose  38, 9, 10)  mit  dem  Leben  büßt,  ist  am  Ende  kein 
gleichgiltiger  Alltagsvorgang.  Frau  Rosalie  Koch  ist  anderer 
Meinung.  Wahrscheinlich  hält  sie  sich  selbst  für  eine  Kapa^ 
zität;  und  sie  bringt  dem  gewählten  Beruf  Opfer,  die  fast 
über  die  Menschenkraft  gehen.  In  einer  Nacht,  spricht  sie 
stolz,  »bin  ich  wohl  fünfmal  in  das  Schlafzimmer  der  Knaben 
gegangen,  bin  dicht  an  ihre  Betten  herangetreten  und  habe 
zu  ihnen  gesprochen;  ich  gewann  die  Ueberzeugung,  daß 
Beide  fest  schliefen.  Nachher  sagte  mir  Heinz,  sie  hätten 
sich  blos  verstellt.«  Das  komplizirte  den  Fall.  Entweder  log 
der  Hauslehrer  frech  oder  die  Jungen  betrogen  die  Mutter 
mit  GaunerkniflFen.  Frau  Kommerzienrath  Koch  fand  sich 
nicht  bewogen,  die  Sache  zu  untersuchen,  und  ließ,  le  coeur 
I6ger,  die  Kinder  mit  dem  Lehrer  wieder  gen  Ziegenberg 
ziehen.  Warum  nicht?  »Unser  Gut  ist  sehr  idyllisch  ge# 
legen.«  Neue  Warnungen  kommen.  Ein  Brief:  »Dippold 
ist  ein  Schweinekerl,  denn  er  frißt  das  Fleisch  mit  den  Hän^ 
den  vom  Teller  herunter;  er  ist  ein  Saukerl,  denn  er  hat 
sich  besoffen;  er  ist  ein  gemeiner  Kerl,  denn  er  hat  unsitt» 
liehen  Verkehr  mit  vielen  Frauenzimmern.  Dippold  ist  ein 
Schuft,  ein  Spitzbube,  ein  Schurke.  Dich,  Mama,  nennt  er 
eine  hochmüthige  Trine,  Karl  (Kochs  Sohn  aus  erster  Ehe) 


64 


nennt  er  einen  Kochnäsigen  Kerl,  der  Vaters  Geld  verpras^ö. 
Heinz  Koch.  Gelesen:  Jojo  Koch.«  Wahr  oder  unwahr:  aus 
diesem  Kinderbrief  spricht  so  wilder  Haß,  so  leidenschafe 
liehe  Rachsucht»  daß  kein  Vater,  keine  Mutter,  in  deren 
Herzen  auch  nur  ein  Funke  ernster,  vorsorgender  Elternliebe 
glomm,  fünf  Minuten  vor  dem  Entschluß  zaudern  durfte, 
die  Kleinen  aufzusuchen  und  dem  unhaltbar  gewordenen 
Zustand  ein  Ende  zu  machen.  Selbst  wenn  Alles  erlogen  war, 
was  die  Knaben  schrieben,  war  der  Erzieher  nicht  langer  zu 
brauchen,  der  so  wenig  verstanden  hatte,  ihr  Kindergefiihl 
an  sich  zu  ketten.  Eine  Proletarierin  hätte  nach  solcher  Kunde 
den  Nothpfennig  genommen  und  sich  in  der  nächsten  Frei# 
stunde  auf  die  Eisenbahn  gesetzt.  Frau  Rosahe  Koch  schreibt 
einen  Brief.  Von  Berlin  sind  fünf,  sechs  Stunden  Fahrt;  auch 
die  Kosten  eines  Extrazuges  wären  in  dem  Budget  des  Bank«: 
direktors  kaum  wahrnehmbar.  Frau  Koch  schreibt  einen 
Brief.  Antwort,  vde  zu  erwarten  war:  Alles  erfunden.  Heinz 
sei  überhaupt  nicht  mehr  zurechnungfahig;  doch  hoflFe  der 
Lehrer,  cand.  jur.  Dippold,  ihn  zu  heilen,  »V(^  wollen  Alles 
in  die  Hand  des  Allmächtigen  legen,  der  es  sicher  zum  Guten 
lenken  wird.«  Dann  folgen  Briefe,  die  melden,  daß  die 
Knaben  an  Schwindelanfallen  leiden,  Folgen  der  Mastur# 
bation.  Traurig,  denkt  Mama;  thut  aber  nichts.  Unter  ihrem 
Zeugeneid  hat  sie  später  ausgesagt,  als  sie  von  der  Selbste 
befleckung  der  Knaben  gehört  habe,  sei  ihr  erster  Gedanke 
gewesen,  nur  der  Lehrer  könne  Heinz  und  Jojo  zu  solchem 
Laster  verleitet  haben.    Nur  ihr  erster  Gedräke.    Ihr  letzter 

5.  III  65 


scheint  gewesen  zu  sein:  Was  Dippold  thut,  ist  wohl«» 
gethan;  drum  herrsche  auch  hinfiiro  sein  Wille. 

Im  Januar  1903  war  Mama  ein  Weilchen  in  Ziegenberg. 
Sah  nichts  und  hörte  nichts.  Auch  Papa  kam;  erfuhr,  Dipi» 
pold  sei  (gerade  an  diesem  Tag)  mit  den  Jungen  auf  den 
Brocken  geklettert,  und  reiste,  ohne  sie  gesehen  zu  haben, 
vergnügt  wieder  ab.  »Wenn  sie  solche  Tour  machen  können, 
miissen  sie  ja  kerngesund  sein.«  Ungefähr  drei  Wochen 
danach  klopft  im  Morgengrau  auf  dem  »idyllisch  gelegenen« 
Gut  eine  zitternde  Kinderhand  an  das  Fenster  der  Gärtner:^ 
Wohnung.  Heinz.  Fünf  Uhr  früh.  Eiskälte.  Der  Knabe  halb 
angezogen.  Wimmert  um  Hilfe.  Der  Lehrer  habe  ihn  und 
seinen  kleinen  Bruder  aus  tiefem  Schlafe  geweckt  und 
einen  dicken  Stock  an  ihren  Leibern  zerschlagen;  er  werde 
sie  gewiß  noch  umbringen.  Heinz  hat  auf  dem  Rücken,  den 
Armen  große  blutige  Wunden;  Wangen,  Augen  und  Hände 
sind  angeschwollen.  Das  Würmchen  bettelt  um  Hilfe,  um 
einen  Bissen  Brot;  denn  es  ist  von  Hunger  entkräftet.  Bald 
darauf  holt  Dippold  seinen  Schüler  zurück.  Der  Gärtner 
fahrt  nach  Ballenstedt  und  erzählt  dem  Bürgermeister  das 
grasse  Erlebniß.  Der  telegraphirt  an  den  Herrn  Bankdirektor 
und  Kommerzienrath  RudolfKoch,Berlin,Thiergartenstraße  7^ . 
Und  nun  ists  aus  mit  der  Qual.  Nun  wird  dem  Hallunken 
das  Handwerk,  das  schmähliche  Handwerk  gelegt  und  noch 
am  selben  Tage  sitzen  die  Kinder  sicher  im  prunkenden 
Elternhaus  und  werden  mit  Liebe  gepäppelt.   Nicht  wahr? 

Nein.   Herr  Rudolf  Koch  hats  nicht  so  eilig.    Neununde 


66 


zwanzigster  Januar.  Mitten  in  der  Hochsaison.  Vielleicht 
Gäste  zu  Tisch.  Vielleicht  zu  Gwinners  Majestät  geladen. 
Au&ichtrathssitzung.  Irgendein  neuer  Concem  zu  bilden. 
Schließlich  ists  ja  kein  Fall,  der  Eltern  zu  schleuniger  Reise 
drängen  müßte.  Herr  Rudolf  bespricht  die  Sache  mit  Frau 
Rosalie.  Das  Beste  wird  sein,  den  Schwiegersohn  hinzu# 
schicken.  Rittmeister  a.  D.  Hat  also  immer  Zeit.  Famoser 
Einfall.  Und  Frau  Rosalie  thut  noch  ein  Uebriges.  Sie  bittet 
Herrn  Dr.  Vogt,  einen  Gehimanatomen,  Schüler  Foreis  und 
Günstling  Krupps,  nach  Ziegenberg  zu  &hren.  Sagt  ihm 
aber  nichts  von  der  rohen  Mißhandlung.  Mehr  kann  doch 
wirklich  kein  Gerechter  verlangen.  Der  Schwiegersohn  hats 
eiliger  als  der  Schwiegerpapa.  Er  muß  schnell  nach  Berlin 
zurück,  sieht  den  verspätet  eintreffenden  Himschnittmacher 
nur  noch  zwei  Minuten  und  benutzt  die  Frist,  um  ihm  zu^ 
zurufen:  3»Der  Dippold  ist  entweder  ein  Schuft  oder  ein 
Idealmenschi«  Diese  wundersame 'Alternative  des  Reiters^ 
mannes  hätte  manchen  Kontroleur  wohl  zum  Mißtrauen  ge^ 
stimmt.  Herrn  Dr.  Vogt  nicht.  Ein  Doktor  vom  Lande  hätte 
den  Jungen  befohlen,  sich  auszuziehen,  und  dann  die  Spur 
der  Mißhandlung,  die  Wunden  und  Eiterbeulen,  am  Leib 
der  Geschundenen  entdeckt.  Mit  solchen  Rückständigkeiten 
giebt  der  moderne  Direktor  einer  Himschnittmustersammlung 
sich  nicht  ab.  Untersuchung?  Veralteter  Blödsinn.  Herrn 
Dr.  Vogt  genügt  ein  Gespräch  mit  dem  Kandidaten  Dippold. 
Der  sagt,  eine  ärztliche  Untersuchung  würde  seine  Autorität 
bei  den  Schülern  mindern.    Alles  komme  von  der  ewigen 

«•  67 


Masturbation.  QWas  dtn  Arzt  nicht  etwa  veranlaßt,  sich 
wenigstens  mal  die  Genitalien  der  Kinder  anzusehen.)  Züch^ 
tigung  sei  nöthig,  doch  werde  nus  der  dafür  geeignetste 
Körpertheil  manchmal  mit  einer  dünnen  Gerte  bearbeitet.  Der 
Arzt  antwortet,  sehr  vernünftig,  Prügeln  nütze  nicht  und  die 
üble  Folge  der  Onanie  werde  von  Laien  beträchtlich  über^ 
schätzt.  Läßt  sich  Dippolds  Erziehungmethode  schildern, 
verschreibt  ein  Schlafpulver,  räth,  Heinz  und  Jojo  jeden  Mo# 
nat  einem  Neurologen  vorzufuhren,  und  dampft  ab.  Gemein^ 
same  Meldung  des  Ritt»  und  des  Schnittmeisters:  Alles  in 
schönster  Ordnung.  Der  Lehrer  hält  mit  den  Schillern  sogar 
weihevolle  Andachtübungen  und  ihr  Wohl,  er  sagt  es  ja 
selbst,  liegt  ihm  Tag  und  Nacht  am  Herzen.  Herr  Dr.  Vogt 
schließt  seinen  Bericht  (in  dem  weder  von  Kontrole  noch 
von  Neurologie  mit  einer  Silbe  die  Rede  ist)  mit  der  Frage: 
ToWit  sind  Sie,  Frau  Kommerzienrath,  nur  zu  diesem  idealen 
Menschen  gekommen?«  Frau  Rosalie  ist  selig.  Wenn  ihr 
Dippold,  der  neulich  den  Wunsch  aussprach,  vde  Christus 
am  Oelberg  zu  ruhen,  nur  erhalten  bleibt  I  Er  drohte,  den 
Dienst  zu  kündigen.  Mama  sendet  ihm  »tausend  Dank  und 
fünfhundert  Mark  Extrahonorar  als  Anerkennung  Ihrer 
großen  Aufopferung«.  Um  dieses  Resultat  zu  erreichen,  war 
Heinz  früh  um  Fünf,  blutend,  halb  nackt,  halb  verhungert, 
dem  Haus  entlaufen,  der  Gärtner  nach  Ballenstedt  gefahren, 
vom  Bürgermeister  an  die  Eltern  telegraphirt  worden. 

Noch  mehr  vdrd  erreicht.  Dippold  erklärt,  nur  bleiben  zu 
wollen,  wenn  er  mit  den  Knaben  nach  Drosendorf,  in  seine 


68 


Heimath»  übersiedeln  dürfe.  In  Ziegenbeig,  wo  Gärtner  und 
Dienstboten  ein  Erziehungsystem  beschwatzen,  das  sie  nicht 
verstehen,  sei  nichts  Rechtes  zu  machen;  namentlich  nicht 
mit  Heinz,  der  moralisch  ganz  verkommen  sei.  Der  Lehrer 
brauche  volle  Ruhe;  »die  Kontrole  durch  Herrn  Dr.  Vogt 
wolle  er  sich  gern  ge£sdlen  lassen«  (was  man  ihm  nachfühlen 
kann).  Frau  Kommerzienrath  willigt  ein.  HerrKommerzienrath 
schreibt  an  seine  Söhne,  er  billige  Alles,  was  Dippold  anordne, 
der  sie  zu  tüchtigen  Menschen  erziehen  werde,  wenn  sie  ihm 
au&  Wort  gehorchten.  Also  auf  nach  Drosendorf,  das  auch 
»idyllisch  liegt«.  Am  siebenzehnten  Februar  1903wird  die  Reise 
angetreten.  Von  Ballenstedtbis  Hof  X^erter,  von  Hof  bis  Nümi^ 
berg  Dritter  Klasse.  Acht  Tage  danach  schreibt  Frau  Rosalie  an 
den  »idealen  Lehrer«:  »Nun  ist  Alles  geschehen,  um  Ihren 
V^en  zu  erfiillen.  In  Drosendorf  wird  Niemand  Sie  stören, 
am  Wenigsten  Jemand  aus  unserer  Familie«.  Worauf  Kom^ 
merzienraths  fröhlich  nach  Nizza  reisen;  denn  auch  ein  unter 
der  Last  der  Geschäfte  fast  zusammenbrechender  Bankdirek^ 
tor,  der  »die  Sorge  für  die  Kinder  seiner  Frau  überlassen  muß«, 
hat  die  Pflicht,  den  März  an  der  Riviera  zu  verrepräsentiren. 
Das  kann  die  Bank,  kann  die  GeseUschaft  von  ihm  fordern. 
Am  zehnten  März  liegt  Heinz  Koch  tot  im  Bett.  Der 
Lehrer  hatte  den  Sterbenden,  der  flehentlich  bat,  liegen  blei# 
ben  zu  dürfen,  mit  Fußtritten  in  Bewegung  gebracht,  zu 
Turnübungen  und  in  ein  eiskaltes  Bad  gezwungen.  Als  Heinz 
schlecht  turnte,  mußte  Joachim  ihn  mit  einem  Stock  prügeln. 
Als  er  zweimal  ohnmächtig  wurde,  brüllte  Dippold:  »Das 

69 


Luder  verstellt  sich  blosl«  Dem  Verröchelnden  wird  ein 
Knebel  in  den  Mund  gestopft.  Beim  Entkleiden  und  Säubern 
der  Leiche  muß  Jojo  helfen.  Dann  wird  der  Bezirksarzt  ge^ 
rufen;  »zu  einem  Schwerkranken«.  Dippold  schildert  ihm 
zwei  Stunden  lang  die  Vemichtheit  der  Famihe  Koch.  Der 
Arzt  will  den  Kranken  sehen.  Ist  schon  tot  Ergebniß  der 
Leichenschau:  der  ganze  Körper  zerschlagen;  überall  blutige 
Striemen  und  eiternde  Wunden;  von  Syphilis  oder  ona^ 
nistischer  Ausschweifung  keine  Spur.  Auch  Joachim  wird 
nun  endlich  untersucht.  Gesicht,  Brust,  Rücken,  Beine,  Arme 
mit  Blut  unterlaufen.  Das  Kind,  das  vom  Scharlach  her  ein 
Ohrenleiden  hat,  ist  durch  Schläge  am  Kopf  arg  verletzt, 
konnte  gerettet  werden,  stand  aber  vor  der  selben  Gefahr,  der 
sein  Bruder  erlag.  Das  war  der  Befund  am  zehnten  März. 
Zwölf,  dreizehn  Tage  vorher  hatte  Mama  an  den  Hauslehrer 
geschrieben:  »In  Drosendorf  wird  Niemand  Sie  stören,  am 
Wenigsten  Jemand  aus  unserer  Familie.« 

Unter  dem  dringenden  Verdacht,  durch  »Körperverletzung 
mittels  eines  gefihrlichen  Werkzeuges«  den  Tod  Heinzens 
herbeigeführt  zu  haben,  wird  Dippold  verhaftet.  §  226 StGB: 
Zuchthaus  oder  Gefangniß  nicht  unter  drei  Jahren.  Der  Erste 
Staatsanwalt  des  bayreuther  Landgerichtes  versichert,  die  Seki» 
tion  habe  den  entsetzlichsten  Anblick  geboten,  den  er  sich 
vorstellen  könne.  Schwurgerichtssache.  Voruntersuchung  und 
Hauptverhandlung  bringen  Thatsachen  ans  Licht,  die  in  einem 
Pfennigkriminalroman  vde  alberne  Übertreibungen  vrirken 
müßten«  In  mancher  Nacht  hat  der  Lehrer  sechs  dicke  Stöcke 


70 


an  den  Schülern  zerprügelt.  Die  Knaben  mußten  die  Schläge 
laut  zählen;  bis  zu  fünfzig.  Dazu  kamen  Fußtritte  und  Fauste 
schlage  auf  Gesicht,  Schädel»  Genitalien.  Nachts  mit  Stricken 
auf  den  Tisch  oder  die  Matratze  gebunden.  Oft  mußten  die 
Jungen  im  kalten  Zimmer  Stunden  lang  nackt  vor  dem  Bett 
stehen;  barfuß»  mit  Frostbeulen»  durch  den  Schnee  laufen; 
einem  im  raschestem  Tempo  fahrenden  Wagen  nachrennen, 
bis  sie  athemlos  zusammenbrachen;  mit  entblößtem  Untere 
körper  turnen  oder  Herrn  Dippold»  der  sich  auf  dem  Sofa 
räkelte»  Küßchen  geben;  in  ihren  Betten  wurden  fast  täglich 
breite  Blutflecke  gefunden.  Der  Lehrer  legte  sich  splittere 
nackt  zwischen  die  Schüler»  mißhandelte  sie  und  redete  ihnen 
so  lange  ein»  sie  hätten  Manustupration  getrieben»  daß  sies 
endlich  zugaben.  Alles  gaben  sie  zu.  Onanie,  Diebstahl» 
Betrug;  um  nur  ein  Bischen  Ruhe  zu  haben.  Einmal  be^ 
drohte  Dippold  den  älteren  Knaben  mit  offenem  Messer; 
mehr  als  einmal  schlug  er  den  jüngeren  mit  einer  Eisenstange. 
Zwei  Schuldfragen:  vorsätzliche  Körperverletzung  mittels  ge# 
fahrlichen  Werkzeuges  (Joachim),  das  Selbe  mit  tötlichem 
Ausgang  (Heinrich  Koch);  beide  Fragen  werden  von  den 
Geschworenen  bejaht»  mildernde  Umstände  nicht  als  vorhan^ 
den  angenommen.  Sämmtliche  Sachverständige  (zu  ihnen  ge# 
hört»  trotz  der  ziegenberger  Leistung»  auch  Herr  Dr.  Vogt) 
erklären»  »die  freie  WUlensbestimmung  des  Angeklagten  sei 
nicht  ausgeschlossen  gewesen«.  Keine  Phantasie  vermag  einen 
gräßlicheren  Fall  zu  erträumen.  Der  Gerichtsspruch  aber 
bleibt  um  sieben  Jahre  unter  dem  höchsten  zulässigen  Stra&. 

71 


maß.  Herrn  und  Frau  Kommerzienrath  Koch  werden  vor, 
während  und  nach  ihrer  Zeugenaussage  Mitleidsovationen 
bereitet  und  Trauerkränze  gewunden.  Kein  noch  so  sanft 
mahnendes,  vorwerfendes  Wort.  Und  der  Vertreter  der 
Staatsanwaltschaft  beginnt  seinen  Schlußvortrag  mit  den 
Sätzen:  »Im  groikn  Publikimi  war  der  Glaube  entstanden,  das 
Ehepaar  Koch  sei  an  dem  Tode  des  Kindes  mindestens  moralisch 
mitschuldig.  Die  ö£Fentliche  Verhandlung  hat  diesen  Glauben 
griindlich  zerstört  Der  Angeklagte  hatte  die  Frechheit,  zu 
behaupten,  die  Eltern  kümmerten  sich  nicht  um  ihre  Kinder. 
Die  Verhandlung  hat  ergeben,  daß  die  Eltern  nicht  die  ge« 
ringste  Schuld  tri£Et.«  Das  war  eines  Frokurators  Glaube. 

Der  Fall  Runge  ist  erfunden,  kann  aber  morgen  in  jedem 
Landgerichtsbezirk  Wirklichkeit  werden.  Der  Fall  Koch:^ 
Dippold  hat  sich  in  der  ersten  Oktoberdekade  des  Jahres 
1903  am  Rothen  Main  vor  Alldeutschlands  entsetztem  Auge 
abgespielt.  Alldeutschland  hat  seitdem  wieder  einen  Oger. 
Einen  wirklichen,  der  in  der  Geschichte  der  Sexualpsycho^ 
pathie  fortleben  wird.  Bald  ist  ein  Halbjahrtausend  ver^ 
strichen,  seit  Gilles  de  Rays  hingerichtet  wurde,  der  Mar« 
schall  von  Frankreich,  der  achthundert  Kinder,  hundert  in 
jedem  Jahr,  geschändet,  unter  wollüstigen  Schauem  getötet 
und  die  hübschesten  Köpfchen  zum  Andenken  aufbewahrt 
hatte.  Genau  hundert  Jahre,  seit  Donatien  Alphonse  Fran; ois 
Marquis  de  Sade  auf  Bonapartes  Befehl  nach  Charenton  ge^ 
schleppt  und  bis  an  sein  Lebensende  in  die  Irrenzelle  ge« 

72 


7 


sperrt  wurde.  Gilles  de  Rays  hatte  sich  an  suetonischer 
Gräuelmalerei  berauscht  Der  cilibre  Marquis  gab  den  Par:^ 
ästheten  des  Geschlechtsempfindens  die  Histoire  de  Justine 
ou  les  malheurs  de  la  vertu  und  die  Histoire  de  Justine  ou 
les  prospMtes  du  vice,  die  berühmtesten,  berüchtigtsten 
Teufelsbibeln  sexueller  Perversion.  De  Sade,  der  SchaflFende, 
war  interessanter  als  De  Rays,  der  Anempfinder.  Revolui^ 
tionär  bis  ins  Mark  der  Knochen;  überzeugtes  Mitglied  des 
Pikenklubs,  wo  er  dem  Angedenken  des  unermeßlichen  Tribut 
nen  Marat  eine  Weiherede  hielt;  Tod  den  Tyrannen  und  Haß 
dem  Herrgott  seine  Losung;  seine  Weltanschauung  sieht  ein 
amoralisches,  von  bösartigen  Molekeln  bewegtes  Menschen^ 
maschinenreich;  sein  Hauptvergnügen  war,  während  der 
Paarung  Frauen  die  Adern  zu  öffiien  oder  stark  blutende 
Fleischwunden  beizubringen;  war  solche  Lust  nicht  zu  haben, 
so  begnügte  er  sich,  seine  Tischgäste  mit  Kanthariden  zu 
vergiften.  Wo  Grausamkeit  sich  der  Wollust  gesellte,  sprach 
die  französische  Literatur  schon  seit  dem  Jahr  1810  von 
Sadismus;  und  nicht  den  Namen  zwar,  doch  die  Anomalie 
hat,  von  indischen  Mythologen  bis  auf  Novalis,  Görres, 
Kleist,  Blumröder,  Feuerbach,  Lombroso,  mancher  Künstler 
und  Gelehrte  gekannt  Richard  von  KrafibEbing  gab  1886 
die  erste  um£issende  Kasuistik  und  schränkte  zugleich  den 
Begriff  des  Sadismus  ein,  zu  dessen  Erklärung  er  zwei  kon# 
stitutive  Elemente  anführt:  in  überreizbaren  Wesen  entsteht 
im  sexuellen  Affekt  der  Drang,  dem  Gegenstande  der  Be^ 
gierde  Schmerz  zu  bereiten,  um  so  die  Macht  der  Einwirkung 

73 


zu  deutlichstem  Bewußtsein  zu  bringen;  die  Erobererlust  des 
Mannes  wird  unter  pathologischen  Bedingungen  zum  Vcr^ 
langen  nach  schrankenloser  Unterwerfung  und  mitleidloser 
Peinigung  des  Weibes.  Im  zweiten  Bande  von  Feuerbachs 
Sammlung  »Merkwiirdiget  Kriminalrechtsfalle«  steht  die 
grause  Geschichte  von  Andreas  Bichel,  dem  Mädchenschlächs* 
ter;  und  der  »Königlich  Bayerische  VC^rkliche  Frequentirende 
Geheime  Rath«,  der  den  Bichel  nicht  gerädert,  sondern  ent:« 
hauptet  sehen  wollte,  leitet  sie  mit  den  Sätzen  ein:  »Eine 
menschliche  Seele  ohne  alles  menschliche  Gefühl,  Verbrechen, 
die  an  Grausamkeit,  Tücke,  Kaltblütigkeit  das  Höchste  er^ 
reicht  haben,  was  des  Menschen  Wille  zu  erreichen  vermag: 
Diese  sind  der  Gegenstand  dieses  Vortrages.  Ich  bedarf  aller 
Kräfte  der  Selbstüberwindung,  um  bei  dem  empörten  jGefiihl 
schwer  beleidigter  Menschheit  jene  Ruhe  zu  bewahren,  welche 
die  Pflicht  des  Amtes  von  mir  fordert.«  Fast  besser  Jioch 
als  auf  den  von  Lombroso  mitgetheilten  Fall  des  Verzeni, 
auf  den  Frauenmörder  von  Whitechapel  und  auf  Krafffc^ 
Ebings  Knabengeißler  passen  diese  Worte  auf  Dippold,  den 
Bauemsohn  und  Priesterzögling,  der  nach  verfrühter,  wüster 
und  langer  Ausschweifung  konträre  Sexualempfindung  sa^ 
discher  Neigung  vereint.  Ein  Lehrer,  der  seine  Schüler 
schändet  und  sie  dabei  noch,  um  sein  Lustgefühl  zu  steigern, 
langsam  zu  Tode  martert:  Priapos  selbst  hat  Gräßlicheres 
am  Hellespont  niemals  erschaut.  Penthesilea  und  Messalina 
erröthen  schamhaft  in  solchem  Anblick;  und  Katharina  von 
Medici,  die  das  Auge  an  den  gepeitschten  Gliedern  ihrer 

74 


1 


Hofdamen  weidete,  steht  wie  ein  harmlos  lüsternes  Jungfer« 
chen  neben  dem  Bayern  aus  Drosendorf,  der  vornan  in  die 
Gräuelreihe  der  De  Rays  und  De  Sade  gehört. 

Und  dennoch . . .  Trotz  dem  Ersten  Staatsanwalt  am  bay« 
reuther  Landgericht  will  die  Frage  noch  nicht  verstummen, 
ob  Dippold  allein  schuldig  ist.  »Wer  eine  wegen  Jugend« 
liehen  Alters  hilflose  Person,  die  unter  seiner  Obhut  steht, 
in  hilfloser  Lage  vorsätzlich  verläßt,  wird  mit  Gefangniß 
nicht  unter  drei  Monaten  bestraft.  Wird  die  Handlung  von 
leiblichen  Eltern  gegen  ihr  Kind  begangen,  so  tritt  Ge« 
fangnifistrafe  nicht  unter  drei  Monaten  ein.  Wenn  durch  die 
Handlung  der  Tod  verursacht  worden  ist,  tritt  Zuchthaus« 
strafe  nicht  unter  drei  Jahren  ein.«  Unzählige  Mütter  hat 
dieser  §  221  schon  ins  Zuchthaus  gebracht;  und  nicht  immer 
wards  mit  dem  »Vorsatz«  gar  so  genau  genommen.  Von 
einem  Vorsatz  kann  in  unserem  Fall  nicht  die  Rede  sein; 
doch  der  nächste  Paragraph,  der  nicht  nur  im  fingirten  Fall 
Runge  angewandt  wurde,  bedroht  Eltern,  deren  Fahrlässig« 
keit  den  Tod  eines  Kindes  herbeifuhrt,  mit  der  Maximal« 
strafe  von  fiinf  Jahren  Gefangniß;  und  auch  die  Eüirlässige 
Körperverletzung  wird  besonders  streng  an  Denen  geahndet, 
die  »vermöge  ihres  Amtes«  Berufes  oder  Gewerbes  besonders 
zu  der  Aufinerksamkeit  verpflichtet  waren,  welche  sie  aus  den 
Augen  setzten«.  Die  Nichtanspannung  der  Aufinerksamkeit, 
sagt  Geheimrath  von  Liszt,  erscheint  als  Willensschuld ;  und 
er  fügt  hinzu,  der  Mangel  an  Voraussicht  erscheine  auch  als 
Verstandesschuld,  wenn  die  Frage  nach  dem  geistigen  Können 

75 


des  Thäters  bejaht  werden  müsse.  »Fahrlässigkeit  ist  die 
pflichtwidrige  Nichtkenntniß  der  verursachenden  Bedeutung 
des  Thuns  oder  Unterlassens;  pflichtmdrig  ist  die  Nichts 
kenntniß,  wenn  der  Thäter  sie  hätte  erlangen  sollen  und 
können.«  Nach  dieser  Norm  werden  Leute  eingesperrt,  die 
nicht  bedacht  hatten,  daß  in  der  Tasche  des  Ueberrockes, 
den  sie  in  der  Theateigarderobe  abgaben,  eine  Schußwa£Fe 
stecke,  die  sich  entladen  und  einen  Menschen  verletzen 
könne.  Sollte  und  konnte  das  reiche  Ehepaar  Koch,  nach 
Allem,  was  warnend  vorausgegangen  war,  Kenntniß  davon 
erlangen,  daß  ihrer  Kinder  Leben  unter  der  unumschränkten, 
unkontrolirten  Herrschaft  eines  durch  Lüderlichkeit  aus  dem 
Gleis  geworfenen  Burschen  gefiUirdet  sei?  Sollte  und  konnte 
das  kluge  Paar  Kenntniß  vom  Vorleben  Dippolds  erlangen? 
Einem  frömmelnden  Rechtskandidaten  die  ärztliche  Behand^ 
lung  zweier  Kinder  anvertrauen,  deren  psychische  und  phy^ 
sische  Gesundheit  es  zerrüttet  wähnte?  Sollte,  konnte,  mußte 
festgestellt  werden,  allerspätestens  nach  der  Depesche  des 
Bürgermeisters  von  Ballenstedt,  wie  in  Ziegenbeig  und  im 
nicht  minder  idyllisch  gelegenen  Drosendorf  das  große  Wort 
Hippels  gedeutet  wurde:  »Erziehen  heißt:  wecken,  was 
schläft,  kühlen,  was  brennt,  mit  Schnee  reiben,  was  erfroren 
ist«?  . .  Unsere  Rechtspflege  kann  in  guten  Stunden  auch 
mild  sein.  Wir  haben,  nur  wir,  noch  Staatsanwälte  und 
Richter,  die  an  die  altmodische  Mär  von  den  bis  zu  völliger 
Erschlaffung  überbürdeten  Bankdirektoren  inniglich  glauben 
und  von  Hupka  und  Kaiserhof,  von  den  Logengästen  der 

76 


Luxustkeater,  von  Spielchen  und  anderer  Klublust,  von  den 
kleinen  und  großen  Diners  nicht  mehr  gehört  haben  als  der 
neue  Pharao  einst  von  Joseph.  Und  wir  haben  kein  Fem^ 
gericht,  das  solche  spottbillige  Ausrede  mit  Friedlosigkeit 
straft  und  den  Sündern  wider  die  ein&chste,  kaum  schon  als 
Menschenprivileg  zu  betrachtende  Eltempflicht  das  Gastrecht 
auf  Wasser  und  Feuer  abspricht  Aqua  et  igne  interdictus. 
Lang  ists  her.  Nicht  einmal  das  sanftere  Recht  des  Bürger«* 
liehen  Gesetzbuches  fiir  das  Deutsche  Reich  tritt  unbamu 
herzig  stets,  ohne  Ansehen  der  Person,  in  Kraft.  Da  steht 
im  §  1666:  »Wird  das  geistige  oder  leibliche  Wohl  des  Km* 
des  dadurch  gefiihrdet,  daß  der  Vater  das  Recht  der  Sorge 
für  die  Person  des  Kindes  mißbraucht  oder  das  Kind  ven: 
nachlassigt,  so  hat  das  Vormundschaftgericht  die  zur  Ab« 
wendtmg  der  GeEdir  erforderlichen  Maßregeln  zu  tre£Fen.« 
Das  gilt,  nach  §  1686,  auch  für  die  elterliche  Gewalt  der 
Mutter.  Wo  aber  wäre  Jojo  besser  aufgehoben  sSs  unter  der 
Obhut  von  Papa,  der  die  Söhne  aus  erster  Ehe  zu  »erst^ 
klassigen  Menschen«  erzogen,  und  vo^  Mama,  die  dem 
Schinder  »für  seine  Aufopferung  ein  Extrahonorar  von  fünf» 
htmdert  Mark«  geschickt  hat?  Jetzt  wird  sich  im  Hause 
Thiergartenstraße  7^  für  den  zufallig  überlebenden  Knaben 
ja  vielleicht  sogar  ein  Unterrichtszimmer  freimachen  lassen. 
Und  am  Ende  entbürdet  die  Deutsche  Bank  den  allzu  ge^ 
plagten  Papa  bald  beträchtlich  . . .  Wir  sind  human.  Wohin 
nun  das  Auge  blickt:  Mitleid,  Theilnahme,  judenchristliche 
Menschenliebe.   Und  das  Leitmotiv:  Furchtbar,  daß  eine  so 


77 


Yomehtne  Familie  ohne  die  Spur  eigenen  Verschuldens  so 
grausam  heimgesucht  ward.  Es  ist  eine  Lust,  zu  leben. 

In  einer  Mußestunde  sollten  die  Mitleidigen  einen  Gt^ 
lehrten  fragen,  ob  der  unverehelichten  Runge  die  Muttern 
gewalt  nicht  geschmälert  worden  wäre»  wenn  ihr  Kleines  den 
Brechdurchfall  überstanden  und  die  Anklage  wegen  fahr^ 
lässiger  Körperverletzung  dennoch  Erfolg  gehabt  hätte.  In^ 
zwischen  wollen  wir  Ungelehrten  uns  ausmalen,  wie  es  in 
Bayreuth  gekommen  wäre,  wenn  ein  rauherer  Gerichtshof 
Herrn  oder  Frau  Koch  oder  Beide  der  Fahrlässigkeit  drin«' 
gend  verdächtig  gefunden  und  (wegen  Ge£üir  der  Kollusion 
mit  Jojo  und  anderen  kommerzienräthlicher  Macht  unter«: 
stellten  Zeugen)  in  Untersuchunghaft  genommen  hätte.  Dann 
wurden  sie  nicht  beeidet,  warenalsoauchnicht  »durchaus glaube 
würdig«,  hätten  gegen  allerlei  beschworenen  Dienstboten^ 
klatsch  zu  kämpfen  und  vielleicht  manches  unzärtliche  Wort 
herunterzuschlucken  gehabt.  Und  der  Vertreter  der  Anklage 
hätte  dann  im  Schlußvortrag  von  der  gewaltigen  sozialen 
Lehre  dieses  Prozesses  gesprochen,  der  in  blutrothen  Schrift^ 
zeichen  die  alte  Wahrheit  erneue,  daß  sorgende  Elternliebe 
allein  reichen  wie  armen  Kindern  sichere  Häuser  baut. 


78 


DAS  BLUMENMEDIUM. 


Hoher  Gerichtshof  (so  spricht  vor  der  Ersten  Strafkammer 
des  Landgerichtes  Berlin  II  ein  Anwalt  des  Rechtes):  fem 
ist  mir  die  Absicht,  das  Ergebniß  der  langwierigen  Beweis:^ 
aufnähme  umständlich  zu  kritisiren,  fem  sogar  der  Wunsch, 
mit  Worten  das  Gewicht  einzelner  Zeugenaussagen  zu  min^ 
dem,  durch  das  Gegengewicht  meiner  Rede  die  Wagschalen 
auf  annähernd  gleiche  Höhe  zu  bringen  und  so  zu  bewirken, 
daß  Ihnen  ein  den  Schuldspruch  hemmender  Zweifel  bleibe. 
Auch  will  ich  Sie  nicht  ins  dunkle  Gebiet  supranaturaler 
Bedürfnisse  und  supranormaler  Fähigkeiten  fuhren,  nicht 
fragen,  welchen  Werth  der  preußische  Staatsbürger  dem 
Spiritismus,  der  Theosophie,  allen  wechselnden  Formen  okkult 
tistischen  Dranges  beizumessen  habe.  Die  Frage  schon  wäre 
Vermessenheit;  und  den  Versuch,  ihr  in  foro  die  Antwort 
zu  finden,  überlasse  ich  gern  dem  Höhenwahn  der  Juristen, 
die  sich  als  Allverwalter  ftihlen.  Nein:  Anna  Auguste 
Rothe,  die  Frau  eines  Kesselschmiedes,  die  hier  vor  Ihnen 
kauert,  hat  keinerlei  mediale  Gaben.  Mit  ihrer  Zunge  sprachen 
nie  Luther,  Zwingli,  Flemming,  die  Kaiser  Wilhelm  und 
Friedrich.  Keines  Verstorbenen  Geist  hat  sich  je  in  ihr  offen«» 

6.111  81 


hart.  Die  Blumen»  Früchte,  Zweige,  Christusbilder  und  an* 
deren  Gegenstände,  die  Geister  ihr  apportirt  haben  sollten, 
holte  sie  aus  dem  Unterrock.  Daran  ist  nicht  zu  zweifeln: 
denn  beeidete  Aussagen  haben  festgestellt,  daß  die  Ange^ 
klagte  die  in  den  Sitzungen  verwendeten  Blumen  selbst  ein^ 
gekauft  hat.  Eben  so  wenig  dürfen  wir  daran  zweifeln,  daß 
ihr  Manager,  der  frühere  Cognachändler  und  Reporter  Max 
Jentsch  (der  das  bessere  Theil  erwählte  und  dem  nicht  immer 
langen  Arm  der  Gerechtigkeit  entlieQ  die  Sache  ak  einträgt 
liches  Geschäft  betrieb.  Er  fand  eine  hysterische  Frau  von 
leicht  geschmälertem  Bewußtsein,  eine  kränklich  aussehende 
Frau,  deren  große,  glühende  Augen  auf  schwache  Sinne  wir^ 
ken;  und  diese  Frau  war  in  der  Welt  der  Okkultisten  schon 
berühmt.  Aus  ihrem  Mund  sprechen,  mit  ihrer  Hand  schrei« 
ben  erlauchte  Geister;  aus  dem  Schattenreich  ruft  sie  Ge« 
stalten,  in  denen  die  Zuschauer  theure  Tote  erkennen;  auf 
ihr  Haupt  regnen  Blüthen  herab  und  ihr  hagerer  Finger 
greift  Früchte,  Blumen,  Zweige  aus  leerer  Luft.  Das  ist  viel, 
ist  mehr,  als  die  berühmtesten  Medien  vermochten;  Eusepia 
Fabdino  selbst  scheint  übertro£Fen.  Die  Nachfrage  steigt: 
überall  wünscht  man,  die  Geheimkunst  der  neuen  Seherin 
kennen  zu  lernen.  Max  Jentsch  aus  Zittau  und  Anna  Rothe, 
geborene  Zahl,  aus  Altenburg  verbünden  sich.  Von  den 
Spirituosen  zum  Spiritismus  ist,  so  mögen  Witzbolde  denken, 
nur  ein  Schritt.  Jentsch  treibt  das  Handwerk  ins  Große  und 
wird  der  Ausbeuter  der  Frau,  die  hier  eine  Ausbeuterin 
menschlicher  Dummheit  genannt  worden  ist.    Reichthümer 


82 


erwirbt  sie  nicht;  aber  ich  will  annehmen,  daß  sie  sammt 
ihrem  Ehemann  ein  bequemes  Auskommen  hatte.  Kann  man 
dem  Ankläger  mehr  konzediren?  Ich  könnte  mich  auf  die 
Gutachten  der  Sachverständigen  stützen  und  das  Moment 
der  verminderten  Zurechnungfahigkeit,  da  unser  Gesetz  es 
leider  nicht  kennt,  wenigstens  für  das  Strafinaß,  vielleicht 
auch  fiir  die  Strafart  geltend  machen.  Auch  diesen  letzten 
Nothausgang  bedrängter  Vertheidiger  wähle  ich  nicht.  Vom 
Boden  der  Anklage  aus,  auf  den  ich  mich  furchtlos  stelle, 
fordere  ich  die  Freisprechung  der  Angeklagten  Anna  Rothe; 
fordere  sie  im  Namen  des  Rechtes  und  reinster  Vernunft. 

Ein  Jahr  lang  und  länger  schon  spricht  man  von  dieser  Sache. 
Seit  dem  Beginn  der  Hauptverhandlung  hört  man  in  vielen 
Gegenden  unserer  Intelligenzstadt  überhaupt  kaum  noch  von 
Anderem  reden.  In  ganzen  Stößen  werden  die  Prozeßberichte 
verkauft.  Nie,  heißt  es,  habe  sich  ein  »sensationellerer«  Prozeß 
m  den  rodien  Mauern  von  Altmoabit  abgespielt.  Ich  muß 
pnlshen,  daß  mir  für  die  verheißene  Sensation  jedes  Emp^ 
finden  fehlt;  daß  ich  nicht  einmal  zu  erkennen  vermag,  wo  sie 
eigentlich  zu  suchen  sei.  Sind  die  Thatsachen,  die  uns  hier  voris 
gefuhrt  wurden,  etwa  neu,  sind  sie  nicht  vielmehr  so  typisch, 
so  oft  gesehen,  daß  der  Kriminalist  Mühe  hat,  ihnen  noch 
gesammelte  Aufmerksamkeit  zuzuwenden?  Mußten  wir  lange 
Lenztage  hier  verbringen,  um  zu  erfahren,  was  wir  erfuhren  ?  Daß 
es  Schlauköpfe  giebt,  die  neben  der  graden  Heerstraße  ihre  Ge« 
schäftchen  machen?  Daß  übersinnlicher  Drang  manchmal  in 

6-  83 


harte  Tkaler  gemünzt  wird?  Selbst  das  »Kulturbild«,  von  dem 
Reportereifer  so  viel  zu  schwatzen  weiß,  dünkt  mich  nicht 
neu,  verweilender  Betrachtung  nicht  werth.  Ja:  unter  uns 
leben  Leute,  denen  die  ratio,  denen  das  vom  Verstand  Meß^ 
bare  längst  nicht  mehr  genügt  und  die  jeden  Spukglauben 
dem  Positivismus  vorziehen.  In  der  Eisregion  reinen  Den^ 
kens  er&öre  ihr  schlecht  genährter  Geist;  im  Fuselrausch  ent» 
schlummert  er  wohlig.  Das  hätten  wir  gestern  noch  nicht 
gewußt?  Typisch  sind  die  Vorgänge,  ohne  die  Spur  indivi^ 
dueller  Di£Ferenzirung  die  Gestalten  des  Mediums,  des  Mana^ 
gers  und  ihrer  Kundengemeinde;  und  typisch  ist  auch  die 
Entschleierung  des  Schwindels.  Das  hysterische  Weib  wird 
von  den  lauten  Erfolgen  den  Geboten  der  Vorsicht  cnU 
fremdet  und  die  Kriminalkommissare,  die  sich  in  die  Sitztm^ 
gen  einschlichen,  können  den  Blumenspuk  leicht  entlarven. 
So  ungefiihr  war  es  immer;  wirds  immer  sein.  Neu  ist  nur 
Eins:  der  Versuch,  die  gelungene  Spekulation  auf  die  Er^ 
tragsfahigkeit  blinden  Glaubens  als  Betrug  zu  strafen.  Neu 
und  doch  nicht  in  diesem  Frühling  erst  ersonnen.  Auch  im  Ja^ 
nuar  gabs  eine  »Sensation«;  eine  wirkliche  sogar.  Da  saß  in 
diesem  Haus  ein  Kurpfuscher  auf  der  Anklagebank.  Wenn 
mir  die  Aufgabe  zuge£fdlen  wäre,  ihn  zu  vertheidigen,  dann 
hätte  ich  meine  ganze  Kraft  daftir  eingesetzt,  daß  dieser 
Nardenkötter  nur  verurtheilt  werde,  weil  er  »ohne  polizei« 
liehe  Erlaubniß  Gifte  oder  Arzeneien,  so  weit  der  Handel 
mit  ihnen  nicht  freigegeben  ist,  zubereitet,  feilgehalten,  ver« 
kauft«  hatte.   Paragraph  367  ^  Geldstrafe  bis  zu  einhunderts> 


84 


fiin&ig  Mark  oder  Haft  Der  Mann  wurde  des  unlauteren 
Wettbewerbes  und  des  Betruges  schuldig  gesprochen  und 
aufJahre  insGefangniß  gewiesen.  Er  habe  mehrversprochen,  als 
er  leisten  konnte.  Das  thut  ein  Wahlkandidat»  ein  Zeitung« 
Verleger,  ein  approbirter  Arzt  oder  Bazarinhaber  sicher  nie; 
und  nie  hat  einer  meiner  Kollegen  einem  Angeklagten  gesagt: 
Wenn  Sie  mir  Ihre  Sache  übertragen  und  den  nöthigen  Vor« 
Schuß  geben,  ist  Ihre  Freisprechung  so  gewiß  wie  das  Amen 
in  der  Kirche.  Nardenkötter  sollte  betrogen  haben,  weil  er 
ohne  ärztliche  Kenntniß,  meist,  ohne  die  Kranken  auch  nur 
zu  sehen,  Rezepte  verschrieb;  und  er  konnte  doch  nach« 
weisen,  daß  der  Prozentsatz  der  von  ihm  erzielten  Heilungen 
mindestens  eben  so  groß  war  wie  bei  Durchschnittsdoktoren, 
konnte  sich  darauf  berufen,  daß  er,  wie  ein  richtiger  Doktor . . . 
Der  Herr  Vorsitzende  will  mich  unterbrechen.  Und  ich 
brauche  über  den  Fall  Nardenkötter  auch  nicht  mehr  zu 
sagen;  ich  erwähnte  ihn  nur,  um  zu  zeigen,  wohin  die  Reise 
gehen  soll.  Damals  forderten  Aerzte  (nicht  alle;  so  gering 
schätze  ich  den  Stand  nicht),  jetzt  fordern  Vertreter  okkulter 
Wissenschaft  die  strengste  Strafe.  In  beiden  Fällen  regt  sich 
die  gekränkte  Konkurrenz  in  heller  Wuth.  In  beiden  Fällen 
soll  der  Strafrichter  leisten,  was  die  Männer  der  VC^ssenschaft, 
die  doch  ein  Monopol  fiir  sich  heischen,  nicht  zu  leisten  ver« 
mochten:  er  soll  des  Aberglaubens  altes  Bett  wegscha£Fen. 
Das  aber  kann  niemals  die  Aufgabe  des  Strafrechtes  sein;  und 
würde  ihm  diese  Aufgabe  gestellt,  es  müßte,  noch  bei  grau« 
samster  Härte,  ohnmächtig  versagen.  Wer  die  Anklageschrift 

85 


liest,  mag  sich  nach  Utopia  träumen  oder  ins  Zukunftland  der 
Kommunisten,  die  sonst  als  Umsturzertrachter  am  Pranger 
stehen.  Seit  wann  verbietet  unsere  Rechtsordnung  die  Aus# 
nützung  der  Leichtgläubigkeit?  Das  Ziel  der  anerkannten 
sozialen  Ordnung  ist,  Rechtsgüter  zu  schützen.  Rechtsgüter, 
sagt  Liszt,  sind  Lebensinteressen,  Interessen  des  Einzelnen 
oder  der  Gemeinschaft.  Ist  Blindheit,  Dummheit  (nennen 
Sies,  wie  Sie  wollen)  ein  Rechtsgut,  ein  Lebensinteresse  des 
Einzelnen  oder  der  Gemeinschaft?  Wer  einen  Blinden  zu 
Fall  bringt,  beschädigt,  im  Gebrauch  der  Glieder,  in  seiner 
Erwerbsfiihigkeit  verkürzt,  tastet  ein  Rechtsgut  an.  Welches 
Rechtsgut  aber  ist  verletzt,  wenn  der  Blinde  in  den  Glauben 
überredet  wird,  er  habe  sein  Augenlicht  wiedererlangt?  Wenn 
eine  Witwe,  eine  Waise  aufathmend  in  die  Zwangsvorstellung 
kriecht,  sie  stehe  mit  ihrem  Mann,  mit  dem  Vater,  der  Mutter 
in  engem  Rapport,  höre  die  lange  entbehrten  Stimmen,  emp^ 
fange  aus  lieber  Hand  duftenden  Gruß?  Vielleicht  fand  des 
Priesters  Wort  taube  Ohren.  Vielleicht  war  der  Glaube  ans 
Himmelreich  früh  entwurzelt,  die  Hoffnung  auf  ein  VC^eder« 
sehen  am  Thron  des  Herrn  schon  in  der  Kinderstube  ver^s 
blüht.  Glaube  ist  persönlichster  Besitz;  und  der  Wahn,  der 
uns  thöricht  dünkt,  kann  dem  Nächsten  ein  starker  Trost 
sein;  der  einzige,  der  ihn  auf  schwankem  Grunde  hält. 

Gelehrten  Richtern  brauche  ich,  so  lange  nach  Charcot, 
nicht  noch  von  der  Bedeutung  der  Suggestion  und  Auto« 
Suggestion  zu  sprechen;  und  ich  bin  entschlossen,  Alles  zu 

86 


meidtn,  was  meine  Rede  mit  dem  Bleigewicht  Wissenschaft^ 
licher  und  scheinwissenschaftlicher  Argumente  befrachten, 
dem  Ruf  nach  Gerechtigkeit  die  Resonanz  hemmen  könnte. 
Nur  warnen  will  ich,  vor  dem  ersten,  dem  entscheidenden 
Schritt  auf  einem  Wege  warnen,  dessen  Ende  Sie,  gerade  Sie 
mit  Entsetzen  sähen.  Hinter  dem  Richter,  der  im  Namen 
Gottes,  im  Namen  des  Königs  Recht  spricht,  stehen  Andere, 
denen  der  Glaube  an  Gott  und  König  Wahn  ist,  eitler,  längst 
veralteter  Wahn,  der  nur  in  lichtlosen  Hirnzellen  noch  nistet. 
Die  horchen  auf  Ihren  Spruch.  Weiß  der  Prediger,  daß  es 
ein  Auferstehen  im  Jenseits  giebt,  weiß  nicht  mancher  Talar^ 
träger,  daß  seine  Verheißung  sich  nie  erftillen  kann?  Und 
wenn  die  Gottlosen  mit  derber  Faust  nun  einen  Prediger 
packten,  ihm  bewiesen,  aus  Reden,  aus  Briefen  meinetwegen, 
daß  er  die  Seligkeit,  die  seine  Lippe  preist,  nicht  glaubt, 
daß  er  die  Oblate,  die  er  als  den  Leib  des  Heilands  dem 
Gläubigen  reicht,  beim  Bäcker  bestellt  und  gekauft  hat,  in 
Massen,  ums  billiger  zu  haben:  ist  der  »Entlarvte«  dann  ein 
Betrüger?  Denken  Sie  an  den  grolkn  Glaubenskomplex 
unserer  katholischen  Mitbürger,  an  die  Wunderkraft  der 
Gnadenbilder,  Reliquien,  Heiligen  Röcke,  an  Alles,  was  der 
akatholische  Sinn  Aberwitz  schilt.  Ist  hier  Betrug?  Man 
könnte  einwenden,  in  diesen  Fällen  fehle  der  »rechtswidrige 
Vermögensvortheil«,  den  das  Gesetz  als  Thatbestandsmerk^ 
mal  verlangt.  Fehlt  er  aber  wirklich?  Ohne  die  alte  Glau« 
bensschatzkammer  keine  Kirche;  ohne  Kirche  keine  Pfiilnde. 
Der  Vermögensvortheil,    den    die  Vorspiegelung    falscher 

87 


Thatsachen  gewährt,  ließe  sich  in  jedem  der  angedeuteten 
Fälle  leicht  nachweisen.  Nur  eben:  rechtswidrig  wäre  er 
nicht;  denn  mit  unserer  Gesellschaftordnung  wurde  das  Recht 
geboren»  das  transszendente  Sehnen  menschlicher  Schwache 
heit  zu  stillen,  dem  überlebenden  Glauben  an  supranaturale 
Kräfte  Nahrung  zu  bieten,  —  auch  gegen  Entgelt. 

Von  diesem  Recht  hat  die  Angeklagte  auf  ihre  Weise  Ge^^ 
brauch  gemacht.  Ob  sie  im  Trance^Zustand  selbst  glaubte, 
was  ihr  Mund  sprach,  ob  sie  immer  bewußt  log:  ich  frage 
nicht  danach,  frage  hier  auch  den  Minister  nicht,  ob  er  stets 
Wahrheit  kiindet,  nicht  den  Heerführer,  ob  er  in  vollem 
Bewußtsein  nicht  oft  mit  fdschen  Thatsachen  Vorstellungen 
erregt,  die  ihm  selbst  oder  der  von  ihm  vertretenen  Sache 
nützlich  werden  können.  Frau  Anna  Rothe  hat  kein  Rechts^ 
gut  verletzt,  das  Vermögen  keines  Anderen  beschädigt.  Was 
sie  gab,  war  die  zwei  oder  drei  Mark  reichlich  werth,  für  die 
der  Einlaß  ins  Sitzungzimmer  zu  kaufen  war;  wie  viele 
Illusionen  haben  wir  Alle  schon  wesentlich  theurer  bezahlt! 
Was  ists  denn,  das  wir  in  Domen,  in  Wahlversammlungen 
und  Schauspielhäusern  suchen?  Die  Wenigsten  glauben  dem 
P£urrer  au£s  Wort,  lauschen  der  tönenden  Kandidatenrede 
wie  Heil  bringender  Botschaft,  halten  die  geschminkte  Dame 
da  oben  für  Maria  Stuart.  Und  doch  weht  von  der  Kanzel, 
von  der  Tribüne  und  Bühne  tröstend  ein  frommer  Schauder 
herab  und  dennoch  schluchzt  im  Saal  die  Menge  gebildeter 
Bürget,  wenn  Maria  au£5  Schaffot  gefuhrt  wird.  Die  schwache 
Möglichkeit  holder  oder  kräftig  aufrüttelnder  Illusion  wiegt 

88 


unsere  Bedrängniß  gern  mit  Gold  auf;  diese  Möglichkeit  ist 
ihr  so  theuer»  daß  der  höchste  Preis  nicht  zu  hoch  schien: 
wir  schufen,  wir  stützen  mit  aller  Kraft  den  Glauben  an  ein 
Recht»  das  uns  mehr  sein  solle  als  der  Ausdruck  willkürlich 
herrschender  Gewalt.  Und  genau  die  selbe  Möglichkeit 
suchte  und  fand  die  Gemeinde  bei  Frau  Anna  Rothe.  Vor 
Ihnen  sitzt  eine  Frau»  die  ihre  Kunden  »reell«  mit  Illusionen 
bedient  hat;  keine  Betrügerin:  eine  Gestalt,  wie  sie  im  trüben 
Zwiehcht  unserer  Heuchelkultur  in  hundertfacher  Differenz 
zirung  zu  finden  sind.  Am  hellen  Tag  erst  schwindet  der 
letzte  Spuk.   Noch  nicht . .  .  Ich  bitte  um  Ihren  Spruch. 


89 


GRÄFIN  KWILECKA. 


Vor  dem  Großen  Schwurgerichtssaal  sitzt,  dicht  neben  der 
Eingangsthür,  auf  dem  Holzstuhl  des  Gerichtsdieners  ein  fast 
sieben  Jahre  alter  Knabe.  Ganz  in  Weiß  gekleidet.  Der 
weiße  Klerikerhut  hangt  auf  dem  Rücken;  der  Blondkopf 
ist  sorgsam  frisirt,  der  Vorderschopf  zierlich  gekräuselt 
Ein  hübscher  Junge,  der  auf  der  Straße  jedem  Vorüber^ 
gehenden  auffallen  würde.  Stämmig  und  doch  fein;  schwarze 
Augen»  sehr  lange  Wimpern  und  die  milchfarbige  Haut  eines 
von  der  ersten  Lebensstunde  an  zärtlich  gehegten,  gepflegten 
Kindes.  Ein  paar  Damen  bewachen  ihn,  nehmen  ihn  auf 
den  Schoß,  streicheln  ihn;  und  hinter  den  Hüterinnen 
drängt  sich  die  Menge.  Geputzte  Polinnen,  auf  Sensationen 
birschende  Schreiber,  Rechtsanwälte  in  der  Robe,  im  Land^ 
gericht  heimische  Kriminalstudentinnen,  Freiherren,  Kut^ 
scher,  Taglöhnerfrauen:  Jeder  will.  Jede  den  Kleinen  sehen; 
recht  lange,  recht  nah.  Den  Hüterinnen  scheint  der  Drang 
nicht  unbequem,  scheint  die  Möglichkeit,  ihr  weißes  Schätze 
chen  zur  Schau  zu  stellen,  sogar  willkotomen.  Sie  haben  sich 
schnell  akklimatisirt  und  fragen  von  selbst  schon  den  Be^ 
trachter,  aus  dessen  Miene  besonderes  Interesse  spricht,  von 


93 


welcher  Zeitung  er  sei;  sie  zeigen  Zuversicht  und  sind  zu 
Auskünften  immer  bereit.  Auch  dem  Knaben  macht,  seit  er 
sich  entschüchtert  hat,  das  Gedräng  offenbar  Spaß.  Die 
Kindereiteikeit  ist  erwacht;  zu  nett,  von  so  vielen  Leuten 
bewundert  zu  werden.  Aus  lustigen  Augen  blickt  er  in  das 
bunte,  endlos  wechselnde  Bilderbuch.  Das  Naschen  merkt 
nicht,  wie  schlecht  die  Luft  ist;  noch  schlechter  als  sonst. 
Theure  und  billige  Parfüms,  verschwitzte  Kleider,  Tabak,  Ali» 
kohol,  Säuglinggerüche  (denn  manche  Zeugin  trägt  ihr  in 
verdächtige  Decken  gewickeltes  Kind  mit  sich  herum),  die 
Ausdünstung  armer  Leute,  Kossäten,  Wildwärter,  Stallmägde, 
■Knechte,  die  sich  den  Luxus  der  Sauberkeit  nicht  leisten 
können:  der  Gerichtsdiener  sogar,  ein  rothblonder  Riese, 
klagt  über  Kop&chmerz.  Die  Neugier  drängt  weiter.  Noch 
ein  zweiter  Knabe  ist  sehenswerth.  In  einem  Zeugenzimmer 
sitzt  er  neben  einer  einfachen  Frau.  Seit  gestern  ist  er  genau 
wie  der  andere  gekleidet  und  frisirt.  Er  steht  im  neunten 
Lebensjahr,  ist  aber  viel  kleiner  als  der  Siebenjährige.  Die 
Urtheile  schwanken.  Bis  einem  Schlauen  der  Einfall  kam, 
auch  den  Kleineren  zu  kräuseln  und  in  Elfenbeinfarbe  zu 
kleiden,  gabs  wenig  Zweifel.  »Keine  Spur  von  Aehnlichkeit. 
Der  Kleine  ein  stumpfsinniges,  unschönes  Proletarieriund, 
der  größere  ein  echter  Adelssproß  mit  allen  Merkmalen 
alter  Familienkultur.«  Jetzt  regen  sich  Bedenken.  »Beide 
haben  schwarze  Augen  und  lange  Wimpern,  beide  die  selbe 
Apfelkopfform  und  das  selbe  Kinn,  das  vorgebogen  scheint; 
auch  die  Haarfarbe  ist  beinahe  gleich.    Der  ganze  Untere 

94 


« 
I 


schied  besteht  darin,  daß  der  eine  gut,  der  andere  schlecht 
gehalten  ist.«  »Unsinn!  Die  Beiden  können  gar  nicht  den 
selben  Vater  und  die  selbe  Mutter  haben.  Warum  wäre  der 
ältere  dann  im  Wachsthum  so  zurückgeblieben?  Ueberhaupt 
macht  die  bessere  oder  schlechtere  Pflege  bei  Kindern  nicht 
so  viel  aus.  Seht  Euch  die  Kadetten  und  die  Militärwaisen^ 
hausschiiler  anl  Nein:  der  Junge  im  Zeugenzimmer  bliebe 
auch  im  Brokatgewande  der  Sohn  einer  Magd,  die  selig  sein 
mußte,  als  ein  Weichensteller  sie  zur  Ehe  nahm;  und  den 
feinen  Knaben,  der  im  Korridor  mit  angeborener  Würde 
Cercle  hält,  müßte  auch  im  Bahnwärterhaus  das  kundige 
Auge  als  Kind  eines  Grafen  erkennen.«  Solches  Gerede  be^ 
weist  nichts.  Mit  Klassenphysiognomik  käme  man,  selbst 
wenn  sie  mehr  wäre  als  Spielerei,  hier  schon  deshalb  nicht 
aus,  weil  auch  der  Neunjährige  von  einem  adeligen  Offizier 
gezeugt  ist,  die  Spermatozoen,  die  ihn  entstehen  ließen,  also 
nicht  aus  dem  niederen  Menschenreich  stammen.  Trotzdem 
sieht  der  rachitische  Junge  wie  ein  aufgeputztes  Elendskind 
aus.  Er  hat  auch  weniger  Zulauf  und  guckt  trüber  als  das 
weiße  Herrchen  im  Korridor.  Das  lacht,  giebt  Bekannten 
gnädig  eine  Patschhand  und  räkelt  sich  kokett  auf  dem 
Holzstuhl.  Hinter  der  Tür  wird  inzwischen  die  Frage  ver^ 
handelt,  ob  seine  Ehern  ins  Zuchthaus  kommen  sollen. 

Zweiter  Theil,  zwölfter  Abschnitt  des  Reichsstra%esetz^ 
buches:  »Verbrechen  und  Vergehen  in  Beziehung  auf  den 
Personenstand.«  Paragraph  169:  »Wer  ein  Kind  unterschiebt 
oder  vorsätzlich  verwechselt  oder  wer  auf  andere  Weise  den 


95 


Personenstand  eines  Anderen  vorsätzlich  verändert  oder 
unterdrückt»  wird  mit  Gefangniß  bis  zu  drei  Jahren  und, 
wenn  die  Handlung  in  gewinnsüchtiger  Absicht  begangen 
wurde,  mit  Zuchthaus  bis  zu  zehn  Jahren  bestraft.«  Graf 
Zbigniew  Wesierski^Kwilecki  und  seine  Ehefrau  Isabella,  ge« 
borene  Gräfin  Bninska,  sollen  ein  fremdes  Kind  fiir  ihr 
eigenes  ausgegeben  haben.  Den  weilten  Knaben,  der  auf 
dem  Holzstuhl  im  Korridor  Cercle  hält.  Den  habe  ein 
armes  Polenmädchen  ihrem  Liebsten,  einem  österreichischen 
Hauptmann,  geboren.  Dem  Sexualverkehr  dieses  Paares  ent^ 
stammen  zwei  Knaben;  der  eine,  der  im  Zeugenzimmer 
sitzt,  ist  nah  bei  der  Mutter  aufgewachsen,  der  andere  bald 
nach  seiner  Geburt,  in  der  letzten  Januarwoche  des  Jahres 
1897,  an  eine  vornehme  Dame  verkauft  worden.  Am  zwei«: 
undzwanzigsten  Dezember  1896  hatte  ihn  Fräulein  Parcza 
ins  Weltlicht  gebracht;  sie  heirathete  später  den  Weichensteller 
Meyer,  der  das  ältere  der  beiden  vor  der  Ehe  von  seiner 
Caecihe  geborenen  Kinder  adoptirte  und  sich  bereit  erklärte, 
auch  das  jüngere  zu  sich  zu  nehmen.  Wohl  nicht  ganz  frei^ 
willig.  Ein  Bahnwärter,  der  sich  danach  sehnt,  vom  ersten 
Tag  der  Ehe  an  sein  Budget  mit  den  Unterhaltskosten  für 
zwei  (von  dem  Ersten  gezeugte)  Kinder  zu  belasten,  wäre 
keine  Alltagserscheinung;  und  selbst  der  edelste  Sinn 
brauchte  den  kleinen  Bastard  nicht  aus  dem  warmen  Schloß 
in  die  Weichenstellerhütte  zu  holen.  Doch  die  Recherchen 
in  Sachen  wider  Kwilecki  und  Genossen  hatten  begonnen 
und  ein  gutes  Stück  Geld  mochte  dem  Paar  sicher  scheinen, 

96 


dessen  Zeugniß  den  kleinen  Grafen  aus  dem  Majoratsrecht 
der  Herrschaft  Wroblewo  drängen  würde.  Wroblewo  ist  ein 
vom  Grafen  Joseph  Kwilecki  als  Familienfideikommiß  unver^ 
äußerlich  fes^elegtes  Rittergut  in  der  wronker  Gegend,  das 
nach  den  Grundsätzen  der  Majoratsordnung  vererbt  wird; 
zur  Erbfolge  berechtigt  sind,  wenn  ein  direkter  männlicher 
Erbe  fehlt,  die  Agnaten  des  ersten  Besitzers,  von  der  Erb^ 
folge  ausgeschlossen  uneheliche  und  Adoptivsöhne.  Der 
Stifter  des  Fideikommisses  setzte  den  Sohn  seiner  Tochter, 
Zbigniew  von  Wesierski,  zum  Erben  ein  und  bestimmte,  der 
erste  Majoratsherr  solle  sich  Wesierski^Kwilecki  nennen,  jeder 
folgende  nur  Namen  und  Titel  der  Grafen  Kwilecki  tragen. 
Leise  murrten  wohl  die  Agnaten  schon  damals;  denn 
das  Haupt  des  Hauses  war  nun  ja  kein  echter  Kwilecki, 
hatte  einen  Vater  aus  einfachem  Adel  und  konnte  ihnen  die 
Rasse  verderben.  Allmählich  aber  fanden  sie  Trost.  Der 
Knabe,  den  Gräfin  Isa  ihrem  Zbigniew  gebar,  starb  früh, 
und  als,  nach  standesgemäßen  Pausen,  ihrem  Schoß  drei 
Töchter  entbunden  waren,  schien,  an  der  Schwelle  des  Jahres 
1890,  neue  Nachkommenschaft  nicht  mehr  zu  hofien,  zu 
fürchten.  Zwar  dachte  der  Graf  noch  als  Fünfziger  nicht  an 
Resignation.  Er  strebte  dem  großen  Muster  weiland  Augusts 
des  Starken  nach,  bUckte  stolz  auf  anderthalb  Dutzend 
illegitimer  Sprossen  und  krähte,  wie  ein  von  brünstigen 
Hofdamen  umschmeichelter  Hahn,  wenn  in  Monte  Carlo  die 
theuren  Seidenmädchen  von  ihm  sagten:  »Un  gaillard  infati^ 
gable;  un  male;  fait  pour  la  reine  Isabelle  .  .  .«  Doch  die  ihm 

7.  m  97 


angetraute  Isabella  war  nicht  das  Ziel  seiner  erotischen 
Wünsche:  mit  der  schönen  Ungenirtheit  der  Slachta  pflegte 
er  zu  erzählen,  die  dralle  Wade  einer  Kuhmagd  reize  ihn 
mehr  als  die  hüllenlose  Wohlgestalt  der  hochgeborenen  G^U 
tin.  Jeder  Schürze  schnüffelte  er  nach,  auf  den  heimischen 
Gefilden  und  unter  dem  wärmeren  Himmel  der  Azurküste, 
fand,  außer  den  vom  Gesetz  privilegirten,  alle  Genüsse 
schmackhaft  und  seinem  Vermögen  erreichbar  und  (iihlte 
sich  wider  Recht  und  Sitte  gekränkt,  wenn  die  Ehegefahrtin 
vor  Gästen  und  Dienerschaft  ihn  ein  Schwein,  einen  Bumm^ 
1er  und  Lumpensack  hieß.  Vielleicht  folgte  so  unsanften  Re« 
den  manchmal  ein  Schäferstündchen,  das  der  Graf  nicht  ein^ 
gestand,  weils  ihn  interessanter  dünkte,  von  Freunden  und 
Buhlen  sich  als  starren  Weigerer  der  Geschlechtspflicht  an^ 
staunen  zu  lassen.  Sicher  ist,  daß  die  Ehe  für  zerrüttet  galt; 
und  als  Isas  fünfzigster  Geburtstag  nahte,  durften  die  Agna^ 
ten  aufathmen.  Bald  würde  über  Wroblewo  nun  wieder  ein 
echter  Kwilecki  herrschen:  Graf  Hektor,  Miecislaws  Sohn, 
der  bei  den  Zweiten  Garde  ^Ulanen  Lieutenant  gewesen. 
Reichstagsabgeordneter  und  Geheimkämmerer  des  Papstes 
geworden  war.  Eine  hübsche  Aussicht.  Das  Gut  ist  zwar 
arg  verwahrlost,  bringt  aber  noch  einen  Jahresertrag  von 
siebenzigtausend  Mark  und  wird  sich  unter  einem  guten 
Haushalter,  der  Kapital  hineinstecken  kano,  schnell  heben. 
Für  die  persönlichen  Schulden  des  Vorbesitzers  haftet  die 
Familie  als  AUodialerbin.  Stirbt  Zbigniew  Wesierski,  dann 
muß  Isa  mit  ihren  Töchtern  den  Hof  verlassen  und  Hektor, 


98 


der  Besitzer  des  Gutes  Kwilcz,  wird  Herr  von  Wroblewo.  Allzu 
zärtlich  scheinen  die  Beziehungen  der  beiden  Häuser  nie  ge« 
wesen  zu  sein;  nun  mußte  der  Gedanke  an  den  Besitzwech^ 
sei  sie  noch  mehr  verbittern.  Der  Majoratsherr  konnte  firei^ 
lieh  noch  zehn,  zwanzig  Jahre  leben;  erstens  aber  liebt  wohl 
selten  Einer  den  fremden  Erben,  der  die  Hausbrut  vom 
Futtemapf  drängen  will,  und  zweitens  stockt  der  Kredit, 
wenn  die  Leute  wissen,  daß  der  nächste  Tag  den  Darlehns^ 
Sucher  aus  der  Rechtswohnung  werfen  kann.  Und  auf 
Wroblewo  brauchte  man  immer  Geld.  Der  GetichtsvolU 
zieher  kam  so  oft,  daß  Herrschaft  und  Gesinde  ihn  traulich 
ab  Onkel  begriißten,  und  Inspektoren  sogar,  Rendanten, 
Wanderkrämer  wurden  von  dem  Grafenpaar  um  kleine 
Beträge  angepumpt.  Alter  Brauch.   Chacun  k  son  goüt. 

Da  kommt,  im  Lenz  1896,  vom  Genfer  See  die  Kunde, 
Frau  Isa  sei  in  a  funily  way.  In  Posen,  in  Wronke,  in 
Kwilcz  und  Wroblewo  erregt  die  Botschaft  zunächst  nur 
Heiterkeit.  »Die?  Seit  1879  hat  sie  nicht  geboren.  Der 
Graf  riihrt  sie  längst  nicht  mehr  an.  Woher  also?  Und  vor 
drei  Monaten  ist  sie  Fünfzig  geworden.«  Ein  guter  Witz. 
Am  Ende,  meint  Herr  Stephan  Kwielecki,  hat  sie  das  Kind 
in  der  Ohrmuschel;  jedenfdls  nicht  da,  wo  andere  Men^ 
schenweiber  die  Frucht  tragen.  Doch  Isa  kehrt  heim  und 
bestätigt,  von  Wonne  strahlend,  das  holde  Wunder.  In 
Montreux  ists  geschehen;  die  Sonne  lockte  frische  Triebe 
hervor,  ich  sehnte  mich  nach  einem  Sohn,  der  Graf  war  char^ 
mant,  —  und  unsere  Betten  standen  im  Hotelzimmer  dicht 

?•  99 


neben  einander.  Nach  und  nach  wuchs  ihres  Schoßes  Um^ 
fang;  und  im  Kreis  der  Agnaten  verstummte  das  Lachen. 
Die  Gräfin  war  stets  excentrisch  gewesen;  die  Rolle  der 
vernachlässigten»  von  Mägden  und  Cocotten  aus  der  Ge# 
schlechtsgunst  vertriebenen  Frau  konnte  der  herrisch  Stolzen 
nicht  behagen  und  ihre  ungezügelte  Phantasie  scheute  vor 
dem  abenteuerlichsten  Unterfangen  gewiß  nicht  zurück.  Sie 
wird,  hieß  es,  den  alten  Schwachkopf  zu  einem  Schwindel 
überredet  haben  und  wir  können  erleben,  daß  sie  uns  irgend^ 
einen  aufgelesenen  Bankert  ins  Majorat  schmuggelt.  Ver^ 
wandte,  Dienstboten,  Detektives,  Beobachter  aller  Sorten 
werden  nach  Wroblewo  geschickt.  Nichts  zu  erspähen. 
Isa?  Sie  sieht  aus  wie  alle  schwangeren  Frauen.  Wahrschein^ 
lieh  stopft  sie  sich  ein  Kissen  unter  den  Rock;  in  Paris,  hat 
Einer  gehört,  werden  nach  Maß  Gummibäuche  gemacht,  die 
solchen  Trug  erleichtem.  Eine  Depesche  schürt  den  Ver^ 
dacht;  sie  ist  in  Paris  aufgegeben,  ins  posener  Slachtahotel 
an  Zbigniew  oder  Isabella  adressirt  und  wird  (ists  Zufall?) 
dem  Grafen  Miecislaw  überreicht.  Inhalt:  »Femme  trouvie, 
mais  demande  trop  chire.«  Da  hätten  wir  also  die  Schmug^ 
gelfahrte.  Isa  sitzt  in  Paris,  sucht  ein  für  die  Unterschiebung 
brauchbares  Kind  und  telegraphirt  an  den  Gatten,  die  Ver^ 
käuferin  sei  gefunden,  fordere  aber  zu  hohen  Preis.  Re^ 
cherchen  in  Paris.  Die  Hotellisten  haben  keine  Gräfin  Kwi^ 
lecka  gemeldet.  Doppelt  verdächtig;  sie  hat,  um  hinter  sich 
keine  Spur  zu  lassen,  ihren  Namen  verschwiegen.  Und 
leugnet,  mit  munterem  Lächeln,  daß  sie  jetzt  überhaupt  an 

100 


der  Seine  gewesen  sei.  Früher  war  sie  dort,  —  ja;  um  eine 
gute  Hebanune  zu  suchen;  darauf  beziehe  sich  auch  das 
Telegramm,  das  für  sie  bestimmt  war  und  ihr  anzeigen  sollte, 
die  empfohlene  sage#femme  verlange  zu  viel  Geld.  Die  Er^ 
klärung  wird  höflich  angehört,  doch  nicht  geglaubt;  Heb^ 
ammen  braucht  man  ja  nicht  aus  Frankreich  zu  holen.  Als 
dann  gar  erzählt  wird,  die  Gräfin  wolle  nach  Italien  gehen 
und  erst  zurückkehren,  wenn  sie  aus  dem  Wochenbett  ent# 
lassen  sei,  schreibt  Herr  Miedslaw  einen  feierlichen  Wam^ 
brief  an  Herrn  Zbigniew.  Der  Verdacht,  die  Schwangere 
Schaft  sei  simulirt,  könne  dem  Herrn  Vetter  nicht  unbekannt 
geblieben  sein;  die  Absicht,  das  erhoffte  Kind  der  Frau 
Base  im  Ausland  zu  entbinden,  müsse  den  Verdacht  zur  Ge^ 
wißheit  wandeln,  denn  solche  Absicht  könne  nur  aus  dem 
Wunsch  stammen,  die  Geburt  der  Kontrole  zu  entziehen. 
Isabella  lacht.  Die  zärtlichen  Verwandten  mögen  um  das 
Erbe  zittern,  sie  aber,  eine  Bninska,  mit  Vorschriften  gefall 
ligst  verschonen.  Sie  lacht  auch  des  Sippengetuschels:  eigent^ 
lieh  müsse  ihr  Wochenbett  auf  dem  posener  V^helmsplatz 
stehen;  sonst  könne  man  Keinem  zumuthen,  das  Kind  als 
legitim  anzuerkennen.  Sich  untersuchen,  die  Mutterschaft  be^ 
scheinigen  lassen?  Das  fehlte  noch.  Ihr  durfte  kein  Doktor 
je  an  den  Leib;  und  sie  sollte  jetzt  eine  Ausnahme  machen, 
um  den  Neid  zu  entwaflEnen?  Der  freut  sie  ja.  Den  möchte 
sie  um  keinen  Preis  missen.  Vielleicht  war  der  Plan  der  ita# 
lienischen  Reise  in  den  Klatschbezirken  ausgeheckt  worden; 
vielleicht  rieth  Klugheit,  ihn  aufzugeben,  nachdem  sein  Zweck, 

101 


die  Agnaten  zu  ärgern,  erreicht  war.  Eines  Tages  sagte  die 
Gräfin  zu  ihrem  Hausarzt,  Herrn  Dr.  Rosinski:  »Ich  reise 
zur  Entbindung  nach  Berlin  und  rechne  darauf,  daß  Sie 
kommen,  wenn  ich  Ihre  Hilfe  brauche  und  Sie  rufe.« 

Berlin  W.  10,  Kaiserin  Augusta^Straße  74.  Da,  wird  dem 
zuständigen  Standesamt  gemeldet,  habe  die  Gräfin  Wesierska# 
Kwilecka  am  siebenundzwanzigsten  Januar  1897  morgens 
um  Fünf  einen  Knaben  geboren.  Leichte  Entbindung.  Die 
Hebamme  sollte  eine  Polin  sein  und  doch  nicht  zur  Einfluß^ 
Sphäre  der  Miecislaw  und  Hektor  gehören.  Eine  in  Rußland 
begüterte  Freundin  Isas  hatte  sich,  weil  die  Entbinderin  ihrer 
Tochter  verhindert  war,  nach  Warschau  gewandt  und,  durch 
Vermittlung  einer  Hotelwirthin,  Frau  Cwell  gemiethet,  deren 
Charakterbild,  von  der  Parteien  Gunst  und  Haß  verwirrt, 
in  der  Prozeßgeschichte  schwankt.  Am  Vorabend,  als  die 
Schmerzen  begannen,  war  Dr.  Rosinski  telegraphisch  gebeten 
worden,  nach  Berlin  zu  kommen;  nach  der  Geburt  wurde 
die  Bitte  dringend  wiederholt.  Die  erste  Depesche  muß  in 
Wronke  über  Nacht  liegen  geblieben  sein;  beide  erreichten 
den  Arzt  erst,  als  er  von  den  Morgenbesuchen  heimkam. 
Um  Mittemacht  war  er  in  Berlin.  Die  Gräfin  sah  aus  wie 
alle  Wöchnerinnen.  Temperatur  und  Puls  normal.  Noch 
immer  der  alte  Widerwille  gegen  ärztliche  Untersuchung. 
Wozu?  Alles  war  ja  glatt  gegangen  und  eine  Komplikation 
einstweilen  nicht  zu  furchten.  Die  Hebamme  mißfiel  dem 
Doktor;  schmutzige  Nägel  und  Cigarettengeruch  im  Säug^ 
lingzimmer.  Das  Kind  selbst  kräftig  und  auffallend  hübsch. 

102 


Nackt  sah  es  der  Arzt  nicht.  Es  sei  eben  erst  frisch  gewik"* 
kelt  worden.  Rosinski  fand  weiteres  Drängen  nicht  nöthig. 
Er  mahnte  die  Cwell  auch  nicht  zu  größerer  Sauberkeit, 
(ragte  nicht  nach  Urin,  Bettwäsche,  Nachgeburt.  Und  war 
doch,  weil  er  an  die  Schwangerschaft  nie  recht  geglaubt 
hatte,  mit  starkem  Mißtrauen  gekommen,  das  Isas  Weigerung, 
sich  untersuchen  zu  lassen,  natiirlich  noch  mehrte.  Jetzt 
schämte  er  sich  fast  seines  Zweifels.  Nicht  nur,  weil  Frau 
von  Moszczewska,  Isas  Freundin,  eine  Dame  aus  vornehmem 
Haus,  ihm  sagte,  sie  selbst  habe  die  Entbindung  mitange^« 
sehen.  Auch  sonst  schien  Alles  in  Ordnung.  Der  Hausarzt, 
der  die  Gräfin  seit  Jahrzehnten  kannte,  hielt  sie  für  eifle 
Wöchnerin,  den  Knaben,  den  er  im  Steckkissen  sah,  fiir  ihr 
Kind.  Nur  Kopf  und  Hände  sah  er  freilich;  und  im  Schwur«» 
gerichtssaal  wurde  von  Sachverständigen  behauptet  (und  von 
Juristen  in  frommem  Ernst  geglaubt),  am  Gesicht  könne  man 
nicht  erkennen,  ob  ein  Kind  gestern  oder  vor  fiinf  Wochen 
geboren  sei.  Mütter,  die  von  dieser  Sache  auch  Etwas  ver^ 
stehen  sollten,  hoben  darob  die  Augen  entsetzt  gen  Him>« 
mel.  Einem  Wärmchen,  das  man  in  Muße  begucken  darf, 
nicht  anmerken,  ob  es  am  zweiundzwanzigsten  Dezember 
18%  oder  gestern,  am  siebenundswanzigsten  Januar,  geboren 
ward?  .  .  Der  Hausarzt  schied  in  froher  Zuversicht  von  sei^ 
ner  Patientin.  Vorher  hatte  er  dem  Kind  noch  das  Zungen^ 
bändchen  gelöst.  Nachher  meldete  er  den  unruhigen  Agnaten, 
er  habe  keinen  Zweifel,  daß  dem  Grafen  Zbigniew  von 
seiner  Ehefrau  ein  legitimer  Erbe  geboren  worden  sei. 

103 


Auch  Andere  zweifelten  nicht  mehr.  Das  Gräflein  wuchs 
heran  und  wurde  der  Mutter  von  Monat  zu  Monat  ähn^ 
hcher.  Ein  echtes  Bninskl^Gesicht,  hieß  es  in  Wroblewo,  in 
Wronke  und  Posen;  und:  Die  Leute  hatten  wir  in  falschem 
Verdacht.  Im  Agnateneckchen  ergab  man  sich  nicht  so 
schnell.  Das  Eingeständniß  des  Irrthums  hätte  bewiesen» 
daß  man  allzu  leicht  bereit  gewesen  war,  Verwandte  um  des 
lieben  Geldes  willen  eines  Verbrechens  zu  zeihen.  Und  na^ 
türlich  fehlten  auch  die  Tüchtigen  nicht,  die  brav  schürten, 
um  an  dem  Feuer  ihr  Süppchen  zu  wärmen.  Fideikommiß«! 
streit,  großes  Objekt:  was  parasitisch  zu  leben  gewöhnt  ist, 
drängt  zum  Mitschmaus,  —  und,  versteht  sich,  auf  die  Seite 
der  Potenten,  nicht  dahin,  wo  Onkel  Gerichtsvollzieher  seine 
\^sitenkärtchen  anklebt  und  irgendein  Subalterner  aushelfen 
muß,  wenn  zwei  Bläulinge  fehlen.  Der  Kwilczer  ist  hoch 
eingeschätzt  und  sein  Vater  Miecislaw,  dessen  Verhältnisse 
von  Weitem  vielleicht  mehr  als  in  der  Nähe  glänzen,  hat  in  Ga^ 
lizien  reiche  Kunkelmagen.  Gilt  auch  nicht  als  vieux  mar^^ 
cheur  und  Bruder  Sausewind,  wie  Zbigniew.  Würdiger;  vom 
Scheitel  zur  Sohle  korrekt.  Herrenhausmitglied;  sehr  statte 
lieh  und  feudal  ^preußisch  soignirt;  Altwilhelmsbart  und 
treuer  Blick  unter  hofBihiger  Toryfrisur.  Wahrscheinlich 
wurde  an  diesem  ältesten  Agnaten  von  allen  Seiten  herum^ 
gekratzt.  Familienehre  auf  dem  Spiel;  ein  falscher  Dmitrij 
im  Haus  der  Kwileckis,  die  seit  fünfhundert  Jahren  .... 
Jedenfsdls  kam  der  Peer  von  Preußen  bald  wieder  in  Be# 
wegung.  Er  bat  Seine  Hochgeboren  auf  Wroblewo  um  eine 

104 


Unterredung  »unter  vier  Augen«.  Rundweg  abgelehnt. 
Zweiter  Brief.  Miecislaw  traue  dem  Majoratsrummel  nicht» 
wolle  aber,  wenn  Zbigniew  ihm  das  Verbrechen  der  Kindes^ 
unterschlebtmg  offen  gestehe,  schweigen,  bis  Verjährung  ein# 
getreten  sei.  Das  heißt:  um  des  Erbes  sicher  zu  sein,  also 
eigenen  Vortheils  wegen,  den  Verbrecher  der  Bestrafung  ent^ 
ziehen.  Ein  recht  gewagter  Vorschlag;  wäre  er  angenommen 
worden,  so  hätte  der  Erbieter  sich  der  Begiinstigung  schuld 
dig  gemacht.  Allerdings  einer  straflosen;  denn  die  von  einem 
Angehörigen  dem  Thäter  gewährte  Begünstigung  ist  von  der 
Stra&orm  des  §  257  StGB  ausgenommen.  Immerhin  sollte 
ein  Mitglied  des  Herrenhauses  solchen  Vorschlag  nicht  ein# 
mal  als  Köder  verwenden.  Wesierskis  gingen  nicht  in  die 
Falle.  Um  den  Schrecken  zu  enden,  klagen  sie  gegen  den 
Grafen  Miecislaw  auf  Anerkennung  ihres  Sohnes.  Termin  in 
Posen.  Isa  mit  dem  Knaben  vor  Gericht:  der  Augenschein 
zeigt  die  Aehnlichkeit.  Frau  von  Moszczewska  beschwört, 
sie  sei  während  der  Entbindung  im  Wohnzimmer  gewesen. 
Nach  dieser  Aussage  beantragt  Miecislaws  Anwalt  Vertagung 
und  schreibt  seinem  Mandanten,  die  Sache  scheine  ihm,  einst^ 
weilen  wenigstens,  aussichtlos.  Im  nächsten  Termin  ist  der 
Beklagte  nicht  vertreten  noch  selbst  anwesend.  Versäunmi& 
urtheil  zu  Gunsten  des  Klägers.  Die  Agnaten  haben  den 
kleinen  Joseph  Stanislaus  Adolf  fortan  unweigerlich  als  Grafen 
Kwilecki  anzuerkennen.  Von  Rechtes  wegen. 

Inzwischen  sind  vier  Jahre  vergangen.  Die  gerichtlich  zum 
Anerkenntniß  Gezwungenen  erzählen  Jedem,  ders  hören  will 

105 


daß  sie  den  Knirps  in  Wrobiewo  nach  wie  vor  (ur  ein  ge^ 
Icauftcs  Kind  halten.  Wesierskis  sitzen  so  tief  in  der  Kreide,  daß 
sie  gezwungen  sind,  eine  Bank  zu  suchen,  die  ihnen,  gegen 
das  Recht,  das  Gut  zu  bewirthschaften,  eine  halbwegs  aus^ 
kömmliche  Rente  zahlt.  Auch  unter  ihren  Leuten  mag  in 
solcher  Kalamität  Mancher  wohl  denken,  daß  es  schließlich 
am  Besten  wäre,  wenn  der  Kwilczer  ins  Schloß  einzöge.  Eine 
lange  Vormundschaft  Isabellens,  die  stets  bunte  Pläne  machen, 
doch  niemals  rechnen  konnte:  Das  hätte  just  noch  gefehlt. 
Die  Legende  war  nie  ganz  verstummt.  Eine  Kindesunter^ 
Schiebung  ist  auf  allen  Hintertreppen  ein  ungemein  beliebter 
Stoff.  Jetzt  war  die  Zeit  erfüllt:  die  Mirakel  konnten  beginn 
nen.  Von  der  Sorte,  die  der  skeptische  Blick  nicht  für  uner^ 
klärliche  Wunder  nimmt.  Sie  kamen,  wuchsen  im  Wandern 
und  häuften  sich.  Im  Civilprozeß  hatte  die  Hebamme  Ka# 
tharina  Ossowska  beschworen,  sie  habe  die  Gräfin  in  den 
Anfangen  der  Schwangerschaft  massirt  und  sich  dabei  selbst 
überzeugt,  daß  ein  Kind  zu  erwarten  war;  die  Frau  hatte 
diese  Wahrnehmung  auch  schriftlich  bescheinigt.  Bald  mel^ 
dete  sich  in  Kwilcz  Irgendwer,  der  ganz,  aber  ganz  genau 
wußte,  die  Ossowska  habe  in  einer  schwachen  Stunde  aus« 
geschwatzt,  Zeugeneid  und  Attest  seien  falsch.  Dann  trat 
Herr  Hechelski  auf  den  Kampfplatz.  Kaufmann,  Agent,  De« 
tektive;  in  alle  Sättel  gerecht.  Der  wußte  mehr;  so  ziemlich 
die  Hauptsache:  woher  Isas  Spätfrucht  geholt,  wem  der  Ba« 
stard  abgekauft  sei.  Zu  Mirakeltagen  gehören  vor  allen  Dingen 
aber  Hysterische.  Für  sie  ists  Festzeit.  Endlich  darf  ihr  Drang, 

106 


sich  wichtig  zu  machen  und  höchst  interessant  zu  scheinen, 
sich  fessellos  bethatigen.  Eine  wenigstens  war  im  wronker 
Amtsbezirk  schon  gefunden.  Fräulein  JadwigaAndruszewska» 
Tochter  einer  Frau»  die  in  Wroblewo  Jahre  lang  Wirtschaft 
terin  und  Familienfaktotum  gewesen  war.  Ansehnliche  Sym# 
ptome.  Hager,  nervös,  reizbar;  die  Rede  bald  wie  ein  Gie& 
bach,  bald  stockend  und  scheu,  als  verblasse  das  Gedächtni& 
bild  während  des  Sprechens.  Mit  spitzen  Ellbogen  drängt 
sie  sich  in  den  Mittelpunkt  des  Grafenzwistes.  Sacht  fing  es 
an.  Unglaublich,  wie  sie  in  Wroblewo  behandelt  werde I 
Zurückgesetzt,  eingesperrt,  angefahren,  geprügelt,  an  den 
Ohren  gezaust.  Warum?  Die  Gräfin  sei  doch  sonst  nicht  so 
schlimm;  stolz  zwar,  doch  gut  zu  den  Leuten  und  gerade  der 
alten  Andruszewska  bis  zum  letzten  Tag  die  gnädigste  Herrin. 
Ja,  warum  I  Weil  ich  eben  mehr  weiß  als  Andere.  Was  denn? 
Na,  von  dem  Kind.  Nach  und  nach  kams  heraus.  Mutter 
Andruszewska  war  im  Auftrag  der  Gräfin,  deren  Leib  keine 
Frucht  trug,  in  Krakau  gewesen,  um  einen  passenden  Kna# 
ben  zu  kaufen.  Hatte  ihn  auch  bei  einer  Hebamme  gefiim 
den  und,  sammt  Nachgeburt  und  Nabelschnur,  nach  Berlin 
gebracht,  wo  er  ihr  von  zwei  Dienerinnen  auf  dem  Bahnhof 
abgenommen  und  in  die  Kaiserin  Augusta^Straße  befordert 
wurde.  Die  Mutter  hats  der  Tochter  anvertraut,  sie  aber,  um 
nicht  wegen  geleisteter  Beihilfe  strafbar  zu  werden,  verpflich«* 
tet,  den  Mund  zu  halten,  so  lange  die  Alte  lebe.  Alles  hat 
Mutter  erzählt.  Die  Gräfin  war  1897  nicht  schwanger.  Kein 
Gedanke!  Sie  wickelte  sich  Tücher  um  den  Leib,  hing  Schrote 

107 


beutel  um  den  Taillengurt,  war  auch  in  Paris,  um  einen 
Gummibauch  zu  kaufen.  Und  ehe  sie  zu  der  Wochenko^ 
moedie  nach  Berlin  fuhr,  ließ  sie  Schweine  schlachten  und 
nahm  sechs  mit  Schweineblut  gefüllte  Rothweinflaschen  mit 
auf  die  Reise.  Damit  Bettzeug  und  Unterlagen  hübsch  röth^ 
lieh  seien.  Bei  Alledem  hat  Frau  Andruszewska  emsig  miU 
gewirkt  Und  Alles  der  Tochter  erzählt;  sogar,  daß  die 
Nachgeburt  in  einem  Steintopf  von  Krakau  nach  Berlin  ge^ 
schafft  wurde.  Und  auf  dem  Totenbett  (das  durfte  hier  nicht 
fehlen)  ermahnte  die  edle  Mutter  noch  ihre  Jadwiga,  dem 
Grafen  Hektor  Kwilecki  auf  Kwilcz  das  furchtbare  Geheime 
niß  zu  enthüllen.  Dann  starb  sie;  und  weil  die  Tochter  im 
Verdacht  stand,  das  Verbrechen  zu  kennen,  wurde  sie  in 
Wroblewo  natürlich  schlecht  behandelt  und  weggeärgert. 
Natürlich?  Noch  natürlicher,  wird  Mancher  meinen,  wäre 
der  Versuch  gewesen,  ein  Mädchen,  das  Einen  ins  Zuchthaus 
bringen  kann,  durch  Wohlthat  an  sich  zu  ketten  und  um 
keinen  Preis  aus  den  Händen  zu  lassen.  Vielleicht  aber  dachte 
Isa,  mit  der  Aussage  einer  Toten  sei  nichts  Rechtes  anzufan^ 
gen.  Einerlei.  Die  alte  Andruszewska  muß  jedenfalls  eine 
wunderliche  Heilige  gewesen  sein.  Sie  konnte  ein  Vermögen 
einheimsen  (denn  die  Aussage  der  Lebenden  hätte  den  Streit 
ja  fiir  den  Kwilczer  entschieden):  und  hauste  und  starb  in 
Kümmerlichkeit.  Nur  aus  Furcht  vor  Strafe?  Erstens  mußten 
Wesierskis  ihr  geben,  was  sie  verlangte.  Und  wenn  da  nicht 
viel  zu  erpressen  war:  dem  Grafen  Hektor  hätte  eine  notariell 
beglaubigte  Aussage  genügt,  die  er  erst  nach  dem  Tode  der 

108 


Alten  zu  verwenden  brauchte.  Noch  Wunderlicheres.  Bis 
an  ihr  Ende  schilt  Frau  Andruszewslca  Jeden,  der  Isas  MuU 
terschafi  zu  bekritteln  wagt,  einen  Narren  und  schlechten 
Kerl:  und  stiftet  dann  ihre  Tochter,  deren  Zer£direnheit  sie 
doch  kennt  und  mit  der  sie  manchen  Tanz  hatte,  an,  das  Ge^ 
heimniß  nach  Kwilcz  zu  tragen.  Offenbar  aus  reinstem  Rechts^ 
gefiihl.  Jadwiga  schreibt  Alles  auf;  was  sehr  nützlich  ist,  denn 
ihr  Gedächtniß  vermag  nicht  einmal  Erlebnisse  festzuhalten, 
die  (man  darf  es  wohl,  ohne  zu  übertreiben,  sagen)  nicht 
ganz  alltäglich  sind.  Schwarz  auf  Weiß  kommt  die  Geschichte 
in  Hechelskis  bewährte  Hände.  Der  recherchirt,  kombinirt, 
eruirt:  und  hat  schnell  alle  Kettenglieder  am  blanken  Schnür» 
chen.  Das  Pseudogräflein  heißt  Leo  Parcza;  es  wiutle  von 
einem  österreichischen  Hauptmann  im  Schoß  der  jetzt  dem 
Bahnwärter  Meyer  angetrauten  Caecilie  gezeugt  und  die 
wirldiche  geheime  Mutter  hat  den  Jungen,  den  sie  fünf  Wochen 
nach  der  Geburt  ftir  hundert  Gulden  weggab,  nach  dem 
Bilde  als  ihr  Kind  rekognoszirt.  Die  Stimme  des  Blutes! 
Auch  die  krakauer  Zwischenhändlerin  hat  Hechelski  ermit» 
telt.  Leider  ist  sie  schon  tot.  Wie  die  Cwell  und  die  Andru» 
szewska.  Doch  Hechelskis  Genie  hat  Leichenscheu  nie  gelernt 
und  weiß,  daß  Tote  sehr  beredt  sein  können.  Hechelski 
forscht,  verspricht,  droht,  ist  nirgends  und  überall  und  läßt 
sich,  ein  Ritter  der  Wahrheit  und  Legitimität,  von  Hektor 
nicht  viel  mehr  als  seine  Auslagen  ersetzen.  Andere  Helfer 
melden  sich,  gewiß  vom  Beispiel  selbstloser  Bürgertugend 
angelockt,  und  neue  Spur  taucht  aus  dem  Dunkel.  In  Paris 

109 


hat  eine  Dame»  die  mit  ausländischem  Accent  sprach,  »that^ 
sächlich«  1896  einen  Gummibauch  bestellt  und  gekauft.  In 
Paris  hat  ungefähr  um  die  selbe  Zeit  eine  Dame  bei  einer 
Hebamme  ein  Kind  zu  kaufen  gesucht.  Solche  Gesuche  sind 
dort  nicht  selten  und  dem  polizeilichen  Aufruf  antworteten 
denn  auch  prompt  etwa  zwanzig  Entbinderinnen,  von  denen 
Säuglinge  zur  Adoption  verlangt  worden  waren.  Doch  eine 
Sucherin  hatte  un  accent  allemand  (und  daß  die  pariser  Un^ 
schuld  Deutsche,  Russen,  Polen  nie  an  der  Sprache  erkennt, 
ist  über  jeden  Zweifel  erhaben):  warum  also  solls  nicht  die 
Selbe  gewesen  sein,  die  sich  die  Mutterkonturen  aus  Gummi 
anmessen  ließ?  Nach  der  Hebamme  die  Waschfrau.  Die 
bezeugt,  daß  sie  vom  im  Hemde  der  Gräfin  während  der  angebe 
liehen  Schwangerschaft  einen  Blutfleck  gefunden  habe,  der  nur 
von  der  Menstruation  kommen  konnte.  Katamenien;  also  nicht 
in  derHoffaung.  Auch  Dienstboten  wollen  Menstrualblutspuren 
gesehen  haben,  Mirakel  über  Mirakel.  Frau  Ossowska,  die 
früher  selbst  schon  in  Gemüthsruhe  eine  Kindesunterschie* 
bung  arrangirt  hat,  erliegt  der  Gewissensfolter  und  bekennt, 
daß  sie  der  Gräfin  ein  falsches  Attest  ausgestellt  und  in  Posen, 
ohne  angestiftet  zu  sein,  einen  Meineid  geleistet  habe.  Jad# 
wiga  Andruszewslca  und  Katharina  Ossowska:  Das  ist  viel. 
Mindestens  zwei  neue  Thatsachen,  die  zur  Wiederau&ahme 
des  Ver£ihrens  helfen  können.  Dazu  Krakau,  Caecilie  Meyer, 
die  Stimme  des  Blutes  (auch  des  in  Nachthemden  gefunden 
nen),  die  pariser  Polin  mit  dem  deutschen  Accent:  über 
Wroblewo  zieht  sichs  dräuend  zusammen.    Und  schließlich 


110 


meldet  sich  auch  noch  ein  Droschkenkutscher,  der  1903  ganz 
genau  weiß,  daß  er  am  sechsundzwanzigsten  Januar  1897 
zwei  Frauen,  die  er  nach  der  Sprache  (iir  Polinnen  hielt,  von 
der  Kaiserin  Augusta^Straße  nach  dem  Schlesischen  Bahnhof 
und,  nach  langer  Wartezeit,  wieder  zurückgefahren  hat.  Die 
eine  hielt  die  Arme  unterm  Mantel  und  schien  Etwas  su  ver«» 
bergen.  An  dem  selben  Tag  also,  wo  das  in  Krakau  gekaufte 
Kind  nach  Berlin  gebracht  worden  war.  Nun  fehlte  kein 
Glied  mehr  in  der  Kette,  Frau  Andruszewska  war  mit  der 
Amme,  die  den  Knaben  unterwegs  säugen  mußte,  auf  dem 
Schlesischen  Bahnhof  angekommen  und  von  zwei  Dienerin^ 
nen  Isas  empfangen  worden,  denen  sie  Kind  und  Steintopf 
übergab.  Den  Topf  in  den  dazu  mitgebrachten  Handkoffer, 
das  Kleine  in  einem  Körbchen  unter  den  Mantel:  nach  Hausei 
Endlich  also:  ein  lückenloser  Beweis.  Graf  Miecislaw  Kwilecki, 
Mitglied  des  Herrenhauses,  hatte  die  Staatsanwaltschaft  au& 
gefordert,  in  Sachen  c/a  Wesierski^Kwilecki  und  Genossen 
energisch  und  ohne  Ansehen  der  Person  vorzugehen.  Das 
geschah.  Hinreichender,  bald  danach  dringender  Verdacht. 
Voruntersuchung  mit  langem  Verhören  unzähliger  Zeugen.  Die 
Anklage  wurde  erhoben,  das  Hauptverfahren  eröffiiet.  Zuerst 
war  die  Gräfin,  dann  auch  Zbigniew  verhaftet  worden. 

Da  sitzen  sie.  Beinahe  schon  heimisch  auf  der  engen  Mar^ 
terbank  der  Angeklagten.  Seine  Hochgeboren  nicht  gerade 
überwältigend  elegant.  Grauer  Sakkoanzug  und  gelbe  Schuhe. 
Für  den  Schwurgerichtssaal  konnte  er  mehr  leisten.  Schlote 
terige  Haltung.  Die  Sprache  fast  unverständlich.  Zahnlücken 

111 


oder  schwere  Zunge.  Aber  er  föllt  seinen  Typus  aus,  wie 
die  Franzosen  sagen.  In  Schönheit  verludert.  Manchen  Sturm 
erlebt;  manche  Demüthigung  hingenommen.  Doch  der  Ton 
des  Wesens  klingt  nicht  schlecht.  Und  wenn  er  nachdenke 
lieh  die  grauen  Cotelettes  streicht,  ists,  mit  dem  müden,  aber 
klugen  Auge,  ein  vornehm  verwitterter  Herr,  der  sich  an 
vielerlei  Kulturen  gerieben  hat.  Wenns  auch  oft  nur  Cour^ 
tisanenkultur  war:  besser  als  keine.  Die  Riviera  hat  ihre 
eigene  mimicry.  Der  Herr  von  Wroblewo  sieht  gar  nicht 
polnisch  aus;  könnte,  so,  wie  er  ist,  durch  einen  Schwank 
von  Bisson,  eine  sanfte  Satire  von  Donnay  schreiten.  Obs 
wahr  sei,  wird  er  gefragt,  daß  er  Verhältnisse  gehabt  habe. 
In  Gegenwart  der  Gattin,  in  einem  überfüllten  Gerichtssaal, 
als  Angeklagter.  Ganz  leise  hebt  er  den  Kopf.  Ganz  erstaunt. 
Man  fühlt,  wie  die  Brauen  sich  hochziehen.  »Warum  soll  ich 
keine  Verhältnisse  haben?«  Ancien  regime.  Wird  heutzutage 
natürlich  ausgelacht;  mit  der  Nuance  tiefister  Verachtung. 
Solche  Sittenlosigkeitl  Nicht  mal  der  Heucheltribut,  den  das 
Laster  der  Tugend  schuldet.  Zbigniew  aber  denkt  wohl: 
Was  fallt  den  Leuten  ein?  Daß  sie  mich  eingesperrt  haben 
und  mich  eines  Verbrechens  anklagen,  muß  ich  dulden.  Was 
aber  gehen  denn  meine  Amouren  sie  an?  Bilden  sie  sich  gar 
ein,  ich  würde  vor  ihnen  kriechen,  Keuschheit  oder  Reue 
mimen?  .  .  .  Keine  Spur  von  Pose.  Nichts  von  der  Sugge^ 
stion,  die  in  solchem  Käfig  so  leicht  den  Willen  lähmt,  die 
Würde  duckt.  Meist  sitzt  er  weit  über  die  Brüstung  gebeugt, 
beide  Hände  als  lange  Schalltrichter  an  den  halb  schon  verp 

112 


sagenden  Ohren,  und  lauscht.  Lauscht  einer  höchst  merk«^ 
würdigen,  verworrenen,  abenteuerlichen,  an  Boulevardmelo^ 
dramen  erinnernden  Geschichte,  der  man  zuhört,  weil  man 
nun  einmal  da  ist,  die  Einen  aber  nicht  näher  berührt.  Fan 
belhaft,  was  solchen  Lieferanten  des  Ambigu  heute  noch 
einfallen  Icannl  Gräfinnen,  Hebammen,  Schweinemädchen, 
Blut  in  Medocflaschen,  angeklebte  Nabelschnurstückchen. 
Nicht  zu  glauben  .  .  .  Manchmal  ists  dann,  als  zerrisse  vor 
dem  inneren  Auge  ein  Wölkchen  und  der  Lauscher  besonne 
sich:  Du  spielst  ja  mit,  hast  die  sehr  undankbare  Haupther^s 
renrolle  und  das  Stück  kann  bös  enden!  Das  dauert  nie 
lange.  Ancien  regime.  Wie  in  Goncourts  »Patrie  en  danger«: 
I  man  spielt  im  Gefangniß  Karten,  bis  man  auf  den  Henkers«» 

I  karren  gerufen  wird,  macht  den  letzten  Stich,  verabschiedet 

sich  artig  von  den  Standesgenossen  und  geht  unters  Fallbeil. 
»Schade,  daß  ich  nicht  länger  den  Vorzug  hatte.  Bitte,  mich 
angelegentlich  zu  empfehlen.«  Das  Gewimmel  da  unten  kann 
Einem  den  Kopf,  aber  nicht  das  Gefühl  inniger  Geringschätn 
zung  nehmen.  Auch  diese  Menschensorte  hat  Reiz  und  Ras^ 
senwerth;  und  Graf  Wesierskii^Kwilecki  scheint  nicht  ihr 
übelstes  Exemplar.  Ich  glaube  nicht,  daß  er  den  Richtern  so 
!  leicht  was  vorweinen  würde  wie  der  Fommer  Wilhelm  von 

Hammerstein,  den  seine  Leute  doch  »starknervig«  nannten. 
Mitwirken  mag  das  Bewußtsein,  nicht  vor  Volksgenossen  zu 
stehen,  sondern  vor  dem  firemden  Eroberer,  dem  man,  so 
lange  es  irgend  geht,  nur  die  Fassade  zeigt.  Dieses  Bewußt« 
sein,  dieser  Instinkt  des  Besiegten  hat  dem  ganzen  Prozeß 

8,in  113 


die  besondere  Farbe  gegeben.  .  .  Seinen  größten  Moment  hat 
der  Graf  stets  nach  Schluß  der  Verhandlung.  Ehe  die  Au& 
Seher  die  Angeklagten  abfuhren,  steht  er  auf,  bückt  den 
langen  Oberleib  galant  herab,  faßt  und  küßt  die  Hand  seiner 
Frau.  Mit  der  er  beinahe  ein  Jahr  nun  kein  Wort  wechseln 
durfte.  Deren  excentrisches,  verbrecherisches  oder  krank« 
haftes  Wesen  ihn  hierher  gebracht  hat  und  mit  deren  Schimpft* 
reden  er  auch  hier  noch  gepeitscht  und  zum  lächerlichen 
Pantoffelhelden  gemacht  wird.  Und  die  er  trotzdem  bewun« 
dert.  Wenige  achten  drauf:  und  das  Schauspiel  lohnt  doch. 
Vor  einem  Stanislaus  könnte,  in  Warschau,  der  Abschied 
nicht  graziöser  und  ceremoniöser  sein.  Man  weiß  eben, 
was  sich  gehört,  und  hat  vor  dem  Feind  Polens  Würde  zu 
wahren.  »So  sind  wir;  Respekt,  Ihr  plumpen  Borussenl« 

Bequem  ist  der  Handkuß  nicht.  Denn  zwischen  Isa  und 
ihrem  Eheherm  sitzt,  auf  daß  die  Hauptbeschuldigten  nicht 
durch  Zeichensprache  oder  gehauchte  Silben  mit  einander 
verkehren,  Frau  Katharina  Ossowska.  Recht  behaglich,  seine 
Todfeinde  halbe  Tage  lang  neben  sich  zu  haben.  Und  welche 
Larve  I  Halb  Fromme  Helene  in  hohen  Semestern,  halb  Wolf» 
schluchtvision.  Ein  Gesicht,  das  dem  Schöpfer  nicht  fertig  ge» 
worden  zu  sein  scheint.  Die  Nase  nur  angedeutet.  In  den  Augen» 
höhlen  etwas  Glimmerndes,  das  gleich  zu  erlöschen  droht. 
Dünne,  ausgeblichene  CleooHaartressen.  Dürr  und  harteckig. 
Nichts  von  den  Malen  der  Weiblichkeit.  Niemand  würde 
dem  Spukgebilde  das  zarte  Gewissen  zutrauen,  das  freiwillig 
Kreuz  und  Zuchthaus  auf  sich  nimmt.   Frau  Ossowska  hats 


114 


Lieber  das  Aergste  leiden,  als  die  Meineidsschuld  noch  weiter 
schleppen.  Der  Schwurgerichtspräsident  glaubts  ihr  und  läßt 
Milde  walten,  wenn  sie  einen  ihrer  Anfalle  bekommt.  Denn 
diese  Märtyrerin  ist  nicht  von  der  sanften  Art;  Satanas  ist 
noch  betrübend  mächtig  in  ihr.  Sie  nennt  Zeugen  Lügner 
und  Säufer,  pfaucht  eine  fast  Achtzigjährige  an,  die  hinter 
ihr  im  Sünderwinkel  sitzt,  und  wird  dann  glimpflich  ver^ 
mahnt.  »Vorbeil  Vorbeil«  Mephisto  selbst  vrürde  in  diesem 
£üilen  Gehäuse  nicht  lange  weilen  und  schickt  wohl  die 
Kleinsten  von  den  Seinen.  Dann  hockt  noch  die  Alte  da,  mit 
dem  Alleweltgesicht  einer  freundlichen  SchaflEnerin,  die  Pene^ 
lopen  und  Dorotheen  gedient  haben  könnte;  und  ihre  Toch^ 
ter:  stumm,  stumpf,  eine  Slavin  und  Sklavin  ohne  eigene 
Physiognomie.  Und  ganz  vom,  dicht  neben  dem  jüngeren 
Staatsanwalt,  dem  hübschen,  modisch  gekleideten  Dr.  Müller, 
Gräfin  Isa  Wesierska^Kwilecka,  geborene  Bninska. 

Hat  man  draußen  vorher  den  Kleinen  gesehen,  so  ist  der 
erste  Trieb,  lachend  aufzuschreien:  Was  wollt  Ihr  denn  Alle? 
Das  ist  die  Mutterl  Wer  zu  amtlichem  Gutachten  berufen 
ward,  mag  zaudern  und  klausuliren:  von  seinem  Spruch 
hängt  ja  das  Urtheil  in  einer  Sache  ab,  die  schon  Unsummen 
verschlungen  hat  und  an  deren  Ende  eine  Familiengruft  dräut. 
Der  Unbefangene  wird  finden,  daß  er  selten  noch  einer  alten 
Frau  ein  Kind  so  ähnlich  sah.  Einer  alten  Frau.  Isa  ist 
schneeweiß.  Und  jetzt  auch  schon  müde.  Der  zehnte  Haft^ 
monat,  die  dritte  Verhandlungwoche.  Sie  regt  sich  kaum  noch. 
Am  ersten  Tag  wars  anders.    Da  hatte  sie  Charme,  Leben, 

«•  115 


die  Grazie  der  Herzoginnen  aus  Rokokobüchem;  auch,  wie 
diese  nie  Welkenden,  nie  Abriistenden,  den  Muth  und  den 
Humor,  sich  selbst  ironisch  zu  nehmen.  Trotzdem  ihr  Deutsch 
mangelhaft  ist,  war  beinahe  jedes  Wort  gut,  das  sie  sprach; 
gut,  weil  menschen  verständig  und  aus  einer  gewissen  Distanz 
gesprochen.  Sinn  für  Akustik.  Ein  Herr,  der  behauptet, 
Französisch  zu  können,  und  deshalb  als  Dolmetscher  bestallt 
ist,  quält  sich  mit  dem  pariser  Detektive  am  Zeugentisch  ab. 
Paris:  also  Kindersuche  und  Gummibauch.  Die  mittelgroße 
Unbekannte,  wir  Wissens  schon,  hatte  einen  deutschen  Accent. 
Langwierige  Erörterung,  wie  der  sich  vom  polnischen  wohl 
fiir  den  Franzmann  unterscheide.  Endlich  steht  Isabella  auf; 
wie  ein  Soubrettenschmunzeln  gehts  über  ihr  Gesicht;  sie 
fuhrt  die  Lorgnette  vors  Auge  und  fragt,  französisch,  den 
Seinespitzel,  der  in  Moabit  ungemein  respektirt  und  ernst 
genommen  wird:  »Spreche  ich  ungefähr  so  reines  Französisch 
wie  der  Herr,  der  Ihre  Aussage  übersetzt?«  Mit  einem  Hohn 
in  der  Stimme,  der  durch  Guirlanden  sticht;  und  der  denn 
auch  unbemerkt  bleibt.  Sie  redet  fast  nie,  läßt  Freunde  und 
Feinde  erzählen,  was  ihnen  beliebt:  und  verzieht  keine  Miene. 
Thut  auch  nicht  prüde,  nicht  damenhaft  empört  und  markirt 
beim  Anblick  des  Knaben  nicht  ihr  Muttergefiihl.  Das  überläßt 
sie  der  Frau  Meyer.  Mauvais  genre.  Nur  als  schon  eine  Stunde 
lang  von  ihren  blutigen  Hemden  geredet  worden  ist  (wo  die 
Flecke  waren,  ob  auch  sicher  von  Menstrualblut  oder  viel^ 
leicht  von  Hämorrhoiden),  wirds  ihr  zu  .  .  bunt:  sie  rückt 
den  Stuhl  und  hält  die  Hand  vor  die  Augen,  bis  auf  die 

lU 


Wascherei  endlich  der  nächste  Hebammenklaisch  folgt.  Und 
gleich  danach  lacht  sie  wieder  wie  ein  Mädchen  beim  ersten 
Walzer.  Die  hochnothpeinliche  Frage:  Schwangerschaft  oder 
Schrotbeutel?  Ein  paar  feine  Damen»  Mütter,  Großmütter, 
haben  mit  größter  Entschiedenheit  bekundet:  Die  Gräfin  war 
»in  anderen  Umständen«.  Das  kennt  Unsereins  doch.  Als 
ein  Symptom  wird  Anschwellung  der  Hände  erwähnt.  Die 
Gräfin,  sagt  der  Zeuge  Rosinski,  litt  an  Gicht  und  hatte  oft 
geschwollene  Hände.  Das  beweist  also  wieder  nichts,  meint 
der  Präsident,  will  das  »gute«  Zeugniß  noch  heller  beleuchten 
und  fordert  Rosinski  auf,  mal  zu  sehen,  ob  die  Schwellung 
nicht  am  Ende  auchjetzt  da  ist.  DerArzt  zögert  eine  Sekunde.  Er 
hatseiner  Patientin  eben  so  ziemlich  das  Schlimmste  nachgesagt. 
Dann  geht  er  hin.  Und  Isa,  als  sei  ein  besserer  ^tz  ihr  nie 
zu  Ohren  gekommen,  streckt  ihm,  mit  übermüthigstem  Lachen, 
die  Hände  entgegen.  Nein;  sie  sind  nicht  geschwollen . .  . 
Die  Frau  ist  nicht  gewöhnlich.  Sie  muß  sehr  schön  gewesen 
sein  und  hat  noch  heute  einen  persönlichen  Zauber,  der  ihr 
mehr  nützen  konnte  als  der  beredteste  Advokatenmund.  Als 
die  Verhandlung  begann,  war,  außer  den  Bninskis,  im  Zu^ 
schauerraum  fast  Alles  überzeugt:  eine  Verbrecherin.  Am 
Ende  der  ersten  Woche  hatte  Isa  die  Mehrheit  gewonnen. 
Ohne  viel  zu  reden.  Sie  hat  Stil.  Die  Gevatterin  nebenan 
ist  (ur  sie  Luft.  Und  wenn  sie  gegen  Abend  abgeführt  wird, 
glaubt  man,  eine  verblühte  Marie  Antoinette  in  den  Kerker 
schreiten  zu  sehen.  Das  ists:  ihr  Stil  ist  Rokoko.  Ihrer  und 
und  ihres  Mannes;  so  verschieden  die  Beiden  in  Blüthe  und 


117 


Kern  sind.  Wahrscheinlich  wurde  Das  ihr  Verderben.  So  lebte, 
so  tändelte,  zankte,  koste  man,  als  der  Adel  allein  Menscheni« 
rechte  besaß;  und  Herrenrechte.  »Warum  soll  ich  keine  Ver:« 
hältnisse  haben?«  Warum  soll  ich  rechnen,  soll,  ein  Grafen^ 
kind,  dem  Krämer,  der  Hausmagd  ins  Handwerk  pfuschen? 
Nobel  Geld  ausgeben,  die  besten  Manieren  und  geniale  Ein« 
(alle  haben,  die  auszuführen  Sache  der  Roture  ist;  Musik, 
Geselligkeit,  hübsche  Frauen.  Rokoko.  Und  obendrein  mit 
der  sarmatischen  Neigung  ins  wildeste  Barock.  Vorbeil  Vor« 
beil  So  läßt  sich  bei  Wronke  nicht  mehr  Landwirthschaft 
treiben.  Der  jähe  Klimawechsel  verscheucht  auch  empfind« 
liehe  Freunde  leicht.  Nur  soll  man  nicht  glauben,  Das  sei 
Polen.  »Polnische  Wirthschaft«  ist  ein  billiges  Schlagwort; 
paßt  aber  längst  nicht  mehr,  blendet  nur  und  drängt  in 
Ueberhebung,  mit  der  die  »Hebung  des  Ostens«  nicht  zu 
leisten  ist.  So  war  die  Slachta,  als  Mickiewicz  ihr  sang.  Heute 
baut  sie  Fabriken,  meliorirt,  kultivirt,  spekulirt,  folgt  dem 
Beispiel  des  englischen  Adels,  hält  Ordnung,  schickt  sich  in 
die  Zeit,  —  und  ist  deshalb  dem  deutschen  Nachbar  und 
Konkurrenten  gefahrlich;  nur  deshalb.  In  Warschau  und 
Lodz,  in  Lemberg  und  Krakau  sollten  die  Germanisatoren 
polnische  Wirthschaft  studiren.   Kwileckis  sind  Rokoko. 

Drüben,  auf  den  Zeugenstühlen,  sitzt  schon  moderneres 
Polen.  Zbigniew  und  Isabella  hätten  um  keinen  Preis  ver« 
mocht,  in  einem  preußischen  Gerichtssaal  Tage  lang,  Wochen 
lang  zuzusehen,  wie  man  ihren  Verwandten  den  Prozeß  macht; 
einen  Prozeß,  der  ins  Zuchthaus  fuhren  soll.  Graf  Miecislaw 


118 


und  seine  Gattin  bringens  fertig;  und  scheinen  nicht  darunter 
zu  leiden.  Und  Graf  Hektor»  Ulan,  Papstkämmerer,  Reichs^ 
tagsabgeordneter,  strenggläubiger  Junker,  geschmeidiger  Fro^ 
zeßregisseur  und  ein  Geschäftsmann,  der  auf  den  Pfennig 
berechnet,  was  er  dem  Anwalt,  Agenten,  Ausspäher  zu  zah^ 
len  hat:  so  viel,  doch  nicht  mehr .  .  .  Ein  Mann,  der  in  die 
Welt  paßt.  Typus  von  morgen.  Wer  dieses  Verfahren  in 
Gang  bringen  und  über  alle  Hindemisse  wegführen  konnte, 
muß  Nerven  haben.  Und  dieser  Hektor  weiß,  daß  ganz 
Polen  ihn  heute  schon  haßt,  ihm  ein  finsteres  Achilleushaupt 
zeigt,  wenn  er  diesmal  nicht  siegt.  Dennoch  scheint  er  heiter. 

Vier  Momente  haben  sich  während  der  Hauptverhandlung 
in  mein  Gedächtniß  gedrückt.  Der  siebenjährige  Streit  ging 
von  der  Frage  aus,  ob  der  am  dreißigsten  Januar  1897  auf 
dem  berliner  Standesamt  als  Joseph  Stanislaus  Adolf  Graf 
Kwilecki  angemeldete  und  später  von  dem  Päpstlichen  Haus^ 
prälaten  und  Stiftspropst  Ludwig  von  Jazdzewski  getaufte 
Knabe  das  eheliche  Kind  des  Grafen  und  der  Gräfin  Wesierski«» 
Kwilecki  ist  oder  von  Caecilie  Parcza  in  außerehelichem  Ge«» 
schlechtsverkehr  ihrem  Liebsten,  einem  österreichischen 
Hauptmann,  geboren  wurde.  Der  Hauptmann  war  aus 
Krakau  als  Zeuge  geladen  worden;  er  sollte  aussagen,  ob  er 
in  dem  Kinde  sein  Fleisch  und  Blut  erkenne.  Zwischen  den 
zwei  Knaben  stand  er  vor  dem  Schwurgericht;  rechts  der 
kleine  Graf,  links  der  rachitische  Junge,  den  der  edle  Bahn# 
Wärter  Meyer,  als  er  Caecilie  Parcza  geheirathet  hatte,  an 

119 


Kindes  Statt  annahm.  Prüfend  haftet  das  Auge  des  Zeugen 
auf  dem  Kümmerling  und  schweift  dann,  ein  Bischen  scheu, 
nach  der  rechten  Seite  hinüber.  Spannung  im  Saal.  Wird 
die  Stimme  des  Herzens  jetzt  sprechen?  Kurze  Pause.  Leis 
hebt  der  Zeuge  die  Achseln,  schüttelt  sacht  den  Kopf:  un^ 
möglich;  er  kann  nichts  sagen.  Caecilie  war  sein  Liebchen 
und  hat  zwei  Knaben  geboren;  fiir  den  ersten  hat  er  Ali«: 
mente  geliefert,  für  den  zweiten  nicht.  Den  hat  das  Mädchen 
bald  nach  der  Geburt  an  vornehme  Leute  weggegeben  und 
der  Vater  hatte  keinen  Grund,  dreinzureden.  Niemals  hat 
der  Herr  Compagniechef  die  Kinder  gesehen;  woher  soll  er 
also  wissen,  ob  der  hübsche  Knirps  zur  Rechten  sein  Sohn 
ist?  Die  Spannung  löst  sich.  Ein  Schaudern  huscht  durch 
die  Reihen;  »der  Menschheit  bester  Theil«.  Ein  Getuschel. 
Das  ^avjüidCeiv,  in  dem  Plato  den  Anfang  aller  Weisheit  sah. 
Ohne  Tünche,  ohne  den  Isochromfimiß,  den  die  soziale 
Heuchelei  als  Glanzdecke  über  alle  menschlichen  Beziehungen 
des  Europäerkulturkreises  bereitet,  zeigt  sich,  in  grausamster 
Natürlichkeit,  dem  Blick  hier  das  Leben.  So  ists.  Jahre  lang 
hat  dieser  Mann  diese  Frau  in  heißen  Stunden  an  sich  ge^ 
preßt,  mit  brünstigem  Gestöhn  sie  umschlungen,  mit  gieriger 
Lippe  ihren  Athem  geschlürft:  die  Frucht  so  zärtlicher  Ver«s 
einung  sah  er  nie.  Das  älteste  Bübchen  leidet  an  der  Eng^ 
lischen  Krankheit?  Da  sind  zehn  Gulden,  mein  Schäfchen; 
für  Doktor  und  Apotheker.  Der  Zweite  (hattest  ihn  ja  wohl 
Leo  genannt?)  ist  von  einer  feinen  Dame  adoptirt  worden? 
Recht  hast  Dus  gemacht ;  ihm  wird  nichts  abgehen  und  Du  hast 

120 


die  Arme  frei.  Ein  Haupttre£Fer.  Servus,  Tschaperll .  . .  Nach 
österreichischem  Gesetz  hat  das  außereheliche  Kind  Anspruch 
auf  eine  dem  Vermögen  des  Vaters  angemessene  Erziehung 
und  Versorgung.  Wenn  Caecilie  auch  ein  artiges,  bequemes 
Mädel  war:  fiir  alle  Fälle  ists  angenehm,  wenigstens  den 
einen  Jungen  loszusein.  Doppelt  angenehm,  daß  die  süße 
Kleine  auch  noch  unters  Ehedach  kommt.  Die  Folgen  sol«« 
ches  Verhältnisses  mag  man  doch  nicht  sein  Leben  lang  mit^ 
schleppen.  Wahrscheinlich  hat  das  schöne  Stück  Geld,  das 
Glichen  für  den  sauberen  Kleinen  erhielt,  den  Freier  heran^ 
gelockt.  Ein  Weichensteller!  Die  Leute  kennens  nicht  anders; 
sind  am  Ende  noch  stolz  darauf,  daß  ihre  Frau  einem  Kava^ 
lier  genügte.  Nun  ist  Allen  geholfen.  Und  wessen  Verdienst 
ists  denn,  daß  der  Leo  so  sauber  ¥rurde  und  Blaublütigen 
keine  Schande  macht?  Von  wem  hat  er  das  Adelige?  He? 
Geh,  sei  nicht  fadi  Aus  is;  und  aus  mußte  es  einmal  sein. 
Kriegst  einen  feschen  Mann  und  wirst  mich  vergessen.  Ser^ 
vus,  Katzerl;  ich  muß  zum  Tarock  .  .  .  Der  Vater,  der  seine 
»natürlichen«  Kinder  nicht  kennt,  nicht  kennen  will,  im  Ge«» 
richtssaal  zum  ersten  Male  sieht:  ein  Sto£F  für  Tolstoi.  Doch 
Nechljudow  war  aus  anderem  Holz  als  der  krakauer  Com^ 
pagniechef.  Der  reist  sorgenlos  nach  Galizien  heim  und 
schreibt,  als  er  noch  einmal  vorgeladen  wird,  an  das  Gericht, 
er  sei  bei  der  ersten  Fahrt  nicht  auf  die  Kosten  gekommen, 
habe  aus  seiner  Tasche  zugelegt  und  verzichte,  da  mit  der 
Zeugengebühr  so  geknausert  werde,  auf  die  Wiederholung 
des  theuren  Spaßes.  Ein  paar  Tage  in  Berlin  sind  ganz  nett ; 

121 


eine  Hauptmannsgage  aber  reicht  nicht  sehr  weit.  Der  Brief 
ist  der  Mann.  Auf  der  Biihne  würde  er  nicht  nur  die  Frauen 
ein  arger  Bösewicht  dünken.  Im  Schwurgerichtssaal,  wo  Aku^ 
stik  und  Optik  stets  an  Schauspielhäuser  erinnern,  gehts  ihm 
wie  Gretchen  im  Dom :  »Die  Hände  Dir  zu  reichen,  schauerts 
den  Reinen.«  Und  doch  ist  der  0£Bzier  gewiß  ein  guter 
Mann  und  ein  frommer  Christ;  und  wie  ers  mit  Caecilie 
hielt,  haltens  abertausend  Kavaliere  (und  Bürgerliche  aller 
Stände  und  Proletarier  sogar)  mit  ihren  Mädchen.  Der 
Menschheit  bester  Theil  ist  nichts  fiir  skrupellose  Gemüther. 
Schnell  wieder  die  Glanzdecke  herl  Gott  sei  Dank:  die 
hauptmännUche  Episode  ist  abgethan.  Schon  wird  am  Tisch 
der  Ankläger  und  Richter  wieder  von  der  »zerrütteten«  Ehe 
der  Gräfin  Isabella  gesprochen.  Zerrüttet  ist  sie,  weil  die 
Frau  manchmal  schalt,  der  Mann  sich  manchmal  an  fremdem 
Reiz  wärmte.  Andere  Männer  bleiben  standhaft  auf  dem 
schmalen  Tugendp£fide  der  Monogamie;  andere  Frauen  lassen 
nie  ein  zänkisches  Wort  über  die  Lippe:  also  ist  die  Ehe 
zerrüttet  und  diesem  Ehepaar  ein  Kind,  die  Frucht  zeugen«* 
der  und  empfangender  Liebe,  nicht  zuzutrauen.  Iudex  ergo 
cum  sedebit,  quidquid  latet,  adparebit.  Das  Schaudern  ist 
der  Andacht  gewichen.  Ganz  hinten  nur  höhnt  Einer:  Wo«« 
her,  Ihr  Herren,  nähme  der  König  seine  Rekruten,  wenn  alle 
ä  la  Kwilecki  zerrütteten  Ehen  kinderlos  blieben?  Und  weil 
er  schon  einmal  beim  Nörgeln  ist,  fragt  er  weiter:  Warum  riefet 
Ihr  den  Hauptmann  fernher,  da  Ihr  doch  wußtet,  daß  sein 
Knabe  in  der  fünften  Lebenswoche  von  der  Mutter  verkauft 


122 


ward»  vom  Vater  also,  selbst  wenn  er  ihn  je  gesehen  hätte, 
nicht  wiedererkannt  werden  konnte?  Zeitverlust  und  Kosten 
seien  Euch  verziehen.  Aber  mußtet  Ihr  nicht  die  Folgen  so 
zwecklosen  Thuns  bedenken?  Der  armen  Frau  Meyer  wird 
kiinftig  keine  Gevatterin  den  Rückblick  auf  das  Militärs 
verhältniß  ersparen;  und  der  Hauptmann  kann  froh  sein, 
wenn  er  sich  im  dunkelsten  bosnischen  Winkel  vor  der 
Klatschsucht  verstecken  darf,  firoh,  wenn  der  Widerhall  der 
Gerichtsverhandlung  ihm  nicht  eine  Braut,  eine  Mi^ft,  eine 
Erbhofihung  raubt.  Das  habt  Ihr  erreicht.  Ists  nicht  schon 
schlimm  genug,  daß  die  Angeklagten  während  des  Prozesses 
oft  Rechtsgüter  verlieren,  die  der  Freispruch  ihnen  nicht  zu«« 
rückbringen  kann?  Müssen  auch  noch  Zeugen,  die  zur  Auf;> 
hellung  des  Thatbestandes  gar  nichts  beizutragen  vermochten, 
mit  ihrem  guten  Ruf,  ihrer  Existenz  die  Gerichtszeche  zahlen? 
Zweite  Impression.  Siebenzehnter  Tag  der  Hauptverhand«« 
lung.  Noch  immer  ist  nichts  bewiesen,  noch  nicht  das  Allere 
geringste,  und  im  Saal,  in  der  Stadt  wächst  die  Gewißheit, 
daß  die  Jury  nach  all  dem  Wortauf«^and  sämmtliche  Schulde 
fragen  verneinen  wird.  Da  tritt  Graf  Hektor  Kwilecki  an 
den  Zeugentisch.  Das  Gesumm  hört  auf,  die  Zuschauer 
drängen  an  die  Holzschranke,  die  den  Gerichtsraum  ab^ 
schließt,  von  der  Vertheidigerbank  richten  sechs  Augenpaare 
sich  auf  den  Kämmerer  Seiner  Heiligkeit.  Der  ist  nervöser 
als  vor  drei  Wochen;  von  Weitem  schien  der  Sieg  leichter  als  nun 
auf  der  Walstatt.  Die  Slachta  verzeiht  nicht,  daß  die  schmutz 
zige  Wasche  aus  Wroblewo   vor   ein  Freußentribunal   ge# 

123 


schleppt  worden  ist,  und  wird  dem  Gutsherrn  von  Kwilez 
die  schädliche  Ausstellung  eintränken.  Die  Stimme  des  alten 
Garde^Ulanen  klingt  heute  nicht  hell.  Er  will  Etwas  »tu 
klären«.  Die  Hälse  recken  sich  höher.  Wenn  Einer  hier  Et^ 
was  erklären  kann,  ists  dieser  harte  Agnat  mit  den  ge^ 
schmeidigen  Verkehrsformen.  \^elleicht  will  er  sagen,  die 
Hauptverhandlung  habe  ihn  überzeugt,  daß  seine  Anschul^ 
digung  nicht  zu  beweisen  sei;  solche  Chamade  könnte  ihm 
die  Gunst  des  Standesgenossen  zurückgewinnen.  Nein.  Er 
will  sich  gegen  Verdächtigung  wehren.  Nicht  unsere  Schuld 
ists,  meines  Vaters  und  meine,  daß  die  Sache  vor  den  Richter 
kam;  wir  wären  still  geblieben,  wenn  Graf  Zbigniew  die 
Kindesunterschiebung  eingestanden  hätte.  Staunend  blicken 
die  Nachbarn  einander  an.  Was  erzählt  denn  der  Mann  da? 
Was  soll  jetzt  die  Rednerei  von  einem  Geständniß,  da  fast 
ein  Jahr  doch  schon  das  Verfahren  schwebt  und  nicht  einen 
einzigen  haltbaren  Beweis  ans  Licht  zu  bringen  vermocht 
hat?  Wenn  erste  Drohung  schon  die  Beschuldigten  ins 
Mausloch  triebe,  käme  es  freilich  nie  zu  langwierigen  Ge«« 
richtsverhandlungen.  Gerade  in  diesem  Fall  aber  tragen  die 
Grafen  Miecislaw  und  Hektor  die  Hauptschuld;  statt  einen 
neuen  Civilprozeß  anzufangen,  haben  sie  die  Staatsanwaltschaft 
aufgefordert,  »energisch  und  ohne  Ansehen  der  Person  ein^ 
zuschreiten«  . .  ,  PstI  Die  Erklärung  geht  weiter.  Wird  jetzt 
sogar  »feierlich«;  Graf  Hektor  sagt  es  selbst.  Er  verzichtet 
»fiir  seine  Person«  auf  die  Herrschaft  Wroblewo.  Die  er 
noch  nicht  hat    Die  ihm  erst  zufiele,  wenn  Zbigniew  ge^ 

124 


sterben  und  dem  kleinen  Joseph  das  Erbfolgerecht  abge^ 
sprochen  wäre.  Möglich,  daß  die  Fideikommißbestimmung 
solchen  Verzicht  gestattet.  Dann  käme  das  Majorat  an  Herrn 
Hektors  Sohn,  bis  zu  dessen  Mündigkeit  der  Vater  es  zu 
verwalten  hätte.  Ein  ungeheures  Opfer  also  und  der  »klarste 
Beweis,  daß  nicht  das  Streben  nach  pektmiärem  Vortheil 
mein  Handeln  geleitet  hat.«  Saure  Trauben,  brummt  ein  Pole 
in  den  Assyrerbart.  Das  müde  Auge  Zbigniews  sucht  unter 
den  Entlastungzeugen,  bei  Herren  und  Mägden,  Leidens^ 
geführten:  das  Schauerdrama,  dem  er  beiwohnen  muß,  hat 
manche  starke  Szene  gebracht:  diese  letzte  aber  war  schwach, 
überflüssig,  ohne  jeden  Effekt.  Um  Isas  Mundwinkel  zuckt 
es  mehr  schelmisch  als  boshaft;  dürfte  sie  reden,  sie  riefe 
wohl  in  den  Saal:  Da  habt  Ihr  Euren  Hektor,  votre  gar^on 
tr^s  forti  Und  ganz  hinten  fragt  der  Nörgler:  Was  hat  die 
Feierlichkeit  mit  dem  Gegenstande  dieser  Verhandlung  zu 
tun?  Liegt  ein  Verbrechen  vor,  dann  braucht  der  Kwilczer 
sich  der  Anzeige  nicht  zu  schämen.  Ob  er,  ob  sein  Sohn 
oder  Neffe  ins  Schloß  von  Wroblewo  einzieht,  ist  fiir  den 
Wahrspruch  der  Geschworenen  gleichgiltig.  Welche  Rolle 
spielt  der  Herr  eigentlich  hier?  Den  Frivatbetheiligten,  der 
in  Oesterreich  dem  Untersuchungrichter  und  dem  Staats:« 
anwalt  das  Material  liefert,  kennt  unser  Strafprozeß  nicht. 
Ein  Nebenkläger  hat  sich  nicht  gemeldet.  Warum  also  muß 
Hektor  sich  ewig  zu  uns  wenden?  Warum  steht  sein  Stuhl 
so  nah  bei  der  Jury?  Mit  welchem  Recht  ergreift  dieser 
Graf  das  Wort  zu  Erklärungen,  die  gar  nicht  zur  Sache  ge^ 

125 


hören?  Täglich  hat  der  Vorsitzende  gesagt,  die  Verhandlung 
daure  zu  lange  und  müsse  in  schnellerem  Tempo  vorwärts^ 
gefuhrt  werden.  Jetzt  aber  läßt  er  den  kwilczer  Zeugen  be^ 
langlose  Privatgeschichten  erzählen.  Dem  Laiengericht. 

Nummer  Drei.  Herr  Dr.  Rosinski  aus  Wronke  als  Zeuge 
und  Sachverständiger.  Ein  finsteres,  barsches  Gesicht.  Der 
gelbgraue  Schnurrbart  kantig  wie  ein  Balken.  Unter  starrem 
Busch  das  Auge;  hat  es  je  lächeln  gelernt?  Aus  diesen 
dicken  Thränensäcken  kam  wohl  nie  eine  Mitleidszähre. 
Straffe  Haltung.  Fließendes,  um  keine  Ausdrucksnuance 
verlegenes  Deutsch.  Ein  Mann,  der  zu  Kaisergeburtstags«« 
feiern  geht.  Einer  von  Denen,  die  Bismarck  ralliirte  Polen 
nannte.  Und  der  beste  Redner  im  Saal.  Jede  Wirkung  ist 
vorgewogen,  jedes  Wort  steht,  ohne  Phrasenbehang,  an  der 
richtigen  Stelle.  Als  formale  Leistung  ist  die  Aussage  mustere 
haft.  Der  erste  Theil  ist  der  Anklage  nicht  günstig.  Die 
Gräfin,  deren  Hausarzt  Rosinski  Jahre  lang  war,  hatte  immer, 
nicht  nur  bei  Frauenleiden,  eine  unüberwindliche  Scheu  vor 
jeder  Betastung  der  schmerzenden  Körpertheile;  daß  sie  sich 
während  der  Schwangerschaft  nicht  untersuchen  ließ,  konnte 
also  dem  Doktor  nicht  auffallen.  In  der  Wochenstube  wich 
ihm  der  letzte  Zweifel.  Der  Knabe  sah  aus  wie  ein  neuge«« 
borenes  Kind,  die  Mutter  wie  jede  Wöchnerin;  kein  Grund 
zum  Verdacht.  Auch  die  Angaben,  die  der  Zeuge  über  die 
ehelichen  und  wirthschaftlichen  Verhältnisse  des  Grafenpaares 
macht,  bieten  der  Staatsanwaltschaft  keine  Stütze.  In  dieser 
Ehe   gabs   Regen   und   Sonnenschein;   schlimmem  Gezänk 


126 


folgten  Tage  inniger  Eintracht.  Die  Gräfin  hat  keinen  unge^ 
bührlichen  Luxus  getrieben,  sondern  ihre  Mitgift  ftir  die 
Gutswirthschaft  verbraucht;  und  die  Geburt  des  Majoratsi» 
erben  hat  auf  Wroblewo  die  Geldknappheit  nicht  gemindert. 
Sehr  günstig:  denn  die  Anklage  behauptet  ja,  der  Mangel  an 
Geld  und  Kredit  habe  Isa  in  den  Plan  der  Kindesunter» 
Schiebung  gedrängt.  Alles  war  ruhig,  knapp,  konzinn  vor» 
getragen  worden.  Nur  ein  Zug  verrieth  die  Nervosität  des 
Zeugen:  während  er  mit  kurzen  Schritten  vor  den  Geschwo» 
renen  auf  und  ab  spazirte,  ließ  er  einen  Haus»  oder  Stuben» 
Schlüssel  um  den  rechten  Zeigefinger  kreisen;  vom  ersten  bis 
zum  letzten  Wort.  Wie  bei  einem  Alltagsgespräch  über  Wetter» 
Prognose  und  Skatverlust.  Vielleicht  glaubt  der  Sanitätrath 
so  fest  an  die  Unschuld  seiner  Patientin,  daß  die  Verband» 
lung  ihn  nicht  erregt?  Nein:  er  traut  der  Gräfin  Wesierska» 
Kwilecka  die  That  zu,  trotzdem  auch  er  kein  einziges  sicheres 
Thatbestandsmerkmal  anzuführen  vermag:  nur  nach  der 
Kenntnis  ihres  Charakters.  Der  Sachverständige  Rosinski 
hat  mehr  zu  sagen  als  der  Zeuge;  und  der  Schlüssel  kreist  jetzt 
schneller.  Eine  sehr  leidenschaftliche  Frau.  Künstlertempera» 
ment.  Als  Sängerin  hoch  über  dem  Dilettantendurchschnitt. 
Schön,  verwöhnt,  stolz.  Ueberwuchemde  Phantasie.  Keinen 
Sinn  für  Ordnung,  für  Korrektheit  im  Reden.  Den  besten 
Willen  zwar,  doch  nicht  die  geringste  Fähigkeit  zu  sparsamer 
Wirthschaft.  Im  steten  Kampf  ums  standesgemäße  Dasein 
ist  ihr  ethisches  Empfinden  nach  und  nach  morsch  geworden. 
Was  zum  Erfolg  fuhrt,  scheint  ihr  erlaubt.    Der  Gedanke, 

127 


Wroblewo  verlassen  und  von  fremder  Gnade  abhängen  zu 
sollen,  mußte  ihr  unerträglich  sein.  Was  sie  sagt»  ist  nicht 
gelogen,  aber  objektiv  unglaubwürdig,  denn  ihre  Gedächtniß:« 
bilder  sind  oft  im  Wesentlichen  falsch.  Keine  Verbrecherin 
aus  Gewinnsucht  (diese  Wendung  soll,  statt  der  Zuchthauses 
Schmach,  wohl  die  mildere  Strafart  oder  ein  Irrenhäuschen 
empfehlen),  sondern  »eine  psychische  Abnormität«.  Das 
Günstigste  für  die  Kwilczer.  Leichte  Verbeugung.  Schluß. 
Das  klang  nicht  sehr  wissenschafdich;  in  Traktätchen  fiirs 
gläubige  Herze  mag  so  von  Geisteskrankheit  geredet  werden. 
Woran  soll  Frau  Isabella  denn  leiden?  Paranoia?  Folie  ciri^ 
culaire?  Und  was  soll  der  Laienrichter  mit  dieser  Aussage  an^ 
fangen?  Als  Leumundszeugnis  bietet  sie  wenig  Wagbares;  und 
als  psychiatrisches  Gutachten  ist  sie  erst  recht  nicht  zu  brauchen. 
Wenn  alle  Frauen,  die  schlecht  rechnen  und  wirthschaften, 
deren  Gedächtniß  trügt,  deren  Phantasie  ohne  Hemmungen 
arbeitet  und  deren  Zunge  im  A£Fekt  nicht  zu  zügeln  ist,  in 
den  dunklen  Bezirk  der  Anomalien  verwiesen  würden, 
stünden  bald  viele  Normalhäuser  leer.  Ueber  Psychosen 
weiß  man  heute  doch  schon  ein  Bischen  mehr,  als  Herr 
Dr.  Rosinski  zu  ahnen  scheint.  Merkwürdig:  schon  spotten 
verständige  Aerzte  selbst  über  den  modischen  Aberglauben 
an  Spezialistenweisheit,  über  deren  Wahn,  der  Nasendoktor 
habe  die  Finger  von  Mund  und  Ohren  zu  lassen;  und  in 
diesem  Riesenprozeß,  zu  dem,  ohne  Furcht  vor  den  Kosten, 
aus  drei  Reichen  die  Zeugen  herbeigeschleppt  werden,  tritt 
als  psychiatrisch  Sachverständiger  ein  Praktischer  Arzt  aus 

128 


Wronke  auf.  Ein  oflFenbar  kluger  Herr,  der  aber,  als  Isabella 
noch  unbehelligt  im  Schloß  befahl,  seine  Diagnose  sorglich  in 
des  Busens  Tiefe  verbarg.  Am  ersten  Verhandlungtag  hatte 
die  Gräfin  gerufen:  »Dr.  Rosinski  war  immer  von  meine 
besten  Freunde  I«  Diese  Frau  hat  wirklich  mehr  Phantasie 
als  Sinn  für  die  Realitäten  des  Lebens.  Der  Freund  fand  sie 
sittUch  und  seelisch  morbid  und  eines  gemeinen  Verbrechens 
fähig.  Oder  sind  auch  seine  Gedächtnißbilder  nicht  ganz  zuver«: 
lässig?  Sah  er  die  Hochgeborene  erst,  seit  sie  angeklagt  ward, 
in  der  Schreckenskammer  der  Abnormitäten?  Ehe  er  wieder 
Spazirgänge  als  Sachverständiger  unternimmt,  sollte  er  den 
Räthselfragen  der  retroaktiven  Suggestion  nachdenken.  In 
Mußestunden  daneben  einlältiglich  erwägen,  was  dem  Haus«: 
arzt  vom  Imperativ  der  Sittlichkeit  erlaubt,  was  verboten  ist. 
Die  vierte  Erinnerung  führt,  noch  einmal,  in  den  trüben  Tag 
zurück,  dessen  kurzer  Lichtschein  Hektors  persönliches  Majoi» 
ratsrecht  im  Lethe  versinken  sah.  Donars  Tag,  des  Gewitter«« 
gottes.  Der  Himmel  pechschwarz  bewölkt.  Die  Geschwo«« 
renen  sehen  schon  gar  nichts  mehr.  Plötzlich  wirds  hell. 
Coup  de  foudre.  Herr  Steinbrecht,  der  den  Titel  (nicht  das 
Amt)  eines  Ersten  Staatsanwaltes  mit  niedersächsischer  Würde 
trägt,  hat  die  Schlußsensation,  die  längst  erharrte,  aus  den 
Falten  der  Robe  geschüttelt.  Das  Licht  kam,  natürlich,  von 
Osten.  Aus  Warschau.  Dort  (denkst  Du  auch  noch  dran,  lieber 
Leser?)  lebte  und  starb  die  Hebamme  Cwell,  die  dem  Schoß 
der  Gräfin  den  streitigen  Knaben  entband.  Wirklich  entband? 
Bis  heute  mußte  mans  glauben.   Nun  aber . . .  Der  Staatsan^ 

9.  III  129 


walt  hat  Herrn  Hans  von  Trcsckow,  den  elegantesten,  welt^ 
männischsten  der  berliner  Kriminalkommissare,  heimlich  nach 
Warschau  geschickt,  auf  daß  er  den  Sohn  der  Madame  Cwell 
vernehme :  und  dieser  Sohn  hat  Wunderdinge  enthüllt.  Seine 
Mutter  sei  im  Januar  1897  in  BerUn  gewesen,  bald  aber 
krank  und  ohne  das  erho£Ete  hohe  Honorar  heimgekehrt; 
sie  habe  der  Gräfin  das  Kind  nicht  entbunden,  auch  nicht 
gewußt,  ob  und  welcher  Ersatz  in  die  Kaiserin  Augusta:: 
Straße  74  geholt  ward,  und  auf  dem  Sterbebett  noch,  leider 
zu  spät,  den  Wunsch  ausgesprochen,  ihre  Seele  von  einem 
Geheimniß  zu  entlasten.  Alles  horcht  auf.  Der  Glaube  an 
die  Finalüberraschung,  die  kommen  werde,  kommen  müsse, 
hat  also  nicht  getrogen.  Ist  die  warschauer  Botschaft  erweis«: 
lieh  wahr,  dann  ist  die  Angeklagte  im  wichtigsten  Funkt 
auf  einer  Lüge  ertappt;  dann  gabs,  ohne  Entbinderin  und 
ohne  Arzt,  keine  Entbindung.  Isabella  blickt  zur  Saaldecke 
empor;  mit  dem  Ausdruck  spöttischer  Resignation,  wie  in 
einem  Fflichtkonzert,  während  Stümper  ihr  Wesen  treiben. 
Wieder  was  Neues  also;  vor  dem  Jüngsten  Tag  wird  die 
Sache  wohl  nicht  mehr  enden.  Herr  Zbigniew  hat  in  seinen 
Schalltrichter  oflFenbar  nur  einen  Theil  der  neuen  Mär  au& 
gefangen;  blinzelnd  schaut  er  nach  rechts,  nach  links  und 
scheint  fragen  zu  wollen,  ob  in  diesem  merkwürdig  altmodi«: 
sehen  Melodrama  gar  noch  zwei  Sterbebetten  auf  die  Bühne 
gebracht  werden.  Rechts  und  links  aber,  vom  und  hinten 
ist  Alles  in  froher,  in  banger  Bewegung.  Die  Cwell  wars 
also  nicht!  Jetzt  geht  die  Geschichte  schief.   Habt  Ihr  auch 

130 


gehört,  wie  der  feine  Tresckow  erzählte,  dem  Sohn  der 
Hebamme  sei  für  seine  Aussage  Geld  angeboten  worden,  dttu 
tausend  Rubel  und  noch  mehr?  Die  Vertheidiger  fordern 
in  unsicherem  Ton  eine  Pause,  um  über  die  neue  Wendung 
zu  berathen.  Ein  Geschworener  verlangt  die  Feststellung  der 
Person,  die  das  Geld  geboten  habe;  wenn  sie  den  Ange«» 
klagten  befreundet  war,  müsse  Etwas  zu  vertuschen  gewesen 
sein.  Nach  der  Ansicht  des  Herrn  Steinbrecht  ist  der  Vers^ 
Sucher  nicht  fem:  Herr  von  Koczorowski  wars,  ein  Intimer 
von  Wroblewo;  ruhigen  Blutes  spricht  der  Staatsanwalt  den 
Verdacht  aus,  dessen  Bestätigung  einen  unbescholtenen  Edel? 
mann  ins  Zuchthaus  bringen  könnte.  Auf  jeden  Fall  muß 
der  Sohn  der  Hebamme  schnell  nach  Berlin.  Der  Gerichtshof 
beschließt,  den  Mechaniker  Thomas  Cwell  und  dessen  Ehe«: 
frau  Magdalena  für  Montag  vorzuladen  und  bis  dahin  die 
Verhandlung  auszusetzen.  Montag  also  wirds  endlich  tagen. 
Auf  der  Treppe,  die,  an  den  Schöffenniederungen  vorüber, 
ins  Freie  fuhrt,  summt  der  unbekehrbare  Nörgler:  »In  einem 
Omnibus  saß  ein  Mechanikus  .  .  .  Der  Mann  will  entweder 
aus  einer  der  beiden  Grafenfamilien  rasch  noch  ein  Bischen 
was  Blankes  herauskitzeln  oder  nur  gratis  mal  die  Reichshaupt^ 
Stadt  deutscher  Intelligenz  besehen;  vielleicht  auch  das  An^ 
denken  der  lieben  Mama  von  Schmutzspritzem  säubern  und 
sich  vor  Verwandtschaft  und  Kundschaft  wichtig  machen; 
bequeme  Reklame:  auf  preußische  Staatskosten.  Ganz  aus^ 
geschlossen,  daß  er  jetzt  noch  Entscheidendes  zu  sagen  hat. 
Aber  auf  drei  Retourbillets  Warschaui^Berlin  nebst  Gebühr  für 

9^  131 


£Wei  neue  ausländische  Zeugen  kommts  nun  auch  schon  nicht 
mehr  an.  Und  welche  Wendung  durch  Tresckows  Fügung  I 
Bis  heute  früh  gehörte  in  diesem  Haus  die  Cwell  zum  Abschaum 
der  Menschheit.  Ein  wüstes  Weib;  berüchtigte  Bordellwirthin; 
für  ein  paar  Rubel  zum  Schändlichsten,  zu  jedem  verbrechen 
rischen  Schwindel  bereit.  Das  war  Monate  lang  ein  Eckstein 
der  Anklage.  Diese  bescholtene  Person,  dieses  allerliebste 
Schmutzpflänzchen  importirt  die  Gräfin  aus  Russisch^Folen, 
um  eine  zuverlässige  Hehlerin  ihres  Truges  zu  haben.  Der 
Eckstein  lockerte  sich  auch  nicht,  als  von  der  warschauer 
Polizei  gemeldet  wurde,  die  Cwell  sei  eine  ordentliche  Frau 
gewesen,  gegen  die  nichts  vorgelegen  habe.  Folakenflausen. 
Das  kennt  man  schon.  Fünf  Rubel:  und  solcher  Tshinownik 
giebt  jedes  gewünschte  Attest.  Und  nun  Verwandlung  bei 
oflFener  Szene.  Die  selbe  Cwell  wird  zur  Ehrenfrau,  deren  Aus# 
sage  lauteres  Gold  ist.  Wahrscheinlich  hat  sie  die  Krankheit 
damals  nur  simulirt,  um  nicht  an  einem  Verbrechen  miU 
wirken  zu  müssen.  Die  ein  Bordell  halten?  Lächerlich.  Sie 
bekommt  ein  Sterbebett  und  ein  ganz  besonders  zartes  Gen 
wissen  und  die  Königliche  Staatsanwaltschaft  ist  entschlossen, 
ihr  den  Himmel  zu  öffiien.  Montag  kanns  lustig  werden  I« . . 
Es  wurde  nicht  lustig.  Das  Ehepaar  Cwell  war  pünktlich 
zur  Stelle,  hatte  aber  nichts  Beträchtliches  zu  erzählen.  Mama 
hat  den  Kindern  aus  Berlin  nichts  mitgebracht  und,  um  nicht 
knickerig  zu  scheinen,  behauptet,  sie  sei  vor  der  Entbindung 
erkrankt  und  mit  knapper  Entschädigtmg  heimgeschickt 
worden.  Sohn  und  Schwiegertochter  hieltens  gleich  für  eine 

132 


Ausrede.  Auch  mit  dem  Sterbebett  ist  nichts  anzu&ngen. 
Die  Frau  wollte  ihren  Thomas  noch  einmal  sehen;  doch  von 
einem  Geheimniß  und  von  Gewissensbissen  war  niemals  die 
Rede.  Die  dreitausend  Rubel  hat  Herr  Hechelski,  Hektors 
Vertrauensmann,  dem  Mecha^iker  angeboten;  er  wollte  sogar 
bis  zu  zehntausend  gehen.  Herr  von  Koczorowski  hat  alle 
Annäherungversuche  abgelehnt.  Niemand  fragt  Fan  He# 
chelski,  wer  ihm  gestattet  habe,  über  solche  Summen  zu  ver# 
fugen.  Niemand  scheint  für  möglich  zu  halten,  daß  ein 
Frivatspitzel,  der  fiir  eine  Aussage  zehntausend  Rubel  an«« 
bietet,  den  Zeugen  flink  zum  Meineid  verleiten  will  und,  als 
eines  im  §  159  StGB  mit  Zuchthaus  bedrohten  Verbrechens 
dringend  verdächtig,  in  Haft  genommen  werden  könne. 
Niemand.  Der  Fall  Cwell  ist  erledigt.  Die  schamlose  Kupp# 
lerin  verschwindet;  nur  die  »der  Gräfin  gänzlich  unbekannte 
Hebamme«  bleibt  und  genügt  am  Ende  auch  für  Flaidoyer^ 
bedürfiiisse.  Das  Licht  aus  Osten  hat  nicht  lange  geleuchtet. 
Immerhin  sieht  jetzt  auch  ein  myopisches  Auge,  aufweichen 
Tragbalken  die  Anklage  ruht.  So  unerschütterlich  waren  die 
»Feststellungen«  der  Staatsanwaltschaft,  daß  schon  das  wirre 
Echo  eines  Kleinleuteklatsches  ausreichte,  um  die  Feststeller 
selbst  ins  Wanken  zu  bringen.  Zwei  Frokuratoren  waren  be# 
reit,  die  verblichene  Nabelentbinderin  auf  feurigen  Armen, 
eine  reuige  Sünderin,  in  den  Glorienhimmel  zu  heben. 

Drei  Viertel  aller  Zeugen,  aller  Kosten,  allen  Zeitaufwandes 
waren  zwecklos,  konnten  unter  keinen  Umständen  die  Ent^ 


133 


Scheidung  der  Richter  determiniren.  Tage  lang  wurde  ver^ 
hört  und  verhandelt,  um  festzustellen,  ob  eine  Frau  von 
fünfzig  Jahren  noch  gebären  könne  und  ob  im  vierten,  fünften 
Monat  der  angeblichen  Schwangerschaft  in  den  Hemden  der 
Gräfin  Menstrualblutflecke  ge^nden  worden  seien.  Jedes 
Handbuch  der  Gynäkologie  konnte  schon  im  Vorverfiiliren 
die  nöthige  Auskunft  geben,  Und  wer  das  juristische  Staats^ 
examen  bestanden  hat,  sollte,  ehe  er  sich  an  den  Richtertisch 
setzt,  eigentlich  auch  so  viel  Medizin  gelernt  haben,  daß  er 
weiß:  bis  zum  Eintritt  der  Menopause  kann,  während  der 
ganzen  Zeitdauer  der  Menstrualftinktion,  im  befruchteten 
Schoß  einer  sonst  gebärtüchtigen  Frau  ein  Kind  wachsen. 
Die  Katamenialblutungen  sprächen  also  nicht  gegen,  sondern 
sehr  laut  für  die  Möglichkeit  der  Schwangerschaft;  laut  soi« 
gar  noch,  wenn  sie  wirklich  bis  in  den  ftinften  Monat  ge^ 
dauert  hätten.  Spiegelberg  rechnet  in  seinem  Lehrbuch  der 
Geburthilfe  das  Aufhören  der  Menses  nicht  zu  den  sicheren 
Zeichen  der  Schwangerschaft;  dieses  Zeichen,  sagt  er,  ist 
zwar  werthvoU,  kann  aber  fehlen  oder  so  undeutlich  sein,  daß 
es  nicht  zur  Diagnose  zu  benutzen  ist.  3i>In  seltenen  Fällen 
erscheint  eine  Blutung  noch  nach  der  Konzeption  einmal  oder 
mehrere  Male;  gewöhnlich  in  schwachem  Grade  und  un«: 
regelmäßig;  doch  liegen  auch  Berichte  von  Weibern  vor,  die 
nur  während  der  Schwangerschaft  menstruirt  gewesen  sein 
sollen  .  .  .  Die  Mehrzahl  solcher  Abgänge  ist  nur  patholo^ 
gischer  Natur  und  häufig  stammt  das  Blut  nicht  aus  dem 
cavum  uteri,  sondern  aus  Erosionen  und  Gefaßektasien  des 


134 


Collum.«  Laienirrthum  also  leicht  möglich.  Haben  die  am  Pros» 
zeß  Kwilecka  betheiligten  Herren  nie  von  den  Launen  der  regles 
sumumeraires  gehört,  von  den  Hämorrhagien,  die  als  Folge 
von  Uterusmyom  auftreten,  von  all  den  Genitalblutungen, 
die  mit  der  Menstruation  nichts  zu  thun  haben?  In  ihrer 
eigenen  Familie  nie  von  Frauen,  deren  Menses  noch  kamen, 
als  der  Leibesumfang  schon  unzweideutig  die  Schwangere 
verrieth?  Daß  eine  Frau  über  Fünfzig  Mutter  wird,  ist  nicht 
alltäglich;  doch  auch  nicht  unerhört.  »Frauen  von  fünfzig, 
ja,  von  sechzig  Jahren  haben  noch  Kinder  geboren«,  sagt 
der  berliner  Gynäkologe  Professor  Gebhard  in  Veits  HancU 
buch.  Barker  hat  von  einer  Achtundfünzigjährigen  berichtet, 
der  ein  Kind  entbunden  wurde.  Depasse  hat  1891  den  Fall 
einer  grossesse  ä  cinquantemeuf  ans  beschrieben.  In  Eulen:« 
burgs  Realencyklopädie  der  Heilkunde  giebt  der  prager 
Professor  Kisch  das  Resultat  der  Untersuchungen,  die  er  an 
fünfhundert  Frauen  verschiedener  Nationalität  vorgenommen 
hat;  davon  kamen  hundertundsechs  erst  nach  Vollendung 
des  fünfzigsten  Lebensjahres  ins  klimakterische  Alter;  in  neun:: 
undachtzig  Fällen  trat  die  Menopause  zwischen  dem  fünfzigsten 
und  dem  fiinfundfünfzigsten  Jahrein;  3»in  den  nördlichen  Län:« 
dern  im  Allgemeinen  später  als  in  den  südlichen.«  Als  wichtig 
gilt:  Rasse,  Vererbung,  Klima,  Beginn  der  Pubertät,  äußere 
Lebensverhältnisse :  lange  mit  schwerer  Arbeit  bepackte  Frauen 
pflegen  früher  ins  Klimakterium  zu  kommen  als  reiche, 
müßige  Damen.  Graf  Wesierski^Kwilecki  war  1896  zweifellos 
zeugungfiihig,  ists  (er  könnte  seine  theuer  bezahlte  Repu<s 

135 


tation  gefährdet  glauben  I)  vielleicht  noch  am  Tag  des  Ge# 
richtes.  Die  Gräfin  hatte  die  Menstrua,  konnte  also  gebären. 
Dagegen  war  mit  Waschweibergeschwätz  nichts  auszurichten. 
Freilich :  »Die  Angeklagte  hat  keinen  Arzt  zugezogen.  »Höchst 
verdächtig.  Warum  denn  verdächtig?  Braucht  eine  Frau,  deren 
Schwangerschaft  normal  verläuft,  durchaus  einen  Arzt  und  ist 
die  Untersuchung  des  Uterus  ein  solches  Vergnügen,  giebt  sie 
auch  nur  solche  Beruhigung,  daß  die  nach  dem  goethischen  Wort 
doppelt  Schöne,  in  der  zwei  Leben  wohnen,  sich  danach  sehnen 
sollte?  Die  Anklage  fand  einen  ohne  die  Annahme  bösen 
Trachtens  unerklärlichen  Widerspruch  darin,  daß  Isa  gesagt 
hatte,  sie  reise  nach  Berlin,  weil  dort  gute  Frauenärzte  zu 
haben  seien,  und  dann  doch  den  Professor  Renvers,  den  ihr 
Herr  von  Jazdzewski  emp&hl,  nicht  rufen  ließ.  Der  Schwur^ 
gerichtspräsident  kam  über  diesen  ungeheuerlichen  Widern 
Spruch  (ohne  das  immer  parate  Wort  »^9^derspruch«  gäbe 
es  für  unsere  Alltagskriminalisten  überhaupt  keine  Beweise 
aufnähme)  gar  nicht  hinweg.  Merkwürdig.  Eine  Frau  kann 
wünschen,  in  ihrer  schweren  Stunde  für  den  Nothfall  ht^ 
rühmte  Spezialisten  in  der  Nähe  zu  haben,  und  braucht  sie, 
wenn  in  der  Wochenstube  Alles  glatt  geht,  dennoch  nicht 
rufen  zu  lassen.  Vom  NoUendorfplatz,  wo  Professor  Renvers 
wohnt,  dauert  der  Weg  in  die  Kaiserin  Augusta«»Straße  knapp 
fünf  Minuten.  Gynäkologen  jeglichen  Ranges  sind  durchs 
Telephon  rasch  herbeizuklingeln.  Ganz  so  bequem  hat  mans 
in  Wroblewo  nicht.  Darbende  Doktoren  ersehnen  vielleicht 
eine  Bestimmung,  die  jede  Schwangere  verpflichtet,  beim  Bei* 

136 


n 


ginn  der  Wehen  einen  Arzt  »zuzuziehen«  (auch  ein  hüb# 
sches  Wort;  Sprachgebrauch:  Er  hat  sich  eine  Krankheit  und 
dann  einen  Arzt  zugezogen).  Noch  aber  ist  solche  Pflicht 
von  keinem  Gesetz  vorgeschrieben;  noch  gebären  selbst  in 
civilisirten  Ländern  gewiß  neun  Zehntel  aller  Frauen  ohne 
ärztlichen  Beistand;  noch  hält  man  das  Reifen  und  die  Ex^ 
pulsion  des  Kindes  fiir  einen  natürlichen  Prozeß,  der  den 
gelehrten  Helfer  erst  fordert,  wenn  die  Fuerperalvorgänge 
von  der  Norm  abweichen.  In  Wroblewo  waren  erwachsene 
Töchter,  vor  deren  neugierigem  Auge  eine  fünfzigjährige 
Mutter  sich  nicht  gern  ins  Wochenbett  legt;  war  ein  krankes 
Faktotum,  eine  Hausfranzösin,  deren  Gebresten  die  Gräfin 
nie  recht  zur  Ruhe  kommen  ließen ;  war,  wenn  Komplikationer 
eintraten,  ein  namhafter  Spezialarzt  nicht  ohne  gefährlichen 
Zeitverlust  herbeizuschaflFen;  und  eine  nervöse  Dame,  deren 
hitziger  Phantasie  während  der  Schwangerschaft  alle  Hemi^ 
mungen  fehlen,  konnte  wohl  zu  der  Zwangsvorstellung  ge^ 
langen,  die  feindliche  kwilczer  Linie  werde  die  Möglichkeit 
finden,  in  Wroblewo  dem  Kind  oder  der  Mutter  ein  Leid 
anzuthun.  Gründe  genug,  nicht  zu  Hause  zu  bleiben;  zuk 
mal  für  die  launische,  excentrische,  reiselustige  Isabella.  Ein 
Wochenschwindel  war,  unter  Assistenz  der  in  solchem  Ge«« 
schäft  erfahrenen  Hebamme  Ossowska,  auf  einem  entlegenen 
polnischen  Gut  leichter  durchzufuhren  als  im  berliner  Westen. 
Die  Gräfin  nahm  eine  andere,  als  tüchtig  empfohlene  Heb# 
amme  und  bat  ihren  Hausarzt  telegraphisch,  zu  kommen; 
nur  ihren  Hausarzt:  denn  die  »Zuziehung  einer  Autorität« 

137 


war  eben  nicht  nötig.  Das  Alles  konnte  in  der  Vorunter:» 
suchung  festgestellt  werden  und  bot»  als  vollkommen  normal, 
nicht  das  geringste  Verdachtsmoment.  In  der  Vorunter^ 
suchung  hat  auch  die  Amme,  gegen  deren  Zeugniß  kein 
Bedenken  sprach,  ausgesagt,  das  Kind,  das  ihrer  Brust  ans» 
vertraut  war,  sei  ohne  Zweifel  ein  neugeborenes  gewesen; 
sie  selbst  habe  das  Wünnchen  von  dem  meconium,  dem 
Kindspech  der  ersten  Lebensstunden,  gesäubert  und  es  habe 
erst  ordentlich  getrunken,  als  ihm  von  Rosinski  das  Zungen«« 
band  gelöst  war.  Der  Abgeordnete  Propst  von  Jazdzewski, 
der  Hunderte  von  Kindern  getauft  hat,  erklärte  mit  äußerster 
Bestimmtheit,  der  Knabe,  dessen  Leib  er  als  Täufer  betastete, 
könne  nur  ein  paar  Tage  vorher  geboren  worden  sein. 
Wahrend  des  Geburtaktes  war  Isas  Tochter  neben,  Isas 
Freundin  auf  der  Schwelle  der  Wochenstube  gewesen.  Wenn 
diese  Aussagen  nicht  durch  neue  Gravantien  erschüttert 
schienen,  konnte  der  ganze  Fragenkomplex  für  die  Haupte 
Verhandlung  nicht  mehr  erheblich  sein.  Und,  nur  nebenbei : 
ist  Humanität,  Ritterlichkeit,  Germanenkeuschheit  (und  wie 
die  schönen  Zierwörter  noch  heißen  mögen)  in  Gerichtssälen 
denn  ein  leerer  Wahn  geworden?  Ists  nöthig,  vor  den  Kini« 
dem,  den  Feinden,  der  lungernden  Sensationsucht  das  Ge# 
schlechtsleben  einer  Angeklagten,  Gräfin  oder  Taglöhnerin, 
zu  entschleiern,  wenn  diese  Exhibition  für  die  rechtliche  Be^ 
urtheilung  des  Thatbestandes  doch  werthlos  bleiben  muß, 
dem  Erkenntnis  suchenden  Richter  nicht  den  Weg  weisen 
kann?  Wozu  Menschenleid,  das  der  Sache  nicht  nützt? 


138 


Eben  so  unerheblich  war  der  aus  Paris  eingeschleppte 
Flunder.  Eine  Dame  hat  1896  bei  einer  lutetischen  Hebamme 
ein  Kind  zu  kaufen  gesucht;  kein  irgendwie  ernst  zu  neh^ 
mendes  Indizium  spricht  dafiir,  daß  Isabella  Kwilecka  diese 
Dame  war;  höchst  unwahrscheinlich,  daß  eine  Polin  einen 
Gallierbastard  in  ihre  Sippe  schmuggeln  will.  Thut  nichts: 
die  Hebamme  wird  auf  Staatskosten  nach  Berlin  spedirt. 
Sieht  die  Gräfin  und  sagt:  Die  wars  nicht.  Wird  der  Quark 
nun  wenigstens  weggeräumt?  Nein:  er  wird  in^er  Haupt« 
Verhandlung  noch  einmal  aufgetischt,  würde  vielleicht  als 
ein  besonders  feiner  Leckerbissen  empfohlen,  wenn  die  sagest 
femme  nicht  so  weise  gewesen  wäre,  für  die  zweite  Fahrt 
nach  Berlin  eine  Entschädigung  zu  fordern,  deren  Höhe  ein 
preußischer  Staatsanwalt  nicht  zu  verantworten  wagt.  Nsuf 
türlich  wird  nicht  das  winzigste  Butterkügelchen  gefunden. 
In  der  selben  guten  Stadt  Paris  hat  im  selben  Jahr  eine  Auss» 
länderin  einen  Gummibauch  gekauft.  Auch  hier  ist  jede 
Möglichkeit,  die  Identität  festzustellen,  von  vom  herein  auss» 
geschlossen,  trotzdem  ein  Freund  Hektors,  des  Allumfassers, 
Maler  von  Metier,  an  der  Seine  als  Amateurdetektive  in  der 
Sache  eifrig  gearbeitet  hat.  Zur  Hauptverhandlung  aber  wird 
auch  für  dieses  Beweisthema  aus  Paris  ein  nicht  klassischer, 
doch  romantischer  Zeuge  geholt,  das  Gerede  spinnt  sich  über 
Stunden  hin,  halbe  Tage,  und  das  Ergebniß  ist,  wie  zu  tu 
warten  war:  Null.  Was  bleibt  noch?  Eine  Depesche,  deren 
Wortlaut  neben  der  harmlosesten  auch  eine  üblere  Deutung 
zuließe.  Aber  die  Angeklagte  kann  nicht  klipp  und  klar  an# 

139 


geben»  warum  sie  1896  überhaupt  nach  Paris  gereist  ist.  Un# 
gemein  verdächtig,  Einer  pohlischen  Gräfin»  die  den  Werth 
des  Geldes  nie  wägen  lernte  und  von  der  rage  du  chiflFon 
besessen  ist,  darf  man  gewiß  nicht  zutrauen,  sie  sei  so  weit 
gereist,  nur  um  die  Boulevards  und  die  Läden  der  Rue  de 
la  Faix  wiederzusehen,  sich  zu  amusiren  und  die  neusten 
Errungenschaften  der  Kosmetiker  heimzubringen.  Noch  ver^ 
dächtiger:  sie  weiß  1903  nicht  mehr,  wo  sie  1896  in  Paris 
gewohnt  1^.  »Aber,  Frau  Gräfin,  wollen  Sie  uns  im  Ernst . . .?« 
Bald  danach  erzählt  der  Zeuge  Rosinski,  er  habe  Namen  und 
Straße  des  berliner  Hotels  vergessen,  in  dem  er  1897  abge^ 
stiegen  sei.  Niemand  horcht  erstaunt  auf;  ein  Zeuge,  kein 
Angeklagter!  Und  wenn  die  Gräfin  nun  wirklich  in  Paris 
Etwas  zu  verbergen  gehabt,  sich  unter  falschem  Namen  ein# 
guartirt  hätte  und  jetzt  Gedächtnißschwäche  heuchelte,  weil 
sie  ihrer  Familie  gern  verschweigen  möchte,  was  damals  ge# 
schah?  Ware  damit  das  Geringste  für  eine  Kindesunter# 
Schiebung  bewiesen?  Kann  selbst  der  Sauberste  jedem 
Schritt,  den  er  einmal  that,  von  Millionen  Augen  nachspüren 
lassen?  Und  wissen  unsere  Kriminalisten  nicht,  nach  Pitaval, 
Richer,  Feuerbach  noch  immer  nicht,  wie  oft  das  einzelne 
Verdachtsmoment  den  Betrachter  narrt?  So  lange  nach  Jean 
Paul  nicht,  daß  seltsamere  Zufalle,  als  die  reichste  Phantasie 
der  Romanschreiber  auszusinnen  vermag,  in  Helle  und  Dimkel 
des  Alltages  das  pausenlos  dichtende  Leben  erfindet? 

Sie  wissen,  wenn  sie  im  schwarzen  Talar  auf  dem  Richter^ 
stuhl  sitzen,  von  diesem  Leben  nicht  viel.  Im  Prozeß  Sterne 


140 


berg  hielt  der  Vorsitzende  für  ganz  unglaublich,  daß  eine 
Prostituirte  den  Namen  eines  Kunden  nicht  kenne,  der  mehr 
als  einmal  zu  ihr  gekommen  sei;  der  alte  Herr  glaubte  wohl, 
auch  solchen  Damen  schicke  man  vorher  die  Visitenkarte  ins 
Zimmer.  Im  Prozeß  Kwilecka  erlebten  wir  noch  höhere 
Wunder.  Das  Unzulängliche  ward  Ereigniß;  Unmöghches 
fand  schnell  willigen  Glauben.  Die  Gräfin  hat  Tücher  um 
den  Leib  gewickelt,  Schrotbeutel,  einen  Gummibauch  (Alles 
zusammen  oder  der  Reihe  nach?)  und  neun  J^nate  lang 
durch  geheuchelte  Schwangerschaft  die  Erfahrenen,  Mütter 
und  Großmütter,  getäuscht.  Sie  hataus  Wroblewo  inBordeaux^ 
Haschen  Schweineblut,  aus  Krakau  eine  Nabelschnur  nebst 
Nachgeburt  nach  Berlin  geschafft,  mit  schrillem  Gekreisch 
fünfstündige  Wehen  markirt,  vor  zwei  verheiratheten  Frauen, 
vor  Amme  und  Hausarzt  mit  vollem  Erfolg  die  müde  Wöchne# 
rin  gemimt.  Am  Kneiptisch,  beim  Ballskat  würde  der  Richter 
solche  Erzählung  ins  Fabelreich  weisen.  ^»Seit  sieben  Jahren 
schleicht  das  Geraun  über  ein  Hintertreppendelikt  durch  die 
Leutekammem  zweier  polnischen  Rittergüter:  kein  Wunder, 
wenn  der  Klatsch  ins  Riesenmaß  wuchs.  Laßt  mich  in  Frie^ 
denl  Einer  Frau,  die  man  genau  kennt,  sieht  man,  auch  ohne 
den  Bauchumfang  zu  messen  und  den  Foetalpuls  zu  fiihlen, 
an,  ob  sie  in  anderen  Umständen  ist;  meist  ein  ganz  verän^ 
dertes  Gesicht.  Die  Ausstopfung  allein  thut  es  also  nicht. 
Wer  diese  Pantomimik  so  lange,  ohne  sich  je  zu  vergessen, 
vor  mißtrauischen  Blicken  durchfuhrt,  könnte  sich  für  Geld 
sehen  lassen.  Und  nun  gar  die  Puerperalkomoedie  vor  Amme 

141 


und  Arzt,  das  Schweineblut,  der  krakauer  Import,  —  nein: 
lieber  noch  her  mit  dem  Blumenmedium.  Die  nächste  Runde!« 
In  foro  ists  anders.  Da  schweigt  der  schlichte  Menschenss 
verstand,  das  Unterscheidungvermögen  schwindet  und  aus 
dem  Dunkel  taucht,  nur  von  irren  Hämmchen  uralten  Aber«» 
glaubens  noch  umzuckt,  die  Kolportagewelt  mit  all  ihren 
Wonnen  und  Schrecken,  ihren  rosigen  Engelchen  und  pech^ 
schwarzen  Teufeln.  Alles  Menschliche  wird  fremd. 

Kann  tm  Engel  das  Kind  eines  Teufels  sein?  Sicher; 
Hugo,  Sue,  D*Ennery  haben  mit  solchen  Kontrasten  gern 
die  Nerven  gerüttelt  und  in  den  Groschenheften  wachsen 
aus  Misthaufen  immer  die  weißesten  Lilien.  Auch  dieses 
Schauspieles  durften  wir  uns  in  Moabit  freuen.  Aniela  An^ 
druszewska:  eine  Bestie;  Jadwiga,  ihr  Töchterlein:  die  Zier 
jeder  Menschengemeinschaft.  Aniela  hat  das  Kind  nebst  Zu«: 
j  behör  in  Krakau  eingehandelt,  nach  Berlin  gebracht  und  auf 
dem  Sterbebette  die  Tochter  verpflichtet,  dem  Grafen  Hektor 
das  Furchtbare  zu  melden.  Trotz  dem  Gelöbniß  hat  Jadwiga 
zwei  Jahre  gewartet  und,  nach  erfüllter  Kindespflicht,  viel 
von  dem  großen  Stück  Geld  geredet,  das  sie  bekommen 
werde,  bekommen  müsse.  Sie  ist  mit  Hechelski,  Hektors 
Spürhund,  verwandt,  hat  mit  seiner  Hilfe  ihr  Beichtsprüch^ 
lein  zu  Papier  gebracht;  und  brauchte,  mit  ihrem  halb  ein# 
gedrillten,  halb  wirren  Geschwätz,  ernsten  Männern  nicht 
die  Zeit  zu  stehlen.  Im  Schwurgerichtssaal  hat  sie  die  Haupte 
rolle.  Ungefähr  Johannes  vor  Herodias  und  dem  Tetrarchen. 
Was  sie  sagt,  ist  unzweifelhaft  wahr,  wer  ihr  frevelnd  widere 

142 


spricht,  des  Meineides  dringend  verdächtig.  Kann  gar  noch 
festgestellt  werden,  daß  Mutter  Aniela  im  Januar  1897  vier, 
fünf  Tage  lang  nicht  in  Wroblewo  war,  dann  sind  Kwileckis 
und  Genossen  verloren.  Ein  Schock  Zeugen  zu  dieser  hoch, 
nothpeinlichen  Frage.  »Die  Alte  war  da.«  »Die  Alte  kann 
weggewesen  sein.«  »Ich  erinnere  mich  nicht.«  Und  wenn  sie 
nun  verreist  gewesen  wäre?  Das  hätte.  Hoher  Gerichtshof, 
auch  noch  nichts  bewiesen.  Das  gab  nicht  einmal  hinreichen^ 
den  Grund  zur  Eröffiiung  des  Hauptverfahrens.  Zu  beweisen 
war,  daß  die  Gräfin  Wesierska^Kwilecka  nicht  geboren,  in 
gewinnsüchtiger  Absicht  ein  Kind  unterschoben  hatte.  Wenn 
andere  haltbare  Indizien  fehlten,  bewies  eine  Reise  der  ^fTirth^ 
schafterin  gar  nichts.  Und  doch  hätten  die  Geschworenen 
die  Schuldfragen  wahrscheinlich  bejaht,  wenn  diese  Reise 
ihnen  glaubhaft  gemacht  worden  wäre.  »Gott,  Gott,  auf 
welchen  Fundamenten  ruht  die  menschliche  Gerechtigkeit^ 
pflege  I«  Hebbels  Wehruf  soll  nie  verhallen.  .  .  In  der  akui? 
stischen  und  optischen  Wolke,  die  in  heißen,  von  keuchen«« 
der,  schwitzender  Menschheit  überfüllten  Schwurgerichtssälen 
entsteht,  wird  jede  Schalliming,  jede  Luftspiegelung  möglich. 
Wie  Alkoholdunst  legt  sichs  um  das  Hirn.  Als  ich,  schon  in 
der  ersten  Woche,  über  den  Inbegriff  dieser  Verhandlung 
leise  zu  lachen  wagte,  starrten  die  Nachbarn  mich  beinahe 
entsetzt  an.  Sie  waren  im  Rausch;  von  Isabellens  Schuld 
brünstig  überzeugt.  Später  haben  sie  auch  gelacht.  Zu  spät. 
Drei  Viertel  der  Beweisaufnahme  waren  zwecklos,  mindestens 
drei  Viertel  des  Kostenaufv\randes  nutzlos  verthan.    Als  Isa 


143 


sich  fürs  letzte  Wochenbett  vorbereitete,  ließen  die  Verbünd 
deten  Regirungen  eine  Strafprozeßnovelle  scheitern,  weil 
der  Reichstag  die  Berufiinginstanz  mit  fünf,  nicht,  wie  sie 
vorschlugen,  mit  drei  Richtern  besetzen  wollte.  Fünf:  Das 
würde  zu  theuer,  Ich  glaube,  daß  die  ergebnißlosen  Prozesse 
gegen  die  Direktoren  der  Pommembank  und  gegen  Kwileckis 
den  preußischen  Fiskus  größere  Summen  gekostet  haben,  als 
der  1896  verweigerte  Mehraufwand  im  ganzen  Reich  für 
zwei  Haushaltsjahre  verschlungen  hätte.  Und  der  Servilste 
selbst  wird  nicht  sagen,  dieses  Geld  habe  den  Ruhmesglanz 
deutscher  Rechtspflege  vor  dem  Blick  Naher,  Femer  gemehrt. 
Un£süBbar,  unbegreiflich  wie  ein  Räthselbild  aus  weiten^ 
fernen  Kulturen  war  mir  der  Eifer,  den  zwei  Königlich 
Preußische  Staatsanwälte  hier  aufboten,  um  vier  Menschen 
ins  Zuchthaus  zu  bringen.  Zwei  Männer,  die  als  Private 
personen  gewiß  eines  Spätzchens  Flügellähmung  mitleiden, 
ihrem  Dienstmädchen  nicht  ohne  zwingenden  Grund  einen 
Sonntagsausgang  verbieten  würden.  Ich  muß  annehmen,  daß 
sie  von  der  Schuld  der  Angeklagten  überzeugt  waren.  Doch 
konnte  sich,  mußte  nicht  in  diese  Ueberzeugung  manchmal 
wenigstens  ein  Zweifel  drängen?  Berryer,  nur  ein  Advokat, 
dessen  Hilfe  aber  von  Louis  Napoleon  und  Ney,  von  Lamens« 
nais  und  Chateaubriand  gesucht  ward,  und.  Alles  in  Allem, 
ein  Mann,  hat  gesagt:  »U  vaut  mieux  laisser  dix  coupables 
en  liberte  que  de  frapper  un  innocent.«  Schien  den  Staats^ 
anwälten  nicht  einen  Augenblick  möglich,  daß  die  Gräfin, 
der  Graf,  die  Dienerinnen  unschuldig  seien?  Niemals,  beim 

144 


Kaliber  dieser  ZeugenscKaar?  Welche  Prangerstrafe  hatte  sie 
schimpflich  genug  gedünkt,  wenn,  etwa  in  einem  Meineids^ 
prozeß,  diese  Völker  zur  Entlastung  Beschuldigter  vorges< 
schickt  worden  wären?  Caecilie  Parcza.  Jahre  lang  die  Lusti« 
dime  (so  reden  Staatsanwälte  sonst  oft  von  solchen  Mädchen) 
eines  Offiziers,  der  ihre  Zärtlichkeiten  bezahlt.  Ein  entmensche 
tes  Geschöpf,  das  sein  Kind  (hier  macht  sich  der  Hinweis 
auf  die  Löwin  und  ihr  Junges  gut)  fiir  schnödes  Geld  ver» 
schachert,  sich  nie  mehr  drum  kümmert  und  das  Mutter:« 
gefuhl  erst  entdeckt,  als  wieder  Geld  zu  verdienen  scheint. 
Würde  eine  rechte  Mutter,  meine  Herren  Geschworenen, 
nicht  hundertmal  lieber  auf  alles  Glück  verzichten,  als  ihr 
Fleisch  und  Blut  aus  dem  Glanz  einer  Grafenherrschaft  in 
die  dumpfe  Bahnwärterhütte  holen?  (Die  Barbara  in  Hebbels 
»Demetrius«  ist  wirklich  aus  edlerem  StoflF  als  diese  unheilige 
Caecilie.)  Frau  Ossowska.  Eine  Person,  die,  weil  die  Sache 
verjährt  ist,  schamlos  gesteht,  daß  sie  an  einer  Kindesunter<< 
Schiebung  mitgewirkt  hat,  die  auf  Kassibern  von  den  Sumi« 
men  spricht,  die  ihre  Aussage  ihr  eintragen  wird,  und  der 
Gottes  Finger  das  Schandmal  auf  die  Stirn  gebrannt  hat. 
Jadwiga  Andruszewska.  Eine  Hysterische,  die  nicht  weitere 
kann,  wenn  ihre  Textwalze  abgeleiert  ist;  die  von  der  eigenen 
Schwester  des  Meineides  bezichtigt  vrurde;  eine  Kreatur  Hech# 
elskis,  die  auf  das  zu  erwartende  Sündengeld  schon  Schulden 
gemacht  hat.  Hechelski  selbst,  der  als  gewerbmäßiger  Verleiter 
zumMeineid  längstins  Zuchthaus  gehört.  Und  dieser  Graf  HekK 
tor,  der,  statt  die  Ermittlungen  der  zuständigen  Stelle  zu  über» 

10.  III  145 


lassen»  seine  Agenten  mit  voller  fiörse  durch  Europa  ketzt  und 
mit  den  feinen  und  groben  Mitteln  der  Korruption  für  einen 
Vermögensvortheil  ficht  I  Solche  Zeugnisse,  nebst  Wasche 
fraubasereien  und  Hebammenklatsch,  sollen  den  blanken 
Ehrenschild  einer  uralten  Adels&milie,  für  die  Standesge^ 
nossen,  Prälaten  und  treue  Diener  die  Hand  zum  Schwur 
heben,  auch  nur  mit  dem  kleinsten  Fleck  beschmutzen?  Nein, 
meine  Herren,  noch  .  . .  Ungefähr  so  wäre  es  gekommen. 
Und  nun  kein  Zweifel,  nicht  das  leiseste  Bedenken,  wo  vier 
Menschenleben  auf  dem  Spiel  stehen  und  das  Schicksal  eines 
Geschlechtes  entschieden  werden  soll?  Unsere  Staatsanwälte 
sind  nicht  mehr  im  alten  Wortsinn  procureurs,  deren  Haupte 
sorge  sein  mußte,  der  Staatskasse  möglichst  viele  Vermögens^ 
konfiskationen  und  hohe  Geldstrafen  zu  bescheren.  Auch 
Kläger  in  der  Bedeutung,  wie  noch  die  Karolina  und  der 
ganze  Parteiprozeß  sie  kannte,  sind  sie  heutzutage  nicht 
mehr,  sondern  auf  dem  Strafirechtsgebiet  Vertreter  der  Staats^ 
hoheit  und  verpflichtet,  die  entlastenden  Thatbestandsmerk^ 
male  mit  nicht  geringerem  Eifer  als  die  belastenden  ans  Licht 
zu  fördern.  Warum  sehen  wirs  so  selten  und  müssen  doch 
glauben,  daß  jeder  Staatsanwalt  seine  Pflicht  zu  erfüllen 
sucht?  Suggestion  der  Gewohnheit,  die  nur  noch  Nummern, 
nicht  Menschen  kennt  und  den  Verdacht  zur  Gewißheit  au& 
bläst?  Beru&krankheit,  wie  die  Bäckerbeine  und  die  Phos^ 
phomekrose?  In  der  »Rothen  Robe«  sagt  der  Schwurt 
gerichtspräsident  zum  Staatsanwalt:  »Sie  sind  aufgeregt;  ver# 
stehe;  vor  dem  ersten  Todesurtheill  Das  giebt  sich  mit  der 

146 


Zeit,«  Mag  sein.  Aber  im  Fall  Kwileclca,  nach  dieser  Be^ 
weisaufhahme,  nicht  einen  Blick  auf  die  Fiüle  des  Entlastung^ 
materials,  nicht  ein  armes  Wörtchen,  das  die  Unschuld  der 
Angeklagten  immerhin  möglich  erscheinen  läßt?  Statt  ruhiger 
Abwägung  der  Ergebnisse  in  schrofEstem  Ton  die  Behauptimg, 
jedem  Juristen,  jedem  vemiinftigen  Menschen  sogar  müsse  sol^ 
eher  Beweis  zum  Schuldspruch  vollauf  genügen?  Den  Verthei^ 
digem  wird  oft  vorgeworfen,  sie  dienten  der  honorirenden  Far^ 
tei,  nicht  der  Wahrheit,  deren  Bettlerblöße  zurHonorantenroUe 
nicht  taugt.  Die  Geschmähten  sollten  in  einer  Jahresstatistik 
feststellen  lassen,  wie  oft  Staatsanwälte  in  der  Hauptverhand:» 
lung  die  Anklage  zurückgezogen  oder  mindestens  im  Schluß^ 
Vortrag  die  entlastenden  Umstände  nachdrücklich  betont 
haben.  Der  höchste  preußische  Orden  trägt  das  Motto: 
Suum  cuique;  und  patriotische  Schreiber  betheuem,  dieses 
Wort  sei  stets  Preußens  Wahlspruch  geblieben.  Bei  Cicero, 
der  es,  wirklich,  dreist  noch  vor  Friedrich  dem  Ersten  sprach, 
hieß  es:  Justitia  in  suo  cuique  tribuendo  cemitur.  Der  Ur# 
Sprung  scheint  vergessen.  Markus  TuUius  und  Ulpian  wer^ 
den  nicht  mehr  gelesen.  Noch  heute  aber  ist  das  sichtbarste 
Wesenszeichen  der  Gerechtigkeit,  daß  sie  Jedem  das  Seine 
giebt.  Dröhnt  Altmoabit  nicht  vom  Wehgeschrei  der  Steine? 
Doch  um  nicht  selbst  in  den  eben  gerügten  Fehler  zu 
fallen,  muß  ich  auch  hier  die  mildernden  Umstände  anfuhren. 
Als  Instigator,  als  treibende  Kraft,  war  Graf  Hektor  Kwilecki 
thätig.  Ein  ungemein  gewandter  Herr,  der  ohne  Verletzung 
der  Eidespflicht  sagen  konnte,  er  glaube,  daß  die  Ermitt^ 

lo*  147 


iungen  (die  nach  ^ranlcreich,  Rußland,  öesterreick  nikrten 
und  gierige  Geschäftsleute  Monate  lang  in  Athem  hielten) 
ihn  nicht  mehr  als  siebeni»  bis  achttausend  Mark  gekostet  haben. 
Ein  Mann,  der  mit  Ansehen  und  klingendem  Brustton  selbst 
Staatsanwälten  zu  imponiren  vermochte.  Am  siebenzehnten 
Verhandlungtag  war  er,  nach  siebenjähriger  Spiirarbeit,  sei^ 
ner  Sache  noch  ganz  sicher;  am  neunzehnten  bat  er  der 
Gräfin  die  Verdächtigung  ab,  sorgte  aber  dafür,  daß  den 
Geschworenen  die  Abbitte  erst  nach  dem  Wahrspruch  be^ 
kannt  werde.  Herzig,  nicht  wahr?  Er  hatte  sich,  recht  plötzn 
lieh,  von  der  Unschuld  seiner  Verwandten  überzeugt  und 
wußte,  daß  an  eine  Verurtheilung  nicht  zu  denken  war,  wenn 
er  die  neue  Ueberzeugung  so  offen  wie  zuvor  die  alte  aus:» 
sprach.  Das  wäre  ja  aber  ein  Versuch  zur  Beeinflussung  der 
Richter  gewesen;  und  so  was  thut  man  doch  nicht.  Wurde 
die  Schuldfrage  von  der  Jury  bejaht:  dann  konnte  Hektor 
zu  Isa  sprechen:  »Theures  Weib,  gebiete  Deinen  Thränenl 
Ich  bat  Dir  gestern  schon  Alles  ab«.  Und  zu  den  zürnen^ 
den  Landsleuten:  »An  mir  liegts  nicht;  ich  habe  Sehnen  und 
Groll  in  des  Lethe  stillen  Strom  versenkt;  aber  so  sind  diese 
Preußen.«  Glissez,  poite,  n'appuyez  pas  .  . .  Noch  wichtiger 
war,  daß  nach  den  Ergebnissen  der  Voruntersuchung  ge« 
lehrte  Richter  den  Verdacht  »hinreichend«  gefunden  und  die 
Erö&ung  des  Hauptverfahrens  beschlossen  hatten.  (Hoffent» 
lieh  ändert  die  Strafprozeßreform  die  Bestimmung,  wonach 
die  »Nichteröffiiung«  mit  thatsächlichen  und  rechtlichen 
Gründen,  die  Eröffiiung  nur  mit  der  Feststellung  hinreichen^ 

148 


den  Verdachtes  zu  motiviren  ist.  Denn  diese  Bestimmung 
kann  selbst  gewissenhafte  Richter  auf  den  Gedanken  bringen: 
»Ganz  klar  ist  die  Sache  nicht;  lehnen  wir,  mit  ausfuhr«« 
liehen»  also  leichter  anfechtbaren  Motiven,  die  Eröffnung  ab, 
dann  geht  der  Staatsanwalt  ans  Beschwerdegericht  und  unser 
Beschluß  wird  am  Ende  noch  aufgehoben;  mag  sich  die 
Spruchkammer  selbst  Klarheit  suchen.«  Auf  die  ericennenden 
Richter  drückt  dann  aber  schon  wieder  die  Thatsache  des  Er^ 
öftnungbeschlusses,  gegen  den  es  übrigens  nicht,  wie  gegen 
die  Ablehnung,  ein  Beschwerderechtsmittel  giebt.)  Und  nun 
kamen  noch  die  Sachverständigen.  Herr  Dr.  Rosinski  hält 
die  Gräfin  der  That  für  fidiig.  Herr  Dr.  Störmer  glaubt 
nicht  an  die  Entbindung.  Der  Titularprofessor  Dr.  Dührs^ 
sen,  der,  in  der  Stadt  Olshausens  und  Gusserows,  von  StaatS)^ 
anwälten  und  höheren  Reportern  als  »gynäkologische  Autorin 
tat  ersten  Ranges«  angestrahlt  werden  kann,  ist  beinahe  sicher, 
daß  Isa,  die  er  1903  kennen  lernte,  18%  nicht  schwanger 
war.  Beinahe  sicher.  Eine  Leistung.  Nur  der  greise  Pro^ 
fessor  Freund,  der  seit  Jahrzehnten  im  Elsaß  der  belieb« 
teste  Frauenarzt  ist,  sagt:  Hier  fehlt  jede  Grundlage  für  ein 
Gutachten,  denn  wir  haben  nur  gehört,  nicht  gesehen,  was 
vor  sieben  Jahren  geschah;  das  Gehörte  aber  liefert  jeden« 
üüs  nicht  den  geringsten  positiven  Beweis  gegen  die 
Schwangerschaft  und  Geburt;  und  den  Bereich  der  Ver« 
muthungen  überlasse  ich  neidlos  dem  Kollegen  Dührssen. 
Doch  der  alte  Praktikus  Freund  ist  ja  von  der  Vertheidigung 
geladen.  »Meikwürdig,  daß  die  vom  Vertheidiger  geladenen 

149 


Sachverständigen  während  der  Hauptverhandlung  nie  anderen 
Sinnes  werden.«  (Merkwürdig:  die  von  der  Staatsanwalt» 
Schaft  geladenen  auch  nicht;  trotzdem  Aktenkenntniß  das 
mündliche  Verfahren  niemals  ersetzen  kann.)  Die  Vertreter 
der  Anklage  hatten  also  starke  Stützen.  Die  stärkste  in 
dem  Schwurgerichtspräsidenten,  Herrn  Landgerichtsdirektor 
Leuschner.  Der  hätte  auf  Isas  Schuld  geschworen;  £md  des# 
halb  jeden  Entlastungzeugen  des  Meineides  und  der  Begün^ 
stigung  verdächtig;  ganz  imglaublich,  daß  Gutsinsassen,  für 
die  ein  Ortswechsel  ein  Ereigniß,  die  Eisenbahnfahrt  eine 
Lebenserinnerung  ist  und  die  in  engen  Raum  zusammenge^ 
pfercht  sind,  heute  noch  wissen  wollen,  die  'VC^rthschafterin 
Andruszewska  sei  im  Jahre  1897  vier,  fiinf  Tage  weggewesen; 
durchaus  glaublich  dagegen,  daß  ein  berliner  Droschken^ 
kutscher  heute  beschwören  kann,  mit  welcher  Geberde  ihm 
vor  sieben  Jahren  eine  Frau  das  Fahrgeld  gegeben  habe. 
Die  aufinarschirende  Edelmannschaft,  der  Propst,  die  Amme, 
Frauen,  denen  die  Schwangere  sich  im  Hemd  gezeigt  hatte: 
Alles  unglaubwürdig  oder  bethört.  »Wenn  Sie  nun  aber 
hörten,  unter  dem  Hemd  sei  ein  Gummileib  gewesen?  Sie 
werden  nachher  einen  Eid  zu  leisten  haben  I«  Ueber  allen 
Zweifel  erhaben  scheint  aber,  was  Herr  Hechelski  und  die 
Damen  Andruszewska  und  Ossowska  aussagen.  Der  Vor# 
sitzende  fragt  nach  der  Schnur  die  Anklage  ab,  sieht  in  jeder 
von  diesem  ehrwürdigen  Schriftstück  abweichenden  Dar# 
Stellung  die  Absicht,  zu  »leugnen«,  verbirgt  seine  Auffassung 
der  Sache  keinen  Augenblick  und  beanstandet  schließlich 

150 


sogar  noch  in  den  Schlußvorträgen  der  Vertheidiger  Sätze, 
die  ihm  nicht  gefallen.  »Das  können  Sie  in  dieser  Allgemeine 
heit  doch  nicht  behaupten.«  »Ich  muß  bitten,  die  Sache  nicht 
satirisch  zu  behandeln.«  Und  so  weiter.  Das  Plaidoyer 
wenigstens  pflegte  bisher,  so  lange  der  Redner  nicht  den 
Anstand  gröblich  verletzte,  vor  Unterbrechung  geschützt  zu 
sein.  Herr  Direktor  Leuschner  ist  vielleicht  ein  vortrefflicher 
Jurist.  Sicher  kein  Psychologe;  und  zur  Leitung  solchen 
Exzesses  ganz  ungeeignet.  Die  Aufgabe,  die  der  Vorsitzende 
nach  der  Strafprozeßordnung  in  der  Hauptverhandlung  zu  bee 
wältigen  hat,  geht  ja  fast  über  Menschenkraft.  Kein  euro^ 
päischer  Monarch  hat  ähnliche  Macht.  Der  Präsident  ist  im 
Saal  der  Herrgott.  Das  läßt  sich  nicht  aus  Aktenbündeln 
lernen.  Götter  werden  geboren  . . .  Leise,  -*  nein,  doch 
lieber  ganz  laut  muß  es  gesagt  werden:  Wir  haben  keine 
Richtertalente  mehr;  nicht  die  Männer,  die  mit  modemer  BiU 
düng  und  einer  aus  freier  Anschauung  erworbenen  Kennte 
niß  des  Menschen  und  seines  Erlebens  das  stolze  Bewußte 
sein  ihres  majestätischen  Berufes  vereinen.  Die  nur  Richter 
sein  wollen  und  sich  eher  tothetzen  ließen,  als  daß  sie  dem 
Nächsten,  dem  Belastetsten  auch  nur  um  Haaresbreite  sein 
Recht  verkürzten.  V(^  haben  arbeitsame  Gerichtsbeamte,  die 
»mit  der  Sache  vorwärts  kommen  möchten«.  Darum  kennt 
das  Volk  auch  keinen  von  ihnen,  ist  ihr  Name  ihm  Schall 
und  Rauch.  Einst  zog  man  auf  der  Straße  den  Hut  vor 
Einem,  der  über  Leben  und  Ehre  des  gefährdeten  Bürgers 
allmächtig  verfugt. 

151 


Auf  dem  Holzstuhl  des  Gerichtsdieners  sitzt,  dicht  neben 
der  Thür,  die  den  Großen  Schwurgerichtssaal  öfihet,  fröh^^ 
lieh  der  weiße  Knabe.  Das  Gedräng  macht  ihm  inuner  noch 
Spaß.  Hinter  der  Thür  wird  inzwischen  die  Frage  verhäng 
delt,  ob  seine  Eltern  ins  Zuchthaus  kommen  sollen.  Er  lacht, 
räkelt  sich  kokett  und  giebt  Bekannten  gnädig  eine  Fatscb« 
hand.  Weder  Zweifel  noch  Sorgen.  Und  hat  in  drei  Wo^ 
chen  doch  mehr  gesehen,  gehört,  gewittert,  als  er  in  dreißig 
Jahren  vergessen  kann.  Und  wenn  drinnen  die  Männer 
wollen  (die  rechts  sitzen  und  ihn  jedesmal  so  genau  mustere 
ten,  als  er  hereingeführt  wurde),  dann  sieht  er  Wroblewo 
nie  wieder  und  kommt  zu  Meyers  ins  Bahnwärterhüttchen, 
wo  ein  rachitisches  Brüderlein  nebst  einem  Brustkind  seiner 
warten,  und  kann,  da  anderer  Zeitvertreib  fehlt,  durch  die 
schmale  Fensterscheibe  zugucken,  wie  Mutter,  während  Vater 
schläft,  in  starker  Hand  draußen  die  Signal&hne  schwingt. 

Als  der  Freispnich  verkiindet  war,  jauchzte  im  Saal, 
jubelte  vor  dem  Gerichtshaus  die  Menge.  Begeisterung  für 
die  (schließlich  nicht  allzu  saubere)  Sache  der  polnischen 
Gräfin?  Nein.  Triebhaft  sprach  in  Hunderttausenden  das 
Gefühl:  Hier  war,  in  diesem  Prozeß,  Alles  beisammen,  was 
in  unserem  Rechtswesen  greisenhaft  ist,  völlig  unbrauch^ 
bar  ftir  die  Formen  modernen  Europäerlebens;  und  diesen 
Prozeß  hat  der  Staat  verloren.  Hurra  1  »Der  Staat.«  Wenn 
im  rothen  moabiter  Palast  ein  Fenster  geö&et  war,  muß 
doch  mindestens  ein  Robenträger  vernommen  haben,  daß 

152 


des  seltsamen  Jubelrufes  Sinn  nicht  war,  den  Sieg  der  Gräfin 
Isabella  Kwilecka  zu  feiern. 

Mischte  Caeciliens  Stimme  sich  in  den  Jubelchor?  Durfte 
eine  rechte  Mutter  daran  denken»  ihr  Fleisch  und  Blut  aus 
dem  Glanz  einer  Grafenherrschaft  in  die  dumpfe  Bahn^ 
Wärterhütte  zu  holen?  Hätte  sie  nicht  hundertmal  lieber  für 
ihren  Lebensrest  auf  jede  Freude  verzichtet?  Diese  Mutter 
that  anders.  Caecilie  Farcza  hat  ihr  Kind  verkauft.  Caecilie 
Meyer  heischt  es  fiir  sich.  Im  Bund  mit  den  kwilczer  Agna«« 
ten,  die  für  das  Majorat  streiten,  fuhrt  sie  gegen  den  Grafen 
Zbigniew  Kwilecki  einen  Civilprozeß.  Wird  vom  posener 
Landgericht  abgewiesen;  setzt  beim  Oberlandesgericht  aber 
die  Anerkennung  ihrer  Mutterrechte  durch.  Der  am  dreißig^ 
sten  Januar  1897  auf  dem  berliner  Standesamt  als  Joseph 
Stanislaus  Adolf  Graf  Kwilecki  angemeldete  Knabe  ist,  nach 
dem  Urtheil  des  Oberlandesgerichtes,  das  Kind,  das  Fräulein 
Farcza  einem  österreichischen  Hauptmann  geboren  hat. 
Gräfin  Isabella  ist  tot.  Bleibts  bei  dieser  Entscheidimg? 
Nein.  Das  Reichsgericht  (dessen  Fräsident  dem  Civilsenat 
vorsaß)  hat  das  Urtheil  aufgehoben  und  die  Klage  der  Frau 
Meyer  (mit  einem  Spruch  von  unbrechbarer  Rechtskraft)  abge^ 
wiesen.  Der  höchst  merkwürdigen  Frau  Caecilie  Meyer^Parcza, 
die  dem  Psychologen  die  wichtigste  Gestalt  dieser  Tragik 
komoedie  ist;  in  Ewigkeit  bleibt.  Sie  will  »weiterkämpfen«. 
Wofiir?  Im  Schwurgerichtssaal  hat  sie,  im  Advent  1903,  nicht 
gewagt,  zusagen:  »Derals  Joseph  Kwilecki  ins  Personenstands« 
register  geschmuggelte  Knabe  ist  mein  Sohn.«  Nur  Etwas 

153 


von  Glauben  gestammelt.  Ist  seitdem  aber  unermüdlich.  Sie 
hat  das  Kind»  das  sie  ihrem  Buhlen  gebar,  verkauft,  sich  me 
mehr  darum  gekümmert  und  das  Muttergefuhl  erst  entdeckt, 
als  wieder  Geld  zu  verdienen  war.  Spricht  und  handelt  sie 
wider  besseres  'Wissen?  Dann  ist  sie  nicht  unholder  als 
manche  Heldin  des  Pitaval.  Glaubt  sie  selbst  an  ihre  Muttern 
Schaft  und  will  wirklich  ihr  Fleisch  und  Blut  aus  dem  Glanz 
eines  Grafenschlosses  in  die  häßliche  Bahnwärterhütte  holen? 
Dann  dürfte  der  Volksmund  sie  ein  Ungeheuer  nennen. 
Damit  ers  gut  habe,  hat  sie  den  Kleinen  verkauft.  Nun  hat 
ers  gut;  ist  Grafensproß,  Majoratserbe  und  kann,  durch  Fleiß 
und  sparsame  Wirthschaft,  zum  steinreichen  Mann  werden. 
Aber  die  Mutter  gönnts  ihm  nicht.  Unterschreibt  Voll^ 
machten  und  läßt  in  ihrem  Namen  Prozesse  fiihren,  um  den 
Jtmgen  aus  dem  Wohlstand,  der  Adelsherrlichkeit  zu  drängen. 
Wo  der  Quell  des  natürlichen  Gefiihles  vergiftet  ist,  sickert 
kein  reiner  Tropfen  ans  Licht;  und  in  keinem  Land  ver^ 
bürgter  Rechtsnormen  dürfte  aus  solchem  Born  ein  Richter 
das  Urtheil  schöpfen.  Kein  durch  Pflicht  und  Recht  zu 
öffentlicher  Wagung  des  Thatbestandes  Berufener  durfte  dul^ 
den,  daß  der  Toten,  wie  erwiesene  Schuld,  nachgesagt  werde, 
was  gegen  die  Lebende  in  zwei  Lustren  nicht  zu  erweisen 
war.  Keiner  übersehen,  mit  welchen  Mitteln  dieser  Kampf 
geführt  worden  war;  noch  die  Frage  vergessen,  ob  die  Gier, 
die  ihn  weiterfuhrt,  nicht,  auch  wenn  sie  ungesättigt  bleibt, 
das  Leben  eines  Menschen,  eines  schuldlosen,  zerrütten  könne. 
Und  ob  ein  Rechtszustand  gut  ist,  der  Solches  erlaubt. 

154 


MORITZ  LEVY. 


Konitz,  die  annsälige  westpreußische  Kreisstadt,  hat  im  Jahr 
1901,  am  sechzehnten  Februarabend,  ein  die  Gemüther  der 
Mehrheit  froh  stimmendes  Volksfest  erlebt.  Ein  Mensch  war 
Venirtheilt  worden,  vier  Jahre  lang  im  Zuchthaus  zu  faulen 
und,  wenn  er  lebendig  herauskommt,  danach  vier  Jahre  der 
biirgerlichen  Ehrenrechte  beraubt  zu  sein;  ein  jimger,  noch 
nicht  dreißigjähriger,  bisher  unbescholtener  Mensch.  Und 
seine  Mitmenschen  jubelten.  Als  der  Verurthedte  heulend 
zusammensank,  lachten  sie  laut;  als  er  abgeführt  wurde, 
riefen  sie  ihm  zu,  man  sei  noch  zu  mild  mit  ihm  verfahren, 
viel  zu  mild,  denn  eigentlich  habe  er  zwanzig  Jahre  21ucht^ 
haus  verdient.  Die  so  thaten,  waren  Christen  und  gewiß 
nicht  weniger  fromm  als  der  Vorsitzende  und  der  Staats^ 
anwalt,  die  den  Lieben  Gott  recht  oft  in  ihren  Schwurt 
gerichtssaal  bemühten.  Doch  stärker  als  das  mitleidige  Re# 
gung  heischende  Christengefiihl  war  in  ihnen  wohl  der  Haß 
gegen  den  Missethäter.  Der  war  früher  zwar  im  Städtchen 
beliebt  gewesen.  Eines  jüdischen  Schlächtermeisters  Sohn, 
der  dem  Vater  als  Geselle  half,  beim  Bierskat  seinen  Mann 
stand,  durch  gesellige  Talente  in  der  Kneipe  und  am  Familien^« 

157 


tisch  sich  hervorthat  und  von  den  Mädchen,  auch  den  rein 
arischen,  recht  gern  gesehen  ward.  Diese  behagliche  Stellung 
verlor  er  erst  nach  der  Ermordung  des  Gymnasiasten  Ernst 
Winter.  Auf  die  Schlächterfamihe  Levy  wurde  seitdem  mit 
anklagendem  Finger  gewiesen;  sie  habe,  hieß  es,  Ernst  Winter 
in  ihren  Fleischkeller  gelockt  und,  um  sich  Christenblut  zu 
verschaffen,  nach  allen  Regeln  des  Ritus  geschachtet.  Und 
als  nun  in  einem  der  konitzer  Prozesse  Moritz  Levy  als 
Zeuge  vernommen  und  gefragt  wurde,  ob  er  Winter  gekannt 
habe,  da  schwor  er:  Nein,  ich  habe  ihn  nicht  gekannt. 
Noch  zweimal  wurde  er  unter  dem  Eide  danach  gefragt; 
immer  wiederholte  er:  Nein;  es  ist  nicht  unmöglich,  daß  ich 
mit  ihm,  wie  mit  vielen  Gymnasiasten,  einmal  gesprochen 
habe,  bewußt  aber  habe  ich  ihn  nicht  gekannt.  Der  Schlächter^ 
geselle  wurde  verhaftet,  des  dreifachen  Meineides  angeklagt 
und  von  den  Geschworenen  nach  ganz  kurzer  Berathung 
schuldig  gesprochen.  Am  Liebsten  hätten  die  Konitzer  illu^ 
minirt.  Vielleicht  thaten  sies  nur  nicht,  weil  der  Gerichtshof 
nicht  auf  das  höchste  zulässige  Strafinaß  erkannt  hatte. 

Die  Berichte  über  die  Hauptverhandlung  waren  lesens^ 
werth.  Ein  Kulturbild  und  ein  Bild  deutscher  forensischer 
Sitten  am  Anfang  des  zwanzigsten  Jahrhunderts.  In  Konitz 
scheint  den  Gymnasiasten  der  Studentenrang  eingeräumt 
worden  zu  sein.  Da  werden  diese  Knaben  in  Wirthshäuser  mit^ 
genommen,  zum  Bier  und  zum  Kartenspiel,  da  bändeln  sie  mit 
tmbescholtenen  und  bescholtenen  Mädchen  an  und  Niemand 


158 


wundert  sich,  wenn  er  kört,  daß  Tertianer  oder  Untersekun^ 
daner  in  dichten  Grüppchen  allabendlich  die  Thür  eines  Näh:^ 
maschinengeschäites  belagern,  wo  ein  auflEeillend  hübsches 
Ladenfräulein  angestellt  ist.  Dieser  Heldenschaar  Flügelmann 
war  Ernst  Winter.  Der  körperlich  sehr  entwickelte,  geistig 
zurückgebliebene  Schüler  soll  mit  Christen^  und  Juden^ 
mädchen  geschlechtlich  verkehrt  haben  und  den  paar  Winkel« 
prostituirten  der  Kreisstadt  ein  guter  Kunde  gewesen  sein; 
sicher  ist,  daß  er  die  Gewohnheit  hatte,  ein  sittenpolizeiUch 
kontrolirtes  Frauenzinuner  auf  der  Straße  zuerst  zu  grüßen. 
Ware  er  lebend  je  irgendeines  Vergehens  beschuldigt  worden, 
dann  hätte  der  Ankläger  ihn  wahrscheinUch  einen  &ulen, 
lüderlichen,  moraUsch  verkommenen  Burschen  genannt,  der 
auf  seines  ehrbaren  Vaters  greises  Haupt  Schmach  und 
Schande  häufe.  Nun  ist  er  tot;  und  nun  tauchte  im  Flaidoyer 
sein  Schatten  als  der  eines  »unschuldigen  Jünglings«  auf. 
Dieses  Flaidoyer  war  überhaupt  merkwürdig.  Die  Freußen« 
feier  imd  der  Hohe  Orden  vom  Schwarzen  Adler  wurde 
darin  erwähnt;  Lord  Roberts,  der  Hofgast,  zwar  nicht,  aber  um 
so  öfter  der  Herrgott.  Auch  von  sich  selbst  sprach  der  Erste 
Staatsanwalt  ungewöhnlich  viel.  »Was  in  meinen  beschei« 
denen  Kräften  steht,  will  ich  versuchen,  um  dieses  Verbrechen 
aufzuklären.«  »Ich  bin  ein  völlig  tmparteiischer  Mann  und 
decke  diese  Dinge  auf,  gleichviel,  ob  sie  von  jüdischer  oder 
von  der  entgegengesetzten  Seite  kommen.«  »Ich  führe  eine 
kühne  Sprache  und  weiß  genau,  daß  ich  alle  möglichen  An^ 
griflFe  zu  gewärtigen  habe.«    »Ich  führe  den  Kampf  mit  re« 

159 


gulären  Waiffen,  nicht  gemeinsam  mit  jenen  Schlachten^ 
bummlem.«  »Die  gegen  mich  und  die  Behörde  gerichteten 
Angriffe,  von  welcher  Seite  sie  auch  kommen  mögen,  weise 
ich  zurück.«  ^»Ein  Königlich  Preußischer  Staatsanwalt  kennt 
keine  Furcht.«  Und  so  weiter.  Kein  Wort  streift  die  dem 
Angeklagten  günstigen  Ergebnisse  der  Beweisaufiiahme;  der 
Staatsanwalt  muß  sie  also  für  unerheblich  halten.  Auch  der 
Vorsitzende  verbirgt  nicht,  daß  er  in  Levy  einen  Schuldigen, 
schon  Ueberfuhrten  sieht.  Es  ist  der  selbe  Landgerichts« 
direktor,  der  den  jetzt  Angeklagten  als  Zeugen  verhaften 
ließ.  Er  hält  die  Vertheidiger  fest  im  Zügel.  Von  ihrem  Frage« 
recht  dürfen  sie  nur  den  allerbescheidensten  Gebrauch 
machen  und  jedes  auf  Wahrnehmungen,  Eindrücke  und 
Kritik  deutende  Wort  wird  ihnen  als  »nicht  hierher  gehörige 
Deduktion»  abgeschnitten.  Der  Vorsitzende  aber  läßt  die 
vor  ihm  sitzenden  Laienrichter  seine  Eindrücke  deutlich  sehen. 
Dreier  Zeuginnen  Aussagen  sind  nicht  zu  vereinen.  Zwei 
Judenfräulein  beschwören,  sie  seien  nie  mit  Winter  und  Levy 
zusammengewesen;  ein  christliches  Dienstmädchen  beschwört, 
es  habe  Winter  und  Levy  in  der  Gesellschaft  dieser  beiden 
Jüdinnen  gesehen.  Alle  Drei  bleiben  unerschütterlich  bei  ihren 
Aussagen.  Nach  langem  Hin  und  Her  fragt  der  Vorsitzende  die 
Christin  (nur  sie),  ob  sie  unter  Anrufung  des  allmächtigen 
und  allwissenden  Gottes  noch  immer  behaupten  könne,  die 
Wahrheit  gesagt  zu  haben.  Antwort:  Ja.  Wirkung  auf  die 
Geschworenen:  der  im  Saal  höchste  Richter  hält  die  Aus^ 
sagen  der  Jüdinnen  für  unglaubhaft.  Winters  bester  Freund, 

160 


der  Gymnasiast  Hans  Boeck,  wird  vernommen  und  bekun^ 
det,  er  habe  nie  irgendeinen  Verkehr  zwischen  Winter  und 
Levy  gesehen;  Winter  habe  ihm,  trotzdem  sie  Levy  sehr  oft 
trafen,  auch  nie  angedeutet,  daß  er  den  Schlächtergesellen 
kenne.  Dieses  Zeugniß  eines  christlichen  Schülers,  einer  der 
»unbefangenen  kindlichen  Seelen  ohne  Falsch«,  auf  deren 
Bekundungen  der  Staatsanwalt  das  Hauptgewicht  legen 
möchte,  ist  der  Anklage  ungünstig.  Der  Staatsanwalt  erhebt 
sich  und  fragt:  »Können  Sie  bestimmt  behaupten,  daß  Sie 
Winter  und  den  Angeklagten  niemals  zusammen  gesehen 
haben,  oder  wollen  Sie  sagen,  daß  Sie  sich  nicht  daran  er^ 
innem?«  Der  Schüler,  der  eben  ganz  bestimmt  ausgesagt 
hatte,  wird  schon  ein  Bischen  ängstlich,  antwortet  aber  noch, 
er  halte  für  ausgeschlossen,  daß  er  jemals  Winter  mit  den^ 
Angeklagten  zusammen  gesehen  habe.  Wieder  fordert  der 
Staatsanwalt  eine  ganz  bestimmte  Antwort;  diesmal  in  schäri« 
ferem  Ton.  Durch  das  Hirn  des  verschüchterten  Schülers 
zuckt  der  Gedanke,  was  aus  ihm  werden  solle,  wenn  morgen 
vielleicht  zehn,  zwanzig  Zeugen  beschwören,  daß  sie  ihn  im 
Verkehr  mit  Winter  und  Levy  gesehen  haben.  Er  sagt  nun: 
»Ich  erinnere  mich  nicht  mehr.«  Das  ist  bequemer;  ist  un«» 
gefahrlich.  Und  nun  resumirt  der  Vorsitzende:  »Sie  sagen 
also,  Sie  haben  einen  Verkehr  zwischen  Winter  und  Levy 
nicht  wahrgenommen,  geben  aber  die  Möglichkeit  eines  sol^ 
chen  Verkehrs  zu?«  Antwort:  »Jawohl«.  Jeder  gewissen^ 
hafte  Mensch  müßte  diese  Möglichkeit  zugeben.  Die  wich:^ 
tige,  dem  Angeklagten  anfangs  höchst  günstige  Aussage  des 

IMll  161 


dem  Ermordeten  befreundetsten  Zeugen  ist  aber  für  den 
Entlastungbeweis  nicht  mehr  zu  brauchen.  Als  ein  großer 
Theil  der  Belastungzeugen  aufinarschirt  ist,  fragt  der  Vor# 
sitzende  den  Angeklagten,  ob  er  unter  dem  Eindruck  so 
vieler  einwandfreien  Zeugenaussagen  nicht  lieber  ein  oflFenes 
Geständniß  ablegen  wolle.  Wirkung  auf  die  Geschworenen: 
der  Vorsitzende  sieht  den  Schuldbeweis  als  geführt  an. 

Friedrich  Hebbel  schrieb  einmal  in  sein  Tagebuch:  »In^ 
dem  ich  eben  im  Neuen  Pitaval  die  Gräuelgeschichte  vom 
Magister  Tinius  lese,  drängt  sich  mir  eine  Betrachtung  auf, 
die  der  Kriminalist,  wie  mir  scheint,  kaum  genug  beherzigen 
kann,  '^e  viel  hängt  bei  solchen  Prozessen  von  den  Zeu« 
genaussagen  ab,  —  imd  bei  den  Zeugenaussagen  wie  viel 
von  genauer  Ermittelung  und  Feststellung  solcher  Dinge, 
über  die  vielleicht  kein  Mensch  in  Wahrheit  etwas  Bestimme 
tes  anzugeben  vermagl  Wenn  ich  nun,  zum  Beispiel,  über 
eine  einzige  der  vielen  Personen,  mit  denen  ich  auf  meiner 
letzten  Reise  zusammenkam,  ja,  über  einen  meiner  intimsten 
Freunde  angeben  solllte,  zu  welcher  Zeit  an  einem  gewissen 
Tage  ich  ihn  gesehen  habe,  wie  er  bekleidet  gewesen  sei, 
und  Aehnliches  mehr:  ich  würde  unfiihig  sein,  es  zu  thun.« 
Ein  Spürergenie  spricht.  Solche  Skrupel  und  Zweifel  plagen  die 
guten  Konitzer  nicht;  weder  Richter  noch  Laien.  Ein  Eid  ist 
ihnen  ein  Eid  und  ihr  Gedächtniß  leistet  mehr  als  das  des 
Dichters  der  Nibelungen.  Ernst  Winter  war  fist  ein  Jahr 
schon  tot.   Noch  am  Tag  der  Verhandlung  gegen  Levy  aber 

162 


können  einunddreißig  Zeugen,  Schüler,  Lehrlinge,  Hand« 
werker,  Nachtwächter,  »Höhere  Töchter«,  Dienstmädchen  und 
Dirnen,  beschwören,  daß  sie  an  dem  und  dem  Tage  um  die 
und  die  Stunde  den  Gymnasiasten,  der  damals  doch  sicher 
nicht  eine  interessirende  Persönlichkeit  war,  im  Gespräch  mit 
dem  Schlächtergesellen  gesehen  haben.  Kein  Freund  und  kein 
Lehrer  Unters  weiß  von  solchem  Verkehr,  keiner  hat  je  nur 
davon  gehört,  doch  jeder  muß  die  »Möglichkeit«  zugeben. 
Und  die  Zeugen  sind  standhaft.  Zwar  haben  sie  anfangs, 
als  sie  von  Kriminalkommissaren  vernommen  wurden,  nichts 
von  dem  Verkehr  gewußt;  jetzt  aber  erinnern  sie  sich.  Zwar 
giebt  es  in  Konitz  drei  junge  Leute,  die  Winter  ähneln;  aber 
die  Zeugen  sind  doch  nicht  blind  und  ein  Irrthum  ist  bei 
ihnen  ganz  ausgeschlossen.  Zwar  hat  ein  Gymnasialprofessor 
mit  eigenen  Ohren  gehört,  wie  die  Hauptzeugin  auf  oflFener 
Straße  zu  einem  Bekannten  sagte:  »Wir  müssen  Moritz  Levy 
meineidig  machen.«  Das  war  aber  gewiß  nur  Mädchenge« 
schwätz.  Ein  Eid  ist  ein  Eid;  und  wenn  zwei  Menschen  über  die 
selbe  Thatsache  unter  dem  Eid  nicht  genau  das  Selbe  ausi» 
sagen,  muß  Einer  einen  Meineid  geschworen  haben.  Das  sei 
nicht  nöthig?  Jeder  von  Beiden  könne  seine  Aussage  in 
gutem  Glauben  beschworen  haben?  Und  man  müsse  auch  die 
Macht  der  Suggestion  und  das  Walten  der  Phantasie  wägen, 
besonders  sorgsam  in  einer  Stadt,  wo  zwei  Fanatismen  au& 
einanderstießen  und  nur  Wenige  sich  die  ruhige  Klarheit  des 
Auges  bewahrten?  Unsinn I  Mit  solchen  modernen  Schrullen 
haben  wir  nichts  zu  thun.  Es  giebt  nur  eine  Wahrheit  und  nur 

!!•  163 


einen  allvdssenden,  allmächtigen,  aÜgütigen  Gott.  Zu  Dem 
beten  wir.  Dem  müssen  wit  helfen,  damit  der  Verbrecher 
endlich  gefaßt  und  bestraft  wird.  Wir  sind  überzeugt,  daß 
Moritz  Levy,  wenn  er  nicht  selbst  der  Mörder  war,  dem 
Mörder  Beihilfe  geleistet  hat.  Und  diese  Ueberzeugung  hat 
unser  Gedächtniß  so  gestärkt,  daß  wir  uns  jetzt  ganz  genau 
erinnern,  Winters  Verkehr  mit  Levy  gesehen  zu  haben  .  .  . 
Möglich  bleibt,  daß  der  Schlächtergeselle  dreimal  einen 
Meineid  geschworen  hat.  Er  und  sein  Vater  war  von  den 
konitzer  Judenfeinden  des  Mordes  beschuldigt  worden.  Moritz 
konnte  sich  sagen:  Gebe  ich  überhaupt  zu,  daß  ich  Winter 
kannte,  dann  bin  ich,  ist  mein  Vater  verloren;  dann  schlagen 
die  zornigen  Christen  uns  auf  oflFener  Straße  tot;  oder,  im 
besseren  Fall,  wird  vor  Gericht  von  uns  der  Beweis  verlangt, 
daß  wir  Winter  nicht  gemordet  haben.  So  schwor  er  ziun 
ersten  Male.  Trieb  ihn  zur  strafbaren  Handlung  dann  nicht 
»eine  unwiderstehliche  Gewalt  oder  eine  Drohung,  die  mit 
einer  gegenwärtigen,  auf  andere  Weise  nicht  abwendbaren 
Gefahr  fiir  Leib  und  Leben  seiner  selbst  oder  eines  Angei^ 
hörigen  verbunden  war«,  und  mußte  er  deshalb,  nach  dem 
zweiundfiinfzigsten  Paragraphen  des  Reichsstrafgesetzbuches, 
nicht  straflos  bleiben?  Als  er  zum  zweiten  und  dritten  Mal 
schwor,  war  er  durch  den  ersten  Eid  gebunden.  So  kann  es 
gewesen  sein;  daß  es  so  gewesen  ist:  dafür  geben  die  AuSf^ 
sagen  der  einunddreißig  Zeugen  dem  modernen  Kriminalisten 
nicht  die  geringste  Gewähr.  Wo  aber  sind  diese  modernen 
Kriminalisten?  Sie  schreiben  dicke  Lehrbücher,  deuten  den 


164 


Studenten  das  geltende  Recht  und  merken  gar  nicht»  daß  die 
Stra&echtspflege  jeden  Zusammenhang  mit  der  ^ssenschaft 
und  der  Weltanschauung  unserer  Tage  verloren  hat.  Wenn 
sie,  statt  am  Schreibtisch  zu  sitzen,  in  die  Gerichtssäle  gingen 
imd  hörten,  wie  »thatsächlich  festgestellt«,  argumentirt  und 
judizirt  wird,  dann  würden  sie  ihres  Lebens  Ziel  nur  in  der 
Erfüllung  der  einen  Forderung  noch  sehen:  die  Gerechtig^ 
keitpflege  möge  auf  völlig  neue  Fundamente  gestellt  werden. 
Möge  nicht  femer  »festzustellen«  streben,  daß  die  Thatbe^ 
Standsmerkmale  allenfalls  »zur  Verurtheilung  ausreichen«, 
sondern  ein  anderes  Ziel,  mit  der  Seele,  suchen:  die  Fest» 
Stellung  der  Umstände,  unter  deren  Einwirkung  ein  Mensch 
geworden  ist  und  bisher  gehandelt  hat  und  deren  unbefangene 
Deutung  (nicht  die  Gewißheit  zwar,  doch)  den  guten  Glauben 
festmörteln  kann,  daß  dieser  bestimmte  Mensch  in  diese  That 
schreiten,  gleiten,  straucheln  mußte. 


165 


FÜRST  EULENBURG. 


Genesis. 

Vor  zwei  Jahrzehnten  hörte  ich  aus  Bismarcks  Munde 
die  ersten  Urtheile  über  den  Grafen  Philipp  zu  Eulenbiurg, 
der  1891,  als  Nachfolger  des  Grafen  Kuno  Rantzau,  zum 
Preußischen  Gesandten  in  München  ernannt  worden  war. 
Im  Lauf  der  nächsten  Jahre  sprach  Bismarck  oft  über  den 
Mann,  der  am  Tag  der  Entlassung  des  ersten  Kanzlers  dem 
Kaiser  Stunden  lang  seine  amusischen  Balladen  vorgelesen 
hatte  und  der  dem  Entlassenen  der  gefahrlichste  Berather  eines 
jungen,  nach  Bethätigungmöglichkeiten  ausspähenden  Herrn 
schien  »Als  Politiker  nicht  ernst  zu  nehmen.  Als  Diplomat 
auf  wichtigem  Posten  nicht  verwendbar.  Aber  sehr  schicke 
lieh,  belesen,  liebenswürdig.  Etwas  wie  ein  preußischer  Gag^ 
liostro.  Augen,  die  mir  das  beste  Frühstück  verderben  könn^ 
ten.  Werden  will  er  nichts ;  weder  Staatssekretär  noch  Kanz^ 
1er.  Die  Zeitungen  wissen  da  nicht  Bescheid.  Er  denkt: 
L*amitie  d'un  grand  homme  est  un  bienfait  des  dieux  (wie 
es  ja  wohl  in  dem  Stück  Voltaires  heißt,  das  Napoleon  in 
ErÄut  vor  dem  Parquet  von  Königen  auffuhren  ließ).  Mehr 
verlangt   er   nicht.     Schwärmer,    Spiritist,    romantisirender 

169 


Schönredner  im  Stil  von  Radowitz  (Vater),  der  so  geschickt 
den  Garderobier  der  mittelalterlichen  Phantasie  des  Königs 
machte.  Für  das  dramatische  Temperament  unseres  Kaisers 
ist  die  Sorte  ganz  besonders  gfefährlich.  Wenn  er  in  der 
Nähe  des  hohen  Herrn  ist,  nimmt  Eulenburg  Adoranten^ 
Stellungen  ein.  Meinetwegen  ganz  aufrichtig.  Nützlich  ist 
Anbetung  Unsereinem  aber  nie.  Sobald  der  Kaiser  aufblickt, 
ist  er  sicher,  dieses  Auge  schwärmerisch  auf  sich  geheftet  zu 
sehen.  »Pater  ecstaticus,  aufr  und  abschwebend' :  Faust  letzter 
Akt  Hier  ists  kein  pater,  sondern  ein  filius.  Nicht  Phili, 
sondern:  fili.  Einer  von  Denen,  die  mir  das  Geschäft  stör^ 
ten,  aber  nie  zu  fasstn  waren.  Mit  allerlei  Mystizismus  und 
Spuk  hat  er  sich  wohl  mehr  beschäftigt  als  mit  Politik;  im 
diplomatischen  Examen  hats  gehapert«  Auch  auf  das  norm^ 
widrige  Sexualempfinden  des  Mannes  hat,  zur  Erklärung  der 
besonderen  Wesensart,  Bismarck  damals  schon  hingewiesen. 
Nicht  wüthend,  sondern  ironisch;  von  ganz  oben  herab. 
Doch  ungemein  deutlich.  Geheimrath  Schweninger  hat  unter 
seinem  Eid  darüber  gesagt:  »Fürst  Otto  von  Bismarck  und 
sein  Sohn  Herbert  haben  das  "^^rken  Eulenburgs,  namentlich 
auf  dem  Gebiete  der  Personalien  und  in  der  Rolle  eines  be^ 
freundeten  unverantwortlichen  Rathgebers,  für  unheilvoll  ge^ 
halten  und  wiederholt  auch  von  einer  geschlechtlich  abnorm 
men  Veranlagung  Eulenburgs  gesprochen,  die,  verbunden  mit 
einer  Neigung  ins  Mystische,  nebelhaft  Schwärmerische,  ihn 
nicht  zum  Vertrauten  eines  regirenden  Fürsten  qualifizire.« 
Eine  höchst  drastische  Redensart,  die  Schweninger  im  Haus 

170 


Bismarcks  oft  über  Eulenburg  gehört  und  vor  dem  ihm  ver# 
nehmenden  Richter,  dem  Staatsanwalt  und  dem  Justizrath 
Bernstein  bekundet  hat,  ist  in  das  Protokol  nicht  au%enom^ 
men  worden.  (Hier  ist  zu  erwähnen,  daß  Bismarcks  Arzt 
nicht  den  geringsten  Grund  hatte,  dem  Grafen  Philipp  per^ 
sönlich  zu  grollen.  Die  Kunst  dieses  Arztes  hatte  in  Eulen^ 
bürg  (liih  einen  begeisterten  Lobredner  gefunden.  Schon  1884 
schrieb  er  an  seinen  homosexuellen  Freund  Fritz  von  Farenheid^ 
Beynuhnen:  »Eine  Anleitung  für  diätarisches  Verhalten 
w&de  Dir  Keiner  besser  geben  können  als  Dr.  Schweninger, 
der  dem  Fürsten  Bismarck  im  Lauf  eines  Jahres  sechzig  Pfund 
Körpergewicht  entzog  und  ihn  zu  einem  gesunden  Mann 
machte.  Ich  bin  mit  Schweninger  gut  bekannt  und  wünsche 
sehr,  daß  Du  seinen  Rath  hörtest  Gern  übernehme  ich  die 
Vermittlung  dieser  wichtigen  Sache.«  Er  übernahm  sie,  nach^ 
dem  der  »geliebte  Fritz«  dem  »geliebten,  theuren  Freund« 
gedankt  und  ihn  »aufs  Innigste  umarmt«  hatte.  »Mit  Pro# 
fessor  Schweninger  sprach  ich  lange  Deinetwegen  in  Berlin. 
Er  wird  sich  freuen.  Dir  seinen  Rath  zu  geben,  und  hofit, 
Dir  helfen  zu  können,  wenn  Du  seine  vorgeschriebene  Diät 
befolgst.  An  dem  Kanzler  habe  ich  einen  staunenswerthen 
Erfolg  seiner  Kur  gesehen.«  Farenheid  antwortet:  »Also 
Schweninger  für  immer  I«  Und  Beide  rühmen  nun  gemeine 
sam  die  Heilkunst  des  Professors.  Mit  diesem  Arzt,  der 
Philipp  Eulenburg  und  dessen  Freunde  genau  kennt  und 
dem  Grafen  Kuno  Moltke  durch  Heiyath  verwandt  ist,  habe 
ich  die  ganze  Angelegenheit  mit  all  ihren  Symptomen  und 

171 


Vdrkungen  oft  bis  ins  Kleinste  durchgesprochen.  Das  ist 
durch  beeidete  Aussage  erwiesen.  Die  Vierte  Strafkammer 
hatte  sich  um  diese  Aussage,  die  ihr  in  protokolirtem  Wort^ 
laut  vorlag,  nicht  gekiunmert  und  mir  in  ihrem  ersten  Spruch, 
vorgeworfen,  ich  habe  in  strafbarer  Leichtfertigkeit  versäumt, 
Rath  und  Urtheil  eines  Arztes  zu  erbitten.  Des  juges .  .  .) 
Besonders  bitter  wurde  Bismarcks  Kritik,  seit  (1894)  Eulen^ 
bürg  als  Botschafter  nach  V(len  geschickt  worden  war.  Auf 
diesen  schwierigen,  nach  dem  Verzicht  auf  den  russischen 
Assekuranzvertrag  doppelt  wichtigen  Posten  passe  er  gar 
nicht;  überhaupt  nicht  auf  einen  Platz  ersten  Ranges.  Solche 
Plätze  seien  nicht  nach  persönlicher  Gunst  und  Liebhaberei 
zu  besetzen.  Nach  Wien  gehöre  ein  erfahrener,  nüchterner. 
Mann,  der  das  zu  reichlicher  Repräsentation  nöthige  Geld 
und  eine  dem  österreichischen  Hochadel  imponirende  Frau 
habe,  den  dem  alten  Kaiser  bequemen  trockenen  Ton  treffe, 
sich  vor  phantastischen  Sprüngen  hüte  und  jedes  TechteU 
mechtel  mit  Alldeutschen  oder  Tschechen,  Polen  oder  Ma^ 
gyaren,  mit  allen  Förderern  einer  deutschen  Expansion  ins 
Böhmische  oder  Türkische  ängstlich  meide.  Mit  seiner  ttte 
de  linotte,  seiner  komoediantischen  Sucht,  durch  »Einfalle« 
an  der  maßgebenden  Stelle  Applaus  zu  finden,  sei  Philipp 
Eulenburg  dort  eine  stete  Gefahr.  Geringes  Vermögen;  eine 
Frau  ohne  Salontalente;  keine  Ausdauer  zu  einförmiger  Ar^ 
beit,  der  aller  Reiz  der  Emotion  und  Sensation  fehlt;  und, 
als  dem  Kreis  des  Mystikers  Rudolf  Liechtenstein  Angehp^ 
riger,  Katholiken  und  Nationalisten  ein  Aergenuß.  Man  müsse 

172 


sciion  froii  sein,  wenns  nickt  wieder  üble  Nachrede  von  der 
Art  der  aus  Oldenburg,  München,  Stuttgart  gehörten  gebe. 
»Unter  den  Kinaeden  sollen  ja  ganz  gute  Feldherren  gewesen 
sein;  gute  Diplomaten  habe  ich  in  der  Sorte  noch  nicht  ge^ 
(imden.  Und  ich  kenne  sie  schon  aus  der  Zeit,  wo  ich  unter 
Brauchitsch  als  Auskultator  beim  Kriminalgericht  gegen  solche 
Leute  eine  Untersuchung  zu  fuhren  hatte.«  (»Die  Verzweis« 
gungen  dieser  Gesellschaft  reichten  bis  in  hohe  Kreise  hin^ 
auf.  Es  wurde  dem  Einfluß  des  Fürsten  Wittgenstein  zuge^ 
schrieben,  daß  die  Akten  von  dem  Justizministerium  tin^ 
gefordert  und,  wenigstens  während  meiner  Thätigkeit  an  dem 
Kriminalgericht,  nicht  zurückgegeben  wurden.«  ,Gedanken 
und  Erinnerungen/  Ob  der  Wunsch  Wittgensteins  hierbei 
wirksamer  war  als  die  Furcht,  den  Prinzen  Heinrich  von 
Preußen,  den  Sohn  Friedrich  Wilhelms  des  Zweiten,  zu  kom«« 
promittiren,  oder  ob  Wittgenstein  den  Prinzen,  den  er  vom 
Krieg  her  kannte,  schützen  wollte,  ist  heute  nicht  mehr  festzu^^ 
stellen.)  Gegen  Philipps  Ernennung  zum  Generalintendanten 
der  Königlichen  Schauspiele,  die  vor  und  während  der  Amts;: 
thätigkeit  des  Grafen  Hochberg  in  Frage  kam,  hätte  Bismarck 
nichts  einzuwenden  gehabt;  für  eine  Botschaft  fand  er  ihn 
unzulänglich.  Und  ich  war  so  leichtfertig,  dem  vor  meinem 
Ohr  oft  in  kühlem  Ton  wiederholten  Urtheil  zu  glauben. 
Ich  las  Einiges  von  den  Skaldensängen,  Märchen,  Erzählungen 
des  Graten;  auch  ein  Drama.  Durchschnittsdilettantenwaare. 
Ein  peinlicher  Gedanke,  daß  diese  Kost  dem  regen  Geist 
des  jungen  Kaisers  kredenzt  werde;  daß  er  bei  ihr  in  der 


173 


Schicksalsstunde,  die  ihn  von  dem  Reichsschöpfer  trennte, 
Trost  gesucht  habe ;  daß  die  KunstaufFassung  des  Farenheidr 
Zöglings,  den  ein  nachgemachtes  Medicäerflorenz  das  Ziel 
artistischer  Kulturwiinsche  dünkte,  dem  mächtigsten  Deutschen 
das  starke  SchaflFen  mit  ihm  Lebender  verleide.  Restaurirte 
Burgen,  Puppenalleen,  deren  Glanzpunkte  den  schlechten 
Beministil  geistlos  wiederholen,  Prunkceremonien,  Aegir^ 
musik,  politisch^religiöse  Allegorien,  ^^kinger  mi^den  Ge^ 
stalten  eines  Hadrian  und  Antinous  nachgestiimpertem  Emis 
pfindungleben,  bunter  Opemplunder  auf  Marktplätzen  und 
Schaugerüsten :  Das  ist  philischer  Geschmack ;  der  Geschmack 
Eines,  der  vom  Scheitel  bis  zur  Sohle  ein  Theatermensch  ist 
und  oft  der  Hofschauspieler  genannt  ward.  Mußte  so  auch 
der  Geschmack  des  gekrönten  Soldaten  und  Seemannes  bleii« 
ben,  der  auf  anderem  Gebiet  begierig  nach  dem  Modernsten 
griff?  Philipp  Eulenburg  war  der  erste  nach  Artistenstunss 
mung  langende  Mensch,  der  dem  im  Heim  der  Makartbou«: 
quets,  der  Talmirenaissance,  der  Kunstverkündungen  der 
Werner,  Hertel,  Seckendorff  erwachsenen  Prinzen  Wdhelm 
näher  trat:  und  die  frühsten  Eindrücke  sind  aus  einer 
empfanglichen  Seele  niemals  leicht  weg  zu  harken. 

In  das  Jahr  1894  fiel  der  Feldzug  des  Hannoveraners  Pol« 
storff  (Redakteurs  am  Kladderadatsch)  gegen  die  Trias  Eulen«« 
burg^Holstein^Kiderlen,  der  den  Namen  des  unschuldigen 
Ceremonienmeisters  Lebrecht  von  Kotze  umzüngelnde  Ho& 
Skandal  und  die  Entlassung  des  zweiten  Kanzlers.  Herr  von 
Holstein  wollte  schießen,  fand  in  Herbert  und  Henckel  aber 


174 


nicht  die  gesuchten  Instigatoren;  Herr  von  Kiderlen  schoß; 
Graf  Philipp  Eulenburg,  der  Hauptangeklagte,  rührte  sich 
nicht:  er  wurde  von  der  berliner  Sittenpolizei  schon  damals 
den  Männerfreunden  zugezählt  und  mußte  das  Licht  scheuen. 
Die  an  dem  Briefskandal  Schuldigen  sind  öflFentlich  nie  ge«« 
nannt  worden;  die  Thatsache,  daß  die  Niedertracht  sich  gegen 
die  schöne  Frau  eines  homosexuellen  Hofherm  richtete, 
konnte  auf  die  Spur  helfen.  Am  Sturz  Caprivis  hat  Phili, 
wie  Jeder  weiß,  mitgewirkt.  Daß  er  ein  paar  Monate  vorher 
über  die  Möglichkeit  dieses  Sturzes  laut  gestöhnt  und  den 
General  von  Hahnke  als  Caprivis  tückischen  Totfeind  ver^ 
dächtigt  hatte,  sieht  ihm  ganz  ähnlich.  Blieb  das  Auswärtige 
Amt.  Herr  von  Marschall,  der  in  den  Personalien  der  will^ 
£ihrige  Erfiiller  liebenberger  Wiinsche  gewesen  war,  schien 
ein  Bischen  verbraucht  und  schon  durch  seine  Vorbildung 
und  die  immer  präsente  Zungenfertigkeit  für  das  Innere  (wo 
Boetticher  nun  doch  locker  wurde)  besser  geeignet  als  für 
das  Internationale.  Wer  sollte  dahin?  Herr  von  Holstein 
dachte  an  Eulenburg  (welches  Unheil  dieses  Planes  Gelingen 
herauibeschworen  hätte,  hat  er  bald  eingesehen).  Der  wollte 
nicht.  Wollte  lieber  der  unsichtbare,  unfaßbare  Freund  des 
höchsten  Herrn  bleiben;  und  bat  in  Karlsruhe  Chlodvrig 
Hohenlohe,  Holstein  von  diesem  Gedanken  abzubringen. 
Seitdem  hatte  Adolf  Freiherr  Marschall  von  Bieberstein 
schlechte  Zeit.  Er  wähnte  sich  von  heimlich  durchs  Dunkel 
schleichenden  Feinden  bedroht,  von  Polizeiagenten  umlauert; 
und  die  ihm  ergebene  Presse  warnte  täglich  vor  einer  in  der 

175 


iFinsterniß  thronenden  »Nebenregirung«,  die  den  Verantt? 
wortlichen  den  Weg  in  starke  Erfolge  sperre.  Wo  die  Häupter 
dieser  unheiligen**.  Schaar  zu  suchen  seien,  Idbrte  der  Ertrag 
der  landgerichtlichen  Hauptverhandlungen  gegen  den  Jour^ 
nalisten  Leckert,  den  Polizeiagenten  von  Lützow,  den  Knu 
minalkommissar  von  Tausch.  Der  Kommissar  sagte  als  be^ 
eideter  Zeuge,  er  sei  in  der  Sache  PolstorflF  dem  Grafen  Vhu 
lipp  Eulenburg  behilflich  gewesen,  der  ihm,  zum  Dank  dafür, 
in  Wien  den  Orden  der  Eisernen  Krone  erwirkt,  aber  auch 
gebeten  habe.  Alles,  was  den  Botschafter  interessiren  könne, 
brieflich  zu  melden.  Als  Angeklagter  hat  er  hinzugefügt,  ein 
Schutzmann  seiner  Abtheilung  habe  den  Grafen  Philipp  oft 
besucht  und  Mittheilungen  hin  und  her  getragen.  (Diesen 
Schutzmann  hatte  Graf  Eulenburg  als  Matrosen  auf  der 
»Hohenzollem«  kennen  gelernt  und  als  Diener  an  einen  ihm 
aus  der  münchener  Zeit  als  homosexuell  bekannten  Freiherm 
empfohlen.)  Der  Polizeiagent  Lützow  sagte  aus,  Tausch  habe 
bei  ihm  Berichte  bestellt,  die  an  Eulenburg  gingen  und  deren 
Inhalt  der  Botschafter  dann  in  persönlichen  Briefen  dem 
Kaiser  übermittelte.  Graf  Philipp  wurde  in  beiden  Prozessen 
beeidet  und  gehört;  seine  Aussagen  lauteten: 

Im  Dezember  1896:  Im  Mai  1897: 

»Ich  habe  absolut  keine  Be«  Ich   halte   es  durchaus   nicht 

Ziehungen  zu  Herrn  von  Tausch  für  unwahrscheinlich,    daß   ich 

gehabt  als  ganz  äußerliche,  ge«  Herrn  von  Tausch  aufgefordert 

sellschaftliche  bei  der  Begegnung  habe,   mir   zu   schreiben;    denn 

im  dienstlichen  Leben.   Ich  habe  ich   habe    mit    ihm    vertraulich 

ihm  nur  einmal  geschrieben;  in  verkehrt.    Für  den  Laien  hat  ein 

176 


freundlicher  Weise  für  eine  Auf» 
merksamkeit  gedankt  und  gesagt, 
daß  er  mich  vielleicht  in  Berlin 
sprechen  könne.  Schon  damals 
hatte  ich  nicht  die  Absicht, 
Herrn  von  Tausch  zu  empfangen, 
trotzdem  er  mir  »interessante  Mit« 
theilungen*  versprach;  weil  inter« 
essante  Mittheilungen  eines  Po« 
lizeikommissars  für  mich  unin« 
teressant  sind,  wenn  sie  mich 
nicht  angehen.« 


Kriminalkommissar  ja  ein  ge# 
wisses  Interesse.  Man  denkt  sich, 
daß  er  alle  Geheimnisse  der  Erde 
kennt.  Deshalb  ist  es  mir  nicht 
unwahrscheinlich,  daß  ich  ihm 
einmal  gesagt  habe:  Wenn  Sie 
Interessantes  haben,  theilen  Sie 
es  mir  miti  Das  kann  sich  aber 
wohl  nur  auf  das  Interessante 
bezogen  haben,  was  damals  unser 
Leben  mit  sich  brachte;  die  Reise 
Seiner  Majestät  des  Kaisers  und 
so  weiter.« 


Vor  deutschen  Gerichten  lautet  die  Eidesformel:  »Ich 
schwöre  bei  Gott,  dem  Allmächtigen  und  Allwissenden,  daß 
ich  die  reine  Wahrheit  sagen,  nichts  verschweigen  und  nichts 
hinzusetzen  werde.  So  wahr  mir  Gott  helfe  I«  Welche  Aus^ 
sage  Eulenburgs  war  objektiv  richtig?  Die  zweite  hörte  der 
Kriminalkommissar  vom  Sitz  des  Angeklagten  aus;  er  hatte 
nichts  Amtliches  mehr  zu  verlieren  und  konnte  in  der  Ver^ 
zweiflung  nach  gefahrlichen  Mitteln  greifen.  Im  Dezember 
1896  hatte  der  bedrängte,  gebrochene  Mann  mich  aufgesucht, 
weinend  seiner  Unschuld  versichert  und  den  Ursprung  des 
ihn  ump&uchenden  Verdachtes  erzählt.  Ein  Mächtiger  mochte 
ihn  verpflichtet  haben,  Herrn  von  Marschall  auf  den  Preß^ 
dienst  zu  passen;  der  Agentenbericht,  der  dem  Staatssekrei» 
tär  eine  den  Oberhofmarschall  Grafen  August  Eulenburg 
beleidigende  Notiz  zuschrieb,  mußte  den  Gönner  interessiren. 
Zwei  Tage  nach  seinem  Besuch  wurde  Tausch  verhaftet  und 


12.  III 


177 


des  Meineids  beschuldigt.  Nach  seiner  Freisprechung  kam 
er  wieder  zu  mir.  Er  hat  mir  Briefe  von  der  Hand  Wäldern 
sees  und  Philis  gezeigt;  der  Botschafter  spendete  ihm  darin 
die  Anrede:  »Mein  lieber  Herr  von  Tauschi«  Den  Erzähl 
lungen  entnahm  ich,  daß  es  zwischen  den  beiden  Brie& 
Schreibern  Beziehungen  gab  (wie  Bismarck  immer  vermuthet 
hatte);  daß  der  Kommissar  auch  von  dem  Flügeladjutanten 
Grafen  Kuno  Moltke  empfangen  worden  war;  und  daß  Eulen# 
bürg  mit  Madais  homosexuellem  Nachfolger  gut  gestanden 
habe;  unter  dem  nächsten  Polizeipräsidenten  sei  er  schon 
beobachtet,  seien  über  ihn  umlaufende  Gerüchte  notirt, 
Thatsachen,  die  zu  einem  (der  Polizei  recht  unbequemen) 
Einschreiten  zwingen  mußten,  aber  nicht  festgestellt  worden. 
Das  war  im  Sommer  1897.  Nach  dem  Prozeß  hatte  der 
Botschafter  über  Gicht  und  Neuralgie  geklagt  und  den 
Freunden  von  der  Absicht  gesprochen,  den  Widrigkeiten 
des  politischen  Lebens  bald  zu  entfliehen.  Er  erholte  sich 
aber  und  blieb.  Im  Herbst  mußte  Herr  von  Marschall,  der  ihm 
so  lästige  Zeugenpflicht  aufgebürdet  hatte,  Herrn  von  Bülow 
weichen,  der  unter  Hohenlohe  mit  ihm  in  Paris  Sekretär  ge^ 
wesen  war.  Um  die  selbe  Zeit  bewies  Wilhelms  Magyaren^ 
Verherrlichung  (die  den  Kroaten  Zriny  zu  Arpads  Söhnen 
zählte,  in  der  Hofburg  verstimmte  und  die  Schwierigkeit 
austro^ungarischen  Reichsausgleiches  mehrte),  wie  ungenügend 
der  Botschafter  den  Kaiser  informire.  Das  schadete  ihm  nicht. 
Auch  nicht,  daß  er  mit  Kasimir  Badeni  zu  weit  gegangen 
war  und  bei  mancherlei  Anlässen  in  übles  Gerede  kam: 


178 


durch  die  Rolle,  die  er  im  moltkischen  Ehezwist  spielte,  und 
durch  seine  Neigung  ins  Okkultistische;  durch  den  aufFal^ 
lend  freundschaftlichen  Verkehr  mit  seinem  Sekretär  Kistler; 
durch  das  Legat,  das  ihm,  dem  Vertreter  einer  fremden  Großi* 
macht,  Nathi  Rothschild  hinterließ.  Nichts.  (Der  währet 
ewiglich,  meinte  Bismarck,  der  nicht  immer  fromm  sprach, 
noch  im  letzten  Lebensjahr,  und  nannte  ihn  den  von  Schillers 
Weisem  gesuchten  ruhenden  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht). 
Am  ersten  Januar  1900  wurde  er  Fürst,  am  siebenundzwan^ 
zigsten  Erbliches  Mitglied  des  Herrenhauses.  Als  noch  nicht 
Dreiundfiinfzigjähriger;  ohne  je  politisch  Nützliches  geleistet 
zu  haben.  Der  erste  Kanzler  ist  nach  drei  Kriegen,  drei 
Siegen  (1871)  Fürst  und  als  Einundsechziger  (im  Sommer 
1876)  Erbliches  Mitglied  des  Herrenhauses  geworden.  Altes 
und  neues  Preußen.  Das  war  die  Gipfelhöhe  philischen 
Glückes.  Im  neuen  Jahrhundert  ging  es  bergab.  Verfeindung 
mit  den  Herren  von  Holstein  und  von  Kiderlen.  Im  Lenz 
1901  muß  der  Bruder  des  Fürsten,  Graf  Triedrich  Botho, 
aus  der  Armee  scheiden,  weil  seine  Homosexualität  ihn  in 
arge  Händel  gebracht  hat;  zugleich  mit  ihm  gehen,  der  sel^ 
ben  Noth  gehorchend,  Graf  Fritz  Hohenau,  ein  Sohn  des 
Prinzen  Albrecht  aus  dessen  zweiter,  morganatischer  Ehe 
mit  Rosalie  von  Rauch,  und  der  Prinz  eines  herzoglichen 
Hauses.  Schon  wird  auf  die  Brüder  der  Geächteten  als  auf 
nicht  minder  Belastete  gewiesen.  Im  letzten  Monat  schreibt 
Richard  Dohna^Schlobitten  (der  am  selben  Tag  wie  Philipp 
in  den  Fürstenstand  erhoben  und  auf  einer  Hofjagd  in  Lieben^ 

12*  179 


berg  von  dem  ungeschickten  Günstling  Kistler  verwundet 
worden  war)  als  Rächer  Hochbergs  und  seines  Intendanz^ 
rathes  Piersons  den  Brief,  der  mit  der  Anrede  »Geehrter 
Filii«  beginnt,  ohne  die  winzigste  Höflichkeitfloskel  schließt 
und  die  Sätze  enthält:  »Du  bist  ganz  einfach  so  verlogen 
daß  es  mir  schwer  auf  das  Gewissen  fallen  muß,  einen  sol^ 
chen  Kerl  in  die  Gesellschaft  unseres  geliebten  AUergnädig^ 
sten  Kaisers,  Königs  und  Herrn  gebracht  zu  haben«  Vde 
Soll  denn  dieser  groß  und  vornehm,  vor  Allem  aber 
durchaus  gerecht  denkende  Monarch  von  uns  denken,  wenn 
das  Alles  einmal  bekannt  wird?  Und  daß  Dies  geschieht, 
wenn  Bolko  mit  seinem  Pierson  die  Generalintendantur  auf 
Seiner  Majestät  Befehl  verlassen  müssen,  dafür  garantire  ich 
Dir.  Es  sind  nur  Deine  innigen  Beziehungen  zu  Eberhard 
und  die  alte,  bis  jetzt  ungetrübte  Freundschaft  unserer  Fami^ 
lien,  welche  mich  vermocht  haben,  in  dieser  traurigen  Sache 
noch  einmal  an  Dich  zu  schreiben.  HoflFentlich  bist  Du  mir 
für  diesen  Entschluß  dankbar.  Ich  kann  nun  einmal  aus 
meinem  Herzen  keine  Mördergrube  machen.«  In  dem  selben 
Brief  wird  festgestellt,  daß  Graf  Hülsen#Haesler,  der  wegen 
seiner  urberlinischen  Derbheit  von  Fhili  seit  den  wiener 
Militärattachetagen  so  oft  bespöttelt  ward,  eine  Angabe  des 
Botschafters  als  Lüge  erwiesen  habe.  Es  ist  nicht  der  einzige 
Brief  dieser  Art,  den  Eulenburg  bekommen  hat;  nicht  der 
schlimmste.  Nach  dem  Empfang  wurde  er  stets  pünktlich 
krank.  Diesmal  half  das  Mittelchen  nicht:  er  mußte,  da  ihm 
mit  Strafmtrag  und  Immediatbericht  an  den  Kaiser  gedroht 

180 


ward,  dem  Geheimrath  Pierson  demfithig  abbitten.  MeU 
leicht  sickerte  Etwas  durch  und  gab  ihm  den  Rest.  Vielleicht 
schienen  seine  Berichte,  die  einem  Kenner  das  Wort  »Ope^ 
rettenpoUtik«  in  die  Feder  drängten,  mit  ihren  hastig  wech# 
selnden  Romantikerplänen  nachgerade  doch  gar  zu  abenteuere 
lieh.  Er  stöhnte  zum  Erbarmen  über  Arterienverkalkung, 
mimte  den  Sterbenden  und  schlich  nach  Liebenberg. 

A.  D.  Zu  rechter  Zeit.  Den  Kruppskandal,  der  bald  dae 
nach  begann,  hätte  er  im  Bannkreis  der  wiener  Spottsucht 
nicht  überlebt.  Damals  sagte  ich:  »Der  Urning  ist  nach  moe 
demer  AufFassung  nicht  ein  Ehrloser,  sondern  ein  Kranker; 
wäre  es  anders,  dann  müßten  viele  Diplomaten,  Höflinge, 
gekrönte  Herren  -sogar  ihre  Häupter  in  Schande  betten.« 
Sagte  auch:  »Im  , Vorwärts'  wurde  die  Legende  der  Grotta 
Azzurra  (die  widernatürlichen  Geschlechtsakte,  deren  sich 
Krupp  auf  Capri  schuldig  gemacht  haben  sollte)  ausführlich 
erzählt.  Warum?  Krupp  war  ein  Großkapitalist,  aber  das 
'Muster  eines  guten  Arbeitgebers;  und  angeborene  oder  ere 
worbene  Homosexualität  hätte  seinen  persönlichen  Werth 
nicht  gemindert.  Wäre  er  beschuldigt  worden,  seine  Untere 
nehmermacht  geschlechtlich  mißbraucht  zu  haben,  oder  hätte 
er  je  den  Chor  der  Keuschen  gefuhrt,  dann  wäre  die  Ver# 
öffentlichung  in  einem  Proletarierblatt  leicht  zu  begreifen 
gewesen;  dann  mußte  der  Katze  die  Schelle  angehängt  wer# 
den.  $o  aber  wars  im  schlimmsten  Fall  nach  heute  noch 
herrschendem  Sittendogma  eine  «Familienschande,  die  der 
politische  Gegner  nicht  auf  den  Markt  zerren  durfte.   Doch 

181 


der  Redakteur  des  »Vorwärts*  ist  angeklagt.  Der  gute  Gbube 
wird  ihm,  der  an  einen  Wahrheitbeweis  gewiß  nicht  mehr 
denkt,  nicht  zu  bestreiten  sein ;  und  es  ist  unanständig,  einen  An< 
geklagten  zu  schelten.  Das  Vernünftigste  wäre,  nach  einer 
oflFenen,  reuigen  Erklärung  das  Verfahren  einzustellen.»  (Das 
zu  bewirken,  wurde  ich  damals  von  vier  Prominenten  der 
Sozialdemokratischen  Partei  mit  dringendem  Eifer  gebeten; 
habe  es,  ohne  daß  die  reuige  Erklärung  nöthig  ward,  erreicht, 
von  den  Meren  überschwingende  Dankreden  gehört;  und 
werde  seitdem  in  der  rothen  Presse  noch  unfläthiger  ge«t 
schimpft  als  zuvor.)  Diese  Sätze,  die  allerlei  Gentlemen 
nach  ihrem  Augenblicksbedürfhiß  flott  umlogen,  sollten 
meinen  Thaten  aus  späterer  Zeit  schroflF  widersprechen. 
Hundertmal  ists  gedruckt  worden.  Ist  es  darum  auch  wahr? 
Nein;  wider  besseres  Wissen  erfunden  oder  leichtfertig  nach«: 
geschwatzt,  ohne  die  Artikel,  um  die  es  sich  handelt,  vorher 
wenigstens  zu  lesen.  Ich  hätte  das  gute  Recht  jedes  Meni* 
sehen,  sogar  jedes  Marxisten,  gehabt,  in  fünf  Jahren  eine 
Meinung  zu  ändern.  Habe  es  im  Urtheil  über  die  Homoi* 
Sexualität  aber  nicht  gethan.  Niemals  freiwillig  die  Ge^ 
schlechtshandlung  eines  Menschen  ans  Licht  gebracht.  Erst 
im  Jahr  1908  habe  ich  die  fürchterliche  Verbreitung  des  Kii» 
naedenthumes  kennen  gelernt  und,  wie  d«r  Referendar  Bis# 
marck,  »die  gleichmachende  Wirkung  des  gemeinschaftlichen 
Betreibens  des  Verbotenen  durch  alle  Stände  hindurch«  deut^ 
lieh  empfunden:  vor  den  Haufen  der  Drohbriefe  aus  nahen 
und  fernen  Städten;  vor  den  Zeichen  einer  Kameradschaft 


182 


die  stärker  ist  als  die  der  Ordensbrüder  und  Maurer,  fester 
hält  und  über  alle  Walle  des  Glaubens,  der  Staaten  und 
Klassen  hinweg  ein  Band  schlingt,  die  einander  Fernsten, 
Fremdesten  zu  Schutz  und  Trutz  in  Brüderlichkeit  vereint. 
Ueberall  sitzen  Männer  aus  dieser  Sippe:  an  Höfen,  in 
Armee  und  Marine  auf  hohen  Posten,  in  Ateliers,  in  den 
Redaktionen  großer  Zeitungen,  auf  den  Stühlen  der  Händler 
und  Lehrer,  der  Richter  sogar.  Alle  verbünden  sich  gegen 
den  gemeinsamen  Feind.  Viele  blicken  auf  den  Normalen 
schon  wie  auf  ein  niederes  Wesen  von  unzulänglicher  »DiStp 
renzirtheit«  herab.  Tausende  fühlen  es  wie  Schmach  und 
Rassengefahr;  dürfen  sich  aber  nicht  regen,  weil  sie  Einen 
in  der  Familie  haben  und  »Rücksicht  nehmen  müssen«.  Das 
hatte  ich  nicht  gewußt.  Seit  ichs  weiß,  bin  ich  nicht  mehr 
so  duldsam  gegen  das  endemisch  gewordene  Uebel,  das  die 
Pariser  schon  vor  zehn  Jahren  le  vice  allemand  zu  nennen 
wagten.  Habe  es  als  eine  Landplage  erkannt.  Noch  aber 
kann  ich  die  Sätze  wiederholen,  die  ich  1907  schrieb: 
»Kranke  soll  man  nicht  strafen  (die  romanischen  Gesetze 
thun  es  nur,  wenn  outrage  public  ä  la  pudeur  festgestellt 
ist) ;  aber  dafür  sorgen,  daß  die  Dienstgewalt  nicht  zu  Sexual«* 
zwecken  mißbraucht,  Knaben,  Jünglingen,  zu  Gehorsam  vers» 
pflichteten  Männein  nicht  zugemuthet  werden  darf,  von  Ge^ 
schlechtsgenossenbeischlafahnlicheHandlungenhinzunehmen. 
Die  Sache  ist  ernst.  Mein  Gefühl  sträubt  sich  gegen  die 
Vorstellung  der  ,Umingliebe'.  Mein  Verstand  muß  zugeben, 
daß  Menschen  von  starkem  Sittlichkeitgefuhl  zu  dieser  Vas* 

183 


rietät  gehörten.  (Manche  freilich  auch,  die,  weil  sie  von  Juk 
gend  auf  Etwas  zu  verbergen  hatten,  von  Jahr  zu  Jahr  un^ 
wahrhaftiger  wurden  und  schließlich,  neben  anderen  Weiber«* 
merkmalen,  auch  die  hysterischer  Verlogenheit  annahmen.) 
Soll  man  diese  Menschen  ächten?  Das  wäre  unvernünftig 
und  grausam.  Darf  man  ihre  öfiFentliche  Propaganda  dulden? 
Das  wäre  dumm  und  antisozial.  Sie  sind  untüchtiger,  doch 
nicht  weniger  ehrenhaft  als  wir  Normalen.  Die  Geschlechts^ 
handlung  ist  der  privateste  Akt.  Nur  wenn  sie  ein  natio^ 
nales  oder  soziales  Recht  antastet,  darf  der  Fremde  sie  ent# 
Schleiern.  War  sie  das  Ergebniß  freier  Uebereinkunft,  die 
wohlthätig  wirkende  Rechtsgüter  respektirt,  so  ist  sie  öflFentir 
lieh  hörbarem  Urtheil  entrückt.  Ists  auch  das  Geschlechtss» 
empfinden,  das  alles  menschliche  Wollen  (arbt?  Ich  glaube: 
Nein.  Wenn  uns  ein  großer  misogyner  Künstler  lebte,  dessen 
Bildwerk  den  Leib  des  Weibes  ausschlösse:  wäre  eine  ausi« 
schöpfende  Charakteristik  seines  Schaffens  ohne  Erwähnung 
seines  sexualpsychischen  Zustandes  möglich?  Wer  ohne  Fug 
eine  Geschlechtshandlung  ans  Licht  zerrt,  ist  ein  Schwein 
oder  ein  Denunziant.  Wer  ohne  Sittenrichterhochmuth,  ohne 
den  Schutzmann  oder  die  Heuchelgendarmen  herbeizuwinken, 
als  Politiker  oder  als  docteur  es  sciences  naturelles,  auf  das 
normwidrige  Geschlechtsempfinden  einet  mächtigen  Gruppe 
hinweist,  kann  nützlich  wirken.  Frankreich  hätte,  unter  dem 
letzten  Valois,  die  Schrecken  des  rigne  des  mignons  nicht 
erlebt,  wenn  es  zu  rechter  Zeit  gewarnt  worden  wäre.  Und 
Heinrich  der  Dritte  kannte  den  Kitt,  der  seine  Freunde  zu^ 


184 


sammenhielt.  Dem  Herrscher,  der  von  solcher  Gefiihlsperver^ 
sion  nichts  ahnen,  die  Blutfarbe  des  eng  um  ihn  gezogenen 
Kreises  nicht  sehen  kann,  schuldet  Jeder,  der  zußUlig  dan 
von  weiß,  warnende  Wahrheit."    Da  ist  mein  Standpunkt. 

"Wir  sind  in  der  Kinaedenkultur  schon  so  weit  gekommen, 
daß  die  infamste  Jünglingschändung  mit  dem  Sexualabenteuer 
eines  freien  Paares  auf  eine  Stufe  gestellt  werden  darf.  Auf 
abertausend  Bogen  ist  gedruckt  worden,  ich  habe  politischen 
Gegnern  durch  die  EnthiUlungen  ihrer  Geschlechtsakte  den 
Sturz  bereitet.  Ein  dummer  Schwindel.  Erstens  hockten  in 
dem  Grüppchen  keine  »politischen  Gegner«;  überhaupt  keine 
Politiker.  Auch  der  HäuptUng  war  keiner.  Er  hat  nie  eine 
Sache  gewollt;  immer  nur  Glanz  und  Gloria  für  sich  und 
seine  Kreaturen.  Gab  sich  vor  den  Nachbarn  für  einen 
Agrarier,  in  Privatbriefen  für  einen  Liberalen  aus;  spielte  in 
"Wien  den  katholisirenden  Polenfreund  und  in  Moabit  den 
lutherischen  Kulturkämpfer.  Der  mein  politischer  Gegner  I 
Welche  Politik  vertrat  er  denn  je  ernsthaft?  Vier  Kanzler 
kannten  und  verachteten  ihn  als  einen  Geberdenspäher,  Ge^ 
schichtenträger  und  Hofkomoedianten.  Zweitens  habe  ich 
niemals  irgendeine  Geschlechtshandlung  dieser  Leute  ent- 
schleiert, bis  ich  durch  ihre  dreisten  Gerichtsprozeduren  dazu 
gezwungen  wurde.  Vorher  hatte  ich  ganz  behutsam  auf  ihren 
Salonmystizimus,  ihre  Gesundbeterei,  ihr  in  harter  Zeit  ge^ 
fahrliches  Gewinsel  und  Geflöte  hingewiesen;  auch  erst,  als 
in  den  Bund  der  Vertreter  einer  fremden  Großmacht  aufge^ 
nommen  worden  war.    Ein  nationales  Rechtsgut  war  ange^ 

185 


tastet.  Wenn  der  Botschafter  eines  in  Riistung  lauernden  Staates 
durch  sein  Verhältniß  zu  einer  Königin,  Maitresse,  Ministerfrau 
die  Möglichkeit  zu  ungebührlicher  Einwirkung  auf  die  Landest 
geschäfte  fände,  würde  nur  ein  feiger  Tropf  dazu  schweigen. 
Und  bei  uns  sollten  zwei  alte  homosexuelle  Freunde  in  gefahr^ 
liebster  Stunde  den  Verantwortlichen  den  Strom  aus  der  Leitung 
schalten?  Eine  deutsche  Schande  ists,  daß  solche  Frage  nur  ge^ 
stellt  werden  kann.  Daß  eine  Bubenschaar  sich  er&echen  durfte, 
Monate  lang  öflFentlich  zu  greinen,  weil  der  Hohenzollemhof 
von  fünf  Männern  befreit  ist,  die  unter  Ausnützung  ihrer  dienst«« 
liehen,  geldlichen,  gesellschaftlichen  Macht  Jahre  lang  den  ekel«; 
sten  Geschlechtsunfug  getrieben  hatten.  Da  war  Anderes  als 
der  nach  freier  Selbstbestimmung  vereinbarte  Geschlechtsverj« 
kehr  abnorm  empfindender  Männer:  die  listige  Verführung 
argloser,  dienstlich  oder  ökonomisch  abhängiger  Jünglinge. 
Gräuel,  dessen  Schilderung  alten  Soldaten,  grauen  Folizeiratten 
selbst  das  Blut  in  die  Schläfen  jagte.  Was  da  ans  Licht  kam, 
kannte  ich  längst.  Hatte  den  Thätem  eine  leise  Warnung  zuk 
gedacht,  nicht  den  Schrecken  persönlicher  Infamirung;  aus  dem 
hellsten  Bezirk  sollten  sie  weichen,  nicht  in  den  Abgrund 
stürzen.  Daß  es  dahin  kam,  ist  nicht  meine  Schuld:  die  ihres 
Uebermuthes.  Nur  für  das  bis  zum  dritten  Mai  1907  Geschehene 
trage  ich  aus  freiem  Entschluß  die  Verantwortung ;  trage  sie  gem. 

Qualis  artifexl 

»Ich  war  weder  Soldat  noch  Folitiker,  trotzdem  ich  im 
Regiment  Garde  du  Corps  gedient  und  hohe  diplomatische 

186 


Posten  erlangt  habe;  im  Grund  meines  Herzens  war  ich  im^ 
mer  nur  Künsder  und  kann  mich  heute  noch  rühmen,  der 
beste  Führer  durch  die  Kunstschätze  von  Rom  und  Florenz 
zu  sein.«  So  (ungefähr)  sprach  Fürst  Eulenburg  als  Ange# 
klagter  vor  dem  Schvoirgericht.  Daß  er  die  römische  Herr^ 
lichkeit,  UfHzien,  Fitti,  Bargello  genau  kennt,  ist  nicht  zu 
bestreiten;  eher  schon  die  Sicherheit  seiner  Werthung,  an 
der  das  Farenheidbuch  (»Fünf  Jahre  der  Freundschaft«;  Eulens» 
bürg  hats  im  Jahr  1907  aus  dem  Buchhandel  beseitigt)  den 
Leser  zweifeln  lehrt,  auch  wenn  die  stete  Antinoosschwärmei* 
rei  ihn  nicht  auf  schlimme  Gedanken  bringt.  (Ein  Beispiel. 
»Wie  konnten  Sie  nur,  mein  lieber,  theurer  Ereund,  errathen, 
daß  es  mein  langjähriger  Wunsch,  ein  sehr  hoAiungloser 
Wunsch,  war,  diesen  Antionuskopf  zu  besitzen?  Diesen  Kopf 
wunderbarsten  Zaubers,  von  einem  Liebreiz  ohnegleichen, 
den  der  zarte,  tadellos  weiße  Marmor  mit  tausendfachen 
Reizen  schmückt!«  Und  Fahrenheid,  der  den  Gedanken,  mit 
Philipp  zu  reisen,  »traumhaft  schön«  nennt,  schreibt:  »Möge 
auf  uns  der  ganze  Griechenhimmel  lächeln  und  die  anmuthig^ 
sie  Göttin  ihre  schönsten  Gaben  spenden  I  Von  Herzen  um^ 
arme  ich  Siel  Sie  haben  mich  mit  einem  Sonnenschein  von 
Liebe  und  Freude  überschüttet;  mein  ganzes  Sein  schlägt 
Ihnen  voll  entgegen  im  Zusammentönen  unserer  wahren  und 
tiefen  Lebensakkorde  I  Wie  hat  mich  Das  beglückt,  was  Sie 
mir,  theurer,  lieber  Freund,  über  den  Antinous  sagen!  Ein 
Mysterium  sehnsuchtreicher  Liebe.  Sie  lieben  ihn  so  innig, 
daß  er  Ihnen  reiche  Gewährung  zollen  wird.«)  Den  Künste 

187 


1er  dürfte  gewissenhafte  Kritik  nur  gelten  lassen,  wenn  er 
nie  laut  gesprochen  hätte.  Er  thats.  Ich  will  zwei  £tist  un^ 
bekannnte  Gedichte  anfuhren,  die  in  Stamberg  entstanden 
und,  als  Gelegenheitpoesie  im  goethischen  Sinn,  das  Per^ 
sönlichste  aus  den  Hüllen  der  Konvenienz  schälen  müßten. 
Ein  Freund  Philipps  hat  sich  erschossen:  Konstantin  von 
Dziembowski,  Hauptmann  in  der  sächsischen  Armee.  »Ein 
dunkles,  grausames  Geschick  endet  gewaltsam  das  Leben 
eines  Freundes,  den  ich  unendlich  lieb  gehabt  habe  und 
mit  dem  ich  drei  Jahre  meines  Lebens  unzertrennlich  ver^ 
bunden  war.«  Der  Ueberlebende  versucht,  den  Entwicke^ 
lungsgang  des  Freundes  zu  schildern,  und  schreibt  an  Fahren^ 
heid:  »In  einigen  Tagen  ist  die  Arbeit  vollendet.  Ich 
theile  Dir  daraus  ein  paar  Verse  mit;  Dir,  der  Du  so  namens 
lose  Qiialen  durch  den  Verlust  Deines  Herzensfreundes 
littest,  der  dem  gleichen  dunklen  Verhängniß  zum  Opfer 
fiel.  Du  wirst  den  Gedanken  dieser  Verse  inniger  erfassen 
als  Andere!  Möchten  sie  Deinem  verwundeten  Herzen 
wohlthuni 

Wenn  heilige  Ströme  der  Liebe 
Im  Herzen  quellen  und  gehn, 
Was  wollen  die  dunklen  Gestalten, 
Die  an  ihrem  Ufer  stehn? 

Sie  neigen  sich  über  das  Wasser 
Und  senken  tief  in  die  Fluth 
Der  neidischen  Zauberblicke 
Dämonische  Sehnsuchtgluth. 

188 


Sie  wachen  im  schwarzen  Gewände 
'Wie  Wächter  im  Totenhaus 
Und  breiten  wehende  Schleier 
Still  über  die  Wellen  aus. 

Doch  leise  schimmern  die  Wasser 
Tief  unter  der  Schleier  Nacht, 
Sie  schimmern  und  flimmern  und  blinken 
In  süßester  Liebesmacht 

Und  richten  die  schwarzen  Gestalten 
Auch  dunkle,  grausige  Wehr: 
Die  heiligen  Ströme  der  Liebe, 
Sie  rauschen  ins  ewige  Meerl« 

Die  Verse  lassen  freilich  das  »dunkle  Verhängniß«  ahnen, 
dem  der  Freund  »zum  Opfer  fiel«.  Ist  dieses  Gefiige  tönen^ 
der  Worte  aber  Poesie?  Ich  habe»  spricht  Goethe,  »in  meiner 
Poesie  nie  aflFektirt.  Was  ich  nicht  lebte  und  was  mir  nicht 
auf  die  Nägel  brannte  und  zu  schaffen  machte,  habe  ich  auch 
nicht  gedichtet  und  ausgesprochen«;  Philipp  schreibt:  »Die 
Mittheilung  so  schmerzlicher  Eindrücke  ist  mir  unüberwind# 
lieh  peinlich.  Ich  kann  ^^^se  stilisirte  Wiedergabe  von  Her^ 
zenskummer  kaum  ertragen!«  Stilisirt  und  versifizirt  ihn  dann 
aber  con  amore  schluchzend  weiter.  Das  zweite  Gedicht  trägt 
die  Widmung: 

Seinem  lieben,  theuren  Fritz  zugeeignet. 
Kennst  Du  es  wohl,  das  wunderbare  Zwingen, 
Das  gleiche  Menschen  zu  einander  führt? 
Das  weihevoll,  geheimnißvolle  Klingen, 
Wenn  unser  Herz  sich  seinen  Freund  erkürt? 


189 


Das  ist  wie  Sehnen  tief  im  Waldessckatten 
Und  wie  Verstummen  vor  der  Sterne  Licht. 
Als  wenn  aus  Abendtönen,  gluthensatten, 
Ein  Flammengruß  der  ewigen  Heimath  bricht 

Dem  ewig  Schönen  und  dem  ewig  Guten 
Gehören  Herzen,  die  sich  treu  erkannt  — 
Denn  in  uns  flammen  goldne  Sonnengluthen 
Aus  einem  ewig  hellen  Vaterland! 

Die  Reime  werden  gewaltsam  herbeigezvoingen  und  auch 
Etwas  wie  ein  Rhythmus  stellt  sich  ein.  Nur  kitzelt  den  Leser 
das  Epigramm  Grillparzers  (der,  Ihr  Prüden,  von  Pktens 
Kehri^  und  Rückseite  gesprochen  und  Wagner  den  Lolo  Moni* 
tez  des  neuen  München  genannt  hat):  »Ob  Längen  sich  und 
Kürzen  in  rechtem  Maße  mengen,  kann  ich  entscheiden  nicht: 
für  mich  sinds  lauter  Längen.«  Und  so  schreiben  sie  Alle; 
in  Vers  und  Prosa.  Alle,  denen  nicht,  wie  Platen  und  Vdlde, 
ein  Gott  gab,  in  eigenen  Lauten  ihr  Leid  auszusprechen. 
Farenheids  Antwort:  »Dein  Grüßen  tönte  mir  wie  wundere 
bare,  mystische  Musik  herüber  und  ich  empfand  ein  inniges 
Zusanmienstimmen  der  Geister.  Ich  lenkte  meinen  Lebens^ 
nachen  zu  dem  Deinen,  der  mir  entgegenglitt;  und  begeg«* 
neten  wir  auch  wohl  mancher  dunklen  Wolke,  mancher  dunklen 
Klippe,  die  drohend  vor  uns  lag,  so  mußten  sie  doch  schnell  dem 
lichtenHimmelsbogen  weichen,  derseinenheiterenSonnenglanz 
bald  durch  das  weite  Firmament  entgegenstrahlen  ließ.  So  trei^ 
ben  neben  einander  unsere  Lebensnachen.  Vor  uns  das  wunder^ 
bare  Leuchten  der  Sonnengluthen,  das  ferne  Grüßen  jenes 

190 


Vaterlandes,  wo  die  Sehnsucht  getröstet  wird  und  ein  heiliger 
Friede  die  geängstete  und  gequälte  Brust  durchzieht.  Du 
sollst  mir  fiir  den  Rest  meines  Lebensganges  die  Lebensblume 
sein,  die  ich  um  so  lieber,  um  so  treuer  pflegen  werde,  je 
inniger  und  reicher  die  Vertiefung  ist,  welche  unser  Freunde 
schaftverhältniß  in  meiner  Seele  so  hofihungreich  entzündet. 
,Denn  in  uns  flammen  goldne  Sonnengluthen  aus  einem  ewig 
hellen  Vaterland!'«  Ueber  diesem  Vaterland  wölbt  sich  der 
Griechenhimmel;  es  ist  das  Hellas  der  klassischen  Zeit,  das, 
nach  Nietzsches  Wort,  »eine  Kultur  der  Männer«  hatte.  »Die 
erotische  Beziehung  der  Männer  zu  den  Jünglingen  war  in 
einem  unserem  Verständniß  unzugänglichen  Grade  die  noth^ 
wendige,  einzige  Voraussetzung  aller  männlichen  Erziehung 
(ungefähr  wie  lange  Zeit  alle  höhere  Erziehung  der  Frauen 
bei  uns  erst  durch  die  Liebschaft  und  Ehe  herbeigeführt 
wurde).  Aller  Idealismus  der  Kraft  der  griechischen  Natur 
warf  sich  auf  jenes  Verhältniß;  und  wahrscheinlich  sind  junge 
Leute  niemals  wieder  so  aufmerksam,  so  liebevoll,  so  durchs 
aus  in  Hinsicht  auf  ihr  Bestes  (virtus)  behandelt  worden  wie 
im  sechsten  und  fünften  Jahrhundert.  Je  höher  dieses  Ver«:. 
hältniß  genommen  voirde,  um  so  tiefer  sank  der  Verkehr  mit 
der  Frau.  Die  Weiber  hatten  weiter  keine  Aufgabe,  als  schöne, 
machtvolle  Leiber  hervorzubringen,  in  denen  der  Charakter 
des  Vaters  möglichst  ungebrochen  weiterlebte,  und  damit  der 
überhandnehmenden  Nervenüberreizung  einer  so  hochent«; 
wickelten  Kultur  entgegenzuwirken.«  Wollte  die  Natur  einst 
(daran  zu  zweifeln,  muß  erlaubt  sein)  diesen  GefUhlsstand, 

191 


so  will  sie  ihn  heute,  unter  unserem  Himmel,  gewiß  nicht 
mehr.  Ein  Grieche  hätte  nicht  über  das  »dunkle  Verhänge 
niß«  gestöhnt,  das  ihn  zum  »gleichen  Menschen«  trieb;  wäre 
auch  nicht  dieses  Verhängnisses  Opfer  geworden.  Von  den 
Varietäten  des  Geschlechtsempfindens  wissen  wir  noch  immer 
nicht  viel.  Glauben  aber,  zu  wissen,  daß  in  beiden  Geschlechts 
tem  Bau  und  Leben  des  Charakters  durch  einen  Hauptzweck 
determinirt  ist:  durch  die  Pflicht,  die  Gattung  zu  fördern. 
Wo  dieses  Telos  fehlt  und,  wie  in  urchristlicher  Zeit,  ein 
frommer  Wahn  das  Hindämmern,  Hinsterben  der  müden 
Menschheit  ersehnt,  kann  Keuschheit  das  Ideal  sein.  Wo  das 
Gedeihen  der  Gattung  das  höchste  Ziel  ist,  muß  die  Sexuai^ 
lität  als  die  unter  allen  Koordinaten  wichtigste  gelten.  Bei^ 
greift  endlich  (wenn  Ihr  nicht  taub  sein  wollt),  daß  Einer, 
der  von  Sexualität  spricht,  nicht  an  Handlung  noch  gar  an 
Verfehlung  zu  denken  braucht;  daß  Sexualität  die  stärkste 
Wurzel  des  Wesens  ist  und  jeder  Lebensregung,  dem  Thun 
und  dem  Sinnen,  dem  Willen  und  der  Vorstellung,  Form 
und  Farbe  giebt.  Daß  eine  Menschengruppe  von  normwii^ 
drigem  Geschlechtsempfinden  sich  auf  dem  Gipfel  des  Staatsi^ 
gebirges  nicht  festnisten  darf  Und  daß  der  Mann,  dem,  in 
dem  krankhaften  Streben,  ungestehbares  Leid  wenigstens  den 
Schicksalsgenossen  anzudeuten,  eine  gebildete  Sprache  zu 
leidlichen  Versen  verhilft,  noch  kein  Dichter  ist. 

Hier  ist  ein  Wort  über  die  Freundschaft  zu  sagen,  die 
Fürst  Eulenburg  vor  drei  Gerichtshöfen  als  den  herrlichsten 
Besitz  der  Germanenwelt  gepriesen  hat.  Der  Superlativ  mag 

192 


hingehen  (obwohl  er  die  Frau  nicht  freuen  wird).  Ist  das 
Gefühl,  das  in  Eulenburgs  Briefen  und  Reimereien  keucht 
und  schreit,  schwatzt  und  kost,  aber  das  gesunder,  männli# 
eher,  gar  das  germanischer  Freundschaft?  Seit  wann  will  die 
Sitte,  daß  deutsche  Männer  einander  anhimmeln,  ihre  Ruf# 
namen  ins  Zärtlichi^Niedliche  kürzen,  den  fernen  Freund 
»meine  Seele«,  »mein  Alles«  nennen,  einen  Thronenden,  dem 
sie  sich  befreundet  fiihlen,  als  »Liebchen«  bezeichnen,  sich 
in  ein  Antinoosglück  träumen  und  die  Feder  in  die  Verheißung 
»warmer  Umarmung«  abirren  lassen?  Das  ist  der  Ton  der 
Liebe;  und  in  allen  Formen  schlüpft  denn  auch  das  Wort 
durch  den  Briefivechsel  und  das  Gedichte  dieses  Kreises. 
»Mein  Guter«,  »mein  Theuerster«:  auch  der  alte  Goethe  hat 
an  die  paar  Menschen,  die  er  sich  nah  komimen  ließ,  manchi^ 
mal  so  geschrieben;  Zelter,  als  dessen  Stiefsohn  sich  getötet 
hatte,  sogar  als  den  »geliebten  Freund«  angesprochen.  (Nur 
achte  man  auf  die  Tonfarbe  des  ganzen  Briefes.  »Du  hast 
Dich  auf  dem  schwarzen  Probirstein  des  Todes  als  ein  echtes, 
geläutertes  Gold  aufgestrichen.  Wie  herrlich  ist  ein  Charaki^ 
ter,  wenn  er  so  von  Geist  und  Seele  durchdrungen  ist,  und 
wie  schön  muß  ein  Talent  sein,  das  auf  einem  solchen  Grunde 
ruhtl«  Selbst  der  »Geliebteste«  könnte  da  nicht  aufiEallen. 
Wer  den  Unterschied  nicht  merkt,  ist  mindestens  halb  taub.) 
Einen  ruhigen  Freund  wünschte  sich  Iphigeniens  Schöpfer; 
und  hat  in  langem  Erleben  nicht  oft  einen  gefunden.  Der 
Herr  von  Liebenberg  fand  ihrer  Dutzende,  in  allen  Zonen 
internationaler  Geselligkeit;  und  jeden,  Grafen  und  Fischer, 

13.  m  193 


Mimen  und  Matrosen,  hat  sein  Mund  geduzt,  sein  Gruß  zarti^ 
lieh  gestreichelt.  Nur  an  Jiingferchen  kannten  wir  solche 
Freundschaft;  nur  sie  sahen  wir,  wie  Shakespeares  athenische 
Mädchen,  zu  einer  Doppelkirsche  zusammenwachsen  (seeming 
parted,  but  yet  a  union  in  partition);  »dem  Scheine  nach  zwei 
Körper,  doch  ein  Herz«.  Die  Freundschaft  reifer  Männer 
glaubten  wir  durch  ein  unübersteigliches,  fest  verschlossenes 
Gitter  von  den  Bezirken  der  Liebe  getrennt.  »Welch  ein  Untere 
schied  zwischen  Freundschaft  und  Liebe!  Die  eine  ein  schöner 
milder  Herbstabend  von  gesättigtem  Kolorit,  die  andere  ein 
schaurig  entzückendes  Frühlingsgewitter;  die  eine  die  Idare 
und  reine  Harmonie,  die  andere  das  geisterhafte  Klingen  und 
Rauschen  der  Aeolsharfe,  das  ewig  Un£»ßbare,  Unaussprech^ 
liehe;  die  eine  ein  lichter  Tempel,  die  andere  ein  ewig  veri^ 
hüUtes  Mysteriimi.«  So  stehts  in  Hartmanns  »Philosophie 
des  Unbewußten«;  und  ungefähr  so  hats  jeder  gesunde  Mann 
empfunden.  Erst  wenn  die  Sinne  mitsprechen,  wenn  eine 
erotische  Wallung  den  Blutlauf  beschleunigt,  wird  die  Schwäri^ 
mergemeinschaft,  die  Brautstandsekstase,  das  Sehnen  nach 
Hingabe,  Hinspreitung  möglich,  die  wir  in  der  philippischen 
Literatur  finden.  Im  Dorerlande  des  Wahnes,  die  Stammes^ 
tugend  werde  von  dem  liebenden  Mann  in  der  Umarmung 
auf  den  geliebten  Jüngling  übertragen,  mochte  mans  Freunde 
Schaft  nennen.  Wers  in  Deutschland  heute  so  nennt,  schän# 
det  in  einem  Athemzug  zwei  blühende  Provinzen  im  Reich 
männlichen  Gefühls.  Freundschaft  fordert  Wahrheit;  der  Lie# 
bende  langt  gern  nach  holdem  Trug.    Ein  Unwahrhaftiger 

194 


kann  bis  zur  SelbstvergessenKeit  lieben ;  niemals  wird  er  ein 
Freund»  der  in  ^^rbelstiirmen  die  Nothprobe  besteht. 

Eulenburgs  Briefe  sind  nicht  schlecht.  Ein  Bischen  schwül« 
stig;  im  Stil  pretiöser  Damen,  die  im  Hotel  Rambouillet  in  der 
hintersten  Reihe  saßen«  Manche  Bilder  sind  abgeguckt;  manche 
gehen  nicht  zusammen,  wie  die  Maler  sagen.  Und  die  Intern 
punktion  ist  merkwürdig  mangelhaft.  Immerhin:  mehr  Talent 
fUrs  Schreiben  als  &a  Politik.  Da  hats  schon  im  Examen 
gehapert;  und  später  fehlt  es  an  Sitzfleisch  und  Ernst.  Auch 
an  Kenntniß  der  geschichtlichen  Entwickelung,  an  Erkennt» 
niß  des  aus  dem  Kreis  der  Möglichkeiten  vom  nächsten  Be# 
dürfiiiß  Empfohlenen;  des  just  Nothwendigen.  Poesie,  Musik, 
Spirits,  Antinouskult,  Indermagie,  Germanenmythos,  Gesundi» 
beterei,  Edda  und  Eddy:  Das  irrlichtelirt  und  stümpert  durch 
alle  Künste  hin,  alle  Kulturen,  holt  sich  die  Reichskleinodien  der 
Mythenheimath  zum  Spielzeug  und  pfuscht,  wenn  die  Glocke 
zum  Dienst  ruft,  zwischen  einer  Seance  und  dem  Besuch 
eines  schlanken  Buhlen,  auch  in  die  Politik  hinein.  In  Müni» 
chen,  als  junger  Dachs  unter  Werthem,  mags  genügt  haben. 
Doch  er  hat,  leider,  nicht  zugelernt.  Als  Gesandter  schuf  er  sich, 
in  Oldenburg  und  im  geliebten  München,  selbst  Schwierigkeit. 
In  beiden  Städten  umspann  ihn  auch  schon  das  Sexualklatsch« 
gewebe.  Als  Botschafter  in  Wien :  unmöglich.  Taktfehler,  Miß« 
griffe,  abenteuerliche  Pläne,  die  von  Wedel  und  Lichnowsky 
mit  sprachlosem  Staunen  aufgenommen  wurden  und  den  zu 
romantischer  Politik  gar  nicht  gestimmten  Holstein  zwangen, 
mit  schroffer  Wendung  sich  von  dem  Skalden  zu  lösen. 

w  195 


V. 


In  dem  Brief,  den  er  am  siebenzehnten  Juli  1886  an  Faren# 
heid  schrieb,  ist  ein  beträchtliches  Stück  seines  Wesens  zu  wittern. 
Nach  König  Ludwigs  Tod  hat  er  in  Liebenberg  Ruhe  ge# 
sucht,  statt  den  »geliebten,  theuren  Fritz«  in  Beynuhnen  ans 
Herz  zu  drücken.  Halsentzündung.  »Ich  mußte  entsetzlich 
leiden«:  der  übliche  Superlativ.  Er  kehrt  nach  Stamberg 
zurück,  wo  seine  Frau  im  Wochenbett  liegt.  Das  Königs^ 
drama  hat  ihm  »unerhörte  Aufregungen«  gebracht.  Fritzens 
Schwester  aber  einen  »herrlichen  Brief«  über  sein  Gobineau^ 
büchlein  geschrieben.  Unerhörte  Aufregungen;  die  Frau, 
die  stets  gütig  verzeihende  Familienmutter  aus  dem  schwer 
dischen  Haus  der  Grafen  von  Sandeis,  vier  Tage  nach  der 
Entbindung.  Doch  in  dem  Brief  an  den  geliebten,  theuren 
Freund  wird  der  Fischer  Jakob  Ernst  nicht  vergessen.  »Mein 
Fischer.«  Der  hat  ihn  an  Ludwigs  Todesstätte  gerudert  (just 
an  die  Stätte,  wo  dieser  unselige  König  erstickt  war).  Rudert 
ihn  täglich  hinaus.  Und  vom  Strandfenster  eines  Prinzen^ 
palais  sieht  durchs  Femrohr  Einer,  was  die  Beiden  im  Boote 
treiben.  Allzu  deutlich.  Ein  Mann  ohne  Nerven;  trotz  der 
Wehleidigkeit.  Das  Gewissen  hat  dieser  Enkel  Samuels  von 
Hertefeld  sich  früh  weggedrillt.  Sonst  fände  er  sich  zwischen 
der  Frau,  den  Freunden  und  seinem  Fischer  nicht  so  leicht 
zurecht.  Schritte  er  nicht  gerade  aus  Jakobs  Kahn  ans  Lager 
dieser  Königsleiche.  Rüstigen  Fußes.  »Ich  fühle  mich  uni^ 
gleich  wohler,  körperlich  und  geistig,  als  im  vergangenen 
Jahr«:  elf  Tage  nach  den  »entsetzlichen  Leiden«,  drei  Wochen 
nach  den  »unerhörten  Aufregungen«  schreibt  ers.    Worte; 

196 


immer  Worte  nur.  Mit  seiner  dienstlichen  Leistung  ist  er 
»nicht  unzufrieden«.  Wars  nie;  auch  wenn  der  Gnädigste 
derb  den  Kopf  geschüttelt  hatte.  Und  den  Politiker,  der  »die 
unglaublichste  aller  Katastrophen  der  Neuzeit«  erlebt,  den 
Gatten,  den  verfriihte  Wehen  in  eine  fast  zu  enge  Wochen^ 
Stube  gerufen  haben,  unterbricht  geschwätzig  stets  wieder 
der  homme  de  lettres.  Daß  der  Bayemkönig  nicht  warten 
konnte,  bis  das  Drama  »Seestem«  vollendet  ward!  »Ich  war 
bei  bester  Stimmung  und  Disposition.«  Nun  kommt  der  letzte 
Akt  dran.  Und  eine  Novelle.  »Eine  Aufzeichnung  meiner 
Erlebnisse  bin  ich  im  Begriff  zusammenzustellen.«  »Ein  neues 
Balladenheft  bin  ich  im  Begriff  zusammenzustellen.«  Ist  Dieser 
noch  echter  Empfindung  fähig?  Hat  er  nicht  nur  entlehnte 
Gedanken,  Gefühle?  L*esprit  d*autrui,  das  Mimenvermächt^ 
niß?  Ein  ungemein  begabter  Schauspieler;  Tragoede,  Ko# 
moede:  je  nach  Bedarf.  Keine  Persönlichkeit  (auch  nicht 
in  seiner  nordischem  und  südlichem  Muster  nachgeahmten 
Literatur  und  Komposition,  die  gedruckt  und  gekauft  wurde, 
weil  ein  alter  Preußenname  sie  deckte).  Keine  Eigenwärme. 
Noch  die  überschwingende,  übersprudelnde  Rede  fiihlt 
sich  eiskalt  an;  funkelt  manchmal  wohl  (von  geliehenem 
Glanz),  wärmt  aber  me.  Das  Auge  will  eines  Schwärmers 
scheinen  und  erinnert  doch  ans  unheimliche  Glotzen  stächet^ 
liger  Raubfische;  »Augen,  die  Einem  das  beste  Frühstück  ver# 
derben  könnten«,  sprach  der  Feinschmecker  in  Friedrichsruh. 
Und  meinte  Diesen,  als  er  das  Wort  vom  Hyänenauge  über 
den  Tisch  warf.    Der  hat  nie  eine  Sache  um  ihrer  selbst 


197 


willen  betrieben.    Nie  eine  Sache»  ins  Allgemeine  fortwir^ 
kende  That  gewollt.    Immer  nur  sich ;  seinen  Vortheil. 

Den  fand  er  im  dichtesten  Nebel.  Den  erspähte  er  über 
Ozeans  Weite  hin.  Juli  1886.  Noch  lebt  der  alte  Kaiser  mit 
seinen  Soldaten.  Der  Kronprinz  strotzt  von  männlicher  Kraft. 
I3t  Graf  Philipp,  der  überall  Fädchen  anknüpft»  oben  und 
unten,  auch  hier  schon  im  Esoterikergeheimniß?  Verrieths 
ihm  ein  Magiermenetekel?  Er  heftet  sich  an  den  Herrn  der 
Zukunft:  imd  ist,  mit  seinen  Amuseurkünsten  und  Amateure 
Wissenschaften,  mit  seinen  mannichfachen  Hofinannstalenten, 
der  Weisheitallure  und  Schwärmerekstase,  dem  darbenden 
Thatendrang  willkommen.  Ein  Idealist.  Draußen  fröstelt  man 
in  all  der  Realpolitik.  Im  Elternhaus  gehts  gar  zu  englisch 
nüchtern  zu.  Rationalismus  und  kein  Endel  Auch  einmal 
die  Probe  von  dem  Gegentheil.  Von  Farenheids  Skulptureni^ 
Sammlung,  Gobineaus  Rassentheorie,  Baligands  Wagnerver^ 
einssektion,  Dömbergs  Erlebniß  in  Japan,  Liechtensteins 
Geistercitirungen  wird  erzählt;  Dziembowskis  »unbeschreib^ 
lieh  liebenswürdiges«  Wesen  als  Polenerbe  erklärt;  eine  Wikin^ 
gerballade,  ein  Rosenhed  vorgetragen;  über  Architektur  ge^ 
plaudert;  ein  Schatten  beschworen.  Wit  ein  zwischen  Briten« 
fräuleinromane  geschleuderter  Band  Hugo  oder  Dumas  wirkt 
es  hier:  der  Wunderhof  thut  sich  auf;  Monte  Christo  steigt 
aus  der  Gruft  in  den  Nachen.  Graf  Philipp  war  in  Afrika. 
Hat  von  den  Heiligen  Stätten  eine  Reliquie  in  die  hertefek 
dische  Kunstherberge  heimgebracht.  Ueberreichlicher  Stolt 
ftir  dienstfreie  Stunden.  In  Schlobitten  oder  Pröckelwitz  hat 


198 


Eberhard  Dohna  ihn  dem  Prinzen  Wilhelm  eril^Tohlen.  Der 

lädt  ihn  nun  nach  Reichenhall.    »Der  Prinz  zeichnet  mich 

durch  Vertrauen  aus  und  es  macht  mich  stolz  und  glücklich, 

daß  dieser  herrliche  Mensch  Ge£allen  an  mir  findeti  Ich  hoffe 

für  Preußens  Zukunft  unendlich  viel  von  ihm.  Seine  Klarheit, 

seine  Energie  und  der  Reiz  seines  unbeschreiblich  eigenartigen 

Wesens  machen  ihn  zu  einer  ganz  außergewöhnlichen  Er 

scheinung.  Er  hat  enthusiastische  Freude  an  meinen  nordischen 

Balladen  und  mir  die  Ueberraschung  bereitet,  eine  meiner 

Balladen,  »Atlantis',  zu  illustrirenl  Er  hat  ein  schönes  Talent 

für  die  Malerei.«  Schnell  muß  der  geliebte  Fritz  Alles  hören. 

Der  Psychiater  spricht: 

»Eine  eigenartige  Umwandlung  der  geschlechtlichen  Neigungen  hat 
Westphal,  nach  ihrem  wichtigsten  Zeichen,  als  »konträre  Sexualempfin« 
düng'  bezeichnet.  Es  handelt  sich  hier  um  eine  meist  in  früher  Jugend 
bereits  hervortretende  geschlechtliche  Zuneigung  zu  Personen  des  selben 
Geschlechtes,  während  das  andere  Geschlecht  den  Kranken  in  dieser 
Hinsicht  gleichgiltig  bleibt  oder  sogar  Abscheu  und  Ekel  einflößt.  Fast 
immer  ist  angeborene,  häufig  ererbte  psychopathische  Veranlagung  vor« 
banden.  In  manchen  Fällen  bestehen  zunächst  gesunde,  »heterosexuelle* 
Neigungen,  die  erst  später  durch  den  stärker  anwachsenden  Trieb 
überwältigt  werden.  Meist  aber  beziehen  sich  die  wollüstigen  Begleit« 
bilder  der  geschlechtlichen  Erregung  im  Wachen  und  Träumen  von 
vom  herein  auf  das  gleiche  Geschlecht  und  alle  Versuche  natür« 
liehen  Geschlechtsverkehrs  mißglücken  vollständig  oder  gewähren 
doch  wenigstens  keine  Befiriedigung.  Entscheidend  ist  für  die  wei« 
tere  Entwickelung  die  Bekanntschaft  mit  irgendeiner  Person  gleichen 
Geschlechtes,  die  entweder  einfach  durch  ihre  körperlichen  und 
geistigen  Vorzüge  die  Sinnlichkeit  des  Kranken  mächtig  erregt 
oder  geradezu  <üe  gleichen  Neigungen  hat  und  ihn  verführt  oder 

199 


sich  von  ihm  verführen  läßt  Es  kommt  zu  einem  leidenschaft« 
liehen  »Freundschafitbündniß'  mit  allen  Ueberschwanglichkeiten  eines 
Liebespiels:  schwärmerischen  Briefen,  Blumensendungen,  Gesehen« 
ken,  Eifersuchtausbrüchen  und  Händedrücken.  Meist  schreitet  es 
zu  wollüstigen  Umarmungen,  gegenseitiger  Masturbation  und  allen 
möglichen  anderen  ,beischla£ahnlichen  Handlungen',  seltener  zu 
wirklicher  Päderastie  vor.  Ganz  wie  bei  den  Beziehungen  verschie« 
dener  Geschlechter  bestehen  solche  ,Verhältnisse*  bisweilen  längere 
Zeit,  selbst  viele  Jahre  hindurch,  fort  Weit  häufiger  ist  jedoch  ein 
Wechsel  der  Neigungen  oder  sogar  große  Unbeständigkeit  Meist 
sind  beide  Theile  homosexual;  doch  giebt  es  manche  Kranke,  die 
gerade  nur  mit  gesund  fühlenden  Personen  zu  verkehren  lieben. 
Standesunterschiede  scheinen,  genau  wie  im  gewöhnlichen  Geschlechts« 
leben,  hier  eine  weit  geringere  Rolle  zu  spielen  als  etwa  beim  rein 
gesellschafdiehen  Verkehr.  Einzelne  Kranke  der  besseren  Stände  fühlen 
sich  sogar  am  Meisten  zu  Fabrikarbeitern,  Kutschern,  Lastträgem  und 
ähnlichen  Männern  hingezogen.  Einer  besonderen  Beliebtheit  er« 
freuen  sich  auch  hier  die  Soldaten.  Aus  allen  diesen  Umständen  er« 
klärt  es  sich,  daß  in  größeren  Städten  gewöhnlieh  auch  eine  mann« 
liehe  Prostitution  mit  allem  Zubehör  zu  bestehen  pflegt,  die  sich  nicht 
nur  aus  homosexualen,  sondern  auch  aus  geschlechtlieh  normalen 
Personen  zusammensetzt.  Neben  den  körperlichen  Reizen  werden 
aber  meist  auch  zusagende  Eigenschaften  des  Gemüthes  und  des  Ver« 
Standes  gefordert,  mit  denen  freilich  die  Einbildungskraft  des  Homo« 
sexualen  den  Gegenstand  seiner  Liebe  eben  so  freigiebig  ausstattet 
wie  der  gewöhnliche  Liebesrausch.  Der  Unbefangene  begegnet  in 
seinem  ganzen  Leben  nicht  einer  solchen  Schaar  von  ,hochgebildeten', 
,edel  denkenden',  ,charaktervollen'  Männern,  wie  wir  sie  in  der  Schil« 
derung  eines  einzigen  Freundekreises  solcher  Kranken  anzutreffen 
pflegen.  Den  Homosexualen  gelingt  es  sogar,  Nachkommenschaft  zu 
erzeugen;  allerdings  nur,  wenn  sie  sich  während  des  Geschlechtsaktes 
mit  Aufbietung  ihrer  Einbildungskraft  in  die  Arme  einer  jungen  und 
schönen  Person  gleichen  Geschlechtes  zu  versetzen  vermögen.  Daneben 

200 


unterhalten  sie  vielfach  noch  gelegentlichen  oder  regelmäßigen  homo« 
sexualen  Verkehr.  Ihr  Verstand  ist  meist  normal  entwickelt;  doch 
macht  sich  oft  neben  guter  Auffassungsgabe  große  Ermüdbarkeit,  ge« 
ringe  Ausdauer  bei  geistiger  Arbeit  und  Neigung  zu  Träumereien 
geltend.  Die  Einbildungsloraft  pflegt  stark  über  die  Fähigkeit  zu  rein 
verstandesmäßiger  Thätigkeif  zu  überwiegen.  Besonders  au£Eallend 
ist  gewöhnlich  die  erhöhte  Erregbarkeit  im  Gemüthsleben.  Die  Kran« 
ken  sind  empfindlich,  von  Stimmungen  und  Eindrücken  in  beson« 
derem  Maße  abhängig,  schöngeistig  und  künstlerisch,  namentlich  musi« 
kaiisch  veranlagt,  zu  Schwärmerei  und  Gefuhlsausbrüchen  geneigt, 
manchmal  auch  auffallend  schüchtern  und  unsicher.  Ihr  Charakter  ist 
meist  weich,  lenksam,  unselbständig,  oft  sogar  schlaff  und  haltlos 
Ihre  Lebensführung  weist  daher  häufig  eine  gewisse  Zerfahrenheit  und 
Abenteuerlichkeit  auf.  Unzuverlässigkeit,  Mangel  an  Wahrheitliebe, 
Neigung  zum  Prahlen  und  kleinliche  Eitelkeit  sind  gewöhnliche  Un« 
tugenden.  Die  geschlechtlichen  Beziehungen  spielen  vielfach  eine 
namentlich  für  Männer  ganz  merkwürdig  wichtige  imd  entscheidende 
Rolle  in  ihrem  Leben  und  können  ihre  Schicksale  in  durchaus  maß« 
gebender  Weise  beeinflussen.  Bei  ausgeprägter  Homosexualität  zeigt 
sich  häufig  eine  Veränderung  der  ganzen  Lebensfühnmg  im  Sinn  des 
anderen  Geschlechtes.  Der  Mann  wird  weibisch  in  seinen  Bewegun« 
gen,  seinem  Gang,  seiner  Haltung,  seiner  Geschmacksrichtung.  Er 
zeigt  ein  süßliches,  geziertes  Wesen,  wird  eitel,  gefallsüchtig,  legt 
großen  Wert  auf  Aeußeres,  kleidet  sich  mit  besonderer  Sorgfalt,  nach 
der  Mode,  trägt  Blumen  im  Knopfloch,  parfumirt,  schminkt  sich, 
läßt  sich  firisiren,  schreibt  zierliche  Briefe  auf  duftendem  Papier, 
schmückt  sein  Zimmer  nach  Art  der  weiblichen  Boudoirs  aus.  \itU 
fach  besteht  die  Neigung,  sich  mit  weiblichen  Handarbeiten  zu  be« 
schäfdgen,  weibliche  Kleidung  (Korset)  zu  tragen,  Busen  und  Hüften 
auszustopfen,  in  Fistelstimme  zu  sprechen,  kurz,  sich  in  allen  Stücken 
auch  äußerlich  möglichst  der  erwünschten  geschlechtlichen  Stellung  zu 
nähern.  Es  kann  nicht  dem  geringsten  Zweifel  unterliegen,  daß  die  kon^ 
träre  Sexualempfindung  auf  dem  Boden  einer  krankhaft  entarteten  Per« 

201 


sÖnlichkeit  erwächst.  Die  überwiegende  Mehrzahl  der  Homosexualen 
besitzt  aber  vollständig  alle  körperlichen  Eigenschaften  ihres  Ge« 
schlechtes.  Möglich  wäre»  daß  bestimmte  Charaktereigenschaften 
wegen  der  gesammten  Stellung,  die  sie  dem  Einzelnen  in  seiner  Um« 
gebung  anweisen,  von  vom  herein  die  Entstehung  homosexualer 
Neigungen  begünstigen.  Die  Erfahrung  hat  im  Lauf  der  letzten  Zeit 
gezeigt,  daß  bei  nicht  wenigen  Kranken  eine  sehr  weit  gehende  Besse» 
rung  und  sogar  Heilung  möglich  ist.  Das  Endergebniß  wird  natürlich 
auch  nach  dem  allmählichen  Schwinden  der  homosexualen  Neigun« 
gen  eine  krankhaft  entartete  Persönlichkeit  sein.« 

So  urtheilt,  in  seinem  Lehrbuch  der  Psychiatrie,  Professor 
Kraepelin.  Ihn  können  die  »edel  denkenden«,  »charakter^ 
vollen«  Männer  nicht  täuschen;  nicht  in  den  Glauben  an 
die  feinste  Blüthe  gennanischer  Freundschaft  schwatzen. 
Kranke  sind  sie  ihm,  krankhaft  Entartete;  und  die  Frage,  ob 
sie  als  Gruppe  sich  auf  dem  Gipfel  des  Staatsgebirges  ftsU 
nisten  dürfen,  müßte  er  schroff  verneinen.  Nicht  Eulen« 
burgs  Handeln  nur:  schon  sein  Schreiben  verräth  ihn  dem 
Kenner  als  zu  dieser  Varietät  Gehörigen.  (Nur  dem  Kenner? 
Als  Eulenburgs  Drama  »Der  Seestem«  im  berliner  Ho& 
Schauspielhaus  aufgeführt  worden  war,  schrieb  Herr  Karl 
Frenzel,  der  sich  wohl  nie  mit  Sexualpsychopathie  beschäl 
tigt  hatte:  »Man  kann  sich  kaum  zu  der  Annahme  ent* 
schließen,  daß  ein  Mann  diese  unmöglichen  Männer  gezeich:« 
net  hat«;  der  Satz  steht  in  dem  Theaterbericht,  den  die 
Deutsche  Rundschau  im  Februar  1888  brachte.  Graf  Philipp 
selbst,  der  damals  vier  Tage  lang  beim  Prinzen  Wilhelm  in 
Potsdam  gewohnt  hatte,  schrieb  über  sein  Stück:  »Es  wurde 

202 


tüchtig  applaudirt  und  der  Erfolg  war  unleugbar.  Darum 
will  ich  mich  über  die  Kritiken  nicht  ärgern,  die  mich  abo 
scheulich  mitnehmen.  Romantischer  Stoff,  blumenreiche 
Sprache  und  ein  moralischer  Hintergrund:  Das  sind  unserer 
modernen  Welt  zu  viele  unerträgliche  Zumuthungen.  Der 
Beifall  aber  hat  mir  bewiesen,  daß  ich  Recht  hatte,  wenn  ich 
in  dem  Publikum  trotz  Alledem  einen  Rest  von  Romantik 
vermuthet  habe.  \l(lr  sind  eben  Deutsche!«  Semper  idem 
vultus.  Der  Kiinder  deutscher  Romantik  kam  aus  der  mün# 
ebener  Intimität  mit  den  Gesandschafbekretären  Raymond 
Lecomte  und  Johann  Grafen  von  Lonyay,  deren  Homosexuah^ 
tat  an  der  Isar  und  an  der  Spree  polizeikundig  war.  Der 
Ungar  wurde,  weil  seine  Vorliebe  für  Soldaten  allzu  unliebe 
sames  Au&ehen  machte,  früh  aus  dem  Diplomatendienst 
entfernt;  der  Franzos,  dessen  Wandel  schon  in  München 
zum  Aergemiß  geworden  war,  nach  dem  Lärm  von  Clement 
ceaus  witziger  Laune  zuerst  in  die  dorische  Heimath  der 
Knabenliebe,  dann  nach  Teheran  versetzt,  wo  an  jeder  Ecke 
Männer  aller  Sorten  sich  dem  Mann  anbieten  und  der  Schah 
den  Jünglingen  die  prächtigsten  Räume  im  Harem  reservirt.) 
Heute,  mit  ergreisendem  Bart  und  ins  Barytonale  hinabge# 
zwimgener  Stimme,  die  den  süßen  Klang  der  viola  d'amour 
kaum  noch  erkennen  läßt,  wirkt  Philipp,  der  auf  einem 
liebenberger  Jugendportrait  einem  ins  Kürassierkoller  ver^ 
mummten  Mädchen  gleicht,  durchaus  nicht  unmännlich.  Sein 
Geist  aber  hat  die  Wesenszüge  der  Weiblichkeit  bewahrt; 
sogar  Etwas  von  ihrer  Anmuth,  die  dem  Urning  fsist  immer 

203 


fehlt.  Er  assoziirt  und  spekulirt  wie  eine  Frau  (nicht  eine 
freilich,  die  sich  dem  Herd  verlobt  hat:  wie  eine  der  gran^ 
des  amoureuses);  hat  ihre  Hyperaesthesie,  als  Nothwehr# 
mittel  ihre  jeder  Anpassung  fähige  Trugkunst  und  ihren 
tollkühnen  Muth  zur  Unwahrhafitigkeit,  ihren  bequemen 
Fatalismus  und,  in  ärgster  Fähmiß  noch,  den  unausrodbaren 
Glauben  an  die  Wirksamkeit  persönUchen  Reizes.  (Gegeni^ 
bilder  sind  Christine  von  Schweden  und  Emma  Hamilton, 
die  Freundin  der  Königin  Maria  Karolina  von  Neapel;  auch 
sie  äugelten,  Jede  auf  ihre  Art,  mit  der  Kunst,  waren  in 
Wollen  und  Handeln  von  einem  kranken  Geschlechtstrieb 
determinirt  und  strebten  auf  den  seltsamsten  Schleichpfaden 
nach  verantwortungloser  Macht.)  ^»Im  individuellen  und  im 
sozialen  Dasein,«  sagt  KrafibEbing,  »ist  das  Geschlechtsleben 
der  gewaltigste  Faktor,  der  mächtigste  Impuls  zur  Bethäti^ 
gung  der  Kräfte.  In  den  geschlechtlichen  Empfindungen 
wurzelt,  in  letzter  Linie,  alle  Ethik;  zum  guten  Theil  vieU 
leicht  auch  Aesthetik  und  Religion.«  Die  ihres  Reizes  sichere, 
mit  ihrem  Reiz  nicht  kargende  Frau  erbebt  nie  vor  der  Ge^ 
fahr;  läuft  ihr  im  Uebermuth  gar  noch  entgegen.  Sie  ward 
auf  einem  Spelunkenfest  gesehen?  Verwechselung.  Mit  der 
Hoheit  einer  Heiligen  streift  sie,  wie  staubige  Herbstfaden, 
den  Verdacht  von  ihrem  Feiertagskleid.  Ein  Mann,  an  dem 
ihre  Brunst  Jahre  lang  hing,  tritt  auf  den  Weg,  den  sie  nun 
als  tugendhafte  Ehegefahrtin  wandelt.  Ihm  ists  Verlegenheit. 
Ihr?  Sie  ruht  nicht,  bis  er  dem  Legitimen  vorgestellt  ist,  an 
dessen  Tisch  sitzt  und  von  der  fernen  Zeit  ihrer  harmlosen, 


204 


nur  von  Lästermäulern  begeiferten  Freundschaft  erzählt;  und 
küßt  ihn,  dem  Angstschweiß  die  Haarwurzeln  feuchtet,  mit 
heißer  Lippe  rasch,  wie  einst,  au&  Ohr,  während  der  £he# 
herr  Cigarren  aus  dem  Rauchzimmer  holt.  »Schmeckts  noch?« 
Der  Wiederkehrende  kann  nicht  ahnen,  daß  der  Gast,  den 
sie  mit  so  gelassener  Herzlichkeit  behandelt,  ihr  je  mehr  war 
als  ein  angenehmer  Ballkamerad.  Neben  dem  Bett  ihres 
Kindes  umfinge  sie  den  Geliebten.  Sorge  würzt  ihrer  Gier 
nur  das  Mahl.  Sie  kann  kichern  und  schluchzen,  die  Grillen 
weglachen  und  nach  verzücktem  Aufblick  zwischen  den 
Wimpern  ein  Tröpf  lein  zerdrücken,  in  Zorn  erlodem  und  in 
Ohnmacht  fallen;  und  hat  stets  das  dreimal  glühende  Licht 
eines  Leidens  bereit,  das  ihrer  Kunst  eine  ganze  Fakultät 
nicht  abzustreiten  vermöchte.  Unwiderstehlich.  Sie  weiß  es 
und  vertraut  blind  ihrem  Glück.  Wenn  die  Rede  des  Hy# 
pereides  versagt:  die  dem  Auge  der  Richter  enthüllte  Brust 
sichert,  vor  dem  strengsten  Tribunal,  Phrynen  den  Freispruch. 
Auch  Fürst  Eulenburg  ist  der  Gefahr  muthwillig  entgegen^ 
gelaufen.  Er  konnte  behaglich  in  Liebenberg  oder  Territet, 
auf  Capri  oder  bei  Albert  Honorius  von  Monaco  sitzen; 
wenn  er  nur  den  Verantwortlichen  nicht  mehr  das  Geschäft 
erschwerte.  Brauchte  die  Freunde  dann,  die  ihn  vergötterten, 
nur  um  stille  Beilegung  des  Handels  zu  bitten  oder  aus  der 
Fremde  Krankheitatteste  zu  schicken.  Niemand  hat  ihn  zum 
Schwur  gezwungen.  Der  Fürst  meinte,  Eidespflicht  und 
Meineidsgefahr  gebe  es  nur  fUr  das  Gehudel  der  Kleinen  da 
unten;  ein  Großer  brauche  sich  nicht  ins  Joch  der  Massen^ 

205 


gesetze  zu  krümmen.  Und  verließ  sich  auf  seinen  von  glatten 
Zungen  so  oft  gepriesenen  »Charme«.  Zweimal  hob  er  die 
Hand;  beschwor,  wider  besseres  Wissen,  zweimal  Falsches; 
und  erbot  sich,  es  zum  dritten  Mal  zu  thun,  um  die  Venire 
theilung  zweier  von  ihm  Angeschuldigten  herbeizuführen. 
Zum  berliner  Oberstaatsanwalt  sprach  er:  »Ich  bin  rein, 
völlig,  und  ein  Jahrzehnt  schon  verfolgt  mich  auf  allen  We# 
gen  der  häßliche  Verdacht.  Was  soll  ich  thun?  Helfen  Sie 
mir!  Ich  habe  geschworen.  Rufen  Sie  Jeden  auf,  der  meinen 
Eid  anzweifeln  zu  dürfen  wähnt,  und  stellen  Sie  mir  ihn  im 
Gerichtssaal  gegenüber!«  Durchlaucht,  Botschafter,  Ritter 
des  Schwarzen  Adlers:  das  Hauftt  der  Anklagebehörde  ver^ 
gißt,  daß  der  Mann,  der  die  Konfrontirung  herbeizusehnen 
scheint,  vor  drei  Tagen  dem  Antrag,  die  Haltbarkeit  seines 
Eides  durch  Zeugenbeweis  nachzuprüfen,  ausgewichen  ist, 
und  wird  selbst  ihm  zum  Bürgen  der  Reinheit  Ein  Kriminale 
kommissar  bringt  aus  der  Ukermark  das  Ehrenwort  des  Fürsten 
mit :  Verleumdersinn  erfand  und  verbreitete  die  bösen  Gerüchte. 
Philipp  ist  mit  seinem  Bruder,  auch  mit  einem  Erzherzog  veri^ 
wechselt  worden.  Daß  er  mit  seinem  Haushofmeister  das 
Hotelzimmer  getheilt  habe,  könne  nicht  auffallen;  er  war  krank, 
der  alte,  treue  Diener  wegen  eines  Nierenleidens  nicht  reise« 
fähig:  da  mußte  der  junge  Haushofineister  ihn,  als  geschickter 
Mann,  ersetzen.  In  das  anrüchige  wiener  Badhaus  ist  der 
Botschafter  zufallig  gerathen;  weil  er  ein  vom  Arzt  vorge^ 
schriebenes  Bad  zu  Haus  nicht  haben  konnte.  Erpressungi^ 
versuche?  Nicht  einer.    »Ich  habe  nichts  zu  furchten  als 


206 


Hardens  falsche  Zeugen.«  Die  Zeugen  Ernst  und  Riedel, 
deren  Vernehmung  Justizrath  Bernstein  vier  Wochen  vorher 
beantragt  und  Eulenburg  nicht  gewünscht  hat.  Das  klingt 
dem  Kommissar  nicht  verdachtig.  Den  Müller  oder  Levi« 
der  Angst  vor  »falschen  Zeugen«  merken  ließe»  würde  er 
au£Fordem,  keine  Flausen  zu  machen.  Hier  aber  hat  er  das 
Ehrenwort  eines  Fürsten.  Der  dritte  Erfolg.  Gericht,  Staats^ 
anwalt,  Polizei.  Noch  wirkt  der  Charme ;  wird  auch  weiter» 
wirken.  »Die  Wahrhaftigkeit  des  Fürsten  Eulenburg  ist  außer 
Zweifel«:  Das  steht  im  Urtheil  der  Vierten  Strafkammer; 
und  in  der  Deutschen  Tageszeitung:  »Wie  ein  Schwan  aus 
schmutzigem  Schlamm  tauchte  Eulenburgs  Ehre  schneeweiß 
und  silberblank  aus  allen  Anwürfen  empor.  Weder  politisch 
noch  sittlich  blieb  ein  Stäubchen  des  Verdachtes  an  ihm 
hängen.  Ein  Reinigungeid  in  des  Wortes  heiligstem  und 
edelstem  Sinn  und  eine  Erquickung  für  aUe  deutschen  Her» 
zenl  Ein  Zeugniß  (ur  das  Schönste  und  Herrlichste,  was 
wir  Deutsche  unser  Eigen  nennen:  fiir  die  Freundschaft!« 
So  viel  ward  erreicht;  constantia  et  virtute.  Wer  bebt  noch? 
Hell  strahlt  der  Stern.   Die  Zeugen  mögen  nur  kommen. 

Der  Richter. 

Königliches  Amtsgericht  München  I.  Mariahilfstraße;  weit 
draußen  an  der  Au.  Ein  nüchternes  Haus.  Thierschs  Justiz» 
palast  hat  mehr  Physiognomie.  Doch  an  Raum,  Luft,  Licht 
fehlts  hier  nicht.  Grundriß  und  Anlage  scheinen  dem  Be» 
dür&iß  ftirs  Erste  zu  genügen.   Saal  5.   Hell,  groß,  einfich. 

207 


Auf  dem  Gerichtstisch  der  Kruzifixus;  drüber  der  Bayerns 
könig.  Kein  Stuck  noch  Putzgeräth.  (Kleiderhalter.  Könnte 
Preußens  Justizetat  die  nicht  auch  endlich  leisten?)  Schon 
sind  die  meisten  Plätze  besetzt.  Richter,  Anwälte«  Schrift^ 
steller;  auch  Nichtalsneugierige,  die  kamen,  »um  das  Rhinol 
zeros  zu  sehen«.  Vorstellung,  Händedrücke,  nervöses  Ge# 
plauder.  »Wirds  lange  dauern?«  Keine  Ahnung.  »Mehr  als 
einen  Tag?«  Nur  wenn  Fürst  Eulenburg  sich  als  Zeugen 
meldet;  sonst  nicht.  Die  Bedeutung  dieses  Gerichtstages 
kennt  er;  hat  auch  einen  Anwalt  bestellt,  der  ihm  ausfuhrt 
lieh  berichten  soll  und  (der  kleine  Herr  da  drüben  ists) 
schon  sein  Schreibzeug  in  Ordnung  bringt.  Ganz  fem  klingt 
mir  das  Gesumm;  wie  das  sinnlose  Rauschen  aus  einer 
Muschel.  Wieder  in  einem  Gerichtssaal.  Im  Laufe  von  sechs 
Monaten  der  dritte  Strafprozeß.  In  den  Pulsen  pocht,  in 
jedem  Nerv  zuckt  noch  die  Erinnerung  an  das  grotesk  Un^ 
geheuerliche,  das  die  Vierte  Strafkanuner  des  berliner  Land# 
gerichtes  mich  erleben  ließ.  Halte  Dich  in  Zucht,  rufts  drinnen ; 
was  Du  sprächest,  klänge  gewiß  viel  zu  schrill  und  verriethe  das 
Leiden  der  Physis.  Was  nöthig  ist,  wird  Dein  Anwalt  sagen. 
Zwinge  Dich  zur  Zurückhaltung  Eines,  der  nur  kam,  zu  hören. 
Neun  Uhr.  •  Der  Gerichtshof  tritt  ein  und  das  Sununen 
verhallt.  Die  Schöffen  werden  beeidet.  Bankoberinspektor 
Martin  Lindinger  und  Chemiker  Dr.  Karl  Heim.  Gebildete 
Männer:  ein  gutes  Omen.  Ein  Molkereibesitzer  ist  Ersatz^ 
Schöffe.  Der  Richter  rechnet  also  mit  der  Möglichkeit  langer 
Verhandlung.  Der  Richter:  Oberlandesgerichtsrath  "Alheim 

208 


Mayer,  der  dem  mänckener  Scköffengerickt  vorgesetzt  ist. 
Endlich  sehe  ich  ihn  also,  von  dem  ich  so  viel  gehört  habe 
und  den  die  Zunge  skeptischer  Anwälte  mir  oft  pries;  sol^ 
eher  sogar,  deren  Klienten  er  hart  verurtheilt  hatte.  Groß, 
schlank,  sehnig;  ein  ernstes  Antlitz  (eines  Niederdeutschen 
eher  als  eines  Bayern),  doch  mit  milden  Augen  und  einem 
Munde,  der  das  Allzumenschliche  belächeln  gelernt  hat. 
Pflichtbewußtsein  leuchtet,  der  stolze  Glanz  einer  Persönliche 
keit  aus  dem  über  die  Schöffen  herragenden  Haupt;  und  der 
Schauer  empfindet:  Dieser  sucht  und  besinnt  nur  das  Recht. 
Nach  dem  Prozeß  Karl  Peters  nannte  ich  ihn,  vor  dem 
ich  nie  als  Prozeßpartei  stehen  zu  müssen  glaubte,  den  bon 
juge  von  München,  ^rd  er  auch  heute  der  gute  Richter  der 
Legende  sein?  Schon  mahnt  er  die  Zeugen  zur  Wahrhaftige 
keit.  Die  Sache  ist  besonders  ernst  und  an  ihren  Grenzen 
allzu  viel  beschwatzt  worden;  nichts  von  Allem,  was  Sie 
darüber  gehört  und  gelesen  haben,  darf  Sie  jetzt  beirren. 
Den  falschen  Eid  ahndet  der  Herrgott;  und  hienieden  straft 
ihn  der  Staat.  Kurze  Sätze;  männlich  schlicht.  Magnaud, 
der  pariser  bon  juge,  hat  nicht  diese  Wucht  der  Persönliche 
keit,  diese  germanische  virtus,  nicht  den  stillen  Ernst  zur 
Sache;  schielt  mehr  nach  der  Effektmöglichkeit  und  freut 
sich  zu  laut,  wenn  sein  billiger  Salonsozialismus  den  Kleine 
bourgeois  verblüfft.  Die  Personalien  des  angeklagten  Redake 
teurs  Anton  Städele  aus  Amberg  sind  rasch  festgestellt.  Er 
ist  für  den  Inhalt  der  Neuen  Freien  Volkszeitung  verantworte 
lieh,  eines  Bauembundorganes,  in  dem  das  Gerücht  erwähnt 

w.  III  209 


Woiden  war,  Harden  habe  eine  Million  Mark  als  Schweigen 
geld  erhalten  und  deshalb  die  Eulenburg  und  Genossen  ge^ 
schont.  Diese  Sätze  hatten  den  Anlaß  zu  der  vom  Justizrath 
Max  Bernstein  (in  meinem  Namen)  eingebrachten  Klage  gt* 
geben.  Wahrend  die  beanstandeten  Artikel  verlesen  werden, 
kann  ich  den  Gegner  betrachten.  Wohlgenährt,  jung,  mit 
dem  klugen  Gesicht  eines  Redlichen,  der  gern  was  Gutes 
schmaust  und  mit  manchem  kräftigen  Tropfen  die  Kehle 
tränkte.  Er  trägt  eine  Sammetweste.  Wer  löst  die  Räthsel 
vdllkürlicher  Assoziation?  In  dieser  wichtigen  Stunde,  vor 
der  Entscheidung  eines  Kampfes,  dem  seit  einem  Jahr  all 
meine  Kraft  hingegeben  ist,  klammert  der  überreizte  Sinn  sich 
an  dieses  gleichgiltige  Kleidungstück;  muß  ich,  wider  Willen, 
denken:  Solche  Weste  habe  ich  auch;  und,  ohne  Wehmuth,  der 
Abende  mich  erinnern,  da  ich  sie,  auf  noch  gesimder  Brust, 
trug.  Unbegreiflich  dumm.  Zolas  Saccard  fallt  mir  ein,  der, 
während  ein  Börsenorkan  ihn  aus  Besitz  und  Ansehen  fegt, 
der  in  seinem  Hof  erfrorenen  Kamelie  nachjammert.  (Ein 
gar  so  schlechter  Psychologe  war  der  allzu  eitle  Spätroman^ 
tiker  von  Medan  doch  nicht.)  Nun  spricht  Herr  Städele;  und 
zwingt  mich,  au&uhorchen.  Daß  ich  Eulenburg  und  dessen 
Leute  geschont  habe,  will  ihm  nicht  in  den  Kopf.  (Nicht, 
daß  man  zaudert,  Menschen  zu  vernichten  und  Einen,  der 
dem  im  Reich  höchsten  Mann  Jahrzehnte  lang  der  Nächste 
war,  als  meineidigen  Jünglingschänder  zu  erweisen?  Thus 
conscience  dpes  make  cowards  of  us  all,  Herr  Anton  Städele; 
und  ich  dürfte  Ihnen  ein  robusteres  Gewissen   gar  nicht 

210 


r 


einmal  neiden.)  Wenn  Marden  Material  dazu  hat,  soll  er  den 
Meineid  des  Fürsten  Philipp  zu  Eulenburg^Hertefeld  rächen. 
Der  Ton  des  Sprechers  ist  energisch,  doch  nicht  von  Haß  ge^ 
färbt;  und  manchmal  ists,  als  wtinsche  der  Mann  aus  Am# 
berg,  dem  Gegner,  dessen  gerichtliche  Aechtung  er  wie  eine 
dem  ganzen  Schreiberstand  angethane  Schmach  empfindet, 
in  einem  von  Vorurtheilsdunst  freien  Klima  zu  seinem  Recht 
zu  helfen.  Bernstein  antwortet.  Wiederholt  die  Aussagen, 
die  Fiirst  Eulenburg  als  beeideter  Zeuge  zwei  Gerichtshöfen 
zu  bieten  gewagt  hat.  Erwähnt,  daß  die  Vierte  Strafkanuner 
uns  die  Frotokolirung  dieser  (dennoch,  dank  dem  Ober^ 
Staatsanwalt  Isenbiel,  klar  erweislichen)  Aussage  weigerte 
und  den  zur  Entkräftung  dieses  Eides  gestellten  Beweisantrag 
Tage  lang  nicht  beschied.  Und  bittet,  die  in  Berlin  nicht 
vernommenen  Zeugen  (Riedel,  Ernst  und  andere  Stamberger) 
hier  zu  hören,  damit  das  Gericht  über  Hardens  Handeln  sich 
selbst  ein  Urtheil  bilden  könne.  Die  Worte  sickern;  als 
furchte  der  Redner,  seinem  Empfinden  die  Schleußen  zu 
ö&en.  In  dem  rothwangigen  Weißkopf  zitterts  von  ver» 
haltener  Erregung;  und  ich  muß  bedenken,  wie  erbärmliche 
Niedertracht  auch  diesen  gewissenhaften,  tüchtigen,  gründe 
gescheiten  und  reinlichen  Menschen  besudelt  hat,  seit  ge^ 
rechte  Empörung  ihn  auf  einen  Schelmen  anderthalb  setzen 
ließ.  Daß  Vernunft  nicht  mehr  galt,  die  Verurtheilung  in  der 
ersten  Stunde  sicher  schien  und  der  kranke  Klient  von  ihm 
forderte,  in  einer  Rechtssache  sich  politischer  Erwägung  zu 
fugen,  nahm  ihm  vor  dem  Landgericht  dann  den  Athem. 

w  211 


(£r  hatte  nickt  zum  ersten  Mal  in  Berlin  plaidirt  und  weiß, 
daß  auch  wir,  Gott  sei  Dank  dafür,  nicht  nur  Richter  vom 
Schlage  der  Herren  Lehmann,  Gohr  und  Genossen  haben.) 
Heute  lähmt  die  Last  der  Verantwortung,  die  Ungewißheit 
des  Kommenden  noch  die  Kraft  des  Antaios,  der  wieder  auf 
heimischem  Boden  ringt.  Jetzt  muß  ich  sprechen.  Laß  Dich 
nicht  hinreißen,  mahnts  mich;  gedenke  der  Schwierigkeit, 
die  Du  selbst  Dir  schaffst,  wenn  Du  um  Haaresbreite  über 
den  engen  Bereich  dieses  Prozesses  hinausgehst.  »Der  Herr 
Beklagte  hat  ein  Gerücht  verbreiten  zu  müssen  geglaubt, 
das  meine  Ehre  in  der  schlimmsten  Weise  verdächtigt;  die 
Ehre  eines  Menschen,  der  in  einer  bitter  ernsten  Sache  an^ 
geklagt,  einstweilen  verurtheilt,  mit  Verleumdungen  jeder 
Art  überhäuft  worden  ist.  Der  Gerichtshof  wird  in  der 
Lage  sein,  zu  prüfen,  ob  ich  in  dieser  Sache  frivol  oder  an^ 
ständig,  feig  oder  menschlich  gehandelt  habe.  Diese  Prüfung 
glaube  ich  als  mein  Recht  vom  Gericht  erbitten  zu  dürfen 
und  unterstütze  deshalb  inbrünstig  den  Antrag  meines  Ver^ 
theidigers,  wenigstens  den  kleinen  Theil  des  Beweises,  der 
uns  in  diesem  Saal  möglich  ist,  zuzulassen.«  Ueberstanden. 
Keine  Replik.  Der  Gerichtshof  wird  berathen. 

Beräth  lange.  Der  Ungeduld  schleichen  die  Minuten. 
Vielleicht  wünschen  die  Schöffen  noch  Auskunft  über  die 
Vorgeschichte  des  Streites;  um  mit  hellerem  Verständniß 
folgen  zu  können.  Vielleicht  meint  Einer,  der  Verbreiter  des 
kränkenden  Gerüchtes,  ich  habe  eine  Million  als  Schweigen 
geld  bekommen,   müsse  den  Beweis  der  Wahrheit,   nicht 

212 


■i 


der  Gekränkte  den  Beweis  der  Unwahrheit  fuhren.  Schon 
sind  zwanzig  Minuten  verstrichen.  Ists  möglich»  daß  unser 
Antrag  abgelehnt  wird?  Dann  sind  wir  auf  dem  alten 
Fleck;  immer  noch  vor  der  Frage,  ob  ich  die  Staatsanwalts 
Schaft  zur  Verfolgung  der  Meineide  aufrufen  oder  die 
Entscheidung  des  Reichsgerichtes  abwarten  solle.  Um  keinen 
Schritt  weiter.  Da  ö&et  sich,  endlich,  die  Thür  des  Be^ 
rathungzimmers.  Noch  stiller  als  vorher  wirds:  denn  nun 
muß  sich  zeigen,  ob  die  Neugier  auf  ihre  Kosten  kommt. 
Die  Richter  sitzen;  und  der  Präsident  kündet: 

»Auf  Antrag  des  Frivatklägers  wird  Beweiserhebung  durch 
die  von  ihm  benannten  und  vom  Gericht  geladenen  Zeugen 
angeordnet  darüber,  ob  die  Behauptimg  des  beanstandeten 
Artikels,  Harden  habe  von  seinem  Gegner  Fürsten  Philipp 
Eulenburg  eine  Million  erhalten,  damit  er  schweige  und 
nichts  Weiteres  aufdecke,  unwahr  ist  oder  ob  Harden  Beweise 
mittel,  die  ihm  zum  Nachweis  der  homosexuellen  Bethätigung 
des  Fürsten  Eulenburg  geeignet  erscheinen  konnten,  besaß 
und  davon  nach  Möglichkeit  Gebrauch  gemacht  hat.« 

Ein  Satz:  und  Alles,  was  gesagt  werden  mußte,  steht  drin. 
Da  die  Sittlichkeit  gefährdet  werden  kann,  wird  bis  zur  Urs 
theilsverkündung  die  Oeffentlichkeit  ausgeschlossen.  Justiz^ 
rath  Bernstein  bittet,  im  Interesse  des  Klägers,  der  öffentlich 
beleidigt  worden  sei,  und  des  Beklagten,  der  sich  öffendich 
rechtfertigen  wolle,  die  Berichterstatter,  deren  Takt  und  Ge^ 
schicklichkeit  man  vertrauen  dürfe,  im  Saal  zu  lassen.  Be^ 
Schluß:  Dem  Gericht  Angehörige,  Rechtsanwälte  und  In# 

213 


haber  von  Pressekarten  dürfen  bleiben.  Noch  einmal  ver«« 
liest  Bernstein  die  beiden  beeideten  Aussagen  Eulenburgs, 
(ur  deren  Unwahrheit  er  der  Vierten  Strafkammer  mit 
lauter  Stimme  (vetgebens)  Beweis  angeboten  hat.  Die  im 
frühsten  Prozeß  gemachte  lautet  nach  dem  Sitzungprotokol: 

»Ich  habe  mir  niemals  Handlungen,  die  gegen  den  Para^ 
graphen  175  verstoßen,  zu  Schulden  kommen  lassen.  Zwar 
bin  ich  in  meiner  Jugend  ein  enthusiastischer  Freund  meiner 
Freunde  gewesen,  zwar  habe  ich  Briefe  geschrieben  in  über« 
schwänglich  freundschaftlicher  Empfindung.  Etwas  Böses,  etwas 
Schlechtes,  etwas  Schmutziges  hat  aber  nie  dahinter  gelegen.« 

Leugnet  also  jede  schmutzige  Geschlechtshandlung;  und 
daß  der  Fürst  die  Mutualbefriedigung  zweier  Manner  zu  den 
»Schmutzereien«  rechnet,  lehrt  sein  gegen  mich  geleisteter 
Eid.  Daß  er  solche  Schmutzereien  getrieben  hat,  werden  die 
geladenen  Zeugen  beweisen.  Werden  sies?  Zeugen  und 
Kredit,  spricht  der  weise  Humorist  Karl  Fürstenberg,  sind 
meist  nur  werthvoU,  so  lange  man  sie  nicht  braucht.  Gar  in 
dieser  eklen  Sache.  Zu  Homosexualakten  werden  nicht 
Schaugäste  geladen.  Nur  vier  Augen  sahen  sie.  Und  bei« 
nahe  Jeder  scheut  die  Entschleierung  verirrten  oder  über« 
rumpelten  Sinnentrieblebens.  Darauf  hat  die  Sippe  gebaut . . . 
»Ich  bitte,  mich  beim  Zeugenverhör  nicht  mit  Zwischenfragen 
zu  unterbrechen.  Die  Parteien  kommen  nachher  zu  ihrem 
Fragerecht.  Zuerst  aber  will  ich  mit  dem  Zeugen  von  Mann 
zu  Mann  verhandeln.  Dabei  wird  Keiner  benachtheiligt. 
Rufen  Sie  den  Zeugen  Georg  Riedel  in  den  Saal.« 

214 


Kaum  mittelgroß;  ein  verwettertes  Gesicht  unter  ergraue 
endem  Haar;  das  Gesicht  eines  gutmüthigen  Oberbayem, 
der  Zunge  und  Faust  nicht  gern  feiern  laßt,  wenn  ihm  ein 
Lauslein  über  die  Leber  gelaufen  ist  Sechsundvierzig  Jahre 
Katholisch.  Verheirathet  Vater  von  fünf  Kindern.  Milche 
händler  in  Miinchen.  Er  wird  eindringlich  ermahnt,  kein  vor 
Gott  und  Menschengericht  unverantwortbares  Wort  zu  sagen; 
und  soll,  bevor  er  auf  das  Beweisthema  kommt,  seinen 
Lebensgang  schildern.  (So  lernt  der  Richter  ihn  zunächst 
auf  neutralem  Gebiet  kennen,  gewöhnt  sich  in  seines  Wesens 
besondere  Ausdrucksweise  und  läßt  ihm  Zeit,  in  der  be^ 
klemmenden  Gerichtssaalluft  heimisch  zu  werden.  Jeden 
Zeugen,  der  zur  Sache  Wesentliches  zu  sagen  hat,  sollte  man 
so  behandeln.)  Der  Vater  war  Fischer  und  Landwirth  in 
Feldafing  und  hatte  ein  schönes  Anwesen  am  Stamberger 
See.  Der  siebenzehnjährige  Georg  wird  nach  Tutzing  in  die 
Lehre  geschickt,  kommt  aber  schnell  wieder  heim,  weil  des 
Meisters  Frau  findet,  er  tauge  nicht  zum  Fischen  (»daß  ich 
nicht  das  Kraut  auf  dem  Hafendeckel  verdiene«,  sagt  Riedel). 
Der  Neimzehnjährige  fiihrt  »Herrschaften«  gegen  den  im 
Tarif  bestimmten  Entgelt.  Militärzeit  beim  Vierten  Chevau^ 
legersregiment  in  Augsburg.  Schon  als  Knabe  hat  er  den 
Vater  verloren;  auf  dem  feldafinger  Anwesen  haust,  als  der 
vom  Militär  Freie  heimkehrt,  der  Stiefvater.  Heirath.  Aus# 
tausch  des  erheiratheten  überschuldeten  Hofes  (»meine  Braut 
hatte  mich  angelogen«)  gegen  einen  kleineren.  Entschluß,  in 
München  ein  Milchgeschäft  aufzumachen.  »Hier  in  der  Au. 

215 


Da  geht  mirs  nicht  schlecht.«  Ein  Vergnügen,  dem  Mann 
zu  lauschen.  Hold  wuchs  ihm  der  Schnabel  nicht;  aber  er 
ziert  sich  auch  nicht  und  jedes  Wort  hat  den  Schmack  des 
Erlebten.  Fürchterlich,  wenn  dieses  urwüchsige  Gebirgs^ 
deutsch  in  den  Staub  der  Aktensprache  geschleift  würde. 
Unser  Richter  thuts  nicht.  Sucht  bei  der  Uebertragung  ins 
Hochdeutsche  dem  Wort  seinen  Wesensruch  zu  wahren. 
Und  schon  jetzt  fallt  mir  auf,  wie  präzis  er,  ohne  das  Kleinste 
zu  übergehen,  jede  Aussage  zusammen£sißt.  Dazu  eine  Sprache 
technik,  die  noch  im  raschsten  Redefluß  das  winzigste  Satz# 
theilchen  zu  plastischer  Klarheit  gelangen  läßt.  Kein  Konso^ 
nant  geht  verloren.  Dieser  Richter  hat  nicht  nur  Stra&echt 
und  Prozeßordnung  studirt.  So  meistert  die  (in  Deutsche 
land  noch  allzu  seltene)  Rednerkunst  nur  Einer,  der  im  Ho& 
Schauspielhaus  von  Possart  und  Kainz  zu  lernen  verstand. 
Riedel  ist  bei  den  Hörern  schon  in  Gunst.  Der  lügt  nicht, 
denkt  man;  und  harrt  der  Dinge,  die  er  bekunden  will. 
Nun  aber  droht  ihm  Gefahr.  Seine  Strafliste  wird  (auf 
Bernsteins  Antrag)  verlesen.  UngefiUir  dreißigmal  haben 
Polizei  und  Gerichte  ihn  gepönt.  (Was  hätte  der  Lehmann 
aus  dieser  Liste  gemacht!  Und  was  beweist  sie  gegen 
die  Glaubwürdigkeit  eines  vom  Schicksal  herumgestoßenen 
Menschen?)  Nicht  für  schlimm  mäkelnde  That.  Eine  Ge^ 
fangnißstrafe  von  fünfeinhalb  Monaten  ist  dabei.  Vor  vier^ 
zehn  Jahren  ist  am  See  geraunt  worden,  einem  Bauernhofs^ 
besitzer  lächle  vor  Gericht  stets  das  Glück,  weil  seine  Frau 
den  Oberamtsrichter  mit  Eiern  und  Schmalz  fiir  ihn  stimme 


216 


(»abschmiere«).  Riedel  hats  weitererzählt,  ist,  weil  die  Zeugen 
ihn  im  Stich  ließen,  als  Beamtenbeleidiger  verurtheilt  worden 
und  hat,  weil  er,  nach  lieber  Gewohnheit,  den  tretdosesten 
Zeugen  weidlich  verprügelt  hatte,  eine  Zusatzstrafe  erhalten. 
Das  ist  der  ärgste  Posten;  aUes  Andere  Läpperei.  Der  Mann 
hebt  die  Schultern.  »In  unserer  Familie  sind  Alle  immer 
gleich  ,narret',  wenn  sie  was  ärgert.«  Hitzköpfiger  Schlag. 
Eines  reuigen  Siinders  kann  die  Gottheit  sich  hier  nicht 
freuen.  Riedel  würde  drauf  schwören,  daß  er  stets  für  das 
Recht  gerauft  und  nie  einem  Unschuldigen  die  Jacke  voU^ 
gehauen  hat.  Gesteht  auch,  noch  gar  nicht  so  sicher  zu  sein, 
daß  die  Abschmierung  nicht  versucht  worden  ist.  Und 
schweigt  erst,  als  der  Richter  ihn  warnt,  durch  so  dumme 
Rede  sich  neuer  Verfolgung  auszusetzen.  »Dafiir,  daß  der 
Oberamtsrichter  von  Stamberg  sich  nicht  abschmieren  läßt, 
brauchen  wir  keinen  Beweis.«  Ein  tüchtiger  Kerl  bekennt 
sich  auch  zu  den  Kindern  seiner  Wuth.  Riedel  hehlt  nicht, 
daß  er  mit  zärthchem  Wehmuth  auf  sie  zurückblickt.  Und 
den  Vielbestraften  lieben  noch  immer  alle  Männer  im  Saal. 
Nun  erzählt  er,  wie  dem  Neunzehnjährigen  auf  dem  See 
der  Versucher  nahte.  Ein  feiner  Herr,  der  sich  von  dem 
strammen  Fischerknecht  hinausrudem  läßt.  Fragt,  woher  er 
sei;  obs  ihm  nicht  an  Biergeld  fehle;  ob  er  auch  schon  ein 
Mädel  habe.  Mit  dem  Geld  haperts  (der  Stiefvater  hält  ihn 
I^i^PP);  ^^^  sein  Mädel  hat  er.  Auch  schon  mit  Liebchen 
geschlafen?  Einmal,  Herr.  (So  treibt  man  sacht  die  Scham 
aus  der  jungen  Seele  und  stellt  zugleich  fest,  daß  des  Sexuak 

217 


triebes  Befriedigung  sie  schon  gekitzelt  hat.)  Der  Feine  zahlt 
den  dreifachen  Fahrpreis,  zwingt  den  redlichen  Burschen, 
den  Ueberschuß  zu  behalten,  und  kommt  am  nächsten  Mit^ 
tag  wieder  ms  Boot.  Er  war  bei  den  Kürassieren,  plaudert 
er,  konnte  die  Soldatenschinderei  (die  Gardes  du  Corps 
mögen  sich  (ur  den  Schimpf  bei  dem  fursdichen  Kameraden 
bedanken)  aber  nicht  mitansehen  und  ging  drum  ins  Civile. 
Wenn  Riedel  heran  miisse,  wolle  er  ihn  nach  Breslau  zu  den 
Leibkiirassieren  bringen,  wo  sein  Freund  Ofifizier  sei.  (Die^ 
sen  Freund,  den  Grafen  Kuno  Moltke,  hat  er  dem  Fischer« 
knecht  später  gezeigt  und  als  seinen  »Spezi«  bezeichnet.) 
Da  werde  ers  gut  haben.  Dem  Feldafinger  ists  zu  weit  weg. 
"^eder  wird  vom  Mädel  geredet  Wieder  überreichliches 
Trinkgeld  gegeben.  Auf  der  vierten  Fahrt  tastet  der  Feine 
sich  ein  Streckchen  weiter.  Ein  ganz  Feiner.  War  schon  bei 
den  Schwarzen  und  sagt,  der  Anblick  der  nackten  Körper 
sei  wunderschön.  Ist  jetzt  Rath  bei  der  Preußischen  Ge« 
sandtschaft  in  München.  Aber  nicht  hochmüthig.  Nach 
kurzer  Bekanntschaft  mit  Riedel  auf  Du  und  Du.  Ob  Georg 
schon  einmal  versucht  habe,  die  Geschlechtsgier  aus  eigenem 
Vermögen  zu  stillen.  Nein.  Ob  er  mal  Wein  trinken  wolle. 
Ja.  Am  nächsten  Tag  liegt  eine  Flasche  im  Boot.  »Ich  heiße 
Graf  Philipp  zu  Eulenburg;  nenne  mich  nur  Philipp,  lieber 
Georg.«  Hinaus  nach  Leutstetten.  Hinter  dem  Galgensee, 
wo  das  Holz  haushoch  steht,  wird  gelandet.  Auf  den  Wald^ 
boden  gelagert  und  Wein  getrunken.  Jetzt  ist  der  Rüpel 
wohl  zugerichtet.  Läßt  sich  befühlen,  streicheln  und  duldet 

218 


schließlich  den  vom  Gesetz  straflos  gelassenen  Geschlechts^ 
akt.  Warum?  »Weil  er  ein  so  feiner  Herr  war  und  es  ihm 
Vergnfigen  zu  machen  schien;  mir  hats  keins  gemacht.«  Und 
die  Willfährigkeit  ward  nicht  bezahlt.  »Was  dachten  Sie  sich 
danach?«  »Nichts  Gutes.  Er  hatte  ja  Frau  und  Kinder  da^ 
heim;  und  nun  mit  einem  Mannl  Aber  es  kam  so.«  Von 
der  Leutsaligkeit,  den  blanken  Markstücken,  vom  Wein. 
Mayers  milder  Baryton  tönt  sich  härter.  »Hüten  Sie  sich  vor 
jedem  Wort,  das  Sie  nicht  auf  Ihren  Eid  nehmen  könntenl 
Seit  diesen  Vorgängen  ist  viel  Wasser  durchs  Wurmbett  ge^ 
laufen.  Wenn  Sie  etwa  aus  trüber  Gedächtnißquelle  schöpfen, 
verspielen  Sie  Ihr  Leben  und  bringen  Weib  und  Kinder  ins 
Unglück.  Noch  ists  Zeit  zu  ehrlicher  Vorsicht.« 

Weiß  eh  schon,  sagt  Riedel  ruhig;  aber  was  ich  erzähle, 
ist  wahr;  weshalb  sollte  ich  lügen?  Etwa  achtmal  habe  ich 
den  Grafen  dann  noch  gefahren.  Drei  Wochen  nach  dem 
Herbstnachmittag  im  Galgenseewald  bin  ich  wieder  heimge^ 
gangen.  Weil  ich  auch  die  Ordonnanzen  an  das  Schloß  un^ 
seres  Königs  Ludwig  hinübergerudert  und  gute  Biergelder 
bekommen  habe,  brachte  ich  ungefähr  hundertachtzig  Mark 
mit.  Der  Graf  hatte  mich  in  seine  münchener  Wohnung  ein« 
geladen  und  suchte  mich,  da  ich  ihn  zu  lange  warten  ließ, 
um  Mariae  Lichtmeß  auf  Stiefvaters  Hof,  dann  in  der  Bier^ 
wirthschaft,  wo  ich  den  Feiertag  versaß.  Der  Fischer  Jakob 
Ernst  war  bei  ihm.  Fischerjackl  hieß  er  am  ganzen  See.  Der 
Graf  bat  mich,  zu  Fuß  mit  ihm  nach  Stambetg  zu  gehen,  gab 
mir  bei  der  Sandgrube  jenseits  vom  Bahndamm  ein  Zwei^ 


219 


markstück  (das  Geld  nahm  er  stets  aus  der  Hosentasche; 
einen  Beutel  hatte  er  nie)  und  schickte  mich  von  dort  weg, 
weil  er  mit  dem  Jakob  bleiben  wollte.  Bald  danach  wurde  ich 
zum  Militär  ausgehoben.  Vor  der  Musterung,  hatte  der  Graf 
gesagt,  solle  ich  ihn  besuchen;  Promenadeplatz  21,  im  Zwei^ 
ten  Stock.  Zwei  Stadtrekruten  führten  mich  hin;  denn  ich 
kannte  Miinchen  noch  nicht.  In  dem  Haus  (neben  dem 
Hotel  Bayerischer  Hof)  wars  fein.  Der  Graf  zeigte  mir  Alles, 
auch,  nicht  weit  davon,  ein  Atelier  mit  gemalten  Menschen, 
sagte,  daß  er  nebenbei  Schriftsteller  sei,  und  schenkte  mir 
zehn  Mark.  Bei  der  zweiten  Musterung  meldete  ich  mich, 
auf  seinen  Wunsch,  zur  Kavallerie,  kam  auch,  trotzdem  ich 
mit  Pferden  noch  nicht  umgegangen  war,  zu  den  Alerten 
Chevaulegers  und  erhielt  von  dem  Grafen  wieder  ein  Zehn^ 
markstück.  Noch  mehr  Geld  in  Stamberg,  wo  ich  ihn 
wieder  besuchen  mußte.  Einmal  bestellte  er  mich  an  den 
Bahnhof,  gab  am  Schalter  einen  Zettel  hinein  und  bekam 
einen  Haufen  Geld  heraus,  von  dem  er  mir  dreißig  Mark 
gab.  »Wars  denn  anständig,  so  viel  Geld  zu  nehmen?« 
»Nein.  Ich  wußte  auch,  daß  es  nicht  recht  war,  und  habe 
den  Grafen  angelogen:  ihm  gesagt,  ich  brauche  das  Geld, 
um  mein  Mädel  beim  Tanz  zu  bewirthen;  aber  der  Stie& 
vater  ließ  mir  die  Tasche  leer:  und  leichtsinnig  ist  man. 
Erpreßt  habe  ich  nicht.  Nie  an  eine  Anzeige  gedacht.  Nie 
ihm  gedroht  noch  überhaupt  von  der  Waldgeschichte  ge^ 
sprochen.  Nur  um  ein  paar  Mark  gebeten,  wenns  wieder 
mal  knapp  war.   Und  nie  vergebens.    Im  Ganzen  werde  ich 

220 


so  ungefaklr  fuii£telitiliünclert  Mark  erwiscKt  Kaben.  Als  ick 
aus  Augsbutg  zum  dritten  Mal  schrieb,  antwortete  er,  ich 
solle  mirs  holen.  Jch  möchte  Dich  in  der  Uniform  sehen, 
lieber  Georg/  Ich  hatte  eine  schöne  Uniform.  Bekam, 
während  des  Schwadronexerzirens,  als  Rekrut  aber  keinen 
Urlaub,  obwohl  ich  meinem  Rittmeister  den  Brief  des  Grafen 
gezeigt  hatte.  Nach  dem  Rapport  habe  ich  mein  Sattelzeug 
geputzt  und  studirt,  was  zu  thun  sei.  Ein  Kamerad  iiber^ 
redete  mich,  durchzubrennen.  Los;  nach  München.  Auf 
dem  Bahnhofe  wartet  der  Graf  mit  einem  feinen,  weißgesich^ 
tigen  Herrn  in  den  Vierzigern.  Ich  mußte  erzählen,  yet^ 
schwieg  aber,  daß  ich  schwarz  gefahren  sei.  In  der  Woh^ 
nung  am  Fromenadeplatz  war  der  Tisch  gedeckt.  Wir  Drei 
aßen  und  tranken.  Schinken,  Obst,  Kuchen,  Wein;  nur  kalte 
Speisen  gabs.  Dann  meinte  der  Graf,  er  miisse  nun  fort. 
Ich  wollte  meinen  Säbel  von  der  Wand  nehmen,  umschnallen 
und  mitgehen;  aber  der  Graf  wollte,  daß  ich  bei  seinem 
Freund  bleibe,  und  gab  mir  zehn  Mark.  Der  Herr  sei  mir 
doch  fremd;  auch  werde  auf  mich  der  Verdacht  fallen,  wenn 
aus  der  Wohnung  was  wegkomme.  Da  lachte  der  Graf. 
Das  sei  nicht  zu  furchten;  und  der  Herr  werde  schon  freunde 
lieh  zu  mir  sein.  Das  wurde  er  auch,  als  wir  allein  waren. 
Nahm  mich  um  den  Hals,  zog  mich  an  sich,  wenn  ich  fort^ 
rückte,  gab  mir  viel  zu  trinken  und  forderte  endlich  . . .  (die 
gröbste  Art  aktiver  Sexualleistung  zwischen  Männern).  Er 
suchte  mirs  auf  alle  Weise  bequem  zu  machen  (unwieder^ 
holbare   Details)    und   schenkte    mir    ein   Zehnmarkstück. 


221 


Sckon  zwanzig  heute,  dachte  ich;  hatte  beim  Militär  aber 
oft  von  der  Strafbarkeit  solcher  Dinge  gehört  und  war  auch 
sonst  nicht  recht  in  Ordnung.  Der  Herr  wurde  bös,  weil  er 
glaubte,  ich  möge  ihn  nicht.  Da  nahm  ich  den  Säbel  vom 
Wandhaken  und  lief  aus  der  Stube.  Der  Graf,  meine  ich, 
hat  die  ganze  Geschichte  angerichtet.  Geschwind  nach  Augs^ 
bürg  zurück.  Da  setzte  es  fiinf  Tage  Kasernenarrest,  trotze 
dem  ich  nicht  sagte,  daß  ich  in  Miinchen  gewesen  sei;  sonst 
hätte  es  wohl  zehn  Tage  strengen  Arrest  gegeben.  Danach 
habe  ich  noch  dreimal  an  den  Grafen  geschrieben,  aber  nie 
eine  Antwort  erhalten;  auch  kein  Geld  mehr.  Alles  war  aus. 
Das  mit  dem  Freund  hat  er  mir  übelgenommen.« 

Wie  einen  Kontraktbruch,  die  Weigerung,  nach  hohem 
Vorschuß  die  Waare  zu  liefern?  . . .  Ein  Schaudern  war  durch 
den  Saal  gegangen;  durch  abgehartete  Männerherzen  ein 
Beben  vor  solchem  Gräuel.  Hier  war,  erst  wenige  Wochen 
ists  her,  der  Brief  eines  Grafen  verlesen  worden,  der  unter 
den  Standesgenossen  einen  Bund  vornehmer  Urninge  sti& 
ten,  dem  Eros  Platens  und  Farenheids  einen  Tempel  schaffen 
wollte.  Schulenburgs  Brief: 

Haus  Oeft,  Post  Kettwig,  Rheinland. 
14.  2.  1901. 
Sehr  verehrter  Graf  1 

Euer  Hochgeboren  bitte  ich,  einem  in  gleicher  Weise  veranlagten 
Standesgenossen  zu  gestatten,  seine  Ideen  über  einen  Zusammen« 
Schluß 'der  adeligen  Urninge  in  Folgendem  zu  entwickeln. 

Zur  Erklärung  jedoch,  daß  ich  so  mit  der  Thür  ins  Haus  falle, 
bemerke  ich,  daß  der  Doktor  Hirschfeld  in  Charlottenburg,  der  inteU 


222 


ligente  Vorsitzende  des  ^XlsseiiscliaMicli»Muiiianiiaren  Komitees,  mit 
dem  ich  mich,  nachdem  ich  eist  lange  Zeit  gebraucht  hatte,  um  meine 
durch  und  durch  homosexuelle  Natur  zu  erkennen,  und  dann  auch 
noch  lange  Zeit  abwartend,  zögernd  und  mißtrauisdi.  Letzteres  ins# 
besondere  als  gläubiger  Katholik,  der  befürchtete,  daß  die  Homosexua^ 
lität  nur  zu  anderen,  antikirchlichen  Zwecken  ausgeschlachtet  werden 
könnte,  bei  Seite  gestanden,  dann  endlich  in  Verbindung  gesetzt  und 
der  Doktor  mir  dann  auf  Befragen  nach  anderen  adeligen  Urningen 
auch  Ihren  Namen  nannte. 

Ich  möchte  nunmehr  meine  früheren  Versäumnisse  gut  machen  und 
das  Meinige  dazu  beitragen,  eine  größere  Einigung  der  Urninge  her^ 
beizuführen.  ^9Clr  sind  ja  so  zahlreich,  wissen  gar  nicht  unsere  Kraft  1 
Wenn  alle  die  furchtsamen,  verkappten,  sich  selbst  nicht  recht  ausken^ 
nenden  Urninge  geschlossen  daständen,  ¥rürde  die  Welt  mit  Staunen 
wahrnehmen,  daß  fast  jeder  zehnte  Mann  ein  Urning  ist  und  kaum 
eine  größere  Familie  ezistirt,  die  nicht  mindestens  einen  Urning  unter 
den  Ihren  zählt 

Durch  hervorragende  Vertreter  der  medizinischen  ^Wissenschaft, 
durch  die  Propaganda  des  Wissenschaftlich«Humanitären  Komitees 
und  last  not  least  durch  so  manche  »Falle«  ist  nun  schon  seit  zehn 
Jahren  ein  großer  Umschwung  in  den  Ansichten  erzielt  worden.  Es 
liegt  nun  an  uns»  weiter  zu  arbeiten,  so  weit  in  des  Einzelnen  Kräften 
steht  Dem  Centralkomitee  zu  helfen  suchen  müssen  wir;  aber,  meine 
ich,  uns  auch  mehr  zusammenschließen.  Ich  denke  hierbei  vorzü^ch 
an  die  homosexuellen  Edelleute,  welche  in  Folge  der  strengen  Ehrbe# 
gri£Fe  im  Adel  am  Ungünstigsten  oft  gestellt  sind;  und  wenn  so  ein 
armer  Urning  wegen  eines  Unfalles,  vieUeicht  nur  die  Erfindung  eines 
von  politischem  Haß  oder  Neid  geschwollenen  Revolverjoumalisten, 
von  den  Standesgenossen  in  die  Acht  erklärt  worden  ist,  so  muß  er 
geistig  und  körperlich  oft  verkümmern ;  oder  er  zieht  halt  in  eine  Groß« 
Stadt  und  geht  dort  im  Sumpf  jenes  männlichen  Dimenthums,  faute 
de  mieux,  unter.  Diese  meistens  ja  heterosexuellen  Blutsauger  sind  es, 
auf  welche  man  mit  Recht  den  oft  falsch  citirten  Spruch  des  Heiligen 

223 


Paulus  atkweüden  kaün,  daß  »sie  Mann  niit  Mann  Unzüclit  treibeii, 
den  natürlichen  Gebrauch  ihres  Leibes  in  den  verkehrten  verwandelnd« 
und  so  weiter.  Was  aber  hier  Unnatur,  ist  doch  beim  geborenen  Ho^ 
mosexuellen  seine  ureigenste  Natur. 

Um  nun  uns  adelige  Urninge  aus  der  Vereinzelung  undThatenlosig« 
keit  herauszureißen,  andere  zum  Bekenntniß  ihrer  Natur  zu  bringen 
und  uns  einen  geselligen  und  schaffenden  Mittelpunkt  zu  verschaffen, 
habe  ich  den  Plan  gefaßt,  einen  »Adebbund«  ins  Leben  zu  rufen, 
welcher  unter  diesem  ganz  unverfänglichen  Namen  Homosexuelle  des 
ganzen  deutschen  Sprachgebietes,  deshalb  einschließlich  Oesterreichs, 
der  Schweiz  und  Luxemburgs,  umfaßt  mit  eben  so  harmlosen  Statuten 
und  einem  Jahresbeitrag  von  vierzig  Mark,  welcher  zum  Bezug  eines 
Jahresheftes  und  kostenfreier  Korrespondenz  aller  das  Vereinsleben 
beriihrenden  Fragen  berechtigt.  Jedes  Jahr  fände  abwechselnd,  zum 
Beispiel:  einmal  ^en,  dann  München,  Berlin,  Frankfurt  a.  M.,  eine 
Generalbesprechung  mit  anschließendem  Diner  statt.  Die  Mitglieder 
zerfallen  in  eigentliche  Mi^lieder  und  Freunde;  Letzterer  Namen  wür» 
den  aus  Rücksicht  auf  ihre  Stellung  (zum  Beispiel:  Offiziere)  nie  ge« 
nannt  werden.  Der  gebildete  Urning  fände  dergestalt  überall,  wohin 
er  käme,  Adressen  seiner  gleichfuhlenden  Standesgenossen.  Ich  habe 
schon  mehrere  Herren  für  diesen  Bund  gewonnen;  juristische  Be« 
denken  liegen  nach  Rücksprache  mit  einem  homosexuellen  Juristen 
nicht  vor.  Ich  persönlich  bin  geborener  und  angesessener  Rhein« 
länder,  der  Abstammung  nach  Hannoveraner,  auch  in  Tirol  seßhaft, 
habe  Familienbeziehungen  nach  Flandern,  Hessen,  Sachsen,  Alt« 
preußen  und  komme  daher  viel  herum,  womit  ich  hoffentlich  unserer 
Sache  dienen  kann.  Ohne  die  Unterstützung  edelgesinnter  Urninge 
vermag  ich  aber  nichts  zu  erreichen.  WoUen  Sie,  verehrter  Graf, 
daher  mich  nicht  auch  durch  Ihren  Rath,  Erfahrung  und  Beitritt 
unterstützen?  Ich  komme  den  zwanzigsten  Februar  nach  ^en. 
Ware  es  nicht  möglich,  Sie  etwa  in  Graz  oder  sonst,  wenns  nicht  zu 
weit  ist,  sehen  zu  können?  Mündlich  kommt  man  immer  noch 
weiter.   Ich  möchte  Ihnen  in  keiner  Weise  lästig  fallen  und  meiner 


224 


Verschwiegenheit  dürfen  Sie  vollständig  versichert  sein;  es  liegt  ja  im 
eigensten  Interesse! 

Darf  ich  im  Anschluß  hieran  noch  fragen,  ob  Sie  folgende  mir  von 
Herrn  (im  Original  des  Briefes  folgt  eine  Adresse)  als  wahrscheinlich 
homosexuell  genannte  Herren  vielleicht  kennen?  (Im  Original  des 
Briefes  folgen  sieben  Namen  adeliger  Herren  mit  genauen  Adressen.) 
Ich  schließe,  sehr  verehrter  Graf,  mit  der  Bitte,  mir  mein  langes  Schrei« 
ben  mit  dem  Interesse  an  der  Sache  zu  Gut  halten  zu  wollen  und  mir 
Ihre  Ansichten  zu  übermitteln. 

Genehmigen  Sie  den  Ausdruck  meiner  besonderen  Verehrung,  mit 

der  ich  bin  Ihr  ergebener 

Günther  Graf  von  der  Schulenburg. 

Für  jeden  noch  nicht  in  hadrianisches  Fühlen  Gereiften 
wars  schon  genug.  Doch  sollte  es  immerhin  bei  der  Verab^ 
redung  Gleichgesinnter  bleiben.  Jetzt  sieht  der  selbe  Saal  einen 
Menschen,  der  zur  Unzucht  von  Mann  zu  Mann  verleitet  v^ard, 
zu  widernatürlichem  Leibesgebrauch  verkuppelt  werden  sollte. 
Verleitet  und  verkuppelt  gegen  blankes  Geld  von  dem  lieb^ 
lieh  säuselnden  Skalden,  dem  Sänger  der  süßen  Rosenlieder, 
die  der  »Spezi«  komponirt  hat.  Das  liegt  hinter  dem  Klinge 
klang  der  Wald^  und  Seemärchen?  So  sieht  das  Lieb  aus, 
das  in  der  Fischerhütte  am  Seestrand  des  Buhlen  harrt?  In  der 
Zeit  des  Verkehrs  mit  Riedel  schrieb  Eulenburg  an  Farenheid: 
»Plötzlich  steigt  der  Gedanke  in  mir  auf,  Sie  könnten  mich 
(ur  einen  ,Charakter'  halten.  Ich  bin  nur  ein  Gefühlsmensch, 
der  wohl  unbeschreiblich  lieben,  aber  kaum  hassen  kann  und 
dem  selbst  das  Verachten  schwer  wird:  und  Das  sind  Eigen«: 
Schäften,  die  mit  einem  Charakter  nicht  in  Einklang  zu  brin« 
gen  sind!  So  sehr  fiihle  ich  mich  als  Gefühlsmensch,  daß  ich 

15.  m  225 


mich  instinktiv  Charakteren  gegenüber  in  innere  Opposition 
gedrängt  sehe.  Auf  der  Bühne  sind  Charaktere  notwendig, 
in  der  Geschichte  machen  sie  mir  Freude  I  Im  Verkehr  sind 
sie  unbequem,  ja,  unerträglich,  speziell,  wenn  sie  in  Nord# 
deutschland  zu  Hause  sindl  Das,  was  die  Welt  einen  Cha^ 
rakter  nennt,  ist  mir  im  Verkehr  und  Alltagsleben  zuwider. 
Charaktervolle  Menschen  beriihren  mich  unsympathisch«« 
(Graf  Kuno  Moltke,  der  »alte  General«,  mag  sich  mit  diesem 
Bekenntniß  Philis,  des  durch  vierzigjährige  Freundschaft  ihm 
Verbundenen,  abfinden;  mag  betonen,  daß  er  nicht  aus  Nord^ 
deutschland,  sondern  aus  der  württembergischen  Nebenlinie 
stammt  und  mit  dem  großen  Marschall,  der  ein  unbequemer 
Charakter  war,  kaum  mehr  als  den  Namen  gemein  hat.)  Als 
Riedel  den  Reiterrock  auszog,  schrieb  Philipp  Eulenburg, 
»unter  dem  Eindruck  erregender  Zigeunermusik«,  am  Ufer 
des  Stamberger  Sees  aus  süßem  Traum  diese  Verse: 

Liebe. 

Ihr  Schmerzenswogen,  die  in  brausender  Gewalt 
Mein  Herz  umfluthet,  haltet  nicht  einl 
Laßt  Eurer  Schmerzenswonne  taumelndes  Entzücken 
Für  ewig  mein  sein  —  für  ewig  meini 

Des  wilden  Schäumens  zitterndes  Gekose, 

Das  Beben  Eurer  Wogenwucht 

Und  Eurer  Schmerzensfluthen  trunkenes  Gebrause, 

Es  ist  mein  Lebensodem,  ist  mein  Seinl 

In  tiefe  Nacht  muß  ich  versinken,  wenn  Ihr  schweigt, 
Denn  meine  Liebe  lebt  in  Euch  allein. 


226 


In  tiefe  Nacht  muß  ich  versinken,  wenn  Ihr  schweigt, 

In  eine  Totenstarre  ohne  Tod, 

Bevrußt  bewußtlos,  ein  verzerrter  Schatten 

Bin  mehr  ich  als  ein  Nichts  —  und  weniger 

Ohne  mein  Leid,  ohne  mein  sitßes  Leidl 

O  Schmerzenswogenl  Euren  Liebeskuß, 
Brennt  ihn  auf  meine  Lippen  tausendmall 

Laßt  mich  vergehen,  in  Euch  versinkenl 

O  sprengt  dies  Herz  entzwei,  das  leben  nicht 

Und  —  wehe,  wehel  —  sterben  nicht  kanni 

Am  Gestade  femer  Welten 
SoUen  ewig  widerhallen 
Meiner  Liebe  Schmerzensklagen, 
Meiner  Schmerzen  süße  Peini 

Farenheid  nennts  den  »lieben  Gruß  aus  Stamberg«.  Und 
das  ungleichalterige  Paar  schwärmt  von  Antinous  und  von 
hellenisch^germanischer  Männerfreundschaft.  Inzwischen  wur# 
den  dralle  Fischer  in  den  Onanskult  eingeweiht.  Hier  steht 
Einer,  dem  Ekleres  zugemuthet  ward.  Wenn  er  in  den  »Sumpf 
des  männlichen  Dimenthums  versank«  und,  der  verzärtelte 
Bursche,  zum  Erpresser  wurde?  Achtung,  Ihr  Herren,  vor 
Einem,  der  solcher  Versuchung  widerstand,  nie  mühsälige 
Arbeit  verlernte  und  heute  die  Frau  und  fünf  Kinder  anstand 
dig  ernährt.  Achtung:  und  wenn  er,  statt  der  dreißig,  sechzig 
Strafen  auf  der  Liste  hätte.  Neunzehnjährig  war  er,  unschuU 
dig,  als  die  Hand  dieses  Grafen  ihn  schändete.  Und  ist  den# 
noch  ein  ganzer  Kerl  geworden.  Achtung  auch  vor  einem 

15*  227 


Rechtsgeföhl,  das  ihn  trieb,  unter  Opfern  ftir  die  Wahrheit 
zu  zeugen.  Im  November  1907  arbeitet  er  am  Neubau  der 
Vereinsbank  mit  (das  Milchgeschäft  kann  die  Frau  ziemlich 
allein  besorgen),  hört  von  der  »Kamarilla«  reden  (»Das  ist 
nichts  Gescheites!«),  sieht  in  einer  illustrirten  Zeitung  den 
Kopf  Eulenburgs  und  sagt:  »Von  Dem  könnte  ich  auch  was 
erzählen!«  Nun  setzen  die  Arbeitgenossen  ihm  zu:  er  müsse 
sein  Erlebniß  dem  Justizrath  Bernstein  melden;  dürfe  nicht 
dulden,  daß  durch  den  Eulenburg  ein  Unschuldiger  ins  Get» 
fangniß  komme.  Einer  nur  räth,  sich  lieber  heimlich  an  den 
Fürsten  zu  wenden,  der  ftir  Riedels  Schweigen  gewiß  ftm£( 
hundert  Mark  (die  gute  Seele  konnte  getrost  noch  zwei  Nul« 
len  anhängen)  zahlen  werde.  Nix  da.  Zum  Bernstein  geht 
er.  »\^e  kann  der  Fürst  beschwören,  daß  er  mit  der  Kramilla 
nie  was  zu  schaffen  gehabt  habe?  Mit  mir  hat  er  ja  die  Kra^ 
milla  gemacht!«  (Kamarilla,  denkt  er,  ist  der  technische  Aus«: 
druck,  mit  dem  die  feinen  Herren  ihre  »Schmutzereien»  be^ 
zeichnen.)  Wenn  er  vor  Strafe  sicher  sei,  wolle  er  als  Zeuge 
vors  Gericht  treten.  Die  Vierte  Strafkammer  hält  schon  den 
Versuch,  einen  eulenburgischen  Eid  anzufechten,  ftir  schnöden 
Frevel  und  langt  nicht  erst  nach  Riedek  Zeugniß.  Die  Kö# 
nigliche  Staatsanwaltschaft  am  berliner  Landgericht  I  aber 
ist  ihrer  Sache  nicht  ganz  so  sicher.  Zuerst  wird,  ein  paar 
Wochen  nach  meiner  Verurtheilung,  der  Kriminalkommissar 
Hans  von  Tresckow  (dessen  diskrete  Aussage  genügt  hätte, 
um  jedem  kleinen  Beamten  den  Hals  zu  brechen,  der  Durchi? 
laucht  aber  nicht  schaden  konnte)  nach  Liebenberg  geschickt, 

228 


um  zu  ermitteln,  ob  der  »Gottbegnadete,  den  man  beben 

muß,  wenn  man  ihn  sieht«  (dixit  Hugo  Isenbiel),  nicht  am 

Ende  doch  Etwas  auf  dem  Kerbholz  habe.   »In  dienstlicher 

Angelegenheit«  weilt  Herr  von  Tresckow  von  Sonnabend 

bis  Montag  auf  dem  Schloß;  und  bringt  neue  Wintermärchen 

heim.    Dann  erinnert  der  in  der  Thurmstraße  Gebietende 

sich  des  münchener  Milchhandlers  und  läßt  ihn  vernehmen. 

Vom  Ersuchten  Richter?  Nein.   Von  der  Polizei.  ViermaL 

Sogar  am  Sonntag  muß  Riedel  au£s  Bureau.  Ein  Zettel,  auf 

dem  der  Vermerk  »Meldesache«  dturchstrichen  ist,  ruft  ihn 

zu  einer  Vernehmung,  die  erweisen  soll,  ob  ein  Ritter  des 

Hohen  Ordens  vom  Schwarzen  Adler,  ein  durch  kaiserliches 

Vertrauen  über  alle  Standesgenossen  hinausgehobener  preu^ 

ßischer  Fürst  Zuchthausstrafe  verdient  hat  Riedel  steht  Rede. 

Mag  aber  wohl  finden,  daß  Einem  hienieden  das  Zeugniß 

fär  die  Wahrheit  nicht  gerade  bequem  gemacht  wird.  (»Was 

gings  Dich  an,  Tropf,  damischer?«  fragt  Frau  Riedel.)  Und 

gilt  in  Moabit  drei  Wochen  lang  als  ein  Mann,  auf  den  nichts 

zu  geben  sei.  Weil  er  so  viele  »Vorstrafen«  hat?  Hier,  nah 

der  Heimath,  kennt  man  den  Typus  und  glaubt  dem  Ober^ 

bayem,  trotz  Raufhändeln  und  Grobem  Unfiig.    Ich  will 

schon  jetzt  die  Hauptsätze  aus  dem  Urtheil  citiren: 

In  der  Hauptverhandlung  gegen  Hardcn  brachte  Fürst  Philipp  zu 
Eulenburg  und  Hertefeld,  den  die  Ausführungen  der  Zukunft'  in  nahe 
Verbindung  mit  dem  Graifen  Moltke  gesetzt  hatten,  unter  dem  Zeugen« 
eid  zum  Ausdruck,  er  habe  nie  mit  Männern  geschlechtlichen  Verkehr 
gehabt,  überhaupt  nie  zu  Männern  geschlechtliche  Neigung  empfun« 
den.  Fürst  Eulenburg  bekundete,  er  habe  sich  nie  gegen  §  175  StGB 

229 


verfehlt;  er  habe  niemals  Schmutzereien  getrieben.  Zur  ^derlegung 
dieser  Bekundungen  bot  Harden  Beweis  an;  insbesondere  auch  durch 
das  Zeugniß  des  Milchmannes  Georg  Riedel  in  München.  Die  Erhe^ 
bung  dieses  Beweises  fand  nicht  Statt 

. . .  Die  Aussagen  der  2^ugen  Georg  Riedel  und  Jakob  Ernst  erschien 
nen  dem  Gericht  vollkommen  glaubwürdig.  Georg  Riedel  ist  ein  Mensch 
mit  einer  sehr  rauhen  Außenseite.  Er  hat  eine  große  Anzahl  von  Vor» 
strafen  wegen  Körperverletzung,  Groben  Unfugs,  auch  wegen  Beleidig 
gung  erlitten,  weil  er  seinem  Temperament  und  seinem  jähzornigen 
Naturel  ofifenbar  niemals  Zügel  anlegen  gelernt  hat  und  gegen  jede 
vermeintliche  oder  wirkliche  Unbill,  die  ihm  widerfahrt,  in  rücksichb 
loser  Weise  aufbraust  und  vorgeht  Daraus  erklärt  es  sich,  daß  er  bei 
den  Sicherheitorganen  seines  Bezirkes  in  keinem  guten  Ruf  steht;  und 
so  kam  es  denn  auch,  daß  Bezirkskommissar  SeufiFert  eine  anscheinend 
für  Riedel  sehr  nachtheilige  Zeugenaussage  abgab.  Er  bezeichnete  ihn 
als  rach#  und  streitsüchtig  und  zur  Denunziation  geneigt . . .  Seuffert 
erklärte  hierzu,  er  selbst  habe  Riedel  noch  nie  vernommen,  er  habe 
keine  eidlichen  oder  unbeeideten  unwahren  Angaben  Riedds  mitan^ 
gehört;  seine  Annahme  von  Riedels  Charakter  und  dessen  Unglaub« 
Würdigkeit  stütze  sich  nur  auf  die  Mittheilungen  der  Nachbarschaft 
und  der  Schutzleute.  Die  Folgerungen,  die  Seuffert  aus  den  ihm  ge« 
wordenen  Mittheilungen  zog,  mußten  gegenüber  der  mehrstündigen 
unmittelbaren  Beobaditung  an  Riedel  durchaus  zurücktreten;  sie  stelle 
ten  sich  als  nicht  begründet  dar.  Riedels  ganze  Erzählung,  mit  einer 
Unmenge  von  Einzelheiten,  wie  sie  der  rafiSnirteste  Lügner  kaum  er» 
sinnen  und  der  gewandteste  Betrüger  nicht  mit  solcher  Fertigkeit, 
Sicherheit  und  ^derspruchlosigkeit  zum  Vortrag  bringen  könnte, 
machte  den  Eindruck  unbedingter  Glaubwürdigkeit  Rücksichtlos 
gegen  sich  und  Andere  schilderte  Riedel  sein  ganzes  Vorleben  und 
alle  die  Vorgänge  mit  Eulenburg.  Keine  an  ihn  gestellte  Frage  ließ  ein 
2Iögem,  Schwanken  oder  Suchen  nach  Ausflüchten  erkennen.  Mit  der 
urwüchsigen  Naiveiät,  die  den  Grundzug  seines  Charakters  bildet,  gab 
er  über  Alles,  auch  das  für  ihn  selbst  Pdnlichste,  Auskunft.  Und  die» 

230 


ser  Eindruck  der  unbedingten  Glaubwürdigkeit  seiner  Angaben  wurde 
noch  dadurch  bestärkt,  daß  für  ihn  jedes  Motiv  zu  einer  unwahren 
Angabe  (wie  etwa  Geldgier,  Haß,  Rachsucht,  Streben  nach  Anerkenn 
nungj  fehlte.  Zudem  £and  die  Aussage  Riedels  eine  mächtige  Stütze 
und  Bestätigung  in  den  Angaben  Emsts. 

Die  Art  und  Weise,  wie  die  Bekundungen  des  Zeugen  Ernst  zu 
Stande  kamen,  schließt  jeden  Zweifel  an  ihrer  Glaubwürdigkeit  aus. 
Der  2^uge,  der  sich  als  junger  Bursche  zu  den  von  ihm  bekundeten 
Unsittllchkeiten  verleiten  ließ,  ist  seitdem  zu  einem  vermöglichen  und 
angesehenen  Bürger  Stambergs  geworden.  Der  Kampf  um  dieses  An^ 
sehen  ließ  ihn  in  der  heutigen  Hauptverhandlung  Stunden  lang,  trotz 
eindringlichen  Ermahnungen,  dabei  beharren,  zwischen  ihm  und  Eulen^ 
bürg  sei  nie  das  Geringste  vorgekommen.  Erst  der  vielmalige  und 
nachdrückliche  Vorhalt  des  auffallend  intimen  Verkehrs  des  hochge# 
stellten  Mannes  mit  dem  schlichten  Schiffer  jungen,  ihrer  gemeinsamen 
Reisen,  der  großen  Vortheile,  die  Ernst  zugewendet  wurden,  brachen 
den  VC^derstand,  den  Scham  und  Furcht  vor  Entdeckung  der  Wahr« 
hdtliebe  und  dem  Pflichtgefühl  in  dem  Zeugen  entgegensetzten,  und 
plötzlich  schafften  sich  die  thatsächlichen  Geschehnisse  in  den  Aeuße« 
rungen  Emsts  in  einer  Weise  Durchbruch,  die  zugleich  ergreifend  und 
überzeugend  wirkte.  »Dann  muß  ich  es  sagen.  Es  ist  so,  vrie  die  Leute 
sagen«:  so  begann  Ernst  sein  Geständniß;  und  auch  hier  noch  kostete 
es  ihn  Schritt  vor  Schritt  schwere  Ueberwindung,  die  Thatsachen  an« 
zugeben,  um  die  es  sich  handelte,  und  bis  zum  Schluß  machten  die 
Aussagen  des  Zeugen  noch  den  Eindruck,  daß  sie  (wenigstens  in  Be« 
zug  auf  Einzelheiten)  zurückhaltend  seien. 

Auf  Grund  der  vorgeschilderten  Beweiserhebung  gelangte  das  Ge« 
rieht  zu  der  Ueberzeugung,  daß  der  Privatkläger  Maximilian  Harden 
Beweismittel  besessen  und  nach  der  ihm  gebotenen  Möglichkeit  gel« 
tend  gemacht  habe,  die  nach  ihrem  schwerwiegenden  und  ernsten 
Inhalt  die  Annahme,  als  habe  Harden  trotz  ihrer  Geltendmachung 
schweigen  wollen  und  als  sei  er  auf  eine  Entschädigung  von  dem 
Fürsten  Eulenburg  ausgegangen  oder  thatsächlich  bestochen  worden, 

231 


vollkommen  ausschlössen.  Das  Gericht  erachtete  somit  die  in  der 
Neuen  Freien  Volkszeitung  gerüchtweise  aufgestellte  Behauptung  als 
unwahr  erwiesen. 

So  weit  sind  wir  noch  nicht.  Riedel  steht  noch  im  Kreuze 
feuer.  Kein  Irrthum  möglich?  Keiner.  Ein  Eulenburg  mags 
gewesen  sein;  der  vielleicht,  den  die  Homosexualität  einst  den 
Dragonerkragen  und  das  Eheband  gekostet  hat:  Philipps 
Bruder.  (Daß  nur  diese  Verwechselung  an  seinem  üblen  Ruf 
schuld  sei,  hat  der  Fürst,  der  zärtliche  Bruder  und  Altruist, 
ia  dem  Kriminalkommissar,  der  bei  ihm  zu  Gast  war,  erzählt.) 
Ich  kenne  nur  den  einen,  Herr  Richter.  Und  dieser  Eine 
hieß  sicher  Philipp  von  Eulenburg?  Nicht  »von«:  »zu«; 
Philipp  Graf  zu  Eulenburg;  ich  habe  ja  oft  genug  den  Na^ 
men  auf  Briefumschläge  geschrieben.  Ist  die  Wohnung  rich^ 
tlg  angegeben?  Vom  Meldeamt  kommt  die  Auskunft,  Graf 
Philipp  zu  Eulenburg  habe  von  1882  bis  1884  am  Prome# 
nadeplatz  21,  im  Zweiten  Stock,  gewohnt.  Stimmt  Lebt 
der  Kamerad  noch,  der  Ihnen  damals  aus  Augsburg  durchs 
brennen  half?  Ja;  er  ist  Blumenhändler  und  wohnt  hier  am 
Viktualienmarkt.  Wird  geladen  und  erzählt:  »Riedel  war  in 
meiner  Schwadron.  Ein  guter  Kamerad,  der  nur  oft  abends 
zu  spät  einpassirte  und  ohne  Urlaub  nach  München  ftthr. 
Sonst  hielt  er  sich  ordentlich  (wir  lagen  in  einem  Zinmier), 
stand  im  Dienst  seinen  Mann  und  war  bei  den  Vorgesetzten 
nicht  schlecht  angeschrieben.  Verlogenheit  habe  ich  an  ihm 
nicht  bemerkt.  Uns  fiel  auf,  daß  er  inuner  Geld  aus  Mün^ 
chen  mitbrachte.  Das,  sagte  er,  schenke  ihm  dort  ein  Baron. 

232 


(Aelteren  Freunden  hat  Riedel  schon  damals  den  Namen 
Eulenburgs  als  des  Geldgebers  genannt.)  Das  Billet  zu  der 
unerlaubten  Fahrt  habe  ich  ihm  gekauft  und  erinnere  mich 
noch  genau  der  Vorgänge  auf  dem  Exerzirplatz  und  am 
Bahnhof.«  (Ein  Beweis,  daß  auch  Kleinigkeiten  manchmal 
fest  im  Gedachtniß  haften.  Und  ein  feldafinger  Fischer  sollte 
nicht  mehr  wissen,  wie  ein  Graf  ihn  verfuhrt  und  verkuppelt 
hat?  Schildern  nicht  Greise  noch  bis  ins  Kleinste  ihr  erstes 
Geschlechtserlebniß?)  Was  zu  prüfen  war,  ist  geprüft,  der 
Zeuge  zehnmal  streng  und  mit  Vaterssanftmuth  vor  jeder 
Abweichung  von  lauterer  Wahrheit  gewarnt  worden.  Er  darf 
niedersitzen  und  verschnaufen.  Der  nächste  Zeuge  I 

»Jakob  EmstI«  Der  Fischerjackl.  Seit  Jahren  hatte  ich  von 
ihm  gehört.  In  zwanzig  Briefen,  dreißig,  war  er  als  Zeuge 
empfohlen  worden.  Adelige  und  Künstler,  die  am  Stamber« 
ger  See  übersommert  oder  ihn  als  Eulenburgs  Reisebegleiter 
betroffen  hatten,  riethen:  Da  brenntsl  Wunderlicherer  Ver« 
kehr  läßt  sich  nicht  denken.  Die  Kühlsten  schrieben:  Der 
schwatzt  nicht;  mit  Schraubenziehern  holt  Ihr  aus  Dem  nichts 
heraus;  wie  auf  Granit  kann  Fhili  auf  ihn  bauen.  Dennoch 
haben  wir  sein  Zeugniß  der  Merten  Strafkammer  angeboten. 
Da  hätte  man  ihn,  wie  andere  Fhiliner,  kurz  gefragt,  ob  er 
von  Seiner  Durchlaucht  je  Unziemliches  gehört  und  erfahren, 
in  Seiner  Durchlaucht  nicht  stets  vielmehr  den  gütigen  Brot^ 
herm  verehrt  habe.  Den  Vertheidiger  gehindert,  heikle  Frai> 
gen  zu  stellen.  »Der  Zeuge  hat  uns  ja  gesagt,  was  er  weiß, 
und  ich  kann  nicht  zulassen,  daß  er  bedrängt  wird.«    (Be# 

233 


drängt  aber,  geschmäht,  zehnmal  mit  Zuchthaus  geängstet 
und  von  der  Skrupellosigkeit  eines  X'dchtes  mit  Entschleie^ 
rungen  der  Scham  bedroht  wurden  die  der  Anklage  unbe^ 
quemen  Zeugen.)  Und  re  bene  gesta  ans  stamberger  Gestade 
heimgeschickt.  Dann  hatte  er  nach  der  Schnur  geschworen 
und  war  kaum  je  noch  in  die  Wahrheit  zu  fähren.  An  welche 
Fädchen  hast  Du,  Themis,  Deine  Wagschalen  gehängtl 

Ein  Hagerer  schiebt  sich  vor.  Ein  Defreggerkopf  lächelt 
schlau,  lächelt  bang.  Scheint  entschlossen,  fiir  die  Stunde  der 
Inquisition  dieses  Lächeln  nicht  von  der  Lippe  zu  schicken. 
Auch  während  die  Zunge  die  Eidesformel  nachstammelt, 
nistet  es  unter  den  Nasenflügeln.  »Ich  schwöre  bei  Gott, 
dem  Allmächtigen  und  Allwissenden,  daß  ich  die  reine 
Wahrheit  sagen,  nichts  verschweigen  und  nichts  hinzusetzen 
werde.  So  wahr  mir  Gott  helfe  I«  Die  Stimme  klingt  dünner 
als  Riedels;  unsicherer.  Jakob  Ernst;  dreiund vierzig  Jahre 
alt;  katholisch;  \'(ltwer.  Von  Jugend  auf  in  Stamberg  Fischer 
und  Oekonom  (Bauer,  würde  der  Norddeutsche  sagen). 
Zum  Militär  brauchte  ich  nicht,  weil  ich  allein  war,  auf  dem 
Anwesen  Alles  sonst  ausgestorben,  und  weil  ich  mit  dem 
Gehör  nicht  so  recht  in  Ordnung  bin.  Taub?  Nicht  ganz. 
Aber  schwerhörig.  Also  müssen  wir  laut  sprechen.  »Den 
Fürsten  Philipp  zu  Eulenburg  kenne  ich  seit  ungetShi  sechst 
undzwanzig  Jahren.  Als  ich  ihn  kennen  lernte,  war  er  Rath 
bei  der  Preußischen  Gesandtschaft  in  München  und  verlebte 
fiinf  oder  sechs  Sommer  in  Stamberg.  Da  habe  ich  ihn  täg# 
lieh  auf  den  See  hinaus  gefahren.  Ob  ich  mit  ihm  1882,  um 

234 


Mariae  Lichtmeß,  bei  Riedel  war,  weiß  ich  nicht  mehr.  Ist 
zu  lange  her.  (Ist  aber  wahr,  ruft  der  Milchhandler;  wird 
dem  jimgeren  Mann  gegenübergestellt  und  spricht:  Der  ists; 
ganz  bestimmt  Der  Fischerjackl  kam  mit  dem  Grafen  zu 
Eulenburg  auf  meines  Stiefvaters  Hof,  suchte  mich  dann  in 
der  Bierwirthschaft  und  blieb  bei  dem  Grafen,  als  Der  mich 
mit  einem  Zweimarkstück  weggeschickt  hatte.)  »Was  hier 
gemeint  ist,  weiß  ich.  Kann  aber  nichts  aussagen.  Nix  is 
geschehn.  Mit  mir  hat  der  Fürst  nichts  Unrechtes  gemacht. 
Gar  nichts.  Auch  keine  Andeutung,  ich  solle  ihm  was  zu 
Liebe  thun.  Nie  hat  er  mich  auf  schlechte  Art  angefaßt.  Nie 
gestreichelt,  geküßt,  um  den  Hals  genommen.  Nie  von 
Schmutzereien  geredet.  Audi,  meines  Wissens,  mit  Anderen 
nicht.  Das  nehme  ich  auf  meinen  Eid.  Freilich.  Warum 
denn  nicht?  Nein:  ich  halte  nicht  zurück;  bleibe  streng  bei 
der  Wahrheit.  Geschwatzt  ist  ja  über  uns  worden.  Aber 
ohne  Grund.  Wie  die  Leute  so  sind:  weil  der  Graf  gut  zu 
mir  war,  sollte  Schlechtes  dahinter  stecken.  Was  Besonderes 
habe  ich  von  dem  Fürsten  nicht  gehabt.  Meine  Kinder?  Ja, 
die  bekamen  zu  Weihnachten  Spielzeug,  auch  wohl  Geld. 
Das  verdroß  die  Nachbarn.  Und  so  wurde  geredet.  Aber  mit 
mir  hat  der  Graf  nichts  vorgehabt.  Nix  ist  geschehn.  Nix.« 
Die  Rede  strömt  nicht;  fließt  auch  nicht  ruhig  dahin. 
Tröpfelt  jetzt  und  überstürzt  sich  nun  in  ängstlicher  Hast 
Aengstlicher?  Ein  Bauer,  vor  Gericht,  in  solcher  Sache:  kein 
Wunder,  daß  er  nicht  so  sicher  und  ruhig  redet  wie  auf 
seinem  Hof,  in  seinem  Kahn.  Daß  er  sich  Alles  abfragen, 

235 


jedes  Erinnern  aus  dem  Fuchsbau  seines  Mißtrauens  aus« 
graben  läßt,  ist  hier  noch  kein  Verdachtsgrund.  Nur  mit  dem 
Gericht  nichts  zu  thun  haben:  denkt  auch  der  Unschuldige. 
Oberlandesgerichtsrath  Mayer  faßt  den  Fischermeister  sanft 
an.  Spricht  zu  ihm  wie  ein  gütig  mahnender  Vater.  »Nicht 
wahr:  Sie  verschweigen  uns  nichts?  So  unangenehm  es 
Ihnen  sein  mag:  die  Wahrheit  muß  heraus;  wir  haben  das 
Recht»  sie  zu  fordern.«  Glaubt  er  dem  Zeugen?  Kein  Zug 
in  dem  stillen  Antlitz,  nicht  die  winzigste  Tonschwingung 
verräths.  Nun  darf  Justizrath  Bernstein  des  Fragerechtes 
walten.  Und  sogleich  ists,  als  spiire  der  Zeuge  das  Nahen, 
auf  leiser  Sohle,  des  Feindes  und  setze  des  Wesens  Festung 
in  Vertheidigungzustand.  Die  linke  Hand  bohrt  sich  in  die 
Joppentasche  (die  Bewegung  des  Tuches  läßt  mich  erkennen, 
daß  die  Finger  nicht  ruhig  liegen);  die  rechte  ist  auf  dem 
Rücken  geballt  (und  ich  sehe  sie  zucken,  sehe,  wie  der 
braune  Daumen  die  Innenhaut  des  Zeigfingers  ruhelos  reibt). 
Soll,  nach  uraltem  Bauemaberglauben,  der  Eid  »kalt«,  un^ 
wirksam  gemacht,  aus  der  hohlen  Hand  in  des  Teufels  Küche 
gewiesen  werden?  Der  Kopf,  graugelb  unter  dünnem  Haar, 
neigt  sich  vor,  als  wolle  er  früh  des  Nahenden  Absicht  tu 
spähen.  Manchmal  entballt  sich  die  sichtbare  Faust  und  die 
Finger  umspannen  die  Ohrmuschelwand.  Schwerhörig:  Das 
dürfen  die  Herren  vom  Gericht  ja  nicht  vergessen.  »Herr 
Ernst,  wissen  Sie,  wo  Fürst  Eulenburg  sein  Gut  hat?«  »Freii* 
lieh.  Liebenberg  heißts.  Zweimal  war  ich  dort;  oder  dreimal. 
Zuerst  1888.  Der  Graf  hatte  mich  eingeladen.  Ich  sollte  (ur 


236 


ihn  fischen.«  »Hatte  er  denn  dort  keinen  Fischer?«  »Frei« 
hch.  Er  meinte  nur,  ich  verstehe  mich  besser  drauf  und  könne 
seinen  Mann  noch  Etwas  lehren.«  (Unwahrscheinlich.  Im 
Stambergersee  wird  die  Fischerei  anders  betrieben  als  in  der 
ukermärkischen  Großen  Lanke.  Jeder  Sachverständige  weiß 
es.  Der  Punkt  wird  aber  nicht  berührt.)  »Die  Reisen  hat 
Graf  Eulenburg  bezahlt?«  »Freilich.  Auch  extra  noch  ftir 
die  Fischerei.  Ich  hatte  ja  all  meine  Netze  mit  und  arbeitete 
(tir  ihn.«  »Haben  Sie  sich  mit  dem  Grafen,  dem  Fürsten 
geduzt?«  »Das  war*  noch  schöner  1  Er  sagte  zu  mir  Du, 
aber  ich  nicht  zu  ihm.«  »Sie  waren  doch  sehr  vertraut  mit 
einander.  Hat  er  nicht,  zum  Beispiel,  mit  Ihnen  am  selben 
Tisch  Kaffee  getrunken?«  »Ih  wo  denni  Das  heißt:  auf  der 
Terrasse  des  Hotels  Bayerischer  Hof  ists  vorgekommen;  aber 
nicht  im  Zimmer  des  Fürsten.  Da  giebts  nix.«  »Sie  haben 
heute  ein  Haus.  Das  zum  Kauf  oder  Bau  nöthige  Geld  hat 
Ihnen  der  Fürst  gegeben?«  »Nein.  Die  zwölftausend  Mark, 
die  ich  brauchte,  hat  mir  die  Mutter  des  Fürsten  geliehen; 
nicht  geschenkt.  Als  der  Fürst  dann  die  Villa  in  Stamberg 
kaufte,  wurde  mir  das  Geld  gekündigt  und  ich  mußte  es 
zurückzahlen.  Erst  dachte  ich,  er  solle  es  mir  geben;  doch 
meinte  er,  ich  solle  mich  an  seine  Mutter  wenden.  Da  habe 
ichs  halt  probirt;  er  hat  fiir  mich  gebeten  und  sie  hat  es  mir 
gegeben.  Nach  der  Kündigung  habe  ichs  dann  zturückgezahlt; 
ich  hatte  zehntausend  Mark  erheirathet  und  zweitausend  er« 
spart.«  (So  wars  nicht.  Als  ein  Stamberger,  der  mit  Getreide 
handelt,  die  auf  Emsts  Anwesen  lastende  Hypothek  gekün« 

237 


digt  hatte,  wandte  der  Fischerjackl  sich  an  den  Grafen  Eulen# 
bürg,  der,  angeblich  von  seiner  Mutter,  ihm  das  Geld  ver» 
schaffte;  ohne  jede  Sicherung;  gegen  drei  Prozent  Zinsen, 
deren  Zahlung  noch  nicht  nachgewiesen  ist.  Die  Mitgift 
seiner  Frau,  einer  Waise  aus  Wengen,  gab  Jakob  Ernst  in 
die  Bank.  Antwortete  auf  die  Frage,  ob  ers  nicht  zur  Rüclu 
Zahlung  des  Darlehns  benutzen  wolle:  »Nein;  der  Zins,  den 
die  Bank  mir  zahlt,  ist  um  ein  halbes  Prozent  höher  als  der, 
den  ich  dem  Grafen  zu  zahlen  habe:  also  verdiene  ich,  wenn 
ich  das  Darlehn  behalte.«)  Wunderlich.  Ein  Fischer  trinkt 
mit  einem  Grafen  von  der  Preußischen  Gesandtschaft  Ka£fee, 
wird  aus  Oberbayem  von  ihm  mehrmals  in  die  Ukermark 
geladen,  erhält  von  ihm  oder  doch  unter  gräflicher  Bürgin 
Schaft  ohne  jede  Sicherheit  zwölftausend  Mark.  Alles  in 
Ehren.  »Sie  haben  mit  dem  Fürsten  auch  Reisen  gemacht?« 
»Freilich.  Wann  er  ins  Gebirg  ist,  bin  ich  mit  ihm.  Machte 
ihm,  so  zu  sagen,  den  Diener.  Putzte  seine  Kleider  und 
sorgte  ftir  ihn.«  »Damals  lebte  Ihr  Vater  noch.  Sie  waren 
Fischerknecht.  Hatten  Sie  denn  Zeit  und  Schick  zu  solchem 
Dienst?«  »Mein  Vater  kam  bei  der  Fischerei  auch  ohne 
mich  aus.  Das  war  nicht  schlimm.  Der  Fiirst  konnte  mich 
brauchen.  Deshalb  ging  ich  mit  ihm.  Das  Bischen  Kleidern 
putzen  lernt  sich  schnell.  Bezahlt?  Na,  mit  dem  Bezahlen 
wars  nicht  gar  so  gefahrlich.  Aber  ich  habe  ein  Stück  von 
der  Welt  gesehen.«  »Welches  Stück?«  »Wir  waren  in  Gar# 
misch,  in  Meran  . . .  Auf  Anderes  kann  ich  mich  nicht  be# 
sinnen.«  »Haben  Sie  den  Fürsten  auf  der  Reise  auch  aus« 


238 


und  angekleidet?«  »Freilich.  Ick  machte  kalt  den  Kammern 
dienet.«  »Hatte  er  keinen?«  »Doch.  Der  wurde  nach  Haus 
geschickt.  Der  Fürst  fand  mich  brauchbarer.«  »Den  Fischer^ 
knecht?  Schön.  Hat  er  Sie  gekitßt?  Ist  er  zärtlich  mit  Ihnen 
gewesen?  Wollte  er  Sie  zu  geschlechtlichen  Sachen  ver^ 
fuhren?«  »Woher  denni«  »Ich  bitte  Sie  um  eine  bestimmte 
Antwort:  Ja  oder  Nein?«  »Nein  . . .  Die  stamberger  Villa 
des  Fürsten  ist  noch  unter  meiner  Au&icht;  ich  bin  der  Ver# 
Walter.  Ihn  selbst  habe  ich  in  den  letzten  Jahren  nicht  mehr 
gesehen.  Nein:  ich  halte  nicht  zurück.  Nein.  Dagiebtsnix. 
Was  die  Leute  auch  reden:  der  Fürst  kann  mir  nichts  nach^ 
sagen  und  ich  kann  dem  Fürsten  nichts  nachsagen«. 

Das  ists.  »Der  Fürst  kann  mir  nichts  nachsagen  und  ich 
kann  dem  Fürsten  nichts  nachsagen.«  Bei  jeder  gefahrlichen 
Wendung  des  Verhörs  schlangelt  der  Satz  sich  von  der 
Lippe.  Niemand  hats  gesehen.  Nicht  Einer  wenigstens,  der 
nicht,  als  zugehörig,  Grund  genug  hat,  seine  Zunge  zu  hüten. 
Wenn  wir  einander  nicht  belasten,  giebts  keine  Ge&hr  der 
Entdeckung.  Er  sagt  nichts,  ich  sage  nichts;  und  wer  meinen 
Eid  etwa  anzweifelt,  wird  doch  dem  eines  Fürsten  und  Adlern 
ritters  trauen.  So  arbeitet  dieses  Gehirn;  assozürt  es  im  Gan# 
gliondunkel  die  Möglichkeiten.  Der  Rumpf  bebt  nicht.  Der 
braune  Daumen  reibt  die  Innenhaut  des  Zeigfingers,  dessen 
Nachbarn  sich  in  den  Handteller  graben.  Ein  Alltagsmittel, 
um  die  Nerven  in  Ruhe  zu  zwingen.  Im  Examen  macht 
mans  so;  beim  Zahnarzt;  auf  dem  Strohstuhl  des  angeklagten 
Sünders.  Jakob  Ernst  will  gelassen  scheinen.  Gelingts?  Das 

239 


Lächeln  hält  noch  und  die  Augen  mühen  sich,  spöttisch  zu 
blicken  und  dem  Ausfrager  zu  sagen,  was  die  Zunge  ver^ 
schweigen  muß:  »Redst  damisch  daher,  Tropf  Du,  eiskalter.« 
Wer  scharf  hinschaut,  ahnt  in  dem  ganglion  ciliare  aber  die 
Furcht,  hinter  dem  pupilbrischen  Spottversuch  die  ängstliche 
Frage,  was  die  nächste  Minute  wohl  bringen  könne.  Aus  der 
Unterlippe  scheint  jeder  Blutstropfen  gewichen.  Blaß  hängt 
sie  und  zittert.  Zittert  nur  stärker  noch,  sobald  der  Zeuge 
sein  Gemurmel  unterbricht  Und  drüber  das  erzwungene 
Lächeln.  Wie  über  einem  welk  sich  bräunenden  Blatt  ein 
fröstelnder  Strahl  der  Herbstabendsonne.  Mich  dauert  der 
Mann.  Ich  weiß,  daß  ein  Herzleiden  ihn  quält.  Was  mag 
sein  Innerstes  heute  ausstehen?  Jetzt  darf  er  sich  neben 
Riedel  setzen.  Fertig  I  Aus  der  Brusttiefe  holt  er  Luft. 

Der  dritte  Zeuge.  Baumeister  Joseph  Fischhaber  aus  Stams« 
berg.  Ueber  Eulenburgs  Intimität  mit  Ernst  ist  schon  vor 
einem  Vierteljahrhundert  am  See  Allerlei  gemunkelt  worden. 
Noch  mehr,  als  im  vorigen  Jahr  die  Prozesse  gegen  Harden 
anfingen.  Bestimmtes  weiß  der  Baumeister  nicht.  Einmal, 
als  ein  Stamberger  Arges  andeutete,  zog  der  Fischerjackl  sein 
Messer,  stieß  es  in  die  Wirthshaustischplatte  und  schrie  aus 
rothem  Kopf,  den  Nächsten,  der  ihm  so  komme,  werde  er 
vor  den  Richter  schleppen.  Ernst  ist  ein  angesehener  Mann, 
dem  der  Zeuge  nichts  Böses  zutraut.  Solchen  Verkehr  imter 
Männern  kann  er  sich  überhaupt  nicht  vorstellen.  Als  er 
nach  siebenjähriger  Abwesenheit  aus  München  heimkam,  hörte 
er,  daß  Eulenburgs  Garten  das  »Spinatgärtl«  genannt  werde. 

240 


(Das  Wort  erinnert  an  den  bayeriscken  Ekelnamen  der  Herteü, 
die  vom  Manne  heischen,  was  dem  Normalen  das  Weib 
gewährt.)  Dabei  wurde  auch  wieder  von  Ernst  gesprochen. 
Herr  Joseph  Fischhaber  nahms  für  einen  Witz.  Kann  also 
nichts  Erhebliches  bekunden.  Die  Nerven  der  Hörer  ent^ 
spannen  sich.  Redakteur  Städele  ordnet  Ausschnitte,  die  er 
auf  gelbes  Papier  geklebt  hat.  Eulenburgs  Anwalt  stützt 
milde  das  Haupt  und  deckt  mit  der  anderen  Hand  ein  Gähnen. 
Ich  bedenke,  wie  sinnvoll,  wie  expressiv  diese  Bauemnamen 
sind.  Fischhaber:  uralte  Geschlechter  fleißiger  Fischer  winken 
von  solcher  Wesensfirma  her.  So  lange  man  Fische  hatte  und 
die  Fangarbeit  nicht  scheute,  heß  sich  leben.  Nun  steht  ein 
stamberger  Fischhaber  hier  und  muß,  vor  Gericht,  die  Spinats 
gartenschande  ausspreiten.  Dahin  hat  sein  Fürst  ihn  gebracht. 
Pause.  Vor  der  Einlaßthür  in  der  Mariahilf  straße  knäuelt 
sichs.  Cigaretten  werden  angesteckt;  Meinungen  ausgetauscht. 
»Was  sagen  Sie  zu  unserem  Mayer?«  »Mit  all  seinen  Vor^ 
strafen  ist  dieser  Riedel  ein  Prachtkerl.  Der  Prototypus  des 
ungebändigten  oberbayerischen  Bauern  von  unausrodbarem 
Rechtsgefiihl.«  »Bernstein  war  anfangs  matt.  Wenn  er  so 
durch  die  Zähne  murmelt,  will  er  nicht  recht.«  »Oder  thut, 
als  ob  er  nicht  wolle.«  »In  Riedels  Aussage  ist  jedes  Wort 
wahr;  jedes  im  Saal  von  Jedem  geglaubt  worden.  Und  was 
von  Emsts  Vorwänden  haltbar  ist,  fühlt  ein  Blinder  doch 
mit  dem  Krückstock.  Aus  is.«  Darin  stimmen  alle  Urtheile 
überein.  Wirklich  aus?  Ich  sehe  schon  die  berliner  Berichte. 
»Ein  Fall.  Ein  Vierteljahrhundert  her.  Der  Zeuge  ein  viek 

16. 111  241 


lach  vorbestraftes  Subjekt.  Der  andere,  ein  angesehener 
Mann,  hat  allen  Advokatenkniffen  Stand  gehalten  und  mit 
der  größten  Sicherheit  fiir  den  Fürsten  ausgesagt.  Das  Manö«> 
ver  ist  also  mißlungen.«  Die  Sippe  kennt  Ihr  Bajuvaren 
nicht.  Auch  nicht  die  Verästelung  der  Kinaedenintemationale, 
die  in  allen  Winkeln  ihre  Geschäftsführer  hat.  Noch  ists 
nicht  aus.  Wenn  wir  auf  diesem  Fleck  bleiben,  muß  die 
Leporelloliste,  die  meine  Zeugen  aufzählt,  morgen  ans  Licht. 
Staatsanwaltschaft  und  Untersuchungrichter  werden  ihre 
Pflicht  thun.  Gehen  aber  von  dem  Vorurtheil  aus,  daß  ein 
Fürst  nicht  £alsch  schwören  könne;  zu  klug  sei,  um  sich  in 
solche  Gefahr  zu  begeben.  Ueber  diesen  Wall  kommt  man 
nicht  leicht.  Und  dann  steht  der  Zeuge  im  stillen  Zimmer 
vor  dem  Richter  oder  Kriminalbeamten,  der  am  selben  Tag 
vielleicht  noch  ein  Dutzend  anderer  Sachen  erledigen  muß 
und  firoh  ist,  wenn  er  den  Namen  des  Vernommenen  unter 
dem  Protokol  hat.  Wird  nicht  in  die  Enge  getneben  noch 
vom  wachsamen  Ohr  guter  Freunde  und  getreuer  Nachbarn 
kontrolirt  und  kann  der  weithin  ruchbaren  Falle  ausbiegen. 
Schließlich  muß  es  gelingen.  Der  Schuldbeweis  ist  zu  dick 
und  kann  nicht  verkrümeln.  Noch  aber  liegt  schwere  Arbeit 
vor  uns  .  .  .  Drei  Stunden  Pause.  In  die  Stadt  zurück.  Wie 
durch  Nebekchleier  blickt  das  brennende  Auge.  Lautlos, 
wie  über  wattirte  Schienen  hin,  scheint  die  Straßenbahn  zu 
gleiten;  das  Ohr  lauscht  ins  Innerste  hinein  und  läßt  von 
außen  her  keine  Schallwelle  durch  das  ovale  Fenster  ins 
knöcherne  Labyrinth.  Nun  hält  der  Wagen.  In  die  Odeon^ 

242 


Bar.  Um  diese  Stunde  ists  überall  leer.  »Geröstete  Nieren.4c 
Aus  dem  Gerichtshaus  kommen  wir,  von  der  Zuriistung 
eines  Scharfrichterwerkes:  und  schmausen.  Geröstete  Nieren. 
Hastig  und  still.  Die  Magennerven  langen  nach  Futter. 
Lebhaft  wird  das  Gespräch  erst  beim  Ka£Fee.  Noch  neun 
Zeugen.  Trotzdem  werden  wir  heute  fertig.  Ich  zweifle. 
Ohne  triftigen  Grund  hatte  der  Vorsitzende  nicht  eine  so 
lange  Pause  verfugt.  Gewiß  hat  Eidenburgs  Anwalt  darum 
gebeten.  Um  Zwölf  muß  die  Aussage  Riedels  in  Liebenberg 
gewesen  sein.  Wenn  wir  in  die  Au  zurückkommen,  ist  des 
Fiarsten  Antwort  wohl  längst  eingetroflfen.  Vertagung;  weil 
er  vernommen  werden,  das  Zeugniß  des  Milchhändlers  ent# 
kräften  will.  Krank?  Ist  er,  schon  seit  den  Tagen  des  Tausche 
Prozesses,  immer,  wenns  an  irgendeiner  Ecke  brenzUch  riecht. 
Doch  wenns  die  letzte  Reise  wäre:  in  solchem  Fall  macht 
selbst  der  Siechste  sich  auf  die  Beine.  Auch  kann  er  Gericht 
und  Parteien  ja  zur  Vernehmung  nach  Liebenberg  rufen. 
Ein  schöner  Gedanke,  sagt  Bernstein;  aber  es  kommt  anders. 
Den  vor  Mayer  als  Zeugen:  Besseres  könnten  Sie  sich  nicht 
wünschen.  Der  hütet  sich  aber.  Ich  wette,  daß  er  nichts 
sagt  und  firoh  ist,  wenn  er  nicht  gefragt  wird.  Daß  unser 
Oberlandesgerichtsrath  daran  gedacht  hat,  ihm  Zeit  zur  Ver^ 
theidigung  zu  lassen,  glaube  ich.  Der  denkt  an  Alles.  Da 
könnten  wir  lange  warten.  Dennoch:  Reinekes  Fuß  steckt  in 
der  Klemme  des  Fuchseisens.  Das  Tollste,  meint  der  Dritte 
am  Tisch,  ist  die  Kuppelei  am  Promenadeplatz;  mir  das  Un^ 
verständlichste.   Sind  diese  Leute  auf  ihre  bärtigen  Liebsten 

w  243 


denn  gar  nicdt  eifersüclitig,  wie  Unsereins  auf  sein  Mädel? 
Selten,  muß  ich  antworten.  Fiir  diese  Zunft  gilt  vielfach  noch 
die  Sittensatzung  polyandrischer  Zeit,  ^^e  an  der  Sohle  des 
Himalaja  bei  manchen  Volkssplittem,  gehört  das  Lustobjekt 
der  ganzen  Bruderschaft.  Sobald  eins  eingefangen  ist,  wird 
geschrieben  oder  die  Telephonkurbel  gedreht:  Neue  Jagd! 
Warum  soU  der  Bruder  dem  Bruder  die  allzu  rare  Freude 
nicht  gönnen?  Das  Gefäß,  dem  ein  Kindlein  entbunden 
werden  kann,  mag  Eifersucht  bewachen.  Der  Urning  ist 
auch  unter  der  Erotenfuchtel  nicht  (nach  Schopenhauers 
Schlagwort)  Dupe  der  Gattung.  Von  dem  danziger  Welt^ 
weisen,  dessen  Metaphysik  der  Geschlechtsliebe  ohne  die 
Nachwirkung  der  Lues  vielleicht  nicht  entstanden  wäre,  darf 
man  über  Evas  Töchter  kein  unbefuigeneres  Urtheil  erwarten 
als  von  einem  anderen  Verwundeten  über  den  Feind,  der 
ihm  Arglosen  den  Lebensquell  abdämmte.  Ueber  kinaidi# 
sches  Wesen  hat  er  ein  paar  gute  Worte  gesagt  Ich  könnte 
Ihnen  Briefe  zeigen,  in  denen  ein  Freund  dem  Winkelanti^ 
nous  fiir  die  dem  fernen  Freund  gespendete  2^rtlichkeit 
dankt  und  den  Kuß  des  Jünglings  ersehnt,  der  ihn  auf  dem 
Pfiihl  des  Geliebten  ersetzt;  Briefe  hochgeborener  Herren. 
Eine  andere  Welt  als  unsere;  mit  anderem  Moralgesetz,  an^ 
deren  dominirenden  Vorstellungen.  Deshalb  so  oft  auch  die 
Neigung  zu  okkulter  Wunderkunst,  Magierthum,  Spiritismus. 
Der  Gott,  der  Schwefel  und  Feuer  auf  Sodom  herabregnen 
ließ,  der  Heiland,  dessen  Apostel  wider  die  Männerpaarung 
als    wider    die    schwärzeste   Geschlechtsschande    wetterten, 


244 


taugen  nicht  (&r  den  Kult  dieser  Gemeinde.  Die  zu  Heu# 
chelei,  zur  Bergung  der  Gefuhlsdominante  auf  Schritt  und 
Tritt  Genöthigten  stellen  sich  manchmal  fromm.  Lüge  ist 
ihre  Ehe,  die  fremdem  Blick  als  Spektakel  und  Weide  ge# 
botene  Liebe  zu  ihren  Kindern,  der  im  Pflichtbett  lieblos 
gezeugten  Brut;  warum  nicht  der  himmelan  schwellende 
Glaube?  Alles  ist,  Wort,  Geberde,  Handlung,  nur  dem 
einen  Zweck  unterthan:  die  weit  von  der  Norm  abbiegende 
Wesenskurve  zu  vcrhiiUen.  Hier  Der  von  heldischem  Wuchs 
im  Generalsrock  nahm  ein  Weib  und  schuf  ächzend  im  Schoß 
der  Ungeliebten  die  Frucht,  auf  daß  Keiner  ahne,  an  welchen 
mißdufrigen  StaUreizen  die  Excellenz  sich  ergötze.  Da  er# 
niedert  Einer  die  erwachsenden  Söhne  zu  Schaugeräth,  auf 
daß  der  Abglanz  des  Familienglückes  den  dämmernden  Ver# 
dacht  überstrahle.  Der  dort  mit  dem  hohen  Titel,  aus  altem 
Dynastenhaus,  ist  der  Erste  im  Kirchengestühl  und  scheint 
ganz  in  Andacht  versunken;  abends  schleicht  er  im  Reit» 
knechtskittel  um  die  Nothdurfrstätten  der  Manner  und  lockt 
sich  Kunden  herbei:  denn  seinen  kranken  Trieb  kitzelt  wol# 
lüstig  die  Vorstellung,  die  heimliche  Huld  sich  bezahlen  zu 
lassen,  einmal  doch  im  Wettbewerb  gemeiner  Menschheit  den 
Preis  zu  erringen.  Jedes  unzarte  Wort  verletzt  sie.  Auf 
ihrer  Lippe  lebt  nur  das  Ideal.  Aus  ihrem  Auge  leuchtet 
das  Sehnen,  auch  den  Nächsten  auf  die  von  ihnen  erkletterte 
Stufe  der  Kalokagathie  zu  heben.  Dicht  unterm  Auge  aber 
saugen  die  Nüstern  den  Schweißgeruch  eines  wollenen 
Fischerhemdes  oder  Kommißrockes  wie  ambrosischen  Balsam 


245 


ein.  (»Das  herbige  Hemd,  das  ich  trug,  hat  am  Promenaden 
platz  den  feinen  Herrn  so  gut  ge&llen,«  sagte  Riedel.)  Das 
laute  Bekenntniß  zu  Venus  Urania  würde  Verdacht  wecken. 
Lieber  bleibt  man  drum  im  alten  Glauben;  klebt  das  Be# 
kenntniß  zu  ihm  an  alle  Zäune  und  Mauerecken.  Hinter 
den  Plakaten  ist  Raum  (ur  tolerantere  Götter.  Der  kränkelnde, 
in  der  schweren  Schule  der  Verstellung  scheu  gewordene 
Sinn  schweift  über  das  seiner  Brunst  widerstrebende  Diesn 
seits  hinaus;  mag  sich  in  einer  Welt  nicht  bescheiden,  die 
ihn  als  unfruchtbar  und  deshalb  feindlich  ablehnt,  und  sucht 
eine  Vorsehung,  die  ihm  gnädiger  ist  als  das  harte  Gesetz 
der  westlichen  Sittenzone.  Geister  werden  beschworen,  In# 
diens  und  Griechenlands  Götter  herbeigefleht.  Herr  Edmund 
Jaroljmek,  einst  »Seiner  Durchlaucht  des  Fürsten  Philipp  zu 
Eulenburg^Hertefeld  Privatsekretär«  (so  Stands  auf  der  Karte), 
jetzt  sein  (ungern  anerkannter)  Eidam,  las  aus  Büchern  vor, 
die  er  nicht  kannte,  mit  dem  Hinterkopf  berührte,  und  war 
in  den  Fußtapfen  der  Frau  Blawatsky  ziemlich  weit  ins  Nebeln 
land  des  Esoterischen  Buddhismus  vorgeschritten.  Ein  Magus 
aus  Rumänien  oder  der  Bukowina.  Schon  vor  zwanzig  Jahren 
schrieb  Philipp  an  den  »gehebten  Freund«  Fritz  von  Faren# 
heid,  wie  selig  er  sei,  seit  Fürst  Rudolf  Liechtenstein  ihm  die 
Gnadenpforte  in  den  Okkultismus  geö&et  habe.  »Dieser 
selten  begabte  und  hochinteressante  Mann,  an  dessen  Physis 
sich  räthselhafte  Erscheinungen  ketten,  bietet  mir  durch  seine 
Glaubensgewißheit  einer  individuellen  Fortdauer  nach  dem 
Tode  so  unendhch  viel  auf  dem  Gebiete  der  Rehgion,  der 

246 


Philosophie  und  der  Mystik,  daß  ich  nicht  satt  werde,  mit 
ihm  von  seinen  Er£sdinmgen  zu  reden.  Räthselhafte  Erschein 
nungen  umgeben  uns,  Schriften  entstehen,  die  so  weit  über 
der  Anwesenden  Können  und  Denken  hinausgehen,  daß  das 
Einwirken  einer  höheren  Intelligenz  zur  zwingenden  Gewiß« 
heit  werden  muß;  denn  im  täglichen,  vertrauten  Freundes« 
verkehr  ist  jede  Täuschung  vollkommen  ausgeschlossen.« 
Flink  ists  darm  weitergegangen.  »Das  Geheimniß  des  Geistes 
Emanuel.«  Spiritisten,  Theosophen,  Magier  aller  Sorten 
miissen  herbei.  Große  Preußenherrscher  werden  citirt  und  ge« 
währen  politischen  Rath.  Anno  1906.  In  Fritzens  hellem  Staat. 
Adoranten  knien  im  Halbkreis;  und  sieben  aus  dem  Staub 
noch  die  Botschaft,  der  Angebetete,  von  dem  so  »unendlich 
viel«  zu  ho£fen  ist,  habe  zu  dem  »unbeschreiblich  eigenartigen 
Wesen«  auch  das  Zweite  Gesicht  der  Stuarts  ererbt. 

Aus  dem  Seitenp&d  zurück  auf  die  Hauptstraße.  Eifer« 
süchtig  sind  diese  Herren  meist  nur  auf  Frauen  gewährte, 
von  Frauen  erlangte  Gunst.  Männliche  theilen  sie  gem. 
Riedels  Kuppelgeschichte  hat  nichts  besonders  AufiEalliges. 
Riedel  war,  während  der  Gesandtschaftsekretär  sich  an  dem 
achtzehnjährigen  Jakob  Ernst  letzte,  nur  eine  Episode.  Wenn 
ein  Anderer  an  dem  stämmigen  Feldafinger  Gefallen  £md: 
unter  Brüdern  wird  nicht  geknickert.  Der  Zunft  gebührt 
Mitleid?  Sicher.  Nur  soll  sie  im  Schatten  bleiben.  Nicht 
den  jungen  Trieb  Gesunder  vergiften.  Nicht  als  Trägerin 
höherer  Kultur  auf  uns  herabsehen.  Ihre  Organisation  mei« 
netwegen  zum  Interessenschutz,  nicht  zum  Angriflf  nutzen. 

247 


Mit  ihrer  angeborenen  oder  anerzogenen  Unwahrhaftigkeit 
und  Verhetzungsucht,  mit  all  dem  süßlich  parfiimirten  Wun^ 
derkram,  der  die  stärkste  Instinktregung  in  Mysterien  schleiem 
soll,  nicht  dahin  drängen,  wo  sie  gefiihrlich  werden  und  ein 
tapferes,  seiner  Tapferkeit  noch  auf  lange  hinaus  bedürftiges 
Herrenvolk  sacht,  ehe  das  Auge  der  Nation  Etwas  merkt, 
entmannen  müßte.  Dann  heißt  die  Losung:  Kampf;  auf  Le^ 
ben  und  Tod.  Schon  ist  ein  Theilchen  der  Kriegerkaste,  das 
sichtbarste,  zu  weibischer  Putzsucht  verfuhrt.  Schmückt  Man^ 
eher  die  Hand  und  den  Arm,  die  in  Schlachtgewittem  das 
Schwert  schwingen  sollen,  allzu  üppig  mit  Goldreifen  und 
glitzerndem  Gestein.  Schenken  Männer  in  festlicher  Stunde 
einander  Blumen.  Tauschen  Kosenamen  und  Küsse,  die  von 
Gethsemane  her  unter  Männern  doch  in  Verruf  sind.  Schnür 
ren  den  Leib  über  der  Hüftengegend  und  umschlingen  so 
e£Feminirtes  Mannsvolk  zum  Kasinoreigen.  Das  säuselt,  klim^  / 
pert,  girrt,  poetelt,  tätschelt,  hat  im  Hagestolzenheim,  das  \^ 
dem  Tarifeden  einer  Luxusdime  ähnelt,  neben  dem  breiten 
Himmelbett  das  neuste  Buch  des  just  in  die  Mode  gelotsten 
Sexualmystagogen  und  strömt  auf  zwanzig  Schritte  die  Wohl# 
gerüche  Arabiens  aus.  Müssen  wir  einen  Kriegssturm  ersehe 
nen,  der  diesen  schwülen  Spuk  mit  eisigem  Athem  wegfegt? 
Soll  der  starke  Schoß  deutscher  Frauen  aus  edel  gezüchtetem, 
unerschöpftem  Stamm  verdorren,  weil  dem  Herrn  Gemahl 
Ephebenfleisch  besser  schmeckt?  Empfindet  Jeder  denn  nicht 
die  Verleitung  auch  nur  eines  Soldaten  oder  anderswo  firo^ 
nenden  Burschen  zu  solchem  Gräuel  als  eine  Nationalschande? 


248 


Halb  Drei.  Und  was  wird  aus  Jakob  Ernst?  Der  Justiz^ 
rath  fidtelt  die  Wangen.  Viel  Hoffiiung  scheint  ihm  da  nicht. 
Der  Fischermeister  ficht  um  seine  Existenz,  um  Alles,  was  er 
durch  Fleiß,  Redlichkeit,  äußeren  Anstand  in  Jahrzehnten 
erworben  hat.  Drum  muß  man  ihn,  sage  ich,  lehren,  daß  er 
in  diesem  Spiel  noch  höheren  Einsatz  verlieren  kann.  Bisher 
hat  er  die  Wahrheit  gehehlt.  Sind  wir  darüber  einig?  Gut. 
Und  ein  Zeuge,  der  vor  einem  unbefangen  das  Recht  suchen^ 
den  Tribunal,  vor  einem  Musterrichter  gar  unter  seinem  Eid 
auszusagen  hat,  soU  nicht  zu  o£Fenem  Eingeständniß  zu  brin^ 
gen  sein?  »Schon  recht;  gerade  der  Musterrichter  wilrde 
aber  eine  lange  Schinderei  des  Zeugen  nicht  dulden;  übrigens 
bin  ich  mit  mir  selbst  noch  nicht  schlüssig.«  Und  ich  nicht  so 
anmaßend,  Ihrer  Er£Jirung  Rath  aufdringen  zu  wollen. 
Schinderei  wäre  mir  selbst  widrig.  Doch  vormittags  haben 
Sie,  dünkt  mich,  den  Mann  nur  mit  sanfter  Hand  angefaßt. 
Das  war  vernünftig.  Jetzt  wankt  er.  Ein  Stoß:  und  er  fallt. 
»Der  Fürst  kann  mir  nichts  nachsagen  und  ich  kann  dem 
Fürsten  nichts  nachsagen«:  noch  glaubt  er  sich  von  dieser 
Gewißheit  bis  ans  Ende  seiner  Tage  geschirmt.  Sobald  er  zu 
fbrchten  anfangt,  daß  ihm  dennoch  Etwas  nachgesagt  werden 
könne  (weils  Einer  gesehen  hat  oder  ein  Brief  zum  Verräther 
ward),  stürzt  die  zurückgestaute  Wahrheit  über  die  Beinpfo# 
sten  der  Mundschleuße.  Im  Eid  ist  ungeheure  Wucht  akku^ 
mulirt.  Den  Ruch  der  Männerminne  wird  Ernst  doch  nie 
wieder  los.  Die  Last  eines  Meineides  trüge  sein  morsches 
Gewissen  nicht;  die  würde  ihn  früh  in  die  Gruft  drücken. 


249 


Noch  einen  Versuch,  Herr  Justizrath.  Nach  Riedels  Aussage 
kann  er  gehngen.  Ein  Zeuge  stützt  den  anderen;  stählt  ihm 
den  ^VClllen  zur  Wahrhaftigkeit,  wie  zur  Lüge.  Auch  müßte 
ich  mich  auf  die  Physiognomie  spottschlecht  verstehen,  wenn 
die  Stamberger  ihrem  Gevatter  nicht  während  der  Pause  in 
unserem  Sinn  zugesetzt  hätten.  Das  mühsam  in  die  Backen 
geknitterte  Lächeln  barg  ja  kaum  noch  die  schwarze  Sorge. . . 
»Lassen  Sie  mich  nur  machen.  Was  möghch  ist,  geschieht. 
Ich  wiU  nur  erst  sehen,  wie  nachher  die  Luft  ist.  Versäumt 
wird  nichts.«  So  trennten  wir  uns.    Für  eine  halbe  Stunde. 

Im  Hotelzimmer  fiillt  der  Bhck  auf  den  Schreibtische 
kalender.  Einundzwanzigster  April:  Huttens  Geburtstag.  »Da 
laß*  ich  Jeden  reden  und  lügen,  was  er  will;  hätt*  Wahrheit 
ich  geschwiegen,  mir  wären  Hulder  viel.« 

Die  vierte  Tagesstunde  ruft  zurück  in  die  Au.  Bernstein 
hätte  seine  Wette  gewonnen:  kein  Wörtchen  aus  Liebenberg. 
Wozu?  Wer  so  mächtig  ist,  läßt  die  Dinge  an  sich  kommen. 
Den  Milchhändler  kriegen  sie  in  Berhn  schon  klein.  Und 
wenn  der  Herr  Harden  mehr  wüßte,  wäre  er  vor  dem  Lande 
gericht  damit  angerückt.  Der  wird  eingesperrt  und  von  vere 
schleimten  Preßpäderasten  bespien;  sein  Vertheidiger  folgt 
ihm  hinters  Eisengitter:  und  die  liebe  Seele  des  letzten  Idealie 
sten  hat  wieder  Ruhe.  Mein  Fischer?  Der  plaudert  nicht. 
Dem  könnten  sie  das  Hirn  entschälen,  bis  ins  Spinalsystem 
hinein  leuchten:  und  fanden  nichts,  was  gegen  mich  je  zu 
brauchen  wäre.  Ich  habe  geschworen.  Dr.  juris  Fürst  Philipp 
zu  Eulenburg  und  Hertefeld,  Graf  von  Sandeis,  Erbliches 

250 


Mitglied  des  Preußischen  Herrenhauses»  Kaiserlicher  Bot 
schafter,  Wirklicher  Geheimer  Rath,  Ritter  des  Hohen  Ordens 
vom  Schwarzen  Adler.  Wer  wagt,  Rittersmann  oder  Knappe, 
mit  schnödem  Zweifel  meinen  Schwiur  anzutasten?  Den 
Wappenspruch  Constantia  et  virtute  zu  höhnen?  Standhaft 
und  tugendsam  war  ich  immer.  Auch  vorsichtig.  Und  Eurem 
Gerichtskram  nicht  fremd.  Ein  Doctor  juris  schwor  den  Eid. 

Friedel,  der  Blumenhändler,  der  bei  den  Chevaulegers  ge# 
dient  hat,  bestätigt,  Punkt  vor  Punkt,  Riedels  Durchbrennern 
geschichte.  Auch  den  stumpfen  Vorstoß  eines  Bezirkskom# 
missars,  den  der  Vorsitzende,  um  nichts  zu  versäumen,  ge^ 
laden  hat,  wehrt  der  aufrechte  Milchmann  ohne  besondere 
Mühe  ab.  Er  hat  die  Behörde  behelligt,  doch  nichts  Uebles 
gethan.  Der  beamtete  Leumundzeuge  trägt  keine  Mehrung 
des  Ansehens  heim.  Die  Stimmung  will  schon  ins  manchem 
nerisch  Lustige  umschlagen.  Ein  abgestochener  Kommissar: 
eine  Hetz!  Da  bittet  der  Justizrath  Bernstein,  mit  höfhcher 
Stimme,  in  ders  von  fem  her  aber  schon  gewittert,  an  den 
Zeugen  Jakob  Ernst  noch  ein  paar  Fragen  richten  zu  dürfen. 
»Bittel«  (Im  Ton  liegt:  »Sie  verschwenden  Ihre  Kraft;  aber 
ich  will  Sie  nicht  hindern.«)  Scharren.  Räuspern.  Stuhle 
rücken.  Dann  wirds  im  Saal  feierlich  still. 

»Wollen  Sie  noch  einmal  hervortreten,  Herr  Ernst  1«  Da 
ist  er.  Scheint  noch  immer  gelassen.  Die  Haltung  wie  zuvor. 
Genau;  als  wäre  sie  vor  dem  Spiegel  eingeübt.  Auch  das 
Lächeln  und  der  ^Ue  zu  spöttischer  Ueberlegenheit  ist 
ihm  nicht  geschwunden.    Doch  die  Gesichtsfarbe  ist  noch 

251 


fahler;  und  die  Unterlippe  hangt  blaulich  und  zittert  von 
schnellerem  Pub.  Der  Eid?  Freilich:  auf  den  nimmt  er  auch, 
was  er  jetzt  sagen  wird.  Ist  ja  die  Wahrheit.  Der  Justizrath 
möchte  wissen,  wie  es  mit  den  zwölftausend  Mark  gewesen 
ist.  Ist  das  Darlehn  wirklich,  in  barem  Geld,  zurückgezahlt 
worden?  Ein  gedeckter  Laut,  der  ein  Ja  sein  könnte;  hastig 
ges  Nicken  giebt  ihn  daför  aus.  An  die  Mutter  des  Fürsten? 
Freilich.  In  barem  Gelde,  Herr  Ernst?  Fr...  Das  heißt:  in 
Papieren.  Gut.  Mit  der  Aufzählung  der  Papiersorten  will 
ich  Sie  nicht  quälen.  Ein  anderer  Punkt.  Sie  sind  mit  dem 
Fürsten  gereist,  ^e  oft?  Ja,  meiner  Seel*,  so  genau  weiß 
ichs,  nach  zwanzig  Jahren,  nicht  mehr;  sechsmal,  denke  ich, 
oder  achtmal;  kann  aber  irren.  (Unsicherer  als  vorher  also; 
draufJen  haben  sie  gewiß  von  der  Fähmiß  beeideter  Aus^ 
sage  gesprochen.)  Ein  stamberger  Fischer,  der  mit  einem 
preußischen  Grafen,  dann  gar  mit  einer  Durchlaucht  reist, 
sollte  sich  solcher  Erlebnisse  rascher  erinnern.  Wo  waren 
Sie  mit  dem  Fürsten?  Die  Hand  tastet  nach  der  Schnecken^ 
höhle  des  Ohres.  Schwerhörig;  bitte,  zu  bedenken.  (Die  un# 
richtig  beantwortete  Frage  war  eben  falsch  verstanden  worden. 
Bauemschlauheit  oder  Rathschluß  von  der  Höhe?)  Wo  Sie 
waren,  möchte  ich  wissen.  In  Gamisch;  in  Meran.  Habs  eh 
schon  gesagt.  In  Liebenberg.  Weiter.  Ja,  auf  der  Durchreise 
in  Berlin.  Fünf  Tage  lang.  Ich  sah  mir  die  Stadt  ordentlich 
an;  und  der  Fürst  hat  natürlich  gezahlt.  Ich  sollte  ja  für  ihn 
fischen  und  seinen  Fischer  unterrichten.  Sonst  nirgends? 
Zürich  fallt  mir  noch  ein.    Nun  ists  wohl  völlig;  aber  ich 

252 


kann  clen  einen  ocler  anderen  Ort  vergessen  haben.  (Un# 
vorsichtig.  Ernst  hat  lebenden  Nachbarn  von  der  Riviera, 
von  Rom,  besonders  oft  und  anschaulich  von  Egypten  er^ 
zählt.  Wenn  die  Leute  vorträten  und  es  bezeugten,  stünde 
es  um  den  Glauben  an  seine  Wahrhaftigkeit  schlecht.  Der 
Justizrath  bedrängt  ihn  aber  nicht;  läßt  ihn  ruhig  gehen  und 
müht  sich  um  sanfte  Tonart.)  Sie  sagten,  der  Fürst  habe  Sie 
als  Kammerdiener  mitgenommen?  Freilich.  Hat  er  seine 
Diener  heimgeschickt?  Nicht  doch.  Die  blieben  in  Stam^ 
berg.  Warum  zog  er  Sie  vor?  Weiß  nicht.  Werde  ihm  wohl 
gefallen  haben.  Das,  konnte  ich  mir  denken,  ist  seine  Sache 
und  geht  mich  nicht  an.  Ganz  richtig.  Nur  (ich  will  Ihnen 
nicht  wehthun  und  Ihre  Tüchtigkeit  nicht  bezweifeln)  ists 
immerhin  aujffiillig,  daß  ein  verwöhnter  Herr  einen  Fischer» 
knecht  dem  erprobten  Kammerdiener  vorzieht.  Mag  schon 
sein.  »Hat  er,  bevor  er  Sie  engagirte,  denn  gefragt,  ob  Sie 
sich  drauf  verstehen?«  »Das  weiß  ich  heute  nicht  mehr. 
Möglich,  daß  er  gefragt  hat;  möglich,  daß  ers  nicht  that.» 
»Aufgefallen  ist  Ihnen  nichts  dabei?«  »Was  sollte  mir  denn 
aufEsdlen?  Er  konnte  mich  brauchen  und  ich  wollte  die  Welt 
sehen.«  »Sie  leben  lange  in  Stamberg;  kennen  Sie  einen 
ähnlichen  Fall?  Ich  meine,  ob  Ihres  Wissens  schon  einmal 
ein  Fischerknecht  als  Kammerdiener  mit  einem  Grafen  oder 
Fürsten  auf  die  Reise  gegangen  ist.«  »So  vom  Fleck  weg  kann 
ich  da  weder  Ja  noch  Nein  sagen;  ich  habe  geschworen.« 
(Wieder  das  Angstsymptom.)  »Denken  Sie  nur  in  aller  Ruhe 
nach.  Wn  haben  Zeit.«  »Nein.  Einen  anderen  Fall,  einen,  wo 


253 


es  auch  so  lag,  weiß  ich  nicht  anzuführen.  Aber  der  Fürst 
kann  mir  nichts  nachsagen  und  ich  kann  dem  Fürsten  nichts 
nachsagen;  und  auch  die  Leute  können  nichts  beweisen.«  (Da 
ists  heraus.  Beweisen:  so  hat  er  vormittags  nicht  geredet. 
Aber  beweisen  können  nur  wir  Zwei  einander  was.  Keiner 
sonst.  Was  die  Leute  tratschen,  gilt  nicht  gegen  unsere  Eide.) 
Der  Mann  ist  noch  immer,  un£aißbar,  in  sein  Gehäus  verkrochen. 
»Ich  glaube  nicht,  Herr  Justizrath,  daß  wir  viel  weiter 
kommen.«  Diesmal  sprichts  der  Oberlandesgerichtsrath  aus. 
Dann,  zu  dem  Zeugen:  »Herr  Ernst,  Sie  sind  ein  verständiger 
Mann,  der  seine  Pflicht  kennt.  Sie  dürfen  nichts,  was 
zur  Sache  gehört,  zurückhalten.  Die  Folgen  wären  sehr  arg 
für  Sie.  Wollen  Sie  noch  Etwas  sagen?«  Ich  hab*  nix  mehr 
zu  sagen.  Was  ich  zu  sagen  hatte,  hab*  ich  gesagt.  »Herr 
Justizrath,  geben  Sies  auf?«  »Ich  möchte  von  dem  Zeugen 
nur  erklärt  hören,  warum  gerade  ihn,  einen  nur  an  grobe 
Arbeit  gewöhnten  Fischerknecht,  der  Fürst  zu  persönlicher 
Dienstleistung  nahm,  die  doch  gelernt  sein  will.«  Die  Finger 
der  rechten  Hand,  die  Schwurfinger,  krümmen  und  steifen 
sich  hastig.  Die  Sucht,  unbefangen  zu  scheinen,  hat  auch  in 
den  Rumpf  nun  Bewegung  gebracht.  Der  windet  sich  wie  in 
wirrem  Traum.  Der  Kopf  wippt  nach  vom;  neigt  sich  auf 
die  Seite.  Die  Schultern  heben  sich.  Jetzt  ists,  als  recke  der 
Mann  sich  auf  die  Zehen.  Nur  einer  Fettspur  gleicht  noch, 
was  vorher  ein  Lächeln  war.  Bernstein  tritt  dicht  neben  ihn. 
»Herr  Ernst,  ich  will  Ihnen  Etwas  sagen.  Der  Herr,  der  hier 
sitzt,  ist  mein  Klient.    Der  soll,  auch  mit  wegen  des  Fürsten 

254 


£ulenbiirg,  eingesperrt  werden.  Wenn  Sie  jetzt  die  Unwalirlieit 
sprechen:  früli  oder  spät  kommts  doch  heraus;  und,  so  leid 
mirs  thut,  ich  miißte  Sie  dann  ins  Zuchthaus  bringen,«  Auge 
in  Auge.  Ganz  ruhig;  £sist  zärtlich.  Dennoch:  der  Blick  des 
Fischermeisters  wird  stier;  irrt  nun  von  den  Richtern  zu 
diesem  Ankläger,  von  ihm  zu  den  Richtern  zurück;  möchte 
aus  der  Höhle  ins  Erdreich  fliehen:  und  muß  den  Augen^ 
paaren,  die  ihn  suchen,  Stand  halten.  »Warum?«  »Warum 
er  gerade  mich  mitgenommen  hat? ...  Ja . . .  Das  sind  so 
Sachen . . .«  »Von  den  Sachen  wollen  wir  reden,  Herr  Emstl« 
Der  Richter  ist  aufgestanden.  Ragt  mit  dem  Barrett  bis 
ans  Gebälk.  Der  Größte  im  Saal.  Auch  der  Weiseste.  Der 
sicherste  Menschenbehandler.  Ein  Richter.  Er  winkt  den 
Fischermeister  dicht  vor  den  Gerichtstisch.  Will  er  ihn 
hüten?  Will  strafen?  Wie  ein  Kindchen  ist  der  Stamberger 
nun  in  der  Hand  dieses  Starken.  »Ernst  I  Der  Herr  Justiz^ 
rath  hat  da  vom  Zuchthaus  gesprochen.  Das  war  nicht  so 
gemeint  Nicht  als  Drohung.  Sollte  nur  heißen,  daß  er 
selbst  eine  schwere  Pflichterfüllung  nicht  scheuen  würde. 
Das  diirfen  wir  Alle  nicht.  Sie  auch  nicht,  Ernst.  Niemand 
bedroht  Sie  hier.  Niemand  will  aus  Ihnen  herausholen,  was 
nicht  in  Ihnen  ist.  Niemand  kann  und  darf  es.  Hier  kommt 
Jeder  zu  seinem  Recht.  Jeder  auch  zu  seiner  Pflicht.  Ich  verstehe 
ja,  daß  es  Ihnen  nicht  leicht  werden  könnte,  die  Wahrheit  zu 
sagen,  wenn  diese  Wahrheit  so  wäre,  wie  Mancher  in  diesem 
Saal  glaubt.  Sie  sind  ein  geachteter  Mann,  haben  Kinder:  und 
müßten  nun  unsaubere  Geschichten  ausgraben.  Das  Leben  tu 

255 


spart  uns  so  schwere  Stunden  nicht  immer,  £mst.  Es  mufi  sein. 
Sie  haben  uns  'schon  viel  Geduld  und  Lungenkraft  gekostet. 
Ueberlegen  Sie.  Wollen  Sie  eine  Pause?  Jetzt  sind  Sie  erregt* 
Man  soll  nicht  sagen,  hier  sei  in  Sie  hineingepulvert  worden. 
Das  kommt  auch  vor.  Viel  kommt  vor.  Beruhigen  Sie  sich 
zuerst  einmal.  Wenn  Sie  als  anständiger  Mann  handeln, 
kann  Ihnen  nichts  geschehen.  Wollen  Sie  fiir  eine  \^ertel# 
stunde  hinaus?«  Langsam  gurgelts  hervor:  »Ich  brauch' 
keine  Pause.«  Still  steht  der  Richter.  (Eines  Holbein  Hal^ 
tung  und  Haupt.)  Unter  flammendem  Auge  tönt  es  ntm 
gütig,  fest,  zum  Bittersten  entschlossen:  »Ich  muß  jetzt  Ihre 
Vernehmung  abschließen.  Zum  letzten  Mal  bitte  ich  Sie, 
wahrhaftig  zu  sein.  Haben  Sie  wirklich  weiter  nichts  zu  sagen, 
so  that  unser  wiederholtes  Mahnen  Ihnen  Unrecht.  Wii  sind 
Menschen  und  irren  menschlich.  Allwissend  ist  Einer  nur. 
Der  sieht,  was  Ihres  Herzens  Falte  dem  Licht  birgt.  Den^ 
ken  Sie  daran,  Ernst.  Den  letzten  Richter  betrügt  Keiner. 
Noch  Anderes  müssen  Sie  bedenken.  Wenn  Sie  als  junger 
Bursche  von  einem  vornehmen  Herrn  zu  häßüchen  Sachen  ver» 
leitet  worden  sind :  kein  Rechtscha&er  kann  Sie  darum  schelten. 
Keiner,  der  je  in  Ge£ahr  stand  und  sich  selbst  erkannt  hat, 
wirds  thun.  Und  die  Anderen  zählen  nicht.  Das  offene  Ein^ 
geständniß  macht  Sie  der  Achtung  nur  würdiger.  Wenn 
Sie  aber,  geschähe  es  auch  aus  Scham,  triebe  Sie  auch  der  an 
sich  lobenswerthe  Wunsch,  einen  Anderen,  dem  Sie  viel^ 
leicht  Dank  schulden  und  der  um  sein  Leben  ringt,  zu 
schonen,  wenn  Sie  hier  Falsches  beschwüren:   Ernst»   Sie 


256 


waren  fiir  all  die  Jahre,  die  Ilinen  noch  bleiben,  ein  unglüclu 
lieber,  friedloser  Mann,  der  vor  jedem  Zufall  zittern  müßte; 
denn  jeder  Zu£dl  könnte  Sie  in  die  Gefahr  furchtbar  strenger 
Strafe  bringen.  Noch  ist  es  Zeit.  Antworten  Sie,  ganz  ruhig, 
wie  Ihr  Gewissen  befiehlt.  Ich  frage  Sie  nur  dieses  eine  Mal 
noch:  Ist  zwischen  dem  Fürsten  zu  Eulenburg  und  Ihnen 
niemals  etwas  Unsittliches  vorgekommen?«  Man  hört  den 
Athem.  Des  Fischermeisters  Rechte  krallt  sich,  über  dem 
Herzen,  in  die  Brust,  ^le  in  Wehen  schüttelt  er  sich.  Die 
Zunge  strauchelt  im  trockenen  Schlund;  sucht  sich  an  der 
Lippenwand  einzuspeicheln;  und  stammelt  nun: 
»Jetzt . . .  Gar  nie . . .  Das  kann  ich  nicht  sagen.« 
Wie  durch  feuchte  Schleier  sehe  ich  den  Fischermeister. 
Sehe  den  bleichen,  hohen  Mann  vor  seinem  Richterstuhl. 
Jedem  Hörer  fliegt  der  Puls.  Kein  überlautes  Wort  ist  ge# 
sprochen.  Keiner  majestätisch  angewettert  worden:  und  Jeder 
hat  Unvergeßliches  erlebt.  Der  Richter  setzt  sich.  Noch  bebt 
auch  in  ihm  die  Erregung  nach.  Die  Mahnung,  die  inniges 
Pflichtbewußtsein  ihm  abzwang,  hat  einen  Menschen  getötet. 
Einen  Mächtigen.  Einem  Kleinen  wohl  die  Alterspfründe 
geschmälert.  Er  dämpft  die  Stimme;  als  sei  eine  Leiche  im 
Haus.  »Sprechen  Sie,  Ernst.  Was  also  ist  vorgekommen.« 
Noch  einmal  bäumt  sich  die  Kreatur.  »Ich  weiß  gar  nichts.« 
Mancher  Richter  wäre  nun  wild  geworden.  Dieser  hebt  nur 
den  Blick.  Misereor  supra  turbam.  »Zu  spät,  Ernst.  Sie 
können  Keinen  mehr  retten.  Der  Stein  ist  im  Rollen.  Trachten 
Sie,   daß   er  nicht  auch  Ihr  Glück  noch  begräbt!«    Nun 

17,  III  257 


tröpfelts  wieder;  wie  vor  der  Mittagsstunde.  ^Wenn  ichs 
dann  sagen  muß:  wie  die  Leute  reden,  so  wars.  Wie  mans 
nennt,  weiß  ich  nicht.  Er  hat  michs  gelehrt.  Die  Gaudi. 
Die  Lumperei.  Ja,  keinen  richtigen  Namen  weiß  ich  nicht. 
Wenn  wir  so  hinge&hren  sind,  haben  wirs  im  Kahn  ge^ 
macht.  Er  hat  angefangen.  Wie  hätte  ichs  wohl  gewagtl 
Einem  so  feinen  Herrn  I  Und  ich  wußte  ja  nichts  davon. 
Zuerst  fragte  er,  ob  ich  ein  Mädel  habe.  Da  gings  dann 
weiter.«  Zweimal,  dreimal  noch  der  Versuch  einer  Retizenz. 
Nicht  lange.  Allmählich  wirds  klar:  Einleitung  und  Verlauf 
ganz  wie  bei  Riedel.  Nur:  Jahre  lang;  bis  in  die  neuste 
Zeit.  Ekel  würgt  das  Mitleid.  Ekel  vor  dem  Schänder  thr^ 
lieh  reifender  Mannheit.  Auch  der  Richter  ist  wieder  ruhig. 
»Sie  sehen,  Herr  Justizrath,  man  [lernt  nicht  ausi«  Die 
Stimme  klingt  hell  und  ein  liebenswürdiges  Lächeln  deutet 
die  Worte:  Zweimal  wollte  ich  Sie  hindern,  das  Verhör  fort^ 
zusetzen;  zweimal  Ihnen  wehren,  der  Wahrheit  ans  Licht  zu 
helfen.  Ich  hatte  zu  hoffen  aufgehört.    Man  lernt  nicht  aus. 

Jakob  Ernst  taumelt.  Wie  Einer,  unter  dem  der  eben  noch 
feste  Grund  wankt.  Die  Herzensangst  greift  nach  der  Kante 
des  Richtertisches.  »Ich  möcht'  wohl  hinaus.  Jetzt . .  Ein 
Wasser  war*  gut . . .«  Wilhelm  Mayer  fiillts  ihm  in  sein  Glas. 
Dem  Menschen  der  Mensch.  Wartet,  bis  die  kleinen  Schlucke 
chen  durch  den  klebrigen  Kehlraum  sind.  »Nimm  Dich  nur 
vorm  Meineid  in  Acht,  Dul«  hat  Ernst  morgens  zu  dem 
poltersüchtigen  Riedel  gesagt.  Jetzt  ist  Abend  geworden. 

Verzicht  auf  alle  weiteren  Beweismittel.     Kurze  Schluß^ 


258 


vortrage.  Wk  sahen  einen  Menschen  bis  in  die  tie&te  Wesens^ 
Wurzel  erzittern,  sahen  einer  Wahrheit  schwere  Entbindung: 
wie  wirkte  da  noch  ein  Wort?  Das  Allemöthigste  nur.  Be^ 
rathung.  Urtheil.  »Ich  schließe  die  Sitzung.«  Der  Richter. 

SatyrspieL 

Den  Grafen,  den  Fürsten  Philipp  zu  Eulenburg  habe  ich 
seit  dem  Jahr  1894  oft  heftig  angegriffen;  nicht  als  politischen 
Gegner  (wußte  doch  Keiner  je,  woran  Der  glaube),  sondern 
ak  den  unwahrhafidgsten,  skrupellosesten,  gefahrlichsten  Hö& 
ling  im  Reich.  Von  seinen  persönlichsten  Verhaltnissen  hörte 
ich  aus  dem  Mund  seiner  Freunde  und  Feinde  nur  allzu  viel: 
von  den  ostpreußischen,  bayerischen,  oldenburgischen  Ge# 
schichten;  vom  Unglück  des  Bruders,  von  der  Flucht  zweier 
Kinder,  die  im  schrillsten  Ton  über  den  Vater  sprachen. 
Nicht  ein  Wort  davon  wiurde  hier  erwähnt;  nicht  eins  über 
seine  weitere  Verwandtschaft  gesprochen.  Erst  als  er  im 
Marokkojahr  den  alten  Freund  Raymond  Lecomte  wieder 
herangewinkt  und  bald  danach  die  Perversität  eines  dritten 
Albrechtsenkels  Zungen  und  Federn  in  Bewegung  gesetzt 
hatte,  fragte  ich,  ob  für  den  neuen  Ritter  des  Schwarzen 
Adlers  mildere  Satzung  gelte  als  fiir  den  preußischen  Prinzen, 
der  wegen  geringeren  Fehls  der  Johannitermeisterschaft  un^ 
würdig  sein  sollte.  Der  Kluge  war  klug  genug,  nicht  klug 
zu  sein.  Zwar  schickte  er  (nicht  zum  ersten  Mal)  Friedens^ 
boten;  brach  dann  aber  den  von  ihm  erbetenen  und  schrift^ 
lieh  bestätigten  Waffenstillstand.  Zwar  klagte  er,  der  allein, 

17»  259 


nach  dem  letzten  Angriff,  Grund  dazu  hatte,  nicht,  sondern 
begnügte  sich  mit  dem  Spuk  einer  Selbstanzeige;  schickte 
aber  den  Freund  vor,  der  gar  nicht  beleidigt,  nur  als  Philis 
Vertrauensmann  und  kritiklos  williger  Hof  berichtcrstatter  ge^ 
nannt  worden  war.  Was  ich  wünsche,  ist  seit  dem  Maimond 
erreicht.  Noch  immer  will  ich  die  Herren  schonen;  und  ver^ 
ziehte  vor  dem  Landgericht  am  ersten  Tag  auf  alle  aggressiven 
Beweise.  Eulenburg  schwört.  In  einem  anderen  Verfahren 
hatte  er  mit  schlau  gefugten  Worten  und  plumpen  Schimpf» 
reden  gegen  mich  seine  Richter  und  Landsleute  zu  täuschen 
versucht  und  vermocht.  Ein  Eid,  der  das  Wesentlichste  ver^ 
schwieg:  ein  Meineid.  Jetzt  trieb  Tollkühnheit  den  von  den 
alten  Feinden  aus  der  Holzpapierwelt  plötzlich  Gehätschelten 
ins  Verderben.  Einen  unter  Anerkennung  der  reinen  Motive 
verurtheilenden  Gerichtsspruch  hätte  ich  hingenommen.  Nun 
gings  nicht.  Eine  Arbeit,  die  leicht  wiegen  mag,  aber  müh^ 
sam  und  sauber  geleistet  wurde,  war  zu  vertheidigen.  Ich 
habe  den  Meineidigen  nicht  angezeigt.  Das  Ergebniß  des 
münchener  Prozesses  zwang  zur  Verhaftung  des  Fürsten.  Und 
als  beeideter  Zeuge  durfte  ich  nichts  mehr  verschweigen. 

Fürst  Philipp  zu  Eulenburg  und  Hertefeld  hat  a)  in  dem 
Strafverfahren  gegen  den  Schriftsteller  Adolf  Brand,  b)  in 
dem  zweiten  erstinstanzlichen  Verfahren  gegen  mich  wissent# 
lieh  ein  falsches  Zeugniß  mit  einem  Eide  bekräftigt;  in  dem 
Fall  sub  b  wissentlich  zum  Nachtheil  des  Angeschuldigten, 
dessen  Verurtheilung  er  herbeiführen  wollte  und  herbeige^ 
fuhrt  hat.  Beweise:  in  dem  Fall  sub  a  das  Sitzungprotokol, 

260 


das  Zeugniß  der  Prozeßbethdligten  und  der  Kriminalkom^ 
missare  von  Tresckow  und  Dr.  Kopp  (die  erweisen  werden, 
daß  der  Fiirst  wissentlich  das  Wesentlichste  verschwiegen 
und  dadurch  den  Glauben  zu  schaffen  und  durch  einen  Eid 
dem  Gericht  zu  suggeriren  versucht  hat,  seine  vita  sexualis 
sei  vollkommen  normal);  in  dem  Fall  sub  b  das  in  meiner 
Sache  von  der  Vierten  Strafkammer  verkündete  Urtheil  und 
das  Zeugniß  der  Prozeßbetheiligten  (die  erweisen  werden, 
daß  der  Fürst  jede  Geschlechtsneigung  zu  mannlichen  Per» 
sonen,  jede  mit  solchen  Personen  jemals  begangene  »Schmutzes 
rei«  [insbesondere  mutuelle  Onanie]  abgeschworen,  sich  als 
durchaus  normal  hingestellt,  also  wieder  wissentlich  einen 
£dschen  Eid  geleistet  hat).  Den  stärksten  Beweis  fiir  Art,  Um« 
fang  und  Wirkung  der  eulenburgischen  Aussage  liefert  die 
»namens  des  Fürsten«  abgegebene  Erklärung  des  Herrn 
Oberstaatsanwaltes  Dr.  Isenbiel,  der  in  öflfenthcher  Gerichts« 
Sitzung  gesagt  hat,  wer  nach  dieser  Aussage  auch  nur  noch 
den  allergeringsten  Zweifel  an  der  Normalität  des  eulen« 
burgischen  Sexuallebens  äußere,  beschuldige  den  Fürsten 
direkt  des  Meineides.  Durch  zwei  wissentlich  falsche  Eide 
hat  Fürst  Eulenburg  den  Glauben  (zu  meinem  Nachtheil) 
geschaffen,  er  habe  sich  nicht  nur  niemals  gegen  §  175  StGB 
vergangen,  sondern  auch  nie  irgendwelche  Neigung  ziun 
Sexualverkehr  mit  männlichen  Personen  gehabt.  Daß  diese 
beiden  Aussagen  wider  besseres  Wissen  dem  Gericht  vor« 
getragen  wurden,  mußte  bewiesen  werden. 

Ist  bewiesen  worden;  trotzdem  die  Hauptverhandlung  nach 

261 


dchtzehntägiger  Dauer  abgebrochen  und  ein  Halbdutzend 
der  wichtigsten  Zeugen  gar  nicht  verhört  worden  ist.  Be# 
wiesen,  daß  der  Angeklagte  den  Diener  Franz  Dandl  an 
die  Waden  gefaßt,  ihm  später  den  Arm  um  die  Schulter  ge^ 
legt  und  seine  schlanke  Schönheit  gepriesen  hat  Als  Gast 
des  Kaisers  auf  der  »Hohenzollem«  im  Sommer  1898  den 
Matrosen  Trost  in  eins  der  Gespräche  zu  ziehen  versuchte, 
mit  denen  Homosexuale  ifire  Anbändelungen  einzuleiten 
pflegen,  und  sich  dem  jungen  Mann  mit  einer  Frage  näherte, 
deren  imfläthiger  Wordaut  die  öffentliche  Wiedergabe  nach 
unserem  Strafgesetz  unmöglich  macht.  Den  Fischer  Georg 
Riedel  zu  widernatürlichem  Geschlechtsverkehr  verführt  und 
in  der  gräflichen  Wohntmg  einem  Freund  zum  gröbsten  päde^ 
rastischen  Akt  zu  verkuppeln  versucht  hat.  Mit  dem  auf  die  selbe 
Weise  umgarnten  Fischer  Jakob  Ernst  Jahre  lang  (ungefähr 
zweihundertmal)  homosexuell  verkehrte  und  oft,  in  verschieb 
denen  Städten,  unter  einer  Decke  schlief.  Das  sind  die  Haupte 
ergebnisse  der  Beweisaufnahme.  Festgestellt  ist  femer,  daß  Fürst 
Eulenbuig  dreimal  versucht  hat,  Jakob  Ernst  zum  Meineid  zu 
verleiten:  durch  einen  Brief,  den  der  Untersuchungrichter  in 
Stamberg  fmd;  durch  einen  zweiten  Brief,  den  Hofrath  Kistler 
dem  Fischer  bringen  mußte,  aber  nicht  zurücklassen  durfte ;  und 
durch  eine  Botschaft,  die  der  von  Fhilis  Gnaden  mit  zwölf  Orden 
geschmückte  Hofrath  auf  seiner  Lippe  ins  Fischerhaus  trug.  Die 
Geschworenen  kamen  nicht  zum  Spruch.  Untersuchungrichter 
und  Oberstaatsanwalt  haben  erklärt,  daß  sie  an  der  doppelten 
Schuld  des  Angeklagten  nicht  den  geringsten  Zweifel  hegen. 

262 


Weil  Eulenburg  die  Welt  seines  Empfindens,  in  der  andere 
Sitdichkeit,  Schönheit,  Tugend  gilt,  andere  Gottheit  wirkt 
als  in  unserer,  den  auf  die  Höhen  und  die  Tiefen  der  Ura^ 
niermystik  nicht  zugelassenen  Richtern  nicht  schildern  konnte 
und  doch  trachten  mußte,  die  Seltsamkeit  seines  Wesens 
irgendwie  zu  erklaren,  gab  er  sich  für  einen  Künstler,  einen 
allzu  gutmfithigen  und  allzu  enthusiastischen  Freund  aus 
(vor  Geschworenen,  wie  pfiffige  Schlauheit  empfehlen  mußte, 
auch  f^  einen  Mann  des  Volkes,  der  einem  Dorfbewohner 
im  schlichten  Rock  nie  einen  geschniegelten  Hof  herm  vor» 
gezogen  habe).  Ob  er  sich  Güte  und  Enthusiasmus  mit  Recht 
zusprach,  braucht  nicht  geprüft  zu  werden.  Der  Kranz,  den 
er  sich  in  foro  gewunden  hatte,  welkte  schnell.  Als  Land» 
gerichtsdirektor  Kanzow,  der  dem  Schwurgericht  voisaß,  den 
Angeklagten  aufforderte,  der  ausfuhrlichen  Darstellung  seiner 
Vorzüge  nun  auch  ein  offenes  Wort  über  seine  Fehler  folgen 
zu  lassen,  wurde  ihm,  zwischen  Seufzern,  nur  das  Uebermaß 
an  Gutmüthigkeit  und  Enthusiasmus  bekannt.  »Diese  Eigen» 
Schäften«,  sprach  er,  »meinte  ich  nicht;  würde  sie  auch  kaum 
zu  den  Fehlem  rechnen.  Ich  dachte,  Sie  würden  selbst  das 
Bedür&iß  haben,  über  die  Mangel  Ihrer  Wahrhaftigkeit  uns 
Etwas  zu  sagen.«  Das  härteste  Wort,  das  der  des  Meineides 
und  der  Verleitung  zum  Meineid  Angeklagte  in  achtzehn 
Verhandlungtagen  hörte.  Er  hatte  es  verdient  Von  dem  un» 
entreißbaren  Recht  des  Angeklagten,  Unwahres  auszusagen, 
gar  zu  reichlichen  Gebrauch  gemacht  Schon  als  Zeuge,  der 
doch  schwor,  die  reine  Wahrheit  zu  sagen,  nichts  zu  ver» 

263 


schweigen  und  nichts  hinzuzusetzen,  hatte  er  eine  FüUe 
wissendich  falscher  Angaben  aufgetischt.  »Der  Reichskanzler 
ist  bekanntlich  mein  Freund.  Mit  Herbert  Bismarck  war  ich 
eben  so  befreundet  wie  mit  dem  Grafen  Kuno  Moltke.  Zu 
männlichen  Personen  habe  ich  in  meinem  Leben  nie  auch 
nur  die  geringste  Geschlechtsneigung  gehabt.  Seit  ich  nicht 
mehr  Botschafter  bin,  beschäftige  ich  mich  absolut  nicht  mehr 
mit  Politik.  Mit  Herrn  Lecomte  (der  im  Lauf  eines  Jahres 
zehnmal  in  Liebenberg  war  und  den  Ftirsten  auch  in  Berlin 
sah)  habe  ich  über  den  Marokkostreit  und  über  deutschte 
französische  Friktionen  nur  ein  einziges  Mal,  bei  flüchtiger 
Begegnung  auf  der  Straße,  gesprochen.  Herrn  Harden  hätte 
ich  verklagt,  wenn  nicht  alle  Juristen,  die  ich  fragte,  mir  g^p 
sagt  hätten,  diese  Angriffe  seien  gerichtlich  nicht  faßbar.« 
Das  wurde  in  der  Hauptverhandlung  gesagt,  in  der  ich  mich 
gegen  die  Anklage,  den  (im  Kampfe  wider  den  Lieberberger 
nur  gestreiften)  Grafen  Moltke  beleidigt  zu  haben,  zu  wehren 
hatte;  und  vom  Gericht  als  ein  unantastbares  Zeugniß  hin# 
genommen.  »Die  Behauptung,  mein  Geschlechtsleben  sei 
abnorm,  hat  der  erste  Reichskanzler  aufgebracht  und  ver« 
breitet,  um  sich  daftlr  zu  rächen,  daß  ich  in  der  Zeit  des 
Konfliktes  nicht  zu  ihm  gehalten  hatte,  sondern  zu  Seiner 
Majestät.  Das  war  der  Partherpfeil.«  Der  in  Gift  getauchte 
Pfeil,  hörts,  den  der  fliehende  Bismarck  gegen  den  tugend^ 
samen  Helden  Philipp  Eulenburg  von  der  Sehne  schickte. 
Und  so  weiter.  Alles  wider  besseres  Wissen.  Alles  beschwor 
ren.  (Shakespeares  Wintermärchenszene  zwischen  dem  alten 

264 


und  dem  jungen  Schäfer.  Der  Alte:  »Sagen  magst  Dus; 
darfst  aber  nicht  schwören.«  Der  Rüpel:  »Nicht  schwören, 
da  ich  jetzt  ein  Edelmann  bin?  Bauer  oder  Bürger  mögens 
sagen;  ich  wills  beschwören.«  Der  Alte:  »Wenn  es  nun  aber 
£dsch  ist.  Junge?«  Der  Rüpel:  »Und  wenns  noch  so  falsch 
wäre,  dürfte  ein  echter  Edelmann  es,  ziun  Besten  seines 
Freundes,  beschwören.«  Das  hörte  Englands  hoher  und 
höchster  Adel  lächelnd;  der  brave  Bill,  der  dem  Haufen  nie 
eine  bittere  Wahrheit  ersparte,  war  ja  kein  Demokrat.  Heute 
weiß  jeder  Unbefangene,  daß  der  Edelmann  nicht  mit  leicht 
tcrem  Herzen  schwört  als  der  Bauer  tmd  Bürger.  Daß  der 
Adel  noch  die  Kraft  und  den  Willen  zur  Ausscheidung  un^ 
würdiger  Standesgenossen  hat.)  Von  dem  Angeklagten,  den 
keine  Schwurpflicht  schreckt,  war  also  Manches  zu  erwarten. 
Und  er  hat  nicht  enttäuscht;  hat  die  Erwartung  übertroffen. 
Gegen  die  Thatzeugen  Geoig  Riedel  und  Jakob  Ernst 
schien  nicht  viel  zu  machen.  Sie  waren  in  Mtinchen,  Berlin, 
Liebenberg,  Stambeig  und  abermals  in  München  bis  ins 
Winzigste  vernommen  und  ihre  nachprüfbaren  Angaben  beim 
Augenschein  als  richtig  befunden  worden.  Der  Untersuchung« 
richter,  Landgerichtsrath  Schmidt,  ein  gescheiter,  energischer 
und  durchaus  nicht  weltfremder  Herr,  erklärte  unter  seinem 
Eid,  er  habe  nicht  den  allergeringsten  Grund,  nach  den  aus« 
fuhrlichen  und  oft  wiederholten  Verhören  die  Glaubwürdig« 
keit  dieser  Zeugen  anzuzweifeln.  Die  Verhaftung  des  Fürsten 
habe  er,  trotz  dem  Drängen  des  Oberstaatsanwaltes,  erst  be« 
schlössen,  als  die  Zeugen  bei  der  Konfrontirung  in  Lieben« 

265 


berg  aufrecht  geblieben  waren.  »Das  Resultat  bestärkte  mich 
so  in  meiner  Ueberzeugung,  daß  ich  sofort  die  Verhaftung 
anordnete.«  Im  Fürstenschloß  liegt  der  Herr  im  Bett;  der 
preußische  Richter  kommt  mit  zwei  einfachen  Männern  aus 
Bayern :  und  das  Ergebniß  ist,  daß  die  Durchlaucht  verhaf« 
tet  wird.  Was  war  vor  dem  berliner  Schwurgericht  danach 
zu  thun?  Riedel  hat  viele  Vorstrafen;  nicht  mehr  freilich  als 
mancher  grobe,  rauflustige  Landsmann,  dem  die  Kirchweih^ 
abenteuer  bei  den  Mitbürgern  die  Achtung  nicht  schmälern, 
und  nur  eine,  die  seine  Zeugnißfahigkeit  herabsetzen  könnte. 
Der  funfrindsechzigjährige  Oberlandesgerichtsrath  Jehle,  der 
den  wilden  Georg  oft  vor  seinem  Richterstuhl  sah,  oft  stra^ 
fen  mußte  und  durch  üble  Nachrede  von  ihm  gekränkt  wor« 
den  ist,  tritt  vor  das  Gericht  und  spricht  ako:  »Riedel  ist 
streitsüchtig,  kann  Zunge  und  Faust  nicht  zügeln;  was  man 
so  ein  Rauhbein  nennt  Er  sagt  ein&ch  heraus,  was  er  denkt, 
ohne  zu  fragen,  ob  es  ihm  Nutzen  oder  Schaden  bringe. 
Gegen  seine  Ehrlichkeit  liegt  kein  Verdacht  vor.  Die  schwerste 
Strafe  bekam  er,  weil  er  mich  beleidigt  hatte.  Man  glaubte 
ihm  damals  nicht,  daß  er  das  dumme  Gerede  Anderen  nach^ 
gesprochen  habe,  sondern  nahm  an,  er  habe  es  erfunden  und 
wider  besseres  Wissen  verbreitet.  Wenn  ich  der  Verbands 
lung  beigewohnt  hätte,  wäre  es  anders  gekommen;  denn  ich 
traue  dem  Riedel  nicht  zu,  daß  er  etwas  Verleiunderisches 
erfindet«  So  spricht  ein  alter  Richter  über  den  Mann,  den 
er  oft  verurtheilt  und  der  ihm  Bestechlichkeit  nachgeschwatzt 
hat  Das  Urtheil  zweier  anderen  Richter,  Mayers  und  Schmidts, 

266 


lautet  eben  so  günstig.  Nord  und  Süd  sind  einig.  Einen  so 
stark  gestützten  Zeugen  umzuwerfen,  hofit  wohl  nur  der 
Verzweifelnde.  Riedel  hat,  weil  er  durch  Eulenburgs  Eid 
einen  Unschuldigen  geschadigt  glaubte,  die  Wahrheit  gesagt 
und  sich  selbst  dadurch  Geschäftsverlust,  Unbequemlichkeit 
und  Aerger  aller  Art  zugezogen.  Für  die  Richtigkeit  seiner 
Aussage  zeugen  innere  Gründe  mit  überwältigender  Kraft: 
was  er  bekundet,  kann  nicht  falsch  sein,  weil  nur  Einer,  ders 
erlebt  hat,  diese  Einzelheiten  anzugeben  vermochte.  Und  der 
trotzige  Grobian  läßt  nicht  ein  Wort  mehr,  als  das  Gewissen 
erlaubt,  von  der  sonst  so  flinken  Zunge  und  scheut  vor  dem 
Aergemiß  der  Selbstbelastung  nicht  zurück.  Er  ist  von  dem 
Grafen  Philipp  verfuhrt,  mit  einem  ansehnlichen  Häuflein 
Geld  beschenkt  worden  und,  trotz  naher  Aussicht  auf  noch 
höheren  Gewinn,  weggelaufen,  als  ihm  zugemuthet  ward,  in 
Eulenburgs  Wohnung  mit  dessen  feinem,  weißhäutigem  Freund 
wie  mit  dem  Weibe  der  Mann  zu  verkehren.  Daß  er  den 
Mann  kenne,  muß  Eulenburg,  dessen  Aussagen  einander  vor« 
her  widersprochen  hatten,  jetzt  ja  selbst  zugeben.  Nur:  »Mein 
Leben  war  so  reich,  so  bewegt;  da  war  dieser  Riedel  nur 
eine  vorüberhuschende  Figur,  an  die  ich  mich  kaum  noch 
erinnere.«  Natürlich  ist  nichts  Schmutziges  vorgekommen. 
Und  der  Fürst  faßt  nicht,  warum  der  Mann  ihn  belastet. 

Auch  nicht,  wie  Jakob  Ernst  zu  seiner  Aussage  gelangt 
sein  könne.  Oder  doch?  Der  getreue,  dem  hohen  Herrn  fast 
knechtisch  ergebene  Fischermeister  ist  ihm  nicht  nur  durchs 
reiche  Leben  gehuscht;  hat  ein  Vierteljahrhundert  lang  mit 

267 


ihm  verkehrt,  viele  Reisen  gemacht,  oft  das  Lager  getheilt 
und  galt  schon  in  Jehles  stamberger  Richterzeit  als  »Eulen^ 
burgs  Verhältniß«.  Gegen  Den  ist  auch  kein  Kriminalver^ 
dacht  vorzuflunkern.  Trotz  dem  Gerede  über  das  Verhaltniß 
hat  ers  zu  besonderem  Ansehen  gebracht;  und  auf  dieses 
Mannes  Verschwiegenheit  hätte  der  Fürst  (diesmal  nicht  wider 
besseres  "Wissen)  geschworen.  Der  schien  ihm  der  Treuste  der 
Treuen.  Erstens  hat  Durchlaucht  dem  Fischerjackl  Jahrzehnte 
lang  Wohlthat  erwiesen.  (Wohlthat  darf  mans  vor  einem 
deutschen  Gerichtshof  heißen,  wenn  ein  Höfling  Einem,  den 
er  listig  zur  Mutualbefriedigung  verleitet  und  in  sein  Bett 
genommen  hat,  mit  Sümmchen,  deren  Verlust  ihn  nicht 
drückt,  vorwärtshilft.  Wer  dem  verführten  Mädchen  aus 
voller  Kasse  des  Lebens  Nothdurft  bezahlt,  ward  bisher 
nicht  als  Wohlthäter  gefeiert.)  Zweitens  hat  er  ihn  in  einem 
herzlichen  Brief  gebeten,  nichts  zu  sagen,  da  »doch  Alles 
verjährt  ist«;  in  einem  Brief,  der  nach  der  landgerichtlichen 
Hauptverhandlung  in  Sachen  wider  Harden  (also  nach  dem 
Antrag,  Riedel  und  Ernst  zu  vernehmen)  geschrieben  war. 
Drittens  hat  er  ihm  den  Hofrath  Kistler  geschickt,  der  ein^ 
mal  einen  Brief  des  Fürsten  brachte  (und,  als  Jakob  ihn  ge^ 
lesen  hatte,  in  einem  vorbereiteten  Umschlag  dem  Schreiber 
zurückschickte)  und  bei  dem  anderen  Besuch  mahnte:  »Wenn 
Du  nach  Berlin  kommst,  sagst  nichts  von  den  Sachen«  (mit 
einer  Handbewegung,  die  keinem  Zweifel  ließ).  All  dieser 
Liebe  Mühen  war  nun  als  nutzlos  erwiesen?  Das  münchener 
Amtsgericht  hat  Emsts  Geständniß  »zugleich  ergreifend  und 

268 


überzeugend«  genannt  und  Oberlandesgerichtsrath  VTilhelm 
Mayer  (der  erwähnte,  das  Urtheil  sei  einstimmig  beschlossen 
und  die  Stimme  des  Vorsitzenden  zuletzt  abgegeben  worden) 
hat  vor  dem  berliner  Schwurgericht  als  beeideter  Zeuge  ge^ 
sagt,  der  Augenblick,  da  Ernst  im  Kampf  gegen  Scham  und 
Furcht  den  Muth  zur  Wahrhaftigkeit  fand,  habe  ihn  plötz^ 
lieh  an  die  Minute  erinnert,  in  der  ein  Mörder  sich,  nach 
hartnäckigem  Leugnen,  vor  ihm  endlich  zum  Schuldbekennt» 
niß  entschloß;  in  Emsts  Augen  und  Antlitz  seien  die  selben 
Vorgänge  sichtbar  geworden.  Zu  solcher  Bestimmtheit  wagt 
nur  ein  völlig  überzeugter  Richter  sich  vor.  Fiirst  Eulenburg 
aber  sagt,  Ernst  sei  in  der  münchener  Verhandlung  das  Opfer 
»geistiger  Nothzucht«  geworden;  Justizrath  Bernstein  habe 
ihm  so  zugesetzt,  daß  der  Zeuge  die  Wahrheit  widerrief.  Also, 
weil  der  Anwalt  ihn  dringend  vor  den  Folgen  des  Mein» 
eides  warnte,  rasch  einen  Meineid  leistete  und  Unwahres  be» 
schwor,  das  ihn  schwer  belastete  und  schädigte?  Das  ist  ein 
vollkommener  Unsinn.  Schon  die  innere  Wahrheit  dieser 
Zeugenaussage  mußte  jeden  Zweifel  verscheuchen.  Wie  das 
Bekenntniß  einer  Ehefrau  wars,  die  nach  langem  Sträuben, 
langem  Tasten  von  einem  ins  andere  Versteck  zugeben  muß, 
daß  der  geliebte  Mann  Schuld  auf  sich  geladen  hat.  Emsts 
Aussage  muß  wahr  sein,  weil  sie,  nach  der  Art  Ihrer  Ent» 
stehung  und  mit  der  kunstlosen  Fülle  ihrer  Details,  nicht 
unwahr  sein  kann.  Den  Anwalt  (dem  Ernst  nach  freimüthiger 
Bekundung  fröhlich  ins  Gesicht  lachen  durfte)  soll  der 
vom  Richter  geschirmte  Zeuge  mehr  gefurchtet  haben  als 

269 


seinen  Fürsten?  Wenn  er  dabei  blieb,  daß  nichts  Schmutziges 
geschehen  sei,  mußten  die  Stamberger  schweigen  und  er 
konnte  fürstlichen  Lohn  von  der  Gnade  des  Herrn  heischen* 
Er  soll  Vermögensverlust,  Schande,  Meineidsgefahr  vorge^ 
zogen  haben?  Und  die  zärtlichen  Briefe  von  Eulenburgs 
Hand,  die  bei  der  Haussuchung  gefunden  wurden?  Das 
verleitliche  Schreiben  von  den  verjährten  Sachen?  (»Der 
Ausdruck  hat  sich  nur,  ich  weiß  selbst  nicht,  wie,  hinein^ 
geschlichen«,  sagte  der  Angeklagte;  und  wähnt,  damit  das 
gröbste  Verleittmgmerkmal  weggewischt  zu  haben.)  Kistlers 
Missionen?  Ist  es  nicht  Wahnsinn,  gegen  einen  so  stark  ge^ 
panzerten  Zeugen  anzurennen?  Doch  Philipp  kennt  seinen 
Jakob.  Den  kranken,  schwerhörigen,  scheuen  Menschen, 
dem  die  Zeugenpflicht  ein  Martyrium  ist,  der  immer  noch 
der  so  lange  angestaunten  Macht  des  Herrn  zu  erliegen 
furchtet.  Den  kann  ein  schlauer  Dialektiker  am  Ende  ver^ 
wirren,  in  Wortfallen  locken,  als  einen  allzu  schweigsamen, 
zu  viel  zurückhaltenden  Zeugen  verdächtig  machen.  Nicht 
dem  Richter  von  inneren  Berufes  Gnade;  dem  kriminale 
psychologisch  unerfahrenen  Laien  vielleicht,  der  den  Schwurt 
gerichtsspruch  bestimmt.  Auf  solche  Möglichkeit  baut  der 
angeklagte  Fürst  vor  der  Zuchthauspforte  seine  Hoffnung. 

Skrupel  plagen  ihn  nicht.  In  Liebenberg  wurde  ein  Häu& 
lein  vergilbter  Homosexualliteratur  gefunden;  auf  dem  Ein^ 
Packpapier  stand,  von  Philipps  Hand  geschrieben,  der  Name 
»Graf  Edgar  Wedel«.  Ist  der  Graf,  den  die  Enthüllung  des 
in  den  Isaranlagen  und  auf  der  Sendlingerthorwache  Erlebten 

270 


das  Kammerhermamt  und  die  Dienstwohnung  im  berühmten 
Prinzessinnenpalais  gekostet  hat,  der  Besitzer  so  verdächtiger 
Waare?  Vor  dem  Untersuchungrichter  bestreitet  ers  wüthend 
(und  erzählt  im  Zorn,  Eulenburg  habe  ihm  aus  China  stam^ 
mende  Bilder,  die  päderastische  Akte  darstellen,  gezeigt  und 
verheißen).  Der  Angeklagte  wird  gefragt.  »Ja,  die  Bücher 
gehören  mir;  da  es  aber  leicht  zu  Mißdeutungen  gekommen 
wäre,  wenn  man  sie  in  meinem  Nachlaß  gefunden  hätte  (ich 
bin  ja  schon  sehr  lange  krank  und  kann  jeden  Tag  sterben), 
habe  ich  den  Namen  meines  alten  Freundes  Edgar  Wedel 
draufgeschrieben.«  »Halten  Sie  solchen  Versuch,  von  sich 
den  Verdacht  auf  einen  Anderen  abzulenken,  der  davon 
nichts  ahnt,  denn  fiir  anständig?«  »Ja. .  Ich  muß  zugeben, 
daß  es  nicht  schön  von  mir  war;  aber  Wedel  ist  Junggeselle: 
Dem  hätte  es  nicht  so  geschadet  wie  mir.«  Dem  Fürsten  zu 
Dohna^Schlobitten,  der  ihn  einen  verlogenen  Kerl  genannt 
hat,  sagt  er  nach :  »Dieser  Fürst  ist  das  Aergste  an  Neid  und 
Mißgunst,  was  mir  auf  der  Erde  je  vorgekommen  ist,  und 
außerdem  in  seinen  Urtheilen  ganz  unzuverlässig.«  Als  er 
den  Diener  Dandl  ans  Bein  faßte,  trieb  ihn  nicht  etwa  sinn^ 
liches  Wohlgefallen,  sondern  der  Wunsch,  den  schlecht  rie^ 
chenden  Mann  wegzuschieben;  als  er  ihm  später  den  Arm 
um  die  Schultern  legte  und  Dandls  schönen  Wuchs  rühmte, 
war  der  Geruch  wohl  verflogen.  Auf  der  »HohenzoUem« 
will  er,  bei  der  zotigen  Annäherung  an  den  Matrosen  Trost, 
morgens  um  zehn  Uhr  bezecht  gewesen  sein.  »Auf  Befehl 
Seiner  Majestät  gab  es  schon  morgens  an  Bord  eine  kräftige 

271 


Mahlzeit  mit  starken  Getränken;  da  mein  Magen  mir  Mäßige 
ung  im  Essen  gebot,  hielt  ich  mich  manchmal  an  die  Ge# 
tränke.«  Oberhof  marschall  Graf  August  Eulenburg  beschwört, 
daß  es  morgens  zwar,  wie  auf  allen  Schiffen,  Fleisch  und 
Fisch,  an  Getränken  aber  nur  Thee  und  Kaffee  gebe,  und  er# 
klärt  es  (nachdem  sein  Vetter  Etwas  von  Seekrankheit  und 
Portwein  gemurmelt  hat)  für  »absolut  ausgeschlossen«,  daß 
ein  vom  Kaiser  eingeladener  Herr  der  engsten  Tafelrunde 
um  zehn  Uhr  früh  nicht  mehr  nüchtern  gewesen  sein  könne. 
Der  verirrte  Geschlechtstrieb  scheut  so  ängstlich  das  Licht, 
daß  selbst  in  Polizeiakten  meist  nur  Gerüchte  sickern.  (Daß 
über  Eulenburg  seit  Jahren  solche  Gerüchte  umliefen,  hatte 
Herr  von  Tresckow  schon  vor  der  \^erten  Strafkammer  be^ 
zeugt;  sie  im  Einzelnen  wiederzugeben,  war  ihm  verboten. 
Wenn  polizeilich  notirte  Gerüchte,  die  ja  nicht  unter  den 
Biertischen  aufgelesen  sind,  einen  Bureauschreiber  oder 
Commis  unnatürlichen  Geschlechtsverkehres  beschuldigten, 
würde  der  Mann  leise  gebeten,  sich  einen  anderen  Platz  zu 
suchen.  »Ich  bedaure  Sie  und  bin  von  Ihrer  Schuld  nicht 
etwa  überzeugt;  doch  Sie  verstehen,  daß  der  Ruf  des  Hauses 
nicht  leiden  darf.«  Dem  Fürsten  und  Adlerritter  hats,  Jahre 
lang,  nicht  geschadet.)  Stellt  sich  ein  Thatzeuge  ein,  so  ists 
fast  immer  ein  Erpresser  aus  der  Lustknabenzunft.  Hier  sind 
anständige  Männer,  die  nicht  Eigennutz  zur  Aussage  drängt; 
denen  die  Zeugenpflicht  nur  Verlust  bringt.  Sind  Briefe,  die 
lauter  zeugen  als  Menschenmund,  und  erwiesene  Verleitung 
zum  Meineid.    Ein  so  lückenloser  Schuldbeweis,  wie  er  bei 


272 


nicht  eingestandenen  Kapitalverbrechen  fast  nie  möglich  ist, 
von  Gerichtshof  und  Jury  kaum  je  verlangt  wird.  Ein  Mann, 
gar  einer  von  hohem  Rang,  miede  vielleicht  den  Kampf,  den 
emiedemden  Versuch,  Unbestreitbares  mit  Wortgespinnst  zu 
umschleiem  und  das  Geständniß  einer  Verführung  und  Ge^ 
schlechtsverkehrsart  listig  zu  widerlegen,  die  diesen  Menschen 
zu  unvergeßlichen  Erlebnissen  geworden  sind.  Der  Fürst  wagt 
den  Versuch.  Er  leugnet  Alles.  Das  unterscheidet  ihn  nicht 
von  manchen  anderen  Angeklagten.  Davon  hofft  er  auch 
nichts  Rechtes.  Nichts  von  dem  schwachen  Widerhall  seines 
Leugnens,  der  die  dröhnende  Stimme  der  Wahrheit  nicht 
übertönen  kann:  nur  von  dem  besonderen  Reiz  seiner  Per^ 
sönlichkeit.  Ein  Mann,  der  aus  solcher  Höhe  stürzt,  so  reich 
begabt  ward,  der  so  angenehm  plaudert,  von  Hochmuth  so 
fem  und  dem  dunklen  Grab  jetzt  so  nah  ist .  .  • 

Frauentaktik.  »Ich  bin  vornehm,  graziös,  liebenswürdig, 
leidend;  wo  ist  der  Entmenschte,  der  ein  so  interessantes 
Wesen  verurtheilt?«  Ein  Buchstabenrichter  thäte  es  vielleicht; 
niemals  ein  Laie,  dem  des  Mitleids  holde  Stimme  ins  Ohr 
drang.  Die  schönste  Frau  hat  mit  schlauster  Kopfkissens 
koketterie  nicht  mehr  erreicht  als  dieser  Kürassier  a.  D.  mit 
seinen  Krankheitkünsten.  Aus  jeder  Lebensgefahr  rettete  er 
sich  ins  Siechenbett.  Auch  diesmal  hats  ihm  geholfen.  Ein 
des  Meineides  oder  eines  anderen  mit  Zuchthausstrafe  be«» 
drohten  Verbrechens  dringend  Verdächtiger  kommt  nach  bei 
uns  geltender  Vorschrift  in  eine  Sträflingszelle,  in  der  er,  oft 
Monate  lang,  von  der  Außenwelt  abgesperrt  ist  und  mit  ihr 

18.  III  273 


nur  durch  die  Organe  der  Gefangnißverwaltung  verkehren 
darf.  Besuche,  auch  der  nächsten  Angehörigen,  werden  sth 
ten  gestattet.  Jede  Möglichkeit  zu  unbewachten  Gesprächen 
zu  irgendeiner  Kollusion  wird  mit  dem  Aufwand  äußerster 
Sorgfalt  vereitelt.  Zwar  bestimmt  §  116  der  Strafprozeßordi« 
nung:  »Dem  Verhafteten  dürfen  nur  solche  Beschränkungen 
auferlegt  werden,  welche  zur  Sicherung  des  Zwecks  der  Haft 
oder  zur  Aufrechterhaltung  der  Ordnung  im  Gefangniß  noth^ 
wendig  sind.  Bequemlichkeiten  und  Beschäftigungen,  die 
dem  Stand  und  den  Vermögensverhältnissen  des  Verhafteten 
entsprechen  darf  er  sich  auf  seine  Kosten  verschaffen,  so  weit 
sie  mit  dem  Zweck  der  Haft  vereinbar  sind  und  weder  die 
Ordnung  im  Gefangniß  stören  noch  die  Sicherheit  gefahr^ 
den.«  Doch  solche  Erleichterungen  werden  nicht  oft  gewährt. 
Löwe  sagt:  »Ohne  Genehmigung  des  Richters  darf  der  Ver^ 
haftete  weder  Unterredungen  haben  noch  Briefe  oder  sonstige 
schriftliche  Mittheilungen  empfangen  oder  absenden  noch 
auch  sich  im  Besitz  von  Schreibmaterialien  befinden.«  Hier 
handelt  sichs  um  einen  Mann,  der  nicht  nur  der  Thatbe^ 
Standsverdunkelung  verdächtig  und  dessen  Enthaftung  des^ 
halb,  trotz  dem  Angebot  ungewöhnlich  hoher  Kaution,  von 
drei  Instanzen  verweigert  worden,  sondern  der  auch  einer 
schon  unternommenen  Kollusion  (Verleitung  zum  Meineid) 
beschuldigt  ist.  Da  würde  jeder  Wunsch  nach  Vergiinstigungen 
wohl  zehnmal  geprüft.  Doch  der  Untersuchungrichter,  der 
schon  den  Transport  des  Verhafteten  gegen  das  Sträuben  der 
Aerzte  beschließen  mußte,  will  noch  schwerere  Verantwortung^ 


274 


^^ «"  1 


last  nicht  auf  sich  nehmen.  Schickt  seinen  Häftling  drum» 
statt  ins  Gefangniß,  in  die  Charit^,  wo  sichs  gewiß  nicht  un^ 
bequemer  haust  als  in  dem  Gastzimmer  eines  Gebirgsdorfes, 
und  erlaubt  ihm,  einen  Diener  zu  halten  und  die  Seinen,  so 
oft  ers  will,  zu  sehen.  Freilich:  zwei  Kriminalschutzleute 
wachen;  sind  aber  so  lange  beim  Fiirsten,  daß  seine  bewährte 
Umgangskunst  sie  wohl  vertraulich  gemacht  hat;  und  die 
Annahme,  daß  sie  fremde  Sprachen  nicht  meistern,  kann  die 
braven  Männer  nicht  kränken.  Zwei  Monate  gehts  so;  drei 
Aerzte,  ein  Diener,  Krankenhauszucht  und  Verkehrs&eiheit. 
Konnte  irgendwo  noch  verdunkelt  werden,  so  ists  inzwischen 
geschehen:  und  der  Schwurgerichtspräsident  hat  deshalb 
keinen  Grund,  für  die  kurze  Zeit  seiner  Machtvollkommen^ 
heit  die  Privilegien  abzuschaffen.  Ihm  liegt  nur  daran,  die 
Verhandlungfahigkeit  des  Angeklagten  zu  sichern.  Der  wird 
täglich  nun  in  einem  Automobil  vors  Gerichtshaus  gefahren, 
auf  einer  Bahre  in  den  Saal  geschleppt,  in  weiche  Kissen  ge# 
bettet,  vor  und  nach  der  Verhandlung  und  während  der 
Pausen  von  seiner  Familie  umringt;  von  Familienmitgliedern, 
die  in  der  selben  Strafsache  noch  als  Zeugen  gehört  werden 
sollten.  Ein  Angeklagter,  der  unter  einer  Tag  und  Nacht 
bespähten  Glasglocke  sitzt,  von  draußen  nur  erfahrt,  was 
der  Schließer  hereinläßt,  zur  Hauptverhandlung  von  Ge^ 
richtsdienem  vorgeführt  wird  und  auf  dem  Sünderstuhl  sitzen 
muß,  darf  die  Durchlaucht  beneiden.  Dieser  Angeklagte  gab 
sich  als  einen  Schwerkranken,  der  um  keinen  Preis  aber  die 
Verhandlung  aufgeschoben  sehen,  viel  lieber  mit  dem  Au£i 

if  275 


gebot  letzter  Kraft  für  seine  Ehre  fechten  wollte:  und  die 
Aerzte  glauben  ihm.  Ein  alternder  Mann,  der  üppig  gelebt, 
vor  Jahrzehnten  schon  über  allerlei  Gesundheitstörungen  ge^ 
klagt  hat,  von  damenhafter  Empfindsamkeit  und  an  Mor^ 
phium  gewöhnt  ist,  Physis  und  Psyche  meisterlich  beherrscht 
und,  nach  dem  Spruch  dreier  Instanzen  fast  überfuhrt,  dicht 
vor  dem  Zuchthausthor  steht,  hat  immer  Grund,  über  Neu^ 
ralgie,  Hitze,  Kachexie  zu  stöhnen.  Und  die  Welt  der  psy« 
chophysischen  Möglichkeiten  ist  den  meisten  Aerzten  heute 
noch  mit  vernagelten  Brettern  gesperrt.  Jeder  Tag  brachte 
also  Bulletins,  die  manchmal,  wenn  sie  den  Heldenmuth  des 
Angeklagten  rühmten,  Plaidoyers  ähnelten;  ab  der  Tränst 
port  gefährlich  schien,  wurde  im  Charitesaal  verhandelt;  und 
schließlich  den  Geschworenen  ein  Lichtbild  des  geschwol^ 
lenen  Beines  (als  Beweismittel)  vorgelegt.  Warum?  Weil 
der  Angeklagte  im  Juli  verhandeln  und  auf  die  Krankenrolle 
doch  nicht  verzichten  wollte.  In  Amfortaspose  auf  einer  Trag« 
bahre  oder  gar  im  Bett,  aus  dem  man  sich  an  einer  Leine 
aufrichten  muß  und  in  das  der  entkräftete  Leib,  wenns  ihm 
bequem  ist,  zurücksinken  kann:  der  Stärkste  könnte  sich  in 
Schwurgerichtsnoth  nichts  Wirksameres  wünschen.  Jede  Au& 
regung,  spricht  der  Arzt,  bringt  hier  vielleicht  Lebensgefahr. 
Und  welche  Aufregung,  fragt  sich  der  Laienrichter,  wäre  wohl 
heftiger  und  ginge  tiefer  als  die  durch  unsere  Bejahung  der 
Schuldfragen  bewirkte?  Soll  der  Wahrspruch,  der  Freiheit 
und  bürgerliches  Ehrenrecht  nimmt,  den  feinen  Herrn  noch 
das  Leben  kosten?   Als  die  Verhandlung,  deren  vorbedacht 

276 


ter  Plan  dem  Druck  ärztlicher  Befehle  weichen  mußte,  zum 
zerflattemden  Zerrbild  geworden  war,  kams  noch  zu  einem 
Schlußeffekt.  Die  Vertheidiger  empfahlen  die  Vertagung, 
der  Klient  wehrte  sich  ungesttäm  gegen  jeden  Aufschub;  und 
von  seiner  Stimme  Gewalt  bebte  das  Gebälk.  Hält  ein 
Schwerkranker,  selbst  mit  der  größten  VTillenskraft,  achtzehn 
Verhandlungtage  aus,  in  denen  es  um  die  ganze  Existenz 
geht?  Weiß  ein  Doktor  der  Rechte,  der  mit  drei  Anwälten 
den  winzigsten  Schritt  besprochen,  auch  die  Vertagungmög^ 
lichkeit  erörtert  hat,  nicht,  was  ein  Angeklagter  heischen 
darf?  Nein,  flüstert  der  Fürst.  »Ich  kenne  die  Rechte  des 
Angeklagten  nicht.«  Zwei  Stunden  zuvor  hat  sein  Verthei^ 
diger  ihm  die  Wahrscheinlichkeit  des  Abbruches  angezeigt; 
und  hätte  auf  die  Frage,  ob  es  dagegen  kein  Mittel  gebe,  er^ 
widert:  »Euer  Durchlaucht  brauchen  nur  ruhig  zu  sagen,  daß 
Sie  sich  zur  Fortsetzung  fähig  fühlen;  alle  Betheiligten  wer^ 
den  solche  Versicherung  dankbar  hinnehmen.«  Statt  ruhiger 
Rede  kommt  ein  wilder  Ausbruch  (dessen  erstes  Brodeln  der 
besorgte  Arzt  von  Pflicht  wegen  ersticken  müßte):  »Das  Grab 
kann  sich  über  mir  schließen,  ehe  meine  Unschuld  erwiesen 
ist!«  Jede  Aufregung  bringt  hier  vielleicht  Lebensgefahr.  Die 
in  achtzehn  heißen  Tagen  aufgewandte  Mühe  ist  verthan. 

Ist  sies?  Der  Mann,  der,  als  Verführer  geschlechtlich  gesund 
empfindender  Jünglinge,  auch  redlichen  Homosexualen  ein 
Gräuel  sein  müßte,  hat  sich  Mitleid  erworben.  Er  wollte  zwei 
Gegner,  die  ihn,  gegen  ihr  Interesse,  doch  lange  geschont 
hatten,  mit  seinen  Meineiden  ins  Gefangniß  schwören,  zwei 

277 


Zeugen,  deren  Aussage  ihn  gefährdete,  ins  Zuchthaus  brin^ 
gen:  und  galt  nun  als  Totkranker,  den  in  der  nächsten  Stunde 
die  Sichel  aus  der  Zeitlichkeit  mähen  wird.  Erster  Vortheil. 
Der  Gesunde  wäre  am  dritten  Tag  verloren  gewesen;  der 
Kranke  konnte  sich  immer  darauf  berufen,  daß  Siechthum 
seine  Selbstvertheidigung  lähme,  und  das  Gefecht  vor  der 
letzten  Entscheidung  abbrechen.  Wer  packt  einen  martyrisch 
Leidenden  rauh  an?  Den  Zeugen,  nicht  dem  Angeklagten 
wurde  Meineid  vorgeworfen;  die  Glaubwürdigkeit  der  Zeugen, 
nicht  des  Angeklagten  wurde  mit  kränkendem  Wort  angezwei^ 
feit.  Zweiter  Vortheil.  Dritter:  Die  Möglichkeit,  ohne  ernste  Gei» 
fahrdungsich  an  die  Schwurgerichtsluft  zu  akklimatisiren.  Vier^ 
ter:  Die  Gewißheit,  fortan  die  Entwickelung  der  Sache  mitbe^ 
stimmen  zu  dürfen.  Nur  als  leidlich  Gesunder  wird  Eulenburg 
wieder  vor  die  Jury  gerufen;  nur,  wenn  er  nach  ärztlichem  Er^ 
messen  die  Hauptverhandlung  erträgt.  Dann  war  die  erste  eine 
nützliche  Generalprobe.  Dann  kennt  der  Angeklagte  die  Zeui^ 
gen,  hat  im  Krankenbett  Antworten  und  Ausflüchte  ersonnen 
und  weiß  genau,  womit  er  zu  wirken  vermag.  Nein:  nicht 
ohne  Nutzen  für  ihn  ward  der  große  Aufwand  verthan. 

Vom  Genius  hat  er  nichts;  doch  in  einem  bewegten  Dop^ 
pelleben,  dessen  Schauplätze  Kaiserpaläste  und  Fischerhütten 
waren,  die  Geschicklichkeit  des  Mannes  von  vielen  Graden 
erworben.  (Richtiger  hieße  es :  der  amoureuse,  die  mit  Szep^ 
tern  gespielt  und  sich  in  geiler  Wonne  aufs  verschwitzte  Laken 
des  Kutschers  geworfen  hat.)    Kein  Schöpfer:  ein  Mächler. 

278 


Höfling,  Magus,  Artifex  und  Lagergenosse  von  Knechten. 
In  alle  Sättel  gerecht.  Stets  auf  sichtbaren  Effekt  und  heinn» 
liches  Glück  bedacht  und  in  allen  Künsten  der  Verstellung 
zur  Meisterschaft  gereift.  Nun  sitzt  er  (oder  liegt)  vor  Leuten, 
die  ihn  nie  sahen,  in  deren  Sinnen  Name,  Rang,  Gunst  ihm 
einen  Nimbus  dichtet  und  die  nicht  ahnen,  wie  oft  er,  seit 
Dezennien,  im  Kreis  der  Standesgenossen  mit  ärgerem  Schimpf 
gezüchtigt  ward  als  in  Dohnas  und  Hochbergs  Briefen.  Was 
kann  er  ihnen  sagen?  Nichts,  was  die  Last  der  Zeugenaus^ 
sagen  zu  mindern  vermöchte.  Was  wollen  sie  von  ihm  hören? 
Wie  sein  Erleben  war  (von  dem  sie  dann  träumen  dürfen). 
Ein  leidender  Künstler,  der  sich  in  Kasemendrill,  Diplomat 
tenarbeit,  Hofdiensi  schicken  mußte.  Der  gütigste  Herr,  der, 
um  den  gemietheten  Mann  nicht  zu  demüthigen,  das  Schlaf 
Zimmer  mit  ihm  theilt;  das  Bild  eines  treuen  Dieners  in  seine 
Schreibstube  hängt  und  aus  feuchtem  Auge  betrachtet.  Der 
Enthusiast,  dessen  heiligstes  Gefühl  in  den  Koth  gezerrt  wird, 
(»Jetzt  kann  ich  Jedem  nur  rathen,  keine  Freundschaft  zu 
schließen  und  bis  in  die  Knochen  Egoist  zu  seini«)  Das  Opfer 
dunkler  Ränke.  Daß  er  in  den  Ruf  der  Homosexualität  kam, 
hat  erstens  Bismarcks  Haß,  zweitens  die  Rachsucht  der  Kle«i 
rikalen  bewirkt.  »Ich  hatte  in  München  Preußen  nicht  nur 
politisch,  sondern  auch  kirchlich  zu  vertreten.  Mein  Leben 
lang  bin  ich  ein  Verfechter  des  protestantischen,  in  Nord^ 
deutschland  wurzelnden  Kaiserthumes  gewesen.  Das  hat  mir 
namentlich  im  Süden  viele  Feinde  gemacht.  Wir  haben  nicht 
in  Berlin,  sondern  in  München  den  Nunzius  des  Papstes;  dort 

279 


sind  also  wichtige  Verhandlungen  zu  fuhren  und  ich  habe 
sie  im  Sinn  der  protestantischen,  der  norddeutschen  Kaiser^ 
reichsidee  geführt.  Dadurch  bin  ich  dem  Klerikalismus  eben 
so  wie  dem  bayerischen  Partikularismus  verhaßt  geworden. 
Vielleicht  bin  ich  jetzt  eins  der  Opfer  dieser  großen  Idee. 
Ich  will  nichts  Bestimmtes  behaupten;  aber  aus  diesem  Milieu 
heraus  könnten  so  infame  Verdächtigungen  entstanden  sein.« 
Der  Vorsitzende  unterbricht  den  Redner  mit  der  Frage,  ob 
er  glaube,  daß  solche  Strömung  den  frommen  Katholiken 
Jakob  Ernst  in  den  Meineid  getrieben  habe.  »Nein.  Das 
nicht.  Aber  der  Klerikalismus  hat  mir  nie  verziehen,  daß  ich 
ihn  mit  der  ganzen  Energie  eines  norddeutschen  Protestanten 
bekämpfte.«  Neue  Unterbrechung.  »Wollen  Sie  etwa  die 
Behauptung  aufstellen,  der  Klerikalismus  habe  die  Briefe  ver^ 
anlaßt,  die  Sie  selbst  an  Ernst  geschrieben  haben  und  aus 
denen  die  Art  Ihrer  Beziehungen  zu  diesem  Mann  hervorif 
geht?«  Schweigen.  Bayerns  Ministerpräsident  sagte,  dem  An^ 
geklagten  sei  solche  Diversion  zu  verzeihen;  Graf  Eulenburg 
habe  in  München  kirchliche  Geschäfte  von  irgendwelcher 
Bedeutung  nicht  zu  führen  gehabt  und  hätte  sich  durch  koni« 
fessionelle  Parteinahme  eines  Dienstvergehens  schuldig  ge^ 
macht;  was  er  als  Gesandter  mit  dem  Nunzius  zu  erledigen 
hatte,  war  so  unbeträchtlich,  daß  ers  einem  seiner  Räthe  über^ 
ließ.  Und  als  er,  in  seiner  ersten  münchener  Zeit,  Werthems 
Sekretär  war,  hat  er  wohl  auch  nicht  für  lutherische  Kultur 
gegen  Roms  Macht  gekämpft.  Er  lebte  in  einem  Kreis  »hoch^ 
gebildeter,«  »edel  denkender,«  »charaktervoller,«  »seltener« 

280 


Männer,  denen  »innige  Sympathie«  ihn  verband,  und  trach# 
tete  eher  nach  literarischem  als  nach  politischem  Erfolg.  Was 
ihn  beschäftigte  und  wer  ihn  in  München  hielt,  zeigt  ein  Brief 
aus  dem  Sommer  1887.  »Die  Frage  der  mir  angebotenen 
Theaterintendantur  zu  Weimar  hat  mich  eine  Zeit  lang  schwane 
kend  bewegt.  Wahrend  des  Besuches,  den  Prinz  Wilhelm  in 
Liebenberg  machte,  fand  eine  Klärung  Statt.  Das  drohende 
Gespenst  meiner  Versetzung  auf  einen  andern  diplomatischen 
Posten,  der  ich  unter  den  obwaltenden  materiellen  Verhält^ 
nissen  nicht  hätte  folgen  können,  hat  der  Prinz,  ohne  mein 
Zuthun  und  durchdrungen  davon,  daß  ich  in  München  nütz^ 
lieh  sei,  von  mir  abgewendet.  So  bleibe  ich  denn  in  Gottes 
Namen,  wo  ich  bini«  Sonst  wäre  er  Weimarer  Theaterinten^ 
dant  geworden  (und  säße  heute  dann  wohl  in  Hülsens  Loge). 
So  sehen  die  Fanatiker  des  Glaubenskampfes  nicht  aus.  Und 
wollte  der  Prinz,  der  ihn  nützlich  fand,  am  Hof  des  Prinz^ 
regenten  etwa  einen  Katholikenfeind  und  Stockpreußen  haben? 
Hätte  er  Einen  dieses  Kalibers  später  nach  Wien  geschickt? 
Thut  nichts:  die  Augenblickswirkung  ward  erreicht.  Daß  ein 
perversen  Verkehres,  ein  des  Meineids  und  der  Verleitung 
zum  Meineid  Angeschuldigter  sich  für  das  Opfer  des  pro^ 
testantischen  Reichsgedankens  ausgiebt,  ist  immerhin  neu. 

Neu  (und  nicht  gerade  würdig)  auch,  daß  ein  in  solche 
Lebensnoth  Gerathener  täglich  den  Kaiser  in  die  Erörterung 
zieht.  »Seine  Majestät  baten  mich,  kräftige  Nahrung  zu  mir 
zu  nehmen.«  »Ich  stand  Seiner  Majestät  sehr  nah.«  »Vor 
Seiner  Majestät  hatte  ich  nie  ein  Geheimniß;  auch  nicht  als 

281 


Privatmann.«  »Herr  Kistler  war  auf  allen  Nordlandreisen, 
die  ich  im  Gefolge  Seiner  Majestät  mitmachte,  bei  mir  an 
Bord.«  Und  so  weiter.  Das  ist  der  Takt  des  Günstlings,  der 
einst  schrieb,  noch  sein  letzter  Athemzug  sei  ein  Gruß  an 
Seine  Majestät.  In  einen  Brief,  der  ein  Testament  sein  sollte, 
Herrn  Kistler  zur  Uebergabe  an  den  Kaiser  anvertraut  war 
und  auf  dessen  Schutzhülle  der  junge  Sekretär  geschrieben 
hatte:  »Nach  Philipps  Tod  zu  öffiien.«  In  einen  Brief  aus 
dem  Jahr  1888.  Damals  wußte  Phili,  daß,  wann  er  auch  sterbe, 
sein  letzter  Athemzug  ein  Gruß  an  den  Kaiser  sein  werde. 
Comediante,  tragediante :  wie  es  die  Noth  der  Stunde  heischt. 


Nach  achtzehn  Sitzungtagen  mußte,  im  August  1908,  die 
Verhandlung  abgebrochen  werden.  Im  nächsten  Jahr  wurde 
der  Versuch  erneut,  die  Sache  zu  Ende  zu  fuhren.  Auf  Isen# 
biels  Prokuratorstuhl  saß  nun  Oberstaatsanwalt  Dr.  Preuß. 
Der  hatte  neue  Verleitung  zum  Meineid  festgestellt;  schien 
entschlossen,  sich  weder  durch  Rang  noch  durch  Mimenkunst 
hemmen  zu  lassen,  und  forderte  die  Wiederverhaftung  des 
Angeklagten.  Da  kam  der  »große  Anfall«.  Als  Fürst  Eulen^ 
bürg  aus  dem  Schwurgerichtssaal  getragen  wurde,  glaubten 
die  Zuschauer,  eines  Sterbenden  Antlitz  zu  sehen.  Die  dem 
Krankenwagen  nachgeschickten  Beamten  konnten  beobachten, 
daß  Philipp  in  leidlicher  Haltung  ausstieg  und  fast  ohne  Stütze 
die  Stufen  seiner  Haustreppe  erkletterte.  Vier  Jahre  lebt  er 
seitdem;  nicht  in  der  Krankenabtheilung  des  Untersuchungs^ 

282 


gefangnisses,  sondern  in  Liebenberg,  wo  von  Zeit  zu  Zeit 
eine  Aerztekommission  bescheinigen  muß,  daß  er  nicht  ver^ 
handlungfähig  ist.  Mit  Besuchern  und  in  sein  Schloß  ein^ 
quartirten  Offizieren  plaudert  er  über  Politik,  Kunst,  Tages« 
Vorgänge.  Wenns  nach  meinem  VC^en  gegangen  wäre,  hätte 
er  die  Fähmiß  des  Angeklagten  nie  kennen  gelernt.  Niemals 
habe  ich  der  Forderung  zugestimmt,  ihn  noch  einmal  vors 
Gericht  zu  zerren.  Unter  Salomos  Weisheitsprüchen  ist  dieser: 
»Freue  Dich  nicht,  wenn  Dein  Feind  fallt,  und  lasse  nicht 
über  sein  Unglück  Dein  Herz  jauchzen.«  Auch  die  strengere 
Warnung  aber,  die  Fürst  Philipp  zu  Eulenburg  im  Ueber« 
muth  des,  trotz  innerer  Schwachheit,  sich  allmächtig  und  un« 
verwundbar  Dünkenden  vergaß,  sprach  des  Predigers  Mund: 
3»Sei  nicht  ohne  festen  Grund  Zeuge  wider  Deinen  Nächsten  und 
betrüge  nicht  mit  Deiner  Lippe.  Die  Untreuen  werden  aus^ 
gerodet  und  nur  die  Gerechten  dürfen  im  Lande  wohnen.« 


283 


HAU. 


Die  Aesthetik  des  Gerichtssaales. 

Schwurgerichtssaal  in  der  Haupti»  und  Residenzstadt  Karls^ 
ruhe.  Im  Mittelpunkt  des  Bildes  die  drei  Richter.  Rechts 
der  Staatsanwalt.  Links  der  Gerichtsschreiber.  Vor  ihm  die 
zwölf  Geschworenen.  Gegenüber,  hinter  dem  Vertheidiger, 
der  Angeklagte  im  offenen  Käfig.  Zwischen  den  Bänken  der 
Jury  und  der  Vertheidigung  der  Raum  für  die  Zeugen.  Elegante 
Damen,  Offiziere,  Postbeamte,  Kutscher,  Diener;  Menschheit 
aller  Sorten  und  Lebensalter.  Psychiater,  die  den  Angeklagt 
ten  beobachtet  haben  und  sachverständig  nun  beurtheilen 
sollen,  ob  er,  »zur  Zeit  der  Begehung  der  Handlung  sich  in 
einem  Zustand  von  Bewußtlosigkeit  oder  krankhafter  Störung 
der  Geistesthätigkeit  befand,  durch  welchen  seine  freie  Willens« 
bestimmung  ausgeschlossen  war.«  Jedes  Zuschauerplätzchen 
ist  besetzt:  die  beste  Gesellschaft  der  Fächerstraßenstadt  langt 
nach  dem  Spektakel.  In  den  Gängen,  vor  dem  Justizgebäude 
drängt  sich,  wie  in  Hungersnoth  um  Brot  an  Bäckerthüren, 
seit  frühem  Morgen  schon  die  Menge.  »Dies  Wunder  wirkt 
auf  so  verschiedne  Leute  der  Dichter  nur«,  spricht  Goethes 
Schauspieldirektor.    Wirkt   öfter   noch   die    Hoffiiung,    ein 

287 


Drama  zu  sehen,  dessen  Spieler  nicht,  wenn  der  Vorhang 
zum  letzten  Mal  gefallen  ist,  die  Schminke  mit  Kakaobutter 
aus  dem  Gesicht  reiben,  nicht  das  geborgte  Kleid,  des  Königs 
oder  Bettlers,  der  Buhlerin  oder  keuschen  Braut,  ablegen 
und  hastig  ins  Alltagsgewand  schlüpfen.  Ein  Drama,  in  dem 
nicht  zum  Spaß  nur  verwundet,  getötet  wird.  Das  ist  der 
Hardtwaldstadt  beschert.  Mit  ihr  genießen  es  zwei  Welten, 
denen  alles  in  foro  Geschehende  ausfuhrlich  geschildert  wird. 
Doch  der  Bericht  wirkt  nicht  wie  Erlebniß.  Was  Protagon 
nisten  und  Nebenspieler  sprechen,  ist  mit  leidlicher  Zuver^ 
lässigkeit  wiederzugeben;  nicht  ihr  Ton,  der  Gestus,  der  die 
Rede  begleitet,  noch  der  Wesensrhythmus  der  zur  Aussage, 
zu  Frage  und  Antwort  Berufenen.  Das  gedruckte  Wort  giebt 
von  der  Persönlichkeit  nicht  einmal,  lange  nicht  so  viel  wie 
das  Grammophon;  und  wer  ein  Drama  durch  Platte  und 
Schalltrichter  kennen  lernte,  hats  nicht  erlebt.  Nur  ein 
Sinneswerkzeug  arbeitet;  die  besondere  Färbung  der  Indivi^ 
duen,  ihre  leibliche  und  seelische  Haltung,  die  zwischen 
ihnen  schwebende  Atmosphäre  (yair  ambiant)  muß  einbilde 
nerische  Kraft,  so  gut  sies  in  der  Eile  vermag,  sich  zu  er# 
ganzen  suchen.  Das  ist  kaum  möglich,  wenn  auch  die  Leit^ 
ung  durchs  Ohr  nichts  vermittelt  und  wir  nur  die  steifen, 
dürren  Buchstaben  des  Prozeßberichts  vor  uns  haben.  Drum 
ist  der  Drang  ins  Gerichtshaus  begreiflich;  ist  er  nicht  nur, 
als  Symptom  ungesunder  Neugier,  zu  tadeln,  wie  bei  uns  allzu 
oft  geschieht.  »Wieder  bestand  die  Mehrheit  der  Zuschauer 
aus  Damen  der  besten  Kreise.«    Wundem  sich  die  Gehirne 


288 


chen  darüber?  Müssen  sie  daraus  flink  auf  eine  Perversion 
des  Frauengefuhles  schließen?  Diese  feinen  Damen  erleben 
ja  nichts;  werden  in  süßer  Unwissenheit  gehalten;  sehen  von 
dem  Gehäus  der  Menschheit  nur  die  Fassade,  die  zuf  Re^ 
Präsentation  bestimmten  Räume,  Küche  und  Kleiderkammer; 
lernen  den  Mann,  den  Einen,  der  ihnen  erlaubt  ist,  oft  nur  im 
Schlafzimmer  kennen.  Hören  aber  (oder  ahnen  doch),  daß 
es  ganz  andere  Welten  und  Willenssphären  giebt:  und  grei«: 
fen  gierig  deshalb  nach  Allem,  was  sie  Menschen  menschlich 
sehen  zu  lehren  vermag.  Als  Wanderer  die  Heimstätten  und 
Höhlen  im  Menschenland  zu  betrachten.  Große  zu  belauern, 
auf  Kleine  zu  achten,  ist  ihnen  nicht  gestattet;  nicht,  bis  an  (und 
in)  die  letzten  Häuser  hinauszugehen.  Und  Ihr  staunt  zornig, 
weil  sie  vom  Roman,  vom  Theater,  vom  Gerichtssaal  Ersatz 
hoffen?  Da  öffiiet  sich  das  enge  Verließ  ihres  Erlebens;  frei 
darf  der  Blick  ins  Weite  schweifen  und,  oben  und  unten, 
entdecken,  was  irdische  Vorsehung  ihnen  mit  Nacht  und 
mit  Grauen  bedeckt  hat.  Da  hebt  der  Vorhang  sich  von 
blutrünstigen  Bildern,  von  den  ängstlich  der  Sonne  ver«: 
borgenen  Kämpfen  ums  Sein.  Da  wird  offenbar,  wie  das 
Handeln  sich  dem  Mutterschoß  des  Wollens  entbindet;  was 
der  Wille  vermag  und  wo  er  splitternd  zerbricht.  Staunt 
nicht  noch  scheltet  die  feinen  Damen,  die  nach  einem  Stücke 
chen  Leben  dürstet.  Die  gerühmte  Oeffentlichkeit  unseres 
Gerichtsverfahrens  ist  eng  genug  beschränkt.  Keine  Agora, 
kein  Forum,  auf  dem,  unter  hellem,  offenem  Himmel,  ein  Volk 
athmen  kann.    Wenn  das  Reporterheer  sein  Lager  bezogen 

19.  III  289 


hat,  bleiben  in  unseren  Gerichtssälen  nur  ein  paar  Plätze. 
Klagt  nicht  darüber,  daß  sie  von  Denen  gesucht  werden,  die 
vom  Leben  abgesperrt,  vor  seinen  Pfeilen  und  Schleudern 
durch  Eure  schwachgemuthe  Muhmenweisheit  bewahrt  sind. 
Sucht  nach  Sensationen,  sagt  Ihr;  und  hättet  Recht,  wenn 
zu  dem  täglich  thöricht  mißbrauchten  Ekelwort  sich  ein 
klarer  Begriff  einstellte.  Sucht  nach  ungewöhnlichem  Er^ 
lebniß,  das  den  Blutumlauf  schleunigt  und  an  den  Nerven«: 
strängen  rüttelt.  Was  blieb  denn  der  turba,  dem  wimmeln^ 
den  Haufen  der  Mühsäligen,  die  nicht  die  Geschäfte  des 
Staates  und  der  großen  Organisation  leiten?  Ein  Tag  schleicht 
wie  der  andere  hin.  An  der  Maschine,  am  Kochherd,  am 
Kinderbett  stehen;  ein  GerätHstheilchen  fertigen,  immer  eins 
von  der  selben  Form,  oder  nach  dem  selben  Schema  Knaben 
und  Mädchen  lehren;  Schmutz  wegfegen  oder  Akten  schrei« 
ben;  das  Land  bestellen;  Waaren  einhandeln  und  verkaufen; 
Werdende  und  Erwachsene  in  entgötterte  Heiligthümer  ein« 
fuhren.  Von  Abstraktionen  wird  auch  der  Magen  der  Masse 
nicht  satt;  er  läßt  sie  sich  vielleicht,  wenn  sie  von  einer 
»Autorität«  vorgeschrieben  sind,  gefallen,  weiß  aber  eben  so 
wenig  damit  anzufangen  wie  mit  den  Schwarzküchenpräpa« 
raten,  die  ihm  natürliche  Nahrung  ersetzen  sollen  und  für 
die  Saftbildung  und  Darmanregung  doch  nichts  leisten.  Was 
bleibt?  Bunt  gewebte  Romane  und  die  Zeitung  mit  ihrem  Lärm ; 
Szene  und  Tribunal;  Sport  und  Spiel.  Gladiatorenkämpfe 
und  Stiergefechte  sind  in  unserem  Norden  nicht  erlaubt; 
nicht  einmal  das  Lotto  ists,  von  dessen  Gewinn  die  Gier  sich 


290 


<  f- 


im  dunklen  VC^nkel  künftige  Herrlichkeit  erträumen  könnte. 
Ringkämpfe,  Pferderennen,  Gipfelskandale  und  Mordprozesse 
bieten  immerhin  noch  den  besten  Ersatz.  Sind  die  piacula 
der  Christenheit.  Auch  in  Rom  stellten  die  Damen  zu  den 
Sühnfesten  das  stärkste  Kontingent.  Wenn  der  pollex  des 
Imperators  über  Leben  und  Tod  eines  niedergerungenen 
Sklaven  entschied,  gings,  wie  ein  vielstimmiger  Brunstschrei, 
im  schrillsten  Sopran  durch  den  Cirkus.  Als  Nero,  um 
einen  Juliabend  zu  wärmen,  die  Stadt  der  großen  Julier  an^ 
gesteckt  und  im  Schutt  ein  neues  Volksvergnügen  gefunden 
hatte,  scheuten  die  vornehmsten  Frauen  nicht  das  Gedräng 
der  Martyrspiele.  Im  Haus  sahen  und  hörten  sie  wenig. 
Draußen  loderten  Lebende  Fackeln;  wurden  Menschenleiber 
von  der  Pranke  wilder  Thiere  zerfetzt;  erfuhr  die  geputzte, 
gesalbte  domina,  wie  weit  der  Wille  die  Grenze  der  Kraft 
vorrücken  kann.  Alle  drängten  sich  zum  ludus  matutinus 
und  waren  abends  pünktlich  wieder  bereit,  wenn  die  in  Fett 
getränkten  Körper  der  Verbrecher  angezündet  wurden  und 
die  Gluth  den  Obelisken  von  Heliopolis  bestrahlte  (»Warum 
nicht?  Es  sind  ja  Ketzer,  die  man  brennen  sieht,«  sagt  noch 
Schillers  sanfte  Mondecar  in  skrupelloser  Freude  auf  das 
versprochene  Auto  da  F6.)  Daß  Nero  den  actus  fidei  zur 
Theatervorstellung  machte,  den  auf  dem  Oeta  in  Flammen 
verröchelnden  Herakles,  den  vom  Bären  zerstückten  Orpheus, 
die  vom  geilen  Stier  besudelte  Pasiphae  darstellen  und  die 
Spieler  in  ihrer  MimusroUe  sterben  ließ,  steigerte  die  Attrak^ 
tion.  An  ders  aber  auch  sonst  nicht  gefehlt  hätte.   Hier  sah 

!»•  291 


man  Menschen  im  furchtbarsten  Drang.  Das  Aufbäumen 
und  das  Verglimmen  der  Lebenskraft.  Nackte  Christen^ 
madchen,  die  mit  den  Haarsträhnen  an  die  Homer  wüthen^ 
der  Stiere  gefesselt  waren  und  durch  den  sonnigen  Cirkus 
der  Kaligula  und  Klaudius  geschleift,  auf  den  Fliesen  ge^ 
schändet,  entfleischt,  zu  blutigem  Brei  zerstampft  wiurden. 
Zwischen  Vestalinnen  und  hohen  Beamten  thronte,  auf  dem 
Podium,  der  kurzsichtige  Kaiser  und  betrachtete  durch  den 
konkav  geschliffenen  Smaragd,  der  ihm  als  Opernglas  diente, 
das  von  seiner  Kunst  inszenirte  piaculum.  »Ein  feiger  Kerl, 
der  so  winseltl«  »Die  Schlanke  da  hält  sich  wackerl«  »Brüste 
chen  wie  Niobes  Jüngste  I«  Richter  und  Gutachter  in  einer 
Person.  Auch  Henker.  Im  Fell  eines  Tigers  oder  Bären 
(Sueton  erzählts)  hat  er  den  Kitzel  am  Leib  reiner  Jungfrauen 
und  Jünglinge  gestillt,  die  dann  am  Pfahl  verkohlten.  Der 
letzte  Schleier  riß  und  am  zuckenden  Körper  des  Menschen^ 
gethieres  wurden  die  grausigsten  Wundmale  sichtbar.  Wenn 
Blandina  am  Kreuz  mit  verzücktem  Blick  das  Haupt  himmelan 
hob,  wenn  Perpetua,  um  sich  den  heidnischen  Gaffern  stände 
haft  zu  zeigen,  in  der  Arena  das  von  den  Bestien  gezauste 
Haar  mit  ruhiger  Hand  entwirrte  und  knotete,  empfmd 
Jeder,  welche  Widerstandsgewalt  starker  Glaube  dem  zer» 
brechlichsten  Gefäß  zu  leihen  vermag.  Jeder,  wie  klein  in 
Lebensnoth  der  Mensch  wird,  wenn  ein  stämmiger  Christ 
beim  ersten  Laut  des  ThiergebrüUes  schneebleich  an  seinem 
Pfahl  schrumpfte,  wie  eine  Schnecke  unter  der  tastenden  Ruthe. 
Der  Reiz  der  Schamhaftigkeit  ward  entdeckt;  nicht  an  üppig 

292 


-^r 


prangender,  fröhlich  stets  zur  Hingabe  bereiter  Schönheit  wei^ 
dete  nun  sich  das  Auge :  auch  an  keuscher  Kargheit,  die  vom 
Strahl  aus  dem  Gesichtsbom  sich  schon  entweiht  fühlt.  Zum 
ersten  Mal  drohte  Aphroditens  lichtem  Altar  die  Vereinsamung. 
Und  nur  eine  Würze  fehlte  dem  Mahl.  Die  Menschen,  die 
man  martern,  zerfleischen,  verbrennen,  zertreten  sah,  kamen 
aus  der  Unterschicht  römischen  Lebens;  waren  der  noblen 
Gesellschaft  so  fremd  wie  der  londoner  society  die  Ostend«: 
armen,  die  man  vom  Roß  oder  Wagen  aus  wohl  an  den 
Straßenecken  betteln  sieht,  deren  Hand  kein  Sauberer  aber 
je  gedrückt  hat.  »Humiliores  bestiis  objiciuntur  vel  vivi  exu^ 
runtur;  honestiores  capite  puniuntur.«  So  wollte  es  der 
Brauch.  Was  da  verreckt  und  verprasselt,  ist  nicht  unser 
Fleisch  und  Blut.  Erst  wenn  man  den  Nächsten,  das  Ebenbild 
eigenen  Wesens,  in  Martern  erblickt,  wird  das  Gefühl  wach, 
das  an  der  delphischen  Pforte  dem  Waller  rieth,  sich  selbst 
zu  schauen,  in  Andacht  des  Wesens  Kern  zu  erkennen. 

So  empfanden,  in  der  Welt  westlicher  Herrenvölker,  die 
Alten  nicht  oft;  deutlich  vielleicht  nur,  weim  eines  Tragikers 
Stimme  zur  Reinigimg  gerufen  hatte.  Zwar  walteten  über 
Allen  die  selben  Götter.  Die  ließen  aber  mit  sich  reden. 
Wenn  die  großen  Diebe  wie  die  kleinen  behandelt  worden 
waren,  hätte  Demosthenes  die  athenischen  Männer  nicht  so 
fiberlaut  vor  der  Schmach  gewissenlosser  Rechtsbeugung  ge^ 
warnt.  Pflicht  zur  Gerechtigkeit?  Kinderei.  Der  vornehme 
Hellene  und  Römer  brauchte  die  Wahrheit,  daß  Recht  ein 
Kraftbegriff  ist,  nicht  hinter  die  Prunkperioden  heuchelnder 

293 


Rede  zu  bergen.  »L  amour  de  la  justice  n*est  en  la  plupart 
des  hommes  que  la  crainte  de  souSrir  Tinjustice«,  schrieb 
La  Rochefoucauld  in  sein  Notizbuch.  Wer  sich  stark  (uhlt 
und  die  Rache  der  Rechtsgenossen  nicht  furchtet,  giebt  die 
Gerechtigkeit  billig  in  Kauf.  Ihm  kann  nichts  geschehen; 
und  dafür,  daß  unten  kein  Bruch  des  Besitzrechtes  unge^ 
sühnt  bleibe,  sorgt  schon  das  Sicherungbedürfhiß  der  herr« 
sehenden  Klasse.  Die  ins  Dickicht  der  Rechtshändel  ge^: 
rathen  und  vom  Schwert  der  Dike  bedroht  werden,  sind  aus 
anderem  Stoffe;  sind  eben  humiliores.  Leise  nur  regt  beim 
Anblick  ihrer  Bedrängniß  sich  Mitleid  und  Furcht.  Den  Sinn 
des  Vedenwortes  Tat  Twam  Asi  hätte  im  alten  Athen  und 
Rom  kein  Mächtiger  verstanden.  Dieses  bist  Du?  Dieser 
Wurm,  der  im  Staub  kriecht  und  sich  vor  jedem  Fuß,  jedem 
Wurzelknubben  furchtsam  wegkrümmen  muß,  soll  ich  sein? 
Heute  noch,  auf  unserem  mit  Weisheit  des  Ostens  gedüngten 
Boden,  will  die  Formel  des  Veda  nicht  gedeihen.  »Wer  sie 
mit  klarer  Erkenntniß  über  jedes  Wesen,  mit  dem  er  in  Be^ 
rührung  kommt,  zu  sich  selber  auszusprechen  vermag.  Der 
ist  eben  damit  aller  Tugend  und  Seligkeit  gewiß  und  auf 
dem  graden  Wege  zur  Erlösung.«  Schopenhauer  schwärmt 
so.  Doch  nur  Wenige  wagten,  den  Weg  zu  beschreiten  (und 
der  Führer  selbst  bog  jäh  ab,  wenn  er  rechts  oder  links 
einen  Fhilosophieprofessor  sah).  Selten  schlägt  beim  Anblick 
leidender,  verrirrter  Kreatur  Einer  an  seine  Brust  und  spricht 
zu  sich:  Dieses  bist  Du;  so  konntest  auch  Du  Dich  verstricken 
und  straucheln.    Der  Prozeßbericht  lehrts  ihn.   Wenn  Einer 


294 


aus  seiner  Schicht  auf  die  Bank  der  Angeklagten  kommt, 
lernt  der  sonst  Kühlste  zittern  und  bangen.  Rinaldo  und 
Schinderhannes:  spannende  Räubergeschichten.  Die  Haupte 
Verhandlung  gegen  einen  leidlich  gebildeten,  im  Wohlstand 
aufgewachsenen  Mann,  eine  im  Salon  heimische  Dame:  Er^ 
lebniß.  Wie  sieht  er  aus,  dem  Monate  lang  schon  alle  Kul^ 
turgüter  entzogen  sind,  die  winzigsten  selbst?  Wie  trug  er 
die  Einsamkeit  und  den  Schandruf?  Lahmt  sein  Muth  oder 
nimmt  ein  Unbeugsamer  den  Kampf  auf?  Mit  welchen 
Waffen  ficht  er?  Mit  welcher  Finte  weicht  er  dem  Angriff 
aus?  Sieh  ihn  genau  an,  horche  auf  ihn  und  präge  Dir  seine 
Taktik  ein.  Für  alle  Fälle.  Er  lebt  in  Deiner  Luft.  Was  ihm 
dräut,  kann  auch  Dir  eines  Tages  Verhängniß  werden. 

In  Neros  Cirkus  wurde  der  Reiz  der  Schamhafitigkeit  tnU 
deckt;  aus  blutigen  Wehen  die  Christenästhetik  geboren.  In  den 
Arenen  unserer  Gerichtshäuser  blickt  der  Kruzifixus  auf  die 
Rückkehr  zur  Menschenwerthschätzung  der  Heidenheit  herab. 
Schnell  entchristlicht  sich  da  das  Gefühl;  wie  im  Krieg  und 
auf  der  Jagd,  wie  überall,  wo  mit  evangelischer  Tugend 
nichts  zu  erreichen  ist.  Ein  reuiger,  auf  der  Sünderbank 
schluchzender  Angeklagter  rührt  die  Herzen  wohl  ein  kleines 
Weilchen;  hat  aber  bald  verspielt.  Ein  Schacher.  Warum 
blieb  er  nicht  auf  der  Heerstraße,  da  in  der  Einsamkeit, 
noch  hinter  den  Kotterstäben,  vor  der  rächenden  Macht  der 
Gesellschaft  ihm  nun  bang  wird,  deren  Rechtstafel  er  fre^ 
velnd  brach?  Wer  nicht  bereit  ist,  ohne  Wank  seine  Thaten 
auf  der  Wage  der  Themis  gewogen  zu  sehen,  soll  sich  ins 

295 


Mittelmaß  ducken  und  dankbar  die  Glücksbrosamen  him 
nehmen,  die  ihm  die  Uranostochter  aus  ihrem  Füllhorn 
spendet.  Wer  den  gesetzlich  erlaubten  Pfad  verlassen  hat, 
soll  kräftig  und  listig  sein;  oder  solls  bis  ans  bittere  Ende 
wenigstens  scheinen.  Ein  guter  Kerl?  Sein  Platz  war  im 
Bürgerwinkel;  die  Prangergefahr  mußte  der  Schwächling 
meiden.  »Fair  is  foul  and  foul  is  &ir« :  vor  und  nach  jedem  Ver«: 
brechen  summts  die  Hexenzunft  durch  den  Nebel.  Alles, 
was  an  offizieller  Frommheit  sonst  gepriesen  wird,  verliert 
dann  die  Geltung.  Sei  an  Listen  reich,  Mann;  verrathe  Dich 
nicht  noch  lasse  Dich  je  erwischen;  und  zwinge  die  Nerven 
zu  Ruhe:  so  nur  wollen  wir  Dich.  Lächle  oder  tobe,  verstelle 
Dein  Wesen  oder  zeige  dreist  die  zottige  Brust  des  wilden 
Affensprossen,  falte  die  Hände  oder  brülle  den  Richtern  die 
Wuth  Eines,  dem  ihre  Rechtsordnung  nie  Anderes  als  eine 
ins  reife  Aehrenfeld  gestellte  Spatzenscheuche  schien,  ins  ver«: 
dutzte  Gesicht:  nur  hüte  Dich,  aus  der  Rolle  zu  fallen.  Edle 
Züge  sind  Dir  nicht  verboten.  Werden  sogar  verlangt.  Du 
sollst  Mitschuldige  schonen,  darfst  den  Begünstiger  Deiner 
That,  Deiner  Flucht  nicht  verrathen,  mußt  alles  Mögliche 
thun,  um  für  die  Deinen  vorzusorgen.  (Der  Verurtheilte, 
der,  um  seiner  Frau  eine  Rente  zu  sichern,  den  letzten  Hauch 
von  einer  Reklameagentur  miethen  ließ  und  auf  der  Richte 
Stätte,  fast  schon  unterm  Beil,  der  hundertköpfigen  Menge 
zurief:  »Die  beste  Chokolade  giebts  bei  SandersonI«:  Der 
war  auf  seine  Weise  ein  Held.)  Ins  Unmännliche  darf  Dein 
Edebinn  nicht  abgleiten;  der  Seilläufer,  der  die  Banlancir^ 

296 


Stange  auf  seinem  Handteller  tanzen  ließ,  nicht  plötlich  zur 
Memme  werden.  Schuld  oder  Unschuld?  Schemen  aus  dem 
Wolkenreich  blutloser  Begriffe.  Manche  Schuld  wird  hie^ 
nieden  nicht  gesiihnt;  wir  Wissens  und  sind  zufrieden,  wenn 
der  hurtige  Kopf  sich  der  Schlinge  entwindet.  Nicht  jedes 
Sühnfest  freut  uns:  nur  eins,  bei  dem  das  Opfer  erst  mit 
dem  Athem  die  Fassung  verliert.  Der  bußfertig  schlotternde 
Angeklagte  wirkt  schäbig:  ein  Eber,  der,  statt  die  Hauer  zu 
wetzen  und  den  Feind  anzunehmen,  sich  aufr  Flennen  legt. 
Rechtsanwalt  Karl  Hau  aus  Gro&Littgen,  den  das  karls^ 
ruher  Schwurgericht,  als  den  Mörder  seiner  Schwiegermutter, 
zum  Tode  verurtheilt  hat,  war  in  einer  anständigen  Bürgern 
Stube  aufgewachsen,  hatte  Mancherlei  gelernt  und  an  der 
Schwelle  des  Mannesalters  schon  Etwas  aus  sich  gemacht. 
Auf  dem  harten  Sitz  des  Angeklagten  hatte  er  das  Gewand 
und  die  gelassene  Ruhe  des  Gentleman.  Große  Augen  in 
einem  blassen,  bartlosen,  beinahe  noch  knabenhaften  Gesicht. 
Der  langbeinige,  schlanke  Rumpf  geschmeidig  wie  eines  Renn^ 
pferdes  vor  dem  Entscheidunglauf.  Tage  lang  stand  er  am 
Ffüil.  Wurde  mit  Fragen  bestürmt.  Sollte  sein  Thun  er^ 
klären,  Räthsel  lösen,  fiir  sein  junges  Leben  fechten.  Gab 
sich  aber  nicht  dazu  her.  Blieb  ruhig,  höflich,  taktvoll;  im 
ärgsten  Gedräng.  Wog  die  Tragweite  jedes  Wortes  und  war 
weder  durch  Furcht  noch  durch  Hoffiiung  aus  der  bedachte 
sam  gewählten  strategischen  Stellung  zu  locken.  Bis  in  die 
letzte  Stunde  hinein  der  klügste  Mann  im  Saal.  Einer,  der 
sich  mit  seiner  Klugheit  nicht  brüstet.    Nicht  posirt.  Sich 

297 


nicht  vordrängt.  Die  Bruchstellen  in  den  Grundmauern  der 
Anklage  nicht  aufdeckt.  Nur  redet,  wenn  er  gefragt  ward; 
und  den  meisten  Fragen  die  Antwort  weigert.  Ein  Muster 
der  Selbstzucht.  Ob  die  Zeugen  ihn  ein  Genie  oder  einen 
Hochstapler  nennen,  als  Märtyrer  oder  Mörder  behandeln: 
keine  Schwachheit  wandelt  ihn  an.  Nie  versucht  er,  auf  das 
Gefühl  seiner  Richter  zu  wirken,  um  ihr  Mitleid  zu  werben. 
Wenn  er  spricht,  über  die  Krisis  seines  Schicksals,  über  die 
Absolution,  die  er  vom  Priester  im  Untersuchungsgefimgniß 
empfing,  über  den  Selbstmord  seiner  Frau:  immer  ists,  als 
habe  er  vorher  jede  Silbe  in  Eis  gekühlt.  Er  klagt  nicht; 
trotzdem  Staatsanwalt  und  Gerichtspräsident  ihm  Grund  ge^ 
nug  bieten.  Wozu?  »Ich  habe  nicht  auf  meine  Schwieger^ 
mutter  geschossen,  sehe  aber  ein,  daß  der  Schein  wider  mich 
zeugt.«  Das  war  ihm  fast  schon  zu  viel.  Nicht  ein  Laut, 
der  einer  Bitte  ähnelt.  Der  ganze  Mensch  aus  einem  Stück. 
Drum  wird  er  bewundert.  Drum  drängen  Tausende  in  den 
Saal:  zu  sehen,  ob  auch  die  nächsten  Speerstöße  vom  Erz 
dieser  Wesensrüstung  abprallen  werden.  In  Friedrichs  stiller 
Residenzstadt  kommts  zu  Straßentumulten,  weil  die  kühle 
Ueberlegenheit  des  Angeklagten  den  Kleinbürgersinn  in  hero^ 
worship  getrieben  hat.  Und  Millionen  harren,  am  Meer,  im 
Gebirg,  an  der  Heilung  verheißenden  Quelle,  des  Urtheils, 
als  gölte  es  einem  geliebten  Haupt.  Schuldig  oder  Unschuld» 
dig?  Kaum  taucht  die  Frage  noch  aus  der  Weißgluth  der 
Ungeduld.  Wit  im  Diesseits  von  Gut  und  Böse,  wünscht 
Alles  dem  Starken  den  Sieg.  Zeus  ist  erstanden. 

298 


■'  /. 


Indicia. 
So  wars  am  ersten  Tag  nicht  gewesen.  Auf  dem  Gerichts^ 
tisch  stand  ein  Glas,  in  dessen  heller  Flüssigkeit  ein  dunkles 
Knäuel  zu  schwimmen  schien.  Aller  Augen  haften  an  der 
diaphanen  Wand  des  Gefäßes;  und  wenn  die  Hand  eines 
Arztes  oder  Richters  das  Glas  streift,  gehts  wie  frommes 
Schaudern  durch  die  Reihen.  Als  hebe  auf  dem  waldigen 
Berg  der  Templeisen  unsichtbare  Kraft  den  Gral  hoch  ins 
Gewölb.  Doch  der  dunkle  Fleck  ist  nicht  ein  Gerinnsel  vom 
sanguis  realis  des  Galiläers,  das  Glas  kein  Kultgeräth:  in 
Spiritus  bewahrt  es  das  Herz,  das  Karl  Hau  durchschossen 
haben  soll.  Das  Herz  der  Frau,  deren  Tochter  er  entfuhrt 
und  zur  Ehe  genommen  hat.  Blutet  es  nicht,  da  der  Mörder 
so  nah  ist?  Zuckt  nicht,  wie  in  Krämpfen,  noch  einmal  der 
Muskel?  »Der  Mensch  weiß  niemals,  wie  anthropomor^ 
phistisch  er  ist«,  spricht  Goethe.  Das  Klümpchen  wird  zum 
beseelten  Wesen,  zum  unsterblichen  Mutterherzen  der  Le^ 
gende;  und  wie  grasse  Anklage  dröhnts  aus  dem  blinkenden 
Behälter.  »Mein  Kind  hast  Du  bethört,  nahmst  es  mir,  woll# 
test  mit  ihm  in  den  Tod,  hattest  aber,  als  Du  den  jungen 
Frauenleib  bluten  sähest,  nicht  den  Muth,  gegen  die  eigene 
Brust  die  Waffe  zu  kehren.  Leichtfertig  also  mit  fremdem  Leben 
und  obendrein  feig.  Leichtfertig  auch  in  Deinen  Geschlechts^ 
Sitten.  Ein  Schürzenjäger.  Ein  Freund  feiler  Weiber.  Ein 
Prahlhans.  Und  ein  siecher,  im  Brennpunkt  der  Zeugen« 
kraft  vergifteter  Mann.  Was  gabst  Du  Deiner  Frau?  Elend 
und   Lebensgefahr   lauerte   auf  der   Schwelle   ihrer  Braute 

299 


kammer.  Dann,  als  Dein  scharfer  Verstand  und  Deine  Ge^ 
schmeidigkeit  in  der  Neuen  Welt  Dir  zu  reichlichem  Ein^ 
kommen  verholfen  hatte»  gabst  Du  ihr  Luxus,  Edelsteine, 
den  erkauften  Tand  eines  Ordens.  Glück?  Eifersucht  zehrte 
an  ihr:  und  Du  warst  schuld.  Auf  die  heißen  Freuden  der 
Weibheit  und  neuer  Mutterschaft  mußte  sie  früh  verzichten : 
und  Du  warst  schuld.  Ihr  Kind  sah  sie  als  hageren  Schwäche 
ling  hinkümmem:  und  Du  warst  schuld.  Hast  sie  mit  Dei# 
nem  Flatterdrang,  Deinem  Trug,  Deinem  Mordgeruch  ins 
Wasser  getrieben.  Nachdem  sie  durch  Dich  zur  Waise  ge^ 
worden  war.  Wenn  das  Opfer  Dir  den  Mord  verziehe:  kann 
die  Mutter  verzeihen,  was  Du  an  Kind  und  Kindeskind  ihr 
gethan  hast?«  Präsident,  Staatsanwalt,  Geschworene  brauche 
ten  den  Mund  nicht  zu  öffiien.  Das  durchschossene  Herz 
vertrat  die  Anklage  mit  so  ungeheurer.  Wucht,  daß  kein 
Entlastungbeweis  dagegen  aufkommen  konnte.  Dramatis 
personae  schienen  nur  dieser  Ankläger  und  der  des  Mordes 
Verdachtige.  Und  jeder  Blick,  der  sich  feucht  von  dem  fun^ 
kelnden  Glas  löste,  sprach  den  Angeklagten  schuldig. 

Am  sechsten  November  1906  ist  Frau  Molitor,  die  reiche 
Witwe  eines  Medizinalrathes,  in  Baden-Baden  getötet  wor- 
den. Auf  offener  Straße,  als  sie,  bei  sinkender  Nacht,  mit 
ihrer  unverheiratheten  Tochter  Olga  nach  dem  Postamt  ging. 
Zu  diesem  Gang  war  sie  genöthigt  worden.  Ein  paar  Tage 
vorher  hatte  ein  Telegramm  sie  in  ungewohnter  Hast  nach 
Paris  gerufen,  wo  Karl  Hau  sich  mit  seiner  Frau  und  seiner 
Schwägerin  Olga  aufhielt.    Da  die  Drei   nichts  von  dem 

300 


Telegramm  wußten,  wurde  die  Postbehörde  aufgefordert» 
dem  Absender  nachzuforschen;  und  am  sechsten  November 
ersuchte  der  zuständige  Beamte  Frau  Molitor  telephonisch, 
zu  ihm  zu  kommen,  damit  er  ihr  über  das  Ergebniß  der  Re^ 
cherchen  berichten  könne.  Ob  es  durchaus  noch  heute  sein 
müsse.  Heute  noch.  Die  Witwe  macht  sich  auf,  holt  ihre 
Olga  von  einem  Vesperthee:  und  kehrt  nicht  mehr  heim. 
Nie  hat  Feindschaft  der  stillen  Frau  nach  dem  Leben 
getrachtet.  Beute  war  von  diesem  Leichnam  nicht  zu  er^ 
raffen.  Cui  bono?  Die  Frage  des  Lucius  Cassius  Longinus 
Ravilla  klingt  auf  jeder  Mordstatte  dem  Kriminalisten  ins 
Ohr.  Wem  nützt  dieser  Tod?  Wer  hat  ein  Interesse  daran, 
das  natürliche  Ende  dieses  Lebens  nicht  abzuwarten?  Einer, 
der  seinen  Erbtheil  gerade  jetzt  brauchte.  Doch  in  der  guten 
Gesellschaft  treibt  solches  Motiv  nicht  zum  Mord.  Und  die 
Hinterbliebenen  sind  hier  rangirte  Leute  von  bestem  Ruf. 
Alle?  Um  Linas  Mann  ist  ein  Duft  von  Abenteuerlichkeit. 
Rheinlander,  aus  der  trierer  Gegend,  aber  drüben  völlig 
amerikanisirt.  Ein  höllisch  geriebener  Herr  soll  er  sein.  Und 
steinreich.  Manchmal,  sagt  Einer;  dann  wieder  ohne  das  für 
die  nächste  Mahlzeit  nödiige  Geld;  wie  es  im  Yankeeland 
solchen  Spekulanten  eben  geht.  Was  treibt  er  da  eigentlich? 
Geschäfte  aller  Sorten.  Bitte:  er  ist  Professor  1  Nein:  Advo^ 
kat.  Auch  nicht:  Agent.  Jedenfalls  hat  er  im  Lauf  der  Zeit 
viel  Geld  zusammengeschlagen.  Und  ausgegeben.  Tolle  Ver< 
schwendungsucht.  Die  Frau  mit  Brillanten  behängt.  Er  selbst 
wie  ein  Nabob;  die  theuersten  Hotels.  Stünde  bei  uns  längst 

301 


unter  Kuratel.  Und  pendelt  immer  zwischen  Sandy  Hook 
und  dem  Bosporus  hin  und  her.  Soll  der  Lina  ja  vom  Tür^ 
kensultan  einen  hohen  Orden  mitgebracht  haben.  Wers 
glaubt,  wird  selig.  Das  glitzernde  Ding  hat  ihm  irgendein 
bestochener  Pascha  zugeschmuggelt.  Ging  nicht  auch  einmal 
von  heimlicher  Entfuhrung  die  Rede?  Richtig:  die  alte 
Molitor  hat  dem  Paar  erst  ihren  Segen  gegeben,  als  sie  nicht 
anders  konnte.  Und  im  Engeren  wurde  damals  sogar  von 
Selbstmordversuchen  gewispert.  Dieser  falsche  Amerikaner 
ist  ein  höchst  unsicherer  Kantonist,  dem  man  nicht  über  den 
Weg  trauen  darf.  Freilich:  ein  Mord!  Wie  groß  ist  denn 
sein  Erbtheil?  Lina  hat  funfundsechzigtausend  Mark  Mitgift 
bekommen;  blieben  jetzt  noch  ungefähr  siebenzigtausend. 
Darum  soll  Einer  gemordet  haben,  der  mit  so  breiter  Kelle 
schöpft  und  dems  so  rasch  aus  der  Schüssel  rinnt?  Das 
bringt  drüben  ein  einziges  Acquisiteurgeschäft  ein.  Die 
Hauptsache:  Hau  war  am  Sechsten  ja  gar  nicht  in  Badens 
Baden.  Folgt  also,  Leute,  statt  ins  Blaue  zu  birschen,  lieber 
der  sichtbaren  Spur.  In  der  Stunde  und  auf  der  Straße  des 
Mordes  ist  ein  schwarzer  Mann  gesehen  worden.  Feine 
Damen,  die  ganz  klar  im  Kopf  sind,  behaupten  steif  und  fest, 
er  habe  einen  angeklebten  Bart  gehabt.  Der  muß  es  sein. 
Vor  dem  Karneval  vermummt  nur  ein  Lichtscheuer  sich.  Den 
sucht!  Gewiß;  nur  ist  sein  Motiv  uns  ein  Räthsel...  Der  Mord 
ist  ruchbar  geworden  und  der  Schwarze  mit  dem  Klebebart 
schlurft  nun  schon  um  alle  Stammtische.  Auf  dem  frank«« 
fiirter  Bahnhof  hat  ein  Reisender  ihn  dem  Portier  gezeigt. 


302 


Schlank,  blaß,  mit  langen  Beinen  und  großen  Augen.  Im 
Trauerhaus  haben  Drei  Linas  Mann  im  Verdacht.  Der  war, 
wie  sich  nun  herausstellt,  am  fünften  November  in  Franko 
fürt.  Wiirde  mit  angeklebtem  Bart  ungefähr  aussehen  wie, 
nach  der  Schilderung  der  Zeugen,  der  unheimlich  Schwarze. 
Und  ist  und  bleibt  der  Einzige,  der  an  dem  Tode  der  Frau 
Molitor,  an  rascher  Erbtheilung  ein  Interesse  haben  konnte. 
Karl  Hau  hat  die  Depesche  geschrieben,  die  seine  Schwie«« 
germutter  erschrecken  und  zu  hastiger  Abreise  nach  Paris 
drängen  mußte.  Karl  Hau  war  am  sechsten  November  heim:* 
lieh  in  Baden-Baden,  hat  sich  am  Telephon  für  einen  Post- 
beamten ausgegeben  und  Frau  Molitor  zu  dem  Wege  ge- 
nöthigt,  von  dem  sie  nicht  wiederkam.  Als  er  von  London 
abfuhr,  verbarg  er  Lina  das  Ziel  seiner  Reise  und  verpflich- 
tete sie,  keinem  Menschen  zu  sagen,  daß  er  auf  dem  Konti- 
nent sei.  Von  einem  londoner,  zum  zweiten  Mal  von  einem 
frankfurter  Friseur  ließ  er  sich  Barthaar  ins  Gesicht  kleben. 
Wurde  in  dieser  Vermummung  bei  der  Stätte  und  in  der 
Stunde  des  Mordes  gesehen.  Riß  den  Bart  dann  ab;  fuhr, 
ohne  Mohtors  Haus  zu  betreten,  mit  dem  nächsten  Zug 
nach  Frankfurt;  warf  Hut  und  Mantel,  die  er  in  Baden- 
Baden  getragen  hatte,  in  den  Aermelkanal.  Und  war  just 
damals  in  arger  Geldklemme.  Hatte  hinter  dem  Rücken  der 
Frau  auch  deren  Vermögensrest  schon  aufgezehrt.  Das  hat 
er,  Alles,  Monate  lang  stramm  und  ohne  Erregungzeichen 
geleugnet.  Nach  und  nach  nur  zugegeben,  was  unwiderleg- 
bar erwiesen  war.    Schließlich  das  ganze  Gewicht  der  be- 

303 


lastenden  Umstände  auf  sich  genommen  und  mit  kalter  Ent^ 
schiedenheit  nur  bestritten,  daß  er  je  einen  Mord  geplant 
oder  gar  ausgeführt  habe.  Darf  man  ihm  glauben?  Sein  Ver^ 
theidiger  meinte,  aus  Anklage  und  Beweisaufiiahme  sei  nur 
ein  jämmerliches  Kartenhaus  entstanden,  das  ein  leis  aus  der 
"^rklichkeit  herwehender  Wind  umstürzen  müsse  .  .  .  Ein 
verwöhnter,  der  wärmenden  Gelddecke  beraubter  Mann,  der 
zu  einträglichen  Geschäften  Barmittel  braucht.  Falsche  Dt^ 
pesche,  falscher  Bart,  bischer  Telephonruf.  Heimliche  Reise, 
heimlicher  Aufenthalt  im  Wohnort  der  Schwiegermutter.  Die 
wird  zuerst  nach  Paris,  dann  au£5  Postamt  gelockt  und  auf 
diesem  Weg  (den  Karl  Hau  wies  und  in  der  selben  Stunde, 
verkleidet,  unkenntlich  gemacht,  geht)  von  einer  Kugel  gt^ 
tötet.  Cui  bono?  Nur  dem  Erben,  der,  wenn  sein  Plan  gtp 
lingt,  in  zwei,  drei  Wochen  wieder  siebenzigtausend  Mark 
haben  wird.  Der  Vermummte  flieht  aus  der  Schwarzwaldi« 
Stadt,  ändert,  so  schnell  ers  vermag,  sein  Signalement,  stellt 
sich  wahnsinnig,  leugnet  und  läßt  sich  Schritt  vor  Schritt 
von  der  Nothwendigkeit  zu  halbem  Geständniß  drängen. 
Ein  Kartenhaus?  Selten  sind  Indizienbeweise  so  fest  gezim^ 
mert.  Auch  der  Gewissenhafte  durfte  auf  diese  Brücke  treten; 
und  sicher  sein,  daß  er  auf  haltbarem  Grunde  stand. 

Dennoch  war  Karl  Hau  Tage  lang  ein  populärer  Held. 
Trotz  Bankkontoschwindel  und  Türkenschacher;  trotzdem  er 
seinem  Kind  Syphilis  vererbt  und  seine  Frau  in  den  PfafHker 
See  getrieben  hat.  Millionen  harrten  des  Spruches,  als  gölte 
er  einem  geliebten  Haupt.    Schön  ist  Wüst  und  Wust  ist 

304 


Sckön.  Der  Kluge  mit  dem  welkenden  Knabengesiclit  katte 
mit  starker  Hand,  die  das  Zittern  nie  lernte,  die  Fähmiß  gt^ 
meistert.  Stumm  stand  das  Glasgefaß;  wurde  kaum  auf 
Sekunden  noch  von  den  Blicken  gestreift.  Gott  weiß,  wer 
die  gute  alte  Dame  getötet  hat!  Vielleicht  der  Angeklagte; 
vielleicht  ein  Anderer.  In  dem  gefurchten,  ausgespülten 
Beutelchen  regt  sich  nichts  mehr.  Kinder  mag  man  mit  sol^ 
chem  Zeug  schrecken.  Was  solls  denn  auf  dem  Tisch?  Hier 
kämpft  ein  Hirn  um  sein  Recht;  ums  Recht  seiner  Kraft. 
Karl  Hau,  gegen  den  stumpfe  Waffen  fochten,  wäre  ein  be^ 
wunderter  Held  geblieben,  auch  wenn  er  die  That  gestanden 
und,  wie  Wedekinds  Mörder,  gesprochen  hätte: 

Ich  hab'  meine  Tante  geschlachtet, 
Meine  Tante  war  alt  und  schwach; 
Ihr  aber,  o  Richter,  Ihr  trachtet 
Meiner  blühenden  Jugend  nach. 

Kriminalpsychologie. 

Um  lumpige  siebenzigtausend  Mark?  Die  er  am  Ende 
doch  nicht  ganz,  vor  dem  mißtrauischen  Auge  der  Schwäger, 
ins  Geschäft  stecken  konnte.  Darum  Meuchelmörder?  Ein 
Pappenstiel  für  Einen,  der  am  Goldenen  Hom  mit  einem 
Redakteur  recht  wie  ein  Kavalier  gekneipt  und  überall  Bak^ 
schisch  amerikanischen  Formates  gegeben  hat.  Er  kann  Ver^ 
wandte  anpumpen.  Die  strecken  bis  zu  Fünfzigtausend  gern 
vor  (habens  in  Karlsruhe  beschworen).  Erstens  aber  ist  ge# 
liehenes  nicht  ererbtes  Geld.  Zweitens  wäre  er  vor  diesen 

20.  III  305 


Verwandten  um  seinen  Nimbus,  weiih  er  als  bettler  käme. 
Denen  hat  er  wilde  Sachen  erzählt:  von  seinem  Reichthum, 
seiner  sozialen  Stellung,  seinen  Triumphen  als  Gelehrter  und 
Unterhändler.  Nun  den  leeren  Klingelbeutel  hinhalten? 
Dann  platzt  die  Blase.  Wer  vom  Rhein  zu  den  Stembanner^ 
leuten  gegangen  ist,  kann  sich  daheim  nur  noch  als  Dollarn 
onkel  zeigen;  sonst  ist  er  Hans  Habenichts  oder,  wenn  er 
sich  in  feinem  Kammgamanzug  aufplustert,  ein  Hochstapler, 
den  deutsche  Treue  meidet.  Lieber  ein  Ende  mit  Schrecken 
als  den  Verlust  der  heimischen  Claque,  die  den  großen 
Mann  aus  Atlantis  anstaunt  und,  seit  er  Linchens  Hals  mit 
echten  Steinen  pflastert,  in  einer  Gedächtniߣüte  die  That^ 
Sache  gefunden  hat,  daß  er  als  Junge  schon  ganz  sicher  ein 
Genie  war  und  eben  drum  blöden  Augen  als  ein  Thunicht^ 
gut  galt.  Grund  genug,  das  peinliche  Bekenntniß,  die  Leih^ 
gebiihr  und  die  Dankpflicht  zu  sparen.  Welcher  Pedant  hieß 
Euch  denn  logisch  faßbare  Erklärung  des  Verbrechens  suchen? 
Wenn  der  Rath  ruhiger  Vernunft  immer  befolgt  ¥rärde,  blie^ 
ben  die  meisten  Sünderbänke  leer.  Feuerbach,  der  Ritter  der 
Bayerischen  Krone,  Wirklicher  Geheimer  Rath  und  Appelle 
ho&präsident  war,  hat  vor  bald  hundert  Jahren  »Merkwiir^ 
dige  Kriminalrechtsfalle«  aus  seiner  Praxis  zusammengetragen. 
In  dieser  Sammlung  ist  auch  die  Geschichte  Eines  zu  finden, 
der  uns  als  »Brudermörder  aus  Enthusiasmus  fiir  eine  Hand^ 
lungspekulation«  vorgeführt  wird.  Er  wollte  in  Nürnberg 
ein  Geschäft  übernehmen,  von  dem  er  sich  viel  versprach, 
brauchte  dazu  seinen  Bruder,  der  aber  allerlei  Bedenken 


306 


liatte,  und  schoß  den  nicht  zu  Ueberredenden  nieder.  Irr^ 
sinn?  Dieser  Ludwig  Christian  von  O.  gab  sich  selbst  nicht 
fiir  einen  psychisch  Kranken.  Im  Verhör  sagte  er  (der  Her^ 
ausgeber  schreibt  das  Protokol  ab):  »Stelle  man  sich  nur  vor, 
wenn  man  es  so  weit  gebracht  hat  als  ich,  wenn  man  eine 
beträchtliche  Handlung  überkommt»  durch  die  man  sein  und 
seiner  Familie  Glück  gründen  kann,  und  daß  unsere  Firma 
auf  unseren  Handlungplätzen  zu  Frankfurt,  Bamberg  und 
Würzburg  schon  annoncirt  war,  daß  wir  in  jeder  Stunde  das 
Waarenlager  wirklich  übernehmen  sollten:  und  nun  kommt 
ein  Bruder,  der  gegen  alles  Erwarten  nichts  als  Bedenklichi» 
keiten  hat,  nichts  als  elende  Einwendungen  vorbringt:  ob 
man  da  nicht  toll  werden  und  in  Verzweiflung  kommen 
mußl  Ich  hätte  besser  gethan,  wenn  ich  meinen  Bruder  ganz 
hätte  gehen  lassen;  allein  in  der  Hitze  überlegt  man  Solches 
nicht  gleich!«  Weil  der  Bruder  nicht  mit  nach  Nürnberg 
will,  muß  er  ins  Gras  beißen.  Triftigeren  Grund  hätte  Karl 
Hau  immerhin  gehabt,  die  reiche  Schwiegermutter,  der  seine 
Eitelkeit  den  Schiffbruch  stolzer  Hoffiiungen  so  lange  wie 
möglich  hehlen  wollte,  heimlich  um  die  Ecke  zu  bringen. 

Um  die  Indizienbrücke  noch  mit  einem  Nothpfeiler  zu 
stützen,  hatte  der  Ankläger  sich  schwitzend  bemiiht,  alle 
Sünden  des  Knaben  Karl  sorgsam  zu  registriren.  Der  Bengel 
hat  gestern  die  Johanne,  vorgestern  die  Susanne  geliebt,  ging 
von  Branntewein  und  Bier  zu  den  Mädeln  ins  Nachtquartier 
(manchmal,  o  Graus,  bis  ins  Bordell),  holte  sich  eine  tüch^ 
tige  Lues,  warf  das  Geld  zum  Fenster  hinaus,  leistete  an 

«>•  307 


Aufschneiderei  das  Unglaublichste  und  soll  schließUch  gar 
versucht  haben,  ein  wiener  Bankhaus  mit  einem  Kreditbrief 
zu  prellen.  Höchst  schaudervoll.  Auf  solchem  Lasterp&d 
wird  man  zum  Mörder?  Frokuratorenwahn,  den  das  helle 
Leben  verlacht.  Auf  mancher  Sella  thront  Einer,  ders  mit 
Frauenzimmern  nicht  glimpflicher  getrieben  hat.  Wenn  kein 
trunkener  Studiose  ins  Lupanar  schliche,  müßten  die  Kuppeln 
mütter  verhungern.  Luetiker  sind  Excellenzen  von  fromm« 
stem  Wandel,  Schwatzmäuler  Wirkliche  Geheime  Obermann 
darinen  geworden.  Und  die  wiener  Sache  war  im  schlimm« 
sten  Fall  ein  Versuch  am  untauglichen  Objekt.  Solche 
Streiche  sollen  den  Mordinstinkt  erklären?  Tausende  laufen 
in  Ehren  herum,  Abertausende,  die  Aergeres  auf  dem  Kerb# 
holz  haben.  Die  Akustik  imd  Optik  des  Gerichtssaales  stärkt 
den  Schall  und  vergrößert  das  Volumen.  Habt  Ihr  nicht 
längst  gemerkt,  wie  ungeheuer  da  oft  das  Alltäglichste  wirkt? 
Ein  Sandkorn,  das  man  drauiJen  nicht  spürte,  kann  hier  be« 
lasten.  Unser  Urtheil,  Aller,  über  Menschen  und  Dinge 
schwankt  mit  dem  Wetter  unserer  Seele,  wechselt  wie  die 
Gezeiten  unserer  Stimmung.  Kommt  die  Schwankung,  die 
Unstetheit  an  den  Gerichtstag,  so  sind  wir  halb  schon  um 
unseren  guten  Namen.  (»Wenn  Wissmann  wirklich  heute 
so  und  morgen  anders  über  Peters  geurtheilt  hat,  bleibt  auf 
dem  blanken  Schild  seiner  Ehre  doch  ein  Fleck.«  Ohe,  les 
psychologuesl)  Erspart  uns  künftig  die  »zur  Illustration  be^ 
stimmte«  Sündenliste.  Sie  kann  nichts  erklären.  Auch  vor 
diesem  Irrweg  hat  Feuerbach  schon  gewarnt.  Er  citirt  Racines 

308 


Wort»  daß  den  großen  immer  kleine  Verbrechen  voraus« 
gingen  (»Un  seul  jour  ne  faxt  point  d*un  mortel  vertueux 
un  perfide  assassin,  un  liehe  incestueux«)  und  sagt  dann: 
»Nichts  trüglicher  als  solche  Gemeinplatze  bei  Beurtheilung 
menschlicher  Handlungen!  Nichts  irriger  als  die  Meinung, 
nur  ein  Bösewicht  sei  eines  großen  Verbrechens  an  der 
Menschheit  fähig,  niu:  in  einem  schändlichen  Gemfith  könne 
eine  Schandthat  keimen,  nur  durch  das  Gebiet  des  Lasters 
gehe  der  Weg  zu  solchen  Verbrechen!  Was  der  Mensch  ist, 
Das  ist  er  durch  seinen  Instinkt,  durch  die  natürliche  Guti» 
müthigkeit  seiner  Neigungen,  die  ihn,  unschuldigen  Ge« 
müthes,  friedlich,  rechlich  den  graden  Weg  fortleiten.  Aber 
irgendeine  hervorstechende  Neigung  werde  an  einem  Gegen« 
stand,  den  Zeit  und  Umstände  darbieten,  zur  Leidenschaft 
entziindet,  irgendeine  Lieblingmeinung,  irgendeine  einseitige 
Richtung  des  Gemüthes  treffe  auf  einen  besonderen  Zweck 
des  Begehrens  und  hefte  sich  an  ihn  mit  innigem,  heiiJem 
Verlangen:  plötzlich,  unvermuthet  und  unvorbereitet,  ist 
dann  das  innere  Gleichgewicht  zerrüttet  und  Alles  stürzt, 
aus  seinen  Fugen  getriel>en,  der  Stützen  beraubt,  dahin, 
wohin  die  Uebermacht  es  drückt.  So  tritt  oft  unerwartet 
selbst  der  Bessere  in  die  Reihe  der  Verbrecher,  so  ist  oft 
eines  Menschen  absichtliche  That  abscheulicher  als  er  selbst. 
Unter  Himderten,  die  wir  kennen,  ist  vielleicht  nicht  Einer, 
fitr  den  wir  sichere  Bürgschaft  leisten  dürften:  er,  der  heute 
noch  als  Mann  der  RechtUchkeit  vor  unseren  Augen  steht, 
werde  nicht  vielleicht  morgen  ein  Verbrecher  sein.  Fast  Jeder 

309 


hat  seine  schwache  Seite,  die  ihm  den  Fall  bereiten  kann, 
sobald  ihn  dabei  die  Gelegenheit  mit  hinreichender  Stärke 
faßt.«  So  sprach  der  kundige  Präsident  eines  Appellhofes. 
Aus  dem  Buch  des  Alten  ist  noch  mehr  zu  lernen;  auch 
fitr  unseren  Fall.  Der  karlsruher  Schwurgerichtspräsident 
konnte,  wie  er  sich  mühte,  nicht  £sissen,  daß  Hau  (»ein  so 
kluger  Mann«)  so  unvernünftig  gehandelt  haben  sollte.  Das 
dünkte  ihn  ganz  unglaublich.  Den  Ritter  von  Feuerbach 
nicht.  Der  sagt:  »Der  Stern  der  Vernunft  leuchtet  nur,  so 
lange  ihn  nicht  der  Sturm  der  Leidenschaften  mit  seinen 
Wolken  bedeckt.  Die  Logik  der  Leidenschaft  erkennt  keine 
Syllogismen  des  Verstandes;  sie  hat  zum  Grundsatz,  über 
alle  Syllogismen  hinaus  graden  Weges  auf  ihre  Befriedigung 
loszugehen;  sie  sieht  in  ihrer  Blindheit  nichts  als  sich  selbst 
und  ihren  Gegenstand,  wirft  Alles  nieder,  was  ihr  in  den 
Weg  kommt,  und  thut  in  ihrer  Thorheit  nicht  selten,  was 
ihrem  eigenen  Zweck  entgegen  ist.  Die  Leidenschaft  nach 
den  Gesetzen  des  Verstandes  beurtheilen,  ist  so  viel  wie: 
einem  Trunkenen  zumuthen,  so  zu  thun,  als  wenn  er  nüch^ 
tem  wäre,  oder  auf  sicherem  Ufer  einem  Ertrinkenden  zu^ 
rufen  nur  hübsch  fest  und  grade  auf  den  Boden  zu  treten, 
und  uns  dann  verwundem,  daß  ers  nicht  gemacht  hat  wie 
wir.  Es  ist  allgemein  ein  sehr  verwegener  Schluß:  Was  wir 
nicht  begreifen.  Das  ist  nicht;  was  wir  nicht  erklären  können, 
hat  auch  keinen  Grund  der  Erklärung.  Am  Vermessensten 
ist  er  bei  Erscheinimgen  des  menschlichen  Gemüthes,  die  an 
so  feinen  Fäden  fortlaufen,  daß  ihr  Ursprung  oft  in  den 

310 


y^-*'" 


dunkelsten  Kammern  des  Geistes  sich  verliert.«  Das  wurde 
vor  hundert  Jahren  geschrieben.  In  Deutschland.  Dieser 
Richter  wäre  nicht  in  Wuth  gerathen,  wenn  er  das  Handeln 
des  Angeklagten  unlogisch  und  zweckwidrig  gefunden  hätte. 
Bayern  und  Baden.  Wir  habens  im  deutschen  Säkulum  mit 
unserer  Kriminalpsychologie  herrlich  weit  gebracht. 

In  der  gallischen  Heimath  feiner  Seelenkenner  ist  die 
Prozedur  menschlicher.  Wird  von  dem  Angeklagten  nicht 
Kadavergehorsam,  nicht  blinde  Unterwürfigkeit  geheischt. 
Er  darf  seinem  Temperament  freien  Lauf  lassen.  Solls:  denn 
der  Richter  will  ihn  ja  kennen  lernen.  Brüllt  er  einmal  auf: 
der  Kampf  geht  um  Freiheit,  Ehre,  Leben  vielleicht;  und  der 
A£Fekt  sprengt  die  Pforten  des  Seelengehäuses.  Zola  schrie: 
»Ich  kenne  Ihre  Gesetze  nicht,  will  sie  nicht  kennen  I«  Und 
wurde  nicht  mit  Ungebührstrafe  bedroht.  Schrie,  die  Nachi* 
weit  werde  seinen  Namen  noch  nennen,  wenn  der  eines 
Generalissimus  längst  verschollen  sei.  Und  wurde  nicht  väter^ 
lieh  vor  Größenwahnsanwandlung  gewarnt  Jupiters  Recht 
ist  drüben  auch  das  Recht  der  Oechslein.  Nie  £ahrt  ein 
Robenärmel  dem  Angeklagten  rauh  übers  Maul.  Eine  Hei^ 
rathvermittlerin  stand  in  Versailles  neulich  vor  Gericht.  Der 
Vorsitzende  ließ  sie  reden,  wie  ihr  der  Schnabel  gewachsen 
war.  Merkte  dabei  ja,  was  er  von  ihr  zu  halten,  wessen  sich 
zu  versehen  habe.  »Meine  Kunden  sind  so  anständig,  wie 
Leute  sein  können,  die  einer  Mitgift  nachjagen.«  Sie  soll 
Papiere  aus  einer  verschlossenen  Truhe  genommen  haben. 
»Na,  die  Diplomaten  thun  doch  von  friih  bis  spät  weiter 

311 


nichts  I«  Sie  hört,  daß  der  Strafprozeß  sich  mit  Indizien  be# 
gnügen  und  auf  die  schlüssigen  Beweise  des  Civilprozesses 
verzichten  kann.  »Famos  I  In  einem  Sechsdreierstreit  fordert 
man  also  mehr  Beweise  als  in  einem  Verfahren,  wos  um 
lange  Kittchenjahre  geht!«  Und  so  weiter.  Als  Hau,  ein 
einziges  Mal,  um  etwas  höflichere  Kritik  seines  Handelns 
bitten  wollte,  hagelte  es  grobe  Worte  vom  Präsidentenstuhl. 
Darf  ein  Mann  heftig  werden,  dem  die  Ehre  ward,  einem 
Gericht  vorzusitzen?  Herrisch  und  wild  gegen  den  Wehr^ 
losen,  der  ganz  in  der  Hand  des  unumschränkt  Mächtigen 
ist?  Darf  er  ihn,  der  zum  Kampf  um  unentbehrliche  Güter 
tüchtig  sein  soll,  des  Wollens  Ohnmacht  fiiihlen  lassen? 

Halali. 

Sonnabend  durfte  Hau,  als  die  Nacht  sank,  leise  auf  Frei# 
Spruch  hoffen.  Als  die  Montagssonne  den  höchsten  Funkt 
erreicht  hatte,  war  er  verloren.  Ein  Zeuge  (der  späte  Zeuge, 
der  fast  in  jedem  laut  umschwatzten  Frozeß  ein  Sondern 
rühmchen  sucht)  hatte  den  Schweigsamen  endlich  zum  Reden 
gezwungen.  Zum  Rückzug  aus  der  strategischen  Stellung. 
Bisher  war  Alles  stark,  eigensinnig,  klug.  Nicht  ein  sentit 
mentales  Wörtchen.  »Ich  habe  nichts  zu  sagen.«  »Ich  kann 
nur  meine  firühere  Erklärung  wiederholen.«  »Was  hier  be# 
wiesen  ist,  gebe  ich  zu;  aber  nicht  mehr.«  »Ueber  die 
Tragweite  meines  Handelns  habe  ich  keinen  Zweifel.«  Wur^ 
dig.  Amor  fati  in  Haltung  und  Ton.  Jetzt  ward  er  roman# 
haft.     Karl    hat    seine   hübsche    Schwägerin    Olga   geliebt. 

312 


ir-" 


Nicht  nur,  wie  Lina  witterte,  lebemannisch  mit  ihr  getändelt 
(die  Verse  machte,  pikante  Bücher  las  und  von  kurstädtischen 
Philistern  deshalb  eine  »Emanzipirte«  genannt  wurde).  Lei# 
denschafitlich  geliebt.  Mit  allen  Wesensfasem  sich  an  sie  ge# 
klammert.  Und  kein  Aederchen  seines  Gefühles  ihr  doch 
enthüllt  Um  die  Gefahr  zu  bannen,  rief  er  Frau  Molitor 
nach  Paris.  Sie  sollte  Olga  mit  nach  Haus  nehmen;  sah  aber 
nichts,  hörte  auch  nichts  und  die  Damen  fuhren  gemächlich 
heim:  zwölf  Stunden  vor  dem  Anbruch  des  ftir  die  Abreise 
des  Fräuleins  von  je  her  festgesetzten  Tages.  Um  Olga  noch 
einmal  zu  sehen,  vor  der  Rückkehr  an  die  Atlantisküste  ein# 
mal  noch,  kam  er  heimlich  nach  Baden-Baden.  Verkleidet. 
Mit  fremdem  Haupt-  und  Barthaar.  Nöthigte  er  die  Schwie- 
germutter, trotz  ihrem  Schnupfen,  aus  dem  Haus.  Ging  sie, 
dann  blieb  Olga  allein  und  er  konnte  zu  ihr  sprechen.  Nur 
sprechen.  Abschied  nehmen.  (Die  große,  keusche  Passion.)  Das 
mißlang:  denn  Mutter  und  Tochter  gingen  gemeinsam  zum 
Postdirektor.  Nun  mußte  Alles  herauskommen.  So  schnell  wie 
möglich  also  aus  der  Mumme  und  fort.  Den  Schuß  hat  er 
nicht  gehört.  Von  dem  Mord  erst  in  London  erfahren,  wo 
Lina  ihn  mit  dem  Kind  zur  Fahrt  nach  New  York  erwartete. 
Verdacht?  Nicht  den  geringsten.  Und  mehr  sagt  er  nicht . . . 
Dem  Präsidenten  gefiel  der  roman  romanesque.  Der  hatte 
die  Akten  durchaus  studirt,  dem  Angeklagten  und  jedem 
Zeugen  das  im  Vorverfahren  Ausgesagte  noch  einmal  abge- 
fragt und  ganz  und  gar  nicht  begriffen,  daß  sein  Werk  nun 
nicht  mit  einem  Geständniß  Haus  gekrönt  werden  solle. 

313 


Jetzt  hatte  ers:  ein  Geständniß  der  Unschuld  zwar,  das 
immerhin  aber  der  ungehörigen  Verstocktheit  vorzuziehen 
war.  (Daß  der  Angeklagte  sich  nicht  reuig  ans  Messer  liefert, 
bleibt  jedem  zum  Beisitzen  Geborenen  stets  ein  empörendes 
Räthsel.)  Der  Herr  Präsident  geruhte  denn  auch  gnädig, 
fortan  die  Sonnenseite  zu  zeigen.  Das  Mysterium  mag  noch 
Anderen  gefdlen  haben.  Dabei  ließ  sich  was  ahnen.  Am 
Ende  war  der  Pöbelinstinkt,  der  draußen  gegen  die  MoUtors 
heulte,  auf  richtiger  Fährte.  Ein  Unschuldiger,  weil  er  aus 
tieferer  Schicht  kam,  frech  des  Mordes  verdächtigt.  Zwischen 
Olga  und  Karl  doch  Intimeres,  als  keusche  Herzen  zugeben 
konnten.  Literaturerinnerungen  an  Rosmers  Frau,  die  ihren 
Johannes  mit  seiner  Rebekka  in  den  Mithlbach  nachzieht. 
Wenns  Sonnabend  zum  Spruch  gekommen  wäre,  hätten  ein 
paar  Geschworene  den  Beweis  vielleicht  unzureichend  ge# 
fimden.  Drum  wollte  Hau,  nach  dem  Effekt  seiner  Beichte, 
auf  alle  weiteren  Konstatirungen  imd  Aussagen  verzichten; 
drängte  er  hastig  dem  Ende  zu.  Nun  ward  Sonntag.  Ueber# 
legte  mans  recht,  so  stimmte  die  Geschichte  eigentlich  nir^ 
gends.  Um  so  Harmloses  im  Dunkel  zu  lassen,  wagt  Keiner 
den  Kopf.  Und  just  so  dicht  bei  dem  vermummt  girrenden 
Eidam  muß  Frau  Molitor  verbluten?  Kein  Thäter  auch  nur 
im  Verdacht?  Doch:  der  verschwundene  Diener  Karl  Wie# 
land,  den  der  Vertheidiger  recht  laut  schon  der  That  zieh 
(weil  er,  verhängnißvoU  unklug,  ihn  unauffindbar  glaubte). 
Montag  kommt  er.  Ein  gutes  Kerlchen,  dessen  Anblick  die 
Spannung  in  Lachen  löst.    Und  Frau  Hau  hat  ihr  Kind 

314 


1^    ^ 


Olgas  Obhut  vermacht.  Und  hat  ihren  Mann  besser  als  Einer 
im  Saal  hier  gekannt.  Der  Roman  zerrinnt.  Hau  ist  verloren. 
»Nieder  mit  der  rothen  Olga!«  johlt  es  draußen.  Der 
Angeldagte  ist  zum  Tode  verurtheilt  worden;  wird,  als  ein 
nicht  unzweideutig  Ueberfuhrter,  den  Kopf  aber  nicht  imters 
Richtbeil  legen.  »Sentimentalität  kleidet  ihn  nicht  gut«,  sagt 
Einer  in  der  Thiir.  PoUice  versol  Der  Ringkampfer  hat  mit 
beiden  Schultern  die  Erde  berührt  imd  ist  abgethan.  Die 
letzte  Zi£Fer  noch  in  die  Kostenrechnung.  »Im  Erdgeschoß 
ist  die  Kasse.«  Die  Requisiten,  die  (är  das  Schwurgerichtsti 
theater  aufgebaut  worden  waren,  werden  flink  weggeräumt. 
Der  Gerichtsbote  greift  nach  dem  Glas,  in  dem  das  durch« 
schossene  Herz  schwimmt.    Und  das  Sühnfest  ist  aus. 

Motive. 

In  der  ersten  Morgenstunde  des  dreiundzwanzigsten  Juli« 
tages  sind  den  karlsruher  Geschworenen  zwei  Fragen  vorge« 
legt  worden.  Die  erste:  Ist  der  sechsundzwanzigjährige  An« 
geklagte,  Rechtsanwalt  Karl  Hau  aus  Gro&Lit^en,  schuldig, 
am  sechsten  November  1906  seine  Schwiegermutter,  Frau 
Josephine  Molitor,  vorsätzlich  getötet  zu  haben?  Die  zweite: 
Hat  der  Schuldige  die  That  mit  Ueberlegung  ausgeführt? 
Beide  Fragen  wurden,  nach  einstündiger  Berathung,  mit  mehr 
als  sieben  Stinmien  bejaht.  Damit  war  der  Thatbestand  des 
Paragraphen  211  gegeben  und  der  Angeklagte  mußte,  nach 
dem  Gesetz,  zum  Tod  verurtheilt  werden.  Dennoch  haben 
wir  hundertmal  gelesen,  der  Thatbestand  sei  nicht  aufgeklärt, 

315 


Hau  offenbar  unschuldig  und  kein  Zweifel  möglich,  daß  der 
leipziger  Strafsenat  das  unhaltbare  Urtheil  aufheben  werde. 
Schwurgerichtsurtheile  werden  selten  aufgehoben;  sie  geben 
ja  keine  Entscheidungsgründe,  die  das  Reichsgericht  nach«» 
prüfen,  in  denen  es  die  fehlende  oder  fdsche  Anwendung 
einer  Rechtsnorm  rügen  könnte,  sondern  nur  den  Ausdruck 
einer  dem  Ergebniß  der  Hauptverhandlung  entnommenen, 
auf  Ehre  und  Gewissen  gestützten  Ueberzeugung.  Das  Ur# 
theil  eines  Schwurgerichtes  kann  von  der  revidirenden  Instanz 
nur  aufgehoben  werden,  wenn  das  Verhandlungprotokol  eine 
Verletzung  des  Gesetzes  ergiebt.  Nicht  ein  einziger  Grund, 
der  in  der  Strafsache  wider  Karl  Hau  die  Aufhebung  tu 
wirken  mußte,  kam  ans  Licht;  kam  nach  Leipzig.  Und  das 
Reichsgericht  fsind  keinen  Grund,  das  Urtheil  zu  entkräften. 
In  der  Hauptverhandlung  hatte  der  Vertheidiger  zunächst 
versucht,  einen  Diener  der  Frau  Molitor  mit  dem  Schuldver^ 
dacht  zu  belasten.  Dieser  Karl  VTieland  sollte  mit  der  Witwe 
des  Geheimen  Medizinalrathes  Molitor  Streit  gehabt  haben 
und  galt  als  unauffindbar.  Ein  alter  Fehler  schwacher  Kri^ 
minalpolitik:  statt  den  unzweideutigen  Beweis  zu  fordern,  daß 
sein  Klient  schuldig  sei,  müht  sich  mancher  Anwalt,  einen 
Zeugen,  den  er  verschwunden  wähnt,  mit  dem  Gewicht  der 
That  zu  bebürden:  und  ist  mit  seiner  Forensenkunst  dann 
zu  Ende,  sobald  das  Echo  des  Frozeßlärmens  den  lange  ver# 
gebens  Gesuchten  in  den  Gerichtssaal  gerufen  hat.  Nach 
VRelands  Aussage  war  der  künstlich  gezeugte  Verdacht  ab^ 
gethan.  Noch  auf  einen  anderen  taktischen  Kniff  hatte  man 

316 


aber  geKotft.  Herr  Hau  weigerte  die  Antwort  auf  jede  Frage 
nach  den  Beziehungen  zu  seiner  Schwägerin  Olga  Molitor; 
lehnte  mit  besonderem  Nachdruck  die  Beantwortung  der 
Frage  ab,  ob  er  wisse  oder  ahne,  wer  seine  Schwiegermutter 
getötet  habe.  Warum?  Da  er,  ohne  sich  zu  ge&hrden.  Nein 
sagen  konnte?  Weil  er  nicht  lügen  will,  wisperts  schon  im 
Schwurgerichtssaal;  weil  er  weiß  oder  ahnt,  ein  ihm  theures 
Leben  aber  nicht  in  Gefahr  bringen  will.  Ein  Gentleman 
also.  Einer,  der  für  seine  Liebe  den  Kopf  unters  Peil  legt. 
Der  ein  Mörder?  Unsinn.  Hau  hatte  Geld  wie  Heu.  Konnte 
in  Amerika,  wo  er  (man  denke  I)  Außerordentlicher  Hoch^ 
schuUehrer  und  Advokat  war,  bequem  viel  mehr  verdienen, 
als  er  brauchte.  Und  soll,  um  lumpige  siebenzigtausend  Mark 
zu  erben,  gemordet  haben?  Das  glaubt  kein  Erwachsener. 
Dahinter  steckt  sicher  ganz  Anderes.  Schon  Juvenal  hat  ge^ 
sagt:  »Nulla  fere  causa  est,  in  qua  non  femina  litem  moverit«; 
und  das  Folizeigenie  des  alten  Dumas,  der  sich  auf  solche 
Dinge  nicht  schlechter  als  Sherlock  Holmes  selbst  verstand, 
rieth,  in  jedem  Rechtsstreit  nach  der  Frau,  als  der  Thäterin 
oder  Anstifterin,  auszuspähen.  Cherchez  la  femmel  Auf  der 
Zeugenbank  ward  sie  gefunden.  Fräulein  Olga  Molitor. 
Schon  sechsundzwanzig;  aber  hübsch,  elegant,  röthliches  Haar 
und  ein  Gedichtbändchen  auf  dem  Kerbholz;  also  sehr  ver^ 
dächtig.  Neben  ihr  ist  die  Mutter  getötet  worden.  Auf  Olga 
war  Frau  Lina  Hau  eifersüchtig.  Und  der  Angeklagte  will 
um  keinen  Preis  gestatten,  daß  sie  in  die  Sache  hineingezo^ 
gen  werde.  Wenn  sie  gar  nichts  zu  furchten  hätte,  wäre  er 

317 


klickt  so  ängstlich.  Mit  solckem  Vorurtheil  laßt  sich  operireü. 
Hat  Olga  geschossen?  War  sie  im  Kompiot?  Wollte  sie  den 
Schwager,  der  Schwager  sie  töten  und  traf  die  Kugel  in  irreni« 
dem  Lauf  die  Mutter?  Schweigt  Hau,  um  Olga  zu  schonen? 
Schwört  Olga,  um  ihren  Karl  nicht  allzu  schwer  zu  belasten, 
sie  habe  den  Mörder,  der  doch  dicht  hinter  ihr  war,  nicht 
deutlich  gesehen?  Die  Mitschuld  des  Fräuleins  wird  kaum 
noch  bezweifelt  Dann  entschließt  Hau  sich  zum  Geständniß 
der  Unschuld.  Er  hat  Olga  geliebt;  mit  allen  Wesensfasem 
sich  an  sie  geklammert,  doch  kein  Aederchen  seines  Gefühles 
ihr  je  enthiült  Nur  um  sie  vor  seiner  Rückkehr  in  die  Neue 
Welt  noch  einmal  zu  sehen,  kam  er  heimlich,  vermummt,  mit 
fremdem  Haupte  und  Barthaar,  nach  Baden-Baden.  Da  der 
Plan  mißlang,  ist  er  hastig  auf  den  Bahnhof  gelaufen  und  nach 
London  abgereist.  Da  habt  IhrsI  Liebe;  von  der  salomonischen 
Sorte,  die  stark  wie  der  Tod  ist.  Hau  unschuldig  oder  Olga 
mitschuldig :  alles  Andere  ist  Prokuratorenblech.  Kein  Wun# 
der,  daß  Frau  Lina  im  Pfaffiker  See  Ruhe  suchte.  Die  Schwester 
hatte  ihr  den  Mann  abgespannt.  Eine  nette  Pflanze.  Eine, 
die  Verse  macht,  pikante  Bücher  liest,  in  pariser  Tingeltangel 
stiefelt;  was  der  Bürger  so  eine  Emanzipirte  nennt  Der  ist 
Mancherlei  zuzutrauen.  Schon  während  der  Verhandlimg 
wurde  das  Fräulein  täglich  von  Insulten  verfolgt.  Als  das 
Urtheil  gesprochen  war,  heulte  die  Menge:  »Nieder  mit  der 
rothen  Olga!«  Zwei  Compagnien  des  badischen  LeibgrenaK 
dierregimentes  mußten,  da  die  Polizeimannschaft  nicht  s^ASP 
reichte,  die  Straßen  räumen  und  kehrten  erst  gegen  drei  Uhr 

318 


nackts  in  die  Kaserne  keim.  Das  katte,  in  der  sonst  rukigsteh 
Residenz,  die  Allweisheit  Oeffentlicher  Meinung  gewirkt. 

Sie  vermochte  noch  mehr.  Interviews,  lange  Depeschen, 
Gutachten,  Ergebnisse  der  Lokalinspektion,  kriminalpsycho>» 
logische  Untersuchungen.  Dumme  Schwarzwaldbauem,  hieß 
es  zuerst,  haben  das  Urtheil  gesprochen;  Leute,  deren  Hirn 
die  Feinheit  dieses  Falles  gar  nicht  ermessen  konnte.  Die 
gewöhnt  sind,  um  Neun  die  Decke  über  den  Kopf  zu  ziehen, 
und  um  ein  Uhr  nachts  nun  judiziren  sollten.  Wollt  Ihr 
Geschworene?  Ja.  Dann  dürft  Ihr  die  Manner  nicht  mäkeln, 
die  von  Staatsanwaltschaft  imd  Vertheidigung  nicht  abgelehnt 
worden  sind.  Daß  ihre  Berathung  nach  Mittemacht  begann, 
war  der  Wille  des  Angeklagten,  der  den  Vorsitzenden  bat, 
die  Sitzung  nicht  noch  einmal  zu  vertagen.  \^elleicht  (ich 
weiß  es  nicht)  hat  eine  Bauemmehrheit  ihn  verurtheilt.  Von 
Rechtes  wegen.  Eine  Mehrheit,  gegen  die  der  Vertheidiger 
nichts  einzuwenden  hatte.  Und  die  ihren  Tadlem  laut  sagen 
könnte:  »Wir  haben  den  Angeldagten  und  die  Zeugen  vier 
Tage  lang  gesehen  und  gehört;  Ihr  habt  nur  Zeitungberichte 
gelesen  und  seid  mit  aU  Eurer  Stadtweisheit  hier  deshalb 
schlechter  dran  ak  wir  ungebildeten  Schollenkleber.«  Zweiter 
AngrijBF.  Aus  welcher  Entfernung  hat  der  Thater  geschossen? 
Nicht  einmal  diese  Kardinalfi*age  hat  das  Schwurgericht  ernste 
lieh  erörtert;  solche  Lücken  hat  dieses  VerEdiren.  Wir  (pStnU 
lieh  Meinende)  behaupten,  daß  schon  die  Prüfting  des  Ge^ 
schoßkegels  die  Unschuld  Haus  beweisen  würde.  (Wobei 
angedeutet  wird,  daß  nur  Jemand,  der  neben  Frau  Molitor 

319 


ging,  geschossen  kaben  könne.)  Antwort:  Das  Cerickt  Kat 
über  diese  Frage  zwei  Sachverständige  gehört;  einen  Geheim 
men  Medizinakath,  der  die  Leiche  obduzirt  hatte,  und  einen 
zur  Untersuchung  herangezogenen  Büchsenmacher.  Beide 
haben  ausgesagt,  die  Waffe  müsse  dem  Leib  der  Frau  Moli^ 
tor  sehr  nah  gewesen  sein;  der  Abstand  sei  auf  höchstens 
zehn  Centimeter  zu  schätzen.  Blieb  hier,  trotz  Leichenschau^ 
protokoi  und  Gutachten,  eine  Lücke,  so  ist  der  Vertheidiger, 
der  sie  klaffen  ließ,  grober  Pflichtversäumniß  schuldig;  der 
Gerichtshof  braucht  den  Angeklagten  nicht  sorgsamer  zu 
schützen  als  der  von  ihm  bestellte  Wächter.  Mit  Alledem 
war  nichts  Rechtes  anzufmgen.  Auch  nicht  mit  einem  btu 
herrlichen  Zeugen,  der  gesehen  haben  wollte,  daß  Olga  ihre 
Mutter  erschossen  hat,  aber  zu  schweigen  bereit  war,  wenn 
das  Fräulein  sich  entschlösse,  seine  Baronin  zu  werden.  (Die^ 
ses  Gefasel  eines  Erpressers  oder  Verrückten,  dem  die  Mit^ 
gilt  selbst  eine  Mörderin  heiligt,  wurde  Tage  lang  mit  eifemi» 
dem  Ernst  beschwatzt.)  Blieb  immer  nur  der  noble  Versuch, 
Haus  hübsche  Schwägerin  anzuschwärzen.  Diel  Daß  sie  gern 
mit  Schußwaffen  hantirte  und  stets  einen  Revolver  bei  sich 
trug,  weiß  in  Baden-Baden  jedes  Kind.  Mancher  Mannbare, 
daß  ihre  Sexualität  sie  ins  Gerede  gebracht  hat.  Und  ihr 
unkindliches  Benehmen  gegen  die  Mutter  1  Und  Linas  Eifer- 
sucht] Und  zwei  Zeugen,  deren  Aussagen  Hau  entlastet 
hätten,  sind  nicht  vernommen  worden:  ein  Friseur  und  eine 
Ladenbesitzerin.  Alles  wurde  prompt  depeschirt  und  in  Sperr- 
druck veröffentlicht.  Alles  erwies  sich  als  unwahr.  Das  Frau- 


320 


lein  hat  nie  eine  ScKußwatfe  in  der  Hand  gehabt,  nie  einen 
Revolver  besessen.  Olgas  Wandel  ist  unbescholten.  Nach 
dem  Zeugniß  ihrer  Geschwister  und  Schwäger  war  sie  eine 
gute,  zartUche  Tochter;  kam  mit  der  Mutter  nie  in  schlimmen 
Streit.  Alle  vor  Gericht  festgestellten  Thatsachen  sprechen 
gegen  den  Verdacht,  Lina  sei  auf  die  Schwester  ernstlich 
eifersüchtig  gewesen.  Was  als  Aussage  der  nicht  vernommen 
nen  Zeugen  verbreitet  wird,  ist  belanglos.  Thut  nichts.  \^er 
Wochen  lang  steht  ein  wehrloses  Mädchen  am  Schandp&hl. 
Haus  Vertheidiger  hat  gesagt,  wenn  sein  Klient  den  Mord 
unter  den  von  Anklager  und  Gericht  angenommenen  Umstän^ 
den  ausgeführt  hätte,  müßte  er  ein  Dummkopf  sein,  der  sicher 
durchs  »Raubmördervorexamen«  gefdlen  wäre.  ^Wit  wollen 
uns  nicht  bei  der  Frage  aufhalten,  ob  je  ein  Verbrechen  ans 
Licht  käme,  wenn  der  Verbrecher  nicht  irgendwo  von  dem 
Pfad,  pien  kluge  Voraussicht  ihm  weisen  mußte,  gewichen 
wäre.  WClr  wollen  nur  fragen,  wie  die  Intelligenz  Olgas,  wenn 
sie  wirklich  ak  Mörderin  erkannt  würde,  eingeschätzt  werden 
müßte.  Könnte  sie  dann  auch  nur  noch  als  zurechnung&hig 
gelten?  Sie  lebt  mit  der  Mutter  zusammen;  Monate  lang  allein 
im  Haus.  Jeder  mag  sich  ausmalen,  was  sie  thun  könnte,  um 
eine  alte  Frau,  die  ihr  im  Weg  wäre,  sacht  oder  schnell  aus 
der  Zeitlichkeit  zu  spediren.  Wir  aber  sollen  glauben,  sie 
habe  die  Mutter  auf  offener  Straße  niedergeschossen;  sich 
also,  als  der  That  Nächste,  verdächtig  gemacht.  Die  Mög# 
lichkeit  nicht  erwogen,  daß  der  Tod  nicht  sofort  eintreten, 
die  Sterbende  mit  Wort  oder  Geberde  die  Thäterin  bezeich# 

21.  m  321 


nen  werde.  Ein  Laut  noch,  ein  Gestus,  ein  Blick  nur:  Alles 
verloren.  '^Sdr  sollen  glauben»  daß  sie  die  grausige  That, 
einen  Muttermord,  endgiltig  beschlossen  und  ausgeführt  habe, 
als  Mamachen  sie,  wider  Erwarten,  aus  einem  Theekränzchen 
abgeholt  hatte.  Motive?  Nicht  das  winzigste  ist  sichtbar. 
Haß?  Mutter  und  Tochter  lebten  einträchtig  mit  einander. 
Liebe?  Fräulein  Molitor  duzte  den  Schwager  nicht  einmal; 
verkehrte  mit  ihm  in  der  Zone  kithler  Konvenienz.  Nichts, 
was  einen  Roman  ahnen,  auch  nur  den  kleinsten  Verdachts^ 
schatten  aufkommen  läßt;  nichts  (außer  dem  Gewink  des 
Angeklagten).    Trotzdem:  ein  Mädchen  am  Pranger. 

Sind  die  Stützen  des  Schuldbeweises  etwa  so  schwach,  daß 
man  an  einen  Fehlspruch  glauben  muß?  Karl  Hau  war  im 
November  1906  in  enger  Geldklemme.  Hatte  Linas  Mitgift 
verdian,  ein  wiener  Bankhaus  um  vierhundert  Pfund  zjx  prel^ 
len  getrachtet  und  besaß  nur  noch  ungefähr  neuntausend 
Mark.  Nicht  viel  fiir  Einen,  der  mit  Frau  und  Kind  über 
den  Ozean  will  und  gewohnt  ist,  wie  ein  Dollarmillionär  zu 
leben.  Der  die  Frau  mit  Diamanten  behängt,  von  feilen  Paschas 
Osmanenorden  erhandelt  und  den  Leuten  vorlügt,  er  werde 
als  Delegirter  der  Vereinigten  Staaten  mit  Coates  auf  die 
haager  Friedenskonferenz  gehen.  Im  Land  raschen  Gewinnes 
säckelt  er  wohl  wieder  was  ein.  Immerhin  nicht  so  schnell, 
wie  der  deutsche  Spießbürger  glaubt,  dem  von  Professur  und 
Advokatur,  von  Riesengeschäften  mit  der  russischen,  perui» 
anischen,  türkischen  Regirung  die  Ohren  sausen.  Ein  Solide 

322 


'. » 


ior  und  Agent,  wie  es  zwischen  Pacific^  und  Atlantiskiiste 
Hunderte  giebt.  Eine  Acquisition»  Parteivertretung  oder 
Agentenleistung  bringt  ein  schönes  Stück  Geld;  von  zehn 
Schiffen»  die  gierige  Hoflhung  ausschickt»  scheitern  acht  aber 
stets  vor  dem  Hafen.  Ein  Pralilhans,  der  den  Nabob  spielt» 
ein  Mädchen  aus  gutem  Haus  entfuhrt,  in  den  romantischen 
Plan  eines  Doppelselbstmordes  geschwatzt,  angeschossen,  erst 
unter  dem  Zwang  harter  Drohung  geheirathet  imd  dem  Kind 
dieser  Ehe  Syphilis  vererbt  hat.  Der  nur  noch  zweitausend 
Dollars  besaß  und  dem  ein  Checkschwindel  mißlungen  war. 
Panzert  des  Wesens  hehre  Reinheit  solchen  Mann  gegen  jeden 
Verdacht?  Er  konnte  das  Vermögen  der  Schwiegermutter,  den 
Erbtheil  der  Frau  überschätzen;  konnte  hoffen,  die  sorglose 
Schwägerin  werde  ihm,  Lina  zu  Liebe,  das  Ererbte  ins  rentable 
Geschäft  geben.  Oft  haben  minder  starke  Motive  zu  Mord  und 
Totschlag  getrieben.  Weiter.  Am  sechsten  November  ist  Frau 
Molitor  in  Baden-Baden  getötet  worden.  Am  sechsten  Novem- 
ber war  Karl  Hau  in  Baden-Baden.  Heimlich.  Seiner  Frau  hatte 
er  das  Ziel  der  Reise  verborgen;  sie  verpflichtet,  keinem  Men- 
schen zu  sagen,  daß  er  auf  dem  Kontinent  sei.  Für  die  Fahrt 
Kopf  und  Wangen  mit  fdschem  Haar  bedeckt.  In  dieser  Ver- 
mummung wurde  er  bei  der  Stätte  und  in  der  Stunde  des  Mordes 
gesehen.  Er  hat  sich  am  Telephon  fiir  einen  Postbeamten  aus- 
gegeben und  die  kränkelnde  Frau  Molitor,  gegen  ihren  Willen, 
zu  dem  Wege  genöthigt,  von  dem  sie  nicht  wiederkam.  Gleich 
nach  dem  Mord  ist  er  mit  dem  nächsten  Zug  weggefahren;  hat 
den  Klebebart  abgerissen,  Perrücke,  Hut  und  Mantel  in  den 

21*  323 


Aennelkanai  geworfen.  (Ein  paar  Tage  vorKer  hatte  er  die 
alte  Dame,  deren  krankem  Herzen  jähe  Aufregung  verhänge 
nißvoli  werden  konnte,  mit  einer  gefälschten  Alarmnachricht 
bei  Nacht  und  Nebel  nach  Paris  gelockt.)  Als  er  verhaftet 
wird,  stellt  er  sich  wahnsinnig,  leugnet  dann  Alles  und  läßt 
sich  erst  von  der  Nothwendigkeit  zu  halbem  Geständniß 
drängen.  Das  Alles  ist  erwiesen.  Motiv?  Liebe.  Ein  mit  allen 
Yankeesalben  geschmierter  Agent  &hrt  von  London  maskirt 
in  den  Schwarzwald,  um  von  der  heimlich  Angebeteten  Ab^ 
schied  zu  nehmen.  Er  könnte  ihr  auf  lauem,  sie  getrost  auf 
dem  Weg  zum  Vesperthee  ansprechen.  Nein.  Er  scheucht 
ihre  Mutter  aus  dem  Haus.  Will  er  etwa  hinein?  Der  Diener 
würde  ihn  erkennen;  mindestens  die  Maskerade  merken. 
Und  Olga  wäre  in  der  Wohnung  nicht  zu  finden.  Aber  neh^ 
men  wir  an,  er  fände  sie.  Sein  Plan  gelänge.  Er  spräche  mit 
Olga,  während  Frau  Molitor  im  Postbureau  ist.  Dort  erführe 
sie,  daß  kein  Beamter  sie  gerufen  habe;  auch,  wie  der  Mann 
aussah,  der  sich  ihr  am  Telephon  für  einen  Beamten  gab. 
Mit  dieser  Kunde  käme  sie  zurück:  und  miißte  von  Olga 
hören,  daß  der  Vermummte  ihr  lieber  Schwiegersohn  war. 
Das  Fräulein  hätte  nicht  den  geringsten  Grund,  die  fr«che 
Täuschung  der  Mutter  zu  verschweigen.  (Zwiefache  Täuschung: 
denn  der  Telephonfalscher  war  nun  ja  auch  als  Depeschen^ 
fiUscher  entlarvt.)  Die  Postdirektion  würde  den  Vorgang  der 
Staatsanwaltschaft  anzeigen.  Paragraphen  132  und  360^^  des 
Strafgesetzbuches.  Anmaßung  eines  Amtes  und  Grober  Un^ 
fug.   Vernehmung  der  Damen  Molitor.    Skandal,  der  das 

324 


säße  Geheimniß  in  Aller  Mund  und  den  verliebten  Fant  ins 
Gefingniß  oder  Haftlokal  brächte.  So  konnte  es  kommen, 
wenn  der  Plan  gelang;  mußte.  Dazu  Perrücke  und  Mastix^ 
hart?  Das  sollen  wir  glauben?  Dem  Luetiker,  der  am  fun£^ 
ten  Novemberabend,  wenige  Stunden  vor  dem  ersehnten 
Vdedersehen,  den  Hotelportier  nach  Lustmädchen  firagt,  zu^ 
trauen,  keusche  Herzenswallung  habe  ihn  über  den  Kanal 
gejagt?  Dieses  läppische  Märchen  einer  Gouvemantenseele 
soll  uns  bethören?  Kinder  und  welke  Jungfern.  Ein  Indizien^ 
beweis  kann  kaum  stärker  sein  als  der  in  Karlsruhe  erbrachte. 
Monate  lang  hat  er  Allen  genfigt  Drei  der  Familie  Moli^ 
tor  Angehörige  hielten,  in  verschiedenen  Städten,  ohne  die 
Möglichkeit  einer  Verständigung,  Hau  von  vom  herein  für 
den  Thäter.  Das  allein  gäbe  zu  denken.  Ueberlegt,  wie  das 
Wesen  eines  Schwagers  auf  Euch  gewirkt  haben  müßte,  deip 
Ihr,  ehe  noch  irgendwelche  .Indizien  gegen  ihn  zeugen,  die 
Ermordung  seiner  Schwiegermutter  zutraut.  Frau  Lina  war 
von  Haus  Schuld  überzeugt  und  drängte  den  angeklagten 
Mann  zum  Selbstmord.  Weil  er  getändelt  hatte?  Deshalb 
wollte  diese  Frau,  deren  Umsicht  und  Wesenstüchtigkeit  von 
jedem  Wort  ihrer  Briefe  und  ihres  Testamentes  erwiesen 
wird,  nur  deshalb  ihn  in  eine  That  treiben,  die  den  letzten 
Zweifel  an  seiner  Mörderschuld  beseitigen  und  ihrem.  Kind, 
einem  kranken  Mädchen,  den  Vater,  nehmen  mußte?  Lina 
bat  die  Schwester,  vor  Gericht  nicht  auszusagen.  Warum, 
wenn  sie  den  Mann  nicht  für  schuldig  hielt?  In  dem  selben 
Brief  der  Frau  steht  der  Angstruf:  »Wenn  er  nur  um  Gottes 

i25 


willen  nicht  den  Schuß  gesteht!«  Sie  weiß:  er  hat  geschossen; 
ho£Et  aber  noch,  der  Beweis  werde  nicht  zu  fuhren  sein. 
Drei  Monate  nach  der  That;  als  sie  Karl  im  Gefangniß  ge# 
sehen  und  gesprochen  hat  Eifersüchtig  auf  Olga?  So  eifere 
süchtig  wie  manche  mit  krankem  Uterus  alternde  Frau  auf 
die  jüngere  Schwester,  deren  Leib  frischer,  deren  Geist  be^ 
weglicher  ist.  Da  fallt  wohl  einmal  ein  spitzes  Wort  (Ueber# 
legt,  liebe  Damen,  ob  Ihr  nie  zu  Eurem  Männchen  gesagt 
habt:  »Die  gefallt  Dir  wohl  besser  ab  ich?  Mit  Der  lasse 
ich  Dich  nicht  allein.  Der  machst  Du  ja  ganz  höllisch  den 
Hof.«  Ueberlegt,  obs  furchtbar  ernst  gemeint  war  imd  wie 
in  der  Akustik  eines  Schwurgerichtssaales  die  Wiedergabe 
wirken  würde.)  Von  leidenschaftlicher  Eifersucht  kann  nicht 
die  Rede  sein.  Der  Rivalin,  vor  der  sie  aus  dem  Leben 
flieht,  würde  eine  Frau  nie  ihr  Kind  vermachen.  Linas  letzter 
Wille  bestinmit:  Olga  soll  des  Kindes  Mutter  sein;  das  Kind 
soll  den  Namen  des  Vaters  ablegen,  nie  in  der  Familie  Hau 
leben,  aber  den  Verurtheilten,  wenn  er  nach  fUnfzehn  Jahren 
aus  dem  Gefangniß  komme,  mit  kleinen  Beträgen  untere 
stützen.  (Daß  Hau  sich  mit  dem  Rest  seiner  Kraft  gegen 
die  Verlesung  dieses  Testamentes  wehrte,  ist  leicht  zu  wtu 
stehen.)  Linas  letztes  Wort  sprach  der  Schwester  Olga  herz^ 
liehen  Dank  aus.  Genügts?  Lina  hat  sich  vergiftet  und  tu 
tränkt,  weil  sie  in  ihrem  Mann  den  Mörder  ihrer  Mutter 
sah  und  nicht  den  Muth  fand,  »die  Schmach  zu  überstehen, 
die  über  mich  und  mein  Kind  gebracht  worden  ist«.  Das 
ist  bewiesen.  So  fest  ist  das  Gebälk,  das  den  Spruch  trägt. 

326 


Noch  mehr  ward  erwiesen.  Fünf  Monate  nach  dem  Mord 
hielten  zwei  zum  Gutachten  berufene  Psychiater,  hielt  auch 
der  Vertheidiger  den  Angeklagten  für  schuldig.  Als  im  Ge^ 
richtssaal  behauptet  wurde,  der  Vertheidiger  habe  am  zwölfi« 
ten  April  Haus  Sache  für  aussichtlos  erklärt,  weil  das  Gut» 
achten  des  Professors  Hoche  die  Ho&ung  enttäuscht  habe, 
kam  der  Rechtsanwalt  aus  dem  Häuschen.  Unerhört  1  Dieses 
Gutachten  habe  er  ja  erst  am  siebenzehnten  Mai  erhalten; 
konnte  also  am  zwölften  April  noch  nicht  Schlüsse  daraus 
ziehen.  Wirklich  nicht?  Am  zwölften  April  hat  er  an  Frau 
Lina  geschrieben:  »Das  Gutachten  des  Geheimrathes  Hoche 
wird,  wie  er  mir  bereits  mittheilte,  dahin  ausfallen,  daß  er 
Karl  Hau  fiir  vollständig  zurechnungfahig  halte;  und  ich 
kann  nur  hoffen,  daß  die  von  uns  zusammengetragenen  Mo^ 
mente  in  der  Verhandlung  so  viel  ergeben,  daß  eine  vermini« 
derte  Zurechnungfahi^eit  angenommen  werden  kann,  wo^ 
bei  ich  auf  Professor  Aschaffenburg  rechne,  und  daß  dann 
entweder  die  Geschworenen  die  Ueberlegung  verneinen,  so 
daß  nicht  eine  Verurtheilung  zum  Tode,  sondern  nur  zu 
einer  Freiheitstrafe  erfolgen  kann,  oder  doch  wenigstens  der 
sichere  Boden  für  eine  Begnadigung  geschaffen  wird.«  Am 
letzten  Verhandlungtag  sagte  der  Vertheidiger,  sein  Klient 
habe  auf  jeden  Erbanspruch  verzichtet  und  diirfe  schon  des^ 
halb  nicht  als  ein  geldgieriger  Mörder  verurtheilt  werden. 
Wann  hat  Hau  verzichtet?  Sechs  Monate  nach  dem  Mord; 
als  er  im  Untersuchungsge£mgniß  saß  und  seine  Sache  für 
verloren  hielt.   Am  selben  Tag  erzählte  der  Vertheidiger, 

327 


Professor  Ascha£Fenburg  habe  niemals,  nicht  eine  Minute 
lang,  an  Haus  Unschuld  gezweifelt.  Professor  Aschaffenburg 
hat  am  zwölften  April,  also  im  fünften  Monat  der  Untere 
suchunghaft,  an  Frau  Lina  geschrieben:  »Es  würde  für  Sie 
zweifellos  eine  außerordentliche  Erleichterung  sein,  wenn 
Sie  an  Ihren  Mann  mit  dem  Bewußtsein  zurückdenken  könn^ 
ten,  daß  er  die  furchtbare  That  in  Folge  seiner  geistigen 
Erkranktmg  begangen  hat«  AJs  er  diesen  Brief  schrieb, 
hatte  Professor  Aschaffenburg  an  Haus  Schuld  also  keinen 
Zweifel.  Am  zweiundzwanzigsten  Juli  nannte  der  Verthei^ 
diger  die  Anklage  ein  jämmerliches  Kartenhaus,  das  der 
schwächste  Windstoß  umwerfen  müsse.  »So  kläglich,  so 
traurig  war  noch  nie  ein  Indizienbeweis  wie  der  vom  Staats^ 
anwalt  hier  versuchte.  Wenn  Sie,  meine  Herren  Geschwo^ 
renen,  auf  Grund  dieses  Indizienbeweises  als  Schöffen  meinen 
Klienten  wegen  unerlaubten  Schießens  zu  drei  Mark  Geld^ 
strafe  verurtheilen  sollten:  Sie  würden  dem  Amtsanwalt  ins 
Gesicht  lachen,  Sie  müssen  den  Mann  fireisprechen.  Mit  dem 
Leben  eines  Menschen  darf  man  nicht  so  spielen.  Wie  es  hier 
geschehen  ist«  Am  zwölften  April  hat  der  selbe  Verthei^ 
diger,  der  den  Angeklagten  oft  gesehen  und  seit  (unf  Wochen 
auch  die  Zeugenprotokole  durchstudirt  hatte,  an  Frau  Lina 
geschrieben:  »An  eine  Freisprechung  ist  nach  der  heutigen 
Sachlage  nicht  zu  denken.  Ihr  Mann  giebt  sich  natürlich 
über  den  Ernst  der  Situation  keiner  Illusion  hin.  Das  Gefühl, 
daß  seine  Angehörigen  und  Freunde,  trotz  Allem,  was  ge^ 
schehen  ist,  ihn  nicht  im  Stich  lassen,  £kngt  allmählich  an, 

328 


i 


einen  günstigen  Einfluß  zu  üben«  Man  kann  damit  rechnen, 
daß  ihm  nach  Ablauf  einiger  Jahre  die  Freiheit  wiedergegeben 
wird;  und  bei  seiner  Jugend  und  seinen  Fähigkeiten  wird  er 
dann  doch  wieder  in  der  Lage  sein,  sich  eine  Existenz  zu 
schaffen.«  Nicht  der  leiseste  Zweifel  an  Haus  Schuld.  Nur 
die  Ho&ung,  die  Verurtheilung  zum  Tod  hindern  und  nach 
ein  paar  Jahren  vom  Großherzog  Begnadigung  erwirken  zu 
können.  Das  ist  das  jämmerliche  Kartenhaus  der  Anklage. 
So  sieht  der  Vertheidiger  die  Sache.  Genügts  endlich? 

Nein,  sagt  der  Herr  Anwalt  des  Rechtes.  Was  ich  damals 
schrieb^  beweist  gar  nichts;  denn  damals  kannte  ich  eben 
Haus  Beziehungen  zu  Olga  noch  nicht.  Gut,  Herr  Rechts^ 
anwalt  Aus  Ihren  Aprilbriefen  muß  der  Unbefangene  hero 
auslesen,  der  Angeklagte  habe  Ihnen  seine  Schuld  nicht  ge^ 
hehlt  Kein  Wort  deutet  an,  daß  er  sie  leugne.  Er  giebt  sich 
keiner  Illusion  hin.  Ist  seiner  Frau  »fiir  die  Güte  und  Liebe, 
gegen  die  er  sich  so  schwer  vergangen  hat,  von  Herzen 
dankbar.«  Ruhiger,  seit  er  weiß,  daß  Verwandte  und  Freunde, 
»trotz  Allem,  was  geschehen  ist«,  ihn  nicht  im  Stich  lassen. 
Sie  selbst  sagen,  an  Freisprechung  sei  nicht  zu  denken;  hoffen 
nur  auf  die  Hilfe  der  Psychiater,  die  das  Urtheil  mildem 
imd  nach  nicht  zu  langer  Frist  die  Begnadigung  ermöglichen 
werde.  Die  werde  der  Staatsanwalt  freilich  wohl  erst  empfehlen, 
wenn  »ein  glattes  Geständniß  vorliegt«.  Hofften  Sie  auch 
darauf?  So  scheints.  Sie  wissen  ja,  daß  gegen  den  Widero 
Spruch  der  Staatsanwaltschaft  die  Anwendung  des  Gnaden^ 
rechtes  kaum  je  zu  erwirken  ist.   Sie  schreiben:  »Darüber, 

329 


wie  das  Verhalten  Ihres  Mannes  in  der  Hauptverhandlung 
einzurichten  sein  wird,  sind  wir  noch  nicht  im  Reinen.« 
Seltsam.  Das  Verhalten  eines  unschuldig  des  Mordes  Ange^ 
klagten  kann  doch  keinen  Tag  lang  zweifelhaft  sein.  Sind  sie 
nachher  ins  Reine  gekommen?  Waren  die  Rollen  etwa  so  ver^ 
theilt,  daß  der  Mandant  den  verschwiegenen  Amoroso  zu 
mimen,  der  Mandatar  mit  keckem  Winkwort  au&  Ganze  zu 
gehen  hatte?  Das  diirfen  wir  nicht  annehmen.  Auch  nicht, 
daß  Sie  ein  »glattes  Geständniß«  gehört  haben.  Das  ist 
selten.  Schweigen  kann  sehr  beredt  sein;  und  schließt  doch 
keine  Thür,  die  ins  Freie  fuhren  könnte.  »Sie  haben  mein 
Schweigen,  meine  Seufzer  und  Thränen  f)ir  ein  Schuldbekennt^ 
niß  genommen?  Das  war  ein  Irrthum.  Ich  habe  mit  dem  Ver^ 
brechen  nichts  zu  thun.«  Dann  citirt  der  Herr  Vertheidiger 
leise  seinen  Ulpian:  »Cogitationis  poenam  nemo  patftur«; 
und  freut  sich  der  Zollfreiheit  seiner  Gedanken.  Wenn  der 
Klient,  der  schlaue  Kollege  aus  Washington,  unter  vier  Augen 
auf  Ehre  und  Gewissen  aber  seine  Unschuld  betheuert  hätte: 
wäre  Ihnen  dann  im  fünften  Monat  des  Vorverfahrens  die 
Sache  so  hoflEaunglos  erschienen?  Hätten  Sie  dann  der 
Frau  des  Angeklagten  gesagt,  an  Freisprechung  sei  nicht  zu 
denken?  Doch  ich  habe  nicht  das  Recht,  einen  Indizien^ 
beweis  gegen  Sie  zu  fuhren ;  weder  Beruf  noch  Lust.  Zurück 
zu  den  Hammeln  des  Kollegen  Patelin.  Voilä.  Sie  kannten 
Haus  Beziehungen  zu  Olga  im  April  noch  nicht.  Kennen 
sie  aber  jetzt.  Was  ist  damit?  Einstweilen  wissen  wir  nur, 
daß  Frau  Lina  auf  die  Schwester  nicht  immer  gut  zu  sprechen 

330 


war;  sich  neben  der  sechs  Jahre  jüngeren  Olga  verwittert 
fand;  dem  Mann,  dem  sie  ihren  kranken  Leib  langst  versagen 
mußte,  Flirtgelüsten  zutraute;  und  einmal  geschrieben  hat: 
»Olga  ist  ein  netter  Käfer.  Sie  ist  hübsch  und  kann  sehr 
interessant  sein.  Ich  habe  ein  Bischen  Angst  vor  ihr.«  Das 
ist  nicht  viel.  Nicht  mehr,  als  täglich  in  den  besten  Familien 
vorkommt.  Sie  müssen  ganz  Anderes  wissen.  Sonst  dürften 
Sie  nicht  auf  das  Fräulein  als  auf  eine  des  Mordes  Schuldige 
oder  Mitschuldige  deuten.  Worauf  stützt  sich  Ihr  Verdacht? 
Sicher  nicht  auf  die  morsche  Laienmeinung,  Olgas  (zweimal 
beeidete)  Aussage,  sie  habe  den  Schützen  nicht  deutlich  ge^ 
sehen,  müsse  falsch  sein.  Sechs  Uhr  abends  im  November. 
Die  Damen  plaudern.  Der  Mörder  schleicht  oder  springt 
heran.  Ein  Schuß:  die  Mutter  stürzt.  Ists  nicht  natürlich, 
daß  die  Tochter  zuerst  auf  die  Verwundete,  Sterbende  bUckt? 
Und  kann  nach  diesem  Augenblick  der  fliehende  Mörder 
nicht  schon  so  weit  weg  sein,  daß  nur  der  Kontur  im  Dun^ 
kel  noch  zu  erkennen  ist?  Könnte  die  unklügste  Haltung, 
das  wirrste  Wort  Olgas  in  der  Minute  solchen  Erlebens  auf^ 
Edlen?  Ein  Mädchen,  das  neben  sich  die  Mutter  verbluten 
sieht:  und  man  fordert  Ueberlegung,  heischt  bedachtsames 
Handeini  Ihr  Glaube,  Herr  Rechtsanwalt,  ruht  gewiß  auf 
festerem  Grund.  Um  die  Prozeßsensation  zu  verlängern  und, 
nach  der  im  Schwurgerichtssaal  erlittenen  Schlappe,  Ihrem 
Namen  geschwind  ein  Weltrühmchen  zu  haschen,  können  Sie 
an  dieser  Schändtmg  ja  nicht  mitgewirkt  haben.  Kennen  Sie 
D'Aguesseau?   Reformator  des  französischen  Rechtes;  hat 

331 


die  Bulle  Unigenltus  und  Laws  Aktienschwindel  bekämpft; 
als  Antipapist  und  Antikapitalist  also  Ihr  Mann.  Der  hat 
gesagt:  »Die  Advokatur  ist  so  alt  wie  das  Richteramt,  so  rein 
wie  die  Tugend,  so  nothwendig  wie  die  Gerechtigkeit.« 
Kennen  Sie  Beaumarchais?  Der  ließ,  zwanzig  Jahre  nach 
dem  Tode  des  Kanzlers  D'Aguesseau,  seinen  Figaro  einem 
Rabulisten  vor  Gericht  zurufen:  »Continuez  i  diraisonner, 
mais  cessez  d'injurierl  Lorsque,  craignant  l'emportement  des 
plaideurs,  les  tribunaux  ont  tolire  qu*on  appellt  des  tiers, 
ils  n*ont  pas  entendu  que  ces  difenseurs  modires  deviendraient 
impuniment  des  insolents  privilegies.  C'est  digrader  le  plus 
noble  Institut.«  Wie  denken  Sie  über  die  Advokatur  im 
zwanzigsten  Jahrhundert,  gefeierter  Herr  Rechtsanwalt? 

Schnell  wieder  ins  SachUche.  Wollt  Ihr,  daß  Morde  ge^ 
sühnt  werden?  Ja.  Laden  die  Herren  Mörder  Zaungäste  an 
den  Ort  der  That?  Nein.  Soll  der  Grundsatz  der  freien 
Beweiswürdigung  weitergelten,  das  Gericht,  Gelehrte  und 
Laien,  über  das  Ergebniß  der  Beweisaufnahme  nach  seiner 
freien,  aus  dem  Inbegriff  der  Verhandlung  geschöpften  Ueber^ 
Zeugung  entscheiden?  Ja.  Oder  wollt  Ihr  wieder  Beweis^ 
regeln  schaffen.  Normen,  die  bündig  bestimmen,  unter  welchen 
Voraussetzungen  eine  Thatsache  als  erwiesen  anzusehen  sei? 
Den  Paragraphen  260  der  deutschen  Strafprozeßordnung 
etwa  durch  die  Vorschrift  der  Karolina  ersetzen,  die  den 
nicht  geständigen  Angeklagten  durch  den  Augenschein  oder 
durch  »zwei  oder  drei  glaubhaftige  gute  Zeugen,  die  von 

332 


einem  wakren  ^X^en  sagend,  überfuhrt  sehen  will?  Nein. 
Habt  Ihr  erfahren,  daß  der  direkte  Beweis  (durch  das  Zeugniß 
fehlbarer  Menschen)  eben  so  große  Mängel  hat,  eben  so  leicht 
trügen  kann  wie  der  Indizienbeweis?  Ja.  Bleibt  also  auf  dem 
Boden  unseres  Kriminalrechtes?  Dann  sind  wir  einig.  Keiner 
von  uns  kann  beschwören,  daß  Karl  Hau  seine  Schwiegermutter 
gemordet  hat.  Doch  ungemein  starke  Indizien  weisen  auf  seine 
Schuld.  Geldmangel,  Prahlsucht,  Hang  zur  Lüge  und  zu  üppii« 
gem  Leben;  heimliche  Reise,  falsche  Depesche,  £dscher  Bart, 
falscher  Telephonruf;  er  ist  an  der  Stätte  und  in  der  Stunde 
des  Mordes  gesehen  worden;  war  vermummt  und  hat  Frau 
Molitor  auf  den  Weg  gelockt,  wo  die  Kugel  sie  traf;  hat  dann 
simulirt  und  geleugnet.  Die  Frau  hielt  ihn  für  schuldig,  ging 
aus  der  Schmach  in  den  Tod  und  sorgte  mit  letzter  Kraft  für 
die  Tilgung  jeder  Gemeinschaft  zwischen  diesem  Vater  und 
seinem  Kind.  Schwägern  und  Schwägerinnen  gilt  nur  er  als 
der  Mörder.  Daß  ers  ist,  dünkt  selbst  seinen  Vertheidiger 
fast  ein  halbes  Jahr  lang  völlig  gewiß.  Was  er  zur  Erklärung 
seines  Handelns  vorbringt,  ist  ein  schlechter  Toggenburg^ 
roman;  zu  schlecht  und  kindisch  fbr  solchen  Schlaukopf. 
Ware  aber  als  ein  feines  Gespinnst  zu  loben,  wenns  das 
Haupt  eines  Schuldigen  schützen  sollte.  Denkt  Euch  für 
fiinf  Minuten  in  dessen  Lage.  Eitelkeit  hat  ihn  (der  sich  der 
Ehefrau  fiir  den  Sohn  eines  Millionärs  ausgab)  über  den 
eigenen  Reiz,  die  eigene  Geltung  im  neuen  Familienkreis 
getäuscht.  Ihn,  dünkelts  in  seinem  Hirn,  wird  Keiner  verdacht 
tigen.  Die  Alte  hat  ein  schweres  Herzleiden ;  vielleicht  vrirft 


hz 


sckon  die  Sckreckdepesche  (»Olga  erkrankt;  schnell  nach 
Paris  kommen«)  sie  um.  Noch  nicht?  Dann  muß  man  derber 
nachhelfen.  Kein  Mitwisser.  Kein  ernstlich  zu  fürchtender 
Belastungzeuge.  Die  Familie  sucht  sicher  auf  anderer  Spur; 
und  Linas  Liebe  kämpft  tapfer  wohl  wider  jeden  Zweifel. 
Gelingts,  dann  hat  Karl  wieder  Betriebskapital  und  kann  in 
Pennsylvania  Avenue  weiterprotzen.  Und  muß  es  nicht  ge^ 
lingen?  Olga  ist  zum  Thee  geladen.  Die  Alte  geht  also 
allein.  Warten,  bis  die  Luft  rein  ist;  nach  vollbrachter  That 
durch  den  Novembemebel  rasch  in  den  frankfurter  Zug. 
Undenkbar,  daß  es  ans  Licht  kommt.  Kommt  aber.  Alle 
Ho&ungen  schmelzen  im  ersten  Schnee.  Was  bleibt?  Nur 
der  Versuch,  sich  in  ein  Erotenmysterium  zu  retten.  Klarheit  ist 
Tod;  nur  im  Dunkel  der  Kopf  zu  bergen.  Ein  verliebter 
Narr,  den,  da  er  die  Traute  beschleichen  wollte,  das  Schick« 
sal  mit  grausamer  Tatze  in  blutrothe  \(lrbel  stieß.  Was  blieb 
sonst?  Geständniß?  Dann  endet  er  auf  dem  Block  oder, 
mit  verseuchtem  Leib,  friih  im  Zuchthaus.  Starres  Leugnen? 
Wirkt  nicht.  Noch  muß  er  auch  furchten,  daß  Olga,  die 
wider  Erwarten  mitging,  ihn  erkannt  hat.  Der  schmeichelts 
wohl  ein  Bischen,  wenn  sie  als  keusch  angeschwärmtes  Idol 
so  vor  der  Nachbarschaft  stolziren  darf:  und  sie  zeigt  sich 
an  der  Barre  freundlich.  Und  er  hat  ja  keine  Wahl.  Wtt* 
steht  Ihr  ihn?  Jetzt  stinmit  Alles.  Wird  auch  der  Wunsch 
begreiflich,  die  Nacht  vor  der  Blutarbeit  im  Arm  eines  ge« 
mietheten  Mädchens  zu  verbuhlen.  Der  beau  geste  des  disß 
kreten  Ehrenmannes.  Die  ganze  Taktik  vor  und  nach  dem 

334 


Geständnifi  der  Unschuld.  Er  war  »über  seine  Haltung  im 
Reinen«.  Ist  Euch  dieser  Indizienbeweis  zu  schwach,  dann 
bescheidet  Euch,  von  zehn  Morden  neun  ungesühnt  zu  lassen. 
Das  Motiv  zum  Mord  scheint  dem  Betrachter  nicht  stark. 
Schien  oft»  bei  manchem  überführten  Verbrecher,  noch  viel 
diinner.  Beispiele  bei  Feuerbach,  im  Pitaval  und  in  den 
Zeitungen.  Beginnt  mit  diesem  Fall  eine  neue  Aera  der  Kri^ 
minalistik?  \(lrd  fortan  ein  Motiv  verlangt,  das  ruhig  wägen^ 
der  Vernunft  genügt?  Dann  muß  es  Freisprüche  regnen. 
Vor  der  erbrochenen  Ladenkasse  eines  Grünkramhändlers 
wird  ein  Mann  gefunden;  in  seiner  Tasche  ein  Stemmeisen. 
Festgestellt  wird,  daß  er  zwei  Stunden  vor  dem  Einbruch 
den  Bart  abgeschnitten  und  das  Haar  gefiirbt  hat  Einbrecher? 
»Ich  bin  Chauffeur,  verdiene  hundert  Mark  im  Monat:  und 
sollte  Freiheit  und  Ehre  auf  dieses  Nickelhäuflein  gesetzt 
haben?«  Sprecht  den  Mann  frei.  Oder  entschließt  Euch, 
wie  bisher  die  indicia  auch  ohne  zureichendes  Thatmoüv 
gelten  zu  lassen.  Ein  Blinder,  meinten  allerlei  Zaunkrimina^ 
listen,  müsse  ja  merken,  daß  Hau  ein  Geheimniß  verberge. 
Daß  er  den  Schein  schuf,  ist  gewiß.  Ob  er  wirklich  eins  verbarg, 
kann  ich  niemals  errathen.  Muß  ichs  denn,  um  mir  ein  Ur# 
theil  zu  bilden?  Nein...  Jal  Wer  ruft  mir?  Eine  Stentori« 
stinune.  Des  Vertheidigers.  Der  hebt  nun  wieder  an.  »Mit 
diesem  Klienten  war  es  eben  nicht  wie  mit  den  alltäglichen. 
Der  wollte  nicht  sich  retten,  sondern  einen  Anderen  decken. 
Der  verbot  mir  die  besten  Entlastungbeweise.  Verbot,  die 
wichtigsten  Sachverständigen  noch   einmal   vernehmen   zu 

335 


lassen.  Und  da  er  die  Tragweite  seiner  Beschlüsse  und  Ver^ 
böte  klar  erkannte  und  wußte,  daß  es  um  seinen  Kopf  ging, 
ließ  ich  ihn  gewähren.»  Mit  Recht.  Denn:  Alles  spricht 
gegen  den  Mann.  Sein  Handeln  am  sechsten  November  und 
nach  der  Verhaftung.  Das  Zeugniß  der  Lebenden  und  Toten. 
Und  er  will  nicht  entlastet  sein.  Aber  auch  nicht  verurtheilt. 
Man  soll  seinem  ehrhchen  Gesicht  glauben,  daß  er  am 
sechsten  November  ein  fast  beispielloses  Pech  gehabt  hat, 
unschuldig  ist  und  einen  Anderen  deckt.  Den  nennt  er  aber 
nicht.  Läßt  Alles  im  schwärzesten  Dunkel.  Diskretion  Ehren^ 
Sache.  Das  kann  ungeheuer  edel  sein.  Aber  auch  ungeheuer 
bequem.  Der  ungeheuer  Edle  mußte  sich  auf  ein  Todes^ 
urtheil  gefaßt  gemacht  haben.  Ihr  Klient  findet  das  Urtheil 
unbegreiflich.  Und  beantragt  die  Revision.  Ist  die  Ge^ 
schichte  nicht  zu  dumm?  Man  opfert  sich  oder  wehrt  sich 
seiner  Haut.  Hier  ist  Einer,  der  sich  opfern  will,  aber  staunt, 
da  man  ihm,  dem  des  Mordes  Beschuldigten,  mehr  zumuthet 
als  neunmonatige  Untersuchunghaft.  »Todesurtheil?  Ich  bin 
ja  unschuldig.  Mein  Geheimniß  nehme  ich  mit  ins  Grab. 
Gebe  Euch  aber  nicht  das  Recht,  mich  ins  Grab  zu  stoßen. 
Ich  will  leben,  in  Freiheit,  versteht  sich,  will  schweigen  und 
frage  den  Teufel  nach  Eurer  verschimmelten  Jurisprudenz 
und  Eurem  altmodischen  Siihnbedürfhiß.«  Ecce  Hau.  Ein 
Merschrötiger  geht  mit  einer  Frau  in  einsamen  Wald  und 
kehrt  allein  zurück.  Der  Leichnam  der  Frau  wird  gefunden. 
Der  Vierschrötige  verhaftet.  Er  hat  Blutflecke  an  den  Hosen 
und  im  Portemonnaie  den  Trauring  der  Frau.  Mörder?  Wo 

336 


/^ 


denkt  Ihr  hin?  »Ich  gebe  zu,  daß  ich  verdächtig  scheine» 
bin  aber  unschuldig.  Ich  habe  der  Frau  kein  Haar  gekrümmt. 
Hatte  nicht  den  geringsten  Grund,  sie  aus  der  Welt  zu 
schaffen.  Mehr  sage  ich  nicht.«  Würde  nicht  jeder  Gerichts^ 
hof  den  Mann  verurtheilen?  Seine  Diskretion  fiir  eine  Noth^ 
ausflucht  halten?    Noch  in  der  Marxistengesellschaft;  jeder. 

Hexenhammer. 

Herr  Karl  Hau  soll  mit  anderem  Maß  gemessen  werden. 
Ist  Solicitor,  heißt  Professor  gar  und  kommt  aus  der  Weißen 
Stadt  Washingtons  und  Roosevelts.  Davon  kann  man  träu^ 
men.  Und  dann  war  Liebe  im  Spiel.  Ein  süßes,  schmerze 
lieh  süßes  Geheimnis.  Meinetwegen.  Ich  bin  nicht  neugierig. 
Ich  sehe,  daß  hier  judizirt  worden  ist,  wie  im  Deutschen 
Reich  täglich  judizirt  wird.  Sehe  einen  ungewöhnlich  starken 
Schuldbeweis,  der  nur  entkräftet  werden  könnte,  wenn  ein 
Mädchen  des  Mordes  schuldig  befunden  würde.  Hau  ein 
ritterlicher  Held,  Fräulein  Olga  Molitor  Mörderin,  Anstifterin, 
Helferin:  vor  diese  Wahl  stellt  man  uns.  Bis  hierher  war 
die  Geschichte  dumm;  hier  wird  sie  gemein.  Hundert  Indizien 
deuten  auf  Hau.  Gegen  das  Fräulein  ist  nirgends  ein  halu 
barer  Verdacht  vorgebracht  worden.  Von  Keinem.  Noch  am 
letzten  Morgen  der  Hauptverhandlung  mußte  Jeder  glauben, 
Haus  Vertheidiger  wittere  in  dem  Diener  Karl  Wieland  den 
Mörder.  Hatte  sein  Mandant  ihm  seitdem  Neues  anvertraut,  so 
mochte  es  fiir  die  Wiederaufitiahme  des  Verfahrens  verwerthet 
werden.   Wars  nur  für  den  Busen  des  Beichtigers  bestimmt, 

aa,m  337 


dann  mußte  der  Herr  Rechtsanwalt  es  da  lassen.  Das  Gewink 
und  Gemurmel  ist  eine  Schmach.  Erspart  uns  die  Haubio^ 
graphien  und  Hauhymnen,  makulirt  ohne  Säumen  Eure  Psycho^ 
logen  versuche:  und  sorgt  dafür,  daß  ein  Mädchen  nicht 
mißhandelt,  bis  aufs  Hemd  entkleidet  und  von  schmutzigen 
Mäulem  bespeichelt  werde.  Das  Geheimniß  des  Herrn  Hau 
konnte  mich  erst  kümmern,  wenn  er  die  Gnade  hatte,  es  zu 
entschleiern;  bis  dahin  mußte  ich  vermuthen,  daß  es  eine 
Flunkerfinte  sei.  Die  Mädchenschändung  aber  ist  fiir  Jeden, 
der  eine  Frau  oder  Mutter,  Schwester  oder  Tochter  liebt, 
eine  verdammt  ernste  Sache.  Sind  wir  wirklich,  wie  Fromme 
oft  zetern,  bis  zur  Verthierung  herabgekommen?  Tiefer?  (Im 
Thierreich  werden  die  Weibchen  ja  beschützt.)  Im  Prozeß 
Peters  ist,  auf  Anordnung  eines  Hohen  Gerichtshofes,  eine 
Dame  gezwungen  worden,  die  intimsten  Herzensangelegen^ 
heiten  ihrer  ersten  Jugend  dem  lieben  Götzen  »Oeffentlichi« 
keit«  preiszugeben;  unter  ihrem  Eid  über  Gefiihle  und  Be^ 
Ziehungen  auszusagen,  die  nicht  das  loseste  Fädchen  an  den 
Prozeßstoff  band.  Von  Rechtes  wegen.  Niemand  hat  die 
unnützliche  Härte  solches  Verfahrens  gerügt.  In  und  nach  dem 
Prozeß  Hau  wird  eine  Dame,  die  beschworen  hat,  nichts  für 
die  Thatfrage  Erhebliches  verschwiegen  zu  haben,  be^ 
schnüffelt,  bespien,  eines  Kapitalverbrechens  verdächtigt.  Ein 
Brite  hat  in  einem  Buch  über  Deutschland  neulich  gesagt, 
in  diesem  Reich  behandle  man  die  Frau  schlechter  als  anders«: 
wo ;  die  noble  Empfindung  der  Ritterzeit  sei  nur  im  Offizier«? 
Corps  und  in  einem  Teil  der  Studentenschaft  zu  spüren. 

338 


Fräulein  Olga  Molitor  hat  Arges  erlebt.  An  ilirer  Seite 
ist  die  Mutter  gemordet  worden.  Die  Schwester  hat  sich  tu 
tränkt.  Der  Vater  des  siechen  Mädchens,  das  Lina  der 
Schwester  hinterlassen  hat,  soll  geköpft  oder  auf  Lebenszeit 
ins  Zuchthaus  gesperrt  werden.  Eine  Katastrophe,  die  nur 
ein  kräftiger  Körper  und  ein  starkes  Herz  ttberstehen  kann. 
Das  Fräulein  hat  geschworen:  Ich  habe  mit  all  diesen  fiircht^ 
baren  und  traurigen  Dingen  nichts  zu  thun^  War  mit 
Schwj^er  Karl  nie  irgendwie  intim.  Nannte  ihn  Mr.  Hau. 
Sah  in  ihm  stets  den  Mann  meiner  Schwester.  Wußte  nichts 
von  seiner  heimlichen  Reise.  Weiß  nichts  von  dem  Mord« 
plan.  Zweimal  hat  sies  beschworen.  War  ihre  Aussage  fahr« 
lässig  oder  gar  wider  besseres  Wissen  unwahr?  Der  Beweis 
ist  nicht  einmal  versucht  worden.  Aber  der  Pöbel  johlt: 
»Nieder  mit  der  rothen  Olgal»  Droht  ihr  mit  Knüppeln 
ins  Wagenfenster  und  ängstet  sie  hinter  eine  Polizistenhecke. 
Die  Gebildeten  treibens  sanfter;  doch  auch  gefahrlicher. 
Auf  allen  Lippen,  in  allen  Blättern :  Olga  Molitor.  Ob  sie 
noch  hübsch  ist.  Schlank  oder  rund?  Hüften?  Roth  oder 
blond?  Sinnlich  oder  jungfemhaft  kühl?  Was  man  unter 
Pastorstöchtem  so  »frei«  nennt?  Schlimme  Bücher  hat  sie 
ja  gelesen;  mindestens  also  gern  mit  dem  Feuer  gespielt. 
Und  ihre  Gedichtet  Gar  nicht  druckbar.  Ob  sie  selbst  ge« 
Schossen  oder  den  Schwj^r  angestiftet  hat?  War  er  ihr 
erster  Flirt?  Ist  ihr  die  That  oder  Mitwisserschaft  zuzu^ 
trauen?  Jedes  Zufallswörtchen,  das  im  Wohnzimmer  oder 
in  der  Gesindestube  je  über  sie  gesprochen  wurde,  wird  jetzt 

22*  339 


weitergetragen;  meist  wohl  vergröbert  Wohin  sie  geht:  ihr 
Name  ist  bekannt;  ist  gevehmt.  Jeder  kennt  die  Bilanz 
ihres  Vermögens,  ihres  Erlebens.  Weiß  sogar,  daß  sie  erst 
seit  dem  Tod  ihrer  Mutter  seidene  Unterröcke  trägt.  Wer 
fuhrt  ein  so  weltbekanntes  Bürgerfräulein  (das  höchstens 
sechstausend  Mark  Rente  hat)  zur  Ehe  ins  Haus?  Auf  die 
Gefahr,  überall,  im  Salon  und  im  Theater,  hinter  seinem 
Rücken  zischeln  zu  hören:  »Ach,  die  Molitor?« .. .  Ists 
noch  nicht  genug?  Ein  Verbrechen  wäre  mit  dem  Schicksal 
eines  unter  giftigem  Anhauch  alternden  Mädchens  fast  schon 
gesühnt.  Dem  Pöbel  ist  Olga  das  Scheusal  von  den  Linden^ 
staffeln.  Der  guten  Gesellschaft  eine  vielleicht  recht  intern 
essante,  doch  mitVorsicht zu  geniefknde  Dame.  Warum?  Weil 
sechs,  acht  große  Meinungdresseurs  dem  geilen  Hundstags^ 
hunger  einen  Jungfrauenleib  in  den  Käfig  geworfen  haben. 

Herodot  erzählt:  »Wenn  der  Skythenkönig  erkrankt,  läßt 
er  die  angesehensten  Wahrsager  ins  Schloß  kommen  und 
fragt  sie  nach  der  Ursache  seines  Leidens.  Die  nennen  dann 
Einen,  der  beim  Herde  des  Königs  (alsch  geschworen  und 
so  die  Krankheit  herbeigerufen  habe.  Dieser  Mensch  wird 
allsogleich  verhaftet.  Leugnet  er  den  Meineid,  so  läßt  der 
König  neue  Wahrsager  kommen.  Spricht  die  Mehrheit  den 
Angeklagten  schuldig,  so  wird  er  geköpft.  Zeugt  die  Mehr^ 
heit  fiir  ihn,  so  werden  die  Wahrsager  hingerichtet,  die  zu^ 
erst  zum  Urtheil  berufen  waren.«  Graues  Alterthum  roher 
Skythen.   Karl  der  Große  sah  die  Welt  schon  aus  hellerem 

340 


Auge.  Er  hat  den  Beschluß  der  Synode  bestätigt,  die  Bxc 
Recht  erkannt  hatte:  »Wer,  vom  Teufel  verblendet,  ein 
Weibsbild  für  eine  Hexe  und  Menschenfresserin  hält  und 
deshalb  verbrennet,  soll  des  Todes  sein.«  785.  Nach  tausend 
Jahren  sind  wir  viel  weiter.  Der  Hexenhammer  gilt  nicht 
mehr.  Hexenbad  und  Hexenwage  sind  des  Landes  nicht 
mehr  der  Brauch.  Höchstens  noch  die  Thränen^  und  die 
Nadelprobe.  Eine,  der  auf  der  Folter  das  Auge  trocken 
bleibt  und  deren  Haut  nicht  blutet,  wenn  die  Male  und 
Narben  ihres  nackten  Leibes  mit  spitzen  Nadeln  durch« 
stochen  werden:  Die  ist  gewiß  eine  Hexe.  Wir  sind  modern. 
Die  Kirche  ist  machtlos.  Der  König  hinter  goldenem  Gitter. 
Die  Folter  abgeschaiSt.  Der  Henker  ein  Popanz.  Ueber  uns 
waltet,  allmächtig,  doch  mild,  nur  die  Oeffentliche  Meinung. 
Und  morgens  und  abends  labt  uns  ihr  Segen  den  Sinn. 


341 


SCHOENEBECKS. 


Allenstein,  das  Olsztyn  der  masurischen  Polen ,  liegt  an 
einem  Nebenfluß  des  Pregel,  der  Alle,  wo  Marschall  Soult 
1807,  vier  Tage  vor  der  Schlacht  bei  Eylau,  den  russo^reußi^ 
sehen  Nachtrab  schlug.  Ungefähr  dreißigtausend  Einwohner. 
Kreisstadt  im  preußischen  Regirungbezirk  Königsberg;  (un& 
zig  Kilometer  von  der  russischen  Grenze.  Hochmeistern 
schloß;  restaurirte  Katholikenkirche;  nah  beim  Städtchen  die 
Provinzialirrenanstalt  Kortau.  SchneidemCihlen,  Brauereien, 
Maschinenfabriken;  Handel  mit  Holz,  Leinwand,  Hopfen. 
Dragoner,  Feldartillerie,  zwei  Infanterieregimenter  in  Garn 
nison.  Dahin  wurde  im  Dezember  1906  der  fast  siebenundn 
dreißigjährige  Hauptmann  von  Goeben  als  Batteriechef  vem 
setzt  Sohn  aus  der  zweiten  Ehe  eines  Gutsbesitzers,  der  als 
Sechzigjähriger  an  Leberkrebs  starb.  Die  Mutter,  in  deren 
Familie  Psychosen  nachweisbar  sein  sollen  und  die  als  eine 
in  hemmunglosen  Ueberschwang  neigende,  dem  Sohn  in 
blinder  Zärtlichkeit  anhangende  Frau  geschildert  wird,  war 
(unfunddreißig  Jahre  alt,  als  das  Kind  ihrem  Schoß  entn 
bunden  wurde.  Schwere  2Iangengeburt.  Die  rechte  Seite  des 
Knabenkörpers  bleibt  in  der  Entwickelung  hinter  der  linken 

345 


zurück.  Ann  und  Bein  sind  rechts  um  einen  Centimeter 
kürzer  als  links.  Der  Jüngling,  der  Mann  schleift  das  rechte 
Bein  schwerfallig  nach  und  benutzt  zum  Schreiben  und 
Schießen  den  linken  Arm.  Als  Kind  hat  er  an  Masern, 
Scharlach,  Keuchhusten,  Skrofulöse  gelitten  und  sich  einen 
Leistenbruch  zugezogen.  Als  Neunjähriger  den  Vater  ver^f 
loren  und  seitdem  den  strengen  Ernst  eines  Erziehers  nie 
kennen  gelernt.  Ein  leidlicher  Schüler,  der  im  Sprachen« 
Unterricht  schlecht,  in  Mathematik  und  Geschichte  besser 
vorwärts  kommt,  neben  Durchschnittsverstand  ungemeinen 
Hang  ins  Einbildnerische  zeigt  und  oft  auf  der  Neigung  er« 
tappt  wird.  Erträumtes  für  Erlebtes  auszugeben.  Er  tnU 
schmeichelt  der  Mutter  die  Erlaubniß,  Seekadett  zu  werden, 
scheidet  aber  bald  wieder  aus  diesem  Corps  und  besteht  im 
zwanzigsten  Lebensjahr  die  Abiturientenprüfung.  Dann  tritt 
er,  der  sich  durch  Leibesübung  gekräftigt  hat,  ins  Heer, 
wird  1891  Lieutenant  in  einem  nordwestdeutschen  Feld« 
artillerieregiment,  nimmt  1899,  als  Oberlieutenant,  den  Ab« 
schied  und  ficht  in  Südafrika  im  Burenheer  gegen  die  Briten. 
Dort  wird  er  viermal  verwundet  (an  Armen  und  Händen, 
an  der  Hüfte  und  dem  fünften  Metakarpalknochen)  und  von 
seinem  auf  ihn  stürzenden  Pferd  an  Darm  und  Niere  ge« 
quetscht.  Erkrankt  an  Malaria  und  Schwarzwasserfieber  und 
kehrt  mit  geschwächtem  Körper  nach  Europa  zurück.  In  einer 
Brochure,  die  von  den  Sachverständigen  beachtet  wird,  schil« 
dert  er  die  Burentaktik.  Beantragt  seine  Reaktivirung,  wird 
in  den  Großen  Generalstab  versetzt,  geht  1903,  im  Auf« 

346 


standsfrühiing,  nach  Makedonien  (wo  er  an  heftigen  Ma« 
lariarückßUlen  leidet),  arbeitet  dann  wieder  im  Geneiaktab 
und  wird,  nach  einer  langwierigen  Furunkulose,  im  Advent 
1906  als  Batteriechef  ins  Masurische  Feldartillerieregiment 
Nr.  73  versetzt.  Kein  Mustersoldat;  doch  einer,  der  seinen 
Beruf  liebt.  In  der  Moltkestraße  genagt  seine  Leistung  nicht 
und  auf  der  Generalstabsreise  fallt  sein  Unvermögen»  seine 
Zerfahrenheit  geradezu  auf.  Er  ist  unpünktlich,  im  Bureau^ 
dienst  lässig,  verträumt  und  macht  sich  durch  hochfahrendes 
wie  durch  wiirdelos  unterwürfiges  Wesen  manchem  Vorge« 
setzten  verhaßt.  Den  Kameraden  ist  er  ein  Sonderling,  hinter 
dessen  fest  verschlossener  Fassade  vielleicht  auch  besondere 
Fähigkeit  zu  suchen  ist  Einer,  der  schon  Blut  gerochen, 
Menschen  getötet,  Kerls  gegen  den  Feind  geführt  hat:  Das 
unterscheidet  ihn  von  den  Offizieren  des  Heeres,  das  seit 
fast  sechsunddreißig  Jahren  im  Frieden  exerzirt.  Dazu  die 
Romantikerpose  Eines,  der  sich  in  Martyrien  sehnt;  nur 
nach  der  Möglichkeit  zu  lechzen  scheint,  fiar  den  Nächsten, 
den  Fernsten  sein  Leben  zu  opfern.  »Ich  würde  mich  ohne 
Zaudern  töten,  wenn  ich  mit  diesem  Opfer  einem  bedrängten 
Menschen  helfen  könnte;  dann  hatte  mein  Leben  wenigstens 
einen  Nutzen  gehabt.«  So  spricht  er;  und  findet  Glaubige. 
Trotzdem  Keiner  ihn  je  ein  Opfer  bringen  sah,  traut  mans 
ihm  zu.  Die  Legende  umspinnt  die  Gestalt  des  schlanken, 
mittelgroßen  Mannes  mit  dem  nach  englischer  Sitte  gestutzten 
Schnurrbart  in  dem  breiten,  gelbbraunen  Gesicht,  über  dem 
das  Haar  früh  zu  ergrauen  beginnt  Wegen  einer  Frau  sott 

347 


er,  in  einem  Duell  ohne  Zeugen,  einen  Kameraden  getötet 
haben.  Einen  anderen  wollte  er,  als  Vertheidiger  der  Frauen^ 
ehre,  würgen.  Interessant.  In  BerUn  hat  er,  auf  demMc^ 
toria^Luise^Platz,  einen  häßlichen,  grinsenden  Mann  beim 
Schnurrbart  gepackt  und  ihm  mit  so  wildem  Blick  in  die 
über  den  Lippenrand  ragenden  Zähne  gelacht,  daß  der  Er^ 
schreckte  einen  Tollen  vor  sich  zu  sehen  glaubte  und  hastig 
davonlief.  Unheimlich.  Nicht  Einer,  wie  man  ihn  in  jeder 
Garnison  auf  der  Straße  trifft.  Er  wiU  auffallen:  und  er^ 
reichts.  Die  Männer  achten  auf  ihn;  den  Preußenmädchen 
ist  er  ein  lockendes  Räthsel.  Doch  die  Weiber,  denen  der 
melancholische  Held  des  Burenkrieges  leicht  einen  lächelnden 
Blick  abstöhle,  scheint  der  Herr  Hauptmann  nicht  zu  sehen. 
Eine  Weile  auch  nicht  die  eleganteste  Dame  der  Kleinstadt: 
Antonie  von  Schoenebeck  (die  sich  lieber  Antoinette  nennen 
läßt);  die  Frau  eines  Majors,  der  als  Soldat  bei  Vorgesetzten 
und  Untergebenen  einen  guten  Ruf  hat.  Sonst?  Die  Frau 
hak  er  nicht  so  fest  im  Zaum  wie  seinen  Gaul.  Könnte  von 
ihr  wohl  bessere  Manieren  und  korrekteres  Wesen  fordern. 
Eine  gut  aussehende,  aber  schlecht  disziplinirte  Dame,  deren 
Schrullen  in  allen  Ecken  beschwatzt  werden.  Daß  sie  einen 
ihr  noch  nicht  vorgestellten  Rittmeister  unter  freiem  Himmel 
um  eine  Cigarette  bittet  und  ihm,  hinter  dem  Rauchwölkchen, 
dann  ins  Gesicht  lacht,  zeigt  einen  Mangel  an  schüchterner 
Zurückhaltung,  der  dem  Kavalleristen  das  Blut  in  die  Stirn 
treibt.  Scheint  aber  harmlos,  wenn  mans  Anderem  vergleicht, 
was  das  Gerücht  ausplaudert.  Schlimme  Erotika.  Obs  wahr 

348 


ist?  Die  Tochter,  die  Frau  eines  OflBziersI  Kaum  glaublich. 
Und  wer  will  sich  die  Finger  verbrennen?  Der  Ehemann 
erfiihrts  ja  immer  zuletzt.  Dieser  kümmert  sich  nur  um  das 
Bataillon  (kaum  um  seine  zwei  Kinder)  und  um  dasWaid^ 
werk.  Fast  jede  dienstfreie  Stunde  verbringt  er  auf  dem  ge^ 
pachteten  Jagdgrund.  Läßt  die  Frau  thun,  was  ihr  beliebt, 
Miißte  aber  natürlich  losknallen,  wenn  ihm  ein  der  Satisfalu 
tion  Fähiger  die  Frau  verdächtigte.  Solcher  GeEahr  will  Kei^ 
ner  sich  aussetzen.  »Laßts  laufen  und  seid  &oh,  wenn  nicht 
auch  in  unserer  kleinen  Grenzgamison  ein  Riesenskandal 
zum  Himmel  stinkt.«  Gustav  von  Schoenebeck»  der  selbst 
nur  achtzigtausend  Mark,  also  kaum  mehr  als  dreitausend 
Mark  Zinsen  im  Jahr  außer  dem  Sold  zu  verzehren  hat, 
kann  mit  dem  Gelde  der  Frau  behaglich  leben  und  seine 
Gäste  besser  bewirthen  als  mancher  Brigadier.  Warum  soll 
man  sich  den  derben,  aber  bequemen  Fassagier  verfeinden? 
Hauptmann  von  Goeben  hat  gehört,  daß  über  die  Majors^ 
&au  Uebles  getuschelt  wird;  dem  Gerede  aber  nicht  nach^ 
gedacht.  Im  Februar  1907  sieht  sie  ihn  auf  einem  Kostüme 
ball.  Er  ist  in  Matrosentracht,  mit  offenem  Hals  und  Brust» 
ansatz;  und  mag,  mit  der  dunkelgelben  Haut  und  dem 
schleppenden  Gang,  recht  in  den  Anzug  passen.  Frau 
von  Schoenebeck  hat  beim  Anblick  des  seltsam  fremdartigen 
Ballgesellen  durch  ein  jähes  Zucken  ihr  Interesse  verrathen, 
seinen  Namen  erfragt  und  ihn  dann  doch  wie  einen  ihr  Un# 
bekannten  angesprochen.  »Wer  bist  Du?«  Maskenfreiheit 
denkt  sie,  ist  auch  ohne  Maske  möglich  (und  fuhrt  schnellet 

>i9 


als  konventionelle  Damensitte  ans  Ziel).  Goeben  erschauert 
bei  so  unzarter  Berührung  und  kriecht  rasch  in  seine  Schale 
zurück«  Die»  ward  ihm  gesagt,  will  jeden  Neuen  in  ihr 
Arachnenetz  ziehen.  Er  sträubt  sich.  Giebt  ihren  drängenden 
Fragen  nur  karge  Antwort  und  entzieht  sich  der  Einladung, 
auf  dem  nächsten  Regimentsball  ihr  Kavalier  und  Haupte 
tanzer  zu  sein,  mit  der  Begründung,  Familientrauer  hindere 
ihn,  sich  unter  die  Tanzpaare  zu  mischen.  Doch  einen  Be«» 
such  schuldet  er  der  beängstigend  freundlichen  Dame.  Er 
gdit  hin,  folgt  auch  der  Einladung  zum  Abendessen  »in 
kleinem  Kreis«,  will  aber  weder  in  der  Bahn  mit  Antonie 
reiten  noch  ihr  seine  Pferde  leihen.  Immerhin:  er  kommt 
nun  manchmal  ins  Haus  des  Majors  und  gewöhnt  sich  in 
den  Vericehr  mit  der  Frau.  Der  in  der  gemäßigten  Zone  der 
Gamisongeselligkeit  bleibt,  bis  die  Erfahrene  den  Wildling 
so  weit  zu  haben  glaubt,  daß  sie,  endlich,  die  stärkste  ihrer 
Künste  an  ihm  erproben  kan^.  Als  Mitleidigen,  nach  Martyrien 
Lüsternen  stellt  er  sich  zur  Schau:  an  dieser  Stelle  ist  der 
Stichfeste  verwimdbar.  Sie  schreibt  ihm;  bittet  artig  um  seinen 
Besuch,  seinen  Rath,  den  die  Schätzung  seines  Charakters 
ihr  werthvoll  mache.  Er  kommt.  Findet  sie  zum  ersten  Mal 
allein.  Und  so  jammervoll  unglücklich  I  Die  Arme  ist  ver«» 
leumdet  worden,  grundlos,  versteht  sich,  und  hat,  all  in 
ihrer  Unschuld,  auf  diesem  weiten  Rund  der  Erde  nicht 
einen  Menschen,  der  (iir  sie  eintritt.  Ihren  Mann?  Als  ob 
Der  mehr  von  ihr  wollte  als  ihren  Leib,  ihr  seelisches  Er# 
leben  auch  nur  ahntet  Der  würde  sie  gar  nicht  verstehen; 

350 


hat  sie  niemals  verstanden.  Ueber  Den  dtirfe  sie»  um  nicht 
allzu  bitter  zu  werden  und  die  eheliche  Diskretion  zu  ver^ 
letzen,  überhaupt  nicht  sprechen.  Einen  Freund  I  Aber  giebts 
denn  in  dieser  haßlichen  Welt  der  Konvenienz,  Heuchelei 
und  Streberei  noch  aufrechte,  zuverlässige,  selbstlose  Manner, 
die  mit  einem  Frauenherzen  zu  fühlen  wissen?  Von  Allen, 
Goeben,  die  ich  je  sah,  sind  Sie  der  Einzige,  dem  ichs  zu^ 
trauen  könnte;  ob  gerade  ich  Ihnen  aber  nicht  unangenehm 
oder  gleichgiltig  bin?  Das  alte  Spiel;  das  älteste.  Dem 
Hauptmann  ists  neu.  Und  der  Reiz  dieser  schlanken,  lang^ 
beinigen  Frau  wirkt  noch  aus  stattlichen  Resten.  Goeben 
tröstet,  räth,  kommt  wieder,  wird  als  Retter  gepriesen,  als 
Schützer  und  furchtloser  Held ;  und  drückt,  selig  schon  zunächst 
in  dem  Bewußtsein,  lange  genährtem  Heilandwahn  so  brün# 
stigen  Glauben  geweckt  zu  haben,  seine  Lippen  auf  den 
Mund  der  Frau,  die  sich,  in  der  Ohnmacht  überquellenden 
Dankesbedürfiiisses,  er&östelnd  in  seine  Arme  gleiten  ließ. 
Sie  hat  ihn.  Er  wird  ihr  Ritter.  Vor  den  Kameraden  ihr 
eifernder  Anwalt.  Und  (so  will  sies)  der  hitzige  Ankläger 
ihres  Mannes.  Der?  Ein  roher,  nach  Geld  und  Fleisch  dieser 
herrlichen  Dulderin  nur  gieriger  Patron.  Wenn  man  reden 
dürfte I  Aber  die  Unvergleichliche  will  keinen  Lärm;  trägt 
mit  der  Geduld  eines  Engels,  was  kein  Sterblicher  zu  tragen 
vermöchte.  Die  Kameraden  heben  lächelnd  die  Achseln. 
V(^eder  Einer  I  Das  Remontensystem  dieser  Kavalleristin  ver^ 
sagt  wirklich  nie.  Na,  schließlich  ist  der  gute  Goeben  kein 
Milchbart.  Siebenunddreißig.  Allerlei  Wind  hat  ihm  um  die 

351 


Nase  geweht.  Der  wird  sich,  mit  ein  paar  Schrammen  vieU 
leicht,  schon  allein  aus  der  Chose  herauswickeln.  Wie  vor 
ihm  so  Mancher.  Leichter  wohl  und  rascher  als  die  Meisten. 
Am  zweiten  Tag  nach  der  Weihnacht  findet,  morgens  vor 
Sechs,  der  Dragoner,  der  des  Majors  Burschen  vertritt,  Herrn 
von  Schoenebeck  tot  in  seinem  Schlafzimmer.  Die  Leiche 
liegt  auf  dem  Rücken,  ist  nur  mit  Nachthemd  und  Pantoffeln 
bekleidet;  aus  einer  Stimwunde  rinnt  noch  Blut.  Zwischen 
den  Beinen  liegt  ein  Revolver.  Im  Schlafzimmer  brennt  das 
Elektrische  Licht.  Die  in  das  kleine,  dem  Hof  benachbarte 
Speisezimmer  fuhrende  Thür  ist  offen.  Der  Dragoner  sagt, 
was  er  gesehen  hat,  dem  Pferdeburschen.  Den  Hausmädchen 
und  dem  Kinder&äulein  wirds  erzählt.  Dieses  Fräulein  Eue 
bringt  der  Witwe  die  Schreckensbotschaft.  Frau  von  Schoene«^ 
beck  schreit,  heult,  tobt;  bleibt  aber  im  Bett.  Rennt  nicht 
das  Treppchen  hinunter,  um  den  Leib  des  Mannes  zu  sehen, 
in  dessen  Umarmung  sie  zwei  Kinder  empfangen  hat.  Ein 
paar  Kameraden  Schoenebecks  sind  geweckt  worden  und 
eilen  herbei.  Raubmord  nach  einem  Einbruch?  Im  Haus^ 
halt  fehlt  nichts;  Geld,  Silberzeug,  Uhr,  Tischgeräth:  Alles 
in  Ordnung,  Selbstmord?  Bei  diesem  ruhigen,  gleichmüthigen 
Mann  in  geordneten  Verhältnissen  schwer  glaublich.  Auch 
wird,  als  die  Räthe  des  Kriegsgerichtes  angelangt  sind,  fest* 
gestellt,  daß  der  Revolver,  der  zwischen  den  Beinen  der 
Leiche  lag,  noch  mit  allen  sechs  scharfen  Patronen  geladen 
ist  und,  mit  seinem  Kaliber,  nicht  zu  der  EinschußöflGtiung 
auf  Schoenebecks  Stimhaut  paßt.   Nach  Sieben  kommt  Cotp 

352 


ben,  um  den  Hausherrn  zu  einem  (angeblich  vereinbarten) 
Jagdausflug  abzuholen.  Der  Bursche  meldet,  der  Herr  Major 
habe  sich  erschossen.  Undenkbar,  sagt  Goeben;  weilt  nur 
eine  Minute  neben  der  Leiche  und  stürmt  dann  hinauf:  die 
\)(ltwe  zu  trösten.  Ob  sie  ihm  (wie  sie  behauptet)  ihr  Schlaf 
Zimmer  sperrte  oder  ihn  (wie  er  behauptet  hat)  einließ? 
Nach  seiner  Angabe  hat  sie,  als  er  eintrat,  geschrien:  »Mein 
Gustell«  Bei  seinem  Anblick  sich  nicht  beruhigt;  gefragt: 
»War  er  gleich  tot?  Ich  weiß  von  nichts.  Ich  bin  verrückt. 
Sags  Allen  I«  Als  Goeben  wieder  unten  ist,  scheint  er  ganz 
ruhig.  Spricht,  wie  schon  lange,  schlecht  über  Schoenebeck; 
meint,  Frau  Antoinette  könne  sich  der  Thatsache  freuen,  daß 
sie  von  diesem  rohen,  herzlosen  Wicht  nun  befreit  sei;  ruft, 
als  der  Hühnerhund  vor  der  Schlafzimmerthür  anschlägt: 
»Hirschmann  verbellt  ihn  jetzt«  Kaut  bald  danach  gemacht 
lieh  an  einem  Kuchenstück.  Und  fordert  die  Offiziere  auf, 
mehr  als  an  den  Toten,  für  den  ja  nichts  mehr  zu  thun  sei, 
an  »die  Lebenden  da  oben«  zu  denken.  Schon  an  diesem 
Morgen  weckt  sein  lautes,  protziges,  dann  wieder  scheues 
Wesen  leisen  Verdacht.  Er  gilt  als  Antoniens  Liebster.  Hat 
längst  im  Ton  grimmigen  Hasses  über  den  Major  geredet. 
War  am  Tag  vor  der  Mordnacht  Stunden  lang  in  Schoene^ 
becks  Haus.  Cui  bono?  Der  alten  Kriminalistenfrage  findet 
man  nur  eine  zureichende  Antwort.  Nur  Goeben  bekannte 
sich  als  Schoenebecks  Feind;  nur  er  hatte  ein  Interesse  daran, 
die  Frau  (die  ihm  eine  unverstandene,  mißhandelte,  ge^ 
schändete  Heilige  war)  freizumachen.  Er  wird  vernommen. 

Ä  m  353 


In  seiner  Wohnung  eine  Mensurpistole  gefunden,  deren 
Kaliber  genau  zu  der  Einschußöffiiung  am  Kopf  des  Toten 
paßt.  Nach  der  Vernehmung  beeilt  er  sich,  der  Witwe  den 
Inhalt  seiner  Aussage  mitzutheilen.  Der  Brief  wird  aufgei« 
fangen  und  bewirkt,  mit  anderen  beträchtlichen  Verdachts^ 
momenten,  die  Verhaftung  des  Hauptmannes.  Da  Zweifel 
an  seiner  Zurechnungfahigkeit  entstehen,  wird  er  zuerst  in 
Kortau  beobachtet,  dann,  im  Militärgefangniß,  von  dem 
münchener  Psychiater  Freiherm  von  Schrencki^Notzing  untere 
sucht  und  befragt.  Unter  der  Wucht  des  Belastungmaterials 
hat  er  sich  inzwischen  zu  der  That  bekannt.  Zur  Tötung; 
nicht  zu  überlegtem  Mord.  Am  zweiten  März  1908  hat  er 
sich  mit  einem  stumpfen  Tischmesser  die  Halsadern  durchs 
sägt.   Er  wollte  sterben.   Den  qualvollsten  Tod. 

Goeben  hat  zuerst  die  ganze  Schuldlast  auf  sich  genom* 
men  und  hitzig  bestritten,  daß  Frau  von  Schoenebeck  als 
Anstifterin  oder  Beihelferin  mitschuldig  sei.  Später  hat  er 
die  Frau  schwer  belastet.  Um  sich  selbst  der  Strafe  zu  ent^ 
ziehen?  Als  ein  durch  krankhafte  Geistesstörung  der  freien 
Willensbestimmung  Beraubter  sich  in  die  Rechtswohlthat 
einzuschmuggeln,  die  der  einundfiinfzigste  Paragraph  des 
Strafgesetzbuches  gewährt?  Die  konnte  ihn  aus  der  Unteres 
suchunghaft  nur  ins  Irrenhaus  führen.  Das  wußte  er.  Hörte 
auch  von  dem  Sachverständigen,  daß  dessen  Gutachten  nicht 
Ausschluß,  sondern  nur  Einschränkung  der  freien  Willens^ 
bestimmung  feststellen  werde  und  daß  unser  Stra%esetz  den 

354 


verminderter  ZurechnungfiLhigkeit  nicht  kenne  (und 
nicht  kennen  darf,  so  lange  es  in  dem  Wahn  von  objektiver 
Freiheit  des  Menschenwillens  befangen  bleibt).  Da  war  für 
den  Hauptmann  also  nichts  zu  hoffen.  Seine  Verurtheilung 
zum  Tod  sicher.  Und  im  Kreis  der  Rechtsgenossen  fiel  auf 
ihn  ein  ungünstigeres  Licht,  wenn  er  als  Werkzeug  eines 
kranken  Frauenhimes,  nicht  als  ein  in  männischer  Leiden^« 
Schaft  Strauchelnder  ins  Verbrechen  geglitten  war.  Doch  er 
wußte  nun,  in  welche  Pfütze  er  sein  armes  Herz  geworfen 
hatte;  und  fühlte  sich  von  jeder  Schonimg  entpflichtet.  Sollte 
in  solchem  Tümpel  sich  noch  einmal  das  Himmelslicht  spie:« 
geln?  Der  hamletische  Todesstundenwunsch,  sich  und  seine 
That  erklären  zu  lassen,  oder  der  Exhibitionistendrang,  vor 
Menscheiiblicken  die  Scham  zu  entblößen:  Goeben  löste  vom 
Geheimniß  seines  Erlebens  das  letzte  Siegel.  Er  wollte  ster^ 
ben.  Den  qualvollsten  Tod.  Den  hatte  er  nie  furchten  gelernt. 
Doch  die  Ueberlebenden  sollten  ihn  kennen. 

Den  Knaben  treibts  in  enthusiastische  Freundschaft,  die 
ihm  aber  kein  Lustgefühl  schafft«  Erst  den  Siebenzehnjährigen 
überfallt  das  Fubertätfieber.  Im  Traum  fühlt  er,  den  die 
Mutter,  im  Scherzspiel,  einst  auf  ihrem  Rücken  reiten  ließ, 
unter  seinen  von  zarten  Armen  umklammerten  Schenkeln 
einen  Frauenrücken,  fühlt  in  der  engen  Schlinge  seiner  Arme 
einen  feinhäutigen  Hals:  und  erwacht  in  der  müden  Wonne, 
die  des  Geschlechtshungers  Stillung  wirkt.  Der  Jüngling  tr^ 
sehnt  und  beschleunigt  die  Wiederkehr  solcher  Träume; 
sucht  sie,  als  er  reiten  gelernt  hat,  auch  als  Wacher  herbei«* 

23»  355 


zuzwingen  und  gewöhnt  sich,  im  Sattel  den  Akkumulator 
seines  Geschlechtstriebes  zu  entladen.  Liebt  sein  Roß  wie 
ein  Weib,  tätschelt  es  mit  sanftem  Finger,  kraut  ihm  schSif 
kemd  die  Mähne,  kitzelt  es  zärtlich  mit  der  Fußspitze,  dem 
Sporn;  und  läßt  von  wollüstiger  Vorstellung  den  Frauenleib 
formen,  der  ihn,  in  seligerer  Stunde,  tragen  soll.  Keiner  hat 
ihm  jemals  von  Sexualbedürfniß  und  Sexualgefahr  gesprochen. 
Keiner  ihn  je  vor  schädlichem  Mißbrauch  des  Zeugung^ 
organes  gewarnt.  Den  dumpfen  Sinn  schreckt  das  Geschlechts^ 
wesen  der  Frau,  von  der  er  doch  das  höchste,  heißeste  Wohl^ 
gefiihl  hofft.  Wer  sie  spornen,  bis  zur  äußersten  Ermattung 
antreiben  und  die  Keuchende  nach  Belieben  dann  zügeln 
könnte  I  Der  Lieblingtraum  wird  zur  unentbehrlichen,  zwin^ 
genden  Vorstellung  und  der  Artillerielieutenant  thut  wie  Onan, 
Judas  zweiter  Sohn  von  Sua,  den  des  Herrn  Zorn  traf,  weil 
er,  statt  bei  des  Bruders  Witib  zu  liegen,  seinen  Keimsaft  in 
die  Erde  sickern  ließ.  In  so  unkeuscher  Enthaltung  vom 
Weib  lebt  er  Jahre  lang;  und  das  Nervensystem  des  aus 
kränkelndem  Stamm  Ersproßten  wird  im  Wirbel  solcher  ge^ 
waltsam  erkünstelten  Wonnen  früh  morsch.  Ob  ihn  je  ein 
Mannesleib  reizte?  Er  hats  geleugnet.  Die  seltsame  Art 
seiner  Lustvorstellung  ließe  leicht  darauf  schließen.  Einerlei. 
Ringsum  riechts,  in  Kaserne  und  Kasino,  nach  Weiberge^ 
schichten:  und  dieser  Lieutenant  hat  nie  eine  Liebste  gehabt, 
nie  nur  sich  an  einem  Dimchen  gekühlt.  Hält  sich  drum 
für  Einen  von  ganz  besonderem  Schlag;  vereinsamt  im  In^ 
nersten;  darf,  ein  vom  Fluch  der  Lächerlichkeit  Bedrohter,  sein 

356 


schmähliches  Geheimniß  aber  nicht  entschleiern;  und  sinkt, 
ums  noch  fester  einzuhüllen,  in  die  Gewohnheit,  jedem  Auge 
sich  anders  zu  zeigen,  als  er  ist.  In  einen  Sumpf,  dessen 
Festbezirk  Wahrhaftigkeit  nicht  gedeihen  läßt. 

Herr  von  Goeben  spielt  den  interessanten  Sonderling. 
Das  Leben?  Ein  Quark.  Fiir  eines  Bettlers,  eines  Krüppels 
Glück  würfe  ers  hin.  Der  Dienst?  Im  Frieden  ein  freud# 
loses  Handwerk,  das  dem  Ernst  hoher  Weltauflassung  nicht 
zu  genügen  vermag.  Und  wer  darf  zweifeln,  daß  solche 
Auffassung  in  einem  Offizier  lebt,  der  sich  aller  galanten 
Kurzweil  fem  hält,  zu  dem  Weib  vrie  zur  reinsten  Priesterin 
aufschaut,  in  seinem  Fühlen  Kindern  und  Thieren  innig  ge^ 
seilt  ist,  der  Schwachen,  Mißhandelten,  Bedrohten  Verthei^ 
diger  wird  und  vom  Schicksal  nur  die  Möglichkeit  schmerze 
hafter  Selbstaufopferung  heischt?  Goeben  findet  Freunde; 
findet  jüngere  Kameraden,  die  an  die  rauhe  Tugend  dieses 
fast  heilig  scheinenden  Kriegers  glauben.  Friert  aber  in  den 
mühsam  gespeisten  Weihflammen  dieses  Kultes  und  möchte 
ihm,  möchte  sich  selbst  gern  entlaufen.  Wenn  er  sich  ins 
Rollen  der  Begebenheit  stürzt,  dem  Körper,  dem  Kopf  die 
letzte  Leistung  abverlangt,  die  der  Kraft  eines  Menschen  er# 
reichbar  ist,  wird  der  Bann  vielleicht  gebrochen;  lindert  sich 
wenigstens  wohl  der  Zwang  und  ermöglicht  ein  helleres 
Leben  im  sicheren  Gehege  der  Norm.  Solche  Hofihung  treibt 
ihn  in  den  Burenkrieg  (wo  er  emsig  nach  dem  Ruhm  toüß 
kühner  Todesverachtung  trachtet)  und  in  die  blutige  Wirr# 
niß  des  Makcdoncnaufstandes.   Doch  die  Hofihung  trügt. 

357 


Schwere  Malariarückfalle  zerrütten  den  Körper.  Als  ein 
Alternder,  dem  sich  an  der  Schläfe  schon  das  Haar  bleicht, 
kehrt  er  heim;  und  kann  die  Leistungföhigkeit  der  Lieute^ 
nantszeit  nicht  wiedergewinnen.  Schlaflosigkeit  und  häufige 
Schweißausbrüche  schwächen  ihn.  Er  ist  düsteren  Sinnes, 
oft  mürrisch,  mitten  im  Dienstbetrieb  manchmal  zerstreut; 
und  erzählt  in  lebhafteren  Stunden  aus  seiner  Kriegszeit  Ge^ 
schichten,  die  jede  gründliche  Nachprüfung  als  erfunden 
oder  gefirbt  erkennen  muß.  Sein  Geschlechtsleben  hat  sich 
nicht  geändert.  Nur  haben  sich,  unter  heißerer  Sonne,  in 
fremdartigen,  seelisch  erregenden  und  ganze  Tage  lang  in  den 
Sattel  zwingenden  Verhältnissen,  die  Exzesse  von  Mond  zu 
Mond  gemehrt;  ist  tägliche  Masturbation  zur  Gewohnheit 
geworden,  deren  Zwang  dann  auch  in  Berlin  weiterwirkt. 
Die  spärlichen  Versuche,  im  Arm  einer  Frau  Stillung,  Hei^ 
lung  zu  finden,  sind  fruchtlos  geblieben.  Der  fast  Sieben^ 
unddreißigjährige,  der  als  Batteriechef  nach  Allenstein  ver^ 
setzt  wird,  hat  als  ein  Glücklicher,  ein  bis  zur  Sattheit 
Seliger  niemals  noch  den  Leib  eines  Weibes  umschlungen. 
Im  März  hat  er  die  von  überströmendem  Dankgefuhl  hin^ 
gerissene  Antonie  geküßt;  dem  Drängen  ihrer  nach  körper^ 
lieber  Vereinung  lechzenden  Hypererosie  aber,  im  Bewußtsein 
des  Unvermögens,  niemals  nachgegeben.  Er  läßt  sich  lieben; 
doch  durch  die  ungestümste  Zärtlichkeit  nicht  aus  dem  vor# 
sichtig  gewählten  Triebgewahrsam  locken.  Auch  nicht,  als 
der  Major  dem  Haus  ein  paar  Wochen  lang  fem  bleibt.  Der 
Lenz  kommt  endlich  ins  Pregelland.   Die  Luft  erwärmt  sich 

358 


und  unter  dem  letzten  Schnee  steigt  sacht,  in  Wald  und 
Garten,  aus  der  Wurzel  der  Saft  ins  Gesträuch.  Wühlt  und 
wirkt  auch  in  des  Hauptmanns  Sinnen  die  Zeugerkraft  dieses 
Frühlings?  In  schwüler  Mittagsstunde  bebrütet,  während  des 
Heimrittes  vom  Uebungplatz,  die  Sonne  in  Goebens  Hirn 
die  Hoffnung,  jetzt,  so  spät  noch,  das  volle  Glück  der  Mann^ 
heit  zu  erlangen.  Wer  weiß?  Melleicht  hat  ihm  bisher  nur 
der  seine  scheue,  verschüchterte  Geschlechtsart  ergänzende 
Weibtypus  gefehlt;  der  besondere  Wesensduft,  dessen  Wehen 
auch  ihn  in  den  großen  Orgasmus  lenzlicher  Natur  taucht. 
In  unbewußter  Bewegung  sinkt  die  fiebernde  Hand  vom 
Zügel  und  streichelt  den  Rücken  des  Thieres.  Das  den  Reiter 
so  willig  trägt . .  .  Aus  heißen  Dunstschleiern  schält  sich  die 
Jiinglingsvorstellung :  ein  feinhäutiger  Hals,  den  seine  Arme 
einklammem;  unter  seinen  Schenkeln,  in  die  sich  rosige 
Fingernägel  oder  Ellbogen  bohren,  ein  Frauenrücken.  Kann 
dieser  Traum  nie  Wirklichkeit  werden?  Schon  ist  er  mit  der 
im  Lustverlangen  Bedenkenlosen  weit  genug,  um  den  Vera» 
such  wagen  zu  können.  Setzt  sie,  wie  ein  Kind  zum  Hucke^ 
packspiel,  auf  seine  Schultern;  beugt  dann  lachend  den 
Rumpfund  läßt  sie  auf  seinen  Rücken  gleiten;  und  endet 
das  Jauchzduo  mit  dem  Ruf,  der  von  übermüthiger  Minuten^ 
laune  auf  die  Lippe  getrieben  scheint:  »Nun  soll  mal  der 
Reiter  das  Fferdchen  sein;  sollst  Du  Deinen  Braunen  tragen!« 
Zum  ersten  Mal  erlebt  ers  mit  wachem  Auge;  fiihlt  sich  von 
beseligendem  Wollustspasma  geschüttelt;  ist  zum  ersten  Mal 
in  eines  Weibes  warmer  Nähe  seiner  Mannheit  ftoh  ge^ 

359 


worden.  Doch  in  der  selben  Sekunde  auch  der  willenlose 
Sklave  dieser  Beglückerin.  Milans  Sohn  hat  einer  Hofhure, 
weil  Sit  den  Scheinbann  seiner  Impotenz  brach,  die  Serben« 
kröne  aufs  Haupt  gesetzt.  Was  vermöchte  Goeben  der  Frau 
zu  weigern,  die  als  Erste  ihn,  als  Einzige,  die  Wonne  einer 
der  Natur  nahen  Geschlechtsbefriedigung  erleben  ließ?  Die 
nistet  nun  in  der  Herzkammer  seines  Geheimnisses.  Weiß, 
jetzt  erst,  was  diesem  Zagen  die  schlaffen  Adern  in  Schwel« 
lung  bringt,  welcher  Genitalreiz  diesem  Weibscheuen  den 
Genuß  natürlicher  Paarung  ersetzt.  Den  kann  sie  gewähren 
und  kann  ihn  versagen;  dem  der  Norm  nicht  mehr  ganz 
Femen  auch  völlige  Heilung  verheißen.  Aus  sicherem  Herr« 
schaftsitz  spinnt  sie  dünne  Fädchen,  knotet  eins  behutsam  ins 
andere:  und  hat  mit  engmaschigem  Netz  bald  Kopf  und 
Sinne  des  Mannes  umstrickt.  Noch  spürt  er  den  Druck 
nicht.  Ist  mit  der  Seligen  selig,  die  mit  ihren  Buhlkünsten 
nicht  geizt  und,  in  Bereitschaft  immer,  mit  ihrem  langenden 
Blick,  ihrem  Lächeln,  zu  sprechen  scheint  wie  zu  Mahadöh 
der  Mund  der  in  Demuth  geschäftigen  Bajadere:  »Was  Du 
willst.  Das  sollst  Du  haben  I«  Im  Stillen  aber  entschlossen 
ist,  nur,  was  ihr  beliebt,  ihm  zu  spenden.  Der  Weibinstinkt 
wittert  Einen,  den  nicht  die  Wirklichkeit,  den  nur  die  Vor« 
Stellung  zur  höchsten  Willensleistung,  auch  zur  mannischen 
des  Körpers,  spornt;  und  ahnt  rasch,  daß  die  Vorstellung« 
weit  dieses  Willens  früh  abwelken  müßte,  wenn  ihr  nicht 
jeder  Tag  einen  neuen  tränkenden,  belebenden  Quell  er« 
schlösse.  Heute  muß  Eifersucht,  morgen  Scham  die  Sinne 

360 


1 

X 


des  Hauptmanns  düngen;  heute  darf  er  aus  voller  Schale  schlurr 
fen  und  morgen  nicht  einmal  die  Lippe  netzen.  In  Antoniens 
Erzählung  verthiert  Gustav  zum  unersättlichen  Bullen,  der  sich 
Tag  vor  Tag  auf  die  Kalbe  stürzt;  zum  geilsten  Bock,  dessen 
Gier  zwischen  zwei  Sonnen  mindestens  einen  Geschlechtsakt 
erzwingt.  Doppelt  brennt  vor  dem  Schreckbild  solcher  roh 
prassenden  Uebermännlichkeit  die  Schmach  eigenen  Unver^ 
mögens.  Das  wiche  am  Ende  in  der  mittheilsamen  Wärme  steten 
Zusammenseins.  Immer  in  Angst  vor  dem  Tritt  auf  dem  Gang, 
vor  dem  Morgengrau,  das  den  Schlüpfveg  über  die  Hausflur 
sperrt:  nur  ein  selbst  schon  in  Thierheit  Gesunkener  hätte  da 
Ruhe  zu  stillendem  Genuß.  Von  dem  Lakentyrannen  die  Frau, 
von  Eifersucht,  Kraftlähmung,  Schwachheitschmach  den  Mann 
zu  befreien,  giebt  es  ein  einziges  Mittel.  Goeben  beschwört  An^ 
tonie,  ihre  Ehe  scheiden  zu  lassen  und  ihm  ganz  zu  gehören. 
Die  Frau  fallt  in  Ohnmacht.  (Das  kann  sie  nach  freier  Willkür; 
kann,  wie  mancher  brahmanische  Yogi  und  ein  ukermärkischer 
Fürst,  durch  die  Gewalt  ihrer  Vorstellimg  und  Selbstsug^ 
gestion  Krampf  und  Ohnmacht,  Fulsstockung  und  Fulsbe^ 
schleunigung,  abnorme  Vorgänge  verschiedener  Art  in  ihrem 
Körper  erwirken.)  Flüstert  mit  blasser  Lippe  dann,  daß  nicht 
der  schönste  Traum  ihr  je  so  hehres  Glück  gekündet  und 
der  Rausch  der  Verheißung  drum  jetzt  das  Bewußtseinsthor 
überschwemmt  habe.  Ists  denn  auch  faßbar?  Für  ein  kleines 
Weiberherz  nicht  allzu  viel  stolzer  Entzückung?  Mein  Mann 
wirst  Du  sein?  Dein  richtiger  Mann;  und  werde  (leise  spricht 
ers,  wie  ein  Flehen  um  Verzeihung)  dann  völlig  gesunden. 

361 


Sie  wollte  ihn  ganz.  Sie  hat  ihn. 

Die  Zeit  wilder  Ekstasen  beginnt.  Zwar  hat  der  in  Un^ 
vermögensangst  Erschauernde  die  Frau  überredet,  die  Hoch« 
Zeitdämmerung  in  keuscher  Zärtlichkeit  heranzuwarten.  Aber 
Arachne  ruht  nicht;  will  ihr  Sekret  in  der  Luft  zu  neuen 
Fäden  härten  und  den  Kiefertaster  des  Männchens  zu  neuem 
Thatversuch  wachkitzeln.  Sonst  lockern  sich  am  Ende  die 
Maschen;  entschlummert,  ohne  aufrüttelnde  Versuchung,  wie^ 
der  der  mühsam  geweckte  Wille  zur  Mannheit.  Weil  in  dem 
Liebenden  des  Mannes  zu  wenig  ist,  soll  die  Geliebte  darben? 
Nur  verhaßte  Umarmung  dulden?  Erträgt  er  denn,  ein  Edel^ 
mann  und  Soldat,  den  Gedanken,  daß  ihr  Leib,  dessen  Sehnen 
er  niemals  noch  stillte,  eines  Anderen  alltägliche  Weide  ist? 
Bebt  nicht  vor  der  Möglichkeit,  ihre  nie  nach  Lust  getränkt 
ten  Sinne  könnten,  wie  dürstende  Hunde  an  besudeltem 
Rinnsal,  sich  an  unsauberem  Born  kühlen?  Grauen,  Ekel, 
alle  Wächter  schamhafter  Liebe  überrennen,  rings  um  die 
Seelenfeste  die  Leuchtfeuer  löschen  und  im  Dunkel  des  Ehe# 
bettes  von  dem  über  dicht  verhängten  Pupillen  Röchelnden 
in  stummer  Wonne  nehmen,  was  der  Mann  zu  geben  ver^ 
mag  und  der  Liebste  versagen  muß?  Mit  solchem  Wort, 
solchem  Gräuelspuk  reizt  sie  den  Ruhelosen;  reizt  auch  sei^ 
nen  Körper  mit  den  in  der  Schule  der  Ferversion  und  des 
Tribadismus  erlernten  Künsten.  Und  bleibt  ihre  Feitscher>( 
arbeit,  all  das  von  reicher  Erfahrung  geleitete  Mühen  den«» 
noch  unbelohnt,  so  hagelts  Hohn  in  die  beim  Reitspiel  tnU 
bundene  Wunde.    Tage  lang  konunt  dann  kein  Laut  aus 

362 


Antoniens  Kehle.  Trieft  der  hagere  Rumpf  des  Mannes  vom 
Schweiß  der  Anstrengung,  ihr  ein  Kosewörtchen,  ein  Lächeln 
nur  abzulisten.  Umsonst.  Er  soll  sehen,  wie  unfroh  sie  neben 
ihm  haust;  soll  vor  der  Gefahr  zittern,  daß  in  der  trockenen 
Gluth  das  Gefäß  ihrer  Sinne  undicht  werde  und  ihre  Liebe 
ihm  so  entrinne.  Dann,  plötzlich,  schäumt  ihre  Zärtlichkeit 
wieder  auf,  umgischtet  das  Sandriff  weggespülten  Zornes  und 
brandet  an  des  Mannes  aufathmender  Brust.  Ein  Taumel 
ists  nun,  in  dessen  Strudeln  und  Gurgeln  die  ins  Kindhafte 
verniedlichten  Vornamen  (»To«  und  3»Pfausi«)  fast  verhallen. 
In  jäher  Folge  gehts  so;  aus  den  Tropen  im  Flug  wieder  ins 
Nordpolarmeer.  In  der  schlimmsten  Stunde  ihrer  Geschlechts^ 
wuth  entwickelt  To  sich  der  letzten  Schamhülle  und  blößt 
einen  Aussatz,  den  die  Winkeldime  noch  vor  Jedem,  den 
sie  nicht  wegscheuchen  will,  bürge:  preist  vor  Ffausis  Ohr 
den  Buhlen  vergangener  Zeit,  von  dessen  Manneskraft  sie, 
wann  ihr  Schoß  begehrte,  beglückt  ward.  Goeben  hörts  an. 
Weicht  nicht  von  dieser  aus  dem  Bereich  der  Weibheit  Ge^ 
schiedenen.  Kommt,  in  Aengsten  und  Fiebern,  kaum  über 
die  langen  Stunden  hinweg,  die  er  nicht  in  ihrer  Athemnähe 
verbocken  darf.  Seine  Schande  empfindet  er,  die  unabwasch^ 
bare  Schmach  so  schnöder  Entwürdung;  und  wühlt  sich 
selbst  doch  tiefer  stets  in  den  warmen  Schlamm.  Auf  dem 
Schießplatz  stiert  das  Auge  blicklos  in  den  Sandboden.  Auf 
dem  Rücken  des  Pferdes  stöhnt  er  den  Namen  der  Frau  ins 
Weite,  fühlt  sich  auf  dem  bewegten  Leib  endlich  wieder  der 
»süßen  To«  näher  und  jagt  unter  einem  Thränenstrom  in 

363 


ihren  Dunstkreis  zurück.  Im  Kasino  ist  er,  in  jedem  Salon 
der  Kleinstadt  ein  frommer,  vor  Frauen  ehrfürchtiger,  von 
der  Heiligkeit  der  Ehe  durchdrungener  Christ,  dessen  strenge 
Sittlichkeit  und  spröde  Mannestugend  Alt  und  Jung  bewun^ 
dem.  Hinter  der  Maske  wohnt  nur  ein  Wunsch:  in  neue, 
durch  alte  Gewöhnung  verbürgte  Lust  rasch  nun  zurück! 
Bäumt  sich  nur  eine  Frage:  Wie  erwirke  ich  auch  ihr  so  un^ 
ersetzlichen  Genuß,  übermanne  die  Schwachheit  meines  Ge^ 
schlechtswillens  und  sättige  endlich  die  Sinne  Einer,  die  des 
Hungems,  in  gefahrhcher  Gluth,  längst  müde  ward? 

Der  Herbst  bringt  Antwort;  über  alles  Ahnen  beglückende. 
Nach  der  langen  Manövertrennung  gelingt,  was  nie  noch 
gelang:  die  Mann  und  Weib  zum  Gattungdienst  nach  der 
Norm  der  Natur  einende  Paarung.  Von  der  Seele  des  Haupte 
manns  sinken  die  trüben  Nebel  und  ringsum  fangt,  unter 
herbstlicher  Sonne,  Hoffnung  zu  blühen  an.  Muß  To  ihn, 
die  Löserin  aus  zwanzigjährigem  Geschlechtsbann,  nicht  allen 
Anderen  unvergleichlich  dünken?  Darf  Einer  staunen,  weil 
sie  im  Gestammel  seiner  Briefe  das  Süßeste  und  Wonnigste 
heißt,  ein  reines  Heiligthum  und  ein  Engel  der  Liebe? 
Nicht  verständnißloser  als  vor  der  Wahmehmimg,  daß  auch 
den  geheilt  Scheinenden  die  Schlaue  nicht  vom  Halfter  läßt. 
Wenn  er  aus  seiner  Vorstellungwelt  ins  Land  heller  'Wiikß 
lichkeit  entliefe,  wäre  er  ihr  leicht  verloren.  Nur  die  Vor» 
stelltmg  spornt  Diesen  zur  höchsten  Willensleistung.  Wie 
sicher,  Ffausi,  saß  sichs  auf  Deinem  Rücken  I  Willst  unser 
Fferdchenspiel  doch  nicht  ganz  verlernen?  Die  Gewohnheit 


lebt  wieder  auf.  Wer  weiß  denn,  ob  er  immer  bar  zahlen 
kann?  Der  Vorsorgliche  hält  Surrogate  im  Haus:  besonders 
in  einem,  dessen  Herrin  Tag  und  Nacht  durch  unerrechen^ 
bare  Wünsche  einhertost  Heftiger  als  je  vorher  fordert  To 
jetzt  Sklavendienste.  In  jeder  Minute  muß  der  Hauptmann 
ihres  Winkes  gewärtig  sein.  Ists;  und  möchte  jauchzen, 
wenn  er  so  recht  sich  emiedert  sieht.  Zieht  der  Wonnigsten 
die  Stiefel  aus,  die  von  der  Hitze  des  Rittes  noch  dünstenden 
Strümpfe  und  küßt  knieend  die  feuchte  Sohle  des  Fußes; 
wartet  Stunden  lang  beim  Stelldichein,  das  To  absichtlich 
versäumt,  und  wagt  nachher  nicht  den  sanftesten  Vorwurf; 
kniet  vier  Nächte  lang  an  ihrem  Bett,  weil  sie  gesagt  hat, 
nur  seines  Handtellers  Warme  könne  aufliegend  den  Schmerz 
lindem,  der  ihren  Leib  zusammenkrampfe;  holt  aus  der 
Küche,  der  Besenkammer,  was  ihre  Laune  just  heischt. 
Pfausi  würde,  vde  in  Nanas  Schlafstube  der  in  kraftloser, 
ehrloser  Gier  klappernde  Graf  MuSat,  auf  allen  Vieren  krie^ 
chen,  mit  den  Pfoten  wedeln  und  zwischen  den  Zähnen  eine 
Klosetbürste  apportiren.  Warum  nicht,  da  sie  einander  so 
rasend  heben,  so  unsinnig  glücklich  sind?  Brautstandsspäse. 
Derbe,  wie  sie  nach  der  Vermählung  der  Leiber  möglich 
wurden.  Alles  ist  ja  besprochen.  Die  äußere  Vereinung  der 
Gepaarten  nur  noch  eine  Frage  kurzer  Frist.  Sogar  Goebens 
alte  Mutter  weiß  schon,  was  sich  im  Allestädtchen  vorbei 
reitet,  und  zwischen  ihr  und  To  fliegen  zärdüche,  ehrerbietige 
Briefe  hin  und  her  wie  zwischen  Schwieger  und  Braut.  Bis 
auf  den  Glücksgipfel  ist  nicht  mehr  weit.   Das  zwei  Jahr# 

365 


zehnte  lang  unter  Folterqual  und  Spottfiircht  entbehrte  Recht 
auf  männischen  Sexualstolz  erworben;  und  mit  ihm  die  Ge^ 
wißheit,  die  Spenderin  des  nicht  mehr  erhofften  Hochge# 
(iihles  bald  vor  jedem  Ohr  sein  nennen  zu  diirfen.  Aktiv 
könnte  Goeben  nach  dem  Gamisongerede  freilich  nicht 
bleiben.  Was  liegt  dran?  Leise  ertrachtet  er  die  Betheiligung 
an  einem  Ueberseegeschäft.  Für  den  Anfang  sorgt  Tos  Geld, 
für  den  gedeihlichen  Fortgang,  Ffausi,  sicher  Dein  kluger 
Kopf.  Das  Interesse  am  Dienstbetrieb  schrumpft  dem  Haupte 
mann  nun  schnell.  Lebhaft  wird  er  unter  Kameraden  fast 
nur  noch,  wenn  Schoenebecks  den  Gesprächsstoff  liefern. 
Auf  Hymnen  folgt  dann  ein  Gepfauch.  Die  Frau  eine 
Heilige,  der  Mann  eine  Bestie.  Madonna  im  Tigerkäfig. 

Ein  einziges  Mittel  giebts,  hat  Goeben  im  Sommer  gesagt. 
Wenn  Gustav  von  Schoenebeck  aber  die  Wahl  dieses  Mittels 
hindert?  Erzwingen  läßt  sich  die  Scheidung  nicht;  der 
Major,  den  Pfausis  Wahn  sich  einbildet,  würde  Mißhand^ 
lung  und  Schlimmeres  abschwören,  um  im  Genuß  des  Geldes, 
des  immer  noch  herbstlich  schönen  Leibes  zu  bleiben.  Dann? 
Dulden,  daß  der  Engel  im  Raubthierhaus  weiterschmachtet? 
Auf  Tos  Geheiß  hat  er  im  Baumschutz  des  Gartens  er* 
lauscht,  was  im  Ersten  Stock  einst  im  Dunkel  geschah.  Ein 
Klopfen.  Die  Stimme  der  Frau:  »NeinI  Du  darfst  nicht 
hinein;  ich  riegle  die  Thür  nicht  auf.«  Stärkeres  Klopfen. 
»Nie  wieder!  Mir  graut  vor  der  Zudringlichkeit  Deiner 
Begierde.«  Eine  endlos  scheinende  Weile  gehts  so.  Dem 
Hauptmann  schlägt  das  Herz  bis  in  den  Hals.   Die  Stimme 

366 


des  Majors  hat  er  nicht  gehört;  glaubt  aber,  daß  der  ewig 
Brünstige  hinter  der  verriegelten  Thür  ächzte  und  tobte. 
»Da  hast  Du  ein  Bild  meines  Elends.«  Gustav  verpulvere 
ihr  Geld  und  knickere,  wenn  sie  Etwas  für  ihre  Erholung 
fordere.  Da  sie  sich  der  Brutalität  seiner  Schändungversuche 
entwinden  wollte,  hat  der  Wüthende  ihr  den  Leib  zerfetzt 
und  mit  Stößen  und  Hieben  (^»Sieh  selbst  I«)  die  Haut  gei» 
pardelt.  Nach  dem  Manöver  zeigte  sie  dem  Buhlen  einen 
Bettbezug,  in  den,  unter  Gustavs  roher  Pranke,  aus  ihren 
geschundenen  Hüften  das  Blut  troff.  Das  soll  ein  Mann  gtf 
duldig  noch  länger  tragen?  Ein  Liebender?  To  ist  zu  mil^ 
den  Herzens,  um  sich  selbst  befreien  zu  können.  Aus  zu 
zartem  Stoff,  um  einen  Skandal  zu  überstehen.  Herausfor^ 
derung,  Duell,  Kriegsgericht?  Die  Folge  wäre  ein  dem 
Major  günstiges  Scheidungurtheil,  die  Verarmung  tmd  De^ 
klassirung  der  Frau,  ein  im  Leben  der  Kinder  fortwirkender 
Makel.  »Lieber  bis  ans  nahe  Ende  meines  Lebens  die  Qual 
dieser  grausigen  Ehe.«  Kein  Mittel .  .  Eins.  Das  letzte  aller 
entehrten  Kreatur.  Schon  flüstern  die  Beiden  davon.  Arseif 
nik?  Die  schafft  er  herbei.  Doch  wieder  spricht  ihres  Mit:» 
leids  Stimme  lauter  als  der  Drang  nach  Vergeltung.  Sie  ver^ 
mag  es  nicht.  Im  Wald  den  einsamen  Waidmann  stellen  und 
mit  dem  Revolver  die  Lösung  des  Ehebandes  erzwingen? 
Weigert  er  sie:  auch  ohne  Zeugen  giebts  unter  Männern  ehrif 
liehen  Zweikampf.  Fällt  der  Hauptmann,  so  sprach  ihm  das 
Schicksal;  trifft  der  sichere  Menschenvisirer  den  Major,  so 
ahnt  Keiner  den  Schützen,  der  sich  rasch  ins  Dickicht  rettet 


367 


und  seine  Waffe  bei  der  Leiche  läßt.  Dann  wird  Selbstmord 
oder  Jagdunfall  angenommen.  Doch  die  Hunde  wixrden  die 
fremde  Spur  erwittem.  Antonie  giebt  dem  Hauptmann  ein 
Paar  von  Gustav  getragener  Strümpfe:  daß  er  sie  über  die 
Stiefel  streife  und  so  die  Spürnasen  täusche.  Immer  vereitelt 
wieder  ein  neuer  Zufall  die  Ausfuhrung  des  bedachten  Planes. 
Zu£dl  nur?  Nicht  auch  Feigheit  Eines,  der  mit  dem  prah^ 
lerisch  ausgereckten  Geäst  seines  Wesens  doch  keinen  Bezirk 
der  Mannheit  ganz  zu  decken  vermag?  Das  Jahr  neigt  zum 
Ende:  und  der  Jammer  währt  noch  und  scheint  unausrod# 
bar.  Wit  am  Vaal  einst  der  Stacheldraht,  drückt  der  Hohn 
des  Weibes  sich  dem  Soldaten  in  die  Brustwehrhaut.  So 
oder  so:  er  wirds  vollenden.  Hier  kann  er  ohne  Helferin, 
ohne  determinirende  Vorstellung  sich  als  Mann  erweisen. 
Unter  dem  Christbaum  schwört  er,  der  in  der  Weihnacht 
vier  Stunden  lang  im  Arm  der  Liebsten  lag,  nicht  mehr  zu 
säumen.  In  der  nächsten  Nacht  steigt  er  durchs  Hoffenster 
ein,  tappt  sich  ans  Schlafzimmer  und  tötet  den  Feind. 

.  . .  Hätte  dem  Königlich  Preußischen  Major  Gustav  von 
Schoenebeck  in  der  Weihnacht  ein  Kamerad  oder  Waid^ 
genösse  ins  Ohr  geraunt,  dicht  über  des  Mannes  hartem 
Soldatenlager  wärme,  unter  dem  Pftihl,  an  dem  noch  seines 
Schweißes  Ruch  haftet,  jetzt  die  Brust  'seines  Weibes  den 
zuckenden  Leib  Hugos  von  Goeben  und  aus  dem  oft  unter 
Saugküssen  erstickten  Gewisper  der  Beiden  webe  sich  die 
letzte  Masche  eines  Mordplangespinnstes,  das  in  der  nächsten 
Nacht  den  Hausherrn  drosseln  solle,  —  er  hätte  aus  ruhig 

368 


athmender  Brust  eile  Antwort  gehört:  »Dummes  WeibeiT^ 
zeugl  Daß  Einer  oben  ist,  mag  sein.  Mancher  hat  da  schon 
geschwelgt;  und  nach  dem  Geschlechtsnerv  auch  von  meinen 
Tellern  den  Gaumen  gefuttert.  Mannsvolk  genug,  um  einer 
Brigade  zu  befehlen.  Ich  weiß  Alles.  Wie  sies  gar,  mit  dem 
Erstbesten,  in  Berlin  getrieben  hat,  wenn  sie  Wochen  lang 
dort  saß,  ,um  fiir  Wirthschaft  und  Kinder  billiger  einzu^ 
kaufen'.  Das  Thierchen  hat  ja  jedes  Lendenerlebniß  ins 
Tagebuch  gekritzelt.  Kenne  aus  Briefen  das  Hengstgewieher 
der  Angekörten.  Alles.  Sie  läßts  nicht.  Kann  nicht.  Der 
Doktor  sagt:  Hysterische  Hypererosie;  ich  habe  ein  kurzes 
Wort:  Thierchen.  Giebts  auch  im  Wald.  Was  soll  ich 
machen?  Habe  drei  Dinge  im  Leben  ernsthaft  geliebt:  mei^ 
nen  bunten  Rock,  meine  Kinder,  meine  Jagd.  Den  Rock 
müßte  ich  an  dem  Tag,  wo  ich  Toni  mit  dem  Fuß  wegstieß, 
ausziehen;  mochte  ich  ihn  noch  so  sauber  gehalten  haben. 
So  ists  mal  bei  uns.  Unverschuldete  Spritzer  schänden.  Ein 
wettiner  Kronprinz  wollte  ja  Seine  drum  noch  nach  der 
Flucht  mit  dem  Hauslehrer  wiedemehmen.  Die  elf  und  die 
sieben  Jahre  der  Kleinen  wären  verwaist;  standgemäße 
Laufbahn  und  Ehe  ihnen  gesperrt;  Kinder  einer  Lüderlichen 
und  eines  Stabsknackers  a.  D.,  der  knappe  Dreitausend  der 
Pension  zuschustern  kann.  Für  honoriges  Waidwerk  würde 
es  nicht  langen.  Und  sie?  Versänke,  wenn  das  Geld,  das 
ich  doch  nicht  behalten  dürfte,  verknallt  ist,  im  Dreck.  Muß 
ichs  nicht  gehen  lassen  und  mich  begnügen,  das  Aergste  zu 
hindern?  Ich  rackere  tmd  birsche  mich  müde  und  schlafe 

M.  in  369 


£est  wie  ein  Grimbart  im  Winterkessel.  Kann»  wenn  ick 
will,  mein  Lustthierchen  haben.  Mord?  Unsinn.  Sie  lügt 
Jedem  den  Buckel  voll.  Wenn  sie  abgebrunftet  ist,  hat  sie 
Alles  vergessen.  Könnte  sies  irgendwo  besser  haben?  Mit 
dem  graugelben  Bombenhugo  ist  nicht  gut  kramen.  Aber 
»interessant*  sind  Die  oben;  höllisch.  Der  Märtyrer  in  spe 
mit  dem  rothen  Kragen  noch  mehr  als  das  Ewig^Laufische. 
Mit  Martyrien  könnte  ich  dienen.  Habe  das  Bitterste,  Ekelste 
still  geschluckt.   Bin  aber  nicht  »interessant.*« 

Der  Versuch,  zu  ergründen,  wie  in  dem  Artilleriehaupt^ 
mann  Hugo  von  Goeben  der  Drang  nach  Martyrien,  dann 
der  Mordplan  entstand  und  wie  der  Major  von  Schoenebeck, 
in  dem  die  Kameraden  doch  einen  Mann  von  Ehrgefühl 
sahen,  das  Treiben  seiner  Ehefrau  dulden  konnte,  dieser  in 
so  ernstem  Fall  nicht  zu  umgehende  Versuch  mußte  ins 
dunkle  Land  der  Sexualpathologie  fuhren.  Um  neben  dem 
lauten  Prahlerdrängen  in  Märtyrerruhm  das  stille  Martyrium 
Eines  zu  zeigen,  der  seines  Rockes  und  seiner  Kinder  wegen 
das  Bewußtsein  der  Geschlechtsschmach  und  die  ihm  wohl 
noch  schwerere  Last  der  stumm  lächelnden  Verachtung  trug, 
war  eine  Darstellung  tmvermeidlich,  die  sich  nicht  von  prü^ 
den  Aengsten  noch  vom  cant  der  Heuchlergewohnheit  ein^ 
schüchtern  ließ.  (»Eine  traurige  Wahrnehmung,«  sagt  der 
Freußenmagister  Treitschke,  »lehrt,  daß  die  sogenannte  Oe& 
fentliche  Meinung  immer  viel  moralischer  ist  als  die  Thaten 
der  einzelnen  Menschen.  Der  Durchschnittsmensch  schämt 


370 


sick,  tausend  Dinge»  die  er  wirklick  tkut»  öffentlicli  auszui^ 
sprechen  und  zu  billigen.  Was  der  gewöhnliche  Mensch» 
wenn  er  unbetheiligt  ist,  im  Tugendkosakenthum  leisten  kann, 
ist  unglaublich.«)  Wit  aus  der  psychischen  Impotenz  und 
der  ihrer  Minderung  folgenden  Hysterikererosie  in  Goeben 
der  Wille  zur  That  erwuchs,  mußte  dargestellt  werden.  Das 
zu  solcher  Darstellung  nothwendige  Thatsachenmaterial  £md 
ich  in  den  Berichten  über  die  allensteiner  Kriegst  und  Schwurt 
gerichtsverhandlungen  und  in  dem  Gutachten,  das  der  mün^ 
ebener  Psychiater  Dr.  Albert  Freiherr  von  Schrenck^Notzing 
in  der  Strafsache  wider  Goeben  1908  erstattet  und  »auf  den 
ausgesprochenen  Wunsch  des  Angeklagten  der  Oeffenthch# 
keit  übergeben  hat«.  Alle  von  mir  aus  der  vita  sexualis 
Goebens  und  seiner  To  angefiihrten  oder  angedeuteten  Vor# 
gänge  waren  aus  den  Gerichtsberichten  und  aus  diesem  GuU 
achten  bekannt;  neu  war  nur  die  psychologische  Deutung 
und  der  Versuch,  ohne  den  Gerichtsapparat  Das  zu  geben, 
was  die  französische  Kriminalistik  die  Rekonstruktion  des 
Verbrechens  nennt  SchrencluNotzing  hat  den  angeklagten 
Hauptmann  Tage  lang  im  Gefangniß  beobachtet,  mehrmals 
gründlich  untersucht,  Schrifb  und  Gedachtnißproben  mit 
ihm  gemacht  und  aus  seinem  Munde  die  ausfuhrlichste  Beichte 
gehört  Er  sagt;  »Mein  Gutachten  stützt  sich  auf  das  Studium 
der  kriegsgerichtlichen  Akten  und  auf  eine  mehrtägige  eigene 
Beobachtung  des  Angeklagten  im  allensteiner  Militargefang^ 
niß.  Das  Geständniß,  die  eigenen  Angaben  des  Angeklagten 
über  seinen  Lebenslauf  und  über  die  Beziehungen  zur  Frau. 

24*  371 


Von  Schoenebeck  sind  hier  mitverwerthet  worden,  da,  abge^ 
sehen  von  ihrer  Uebereinstimmung  mit  klinischen  Kranke 
heitbildem  und  Erfahrungen,  kein  Anlaß  besteht,  ihnen 
die  Glaubhaftigkeit  abzusprechen.  Nach  anfanglichem  Leug^ 
nen  hat  Goeben  ein  vollständig  in  sich  geschlossenes  und 
mit  dem  auf  andere  Weise  erlangten  Beweismaterial  lücken^ 
los  übereinstimmendes  Bild  der  ganzen  Strafhandlung  dem 
Untersuchungrichter  und  dem  Sachverständigen  gegeben. 
Diese  Schilderung  enthält  den  Angekbgten  schwer  belastende 
Einzelheiten,  die  vielleicht  auf  andere  Weise  überhaupt  nicht 
zur  Kenntniß  des  Gerichtes  gelangt  wären.  Dazu  kommt 
das  vollständige  Fehlen  von  Thatzeugen.  Aber  auch  wenn 
Goebens  Darstellung  nicht  völlig  dem  wirklichen  Ablauf 
dieses  fürchterlichen  Dramas  entspräche,  so  würde  an  der 
Größe  seiner  Schuld  katun  Etwas  geändert.  Demnach  scheint 
es  berechtigt,  auch  in  Bezug  auf  die  Thatumstände  die  MiU 
theilungen  des  Angekbgten  gelten  zu  lassen.  Goeben  war 
gut  orientirt  über  allgemeine  Lebensverhältnisse,  geschieht^ 
liehe,  geographische  Daten;  wußte  auch  ziemlich  genau  alle 
Fragen  über  seinen  Lebenslaufund  über  die  Einzelheiten  der 
Strafthat  zu  beantworten.  Dagegen  war  sein  Namensgedächt^ 
niß  schlecht.  Er  konnte  weder  den  Namen  seines  letzten 
Burschen  noch  die  der  Unteroffiziere  seiner  Batterie  nennen. 
Er  besaß  keine  besonderen  sprachlichen  Kenntnisse.  Aufge# 
fordert,  las  er  aus  einem  ihm  gehörigen  Buch  (über  die  Fran# 
zösische  Revolution)  eine  halbe  Seite  laut  vor  und  war  dann 
nicht  im  Stande,  den  Inhalt  des  Gelesenen  annähernd  genau 

372 


wiederzugeben.  Die  Art  der  Reproduktion  machte  einen 
direkt  scliülerhaften  Eindruck.  So  weit  es  sicli  um  eigene 
Interessen  und  die  Produkte  seiner  überaus  regen  Phantasie 
handelte,  war  seine  kombinatorische  Fähigkeit  außergewöhn^ 
lieh  gut.  Dagegen  waren  Kritik  und  Hemmung  der  sich  ihm 
je  nach  der  momentanen  Gefiihlslage  aufdrängenden  Vor^ 
Stellungverbindungen  mangelhaft;  das  geordnete  Systematik 
sehe  Denken  fehlte.  Die  mit  Frau  von  Schoenebeck  zusamt 
menhängenden  Vorstellungskomplexe  waren  über  die  Norm 
vom  Gefühl  betont,  überwerthig  und  beherrschten  seinen 
Gedankengang.  Trotz  allen  Aufklärungen  über  ihren  mindere 
werthigen  Charakter,  ihre  hysterische  Lügenhaftigkeit  drängte 
sich  ihm  immer  wieder  die  Meinung  auf,  er  könne  ihr  durch 
seine  Aussagen  ein  Unrecht  zugefugt  haben.  Seine  Willens» 
äußerung  war  leicht  zu  beeinflussen;  er  war  von  einer  bis 
zu  den  höchsten  Graden  psychischer  Abhängigkeit  reichen^ 
den  Suggestibilität.  Was  er  aus  Mittheilungen  der  Frau  von 
Schoenebeck  wiedergab,  klang  glaubhaft.  Für  den  Kenner 
des  hysterischen  Charakters  qualifizirten  sich  die  Einzelheiten 
dieser  Darstellung  als  Produkte  der  zum  Dramatisiren  ge# 
neigten  hysterischen  Einbildungskraft.  Die  ganze  ihrem  Lieb# 
haber  gegenüber  verfolgte  und  von  ihm  geschilderte  Politik 
ist  zu  stilecht  im  Sinne  der  Hysterie,  als  daß  Goeben  sie  hätte 
erfinden  können.  Zweifellos  glaubte  er  den  Uebertreibungen 
der  Frau  und  ließ  sich  gegen  den  Ehemann  einnelimen,  ob^ 
wohl  ihm  persönlich  Schoenebeck  nicht  unsympatliisch  war 
und  er  auch  niemals  eheliche  Streitigkeiten  mit  angesehen 

373 


hatte.  Selbständig  wäre  er  überhaupt  nicht  auf  die  Idee  ge# 
kommen,  den  Ehemann  fiir  einen  Barbaren  zu  halten,  wenn 
er  nicht  auch  nach  dieser  Richtung  geistig  von  der  Frau 
vollständig  beherrscht  gewesen  wäre.  Goeben  war,  ak  erb# 
lieh  belasteter  Psychopath,  ohne  seelisches  Gleichgewicht 
Er  war  in  einem  Zustand  suggestiver  Abhängigkeit  von  der 
Geliebten,  den  man  als  sexuelle  Hörigkeit  mit  masochisti« 
schem  Einschlag  qualifiziren  mußte.  Deshalb  war  seine  Zu« 
rechnungfahigkeit  vermindert.  Die  Verantwortlichkeit  war 
durch  krankhafte  Störung  der  Geistesthätigkeit  erheblich  ein« 
geschränkt;  doch  nicht  in  solchem  Grade,  daß  die  freie  Wil« 
lensbestimmung  als  ausgeschlossen  erachtet  werden  konnte.« 
Kein  Grund,  der  ihn  straffrei  machte.  So  hat  der  einzige 
namhafte  Psychiater  geurtheilt,  von  dem  der  des  Mordes  an« 
geklagte  Hauptmann  untersucht  worden  ist. 

Für  dieses  Urtheil  zeugen  die  Briefe,  die  Goeben  nach 
der  That  schrieb.  An  den  Kriegsgerichtsrath,  der  die  Unter« 
suchung  fiihrte:  »Die  Liebe  zu  der  unglücklichen  Frau  hat 
mich  wieder  so  übermannt,  daß  ich  Alles  bereue,  was  ich 
gegen  sie  ausgesagt  habe.  Bitte,  bitte,  schaffen  Sie  mir  Beweise, 
daß  sie  mich  während  der  Zeit,  wo  ich  mit  ihr  zusammen 
war,  betrogen  hati  Bitte,  erlösen  Sie  mich  von  der  Leiden« 
Schaft,  wenn  Sie  können I  Ich  bin  wohl  verrückt;  ich  kann 
den  Gedanken  nicht  ertragen,  ich  hätte  die  Frau  verrathen 
und  es  wäre  am  Ende  gar  nicht  nöthig  gewesen.«  An  einen 
Freund:  »Ich  bin  von  einer  Frau,  die  vielleicht  wegen  ihres 
hysterischen  Zustandes  gar  nicht  oder  doch  nur  zum  Theil 

374 


verantwortlich  gemacht  werden  kann,  durch  dauerndes  An# 
reizen,  Klagen  und  Lieben  in  einen  Zustand  versetzt  worden, 
der  wohl  nicht  mehr  als  normal  bezeichnet  werden  kann. 
Wenigstens  begreife  ich  heute  meine  wahnsinnigen  Ideen  und 
Gefühle  nicht  mehr.  Ich  habe  in  diesem  Zustand  jene  Frau 
(iir  ein  reines  Heiligthum  gehalten  und  ihr  Alles,  Alles  ge« 
glaubt.  Wenn  ich  heute  zurückdenke,  so  begreife  ich  nicht, 
wie  ich  habe  glauben  können.  Die  ^dersprüche  waren  so 
in  die  Augen  £dlend,  daß  ein  einigermaßen  vernünftiger 
Mensch  sie  merken  mußte.  Die  Frau  muß  eine  Art  Suggestion 
auf  mich  ausgeübt  haben.  Ich  habe  ohne  Bedenken,  ohne 
alles  innere  ^derstreben  die  größten  Verbrechen  ausgeführt, 
die  sie  von  mir  haben  wollte,  und  fiihlte  mich  sogar  glücke 
lieh  dabei.  Ich  wußte  aus  ihrem  eigenen  Munde,  daß  sie  ein 
leichtsinniges  Vorleben  gefiihrt  hatte.  Das  Alles  hat  mich 
nicht  abgehalten,  sie  bis  zum  Wahnsinn  zu  lieben  und  ge^ 
radezu  abgöttisch  zu  verehren.  So  hat  sich  in  mir  auch  die 
Idee  fes^esetzt,  ich  müsse  diese  Frau  von  ihrem  Mann  be# 
freien,  den  sie  nicht  aufhörte  mir  in  den  widerlichsten  Farben 
zu  schildern.  So  ist  es  denn  gekommen,  das  Gräßliche.  Meine 
Absicht,  den  unglücklichen,  ahnunglosen  Mann  im  Wald  zu 
stellen,  mißlang.  Da  habe  ich  es  in  seiner  Schlafstube  gethan. 
Sein  Revolver  hat  leider  versagt.  Warum  ich  mich  nicht  selbst 
daneben  gelegt  habe?  Ich  begreife  es  heute  nicht  mehr.  Ich 
habe  mir  noch  Tage  lang  eingebildet,  eine  gute  That  gethan 
zu  haben;  und  die  wahnsinnige  Sehnsucht  und  Idee,  die  Frau 
doch  noch  einmal  meine  Frau  nennen  zu  können,  hat  mich 


375 


davon  abstehen  lassen.  Ich  war  so  in  ihrer  Gewalt,  daß  ich 
Alles,  aber  auch  Alles  darüber  vergessen  habe.  Ich  hätte 
Vaterland,  Mutter,  Freunde,  Alles,  Alles  lachend  im  Stich 
gelassen,  wenn  ich  dafiir  diese  Frau  hätte  eintauschen  können. 
V(le  ich  ja  auch  meine  eigene  Ehre  lachend  in  den  Dreck 
getreten  habe.  Ich  stehe  schaudernd  vor  all  diesen  Gemein^ 
heiten  (wenn  man  dieses  milde  Wort  darauf  anwenden  darf) 
und  kann  mir  überhaupt  noch  gar  nicht  zur  Vorstellung 
bringen,  daß  ich  selbst  das  Alles  war.  Man  neigt  ja  wohl 
dazu,  sich  selbst  zu  entschuldigen;  und  so  kann  ich  nicht 
sagen,  ob  in  mir  die  Keime  zu  derartigem  Verbrecherthum 
liegen.  Ich  meine,  wenn  ich  offen  sein  soll,  die  unglückselige 
Frau  hat  einen  hypnotischen  Einfluß  auf  mich  gehabt,  der 
mich  zu  ihrem  willenlosen  Werkzeug  gemacht  hat.  Ich  kann 
mir  nicht  vorstellen,  wie  ich  solche  Dinge  aus  freien  Stücken 
hätte  vollbringen  können.«  Einer,  der  sterben  will,  sprichts. 
Das  Gutachten  des  berliner  Gerichtsarztes  Dr.  Strauch 
scheint  dem  Schrenck^Notzings  ähnlich.  Psychisch,  sagt  er, 
sei  Goeben  durch  Frau  von  Schoenebeck  infizirt  worden. 
»Sie  verschaffte  sich  Eingang  durch  zwei  Pforten:  durch  seine 
Ritterlichkeit  und  durch  seine  sexuelle  Eigenart.  Sie  erfüllte 
Goeben  mit  Haß  gegen  ihren  Gatten,  um  ihn  so  sicher  in 
ihrem  Bann  zu  haben.  Und  mit  der  feinen  Witterung  einer 
erotisch  Kranken  merkte  sie  bald,  daß  Goeben  sexuell  stlu 
sam  veranlagt  war.  In  ihm  entstand  der  Wunsch,  die  Frau 
zu  erlösen  und  zu  besitzen.  Sie  sah  in  ihm  ihren  Retter. 
Nach  psychopathologischer  Prüfung  muß  ich  glauben,  daß 

376 


ihre  Klagen  erheuchelt  waren.  Die  Beiden  haben  sich  an  dem 
Gedanken  berauscht,  von  dem  Mann  loszukommen.  Sie  haben 
gewiß  auch  allerlei  Befireiungpläne  erörtert;  vielleicht  sogar 
einen  Mordplan.  Diese  Gedanken  und  Pläne  haben  die  Frau 
sexuell  erregt.  Noch  heute  (an  einem  der  letzten  Tage  der 
gegen  Frau  von  Schoenebeck  geführten  Hauptverhandlung) 
aber  bin  ich  nicht  sicher,  daß  sie  ernstlich  von  ihrem  Mann 
befreit  sein  wollte.  Sie  hat  mit  dem  Gedanken  wohl  nur 
gespielt  und  getändelt.«  (Schrenck^Notzing:  »Wahrscheinlich 
hat  die  Frau  niemals  ernsthaft  an  die  Tötung  ihres  Gatten 
gedacht.  Es  könnte  sich  entweder  um  ein  Spiel  ihrer  hysteri^ 
sehen  Einbildungskraft  mit  Vorstellungen  des  Mordens,  des 
Schrecklichen  überhaupt  gehandelt  haben,  mit  dem  Zweck, 
ihren  Geliebten  zu  reizen,  ihn  in  konstante  Aufregung  zu 
versetzen,  ihn  eifersüchtig  zu  machen  und  ihren  Wünschen 
gefallig  zu  erhalten;  oder  um  Vorboten  der  nach  der  Ver« 
haftung  ausgebrochenen  geistigen  Erkrankung,  um  Verfolgung« 
ideen,  die  Goeben  als  solche  nicht  zu  erkennen  vermochte 
und,  in  mißverständlicher  Au£Eässung  ihres  ganzen  patholo« 
gischen  Charakterbildes,  ernst  nahm.«  Hier  ist  zu  erwähnen, 
daß  der  münchener  Arzt  nur  den  Mann,  der  berliner  nur  die 
Frau  gesehen  hat.)  Herr  Dr.  Strauch  meint,  der  Hauptmann 
sei  in  den  Tagen,  die  den  Mordplan  reifen  und  ausfuhren 
sahen,  in  einem  Zustand  krankhafter  Geistesstörung  gewesen, 
der  seine  freie  WLllensbestimmung  ausschloß  und  ihn,  nach 
dem  Paragraphen  51  des  Strafgesetzbuches,  der  Strafverfol« 
gung  entzog.  »Sein  Wahnsinn  war  dadurch  bewirkt,  daß  er 

377 


mit  dieser  Frau  zusammenkam.  Sie  berauschte  sich  an  seinen 
Plänen  und  an  seiner  vasallischen  Ergebenheit.  Er  nahm  die 
Idee  der  Befreiung  ernst  und  sie  wurde  ihm  zur  Fixen  Idee.« 
Der  Inhalt  der  beiden  Gutachten  und  der  Gefimgnißbriefe 
klingt  zu  einer  Symphonie  zusammen»  die  alle  anderen  Au& 
Fassungen  fibertönt.  Die  Meinung  einzelner  Aerzte,  nicht 
die  Frau  habe  den  Mann»  sondern  der  Mann  die  Frau  unter» 
jocht,  mit  Geist  und  Sinnen  in  seine  Willenssphare  gez¥run» 
gen,  muß  dem  Betrachter  des  Thatbestandes  unhaltbar  schein 
nen.  Nicht  ein  einziger  für  das  Urtheil  wesentlicher  Punkt 
ist  gefunden  worden,  von  dem  aus  zu  sehen  wäre,  daß  die 
Frau  im  Pferch  dieses  Manneswillens  lebte.  Ihr  Sexualver» 
langen  war  nicht  wählerisch;  und  er  (dessen  Geschlechts» 
empfinden»  wie  Rousseaus  unter  dem  Schlag  der  Tante»  er» 
wacht  war»  als  die  Mutter»  im  Scherzspiel»  den  Knaben  einst 
auf  ihrem  Rücken  reiten  ließ)  reagirte  nur  auf  eine  bestimmte 
Reizesart.  Ihr  ist  er  ein  Männchen  wie  andere  Männchen; 
ihm  ist  sie  die  einzige  Frau»  die  ihn  ein  der  Natur  nahes 
Sexualglück  erleben  ließ.  Kann  ein  im  Bezirk  der  Psycho» 
Pathologie  nicht  ganz  Fremder  zweifeln»  wer  in  diesem  Vei» 
hältniß  das  Herrschaftrecht  übte»  wer  freudig  die  Knechts» 
pflicht  auf  sich  nahm?  Die  suggestive  Macht  Hysterischer 
und  ihrer  Pseudologia  phantastica  ist  eine  Thatsache»  mit  der 
die  Aetiologie  längst  rechnen  gelernt  hat«  Und  auf  wen 
wirkte  diese  hysterica?  Auf  welches  seltsam  gefärbte  Wesen? 
Eine  in  Alienstein  nicht  gestreifte  Frage  taucht  auf. 
Was  ist  Hysterie?  In  einer  kleinen  Schrift  hat»  vor  fünf 

378 


Jahren,  Steyerthal  darauf  geantwortet:  »Eine  selbständige, 
einige  und  untheilbare  Krankheit,  ,die  Hysterie',  giebt  es 
nicht;  nur  hysterische  Stigmata,  einen  hysterischen  Symptomen^ 
komplex.  Diese  Symptome  sind  Ermüdung«  und  Erschöpfung« 
zeichen.«  (Krampf,  Lähmung,  Einengung  des  Gesichtsfeldes.) 
Damit  ist  noch  nicht  viel  gesagt  Ob  es  überhaupt  »einige 
und  untheilbare  Krankheiten«  giebt?  Der  Praktiker  zweifelt; 
sieht  bei  der  Diagnose  in  jedem  Fall  das  Bild  individuell 
ge£arbt  und  muß  bei  der  Therapie  dem  Grundsatz  Schwe« 
ningers  folgen:  »Des  Arztes  Au%abe  ist  nicht,  Krankheiten 
zu  heilen,  sondern,  unter  erkennbaren  und  veränderlichen 
Bedingungen  ihres  Wesens  und  Daseins  erkrankte  Menschen 
nach  den  Möglichkeiten  seiner  Kunst  und  ihres  Kraftbesitzes 
zu  behandeln.«  Immerhin  zeigt  das  klinische  Bild  Hyste« 
rischer  bestimmte  Konturen;  nicht  so  klare  wie  das  Tuber« 
kulöser  und  Syphilitischer,  doch  kaum  undeutlichere  als  jede 
Art  der  Psychose.  In  seinem  Lehrbuch  der  Psychiatrie  zählt 
Kraepelin  die  Hysterie  zu  den  psychogenen  Neurosen;  er 
sagt:  »Als  einigermaßen  kennzeichnend  fiir  alle  hysterischen 
Erkrankungen  dürfen  wir  vielleicht  die  außerordentliche 
Leichtigkeit  und  Schnelligkeit  ansehen,  mit  welchen  sich 
psychische  Zustände  in  mannichfachen  körperUchen  Störungen 
wirksam  zeigen.  Verstand  und  Gedächtniß  der  Hysterischen 
pflegen  keine  auf£dlenderen  Störungen  darzubieten.  Die  Er« 
innerung  ist  bei  ihnen  im  Allgemeinen  treu,  aber  nicht  selten 
ungemein  einseitig.  Wahrnehmung  und  Deutung  werden 
nicht  immer  scharf  auseinandergehalten.  In  einzelnen  Eillen 

-379 


besteht  geradezu  ein  Hang  zu  freier  Ausschmückung  der 
Vergangenheit,  ja,  zur  Vermischung  der  Erinnerungen  mit 
vollkommen  erfundenen  Zügen.  Besonders  oft  begegnet  uns 
die  Erdichtung  von  gefahrlichen  Angriffen,  meist  mit  ge^ 
schlechtlicher  Färbung;  die  Kranken  bringen  sich  auch  wohl 
selbst  Verletzungen  bei  und  knebeln  sich,  um  das  Abenteuer 
glaubhafter  zu  machen.  Ich  kannte  Hysterische,  die  in  ver^ 
bluffender  Weise  verstanden,  den  Hörer  ohne  das  geringste 
Besinnen  mit  den  abenteuerlichsten  Erfindungen  über  ihre 
Vergangenheit  zu  überschütten  und  jedem  Einwand  mit  der 
größten  Seelenruhe  durch  immer  kühnere  Ausflüchte  zu  be# 
gegnen.  Einzelne  Kranke  können  sich  so  in  ihre  Einbildung 
gen  hineinleben,  daß  sie  dadurch  in  ihrem  Denken  und 
Handeln  vollkommen  beeinflußt  werden,  obgleich  es  sich 
nicht  tun  eigentliche  Wahnvorstellungen,  sondern  nur  um 
Gedankenspielereien  handelt,  die  mit  Liebe  und  Leidenschaft^ 
lichkeit  ausgesponnen  werden.  Die  Kranken  sind  ungemein 
erregbar;  ihnen  fehlt  die  Dämpfung,  die  beim  gesunden 
Menschen  allmählich  die  raschen  und  starken  Gefuhlsschwan^ 
kungen  der  Kinderjahre  abschwächt.  In  einzelnen  Fällen, 
aber  keineswegs  besonders  oft,  zeigt  sich  eine  erhöhte  ge# 
schlechtliche  Erregbarkeit,  welche  die  Kranken  zu  Ausschwei# 
fungen  verfuhrt;  nicht  so  selten  besteht  geschlechtliche  Kälte 
oder  völlige  Unempfindlichkeit.«  (Daß  die  Erkrankung  nicht, 
wie  Flaton  annahm,  von  der  iatiga  ausgeht  noch  als  ein 
Sonderleiden  des  weiblichen  Uterus  zu  betrachten  ist,  wird 
schon  durch  diese  Thatsache  bewiesen.)  »Oft  äußern  sie  den 

380 


Wunsch,  zu  sterben,  sich  das  Leben  zu  nehmen ;  auch  einige 
einleitende  Schritte  werden  vielleicht  gethan:  ein  Band  um 
den  Hals  geschnürt,  eine  Nadel  verschluckt,  eine  verdachtige 
Fliissigkeit  getrunken;  in  der  Regel  ist  keine  große  Ge&hr 
dabei,  wenn  nicht  ein  unglücklicher  Zufall  mitspielt.  Meist 
ist  das  Bestreben  erkennbar,  interessant  zu  erscheinen,  sich 
in  ein  besonderes  Licht  zu  stellen,  von  sich  reden  zu  machen. 
Ueberall  tritt  die  eigene  Persönlichkeit  in  den  Vordergrund. 
Viele  Hysterische  berauschen  sich,  mit  dem  stillen  Anspruch 
auf  besondere  Anerkennung  ihrer  manchmal  geradezu  thö# 
richten  Aufopferung,  an  dem  Gedanken,  Alles  ftir  die  Armen 
hinzugeben,  in  selbst  gewählter  Erniedrigung  den  Kranken 
und  Elenden  zu  dienen.  Sie  möchten  Großes  leisten,  eine 
Thatigkeit  haben,  der  Menschheit  nützen.  Freilich  bleibts  in 
der  Regel  bei  solchen  großen  Gedanken  oder  bei  einigen 
unzweckmäßig  einleitenden  Schritten.  Auf  dem  Gebiet  des 
^^(lUens  ist  vor  Allem  die  erhöhte  Beeinflußbarkeit  zu  be^ 
merken,  die  mit  der  oft  stark  hervortretenden  launenhaften 
Eigenwilligkeit  nur  in  scheinbarem  Widerspruch  steht.  Wenn 
sie  unbefmgen  sind  und  sich  unbeachtet  glauben,  zeigen  die 
Kranken  oft  eine  große  LeistungfiLhigkeit,  die  sofort  der 
alten,  Mitleid  heischenden  Hinfälligkeit  weicht  und  von 
ihnen  vollständig  verleugnet  wird,  sobald  sie  auf  ihre  Kranke 
heit  hingewiesen  werden  oder  sich  dem  Arzt  gegenüber 
sehen.  Ohne  Zweifel  werden  einzelne  Krankheitzeichen 
(Geschwüre,  Fieber,  Blutspeien  und  Aehnliches)  von  Hyste^ 
rischen  willkürlich  und  zweckbewußt  vorgetäuscht,  um  ihnen 

381 


die  Theilnahme  des  Arztes  zu  sickern  und  ilun  eine  möglidisf 
schlimme  Vorstellung  von  der  Größe  ihres  Leidens  beizu# 
bringen.  Aus  dem  Nachweis  einer  absichtlichen  Täuschung 
darf  man  aber  nicht  auf  das  Fehlen  einer  psychischen  Er* 
krankung  schließen.  Wie  schon  der  Name  (Gebärmuttern 
sucht)  andeutet,  ist  die  Hysterie  so  sehr  eine  Krankheit  des 
weiblichen  Geschlechtes,  daß  man  sogar  zweifelhaft  war,  ob 
man  überhaupt  das  Recht  habe,  ähnliche  Erkrankungen  bei 
Männern  mit  der  selben  Bezeichnung  zu  belegen.  Doch  die 
männliche  Hysterie  ist  heute,  wie  wir  der  Pariser  Schule 
ohne  Weiteres  zugeben  miissen,  keine  seltene  Krankheit 
mehr.  Unter  den  von  mir  beobachteten  Hysterischen  waren 
die  Männer  mit  dreißig  Prozent  betheiligt.  Schwerlich  läßt 
sich  zwischen  den  Neurosen  der  beiden  Geschlechter  eine 
scharfe  Trennunglinie  ziehen.  Die  Hysterie  ist  ein  angebon 
rener  abnormer  Seelenzustand,  dessen  Eigentümlichkeit  ist, 
daß  (wie  Moebius  es  ausdrückt)  krankhafte  Veränderungen 
des  Körpers  ,durch  Vorstellungen'  hervorgerufen  werden.^ 

Das  hatte,  lange  vor  Moebius,  schon  Charcot  gesagt.  Ihm 
war  die  Hysterie  eine  Psychose,  in  deren  Opfern  durch  Vom 
Stellungen  abnorme  körperliche  Vorgänge  bewirkt  werden; 
war  sie  dem  Zustand  Hypnotisirter  nah,  die  er  künstlich  in 
Hysterie  Versetzte  nennen  mochte.  Was  er  (und  seine  Schule 
der  pariser  Salp€triire)  für  die  Neuropathologie  geleistet  hat,  ist 
auch  Laien  bekannt;  er  schuf  die  Grundmauer,  auf  der  Janet 
(»L'tot  mental  des  hysteriques«),  Kraepelin  und  Binswanger, 

382 


Moebius  und  Vogt,  Freud  und  Breuer  weiterbauen  konnten. 
Mit  Recht  hat  ihn  deshalb  der  karlsruher  Privatdozent  Dr. 
Hellpach  in  seinem  Buch  »Grundlinien  einer  Psychologie 
der  Hysterie«  ak  den  Meister  gepriesen,  dem  die  Stellung 
und  klassische  Lösung  des  Problems  zu  danken  sei.  Im  Lauf 
der  letzten  Jahre  haben  die  von  den  wiener  Aerzten  Freud 
und  Breuer  veröffentlichten  »Studien  über  Hysterie«  sich 
in  den  Blickpunkt  gedrängt.  Hier  kann  ich  heute  nur  wieder^ 
holen,  was  Kraepelin  über  sie  sagt:  »Nach  den  Versiehe^ 
rangen  der  wiener  Aerzte  soll  die  Hysterie  durch  ganz  be# 
stimmte  passive  sexuelle  Erlebnisse  in  der  frühsten  Kindheit 
erzeugt  werden,  die  dann  in  der  Form  unbewußter  Erinne^ 
rangen  durch  das  ganze  spätere  Leben  hindurch  fortspuken 
und  in  mannichfacher  Umformung  zur  hysterischen  ,Ab« 
wehmeurose'  fuhren.  Man  erfiihrt  diese  Dinge,  indem  man 
die  Kranken  in  der  Hypnose  ausfragt.  \!Clr  dürfen  nicht  be# 
zweifeln,  daß  man  auf  diesem  Weg  noch  ganz  andere  Dinge 
herausbringen  könnte.  Wenn  aber  unsere  vielgeplagte  Seele 
durch  langst  vergessene  unliebsame  sexuelle  Erfahrangen  fiir 
alle  Zeiten  ihr  Gleichgewicht  verlöre,  so  dürften  wir  am  An# 
fang  vom  Ende  unseres  Geschlechtes  angekommen  sein;  die 
Natur  hätte  ein  grausames  Spiel  mit  uns  getrieben.  Freilich 
sollen  all  diese  Erinnerungen  unschädlich  werden,  wenn  dem 
kundigen  Arzt  gelingt,  sie  mit  Hilfe  des  ,kathartischen' 
Verfahrens,  der  fortgesetzten  hypnotischen  Beichte,  ans  Licht 
zu  ziehen  und  zu  bewußten  zu  machen.«  Das  klingt  sehr 
skeptisch;  das  über  die  Schreckneurose,  die  krankhafte  Ueber^ 


383 


treibungsucht  vieler  nach  reichlicher  Unfallrente  Trachtenden, 
die  Erwartungneurose  (der  auch  manche  Fälle  psychischer 
Impotenz  zuzurechnen  sind)  und  über  den  Erfolg  hypno^ 
tischer  Einwirkung  Gesagte  zeigt  aber,  daß  Kraepelin  den 
Wienern  nicht  ganz  so  fem  ist,  wie  er  selbst  wohl  geglaubt 
hat.  Einerlei.  Goebens  Sexualerlebniß  mußte  beleuchtet  wer# 
den:  sonst  war  der  Beweis  nicht  zu  fuhren,  daß  auch  er 
(nicht  die  Frau  nur,  die  er  begehrte  und  von  der  er  be^ 
sessen  war)  im  Wahnland  der  Hysterie  wohnte.  In  der 
Kindheit  ein  Geschlechtserlebniß,  das  durchs  ganze  Leben 
hin  fortspukt;  Ermüdungzustände  und  Gleichgewichtsstö« 
rungen;  Lahmheit  einzelner  Glieder,  die  das  Stehen  auf  dem 
rechten  Fuß  fast  völlig  hindert  und  an  die  Symptome  der 
Astasie« Abasie  erinnert;  die  kombinatorische  Fähigkeit  un« 
gewöhnlich  stark  und  die  Gefiihlsschwankungseit  den  Kinder» 
Jahren  nicht  gemindert;  Vorstellungen  erwirken  im  Körper 
jähe,  abnorme  Vorgänge;  falsche  (oder  gefälschte)  Gedächt» 
nißbilder  (Burenkriegsberichte);  das  prahlerische  Betonen 
steter  Opferbereitschaft  und  der  sichtbare  Drang,  sich,  als 
eine  ganz  besonders  geprägte  Persönlichkeit,  den  Nächsten 
interessant  zu  machen;  heftige  Untemehmunglust  und,  unter 
dem  Zwang  eines  einzigen  Gedankens,  die  beinah^  läppische 
Verkennung  des  für  die  Sicherung  der  Person  und  ihres 
Planes  Nothwendigen  (Giftkauf  in  der  allensteiner  Apotheke ; 
Nichtachtung  des  Kaliberunterschiedes,  der  doch  beweisen 
mußte,  daß  Schoenebeck  nicht  von  einer  Kugel  aus  seiner 
eigenenen  Pistole  gefiillt  worden  war) ;  Eigensinn  einer  fast 

384 


sckrankenlosen  Suggestibilitat  gepaart;  und,  nach  der  Tra« 
goedie,  die  Katharsis  durch  die  Beichte,  das  Erschaudern  beim 
Rückblick  auf  die  unheimliche  Verdoppelung  der  Persönliche 
keit  und  der  Entschluß  zum  qualvollen  Opfertod,  mit  dem 
er  so  lange,  sich  selbst  und  Andere  zu  rütteln,  nur  spielte. 
Nach  allen  Analysen  und  Deutungen:  ein  Hysterischer. 

Wie  zwei  Hysteriker  auf  einander  wirken,  einander  beein# 
Aussen  und  infiziren,  hat  der  Laie  niemals,  hat  kaum  der 
Arzt  je  so  deutlich  wie  auf  diesem  Diptychon  gesehen.  Das 
giebt,  vor  dem  furchtlosen  Auge  des  Seelenforschers,  dem 
Schreckbilde  den  Werth.  In  dem  Majorshaus  ging  Alles 
leidlich,  so  lange  die  Frau  sich  an  gesunden  Männern  ers 
götzte,  die  dem  wirr  hinstürmenden  Gerede  schon  an  der 
Hausthür  nicht  mehr  ernsthaft  nachdachten.  Zur  Katastrophe 
kam  es  erst,  als  Antonie  einen  Hysteriker  gesättigt  und  sei^ 
nen  Willen  in  den  Bann  ihres  Wahnspieles  gezwungen  hatte. 

Die  Pflicht  zum  Gesellschaftschutz  muß  Grund  und  Zweck 
aller  Strai^ustiz  bleiben.  Als  Lombroso  (halb  genialer  For» 
scher,  halb  flüchtig  pftischender  Charlatan:  und  deshalb  zu 
rascher  Popularisirung  eines  selbst  ersonnenen  Gedankens 
besonders  geeignet)  den  Begriff  des  delinquente  nato  ans 
Licht  brachte  und  mit  seiner  Anthropologenschule  die  Kiiß 
minalisten  wieder  daran  erinnerte,  daß  sie  Menschen,  meist 
kranke  Menschen,  zu  richten  haben,  mußten  ungebundene 
Geister  sich  seines  Auftretens  freuen.  Das  alte  Lehrgebäude 
der  klassischen  Strafrechtsschule  war  morsch  und  brüchi 

25,  m  385 


geworden.  Daß  Einer  zu  behutsamerer  Indiviclualisinmg 
mahnte,  des  Handekis  Bestimmbarkeit  durch  körperliche  Zu# 
stände,  Vorgänge,  Retroaktion  zeigte,  den  Abgrund,  der  den 
Richter  vom  Arzt  trennte,  mit  schmalem  Steg  überbrückte 
und  mit  grellfarbigen  Bildern  die  Schädlichkeit  des  Mühens 
erwies,  das  Wesen  des  Menschen,  seiner  Schuld,  seines  Ver^ 
brechens  aus  den  Paragraphen  eines  gilbenden  Stra%esetz^ 
buches  zu  abstrahiren:  das  Alles  konnte  nur  nützen.  Denn  es 
lehrte  dürre  Juristen  erkennen,  daß  sie  von  dem  ins  Verbrechen 
langenden  Menschenleid,  von  Ferversionen  und  Psychosen 
noch  nicht  genug  wußten,  wenn  sie  sich  stöhnend  mit 
Prichards  Lehre  von  der  moral  insanity  vertraut  gemacht 
hatten.  Was  dran  gefiUurlich  schien,  wurde  von  deutschen 
Kriminalisten  und,  besonders  wirksam,  von  Lombrosos  Lands# 
mann  Enrico  Ferri,  dem  Gründer  der  Dritten  Schule,  früh 
bekämpft.  Ferris  Kriminalsoziologie  und  mancher  Vorschlag 
der  Internationalen  Kriminalisten» Vereinigung  wies  den  Weg 
in  die  Klarheit.  Doch  die  Praxis  scheint  diesen  Wegweiser 
noch  nicht  erreicht  zu  haben;  scheint,  mit  stolzem  Gehumpel, 
jetzt  erst  in  den  Bannkreis  des  Lombrosismus  gelangt  zu  sein. 
Wer  in  unsere  Gerichtssäle  blickt,  sieht  ringsum  die  Herr« 
Schaft  der  Aerzte.  Die  bestimmen,  ob  ein  Angeklagter  ver# 
handlung&hig  ist,  während  der  That  bewußtlos,  unter  dem 
Zwang  unwiderstehlicher  Gewalt,  nicht  im  Besitz  seiner 
Willensfreiheit  war  (dieser  gottähnlichen,  schon  von  Schopen« 
hauer  verspotteten  Willensfreiheit,  an  die  zwar  die  Wissen« 
Schaft  nicht  mehr  glaubt,  die  in  der  Praxis  aber  noch  heute 

386 


gespenstisch  fortlebt).  Der  Richter  sinkt  zum  Exekutivorgan 
ihres  Willens  herab.  Er  muß  sie  fragen  und  ihrer  Antwort 
seinen  Spruch  anpassen.  Darf  nicht,  wie  Hertz  emp&hl, 
sagen:  »Zurechnimgfahig  nenne  ich  Jeden,  in  dessen  Intellekt 
die  Idee  des  Rechtes  Eingang  gefunden  hat  und  zu  dessen 
geistigen  Besitzthfimem  die  Kenntniß  des  rechtlich  Statthaften 
imd  Verbotenen  gehört.«  Darf  die  Prüfung  des  Intellekte 
Standes  und  des  Rechtsbewußtseins  nicht  auf  eigene  Faust 
wagen.  So  will  es  die  allen  Bequemen  willkommene  Mode. 
Sie  zeugt  zwei  Gefahren.  Der  Baugrund,  auf  dem  die  Straf» 
rechtspflege  ruht,  wird  mählich  so,  bis  in  seine  tiefste  Schicht, 
aufgeweicht,  daß  er  ein  fest  gefugtes,  den  GeseUschaftschutz 
sicherndes  Haus  nicht  mehr  tragen  kann.  Der  Halbirre, 
Perverse,  in  den  Grenzbezirken  der  Psychose  Lebende  bee 
droht,  nach  kurzer  Einsperrung  in  ein  Gefängnis  oder  Irren* 
haus  (dem  er,  wenn  sein  Zustand  strenge  Bewachung  heischt, 
eine  aUzu  theure  Last  ist),  wieder  die  Nächsten  und  Fem* 
sten.  Zweite  Gefahr:  Straflosigkeit  wird  zum  Privilegitmi 
der  Reichen.  Die  können  sich  Sachverständige  von  Rang  imd 
Namen  miethen;  und  daß  deren  Gutachten,  auch  wenn  sie 
den  Angeklagten  erst  im  Gerichtssaal  kennen  lernten,  kaum 
jemab  dem  Interesse  des  Miethers  widerspricht,  ist  wohl 
nicht  mir  nur  oft  aufgefsdlen.  Der  Arme  muß  sich  an  den 
zuständigen  Gerichtsarzt  halten,  der  sich  selten  als  einen 
wehleidigen  Helfer  erweist;  fiir  den  Wohlhabenden  zeugt 
die  »Autorität«.  Nur  ein  plumper  Sinn  wird  solche  Aerzte 
greifbarer  Bestechlichkeit  zeihen.    Das  hohe  Honorar  (bis 

25*  387 


tu  fisnihunclert  Mark  für  den  Tag  liat  mans,  bei  funfi» 
wöchiger  Dauer  der  Hauptverhandlung»  in  Berlin  schon  ge^ 
bracht),  das  sie  über  den  Zeitverlust  hinaus  entschädigt»  und 
die  wirksame  Reklame  durch  die  täglichen  Prozeßberichte 
ermöglicht  ihnen  und  verpflichtet  sie»  dieser  einen  Au%abe 
sich  ganz  hinzugeben.  Sie  sehen  ein  Handeln»  das  unbe^ 
greiflich  wäre,  wenn  es  nicht  durch  normwidriges  Empfing 
den  oder  durch  krankhafte  Störungen  des  psychischen  Gleiche 
gewichtes  erklärt  werden  könnte:  und  ihrem  Scharfsinn,  ihrer 
emsigen  Spürkunst  gelingt  oft,  solche  Erklärung  glaubhaft 
zu  machen.  Ein  Beispiel  soll  andeuten,  was  hier  gemeint  ist. 
Eine  junge  Dienstmagd,  die  nie  vermählt  war,  aber  ein  Kind 
hat  und  mit  zwei  kräftigen  Burschen  in  Geschlechtsverkehr 
steht,  erregt  dadurch  Aergemiß,  daß  sie  sich  vor  kleinen 
Schulknaben  auf  oflFenem  Feld  schamlos  entblößt  und  sie  mit 
zotiger  Rede  zu  unzüchtigem  Thun  auffordert.  Sie  wird  an^ 
geklagt  und,  da  der  Gerichtsarzt  keinen  Geistesdefekt  an  ihr 
findet,  ins  Gefangniß  geschickt.  Trotzdem  ihr  Handeln,  als 
ein  nicht  etwa  von  Geschlechtshunger  bewirktes,  aus  ge# 
sundem  Triebleben  nicht  zu  erklären  war.  Eine  Dame  hätte, 
durch  das  Gutachten  namhafter  Psychiater,  dem  Gericht  die 
Ueberzeugung  verschafft,  daß  hier,  bei  einer  so  reichlich  Ge# 
stillten,  nur  von  psychogener  Neurose  die  Rede  sein  könne. 
Und  doch  wären  schwächliche  Luxuskinder  durch  die  scham# 
lose  Exhibition  schlimmer  geschädigt  worden  als  dralle  Dor£> 
bengel,  die  der  Magd  ins  Gesicht  lachten.  Das  Gassenvor^ 
urtheil,  das  in  ^em  Sachverständigen  den  zu  jedem  Dienst 

388 


bereiten  Retter  des  reichen  Angeklagten  sieht,  wird  durch 
die  Thatsache  genährt,  daß  man  gegen  den  Reichen  schüdu 
temer,  vorsichtiger,  langsamer  prozedirt  als  gegen  den  Armen 
und  daß  schon  die  Dauer  und  Art  solcher  Verhandlimg  dem 
beobachtenden  Arzt  viel  weiter  reichende  Erkenntnißmöglich^ 
keiten  giebt  als  der  kurze,  schroflF  geführte  Alltagsprozeß. 
Herrschaft  des  Arztes,  den  nur  der  Reiche  bezahlen  kann: 
dabei  zerbröckelt  die  Grundmauer  der  Kriminalsoziologie 
und  die  StraQustiz  geräth  vor  dem  Massenohr  in  Verruf. 

Auch  in  Allenstein  haben  die  Aerzte  souverain  geherrscht, 
lieber  Lebende  und  Tote.  Festgestellt,  ob  und  wann  Goeben 
geistig  krank  und  unzurechnungfiihig  war  und  wann  die 
Hysterie  (oder  Hysteroepilepsie)  der  Angeklagten  sich  in  eine 
die  freie  Willensbestimmung  ausschließende  Psychose  ge^  \b 
wandelt  hat.  »Festgestellt«:  obwohl  gerade  dieser  Prozeß 
lehren  mußte,  wie  oft  auch  ein  glaubig  bestauntes  Sach# 
verstandniß  auf  schwanken  Moorgrund  baut.  Ist  Hysterie 
die  Folge  eines  angeborenen  und  imveränderlichen  Seelen^ 
zustandes,  dann  befreit  sie  nicht  von  der  Strafe;  ist  sie,  in 
einer  der  Epilepsie  ähnlichen  Form,  durch  eine  schnell  oder 
langsam  vorschreitende  Erkrankung  der  Hirnrinde  bewirkt, 
dann  sichert  sie  Straflosigkeit.  Wer  löst  den  Zweifel  mit  un^ 
fehlbarem  Spruch?  Frau  von  Schoenebeck  ist,  von  einzelnen 
Aerzten  und  von  Kollegien,  für  irr  erklärt,  in  den  Bereich 
absoluter  Willensfreiheit  zurückgerufen  und  wieder  zu  den 
geistig  Kranken  gewiesen  worden.  Wer  schafft  uns  die  Ge^ 
wißheit,  daß  die  Leiden,  von  denen  sie  wählend  der  Haupte 

389 


Verhandlung  gepeinigt  schien  (Dutzende  von  Ohnmächten, 
Schreikrämpfe,  Fieberpuls,  Anaesthesie),  nicht  von  dem  zähen 
Willen  der  hysterica,  durch  die  Kraft  ihrer  Vorstellungen, 
erwirkt  waren?  Was  Charcot,  über  den  »großen  An&ll«, 
Janet  und  Moebius  über  die  Unempfindlichkeit  der  Hyster^ 
ischen  gesagt  haben,  schien  völlig  vergessen;  nur  die  Frage 
nach  der  Möglichkeit  einer  Simulation  wurde  von  imermüd# 
lichem  Eifer  gestellt  und,  von  neidenswerthem  Selbstvertrauen, 
immer  wieder  verneint.  Schrenck^Notzing  sagt:  »Die  Hy^ 
sterische  beherrscht  das  Repertoire  der  willkürlich  hervor» 
gerufenen  AnfiUle  und  Ohnmächten  vollkommen.»  Kraepelin 
erzählt  von  Hysterischen,  die  Chylurie  und  Abszesse  vor» 
täuschten,  sich  heimlich  verwundeten  und  die  Wunden,  so 
lange  es  ihnen  nöthig  schien,  durch  die  Einfuhrung  von 
Draht»  und  Streichholzstückchen  offen  hielten.  Delbrück  be» 
richtet  über  einen  noch  lehrreicheren  Fall.  Eine  Frau  wird, 
nach  achtjähriger  Verbrecherlaufbahn,  die  nie  auch  nur  den 
Gedanken  an  eine  Geisteskrankheit  aufkommen  ließ,  von 
sämmtlichen  berliner  Gerichtsärzten,  Psychiatern,  Chariti» 
ärzten,  auch  von  den  Aerzten  in  Dalldorf,  Moabit,  Hildes» 
heim  fiir  gemeingefährlich  geisteskrank  erklärt  und  ins  Irren» 
haus  gesperrt.  Fünf  Jahre  lang  gilt  sie  Allen  als  unzu» 
rechnungfiihig.  Da  lehnt  der  zuständige  Amtsrichter  den 
Antrag  ab,  der  die  Entmündigung  fordert,  und  die  Staats» 
anwaltschaft  erhebt  die  Anklage  wegen  widerrechtlicher 
Freiheitberaubimg.  Nun  wird  die  Frau  in  Hamburg,  Göt» 
tingen,  Berlin  für  zurechnungfahig  erklärt  und  dem  Straf» 

390 


richter  zugeführt.  Spater  wird  sie,  in  der  Charit^»  noch  eini> 
mal  beobachtet;  das  Urtheil  lautet:  Unheilbare  Psychose. 
Die  Gerichtsarzte  widersprechen;  und  die  Frau  wird  wieder 
ins  Untersuchungsgefiingnis  geholt.  Hatte  sie  Krämpfe,  Dei> 
lirien,  Gedächtnißschwäche  etwa  simtdirt  ?  Daß  Hysterische 
solche  Erscheinungen,  auch  Neuralgien,  Blutungen,  Ge« 
schwüre,  Fiebertemperatur,  nach  Willkür  erwirken  können, 
ist  seit  den  Dienstagsdemonstrationen  der  Salpltrüre  imbe^ 
streitbare  Gewißheit  Vor  den  allensteiner  Geschworenen 
stand  eine  Hysterische,  deren  erste  Triebhandlung  nach 
Goebens  That  war,  den  Glauben  an  ihre  »Verrücktheit« 
überall  zu  verbreiten;  die  dann,  ehe  die  Leiber  der  beiden 
durch  ihre  Schuld  getöteten  Männer  noch  völlig  entfleischt 
waren,  sich  einem  zweiten  Gatten  vermählte  imd  in  den 
Tagen  unangefochtener  Freiheit  recht  lustig  lebte;  die,  als 
ihre  Hoffiiung  auf  einen  Freispruch  sank,  von  Tag  zu  Tag 
kränker  wurde;  vor  keiner  Ge£üir  so  angstvoll  zu  beben 
schien  wie  vor  der  einer  Irrseinserklärung  und  alle  ihr  Nahen 
beschwor,  sie  nur  nicht  in  die  Provinzialirrenanstalt  Kortau 
zu  bringen,  die  sie  an  den  hellen  Zwischentagen  doch  frei* 
willig  aufgesucht  hatte,  also  nicht  wie  die  Hölle  mied;  die 
endlich,  vor  dem  Schlußvortrag  des  Anklägers,  mit  einem 
Messerchen  an  ihrer  Pulsader  herumkratzte  und  dann  einen 
ihr  befreundeten  Herrn  herbeirief,  um  sich  die  für  den  Selbst* 
mord  geeignete  Stelle  zeigen  zu  lassen;  in  einem  Hotel* 
Zimmer,  wo  sie  sich  henken,  aus  dem  Fenster  stürzen,  aus 
einer  mit  dem  Federmesser,  der  Hutnadel,  der  Nagelscheere 

391 


geöffiieten  Ader  verbluten  konnte.  Das  Unisono  der  Sach^ 
verständigen  mußte  den  Laien  verblüffen.  »Und  wenn  Ihr 
Euch  nur  selbst  vertraut,  vertrauen  Euch  die  anderen  Seelen.« 
Des  Geist  der  Medizin  ist  auch  heute  noch  leicht  zu  fassen. 
Die  Liste  der  in  diesem  Prozeß  gemachten  Fehler  würde 
Bande  füllen.  Daß  er  gefuhrt  wurde»  war  der  erste;  der 
schlimmste.  Die  Staatsanwaltschaft  wollte  das  Ver£diren 
gegen  Frau  von  Schoenebeck,  auch  als  das  Kollegialgutachten 
der  Angeschuldigten  die  Willensfreiheit  zugesprochen  hatte, 
zum  zweiten  Mal  einstellen:  weil  es  ihr  rechtlich  unhaltbar 
schien.  Anstiftung  zum  Mord?  Daß  Goeben  gemordet,  die 
vorbedachte  That  wirklich  gethan,  nicht  auf  den  Plan  des 
zeugenlosen  Duells  zurückgegriffen,  nicht,  im  Affekt,  ganz 
anders,  als  er  wollte,  gehandelt  hatte,  war  nicht  erwiesen; 
war,  nach  dem  Tode  der  beiden  einzigen  Thatzeugen,  nie^ 
mals  bündig  zu  erweisen.  (Goeben  hat  sich  zur  Tötung 
bekannt,  den  Mord  aber  hitzig  geleugnet.)  Anstiftung  zum 
Totschlag?  Das  Delikt  des  Totschlages  schließt  die  Ueber^ 
legung  aus;  das  der  Anstiftung  bedingt  die  Absicht  auf  eine 
deutlich  bestimmte  strafbare  Handlung.  Wer  kann  heute  be# 
weisen,  daß  Goeben  gerade  die  konkrete  That  gethan  hat, 
zu  der  ihn  die  Frau  angestiftet  hatte?  Ist  eine  Anstiftung 
ohne  Ueberlegung  denkbar?  Anstiftung  mit  unbestimmtem 
Dolus?  Darf  man  einen  Fall  konstruiren,  in  dem  der  An^ 
Stifter  mit  Ueberlegung,  der  Thater  ohne  Ueberlegung  ge^ 
handelt  hätte?  Auch  die  Beihilfe  zum  Totschlag  ist,  dreißig 
Monate  nach  der  That,  ohne  Zeugen  schwer  zu  erweisen. 

392 


Bleibt  Paragraph  139:  Wer  seine  glaubhafte  Kenntniß  von 
dem  Vorhaben  eines  gemeingefährlichen  Verbrechens  nicht 
zur  rechten  Zeit  der  Behörde  oder  der  bedrohten  Person 
mittheilt,  wird,  wenn  das  Verbrechen  oder  ein  strafbarer 
Versuch  dazu  ausgeführt  worden  ist,  mit  Gefängnis  bestraft. 
Glaubhafte  Kenntniß?  Die  Angeklagte  würde  betheuem,  sie 
sei  überzeugt  gewesen,  daß  ihr  Liebster  mit  Mordgedanken 
und  Totschlagsplan  nur  spiele.  Und  immer  nur  der  tote 
Hauptmann  als  Zeuge.  Darum  den  eklen  Skandal  heraufbe^ 
schwören?  Jede  kriminalpolitische  Erwägung  verbot  den 
Prozeß.  Doch  im  Landtag  und  in  der  Presse  entstand  ein 
Stürmchen.  Und  flink  mußte  nun  das  Schwert  der  Themis 
wieder  aus  der  Scheide.  Der  Justizminister  nahm  die  Gefahr 
auf  seine  Kappe.  Der  Staatsanwalt  mußte  dem  Befehl  ge^ 
horchen;  blieb  aber,  weil  er  die  Anklagebegründung  selbst 
zu  dünn  £md,  in  der  Hauptverhandlung  fist  völlig  passiv. 
In  diesem  ganzen  Handel  erscheint  dieser  Erste  Staatsanwalt 
Schweitzer  als  der  Klügste;  als  der  Einzige,  der  nie  tun 
nüchterne  Ruhe  und  richtiges  Augenmaß  kam.  Er  hatte  die 
Weisung,  die  Wiedereröffiiung  des  Ver£üirens  zu  beantragen, 
aber  für  die  Wahrung  der  heiligsten  Güter  zu  sorgen.  »Ver» 
handeln;  doch  nichts  politisch  Aergerliches  durchsickern 
lassen.«  Zweiter  Fehler;  ein  unverzeihlicher.  Zum  ersten 
Mal  blieb  eine  der  Anschuldigung  zum  Mord  Angeklagte, 
also  mit  Todesstrafe  Bedrohte,  auf  freiem  Fuß ;  wurde,  trotz 
einem  Vorleben,  dessen  Anblick  (nach  der  Darstellimg  der 
Anklager)  die  Weiber  der  Justinian  und  Klaudius,  die  Steine 

393 


heil  und  die  Tamawskaja  in  die  Glorie  keuscher  Heiligen 
erhöht,  mit  galantester  Schonung  behandelt.  Damit  sie  hübsch 
artig  bleibe.  Der  Volksaberglaube,  der  wähnt,  in  Allenstein 
sei  Fürchterliches  »vertuscht«  worden,  ist  thöricht;  entstammt 
aber  dem  unausrodbaren  Gefühl,  daß  an  der  Alle  in  aller 
Stille  paktirt  worden  war.  »Wir  wollen  keine  Namen  nen^ 
nenl«  »Hat  der  Herr  Vertheidiger  vergessen,  daß  alle  Proi> 
zeßbetheiligten  übereingekommen  waren,  dieses  zeugenlose 
Duell  Goebens  als  nicht  geschehen  zu  betrachten?«  »Wir 
wollen  doch  nicht  noch  mehr  Existenzen  vernichten!« 
Das  geht  nicht  Jeder  Deutsche,  der  weiß,  welche  Summe 
von  Tüchtigkeit,  Intelligenz  und  Ehrenpflichtbewußtsein  im 
Heer  seines  Vaterlandes  vereint  ist,  will  dieses  Heer  vor 
Schimpf  und  Makel  bewahrt  sehen.  Jeder  hatte  die  0£Bziere, 
die  durch  die  Entschleierung  ihres  Geschlechtsverkehrs  mit 
der  Majorsfrau  zum  Abschied  von  der  Armee  gezwungen 
worden  wären,  aufrichtig  bedauert  Jeder  freut  sich,  daß 
ihnen,  die  schließlich  nur  ein  bequem  erreichbares  Buhlglück 
nicht  verschmäht  haben,  dieses  Schicksal  erspart  worden  ist. 
Aber  Strafprozesse  darf  man  so  nicht  fuhren.  In  Stra£> 
Prozessen  darf  man  die  Hoffnung  nicht  an  die  Diskretion 
der  Angeklagten  klammem.  Muß  jedes  Mittel  angewandt 
werden,  das  den  Weg  ins  Herz  der  Wahrheit  zu  weisen  ver» 
heißt;  auch  wenn  es  »Existenzen«  bedroht  Die  Taktik  der 
Vertheidiger  konnte  in  Allenstein  nur  danach  trachten,  die 
Glaubwürdigkeit  Goebens,  des  einzigen  gefiihrlichen  Be* 
lastungzeugen,  zu  erschüttern,   bis  ins  Fundament  zu  zer^ 

394 


stören.  Diesen  Versuch  mußten  die  Ankläger  mit  wuchtigem 
Stoß  abwehren.  Wenn  sie  erwiesen»  daß  Frau  von  Schoene^ 
beck  auch  anderen  Bettgenossen  von  ihrer  Ehequal  vorge^ 
jammert,  ihren  Gustav  als  ein  rohes  Scheusal  geschildert,  die 
Ueberzeugung  vorgetauscht  hatte,  daß  ihr  nur  die  Wahl 
zwischen  gewaltsamer  Sprengung  der  Ehefessel  und  Selbste 
mord  bleibe,  dann  war  Goebens  Glaubwürdigkeit  im  Haupte 
punkt  unantastbar.  Fünf  Dutzend  Zeugen  waren  zu  haben; 
sechs  vielleicht.  Nicht  einer  wurde  geladen.  »Wir  wollen 
doch  nicht  noch  mehr  Existenzen  vernichten  I«  Und  wenn 
die  Geschworenen  nach  dem  Vertheidigeransturm  noch  den 
Artilleristen  fiir  glaubwürdig  hielten  und,  in  dem  bestimmten 
Gefiihl,  daß  die  Frau  an  der  That  des  Hauptmannes  mit^ 
schuldig  sei,  auch  ohne  zwingenden  Beweis  auf  die  erste 
Schuldfrage  eine  Antwort  gaben,  der  ein  Todesurtheil  folgen 
mußte?  Nein:  so  darf  man  Strafprozesse  nicht  fuhren.  Die^ 
sen  Prozeß  verbot  juristische  imd  kriminalpolitische  Er^ 
wägung.  Wurde  er  dennoch  gefiihrt,  dann  durfte  ihn  nur 
das  Streben  leiten,  muthig  die  Wahrheit  zu  finden. 

Im  Urtheil  über  den  Vorsitzenden,  der  die  Beweisaufnahme 
Tage  lang  ins  Unerweisbare  verschleppte,  sich  in  Kriegs^ 
erinnerungen  sonnte  und  vor  seinem  »hohen  Vorgesetzten« 
(Richtern  von  Unabhängigkeitbewußtsein  drehte  sich  der 
Magen  um)  die  Objektivität  seiner  Prozeßordnung  pries, 
stimmen  alle  Sachverständigen  überein.  Von  der  Mitschuld 
an  dem  angerichteten  Schaden  kommt  dieser  Geheime  Justiz^ 
rath,  bei  all  seinem  redlichen  Eifer,  nicht  los.   Sein  Name 

395 


sei  vergessen . . .  Aber  ist  ein  »großer«  Prozeß  denn  in 
Preußen  überhaupt  nicht  mehr  möglich  ?  Unsummen  werden 
(Eulenburg,  Werftprozeß,  Allenstein)  nutzlos  verthan;  täg^ 
lieh  auch,  durch  kurzsichtige  Terminsansetzung,  an  unnöthige 
Zeugengebühren  vergeudet.  Und  an  den  Tagen  der  Haupte 
aktionen  siehts  aus,  als  werde  nur  noch  fiir  die  Oeffentliche 
Meinimg  judizirt.  Die  muß  »aufgeklärt«  und  vor  »Mi& 
Verständnissen«  behütet  werden.  Mit  dem  geräuschvollsten 
Eifer  da,  wo  ihr  Instinkt  verstanden  hat,  daß  ihr  jede  Mög# 
lichkeit  des  Verständnisses  gesperrt  werden  soll. 

Vor  den  ostpreußischen  Geschworenen  stand  eine  der  An^ 
Stiftung  zum  Mord  Beschuldigte,  Paragraph  48  des  Reichs^ 
Strafgesetzbuches  sagt:  »Als  Anstifter  wird  bestraft,  wer 
einen  Anderen  zu  der  von  Diesem  begangenen  strafbaren 
Handlung  durch  Geschenke  oder  Versprechen,  durch  Droh^ 
ung,  durch  Mißbrauch  des  Ansehens  oder  der  Gewalt,  durch 
absichtliche  Herbeifiihrung  oder  Beförderung  eines  Irrthums 
oder  durch  andere  Mittel  vorsätzlich  bestimmt  hat.  Die 
Strafe  des  Anstifters  ist  nach  demjenigen  Gesetz  festzusetzen, 
welches  auf  die  Handlung,  zu  welcher  er  wissentlich  ange^ 
stiftet  hat,  Anwendung  hat.«  Frau  von  Schoenebeck  mußte 
also  zum  Tod  verurtheilt  werden,  wenn  ihr  die  Anstiftung  zum 
Mord  nachgewiesen  ward.  Konnte  sie  ihr  aber  nachgewiesen 
werden?  Ist  solcher  Nachweis,  so  bündig  und  lückenlos, 
wie  strenger  Rechtssinn  ihn  fordert,  je  denkbar,  so  lange  der 
Anstifter  dem  Theilnehmer  gleichgestellt,  sein  Thun  nicht 

396 


als  selbständige  V^enshandlung  gewogen  wird?  Goeben 
hat  die  Ueberlegung  geleugnet;  sich  nur  der  Tötung  schuldig 
bekannt.  Die  Ueberlegung,  sagt  Karl  Binding,  der  feinste 
und  tapferste  Kopf  im  Reich  deutscher  Strafrechtslehre,  »be^ 
zieht  sich  nicht  wesentlich  auf  die  Mittel  zur  Tötung  (die 
berechnet  auch  der  Totschlager  oft  mit  großer  Genauigkeit), 
sondern  auf  das  Gewicht  der  Abhaltungsgründe.  Sie  werden 
erkannt,  gewogen  imd  zu  leicht  befunden.  Dies  setzt  die 
Fähigkeit  ungetrübter  Verstandesfunktionen  voraus,  deshalb 
die  Abwesenheit  (zwar  nicht  jeder  Gemüthsbewegung,  aber) 
jeder  Erregung,  deren  Heftigkeit  die  Fähigkeit  und  Ab^ 
wägung  beeinträchtigt«  Im  Zustand  solcher  geistigen  Be^ 
schaflFenheit  war  Hugo  von  Goeben  gewiß  nicht,  als  er  in 
das  Haus  des  Majors  schlich;  selbst  wenn  er,  nach  der  An^ 
nähme  des  einzigen  namhaften  Psychiaters,  der  ihn  untere 
sucht  hat,  nicht  durch  Geisteszerrüttung  des  freien  Willens 
beraubt  war.  In  einer  Hauptverhandlung  konnte  er  betonen, 
daß  Wesentliches  anders  gewesen  war,  als  ers  erwartet  hatte. 
Die  Fenster,  die  er  oflfen  glaubte,  waren  geschlossen  und  der 
Major  trat  ihm  wach  und  bewaffnet  entgegen.  Da  war  der 
Nachweis  der  Ueberlegung  kaum  denkbar.  Ob  er  auch  den 
Willen  zum  Mord  in  sein  Bewußtsein  aufgenommen  hatte? 
Manche  Jury  hätte  es  dem  Mann  zugetraut,  der  seinem  Lieb^ 
chen  fiir  das  Mahl  des  Majors  Gift  verschafft  hatte  und 
nachts,  nach  viermaliger  Umkehr,  im  Bürgerrock  und  mit 
einer  Mensurpistole  ins  Schlafzimmer  Schoenebecks  geklettert 
war,  dem  er  die  Ehefrau,  die  Mutter  zweier  diesem  Gustav 


397 


geborenen  Kinder,  abtrotzen  wollte.  Immerhin  blieben  Zweifel 
möglich.  Und  der  Versuch,  jetzt  noch,  sechsimdzwanzig 
Monate  nach  Goebens  Tod,  zu  erweisen,  daß  er  mit  lieber^ 
legung  gehandelt  habe,  zeugt  von  betrübender  Thorheit 
Die  hätte  sich  nicht  ins  Unerweisbare  vorgewagt,  wenn 
Theorie  und  Praxis  die  Anstiftung  als  selbständiges  Delikt 
(das  des  intellektuellen  Thatbewirkers)  gelten  ließen.  Dann 
hätte  der  Richter  nur  das  Thim  der  Angeklagten  zu  prüfen 
gehabt,  nicht  das  Eines,  der  irdischer  Gerichtsbarkeit  längst 
entzogen  imd  von  dessen  Schuldum£mg  das  Schicksal  der 
überlebenden  Frau  doch  abhängig  war;  dann  konnte  man  einen 
Fall  konstruiren,  in  dem  der  Anstifter  mit  Ueberlegung,  der 
Thäter,  im  Drang  überraschender  Umstände,  ohne  Ueberlegung 
gehandelt  hatte.  Jetzt?  Die  conviction  intime  der  Geschwo^ 
renen  ist  an  keine  Paragraphenvorschrift  geknotet;  ihr 
Spruch  ist,  nach  der  evangelischen  Lehre,  Ja  oder  Nein  und 
braucht  nicht  begründet  zu  werden.  Ein  nur  auf  das  Sentit 
ment  gestütztes  Urtheil  hätte  aber  nicht  viele  Ernste  befriedigt. 
Ein  Freispruch  gar  das  hitzige  Volksempfinden  in  Empörung 
getrieben.  Weil  die  im  höchsten  Grad  wahrscheinliche  Schuld 
nicht  haarscharf  nachzuweisen  war,  sollte  die  Frau  straflos 
bleiben,  ohne  deren  Mitwissen.  Mitschuld  Goebens  That  un^ 
denkbar  blieb  und  die  der  Beschuldigte  nach  der  ersten 
Vernehmung  sofort  von  Umfang  und  Einzelheiten  seiner 
Aussage  imterrichtet  hatte?  In  jedem  wegen  des  Deliktes 
der  Anstiftung  eröffiieten  Verfahren  kann  der  allensteiner 
Fall  sich  wiederholen;  auch  da,  wo  neben  dem  Anstifter 


398 


der  Tliater  auf  der  Sünderbank  sitzt.  Intellektualurheber^ 
Schaft  ist  nicht  mehr  so  selten  wie  in  der  Zeit  derberen 
Fiihlens;  Mancher,  der  selbst  die  Hemmung  nicht  zu  über^ 
winden  vermag,  sucht  und  findet  ein  zur  That  taugliches 
Werkzeug.  Justizbehörden  und  Reichstag  dürfen  sich  an 
dem  achtundvierzigsten  Paragraphen  nicht  scheu  vorüber^ 
drücken,  wenn  sie  ein  neues  Stra%esetzbuch  vorbereiten. 

Ihre  beste  Leistung  wäre  die  Erlösung  von  dem  Akten^ 
alben,  der  unserem  Gerichtswesen  Luft  und  Athem  raubt. 
Mündliches  Verfahren:  heißt  die  Losung;  doch  dem  münd# 
liehen  geht  das  schriftliche,  dem  öflFentlichen  das  geheime 
Verfahren  voran.  Und  ehe  der  Richter  zur  ersten  Frage  den 
Mund  aufthut,  hat  er  einen  Aktenberg  erklettert,  Protokole 
und  Schriftsätze  verschluckt  und  »sich  eine  Meinung  über 
die  Sache  gebildet«.  Wer  je  genöthigt  war,  seinen  Namen 
unter  ein  Gerichtsprotokol  zu  setzen,  vergißts  nicht  so  bald. 
Seine  Aussage  mag  noch  so  einfich,  mag  völlig  negativ  sein: 
auf  eine  beträchtliche  Zeitspanne  muß  er  sich  gefaßt  machen. 
Was  er  in  lebendiger  Rede  rasch  vorbringt,  wird  in  den  alt^ 
fränkischen  Pomp  der  Gerichtssprache  gekleidet.  »Derselbe«; 
»Letzterer«;  »einerseits«,  »andererseits«:  ohne  solche  abgei> 
griflFene  Spielmarken  gehts  selten;  auch  darf  die  Inversion 
nach  »und«  ja  nicht  fehlen.  »Beklagter  erklärte  sich  bereit,  dem 
Kläger  den  Betrag  zu  zahlen,  und  schien  Letzterer  nicht  die 
Absicht  zu  haben,  denselben  zu  übervortheilen.«  Das  Proton 
kol  muß  alles  Erdenkliche  »berücksichtigen«;  sonst  wird  es 
dem  Amtsrichter  oder  Assessor  zur  Ergänzung  zurückge^ 

399 


geben  und  die  Schererei  hat  kein  Ende.  Ausnahmen  kommen 
vor  (das  junge  Richtergeschlecht  sucht  sich  aus  dem  Wust 
zu  heben);  meist  aber  kostet  das  Mühen,  die  wohlüberlegte 
Nuance  der  Aussage  aufs  gelbe  Aktenpapier  zu  bringen, 
einen  harten  Kampf.  Und  in  neun  von  zehn  Fällen  bleibt 
der  Vernehmende  Sieger.  Er  meints  so  gut,  quält  sich  so 
redlich,  die  Laienrede  in  sein  geliebtes  Juristendeutsch  zu 
übertragen,  und  kennt  schließlich  den  Zweck  der  Untere 
suchung  am  Besten.  Soll  man  dem  Geplagten,  vor  dessen 
Thür  ein  Bäckerdutzend  Beschuldigter  oder  Zeugnißpflich^ 
tiger  wartet,  das  Amtsleben  noch  mehr  bittem?  Man  läßts 
laufen,  unterschreibt:  und  ist  fiir  Zeit  und  Ewigkeit  fest# 
gelegt.  Weh  Jedem,  der  in  der  Hauptverhandlung  um  eines 
Haares  Breite  von  der  protokolirten  Aussage  abweicht  1  Der 
Präsident  hat  die  Akten  vorm  Auge,  vergleicht  und  findet 
in  der  winzigsten  Abbiegung  Grund  zu  ernstem  Zweifel  an 
der  Wahrhaftigkeit  des  Zeugen.  Der  ist  von  dem  Bewußtsein, 
»mit  dem  Gencht  zu  thim  zu  haben«,  arg  eingeschüchtert; 
wagt  vielleicht  in  Demuth  aber  die  Antwort,  seit  den  Tagen 
der  Voruntersuchung  habe  er  Allerlei  erfahren,  das  ihm  die 
Dinge,  die  Menschen  in  etwas  anderem  Licht  zeigen  mußte. 
»Ja,  wenn  Sie  so  wetterwendig  sindl  Dann  können  Sie  über^ 
morgen  ja  wieder  eine  andere  Meinung  haben  I  Hier  haben 
Sie  über  Thatsachen  auszusagen;  welche  Schlüsse  daraus  zu 
ziehen  sind,  werden  wir  schon  allein  wissen.  Unbestimmte 
Aussagen  sind  nicht  zu  brauchen.  Ich  muß  Sie  dringend  err 
mahnen,  tmter  Ihrem  Eid  hier  bei  der  Wahrheit  zu  bleiben.« 


400 


Manchem  ist  aufgefallen,  daß  in  Allenstein  die  Aussage  ein# 
zelner  Offiziere  wie  eine  Verherrlichung  Goebens  klang.  Sind 
wir  in  unserem  Heer  so  weit,  daß  ein  Mann,  der  mit  der  Frau  eines 
Kameraden  und  Gastfreundes  in  Geschlechtsverkehr  stand, 
diesen  Kameraden  ein  Jahr  lang  schmählich  betrogen  und  dann 
tückisch,  nach  einem  Einbruch  ins  verschlossene  Haus,  getötet 
hat,  von  preußischen  Offizieren  wie  das  Ideal  eines  Mannes  gei> 
priesen  werden  kann?  So  wurde  gefragt;  und  vergessen,  daß 
diese  Offiziere  schon  im  ersten  Quartal  des  Jahres  1908  ver# 
nonunen  worden  waren.  Damals  wußten  sie  nur,  daß  ein  stiller, 
tüchtiger,  beliebter  Kamerad  durch  ein  schlimmes  Weib  um  Ehre 
und  Leben  gekommen  war;  sie  glaubten,  daß  ihn  nicht  Mord^ 
absieht,  sondern  der  tolle  Drang  nach  einem  ungestörten  und 
zeugenlosen  Duell  ins  Majorshaus  getrieben  habe ;  und  das  Mit^ 
leid  mit  dem  Unglücklichen  mußte  ihr  Urtheil  über  Goebens 
Charakter  fiirben.  An  diese  Aussage  waren  sie  fortan  gekettet; 
wenn  der  bürgerliche  Richter  ihnen  »Widersprüche«  vorhielt, 
hatten  sie  morgen  einen  Fettfleck  in  der  Conduite.  Vielleicht 
hatten  sie  auf  eine  dienstliche  Frage  auch  einmal  geantwortet, 
ihnen  sei  von  unziemlichem  Verkehr  Goebens  mit  Frau  von 
Schoenebeck  nichts  bekannt  (haltbare  Beweise  sind  in  solchem 
Fall  nicht  leicht  zu  erlangen  und  zwei  Duellen  setzt  der 
Tapferste  sich  nur  aus,  wenns  nicht  anders  geht) :  dann  waren 
sie  zwiefach  gebunden.  Nur  solche  Umstände  könnten  er^ 
klären,  daß  fast  alle  Zeugen  behaupteten,  von  dem  Treiben 
fler  Majorsfrau  nichts  gewußt  zu  haben.  In  einem  Grenze 
nest,  wo  die  Garnison  ein  ummauertes  Städtchen  bildet,  hat 

26.  III  401 


Keiner  gemerkt,  daß  die  Frau  des  Majors  vom  Stabe  mit 
dem  Taschentuch  ihren  Buhlen  Fensterflaggensignale  gab,  im 
Schlafzimmer  ihnen  Mahlzeiten  servirte,  mit  ihnen  in  Königs^ 
berg  und  in  Haffbädem  zusammenwohnte,  an  der  AUe  in 
Kattunkleid  und  Kopftuch  schwüle  Abenteuer  suchte.  In  Berlin 
hatte  die  Christgeschenkeinkäuferin  vor  einzelnen  Zufalls^ 
geführten  sogar  die  Namensmaske  gelüftet.  In  Allenstein: 
keine  Ahnung.  Das  sind  unvermeidliche  Folgen  des  Vor^ 
Untersuchungsystems.  Muß  es  so  bleiben?  Müssen  unsere 
Richter  unter  der  Schreiblast,  der  Lesepflicht  erlahmen,  die 
Zeugen  an  den  Rahmen  des  Gedächtnißbildes  genagelt  wer# 
den,  das  freilich  frisch  ist,  oft  aber  nur  die  Mängel  des 
allzu  flüchtig  hinwischenden  Impressionismus  erkennen  läßt? 
Warum  bleibt  der  Papierstoß,  der  um  kein  entbehrliches 
Wörtchen  und  Blättchen  zu  mehren,  in  den  nur  der  knappste 
Verhörseindruck  des  Untersuchungrichters  aufzunehmen  wäre, 
nicht  im  Bereich  der  Staatsanwaltschaft  und  wird  von  ihr 
nur  der  Kammer  vorgelegt,  die  das  Hauptverfahren  zu  er^ 
offnen  hat?  Dann  wäre  der  Vorsitzende  und  der  Referent 
in  der  Hauptverhandlung  unbefangen;  könnte  jeder  Zeuge 
bei  von  der  Leber  reden;  stünde  die  Rechtsgarantie  des 
mündlichen  Verfahrens  nicht  nur  im  Buch  der  Gerichtsord^ 
nung;  hätten  wir  kürzere  Prozesse  und  Richter,  die  nicht 
unter  der  Schreibfron  welk,  unter  dem  steten  Gewirbel  grauen 
Aktenstaubes  mürrisch  geworden  sind.  Heute?  »Das  ist  ja 
ganz  neul«  Wie  zorniges  Staunen  kams  von  der  Lippe  des 
allensteiner  Schwurgerichtspräsidenten,  wenn  etwas  noch  nicht 

402 


^Aktenkundiges«  vorgebracht  wurde.  Ganz  Neues  in  die 
Hauptverhandlung  tragen:  unerhört.  Da  droht  dem  müh^ 
sam  gebildeten  Vorurtheil  ja  Gefahr.  Daß  er  versuchen 
müsse,  just  er,  an  jedem  Gerichtstag  Alles  wie  ein  ganz 
Neues  zu  sehen,  hatte  der  biedere  Geheimrath  nicht  begriffen. 
Dieser  Vorsitzende  ähnelte  nicht  dem  ersten  Kaiser  Ferdit« 
dinand,  von  dem  Julius  Wilhelm  Zincgref  in  seinen  »Apoph^ 
thegmata«  erzählt  hat:  »Es  wäre  jhm  diese  Red  sehr  gemein: 
Dz  Recht  muß  sein  gang  haben,  und  solt  die  Welt  drüber 
zu  grund  gehen  1«  Der  allensteiner  Allmächtige  wollte,  in 
löblicher  Menschenliebe,  »nicht  noch  mehr  Existenzen  ver# 
nichten«;  wollte,  als  guter  Bürger,  »die  Oeffentlichkeit  au& 
klären  und  vor  Mißverständniß  bewahren«.  Er  verlas  und 
erörterte  Schmähbriefe,  die  er  empfangen  hatte.  Ließ  sich 
täglich  langwierige  Vorträge  über  den  Gesundheitzustand 
und  die  Nachterlebnisse  der  Angeklagten  (deren  Hotels 
Zimmer  er  auch  selbst  für  unzulänglich  erklärte)  halten,  statt 
solche  Expektorationen  mit  der  Frage  abzuschneiden,  ob  die 
Frau  verhandlung£ihig  sei  oder  nicht.  Erlaubte  StabsofiS« 
zieren  Vorträge  und  Glaubensbekenntnisse,  die  mit  dem 
Frozeßstoff  zwar  nichts  zu  thun  hatten,  nach  seiner  Meinung 
aber  »aus  warmem  Herzen  kamen«.  Gewährte,  trotz  dem 
Ausschluß  der  Oeffentlichkeit,  einem  Petenten  Einlaß,  weil 
ihm  »der  Wunsch,  so  berühmte  Vertheidiger  zu  hören,  hc^ 
greiflich«  sei.  Verschwieg  nicht  geizend,  was  er  im  Fran^ 
zosenkrieg  erlebt  und  an  Kopfschußwunden  beobachtet  habe. 
Heischte  mit  Wort  und  Wink  Anerkennung  seiner  Objekt 

»•  403 


tivität  (die  sich,  wie  alles  Moralische,  von  selbst  verstehen 
müßte).  Und  schien  keine  höhere  Pflicht  zu  kennen  als  die, 
der  Nation  und  allem  auf  der  Erdfeste  Kribbelnden  zu  kün^ 
den,  warum  er  Dies  thue  und  Das  unterlasse.  Unser  Gt^ 
richtssystem  bürdet  dem  Vorsitzenden  eine  Last  auf,  die  der 
stärkste  Mann  nicht  lange  zu  tragen  vermag.  Völliger  Zu# 
sammenbruch  könnte  immerhin  aber  vermieden  werden.  Daß 
ein  Richter  von  dem  Mann,  dessen  Mordplan  die  Voraus^ 
Setzung  der  Anklage  und  des  Hauptverfahrens  war,  der  den 
Kameraden  und  Vorgesetzten  heuchelnd  betrogen  und  von 
der  erstrebten  Ehe  offenbar  auch  Vermögenszuwachs  gehofft 
hatte.  Tage  lang  wie  von  dem  hehrsten  der  Artushelden 
sprach,  war  am  Ende  nicht  nöthig.  (Tage  lang;  allmählich 
verdüsterte  sich  auf  dem  Goebenbildniß  der  Grundton  so, 
daß  selbst  des  Schwärmers  frommer  Glaube  von  Skepsis  an^ 
genagt  ward.  Glauben  und  Taktik  haben  in  diesem  Prozeß 
ja  auch  die  Vertheidiger  gewechselt:  ihre  Mandantin,  deren 
Wahrhaftigkeit  in  den  ersten  Wochen  das  Nothlügengespinnst 
des  Hauptmannes  zerfetzen  sollte,  als  eine  seit  Jahren 
geistig  Schwerkranke  zärtlich  ins  Irrenasyl  befördert.  Nur 
der  Ankläger  hat  in  allen  Phasen  die  nüchterne  Ruhe  und 
das  richtige  Augenmaß  bewahrt.)  Um  die  Oeffentlichkeit, 
der,  mit  seiner  Zustimmung,  der  Saal  gesperrt,  deren  punkte 
liehe  Belehrung  durch  Reporterkunst  aber  gesichert  war, 
hatte  der  Präsident  sich  nicht  eine  Minute  lang  zu  kümmern; 
und  die  Bekämpfung  des  Mißverstandes  anderen  Instanzen 
zu  überlassen.  Seine  Pflicht  war  nur,  die  Wahrheit  zu  suchen. 


404 


Die  konnte  nicht  durch  den  Nachweis  gefunden  werden,  daß 
Goeben  in  den  Erzählungen  aus  seiner  Kriegszeit  ein  Bischen 
geflunkert  habe  (Das  thut  mancher  Soldat,  der  im  Wesent^ 
liehen  dennoch  wahrhaftig  ist);  noch  gar  durch  die  Weisung, 
im  Juni  1910  Kleider  und  Strümpfe  zu  untersuchen,  die  der 
Hauptmann  im  Dezember  1907  getragen  hat.  An  Theaterein^ 
drücke  wird  der  Betrachter  in  jedem  Schwurgerichtssaal  er^ 
innert.  Alle  an  dem  Prozeß  Mitwirkenden  spielen  ein  Stück, 
das  der  Präsident  für  den  Tag  der  Aufführung  (Hauptverhand^ 
lung)  mit  ungeschmälertem  Regierecht  vorbereitet  hat;  und 
miihen  sich,  es  so  zu  spielen,  die  Effekte  so  anzubringen,  daß 
ihr  zwölfköpfiges  Publikum  zufrieden  ist.  Das  nur  hat  ja  zu 
entscheiden;  ohne  Begründung:  wie  vor  dem  Schaugerüst  die 
größere  Schaar.  »Wir  sind  hier  nicht  im  Theater  1«  So  ruft, 
rief  oft  schon  ein  wüthender  Schwurgerichtspräsident;  und 
verbietet  streng  die  Verwendung  von  Operngläsern.  Warum? 
Aus  solchen  Gläsern,  deren  Zufallsname  längst  nicht  mehr 
den  Gebrauchszweck  begrenzt,  blickt  man  auf  einziehende 
Fürsten,  Thronredner,  manöverirende  Truppen  und  Schiffe, 
Priester  und  Flieger,  Minister  und  Generale,  Rennpferde  und 
Schwätzer.  Und  gerade  dem  ernsten  Psychologen  ists  wichtig, 
die  Affektspiegelung  auf  der  Antlitzfläche  des  Beschuldigten 
zu  sehen.  Wir  sind  im  Theater;  das  ja  nicht  immer  unemste 
Aufgaben  zu  bewältigen  hat.  Möchten  gerade  hier  aber  nicht 
merken,  daß  der  Regisseur  eitel  nach  Beifall  lechzt  und  sich 
in  seinem  Wahn  fiir  den  Nabel  des  Weltalls  hält. 


405 


Kein  König  ist,  kein  Kaiser  noch  in  Europa  heute  so 
mächtig  wie  der  Richter  in  seinem  Bereich.  (Auch  im  Schwur^ 
gerichtssaal.  Wer  weiß  denn,  ob  die  zwölf  Ostpreußen  an 
Psychose  und  Selbstmordabsicht  glaubten  oder  entschlossen 
waren,  die  Schuldfrage  zu  bejahen?  Ehe  ihr  Stichwort  fiel, 
war  ihrer  Willenssphäre  die  Angeklagte  entrückt;  und  sie 
durften  die  Ueberzeugung,  daß  diese  Frau,  mit  und  ohne 
Gutachterschein,  gemeingefährlich  sei,  nicht  zu  lautem  Aus# 
druck  bringen.)  Da  Ihr  den  Richter  gottähnlich  wollt,  als 
souverainen  Herrn  über  Ehre,  Freiheit,  Leben  seiner  Mit^ 
bürger:  beugt  ihn  niemals  unter  die  Tyrannis  der  von  WohLt 
habenden  gemietheten  Aerzte;  und  gewährt  ihm  den  Rang 
und  den  Sold,  der  an  solche  Amtshöhe  heranreicht.  Das 
muß  auch  in  armen  Staaten  möglich  sein.  Wenn  der  preu^ 
ßische  Finanzminister  den  Haushaltsetat  seines  Justizkollegen 
sorgsam  prüfte  und  die  Anwaltkammer  um  ein  ehrliches 
Gutachten  bäte,  würde  er  schnell  erkennen,  wie  viel  da  zu 
sparen  ist.  An  Schreiberlohn  und  durch  kurzsichtige  Ter# 
minsansetzung  gehäufter  Zeugengebühr.  Laßt  einmal  nach^ 
rechnen,  welche  Versäumnißgelder  während  eines  Jahres  in 
Preußen  an  nicht  vernommene  Zeugen  gezahlt  werden.  HörtI 
Vor  einem  detachirten  Amtsgericht  soll  in  einer  Strafisache 
verhandelt  werden.  Dreißig  Zeugen;  zwanzig  aus  Berlin. 
Der  Angeklagte  lehnt  den  Amtsrichter  »wegen  Besorgniß 
der  Befangenheit«  ab.  Ueber  das  Ablehnungsgesuch  hat 
(§  27'  StPO)  das  Landgericht  zu  entscheiden.  Dessen  Sitz 
ist  von  dem  Amtsgerichtsort  durch  eine  halbe  Eisenbahn^ 

40$ 


stunde  getrennt;  doch  der  nächste  Zug  geht  erst  mittags. 
Das  würde  zu  spät.  Telephonische  Erledigung  (das  thöricht 
begründete  Gesuch  würde  sicher  rasch  abgewiesen)  ist  nicht 
gestattet.  Ein  Automobil  kommen  und  die  Zeugen  zwei 
Stunden  warten  lassen?  Wer  bürgt  fiir  die  Erstattung  der 
wider  alle  Norm  hohen  Fahrtkosten?  Lieber  zahlt  man  den 
Zeugen  die  Gebühr,  schickt  sie  nach  Haus  und  ruft  sie  in 
der  nächsten  Woche  wieder  ins  Städtchen.  Mindestens  fun& 
hundert  Mark  sind  verthan.  Und  solcher  Fall  ist  nicht  etwa 
selten.  Fragt  in  Alt^Moabit  die  Gerichtsdiener,  wie  viele 
Zeugen  täglich  pro  nihilo  bestellt  werden  und  Stunden  lang 
dünstend  die  Korridorbänke  drücken.  Ein  starker  Finanz^ 
minister  würde  Richter  und  Staatsanwälte  besser  bezahlen 
und  dennoch  mit  geringerem  Aufwand  auskommen. 

Sparsucht  und  kriminalpolitische  Klugheit  müßten  oft  in 
den  selben  Willensstrom  münden.  Fast  alle  Skandalprozesse 
der  letzten  Jahrzehnte  waren  unnöthig;  gerade  die  dem 
Reichsansehen  und  der  Reichskasse  schädlichsten.  Leckert^ 
Lützow,  Tausch,  Forbach,  Kwilecka,  Hohenau,  Eulenburg, 
Hammann,  Kiel,  Schoenebeck:  Alles  theuer  und  nutzlos; 
fünfmal  Freisprechung;  zweimal  Einstellung,  zweimal  gelinde 
Strafen.  Und  darum  Diplomatie,  Offiziercorps,  Hofgesell^ 
Schaft,  Reichswerfitleiter,  Polizei,  Adel  durch  die  Spießruthen^ 
gasse  gejagt  I  So  unklug  ist  die  Nachbarschaft  nicht.  Die 
Wiener  sind  mit  ihrem  Hofrichter  im  Stillen  fertig  geworden; 
auf  die  Armee  ist  kein  Makel  gefallen,  die  Gerechtigkeit  des 
Schuldspruches  wird  nirgends  bezweifelt  und  die  Thatsache, 

407 


daß  Oberlieutenants  und  junge  Hauptleute  gierig  nach  einem 
Apkrodisiakum  griffen,  hat  kaum  hörbare  Heiterkeit  erwirkt. 
Wir  nur  entgürten  auf  offenem  Markte  die  Scham  und  zeigen 
die  Flecke  am  Reichskörper,  daß  der  Neid  sich  dran  freue. 
Wars  nöthig,  dem  Feind  zu  erzählen,  daß  unser  Großer 
Generalstab  Kriegsgeschichten  herausgiebt,  deren  Darstellung 
sich  auf  unbeglaubigte  Zeugnisse  stützt?  Daß  er  Zeugen 
traut,  die,  wie  er  leicht  feststellen  könnte,  am  Tag  der  Bürens 
Schlacht,  über  die  sie  aussagen,  noch  in  Europa  waren? 
Nöthig,  die  Gewißheit  zu  schaffen,  daß  auch  im  deutschen 
Heer  unter  Tausenden  hier  und  da  ein  Offizier  ist,  der,  weil 
er,  mit  leerem  Beutel,  feine  Fleischwaare  nicht  kaufen  kann, 
im  Ehebruch  sein  Nothrecht  sieht,  sich  vom  Mann  der 
brünstigen  Liebsten  abfüttern  läßt  und  vor  dem  in  seiner 
Geschlechtsehre  gekränkten  Kameraden  Honneur  macht? 
Unnöthig;  und  schädlich:  wie  dieser  ganze  Prozeß. 


408 


« 


.* 


MOLTKE  WIDER  HARDEN. 

Graf  Moltke,  Adjutant  des  Kaisers  und  Stadtkommandant  von 
Berlin,  hatte,  als  er  zur  Einreichung  seines  Abschiedgesuches  ge^ 
nöthigt  worden  war,  gegen  Harden,  durch  dessen  in  der  »Zukunft« 
veröffentlichte  Aufsätze  er  sich  nun  beleidigt  fand,  einen  Straf« 
antrag  gestellt.  Oberstaatsanwalt  Isenbiel  wies  den  Antrag  ab,  weil 
kein  öffentliches  Interesse  zur  Verfolgung  dränge.  Im  Privatklage* 
verfahren  wurde  Harden  vom  Schöffengericht  freigesprochen.  Dieses 
Verfahren  dann  aber,  auf  Antrag  der  Staatsanwaltschaft,  eingestellt 
und  noch  im  selben  Herbst,  wieder  auf  Antrag  der  Staatsanwaltschaft, 
vor  der  Vierten  Strafkammer  des  Königlichen  Landgerichtes  I  in 
Berlin,  als  Erster  Instanz,  ein  neues  Verfahren  eröffnet;  ein  nach 
der  Meinung  der  bekanntesten  Strafrechtslehrer  ungiltiges.  Die  Straf» 
kammer  verurtheilte  am  dritten  Januar  1908  Harden  zu  vier  Monaten 
Gefangniß.  Am  dreiundzwanzigsten  Mai  1908  wurde,  auf  Antrag  des 
Oberreichsanwaltes,  dieses  Urtheil,  wegen  rechtlicher  und  prozessualer 
Unzulänglichkeit,  vom  Zweiten  Strafsenat  des  Reichsgerichtes  »in 
vollem  Umfang  und  nebst  den  ihm  zu  Grunde  liegenden  Feststel« 
lungen«  aufgehoben  und  die  Sache  an  die  Vorinstanz  zurückverwiesen. 


Verhandlung  vor  der  Vierten  Strafkammer  des  Königlichen  Land* 

gerichtes  I  Berlin. 

Vorsitzender  Landgerichtsdirektor  Lehmann:  Wir  können 
immer  eintreten  in  die  Verhandlung.  Als  Zeugen  sind  ge# 
laden  Herr  Graf  Kuno  von  Moltke,  Herr  Graf  Otto  von 
Moltke,  Herr  Baron  von  Berger,  Herr  Graf  Reventlow.  Ich 
bitte  die  Zeugen,  vorzutreten.  Ich  mache  die  Zeugen  auf  die 
Bedeutung  des  Eides  aufmerksam.  Sie  werden  eidlich  ver^ 
nommen  werden  und  Sie  wissen  ja,  daß  Sie  nur  die  reine 
und  volle  Wahrheit  zu  sagen  haben,  da  Sie  vereidigt  werden 
und  es  eine  außerordentlich  schwere  Sünde  wäre,  wenn  Sie 
irgendetwas  sagten,  was  nicht  mit  der  Wahrheit  überein# 
stimmt.  Ich  bitte  Sie  dann,  mit  Ausnahme  des  Nebenklägers, 
der  ja  zugleich  Zeuge  ist,  den  Saal  zu  verlassen.  Ich  denke 
(Das  wird  ja  nun  schwer  zu  sagen  sein),  Sie  werden  heute 
noch  vernommen  werden.  Die  verantwortliche  Vernehmung 
wird  doch  wohl,  ich  schätze,  drei  Stunden  dauern  und  viel# 
leicht  ginge  es  so  zu  machen,  damit  Sie  nicht  unnöthig  hier 
auf  dem  Flur  warten,  daß  Sie  irgendwie  per  Telephon  zu 
citiren  sind?  (Wird  bejaht.  Die  Zeugen  verlassen  den  Saal; 

411 


auch  der  Nebenkläger  will  hinausgehen.)  Wollen  Sie  nicht 
hierbleiben,  Herr  Graf? 

Justizrath  Sello  (Vertreter  des  Grafen  Moltke):  Nein; 
mit  Rücksicht  auf  seinen  Gesundheitzustand.  (Graf  Moltke 
war  sechs  Tage  vor  der  Hauptverhandlung  von  Berlin  nach 
Meran  gereist,  hatte  ein  ärztliches  Zeugnis  eingereicht  und 
war  erst  auf  Wunsch  des  Gerichtshofes,  der  seine  Anwesens 
heit  forderte,  zurückgekehrt.) 

Lehmann:  Dann  würde  ich  Sie  bitten,  Ihre  Telephone 
nummer  draußen  anzugeben.  Gerichsdiener,  die  Akten  sind 
nicht  alle  hier.  Ich  kann  die  Personalien  ja  aber  auch  ohne 
Akten  feststellen.  Sie  heißen  mit  Vornamen? 

Angeklagter  Harden:  Ich  heiße  Maximilian  Felix  Ernst, 
bin  evangelisch,  Schriftsteller,  Verfasser  der  Artikel,  fiir  die 
ich  die  Verantwortung  übernehme. 

Vertheidiger  Justizrath  Max  Bernstein:  Ich  bitte  um 
das  Wort  vor  Verlesung  des  Eröfihungbeschlusses. 

Lehmann:   Bitte  sehrl 

Bernstein:  Meine  verehrten  Herren!  Ich  habe  das  Wort 
erbeten  vor  Verlesung  des  Eröfihungbeschlusses  weil  der 
Einwand  der  Unzuständigkeit  des  Gerichtes  nach  gesetzlicher 
Vorschrift  vor  dieser  Verlesung  vorgebracht  werden  muß 
und  ich  den  Einwand  der  Unzuständigkeit  des  Gerichts  und 
der  Unzulässigkeit  des  Verfahrens  hiermit  formlich  und  aus^ 
drücklich  erhoben  haben  will,  mit  dem  daran  geknüpften 
Antrag,  wegen  dieser  Umstände  das  Ver&hren  einzustellen. 
Die  juristische  Frage,  von  deren  Beantwortung  das  Schicke 

412 


sal  dieses  Antrages  abhängt,  ist  so  vielfach  erörtert  worden, 
daß  ich  glaube,  mit  den  Einzelheiten  dieser  juristischen  Dis^ 
kussion  Ihre  Zeit  nicht  in  Anspruch  nehmen  zu  sollen.  Sie 
wissen  eben  so  gut  wie  ich,  daß  der  §  417  der  Reichsstra& 
Prozeßordnung  jetzt  von  den  höchsten  Gerichtshöfen  Deutsche 
lands,  von  dem  Reichsgericht  in  Leipzig,  von  dem  Kammern 
gericht  in  Berlin,  von  dem  Obersten  Landesgericht  in  Mün« 
chen,  anders  ausgelegt  wird,  als  er  früher  ausgelegt  worden 
ist.  Sie  wissen  eben  so,  daß  die  Theoretiker  fast  ausnahmen 
los  diese  jetzt  geltende  Deutung  des  §  417  billigen,  die 
frühere  mißbilligen.  Nach  der  Auffassung  des  §  417,  welche 
von  den  höchsten  Gerichtshöfen  und  von  der  Theorie  vertreten 
wird,  ist  ganz  unbestreitbar  das  Ver&hren,  in  dem  wir  uns 
jetzt  befinden,  die  Verhandlung,  die  jetzt  begonnen  hat,  gesetzt 
widrig.  Man  darf,  ohne  Widerspruch  furchten  zu  müssen,  sa^ 
gen:  Wenn  die  Anschauung,  die  jetzt  als  die  allein  richtige  gilt 
und  die  allein  richtige  ist,  die  Anschauung,  daß  eine  Ueberlei# 
tung  des  Privatklagever&hrens  in  das  öffentliche  Verfahren  so, 
wie  hier  geschehen  ist,  unzulässig  ist,  früher  gegolten  hätte, 
so  würde  diese  heutige  Verhandlung  nicht  vor  Ihnen,  meine 
sehr  geehrten  Herren,  stattfinden ;  auch  die  frühere  Verbands 
lung  würde  nicht  vor  Ihnen  stattgefunden  haben.  Nun  bin 
ich  der  Meinung,  daß  der  Bürger  ein  Recht  auf  das  gesetzt 
liehe  Recht  und  der  Richter  eine  Pflicht  zum  gesetzlichen 
Recht  hat;  ich  bin  der  Meinung,  daß  es  unmöglich  den  In^ 
tentionen  eines  sittlichen  und  vernünftigen  Gesetzgebers  ent# 
sprechen  kann,  daß  Jemand  (ich  will  mal  den  Fall,  den  ich 

413 


allerdings  hier  fiir  ausgeschlossen  halte,  einen  Augenblick 
supponiren)  verurtheilt  wird  auf  Grund  eines  Verfahrens 
von  dem  die  Richter  selbst  sich  sagen  müssen:  Wir  sind 
nur  drin,  weil  wir  hineingedrängt  worden  sind;  das  Ver- 
fahren hat  keine  gesetzliche  Basis.  Wenn  bewiesen  ist,  daß 
der  erste  Schritt  falsch  war,  so  darf  man  den  falschen  Weg 
nicht  zu  Ende  gehen  mit  der  Motivirung :  er  ist  nun  einmal 
beschritten.  Herr  Harden  hat  einfach  ein  Recht,  zu  verlangen, 
daß  hier  nicht  verhandelt  werde  auf  Grund  eines  Verfahrens, 
über  das  alle  Maßgebenden  heute  sagen:  Es  hätte  nun  und 
nimmer  stattfinden  dürfen.  Ich  gbube,  daß  der  Richter,  der 
in  jedem  Augenblick  die  Berechtigung  seines  richterlichen 
Handelns  ganz  selbständig  zu  prüfen  hat,  seine  Mitwirkung 
an  einem  solchen  Verfahren  versagen  und  aussprechen  muß : 
Da  thue  ich  nicht  mit.  Mag  der  Fehler  gemacht  sein,  von  wem, 
wo  und  wann  er  will:  einerlei;  ich  bin  der  Meinung,  daß  in 
einem  Rechtsstaat  ein  solcher  Fehler  in  dem  selben  Augenblick 
korrigirt  werden  muß,  in  dem  er  erkannt  ist.  Ich  bin  der  lAcu 
nung,  daß  in  einem  Rechtsstaat  nicht  prozedirt  werden  darf  mit 
dem  Argument:  Das  haben  wir  nicht  zu  entscheiden ;  wir  sind 
nun  mal  in  der  Sache  drin,  wir  haben  das  Garn  nun  zu  Ende 
so  abzuspinnen,  wie  es  auf  den  Wocken  gekommen  ist.  Das 
halte  ich  für  falsch.  Denn  wenn  dieser  Grundsatz  gilt,  dann 
ist  eigentlich  für  Jeden  von  uns  Ehre  und  Freiheit,  Vermox 
gen,  vielleicht  das  Leben  fortwährend  gefährdet.  Wenn  es  er^ 
kannte  behördliche,  beamtliche,  richterliche  Fehler  giebt,  die 
nicht  mehr  korrigirt  werden  können,  dann  kann  man  nicht 

414 


in  jedem  Sinn  sagen,  daß  wir  in  einem  Rechtsstaat  leben. 
In  diesem  einzelnen  Fall  zeigt  sich  die  Folge  des  Unrechtes 
deutlich.  Die  Dinge,  die  im  Lauf  dieser  Prozesse  erörtert 
worden  sind,  jetzt  noch  einmal  erörtert  zu  hören,  hat  Nie^ 
mand  einen  Wunsch,  Niemand  ein  Interesse.  Die  Parteien 
haben  eine  Form  gefunden,  die  Sache  zu  Ende  zu  bringen, 
eine  Form,  in  der  die  Sache,  ich  glaube,  auf  eine  durchaus 
angemessene  Weise,  erledigt  worden  ist.  Dem  Gericht  liegt 
ein  Schriftstück  vor,  das  lautet: 

Herr  Harden  wiederholt  die  in  seiner  Zeitschrift, 
vor  dem  Schöffengericht  und  vor  dem  Landgericht  ab^ 
gegebene  Erklärung,  daß  er  in  seiner  Wochenschrift 
Seine  Excellenz  den  Herrn  Grafen  Kuno  Moltke  nicht 
der  Homosexualität  beschuldigt  hat.  Seine  Excellenz 
Generallieutenant  z.  D.  Graf  Moltke  acceptirt  diese  Eu 
klärung.  Beide  Herren  sind  der  Ueberzeugung,  daß 
sich  nach  diesen  Erklärungen  jede  Beweisau&ahme  er^ 
übrigt. 

Berlin,  den  neunzehnten  März  1909. 

Graf  Kuno  Moltke.  Maximilian  Harden. 

Das  ist  der  Königlichen  Staatsanwaltschaft  überreicht  wor^ 

den  in  einem  gleich&lls  von  den  beiden  Herren  unterzeich^ 

neten  Schriftstück  vom  zweiundzwanzigsten  März,  das  lautet : 

In  der  Strafsache  gegen  Harden  beehren  sich  die 

unterzeichneten  Parteien  die  anliegende  Erklärung  in 

der  Anahme  zu  überreichen,  daß  dadurch  eine  Untere 

läge  fiir  eine  rasche  und  einfache  Erledigung  des  Ver# 

415 


fahrens  gegeben  ist,  gegen  dessen  Einstellung  sie  nichts 
einzuwenden  haben. 

Die  Prozeßparteien  haben  sich  (wenn  ich  den  Ausdruck 
auf  diese  Erklärungen  anwenden  darf)  verglichen.  Befanden 
wir  uns  in  dem  Verfahren,  das  allein  dem  Sinn  des  Gesetzes 
entspricht,  befanden  wir  uns  nicht  vor  der  mit  fünf  Richtern 
besetzten  Strafkammer,  dann  wäre  damit  die  Sache  erledigt 
Das  Gesetz  gewährt  dem  Beleidigten  das  Recht,  den  Beleih» 
diger  zu  verklagen,  das  Gesetz  gewährt  dem  Beleidiger  das 
Recht,  sich  gegen  die  Klage  zu  wehren,  das  Gesetz  gewährt 
beiden  Parteien  das  Recht,  die  Sache  durch  Vergleich  zu 
beendigen.  "Waren  wir  in  dem  gesetzlich  allein  zulässigen 
Verfahren,  so  würde  aus  diesem  Vergleich  ganz  von  selbst 
sich  ergeben,  daß,  da  die  beiden  Herren  ausdrücklich  er^ 
klären,  jede  Beweisaufnahme  sei  überflüssig,  der  jetzige  Herr 
Nebenkläger  den  Strafantrag  zurückziehen  würde  gemäß  den 
von  ihm  und  dem  jetzigen  Herrn  Angeklagten  ausgedrückten 
Intentionen.  Um  dieses  Recht  sind  beide  Parteien  gebracht 
worden.  Geht  Das?  Wenn  man  in  dem  Verfahren  fortfiihrt, 
so  heißt  Das  nichts  Anderes  als:  Unrecht  kann  zu  Recht 
verjähren.  Das  giebts  nicht,  meine  verehrten  Herren.  Das 
Verfahren  ist  unzulässig,  es  ruht  auf  unzulässiger  Basis ;  und 
wenn  Sie  die  billigenswerthe  Ansicht  der  Praxis  und  der 
Theorie  billigen,  so  bleibt  nur  noch  die  Einstellung  des 
Verfahrens,  die  ich  hiermit  beantrage. 

Oberstaatsanwalt  Dr.  Preuß:  So  sympathisch  mir  an  und 
fiir  sich,  nachdem  ein  Vergleich  zwischen  dem  Herrn  Angea» 

• 

416 


klagten  und  dem  Herrn  Nebenkläger  zu  Stande  gekommen  ist, 
die  Ausfuhrungen  sind,  die  der  Herr  Rechtsanwalt  gemacht  hat, 
so  sind  sie  doch  nicht  zwingender  Natur.  Ich  kann  sie  nicht 
als  berechtigt  anerkennen.  Zunächst  muß  davon  ausgegangen 
werden,  daß  das  Reichsgericht  in  seinem  hier  angeführten  Ur^ 
theil  ausdrücklich  erklärt  hat,  daß  der  einmal  hier  beschlossene 
Weg,  nachdem  er  begangen  war,  auch  begangen  werden 
durfte.  Es  hat  ausdrücklich  anerkannt,  daß  das  Gericht  zu^ 
ständig  zur  Urtheilsfallung  war,  und  hat,  von  diesem  Ge^ 
Sichtspunkt  ausgehend,  bei  Aufhebung  des  Urtheils  die 
Sache  an  die  selbe  Strafkammer  zurückverwiesen.  Durch 
diesen  Umstand  allein  ist  die  Behauptung  des  Herrn  Ver# 
theidigers  des  Angeklagten,  daß  der  Weg  der  Urtheils^ 
fallung  durch  die  jetzige  Strafkammer  ein  gesetzwidriger 
wäre,  als  haltlos  nachgewiesen.  Im  Gegentheil:  das  Gericht 
ist  nunmehr  durch  die  Bestimmung  des  §  398  StPO  sogar 
gezwungen,  ein  Urtheil  zu  fällen  und  sich  an  die  Rechts^ 
ausfuhrungen,  welche  das  Reichsgericht  gemacht  hat,  zu  hal* 
ten.  Verhandelt  und  entschieden  muß  von  der  hiesigen  Strafe 
kammer  werden.  Die  einzige  Frage,  ob  davon  abgesehen 
werden  konnte,  lag  nach  meiner  Meinung  nicht  ganz  zweifele 
los  klar  in  dem  Reichsgerichtsurtheil  ausgesprochen,  wenn 
es  sagte,  daß  das  alte  Verfahren  immer  noch  nicht  definitiv 
entschieden  sei,  indem  immer  noch  eine  nicht  befristete  Be^ 
schwerde  gegen  den  Einstellungbeschluß  des  Privatklagever» 
fahrens  zulässig  wäre.  Aber  auch  aus  diesem  Umstände, 
meine  Herren,  glaube  ich  nicht,  daß  der  Gerichtshof  dazu 

• 
27.  III  417 


kommen  kann,  den  Beschluß  über  die  EröflBiung  des  Haupt<> 
Verfahrens,  über  den  hier  zu  entscheiden  ist,  etwa  durch  einen 
Einstellungbeschluß  zu  beseitigen,  und  zwar  wiederum,  weil 
ich  den  Ausführungen  des  Reichsgerichts  in  dem  letzten 
Urtheil  folge,  wo  es  ausdrücklich  ausfuhrt,  daß  eine  derart 
tige  Anfechtung  vor  Eröffiiung  des  Hauptver&hrens  hätte 
stattfinden  müssen,  so  daß  also,  auch  selbst  wenn  jetzt  nach^ 
träglich  Beschwerde  eingelegt  werden  sollte  oder  eingelegt 
worden  wäre,  thatsächlich  nichts  daran  geändert  worden 
wäre,  daß  die  jetzige  Strafkammer  ein  Urtheil  zu  i^en  hat. 
Eine  andere  Frage  ist  ja  (die  bleibt  ja  stets  offen),  wie  weit 
man  auf  die  Vergleichsverhandlungen  Rücksicht  zu  nehmen 
haben  wird,  erstens  schon  bei  der  Beweisaufnahme  und  dann 
vor  allen  Dingen  nachher  bei  Abmessung  der  Strafe;  und  ich 
darf  vielleicht  auch  hier  gleich  betonen,  daß  meiner  Meinung 
nach  von  einer  Beweisaufnahme  vielleicht  wird  ganz  abge# 
sehen  werden  können,  falls  der  Herr  Angeklagte  und  der 
Herr  Nebenkläger  uns  ausreichende  Erklärungen  noch  weitere 
hin  über  einzelne  Punkte,  die  von  \(lchtigkeit  sein  können, 
abgiebt.  Ich  würde  jedenfalls  einem  solchen  Antrag  durchs 
aus  sympathisch  gegenüberstehen  und  würde  den  nach  allen 
Richtungen  hin  befürworten. 

Sello:  Es  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  wir  uns  in  einer 
(entschuldigen  Sie,  wenn  ich  mich  populär  ausdrücke)  pro^ 
zessualen  Zwickmühle  befinden,  wo  ganz  außerordentlich 
schwer  sein  wird,  herauszukommen,  in  einer  komplizirten 
Situation,  die  dadurch  geschaffen  ist,  daß  in  dem  Urtheil 

418 


das  Reichsgericht  über  die  grundlegende  Auslegung  des 
§  417  seine  bis  dahin  konstant  festgehaltene  Ansicht  geän# 
dert  hat  und  daß  diese  neue  Auslegung  des  Reichsgerichts 
nach  der  schon  von  der  Oberstaatsanwaltschaft  angezogenen 
Bestimmung  des  §  398  StPO  ftir  die  jetzt  zu  Gericht  sitzende 
Strafkammer  maßgebend  ist.  Nach  dem  Urtheil  des  Reichs^f 
gerichts  muß  nach  meinem  Dafürhalten  unbedingt  anerkannt 
werden,  daß,  theoretisch  genommen,  die  Strafkammer  zur 
Aburtheilung  der  Sache  in  diesem  Verfahren  nicht  zuständig 
ist;  theoretisch,  sage  ich.  Nach  meiner  Ueberzeugung  be# 
steht  die  Gefahr  nach  wie  vor,  daß  das  Reichsgericht  das 
Urtheil  der  nach  meiner  Meinung  nicht  zuständigen  Straf» 
kammer  nicht  wird  bestehen  lassen  können  und  daß  über 
dem  gegenwärtigen  Verfahren  vom  ersten  Augenblick  bis  zum 
letzten  das  Damoklesschwert  der  Revision  schwebt.  Ich  glaube, 
es  ist  erfolgreiche  Revision  nicht  ausgeschlossen,  und  ich  muß 
mich  dem  Argument  des  Herrn  Justizraths  Bernstein  unbe^ 
dingt  anschließen,  daß  es  unmöglich  Aufgabe  des  Richters 
sein  kann,  an  einem  gegen  das  klare  Recht  eingeleiteten  Ver^ 
fsdiren  mitzuwirken.  Ich  bin  deshalb  der  Meinung,  daß  die 
vom  Herrn  Kollegen  Bernstein  angeregte  Unzuständigkeit» 
frage  der  ernstesten  Beachtung  werth  ist,  und  muß  seine  Ein# 
Wendungen  unterstützen.  Da  kein  Zweifel  bestehen  kann, 
daß  bei  richtiger,  zutreffender  Auslegung  des  §  417  die  Straf» 
kammer  als  Erste  Instanz  zur  Aburtheilung  dieser  Sache 
nicht  berufen  sein  kann,  wäre  eine  Fortsetzung  des  Verfahrens 
mit  dem  Keim  einer  unheilbaren  Nichtigkeit  behaftet. 

27*  419 


Harden:  Ich  bin  nicht  Jurist,  aber  ich  bin  das  Objekt 
Dessen,  was  hier  geschieht,  und  darum  nehme  ich  das  Recht 
in  Anspruch,  darüber  zu  sprechen.  Das  Privatklageverfahren 
ist  durch  einen  gesetzwidrigen  Beschluß  eingestellt  worden; 
es  konnte  überhaupt,  nach  dem  Wortlaut  der  Strafprozeß^ 
Ordnung,  nur  durch  ein  Urtheil  eingestellt  werden,  und  es 
glebt  keinen  Gerichtshof,  der  sich  über  diesen  Wortlaut  hin# 
wegsetzen  darf.  Deshalb  ist  Alles,  was  danach  kam,  nach 
meiner  Ueberzeugung  allerdings  gesetzwidrig.  Ich  bin  mei^ 
nem  ordentlichen  Richter  (aus  Gründen,  die  ich  hier  nicht 
zu  erörtern  habe)  entzogen  worden.  Dieses  Unrecht  kann 
niemals  zu  Recht  werden.  Man  könnte  sich  aber  in  die 
Seele  von  Richtern  versetzen,  die  sich  sagen:  Wir  haben  es 
nicht  verschuldet,  die  Sache  ist  nun  einmal  so  und  schließe 
lieh  ist  es  keine  schlimme  Benachtheiligung  des  Angeklagten; 
wenn  wir  jetzt  hier  einstellen,  dann  bringen  wir  den  Kläger 
um  sein  Recht;  Das  können  wir  nicht,  denn  der  Klager  ist 
für  uns  immer  Nummer  Eins,  der  Angeklagte  erst  Nummer 
Zwei.  Doch  selbst  dieser  einzige  Grund,  der  gewissenhafte 
Richter  nach  meiner  Ueberzeugung  auch  nur  zum  Zögern 
vor  der  Beantwortung  der  ihnen  gestellten  Frage  bringen 
könnte,  selbst  dieser  Grund  existirt  hier  nicht;  denn  dem 
Gerichtshof  liegt  eine  von  der  Hand  des  Herrn  Grafen 
Moltke  unterschriebene  Erklärung  vor,  worin  steht:  Ich, 
Graf  Moltke,  und  Herr  Harden  haben  gegen  die  Einstellung 
des  Verfahrens  nichts  einzuwenden.  Das  war  die  einzige 
Möglichkeit,  wie  Graf  Moltke  und  sein  Vertreter  zum  Aus^ 

420 


druck  bringen  konnten:  In  diesem  Moment  würden  wir  den 
Stra£mtrag  zurücknehmen,  wenn  das  Gesetz  uns  dazu  die 
Möglichkeit  böte.  \^  haben  hier  also  ein  VerEsJiren,  das 
Theorie  und  Praxis,  von  Binding  bis  zu  Liszt,  vom  Reichs^ 
gericht  bis  zum  Kammergericht,  für  gesetzwidrig  halten,  und 
in  diesem  Verfahren  erklärt  der  angeblich  Verletzte:  Ich 
habe  gegen  die  Einstellung  nichts  einzuwenden;  der  Ange# 
klagte  sagt:  Dieses  Verfahren  thut  mir  Unrecht;  das  Deutsche 
Reich  und  dessen  maßgebende  Faktoren  haben  den  dringen^ 
den  Wunsch  (und  ich  bedaure,  daß  der  Herr  Vertreter  der 
Anklage  diese  Reichsinteressen  bisher  noch  nicht  betont  hat), 
diese  Angelegenheit  zum  Abschluß  zu  bringen.  Die  Vierte 
Strafkammer  des  Königlichen  Landgerichtes  wird  diese  That> 
Sachen  zu  erwägen  haben,  bevor  sie  entscheidet,  ob  sie  solches 
gesetzwidrige  Verfahren  fortführen  will. 

Bernstein:  Darf  ich  noch  ein  Wort  hinzufügen?  Das 
Argument,  gegen  den  Einstellungbeschluß  sei  nicht  Be# 
schwerde  erhoben,  kann  Das,  was  ich  zur  Begründung  mei^ 
nes  Antrages  vorgebracht  habe,  nicht  widerlegen.  Es  kann 
und  darf  nicht  möglich  sein,  daß  aus  Unrecht  Recht  wird. 
Ist  das  Verfahren,  in  dem  wir  uns  befinden,  gesetzwidrig, 
so  kann  diese  Gesetzwidrigkeit  nicht  damit  sanirt  werden, 
daß  man  den  Angeklagten  fragt:  Warum  hast  Du  nicht  die 
oder  die  Beschwerde  erhoben?  Herr  Harden  hat  bis  jetzt 
gegen  den  Einstellungbeschluß  nicht  Beschwerde  erhoben. 
Gut.  Folgen  für  den  Richter?  Folgen  für  Herrn  Harden? 
Der  Einstellungbeschluß  existirt  noch.  Schön.  Was  hat  denn 

421 


Das  mit  der  Frage  zu  thun,  ob  Herr  Harden  hier  vor  Ihr 
Forum  gehört?  Wenn  Herr  Harden  hier  vor  Ihr  Forum  ge« 
hört,  so  kann  er  sich  dem  Forum  unmöglich  dadurch  ent^ 
ziehen,  daß  er  gegen  irgendeinen  Beschluß  eine  Beschwerde 
erhebt;  und  wenn  er  nicht  vor  Ihr  Forum  gehört,  so  kann 
die  Zugehörigkeit  vor  Ihr  Forum  doch  nicht  dadurch  ge^ 
schaffen  werden,  daß  er  eine  Beschwerde  nicht  erhebt.  Liegt 
denn  Das  in  der  Hand  des  Angeklagten?  Hat  denn  der 
Angeklagte  das  Gesetz  zu  wahren?  Der  Angeklagte  hat  ein 
Recht  auf  das  Gesetz.  Der  Sinn  des  Gesetzes  ist,  daß  die 
Sache  vor  ein  anderes  Forum  gehört.  Die  Zulässigkeit  und 
Gesetzmäßigkeit  eines  Verfahrens,  an  dem  er  betheiligt  ist, 
hat  der  Richter  nur  nach  dem  Sinn  des  Gesetzes  zu  prüfen; 
auch  nicht  nach  einem  ReichsgerichtsurtheU.  Ich  bin  der 
Meinung,  daß  der  Richter,  der  nach  seiner  eigenen  Ueber^ 
Zeugung  zu  urtheilen  hat,  verpflichtet  ist,  seine  Mitwirkung 
an  einem  Verfahren,  das  gesetzwidrig  ist,  absolut  zu  ver^ 
sagen.  Gewiß  müssen  Sie  die  Verhandlung  abschließen  mit 
irgendeiner  Erklärung  Ihrer  Willensmeinung.  Die  kann  aber 
meines  Erachtens  hier  nur  lauten:  Wir  stellen  das  Verfahren 
ein,  denn  wir  sind  mit  dem  Reichsgericht  und  mit  Theorie 
und  Praxis  der  Ansicht,  daß  das  Verfahren  ungesetzlich  ist. 
Im  anderen  Fall  geschieht  Herrn  Harden  Unrecht. 

Freuß:  Der  Herr  Angeklagte  irrt  sich,  wenn  er  annimmt, 
daß  ich  nicht  gleichfalls  den  dringenden  Wunsch  habe,  diese 
Angelegenheit  auf  eine  irgendwie  zulässige  Art  zu  erledigen; 
im  Gegentheil.  Wenn  er  ordentlich  aufgepaßt  hätte,  würde 

422 


er  gehört  haben,  daß  meine  Ausführungen  damit  anfingen, 
daß  die  Rechtsausfuhrungen,  welche  sein  Herr  Vertheidiger 
vorgetragen  hat,  meine  volle  Sympathie  finden.  Aber  ich 
kann  nicht  so  weit  gehen,  wie  der  Angeklagte  Herr  Harden 
von  mir  anscheinend  verlangt,  daß  ich  nun  auch  die  Folgen 
rungen  ziehen  soll,  die  meiner  Meinung  nach  gegen  das  Ge^ 
setz  gehen.  Die  Bestimmung  des  §  398  StPO  ist  so  unzwei^ 
deutig  und  klar,  daß  eine  Möglichkeit  ftir  mich  nicht  ge^ 
geben  ist,  mich  den  Ausführungen  anzuschließen,  obwohl 
ich  zugebe,  daß,  wenn  von  Haus  aus  entsprechend  der  Au& 
£assung,  die  das  Reichsgericht  mit  der  Theorie  und  auch  mit 
den  übrigen  hohen  Gerichtshöfen  jetzt  theilt,  gehandelt  wor# 
den  wäre,  das  Verfahren  niemals  in  das  Stadium  gekommen 
wäre,  in  dem  es  sich  augenblicklich  befindet.  Das  Reichst 
gerichtsurtheil  aber,  an  das  wir  uns  jetzt  hier  zu  halten  haben, 
hat  die  Sache  hierher  zurückverwiesen  und  damit  den  Ge^ 
richtshof  gezwungen,  an  die  darin  aufgestellten  Rechtsgrund^ 
Sätze  sich  zu  halten. 

Harden:  Ich  möchte  zunächst  bemerken,  daß  die  Lektion, 
ich  hätte  nicht  ordentlich  aufgepaßt,  durchaus  unberechtigt 
war.  Ich  habe  gesagt:  Ich  bin  erstaunt  darüber,  daß  die 
Interessen  des  Staates  in  diesem  Stadium  von  dem  Herrn 
Anwalt  des  Staates  nicht  betont  worden  sind.  Das  ist  nicht 
geschehen;  und  etwas  Anderes  habe  ich  nicht  gesagt.  Folg# 
lieh  bedurfte  es  keiner  Belehrung  darüber,  wie  ich  den 
Worten  des  Herrn  Oberstaatsanwaltes  zu  folgen  habe.  Diese 
Worte  interessiren  mich  sehr;  und  Lektionen  muß  ich  hö& 


423 


lieh  ablehnen.  Zur  Sache  selbst  erlaube  ich  mir,  laienhaft 
auf  das  uns  eben  Gesagte  zu  erwidern,  daß  ich  erstaunt  war, 
hier  die  Behauptung  zu  hören:  Dies  ist  der  einzig  richtige 
Weg.  Man  könnte  höchstens  sagen:  Aus  Gründen  der  Oppor^ 
tunität  wollen  wir  auf  diesem  Weg  bleiben.  Bei  aller  Hoch# 
Schätzung  des  Herrn  Chefs  der  Königlichen  Staatsanwalt» 
Schaft  weiß  ich  doch,  daß  die  ersten  Männer  der  Theorie 
und  der  Praxis  meiner  Meinung  sind,  glaube  also  nicht,  daß 
man  sehr  wirksam  operirt,  wenn  man  sagt,  nur  dieser  Weg 
sei  richtig.  Das  ist  mindestens  diskutabel.  Das  Reichsgericht 
hat  auch  nach  meiner  Ueberzeugung  (und  da  muß  jch  natür«> 
lieh  ganz  bescheiden  sagen:  Ich  bin  dem  Irrthum  auf  diesem 
Gebiet  viel  eher  zugänglich  als  der  Herr  Oberstaatsanwalt) 
nicht  gesagt,  so  müsse  weiter  verhandelt  werden,  sondern 
das  Reichsgericht  hat  die  Frage  offen  gelassen.  Nun  habe 
ich  nicht  die  Absicht,  hier  irgendwelche  Art  von  Diplomatie 
zu  treiben,  und  sage  darum:  Die  Beschwerde,  die  berühmte 
Beschwerde,  die  ja  nach  den  letzten  Urtheilssprüchen  des 
Kammergerichtes  eigentlich  sicheren  Erfolg  haben  müßte, 
habe  ich  bisher  nicht  eingelegt  auf  den  Rath  befreundeter 
Juristen,  die  mir  sagten:  Wozu  wollen  Sie  das  Beschwerde» 
recht  schon  aus  der  Hand  geben?  Die  \^erte  Strafkammer 
kann  ja  noch  einmal  urtheilen,  dann  haben  Sie  Beides, 
Reichsgericht  und  Kammergericht;  warum  wollen  Sie  so 
dumm  sein,  auf  diese  Chance  zu  verzichten?  Das  war,  wie 
ich  Ihnen  nicht  verhehle,  der  Grund,  der  mich  zurückhielt. 
Preuß:  Ich  muß  mir  schon  das  Recht  vorbehalten,  selbst 


424 


1 


zu  ermessen,  wie  weit  ich  die  Staatsinteressen  von  meinem 
Standpunkte  aus  vertreten  muß  und  vertrete.  Für  den  hier 
vorgeschlagenen  Weg  der  nachträglichen  Beschwerde  ist  gar 
kein  Raum  mehr  gegeben,  weil  das  Reichsgericht  ausdrücke 
lieh  den  Grundsatz  aufstellt,  daß  die  Erhebung  der  Be^ 
schwerde  vor  Eröffiiung  dieses  HauptverEsdirens  hätte  statte 
finden  sollen.  Das  scheint  mir  in  einem  Satz  des  Urtheils 
deutlich  gesagt. 

Bernstein:  Also  wenn  ich  angeklagt  bin  und  nicht  will, 
daß  eine  Gesetzwidrigkeit  geschieht,  die  ich  gar  nicht  vor^ 
aussehen  kann,  dann  muß  ich  gegen  einen  Beschluß  mich 
eines  Rechtsmittels  bedienen,  das  mit  der  von  mir  nicht 
voraaszusehenden  Gesetzwidrigkeit  gar  nichts  zu  thun  hat. 
Kann  man  Das  wirklich  billig  und  vemiinftig  nennen?  Ist 
dem  Angeklagten  wirklich  zuzumuthen,  daß  er  ein  Rechts« 
mittel  gegen  eine  nicht  vorausgesehene,  noch  gar  nicht  ge^ 
schehene  Gesetzwidrigkeit  anwenden  muß?  Wenn  ein  Bauer 
wegen  Vergehens  gegen  die  Straßenpolizei  vor  das  Schwiu:# 
gericht  gestellt  wird:  muß  er  protestiren?  Muß  ich  gegen 
irgendeine  Gesetzesverletzung  protestiren,  damit  sie  nicht 
wirksam  wird?  Und  darf  dabei  der  Richter  mitwirken? 
Kann  (ur  den  Richter  irgendein  Moment  kommen,  wo  er 
sich  sagt:  Was  ich  hier  thue,  diirfte  ich  eigentlich  nicht  thun, 
thue  es  aber  doch,  weil  der  Angeklagte  irgendwann  irgend« 
was  übersehen  hat?  Meine  Herren,  Sie  haben  Recht  zu 
sprechen  und  das  Recht  zu  schützen,  und  wenn  Sie  die  rieh« 
tige  Auslegung  des  §  417  kennen,  müssen  Sie  sich  sagen, 

425 


daß  dem  Angeklagten  hier  Unrecht  geschieht.  Deshalb 
wiederhole  ich  meinen  Antrag,  das  Verfahren  einzustellen. 

Sello:  Der  kurze  Satz  des  Reichsgerichtsurtheils,  auf  den 
sich  der  Herr  Oberstaatsanwalt  bezog,  beschäftigt  sich  nicht  mit 
der  Frage,  welches  Gericht,  nachdem  in  der  BeruAinginstanz 
der  Einstellungbeschluß  ergangen  war,  nun  materiell  zu# 
ständig  ist,  sondern  richtet  sich,  so  viel  mir  bekannt,  ledige 
lieh  gegen  die  von  dem  Herrn  Angeklagten  erhobene  Be^ 
schwerde  der  Rechtshängigkeit.  Diese  Beschwerde,  sagt  das 
Reichsgericht,  ist  nicht  begründet,  denn  der  nicht  angefoch# 
tene  Einstellungbeschluß  der  Berufimgskammer  bestand  und 
deshalb  war  dieses  Verfahren,  da  der  Beschluß  nicht  ange«> 
fochten  war,  beendet.  Dieser  Beschluß  stand  nach  dem 
Grundsatz  »Ne  bis  in  idem«  der  Rechtshängigkeit  des  neuen 
Verfahrens  nicht  im  Wege.  Ueber  die  hiervon  völlig  ver# 
schiedene  Frage,  ob  das  Hauptverfahren  in  der  Ersten  In^ 
stanz  von  der  Strafkammer  eröffiiet  werden,  ob  die  \^erte 
Strafkammer  auf  Grund  eines  materiell  unrichtigen  £röff# 
nungbeschlusses  (nach  der  jetzigen  Judikatur  des  Reichst 
gerichts  war  dieser  Beschluß  ungesetzlich)  materiell  verhan«> 
dein  und  entscheiden  durfte,  hat  sich  das  Reichsgericht,  wie 
mir  scheint,  dahin  ausgesprochen,  daß  die  Vierte  Strafe 
kammer  nicht  zuständig  sei. 

Freuß:  Ich  möchte  nur  kurz  darauf  hinweisen,  daß  mei^ 
ner  Meinung  nach  das  Reichsgericht  verpflichtet  gewesen 
wäre,  die  richterliche  Einstellung  nach  §  394  StPO  selbst 
aufzuheben  oder  einzustellen  oder  freizusprechen,  wenn  es 

426 


angenommen  hätte,  daß  das  Ver&hren  vor  der  Strafkammer 
unzulässig  gewesen  ist  und  daß  das  Verfahren  vor  das  Amts# 
gericht  hätte  gelenkt  werden  können  und  sollen.  Die  Be«> 
Stimmung  des  §  394  sagt  ausdrücklich,  daß  das  Revision^ 
gericht  in  solchen  Fällen  dazu  verpflichtet  ist.  Da  das  Reichs«> 
gericht  Das  nicht  gethan  hat,  muß  ich  annehmen,  daß  meine 
Auf&ssung  zutreffend  ist. 

Lehmann:  Wir  werden  berathen. 

(Der  Gerichtshof  zieht  sich  zurück.   Pause.) 

Lehmann:  Das  Gericht  hat  beschlossen:  Der  Antrag  des 
Angeklagten  auf  Einstellung  des  Verfahrens  wird  abgelehnt; 
es  soll  in  die  Verhandlung  der  Sache  selbst  eingetreten 
werden.  Es  kann  zweifelhaft  bleiben,  ob  der  Einstellung^ 
beschluß  in  dem  Privatklagever&hren  mit  Rechf  oder  Un# 
recht  ergangen  ist.  Selbst  wenn  er  zu  Unrecht  ergangen 
wäre,  fehlt  zur  Entscheidung  in  dem  gegenwärtigen  Ver# 
fahren  dieser  Strafkammer  jede  Möglichkeit,  darauf  zurück^ 
zugreifen  und  den  dort  ergangenen  und  noch  heute  zu  Recht 
bestehenden  Einstellungbeschluß  abzuändern.  Das  gegen^ 
wärtige  Ver&hren  ist  ohne  Rücksicht  auf  das  Privatklage# 
verfahren  zu  erledigen.  Im  Uebrigen  stehen  dem  Antrag 
auch  §§  393  und  394  der  Strafprozeßordnung  entgegen. 

Der  Eröfihungbeschluß  wird  verlesen. 

Preuß:  Ich  halte  mich  fiir  verpflichtet,  den  Antrag  auf 
Ausschluß  der  Oeffentlichkeit  zu  stellen.  Kurz  begründen 
will  ich  ihn  damit,  daß  nach  Behauptung  der  Anklage  in 
den  angegriffenen  Artikeln  der  Vorwurf  der  Homosexualität 

427 


gegen  den  Beleidigten  gerichtet  sein  soll  und  daß  die  Er^ 
örtening  dabei  auf  Themata  kommen  kann,  die  eine  Gefahr^ 
düng  der  öffentlichen  Sittlichkeit  erwarten  lassen. 

Lehmahn:  Ich  möchte  den  Herrn  Vertheidiger  fragen. 

Bernstein:  Ich  will  dem  Antrag  nicht  grundsätzlich  ent^ 
gegentreten;  aber  ich  sehe  keine  rechte  Veranlassung,  in  dem 
Augenblick,  wo  es  sich  um  die  Verlesung  der  Artikel  der 
»Zukunft«  und  um  deren  Interpretation,  so  weit  sie  von 
dem  Angeklagten  verlangt  wird  und  so  weit  er  sie  geben 
will,  handelt,  die  Oeffentlichkeit  auszuschließen,  da  ich  nicht 
glaube,  daß  man  wirklich  wird  sagen  können,  daß  durch 
die  Verlesung  dieser  Artikel  und  durch  Das,  was  etwa  darr 
über  gesagt  werden  wird,  die  Sittlichkeit  irgendwie  verletzt 
werden  könnte.  Wenn  die  Oeffentlichkeit  ausgeschlossen 
wird,  was,  wie  gesagt,  im  Moment  mir  noch  nicht  noth# 
wendig  erscheint,  so  wird  zu  erwägen  sein,  ob  die  Herren 
von  der  Presse  auch  mit  ausgeschlossen  werden  sollen.  In 
einem  Schwurgerichtsprozeß,  der  im  vorigen  Jahr  hier  statte 
fand  und  bei  dem  auch  die  Oeffentlichkeit  ausgeschlossen 
war,  hat  man  die  Erfahrung  gemacht,  daß  damit  nicht  ver^ 
hindert  werden  kann,  bei  Prozessen,  die  die  öffentliche  Auf^ 
merksamkeit  in  so  hohem  Grade  erregen,  daß  doch  Dinge 
aus  der  Verhandlung  dem  Publikum  bekannt  werden,  und 
damit  Das  nicht  einseitig  und  unkontrolirbar  geschieht,  hat 
damalsder  Gerichtshof  beschlossen,  einem  vertrauenswiirdigen 
Herrn  der  Presse  (später  mehreren)  die  Anwesenheit  zu  ge^ 
statten.  Ich  möchte  empfehlen,  ähnlich  zu  ver&hren. 

428 


S  ello :  Ich  habe  keinen  Grund,  mich  zu  der  Frage  zu  äußern. 

Lehmann:  V(lr  werden  berathen. 

(Der  Gerichtshof  zieht  sich  zurück.) 
Vor  Verkündung  des  Gerichtsbeschlusses: 

Bernstein:  Die  Herren  Dr.  Neupert  und  Dr.  Witt,  die 
für  Herrn  Harden  die  Verhandlung  stenographisch  au& 
nehmen,  haben  mich  ersucht,  Ihnen  die  Bitte  vorzutragen, 
Sie  möchten  auch  den  beiden  Herren  die  Anwesenheit  ge^ 
statten  ftir  den  Fall,  daß  die  Oeffentlichkeit  ausgeschlossen 
wird.  Der  Angeklagte  hat  aus  verschiedenen  Gründen  ein 
Interesse  daran,  die  Verhandlung  Stenographiren  zu  lassen. 

Lehmann:  Es  ist  ein  Stenograph  anwesend  von  der 
Staatsanwaltschaft. 

Bernstein:  Ich  meine,  gerade  der  Umstand,  daß  die 
Staatsanwaltschaft  fiir  sich  die  Verhandlungen  Stenographiren 
läßt,  gibt  dem  Angeklagten  eine  Art  von  Recht,  die  An^ 
Wesenheit  der  von  ihm  beauftragten  Herren  zu  verlangen. 

Freuß:  Ich  möchte  auch  betonen,  daß  es  wohl  richtig  ist, 
wenn  dem  Herrn  Angeklagten  das  selbe  Recht  gewährt  wird 
wie  der  Anklagebehörde.  Ich  glaube  nicht,  daß  das  von 
meinem  Stenographen  aufgenommene  Protokol  dem  Herrn 
Angeklagten  nachher  zur  Verfügung  gestellt  wird. 

Lehmann:  Der  Gerichtshof  hat  beschlossen,  während  der 
Verlesung  der  Artikel  die  Oeffentlichkeit  noch  nicht  auszu^ 
schließen,  von  da  ab  aber  die  Oeffentlichkeit  ganz  auszu# 
schließen.  Es  soll  dann  nur  gestattet  werden,  daß  einem 
Stenographen   des  Angeklagten  die  Anwesenheit  gestattet 

429 


wird  und  dem  der  Staatsanwaltschaft.  Ich  bitte,  nun  die 
Artikel  zu  verlesen. 

Harden:  Ich  glaube,  der  Angeklagte  ist  berechtigt,  zu 
verlangen,  daß  die  Artikel  ganz  verlesen  werden,  damit  ein 
Bild  Dessen,  was  hiermit  erstrebt  ward,  gewollt  wurde  und 
ausgeführt  ist,  gegeben  wird.  Nun  würde  diese  Verlesung 
der  gesammten  Artikel  aber  viele  Stunden  uns  Alle  in  An^ 
Spruch  nehmen.  Ich  weiß  nicht,  welche  Beschlüsse  später 
in  diesem  Verfahren  gefaßt  werden;  einstweilen  wäre  ich, 
unter  Vorbehalt  aller  meiner  Rechte,  damit  einverstanden, 
wenn  zunächst  nichts  Anderes  verlesen  würde  als  die  inkri# 
minirten  Worte. 

(Nach  der  Verlesung)  Lehmann:  Wir  kommen  jetzt  zu 
der  verantwortlichen  Vernehmung,  die  wohl  drei  Stunden 
dauern  wird.   Die  Zeugen  können  .  .  . 

Harden:  Die  Vernehmung  des  Angeklagten? 

Lehmann:  Ja. 

Harden:  Die  wird  nur  drei  Minuten  dauern.  Ich  möchte 
Das  nur  erwähnen,  damit  die  Herren  disponiren  können. 

Lehmann:  Es  wird  nunmehr,  dem  vorhin  ergangenen 
Beschluß  gemäß,  die  Oeffentlichkeit  vollständig  ausgeschloss» 
sen.  (Der  Zuhörerraum  wird  geräumt.) 

Lehmann:  Herr  Angeklagter,  es  wird  Ihnen  der  Vor# 
wurt  gemacht,  daß  Sie  durch  die  verlesenen  Artikel  den 
Nebenkläger  der  Perversität  bezichtigt  haben;  und  nicht  blos 
der  Perversität,  sondern  Sie  sollen  sich  auch  bewußt  ge# 
wesen  sein,  daß  aus  diesen  Artikeln  herausgelesen  werden 

430 


könne,  es  habe  sich  der  Nebenkläger  homosexuell  bethätigt. 
Ich  bitte,  sich  darüber  auszulassen  und  gleich  nachher  über 
die  Motive,  aus  denen  heraus  Sie  die  Artikel  schrieben. 

Harden:  Ich  bedaure,  diesen  Wunsch  nicht  erfüllen  zu 
können.  Ich  werde  mich  auf  die  Anklage  einstweilen  nicht 
äußern.  Die  Anklage  ist  zum  größten  Theil  durch  Ereig^ 
nisse  erledigt,  die  darzustellen  oder  auch  nur  zu  streifen  ich 
so  lange  vermeiden  werde,  wie  es  mir  irgend  möglich  ge 
macht  ist.  Zum  anderen  Theil  ist  die  Anklage  dadurch  tx^ 
ledigt,  daß  ich  ersucht  worden  bin,  unter  eine  Erklärung,  die 
den  Namen  des  Grafen  Kuno  Moltke  trug,  auch  meinen 
Namen  zu  setzen.  In  dem  Augenblick,  wo  ich  Das  gethan 
habe  (warum  ich  es  gethan  habe,  darüber  brauche  ich  hier 
noch  nicht  zu  sprechen),  habe  ich  auch  die  Verpflichtung 
übernommen.  Alles  zu  vermeiden,  was  nun  noch  zu  einer 
Vergiftung  der  Angelegenheit  führen  kann;  so  lange  es  zu 
vermeiden,  wie  mein  Pflichtgefühl  und  mein  Selbstachtung^ 
bedürfiiiß  mirs  gestattet.  Ich  bleibe  deshalb,  so  lange  es  mir 
irgend  möglich  ist,  auf  dem  Boden  der  ausgetauschten  und 
dem  Gerichtshof  urschriftlich  vorliegenden  Erklärungen.  So 
lange  mir  die  Möglichkeit  zur  Reserve  gegeben  scheint,  habe 
ich  über  die  Sache  Moltke  in  diesem  Saal  nichts  zu  sagen. 
Graf  Moltke  hat  erklärt,  daß  er  in  den  inkriminirten  Artikeln 
keine  Beleidigung  mehr  findet.  Er  wünscht  keine  Beweis^ 
aufnähme.  Ich  bin  und  bleibe  auch  als  Angeklagter  ein 
Mann  von  leidlicher  Lebensart  und  werde  den  Versuch 
machen,  auf  dem  Boden  dieser  Erklärung  mich  zu  halten 

431 


Das  kann  aber  nur  geschehen,  wenn  von  keiner  Seite  der 
alte  Streit,  der  geschlichtet  worden  ist,  aufgenommen  wird. 
Ich  äußere  mich  also  einstweilen  auf  die  Anklage  nicht  und 
antworte  auf  keine  Frage. 

Lehmann:  So  wird  Das  nicht  gehen.  Wir  werden  doch 
klarstellen  miissen,  was  Sie  damit  haben  sagen  wollen. 

Harden:  Ich  überlasse  Das  den  Herren.  Sie  können  sagen, 
was  Sie  wollen.  Ich  werde  mich  nicht  zwingen  lassen,  so  lange 
mir  die  Möglichkeit  zur  Reserve  gegeben  ist.  Ich  habe  mich 
nicht  leicht  entschlossen,  meinen  Namen  unter  die  Erklärungen 
zu  setzen.  Nun  habe  ich  es  gethan;  und  will  nicht  Der  sein, 
der  die  Vereinbarung  bricht.  Ich  habe  unterschrieben,  ich  rede 
über  die  Sache  nicht  mehr,  so  lange  es  irgend  möglich  ist, 
und  Sie  haben  kein  Mittel,  mich  zum  Sprechen  zu  zwingen. 

Lehmann:  Ein  Angeklagter  kann  nicht  gezwungen  wer« 
den.  Sie  wollen  sich  also  auch  nicht  darüber  äußern,  was  Sie 
haben  mit  den  Artikeln  sagen  wollen? 

Harden:  Nein,  vorläufig  nicht.   Dazu  bleibt  ja  noch  Zeit. 

Lehmann:  Dann  bleibt  uns  aber  gar  nichts  übrig,  dann 
müssen  wir  in  die  Beweisaufiiahme  eintreten.  VTir  hatten 
geglaubt,  es  würde  so  möglich  sein,  daß  Sie  uns  sagen.  Das 
und  Das  habe  ich  mit  den  Artikeln  sagen  wollen.  Ich  nehme 
an,  daß  Sie  sagen  wollen,  was  Sie  früher  schon  gesagt  haben, 
und  es  würde  sich  da  fragen,  ob  nicht  doch  vielleicht  etwas 
mehr  herauszulesen  ist,  als  Sie  früher  schon  gesagt  haben, 
und  es  wird  dann  noch  einzugehen  sein  auf  die  Motive,  aus 
denen  heraus  Sie  gehandelt  haben. 

432 


Harden:  tcK  habe  einstweilen  nichts  hinzuzufogen. 

Lehmann:  Ich  muß  aber  doch  fragen:  Läßt  sich  schließen, 
daß  Sie  in  verhüllter  Form  sagen  wollten,  Graf  Moltke  habe 
sich  homosexuell  verdächtig  gemacht?  Sie  haben  voriges 
Mal  gesagt:  So  weit  bin  ich  nicht  gegangen,  homosexueller 
Handlungen  habe  ich  ihn  nicht  bezichtigt.  Es  fragt  sich  aber: 
Haben  Sie  nicht  gedacht,  daß  die  Artikel  so  ausgelegt  wer^ 
den  würden?   Ich  glaube.  Das  wäre  doch  klarzustellen. 

Harden:  Auf  alle  diese  Dinge  kann  ich  jetzt  nicht  ein^ 
gehen,  kann  unmöglich,  wenn  ich  im  Nebenzimmer  mit 
einem  Gentleman  mich  verglichen  habe,  vor  einem  Gerichts^ 
hof  sagen:  Etwas  möchte  ich  ihm  doch  anhängen.  Und  eben 
so  wenig  kann  ich,  nachdem  ich  von  den  Pflichten  des  Patri^ 
oten  gesprochen  habe,  nun  sagen:  Die  bekümmern  mich  hier 
nicht,  denn  ich  könnte  wieder  zu  vier  Monaten  verurtheilt 
werden.  Nein,  meine  Herren,  mir  wäre  Das  völlig  belanglos; 
ob  Sie  mich  verurtheilen  oder  nicht:  Das  spielt  gar  keine 
Rolle.  So  lange  es  irgend  geht,  erkläre  ich  nichts  mehr  in 
dieser  Sache;  nichts.  Man  mag  machen,  was  man  will. 

Lehmann:  Wir  könnten  vielleicht  aber  die  Beweisaufiiahme 
vermeiden,  wenitSie  uns  Erklärungen  gäben;  und  es  wäre  viel^ 
leicht  praktisch,  wenn  die  Beweisaufiiahme  vermieden  würde. 

Harden:  Ich  werde  beantragen,  keinen  Zeugen  zu  ver^ 
nehmen. 

Lehmann:  Dann  müssen  Sie  sich  wenigstens  äußern. 
Wir  wollen  die  Wahrheit,  weiter  wollen  wir  nichts,  und  das 
Recht.   Deshalb  wäre  das  Praktischste,  Sie  sagen:  So  habe 

28.  III  433 


icli  es  gemeint»  aus  den  und  den  Motiven  habe  ich  gehandelt. 
Und  dann  kann  man  darüber  reden:  Ist  vielleicht  nicht  doch 
etwas  Anderes  hineingelegt  worden?  Das  läßt  sich  machen, 
wenn  Sie  sich  äußern,  was  Sie  haben  sagen  wollen.  Ich  halte 
es  doch  für  praktisch. 

Harden:  Ich  kann  mir  nur  zwei  Möglichkeiten  denken. 
Entweder  beginnt  hier  jetzt  eine  Prozedur,  die  mich  durch 
Zeugenaussagen  der  Beleidigung  überfuhren  soll;  dann  sage 
ich:  Ich  kann  mich  nicht  betheiligen,  denn  ich  will  nicht 
Der  sein,  der  die  Vergiftung  der  Sache  und  der  Diskussion 
herbeiftihrt.  Werden  keine  Zeugen  vernommen,  dann  kann 
ich  im  Schlußvortrag  den  Herren  Alles  sagen,  was  ich  über 
meine  Artikel  sagen  will. 

Lehmann:  Nehmen  Sie  Das  doch  lieber  vorweg,  dann 
werden  wir  sehen,  ob  noch  Etwas  zu  ergänzen  ist. 

Harden:  Ich  bin  selbstverständlich  in  jedem  Moment 
bereit,  mich  einem  praktischen  Rath  zu  ftigen.  Ich  habe  mir 
vorgenommen  (und  ich  glaube,  da  im  Einverständniß  mit 
allen  Prozeßbetheiligten  zu  sein),  eine  neue  Vergiftung  der 
Sache  zu  meiden,  so  lange  ich  es  irgend  kann.  Wenn  ich 
aber  aufgefordert  werde,  jetzt  die  Gründe  anzuführen,  die 
nach*  meiner  Ueberzeugung  gegen  jede  Beweisaufiiahine 
sprechen,  so  kann  ich  dieser  Auffordei^ng  folgen. 

Lehmann:  Bitte,  wollen  Sie  Das  thun. 

Harden:  Ich  habe  in  diesen  Artikeln  einen  Kreis  von 
Menschen  zunächst  leise  gewarnt  und  dann  angegriffen,  die 
höchst  unheilvoll  im  Deutschen  Reich  gewirkt  haben,  deren 

434 


Treiberei  mir  seit  vielen  Jaliren  bekannt  und  deren  Haupt 
Philipp  Eulenburg  war.  Ich  habe  sehr  lange  gezögert,  auch 
die  Seite  der  Perversität  zu  beleuchten.  Ich  bin  aber  endlich 
dazu  gezwungen  worden,  auch  Das  zu  thun;  denn  man  hat 
in  diesen  Kreis  abnorm  empfindender  Menschen  auch  Ver^ 
treter  des  Auslandes  aufgenommen;  ich  nenne  nur  den  Bot^ 
schaftrath  Lecomte,  der  in  Berlin  der  König  der  .  .  .  hieß. 
Diesen  Herrn  Lecomte  hat  man  in  die  Nähe  des  Deutschen 
Kaisers  gebracht;  hat  überhaupt  auf  allerlei  Gipfel  und  Gipfele 
chen  homosexuelle  Menschen  hingesetzt.  Dadurch  ist  eine 
sehr  ge&hrliche  Situation  geschaffen  worden.  Der  Kaiser 
konnte  nicht  wissen,  durch  welchen  Kitt  diese  Menschen  zu^ 
sammengehalten  wurden.  Ich  mache  eine  Parenthese:  Mir 
liegt  nichts  femer  als  eine  fsmatische  Bekämpfung  der  Homo^ 
sexuellen.  Unter  anderen  Lügen,  die  über  mich  verbreitet 
worden  sind,  ist  auch  die,  ich  habe  eine  Petition  gegen  den 
§  175  unterschrieben.  Ich  habe  es  nicht  gethan,  habe  mich 
geweigert,  es  zu  thun;  erstens  schien  mir  die  Sache  aussieht^ 
los  und  zweitens  bin  ich  der  Meinung,  daß  im  Deutschen 
Reich  heute  für  andere  Freiheit  gekämpft  werden  muß  als 
für  die  Freiheit  perverser  Triebe.  Aber  ich  bin  weit  von  dem 
Wahn  entfernt,  dieser  Paragraph  sei  ein  wirksames  Heilmittel, 
und  weit  von  dem  Wunsch,  drakonische  Maßregeln  gegen 
Homosexuelle  zu  erreichen.  Kein  vernünftiger  Mensch  kann 
aber  daran  zweifeln,  daß  es  gefahrlich  ist,  ganze  Gruppen 
solcher  Menschen  an  irgendeiner  Stelle  zu  versammeln;  mag 
es  nun  in  einem  Polizei^  oder  Landgerichtspräsidium  ge^ 

28*  435 


schellen.  Die  Cefakr  ist  aber  natürlich  viel,  viel  gröl^r, 
wenn  es  sich  um  die  höchste  Stelle  im  Staat  handelt,  und 
sie  ist  unermeßlich  bei  einer  Persönlichkeit,  die  von  Schmeichi» 
lern  sogar  impulsiv  und  impressionabel  genannt  wird.  Ich 
habe  behauptet  und  behaupte  heute,  daß  an  allen  Konflikten, 
die  der  Deutsche  Kaiser  von  der  ersten  Stunde  an  mit  seinen 
Landsleuten  und  mit  Anderen  gehabt  hat,  Philipp  Eulenburg 
und  seine  Leute  mitschuldig  gewesen  sind;  daß  sie  höchst 
unheilvoll  auf  diese  fiir  das  Reich  wichtige  Seele  eingewirkt 
haben,  ^e  weit  es  gegangen  ist:  ich  konmie  hoffentlich  nie 
in  die  Nothwendigkeit,  es  zu  sagen.  Aber  ich  glaube,  Sie 
werden  heute  meine  Worte  anders  beurtheilen  als  vor  änderte 
halb  Jahren,  wo  hier  von  der  »hardenschen  Mär«  gesprochen 
und  gethan  wurde,  als  sei  das  von  mir  Gesagte  als  falsch 
erwiesen.  In  dem  Prozeß  Eulenburg  ist  nicht  ein  irgendwie 
wichtiger  Zeuge  aufgetreten,  der  nicht  von  mir  dem  Untere 
suchungrichter  genannt  worden  war;  auch  in  dem  Ver£üiren 
gegen  den  Grafen  Hohenau  war  ich  durch  den  Eid  ge^ 
zwungen,  alle  Hauptzeugen  zu  nennen.  Leider.  Ich  rühme 
mich  Dessen  nicht.  Aber  Sie  dürfen  nicht  mehr  annehmen, 
daß  ich  unhaltbare  Geschichten  verbreite.  Was  ist  geschehen? 
Ein  HohenzoUemprinz,  zwei  Eulenburg,  zwei  Hohenau, 
Graf  Lynar,  Graf  Edgar  Wedel,  Baron  Wendelstadt,  Lecomte : 
Alles  erledigt.  Ich  glaube,  es  ist  genug;  und  man  wird,  auch 
wenn  wir,  wie  ich  hoffe,  nicht  noch  Neues  von  der  Sorte 
erleben,  nicht  mehr  sagen  können,  mein  Handeln  sei  gründe 
los  und  zwecklos  gewesen. 

436 


Ich  möchte  aber  nicht  gezwungen  sein,  in  die  Einzelheiten 
einzudringen.  Das  Pflichtgefühl  hat  mich  in  diesen  schweren 
Kampf  gedrängt.  Ich  habe  sieben  Jahre  mit  mir  gerungen. 
Seit  sieben  Jahren  weiß  ich  all  diese  Dinge.  Ich  habe  immer 
wieder  überlegt  und  gezaudert;  aber  der  Casus  Lecomte 
zwang  mich  zum  Reden.  Als  die  Botschafter  des  liebenberger 
Herrn  kamen,  habe  ich  gesagt:  Ich  schweige  gern,  wenn  er 
sich  zurückzieht  und  den  Kaiser  (und  damit  das  Reich)  in 
Ruhe  läßt.  Er  hats  versprochen,  aber  nicht  gehalten.  Mein 
Motiv?  Von  Lust  an  der  Sensation  kann  doch  kein  Ver^ 
nünftiger  sprechen,  der  die  »Zukunft«  und  diese  Artikel 
auch  nur  halbwegs  kennt.  Das  sind  nicht  Artikel,  die  ge^ 
schrieben  sind,  um  homosexuelle  Gräuel  zu  enthüllen,  um 
dem  Mob  Etwas  zu  bieten,  um  Geld  zu  machen.  Es  sind 
hochpolitische  Artikel,  die  Sie  so  gut  oder  schlecht  finden 
mögen,  wie  Sie  wollen;  ich  habe  während  der  Verlesung 
zu  meiner  Freude  gemerkt,  wie  viel  politisch  Richtiges  darin 
steckt.  Sensation  zu  machen?  Eigentlich  sollte  meine  Stel^ 
lung,  mein  Ansehen  in  der  Welt  mich  vor  solchen  Anwürfen 
bewahren.  Oder  sind  die  Artikel  geschrieben,  um  durch 
»Enthüllungen«  Geld  zu  machen?  Auch  Das  kann  unter 
erwachsenen  Menschen  nicht  in  Frage  kommen.  Sie  können  es 
ja  thatsächlich  feststellen:  in  jeder  Phase  dieser  Angelegen^ 
heit,  wo  sie,  ohne  mein  Verschulden,  zu  einer  zugkräftigen 
Skandalgeschichte  zu  werden  drohte,  habe  ich  Wochen  lang 
nichts  veröffentlicht.  Warum?  Weil  ich  wußte:  wenn  ich  jetzt 
darüber  schreibe,  verkaufe  ich  drei^  oder  sechsmal  mehr  als 


437 


sonst,  und  weil  mir  das  Gefiihl  unerträglich  war,  mit  dieser 
ernsten  Sache  finanziellen  Profit  zu  machen. 

Das  habe  ich  über  die  Motive  zu  sagen.  Muß  man  ihre 
Berechtigung  denn  heute  noch  umständlich  erweisen?  Nein. 
Alles,  was  wir  politisch  seitdem  in  Deutschland  erlebt  haben, 
ist  die  unmittelbare  oder  mittelbare  Folge  dieser  Aktion.  Ich 
sage  Das  nicht  prahlerisch.  Ich  bilde  mir  nicht  ein,  daß  ich 
die  deutsche  Geschichte  mache.  Aber  kein  ernster  und  ge^ 
wissenhafter  Politiker,  der  die  Zusammenhänge  kennt,  wird 
bestreiten,  daß  mein  Handeln  nothwendig  und  nützUch  war. 
Ist  es  etwa  ein  Zufall,  daß  wir  seit  zwanzig  Jahren  zum 
ersten  Mal  wieder  Frieden  zwischen  Kaiser  und  Volk  haben 
und  politisch  leidliche  Geschäfte  machen?  Daß  eine  stetige 
und  einheitlich  geleitete  Politik  möglich  ist,  seit  wir  die 
Philitis  los  sind?  Beweisen  kann  (und  will)  ich  Ihnen  das 
Alles  nicht.  'Wie  sollte  ich?  Mir  scheint  aber  auch,  daß 
ichs  nicht  zu  beweisen  brauche.  Der  Herr  Vertreter  der  An^ 
klage  muß  mir  beweisen:  Du  hast  schlechte  Motive  gehabt; 
Du  hast  beleidigt,  hast  Thatsachen  behauptet,  die  nicht  er^ 
weislich  wahr  sind.  Nun  wird  der  Versuch  gemacht,  mich 
über  Das  hinauszudrängen,  was  ich  gesagt  habe. 

Lehmann:  Sagen  Sie  zunächst,  was  Sie  gesagt  haben. 

Harden:  Ich  habe  so  ziemlich  Das  gesagt,  was  an  einer 
Stelle  der  Anklageschrift  steht:  ein  Kreis  pervers  veranlagter 
Menschen  hat  sich  um  den  Thron  gebildet;  ich  fuge  hinzu: 
Diese  Leute  trieben  Dinge,  die  nachgerade  das  Deutsche 
Reich  ungeheuerlich  schädigten.    Einzelheiten   möchte   ich 

438 


nicht  gern  anfuhren.  Wir  brauchen  jetzt  ja  nur  über  den 
Grafen  Moltke  zu  reden.  Ueber  Den  habe  ich  zuerst  ge^ 
sagt,  er  sei  ein  Aesthet  von  einer  Sinnenrichtung,  die  von 
der  des  Prinzen  Joachim  Albrecht  sehr  verschieden  ist.  Beide 
Herren  sind  Musiker,  Komponisten,  Belletristen,  auf  ihre  be^ 
sondere  Art  Aestheten.  Der  Prinz  liebte  galante  Abenteuer, 
der  Graf  nicht.  Ich  bestreite,  daß  der  Gegensatz  eines 
Mannes,  der  den  Frauen  nachläuft,  einer  ist,  der  den  Männern 
nachläuft.  Wenn  man  liest,  zwei  Menschen  seien  Aestheten 
von  verschiedener  Sinnenrichtung,  so  kann  man  im  schlimme 
sten  Fall  vielleicht  denken,  der  Aeltere  sei  zu  Aktionen  im 
Bereich  der  Liebe  nicht  mehr  recht  fähig.  Das  kann  man 
herauslesen;  und  lächeln.  Daß  der  Gegensatz  eines  Schürzen^ 
Jägers  ein  Päderast  sein  soll,  kann  ich  aber  nicht  zugeben; 
die  Nothwendigkeit  dieser  Deutung  muß  bewiesen  werden. 

Lehmann:  Herr  von  Berger  soll  aber  herausgelesen  haben, 
hier  werde  Moltke  Homosexualität  vorgeworfen. 

Harden:  Baron  Berger  könnte  als  Zeuge  dafiir  gar  nicht  in 
Betracht  kommen.  Mit  dem  Baron  Berger  habe  ich  seit  sieben 
Jahren  verkehrt.  Er  war  ein  Freund  von  Eulenburg  und 
Moltke  und  hat  mich  in  deren  Interesse  damals  aufgesucht. 
Mit  ihm  habe  ich  diese  Dinge  oft,  politisch  und  menschlich, 
durchgesprochen  und  er  kennt  mein  Denken  und  Wollen  in 
dieser  Sache  so  genau,  daß  er  selbst  gesagt  hat:  Wenn  es 
einen  Menschen  gab,  der  sich  bemiiht  hat,  den  Herren  das 
Bitterste  zu  ersparen,  so  ist  es  Harden.  Wie  Berger  die  eine 
oder  die  andere  Stelle  aufgefaßt  hat  oder  haben  könnte:  Das 

439 


ist  nicht  die  Norm.  Er  wußte,  was  ich  dachte  und  wollte. 
Er  war  eingeweiht.  Aber  ich  muß  an  diesem  Funkt  der  Ver^ 
handlung  etwas  Prinzipielles  sagen.  Ich  soll  angeblich  pri^ 
vatim  geäußert  haben,  ich  halte  den  Grafen  Moltke  (ur  per^ 
vers.  Das  soll  ich  zu  dem  Grafen  Otto  Moltke  gesagt  haben, 
als  er  mich  besuchte.  Ich  bestreite  es.  Ich  finde  es  nicht 
ganz  nett,  daß  man  zu  Jemand  in  die  Wohnung  geht,  sich 
ungemein  artig  zeigt  und  daß  man  unbeglaubigte  Aufzeich^ 
nungen  über  eine  Unterredung,  die  man  unter  vier  Augen 
hatte,  dann  dem  Ankläger  einreicht.  Wenn  der  Graf  etwas 
Schriftliches  haben  wollte,  mußte  er  mirs  sagen ;  dann  konn^ 
ten  wir  das  Gespräch  gemeinsam  fixiren.  Er  hat  kein  Wort 
davon  gesagt.  Ich  erkläre  seine  Angaben  fiir  unrichtig.  Aber 
er  kann  sie  jetzt  beschwören  und  ich  konmie  nicht  zum 
Schwur.  Wenn  dieser  Brauch  sich  einwurzelt,  kann  Einen 
jeder  Besucher  nachher  ans  Messer  liefern.  Kann  er,  in  gu^ 
tem  Glauben  an  ein  trügerisches  Gedächtniß,  behaupten,  der 
arglose  Wirth  habe  den  Kaiser,  den  Kanzler  oder  sonstwen 
beleidigt.  Mir  scheint,  auch  prinzipiell  ist  es  nicht  möglich, 
eine  Frivatäußerung,  selbst  wenn  sie  richtig  wiedergegeben 
ist,  zur  Interpretation  vorher  geschriebener  und  gedruckter 
Artikel  zu  benutzen.  Ich  weiß  und  denke  über  viele  Menschen 
sehr  Vieles,  was  ich  nicht  schreibe  und  drucken  lasse.  Den  Ver^ 
such  solcher  Interpretation  hätte  der  mir  befreundete  Reichst 
gerichtsrath  Otto  Mittelstaedt  als  »abwegig«  bezeichnet. 
Nehmen  Sie  an,  ich  hätte  von  einem  Minister  im  Privat« 
gespräch  einmal  gesagt,   er  sei  der  gewissenloseste  V(^^hf 

44Q 


unter  der  Sonne.  Nacher  schriebe  ich,  er  sei  ein  fabelhaft 
geschickter  Jongleur.  Meine  Privatäußerung  würde  der  Staats^ 
anwaltschaft  übermittelt  und  die  sagte  nun:  Was  Du  damals 
ausgesprochen  hast,  verbirgt  sich  feig  hinter  dem  geschrieben 
nen  Satz.  Möchten  Sie  Das  mitmachen?  Ein  Bischen  müssen 
Sie  das  Metier  des  Schriftstellers  und  des  Politikers  doch 
kennen.  Der  denkt  und  weiß  Manches,  spricht  aber  nur  aus, 
.  was  er  im  Augenblick  auszusprechen  für  nöthig  hält. 

Lehmann:  Nun  wollten  Sie  aber  gerade.  Das  war  wohl 
die  Idee,  auf  diese  Leute  einen  Makel  werfen,  um  auf  diese 
Weise  sie  wegzubekommen. 

Harden:  Ich  bitte,  zu  bedenken,  daß  in  diesen  Artikeln 
eine  ganze  Reihe  von  Personen  vorgeführt  wird.  Wenn  man 
Alle  zusammenpackt,  dann  kann  jeder  Einzelne  irgendwie 
bemakelt  scheinen.  So  ist  es  aber  nicht.  Da  gab  es  die  ver^ 
schiedensten  Nuancen.  Ich  habe  von  dem  Mächtigsten,  als 
er  die  leise  Warnung  überhört  hatte,  offen  gesagt:  Dieser 
Mann  ist  ein  Homosexueller  und  dieser  Mann  ist  ein  Unheil 
fiir  Kaiser  und  Reich.  Von  dem  Grafen  Moltke  aber  habe 
ich  nichts  gesagt,  als  daß  er  ein  Bischen  süßlich  ist  und  daß 
er  am  Ewig^Weiblichen  weniger  Geschmack  hat  als  der  ga^ 
lanteste  Preußenprinz. 

Lehmann:  Lobend  haben  Sie  sich  über  ihn  nicht  aus^ 
gesprochen. 

Harden:  Dazu  hatte  ich  auch  keinen  Grund.  Graf  Kuno 
Moltke  (ich  bitte  seinen  Herrn  Vertreter,  Das  nicht  als 
KrJinkyng  zu  nehmen;  wenn  ers  aber  thut,  kann  ichs  nicht 


ändern)  hatte  die  Aufgabe,  seinen  Freund  Eulenburg  stets 
über  das  am  Hof  Vorgehende  zu  unterrichten;  diese  Be^f 
richte,  in  denen  allerlei  Intimitäten  standen,  haben  ja  auch 
an  dem  Sturz  Moltkes  mitgewirkt.  Er  hat  seinem  Freund 
fast  täglich  geschrieben.  Die  Briefe  sind  vorhanden.  Ich 
will  darüber  keine  Details  geben;  auch  nicht  erwähnen,  mit 
welchem  Decknamen  der  Deutsche  Kaiser  darin  bezeichnet 
wurde.  Eulenburg  und  Moltke  waren  vierzig  Jahre  lang  in 
einer  Weise  befreundet,  wie  man  sie,  Gott  sei  Dank,  unter 
deutschen  Männern  noch  abnorm  nennen  darf.  Und  wenn 
man  meinen  Artikeln  den  mir  hier  ungünstigsten  Sinn  giebt, 
der  überhaupt  noch  denkbar  ist,  dann  steht  darin:  Graf 
Moltke  ist  dem  Fürsten  Eulenburg  so  blind  ergeben  wie 
sonst  nur  eine  Frau  einem  Mann.  Alle  Hemmungen,  die  in 
anderen  Freundschaften  bestehen  bleiben,  fehlten  hier.  Moltke 
war  völlig  kritiklos,  völlig  unter  dem  Bann  des  großen  Ko^ 
moedianten,  der  uns  vor  anderthalb  Jahren  hier  die  Kranken^ 
Prozession  vorgaukelte  und  abends  dann  seine  Freunde  durch 
lustige  Parodien  des  Vorsitzenden,  des  Staatsanwaltes  und 
der  anderen  Frozeßbetheiligten  erheiterte.  Ein  Frachtexemplar. 
Dafür  sitzt  er  auch,  mit  allen  Orden  und  Ehren,  unange^ 
fochten  in  seinem  Schloß;  dichtet  neue  Sänge,  läßt  sich  malen 
und  zeigt  den  Gerichtsärzten  die  Estcies  hippocratica.  Dieser 
Zauberer  hat  den  armen  Grafen  Moltke  mißbraucht.  Jahre 
lang  ihn  als  seinen  Briefträger,  seinen  Zuträger  benutzt;  und 
der  Graf  war  vollkommen  machtlos  gegen  die  Suggestion. 
Das  nenne  ich  (Herr  Isenbiel  wird  mirs  heute  nicht  mehr 

442 


übelnehmen)  eine  »erotisch  betonte  Freundschaft«.  Von  da 
bis  zur  Homosexualität  und  von  da  bis  zu  homosexueller 
Bethätigung  ist  es  noch  recht  weit. 

Lehmann:  Das  will  ich  mal  zugeben.  Aber  haben  Sie 
sich  nicht  gesagt,  daß  die  gewöhnlichen  Menschenkinder 
doch  diese  feinen  Unterschiede,  wie  Sie  sie  kennen  seit  lange, 
nicht  machen  würden  und  daß  für  die  Leute,  die  diese  Artikel 
lesen,  unter  Homosexuell  immer  verstanden  wird  Einer,  der 
sich  homosexuell  bethätigt,  und  daß  da  nicht  solche  feine 
Nuancen  bestehen,  wie  Sie  sie  schildern?  Geht  nicht  ge^ 
rade  aus  den  Artikeln,  in  denen  Sie  sich  selbst  gegen  diese 
Auffassung  wehren,  hervor,  daß  jedenfalls  Das  die  Au& 
fassung  war?  Und  haben  Sie  sich  nicht  als  kluger  Mann  ge^ 
sagt,  daß  Das  so  aufgefaßt  werden  kann?  Und  haben  Sie  sich 
nicht  gesagt,  ich  habe  die  Pflicht,  sie  mit  einem  Makel  zu  be^ 
werfen  aus  politischen  Gründen,  und  für  mich  sind  politische 
Gründe  so  werthvoll,  daß  ich  Das  doch  auch  eventuell  will? 

Harden:  Diese  Erörterungen  sind  fiir  mich  höchst  widrig. 
Ich  mag  nicht  den  Verdacht  erregen,  ich  wolle  mich  zurück^ 
ziehen  oder  herausreden.  Die  Sache  ist  für  mich  längst 
historisch  geworden  und  ich  wünsche  sehnlich,  daß  sie  es 
mir  bleibe.  Und  ich  meine:  Diese  Sache  schwebt  wirklich 
nicht  zwischen  der  Vierten  Strafkammer  und  Herrn  Harden ;  sie 
hat  ihr  Forum  längst  gefunden.  Ich  habe  weder  den  Wunsch 
noch  die  Absicht,  irgendetwas  hier  zu  beschönigen  oder  Sie 
zu  bitten,  mich  nicht  zu  verurtheilen.  Ob  Sie  mich  freisprechen 
oder  ins  Gefangniß  schicken :  Das  interessirt  mich  gar  nicht. 

443 


Lehmann:  Aber  uns  interessirt  es:  wir  wollen  die  Wahr^ 
heit  finden.  Wir  müssen  klar  sehen. 

Harden:  Ich  begreife  das  Empfinden  der  Herren  ja.  In 
solchen  Prozessen  steht  ja  fast  immer  Jemand  vor  Ihnen,  der 
sagt:  So  habe  ichs  nicht  gemeint.  Das  macht  Jeder.  Und 
ich  könnte  Ihr  Mißtrauen  begreifen.  Bei  mir  ists  aber  einmal 
anders.  Ich  sage  nur,  was  ich  für  richtig  halte,  und  frage 
nicht  eine  Sekunde  nach  der  Wirkung,  die  es  auf  Sie  macht 
Die  ist  ja  gleichgiltig.  Ich  sage  heute,  was  ich  stets  gesagt 
habe.  Auf  der  Höhe  des  »Triumphes«,  vor  dem  Schöffen^ 
gericht,  habe  ich  in  meinem  Schlußvortrag  das  Selbe  gesagt. 
In  den  Artikeln  steht  nichts  ernstlich  Belastendes  über  den 
armen  Mann;  er  wird  nur  ein  Bischen  ironisirt.  Nun  will 
ich  dem  Herrn  Präsidenten  antworten.  Ich  habe  mit  einem 
Publikum,  das  diese  Dinge  nicht  kennt,  gar  nicht  zu  rechnen. 
Diese  Artikel  richten  sich  überhaupt  nur  an  ein  Publikum,  das 
eine  gewisse  Kultur  und  eine  Summe  von  Kenntnissen  hat. 
Das  macht  einen  Unterschied,  scheint  mir.  Gewiß:  man 
muß  mit  seinem  Publikum  rechnen.  Wenn  ich  die  Ehre 
hätte,  die  »Berliner  Morgenpost«  zu  redigiren  oder  die 
»Woche«  herauszugeben,  so  müßte  ich  mich  als  gewissen« 
hafter  Mann  fragen:  Können  Das  nicht  wenigstens  die  Taxa^ 
meterkutscher  falsch  verstehen?  Ich  habe  solches  Publikum 
nicht  und  brauche  die  Möglichkeit  solcher  Mißverständnisse 
deshalb  nicht  in  mein  Bewußtsein  aufzunehmen.  Aber  ich 
gehe  weiter:  Was  ich  geschrieben  habe,  ist  nicht  so  ver« 
standen  worden,  wie  der  Herr  Vprsitzend^  meint;  nicht  ein^ 


tnal  von  Dem,  der  getroffen  sein  soll,  so  versianclen  wordeil. 
Auch  Der  hat,  trotzdem  er  vom  Baron  Berger  informirt  war, 
es  nicht  so  verstanden;  denn  er  hat  nichts  dagegen  gethan 
und  hatte  als  Offizier  doch  Etwas  thun  müssen.  Er  hat  sich 
erst  gerührt,  als  er  verabschiedet  worden  war.  Und  dann 
entstand  der  Lärm.  Eulenburg,  Moltke,  Hohenau  verbannt; 
und  Moltke  hat  Harden  zum  Zweikampf  gefordert.  Da  er^f 
innerten  sich  Einzelne,  daß  mal  irgendwas  in  der  »Zukunft« 
gestanden  habe.  Die  Artikel,  die  Einzelheiten,  hatte  Keiner 
mehr  im  Kopf.  Aber  man  konstruirte  Zusammenhänge. 
Richtige  und  falsche.  Eine  neueXhatsache  war  hinzugekommen : 
drei  Hofleuchten  brannten  nicht  mehr.  Drei  Günstlinge 
waren  aus  der  kaiserlichen  Gnade  verdrängt.  Was  nach  der 
Bekanntmachung  dieser  neuen  Thatsache  gedeutet  und  ge^ 
deutelt  wurde:  dafür  bin  ich  nicht  verantwortlich. 

Lehmann:  Vorher  waren  durch  den  Kronprinzen  die 
Artikel  aber  dem  Kaiser  unterbreitet  worden. 

Harden:  Auch  darüber  möchte  ich  nicht  ausfuhrlich 
sprechen.  Graf  Lynar  hatte  sich  an  seinem  Burschen  ver^ 
gangen  und  schrie,  als  er  gepackt  wurde:  Ich  werde  abge«: 
sägt  und  die  Anderen  machen  ungestraft,  was  sie  wollen ;  er 
wies  auf  die  Artikel  hin  (in  denen  er  nicht  genannt  worden 
war).  Daß  der  Herr  Sachverständige  Lynar  auch  die  leiseste 
Anspielung  verstand,  glaube  ich  gem.  Was  er  über  Moltke, 
der  uns  hier  allein  angeht,  herausgelesen  hat,  weiß  ich  nicht. 
Bestreite  aber  mit  gutem  Gewissen  Jedem  das  Recht,  Anderes 
darin  zu  finden  als  den  Hinweis  auf  eine  etwas  süßliche, 


445 


weichliche  Natur  und  auf  die  kritiklose  Hingebung  an  Phili. 
Das  sind  die  einzigen  Thatsachen,  die  angeführt  oder  ange^ 
deutet  wurden;  und  sie  sind  erweislich  wahr.  Ich  wollte 
nicht  darüber  reden;  aber  Sie  haben  mich  dringend  ersucht, 
es  zu  thun,  damit  wir  die  Allen  unerwünschte  Beweisaufn 
nähme  vermeiden  können.  Im  Uebrigen  habe  ich  noch  zu 
bemerken,  daß  zwischen  den  einzelnen  Artikeln  (großen 
politischen  Arbeiten,  in  denen  die  Gruppe  manchmal  bei«: 
läufig  erwähnt  wird)  Wochen  und  Monate  liegen,  in  denen 
andere  Artikel  von  mir  erschienen,  daß  ein  WaflFenstillstand 
vereinbart  war,  als  Eulenburg  sich  mir  verpflichtet  hatte, 
nach  Territet  zu  gehen  und  seine  Hand  aus  dem  Reichsspiel 
zu  lassen,  und  daß  von  einer  »fortgesetzten  Handlung« 
schon  deshalb,  wegen  der  Zwischenräume  und  der  Ein«: 
Stellung  des  Kampfes,  nicht  ernstlich  die  Rede  sein  kann. 

Lehmann:  Aber  in  der  »Zukunft«  vom  fünfzehnten  Juni 
wandten  Sie  sich  gegen  die  AuflFassung?  Die  also  doch  be^ 
standen  haben  muß. 

Harden:  Das  war  nachher.  Da  war  der  große  Lärm  los^ 
gegangen.  Ueberall  standen  Artikel  über  »Hofpäderasten«. 
Da  (es  ist  vielleicht  der  einzige  Fehler,  den  ich  in  der  Sache 
gemacht  habe)  glaubte  ich  mich  verpflichtet,  abzublasen.  Im 
Interesse  des  Reichs  und  des  Kaisers.  Sie  wissen  wahrscheini* 
lieh,  wie  schroff  ich  oft  den  Kaiser  bekämpft  habe.  Ich 
schwärme  durchaus  nicht  fiir  ihn.  Aber  er  ist  die  höchste 
Person  im  Reich,  der  Repräsentant  des  Volkes,  die  Fahne, 
das  Symbol  des  Vaterlandes.    Wenn  sichs  darum  handelt, 

446 


auf  der  Höhe  den  Wieg  reinzulegen,  muß  der  eigene  Vo» 
theil  schweigen.  Auch  war  ich  von  der  dummen  lieber^ 
treibung  angeekelt.  Hinc  illae  irael  Seit  ich  den  Skandal^ 
machem  das  Geschäft  verdorben  habe,  bewerfen  sie  mich 
besonders  hastig  mit  Kothklümpchen. 

Lehmann:  Wenn  man  aber  die  einzehien  Stellen  zusamt 
menhält . . . 

Harden:  Das  sollte  man  eben  nicht  thun.  Ich  kann  nicht 
zugeben,  daß  man  es  so  macht.  Heinrich  Heine  hat  einmal 
gesagt,  Vtldersprüche  könne  man  ihm  nicht  nachweisen; 
denn  bevor  er  schreibe,  lese  er  stets  seine  sämmtlichen  Werke 
durch,  um  sich  ja  nicht  zu  widersprechen.  Das  thue  ich  nicht; 
ich  lese  nicht  meine  sämmtlichen  Artikel  durch,  bevor  ich 
einen  neuen  schreibe.  Ob  vorher  mal  Dies  gestanden  hat 
und  jetzt  Jenes  steht:  solche  Zusammenbäckerei  kann  ich 
nicht  mitmachen.  Will  mans  so  oder  so  deuten:  da  stehe  ich 
nicht  Rede.  Die  Sache  ist  einfach.  Graf  Kuno  Moltke  dankt 
seine  Karriere  dem  Grafen  Philipp  Eulenburg.  Der  hat  ihn, 
auch  als  seinen  Aufpasser,  an  den  Hof  gebracht.  Der  Graf 
war  das  Werkzeug  Philis  und  wurde  zu  Dingen  benutzt,  die 
er  selbst  vielleicht  oft  nicht  ahnte.  Die  Verkehrsformen  der 
Herren  waren  mündlich  und  brieflich  von  einer  Ueber^ 
schwänglichkeit,  deren  Schilderung  ich  mir  vorläufig  versage. 

Lehmann:  Wir  werden  nachher  in  die  Lage  konunen. 

Harden:  Ich  glaube  nicht,  daß  ich  in  diese  Lage  kommen 
werde.  Ich  lasse  mich  nicht  weiter  treiben,  als  ich  gehen  will. 
Das  Sexuelle  spielt  in  diesen  Artikeln  eine  ganz  winzige  Rolle. 

447 


Die  beiden  Herren  wurden  von  mir  genannt,  weil  der  eine  höä# 
sehe  Separatpolitik  trieb  und  der  andere  ihm  die  dazu  noth# 
wendigen  kleinen  Mittel  lieferte.  Wie  weit  bei  den  Herren 
die  Hingebung  der  Seele  oder  gar  des  Leibes  gegangen  ist, 
interessirt  mich  nicht,  hat  mich  nie  interessirt. 

Lehmann:  Das  würde  uns  aber  interessiren. 

Harden:  Zu  meinem  Bedauern  kann  ich  dieses  Interesse 
nicht  befriedigen.  In  den  Artikeln  handelt  sichs  um  Anderes. 
Da  wird  gesagt:  "Wir  treiben  im  Deutschen  Reich  eine  viel 
zu  süßliche  und  weichliche  Politik.  Wenn  wir,  im  Bewußtsein 
unserer  Kraft,  jede  unwürdige  Zumuthung  ablehnten,  wenn  wir 
zeigten,  daß  imNothfall  das  Schwert  gezogen  werden  kann,  ge# 
zogen  werden  wird,  sobald  die  Ehre  und  die  Zukunft  der  Nation 
es  fordert,  dann  würde  unsere  Weltstellung  besser  sein.  Daß 
der  Gedanke  richtig  war,  ist  ja  jetzt  erwiesen.  Aber  darauf 
kommt  es  hier  nicht  an.  Eine  Ursache  dieser  weichlichen 
Politik  sah  ich  (mit  Recht  oder  mit  Unrecht)  darin,  daß  My^ 
stiker,  Süßholzraspler,  Spiritisten,  kränkliche  Männer  aller 
Sorten  sich  um  die  Person  des  Monarchen  geschaart  hatten. 
Damals  gab  es  zweierlei  Politik:  die  amtliche  und  die  eulen^ 
burgische.  Die  zweite,  die  okkulte,  wurde  von  Herren  be^ 
trieben,  die  den  Kaiser  umknieten.  Ich  bitte,  Das  nicht  nur 
bildlich  zu  nehmen.  Diese  Herren  haben  den  Enkel  V(llhelms 
des  Nüchternen  in  eine  ungesunde,  ihren  Zwecken  ersprie& 
liehe  Romantik  zu  zerren  versucht.  Sie  sind  weg:  und  der 
Dunst  ist  zerflattert.  Weggekommen  sind  sie  nach  meinen  Ar^ 
tikeln.  Ich  bitte,  endlich  sich  einmal  von   dem  Gedanken 


448 


loszumacken,  hier  handle  sichs  um  die  BekämpAing  und 
Entschleierung  Homosexueller.  Die  Angegriffenen  waren 
Spiritisten,  meinetwegen  Theosophen,  Mystiker,  Leute,  die 
kranke  Menschen  und  Thiere  durch  Gebete  heilen  wollten 
und  von  denen  einzelne  auch  sexuell  abnorm  waren.  Wird 
etwa  geleugnet,  daß  solche  Abnormität  auf  die  Gesammtpsyche 
wirkt?  Lassen  Sie  sich  von  der  wissenschafUichen  Literatur, 
von  KrafftnEbing  bis  auf  Kraepelin,  belehren!  Daß  solche 
3>Männer«  von  Eulenburg  an  solche  Stelle  gebracht  wurden, 
war  ein  nationales  Unglück.  Dadurch  ist  die  Atmosphäre 
entstanden,  die  eine  so  schwache,  eine  so  weiche  Politik,  eine 
so  verhängnißvolle  Täuschung  über  die  Realitäten  ermög^ 
lichte.  Und  da  einzugreifen,  war  nach  meiner  Ueberzeugung 
meine  Pflicht.  Daß  es  dabei  zu  Enthüllungen  kam,  die  Men# 
schenleben  vernichteten,  ist  nicht  meine  Schuld.  Ich  habe 
Keinen  denunzirt;  trotzdem  ich  mir  dadurch  Manches  erspart 
hätte.  Habe  ich  nicht  hier  in  diesem  Saal  gesessen  und  den 
biederen  Eulenburg  ruhig  schwören  lassen?  Ich  hätte  ihn  jeden 
Moment  vernichten  können.  Heute  wissen  Sie  es.  Idi  wollte 
nicht.  Ich  habe  den  Justizrath  Bernstein  gebeten,  ruhig  zu 
sein,  als  er  auEspringen  und  sagen  wollte:  Sie  haben  falsch 
geschworen,  Herr  Fürst  I  Ich  wollte  und  konnte  Ihr  Ur# 
theil  abwarten.  Dann,  nach  den  Hymnen,  den  Barettorgien, 
dem  Urtheil,  das  mich  entehren  sollte,  mußte  ich  handeln. 
Hätte  ichs  nicht  gethan,  so  wäre  Eulenburg,  als  ein  Ge# 
reinigter,  am  Ende  gar  in  die  Gunst  zurückgekehrt.  Das  durfte 
nicht  sein. 

29,  III  449 


Der  Vorsitzende  versucht  wieder,  einzelne  Steilen  der  in^ 
kriminirten»  zeitlich  getrennten  Artikel  zu  verbinden. 

Harden:  Der  Gerichtshof  hat,  wie  mir  scheint,  doch  nur 
zu  prüfen,  ob  ich  den  Grafen  Moltke  beleidigt  habe.  Graf 
Moltke  hat  sich  in  der  ersten  Zeit  nicht  beleidigt  gefühlt, 
trotzdem  er  die  Artikel  kannte,  und  heute  stimmt  er  mit  mir 
darin  überein,  daß  die  Artikel  den  hier  behaupteten  Vorwurf 
nicht  enthalten.  Früher  konnte  das  Gericht  in  einem  Vorur^ 
theil  befangen  sein,  alles  Gesagte,  über  Eulenburg  Gesagte 
für  falsch  halten  und  zweifeln,  ob  nicht  Alles  auf  Moltke  gehe. 
Heute  weiß  man,  daß  alles  über  Eulenburg  Gesagte  wahr  ist. 
Nun  fragt  sich  nur  noch,  was  über  den  Grafen  Moltke  ge# 
sagt  worden  ist. 

Lehmann:  Das  wollen  wir  auch  prüfen;  es  läßt  sich  nur 
nicht  Alles  von  einander  trennen.  Nun  wollen  wir  zurück 
zum  Artikel  vom  achten  Dezember  1906.  Da  reden  Sie  dai> 
von,  daß  man  Ihnen  imputirt  habe,  geschrieben  zu  haben, 
Herr  von  Tschirschky  sei  vom  Fürsten  Eulenburg,  mit  dem 
er  lange  Beziehungen  hatte,  dem  Kaiser  empfohlen  worden, 
und  Sie  weisen  Das  mit  den  Worten  zurück:  Ich  würde  es 
mir  dreimal  überlegen,  ehe  ich  Jemand  Beziehungen  zum 
Fürsten  Eulenburg  nachsage.  Hier  sagen  Sie  zunächst,  Sie 
würden  es  für  einen  Mann  ehrenrührig  finden,  wenn  er  seit 
Langem  enge  Beziehungen  zu  dem  Fürsten  Eulenburg  habe, 
und  trotzdem  behaupten  Sie  fort  und  fort  vom  Grafen  Moltke, 
daß  er  in  sehr  engen  Beziehungen  zum  Fürsten  Eulenburg 
stehe.  Das  ist  das  Geschickte  von  Ihnen  gewesen.  Das  läßt 

450 


sich  so  und  so  drehen.  Sie  sagen,  Sie  haben  es  so  aufgefaßt. 
Die  Auffassung  läßt  für  ein  harmloses  Gemüth  eine  Andeu^ 
tung  zu  oder  eine  Auffassung  zu,  die  auf  dieses  Homosexu# 
eile  gar  nicht  zu  kommen  braucht.  Aber  andererseits  wird 
es  auch  wieder  Leute  gegeben  haben,  die  eben  Das  finden. 

Harden:  Es  ist  nicht  möghch.  Zvrischen  uns  ist  keine 
Verständigung  möglich.  Wir  sind  auf  verschiedenen  Planen 
ten  geboren.  Ich  bin  so  geschickt!  Ja,  lieber  Gott,  warum 
rede  ich  denn  überhaupt  hier  so  lange?  Für  mich  doch  nicht! 
Glauben  Sie,  daß  ich  das  Alles  nöthig  hätte?  Daß  ich  vor 
Ihrem  Urtheil  Angst  habe?  Ich  rede  für  das  Land,  dem  ich 
die  Beweisau&ahme  und  deren  Folgen  ersparen  will,  und 
muß  mir  dann  sagen  lassen,  ich  sei  so  geschickt,  was  heißen 
soll,  ich  sei  feig.  Nein,  verurtheilen  sie  mich  doch!  So  streng, 
wie  Sie  wollen.  Ich  will  meine  Artikel  nicht  länger  interpre# 
tiren.  Ich  habe  es  sattl  Nehmen  Sie  es  auf  sich  vor  dem  Lande! 
Ich  furchte  mich  nicht. 

Lehmann:  Aber  es  hat  doch  keinen  Anlaß  gegeben. 

Harden:  Nach  diesen  Stunden  muß  ich  mir  sagen  lassen, 
ich  sei  so  »geschickt«,  in  diesem  Saal,  wo  ich  der  Einzige 
bin,  der  ohne  Reue  an  das  hier  Geschehene  zurückdenken 
darfl  Nein,  meine  Herren,  ich  bin  nicht  mehr  so  krank  wie 
damals,  wo  ich  mit  mir  umspringen  ließ,  wie  es  Jedem  be^ 
liebte.  Sie  können  mit  mir  machen,  was  Sie  wollen;  ich  gebe 
mich  aber  nicht  zu  weiteren  Inquisitionversuchen  her.  Sie 
mögen  thun,  was  Sie  wollen:  Unwürdiges  dulde  ich  nicht. 

Lehmann:  Unwürdig  kann  es  nicht  sein.  Wenn  ich  sage, 

29*  451 


daß  Sie  ein  großer  Dialektiker  sind,  dann  kann  ich  nicht 
verstehen,  was  darin  für  Sie  unwiirdig  sein  soll.  Ich  muß 
wirklich  sagen,  daß  mir  Ihre  Aufregung  gar  nicht  verstände 
lieh  ist.  Ich  habe  eben  nur  sagen  wollen,  daß  Sie  dialek^ 
tisch  .  .  . 

Harden:  Nachdem  ich  mich  Stunden  lang  bemüht  habe, 
AUes  zu  vergessen,  was  hier  geschehen  ist,  und  ruhig  Ihnen 
Rede  zu  stehen,  sagen  Sie  mir  wieder:  »Sie  sind  so  geschickt! 
Und  mit  dieser  Geschicklichkeit  hoffen  Sie  feiger  Kerl  sich 
der  Strafe  zu  entziehen  I« 

Lehmann:  Davon  habe  ich  nichts  gesagt. 

Harden:  Aber  es  lag  hinter  den  Worten. 

Lehmann:  Ich  muß  doch  darauf  hinweisen,  daß  die  Staats^ 
anwaltschaft  die  Artikel  so  ausgelegt  hat. 

Harden:  HatI  Im  November  1907.  Fragen  Sie  Herrn 
Isenbiel  heute  danach  I 

Lehmann:  Wenn  ich  Ihnen  jetzt  Vorhaltungen  mache, 
dann  sind  es  nicht  meine  persönlichen  Vorhaltungen,  sondern 
ich  habe  die  Pflicht  als  Vorsitzender,  sie  machen  zu  müssen, 
und  muß  Ihnen  vorhalten,  was  die  Anklage  angenonmien 
hat.  Ich  thue  Das  gerade  deshalb,  damit  ich  von  Ihnen  höre, 
was  nun  Sie  darauf  zu  sagen  haben.  Ich  muß,  es  bleibt  mir 
nichts  übrig,  Ihnen  auch  diejenigen  Momente  vorhalten,  die 
in  der  Anklage  als  gegen  Sie  sprechend  betont  worden  sind. 
Das  läßt  sich  nicht  vermeiden.  Ich  verstehe  blos  gar  nicht, 
daß  Sie  sagen  wollen,  ich  sei  Das  und  ich  bringe  Das  vor. 
Es  ist  als  Vorsitzender  meine  Pflicht,  Das  zu  thun.   Ich  habe 


452 


die  Aufgabe,  Das  mit  Ihnen  durchzusprechen,  und  es  ist 
mir  unverständlich,  wie  Sie  jetzt  darüber  in  diese  Rage  ge^ 
rathen  können. 

Harden:  Wenn  ich  lauter  geworden  bin,  als  es  nöthig  ist, 
so  ist  Das  sehr  bedauerlich.  Aber  hier  sitzen  doch  wohl  in# 
telligente  Männer,  die  einigermaßen  ein  Gefühl  für  Das  haben 
müssen,  was  hier  vorgeht.  Nach  Stunden  wird  mir  gesagt: 
Das  ist  es  eben,  Sie  sind  so  geschickt  und  machen  es  schlau. 
Es  gibt  keinen  Kulturstaat  der  Welt,  wo  Das  einem  Schrift^ 
steller  von  dem  Range  des  Herrn  Harden  gesagt  werden 
könnte;  keinen,  glauben  Sie  mirsi  Und  wenn  es  geschähe, 
vrürden  gerade  wir  schreien:  Welche  Zustände!  Denken  Sie 
an  Zolas  Haltung  und  Behandlung  vor  Gericht.  Sie  haben 
mich  gezwungen,  stolz  zu  reden.  Ich  habe  im  Leben  Etwas 
geleistet,  ich  bin  auch  als  Angeklagter  noch  eben  so  viel  wie 
Jeder  hier  im  Saal  und  lasse  mir  unwürdige  Behandlung 
nicht  bieten. 

Lehmann:  Von  unwürdiger  Behandlung  kann  nicht  die 
Rede  sein,  wenn  ich  weiter  nichts  thue,  als  Ihnen  Dasjenige 
vorhalten,  was  als  beanstandet  in  der  Klageschrift  hervorge^ 
hoben  worden  ist. 

Harden:  Man  hat  immer  die  Kraft  und  Geduld,  das  Lei# 
den  Anderer  zu  ertragen.  Aber  ich  habe  nicht  mehr  den 
Völlen,  hier  mitzuwirken.  Ich  habe  mich,  um  entgegenzu^ 
kommen,  den  wiederholten  Aufforderungen  des  Herrn  Frä# 
sidenten  gefugt.  Ich  habe  die  Erklärung  gegeben;  das  Resul^ 
tat  ist,  daß  ich  nach  Stunden  der  Rednerei  von  Ihnen  einer 


453 


unwürdigen  Gesinnung  bezichtigt  werde.  Wir  können  uns 
nicht  verständigen.  Nie  wird  mir  gelingen,  mich  mit  Ihnen 
zu  verständigen.  Niemals.  Also  verurtheilen  Sie  mich  gleicht 

Lehmann:  Aber  es  ist  meine  Pflicht,  Ihnen  Das  vorzu«* 
halten,  was  die  Anklage  nun  mal  sagt,  und  die  Anklage  hat 
gesagt:  Hier  liegt  ein  Doppelsinn  darin.  Bleibt  mir  gar  nichts 
Anderes  übrig.  Ich  würde  meine  Pflicht  nicht  erfüllen,  wenn 
ich  das  Ihnen  nicht  vorhalten  würde. 

Harden:  Darüber  darf  ich  mir  kein  Urtheil  erlauben. 
Wenn  die  Pflicht  Sie  zwingt,  einen  Mann,  der  sich  bemüht, 
die  Sache  mit  Schonung  aller .  .  . 

Lehmann:  Wir  wollen  nicht  schonen,  wir  wollen  die 
Wahrheit  hören. 

Harden:  Aber  ich  will  es.  Ich  treibe  nicht  Juristerei; 
sondern  Politik.  Und  das  Reichsinteresse  ist  für  mich  kein 
Justizbegriff.  Darum  habe  ich  gesagt  und  wiederhole  es: 
Verurtheilen  Sie  mich  wieder;  ich  kann  es  ertragen.  Wozu 
noch  kostbare  Zeit  verlieren  und  so  intelligente,  so  beschäl 
tigte  Herren  länger  bemühen?  Wenn  ich,  nach  AUem,  was 
geschehen  ist,  nach  Allem,  was  Sie  bedauern  müßten,  nach 
so  vielen  Urtheilskorrekturen  durch  die  Ereignisse  hier  noch 
in  der  Rolle  des  armen  Sünders  stehen  muß,  dem  gesagt 
wird:  Das  ist  es  ja  bei  Ihnen,  Sie  sind  so  geschicktl . .  Nein, 
meine  Herren:  von  Ihnen  zu  mir  fuhrt  keine  Brücke.  Sie 
können  mich  verurtheilen.  Sie  können  mich  niemals  richten. 

Lehmann:  Ich  muß  aber  die  ganzen  Artikel  mit  Ihnen 
durchgehen.  Es  bleibt  mir  nichts  übrig;  ich  muß  es  thun. 

454 


Harden:  Ich  kann  nicht  gezwungen  werden,  noch  zu 
antworten;  meine  Nervenkraft  ist  auch  nachgerade  verbraucht. 

Lehmann:  Es  war  meines  Erachtens  unnöthig,  daß  Sie  so 
aufgeregt  waren. 

Harden:  Ich  bitte  jeden  der  fünf  Herren,  sich  in  meine 
Lage  zu  versetzen.  Ich  habe  eine  ziemlich  geachtete  Stellung 
in  der  Welt;  denken  Sie  sich,  Sie  ständen  hier  und  ich  säße 
da,  und  nach  AUem,  was  geschehen  ist,  und  nach  allen  die^ 
sen  Stunden  müßten  Sie  sich  sagen  lassen:  Ja,  Das  ists,  Sie 
sind  so  geschickt,  Sie  versuchen,  zu  entschlüpfen.  Was  würden 
Sie  wohl  empfinden?  WürdenSie  es  ertragen  oder  aufschreien? 
Ich  lasse  mir  von  Ihnen  nicht  die  Haut  schinden.  Ich  habe 
gesagt,  was  ist.  Glauben  Sie  mir  nicht,  so  verurtheilen  Sie 
mich  zu  der  höchsten  Strafe,  die  Ihnen  erreichbar  ist.  Das 
können  Sie;  sofort.  Ich  habe  nichts  dagegen.  Aber  Sie  köni» 
nen  nicht  verlangen,  daß  ich  meine  Seelenhaut  zu  weiteren 
Experimenten  hergebe,  die  man  einem  Menschen  von  Repu^ 
tation  und  Lebensleistung  nicht  zumuthen  dürfte.  Es  giebt 
eine  Kulturstufe,  auf  der  man  Schriftsteller  eines  gewissen 
Ranges,  so  lange  sie  nicht  als  Schweine  erwiesen  sind,  be^ 
handelt  wie  Kavaliere.  Will  man  nicht:  gut;  dann  habe  ich 
dieses  Symptom  unseres  Kulturstandes  zu  verzeichnen. 

Lehmann:  Ich  verstehe  nicht,  was  ich  gesagt  haben  soll. 
Ich  habe  gesagt:  Aeußem  Sie  sich  auf  die  Anklage,  die  Ihnen 
vorwirft,  zweideutig  gewesen  zu  sein;  daß  es  hier  herausge^ 
lesen  werden  kann. 

Harden:  Ich  habe  von  dem  Mächtigsten  dieser  Gruppe 

455 


das  Härteste  offen  gesagt.  Der  Wortlaut  liegt  vor  Ihnen.  Ich 
habe  es  auch  in  der  Kritik  anderer  im  Reich  Mächtigen  an 
schroffster  Deutlichkeit  nie  fehlen  lassen.  Soll  ich  gerade  vor 
dem  guten  Grafen  Kuno  Moltke  zittern?  Ich  habe  über  ihn 
gesagt,  was  mir  nöthig  schien,  habe  ihm,  wie  er  selbst  zu^ 
giebt,  nicht  Homosexualität  vorgeworfen;  und  wenn  Sie  mich 
für  einen  Mann  halten,  der  zu  Haus  sitzt  und  überlegt,  wie 
er  durch  die  Maschen  des  Strafgesetzbuches  kommen  kann, 
dann,  verzeihen  Sie,  können  Sie  nicht  lesen  und  haben  kein 
Ohr  für  Persönlichkeit. 

(Nach  Detailerörterungen  wird  eine  Pause  beschlossen.) 
Lehmann:  Wir  müssen  annehmen,  daß  hier  dem  Grafen 
Moltke  Homosexualität  und  homosexuelle  Handlungen  vor^ 
geworfen  werden.  Es  würde  sich  darum  handeln:  Ist  Das, 
was  Sie  ihm  vorgeworfen  haben,  wahr  oder  nicht?  Es  fragt 
sich,  welchen  Standpunkt  man  einnimmt.  Der  Angeklagte 
hat  keine  Beweislast  und  er  kann  nur  dann  fiir  schuldig  er# 
klärt  werden,  wenn  Das,  was  er  behauptet  hat,  nicht  wahr 
ist,  und  der  Gerichtshof  hat  sich  davon  eine  Ueberzeugung 
zu  verschaffen.  Er  hat  Das  auch  zu  beweisen.  Aber  es  liegt 
ja  natürlich  im  Interesse  des  Angeklagten,  dem  Gerichtshof 
Momente  an  die  Hand  zu  geben,  aus  denen  Der  nun  schöpf 
fen  kann,  daß  Das,  was  er  behauptet  hat,  wahr  ist.  Der  Gtp 
richtshof  würde  nur  dann  zu  einer  Schuld  Ihrerseits  kommen, 
wenn  angenommen  wird,  Graf  Moltke  habe  sich  nicht  horno^ 
sexuell  bethätigt.  Die  Ueberzeugung  muß  der  Gerichtshof 
haben.  Er  muß  sie  sich  verschaffen.  Der  Angeklagte  braucht 

456 


sie  nicht  zu  verschaffen,  er  hat  keine  Beweislast.  Aber  ich 
habe  vorhin  schon  betont,  das  es  Etwas  ist,  das  für  den  An^ 
geklagten  günstig  ist;  so  liegt  es  in  seinem  Interesse,  zu  sagen : 
Ich  habe  Das  und  Das  anzugeben  nach  der  Richtung. 

Harden:  Herr  Präsident,  die  Stunden,  in  denen  ich  die 
Ehre  hatte,  hier  sprechen  zu  dürfen,  habe  ich  benutzt,  um 
Ihnen  zu  sagen:  Ich  habe  in  meiner  Zeitschrift  den  Grafen 
Moltke  nicht  der  Homosexualität  beschuldigt.  Es  wäre  inkon^ 
sequent,  wäre  thöricht,  wenn  ich  mich  jetzt  hinstellen  und 
sagen  würde:  Weil  Sie  annehmen  könnten,  ich  habe  den 
Vorwurf  gemacht,  will  ich  seine  Berechtigung  hier  beweisen. 
Dazu  kommt  das  Schriftstück,  auf  dem  Graf  Moltke  anert^ 
kennt,  daß  ich  ihm  diesen  Vorwurf  in  meiner  Zeitschrift 
nicht  gemacht  habe.  In  diesem  Stadium  der  Sache  liegt  für 
mich  nicht  der  mindeste  Grund  vor,  Beweise  gegen  den  Grafen 
Moltke  zu  produziren.  Und  meine  Empfindung?  Ich  sage 
Ihnen  offen:  Wenn  ich  zu  wählen  hätte,  ob  ich  den  Grafen 
Moltke  dahin,  wo  sein  bester  Freund  heute  ist,  bringen  oder 
in  Peterwitz  oder  Breslau  ruhig  sitzen  lassen  wolle,  so  würde 
ich  unbedingt  die  zweite  Möglichkeit  vorziehen;  ich  würde 
ihn  in  Ruhe  lassen.  Ich  konnte  genöthigt  sein,  furchtbar 
traurige  Mißstände  ohne  Erbarmen  zu  entschleiern,  so  lange 
ich  glaubte,  diese  Entschleierung  sei  nöthig,  damit  die  Miß^ 
stände  beseitigt  werden.  Auch  da  habe  ich,  wie  Sie  alle  wis«* 
sen  oder  wenigstens  wissen  könnten,  mich  Schritt  vor  Schritt 
erst  drängen  lassen.  Von  Gerichten.  In  dem  Augenblick 
aber,  der  jetzt  gekommen  ist,  lautet  die  Frage  so:  Vtlllst  Du, 

457 


Harden,  nur  um  Dich  einer  etwa  möglichen  Strafe  zu  tnU 
ziehen,  Dich  zu  neuen  Entschleierungen  entschließen,  deren 
Folgen  noch  gar  nicht  zu  übersehen  sind?  Diese  Frage  würde 
ich  mir  gar  nicht  erst  stellen;  und  sie,  wenn  ein  Anderer  sie 
stellte,  rundweg  verneinen.  Meine  Artikel  liegen  vor  Ihnen. 
Das,  was  ich  darüber  zu  sagen  hatte,  habe  ich  gesagt.  Ich 
kann,  wenn  es  gewünscht  wird  oder  wenn  es  mir  im  Verlauf 
der  Sache  irgendwie  nöthig  erscheint,  noch  besser  und  klarer 
es  zu  sagen  versuchen.  Wenn  der  Gerichtshof  mich  dann 
verurtheilt:  vortrefflich;  dann  ist  ein  vorläufiger  oder  defini^ 
ver  Abschluß  der  Sache  erreicht  (und  ich  werde  die  Konse^ 
quenzen  zu  tragen  wissen,  wenn  es  ein  definitiver  ist).  Irgendi« 
eine  weitere  Unterlage  zu  »Feststellungen«  zu  liefern,  habe 
ich  in  diesem  Moment  gar  keine  Veranlassung.  Was  sollte 
mich  bestimmen?  Die  Furcht  vor  einer  neuen  irrigen  Deu^ 
tung?  Die  Furcht  vor  einer  Strafe?  Niemals. 

Lehmann:  Dann  bleibt  nur  übrig,  daß  wir  den  Grafen 
Moltke  fi'agen,  ob  er  homosexuell  sich  bethätigt  hat. 

Preuß:  Ich  würde  vorschlagen,  den  Herrn  Vertreter  des 
Nebenklägers  darüber  zu  hören,  wie  er  sich  zu  der  Beweis^ 
aufnähme,  überhaupt  zu  den  Auslassungen  des  Herrn  An^ 
geklagten  stellt. 

Sello:  Ich  stehe  auf  dem  Standpunkt  und  habe  von  An^ 
fang  an  darauf  gestanden,  daß  nach  den  Erklärungen  vom 
neunzehnten  und  zweiundzwanzigsten  März,  die  von  dem 
Herrn  Nebenkläger  aus  eigener  Initiative  abgegeben  wurden, 
nicht  nothwendig  sein  wird,  die  Frage  an  ihn  zu  stellen.  Die 

458 


Behauptung  ist  nicht  aufgestellt;  Graf  Moltke  hat  erklärt,  er 
finde  in  den  Artikeln  des  Herrn  Harden  nicht  den  Vorwurf 
der  Homosexualität. 

Lehmann:  Weiter  haben  Sie  nichts  zu  erklären? 

Sello:  Ich  wüßte  nicht,  was  ich  weiter  erklären  sollte. 
Ich  werde  voraussichtlich  keine  Anträge  stellen. 

Bernstein:  Auch  ich  werde  keine  Beweisaufnahme  bean^ 
tragen.  Ich  bin  der  Meinung,  daß  es  nicht  dem  Sinn  und 
der  Intention  des  Gesetzes  entspräche,  wenn  eine  Beweise 
aufiiahme  stattfände  über  einen  nach  der  übereinstimmenden 
Angabe  des  Klägers  und  des  Angeklagten  nicht  gemachten 
Vorwurf.  Hat  das  Gericht  überhaupt  das  Recht,  eine  von 
keiner  Seite  aufgestellte  Behauptung  auf  ihre  Wahrheit  hin 
zu  prüfen?  Ich  glaube,  nicht  einmal  das  Recht;  um  wie  viel 
weniger  die  Pflicht I  Das  Gericht  fragt:  Herr  Angeklagter, 
für  den  Fall,  daß  das  Gericht  diesen  Vorwurf  aus  Ihren 
Aeußerungen  entnimmt,  wie  gedenken  Sie  ihn  zu  beweisen? 
Aus  irgendwelchen  Gründen  (und  es  sind  die  alleredelsten 
Gründe,  die  Herrn  Harden  zur  Reserve  bestimmen)  sagt  der 
Angeklagte:  Ich  wünsche  gar  nicht,  hier  Etwas  zu  beweisen. 
Dann  hat  der  Gerichtshof  zu  antworten:  Schön,  Herr  An^ 
geklagter,  dann  müssen  Sie  die  Konsequenzen  tragen. 

Lehmann:  Ja,  wenn  der  Gerichtshof  von  der  Unwahre 
heit  der  Behauptung  überzeugt  ist. 

Bernstein:  Nehmen  Sie  an,  wir  hatten  jetzt  eine  Ver^ 
handlung  und  das  Gericht  würde  sagen:  Ich  bin  nicht  über^ 
zeugt  von  der  Unwahrheit  der  Behauptung,  die  der  Ange# 

459 


klagte  bestreitet.  Nach  meiner  Auffassung  dürfte  ohne  Untere 
läge  das  Gericht  Das  gar  nicht  äußern.  Der  Nebenkläger 
könnte  dem  Gericht  das  Recht  bestreiten.  Uebrigens  erklärt 
sich  der  Herr  Nebenkläger  ja  fiir  befriedigt. 

Lehmann:  Wenn  der  Herr  Nebenkläger  Das  von  An^ 
fang  an  gesagt  hätte,  wäre  es  schön. 

Bernstein:  Inzwischen  ist  doch  sehr  Vieles  geschehen. 
Giebt  es  ein  Hindemiß,  durch  die  Ereignisse  sich  belehren 
zu  lassen?  Ich  beantrage  ausdrücklich,  von  jeder  Beweisau^ 
nähme  abzusehen. 

Preuß:  Ich  schließe  mich  dem  Antrag  an. 

Sello:  Ich  schließe  mich  ebenfalls  an.  Mein  Klient  ist  nach 
allen  vorliegenden  ärztlichen  Zeugnissen  ein  Todeskandidat, 
der  den  Wunsch  hat,  den  Rest  seines  Lebens  unangefochten 
in  ländlicher  Zurückgezogenheit  zu  verbringen.  Er  ist  mit 
dem  Wunsch  an  das  Gericht  gekommen,  ausgestattet  mit 
einem  Zeugniß  von  seinem  Arzt,  welches  lautet:  »Herr 
Kuno  Graf  von  Moltke  leidet  an  einer  chronischen  Erkran^ 
kung  des  Nervensystems«,  von  körperlichen  Anstrengungen 
und  seelischen  Aufregungen  befreit  zu  bleiben.  Er  untere 
nahm  die  Rückreise  von  Meran  nach  Berlin  gegen  den  ärzt^ 
liehen  Rath.  Herr  Harden  hat  auf  Zuspruch  die  Erklärung 
abgegeben,  daß  in  den  Artikeln  der  Vorwurf  der  Homo^ 
Sexualität  nicht  erhoben  sei,  und  Graf  Moltke  hat  sich  davon 
überzeugt,  daß  der  Vorwurf  in  den  Artikeln  gegen  ihn  nicht 
ausgesprochen  sei.  Ich  brauche  nicht  zu  erklären,  daß  in  der 
Zwischenzeit  sich  Mancherlei  zugetragen  hat,  was  auf  die 

460 


Au££sissung  der  Artikel  durch  den  Herrn  Nebenkläger  von 
Einfluß  sein  konnte,  so  daß  er  sich  hat  überzeugen  können,  daß 
die  Spitze  gerade  nach  dieser  Richtung  hin  sich  gegen  einen 
ganz  Anderen  richtet  als  gegen  ihn,  und  wohl  aus  dieser 
Ueberzeugung  (ich  kann  ja  in  der  Seele  eines  Anderen  nicht 
stecken)  hat  der  Herr  Nebenkläger  sich  gesagt:  Durch  die 
vorige  Verhandlung  ist  objektiv  nachgewiesen,  daß  der  Vor^ 
wurf  der  Homosexualität  mich  nicht  trifft,  ich  habe^  deshalb 
auch  keine  Veranlassung,  mich  in  diesem  Verfahren  zu  ver^ 
antworten  gegen  einen  Vorwurf,  der  gar  nicht  erhoben  ist. 
Von  diesem  Standpunkt  aus  bin  ich  der  Meinung,  daß  wir 
weder  in  objektiver  noch  in  subjektiver  Beziehung  einer 
Beweisaufiiahme  bedürfen. 

Preuß:  Ich  darf  wohl  noch  eine  Frage  an  den  Herrn 
Justizrath  richten.  Ich  verstehe  doch  richtig,  daß  die  Absicht 
des  Grafen  Moltke  dahin  gegangen  ist,  den  Stra&ntrag 
zurückzuziehen,  und  daß  es  ihm  außerordentlich  erwünscht 
wäre,  wenn  die  Wirkung  des  Stra&ntrages  vereitelt  vrürde. 

Sello:  Ich  habe  keinen  Zweifel  darüber,  diese  Erklärung 
abgeben  zu  dürfen. 

Harden:  Die  Beleidigung  wird  nur  auf  Antrag  verfolgt. 
Dieser  Satz  kann  im  Vemunftbereich,  zu  dem  auch  das 
Offizialverfahren  immer  gehören  müßte,  nur  bedeuten:  Die 
Beleidigung  wird  nur  verfolgt,  so  lange  der  Beleidigte  die  Ver# 
folgung  wünscht.  Wünscht  er  sie  nicht  mehr,  fühlt  er  sich 
nicht  mehr  beleidigt,  so  ist  die  Verfolgung  zwecklos;  es  soll 
nicht  unhöflich  klingen,  wenn  ich  sage:  sinnlos.  Die  Mei# 

461 


nung  über  Worte,  durch  die  man  sich  verletzt  fühlte,  kann 
sich  ändern.  Es  ist  wohl  nicht  allzu  geschmacklos,  wenn  ich 
an  Das  erinnere,  was  sich  hier  vorhin  abspielte.  Ich  habe 
mich  aufs  Tie&te  beleidigt  gefühlt  und  bin  dann  durch  Er^ 
klärungen,  die  den  Herrn  Vorsitzenden  ehren,  zu  der  Ueber^ 
Zeugung  gekommen,  daß  er  in  diesem  Augenblick  nicht  die 
Absicht  hatte,  mich  zu  beleidigen.  Wenn  es  keinen  Beleih 
digten  mehr  giebt,  sollte  man  auch  nicht  mehr  nach  einem 
Beleidiger  birschen.  Wie  liegt  denn  hier  nun  die  Sache? 
Graf  Moltke  hat  sich  zunächst  durch  die  Artikel  gar  nicht 
beleidigt  gefühlt.  Die  Anderen  aber,  die  nichts  gegen  mich 
zu  unternehmen  wagten,  haben  ihn  gehetzt  und  vorgeschickt; 
vielleicht,  weil  sie  meinten,  er  könne  es  noch  eher  als  sie 
riskiren.  Oder  weil  sie  ihn  fiir  naiv  und  leichtgläubig  hielten 
und  ihn  skrupellos  ins  Ungemach  stoßen  wollten.  Darüber 
mögen  die  Meinungen  auseinandergehen.  Nun  muß  der 
Vorgehetzte  wohl  eingesehen  haben:  Du  hast  wirklich  einen 
großen  Theil  Deines  Lebens  zwischen  solchen  Leuten  ver^ 
bracht  und  hast  sie  nicht  erkannt.  Auf  der  Basis  dieser  neuen 
Erkenntniß  mag  der  Graf  die  Artikel  noch  einmal  gelesen 
und  sich  gesagt  haben:  Im  Grund  ist  das  wirklich  Harte 
nicht  gegen  Dich  gerichtet,  sondern  gegen  Andere,  und 
zwar  (was  (ur  Den,  der  es  geschrieben  hat,  erhebhch  ins 
Gewicht  fiillt)  mit  vollem  Recht.  Graf  Moltke,  den  ich  fiir 
einen  Patrioten  halten  muß,  wird  sich  gesagt  haben:  Was 
da  ein  Privatmann  mit  Gefährdung  seines  Lebens  (nicht  nur 
seiner  Freiheit:  die  Kinaedenzunft  hat  mir  ganz  direkt  nach 

462 


dem  Leben  getrachtet  und  ein  junger  Lieutenant  aus  sehr 
noblem  Haus  hat  geschworen,  er  werde  mich  abschießen) 
unternommen  hat,  war  nothwendig  und  hat  sich  als  nützlich 
erwiesen;  deshalb  werde  ich  als  Christ  und  deutscher  EdeU 
mann  nicht  daran  mitwirken,  daß  er  verurtheilt  wird  und 
entweder  einen  noch  größeren  Vermögensverlust  hat  oder 
gar  mit  seinen  ramponirten  Gesundheitverhältnissen  ins  Ge^ 
fangniß  kommt;  deshalb  unterzeichne  ich  die  Erklärung  und 
lasse  Herrn  Harden  fragen,  ob  er  sie  auch  unterzeichnen 
wolle.  Dann  haben  wir  die  Möglichkeit,  die  Sache  aus  der 
Welt  zu  schaflFen.  Was  soll  nun  geschehen?  Meine  Artikel 
sind  da  und  ich  habe  gesagt,  was  meine  Artikel  bedeuten. 
Ich  meine,  kein  Gericht  hätte  je  das  Recht,  einfach  aus  der 
Tiefe  des  Gemüthes  die  Behauptung  zu  schöpfen,  meine 
Interpretation  sei  falsch.  Dafür  müßte  ein  Beweis  erbracht 
werden.  Das  einfach  »thatsächlich  festzustellen«,  mag  ein 
Brauch  sein;  doch  ists  einer,  von  dem  der  Bruch  mehr  ehrt 
als  die  Befolgung.  Ein  Beweis  gegen  meine  Erklärung  des 
von  mir  Geschriebenen,  Gedruckten  ist  von  keiner  Seite  er^ 
bracht  oder  auch  nur  versucht  worden;  und  um  meine 
Artikel  handelt  es  sich  doch.  Die  haben  nützlich  gewirkt, 
durch  die  fiihlt  Graf  Moltke  sich  nicht  beleidigt  und  gegen 
ihre  Nuancirung  ist  dadurch  nichts  erwiesen,  daß  ein  Herr 
in  der  Robe  sie  bestreitet. 

Weiter.  Ich  habe  diese  Sache  von  An&ng  an  als  Politiker 
geführt  und  werde  sie  stets  so  fuhren;  auf  jede  Gefahr.  Sie 
sind  Richter,  meine  Herren.   Wenn  gesagt  wird,   Gerichte 

463 


sollen  keine  Politik  treiben,  ist  aber  nicht  gemeint,  der  Rich^ 
ter  solle  vergessen,  daß  er  in  der  Welt  der  Wirklichkeit  lebt 
und  das  Wohl  seiner  Heimath  zu  wahren  hat.  Nach  inneren 
und  äußeren  Kämpfen  geht  es  unserem  Reich  endlich  etwas 
besser.  Vor  Ihnen  steht  ein  Mann,  den  Sie  vielleicht  nicht 
leiden  mögen,  dessen  Stil,  dessen  Art  Ihnen  nicht  sympathisch 
ist,  der  in  seinem  schweren  Leben  aber  nichts  gethan  hat, 
was  irgendwie  seine  Ehre  mindern,  seinen  Muth  in  Frage 
stellen  kann.  Dieser  Mann  sagt  Ihnen,  in  Uebereinstimmung 
mit  dem  Kläger:  Die  Beschuldigung,  die  Sie  herauslesen 
wollen,  steht  nicht  in  diesen  Artikeln.  Dürfen  Sie  ihm,  weils 
Ihnen  so  gefallt,  den  Glauben  weigern?  Ich  habe  in  jedem 
Stadium  der  leidigen  Sache,  ohne  Rücksicht  auf  meinen  Vor^ 
theil,  vor  einer  Beweisaufnahme  gewarnt.  Weil  ich  waffenlos 
war?  Heute  glauben  Sie  Das  nicht  mehr.  Jedesmal  hat  sich 
die  Berechtigung  meines  Wamens  nachher  ergeben.  Hören 
Sie  diesmal  endlich  darauf!  Thun  Sie,  was  Sie  wollen;  ver^ 
urtheilen  Sie  mich:  Das  interessirt  mich  wirklich  nicht.  Aber 
ersparen  Sie  dem  Reich  neuen  Lärm  von  weithin  hörbarem 
Widerhall.  Heute,  wo  es  uns  endlich  ein  Bischen  besser 
geht.  Jedes  Urtheil  kann  ich  hinnehmen;  nicht  jede  »Fest^ 
Stellung«.  Niemand  verlangt,  daß  Sie  Zeugen  hören.  Der 
Herr  Oberstaatsanwalt,  der  Herr  Vertreter  des  Nebenklägers 
sind  gegen  die  Vernehmung  des  Grafen;  gegen  dessen  beei^ 
dete  Aussage.  Sie  haben  meine  Artikel  und  können  in  sie 
hinein,  aus  ihnen  heraus  lesen,  was  Ihnen  beliebt.  Wenn  Ihr 
Gewissen  dazu  stark  genug  ist,  verurtheilen  Sie  mich;   aber 

464 


stellen  Sie  nicht  »fest«,  was  ich  dann  wieder  umstürzen  muß. 
Muß»  meine  Herren!  Ich  habe  nur  eine  einzige  Bitte:  Keine 
Beweisau&ahme  I 

Lehmann:  Falls  nun  das  Gericht  aber  doch  annimmt,  die 
Homosexualität  sei  behauptet  worden? 

H  a  r  d  e  n :  Das  muß  ich  dem  Gerichtshof  anheimstellen.  Hier 
sind  drei  Parteien,  wenn  ich  so  sagen  darf:  Ankläger,  Neben^ 
kläger,  Angeklagter;  alle  drei  einig  in  dem  Bewußtsein,  daß  es 
Situationen  giebt,  in  denen  man  den  Muth  haben  muß,  höher 
zu  fühlen  als  am  Alltag.  Alle  Drei  bringen  gewisse  Opfer, 
Jeder  in  seiner  Weise,  und  sagen:  Wir  lehnen  die  Verantis 
wortung  dafür  ab,  daß  Herrn  Harden  ein  Beweis  aufgezwun^ 
gen  wird,  den  er  in  diesem  Augenblick  unter  keinen  Um^» 
ständen  fuhren  will.  Gründe?  Unter  anderen  der,  daß  Herr 
Harden  ja  nicht  aufMoltke  beschränkt  werden  könnte;  daß  er 
natürlich  die  ganze  Gruppe  beleuchten  dürfte  und  müßte.  Ich 
habe  gar  kein  Bedürfiüß,  hier  die  Prozesse  gegen  Eulenburg 
und  Genossen  zu  fuhren.  Will  die  Vierte  Strafkammer  die  Ver^ 
antwortung  auf  sich  nehmen,  die  wir  Drei  ablehnen  ?  Dann  mag 
sies  thun.  Ich  kann  nur  noch  einmal  dringend  bitten :  Zwingen 
Sie  mich  nicht,  den  eigennutzlos  gewählten  Standpunkt  aufzu^ 
^ebenl  Hier  ist  die  Gelegenheit,  zu  Aller  Nutzen  und  Keinem 
zum  Leid  eine  traurige  Sache,  die  aber  unvermeidlich  war,  end^ 
giltig  zu  bestatten.  Erfüllen  Sie  meinen  Wunsch,  dann  wird 
weder  kriminalistische  noch  publizistische  Behandlung  mehr 
nöthig  sein;  selbst  wenn  Sie  den  Muth  haben,  eine  Strafe  zu 
verhängen.   Die  ist  in  diesem  Fall  winzige  Nebensache. 

»,  III  465 


Lehmann:  Aber  das  Recht? 

Harden:  Das  Recht»  Herr  Präsident,  ist  nicht  eine  Sache 
die  man  sich  in  einem  Reagensglas  aufbewahrt  denken  darf. 
Das  Recht  war,  ist  und  wird  immer  sein:  das  Resultat  von 
Kraftverhältnissen,  die  sich  durchzusetzen  versucht  haben. 
Das  Recht  bleibt  stets  mit  politischen  und  sozialen  Erwä^ 
gungen  aller  Art  durchtränkt.  Wenn  die  Herren  nun  zurück^ 
kommen  und  verkünden:  Du  hast  uns  zwar  eine  Interpreta^ 
tion  gegeben,  gegen  die  wir  nichts  Haltbares  vorbringen 
können;  aber  wir,  die  nicht  unbefangen,  sondern  unter  einer 
Suggestion  an  die  Lecture  gingen,  finden  Anderes  darin; 
wittern  im  April  1909  Anderes,  als  im  Winter  1906  gesagt 
war:  Ist  Das  dann  »Recht«?  War  Ihr  voriges  Urtheil,  das 
mit  all  seinen  thatsächlichen  Feststellungen  vernichtet  ist, 
etwa  »Recht«?  Sind  Sie  jetzt  auf  dem  Weg  zu  sicherer  Wahr^ 
heit?  Sie  stehen  vor  ernster  Entscheidung.  Und  werden  ge^ 
wiß  den  Satz  nicht  vei*gessen:  Summum  jus  summa  injuria. 

Das  Gericht  beschließt,  dem  Grafen  Moltke  nur  die  eine 
Frage  vorzulegen,  ob  er  sich  homosexuell  bethätigt  habe. 

Lehmann:  An  den  Herrn  Grafen  soll  nur  die  Frage  ge^ 
richtet  werden:  Haben  Sie  sich  homosexuell  bethätigt?  Wei^ 
ter  wollen  wir  nichts.  Aber  die  Frage  brauchen  wir;  sonst 
können  wir  nicht  zu  einer  Verurtheilung  kommen. 

Harden:  Darauf  bestehe  ich  ja  nicht.  Ein  anderer  Ausi^ 
gang  als  die  Verurtheilung  wäre  immerhin  denkbar. 

Lehmann:  Ich  wollte  sagen:  zu  einem  Urtheil. 

Harden:   Und  wenn  die  Basis,  die  der  Gerichtshof  für 


466 


nöthig  hält,  geschaffen  ist,  dann,  vermuthe  ich,  wird  der  Be«» 
weis  dafür  kommen,  daß  ich  behauptet  habe,  der  Graf 
habe  sich  homosexuell  bethätigt. 

Lehmann:  Ja. 

Harden:  Danke. 

Pause. 

Lehmann:  Herr  Graf  von  Moltke,  wir  wollen  nur  die 
Frage  an  Sie  richten,  ob  Sie  homosexuell  sich  bethätigt  haben. 
Das  ist  unsere  Hauptfrage,  die  wir  haben.  Selbstverständlich 
braucht  Jemand  auf  Fragen,  durch  deren  Beantwortung  er 
sich  einer  strafbaren  Handlung  schuldig  bekennt,  keine  Ant^ 
wort  zu  geben.  Die  Aussage  muß  der  Wahrheit  entsprechen. 
(Der  Zeuge  wird  beeidet.)  Mit  Vornamen  heißen  Sie? 

Zeuge  Graf  von  Moltke:   Kuno. 

Lehmann:  Sie  sind  wie  alt? 

Moltke:  Einundsechzig  Jahre.  Evangelisch. 

Lehmann:  Ich  bitte,  die  Frage  zu  beantworten. 

Moltke:  Ich  bin  meiner  festen  Ueberzeugung  nach  nicht 
homosexuell  veranlagt,  habe  nie  zu  männlichen  Personen 
eine  sinnliche  Leidenschaft  empfunden  und  nie  mit  mann«» 
liehen  Personen  geschlechtlichen  Umgang  gehabt. 

Lehmann:  Das  wollte  der  Gerichtshof  wissen.  Auf 
weitere  Fragen  will  ich  keinen  Werth  legen.  Haben  die  Pro^ 
zeßparteien  Fragen  an  den  Herrn  Zeugen? 

Harden:  Ich  bleibe  so  lange,  wie  es  mir  möglich  ist,  auf 
dem  Boden  der  auf  Wunsch  des  Grafen  Moltke  von  mir 
unterzeichneten  Erklärung  und  werde  abwarten,  wie  diese 

30*  467 


Aussage  verwerthet  wird.  Davon  muß  ich  meinen  Entschluß 
abhängig  machen.  Ich  habe  im  Augenblick  also  keine  Frage 
zu  stellen. 

Sello:  Ich  möchte  beantragen,  den  Herrn  Zeugen  zu  ent^ 
lassen  auf  Grund  des  letzten  ärztlichen  Zeugnisses,  dessen 
Inhalt  ich  schon  mitgetheilt  habe. 

Lehmann:  Steht  Etwas  entgegen? 

Harden:  Ja;  ich  könnte,  zu  meinem  Bedauern,  nicht  ein^ 
willigen. 

Lehmann:  Dann  bitte  ich,  Platz  zu  nehmen,  Herr  Graf. 
Der  Gerichtshof  würde  dann  wohl  kein  weiteres  Interesse 
mehr  haben.  Es  würde  ja  vielleicht  ganz  wünschenswerth 
für  den  guten  Glauben  sein,  wenn  Sie,  Herr  Angeklagter, 
uns  sagten,  was  Sie  gehört  haben,  so  einige  kleine  Züge  aus 
dem  Eheleben,  die  Sie  auch  dazu  gebracht  haben,  anzunelu 
men,  daß  Graf  Moltke  homosexuell  sei.  Ich  habe  ja  die 
Pflicht,  auch  Das  hervorzuheben,  was  für  den  Angeklagten 
spricht,  und  muß  Das  auch  als  Vorsitzender  herausholen  und 
deshalb  möchte  ich  Sie  bitten,  diese  Hauptmomente  uns  zu 
sagen  nach  der  Richtung. 

Harden:  Ich  darf  die  freundliche  Absicht  nicht  veri« 
kennen;  aber  ich  kann,  aus  oft  wiederholten  Gründen,  zur 
Ausführung  nicht  mitwirken.  Ich  habe  in  diesem  Augenblick 
nichts  weiter  zu  sagen. 

Lehmann:  Sie  machen  es  uns  schwer,  wirklich;  wir  wollen 
möglichst  objektiv  ein  Urtheil  fallen  und  auch  Das  wür^ 
digen,  was  für  den  Angeklagten  spricht,  und  es  ist  doch 

468 


Pflicht. . .  Nein.  Das  kann  ich  nicht  sagen.  Der  Angeklagte 
kann  thun  und  lassen»  was  er  will ;  aber  ich  meine,  er  sollte 
uns  doch  auch  Das  unterbreiten,  was  für  ihn  spricht. 

Harden:  Herr  Präsident,  wenn  ich  an  der  subjektiven 
Unbe&ngenheit  des  Hohen  Gerichtshofes  Zweifel  hätte,  so 
diirfte  ich  sie  nicht  aussprechen.  Ich  habe  aber  die  allerstärk^ 
sten  Zweifel  an  der  objektiven  Unbefangenheit  des  Gerichts^ 
hofes,  die  berechtigtsten  Zweifel;  denn  er  ist  an  die  Sache 
mit  einer  Meinung  herangetreten,  die  zu  finden  erst  Aufgabe 
der  Verhandlung  gewesen  wäre.  Mit  der  Meinung,  daß  in 
den  Artikeln  stehe,  Graf  Moltke  habe  sich  homosexuell 
bethätigt.  Das  hat  selbst  der  Staatsanwalt,  der  die  Anklage 
erhoben  hat,  nicht  behauptet.  Dieser  Gerichtshof  hält  es  ein^ 
fach  für  erwiesen.  Das  ist  die  Folge  einer  Massensuggestion. 
Nennen  Sie  es,  wie  Sie  wollen.  Sie  stellen  fest,  trotz  dem 
Widerspruch  beider  Parteien,  was  ich  gesagt  habe,  und  zwin# 
gen  dann,  abermals  gegen  unseren  eigenen  Protest,  den  Herrn 
Grafen,  in  eigener  Sache  zu  schwören.  Da  ist  für  mich  die 
Möglichkeit  einer  Mitwirkung  nicht  gegeben.  Ich  kann  in 
dieser  Verhandlung  nicht  eine  sehen,  die  auch  nur  irgend^ 
wie  dem  Interesse  des  Angeklagten  gerecht  wird.  Ich  sage 
Das  nur,  weil  ich  dazu  provozirt  worden  bin. 

Lehmann:  Sie  sollten  aber  jetzt  dem  Gerichtshof  doch 
Angaben  machen.  Sagen  Sie  uns  doch  nur  die  Momente,  die 
Sie  uns  in  der  früheren  Verhandlung  auch  mitgetheilt  haben. 

Harden:  Hier  giebts  doch  nur  zwei  Möglichkeiten. 
Entweder  den  unbarmherzigen  Kampf,  gegen  den  das  in 

469 


der  vorigen  Verhandlung  Vorgebrachte  (an  der  ich,  als 
Schwerkranker,  gar  nicht  mitwirken  konnte)  ein  sanftes 
Geplänkel  wäre,  oder  das  loyale  Beharren  auf  dem  Stande 
punkt,  auf  den  ich  mich  auf  Anregung  des  Herrn  Grafen 
und  seiner  Freunde  gestellt  habe.  Ein  Drittes  giebt  es  nicht 
Mein  guter  Glaube?  Darüber  soll  ich  reden?  Wenn  Sie 
den,  nach  allem  Geschehenen,  noch  diskutiren  wollen:  ich 
kann  Sie  nicht  hindern.  Aber  mitreden?  Ich  danke.  Wie 
die  Dinge  jetzt  stehen,  bleibt  nichts  übrig,  als  die  Plaidoyers 
zu  hören. 

Lehmann:  Es  bleibt  dann  wirklich  nichts  übrig.  Ich  hatte 
geho£ft,  daß  Sie  uns  die  Momente,  die  Sie  aus  dem  Eheleben 
gehört  haben,  darstellen  würden. 

Harden:  Herr  Präsident,  ich  vermag  offenbar  nicht  so, 
wie  ich  es  wünschte,  mich  verständlich  zu  machen.  Ich  würde 
doch  der  äußersten  Inkonsequenz  schuldig  werden.  Ich  habe, 
im  Einvernehmen  mit  dem  Herrn  Nebenkläger,  immer  wie^ 
der  gesagt:  Der  Vorwurf  ist  in  den  Artikeln  gar  nicht  ge^ 
macht  worden.  Nun  soll  ich  sagen:  Ich  habe  ihn  doch  ge«s 
macht  und  ich  hatte  die  und  die  Symptome  dafür.  Das 
könnte  ich  weder  vor  dem  Herrn  Grafen  noch  vor  mir  selbst 
rechtfertigen*    Und  deshalb  tue  ichs  nicht. 

Lehmann:  Nennen  Sie  uns  doch  die  Thatsachen,  die  Sie 
gehört  haben. 

Harden:  Wohin  kämen  wir  dann?  Zu  Dem,  was  ich 
nicht  will. 

Lehmann:  Das,  was  ich  will,  ist  zu  Ihren  Gunsten, 


470 


Harden:  Das  verkenne  ich  durchaus  nicht. 

Lehmann:  Es  wäre  gut,  wenn  Sie  sagten:  Das  und  Das 
war  mir  auflallig.  Da  die  friiheren  Aufstellungen  vom  Reichst 
gericht  aufgehoben  worden  sind,  müssen  wir  Etwas  haben, 
das  wir  fiirs  Urtheil  verwerthen  können. 

Harden:  Wenn  der  Gerichtshof  der  Meinung  ist,  daß  er 
irgendwelche  thatsächlichen  Feststellungen  noch  braucht,  für 
oder  gegen  den  Angeklagten,  so  hat  er  ja  die  Macht,  sie 
sich  zu  schaffen.  Ich  muß  meine  Mitwirkung  verweigern. 
Wir  sind,  Herr  Präsident,  eben  verschiedener  Meinung  über 
Das,  was  dem  Interesse  des  Angeklagten  entspricht.  Ich  bin 
der  Meinung,  der  Angeklagte  hat  in  diesem  Verfahren  nur 
das  Interesse,  nachzuweisen,  daß  in  seinen  Artikeln  (um  die 
allein  es  sich  heute  handelt)  homosexuelle  Bethätigung  des 
Grafen  Moltke  nicht  behauptet  worden  ist. 

Lehmann:  Aber  wenn  der  Gerichtshof  sich  auf  einen 
anderen  Standpunkt  stellt,  muß  ich  auch  in  diesem  Fall  für 
m^     den  Angeklagten  sorgen. 

Harden:  Volenti  non  fit  injuria. 

Lehmann:  Das  geht  nicht.  Wu:  sind  nicht  im  Civilpro^ 
zeßverfahren.  Das  wäre  für  das  Civilprozeßverfahren  richtig. 
Im  Strafprozeßverfahren  geht  es  nicht. 

Harden:  Ich  glaube  nicht,  daß  der  Herr  Präsident  irgend^ 
eine  Möglichkeit  hat,  mich  zu  veranlassen,  über  Dinge  zu 
sprechen,  über  die  ich  nicht  sprechen  will. 

Lehmann:  Nein.  Wir  können  den  Angeklagten  nicht 
zwingen,  zu  sagen,  was  zu  seinem  Gunsten  spricht.  Das  ist 

471 


richtig.  Aber  es  wäre  verständig,  wenn  er  es  thäte  und 
so  dazu  beitrüge,  daß  das  Urtheil  der  Sachlage  entspricht. 

Harden:  Herr  Präsident,  wenn  der  Gerichtshof  nach 
Allem,  was  er  hier  gehört  und  auch  gesehen  hat,  die  Grunde 
läge  für  ein  gerechtes  Urtheil  noch  nicht  gefunden  hat .  .  . 

Lehmann:  Ja,  jedes  Urtheil  muß  aber  begründet  werden, 
läßt  sich  nur  auf  Thatsachen  begründen,  die  in  der  Verbands 
lung  vorgeführt  worden  sind.  "Wir  haben  bis  jetzt  nach  der 
Richtung  keine  greifbaren  Thatsachen. 

Harden:  Es  giebt  noch  eine  Partei  in  diesem  Prozeß:  die 
Anklagebehörde.  Der  Herr  Vertreter  der  Anklagebehörde 
muß  doch  wohTOen  Eindruck  haben,  was  hier  vorliegt,  genüge ; 
sonst  würde  er  versuchen,  durch  Zeugenaussagen  das  ihm  nöthig 
Scheinende  feststellen  zu  lassen.  Ueber  die  Nothwendigkeit 
kann  man  offenbar  also  verschiedener  Meinung  sein. 

Lehmann:  Ich  wollte  eine  weitere  Beweisaufnahme  eben 
vermeiden  und  deshalb  hören,  was  Sie  uns  sagen.  Wii  könn^ 
ten  Ihnen  dann  ja  Glauben  schenken  und  ein  Urtheil  auf 
Grund  Ihrer  Angaben  fallen. 

Harden:  Das  ist  ja  recht  freundlich  gemeint.  Aber  da 
den  Angaben,  die  ich  mit  Einsetzung  meiner  seelischen  Kraft 
hier  gemacht  habe,  nicht  geglaubt  worden  ist:  warum  sollte 
mir  geglaubt  werden,  wenn  ich  erzählte,  was  die  frühere  Ehe^ 
frau  und  deren  Verwandte  mir  berichtet  haben? 

Lehmann:  Ich  meine,  Sie  könnten  es  versuchen. 

Harden:  Welche  Rolle  soll  ich  dem  anwesenden  Herrn 
Nebenkläger  gegenüber  spielen?  Seit  dem  neunzehnten  März 

472 


ist  von  uns  Beiden  der  Wunsch  ausgesprochen  worden,  diese 
Erörterung  möge  vermieden  werden.  Der  Herr  Nebenkläger 
hat  Alles  gethan,  was  er  thun  zu  können  glaubte,  um  sie  zu 
vermeiden.  Er  hat  auch  nicht  gewünscht,  hierher  zu  kommen 
und  auszusagen.  Nun  soll  ich  die  Geschichte  wieder  an^ 
£ingen?  Neben  Strafgesetzbuch  und  Strafprozeßordnung 
giebt  es  noch  ein  Gesetzbuch  der  Anstandsbegriffe.  Wenn 
ich  im  Nebenzimmer  mich  mit  einem  Gentleman,  dem  ich 
mich  im  Rang  gleich  fiihle,  verglichen  habe,  ists  doch  nicht 
anstandig,  hier  nun  zu  tuscheln:  Ich  habe  es  in  den  Artikeln 
zwar  nicht  gesagt,  aber  bedenklich  ist  die  Sache  doch,  wie 
Sie  gleich  hören  werden. 

Lehmann:  Ich  begreife  nicht,  warum  Sie  die  Thatsachen, 
die  Sie  schon  einmal  angeführt  haben,  nicht  noch  einmal  er^ 
wähnen  wollen,  um  uns  den  Beweis  zu  erleichtem.  Sie 
mibsen  bedenken,  daß  es  der  selbe  Gerichtshof  ist,  der  hier 
sitzt;  wenigstens  zum  Theil.  Sie  hätten  vielleicht  Recht, 
wenn  ein  ganz  anderer  Gerichtshof  hier  säße.  Wu:  müssen 
feststellen,  wie  weit  die  Sache  jetzt  milder  liegt  als  früher, 
und  dazu  brauchen  wir  Handhaben. 

Harden:  Ich  bitte,  mir  zu  glauben,  daß  meine  Ueber^ 
Zeugung  eben  so  fest  begründet  ist  wie  die  des  Herrn ' Vor^ 
sitzenden.  Ich  beharre  nicht  aus  Eigensinn,  um  Recht  zu 
behalten,  auf  meinem  Standpunkt.  Unsere  Auf&ssungen 
sind  eben  verschieden.  Das  kommt  im  Leben  nicht  selten  vor. 

Lehmann:  Wir  möchten  aber  einige  Thatsachen,  die  Sie  ge^ 
hört  haben  und  die  Sie  uns  geben  können,  wenn  Sie  nur  wollen. 

473 


Harden:  Das  wäre  viel  zu  schwach.  Sie  können  einem 
Mann,  der  im  politischen  Leben  irgendwelche  Bedeutung 
hat,  doch  nicht  zumuthen,  er  solle  sich  vor  dem  Strafgericht 
als  Angeklagter  auf  da  odpr  dort  Gehörtes  berufen. 

Lehmann:  Sie  haben  es  uns  voriges  Jahr  gesagt. 

Harden:  Das  war  eine  ganz  andere  Situation.  Und  auch 
damals  (ich  habe  die  Erklärung  hier  in  meiner  Mappe)  habe 
ich  gesagt:  Die  Sache  ist  politisch  erledigt,  ich  mll  keine 
Beweisaufnahme.  Frau  von  Elbe  war  nicht  von  mir,  sondern 
von  der  Staatsanwaltschaft  geladen,  die  sich  die  Aufgabe 
gestellt  hatte,  die  Glaubwürdigkeit  dieser  Dame  zu  erschüt^ 
tem.  Was  damals  geschehen  mußte,  braucht  heute  nicht  zu 
geschehen. 

Lehmann:  Aber  Sie  können  mir  doch  wenigstens  be^ 
stätigen,  daß  in  der  münchener  Hauptverhandlung  die  zwei 
Zeugen  Ernst  und  Riedel  beschworen  haben,  sie  hätten  mit 
Eulenburg  homosexuell  verkehrt. 

Harden:  Das  ist  ja  gerichtsnotorisch. 

Lehmann:  Nun  konstatire  ich  aus  dem  vorigen  Prozeß, 
daß  Sie  für  Das,  was  Sie  gesagt  haben,  als  Grundlage  hatten 
Aeußerungen  des  Fürsten  Bismarck,  Erzählungen  aus  dem 
ehelichen  Leben,  die  Ihnen  von  Frau  von  Elbe  mitgetheilt 
waren,  und  Thatsachen,  die  Sie  aus  den  Handakten  der  an 
der  Ehescheidung  mitwirkenden  Anwälte  kannten.  Ich  muß 
aber  weiter  (ich  hole  Das  wieder  zu  Ihren  Gunsten  heraus) 
konstatiren,  daß  wir  jetzt  wissen:  Sie  hatten  außer  dieseh 
Unterlagen  noch  andere,  sehr  viel  festere.  Nach  dieser  Kon^ 

474 


statirung  brauchen  wir  darüber  keinen  Beweis  mehr  und  es 
wäre  jetzt  nur  noch  wiinschenswerth,  daß  Sie  uns  Einiges 
aus  dem  Eheleben  des  Grafen  Moltke  erzählten.  Aber  ich 
glaube,  Das,  was  jetzt  erörtert  ist  und  was  Sie  bestätigt 
haben,  kann  genügen. 

Preuß:  Daß  gegen  den  Fürsten  Eulenburg  wegen  Mei^ 
neids  Anklage  erhoben  und  das  Hauptverfahren  eröffiiet 
worden  ist,  ist  ja  gerichtsnotorisch. 

Harden:  Ich  bedaure,  noch  einmal  zum  Reden  gezwungen 
zu  sein.  Aber  ich  habe  nichts  erzählt  und  nichts  bestätigt. 
Ich  muß  bitten,  mir  keinerlei  Erklärung  zu  unterstellen,  aber 
sich  auch  nicht  auf  Dinge  zu  berufen,  die  in  einem  vom 
höchsten  Gerichtshof  ausgelöschten  Verfahren,  wirklich  oder 
angeblich  festgestellt  worden  sind.  Ueber  die  »Unterlagen« 
meiner  Artikel  habe  ich  Ihnen  bisher  nicht  das  Allergeringste 
gesagt  und  die  münchener  Gerichtsverhandlung  gar  nicht 
erwähnt;  trotzdem  dort  die  Zeugen  ja  nicht  nur  über  den 
Fürsten  Eulenburg  ausgesagt  haben. 

Lehmann:  MC^r  kommen  nun  zu  den  Schlußreden.  Herr 
Oberstaatsanwalt! 

Preuß:  Wir  haben  heute  unter  dem  Einfluß  und  Eindruck 
der  zwischen  dem  Herrn  Angeklagten  und  dem  Herrn  Neben:* 
kläger  zu  Stande  gekommenen  Vergleiche  verhandeln  dürfen. 
Ich  spreche  zunächst  meine  Freude  darüber  aus,  daß  ein 
solcher  Vergleich  zu  Stande  gekommen  ist,  der  uns  diese 
verhältnißmäßig  ruhige  Verhandlung  erlaubt  hat.  Wenn  der 
Wille  der  beiden  Unterzeichner  des  Vergleiches  voll  und 

475 


ganz  wirksam  geworden  wäre,  dann  wäre,  wie  der  Herr 
Vertreter  des  Nebenklägers  uns  hier  gesagt  hat,  der  Stra£t 
antrag  zurückgenommen  und  das  Verfahren  eingestellt  wor» 
den.  Paragraph  64  StGB  läßt  nun  allerdings  nicht  zu,  daß 
diesem  Farteiwillen  Folge  gegeben  werde.  Immerhin,  glaube 
ich,  wird  man,  von  diesem  Vergleich  ausgehend,  nochmals 
nachzuprüfen  haben,  inwieweit  es  möglich  ist,  das  Gesetz 
mit  diesem  zum  Ausdruck  gebrachten  Farteiwillen  in  Ein^ 
klang  zu  bringen.  Ich  möchte  zunächst  dem  Herrn  Ange^ 
klagten  das  Zeugniß  ausstellen,  daß  nach  meiner  persona 
liehen  Ueberzeugung  er  bei  sämmtlichen  Artikeln  von  durchs 
aus  ehrenwerthen,  durchaus  patriotischen  Erwägungen  aus 
gehandelt  hat.  Ich  fiige  noch  hinzu,  daß  auch  der  Verdacht 
der  Sensationlust,  der  im  vorigen  Urtheil  erhoben  ist,  meiner 
Ansicht  nach  nicht  zutrifft,  sondern  widerlegt  wird  durch 
die  Artikel  selbst.  Da  aus  den  Artikeln  unzweideutig  her^ 
vorgeht,  daß  der  Herr  Angeklagte  diese  Sensation  hat  ver^ 
meiden  wollen,  daß  er  die  Absicht  gehabt  hat,  nicht  Jedem 
verständlich  zu  sein,  sondern  nur  Denen,  die  es  anging,  um 
sie  zu  warnen  und  zum  Fortbleiben  von  der  Folitik,  zum 
Weggehen  ins  Ausland  zu  bestimmen.  Wenn  ich  von  diesen 
Erwägungen  ausgehe  und  hinzunehme,  daß  der  Mann,  der 
durch  die  Drohung  des  Herrn  Angeklagten  am  Meisten 
gefährdet  war,  entfernt  worden  ist,  so  muß  ich  zu  der  Fol^ 
gerung  kommen,  daß  die  Artikel  in  der  Hauptsache  gegen 
diesen  gefahrlichen  Mann  sich  gerichtet  haben  und  daß  die 
übrigen  Fersonen,  die  in  den  Artikeln  erwähnt  sind,  nur 

476 


nebenher,  so  weit  es  zu  den  Zwecken,  die  der  Herr  Ange^ 
klagte  verfolgte,  noth wendig  war,  erwähnt  wurden.  Und 
wenn  man  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  die  einzelnen  Ar# 
tikel  ansieht,  dann  scheint  mir  doch  zweifelhaft,  ob  das  Ge^ 
rieht  bei  den  friiheren  Feststellungen  wird  bleiben  können 
und  ob  nicht  wenigstens  zum  größten  Theil  die  Erklärungen, 
die  der  Herr  Angeklagte  heute  abgegeben  hat,  vollen  Glau^ 
ben  finden  müssen. 

(Der  Herr  Oberstaatsanwalt  erörtert  nun  die  einzelnen 
Sätze  und  erklärt,  daß  er  in  fünf  der  inkriminirten  Artikel 
eine  irgendwie  strafbare  Beleidigung  nicht  finde.  Bleiben 
die  Artikel  vom  achten  Dezember  1906,  vom  dreizehnten 
und  vom  siebenundzwanzigsten  April:  »Abfuhr«,  »Monte 
Carlino«,  »Roulette«.) 

Diese  Artikel  allein  könnten  fiir  die  Frage  einer  fortge^ 
setzten  Beleidigung  in  Frage  kommen  und  begriflFlich  und 
rechtlich  läßt  sich  dagegen  auch  dann  nichts  sagen,  wenn 
man  in  Erwägung  zieht,  daß  zwischen  dem  achten  Dezember 
und  dem  nächsten  Artikel  vom  dreizehnten  April  ein  Zeit^ 
räum  von  vier  Monaten  liegt.  Es  firagt  sich  nun,  ob  in  diesen 
Artikeln  der  Vorwurf  der  Homosexualität  erhoben  ist  und 
ob  man  eine  fortgesetzte  Handlung  hierin  sehen  muß.  Diese 
Frage  wird  der  Gerichtshof  zu  beantworten  haben.  Ich 
glaube,  er  wird,  wie  im  vorigen  Prozeß,  sagen,  daß  zwar 
der  Vorwurf  nicht  ausdrücklich  gemacht  ist,  daß  aber  die 
Möglichkeit  vorliegt,  einen  solchen  zu  finden,  und  wird  mit 
dem  Eventualdolus,  wenn  ich  so  sagen  darf,  wieder  operiren, 

477 


wie  im  vorigen  Prozeß.  Und  fiir  diesen  Fall,  den  ich  ja  als 
möglich  voraussetzen  muß,  sehe  ich  mich  genöthigt,  auch  auf 
die  Frage  des  Strafmaßes  einzugehen,  und  da,  meine  ich, 
kommen  für  den  Herrn  Angeklagten  gegei\über  dem  vorigen 
Urtheil  eine  Reihe  von  Thatsachen  zur  Erwägung,  die  es  mei^ 
ner  Meinung  nach  ausschließen,  daß  gegen  den  Herrn  An<( 
geklagten  nochmals  auf  eine  Gefiingnißstrafe  erkannt  wird. 
Ich  bin,  wie  ich  bereits  hervorgehoben  habe,  überzeugt,  daß 
der  Herr  Angeklagte  von  patriotischen  Erwägungen  ausge^ 
gangen  und  daß  er  auch  nicht  in  irgendeiner  Beziehung 
leichtfertig  dabei  zu  Werke  gegangen  ist.  Das  geht  klar  aus 
Allem  hervor,  was  inzwischen  geschehen  ist.  Das  allein  muß 
zur  Evidenz  nachweisen,  daß  der  Angeklagte  nicht  leicht« 
fertig  mit  seinen  Angriffen  vorgegangen  ist,  daß  er  sich 
wohl  und  reiflich  überlegt  hat,  wie  weit  er  gehen  könne, 
und  daß  er  höchstens  eines  entschuldbaren  Versehens  schuld 
dig  wäre,  wenn  er  aus  den  engen,  nahen  Beziehungen  zwi^ 
sehen  dem  Grafen  Moltke  und  dem  Fürsten  Eulenburg  ge# 
schlössen  hätte,  daß  auch  der  Herr  Nebenkläger  sich  irgend^ 
wie  homosexuell  bethätigt  habe.  Nur  Das  wird  gegen  ihn 
festzustellen  sein;  weiter  nichts.  Dazu  kommt,  daß  der  Herr 
Nebenkläger  durch  seinen  Herrn  Vertreter  hier  erklärt  hat, 
daß  er  sich  befriedigt  fiihlt,  daß  er  sich  nicht  beleidigt  (uhlt, 
daß  er  am  Liebsten  den  Strafantrag  zurückgezogen  hätte. 
Das  wäre  möglich  gewesen,  wenn  die  Staatsanwaltschaft,  die 
damals  dem  Grafen  Moltke  beispringen  wollte,  sich  nicht  in 
das  Verfahren  gemischt  hätte.  Nur  durch  den  Umstand,  daß 

478 


ein  öffentliches  Verfahren  anhängig  geworden  ist,  ist  die 
Absicht  der  Parteien,  den  Streit  zu  beenden,  unausfiihr^ 
bar  geworden,  und  ich  glaube,  daß  der  Gerichtshof  auch 
hierauf  Rücksicht  nehmen  muß.  Ich  beantrage  gegen  den 
Angeklagten  eine  Geldstrafe  von  sechshundert  Mark,  die 
Einziehung  der  Artikel,  die  beanstandet  werden,  nach  meii^ 
ner  Ansicht  nur  die  von  mir  erwähnten  drei  Artikel,  und 
beantrage  die  Auferlegung  der  Kosten,  wie  es  im  vorigen 
Urtheil  bereits  geschehen  ist. 

Lehmann:  Der  Herr  Vertreter  des  Nebenklägers! 

Sello:  Ich  habe  nur  nochmals  zu  erklären,  daß  mein  Herr 
Klient  mit  dem  Herrn  Angeklagten  in  der  Anerkennung  der 
Thatsache  übereinstimmt,  der  Vorwurf  der  Homosexualität 
sei  in  den  Artikeln  dem  Grafen  Moltke  nicht  gemacht.  Eine 
andere  Erklärung  ist  in  diesem  Stadium  nicht  abzugeben. 

Lehmann:  Der  Herr  Vertheidigerl 

Bernstein:  Ich  bitte,  mir  die  Möglichkeit  zu  einer  Btf 
sprechung  mit  Herrn  Harden  zu  geben,  damit  wir  be# 
schließen  können,  ob  wir  noch  Anträge  stellen. 

Lehmann:  Wir  machen  also  eine  kurze  Pause. 

(Nach  der  Pause  plaidirt  Bernstein.  Er  stellt  fest,  daß 
für  die  Annahme,  dem  Nebenkläger  sei  in  den  Artikeln 
Homosexualität  vorgeworfen  worden,  nicht  der  Schatten 
eines  Beweises  erbracht  worden  ist,  und  betont  stark,  daß 
jeder  Angeklagte,  selbst  der  obskurste,  erst  recht  aber  einer 
von  Ruf  und  Ansehen ,  verlangen  dürfe ,  nicht  ohne  Beweis 
(br  unglaubwürdig  gehalten  und  verurtheilt  zu  werden.) 

479 


In  dubio  pro  reo.  Wie  viele  verschiedene  Ansichten  haben 
wir  nun  über  diese  Artikel  und  ihre  Interpretation  schon 
gehört!  Zuerst  hat  die  Staatsanwaltschaft  das  Eingreifen  ah* 
gelehnt,  dann  hat  sie  eingegriffen.  Jetzt  würde  sie  sicher 
nicht  mehr  eingreifen,  denn  die  Ereignisse  haben  sie  gelehrt, 
daß  die  früheren  Voraussetzungen  falsch  waren.  Der  Herr 
Oberstaatsanwalt  findet  die  Behauptung  höchstens  in  drei 
Artikeln  angedeutet.  Und  darauf  wollen  Sie  ein  verurthei« 
lendes  Erkenntniß  bauen?  Meine  verehrten  Herren,  es  ist 
absolut  nichts  Verletzendes  für  Sie,  wenn  ich  sage:  Sie 
können  die  Artikel  gar  nicht  mehr  objektiv  lesen,  weil  sie 
Ihnen  von  Anfang  an  in  einer  bestimmten  Beleuchtung  ge^ 
zeigt  worden  sind.  Sie  haben  immer  nur  auf  die  paar  Sätze 
geachtet,  die  inkriminirt  worden  waren.  Wenn  Sie  die  dahin 
gehörigen  Zeilen  zusammenzählen,  haben  Sie  aber  erst  den 
hundertzwanzigsten  Theil  dieser  Artikel,  von  denen  jeder 
als  ein  Ganzes  genommen  werden  müßte.  Niemals  bin  ich 
an  der  Herrschaft  der  gesunden  Vernunft  so  irr  geworden 
wie  in  den  Stunden,  wo  ich  gesehen  und  gehört  habe,  wie 
Herr  Harden  mit  dem  Aufgebot  all  seiner  geistigen  Mittel, 
all  seiner  Ausdruckskunst  sich  vergebens  bemüht  hat,  eine 
sonnenklare  und  unbestreitbare  Thatsache  festzustellen,  die 
allein  die  ganze  Anklage  in  Trümmer  schlägt.  Wenn  die 
Artikel  so  verstanden  wären,  wie  hier  immer  wieder  behaup^ 
tet  wird:  wo  sind  die  Klagen,  die  Herausforderungen,  die 
Anzeigen  ans  Ehrengericht,  die  dann  doch  kommen  mußten? 
Haben  die  hohen  Herren  solche  Beleidigung   etwa  ruhig 

480 


eingesteckt?  Und  wo  sind  die  Zeitungartikel,  die  sich  in 
dieser  Zeit  mit  der  Sache  beschäftigt  haben?  Sicher  nicht 
unsere  ganze  Presse,  aber  ein  großer  Theil  unserer  Presse  ist 
auf  Sensation  erpicht;  auf  diese  Herren  paßt  das  Wort,  über 
dem  Herr  Harden  thurmhoch  steht.  Glauben  Sie,  daß  Die 
nicht  einen  Riesenlärm  gemacht  hätten,  wenn  sie  in  der 
»Zukunft«  die  Behauptung  gefunden  hätten,  die  bekannt 
testen  Hofherren  seien  homosexueller  Vergehen  schuldig? 
Sie  haben  sie  nicht  gefunden;  und  haben  deshalb  ge^ 
schwiegen.  Vom  Oktober  bis  in  den  Mai.  Bis  die  Herren 
vom  Hof  entfernt  waren  und  nun  Allerlei  in  die  Artikel 
hineingelesen  wurde,  was  gar  nicht  drin  stand. 

Psychologische  Thatsachen  sind  doch  auch  nicht  zu  über^ 
sehen.  Ich  kann  Herrn  Harden  nachfühlen,  wie  es  ihn  er^ 
bittert,  wenn  man  die  offene  Deutung  seiner  Artikel  an# 
zweifelt.  Ich  meine,  von  jedem  Standpunkt  aus  sollte  man 
sich  darüber  freuen,  daß  die  Deutschen  einen  solchen  Schrift^ 
steller  haben,  und  man  soll  ihm  glauben,  wenn  er  über 
Dinge  spricht,  die  in  die  vielleicht  schwerste  Zeit  seines 
Lebens  £dlen.  Ich  begreife  Hardens  Empörung.  Er  hat  den 
Muth  zu  der  patriotischen  Pflicht  gehabt,  den  mächtigsten 
Günstling  offen  und  furchtbar  hart  anzugreifen,  weil  er  ihn 
für  schädlich  hielt,  und  soll  nun  seine  Worte,  ohne  Gegeni^ 
beweis,  immer  wieder  anzweifeln  lassen.  Lesen  Sie  die  Sätze, 
in  denen  er  auf  Phihpp  Eulenburg  hinweist  1  Da  spüren  Sie 
nicht  den  Dolch  des  Briganten,  sondern  die  stählerne  Klinge 
des  furchtlosen  Ritters.    Wir  könnten  Gott  danken,  wenn 

31.  tu  481 


wir  in  Deutschland  viele  politische  Schriftsteller  hatten,  einer# 
lei,  welcher  Richtung,  die  solche  Männerworte  in  ihrem  Kopf 
und  in  ihrem  Herzen  finden.  Der  Mann,  der  diese  Sätze 
geschrieben  und  der  heute  zu  ihnen  gesprochen  hat,  darf 
fordern,  daß  seiner  Interpretation  geglaubt  werde.  Warum 
hätte  er,  der  dem  starken  Eulenburg  so  offen  entgegentrat, 
den  viel  schwächeren  Moltke  furchten  sollen?  Ich  meine, 
der  Mann  steht  hoch  über  allen  Interpretationkiinsten  1 
Zeigen  Sie  mir  doch  den  Mann  in  Deutschland,  der  die 
Wahrheit  so  zu  rechter  Zeit  gesagt  hat,  in  einer  Zeit,  wo 
Muth  dazu  gehörte,  nicht  getragen  von  der  Woge  des  Bei# 
falls,  sondern  in  hartem  Kampf  gegen  den  Strom.  Zeigen 
Sie  mir  doch  den  zweiten  MannI  Könnten  Sie  mir  ihn 
nennen,  wenn  ich  Sie  privatim  danach  fragte?  Sie  könnten 
es  nicht.  Das  Recht  darf  sich  mit  der  Moral  nicht  in  Widern 
Spruch  setzen  und  die  Moral  gebietet,  diesem  Manne  Ge# 
rechtigkeit  widerfahren  zu  lassen  und  zu  sagen:  Du  hast  ge« 
zeigt,  daß  Du  die  schlimmste  Ge£üir  nicht  scheust,  und 
wenn  Du,  Maximilian  Harden,  uns  erklärst:  Ich  habe  Das 
nicht  gesagt,  dann  sind  wir  verpflichtet,  Dir  zu  glauben. 
Geben  Sie  Herrn  Harden  ein  Urtheil,  bei  dem  er  als  Ehren^ 
mann  sich  beruhigen  kann,  das  ihn  nicht  nöthigt,  den 
Schleier  noch  weiter  zu  lüften,  und  freuen  Sie  sich  des 
Rechtes,  diese  Sache  so  zu  beenden  1  Herr  Harden  hat  mich 
gebeten,  über  Strafart  und  Strafinaß  kein  Wort  zu  sagen. 
Wie  Sie  auch  urtheilen  mögen:  der  Satz,  mit  dem  ich 
schließen  will,  wird  von  keinem  Unparteiischen  bestritten  und 

482 


^  1 


von  der  höchsten  Instanz,  von  der  Geschichte,  bestätigt 
werden.  Der  Satz:  In  der  Sache,  die  ihn  heute  zum  vierten 
Mal  vor  ein  deutsches  Gericht  bringt,  hat  Maximilian  Harden 
sich  um  das  Deutsche  Reich  und  das  deutsche  Volk  unver^ 
gängliche  Verdienste  erworben. 

Lehmann:  Der  Herr  Angeklagte  hat  das  Schlußwort 

Harden:  Ich  bitte  zunächst,  noch  fiir  einen  Augenblick 
in  die  Beweisaufnahme  zurückzukehren.  Ich  möchte  den 
Grafen  Moltke,  der  hier,  gegen  seinen  und  meinen  Wunsch, 
als  Zeuge  beeidet  worden  ist,  fragen,  ob  er  zugiebt,  daß  ich 
meine  Artikel  richtig  interpretire  und  daß  ihm  darin  der  Vor^ 
wurf  der  Homosexualität  nicht  gemacht  worden  ist 

Moltke:  Den  direkten  Vorwurf  der  Homosexualität  aus 
einem  Wort,  einem  Satz  oder  aus  dem  Zusammenhang  direkt 
herauszulesen.  Das  nicht  Die  Schwierigkeit  (lir  mich  war  ja 
die,  daß  ich  im  Zusammenhang  mit  anderen  Personen,  nament^ 
lieh  dem  Fürsten  Eulenbuj^,  in  gewisser  Weise  abfiirbte  und 
das  Gefühl  hatte,  in  der  Oeffentlichkeit  das  Terrain  zu  verlieren. 

Harden:  Ich  bin  wohl  nicht  verstanden  worden.  Ich 
frage,  ob  Graf  Moltke  jetzt,  wie  er  dturch  seine  Unterschrift 
bestätigt  hat,  überzeugt  ist,  daß  er  in  diesen  Artikeln  nicht 
der  Homosexualität  beschuldigt  wturde. 

Moltke:  Der  direkte  Vorwurf  der  Homosexualität  nicht, 
wie  ich  gesagt  habe. 

Lehmann:  Ich  werde  den  Vergleich  noch  einmal  verlesen. 
(Geschieht)  Diesen  Vergleich,  Herr  Graf,  haben  Sie  ge^ 
schlössen? 

»•  483 


Moltke:  Ich  nahm,  ohne  zu  widersprechen,  diese  Eu 
klärung  an*),  um  dann  mit  Herrn  Harden  zu  dem  Punkt  zu 
kommen,  daß  jede  weitere  Zeugenvernehmung  fiir  über# 
flüssig  zu  erachten  ist,  um  diesen  schweren,  langen  Streit 
aus  der  Welt  zu  schaffen,  nicht  nur  zur  eigenen  Ruhe,  son^ 
dem  auch  zur  Ruhe  des  Landes,  das  wohl  Dessen  bedarf. 
Das  ist  so  mein  Gedankengang.  Ich  hätte  überhaupt  wohl 
verzichtet  auf  ein  prozessuales  Vorgehen  hier,  wenn  mir 
möghch  gewesen  wäre,  Kriegsgericht  und  Ehrengericht  gegen 
mich  durchzusetzen,  was  aber  nicht  bestimmungsgemäß,  nicht 
gesetzhch  möglich  war,  und  ich  habe  dann  den  Weg  der 
Privatklage  beschritten,  um  in  breiter  Oeffentlichkeit  meine 
Unbescholtenheit  darzuthun.  Das  sind  die  Ideen  gewesen. 
Um  aber  jetzt,  nachdem  ich  zwei  Jahre  einer  solchen  un# 
glücklichen  Ehe  gehabt  und  dann  sechs  Jahre  prozessirt 
habe,  und  dann  diese  zwei  schwere  Jahre  hinter  mir 
habe,  wo  ich  in  der  Oeffentlichkeit  durch  die  Sensationpresse 
auch  ziemlich  schwer  mitgenommen  wurde,  um  zu  der  Ruhe 
und  dem  Frieden  zu  kommen,  nach  dem  man  in  meinen 
Jahren  sich  sehnt,  habe  ich  mich  gefreut,  bin  ich  dankbar 
gewesen,  wie  ein  Vermittler,  der  mir  wohlbekannt  aus  frühem 
ren  Jahren  ist,  mir  gesagt  hat,  daß  er  gern  dazu  beitragen 
würde,  diejenige  Form  zu  finden,  in  der  dieser  Streit,  in  der 
dieser  Prozeß  vielleicht  eine  kurze,  rasche  Erledigung  fände. 
In  dieser  Weise  ist  die  Sache  ausgetragen  worden. 


-«■ 


^  Graf  Moltke  hat  sie  am  neunzehnten,  Harden  erst  am  einund# 
awanzigsten  März  des  Jahres  1909  unterschrieben. 

484 


Harden:  Das  ist  Alles,  was  Graf  Moltke  über  die  EnU 
stehung  des  Vergleichs  hier  in  seiner  Eigenschaft  als  beeideter 
Zeuge  vorzubringen  hat?  Das  ist  Alles? 

Moltke:  Ja,  so  ist  es  mir  erinnerlich. 

Harden:  Danke.  Der  Herr  Zeuge  sprach  von  der  Sen^ 
sationpresse.  Sollte  damit  gesagt  sein:  »Beleidigt  bin  ich 
nicht  von  Harden,  sondern  von  der  Sensationpresse«?  Ist 
Das  gemeint? 

Moltke:  Die  Sensationpresse  hat  mich  nach  meiner  Ver# 
abschiedung  sehr  mitgenommen  und  mich  zum  Päderasten 
einer  Hofkamarilla  gestempelt,  wogegen  nachher  Herr  Harden 
in  seiner  »Zukunft«  protestirt  hat.   Was  habe  ich  denn  gesagt? 

Harden:  Herr  Graf  von  Moltke,  ich  bitte,  mich  nicht 
wieder  mißzuverstehen.  Auch  dieser  Funkt  ist  wichtig. 
Liegt  nicht  eine  Aeußerung  des  Grafen  Kuno  Moltke  vor, 
worin  er  sagt:  Beleidigt  bin  ich  nicht  von  Harden,  sondern 
von  der  Sensationpresse. 

Moltke:  Ich  kann  mich  nicht  erinnern. 

Harden:  Ich  kann  mich  erinnern.  Und  frage  heute  nur 
noch:  Meint  Graf  Moltke  jetzt,  daß  er  von  der  Sensationpresse 
beleidigt  worden  ist? 

Moltke:  Durch  den  Schmutz  bin  ich  gezogen  worden. 

Harden:  Von  wem? 

Moltke:  Von  der  Sensationpresse. 

Harden:  Danke.  Ich  habe  nun  keinen  Grund  mehr,  den 
Herrn  Grafen  hier  im  Saal  festzuhalten. 

Lehmann:  Wünschen  Sie  wegzugehen,  Herr  Graf? 

485 


Moltke:  Ich  könnte  es  aushalten;  aber  lieber  ist  es  mir, 
wenn  ich  mich  ein  Bischen  hinlegen  kann. 

(Der  Zeuge  wird  entlassen.) 

Harden:  Ich  werde  Ihre  Geduld  nicht  lange  in  Anspruch 
nehmen.  'Wahrend  der  kurzen  Pause,  die  er  erbeten  hatte, 
hat  Justizrath  Bernstein  mich  daran  erinnert,  daß  jetzt  die 
letzte  Gelegenheit  zur  Einbringung  des  fiir  alle  Fälle  von 
ihm  vorbereiteten  umfangreichen  Beweisantrages  gekommen 
sei;  wenn  ich  sie  versäume,  könne  ich  mich  der  Gefahr  aus^ 
setzen,  zum  zweiten  Mal  objektiv  ungerecht  verurtheilt  zu 
werden;  gewisse  Andeutungen,  die  wir  hier  gehört  haben, 
lassen  ja  darauf  schließen.  Der  Herr  Oberstaatsanwalt  hat 
schon  vor  der  Verlesung  des  Eröffnungbeschlusses  von  der 
Strafzumessung,  der  Herr  Vorsitzende  nachher  von  der  Ver# 
urtheilung  gesprochen,  zu  der  er  eine  bestimmte  »Feststellung«^ 
brauche.  Bitte :  es  war  mehr  als  eine  Wortverwechselungl  Bem# 
stein  meinte,  ich  könne  vielleicht  später  meine  Zurückhaltung 
bereuen.  Ich  habe  geantwortet:  Ich  werde  den  Beweisantrag 
nicht  einbringen,  sondern  auf  der  Basis  meiner  Artikel  und 
der  Ausgleichserklärungen  bleiben.  Was  ist  bis  jetzt  ge# 
schehen?  Irgendein  Versuch,  mir  nachzuweisen,  in  den 
Artikeln  stehe  Anderes,  als  ich  angegeben  habe,  ist  nicht 
gemacht  worden.  Früher  hat  man  versucht,  durch  die  Heram^ 
Ziehung  von  angeblichen  oder  wirklichen  Privatäußerungen 
sich  eine  Art  von  Beweis  zu  schaffen;  weil  man  einsah,  daß 
die  Artikel  allein  zur  Verurtheilun^  nicht  ausreichen.  Der 
Versuch  ist  heute  nicht  wiederholt  worden.    Man  hat  die 


486 


Herren,  deren  Zeugnifi  mich  belasten  sollte,  nicht  gehört; 
hat  sie  nach  Haus  geschickt.  Also:  nicht  der  Schatten  eines 
Beweises,  der  meine  Angaben  widerlegen  könnte.  Was  ist 
weiter  geschehen?  Der  Herr  Vertreter  der  Anklage  hat  gei^ 
sagt,  man  dürfe  und  könne  nicht  bezweifeln,  daß  nur  patrio« 
tische,  also  durchaus  edle  Motive  mich  zu  einem  Handeln 
getrieben  haben,  das  allen  niedrigen  Regungen  fem  geblieben 
sei.  In  zwei,  drei  Artikeln,  meinte  er,  könne  man  allenfalls 
etwas  Beleidigendes  finden.  Ich  muß  annehmen,  daß  er  nur 
auf  die  Stimme  seines  Gewissens  gehört,  nur  seiner  Pflicht  zu 
genügen  geglaubt  hat,  als  er  diese  Behauptung  aussprach, 
die  ich  fiir  falsch  halte,  und  danach  einen  Stra£intrag  stellte, 
der  mich,  wie  ich  heute  schon  oft  gesagt  habe,  an  der  ganzen 
Sache  am  Wenigsten  interessirt.  Und  diese  Thatsachen  sollen 
mich,  lieber  Bernstein,  bestimmen,  heute  und  hier  Das  zu 
entfesseln,  was  ich  entfesseln  müßte,  um  endlich  einmal  von 
Grund  aus  aufzuräumen?  Nein,  noch  habe  ich  ein  Kollegium 
von  fünf  Männern  vor  mir,  das  nicht  gesprochen  hat.  Das 
hat  jetzt  den  Thatbestand  zu  prüfen.  Eine  Reihe  hoch^ 
politischer  Artikel  mit  kleinen  Randbemerkungen  über  den 
Grafen  Moltke;  kleinen  Spritzern.  Es  hat  die  schriftliche 
Erklärung  dieses  Grafen  Moltke,  daß  ihm  in  diesen  Artikeln 
der  berüchtigte  Vorwurf  nicht  gemacht  worden  ist.  Es  hat 
die  Erklärung  des  Herrn  Oberstaatsanwaltes :  Höchst  achtbare 
Motive;  im  schlimmsten  Fall  ein  entschuldbares  Versehen. 
Das  liegt  vor.  Ergo:  bis  zu  der  Minute,  wo  das  Gericht 
die  Schuldftage  bejaht,  werde  ich  eine  zweite  Verurtheilung 

487 


für  unmöglich  erklären;  und  wenn  eine  Verurtheilung  er^ 
folgt,  werde  ich  ihre  Begründung  wägen;  prüfen,  was  das 
Urtheil  »festgestellt«  zu  haben  behauptet,  und  danach  meine 
Entschlüsse  fassen.  Ich  wiederhole:  Nie  werde  ich  der  Spotte 
sucht  den  Weg  in  die  Beletage  des  Deutschen  Reiches  bahnen 
und  die  Vernichtung  von  Leuten,  die  noch  im  Glänze  sitzen, 
herbeifbhren,  wenn  sichs  um  keine  andere  Gefahr  handelt 
als  um  die  meiner  mögUchen  Bestrafung.  Darum  den  Boule^ 
vards  Futter  auf  die  Fharisäerkrippe  schütten?  Da  giebts 
für  mich  gar  kein  Schwanken.  Ob  und  wie  ich  bestraft 
werde:  Das  ist  mir  vollkommen  gleichgiltig.  Ich  sage  Ihnen 
ganz  ruhig:  Je  härter  ich  bestraft  werde,  in  dieser  Sache,  in 
diesem  Forum,  nach  diesem  Verfahren,  nach  diesen  Aussagen, 
um  so  besser;  um  so  lehrreicher  fiir  Mitlebende  und  Nach^ 
wachsende. 

Ich  gehe  auf  Einzelheiten  gar  nicht  mehr  ein.  Es  wäre  ein 
Verbrechen  gegen  Sie,  aber  auch  gegen  mich,  wenn  ich  zum 
aberhundertsten  Mal  die  Artikel  interpretiren  wollte.  Was 
darüber  zu  sagen  war,  steht  in  der  „Zukunft'*  vom  neunten 
November  1907;  da  ist  der  Schlußvortrag  abgedruckt,  den  ich 
vor  dem  Schöffengericht  hielt.  Das  jetzt  wiederkäuen,  in 
dieser  Stunde,  wo  Sie  bedrückt  sind  von  der  Last  und,  ich 
darf  sagen,  auch  von  der  Hitze  dieses  Tages?  Das  wäre  eben 
so  frustra  wie  unfreundlich.  Ich  will  Ihnen  also  nur  einiges 
Allgemeine  sagen. 

Der  erste  politische  Eindruck  meines  Lebens  entstand 
durch  die  außerordentliche  Freundlichkeit,  ja,  ich  darf  sagen: 

488 


Freundschaft,  die  Fürst  Bismarck  mir  gewährte.  Ich  darf  es 
sagen,  denn  er  hat  es  ja  selbst  oft  so  genannt.  Freilich 
konnte  ein  so  viel  jüngerer  und  so  viel  kleinerer  Mensch 
nur  in  begrenztem  Sinn  als  Freund  gelten;  er  hatte  ja  viel 
mehr  zu  empfangen  als  zu  geben.  Dieser  Mann  hat  mir 
immer  wieder  gesagt:  »Ihnen  mißfallt  der  Kaiser  als  poli^ 
tische  Persönlichkeit  in  vielen  wesentlichen  Zügen;  mir  auch. 
Aber  Sie  können  mir  glauben:  alle  oder  mindestens  neun 
Zehntel  dieser  nicht  erfreulichen  Seiten  wären  nicht  sichte 
bar,  wenn  Philipp  Eulenburg  nicht  seine  Sippschaft  an  ihn 
herangebracht  hätte.  Das  sind  gräßliche  Leute;  ganz  anders 
als  wir;  sentimental,  geistergläubig,  spukscheu  (Eulenburg 
hat  an  dem  Herrn  neben  anderen  Wunderqualitäten  ja  das 
Zweite  Gesicht  der  Stuarts  entdeckt);  ohne  Sinn  für  die 
Nüchternheit  des  politischen  Lebens,  ohne  den  Nerv  der 
Tapferkeit,  die  eine  große  Nation  braucht;  und  der  größte 
Theil  ist  auch  noch  geschlechtlich  abnorm  und  nicht  sauber. 
Da  giebts  Zusammenhänge  und  Hautsympathien,  die  Unsere 
eins  gar  nicht  versteht.«  Das  habe  ich  in  Varzin,  Friedrichs« 
ruh  und  Schönhausen  oft  gehört  und  besprochen.  Aber  nie 
in  meiner  Zeitschrift  erwähnt.  Ich  habe  den  Fürsten  Eulen« 
bürg  manchmal  politisch,  wenn  es  mir  nöthig  schien,  be« 
kämpft,  aber  nie  diese  Sachen  erwähnt. 

Einige  Jahre  danach  wandte  sich  die  Frau  des  Grafen 
Kuno  Moltke  an  mich.  Natürlich  nicht,  damit  ich  Etwas 
über  ihre  Ehe  veröffentliche;  ich  gebe  ja  nicht  die  »Wahr« 
heit«  oder  ein  ähnliches  Organ  heraus.   Nein.   Die  Dame 

489 


fand  sich  in  dem  Scheidungprozeß  von  dem  Justizrath  Seile, 
dem  Vertreter  ihres  Mannes,  ungebiihriich  hart  behandelt 
und  grundlos  bedroht;  und  da  sie  von  Schweningers  wußte, 
daß  Sello  und  ich,  in  den  wechselvollen  Peripetien  unseres 
Verkehrs,  damals  in  einer  wärmeren  Region  angelangt  waren, 
meinte  sie,  meinem  Einfluß  könne  es  gelingen,  diesen  unge« 
mein  klugen  und  gewandten,  eben  darum  aber  nicht  ungefihr^ 
liehen  Mann  zu  einer  etwas  freundlicheren  Taktik  gegen  sie 
zu  bringen.  "Wir  hatten  einen  Briefwechsel,  es  gab  Verstimm 
mungen  und  Vergleiche;  ich  will  auf  die  Einzelheiten  nicht 
eingehen.  Ich  habe  ihm  gesagt:  Bitte,  behandeln  Sie  die 
Sache  so  tolerant,  so  menschlich,  so  anstandig  wie  möglich; 
sonst  platzt  die  Blase  einmal  und  wir  bekommen  den  größ# 
ten  politischen  Skandal,  den  Deutschland  je  erlebt  hat.  Denn 
Philipp  Eulenburg  hatte  in  für  ihn  typischer  Weise,  wie  er 
und  wie  andere  Menschen  seiner  sexualpsychischen  Art  zu 
thun  pflegen,  in  das  Eheleben  seines  Freundes  Kuno  ein« 
gegriffen,  die  Trennung  herbeigeführt,  die  Gräfin  gepeinigt, 
bis  sie  aufbriUlte,  und  natürlich  auch  gleich  fiir  einen  Arzt 
gesorgt,  der  sie  fiir  hysterisch  erklärte.  Diesmal  war  der 
Psychiater  de  rigueur  ein  Chirurg;  und  hatte  die  Gräfin  vor« 
her,  noch  während  des  Scheidungprozesses,  als  die  hehrste 
der  Märtyrerinnen  angebetet.  Graf  Moltke  hatte  sich  dabei 
mehr  passiv  verhalten;  in  jedem  Sinn.  Das  Wesen  dieses 
Herrn  zeigt  manchen  anmuthigen  Zug.  Er  ist  sehr  artig,  ge« 
fiUlig,  liebenswürdig,  gebildet  (wenigstens  fiir  die  Begriffe 
der  Hofgesellschaft),  musikalisch,  belesen,  sentimental,  schwär« 

490 


tnerisch;  und  was  Sie  sonst  noch  aus  diesem  Packet  wollen. 
Nicht  gerade  geistig  produktiv;  ach  nein.  Aber  ein  angenehmer 
Herr.  Nicht  gerade  ein  preußischer  Kürassier.  Etwas  zu 
weich  und  hold  und  deshalb  wohl  leise  verspottet.  Ich  will 
hier  nichts  enthüllen;  aber  ich  muß  aussprechen,  was  ist. 
Vorgesetzte  und  Kameraden  sagten  von  ihm,  er  habe  seine 
militärische  Karriere  am  Klavier  gemacht.  Abtheilungchef  im 
Großen  GeneraLstab,  Kürassieroberst,  Brigadier,  Stadtkomman« 
dant  von  Berlin,  also  auf  dem  Posten,  der  den  ersten  Choc 
der  von  den  Hofleuten  stets  gefiirchteten  Revolution  auszu# 
halten  hätte:  Das  ist  viel.  Jedenfalls:  ein  feiner,  etwas  wun^ 
derlicher  Herr,  der  nach  Moschus  und  Veilchen  duftet,  für 
manche  Nase  aber  mit  einem  noch  unlieblicheren  Parfüm 
behaftet  war,  weil  er  vierzig  Jahre  bng  in  blind  ergebener 
Freundschaft  an  Philipp  Eulenburg  hing.  Lassen  Sie  sich 
nur  nicht  erzählen,  daß  da  oben  nicht  Dutzende  seit  Jahr^ 
zehnten  wußten,  welches  Geistes  Kind  dieser  Eulenburg  war. 
Wenn  man  einen  Mann  von  sechzig  Jahren  (seit  dem  letzten 
Prozeß  trägt  der  Graf  ja  einen  Vollbart)  vor  sich  sieht,  kom# 
men  Einem  manche  Gerüchte  ganz  lächerlich  vor.  Sie  müssen 
sich  diesen  Herrn  aber  als  sehr  schönen  jungen  Mann  mit 
höchst  schwärmerischen  Augen  denken;  ich  habe  solche 
Bilder  hier.  Da  sieht  er  aus  wie  ein  verzückter  Künstler, 
der,  wie  die  pariser  Friseure  sagen,  s'est  fait  une  tite.  Den, 
nicht  eine  würdig  geknickte  Excellenz  müssen  Sie  sich  als 
insiparable  Eulenburgs  denken.  Vierzig  Jahre  I  Da  entstehen 
Verkehrsformen,  die  uns  Allen  völlig  fremd  sind.  Da  nennen 

491 


die  Männer  einander  »mein  Geliebter«,  »mein  Alles«.  Wenn 
Einer  von  der  Bahn  kommt,  ist  ein  Gefltister:  »Bist  Du  da, 
,Tütü'?  Gott,  wie  habe  ich  mich  nach  Dir  gesehnt  I«  Da 
sitzt  der  Eine  am  Klavier  und  träumt  schwärmerisch  himmele 
an  und  säuselt,  wenn  ihn  die  Frau  stört:  »Laß  michl  Ich 
dachte  an  Philil«  Das  sind  Dinge,  die  für  uns  völlig  norm^ 
widrig  sind,  aber  noch  lange  nicht  zu  der  Annahme  berech# 
tigen,  da  müsse  es  zu  perverser  Geschlechtshandlung  kom« 
men.  Ich  habe  mich  niemals  (iir  die  Frage  interessirt,  wie 
diese  Herren  ihre  Triebe  stillten  (die,  als  ich  anfing,  mich 
mit  ihnen  zu  beschäftigen,  wohl  nicht  mehr  allzu  heiß  ge^ 
wesen  sein  können). 

Ich  bin  nicht  nur  von  Bismarcks,  von  der  Gräfin  Moltke 
(die  weder  Schweninger  noch  ich  jemals  der  Hysterie  auch 
nur  auf  Meilen  nah  gefunden  haben),  von  deren  Sohn  und 
aufgeregten  Mutter  informirt  worden.  Ich  wußte  sehr  viel 
mehr.  So  viel,  daß  ich  dem  Landgerichtsrath  Schmidt,  als  er 
mich  zum  Zeugniß  in  Sachen  Eulenburg  aufforderte,  eine 
Aussage  machen  mußte,  die  ein  ziemlich  dickes  Buch  gegeben 
hätte;  sie  wird  wohl  bei  Ihren  Akten  sein.  Ich  wußte  aus 
tausend  Thatsachen  und  Symptomen:  Das  ist  eine  bis  ins 
Mark  ungesunde  Gesellschaft;  diese  Männer  sind  nicht  von 
unserer  Art.  Und  wenn  Sie  eine  normale  Frau  firagen,  wer^ 
den  Sie  das  Selbe  von  ihr  hören.  Die  wird  Ihnen  sagen: 
Der  Mann  ist  ja  höchst  nett  und  artig,  aber  ich  habe  solchen 
Mann  noch  nie  gesehen.  Und  einen  so  zartsinnigen  preu^ 
ßischen  General  hats  sicher  noch  nicht  oft  gegeben. 

492 


Also  eine  Menschengruppe,  die  von  aller  Realität  weiten^ 
fem  ist  und  durch  ihre  Mystik,  ihre  verhimmelnde  Schwärz 
merei  eine  ernsthafter  Politik  schädliche  Atmosphäre  schafft 
Das  mußte  den  Politiker  interessiren.  Nicht  aber,  ob  ein^ 
zelne  dieser  Herren  im  Kinaedenbataillon  aktiv  sind  oder 
jemals  waren.  Mit  der  Psyche  beschäftigte  ich  mich,  nicht 
mit  dem  »noch  was«  aus  Schillers  Gedicht.  Wollen  Sie  den 
Unterschied  wirklich  nicht  anerkennen?  Wie  unserem  tapfere 
sten  Dichter,  blutete  auch  mir  die  Seele,  »sah  ich  das  Eulen^ 
geschlecht,  das  zu  dem  Lichte  sich  drängt«.  Dieses  Ge# 
schlecht,  mit  seiner  Hypersensibilität  und  Ueberschwänglich^ 
keit,  hatte  einen  Zustand  geschaffen,  der  nüchterner 
Förderung  ernster  Staatsgeschäfte  nach  dem  Urtheil  aller 
Sachverständigen  im  höchsten  Grad  schädlich  war.  Beweise? 
Soll  ich  Minister,  Botschafter,  Generale  hierher  laden,  damit 
sie  es  Ihnen  bezeugen?  Ihnen  wiederholen,  was  sie  mir  ge# 
sagt  und  geschrieben  haben?  Ueber  das  ungeheure,  zum 
Himmel  schreiende  Unheil,  das  von  Eulenburg  und  seinen 
Leuten  kam?  Ich  denke  nicht  daran*  Wozu  denn?  Sie 
brauchen  mir  nicht  zu  glauben.  Soll  ich  das  Deutsche  Reich 
aufwühlen,  nur  damit  Sie  mir  glauben  und  ich  weniger  hart 
oder  gar  nicht  bestraft  werde?  Das  ist  nicht  nöthig.  Ihre 
Strafe  schreckt,  bekümmert  mich  nicht.  Was  ich  erreichen 
wollte,  ist  längst  erreicht:  diese  Einflüsse  sind  beseitigt  und 
Volk  und  Kaiser  dürfen  sich  Dessen  freuen.  Im  vorigen 
Jahr  konnte  man  noch  zweifeln.  Da  hat  der  Fürst  seinen 
letzten  großen  Coup  gewagt.    Da  fiel  irgendwo  das  Wort: 

493 


»Isenbiel  hat  sie  famos  *rausgehauen.«  Da  galt  Phili  als 
makellos  und  man  konnte  glauben,  dem  Verbannten  eine 
Genugthuung  schuldig  zu  sein.  Da  zitterte  Philis  klügste 
Kreatur  vor  der  Rückkehr  des  Gehaßten.  Da  war  Gefahr  im 
Verzug  und  ich  habe  beschlossen,  diesen  Mann  zu  vemich# 
ten  wie  ein  böses  Thier.  Kaiser  und  Reich  haben  Ruhe  vor 
ihm  und  Beiden  gehts  seitdem  besser  als  je  nach  Bismarcks 
Entlassung.  Ein  Algesiras  haben  wir  seitdem  nicht  erlebt. 
Wenn  Eulenburg  blieb,  konnten  wirs  im  Balkan  finden. 

Graf  Moltke?  Der  ist  sicher  froh,  wenn  er  das  liebe  Leben 
hat,  ein  Bischen  Athem,  seinen  Rock  und  Rang  behalt.  Der 
ist  ja  völlig  ausgeschaltet.  Der  Herzog  ist  längst  gefallen; 
der  Mantel  mag  meinetwegen  bleiben;  sich  in  Schlesien  oder 
sonstwo  lüften.  Und  da  sollte  ich  aus  Rachsucht,  aus  Rechte 
haberei,  oder  gar,  um  forensisch  besser  dazustehen,  ohne 
äußersten  Zwang  diese  Sache  ins  Licht  rücken?  Wozu?  Ich 
sehe  keinen  Grund.  Ich  habe  niemals  (ich  sage  Das  nun 
zum  letzten  Mal  und  sehr,  sehr  ernsthaft)  in  irgendeinem 
der  inkriminirten  Artikel  gesagt:  Kuno  Moltke  treibt  Häß^ 
liches  oder  ist  wenigstens  homosexuell.  Ich  habe  mich  in 
meinem  innersten  Bewußtsein  bis  zu  der  Stunde  der  Anklage 
niemals  mit  dieser  Frage  beschäftigt;  auch  nicht  mit  der 
klassischen  Frage,  die  Fürst  Eulenburg  auf  der  »HohenzoUem« 
einem  Matrosen  gestellt  hat.  Der  Herr,  der  hier  vorhin  un^ 
ter  seinem  Eid  über  den  von  ihm  vorgeschlagenen  Vergleich 
sprach,  hat  sich  immer  ftir  ein  Bischen  asexuell  ausgegeben. 
Und  ich  habe  nicht  den  mindesten  Grund,  daran  zu  zwei^ 


494 


fein,  und  ich  kann  Sie  versichern,  nie  hat  damals  der  Ge^ 
danke  mein  Bewußtsein  gestreift,  daß  auch  er  am  Ende  auf 
verbotenen  Wegen  Sättigung  suche.  Aber  er  war  der  Mann, 
der  den  Fürsten  Eulenburg  mit  Hofstimmungberichten  be^ 
diente.  Das  hat  er  wahrscheinlich  optima  fide  gethan.  In 
dieser  Eigenschaft  mußte  ich  ihn  hier  und  da  nennen;  und 
als  Eulenburg  mich  bitten  ließ,  ihn  um  Gottes  willen  zu 
schonen,  er  wolle  ja  fortgehen,  da  sagte  ich:  Ich  will  nichts 
gegen  ihn  thun,  er  soll  allerdings  jetzt  in  dieser  schvrierigen 
Marokkozeit,  wo  Herr  Lecomte  doch  allzu  gefahrlich  fiir 
unsere  Interessen  werden  kann,  fortgehen;  aber  die  Sache 
ist  damit  nicht  ganz  abgethan,  denn  er  hat  jeden  Tag  die 
Möglichkeit,  zu  erfahren,  was  hier  geschieht,  und  durch  den 
MoltkeifKanal  taglich  an  die  oberste  Spitze  heranzukommen. 
Die  Reise  nach  Territet  sichert  also  nicht  vor  neuem  Schaden. 
Das  ist  leider  erväesen  worden.  Darum  mußte  ein  Ende 
gemacht  werden. 

Eine  von  Anfang  an  vorbedachte  Aktion  war  es  nicht. 
Die  Artikel  waren  über  weite  Zeiträume  verstreut;  es  sind 
sehr  umfangreiche  historisclupolitische  Artikel,  und  nur 
wenn  sich  die  Gelegenheit  ohne  Zwang  bot,  fiel  ein  Streich 
auf  Eulenburg  und  ein  Spritzerchen  auf  Moltke.  Auch  Das 
brauchte  er  sich  nicht  gefallen  zu  lassen.  Aber  wer  mit  Räus» 
bem  sein  Leben  lang  in  einer  Höhle  haust,  kann  nicht  for>f 
dem,  fitr  einen  tübinger  Theologiekandidaten  gehalten  zu 
werden.  Den  Vonvurf  der  Homosexualität  hat  kein  Unbe^ 
fangener  herausgelesen.    Auch  Herr  Justizrath  Sello  nicht, 

495 


der  mich  damals  oft  mit  seinem  Besuch  erfreute.  Auch  er 
nicht;  sonst  hätte  er  mirs  ja  gesagt  und  mir  den  Irrglauben 
ausgeredet.  Kein  Unbefangener  hats  herausgelesen.  Die  An^ 
deren?  Die  allerlei  Gefliister  und  Gewisper  gehört  hatten? 
Du  lieber  Himmel:  Die  Kollegen  eines  Richters,  der  sich 
in  den  Pausen  gern  die  Nase  reichlich  begießt,  würden  sich 
auch  was  dabei  denken,  wenn  irgendwo  stände:  Nach  der 
Pause  war  der  Herr  Vorsitzende  merkwtirdig  ungeduldig  und 
erregt.  Sie  würden  einander  anstoßen  und  anlächeln.  Der 
Schreiber  braucht  von  den  Neigungen  des  Kritisirten  aber 
gar  nichts  gewußt  zu  haben.  Kein  Unbefangener  hats  heraus^ 
gelesen.  Die  Presse  hätte  sonst  gegen  Moltke  oder  (noch 
viel  lieber)  gegen  Harden  randalirt.  Nichts  ist  geschehen. 
Nirgends  hat  man  in  den  Redaktionen  auch  nur  die  wirk«: 
liehen  Anspielungen  verstanden. 

Da  geschah  das  Entscheidende :  der  Deutsche  Kaiser  wies 
diesen  Männern  die  Thür.  Warum?  Sie  werden  es  hier  nie# 
mals  »feststellen«.  Fest  steht  aber  die  Thatsache,  daß  Graf 
Kuno  Moltke  niemals  gehört  worden  ist,  sich  niemals  irgend^ 
wie  rechtfertigen  durfte;  daß  der  „Ewige  Plessen"  ihm  einfich 
brüsk  das  Abschiedsgesuch  abverlangt  hat.  Details  sind  hier 
nicht  nöthig.  Ist  aber  anzunehmen,  daß  nur  die  Artikel  der 
»Zukunft«  zu  diesem  Schritt  getrieben  haben?  Leben  wir 
in  einem  Reich,  wo  die  beliebtesten  Herren  weggejagt  wtu 
den,  weil  in  einem  leidlich  angesehenen,  aber  vom  Kaiser 
durchaus  nicht  geliebten  Blatt  ein  paar  Artikel  gegen  sie  er# 
schienen  sind?  Darum  werden  alte  Freunde,  die  man  duzte, 


496 


ein^Eich  hinausgeworfen?  Darum  wird  dem  Vertreter  des 
beurlaubten  Polizeipräsidenten  gesagt:  »Ueber  Eulenburg, 
Moltke,  Hohenau,  Lecomte  brauchen  Sie  mir  nichts  mehr  zu 
erzählen;  Die  sind  erledigt;  aber  von  den  Anderen  aus  Hof 
und  Garde  will  ich  schnell  eine  Liste«? 

Als  die  Geister  ausgeräuchert  waren  und  Graf  Moltke  in 
die  Presse  sickern  heß,  er  habe  mich  (zu  spät)  gefordert, 
kam  der  Lärm.  Und  nun  wollte  jeder  Esel  natiirlich  längst 
Alles  gewußt  haben.  Meine  Artikel  waren  in  der  Erinne# 
rung  verblaßt  oder  auch  nie  gelesen  worden.  Hatte  da  nicht 
was  von  Paederasten  gestanden?  Gewiß.  Und  das  Spek^ 
takel  war  fertig.  Ich  wurde  gebeten,  der  Meute  abzupfeifen; 
und  thats  vielleicht  etwas  zu  laut.  Aber  wenn  Sie  die  ganze 
Weltgeschichte  durchgehen:  Sie  können  niemals  eine  schwie« 
rigere  Aufgabe  finden  als  den  Kampf  eines  Einzelnen  gegen 
eine  Hofclique.  Der  hat  kaum  jemals  zum  Siege  geführt. 
Das  ist  beinahe  unmöglich.  Und  Fehler?  Wer  hat  in  dieser 
Sache  denn  keine  Fehler  gemacht?  Sie,  meine  Herren?  Die 
Staatsanwaltschaft?  Graf  Moltke?  Meine  Fehler  sind  noch 
lange  nicht  die  ärgsten,  scheint  mir;  sind  nicht  sehr  betrachte 
lieh  neben  denen  der  anderen  Betheiligten. 

Genug.  Zu  viel  schon.  Ein  Mann,  von  dem  wir  Alle  gern 
noch  Großes  hoffen  möchten  und  der  das  Reich,  das  Volk 
repräsentirt,  hatte,  ohne  es  zu  ahnen,  diesem  unheilvollen 
Einfluß  die  Schleußen  geöffiiet.  Vier  Kanzler  hatten  sich 
vergebens  bemiiht,  den  Eulenphili  um  seine  okkulte  Macht 
zu  bringen;  und  der  größte,  der  einzig  große  der  vier  hat 

32.  III  497 


mir  oft  gesagt:  Manches  mag  Ihnen  noch  gelingen,  aber  nie, 
Eulenburg  zu  stürzen.  Und  doch  ists  gelungen;  und  die 
Folgen  waren  heilsam  für  Reich  und  Kaiser.  Das  sage  nicht 
etwa  ich  nur:  Das  sagen  alle  Sachverständigen,  die  wissen, 
was  geschehen  war.  Darum  kann  ich  verächtlich  das  Gesin^ 
del  belächeln,  das  brüllt,  ich  habe  das  Reich  geschädigt. 
Recht  hohe  Leute  habens  mir  anders  geschrieben.  Ein  aktiver 
Botschafter,  zum  Beispiel,  den  der  Kaiser  öffentlich  seinen 
Freund  genannt  hat  und  dem  ich  vorher  den  bittersten  Hohn 
nicht  erspart  hatte,  schrieb  mir  spontan,  wie  allgemein  auch 
von  den  besten  Männern  des  Landes,  in  dem  er  akkreditirt 
sei,  mein  Handeln  anerkannt  werde.  Ich  will  Ihnen  solche 
Briefe  nicht  vorlegen.  Wozu?  Sie,  nicht  die  Politiker,  sind  ja 
hier  Richter.  Nur:  glauben  Sie  den  Lügnern  nicht,  die  sagen, 
durch  mich  habe  das  Reich  gelitten.  Wir  konnten  und  kön^ 
nen  uns  sehen  lassen.  Ich  habe  lange  gezögert.  Ich  ließ  den 
Rädelsführer  zweimal  schwören.  Doppelt  hält  besser,  sagt 
der  Volksmund.  Schließlich  hat  der  Mann  selbst  den  Schlaut^ 
köpf  in  die  Schlinge  gelegt;  und  die  Möglichkeit,  sich  selbst 
zu  henken,  würde  ich  auch  minder  kräftigen  Schädlingen 
nicht  vereiteln.  Seitdem  ists  bei  uns  besser  geworden  und 
die  letzten  Vorposten  werden  wohl  auch  bald  von  den  Gip^ 
felchen  verschwinden.  Heute  hegt  es  anders.  Für  das  Reich 
wäre  nichts  zu  gewinnen.  Und  um  mich  einer  Strafe  zu  ent^ 
ziehen,  werde  ich  den  Sumpf  nicht  aufrühren.  Auch  nicht, 
wenn  es  mich  nur  einen  Griff  in  ein  Couvert  kostete,  der 
Sache  eine  andere  Wendung  zu  geben.   Niemals.    Ich  hoffe 

498 


noch,  auch  Ihr  Spruch  wird  mich  nicht  zwingen,  so  zu  han^ 
dehi,  wie  ich  nicht  handeln  wollte. 

Wer  giebt  Ihnen  denn  das  Recht,  meinen  Angaben  nicht 
zu  glauben?  Hunderte  haben  mir  geschrieben,  daß  sie  die 
Artikel  genau  so  au%e&ßt  haben,  wie  ich  sie  interpretire, 
und  sich  zum  Zeugniß  dafiir  erboten.  Aber  Sie  können  An^ 
deres  »feststellen«.  Weil  das  Reichsgericht  an  solche  Fest^ 
Stellungen  nicht  heran  kann.  Mein  lieber  Vertheidiger  hat 
ja  viel  zu  freundlich  über  mich  gesprochen;  Eins  aber  hat 
er  doch  vergessen.  Ich  habe,  als  es  mir  unvermeidlich  schien, 
Einen  angegriffen,  der  noch  viel  mächtiger  ist,  als  Fürst  Phi^ 
lipp  zu  Eulenburg  je  war,  und  zu  ihm  gesprochen,  wie  im 
deutschen  Land  vielleicht  noch  niemals  zu  einem  Gewaltigen 
gesprochen  worden  war.  Das  waren  doch  andere  Kampfe 
als  einer  gegen  den  Generallieutenant  z.  D.  Grafen  Kuno 
Moltke.  Soll  ich  Den  furchten?  Der  Herr  Präsident  hat  so^ 
gar  die  Güte  gehabt,  mich  zu  provoziren.  Sie  Alle  wissen 
ja  mindestens,  daß  ich  eine  Fiüle  von  Details  vorbringen 
könnte,  die  als  Symptome  ungemein  wichtig  sind.  Heute 
steht  die  Sache  doch  so,  daß  eine  Flaumfeder  genügen  würde, 
um  die  Wagschale  zum  Sinken,  den  unglücklichen  Mann  in 
argen  Verdacht  zu  bringen.  Habe  ichs  versucht?  Ihnen  irgend^ 
ein  Detail  in  der  Beweisaufnahme  glaubhaft  gemacht?  Erst 
nach  der  Aussage  des  Grafen  Moltke  habe  ich  mich  ent^ 
schlössen,  an  Einiges  zu  erinnern;  mit  gutem  Grund.  Ich 
konnte  die  ganze  Prozedur,  wenn  ich  sie  fürchtete,  leicht 
hinausschieben:  denn  den  interessanten  Zeugen  aus  Lieben^ 

32#  499 


borg  durften  Sie  mir  nicht  weigern.  Ich  habe  seine  Vemeh^ 
mung  gar  nicht  erst  beantragt;  keinen  einzigen  Zeugen  ge^ 
laden.  Trotzdem  selbst  das  Vorurtheil  heute  die  Dinge  etwas 
anders  werthen  würde  als  vor  anderthalb  Jahren.  All  die 
beschworenen  Aussagen  über  die  Verkehrsformen  der  beiden 
Herren,  deren  einer  nun  als  ein  emsig  Homosexueller  erwiesen 
ist.  Das  brauche  ich  nicht.  Ich  brauche  nur»  daß  Sie  mir 
glauben.  Ich  furchte  Sie  nicht,  ich  weiche  Ihnen  nicht  aus; 
ich  sage  nur,  was  wirklich  in  den  Artikeln  steht.  Sie  hätten 
vielleicht  den  ganzen  Eulenburgskandal  vermieden,  wenn 
Ihr  Mißtrauen  sich  nicht  gegen  mich,  sondern  gegen  Andere 
gerichtet  hätte,  wenn  hier  nicht,  wider  meine  Warnung,  eine 
Generalreinigung  versucht  worden  wäre,  zu  der  in  Moabit  Nie^ 
mand  berufen  war.  Heute  warne  ich  noch  einmal.  Ich  kann 
auch  in  dieser  Sache,  wenn  mirs  unbedingt  nöthig  scheint,  stets 
ein  anderes  Forum  finden.  Helfen  Sie  mir  diese  Nothwen^ 
digkeit  verhüten.  Glauben  Sie,  trotzdem  Sie  sich  bei  Ihren 
»thatsächlichen  Feststellungen«  festgelegt  haben,  meinen  An^ 
gaben.  Versuchen  Sie  nicht,  den  Rest  eines  makulirten  Fehl^ 
urtheils  zu  retten.  Sie  sind  gewissenhafte  Männer.  Ich  habe 
das  Recht,  Ihren  Glauben  zu  fordern.  Versagen  Sie  ihn:  die 
\^erte  Strafkammer  bleibt  mit  der  Verantwortung  belastet. 

Ich  müßte  mich  schämen,  wenn  ich  an  Ihr  Menschengefiihl 
appellirte.  Aber  so  ganz  einfach,  wie  Sie  vielleicht  denken, 
war  die  Sache  doch  nicht.  Alles,  was  Ihnen  hier  immer  über 
Nervenfoltem  und  gräßliches  Ungemach  vorgejammert  wird, 
vergeht  vor  dem  ernstlich  prüfenden  Blick  ja  wie  Schaum. 

500 


Wenn  mir  Jemand  nachsagte,  ich  sei  in  Männer  verliebt, 
würde  ich  mich  höchstens  halbtot  lachen  und  in  vergnügter 
Ruhe  vors  Gericht  gehen,  wo  es  ja  nur  heiter  werden  könnte. 
Darum  Nervenfolter  und  Totkrankheit?  Das  müßte  doch 
andere  Gründe  haben.  Da  hätte  ich  schon  eher  Anlaß,  zu 
stöhnen.  Ein  Privatmann  gegen  alle  Reichsgewalten;  und 
gegen  neun  Zehntel  der  Presse,  die  Oeffentliche  Meinung  macht. 
Schimpf,  Aechtung,  Bedrohung  aller  Art.  Das  will  erlebt  sein ; 
und  kann  Einen  für  den  Lebensrest  zum  finsteren  Menschen^ 
feind  wandeln.  Und  warum  das  Alles?  Weil  ich  gethan  habe, 
was  jetzt  Jeder  nützlich  findet;  am  Ende  sogar  der  preußische 
Kriegsminister;  der  sich  mit  der  Revokation  nachgerade  allere 
dings  ein  Bischen  sputen  könnte.  Darum  stehe  ich  nun  zum 
vierten  Mal  vor  einem  deutschen  Gericht.  So  findet  man  bei 
uns  sein  »Recht«,  wenn  man  für  eine  gute  Sache  tapfer  ge« 
fochten  hat.  Doch  solche  Erinnerungen  durften  mich  nicht 
aus  meiner  Reserve  scheuchen.  Man  darf  den  Patriotismus, 
den  man  alltäglich  auf  der  Lippe  trägt,  nicht  in  die  Rumpele 
kammer  werfen,  weil  ein  privater  Quarkvortheil  auf  dem 
Spiel  steht.  Thun  Sie,  was  Sie  wollen.  Sie  haben  eine  »Be^ 
weisaufi[iahme«  beschlossen,  die  nur  vom  Interesse  des  Grafen 
Moltke  empfohlen  war.  Sie  haben  (wenn  ich  von  Anregung 
gen  absehe,  denen  ich  nicht  nachgeben  durfte)  für  die  Her^ 
beischafiung  entlastender  Momente  nicht  das  Geringste  gethan. 
Ich  verlange  es  auch  nicht.  Aber  ehe  Sie  eine  neue  Verant» 
wortung  auf  sich  nehmen,  überlegen  Sie,  bitte:  Was  habe 
ich  geschrieben?  Was  ist  erwiesen?  Wie  hat  sich  der  Nebenn 

501 


klaget,  wie  der  Angeklagte  Ihnen  in  dieser  Verhandlung  ge^ 
zeigt?  Was  fordert  von  Ihnen  das  Staatsinteresse,  was  das 
Rechtsgefuhl? 

Wenn  Sie  mich  verurtheilen,  üben  Sie  (ohne  es  zu  wollen, 
versteht  sich)  Willkiir,  nicht  Recht;  denn  Sie  haben  mir  nicht 
die  kleinste  Schuld  bewiesen.  Thun  SiesI  Ich  habe  nichts 
dagegen.  So  müssen  solche  Sachen  ja  enden;  so  haben  sie 
in  der  Geschichte  stets  geendet  Der  Eine  sitzt  unangetastet 
in  seinem  schönen  Schloß,  der  Andere  wird  von  Instanz  zu 
Instanz  geschleppt,  seiner  Arbeit  entzogen,  geschmäht,  mit 
dem  Unrath  der  Preßkloaken  beschmutzt,  verurtheilt.  Das 
ist  die  Krönung.  So  muß  es  sein.  Er  hat  der  schmierigen 
Katze  ja  die  Schelle  angehängt.  Thun  Sie  noch  einmal  mit, 
wenn  Sie  die  Verantwortung  auf  sich  nehmen  wollen.  Wenn 
es  heißen  soll,  die  Merte  Strafkammer  am  Königlichen  Land^ 
gericht  I  Berlin  hat  Harden  noch  einmal  mit  ihren  Feststel^ 
lungen  beworfen,  noch  einmal  in  Schande  zu  bringen  ver# 
sucht,  noch  einmal  verurtheilt.  Ich  kann  nur  wönschen,  daß 
die  Strafe  dann  recht  hart  sei  (an  eine  Geldstrafe  können  Sie 
auf  Ihrem  Standpunkte  ja  kaum  denken;  die  wäre  doch  un# 
verständlich),  und  bedaure  fast,  daß  Sie  über  die  vier  Mo^ 
nate  nicht  hinaus  können.  Einsperren,  brandmarken,  stäupen: 
Das  ists.  Ich  sage  ruhig:  Ihr  Urtheil  kann  mir  nicht  ernste 
lieh  schaden.  Auch  Ihnen  nicht?  Ich  glaube,  von  allen  Be# 
theiligten  habe  ich  Ihr  Urtheil  am  Wenigsten  zu  furchten. 
Und  deshalb  bitte  ich  Sie,  in  Ihrem  Berathungzimmer  viel 
mehr  an  sich  als  an  mich  zu  denken.  Daran,  daß  unter  einem 


502 


neuen  Fehlspruch  wieder  Ihr  Name  stünde.  Lange  würde  er 
ja  nicht  gelten.  Denn  wenn  Ihr  Urtheil  mich  unerträglich  dünkt : 
es  giebt  mehr  als  ein  wirksames  Mittel  dagegen.  Das  habe 
ich  Ihnen  bewiesen.  Auch  diesmal  würde  es  vielleicht  eine 
Weile  dauern.  Aber  wir  würden  uns  wiedersehen.  Nur:  Ihr 
Name  wäre  auch  von  diesem  Dokument  deutscher  Rechts^ 
pflege  nicht  wegzukratzen.  Ich  habe  nichts  mehr  zu  sagen. 
Lehmann:  ^Wit  werden  berathen. 

Pause. 

Der  Angeklagte  wird,  als  Verbreiter  nicht  erweislich  wah«s 
rer  Thatsachen,  die  einen  Anderen  in  der  ö£Fentlichen  Ach^ 
tung  herabsetzen,  zu  einer  Geldstrafe  von  sechshundert  Mark 
und  zur  Tragung  der  in  allen  drei  Verfahren  entstandenen 
Kosten  verurtheilt;  das  Gericht  hat  ihn  schuldig  gefunden. 


Am  Tag  nach  dem  Termin  ließ  Graf  Moltke  dem  Venire 
theilten  sagen,  er  sei  ihm  fitr  die  »Ritterlichkeit  seiner  Haltung« 
aufrichtig  dankbar.  Vorher  war  an  den  Herrn  Generallieute# 
nant  z.  D.  Grafen  Kuno  Moltke  der  folgende  Brief  (»einn 
geschrieben«)  abgegangen: 


503 


Grunewald,  21.  4.  09. 
Eurer  Excellenz 

theile  ich  das  Folgende  mit: 
Auf  Ihren  Wunsch  und  im  Vertrauen  auf  eine  loyale  Durchs 
fiihrung  des  im  Lauf  der  letzten  Wochen  auf  Ihre  Anregung 
Vereinbarten  habe  ich  am  einundzwanzigsten  März  meinen 
Namen  unter  die  Erklärung  gesetzt,  die  Sie  am  Neunzehnten 
unterzeichnet  hatten  und  die  wir,  mit  einem  gemeinsamen 
Begleitschreiben,  am  zweiundzwanzigsten  März  der  Könige 
liehen  Staatsanwaltschaft  eingereicht  haben. 

Ihr  Herr  Prozeßvertreter  wird  Ihnen  bestätigen,  daß  ich 
in  der  Hauptverhandlung  das  dem  Menschenmaß  Erreichbare 
geleistet  habe,  um  eine  schonende  Behandlung  der  Sache  und 
der  Person  zu  ermöglichen  und  dadurch  Eurer  Excellenz 
Schmerzliches  zu  ersparen.  Durch  Ihr  Verhalten  haben  Sie 
mir  die  Fortsetzung  dieser  Taktik  unmöglich  gemacht  und 
mich  zugleich  von  der  Verantwortung  für  alles  Weitere  ent^ 
bürdet.  Ich  bin  an  das  Vereinbarte  nicht  mehr  gebunden 
und  habe  heute  an  die  Königliche  Staatsanwaltschaft  ge^ 
schrieben: 

«Der  Königlichen  Staatsanwaltschaft  beehre  ich  mich 
mitzutheilen,  daß  ich  nach  den  gestrigen  Aussagen  des 
Grafen  Kuno  von  Moltke  von  den  beiden  am  zwei^ 
undzwanzigsten  März  der  Königlichen  Staatsanwalts 
Schaft  eingereichten  Erklärungen  meinen  Namen  zurück^ 
ziehe  und  mich  von  den  darin  ausgesprochenen  Wun^ 
sehen  lossage.  Ich  ersuche  den  Herrn  Ersten  Staatsanwalt, 

504 


diese  Mittheilung  unverzüglich  dem  einstweilen  zustän# 
digen  Gericht»  der  \^erten  Strafkammer  am  Königlichen 
Landgericht  I  Berlin,  zugänglich  machen.« 
In  vorzüglicher  Hochachtung 

Harden. 
Am  selben  Tag  stellte  Harden  den  Antrag,  das  Urtheil 
der  Vierten  Strafkammer  vom  Reichsgericht  revidiren  zu 
lassen.  Er  mußte  von  der  Haltung  des  Grafen  Moltke  um  so 
mehr  überrascht  sein,  als  dessen  Vertreter,  Justizrath  Dr.  Sello, 
ihm,-  während  der  Vergleichsverhandlungen,  geschrieben 
hatte :  »Sie,  mein  lieber  Herr  Harden,  müssen  mir  nun  helfen, 
die  unselige  Sache  auf  dem  einmal  betretenen  Weg  zu  einem 
erträglichen  Ende  zu  führen.  Ich  kann  den  Rest  meiner  Tage 
nicht  noch  mit  der  Verantwortung  fiir  ein  Menschenleben 
belasten.  Woher  sollte  ich  das  robuste  Gewissen  nehmen, 
um  zu  Allem  auch  noch  Das  zu  tragen?« 

Ueber  die  Revision  sollte  in  Leipzig  am  fünften  Juli  ent^ 
schieden  werden.  Am  zwölften  Juni  kam  der  folgende  Brief: 
»Seiner  Hochwohlgeboren  Herrn  Maximilian  Harden. 
Euer  Hochwohlgeboren 

theile  ich,  in  Beantwortung  Ihres  Briefes  vom  ein^ 
undzwanzigsten  April,  Folgendes  mit: 
Sämmtliche  von  meinem  Anwalt,  Herrn  Justizrath  Dr. 
Sello,  vor  Gericht  abgegebenen  Erklärungen  entsprechen 
meinen  Intentionen  und  dem  von  mir  unterzeichneten 
Vergleich.  Auch  ich  habe  in  meiner  Vernehmung  zum 
Ausdruck  bringen  wollen,  daß  in  den  streitigen  Artikeln 

505 


der  »Zukunft«  der  bewußte  Vorwurf  nicht  gemacht 
worden  ist.  Wenn  meine  in  der  Erregung  vor  Gericht 
gemachte  Aussage  die  Auslegung  zulassen  sollte,  als 
ob  ich  mich  nicht  streng  an  den  wohlerwogenen  Wort» 
laut  und  Sinn  des  Vergleiches  gehalten  hätte,  wie  Dies 
in  der  Beweisaufnahme  Euer  Hochwohlgeboren  in 
loyaler  Weise  gethan  haben,  so  bedaure  ich  Dies  und 
kann  nur  wiederholen,  das  Dies  meiner  Absicht  nicht 
entsprach. 

Diese  Erklärung  läßt  mich  annehmen,  daß  auch  Euer 
Hochwohlgeboren  sich  wieder  auf  den  Boden  des  Ver# 
gleiches  stellen  und  die  Angelegenheit  als  erledigt  an» 
sehen  werden. 

Mit  vorzüglichster  Hochachtung 

Graf  Moltke.« 
Mit  dieser  (zur  Verö£Fentlichung  bestimmten)  Erklärung 
begnügte  sich  Harden.  Um  ihren  Wunsch  und  einen  das 
selbe  Ziel  suchenden,  der,  mit  unzweideutiger  Anerkennung 
der  Motive  des  Verurtheilten,  von  der  Reichsspitze  an  ihn 
kam,  zu  erfüllen,  hat  er  dem  Reichsgericht  angezeigt,  daß  er 
auf  die  Revision  des  Strafkammerurtheils  verzichte. 


506 


STERNICKEL. 


Das  Kapitalverbrechen  bringt  im  hellen  Jahrhundert  nicht 
mehr  hohen  Zins.  Die  Konjunktur  aller  das  Wesen  unserer  Zeit 
bestimmenden  Mächte  stemmt  sich  gegen  diese  Art  menschen» 
thierischer  Thätigkeit  und  eine  Gestalt  vom  Schlag  des  sobem» 
heimer  Henkersgehilfen  Johannes  Bückler,  der  an  der  Neige 
des  achtzehnten  Jahrhunderts,  als  Schinderhannes,  der  Schwarz» 
alb  ganzer  Bezirke  war  und  den  geängsteten  Markthandlem 
Pässe  verschleißen  konnte,  ist  heute  kaum  noch  vorstellbar. 
Schon  der  Zwang,  von  der  Wiege  bis  zur  Bahre  gestempeltes 
Papier  mitzuschleppen,  sich  in  irgendeinem  Amtshaus  an» 
und  abzumelden,  von  jeder  Schnüffelnase  den  Heimathschein, 
Militärpaß,  Steuerzettel  beriechen  zu  lassen,  erschwert  das 
ins  Dunkel  trachtende  Handwerk;  und  die  Schnelle  des  mo» 
demen  Erkundungdienstes  erlaubt  ihm  selten,  in  hohe  Jahre 
zu  kommen.  Leicht  duckt  zwar  Einer  ins  Großstadtgewimmel 
unter  und  ähnelt  sich  der  Schlammfarbe  an,  in  der  er  min» 
destens  eine  Weile  athmen  muß.  Doch  irgendwo  ist  er  ein» 
mal  photographirt  worden;  nach  kurzen  Stunden  sind  Alle, 
die  ihn  kennen,  aufgescheucht,  der  zuständigen  Stelle  vor» 
gefiihrt,   vernommen;    Grenzorte   und  Hafenbehörden  zur 

509 


Wachsamkeit  gemahnt;  Telegraph  und  Telephon  haben  ge» 
wirkt»  d4S  Bild  des  Verdächtigen  ist  verschickt,  ist  vom 
Draht  übers  Weltmeer  geblitzt  worden  und  auf  dem  finstere 
sten  Steg  muß  der  hinkende  Schacher  beben,  von  dem  Wan^ 
derer,  der  ihn  gestern  im  Lichtspiel  sah,  gehemmt  und  in 
Haft  gezerrt  zu  werden.  Marconi  ward  ihm  gefahrlicher  als 
der  Erinyen  bleicher  Schwärm.  Auf  dem  Meer  durfte  einst 
der  Mörder  selbst  sich  in  wohlige  Ruhe  betten ;  bis  die  Anker» 
kette  niederrasselte,  konnte  ihm  nichts  geschehen.  Jetzt 
fluthet  Nachricht  heran,  ebbt  Nachricht  zurück;  kann  auf 
dem  stampfenden,  schlingelnden  SchiflF,  das  kein  Draht  einem 
Festland  verbindet,  in  der  nächsten  Minute  ein  Fünkchen 
aufglimmen,  das  der  Besatzung  die  Spur  des  Verbrechers 
hellt.  Ungünstige  Konjunktur.  Findet  deshalb  der  Blick  in 
so  schlechtem  Geschäft  fast  nur  noch  Stümper?  Kleine  Leute 
nur,  die  über  Zwirnsfaden  stolpern  und  bald  zwischen  Netz# 
maschen  zappeln?  Bruning,  Grippen,  Kolbe,  Stemickel,  die 
pariser  Apachen  sogar,  denen  der  Plan  glitzerte,  die  moderne 
Technik,  den  Totfeind  des  Gesetzbrechers,  sich  zu  verbün» 
den,  im  Automobil  durch  die  Raubreviere  zu  rasen:  Alle 
enttäuschen  das  aus  staunendem  Grausen  ihnen  nachstarrende 
Auge;  Alle  scheinen,  wenn  die  Halsschlinge  der  Ordnung» 
Wächter  sie  ins  Alltageslicht  geschleift  hat,  dem  nahen  Be» 
trachter  winzig,  unbedachtsam,  albern;  und  Aller  Herrlich» 
keit  währt  nicht  lange.  Bruning  sieht  zuerst  aus  wie  ein 
Kerl  von  schwerstem  Kaliber.  Als  Kassenbote  erspäht  er  die 
schwächste  Stelle  des  Kontroibrauches,  raubt  eine  Viertel» 


510 


million  und  verschwindet  spurlos.  Der,  denkt  man,  kat 
witzig  mit  dem  Stinunungtrieb  der  Masse  gerechnet,  die  den 
Verlust  einer  Aktienbank  gleichgiltig  oder  höhnisch  hin<> 
nimmt  und  deren  öffentlich  meinendes  Maul  höchstens  fragt, 
ob  die  Bank,  das  über  den  Hort  von  zweihundertsechzig 
Millionen  breit  und  schuppig  hingestreckte  Ungethüm,  die 
Schramme  verbergen,  die  paar  fürs  Pflaster  nöthigen  Läpper«> 
groschen  dem  Vorstand  oder  den  Aktionaren  vom  Jahres^ 
gewinn  abzwicken  werde.  Kein  sichdich  arg  Geschädigter: 
also  auch  keine  grollende  Empörung.  Dem  Flüchtling  gellt 
aus  allen  Ecken  Gelächter  nach.  »Den  kriegen  sie  nicht  I« 
Der  hat  gewiß,  weit  vom  Thronsitz  der  Dresdener  Bank, 
längst  ein  Schlupf  löchlein  geschaufelt,  wo  er  sich  umkleiden, 
rasiren,  umkämmen  kann;  sitzt,  ehe  das  Polizeiroth  des  Bei« 
lohnunganschlages  die  Meute  auf  seine  Fersen  hetzt,  schon, 
bardos  und  mit  der  Brille  eines  Landschulmeisters,  im  Eisens 
bahnwagen  und  zerkaut,  um  zwischen  länger  gefirnißten 
Reisenden  nicht  durch  Lackgeruch  aufzufallen,  in  der  Dritten 
Klasse  sein  Butterbrot;  schlüpft  unbemerkt  über  die  Ostern 
reichische  oder  holländische  Grenze,  wird  vom  Lloyd  oder 
von  der  Stoomvaart  Maatschappij  prompt  verfrachtet,  taucht 
in  Alexandrien  oder  Batavia  ins  dichteste  Gekribbel,  protzt 
nicht  viel  mit  seinem  Geld  und  wird  vom  Scheinwerfer  der 
Heimath  nie  wieder  gesichtet.  Nein:  er  schreibt  an  einen 
berliner  Kameraden  und  prahlt  ihm  des  neuen  Lebens  Wonne 
vor;  er  bleibt  in  Briefwechsel  mit  Verwandten,  denen  er  einen 
Zipfel  vom  Schleier  seines  Geheimnisses  gelüpft  hat.    Die 

511 


Fährte  wird  ruckbar,  der  Marder  erwisckt  und  in  den  Käfig 
ausgeliefert  Grippen  ist  schlauer.  Behutsam  meuchelt  er  die 
ihm  lästige  Ehegefahrtin  und  hüpft,  als  in  seines  Hauses 
Kellergrund  Menschenknochen  gefunden  werden,  mit  hur^ 
tiger,  doch  nicht  hastiger  Dialektik  über  das  Drahtgeflecht 
der  Verdächtigimg  hinweg.  Wird  dann  aber  das  blinde, 
dumme  Opfer  der  Theaterwelt,  in  die  sein  nach  flink  zu  er^ 
raffendem  Geld  und  Frauenfleisch  geiler  Sinnendrang  sich  ver# 
laufen  hat.  Nur  im  Rampenlicht  gedeiht  der  Wahn,  ein  ge# 
schorenes,  in  Rock  und  Hose  gestecktes  Mädchen  könne 
Wachen  ein  Jüngling  scheinen  und  solche  Mummerei,  trotz 
einem  ungewollten  Strauchelschritt,  einem  nicht  eingedrillten 
Gestus,  unbemerkt  bleiben.  Weil  die  leise  Theaterwanze 
niemals  bedacht  hatte,  daß  im  Mann  der  müdeste  .Eros  noch 
im  Bratenrock  das  Mädel  erwittert,  weil  Grippen  sein  Lieb# 
chen  (an  Bord  eines  auf  der  Atlantis  schwankenden  Schiffes 
gar)  für  einen  jungen  Sekretarius  ausgab,  ward  er  verdächtig, 
ertappt,  gegriffen.  Kolbe  schwadronirt  und  späßelt  vor 
Kneipkumpanen  und  Wmkeldimen  so  lange  davon,  daß  er 
den  Eheherm  seines  alternden  Bettschätzchens  erschossen 
habe,  bis  die  Rattenfalle  hinter  Ihm  zuklappt.  Stemickel  be# 
stimmt  alles  zur  Drosselung  dreier  Menschen  und  zur  Siehe«« 
rung  seiner  Flucht  Nöthige;  läßt  aber  im  Kleid  des  Leichi« 
nams,  den  er  in  einer  abgelegenen  Strohmiete  verbrennen 
will,  ein  Papier,  das  den  Getöteten  als  nach  Ortwig,  im  Be# 
zirk  Fürstenberg^Wriezen,  zuständig  erweist  und  auf  die 
Spur  des  Thäters  hilft.   Mit  diesem  \^ergespann  stolzirt  die 

512 


Verbrechergilde  nickt  in  neuen  Rukmeslenz.  Zu  Ebren  kam 
die  Zunft  in  den  letzten  Jahren  nur  durch  den  Erzschelm, 
der  dem  Louvre  am  hellen  Tag  den  berühmtesten  Leonardo 
stahl.  Und  wer  weiß,  ob  nicht  auch  seine  Glorie  bleicht, 
wenn  er  eines  Tages  vor  den  Schirm  der  Hehler  tritt? 

Stemickel  hat  ihn  lange  überstrahlt.  Sein  Ruf  glich  dem 
Klostermayers,  des  Bayerischen  Hiesl,  der,  nach  ganzen  Serien 
grausamster  Blutgräuel,  1771  in  Dillingen  von  Staates  wegen 
erwürgt  und  dann  noch  gerädert  worden  ist.  Neben  ihm 
schien  dem  nachgeborenen  Raubmörder  im  Neuen  Pitaval 
ein  Vorderplatz  gewiß.  Der  Norddeutsche  tummelte  sich 
nicht  auf  so  glatter  Bahn  wie  der  Wilderer  aus  Kissing,  der 
eine  Bande  um  sich  schaaren  und,  ohne  Angst  vor  der 
Wamermacht  und  Meldegewalt  stumm  scheinender  Drähte, 
Jahre  lang  eine  Witteisbacherprovinz  brandschatzen  konnte. 
Stemickel,  den  das  Müllergewerbe  ausgebrütet  haben  sollte, 
galt  als  ein  Ungeheuer  aus  dem  finstersten  Schlund  mythi^ 
scher  Vorstellung.  Der  an  Körperkraft  stärkste,  den  Menschen 
wölfischste  Mensch,  den  Einbildnerwille  je  träumte;  dabei 
allem  Gethier  in  Güte  zugethan  und  besonders  zärtlich  dem 
sanft  gurrenden  Täubchen.  Ein  Riese,  ein  Vieh,  ein  Kind: 
Alles,  was  die  im  Masterbe  der  Sue  und  D'Ennery,  Lyttonn 
Bulwer  und  Conan  Doyle  speckig  gewordene  Romantik  für 
das  Bild  eines  großen  Verbrechers  braucht.  Unzählige,  hieß 
es,  hat  er  geplündert  und  in  Martern  geschlachtet;  unstillbar 
ist  sein  Blutdurst,  unausschöpflich  der  Born  seiner  List.  Durch 
dicke  Mauern  und  dichte  Gitterstäbe  tappt  er  sich  ins  Freie ; 

33.  III  513 


wer  ihn  zu  Kalten  glaubt,  umklammert  eines  Entlaufenden 
Schatten.  Wohin  er  sich  verkrochen  hat  und  wie  schwer  die 
Sündenlast  ihn  bebürdet,  weiß  kein  Sterblicher.  Als  ein  schmatz 
zendet  Moloch  hockt  er  wohl  irgendwo  und  blinzelt  aus  nie 
satter  Gier  schon  nach  frischer  Menschenfleischspeise.  Unter 
der  Mütze  eines  Bauemknechtes  wird  er  gefunden.  Mit  drei 
jungen  Strolchen,  die  der  Zufall  ihm  warb,  hat  er  den  Ho& 
besitzer,  dessen  Weib  und  Magd  gedrosselt;  die  Wohnstätte 
ausgeraubt,  den  Kindern  und  Hausthieren  aber  Labung  be^ 
reitet;  und  den  Leib  des  getöteten  Hofbesitzers  durch  Feuers^ 
brunst  zu  zerstören  versucht.  Moloch,  wie  er  im  Propheten« 
buch  Ezechiels  steht:  dessen  Wink  Menschen  schlachtet  und 
verbrennt.  Die  Knechtsgestalt  ist  sicher  nur  Larve.  Dieses 
Scheusal  braucht  nicht  von  Schmalhans  die  Atzung  zu  holen. 
Das  Ermittelungverfahren  weitet  den  blutdunstigen  Nim» 
bus;  muß  ihn  weiten:  denn  am  sausenden  Webstuhl  der  Zeit 
schaffen  emsige  Erdgeisterchen  und  wirken  dem  Ermittler 
das  Kleid  der  Gottähnlichkeit,  Der  Kriminalkommissarius 
heftet  des  Namens  Zukunft  an  seinen  Kapitalverbrecher;  den 
Reporter  klebt  erlaubte  Geschäftssucht  an  seinen  Kommissar. 
Der  wächst  mit  der  Summe  der  Unholdsthaten;  und  müßte 
mit  ihr  schrumpfen.  Drum  wird  Stemickel  im  Regirungi* 
bezirk  Schwarzer  Kunst  sacht  ein  abgefeimter  Gigant,  der 
Ermittler  ein  Kriminologengenie,  neben  dem  Dostojewskijs 
Untersuchungrichter  Porphyrius  uns  kaum  ein  armer  Pfuscher, 
Sherlock  Holmes  höchstens  ein  anstelliges  Polizeihündchen 
dünkt.   Nur  dieses  einen  Hirnes  Allgewalt  vermochte  den 

514 


Listenreichen  so  2u  umzingeln,  dafi  nirgends  eine  Lücke,  eine 
Ausbruchsmögiichkeit  blieb;  ihm  alle  Masken  vom  Antlitz 
zu  nöthigen  und  nur  das  Gäßlein  offen  zu  lassen,  das  thak 
wärts  in  reumüthiges  Geständniß  fiihrt.  Stemickel  wehrt 
sich  wie  ein  Löwe,  in  dessen  Schädel  Fuchsenschlauheit  auf 
der  Wacht  liegt;  doch  der  triebhaft  ahnende,  alle  Zusammen^ 
hänge  blitzschnell  ertastende  Geist  des  Kommissars  bändigt 
ihn,  wie  des  Beschwörers  Starrblick  die  giftige  Schlange. 
Stemickel  leugnet  zäh;  ist  aber  vorgestern,  unter  der  Rüttele 
faust  des  AIlum£issers,  ins  Wanken  gekommen;  gestern  in 
ungemein  wichtige  Bekenntnisse  überredet  worden;  heute 
völlig  niedergebrochen.  So  (ungefähr)  lasen  wirs.  Wochen 
lang.  Auch,  daß  der  Kommissar  Zehnmännerarbeit  bewältige ; 
Tag  und  Nacht  über  Akten  grüble;  bis  in  den  Nordosten 
Oberschlesiens  des  Denkens  Faden  fortspinne;  ein  Gebirg 
schurkischer  Gräuel  entschleiern  werde,  die,  alle,  wiurden, 
weil  Stemickel  sie  gewollt  hatte.  Dessen  Gestalt  färbt  sich 
allgemach  nun  ins  HöUenfiirstliche.  Und  wie  ein  Mühlen^ 
werk  ächzt  des  Lauschers  angstvoll  wogender  Athem. 

Hofft  Herr  Omnes,  einen  vom  Wirbel  der  Leidenschaft 
auf  den  Grat  des  Verbrecherwillens  Gepeitschten  am  lichten 
Tag,  ohne  Eintrittsgeldaufwand,  begaffen  zu  dürfen?  Unter 
der  Mehlstaubschicht  eines  Macbeth,  hinter  des  Mist&hrers 
verjauchtem  Schurz  eines  Raskolnikow  Wesenszug  wiederzu^ 
finden?  Vor  dem  Abbild  des  vom  Scheitel  bis  unter  die 
Zehe  mit  Blut  Getünchten  die  luftlos  welkende  Seelenhaut 
mit  dem  Prickelreiz  frommen  Grausens  zu  beleben?  »Der 

33*  515 


Gedanke  der  Erbsünde  ist  der  natürlicliste,  auf  den  der 
Mensch  verfallen  konnte.  \K7ie  oft  thut  der  Mensch,  was  er 
schon  bereut,  bevor  und  indem  er  es  thuti  \(^e  oft  ruft  er: 
Pfiii,  spuckt  ins  Glas  und  leert  es  dennoch  I  Alles,  was  im 
Lauf  der  Zeit  allgemeiner  Glaube,  unumstößlich  scheinende 
Satzung  wurde,  auf  das  persönliche,  individuelle  Bedürfniß 
zurückzuführen,  ist  von  der  höchsten  Wichtigkeit;  nur  da# 
durch  gelangt  man  zu  einiger  Freiheit  der  Erkenntniß.  Man 
macht  auf  diesem  Weg  die  merkwürdigsten  Entdeckungen: 
die,  zum  Beispiel,  daß  Gottes  Mantel  aus  dem  Schlafrock 
des  Menschen  und  aus  dem  Gespensteranzug  seines  Gewissens 
zusammengestückt  ist.  Die  Menschheit  läßt  sich  keinen  Irr^ 
thum  nehmen,  der  ihr  nützt;  sie  würde  an  Unsterblichkeit 
glauben,  auch  wenn  sie  das  Gegentheil  wüßte.  Eine  Welt^ 
Ordnung,  die  der  Mensch  begriffe,  wäre  ihm  unerträglicher 
als  diese,  die  er  nicht  begreift.«  Das  hat  Friedrich  Hebbel 
gesagt;  der  Friesenrecke  mit  den  Fiedemerven  der  schäm« 
haften  Mimosa,  der  mit  gleicher  Sicherheit  des  Empfindung« 
tones  aus  Hagens  und  Rhodopes,  Etzels  und  Mariamnes 
Herzen  sprach.  Dieser  große  Erfiihler  und  Dichter  spätorien« 
talischer  und  spätgermanischer  Menschheit  hat  auch,  mit  ge« 
duldigerer  und  feiner  behäuteter  Hand  als  irgendein  Anderer, 
die  Wurzel  zerfasert,  aus  der  Mörderaffekt  keimt,  und  ihren 
Stoff  uns  durch  die  vergröfkmde  Linse  des  Dramatiker« 
temperamentes  sehen  gelehrt.  Golo :  da  steht  leibhaftig  (und 
erklärt  sich  selbst  leider  nur  allzu  bewußt)  der  Verbrecher« 
Wille  aus  Leidenschaft.    Und  der  ihm  beklemmten  Odems 


516 


stürmisches  Geseu&  gab,  flüchtet  von  so  grassem  Anblick  auf 
eine  Bülte,  durch  deren  Schilfbesatz  Urmuhmenweise  raschelt: 
»Was  Einer  werden  kann,  Das  ist  er  schon ;  zum  Wenigsten  vor 
Gottl  Der  Mörder  und  der  Andere,  der  ihn  des  Mordes  wegen 
zum  Tod  verdammt:  worin  sind  sie  unterschieden,  wenn  Gott, 
der  mit  der  wirklichen  zugleich  alle  möglichen  Welten  üheu 
schaut,  erkennt,  daß,  bei  anderer  Verkettung  der  Umstände, 
Jener  der  Richter  und  Dieser  der  Mörder  hätte  sein  können?« 
Entstrafit,  die  Ihr  von  den  ortwiger  Morden  träumt,  den  Strang 
Eurer  Hoffiiung  oder  denket,  wenn  Ihr  durchaus  ein  Vorbild 
aus  dem  Kampf  zwischen  Begierde  und  Gewissen  ersehnt,  an 
Feuerbachs  »Raubmörder  aus  Eitelkeit«,  der,  um  einer  durch 
Prunksucht  entstandenen  Schuldpflicht  ledig  zu  werden,  die 
Hirnschale  des  Schulklopfers  Joseph  Landauer  zerschmetterte, 
eher  als  an  den  nach  Genovevas  Leib  brünstigen  Golo.  Der 
hat  nur,  wenn  unter  der  Eiskruste  ersten  Entsetzens  ihm  der 
Blutstrom  auskühlt,  mit  den  kalten  Dutzendmördem  Gemeini« 
Schaft;  in  den  Sekunden  nur,  in  denen  er  sich  schwichtigen 
und  dem  Fegfeuer  abbetteln  will:  »Ein  Mordi  Was  ist  ein 
Mord?  Was  ist  ein  Mensch?  Ein  Nichts^  So  ist  denn  auch 
ein  Mord  ein  Nichts  I«  Ist  die  Kruste  geborsten,  dann  sie«» 
dets  rasch  wieder  im  Lebenssaft  und  der  von  Leidenschaft 
hemmunglos  Verwirrte  sondert  sich,  mit  allen  Kanten  und 
Zacken  der  Wesensart,  deutlich  vomhomo  delinquens.  Schon 
Gall  hat,  vor  neunzig  Jahren,  die  Verbrecher  in  die  von 
Affekt  und  die  von  Gewerbssinn  bestimmten  Rotten  ge«> 
schieden.  Viel  weiter  kam  Erkenntniß  bis  heute  nicht. 


517 


Stemickel  wird  sehenswerth,  wenn  er,  mit  gefesselten 
Gliedern,  über  den  Zaun  in  den  minder  häßlichen  Reigen 
der  Jäheitsünder  springen,  als  von  ungerechter  Schimpfrede 
des  Bauers,  der  Bäuerin,  der  Magd  bis  ins  Blut  Gekränkten 
sich  vor  das  Schwurgericht  pflanzen  will.  Er  wird  hörens^ 
werth,  wenn  er  aus  der  Stoppelrede  des  wortarmen  Land« 
arbeiters  und  auf  die  rohe  Ausdrucksform  stolzen  Stromers 
in  die  von  Bohnerwachs  blankgeriebene  Zeitungsprache 
schlittert.  »Meine  Frau,  die  nicht  weiß,  daß  ich  auf  solchen 
Wegen  gewandelt  bin,  will  ich  nicht  unglücklich  machen.« 
Nur  danach  entsteht  im  Schwurgerichtssaal  der  Oderstadt 
Frankfurt  »große  Bewegung«.  Herr  Omnes  langt  gierig  nach 
der  Gefühlshülse,  der  Lebensspielmarke,  an  die  sein  Tastsinn 
gewöhnt  ist;  und  scheint,  zum  ersten  Mal,  in  die  Bereitschaft 
zu  Mitleid  geneigt.  Weil  er  den  Mörder  des  Lieferungromans, 
endlich  das  von  Reuezähren  aufgeweichte  Ungeheuer  zu  er« 
blicken  hofit,  dessen  »Psyche«  der  Reporter  in  einen  Blätter« 
stoß  durchgepaust  hat  (damit  keine  Plantage  auf  die  Dung« 
zufuhr  zu  warten  brauche).  Doch  das  Strählchen  verkohlt 
rasch  und  um  Stemickel  wirds  wieder  fahlgrau.  Weder  Ge« 
witter  noch  Wolkenbruch.  Wo  blieb  der  blutdunstige  Nim« 
bus?  Der  Kranz  aus  den  Sumpf  blumen  herbstender  Roman« 
tik?  Die  UeberfuUe  scheusäliger  Enthiillung,  die  den  Lun« 
gemden  verheißen  worden  war?  Mußte  für  diesen  Ertrag 
ein  Kriminologe  von  vielen  Graden  sich  länger  noch  als  der 
Weltenschöpfer  plagen?  Nicht  nur  die  Monarchenmörder, 
von  Aegisth,  der  Agamemnon  erschlug,   bis  auf  den  irren 

518 


Weltbeglücker,  der  in  Saloniki  jetzt  einen  König  der  Hellenen 
erschossen  hat,  kitzeln  das  Gedächtnißfell  wohliger  (denn 
sie  hattens  auf  einen  Nebenbuhler  oder  Tyrannen,  den  Throne 
oder  Bettlusträuber,  den  Wipfel  eines  gehaßten  Stammes  ab^ 
gesehen):  noch  der  Raubmörder  aus  Eitelkeit  letzt  den  Gaur 
men  reichlicher  als  dieser  verviehte  Müller,  dem  die  Knechts» 
gestalt  nicht  Larve  war  und  der  über  Leichen  nur  in  Tag«> 
löhnerfron  geschritten  ist.  Joseph  Lepage,  dessen  Selbstbe» 
kenntniß  Lombroso  abgeschrieben  hat,  beugt  sich  über  den 
geknebelten  Strolch.  Auch  ein  Wicht  ohne  besonderes 
Willensmerkmal.  Der  als  Fünfzehnjähriger  dem  arbeitsamen 
Vater,  als  Dank  für  ernsthaft  milde  Ermahnung,  das  Lebens» 
motto  in  den  Bart  speit:  »Wer  sich  schindet,  ist  ein  Rind» 
vieh;  habe  ich  erst  ein  Frauenzimmer,  das  mir  jeden  Tag 
vierzig  Sous  zinst,  dann  bin  ich  geborgen^c.  Da  er  den  Koch» 
topf,  dem  er  Deckel  sein  dürfte,  nicht  sogleich  findet,  will 
er  ein  stilles  Weibchen,  seines  Herbergers  Gefährtin,  töten, 
um  ihr  acht  Francs  zu  nehmen.  Dieses  schäbige  Motiv  kleidet 
ihn  aber  allzu  schlecht  und  er  schminkt  sich  behend  den 
Satyrkopf  eines  Lustmörders  an.  »Ich  bebte,  wenn  ihre  Haut 
mich  streifte,  und  mußte  ihr  helfen,  wenn  sie  die  entziindete 
Brust  verband.  In  solchem  Drang  hat  michs  übermannt. 
Den  zuckenden,  noch  warmen  Leib  zu  genießen:  cela  doit 
etre  un  morceau  de  gourmeti  Der  Versuch  mißlang.  Ich  habe 
ihr  nur  ein  paar  Centiliter  Blut  abgezapft:  und  soll  nun 
fünfzehn  Jahre  im  Höllenklima  schuften.  Lächerlich  I  Ja, 
wenn  ich  sie  eine  \^ertel$tunde  lang  in  meinen  Fängen  ge» 

519 


kabt  hätte,  gäbe  ich  gern  meinen  Kopf  hin.  Reue?  Die 
bitterste;  doch  nur,  weil  ich  so  dumm  war,  beim  Stoß  falsch 
zu  zielen.  Fünf  Millimeter  tiefer:  und  sie  verröchelte  in 
meinem  Arm.^c  Der  schämt  sich  des  Diebsgewandes,  sehnt 
sich  in  die  Nähe  Pranzinis,  des  in  orgiastischen  Messen  ge# 
feierten  Marquis  de  Sade  und  wendet  sich  verächtlich  von 
dem  Raubmörder,  den  kein  Mimenschwung  aus  stickiger 
Mulde  hoch  ins  Interesse  einer  hungernden  Menge  hebt. 

Stemickel  bleibt  kalt  und  klar,  wie,  noch  in  gefahrlichen 
Händeln,  ein  schlauer  Bauer.  Zwischen  ihm  und  allen  wei« 
eher  Gebetteten  ist  Krieg;  gilt  seit  Jahrzehnten  nur  das  Höhlen^ 
recht  uralten  Naturzustandes.  Weim  es  sein  mußte,  hat  er 
gefront,  daß  der  Fleißigste  sich  nicht  neben  ihm  brüsten 
durfte.  Vom  Frühroth  bis  in  die  Nacht.  Auf  dem  Feld  und 
im  Stall.  Dann  flogs  ihm  nur  so  von  der  Hand;  und  der 
Dienstherr  schmunzelte  und  maß  dem  tüchtigen  Knecht  den 
Nachttrunk  wohl  einmal  reichlicher  zu.  Gut.  Nur:  immer 
den  Rücken  krümmen,  für  Andere  schwitzen,  dem  Fremden 
die  Scheune  füllen?  Nein.  Macht  über  Menschen  erlangen, 
von  ihrer  Weide  Futter  erzwingen:  Das  wäre  Trost  und  end^ 
lieh  sättigender  Lohn.  Wie  aber  erlangt  Unsereins  denn  je, 
wie  nur  Macht  über  Menschen?  Durch  die  von  verschlagen 
ner  List  bediente  Körperkraft.  Durch  das  Geld,  das  sie  ihm 
in  den  Beutel  liefert.  Verbrechen?  Unsinn.  Zwischen  dem 
waffenlos  in  den  Kampf  ums  Dasein  Geschickten  und  den 
stärker  Gerüsteten  ist  nicht  Rechtsgemeinschaft,  ist  niemals 
von  Beiden  beschlossene  Lebensversicherung;  ist  immer  nur 

520 


Krieg.  Der  unter  der  Bewußtseinsschwelle  vorbereitet  und 
auf  der  Tenne,  an  der  Mistgrube,  in  der  Ackerfurche  ausge«» 
fochten  wird.  Würde  der  Herr  zaudern,  ihn  wegen  Siech:^ 
thums  oder  geringen  Fehls  wegzujagen?  Krieg  also;  der 
Erdhöhlenzwist  um  Nahrung,  Warme,  Gebieterrecht.  Und 
wer  zählt  im  Krieg  fallende  Blutstropfen?  Augenmaß  und 
Wahmehmungfahigkeit  sind  so  blöd,  daß  sie  zur  Schätzung 
des  Abstandes  von  fernem  Gewinn  und  naher  Gefahr  nicht 
ausreichen.  »Was  ist  ein  Mord?  Was  ist  ein  Mensch?  Ein 
Nichts  I«  Wird  man  ertappt,  so  gehts  noch  lange  nicht  an 
den  Kragen.  Ein  Kerl,  der  zwei  Zinken  und  Hauer  hat, 
beißt  oder  kratzt  sich  durch  und  übertölpelt  den  Büttel,  der 
für  Litzchen  und  Zulage  nicht  ins  offene  Grab  schielen  mag 
und  zwar  alles  Wahrscheinliche  berechnet,  für  Unwahrschein^ 
liches  aber  nicht  vorgesorgt  hat.  Schwedische  Gardinen  sind 
kein  Sargdeckel,  Mauern  von  Mannesbreite  nicht  die  Scholz 
len,  die  der  im  Würmerverließ  erwachende  Arm  nicht  zu 
lockern  vermag.  Im  richtig  erspähten  Augenblick  die  aller 
Voraussicht  spottenden  Gewaltmittel  mobil  gemacht:  und  der 
Sieg  ist  beinahe  gewiß.  Handeln  im  Weiten  die  großen 
Herren  denn  anders?  Und  ist  das  Ding  schließlich  nicht  zu 
drehen,  dann  ist  doch  ein  buntes  Erlebniß,  eins,  in  das  Blei# 
grau  des  Frönertages  geprasselt  und  ein  im  Riesenbetrieb  der 
Bürgerwirthschaft  unbeachtetes  Rädchen  für  eine  kurze  Frist 
wenigstens  in  den  Lichtkreis  gerückt.  Weshalb  aber  soll 
Einem,  der  stracks  auf  sein  Ziel  losgeht  und  nichts  Unkluges, 
nichts  unklug  thut,  Alles  mißlingen?  Hier  lagert  Geld  genug 

521 


fiir  den  Lebensrest.  Eine  gute  Brise  treibt  Gehilfen  herbei. 
Bauer,  Bäuerin,  Magd  in  festen  Schlingen  gedrosselt.  Die 
Töchter,  damit  sie  nicht  heulen  und  zu  unnöthiger  Metzelei 
zwingen,  in  den  Schrank  gesperrt.  Futter  und  Trank  Bat  das 
\^eh;  sonst  brüllt  es  zur  Unzeit.  Nichts  Unnützliches; 
hübsch  nüchtern  bleiben  und  nichts  Nothwendiges  versau^ 
men.  Der  Briefträger?  Die  Herrschaft  ist  verreist.  Den  Ka^ 
daver  in  die  Strohmiete,  die  schnell  in  Brand  kommt.  Arbeit; 
wie  andere.  Dann,  mit  den  bequem  am  Leib  zu  bergenden 
Beutetheilen,  in  die  Nacht  hinaus;  in  buntes  Erleben  und, 
endlich,  in  Genuß.  In  dem  Ding  müßten  zwölf  Teufel  und 
ihre  Großmutter  sitzen,  wenn  es  nicht  zu  drehen  wäre. 

Ist  aber  nicht.  Und  Stemickel  muß  dran  glauben.  Dies^ 
mal,  weiß  er,  entwischt  er  nicht  wieder.  Seine  Schliche  sind 
ruchbar.  Wie  ein  wildes  Thier  wird  er  in  oen  Käfig  gepfercht. 
Keine  Klage;  so  gehts  im  Krieg.  Und  daß  dieser  verloren 
ist,  könnte  nur  ein  Tropf  noch  weglügen.  Einen  Vertheidi# 
ger  von  Ruf  herwinken,  einen  aus  dem  berliner  Troß,  der 
jeder  Lärmrolle  nachjagt?  Der  würde,  um  in  der  Zeitung 
nie  zu  fehlen,  täglich  zehnmal  das  Wort  fordern;  mit  Gericht 
und  Staatsanwalt  raufen;  seinen  Aerger  ins  Protokol  spritzen; 
das  Mandat  wie  ein  verlaustes  Trödelstück  schwenken;  sein 
Rügerecht  mit  Puschel  durch  den  Saal  tummeln;  hinter  das 
Gespenst  unvermeidbarer  Revision  den  Entschluß  hissen, 
beim  nächsten  Unglimpf  von  dem  Oderfort  grimm  nach  Berlin 
zu  weichen  und  den  Angeklagten  schutzlos  zu  lassen;  schließe 
lieh,  wenn  alle  Raketen  verknallt  sind,  in  Psychologie  plät# 

522 


schem  und  der  Thränendrüse  die  OflBzialleistung  auspressen. 
(Nach  dem  berüchtigten  Muster:  »Daß  mein  Klient  Vater 
und  Mutter  gemordet  hat,  darf  und  will  ich  nicht  beschönig 
gen;  Ihre  Gewissenspflicht  aber,  meine  Herren  Geschworenen, 
ist,  ernstlich  zu  erwägen,  daß  er  zur  Waise  wurde  I«)  Solchen 
Quark  beleckt  hier  doch  Keiner.  Am  Liebsten  zerrisse  die 
Volkswuth  den  Mörder.  Der  riecht  die  Stimmung;  und  wickelt 
sich  stramm  in  Gleichmuth.  Weder  Abruzzenpose  noch  Zu^ 
sammenbruch  in  den  Titmpel  der  Reue.  Stämmig  sitzt  er,  ist 
mit  jeder  taktischen  Wendung  des  Prozeßfiihrers  zufrieden 
und  drückt  sich  an  Ja  und  Nein  nie  feig  vorbei.  Die  Hem^ 
mung,  die  Menschenhime  von  aller  Thierheit  trennt,  hat  er 
nicht;  aber  trutzigen  Muth  bis  ans  Ende.  Auch  noch  ein 
Bodensatzchen  von  dem  Korsarenhumor,  der  ihn  einst  vor 
vielen  Ohren  höhnen  ließ:  »Die  Polizeisippschaft  hat  keine 
Augen  im  Kopf;  sonst  hätte  sie  den  Sternickel,  der  (ich  bin 
aus  dem  selben  Dorf)  gar  nicht  zu  verkennen  ist,  längst 
aufgegriffen«.  Die  Polizei  haßt  er  wie  je  ein  Frommer  den 
Satan;  dem  Kommissar  ein  garstiges  Läppchen  ans  Zeug  zu 
flicken,  ist  ihm  noch  in  Fesseln  Genuß.  Auch  den  Gehilfen 
ist  er  nicht  hold.  Die  drei  Jämmerlinge  haben  von  dem  ver^ 
hagelten  Ding  wenigstens  Etwas  gehabt:  sich  randvoll  ge^ 
soffen,  in  Autos  gebummelt,  den  Radrennem  zugegröhlt,  mit 
willigen  Mädchen  geschlafen.  Er  hatte  nichts,  gar  nichts  als 
die  Last  der  Zurichtung  und  das  Elend  der  Flucht.  Und  die 
grünen  Bengel,  die  vorGroschendimen  dieThat  ausgeschwatzt, 
dann  ihn  verpfiffen  haben  und  jetzt  flennen,  der  Gedanke 

523 


an  Mord  oder  Totschlag  sei  ihnen  nie  genaht,  diese  ruppigen 
Zuhälter  sollen  mit  blauem  Auge  davon?  Nein.  »Alles,  was 
Recht  ist.«  Stemickels  Rechtsgefiihl  bäumt  sich ;  und  billigt  dann 
den  Spruch,  der  ihn  dreimal,  zwei  Helfer  zweimal  zum  Tod  ver^ 
urtheilt  und  nur  den  jüngsten  Gesellen  auf  fünfzehn  Jahre  ins 
Gefiingniß  schickt.  Auf  die  letzte  Karte,  die  einzige,  die  noch 
auszuspielen  war,  hat  er  selbst  wohl  kaum  eine  Hoffiiung  gesetzt. 
Er  wollte  sich  als  ruhigen,  auf  seine  besondere  Weise  ehrlichen 
Mann  präsentiren.  Unbestreitbares  frank  zugeben  und  nur  be^ 
haupten,  was  bündig  nicht  als  fabch  zu  erweisen  war :  daß  seiner 
Absicht  Ziel  Betäubung  und  Raub  gewesen  sei,  doch  nicht 
Mord.  Diese  Nothschanze  war  von  einem  Unbescholtenen  nicht 
zu  halten.  Wer  so  würgt  und  das  Schädeldach  prügelt,  hat, 
allermindestens,  die  Möglichkeit  des  Totschlages  in  sein  Be^ 
wußtsein  aufgenommen.  Wider  Stemickel  zeugte  obendrein  die 
verjährte  Schuld.  Und  der  vom  Staatszwang  ihm  verpflichtete 
Anwalt  sprach  fiir  den  Mörder  kein  armes  Wörtchen.  Würdiger 
war  diese  steife  Absage  ab  ellenlanges  Rabulistengeplärr  oder 
gar  der  Versuch,  den  Mörder  vom  Richtblock  weg  ins  Irrenhaus 
zu  schmuggeln.  (Wer  sich  in  Mord  gewöhnt,  sieht  die  Relation 
von  Gewinn  und  Gefahr  freilich  so  falsch,  daß  ihm  die  Willens^ 
schranke  verrückt  wird  und  er  den  Normalen  nicht  mehr  zu^ 
gehört;  ihn  sofort  und  fiir  immer  unschädlich  zu  machen,  ist 
dennoch  die  Pflicht  jeder  von  ihm  gestörten  Rechtsgenossen« 
Schaft.)  Aber  ein  gefesselter  Mensch,  in  höchster  Lebensgefahr, 
ein  noch  so  verthierter,  ohne  den  Schild  menschlicher  Für« 
spräche:  kein  Lenzfeierglanz  verklärte  uns  dieses  Schreckensbild. 

524 


Als  Feclor  Michailowitscli  Dostojewskij,  der  grundlos  des 
Trachtens  nach  Aufruhr  verdächtigte  Dichter,  in  der  Peters 
PaukFestung  das  Todesurtheil  hörte,  hielt  er  sich  still.  Als 
auf  dem  Richtplatz,  vor  dem  Galgen,  der  Wink  eines  weißen 
Tuches  den  Henker  zwang,  den  irren  Grigoriew  vom  Pfahl 
loszubinden,  floh  das  Blut  Fedors  Michailowitsch,  dem  die 
Halsschlinge  schon  geknüpft  war,  in  die  Herzkammer  zurück. 
Als  ihm  der  Gnadenerlaß  des  Zaren  vorgelesen  wurde,  über^ 
strömte  die  Wangen  des  zum  Tod  Bereiten  jäh  die  Purpura 
welle  der  Scham:  denn  diese  Begnadigung  empCuid  er  »wie 
unnöthigen  und  häßlichen  Schimpf.«  In  Sibirien  litt  er,  als 
Zuchthaussträfling,  unter  Entbehrui^,  Arbeitzwang,  Ketten^ 
gewicht,  Leibes  und  Geistes  Noth  nicht  so  wie  unter  der 
Wucht  der  Verachtung,  die  sich  von  ihm  wandte,  des  mit 
Furcht  gesprenkelten  Hasses,  der  aus  jedem  nicht  wegschwei«: 
fenden  Auge  ihn  und  Seinesgleichen  anfunkelte.  Almosen 
wurde  zum  Seelenlabsal;  und  die  Erlaubniß,  ein  Kupfergeld^ 
stück  ins  Kirchenbecken  zu  legen,  leuchtete  wie  Sonnenau& 
gang  ins  Gemüth  und  weckte  aus  finsterem  Schacht  die  Zu^ 
versieht:  »Vor  Gottes  Blick  bin  auch  ich  ein  Mensch;  sind 
wir,  Alle,  den  nicht  in  Eisen  geschirrten,  nicht  von  der  Peit# 
sehe  umdräuten  Menschen  gleich.«  Ostern  wird  eingeläutet. 
Die  Freien,  Reichen,  Vornehmen  drängen  sich  auf  die  be^ 
quemsten  Sitze.  Weitab,  an  der  Schwelle,  kauern  die  Elenden; 
Krüppel,  Bettler,  das  Zuchthausvolk.  Aus  ihrem  demüthigen 
Gebet  lodert  Inbrunst,  die  reine  Flammensäule  frommer  An^ 
dacht.   Und  da  im  Morgengrau  nun  selbst  den  vom  Staat 

525 


Ceächteten  <las  Sakrament  des  Abendmahles  gespendet  wird 
und  über  dem  Kelch  des  Priesters  Mund  den  Herrn  anfleht, 
auch  dem  ärmsten  Schacher  in  dieser  Stunde  nicht  die  Aufit 
nähme  zu  weigern,  klirren  hundert  Ketten;  liegen  hundert 
Dürstende  vor  dem  Erlöser  im  Staub;  stehen  hundert  von 
Trost  Gelabte  auf  und  schleifen,  neuer  Wegzehrung  froh,  die 
Fessellast  weiter.  Und  dem  Dichter  dämmert  noch  schöner 
ein  Tag.  Dem  von  der  Morgenarbeit  Heimkeuchenden  schreitet 
eine  Frau  sammt  einem  kleinen  Mägdlein  entgegen.  Das  schaut 
den  beladenen,  vergilbten  Mann;  und  reckt  sich  ans  Ohr  der 
Mutter.  Der  Sträfling  erblinzelt  noch,  wie  die  Frau  aus  ihrem 
Bündelchen  eine  Münze  nimmt.  Nun  hört  er  rasche  Füße  hinter 
sich;  und  schon  hat  das  liebliche  Kind  ihn  überholt.  »Hier, 
armer  Mann;  um  Christi  willen  I«  Hartes  drückt  sich  in  die  sanft 
entballte  Hand.  Und  das  scheue  Vögelchen  fliegt  wieder  der 
Nestschützerin  zu.  »Eine  Kopeke!  Ich  habe  sie  lange  aufbe^ 
wahrt« :  erzählt  Dostojewski].  Weder  das  Kind  noch  die  Mutter 
ahnte,  daß  ihre  Gabe  Einem  zukam,  der  sich  durch  irgendein 
Wesentliches  von  den  Kettenge£üurten  unterschied.  Den  Un^ 
glücklichen,  in  Verbrechen  Gestrauchelten  wollten  sie  erquicken ; 
nicht  einen  Dichter  ehren.  Eines  jungen  Soldaten  Witwe  und 
Waise.  Der  Mann,  der  Vater  war  eines  Zuchtmangeb  verdächtigt, 
in  Untersuchung  gezogen  worden  und  im  Gefangnißspital  ge^ 
storben.  Eigenes  Leid  hatte  sie,  Mutter  und  Kind,  Mitleid  mit 
fremdem  Elendgelehrt.  »Hier,  armer  Mann;  um  Christi  willen  U 
Noch  blühte  kein  Lenz;  in  Frost  starrte  duftlose  Erde.  Aus  der 
Grabesnacht  aber  war  in  Morgendust  ein  Heiland  erstanden.