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Full text of "Richard von Kralik: Shakespeare und der Weltkrieg. 1917. (Der Weltkrieg 85)"

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Shakeſpeare und der Welifrieg 
Richard von Kralik (Wien) 








Sekretariat Sozialer Studentenarbeir 











Eas Jahr 1916: War das 300. Todegichr. Shakeſpesres. Au 
y zu normalen Frie denszeiten wäre ein fährlarer Rückblick nicht 
umgehen geweſen; befonders nicht für ung Deutſche, die wir 
gewohnt find, Shakeſpeare faſt mehr als Deutihen denn ald Eng 
länder gu betrachten. Das Problem wird in dieſen Zeifen des Welt; 
frieges, der feindfeligfien Stellung Englands gegen Die deutſchen 
Zentealmächte, noch aufregender und antegender, Es iſt ganz not— 
wendig, daß die deutſche Kultur, die nunmehr in eine neue Periode, 
in ein neues Verhältnis zur ganzen Weltkultur tritt, fih da nen 
orienfietk, 

Es handelt ſich für ung nicht um die völlig müßige Trage, wie ſich 
etwa heute ein Shakeſpeare, wenn er noch lebte, zum Weltkrieg und 
zu ung Deutichen fielen würde, Es gibt feine wiſſe nſchaftliche Methode, 
Sie Diefe Fra ge beantworten könnte; zudem iſt ed ung ja and ganz 
gleich gültig, wie fich heute Shaw oder Maeterling, wie fih O'Annunzio 
oder Tſchechoff zu uns fiellen, Ste können ung durch ihre Stellung, 
nahme nicht weſentlich fchaden oder nützen. Wohl aber interefftert 
uns die Beantwortung zweier anderer Fragen, Die aufs imnigfle 
miteinander uuſammenhängen und ſehr wohl durch Ihre Beantwortung 
die Sache unſerer Kultur fördern können; fie lauten: Wie hat fid 
Shafefpeare als Dichter und Denker jur Politik und Kultur feines 
Landes und feiner Zeit geflellt, und welche Stellung ergibt ſich dara us 
für ung feiner Verfon und feinem Werke gegenüber? 

Die folgenden Erörterungen Bilden den kurzen Auszug aus einem 
Buch über Shakeſpeare, das ich ſchon one fünf Jahren im Anſchluß 
an eigne praktiſche Verſuche entworfen habe. 

Wir verbinden mit dem Namen Shakeſpeare den vollen Inbe griff 
reichſter Poeſie. Schlägt man das Buch feiner Zauberwerke auf, ſo 
befindet man ſich auf einmal wie in einem Wunderwald, wie im Bann 
eines Märchengartens, der einen erhöhten Auszug diefer ganzen Welt 
vol Harmonie und voll von Widerſprüchen bilder, Manch andere 

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Dichter ſtehen uns näher: ſo gewiß unfere eignen deutſchen Klaſſiker, 
in die Griechen, die noch viel mehr der Inbegriff einer einbeif; 
lichen nationalen Kultur find. Als ſelbſtherrliche Dichterperfönlichkeit 
ſtellt ſich an Shakeſpeares Seite nur noch erwa Calderon. Aber 
Shakeſpeare zieht uns auch dadurch an, daß er ſelber mitten in den 
Kulturproblemen feiner Zeit wie eine tragiſche Figur daſteht, am der 
fich dag Schickſal erprobt und erfüllt, Shakeſpeare iſt wirklich der Spiegel, 
die abgefürgte Chronik feiner Zeit, Wer ihn verſteht, der verſteht und 
ergründet den großen politifchen, religiöfen, ſozialen Prozeß der Re⸗ 
naiffances und Reformationszeit, diefen Kampf zwi⸗ 
schen Humanismus und Romantik, zwifchen Glauben und Slepſis, 
zwiſchen Demokratie und Ariſtokratie, dieſes Weltbeben, das der ganzen 
Zeit einen Hamletcharalter einprägte. Es find Probleme, die auch 
heute noch den Inhalt des Geiflesringens unferer Zeit ausmachen. 
Das tft es, warum uns Shakleſpeare fo modern erſcheint. Es iſt der 
Wahrheitsgehalt feiner Dichtung, was uns fo ſehr anzieht, 

Bei Shafefpeares Geburt (1564) ſtand England noch mitten in den 
Reformationskämpfen. Gerade die Gegend feiner. Geburt war ein 
Hauptherd der katholiſchen Partei. Sein Vater war Rekuſant, 
Nonkonformiſt, d. h. Fein Anhänger der proteſtantiſchen Staats⸗ 
kirche. Seine Mutter war aus dem katholiſchen Haus der Arden; 
ein Edward Arden wurde noch 1583 wegen angeblicher Mitwirkung 
bei einem katholiſchen Komplott gegen das Leben der Königin Eliſa⸗ 
berh hingerichtet. In diefem Jahre 1583 wurde Sir Thomas Lucy, 
ein eifriger Proteſtant, als Mitglied einer Kommiſſion den verdächtigen 
Stratfordern zugeſchickt. Der Dichter bat am ihm feinem vollen Spott 
die Zügel ſchießen laſſen. Es war wohl nicht nur eine MWilddieberet, 
weswegen der junge Shakeſpeare Bald darauf feine. Heimer floh. 
Er haste ſchon 1582 geheiratet; feine Trauung finder ſich aber in feinem 
Kirchenbuch verzeichnet, was Die Vermutung nahelest, daß dabei 
eine Rentenz gegen die Staatskirche mitfpielte, Die einige wohl: 
melnende Freunde nachträglich gutzumachen fuchten. 

Bereit um 1584 mag die etwas berbe ehelihe Poſſe „Die Zäh⸗ 
mung der Widerfpenfligen“ entflanden fein, vielleicht ein Spiegel 
ju gendlicher Eheverhältniſſe. Darüber erhebt ſich bereits die groß: 
artige Sentens, ein Programm des konſervativen Sozialismus: 
„Die Pflicht, Die der Bafall dem Fürften sollt, die iſt Die Frau auch 
fchnldig ihrem Gatten. Und ift fie trotzig billigem Gebot, was ift 
ſie als ein tückiſcher Nebel, ein Hochverräter an dem lieben Herrn? 
Weshalb iſt unſer Leib zart, fanft und weich, als daß ein fanfter Sinn, 
ein Herz voll Milde im Einflang fieh’ zum leiblichen Gebilde?” 

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Weltkrieg 85 2 


Dies eheliche Problem fotelt auch noch in die „Komödie der Ir⸗ 
tungen” hinein (etwa 1585), wenn e8 da heißt (2, 1): „ES folge dag 
Weib in der Natur gehorfam flets dem Manne, Der Menfch, viel 
höher, göftlicher geftellt, ift Herr des wilden Meers, der weiten Welt 
und Durch Vernunft und hohe Geiftesgaben weit über Vogel, Fiſch 
und Tier erhaben. Hier find die Männer auch der Weiber Heren.” 
Sehr bemerkenswert ift es, daß der Dichter den heidnifchen Stoff, 
ber und aus Plautus befannt ift, ganz in chriftliche Seit verfegt, mit 
„Faſten und Beten”, mit Anflang an Evas Geburfsfchmerzen als 
Strafe der Sünde, an Kreuz, Roſenkranz, „Limbus tartari“, „Jüngſter 
Tag”, „Engel und Teufel”, Vor allem gilt das vom echt romantifchen 
Schlug mit der Abtiffin des Kloſters. | | | 

Ein Parallelſtück zum erſten, roheren Hamlet it „Titus Andro; 
nikus“ (um 1587), Es iſt das die Zeit der Hinrichtung der Königin 
Marie Stuart. Auffallend iſt der furchtbare Peſſtmismus 
biefer Tragödie, die Verzweiflung an der Verderbtheit der Welk, 
an dem Mangel jeder ausgleihenden Gerechfigfeit. Religionsloſigkeit 
geht mit moralifcher Schlechtigkeit Hand in Hand. 

Das Jahr 1588, das Jahr der fpanifhen Armada, br 
deutet einen Wendepunkt in der Weltgefchichte. Spaniens Hegemsnie 
geht damit zum Teil an den Piratenſtaat England über, und die big 
dahin vorwärtsſchreitende Fatholifhe Bewegung kommt wieder eine 
Weile zum Stillſtand. Die große patriotiſche Aufregung dieſer 
zeit mag dem jungen Dichter den Plan eingegeben haben, in 
energifcherer Weife, als 28 bisher geſchehen war, Die varerländifche 
Geſchichte in einer großen Dramentreihe zu fpiegeln, wicht nur theatre: 
liſcher Wirkungen wegen, fondern um die gefhichtlichen Probleme 
zu klären. Zuerſt hat ihm der bunte Stoff gereist, den er in vier Stüden 
(Heinrich VI., erfier Bis dritter Teil) und Nichard III. zuſammen⸗ 
hängend, vielleicht mit Benützung älterer Vorarbeiten, behandelt 
hat. Sehr ſtark betont der Dichter gleich zu Beginn der Tetralogie, 
ber tote Heinrich V. habe feine Schlachten für den Herrn der Heer; 
(baren gefochten, „Durch Das Gebet der Kirche alüdt es ihm“, 
Auffallend ift der Fluch, den Shakeſpeare durch die „Pucelle“ auf 
England merfen läßt: „Die lichte Sonne mwerfe ihre Strahlen nie auf 
848 Land, das eich zum Sitze dient! Umgeb' euch Nacht und düſtrer 
To desſchatten, bis Unheil und Verzmweifelung euch drängt, den Hals 
su brechen oder euch zu hängen!” Der Dichter lobt 08, daß Dapfl 
und Kaiſer zum frommen Frieden raten, um Vergießung des 
Chriſtenbluts zu hemmen (5, 1). Die Lady Glofter erfcheint mit ihren 
Höllenzaubern als Gegenftüd der Pucelle. „Der Krieg ift der Sohn 

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der Hölle, aber des Himmels Zorn braucht ihn um Werkeug (5, 2), 
Der König befennt: „Dreimal bewehrt iſt der gerechte Streiter, und 
nackt iſt der, obſchon in Stahl verſchloſſen, dem Unrecht das Gewiſſen 
angeſteckt (3, 2). Höchſt be deutſam für die ſozialpolitiſche Anſchauung 
Shakeſpeares iſt die Zeichnung des ſozialiſtiſchen Dema gogen Sohn 
Cade und des von ihm geführten Pöbels (4, 2: 4, 4), Der Dichter 
vertritt eine ſtarke Regierung: „Denn was nährt Unkraut als ges 
linde Luft? Und was macht Räuber kühn als zuviel Milde (2. Teil, 2, 6), 
Der Richard ILL iſt die Tragödie des fih ſelbſt überſtürzenden In⸗ 
divi dualismus: „Sch bin ich ſelbſt allein” — das mag man heitte den 
„heiligen Egoismus” nennt. Shafefpeare, der Hiftorifer im Hiflorien; 
Dichter, verfeßt ung fo recht in den Mittelpunkt feiner treibenden Ge; 
dantenarbeit, wenn er von der Geſchichte fagt (3, DD: Die Wahrheit 
follte, auch wenn fie nicht aufgezeichnet wäre, immer leben. Cäfer 
hat aber als Held und Geſchichtſchreiber doppelten Ruhm, Gott 
und die gute Sache ficht für die Guten, Gebete Heiliger und gefränfter 
Seelen ſtehn wie hohe Schanzen vor unferm Antlitz (5, 3). 

Die dramafifche Form der „Hiſtor ie“ ift aus dem Geifte der 
Gefhichte hervorgewachſen. Sie unferfcheidet fich weſentlich son der 
Form des hifiorifchen Dramas, wie Götz, Egmont, Wallenſtein uſw. 
Der Held der Hiſtorie iſt nicht eine einzelne Derion, fondern der ganze 
Staat. Die Hiſtorie ſchließt fih daher mir andern zu chro nolo giſchen 
Reihen zuſammen. Shakeſpeare hat wohl zweifellos die eben erwähnte 
York⸗Detralo gie einheitlich entworfen und ſie ebenſo zweifel⸗ 
los ſo gleich als ein Teil einer größeren dra matiſchen Epopde gedacht. 
Zehn Rhapſodien dieſes Zyklus ſind erhalten, find ausgeführt, Sie 
werden in der Folioaus gabe deutlich von andern hiſtoriſchen „Ira gödien“ 
gefhieden. Nachdem alfo der 2ı jährige Dichter in der Fülle feiner 
Kraft den reizvollen Stoff der Yorktetralo gie erſchöpft hatte, mußte 
er ſich die Fra ge vorlegen, woher denn dieſe verderblichen Sukzeſſio ns⸗ 
wirren ſtammen, wo alſo eigentlich das erſte tra giſche Moment des 
ganzen geſchichtlichen Prozeſſes liegt. Und er mußte den Grund darin 
finden, daß nach Richard Löwenherzens Tode Köni g Johann 
den rechtmäßigen Erben des Reiches, den jungen Arthur, der ſchon 
im Namen als Erneuerer der alien Herrlichkeit vom König Artus 
auserſehen war, ſeines Erbes beraubte und töten ließ. So erhielt 
er alſo als das zeitlich erſte Drama des Hiſtorienzyklus den König 
Johann. Es gab ſchon ein älteres Drama diefes Namens, von 
John Bode, eiwa 1550 alg erzproteſta ntiſches Tendenzſtück beat; 
beitet. Nun iſt es ſehr bezeichnend für den Geiſt unſeres Shakeſpeare, 
daß von dieſer Tendenz bei ihm keine Spur zu finden if. Im Gegen 

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teil, es fällt geradezu auf, daß er alle Gelegenheiten, genen „Kleri⸗ 
kalismus“ oder „Ultra monta nismus“ zu demonfirieren, unbenutzt 
gelaſſen hat. Das kann nicht Zufall ſein. Das iſt in einer Zeit und 
in einem Land, wo der Proteſtantismus von Staats wegen befohlen 
war, wo Katholizismus faft gleichbenentend mit Aufruhr und Ber 
ſchwörung galt, eine unverfennbare Sprache, Ein Autor, der heute 
die Gunft des „liberalen“ Publikums und der Preffe erringen wollte, 
diirfte nicht gleich) Shafefpeare den Stoff alfo behandeln, ohne in den 
Berdacht fehlechter Gefinnungss kommen. Daß Shafefpeare fo ſchreiben 
fonnte, ift ein Zeugnis großen Mutes, großer Selbffändigfeit des 
Urteils und vielleicht auch ein Zeichen dafür, daß er bei feinen nähern 
Freunden auf Verſtändnis und Beifall rechnen durfte. Die ſpätere 
Zeit hat Dies wohl gemerkt. In der Aufflärungsperinde (1745) hat 
Colley Cibber Shakefpeares Hifforie wieder als Tendenzſtück umge⸗ 
arbeitet unter dem Titel: „Päpſtliche Tyrannei in der Regierung 
König Johanns.“ Gans anders aber Shakeſpeare. Er meint es offen 
bar als zu beſtrafenden Ubermut, wenn er den König bramarbafieren 
laͤßt: „Ich will allein von allen Königen der. Chriftenheit den Papſt 
nicht kennen!“ Denn Shafefpeare läßt zum Schluß ganz offenſichtlich 
die päpſtliche Autorität triumphieren. Selbſt die Zerrgeſtalt des 
Baftards muß am Schluß des 4. Altes gefiehen: „Aus die ſem 
Stückchen toten Königtums floh diefes Reiches 
Leben, Recht und Treue zumHimmel auf, undbleibt 
für Englandnihtsals Balgen, Zerren, mit den 
Zähnen Baden: das herrenlofe Vorrecht floker Hoheit. Der 
Himmelſelbſtblickt dränendauf das Land.“ — Und 
mit dem Himmel auch die Kirche. Denn der gedemütigte König iſt 
ſchließlich gezwungen, feine Krone dem päpſtlichen Legaten gu über; 
geben und fie von dieſem alg Lchendes Pan fie zurückzunehmen, 
eine Strafe, die der Dichter zweifellos als rechtmäßig anerkennt; denn 
er Enüpft durchaus feine Proteſte daran an. Der Legat ſchärft es dem 
König ein: „Mein Odem war's, der Diefen Sturm erregt anf Ener 
flarr Verfahren mit dem Papſt. Nun, da Ihr Euch mit milden Sinn 
befehrt, fo foll mein Mind den Sturm des Krieges ftillen und 
dem durchtobten Land ſchön Wetter geben’ (53, 1). In voller Sühnung 
des engliſchen Unrechts wird ein Kreuzzug angekündigt (5, 2): 
„D Volk, daß du von binnen könnteſt! Daß dich Neptun, des Arme dich 


umfaffen, wegtrüge von der Kenntnis deiner felbft und würfe Di) auf 


einen Heidenftrand, wo diefe Chriftenheere leiten Fönnten 

der Feindſchaft Blut in eine Bundesader und nidt es fp 

unnachbarlich vergießen!” Das ift entfihteden ein religiös-⸗politiſches 
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Bekenntnis des Dichters, ein europäiſches Kulturprogramm, Das 
er noch öfters befonf und gewiß auch feiner Zeit vorhält. 

Der Dichter unterbrach nun für einige Zeit die Bearbeitung der 
Hifiorien und gab in den folgenden drei Jahren 1590, 1591, 1592 drei 
tiebesdramen. In dem erften, dem „Kaufmann von Venedig“, wird 
dem Durch Das Judentum ſymboliſch repräfentierten formalen Recht 
ber bloßen Geſetzlichkeit die chriffliche Gnade enfgegengefeßt, gemäß 
dem Prolog des Sohannesevongelums, „Wir befenalle um 
Gnade" (4, 1), Aus der Liebesfiimmung biefes ſozialen Theſen— 
Dramas erwächſt Dann die Liebestra gödie von Ko meo und Julia, 
in der der Frater Lorenzo eine fo überragende Rolle ſpielt, und der 
Prinz zum Schluß erfennen muß: „Alle büßen.” Wieder iſt eg für 
Shakeſpeares Bekenntnis ſehr begeichnend, daß. er die proteflantifche 
fulturfämpferifche Tendenz feines Vorgängers Arthur Brofe (1562) 
ind Gegenieil verändert hat. Broke benützt jede Gelegenheit, über „die 
aber gläubiſchen Mönche, die rechten Förderer und Helfershelfer un; 
ſaubern Tuns“, über die „Ohrenbeichte, den Schlüffel der Unzucht 
und des Berrats”, zu fihelten. Ganz anders Shafefpeare, Ihm 
wird Bru der Lorenzo zum reinſten, tadellofeften, weifeften und gütigſten 
Vertreter aller Religion, alles Erhabenen. Diefe Umdeutung kann 
ebenfowenig wie im König Sohann ein Zufall fein: fie kann nicht 
auf einem bloß äſthetiſchen Katholizismus beruhen, Die Poefle Shaker 
fpeates atmet ganz in katholiſcher Luft. Was den Sommer; 
nacht straum, bie Liebesparodie oder Satire, bereifft, fo nehme ich 
die Deutung von 9. Kurz (im Shakeſpearejahrbuch 4, 291) an, wonach 
die Seenkönigin, die fich in den Efel verliebt, nur sie Königin Eliſabeth 
elber fein Fann, in Anfpielung an Spenzers Lobgedicht „Feenkönigin“ 
(1590), Der Efel wäre dann Walter Raleigh, der damalige Günſiling 
der polififche Gegner der EffersParsei, der Shakeſpeare angehörte. 

Die drei Jahre 13593 bis 1595 zeigen ung Shafefpeare durch feine 
beiden epiſchen Dichtungen und die Sonefte in einer auch politiſch 
bedeutiamen Beziehung zum jungen Lord Southampton. Diefer 
war der Enfel eines Lordkanzlers unter Heineich VIII. der Fatholifch 
blieb, Auch deffen Sohn blieb katholiſch und war ein ritferlicher Ver— 
ehrer Maria Stuarts, wofür er 1572 in gefängliche Unterſuchung 
fam. Er war mit der Tochter einer reichen fatholifchen Familie ver; 
heiratet, Unſer junger Henry Southampton gehörte zur politifchen 
Parrei des Eſſer, nahm an deſſen Verſchwörung teil und war auch nahe 
daran, fein Leben Dabei zur verlieren, Aber der Tod der Eliſabeth befreite 
ihn aus dem Kerler. Uns intereffteren die in diefen Jahren entfiandenen 
Dramen, die allerdings nicht ganz auf der Höhe der übrigen Werfe find, 

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In der „Berlsrnen fiebesmth” fehe ich in romantifcher 
Weiſe auf die Gefchichte des aleichgeitigen Königs Heinrich von Navarra 


angefpielt, feit 1572 mit der franzöftichen Prinzeffin Margaretha von 


Valois, der Tochter Heinrichs IL, vermählt. Das war ja die ſoge⸗ 
nannte Bluthochzeit. Nachdem Heintih am 26. Juli 1593 zur katho⸗ 
liſchen Kirche endgültig über getreten war, konnte er im März 1594 
in Paris als König von Frankreich einsiehen, Vielleicht bezieht fich 
darauf die Bemerkung (4, 1), diefe Zeit liebe die „Ketzerei“ der Werk—⸗ 
heiligfeit, wie diefe Den Rathofiten vorgeworfen wurde, Das ſonder⸗ 
bare Stüd hat einen etwas mönchiſchen Schluß, Meineid und Schuld 
wird in einer wüſten und öden Klausnerei gebüßt. 

Sn den. „Beiden Beronefern” (1594?) if dee Bender 
Lorenz in St, Patriks Zelle, zu dem Silvin beichten geht, ein Nach⸗ 
ball von Romeos Bruder Lorenzo, bei dem Inlia beichtet. Schön 
heißt e8 som Freund: „Befehl du meinem heiligen Gebet; 
glaub, ich bin dein Fürhitter! 1% 

Sp „Ende gut, alles gut“ (15952) heift 68: „Dan fast, 
Binder gefchehen nicht mehr; und wir haben unſere Philoſophen, 
um übernatärlide und unergründlide Dinge alltäglih und 
glatt zu machen. Daher kommt eg, daß wir ung in angebliche Willen; 
Schaft verfhanzen, wenn wir ung dem Schauder des Ungeahnten unfer 
werfen follten.” 

Die Sonette und manche diefer Dramen enfhalten deutliche Spuren 
davon, daß Shafefpeare nicht nur in England, fondern auch auf dem 
Kontinent gereiff iſt. Diefe Spuren weifen nah Dänemark, Witten: 
berg, Prag (an den Kaiferhof Rudolfs IL), Wien, Venedig. Aber nicht 
weiter, fo nicht nach Fra nkreich. Wenn aber in „Ende gut“ der aller; 
dings prahleriſche Parolles in einer Lage, die alles Prahlen aus: 
ſchließt, ſagt, er verfiünde Deutſch, Däniſch, Niederländiſch, Ita⸗ 
lieniſch und Franzöſiſch, fo find das die Sprachen, die von den reiſen⸗ 
den englifchen Komödianten geübt werden mußten, und Die auch Shafer 
fpearen nicht ganz unbekannt geblieben fein mögen. Diefe Neifen 
find fo zu denken, daß fie in die Jahreszeiten fallen, mo in London 
rein Theaterleben war. Sie fallen vor dag Jahr 1596, in deffen Sommer 
ſich der Dichter fefter in Stratford niederließ, 

Eine Frucht der Reifen in Deutſchland fcheint „Viel Lärm um nichts“ 
zu fein, wozu vielleicht Jakob Ayrers „Phänicia“ die Anregung gab. 
Sch ſtelle das Luſtſpiel ins Jahr 1596, Es wiederholt ſich darin ein 
obſtinater Ausfall gegen die Zeitmode, offenbar auch auf poetiſchem 
Gebiete. Die Mode ift ein „grotesker Spisbube”; er hat nun am Die 
fieben Jahre (alfo etwa ſeit 1589) das Schelmenhandwerf mitgemacht 

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und geht jet herum. wie ein sornehmer Hett (3, 3), Die Männer 
find ganz Zungen geivorden (4, 2). Dummoreiſte, free Buben, 
Modegeden verleumden, lügen, frügen, ſchmähen und höhnen, gehen 
wie Hansnarren, gar geäßlich anzuſchauen und wiſſen ein halb 
Dutzend grimmige Worte... Ein Affe iſt ein Doktor gegen Solch 
einen Mann (5, 1). | Rz 

Vielleicht ift e8 eben die Mode, der Modismus geweſen, der dem 
Dieter die Fortfegung feiner Hiſtorienarbeit verefelt hatte, Er ſah 
ſich gezwungen, dem Publikum mit Sufifpielen Zu geſtändniſſe zu machen, 
Wir entnehmen aber aus den Sonetten, daß ihn der Verkehr mit Lord 
Southampton und feinem Kreife wieder der Hiſtorie zuführte. Cr 
fand in Heinrich Southampton vor allem das Mo dell für ſeinen 
Prinzen Heinz, ſeine Lieblingsgeſtalt. So begann denn Shakeſpeare 
ſeine nene zuſammenhängende Lanca ſter⸗Tetralo gie als Gegenſatz 
zur Modedichtung, und zwar vollendete er vorerſt den Richard II. 
und die zwei Teile des Heinrich IV. In Richard IL ſchil dert er 
als zweiten Grund aller nationalen Mißſtände Richards Thronent: 
ſetzung und Ermordung mit peſſimiſtiſcher Grundſtimmung (2, 3): 
„Troſt wohnt im Himmel, und wir find auf Erden, wo nichts alg 
Unglüd, Sorg' und Kummer lebt,” Sehr beveutfam ift eg, daß Shake⸗ 
ſpeare auch in den verfäumten Kreuzfahrten eine Verſchul⸗ 
dung ſieht (2, 2), Weil „eines Chriſtenlands erlöfte Seelen“ ſchwarze 
ſchnöde Taf verüben, anflatt ihrer Kampfespflicht gegen die Unglän: 
digen zu folgen, Darum düngt das Blut der Bürger den Boden, 
„Friede wird bei Türk und Heiden Fchlummern, und wilder Krieg 
in Diefem Sitz des Friedens wird Stamm durch Stamm, und Glied 
durch Glied verderben. Zerrüttung, Graufen, Furcht und Meuferei 
wird wohnen bier, und heißen wird dies Land das Feld von Gol gatha 
und Schädelſtätte“ (4, 1), Zur Sühne für all das gelobt ſchließlich 
der Sieger (5, 5): „Sch will die Faher sun in das heil'ge Lan 5, 
dies Blut gu wafchen von der ſchuld'gen Hand.” Aber er erfüllt wicht 
dies Gelübde, Wir wiflen, daß der Kreuzzu gs geda nke in der Zeit 
der Schlacht von Lepanto 1571 bis zu Sullhs „großem Plan“ 1601 
lebendig war. 

Heinrich IV. ſchließt ſich unmittelbar an Richard IL an. Auch 
dieſe Hiſtorie beginnt mit dem Kreuzzu gspro gramm, das aber ſofort 
durch innere Unruhen geſtört wird. Sehr ſchön heißt es aber: „Darum, 
Freunde, ſo weit hin bis zur Grabesſtätte Chriſti, des Krieger nun 
mit dem heiligen Kreuz, wir find gezeichnet und sum Streit verpflichtet, 
woll'n wir ein Heer von Engländern fofort ausheben, deren Arm 
im Mutterſchoß fchon ward geformt, zu jagen jene Heiden im Heil’gen 

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Lande, über deſſen Hufen die fegensreihen Füße find gewandert, 
die ung zum Heil vor viersehnhundert Jahren genagelt wurden an das 
bittre Kreuz.“ Auch im 2. Teil heißt e8 (3, 2): „Und läßt der innre 
Krieg ung freie Hand, ſo ziehn wir, werte Lords, ins heil’ge Land“ 
— „and ziehn nur Schwerter, die geheiligt find” (4, 4). 

Am fprechendflen für Shakefpeares Stellung iſt feine Behand; 
fung des Sir John Falſtaff oder, wie es auch bei Shakeſpeare 
uefprünglich hieß, Sie John Didcaftle, Dieſe hiſtoriſche Gefialt 
war ein Anhänger Wiclifs, ein Lollarde, der bereit8 unter Heineich IV. 
der Keberei verdächtig war, Bei Beginn der Regierung Heinrichs V. 
(1413) kam diefer Ritter in Unterſuchung; da er aber mit dem König 
felber befreundet war, wagte man e8 nicht, ihm geradegu den Prozeß 
su machen, fondern wandte fih an den König. Diefer ſuchte feinen 
Freund auf beffere Gefinzungen zu bringen, aber umfonft, Es fam 
zu ſtürmiſchen Szenen. Dldcaftle. verließ eigenmächtig das Fünigliche 
Schloß und machte fih in feiner Burg zum Widerſtand bereit, Bor 
dem geifllichen Gericht erflärte er ven Papſt als den Kopf des wahren 
Anfichriften, die Höhere Geiſtlichkeit als deſſen Glieder und die Mönche 
als feinen Schwanz Er wurde nun dem weltlichen Gericht sur Be 
ſtrafung übergeben, aber er tiellte fih nicht. Er ſuchte zu Beginn 
des Jahres 1414 feine Geſinnungs genoſſen, angeblich 20 ooo Lollarden, 
in der Nähe von London zu vereinigen, mußte aber bald fliehen, Cr 
wurde 1417 verhaftet und am Galgen höängend verbrannt, Geine 
hervorſtechende Geflalt wurde von der Nachwelt nach zweifacher Rich⸗ 
ung hin ſa genhaft ausgeflaltet, Bei den Katholiken wurde er nicht 
nur zu einen Keßer, ſondern auch gu einem Zerſtörer der geſellſchaftlichen 
Dehnung, einem Verführer des Königs, einem habgierigen, feigen 
Emporfömmling, der fih dem in Höhlen haufenden Gefindel gleich: 
ftellt und in Maskenverkleidung einen Überfall auf den König ver: 
Sucht, Von dem fiegreichen Proteſtantismus wurde er aber als Bor; 
läufer des wahren, gereinigten Evangeliums, als ein Heiliger Märtyrer 
der Reformation erhoben und gefeiert. Shakeſpeare bat fih nun ganz 
der Fatholifhen Tra dikiy m uber diefen Mann angefhloflen, 
fo weit er das im Gegenfag gegen feine Zeit, gegen feine Umgebung 
wegen konnte. In Her erften Faſſung ließ er fogar den den 
Proteſtanten heiligen Namen Dlöcafile ſtehen. Als ihm das fehr 
übelgenomimen wurde, filgte er den Namen und erflärte im Epilog, 
allerdings mit einer doppelt beleidigenden, wegwerfenden Zweidentig⸗ 
feit, daß der Dlöcafile, der als „Märtgrer” farb, nicht Derfelbe 
Mann fei, aber er wolle in der nächſten Hifiorie, im Heinrich V. 
vorausſichtlich den Sir John Falſtaff wieder auftreten Taflen, wie 

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Br 


er ſich zu Tode ſchwitzt. Das war ein heuer Hohn auf den 
„Märtyrer“, denn auch Diefer har fih, nach volkstümlicher Redeweiſe, 
zu Tode gefchwigt, als er verbrannt wurde, : Jedenfalls konnte 
Shafefpeare unmöglich im Ernſt den Nebellen gegen feinen Ideal 
könig einen Märtyrer nennen. Aber auch diefe entſchuldigenden 
Worte genügten nicht dem proteflansitchen Publikum. Vier geſinnungs⸗ 
tüchtige protefiantifche Dramatiker, Munday, Drayton, Wilfon und 
Hathway, taten fih zuſammen und fchrieben in auggefprochenem 
Gegenfaße zu Shakeſpeare einen „Sir Sohn Didcaftle”; das Drama 
mar eine Verherrlichung Das teuren Reformators, wurde 1599 gegeben 
und 1600 gedruckt. 

Um die miß günſtige Behandlung des proteſtantiſchen Heiligen mög⸗ 
lich zu machen, hatte Shakeſpeare den doppelten Kunſtgriff gebraucht, 
alles rein Konfeſſionelle zu vermeiden, dafür alles auf das moraliſche 
Gebiet zu verlegen und es außerdem vom fragifchen Kothurn auf 
den komiſchen Sokkus herabzuſtimmen. Er fat noch ein übrige, 
indem er das Treiben des zweidenfigen Helden in den „Eufligen 
Weibern non Windfor” ganz ind Burlesfe herabzog. Das 
geſchah wohl im Jahr 1598, im felben Jahre, da Shafefpeares Freund 
und Kunftgenofie Ben Jonſon katholiſch wurde. Der Dichter Lodge 
war zwei jahre vorher katholiſch geworden. | 

Der „Heinrich V.“ (1599) bezeichnet die größte Verherrlichung 
der Geftalt son Shafefpeares Gönner Henen Southampton: ber 
Dichter ſchafft eine Ideal geſtalt, die ſich abfichtlich über den ganzen 
übrigen grauenhaften Wuſt der englifchen Gefchichte erhebt. Er 
ſtattet dieſe Geflale mit aller Frömmigfeit aus, gibt ihr wieder 
den Kreuzzugsgedanken ein (5, 3), befünt de8 Königs Freundſchaft 
zur „heiligen Kirche“ (z, 1), feine Beſtrafung des Kirchen: 
raubs (3, 6), | | 

Im Luſtſpiel: „Wie e8 Euch gefällt” (1600) Fam Shakeſpeare 
wieder dem Gefhmad und der Mode der Zeit entgegen; er betont 
es offenbar im Gegenfab zu dem, was ihm felber gefällt, was er 
ohne Rückſicht auf das Gefallen des Publikums geſchaffen bat. Den 
Moraliſten des Stüdes, Jacques, läßt er Die Welt in großartiger Parabel 
als ein Schaufpiel, eine Bühne betrachten, alle Menfchen als Schau: 
ſpieler (2, 7) — ähnlich wie Calderon in feinem „großen Welttheater“. 
Diefer Ja cques wird zum Schluß Eremit und beginne mif dem reuigen 
Uſurpator ein gemeinfames geiftliches Leben: „So feid denn guter 
Dinge! Ich bin für andre als für Tängerfprünge.” 

Ebenſo gibt Shafefpeare in dem folgenden Lufffpiel: „Was Ihr 
wolle" aus drücklich etwas fürs breite Publitum, nicht das, was Er 

11 








will, Seine eigne Sache führt er im Kampf gegen die Purifaner, 
den er allerdings mis den Anglifanern gemeinfam hatte, und in bet 
Verteidigung der alten volkstümlichen Kunft, des „alten lichten 
Liedes” (2, 4), „Was ihr wollt” iſt wohlam Dreifönigsatg, 6. Ja nuar 
des Jahres 1601 zum erſtenmal aufgeführt worden. 

Kurz darauf bezeichnet der fragifche Yusgang der Verf ch wö⸗ 
rung des Effer einen Umſchwung der heitern Stimmung des alten 
Englands und auch den Eintritt des Dichters in feine veiffte, aber 
ſchwermütigſte Pertode. Shakeſpeare fand den arifiskratifchen Führern 
der Verſchwörung fehr nahe; um fo Fühler verhielt er fich der rohen, 
unfympatbifehen Natur der Königin Elifaberh gegenüber. Es fiel 
schon bei feinen Lebzeiten auf, daß er fie feiner poetiſchen Huldigung 
würdigte. Ihre Politik, deſpotiſch und piratenmäßig zugleich, war 
freilich die eigentlich enalifche Politik Big zum Weltkrieg, Als Effer 
in Ungnade fiel wegen feiner humaneren Bolitif gegenüber den katho— 
liſchen Irländern, da war eg fein bisheriger Klient Francis Bacon, 
der fih fo charakterlos wie möglich erwies. Die Verſchwörer ließen 
fih am Borabend ihres tollfühnen Unternehmens Shakeſpeares 
Richard IL mit der Abſetzungsſzene vorſpielen (7. Februar I6or), 
Unmittelbar darauf wurde der Anſchlag gegen Elifaberh befprocen: 
aber er mißlang. Effer wurde am 25. Februar enthauptet, Southamp⸗ 
ton zu lebenslänglihem Kerfer begnadigt. Auch der Schaufpielleiter 
wurde vor Gericht genommen, Shafefpeare fpiegelte feinen Unmut 
im großartigen Revolutionsdrama Julius Cäſar, mir den Klagen 
über die böfe Zeit. 

Noch deutlicher fpricht er feine tiefſte Seelenfiimmung in feinem 
neu bearbeiteien Hamlet aus, deffen zweite, reife Geftaltung Id 
ins Jahr 1602 fielle. Shakeſpeare fpiegelt offenbar und aus drücklich 
in den Verhältniſſen des „faulen“ Staates Dänemark ſeine eigne 
Zeit und ſein eignes Vaterland. „Die Zeit iſt aus den Fugen!“ das 
gilt von der Zeit der Renaiſſance und der Reformation, die an Stelle 
der Einheit Der Kultur die Entzweiung, den Zweifel, die Sfepfis in 
alle Beziehungen dieſer „feiften, engbrüſtigen Zeit” brachte, wo „Zugend 
ſelbſt Verzeihung flehn vom Laſter, ja friechen muß, daß fie ihm 
wohltun dürfe”, In dieſe peinlide Lage verſetzt fah fich Shakeſpeare 
felbft feiner Zeit dem enalifchen Hofe gegenüber. Sch Habe dag vor 
Jahren ausführlich dargelegt (Literariſche Warte, 1903, ©. ı ff und 
©. 66 ff). Im Shakeſpeare⸗Jahrbuch (41, 277) iſt auch Konrad Meiers 
ähnliche Anſchauung vorgetragen, daß nämlich Hamlet eben durch 
die Wittenberger Lehre in feinem Tun und Laffen beſtimmt ift, fo 
daß daher der fragifhe Ausgang bedingte mird. 

12 








Königin Eliſabeth farb am 26. März 1603, ohne daf Shaker 
ipeate, trotz der Aufforderung des Dichters Chettle, feine „honig 
füße Muſe“ zu einer einzigen Träne vermochte. Shakeſpeare und feine 
Sefinnungsgenoffen blickten ſchon längſt hoffnungsvoll zum neuen 
König Jakob von Schottland hin, dem Sohn der Märtyrin Maria 
Stuart. Eine feiner erſten Taten war denn auch die Befreiung South⸗ 
amptons aus dem Kerker. Shafefpeare bewillkommte den König mit 
feinem ſchottiſchen Drama Macbeth, darin.er auch wieder wie 
im Hamlet das Senfeitsproblem fieffinnig aus deutete. — Im Othello 
(2604) belebt und hebt der Dichter einen peinlichen Stoff durch alle 
Mittel zauberhafrer Romantik, | 

Das Jahr 1605 iſt daß der Pulververſchwörung. Eine 
katholiſche Partei, in ihren Erwartungen von der neuen Regierung 
arg. getäuſcht, faßte den Man, das Parlament mitſämt dem König 
in die Luft zu ſprengen. Das Komplott wurde einen Tag vor ber 
Ausführung, am 4. November, entdedt, und die ganze Verſchwörung 
blutig unterdrüdt. Die Fäden der ganzen Bewegung gingen bis im 
die Gegend von Stratford, dem derzeitigen Aufenthaltsorte des 
Dichters, Dan zeigt Dort noch heute in. Clopton Houſe den Raum, indem 
fih Die Verſchwörer verfammelten (das Bild bei Ward, Shakeſpeares 
Town and Times &, 37), Warwickſhire war im allgemeinen noch flarf 
katholiſch, fo auch die Gutsherrſchaft von Clopton Houfe. Shakeſpeare 
hat perſönliche Beziehungen mit einigen der Schuldigen gehabt, wenn 
er auch ſelbſtoerſtändlich dem Unternehmen ferne ſtand und es als 
Rebellion verurteilt haben muß. Aber die tiefe Mißſtimmung des 
ganzen Landes über die neue Regierung hat auch er mit gefühlt. Dieſe 
Stimmung iſt wie ein ſchwüles Weltuntergangswetter über dem 
„ge a r“ ausgebreitet; ebenfo wie die Stimmung der Eſſexverſchwörung 
über den neuen Hamlet, In der Tat ſcheinen beide Verſchwörungen 
mancdes Gemeinfame gehabt zu haben. R. Catesby, Th. Winter 
und J. Weight, die drei Anflifter der Pulververſchwörung, waren 
auch tätig in der Verſchwörung des Efler. Ebenſo Tresham, der 


vermutliche Verräter der Verfhwörung Ambroſe Rookwood, ber 


damalige Beſitzer von Clopton, war ſchon wiederholt verfolgt worden, 
weil er Fatholifhe Priefter in feinem Haufe beherbergt nd verborgen 
hatte. Clopton Houſe liegt nur eine englifche Meile von Stratford, 
Shafefpeare hatte dorthin die Szene der „Widerſpenſtigen“ verlegt. 
Ein anderer Teil der Unzufriedenen verfammelte fi damals unter 
dem Vorgeben einer stoßen Jagd zu Dunchurch bei Sir Everard 
Digby, 20 Meilen von Stratfsrd, Diefe Jäger waren alle wohl: 
bewaffnet und bereit zu einem neuen Streich, wenn ber erfle mißriete, 
13 





Als die Anflifter des Londsner Komplotts fliehen mußten, sogen 
diefe Jäger mit Ausnahme der allzu vorſichtigen, in der Nacht des 
5. November auf Warwid zu, verfchafften fich dort Nferde aus dem 
Schloſſe felbft und fehlugen einen Haufen von Angreifern zurück, die 
der Sheriff dort zuſammengerafft hatte. Nachdem fie zu Norbroofk 
bei Spitterfield geruht hatten, zo gen ſie am folgenden Tage nach Strat⸗ 
ford, ließen auf dem Marktplatz die Trompete blofen und forderten 
die Bürger auf, ihnen zu folgen. Aber ohne Erfolg. Sie verließen 
denn Warwickſhire. „Wir haben nicht den letzten großartigen Kampf 
Diefer verzweifelten, aber zweifellos reinen. und fapfern Gegner. des 
Königs zu befchreiben.” So fehließt Snomwdon Ward (Shakefpeares 
Town ©, 130) diefen Bericht, dem ich faft wörtlich gefolgt bin. Auch 
Prof, John W. Hales führt in Fraſers Magazine, April 1878, den 
übertaf enden Nachweis, daß fich die Lokalitäten und Perfönlichkeiren 
der Pulververſchwörung fehr nahe mit denen des Shakeſpeareſchen 
Kreifes berührten (Shakeſpeare⸗Jahrbuch 14, 350). 

Wenn der „Lear“ die furchtbar verzweifelte Stimmung der Zeit 
mwibderfpiegelt, jo gibt der „Cortiolam” (1606?) offenbar in einem 
großen römifchen Vorbild den Spiegel für die ſcheinbar unpatriotiſchen 
Verſchwörungen ber Zeit, denen Shakeſpeare durch Freunde, Nach⸗ 
barn, Parteigenoſſen irgendwie naheſtand. Auch Antonius 
und Kleopatra (1607?) behandelt einen hersifhen Bürger: 
krieg als lehrreichen Spiegel der politiſchen Zerwürfniſſe im Water; 
lande des Dichters. 

Tiefe Gedanken über Staat und Ethik geben die beiden folgenden 
Dramen: „Maß für Maß“ (1608) und „Troilus und Kreſſida“ 
(1609). In dieſem heißt es (3, 3): „ES iſt ein Geheimnis in des Staates 
Seele von einer göftlihern Wirkſamkeit, als Wort und Feder je 
ausdrüden kann.“ 

Der „Cymbelin“ oder beffer „Kymbelin“ (1610) führt ung 
wieder in die Mitte von edlen Verbannten, die von der Welt und 
som Staate verfannf werden. Ich fehe darin eine Verherrlichung 
der Politik des Grafen Salisbury, Sohnes deg Lord Cecil Burleigh, 
an den der „Sicilius“ des Dramas anſpielt. Der Wahrſa ger mit dem 
bedeutungsvollen Namen Philarmonus erkärt bie Frie de ns⸗ 
harmonie zwiſchen Britannien und Rom als gott ge gebenes 
Regierungsprogramm (5, 25 5, 3). | | 

In anderer Weiſe als Kymbelin hebt dus Wintermär ben 
(617) den Gegenſatz eines argen Hoflebens mit dem idylliſchen Land⸗ 
ieben hervor. Auch der zauberreiche, weiſe Proſpero im Sturm 
(1612) ſteht in ſcharfem Gegenſatze zum böſen Hofgetriebe. 

14 


1 








Shakeſpeare hat mohl durch all das die Luft verloren, feinen Hiſto⸗ 


rienzyklus vollſtändig auszuarbeiten. Aber er hat ihm doch durch feinen 
Heinrich VIEL einen Notabſchluß angedeihen laffen (1613). Das 
Drama führte auch den fonderbaren Titel: „Alles iſt wahr“, offenbar 
mir Besiehung darauf, daß Ro wley ein Drama gleichen Gegenflandes 
(1605 gedruckt) betitelt hatte: „Wenn ihre mich feht, kennt ihr mich“, 
und Heywood nannte ein 1605/6 gedrudtes Clifaberhdrama: „Wenn 
ihr mich nicht kennt, fo kennt ihe niemand.” 1607 haften zwei Dichter 
Th, Diders und J. Welfter die Kühnheit, die katholiſche Königin 
Maris, die Gemahlin Philipps son Spanien auf der Bühne zu ver 
herrlichen. Jakob fihloß ja mie Spanien Frieden; feine Gemahlin 
galt als Heimliche Karholifin. Shakeſpeare wollte wohl fagen, daß er 
ungeſchminkte Wahrheit gebe in einer durch Fonfeffionelfe Leiden⸗ 
ſchaften fo ſehr verzerrten Sache, Er ſchildert denn auch die Königin 
Katharina durchaus als erhabene katholiſche Märtyrerin, erklärt 
ihr mitleiderregendes Schickſal im Prolog als das Hauptthema gegen: 
über den höfiſchen Prunkſzenen und läßt ihre die höchſten, gang einsigen 
Ehren einer theatraliſchen Apotheoſe bei ihrem Tode zuteil werden, 
Dagegen wird Unna Bullen ald „Heuchlerin“ mit „geißledernem 
Gewiſſen“ gefchildert, als „mürriſche Lutheranerin“ an ber Geite 
des „Erzketzers“ Cranmer. Den König charakterifiert der Dichter 
noch immer als unwillkürlich katholiſch durch die wiederholte Anrufung 
„unſerer Stau”, „unferer lieben Fran”, heilige Mutter Gottes” (x, 4; 
5, 13 5, 2). Der Papſt wird durchaus würdig erwähnt (2, DA), 
Auch der König erkennt ihn als höchſte Inſtanz an. Ebenſo würdig 
ſteht Kaiſer Karl V, im. Hintergrund als Katharinas „großer Neffe” 
(2, 25 4, 2), Der Dichter gibt Katharinen harte Worte gegen dag 
heislerifche England in den Mund (3,1): „D hätt' ih Englands 
Boden nie betreten, nie feiner Schmeicheleien Frucht gefchmedt ! 
Bon Antlitz feid ihr Engel; eure Herzen kennt Gott!” Sehr kühl und 
zweideutig läßt der Dichter durch Cranmer von der profeflantifchen 
Regierung Eliſabeths nicht mehr prophegeien als: „Gott wird er 
kannt in Wahrheit” (5, 4), Das heißt doch, fich ang der Schlinge ziehen 
und die erwartete Lobpreifung der Reformation ablehnen. Wenn 
Shakeſpeare Katharinen bitten läßt, man möge ihre Tochter Hrift: 
Lich erziehen (4, 2), fo ift Damit gewiß das Gegenteil von profeflan- 
£ifch gemeint, Vom Proteflantismus urteilt Walfey (3, 2): Cranmer 
und feine Prediger erfüllen „das ganze Neich mit newer Lehre, die, 
mern nicht abgeſtellt, Verderben droht“, „Und folde Abſtellung 
muß gleich geſchehn . . . Dulden wie aus Laßheit dieſer Peſtilen; 
Verbreitung, dann Heilkunſt, lebe wohl! Was iſt die Folge? Ems 
15 


pörung, Aufruhr, allgemeine Seuche des gangen Stau 


tes, wie jüngaft es unfere Nachbarn im untern 
Deutfhland bitterlih bezeugten, davon noch friſch 
in ung das Mitleid lebt” (5, 2). 

Nach dem Heinrich VIIL, dieſem religiöfen Bekenntnisdrama, 
hat Shakeſpeare, wie es ſcheint, nur noch den Timon geſchrieben, 
den er aber nicht gang vollendet hinterließ, Er iſt Ausdruck des bitterſten 
Peffimismus des an feiner Zeit und an feinem Lande gänzlich ver 
zweifelnden Dichters. 

Auffallend ift es, daß der feinen Tod ahnende Dichter fich nicht, 
tie e8 der herefchende Gebrauch war, fein Teſtament vom anglifanifehen 


Staats geiftlihen fehreiben ließ, fondern von einem Notar (25. Januar. 


1616). Ebenſo auffallendifi es, daß er kurz vor feinem Tode die Trauung 
feiner: zweiten Tochter Judith mit TH. Duinen (10. Februar 1616) 
ganz ohne die üblichen Förmlichkeiten, ohne Aufgebot und „bifchdfz 
liche" Erlaubnis erfolgen ließ; es mußte dafür fpäter eine Geldſtrafe 
bezahlt werden. Das wirft ein Licht auf Shafefpeares eigne, nicht 
„ſtaatskirchlich“ gefchloffene Ehe, Beidemal liegt wohl die Löſung 
bes Rätſels in der Eonfeffionellen Überzeugung des Dichters. Sein 
Tod erfolgte Bald darauf, am 23. April 1616. Er lieh fi eine Grab; 
ſchrift feßen, in der er den verfluchte, der an fein Gebein (und Denk: 
mal) in der Kirche rühre, Er muß alfo Grund zur Beſor gnis gehabt 
haben, Daß Dies ans Fonfeffionellen Gründen durch die proteftantifche 
Staatsgeiftlichkeit gefchehen Fönnte. In der Tat fihrieb der proteflanz 
tiſche Reverend Richard Davies, Rektor zu Sapperton in Glouceſterſhire 
(T 1708) nebft andern biographifchen Notizen von Shafefpeare ganz 
fategorifch: „He died a papist“ — „Er flarb als Katholif”; womit 
nur gemeint fein kann, daß Shafefpeate gerade bei feinem Tode feine 
Konfeffion ausdrücklich und förmlich durch fein religiäfes Verhalten 
befannte, Der kritiſchſte Bearbeiter des Lebens unferes Dichters, 
Sidney Lee, fchreibt im Appendir zu feinem „Life of William Shake— 
ſpeare“ diefen Notizen des Davies vollen Were zu. Es gibt denn auch 
fein äußeres Zeugnis, das biefem Zeugnis widerſpräche, vielmehr 
wird dies ausdrückliche, Hare Zeugnis von unbesweifelbarem Wert 
duch alle andern Indizien aus dem Leben des Dichters und feiner 
Familie beftätigt, Dies Hare und pofifive Zeugnis erflärt jene an 
ſich auffallenden, fonft ſchwer oder nur gezwungen denkbaren Indizien 
in abfchließender, unwiderfprechlicher Weife. J 

Man wendet gewöhnlich als populären Grund gegen Shakeſpeares 
Har bezeugten Katholizismus ein, er häfte als Patriot, Untertan 
und Diener Eliſabeths und Jakobs nur Staatskirchler fein können. 

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# 





Aber wir wiſſen, daß fein Patriotismus durchaus nicht unkritiſch war, 
wir wiſſen anderſeits ganz beſtimmt, daß im Jahr der Armada 1588 
und fonft fih Katholifen und Puritaner Englands ebenfo patriotiſch 
zeigten wie die GStaatsfichlichen. Auch Effer und Southampton, 
die ſich gegen Eliſabeth empörten, waren pa triotiſche Engländer, 
Shakeſpeares Oppoſilion gegen den Hof iſt ein vernichtendes Urteil 
über das offizielle England jener Zeit. Er litt unter der Faul⸗ 
heit des Staates, er zog ſich, da er ſich nicht verſchwören und 
empören wollte, in das Traumland der Poeſie zurück; dies der Zeit 
entſchwundene Para dies war die Welt der alten ka tholiſchen Kultur, 
der Proteſt gegen die Welt, in der er und ſeine Geſinnungsgenoſſen 
leben mußten. 


Ich kann hier nicht im einzelnen alle Stellen in den Dramen 


du rchgehen, bie beweiſen, daß Shakeſpeare ganz in katholiſcher Luft 
atmete. Die Stellen, die man dagegen anführt, können nur gewalt⸗ 
ſam als nicht kathoſiſch aus gelegt werden. Aber es iſt ganz natürlich, 
daß Die proteſtantiſche Wiſſenſchaft ſich alle Mühe gibt, gegen das 
poſttive Zeugnis und gegen eine Wolfe von innern Zeugniſſen mit 
allen a dvoka toriſchen Kunſtmitteln einen Angriff zu verſuchen. Wir 
Katholiken können uns ja in die Neutralität einer Schule hinein⸗ 
denken, der das ganze europäiſche Mittelalter, der der größte. und 
befte Zeil der europäiſchen Kenaiffance big zur Barocke ufw, als 
nicht ganz verflandener Bildungsſtoff gegenüberfiehf, 

Gewiß, Shafefpeare durfte fih Feine polemifchen Yusfälle gegen 
die Staatskirche erlauben, Das hätte ihm mie ſo vielen andern den 
Kopf gekoſtet. Über die Puritaner durfte er ſpotten und tat es auch. 
Über die Katholiken hätte er auch ſpotten dürfen, er fat es aber eben 
nicht. Als der Spiegler der Wahrheit hätte er es aber merfen laſſen 
müſſen. Aber er war ſchon deshalb katholiſch, weil er als größter 
Dichter ſeiner Zeit nur den höchſten, geiſtigen Standpunkt mit univer; 
ſalſtem Umblick und Tiefblick vertreten konnte, den Standpunkt ſeines 
Kardinals Pandulfo im „König Johann“, feiner Königin Katharina, 
feines Bruders Lorenzo, | 

Das veligiöfe Problem war das treibende Problem der Zeit Shake; 
ſpeares, und befonders bei den Dichtern waren Konverfionen häufig 
als Zeichen des Strebens nach erwag abfolut Feſtem. Marlowe fagte 
von den Katholiken: „Wenn e8 einen Gott und eine wahre Religion 
gibt, fo iſt 68 bei den Papiffen, während alle Proteſtanten heuchlerifche 
Efel find” (Shafefpeare Jahrbuch 1, 252). Im Jahre 1615 wurde 
die ganze engliſche Schauſpielertruppe in Köln katholiſch (Jahrbuch 
21, 245). Philipp Maſſinger, der befannte Dramatiker, wurde um das 

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Jahr Der Pulververſchwörun g, wohl in Orford, katholiſch; dieſe Univer⸗ 
ſität bewahrte immer eine Anhänglichkeit an den alten Glauben; 
ans ihr sing ja auch im 19, Jahrhundert die Nitusliftenbewesung 
hervor, die in den Konverfionen Wifemang und Newmans gipfelte. 
Daß Shakefpeare Katholik war, haben alle unbefangenen Big: 
graphen entweder anerfannt ober doch nicht gu widerſprechen gewagt 
Macaulay, der pesteftantifche Gefchichtfchreiber, findet Shakeſpeare. 
Hinneigung zu den Lehren und Gebräuchen der römifhen Kirde 
unverkennbar (Jahrbuch 10, 75 ff). Chateaubriand fagf im Essai 
sur la litterature anglaise I, 295: „Shakespeare, s’il etait queique- 
chose, £tait catholique.“ Julius Thum mel geſteht (Jahrbuch ı6, 
349 ff): „Wir begegnen in Heinrich VIII. nicht der geringſten Spur 
von Englands Abfall von Rom, von der Aufrichtung der britiſchen 
Hochkirche“ Dagegen nehmen bei Shakeſpeare die nichtfatholifehen 
Geiftlichen eine verächtliche Stellung ein. Sie gehören ja auch nad 
ber Keformation zum Dienfiperfonal,. Thornbury in „Shafefpeates 
England” anerkennt auch die Hinneigung Shafefpeares zum Kathy; 
lizismus (IT, 212; IL, 64), George Wilfes („Shakespeare from an 
American Point of View“, Neuyork 1877) tritt, obwohl Proteſta nt 
entſchieden für Shakeſpeares Katholizismus ein, ſagt aber ſehr auf— 
richtig, die herrſchenden Kreiſe in England hätten ein Intereſſe da ran, 
dieſe Tatſache zu leugnen (Jahrbuch 13, 302). Nicht nur in England! 
Die für Shakeſpeares Katholizismus eintretenden Bücher von Raich 
und Rio werden im Jahrbuch (20, 292) da durch widerlegt, daß Raich 
wie Rio mit einem Rbeginnen, ebenſo wie Ridicule. Das iſt je den⸗ 
falls eine originelle Art wiſſenſchaftlicher Kritik. Bei der Gedächtnis— 
feier in Stratford April 1903 äußerte ſich der anglikaniſche Biſchof 
von Worceſter Or. Gore über Shakeſpeares Stellung zur Religion 
alſo: Sohn der Renaiſſance, aber fein Kind der Reformation (Jahr⸗ 
buch 40, 335). Der bereits angeführte 9. Snowdon Ward (Shake, 
ſpeares Town and Times 9, 32) fagf fehr richtig: „Wir als Proteſtanten, 
die wir nur proteflantifhe Geſchichtsbücher leſen, können ſchwer die 
Tatſachen feſtſtellen“, die den damaligen Religio nskämpfen zugrunde 
la gen. James Walter („Shakespeares true life. Illuſstrated by Gerald 
E. Moira“, London 1890, Longmans, Green & Co.) ebenſo wie Ward 
halt Shafefpeare für einen Katholiken (Jahrbuch 26, 338). Ganz 
entfchieden gilt Das auch von John Pym Yeatman „The gentle Shake- 
speare, A vindication.“ Londen (18967), The Roxburghe Press, 
Dies alles fei aus einer vollfländigern Duellenfammlung ang 
gehoben zum Zeu gnis, daß es. vor allem die Katholiken find, die Shake⸗ 
fpeate als den Ihrigen a nerkennen dürfen, Das ift für die graße 
18 | | 








m 


Ummälsung aller Verhältniffe Such den Weltkrieg vielleicht nicht 
ohne Einfluß, Der englifche Protefantismus ſteht ſich ja durch feine 
Stellungnahme gegen das Deutſche Reich in entſcheidender Weiſe 
iſoliert; daher wurde bereits Die abenteuerliche Idee aus geſprochen, 
den Anglika nismus mit dem ruſſiſchen Ortho dorismus eine Allianz 
eingeben zu laffen in ähnlicher Weiſe wie eine folche vor 30 —60 Jahren 
mie der preußifchen Staatskirche verſucht wurde. 

In anderer Beziehung iſt die Frage ſirittig, ob Shakeſpeare mehr 
der. engliſchen oder der deutſchen Kultur geſchichte angehörte. Abge⸗ 
ſehen davon, daß wir Deutſchen uns die Kunſt Shakeſpeares durch 
wiſſe nſchaftliche und theatraliſche Arbeit inniger angeeignet haben 
als die Engländer, hat unſere Darſtellung auch gezeigt, wie objektiv 
Shatefpeare dem englifchen Weſen gegenüberfieht, ohne jeden Chau⸗ 
vinismus, ja mit einer Kritik, wie fie nicht herber von ung ausgefptogen 
werden kann, Außer manchen bereits Angebdeuteten fällt da befonderg | 
die durchaus hohnvolle Kritik auf, mie der Shafefpeare das engliſche | 
Heerweſen in Falſtaff und feinen höchſt bedenflichen Gefellen behandelt 
hat, Gerade der ſpezifiſche Engländer kommt neben dem Waliter, 
Schotten uſw. fehr ſchlecht weg. Die englifhe Soldateska ift aus 
purer Berfommenheit, Feigheit, Räuberei, Ehrloſigkeit zuſa mmengeſetzt. 
Unſere aärgſten Karikaturen im Weltkrieg könnten nicht grauſamer fein. 

Finden wir fo bei Shakeſpeare eine direkte Antipathie gegen das 
eigentliche Engländerium, deſſen Charakter, deſſen Poliltik, ſo finden 
wir eine freilich von ihm nieht Direkt aus geſprochene Wahlver wa noͤt⸗ 
haft mit deutſchem Weſen. Das erklärt e8 ung, weshalb wir Shake: 
fpeste viel inniger lieben, als das die Engländer jemals Taten. Frei⸗ 
lich, ſie haben ihn zu allen Zeiten, ohne Unterbrechung gekannt; es 
iſt eine Fabel, daß er in England erſt wieder neu entdeckt werden mußte. 
Aber ſagt es nicht genug, daß er auf den engliſchen Bühnen ſich nur 
durch äußerliche Ausſtattungskünſte o der durch virtuoſe Schauſpielerei 
erhalten kann, während er uns Deutſchen in beſcheidenſter Aufführung 
wie ein Verwandter enfgegenfommt, Auch das if begeichnend, daß 
nicht die Engländer, ſondern nur die Deutſchen es zu einer dauernden 
Shakeſpeare⸗Geſellſchaft und einem dauernden Shakeſpeare⸗Jahrbuch 
gebracht haben, während in England dieſe Treue und Sorgfalt ſieter 
Beſchäftigung mit dem Genius fehlt. Es iſt eine Ehrenſache für 
Deutſchland, Daß dies durch den Weltkrieg nicht anders werde, im Gegen⸗ 
teil, Shafefpeare fol von uns Deutſchen noch ficherer erobert werden, 
eine Eroberung, die manche andere Beute übertrifft, 

Die Möglichkeit, daß Shakeſpeare durch Neifen Beziehungen zu 
Deutſchland gehabt haben mag, iſt für all das nicht fo weſentlich. Ich 

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glaube e8 aber und habe es In einigen Abhandlungen und auch in 
sweien meiner hindert „Heimatersählungen aus «ler und neuer 
zeit" zu begründen und darzuſtellen geſucht. „Shafefpeare in Böhmen“ 
(bei Kaiſer Rudolf IL) und „Shafefpeare in Wien‘ (Mat für Mas). 

Das deutſche Volk iſt im Begriff, ein Weltvolk gu werden, in tieferm 
Sinn ale das englifche, franzöftfche oder ruffifche, Es wird mehr ale 
bisher Weltpolitik treiben, Weltkultur, Meltliteratur und — Welt: 
religion, Dazu Braucht es Weltanſchauung, Weltglauben, Melt; 
frömmigfeit, Weltweisheit und Weltgerechti gkeit — im Sinne der 
beiden Welten, ber natürlichen und der übernatürlichen Welt, Dazu 
reicht ein befchränfter Nationalismus ebenſo wenig aus wie ein be; 
ſchränkter Staatsbegriff, Das deuifhe Volk wird ſich nach allen 
Seiten erneuern, mit allen geifligen Mächten der Melt auseinander; 
feßen müſſen, mit feinen Feinden wie mit feinen Freunden, mit 
feiner Vergangenheit wie mit feiner Zukunft. Manches wird dabei 
zurücktreten müſſen, um Wichtigerm Platz zu machen. Gewiß wird 
dabei unſere deutſche Nationalliteratur, und zwar ſo wohl die aus 
der Zeit des Nibelungenliedes und der Minneſänger wie aus der 
zeit unſerer nenern Maffifer nur noch mehr herosrtreten, Aber 
von nicht deutſcher Literatur mird uns fowohl die Verfönlichkeit wie 
das Werk Shakeſpeares unverlierkar Bleiben. Schon feine Zeitz 
genoflen haben in ihm „Neſtors Einficht, Sokraͤtes' Geift, des 
Ver gilius Dichtkunſt“ vereint gefunden, d. h. ſie haben den ge— 
walti gen Dichter geiſt deshalb fo hoch geſchätzt, weil er auch ein Prediger 
des Gerechten und ein Lehrer des Wahren und Weiſen war, Fort 
daher mit jener aus dem Kransöftfchen eingefchmuggelten Äſthetik 
der „Üftheten“, wonach des Künſtlers Aufgabe nur in feiner techniſchen 
Virtuoſität erſchöpft ſein ſoll! Solche Künſtler, denen das Moraliſche 
und Das Gedankliche gleichgültig wären, kann das deutfche Volk nicht 
brauchen. Das wäre eine Kunft, die ung entnerven, serweichlichen, 
erniedeigen würde, Wir fchäßen Chafefpeare nicht nur als theatra⸗ 
liſchen Techniker, ſondern als Lehrer, als Verkünder, als Offenbarer, 
als Zeugen für ſeine Zeit, ſein Land, für ſeinen Glauben, für ein 
höheres Menſchheitsideal, als es das eltfaberhanifche England, als 
es überhaupt das damals ſchon verfaulte England bieten fonnte, 
Er führe ung darüber hinaus, Die Engländer haben fich dieſem Führer 
nicht mie vollem Verfiändnis angefchloffen, Aber wir Deutſchen haben 
es getan und werden es in Zukunft noch entfchledener sun. 


Herausgegeben vom Sekretariat Sozialer Stubdentenarkeit, M.Gladbach 
Voltksvereins Oruckerel, M. Gladbach 1917. 1.4, Tauſend. 3677