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Full text of "Kritik der öffentlichen meinung"

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KRITIK  DER 

ÖFFENTLICHEN 

MEINUNG 


VON 


FERDINAND  TÖNNIES 


BERLIN 
VERLAG  VON  JULIUS  SJPRINGER 

1Q.?2 


KRITIK  DER 
ÖFFENTLICHEN  MEINUNG 


VON 


Ferdinand  Tönnies 


BERLIN 

VERLAG  VON  JULIUS  SPRINGER 

1922 


Verfasser  von: 
Gemeinschaft  und  Gesellschaft.  Grundbegriffe  der  reinen  Soziologie. 

Vierte  und  fünfte  Auflage.    Berlin,  Karl  Curtius.     1922. 

Der  englische  Staat  und  der  deutsche  Staat. 

Eine  Studie.    Viertes  Tausend.    Daselbst  1917. 

Philosophische  Terminologie  in  psychoIogisch*?soziologischer 
C.  Ansicht. 

^O  Daselbst  1906. 

Thomas  Hobbes  der  Mann  und  der  Denker. 

Zweite  Auflage  von  Hobbes'  Leben  und  Lehre.   Stuttgart,  Fr.  Frommanns  Verlag    1912. 


634084 


Marx''  Leben  und  Lehre. 

Berlin,  Verlag  für  Sozialvt^issenschaft.    1921. 


:27-4>^<&Die  Sitte.   <Die  Gesellschaft  Band  XXV.> 

Frankfurt  a.  M.,  Rütten  ^  Loening.     1909. 

Die  Bntwicklung  der  sozialen  Frage  bis  zum  Weltkriege. 

<SammIung  Göschen.)  Dritte  Auflage.  Berlin,  Vereinigung  wissenschaftlicher  Verleger.  1919. 

Engh'sche  Weltpolitik  in  englischer  Beleuchtung. 

Fünftes  und  sechstes  Tausend.    Berlin,  Julius  Springer.     1915. 

Deutschlands  Platz  an  der  Sonne. 

Zweites  Tausend.    Berlin,  Julius  Springer.     1915. 

Weltkrieg  und  Völkerrecht. 

Erstes  bis  drittes  Tausend.    Berlin,  S.  Fischer.    1917. 

Die  Schuldfrage. 

Rußlands  Urheberschaft  nach  Zeugnissen  aus  dem  Jahre  1914. 
Drittes  und  viertes  Tausend.    Berlin,  Georg  Stilkc.    1919. 


Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Übersetzung  in  fremde  Sprachen,  vorbehalten. 
Copyright  1922  by  Julius  Springer  in  Berlin. 


DEM  ANDENKEN 
MEINES    FREUNDES 

KARL  ROTHE 

<1848-1921> 

WEIL.  GROSSH.  SÄCHSISCHEN  STAATS  MI  NISTE  RS 
EHREN-DOCTORS  DER  4  FAKULTÄTEN  DER  UNIVERSITÄT  JENA 


,,Die  öffentliche  Meinung  verdient 
daher  eben  so  geachtet  als  verachtet  zu 
werden,  dieses  nach  ihrem  konkreten  Be- 
wußtsein und  Äußerung,  jenes  nach  ihrer 
wesentlichen  Grundlage,  die,  mehr  oder 
weniger  getrübt,  in  jenes  Konkrete  nur 
scheint."  Hegel 


Vorwort. 

Am  I.  März  1907  wurde  mir  vom  Herrn  Verlagsbuchhändler  und 
Schriftsteller  O.  Haering  —  der  angesehene  Verlag  ist  seitdem  auf  die 
Firma  Jui^ius  Springer  übergegangen  —  der  Antrag  gestellt,  ein  Werk 
über  die  öffentliche  Meinung  zu  verfassen.  Herr  Haering  machte 
mich  auf  das  damals  neue  Buch  von  Gabriei.  Tarde  ,,Uopinion 
et  la  foule*'  aufmerksam;  ihn  habe  Herr  Professor  Georg  Jei,i,inek 
darauf  hingewiesen.  Ich  schätzte  seit  vielen  Jahren  Tarde  s  Schriften 
hoch,  wußte  aber  auch,  daß  unsere  wissenschaftlichen  Voraussetzungen, 
insbesondere  die  soziologischen,  ziemlich  weit  voneinander  entfernt 
waren ;  Herr  Haering  selber  sprach  die  Ansicht  aus,  ein  deutsches 
Buch  über  die  öffentliche  Meinung  müsse  anders  gestaltet  sein.  Ich 
willigte  ein,  ein  solches  zu  verfassen;  den  Gegenstand  hatte  ich  schon 
in  meiner  Schrift  ,, Gemeinschaft  und  Gesellschaft"  (1887)  zu  be- 
rühren gewagt,  indem  ich  den  Begriff  der  öffentlichen  Meinung 
in  meine  Lehre  vom  sozialen  Willen  aufnahm.  Meine  Zurüstungen 
zu  dem  Werke  waren  während  der  nächsten  Jahre  durch  vermehrte 
akademische  Tätigkeit,  die  der  Statistik  und  Sozialökonomik  galt, 
dann  zumal  durch  den  Weltkrieg  und  die  Pflichten,  die  er  auch  dem 
Gelehrten  auferlegte,  gehemmt  worden.  Dennoch  begann  ich  im 
Jahre  1915,  das  Werk  zu  schreiben,  und  habe  seitdem  bis  zum  Herbst 
1921  darin  fortgefahren,  wenngleich  mehrmals  durch  größere  und 
kleinere  Arbeiten,  die  aus  den  Nöten  der  Zeit  entsprangen,  Unter- 
brechungen eingetreten  sind.  Zu  diesen  Arbeiten  rechne  ich  auch 
das  kleine  Buch  „Marx'  lieben  und  lychre'*  (Jenai92i). 

Eine  furchtbare  Wendung  menschlicher  Geschicke  liegt  zwischen 
jener  Zeit,  da  ich  zuerst  an  das  Thema  heranging,  und  dem  heutigen 
Tage.  Die  Bedeutung  der  öffentlichen  Meinung  ist  in  Wirklichkeit  und 
noch  mehr  in  der  Schätzung,  die  ihr  zuteil  zu  werden  pflegt,  unermeß- 
lich gewachsen.  Diese  Schätzung  freilich  ist  schon  seit  dem  Ausbruch 
der  großen  französischen  Revolution  so  bedeutend  gewesen,  daß, 
auch  abgesehen  von  der  periodischen  Presse,  die  mehr  und  mehr 
das  Selbstbewußtsein  gewonnen  hat,  ihre  Trägerin  zu  sein,  die  I/ite- 
ratur  der  öffentlichen  Meinung,  d.  i.  die  Gesamtheit  der  Lehren 
und  Theorien,  die  über  sie  ans  Licht  getreten  sind,  in  Deutschland 
und  in  anderen  Ländern  —  neuerdings  besonders  in  den  Vereinigten 
Staaten  —  einen  großen  Umfang  gewonnen  hat.    Die  Entwicklungs- 


VI  Vorwort. 


geschichte  dieser  Meinungen  über  die  öffentliche  Meinung  bietet 
ein  nicht  geringes  Interesse  dar,  und  war  von  mir  bestimmt,  das  letzte 
Buch  dieses  Werkes  zu  bilden.  Bald  erschien  mir  aber  der  Stoff  zu 
groß,  ich  habe  ihn  darum  einem  besonderen  Werke,  das  als  Anhang 
des  gegenwärtigen  ihm  bald  folgen  soll,  vorbehalten.  Es  ist  ein  Stück 
Geistesgeschichte,  das  in  diesen  Reflexen  sich  darstellt;  insbesondere 
wird  man  eine  Abbildung  der  politischen  Geschichte  Buropas  und 
seiner  Ableger  seit  der  großen  Revolution  darin  erkennen. 

Auch  nach  Ausscheidung  dieses  Stoffes  blieb  die  Aufgabe  groß 
und  schwer.  In  keinem  Augenblick  habe  ich  dies  verkannt,  niemals 
habe  ich  mir  zugetraut,  sie  in  vollem  Umfange  lösen  zu  können.  Was 
ich  mir  vorsetzen  durfte  und  zu  leisten  vermochte,  war  eine  begriff- 
liche Klärung  des  Gedankens  über  eine  so  wichtige  soziologische 
Tatsache  und  Erscheinung.  Darum  habe  ich  meinem  Werke  den  Titel 
„Kritik  der  öffentlichen  Meinung"  gegeben.  Er  bedeutet,  daß  der 
Sprachgebrauch  geprüft  und  geläutert  werden  sollte,  daß  ich  in 
einem  bestimmt  umrissenen  Sinne  den  Begriff  der  öffentlichen  Meinung 
zu  gestalten  mir  vorgenommen  hatte.  Es  erschien  mir  vor  allem 
als  notwendig,  von  der  öffentlichen  Meinung  als  einem  Konglomerat 
mannigfacher  und  widersprechender  Ansichten,  Wünsche  und  Ab- 
sichten die  öffentliche  Meinung  als  einheitliche  Potenz,  als  Ausdruck 
gemeinsamen  Willens  zu  unterscheiden,  und  ich  freute  mich  zu  ent- 
decken und  darauf  hinweisen  zu  können,  daß  ich  mit  dieser  wichtigen 
Unterscheidung  nicht  ohne  Vorgänger  war. 

Ferner  hielt  ich  für  geboten,  die  öffentliche  Meinung  in  ihrem 
historisch  bedeutsamen  und  politisch  maßgebenden  Sinne  von  den 
beliebigen  öffentlichen  Meinungen  abzuheben,  die  zwar  einheitlich, 
aber  von  eingeschränkter,  teils  lokaler,  teils  unpolitischer  Bedeutung 
überall  im  sozialen  Leben  sich  geltend  machen. 

Endlich  lege  ich  ganz  besonderes  Gewicht  auf  die  von  mir  getroffene 
Unterscheidung  von  Aggregatzuständen  der  öffentlichen  Mei- 
nung, deren  Sinn  und  Wert  unmittelbar  einleuchtend   sein  dürfte. 

Daß  alle  3  Unterscheidungen  für  eine  kritische  Theorie  der  öffent- 
lichen Meinung  bedeutsam,  ja  notwendig  sind,  ist  die  These,  an  deren 
Behauptung  mir  vor  allem  gelegen  ist. 

Für  wichtig  halte  ich  auch  die  Scheidung  des  Begriffs  der  öffent- 
lichen Meinung  (und  der  öffentlichen  Meinung)  vom  Begriffe  der 
Volksstimmung  und  Volksgefühle.  Daß  ich  diese  nicht  zuerst  gefunden 
oder  aufgestellt  habe,  wird  in  mehreren  Stücken  des  in  Aussicht 
genommenen  Anhangsbandes  über  die  Literatur  der  öffentlichen 
Meinung  offenbar  werden.  Hier  verweise  ich  nur  auf  eine  Bestäti- 
gung durch  den  bekannten    amerikanischen  Soziologen    Giddings 


Vorwort.  VII 


(Elements  of  sociology  p.  155 f.),  die  mit  den  Worten  beginnt:  ,,Kein 
Irrtum  ist  gewöhnlicher  als  derjenige,  der  Volksstimmungen  {populär 
belief s)  mit  den  sozialen  Urteilen  verwechselt,  welche  die  echte  öffent- 
liche Meinung  bilden  [constitute).*' 

Durch  das  Buch  hindurch  geht  ferner  die  keineswegs  neue  Deutung 
der  Meinung  als  Willens,  der  öffentlichen  Meinung  als  einer  Form 
des' sozialen  Willens.  Bei  dem  Versuche,  sie  in  die  Lehre  von 
dessen  Gesamtformen  einzugliedern,  habe  ich  mich  an  das  Schema 
gehalten,  wie  es  in  ,, Gemeinschaft  und  Gesellschaft"  vorliegt,  und 
erlaube  mir,  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  dieses  Werk  eben  in 
vierter  und  fünfter  Auflage  (Verlag  von  Kari,  Curtius)  erscheint. 
Das  enge  und  nahe  Verhältnis,  einerseits  der  Abhängigkeit  und 
Verwandtschaft,  andererseits  des  Widerspruchs  und  Gegensatzes  zur 
„Religion**  als  einer  Gesamtform  des  sozialen  Willens,  ist  ein  Haupt- 
merkmal dieses  Schemas  und  also  ein  Hauptstück  meiner  Lehre 
von  der  öffentlichen  Meinung.  Als  solches  wird  es  nur  richtig  ver- 
standen und  gewürdigt  werden  von  denen,  die  auch  in  diesem  Ge- 
biete die  Bedingungen  eines  streng  begrifflichen  und  kritisch-logischen, 
oder  dialektischen  Denkens  kennen  und  anerkennen.  Daß  dies  nicht 
bei  allen  Gelehrten  des  Faches  vorausgesetzt  werden  darf,  weiß  jeder, 
der  mit  dem  Schrifttum  im  Felde  der  Sozialwissenschaften  hinlänglich 
vertraut  ist. 

Der  größere  Teil  meines  Buches  stellt  aber  solche  Anforderungen 
nicht  an  den  Leser.  In  diesem  größeren  Teile  werden  Anwendungen 
der  Lehre  gegeben,  die  auch  ohne  theoretische  Subtilitäten  sich 
verstehen  lassen,  und  Beispiele  für  die  Bedeutung  und  Macht  der 
öffentlichen  Meinung  im  Staatsleben,  die  diese  Abschnitte  als  einen 
Gang  durch  die  neuere  und  besonders  die  neueste  Geschichte  erscheinen 
lassen,  in  deren  Zerrüttungen  und  Neubildungen  wir  mitten  inne 
stehen.  Ich  habe  in  diesen  Abschnitten  die  öffentliche  Meinung 
angenommen,  wie  sie  sich  gibt,  nämlich  vorzugsweise  als  die  öffentliche 
Meinung  des  Tages  und  als  die  Richterin  in  öffentlichen,  zumal 
politischen  Angelegenheiten,  die  sie  zu  sein  in  Anspruch  nimmt. 
Eben  in  diesen  Anwendungen,  im  schwankenden  Übergang  in  den 
Sprachgebrauch,  muß  das  erwähnte  Verhältnis  zur  Religion  zutage 
treten,  und  ich  habe  nicht  versäumt,  an  manchen  Stellen  darauf 
hinzuweisen.  Gemeinsam  mit  der  Religion  ist  der  öffentlichen  Meinung 
—  das  ist  ein  Punkt,  den  ich  mit  Nachdruck  betone  —  die  nach 
innen  verbindende  Kraft  und  der  verpflichtende  Wüle,  der  sich 
oft  als  sittliche  Entrüstung  und  Unduldsamkeit  gegen  Anders- 
denkende äußert.  Daß  diese  Neigungen  auch  die  öffentliche  Meinung 
bezeichnen,   ist  ihr  bisher  noch  kaum  in  Selbsterkenntnis  bewußt 


VIII  Vorwort. 


geworden  und  zwar  wohl  darum  nicht,   weil  ihr  Wollen  und  ihre  j 

Macht  in  dieser  Hinsicht  noch  auf  wenig  Widerstand  gestoßen  ist.  ; 

Darauf  hinzuweisen,  halte  ich  für  ein  Verdienst  dieser  meiner  Schrift.  \ 

Seit  John  Stuart  M11.1.S  berühmtem  Büchlein  „On  Liberty",  das  \ 

Heinrich  von  TrEitschke  zu  seiner  Rede  über  die  Freiheit  (1861)  ■ 

veranlaß te,  ist  es  davon  stille  geworden.  j 

Viele  Leser,  hoffe  ich,  werden  mit  mir  einverstanden  sein,  daß  | 

ich  das  Buch  nicht  durch  einen  Troß  von  Anmerkungen  belastet  \ 

habe.    Die  unerläßlichen  Zitate  habe  ich  in  den  Text  aufgenommen  \ 

und  halte  dies  für  ersprießUcher.  Durch  die  Ausscheidung  des  literar-  i 

historischen  Teiles  habe  ich  mir  Hinweise  auf  ähnliche  oder  anders  ; 

gerichtete  Urteile  anderer  Autoren  im  allgemeinen  erspart.  i 

Anstatt  die  lästigen  Bemerkungen  ,, Sperrdruck  von  mir'*  u.  dgl.  j 

einzuschalten,  habe  ich  seit  lange  begonnen,  zitierte  Stellen,  die  ich  \ 

hervorheben  will,  obgleich  sie  in  der  Vorlage  der  Hervorhebung  ent-  j 

behren,  nicht  nur  gesperrt  setzen  zu  lassen,  sondern  zugleich  in  Aste-  i 

risken  einzuschließen.  Da  ich  bisher  keine  Nachfolge  gefunden  ■ 
habe,  so  muß  ich  immer  von  neuem  darauf  aufmerksam  machen. 

Das  Namen-  und  Sachverzeichnis  ist  mit  Sorgfalt  von  meiner  \ 

Tochter  Franziska  angefertigt  worden,  die  auch  durch  Korrektur  1 
des  Satzes  sich  um  das  Buch  verdient  gemacht  hat. 

Daß  der  Verlag  dem  Buche,  trotz  der  so  schwierigen  Verhältnisse  \ 

dieser  Zeit,  ein  gefälliges  Aussehen  zu  geben  gewußt  hat,  wird  der  \ 

Leser  mit  dem  Verfasser  dankbar  anerkennen.  ] 

Kiel,  Ostern  1922.  i 

,i 

Ferdinand  Tönnies.        ^ 


Inhaltsverzeidinis. 

Erstes  Buch. 

Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  Meinung, 

I.  Kapitel.    Meinen  und  Meinung. 

Seite 

Erster  Abschnitt.    Grundbegriffe 3 

I.  Etymologie  3.  —  2.  Wahrnehmen  3.  —  3.  Denken  4.  —  4.  Erkennen 
und  Wissen  5.  —  5.  Meinen  6. 

Zweiter  Abschnitt.    Grundverhältnisse  der  Begriffe 7 

6.  Meinen  und  Wollen  (I)  7.  —  7.  Meinen  und  Wollen  (II)  8.  —  8.  Meinen 
und  Wollen  (III)  9.  —  9.  Meinen  und  Wollen  (IV)  10.  —  10.  Meinen  und 
Wollen  (V)  1 1.  —  II.  Begriff  der  Meinung  12.  —  12.  Meinen  und  Glauben  13. 

—  13.  Glauben  und  Meinen  14.  —  14.  Der  Glaube  15.  —  15.  Glaube  als 
Pflicht  15.  —  16.  Glaube  und  Wahn  16.  —  17.  Glaube  und  WiUe  16. 

Dritter  Abschnitt.    Verhältnisse  zur  Wissenschaft 18 

18.  Wesenwille  und  Kürwille  18.  —  19.  Begriffe,  Glauben  und  Meinen  19. 

—  20.  Wissen  und  Meinen  20.  —  21.  Kampf  zwischen  Glauben  und  Wissen 
21.  —  22.  Streit  zwischen  Religion  und  Wissenschaft  22.  —  23.  Erlaubte 
und  verbotene  Meinungsäußerung  22.  —  24.  Aggregatzustände  der  Mei- 
nung 23.  —  25.  Wille  in  der  Meinung  25. 

II.  Kapitel.    Gemeinsame  Meinungen. 

Erster  Abschnitt.    Bedingungen  der  Gemeinsamkeit 25 

I.  Wahrscheinlichkeit  der  Übereinstimmung  25.  —  2.  Die  Schwierigkeit 
der  Sache  26.  —  3.  Ivcbensbedingimgen  27.  —  4.  Tieferer  Gegensatz  30.  — 
Differenzierimg  31.  —  5.  Meinungen  imd  MeinungsäuiBenmgen  32.  — 
6.  Wahlen  imd  Abstimmimgen  35.  —  7.  Führung  37.  —  8.  Meinungen 
als  Pflichten  39.  —  9.  Gemeinsame  Meinimg  —  gemeinsamer  Wille  41.  — 
10.  Verbindende  Meinungen  43.  —  11.  Übereinstimmung  und  Nötigung  44. 

Zweiter  Abschnitt.    Rationale  und  irrationale  Formen  des  gemein- 
samen Willens 46 

12.  Beschluß  und  Beschlüsse  46.  —  13.  Sinn  von  Beschlüssen  über  Mei- 
nungen 50.  —  14.  Analogien  des  Beschlusses  51.  —  15.  Parallele  von 
Brauch  und  Beschluß  53.  —  16.  Begriff  der  I,ehre  55,  —  17.  Die  richtigen 
Meinungen  58.  —  18.  Begriff  und  Lehre  60.  —  19.  Das  Schlagwort  62.  — 

20.  Formen  des  Kollektivwillens.  A,  Eintracht  —  Sitte  —  Religion  66.  — 

21.  B.  Konvention  —  Gesetzgebung  —  öffentliche  Meinimg  70. 

Dritter  Abschnitt.    Anwendung  für  öffentliche  Meinung 77 

22.  öffentliche  Meinung  und  Propaganda  77.  —  23.  Verhältnisse  der 
sozialen  Willensformen  zueinander  80. 

III.  Kapitel,    öffentliche  Meinung. 

Erster  Abschnitt.    Das  öffentliche  Wesen 81 

1.  Meinungsäußerung  81.  —  2.  Zeichen  81.  —  3.  Publikum  82.  —  4.  Das 
große  Publikum  84.  —  5.  Stumme  und  laute  Zeichen  86.  —  6.  Mitteilung 
87.  —  7,  Schriftsteller  88.  —  8.  Denker  89.  —  9.  Meinungskämpfe  89.  — 
10.  Der  Buchdruck  90.  —  11.  Zeitungen  91. 


X  INHAI.TSVERZEICHNIS. 


Seite 

Zweiter  Abschnitt.    Nachrichten  und  Öffentlichkeit 91 

12.  Gemeinschaft  und  Überlieferung  91.  —  13.  Gesellschaft  und  Mit- 
teilung 92.  —  14.  Staatsnachrichten  94.  —  15.  Handelsnachrichten  95.  — 

16.  Das  Bedürfnis  der  Nachrichten  96.  —  17.  Verbreitung  97.  —  18.  Fäl- 
schung 97.  —  19.  Nachrichten  und  Meinungen  99,  —  20.  Erörterung  99. 

Dritter  Abschnitt.    Öffentliches  Leben  und  Parteiung 100 

21.  Öffentlichkeit  100.  —  22.  Öffentlichkeit  im  Mittelalter  100.  —  23.  Theo- 
logie loi.  —  24.  Die  Fakultäten  loi.  —  25.  Das  öffentliche  Leben  103.  — 
26.  Meinimg  und  Selbsterhaltimg  104,  —  27.  Meinungen  und  Interessen 
106.  —  28.  Parteien  (I)  108.  —  Parteien  (II)  112.  —  30.  Parteien  (III) 
114.  —  31.  Zusammenhänge  115.  —  32.  Kreuzungen  (116). 

Vierter  Abschnitt.    Kampf  und  Freiheit 117 

33.  Soziale  Gegensätze  117.  —  34.  Öffentliches  Meinen  121.  —  35.  Soziale 
Kämpfe  122.  —  36.  Gewissensfreiheit  124.  —  37.  Preßfreiheit  125.  — 
38.  Redefreiheit  126.  —  39.  Neubürgerliche  Herrschaft  128.  —  40.  Öffent- 
liche Meinung  und  eine  öffentliche  Meinung  129. 

IV.  Kapitel,    öffentliche  Meinung  und  die  öffentliche  Meinung. 

Erster   Abschnitt.     Entstehung   und   Charakter   der    öffentlichen 

Meinung 131 

I.  Sprachgebrauch  und  Begriffe  131.  —  2.  Die  Analogie  der  Versamm- 
lung 133.  —  3.  Die  Grenzen  der  Hörweite  135.  —  4.  Die  Presse  136.  — 
5.  Aggregatzustände  der  Öffentlichen  Meinung  137.  —  6.  Verallgemeine- 
rung einer  Teilmeinung  139.  —  7.  Kämpfe  um  die  öffentliche  Meinung  141. 

Zweiter  Abschnitt.    Näheres  über  politische  Kämpfe 147 

8.  Regierung  und  Presse  147.  —  9.  Die  Defensive  151.  —  10.  Cäsaristische 
Methoden  152.  —  11.  Die  Öffentliche  Meinung  als  Regierung  155.  — 
12,  Staatsmänner  und  die  Öffentliche  Meinung  157.  —  13.  Bismarcks 
Ansicht  164.  —  14.  Konservative  und  reformative  Parteiung  165.  — 
15.  Orthodoxe  und  heterodoxe  Meinungen  174.  —  16.  öffentliche  Mei- 
nung beiderlei  Sinnes  im  Verhältnis  zur  Presse  177. 

Dritter  Abschnitt.   Vulgäre  Erscheinung  der  öffentlichen  Meinung     178 

17.  öffentliche  Meinung  und  das  Zeitungsgeschäft  178.  —  18.  Korrup- 
tion 182.  —  19.  Unabhängige  Presse  und  Öffentliche  Meinimg  183.  — 

20.  Zusammenhang  mit  den  Aggregatzuständen  der  öffentlichen  Meinung 
187. 

Vierter  Abschnitt.    Höhere  Erscheinungen  der  öffentlichen  Mei- 
nung    189 

21.  Ausdrucksformen  und  Ausdrucksmittel  der  öffentlichen  Meinung  nach 
W.  Bauer  189.  —  22.  Ergänzungen  195.  —  23.  Rückwirkungen  — 
Mache  —  Analogien  der  Religion  199.  —  24.  Verbindung,  Verpflichtung 
203.  —  25.  Führer  der  Öffentlichen  Meinung  206. 


Zweites  Buch. 

Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

V.  Kapitel.    Die  öffentliche  Meinung  und  ihre  Merkmale. 

Erster  Abschnitt.    Soziologische  Zusammenhänge  der  öffentlichen 

Meinung 219 

1.  Die  Formen  des  sozialen  Willens  219.  —  2.  Die  Entwicklung  der  sozialen 
Willensformen  220.  —  3.  Zusammenhänge  221.  —  4.  Unterschiede  der 
Individuen  222.  —  5.  Sekundäre  Unterschiede  223.  —  6.  Die  Richtung 
auf  Gesellschaft  224.  —  7.  Individuelle  Anlagen  226. 


INHAI^TSVERZEICHNIS.  XI 

Seite 

Zweiter  Abschnitt.    Soziologische  Wechselwirkungen 228 

8.  Anwendung  auf  die  öffentliche  Meinung  228.  —  9.  Religion  und  Öffent- 
liche Meinung  229.  —  10.  Gemeinsame  und  unterscheidende  Merkmale 
235.  —  II.  Moral  der  Religion  und  Moral  der  öffentlichen  Meinung  236. 

—  12.  Ordnung,  Recht,  Moral  239.  —  13.  Empirische  Merkmale  der 
ephemeren  Öffentlichen  Meinung  245.  —  14.  Gefühlspolitik  der  öffent- 
lichen Meinung  253. 

VI.  Kapitel.     Allgemeine  Inhalte  der  Öffentlichen   Meinung  in   ihren   neuzeitlichen 

Gestaltungen. 

Erster  Abschnitt.    Das  soziale  und  ökonomische  Gebiet 258 

I.  In  der  festen  öffentlichen  Meinung  258.  —  2.  In  der  flüssigen  Öffent- 
lichen Meinung  262.  —  3.  In  der  luftartigen  öffentlichen  Meinung  264. 

Zweiter  Abschnitt.    Das  politische  und  rechtliche  Gebiet 268 

4.  In  der  festen  öffentlichen  Meinung  268.  —  5.  In  der  flüssigen  Öffent- 
lichen Meinimg  271.  —  6.  In  der  luftartigen  Öffentlichen  Meinung  276. 

Dritter  Abschnitt.    Das  geistige  und  sittliche  Gebiet 279 

7.  In  der  festen  öffentlichen  Meinung  279.  —  8.  In  der  flüssigen  Öffent- 
lichen Meinung  287.  —  9.  In  der  luftförmigen  öffentlichen  Meinung  291. 

Vierter  Abschnitt.     Urteile  der  Moralphilosophen  über  die  allge- 
meinen Inhalte 293 

10.  HoBBES,  Locke,  Mandevii,i,e,  HEi^vfexius,  Smith  293.  —  11.  Neuere 
Moralphilosophen  297. 

VII.  Kapitel.    Macht  und  Machtfaktoren  der  öffentlichen  Meinung. 

Erster  Abschnitt.    Die  Macht 299 

I.  Neuerungen  299.  —  2.  Das  Moment  der  Öffentlichen  Meinung  301.  — 
3.  Verhältnis  zur  Kirche  um  die  Wende  der  Neuzeit  302.  —  4.  Die 
Wucherfrage  306.  —  5.  Kirche  und  Staat  309. 

Zweiter  Abschnitt.    Die  Machtfaktoren 311 

6.  Übergänge  der  Aggregatzustände  311.  —  7.  Eindrücke  314.  —  8.  De- 
batte 317.  —  9.  Staatsreden,  Gespräche,  Briefe  318. 

VIII.  Kapitel.     Die  öffentliche  Meinung  als  Faktor  des  Staatslebens. 

Erster  Abschnitt.    Die  öffentliche  Meinung  in  Amerika 321 

I.  Die  Anerkennung  der  Tatsache  321.  —  2.  Vereinigte  Staaten  322.  — 
3.  Die  Organe  der  Öffentlichen  Meinung  in  Amerika  324.  —  4.  Faktoren 
der  öffentlichen  Meinung  326.  —  5.  Einfluß  von  Klassen  327.  —  6.  Wirk- 
samkeit 328.  —  7.  Mehrheit  und  Menge  331.  —  8.  Schätzung  der  Öffent- 
lichen Meinung  331.  —  9.  Kritik  (I)  334.  —  10.  Kritik  (II)  335.  — 
n.  Kritik  (III)  340.  —  12.  Andere  Auffassimgen  —  Ostrogorski  345. 

—  13.  Andere  Zeugnisse  351.  —  14.  Amerikanische  Ansicht  353.  — 
15.  Schlußfolgerimgen  355.  —  16.  Nachträge  zu  Bryce  359. 

Zweiter  Abschnitt.    Die  öffentliche  Meinung  in  England 362 

17.  Grundzüge  362.  —  18.  Reformbill  —  Freihandel  366,  —  19.  Die 
öffentliche  Meinung  im  neuesten  England  372. 

Dritter  Abschnitt.   Die  öffentliche  Meinung  im  französischen  Staat     374 
20.  Necker  und  die  große  Revolution  374.  —  Mirabeau,  Sifevfes  u.  a.  378, 

—  22.  Georg  Forster  385.  —  23.  Frau  von  Staei,  388.  —  24.  Nie- 
buhr,  Tocquevii,le,  Anton  Springer  392.  —  25.  Die  öffentliche  Mei- 
nung Frankreichs  in  neuester  Zeit  396.  —  26.  Die  Friedensbedingungen 
1871  398.  —  27.  Exkurs  401. 

Vierter  Abschnitt.    Die  öffentliche  Meinung  im  deutschen  Staate     401 
28.   Allgemeines  401.   —  29.    Perthes   über  die  deutsche  Staatsgesin- 
nung 407.  —  30.  Wirkungen  der  Revolution,  Freiherr  vom  Stein  410.  — 


XII  INHA1.TSVKRZEICHNIS. 


Seite; 

31.  Die  öffentliche  Meinung  bis  1848.  die  Burschenschaft  415.  —  32.  Die 
Paulskirche  418.  —  33.  Preußens  Revolution  424.  —  34.  Die  Reaktion, 
BiSMARCKs  Kampf  gegen  die  öffentliche  Meinung  428.  —  35.  Die  öffent-  \ 

liehe  Meinung  unter  Wii,hei;m  II.  434.  l 

DrittesBuch.  '      ] 

Besondere  Fälle  der  öffentlichen  Meinung. 


IX.  Kapitel.    Die  Öffentliche  Meinung  und  die  soziale  Frage. 

Erster  Abschnitt.    Das  allgemeine  Verhältnis 43^ 

I.  Gnmdlagen  439.  —  2.  Sozialistische  Lehren  441.  —  3.  Der  Handel  444. 

Zweiter  Abschnitt.    Die  besonderen  Probleme 4471 

4.  Das  Koalitionsrecht  447.  —  5.  Das  Genossenschaftswesen  455.  j 
Dritter  Abschnitt.    Verhältnis  zur  Sozialdemokratie  und  Arbeiter- 
bewegung    46* 

6.  Die  Sozialdemokratie  462.  —  7.  Wandlimgen     der  öffentlichen  Mei-  ! 

nung  472.  —  8.  Der  Sozialismus  in  anderen  Ländern  479.  —  9.  Streiks  | 

und  Aussperrungen  490.  —  10.  Veränderungen  des  Urteils  500.  1 

X.  Kapitel.    Die  Öffentliche  Meinung  und  der  Weltkrieg. 

Erster  Abschnitt.    Vor  dem  Weltkriege 504^ 

I.  Vor  dem  Weltkriege  in  Deutschland  504.  —  2.  Vor  dem  Weltkriege  } 
in  England  510.  —  Vor  dem  Weltkriege  in  Frankreich  525.  —  4.  Vor  j 
dem  Weltkriege  in  Rußland  530.  —  5.  Vor  dem  Weltkriege  in  anderen  j 
Ländern  539.  1 

Zweiter  Abschnitt.    Die   öffentliche  Meinung  während  des  Welt-  \ 

krieges S4i\ 

6.  Im  allgemeinen  544.  —  7.  In  Deutschland  während  des  Weltkrieges  546.  J 

—  8.  In  England  während  des  Weltkrieges  550.  —  9.  Frankreich  während  : 

des  Weltkrieges  555.  —  10.  Rußland  während  des  Weltkrieges  558.  i 

Dritter  Abschnitt.    Die  öffentliche  Meinung  nach  dem  Weltkriege  55^ 

II.  Im  allgemeinen  und  in  Deutschland  559.  —  12.  In  Frankreich  565.  —  ; 
13.  In  England  566.  —  14.  In  den  übrigen  Ländern  568.  1 

I 

XL  Kapitel.    Die  Zukunft  der  öffentlichen  Meinung.  | 

I.  Verhältnis  zur  Religion  569.  —  2.  Mögliche  Entwicklungen  572.  —  | 

3.  Die  Reform  der  Presse  574.  *  ] 

Namenverzeichnis 575- 

Sachverzeichnis 580] 

I 

Berichtigung.  i 

Seite  17,  Zeile  6  von  unten:  wirklich  statt  wörtlich.  \ 

Seite  500,  Zeile  9  von  unten:  Bötticher  statt  Böttiger.  j 

i 

l 

I 


Erstes  Buch 


Begriff  und  Theorie  der  öffentlidien 
Meinung 


I.  Kapitel. 

Meinen  und  Meinung. 

Erster  Abschnitt.   Grundbegriffe. 

1.  (Etymologie.)  Die  Wörter  gehen  auf  eine  Wurzel  zurück,  die 
im  Sanskrit  die  einfache  Form  man  in  der  Bedeutung  »bewußt  sein« 
hat  —  auch  ein  Verbum  manyati,  das  den  Sinn  des  Denkens,  Meinens 
trägt,  gibt  es  in  dieser  alten  priesterlichen  Sprache.  In  der  griechischen 
und  der  lateinischen  Sprache  gibt  es  viele  Wörter,  die  aus  der  gleichen 
Wurzel  stammen.  Und  der  Ursinn  dieser  Wurzel  wird  sogleich  klar, 
wenn  uns  aus  diesen  Sprachen  andere  Wörter  entgegentreten,  denen 
die  Bedeutung  des  Bleibens,  Beharrens  innewohnt.  Denn  die  Wurzeln 
sind  (nach  FiCK,  S.  146'))  identisch.  Und  die  Bedeutungen  begegnen 
einander  in  den  Wörtern,  die  Gedächtnis,  Erinnerung  bedeuten:  lat. 
memini,  memoria,  griech.  juijuvrjöxco  y  juvrjjurj ,  juvtjfioovvrj. 

Die  Beharrimg  ist  Grundbegriff  der  Naturwissenschaften  und 
sollte  in  gleicher  Weise  von  den  Geisteswissenschaften  aufgenommen 
werden.  Daß  auch  Bewegung  (nicht  von  selber  in  Ruhe  übergeht, 
sondern)  in  gleicher  Richtung,  mit  gleicher  Geschwindigkeit  bleibt, 
sofern  sie  nicht  durch  eine  ihr  äußere  Kraft  abgelenkt  oder  gehemmt 
oder  beschleunigt  wird,  ist  die  Erkenntnis,  woraus  Gai^ilei  die  Haupt- 
gesetze der  Mechanik  abgeleitet  hat. 

Analog  ist  die  Tendenz  des  Beharrens  der  Empfindung.  Denn  sie 
ist  eine  Folgerung  aus  der  Tatsache  des  lychens  selber,  das  ohne 
Empfindung  nicht  ist  und  im  Mannigfachen  der  Empfindungen  sich 
äußert.  Darum  ist  schon  manchesmal  Gedächtnis  (Mneme)  für  eine 
Funktion  der  Materie  erklärt  worden  und  auch  den  lebenden  Elemen- 
tarorganismen (den  »Zellen«)  von  Naturforschern  Gedächtnis  zu- 
geschrieben worden.  In  der  Tat,  wie  wir  alles  Geistige  in  den  Raum 
werfen,  um  es  zu  begreifen,  so  können  wir  nicht  umhin,  uns  auch  das 
Beharren  der  Empfindung  als  fortgesetzte  Bewegung  in  einer  geraden 
lyinie  vorzustellen,  wenn  wir  auch  wissen,  daß  es  ein  Gleichnis  ist. 

2.  (Wahrnehmen.)  Allerdings  ist  keine  Wahrnehmung  erklärbar, 
ohne  daß  Gedächtnis  mitwirkend  gedacht  wird.  Niemand  glaubt 
noch,  daß  die  Gegenstände  selber  auf  einer  passiven  Fläche  —  des 
Geistes  oder  speziell  des  Sinnesorgans  —  mehr  oder  minder  ähnlich 
sich    abbüden.     Sondern   die   Seele   und   ihre   Organe   sind   immer 

^)  Vergleichendes  Wörterbuch  der  indog.  Sprache.     2.  Aufl. 
Tön  nie«,  Kritik.  1* 


Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 


tätig:  als  die  »innere«  oder  subjektive  Wirklichkeit  des  lebendigen 
lyeibes.  Andere  Dinge  —  oder  psychologisch  verstanden  andere 
Seelen  —  stehen  ihnen  gegenüber  und  in  Wechselwirkung  mit  ihnen. 
Aber  jede  Empfindung  ist  Tätigkeit  imd  aus  vielen  Em^pfindungen 
eines  Sinnes  gestaltet  der  Sinn  die  Wahrnehmung,  insbesondere 
schafft  der  Gesichtssinn  aus  der  Mannigfaltigkeit  von  Ivichtempfin- 
dungen  und  ihren  Widerständen  das  »Bild«  des  Gegenstandes.  Auch 
das  Bild  ist  nichts  anderes  als  eine  Tätigkeit,  die  Wahrnehmung 
selber,  und  das  Beharren  des  Bildes  ist  zugleich  die  Möglichkeit  und 
Wahrscheinlichkeit  seiner  erneuten  Schaffung  (der  »Reproduktion«). 
Es  wird  »geweckt«  durch  »Reize«  —  innere  oder  äußere  — ;  es  kann 
geweckt  werden,  weil  es  noch  lebt.  Das  Zusammenwirken  des  Ge- 
sichts mit  dem  Tastsinn  bildet  die  Bilder  der  Wahrnehmung,  die 
als  Vorstellungen  aufwachen.  Wirksame  Reize  erlangen  die  größte 
Bedeutung  als  Zeichen,  deren  Wahrnehmung  das  Wiederauftauchen 
schlummernder  Vorstellungen  erleichtert.  Da  treten  dann  die  Wahr- 
nehmungen des  Gehörs  hinzu,  die  Auffassungen  von  »lyautbildern«, 
die  als  Zeichen  wirken  und  mit  den  Vorstellungen  Gefühle  auslösen. 
Darin  beruht  die  menschliche  Sprache,  und  in  der  menschlichen 
Sprache  das  menschliche  Denken. 

3.  (Denken.)  Denken  ist  die  schwerste,  verwickeltste,  bedeutendste 
psychische  Tätigkeit. 

Alle  seelische  Tätigkeit  ist  wesentlich  Verbindung  und  Trennung 
von  Elementen  (der  Empfindung,  Wahrnehmung,  Vorstelltmg  oder 
der  Gefühle),  Zusammensetzung  (Sjiithese)  und  Auflösimg  (Analyse), 
Bejahung  und  Verneinung  ihres  Zusammenseins,  ihrer  Zusammen- 
gehörigkeit, ihrer  Einheit. 

Alle  seelische  Tätigkeit  kann  als  »I^eiden«,  als  etwas  Passives 
aufgefaßt  werden,  auch  das  Denken.  »Es  denkt  in  mir«  :  die  Vor- 
stellungen, durch  I^autbilder  erregt,  kommen  und  gehen,  verbinden 
sich  und  trennen  sich,  nehmen  ihren  I^auf,  hemmen  und  fördern, 
verlangsamen  und  beschleunigen  einander.  In  Wahrheit  ist  der 
Begriff  der  Tätigkeit  notwendig,  um  die  Unterschiede  zwischen 
verschiedenen  Arten  seelischer  Bewegungen  zu  bezeichnen;  sie 
sind  mehr  empfangend,  leidend  (»passiv«)  oder  mehr  wirkend,  bil- 
dend, erzeugend  (»aktiv«):  so  hebt  vom  Gefühl  als  der  wesentlichen 
Begleiterscheinung  oder  vielmehr  »Innenseite«  des  vegetativen 
Lebens  die  gesamte  animalische  Tätigkeit  sich  ab,  zu  der  auch  das 
ganze  Gebiet  der  Empfindung  gehört:  vom  nackten  Empfinden 
ebenso  das  Wahrnehmen,  vom  Wahrnehmen  das  Vorstellen,  vom 
Vorstellen  das  Denken.  Das  Zunehmen  des  Tätigseins  pflegt  als 
Zunahme   des   »Bewußtseins«  verstanden  zu  werden,    und  die  »be- 


Meinen  und  Meinung.  —  Grundbegriffe. 


wußtesten«  Tätigkeiten  gelten  als  Tätigkeiten  des  »Willens«.  In 
Wahrheit  handelt  es  sich  um  eine  kontinuierliche  Skala,  auf  der  man 
Stufen  (»Grade«)  abzeichnen  kann,  um  die  Höhe  des  Bewußtseins 
zu  messen;  es  sind  Grade  der  Helligkeit,  in  denen  »die  Seele«  sich 
selbst  beleuchtet  oder,  wie  man  es  auch  nennen  kann,  ihrer,  und  der 
ihr  entsprechenden  leiblichen  Tätigkeiten  bewußt  »wird«. 

Denken,  insofern  es  das  Urteil  in  sich  enthält,  ist  Verbinden 
oder  Trennen  von  Vorstellungen.  Als  solches  ist  es  den  anderen 
seelischen  Tätigkeiten  um  so  näher  verwandt,  je  mehr  diese  deut- 
lich unterschiedene  Kiemente  verbinden  oder  trennen.  Das  »Er- 
kennen« ist  die  allgemeine  Funktion. 

4.  (Erkennen  und  Wissen.)  Das  Wort  »erkennen«  hat  ebenso  wie 
»kennen«  und  »wissen«  eine  Beziehung  auf  die  Vorstellung  des 
wirklich  Seienden  und  Wahren.  Wenn  ich  von  jemandem  aussage: 
er  oder  sie  »kennt«  das  Buch,  das  Gedicht,  das  Schauspiel,  so  ver- 
steht es  sich  von  selbst,  daß  damit  zugleich  das  Dasein  des  Buches, 
des  Gedichts,  des  Schauspiels  ausgesagt  wird;  ebenso  wie  mit  der 
Aussage:  er  oder  sie  »weiß«,  daß  Bismarck  1815  geboren  wurde, 
Napoi^EON  1821  gestorben  ist,  es  sich  versteht,  daß  die  Wirklichkeit 
dieser  Geschehnisse  behauptet  wird.  Alle  solchen  Sätze  lassen  sich 
in  die  zwei  Urteile  auflösen:  i.  Die  Sache  x  ist  vorhanden,  oder  das 
Ereignis  y  ist  geschehen;  2.  NN  besitzt  »die  Kenntnis«  dieser  Sache 
oder  dieses  Ereignisses,  »hat«  sie  in  seinem  »Bewußtsein«.  Beide 
Urteile  können  irrig  sein,  das  zweite  unabhängig  vom  ersten.  Wenn 
aber  das  erste  irrig  ist,  so  verliert  das  andere  seinen  Sinn.  Ebenso  ist 
die  Bedeutung  des  Wortes  »erkennen«.  „Nachdem  ich  den  Fremden 
lange  betrachtet  hatte,  erkannte  ich  ihn  endlich"  —  d.  h.  i.  „es  war 
(oder  ist)  mein  Jugendfreund  A",  und  2.  ich  erwarb  die  Kenntnis 
dieser  Tatsache,  ich  empfing  sie  in  meinem  »Bewußtsein«.  „Ich 
erkannte,  daß  ich  mich  auf  einem  falschen  Wege  befand",  d.  h., 
I.  der  Weg,  auf  dem  ich  mich  befand,  war  ein  unrichtiger  Weg;  2.  ich 
wurde  dessen  »inne«,  ich  gewahrte  diese  Tatsache.  (Zeitwörter, 
wie  wahrnehmen,  gewahren  haben  eben  dieselbe  Beziehung  auf 
das  Wahre  oder  Wirkliche.)  Da  das  Erwerben  immer  der  Prozeß 
eines  Werdens  ist,  so  wird  das  Wesen  des  Erkennens  gut  ausgedrückt 
durch  ein  griechisches  Wort  wie  yiyvcboKoj,  lateinische  Wie  cognosco, 
scisco]  denn  die  auf  sco  lautenden  Derivate  bezeichnen  alle,  wie 
crescOy  ein  Wachsen  und  Werden. 

Die  Sprachen  ermangeln  aber  der  Wörter,  die  geeignet  wären, 
die  Tätigkeit  des  Erkennens  ohne  Beziehung  auf  ihren  Gegenstand 
(als  wahren  oder  wirklichen)  zu  bezeichnen.  Wenn  ausgesagt  wird, 
jemand  glaube  oder  meine  zu  wissen  (eine  Sache  oder  eine  Person  zu 


Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 


»kennen«),  ja  er  sei  überzeugt,  sei  völlig  sicher  und  gewiß,  so  ver- 
steht man  immer,  daß  nur  eine  Tatsache  von  subjektivem  Charakter 
ausgesagt  wird;  es  ist  nicht  im  mindesten  darin  enthalten,  daß  der 
Gegenstand  wirklich  vorhanden  oder  wirklich  so  beschaffen,  daß 
das  Ereignis  wirkHch  geschehen  sei;  so  wenig,  als  wenn  einfach  gesagt 
wird:  er  glaubt,  er  meint,  er  ist  überzeugt,  daß  ...  In  gleicher 
Weise  kann  man  freilich  auch  sagen:  er  glaubt  (oder  meint  oder 
ist  überzeugt)  zu  erkennen,  aber  da  ist  ein  Unterschied  vorhanden. 
Wenn  ich  zu  wissen  glaube  (z.  B.  daß  NN  heute  in  Berlin  verweilt), 
so  kann  mein  Irrtum  (ebenso  die  Richtigkeit  meiner  Meinung)  sich 
auf  die  angeblich  gewußte  Sache  beziehen  (NN  ist  heute  nicht  in 
Berlin)  oder  aber  obgleich  die  Tatsache  richtig  ist,  so  irre  ich  doch, 
wenn  ich  sie  zu  »wissen«  glaube;  in  Wahrheit  habe  ich  sie  nur  erraten 
oder  vermutet.  Eine  Tatsache  kann  auf  verschiedene  Weise  psy- 
chisch besessen  werden:  das  Gefühl  der  Gewißheit  und  Sicherheit, 
womit  sie  besessen  wird,  kann  der  Wirklichkeit  entsprechen,  es  kann 
aber  auch  trügerisch  sein :  in  Wahrheit  ist  man  gar  nicht  sicher  und 
gewiß,  wie  sich  z.  B.  herausstellt,  wenn  ein  anderer  dagegen  streitet. 
Hingegen,  wenn  ich  zu  erkennen  glaube,  so  ist  nur  der  eine  Irrtum 
möglich:  was  ich  zu  erkennen  glaube,  das  ist  nicht.  Eine  Tat- 
sache kann  nicht  auf  verschiedene  Arten  psychisch  erworben  werden. 
Wenn  sie  ist  und  erworben  wird,  so  ist  die  Erwerbung  immer  Er- 
kenntnis, ob  nun  die  Erkenntnis  durch  Wahrnehmung  oder  durch 
Denken  erworben  wird. 

Daher  kann  man  auch,  ohne  gegen  die  Sprache  Gewalt  zu  üben, 
das  Erkennen  gleichsam  neutral  auffassen  —  die  Beziehung  auf  den 
Inhalt  als  wirklichen  abstreifen  und  nur  die  Tätigkeit  als  solche  be- 
zeichnen, die  also  das  Gemeinsame  des  .Wahrnehmens  und  Denkens 
in  sich  schließt,  insofern  als  beide  darauf  abzielen,  Kenntnis  zu 
erwerben.  Beharren  von  Empfindungen  und  Vorstellungen,  also  was 
als  Gedächtnis  verstanden  wird,  ist  die  Voraussetzung  beider.  Und 
das  Beharren  ist  auch  das  Wesen  des  Meinens.  Sobald  als  eine  Vor- 
stellung die  Form  eines  Urteils  annimmt,  ist  sie  Meinung.  Eine  Vor- 
stellung nimmt  aber  die  Form  eines  Urteils  an,  wenn  sie  aus  zerleg- 
baren Elementen  besteht:  deren  Verknüpfung  oder  Auseinander- 
haltung ist  das  Urteil. 

5.  (Meinen.)  Daher  ist  Meinen  und  Denken  einerlei,  wie  auch  der 
Sprachgebrauch  beide  Wörter  zu  verwechseln  pflegt.  Als  Denken 
aber  wird  im  flüssigen  Zustande  aufgefaßt,  was  als  Meinen  gleich- 
sam im  geronnenen  Zustande  sich  darstellt.  Denken  ist  ein  eigent- 
liches Tätigkeitswort.  Meinen  ist  es  nur  der  Form  nach,  seinem  In- 
halte nach  zeigt  es  ein  Haben,  ein  Besitzen  an,  es  ist  perfektisch; 


Meinen  und  Meinung.  —  Grundverhältnisse  der  Begriffe.  7 

Meinen,  soviel  wie  »die  Meinung  haben«  oder  hegen,  der  Ansicht 
sein,  sich  das  Urteil  gebildet  haben,  zu  dem  Schlüsse  gekommen 
sein.  So  auch  im  lyateinischen :  opinari  =  in  opinione  esse.  Im 
Althochdeutschen  gehörte  man  —  ich  meine  zu  den  Zeitwörtern, 
die  trotz  der  präsentischen  Bedeutung  auch  die  Form  des  Perfek- 
tums  hatten,  den  sogenannten  Praeterito  -  Praesentia,  die  aber  un- 
richtig so  genannt  werden:  „Da  das  Perfektum  kein  Tempus  der 
Vergangenheit  war,  sondern  nur  den  Zustand  des  Vollendet-  und 
Fertigseins  bezeichnete,  so  begreift  man  leicht,  daß,  wenn  die  zu- 
gehörigen Präsensformen  außer  Gebrauch  kamen  .  .  .  das  Perfektum 
ganz  wie  ein  Präsens  empfunden  wurde.''  (Wii^manns,  Deutsche 
Grammatik,  3.  Abt.,  i.  H.,  S.  93.)  Treffender  noch  bezeichnet 
Westphai.  (Deutsche  Grammatik  S.  235)  das  Perfektum  seinem 
ursprünglichen  Wesen  nach,  als  ein  durch  Wurzelreduplikation 
erweitertes  Präsens,  und  seiner  Bedeutung  nach  als  ein  zunächst 
die  Gegenwart  bezeichnendes  Tempus,  „aber  diese  Gegenwart  ist 
keine  dauernde  Gegenwart  wie  beim  Präsens,  sondern  eine  vollendete" 
—  besser:  sie  ist  keine  fließende,  werdende,  sondern  eine  feste, 
geronnene,  vollendete  Gegenwart. 

Zu  dieser  perfektischen  Bedeutung  des  Meinens  paßt  nun  vor- 
treffHch  der  Ursinn  des  Beharrens  und  Bleibens.  Wird  dieses  wiederum 
als  Tätigkeit  gedacht,  so  ist  es  das  Festhalten,  was  psychologisch 
zum  Besitz  gehört,  sofern  der  Besitz  als  zu  dem  besitzenden  Wesen 
gehörig,  als  ein  Stück  von  ihm  empfunden  wird.  So  wollen  wir  das 
Meinen  des  Menschen  begreifen  als  ein  Festhalten  seines  geistigen 
Besitzes;    das  Wort  »Hegen«  dürfte    diesen    Sinn   gut    ausdrücken. 

Zweiter  Abschnitt.  Grundverhältnisse  der  Begriffe. 

6.  (Meinen  und  Wollen,  I.)  In  Wahrheit  erkennt  man  leicht, 
daß  das  Meinen  der  Menschen  mit  ihrem  seelischen  Wesen,  also  mit 
ihrem  Wesen  -  Willen,  aufs  innigste  zusammenhängt.  Wie  und 
weil  das  Denken  abhängig  ist  vom  Wünschen  und  Begehren,  von 
Hoffnung  und  Furcht,  vom  Trachten  und  Streben. 

Etymologisch  ist  der  Zusammenhang  sichtbar  im  lateinischen 
Worte  opinio,  das  in  alle  romanischen  Sprachen  und  ins  Englische 

g  egangen  ist.  Denn  hier  liegt  die  Wurzel  op-  wie  in  optare,  Opti- 
mum, zugrunde,  und  als  Urbedeutung  wird  Erwartung,  Hoffnung 
angegeben.  Darin  kommt  zum  Ausdruck,  daß  der  Mensch  leicht 
für  wahr  hält,  was  ihm  willkommen  ist,  insbesondere  sein  Urteil 
über  das  Zukünftige  bestimmen  läßt  durch  seine  Hoffnung:  Dem 
steht  freilich  gegenüber,  daß  umgekehrt  auch  die  Furcht  Meinungen 
bewirkt,  daß  gerade  das  Schlimme  gern  und  leicht  geglaubt  wird; 


8  '  Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  Meinung. 

daß  es  »Pessimisten«  gibt,  die  immer  »schwarz«  sehen,  also  von  der 
Zukmift  nichts  Gutes  erwarten,  meinen,  daß  es  immer  abwärts  gehe 
usw.  Indessen  diese  negative  Seite  zeigt  das  seltnere  Bild;  es  ist 
die  Ansicht  des  Alters  gegen  die  Ansicht  der  Jugend,  und  die  Ansicht 
der  Jugend  ist  die  des  Lebens,  die  Ansicht  .der  Werdenden  und  Wollen- 
den; in  ihrem  Sinne  ist  gesagt  worden :  „der  Lebende  hat  immer  recht''. 
Daß  dies  positive  Verhältnis  überwiegt,  spricht  sich  auch  in  dem 
bekannten  Satze  aus  „der  Wunsch  ist  der  Vater  des  Gedankens''. 
Dieser  Satz  hat  aber  auch  eine  allgemeinere  Wahrheit.  Auch  die 
Furcht  enthält  Wünsche;  wenn  sie  trübe  Meinungen  hervorbringt, 
so  bleibt  der  Wunsch  dahinter  verborgen  (oder  tritt  auch  hervor), 
dem  drohenden  Übel  vorzubeugen,  die  Gefahr  abzuwenden,  der 
Wunsch,  rechtzeitig  zu  warnen,  in  der  Regel  auch  der  Wunsch,  daß 
es  doch  anders  kommen  möge;  wenngleich  diesem  der  Wunsch, 
recht  zu  haben  und  recht  zu  behalten,  in  einigem  Maße  entgegen- 
wirkt. Die  Furcht  selber  ist  keine  Ausnahme  von  der  Regel,  daß  die 
lebenbejahenden  Gefühle  das  Wesen  der  Seele  sind;  aber  sie  zeigt 
die  Seele  unter  einem  äußeren  Druck  —  im  Zustande  der  »Depression« 
— ,  der  die  Wünsche  beklemmt  und  verengert,  während  sie,  von  solchem 
Drucke  befreit,  also  ihrer  eigenen  Natur  folgend,  sich  ausdehnen 
und  heben.  Wenn  also  der  Wunsch  immer  den  Gedanken  erzeugt, 
so  können  doch  die  so  beklommenen  und  verengerten  Wünsche  nur 
verkrüppelte  Kinder  hervorbringen,  die  in  der  Vorstellung  die  Gestalt 
von  Gespenstern  anstatt  von  heiteren  guten  Genien  annehmen. 
Aber  der  »Wille  zum  Leben«  arbeitet  auch  alsbald  daran,  die  Dämonen 
zu  »versöhnen«,  ihnen  ein  freundlicheres  Ansehen  oder  wenigstens  einen 
freundlicheren  —  Namen  zu  geben  (evcprjjueTv). 

7.  (Meinen  und  Wollen,  II.)  Nun  aber  ist  das  Meinen  auch  selber 
ein  Wollen.  Wenn  das  Meinen  zunächst  ein  Haben,  einen  Besitz 
anzeigt  —  wie  das  Wollen  selber,  das  Wissen  und  Können  — ,  so  ist 
dieser  Besitz  etwas  Lebendes,  was  sich  nach  außen  hin  geltend  macht, 
was  sich  wehrt;  indem  es  ruht,  enthält  es  doch  die  Tendenzen  zur 
Bewegung  in  sich ;  indem  es  gegenwärtig  ist,  hat  es  seine  Richtung  in 
die  Zukunft.  Beim  Wollen  selber  liegt  dies  am  klarsten  zutage; 
in  den  Sprachen  neigt  Wollen  zum  Übergang  in  die  Bedeutung 
der  Zukunft.  Aber  wie  das  Gegenwärtige  immer  »schwanger«  mit 
der  Zukunft  geht  (nach  Leibniz'  Ausspruch),  so  ist  auch  gegen- 
wärtiges Meinen  soviel  wie  zukünftiges  Meinen  —  eine  Tendenz 
der  Bewegung,  die  zu  beharren  sucht  und,  insofern  sie  beharrt,  Wider- 
stand überwindet.  Eine  Meinung  haben  ist  gleich  eine  Meinung 
behaupten.  Meinen  selber  ist  »Behaupten«  eines  Satzes,  eines  Ur- 
teils; ist  das  Meinen  unbestimmt,  mit  Zweifeln  vermischt,  so  ist  die 


Meinen  und  Meinung.  —  Grundverhäi^tnisse  der  Begriffe.  •  o 

Verteidigung  der  ^^eingenommenen  Stellung«  schwach;  wenn  gar 
kein  Streben  vorhanden  ist,  sie  zu  halten,  so  ist  auch  die  Meinung 
nicht  mehr  vorhanden. 

8.  (Meinen  und  Wollen,  III.)  Die  deutsche  Sprache  tut  diese  Be- 
ziehungen offen  kund,  wenn  »meinen«  auch  gebraucht  wird  für 
»eine  Meinung  sagen«,  »aussprechen«.  Aber  nach  weit  überwiegendem 
Gebrauch  bedeutet  Meinung  vielmehr,  was  unausgesprochen,  heim- 
lich und  verborgen  ist,  was  zwar  zuweilen  offenbart  wird,  oft  aber 
auch  nur  erraten  und  gedeutet  werden  kann.  »Was  meint  er?« 
welches  ist  die  eigentliche  Meinung  des  Redners?  —  und  in  diesem 
Sinne  ist  das  Meinen  schlechthin  dem  »Wollen«  gleich,  das  immer  der 
einzelnen  Seele  angehört,  weil  es  ganz  und  gar  in  Gedanken  besteht, 
ein  Zustand  von  Spannkräften,  der  nur  stückweise  und  teilweise  in 
Handlungen  und  Reden  sich  entladet.  Darum,  »was  meint  er  ?«  = 
»was  will  er  damit  sagen?«  und  allgemein:  Meinung  =  Absicht. 
Im  Grimm  sehen  Deutschen  Wörterbuch  ist  dies  die  allererste  Bedeu- 
tung :  Meinen,  im  Sinne  haben,  mit  etwas  durch  Wort,  Bild,  Gebärde 
usw.,  geäußertem  bezeichnen,  andeuten,  sagen  wollen.  Daraus 
folgt  dann,  daß  insbesondere  Worte  etwas  »meinen«,  d.  h.,  bedeuten 
(engl,  meaning)  und  es  geht  daraus  leicht  ein  Gegensatz  zwischen 
dem  wirklichen  und  dem  scheinbaren  Sinn  von  Worten,  wie  von 
anderen  Zeichen  des  Gedankens  und  Willens  hervor.  Was  ein  Wort 
»meint«,  d.  h.  bedeutet,  ist  eine  objektive  Tatsache  und  ist  das, 
was  in  der  Regel  die  Menschen  meinen,  wenn  sie  das  Wort  gebrauchen ; 
was  aber  in  einem  gegebenen  Falle  der  einzelne  Mensch  »meint«, 
wenn  er  das  Wort  gebraucht,  ist  vielleicht  etwas  ganz  anderes;  er 
kann  auch  das  Gegenteil  meinen,  und  diese  seine  Meinung  durch  den 
Ton  der  Ironie  andeuten,  oder  aber  gar  nicht  andeuten,  sondern 
schlechthin  verbergen  (um  zu  täuschen).  So  wird  denn  auch  Meinen 
das  Wort  für  Gesinnung,  für  Wohlwollen  oder  Übelwollen.  Daraus 
entwickelt  sich,  indem  der  positive,  bejahende  Sinn  in  den  Vorder- 
grund tritt,  meinen  =  lieben :  „Freiheit  die  ich  meine,  die  mein 
Herz  erfüllt." 

So  ist  denn  die  gewöhnliche  rein  intellektuelle  Wortbedeutung 
des  Meinens  und  der  Meinung  durch  Abschwächung  und  Verblassen 
entstanden,  wie  die  Grammatiker  sagen;  logisch  möchten  wir  es  lieber 
als  eine  Verallgemeinerung  auffassen,  die  sich  in  einem  einzelnen  Sinn 
fixiert,  eben  dem  des  Vorstellens  und  (unausgesprochenen)  Urteilens 
„oft  mit  dem  Beisinn  des  Ungewissen  oder  Schwankenden"  (Heyne, 
Deutsches  Wörterbuch,  sub.  v.),  womit  denn  auf  synonymische  Wörter 
hingewiesen  wird.  Auch  Adelung  hatte  »Meinen«  erklärt  als  Dafür- 
halten, Urteilen,  ohne  zu  entscheiden,  ob  das  Urteil  wahr  ist  oder 


10  Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  Meinung. 

nicht  (vgl.  lyOTHAR  Bucher,  Der  Parlamentarismus  ^,  S.  245,  Stuttgart 
1881). 

9.  (Meinen  und  Wollen,  IV.)  Den  lateinischen  Wörtern  opinio, 
opinari,  opiniosus  usw.  wohnt  die  intellektuelle  Bedeutung  viel 
ausschließender  bei,  obgleich  sie  etymologisch,  wie  schon  angedeutet 
wurde,  an  den  Zusammenhang  mit  Wünschen  erinnern.  Auch  sie 
gehen  aber  in  einen  Willenssinn  über,  wenn  die  Meinung  ein  bejahen- 
des oder  verneinendes,  günstiges  oder  ungünstiges  Urteil,  insbe- 
sondere über  Menschen  und  ihren  Wert,  in  sich  enthält,  und  dies  ist 
ein  Feld  von  weiter  Fläche.  Es  gibt  ein  bene  aut  male  opinari  über 
Menschen  wie  über  Sachen;  jemand  kommt  in  eine  opinio,  das  be- 
deutet in  einen  »Verdacht«,  wenn  der  Inhalt  der  opinio  etwas  ist, 
was  Menschen  »verdacht«  zu  werden  pflegt.  Opinio  wird  dadurch 
gleich  dem  »Ruf«,  und  da  der  bejahende  Sinn  immer  den  Vorrang 
hat,  vorzugsweise  =  bona  existimatio,  fama,  gloria,  und  diese  Bedeu- 
tung einer  »guten  Meinung«  als  eines  günstigen  Urteils  ist  vorzugs- 
weise ins  mittelalterliche  und  neuere  I^atein  übergegangen.  So  ist 
von  lyeuten  die  Rede  quos  morum  et  honestatis  commendat  Opinio 
(welche  der  Ruf  ihres  Charakters  und  ihrer  Ehrenhaftigkeit  empfiehlt), 
und  es  sollen  solche  als  Beamte  erwählt  werden,  qui  essent  bonae 
opinionis  et  vitae  (die  guter  Meinung  —  d.  h.  guten  Rufes  —  und 
]>bens wandeis  seien).  Auch  in  den  romanischen  Sprachen  spielt 
diese  Bedeutung,  z.  B.  im  Französischen,  die  bonne  ou  mauvaise  aber 
auch  opinion  allein  im  bejahenden  Sinne,  eine  große  Rolle,  die  das 
Meinen  als  ein  geistiges  Wägen  und  Schätzen  erscheinen  läßt.  So  ist 
auch  im  Englischen  (nach  Murray,  A  new  english  dictionary) 
opinion  =  what  one  thinks  of  a  person  or  thing;  estimation,  or  an  esti- 
mate,  of  character,  quality  or  value;  dann  aber  auch  »speziell«  = 
good,  high  or  favourable  estimate;  esteeme,  wozu  aber  bemerkt  wird, 
daß  der  heutige  Sprachgebrauch  dies  nur  mit  negativen  oder  mit 
Beiwörtern,  wie  great,  zulasse.  Eine  andere  Sonderbedeutung,  die 
sich  im  Englischen  entwickelt  hat,  macht  aus  der  opinion  den  favourable 
estimate  of  oneself  or  of  one's  own  abilities  —  im  Sinne  von  Dünkel 
oder  im  Sinne  von  Selbstvertrauen.  So  wird  dann  aber  auch  Opinion 
=  Ruf:  ,,What  is  thought  of  one  by  others;  the  estimation  (esp.  good 
estimation)  in  which  one  Stands  i.  e.  standing;  reputation,  repute,  cha- 
racter y  credit  (of  being  so  and  so,  or  of  possessing  some  quality).  In  den 
eigentlichen  romanischen  Sprachen  nimmt  die  opinion  (franz.), 
opinione  (ital.),  opinion  (castellan.  =  span.),  opiniäo  (portug.)  diesen 
charakteristischen  Sinn  des  »Rufes«  und  »Ansehens«  auf  ausge- 
sprochene Weise  an.  Am  deutlichsten  tritt  der  Willenscharakter 
des  Meinens  im  Vorurteil  zutage,  sei  es  für  oder  wider  eine  Person 


jVIeinen  und  Meinung.  —  Grund verhäi^tnisse  der  Begriffe.  ii 

oder  Personengruppe,  eine  Sache  oder  einen  Komplex  von  Sachen; 
wo  das  Wort  andeutet,  daß  das  Urteil  nicht  erst  nach  Prüfung,  Be- 
obachtung, Untersuchung  gebildet  wurde,  sondern  vorher  feststeht, 
auf  Grund  irgendwelcher  Bindrücke,  am  ehesten  sinnlicher,  von 
denen  daher  auch  metaphorisch  in  diesem  Sinne  gesprochen  wird 
(man  kann  solche  und  solche  Menschen  »nicht  riechen«;  »er  ist  nicht 
mein  Geschmack«);  in  dem  Worte  ist  ferner  ausgesprochen,  daß 
aus  der  Neigung  oder  Abneigung  das  Urteil,  die  Meinung  entspringt. 
10.  (Meinen  und  Wollen,  V.)  Allen  jenen  (romanischen)  Sprachen 
fehlt  ein  Zeitwort,  das  der  opinion,  wie  das  deutsche  meinen  der 
Meinung  entspricht.  Bs  gibt  zwar  opiner  (franz.),  opine  (engl.), 
opinar  (span.  u.  port.),  opinare  (ital.),  aber  alle  haben  die  Vorzugs- 
bedeutung angenommen,  welche  wir  aus  dem  Ursinne  des  »Mei- 
nens«  als  Ausnahme  entwickelten:  »Bine  Meinung  äußern,  kund- 
geben, sagen«,  daher  auch  sein  Urteil,  seine  Stimme  »abgeben«.  Wenig 
geübt  und  altertümlich  gefärbt  ist  dagegen  der  Gebrauch  dieser  Wörter 
im  Sinne  von  meinen,  glauben,  denken  usw.  Wohl  aber  wird  in 
diesen  Sprachen  ausgedrückt,  was  im  Deutschen  als  »der  Meinimg 
(der  Ansicht  u.  dgl.)  sein«  gleichfalls  bekannt  genug  ist,  so  »to  he 
of  opinion«,  »je  ne  suis  pas  de  votre  opinioji«,  usw.,  wodurch  der  zu- 
ständliche  Sinn  des  Meinens  betont  wird.  Das  mehr  flüssige  »meinen« 
wird  dagegen  am  meisten  durch  Ausdrücke  wiedergegeben,  die 
diesem  »denken«  —  z.  B.  to  thtnk,  penser,  pensare  usw.  —  oder 
»glauben«  entsprechen:  Believe,  croyer,  credere  usw.  Merkwürdig 
ist  nun  zu  beobachten,  daß  auch  im  Deutschen  das  »meinen«,  wenig- 
stens in  der  ersten  Person  singul.  praes.  (»ich  meine«)  vorzugsweise 
den  Sinn  gewonnen  hat,  »ich  will  sagen«,  engl.  »I  mean  to  say«, 
während  man  nicht  gern  seine  »Ansicht«,  sein  »Urteil«  durch  »ich 
meine,  daß«,  als  eine  »bloße  Meinung«  ausspricht.  Der  Stolz  des 
Meinenden  scheint  sich  dagegen  zu  wehren,  ein  Wort  von  so  leichter  Art 
darauf  anzuwenden.  Bs  will  und  soll  volltönender  zur  Geltung  kom- 
men: »Ich  bin  der  Meinung,  daß  .  .  .«,  »meine  Meinung  geht  dahin«, 
oder  man  sagt  lieber:  Meiner  Meinung  nach  —  womit  angedeutet 
wird,  daß  meine  Meinung  Gewicht  habe,  daß  sie  Anspruch  auf  Be- 
achtung mache;  sonst  wird  lieber  die  »feste  Überzeugung«  unter- 
strichen. Anders,  wenn  die  zweite  oder  die  dritte  Person  gebraucht 
wird,  obschon  auch  hier  die  Bedeutung  leicht  in  »sagen  wollen« 
hinübergleitet.  Als  Ausdruck  für  das  bloß  intellektuelle  Verhältnis 
zu  Dingen  und  Tatsachen  ist  das  »Meinen«  zwar  nicht  immer,  aber 
sehr  oft  mit  einem  leichten  Makel  behaftet,  daher  es  gern  mit  »man«, 
mit  »die  Leute«  u.  dgl.  verbunden  wird  und  die  Bedeutung  in  die 
des  »Verneinens«  hinübergleitet.   „Menen  (Menin)  liggt  in  Flandern'' 


12  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

ein  weitverbreitetes  niederdeutsches  Sprichwort,  das  Geringschätzung 
ausdrücken  will.  So  klingt  auch  »Meinen  Sie  ?«  leicht  etwas  verächt- 
lich. Nach  I/ACTANTius  wäre  0 PIN  10  in  Gestalt  einer  jungen  Weibs- 
person mit  einem  kühnen  Gesichte  und  unbeständigen  Gebärden  ab- 
gebüdet  worden  (ZEDI.ER,  Lexicon  universale  1740).  Nur  wenn  die 
Sache  als  wesentlich  zweifelhaft  hingestellt  wird,  oder  doch  Unwissen- 
heit darüber  als  entschuldbar,  ja  vielleicht  eine  (scheinbar  begründete) 
Meinung  schon  als  verdienstvoll  gelten  darf,  dann  wird  wohl  mit 
»ich  meine«  eine  subjektive  Schätzung  geltend  gemacht;  z.  B.  bei 
Zahlenangaben  u.  dgl.  Auch  sonst,  wenn  die  Bescheidenheit  als 
solche  sich  aussprechen  wül.  Diese  Bemerkungen  greifen  der  syno- 
nymischen Unterscheidung  vor. 

II.  (Begriff  der  Meinung.)  Wenn  wir  begrifflich  die  Meinung 
untersuchen  wollen,  so  müssen  wir  uns  an  den  Sinn  halten,  den  sie 
mit  den  entsprechenden  Wörtern  der  lateinischen  und  der  roma- 
nischen Sprachen  gemein  hat :  dieser  Sinn  ist  der  intellektualistische, 
den  wir  darum  auch  für  das  deutsche  Zeitwort  meinen  in  den  Vorder- 
grund stellen,  der  Sinn  also,  den  die  anderen  Sprachen  in  der  Regel 
durch  Wörter  anzeigen,  die  »denken,  glauben,  vermuten«  bedeuten. 

Dabei  werden  wir  aber,  was  durch  die  vorausgegangenen  sprach- 
lichen Erörterungen  bestätigt  wird,  in  Erinnerung  behalten  und 
dahin  zusammenfassen,  daß  alles  Denken  und  Meinen  in  einem  drei- 
fachen Verhältnisse  zum  Wünschen  und  Wollen  oder  schlechthin  zu 
den  Gefühlen  steht:  i.  es  geht  zum  großen  Teil  daraus  hervor,  ist 
immer  dadurch  mitbedingt,  es  drückt  Gefühle  aus;  2.  eben  deshalb, 
und  zum  Teil  infolge  davon,  hat  es  auch  Gefühlsbetonung,  Gefühls- 
bedeutung, es  ist  »Wollen«  und  »Nichtwollen«  als  Bejahung  und 
Verneinung,  als  günstiges  und  abgünstiges  Urteil.  3.  es  ist  wesentlich 
perfektisch  wie  das  Wollen:  Meinen  =  eine  Meinung  haben, 
sich  ein  Urteil  gebildet  haben,  wie  Wollen  =  beschlossen  haben, 
sich  vorgenommen  haben.  Wie  aber  alles  Haben  und  Besitzen 
die  Seele  bindet,  so  auch  das  Meinen  und  Wollen,  und  zwar 
auf  zwiefache  Art:  i.  Es  bewirkt  unmittelbar  das  Werden,  die  zu- 
künftigen Meinungen  und  Entschlüsse  —  wie  aus  jedem  Zustande, 
wenn  die  Anstöße  erfolgen,  bestimmte  Bewegungen  erfolgen;  2.  es 
wirkt  auch  gegen  widerstrebende  Gedanken  und  Neigungen  als  Nöti  - 
gung  —  vermittelst  des  Gedächtnisses;  man  erinnert  sich  dessen, 
was  man  »eigentlich«  meint,  »eigentlich«  will,  und  dies  genügt  oft  — 
schwächeren  Antrieben  gegenüber  sogar  regelmäßig  —  um  den  Ge- 
danken und  um  dem  Willen  eine  bestimmte,  die  normale  Richtung 
zu  geben.  So  bindet  und  regelt  die  feste  Überzeugung,  aber  auch  der 
feste  Wüle,   der   Grundsatz   das  Handeln,  wenigstens  des  charak- 


Meinen  und  Meinung.  —  Grund  Verhältnisse  der  Begriffe.  13 

terfesten  Menschen,  von  dem  allein  man  wohl  sagt,  daß  er 
»eine  Meinung  hat«,  einen  Willen  hat.  In  diesem  Sinne  rühmt  man 
wohl,  daß  ein  Mann  »den  Mut  seiner  Meinung«  habe,  und  der  Erwerb 
einer  Meinung,  mehr  noch  die  »Bildimg«  einer  eigenen  Meinung 
wird  als  eine  Leistung  vorgestellt,  also  als  eine  willkürliche  Tätig- 
keit, die  eine  Mühewaltung  in  sich  einschließt,  und  eine  gewisse 
Zeit  kostet. 

12.  (Meinen  und  Glauben.)  Um  nun  die  Bedeutung,  worin  wir 
Meinung  und  Opinio  verstehen  wollen,  festzulegen  und  abzugrenzen, 
ist  es  geboten,  an  die  synonymische  Unterscheidung  anzuknüpfen, 
wie  sie  durch  den  Sprachgebrauch  überliefert  wird.  Am  nächsten 
liegt  da  die  Vergleichung  der  deutschen  Wörter  »Meinen«  und  »Glau- 
ben«. In  Weigands  Wörterbuch  der  deutschen  Synonymen  wird 
Meinen  erklärt  als:  Dafürhalten  mit  dem  Bewußtsein  der  Ungewiß- 
heit seines  Urteils,  ob  es  wahr  sei  oder  nicht.  Hingegen  »glauben« 
bedeute  seiner  Abstammung  gemäß  eigentlich  »sich  beifälHg  hin- 
neigen, vertrauend  hingeben«,  wie  z.  B.  in  »gläubig«;  daher:  aus 
Gemütsneigung  dafürhalten,  wobei  aber  natürlich  die  Wahrheit  des 
Gegenstandes  unausgemacht  ist.  Besonders  aber  bedeute  das  Wort 
»glauben«  weiter:  dafürhalten  aus  Vertrauen  auf  andere,  d.  i.  im 
Vertrauen  auf  andere,  deren  Zeugnis  u.  dgl.  eine  Aufstellung  oder 
Wahrheit  beifällig  annehmen  .  .  .  Diese  letzte  ist  nun  offenbar  die 
ursprüngliche  und  wesentliche  Bedeutung.  Denn  ihr  liegt  zugrunde, 
wie  dem  Worte  selber,  die  Wurzel  luh  =  Willigsein  und  Gutheißen, 
wie  in  goth.  lubainSy  Hoffnung,  lubo,  lyiebe,  in  erlauben,  Urlaub. 
Demnach  heißt  glauben  eigentlich  jemandem  glauben,  eine  Bezie- 
hung, die  für  das  Meinen  nicht  möglich  ist.  Der  eine  sagt  es,  der 
andere  glaubt  es.  Er  glaubt  ihm,  dem  Redenden.  Am  ehesten  und 
leichtesten,  wenn  er  denkt,  daß  dieser  es  weiß,  es  »wissen  muß«. 
Er  glaubt  daher  auch  mit  dem  Gefühle  der  Gewißheit.  Wenn  das 
Meinen  (nach  Kant)  etwas  aus  objektiven,  aber  mit  Bewußtsein 
unzureichenden  Gründen  für  wahr  halten  ist;  wenn  das  Schwankende 
und  Unzulängliche  in  der  Bedeutung  des  Wortes  liegt  und  oft  betont 
wird  (Grimm sches  Wörterbuch,  sub.  v.),  so  ist  für  das  Glauben  der 
nächste  Grund  immer  subjektiv,  zugleich  aber  neigt  das  Gefühl  zur 
Gewißheit,  daher  zur  Festigkeit  des  Vertrauens,  und  das  Glauben 
kommt  dem  Überzeugtsein  nahe.  Das  entsprechende  lateinische  Wort 
credere  gehört  zu  cor{d)  =  Herz;  das  Glauben  ist  Sache  des  Herzens, 
das  Meinen  des  Kopfes.  So  ist  der  religiöse  Sinn  des  Glaubens  unmittel- 
bar verständlich.  Wie  an  die  Götter,  so  wird  an  die  Menschen,  denen 
man  in  Pflichten  verbunden  ist,  zumal  wenn  sie  wie  die  Götter  Vereh- 
rung und  Gehorsam  in  Anspruch  nehmen,   geglaubt.    Glaube  und 


14  Begriff  und  Theorie  der  öffenti,ichen  IMeinung. 

Treue  sind  innig  verwandt;  das  gleiche  lateinische  Wort  ^fides« 
drückt  den  (religiösen)  Glauben  und  die  Treue  aus.  Und  in  deutscher 
Sprache  ist  das  Vertrauen  fast  gleichbedeutend  mit  dem  Glauben 
an  Personen.  Der  Glaube  ist  mit  Zuversicht  verbimden;  ja  der 
Apostel  verkündet  ihn  —  nach  Luthers  Verdolmetschung  —  als 
eine  gewisse  Zuversicht. 

13.  (Glauben  und  Meinen.)  So  schließt  denn  Glauben  seinem 
rechten  Sinne  nach  den  Zweifel  aus;  er  ist  ganze  und  einheitliche 
Hingebung  an  die  Person  oder  die  Sache.  Die  Seele  ist  mit  sich  einig, 
auch  in  gewöhnlichen  und  weltlichen  Dingen,  wo  immer  das  V/ort 
durch  das  Wort  Vertrauen  ersetzt  werden  kann;  der  Glaube  wird 
dann   auch   als  fest  und  als  vollkommen  bezeichnet. 

Hingegen  das  Meinen,  wenn  es  scharf  und  deutlich  vom  Glauben 
unterschieden  wird,  gibt  sich  selber  als  eine  Ansicht,  es  will  persönlich 
und  individuell  sein;  es  wird  leicht  mit  dem  Bewußtsein  ausgesprochen, 
daß  es  möglicherweise  irrig  sei,  oft  will  nur  für  sich  der  Meinende 
die  Gewißheit  betonen,  nicht  daß  es  (objektiv)  gewiß,  sondern  daß  er 
(subjektiv)  der  Sache  gewiß  —  oder  doch  beinahe  gewiß  —  sei,  weil 
er  sich  selbst,  seinem  Denken  und  Schließen,  seinem  Rechnen  (putare 
heißt  eigentlich  »rechnen«)  vertraut,  aber  er  weiß  auch,  daß  in  Rech- 
nimgen  sich  Irrtümer  einschleichen,  daß  man  allzuoft  fehlerhafte 
Schlüsse  zieht.  Darum  behält  er  sich  vor,  die  Rechnung  nachzu- 
prüfen (zu  »revidieren«),  und  wenn  er  einen  Fehler  entdeckt,  ihn  zu 
tilgen;  ja  er  kann  das  auch  anderen  überlassen.  Wenn  er  nicht  aus 
Eigensinn  und  Trotz  in  seinem  Irrtum  beharrt,  so  wird  er  die  als 
irrig  erkannte  Meinung  »aufgeben«  und  einer  anderen  Meinung 
»zuneigen«,  oder  sogar  alsbald  eine  solche  »annehmen«,  die  frühere 
mit  einer  neuen  »vertauschen«.  Mancher  wechselt  seine  Meinungen 
rasch  und  oft,  wie  denn  auch  keineswegs  die  Meinungen,  die  einer 
»hegt«,  auch  nur  in  der  Regel  auf  eigenem  Denken  (Schließen, 
Rechnen)  beruhen;  vielmehr  ist  eine  sehr  häufige  Erscheinung,  daß 
der  Meinende  die  Gründe  für  seine  Meinungen  gar  nicht  kennt,  oder 
doch  nur  eine  unbestimmte  »Ahnung«  davon  hat;  er  nimmt  die 
Meinung  an,  die  über  den  Gegenstand  »geläufig«  ist,  die  Meinung 
der  großen  Menge.  —  Das  Subjektive  und  Unverbindliche  wird  scharf 
betont  in  Wendungen,  wie  »das  ist  Meinungssache«.  In  dem  eng- 
lischen Bericht  über  die  mißglückte  Dardanellenexpedition  heißt 
es  am  Schlüsse  (die  Kommission  versucht,  das  Gesicht  der  Urheber 
zu  wahren),  die  Sache  habe  doch  wichtige  politische  Vorteile  gehabt. 
„Ob  diese  Vorteile  die  damit  verbundenen  Verluste  an  Menschenleben 
und  Finanz  wert  waren,  ist  Meinungssache,  und  muß  das  immer 
bleiben."    (cf.  The  National  Review ,  April  1917.) 


Meinen  und  Meinung.  —  Grundverhäi^tnisse  der  Begriffe.  15 

14.  (Der  Glaube.)  Es  ist  merkwürdig,  daß  wir  im  Deutschen  keinen 
Plural  von  »Glaube«  bilden  können.  Wir  müssen  zu  »Glaubens- 
meinungen«, »Glaubensvorstellungen«,  »Glaubenssätzen«  oder  »Glau- 
benslehren« unsere  Zuflucht  nehmen.  Ebensowenig  gibt  es  eine 
Pluralform  von  fides  oder  vom  englischen  faithj  dem  franz.  foi.  »Der« 
Glaube  setzt  sich  als  der  echte  und  wahre,  als  der  allein  richtige 
und  »allein  seligmachende«  anderem  Glauben  entgegen,  der  für  ihn 
nichts  ist  als  eine  Summe  von  irrigen  und  verderblichen  Meinungen; 
diese  sind  nicht  »beglaubigt«  durch  gültige  höhere  Autorität,  durch 
die  göttliche  »Offenbarung«,  durch  die  Übereinstimmung  der  Völker, 
oder  sogar  durch  die  Vernunft,  was  alles  (insbesondere)  von  dem  Gottes- 
glauben behauptet  wird.  Die  freien  Meinungen  sind  gegenüber  dem 
offenbarten  imd  offenbaren  Glauben,  dem  gültigen  und  bewährten 
Dogma,  willkürlich  ergriffene  Meinungen,  die  der  Vorwitz  der  Mei- 
nenden gewählt  hat,  was  das  griechische  Wort  Häresie  (alQeoig) 
ausdrückt.  Sogar  im  neueren  Sprachgebrauch  und  in  einem  Gebiete, 
das  dem  des  religiösen  Glaubens  fernliegt:  y,The  question"  (des 
handelspolitischen  Verhältnisses  zwischen  Großbritannien  und  Irland) 
,,was  especially  difficult  in  days  when  Free  Trade,  now  an  orthodox 
dognia  was  yet  but  an  heretical  opinion/'  (Die  Frage  war  besonders 
schwierig  zu  einer  Zeit  als  der  Freihandel,  jetzt  ein  orthodoxes  Dogma, 
noch  bloß  eine  ketzerische  Meinung  war):  Hoi<i,and,  Imperium  et 
Libertas,  p.  198  (Lond.  1901). 

15.  (Glaube  als  Pflicht.)  Darum  wird  der  Glaube  ganz  regelmäßig, 
was  eine  bloße  Meinung  schwerer  wird,  in  der  Vorstellung  der 
Gläubigen  eine  Pflicht;  ja,  wird  als  solche  mit  dem  Gewände  der  Not- 
wendigkeit und  Selbstverständlichkeit  bekleidet.  Der  Gottesgläubige 
meint,  dem  Gotte  selber,  an  den  er  glaubt,  es  schuldig  zu  sein  und 
ihn  zu  ehren  dadurch,  daß  er  ihm  glaubt  und  vertraut,  daß  er  a  n  ihn 
glaubt.  Aus  den  Reden  des  Priesters,  oder  aus  heiligen  Büchern, 
glaubt  er  die  Stimme  des  Gottes  selber,  der  sich  »offenbare« ,  zu  ver- 
nehmen. Darum  ist  es  eine  Beleidigung  dieses  Gottes,  nicht  an  ihn 
zu  glauben,  etwa  gar  sein  Dasein  zu  leugnen;  es  ist  nicht  ein  bloßer 
Irrtum  —  für  den  Gläubigen  ist  das  Dasein  seiner  Gottheit  so  offenbar, 
als  ob  sie  ihm  leibhaftig  gegenwärtig  wäre;  jezu weilen  fühlt  er  auch 
des  Anbhcks  oder  doch  der  Nähe  und  Mitteilung,  in  Zuständen  der 
Verzückung,  im  Traum  usw.,  sich  völlig  sicher  —  sondern  die  Gottes- 
leugnung  ist  eine  Bosheit,  ein  Frevel,  ein  Verbrechen,  das  die  schwerste 
Strafe,  die  Todesstrafe  verdient.  So  erlebt  man  auch  im  Kriege, 
daß  der  Zweifel  an  der  Güte  und  Gerechtigkeit  der  eigenen  Sache, 
d.  h.  der  Sache  des  eigenen  Landes  und  Staates,  ebenso  aber  der 
Zweifel  am  Siege,  oder  gar  die  Meinung,  daß  der  Feind  siegen  werde. 


l6  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

als  Zeichen  abscheulicher  Gesinnung  empfunden  und  als  eine  Art 
von  Verrat  gebrandmarkt,  daß  wohl  auch  die  Kundgebung  einer  solchen 
Meinung  mit  schweren  Strafen  belegt  wird.  An  die  Güte  der  vater- 
ländischen Sache  und  an  ihren  endlichen  Erfolg  zu  glauben  wird 
für  Pflicht  gehalten.  Damit  berühren  sich  die  —  tiefer  unten  zu 
erörternden  —  Merkmale  der  »öffentlichen«  Meinung. 

i6.  (Glaube  und  Wahn.)  Hingegen  ist  für  den  Ungläubigen  der 
Gläubige  in  einem  »Wahn«  befangen;  und  so  für  jeden  Religiösen 
derjenige,  der  einem  anderen  religiösen  Glauben  zugetan  ist.  Bin 
Wahn  ist  nicht  ein  bloßer  Irrtum,  wie  er  auch  dem  Gesunden 
und  richtig  Denkenden  begegnet;  sondern  etwas  Krankhaftes  und 
Verrücktes,  dem  Rausche  oder  dem  Traume  verwandt,  daher  auch 
dem  Zustande  des  dichterischen  Menschen  vergleichbar,  der  die 
Gebilde  seiner  Phantasie  anschaut,  aber  dem  Wahnsinnigen  ver- 
gleichbar, weil  er  diese  Gebüde  für  wirkliche  Gegenstände  hält.  Bin 
Wort,  das  unsere  Sprache  anwendet,  um  einen  Glauben  als  töricht, 
grundlos,  in  Unwissenheit  und  Gedankenlosigkeit  beruhend,  zu  brand- 
marken, ist  das  Wort  »Aberglaube«.  Für  den  Freidenker  ist  aller 
rehgiöse  Glaube  mehr  oder  weniger  Aberglaube,  ebenso  für  den  Gläu- 
bigen jeder  andere  religiöse  Glaube,  außer  in  den  Bestandteilen,  die 
er  mit  dem  eigenen  gemein  hat.  Bs  gibt  aber  auch  eine  Vorstellung 
vom  Aberglauben,  die  einen  allgemeineren  Sinn  hat,  der  eben  dadurch 
sich  enger  begrenzt:  der  religiös  nicht  geheiligte  Glaube  an  natür- 
liche oder  übernatürliche  Zusammenhänge  zwischen  Erscheinungen, 
Ereignissen,  Handlungen,  die  keinen  erkennbaren  und  für  die  Ver- 
nunft keinen  wahrscheinHchen  Zusammenhang  haben,  z.  B.  zwischen 
dem  Anblick  einer  Katze  und  irgendwelchem  herannahendem  Unglück, 
dem  Sichtbarwerden  eines  Kometen  und  dem  Ausbruch  eines  Krieges, 
oder  gewisser  Handlungen,  etwa  des  dreimaligen  Klopfens  unter 
einen  Tisch  und  der  Abwehr  möglichen  Unheils.  In  Wahrheit  stellt 
der  Aberglaube  dieses  Sinnes  Reste  des  bei  allen  Völkern  ursprüng- 
lichen Glaubens  an  die  Allgegenwart  von  Geistern  und  Dämonen  dar, 
folglich  zumeist  Überlebsel  vergangener  Religionen,  die  von  einer 
neuen  Religion  überschattet  und  als  Aberglaube  in  den  Bann  getan 
wurden.  In  klassischer  Form  hat  der  Philosoph  Thomas  Hobbes 
die  Wahrheit  ausgedrückt:  „Furcht  vor  unsichtbarer  Macht,  die 
der  Geist  frei  ersonnen  oder  auf  Grund  von  Erzählungen,  die  von 
Staats  wegen  gestattet  werden,  sich  eingebildet  hat,  ist  Religion; 
von  solchen,  die  nicht  gestattet  wurden,  Aberglaube"  {Leviathan, 
1,6). 

17.  (Glaube  und  Wille.)  Das  Wesen  des  Glaubens  wurde  hier  am 
religiösen  und  ihm  verwandten  Volksglauben  erläutert,  weil  diese 


Meinen  und  Meinung.  —  Grund verhäi^tnisse  der  Begriffe.  17 

Arten  es  am  schärfsten  ausgeprägt  in  sich  enthalten.  Es  zeigt  sich 
aber  auch  in  anderen  Gebieten,  wo  immer  eine  zumeist  mit  dem  Gefühle 
der  Ehrfurcht  und  der  Andacht  verbundene  Vorstellungsmasse  auf 
einen  Gegenstand,  eine  Person,  eine  Idee  oder  ein  Ideal  sich  sammelt, 
als  Überzeugung  von  deren  Wert,  Güte,  Größe,  Zukunft,  Sieg,  als  Ver- 
trauen, das  nicht  sowohl  auf  Überlegungen,  Gedanken,  Folgerungen, 
als  auf  ungeteilter  Hingebung  der  Seele  beruht.  So  ist  Glaube  mit 
Liebe  und  mit  Ehrfurcht  verwandt,  er  ist  selber  eine  Art  der  Ver- 
ehrung, er  drückt  sich  im  Kultus,  d.  i.  in  liebevoller  Pflege  aus; 
Glaube,  Liebe,  Hoffnung  verbindet  die  christhche  Denkungsart  als 
»die  theologischen  Tugenden«  miteinander. 

Es  ergibt  sich  leicht,  wie  das  Glauben  und  der  Glaube  im  mensch- 
lichen Willen  angelegt  und  enthalten  sind;  wenn  man  nämlich  als 
Willen  den  Geist  versteht,  aus  dem  das  einzelne  Wollen  hervorgeht, 
als  Wollen  aber  die  gesamte  Bereitschaft  zu  gewissen  Tätigkeiten; 
nicht  sowohl  die  EntschHeßimg,  als  das  Entschlossen-sein,  darum 
aber  auch  das  Geneigtsein  und  das  Gewohntsein,  insofern  als  beide 
dem  Zu-etwas-Entschlossensein  verwandt  sind  und  nahekommen,  also 
auch  vorauszugehen  pflegen.  Wie  durch  Neigung  (»Gefallen«)  und 
Gewohnheit,  so  ist  durch  »Gedächtnis«  die  Seele  mit  Dingen  imd 
Personen  »verbunden«;  aus  Gedächtnissen  aber  bestehen  Dankbarkeit, 
Liebe,  Treue  und  alle  diese  Gefühle  und  Stimmungen  faßt  Glaube 
in  sich  zusammen.  So  darf  auch  Glaube  als  eine  Art  des  Wesen - 
willens  erklärt  und  bestimmt  werden.  Aber  auch  wenn  das  Glauben 
rein  intellektuell  verstanden  wird  (als  Für  wahrhalten  von  Tatsachen 
oder  von  Urteilen),  so  steht  es  zum  Wünschen  und  Wollen  im  gleichen 
dreifachen  Verhältnisse,  wie  sonst  das  Denken  und  Meinen  gefunden 
wurde  (S.  12):  i.  Es  geht  daraus  hervor,  ist  dadurch  mitbedingt; 
2.  es  ist  selber  Bejahung  und  Verneinung,  hat  Gefühlsbetonung  imd 
Gefühlsbedeutung;  3.  auch  das  Glauben  ist  perfektisch:  s.  v.  a.  den 
Glauben  hegen,  zu  dem  Glauben  gekommen  sein,  aber  auch  »sich  zu  dem 
Glauben  bekehrt,  ihn  angenommen  haben«,  »im  Glauben  stehen«.  In 
Wahrheit  gleicht  der  Sprachgebrauch  den  Unterschied  von  Meinen  Und 
Glauben  (in  diesem  Sinne)  aus,  aber  gerade  in  der  zweiten  Beziehung 
bleibt  ein  synonymischer  Unterschied  bemerkenswert.  Wenn  Meinen 
das  »im  Sinne  haben«  bedeutet,  daher  das  »sagen  wollen«  (die  eigent- 
liche Meinung),  den  wörtlichen  Gedanken  im  Gegensatz  zu  der  Er- 
scheinung in  Worten,  so  nimmt  Glauben  daran  keinen  Teil;  es 
hält  vielmehr  seine  intellektuelle  Bedeutung  fest  —  man  glaubt, 
was  man  sagt  (oder  man  glaubt  es  nicht),  das  ist  ein  inneres  Verhältnis 
zur  Sache  und  betrifft  nicht  die  Ausdrucksweise,  da  kann  allerdings 
Meinen  für  Glauben  eingesetzt  werden,  aber  nicht  umgekehrt:  für 

Tönnies,  Kriük.  » 


l8  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung, 

»was  meint  er  damit«  kann  man  nicht  sagen,  »was  glaubt  er  damit«; 
dem  Meinen  liegt  die  Bedeutung  der  »Absicht«  ganz  nahe,  dem  Glau- 
ben bleibt  diese  fern.  Wir  werden  diese  Beobachtung  festhalten, 
wenn  wir  nunmehr  versuchen,  den  Unterschied  in  begriffliche  Formen 
zu  gießen.  Dabei  tritt  die  Frage  des  Sprachgebrauchs  in  den  Hinter- 
grund. Begriffliche  Unterscheidungen  müssen,  wenn  sie  als  Zeichen 
der  Begriffe  gangbare  Wörter  gebrauchen,  an  den  Sprachgebrauch 
sich  anlehnen,  können  aber  nicht  von  ihm  abhängig  gemacht  werden, 
weil  er  schwankend  und  unbegrifflich  ist,  sondern  müssen  auf  ihren 
eigenen  Füßen  stehen,  darum  auch  oft  besondere  Sprachschuhe  ihren 
Füßen  anziehen. 

Dritter  Abschnitt.  Verhältnisse  zur  Wissenschaft. 

i8.  (Wesenwille  und  Kürwille.)  Ich  beziehe  mich  hier  auf  meine 
Unterscheidung  der  Begriffe  Wesenwille  und  Kürwille  (Willkür). 
Auch  dies  ist  nicht  eine  Unterscheidung,  wie  sie  gewöhnlich  verstanden 
wird :  als  ob  in  der  Erfahrung  die  Dinge  nebeneinander  lägen  und  nun 
getrennt  werden  sollten.  Für  die  Begriffe  ist  es  gleichgültig,  ob  so 
etwas  wie  bloßer  Wesenwille  und  bloße  Willkür  in  der  Erfahrung 
überhaupt  vorkomme  oder  nicht.  Die  Begriffe  werden  verfertigt 
als  Geräte,  um  die  Erfahrung  anzufassen,  sie  zu  »begreifen«,  und 
das  Begreifen  ist  Auflösung,  die  nur  durch  Denken  geschehen  kann, 
wo  auch  der  Stoff  nur  im  Denken  gegeben  ist.  Vergleichbar  ist  das 
Verfahren  der  chemischen  Analyse:  wie  es  nicht  einiges  Wasser 
gibt,  das  Wasserstoff,  einiges,  das  Sauerstoff  ist,  so  gibt  es  nicht 
einigen  Willen  der  Wesen wille,  einigen,  der  Kürwille  wäre;  sondern 
in  allem  Wülen  ist  Wesenwille  und  Kürwille  enthalten  und  ver- 
bunden. Hier  hört  aber  die  Analogie  auf;  nicht  nur  gibt  es  sehr 
verschiedene  Verhältnisse  der  Mischung,  sondern  wir  können  auch 
nicht  umhin,  einigen  in  der  Erfahrung  gegebenen  Willen  wegen  dieser 
Verschiedenheit  Wesen  willen,  anderen  Kür  willen  zu  nennen; 
lieber  freilich  werden  wir  Ausdrücke  darauf  anwenden,  die  nicht 
zugleich  eine  rein  begriffliche  Bedeutung  erhalten  haben,  die  also 
ganz  und  gar  bestimmt  sind,  den  empirischen  Willen  als  solchen  zu 
bezeichnen,  je  nachdem  er  mehr  dem  einen  oder  mehr  dem  anderen 
»Idealtypus«  entspricht.  Ferner  ist  zu  erinnern,  daß  auch  die  Motive 
des  Denkens  in  Gefühlen  (Neigungen,  Abneigungen  usw.)  wurzeln, 
daß  also,  wenn  Kürwille  als  »Denken«,  sofern  darin  das  Wollen  ent- 
halten ist,  bestimmt  wird,  die  empirischen  Ausdrücke  des  Kür- 
willens immer  durch  die  empirischen  Ausdrücke  des  Wesen- 
willens bedingt  und  von  ihnen  abhängig  erscheinen  werden,  mithin 
nicht    sowohl    ihnen    koordiniert,    als    (wenigstens    zugleich)    ihnen 


Meinen  und  Meinung.  —  Verhäi,tnisse  zur  Wissenschaft.  ig 

subordiniert  erscheinen  müssen.  Wesenwille  ist  also  (empirisch)  das 
Allgemeine,  Kürwille  (empirisch)  das  Besondere.  Glauben  und 
Meinen  verhalten  sich  zueinander  wie  Wesenwille  und  Kürwille. 
Das  will  sagen:  Die  sjmthetischen  Begriffe  von  Glauben  und  Meinen 
lassen  sich  auf  die  zweckmäßigste  Art  so  gestalten;  im  empirischen 
Ausdruck  ist  Glauben  das  Allgemeine,  Meinen  das  Besondere. 

19.  (Begriffe,  Glauben  und  Meinen.)  Glauben  ist  Sache  des  Ge- 
mütes, Meinen  des  Denkens;  wie  schon  ausgesprochen  ward,  daß 
Glauben  dem  Herzen,  Meinen  dem  Kopfe  angehöre.  Glauben  ist 
weiblich  betont,  Meinen  ist  männlich  betont.  Glauben  wurzelt  in 
der  Phantasie,  Meinen  im  Verstände.  »Kindlicher«  Glaube;  aber 
»man  bildet  sich  eine  Meinung«  —  »man«,  d.  i.  der  gereifte  Mensch. 
Glaube  gilt  oft  auch  dem  Unwahrscheinlichsten,  ja  dem  »Unmög- 
lichen« (credo  quia  absurdum ^  verum  quoniam  tmpossibile);  die 
Meinung  will,  wenn  sie  nicht  das  Wahre  erreichen  kann,  wenigstens 
das  Wahrscheinliche,  das  Wahrscheinlichere  und  das  Wahrschein- 
lichste treffen. 

Den  hierdurch  bezeichneten  bedeutsamen  Unterschied  tmd  Gegen- 
satz möge  noch  folgende  Betrachtung  erläutern. 

Alle  denkfähigen  Menschen  haben  und  hegen  gewisse  »Ansichten« 
über  sogenannte  göttliche  und  sogenannte  menschliche  Dinge,  über 
Vorgänge  der  Natur  und  des  Kulturlebens,  vergangene,  gegenwärtige, 
zukünftige;  mehr  oder  minder  bestimmte,  mehr  oder  weniger  feste 
und  entschiedene  »Ansichten«.  Wenn  diese  Ansichten  »Meinungen« 
genannt  werden,  so  ist  in  dieser  Benennung  eine  Hindeutung  auf  ihre 
Mannigfaltigkeit  und  Verschiedenheit,  daher  auch  auf  ihre  Sub- 
jektivität enthalten,  und  also  darauf,  daß  sie  vielfach  einander  wider- 
streiten und  entgegengesetzt  sind,  zum  guten  Teil  einander  aus- 
schließen, so  daß  von  den  entgegengesetzten  nur  die  eine  »richtig« 
sein  kann,  während  die  andere  »falsch«  sein  muß,  wenn  nicht  etwa 
beide  unrichtig  sind.  Mit  diesen  Prädikaten  beurteilen  wir  die  Mei- 
nungen, indem  wir  gleichsam  einen  Maßstab  an  sie  anlegen,  den  Maß- 
stab des  Richtigen,  der  wie  eine  mathematische  gerade  I^inie  gedacht 
wird,  daher  seinem  Wesen  nach  ein  wissenschaftlicher  Begriff  ist. 
Richtig  nennt  jeder  die  Meinung,  die  nach  seiner  Meinung  mit  den 
Tatsachen  übereinstimmt;  insoweit  ist  es  nur  ein  anderer  Ausdruck 
dafür,  daß  er  die  Meinung  billigt  oder  sie  »teilt«.  Aber  alle  denken- 
den Menschen  urteilen,  daß  es  wirkliche  Tatsachen  gibt,  die  jeder 
erkennen  und  anerkennen  muß,  weil  er  sie  »sieht«;  und  in  der  Tat 
gibt  es  keine  verschiedenen  Meinungen  darüber,  ob  die  Sonne,  der 
Mond  und  die  Sterne  sind,  in  dem  gewöhnlichen  Sinne,  in  dem 
das  Sein  verstanden  zu  werden  pflegt.    In  ähnlicher  Weise  gibt  es 


20  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

eine  weitgehende  Übereinstimmung  unter  den  Menschen  über  Dasein, 
Wirklichkeit,  Wahrheit,  Tatsächlichkeit  von  Vorgängen,  Zusammen- 
hängen, Ursachen  und  Wirkungen,  so  daß  an  diesen  Überein- 
stimmungen die  Richtigkeit  einer  Meinung  gemessen  werden  kann. 
Oder  es  ist  wenigstens  Übereinstimmung  über  die  Bedingungen 
des  richtigen  Denkens  und  Brkennens  vorhanden,  dann  kann  sichtbar 
gemacht,  gezeigt,  bewiesen  werden,  daß  eine  Meinung  richtig  ist, 
für  richtig  gelten  muß,  oder  das  Gegenteil:  kraft  logischer  Nöti- 
gung. Aber  wir  wissen,  daß  diese  Übereinstimmung  nur  innerhalb 
enger  Grenzen  allgemein  ist;  und  auch  wenn  Einigkeit  über  gewisse 
Sätze  vorhanden,  so  werden  sie  doch  in  abweichender  Weise  ausgelegt, 
und  am  häufigsten  werden  dabei  die  Wörter  selber  in  verschiedenem 
Sinne  gebraucht  und  verstanden. 

20.  (Wissen  und  Meinen.)  Daher  ist  Übereinstimmung  am  ehesten 
zu  erzielen,  wo  die  Bedeutung  der  Wörter  feststeht;  wie  die  der  Zahl- 
wörter —  so  daß  das  »Rechnen«  vorbildlich  geworden  ist  für  das 
Denken  überhaupt,  und  die  Gewißheit  des  Satzes  2x2  =  4  sich 
der  Gewißheit  sinnenfälliger  Erkenntnis  —  z.  B.  des  Daseins  der  Sonne 
—  an  die  Seite  stellt.  Aus  dem  Zusammenfluß  dieser  beiden  Quellen: 
der  sinnlichen  Wahrnehmung  und  der  Einigkeit  über  die  Bedeutung 
von  Wörtern,  gehen  die  Meinungen  hervor,  die  wir  als  »Wissen«  be- 
zeichnen, mit  einem  vielsagenden  Worte,  wie  schon  (unter  4,  S.  5)  dahin 
bedeutet  wurde:  wenn  wir  von  jemandem  aussagen,  er  wisse,  daß 
.  .  .,  so  enthalte  dies  Urteil:  i.  Es  ist  so  (z.  B.,  »der  Knabe  weiß,  daß 
es  fünf  Erdteile  gibt«;  es  gibt  fünf  Erdteile)  und  2.  er  kennt  diese  Tat- 
sache, d.  h.  er  »hat«  oder  »besitzt«  die  Kenntnis  davon;  mit  anderen 
Worten,  er  meint  es  und  es  ist  auch  so,  er  hat  die  richtige  Meinung 
(0^1^  do^a). 

Dazu  kommt  aber  noch,  und  zwar  besonders,  wenn  der  Re- 
dende von  sich  selber  das  Wissen  aussagt  (»ich  weiß«),  die  Be- 
tonung des  Gefühls  der  subjektiven  Gewißheit  und  Sicherheit, 
des  Freiseins  von  jedem  Zweifel,  des  mit  sich  einig-seins.  In  diesem 
Sinne  aber  begegnet  und  berührt  sich  das  Wissen  mit  dem  festen 
Glauben;  auch  der  Glaubende,  zumal  der  religiös  Gläubige,  ist  ja 
(subjektiv)  seiner  Sache  gewiß,  wie  sehr  auch  andere  daran  zweifeln 
mögen.  Auch  er  hält  den  Irrtum  für  ausgeschlossen,  er  ist  überzeugt, 
daß  alle,  die  anders  glauben,  Irrende  sind;  er  spricht  ausdrücklich 
von  seiner  Glaubensgewißheit.  Fragt  man,  worauf  er  diese  Gewiß- 
heit gründe,  so  verweigert  er  entweder,  unter  Behauptung  der  ob- 
jektiven Gewißheit,  die  Antwort,  oder  er  beruft  sich  auf  Beweise,  die 
der  Form  nach  wissenschaftlichen  Beweisen  ähnlich  sehen  —  so  wird 
z.  B.   gar   manches   »aus  der  Schrift«  bewiesen   —  oder  endlich  er 


Meinkn  und  Meinung.  —  Verhäi^tnisse  zur  Wissenschaft.  21 

macht  eine  besondere  Erkenntnisquelle  geltend,  sei  es  eine  innere 
Stimme  oder  eine  äußere  angeblich  historische  Tatsache,  wie  die 
»Offenbarung«,  die  den  Menschen  durch  einen  Gott  zuteil  geworden 
sei.  Die  Wirklichkeit  dieser  Tatsache  ist  selber  Sache  des  Glaubens, 
und  dieser  Glaube  bedarf  wieder  der  scheinbar  wissenschaftlichen  oder 
der  unwissenschaftlichen  Stützen.  Am  sichersten  aber  fühlt  sich 
jeder  Glaube,  wenn  er  sich  als  Tugend  behauptet  und  den  Zweifel 
als  Frevel  brandmarken  kann;  dies  kann  er  wiederum  am  leichtesten 
mit  gutem  Gewissen  tun,  wenn  der  Gläubige  den  eigenen  Zweifel  als 
abscheulich  und  verwerflich  erkennt  und  darum  in  seiner  Seele  ge- 
tötet hat;  oder  doch  in  unablässigem,  qualvollem  Kampfe  mit  ihnen 
lebt;  wenn  also  die  Pflicht  des  Glaubens  ihm  ebenso  feststeht,  wie 
»den  Anderen«.  Für  das  wissenschaftliche  Meinen  und  Glauben 
ist  vor  allem  bezeichnend,  daß  es  nur  aus  Gründen  für  wahr  gehalten 
sein  will;  damit  steht  aber  scheinbar  in  Widerspruch,  daß  es  in  sehr 
vielen  Fällen  ausdrücklich  bedeutet  »für  wahrscheinlich  halten«; 
indessen  eben  dies  ist  das  Unterscheidende  des  kritisch-behutsamen 
wissenschaftlichen  Urteils.  Diese  Behutsamkeit  ist  die  allgemeine, 
darum  ist  der  Zweifel  oft  die  besondere  Pflicht  des  wissenschaft- 
lichen Menschen. 

21.  (Kampf  zwischen  Glauben  und  Wissen.)  Wenn  man  von  der 
subjektiven  Seite  absieht,  so  stellen  sich  sowohl  alle  Glaubensmei- 
nungen, als  alle  wissenschaftlichen  »Ansichten«  als  »Meinungen« 
dar,  die  wir  auf  ihre  Gründe,  also  auf  ihre  Richtigkeit  oder  doch  — 
wie  später  zu  erörtern  —  auf  ihre  »Wahrscheinlichkeit«  prüfen  können. 
Wir  können  aber  auch  auf  diese  Prüfung  verzichten,  wenn  wir  ledig- 
lich ihren  Widerstreit  und  Kampf  ins  Auge  fassen. 

Da  tritt  uns  denn  vor  allem  ein  großer  Kampf  entgegen,  der 
als  Kampf  zwischen  Glauben  und  Wissen  bezeichnet  zu  werden 
pflegt,  richtiger  Kampf  zwischen  Religion  und  Wissenschaft  heißen 
sollte;  weil  diese  die  autoritativen  sozialen  Kräfte  sind,  welche  die 
Meinungen  der  Menschen  in  sich  enthalten  und  bestimmen. 

Dieser  Kampf  ist  in  der  Entwicklung  der  Kulturvölker  von  tief- 
gehender Bedeutung;  eine  Begleiterscheinung  des  Fortganges  von 
überwiegend  ländlichen  zu  überwiegend  städtischen  I^ebensformen, 
Sitten,  Denkweisen;  der  großen  Wandlung  des  sozialen  Geistes  von 
Gemeinschaft  zu  Gesellschaft. 

Dieser  Kampf  ist  auch  ein  Kampf  zwischen  weiblichem  Gemüt 
und  männlichem  Verstände,  zwischen  Gefühl  und  Gedanken  —  dort 
naive  Deutung  natürlicher  Vorgänge  durch  Beziehung  auf  über- 
natürliche Urheber,  hier  kritische  Untersuchung  der  natürlichen 
Kräfte,  Feststellung  der  Regeln,  denen  sie  unterworfen  sind,  also 


22  Begriff  und  Theorie  der  öffenxuchen  Meinung. 

der  Regelmäßigkeit,  mit  der  sie  sich  ereignen,  daraus  erschlossener 
Notwendigkeit  und  »Gesetzmäßigkeit«,  dort  vertrauensvolle  Hin- 
nahme überlieferter  Berichte  über  wunderbare  Erscheinungen,  hier 
nüchterne  Prüfung  der  Glaubwürdigkeit  solcher  Zeugnisse,  der 
inneren  Wahrscheinhchkeit  berichteter  angeblicher  Tatsachen;  ihre 
Messung    an    den  wissenschaftUchen  Begriffen  der  »Naturgesetze«. 

22.  (Streit  zwischen  Religion  und  Wissenschaft.)  Aber  das  reine 
und  strenge  wissenschaftliche  Denken  ist  in  allen  bisherigen  Erfah- 
rungen nur  als  die  Sache  weniger,  zumeist  mit  Mißfallen  und  Miß- 
trauen betrachteter  Individuen  aufgetreten.  In  die  Wirklichkeit 
tritt  der  Kampf  zwischen  Religion  und  Wissenschaft  vielmehr  — 
wenigstens  vorzugsweise  —  als  ein  Streit  zwischen  verschiedenen 
Rehgionsparteien,  die  also  jedesmal  beide  an  der  Religion  Anteil 
haben,  aber  auch  beide  an  Wissenschaft  teilhaben,  so  jedoch,  daß 
die  eine  mehr  und  stärker  das  Wesen  der  Religion  zum  Ausdruck 
bringt,  die  andere  mehr  in  die  Richtung  der  Wissenschaft  deutet. 

Hier  liegt  zugrunde,  daß  ein  bestimmter  religiöser  Glaube 
zur  sittlichen  Pflicht  gemacht  worden  ist,  ja  die  Geltung  eines  Ge- 
setzes erlangt  hat,  zumal  wenn  eine  organisierte  Körperschaft,  eine 
»EÜrche«,  ihn  vertritt  und  deckt  als  den  »rechten«  Glauben,  den 
nicht  zu  hegen  als  hassenswert  imd  schandbar,  nicht  zu  bekennen 
als  verdächtig  hingestellt  wird,  so  daß  es  zum  Verbrechen  wird, 
Andersgläubigkeit  öffentlich  kundzugeben. 

Je  mehr  aber  dieses  öffentliche  Kundgeben  das  eigentlich  Ver- 
botene wird,  um  so  mehr  gewinnt  auch  das  öffentliche  Bekennen 
an  Wert,  und  kann  durchaus  zur  Hauptsache  werden,  so  daß  nicht 
sowohl  erwartet  wird,  daß  man  einen  gültigen  —  zum  Gesetz  erho- 
benen —  Glauben  hege,  als  daß  man  ihn  »bekenne«,  d.  i.  ihn  ver- 
trete und  verteidige  oder  wenigstens  ihm  nicht  widerspreche.  Diese 
Forderung  richtet  sich  naturgemäß  vorzugsweise  an  diejenigen  Per- 
sonen, die  förmlich  und  amtlich  dazu  bestellt  sind,  gewisse  Glaubens- 
meinungen geltend  zu  machen,  in  Geltung  zu  erhalten  und  zu  schützen : 
die  Priester  einer  religiösen  Gemeinde  oder  Kirche. 

23.  (Erlaubte  und  verbotene  Meinungsäußerung.)  Das  empirische 
Staatsleben  ist  erfüllt  von  religiösen  Elementen  und  in  höchst 
bedeutenden  historischen  Erscheinungen  sind  Elirche  und  Staat, 
oder,  wie  wir  sachüch  treffender  sagen  mögen,  geistliche  imd  welt- 
liche Gewalt  unlöslich  ineinander  verschlungen.  Die  weltliche  Gewalt 
stützt  sich  auf  die  geistliche,  weil  auch  sie  geglaubt  werden,  weil  sie 
ihren  Halt  in  den  Meinungen  und  Gesinnimgen  der  Menschen  ge- 
winnen oder  bewahren  will.  Darum  scheint  sie  ins  Schwanken  zu 
geraten,  wenn  die  Meinungen  von  der  Religion,  oder  doch  von  dieser 


Meinen  und  ]VIeinung.  —  Verhäi^tnisse  zur  Wissenschaft.  23 

die  weltliche  Gewalt  unterstützenden  Religion  abtrünnig  w^erden, 
wenn  der  Zweifel  wuchert  oder  gar  der  Unglaube  vorherrschend  wird. 
Aus  diesem  Grunde  pflegt  von  den  Vertretern  des  Staates,  oder 
doch  der  jeweiligen  Regierung,  großer  Wert  darauf  gelegt  zu  werden, 
daß  solche  gefährliche  oder  geradezu  für  verderblich  gehaltene  Mei- 
nungen, wenn  sie  einmal  vorhanden  sind  (und  oft  von  ihnen  selber 
geteüt  werden),  doch  so  wenig  als  möglich  offenbar  werden,  daß  sie 
geheim  bleiben.  Wenn  man  die  Meinungen  selbst  nicht  unterdrücken 
kann,  so  will  man  doch  ihre  Äußerungen  und  also  ihre  Verbreitung 
hemmen.  Der  praktische  Staatsmann  erkennt  bald,  daß  Gedanken, 
also  auch  Meinungen  und  Glaubensvorstellungen,  nicht  erzwungen 
werden  können,  wenn  man  auch  stark  auf  sie  zu  wirken,  sie  zu  hemmen 
oder  zu  fördern  vermag.  In  diesem  Verstände  gilt  dann  die  Denk- 
weise ihrem  Wesen  nach  als  »frei«  (»Gedanken  sind  zollfrei«).  Aber 
das  Aussprechen  von  Gedanken  und  Ansichten,  zumal  das  öffentliche, 
vollends  also  die  bewußte  planmäßige  Verbreitung  solcher  (Pro- 
paganda, Agitation)  —  das  sind  freie  Handlungen,  die  man  mit  Er- 
folg gebieten  imd  verbieten  kann.  Und  zwar  ist  die  negative  Wir- 
kung, die  Hemmung  durch  Verbote,  immer  diejenige,  die  am  nächsten 
liegt,  wo  es  sich  darum  handelt,  vermeintlichen  oder  wirklichen 
Schädlichkeiten  zu  wehren.  Und  in  Wahrheit  ist  eine  öffentlich 
kundgegebene  Meinung  eine  andere  Sache  als  eine  Meinung,  die  im 
Freundeskreise  ausgesprochen,  oder  gar  nur  im  stillen  gehegt  wird. 
Jene  will  wirken,  will  Kindruck  machen,  anerkannt  werden,  Beifall 
finden,  sich  durchsetzen  und  zur  Geltung  bringen.  Sie  ist  eine  Waffe, 
die  mit  mehr  oder  weniger  Geschick  und  Erfolg  geschwungen  wird. 
Auch  wenn  die  Meinung  selber,  die  Ansicht,  als  etwas  bloß  Intellek- 
tuelles verstanden  wird,  und  es  bleibt,  solange  als  sie  unter  Genossen 
—  Fachgenossen,  Berufsgenossen,  Standesgenossen  —  mitgeteÜt  wird, 
so  ist  doch  immer  hinter  ihr  eine  Gesinnung,  eine  bestimmte  Art 
zu  denken,  ein  Streben  und  Wollen,  das  daraus  hervorgeht  und  zu- 
meist um  Teilnahme,  ja  um  Kampf genossenschaft  wirbt;  eben  dies 
ist  nun  bei  anderen  willkommen  oder  unwillkommen,  es  wird  geliebt 
oder  gehaßt,  ist  ihnen  selten  gleichgültig;  wenn  es  nicht  das  »richtige«, 
anerkannte,  gute  ist,  so  wird  es  im  günstigsten  Falle  geduldet,  d.  h. 
im  Grunde  unwülig  ertragen,  so  daß  die  Träger  solcher  Irrmeinungen 
irgendwie  dafür  büßen  müssen,  auch  wenn  man  sie  nicht  unmittelbar 
unterdrücken  kann  oder  wül. 

24.  (Aggregatzustände  der  Meinung.)  Als  Aggregatzustände  der 
Meinung,  deren  Begriff  hier  auch  Glaubensmeinungen  umfassen  möge, 
verstehe  ich  das  Maß,  worin  der  Mensch,  in  seiner  Ansicht  oder 
Überzeugung,  »mit  sich  einig«  ist  oder  geworden  ist;  je  vollkommener 


24  Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  Meinung. 

diese  Übereinstimmung  in  seinem  Gemüte,  um  so  tmerschütterlicher 
ist  sein  Glaube  oder  seine  Meinung;  je  mangelhafter,  um  so  unsicherer 
fühlt  er  sich,  sein  Glaube  ist  schwankend,  er  kämpft  mit  dem  Zweifel, 
er  glaubt,  aber  er  betet  zugleich  »Herr,  hilf  meinem  Unglauben«. 
Er  ist  in  Unruhe  und  Bewegung:  wie  man  jenen  Seelenzustand  oft 
felsenfest  nennt,  so  kann  man  diesen  mit  einem  Flusse  oder  sogar 
mit  dem  Zustande  der  Gase  vergleichen.  Der  Glaube  befindet  sich 
eher  in  jenem,  die  Meinung  eher  in  diesem  Zustande.  Denn  die 
Meinung  gibt  sich  selber  als  ungewiß,  ist  oft  mit  dem  Zweifel  ver- 
bunden, verhehlt  nicht  ihre  »Subjektivität«.  Der  flüssige  Zustand  ist 
der  vorherrschende  im  menschlichen  Denken,  denn  er  ist  es,  der  dem 
animalischen  lieben  und  seiner  Bedingtheit  durch  die  Tätigkeiten 
der  Sinnesorgane  am  meisten  entspricht,  nämlich  den  Bedürfnissen 
des  täglichen  lyebens,  der  Bewegung  und  Arbeit  zu  ihrer  Befriedigung, 
der  Mischung  von  sinnlichen  Wahrnehmungen  und  auf  Gedächtnis 
beruhenden  Vorstellungen  und  Einbildungen,  zugleich  aber  der 
Gewohnheit  des  Beharrens  in  den  einmal  befahrenen  Geleisen  der 
Denkungsart,  und  der  Bequemlichkeit  des  Vertrauens  auf  das  Vor- 
gesagte und  Vorgeschriebene,  des  Nachahmens  und  Nachsprechens. 
Indem  die  Erregungen  der  lycidenschaft,  des  Strebens  nnd  Bedenkens, 
also  des  Zweifels,  daraus  entweichen,  geht  dieser  Zustand  in  den 
festen  über,  und  wird  als  solcher  ein  Element  des  vegetativen 
I^ebens,  der  Mensch  ist  erfüllt  und  durchdrungen  von  seiner  Über- 
zeugung, der  Glaube  ist  ihm  in  Fleisch  und  Blut  (nn  succum  et 
sanguinem^)  übergegangen,  ist  ganz  und  gar  mit  ihm  »verwachsen«, 
daher  gibt  er  ihm  etwas  von  der  »Ruhe«  und  »Seligkeit«  des  pflanz- 
lichen Ivcbens,  wie  sie  auch  an  kleinen  Kindern  gepriesen  wird, 
und  der  kindliche  Glaube,  die  heilige  Einfalt  sollen  diese  in  sich  ge- 
sättigte Harmonie  des  Gemütes  bezeichnen,  die  dem  vegetativen 
Wesen  der  Frau  mehr  als  dem  animalischen  Wesen  des  Mannes  gemäß 
ist.  Auf  der  anderen  Seite  ist  das,  was  den  Menschen  als  Menschen 
heraushebt,  die  Mentalität,  das  eigene  freie  Denken  und  Philoso- 
phieren etwas,  was  mit  dem  Zweifel  beginnt  und  oft  auch  endet; 
hier  ist  die  sich  selber  als  subjektiv  gebende,  vorsichtig  tastende, 
erwägende  und  sich  selbst  bedingende  wissenschaftliche  Mei- 
nung, die,  auf  Kritik  beruhend,  nicht  zum  »Dogma«  erstarren  will, 
zu  Hause;  sie  kann  allerdings  »tropfbar  flüssig«  werden,  d.  h.  eine 
Gestalt  annehmen,  in  der  sie  in  das  Gefäß  eines  Systems  gegossen  zu 
werden  taugt,  sie  kann  endlich  auch  in  eine  feste  Überzeugung  sich 
verhärten  und  so  wiederum  dem  selbstsicheren  Glauben  ähnlich 
werden;  aber  das  ist  ihrer  Natur,  d.  i.  dem  Charakter,  der  sie  aus- 
zeichnet, insofern  zuwider,   als  der  rechte  »Denker«  immer  neuen 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Bedingungen  der  Gemeinsamkeit.  25 

Erfahrungen  und  neuen  Gründen  zugänglich  bleiben  will;  dieser  wird 
daher  immer  beflissen  sein,  seine  Meinungen  und  Ansichten  »im 
Flusse  zu  erhalten«,  er  wird  sich  gegen  den  Dogmatismus  wehren  und 
nicht  müde  werden,  auch  seine  »festgewurzelten  Anschauungen« 
nachzuprüfen;  wenn  er  sie  von  sich  zu  lösen  vermag,  so  wird  er  sie 
auch  »über  Bord  werfen«,  um  »vorwärts«  zu  kommen,  denn  daran 
ist  ihm  alles  gelegen,  wie  dem  Schiffer,  der  auf  seinen  bestimmten 
Hafen  lossteuert. 

25.  (Wille  in  der  Meinung.)  Meinung  ist  auch  insofern  dem  Wollen 
verwandt,  als  in  diesem  die  gleichen  Aggregatzustände  unterscheid- 
bar sind.  Wir  sprechen  von  festen  Vorsätzen  und  Entschlüssen, 
schlechthin  vom  festen  Willen,  und  wissen,  daß  hingegen  das  meiste 
Wollen  lose  imd  locker  ist,  daß  zumeist  die  Menschen  leicht  »wankend« 
gemacht  werden  durch  Verführung  oder  Bestechung,  daß  sie  anderer- 
seits sehr  oft  schwanken  und  unstät  hin  und  her  flattern;  die  auf 
innere  Entzweiung  hinweisenden  Ausdrücke  (zweifeln,  dubitare) 
werden  vom  Wollen  wie  vom  Meinen  gebraucht.  In  beidem  ist  es 
manchem  Menschen  immer,  jedem  zuweilen  schwer,  »mit  sich  einig 
zu  werden«.  Diese  innere  Einmütigkeit  und  Festigkeit  hat  aber 
viele  Grade,  und  je  nach  ihrer  Stärke  verschiedene  Dauerhaftig- 
keit; sie  kann  sich  in  Eigensinn  verhärten  und  jeder  Widerlegung, 
jedem  Rat,  jedem  Bedenken,  jeder  Warnung  imzugänglich  sein, 
aber  in  der  Regel  ist  sie  ein  lockeres  Gefüge,  das  durch  Einflüsse 
jeder  Art  leicht  zersetzbar  ist.  Von  dieser  flüchtigen,  leicht  beweg- 
lichen Art  ist  auch  das  Denken  und  Meinen,  wie  es  dem  künstlerischen 
Genius  eigen  ist,  der  die  tiefe  Anschauungsfähigkeit  und  Unmittel- 
barkeit des  Weibes  mit  der  männlichen  Zwecksicherheit  und  Ver- 
nimftkraft  in  sich  vereinigt.  Hingegen  bei  der  großen  Menge  über- 
wiegt die  Oberflächlichkeit  des  Denkens  und  die  Erregbarkeit  durch 
Gefühle  und  I^eidenschaften,  die  Stimmung,  wovon  die  sonst  wenig 
begründeten  Meinimgen  abhängig  sind;  diese  wirbeln  empor  wie  die 
Luftblasen  in  einem  Kessel,  der  mit  siedendem  Wasser  gefüllt  ist. 


II.   Kapitel. 

Gemeinsame  Meinungen. 

Erster  Abschnitt.  Bedingungen  der  Gemeinsamkeit. 

I.  (Wahrscheinlichkeiten  der  Übereinstimmung.)  Daß  zwei  oder 
mehrere  Menschen  über  eine  Sache  wirklich  einer  »Meinung«  sind, 
erscheint  um  so  mehr  als  bemerkenswert,  weil  um  so  weniger  wahr- 


26  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

scheinlich,  A.  je  schwieriger,  verwickelter,  undurchsichtiger  die 
Sache  ist;  B.  je  mannigfacher  die  Menschen  nach  ihren  individuellen 
und  sozialen  Lebensbedingungen,  Bedürfnissen  und  Interessen  sind; 
C.  je  mehr  insbesondere  die  einzelnen,  die  zu  urteilen  fähig  und  willens 
sein  mögen,  teils  nach  ihrer  Begabung,  teils  in  ihrer  Denkungsart  und 
in  ihrem  Gefühlsleben  verschiedene  Individuen  sind,  je  mehr  also 
jeder  durch  seine  Entwicklung  und  Bildung  sich  differenziert  hat. 
Die  Umkehrungen  ergeben  sich  von  selbst.  Mithin  ist  der  Dissens 
um  so  wahrscheinlicher,  je  mehr  alle  drei  Schwierigkeiten  zusammen- 
treffen und  zusammenwirken. 

2,  (A.  Die  Schwierigkeit  der  Sache.)  Nicht  immer,  aber  in  der 
Regel  wird  derjenige,  der  eine  Sache  versteht,  sie  zu  beurteüen  fähig 
ist,  eine  andere  »Ansicht«  darüber  haben  als  der  »Laie«  (wenn  dieser 
überhaupt  eine  solche  sich  gebildet  hat) ;  und  zwar  —  wiederum  nicht 
immer,  aber  in  der  Regel  —  die  richtigere  Ansicht.  Aber  je  schwie- 
riger, verwickelter,  undurchsichtiger  die  Sache,  um  so  eher  werden 
auch  Kimdige,  etwa  sogar  gleich  intelligente  und  gleich  unterrichtete 
Personen  verschieden  urteilen,  abweichende  Meinungen  hegen.  Bin 
Beispiel  gewähren  die  ärztlichen  Diagnosen.  Dafür  sind  aber  auch 
Regeln  der  Erkenntnis  —  der  Differentialdiagnose  —  ausgebildet, 
die  als  bindend  anerkannt  und  befolgt  zu  werden  pflegen.  Die  Fälle 
sind,  je  schwieriger  und  verwickelter,  um  so  seltener.  Die  Ausdrucks- 
weise, welche  Arzte  und  Laien  unterscheidet,  ist  der  alten  Unter- 
scheidimg  von  Geistlichen  (Elerus)  und  Laien  nachgebildet.  Von 
jeher  erschien  es  gegeben,  daß  über  die  göttlichen  Dinge,  über  Geheim- 
nisse der  Offenbarung,  über  theologisch-metaphysische  Begriffe, 
nur  der  Geweihte,  der  die  Fragen  »von  Grund  aus  studiert«  hat, 
»ein  Urteil  habe«.  Eben  da  aber,  zumal  solange  und  sofern  nicht 
eine  bindende  Entscheidung  in  Gestalt  eines  Dogma  vorliegt,  war 
und  ist  das  Gebiet  des  Auseinandermeinens  (dis-putare)  und  daraus 
entspringenden  leidenschaftlichen  Streites,  der  den  ^furor  theologorum« 
verrufen  gemacht  hat.  Nächst  der  theologischen  Fakultät  ist  die 
der  Juristen  am  meisten  mit  historischer  Würde  angetan.  Auch  ist 
die  Unterscheidung  der  Gelehrten  und  Lehrer  {Doctores)  von  den 
Laien  im  Gebiete  der  »Jurisprudenz«  fast  ebenso  tief  eingebürgert 
wie  in  der  »Gottesgelahrtheit«.  Ebenso  ist  aber  hier  auch  das  Feld 
endloser  Kontroversen  und  Disputationen  zwischen  den  Gelehrten 
selber.  Die  »Advokaten«  haben  von  jeher  in  dem  Rufe  gestanden, 
fähig  zu  sein,  das  Weiße  als  Schwarz,  wie  das  Schwarze  als  Weiß  er- 
scheinen zu  machen.  Sie  machen  notwendigerweise  entgegengesetzte 
Meinungen  geltend,  wenn  dem  einen  die  Sache  des  Klägers,  dem  an- 
deren die  des  Verklagten  zu  vertreten  obliegt,  oder  wenn  der  eine 


Gemeinsame  MEI^^uNGEN.  —  Bedingungen  der  Gemeinsamkeit.  27 

das  Amt  des  Anklägers,  der  andere  das  des  Verteidigers  hat;  ob  sie 
die  entsprechende  Meinung  auch  hegen,  ist  nicht  von  wesentlicher 
Bedeutung;  sehr  oft  wird  sie  aber  den  Anforderungen  sich  anpassen. 
Und  so  kommen  wir  auf  die  Unterscheidung  zurück:  das  Hegen 
tmd  Gestalten  einer  Meinung  ist  Sache  des  Wesenwillens,  das  Kund- 
geben aber  möglicherweise  Sache  eines  davon  abweichenden,  ja  ihm 
zuwideren  Kürwillens,  der  sich  aber  auch  eine  Meinung  »bilden« 
kann.  So  kann  auch  in  bezug  auf  eine  schwierige  Frage,  wenn  mehrere 
»übereinstimmen«,  der  eine  sich  ein  Urteil  gebildet  haben  und  die 
Ansicht,  deren  Gründe  er  kennt,  wirklich  hegen;  die  übrigen  aber 
sie  nur  äußern,  indem  sie  sie  »gläubig«  nachsprechen.  Man  folgt  imd 
unterwirft  sich  den  »Autoritäten«.  Man  unterdrückt  den  Wider- 
spruch, sei  es  im  Bewußtsein,  daß  man  zum  Urteilen  nicht  berufen 
sei,  oder  aus  Scheu  vor  Mißbilligung  und  schlimmeren  Folgen;  am 
ehesten,  wenn  man  sich  nicht  der  Meinung  einzelner,  die  etwa  auch 
insgemein  noch  unbekannt  ist,  sondern  der  einmütigen  und  kund- 
baren Meinung  vieler  —  wie  auch  immer  diese  entstanden  sein  möge  — 
gegenüber  findet.  Und  durch  Schweigen  erscheint  man  selber  als 
Zustimmender,  wird  dem  Chore,  dessen  Stimmen  vernehmbar  geworden 
sind,  zugerechnet.  Also  bildet  in  jeder  Gruppe,  in  jedem  Kreise  sich 
eine  »öffentliche«  Meinung,  und  tritt  zutage  nach  außen  und  nach 
innen;  es  ist  regelmäßig  die  Meinung  der  Autoritäten  innerhalb 
der  Gruppe  oder  des  Kreises,  der  die  übrigen  Mitglieder  sich  tmter- 
ordnen;  je  mehr  die  Autorität  anerkannt  ist,  je  mehr  Ansehen  sie 
gewinnt,  um  so  williger,  also  rascher,  leichter  und  regelmäßiger  voll- 
zieht sich  diese  Anpassung.  Die  Übergänge  vom  bloßen  Nachsprechen 
zum  Nachmeinen  sind  leicht  und  häufig.  Und  es  läßt  sich  hier  auch 
das  Gesetz  der  Beharrung  feststellen,  indem  die  Nachmeinungen 
noch  an  Autoritäten  sich  halten,  die  im  engeren  Kreise  der  »Sach- 
verständigen« schon  keine  mehr  sind,  oder  deren  Ansichten  doch 
in  dem  bezüglichen  Punkte  so  stark  angefochten  werden,  daß 
ihnen  keine  wahre  »Geltung«  mehr  zugesprochen  werden  kann. 
Übrigens  wirkt  ähnlich  wie  das  Ansehen  und  die  Autorität  eines 
Führers  die  bloße  Nähe  des  und  noch  mehr  der  Anderen,  der  Ge- 
nossen, Kameraden,  Nachbarn,  aber  auch  die  bloße  körperliche 
Nähe  von  Versammelten  und  sich  Versammelnden,  die  einander  an- 
stecken und  ihre  vorhandenen  Gefühle  gegenseitig  steigern,  eben  da- 
durch auch  ihre  Meinungen  und  Wirkungen  einander  mitteilen: 
das  Wirken  der  »Menge«  auf  den  einzelnen^). 

3.  (B.  Lebensbedingungen.)  Wenn  in  begrenzter  Weise  die  Er- 
wartung recht  behält,  daß  auch  in  schwierigen  Fragen  die  Kundigen 

1)  Vgl.  „Die  große  Menge  und  das  Volk"  (P.  T.),  Schmollers  Jahrbuch  XI^IV,  2.    ^ 


28  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

einer  Meinung  sind,  so  gilt  in  leichteren  um  so  mehr,  daß  gleich- 
artige I^ebensverhältnisse  gleichartige  Meinungen  bedingen,  daß 
mithin,  je  mehr  jene  auseinandergehen,  um  so  mehr  auch  diese  ver- 
schieden sind.  Dies  läßt  sich  schon  beobachten  an  der  verschiedenen 
Denkungsart  von  Alten  und  Jungen,  von  Männern  und  Frauen, 
von  starken  und  schwachen  Individuen;  will  sagen,  daß  die  Alten, 
die  Jungen,  die  Männer,  die  Frauen,  die  Starken,  die  Schwachen  je 
in  vielen  Stücken  ähnliche,  oft  die  gleichen  Gesinnungen  und  Mei- 
nungen zu  haben  pflegen.  Ganz  analog  stehen  sich  die  Schichten 
innerhalb  eines  Volkes  gegenüber:  Den  Alten  entspricht  die  länd- 
liche, den  Jungen  die  städtische,  daher  insonderheit  die  großstädtische 
Schicht;  den  Männern  die  v/eltliche  kriegerische,  den  Frauen  die 
geistliche  (darum  friedlichere)  Adelsschicht,  den  Starken  die  Reichen, 
den  Schwachen  die  Armen.  Überall  gehen  gemeinsame  Meinungen 
aus  gemeinsamer  I^ebenslage,  gemeinsamem  Stande,  gemeinsamer 
Klassenzugehörigkeit  und  Berufsart  hervor.  Mehr  als  der  Wohnort 
wirkt  die  Beschäftigung,  die  Art  der  Erwerbung  des  Unterhalts,  am 
meisten  der  Besitz  und  die  Freiheit  gegenüber  dem  Mangel  an  beiden. 
Zufriedenheit  mit  dem  eigenen  I^ose  ergibt  andere  Meinungen  über 
den  bestehenden  öffentlichen  Zustand  als  Unzufriedenheit  mit  dem 
eigenen  lyose.  Herren  werden  eher  zufrieden  sein  mit  der  geltenden 
Ordnung,  als  Diener.  Weltliche  Herren  werden  die  Meinung  ver- 
treten, daß  die  geistlichen,  diese  hingegen,  daß  die  weltlichen  Herren 
an  zweiter  Stelle  stehen  sollten  und  sich  zu  viel  anmaßen.  I^andleute 
meinen  in  der  Regel,  daß  sie  von  den  Städtern  Übervorteilung  durch 
betrügerischen  Handel  und  unehrliches  Schwatzen  zu  gewärtigen 
haben,  Städter,  daß  die  Bauern  roh  und  einfältig  sind,  also  durch 
Bildung  verbessert  werden  müssen,  oder  aber,  sie  seien  schlau  und 
hinterlistig,  nur  auf  ihren  Vorteil  bedacht,  engherzig  und  höheren 
Gesichtspunkten  unzugänglich.  Und  so  gilt  in  großem  Umfange,  daß 
gleiche  Meinungen  Ausdruck  gleicher,  verschiedene  Ausdruck  ver- 
schiedener Belange  (Interessen)  sind,  also  die  Meinungskämpfe  zum 
großen  Teüe  Standes-  und  E^lassenkämpfe  ausdrücken.  Kampf  imd 
Krieg  selber  bringen  notwendigerweise  gleiche  oder  doch  ähnliche 
Meinungen  bei  den  Kampfgenossen,  verschiedene  und  entgegen- 
gesetzte bei  den  Feinden  hervor.  In  der  Regel  meint  jede  Partei, 
daß  sie  siegen  werde,  oder  auch,  daß  sie  wertvoller,  besser  sei  als  die 
Gegner,  daß  ihre  Sache  die  gerechte  Sache  sei  usw.  Der  Zusammen- 
schluß in  Gefahr  tmd  Entschlossenheit  durch  Furcht  und  Sorge, 
der  sich  im  Heere  verkörpert,  wirkt  auch  auf  die  Meinungen  verei- 
nigend. —  Als  Meinungskämpfe  sind  (wie  mehrfach  betont  wurde) 
die  religiösen  von  überragender  Bedeutimg.    Sie  haben  oft  ganze 


Gemeinsame  äIeinungen.  —  Bedingungen  der  Gemeinsamkeit.  29 

Staaten  und  Völker  gegeneinander  aufgebracht,  sind  aber  vorzugs- 
weise innervolkliche  Kämpfe.  In  groben  Umrissen  betrachtet  ent- 
sprechen sie  hauptsächlich  dem  Gegensatz  ländlicher  und  städtischer 
Denkweise,  also  ebensolcher  Angelegenheiten.  Das  Christentum 
kämpfte  um  Dasein  und  Herrschaft  als  Glaube  von  Städtern,  indem 
es  in  die  I^ücken  eingedrungen  war,  die  der  städtische  Unglaube  da 
gelassen  hatte,  wo  sonst  die  alten  Götter  verehrt  wurden.  Die  Heiden 
werden  noch  heute  in  den  romanischen  und  in  den  slavischen  Sprachen 
danach  benannt,  daß  es  die  Landbewohner  waren,  die  diesen  alten 
Göttern  treu  blieben  (paganus-paien,  altslov.-russ. :  poganu).  Heute 
ist  ein  umgekehrtes  Verhältnis  entstanden,  nachdem  die  christlichen 
Gottheiten  selber  alt  geworden  sind.  Sie  haben  ihre  Heimstätten  noch 
auf  dem  Lande;  in  den  Städten,  besonders  den  großen,  keimt  zwar 
mancher  »Glaube  neu«,  aber  weit  überwiegend  herrscht  (zumal 
in  den  führenden  Schichten)  der  Unglaube  als  Denkimgsart,  die  im 
Vertrauen  auf  Wissenschaft  \md  ihre  Ergebnisse  beruht.  Schon  die 
freiere  Glaubensgesinnung,  die  sich  in  der  Reformation  Bahn  brach, 
hatte  in  den  Städten  ihren  Mutterschoß.  Neuerdings  warnten  römisch- 
katholische Gelehrte  davor,  daß  ihre  Religion  zur  »Paganenreligion« 
herabsinke.  Der  liberale  Protestantismus  ist  wiederum  in  den  Städten 
mehr  zu  Hause  als  auf  dem  Lande,  in  großen  mehr  als  in  kleinen 
Städten.  Mit  den  religiösen  Streitigkeiten  hängen  die  politischen 
innig  zusammen.  Daß  das  Land  im  großen  und  ganzen  konservativ, 
die  Stadt  hingegen  mutativ  gesinnt  ist,  rührt  zu  einem  Teil  daher, 
daß  der  geistliche  Einfluß  dort  viel  stärker  wirkt;  aber  seinen  tieferen 
Grund  hat  es  in  der  verschiedenen  Art  der  Tätigkeit  und  Arbeit  und 
der  Lebensweise,  also  des  Zusammenlebens.  Die  des  Landes  ist 
ebenso  verhältnismäßig  ruhig  und  stätig,  vom  Kreislauf  der  Natur 
abhängig,  wie  die  der  Städte  auf  Bewegung  und  Verkehr  angewiesen 
und  in  viel  höherem  Grade  durch  menschliches  Wollen  und 
Denken  bedingt  ist.  Dies  gilt  besonders  vom  Ackerbau  dort,  schon 
von  der  handwerklichen  Tätigkeit  hier,  die  daher  eine  freiere  Art 
der  Religiosität  begünstigt,  aber  auch,  wie  vollends  der  gewerbs- 
mäßige Handel,  rechnendes  Denken  und  kritisches  Forschen  hervor- 
ruft, beide  den  überlieferten  Vorstellungen  gefährlich.  Ferner  be- 
wirkt schon  das  dichtere  Wohnen  häufigere  Gespräche  und  lebhafteres 
Denken,  heftigere  Empfindungen;  daher  auch  Unzufriedenheit 
und  Unruhe  festere  Wurzel  faßt,  rascher  sich  ausbreitet,  leichter  sich 
entladet.  Je  mehr  die  Dörfer  in  den  Verkehr  und  Austausch  hinein- 
gezogen werden,  um  so  mehr  werden  sie  den  Städten  in  dieser  Hin- 
sicht ähnlich.  —  Der  weltliche  Adel  findet  sich,  schon  durch  seinen 
kriegerischen  Beruf  und  die  Leitung  öffentlicher  Angelegenheiten, 


30  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

die  ihm  in  Verbindung  damit  ehemals  oblag,  noch  heute  oft  zufällt, 
eher  auf  Neuerungen  und  Anpassungen  hingewiesen  als  die  Geistlich- 
keit, die  andererseits  aber  —  zumal  als  unerblicher  Stand,  und  die 
niedere  — ,  weniger  beflissen,  ihre  Herrschaft  zum  Familienvorteil  aus- 
zunutzen, stärkere  Fühlung  mit  den  Bedürfnissen,  Nöten  und  Unzu- 
friedenheiten des  gemeinen  Volkes  zu  behalten  pflegt.  Bei  den  Aristo- 
kraten ist  doch  die  konservative  Denkungsart  in  bezug  auf  ihre  Herr- 
lichkeit und  Würde  natürlich.  Meinungsverschiedenheiten  zwischen 
wetteifernden  Gruppen  herrschenden  Schichten  werden  immerhin  leicht 
entstehen;  am  tiefsten  werden  sie  in  Eifersüchten  beruhen,  aber  nicht 
ausschließlich  darin  und  in  ausschließenden  Belangen;  auch  die  Grund- 
sätze und  Regeln  des  Denkens  werden  zumeist  verschieden  sein. 

4.  (Tieferer  Gegensatz.)  Tiefer  aber  und  allgemeiner  als  diese 
Gegensätze  ist  —  wie  von  neuem  betont  werden  muß  —  der  Gegen- 
satz zwischen  herrschender  und  beherrschter  Klasse,  zwischen  den 
Hohen  und  den  Niederen,  den  Reichen  und  den  Armen,  den  Gebil- 
deten und  den  Ungebildeten  —  wenn  auch  diese  Ausdrücke  für  einen 
und  denselben  Gegensatz  sich  etwas  voneinander  unterscheiden  und 
die  Gruppenbildungen  in  jedem  sich  etwas  verschieben.  Demnach 
bilden  sich  auch  gemeinsame  und  gleiche,  oder  doch  ähnliche  Mei- 
nungen, hüben  und  drüben.  Auch  dieser  Gegensatz  erscheint  am 
häufigsten  in  religiösem  Gewände.  So  ist  die  christliche  Kirchen- 
geschichte erfüllt  von  den  Tatsachen,  daß  das  gedrückte  Volk  sich 
enger  zusammenschließt  in  der  Meinung,  daß  dieser  Welt  Ende  und 
die  Wiederkunft  des  Herrn  herannahe,  und  daß  die  Gottlosen  —  das 
sind  die  Herren  —  ihren  Lohn  dahin  haben.  Es  hilft  diesen  nicht, 
daß  sie  in  die  Kirche  gehen  und  dem  Zauber  der  Sakramente  sich 
hingeben;  ihre  weltliche  Gesinnung,  auch  die  ihrer  Priester,  verrät 
sich  in  ihrem  üppigen,  sündhaften  Lebenswandel,  wovor  den  »Hei- 
ligen« schaudert.  Hingegen  die  Herren  lächeln  und  lästern  über  den 
Irrwahn  des  armen  Volkes,  der  Schwarmgeister  und  »Stülen  im  Lande«, 
über  ihre  einfältigen  Vorstellungen  und  törichten  Reden.  Zum  Glauben 
jener  gehört  als  wesentliches  Stück  die  Heiligkeit  der  Obrigkeit  und 
des  Eigentums,  also  auch  die  Scheidung  der  Stände  und  die  höhere 
Würde  des  Herren  Standes,  insbesondere  auch  der  Priesterschaft. 
In  neuerer  Zeit  wirken  zwar  diese  Anschauungen  noch  fort,  aber  mehr, 
wenigstens  in  den  höchstentwickelten  Gesellschaften,  wird  von  beiden 
Seiten  mit  wissenschaftlichen  Meinungen  und  Gründen  gestritten.  Da- 
zwischen liegt  in  breiter  Masse,  daß  die  Herrschenden  auf  Religion, 
die  Beherrschten  auf  Wissenschaft  sich  stützen,  wenn  auch  zu- 
nächst meistens  auf  Wissenschaft,  die  religiös  verbrämt  ist.  Dies 
ist  der  in  den  neueren  Zeiten  überwiegende  Streit  zwischen  konser- 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Bedingungen  der  Gemeinsamkeit.         31 

vativer  und  liberaler  »Weltanschauung«,  und  dieser  läßt  uns  immer 
wieder  bemerken,  daß  der  Kampf  und  seine  Not,  wie  nach  außen,  so 
nach  innen,  vereinend  auch  auf  die  Meinungen  wirken,  sei  es  zum 
Angriff  (der  Offensive),  sei  es  zur  Verteidigung  (der  Defensive);  nur 
daß  zum  Angriff  immer  diejenigen  am  meisten  geneigt  sind,  die 
sich  bedrückt  fühlen;  daß  aber  auch  die  Schwächeren  am  meisten 
sich  auf  Zusammenschluß  und  Verbindung  hingewiesen  finden,  um 
dadurch,  was  ihnen  sonst  an  Kampfmitteln  fehlt,  zu  ersetzen. 

5.  (C.  Differenzierung.)  Dazu  kommt,  daß  die  große  Menge 
leichter  sich  auf  gewisse  Meinungen  einigt,  als  die  Gebildeten,  weil 
diese  schon  als  solche  in  ihren  Ansichten  weiter  auseinandergehen: 
der  Dünkel  des  Besser wissens,  die  Lust  am  Widerspruch  machen  sich 
hier  ebenso  geltend,  wie  die  wirklich  überlegene  Einsicht,  der  Wett- 
streit höherer  Erkenntnis,  vermehrter  Erfahrung,  reiferen  Denkens. 
Diese  Momente  machen  sich  stärker  geltend  als  in  der  großen  Menge, 
die  mehr  durch  elementare  Gefühle  und  entsprechende  Meinungen 
bestimmt  wird,  daher  leichter  durch  solche  sich  leiten  läßt.  Überdies 
beharren  am  wenigsten  in  der  herrschenden  Schicht  die  Gruppen: 
einerseits  ihrer  die  Vorherrschaft  einander  mißgönnender,  um  den 
ersten  Platz  streitender  Teile,  andererseits  Gruppen,  die  noch  unter 
den  Resten  ihres  ehemals  gedrückten  Standes,  da  sie  selber  zu  den 
Beherrschten  gehörten,  leiden,  und  sich  vielfach  noch  als  solche 
fühlen,  daher  mit  den  wirklich  und  noch  Beherrschten  sympathi- 
sieren. Die  Differenzierung  des  Einzelnen  macht  sich  überhaupt 
ztmächst  als  unsozialer  Faktor  erkennbar:  der  Eigensinn  und  der 
Dünkel  des  Besserwissens  macht  )>Einspänner« ,  die  sich  in  keine 
Schablone  fügen  wollen.  Andererseits  machen  aber  solche  Eigen- 
schaften, wenn  sie  mit  wirklicher  Überlegenheit,  mit  dem  Besitze 
äußerer  Hilfsmittel,  mit  Beredsamkeit  und  Leutseligkeit  verbunden 
sind,  für  die  Führerrolle  um  so  geeigneter;  zumal  den,  der  davon 
überzeugt  ist,  daß  er  dazu  berufen  sei,  der  sich  etwa  gar  als  Werkzeug 
einer  übersinnlichen  Macht,  also  als  inspiriert  und  gottbegnadet  fühlt; 
der  zugleich  etwa  den  Ehrgeiz  hegt,  selber  als  ein  gottähnliches  Wesen 
verehrt,  angebetet  zu  werden,  oder  endlich  gar  in  dem  Wahne  lebt, 
ein  solches  Wesen  zu  sein.  Er  wird  seine  Meinungen  und  Vorstellungen 
als  die  allein  wahren,  ihm  geoffenbarten,  mit  Eifer  und  Enthusiasmus 
verkünden,  er  wird  begeisterte  Jünger  um  sich  scharen,  die  seine 
Botschaft  als  Heüswahrheit  verkünden,  und  nach  seinem  Tode  die 
allein  seligmachende  Lehre  in  alle  Lande  zu  tragen  für  ihre  heilige 
Pflicht  halten;  um  so  mehr  mit  unwiderstehlicher  Begeisterung  und 
gerechtem  Zorn,  wenn  der  Meister  als  Blutzeuge  seiner  Wahrheit 
gefallen  ist.    Den  dankbarsten  Boden  wird  immer  eine  Lehre  finden. 


32  Begriff  und  Thkorie  dkr  öffentuchen  Meinung. 

die  Befreiung  von  Knechtschaft  und  Qual,  Erlösung  von  drückenden 
Banden,  Brlassung  drohender  Strafen,  und  hingegen  dauernde  Wohl- 
fahrt, himmlische  Freuden,  ewige  Seligkeit  dem  Gläubigen  in  Aus- 
sicht stellt;  ob  nun  die  Glückseligkeit  in  diesem  oder  in  jenem  lieben, 
ob  für  die  individuelle  Seele  als  ihre  Fortdauer,  oder  für  die  Kinder, 
Enkel  und  späte  Nachkommen  versprochen  werde.  Für  den  Führer 
aber,  den  Propheten,  ist  die  Hauptsache,  weil  Hauptursache  seines 
Erfolges,  daß  er  mit  dem  Glauben  an  seine  I^ehre,  seine  Predigt, 
den  Glauben  an  sich  verbindet,  ja  er  kann  jenen  eher  entbehren  als 
diesen.  Damit  verbindet  sich  dann,  um  ihn  zu  überleben,  der  Glaube 
seiner  Jünger  an  ihn,  eines  engen,  aber  durch  sich  selber,  durch 
Propaganda,  durch  Vererbung  und  durch  äußere  Umstände,  die  den 
nährenden  Mutterboden  darbieten,  sich  erweiternden  Kreises.  So 
erzeugt  sich  immer  neu  der  Ursprung  aller  sozial  wirksamen  oder 
ethischen  Religion:  die  Vergötterung  von  Menschen,  lebenden  und 
vollends  verstorbenen,  wozu  die  naive  Gefühls-  und  Denkungsart, 
also  die  der  großen  Menge,  immer  geneigt  ist.  Ihnen  gegenüber  er- 
scheinen dann  die  Ungläubigen  als  von  bösem  Willen  gegen  ihren 
Gott  oder  Propheten,  also  auch  gegen  sie  selber,  erfüllt,  die  ihm  zu 
dienen  und  seinen  Namen  zu  verkünden  für  Pflicht  halten. 

6.  (Meinungen  und  Meinungsäußerungen.)  Die  Tatsache,  daß 
zwei  oder  mehrere  Menschen  die  gleiche  Meinung  hegen,  »einer  An- 
sicht sind,«,  muß  also  streng  von  der  Tatsache  unterschieden  werden, 
daß  sie  die  gleiche  Meinung  kundgeben,  vertreten,  zumal  wenn  diese 
Kundgebung  und  Vertretung  öffentlich  geschieht.  Naturgemäß, 
und  der  großen  Masse  nach,  erfolgt  die  Kundgebung  allerdings  »spon- 
tan«: der  Mensch  hat,  unter  gewissen  Umständen,  den  natürlichen 
Drang  und  das  Verlangen,  seine  Meinung  zu  sagen,  wenngleich  zu- 
meist nur  in  engem  Kreise,  also  nicht  eben  öffentlich;  die  stärkste 
Anregung  dazu  gibt  das  Vernehmen  der  Meinung  eines  anderen  oder 
anderer;  das  Bedürfnis  tritt  hervor,  ihr  Beifall  und  Zustimmung  zu 
geben,  oder  ihr  Widerspruch  entgegenzusetzen,  eine  andere  Meinung 
auszusprechen.  Übrigens  aber  bestimmt  die  Stärke  der  Hegung  (die 
Intensität)  einer  Meinung  den  Wunsch,  sie  kundzutun.  »Wess  das  Herz 
voll  ist,  dess  geht  der  Mund  über«,  gilt  auch  für  Meinungen.  »Ich 
glaube,  darum  rede  ich«  —  den  Glauben  zu  bekennen,  sich  mutig  und 
ohne  Scheu  zu  ihm  zu  bekennen,  wird  als  Pflichtgebot  empfunden 
und  aufgestellt.  Die  Gedanken,  mit  denen  die  Menschen  sich  be- 
schäftigen, sind  freilich  zum  größten  Teile  die  Angelegenheiten  ihres 
täglichen  I^ebens,  also  ihre  Arbeit  und  ihre  Obliegenheiten,  vergangene, 
gegenwärtige  und  zukünftige,  Sorgen  imd  Hoffnungen  in  bezug  auf 
sich  selber  imd  ihre  Angehörigen,  daher  auch  die  Bedeutung  äußerer 


Gemeinsame  LIeinüngen.  —  Bedingungen  der  Gemeinsamkeit.  33 

Umstände  dafür,  z.  B.  des  Wetters,  das  zumal  für  die  ländlichen  und 
haus  wirtschaftlichen  Arbeiten  so  wichtig  ist.  Man  spricht  darüber 
und  »tauscht  seine  Meinungen  aus«.  Über  »gutes«  oder  »schlechtes« 
Wetter  pflegt  man  gleicher  Meinung  zu  sein,  solange  nur  an  Ange- 
nehmes oder  Unangenehmes  dabei  gedacht  wird,  aber  nicht  mehr, 
wenn  die  Nützlichkeit  in  Frage  kommt ;  so  heißt  der  I^andwirt  etwa  den 
strömenden  Regen  willkommen,  der  für  andere,  z.  B.  Wanderer, 
»scheußlich«  ist.  Derartig  gibt  es  manche  »Meinungsverschieden- 
heiten«. Vielfach  wird  aber  das  Aussprechen  einer  gewissen  Meinung, 
wenigstens  einer  bestimmt  gearteten  Meinung,  gewohnheitlich, 
imd  die  (innere)  Meinung  selber  wird  durch  die  Übung  des  Aus- 
sprechens befestigt.  Der  eine  neigt  mehr  zu  Hoffnungen,  der  andere 
mehr  zu  Befürchtungen,  die  Meinungen  sind  mehr  oder  minder  heiter 
(»optimistisch«),  oder  mehr  oder  minder  düster  (»pessimistisch«). 
Ferner  kann  die  Bildung  einer  Meinung,  und  deren  Kundgebung,  eine 
Sache  des  Berufes  und  Gewerbes,  oder  (noch  allgemeiner)  eine  ge- 
stellte Aufgabe  sein,  also  pfÜchtmäßig  erfolgen:  das  Fällen  eines 
Urteils  durch  den  Richter,  Aussprechen  der  Diagnose  durch  den  Arzt, 
die  Abgabe  einer  Gutachtens  durch  den  Sachverständigen,  die  Ent- 
scheidung über  Vormarsch  oder  Rückzug  durch  den  Feldherrn. 
In  allen  solchen  Fällen  wird  selten  Grund  vorhanden  sein  zu  bezweifeln, 
daß  die  ausgesprochene  Meinung  die  wahre  Meinung  dessen  sei,  der 
sie  ausspricht.  Dagegen  wird  fast  immer,  von  vielen  oder  von  wenigen, 
mit  größerer  oder  geringerer  Heftigkeit,  bestritten,  daß  die  Meinung 
richtig  sei.  Meinung  ruft  Gegenmeinung,  Bejahung  ruft  Verneinung 
hervor.  Aber  das  Aussprechen  einer  Meinung  kann  sich  auch  von 
seinem  natürlichen  Zusammenhang  mit  der  Meinung  selber  los- 
reißen, es  kann  in  bestimmter  Absicht,  zu  bestimmtem  Zwecke  ge- 
schehen, ohne  daß  die  Meinung  wirklich  gehegt  wird.  Die  Kundgebung 
wird  vorgestellt  und  gedacht  als  ein  zweckmäßiges  Mittel.  Man  wül 
etwas  dadurch  erreichen,  weil  man  weiß  oder  wenigstens  glaubt, 
daß  etwas  dadurch  erreicht  werden  kann.  Am  deutlichsten  tritt  dies 
zutage  beim  Tauschen,  also  dem  Kaufen  und  Verkaufen.  Es  gilt 
beim  Tauschgegner  eine  Meinung  zu  erregen,  die  ihn  veranlasse, 
weniger  zu  fordern,  mehr  zu  geben;  etwa  die  Meinung,  daß  ein  anderer 
(ein  Mitbewerber)  herannahe,  der  von  derselben  Sache  mehr  gebe 
oder  für  dieselbe  Sache  weniger  fordere:  allgemein,  daß  man  leicht 
das  Nachgefragte  biUiger  bekomme,  daß  die  nachgefragte  Sache 
minderwertig  sei  usw.  Das  einfache  Mittel  ist:  diese  Meinung  selber 
aussprechen,  als  ob  man  sie  hege,  auch  wenn  man  sie  nicht  hegt;  oder 
sie  mit  größerer  Bestimmtheit  aussprechen,  als  man  sie  hegt,  ihrem 
Aggregatzustand  größere  Festigkeit  zuschreiben,  als  er  besitzt.    Die 

Tönnic«»,  Kritik. 


34  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

Freiheit  des  Denkenden,  Überlegenden  betätigt  sich  in  der  bewußten 
Wahl  der  Worte,  die  geeignet  scheinen,  eine  bestimmte  Wirkung  zu 
erzielen,  also  auch  eine  bestimmte  Meinung  zu  erwecken ;  aber  auch  in 
den  Tönen,  mit  denen  das  Sprechen  der  Worte  begleitet  wird.  Hier 
öffnet  sich  das  ganze  Gebiet  des  Kürwillens  als  Lüge,  als  Verstellung, 
als  Heuchelei,  aber  alle  diese  Ausdrücke  bezeichnen  äußerste  Fälle, 
z.  B.  die  Lüge:  daß  etwas  gesagt  wird,  obgleich  der  Redende  weiß, 
daß  es  nicht  wahr  ist,  die  Verstellimg:  daß  man  die  Geberden  und 
Worte  (etwa)  des  Traurigen,  die  Heuchelei:  daß  man  (etwa)  die  des 
Frommen  und  Rechtschaffenen  anwendet,  um  dadurch  Vorstellungen 
und  Meinungen  in  der  Seele  des  anderen  zu  erregen,  von  denen  man 
sich  Vorteil  verspricht.  Die  feinere  und  leichtere  Unwahrhaftigkeit, 
an  die  wir  hier  denken,  ist  unendlich  viel  häufiger:  weil  eben  Mei- 
nung selber  ein  leichtes  und  flüchtiges  Element  ist,  wenigstens  in 
ihrem  gewöhnlichen  luftartigen  Aggregatzustande.  Man  hegt  etwa 
eine  Meinung,  aber  sie  ist  eben  »nur«  eine  Meinung,  es  mag  sich  auch 
anders  verhalten,  und  man  glaubt  vielleicht,  seine  Meinung  selber 
zu  ändern,  wenn  man  sich  bewogen  fühlt,  eine  andere  Meinung  aus- 
zusprechen oder  sonst  kundzutun;  noch  häufiger  ist  die  absichtliche 
»Übertreibung«,  die  oft  um  so  weniger  auffällt,  weil  sie  auch  ohne 
bestimmte  Absicht  alltäglich  ist  und,  wenn  auch  als  solche  erkannt, 
doch  ihre  Wirkung  tut.  Sie  geht  bis  zum  rücksichtlosesten  Mißbrauch 
der  Sprache.  Gleich  jeder  freien  Handlung  kann  aber  die  Meinungs- 
äußerung einer  beweglichen  Sache  ähnlich  werden,  über  die  man  ver- 
fügt, die  man  beliebig,  aber  als  Vernünftiger  mit  Bedacht,  ja  mit 
Berechnung  anwendet,  als  ein  brauchbares  Gerät.  Die  Meinungs- 
äußerung wird  dadurch  selber  einer  käuflichen  und  verkäuflichen 
Sache  ähnlich,  und  ebenso  kann  ihre  Hergabe  erzwungen  werden. 
Alle  anderen  Mittel,  die  zur  Hergabe  einer  Sache  zu  bewegen  geeignet 
sind,  als  Überredung,  Schmeichelei,  Versprechen  künftiger  Vorteile, 
Bitten,  Drohungen,  Befehle,  finden  auch  auf  Meinungsäußerungen 
Anwendung.  Dabei  kann  es  sich  aber  immer  noch  darum  handeln, 
zur  Äußerung  der  wirklichen  Meinung  zu  veranlassen,  wenn  auch 
dem  Veranlassenden  es  gleichgültig  ist,  ob  und  wie  echt  die  Meinungs- 
äußerung sei.  Der  Veranlaßte  aber  fühlt  sich,  wenn  ihm  die  Äußerung 
abgenötigt  ist,  um  so  weniger  »frei«  und  »verantwortlich«  dafür, 
d.  h.  er  empfindet  und  denkt  die  »Tat«  nicht  schlechthin  als  seine 
eigene;  am  wenigsten  natürlich,  wenn  er  sich  wirklich  gezwungen 
fand,  so  zu  handeln.  Die  unausgesprochene  Meinung  bleibt  dann  die 
seine  (er  »behält  sie  für  sich«),  aber  der  Ausdruck  einer  entgegen- 
gesetzten, vielleicht  von  ihm  verabscheuten  Meinung  wird  emp- 
funden als  die  Handlung  des  anderen,  des  Zwingers;  wie  man  keinen 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Bedingungen  der  Gemeinsamkeit.         35 

wesentlichen  Unterschied  findet,  ob  der  Räuber  mir  die  Uhr  aus  der 
Tasche  reißt  oder  durch  Vorhaltung  einer  geladenen  Pistole  mich 
nötigt,  sie  selber  herauszunehmen  und  ihm  zu  übergeben  —  ob  der 
Eroberer  fremdes  I^and  einfach  wegnimmt  und  sich  aneignet,  oder 
durch  Hungerblockade  den  Kigentümerstaat  zwingt,  es  in  der  Form 
eines  »Friedensvertrages«  abzutreten.  Frei  hingegen  fühle  ich  mich, 
wenn  ich  die  Sache  zu  meinem  Nutzen  gebrauche,  daher  auch,  wenn 
ich  sie  freiwillig  hingebe,  um  etwas  dafür  einzutauschen,  was  mir 
eben  besser  gefällt,  oder  wovon  ich  mir  mehr  Nutzen  verspreche. 
Daher  ist  das  Verkaufen  der  Meinungsäußerung,  ebenso  wie  ihre 
Anwendung  zum  eigenen  Nutzen,  Betätigung  der  persönlichen  Frei- 
heit. Die  Anwendung  zum  eigenen  Nutzen  kann  auch  in  bewußter 
Weise  mit  Äußerung  der  eigenen  Meinung  geschehen:  nur 
die  Art  der  Äußerung,  ihr  Ton  und  ihre  Form,  mögen  etwa 
verraten,  daß  sie  in  bestimmter  Absicht  geschieht.  Aber  die  Feil- 
bietung und  »Veräußerung«  macht  unmittelbar  die  eigene  Mei- 
nung zur  fremden,  wie  jede  Ware  als  Ware  niemandem  gehört, 
sondern  dem  beliebigen  Käufer,  und  vollends  Geld,  als  die  um- 
läufigste Ware,  keinen  Herrn  hat,  sondern  jedem  zufällt,  der  es 
erwirbt. 

7.  (Wahlen  und  Abstimmungen.)  Wenn  also  die  Schwierigkeit 
der  Sache  nicht  jedem  gestattet,  eine  eigene  Meinung  zu  hegen,  sich 
ein  Urteil  zu  bilden,  so  hindert  sie  doch  niemanden,  eine  Meinung 
kundzugeben,  sei  es,  daß  er  sie  wirklich,  auf  die  Autorität  eines  an- 
deren hin,  den  er  für  kundig  und  urteilsfähig  hält,  annimmt,  und  so- 
mit als  seine  eigene,  wenn  auch  nicht  selbstgebildete  Meinung  kund- 
gibt, sei  es,  daß  er  sie,  auf  ebensolche  Autorität  hin,  aber  zugleich  aus 
anderen  Gründen,  zu  irgendwelchen  Zwecken  ausspricht,  ohne  sie 
innerlich  anzunehmen,  oder  endlich,  daß  er  ausschließlich  um  eines 
äußeren  Zweckes  willen  sie  kundgibt,  und  davon  ist  der  äußerste 
Fall  der,  daß  diese  Kundgebung  ein  Gegenstand  des  Tausches,  eine 
verkäufliche  Sache  für  ihn  wird,  gleichgültig,  ob  die  Meinung  wirklich 
gehegt  wird,  angenommen  ist,  oder  ob  sogar  die  entgegengesetzte 
gehegt  wird  oder  angenommen  ist.  Sehr  deutlich  wird  dies  bei  Wahlen 
und  Abstimmungen.  Die  Menge  der  Unkundigen  wird  als  »Stimm- 
vieh«, wie  man  sich  derb  ausdrückt,  »zur  Urne  getrieben«;  in  der 
Regel  wird  es  sich  hier  nicht  einmal  um  schwierige  Sachen  handeln, 
wenigstens  scheint  es  eine  leichte  und  einfache  Sache  zu  sein,  zu 
entscheiden,  welche  Partei  »rechthabe«  —  sie  wird,  vor  allem 
Denken,  durch  das  Gefühl  entschieden,  und  zwar  durch  ein  so  ele- 
mentares Gefühl  wie  das:  hie  die  Guten  —  hie  die  Bösen;  man  ent- 
scheidet   sich    natürlich    für    die    Guten    wider    die    Bösen,    sogar 

3* 


36  Begriff  und  Theorie  der  öffentivIchen  Meinung. 

wenn  etwa  gut  ganz  bewußt  gedeutet  wird  =  für  mich,  für  meine 
Angelegenheiten  und  Wünsche  günstig,  böse  als  das  Gegenteil.  Übri- 
gens aber  wirken  auch  hier  Beispiel  und  Überredung,  also  die  Autori- 
tät der  »Führer«  dahin,  daß  eine  Parteimeinung  angenommen  und 
als  solche  durch  Abstimmung  kundgetan  wird,  sie  bewirken  auch,  daß 
dies  »gedankenlos«  geschieht,  oder  in  irgendwelcher  der  Sache  fremden 
Absicht,  z.  B.  in  der  Hoffnung,  durch  die  Stimmabgabe  (zumal  wenn 
sie  öffentlich  geschieht)  die  Gunst  anderer  und  dadurch  eine  vorteil- 
hafte Stellung  zu  erhalten;  endlich  tritt  an  die  Stelle  der  Überredung, 
die  sich  schon  leicht  betrügerischer  Mittel  bedient,  die  unmittelbare 
Bestechung,  sei  es  durch  Geld  oder  durch  Versprechungen  (von  Geld 
oder  Ehren  oder  anderen  Vorteilen).  So  kommen  auf  mannigfache 
Weise  die  großen  übereinstimmenden  Meinungsäußerungen  der  Par- 
teien zustande,  die  in  öffentlichen  Wahlen  vorliegen.  Etwas  anders 
ist  die  gemeinsame  gleiche  Abstimmung  einer  Partei  —  der  Mitglieder 
einer  »Fraktion«  —  innerhalb  einer  Körperschaft,  wenn  es  sich  um 
die  Annahme  oder  Ablehnung  einer  »Vorlage«  handelt.  In  der  Regel 
ist  hier  die  Aufgabe  einfach,  als  eine  logische  Subsumtion:  z.  B.  „alle 
Gesetze,  wodurch  die  Freiheit  der  Individuen  vermehrt  und  erweitert 
wird,  sind  gut  (schlecht) ;  der  vorliegende  Gesetzentwurf  ist  ein  solcher ; 
folglich  muß  er  angenommen  (abgelehnt)  werden".  Die  Mitglieder 
der  Fraktion  sind  in  den  Grundsätzen  einig,  hegen  also  über  diese 
die  gleiche  Meinung:  so  wird  wenigstens  angenommen,  und  dann 
scheint  es  als  notwendig  oder  doch  höchst  wahrscheinlich  zu  folgen, 
daß  sie  im  gleichen  Sinne  abstimmen  werden;  eben  darum  wird  es 
ihnen  aber  auch  zur  Pflicht  gemacht;  wer  es  nicht  tut,  erscheint 
als  ein  Abtrünniger,  wohl  gar  als  ein  Verräter,  seine  Treue  zum  »Pro- 
gramm« der  Partei  als  zweifelhaft,  und  wenn  einer  seine  »in  diesem 
Punkte  abweichende«  oder  »auf  anderen  Schlußfolgerungen  beruhende« 
persönliche  Überzeugung  geltend  macht,  so  wird  verlangt,  daß  er 
diese  »zum  Opfer  bringe«,  daß  er  also  seine  Parteitreue  auch  durch 
eine  Abstimmung,  die  seiner  Überzeugung  zuwider  sei,  bekunde. 
Nicht  selten  wird  dabei  auch  der  »Fraktionszwang«  ausgeübt,  so 
daß  der  Dissentierende  nur  die  Wahl  hat:  gegen  seine  Überzeugung 
zu  stimmen  oder  auszuscheiden  aus  dem  Verbände  und  fortan  ein 
»Wilder«  zu  sein,  wenn  er  nicht  in  einer  anderen  Gruppe  Aufnahme 
findet.  Andererseits  können  nun  aber  auch  und  werden,  bei  ge- 
wichtigen Entscheidungen  oft,  von  innen  und  von  außen  —  auch 
von  außerhalb  des  Hauses  —  Einflüsse  zur  Geltung  gebracht,  ent- 
weder die  eigene  Überzeugung  oder  die  Parteitreue,  oder  sogar  die 
Willensmeinung  einer  ganzen  Fraktion  zu  erschüttern,  und  auch 
diese  Einflüsse  sind  mannigfach  abgestuft,  zwischen  sachlichen,  ob- 


Gemeinsame  Meinungen. 


Bedingungen  der  Gemeinsamkeit. 


37 


jektiv- wissenschaftlichen  Vorstellungen  und  grober  Korruption  durch 
angebotene  Reichtümer  oder  Bhrenstellen. 

8.  (Führung.)  Ferner  aber  macht  sich  die  Erscheinung  geltend, 
daß,  je  schwieriger  die  Sache,  je  gleichartiger  die  I^ebensverhältnisse, 
je  größer  die  Menge,  um  so  mehr  sind  jedesmal  die  Wenigen,  die 
führenden  und  maßgebenden  Personen,  ob  sie  Kundige  gegenüber 
den  Laien  sind  oder  nicht,  in  der  Lage,  ihre  Meinmig  so  kundzugeben, 
daß  sie  als  die  Meinung  der  Vielen  gelten  kann:  sei  es  i.  weil  diese 
dem  Urteil  der  Wenigen  sich  unterwerfen,  es  durch  ihren  Beifall 
oder  wenigstens  durch  Schweigen  anerkennen;  oder  2.  weil  die 
Wenigen  gleichsam  als  die  Advokaten  die  Sache  der  Vielen  führen, 
so  daß  sie  deren  unartikulierten  Empfindungen  und  Bedürfnissen 
Sprache  verleihen  und  sogar  für  sie  zu  reden  scheinen,  wenn  viele 
anders  empfinden  und  denken;  endlich  3.  weil  durch  Reden  und 
andere  Mittel  der  Wenigen  Gefühle  in  der  Menge  erregt  werden,  selbst 
wenn  die  entsprechenden  Gedanken  und  Meinungen  unverstanden 
bleiben.  In  alledem  tritt  die  Führerschaft  der  Meinung  uns 
entgegen,  die  im  sozialen  Leben  von  starker  und  mannigfacher  Be- 
deutung ist.  Sie  kann  auch  bestehen,  obgleich  die  Führer  selber  etwas 
anderes  sagen,  also  zu  meinen  scheinen,  als  sie  wirkHch  meinen;  und 
wenn  in  diesem  Falle  auch  die  geführte  Menge  nur  einem  unbestimmten 
Gefühle  Ausdruck  gibt,  so  ist  es  denkbar,  daß  eine  große  Meintmgs- 
kundgabe  stattfindet,  an  der  nichts  echt  ist,  außer  der  Stimmung  der 
großen  Masse,  die  etwa  von  Zorn,  Haß  und  Rachsucht  erfüllt,  auf 
Zerstörung  und  Vernichtung  gerichtet  ist.  —  Immer  liegt  den  Führern 
der  Meinung  ob,  die  geführte  Menge  in  ihrer,  d.  i.  in  der  von  ihnen 
gewohnheitsmäßig  kundgegebenen  Meinung  zu  erhalten  oder  sie  dafür 
zu  gewinnen,  dazu  zu  »bekehren«.  Das  hauptsächliche  Mittel  dafür 
ist  die  Rede,  wenn  es  zu  bekehren  gilt,  als  Überredung,  sonst  zur 
Befestigung,  Bestärkung,  Ermutigung  in  der  Meinung,  die  als  richtige 
und  wahre  empfohlen  wird.  Aber  die  Rede  ist  nicht  das  einzige  Mittel ; 
auch  Handlungen  des  Führers  machen  den  Anspruch,  als  Beweise  der 
von  ihm  vertretenen  Meinung  zu  gelten.  Um  so  eher  gelten  sie 
dafür,  je  mehr  sie  Verwunderung  und  Bewunderung  erregen  —  Wun- 
dertaten und  Heldentaten.  Sie  setzen  sich  in  den  Gemütern  fest 
(»imponieren«),  sie  überzeugen.  Und  so  entfaltet  durch  Reden  und 
durch  Taten  die  Persönlichkeit  ihren  Machtzauber  (ihr  »Prestige« 
oder  »Charisma«),  auch  auf  die  Meinungen  magnetisch,  »suggestiv« 
wirkend.  Und  breiter  noch,  zuweUen  tiefer,  pflanzt  das  durch  Schrift 
und  Druck  verbreitete  Wort  sich  fort,  sei  es  mit  dem  Einfluß  einer 
Persönlichkeit,  oder  auch  ohne  diesen.  Hier  muß  an  das  erinnert 
werden,  was  vorher  über  Mitteilung,  Öffentlichkeit,  Autorität,  aus- 


38  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

gesprochen  wurde.  Und  am  lebendigsten  beleuchtet  wird  die  gesamte 
Führerschaft  der  Meinungen  wiederum  durch  die  Ausbreitung  der 
Glaubensmeinungen,  wo  der  Führer  ein  Prophet,  ein  Prediger, 
Zauberer  und  Priester  ist,  und  die  gläubige  Menge  an  ihn  glaubt, 
darum  auch  an  den  Gott,  der,  wie  er  meint  und  sagt,  in  ihm  wohnt 
und  ihn  erfüllt,  und  folglich  andere  Meinungen,  die  er  vertritt,  an- 
nimmt; oder  aber  sie  glaubt  an  ihn,  weil  er  diesen  Gott  und  diese 
Meinungen  predigt,  und  der  Glaube  an  ihn  wirkt  dann  bestätigend 
auf  diese  zurück.  Das  Predigen  von  Glaubenssätzen,  das  Verkünden 
eines  Gottes  als  des  einzigen  und  allein  wahren  Gottes,  und  des  Heils, 
das  der  Glaube  an  ihn  bringe,  ist  aber  eine  ziemlich  junge  Erscheinung 
in  der  Geschichte  der  Meinungen.  Ehemals  erschien  es  natürlich, 
daß  jeder  Volksstamm  seine,  ja  jede  Stadt  ihre  heimischen,  ererbten 
Götter  pflege,  und  bei  den  Griechen  hat  nur  die  Begeisterung,  mit  der 
einzelne  schwärmerische  Kulte  gelehrt  wurden  und  wohl  gar  sich 
aufzwangen,  etwas  der  Mission  Ähnliches  an  sich.  Im  Orient  ist  die 
Stiftung  von  Religionen  zu  Hause,  und  die  christliche  Mission  hat  an  der 
buddhistischen  einen  entfernten,  am  Proselytenmachen  des  Judentums 
einen  unmittelbaren  Vorgänger,  wie  an  dem  des  Islam  einen  bedeuten- 
den Nachfolger.  Allen  gemeinsam  ist,  daß  sie  in  einer  einzigen  Gottheit 
oder  —  wie  der  Buddha  —  in  einer  einzigen  Weisheit  Schutz,  Rettung, 
Hilfe  imd  was  sonst  die  Menschen  von  ihren  Göttern  erwarten  und 
erbitten,  gelegen  sein  lassen,  zugleich  mit  der  Wendung  dabei,  daß  es 
viel  mehr  auf  das  Heil  der  Seele  als  auf  das  des  I^eibes  ankomme. 
Hierin  liegt  schon  ein  gewisser  Zusammenhang  mit  wissenschaftücher 
Denkweise,  der  den  älteren  Religionen  wesentlich  fremd  bleibt, 
wenn  auch  in  ihrem  Schöße  deren  Anfänge  von  Priesterschaften  und 
in  Geheimlehren  gepflegt  werden.  Die  »Theologie«  freilich,  die  sich 
auf  übernatürliche  Erkenntnisquellen  oder  auf  Offenbarungen  be- 
ruft, ist  durch  diese  Methode  im  Gegensatz  und  Widerspruch  zur  wirk- 
Hchen  Wissenschaft;  aber  sie  ist  in  ihrem  Ziele  mit  dieser  verwandt, 
insofern  als  das  Ziel  objektive,  d.  i.  allgemein  —  für  alle  Menschen  — 
gültige  Wahrheit  sein  will.  Darum  müssen  alle  Menschen,  denen  sie 
zugänglich  gemacht  ist,  sie  auch  anerkennen,  namenthch  alle,  die 
durch  einen  Zauberakt  (das  Sakrament  der  Taufe)  die  Gnadengabe 
empfangen  haben,  wodurch  ihnen  gleichsam  die  Augen  geöffnet  sind. 
Folglich  kann  die  Weigerung  imd  das  Anhängen  an  anderen  Mei- 
nungen (die  Heterodoxie)  nur  auf  Verhärtung  des  Herzens,  auf 
Verstocktheit,  also  auf  Bosheit,  beruhen  und  ist  Sünde,  und  zwar 
eine  unverzeihliche  Todsünde  —  die  Häresie,  deren  Name  bedeuten 
soll,  daß  sie  aus  freiem  Willen,  der  von  seiner  göttlichen  Bestimmung 
abirrte,  erwählt  worden  ist.    Wie  die  Wahrheit  göttlichen  Ursprungs 


Gemeinsame  Meinungen. 


Bedingungen  der  Gemeinsamkeit. 


39 


ist,  so  hat  beim  Atheismus  und  der  Ketzerei  ohne  Zweifel  der  arge 
Teufel  die  Hand  im  Spiele.  Also  wird  die  logische  Nötigung  zur 
Bejahung  und  Zustimmimg,  die  der  wissenschaftliche  Beweis  in 
Anspruch  nimmt  —  der  seinerseits  wieder  auf  den  Augenschein, 
d.  i.  auf  die  Gleichheit  der  menschlichen  Wahrnehmungsorgane 
zurückgeht  —  in  eine  sittliche  Notwendigkeit  und  Pflicht  erhöht. 
Wenn  solche  Pflicht  nicht  unmittelbar  erzwungen  werden  kann,  so 
wird  doch  die  Behörde,  welche,  sei  es  aus  eigener  Überzeugung,  sei 
es  um  ihrer  anderen  Zwecke  willen,  die  Beobachtung  dieser  Pflicht 
durchsetzen  will,  nicht  nur  den  Widerspruch,  zumal  die  öffentliche 
Kundgebung  des  »Unglaubens«,  zu  verbieten  und  zu  verhindern 
vermögen,  sie  wird  auch  die  Zeichen  des  Glaubens  —  z.  B.  Empfang 
der  Sakramente,  Teilnahme  an  Feiern  —  erzwingen  oder  wenigstens 
einen  starken  Druck  in  Richtung  darauf  ausüben  können,  um  sie 
pflichtmäßig  und  gewohnheitmäßig  zu  machen.  So  wird  in  bezug 
auf  Glaubensmeinungen  eine  äußere  Einigkeit  bewirkt,  die  in  der 
Regel  so  gedeutet  wird,  als  ob  der  Schluß  vom  äußeren  Schein  auf 
innere  Wirklichkeit  ohne  weiteres  zulässig  und  richtig  wäre;  während 
höchstens  das  Nichtwidersprechen  auch  ein  inneres  ist,  z.  B.  in  der 
Masse  des  gläubigen  Volkes  gegen  unverstandene  und  ihm  schlecht- 
hin unverständliche  Glaubenslehren. 

9.  (Meinungen  als  Pflichten.)  In  Wirklichkeit  ist  die  Zugehörigkeit 
zu  einer  Religion,  zu  einem  Bekenntnis  oder  zu  einem  sektirerischen 
Glauben  ebenso  bedingt,  wenn  diese  Glaubensmeinungen  auf  all- 
gemeine Gültigkeit  Anspruch  machen,  als  wenn  sie  es  nicht  tun  und 
nichts  anderes  sein  wollen  als  die  Verehrung  der  angestammten,  ein- 
heimischen, örtlichen  Götter.  Bedingt  nämlich  in  erster  Linie  durch 
den  Famüiengeist  und  Gemeindegeist,  wie  sie  als  Wunsch  und  Wille 
der  Eltern  sich  ausprägen,  daß  ihr  eigener  Glaube  auf  ihre  Kinder, 
der  Lehrer  und  Meister,  daß  er  auf  ihre  Jünger  übergehe;  daher 
gleichsam  angeboren  und  ererbt,  heranwachsend  durch  frühe  Ge- 
wöhnung und  frühe  Unterweisung,  gepflegt  und  erhalten  eben  durch 
jenen  Gemein  willen,  der  Gehorsam  verlangt  und  aufnötigt,  wenigstens 
als  Schweigen  und  Erfüllung  der  Formen,  d.  i.  Kundgebung  äußerer 
Zeichen  der  Verehrung  und  teilnehmenden  Stimmung.  Es  können 
aber  auch  diese  Zeichen  scheinbarer  Gläubigkeit  verschwinden,  und 
nur  die  äußere,  etwa  durch  Zalilung  von  Kirchensteuern  dargetane, 
vielleicht  auch  durch  das  Geschehenlassen  gewisser  Zeremonien  sich 
bewährende  Zugehörigkeit  zu  einer  Religionsgesellschaft  wie  zu 
einem  behebigen  und  zufälligen  Vereine  übrigbleiben.  In  diesem 
Sinne  kann  dann  auch  die  Religion  oder  Konfession  leicht  gewechselt 
werden.    Übertritte  aus  der  einen  in  die  andere  finden  statt.    Zu- 


40  Begriff  und  Theorie  der  öffenxi<ichen  Meinung. 

weilen  werden  dafür  Gebärden  und  Getue,  oder  wenigstens  das  Aus- 
sprechen von  Formeln,  einer  wirklichen  Sinnesveränderung  oder 
Bekehrung  erfordert;  in  vereinzelten  Fällen  mag  diese  »Bekehrung« 
wirklich  stattfinden.  Auch  wenn  nichts  dergleichen  der  Fall  war, 
so  wird  doch  oft  eine  Vertretung  und  Verteidigung  der  »neuen  Mei- 
nungen« eintreten,  als  ob  sie  aus  Überzeugung  angenommen  wären. 
Dahin  wirkt  teils  das  Schamgefühl,  da  man  weiß,  daß  der  Religions- 
wechsel um  äußerer  Zwecke  willen  (aus  Kür  willen)  von  den  früheren 
Freunden  und  sogar  von  vielen  anderen  gemißbilligt  wird,  das  eigene 
Gewissen  auch  wohl  an  dieser  Mißbilligung  teilnimmt,  teils  der  Druck 
der  neuen  Umgebung,  die  ohnehin  dem  Neuling  zu  mißtrauen  geneigt 
ist;  diesem  Druck,  der  durch  eigene  Einbildung  erhöht  wird,  ist  es 
zumeist  zuzuschreiben,  daß  die  »Konvertiten«  oft  die  älteren  Gläu- 
bigen im  Eifer  übertreffen,  ja  die  heftigsten  Fanatiker  werden.  Wahr- 
scheinlicher ist  dies  freilich,  wenn  eine  wirkliche  „Bekehrung*'  und 
neugewonnene  Überzeugung  zugrunde  liegt,  wie  solches  besonders 
bei  Frauen  durch  innere  Seelenschicksale  und  äußere  Einflüsse  nicht 
selten  bewirkt  wird. 

Ähnlich,  wenn  auch  in  verringertem  Maßstabe,  wie  mit  religiösen, 
verhält  es  sich  mit  anderen  Meinungen,  am  meisten  ähnlich  mit 
politischen  Parteimeinungen,  die  auch  (wie  wir  oft  bemerken)  mit  den 
religiösen  stark  zusammenhängen,  selbst  wo  sie  im  Gegensatz  zu 
ihnen  sich  entwickeln.  In  einigem  Maße  wird,  wenigstens  heute,  der 
Mensch  auch  in  diese  hineingeboren  oder  doch  hineinerzogen.  Sie 
werden  zur  Pflicht  gemacht,  und  zum  mindesten  der  Schein  gewisser 
Meinungen  muß  aufrecht  erhalten  werden.  Die  Äußerung  gar  mancher 
Meinungen  ist  in  gewissen  Kreisen,  insbesondere  in  der  »guten  Ge- 
sellschaft«, »verpönt«,  —  im  günstigsten  Falle  wird  sie  als  exzentrisch 
belächelt  oder  gar  komisch  gefunden  und  verlacht,  so  lange  als  sie 
noch  wegen  des  Alters  oder  der  Lebensstellung  des  Andersdenkenden 
ungefährlich  scheint.  Dann  wird  wohl  auch  die  Äußerung  als  ein 
bloßes  Spiel  mit  Gedanken  und  Worten  hingenommen  und  geduldet 
(oft  ist  sie  auch  nichts  anderes);  daß  ein  wohlerzogener  junger  Mann 
wirklich  solche  »gräßlichen  Ansichten«  hege,  wird  für  unmöglich 
gehalten.  Die  Ansichten,  d.  h.  die  zur  Schau  getragenen,  gehören 
zur  Kleidung.  Gut  angezogen  sein  und  gute  Gesinnungen  haben  — 
wenn  die  Gelegenheit  es  erfordert,  kundgeben  —  gehört  beides  zur 
Schicklichkeit,  zum  Anstände,  oder  wie  man  im  i8.  Jahrhundert 
sagte,  dem  »Wohlstande«.  Aber  wie  die  Art  sich  zu  kleiden,  die 
Form  der  Kravatte  oder  des  Hutes,  so  richten  auch  die  Meinungen 
sich  nach  der  Mode;  in  gewissen  »Modifikationen«,  —  und  die  Mode 
läßt  hier  ihre  Gesetzmäßigkeit  deutlicher  erkennen,  als  in  bezug  auf 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Bedingungen  der  Gemeinsamkeit.  41 

Kleidertrachten.  Im  einen  wie  im  andern  Gebiete  wirkt,  neben  dem 
Bedürfnis  der  Abwechslung,  das  Beispiel,  das  Vorbild  »maßgebender« 
Personen  viel;  aber  die  Mode  in  den  Meinungen  ist  außerdem  durch 
den  Gang  der  Ereignisse,  insbesondere  (in  den  politischen  Meinungen) 
durch  den  der  politischen  Ereignisse  in  hohem  Grade  mitbestimmt. 
Innerhalb  gewisser  Grenzen  ist  also  der  Wechsel  der  Meinungen  nicht 
nur  gesellschaftlich  erlaubt,  sondern  geboten.  Man  will  und  darf  so 
wenig  in  veralteten  Ansichten  wie  in  verjährter  Kleidermode  einher- 
gehen. Übrigens  aber  hat  auch  die  wirkliche  Veränderung  von 
Grundmeinungen,  also  der  Wechsel  der  Partei,  im  allgemeinen  nicht 
so  große  Bedeutung,  wie  der  Wechsel  der  Religion.  Dort  wie  hier 
werden  Bekehrte,  »Proselyten«  willkommen  geheißen,  wenn  auch 
zuweilen  mit  geheimem,  zuweilen  sogar  mit  offenem  Mißtrauen, 
aufgenommen.  Im  Grunde  und  von  den  aufrichtigsten  Anhängern 
eines  religiösen  oder  politischen  Bekenntnisses  wird  die  unechte  Be- 
kehrung verabscheut;  oft  aber  ist  die  Echtheit  gleichgültig,  wenn 
es  sich  darum  handelt,  daß  einer  für  eine  Sache  zu  reden,  und  be- 
sonders zu  schreiben,  fähig  und  willens  ist.  Überall  steht  eben  die 
Handlung,  die  aus  Kür  willen  geschieht,  mit  derjenigen  des  Wesen- 
willens in  Wettbewerb  und  übertrifft  sie  oft  in  der  Wirkung.  Der 
besondere  Eifer  der  Bekehrten  wird  bei  politischen  wie  bei  religiösen 
*  Renegaten«  (wie  sie  vom  Standpunkte  ihrer  früheren  Genossen 
heißen)  bemerkt;  sie  hassen  oft  ihre  früheren  Meinungen  oder  tragen 
wenigstens  solchen  Haß  zur  Schau. 

10.  (Gemeinsame  Meinung  —  gemeinsamer  Wille.)  Wie  es  für 
die  individuellen  Meinungen  festgestellt  wurde,  so  ist  auch  für  die 
sozialen  Meinungen  der  Zusammenhang  mit  dem  Willen  mannig- 
fach und  tief.  Wir  fanden  (vgl.  S.  10)  ein  dreifaches  Verhältnis 
vom  Denken  und  Meinen  zum  Wünschen  und  Wollen,  oder  schlecht- 
hin zu  den  Gefühlen:  i.  Es  gehe  daraus  hervor,  sei  immer  dadurch 
mitbedingt,  es  drücke  Gefühle  aus;  2.  eben  darum  und  zum  Teil 
infolgedavon,  habe  es  auch  Gefühlsbetonung,  Gefühlsbedeutung, 
es  sei  »Wollen«  und  »Nichtwollen«  als  Bejahung  und  Verneinung, 
als  günstiges  und  abgünstiges  Urteil  (Werturteil  —  Vorurteil); 
3.  es  sei  wesentlich  perfektisch  wie  das  Wollen:  Meinen  =  eine  Mei- 
nung haben,  sich  ein  Urteil  gebildet  haben,  wie  Wollen  =  beschlossen 
haben,  sich  vorgenommen  haben.  —  Betrachten  wir  dies  dreifache 
Verhältnis  an  den  gemeinsamen  Meinungen,  i.  Alles,  was  über  Be- 
dingtheit der  Meinungen  durch  Lebensumstände  und  gemeinsame 
Interessen  gesagt  wurde,  läuft  dahin  zusammen,  daß  das  Meinen 
aus  Gefühlen  hervorgeht,  Gefühle  ausdrückt.  In  offenbarster  und 
schlagender  Weise  tritt  es  uns  entgegen,  wenn  wir  das  Verhalten  des 


42  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

Menschen  in  einem  Ejriege  beobachten.  Die  Meinung,  daß  das  eigene 
Land  siegen  werde,  drückt  hier  unmittelbar  den  Wunsch  aus,  daß 
es  siegen  möge,  und  dieser  Wunsch  ist  von  der  »lyiebe  zum  Vater- 
lande« untrennbar.  Aber  sogar  innerhalb  dieser  Einigkeit  macht 
sich  noch  die  Verschiedenheit  der  Lebensgefühle  geltend.  Die  Frauen 
und  die  Alten  sind  eher  zum  Verzagen,  zu  Furcht  und  Sorge,  daher 
auch  zum  Zweifel  und  zu  weniger  hoffnungsvollen  Meinungen  geneigt, 
die  Männer  und  die  Jungen  sind  mehr  von  Gewißheit  und  Zuversicht 
erfüllt,  ihre  Meinungen  sind  »optimistischer«,  die  der  andern  »pessi- 
mistischer«. Ebenso  verhalten  sich  in  einigem  Maße  die  Besitzenden, 
Genießenden,  zumal  die  eben  Reichwerdenden  zu  den  Armen,  Arbeit- 
bedrückten, vollends  den  eben  Verarmenden.  Ebenso  macht  sich  der 
Gegensatz  zwischen  dem  mehr  kriegerisch  gesinnten,  oft  auch 
miter  dem  Kriege  weniger  leidenden  »Land«  und  den  Städten,  zumal 
großen  Städten,  von  denen  das  Umgekehrte  gilt,  bemerkbar;  und  ent- 
sprechenderweise zwischen  den  verschiedenen  Schichten  des  Volkes. 
Sodann  aber  macht  sich  in  gleichem  Sinne  die  »persönliche  Gleichung« : 
Gesundheit,  Temperament,  Stimmung  überall  geltend.  So  wirkt 
dann  auch  wieder  die  Gesamtheit  der  Meinungen,  Denkungsart, 
Weltanschauung,  also  auch  was  in  dieser  Hinsicht  den  Menschen  ge- 
meinsam ist,  auf  die  Einzelmeinung,  z.  B.  über  den  Ausgang  und  die 
Folgen  des  Krieges,  zurück.  2.  Daß  gemeinsame  Meinungen  gemein- 
same Bejahungen  und  Verneinungen  enthalten,  ist  an  allen  Partei- 
meinungen sehr  deutlich,  religiösen  wie  politischen.  Sie  besagen 
nicht  nur,  daß  die  gegnerischen  Meinungen  irrig  und  falsch,  vielleicht 
sogar  töricht  und  verderblich  sind,  sondern  sie  schwärzen  in  der 
Regel  die  Gegner  selber  als  schlechte  Menschen,  im  günstigsten  Falle 
als  arme  verirrte  Schafe,  an.  Aber  sie  enthalten  auch  unmittelbar 
bejahenden  Wunsch  und  Willen;  in  den  Meinungen  kristallisieren 
sich  Forderungen,  die  Meinung,  daß  etwas  gut  oder  böse,  richtig  oder 
falsch  sei,  bedeutet  das  Verlangen,  daß  es  eingeführt  oder  abgeschafft, 
vermehrt  oder  vermindert,  verstärkt  oder  »abgebaut«  werde,  wenn 
auch  etwa  eingeräumt  wird,  daß  es  nicht  augenblicklich  geschehen 
könne,  nicht  überstürzt  werden  dürfe.  3.  Auch  das  soziale  Meinen 
ist  perfektisch,  es  ist  das  Ergebnis  von  Überlegungen  und  Erfah- 
rungen, wie  das  soziale  Wollen,  und  eben  dadurch  oft  mit  diesem 
identisch.  So  bildet  Meinen  und  Wollen  einer  Schicht,  einer  Klasse, 
und  in  der  Folge  einer  Partei,  aus  verworrenen  Gedanken  und  Bestre- 
bungen, die  in  vielfachen  Widersprüchen  zueinander  standen,  als 
abgeklärte  Denkweise  und  Gesinnung  sich  heraus;  gewisse  »Grund- 
sätze« treten  als  wesentliche  und  notwendige,  als  Lebensbedingungen 
hervor.    Und  so  hat  das  Meinen  als  ein  fertiggewordener  Zustand 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Bedingungen  der  Gemeinsamkeit.  43 

Wirkungen  bei  jeder  »Gruppe«,  der  es  gemeinsam  ist,  die  den  Wir- 
kungen   entsprechen,    die    es   beim   Einzelmenschen   hat,    nämlich: 

1.  Es  bestimmt  das  Werden,  die  zukünftigen,  einzelnen  Meinungen 
gehen  aus  der  einmal  feststehenden  Gesamtmeinung  hervor,  sie  lassen 
sich  daraus  erschließen:  man  weiß  z.  B.  wie  eine  religiöse  oder  po- 
Utische  oder  auf  welchem  Gebiete  auch  immer  sich  betätigende  Partei 
über  eine  neu  auftauchende  Einzel-»Frage«  urteilen  wird,  wenn  man 
die  Grundsätze,  die  Haupt-  und  Grundmeinungen  der  Partei  kennt. 

2.  Diese  üben  aber  auch  eine  bestimmende,  nötigende  Wirkung  aus 
gegen  widerstrebende,  schwankende,  abzuweichen  geneigte  Meinungen 
der  einzelnen  Personen,  die  der  Gruppe  oder  Partei  angehören. 

II.  (Verbindende  Meinungen.)  Wir  finden  also  in  der  gemeinsamen 
IMeinung  als  solcher,  insofern  als  sie  gemäß  dem  Willen  derer,  die  sie 
gebüdet  haben  imd  (der  Voraussetzung  nach)  fortwährend  tragen, 
gemeinsam  sein  und  verbinden  soll,  ein  gemeinsames  Wollen  von  der 
Art,  wie  alles  gemeinsame  —  soziale  —  Wollen  ist,  indem  es  verbind- 
lich, verpflichtend,  befehlend  und  verbietend,  fördernd  oder  hemmend 
auf  die  Einzelnen,  die  Mit- Wollenden,  die  Mit-Glieder  wirkt,  eben  da- 
durch auch  die  Wirkung  nach  außen  hin  sicherer  und  stärker  macht. 
Es  ist  das  gleiche  Verhältnis  und  die  gleiche  Wirkung,  von  altersher 
bekannt,  wenn  der  Staat  seinen  Bürgern  Gesetze  gibt  und  seine  Kraft 
einsetzt  um  deren  Befolgung  zu  erwirken,  Übertretungen  zu  wehren. 
Wiederum  ist  dieser  Sachverhalt  in  seinem  Wesen  nicht  davon  ver- 
schieden, daß  ein  einzelner  Mensch,  ein  Herr,  vielen  als  seinen  Dienern 
oder  Untertanen  befiehlt  und  durch  Zwang  wie  andere  Mittel  (»Zucker- 
brot imd  Peitsche«)  eine  solche  Menge  in  seinem  Gehorsam  zusammen- 
hält. Auch  da  ist  es  möglich,  daß  die  Vielen,  oder  doch  ihre  Mehrzahl, 
gutwillig  imd  freiwillig  sich  der  Person  des  Herren  unterordnen,  ja 
sogar  in  seinem  Willen  ihren  eigenen  Gesamtwillen  wiedererkennen. 
Dadurch,  daß  jeder  Einzelne,  der  zu  einer  Gruppe  gehört,  den  tat- 
sächlichen Zustand  dieser  Gruppe,  vermöge  dessen  sie  ein  irgendwie 
ausgesprochenes  Gebot  oder  Verbot  als  ihren  Willen  gelten  läßt, 
von  sich  aus  bejaht,  wird  für  ihn,  und  somit  für  alle  Mitglieder, 
dieser  tatsächliche  Zustand  ein  rechtmäßiger  Zustand;  das  Dasein 
der  Gruppe  selber,  symbolisiert  durch  ihren  Namen,  wird  als  ein 
Dasein  im  Rechte  empfunden  und  gedacht.  Ebenso  wird  es  für 
weitere  Kreise  in  die  Rechtssphäre  erhoben  dadurch,  daß  diese  es 
kennen  lernen  und  anerkennen.  Im  gleichen  Sinne  ist  aber  auch 
der  Inhalt  des  Willens  einer  Gruppe  —  eines  Bundes,  eines  Vereins  — 
geltendes  Recht  für  die  Mitglieder  dieser  Gruppe,  insofern  als  es  ge- 
dacht wird  als  auf  dem  übereinstimmenden  Willen  aller  beruhend, 
und  in  den  Formen,   die  diesem  übereinstimmenden  Willen  gemäß 


44  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

sind,  beschlossen  und  kundgegeben.  Dieser  ausgesprochene  Wille 
einer  rechtmäßig  eingesetzten  —  3>konstituierten«  —  Gruppe  ist 
nun  ein  besonderer  Fall  der  allgemeineren  Erscheinung,  daß  überhaupt 
der  verbundene  Wille  mehrerer,  also  auch  etwa  nur  zweier  Personen, 
für  diese  mehreren  gültig,  also  verbindlich  »ist«,  d.  i.  von  ihnen 
selber  dafür  gehalten,  als  solcher  anerkannt  wird.  Daher  muß  immer 
diese  allgemeine  Betrachtung  zugrunde  gelegt  werden,  wie  es  in  den 
folgenden  Ausführungen  geschieht. 

12.  (Übereinstimmung  und  Nötigung.)  Bin  allgemeines  Problem, 
worin  das  einer  »öffentlichen  Meinung«,  also  auch  der  öffentlichen 
Meinung  eingeschlossen  liegt,  ist  also  die  Gemeinsamkeit  und  Über- 
einstimmung mehrerer  Menschen  überhaupt  in  ihren  Meinungen 
oder  »Ansichten«,  mithin  auch  in  ihren  Glaubensvorstellungen, 
Weltanschauungen,  sittlichen  Grundsätzen  usw.  Wir  betrachten  hier 
wie  früher  die  Vorstellungen  der  Menschen  als  Ausdruck  ihrer  Gefühle 
oder  sogar  ihres  bewußten  auf  Zwecke  und  Mittel  gerichteten  Wollens. 
Darum  ist  auf  gemeinsame  Gefühle  und  gemeinsames  Wollen  zurück- 
zugehen, um  —  wenigstens  in  gewissem  Umfange  —  gemeinsame  Mei- 
nungen zu  erklären. 

Gemeinsamkeit  wird  hier  nicht  nach  dem  losen  Sprachgebrauch 
verstanden,  wonach  zwei  Menschen  oder  Gegenständen  gemeinsam 
ist,  was  der  eine  hat  und  der  andere  auch  hat,  —  sondern  wir  denken 
an  Gefühle  usw.,  die  zugleich  Ausdruck  einer  Verbundenheit  zwischen 
Menschen  sind,  und  diese  Verbundenheit  mitbedingen.  Die  Ver- 
bundenheiten und  positiven  Verhältnisse  sind  (nach  meinen  Begriffen) 
von  gemeinschaftlicher  oder  gesellschaftlicher  Art,  oder  doch  mehr 
in  die  eine  oder  mehr  in  die  andere  Richtung  weisend.  Gemeinschaft 
wurzelt  im  Wesenwillen,  der  das  Denken  in  sich  enthält,  gleichsam 
aus  sich  entläßt,  so  daß  auch  Verhältnisse  und  Verbindungen,  die 
um  ihrer  Zweckmäßigkeit  willen  gewollt  werden,  noch  von  gemein- 
schaftlicher Art  sein  können.  Erst  an  dem  Punkte,  wo  das  Denken 
frei  wird  und  sein  Mittel  scharf  unterscheidet  vom  Zweck,  ja  —  im 
tjrpischen  Falle  —  es  mit  Widerwillen  will,  da  hebt  sich  begrifflich 
der  Bereich  des  Kürwillens  vom  Bereiche  des  Wesenwillens  ab  und 
setzt  sich  ihm  entgegen. 

Danach  ist  auch  gemeinsamer  Wesenwille  und  gemeinsamer  Kür- 
wille zu  unterscheiden;  mithin  auch  gemeinsame  Meinungen,  sofern 
sie  im  einen  oder  im  anderen  wurzeln  oder  doch  damit  zusammen- 
hängen. 

Ein  besonderes  Gebiet  des  gemeinsamen  Wollens  ist  aber  das- 
jenige, wodurch  das  Einzel  wollen  gebunden  wird,  das  als  Imperativ 
ihm  gegenübersteht.    Ein  solches  gemeinsames  Wollen  bestimmt  im 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Bedingungen  der  Gemeinsamkeit.  45 

allgemeinen  die  Handlungen  der  Einzelnen,  mögen  die  Handelnden 
ihres  Gehorsams  gegen  den  gemeinsamen  Willen  sich  bewußt  sein 
oder  nicht,  mögen  sie  den  gemeinsamen  Willen  als  solchen  kennen 
oder  nicht.  Die  Handlung  ist  aber  hier  in  einem  sehr  weiten  Sinne 
zu  verstehen.  Auch  das  verstehbare  Sprechen  als  Gebrauch  einer 
Sprache  ist  in  diesem  Sinne  eine  Handlung.  In  den  Bedeutungen 
der  Wörter  und  in  den  Regeln  der  Sprache  drückt  sich  ein  gemein- 
samer Wille  aus.  Auch  das  Denken  und  Meinen  ist  in  diesem  Sinne 
ein  Handeln.  Daß  das  Aussprechen  von  Gedanken,  die  Meinungs- 
äußerung als  »freie«  Handlung  gerechnet  wird,  ist  man  gewohnt. 
Hingegen  scheint  das  Denken  selber  und  das  Für-wahr-halten,  weil 
unwillkürlich,  der  Wirkung  von  Geboten  und  Verboten  entzogen  zu 
sein.  In  Wahrheit  ist  es  nicht  unmittelbar  von  Entschlüssen  und 
Vorsätzen  abhängig,  daher  auch  nicht,  gleich  einer  freien  Handlung 
sonst,  durch  Hoffnung  und  durch  Furcht  unmittelbar  bedingt,  als  die 
Gefühle,  welche  ein  fremder  Wille,  mithin  auch  ein  Gesamtwille,  ein- 
zuflößen vermag.  Aber  diese  bezeichnen  wohl  die  am  meisten  auf- 
fallende, aber  keineswegs  die  einzige  Art  des  Einflusses  eines  Willens 
auf  den  anderen,  insbesondere  nicht  eines  gemeinsamen  Willens  auf 
Gefühle  und  Denkungsart  des  Einzelnen,  der  innerhalb  des  Bereiches 
dieses  gemeinsamen  Willens  steht.  Vielmehr  ist  es  eine  ganz  regel- 
mäßige Erscheinung,  daß  das  Denken  eines  Menschen,  wie  es  durch 
seine  gesamte  Umgebung,  durch  die  Atmosphäre  bedingt  wird,  worin 
das  Denken  lebt,  durch  die  Nahrung,  die  es  täglich  und  stündlich 
empfängt,  so  ganz  besonders  sich  richtet  und  sich  fügt  nach  den 
Ausdrücken  des  sozialen  Willens,  den  es  kennt  und  anerkennt,  wovon 
es  sich  getragen  fühlt:  des  »Geistes«,  worin  sein  eigener  Geist 
beruht.  Die  Grenze  zwischen  Denken  und  Reden,  Meinung  und 
Meinungsäußerung  ist  in  der  Regel  eine  fließende  Grenze;  die  Äuße- 
rung, vollends  die  gewohnheitsmäßige  und  etwa  berufsmäßige  Äuße- 
rung wirkt  zurück  auf  Glauben  und  Meinung  und  also  auf  die  Den- 
kungsart. Es  kann  nicht  mit  Erfolg  befohlen  oder  verboten  werden, 
so  und  so  zu  denken,  solche  und  solche  Sätze  zu  glauben,  die  und  die 
Meinungen  zu  hegen  —  aber  es  kann  ge-  und  verboten  werden,  die 
entsprechenden  Anschauungen  kundzugeben,  zumal  sie  öffentlich 
auszusprechen,  sie  durch  die  Schrift  und  den  Druck  zu  verbreiten, 
andere  dazu  zu  überreden  oder  davon  zu  überzeugen,  kurz,  werbend 
dafür  einzutreten  (zu  »agitieren«).  Wenn  das  Gebotene  zuerst  mit 
Widerstreben  getan,  das  Verbotene  mit  Groll  unterlassen  wird,  so 
findet  doch  hier  wie  in  allen  Fällen  von  Druck  und  Hemmung  zumeist 
eine  Anpassung  und  Anbequemung  statt:  die  Gedanken  fügen  sich 
dem  Druck.    Die  gehemmten  Meinungen,  sofern  sie  nicht  gleichzeitig 


46  Begriff  und  Theorie  der  öffenti^ichen  Meinung. 

von  anderen  Seiten  gefördert  werden,  erlahmen  und  treten  in  den 
Hintergrund  des  Bewußtseins  zurück.  Übung  erleichtert  auch  hier 
die  Bewegung,  Gewohnheit  beschleunigt  das  Wiedererwachen  schlum- 
mernder Gedanken.  Umgekehrt:  bei  mangelnder  Übung  stellen  die 
Vorstellungen  sich  mühsam  her,  ungewohnte  Gedankengänge  er- 
löschen allmählich,  auch  solche,  die  einmal  mit  lyiebe,  ja  mit  I^eiden- 
schaft  gepflegt  wurden. 

Einige  der  hier  betrachteten  Vorgänge  sind  des  öfteren  erörtert 
worden,  als  Wirkungen  des  Volksgeistes.  Daß  Rede-  und  Denkweise 
der  Menschen,  wie  durch  Erziehung  und  lychre,  so  durch  unzählige 
sich  anhäufende  Einflüsse  ihrer  Mitmenschen,  insbesondere  ihrer 
Alters-  und  Geschlechtsgenossen,  ihrer  Standes-  und  Berufsgenossen, 
ihrer  Glaubens-  und  Parteigenossen  ursächlich  mitbestimmt  werden, 
ist  eine  offenbare  Tatsache  und  hat  längst  dahin  geführt,  daß  man 
unter  dem  Namen  der  Völkerpsychologie  und  der  Sozialpsychologie 
die  Gesamtheit  dieser  Erscheinungen  zu  erforschen  begonnen  hat. 
Die  gegenwärtige  Untersuchung  will  sie  alle  in  den  Brennpunkt  des 
sozialen  Willens  bringen.  Dieser  aber  wird  nicht  nur  von  seinen 
elementaren  gefühlsmäßigen  Formen  bis  hinauf  zu  den  gedanken- 
mäßigsten Formen  entwickelt,  sondern  überdies  unter  die  Kunst- 
begriffe des  Wesenwillens  als  des  Willens,  der  das  Denken  in  sich 
enthält,  und  des  Kürwillens,  als  des  Denkens,  das  den  Willen  bildet, 
gebracht,  und  nach  diesen  Schematen  sind  auch  die  folgenden  Begriffe 
entworfen. 

Zweiter  Abschnitt.   Rationale  und  irrationale  Formen 
gemeinsamen  Willens. 

13.  (Beschluß  und  Beschlüsse.)  Man  kann  gemeinsamen  Willen 
und  gemeinsames  Wollen  i.  als  unmittelbaren  Gegenstand  der  Er- 
kenntnis verstehen  und  auffassen:  die  Tatsache,  daß  mehrere  mit- 
einander einig  sind,  a)  in  ihrem  Vorhaben,  in  Verfolgung  eines  Zweckes, 
in  einem  Entschlüsse,  einer  Bereitschaft,  und  zwar  muß  das  Wollen 
wie  alles  eigentliche  Wollen  als  ein  freies,  nicht  als  ein  Sollen,  ge- 
dacht werden;  es  kann  aber,  b)  bei  jedem  Beteiligten  zu  einem  Sollen 
werden,  dann  erstreckt  sich  das  gemeinsame  Wollen  auch  auf  das 
Sollen  —  wie  auch  der  Einzelne  sich  selbst  nötigen,  ja  sich  zwingen 
kann,  und  „wer  sich  nicht  selbst  befiehlt,  bleibt  stets  ein  Knecht"  — 
das  Wollen  nimmt  also  den  Charakter  des  Imperatives  an,  der 
Folge,  Gehorsam,  Anpassung  in  Anspruch  nimmt.  Als  solcher  oder 
als  Komplex  von  Imperativen  kann  aber  2.  das  gemeinsame  Wollen 
und  der  gemeinsame  Wille  ferner  begriffen  werden,  insofern  es  (und 
er)   für   die  gemeinsam   Wollenden,   also   die  Subjekte   des  Willens 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Rationai^e  und  irrationaxe  Formen  usw.     47 

selber,  Gegenstand  ihres  Wollens,  mithin  ihres  Denkens  ist;  also  für 
die  Theorie  ein  mittelbarer  Gegenstand  der  Erkenntnis.  Auf  die 
einfachste  und  klarste  Weise  geschieht  dies  Heraussetzen  des  gemein- 
samen Denkens  und  Wollens  in  der  Form  des  »Beschlusses«,  den 
mehrere  für  sich  zusammen,  wie  jeder  Mensch  für  sich  allein,  »fassen« 
kann.  Bin  gemeinsamer  Beschluß  heißt:  i.  Wir  wollen  tun;  2.  jeder 
von  uns  soll  folglich  tun  —  die  beiden  Sätze  fallen*  hier  zusammen, 
der  erste  schließt  den  zweiten  in  sich  ein.  Hier  wird  zunächst  an  etwas 
Einzelnes  gedacht,  z.  B.  die  Männer  eines  Stammes  beschließen, 
einen  Einfall  ins  Nachbargebiet  zu  unternehmen,  oder:  eine  Anzahl 
von  Freunden  beschließt,  einen  Ausflug  zu  machen,  ein  Fest  zu  feiern, 
oder  einen  Toten  zu  bestatten.  Es  kann  aber  auch  die  »Entschließung« 
(Resolution),  z.  B.  einer  Volksversammlung,  einen  bloßen  Wunsch, 
eine  Forderung  oder  etwa  einen  an  die  Nichterfüllung  des  Ver- 
langens sich  anknüpfenden  Vorsatz  ausdrücken,  ohne  daß  der  Ein- 
zelne, der  zufällig  zugegen  ist,  dadurch  zu  einem  Tun  oder  Unter- 
lassen veranlaßt  werden  soll;  3.  kann  der  Beschluß  mehrerer  dahin 
gehen,  daß  sie  einen  Verein,  einen  IClub,  eine  Verbindung,  Gesell- 
schaft oder  Gemeinschaft,  Bund,  Genossenschaft  oder  welchem  Namen 
immer  —  in  jedem  Falle  eine  beschlußfähige  Einheit  aus  sich  bilden, 
gründen  oder  stiften  wollen,  die  also  eben  durch  diesen  gemeinsamen 
Willen  und  Schöpfungsakt,  mithin  zunächst  für  Willen  und  Gedanken 
dieser  Schöpfer,  ein  gleichsam  objektives  —  der  Unterscheidung 
halber  wird  man  besser  sagen:  ein  ejektives  —  Dasein  gewinnt^). 
Eine  beschlußfähige  Einheit  heißt,  daß  ein  auf  bestimmte  Weise,  in 
vorgesehener  und  vorgeschriebener  Form,  entstandener  Beschluß 
einer  oder  mehrerer  Personen  als  Beschluß  der  Einheit  oder  Gesamt- 
heit gelten  soll  —  am  einfachsten  und  nächsten  »gilt«  dafür,  was 
wirklich  ein  Beschluß  aller  ist,  aber  ein  leichterer  Weg  wird  gesucht 
und  gefunden,  indem  i.  eine  Anzahl,  die  in  bestimmter  vorgeschrie- 
bener Form  zusammenkommt,  oder  sogar  ein  Einzelner,  der  bestimmte 
vorgeschriebene  Formen  beobachtet,  als  die  Gesamtheit  darstellend  ge- 
dacht wird,  also  wiederum  dafür  gilt,  und  indem  2.  dieser  Versamm- 
lung die  Befugnis  verliehen  wird,  auch  dann  Beschlüsse  zu  fassen,  wenn 
nicht  alle  ihre  Mitglieder  anwesend  sind,  oder  sogar  dem  Einzelnen  im 
Namen  aller  und  endlich  3.  sogar,  wenn  die  Anwesenden  nicht  einig  sind, 
sondern  nur  eine  Mehrheit  einig  ist  oder  wird,  so  daß  der  Beschluß 
dieser    (sei   es   einfacher  oder  größerer)    Mehrheit  als  Beschluß  der 


*)  Als  Ejekte  schlug  etwa  im  Jahre  1880  der  englische  Mathematiker  und 
Philosoph  K.  G.  Clifford  vor,  die  nur  für  das  Denken  vorhandenen  Gegenstände 
des  inneren  Sinnes  zu  bezeichnen.  Diese  gute  terminologische  Neuerung  hat 
gleich  mancher  anderen  keine  Beachtung,  geschweige  Nachfolge  gefunden. 


48  Begrü-t  und  Theorie  der  öffenti^ichen  Meinung. 

Versammlung  gilt,  mit  der  Folge,  daß  solcher  Beschluß  alle  bindet. 
Auf  diese  Weise  erhält  der  Verein  oder  wie  das  »Ding«  sonst  benannt 
werden  mag,  eine  Ordnung  oder  »Verfassung«  als  Komplex  bin- 
dender Regeln.  Wenn  im  idealen  Falle  »alle«  einig  sind,  nicht  nur 
den  Verein  (oder  dgl.)  zu  wollen,  sondern  auch  solche  und  solche 
Verfassung  dieses  Vereins,  so  kann  doch  eine  stillschweigende  oder 
ausdrückliche  Einigkeit  auch  dahin  gehen,  schon  die  Beschlüsse 
über  diese  Verfassung  einer  Versammlung  so  anheim  zu  geben,  daß 
diese  nach  ihren  Regeln  und  auf  Grund  einer  Mehrheit,  diese  Beschlüsse 
faßt.  —  Bin  Beschluß  macht  sich  eben  dadurch  geltend,  daß  er 
»gefaßt«  wird,  d.  h.  in  Worte  gefaßt  wird,  die  erkennbar  und  ver- 
stehbar sind,  weil  dies  die  Bedingung  dafür,  daß  man  sich  danach 
richte,  ihn  befolge.  Sein  objektives  (ejektives)  Dasein  wird  aber 
dadurch  noch  verstärkt,  daß  er  schriftlich  niedergelegt  wird  und  also 
eine  bleibende  Gestalt  empfängt,  an  die  jeder,  insbesondere  also  wer 
ihn  ausführen  und  ihm  gehorchen  soll,  sich  halten  kann  und  soll. 
4.  Die  gemeinsamen  Beschlüsse  Vieler,  mithin  auch  die  ihnen  gleich- 
wertig geltenden  Beschlüsse  einer  Versammlung  (oder  einer  einzigen 
Person)  können  aber  auch  dahin  gehen,  daß  die  Mitglieder  der  Ge- 
samtheit oder  des  Vereins,  nicht  einmal,  sondern  regelmäßig,  we- 
nigstens unter  gewissen  Voraussetzungen  immer,  bestimmte  Tätig- 
keiten tun  oder  unterlassen  sollen.  Es  ist  die  Verallgemeinerung 
von  3.  Denn  schon  Herstellung  einer  Verfassung  bedeutet,  daß  die 
Mitglieder  die  in  den  vorgeschriebenen  Formen  gefaßten  Beschlüsse 
anerkennen,  also  nach  ihnen  fortwährend  sich  richten  und  den  Wider- 
stand dagegen  dauernd  unterlassen  wollen  und  sollen.  Hier  aber 
handelt  es  sich  etwa  um  gewisse  zu  wiederholende  Ivcistungen  (Mit- 
gliedsbeiträge), um  dauernde  und  regelmäßige  Unterlassungen, 
z.  B.  feindseligen  Handelns  der  Mitglieder  gegeneinander,  kurz  darum, 
daß  sie  nach  bestimmten  Beschlüssen  der  Gesamtheit  (oder  solchen 
einer  oder  mehrerer  dafür  ausgelesener  Personen)  als  für  bestimmte 
gleichartig  wiederkehrende  Fälle  gültigen  sich  richten  sollen,  so  daß 
ein  gewisses  Verhalten  als  ein  für  allemal  richtig  oder  rechtmäßig, 
ein  entgegengerichtetes  als  unrichtig  und  unrechtmäßig  gleichsam 
abgestempelt  wird.  5.  Darum  gehen  ferner  solche  Beschlüsse  als 
»Satzungen«  dahin,  Recht  zu  setzen,  d.  h.  für  Richtersprüche  die 
Richtschnur  —  die  Normen  —  zu  geben,  mithin  allgemein  zu  be- 
stimmen wie  a)  in  Streit-  und  Zweifelsfällen;  b)  in  Fällen  der  gewollten 
Verletzung  des  Rechts  durch  den  Richter,  der  dafür  bestallt  wird, 
geurteilt,  entschieden  werden  soll.  Also  beziehen  sich  6.  die  Be- 
schlüsse und  folglich  die  Normen  darauf,  daß  (nicht  alle,  sondern) 
bestimmte   einzelne  Mitglieder   des  Vereins,  bestimmte  Tätigkeiten 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Rationai^e  und  irrationai^e  Formen  usw.     40 

tun  oder  unterlassen  sollen,  als  Diener  oder  Beamte  der  Gesamtheit. 
7.  Femer  aber  können  die  gemeinsamen  Beschlüsse  (oder  die  der 
dazu  erlesenen  —  delegierten  —  Personen)  auch  dahin  gehen,  fest- 
zustellen, was  als  wahr,  welche  Meinungen  oder  Glaubenssätze  als 
richtig  gelten  sollen.  Der  Zusammenhang  mit  den  Rechtsnormen 
ist  hier  offenbar.  Die  Nötigung  scheint  aber  weniger  natürlich.  Es 
wird  geleugnet,  daß  es  Gegenstand  eines  Beschlusses  und  überhaupt 
einer  WillensentschHeßung  sein  könne,  daß  man  so  oder  so  denken, 
dies  oder  jenes  für  richtig  halten,  an  dies  oder  jenes  glauben  wolle 
oder  solle.  Denn  alles  derartige  —  so  wird  in  überzeugender  Weise 
geltend  gemacht  —  sei  »imwillkürlich«  und  auf  keine  Art  dem  Be- 
heben oder  der  Absicht  zugänglich.  Auf  Grund  dieser  Ansicht  ist 
viel  gesprochen,  geschrieben  und  gehandelt  worden,  sie  hat  eine 
historische  Bedeutung.  Aber,  auch  wenn  man  die  entgegengesetzte 
Ansicht  nicht  ausdrücklich  verteidigt,  so  wird  doch  unablässig  auf 
Grund  einer  solchen  gehandelt,  aber  auch  geschrieben  und  gesprochen. 
Ein  gewisses  Denken,  Meinen,  Glauben  wird  gefordert,  zur  Pflicht 
gemacht;  ein  abweichendes  oder  gar  widersprechendes  gemißbilligt 
und  mit  Verachtung,  Entrüstung,  nicht  selten  auch  mit  unmittel- 
baren Schädigungen  geahndet.  Freilich  nur,  wenn  es  offenbar 
wird,  wenn  es  zutage  tritt,  denn  nur  dadurch  setzt  es  sich  der  Er- 
kenntnis, also  auch  der  Verurteilung  aus.  Daher  scheint  es,  daß 
nicht  das  Denken  selber,  nicht  die  Meinung,  sondern  nur  die  Meinungs- 
äußerung gemeint  und  getroffen  wird  durch  Vorschriften  und  Sank- 
tionen in  bezug  auf  das  Denken,  Meinen,  Glauben.  Die  Meinungs- 
äußerung ist  allerdings  Gegenstand  des  Wollens  und  NichtwoUens ; 
man  kann,  wenn  man  will,  die  Kundgebung  jedes  Gedankens  unter- 
drücken, kann  seine  Meinung  »für  sich  behalten«,  man  kann  auch, 
wenn  dies  zu  schwer  wird,  die  Kundgabe  auf  einen  engen  verborgenen 
und  vertrauten  Kreis  beschränken  und  wenigstens  der  öffentlichen 
Mitteüung  sich  enthalten.  Folglich  kann  man  auch  für  sich  selber 
beschließen,  dies  zu  tun,  und  wird  es  beschließen,  wenn  es  als  nützlich 
und  gut  erscheint.  So  können  mehrere  beschheßen,  auch  in  diesem 
Sinne  gemeinsam  sich  zu  verhalten;  sie  können  folglich  auch  be- 
schließen, daß  jeder  von  ihnen,  der  nicht  nach  dieser  Vorschrift  sich 
richten  werde,  vollends,  daß  jeder  außerhalb  ihrer,  der  dagegen  ver- 
stoße, Tadel,  Verfolgung  und  andere  ihm  unerwünschte  Folgen  zu 
gewärtigen  haben  solle.  In  Wahrheit  kann  nur  dies  der  unmittelbare 
und  eigentliche  Sinn  eines  Beschlusses  sein,  daß  diese  oder  jene 
I^hre  für  richtig  gehalten  werden  soll,  oder  daß  dies  oder  jenes  die 
Wahrheit  sei.  Indessen  schon  der  einzelne  Mensch  für  sich  selber 
kann  auf  seine  Gedanken  und  seine  Denkungsart  durch  freiwillige 

Tön  nie».  KriÜk.  ^ 


50  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

Handlungen  einwirken,  indem  er  z.  B.  gewisse  Bücher  oder  Zei- 
tungen liest,  gewisse  Versammlungen  besucht,  einem  I^ehrer  folgt 
und  seinen  Worten  lauscht,  ja  auch  dadurch,  daß  er  um  eines  Zweckes 
willen    seine   Meinungen    nachprüft    (»einer    Revision   unterzieht«), 
dem  Zweifel  »Raum  gibt«,  und  —  sei  es  von  Furcht  oder  von  Hoff- 
nung geleitet,  die  Äußerung  gewisser  Meinungen,  die  er  hegt,  unter- 
läßt oder  doch  beschränkt:   durch  alle  solche  freiwillige  Tätigkeiten 
kann  er  allerdings  seine  Gedanken  »in  andere  Bahnen  lenken«,   ja 
er  kann  ihnen  auch  inneres  Schweigen  gebieten,  und  wenn  dies 
anfangs  zumeist  keinen  oder  doch  geringen  Erfolg  haben  mag,  so 
wird  doch  hier  wie  überall  die  Wiederholung  wirken,  die  neuen  Geleise 
werden  durch  Wiederholung  fahrbarer  werden,  die  Gedanken,  Schluß- 
folgerungen, Urteile  werden  an  die  bisher  ungewohnten  und  uner- 
wünschten  Bahnen   sich   gewöhnen.     Das   Interesse,    und   somit 
der  Wille,  wirkt  auch  auf  das  Gebiet  des  »Unwillkürlichen«.    Ins- 
besondere wirkt  das  Tun  und  Handeln  auf  das  Denken,  also  auch  auf 
das  Meinen,  zurück.   Dazu  kommt  dann  die  allmähliche  Wirkung  des 
Verbotes,  der  Mißbilligung  und  die  entgegengesetzte  der  Billigung 
und  Förderung  auf  das  Gemüt  des   durchschnittlichen  Menschen. 
Diese  Wirkungen  sind  allgemein,  wie  auch  immer  der  gemeinsame 
maßgebende  Wüle,  daß  so  oder  so  gedacht  und  nicht  gedacht  werden 
solle,  zutage  trete.    Unter  allen  Umständen  ist  es  gefährlich,  wenn 
nicht  unmittelbar  mit  Unannehmlichkeiten  verbunden  oder  sogar 
schädlich,  »anders«  zu  denken.    Und  wenn  man  die  Gedanken  eines 
anderen  nicht  lesen  kann,   wenn  die   Äußerungen  trügerisch  sind, 
eben  weil  vom  freien  Willen  abhängig,  wenn  verbotene  Meinungen 
unterdrückt  und  sogar  oft  durch  entgegengesetzte  Reden  ausdrück- 
lich verleugnet  werden  —  mancher  stimmt  lebhaft  in  das  Verdam- 
mungsurteil über  Ansichten  ein,  die  er  selber  hegt  —  so  kann  gleich- 
wohl der  Verdacht  entstehen  und  Nahrung  finden,  daß  einer  die 
richtigen   (sagen  wir  die  beschlossenen)  Ansichten  nicht  habe,  daß 
seine  Gesinnung  nicht  tauge,  daß  er  etwa  sogar  böse  sei  und  arges 
im  Schilde  führe  gegen  »uns«,  gegen  »unsere  Sache«,  unseren  Glauben, 
gegen  den  Staat  oder  die  Kirche.  Der  Argwohn  der  Gläubigen  oder  sonst 
Gutgesinnten  spürt  nach  Zeichen  und  findet  sie,  trotz  der  zur  Schau  ge- 
tragenen Zeichen  des  Gegenteils  —  in  Gebärden,  in  Lebensweise,  Um- 
gang, unwillkürlichen  Ausdrücken  von  Gemütsbewegungen,  im  Mangel 
an  der  gehörigen  Wärme  im  Tone  und  in  der  Form  seiner  Beteuerungen  des 
richtigen  Glaubens  und  der  guten  Gesinnung;  in  der  Mattigkeit  seines 
Tadels  und  der  ungenügenden  Entrüstung  über  die  Andersdenkenden. 
14.  (Sinn  von  Beschlüssen  über  Meinungen.)    So  hat  es  allerdings 
einen  Sinn,  daß  beschlossen  wird :  dies  ist  die  Wahrheit,  ist  die  echte 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Rationai,e  und  irrationai^e  Formen  usw.    51 

Lehre,  dies  soll  als  richtig  gelten.  In  der  Regel  mag  die  Mehrheit, 
zuweilen  mögen  alle,  wirklich  das  festgesetzte  für  die  Wahrheit 
halten,  aber  daß  auch  die  Dissentierenden  sich  unterwerfen,  ist  nur 
ein  Ausdruck  des  Grundsatzes:  es  muß  entschieden  sein,  was  als 
richtig  und  gut  gelten,  was  »Kurs  haben«  soll,  es  kann  nicht  Beliebiges 
gedacht  und  gesagt  werden,  denn  abweichende  Meinungen  sind  die 
Saaten  des  Aufruhrs,  Einigkeit  im  Glauben  und  in  der  Denkungsart 
ist  notwendig  für  die  Selbsterhaltung  einer  Gemeinde,  eines  Volkes, 
eines  Staates  .  .  .  Wenn  daher  der  Wüle  der  Verbundenen  zunächst 
darauf  gerichtet  ist,  daß  solche  und  solche  Wahrheit  bekannt  werde, 
daß  jedenfalls  Zweifel  daran  oder  gar  »freche«  I^eugnungen  nicht 
»laut  werden«,  so  ist  er  doch  nur  befriedigt,  wenn  er  auch  die  Ge- 
danken und  Gefühle  beherrscht,  nur  dadurch  wird  die  Sicherheit 
gegeben,  daß  nicht  anders  gerichtete  Gedanken  erstarken  und  durch- 
brechen, wenn  sie  das  Übergewicht  bekommen.  Sie  erstarken  aber 
durch  Vermehrung,  also  durch  Ausbreitung  unter  mehreren  Menschen, 
besonders  durch  Mitteilung  an  die  für  das  Neue  empfängliche,  dem 
Eindringen  von  Gefühlen  leicht  zugängliche  Jugend;  sie  erstarken 
femer,  wie  alles  Wollen  —  und  jede  Gesinnung  erkennt  sich  bald 
als  ein  Wollen  —  dadurch,  daß  die  Gleichgesinnten  sich  vereinen  und 
ihre  vereinten  Kräfte  zweckmäßig  verteilen,  »organisieren«.  So 
bilden  sich  innerhalb  eines  Vereines,  einer  Genossenschaft,  des  Staates 
und  der  Kirche,  Parteien,  Fraktionen,  Cliquen,  die  mit  dem  Ganzen, 
dem  sie  angehören,  wie  gegeneinander  in  Konflikt  geraten  können, 
und  dies  erfüllt  sich  leicht. 

15.  (Analogien  des  Beschlusses.)  Nach  Art  eines  Beschlusses, 
einer  Satzung,  eines  Gesetzes  kann  nun  jeder  gemeinsame  Wille  in 
sich  und  in  seinen  Wirkungen  gedacht  werden,  und  dieses  Denken 
wird  durch  Beziehung  auf  die  einfache  rationale  Form  erleichtert. 
Ihr  stehen  die  als  irrationale  —  negativ  —  begreifbaren  Formen 
gegenüber;  ich  bezeichne  sie  als  Formen  des  sozialen  Wesen  willens. 
Im  Wesen wülen  unterscheide  ich  Gefallen,  Gewohnheit,  Gedächtnis; 
im  sozialen  Wesenwillen  Verständnis,  Brauch,  Glaube.  Die  Zentral- 
begriffe sind  Gewohnheit  und  Brauch;  sie  sind  auch  unserem  Bewußt- 
sein am  meisten  geläufig.  Aber  sie  werden  in  der  Regel  nur  als  ob- 
jektive Tatsachen  begriffen,  und  im  Anschluß  daran  als  Regeln, 
Normen,  Gesetze  oder  Vorschriften,  nach  denen  Schreiben  und  anderes 
Tun  und  Treiben  sich  richtet.  Sie  sind  aber  auch  subjektive  Wirk- 
lichkeit, sind  Wille  und  nur  dadurch  werden  sie  Regeln  und  Normen. 
Jenes  Gefühl,  wodurch  das  Fremde  angeeignet,  das  Unwillkommene 
ertragbar  oder  sogar  angenehm  wird,  das  Liebe  immer  lieber  und 
unentbehrlich,  geht  aus  den  Wirkungen  der  Wiederholung  und  Übung 


52  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

hervor,  die  das  Ertragen,  das  Bejahen,  das  Wollen  erleichtert,  den 
Gedanken  ihre  Wege  bahnt,  Ivustgefühle  und  Wünsche  befördert, 
wie  sie  Muskeln  und  Nerven  stärkt.  Widerstände  und  Reibungen 
überwindet,  widrige  Gefühle  der  Unlust  glättet  und  abstumpft, 
insofern  sie  nicht  durch  fortwirkende  Ursachen  verstärkt  vmd  erneuert 
werden  (wie  Zahnschmerzen).  Wie  Gewohnheit  das  tägliche  lieben, 
das  Benehmen,  das  Verhalten,  aber  auch  die  Handlungsweise  und  die 
Denkimgsart  des  Menschen  beherrscht,  so  die  soziale  Gewohnheit, 
der  Brauch  das  gemeinsame  lieben,  das  gemeinsame  Handeln  und 
auch  die  gemeinsame  Denkweise.  Aber  vorzugsweise  ist  es  das  Han- 
deln, worin  Gewohnheit  und  Brauch  herrschen.  Die  Willensform, 
welche  im  individuellen  Betragen,  wie  in  der  Geselligkeit,  im  familiären 
Zusammenleben,  überall  wo  das  geschieht,  was  als  »selbstverständ- 
lich« empfunden  und  gedacht  wird,  ihre  Geltung  hat,  ist  unmittel- 
barerer Ausdruck  des  Wesen  willens.  Ich  nenne  sie  individuell  das 
Gefallen,  sozial  das  Verständnis.  Wiederum  die  Willensform,  der  die 
Denkungsart,  wie  sehr  sie  auch  durch  Gefallen  und  Gewohnheit, 
durch  Verständnis  und  Brauch  mitbestimmt  wird,  als  ihrem  eigenen 
Wesenwillen  unterliegt,  nenne  ich  Gedächtnis  und  Glaube  —  das  ist 
ein  Komplex  erworbener  Vorstellungen  und  Urteile,  woran  die  Seele 
des  Einzelnen,  wie  die  Seele  der  Gemeinschaft  hängt,  die  als  wahr  und 
als  heüsam  gelten,  als  heiHg  und  ehrwürdig  geliebt  und  gepflegt 
werden. 

Wenn  der  Wille  der  Verbundenen  zunächst  darauf  gerichtet  ist, 
daß  solche  und  solche  Wahrheit  oder  eigentlich  der  Glaube  daran, 
offen  bekannt  werde  —  daß  die  Bekenner  ihm  treu  seien  — ,  daß 
jedenfalls  Zweifel  oder  gar  lyeugnungen  nicht  i^laut  werden«,  so  ist 
er  doch  nur  befriedigt,  wenn  er  auch  die  Gedanken  beherrscht,  nur 
dadurch  wird  die  Sicherheit  gegeben,  daß  nicht  andersgerichtete 
Gedanken  erstarken  und  durchbrechen,  wenn  sie  das  Übergewicht 
bekommen. 

Zugrunde  gelegt  wurde  die  Vorstellung,  daß  der  »Beschluß« 
die  normale  Form  der  rationalen  Willenseinigung  sei.  Mit  ihr  kon- 
kurrieren aber  sogleich  2  andere  Formen:  eine,  die  gleichsam  vor, 
und  eine  die  gleichsam  nach  ihr  vorhanden  gedacht  wird.  Anstatt 
des  Beschlusses,  der  in  der  Idee  die  künstliche  Samtperson  voraus- 
setzt, kann  auch  jede  Abmachung  zwischen  zweien  oder  mehreren 
Personen,  die  Form  des  Vertrages  haben,  der  aus  gegenseitiger  Ver- 
sprechung besteht:  hier  wird  nicht  jene  Einheit  der  Person,  sondern 
«ine  bloße  Aneinanderfügung  (Addition)  der  mehreren  Willen  an- 
einander vorausgesetzt.  Sie  können  gleichwohl  den  Gegenstand  der 
Abmachung,  das  was  sie  wollen,  objektivieren,  gleichsam  aus  sich 


Gemeinsame  Meinungen.  —  k:a.tionai,e  und  irrationai^e  Formen  usw.    53 

herausheben,  aber  sie  objektivieren  nicht  sich  selber  als  Subjekte  dieses 
WoUens.  Offenbar  ist  ein  Beschluß  per  universos  (anstatt  per  majora) 
—  wenn  nicht  Beschlußfähigkeit  einer  Körperschaft  vorausgesetzt 
ist  —  eine  Übergangsform  dahin  von  der  bloßen  vertragsmäßigen 
Übereinkunft  oder  Abrede. 

Es  gibt  aber  eine  dritte  Form  der  Einigung  und  rationalen  Über- 
einstimmung, die  gleichsam  nach  und  über  der  Form  des  Beschlusses 
liegt.  Mehrere  kommen  in  ihren  Ansichten  über  ein  —  sie  treffen 
sich,  und  werden  über  eine  Formulierung  dieser  Ansichten  dadurch 
miteinander  einig,  daß  entweder  alle  eine  identische  I^ehrmeinung 
aussprechen  —  was  möglich,  aber  unwahrscheinlich  ist  —  oder  daß 
einer  —  etwa  auch  mehrere,  die  schon  dem  einen  anhangen  —  eine 
Formel  dafür  gefunden  hat,  der  alle  ihre  Zustimmung,  ihren  Beifall 
geben.  Naturgemäß  wendet  sich  diese  Form  vorzugsweise  auf  das 
Gebiet  des  Geistigen  und  Moralischen  an,  weil  es  dieser  Form  leichter 
zugänglich  ist  als  dem  Beschluß,  der  in  der  Regel  schon  die  Über- 
zeugung einer  Mehrheit  von  der  Richtigkeit  der  Ansichten  voraus- 
setzt, denen  der  Beschluß  oder  die  Satzung  Gültigkeit  verleihen  wül. 
Andererseits  wird  das  Gebiet  der  bloßen  sozialen  Ordnung  und  »Ver- 
fassung, daher  das  bloße  Dasein  einer  beschlußfähigen  »Körper- 
schaft« immer  zuletzt  auf  die  elementare  Willenseinigung  durch 
Vertrag  oder  Verabredung  zurückgehen,  so  daß  sich  Vertrag:  Ord- 
nung wie  Satzung:  Recht  und  wie  I^ehrsatz:  Moral  verhalten  wird; 
wo  Satzung  den  Beschluß  bedeutet,  der  eine  Handlungsweise  als 
dem  sozialen  Willen  gemäß  oder  widersprechend  setzt;  und  Lehr- 
satz ein  allgemeiner  Ausdruck  ist  für  eine  auf  Gründe  sich  stützende 
und  in  einem  Kreise  angenommene  Theorie  der  richtigen  Denkungsart. 

16.  (Parallele  von  Brauch  und  Beschluß.)  Alle  diese  Entstehungs» 
arten  sind  gleichsam  mechanische:  die  Willenseinigungen  werden 
gemacht  um  bestimmter  Zwecke  willen,  die  sie  bewirken  sollen.  Dies 
leuchtet  in  bezug  auf  den  Lehrsatz  am  wenigsten  ein,  und  gilt  auch 
nicht,  sofern  er  als  Wahrheit  gedacht  und  verstanden  wird.  Etwas 
anderes  ist  es,  wenn  es  eine  programmatische  Formel  ist,  auf  die 
man  sich  einigt,  um  damit  zu  wirken,  zu  agitieren,  also  um  Anhänger 
zu  gewinnen,  und  dies  ist  eine  häufige  und  wichtige  Erscheinung  des 
öffentlichen  Lebens. 

Es  ist  aber  auch  denkbar  und  wirldich,  daß  die  Einigkeit,  Einmütig- 
keit, Harmonie  von  Natur  und  im  Keime  schon  vorhanden  war, 
daß  sie  aus  dem  Keime  wächst  und  sich  entfaltet,  also  ein  gleichsam 
organisches  Dasein  hat.  Gleichwie  in  der  Einzelseele  nicht  immer  ein 
Widerstreit  der  Gefühle  und  Gedanken  vorausgesetzt  wird,  von  dem 
dann  das  Mi tsicheinig werden,   die  Absicht  und  der  Entschluß  sich 


54  Begriff  und  Theorie  der  öffenti^ichen  Meinung. 

abheben,  sondern  vieles,  und  um  so  mehr,  je  mehr  der  Mensch  in  ein- 
fachen tmd  regelmäßigen  Zuständen  sich  bewegt,  aus  spontanem 
Antrieb,  aus  Gewohnheit  und  unmittelbar  aus  einem  herrschenden 
Gefühl  und  Gedanken  hervorgeht  —  so  gibt  es  auch  eine  soziale 
Seele,  deren  Zellkern  ich  als  »Verständnis«  bezeichne,  die  im 
Brauch  sich  mannigfach  betätigt,  und  im  gemeinsamen  Glauben 
sich  erhält  imd  sich  fortsetzt.  Auf  Verständnis  beruhen  alle  ursprüng- 
lichen und  einfachen  Formen  des  Zusammenlebens,  sie  gelten  als 
natürlich  und  durch  sich  selbst  verständlich;  der  Brauch  regelt  die 
gemeinsame  Arbeit  wie  das  gemeinsame  Vergnügen,  den  Werktag 
und  den  Feiertag,  der  Glaube  stellt  fest,  was  geschehen  soll,  weil  es 
immer  so  gehalten  wurde,  und  namentlich  um  die  Gunst  der  unge- 
sehenen Geister  sich  zu  erhalten  oder  wiederzugewinnen. 

Auch  durch  Verständnis,  durch  Brauch,  durch  Glaube,  steht  wie 
durch  Beschlüsse  und  Satzungen  fest,  was  in  der  allgemeinen  sozialen 
Ordnung,  in  Recht,  in  Moral  eines  gegebenen  Klreises  gilt.  Es  sind 
Vorschriften  darin  enthalten,  nach  denen  teüs  alle,  teils  erlesene 
Einzelne  sich  richten  sollen.  Z.  B.  der  Gerichtsbrauch  bindet  den 
Richter,  der  Brauch  in  Ehrenhändeln  den  Ritter,  den  Offizier  und 
Studenten,  der  Zunftbrauch  den  Handwerker.  Die  Macht  der  Ge- 
wohnheit im  individuellen  lieben  ist  bekannt:  sie  beruht  i.  darauf, 
daß  der  gewohnte  Weg  der  Weg  des  geringsten  Widerstandes  oder 
des  kleinsten  Kraftmaßes  ist,  also  der  leichteste  Weg,  wie  Übung  alle 
Tätigkeit  erleichtert;  2.  auf  der  Identität  des  menschlichen  Sub- 
jektes, also  dem  Beharren  seiner  Neigungen  und  Dispositionen,  die 
auf  gleichartige  Reize  in  gleichartiger  Weise  antworten.  Die  analoge 
Ursache  der  Macht  des  Brauches,  mithin  der  Überlieferung,  des  Her- 
kommens im  sozialen  ]>ben  liegt  in  dem  Kontinuum  der  Übung, 
das  wiederum  durch  die  Nachahmung  bedingt  ist,  vermöge  deren  ein 
gleichartiges  Tun  sich  fortsetzt  und  sich  erhält.  Für  das  Gefühl  ist 
es  das  leichteste.  Bequemste,  Gefälligste,  daher  erscheint  es  auch 
dem  Denken  als  das  Natürliche  und  Vernünftige,  bisher  Geübtes  zu 
wiederholen,  und  den  »alten  Brauch«  zu  ehren,  wie  die  alten  l/cute 
und  die  Vorfahren,  die  ihn  überliefert  haben. 

Der  Brauch  kommt  in  allen  seinen  Wirkungen  einem  Beschlüsse 
oder  Beschlüssen  gleich.  Diese  Wirkungen  sind  nämlich:  i.  wir 
wollen  das  imd  das  tun,  so  und  so  handeln,  weil  wir  es  für  notwendig, 
für  geboten  halten;  2.  wir  wollen,  daß  alle,  die  zu  uns  gehören,  das 
und  das  tun,  so  und  so  handeln;  3.  wir  wollen  zusammen  einen  Bund, 
einen  Verein  oder  dgl.  bilden,  uns  als  Mitglieder  dieser  Körperschaft 
denken  imd  empfinden.  Die  Begründung  dieser  Körperschaft  wird 
hier  etwa  den  Vorfahren  zugeschrieben,  die  dadurch  in  eine  mythische 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Rationai^e  und  irrationai^e  Formen  usw.     55 

Verklärung  kommen,  oder  sogar  auf  Götter  und  Heroen  zurückgeführt. 
Aber  auch  vermöge  des  Brauchs,  wie  vermöge  beschlossener  Satzung, 
kann  eine  Verfassung  gelten,  daher  der  Willensentschluß  einer  Person 
oder  mehrerer  gleich  dem  gemeinsamen  Willen  aller;  4.  vollends  hat 
der  Brauch  zum  Inhalt,  daß  alle,  die  einer  Gruppe  oder  einem  Bunde 
angehören,  regelmäßig  und  unter  gewissen  Voraussetzungen  immer 
gewisse    I^eistungen    vollbringen,    gewisse    Handlungen    unterlassen 
sollen.    Z.   B.   herrschen  bei  allen  Stämmen  und  Völkern  gewisse 
Formen   zur  Begehung   einer  Hochzeit,   eines  I^ichenbegängnisses, 
die  mit  peinlicher  Sorgfalt  eingehalten  werden,  weil  der  Brauch  es 
so  will,  und  gewisse  Arten  des  Benehmens,  die  bei  einem  Volke  üblich 
sind,  gelten  bei  anderen  als  ungehörig,  weil  es  »des  Landes  nicht  der 
Brauch«;  5.  gleichwie  durch  beschlossene  Satzung,  wird  durch  Brauch 
Recht  gesetzt,  nämlich  die  Regel  der  Streitentscheidung  durch  einen 
anerkannten  Richter,  und  der  Gegenwirkung  gegen  gewollten  Bruch 
des  Friedens.    Der  Brauch  kann  auch,  6.  gleich  einer  Satzung  be- 
stimmen,  wie  bestimmte   einzelne  Mitglieder,   namentlich   wie   die 
Führer  als  Hüter  des  Brauchs,  sich  verhalten,  was  sie  tun  und  was 
sie  unterlassen  sollen.   Endlich  7.  erstreckt  sich  der  Brauch  auch  auf 
das,  was  als  wahr  und  richtig  gilt,  was  geglaubt  werden  soll.   So  ist 
charakteristisch  für  den  Brauch  die  Vorschrift  gewisser  Worte  und 
Redewendungen,  die  bei  bestimmter  Gelegenheit  gebraucht  und  ge- 
sprochen werden  müssen.    Aber  auch  die  Meinungen  über  das,  was 
sittlich  erlaubt  und  verboten  sei,  insbesondere  über  Anstand  und 
Schicklichkeit,  sind  in  weitem  Umfange,  zumal  in  engeren  Kreisen, 
von   der  sozialen   Gewohnheit,   also   dem   Brauch,   abhängig.     Man 
weiß,  was  üblich  und  herkömmlich  ist,  nicht  nur  zu  tun,  sondern 
auch  zu  denken,  insbesondere  zu  billigen  und  zu  mißbilligen,  und 
man  richtet  sich  danach.    Diese  Richtung  wird  durch  den  Brauch 
in  der  Regel  ohne  Druck  bewirkt,  ja  der  Einzelne  fühlt  sich  in  dem 
Brauche  —  seines  Landes,  seines  Standes,  seiner  Verbindung  und 
Genossenschaft  —  meistens  heimisch  und  wohl,  wie  im  Gebrauche 
seiner  Muttersprache,  er  tut  also  gern,  was  der  Brauch  von  ihm 
fordert,  er  stellt  auch  seine  Denkungsart  danach  ein,  ohne  Hemmimg 
zu  empfinden.  Aber  er  weiß  gleichwohl,  daß  der  Brauch  ein  Imperativ 
ist,  daß  er  gebieterisch  von  ihm  heischt,  nicht  nur  so  und  so  zu  han- 
deln, sondern  auch  die  dazugehörige  Gesinnung  zu  hegen,  daß  also 
auch  die  Hüter  des  Brauches  den  Verletzer  und  den,  der  etwa  gar  eine 
Verachtung  des  »alten  und  ehrwürdigen«  Brauches  zur  Schau  tragen 
oder  dazu  aufwiegeln  sollte,  zu  strafen  berechtigt  und  verpflichtet  sind. 
17.  (Der  Begriff  der  Lehre.)    In  diesem  Zusammenhange  kommen 
wir  auf  den  schwierigsten  und  zugleich  den  wichtigsten  Punkt  für 


56  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

die  hier  vorgetragene  Theorie  der  sozialen  Willensformen.  Wenn  der 
soziale  Wille  sowohl  gemeinschaftlicher  als  gesellschaftlicher  Art 
tmterschieden  wurde,  je  nachdem  er  sich  a)  auf  das  soziale  Verhalten 
schlechthin,  auf  allgemeine  Betätigung  bezieht;  b)  sofern  auf  besondere 
Handlungen  und  Unterlassungen,  zumal  solche  —  denn  sie  sind  sonst 
auch  in  a)  eingeschlossen  — ,  die  als  gemeinsame  und  gleichartige 
Handlungen  und  Unterlassungen  einer  verbundenen  (»organisierten«) 
Gesamtheit  —  einer  Verbindung,  eines  Vereines  —  sich  darstellen; 
c)  sofern  er  im  Denken,  im  Für-wahr-halten,  also  im  Glauben  oder 
Meinen  der  einzelnen  Menschen,  die  einer,  wenn  auch  nur  geistig 
und  sittlich  verbundenen  Gesamtheit  angehören,  sich  offenbart  — 
so  hat  der  Begriff  der  Lehre  wie  der  Begriff  des  (sozialen)  Glaubens 
im  dritten  dieser  Gebiete  seine  eigentümliche  Sphäre.  Ein  herrschender 
sozialer  Glaube  und  eine  herrschende  Lehre  wollen,  daß  die  Ange- 
hörigen des  Kreises  oder  der  Gruppe,  worin  sie  herrschen,  auf  eine 
bestimmte  —  ihnen  vorgeschriebene  —  Art  denken  und  urteilen, 
daß  sie  das  glauben  und  für  wahr  halten,  was  der  Glaube,  was  die 
Lehre  als  wahr  oder  als  richtig  behaupten,  sei  es  an  sich,  oder  in 
Absicht  auf  einen  bestimmten  Zweck,  z.  B.  das  Heil  der  Seele  oder 
die  Hebung  des  Wohlstandes.  Und  zwar  unterscheiden  wir  hier  als 
sozialen  Glauben  vorzugsweise  die  Behauptung  von  »Wahrheiten«, 
die  als  schlechthin  gültig  in  Anspruch  genommen  werden,  wie  das 
Dasein  von  Göttern,  von  guten  und  bösen  Engeln,  die  Wahrheit 
gewisser  wunderbarer  Begebenheiten  und  Offenbarungen;  wenn  auch 
»Heilswahrheiten« ,  daran  hängen,  die  sich  durch  die  Glückseligkeit 
in  einem  jenseitigen  Leben  empfehlen.  Hingegen  soll  der  Begriff 
der  Lehre  hier  sich  wesentlich  beziehen  auf  soziale  Zweckmäßigkeiten, 
auch  wenn  diese  in  das  Gewand  von  Richtigkeiten,  z.  B.  ethischer 
Lehrsätze  gekleidet  sind;  der  »Glaube«  der  Individuen  verwandelt 
sich  ihnen  gegenüber  in  die  »Anerkennung«,  die  als  innere  auch  die 
Meinung,  ja  im  günstigsten  Falle  die  Überzeugung  von  ihrer  Richtig- 
keit bedeutet.  Die  äußere  Anerkennung  fließt  daraus  am  leichtesten 
und  sichersten;  auf  sie  eben  zielt  die  »Lehre«  als  sozialer  Wille; 
für  diesen  Willen  ist  es  nicht  unerläßlich  und  schlechthin  notwendig, 
daß  die  Lehre  als  wahr  erkannt  oder  auch  nur  für  wahr  und  richtig 
gehalten  werde,  daß  sie  innere  Zustimmung  finde,  sondern,  daß  sie 
gelte  und  als  geltend  sich  behaupte,  also  daß  man  ihr  wenigstens 
äußerlich  sich  unterwerfe  und  etwanigen  inneren  Widerspruch  schwei- 
gen lasse.  Man  soll  im  kundgegebenen  Meinen,  in  der  Meinungs- 
äußerung als  Handlung  und  in  entsprechenden  anderen  Handlungen 
sich  nach  ihr  richten,  also  keinesfalls  sie  angreifen  und  anfechten, 
keine    Zweifel    äußern,    nicht    als    Andersdenkender    erscheinen. 


Gemeins-oie  Meinungen.  —  Rationai^e  und  irrationai,e  Formen  usw.     57 

Dieser  soziale  Wille  ist  uns  am  meisten  geläufig  und  bekannt  als  Re- 
ligion, insbesondere  in  der  Gestaltung  der  »Kirche«  als  ihres  Willens- 
trägers. Aber  erst  die  neueren,  höheren  Religionen,  insbesondere  die 
christliche,  machen  in  dieser  Weise  mit  ihren  Ansprüchen  an  den 
Gedanken  ihrer  Bekenner  sich  ausschließender  und  schärfer  geltend; 
während  die  älteren,  wenigstens  in  ihren  älteren  Zuständen,  den  Glau- 
ben als  etwas  Selbstverständliches  voraussetzen,  und  nur  Opferhand- 
lungen, Teilnahme  an  Festen,  rituelle  I^bensweise  u.  dgl.  verlangen 
(wie  denn  in  der  Reduktion  wiederum  heute  eine  »Landeskirche« 
mit  Kirchenbesuch  und  Empfang  der  Sakramente,  ja  sogar  mit  Zu- 
lassung kirchlicher  Teilnahme  an  gewissen  feierlichen  Handlungen 
»zufrieden«  ist).  Nun  ist  die  christliche  Religion  (in  minderem  Grade 
auch  der  Buddhismus  und  der  Islam)  von  Lehren  erfüllt  —  als 
»Dogma«  haben  sie  ihre  große  historische  Macht  entfaltet,  diese  Dog- 
men wollen  und  sollen  geglaubt  werden,  sie  enthalten  angeblich 
die  Heilstatsachen,  aus  denen  die  Gewißheit  der  ewigen  Seligkeit 
entsprießt,  imd  ^^extra  ecclesiam  nulla  salus". 

Nicht  jeder  Verein  ist  in  der  Lage  seinen  Mitgliedern  ein  so  hohes 
Gut  wie  die  ewige  Seligkeit  anzubieten  oder  zu  versprechen,  aber 
mancher  bietet  Vorteile  und  Annehmlichkeiten  von  anderer  Art, 
die  in  der  Regel  auch  wer  jener  mit  Zuversicht  gewiß  zu  sein  glaubt, 
zu  schätzen  weiß;  insbesondere  bietet  die  weltliche  Gewalt  —  oder, 
als  Verein  gedacht,  derStaat  —  Schutz  und  Sicherheit  für  das  leib- 
liche Leben,  für  die  Gesundheit  und  die  Habe  der  Person  und  der  Fa- 
milie; Schutz  auch  für  ideelle  Güter,  wie  die  Ehre,  die  persönliche 
Freiheit  und  die  erworbenen  Rechte.  Wer  diese  Vorteile  genießen 
will,  muß  auch  bereit  sein,  Opfer  dafür  zu  bringen,  unter  Umständen 
die  Gefahr  auf  sich  nehmen,  um  dieser  Güter  willen,  die  auch  für  seine 
Freunde  und  für  seine  Nachkommen  ihren  Wert  behalten  sollen, 
für  seine  Person  solche  Güter  einbüßen  zu  müssen.  Zu  dieser  Ent- 
sagung wird  nur  in  dem  Maße  der  Mensch  gewillt  sein,  als  er  von  dem 
Werte  der  Sache,  für  die  er  solche  Opfer  bringen  soll,  überzeugt  ist, 
und  er  wird  in  der  Regel  in  dem  Maße  davon  überzeugt  sein,  als  er 
darüber  belehrt  worden  ist.  Jeder  Verein,  der  einen  höheren  Wert 
für  sich  in  Anspruch  nimmt,  bedarf  der  Lehre,  die  zu  seinen  Gunsten 
wirken  muß,  der  Lehre,  die  seine  Vortrefflichkeit  darstellt  oder  in 
nüchterner  Weise  seinen  Nutzen  beweisen  wül.  Die  Lehre  kann 
sich,  gleich  einer  religiösen  Lehre,  vorzugsweise  an  die  Gefühle  wenden 
und  an  die  Gläubigkeit:  also  Pietät  und  Dankbarkeit,  Liebe  und 
Begeisterung  in  Anspruch  nehmen ;  oder  sie  kann  auf  Verstand  und  Ein- 
sichtrechnen, und  dies  ist,  was  die  wissen  schaftliche  Lehre  näher  be- 
zeichnet :  als  wissenschaftliche  Lehre  aber  erfüllt  die  Lehre  ihren  Begriff. 


58  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

i8.  (Die  richtigen  Meinungen.)  Gleich  einem  religiösen  muß  auch 
jeder  selbständige  politische  Verband  wünschen,  daß  seine  Mitglieder 
ihm  auch  mit  ihren  Seelen,  ihren  Gesinnungen  zugetan  seien,  daß  sie 
ihn  bejahen;  der  Wille  zum  Gehorsam  soll  sich  offenbaren  oder  we- 
nigstens nicht  die  Abneigung  dagegen.  Meinungen  lassen  auf  Gesin- 
nungen schließen,  aus  den  Meinungsäußerungen  wird  die  innere 
Meinung  entnommen  oder  wenigstens  vermutet:  darum  gelten 
überall  gewisse  Meinungen  als  die  richtigen  Meinungen,  als  diejenigen, 
die  der  Verband,  der  Bund  verlangen  muß,  die  der  Gesamtheit,  dem 
Ganzen  zum  Heile  sind,  teils  unmittelbar,  weil  sie  eben  seinen  Wert 
aussprechen,  teils  einer  Satzung  gemäß,  wenn  sie  als  gültige  verkündet 
wurden,  teils  endlich,  weü  die  beglaubigte  —  »offizielle«  —  Lehre 
sie  als  solche  behauptet  oder  ihre  Geltung  durchzusetzen  beflissen 
ist.  Solche  Lehre  ist  für  jeden  Verband  um  so  mehr  notwendig,  je 
mehr  er  nach  einem  bestimmten  Ziele  strebt  und  seine  Mitglieder  zu 
diesem  Streben  anregen  und  ermutigen,  also  auch  Opfer  dafür  zu 
bringen  bewegen  will.  Den  wesentlichen  Inhalt  der  Lehre  wird  dann 
nicht  sowohl  der  unmittelbare  Nutzen,  den  der  Verein  gewährt^  oder 
seine  ideellen  Vorzüge  ausmachen,  als  vielmehr  der  Wert  des  Zieles, 
dessen  Erreichung  als  Zweck  der  Vereinigung  und  des  Zusammen- 
wirkens vorgestellt  wird,  seien  es  materielle  oder  ideelle  Güter,  die 
»des  Schweißes  der  Edlen  wert«  zu  sein  scheinen;  als  solche  muß  die 
Lehre  sie  darstellen,  wenn  sie  nicht  etwa  von  selber  jedem  als  solche 
einleuchten,  wie  dem  Mitglied  einer  Räuberbande  oder  eines  räube- 
rischen Soldatentrupps  die  lockende  Beute.  Auch  ist  eine  Rede,  die 
etwa  ein  derartiges  Ziel  in  glühenden  Farben  darstellt  und  die  Ge- 
müter zum  Eifer  anstachelt,  als  solche  noch  keine  Lehre,  so  wenig 
als  etwa  der  »Prospekt«  einer  gegründeten  Aktiengesellschaft, 
der  einen  ungeheueren  Gewinn  in  Aussicht  stellt,  um  zum  Erwerben 
der  Aktien  anzuregen.  Wohl  können  in  solchem  Prospekt  und  solcher 
Rede  Lehren  enthalten  sein,  deren  Wahrheit  behauptet  wird :  die  All- 
gemeinheit muß  als  Merkmal  hinzutreten.  Und  weil  materielle  Güter 
unmittelbar  das  sinnliche  Begehren  reizen,  weil  aber  nicht  nur  re- 
ligiöse, sondern  auch  moralische  und  ästhetische  Lehren  vielfach 
das  sinnliche  Begehren  als  unedel  und  häßlich  erscheinen  lassen,  so 
daß  viele  Menschen  sich  seiner  zu  schämen  geneigt  sind  —  so  stellt 
sich  eine  Lehre,  die  das  Streben  nach  einer  Beute  anfeuern  soll,  leicht 
die  Aufgabe,  dies  nackte  Begehren  zu  verhüllen;  sie  umkleidet  die 
rohen  materiellen  Ziele  mit  dem  Gewände  eines  sittlichen  Gutes.  Die 
Absicht  versteht  sich  leicht:  das  Gewissen  wird  beschwichtigt 
oder  sogar  verwandelt,  nämlich  aus  einem  bösen  oder  doch  zweifelnden 
wird  ein  gutes  oder  doch  getrostes  gemacht.   Das  ist  eine  Kunst,  auf 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Rationai^e  und  irrationai^e  Formen  usw.    59 

die  das  Gerät  der  Lehre  zugeschnitten  werden  muß;  naturgemäß 
eignen  sich  reUgiöse  Lehren  ganz  vorzüglich  dazu.  Der  Beifall  der 
Götter  veredelt  jedes  Vorhaben,  der  fromme  Zweck  heiligt  fast  jedes 
Mittel.  Diese  veredelnde  Tätigkeit  kann  aber  durchaus  in  gutem 
Glauben  geschehen  und  das  ist  das  ursprüngliche  naive  Verhältnis 
der  Religion  zur  Politik;  je  mehr  aber  die  wirklichen  politischen  Zwecke 
klar  zutage  treten,  je  mehr  andererseits  die  naive  Gläubigkeit  schwächer 
wird,  um  so  mehr  macht  die  AbsichtHchkeit  und  innere  Un Wahrhaftig- 
keit sich  bemerkbar:  so,  wenn  die  englische  Geistlichkeit  die  Aus- 
breitung des  Christentums  für  den  eigentlichen  Zweck  der  britischen 
Welteroberung  und  ihrer  skrupellosen  Angriffskriege  ausgibt. 

Der  gute  Glaube  des  modernen  Bewußtseins  ist  mehr  wissenschaft- 
lich als  religiös  gefärbt.  Das  wissenschaftliche  Denken  selber  bleibt 
freilich  lange,  und  steht  auch  heute  noch,  in  mancher  Hinsicht  unter 
dem  Einfluß  reHgiöser  Denkungsart.  Auch  hat  religiöse  immer  gegen 
religiöse  Denkungsart  gestritten:  kirchliche  gegen  ketzerische, 
evangelische  gegen  katholische,  kalvinische  gegen  lutherische,  pie- 
tistische und  rationalistische  gegen  orthodoxe,  gestritten;  und  jede 
vertrat,  wenn  nicht  Kirchen  und  geistliche  Herrschaften,  so  Sekten 
und  Gemeinden  oder  doch  Schulen  und  Bekenntnisse.  Jedoch  treten 
in  den  neueren  Jahrhunderten  alle  diese  Streitigkeiten  zurück  gegen 
den  gewaltigen  Gegensatz  von  »Glauben  und  Wissen«  oder  von 
Theologie  und  (weltlicher)  Wissenschaft,  in  welchem  Kampfe  bisher 
jene  —  wenn  auch  mit  Unterbrechungen  —  immer  mehr  von  ihrem 
Gebiet  verloren,  diese  immer  mehr  gewonnen  hat.  Wissenschaftliche 
Lehren  sind  als  solche  sicherer  vor  dem  Verdacht  als  religiöse  Lehren, 
wenn  diese  objektive  Wahrheiten  in  Anspruch  nehmen,  aus  anderen 
Beweggründen  zu  entspringen  als  solchen  der  Erkenntnis ;  auch  wenn 
etwa  hinter  dem  Streben  nach  Wahrheit  Feindseligkeit  gegen  die 
Kirche  oder  die  Theologie  sich  verbergen  mag.  Der  Widerspruch  gegen 
diese  Mächte  und  gegen  die  von  ihr  vertretenen  oder  befohlenen  An- 
sichten ist  in  jenen  Lehren  notwendig  enthalten,  sofern  sie  Vor- 
stellungen, die  auf  dem  Schein,  auf  dem  Trug  der  Sinne  oder  auf  den 
Täuschungen  und  Ausschweifungen  der  Einbildungskraft  beruhen, 
durch  solche  der  Vernunft  und  des  Gedankens  verdrängen  und  er- 
setzen wollen.  Auch  hier  freilich  hat  der  Irrtum  einen  weiten  Spiel- 
raum. Was  auf  der  Oberfläche  als  vernünftig  und  wahr  erscheint, 
kann  von  einer  tieferen  Ansicht  als  durchaus  unzulänglich  verworfen 
werden  und  unter  Umständen  sogar  zugunsten  jener  ursprünglichen 
Sinnes-  und  naiven  Phantasievorstellungen.  Andererseits  aber  er- 
streckt sich  jener  Widerspruch  weiter  als  auf  das  Gebiet,  wo  die  ver- 
nünftige Rechnung  und  richtige  Beobachtung  den  scheinbaren  Er- 


6o  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

fahrungen  und  Wahngebilden  siegreich  begegnen  kann.  Er  erstreckt 
sich  auf  die  Anschauungen  und  Gedanken  über  das  Gute  und  Böse, 
über  Gerechtigkeit  und  Ungerechtigkeit,  über  das  in  sozialem  und 
politischem  Sinn  Heilsame  und  Verderbliche.  Hier  handelt  es  sich  in 
der  Hauptsache  nicht  mehr  um  beweisbare  lychren,  sondern  um  Be- 
hauptungen, die  aus  einer  veränderten  Einstellung  des  Willens  zu  den 
Problemen  des  I^ebens  hervorgehen.  Indessen  folgt  diese  Verände- 
rung zum  guten  Teil  aus  der  anderen  Weltanschauung,  die  Ein- 
stellung ist  auf  wissenschaftlichem  Grunde  anders  als  auf  religiösem 
Grunde.  Überall  ist  ein  starker,  wenn  auch  nicht  immer  bewußt  wer- 
dender Zusammenhang  zwischen  lyebensverhältnissen  und  Welt- 
anschauung, also  auch  zwischen  Bedürfnissen,  Wünschen,  Interessen 
einerseits,  Ansichten  über  das  Richtige  und  Gute  andererseits.  Die 
Grundherren  denken  anders  als  die  Kaufleute,  die  Bauern  anders  als 
die  Handwerker,  die  Lohnarbeiter  anders  als  die  Unternehmer.  In 
jeder  Schicht,  in  jeder  Klasse  bilden  sich  Gruppen  von  Vorstellungen 
und  Gedanken  —  eine  Ideologie  —  aus,  die  in  bestimmten  lehren, 
welche  behauptet  und  verteidigt  werden,  sich  zusammenfaßt. 

19.  (Begriff  und  Lehre.)  Als  das  psychologische  Äquivalent  der 
Lehre  faßt  die  gegenwärtige  Theorie  den  »Begriff«,  nämlich  als  die 
mentale  Form  des  individuellen  Kürwillens.  Um  diesem  Begriff  des 
Begriffes  gerecht  zu  werden,  muß  er  —  unabhängig  vom  Sprachgebrauch 
—  gefaßt  werden  als  jurjxav^ ,  als  ein  bewußt  gebildetes  und  ergriffenes 
Mittel  für  einen  bestimmten,  von  ihm  durchaus  verschiedenen  und 
getrennten  Zweck.  Solcher  Zweck  ist  die  Erkenntnis  des  Zusammen- 
hanges der  oder  einer  Wirklichkeit.  Der  vollkommene  Begriff  ist  der 
mathematische  Begriff.  Der  Begriff  der  Linie  bedeutet  etwas  Unwirk- 
liches, aber  er  ist  in  höchstem  Grade  zweckmäßig,  ja  schlechthin 
notwendig  als  Mittel,  um  Entfernungen  zwischen  wirklichen  Gegen- 
ständen zu  vergleichen,  nämlich  zu  messen.  So  denken  wir  die 
Lehre  oder  Lehrmeinung  als  ein  Mittel,  über  dessen  Wert  Mehrere 
sich  geeinigt  haben  in  dem  Entschluß,  diese  Lehre  für  wahr  zu  halten 
oder  wenigstens  gelten  zu  lassen,  ihr  nicht  zu  widersprechen,  viel- 
mehr sie  zu  vertreten  und  zu  fördern,  auf  ihre  Ausbreitung  und  Be- 
kräftigung bedacht  zu  sein.  Welchem  Zwecke  aber  soll  dies  Mittel 
dienen?  Jedenfalls  einem  Zwecke,  der  den  Mehreren  gemeinsam  ist. 
Ein  solcher  kann  auch  das  Erkennen  sein,  und  dann  ist  die  Lehre 
vom  Begriff  nicht  wesentlich  verschieden.  Unter  den  vielen  anderen 
Zwecken  aber,  die  von  Vielen  gemeinsam  verfolgt  werden,  hebe  ich 
die  Wirkung  auf  den  Staat,  nämlich  vorzugsweise  auf  die  gesetz- 
gebende Gewalt,  heraus.  Die  Vielen  wollen  etwas  erreichen,  was 
ihnen  gemeinsam  wertvoll  ist,  oder  etwas  verhindern,  was  ihnen  ge- 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Rationai^e  und  irrationai,e  Formen  usw.     6i 

meinsam  schädlich  oder  gefährhch  erscheint.  Sie  wollen  an  der  po- 
litischen Macht  Anteil  haben  oder  sogar  die  ganze  politische  Macht 
für  sich  erobern.  Als  notwendig,  um  dies  Ziel  zu  erreichen,  erkennen 
sie,  Anhänger  für  ihre  I^ehre  zu  werben;  denn  diese  I^ehre  enthält 
ihren  Willen,  ihre  Wünsche,  ihre  Forderungen,  ihr  Programm.  Wenn 
die  l^ehre  geglaubt  wird,  wie  ein  Evangelium,  so  macht  das  ihren  Er- 
folg um  so  wahrscheinlicher:  sie  entzündet  dann  den  Eifer,  die 
Begeisterung,  den  Fanatismus.  Solche  Lehre  ist  dann  von  einem  re- 
ligiösen Glauben  nur  durch  ihren  Inhalt  verschieden.  Aber  leicht  wird 
eben  durch  den  Inhalt  auch  die  Form  des  psychologischen  Verhaltens 
abgeändert,  wenn  es  sich  nämlich  um  Gegenstände  handelt,  die  der 
Phantasie  wenig  Nahrung  geben  und  nur  verstanden  werden  wollen, 
nämlich  erkannt  werden  als  dem  Interesse  desjenigen  dienlich,  um 
dessen  Anhängerschaft  geworben  wird.  In  den  politischen  Kämpfen, 
zumal  den  Wahlkämpfen,  die  heute  alle  Länder  erfüllen,  sind  es  zum 
größten  Teil  solche  Gegenstände,  die  vorgetragen  und  in  Rede  oder 
Schrift  »breitgetreten«  werden.  In  bestimmten  Lehren,  die  auf 
wissenschaftliche  Geltung  Anspruch  machen,  werden  sie  verall- 
gemeinert. Eine  solche  Lehre  war  und  ist  die  Lehre  des  Naturrechts 
oder  Vernimftrechts,  die  Freiheit  und  Gleichheit  aller  Menschen  als 
eine  ursprüngliche,  darum  auch  allein  normale  und  innerlich  not- 
wendige Tatsache  behauptet.  Mehrere  andere  Lehren  wurden  teils 
daraus  abgeleitet,  teils  im  Zusammenhange  damit  begründet;  so 
die  Forderung  der  Gewissens-  oder  Religionsfreiheit,  der  Preßfreiheit, 
der  Schwurgerichte  und  anderer  Laiengerichte,  des  mündlichen  und 
öffentlichen  Gerichtsverfahrens,  die  Forderung  geschriebener  Ver- 
fassungen und  gewählter  Volksvertretungen,  die  des  allgemeinen 
gleichen  Wahlrechts,  insbesondere  endlich  die  der  Teilnahme  von 
Frauen  an  politischen  Wahlen,  der  Frauen-Emanzipation  überhaupt. 
Diese  Lehren  des  Liberalismus  sind,  obgleich  immer  bekämpft,  mehr 
und  mehr  siegreich  geworden.  Die  Überzeugung  von  ihrer  Richtig- 
keit und  ihrem  Werte  ist  zu  gleicher  Zeit  gerade  ii\  den  neubürgerlichen 
Kreisen,  denen  sie  ursprünglich  als  Ausdruck  ihres  Willens  dienten, 
schwach  geworden.  Erhalten  hat  sie  sich  mehr  im  Kleinbürgertum 
und  Proletariat,  die  Lehren  selber  werden  aber  in  dem  sehr  bewußt 
geführten  Klassenkampf  gegen  die  »Bourgeoisie«  als  Kampfmittel 
und  Waffen  gebraucht,  wozu  sie  um  so  tauglicher  sind,  weil  ihnen 
die  bekämpfte  Erlasse  die  grundsätzliche  Anerkennung  und  Geltung 
nicht  versagen  kann.  In  diesem  Sinne  betrachten  wir  die  »Lehre«  als 
Gegenstand  einer  äußeren  Einigung  und  gleichsam  Verabredung.  Der 
eigentliche  Glaube  kann  herabgesetzt,  ja  ganz  entbehrlich  werden, 
wenn  an  seine  Stelle  die  Meinung  und  Erkenntnis  des  Wertes  oder 


62  Begriff  und  Thkorib  der  öffentwchen  Meinung. 

Nutzens  der  Lehrsätze  tritt,  für  die  man  um  Anhang  wirbt  und  die 
man  zur  Geltung  zu  bringen  sich  bemüht.  Treffend  hat  der  Jesuit 
IvESSius  gesagt:  Aliud  est  credere,  aliud  judicare  esse  credendum.  Hin- 
zuzufügen ist:  je  mehr  die  Überzeugung  fest  und  stark,  daß  es  not- 
wendig sei,  zu  glauben,  um  so  mehr  wird  das  Glauben  selber  entbehr- 
lich. Es  mag  immer  mit  jener  Überzeugung  verbunden  bleiben  und 
gleichsam  ihren  Hintergrund  bilden ;  aber  es  ist  nicht  mehr  wesentlich, 
man  darf  davon  absehen.  Dennoch  kann  die  Verbreitung  in  der  Form 
geschehen,  daß  eine  Wahrheit  behauptet  und  begründet  wird,  und 
daß  viele,  vielleicht  die  meisten,  an  diese  Wahrheit  glauben.  Den 
Begriff  der  Lehre  in  diesem  soziologischen  Sinne  bestimmen  wir 
gleichwohl  durch  die  bewußte  Vertretung  und  Geltendmachung,  die 
ihr  zuteil  wird  von  denen,  die  ihre  Bedeutung  und  ihren  Wert  — 
als  den  Wert  einer  Waffe  —  erkennen  und  in  dieser  Anerkennung  mit- 
einander einig  sind,  weil  sie  sich  darüber  geeinigt  haben.  Dies  tritt 
am  deutlichsten  zutage,  wenn  solcher  Einigung  eine  Beratung  vorher- 
gegangen ist,  wie  es  zum  Beispiel  geschieht,  wenn  die  Häupter  einer 
Partei  über  das  Programm  der  Partei  in  Beratung  treten.  Es  handelt 
sich  für  sie  darum,  die  zweckmäßigste  Form,  den  geeignetsten  Aus- 
druck eines  gemeinsamen  Bewußtseins,  d.  i.  eines  gemeinsamen 
Interesses  und  Willens  zu  finden.  Man  einigt  sich  auf  eine  Formel  — 
man  rechnet  damit,  daß  die  Formel  eine  packende  Gewalt  bewähren 
werde;  man  faßt  die  Quintessenz  des  Gedankens,  der  in  die  Welt 
gesetzt  werden  soll,  in  ein  Schlagwort  zusammen. 

20.  (Das  Schlagwort.)  W.  Bauer ^)  unterscheidet  bei  allen  »Schlag- 
wör^tern«,  die  „aus  dem  herkömmlichen  Sprachschatz  stammen'^,  ein 
sachlich-logisches  und  ein  emotionales  »Stadium«  ihres  Daseins. 
Ich  würde  lieber  sagen:  das  Schlagwort  wirkt  zu  gleicher  Zeit  auf 
Verstand  und  Willen  derer,  die  es  empfangen  und  in  sich  aufnehmen. 
Bei  oberflächlicher  und  schwacher  Wirkung  auf  den  Verstand  kann 
doch  die  Wirkung  auf  den  Willen  sehr  stark  sein  und  ist  es  oft,  indem 
Assoziationen  von  Ideen  ausgelöst  werden,  die  in  hohem  Grade  gefühls- 
betont sind.  Der  Übergang  in  ein  emotionales  »Stadium«  vollzieht 
sich  dann  mit  blitzhafter  Geschwindigkeit:  das  Schlagwort  »elektri- 
siert«. Bauer  weiß  aber  auch,  daß  Schlagwörter  für  einige  „zum 
bewußt  angewandten  Agitationsmittel"  werden,  und  weil  die  Menge 
nur  in  Bildern  denken  könne,  so  sei  das  Schlagwort  die  einzig 
richtige  Sprache,  worin  man  zu  ihr  sprechen  müsse  .  .  . 

Die  einzig  richtige  ?  Das  dürfte  nicht  allgemein  und  immer  gelten ! 
Aber  wer  die  Kraft  des  Schlagwortes  kennt,  wird  sie  zu  seinem  Vorteü 

*)  ,,Das  Schlagwort  als  sozialpsychische  und  geistesgeschichtliche  Ersdieinung", 
Histor.  Zeitschrift,  Bd.   122,  H.  2,  S.  212 — 223. 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Rationai^e  und  irrationai^e  Formen  usw.     63 

gebrauchen  wollen,  wenn  er  auf  seinen  Vorteil  bedacht  ist.  Dieser 
Vorteil  mag  der  bloße  rednerische  oder  schriftstellerische  Erfolg  sein, 
selber  teils  seiner  selbst  wegen,  teils  als  »Weg  zur  Macht«  erwünscht 
und  erstrebt;  öfter  wird  es  sich  unmittelbar  um  einen  sozialen  Erfolg 
handeln,  sei  es  der  Wahlerfolg  einer  Partei,  oder  ein  noch  handgreif- 
licheres Interesse  materieller  Art;  auch  ideelle  Zwecke  können  damit 
verbunden  sein,  können  sogar  für  sich  allein  ins  Auge  gefaßt  werden. 
Immer  kann  es  als  seltene  Ausnahme  betrachtet  werden,  daß  jemand 
zu  einem  Zwecke  redet  oder  schreibt,  der  ausschließlich  sein  eigener 
ist.  Auch  wenn  etwa  ihm  nur  an  seinem  I^ohn  oder  Sold  gelegen  ist, 
so  hat  doch  das,  was  er  sagt,  einen  anderen  Zweck,  und  indem  er 
redet  oder  schreibt,  wirkt  er  für  diesen  Zweck,  der  vielleicht  ihm 
selber  gleichgültig  (oder  sogar  zuwider),  jedenfalls  aber  der  Zweck 
irgendeines,  in  der  Regel  Zweck  mehrerer  Menschen  ist.  Diese 
mehreren  bilden  eine  Gruppe,  eine  Clique,  einen  Stand  oder  eine  Klasse, 
eine  Schicht  oder  eine  Partei  —  möge  diese  Menge  mehr  oder  weniger 
fest  »organisiert«  sein.  Je  fester  sie  organisiert  ist,  um  so  stärker 
wird  ihr  einheitliches  Bewußtsein  —  Denken  und  Wollen  —  nach 
außen  hin  in  die  Erscheinung  treten.  Um  so  mehr  verfolgt  eine  solche 
Gesamtheit  eine  bestimmte  »Politik«,  d.  h.,  sie  setzt  sich  planmäßig 
ihre  Ziele  und  richtet  nach  diesen  Zielen  und  Plänen  ihren  Willen, 
ihre  Handlungsweise.  Folglich  werden  ihre  Kundgebungen  aus  unab- 
sichtlichen absichtliche,  sie  werden  durch  Kürwillen  bestimmt. 
Nun  werde  vorausgesetzt,  daß  solche  Kundgebungen  eine  I^ehre 
vertreten,  daß  sie  »das«  oder  doch  »ein«  Publikum  darüber  belehren 
wollen,  was  ihm  nützlich  und  heilsam  sei,  für  oder  wider  welche 
Gesetzgebung  es  eintreten  solle,  und  daß  dafür  allgemeine  Grund- 
sätze aufgestellt  und  mit  Gründen  geltend  gemacht  werden  —  so 
haben  wir  ein  regelmäßiges  Ereignis  des  politischen  Parteilebens  und 
Parteikampfes  vor  uns:  dazu  gehört  das  Schlagwort,  worin  die  lychre 
und  Botschaft  zusammengedrängt,  zusammengefaßt  wird,  die  Formel, 
worauf  die  Häupter  sich  einigen  als  ein  geeignetes  Mittel,  ihre  Mei- 
nungen, d.  i.  ihren  Willen  in  die  Menge  zu  tragen  und  ihm  Anhänger 
zu  werben.  Die  zündende  Kraft,  die  das  Schlagwort  darin  bewährt, 
daß  es  in  ein  »emotionelles  Stadium«  eintritt,  gewinnt  es  eben  durch 
die  »Agitation«,  nämlich  durch  das  Pathos  der  Betonung,  der  Wieder- 
holung, der  Erschütterung.  Darum  ist  es  ein  so  gewaltiges  Mittel, 
um  Stimmungen  zu  erregen,  Gefühle  zu  entflammen,  Entschlüsse 
hervorzurufen.  Aber  nicht  das  einzige  Mittel.  Es  wirkt  nur  im  Zu- 
sammenhange mit  bestimmten  Vorstellungen  und  Behauptungen  über 
Tatsachen:  gegenwärtige,  vergangene  und  zukünftige;  im  Staats- 
leben also  im  Rahmen  einer  gesamten  politischen  Denkungsart.    So 


64  Begriff  und  Theorie  der  öffenti^ichen  Meinung. 

etwa  jenes  Schlagwort  »Freiheit«  in  seinen  Anwendungen  auf  Gewissen, 
auf  Presse,    auf  Handel  und  Gewerbe.    Es  empfiehlt  sich  durch: 
a)  Hinweisungen  auf  die  Schäden,  die  aus  dem  Mangel  der  Freiheit, 
aus  Knechtung,  Ejiebelung,  Zwang,  Schutzzoll  sich  ergeben:  diese 
werden  anschaulich  und  glaubhaft  gemacht  durch  Beispiele  aus  gegen- 
wärtigen  und   vergangenen  Zuständen.    Da  individuelle  Freiheiten 
aller  Art  immer  im  Interesse  des  Zusammenlebens  beschränkt  worden 
sind  und  werden  mußten,  so  ist  es  leicht,  die  Vergangenheit  in  das 
trübe  lyicht  der  Sklaverei  zu  setzen  und  die  Vorstellung  der  Freiheit 
mit  der  Vorstellung  des  Fortschritts  zu  verknüpfen,  einer  Vorstellung 
von  ebenso  angenehmer  Art:    wenn  »Freiheit«  das  Gefühl  des  frei 
Atmens,  des  Aufatmens,  der  Erleichterung  in  sich  schließt  und  als 
Gegenteil  von  Druck,  Bindung,  Beklommenheit  willkommen  ist,  so 
»Fortschritt«   mit  der  allgemeinen  Empfindung  des  Besserwerdens, 
des  Wachstums,  der  Aufwärtsentwicklung.   Wie  könnte  man  Freiheit 
und  Fortschritt  nicht  lieben  und  loben?    So  wirkt  denn  auch  die 
Hinweisung  auf  ein  ^freies  Land«,  auf  seine  Macht  und  sein  Gedeihen; 
auf  ein  fortschreitendes  I^and,  das  mit  sich  und  seinen  Zuständen, 
seinen  Einrichtimgen  zufrieden  ist  und  vor  inneren  Unruhen,  Auf- 
ständen, Bürgerkriegen  sicher.    Die  sozialdemokratische  Lehre 
wirkt  gleichfalls  mit  dem  Begriff  und  Schlagwort  »Freiheit«  und  stei- 
gert dessen  Bedeutung  dadurch,  daß  sie  (mehr  als  der  Liberalismus 
es  heute  noch  kann)  die  Sache  als  Ziel  des  Strebens,  als  etwas  zu 
Eroberndes    im   Gegensatz    zur    bestehenden    »Lohnsklaverei«  dar- 
stellt. Stärkere  Schlagkraft  hat  aber  für  sie  der  Begriff  der  Gerechtig- 
keit und  die  sittliche  Entrüstung,  die  der  Vorstellung  gilt,  daß  der 
Arbeiter  unzureichenden  Lohn  erhalte,   während  es  reiche  Müßig- 
gänger gibt,  die  von  arbeitlosem  Einkommen,  dem  Ertrage  fremder 
Arbeit,     überfließen.      Schlagwort-Sentenzen     wie     „Eigentum    ist 
Diebstahl",  „das  Eigentum  ist  Fremdtum  geworden",  drücken  diese 
Empörung  aus.    Die  marxistische  Lehre  vom  historisch  notwendigen 
Siege  erhöht  Kampflust  und  Mut  im  Klassenkampfe,  wie  schon  die 
Idee    eines    bedeutungsvollen   Kampfes    für    dne   bessere   Zukimft 
den  Gemeinsinn  (die  »Solidarität«)  und  den  Willen  zur  Aufopferung 
nebst  verwandten  kriegerischen  Tugenden  erzieht.    Die  konserva- 
tiven Lehren  wenden  sich  noch  unmittelbarer  an  die  Gefühle,  nament- 
lich an  so  starke  tiefgewurzelte  Gefühle,  wie  die  Anhänglichkeit  an 
gewohnte  Verhältnisse  und  Vorstellungen,  wie  die  Ehrfurcht  vor 
dem  Heüigen  und  Geheimnisvollen  und  ganz  besonders  die  Furcht 
vor  dem  göttlichen  Zorn,  aber  auch  Hoffnung  und  Vertrauen  auf 
Gunst  und  Hufe  der  unsichtbaren  Mächte.    Diese  Lehren  daher, 
angewandt  auf  politische  Verhältnisse,  warnen  vor  dem  Frevel,  dem 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Rationai^e  und  irrationaxe  Formen  usw.     65 

Abfall  und  der  Empörung  gegen  die  »gottgewollte  Ordnung«  und 
klagen  die  Revolution  als  Teufelswerk  an,  zumal  wenn  sie  gegen  das 
»geweihte  Haupt«  eines  Monarchen  sich  richtet,  der  »von  Gottes 
Gnaden«  seines  Amtes  waltet.  Aber  je  moderner  diese  Lehren  sind, 
um  so  mehr  wenden  sie  sich  auch  an  die  Einsicht,  an  die  Vernunft, 
also  an  die  Erkenntnis  des  Nutzens,  an  das  Interesse.  So  liegt  es  nahe, 
den  Wert  eines  ruhigen,  ungestörten  Zustandes  {»Quieta  non  mo- 
vere«) hervorzuheben,  so  empfiehlt  sich  die  Zusammenfassung  der 
gesamten  Würde  und  Macht  des  Staates  in  einer  natürlichen  Person 
als  »Vernunft-Monarchismus«,  so  wird  etwa  von  Joseph  de  Maistre 
die  Notwendigkeit  eines  höchsten  Friedensrichters  zugunsten  der  Ein- 
heit der  Christenheit,  zuletzt  also  der  Menschheit,  unter  dem  Papste, 
verwertet,  wie  schon  Dante  und  andere  große  Autoren  des  Mittelalters 
in  einer  solchen  Einheit  unter  Papst  und  Kaiser  die  Erfüllung  des 
natürlichen  und  göttlichen  Rechtes  sahen.  Naturgemäß  hängen 
Lehren  politischer  Art  mit  Weltanschauungslehren  zusammen,  teils 
durch  innere  Verwandtschaft,  teils  durch  bloße  Überlieferung;  aber 
diese  Zusammenhänge  sind,  wenn  auch  häufig  und  wahrscheinlich, 
keineswegs  notwendig.  TocQUEVii.i,E  ^vunderte  sich,  da  er  in  Frank- 
reich fast  immer  den  Geist  der  Religion  und  den  Geist  der  Freiheit 
in  entgegengesetzter  Richtung  gehen  sehe,  diese  in  den  Vereinigten 
Staaten  so  innig  miteinander  verbunden  und  miteinander  auf  dem 
gleichen  Boden  herrschen  zu  sehen.  In  der  Tat  sind  sehr  verschiedene 
Kombinationen  von  Lehren  möglich,  aber  mehr  oder  weniger  wahr- 
scheinlich. Es  finden  Anziehungen  und  Abstoßungen  statt,  und  je 
stärker  eine  Lehre  oder  der  hinter  ihr  wirksame  Wille,  das  sie  bele- 
bende Interesse  ist,  um  so  eher  vermag  sie  auch  entgegenstrebende,  ja 
feindliche  Elemente  an  sich  zu  ziehen  und  zu  beherrschen.  Um  Lehren 
sammeln  sich  die  Volksbewegungen  für  oder  wider  eine  Sache, 
immer  mit  einem  bestimmten,  mehr  oder  minder  idealen  Ziele; 
dazu  gehören  auch  religiöse  Bewegungen,  mit  denen  sehr  oft  auch 
solche  rationalen  Charakters  innig  verwandt  sind  und  zusammen- 
hängen: Bewegungen  ökonomischer,  politischer  oder  moralischer 
Art,  die  letzteren  am  ehesten  von  religiösen  Bewegungen  ab- 
stammend und  ihnen  ähnlich.  Alle  suchen  in  neuerer  Zeit  mehr 
und  mehr  auf  wissenschaftliche  Beweisgründe  für  die  Güte 
ihrer  Sache  sich  zu  stützen,  sogar  streng  religiöse  Bewegungen, 
wie  die  der  Christian  Science,  vollends  andere  mystagogische,  wie 
die  der  Spiritisten,  Theosophen,  Anthroposophen  usw.  Alle  werben 
mit  solchen  Gründen  um  die  Gunst  des  Publikums,  ja  sie  kämpfen 
und  streben  danach,  diese  ganz  für  sich  zu  gewinnen,  was  selten 
gelingt. 

Tönnies,    Kritik.  t 


66  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

21.  (Formen  des  Kollektivwillens,  A.  Eintracht  —  Sitte  —  Religion.) 
Ich  betrachte  nunmehr  die  zusammengesetzten  oder  höheren  Formen 
eines  gemeinsamen  Willens,  die  ich  zur  Unterscheidung  von  den 
(einfachen)  Formen  des  sozialen  Willens  Formen  des  Kollektivwillens 
nenne. 

Die  allgemeinste  Form  des  Ausdrucks  eines  gemeinschaft- 
lichen Kollektiv  willens  bezeichne  ich  als  —  psychologische  —  Ein- 
tracht. Sie  ist,  als  solche  subjektive  Form,  das  Gesamtverständnis 
einer  verbundenen  Gruppe,  zuhöchst  eines  Volkes  und  (der  Idee  nach) 
des  Menschheitvolkes  über  das,  was  ihm  für  sein  Zusammenleben 
notwendig,  ersprießlich  und  gut,  oder  schädlich  und  verderblich  ist. 
Sie  wehrt  also  vor  allem  der  Zwietracht,  gebietet  Zusammenhalten, 
inneren  Frieden,  heischt  daher  Unterordnung  unter  gegebene  Führer- 
schaft, regelmäßig  also  der  Jüngeren  unter  die  Älteren,  zumeist  der 
Frauen  unter  die  Männer,  in  manchen  und  wichtigen  Bezügen  aber 
der  Männer  imter  die  Frauen,  allgemein:  der  Unkundigen  unter  die 
Kundigen,  der  Nichtwissenden  unter  die  Wissenden,  also  der  Uner- 
fahrenen unter  die  Erfahrenen,  der  Kinder  unter  die  Bitern,  des 
Schülers  unter  den  Meister,  des  Kiiechtes  unter  den  Herrn,  der  Magd 
unter  die  Hausfrau;  des  Kriegers  unter  den  Hauptmann,  des  Haupt- 
manns unter  den  General,  des  Generals  unter  den  König  oder  Ober- 
befehlshaber ;  des  I^aien  unter  den  Priester  und  Gelehrten,  des  Priesters 
unter  den  Bischof,  des  Bischofs  unter  den  Erzbischof,  des  Erzbischofs 
unter  den  Heiligen  Vater.  —  Wir  finden  den  Geist  der  Eintracht  am 
ehesten  und  leichtesten  wirksam  in  kleinen  und  engen  Verhältnissen 
des  Zusammenlebens,  er  ist  am  meisten  charakteristisch  —  wenn 
auch  noch  so  oft  getrübt  —  für  die  Familie,  und  zwar  noch  mehr  für 
die  um  einen  häuslichen  Herd  vereinigte  (obgleich  die  nahen  Be- 
rührungen um  so  mehr  Gelegenheiten  und  Anlässe  der  Zwietracht 
darbieten),  als  für  die  zerstreute,  die  leicht,  auch  ohne  durch  Zwie- 
tracht zerrüttet  zu  werden,  sich  auseinanderlebt.  Nicht  in  gleicher 
Stärke,  aber  immer  noch  höchst  bedeutsam,  waltet  der  Geist  der  Ein- 
tracht in  der  Dorfgemeinde,  wo  jeder  den  anderen  kennt,  der  Nachbar 
dem  Nachbarn  beisteht,  wo  die  Nebenordnung  mehr  als  Unterordnung 
die  Regel  ist.  Schwieriger  und  künstlicher  als  die  bisher  betrachteten 
Unterordnungen  sind  schon  diejenige  des  Bauern  unter  den  Grund- 
herrn und  Edelmann  oder  den  Beamten,  unter  den  geistlichen  Herrn, 
wenn  er  ihm  nicht  zugleich  als  Nachbar  vertraut  und  beliebt  ist,  oder 
unter  den  Fürsten,  der  geistliche  und  weltliche  Würde  in  seiner 
Person  vereinigt  —  während  andererseits  die  Höhe  des  Ranges,  so- 
fern sie  durch  sozialen  Willen  festgestellt  ist,  zur  demütigen  Unter- 
ordnung geneigter  macht. 


Gemkinsamb  Meinungen.  —  Rationai;e  und  irrationai^e  Formen  usw.     67 

Das  größere  und  ummauerte  Dorf,  woraus  die  Stadt  erwächst, 
wemi  sie  nicht  als  Gesamtheit  von  Dörfern  entsteht,  schwächt  bei 
seinen  Einwohnern  den  Willen  zur  Unterordnung,  sofern  er  nicht  noch  in 
den  älteren  und  allgemeineren  Verhältnissen  der  Verwandtschaft  und 
Nachbarschaft  beruht  und  von  diesen  sich  herleitet.  Dagegen  tritt 
stärker  auf  das  Bewußtsein  der  Zusammengehörigkeit  und  ihres 
Wertes,  das  Bewußtsein  des  Bürgers  und  Mitbürgers,  der  seine  Stadt 
wie  seinen  häuslichen  Herd  schützt  und  verteidigt.  Darum  ist  auch 
die  ständische  Unterordnung  hier  noch  schwieriger,  unwahrschein- 
hcher,  nimmt  mehr  Überwindung  in  Anspruch,  weil  mit  Bildimg  und 
Wohlstand  das  Selbstbewußtsein  gesteigert,  die  Neigung  zur  Ehr- 
furcht und  Gläubigkeit  also  schwächer,  die  wirkHchen  Überlegenheiten 
der  Ranghöheren  teils  vermindert,  teils  durch  Überlegenheiten  der 
Rangniederen,  die  ihrer  Künste  kundig,  in  ihrem  Fache  tüchtig  sind, 
ausgeglichen  werden;  weil  auch  das  allgemeine  Zusammenleben 
minder  auf  persönliche  Bekanntschaften  und,  soweit  dies  der  Fall, 
mehr  auf  gelegentliche,  oberflächliche  als  auf  dauernde  und  innerliche 
angewiesen  ist.  Die  Menschen  isolieren  sich  um  so  mehr  gegeneinander, 
je  mehr  sie  sich  häufen  und  jeder  seinem  Geschäfte  nachgeht,  um  den 
anderen  nur  im  Wege  des  Tausches  und  der  Verträge  zu  begegnen: 
er  kennt  sie  als  Mitbewerber  und  Tauschgegner,  günstigen  Falles  als 
Kunden  und  Geschäftsfreunde.  Diese  Tendenzen  vollenden  sich  um  so 
mehr,  je  stärker  die  Stadt  als  Großstadt,  Handelsstadt,  Hafenstadt, 
Weltstadt  sich  entwickelt,  in  welchen  Gebilden  am  wenigsten  noch 
ursprüngliche  Eintracht  zu  suchen  ist. 

Wie  das  natürliche  Gefallen  des  einzelnen  Menschen:  daß  er  mit 
sich  einig  ist  in  I^ust  oder  Unlust  an  Mitmenschen,  Dingen,  Tätig- 
keiten, Zuständen,  in  Gewohnheit  niederschlägt,  indem  die  häufige 
Wiederholung,  die  Übung  und  Erfahrung,  die  vertrautere  Bekannt- 
schaft, Erregungen  dämpft,  alle  Bewegungen,  Strebungen  und  Wider- 
strebungen in  bezug  auf  die  Mitmenschen  erleichtert  und  beschleunigt, 
Beziehungen  und  Verbindungen  befestigt  —  ebenso  verhält  sich 
Verständnis  zu  Brauch,  Eintracht  zu  Sitte.  Volkssitte,  I^andessitte, 
Standessitte  beruht  in  Volkseintracht  (Landeseintracht,  Standes- 
eintracht), und  wirkt  mannigfach  auf  sie  zurück.  Stärker  als  Ein- 
tracht tritt  Sitte  gebietend  auf,  nämlich  als  verpflichtender  Gemein- 
wille, wie  etwa  am  deutUchsten  in  Verehrung  der  Toten :  in  den  letzten 
Ehren,  die  ihnen  gegeben  werden,  in  Bekränzung  und  Pflege  der 
Grabstätten,  Errichten  von  Gedenksteinen  u.  dgl.  sich  offenbart, 
weshalb  ich  (Die  Sitte,  S.  21)  den  Totenkult  die  Sitte  der  Sitten  ge- 
nannt habe.  Daß  Gewohnheit,  Brauch,  Sitte  als  Imperative  —  Ge- 
und  Verbote  —  sich  geltend  machen,  ist  eine  psychologische  Tat- 

5* 


68  Begriff  und  Theorie  der  öffeniüjchen  Meinung. 

Sache,  die  in  bezug  auf  Gewohnheit  oft  erklärt  worden  ist.  Sie  beruht 
darin,  daß  das  Gewohnte  angenehm  ist ;  es  ist  aber  angenehm,  insofern 
es  als  natürlich  und  notwendig  empfunden  und  gedacht  wird,  und  dies 
ist  um  so  mehr  der  Fall,  je  mehr  es  in  das  Gemeingefühl,  den  psychischen 
Lebensstrom  —  den  ich,  sofern  er  auf  Mitmenschen,  Dinge,  Verhält- 
nisse sich  bezieht.  Gefallen  nenne  —  übergegangen  ist.  Und  dies 
bewirkt  die  Häufigkeit  der  Wiederholung  einer  Tätigkeit  wie  eines 
Bindruckes  (der  selber  Tätigkeit  ist),  weil  sie  die  Bahnen  glättet  und 
erweitert,  die  Reibungen  abschwächt,  also  auch  die  Anstrengungen, 
den  Aufwand  an  Energie,  der  zu  solcher  Tätigkeit  erfordert  wird, 
vermindert;  es  ist  das  Gesetz  der  Sparsamkeit  (der  »Ökonomie«), 
was  die  Seele  beherrscht  und  das  Leben  bedingt ;  die  Bewegung  erfolgt 
in  der  Richtung  des  geringsten  Kraftmaßes  oder  der  leichtesten  Arbeit ; 
intellektual-psychologisch  heißt  das:  es  bildet  sich  die  Vorstellung 
von  dem  Richtigen,  dem  Guten,  nicht  mehr  allein  aus  dem  Gefallen 
heraus,  sondern  auch  aus  der  Gewohnheit,  bald  auch  gegen  das  un- 
mittelbar Gefallende,  weil  das  Gewohnte  in  einer  besonderen  Weise, 
mittelbar,  gefällt  und  gewollt  wird;  für  die  Erkenntnis  gehört  das 
Gewohnte  als  Stück  oder  Teil  zu  einem  Ganzen,  wird  innerhalb  dessen 
als  natürlich  und  notwendig  empfunden  und  gedacht :  an  dem  Ganzen 
fehlt  etwas,  es  ist  eine  Lücke  vorhanden,  wenn  das  Gewohnte  nicht 
da  ist  —  das  Mißfallen  daran  ist  gleichartig  mit  dem  Mißfallen  an 
Disharmonie  in  Tönen,  Farben,  Urteilen.  Darum  fordert  sozusagen 
das  Gewohnte  sein  Recht,  es  wird  zum  Maß,  zur  Richtschnur,  zur 
Norm;  die  Wörter  Regel  und  regelmäßig  bezeichnen  den  Übergang 
der  Vorstellung  des  Gewohnten,  Häufigen  zu  der  des  Geheischten, 
Seinsollenden,  die  eine  unermeßliche  Bedeutung  im  Leben  des  Ein- 
zelnen wie  im  sozialen  Leben  hat.  Im  sozialen  Leben  ist  es  der  Brauch 
und  als  Gesamtausdruck  die  Sitte,  die  so  als  maßgebende  Macht  auf- 
tritt. Sie  bestätigt  und  befestigt  die  natürliche,  ursprüngliche,  von 
selbst  verständliche  Ordnung,  also  Über-,  Unter-  und  Nebenord- 
nungen, wie  sie  aus  den  gegebenen  Beziehungen  und  Verhältnissen 
sich  ergeben;  sie  bewirkt  aber  auch,  daß  gewohnte  Ordnung,  selbst 
wenn  sie  davon  abweicht,  als  natürlich  und  notwendig  erscheine.  Wie 
Gewohnheit  eine  zweite  Natur  und  als  Gesinnung  eine  erhöhte  Natur, 
so  ist  Sitte  gleich  der  Eintracht  in  zweiter  Potenz.  So  erwächst  aus  der 
Sitte  das  Recht,  das  als  Gewohnheitsrecht  ein  allmählich  verstärktes 
und  vermehrtes  Gebilde  des  Volksgeistes  ist.  Wie  die  alte  Sitte  bessere 
Sitte  und  um  so  ehrwürdiger,  so  ist  in  einer  gemeinschaftlichen  Kultur 
auch  das  alte  Recht  besseres  Recht,  gutes  Recht,  richtiges  Recht  — 
auch  für  das  objektive  Recht  galt  im  »Mittelalter«  das  Alter  als  wichtigste 
Orundeigenschaft  (F.  Kern,  Historische  Zeitschrift,  3.  F.,  24.  Bd., 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Rationai^e  und  irrationai^e  Formen  usw.     69 

I.  H.,  S.  3)  und  die  zweite  wesentliche  Eigenschaft  des  Rechtes^  daß 
es  gut  sei,  ist  mit  jener  »eng  verschwistert,  fast  zusammenfallend« 
(das.  S.  6).  Recht  wird  aber  die  Sitte  durch  den  Richter;  sie  bindet 
den  Richter  und  macht  ihm  zur  Pflicht,  so  zu  richten,  wie  es  dem  Her- 
kommen gemäß  ist,  wie  es  die  Vorfahren  für  recht  und  billig  gehalten 
haben.  Es  sei  denn,  daß  die  Götter,  die  höher  sind  als  die  Vorfahren, 
oder  daß  der  Gott,  aus  dem  alles  Gute  und  also  auch  das  Recht  sich 
herleitet,  anderes  erlaubt  oder  sogar  heischt.  Hier  tritt  die  dritte  der 
Potenzen  ein,  die  das  soziale  Leben  regeln  und  bestimmen. 

Im  individuellen  Geiste  ist  es  der  Gedanke,  das  Urteil,  die  Brinne- 
rimg  —  als  Kraft  und  Fähigkeit  das  Gedächtnis:  mit  Gewohnheit 
unlösbar  zusammenhängend,  unmerklich  daraus  hervorgehend,  ge- 
langt es  doch  zu  selbständiger  Wirkung  vermöge  der  Erfahrung,  die 
selber  der  Gewohnheit  gleichartig  ist.  Erfahrung  lehrt  oft,  daß  das 
aus  Impulsen  hervorgehende,  oft  auch,  daß  das  gewohnte  Handeln 
Schmerzen  und  Schaden  im  Gefolge  hat;  Gedächtnis  schreibt  daher 
vor,  es  zu  vermeiden;  Gedächtnis  macht  auch,  daß  das  Ungewohnte, 
ja  das  ursprünglich  Mißfallende  in  seinem  Werte  erkannt  wird.  Das 
Denken  ist  für  den  Menschen  die  höchste  Instanz,  die  Erkenntnis 
ist  für  sein  Wollen  der  lyeitstern,  daher  Gedächtnis  selber  ein  all- 
gemeiner Wüle,  ein  maßgebender  Wille.  Und  sein  Gesamtausdruck 
ist  das  Gewissen  —  organisches  Bewußtsein  dessen,  was  an  und  für 
sich  gut  und  böse,  daher  zu  erstreben  und  zu  fliehen,  wie  auch  immer 
es  sich  zum  Gewohnten  oder  Ungewohnten,  zum  unmittelbar  Gefallen- 
den oder  Mißfallenden  verhalte.  Ein  analoger  Gesamt ausdruck  des  so- 
zialen Willens  ist  Religion,  die,  in  Sitte  und  Eintracht  beruhend, 
auf  beide  gestaltend,  umgestaltend  zurückwirkt.  Religion  ist  hier 
nicht,  oder  doch  nicht  zunächst,  gemeint  als  eine  Gesamtheit  von  Vor- 
stellungen und  Gedanken,  die  sich  auf  unsichtbare,  zumeist  nach 
Art  von  Menschen  gedachte  Wesen  beziehen,  denen  übernatürliche 
Kräfte  und  Wirkungen  auf  die  Natur  zugeschrieben  werden,  Wesen, 
die  man  erzürnen  und  kränken,  aber  auch  versöhnen  und  gnädig 
stimmen  kann,  die  man  anfleht,  denen  Dank  gebührt;  sondern  Re- 
ligion wird  verstanden  als  der  gemeinsame  und  verbindliche  Wille 
einer  Gemeinde,  eines  Volkes  oder  einer  unbestimmten  Menge  von 
Menschen,  ein  Wüle,  dessen  unmittelbarer  Gegenstand  ist,  jene  vor- 
gestellten Wesen  zu  ehren,  ihnen  zu  dienen,  also  auch  sie  zu  versöhnen 
und  gnädig  zu  stimmen,  zu  ihnen  zu  beten  und  ihnen  für  ihre  Gunst 
zu  danken,  also  ihnen  Opfergaben  darzubringen  und  ihre  vorgestellten 
Wünsche,  Befehle,  Gebote  zu  erfüllen.  Diese  sind  Gesetze,  denen  man 
gehorchen  soll  und  will  —  heilige,  ewige,  unverbrüchliche  Gesetze, 
nicht   durch  Menschen  hergestellt,  also  auch  durch  Menschen  zer- 


yo  BEGRIFF  UND  Theorie  der  öffentlichen  Meinung. 

Störbar,  sondern  selber  göttlichen  Wesens,  göttlichen  Rechtes,  also 
über  menschliche  Schwachheit  erhaben.  Sie  erheben  sich  sogar  über 
das,  was  durch  Eintracht  und  durch  Sitte  festgesetzt  ist,  wenn  sie 
auch  zumeist  sich  daran  anschmiegen  und  es  bestätigen :  Natur  und 
Herkommen  werden  auch  von  den  Göttern  geachtet,  die  selber  ihr 
Dasein  und  ihre  Heiligkeit  diesen  noch  fester  begründeten  Mächten 
verdanken.  Ihr  eigentümliches  Gebilde  ist  die  Moral,  wie  das  der 
Eintracht  die  Ordnung  des  täglichen,  häuslichen,  wirtschaftlichen 
Lebens,  das  der  Sitte  das  Recht  des  Bodens  und  der  Landesgenossen, 
welches  der  Richter  zu  finden  und  zu  erkennen  hat.  Auch  Religion 
spricht  da  mit:  sie  heüigt  die  natürliche  Ordnung  wie  das  Recht, 
das  Ursprüngliche,  Uralte,  ist  auch  das,  was  die  Götter  wollen,  sie 
sprechen  durch  den  Mund  des  Hausvaters,  des  Heerführers,  wie  durch 
den  Mund  des  Richters,  wenn  auch  am  meisten  und  unmittelbarsten 
durch  den  ihres  Stellvertreters,  des  Priesters,  dessen  Amt  mit  jeder 
anderen  Führ  er  rolle  verbunden  sein  kann,  aber  mehr  oder  minder,  je 
nach  anderen  Beschaffenheiten  des  Kulturzustandes,  alle  an  Würde 
und  Bedeutung  überragt.  Die  Götter  —  und  also  die  Priester  —  wollen 
gleich  anderen  Lebewesen,  zuerst  und  vor  allem,  sich,  sie  wollen 
erkannt,  geglaubt,  anerkannt  werden,  wollen  auch  gefürchtet  werden 
als  mächtig,  übermächtig,  allmächtig  —  Furcht  und  Ehrfurcht  zu 
erregen  ist  Vorbedingung  für  die  Erlangung  des  beständigen  treuen 
Gehorsams,  den  sie  für  ihre  Gebote  in  Anspruch  nehmen,  und  für  Er- 
langung der  Opfergaben,  die  daraus  fUeßen.  Aus  dem  Wert,  den  sie 
auf  die  richtigen  angemessenen  Gefühle  legen  muß,  folgt  unmittel- 
bar die  Schätzung  des  richtigen  Denkens,  des  richtigen  Glaubens. 
Dieser  versteht  sich  zunächst  schlechthin  von  selbst,  er  wird  aber  durch 
altes  Herkommen,  Überlieferung,  Sitte  gestärkt,  befestigt,  vertieft 
und  endlich  sogar  begründet,  erklärt,  wahrscheinlich  gemacht:  es 
entsteht  eine  Lehre  und  Wissenschaft  von  den  göttlichen  Dingen  — 
die  Theologie  —  worin  der  Gott  selber  sich  offenbart,  deren  Kenntnis 
er  daher  seinen  geweihten  Dienern  zur  Pflicht  macht.  Lehrsätze, 
die  das  Dasein  und  Walten  der  Gottheit  behaupten  \md  beschreiben, 
werden  wie  Lehrsätze  der  Mathematik  bewiesen,  obschon  zugleich  der 
grundlose,  vertrauende  Glaube  geheischt  wird.  Die  Religion  stellt 
immer  die  Frömmigkeit  an  die  Spitze  ihrer  moralischen  Vorschriften, 
und  nur  in  ihrem  Glauben  läßt  sie  die  wahren  Tugenden  gedeihen. 
22.  (Formen  des  Kollektivwillens,  B.  Konvention  —  Gesetzgebung  — 
öffentliche  Meinung.)  In  der  Erfahrung  ist  keine  Gesittung  anzu- 
treffen, deren  positives,  friedliches,  also  soziales  Wesen  nicht  durch 
diese  großen,  die  Gefühle  und  Gedanken  beherrschenden  Mächte  ge- 
meinsamen und  verbindenden  Willens:   Eintracht,   Sitte,   Religion, 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Rationale  und  irrationai^e  Formen  usw.     71 

ausgedrückt  und  erfüllt  würde.  Aber  dieselben  Mächte  sind  wie 
alles  Lebende,  fortwährenden  Widerständen,  Störungen,  Anfechtungen 
ausgesetzt,  sie  können  nur  im  Kampfe  sich  behaupten,  vor  allem  im 
Kampfe  gegen  Zwietracht,  Un-Sitte  —  wenn  als  solche  der  Abfall 
vom  Hergebrachten  verstanden  wird  — ,  Unglauben,  antisoziale 
Mächte,  die  sie  unablässig  bedrohen.  Aus  und  neben  diesen  Mächten 
setzen  sich  aber  auch  besondere  neue  soziale  Gebilde,  Willensgebilde, 
die  in  gleicher  Richtung  wie  Eintracht,  Sitte,  Religion  wirken  wollen, 
sie  abzuändern  und  zu  ersetzen  fähig  sind  und  sich  anheischig  machen 
imd  in  Wahrheit  denselben  kollektiven  Willen  in  rationaler  Verschie- 
bung —  Kürwille  anstatt  Wesen wille  —  darstellen.  Denn  sie  ent- 
springen der  zerteilenden,  auflösenden  Vernunft  und  dem  zweck- 
mäßigen Denken,  das  im  menschlichen  Individuum  den  Kürwillen 
begründet.  Auch  sie  wollen  das  Gebahren,  das  Handeln,  das  Denken 
des  Einzelnen  beschränken,  bestimmen,  bedingen,  wollen  Ordnung, 
Recht,  Moral  schaffen,  treten  also  in  Wettbewerb  mit  jenen  älteren, 
gemeinschaftlichen,  im  sozialen  Wesenwillen  beruhenden  Kräften 
und  sind  ihnen  in  bezug  auf  äußere  Wirkungen  weit  überlegen.  Sie 
bleiben  aber  zugleich  von  ihnen  abhängig:  wenn  wir  sie  begrifflich 
,  bestimmen  mögen  und  müssen,  als  ob  sie  ganz  und  gar  auf  eigenen 
Füßen  zu  stehen  und  für  sich  allein  das  soziale  Leben  zu  beherrschen 
vermöchten,  so  sind  sie  in  der  Erscheinung  nur  erfaßbar  als  Bewe- 
gungen und  Entwicklungen  von  Eintracht,  Sitte,  Religion  her,  als 
immer  durch  sie  mitbedingt,  als  ihre  Verneinungen,  die  doch  von 
ihnen  getragen  bleiben.  Wir  stellen  sie  zunächst  in  Begriffen  dar 
als  I.  Konvention,  2.  Gesetzgebung,  3.  öffentliche  Meinung. 

Wenn  die  Großräumigkeit  —  um  diesen  Begriff  von  Emmerich 
Schubert^)  zu  entlehnen  —  alles  Gemeinschaftliche  gefährdet  und 
erschwert,  so  ist  in  dem  mannigfachen  und  zerstreuten  Nebeneinander- 
leben der  großen  Stadt,  wie  der  weit  ausgebreiteten  Nation,  wenig 
Eintracht  zu  erwarten.  Wettbewerb  und  Wettstreben  entwickeln 
sich,  die  Verallgemeinerung  des  Tausches  erregt  Tauschgegnerschaften, 
Verträge  werden  leicht  strittig,  der  Handelsegoismus  bildet  sich  aus, 
das  materielle  Interesse  tritt  in  den  Vordergrund  und  wird  auch  maß- 
gebend für  neue  und  besondere  Verbindungen  der  Menschen  und 
Menschengruppen,  Stände  und  Schichten,  ganze  Klassen  grenzen 
sich  schärfer  gegeneinander  ab,  der  Stände-  und  Klassenkampf  ent- 
spinnt sich  zwischen  ihnen.  Zuvörderst  aber  ist  es  die  obere,  die 
herrschende  Klasse,  die  sich  als  solche  versammelt  und  konsolidiert 
und,  da  sie  schon  aus  bewußteren,  ausgeprägteren  Individuen  be- 
steht, ihr  gemeinsames  Interesse  erkennt  und  zur  Geltung  bringt. 
>)  Koltni  und  Volkswirtschaft.     Heidelberg  1918. 


72  Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  Meinung. 

Sie  bedarf  eines  Kriteriums  der  Zugehörigkeit  zu  ihr,  ein  solches  ist 
zunächst  etwa  der  Geburtsädel,  der  Patriziat  oder  der  geistliche 
Herrenstand,  je  mehr  aber  die  Klasse  sich  erweitert,  um  so  mehr 
macht  sie  andere  Kennzeichen  notwendig:  die  Kleidung,  die  Sprech- 
und  Redeweise,  das  Benehmen,  die  Umgangsformen,  einen  gewissen 
Schliff  der  wissenschaftlichen  Bildung  —  lauter  Merkmale,  die  mit 
der  Gemeinschaft  der  Sprache,  insbesondere  der  heimatlichen  Mund- 
art, der  Landessitte  und  auch  der  Religion  nicht  notwendig  verbunden 
sind.  Die  Bedeutung  dieser  Gemeinsamkeiten  tritt  daher  zurück: 
in  der  »Gesellschaft«  ist  man  mit  seinesgleichen  zusammen,  auch 
wenn  diese  sonst  Fremde  und  ihrer  eigenen  Volkssitte  entfremdet 
sind,  auch  wenn  sie  einer  anderen,  sonst  vielleicht  verabscheuten,  Reli- 
gion angehören  oder  die  Religion  überhaupt  verleugnen.  Bis  dahin 
gibt  es  aber  manche  Zwischenstufen:  der  Schein  der  richtigen  und 
also  der  gleichen  Religion  kann  auch  für  die  Gesellschaft  von  hohem 
Werte  sein  und  als  Kennzeichen  der  Güte  gelten;  ebenso  können  die 
gesellschaftlichen  Formen  der  Landessitte  bedeutende  Elemente 
entlehnen  und  Anpassungen  an  den  Brauch,  wie  er  nun  einmal  fest- 
gesetzt ist,  verlangen.  Maßgebend  ist  jedenfalls  das  gesellschaftliche 
Belieben,  die  stillschweigende  oder  ausdrückliche  Übereinkunft,  die 
»Konvention«.  Wie  die  Konvention  in  dem  sozusagen  häuslichen  — 
am  meisten  im  höfischen  —  Kreise  der  Gesellschaft  ein  gesittetes,  an- 
ständiges, feines,  also  unanstößiges  und  rücksichtsvolles  Betragen 
fordert,  so  verlangt  sie  in  der  kommerziellen  Gesellschaft  auch  den 
guten  Verkehrswillen,  der  sich  in  Einhaltung  von  Versprechungen, 
»Kulanz« ,  d.  h.  flüssiger  Gefälligkeit,  insbesondere  der  Gegen- 
leistung und  Promptheit,  d.  h.  rascher  Beförderung  und  Erfüllung  kund- 
gibt. Das  alles  verträgt  sich  sehr  gut  mit  vollkommener  Fremdheit 
und  Gleichgiltigkeit  gegen  das  wirkliche  Wohl  und  Wehe  des  anderen. 
So  setzt  auch  die  Artigkeit  und  Höflichkeit,  das  korrekte  Benehmen,  ja 
die  scheinbare  Herzlichkeit  und  innige  Teilnahme,  wo  die  Formen 
solcher  Art  vorgeschrieben  sind,  durchaus  keine  freundliche  Gesinnung 
voraus,  kann  sogar  mit  feindseliger  verbunden  sein.  Alle  Regeln 
dieser  Art  wollen  aber  zunächst  zwar  in  dem  engeren  Kreise  der 
(guten  oder  kommerziellen  oder  bürgerlichen)  Gesellschaft  beobachtet 
werden,  nehmen  aber  ihrem  Wesen  nach  allgemeine  Gültigkeit  in 
Anspruch.  Besonders  charakteristisch  ist  in  dieser  Hinsicht  das  eigen- 
tümliche Gebilde  der  Konvention:  die  Mode.  Sie  will  schlechthin 
maßgebend  sein  und  gelten;  was  ihr  gemäß  ist,  was  sie  diktiert,  be- 
hauptet schön,  elegant,  zeitgemäß,  richtig,  ja  wahr  zu  sein  —  und 
doch  schnürt  sich  der  Kreis  derer,  die  sie  genau  beobachten  und  genau 
kennen,  als  solcher  von  der  großen  Menge,  vom  Pöbel  ab,  darum 


Gemeinsamk  Meinungen.  —  Rationai^e  und  irrationai^e  Formen  usw. 


73 


nennt  R.  von  JherinG  sie  die  unausgesetzt  von  neuem  aufgeführte, 
weil  stets  von  neuem  niedergerissene  Schranke,  durch  welche  die 
vornehme  Welt  insbesondere  von  der  mittleren  Region  der  Gesell- 
schaft (denn  die  untere  sei  von  vornherein  ausgeschieden)  sich  abzu- 
sperren ringe.  Die  Satzungen  der  Mode  erstrecken  sich  auf  das  ganze 
Gebiet  des  äußeren  Betragens,  der  Handlungen  und  der  Denkweisen, 
aber  das  äußere  Betragen  unterliegt  ihnen  in  der  am  wenigsten  ein- 
geschränkten Weise.  Dazu  gehört  auch  die  Art  sich  zu  kleiden, 
und  weil  hier  die  Neuheit  das  ist,  was  am  meisten  auszeichnet,  und  weil 
zur  allgemeinen  Standeseitelkeit  die  weibliche  Eitelkeit  hinzukommt, 
so  ergehen  sich  in  der  weiblichen  Kleidung  die  »lyaunen«  der  Mode 
am  freiesten,  so  daß  der  Wechsel  selber  zum  Gebot  wird.  Aber  zum 
Wesen  der  Mode,  nach  deren  wissenschaftlichem  Begriff,  gehört  ihre 
Wandelbarkeit  tfnd  Launenhaftigkeit  nicht,  sie  kann  auch  dauernde 
Formen  —  wenigstens  für  »Herren«  — annehmen,  wie  es  etwa  die  Vor- 
schrift des  schwarzen  Frackes  als  Festgewandes  (in  England  aus- 
schließlich als  Abendkleid)  seit  mehr  als  einem  Jahrhundert  geworden 
ist,  wenn  auch  der  Schnitt  der  Mode  unterliegt;  aber  zumeist  unter- 
scheidet allerdings  der  häufige  Wechsel,  das  Streben  nach  Neuheit,  die 
Mode  von  der  Sitte  —  die  ebenfalls  charakteristisch  in  »Trachten«  der 
Kleidung  sich  geltend  macht  — ,  denn  die  Sitte  ist  um  so  mehr  Sitte,  je 
mehr  sie  altüberliefertes  Herkommen  darstellt ;  die  Mode  ist  um  so  mehr 
Mode,  je  mehr  sie  den  allerneuest en  Geschmack  wiedergibt  und  also  als 
»Laune«  auftritt.  Gleichwie  von  den  Launen  der  Mode,  so  spricht  man 
von  gesellschaftlichen  und  im  gleichen  Sinne  von  »konventionellen« 
Lügen:  die  Verabredung  und  Einigung  über  das,  was  gegenseitig  und 
gemeinsam  nützlich,  ist  notwendig  gleichgültig  gegen  Wahrheit  und 
Unwahrheit  dessen,  was  sie  gelten  lassen  will  und  behauptet,  wird 
sich  daher  ohne  Bedenken  auch  dazu  verstehen,  das  gelten  zu  lassen, 
wovon  sie,  d.  h.  »man«,  weiß  oder  doch  denkt,  daß  es  unwahr  und  un- 
richtig ist;  das  Richtige  im  Sinne  des  Zweckmäßigen  überwindet  das 
Richtige  im  Sinne  des  Wahren  und  Wirklichen.  —  Durch  Konven- 
tion geregelt,  daher  vielfach  der  Mode  unterworfen,  ist  im  Zustande  der 
»Gesellschaft«  wesentlich  die  gesamte  Ordnung  des  Lebens,  wozu 
die  Formen  des  »täglichen  Lebens«  gehören,  und  insbesondere  die 
des  geselligen  Zusammenlebens  und  Verkehrens,  das  ganz  eigentlich 
vom  einträchtigen  in  Familie  und  Freundschaft  zum  konventionellen 
der  großen  Welt  —  der  Höfe,  der  Salons,  des  Kosmopolitismus  — 
sich  entwickelt.  Eine  andere  —  allgemeinere  und  wesenhaftere  —  Seite 
des  täghchen  Lebens  gcscllschafthcher  Art  stellt  aber  das  wirtschaft- 
liche Leben  dar,  insofern  als  es  im  Austausch  und  Feilschen  des  Mark- 
tes besteht,  und  seine  höchste  Steigerung  im  kapitalistischen  Waren- 


74  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

und  Geldhandel  wie  in  der  kapitalistischen  Waren-  und  Dienste- 
produktion erfährt.  Hier  ist  in  Konvention  gegründet  die  gesamte 
Eigentumsordnung  und  die  Regeln  für  ihre  Veränderungen,  die 
Usancen  des  Handels,  die  Assoziation  der  gemeinsamen  und  einander 
bekämpfenden  Interessen.  Aber  nächst  der  allgemeinen  Ordnung  wird 
auch  das  darin  beruhende  Recht  und  die  von  beiden  abhängige  Moral 
in  vielen  Stücken  »konventionell«.  Sitte  und  Religion  erstarren  in 
der  Konvention,  indem  sich  die  Formen  von  den  Inhalten  scheiden 
und  von  der  Konvention  aufgenommen  werden,  die  gegen  die  Inhalte 
gleichgültig  ist  und  sie  absterben  läßt.  Im  System  des  gesellschaft- 
lichen Rechtes  ist  es  alles  Recht,  das  nicht  durch  Gesetzgebung  und 
hinter  ihr  wirksamen  Zwang  bestimmt  wird,  also  das  Staatsrecht  — 
die  rationahstische  Theorie  vom  Staatsvertrag,  wie  sie  Hobbks  ent- 
worfen hat,  als  eines  Vertrages  zwischen  Individuen,  4urch  Rousseau 
vergröbert  —  und  das  Völkerrecht,  wo  die  Stelle  der  souveränen  In- 
dividuen durch  souveräne  Staaten  vertreten  wird.  Im  System  der 
gesellschaftlichen  Moral  ist  zunächst  die  »kleine«  Moral,  die  der 
Umgangsformen  mit  den  Gesetzen  der  Höflichkeit  schon,  als  zur 
Ordnung  des  täglichen  und  geselHgen  I/cbens  gehörig,  vorweggenom- 
men. Es  gibt  aber  in  der  gesellschaftlich  geltenden  und  anerkannten 
»größeren«  Moral,  ein  bedeutendes  Gebiet,  das  an  diese  kleine  Moral 
angrenzt  und  wie  sie  wesentlich  durch  Konvention  bestimmt  wird  — 
nämlich  die  Regeln  des  sogenannten  Ehrenkodex,  die  ihrem  ganzen 
Zuschnitt  nach  auf  die  Ausschließlichkeit  der  höheren  gesellschaft- 
lichen Schichten  berechnet  sind  und  mit  der  »Standessitte«  verwandt 
sind,  aus  der  sie  sich  historisch  entwickeln  i). 

Das  Recht  findet  aber  seine  ausgesprochene  gesellschaftliche 
Gestaltung  durch  den  sozialen  Willen,  der,  im  »Staate«  sich  darstellend, 
als    zielbewußte    zweckmäßig   gerichtete  Gesetzgebung  begriffen 


1)  In  der  englischen  Wochenschrift  »  The  New  Statesman^  war  während  des  Welt- 
krieges (27.  II.  1915)  ein  Artikel  zu  lesen,  der  über  »Scham«  handelte.  Bs  heißt  darin: 
„Niemand,  der  durch  Gesclmiacklosigkeit  oder  aus  einem  andern  Grunde  bewirkt, 
daß  wir  uns  ihm  überlegen  fühlen,  kann  hoffen,  unsere  Schamempfindung  zu  erregen. 
Scheinbar  wird  das  widerlegt,  wenn  man  bemerkt,  daß  I^eute,  die  auf  ihresgleichen 
mit  grenzenloser  Verachtung  blicken,  gleichwohl  sich  schämen  würden  mit  einem 
Kragen  gesehen  zu  werden,  dessen  Form  die  öffentliche  Meinung  des  Augenblickes  nicht 
für  sich  hat.  Aber  dies  bedeutet  nur,  daß  öffentliche  Meinung  eine  Sache  ist,  die 
Individuen,  die  das  Publikum  bilden,  eine  andere.  Die  Meinung  unseres  Nächsten  als 
Individuums  ist  etwas,  dem  wir  eine  lange  Nase  machen  mögen.  Etwas  ganz  anderes, 
nämlich  etwas  weit  bedeutenderes  und  furchtbareres  ist  seine  Meinung,  sofern  er 
ein  Repräsentant  des  Menschengeschlechts:  als  solcher  wird  er  der  ideale  Zu- 
schauer, und  wenn  uns  mißlingt,  dessen  Billigung  zu  finden,  so  scheint  das  beinahe 
das  schlimmste  Übel  zu  sein,  das  uns  zustoßen  kann  .  .  .  Der  ideale  Zuschauer  kann 
Gott,  oder  das  Gewissen,  oder  das  Vaterland,  oder  unsere  Nachbarn,  unsere  Freunde, 
unsere  Schule  sein." 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Rationai^e  und  irrationai^e  Formen  usw.     75 

wird,  d.  i.  eine  Gesetzgebung,  die  nach  einem  vorgestellten  und  vor- 
gezeichneten Plane  die  sozialen  Wechselbeziehungen  regelt,  also  das 
Verhalten  von  Personen  zu  Personen  und  das  Verhältnis  der  Per- 
sonen zu  Sachen  im  allgemeinen  und  für  besondere  Fälle  festsetzt, 
also  innerhalb  des  Verhältnisses  der  gesetzgebenden  Faktoren  — 
seien  es  die  Gesamtheiten  selber  oder  deren  Ausschüsse  —  zu  den  In- 
dividuen und  deren  Gruppen :  das  Personenrecht,  das  Sachenrecht  und 
—  als  die  am  meisten  charakteristische  Gestalt  —  das  Obligationen- 
recht  so  bestimmt,  wie  es  der  Gesetzgeber  für  die  größte  mögliche 
und  so  sehr  als  möglich  dauernde  Wohlfahrt  »aller«  für  notwendig 
oder  doch  für  ersprießlich  erachtet.  Der  Gesetzgeber  hat  hier  zunächst 
immer  mit  den  überkommenen,  in  Sitte  und  Religion  verwurzelten 
Einrichtungen  und  Begriffen  sich  auseinanderzusetzen,  um  so  mehr 
dagegen  zu  kämpfen,  je  mehr  er  ausschließlich  von  jener  Absicht 
auf  Erfüllung  eines  Zweckes  sich  leiten  läßt  —  je  mehr  er  mithin  frei 
umgestaltender,  ein  »revolutionärer«  Gesetzgeber  ist.  Je  mehr  die 
gemeinschaftlichen  Willensmächte  noch  stark  sind  und  ihre  Kräfte 
anstrengen  um  sich  zu  wehren,  um  so  mehr  muß  er  sich  ihnen  anpassen 
und  sich  genügen  lassen,  das  Recht,  wie  sie  es  geschaffen,  umdeutend 
oder  wettbewerbend  abzuändern  oder  abzuschwächen;  je  mehr 
ihre  Kräfte  abnehmen,  ihre  Anstrengungen  erlahmen,  um  so  erfolg- 
sicherer kann  er  umgestaltend,  neuernd,  revolutionierend,  seinen 
Gedanken  und  Willen  zur  Geltung  bringen;  ob  dieser  von  ihm  ver- 
tretene soziale  Wille  —  der  Idee  nach  Wille  einer  Gesamtheit  —  in 
roher  Wirklichkeit  der  Wille  einer  Minderheit  oder  einer  Mehrheit 
ist;  auch  wo  dem  Schein  und  der  Form  nach  eine  Mehrheit;  ist  der 
gebüdete  Wille  doch  der  Wille  der  Gebildeten,  d.  i.  Weniger,  aber  er 
wird  um  so  sicherer  wirken,  je  mehr  er  eine  Massenstimmung,  Massen- 
wünsche, Massenstrebungen  hinter  sich  hat.  In  der  Wirklichkeit  un- 
serer neueren  Geschichte  hat  in  diesem  Sinne  zuerst  in  großem  Stile 
der  fürstliche  Absolutismus  mit  seinen  Ratgebern  und  Kreaturen, 
seinen  Generalen,  Bischöfen,  Günstlingen  und  Ministern,  sich  geltend 
gemacht;  der  Fürst  als  Repräsentant  des  Staatsgedankens,  der  seine 
Lebenszwecke  und  die  seiner  Dynastie  mit  den  Lebensnotwendig- 
keiten  des  werdenden  Staates  und  diese  mit  denen  der  sich  ent- 
wickelnden Gesellschaft  gleich  erkennt  und  gleichsetzt.  Die  vom 
Staate  und  die  von  der  Gesellschaft  ausgehenden  Strömungen  steigern 
einander  gegenseitig,  weil  sie  in  der  Lösung  gemeinschaftlicher  Bande, 
also  in  Entfesselung  der  Individuen  sich  begegnen,  sofern  und  so  lange 
als  sie  nicht  wider  einander  wirken,  wie  es  mehr  und  mehr  dadurch 
geschieht,  daß  der  Staat  die  Individuen  zwar  »befreien«,  aber  zu- 
gleich  regulieren   und   beschneiden   will,   die   Gesellschaft  ihrerseits 


76  Begriff  und  Kritik  der  öffentwchen  Meinung. 

den  Staat  von  sich  abhängig  erhalten  und  ihn,  den  Herrscher,  be- 
herrschen will.  Der  Staat  steht  selber  in  der  Gesellschaft,  durch  sie 
bedingt  und  getragen,  insbesondere  der  Finanzstaat  durch  seine 
Steuerzahler  und  durch  seine  Gläubiger,  und  je  mehr  die  verwaltende, 
kapitalmächtige  Klasse  der  Staatsbürger  Einfluß  auf  ihn  gewinnt  und 
die  gesetzgebende  Gewalt  sich  anzueignen  vermag,  um  so  deutlicher 
wird  der  Staat  zum  Hüter  einer  Gesellschaftsordnung,  die  als  schlecht- 
hin natürliche  und  notwendige  sich  darstellt,  vor  Vernunft  und 
Wissenschaft  gerechtfertigt,  wenn  auch  von  Eintracht,  Sitte  und 
Religion  vielfach  angeklagt,  zuweilen  verachtet.  Teils  aus  der  staat- 
lich anerkannten  Praxis  des  I^ebens  und  der  Rechtsprechung,  teils 
durch  unmittelbare  Gesetzgebung,  ist  so  das  System  des  unbeschränk- 
ten Privateigentums  und  der  vollkommenen  Vertragsfreiheit  erwachsen, 
das  jedoch  nur  in  fortwährendem  Konflikt  mit  den  überlieferten 
Lebensformen  wie  mit  den  Nöten  der  eigentumslosen  großen  Menge, 
deren  der  Staat  sich  niemals  gänzlich  erwehren  kann,  sein  Dasein 
findet.  In  der  bisherigen  —  neuzeitUchen  —  Erfahrung  ist  Gesetz- 
gebung immer  noch  —  wie  es  die  gesellschaftlichen  Abhängigkeiten 
fordern  —  unter  dem  Einflüsse  der  oberen  gesellschaftlichen  Schichten, 
und  zwar  so,  daß  diese  bald  miteinander  zusammen,  bald  auseinander 
und  widereinander  gehen,  demnach  auch  —  die  des  großen  Grund- 
eigentums, die  des  großen  industriellen,  die  des  großen  Handels- 
und Finanzkapitals  —  mehr  oder  minder  geneigt  sind,  mit  den  mitt- 
leren Schichten  und  sogar  mit  der  großen  besitzlosen  Menge  —  dem 
Proletariat  —  sich  zu  verbünden  und  ihren  Ansprüchen  gerecht  zu 
werden;  außer  daß  diese  auch  aus  eigener  Kraft  gegen  die  vereinte 
Macht  der  oberen  Schichten  sich  durchzusetzen  versucht.  Der  Ein- 
fluß und  Druck  des  Proletariats  ist  bekanntlich  im  Laufe  des  19.  Jahr- 
hunderts, besonders  in  dessen  letztem  Drittel,  durch  eine  »soziale« 
Gesetzgebung  zutage  getreten,  vermöge  deren  der  Staat  die  allgemeine 
Wohlfahrt  gegen  die  Privateigentümer  und  ihre  Gesellschaft  zur  Gel- 
tung zu  bringen  sich  genötigt  fand.  Dies  ist  bisher  fast  ausschließlich 
in  einem  aus  konservativen  und  liberalen  Tendenzen  gemischten 
Sinne  geschehen,  während  ein  großer  Gesamtversuch,  die  Gesellschaft 
und  Volkswirtschaft  nach  sozialistisch-kommunistischen  Gesichts- 
punkten zu  gestalten,  bisher  —  vielleicht  zum  Glücke  eines  solchen 
Versuches  —  nicht  gemacht  worden  ist;  wenn  man  nicht  etwa  das 
rohe  Experiment  einer  Diktatur  des  Proletariats  in  Groß-Rußland 
so  verstehen  will,  wo  bekanntlich  das  Proletariat  —  insofern  es  vom 
Bauerntum  unterschieden  wird  —  der  Zahl  nach  sehr  schwach  und 
in  geistig-moralischer  Entwicklung  am  meisten  zurückgeblieben  ist. 
Indessen  ist  die  Idee  einer  solchen  Gesetzgebung  das,  worin  sich 


Gemeinsame  IMeinungen.  —  Anwendung  für  öffentuche  Meinung. 


n 


deren  Begriff  erst  erfüllt;  sie  würde,  historisch  unbelastet,  aus- 
schließlich ihrem  rationalen  Zweckbewußtsein  folgen  und  radikal 
vollenden,  was  in  einigen  Stücken  der  absolutistische,  aber  in  seinen 
Spuren  auch  der  liberale  Staat  begonnen  hat:  die  Schaffung  einer 
Eigentumsordnung,  eines  bürgerlichen  Rechtes,  und  also  eines  so- 
zialen Zustandes,  worin  die  bisher  überwiegend  spontan  erwachsene 
Gesellschaft  wirklich,  nach  dem  Hegei,  sehen  Worte,  auf  den  Kopf, 
nämlich  auf  die  Vernunft  gestellt  würde.  Das  Prinzip  wäre:  Aus- 
schließung alles  Gewinn  erzielenden  Privateigentums,  Regelung  der 
Güterherstellung  ausscliließlich  nach  den  gemeinsamen  Bedürfnissen 
und  den  Bedürfnissen  der  Einzelnen,  Festsetzung  und  Normierung 
dieser  Bedürfnisse. 

öffentliche  Meinung  ist  der  geistigste  Ausdruck  des  gleichen 
Gemein  willens,  der  sich  in  Konvention  und  in  Gesetzgebung  dartut. 
Ihr  Subjekt,  das  also  der  Gesellschaft  und  dem  Staate  als  den  Sub- 
jekten jener  sich  anreiht,  mögen  wir  als  »das  Publikum«  oder  näher, 
sofern  es  sich  um  ein  wissendes,  gebildetes,  unterrichtetes  Publikum 
handelt,  als  die  »Gelehrtenrepublik«  bestimmen,  die  ihrem  Wesen 
nach  international,  doch  auch  als  die  nationale  geistige  Elite  über 
ein  Land  hin  verstreut  ist,  aber  in  den  Städten,  zumal  den  Groß- 
städten und  Bildungsstätten,  am  liebsten  in  den  Hauptstädten  sich 
versammelt  und  verdichtet;  sie  wird  auch  als  »die  Intelligenz«  oder 
»die  Intellektuellen«  nicht  selten  bezeichnet.  Man  kann  sie  füglich  als 
eine  ideelle  Ratsversammlung  verstehen,  die  durch  ihre  Beschlüsse 
Normen  gibt,  oder  treffender  —  wie  es  in  Wirklichkeit  oft  geschehen 
ist  —  als  einen  Gerichtshof,  dessen  Beschlüsse  oder  Erkenntnisse 
die  ideelle  Geltung  von  Richtersprüchen  für  sich  in  Anspruch  nehmen 
und,  obwohl  ohne  Beistand  einer  vollziehenden  Gewalt,  eine  Macht 
und  Kraft  der  Ehrung  wie  der  Entehrung,  der  Emporhebung  wie 
der  Vernichtung,  der  Verherrlichung,  wie  der  Verurteilung  darstellen, 
aber  auch  als  Freisprechungen,  als  Verschweigungen,  Duldungen 
zwischen  diesen  Grenzen  sich  bewegen  können.  Diese  Sprüche  oder 
Erkenntnisse  sind  die  öffentliche  Meinung  in  ihrer  flüchtigen 
—  ephemeren  —  Gestalt,  nach  der  sie  in  der  Regel  beurteilt  .wird. 

Dritter  Abschnitt.  Anwendung  für  öffentliche  Meinung. 

23.  (öffentliche  Meinung  und  Propaganda.)  Icli  schließe  nun 
ebenso  den  Begriff  der  öffentlichen  Meinung  an  den  Wy/xü  (kr  Ge- 
setzgebung an,  wie  den  Begriff  der  Religion  an  den  der  Sitte,  und  be- 
trachte die  öffentliche  Meinung  als  die  rationalisierte  Gestalt  der 
Religion,  insofern  als  beide  Formen  des  geistigen  und  nioralisclion  Kol- 
lektivwillens sind;  der  Begriff  aber  verhält  sich  zui;  1/  lir^  « 


yS  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

wie  der  Begriff  der  Religion  zum  Begriff  des  Glaubens,  wird  also  als 
eine  Ganzheit  gedacht,  worin  die  Einzelheit  aufgeht  wie  die  Einzelheit 
des  Brauches  in  der  Sitte,  die  Einzelheit  der  Satzung  in  der  Gesetz- 
gebung. So  verstanden  ist  öffentliche  Meinung  die  gemeinsame 
Denkungsart,  der  korporative  Geist  irgendwelcher  Gruppe  oder 
Verbindung,  sofern  sich  deren  Meinen  auf  Denken  und  Wissen, 
anstatt  auf  ungeprüften  Vorstellungen,  auf  Glauben  und  Autorität 
aufbauen  will,  wie  es  zunächst  und  am  einfachsten  in  Angelegenheiten 
des  täglichen  Lebens,  des  gemeinen  Nutzens  und  der  gemeinsamen 
und  verbindenden  Ideen  einer  sozialen  Schicht,  zumal  einer  solchen, 
die  bewußter  ihre  Interessen  wahrnimmt,  in  die  Erscheinung  tritt. 
Bestimmte  Begriffe  springen  daraus  hervor:  so  der  Begriff  der 
Ehre  als  des  Wertes  einer  Person  in  der  öffentlichen  Meinung  seines 
Standes,  seiner  Korporation,  folglich  auch  die  Begriffe  der  Standes- 
ehre, der  Berufsehre,  der  Ehre  einer  Korporation  oder  einer  Partei, 
als  des  gemeinsamen  Wertes  in  der  öffentlichen  Meinung  eines  größeren 
Kreises:  die  Ehre  ein  gemeinsames  Gut,  daher  Gegenstand  gemein- 
samen Interesses,  aber  zugleich  Gegenstand  des  sittlichen  Bewußt- 
seins. Ist  die  Gruppe  eine  religiöse  Gemeinde,  ein  Orden  oder  sonst 
ein  Kreis,  der  sich  durch  ein  mystisches  Band  verbunden  fühlt,  so 
ist  ihre  Ehre  gemeinschaftlich  und  ganz  im  verbindenden  Glauben 
und  dessen  Symbolen  beschlossen;  die  Lehre  entbindet  sich  vom 
Glauben,  indem  sie  als  Lehre  bewußter  wird  und  sich  einerseits  an 
Tatsachen,  andererseits  an  allgemeinen  Begriffen  mißt.  Die  Ehre 
wird  gesellschaftlich-konventionell,  und  die  öffentliche  Meinung  der 
Gruppe  bemißt  ihre  Ehrungen  nach  dem  Schein,  nach  Beobachtung 
äußerer  Formen,  und  vor  allem  nach  dem  Erfolge,  also  nach  Glanz 
und  Glück.  In  ausgesprochener  Weise  unterscheidet  sich  ferner 
die  öffentliche  Meinung  jeder  Gesamtheit,  je  nachdem  sie  nach  innen 
-oder  nach  außen  sich  richtet  —  nach  innen  ist  sie  etwa  noch  der  Re- 
ligion wesensverwandt,  nach  außen  viel  eher  und  ausschließlicher  auf 
den  —  gemeinsamen  —  Nutzen,  den  Vorteil  und  Gewinn,  den  Erfolg, 
auf  den  Sieg  im  Kampfe  oder  Wettstreit  abzielend.  Im  Kampfe  wie 
in  jeder  Not  entwickelt  sich  am  leichtesten  und  raschesten  der  Ge- 
danke, daß  jedes. Mittel  gut  und  redlich  sei,  das  dem  Zwecke  diene, 
daß  der  Zweck  die  Mittel  rechtfertige,  also  die  Überwindung  aller 
Gewissensbedenken  und  die  skrupellose  Politik  des  freien  imd  abso- 
luten Kürwillens.  Die  öffentliche  Meinung  kämpft  in  diesem  Sinne 
nicht  nur  mit,  sie  wird  zum  Vorkämpfer  und  muß  sich  verstärken,  ihre 
Waffen  schärfen  und  Anhänger  zu  gewinnen  suchen,  indem  sie  die 
eigene  Sache,  das  eigene  Interesse,  als  gleichzeitiges  Interesse  anderer, 
als  gemeinsame  Sache,  wenn  möglich  als  die  Angelegenheit  der  Mensch- 


Gemeinsame  Meinungen.  —  Anwendung  für  öffentwche  Meinung.     79 

heit  hinstellt  und  verkündet.  Die  objektive  Wahrheit  dessen,  was  aus- 
gesagt wird,  ist  dabei  ebenso  gleichgültig  wie  die  subjektive  Wahr- 
haftigkeit jedenfalls  zurücktritt  vor  der  bewußten  Verfolgung  des 
Zieles,  vor  der  agitatorischen  Absicht.  —  Die  Agitation  der  öffent- 
lichen Meinung  in  großem  Stil,  die  also  einen  Gedanken  ohne  Rück- 
sicht auf  seine  Wahrheit  und  Richtigkeit  auszubreiten  bestimmt  ist, 
wird  neuerdings  durch  den  Namen  der  »Propaganda«  ausgezeichnet, 
für  den  es  charakteristisch  ist,  daß  er  der  Praxis  einer  religiös- 
kirchlichen Behörde  entlehnt  wurde.  Ein  Autor,  der  in  allen  wesent- 
lichen Stücken  dem  modernen  Fortschritt  zugetan  ist  und  die  »demo- 
kratischen« Verfassungen  mit  vielen  Beweisgründen  verteidigt, 
nennt  die  unverantwortliche  Macht  in  den  Händen  derer,  die  das 
Volk  mit  dem  Stoffe  versehen,  den  es,  um  Menschen  und  Maßregeln 
zu  beurteilen,  nötig  habe,  eine  der  großen  Gefahren  aller  heutigen 
Demokratien.  „Jenes  Aussäen  von  Unwahrheiten,  falschen  Schluß- 
folgerungen, Anreizungen  zu  Gewalttat,  das  wir  Propaganda  zu 
nennen  gelernt  haben,  ist  ein  mächtigerer  Einfluß  unter  den  Massen 
in  großen  Ländern  geworden,  als  jemals  der  Demagoge  war  unter  den 
kleinen  Völkern  früherer  Tage*'  (Bryce,  Modern  democracies  II,  505). 
Und  derselbe  in  dem  Kapitel,  das  die  Macht  des  Reichtums  in  der 
Politik  darstellt:  eine  Form,  worin  sie  sich  fühlbar  mache,  scheine 
jeder  Regelung  zu  spotten.  „Das  ist  die  Fabrikation  (manufacture) 
öffentlicher  Meinung.  Eine  Gruppe  von  reichen  Leuten,  die  ein  be- 
stimmtes geschäftliches  Projekt  oder  Klasseninteresse,  sei  es  berech- 
tigt oder  gemeinschädlich,  verfolgen,  könne  sich  verbinden,  um  zu 
Gunsten  ihres  Interesses  oder  Projektes  eine  Propaganda  in  der 
Presse  ins  Werk  zu  setzen,  teils  durch  Flugschriften  und  Bücher, 
teils  dadurch,  daß  sie  auf  Zeitungen  Einfluß  gewinnen  oder  solche 
in  ihren  Dienst  zwingen,  so  daß  sie  das  Publikum  mit  Tatsachen  und 
Beweisgründen  nasführen,  die  ihren  Plänen  zugute  kommen  oder  eine 
Partei  fördern,  deren  Führer  insgeheim  für  die  Unterstützung  solcher 
Pläne  gewonnen  sind.  Eine  solche  Gruppe  kann,  durch  ihre  Herr- 
schaft über  die  Presse,  mit  Erfolg  ihre  Ansichten  einem  Publikum  auf- 
dringen, das  leicht  irregeführt  wird,  weil  immer  nur  eine  Seite  des 
Falles  unablässig  und  in  geschickter  Weise  ihm  vorgestellt  wird,  wäh- 
rend entgegenstehende  Erwägungen  entweder  totgeschwiegen  oder 
niedergeschrien  werden"  {ib.  530).  Und  an  früherer  Stelle,  wo  die 
offen thche  Meinung  in  den  Vereinigten  Staaten  betrachtet  wird: 
„Die  Kunst  der  Propaganda  ist  viel  studiert  worden  in  unserer  Zeit 
und  hat  eine  Vollkommenheit  erreicht,  die  ihre  Meister  in  den  Stand 
setzt,  durch  geschicktes  und  emsiges  Liefern  falscher  oder  einseitiger 
Darstellungen  diejenigen   zu   täuschen   und   irrezuführen,  die  nicht 


8o  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

die  Mittel  oder  nicht  die  Zeit  haben,  sich  selber  über  die  Tatsachen 
zu  vergewissern"  (1, 175).  Wir  werden  auf  diese  Zeugnisse  in  unserem 
letzten  Kapitel  —  über  die  öffentliche  Meinung  im  Weltkriege  — 
zurückzukommen  Gelegenheit  haben. 

24.  (Verhältnisse  der  sozialen  Willensformen  zueinander.)  Alle 
Formen  eines  Kollektivwillens  und  eines  sozialen  Willens  überhaupt 
sind  einander  verwandt  und  hängen  miteinander  zusammen.  Sie 
haben  alle  miteinander  gemein,  daß  sie  auf  die  in  ihnen  enthaltenen 
Einzelwillen  —  die  selber  Willen  irgendwelcher  Gesamtheiten  sein 
können  —  bestimmend  einwirken,  und  zwar  vorzugsweise  hemmend, 
beschränkend,  verwehrend.  Die  »Determinationen«  sind  vor  allem 
»Negationen«.  Sie  verwehren  die  Eigen  Willigkeit,  beschränken  die 
Freiheit.  Darum  werden  auch  ihre  Gegenwirkungen  gemieden  und  ge- 
fürchtet, die  sehr  mannigfach  sind:  von  Mißbilligung,  Tadel  bis  zu 
Ächtung,  Verurteilung,  Verbannung,  schweren  I^eibes-  und  I^ebens- 
straf en,  Brandmarkung  und  Tötung :  es  sind  die  Mittel,  durch  welche 
der  gemeinsame  Wille  seine  Überlegenheit  über  den  einzelnen  Willen 
kundgibt  und  bewährt,  wodurch  er  diesen  seine  Schwäche  fühlen  läßt, 
indem  er  die  eigene  Stärke  behauptet.  Wenn  aber  alle  gleichartig 
wirken:  so  folgt  daraus  keineswegs,  daß  sie  alle  im  gleichen  Sinne 
wirken;  oft  ist  es  der  Fall  und  in  lebenswichtigen  Bezügen,  oft  aber 
auch  findet  Widerspruch  und  Kampf  zwischen  den  verschiedenen 
Formen  statt,  insbesondere  zwischen  den  gemeinschaftlichen  einer-, 
den  gesellschaftlichen  andererseits.  Dieser  Streit  ist  sogar  der  große 
historische  Prozeß,  der  den  Übergang  der  Kultur  in  die  Zivilisation, 
der  Gemeinschaft  in  Gesellschaft  wesentlich  bezeichnet.  Insbesondere 
sind  es  die  Formen  des  Kollektivwillens,  die  so  einander  ablösen  und 
verdrängen:  Konvention  schiebt  sich  an  die  Stelle  von  Eintracht, 
Gesetzgebung  von  Sitte,  öffentliche  Meinung  von  Religion;  die 
einen  waren,  die  anderen  werden  die  entscheidenden  Mächte  im 
sozialen  lieben.  Und  zwar  gehen  und  halten  im  allgemeinen  die  ge- 
meinschaftlichen Formen  zusammen  und  die  gesellschaftlichen  Formen 
zusammen,  aber  es  kommen  auch  andere  Verbindungen  und  Gegen- 
sätze vor,  Widerstreit  auch  je  zwischen  gemeinschaftlichen  und  je 
zwischen  gesellschaftlichen  Formen  des  Kollektivwillens  und  des 
sozialen  Willens  überhaupt.  Wenn  wir  nun  hier  die  öffentliche  Mei- 
nung ins  Auge  fassen,  so  wird  zunächst  ihr  allgemeines  Wesen  er- 
örtert werden,  um  alsdann  die  öffentliche  Meinung  als  spezifische 
Erscheinung  davon  abzuheben,  und  ihre  Verhältnisse  zu  anderen 
Formen  des  Kollektivwillens,  insbesondere  zu  Religion,  zu  unter- 
suchen. 


ÖFFENTIJCHK   MEINUNG.    —   DAS   ÖFFENTI.ICHE   WESEN.  8l 

III.   Kapitel. 

Öffentliche  Meinung. 

Erster  Abschnitt.  Das  öffentliche  Wesen. 

1.  (Meinungsäußerung.)  Es  wurde  auf  den  Widerspruch  der  Sprache 
aufmerksam  gemacht,  daß  »meinen«  einerseits  so  viel  als  »denken« 
bedeuten  will,  also  durchaus  das  Hegen  eines  Urteils,  einer  Absicht, 
andererseits  geradezu  ein  abgekürzter  Ausdruck  ist  für  »eine  Mei- 
nung (ein  Urteil,  eine  Absicht)  aussprechen«,  kundgeben;  sie  an  ein- 
zelne Personen  oder  in  engem  Kreise  oder  öffentlich,  »allen«,  dem 
Publikum,  mitteilen. 

So  lange  ich  eine  Meinung  hege  und  die  Worte,  in  denen  ich  sie 
ausdrücke,  »im  Busen  bewahre«,  ist  sie  ganz  mein  eigen,  oft  mein 
Geheimnis :  sei  die  Meinung  eine  Ansicht  oder  eine  Absicht.  Ich  kann 
sie,  ohne  es  gewollt  zu  haben,  erkennbar  werden  lassen  —  unfreiwillige 
Zeichen,  wenn  sie  richtig  gedeutet  werden,  »verraten«  mich  —  oder 
aber  ich  will  sie  zu  erkennen  geben,  ich  mache  Zeichen,  von  denen 
ich  wünsche  und  in  der  Regel  auch  Grund  habe  zu  vermuten,  daß  sie 
richtig  gedeutet,  daß  sie  »verstanden«  werden.  Erst  mein  eigenes 
Wollen  verwandelt  die  innere  Meinung  in  eine  »Meinungsäußerung«. 
Sie  bedient  sich  der  Zeichen,  die  als  solche  gegeben  und  empfangen 
werden. 

2.  (Zeichen.)  Solche  Zeichen  sind  i.  stumme  Zeichen.  Ich  kann 
unwillkürlich  oder  wollend  durch  Gebärden,  als  durch  Neigen  oder 
Schütteln  des  Kopfes  und  durch  mannigfaches  Mienenspiel,  mit 
dem  Munde  und  mit  den  Augen,  durch  Lachen  und  durch  Weinen, 
femer  durch  Bewegungen  der  Füße  und  Hände,  besonders  aber  der 
Finger,  meine  Meinung  ausdrücken,  wollend  freilich  nur  in  beschränk- 
tem Maße;  hauptsächlich  um  Zustimmung  und  Gegenstimmung  zu 
einer  schon  kundgewordenen  Meinung  erkennbar  zu  machen,  be- 
dienen wir  uns  regelmäßig  solcher  Zeichen.  Indessen  bleiben  Gebärden- 
und  Zeichensprache  immer,  soweit  sie  verständlich  sind,  die  allgemeinst- 
verständlichen,  daher  dienen  sie  dem  Stummen  wie  dem  Fremdling, 
der  sich  als  ein  Stummer  zu  der  ihm  fremden  Sprache  verhält.  Stumme 
Zeichen  dieser  Art  sind  auch  Büdwerke  und  Abbildungen,  insofern 
als  auch  sie  geeignet  sind,  Gedanken  und  Meinungen  zu  erkennen  zu 
geben  und  mitzuteilen ;  ja  wir  können  alle  stummen  Zeichen  als  »Bilder« 
zusammen  begreifen.  Sie  drücken  daher  auch  die  Gemütsbewegungen 
aus,  welche  regelmäßig  Zustimmung  und  Gegenstimmung  begleiten, 
oft  leidcnschaftUche  Gemütsbewegungen,  als  Freude,  Begeisterung, 
Bewunderung   oder    Arger,   Zorn,   Verachtung,    Unwillen.    —   Ganz 

Tönnies,  Kritik.  6 


82  Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  Meinung. 

ebenso  werden  2.  die  lauten  Zeichen  gebraucht:  solche  können  mit 
den  Bewegungen  der  Füße  und  Hände  verbunden  sein,  als  Trampeln, 
Scharren,  Klatschen,  wichtiger  sind  solche,  die  mit  den  Organen  der 
Stimme  und  mit  dem  Munde  gemacht  werden,  vom  Schreien,  Zischen, 
Jauchzen,  Murren  und  unartikulierten  Rufen  bis  zu  den  artikulierten 
Tönen  der  Zunge,  d.  i.  Wörtern  und  also  der  »Sprache«.  Innerhalb 
der  Sprache  wiederum  findet  der  Fortgang  von  einzelnen  Rufen,  die 
Zustimmung  oder  Gegenstimmung  bezeichnen  mögen,  zu  Sätzen, 
die  ein  Urteil,  also  möglicherweise  auch  eine  Meinung,  »meine 
Meinung«,  ausdrücken,  statt.  Aus  einem  Satze  wird  eine  zu- 
sammenhängende Folge  von  Sätzen,  ein  Zuspruch,  eine  Ansprache, 
eine  Rede. 

Wie  Gebärden,  Bilder,  Geräusche,  aber  am  vollkommensten  Worte, 
Zeichen  von  Gefühlen  und  Gedanken,  so  ist  die  Schrift  in  ihren  mannig- 
fachen Gestaltungen  Zeichen  von  Worten,  also  auch  mittelbar  von 
Gedachtem,  Zeichen  von  Meinungen.  Reden  werden  in  Schriften 
niedergelegt,  dann  auch  Gedankenfolgen,  die  weit  über  den  Um- 
fang einer  möglichen  Rede  hinausgehen,  Gedanken  werke.  Reden  und 
Schriften  können  auch  bloß  erzählen.  Gesehenes,  Gehörtes  oder 
sonst  Wahrgenommenes  und  Erlebtes  berichten;  mittelbar  werden 
auch  solche  als  Zeichen  von  Gedanken  und  Meinungen  sich  darstellen. 
Als  stummes  Zeichen  von  Worten  ruft  die  Schrift  in  der  Seele  dessen, 
der  sie  versteht  (lesen  kann),  Worte  hervor,  die  er  wiederum  verstehen 
muß,  damit  die  Schrift  für  ihn  Sinn  und  Bedeutung  habe.  Die  Ge- 
stalten der  Schrift  sind  in  der  Regel  öffentlich,  zuweilen  aber  geheim 
und  nur  für  denjenigen  zugänglich,  der  den  »Schlüssel«  besitzt  oder 
entdeckt. 

Der  Redner  kann  von  Tausenden  zu  gleicher  Zeit  gehört  werden; 
wenn  er  dieselbe  Rede  oft  wiederholt,  von  Hunderttausenden.  Er 
hat  sein  »Publikum«.  Aber  der  Schreibende  hat  unmittelbar  da- 
durch, daß  seine  Schrift  vervielfältigt  wird,  ein  weit  größeres  mög- 
liches Publikum,  das  Publikum  der  Lesenden.  Der  wirklich  die 
Schrift  Vernehmende  ist  oft  nur  ein  einzelner  Mensch,  der  Empfänger 
eines  Briefes;  wie  denn  auch  das  gesprochene  Wort  in  unzähligen 
Fällen  nur  an  einen  Einzelnen  oder  doch  an  einen  geschlossenen  Kreis 
von  Einzelnen  sich  richtet;  wenn  es  aber  nachher  geschrieben  und 
gedruckt  wird,  an  Unzählige,  an  »das«  Publikum. 

3.  (Publikum.)  Das  Publikum  ist  eine  Menge  von  Menschen  — 
Männern  und  Frauen  — ,  zunächst  von  solchen,  die  sich  räumlich  ver- 
einen, z.  B.  im  Theater;  von  Menschen  sehr  verschiedener  Art,  die  aber 
miteinander  gemein  haben,  daß  die  Gelegenheit,  das  Erwartete,  das 
Interesse,  sie  zusammenführt  oder  zusammenhält.    Das  Publikum  ist 


ÖFFENTUCHE   MEINUNG.   —   DAS   ÖFFENTIJCHE   WESEN.  83 

hör-  und  schaulustig,  es  will  durch  Gesehenes  und  Gehörtes  —  oder 
zu  dessen  Ersatz,  Gelesenes,  wie  im  Kinematographen-Theater  — 
unterhalten  sein,  durch  I^ustiges  erheitert,  durch  Trauriges  gerührt 
werden.  Es  kommt  zusammen  und  geht  wieder  auseinander;  immer 
ein  anderes  und  in  einigen  Merkmalen,  wenigstens  an  demselben 
Orte,  immer  dasselbe,  am  meisten  nach  Zahl  und  Größe  verschieden. 
Das  Theaterpublikum,  eine  besonders  ausgeprägte  Erscheinung 
des  Publikums,  will  keine  Meinungen  empfangen,  es  will,  wenigstens 
nicht  unmittelbar,  belehrt  werden,  noch  weniger  in  Glaubens-  oder 
anderen  Meinungen  bestärkt  oder  erschüttert  werden;  und  doch  hat 
auch  das  Schauspiel  nicht  selten  dergleichen  Wirkungen,  und  noch 
öfter  geht  dahin  die  Absicht  des  Dichters,  der  durch  das  Schauspiel 
auf  die  Menge  wirken  will.  Heldentaten  und  Heldenleiden,  in  leben- 
digen Handlungen  vorgeführt,  begeistern  und  entsetzen;  man  er- 
wärmt sich  für  die  Idee,  der  das  lieben  des  Helden  geweiht  ist,  man 
bewundert  ihn,  man  glaubt  an  ihn  und  an  den  Wert  seiner  Sache, 
man  wird  in  der  Meinung  bestärkt,  oder  sie  wird  erst  in  den  Seelen 
geweckt,  daß  diese  Sache,  diese  Idee  edel  und  wertvoll  sei,  etwa  auch, 
daß  es  als  groß  und  nachahmenswert  zu  schätzen,  für  eine  Idee,  für 
diese  Idee  zu  leben,  zu  leiden  oder  sogar  sich  aufzuopfern  und  zu 
sterben.  Überhaupt  werden  die  moraUschen  Meinungen  und  Gefühle, 
die  mit  religiösem  Glauben  so  vielfach  und  eng  zusammenhängen, 
in  Erregung  gebracht,  aufgewühlt  und  erneuert,  oder  genährt  und 
vertieft,  am  häufigsten  in  der  schlichten  und  volkstümlichen  Weise, 
daß  Laster  und  Bosheit  bestraft,  Tugend  und  Güte  belohnt  werden. 
Aber  auch  der  Zweifel  wird  wachgerufen,  der  sittliche  Ernst  gelockert, 
indem,  was  sonst  für  schlecht  gehalten  wird,  z.  B.  Liederlichkeit  und 
Ehebruch,  als  etwas  Alltägliches  und  etwa  gar  in  den  höheren,  vor- 
bildgebenden Lebenskreisen  Leichtgenommenes,  ja  von  einer  vergnüg- 
lichen und  anmutenden  Seite  in  verführerischem  Schimmer  darge- 
stellt wird.  Näher  noch  trifft  es  ins  Gebiet  der  eigentlichen  Meinungen, 
wenn  etwa  der  Freidenker  nicht  nur,  im  Gegensatz  zum  überlieferten 
Glauben,  dem  der  Gottlose  auch  ein  Verruchter  ist,  als  edler  Mensch, 
sondern  in  einem  löblichen,  ja  ihn  verherrlichenden  Kampfe  gegen  die 
Vorurteile  und  Verfolgungen  der  Rechtgläubigen  auf  der  Bühne  er- 
scheint. Oder  wenn  der  Dichter  einen  edlen,  von  Begeisterung  für 
das  Wohl  der  Menschheit  erfiülten  Jüngling  einem  finsteren  König 
gegenüberstellt  und  ihn  in  hinreißender  Rede  ausrufen  läßt:  „Sire, 
geben  Sie  Gedankenfreiheit!"  Am  häufigsten  begegnet  in  dieser 
Richtung,  daß  das  Theater  dem  Spott,  dem  sittHchen  Unwillen,  und 
also  der  Satire,  gröberer  und  feinerer,  dienstbar  gemacht  wird.  Also 
bewirkt  auch  das  Schauspiel  die  Ausbreitung,  die  Begünstigung  oder 

6» 


84  Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  IMeinung. 

Bekämpfung  von  Meinungen.  Und  wie  das  Schauspiel,  so  seine 
stummen  Abarten :  die  alte  Pantomime  und  ihre  neue  unter  mannig- 
fachen Namen  auftretende  Gestalt,  der  ebenso  moderne  wie  un- 
schöne »Kinematograph«. 

4.  (Das  große  Publikum.)  Wenn  also  die  Bühne,  auch  die  falsche 
Bühne,  ihr  Publikum  hat,  so  hat  es  jeder  Redner,  jeder  Schriftsteller, 
hat  es  jede  Zeitung.  Aber  davon  verschieden  denken  wir,  »das« 
Publikum,  das  »große«  Publikum,  die  unbegrenzte  Menge  der  Men- 
schen, die  ungeachtet  ihrer  Zerstreuung  und  endlosen  Verschiedenheit 
möglicherweise  in  einem  und  gleichem  Sinne  denkt  und  urteilt;  sie 
versammelt  sich  nicht,  sie  kann  sich  gar  nicht  versammeln,  aber  sie 
lebt  und  wirkt  in  unzähligen  Kreisen,  und  sie  kann  sich  vernehmbar 
machen,  macht  sich  vernehmbar,  wenn  auch  oft  nur  in  dumpfem 
Grollen  oder  in  heiserem  Schreien,  in  höhnischem  Lachen  oder  in 
trübem  Wehklagen  und,  wie  das  Theaterpublikum,  in  Zeichen  des 
Beifalls  und  Mißfallens,  des  Staunens  und  der  Spannung.  Seiner  Idee 
nach  besteht  dies  Publikum  in  bezug  auf  bestimmte  Ereignisse  und 
Arten  von  Ereignissen  aus  allen  Menschen,  die  daran  teilzu- 
nehmen, sie  aufzunehmen,  darüber  zu  urteilen  fähig  und  willens, 
die  dazu  vorbereitet  und  bereit  sind,  die  also  ein  gewisses  Maß  von 
Geschick  und  Bildung  dazu  haben  —  die  »gebildete  Welt«.  Sie 
urteilt  über  politische  Begebenheiten,  wie  über  solche  des  Kunst- 
lebens, der  Wissenschaft  und  Technik,  über  Entdeckungen  und  Er- 
findungen, über  Persönlichkeiten,  die  in  irgendeinem  dieser  Bereiche 
sich  ausgezeichnet  haben  oder  eben  hervorragend  sich  zeigen ;  Voraus- 
setzung ist,  daß  sie  die  Tatsachen,  wenn  auch  nur  oberflächlich, 
kennen  gelernt  hat,  daß  diese  »bekannt«  geworden  sind,  und  dies 
kann  plötzlich,  wie  mit  einem  Schlage,  blitzartig  geschehen,  oder  in 
allmählich  sich  erweiternden  Kreisen ;  immer  wird  es  in  sehr  verschie- 
denen Graden  der  Intensität  wirken  und  in  der  Regel  auch  sehr  ver- 
schiedene —  nach  Art  und  Stärke  verschiedene  —  Gefühle,  Affekte, 
Stimmungen  auslösen.  Heute  —  seit  mehr  als  100  Jahren  —  ge- 
schieht das  Bekanntwerden  fast  ausschließlich  durch  die  Zeitungen, 
und  das  Publikum  ist  fast  ausschließlich  das  Zeitungen  lesende  Pu- 
bükum;  längst  vorher  war  es  das  lesende,  aber  weder  das  Lesen  von 
Zeitimgen  noch  von  Büchern  ist  die  notwendige  Form  des  Kennen- 
lemens  von  Begebenheiten  und  Neuigkeiten ;  auch  durch  bloßes  Sehen 
und  Hören  können  sie,  wenn  auch  langsamer  und  mangelhafter,  be- 
kannt werden;  durch  fahrende  Sänger,  durch  Händler  und  andere 
Reisende,  durch  die  unmerklich  schreitende  Fortpflanzung  des 
Gespräches,  die  geschäftige  »Fama«;  sodann  durch  Predigten,  durch 
den  Unterricht  der  Jugend.    Frühzeitig  aber  sind  auch  verabredete 


ÖFFENTUCHE   MEINUNG.    —   DAS   ÖFFENTWCHE  WESEX.  g« 

Zeichen  angewandt  worden,  wie  Feuer  auf  den  Bergen,  die  man  als 
Urformen  der  Telegraphie  beschrieben  hat.  So  ist  einst  der  Fall  Trojas, 
so  die  Ermordung  Julius  Caesars,  bekanntgeworden  und  mit  Staunen 
und  Entsetzen  aufgenommen  worden ;  so  die  Umseglung  des  Kaps,  die 
Entdeckung  Amerikas,  der  Tod  Gustav  Adoi^phs;  alles  was  »die 
Welt«  erschüttert  hat,  längst  ehe  es  Zeitungen  gab  oder  doch  ehe 
sie  gewirkt  haben.  Aber  von  dem  Weltpublikum  haben  sich  immer 
gar  viele  engere  Publika  unterschieden,  in  verschiedenen  Graden  der 
Teilnahme  und  Erregung;  unterschieden  zunächst  nach  Raum  und 
nach  Zeit.  Die  Ereignisse  haben  immer  rascher  und  stärker  gewirkt 
in  engeren  Kreisen  und  in  näherer  Zeit;  mit  beiden  Entfernungen 
schwächt  der  Anteil  sich  ab,  den  das  Publikum  zu  nehmen  gewillt  ist. 
Unterschieden  auch  nach  Art  der  Bildung  und  folglich  der  Bereit- 
schaft. Der  Tod  Mozarts  wirkte  zunächst  auf  die  »musikalische», 
der  Kants  auf  die  philosophische  »Welt«.  Aber  im  Vordergrunde 
seiner  gemeinsamen  Interessen  stehen  für  das  »große«  Publikum  die 
wirtschaftlichen  imd  die  mit  diesen  eng  zusammenhängenden  poli- 
tischen Angelegenheiten;  jene  werden  unmittelbar  zu  politischen  da- 
durch, daß  sie  das  politische  Denken  und  also  die  politischen  Parteien 
aufregen;  das  große  Publikum  ist  das  politische  Publikum,  das 
weniger  als  jedes  andere  einen  internationalen  Charakter  hat,  mehr 
als  jedes  andere  durch  die  Besonderheiten  eines  Staates  oder  Reiches 
bedingt  wird,  wohl  aber  in  hohem  Maße  durch  politisches  Interesse, 
politische  Bildung;  aber  die  »Weltereignisse«  haben  auch,  und  ge- 
winnen immer  mehr  ein  internationales  Publikum.  In  jedem  Sinne 
ist  das  Publikum,  wenn  es  nicht  an  einen  bestimmten  Raum,  eine 
bestimmte  Zeit  gebunden  gedacht  wird,  eine  Idee  von  unbestimmbarer 
Weite  und  Dauer  —  auch  insofern  es  durch  das  Merkmal  allgemeiner 
oder  besonderer,  zumal  politischer  »Bildung«  bezeichnet  wird.  Die 
Bildung  ist  ein  historisches,  auf  Überlieferung,  I^ehre,  Gespräch, 
Lektüre  und  Erfahrung  beruhendes  Gewächs  vorzugsweise  des 
städtischen  Lebens,  überhaupt  aber  der  oberen  reichen  oder  wenig- 
stens wohlhabenden  sozialen  Schichten;  Bildung  und  Besitz  werden 
mit  Grund  zusammengenannt,  so  oft  sie  auch  getrennt  sind.  Und 
zwar  mehr  das  bewegliche  Vermögen  als  der  Grundbesitz  führt  zur 
Bildung  hin,  wird  durch  sie  gefördert.  Daher  wird  sie  oft  in  höheren 
und  höchsten,  aristokratischen  Kreisen,  gering  geschätzt,  es  sei  denn, 
daß  sie  in  religiösen  Formen  und  Gestalten  erscheine,  die  aber  von 
fortschreitender  Bildung  mehr  und  mehr  verneint  werden;  politische 
Bildung  freüich  verträgt  sich  eher  mit  diesen,  ja  steht  oft  in  frucht- 
barer Wechselwirkung  mit  ihnen,  ebenso  die  ästhetisch-kunsthafte 
Bildung;  aber  die  eigentlich  typische  Bildung  ist  die  Wissenschaft  - 


86  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

liehe  Bildung,  von  deren  Wesen  und  Stärke  in  einem  gewissen  Maße 
jene  anderen  Arten  der  Bildung  abhängig  sind^).  —  Das  große  Pu- 
blikum ist  ein  charakteristisches  Gebilde  der  neueren  Jahrhunderte. 
Der  Verfasser  des  Anti-Macchiavel  (der  spätere  Friedrich  d.  Gr.) 
kannte  es  schon.  „Man  weiß,  in  welchem  Grade  das  Publikum  neu- 
gierig ist,  es  ist  ein  Tier,  das  alles  sieht,  das  alles  hört  und  das  alles 
verbreitet,  was  es  gesehen  und  gehört  hat/'  Er  führt  dann  aus,  daß 
Fürsten  weit  mehr  als  Private  den  Reden  und  Urteilen  (aux  raison- 
nements  et  aux  jugements  du  monde)  ausgesetzt  sind.  Sie  seien  wie  die 
Sterne,  auf  die  ein  Volk  von  Astronomen  seine  Fernrohre  richte. 
„So  wenig  wie  die  Sonne  ihre  Flecken,  so  wenig  können  die  großen 
Fürsten  ihre  Laster  den  Blicken  entziehen  (Examen  du  Prince  de 
Macchiavel,  S.  194.)- 

5.  (Stumme  und  laute  Zeichen.)  Die  lebendigsten  Zeichen,  durch 
die  wir  uns  mitteilen,  wirken  zugleich  auf  Gesicht,  Gehör  und  Phantasie. 
Aber  die  stummen  Zeichen  wirken  vorzugsweise  aufs  Auge,  die  lauten 
aufs  Ohr;  der  Lesende  sieht  sinnlich  und  geistig,  er  hört  zugleich 
geistig;  Sehenden  wie  Hörenden  wirkt  die  ganze  Masse  gewesener  Bin- 
drücke mit,  die  als  Erinnerungen  schweben  und  berührt  werden. 
Und  durch  neue  wie  alte  Eindrücke  wird  das  »Gemüt«,  werden 
die  Gefühle,  wird  der  Wille  erregt.  Sie  machen  sich  beim  Sehen  am 
unmittelbarsten  als  Gefallen  —  Lust  und  Unlust  —  geltend,  beim 
Hören  überwiegend  als  Gewohnheit:  denn  Verstehen  von  Worten 
ist  durchaus  Sache  der  Übung  und  Gewöhnung,  und  das  Gewohnte, 
Verstandene,  —  ja  das  Gewohnte,  wie  das  Klangvolle,  feierlich  Tö- 
nende, sogar  wenn  unverstanden,  —  wird  gern  gehört.  Ungewohntes 
zumeist  auch  Unverstandenes,  stößt  auf  Widerstand  und  Abneigung, 
findet  »keinen  Widerhall«,  gewohnte  Gedankengänge  werden  leicht 
und  in  angenehmer  Weise  erneuert,  sind  willkommen,  ungewohnte 
sind  schwer  verdaulich  imd  werden  abgelehnt.  Beim  Lesen  endlich 
hängen  sich  die  Gefühle  ans  Gedächtnis:  denn  hier  ist  die  Seele 
sozusagen  angewiesen  auf  den  Schatz  der  erworbenen  Vorstellungen 
und  der  »Phantasie«,  die  verstärkend,  vergrößernd,  erweiternd, 
immer  mittätig  ist.  Geistig  ist  der  Leser  gegenwärtig  in  unbekannten 
Ländern,  sieht  und  hört  Verstorbene  und  Unbekannte  wie  im  Traume, 


^)  Recht  charakteristisch  für  das  überreizte  Selbstgefühl  der  städtischen  Bildung 
ist  die  Äußerung  Heinrich  Heines:  ..Eine  Handvoll  Junker,  die  nichts  gelernt  haben 
als  ein  bißchen  Roßtäuscherei,  Volteschlagen,  Becherspiel  oder  sonstige  plumpe  Schel- 
menstücke, womit  man  höchstens  nur  Bauern  auf  Jahrmärkten  übertölpeln  kann: 
diese  wähnen  damit  ein  ganzes  Volk  betören  zu  können,  und  zwar  ein  Volk, 
welches  das  Pulver  erfunden  hat,  und  die  Buchdruckerei  und  die  Kritik  der  reinen 
Vernunft."  Politisches  Glaubensbekenntnis  oder  Epistel  an  Deutschland  (1832), 
S.  5,  Ausg.  1848. 


ÖFFENTWCHE  MEINUNG.   —  DAS   ÖFEENTWCHE  WESEN.  87 

nimmt  an  erdichteten  Ereignissen  Anteil,  als  ob  er  sie  erlebte,  daher 
mit  tätiger  Freude  oder  leidendem  Kummer,  mit  gespannter  Er- 
wartung und  mit  bitterer  Enttäuschung  »mit  Hoffnung  und  Furcht«. 
Er  verhält  sich  ähnlich  wie  der  Zuschauer  im  Theater,  aber  bei  diesem 
wird  die  Einbildungskraft  unmittelbarer  in  Anspruch  genommen 
und  gefesselt,  darum  auch  in  rascherem  Wechsel  und  mit  stärkeren 
Erschütterimgen ;  der  Ivcsende  kann,  was  ihn  erregt,  begeistert, 
gerührt  hat,  wieder  und  wieder  lesen ;  er  kann  nach  Belieben  das  Buch 
weglegen  imd  seine  Gedanken  darin  vertiefen.  Der  Zeitungleser 
findet  fortwährend  seine  patriotischen  oder  parteiischen  Gefühle 
aufgeregt;  nicht  selten  packt  ihn  leidenschaftliche  Wut,  so  daß  er 
das  zerknitterte  Blatt  in  die  Ecke  wirft;  zuweilen  Begeisterung,  daß 
er  laut  aufjauchzt.  Der  Gelehrte  gibt  in  Büchern,  die  er  liest,  Beifall 
oder  Mißfallen  durch  Striche,  durch  Ausruf ungs-  und  Fragezeichen 
zu  erkennen,  die  aber  auch  zur  bloßen  Erinnerung  und  Richtung  der 
Aufmerksamkeit  dienen  mögen. 

6.  (Mitteilung.)  Bild,  Rede,  Schrift  wirken  also,  je  für  sich  und 
in  Verbundenheiten,  als  Geräte  der  Mitteilung.  Das  Publikum, 
wie  es  durch  sie  gebildet  wird,  ist  nicht  wie  ein  Theaterpublikum^ 
zumeist  in  geschlossenem  Räume  zusammen  (freilich  kann  auch  ein 
Theaterpublikum  unter  freiem  Himmel  sich  versammeln) ;  am  ehesten 
das  Publikum  der  Rede,  wie  die  Gemeinde  in  der  Kirche,  die  Volks- 
menge in  der  politischen  Versammlung.  Jedes  Publikum  solcher  Art 
ist  zusammengekommen,  zusammengelaufen,  es  stellt  eine,  wenn  auch 
schwache,  Einheit  dar,  die  als  solche  durch  Zeichen  des  Beifalls  und 
Mißfallens,  der  Begeisterung  oder  des  Absehens,  durch  gemeinsame 
stUle  Andacht  oder  lauten  Gesang,  aber  auch  durch  einmütige  Be- 
schlüsse und  Entschlüsse  ihre  gemeinsamen  Stimmungen,  Meinungen, 
Wünsche,  kundgibt.  Anders  ist  das  Publikum  als  zerstreute  Menge: 
oft  die  unzusammenhängende  oder  doch  nur  unräumlich  verbundene 
Mehrheit  von  Publika  der  ersten  Art;  öfter  aber  die  bloße  Vielheit 
von  Individuen,  die  fähig  und  in  irgendwelchem  Maße  willig  sind, 
Mitteüungen  zu  empfangen  und  ihnen  eine  Stätte  zu  bereiten.  Immer- 
hin ist  auch  das  zufällige  Publikum  verhältnismäßig  selten  stark 
»gemischt«.  Es  pflegt  dieselbe  Sprache  zu  verstehen  und  zu  sprechen, 
in  der  Regel  auch  aus  gleichen  sozialen  Schichten  zusammengesetzt 
zu  sein.  Daher  auch  die  Stimmung  zumeist  einheitlich,  z.  B.  in 
Volksversammlungen  die  Genossen  der  Partei  des  Redners,  die  ihn 
eben  bestellt  haben,  um  das  zu  vernehmen,  was  ihnen  gefällt ;  oder  es 
sind  Vorkehrungen  getroffen  worden,  um  die  Anhänger  heranzuziehen, 
die  Gegner  abzuwehren  und,  wenn  sie  doch  sich  vernehmbar  machen, 
ihre  Stimmen  zu  töten.    Es  entstehen  oft  Zusammenstöße  zwischen 


S8  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

dem  gebetenen  und  dem  ungebetenen  Publikum.  Das  versam- 
melte Publikum  ist  in  der  Regel  laut;  dagegen  das  zerstreute 
Publikum  der  Leser  seinem  Wesen  nach  stumm,  wenn  auch  oft 
Stimmen  aus  dem  Publikum,  aus  dem  »Leserkreis«  sich  ver- 
nehmbar  machen. 

7.  (Schriftsteller.)  Ein  buntes,  mannigfaches,  zufälliges  Publikum 
hat  vorzüglich  der  Schriftsteller.  Freilich,  nur  der  Schriftsteller  ersten 
Ranges  —  der  aber  durch  Umstände,  die  den  inneren  Rang  erhöhen, 
begünstigt  sein  mag  —  hat  ein  Publikum  von  menschenweiter  Aus- 
dehnung, das  sich  möglicherweise  durch  Jahrtausende  fortpflanzt 
und  vermehrt.  In  erster  Linie  als  Dichter  —  wie  sonst  ein  Künstler, 
dessen  Werke,  oder  doch  Bruchstücke  davon,  erhalten  bleiben  und, 
selber  »unsterblich«  zu  den  wechselnden  Geschlechtern  der  Sterb- 
lichen reden.  Auch  in  Dichtungen  sind  Meinungen  enthalten:  teils 
solche,  die  der  Dichter  mit  seinen  Zeitgenossen  teilt,  also  auch  Irr- 
tümer über  Welt,  Götter  und  Menschen,  teils  auch  besondere  Mei- 
nungen, die  er  seinen  Zeitgenossen  mitteilen,  durch  die  er  sie  etwa 
belehren  oder  bekehren  will.  Solche  Meinungen  pflegen  weniger  An- 
sichten als  Gesinnungen  zu  sein,  daher  auch  Parteigefühle,  Partei- 
stimmung, Parteileidenschaft :  Artungen  des  Wünschens  und  Wollens, 
wie  des  Unwillens  und  der  Empörung.  Solche  sind  bestimmt,  durch  das 
lebendig  beschwingte  Wort,  und  etwa  in  Verbindung  mit  Bildern,  ab- 
gebildeten Handlungen  und  Leiden,  auf  Zuhörer,  Zuschauer,  endlich 
auch  auf  Leser  zu  wirken,  die  Gefühle,  Stimmungen,  Leidenschaften 
mitzuteilen.  Der  dramatische  Dichter  vor  allem  hat  solche  Gewalt, 
aber  auch  der  erzählende  und  der  lyrische;  insbesondere  aber  der  di- 
daktische und  der  moralisierende,  daher  auch  der  religiöse  Dichter 
und  Schriftsteller.  Die  Form  der  Dichtung  ist  nicht  wesentlich;  ja 
die  ungebundene  Rede  ist  auf  den  Verstand  zu  wirken  mehr  geeignet, 
und  diese  Wirkungen  sind  oft  Bedingung  für  die  Wirkungen  aufs  Ge- 
fühl. Eine  besondere  Gattung  der  Poesie  (im  weiteren  Sinne)  —  die 
Satire  —  hat  vorzüglich  den  Charakter,  Meinungen  auszudrücken  und 
auf  Meinungen  wirken  zu  sollen ;  als  dramatische  Gattung  ist  ihr  die 
Komödie  verwandt.  Sie  will  Gelächter  erregen;  und  zwar  wird  sie 
gern  kämpfend  auftreten,  also  bekämpfte  Meinungen,  Menschen, 
Zustände  »ins  Lächerliche  ziehen«  —  vertrauend  darauf,  daß  die 
Lächerlichkeit  schadet,  ja  »tötet«.  Die  Bosheit  aber  will  töten,  oder 
wenigstens  tief  verwunden  und  unschädlich  machen;  solche  »Bos- 
heit« kann  aber  auch  und  wird  oft  aus  ehrlicher  sittlicher  Entrüstung 
entspringen  und  sich  in  Gutheit  verwandeln,  wenn  sie  böses  Unkraut 
vertilgen  hilft.  —  Eine  Dichtung  kann  bestehen  und  auf  späte 
Nachwelt  kommen,  obgleich  die  Stimmungen  und  Leidenschaften  des 


ÖFFENTI.ICHE  Meinung.  —  Das  öffentwche  Wesen.  8ü 

Kampfes,  dem  sie  entsprungen  ist,  vergessen  sind  oder  nicht  mehr 
verstanden  werden ;  das  Wesen  der  Kunst  ist  die  edle  Form,  ihr  Geist 
ist  die  Gestaltung.  Das  AUgemein-Menschliche  spricht  aus  fernsten 
Zeiten  zur  empfänglichen  Seele,  um  so  mehr,  wenn  es  einem  ver- 
wandten Menschentum  Ausdruck  gibt,  oder  aber  durch  Glauben 
erhöhte  Bedeutung  gewinnt. 

8.  (Denker.)  Unmittelbarer  und  förmlicher  als  Dichtungen 
sprechen  die  Werke  der  Denker  und  Forscher  ihre  Meinungen  aus: 
Meinungen,  die  sie  begründen  und  durch  Begründung  empfehlen, 
mögen  sie  nun  den  sonst  herrschenden  Meinungen  sich  anschließen 
oder  sich  entgegensetzen.  Und  diese  Meinungen  kämpfen  nicht  nur 
immer  um  ihr  Dasein,  ihre  Geltung;  sie  sind  auch  zumeist  strei- 
tende Willensmeinungen  für  oder  wider  eine  Sache,  eine  Idee,  ein 
System,  sei  es  der  Weltanschauung  oder  der  Regierung,  daher  auch 
für  oder  wider  bestimmte  mächtige  Personen  oder  Parteien.  Auch 
solche  Meinungen  überleben  ihre  Gelegenheiten.  Schriften,  die  zur 
Verteidigung  der  griechischen  oder  römischen  Religion  verfaßt 
wnirden,  haben  heute  nur  noch  ein  »historisches«  Interesse ;  sie  finden 
keinen  Widerhall.  Fast  nicht  anders  ist  es  mit  der  gesamten  christ- 
lichen Polemik  zwischen  den  Theologen  verschiedener  Schulen,  der 
Orden,  der  Konfessionen  und  den  Richtungen  des  Glaubens  oder  Un- 
glaubens. Auch  philosophischen  Lehren  und  wissenschaftlichen  An- 
sichten, deren  Voraussetzungen  erloschen  sind,  wird  ein  solches 
Veralten  zuteil.  Andere  Meinungen  wissenschaftlicher  und  philo- 
sophischer Art  wirbeln  einen  Staub  auf,  der  die  Wege  von  Jahrzehnten, 
ja  von  Jahrhunderten  erfüllt.  Was  allgemein  geglaubt  wurde,  wird 
bezweifelt,  widerlegt.  Neues,  Unerhörtes,  bricht  sich  Bahn.  Feste 
Überzeugungen  werden  erschüttert,  Manchen  gefällt  das  Neue, 
Andere  erkennen  es  als  richtig  an,  es  bilden  sich  Parteien  für  und  wider 
die  sich  darbietende  Lehre,  sie  wird  erörtert  in  Wort  und  Schrift, 
sie  gewinnt  ein  Leben,  das  sich  erhält  und  sich  fortpflanzt,  im  Kampfe 
sich  bewährt  und  sich  behauptet;  bis  es  untergeht. 

9.  (Meinungskämpfe.)  Denn  es  ist  —  wie  früher  bedeutet  —  der 
Streit,  der  den  Meinungen  der  Schriftsteller  wie  der  Redner  ihr  Leben 
gibt.  Die  Rede  und  das  Buch,  die  Flugschrift,  der  Zeitungsartikel, 
sind  Waffen,  mit  denen  im  Kampfe  der  Weltanschauungen  und  Ge- 
danken, wie  im  Kampfe  der  politischen  Bestrebungen  und  Ansichten, 
gefochten  wird. 

Diese  Kämpfe  aber  wechseln  fortwährend  ihren  Inhalt.  Den 
Kämpfen  des  Jahrhunderts,  mehr  noch  denen  des  Jahrzehntes,  des 
Jahres,  aber  am  meisten  denen  der  Woche,  des  Tages,  heftet  sich  die 
brennende  Anteilnahme  der  Zeitgenossen  an.    Hier  zündet  das  Wort, 


QO  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

das  geredete  wie  das  geschriebene,  Redner  und  Schriftsteller  machen 
ihre  Meinungen  geltend  und  breiten  sie  aus,  Gehülfen  erstehen  ihnen, 
die  »Propaganda«  für  ihre  »Ideen«  machen,  für  »Agitation«  und 
»x\ufklärung«  werden  Verbände  organisiert,  die  ihre  Finanzen  haben, 
und  ein  großes  Publikum  erfüllt  sich  mit  den  empfangenen  Gedanken, 
Die  Kämpfe  der  Meinungen  gehen  von  sachlichen  Gegensätzen,  als 
»Meinungsverschiedenheiten«,  in  persönliche  Feindschaften  über, 
die  Feindschaften  der  Gruppen,  Bekenntnisse,  Parteien  von  Worten 
zu  Taten  —  von  Verbal-  zu  Realinjurien  — ,  endlich  sogar  zu  or- 
ganisiertem Kampfe  mit  Waffen,  zu  Aufruhr  und  Bürgerkrieg.  Das 
Aussprechen  einer  Meinung  enthält  sehr  oft  ganz  unmittelbar  eine 
Kränkung  des  Andersmeinenden.  Sein  Verstand  oder  sein  Charakter 
v\drd  angezweifelt  oder  geradezu  angeschwärzt,  nicht  selten  sowohl 
Verstand  als  Charakter.  Die  entgegengesetzten  Meinungen  werden 
verabscheut  und  als  ruchlos  gebrandmarkt.  Der  Andersdenkende 
ist  ein  Scheusal ;  hat  er  früher  etwa  ähnlich  gedacht,  wie  diejenigen, 
die  nun  über  ihn  richten,  so  ein  »Verräter«. 

IG.  (Der  Buchdruck.)  Seit  4 — 500  Jahren  ist  in  Buropa  die  Mittei- 
lung und  Vervielfältigung  von  Büdern  und  Schriften  allmählich  bis 
ins  Grenzenlose  vermehrt  und  vergrößert  worden  durch  den  Druck 
der  Bücher.  Dieser  hat  nicht  nur,  anstatt  der  wenigen  langsam  durch 
Handschrift  hergestellten  Abschriftexemplare  eines  Buches,  deren 
viele  mechanisch  und  mit  erhöhter  Geschwindigkeit  ins  Dasein  ge- 
rufen; er  hat  neben  das  massige,  schwer  bewegliche  Buch,  das  vorzugs- 
weise in  stillen  Klöstern  oder  etwa  in  Schlössern  und  Rathäusern 
aufbewahrt  wurde,  und  zum  größten  Teile  an  dessen  Stelle,  das  Buch 
des  kleinen  Formats,  leicht  tragbar,  leicht  versendbar,  zur  Ware 
tauglicher,  geschaffen;  aus  diesem  wiederum  ist  früh  die  »Flugschrift«, 
später  der  gedruckte  Brief,  endlich  die  »Zeitung«  in  ihren  mannig- 
fachen Gestalten  hervorgegangen,  die  von  der  Flugschrift  durch  das 
Merkmal  der  periodisch  regelmäßigen  Erscheinung  scharf  sich  abhebt ; 
ob  nun  die  Periode  Woche,  Monat,  Vierteljahr  oder,  wie  im  typischen 
Falle,  der  Tag  ist,  nach  dem  das  »Journal«  benannt  wird,  dessen 
Name  dann  wiederum  erweiterte  Bedeutung  gewinnt,  während  wir 
von  Tageszeitungen,  Tageblättern  nur  in  einem  engen  Sinne  sprechen 
können,  der  freüich  auch  bleibt,  wenn  die  Zeitung  mehr  als  einmal 
am  Tage  herauskommt  und  etwa  in  ein  Morgen-  ein  Mittags-  und  ein 
Abendblatt  zerfällt;  die  Zwiefachheit  von  Morgen-  und  Abend- 
blatt ist  bisher  die  häufigste  Form  geblieben,  dann  wird  noch  Erstes 
und  Zweites  Morgenblatt  unterschieden  usw.  Der  romanische  Name 
des  Buchdrucks,  die  »Presse«,  heftet  sich  an  ihre  flüchtigste  und  ver- 
gänglichste Form,  die  Zeitung. 


ÖFFENTI^ICHE  ISIEINUNG.   —   NACHRICHTEN   UND    ÖFFENTUCHKEIT. 


91 


11.  (Zeitungen.)  Das  Zeitungswesen,  im  17.  Jahrhundert  entstanden 
und  langsam  gewachsen,  ist  schon  im  18.  mehr  und  mehr  eine  Macht 
des  sozialen  und  pohtischen  Lebens  geworden,  im  19.  eine  bedeutende, 
allgemein  anerkannte,  tief  wirkende  Macht,  die  »6.«  oder  »7.«  Groß- 
macht, wie  man  sie  prahlend  genannt  hat ;  in  ihrer  furchtbaren  Stärke 
vielleicht  erst  im  gegenwärtigen  (20.)  Jahrhundert  offenbar  werdend. 
Denn  die  Zeitung  ist  nunmehr  das  vorzüglichste,  brauchbarste  und 
am  meisten  gebrauchte  Mittel,  Meinungen  bekannt  zu  geben,  geltend 
zu  machen,  öffentlich  zu  verkünden  und  zu  verteidigen,  gegne- 
rische Meinungen  anzugreifen,  gehaßt  und  verachtet  zu  machen  — 
die  Mehrheit  von  Zeitungen  der  Kampfplatz,  auf  dem  der  unab- 
lässige Krieg  der  Gedanken  und  Meinungen  am  heftigsten  entbrennt 
und  in  heißen  Flammen  lodert.  Zumal  im  politischen  Streit  ent- 
faltet sich  die  »Presse«  als  eine  Macht,  die  von  Parteien  und  Re- 
gierungen mit  mehr  oder  minder  Geschicklichkeit  und  Energie  ge- 
handhabt wird,  teils  um  Meinungen,  Wünsche,  Beschwerden  und 
Gefühle  aller  Art  auszudrücken,  gegeneinander  auszuspielen,  teils 
um  die  Meinungen  und  Gefühle  unbeteiligter  oder  minder  beteiligter 
Zuschauer  für  sich  zu  gewinnen. 

Denn  die  Streitenden  suchen  Sympathie  und  Beifall  zu  ihrer 
eigenen  Ermutigung,  suchen  Bundesgenossen  zu  ihrer  Hilfe;  die 
Genossenschaft  der  Meinungen  und  Gefühle  ist  eine  Hilfe  gegen  feind- 
liche Meinungen  und  Gefühle  und  sie  kann  zu  tätiger  Hilfe  werden, 
die  moralische  Unterstützung  zu  materieller  Unterstützung,  wenn 
nicht  diese  von  Anfang  an  in  jener  enthalten  ist. 

Zweiter  Abschnitt.  Nachrichten  und  Öffentlichkeit. 

12.  (Gemeinschaft  und  Überlieferung.)  Dem  begrifflichen  Unter- 
schiede von  Gemeinschaft  und  Gesellschaft  entspricht  auch  ein  inner- 
licher Unterschied  der  vorherrschenden  Mitteilmig  und  Lehre. 

In  »Gemeinschaft«  —  um  der  Kürze  halber  so  zu  sagen  —  werden 
vorzugsweise  gegebene,  überlieferte  Meinungen  —  Glaubenssätze, 
Dogmen  —  weiter  überliefert;  es  ist  in  erster  Linie  die  Unterweisung 
der  Jugend,  der  die  Älteren  sich  widmen :  Väter  und  Mütter  übergeben, 
was  sie  selber  gelernt  haben,  ihren  Kindern,  Meister  und  Lehrer  ihren 
Lehrlingen,  Jüngern  und  Schülern  Kunst  und  Wissen,  zu  deren  be- 
herrschender Kunde  und  Ausübung,  und  also  zu  weiterer  Überliefe- 
rung, diese  sich  entwickeln  sollen.  Und  so  verhält  sich  die  gesamte 
Oberschicht,  insonderheit  aber  der  Priesterstand,  zum  Volke,  zu  den 
Laien,  als  »Lehrstand«,  der  den  Unmündigen  gibt,  was  er  ihnen  für 
heilsam  erachtet :  der  Priester,  diese  historisch  am  meisten  bedeutende 
Gestalt   des  Lehrstandes   —  seinem  eigenen  oder  wenigstens  dem 


92  Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  Meinung. 

Glauben  des  Volkes  gemäß  —  in  beständiger  Fühlung  mit  den  über- 
irdischen Mächten,  die  droben  im  lyichte  wandeln  oder  auf  einer  Berges- 
höhe wohnen  oder  allgegenwärtig  sind  und  doch  auf  eine  besondere 
Art  in  einem  Brote  oder  einem  Kelche,  der  mit  heiligem  Wein  gefüllt 
ist,  sich  befinden  und  wirksam  werden.  Der  höchste  Geistliche  zumal, 
der  aber  vielleicht  mit  dem  weltlichen  Herrscher  in  einer  Person  ver- 
einigt ist,  kennt  den  göttlichen  Willen  und  weiß  ihn  richtig  zu  deuten ; 
so  steht  er  in  der  Meinung  aller  Gläubigen  selber  als  ein  höheres  Wesen 
da,  und  —  zum  wenigsten,  wenn  sie  ihres  priesterlichen  Amtes  walten  — 
in  minderer  Weise  auch  alle,  die  die  heiligen  Weihen  empfangen  haben. 
Das  Heilige  ist  das  Allgemeine,  der  Geist,  der  die  Glieder  der  Gemeinde 
verbinden  soll,  weil  er  einem  jeden  sich  mitteilt  und  der  Glaube 
daran  ihm  entgegenkommt.  Das  »Oben«,  die  »Höhe«,  worin  dieser 
Geist  wohnt,  ist  in  Wirklichkeit  (d.  i.  dem  Ursprünge  der  Vorstellung 
nach)  die  Stätte  der  Vorfahren,  die  immer  als  die  früheren  auch  höher 
gedacht  werden  und  von  ihrer  Erhabenheit  allen  jeweilig  lebenden 
V/ürdenträgern  etwas  abgeben.  Wie  zu  den  Vorfahren  die  Väter, 
so  verhalten  sich  zu  den  Göttern  die  Priester.  —  Denkbar  ist  jedoch, 
daß  Gemeinschaft  sich  aller  dieser  mythologischen  und  theologischen 
Gewänder  entkleidet,  indem  sie  ihr  eigenes  Wesen  erkennt  und  sich 
darauf  besinnt :  ein  Fortschritt,  der  zur  Erhaltung  von  Gemeinschaft 
um  so  mehr  notwendig  wird,  je  mehr  Erkenntnis  zunimmt  und  die 
Gebilde  der  Einbildungskraft  durchschaut,  um  sie  zu  zerstören. 
In  jeder  Gemeinschaft  also,  sofern  und  solange  als  sie  lebensfähig 
ist,  verbindet  ein  solcher  »Geist«  des  Zusammenwirkens  und  der 
gemeinsamen  »Ideale«  nicht  nur  die  gleichzeitig  und  nebeneinander 
lebenden  Menschen,  sondern  mehr  noch  die  aufeinander  folgenden, 
eben  dadurch  voneinander  abhängigen  Geschlechter. 

13,  (Gesellschaft  und  Mitteilung.)  Anders  in  »Gesellschaft«, 
wenn  wir  durch  diesen  Begriff  einen  entgegengesetzten  sozialen  Zu- 
stand und  zwar  den  seinem  Wesen  nach  rationalen  oder  doch  nach 
Rationalität  strebenden  Zustand  bezeichnen  und  daran  messen. 
Hier  fehlt  —  der  Idee  nach  —  die  Tradition  oder  hat  doch  nur  eine 
bedingte  Geltung,  weil  sie  vor  der  prüfenden  Vernunft,  der  Kritik, 
sich  rechtfertigen  muß.  Die  Individuen  stehen  gleichberechtigt  und 
mit  gleichen  Ansprüchen  nebeneinander.  Jeder  kann  den  anderen 
belehren  —  wie  wirklich  und  immer  auch  ein  Kind  einem  Erwachsenen, 
auch  seinem  Vater,  eine  Neuigkeit,  die  es  gehört,  mitteilen,  eine  Be- 
gebenheit, die  es  erlebt,  erzählen,  ja  auch  eine  Meinung  äußern  kann, 
die  des  Älteren  und  Überlegenen  Meinung  berichtigt.  Auch  die  Mit- 
teilung von  Meinungen,  die  zur  Annahme  solcher  Meinungen  über- 
reden will,  wendet  sich  an  das  eigene  Urteil  des  Angeredeten  oder 


ÖFFENTucHE  Meinung.  —  Nachrichten  und  Öffentlichkeit. 


93 


Lesers.  Sie  gibt  dafür  Gründe,  die  ihm  einleuchten  sollen,  aber  die 
er  auch  prüfen  und  verwerfen  kann,  sie  versucht  seine  Gefühle 
und  sein  Denken  zugunsten  solcher  Gründe  zu  stimmen.  Autorität 
»von  oben  herab«  wird  hier  der  Natur  der  Sache  nach  nicht  in  An- 
spruch genommen,  man  bewegt  sich  in  einer  Ebene,  der  Ebene  des 
Tausches  und  des  gesellschaftlichen  Verkehrs.  Dazu  neigt  die 
schriftliche,  vollends  gedruckte  Mitteilung  und  Belehrung  an  sich 
schon  mehr  als  die  mündhche;  diese  ist  die  ursprüngliche,  natürliche, 
immer  von  neuem  notwendige  Form  der  Erziehung  und  des  Unter- 
richts, sie  bleibt  auf  eine  bestimmte  und  begrenzte  Zuhörerschaft 
wesentlich  gerichtet.  —  Freilich  kann  sie  mit  dieser  sich  auf  den  Fuß 
der  Gleichheit  stellen,  ja,  der  Volksredner  kann  zum  »Volke«  als 
zu  einem  höheren  von  ihm  verehrten  Wesen  sprechen;  und  doch  be- 
hält er  für  die  Menge,  wenn  er  nur  sagt,  was  sie  hören  mag,  etwas  vom 
Ansehen  des  Propheten.  —  Das  Buch  hingegen,  überhaupt  die  »ge- 
druckte Kolumne«  —  nach  Goethes  Ausdruck  —  wendet  sich  an  die 
tmbekannte,  unbestimmte  Menge;  der  Schriftsteller  versucht  wohl, 
indem  er  den  »lieben  Leser«  anredet,  oder  an  Lectorem  benevoltim 
sich  wendet  —  neuerdings  ist  es  außer  Übung  gekommen  —  zu 
diesem  Jemand  ein  näheres  Verhältnis  zu  gewinnen,  ein  Verhältnis, 
das  von  Seite  des  Lesers  Vertrauen,  Achtung  tmd  Ehrfurcht  oder 
wenigstens  Bewunderung  und  Dankbarkeit,  ja  Entzücken  darbietet, 
wenn  es  sich  um  ein  »Hebes«  oder  »schönes«  oder  gar  heiliges  Buch 
handelt,  also  um  ein  religiöses  oder  morahsches  Erbauungsbuch  oder 
ein  dichterisches  Kunstwerk.  Ähnlich  kann  aber  auch  ein  wissen- 
schaftliches, insbesondere  ein  philosophisches  Werk  empfunden 
werden.  Solchen  Büchern  wohnt  immer  eine  gewisse  Erhabenheit 
bei.  Je  niedriger  die  Seele  des  Lesers,  desto  eher  läßt  sie  auch  von 
einem  gemeinen  Buch,  einem  spannenden  Roman  sich  imponieren 
und  nimmt  wohl  gar  die  darin  ausgesprochenen  Ansichten  als  Offen- 
barungen, die  aus  der  Höhe  kommen,  an.  Wie  nun  aber,  wenn  wirk- 
lich geglaubt  wird,  daß  in  der  »Schrift«  eine  Offenbarung  vorliegt, 
daß  es  eine  heilige  Schrift  sei,  verfaßt  vom  Propheten  des  einigen 
Gottes,  oder  eingegeben  und  dem  Schreiber  diktiert  vom  »heiligen 
Geist»  ?  Hier  erscheint  das  »Buch  der  Bücher«  mit  einer  Würde  be- 
kleidet, die  ihm  selber  einen  göttlichen  Charakter  verleiht  und  es 
zum  Symbol  und  Bindemittel  der  religiösen  Gemeinschaft  macht. 
So  wird  die  »Bibel«  als  das  imvergänghche  Wort  Gottes  gedacht 
und  nur  durch  Zusammenhang  mit  ihr,  durch  Beziehungen  darauf, 
als  Bestätigungen  oder  Vorauskündungen  ihrer  Wahrheit,  als  dichte- 
rische oder  rednerische  Verherrlichungen  ihrer  Gegenstände,  vielleicht 
auch  als  Folien,  um  ihren  Glanz  desto  heller  leuchten   zu  machen. 


94  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

können  andere  Schriftwerke  Wert  gewinnen;  hingegen  werden  Bücher 
entgegengerichteter  Art  als  verderblich  gebrandmarkt  und  verboten. 
Ähnliches  wiederholt  sich  in  der  politischen  Sphäre,  wo  die  Regie- 
rungen und  rechtgläubigen  Denkweisen  durch  anerkannte  Bücher  ihr 
Ansehen  behaupten  und  befestigen,  und  die  ihnen  feindlichen  Ge- 
sinnungen auch  in  den  Büchern,  die  solche  ausprägen,  verfolgen. 

Immer  behält  das  Buch  etwas  Intimes  und  bekleidet  sich  leicht  — 
zumal  das  »dicke  Buch«  —  mit  einer  gewissen  Erhabenheit,  es  scheint 
von  oben  herab  zu  seinem  I^eser  zu  sprechen;  um  so  eher,  je  mehr  es 
durch  Alter  geheiligt  ist  und  als  »unsterbliches  Werk«  seine  Würde 
behauptet. 

Auf  eine  glatte  Fläche  —  ein  gleiches  »Niveau«  —  mit  dem  Leser 
stellt  sich  hingegen  die  Zeitung,  deren  Wesen  wir  hier  in  einem 
neuen  Lichte  betrachten.  Sie  geht  durchaus  in  die  Breite,  will  von  der 
großen  »Öffentlichkeit«  aufgenommen  werden  und  in  dieser  wirken, 
nicht  auf  Grund  persönlichen  Ansehens  oder  anerkannter  Würde, 
sondern  als  Sache,  die  von  Unbekannten  zu  Unbekannten  spricht 
und  am  sichersten  Eindruck  macht  durch  ihre  regelmäßige  Erneuerung, 
die  das  jedesmalige  einzelne  »Blatt«  rasch  veralten,  bald  vergessen 
werden  läßt:  am  reinsten  wirkt  in  diesem  Sinne  die  Anonymität 
der  Verfasser,  die  zur  Folge  hat,  daß  gar  nicht  ein  gewisser  Mensch, 
sondern  eben  »die  Zeitung«  zu  schreiben  und  geschrieben  zu  haben 
scheint,  wodurch  das  augenblickliche  Ansehen  zwar  gesteigert  wird, 
aber  als  rein  sachliches;  die  Personen  der  wirklichen  Schriftsteller 
sind  zumeist  gleichgültig  und  bleiben  im  Schatten.  Seine  eigene 
Meinung  und  die  seiner  Genossen  in  Bekenntnis,  Interessen,  Partei 
will  der  normale  Zeitungsleser  in  »seiner«  Zeitung  ausgesprochen, 
verdeutlicht,  bestätigt  finden;  um  wiederum  sich  in  seiner  Meinung 
bestärken  und  ermutigen  zu  lassen. 

14.  (Staatsnachrichten.)  Die  ursprüngliche  Bedeutung,  von  der 
auch  die  »Zeitung«  wie  das  »Newspaper«  ihren  Namen  haben,  ist 
durch  die  Veröffentlichung  von  Nachrichten  gegeben;  neue  Nach- 
richten, die  neuesten  Nachrichten,  lassen  auch  jetzt  noch  am  be- 
gierigsten nach  der  Zeitung  greifen;  wenngleich  es  außerdem  andere 
Weisen  gibt,  solche  Nachrichten  bekannt  zu  geben.  Welche  Nach- 
richten werden  mit  Spannung  erwartet,  mit  Eifer  aufgenommen? 
Nachrichten  mannigfacher  Art,  aber  zwei  Gattungen  stechen  als  weit- 
aus die  bedeutendsten  hervor:  i.  Politische  Nachrichten;  2.  Handels- 
nachrichten. —  Politische  Nachrichten  beziehen  sich  im  schärfsten, 
am  meisten  aufregenden  Falle  auf  Krieg  oder  Frieden,  Gefahren  oder 
günstige  Aussichten  in  den  Beziehungen  des  eigenen  Staates  zu  an- 
deren Staaten;  oder  aber  auf  innere  Unruhen,  Aufstände,  Bürger- 


ÖFFENTucHE  Meinung.  —  Nachrichten  und  Öffentlichkeit. 


95 


kriege  —  demnächst  aber  auch  auf  andere  folgenreiche  Ereignisse, 
wie  Wahlkämpfe,  Wahlentscheidungen,  Verfassungskämpfe  und 
Gesetzgebungen,  die  das  Wohl  und  Wehe  der  Familien  und  Indivi- 
duen auf  Jahrzehnte  hin  bestimmen.  Im  Kriege  handelt  es  sich  um 
Niederlagen  oder  Siege,  Gründe  für  Befürchtungen  oder  Gründe  für 
Hoffnungen,  Wahrscheinlichkeit  des  Fortganges  oder  Wahrschein- 
lichkeit des  Friedens;  im  Frieden,  außer  um  die  Gefahren  der  Friedens- 
störungen, die  fast  fortv/ährend  die  Aufmerksamkeit  in  Anspruch 
nehmen,  um  andere  Verhältnisse  zwischen  den  Staaten  und  ihren 
Untertanen,  namentlich  die  mannigfachen  Verhältnisse  des  Verkehrs, 
also  auch  des  Handels,  die  zu  Zwisten  und  »Handelskriegen«,  zu 
Verhandlungen,  zu  Verträgen  führen.  Femer  aber  treten  die  inneren 
Angelegenheiten  im  Frieden  mehr  als  im  Kriege  in  den  Vordergrund; 
die  Nachrichten  darüber  beziehen  sich  in  erster  Linie  auf  Fragen  des 
Rechtes,  also  der  Gesetzgebung:  Neuerungen,  die  erstrebt  oder  ver- 
abscheut werden;  deren  Wahrscheinlichkeit  und  vermutete  —  er- 
hoffte oder  gefürchtete  —  Wirkungen;  daher  der  Ausfall  der  poli- 
tischen Wahlen,  insbesondere  derjenigen  für  die  größten  und  wich- 
tigsten gesetzgebenden  Körper,  während  der  »Wahlbewegung«  die 
Mutmaßungen  —  Hoffnungen  und  Befürchtungen  — ,  als  vollendete 
Tatsache  dann  die  Neugier  und  das  Bedürfnis  zu  wissen  aufregt. 
Wird  die  Regierung  siegen?  wird  sie  gestürzt  werden?  Droht  eine 
Umwälzung?  Wohl  gar  Rebellion  und  Bürgerkrieg?  Ist  der  Besitz 
in  Gefahr?  Haben  die  Armen  Grund,  Verbesserungen  ihrer  Lage  zu 
erwarten?  Furcht  und  Hoffnung  sind  gespannt,  Aufregungen  ver- 
breiten sich  mit  den  Nachrichten  in  die  Weite.  Aufmerksamkeit, 
zuweilen  Aufsehen,  erregen  die  öffentlich  gehaltenen  oder  doch  für 
öffentliche  Mitteilung  bestimmten  Reden  und  Ansprachen  der  Staats- 
männer und  Parteiführer,  innerhalb  und  außerhalb  der  gesetzgebenden 
Körperschaften. 

15.  (Handelsnachrichten.)  Handelsnachrichten  sind  Nach- 
richten über  den  Stand  der  Märkte  und  also  über  die  Aussichten  des 
Geschäftes;  alles  dreht  sich  hier  um  die  geforderten,  gebotenen  und 
wirklich  gezahlten  Preise  von  Waren  aller  Art,  von  Geld  und  Geld- 
zeichen, Schuldtiteln  und  Besitztiteln,  also  »Wertpapieren«  mannig- 
facher Art,  deren  Handel  sich  an  gewissen  Hauptplätzen  in  besonderen 
Räumen  versammelt,  in  der  »Effektenbörse«,  die  wegen  ihrer  Welt- 
bedeutung auch  als  Börse  schlechthin  verstanden  wird.  An  diese 
Markt-  und  Börsenberichte  knüpft  sich  keine  bloße  Neugier,  selten 
auch  eine  rein  geistige  Teilnahme,  sondern  wesenthch  das  höchst 
materielle  Interesse  des  Gewinnens  oder  Verlierens,  und  der  Beweg- 
grund des  Handelns  —  Kaufens  oder  Verkaufens  —  wird  daraus 


q6  Be;griff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

entnommen.  Dies  Interesse  hebt  und  verschärft  aber  die  Teilnahme 
an  politischen  Angelegenheiten;  denn  diese  wirken  fortwährend  auf 
die  Märkte,  verbessern  oder  verschlechtern  die  Aussichten  der  Ge- 
schäfte; wie  auch  Naturereignisse  —  Wetter  und  Unwetter  —  wegen 
ihrer  Wichtigkeit  für  den  Ausfall  von  Ernten  und  wegen  anderer 
Wirkungen  auf  die  Bewegung  der  Preise  beobachtet  werden.  So  erfüllen 
sich  wenigstens  die  großen  Zeitungen  —  die  das  Wesen  der  Zeitung 
allein  zum  Ausdruck  bringen  —  in  ihrem  »Handelsteil«  mit  Erörte- 
rungen dieser  Art;  es  entstehen  aber  auch  besondere  Handels-  und 
Börsenzeitungen,  die  sich  ausschließlich  diesen  Zwecken  widmen, 
und  in  der  Regel  besonderen  kommerziellen  Interessen  dienstbar  ge- 
macht werden. 

i6.  (Das  Bedürfnis  der  Nachrichten.)  Wer  bedarf  der  Nachrichten, 
wer  ist  ihr  Abnehmer  ?  Für  Staatsnachrichten  offenbar  am  immittel- 
barsten der  Staatsmann,  für  Handelsnachrichten  am  unmittelbarsten 
der  Kaufmann.  Jeder  von  beiden  ist  Geschäftsmann,  ihre  Geschäfte 
haben  miteinander  gemein,  daß  sie  Schaden  vermeiden,  Vorteil 
suchen  wollen,  und  zwar  wirken  beide,  wo  ihre  entwickelten  Gestalten 
gegeben  sind,  als  Vorsteher  einer  Sache,  mit  der  ihr  persönliches  Wohl 
und  Wehe,  ihr  Nutzen  und  ihre  Ehre,  eng  verknüpft  ist :  der  Staats- 
mann für  seinen  Staat,  der  Kaufmann  für  seine  Firma,  jener  mehr 
auf  Ehre,  dieser  mehr  auf  Nutzen  hingewiesen.  Aber  ihre  Geschäfte 
und  Sorgen  berühren  einander  vielfach;  die  finanziellen  Bedürfnisse 
und  Nöte  des  Staates  müssen  oft  im  Vordergrunde  des  staatsmän- 
nischen Denkens  stehen,  zumal,  wenn  es  um  auswärtige  Angelegenheiten, 
um  Machtfragen,  also  namentlich  um  die  große  Betätigung  der  Macht 
im  Kriege  sich  handelt.  Der  Staat  braucht  seine  Bank,  um  Geld  zu 
erhalten,  Geld  zu  machen;  der  Staatsmann  braucht  also  die  Ver- 
bindung mit  der  »hohen  Finanz« ,  d.  h.  mit  Kaufleuten,  die  über 
ungeheure  Mittel  verfügen,  sei  es,  daß  sie  diese  selber  flüssig  haben 
oder  in  der  I^age  sind,  sie  zusammenzuziehen  und  in  sich  aufzusaugen. 
Ehemals  —  und  noch  heute  in  orientalischen  Staatsverbänden  — 
wurden  auch  die  Steuern  durch  Finanzmänner  erhoben,  die  das  Recht 
dazu  durch  regelmäßige  Zahlung  fester  Summen  von  den  Regierungen 
erworben  (»gepachtet«)  hatten.  —  Umgekehrt  sind  für  den  Kauf- 
mann die  Angelegenheiten  des  Staates  unendlich  wichtig,  und  nicht 
nur,  wenn  er  mit  dem  Staate  Geschäfte  machen  kann  und  will,  Geld- 
geschäfte oder  andere,  unter  denen  die  Lieferungsgeschäfte  für  kriege- 
rische Bedürfnisse  schon  im  Frieden,  und  um  so  mehr  im  Kriege, 
hervorragende  gewinnreiche  Bedeutung  haben;  nicht  nur  der  eigene, 
sondern  in  Friedenszeiten  sogar  feindlich  gesinnte  Staaten  sind  für 
Stoffe   und  Geräte   zu  Angriff  und  Abwehr  erwünschte  Abnehmer 


ÖFFENTLICHE   MEINUNG.    —   NACHRICHTEN   UND    ÖFFENTI.ICHKEIT.  g^ 

und  (in  der  Regel)  gute  Zahler.  Auch  für  viele  andere  Waren,  und 
zwar  gerade  für  solche,  die  hohe  Werte  enthalten,  ist  die  Handels- 
politik, die  Verkehrs-  und  demnächst  die  gesamte  Wirtschaftspolitik 
des  eigenen  Staates  und  fremder  Staaten  von  höchster  Bedeutung;  also 
für  den  Kaufmann,  der  durch  ihren  Absatz,  und  vielleicht  mehr  noch  für 
den,  der  durch  ihre  Herstellung  Gewinne  zu  erzielen  beflissen  ist. 

17.  (Verbreitung.)  Schon  ehe  es  Zeitimgen  gab,  waren  der  Staats- 
mann und  der  Kaufmann  auf  Nachrichten  angewiesen,  die  sie  durch 
Boten  oder  (öfter)  durch  Briefe  empfingen:  private  und  nicht  selten 
geheime  Nachrichten.  Auch  hat  diese  Art  des  Nachrichtenwesens 
ihre  Notwendigkeit  und  Bedeutung  nicht  verloren.  Neben  den  pri- 
vaten Nachrichten  und  sie  fast  überwuchernd,  ist  das  öffentliche  Nach- 
richtenwesen gediehen;  nachdem,  wenigstens  innerhalb  der  gesell- 
schaftUchen  Oberschicht,  sozusagen  jederman  ein  (dilettierender) 
Staatsmann,  und  nicht  minder  jederman  ein  (dilettierender)  Kauf- 
mann geworden  ist,  dient  die  Zeitung  nicht  nur  zur  Ergänzung 
privater  Staats-  und  Handelsnachrichten,  sondern  vorzugsweise  zur 
Verbreitung  derjenigen,  die  für  die  Öffentlichkeit  bestimmt  sind 
oder  sich  gewollter  Verheimlichung  entziehen.  Sie  dient  ferner  zur 
Bekanntmachung  von  allen  Nachrichten,  an  deren  Verbreitung  Be- 
hörden oder  einzelnen  Personen  gelegen  ist ;  insbesondere  wird  sie  für 
den  Handel  selber,  zumal  den  Kleinhandel  und  Gelegenheitsverkäufe, 
wie  auch  für  den  Austausch  von  Nutzungen  und  Diensten,  Organ 
der  Vermittlung  der  Nachfrage  und  besonders  des  Angebots;  ein  ge- 
druckter Marktplatz.  —  Sombart  (Der  moderne  Kapitalismus  ^  II,  i, 
S.  362)  unterscheidet  individuelle  und  kollektive  Nachrichtenüber- 
mittlung, er  könnte  auch  jene  die  private,  diese  die  öffentliche  nennen, 
wie  er  wirklich  den  Ausdruck  »Nachrichtenpublikation«  anwendet. 
Ganz  verschieden  davon  ist  (auch  in  Sombart s  Darstellung)  der 
öffentliche  Dienst,  den  die  Post  »gleichsam  als  Kollektivbote  für  die 
Gesamtheit«  der  privaten  Nachrichtenübermittlung  leistet.  Sie 
widmet  sich  aber  nicht  minder  der  öffentlichen  Nachrichtenüber- 
mittlung und  auch  die  private  betrifft  vorzugsweise,  sofern  die  Briefe 
Schreibenden  »öffentliche  Personen« ,  also  Fürsten  und  andere  Staats- 
männer sind,  »öffentliche  Angelegenheiten«.  Man  bemerkt,  wie  hier 
die  verschiedenen  Sinne  des  Wortes  »öffentlich«  aufeinander  stoßen: 
gerade  öffentliche  Angelegenheiten  und  sie  betreffende  Nachrichten 
sind  oft  sehr  »privat«,  d.  h.  geheim  und  vertrauhch. 

18.  (Fälschung.)  Nur  ein  Teil  der  Nachrichten,  insbesondere  der 
politischen,  besteht  aus  wahren  und  richtigen  Nachrichten.  Sie 
werden  gefälscht  durch  Irrtümer,  Mißverständnisse,  Nachlässigkeiten, 
aber  auch,  und  zwar  in  hohem  Maße,  durch  Absichten.  Die  Täuschung 

Tönnies,  Kritik.  7 


98  Begriff  und  Theorie  der  öffenti,ichen  JVIeinung. 

durch  Lüge  ist  hier,  wie  sonst  im  Verkehre  der  Menschen,  ein  Mittel 
für  mannigfache  Zwecke.  Am  stärksten  und  deuthchsten  treten  diese 
im  Kriege  hervor.  Hier  ist  ins  Ungeheure  und  Gewaltsame  gesteigert, 
was  sonst  in  jedem  Parteikampfe  auch  beobachtet  wird.  Es  gilt: 
I.  Die  Feinde  als  Bösewichte  darzustellen,  sowohl  den  Kampfgenossen 
als  den  —  neutralen  —  Zuschauern,  ebenso  hingegen  die  eigenen  Hand- 
lungssweisen, Grundsätze,  Ideen  in  hellem  Lichte  strahlen  zu  lassen. 
Der  Feind  —  so  verkündete  die  engüsche  und  französische  Presse 
1914/18  und  verkündet  es  noch  heute  (1919/21)  imm^er  von  neuem  — 
hat  den  Krieg  angezettelt,  um  zu  erobern,  um  die  Weltherrschaft 
zu  gewinnen  usw.  „Wir  kämpfen  für  die  Freiheit,  die  ZiviHsation, 
die  Humanität,  für  die  Rechte  der  kleinen  Nationen.*'  Um  dies  wahr- 
scheinlicher zu  machen  als  es  für  den,  der  etwas  von  geschichtlichen 
Tatsachen  weiß,  sein  kann,  werden  Nachrichten  gefärbt  und  auch 
gerades wegs  erfunden.  In  späterem  Zusammenhange  wird  dies 
näher  erörtert  werden.  Es  gilt  ferner  2.  die  eigene  Lage  als  möglichst 
günstig,  die  des  Feindes  als  möglichst  schUmm  erscheinen  zu  lassen. 
Dafür  sind  Siegesnachrichten  das  einfachste,  aber  nicht  das  einzige 
Mittel.  Der  Feind  ist  dem  Bankerott  und  der  Hungersnot  verfallen, 
Unruhen  und  Revolten  finden  statt,  sein  Herrscher  oder  der  Thron- 
folger ist  dem  Tode  nahe,  oder  hat  Selbstmord  begangen  usw.  Der 
Feind  bittet,  wenn  auch  noch  nicht  mit  ausdrücklichen  Worten,  um 
Frieden.  Bei  »uns«  herrscht  ungebrochene  Kriegslust  und  Sieges- 
zuversicht. Wenn  der  Feind,  obgleich  siegreich,  seine  Geneigtheit 
kund  gibt,  in  Friedensverhandlungen  einzutreten,  um  den  Kriegs- 
greueln ein  Ende  zu  machen,  so  läßt  sich  vielleicht  nicht  glaubwürdig 
m^achen,  daß  es  aus  Schwäche  geschehe;  dann  ist  es  unaufrichtig, 
eine  böse  List,  eine  Falle,  in  die  hineinzuschlüpfen  der  Kluge  sich 
hütet;  zumal  wenn  er  noch  hofft  und  in  Aussicht  stellt,  den  Feind 
gänzlich  zu  vernichten. 

Fälschung  und  Lüge  haben  auch  ihre  sehr  bedeutenden  Wir- 
kungen im  Gebiete  der  Handelsnachrichten.  Politische  Nachrichten 
werden  zu  Handelsnachrichten  verwandt,  um  ini  Sinne  des  Käufers 
oder  Verkäufers  zu  wirken.  Man  will  verkaufen :  so  wünscht  man  Höhe 
der  Preise  (Hausse).  Man  will  kaufen:  so  wünscht  man  Tiefe  der 
Preise  (Baisse).  Auf  beides  kann  mit  Kunst  und  Künsten  hingearbeitet 
werden.  Es  muß  Stimmung  gemacht  werden.  Genügen  dazu  wahre 
Nachrichten,  gut ;  genügen  sie  nicht,  so  werden  Gerüchte  für  W^ahr- 
heiten  ausgegeben,  unbedeutende  Tatsachen  durch  Übertreibung 
in  gewaltige  verwandelt,  oder  endlich  erschütternde  Begebenheiten 
einfach  erfunden.  Als  Börsenmanöver  sind  solche  Nachrichten  ver- 
rufen;  sie   werden  aber  zumeist  auf  anderen  Wegen  als  durch  Zei- 


ÖFFENTI^ICHE   MEINUNG.   —   NACHRICHTEN   UND    ÖFFENTI^ICHKEIT.  QQ 

tungen  bekannt  gemacht ;  längst  durch  private  oder  durch  den  Druck 
(gleich  Zeitungen)  verbreitete  telegraphische  Depeschen,  neuerdings 
durch  Femsprecher,  oder  (innerhalb  einer  Börsen  Versammlung)  auf 
dem  veralteten  Wege  mündHcher  Rede. 

19.  (Nachrichten  und  Meinungen.)  Durch  Nachrichten,  wahre  und 
unwahre,  bilden  sich  Meinungen,  richten  sich  danach,  werden  danach 
verändert.  Wer  aber  die  Meinung  für  sich  hat,  hat  einen  Bundes- 
genossen im  Streite  für  seine  Angelegenheiten;  und  wenn  er  schon 
Kampfgenossen  hat,  so  ist  deren  Meinung  in  vielen  Hinsichten  für 
ihn  wichtig:  ihre  Meinung  von  seiner  Stärke  und  Tüchtigkeit,  von 
den  I^eistungen  des  Gegners  oder  Konkurrenten,  von  ihren  eigenen 
Aussichten  auf  Vorteil  und  Gewinn.  Dies  gilt  für  alle  Arten  des 
Kampfes  und  ist  insonderheit  wichtig  für  die  Erkenntnis  der  poH- 
tischen  Parteikämpfe,  die  zum  großen  Teile  mit  Worten,  gesprochenen 
und  geschriebenen,  also  gedruckten,  geführt  werden.  Auch  für  sie 
sind  die  Nachrichten,  ist  die  Benutzung  und  oft  die  Entstellung  der 
Nachrichten,  von  entscheidendem  Werte.  Die  schiere  Erfindung 
ist  das  einfachste,  leichteste,  aber  auch  das  gefährlichste  und  auch 
sonst  wohl  in  inneren  Kämpfen  mit  einigem  Widerstreben  angewandte 
Mittel,  um  einen  Gegner  bloßzustellen  und  ihn  mit  Flecken  behaftet 
erscheinen  zu  lassen,  die  allen  mißfallen. 

20.  (Erörterung.)  Aber  hier,  wie  sonst  in  Kriegen,  stellt  sich  die 
Aufgabe,  unmittelbarer  auf  die  Meinungen  zu  wirken,  nämlich  durch 
Meinungen  selber:  Rede  und  Schrift  werden  dazu  benutzt.  Zu  Büchern, 
Flugschriften,  Bildern  kommt  als  Mittel,  das  durch  unablässige 
Wiederholung  am  wirksamsten  wird,  die  Zeitung;  in  der  Zeitung  der 
I/citartikel.  Den  Nachrichten  schheßt  die  Erörterung  sich  an. 
Darin  erfüllt  sich  die  große  Entwicklung  der  Zeitungen,  daß  sie  mehr 
und  mehr  außer  Nachrichten  Erörterungen  bringen.  Diese  erst  ver- 
leihen der  Zeitung  eine  deutlich  wahrnehmbare  Farbe,  denn  daß  die 
Nachrichten  selber  gefärbt  sind,  verfehlt  seinen  Zweck,  wenn  es 
leicht  erkennbar  ist.  Nun  erst  wird  sie  eine  »Tribüne«  (und  nimmt 
zuweilen  diesen  Namen  an),  indem  sie  zu  der  Menge  ihrer  Leser 
spricht,  um  auf  sie  Einfluß  zu  gewinnen,  ihre  Meinungen  zu  ernähren 
oder  zu  bekehren.  Dies  ist  auch  vorher  durch  Schauspiele,  öffentliche 
Reden  und  Predigten,  Bücher,  Bilder,  Flugschriften  geschehen. 
Dringender,  erregender,  leichter  und  sicherer  wirkt  die  Zeitung. 
Die  Parteien,  vornehmlich  die  politischen  Parteien,  bemächtigen 
sich  ihrer.  Die  Regierungen  wehren  11  die  Kritik,  die  ihnen 
in  Zeitungsartikeln  entgegengetragen  wird,  teils  durch  Verbote, 
Zensur,  amthche  Berichtigungen,  teils  durch  Zeitungen,  die  sie  selber 
in   ihre  Dienste  nehmen  oder  begründen,  oder  erkaufen.    Parteien 

7' 


100  Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  Meinung. 

kämpfen  teils  gegen  die  Regierung,  die  vielleicht  mit  der  (oder  einer) 
Gegenpartei  sich  deckt,  teils  allgemein  gegen  die  anderen  Parteien, 
durch  die  der  Partei  gehörigen  oder  doch  sie  unterstützenden  Zei- 
tungen. 

Die  Meinungen  gewinnen  einen  erweiterten  Absatz,  einen  größeren 
Markt.  Sie  stehen  in  der  Öffentlichkeit  und  gehen  in  der  Öffentlich- 
keit um. 

Dritter  Abschnitt,  öffentliches  Leben  und  Parteiung. 

21.  (Öffentlichkeit.)  Die  Öffentlichkeit  ist  ihrem  allgemeinen 
Charakter  nach  mit  jedem  entwickelten  politischen  lieben  verbunden. 
Daher  zuerst  in  ausgeprägter  Weise  mit  dem  lieben  der  Städte.  Sie 
hat  ihren  natürlichen  Ort,  wie  der  Austausch  von  Waren  und  Geld, 
auf  der  Straße  (»in  publico«),  namentlich  auf  dem  Marktplatze,  sei 
es  unter  freiem  Himmel,  oder  in  geschlossenen  Räumen,  die  für  jeden 
zugänglich  sind  (Verkaufslauben,  Markthallen,  Bazare),  Dennoch 
hat  weder  die  antike  Polis  mit  ihrer  glanzvollen  Kultur,  noch  hat  die 
mittelalterliche  Stadt,  die  ebenso  an  Kunstleben  und  an  Kämpfen 
um  die  Macht  in  der  Gemeinde  reich  war,  Zeitungen  gekannt.  Sind 
ja  auch  ohne  Buchdruckerkunst  die  Blütezeiten  dieser  Kulturen 
verlaufen,  überhaupt,  ohne  daß  die  eigentlichen  mechanischen 
Künste  und  die  Wissenschaften,  zumal  die  technologischen,  jene  er- 
staunlichen Fortschritte  gemacht  hätten,  deren  die  neueren  Jahr- 
hunderte sich  rühmen.  Wenn  es  für  die  Funktion  der  Zeitung,  Nach- 
richten zu  vermitteln,  andere  Mittel  und  Wege  gab,  um  wenigstens 
denen,  die  wichtige  Geschäfte  führten,  solche  Nachrichten  zukommen 
zu  lassen,  so  blieb  hingegen  der  Austausch  und  Streit  der  Meinungen 
vorzugsweise  auf  die  Rednertribüne,  die  Kanzel  und  das  Katheder 
angewiesen,  neben  welchen  allerdings  die  eigentliche  lyiteratur  früh- 
zeitig, zumal  in  den  antiken  Städten,  sich  erhob.  Dazu  kam  im 
Mittelalter  die  Disputation  (auf  dem  Katheder)  und  die  Aufstellung 
von  Thesen,  die  man  öffentlich  anschlug  als  Herausforderung,  sie  zu 
bestreiten,  und  Erbieten,  sie  zu  verteidigen.  Wie  solche  Thesen  an 
der  Schwelle  der  Neuzeit,  von  einer  kleinen  Universitätsstadt  aus, 
die  damalige  deutsche  Welt  und  die  gelehrte  Welt  auch  jenseits  ihrer 
Grenzen  erschütterten,  ist  so  merkwürdig  wie  bekannt;  im  Jahre 
1917  hat  sich  ein  Zeitalter  dessen  erinnert,  das  wiederum  bis  in  seine 
Grundfesten  erbebte. 

22.  (Öffentlichkeit  im  Mittelalter.)  Es  gab  eben  für  eine  Gattung 
von  Fragen  und  Erörterungen  schon  eine  öffentUchkeit,  ein  urteilendes 
Publikum:  nämlich  für  die  religiösen  Fragen,  die  theologischen  Er- 
örterungen.   Christliche  lychre  und  christlicher  Glaube,  waren  das 


ÖFFENTI,ICHE   MEINUNG.   —    ÖFFENTI,ICHES   I.EBEN   UND    PaRTEIUNG.         10 1 

Erbteil  der  aufgelösten  alten  Kultur,  und  die  Stadt  Rom  war  der 
^Mittelpunkt  geblieben  für  den  Erdkreis,  soweit  als  das  Ansehen  des 
römischen  Bischofs  seinen  Glanz  verbreitete.  Welt-  und  Klostergeist- 
liche waren  durch  die  römische  Sprache  verbunden  und  nahmen  durch 
sie  am  Schatze  heidnischen  Wissens  wie  christUcher  Dogmatik  und 
Philosophie  teil.  Sie  konnten  sich  untereinander  und  mit  ihren  Schü- 
lern unterreden,  konnten  also  auch  Meinungen  geltend  machen  und 
vertreten,  konnten  miteinander  streiten.  Durch  Reisen  hatten  sie 
Kunde  voneinander  und  kamen  zusammen,  Briefe  wurden  befördert, 
Bücher  abgeschrieben.  Durch  steigenden  Handelsverkehr  zu  Wasser 
und  zu  Lande,  wie  durch  Feldzüge  und  Fehden,  wurden  die  Zusammen- 
künfte auch  gelehrter  Männer  begünstigt.  Beide  Elemente  hatten 
nie  gefehlt;  das  »Mittelalter«  ist  eben  nicht  bloß  Anfang  und  Ent- 
wicklung aus  Ursprüngen,  sondern  zugleich  Fortsetzung  eines  gesell- 
schaftlich entwickelteren  Zeitalters  und  starken  öffentlichen  Lebens: 
des  weströmischen  Reiches.  Städte  spielten  von  Anbeginn  eine  Rolle, 
wenigstens  bis  zu  den  Rändern  des  alten  Reiches:  und  bis  in  die  ent- 
legensten Gegenden,  in  die  Wildnis  der  Gebirge  und  in  die  Dickichte 
der  Wälder  trugen  Klöster  etwelche  Bruchstücke  und  Denkmäler 
städtischer  Künste  und  städtischer  Bildung,  die  im  sonnigen  Hellas 
ihre  Heimat  hatten  und  in  Rom  gepflegt,  aber  auch  verblüht  imd 
verkümmert  waren. 

23.  (Theologie.)  Das  »Gezänk«  der  Theologen  und  theologischen 
Schulen  oder  Parteien  stand  durch  viele  Jahrhunderte  —  über  das 
Mittelalter  hinausreichend  —  im  Brennpunkte  des  öffentlichen  In- 
teresses; naturgemäß,  da  dessen  Träger  fast  ausschließUch  Geistiiche 
waren  (nur  die  Fürsten  und  ihre  Höfe  nahmen  zunächst,  allmählich 
dann  auch  weitere  Kreise  des  Adels  und  wohlhabenden  Bürgertums, 
daran  Anteil).  Sie  —  die  Theologen  —  stellten  ein  internationales 
gelehrtes  Pubhkum  dar. 

Dieses  hat  sich  teils  erhalten  —  noch  lebt  die  römische  Earche 
mit  ihren  Orden  — ,  teils  sich  verdichtet  und  nationaHsiert :  auch 
für  die  geistliche  Gelehrsamkeit  sind  die  nationalen  Sprachen  in  den 
Vordergrund  getreten;  ganz  besonders  aber  hat  es  durch  Spaltungen 
gelitten  und  die  verschiedenen  Bekenntnisse  sprechen  ihre  eigene 
Sprache,  haben  je  im  eigenen  Schöße  zwar  ihre  Streitigkeiten,  po- 
lemisieren aber  verhältnismäßig  wenig  mehr  gegeneinander.  Das 
Publikum  der  einen  ist  gleichgültig  gegen  das  Publikum  der  anderen. 

24.  (Die  Fakultäten.)  Die  Universitäten  und  ihre  Städte  waren 
naturgemäß  die  Schauplätze  der  theologischen  Disputationen  und 
literarischen  Fehden.  Starke  innere  Beziehungen  zur  Theologie  hatte 
die  Jurisprudenz:   zumal  das   eine  der  »beiden  Rechte«,   das  geist- 


102  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

liehe  oder  kanonische  Recht,  war  ein  bewaffneter  Arm  für  sie.  Die 
Fakultät  der  Rechtsgelehrten  entwickelte  ihre  Dogmatik  und  ihre 
Kontroversen,  gleich  der  theologischen.  Die  medizinische  Fakul- 
tät hingegen,  und  vollends  die  jüngste,  die  Facultas  Artium,  hatten 
von  vornherein  einen  lebhafteren  Trieb  zur  Erforschung  der  Wahr- 
heit wirklicher  Tatsachen  und  Vorgänge.  Ihre  Streitfragen  konnten 
weniger,  oder  gar  nicht,  durch  Dialektik  ausgemacht  werden :  man 
glaubte  (und  glaubt  zumeist  noch  heute,  irrigerweise)  der  starken 
und  scharfen  Begriffsbildung  entraten  zu  können,  wenn  man  nur  be- 
schreibt, was  man  beobachtet  hat.  Diese  Wissenschaften  rufen  in 
erster  Linie  die  Sinne  als  Zeugen  auf  und  den  auf  Grund  der  Wahr- 
nehmung urteilenden  Verstand,  anstatt  übersinnlicher  Offenbarung 
und  vernünftelnder  Unterscheidung  der  Begriffe  von  unwirklichen 
Dingen.  So  hängen  sie  auch  mehr  mit  Entwicklung  der  jüngeren 
Städte,  größeren  Städte,  Handelsstädte  und  Hauptstädte  zusammen, 
wenigstens,  wenn  diese  den  Wert  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis 
ahnten  und  ihr  eine  Stätte  boten,  wie  es  mehr  und  mehr,  teils  durch 
reiche  Handelsherren,  teils  durch  Fürsten  und  ihre  Höfe  geschah. 
Der  Handel  und  der  Krieg  bieten  sich  der  Rationalisierung  wie 
von  selber  dar;  beide  verlangen  Rechnung  und  Berechnung;  mit 
ihnen  das  ganze  ihnen  dienende  Verkehrswesen,  besonders  die 
Schiffahrt. 

Wenn  nun  schon  hinter  theologischen  Meinungsverschiedenheiten, 
obgleich  oft  nur  mit  Mühe,  auseinandergehende  soziale  Schichten  und 
ihre  praktischen  Bestrebungen  sich  erkennen  lassen,  so  ist  das  viel 
eher  und  deutUcher  bei  den  Streitigkeiten  innerhalb  der  Juristen- 
fakultät der  Fall,  zumal  wenn  sie  sich  auf  die  Gefilde  des  öffentlichen 
Rechtes  begeben.  Rein  wissenschaftliche  Streitigkeiten  sind  eher 
unter  den  zwei  anderen,  ihrer  ganzen  Richtung  nach  unmittelbarer 
wissenschaftlichen  Fakultäten,  zu  erwarten.  Aber  auch  in  diese  spielt 
mächtig  der  Gegensatz  der  Weltanschauungen  hinein,  die  wieder  mit 
ReUgion  und  PoHtik,  daher  auch  mit  dem  allgemeinen  sozialen  Leben 
und  seiner  ökonomischen  Innenseite,  mannigfache  und  starke  Zu- 
sammenhänge darbieten.  Vor  allem  wichtig  ist  in  dieser  Hinsicht 
der  Kampf  zwischen  Theologie  auf  der  einen  Seite,  den  Naturwissen- 
schaften, später  auch  den  Geisteswissenschaften  auf  der  anderen. 
Dort  das  überlieferte  Landleben,  die  alte  Zeit,  die  alten  sozialen 
Schichten  und  Mächte;  hier  die  neu  emporkommende  städtische, 
zumal  neu-  und  großstädtische  Menschheit  mit  ihrer  aufgeklärten 
Denkimgsart.  Ähnlich,  wenn  auch  schwächer,  zeigen  denselben 
Charakter  und  bieten  dasselbe  Interesse,  Streitigkeiten  zwischen 
Glauben  und  Glauben,  zwischen  Wissenschaft  und  Wissenschaft. 


ÖFFENTLICHE   MEINtrNG.    ÖFFENTLICHES    LEBEN   UND    PARTEIUNG.         IO3 

Allerdings  bleiben  viele  gelehrte  Kontroversen,  denen  ein  solches 
Interesse  nicht  beiwohnt;  eben  darum  können  sie  auch  keine  öffent- 
liche Teilnahme  an  sich  ziehen  und  fesseln.  Sie  haben  kein  eigent- 
liches Publikum,  das  mit  Spannung  dem  Kampfe  folgt,  dem  Sieger 
oder  dem  Liebling  Beifall  klatscht,  den  Gegner,  zumal  wenn  er  unter- 
liegt, verlacht  und  verspottet.  Sie  stehen  in  keinem  Verhältnis  zum 
öffentlichen  Leben. 

25.  (Das  öffentliche  Leben.)  Das  öffentliche  Ivcben  besteht  im 
Unterschiede  vom  Privatleben  vorzugsweise  im  Verkehr  und  gemein- 
samen Interesse  solcher  Personen,  die  einander  persönlich  unbekannt 
sind,  aber  durch  Besitz  gemeinsamer  Sprache  und  anderer  geistiger 
Güter,  zumeist  auch  durch  materielle  Interessen  miteinander  zu- 
sammenhängen und  verbunden  sind.  Daher  entfaltet  sich  das  öffent- 
liche Leben  mit  dem  Wachstum  der  Städte,  es  hat  in  der  Groß- 
stadt seinen  gegebenen  Ort,  wo  nicht  mehr  der  Marktplatz  die  Menschen 
oder  wenigstens  die  Männer  zu  kommerziellen  und  politischen  Ge- 
schäften einheitlich  versammelt,  sondern  mannigfache  Zusammen- 
künfte zu  vielerlei  Zwecken,  wenn  auch  gleichfalls  vorzugsweise  zu 
kommerziellen  und  politischen,  an  verschiedenen  Stellen,  aber  zu- 
meist im  Zentrum  der  Großstadt,  stattfinden,  und  wo  sodann  der 
schriftliche  Verkehr,  neuerdings  teilweise  ersetzt  durch  fernspreche- 
rischen, zum  großen  Teile  an  Stelle  des  persönlichen  und  unmittelbar 
mündlichen  tritt. 

Wie  aber  der  Marktplatz  zur  Stadt,  wie  das  Zentrum  einer  Groß- 
stadt (die  City)  zu  ihrer  Peripherie,  so  verhält  sich  die  Großstadt 
als  ganze  zu  einem  Lande,  zu  ihrer  Umgebung,  zur  Provinz:  die 
große  Handelsstadt  vorwiegend  in  wirtschaftlicher,  die  große  Haupt- 
stadt vorwiegend  in  poHtischen  Belangen,  die  »Weltstadt«  in  beiden 
zur  Menschheit  in  unbestimmten  Grenzen.  Die  Zentralisation  ge- 
staltet sich  mithin  um  so  vollkommener,  wenn  beide  in  einer  Groß- 
stadt vereinigt  sind,  wie  es  einerseits  dadurch  geschieht,  daß  eine 
große  Handelsstadt  zur  Hauptstadt  wird,  andererseits,  daß  die  Haupt- 
stadt immer  mehr  auch  das  Geschäft  an  sich  zieht  und  an  sich  fesselt ; 
daß  endlich  die  Weltstadt  beide  in  sich  vereinigt. 

Wesentlich  bedingt  aber  ist  die  Verdichtung  des  mannigfachen 
Privatlebens  in  einem  Lande  zu  seinem  öffentlichen  Leben  durch  Er- 
leichterung und  Steigerung  des  Verkehrs.  Das  Zusammenkommen 
der  Personen,  also  die  Versammlung  zu  politischen  und  kommer- 
ziellen Zwecken,  wird  dadurch  begünstigt  und  vermehrt;  bald  gibt 
es  auch  Versammlungen  zum  Austausch  der  Meinungen  und  —  was 
mehr  bedeutet  —  zum  Verkünden  und  Geltendmachen  gemeinsamer 
Meinungen  und  Entschlüsse:  zum  »Demonstrieren«  einer  Stimmung, 


104  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

besonders  der  Unzufriedenheit.  Und  alles  das  in  Verbindung  mit 
dem  Transport  von  Sachen,  also  auch  von  Büchern  und  Schriften, 
von  Briefen  und  Depeschen.  Auf  diesen  Wegen  werden  auch  die 
Meinungen  mitgeteilt,  gesprochene,  geschriebene,  gedruckte,  telegra- 
phierte. Eine  planmäßige  Propaganda  dafür  wird,  wenn  nicht  zuerst 
mögHch,  so  doch  wahrscheinlicher  und  also  häufiger  organisiert.  Die 
Agitation  geschieht,  um  Waren  »an  den  Mann«  zu  bringen,  um  Mei- 
nungen an  den  Mann  zu  bringen.  Und  allen  diesen  Zwecken  dient 
das  Papier  —  auch  in  dem.  besonderen  und  verkürzten  Sinne,  den 
das  Wort  in  der  englischen  Sprache  angenommen  hat,  als  die  Zeitung. 
Sie  ist,  zum  Teil  schon  durch  die  Färbung,  die  sie  ihren  Nachrichten 
gibt,  durch  deren  Auswahl  und  Betonung,  vollends  aber  durch  ihre 
I^eitartikel  und  Betrachtungen,  gedruckte  und  insofern  »öffentlich« 
werdende  Meinung,  die  sich  verstärken  will  dadurch,  daß  sie  andere 
Meinungen  bildet  und  für  sich  gewinnt. 

26.  (Meinung  und  Selbsterhaltung.)  Schon  der  englische  Philosoph 
Thomas  Hobbes,  —  er  schrieb  in  einer  politisch  hocherregten  Zeit, 
die  aber  kaum  die  ersten  Anfänge  des  Zeitungwesens  kennen  lernte 
(1640 — 1660),  —  führt  als  einen  überkommenen  Ausspruch  den  Satz 
an,  daß  die  Welt  durch  Meinungen  regiert  werde  {T^he  Elements  of 
LaWj  P.  I,  Ch.  12.  6.).  Er  nennt  den  Satz  in  gewissem  Sinne  richtig, 
in  dem  Sinne  nämlich,  daß  Wille  den  Meinungen  folge,  wie  Handlung 
dem  Willen.  Die  Meinungen  aber,  von  denen  Begehren  und  Furcht 
imd  darum  das  Wollen  abhänge,  sind  für  ihn  die  Meinungen  von 
Lohn  und  Strafe,  d.  i.  allgemein  die  Erwartung  von  Gutem  oder 
Üblem  —  wodurch  der  Mensch  von  den  inteUigenten  Tieren  nicht 
wesentlich  verschieden  ist.  Der  Stolz  des  Menschen  empört  sich 
dagegen,  er  meint,  Herr  seiner  Handlungen  zu  sein  und  als  Denkender 
frei  seine  Zwecke  zu  setzen.  Das  Gute  und  Böse  glaubt  er  zu  erkennen 
und  auf  Grund  solcher  Erkenntnis  die  Handlung  frei  zu  wählen. 
Allerdings  ist  diese  Vorstellung  ein  Schema,  an  dem  wir  die  wirklichen 
Vorgänge  in  der  Seele  des  Wollenden  messen  mögen.  Um  diese  aber 
richtig  zu  verstehen,  hat  man  noch  andere  Begriffe  nötig,  vor  allem 
den  des  Selbsterhaltungstriebes,  den  Schopenhauer  als  »Willen« 
der  Vorstellung  und  dem  Intellekt  entgegengesetzt  hat,  und  sogar  als 
allgemeines  Weltwesen,  als  das  »Ding  an  sich«  zu  behaupten  wagte. 
Richtig  ist  darin,  daß  das  Verhalten  der  materiellen  Substanz  und  das 
Verhalten  der  Seelen  im  letzten  Grunde  den  gleichen  Gesetzmäßig- 
keiten unterliegen,  die  in  der  Tendenz  zu  beharren  ihren  allgemeinsten 
Ausdruck  haben.  Diese  Tendenz  bedingt  bei  den  organischen  Wesen 
die  Wehr  gegen  Vernichtung,  das  Streben  nach  Nahrung,  die  Arbeit 
der  Erneuerung  und  Zeugung.  Die  Harmonie  dieser  drei  Betätigungen 


ÖFFENTUCHE  MEINUNG.   —   ÖFFENTUCHES   LEBEN   UND    PARTEIUNG.         IO5 

bildet  auch  den  Generalbaß  im  Leben  des  Menschen,  durch  sie  be- 
dingt ist  das  Spiel  seiner  mannigfachen  Gefühle  und  Leidenschaften, 
daher  sind  auch  die  Anstrengungen  seiner  Sinne  und  seines  Denkens 
davon  abhängig.  Eine  philosophische  Terminologie,  die  jene  Urgründe 
»Willen«  nennt  und  den  Intellekt  als  davon  wesentlich  verschiedenes 
Organ  (oder  als  »Diener«)  solchen  Willens  darstellt,  ist  irreführend;  es 
wäre  denn,  daß  sie  darauf  Verzicht  leistete,  den  Terminus  »Wille« 
auch  in  dem  Sinne  zu  gebrauchen,  der  im  Sprachgebrauche  vor- 
herrscht und  nur  dem  Menschen  einen  wirklichen  Willen  zuschreibt. 
Denn  hier  ist  der  Wille  ganz  und  gar  an  das  Denken  gebunden,  vom 
Denken  erfüllt,  sei  es,  daß  er  als  »Wesenwille«  begriffen  werde,  der 
das  Denken  in  sich  enthält,  insofern  als  er  Wille  eines  Vernunft- 
wesens ist,  oder  als  »Kürwille«,  der  nichts  als  Denken  ist,  wenn  auch 
Denken,  das  »den  Willen  in  sich  enthält«,  d.  i.  auf  zu  wollende  Mittel 
für  erstrebte  Zwecke  sich  bezieht.  Wille  ist  der  Grund  des  Wollens 
und  Wollen  ist  nicht  eine  Tätigkeit,  sondern  der  (perfektische)  Zu- 
stand des  »beschlossen  habens«,  »sich  vorgenommen  habens«, 
»entschlossen  seins«,  »gesonnen  seins«,  welchen  Zustand  unsere 
Sprache  auch  durch  »gedenken«  und  —  durch  »meinen«  ausdrückt.  Dies 
Meinen  und  Gedenken  ist  durch  anderes  Meinen  und  Denken  be- 
dingt: jenes  (das  erstere)  gehört  dem  Gebiete  des  »Willens«  (nicht 
nur  in  jenem  allgemeinen  Schopenhauer  sehen  Sinne,  sondern  auch 
in  dem  besonderen  Sinne,  da  es  selber  menschliches  Wollen  ist), 
dieses  dem  Gebiete  des  »Intellektes«  an,  aber  wie  die  Worte  identisch 
sind,  so  liegen  die  beiden  Gebiete  nicht  nur  dicht  zusammen,  sondern 
sind  ineinander  verwoben,  sind  in  Wahrheit  eine  organische  Einheit. 
Der  Gedanke  und  die  Meinung,  daß  etwas  »gut«  (nützlich,  heilsam, 
ja  auch  schön  und  edel)  sei,  schließen,  wenigstens  sobald  sie  aus  dem 
Gefühl  entspringen  —  und  davon  können  sie  niemals  völlig  sich  los- 
reißen —  die  Bejahung  und  Hinneigung  in  sich  ein,  eben  dadurch 
aber  auch  den  Keim  und  Anfang  eines  »Wollens«,  möge  solcher  Keim 
imd  Anfang  nun  Streben  oder  Wünschen  oder  Trieb  oder  Begehren 
genannt  werden:  immer  ist  dieser  Willenskeim  (Conat)  der  Anfang 
der  Tätigkeit  selber  und  zwar  einer  Bewegung  zu  dem  Dinge  hin,  also 
einer  Ausdehnung  des  eigenen  und  Annäherung  an  den  fremden 
Körper.  Ebenso  verhält  sich  umgekehrt  Gedanke  und  Meinung, 
daß  ettvas  »schlecht«  (schädlich,  übel,  ja  auch  häßlich  und  ekelhaft) 
sei;  sie  sind,  je  mehr  sie  wahr  und  stark,  um  so  inniger  verbunden  mit 
»Widerwillen«,  Abneigung,  vScheu,  Zusammenziehung  und  Zurück- 
ziehung des  eigenen  Körpers,  Entfernung  von  dem  fremden  Körper. 
In  Wirklichkeit  sind  aber  die  Gefühle  und  Meinungen  regelmäßig 
gemischt,  so  daß  von  mehreren  Willenskeimen   (Conaten)  nur  die 


Io6  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

stärksten,  indem  sie  die  schwächeren  überwinden,  in  einem  Willens- 
akt, d.  i.  im  Anfang  und  dem  Versuch  einer  Tat,  sich  vollenden.  Der 
Mensch  vergleicht  und  überlegt:  er  sucht  nicht  das  Gute,  vielleicht 
ist  es  in  unerreichbarer  Ferne,  sondern  das  Bessere,  vielleicht  (und 
gar  oft)  das  kleinere  von  mehreren  Übeln.  Auf  der  einen  Seite  steht 
etwa:  möglicher  Tod  und  gewisse  Schande  —  auf  der  anderen  viel 
wahrscheinlicherer  Tod  und  gewisse  Ehre,  oder  doch  Vermeidung 
der  Schande.  Wenn  er  jung  ist,  kräftig  und  mutig,  so  wählt  er  ohne 
Zaudern  und  Schwanken.  Darum  folgt  aber  auch  nicht  aus  Einsicht 
und  richtiger  Meinung  richtiges  Wollen  und  Handeln,  wenn  der  Antrieb 
dazu  nicht  stark  genug  ist.  Video  meliora  prohoque,  deteriora  sequor 
„ich  sehe  den  besseren  Weg  und  billige  ihn,  den  schlechteren  aber 
gehe  ich".  Das  will  sagen:  die  I/Cidenschaft,  die  Begierde  ist  zu  stark, 
ist  stärker  als  »ich«,  d.  i.  als  meine  Vernunft  und  Besonnenheit^). 
Bringen  aber  I^eidenschaft  und  Begierde  auch  eine  Meinung  hervor, 
die  mit  ihnen  übereinstimmt  ?  Ja,  wenigstens  den  stummen  Embryo 
einer  Meinung,  den  Gedanken  etwa,  es  müsse  sein,  es  müsse  ein  Ende 
gemacht  werden,  oder:  er,  der  Täter,  könne  nicht  mehr  leben,  ohne 
seine  Rache  genommen  und  genossen  zu  haben.  Dies  sogar  im  Falle 
eines  unmittelbaren  Handelns  »im  Affekt«,  ohne  Vorbedacht;  vollends, 
wenn  die  Gelegenheit  dazu  erwartet,  erhofft  wird,  und  die  lyeiden- 
schaft  Zeit  hat,  sich  in  das  gesamte  Denken  des  von  ihr  Besessenen 
hineinzubohren . 

27.  (Meinungen  und  Interessen.)  Es  scheint  unhaltbar,  zu  be- 
haupten, daß  alle  Meinungen  durch  Gefühle,  Neigungen,  lyeiden- 
schaften  verursacht  oder  bedingt  werden.  Werden  nicht  wissen- 
schaftHche  Ansichten,  historische  Urteile,  rein  und  ausschließlich 
durch  Denken,  durch  »unbefangene«  Prüfung  der  Tatsachen,  richtige 
oder  irrige  Schlußfolgerungen  bestimmt?  Gewiß  werden  wir  diese 
Idee  als  die  eines  vorgestellten  möglichen  Falles  festhalten.  Wissen 
wir  doch,  daß  der  echte  Forscher  imd  Denker  nur  von  der  einen 
I^eidenschaft,  dem  einen  Streben  beseelt  ist,  die  Wahrheit  zu  erkennen, 
Zusammenhänge  und  Ursachen  der  Dinge  zu  ergründen.  Wenn  ihm 
dies  geUngt,  so  werden  wir  nicht  sagen,  seine  Meinung  werde  durch 
seine  Neigungen  oder  Wünsche  bestimmt,  sondern  sie  erscheint  uns 
als  allein  von  der  Tatsache,  vom  Gegenstande,  von  der  (»objektiven«) 
Wirklichkeit  abhängig.  Gewiß  ist  auch  solche  reine  Erkenntnis  und 
dadurch  gewonnene  Ansicht  oder  Meinung,  von  der  Beschaffenheit, 
der  Kraft  und  dem  »Willen«  der  Erkenntnisorgane  abhängig;  wenn 
aber    diese  gut  und  stark  sind,    so  ist  der  Erkennende  »Mensch« 

1)  ■d'V[.i6g  ÖS  xQsioocov  rcöv  ifzcov  ßovXtjfxdxwv,  —  dieses  Wort  der  Kuripideischen 
Medea  ist  das  Original  jenes  lateinischen  Spruches. 


ÖFFENTI.ICHE   IMEINUNG.    —    ÖFFENTI.ICHES    LEBEN   UND    PARTEIUNG.         IO7 

schlechthin:  seine  Erkenntnis  trägt  den  Charakter  der  Allgemeinheit 
und  Notwendigkeit  und  also  der  Wissenschaft,  oder  wenigstens  der 
Notwendigkeit,  und  also  der  (einzelnen  und  besonderen)  Wahrheit.  — 
Aber  wir  wissen  auch,  daß  die  erkennenden  Subjekte  ihre  »mensch- 
lichen Schwächen«  haben.  Die  Ansichten  oder  Meinungen  sind  ver- 
schieden. Warum?  Zum  Teil  offenbar  wegen  verschiedener  Be- 
schaffenheit der  Erkenntnisorgane  und  Erkenntnismittel;  aber  zu 
einem  weitaus  größeren  Teil  infolge  von  verschiedenen  Gefühlen, 
Gewohnheiten  und  von  Gedanken  und  Ansichten,  die  selber  wieder 
in  Gefühlen  und  Gewohnheiten  beruhen  oder  sonst  durch  die  gesamte 
Lage,  die  Voraussetzungen  imd  »Vorurteile«  des  Subjektes  gegebene 
Faktoren  sind.  Am  leichtesten  verständUch  ist  in  dieser  Hinsicht, 
daß  die  Ansichten  über  das  Gute  und  Richtige  weit  voneinander  ab- 
weichen; denn  sie  folgen  aus  den  wesentHch  verschiedenen  Gefühlen 
der  Individuen,  nach  denen  sie  zunächst  nur  eine  Meinung  hegen  — 
und  oft  genug  eine  irrige  —  über  das,  was  ihnen,  was  einem  jeglichen 
für  sich  zuträgUch  ist;  aber  es  ist  eine  allgemein  menschliche  Neigung, 
eben  dies  für  allgemein  nützlich  und  gut  zu  erachten  oder  wenigstens 
dafür  auszugeben.  Unterstützt  wird  diese  Neigimg  durch  Wünsche 
und  Anhegen,  die  eben  davon  einen  Vorteil  für  den  Wünschenden  er- 
warten, daß  das  für  ihn  Gute  als  im  allgemeinen  gut  anerkannt  werde ; 
und  solches  »Interesse«  übersetzt  sich  leicht  und  rasch  in  die  Meinung, 
ja  in  einen  —  vielleicht  schwärmerischen  —  Glauben,  daß  es  wirklich 
schlechthin  gut  imd  richtig  sei.  Aufrichtige  Meinung  vermischt  sich 
hier  wie  sonst  mit  interessierter  Kundgebung  oder  wenigstens  einer 
Hervorhebung  und  Betonung,  höher  und  schärfer,  als  mit  Aufrichtig- 
keit sich  verträgt.  Die  wirkliche  Meinung  selber  ist  oft,  auch  wenn 
ihr  Träger  dessen  nicht  bewußt  wird,  mitbedingt  durch  Wetteifer  und 
Eitelkeit,  das  Gefallen  an  neuen  und  neuesten,  auffallenden  und 
höchst  besonderen  Meinungen,  die  eine  höhere  oder  tiefere  als  die 
gemeine  Einsicht  vermuten  lassen.  —  Unterschied  und  Gegensatz 
der  Meinungen  macht  sich  in  jeder  Körperschaft  geltend,  worin 
gemeinsame  Angelegenheiten  beraten  werden,  zumal  wenn  die  Körper- 
schaft als  Einheit  einen  Beschluß  fassen  soU;  ebenso  aber  in  dem 
größeren  Kreise,  der  etwa  als  »Wählerschaft«  die  Zusammensetzung 
einer  solchen  Körperschaft  mitbestimmen  und  also  mittelbar  auf 
dessen  zukünftige  Beratungen  und  Beschlüsse  einwirken  soll  und  will. 
Ja,  selbst  wenn  die  letzten  Entscheidungen  nur  von  einer  einzigen 
natürlichen  Person,  also  in  Staatsangelegenheiten  von  einem  unum- 
schränkten Monarchen,  abhängen,  so  können  sich  die  auseinander- 
gehenden Meinungen  geltend  machen  und  mit  allen  verfügbaren 
Mitteln  dahin  streben,  sein  »Ohr«  zu  erreichen,  seinen  Willen  zu  be- 


I08  Begriff  und  Theorie  der  öffenti<ichen  Meinung. 

stimmen.  Naturgemäß  bilden  sich  hier  die  »Parteien«  am  leichtesten 
in  der  räumlichen  und  in  der  geistigen  Umgebung,  also  um  den 
Monarchen  an  seinem  Hofe,  und  unter  denen,  die  seinem  Range  am 
nächsten  stehen,  also  im  Adel  und  in  der  hohen  Geistlichkeit. 

28.  (Parteien.)  Übrigens  aber  sind  Entstehung  und  GHederung 
der  Parteien  und  Parteimeinungen  immer  von  dreifacher  Art: 

A.  Die  Partei  der  Herrscher  und  die  Partei  der  Beherrschten 
oder  die  Partei  des  Regimentes  und  die  Partei  der  Opposition:  ein 
allgemeiner  und  notwendiger  Gegensatz,  insofern  als  das  Regiment 
immer  Menschen  und  Meinungen  an  sich  fesselt,  die  unmittelbar  oder 
mittelbar  von  ihm  abhängig  sind;  als  ihm  alle  diejenigen  in  der  Regel 
zugetan  sind,  welche  die  Ruhe  lieben  und  die  Veränderung  fürchten; 
als  es  oft  mit  einem  Glänze  von  Heiligkeit  und  Würde  umgeben  ist^ 
und  daher  an  Glauben  und  Ehrfurcht  seine  Ansprüche  machen  kann ; 
wenn  auch  schließlich  nur  der  Machtzauber  (das  »Presiige«)  des 
»Volkswillens«  das  ist,  was  noch  diesen  Eindruck  machen  kann,  oder 
endlich  die  rohe  Tatsache  der  gegenwärtigen  Gewalt.  Hingegen  die 
Opposition  wird  sich  immer  bilden  aus  denen,  die  vom  Regimente 
ausgeschlossen  sind;  zumal  wenn  sie  durch  die  geltenden  oder  neu 
erlassenen  Gesetze  und  Verordnungen  sich  bedrückt  fühlen  oder  durch 
die  Verwaltung  unterdrückt  werden;  aus  denen,  die  Neuerungen 
hold  sind  und  selber  durch  neue  Einrichtungen,  neue  Regierungen 
gehoben  zu  werden  hoffen;  die  den  Glauben  und  die  Ehrfurcht  vor 
den  Regierenden  nicht  teilen,  vielmehr  deren  menschliche  Schwächen, 
Mängel  und  Laster,  Torheiten  und  Irrtümer  in  grelle  Beleuchtung 
zu  setzen  beflissen  sind;  die  überzeugt  sind,  oder  sich  wenigstens  den 
Anschein  geben,  es  zu  sein  —  weil  es  in  ihrem  Interesse  liegt,  die 
Überzeugung  auszubreiten,  —  daß  die  Maßnahmen  der  Regierung 
dem  allgemeinen  Wohle  nachteilig  sind;  die  den  »Volkswillen«  für 
gefälscht  halten  oder  ihn  als  Einfalt  der  Menge  verspotten  und  als 
Minderheit  der  Tyrannei  der  Mehrheit  sich  widersetzen. 

Hiermit  ist  der  allgemeine  Charakter  eines  Gegensatzes  bezeichnet, 
der  in  mannigfachen  Gestalten  sich  wiederholt.  Seine  große  historische 
Ausprägung  findet  er  in  jedem  Kampf  und  Streit  zwischen  herrschen- 
den und  beherrschten  Schichten,  Ständen  oder  Klassen ;  wobei  zu  ge- 
denken ist,  daß  es  innerhalb  dieser  Gegensätze  gleichzeitig  ver- 
schiedene Arten  von  Regierung,  also  auch  verschiedene  Arten  von 
Opposition  gibt.  Auch  wer  zur  herrschenden  Schicht  gehört,  fühlt 
sich  als  Beherrschter,  insofern  als  er  vom  Regimente  ausgeschlossen 
ist,  und  er  kann,  um  diesem  Opposition  zu  machen,  die  Partei  der 
beherrschten  Schicht  »nehmen«,  mit  dieser  »fraternisieren«  und  sich 
zu  ihrem  Führer  aufwerfen. 


ÖFFENTLICHE  Meinung.  —  Öffentliches  Leben  und  Parteiung.      109 

In  der  europäischen  Geschichte  der  Neuzeit  hat  daher  dieser 
Gegensatz  seine  weiteste  Ausdehnung  in  dem  Kampfe  zwischen  den 
mittelalterhchen  Herrenständen  (der  GeistHchkeit  nebst  dem  welt- 
lichen Adel),  und  dem  Bürgertum,  insofern  als  dieses  sich  aus  einem 
lokal  bedingten  in  ein  territoriales  und  nationales  (den  »dritten 
Stand«)  verwandelt  und  sammelt;  also  anstatt  einer  Vielfachheit 
der  Städte  eine  Einheit  des  Staates  oder  Reiches  wird.  Diese  Bürger- 
lichkeit kämpft  innerhalb  der  bischöflich  regierten  römischen  Kirche, 
und  innerhalb  der  ständisch  regierten  Staaten,  gegen  Geistlichkeit 
und  Adel.  Sie  setzt  damit  den  Kampf  fort,  den  die  städtischen 
Bürgerschaften,  zum  guten  Teile  siegreich,  innerhalb  ihrer  Städte 
geführt  hatten  und  weiter  führen.  Die  historisch  bedeutsamste  Er- 
scheinungsform dieses  Kampfes,  sofern  er  gegen  die  herrschende 
Geistlichkeit  gerichtet  war,  ist  die  »Reformation«.  In  ihr  vermischen 
und  verbinden  sich  aber  mit  diesem  Hauptgegensatze  andere  von 
minderer  Tragweite :  der  Gegensatz  der  weltlichen  gegen  die  geistliche 
Gewalt,  des  niederen  gegen  den  hohen  Adel,  d.  i.  gegen  die  Landes- 
hoheiten (in  Deutschland) ;  in  anderen  lyändern  des  Adels  überhaupt, 
vornehmUch  gerade  des  hohen  Adels,  gegen  die  Monarchie,  so  auch 
in  Deutschland  der  Fürsten  gegen  den  Kaiser;  ebenso  der  niederen 
Geistlichkeit  gegen  die  höhere,  der  niederen  Bürgerschaften  (der 
Gemeinde  oder  Zünfte)  gegen  die  Geschlechter  (den  Patriziat)  der 
Städte;  endlich  der  armen  großen  Menge  in  Stadt  und  Land  gegen 
die  Reichen  oder  für  reich  Geltenden,  d.  i.  die  Kaufleute  und  Wucherer 
in  größeren  Städten,  die  Gnmdherren  in  ihren  Schlössern,  die  Mönche 
und  Nonnen  in  Klöstern  und  Stiften.  Diese  Bewegung  geht  durch 
die  Jahrhunderte  hindurch,  vorzugsweise  gegen  den  von  der  Kirche 
geforderten  und  verkündeten  rechten  Glauben  als  abweichende 
Meinung,  »Häresie«,  gerichtet.  Ihren  allgemeinen  und  elementaren 
Ausdruck  hat  die  Häresie  als  Leugnung  der  HeiHgkeit  der  Kirche, 
Bestreitung  der  Notwendigkeit  und  des  Wertes  der  Priesterschaften. 
In  nächstem  Zusammenhange  damit  steht  die  Anfechtung  der  »Sakra- 
mente« als  der  Wunder-  und  Gnadenmittel,  worüber  die  Kirche  ver- 
fügt. Volkstümlich  in  einem  Brennpunkte  gesammelt  tritt  diese 
Anfechtung  auf  gegen  die  Taufe  der  neugeborenen  Kinder,  wenn 
auch  —  mit  wenigen  Ausnahmen  —  das  Symbol  behalten  wird,  als 
Form  der  Aufnahme  in  die  Gemeinde  der  wahren  Christen,  die  sich 
selber  Priester  sind  und  die  baldige  Wiederkunft  des  Herrn  erwarten. 
Die  »täuferische«  und  schwärmerische  Bewegung  ist  die  eigenthche 
Volksbewegung,  lange  vor  der  Reformation  gärend,  lange  nach  ihr 
in  mancherlei  Gestalten  fortlebend.  Denn  die  Reformation  bildet 
neue  Kirchen,  wenn  auch  —  schon  durch  ihre  Vielheit  —  minder 


HO  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung, 

heilige,  die  auf  Allgemeinheit  keinen  Anspruch  machen,  sondern  als 
Landeskirchen  dem  lyandesherrn  —  oder  dem  städtischen  Rat  — 
gehorchen.  Das  neue  Kirchenregiment  ruft  neue  Opposition  hervor. 
Diese  empfängt  ihre  historisch  bedeutendste  Ausprägung  in  der 
Geschichte  Großbritanniens,  teils  als  Widerstand  der  mehr  laienhaft 
organisierten  presbyterianischen  Kirche  Schottlands  gegen  die  bischöf- 
liche Kirche  von  England,  teils  innerhalb  dieser  als  bürgerliche  Ge- 
sinnung der  Puritaner  und  von  der  Kirche  sich  trennender  (indepen- 
denter)  mannigfacher  Sekten  (der  »Revolutionskirchen«).  Die  »puri- 
tanische Rebellion «  spielte  sich  ab  in  dem  I^ande,  dessen  Kirche  noch 
heute  sich  rühmt  die  rechte  katholische  Kirche,  wenn  auch  mit  welt- 
lichem Oberhaupt,  gebHeben  zu  sein.  In  anderen  protestantischen 
lyändern  ist  die  unmittelbare  politische  Bedeutung  der  Kritik,  die 
gegen  Kirche  und  Geistlichkeit  gerichtet  wird,  schwach;  sie  bedingt 
einerseits  rein  kirchUche  Parteibildung,  andererseits  führt  sie  zum 
inneren,  hie  und  da  auch  äußeren  Abfall  vom  kirchUchen  Glaubens- 
system, also  zur  Ausbreitung  einer  wissenschaftlichen  und  freigeistigen 
Denkweise.  Die  große  Offensive  des  dritten  Standes  gegen  Adel  und 
Geistlichkeit  erneut  sich  in  welterschütternden  Ereignissen  durch  die 
französische  Staatsumwälzung,  die  nach  schweren  Unterbrechungen 
gerade  ihren  antikirchlichen  Charakter  bis  an  die  Wende  des  20.  Jahr- 
hunderts fortgesetzt  und  vollendet  hat.  In  beiden  großen  Revo- 
lutionen aber  —  der  englischen  und  der  französischen  —  vermischt 
sich  die  Opposition  gegen  die  beiden  herrschenden  Stände  mit  einer 
ganz  anderen:  derjenigen  gegen  das  absolute  Königtum  oder  gegen 
den  modernen  Staat,  den  dieses  vordeutend  darstellt,  weil  es  ihn  um 
seiner  selbst  willen  aus  sich  entwickeln  mußte  („Der  Staat,  das  bin 
ich**,  dieser  Ausspruch  enthält  nicht,  wie  er  gewöhnlich  verstanden 
wird,  die  I^eugnung,  sondern  eher  die  Anerkennung  und  Behauptung 
des  Staates).  Hier  steht  das  weltUche  Regiment  auf  seinen  eigenen 
Füßen  und  hat  sich  auch  über  die  herrschenden  Stände  erhoben,  ja 
diese  Erhebung,  also  die  Bekämpfung  der  Stände,  ist  ihm  Haupt- 
aufgabe der  inneren  Politik,  denn  es  ist  die  Bekämpfung  seiner  Rivalen. 
Der  Fürst  ist  daher,  soweit  als  dieser  Zweck  und  dieses  Interesse  ihn 
leitet,  natürUcher  Bundesgenosse  des  dritten  Standes.  Ebenso  sehr 
aber  bedarf  er,  um  seine  Autorität  zu  befestigen,  der  ihm  sozial  viel 
näherstehenden  Schichten,  als  seiner  Stützen;  eben  darum  macht  er 
die  Kirche  so  sehr  als  möglich  zur  Hofkirche  (auch  in  Frankreich)  und 
den  Adel  zum  Hofadel;  die  Schaffung  neuen  Adels  aus  den  Spitzen 
des  dritten  Standes  ist  eines  der  Mittel,  die  beiden  Zwecke  —  Stützung 
auf  die  Aristokratie,  Verbindung  mit  der  Bürgerklasse  —  zu  vereinen. 
Immer  wird  er  nur  Teile  beider  auf  seiner  Seite  haben ;  denn  die  Masse 


ÖFFENTWCHE   MEINTNG.    ÖFFENTI,ICHES    LEBEN   UND    pARTEIUNG.         III 

der  Untertanen,  ob  herrschgewohnt  (wie  der  Adel)  oder  wenigstens 
bisher  selbständig  (wie  ein  städtisches  Patriziat  und  sonst  freie 
Bürgerschaften)  wird  sich  durch  Gesetzgebung  und  Verwaltung, 
zumal  wenn  sie  nicht  einmal  scheinbar  einen  mitbestimmenden  Ein- 
fluß darauf  haben,  leicht  bedrückt  fühlen,  insbesondere  durch  Steuern 
und  durch  die  Aufhebung  oder  Beschneidung  ihrer  herkömmlichen 
Rechte  und  Vorrechte  (Privilegien).  Das  absolute  Regiment  eines 
Fürsten  wird  immer  hauptsächHch  durch  seine  eigene  bewaffnete 
Macht  sich  behaupten  müssen;  wo  diese  fehlt  oder  zu  gering  ist,  da 
wird  er  —  bald  gegenüber  dem  Adel,  bald  gegenüber  dem  dritten 
Stande  —  imterliegen;  vollends  wenn  beide  gegen  ihn  sich  alliieren, 
wie  die  Lords  und  Gemeinen  gegen  Jakob  II.  Mit  der  »glorreichen« 
Revolution  (1688)  setzte  in  England  —  und  bald  in  Großbritannien  — 
eine  Oligarchie  sich  ein,  in  der  die  plutokratischen  Teile  des  Adels  und 
der  jungen  Bourgeoisie  —  Großhandel  und  Geldhandel  —  sich  durch 
gegenseitige  Einräumungen  zusammenfanden;  diese  Oligarchie  wird 
auch  »Squirearchy«  genannt,  d.  h.  Herrschaft  der  Gutsherren,  w^eil 
die  politische  Macht  der  großen  Vermögen,  auch  der  im  Handel 
erworbenen,  durch  Grundbesitz  als  Macht  über  Land  und  Leute  — 
insbesondere  über  die  Wähler  —  sich  befestigt.  Ihr  gegenüber  blieben 
dann  als  beherrschtes  Volk  i.  die  soziale  Schicht  der  Pächter  und  die 
der  Gewerbetreibenden,  welche  beide  im  18.  und  vollends  im  19.  Jahr- 
hundert in  ihren  Spitzen  allmähHch  zu  Reichtum  gelangen,  so  daß 
wenigstens  die  Industriellen  demgemäß  auch  politische  Macht  er- 
obern, —  in  entscheidender  Weise  durch  die  Reformbill  1830,  aber 
schon  drei  Jahre  früher  auch  durch  Aufhebung  der  Test-Acte,  die 
bis  dahin  alle  Ämter,  wie  auch  die  parlamentarische  Wählbarkeit,  den 
Bekennern  zur  offiziellen  Kirche  vorbehalten  hatte.  Es  blieb  aber 
2.  die  große  Menge,  aus  der  im  19.  Jahrhundert  die  industrielle 
Arbeiterklasse,  der  sich  die  ländliche  zögernd  anschließt,  mit  eigenem 
Bewußtsein  und  eigenem  Willen  emportaucht.  Nachdem  also  der 
Reichtum  jeder  Gattung  Anteil  am  Regiment  gewonnen  hat,  bleibt 
als  natürliche  Opposition  der  Untertanen  nur  die  des  Proletariats. 
Dieser  Gegensatz  ist  nun  gerade  in  Großbritannien  und  in  allen  parla- 
mentarisch regierten  Ländern  strenge  zu  unterscheiden  von  dem 
Gegensatz  zwischen  der  jeweihg  am  Ruder  befindlichen  Regierung 
und  dem  jeweilig  »in  der  Opposition«  befindlichen  Flügel  der  herr- 
schenden Schichten.  In  Rußland  hat  sich,  infolge  des  gänzHchen 
Zusammenbruchs  der  bisher  herrschenden  —  wenn  auch  seit  1905 
formell  nicht  mehr  allein  herrschenden  —  Monarchie,  die  Herrschaft 
einer  proletarischen  Minderheit  aufgeworfen  und  bisher  (1917/1921) 
sich  zu  behaupten  vermocht.    Da  diese  als  Diktatur  auftritt,  so  ist 


112  Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  Meinung. 

eine  öffentliche  Opposition  dagegen  nicht  möghch;  auch  die  Kritik 
der  Presse  wird  unterdrückt.  In  Deutschland  war  aus  ähnUchen 
Ursachen  ein  ähnlicher  Vorgang  im  November  1918  erfolgt,  der  aber 
einige  Monate  später  in  ein  erneutes  Verfassungsleben  auf  breitester 
republikanisch-demokratischer  Grundlage  übergegangen  ist.  Dadurch 
ist  der  größte  Teil  der  sozial  herrschenden  Schichten  in  die  politische 
Opposition  gedrängt  worden.  Ein  ungewöhnlich  starker  Widerspruch 
zwischen  sozialer  Herrschaft  und  politischem  Regiment  ist  zu  Tage 
getreten.  Das  Wahre  des  Gegensatzes  zwischen  Regiment  und  Oppo- 
sition läßt  sich  an  diesem  Falle  um  so  reiner  beobachten. 

29.  (Parteien  II.)  B.  Entstehung  und  Gliederung  der  Parteien 
und  Parteimeinungen  richtet  sich  ferner  nach  dem  Gegensatz  des 
Erhalten woUens  und  des  Verändern w^oUens :  die  konservative  Partei 
und  —  so  wollen  wir  sie,  um  den  Gegensatz  in  logischer  Allgemeinheit 
auszudrücken,  nennen  —  die  mutative  —  bequemer  sagen  wir ;  die 
reformative  —  Partei;  sofern  aber  die  bestehende  Ordnung,  die  eine 
Partei  erhalten  will,  historisch  zumeist  sich  in  Bindungen  darstellt, 
und  insofern  als  die  natürliche  Richtung  des  Verändernwollens  auf 
Befreiung  von  solchen  Bindungen  geht,  so  hatte  sich  die  mutative 
und  reformative  Partei  regelmäßig  »freiheitlich«,  »freisinnig«,  »liberal« 
genannt.  Und,  insofern  als  der  Parteienkampf  der  neuzeitlichen  Jahr- 
hunderte sich  um  Erhaltung  oder  Zerstörung  der  sozialen  und  poli- 
tischen Ordnungen  des  Mittelalters  bewegt  hat  und  zum  Teil  noch 
bewegt,  so  deckt  sich  dieser  Gegensatz  mit  dem  unter  A.  erörterten 
zwischen  den  alten  herrschenden  Ständen  und  dem  dritten  Stande, 
oder  genauer  der  aus  ihm  sich  entwickelnden  Bourgeoisie,  die  sich  in 
England  die  »Mittelklasse«  nennt.  Indessen  ist  daraus  im  19.  Jahr- 
hundert deutlich  ein  anderer  Gegensatz  herausgewachsen:  derjenige 
nämlich,  bei  dem  es  sich  um  Erhaltung  oder  Zerstörung  des  gesamten 
Privatrechtes  handelt,  dessen  wesentliche  Einrichtungen,  ins- 
besondere die  des  Privateigentums  an  Boden  und  Kapital,  den  alten 
und  den  neuen  Zuständen,  oder,  was  das  Gleiche  bedeutet,  dem  alten 
und  dem  neuen  Herrentum  gemeinsam  sind,  und  folgHch  von  den 
Vertretern  beider  emsig  verteidigt  werden,  so  daß  sie  eine  verbundene 
konservative  oder  »Ordnungspartei«  darstellen;  wogegen  dann  die 
in  diesem  Sinne  mutative  Partei  zuweilen  auch  als  »liberal«  — 
weil  sie  Freiheit  und  Befreiung  (»Emanzipation«)  der  jenes  Privat- 
eigentums ermangelnden  Klasse  von  den  Fesseln,  die  es  ihr  aufgelegt 
hat,  erstrebt  —  oder  aber,  und  zwar  genauer  als  »radikal«  (weil  sie 
das  Drückende  dieser  Fesseln  als  Reste  des  sonst  überwundenen 
»Feudalismus«  betrachtet,  die  sie  mit  der  Wurzel  vertilgen  will) 
öfter  jedoch  als   »soziaUstisch«  oder   »kommunistisch«  (weil  sie  das 


ÖFFENTLICHE   MEINUNG.   —   ÖFFENTLICHES   LEBEN   UND    PaRTEIUNG.         II3 

Programm  entfaltet,  die  Produktionsmittel  zum  gesellschaftlichen 
oder  gemeinschaftlichen  Eigentum  zu  machen)  sich  vorstellt.  Inso- 
fern nun,  als  auch  die  Staatsregierung  von  der  gemeinsamen  Macht 
des  alten  imd  des  neuen  Herrentums  getragen  wird  imd  also  den 
natürlichen  Beruf  hat,  die  bestehende  Bigentumsordnung  aufrecht- 
zuerhalten imd  zu  schützen,  so  fällt  dieser  Gegensatz  des  Brhalten- 
wollens  und  des  VerändernwoUens  wiederum  mit  dem  unter  A.  allge- 
mein behandelten  von  Herrschern  und  Beherrschten,  Regiment 
imd  Opposition  zusammen;  näher  aber  im  Staate  mit  demjenigen 
zwischen  der  Regierung,  auch  wenn  diese  abwechselnd  den  an  der 
sozialen  Herrschaft  teilhabenden  Parteien  zu  eigen  ist,  einerseits, 
der  Untertanenschaft  andererseits,  insofern  als  diese  hauptsächlich 
aus  der  großen  Menge  besteht,  deren  Vertreter  von  der  Regierung 
dauernd  ausgeschlossen  bleiben,  oder  doch  nicht  die  bestimmende 
Macht  in  ihr  werden. 

Für  die  historische  Ansicht  bleibt  aber  immer  im  Vordergrunde 
die  universale  Bedeutung  des  Kampfes  zwischen  konservativen  — 
alten,  herkömmlichen,  religiösen  —  und  j>liberalen«  —  als  neuen, 
revolutionären,  auf  wissenschaftliches  Denken  sich  stützenden  — 
Ideen ;  denn  es  ist  der  Kampf  zwischen  den  Weltaltern,  der  Befreiungs- 
kampf der  Neuzeit  gegen  das  Mittelalter,  und  also  die  Entbindung 
der  Neuzeit  von  ihrem  Mutterschoße,  die  teilweise  in  schmerzloser, 
stiller  Entwicklung  sich  vollzieht,  aber  stärker  die  Aufmerksamkeit 
des  Beobachters  auf  sich  zwingt  durch  die  geräuschvollen  Katastrophen 
und  Krisen,  worin  die  Gegensätze  der  sozialen  Mächte,  ihrer  Inter- 
essen und  ihrer  Anschauungen  aufeinanderplatzen.  Hier  erscheint 
durchaus  der  Kampf  der  Meinungen  als  ein  Ausdruck  des  gesamten 
Lebensprozesses,  der,  von  der  Seite  der  alten  Zustände  (des  Mittel- 
alters) gesehen,  wesentlich  eine  Auflösung  und  Zersetzung  ist,  hin- 
gegen von  diesseits,  d.  i.  von  den  neuen  Zuständen  (der  Neuzeit)  aus, 
Anfang  und  Fortschritt  der  wirklichen  Kultur  oder  ihre  Wiedergeburt 
und  Erneuerung  bedeutet,  wenn  auf  das  Altertum,  das  hinter  der 
»Barbarei«  des  »finsteren «  Mittelalters  liegt,  zurückgeschaut  wird.  — 
Die  deutsche  Revolution  {1918/19)  hat  nun  bewirkt,  daß  die  sozial- 
demokratische Partei  (nachdem  Teile  von  ihr  abgesplittert  sind) 
wenn  auch  nicht  die  alleinherrschende,  so  doch  zeitweilig  die  vor- 
herrschende in  den  Regierungen  des  Reiches  und  der  Einzelstaaten 
geworden  ist.  »Konservativ«  und  »Ordnungspartei«  ist  nun,  was 
diese  Staatsordnung  erhalten  will  und  damit  zugleich  sich  anheischig 
macht,  die  Gesellschaftsordnung  —  wenn  auch  in  besonnenem 
Fortschritt,  allmählich  —  von  Grund  aus  zu  reformieren  oder  sogar 
zu  revolutionieren.    Ob  dies  Auseinanderklaffen  von  Staatsordnung 

Tflaniei,  Kritik.  8 


114  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

und  Gesellschaftsordnung  in  längerer  Dauer  sich  zu  erhalten  vermöge, 
kann  nur  die  Erfahrung  lehren;  das  objektive  Urteil  wird  es  nicht  als 
wahrscheinlich  anzuerkennen  vermögen. 

Der  Wille  der  Erhaltung  und  der  Wille  der  Veränderung  können 
eben,  wie  als  Bejahung  und  Verneinung  eines  gegebenen  politischen, 
so  auch  eines  sozialen  Zustandes  einander  gegenüberstehen.  Und 
dies  ist  der  allgemeine  Begriff,  worauf  der  Gegensatz  zwischen  be- 
sitzender, dadurch  herrschender  Klasse  und  besitzloser,  auch  be- 
beherrschter Klasse,  zwischen  Oberen  und  Unteren,  Herren  und 
Dienenden,  Reichen  und  Armen,  zwischen  »Kapital«  und  Arbeit 
sich  bezieht.  Auch  diese  Gegensätze  durchziehen  die  Weltgeschichte, 
sie  haben  aber  in  den  neueren  Zeitläuften  eine  wachsende  politische 
Partei-Bedeutung  erlangt,  die  zuweilen  als  Kampf  zwischen  Ordnungs- 
Partei  (s.  oben)  und  Umsturz-Partei  bezeichnet  wird,  welches  aber 
nur  ein  anderer  Ausdruck  ist  für  den  Gegensatz  zwischen  konservativer 
und  liberaler  Parteiung,  nur  daß  bei  jenem  mehr  an  Erhaltung  und 
Veränderung  des  sozialen  Zustandes,  also  des  Privatrechts,  bei 
diesem  des  politischen  Zustandes,  also  des  öffentlichen  Rechtes  ge- 
dacht wird. 

30.  (Parteien  III.)  C.  Entstehung  und  GHederung  der  Parteien 
und  Parteimeinungen  muß  aber  endlich  auf  den  Gegensatz  von  Recht- 
gläubigen (Orthodoxen)  und  Andersgläubigen  (Heterodoxen  oder 
Ketzern)  bezogen  werden,  welcher  Gegensatz  mit  den  beiden  erörterten 
Gegensätzen  sich  vielfach  berührt,  aber  doch  seinen  eigentümHchen 
Inhalt  hat,  und  besonders  auf  das  ganze  Gebiet  des  geistigen  und 
sittlichen  I^ebens  und  die  es  bestimmenden  Denkweisen  sich  erstreckt. 
Er  findet  sich  hier  überall,  wo  eine  bestimmte  Art  zu  denken  und  zu 
urteilen,  »Geltung«  hat,  daher  in  jedem  geistig  verbundenen  Kreise 
die  Schätzung  dieses  Kreises  und  seiner  Denkungsart  selber,  die  als 
lyebensbedingung  der  Gemeinschaft  empfunden  wird.  Bei  weitem 
die  größte  historische  Bedeuttmg  hat  aber  in  dieser  Hinsicht  die 
Gemeinde  von  Kultgenossen  mit  ihrem  Glauben  an  übernatürliche 
Zusammenhänge,  an  Götter  und  deren  Eigenschaften  gewonnen.  Der 
Kampf  der  Meinungen  ist  hier  um  so  bedeutender,  da  es  nicht  um 
Erhaltung  oder  Abschaffung  einer  Regierung,  auch  nicht  um  Er- 
haltung oder  Veränderung  von  Staatseinrichtungen  und  Gesetzen, 
oder  gar  einer  gesamten  Gesellschafts-Ordnung,  sondern  um  Er- 
haltung oder  Beseitigung  von  »Glauben«  selber  sich  handelt,  indem 
solcher  Glaube  als  ein  heiliges  teures  Gut  geschätzt  wird,  als  selig- 
machend, ja  alleinsehgmachende  »Heilswahrheit«,  während  er  von 
seinen  Gegnern  als  finsterer  Irrwahn,  törichter  Aberglaube,  als 
Hemmnis   des   Fortschrittes   auf   der   Bahn   menschheitHcher   Ent- 


ÖFFENTI.ICHE  MEINUNG.   —    ÖFFENTI.ICKES   I^EBEN   UND    PARTEIUNG.         II5 

Wicklung  verachtet  und  gebrandmarkt  wird.  Wenn  wir  auch  Glaubens- 
sätze als  Meinungen  begreifen,  so  ist  hier  der  Wert  von  Meinimgen 
schlechthin  in  Frage  gestellt.  Meinungen,  die  sich  als  die  richtigen 
behaupten,  wollen  auch  die  heilsamen  Meinimgen  sein.  Einen  unge- 
heuren Vorteil  haben  aber  hier  die  Meinungen,  welche  eine  über- 
natürHche,  »göttHche«  Beglaubigung  für  sich  in  Anspruch  nehmen, 
eben  die  als  »richtig«  verkündeten,  als  heilsam  geweihten  Meinungen. — 
Auch  in  dieser  Hinsicht  ist  die  deutsche  Revolution,  unter  der  wir 
jetzt  (1920)  leben,  vorzüglich  merkwürdig  und  »paradox«.  Denn  sie 
hat  die  Ungläubigen,  Freidenker,  Juden,  Dissidenten,  Monisten, 
Konfessionslosen  an  die  Spitze  gebracht;  ihre  politischen  und  sozia- 
listischen Meinungen  hängen  zumeist  mit  dem  Bekenntnis  zu  einer 
wissenschaftlichen  Denkungsart  innig  zusammen;  sie  bringen 
dies  Bekenntnis,  das  längst  innerhalb  der  gebildeten  Schichten  das 
herrschende  ist,  aber  eben  aus  Scheu  vor  den  politisch-sozialen  Folgen 
und  Folgerungen  mehr  oder  minder  verborgen  gehalten  wurde,  an  die 
Oberfläche  und  ans  Tageslicht.  Neue  Dogmen  fordern  Bekenntnis, 
neue  Ketzereien  erregen  Abscheu  oder  Hohn. 

31.  (Zusammenhänge.)  Diese  3  Gegensätze  laufen  übrigens,  wie 
leicht  erkennbar,  in  der  Regel  parallel  miteinander,  ja  vermischen 
sich  und  fallen  zusammen.  Da  ist  die  Partei  der  Regierung  auch  die 
Partei  der  Erhaltung  bestehender  Zustände,  immer  wenigstens  der 
Erhaltung  dieser  Regierung,  sehr  leicht  und  oft  dann  auch  dieser 
Regierungsform  und  also  der  bestehenden  Verfassung,  mithin  auch 
der  gesellschafthchen  Zustände,  der  »Gesellschaftsordnung«,  worin 
sie  beruht.  Die  Partei  der  Regierung  ist  femer  auch  in  manchen 
Beziehungen  die  Partei  des  rechten  Glaubens:  zunächst  schon,  weil 
eben  der  Glaube  an  die  Regierung,  ferner  an  die  Regierungsform  und 
Verfassung,  zum  richtigen  Glauben  gehört;  sodann  aber  weil  in 
der  Regel  der  rehgiöse  Glaube  auch  die  bestehende  Regierung  deckt 
und  sogar  weiht.  Der  Zusammenhang  zwischen  »konservativer«  imd 
rechtgläubiger  Denkungsart  ist  besonders  stark  und  ursprüngHch. 
Wer  die  bestehenden  sozialen  und  politischen  Verhältnisse  zu  erhalten 
wünscht,  muß  auch  den  herrschenden  Glauben  beschützen,  sofern 
und  so  lange  als  er  diese  Verhältnisse  heiligt ;  und  die  Rechtgläubigkeit 
ist  als  solche  konservativ,  wenigstens  wenn  sie  als  Kirche  organisiert 
ist,  für  diese  Kirche,  für  ihren  Glauben  und  ihre  Ordnungen.  Über- 
haupt aber  hat  sie  ihre  Stärke  in  der  Überlieferung,  dem  Herkommen, 
der  Gewohnheit;  ihre  festeste  Stütze  in  den  Seelen  ist  die  Pietät, 
die  das  heilig  hält  und  pflegt,  was  die  Väter  und  Vorfahren  heilig 
gehalten  und  gepflegt  haben.  Die  Götter  selber,  verklärte  Abbilder 
der  Väter  und  Vorfahren,  werden  als  konservativ  gedacht,  nach  Art 

8« 


Il6  Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  Meinung. 

alter  tind  ehrwürdiger  Männer  und  Frauen,  die  keine  Veränderungen 
lieben.  Darum  sind  der  Natur  der  Sache  nach  die  Priester,  die  den 
Willen  der  Götter  deuten  und  erfüllen,  ihren  Dienst  leiten  sollen, 
ebenso  gesinnt,  wenigstens  in  bezug  auf  diesen  Gottesdienst,  der  seine 
bestimmten  Regeln  hat,  deren  Veränderung  gefährlich  ist,  weil  er  die 
Unzufriedenheit  des  Gottes  erregen  kann,  der  gleich  einem  berechtigten 
Menschen  erwartet  und  verlangt,  was  ihm  gewohnheitsmäßig  zu- 
kommt: es  ist  seine  Mindestforderung,  mehr  Gaben,  mehr  Gebet, 
mehr  Preis  und  Dank  wird  er  sich  gefallen  lassen  tmd  anerkennen, 
aber  die  Hauptsache  ist,  daß  er  nicht  verkürzt  werde,  darum  das 
peinliche  Festhalten  an  den  hergebrachten  Riten  und  Förmlichkeiten 
(Zeremonien),  das  Mißfallen  an  Neuerungen  (Misoneismus)  in  dieser 
Beziehung,  und  folglich  überhaupt.  Wenn  aber  die  konservative  imd 
rechtgläubige  Gesinnung  der  Herrschaft  imd  dem  Einfluß  der  Priester 
zugute  kommt,  so  schärfen  sie  überhaupt  Gehorsam  als  sittliche 
Pflicht  ein:  Gehorsam  gegen  Menschen,  wie  gegen  Götter  und  ihre 
Stellvertreter,  d.  h.  gegen  Menschen  als  Stellvertreter  der  Götter.  — 
Die  3  Gegenparteien  haben  miteinander  gemein,  daß  sie  alle  Parteien 
der  Kritik  imd  folglich  mögUcher weise,  ja  der  Tendenz  nach,  der 
Verneinung  sind.  Freilich  ist  nicht  notwendig,  daß  die  Kritik  tmd 
Verneinimg  einer  Regierung  auch  Kritik  und  Verneinung  poHtischer 
oder  sogar  sozialer  Zustände  in  sich  schließt,  noch  weniger,  daß  sie 
auch  Kritik  des  geltenden  Glaubens,  insbesondere  in  bezug  auf  die 
göttüchen  Dinge  sei.  Aber  leicht  erstreckt  sich  doch  die  Stimmung 
der  Kritik  imd  der  Geist  der  Verneinung  von  einem  Gebiet  auf  die 
anderen.  In  dem  Maße  als  eine  Regierung  zugleich  die  konservative 
Richtung  vertritt,  als  sie  für  den  richtigen  Glauben  Partei  nimmt, 
wird  auch  die  Opposition  gegen  diese  Regierung  dazu  neigen,  jene 
Richtung  zu  bekämpfen  und  den  Glauben  durch  Zweifel  anzugreifen. 
Ebenso  wird  eine  reformative  Partei  sich  gegen  die  Regierung  wenden 
müssen,  die  mit  dem  konservativen  Interesse  solidarisch  ist;  und  sie 
wird,  auch  wenn  sie  sonst  um  die  Glaubensmeinungen  sich  nicht 
bekümmert,  die  Orthodoxie,  welche  in  das  poHtische  Gebiet  über- 
greift, als  ihren  Gegner  betrachten  müssen.  Endlich  werden  die 
Andersgläubigen  und  Gegner  der  Kirche  auch  eher  als  die  Recht- 
gläubigen andere  Einrichtungen,  besonders  also  solche  des  Staates, 
anzufechten  geneigt  sein,  und  werden  sich  zur  Opposition  schlagen, 
sobald  und  sofern  eine  Regierung  Staat  und  Kirche,  »Thron  und 
Altar«  als  solche,  oder  deren  bestehenden  Zustand  verteidigt  oder 
sogar  für  aller  Mängel  bar  erklären  möchte. 

32.  (Kreuzungen.)  MögUch  sind  aber  auch  andere  Kombinationen 
und  Kreuzungen.    Wir  werden  diese  am  leichtesten  in  historisch 


ÖFFENTI,ICHE   MEINUNG.    —   KAMPF   UND    FREIHEIT. 


117 


bekannten  Fällen  verstehen.  Daß  eine  Regierung  selber  »reformativ«, 
ja  revolutionär  sein  kann,  lehrt  zumal  in  neueren  Zeiten  gar  manche 
Erfahrung;  natürhch  sind  dann  die  konservativen  Parteirichtungen 
in  Opposition ;  sie  werden  aber  alsdann  auch  leicht  mutativ  in  bezug 
auf  Staatsform  und  Verfassung,  zumal  wenn  diese  selber  neu  und 
durch  gewaltsame  Veränderungen  herbeigeführt  ist.  Eine  solche 
neuemde  Regierung  wird  auch  nicht  leicht  mit  dem  alten  Glauben 
in  gutem  Verhältnis  stehen;  obschon  es  nicht  immöglich  ist,  daß 
sie  mit  Erfolg  dies  gute  Verhältnis  erstrebt,  um  sich  dadurch  zu  be- 
glaubigen und  ihre  Autorität  zu  befestigen ;  wie  Napoleon,  als  er  sich 
durch  den  Papst  als  Kaiser  der  Franzosen  krönen  ließ.  Jedenfalls 
kann  die  Opposition  gegen  eine  Regierung  auch  von  den  Recht- 
gläubigen ausgehen;  und  wird  sich  regelmäßig  einstellen,  wenn  die 
Regienmg  andere  Wege  geht,  als  diese  für  richtig  halten;  mithin 
auch  wenn  sie  den  Einfluß  und  das  Herrschertum  der  rechtgläubigen 
Priester  einzuschränken  beflissen  ist;  und  dazu  wird  sie  sich  genötigt 
sehen,  um  sich  zu  behaupten  —  wenn  zwei  Regierungen  in  Wettbewerb 
treten,  werden  sie  nicht  leicht,  ohne  daß  eine  das  Übergewicht  erhält, 
miteinander  sich  vertragen.  Femer  wird  auch  die  konservative 
Denkimgsart  sich  von  der  rechtgläubigen  trennen,  wenn  diese  etwa 
soziale  und  politische  Zustände,  an  deren  Erhaltung  jener  gelegen  ist, 
als  dem  Einflüsse  der  Priester  und  der  Kirche  hinderlich,  bestreitet 
oder  aus  morahschen  Gründen  anklagt.  Solchen  Zwiespalt  erzeugt 
neuerdings  die  soziale  Frage.  Die  konservative  Denkungsart  will 
das  bestehende  Verhältnis  zwischen  Kapital  und  Arbeit,  zumal 
zwischen  Grundbesitz  und  Arbeit  retten,  die  rechtgläubige  muß  sich, 
um  ihr  Ansehen  bei  den  Arbeitern  zu  wahren  oder  wiederherzustellen, 
für  Veränderungen  interessieren,  wodurch  die  Lage  der  Arbeiter 
gehoben,  ihr  Recht  erweitert  wird.  Die  rechtgläubige  Denkungsart 
wird  sich  überhaupt  mit  jeder  verbünden,  die  nicht  in  ausgesprochener 
imd  streitbarer  Weise  ihr  entgegen  ist.  Dies  gilt  für  sie  in  besonderer 
Weise,  weil  sie  allein  sich  zumeist  auf  zu  schwachen  Füßen  fühlt; 
sonst  gilt  es  für  jede  Denkungsart  gleichermaßen,  sofern  sie  ver- 
teidigend oder  angreifend  sich  ihren  Gegnern  gegenüber  findet. 

Vierter  Abschnitt.  Kampf  und  Freiheit. 
33.  (Soziale  Gegensätze.)  Die  hier  bezeichneten  Gegensätze  der 
Denkungsarten,  die  in  den  Parteibildungen  niederschlagen,  beruhen 
aber,  in  ihren  großen  historischen  Gestalten,  auf  Gegensätzen  des 
Lebens,  die  sich  naturnotwendig  entwickeln,  und  in  der  Erfahrung 
ausgeprägt  vorliegen.  Es  sind  die  schon  erwähnten  oder  doch  ange- 
deuteten, die  wir  hier  resümieren: 


Il8  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

1.  der  Gegensatz  der  besitzenden  und  der  besitzlosen  Klassen, 
Gegensatz  von  Reich  und  Arm,  von  Kapital  und  Arbeit  usw. ;  welcher 
Gegensatz  sich  historisch  abwandelt,  indem  das  Gebiet  des  wirt- 
schaftlichen Lebens  sich  vergrößert  und  zugleich  kommerziaUsiert 
wird;  übrigens  ein  Gegensatz,  mit  dem  immer  nationale  und  Rassen- 
gegensätze und  entsprechende  Gefühle  des  Widerwillens,  Hasses, 
Neides  sich  verbinden. 

2.  der  Gegensatz  von  Stadt  imd  Land;  Großstädten  imd  »Provinz«; 

3.  der  Gegensatz  von  Gebildeten  und  Volk. 

Die  Entsprechungen  mit  den  Gegensätzen  der  Denkungsarten 
liegen  klar  zutage. 

I.  Die  besitzenden  Klassen  haben  in  aller  Regel  die  Regierung 
in  den  Händen,  die  besitzlosen  sind  die  regierten  und  beherrschten. 
Dies  ist  das  normale  Verhältnis.  Als  Besitzlose  müssen  hier  auch  die 
Minderbesitzenden  gelten.  Die  Bauern  des  Mittelalters  und  auch  leib- 
eigene Bauern  der  Neuzeit  waren  nicht  besitzlos,  aber  ihr  Besitz- 
timi  war  nicht  nur  geringer  an  Umfang  als  das  der  Herren,  sondern 
zumeist  auch  geringeren  Rechtes:  Besitz  als  Herrschaft  über  Land 
gehörte  mit  der  Herrschaft  über  Leute  so  natürhch  und  notwendig 
zusammen,  wie  die  allmählich  sich  herausbildende  und  erhebende 
Landeshoheit  mit  den  Rechten  des  Richters  und  Gesetzgebers  für  den 
»Untertanenverband«.  Im  Laufe  des  19.  Jahrhimderts  hat  sich  mehr 
und  mehr  in  den  führenden  Ländern  ein  Zustand  herausgebildet, 
der  dem  massenhaften  Kapital  die  Übermacht  verleiht,  so  daß 
sogar  der  große  Grimdbesitz,  wenn  ohne  massenhaftes  Kapital,  in 
Macht  und  Einfluß  eingeschränkt  wird.  Dieser  Zustand  ist  durch  die 
Entwicklung  großer  Städte  und  großer  Industrien  bedingt.  In  ihm 
stehen  einer  verhältnismäßig  kleinen  Zahl  überreicher  Personen  die 
großen  Mengen  derer  gegenüber,  die  gänzlich  oder  zum  größeren 
Teile  durch  ihre  Arbeitskraft  ihr  Einkommen  gewinnen,  ohne  an  den 
Produktionsmitteln  irgendwelchen  Anteil  zu  haben  oder  doch  ohne 
über  solche  wirksam  verfügen  zu  können.  Jene  bestimmen  im  wesent- 
lichen auch  die  Regierungen  der  Staaten.  Freilich  stehen  dem  zum 
guten  Teile  die  Formen  der  Staatsverfassung  entgegen,  insofern 
als  die  Vorstellung  der  formalen  Gleichheit,  die  das  gesellschaftUche 
und  wirtschaftliche  Leben  beherrscht,  auch  auf  das  politische  Leben 
ausgedehnt  ist,  um  der  Arbeiterklasse  die  Vorstellung  einzugeben, 
daß  die  jedesmalige  Regierung  auch  auf  ihrem  Willen  beruhe;  wodurch 
sie  aber  wenigstens  eine  Handhabe  gewinnt,  um  auf  die  Gesetzgebung 
für  ihre  Zwecke  und  Interessen  einzuwirken.  Selbst  wenn  sie  durch 
ihre  Vertretungen  Anteil  am  Regierungssystem  gewinnt,  so  bleibt 
doch  dieses  wesentHch  das  Organ  der  auch  sozial  herrschenden  Klasse; 


ÖFFENTI.ICHE   MEINUNG.    KAMPF   UND    FREIHEIT.  HQ 

wenngleich  die  Idee  des  Staates  als  eines  Gesamtkörpers,  also  die  Idee 
des  Gemeinwohls,  auch  in  den  Staatsdienern,  die  aus  dieser  Klasse 
hervorgehen,  mächtig  werden  und  den  Bedürfnissen  und  Wünschen 
der  großen  Menge  um  des  »Vaterlandes«  willen,  also  zum  Behuf  der 
Erhaltimg  männlicher  Wehrkraft,  weiblicher  Gebärkraft,  entgegen- 
kommend gerecht  werden  kann. 

2.  Der  Gegensatz  von  Stadt  und  Land  läuft  historisch  in  einer 
großen  Linie  parallel  mit  dem  der  herrschenden  und  beherrschten 
Schicht,  nämlich  so  lange  als  die  ihrem  Charakter  nach  überwiegend 
ländlichen  Stände,  die  GeistUchkeit  und  der  Adel  dem  »dritten« 
Stande  (Hers  etat)  gegenüberstehen,  der  seine  soziale  Kraft  und  Be- 
deuttmg  vorzugsweise  in  den  Städten  entwickelt,  so  daß  diese  den 
Schoß  der  Opposition  und  Kxitik  darstellen,  während  der  Bauernstand 
und  die  ländliche  Arbeiterklasse  teils  poHtisch  stumm  und  gleich- 
gültig, teils  als  gehorsame  Diener  jenen  herrschenden  Ständen  Untertan 
bleiben,  soweit  sie  nicht  von  den  sozial  maßgebenden  Teilen  des  dritten 
Standes  in  deren  Bewegungen  mit  fortgerissen  werden,  während 
jedoch  zu  Zeiten,  und  zumal  so  lange  als  ein  entwickeltes  städtisches 
Gesamtbewußtsein  des  dritten  Standes  noch  nicht  vorhanden  ist, 
gerade  die  Bauern  als  dessen  (auch  zeitHche)  Vorkämpfer  auftreten, 
indem  sie  die  festen  Stellungen  der  Geistlichkeit  und  des  Adels  durch 
gewaltsame  Angriffe  erschüttern.  —  Der  Unterschied  und  Streit 
konservativer  und  reformativer  —  oder  sagen  wir  revolutionärer  — 
Parteiung  beruht,  wie  gesagt,  wesentlich  in  diesen  gesellschaftlichen 
Verhältnissen,  und  erstreckt  sich  großen  Teiles  auf  Gestaltung,  daher 
auf  Formen  und  Verfassung  des  Staates,  so  daß  der  konservativen 
Partei  des  Adels  und  der  Geistlichkeit  als  »aristokratischer«  die 
»demokratische«  des  dritten  Standes  gegenübersteht.  Der  Gegensatz 
verschiebt  sich  aber,  indem  —  überwiegend  innerhalb  der  Städte 
und  stadtähnlichen  Bevölkerungszentren  —  jener  neue  gesellschaftliche 
Zwiespalt  entsteht,  derjenige  zwischen  den  Vertretern  des  Kapitals 
auf  der  einen,  den  Vertretern  der  Arbeit  auf  der  anderen  Seite,  wieder- 
um ein  Zwiespalt  zwischen  Reichen  und  Armen,  den  die  Erscheinung 
begleitet,  daß  auch  das  Land  als  verhältnismäßig  arm  gegenüber  den 
durch  Handel  erworbenen  Massenreichtümern  der  großen  Städte 
sich  darstellt.  Wird  aber  das  Land  nach  wie  vor  durch  den  alten 
Herrenstand  vertreten,  so  gesellt  sich  ihm  nunmehr  das  Kapital 
trotz  aller  Gegensätzlichkeit  im  erhaltenden  Interesse  für  die  »Grund- 
lagen der  Gesellschaftsordnung«,  d.  h.  für  das  schrankenlose  und 
unbedingte  Privateigentum  von  Boden  und  Kapital  gegen  den  »Um- 
sturz«, also  gegen  mutative  Tendenzen  dieser  Art:  ein  taktisches 
Verhältnis,  das  alsbald  auch  ins  politische  Gebiet  überspringt  und 


120  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

hier  neue  Parteibildimgen  bewirkt.  Der  tiefe  Gegensatz  zwischen 
dem  Lande  als  konservativem  und  der  Stadt,  namentUch  der  Groß- 
stadt, als  mutativem  Element  wird  aber  dadurch  nicht  aufgehoben. 
3.  Das  Volk  ist  überwiegend  gläubig,  daher  auch  in  einigem  Maße 
immer  rechtgläubig  —  teils  seiner  Anlage  und  der  menschlichen  Natur 
gemäß;  teils  aus  der  sich  daraus  entwickelnden  Anhänglichkeit  an 
Herkommen,  Überlieferung  und  Sitte ;  endHch  aber,  weil  es  die  Lehre 
empfängt  und  annimmt,  die  ihm  mitgeteilt  wird,  zumal  soweit  und 
so  lange  als  diese  seinen  Neigungen  entgegenkommt  und  sich  an- 
bequemt. Die  Bildung  hingegen  ist  skeptisch  und  zweifelnd,  ja  sie 
leugnet  auf  Grund  des  Wissens,  d.  i.  der  Beobachtung  und  Erfahrung 
von  Tatsachen,  wie  der  Schlußfolgerungen  des  Denkens,  die  angeblichen 
Glaubens  Wahrheiten.  Nun  bleibt  der  alte  Herrenstand,  der  gewisser- 
maßen vor  dem  Volke  ist,  in  dieser  Hinsicht  mit  ihm  einig  und 
verbunden;  zumal  der  geistliche,  weil  er  in  dieser  Verbindung  die 
Wurzeln  seiner  Kraft  und  seines  Einflusses  hat.  Die  Bildung  und 
Kultur  jenes  Standes  ist  in  seinen  höheren  Schichten  oft  bedeutend 
und  tief,  nicht  selten  auch  in  den  niederen,  zumal  unter  den  historisch 
jüngeren  Gestalten  des  Christentums.  Sie  pflegt  aber  gerade  dadurch 
volkstümlich  zu  sein,  daß  sie  überwiegend  kunsthaft  und  praktisch 
ist;  auch  in  ihrer  »Wissenschaft«  an  den  volkstümHchen  Glauben 
und  dessen  naturwüchsige  Vorstellungen  angelehnt  und  in  bestän- 
diger Wechselwirkung  damit  stehend,  nur  zögernd  und  langsam  sich 
von  ihnen  entfernend.  Von  jeder  wissenschaftlich  —  vom  Sinne 
wirklicher  Wissenschaft  —  bestimmten  Denkweise  aus  gesehen,  bleibt 
sie  daher  in  weitestem  Umfange  vollkommene  Unwissenheit  und  oft 
auch  entsprechende  Roheit:  man  denke  etwa  an  die  Popen  des  poi- 
thodoxen«  Glaubens,  oder  an  die  Dunkelmänner  vieler  Ellöster,  oder 
an  die  bäuerlichen  Kapläne  romanischer  Länder.  Ähnlich  verhält 
es  sich  mit  dem  weltlichen  Adel,  dessen  historisches  Wahrzeichen 
das  Schwert  ist,  zugleich  als  Werkzeug  seiner  Berufstätigkeit  und 
als  Merkmal  seiner  Herrschgewalt,  die  aber  mehr  und  mehr  der  Feder 
und  des  Lehrstandes,  der  sie  führt,  zu  ihrer  Ergänzung  und  Unter- 
stützung bedarf.  Schon  sein  starkes  Interesse  an  Erhaltung  der  Herr- 
schaft lehrt  ihn,  auch  in  geistlichen  Dingen  konservativ  sein;  und 
die  gläubige  Ehrfurcht  des  Volkes  wird  selber  durch  den  Gottesdienst 
befestigt.  Wenn  wir  dem  Volke  die  Gebildeten  gegenüberstellen, 
so  wird  damit  die  Kultur  des  Volkes  nicht  angefochten,  noch  weniger 
die  seiner  führenden  Stände;  aber  das  Besondere  der  wissenschaft- 
lichen Bildung  steht  zu  ihr  in  einem  vielfachen,  oft  vernichtenden 
Gegensatze,  nicht  nur  zu  den  reHgiösen  Vorstellungen,  in  die  alle 
ursprüngHche,    zumal    künstlerische    Gemeinschaftstätigkeit    einge- 


ÖFFENTi,icHE  Meinung.  —  ICampf  und  Freiheit.  I2I 

bettet  ist.  Die  wissenschaftliche  Bildung  charakterisiert  wesentlich 
den  jüngeren,  neuen  Herrenstand,  der  zwar  auch  aus  dem  alten  sich 
rekrutiert,  aber  seinen  Hauptbestandteilen  nach  aus  anderen  Ele- 
menten hervorgeht,  die  in  Städten  und  Industriezentren  empor- 
wachsen. Diese  Bildung  kann  dann  allerdings  durch  mannigfache 
Mittel  —  Schule,  lyiteratur,  Verkehr  —  über  weitere  und  weitere 
Kreise  sich  ausbreiten,  so  daß  es  denkbar  wäre,  daß  als  Vertreter  des 
Volkes  im  alten  Sinne  nur  die  bewußteren  Betätiger  seines  Glaubens, 
also  vorzüglich  der  alte  Herrenstand,  den  materielle  und  ideelle 
Interessen  an  dessen  Erhaltung  binden,  übrig  bleiben;  ein  Zustand, 
von  dem  wir  in  einigen  europäischen  Ländern  nicht  mehr  weit  ent- 
fernt gebHeben  sind.  Längst  zuvor  schon,  und  in  verschiedenen 
Gestaltungen  ist  ein  Gegensatz  zwischen  der  offiziellen  und  künst- 
lichen Religion,  die  auch  in  theologischer  Wissenschaft  ihre  Stütz- 
punkte sucht  und,  schon  durch  diese,  mit  der  Wissenschaft  überhaupt 
tmd  der  in  ihr  beruhenden  Weltbildung  Fühlung  gewinnt,  die  auch  zu 
den  Merkmalen  des  priesterHchen  Standes  gehört,  auf  der  einen 
Seite,  der  volkstümlichen  Frömmigkeit,  die  gegen  allen  solchen 
Schmuck,  als  gegen  irreligiöse  Hoffart,  mißtrauisch  abgeneigt,  min- 
destens gleichgültig  ist,  auf  der  anderen:  zwischen  der  Kirche  und 
der  Sekte.  Trotz  dieses  starken  Gegensatzes  verbinden  sich  die  Geistes- 
elemente der  Sekte,  weil  sie,  mehr  städtischer  Natur,  in  Industrie  und 
Handel  verankert  sind,  leichter  als  die  der  Elirche  mit  den  spezi- 
fischen Elementen  der  spezifisch  modernen,  naturwissenschaftlichen 
und  philosophischen  Bildung. 

34.  (öffentliches  Meinen.)  Die  Entwicklung  des  Meinens  ist  in 
der  Hauptsache  Folge  und  Wirkung  des  Fortganges  wissenschaftUcher 
Erkenntnis.  Insbesondere  gilt  dies  für  die  öffentlichen  Kimd- 
gebungen  des  Meinens  und  für  das  öffentliche  Meinen  auch  in 
dem  Sinne,  daß  es  sich  auf  die  öffentlichen  Angelegenheiten  vorzugs- 
weise bezieht.  Hier  ist  seine  Tätigkeit  in  erster  Linie  Kritik;  es  ent- 
springt also  aus  der  Unzufriedenheit  mit  bestehenden  Regierungen, 
mit  überlieferten  Zuständen,  mit  geltenden  Glaubenslehren.  Die  Un- 
zufriedenheit ist  zunächst  gefühlsmäßig,  wird  allmählich  denkend 
und  einsichtig;  zunächst  stumm  und  dumpf,  wird  allmählich  laut 
und  deutlich;  zunächst  zerstreut  und  ohnmächtig,  wird  allmählich 
zusammenhängend  und  organisiert. 

Am   unmittelbarsten   beziehen   sich   Meinungen    auf   Glaubens- 
lehren, sie  sind  hier  in  ihrem  eigensten  Gebiet.    Glaubenslehren  gibt 
es   auch   in   politischen,   ja   in    wissenschaftlichen   Angelegenheiten 
selber.   Typisch  sind  aber  immer  die  religiösen  Glaubenslehren.   Und 
hier  tritt  es  in  der  am  meisten  ausgeprägten  Weise  hervor,  daß  sie 


122  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

selber,  daß  die  Gläubigen,  und  daß  die  Schützer  des  Glaubens  ab- 
weichende Meinungen  nicht  nur  bestreiten  und  widerlegen,  sondern 
vielmehr  und  hauptsächlich  deren  Ausdruck  und  öffentliche  Kundgabe 
verbieten,  ja  unter  Strafe  stellen.  Dies  gehört  zum  Wesen  einer  an- 
erkannten und  geltenden  Religion,  sofern  sie  mit  poUtischer  Macht 
verbunden  ist.  Zweifel  an  Dasein  und  Macht  des  von  der  Gemeinde 
verehrten  Gottes  ist  Beleidigung  des  Gottes;  es  ist  Sünde  und  Frevel, 
auch  weil  es  eine  unfromme  »gottlose«  Gesinnung  verrät.  Äuße- 
rungen von  dieser  Art  werden  nicht  nur  im  Namen  des  Gottes 
rächend  vergolten,  auch  der  Gott  selber  wird  den  züchtigen,  der  in 
unwürdiger  Weise  über  ihn  spricht,  wie  den,  der  seine  Gebote  nicht 
achtet;  und  die  Gotteslästerung  erregt  in  der  Gemeinde  sittliche 
Entrüstung  imd  Abscheu.  Dies  sind  auch  die  Ursprünge  der  Ver- 
folgung der  Ketzerei,  der  häretischen,  d.  h.  frei  und  frech,  den  Autori- 
täten zum  Trotz,  angenommener  Meinungen.  Ihr  Ursprung  und 
Anfang  ist  der  Zweifel,  der  als  solcher  schon  Auflehnimg  bedeutet, 
wo  der  Glaube  PfUcht  ist. 

Die  ganze  Geistesgeschichte  der  Neuzeit  ist  erfüllt  von  den  Kämpfen 
solcher  neuen  Meinungen  gegen  die  überlieferten  religiösen  Glaubens- 
lehren, indem  sie  diese  i.  bezweifeln  und  im  Zusammenhange  damit 
ihren  moralischen  Wert  in  Frage  stellen;  2.  unmittelbar  anfechten, 
als  imrichtig  oder  unwahrscheinlich  und  unglaubwürdig;  3.  mittel- 
bar ihre  Voraussetzungen  und  Rücklagen  zerstören  und  untergraben. 
Folglich  auch  erfüllt  von  Versuchen  der  Abwehr,  und  zwar  der  Ab- 
wehr, I.  durch  erneute  Behauptung,  Befestigung,  verstärkte  und  mehr 
systematische  I^ehre;  2.  durch  Gründe  und  Reden  als  Apologetik; 
3.    durch  gewaltsame  Mittel  der  Mißbilligung  und  Unter drückimg. 

35»  (Soziale  Kämpfe.)  Mit  den  reUgiösen  Glaubenslehren  wird 
aber  die  gesamte  soziale  Ordnung,  die  in  ihnen  verankert  ist,  ange- 
griffen und  verteidigt. 

Die  gewaltsamen  Mittel  der  Abwehr  sind  uns  vorzüghch  darum 
merkwürdig,  weil  sie  die  Meinungen  verhindern,  öffentUch  zu  werden 
(im  ursprünglichen  Sinne  des  Wortes).  Die  Ketzereien  sollen  nicht 
ans  Licht  des  Tages  treten,  nicht  verbreitet  werden,  man  arbeitet 
der  Gefahr  entgegen,  die  in  ihrer  ansteckenden  Kraft  vermutet  wird. 
Die  gewaltsamen  Mittel  sind  solche  der  PoUzei  und  des  Straf  rechts. 
Die  Kirche  nimmt,  soweit  sie  nicht  selber  darüber  verfügt,  den 
»weltHchen  Arm«  in  Anspruch,  um  ihr  zu  helfen,  die  »Pest«  verderb- 
licher Meinungen  auszurotten.  Der  Staat  setzt  zunächst  sich  gleich 
mit  der  Kirche  oder  hält  doch  für  seine  PfHcht,  ihr  zu  helfen  und  zu 
dienen;  sodann  aber  begegnet  er  auch  Meinungen,  die  ihn  unmittel- 
bar zu  bedrohen  scheinen,  sei  es,  daß  sie  seine  Form  oder  seinen  Inhalt 


ÖFFENTUCHE   MEINUNG.   —  KAMPF   UND    FREIHEIT. 


123 


in  Frage  stellen.  In  der  Regel  wird  überdies  die  jeweilige  Regierung 
des  Staates,  wie  die  jeweilige  Regierung  der  Kirche  und  jeder  anderen 
Körperschaft,  den  Staat  oder  die  Kirche  oder  die  Körperschaft  an- 
gegriffen finden,  wenn  sie,  die  Regierung,  angegriffen  wird,  mithin 
auch  in  Meinungen,  die  der  Kritik  und  Opposition  gegen  die  Regierung 
Ausdruck  geben,  eine  Gefahr  für  den  Staat,  die  Kirche  usw.  zu  er- 
bhcken  geneigt  sein. 

Es  ergeben  sich  aus  dieser  Verdrängimg  der  Kritiker  imd  Gegner 
besondere  Arten  des  Kampfes,  sofern  dieser  nicht  öffentUch,  also  mit 
unverhüllten  Waffen  geführt  werden  kann.  Die  Angreifer  werden 
gleichsam  nicht  als  Kriegführende  anerkannt,  es  gibt  kein  Kxiegs- 
recht  ihnen  gegenüber,  sie  werden  als  Rebellen  behandelt.  Mithin 
sind  sie  auf  heimliche  Führimg  des  Streites  angewiesen.  Sie  selber 
werden  diese  nur  als  eine  Vorbereitimg  zukünftigen  offenen  Kampfes 
betrachten,  sie  werden  sich  für  diesen  zu  rüsten  beflissen  sein.  Sich 
rüsten  heißt:  i.  Streitkräfte  sammeln.  Der  Ohnmächtige,  Schwache, 
wird,  wenn  er  sich  zu  wehren  genötigt  ist,  oder  bestimmte  Ziele  vor 
Augen  hat,  Bundesgenossen  suchen;  im  Gedanken  an  die  Zukunft, 
an  sein  und  seiner  Kampfgenossen  Ausscheiden,  wird  er  die  Fort- 
setzung der  Kampfarbeit  durch  frische  Kräfte,  durch  Ersatzmann- 
schaften ins  Auge  fassen.  Um  Bundesgenossen  zu  finden,  sieht  er 
sich  a)  unter  seinesgleichen  um ;  teils  kennt  er,  teils  lernt  er  Menschen 
kennen,  die  ähnlich  wie  er  denken,  weil  sie  ähnlich  wie  er  leben  und 
also  unter  ähnhchen  Übeln  leiden,  b)  wenn  er  weiß,  daß  seine  Gedanken 
und  seine  Denkungsart  Andersgearteten  und  Andersbedingten  als 
er  selber  ist,  förderHch  sein  können,  weil  sie  mit  dem  zusammen- 
treffen (in  allen  oder  einigen  Stücken)  was  diese  denken  müssen, 
wenn  sie  auf  Grund  ihrer  Lage  zu  denken  beginnen  und  lernen,  — 
so  wird  er  sich  diesen  nähern  und  sie  für  seine  Ideen  zu  gewinnen 
suchen.  Um  Ersatzmannschaften  zu  sichern,  ist  der  Kämpfer  auf 
die  Jugend  hingewiesen,  er  muß  sie  in  seinem  Sinne  zu  bilden  und 
zu  erziehen  sich  angelegen  sein  lassen.  Zunächst  und  am  leichtesten 
erfolgt  die  Fortpflanzung  seiner  I^ehre  im  eigenen  FamiHenkreise ; 
darüber  hinaus  muß  er  Schule  zu  bilden  beflissen  sein ;  er  wird  Jünger 
um  sich  sammeln,  die  zu  seinen  Füßen  sitzen  und  die  Worte  des 
Meisters  andächtig  empfangen.  Die  Jünger  verehren  ihn  auch  nach 
seinem  Tode,  seine  Worte  werden  ihnen  maßgebend,  sie  schwören 
wohl  auf  die  Worte  des  Meisters  („zn  verha  magistri'*),  sie  gewinnen 
darin  eine  Autorität  zur  Ausgleichung  ihrer  eigenen  Meinungsver- 
schiedenheiten, sie  bilden  eine  Gemeinde  und  gewinnen  dadurch 
vermehrte  Stärke.  Wenn  jede  Kampf genossenschaft  ein  enges  und 
starkes  Band  um  ihre  Mitglieder  knüpft,  so  ist  das  um  so  mehr  der 


124  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

Fall  bei  einem  Ringen  Unterdrückter  um  ihr  Befreiung;  und  wiederum 
um  so  mehr,  je  mehr  die  Ringenden  an  ihren  zukünftigen  Sieg  glau- 
ben. Der  Glaube  daran  aber  wird  mächtig  verstärkt  durch  den  Glauben 
an  Personen,  an  lebende  oder  tote,  menschliche  oder  göttHche  Führer, 
Vorbilder,  Verkünder.  Und  zum  Glauben  an  einen  Menschen,  zum 
verbindenden  Glauben,  hilfts  nichts  so,  wie  die  Erinnerung  und 
Botschaft,  daß  dieser  Mensch  für  die  gemeinsame  Sache  gelitten, 
daß  er  dafür  sein  Leben  gelassen  hat,  vollends,  daß  er  wissend  und 
wollend  sich  dafür  aufgeopfert  habe.  Das  Martyrium  macht  einen 
Eindruck,  dessen  Wirkung  in  Begeisterung  und  Liebe  zutage  tritt. 
Blutzeugen  gelten  auch  als  Zeugen  der  Wahrheit  einer  Lehre,  der 
Glaube  an  ihre  Heiligkeit  oder  gar  Göttlichkeit  verbindet  die  kämp- 
fenden Scharen,  belebt  ihren  Mut,  beseelt  sie  mit  Todesverachtung, 
zumal  wenn  der  Glaube  an  ein  anderes  Leben  nach  dem  Tode  und 
an  den  Lohn  der  Tugend  damit  verbunden  ist.  So  wird  aus  dem  Kampfe 
gegen  überlieferten  Glauben  und  dessen  Fesseln  ein  neuer  Glaube,  ein 
neues  Bekenntnis  mit  neuen  Fesseln. 

36.  (Gewissensfreiheit.)  Die  große  »protestantische«  Empörung 
wider  die  päpstliche  Kirche  hat  so  zur  Bildung  mannigfacher  neuer 
Kirchen  und  Gemeinden  geführt.  Freilich  bleiben  diese  in  der  Sub- 
stanz des  Glaubens  an  den  göttlichen  Erlöser  und  seinen  Opfertod  mit 
dem  katholischen  Glauben  einig,  und  haben  nur  hin  und  wieder  neuer 
Blutzeugen  bedurft,  um  ihre  Verbindungen  zu  kitten.  Aber  sie  sind 
auch  schwach  und  zersplittert  geblieben  und  haben  dem  verneinenden 
wissenschaftlichen  Denken  keinen  so  nachhaltigen  Widerstand  wie  die 
alte  Eärche  zu  leisten  vermocht,  da  sie  vielmehr  selber  in  wichtigen 
Bezügen  sich  darauf  stützen  wollten.  Zunächst  sind  sie  auch  mit 
dem  freien  Denken  einig  in  dem  Verlangen  nach  Freiheit  des  »Ge- 
wissens«, also  der  Betätigung  religiöser  und  etwa  auch  philosophischer 
Gesinnungen.  Es  sei  denn,  daß  sie  selber  —  die  neuen  Kirchen  — 
im  Staate  und  durch  den  Staat  eine  herrschende  Stellung  gewinnen, 
wodurch  ihnen  dann  die  »Dissidenten«  nicht  wesentHch  verschieden 
von  Juden,  Atheisten  und  anderen  NichtchriSten  erscheinen,  so 
daß  diese  alle  wieder  im  Verlangen  nach  Freiheit  des  Bekenntnisses 
geeinigt  werden.  Diese,  als  Religionsfreiheit  oder  Gewissensfreiheit, 
Glaubensfreiheit,  fordert  zunächst  von  der  herrschenden  Kirche  und 
dem  mit  ihr  mehr  oder  minder  eng  verbundenen  Staate,  Duldung, 
geht  aber  weiter  zur  Forderung  der  Gleichheit  und  Gleichberechtigung 
der  Religionen  und  Bekenntnisse,  zunächst  in  ihrer  Ausübung  und 
öffentlichen  Vertretung,  demnächst  auch  in  bezug  auf  andere  sub- 
jektive öffentliche  Rechte  (Befugnisse).  Diese  Freiheit  aber  erweitert 
sich  zur  Freiheit  des  »Denkens«  und  der  »Wissenschaft«,  d.  h.  der 


ÖFFENTLICHE  MEINUNG.   —  KAMPF  UND    FREIHEIT.  125 

Öffentlichen  Äußerung  beliebiger  Meinungen;  insbesondere  der  Verviel- 
fältigung und  öffentlichen  Mitteilung  von  religiösen  und  politischen 
Ansichten,  d.  i.  nach  Ausbildung  des  Druckes  und  der  Zeitungen, 
zur  »Preßfreiheit«. 

37.  (Preßfreiheit.)  Die  historische  Bedeutung  der  Preßfreiheit 
ist  die  Befreiung  von  der  »Zensur«,  insbesondere  der  vorherigen  Prü- 
fimg von  Druckschriften  durch  eine  Behörde.  In  dieser  Hinsicht, 
wie  überhaupt  in  bezug  auf  Kundgebung  von  Meinungen,  war  der 
Freiheit  immer  am  entschiedensten  die  Kirche  entgegen,  vor  allen  die 
mächtigste,  die  römisch-kathoHsche.  Der  Staat  tritt  zunächst, 
wie  auch  sonst  in  gar  manchen  Stücken,  in  ihre  Fußstapfen.  Kirche 
wie  Staat  wollen  sich  selbst  behaupten,  daher  wehren  sich  ihre  Re- 
gienmgen  nach  innen  und  nach  außen  gegen  Angriffe  und  Anfech- 
tungen. Aber  in  dieser  Kampfstellung  tritt  auch  ihre  Verschieden- 
heit deutHch  hervor.  Die  Kirche  ist  wesentHch  ein  geistig-moraHscher 
Organismus:  sie  hat  kein  sichtbares  Landgebiet  zu  verteidigen  und 
will  auch  mit  äußeren  Waffen  keins  erobern;  der  innere  Zusammen- 
halt, die  Eintracht  des  Glaubens  und  Brauches,  ist  ihr  Lebensgesetz. 
Der  Staat  ist  wesentlich  Macht  und  Gewalt.  Die  kriegerische  Landes- 
verteidigung ist  sein  notwendiger  Bereich.  Im  Kriege  spielt  die  Kund- 
schaft eine  höchst  bedeutsame,  oft  eine  entscheidende  Rolle.  Der 
Feind  darf  nicht  wissen  wie  es  um  uns  steht,  was  wir  vorhaben, 
wie  wir  gerüstet  sind.  Um  so  mehr  begehrt  er  es  zu  wissen,  und 
wendet  alle  Mittel,  die  ihm  zur  Verfügung  stehen,  an,  um  es  auszukund- 
schaften. Das  leichteste  Spiel  hat  er,  wenn  unser  eigenes  Nachrichten- 
wesen ihm  offen  steht,  sei  es,  daß  es  über  die  Grenze  dringt,  oder 
daß  es  dem  Spion  im  eigenen  Lande,  die  sonst  verborgenen  und  ge- 
heimzuhaltenden Dinge  ausplaudert.  Also  wird  der  kriegführende 
Staat  das  Nachrichtenwesen  seines  Landes  aufmerksamer  und  scharfer 
Überwachung  zu  unterwerfen  sich  genötigt  finden.  In  dem  Welt- 
kriege, der  seit  43  Monaten  wütet,  während  dies  geschrieben  wird, 
haben  alle  Länder,  die  sonst  mehr  oder  minder  ausgedehnter  Preß- 
freiheit sich  erfreuten,  aufs  neue  eine  recht  innige  Bekanntschaft 
mit  der  »Zensur«  zu  machen  Gelegenheit  gehabt.  So  sehr  das  poli- 
tische Publikum  sonst  in  jedem  Lande  für  die  Preßfreiheit  einge- 
nommen war  vmd  sie  als  Errungenschaft  der  allgemeinen  Hberalen 
Bestrebungen  und  des  Fortschritts  zu  preisen  gewohnt  war,  so  hat 
es  doch  überall,  wenn  auch  mehr  oder  minder  wilHg,  mit  der  Kriegs- 
zensur sich  abgefunden  und  ihre  Notwendigkeit,  wenigstens  in  bezug 
auf  militärische  Angelegenheiten,  anerkannt.  Naturgemäß  sind  aber 
die  Grenzen  der  militärischen  Angelegenheiten  fließend  und  die 
Zensur  oder  die  ihr  übergeordnete  Behörde  muß  selber  darüber  richten, 


126  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

ob  eine  Nachricht,  wenn  sie  verbreitet  würde,  die  miHtärische  Lage 
ungünstig  beeinflussen  könne:  wo  es  sich  um  Sieg  oder  Niederlage, 
Leben  oder  Tod  handelt,  scheint  die  äußerste  Vorsicht,  auch  wenn 
sie  Außenstehenden  als  übermäßige  Ängstlichkeit  erscheint,  schlecht- 
hin geboten.  Wie  die  Ausübung  jeder  Macht  zu  ihrer  Verstärkung 
und  Ausdehnung  reizt,  so  ist  es  auch  in  diesen  Fällen  geschehen,  daß 
die  Vorstellung  der  Gefährlichkeit  sich  rasch  erweitert  hat.  Un- 
vermeidlich ist  ferner,  daß  die  Zensur  der  Nachrichten  auf  die 
von  ihnen  schwer  trennbaren  Meinungen  übergeht.  Schon  die 
Form  einer  Nachricht  enthält  sehr  oft  eine  Meinung  über  ihren  Inhalt. 
Aber  jede  Meinung  über  die  Lage  der  Dinge  kann  als  gefährlich  er- 
kannt werden.  Jede  kann  als  Ermutigung  des  Feindes,  als  Entmuti- 
gung der  eigenen  Landesbewohner  wirken.  Gar  manche  Meinung, 
auch  wenn  sie  nur  eine  theoretische  Ansicht  oder  Feststellung  und 
Prüfung  von  Tatsachen  sein  will,  kann  beunruhigend  wirken,  und, 
wenn  sie  streitbar  sich  kundgibt,  den  »Burgfrieden«  unterbrechen, 
wozu  etwa  die  Parteien  für  die  Dauer  des  Krieges  sich  verbunden  haben. 
Daher  erstreckt  sich  die  Zensur  auch  auf  Veröffentlichungen  rein 
wissenschaftlicher  Art,  wenn  sie  fürchtet,  daß  dadurch  Dinge  be- 
kannt werden,  die  geeignet  sein  möchten,  die  Stimmung  in  der  Hei- 
mat oder  sogar  an  der  Front  zu  drücken.  Vollends,  wenn  dies  in 
Zeitungen  geschieht,  die  jederman  lesen  und  verstehen  kann.  Die 
Zeitungen  müssen  fortwährend  ermahnt,  belehrt,  berichtigt,  zu- 
weilen verboten,  wenn  nicht  als  unheilbar  unterdrückt  werden  — 
nach  diesen  Maximen  ist  überall  die  Zensur  verfahren  und  hat  natur- 
gemäß viele  Kritik  und  Mißbilligung  auf  sich  gezogen,  wenn  sie  aber 
ein  gut  Teil  selber  zu  hemmen  in  der  Lage  ist,  indem  sie  ihm  die 
Öffentlichkeit  versperrt,  so  daß  in  der  Hauptsache  nur  die  Volks- 
vertretungskörperschaften als  die  Orte  bleiben,  worin  die  Unzufrieden- 
heit laut  werden  kann.  Aber  auch  ohne  die  Zensur  behält  sich  jede 
Regierung  das  Recht  vor,  auf  die  Presse  abwehrend  und  unter- 
drückend zu  wirken,  durch  die  sie  ihr  Ansehen,  ihre  Macht  bedroht 
findet;  sie  weiß,  daß  die  Verbreitung  friedHcher  Worte  friedliche 
Stimmungen  erzeugt  oder  doch  —  was  um  so  gefährlicher,  wenn  sie 
schon  vorhanden  sind  —  fördert,  verstärkt  und  ermutigt. 

38.  (Redefreiheit.)  Wenn  eine  bevorrechtete  Redefreiheit  derer, 
die  als  Gesetzgeber  berufen  sind,  übrig  bleibt,  so  ist  im  übrigen  auch 
das  sonst  gewährte  Recht,  seine  Meinung  öffentUch  auszusprechen,  im 
Kriegszustande  beschränkt.  Die  Beschränkungen  gehen  nicht  so  weit, 
wie  etwa  ehemals  in  Wien,  als  es  von  den  Türken  belagert  wurde,  da  ein 
Mauer  anschlag  »bei  körperlicher  Strafe  verbot,  von  dem,  was  im  Feldzuge 
sich  ereignet  habe,  oder  überhaupt  von  irgendeiner  Staatsangelegenheit 


ÖFFENTI,ICHE  MEINUNG.   —   KAMPF  UND    FREIHEIT.  I27 

ZU  Sprechen«^).  Man  läßt  sich  in  bezug  auf  Privatgespräche  nament- 
lich der  Soldaten,  an  Warnungen  genügen.  Aber  die  öffentliche  Rede 
und  wegen  ihrer  die  Versammlungsfreiheit  steht  naturgemäß  unter 
strenger  Aufsicht.  Daß  darunter  auch  die  in  Verfassungen  gewähr- 
leistete Freiheit  der  Wissenschaft  und  ihrer  I>hre  leiden  muß,  wenig- 
stens soweit  die  Lehre  in  Druckschriften,  zumal  periodischen,  geschieht, 
ist  offenbar.  So  durfte  —  wohl  in  allen  kriegführenden  Ländern — von 
den  zerstörenden  Einflüssen  des  Krieges  auf  die  Bevölkerung  imd  ihre 
Bewegtmg  öffentHch  nicht  geredet  oder  geschrieben  werden.  In  Groß- 
britannien durfte  ein  hervorragender  Gelehrte,  Bertrand  Russell, 
weil  er  andere  Meinungen  als  die  vorgeschriebenen  vertrat,  innerhalb 
eines  für  gefährdet  erklärten  Bezirkes  überhaupt  nicht  reden. 

Diese  jüngste  Einschränkung  der  öffentHchkeit  und  besonders 
der  Preßfreiheit  hat,  wie  bekannt,  auch  die  Folgen  gehabt,  die  sie 
ehemals,  wo  sie  auch  in  normalen  Zeitläufen  geschah,  zu  haben  pflegte : 

1.  Entstehung  und  Wachstum  einer  heimlichen  Literatur  und  somit 

2.  Führung  von  Kämpfen,  die  sonst  offen  geführt  wurden,  in  ver- 
steckter Form.  Charakteristisch  dafür  war  die  Bildung  einer  soge- 
nannten Vaterlandspartei,  die  angeblich  eine  Nichtpartei  sein  wollte, 
in  Wirkhchkeit  eine  ausgesprochen  pohtische  Parteigruppe  war,  die 
durch  diesen  Vor  wand  das  Recht  auf  jenen  Namen  zu  erwerben 
meinte.  Mit  Grund  wird  behauptet,  daß  die  freie  Erörterung  und 
der  offene  Streit  solche  Unwahrhaftigkeiten  nicht  so  leicht  empor- 
kommen läßt.  Indessen  ist  hier  nicht  die  Absicht,  Vorteile  und  Nach- 
teile des  öffentlichen  Wesens,  der  Preßfreiheit  usw.  zu  erwägen. 
Vielmehr  sollte  die  Kriegszensur  und  deren  allgemeine  Geltung  uns 
lehren,  daß  veränderte  Umstände  veränderte  Rechte  und  veränderte 
Ansichten  bedingen;  weshalb  zu  vermuten,  daß  auch,  wenn  wir  die 
Zensur  mit  allen  ihr  verwandten  Hemmungen  der  geistigen  Freiheit 
einem  verflossenen  Zeitalter  zuschieben,  dies  Zeitalter  starke  Gründe 
für  solche  Einrichtungen  gehabt  hat,  und  zwar  zum  Teil  schon  darum, 
weil  es  sie  zu  haben  glaubte ;  weil  seine  Herrscher  von  Geschlecht  zu 
Geschlecht  die  Ansicht  fortpflanzten,  daß  solche  Verbote  und  Über- 
wachungen zur  Regierungskunst  (der  Ars  guhernandi)  gehörten.  Wie 
in  anderen  Gebieten,  so  dürften  auch  in  diesem  die  Kunstregeln 
durch  Übung  und  Erfahrung  entstehen  und  wachsen,  wodurch 
freilich  keineswegs  ihre  dauernde  Richtigkeit  bewiesen  wird;  viel- 
mehr wirkt  auch  die  »Routine«  der  bedachten  Verbesserung  entgegen. 

Aber  gewiß  und  offenbar  ist,  daß  jede  soziale  Gesamtheit,  in  dem 
Maße  als  sie  kämpfend  sich  zu  wehren  und  zu  erhalten  genötigt, 

*)  Comte  de  Hau.ssonville,  Histoire  de  la  rSunion  de  la  Lorrainc  avec  la  France  III, 
334.    Ob  und  wiefern  das  Verbot  wirksam  gewesen  sei,  erfahren  wir  nicht. 


128  Begriff  und  Tbosorie  der  öffentivIChen  Meinung. 

oder  durch  ihr  I^bensgesetz  sich  zu  vermehren  und  auszudehnen 
angetrieben  wird,  die  Kritik  aus  ihrer  eigenen  Mitte  nicht  unbedingt 
dulden  darf,  also  wenigstens  sie  in  bestimmte  Formen  ein- 
schränken muß.  Immer  wird  sie  versuchen,  abfälligen  Meinungen 
als  einem  inneren  Feinde  zu  begegnen;  die  Frage  ist  nur,  ob  Unter- 
drückung imd  Erstickung  der  öffentHchen  Kundgaben,  das  richtige 
Mittel  ist,  auch  ob  sie  auf  die  Dauer  gelingen  kann.  Daß  sie  immer 
wieder  versucht  wird,  und  oft  mit  Erfolg  versucht  wird,  ist  bekannt 
genug.  Daß  jede  Regierung  geneigt  ist,  sich  und  ihr  System  für 
wesentlich  zusammengehörig  mit  dem  Wohle  des  Ganzen  —  besonders 
also  der  Kirche,  des  Staates  —  zu  halten,  oder  doch  dafür  auszu- 
geben, stellt  sie  immer  der  Anfechtung  bloß,  daß  diejenigen  Mei- 
nungen, welche  sie,  die  Regierung  verneinen,  doch  mit  günstigem 
Scheine  für  sich  geltend  machen  können,  daß  sie  das  Gemeinwohl  be- 
jahen und  es  richtiger  erkennen  als  die  Regierung. 

39.  (Neubürgerliche  Herrschaft.)  Der  ganze  Kampf  um  Glaubens- 
freiheit, um  Preßfreiheit  imd  andere  bürgerliche  Freiheiten,  der  die 
letzten  Jahrhunderte  erfüllt,  ist  seinem  eigentUchen  Wesen  nach 
Ausdruck  des  Ringens  der  neubürgerlichen,  nationalbürgerlichen 
Klasse,  welche  als  »die  Gesellschaft«  —  oft  auch  als  »das  Volk« 
oder  »die  Nation«  —  sich  einsetzt,  um  die  Herrschaft,  und  zwar 
zimächst  um  Teilnahme  an  der  Herrschaft  der  alten  Stände  und 
der  diese  einschränkenden  Monarchie,  mehr  und  mehr  um  die  AUei  n  - 
herrschaft.  Insoweit  als  dieses  Ziel  erreicht  wird,  ist  die  herrsche nde 
Klasse  naturgemäß  alsbald  wieder  befUssen,  die  von  ihr  beherrschte 
Klasse  in  Besitz  und  Genuß  jener  als  allgemein  und  notwendig  in 
Anspruch  genommenen  Freiheiten  zu  hemmen  und  zu  verkürzen. 
Diese,  die  Arbeiterklasse,  muß  alsdann  gegen  sie  aufs  neue  um  die 
von  ihr  für  sich,  dem  Worte  nach  aber  für  alle,  errungenen  Freiheiten 
streiten.  Daraus  geht  deutHch  hervor,  daß  es  sich  in  Wahrheit  immer 
um  jenen  allerersten  Kampf  zwischen  den  Parteien  handelt,  der 
unter  A.  (S.  108)  als  solcher  zwischen  Regiment  imd  Kritik,  zwischen 
Herrschenden  und  Beherrschten,  bezeichnet  wurde.  —  Wichtiger 
ist  aber  für  die  gegenwärtige  Betrachtimg,  daß  mit  dem  Erstarken 
und  Steigen  der  neubürgerHchen  Schicht  auch  ihre  Gedanken  er- 
starkt und  gestiegen  sind;  sie  hat  vermocht,  ihre  Gedanken  zu  einem 
Gemeingut  des  poHtischen  Publikums  zu  machen.  Insofern  also,  als 
die  gemeinsame  Meinung  dieses  Publikums  ihre  Meinung,  ihr  Wille 
ist,  so  schlägt  die  neue  herrschende  Klasse  sich  selber  ins  Gesicht, 
wenn  sie  der  beherrschten  Klasse  die  bürgerHchen  und  poütischen 
Freiheiten  verkürzt,  auf  welche  diese  Anspruch  macht.  Sie  gesteht 
dadurch  ein,  daß  sie  diese  Freiheiten  nur  für  sich  begehrt  hat  imd 


ÖFFENTUCHE   MEINUNG.    —   KAMPF   UND    FREIHEIT. 


129 


sie  nur  für  sich  angemessen  erachtet,  während  sie  sonst  und  als  Grund- 
satz ihren  Wert  schlechthin  behauptet  hatte. 

Anmerkung.  Nachdem  dies  geschrieben  war,  hat  eine  große 
poHtische  Umwälzung  im  Deutschen  Reiche,  wie  in  anderen  I^ändern, 
die  bisher  beherrschte  Klasse  zur  herrschenden  gemacht,  wenn  auch 
nicht  zur  unbedingt  und  allein  herrschenden.  Ein  nicht  geringer  Teil 
derer,  die  ihr  angehören,  fühlt  sich  nach  wie  vor  als  beherrschte 
Schicht  und  wendet  sich  mit  Ungestüm,  ja  mit  heftiger  Tatkraft 
gegen  die  neue  Regierung,  die  jenen  Revolutionären  um  so  mehr 
verhaßt  ist,  weil  sie  die  eigenen  Grundsätze  zu  verraten  scheint;  hier 
ist  es  wiederum  das  Trachten  nach  einer  Freiheit  des  Handelns  und 
Redens,  die  gegen  alle  Gewalt  sich  wehrt,  was  am  schwersten  in  den 
Gefühlen  der  Menge  wiegt;  während  gleichzeitig  der  äußerste  Flügel 
der  Protestierenden  gerade  die  unbedingte  und  rücksichtslose  Gewalt- 
ausübung (einer  Minderheit)  als  Grundsatz  verkündet  und,  wo  sich 
Gelegenheit  bietet,  auch  geltend  macht  —  in  ausgesprochenster  Weise 
gerade  gegen  die  Freiheit  der  Meinungsäußerung,  die  Pressefreiheit, 
weil  sie  in  dem  Gebrauch  dieser  Freiheit  einen  Ausdruck  der  gesell- 
schaftüchen  Macht  der  »KapitaUsten «  erblickt,  die  sie  um  so  mehr  in 
ihren  Lebensäußerungen  unterdrücken  will,  je  weniger  sie  in  der  Lage 
zu  sein  glaubt,  sie  unmittelbar  niederzuzwingen. 

40.  (öffentliche  Meinung  und  eine  öffentliche  Meinung.)  Sofern 
aber  und  so  lange  als  die  verschiedenen  Schichten  an  Preßfreiheit  und 
Redefreiheit  Anteil  haben  oder  aber  die  gezogenen  Schranken  zu 
durchbrechen  wissen,  so  ergibt  sich  aus  dieser  gemeinsamen  Freiheit 
der  Meinungsäußerung  unmittelbar  eine  Vielheit  und  Mannigfaltigkeit, 
aber  auch  Widerspruch  und  Streit  der  öffentlich  ausgesprochenen 
Meinungen,  öff enthebe  Meinung  in  diesem  Sinne  ist  keineswegs  ein- 
heitUch.  Sie  kann  als  Einheit  aufgefaßt  werden,  indem  sie  als  Gesamt- 
heit des  in  die  Erscheinung  tretenden  Denklebens  einer  Einheit, 
insbesondere  der  in  einem  Staate  vereinigten  Nation  gedacht  wird; 
gleichsam  als  die  Einheit  eines  Gefäßes,  worin  sehr  verschieden 
geartete  Bestandteile  vermischt  angetroffen  werden,  öff enthebe 
Meinung  in  diesem  Sinne  hat  nur  das  wesenthche  Merkmal,  daß  sie 
ausgesprochen,  kundgegeben  wird,  und  zwar  der  »Allgemeinheit«, 
d.  h.  jedem  beliebigen  Hörer  oder  Leser  kundgegeben  wird,  im  Gegen- 
satz I.  gegen  Meinung  als  etwas  seiner  Natur  nach  Inneres  und  Eigenes 
(Privates),  aber  auch  2.  im  Gegensatz  zu  der  an  bestimmte,  bekannte 
Personen  vertrauHch  kundgegebenen  Meinung.  Ist  nun  aber  die  so 
sich  kundgebende  Meinung  die  Meinung  und  das  Urteil  Vieler,  ja  einer 
Mehrheit,  folghch  —  wenn  deren  Gewicht  gleich  dem  der  Mehrheit 
einer  Versammlung  geschätzt  wird  —  als  das  einer  Gesamtheit, 

Tönnies.  Kritik.  9 


130  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

eines  Kreises,  einer  als  Gemeinschaft  oder  als  Gesellschaft  verbundenen 
Einheit,  so  ist  gegeben,  was  »eine«  öffentliche  Meinung  genannt 
werden  möge.  »Eine«  öffentliche  Meinung  ist  also  die  im  wesentlichen 
einmütige  oder  doch  dafür  geltende  Meinung  irgendeines  Kreises, 
das  geschlossene  Urteil  einer  Gesamtheit,  insbesondere  wenn  imd 
sofern  es  bejahend  oder  verneinend,  mit  Beifall  oder  in  abfäUiger 
Weise,  in  Bewunderung  und  Ehrung  oder  in  Verurteilung  sich  geltend 
macht.  In  diesem  Sinne  haben  gerade  kleine  Orte,  wenigstens  Städte, 
eine  öffentliche  Meinung,  deren  Träger  zunächst  die  »Honoratioren« 
sind,  denen  eine  unbestimmte  Menge  derer,  die  zur  »Gesellschaft«  ge- 
hören wollen,  sich  anschUeßt.  In  diesem  Sinne  ist  auch  der  Ausdruck  in 
§  186  des  Deutschen  Strafgesetzbuches  (in  den  folgenden  Paragraphen 
wiederholt)  zu  verstehen:  „Wer  in  Beziehung  auf  einen  anderen  eine 
Tatsache  behauptet  oder  verbreitet,  welche  denselben  verächtlich  zu 
machen  oder  in  der  öffentlichen  Meinung  herabzuwürdigen  geeignet 
ist .  .  ."^),  denn  die  (eigentliche)  Öffentliche  Meinung,  in  dem  Sinne, 
den  wir  nachher  ins  Auge  fassen,  bekümmert  sich  um  die  Beleidigungen, 
die  Hinz  und  Kunz  einander  zuschleudern,  nicht.  Sie  wird  nur  auf- 
geregt, wenn  der  Beleidiger  oder  der  Beleidigte,  am  ehesten  wenn 
beide,  hervorragende  allgemein  bekannte  Personen  oder  Gesellschaften, 
vollends  wenn  die  Beleidigung  ein  offenbarer  Ausdruck  heftiger  Partei- 
kämpfe, an  denen  die  Öffentlichkeit  gespannten  Anteil  nimmt,  ist.  — 
Eine  öffentliche  Meinung  kann  man  jedem  offenen  oder  geschlossenen 
Kreise  zuschreiben,  der  als  solcher  ein  Gewicht  für  die  ihm  angehörigen 
Personen  hat,  so  daß  sie  nach  der  in  ihm  vorherrschenden  Meinung, 
die  als  einmütige  um  so  stärker  wird,  ihr  Betragen,  auch  ihre  Meinimgs- 
äußerungen,  richten ;  indem  sie  fürchten,  Anstoß  zu  erregen  und  da- 
gegen sich  freuen  und  es  genießen,  wenn  sie  Zustimmung  und  Beifall 
finden,  oder  sogar  als  Helden  und  Häupter  gefeiert  und  gepriesen 
werden.  In  jeder  Gruppe,  die  nach  innen  soziale  Wirkungen  ausübt, 
hat  sozusagen  jeder  Mitspieler  sein  Publikum,  dem  er  gefallen  oder 
wenigstens  nicht  mißfallen  will.  Es  ergeben  sich  aber  daraus  viele 
KoUisionsfälle.  Oft  wird  das  Mißfallen  eines  Kreises  in  den  Kauf 
genommen,  um  das  Gefallen  eines  anderen  zu  finden;  insbesondere 
der  Beifall  einer  kleineren  Gruppe  verschmäht,  wenn  derjenige 
einer  größeren  winkt,  derjenige  einer  nahen  hintangesetzt,  wenn  der- 
jenige einer  entfernten  erreichbar  scheint 2). 

^)  Nach  Franks  Kommentar  zum  StrG.ist ,  .öffentliche  Meinung  im  Sinne  desGesetzes" 
,,die  Meinung  eines  größeren,  individuell  nicht  bestimmten  Teiles  der  Bevölkerung". 

*)  Böhm-Bawerk  spricht  von  einer  »öffenthchen  Meinung  der  Wissenschaft«, 
in  der  Times  ist  öfters  von  der  »commercial  public  opinion*  die  Rede;  hingegen  sprechen 
S.  u.  B.  Webb  von  »einer«  öffentlichen  Meinung,  die  sich  um  1867  imter  den  eng- 
lischen Gewerkvereinen  gebildet  habe  {History  of  Trade  Unionism,  p.  250). 


Die  öffentwche  Meinung.  —  Entstehung  und  Charakter  usw.     131 
IV.   Kapitel. 

öffcntlidieMcinungund  die  ÖffcntlidicMcinung. 

Erster  Abschnitt.  Entstehung  und  Charakter 
der  öffentlichen  Meinung. 

I.  (Sprachgebrauch  und  Begriffe.)    Hier  bleibe  zunächst   »eine« 
öffentliche  Meinung  außerhalb  der  Betrachtung.    Um  so  mehr  ist 
daran  gelegen,  die  öffentliche  Meinung  als  äußere  Gesamtheit  wider- 
sprechender mannigfacher  Meinungen,  die  öffentHch   laut  werden, 
und   dagegen    wüe«    öffentliche  Meinung   als   einheitlich   wirksame 
Kraft  und  Macht  deuthch  und  scharf  zu  unterscheiden.    Es  wurde 
mehrmals  auf  das  Widersprechende  hingewiesen,  daß  »Meinen«  einer- 
seits so  viel  als  Denken  bedeutet,  also  durchaus  das  Hegen  eines 
Urteils,  einer  Absicht  oder  Ansicht,  andererseits  geradezu  ein  abge- 
kürzter Ausdruck  ist  für :  eine  Meinung  (ein  Urteil,  eine  Absicht  oder 
Ansicht)  aussprechen,  kundgeben:  sei  es  in  vertrautem  Kreise,  in 
geschlossener  Gesellschaft,  oder  öffentlich,  sozusagen  in  offener,  jedem 
zugänglicher  Gesellschaft.     Im  Sprachgebrauch  bedeutet  öffentliche 
Meinung  nicht  nur  die  ausgesprochene,  sondern  die  für  die  Öffentlich- 
keit, das  PubHkum,  die  Allgemeinheit  ausgesprochene  u  n  d  b  e  s  t  i  mm  t  e 
Meinimg.    Aber  diese  Bedeutung  vermischt  sich  eben  im  Sprach- 
gebrauch mit  der  anderen,  wonach  die  Allgemeinheit  oder  das  »Publi- 
kum« zunächst  oder  wenigstens  auch  als  Subjekt  der  Meinungen 
gedacht  wird:  in  diesem  Sinne  ist  schon  von  den  Meinungen  und  dem 
Gemeingut    des    politischen    Publikums    gesprochen    worden.     Der 
wissenschaftliche  Gedanke  muß  diese  Bedeutungen  nicht  nur  aus- 
einanderhalten, sondern  die  beiden  ganz  verschiedenen  Begriffe  daraus 
entwickeln,   wie   es  hier   geschieht,   wenn   wir   die    »unartikulierte« 
öffentliche  Meinung  getrennt  von  der  artikulierten,  »der«  (eigentlichen) 
öffentlichen  Meinung  darstellen.   Für  beide  Begriffe  bleibt  die  öff ent- 
hebe Kundgebung  und  die  Beziehung  auf  öffentUche,  d.  i.  in  erster 
Linie  poH tische  Angelegenheiten  wesentlich.   Dort  aber  —  bei  öffent- 
licher Meinung  —  wird  Allgemeinheit  nur  insofern  mitgedacht  als  »alle« 
irgendwie  am  öffentlichen  Kundgeben  von  Meinungen  tätigen  oder 
leidenden  Anteil  nehmen ;  hier  dagegen,  für  die  öffentliche  Meinung  ist 
das  Subjekt  eine  wesentlich,  insbesondere  politisch,  verbundene  Ge- 
samtheit, die  darüber  einig  geworden  ist,  so  zu  meinen  und  zu  urteilen, 
und  die  eben  dadurch  wie  von  selber  der  Öffentlichkeit,  dem  öffent- 
Hchen  Leben  angehört.    Damit  berührt  sich  nahe  ein  starker  Unter- 
schied in  der  Bedeutung  des  Meinens  selber.   Dort  hat  es  überwiegend 
einen  Gedankensinn  (intellektuaHstischen),  hier  überwiegend  einen 

9* 


132  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

Willenssinn  (voluntaristischen).  Dort  sind  es  die  öffentlich  kund- 
gegebenen, allen  sich  mitteilenden  Ansichten  —  mannigfach  und  bunt 
und  einander  widersprechend,  ja  leidenschaftlich  bekämpfend  — , 
Ansichten,  hinter  denen  freiUch  die  Wünsche  und  Bestrebungen,  die 
Interessen  von  Gruppen  und  Einzelnen  stehen,  unterbewußt,  bewußt 
und  überbewußt;  Ansichten,  die  auch  regelmäßig  zugleich  Urteile, 
Verneinungen  und  Bejahungen  sind.  Hier  aber  ist  die  öffentliche 
Meinung  wesentlich  ein  Wille,  Wille  im  Urteil  und  durch  das  Urteil 
—  das  Urteil  aber  ist  ein  einheitlicher  Akt  — ;  mithin  eine  bewußte 
imd  ausgesprochene  Willensform,  nach  Art  des  Beschlusses,  den  ein 
Gerichtshof  oder  sonst  eine  »beschlußfähige«  Versammlung  »faßt«, 
worauf  sie  sich  einigt  —  Ausdruck  des  Willens  einer  Gesamtheit,  die 
aber  als  PubHkum  oder  Subjekt  der  öffentlichen  Meinung  nicht  ver- 
sammelt ist,  außer  im  Geiste  —  in  der  Regel  viel  zu  groß,  um  als 
Versammlung  vorgestellt  werden  zu  können^). 


*)  Nachdem  ich  schon  seit  etwa  fünf  Jahren  die  hier  vorgelegte  wichtige 
Unterscheidung  gehegt  und  durchdacht  hatte,  fand  ich  in  dem  auch  sonst  schätz- 
baren Buche  »Kultur  und  Presse«  von  Dr.  Emil  Löbl  (auch  Max  Weber  rühmte 
es  in  seinem  Berichte  an  die  Deutsche  Gesellschaft  für  Soziologie :  Verhandlungen 
des  ersten  deutschen  Soziologentages  [Tübingen,  Mohr  191 1,  S.  43],  es  sei  auf- 
fallenderweise viel  weniger  gekannt  als  es  verdiene)  folgende  Stelle:  nachdem  dar- 
gelegt worden,  daß  eine  öffentliche  Meinimg  außerhalb  der  Presse  sowie  im  Gegen- 
satze zur  Presse  entstehen,  sich  entwickeln  und  zur  Macht  werden  könne.  — 
„Noch  schwieriger  wird  das  Problem  dadurch,  daß  eine  einheitliche  öffentliche 
Meinung  infolge  der  fortschreitenden  Differenzierung  und  Zerklüftung  des  Partei- 
wesens immer  seltener  wird.  Streng  genommen  kann  von  »der«  öffentb'chen  Mei- 
nung nur  in  dem  Falle  gesprochen  werden,  wenn  es  eben  eine  ist,  eine  einzige, 
oder  wenn  wenigstens  eine  von  den  mehreren  Meinimgsn  die  erdrückende  Majori- 
tät für  sich  hat;  in  allen  anderen  Fällen  hat  man  es  mit  mehreren  verschieden- 
artigen öffentlichen  Meinungen  zu  tun"  (S.  252  f).  Schon  früher  hatte  ich  die 
15  Jahre  später  als  Löbls  Buch  erschienene  Schrift  des  im  Kriege  gefallenen 
Herbert  Jordan,  (angelegt  als  eine  Doktor-Dissertation,  aus  seinem  Nachlasse  heraus- 
gegeben von  Johannes  Hohlfeld,  Kamenz  191 8)  kennen  gelernt.  Darin  heißt  es  (S.  4) : 
„Der  Begriff  »öffentliche  Meinung«  ist  eigentlich  ein  Widerspruch  in  sich  selbst. 
Der  Charakter  des  Einheitlichen  —  im  Begriff  des  Hauptwortes  —  wird  zerstört 
durch  das  Eigenschaftswort,  denn  dieses  weist  auf  eine  Vielheit  von  Menschen  und 
damit  von  Meinungen  hin.  Wirklichen  Sinn  konnte  diese  Zusfimiiiensetzung  bloß  haben 
zu  einer  Zeit,  wo  das  Volk  noch  eine  ungebrochene  Einheit  in  Ddken  und  Fühljn 
darstellte,  oder,  wo  doch,  wie  in  der  Romantik,  der  Begriff  einer  einheitlichen,  auf  d.n 
einzelnen  Lebensgebieten  zu  entsprechender  Ausformung  gelangend  n  Volksseele  all- 
gemein geläufig  imd  gebräuchlich  war.  In  Wahrheit  stellt  die  öffentliche  Meinung 
(besonders  wenn  man  den  Begriff  auf  das  rein  Politische  beschränkt)  auf  jeder  höheren 
Entwicklungsstufe  ein  Spiel  stetig  und  heftig  miteinander  ringender  Gegensätze  dar, 
die  nur  in  den  seltensten  Augenblicken  in  der  überflutenden  Welle  eines  großen  ein- 
heitlichen Gefühls  untergehen.  Diese  Gegensätze  gilt  es  hervorzusuchen  und  sie  in 
ihrem  gegenseitigen  Kräfte-  und  Spannungsverhältnisse  darzustellen."  Man  erkennt, 
wie  der  jimge  Gelehrte,  der  als  wahrer  Held  sein  Leben  geopfert  hat,  mit  der  von 
LöBL  bedeuteten  Schwierigkeit  ringt.  Wiefern  seine  Auffassung  berichtigt  werden 
muß,  wird  sich  aus  dem,  was  im  Texte  mitgeteilt  wird,  ergeben.  Jordan  nennt 
einen  Begriff,  was  nur  eine  im  Sprachgebrauch  schwebende  VorstcUimg  ist. 


Die  öffentuche  Meinung.  —  Entstehung  und  Charakter  usw.      133 

2.  (Die  Analogie  der  Versammlung.)  Zusammenhänge  und  Über- 
gänge zwischen  dem  einen  und  dem  anderen  Sinne  des  Ausdruckes 
KJff entliche  Meinung«  sind  allerdings  vorhanden.  Auch  eine  Ver- 
sammlung, die  ja  unter  Umständen  befugt  ist  oder  doch  das  Recht 
in  Anspruch  nimmt,  Gesetze  für  einen  ganzen  Staat  zu  geben,  ist  etwas 
anderes,  indem  sie  beschließt  und  beschlossen  hat,  etwas  anderes  im 
Zustande  der  Beratung.  Dort  steht  sie  als  ganze,  als  Gesamtheit, 
hinter  dem  Beschluß,  weil  (in  der  Regel)  der  Wille  der  Mehrheit  der 
Anwesenden  oder  doch  einer  gewissen  Anzahl  (der  beschlußfähigen 
Zahl)  als  Wille  der  Versammlung  und  als  solcher  oft  zugleich  als  Wille 
einer  größeren  Gesamtheit,  die  durch  diese  Versammlung  »vertreten« 
wird,  gilt.  Diese  größere  Gesamtheit  —  z.  B.  das  in  einem  Staate 
vereinigte  Volk  —  trägt  gleichsam  die  ideelle  Versammlung  (z.  B.  den 
Reichstag  oder  Landtag),  die  sich  in  der  realen  Versammlung  abbildet. 
Im  Zustande  der  Beratung  ist  die  reale  Versammlung  geteilt  und  zer- 
rissen durch  widerstreitende  Meinungen  und  Reden.  Die  ideelle 
Versammlung  und  die  hinter  ihr  stehende  Gesamtheit  warten  gleich- 
sam darauf,  daß  die  reale  Versammlung  zur  Abstimmung  schreite 
imd  also  zu  einem  Beschlüsse  komme.  Bis  dahin  wird  der  Gegenstand, 
die  Vorlage,  der  Antrag,  nach  dem  lateinischen  Ausdruck  »ausein- 
andergeschlagen« (diskutiert),  es  findet  die  »Debatte«  d.i.  eine  Art 
von  Kampf  und  Streit  in  Worten,  Gebärden,  Beifalls-  oder  Mißfallens- 
geräuschen, zuweilen  auch  in  TätHchkeiten  statt,  wozu  sich  dann 
die  Beschlußfassung  als  eine  Art  von  Friedensschluß  verhält,  der 
gleich  anderen  Friedensschlüssen  zuweilen  aus  dem  entschiedenen 
Siege  der  einen  Seite  (hier  der  einen  Meinung)  hervorgeht,  oft  aber 
auch  durch  ein  gegenseitiges  Nachgeben  zwischen  Ansichten  und 
Absichten,  die  einander  sonst  ausschließen  und  zu  vernichten 
wünschen,  —  als  »Kompromiß«  —  bedingt  ist:  sei  es,  daß  eine  ge- 
schlossene Mehrheit  ihrerseits  ein  teilweises  Nachgeben  für  richtig 
hielt,  um  die  Minderheit  nicht  zu  sehr  zu  kränken  und  zu  drücken, 
vielmehr,  anstatt  ihre  Vergeltung  herauszufordern,  sie  zu  beruhigen; 
sei  es,  daß  eine  Mehrheit  in  der  Angelegenheit  überhaupt  nur  durch 
gegenseitiges  Nachgeben  zwischen  verschiedenen  Meinungsgruppen 
zustande  kommt,  die  insoweit  sich  einig  werden,  daß  sie  gemeinsam 
den  Widerstand  der  Minderheit  zu  überwinden  fähig  sind :  in  der  Regel 
werden  diese  Gruppen  auch  sonst  einander  nahe  stehen  und  eine 
Affinität  zueinander  haben,  zuweilen  aber  wird  die  gemeinsame 
Gegner-  und  Feindschaft  die  heterogensten  und  sonst  einander  am 
meisten  zuwideren  Gruppen  zu  Bundesgenossen  machen;  gleichwie 
in  der  großen  Politik.  Die  Personen  der  Beratung  und  der  Beschluß- 
fassung sind  nicht  notwendig  und  immer  dieselben:  manche  nehmen 


134  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

an  der  Beratung  teil,  die  an  der  Beschlußfassung  nicht  teilnehmen  oder 
sich  der  Abstimmung  enthalten,  zuweilen  haben  auch  einige  zwar  das 
Recht,  mitzuraten,  aber  nicht  das  Recht  »mitzutaten«,  d.h.  sie  haben 
eine  beratende,  aber  keine  beschließende  Stimme.  —  Man  kann  also 
öffentHche  Meinung  sowohl  als  »die«  öffentliche  Meinung  mit  einer 
Versammlimg  vergleichen,  um  dadurch  ihr  gegenseitiges  Verhältnis 
zu  erläutern;  die  beiden  Vorstellungen  werden  so  gleichsam  auf  einen 
Nenner  gebracht,  und  dies  ist  für  das  begriffüche  Denken  wertvoll. 
Im  Sprachgebrauch  ist  man  des  Unterschiedes  sich  nicht  bewußt. 
Wohl  aber  wird  tatsächlich  bald  von  der  öffentlichen  Meinung  als 
von  etwas  Unlebendigem  (ich  vergleiche  sie  einem  Gefäß  oder  einem 
Mischkessel)  gesprochen,  worin  mannigfache,  miteinander  unverträg- 
liche Bestandteile  sich  zusammengegossen  finden  und  in  mehr  oder 
minder  heftige  Gärung  geraten;  bald  erscheint  (im  anderen  Sinne)  die 
öffentliche  Meinung  gleichsam  als  ein  denkendes  Wesen  und  als  ein- 
heitliche Macht,  ja  wird  oft  als  ein  geheimnisvolles  erhabenes  und  bei- 
nahe mythisches  Wesen  gepriesen,  oder  aber  —  von  solchen,  die  sich 
durch  diese  Gottheit  mißhandelt  fühlen  —  angeklagt  und  gescholten. 
Wenn  wir  hier  die  Analogie  der  beratenden  und  beschließenden 
Versammlung  heranziehen,  so  bleiben  wir  der  Unterschiede  uns  be- 
wußt. Versammlungen,  die  zu  beraten  und  zu  beschließen  vermögen, 
gibt  es  höchst  mannigfache.  Ich  unterscheide  Selbst- Versammlungen 
und  gebotene  Versammlungen,  ungeordnete  und  geordnete,  selbst 
sich  ordnende  tmd  von  außen  geordnete,  ungeordnet  oder  schon 
geordnet  zusammenkommende,  ideelle  und  reale  Versammlungen 
(s.  oben),  wo  die  ideelle  Versammlung  eine  Körperschaft  bedeutet, 
insofern  sie  als  deren  durch  einen  Kollektivwillen  bestellte  Erschei- 
nungsform sich  darstellt,  sei  es  daß  diese  Körperschaft  ein  selbständiges 
Dasein  hat  oder  als  Organ  eines  allgemeinen  Willens  und  Verbandes 
gedacht  wird.  Die  ideelle  Versammlung  kann  als  ein  zeitlich  bedingtes 
und  begrenztes,  sie  kann  aber  auch  als  ein  unzeitliches  oder  doch  auf 
unbestimmte,  ja  ewige  Dauer  eingerichtetes  Wesen  gedacht  werden; 
eine  reale  Versammhmg,  möge  sie  eine  ideelle  Versammlung  dar- 
stellen oder  nicht,  nimmt  einen  bestimmten  Raum  ein  und  dauert 
eine  gewisse  Zeit,  sie  hat  also  ein  materielles  Dasein,  auch  wenn  sie 
als  eine  Einheit  sich  geltend  machen  und  zu  diesem  Behuf  einen 
gemeinsamen  Willen  aus  sich  entwickeln  will  oder  soll.  In  der  Regel 
wird  alsdann  von  ihrem  äußeren  und  sichtbaren  Dasein  das  innere 
und  geistige  dadurch  unterschieden,  daß  sie  förmlich  »eröffnet«  und 
förmlich  »geschlossen«  wird.  Jede  Versammlung  kann  auch  unter 
freiem  Himmel  »tagen«;  aber  auch  dann  sind  die  zu  ihr  gehörigen 
Personen   als  solche  erkennbar,    sei  es  daß  sie  lebendig  mitwirken 


Die  öffentuche  Meinung.  —  Entstehung  und  Charakter  usw.     135 

oder  nur  zuhören;  in  jedem  Falle  können  aber  auch  die  zur  Mit- 
wirkung Berechtigten  besondere  Merkmale  oder  Kennzeichen  tragen, 
imd  wenn  es  sich  um  die  berechtigten  Mitglieder  einer  ideellen  Ver- 
sammlung handelt,  so  werden  diese  ihre  Berechtigung  nachweisen 
müssen,  auch  finden  solche  Versammlungen  regelmäßig  in  ge  - 
schlossenem  Räume,  und  nicht  selten  geheim  —  unter  Ausschluß 
der  Öffentlichkeit  —  statt,  öffentliche  Meinimg  entbehrt  des  be- 
stimmten Ravunes,  der  gewissen  Zeit.  Sie  breitet  sich  nebelhaft  aus, 
sie  ist  ganz  und  gar  unsinnlicher  Natur,  nur  durch  Denken  wahr- 
nehmbar ;  dies  Merkmal  hat  sie  mit  der  ideellen  Versammlung  gemein, 
aber  wie  in  einer  realen  Versammlung  kommen  in  ihr  viele  gegen- 
wärtige Menschen  zu  Worte,  sie  kann  um  so  eher  einer  beratenden 
Versammlung  vergHchen  werden,  wenn  in  solcher  Versammlung 
ein  Durcheinander  von  Stimmen,  von  Tumult  und  Geschrei  sich 
vernehmbar  macht  und  den  Präsidenten  vermissen  läßt,  der  in  einer 
geordneten  Ratsversammlung  dem  Zank  und  Streit  seine  Grenzen 
zieht,  gewisse  Ausdrücke  rügt  und  dem  allzu  frechen  Redner  das 
Wort  entzieht.  Jedoch  ist  auch  die  öffentliche  Meinung,  als  Ver- 
sammlimg  gedacht,  nicht  schlechthin  ohne  Geschäftsordnung:  gewisse 
Anstandsregeln  sollen  gemäß  stillschweigender  Verabredung  beob- 
achtet werden,  wer  diese  konventionellen  Vorschriften  nicht  beob- 
achtet, macht  sich  in  der  Gesellschaft  »unmöglich«,  er  wird  aus  ihr 
moralisch  hinausgeworfen,  wie  unter  Umständen  ein  Mitglied  aus 
einer  parlamentarischen  Versammlung  entfernt  wird. 

3.  (Die  Grenzen  der  Hörweite.)  Die  Öffentlichkeit  der  öffentlichen 
Meinung  ist  an  und  für  sich  unbeschränkt.  Wer  in  ihr  das  Wort 
nimmt,  kann  möglicherweise  überall  auf  dem  Erdenrund  gehört 
werden  und  wird  es  zuweilen  wirklich,  wenn  auch  kaum  jemals  von 
allen  (auch  nur  den  erwachsenen)  Menschen.  In  der  Regel  ist  die 
Hörweite  begrenzt  i.  durch  die  Sprache,  in  der  er  sich  vernehmen 
läßt,  2.  auch  durch  ein  politisches  Gebiet,  innerhalb  dessen  der  Gegen- 
stand, auf  den  die  »Rede«  sich  bezieht,  seine  Bedeutung  überhaupt 
oder  doch  in  der  gegebenen  Anwendung  hat,  3.  durch  den  Bildungs- 
stand der  Hörer  oder  I^ser,  der  sie  das  Gehörte  verstehen  und  über- 
legen läßt,  4.  durch  die  Kraft  der  geistigen  und  moralischen  »Stimme«: 
auf  diese  wirkt  bedingend  a)  das  Ansehen,  das  der  »Redner«  aus 
äußeren  oder  inneren  Gründen  genießt,  b)  das  Gewicht  seiner  Gründe, 
die  Gewandtheit  und  GeschickHchkeit  im  Gebrauche  von  Schlag- 
wörtern, erheiternden  Wendungen  und  Witzen,  rednerischen  Figuren, 
Interesse  und  Aufsehen  erregenden  Mitteilungen  und  anderen  die 
Aufmerksamkeit  stachelnden  und  reizenden  Mitteln,  c)  die  Leiden- 
schaft, das  Pathos,  der  »Brustton  der  Überzeugung«,  womit  er  seine 


136  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

Zuhörer  oder  lyeser  zu  »packen«  versteht,  d)  die  Tatkraft  und  Rück- 
sichtslosigkeit,- womit  er  die  wirksamste  der  rednerischen  Figuren, 
die  Wiederholung  anzuwenden  sich  befleißigt  und  versteht.  Die 
Hörweite  ist  ferner  wesentlich  begrenzt  5.  durch  die  schon  vorhandene 
Anhängerschaft,  also  insbesondere  die  Glaubensgenossenschaft,  Partei- 
genossenschaft, Berufsgenossenschaft  und  oft  die  Zugehörigkeit  zu 
einer  bestimmten  CHque,  einer  Gruppe,  einem  Flügel,  innerhalb 
solcher  Verbundenheiten;  also  auch  durch  das  Ansehen  und  die 
anderen  Momente,  die  das  Gewicht  einer  Stimme  insbesondere  in 
einem  solchen  engeren  Kreise  bestimmen  —  dazu  gehört  vor  allem 
eine  anerkannte  Führerrolle,  aber  auch  der  Glanz  eines  gefeierten 
Namens,  der  Machtzauber  (Prestige),  der  von  anerkannten  I^eistungen 
tmd  von  Erfolgen,  die  allen  als  erwünscht  gelten,  ausgeht ;  dies  Moment 
macht  sich  in  kleinen  wie  in  großen  Verbundenheiten  unwiderstehüch 
geltend  —  es  ist,  was  Max  Weber  neuerdings  als  Charisma  beschrieben 
hat.  Endlich  6.  ist  die  Hörweite  begrenzt  durch  die  äußeren  Mittel 
und  Wege  der  Ausbreitung,  also  durch  die  Art  des  Vertriebes  eines 
Buches,  die  Kapitalkraft,  die  Verbindungen,  die  Rührigkeit  eines 
Verlages;  insbesondere  aber  durch  Art  und  Größe  des  Publikums, 
das  eine  periodische  Druckschrift  —  Zeitschrift  oder  Zeitung  —  hat 
oder  sich  zu  verschaffen  weiß.  Zum  guten  Teil  ist  dieser  Grad  der 
öffentüchkeit  wiederum  abhängig  von  der  Zahl,  der  Kaufkraft, 
Opferwilligkeit  tmd  anderen  Eigenschaften  der  Angehörigen  einer 
Partei  oder  anderen  Gruppe,  aber  auch  andere  Eigenschaften  tragen 
zur  Erweiterung  des  Publikums  bei,  so  daß  z.  B.  je  bedeutender  eine 
Zeitung,  desto  mehr  sie  auch  außerhalb  ihrer  Parteikreise  gelesen 
und  beachtet  wird. 

4.  (Die  Presse.)  Tatsächlich  ist  unter  den  I^ebensbedingungen 
des  gegenwärtigen  Zeitalters  nicht  nur  der  Buchdruck  überhaupt 
das  wichtigste  Mittel,  wodurch  sich  Menschen  in  der  öffentlichen 
Meintmg  gehört,  verstanden,  gewürdigt  machen,  sondern  es  ist  be- 
sonders die  periodischePresse,  und  als  solche  wiederum  die  Tages- 
presse, die  in  diesem  Sinne  »das«  Organ  der  öffentlichen  Meinung  genannt 
zu  werden  pflegt  und  genannt  zu  werden  verdient.  Aber  es  ist  ein  großer 
Irrtum  und  ein  typischer  Fall  des  Mißverständnisses,  das  aus  der  ge- 
dankenlosen Unterwerfung  unter  den  Sprachgebrauch  so  oft  entspringt, 
wenn  man  darum  die  Presse  als  Organ  der  öffentlichen  Meinung  be- 
zeichnet oder  wohl  gar  als  ihrem  Wesen  nach  mit  dieser  identisch,  was 
wiederum  dahin  ausgelegt  zu  werden  pflegt,  daß  sie  die  öffentliche 
Meinung  »mache«  —  obgleich  hierin  der  entgegengesetzte  Sinn  des 
Satzes,  der  sie  als  deren  »Organ«  auffaßt,  ausgesprochen  wird.  Mit  der 
„weitverbreiteten  aber  unberechtigten  Identifizierung  von  Presse  und 


Die  öffentuche  äIeinijng.  —  Entstehung  und  Charakter  usw.      137 

öffentlicher  Meinung"  hat  auch  LÖBiy  (Kultur  imd  Presse,  S.  253 ff.)  sich 
beschäftigt.  Er  trägt  die  genannte  Auslegung  vor,  ohne  zu  bemerken, 
daß  sie  doch  etwas  anderes  ist  als  die  gerügte  Identifizierung.  Die  eine 
wie  die  andere  will  er  mit  dem  Satze  widerlegen,  die  öffentliche  Mei- 
nung sei  das  Produkt  aus  zwei  Faktoren :  der  eine  sei  die  ursprüngliche 
lebendige  Idee,  der  andere  aber  der  »VerstärkungsmultipHkator  «,  diesen 
stelle  regelmäßig,  nicht  ausnahmslos,  die  Presse  dar.  Es  könne  eine 
öffentliche  Meinung  außerhalb  der  Presse  sowie  im  Gegensatze  zur  Presse 
entstehen,  sich  entwickeln  und  zur  Macht  werden.  „Dem  Propagator 
der  Idee  stehen  auch  andere  Mittel  der  Verbreitung  und  Verstärkung 
seiner  Idee  zu  Gebote,  das  Buch,  die  parlamentarische  Tribüne,  das 
Vereinsleben,  Versammlungen,  öffentHche  Vorträge,  gesellige  Zu- 
sammenkünfte, die  unmittelbare  stille  Agitation  von  Mann  zu  Mann, 
und  alle  diese  Mittel  sind  in  jenen  „Fällen  erfolgreich  zur  Anwendung 
gelangt,  in  denen  eine  öffentliche  Meinung  ohne  oder  selbst  gegen  die 
gesamte  Presse  ins  Leben  gerufen  wurde"  (255).  I^ÖBi,  geht  an  den 
Folgerungen  vorbei,  die  aus  seiner  längst  vor  mir  gefundenen  Unter- 
scheidung »der«  öffentHchen  Meinung  von  der  mannigfachen  öffent- 
lichen Meinung  gewonnen  werden  müssen.  Um  diese  zu  begründen, 
muß  zunächst  eine  tiefere  Auffassung  der  öffentlichen  Meinung  hier 
eingeschoben  werden. 

5»  (Aggregatzustände  der  öffentlichen  Meinung.)  Ebenso  wie  bei 
der  individuellen  Meinung,  sind  bei  der  sozialen,  der  allgemeinen,  der 
öffentlichen  Meinung,  verschiedene  Aggregatzustände  zu  unter- 
scheiden. Der  Grad  ihrer  Festigkeit  ist  der  Grad  ihrer  Einheitlichkeit. 
Auch  im  luftartigen  Zustande  kann  sie  als  Einheit  erscheinen  i.  wenn 
dieser  Zustand  gleichsam  durch  Verdunstung  einer  fester  und  inniger 
zusammenhängenden  Einheit  entsteht,  also  aus  einem  flüssigen  oder 
unmittelbar  einem  festen  Aggregatzustande  hervorgeht.  Die  feste 
öffenthche  Meinung  gerät  in  Fluß,  wenn  ihr  Bewegung  zugeführt  wird, 
imd  dies  kann  durch  irgendwelche  Wahrnehmung,  irgendwelche  Ge- 
danken, irgendwelche  Erfahrung  geschehen,  von  der  die  Gesamtheit,  die 
wir  als  Subjekt  der  öffentlichen  Meinung  vorstellen,  ergriffen  wird.  Die 
feste  öffenthche  Meinung  ist  eine  allgemeine  unerschütterliche  Über- 
zeugung des  PubHkums,  das  als  Träger  solcher  Überzeugungen  ein  ganzes 
Volk  oder  einen  noch  weiteren  Kreis  der  »zivilisierten  Menschheit «  ver- 
tritt. Solche  Überzeugungen  gibt  es  nicht  wenige,  z.  B.  auf  dem  poli- 
tischen Gebiete,  daß  der  Absolutismus  oder  die  Autokratie  eines  Monar- 
chen als  Staatsform  vom  Übel  sei,  oder  auf  dem  rechthchen,  daß  die 
peinliche  Frage  (»Folter«)  als  Beweismittel,  und  daß  qualifizierte  Todes- 
strafen als  Straf  mittel  »barbarisch«,  also  verwerflich  seien.  Sie  können 
in  Fluß  geraten,  wenn  z.  B.  bekannt  wird,  daß  eine  Autokratie,  deren 


138  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

Sturz  die  öffentliche  Meinung  mit  Genugtuung  wahrgenommen  hat, 
unter  dem  Scheine  des  Konstitutionahsmus  mit  Gewalt  und  Schrecken 
sich  wiederherstellt,  wie  es  in  Rußland  durch  Stoi^ypin  geschah. 
Die  Überzeugung  gewinnt  dann  an  Leidenschaft,  aber  sie  verliert  an 
Festigkeit  und  EinheitHchkeit :  die  Ansicht,  daß  nichts  als  Schein- 
konstitutionalismus  und  ungerechte  Verfolgung  der  Revolutionäre 
vorliege,  kann  bestritten  werden,  sie  wird  aber  durch  die  Opposition 
heftiger.  Über  die  allgemeinen  Ideen  ist  die  Einigkeit  der  öffentlichen 
Meinimg  am  vollkommensten,  wie  sich  schon  im  Affekt  der  Sprache 
kundgibt,  die  Wörter  wie  Tyrannei,  Despotismus,  Barbarei,  oft  auch 
Mittelalter  u.  dgl.  mit  dem  Bann  belegt;  anders  ist  es  schon,  wenn  die 
Frage  entsteht :  liegt  hier  Tyrannei,  liegen  mittelalterliche  Zustände  vor  ? 
und  vollends,  wenn  etwas  als  verwerflich,  verdammenswert  erscheint 
und  dafür  ausgegeben  wird,  ohne  sich  einfach  nach  solchem  Schema 
zu  richten.  Doch  entsteht  in  solchen  Fällen  eine  dunstartige  öffentliche 
Meinung  aus  der  flüssigen  oder  durch  deren  Vermittlung  aus  der  festen. 
Dieser  Dunst  ist  das,  was  gewöhnlich  als  die  öffentliche  Meinung  ver- 
standen wird,  weil  sie  hier  am  auffallendsten,  heftig  und  stürmisch, 
in  die  Erscheinung  tritt.  Hier  wird  aber  auch  ihr  parteilicher  Cha- 
rakter offenbar.  Sie  beruht  in  der  modernen  Denkungsart,  deren 
allgemeine  Grundsätze  den  Parteien  gemeinsam  sind  und  kaum  je 
bestritten  werden;  aber  in  Einzelheiten  jeder  Art  gibt  es  nicht  nur 
abweichende  Meinungen,  sondern  ganze  Gruppen  und  Parteien,  die 
auch  an  hochgebildeten  Männern  und  Frauen  ihre  Häupter  haben, 
und  an  alten  Vorstellungen  und  Vorstellungsweisen  hängen,  wenn 
auch  ihre  Stimmen  in  der  Regel  vielleicht  übertönt  werden.  Denn 
^n  der  Öffentlichkeit  ist  eben  das  Neue,  das  Moderne,  die  aufgeklärte 
Denkungsart  auch  die  stärkere  und  hat  zumeist  eine  unwiderstehliche 
Kraft.  Die  öffentliche  Meinung  tritt  immer  mit  dem  Anspruch  auf, 
maßgebend  zu  sein,  sie  heischt  Zustimmung  und  macht  wenigstens  das 
Schweigen,  das  Unterlassen  des  Widerspruchs  zur  Pflicht.  Mit  mehr  oder 
weniger  Erfolg;  je  vollkommener  der  Erfolg,  um  so  mehr  bewährt  sie 
sich  als  d  i  e  öffentliche  Meinung,  trotz  des  mehr  oder  minder  zum  Schwei- 
gen gebrachten  Widerspruchs.  Am  klarsten  tritt  dies  in  Fragen  hervor, 
die  mit  der  Religion  zusammenhängen.  So  ist  die  Theokratie  und  der 
Glaube,  daß  durch  priesterliche  Salbung  ein  König  mit  göttlichem  Zauber 
angetan  werde,  in  Europa  so  gut  wie  aufgegeben.  Aber  es  gibt  zweifel- 
los in  jedem  Lande  viele,  auch  sehr  gebildete  Personen,  die  wenigstens 
in  ihrem  König  und  etwa  sogar  in  jedem  Prinzen  so  etwas  wie  ein 
höheres,  vom  Himmel  begnadetes  Wesen  verehren.  Gleichwohl  erhebt 
sich  ein  Sturm  der  öffentlichen  Meinung,  wenn  ein  König  daraufhin 
eine  überirdische  Weisheit  in  Anspruch  nimmt  und  Gehorsam  für  einen 


Die  öffentuche  Meinung.  —  Entstehung  und  Charakter  usw.     13Q 

Befehl  verlangt,  weil  ihm  eine  Eingebung  von  Gott  zu  Teil  geworden 
sei,  die  diesen  Befehl  heilige.  Sogar,  wenn  der  Befehl  an  und  für  sich 
nicht  als  unsinnig  erscheint,  wird  die  öffentliche  Meinung  doch  mit 
vollkommener  Zuversicht  über  diese  Anmaßung  den  Stab  brechen. 
Ebenso  wird  in  Fällen,  wo  die  Humanität,  mit  der  im  allgemeinen 
die  öffentliche  Meinung  fest  verbunden  ist,  in  Frage  steht,  obschon 
die  Anwendimg  streitig  ist  und  manche  Arten  der  Behandlung  von 
Mitmenschen  als  »Humanitätsdusel«  angeklagt  werden,  dennoch  eine 
krasse  Inhumanität  —  etwa  die  Mißhandlung  eines  schwachsinnigen 
Soldaten  durch  seinen  Vorgesetzten  —  von  der  öffentUchen  Meinung 
mit  anscheinender  Einmütigkeit  verurteilt  werden,  wenn  man  auch 
weiß,  daß  es  viele  gibt,  die  das  Verhalten  der  Vorgesetzten  unbe- 
dingt bilHgen,  oder  doch  unter  den  gegebenen  Umständen  für  gerecht- 
fertigt halten. 

6.  (Verallgemeinerung  einer  Teilmeinung.)  2.  Aber  die  luftartige 
öffentliche  Meinung,  die  wir  auch  als  die  öffentliche  Meinung  des 
Tages  verstehen  mögen,  entsteht  auch  auf  andere  Weise,  nämlich 
dadurch,  daß  eine  Teilmeinung  sich  ergänzt  und  verallgemeinert, 
und  zwar  eine  Teilmeinung,  die  nicht  an  einer  festen  öffentlichen 
Meinung  ihre  Stütze  hat,  sondern  vielmehr  dieser  entgegengerichtet 
ist.  Sie  erringt  einen  Sieg  —  etwa  nur  für  den  AugenbHck,  in 
einem  bestimmten  Zusammenhange  und  Bezüge.  Diesem  Siege, 
selbst,  wenn  er  sich  wiederholt,  kann  eine  schwere  und  lang- 
wierige Niederlage  folgen;  es  kann  aber  auch  ein  dauernder  Sieg 
werden,  und  wird  es  am  ehesten,  wenn  er  in  der  Linie  einer  natürlichen, 
d.  i.  durch  andere  mächtige  Faktoren  geförderten  Entwicklung  liegt. 
So  ist  es  im  allgemeinen  mit  der  religiösen,  der  bürgerhchen  und  der 
politischen  Freiheit  gewesen,  um  die  aufgeklärte  Denker  und  hinter 
ihnen  die  bürgerliche,  aber  auch  die  Arbeiterklasse  seit  etwa  400  Jahren 
mit  langsam  zunehmender  Energie  und  wachsender  Kühnheit  gekämpft 
haben.  vSie  hatten  zunächst  die  öffentliche  Meinung,  soweit  diese  durch 
das  Herkommen,  die  Religion,  die  Macht  des  Herrenstandes  gebildet 
und  gebunden  war,  gegen  sich.  Diese  Mächte  waren  z.  B.  im  Deutsch- 
land nach  den  Befreiungskriegen  wieder  erstarkt  durch  den  Haß 
gegen  Bonaparte  und  die  große  Enttäuschung  der  Revolution,  die 
ihn  emporgebracht  hatte,  durch  den  Widerwillen  gegen  die  Schrecken 
und  Verwüstungen,  die  sie  nach  sich  zog,  durch  das  Bedürfnis  der 
Ruhe  und  die  Liebe  zu  den  hergebrachten  heimischen  Institutionen, 
wiedererwachte  Ehrfurcht  vor  den  Landes vätern,  dem  Adel,  der 
Kirche  und  allen  Würdenträgern.  Da  trat  die  Juli-Revolution  ein; 
die  Kunde  von  der  »großen  Woche«  breitete  sich  in  deutschen  Landen 
aus.    „Die  so  lange  niedergehaltenen  Parteien  der  deutschen  Oppo- 


140  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

sition  atmeten  fröhlich  auf."  Früher  hatte  Treitschke,  der  sich  so 
ausdrückt  (D.  G.  IV,  35),  schon  auf  „die  literarischen  Vorboten  einer 
neuen  Zeit'^  aufmerksam  gemacht:  die  Wissenschaft  habe  sich  (1820 
bis  1830)  mit  wachsendem  Eifer  und  Verständnis  auf  die  großen 
Probleme  des  öffentlichen,  des  handelnden  I^ebens  geworfen  (III,  683), 
F.  C.  Schlosser,  der  durchaus  unpolitische  Gelehrte,  sei  ein  Wort- 
führer der  öffentlichen  Meinung  geworden  (das.  697).  Es  war  in  der 
Tat  ein  Glück  für  den  Liberalismus  in  Deutschland  (wie  auch  in 
England,  wo  er  um  die  parlamentarische  Reform  kämpfte),  daß  der 
letzte  Bourbonen-König  in  so  grober  Weise  durch  seine  »Verordnungen« 
(die  Ordonnances)  die  öffentliche  Meinung  vor  den  Kopf  stieß,  die 
von  einem  ultramontan-reaktionären  Regiment  überall  nichts  wissen 
wollte  und  darum  zunächst  für  die  Umwälzung  jenseits  der  Vogesen, 
dann  auch  für  Belgien,  für  Polen  und  endUch  auch  in  deutschen  Gauen 
für  die  Vertreibung  des  Braunschweiger  Herzogs,  für  den  Verfassungs- 
kampf in  Kurhessen,  Partei  ergriff  und  das  hannoverische  Staats- 
grundgesetz von  1833  willkommen  hieß,  wie  einst  die  konstitutionelle 
Charte  Frankreichs  von  1814.  Und  wiederum  war  es,  nur  4  Jahre 
später,  ein  Staatsstreich,  der  „die  halb  entschlummerte  öffentUche 
Meinung"  wachrief  und  die  Deutschen  zwang,  ihre  „politische  Leiden- 
schaft wieder  dem  Vaterlande  zuzuwenden"  (TrEitschkE  das.  665)  — 
die  Aufhebung  jenes  hannoverischen  Staatsgrundgesetzes,  das  „un- 
zweifelhaft die  bescheidenste  unter  den  neuen  norddeutschen  Ver- 
fassungen" (das.  S.  163)  war,  durch  die  Willkür  eines  neuen  Königs. 
Die  Handlungsweise  der  »Göttinger  Sieben«  fand  in  ganz  Deutschland 
einen  lange  nachwirkenden  Widerhall.  „Mit  Staunen  verfolgte  man 
im  Ausland  die  einmütigen  Äußerungen  der  öffentlichen  Meinung 
des  deutschen  Bürgertums"  (Stern,  Geschichte  Europas  V,  124). 
Und  wenn  der  französische  Bürgerkönig  es  beklagt  hat  (das.),  daß 
Ernst  August  durch  seinen  Staatsstreich  der  demokratischen  Partei 
so  gefährliche  Waffen  in  die  Hand  gegeben  habe,  so  ist  damit  eben 
der  Punkt  getroffen,  wo  durch  eine  auffallende  Begebenheit,  insbe- 
sondere durch  die  Erregung  menschlich-sittlicher  S^^mpathie  und  Anti- 
pathie, eine  Parteimeinung  in  die  öffentliche  Meinung  übergeht,  was 
allerdings  für  jene  eine  »Waffe  «,  also  einen  Vorteil  in  ihrem  Kampfe  dar- 
stellt. Dies  ist  eine  allgemeine  und  sich  oft  wiederholende  Erscheinung. 
Im  Kampfe  der  Parteien  ist  es  zuweilen  ein  erstrebtes  und  erreichtes 
Ziel,  öfter  aber  ein  ungewolltes,  zufälliges  Ereignis,  das  der  einen 
Seite  ein  moralisches  Übergewicht  gibt,  das,  auch  wenn  nur  augen- 
bUcklich,  doch  tief  wirkende  Folgen  haben  kann ;  und  dies  moralische 
Übergewicht  ist  der  Beifall  oder  das  Mißfallen  der  öffentlichen  Meinung. 
Gewolltes  und  Erreichtes  —  der  Erfolg  —  kommt  in  erster  Linie  den 


D  I  E    ÖFFENTI.ICHE    MEINUNG.    ENTSTEHUNG    UND    CHARAKTER   USW.        I4I 

einzelnen  weithin  sichtbaren  Personen,  also  auch  ihren  Anhängern 
und  der  Partei,  die  sich  um  eine  solche  schart,  zu  gute.  Der  Zufall  kann 
jedem  helfen;  aber  der  wahrscheinlichste  Zufall  ist  der  Fehler  oder 
das  Mißgeschick  des  Gegners,  wozu  einzelne  Personen  oft  am  meisten 
beitragen.  So  hat  im  Deutschen  Reiche  der  letzten  Epoche  das  Auf- 
treten eines  Mannes  wie  Herr  von  Oi<denburG-Januschau,  so  der 
Fall  BRtJSEWiTZ  (die  Taktlosigkeit  und  Brutalität  eines  Offiziers), 
so  die  ungeschickte,  ja  täppische  Art,  wie  der  Monarch  sich  die 
Freundschaft  des  englischen  Philisters  wiederzugewinnen  suchte,  so 
endlich  die  *Zabern-Af faire «  —  ein  Übergriff  der  Heeresgewalt  über 
die  Grenzen  seines  Rechtes  — ,  alle  diese  »Fälle «  schienen  im  Inlande 
wie  vollends  im  begierig  danach  haschenden  Auslande,  denen  Recht 
zu  geben,  die  den  Militarismus  und  das  Junkertum  anklagten,  als  ob 
sie  die  bürgerliche  Freiheit  in  Deutschland  zu  nichte  machten:  die 
öff enthche  Meinung  war,  wie  immer,  »schnell  fertig  mit  dem  Wort «  und 
war  insbesondere  im  Auslande,  das  der  wirklichen  Verhältnisse  un- 
kundig, durch  die  Scheinwerfer  solcher  Ereignisse  sein  Urteil  gestalten 
oder  vielmehr  in  seinen  Vorurteilen  sich  bestärken  läßt,  verhängnisvoll ; 
noch  heute  dienen  sie,  selbst  für  ziemlich  einsichtige  Schriftsteller 
britischer  Zunge  als  Beweisstücke  für  die  »Schuld«  Kaiser  Wilhelms 
und  der  deutschen  Oberschicht  am  Weltkriege  —  freilich  eine  arm- 
seHge  Beweisführung,  aber  von  der  Art,  wie  sie  vor  dem  »Gerichtshof 
der  öffentUchen  Meinung «  alle  Tage  geführt  wird,  zumal  wenn  An- 
kläger und  Richter  mit  gleicher  Parteiblindheit  geschlagen  sind. 

7.  (Kämpfe  um  die  öffentliche  Meinung.)  Die  unablässigen  Kämpfe 
der  Meinungen,  die  in  der  Arena  der  öffentlichen  Meinung,  also  in  der 
gesamten  Literatur  und  in  der  Presse,  wie  auf  allen  anderen  Gebieten 
des  öffentlichen  Lebens  geführt  werden,  sind  zum  guten  Teil  Kämpfe 
um  die  öffentliche  Meinung,  und  zwar  am  unmittelbarsten  und  häu- 
figsten, insbesondere  die  der  Tagespresse,  um  die  luftartige  öffentliche 
Meinung  des  AugenbHcks.  Diese  Kämpfe  gliedern  sich  also  nach 
den  wesentlichen  Unterschieden  der  Parteien,  daher  stehen  in 
dauerndem  oder  immer  sich  wiederholendem  Gegensatz,  wie  früher 
dargestellt : 

A.  Die  Regierung  imd  die  Opposition, 

B.  Die  konservative  und  die  reformative  Richtung, 

C.  Die  rechtgläubige  (orthodoxe)  und  die  andersgläubige  (hetero- 
doxe)  Richtung. 

Wir  betrachten  diese  Gegensätze  hier  wesentlich  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte des  Verhältnisses  einer  herrschenden  Macht  und  Richtung 
zur  Opposition  und  Kritik,  die  ihr  begegnet. 


142  Begriff  und  Theorie  der  öffenti,ichen  Meinung, 

A.  Jede  Regierung  strebt,  sich  zu  behaupten:  nach  außen  mit 
dem  Gemeinwesen  oder  Staat,  an  dessen  Spitze  sie  steht,  nach  innen 
gegen  die  Widerstände,  denen  sie  innerhalb  der  Regierten  begegnet. 
Diese  Widerstände  werden  regelmäßig  um  so  heftiger  sein,  je  mehr 
sie  ihre  Macht  zu  vergrößern  und  zu  verstärken  sich  bemüht,  je  mehr 
sie  dabei  auf  andere  Mächte  stößt  und  je  mehr  diese  Mächte  in  ihren 
ursprünglichen  oder  erworbenen  Rechten  sich  gekränkt  fühlen. 
Denn  jede  Regierung  stützt  sich  zwar  in  erster  lyinie  auf  die  tatsäch- 
liche Gewalt,  die  sie  besitzt,  aber  diese  Gewalt  selber  will  eine  recht- 
mäßige Gewalt  sein  oder  wenigstens  werden,  sie  will  als  rechtmäßig 
gelten.  Gelten  d.  h.  dafür  geachtet  und  geschätzt  werden,  also  den 
Glauben  oder  die  Meinung  für  sich  haben. 

Der  moderne  Staat  hat  sich  in  fortwährendem  Gegensatz  gegen 
die   Einrichtungen   und   die  herrschenden   Stände   des   Mittelalters 
entwickelt.   Vorbildlich  geschah  diese  Entwicklung  in  freien  Städten 
und  zwar  um  so  leichter,  wenn  sich  hier  als  Träger  des  Staats  der 
weltliche  Herrenstand  (der  Patriziat)  gegen  den  geistlichen  geltend 
machte,  aber  auch,  wenn  die  Bürgerschaft  gegen  beide  sich  erhob,  die 
mit  dem  Glauben  an  sich  selber  eine  ausreichende  Gewähr  ihrer  Macht, 
auch  gegenüber  der  großen  Menge,  besaß.    Aber  der  hauptsächliche 
Träger  des  modernen  Staats,  der  sich  auf  Land  und  Städte  ausdehnt, 
ist  der  Monarch,  der  Fürst  gewesen,  zumeist  beglaubigt  durch  Erb- 
recht, mehr  aber  durch  Religion,  die  ihn  in  ein  unsicheres  Wechsel- 
verhältnis zu  deren  organisierter  Macht,  der  Kirche  setzte,  auf  die 
er  sich  stützen,  die  er  aber  zugleich  beherrschen  wollte.   Oft,  und  in 
zunehmendem  Maße,  hatte  er  in  diesem  Kampfe  auch  die  Religiosität 
eines   guten   Teiles   seiner   Untertanen,    besonders   der   städtischen 
Bürger,  auf  seiner  Seite,  mit  deren  Interesse  er  zugleich  gegen  die 
Großen  als  seine  Rivalen  sich  zu  verbinden  pflegte.   Vor  allem  aber 
wirkte  er  durch  den  Machtzauber,  das  Prestige,  die  Pracht  seiner 
Würde,  seiner  Person  und  seiner  Umgebung,  nach  allen  Richtungen, 
auf  die  Großen,  die  daran  mehr  und  mehr  Anteil  gewannen  und  Ge- 
schmack fanden,  auf  das  Volk,  dem  die  Monarchie  von  altersher  als 
erhaben  und  göttUch  erscheint,  und  um  so  mehr  sinnlich  starken 
Eindruck  zu  machen,  zu  »imponieren«  bestimmt  ist,  je  mehr  in  ihm 
selber   die   Kunstpflege   fortschreitet.    Machiaveli,!  betrachtet  im 
allgemeinen  nur  als  die  Aufgabe  seines  Principe,  gegen  den  Ehrgeiz 
der  Großen  und  gegen  die  Frechheit  (insolenza)  des  Volkes  zu  kämpfen, 
aber  den  römischen  Imperatoren  sei  als  dritte  Schwierigkeit  ent- 
standen, daß  sie  die  Grausamkeit  und  Habsucht  der  Soldaten  be- 
friedigen mußten.    Der  Florentiner  faßt  noch  nicht  eine  eigentliche 
Opposition  und  Kritik  ins  Auge,  wie  sie  aus  der  wissenschaftlichen 


Die  öffentuche  Meinung.  —  Entstehung  und  Charakter  usw.      143 

Bildung,  schon  unter  dem  Einflüsse  der  Theologie,  mehr  und  mehr 
durch  Ausbreitung  des  literarischen  Wesens  hervorgeht.  Solche 
gehört  eben  einer  späteren  Phase,  der  des  eigentlichen  fürstlichen 
Absolutismus  an.  Dieser  behauptet  sich,  wie  der  Principe  Macchia- 
VELLis,  durch  Gewalt  und  durch  List  oder  Staatsklugheit;  und  zur 
Staatsklugheit  gehört  die  Begünstigung  einer  ihm  günstigen  Reli- 
giosität, wenn  nicht  seiner  eigenen  GöttUchkeit,  so  wenigstens  einer 
solchen,  die  sein  göttUches  Recht  anerkennt  und  behauptet;  zur 
Gewalt  gehört  die  Unterdrückung  der  Opposition  und  Kritik,  und 
diese  Unterdrückung  gehört  wirklich  zum  vorwaltenden  System 
des  Absolutismus.  Sie  gehngt  immer  nur  in  begrenzter  Weise:  teils 
scheitert  sie  offenbar,  weil  die  gesamte  geistig-moralische  Entwicklung 
mächtiger  ist,  teils  treibt  sie  die  bekämpfte  FeindseUgkeit  unter  die 
Oberfläche  und  verschärft  sie  dadurch.  Sofern  sie  aber  wirksam  ist, 
erleichtert  sie  dem  Absolutismus,  sich  im  Glauben  des  Volkes  festzu- 
setzen und  zu  erhalten.  Ein  kluger  Fürst  läßt  sich  aber  daran  nicht 
genügen;  er  will  auch  die  Meinungen  für  sich  gewinnen,  und  hier 
tritt  deren  charakteristisches  Merkmal  zu  Tage,  daß  sie  vorzugsweise 
auf  das  NützUche  gehen,  also  sofern  die  allgemeine  Meinung  sich 
kundgibt  und  als  die  öffentliche  Meinung  zur  Geltung  gelangt,  denkt 
sie  an  das  Gemeinwohl,  dessen  Verfolgung  dann  der  »aufgeklärte  «  Ab- 
solutismus für  das  höchste  aller  Staatsgesetze  erklärt  (Salus  publica 
suprema  lex  esto).  Die  Wichtigkeit,  daß  diese  Überzeugung  im  Volke,  be- 
sonders natürlich  unter  den  führenden  und  denkenden  Geistern  Wurzel 
schlage,  hat  die  Staatskunst  des  fürstlichen  Absolutismus  frühzeitig 
erkannt .  In  Dänemark-Norwegen  war  1 660/65  durch  einen  Staats- 
streich die  unumschränkte  Königsmacht  als  Verfassungsrecht  fest- 
gelegt worden.  Der  dänische  Historiker  Edvard  Holm  führt  aus, 
daß  die  Alleinherrscher  in  ihren  Verordnungen  und  offenen  Briefen 
den  Stil  beibehielten,  worin  die  ständischen  Könige  z.  B.  Gustav 
Adolf,  zu  ihren  Reichstagen  oder  Ständeversammlungen  zu  reden 
pflegten:  sie  suchen  mit  Gründen  darzutun,  warum  gerade  das  ge- 
schehen müsse,  was  sie  gebieten,  und  sie  wechseln  ihren  Ton  je  nach 
dem  Gegenstande.  Bald  reden  sie  in  religiösem  Schwung,  bald  mora- 
lisieren sie  über  Verschwendung  und  Eitelkeit  in  einer  Weise,  die 
man  aus  Holbergs  Komödien  kennt.  Der  Rede  vom  Wohl  des  Vater- 
landes oder  dem  Bedürfnis  der  Untertanen  begegnet  man  öfter,  wenn 
neue  Institutionen  eingeführt  werden,  wenn  Verordnungen  ergehen, 
um  Schwelgerei  zu  hemmen,  das  Armen wesen  zu  ordnen  oder  Manu- 
fakturen zu  fördern  usw.  „Man  sieht  es  leicht,  es  ist  ein  doppeltes 
Ziel,  dem  die  Königsmacht  durch  diese  Art  sich  ans  Volk  zu  wenden, 
sich  zu  nähern  strebte,  auf  der  einen  Seite:  sich  selbst  der  öffent- 


144  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

liehen  Meinung  zu  empfehlen,  als  vom  Bewußtsein  ihrer  Pflichten 
und  vom  Eifer  ihnen  gerecht  zu  werden  erfüllt,  auf  der  anderen  Seite 
an  das  eigene  Gefühl  der  Untertanen  für  das  Gemeinwohl  zu  appellieren 
als  die  sicherste  Gewähr  dafür,  daß  die  Verordnungen  durchgeführt 
werden  können."  Natürlich  wendet  sich  auch  diese  Seite  an  den 
denkenden  Teil  der  Untertanenschaft,  in  der  es  schon  außer  den 
Geistlichen  Ivcute  gab,  die  Bücher  lasen,  vor  allem  die  Bürger,  Rechts- 
gelehrte, Ärzte,  Schulmeister  der  Hauptstadt  und  der  lebhafteren 
Städte  überhaupt.  Es  war  also  nicht,  wie  Roschbr  meint  (Politik 
S.  285)  erst  zur  Zeit  Josephs  II.,  daß  Gründe  in  den  Gesetzen  üblich 
wurden,  „um  auf  die  Meinung  der  gebildeten  Welt  zu  wirken". 
Deutsche  Gelehrte  unterscheiden  in  zeitlicher  Folge  den  konfessionellen, 
den  höfischen  und  den  aufgeklärten  Absolutismus.  Die  Einteilung 
ist  logisch  mangelhaft.  Die  erste  und  die  dritte  Form  bezeichnen 
die  geistige  Sphäre,  die  sich  im  I^aufe  der  Jahrhunderte  von  starrer 
Gläubigkeit  zum  Rationalismus  verschob  —  im  gesamten  öffentlichen 
Leben  und  darum  auch  als  Grundlage  des  Absolutismus.  In  der 
ersten  Phase  glaubte  der  Monarch  im  Namen  Gottes  zu  regieren,  in 
der  anderen  erkannte  er,  daß  er  nur  im  Namen  des  Staates  solche 
Macht  in  Anspruch  nehmen  könne ;  dies  wiederum  bedeutete  in  letzter 
Linie:  im  Auftrage  der  bürgerlichen  Gesellschaft  oder  des  Volkes. 
Die  theokratische  Begründung  wurde  niemals  aufgegeben,  aber  sie 
trat  zurück,  wie  in  der  Staatswissenschaft  selber.  »Höfisch«  ist  der 
Absolutismus  immer  gewesen ;  will  man  eine  besondere  Phase  zwischen 
dem  konfessionellen  und  dem  aufgeklärten  abgrenzen,  so  kann  es 
nur  um  eine  Übergangsform  zwischen  den  beiden  sich  handeln,  man 
wird  sie  füglich  »theologisch-rational«  nennen  dürfen  und  dabei  an 
Erscheinungen  wie  BossuBT  und  an  den  Pietismus  des  preußischen 
Soldatenkönigs  denken.  Ihm  entspricht  auch  als  die  höhere  Diener- 
schaft des  Fürsten  der  Hof- Adel,  den  er  selbst  gestaltet  und  um  sich 
sammelt  als  eine  Gruppe,  die  zwischen  der  theologischen  und  der  auf 
Bildung  begründeten  Aristokratie  ihren  Platz  hat.  Ein  Element  des 
Rationalismus  ist  aber  von  Anbeginn  in  der  Absolutie  des  Fürsten- 
tums enthalten:  es  ist  die  Ratio  Status  selber,  von  der  sie  bestrahlt 
wird.  Dem  entspricht  es,  daß  der  Fürst  zwar  seine  geistige  Stütze 
zuerst  und  immer  in  hohem  Maße  im  Klerus  sucht,  mehr  und  mehr 
aber  nicht  nur  diesen  für  sich  zurecht  macht  —  sich  anpaßt  — ,  sondern 
auch,  und  zwar,  um  seine  wachsenden  finanziellen  Bedürfnisse 
zu  stillen,  mit  dem  »dritten  Stande«  gemeine  Sache  macht  und 
insonderheit  die  handeltreibende,  zumal  die  dem  Geldhandel  ergebene 
Schicht,  mehr  und  mehr  aber  auch  die  Unternehmer  von  Ausfuhr- 
Industrien  in  sein  Interesse  zu  ziehen  beflissen  ist.   Die  Entwicklung 


Die    ÖFFENTI.ICHE    MEINUNG.    —    ENTSTEHUNG    UND    CHARAKTER  USW.        I45 

vom  konfessionellen  zum  aufgeklärten  Absolutismus  ist  zugleich 
die  Entwicklung  vom  Klerus  zur  Bourgeoisie  als  der  Hauptstütze  des 
Thrones  —  wo  wir  aber  wiederum,  wenn  wir  den  Klerus  als  intel- 
lektuelle Potenz  betrachten,  auch  aus  dem  Neu-  und  Staatsbürgertum 
diese  herauszuheben  Grund  haben,  und  das  ist  in  der  Tat  die  Schicht 
der  Intellektuellen,  der  Gebildeten,  derer,  die  da  lesen  und  schreiben 
(und  zwar  nicht  nur  in  Mußestunden);  immer  je  nach  dem  Grade 
ihrer  Leistungsfähigkeit  und  ihrer  wirklichen  Leistungen:  ist  es  dort 
vorzugsweise  der  hohe  Klerus,  der  den  Thron  umgibt,  so  sind  es  auch 
notwendig  die  Höher  gebildeten,  die  allmählich  in  die  Stellen  ein- 
rücken, und  als  Minister,  Generale,  hohe  Beamte,  Werkzeuge  des 
fürstUchen  Willens  werden.  In  der  höheren  Bildung  wiederum  wett- 
eifern, neben  dem  Anteil,  den  der  Klerus  selber  daran  hat,  der  Adel, 
zumal  der  jüngere  und  höfische  und  das  städtische  Bürgertum: 
Juristen,  die  aus  allen  3  Schichten  hervorgehen,  an  erster  Stelle,  als 
die  notwendigen  Gedankenträger  des  Staates;  Kaufherren  und 
Bankiers  als  gesellschaftliche  Mächte:  Heerführer  des  Geldes,  das 
zum  Kriegführen  wie  zum  Friedeführen  im  Staate  vorzugsweise  not- 
wendig; Ärzte,  Apotheker,  Mechaniker  u.  a.  »Künstler«  als  Vertreter 
der  neuen  Naturwissenschaft  und  Technik,  deren  volkswirtschaftlichen 
imd  finanziellen  Nutzen  die  Staatsmänner  zu  würdigen  lernten;  der 
weltliche  Lehrerstand,  der  sich  allmähHch  aus  dem  geistlichen  Lehr- 
stande herausschälte.  Immer  mußte  das  Bestreben  des  Fürsten 
dahin  gehen,  so  viel  als  möglich,  so  wertvolles  als  möglich:  dort  von 
der  geistlichen,  hier  von  der  weltlichen  Intelligenz  sich  dienstbar 
zu  machen  und  für  die  Regierung  anzuwenden.  In  diesem  Sinne 
wirkt  er  zugleich  für  die  Rehgion  und  für  die  Bildung,  so  tief  auch 
der  zwischen  beiden  sich  entwickelnde  Gegensatz.  Aber  immer 
gelingt  es  ihm  nur,  Teile  —  und  nicht  immer  die  charaktervollsten 
und  lebendig- wirksamsten  Teile  der  Stände  an  sich  zu  fesseln;  viel- 
mehr zeichnen  sie  sich  oft  nur  durch  Geschmeidigkeit  und  Gesinnungs- 
losigkeit aus,  auch  die  gewandtesten  und  inteUigentesten  Hof-  und 
Staatsdiener,  während  die  Opposition  des  alten  Herrenstandes  immer 
rege  bleibt  und  die  Opposition  des  neuen  immer  kühner  in  den  Vorder- 
grund sich  schiebt.  Naturgemäß  wirken  beide  Oppositionen  oft  zu- 
sammen, ja  vermischen  sich  miteinander.  Aber  die  neue  ist  die  junge 
und  wachsende,  sie  wird  genährt  von  der  zunehmenden  Lesebildung, 
ihr  kommt  der  Verkehr  mit  dem  Auslande,  wo  auch  die  »freiesten« 
Schriften  gedruckt  werden,  vorzugsweise  zustatten.  Sie  ist  der  Ausfluß 
des  modernen  Geistes,  des  )>Zeitgeistes «.  Sie  fühlt  sich  in  der  Öffent- 
lichkeit zu  Hause,  sie  ergreift  die  neuen  Mittel,  um  zu  wirken,  um 
sich  bekannt,  von  sich  reden  zu  machen.  Sie  geht  in  das  Gespräch  des 

Tönniea,  Kritik.  lO 


146  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

Salons  in  Paris,  des  Kaffeehauses  in  Irondon,  in  die  Briefe,  die  von  den 
Empfängern  vielen  mitgeteilt  werden,  in  öffentliche  Reden,  wo  sie  mög- 
lich sind,  daher  zuweilen  auch  in  die  Predigten  der  Kanzelredner  über, 
öffentliche  Meinung  und  die  öffentliche  Meinung  scheinen  zusammen- 
zufallen. Das  war  der  Grund,  warum  in  der  Mitte  des  18.  Jahrhimderts, 
als  noch  die  französische  Monarchie  in  ungebrochener  Kraft  dastand, 
gleichwohl  —  nach  T0CQUEVII.1.E  —  die  Schriftsteller  „allmählich 
zur  höchsten  politischen  Macht  gelangten"  (Uancien  rigime  et  la  revo- 
lution  p.  226).  „Sie  beschäftigten  sich  fortwährend  mit  Gegenständen, 
die  auf  die  Regierung  Bezug  haben,  es  war  dies  sogar  ihre  haupt- 
sächHchste  Beschäftigung.  Man  hörte  sie  alle  Tage  über  die  Ent- 
stehimg der  Gesellschaften  und  deren  ursprüngUche  Formen,  über 
die  ursprüngHchen  Rechte  der  Bürger  imd  die  der  Staatsgewalt, 
über  die  natürhchen  und  künstUchen  Verhältnisse  der  Menschen  zu- 
einander, über  das  Irrige  oder  Rechtmäßige  des  Herkommens  imd 
über  das  Wesen  der  Gesetze  selbst  sprechen"  (ib.).  „Alle  glauben, 
daß  es  besser  sei,  einfache  und  leichtfaßliche,  aus  der  Vernunft  und 
der  Natur  abgeleitete  Regeln  an  die  Stelle  der  kompHzierten  tra- 
ditionellen Normen  treten  zu  lassen,  welche  die  Gesellschaft  ihres 
Zeitalters  beherrschen"  (227).  Und,  nachdem  er  ausgeführt  hat, 
wie  sich  der  Hang  zu  abstrakten  tmd  allgemeinen  Regierungstheorien 
ausgebildet  imd  gesteigert  hatte,  wie  ihm  in  Frankreich  das  Gefühl 
aller  derer  entgegengekommen  sei,  die  sich  durch  das  Hergebrachte 
und  Bestehende  bedrückt  und  beeinträchtigt  fanden,  fährt  er  fort: 
„So  vermummte  sich  jede  öffentHche  Aufregtmg  in  das  Gewand  der 
Philosophie,  das  poHtische  lieben  wurde  auf  solche  Weise  mit  Gewalt 
in  die  Literatur  gedrängt,  tmd  die  Schriftsteller,  *indem  sie  die 
Ivcitung  der  Meinung  in  ihre  Hände  nahmen*,  behaup- 
teten eine  Zeitlang  die  Stellung,  die  in  freien  lyändem  die  Parteiführer 
einzunehmen  pflegen"  (231).  Aber  die  Aufklänmg  gehörte  nicht 
der  Opposition  allein;  Fürsten  und  ihre  Staatsmänner  nahmen  daran 
Teil,  seinem  Wesen  nach  war  (wie  gesagt)  der  Absolutismus  vom 
Rationahsmus  erfüllt.  Der  aufgeklärte  Absolutismus  mußte  dahin 
wirken,  daß  seine  Vernünftigkeit  gelehrt  imd  anerkannt  wurde. 
Er  wollte  Volkserzieher  sein.  Von  oben  her,  darum  am  nächsten  von 
den  Hochschulen  aus,  sollte  die  Erkenntnis  des  Guten  und  Richtigen 
als  ihrer  wahren  GlückseUgkeit  über  alle  Schichten  der  Untertanen 
sich  ergießen.  Indem  der  Fürst  sich  als  Herr  des  Staates  und  Volkes 
fühlte,  wurde  er  sich  der  Aufgabe  bewußt,  ihm  zu  dienen;  und  wodurch 
konnte  er  ihm  anders  dienen,  als  indem  er  durch  Gesetze  sein  Wohl 
und  durch  Unterricht  die  Einsicht  imd  das  Verständnis  dafür,  was 
dem  Einzelnen  und  der  Gesamtheit  ersprießlich  sei,  beförderte?   Zur 


Die  öffentliche  Meinung.  —  Näheres  über  poutische  Kämpfe.       147 

vernünftigen  Staatsleitung  gehörte  auch,  dem  Untertan  nicht  nur 
zu  gestatten,  sondern  ihn  anzuregen,  mit  Bitten  und  Beschwerden 
dem  Throne  zu  nahen,  \md  so  konnte  ein  aufgeklärter  Staatsmann, 
TüRGOT,  schon  14  Jahre  vor  der  Einberufung  der  Generalstände 
dem  König  von  Frankreich  raten,  von  der  ganzen  Nation  jährHch 
eine  repräsentative  Versammlung  wählen  zu  lassen,  die  freilich  nicht 
mitregieren,  aber  doch  ihre  Meinimg  über  wünschenswerte  oder  nicht 
wünschenswerte  Gesetzgebimg  kundgeben  sollte.  „Dadurch  würde 
die  königliche  Gewalt  aufgeklärt  werden,  ohne  gehemmt  zusein,  *und 
die  öffentliche  Meinung  wäre  dann  ohne  alle  Gefahr  be- 
friedigt*" (1.  c.  S.  235).  Man  kann  sagen,  es  war  der  Irrtum,  an  dem 
der  Absolutismus  scheiterte:  eine  beratende  Volksvertretung  schien 
vom  monarchischen  Standpunkt  immer  als  das  Vernünftige,  aber 
auch  als  das  Äußerste,  was  eingeräumt  werden  könne.  Ebenso  eine 
scharf  begrenzte  Preßfreiheit,  die  für  den  Absolutismus  so  viel  hieß 
als:  eine  gemilderte  Zensur.  Der  Herzog  Friedrich  Christian  von 
Augustenburg  rühmt  am  4.  April  1794  in  einem  Briefe  an  Schiixkr, 
daß  der  Kronprinz  (von  Dänemark)  die  überzeugendsten  Beweise 
allgemeiner  Liebe  und  Achtung  gegen  die  Regierung  erhalte.  „Es 
hat  sich  zugleich  ein  Gemeingeist  geäußert,  die  natürhche  Folge  des 
bisherigen  Regierungssystems,  der  ihn  lehrt,  wie  sehr  er  auf  die  Unter- 
stützung der  Nation  bauen  kann,  *  solange  die  öffentliche  Mei  - 
nung  ihm  günstig  ist*,  und  in  der  Tat  sind  dadurch  die  politischen 
Kräfte  des  Staates  verdoppelt"  (der  damalige  Kronprinz  war  Regent 
in  Dänemark,  Norwegen  und  den  Herzogtümern). 

Zweiter  Abschnitt.    Näheres  über  politische  Kämpfe. 

8.  (Regierung  und  Presse.)  Auch  eine  moderne  Regierung  läßt, 
zumal  in  unruhigen  Zeiten,  niemals  die  Verbreitung  beliebiger  Mei- 
nungen in  Rede  und  Schrift  zu.  Auch  wenn  sie  etwa  nur  von  dem 
Rechte,  das  gesetzlich  auch  jedem  Privatmann  zusteht,  Gebrauch 
macht,  so  kann  sie  dies  als  Regierung  in  um  so  wirksamerer  Weise 
tun,  insbesondere  also  das  Straf  recht  gegen  die  Presse  in  Anwendung 
bringen.  Aber  in  der  Hauptsache  begegnet  sie  der  literarischen 
Opposition  nicht  mehr  von  oben  herab  mit  der  Zuchtrute,  sondern 
zur  ebenen  Erde  mit  den  gleichen  Waffen  der  Worte  und  Gründe. 
Die  Regierungen  werden  selber  literarisch,  sie  begründen  und  hand- 
haben ihre  eigene  Presse.  Und  zwar  geschieht  dies  in  mannigfacher 
Weise,  i.  Die  gute,  d.  h.  freundlich  wirkende  Presse  wird  gefördert, 
die  schlechte,  d.  h.  oppositionelle  gehemmt.  Förderung  kann  auf 
mannigfache  Weise  geschehen:  a)  materielle:  durch  geldliche  Unter- 
stützung, unmittelbare  und  mittelbare  —  z.  B.  Pflichtabonnements 


148  BEGRiFif   UND   THEORIE  DER   ÖFFENTLICHEN   MEINUNG. 

für  Behörden,  Ankauf  und  Verbreitung  von  Flugschriften;  Erwerb 
eigener  Zeitungen  und  Druckereien  — ,  in  den  heutigen  Staaten  besitzt 
jedesmal  die  Regierung  ihr  besonderes  amtliches  Organ  an  einer 
Zeitung,  wie  in  Frankreich  das  Journal  of fidel ^  in  Preußen  der  »Staats- 
anzeiger« (später  für  das  Deutsche  Reich :  Reichs-  und  Staatsanzeiger), 
in  Großbritannien  die  Gazette  —  aber  diese  Zeitungen  dienen  zumeist 
nur  amtlichen  Bekanntmachungen ;  wenn  sie  außerdem  Nachrichten 
bringen,  so  halten  sich  diese  streng  an  Tatsachen,  es  fehlt  ihnen  die 
Würze  der  Unterhaltung.  Will  die  Regierung  ihre  Ansichten  zur 
Geltung  bringen,  so  muß  sie  in  Zeitungen  sich  vernehmen  lassen, 
die  wirklich  und  gern  von  einem  großen  Publikum  gelesen  werden: 
das  aber  sind  Zeitungen  der  Parteien.  Die  Regierung,  auch  wenn  sie 
nicht  aus  einer  Partei  oder  einer  Mischung  von  Parteien  hervorgeht, 
muß  sich  eine  Partei  bilden,  oder  doch  Parteien  unterstützen,  von 
denen  sie  einige  Hilfe  oder  wenigstens  Verständnis  und  Nachsicht 
erwarten  darf;  sie  nützt  sich  selber  und  der  Partei,  wenn  sie  sich  der 
Zeitungen  dieser  Partei  bedient.  „Was  von  Seiten  des  Monarchen 
(soll  heißen:  der  Regierungen)  in  die  Zeitungen  gedruckt  wird,  nimmt 
sich  nicht  gut  aus;  denn  die  Macht  soll  handeln  und  nicht  reden", 
meinte  noch  Goethe  (»Sprüche  in  Prosa«).  Seither  hat  sich  nicht 
nur  die  regelmäßige  Beeinflussung  der  Presse  zu  einem  fortwährend 
gebrauchten  Instrument  der  Regiertmgen  entwickelt,  sondern  es 
wird  auch  für  notwendig  gehalten,  halbamtliche  Zeitungen  zu  be- 
gründen oder  käuflich  zu  erwerben,  offiziöse  —  lithographierte  oder 
gedruckte  —  Korrespondenzen  herauszugeben  und  fortwährend 
Schriftsteller  als  Gehilfen  der  amtlichen  Tätigkeit  in  Anspruch  zu 
nehmen;  besondere  Preß-Ämter  oder  doch  geschulte  Beobachtungs- 
stellen gehören  zu  jedem  Auswärtigen  Amt,  und  in  jeder  Botschaft 
und  Gesandtschaft  gehört  die  Beobachtung  und,  wo  es  nötig  und 
möglich  scheint,  die  ständige  Fühlung  mit  der  Presse  des  Landes, 
besonders  der  Hauptstadt,  zu  den  Pflichten  des  Dienstes.  Vorzugs- 
weise wichtig  ist  die  Verbindung  mit  den  telegraphischen  Agenturen, 
denen  die  Ausbreitung  der  neuesten  Nachrichten  in  die  »Welt« 
obliegt^):  weil  oft  Form  und  Fassung  einer  Nachricht  den  Eindruck 
bestimmt,  den  sie  auf  das  Publikum  macht,  so  kann  es  im  höchsten 
Staatsinteresse  liegen,  darauf  einzuwirken,  auch  wenn  es  nur  negativ 
geschieht,  so  daß  der  »alarmierende«  Charakter  einer  Neuigkeit  ge- 
dämpftwird. Jeder  Regierung  ist  darum  zu  tun,  die  öffentliche  Mei- 
nung auf  ihrer  Seite  zu  haben,  also  den  Eindruck  günstiger  Nachrichten 


^)  ,,Bin  Netz  von  Vertretern  dieser  Organisationen  ist  über  die  ganze  Erde  ausge- 
spannt und  macht  überall  die  öffentliche  Meinung".  Bücher,  Unsere  Sache  und  die 
Tagespresse,  S.  2. 


Die  öffentuche  Meinung.  —  Näheres  über  poutische  Kämpfe.        140 

zu  erhöhen,  ungünstiger  abzuschwächen ;  aber  um  den  gebildeten  lyeser 
zu  gewinnen  oder  zu  besänftigen,  sind  auch  Erörterungen,  Begründungen 
—  »Räsonnements«  —  erforderHch,  und  auch  dafür  kann  eine  Regierung 
vieles  tun,  daß  ihre  Gedankengänge  ans  Publikum  herankommen 
imd  von  ihm  freundlich  oder  wenigstens  nachsichtig  aufgenommen 
werden.  Sie  hat  dafür  viele  Mittel  in  der  Hand:  die  förmlichen  Be- 
gründungen der  Gesetzentwürfe,  die  aber  von  wenigen  gelesen  werden, 
die  Reden  der  Regierungsvertreter  in  den  Parlamenten,  die  aber 
nur  von  den  amtlichen  und  offiziösen  Zeitungen  im  Wortlaut  wieder- 
gegeben werden,  auch  andere  öffentliche  Reden  der  verantwortlichen 
Männer,  sofern  solche  für  schickHch  gehalten  werden,  dazu  feierliche 
Kundgebungen  der  Staatsoberhäupter  —  aber  die  Ansicht  Goethes 
behält  insofern  Recht,  als  eine  Regierung  verhältnismäßig  wenig 
durch  Worte,  aber  sehr  viel  durch  Taten  vermag ;  nach  diesen  —  und 
freilich  auch  nach  Unterlassungen,  die  darin  einbegriffen  werden 
müssen,  wird  sie  beurteilt,  und  oft  genug  falsch  beurteilt,  weil  ihre 
wahren  Absichten  nicht  erkannt  und  der  Sinn  eines  Tuns  oder  Unter- 
lassens oft  mißdeutet  wird ;  dazu  kommt,  daß  die  öffentliche  Meinung 
zumeist  geneigt  ist,  wenn  sie  aus  anderen  Gründen  einer  Regierung 
nicht  wohl  will,  ihr  auch  die  Schuld  an  Zuständen  und  Begebenheiten 
zuzuschreiben,  die  keine  Regierung  zu  verhindern  oder  zu  verbessern 
imstande  wäre,  denen  eine  andere  vielleicht  noch  macht-  und  hilfloser 
gegenüberstände  als  die  gerade  auf  der  Bühne  beobachteten  Macht- 
haber, die  aber  leicht  für  allmächtig  gehalten  und  um  so  schonungs- 
loser getadelt  werden,  wenn  man  sie  gleichzeitig  für  töricht  oder  für 
böswillig  hält  oder  sogar  ihnen  beide  Eigenschaften  zuschreibt  —  was 
natürUch  auch  geschehen  kann,  ohne  daß  es  wirklich  gemeint  wird. 
Je  freier  die  Presse  und  die  öffentliche  Rede  —  die  aber  auch  erst 
durch  die  Presse  ihren  tausendfachen  Widerhall  erhält  —  um  so  weniger 
vermag  eine  Regierung  unmittelbar  gegen  die  Kritik  und  Opposition, 
die  sie  zu  stürzen  beflissen  ist.  Sie  kann  sie  durch  Straf  antrage  ver- 
folgen, sie  kann  ihren  Behörden  und  Beamten  Weisungen  erteilen, 
die  bestimmt  sind  zur  Abwehr,  aber  je  mehr  derartiges  bekannt  wird, 
um  so  mehr  wirkt  es  ähiüich  und  oft  nachteiHger  auf  die  öffentliche 
Meinung  als  unmittelbarer  Druck,  der  durch  Präventivzensur,  Verbote, 
Beschlagnahmen,  Verwarnungen  usw.  geübt  wird,  —  alles  derartige 
lenkt  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  auf  den  Verfolgten  und  dadurch 
auf  die  Sache,  um  derentwillen  die  Verfolgung  geschieht ;  das  schadet  der 
Regierung  nicht,  wenn  die  öffentliche  Meinung  den  Personen  und  den 
Sachen  abgeneigt  ist,  es  schadet  um  so  mehr,  wenn  sie  ihnen  zugetan 
ist.  Durch  .stille  Gegenwirkungen,  unabsichtliche  Belehrungen,  die  nicht 
offenbar  von  ihr  ausgehen,  durch  scheinbar  von  freier  Überzeugung 


150  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

getragenen  Kampf  wird  eine  Regierung  in  der  Regel  mehr  zu  ihren 
Gimsten  bewirken.  Nicht  ohne  guten  Sinn  bezeichnete  eine  offiziöse 
Zeitung  sich  als  »freiwillig  gouvememental«:  um  eine  Regierung, 
die  wirklich  viele  freiwillige,  nicht  streberhafte,  wenn  mögHch  enthu- 
siastische Helfer  hat,  ist  es  wohl  bestellt.  Ebenso  sind  ihr  die  frei- 
willigen, überzeugten,  von  einer  Idee  erfüllten  und  sich  aufzuopfern 
wiUigen  Gegner  am  gefährlichsten.  Es  ist  der  große  Vorteil  der  Partei- 
regierungen gegenüber  schweren  Übeln,  die  ihr  anhaften,  daß  sie 
I.  solche  Anhänger,  2.  überhaupt  einen  festen  und  zuverlässigen 
Anhang  hinter  sich  haben  ^).  Dadurch  besitzen  sie  auch  einen  gewissen 
Vorsprimg  in  der  öffentUchen  Meinimg,  deren  sorgsame  Pflege  wird 
ihnen  erleichtert.  Die  einer  solchen  Regiertmg  ergebene  Presse  wird 
zuweilen  einen  Eindruck  von  der  öffentlichen  Meinimg  hervorzurufen 
vermögen,  der  diese  selber  in  der  erwimschten  Richtung  verstärkt.  Aber 
das  vermag  auch,  und  meistens  mit  größerem  Erfolge,  die  Opposition 
und  ihre  Presse.  Ohnehin  wirkt  die  Verneinung  stärker  auf  die 
I^eidenschaften  als  die  Bejahung.  Sattheit  stimmt  zur  Ruhe,  Hunger 
zur  Bewegung.  In  dieser  Hinsicht  verhält  sich  das  Publikum  des 
öffentlichen  I^bens  anders  als  das  TheaterpubHkum.  Dieses  ist  im 
ganzen  mehr  zum  Beifall  als  zum  Zischen  geneigt:  es  ist  da  seines 
Vergnügens  halber,  und  auch  eine  mittelmäßige  Aufführung  eines 
schlechten  Stückes  macht  der  schaulustigen  Menge  Vergnügen,  zu- 
weilen genügt  schon  das  Auftreten  eines  beliebten  Schauspielers 
(oder  einer  — ^in),  um  eine  heitere,  sogar  enthusiastische  Stimmung 
hervorzurufen.  Das  politische  Publikum  fühlt  sich  hingegen  durch- 
weg leidend:  die  Regierung  bedrückt  es  durch  Steuern,  legt  ihm 
durch  Gesetze  neue  lästige  Verpflichtungen  auf,  ist  ein  sehr  kost- 
spieliger Apparat,  dessen  Nutzen  ihm  (dem  Publiko)  oft  zweifelhaft 
ist;  der  Verdacht  regt  sich  immer,  daß  »sie«  —  die  an  der  Spitze 
stehenden  —  auf  Kosten  des  Volkes  sich  bereichem,  überhaupt, 
daß  sie  ihre  Interessen  oder  höchstens  die  ihrer  Partei  im  Auge  haben, 
anstatt  »unserer«,  —  und  nun  wird  solcher  Verdacht,  wird  solche 
Mißstimmung  tagtägUch  durch  die  Zeitung,  die  man  liest  und  zu- 
weüen  vor  Erregung  und  Empörung  nicht  zu  Ende  lesen  mag,  genährt, 
ja  gemästet,  sie  schwellen  an  und  gewinnen  krankhaften  Umfang  — 
die  Krankheit  wirkt  ansteckend,  die  Unzufriedenheit  breitet  sich  aus. 
In  guten  Zeiten  findet  solche  Ausbreitung  leicht  ihre  Grenzen:  der 
Tag  belehrt  den  Tag,  bei  materiellem  Gedeihen  schwillt  der  poHtische 


^)  Freilich,  wenn  die  Regienlng  durch  »Koalition«  gebildet  ist,  so  kann  die  An- 
hängerschaft als  ganze  sehr  unzuverlässig  sein,  indem  ihre  Teile  zwar  die  entsprechende 
Partei  unterstützen,  nichts  destoweniger  aber  der  Regierung  als  solcher  Opposition 
machen.    lebendiges  Beispiel:    Deutschland  1920/21. 


Die  öffentwchk  Meinung.  —  Näheres  über  poutische  kämpfe.       151 

Unwille  wieder  ab  —  aber  in  schlimmen  Zeiten,  Zeiten  der  Krise, 
der  Htmgersnot,  der  wachsenden  Teuerung,  der  Fremdherrschaft  — , 
nicht  leicht  wird  ihnen  gegenüber  eine  Regierung  sich  dauernd  zu 
rechtfertigen  und  vor  der  öffentlichen  Meinung  sich  zu  halten  ver- 
mögen. Sie  kämpft  dann  einen  ungleichen  Kampf.  Alle  Mittel,  durch  die 
sie  sonst  überlegen  ist,  versagen  einer  Kritik  und  Opposition  gegenüber, 
die  in  einer  allgemeinen,  sei  es  wesentlich  ökonomischen  oder  wesent- 
lich moraHschen  und  politischen  Unzufriedenheit  ihre  Wurzeln  hat. 
9.  (Die  Defensive.)  Überhaupt  aber  ist  das  ursprüngHche  und  in 
dem  angezeigten  Sinne  immer  natürliche  Verhältnis,  daß  die  Regierung 

—  wir  denken  hier  zunächst  an  diejenige  eines  Fürsten  —  der  Oppo- 
sition vmd  Kritik  gegenüber  sich  in  der  Defensive  befindet.  Ihres 
Amtes  ist,  zu  regieren,  d.  h.  zu  befehlen.  Ihre  allgemeinen  Befehle 
sind  Gesetze  und  Verordnungen.  Wenn  den  Meinungen  nicht  frei- 
steht, sich  »öffentHch«  insbesondere  nicht  in  Schriften  und  Zeitungen, 
darüber,  wenigstens  nicht:  dagegen  sich  zu  äußern,  so  können  sie 
trotzdem  auf  mannigfache  Weise  sich  »lyuft  machen«,  von  denen 
man  einige  doch  auch  als  öffentliche  Kundgebungen  ansprechen 
wird,  z.  B.  auffallenden  Beifall,  der  bestimmten  Reden  im  Theater 
zuteil  wird,  oder  das  tötHche  Schweigen,  womit  etwa  eine  gebietende 
PersönHchkeit,  \4elleicht  sogar  der  Kaiser  oder  König,  öffentlich 
auftretend  empfangen  wird.  Außerdem  aber  bleiben  den  Meinimgen 
die  heimlichen  Wege  ihrer  Kundgebung  und  Ausbreitung,  äußersten 
Falles  die  Verschwörung.  In  den  neueren  Staaten,  die  immer  mehr  der 
öffentlichen  Meinung  freien  Lauf  gelassen  haben,  tmter  dem  Druck  der 
öff entheben  Äleinung  selber,  die  Preßfreiheit  und  Redefreiheit  forderte, 
ist  die  Gesetzgebung  selber  nicht  mehr  wesentlich  Sache  der  Fürsten, 
ihrer  Geheimen  Räte  und  Regierungen,  sondern  —  wenigstens  förmlich 

—  der  Parlamente  oder  gesetzgebenden  Körperschaften.  Die  Initiative 
freihch  geht  meistens  von  den  Regierungen  aus,  auch  dies  erst,  nach- 
dem die  Entwürfe  im  engeren  Schöße  beraten  wurden,  also  auch  auf 
Widerstand  stoßen  konnten;  sie  kommen  daher  zumeist  gleichzeitig 
an  die  Öffentlichkeit  und  an  die  Körperschaft,  zuweilen  früher  an 
jene;  dort  wie  hier  werden  sie  beraten  —  gebilHgt  oder  verworfen, 
im  ganzen  oder  im  einzelnen;  das  Parlament  hat  ständige  und  be- 
sonders erwählte  Ausschüsse  (Kommissionen)  zur  »Durchberatung«. 
Die  Presse  bemächtigt  sich,  teils  unmittelbar,  teils  im  Anschluß  an 
diese  Beratungen,  des  Gegenstandes  —  hier  treten  die  Zeitungen  und 
ihre  Schriftsteller,  dort  die  Redner  —  »erster«,  »zweiter«,  »dritter« 
»Garnitur «  —  für  und  wider  den  Entwurf,  daher  in  der  Regel  für  und 
wider  die  Regierung  auf.  Zuweilen  ist  die  öffentliche  Meinung  von 
vornherein  so  lebhaft  für,  öfter  gegen  einen  Gesetzentwurf,  daß  ihre 


152  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

Stimme  gleichsam  die  Stimmen  der  Redner  wie  die  der  Presse  über- 
tönt tmd  daß  sie  folglich  deren  Ton  und  Richtung  bestimmt.  Sonst 
aber  handelt  es  sich  für  die  Parteien  um  Bearbeitung  der  öffent- 
lichen Meinung  für  oder  wider,  und  also  darum,  ihr  eine  entschiedene 
Richtimg,  einen  so  sehr  als  möglich  einheitlichen  Ton  zu  geben,  so 
daß  eine  Partei  mit  gutem  Grunde  behaupten  kann,  was  sie  oft  ohne 
solchen,  ja  ohne  guten  Glauben,  behauptet,  die  öffentliche  Mei- 
nimg wolle  dies  oder  wolle  jenes,  wolle  jenes  oder  dieses  nicht. 
Wenn  dies  Streben  Erfolg  hat,  wenn  der  Versuch  gelingt,  so  han- 
delt es  sich  in  der  Regel  nur  um  einen  luftigen  Aggregatzustand  der 
öffentlichen  Meinung,  der  sozusagen  aus  »nichts«,  d.h.  aus  einem 
schlechthin  diffusen  Zustande  gebildet  wird,  während  in  dem  anderen 
Falle  zumeist  ein  fester  oder  wenigstens  flüssiger  Aggregatzustand 
zugrunde  liegt,  der  unter  einem  bestimmten  Eindruck  sozusagen 
schmilzt  oder  verdunstet.  Wesentüch  bedingend  ist  es,  wie  die 
Regierung  selber  in  der  öffentlichen  Meinung  dasteht :  wird  sie  von  der 
öffentlichen  Meinung  getragen,  kann  sie  auf  diese  sich  stützen  ?  oder 
muß  sie  fortwährend  nach  ihr,  vielleicht  nach  ihren  »I^aunen«,  d.  h. 
rasch  wechselnden,  flüchtigen  Stimmungen  des  Tages,  sich  richten  ? 
Mit  Recht  urteilt  Constantin  Frantz  (Das  europäische  Gleichgewicht 
S.  388),  um  ein  stabiles  politisches  Gleichgewicht  zu  erzielen,  sei  not- 
wendig I.  die  Stütze  sittUcher  Ideen,  2.  daß  die  Unterlage,  worauf 
die  Stütze  selbst  ruht,  so  stark  und  fest  wie  möglich  sei.  „Die  aller- 
schlechteste  Unterlage  ist  daher  jedenfalls  die  sog.  öffentliche  Meinung, 
die  sich  nach  dem  Zeitungswind  bewegt,  und  verloren  ist  jedes  politische 
System,  welches  keinen  anderen  Halt  hat  als  diese  öffentliche  Meinung. 
Oder  es  müßte  zugleich  ein  so  wirksames  Bureau  des  öffentUchen 
Geistes  besitzen,  daß  es  sich  die  öffentliche  Meinung  selbst  machen  kann ; 
in  welchem  Falle  dann  aber  die  Sache  die  wäre,  daß  es  eigentlich  doch 
nicht  auf  der  öffentlichen  Meinung,  sondern  auf  sich  selbst  beruhte." 
IG.  (Cäsaristische  Methoden.)  Das  letztere  ist  sichtlich  sehr  viel 
günstiger  für  ein  politisches  System,  und  jede  Regierung  strebt 
danach,  solchen  Halt  zu  gewinnen,  wenn  sie  nicht  ihn  schon  durch 
ihren  Ursprung  und  ihr  Wesen  zu  besitzen  meint,  und  auch  dann 
muß  sie  bemüht  sein,  ihn  zu  erhalten  und  zu  befestigen,  also  den 
Anstürmen  zu  wehren,  die  dagegen  gerichtet  werden.  Hier  ist  sogleich 
offenbar,  welch  ein  ungemeiner  Vorteil  es  für  eine  Regierung  ist,  wenn 
sie  von  der  Religion  ihre  Gewähr  und  HeiHgung  empfängt,  so  lange 
als  diese  die  öffentliche  Meinung  wesentlich  bestimmt  und  aus  sich  her- 
vorgehen läßt,  oder  der  anders  bedingten  und  gerichteten  an  Kraft  und 
Autorität  wesentlich  überlegen  ist.  Auch  wenn  weder  das  eine  noch 
das  andere  der  Fall  ist,  kann  doch  eine  reÜgiöse  Ehrfurcht  nach- 


Die  öffentuche  Meinung.  —  Näheres  über  poetische  Kämpfe.       153 

wirken,  die  entweder  einer  Institution  oder  einer  Person  oder  beiden 
gezollt  wird.  Den  modernen  Regierungen,  zumal  den  republikanischen, 
wird  davon  viel  weniger  zuteil  als  denjenigen  der  Monarchien,  die 
noch  das  Vorrecht  sich  gerettet  haben,  nach  eigenem  Bedünken  ihre 
Regierung  zu  ernennen;  jene  wollen  in  erster  I^inie  auf  eine  Mehrheit 
sich  stützen,  wenigstens  auf  eine  scheinbare  und  konventionell  als 
solche  geltende,  wie  die  Regierung  des  Präsidenten  in  den  Vereinigten 
Staaten,  wenn  sie  aus  einer  Mehrheit  der  Elektoren,  obschon  zuweilen 
gegen  eine  Mehrheit  des  gesamten  Volkes,  hervorgeht.  In  der 
Regel,  und  so  auch  in  der  gegenwärtigen  deutschen  Republik,  ist  es 
eine  Mehrheit  der  von  der  Gesamtheit  des  Volkes  erwählten  gesetz- 
gebenden Körperschaft,  woraus  die  Regierung  hervorgeht  und  worauf 
sie  sich  zu  stützen  angewiesen  ist,  so  lange  bis  dieser  Stab  bricht;  die 
demokratische  Denkungsart  ist  aber  sonderUch  —  und  gerade  in  der 
neuesten  deutschen  Revolution  —  beflissen  gewesen,  dahin  zu  wirken, 
daß  diese  Mehrheit  so  sehr  als  möglich  eine  Mehrheit  des  Volkes  selber, 
der  Wählerschaft,  und  zwar  unter  Vernichtung  des  sonst  geltenden 
Vorrechtes  der  Männer,  widerspiegele,  indem  freilich  eine  willkürUch 
gesetzte,  aber  so  niedrig  als  zulässig  schien,  gesetzte  Altersgrenze 
des  Wahlrechtes  bestimmt  und  eine  »verhältnismäßige«  Vertretung 
angeordnet  wurde.  Im  einzelnen  Falle  kann  aber  —  und  dies  ist  das 
letzte  Wort  der  demokratischen  Verfassungen  —  (und  muß  imter 
Umständen)  die  Entscheidung  über  ein  Gesetz  dem  Volke  selber 
anheimgegeben  werden,  so  daß  es  gleichsam  wie  eine  Versammlung 
bejahend  oder  verneinend  seinen  Willen  ausspricht.  Das  ist  dann  das 
»Referendum«,  das  »Plebiscit«  oder  der  Volksentscheid,  woraus  aber 
auch  eine  unumschränkte  Einherrschaft,  »wenn's  dem  Volke  so  beliebt«, 
hervorgehen  kann  und  tatsächlich  hat  die  moderne  Form  dieser 
Herrschaft,  der  »Cäsarismus«,  bekanntlich  darin  seine  Stütze  gesucht 
und  zeitweilig  gefunden:  es  ist  der  Zentralgedanke  der  idees  Napo- 
Uoniennes.  Mehrfach  findet  sich  nun  in  der  I^iteratur  die  Ansicht  ver- 
treten, das  sei  nun  eben  die  Regierung  durch  die  öffentHche  Meinung, 
diese  erhalte  ihren  reinsten  und  echtesten  Ausdruck  durch  das  »Referen- 
dum«. Diese  Ansicht,  die  dem  oberflächlichen  Scheine  abgewonnen 
wird,  ist  durchaus  irrig.  Im  günstigsten  Falle  ist  eine  Volksabstimmung 
Ausdruck  der  Volksstimmung  und  Volksleidenschaft,  aber  auch  das  ist 
sie  keineswegs  immer.  Zunächst  machen  regelmäßig  viele  Individuen 
keinen  Gebrauch  von  ihrem  Rechte.  WahrscheinUch  ist  die  Sache 
ihnen  gleichgültig,  oder  sie  sind  tatsächÜch  verhindert  oder  sie  meinen, 
auf  ihre  Stimme  komme  es  nicht  an,  die  Mehrheit  werde  ohnehin 
dafür  oder  dawider  sein.  Dann  aber  ist  die  Beteihgung  und  die  Stimm- 
abgabe im  einen  oder  dem  anderen  Sinne  keineswegs  ein  Beweis  dafür, 


154  Begriff  und  Theorie  der  öffentivIchen  Meinung. 

daß  dem  Individuum  die  Sache  nicht  gleichgültig  sei,  noch  weniger 
dafür,  daß  es  aus  eigener  Überlegung  für  oder  wider  stimme,  sondern 
mancher  stimmt  so  einem  anderen  zu  Gefallen,  mancher,  weil  er  von 
anderen  überredet  wurde,  mancher,  weil  er  sich  irgendwelche  Vorteile 
davon  verspricht,  die  außerhalb  der  etwaigen  Vorteile  der  Sache  (die 
er  vielleicht  nicht  einsieht  oder  nicht  versteht)  liegen,  mancher,  weil 
er  durch  Versprechungen  bewogen,  wenn  nicht  unmittelbar  durch 
einen  gewährten  oder  angebotenen  Preis  bestochen  wurde.  Gleichwohl 
möge  man  Grimd  haben,  zu  vermuten,  daß  in  der  Regel  die  wirkliche 
Volksstimmung  mit  unwiderstehhcher  Gewalt  zum  Durchbruch 
komme.  Aber  die  Volksstimmung  ist  nicht  die  öffentliche  Meinung. 
Diese  ist  nach  dem  hier  zugrunde  gelegten  und  ferner  zu  begründen- 
den Begriff  das  gemeinsame  Urteil  des  gebildeten,  insbesondere  des 
politisch  denkenden  Publikums,  das  ich  gleichsam  kristallisiert  vor- 
stelle als  die  »Gelehrtenrepublik  «.  Die  öffentliche  Meinung  hängt  immer 
mit  der  Volksstimmung  zusammen;  sie  steht  in  der  Regel  in  stärkerer 
oder  schwächerer  Wechselwirkung  mit  ihr,  aber  sie  kann  auch  sehr  von 
ihr  verschieden  sein  und  geradezu  im  Gegensatze  zu  ihr  sich  be- 
wegen. So  müssen  bestimmte  Gründe  vorhanden  sein,  um  die  Ver- 
mutung zu  rechtfertigen,  daß  in  dem  Ergebnis  einer  Volksabstimmung 
die  öffentliche  Meinung  gleichsam  eingeschlossen  sei ;  wie  andere  be- 
stimmte Gründe  dieser  Annahme  entgegen  sein,  ja  zu  dem  Schlüsse 
führen  mögen,  daß  die  öffentliche  Meinung  ganz  anderen  Sinnes  sei, 
also  etwa  mit  der  Minderheit  gehe,  imd  daß  ihre  Macht  sich  als 
stark  genug  erweisen  werde,  um  diese  Ansicht  durchzusetzen,  ja  ihr 
vielleicht  demnächst  —  wenn  auch  etwa  erst  nach  Jahren  —  zum 
Siege  zu  verhelfen.  Das  Kranken-  imd  Unfall  Versicherungsgesetz 
für  die  Schweiz,  das  durch  eine  Volksabstimmimg  vom  26.  X.  1890 
dem  Grundgedanken  nach  angenommen  war  (56,6  der  Stimmberech- 
tigten, davon  42,7  bejahend),  wurde  daraufhin  in  einer  Vorlage  ausge- 
arbeitet, die  drei  Jahre  später  sowohl  vom  Nationalrat  als  vom  Stände- 
rat fast  einstimmig  angenommen  wurde :  hier  darf  man  vermuten,  daß 
die  öffentliche  Meinung  auf  die  Kntscheidimg  gedrückt  hat,  und  diese 
war  ohne  Zweifel  durch  den  Erfolg  des  deutschen  Vorbildes  und  durch 
die  Wirkungen,  die  es  schon  in  anderen  Staaten  gehabt  hatte,  wesent- 
lich bestimmt.  Gleichwohl  lehnte  das  Volk  diese  Vorlage  am  20.  V.1900 
mit  nahezu  342  gegen  148  Tausend  Stimmen  ab  (65,9  der  Stimm- 
berechtigten, davon  46,0  verneinend).  Zwölf  Jahre  später  wurde 
eine  neue  Vorlage  wieder  dem  Referendum  unterworfen:  es  ergab 
die  Annahme,  wenn  auch  nicht  mit  großer  Mehrheit  (bei  63,0  Ab- 
stimmenden 34,3  für,  28,7  gegen),  aber  die  Zahl  der  Zustimmenden 
hatte   sich  fast  verdoppelt  (von   148  auf  287,6  Tausend),  während 


Die  öffentuchb  Meinung.  —  Näheres  über  poetische  Kämpfe.        155 

die  Verwerfenden  um  fast  30  v.  H.  sich  verminderte  (von  342,1  auf 
242,4  Tausend.).  Die  öffentliche  Meinung  hatte  einen  (wenn  auch 
nicht  glänzenden)  Sieg  errungen. 

II.  (Die  öffentliche  Meinung  als  Regierung.)  Aber  auch,  wo  kein 
Volksentscheid  durch  die  Verfassimg  zugelassen  oder  geboten  wird, 
spricht  man  oft  aus,  die  öffentliche  Meinung  sei  die  politisch  ent- 
scheidende Macht,  oder  wenigstens  sie  »regiere «  neben  der  Regierung 
und  der  Volksvertretung  und  erweise  sich  zuweilen  als  beiden  über- 
legen. yyOurs  is  a  govermnent  by  public  opinton"  (Unsere  Regierung 
ist  eine  Regierung  durch  die  öffentliche  Meinung)  wird  in  Groß- 
britannien wie  in  den  Vereinigten  Staaten  oft  ausgesprochen,  ob- 
gleich beide  große  Staaten  keine  Volksabstimmung  außer  bei  den 
nationalen  Wahlen  kennen,  und  zwar  kommt  in  Amerika  zu  den 
Parlamentswahlen  als  oft  noch  wichtiger  die  Präsidentenwahl  hinzu: 
beide  sind  nur  Männerwahlen  (außer  sofern  in  einzelnen  Staaten  der 
Union  das  Frauenstimmrecht  besteht)  und  beruhen  nicht  schlechthin 
auf  allgemeinen  und  gleichen  Wahlrechten  der  Männer.  Hier  muß 
also  die  öffentliche  Meinung,  wenn  überhaupt,  so  auf  andere  Weise, 
in  bestimmten  einzelnen  Fragen,  zumal  solchen,  die  nicht  durch 
allgemeine  Wahlen  entschieden  werden,  erkennbar  und  erkannt 
werden.  Welche  Erkenntnisgründe  tatsächUch  unter  heutigen  Ver- 
hältnissen maßgebend  sind,  darüber  kann  man  nicht  zweifelhaft 
sein.  Es  ist  in  erster  Linie  die  Presse,  auf  deren  vielfache  Stimmen 
der  Staatsmann,  der  die  öffentliche  Meinung  kennen  lernen  will, 
um  ihr  zu  folgen,  horcht  —  sie  muß  also  dann  einmütig  sein, 
trotz  des  unablässigen  Parteigezänkes?  Es  findet  dabei  natürlich 
eine  differenzierende  Schätzung  der  verschiedenen  Preßorgane  statt, 
sie  werden  mehr  oder  weniger  geachtet,  mehr  oder  weniger  für  treue 
Reflektoren  der  öffentlichen  Meinung  gehalten,  wobei  man  wohl 
erwarten  darf,  daß  Erfahrung  und  Urteilskraft  die  Schätzung  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  richtig  machen  können,  wenn  auch  dem  Irrtum 
hierin  ein  weiter  Spielraum  bleibt.  NatürUch  kommen  nur,  oder  doch 
in  erster  Linie,  die  großen  Zeitimgen  in  Frage,  und  die  großen  sind 
die  der  Großstadt,  schon  als  solche  auch  die  am  meisten  gelesenen. 
Als  Mittelpunkt  des  politischen,  zumeist  des  wirtschaftHchen,  und 
in  vieler  Hinsicht  auch  des  geistigen  Lebens  überragt  aber  die  Ha  u  pt  - 
Stadt  die  anderen  Großstädte,  darum  in  der  Regel  auch  ihre  Zeitungen 
oder  wenigstens  eine  Zeitung.  Ein  gut  Teil  öffentUcher  Meinung 
auch  ist  die  Meinung  der  erlesenen  Elemente,  die  sich  in  der  Haupt- 
stadt versammeln,  begegnen,  Konferenzen  und  Sitzungen  halten, 
Gäste  empfangen,  an  der  Börse  verkehren,  in  wissenschaftlichen 
Vereinen  zusammenkommen  und  Reden  halten,  Briefe  schreiben  und 


156  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

unmittelbaren  oder  mittelbaren  Einfluß  auf  Zeitungen  oder  auf  die 
Zeitung  ausüben,  wenn  sie  auch  gleichzeitig  aus  eben  dieser  Zeitung 
ein  großes  Stück  ihrer  eigenen  Weisheit  schöpfen,  indem  sie  darin 
klar  ausgesprochen  finden,  was  sie  unklar  selber  gedacht  haben 
(haben  wollen).  Typisch  für  diese  Verhältnisse  ist  die  Weltstadt 
I/)ndon  und  typisch  ist  —  vollends  »war«  vor  etwa  2  Menschenaltern  — 
die  »Times«  als  Organ  der  britischen  öffentlichen  Meinung  oder  wie 
sie  noch  vor  kurzem  genannt  wurde,  als  »Sprachrohr  der  herrschenden 
Klasse  Englands«.  Wenn  mm  der  Staatsmann  so  auf  die  Zeitungen, 
insbesondere  auf  die  eine  Zeitung  achtet,  so  wird  er  bald  bemerken, 
daß  sie  nicht  immer,  sehr  oft  nicht  die  öffentliche  Meinung 
wiedergibt,  daß  sie  aber  auch  in  solchen  Fällen  stark  auf  die 
öffentliche  Meinung  wirkt,  sie  zuweilen  rasch  mit  sich  fortreißt, 
zuweilen  entscheidet  und  sogar  umschlagen  macht  oder  wenigstens 
dazu  hilft,  wenn  andere  Umstände  günstig  sind^).  Wenn  also  der 
Staatsmann  teilweise,  und  ztmächst  vielleicht  gänzlich,  die  öffent- 
liche Meinung  wie  ein  Fatum  hinnimmt  imd  die  Zeitung,  aus  der 
sie  ihm  entgegentönt,  wie  eine  selbständige  Macht  ehrt,  der  er  unter 
Umständen  sich  zu  unterwerfen  habe ;  so  wird  er  doch  bald  versuchen, 
eben  durch  diese  Zeitung  auf  die  öffentliche  Meinung  Einfluß  zu 
gewinnen  und  sie  in  seinem  Sinne  zu  bestimmen.  Das  eben  ist  es, 
was  in  bezug  auf  die  Times  während  des  ganzen  19.  Jahrhunderts 
und  darüber  hinaus  englische  leitende  Staatsmänner,  ganz  besonders 
die  Premier-Minister  und  die  Staatssekretäre  des  Auswärtigen  mit 
großem  Erfolge  sich  haben  angelegen  sein  lassen.  Als  Muster  in 
dieser  Hinsicht  gilt  lyord  Paxmerston.  Er  selber  gab  die  I^osung 
aus  und  das  Programm  für  seine  Tätigkeit  in  dieser  Richtung,  wenn 
er  am  11.  Juni  1829,  in  seiner  ersten  großen  Staatsrede  verkündete: 
„Es  gibt  in  der  Natur  nur  eine  bewegende  Elraft,  den  Geist  ...  in 
politischen  Dingen  ist  es  die  öffentliche  Meinung;  und  wer  sich  dieser 
Kraft  bemächtigen  kann,  wird  mit  ihr  den  Arm  von  Fleisch  und  Bein 
unterwerfen  und  seinen  Zwecken  dienstbar  machen.  Diejenigen  Staats- 
männer, die  es  verstehen,  sich  die  Leidenschaften,  die  Interessen  und 
die  Meinungen  der  Menschen  zunutze  zu  machen,  sind  imstande,  ein 
Übergewicht  zu  erlangen  und  einen  entscheidenden  Einfluß  auf  die 
menschlichen  Geschicke  auszuüben,  außer  allem  Verhältnis  zu  der 
Kraft  und  den  Hilfsquellen  des  Staates,  den  sie  regieren."  Nach  IvOThar 
Bucher  (Der  Parlamentarismus,  S.  245)  hat  diese  Rede  den  bis  dahin 
unbeachteten  Subaltern  zum  weltberühmten  Staatsmann,  zum  Abgott 
der  öffentlichen  Meinung  gemacht.  Pai^merston  selbst  schrieb  wenige 


^)  Nicht  übel  sagt  der  Franzose  Toussenei<:    „Die  (öffentliche)  Meinung  ist  die 
Königin  der  Welt  und  die  Presse  ist  der  Premierminister  der  Meinung". 


Die  öffentuche  Meinung.  —  Näheres  über  poetische  Kämpfe.        157 

Tage  nachher  an  W11.1.IAM  Tempi^e  (d.  14.  Juni  1829  ^^i  Bui^WER,  Life 
of  P.,  f.  305  Tauchn.  ed.)  über  WE1.1.INGTON,  der  damals  noch  an 
der  Spitze  der  Regierung  stand,  während  PAI.MERSTON  in  der  Oppo- 
sition war:  „In  inneren  Angelegenheiten  hat  er  seine  eigenen  Mei- 
nungen und  Wünsche  der  Notwendigkeit  und  der  öffentlichen  Meinung 
zum  Opfer  gebracht :  er  fand,  daß  er  die  Regierung  des  Landes  nicht 
weiterführen  konnte,  ohne  die  Katholiken-Frage  (die  Emanzipation) 
preiszugeben,  und  alsbald  gab  er  in  diesem  Stücke  nach.  Die  öffent- 
liche Meinung  hat  auswärtige  Angelegenheiten  nicht  berührt,  diese 
haben  bisher  als  carte  blanche  dem  unerforschten  Belieben  der  Regie- 
rung offen  gelegen.  Wenn  sie  je  sich  mit  den  auswärtigen  Angelegen- 
heiten befaßt,  —  und  sie  wird  es  sicherHch  in  der  nächsten  Session 
tun,  —  so  wird  der  Herzog  auch  in  diesem  Stücke  nachgeben  und  da- 
durch seine  Macht  behalten."  Hier  versteht  also  der  schlaue  Poli- 
tiker die  öffentliche  Meinung  noch  als  ein  selbstständiges  Wesen, 
dem  der  Sieger  von  Waterloo  sich  unterwerfen  müsse,  während  es 
Paxmerston  zu  gleicher  Zeit  offenbar  erwog,  durch  welche  Mittel 
der  Proteus  gefesselt  werden  könne,  wie  es  ihm  in  seiner  späteren 
I/aufbahn  in  hohem  Maße  gelungen  zu  sein  scheint. 

12.  (Staatsmänner  und  die  öffentliche  Meinung.)  Er  war  nicht  der 
Erste,  der  die  öffentliche  Meinung  nach  seinen  Zwecken  zu  gestalten  ver- 
stand. Es  gehört  zum  cäsarischen  Regierungssystem,  und  soweit  eine 
neuere  Staatsregierung  durch  den  Geist  eines  einzigen  Mannes  gelenkt 
wird  —  dann  war  sie  immer  am  meisten  erfolgreich  — ,  sind  ihre 
Methoden  immer  die  des  Cäsarismus  gewesen.  Schon  Cromwell  hatte, 
zu  einer  Zeit  als  das  Zeitungs  wesen  noch  in  den  Windeln  lag,  seinen  lycib- 
joumalisten,  der  im  Mercurius  politicus  breite  Auszüge  aus  den  Elements 
of  Law  des  Thomas  Hobbes  abdruckte,  um  eine  rein  weltliche  Staats- 
theorie und  den  Begriff  der  Souveränität  den  Ansprüchen  der  presby- 
terianischen  wie  der  angUkanischen  Geistlichkeit  entgegenzusetzen 
(siehe  Tönnies,  Thomas  Hobbes,  2.  Aufl.  S.  40).  Auch  sein  Zeitgenosse 
Richelieu  »informierte,  inspirierte,  konzipierte  und  redigierte« 
(Löbl  a.  a.  O.  265).  Daß  Friedrich  II.  sehr  bewußt  sich  der  Presse 
bediente,  nicht  nur  um  durch  Flugschriften,  eigene,  wie  die  Trois 
lettres  au  public^  und  fremde,  sondern  auch  durch  Zeitungsartikel  auf 
Freunde,  Feinde  und  Neutrale  zu  wirken,  ist  in  neueren  Schriften 
oft  dargestellt  worden^).    In  weit  höherem  Maße  noch  gilt  es  von 

*)  ,, Friedrich  d.  Grosse  war  ein  eifriger  und  geschickter  Publizist,  wußte  die 
Spcnersche  Zeitung  gut  zu  verwerten,  vollführte  in  ihren  Spalten  manches  diplomatische 
Kunststückchen",  Ubm,  a.  a.  O.  Gut  ist  die  Anekdote,  die  Brünhuber  (Sammlung 
Goschen  400,  S.  67)  nach  Zinkeisen,  Geschichte  des  osmanischen  Reiches  in  Europa, 
mitteilt.  Man  vgl.  auch  über  die  im  Text  genannten  »drei  Briefe«,  J.  G.  Droysen  in 
der  Deutschen  Rundschau  Band  40  (1884). 


158  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

Napoi^EON  Bonaparte,  der  noch  in  seiner  Frühzeit  unter  dem 
Direktorium  den  ihm  ergebenen  Zeitungen  die  I^osung  gab :  „Immer 
mich,  mich,  mich  nennen!"  „ Ausruf ungszeichen  hinter  meinen 
Namen  setzen!'*  und,  je  höher  er  stieg,  um  so  sorgsamer  die  Presse 
seines  wie  des  Auslandes,  insbesondere  Englands  —  die  Timesl  — , 
überwachte  und  überwachen  Heß,  der  sich  nicht  schämte,  einen 
deutschen  Buchhändler  wegen  einer  Flugschrift  zu  erschießen,  der 
sich  auf  alle  Künste  der  Reklame  und  auch  auf  die  nicht  geringe 
Kunst  verstand,  die  Aufmerksamkeit  des  PubUkums  in  wichtigen  und 
gefährlichen  Momenten  abzulenken,  so  wenn  er  im  Jahre  1812  das 
Journal  de  VEmpire  und  die  Gazette  de  France  anwies,  ausführlich 
und  unablässig  den  Streit  über  den  Vorzug  der  französischen  oder 
italienischen  Musik  zu  behandeln.  — Auch  Bismarcks  Verhalten  tmd 
Verhältnis  zur  Presse  ist  des  öfteren  erörtert  worden.  In  jungen  wie 
in  alten  Tagen  war  er  bekanntlich  ein  eifriger  Mitarbeiter  an  Zeitungen, 
und  als  er  auf  dem  Gipfel  seiner  Macht  stand,  war  er  auf  das  emsigste 
befHssen,  durch  den  Mund  der  ihm  gewogenen  Zeitungen  offiziös, 
aber  auch  durch  offizielle  und  halboffizielle  Kundgebungen  auf  die 
öffentliche  Meinung  zu  wirken.  Im  Jahre  1848  wurde  die  Leitimg 
einer  preußischen  Zentralstelle  für  die  »Beobachtung«  der  öffentlichen 
Meinung  in  der  Presse  dem  Freiherrn  Emii,  von  Richthofen  über- 
tragen; die  erste  Organisation  dieses  »literarischen  Bureaus«  hatte 
anfängHch  nur  einen  informatorischen  Zweck:  „bis  zu  einer  Führtmg 
der  öffentlichen  Meinung  im  Sinne  der  jeweiligen  Regierungspolitik 
war  das  Institut  noch  nicht  herangediehen"  (»Ein  preußisches  Be- 
amtenleben«, Deutsche  Rimdschau,  April  1883,  S.  127).  Übrigens 
galt  es  als  Organ  des  gesamten  Staatsministeriums  und  stand  seit  1862 
unter  dem  Ministerium  des  Innern.  Erst  durch  den  »Weifenfonds« 
war  BiSMARCK  in  der  I^age,  ein  wirksames  »Preßbureau«  dem 
Deutschen  Auswärtigen  Amt  anzugliedern,  über  dessen  korrum- 
pierenden Einfluß  dann  oft  geklagt  worden  ist.  Aber  selbst  während 
des  Krieges  1870/71  erscheint,  von  heute  aus  gesehen,  die  Art,  wie 
der  Bundeskanzler  sehr  persönlich,  mit  seinem  Obergehilfen  Lothar 
Bucher  und  dem  Untergehilfen  Moritz  Busch  auf  Monats-  und 
Wochenschriften  wie  auf  Tageszeitungen  einwirkte,  recht  bescheiden 
und  patriarchalisch.  Aus  den  von  Busch  überlieferten  Gesprächen 
vmd  Weisungen  erhalten  wir  ein  lebendiges  Bild  davon.  Bei  weitem 
die  meisten  Zeitungsartikel,  die  er  mitteilt,  sind  von  Bismarck 
unmittelbar  inspiriert,  einige  von  ihm  diktiert,  viele  korrigiert.  Was 
Busch  in  den  »Tagebuchblättern«  recht  imterhaltend  darüber  be- 
richtet, soll  dartun,  daß  der  Staatsmann  ,,auch  das  Handwerk  des 
Journahsten  aus  dem  Grunde  verstand"  (I,  6).   Vor  dem  Kriege,  im 


Die  öffentuche  Meinung.  —  Näheres  über  politische  Kämpfe.        159 

März  1870,  wurde  das  Strafgesetzbuch  für  den  Norddeutschen  Bund 
beraten :  der  Reichstag  war  für  Abschaffung  der  Todesstrafe.  Bücher 
mußte  auf  Bismarcks  Befehl  einen  Artikel  schreiben,  der  nachweisen 
sollte,  daß  die  Mehrheit  des  Reichstages  die  öffentliche  Meinung  und 
den  Willen  des  Volkes  nicht  ausdrücke  (S.  13).  Bismarck  wandte  ohne 
Bedenken  den  Kunstgriff  an,  Angriff  oder  Widerlegung  zu  verkleiden. 
„Fassen  Sie  es  in  eine  römische  Korrespondenz  für  die  Kölnische  Zeitung'  * 
(S.  14).  Gewisse  Dinge  sollen  „zunächst  in  ein  Blatt,  das  der  Regierung 
fernsteht"  (14),  einen  gelungenen  Artikel  soll  Busch  „breittreten  und 
von  den  Blättern  der  Provinz  wiederholen  lassen"  (25).  Auf  die  Aus- 
wahl der  Blätter,  in  die  etwas  zuerst  »kommen«  soll,  wird  großes 
Gewicht  gelegt.  Als  der  Krieg  herannaht,  wird  das  Hter arische  Gewühl 
immer  heftiger.  Ein  Gesandtschaftsbericht  aus  I/)ndon  meldet,  daß 
I/)rd  Granvili^  gefragt  habe,  ob  nicht  von  der  Gesandtschaft  die 
preußische  Regierung  gegen  die  britische  aufgereizt  werde.  —  Bis- 
marck hatte  lebhafte  Klagen  über  die  Art,  wie  England  die  Neutralität 
verstehe,  laut  werden  lassen.  Es  sei  geantwortet  worden,  die  öffentHche 
Meinung  in  Deutschland  übe  auf  die  Regierung  Einfluß,  wie  die  Presse 
der  Regierung  auf  die  öffentHche  Meinimg  wirke ;  es  mache  eben  in 
Deutschland  große  Erbitterung  sich  geltend  usw.  Der  Bericht  schloß : 
„England  ist  uns  in  vieler  Hinsicht  geneigt,  will  aber  für  jetzt  neutral 
bleiben.  Bestürmen  wir  die  dortige  öffentHche  Meinung  durch  unsere 
offiziöse  Presse  weiterhin  mit  Klagen  in  dieser  Angelegenheit,  so 
wird  das  nichts  nützen,  könnte  aber  für  die  Zukunft  Gefahren  herauf- 
beschwören." Wie  Bismarck  auf  diese  Warnung  reagiert  hat,  erfahren 
wir  nicht.  Während  des  Krieges  wird  die  Tätigkeit  für  die  Presse,  in- 
und  ausländische,  durchaus  als  notwendige  Begleitung  der  Krieg- 
führung imd  Friedensvorbereitung  aufgefaßt  und  »Busch chen«  hat 
unendHch  viel  zu  tun,  aber  das  ist  auch  alles.  Und  er  behält  doch  Zeit, 
mancherlei  Beobachtungen  zu  machen  und  Anekdoten  in  sein  Tagebuch 
einzutragen.  Interessant  sind  zuweilen  Bismarcks  Urteile  über  die 
Franzosen.  Unmittelbar  nach  Sedan  hatte  er  in  Donchery  zum 
General  Wimpffen  gesagt,  er  wisse  recht  wohl,  daß  die  Anmaßung 
und  Streitsucht  der  Franzosen  und  ihr  Scheelsehen  bei  den  Erfolgen 
der  Nachbarvölker  nicht  von  der  arbeitenden  und  erwerbenden  Be- 
völkerung ausgingen,  sondern  von  den  Journalisten  und  dem  Pöbel; 
aber  diese  beherrschten  und  zwängen  die  öffentHche  Meinung  {169). 
„Frankreich  ist  eine  Nation  von  Nullen,  eine  Herde,  sie  haben  Geld 
und  Eleganz,  aber  keine  Individuen,  kein  individuelles  Selbstgefühl  — 
nur  in  der  Masse".  Bedeutsam  ist,  wie  noch  im  September  und  in 
bezug  auf  den  Gefangenen  von  Wilhelmshöhe  Busch  einigen  „für 
die  Denkart  des  Kanzlers  charakteristischen  Gedanken"  in  einem 


l6o  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

Artikel  Ausdruck  geben  soll,  nachdem  die  Nationalzeitung  (damals 
sehr  einflußreich)  gemeint  hatte,  der  Sieger  sei  »allzu  ritterlich« 
gewesen.  „Wir  teilen  diese  Ansicht  in  keiner  Weise.  Allerdings  ist 
die  öffentliche  Meinung  nur  zu  sehr  geneigt,  politische  Verhältnisse 
und  Ereignisse  in  der  Weise  von  privatrechtlichen  und  privaten 
überhaupt  aufzufassen,  imd  unter  anderem  zu  verlangen,  daß  bei 
KonfHkten  zwischen  Staaten  der  Sieger  sich  mit  dem  Moralkodex 
in  der  Hand  über  den  Besiegten  zu  Gericht  setze,  und  ihn  für  das, 
was  er  gegen  ihn,  womöglich  auch  für  das,  was  er  gegen  andere  be- 
gangen, zur  Strafe  ziehe.  Hin  solches  Verlangen  ist  aber  völlig  unge- 
rechtfertigt; es  stellen,  heißt  die  Natur  politischer  Dinge,  unter  die 
die  Begriffe  Strafe,  lyohn,  Rache  nicht  gehören,  gänzlich  mißverstehen, 
ihm  entsprechen,  hieße  das  Wesen  der  Politik  fälschen.  Die  Politik 
hat  die  Bestrafung  etwaiger  Versündigimgen  von  Fürsten  und  Völkern 
gegen  das  Moralgesetz  der  göttUchen  Vorsehung,  dem  I^enker  der 
Schlachten  zu  überlassen.  Sie  hat  weder  die  Befugnis,  noch  die 
Pflicht,  das  Richteramt  zu  üben,  sie  hat  sich  unter  allen  Umständen 
einzig  und  allein  zu  fragen :  Was  ist  hierbei  der  Vorteil  meines  Landes 
und  wie  nehme  ich  diesen  Vorteil  am  besten  und  fruchtbarsten  wahr  ? 
.  .  .  die  Politik  hat  nicht  zu  rächen,  was  geschehen  ist,  sondern  zu 
sorgen,  daß  es  nicht  wieder  geschehe".  Dies  wird  dann  auf  den 
besiegten  imd  gefangenen  Kaiser  der  Franzosen  angewandt.  Wie 
neuerdings  bekannt  geworden,  hat  der  alte  Kaiser  WiIvHBi.m  selber 
über  die  Unterredung,  welche  er  mit  Napoleon  III.  am  Tage  nach 
der  Schlacht  im  Schlößchen  Bellevue  geführt  hat,  eine  eigenhändige 
Aufzeichnung  gemacht.  Sie  ist  auch  für  unser  Thema  merkwürdig 
und  möge  hier  im  Originale  mitgeteilt  werden,  da  sie  durch  Über- 
setzung nur  leiden  würde  (»Der  Tag«,  1921  Feb.  5):  ,yEgo:  Avant  de 
vous  quitter j  Sire,  fai  encore  un  mot  ä  dire.  Je  crois  Vous  connattre 
assez.  et  Vos  vues  politiques,  pour  me  dire  que  Vous  n*avez  pas  voulu 
cette  guerre,  mais  que  Vous  avez  ete  entrames  de  la  faire  malgre  Vous. 
N{apoleon):  Sire,  Vous  avez  raison ,  mais  Vopinion  publique!  Ego:  Mais 
qui  a  fait  Vopinion  publique?  Cest  la  mar  che  du  gouvernement  et  les 
principes  qu'il  suit,  qui  donnent  Vopinion  publique  nommement  par 
la  presse;  il  ne  faut  que  peu  de  jours  de  journalisme  pour  exciter 
Vopinion  publique  surtout  quand  on  fait  rep andre  que  Vhonneur 
national  est  froisse.  Cest  ce  qu'a  fait  Votre  Ministeref  Des  que  V.  M. 
a  choisi  ce  Ministere,  je  me  suis  dit  que  Vous  jouerez  et  Votre  dynastie 
et  votre  pays!  N(apoleon):  Ah/  Vous  n'avez  pas  tort/^'  Bekanntlich 
dachte  Bismarck  —  und  wohl  auch  der  König  —  an  eine  Wieder- 
einsetzung NapoIvEons.  Ludwig  Bamberger,  der  damals  im  Unter- 
Elsaß publizistisch  tätig  war,  berichtete,  er  habe  allerorten,  zuletzt 


Die  öffentliche  ^VIeinung.  —  Näheres  über  politische  Kämpfe.       i6l 

in  einem  Kreise  politischer  Freunde  zu  Karlsruhe  Gelegenheit  gehabt, 
zu  konstatieren,  daß  eine  imter  deutschen  Auspizien  vorgenommene 
Restauration  des  Napoleonismus  dem  öffentUchen  Gewissen  wie  eine 
Monstrosität  vorkomme.  Man  verkenne  nicht  die  äußere  und  innere 
Haltlosigkeit  der  improvisierten  repubUkanischen  Regierung.  „Aber 
ein  Gefühl  1),  das  stärker  ist  als  alle  praktischen  Räsonnements, 
perhorresziert  jene  Lösung  als  eine  morahsche  Unmöglichkeit. '*  Dem 
Wunsche  Bambergers  gemäß  teilte  Busch  den  Brief  dem  Kanzler  mit 
(I,  242).  Bismarck  „schickt  mir  ihn  wieder.  Das  Wort  »Gefühl «ist  von 
ihm  zweimal  unterstrichen  und  mit  einem  Ausruf ungszeichen  versehen." 
Man  muß  sich  zuweilen  wundern,  daß  Bismarck  seine  besten  Gedanken 
nicht  festgehalten  und  durchgesetzt  hat.  —  Bismarck  besaß  an 
Moritz  Busch  einen  sehr  ergebenen  und  durch  Gewandtheit  und 
Pfiffigkeit  ungemein  brauchbaren  Diener,  den  er  auch,  nachdem  er 
seine  dienstliche  Stellung  infolge  von  Intrigen  verlassen  hatte,  immer 
wieder  einzuspannen  und  zum  Artikelschreiben  zu  veranlassen  wußte, 
so  namentlich  in  der  kritischen  Zeit  des  Jahres  1877,  wo  Bismarck 
die  Ursache  der  Krisis  ausführlich  und  wiederholt  besprochen  zu 
finden  wünschte,  und  Busch  ihm  erklärte,  die  Grenzboten  stünden 
ganz  und  unbedingt  „zu  Ew.  Durchlaucht  Verfügung"  (II,  418). 
Bismarck  gibt  ihm  genaue  Weisungen,  wie  er  über  die  »Bonhonniere« 
(die  Hofopposition)  reden  solle;  in  bezug  auf  deren  evangelischen  Teil 
möge  er  den  Ausdruck  gebrauchen:  Bodensatz  der  Kreuzzeitungs- 
gesellschaft und  der  inveterierten  Herrenhausopposition.  Busch 
will  alles  allmähUch  in  die  öffentHchkeit  bringen,  deutlich,  kräftig 
und  vorsichtig.  In  seinem  Artikel  »Der  Reichskanzler  auf  Urlaub«  vom 
19.  IV.  1877  erklärte  er,  die  Krisis  sei  nur  vertagt.  Der  Fürst  werde 
seine  Bedingungen  stellen  müssen,  und  man  werde  auf  diese  Bedingungen 
eingehen  müssen.  „Die  öffentliche  Meinung  kann  einiges  dazu  bei- 
tragen. Sie  wird  wohltun,  wenn  sie  sich  nicht  mit  dem  dermaligen 
Stadium  der  Sache  beruhigt,  wenn  sie  sich  vielmehr,  deuthcher  als 
bisher  geschehen,  die  sehr  ernste  Hauptsache  der  fortschleichenden 
Kj-isis  vergegenwärtigt,  und  wenn  sie  der  gewonnenen  Erkenntnis  in 
der  Presse  Worte  gibt,  tmablässig,  nachhaltig,  immer  von  neuem 
Worte  gibt,  und  auf  Abstellung  der  betreffenden  krassen  Mißver- 
hältnisse dringt,  mit  dem  selbst  ein  Bismarck  niclit  in  ersprießlicher 
Weise  zu  wirken  vermag,  geschweige  denn  einer  der  in  den  letzten 
Wochen  als  mögliche  Nachfolger  Bezeichneten,  sei  er  auch  noch  so 
vornehm,  noch  so  unabhängig  und  noch  so  talentvoll."  Es  wird  ferner 
nach  des  Fürsten  Anweisung  erklärt,  seine  Gesundheit,  sein  Reichtum 


M  So  lese  ich  anstatt:  „im  Geführ*. 
Tönaiei.  Kritik.  ,, 


l62  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

und  ganz  besonders  sein  Einfluß  werde  weit  überschätzt.  „Die  Haupt- 
schranke seines  Einflusses  aber  ist  —  und  bleibt  vielleicht,  wenn  die 
öf fentUche  Meinung  nicht  die  Augen  auftut  und  sich  kräftiger  und  nach- 
haltiger rührt  als  bis  jetzt  —  das . . .  Unwesen  am  Hofe,  wo  um  eine  ge- 
wisse hochgelegene  Stelle  der  Bodensatz  der  Kreuzzeitungsgesellschaft 
imd  der  inveterierten  Herrenhausopposition  mit  dem  ultramontanen 
Gifte  aus  den  Kanälen  Roms  zusammengeflossen  ist,  und  von  wo  aus 
der  Politik  des  Kanzlers  unaufhörHch  Verdrießlichkeit  bereitet,  bald 
der,  bald  jener  Stein  in  den  Weg  gewälzt  und  durch  immer  neue 
Ermutigungen  der  Gegner  der  sonst  wohl  schon  eingetretene  Sieg 
aufgehalten  wird."  Die  Bonbonniere  der  hohen  Dame  (der  Kaiserin 
Augusta)  wird  dann  in  all  er  deutlichster  Weise  ans  laicht  gezogen. 
Bucher  sprach  die  Besorgnis  aus,  das  EHxir  wirke  zu  stark.  Nach 
dem  5ten  Friktionsartikel,  der  die  Überschrift  »Friedensengel«  trug  und 
gegen  die  Königin  Victoria,  mittelbar  auch  gegen  Augusta  gerichtet 
war,  schrieb  er:  „Der  Arzt  (Bismarck)  findet,  daß  die  verordneten 
Medikamente  zu  kräftig  und  viel  zu  schnell  hintereinander  angewandt 
worden  seien.  Eine  längere  und  sanftere  Sommerkur  wäre  besser 
gewesen."  Der  6.  und  7.  (letzte)  Friktionen- Artikel  rührten  von 
Bucher  selber  her;  sie  richteten  sich  gegen  den  Hausminister  von 
ScHLEiNiTZ  und  gegen  die  Filiale  der  Bonhonniere  in  Karlsruhe,  als 
deren  Leiter  die  Professoren  Geffcken  und  Max  Müi.i,er  boshaft 
angegriffen  wurden,  ohne  Nennung,  aber  mit  durchsichtigster  Andeu- 
tung der  Namen.  —  Bismarck  war  in  jenen  Jahren  noch  nicht  fest  in 
der  öffentuchen  Meinung.  D.  h.  die  öffentliche  Meinung  zu  seinen 
Gunsten  war  noch  nicht  in  einem  soliden  Aggregatzustand  geronnen.  In 
gewaltigen  Blasen  hatte  sie  ihn,  nach  den  Erfolgen  von  1866  und  1871 
emporgehoben.  Sie  hatte  sich  verdichtet  und  war  in  Fluß  geraten; 
aber  der  Zusammenbruch  der  Gründerzeit  und  die  große  wirtschaftliche 
Krise,  die  ihr  folgte,  wirkten  der  Verdichtung  entgegen.  Man  sprach 
von  Reichsverdrossenheit,  und  ein  Teil  der  Bourgeoisie  fühlte  sich 
durch  den  »Krieg  in  Sicht«  und  den  fortgesetzten  Militarismus,  ein 
größerer  durch  die  Fortdauer  der  FreihandelspoUtik  zurückgestoßen. 
Hier  beschloß  Bismarck  einzulenken.  In  Sachen  des  Kulturkampfes 
hatte  er  die  liberalen  Fraktionen  und  die  öffentliche  Meinung  auf 
seiner  Seite.  Das  »Niederlegen  der  Waffen  auf  dem  Fechtboden«, 
die  Entlassung  des  Ministers  Fai,k,  mußten  erkältend  wirken.  Um 
eine  sichere  Schutzzoll-Mehrheit  zu  gewinnen,  mußte  er  dem  Zentrum 
Zugeständnisse  machen,  die  der  öffentlichen  Meinung  zuwider  waren, 
auch  soweit  sie  die  protektionistischen  Liberalen  vertrat. 
BiSMARCKS  Streben  war  fortwährend  dahin  gerichtet,  der  öffent- 
lichen Meinung,  die  für  ihn  vorhanden  war,  eine  feste  und  dauerhafte 


Die  öffentuche  Meinung.  —  Näheres  X'ber  poutische  Kämpfe.       163 

Gestalt  zu  geben ;  das  konnte  unter  diesen  Umständen  nicht  gelingen, 
auch  das  Sozialistengesetz,  dem  die  öffentliche  Meinung  nur  zö- 
gernd zugestimmt  hatte,  wirkte  nicht  dauernd  in  diesem  Sinne. 
So  lebte  er  im  Anfange  der  80er  Jahre  in  tieferer  Verbitterung  als 
zuvor.  Das  Bündnis  mit  Österreich-Ungarn  befriedigte  allerdings 
die  öffentliche  Meinung,  aber  es  machte  die  Stellung  des  Reichs- 
kanzlers im  Innern  nicht  behaglicher.  Seinen  ehemaligen  national- 
Uberalen  Anhang  hatte  er  sich  zum  großen  Teile  entfremdet,  die 
Widerstände  der  Altpreußen  und  des  Hofes  wurden  nicht  geringer. 
Die  öffentliche  Meinung  stand  unter  dem  Eindrucke,  daß  Bismarck 
alt  werde.  Dagegen  vermochte  der  Geist  eines  Busch  wenig,  sogar 
Buchers  Geist  nicht  viel.  Freilich,  die  Überzeugung  von  den  großen 
Leistungen  des  Fürsten  in  der  auswärtigen  Politik,  von  seinem  Ver- 
dienst um  die  Einigung  Deutschlands,  verdichtete  sich  gleichzeitig 
und  wurde  schon  mit  dem  Schimmer  der  Mythe  umkleidet;  aber 
über  die  Richtigkeit  seiner  inneren  Politik  blieben  die  Ansichten 
sehr  geteilt.  Er  stand  nun  da  als  ein  Anhänger  der  Konservativen 
und  des  Zentrums,  diese  —  die  »Schwarz-Blauen«  — nicht  als  seine 
Anhänger;  imd  die  Nationalliberalen,  die  es  wirklich  waren  und  ihn 
immer,  wenn  auch  mit  einigen  kritischen  Vorbehalten,  unterstützt 
hatten,  wurden  von  ihm,  obschon  sie  die  freihändlerischen  Sezes- 
sionisten  ausgestoßen  hatten,  die  ursprünglich  doch  auch  entschiedene 
Bismarckianer  waren,  zu  schlecht  behandelt  —  »an  die  Wand  ge- 
drückt «  — ,  um  als  seine  Ritter  und  Herolde  sich  behaupten  und  ihren 
Einfluß  verstärken  zu  können;  die  Partei  kam  immer  mehr  ins  Ge- 
dränge und  in  Abnahme.  Ohne  Zweifel  hätte  Bismarck  nur  mit 
ihrer  Hilfe,  und  wenn  die  Partei  kräftig  und  zahlreich  genug,  also 
unzersplittert  geblieben  wäre,  seine  eigene  Macht  so  zu  sichern  ver- 
mocht, daß  der  unerfahrene  junge  Kaiser  unfähig  gewesen  wäre,  sie 
zu  stürzen.  Dazu  wäre  aber  auch  ein  vielseitigerer  und  verfeinerter 
Einfluß  auf  die  öffentliche  Meinung  nötig  gewesen,  als  Bismarck  sie 
durch  die  beiden  Männer  ausüben  konnte.  Diese  waren  nicht  die 
geeigneten  Persönhchkeiten,  den  Bismarck-Kultus,  noch  während  er 
im  Amte  war,  zu  organisieren,  und  nichts  Geringeres  als  dies  wäre 
notwendig  gewesen.  Die  Vertretung  seines  Namens  und  seiner  Geltung 
in  der  Presse  und  Literatur  wurde  enger  und  kleinUcher,  anstatt  weiter 
und  großzügiger  zu  werden.  So  kam  es,  daß  erst  nach  seinem  Abgange 
dem  ersten  Reichskanzler  die  Glorie  allmählich  zuwuchs.  Die  öffent- 
liche Meinung,  in  dem  Sinne,  daß  er  der  »Säkularmensch «,  der  größte 
Mann  des  Jahrhunderts,  der  Schöpfer  der  deutschen  Einheit  und  des 
neuen  deutschen  Reiches  sei,  der  Mann,  dem  die  Hohen  zollern- Dynastie 
die  deutsche  Kaiserkrone  zu  verdanken  habe,  nahm  festere  Gestalt 

II* 


164  Begrif?  und  Theorie  der  öffenti^ichen  Meinung. 

an,  sie  wurde  bis  1914  und  blieb  noch  in  den  ersten  Jahren  des  Welt- 
krieges in  Deutschland  unerschütterlich  und  der  gewaltige  Ruhm 
strahlte  in  die  Welt  hinaus.  Alle  Schatten  verblichen,  alle  kleineren 
Sterne,  auch  der  Stern  des  Monarchen,  der  ihm  geleuchtet  hatte, 
empfingen  nur  noch  ihr  Licht  von  seinem  Namen.  Bismarck  wurde 
Gegenstand  einer  religiösen  Verehrung  —  durch  die  öffentliche  Mei- 
nung. Sie  stieg  mit  dem  Wachstum  des  Ansehens  und  der  Macht 
des  Deutschen  Reiches.  Den  Untergang  dieses  Ansehens  und  dieser 
Macht  wird  die  Verehrung  kaum  sehr  lange  überleben;  denn  der 
Mißerfolg  senkt,  wie  der  Erfolg  hebt. 

13.  (Bismarcks  Ansicht.)  Bismarcks  Ansicht  über  die  öffent- 
liche Meinung  möge  schon  in  diesem  Zusammenhange  bemerkt  werden. 
Im  Jahre  1868  oder  1869  soll  er  zu  Herman  Wagener  gesagt  haben : 
„Sie  kennen  unzweifelhaft  den  Ausspruch  des  alten  Napoleon,  daß 
drei  schreiende  Weiber  mehr  Lärm  machen  als  tausend  schweigende 
Männer.  Man  tut  deshalb  auch  sehr  unrecht,  den  schreienden  Weibern 
der  öffentlichen  Meinimg  irgendeine  größere  Bedeutung  beizulegen. 
Die  wahre  öffentHche  Meinung  ist  die,  welche  sich  aus  gewissen 
politischen,  religiösen  und  sozialen  Vordersätzen  in  einfachster 
Fassung  in  der  Tiefe  des  Volkslebens  erzeugt  und  regt,  und  diese 
zu  erkennen  und  zum  Durchbruch  zu  bringen,  das  ist  die  eigentUche 
Begabung  und  Aufgabe  des  Staatsmannes.  Ich  möchte  dieselbe  die 
Unterströmung  der  öffentlichen  Meinung  nennen.  Ich  habe 
deshalb  auch  niemals  mit  den  eigentlichen  Parlamentsschreiern 
gerechnet,  und  habe  gerade  um  deswillen  die  Genugtuung  gehabt, 
die  öffentliche  Meinung,  auf  welche  ich  Wert  lege,  in  nachhaltiger 
Weise  für  mich  zu  gewinnen.  Die  Pavilskirche  in  Frankfurt  und  das 
Unionsparlament  in  Erfurt  waren  in  der  Tat  eine  Versammlung  aus- 
gezeichneter Redner,  und  doch,  was  ist  von  denselben  übriggeblieben  ? 
Versunken  und  vergessen,  das  ist  des  Sängers  Fluch."  Dazu  hat  der 
genannte  langjährige  Redakteur  der  Neuen  Preußischen  (Kreuz-) 
Zeitung  die  Anmerkung  gemacht:.  „Psychologisch  sehr  interessant 
ist  es,  daß  der  Kanzler,  ähnlich  wie  Napoi^EON  I.,  von  dem  Professor 
Leo  behauptet,  daß  er  selbst  in  dem  Kanonendonner  der  Schlacht 
nach  den  Parlamentsreden  in  Paris  gehorcht,  den  Parlamentarismus 
zwar  praktisch  mit  großer  Geringschätzung  behandelt,  nichtsdesto- 
weniger aber  die  »öffentHche  Meinung«  wie  kaum  ein  anderer  auf  das 
sorgfältigste  studiert  und  seine  größten  Erfolge  gerade  seiner  richtigen 
Diagnose  der  Volksstimmung  tmd  ihrer  Strömimgen  verdankt.  Freilich 
hat  er  dabei  stets  sowohl  theoretisch  wie  praktisch  den  Grundsatz 
festgehalten,  daß  die  Regierung  als  das  Haupt  des  Volkskörpers  und 
als  der  Ort,  in  welchem  sich  alle  Staatsgedanken  konzentrieren,  der 


Die  öffentuche  Meinung.  — ^  Näheres  über  poutische  Kämpfe.       165 

wichtigste  und  maßgebendste  Teil  des  Volkskörpers  sei  und  als  Aus- 
gangspunkt aller  politischen  Aktion  die  Aufgabe  habe,  die  öffentliche 
Meinimg  zu  leiten  und  zu  korrigieren.  Daher  das  große  Gewicht, 
welches  er  auf  die  Presse  und  auf  vollendete  Tatsachen  legt;  daher 
auch  die  eiserne  Konsequenz  mit  welcher  er  seine  Pläne  verfolgt. 
Er  teilt,  wie  wir  hören,  und  wie  er  dies  in  seinem  vertrauten  Kreise 
wiederholt  ausgesprochen  haben  soll,  die  Ansicht  des  Paters  Beckx 
(des  Jesuitengenerals),  welcher  zu  sagen  pflegte:  „Wenn  der  Wind 
sich  dreht,  drehen  sich  alle  Wetterfahnen,  und  zwar  um  so  schneller 
und  entschiedener,  je  schärfer  der  Wind  ist/'^)  Man  erkennt  aus  diesen 
Äußerungen  auch,  daß  der  Staatsmann  die  Aggregatzustände  der 
öffentlichen  Meinung  gekannt  hat,  wenn  er  auch  kaum  eine  zureichende 
Vorstellung  von  ihrem  Wesen,  sofern  es  von  Volksstimmungen  und 
Gefühlen  sich  abhebt,  besaß.  Bei  der  Schärfe,  womit  er  alle  Stim- 
mungs-  und  Gefühlspolitik  verwarf,  hätte  ihm  vorzugsweise  darum 
zu  tun  sein  müssen,  eine  urteilsfähige  und  sachlich  urteilende  öffent- 
Hche  Meinung  zu  erziehen  und  für  sich  zu  gewinnen,  also  für  eine 
höhere  politische  Bildung  des  Publikums  Sorge  zu  tragen.  Darauf 
ist  er  aber  niemals  bedacht  gewesen.  Er  hätte  einen  intellektuellen 
Generalstab  um  sich  versammeln  müssen,  hätte  den  Gedanken,  daß 
Politik  Sache  der  kühlen  Berechnimg,  des  wissenschaftlichen 
Denkens  ist,  systematisch  pflegen,  ausbauen,  verbreiten  müssen, 
um  ihn  selber  der  öffentlichen  Meinung  einzurammen  und  zu  einem 
Gegenstande  des  öffentlichen  Bewußtseins,  d.h.  eben  der  festen 
öffentlichen  Meinung  zu  erheben.  Auch  wäre  ersprießlich  gewesen, 
die  Wahrheit  gegen  den  Irrtum  abzuwägen,  welche  beide  in  dem  von 
Bernhardi  (Aus  d.  I^ben  Th.  v.  B.'s,  6.  Teil  S.  304  nach  Bauer, 
D.  Krieg  und  die  öffentliche  Meinung,  S.  47)  aufbewahrten  Bismarck- 
schen  Ausspruche  enthalten  sind:  „Man  schießt  nicht  mit  öffentUcher 
Meinung  auf  den  Feind,  sondern  mit  Pulver  und  Blei.''  Ein  allge- 
meines Urteil  über  die  öffentliche  Meinung  findet  sich  auch  im 
III.  Bande  der  »Gedanken  und  Erinnerungen«:  „Über  die  Fehler, 
welche  in  der  auswärtigen  Politik  begangen  wurden,  wird  sich  die 
öffentliche  Meinung  in  der  Regel  erst  klar,  wenn  sie  auf  die  Ge- 
schichte eines  Menschenalters  zurückzubHcken  imstande  ist,  und 
die  Achivi  qtii  piectuntur  sind  nicht  immer  die  unmittelbaren  Zeit- 
genossen der  fehlerhaften  Handlungen"  (S.  157). 

14.  B.  (Konservative  und  reformative  Parteiung.)  Wenn  wir  nun- 
mehr den  zweiten  Gegensatz  der  Parteien  ins  Auge  fassen,  so  scheint 
dieser  die  wesentliche  und  ursprüngliche  Scheidung  der  Meinungen, 


*)  PoscHiNGER,  Fürst  BiSMARCK  und  die  Parlamentarier.   Zweiter  Band,  S.  iii. 


l66  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

die  über  öffentliche  Angelegenheiten  öffentlich  geäußert  werden, 
zu  bezeichnen.  Auf  der  einen  Seite  wiU  man  das  Alte,  auf  der  anderen 
das  Neue,  auf  der  einen  will  man  erhalten,  auf  der  anderen  verändern. 
Daß  dieser  Gegensatz  mit  dem  Gegensatz  von  Regierung  und  Oppo- 
sition sich  vielfach  berührt,  ist  schon  bemerkt  worden.  Aber  er  be- 
zieht sich  auch  auf  die  Regierung,  auf  ihr  System,  ihre  Methoden, 
ihre  Grundsätze,  daher  auch  auf  die  Verfassung,  und  im  politischen 
Leben  auf  die  Staatsform.  So  hat  sich  in  Frankreich  mehr  als  loo  Jahre 
lang  der  Kampf  der  Meinungen,  auch  in  der  Literatur  und  der  Tages- 
presse, gedreht  um  den  Streitpunkt  »Republik«  oder  »Monarchie«  — 
abgesehen  von  den  Unterschieden  und  Gegensätzen  innerhalb  der 
monarchistischen  wie  innerhalb  der  republikanischen  Richtungen. 
So  war  in  den  deutschen  Staaten  der  Meintmgskampf  auf  weiten 
Feldern  entfaltet  zwischen  unbeschränkter  und  beschränkter,  absoluter 
und  konstitutioneller  Monarchie,  später  —  im  Deutschen  Reiche  — 
zwischen  dem  konstitutionellen  und  dem  parlamentarischen  System 
der  Regierung.  Neuerdings  —  seit  Nov.  1918  —  auch  hier:  Monarchie 
V.  Republik.  Aber  der  vorwaltende  Kampf  der  Meinungen  bezog 
sich,  schon  vor  dem  19.  Jahrhundert,  und  vollends  in  dessen  erster 
Hälfte,  auf  bürgerliche  und  poHtische  Freiheit  —  und  zwar  wesent- 
lich auf  Bestreitung  des  rechtUchen  und  noch  mehr  tatsächlichen 
Vorranges  des  Adels  im  Staate,  durch  das  reicher  und  selbstbewußter 
werdende  Großbürgertum,  in  dessen  Gefolge  auch  das  kleinere  Bürger- 
tum wirkte.  Grundsätzlich,  und  in  der  Regel  auch  wirkHch,  m^einte 
dieses  zugleich  die  Wünsche  und  Angelegenheiten  der  breiten  Masse  — 
der  großen  Menge  des  »Volkes«  —  zu  vertreten  und  geltend  zu  machen. 
So  durch  die  Forderung  der  Gewerbefreiheit,  der  Freizügigkeit,  des 
freien  Arbeitsvertrages,  der  Auswanderungsfreiheit  und  vor  allem 
auch  der  Religions-  oder  Gewissensfreiheit.  Aber  allmähUch  schob 
sich  —  von  der  Mitte  des  Jahrhunderts  an,  und  gesteigert  in  dessen 
letztem  Viertel  — ein  neuer  Gegensatz  von  Erhaltung  und  Verändertmg, 
von  Altem  und  Neuem,  hinein:  der  Kampf  um  die  Gesellschafts- 
ordnung, d.i.  um  die  Grundlagen  des  Privatrechts.  Die  Arbeiter- 
klasse tritt  mit  Rede  und  Schrift,  mit  Stimmzetteln,  Arbeitsein- 
stellungen und  Demonstrationen  auf  den  Plan  wider  die  besitzende 
Klasse,  am  unmittelbarsten  gerade  gegen  das  Großbürgertum,  aber 
zugleich  auch  gegen  den  »großen  Grundbesitz«,  der  mehr  und  mehr 
in  den  Begriff  der  feindlichen  und  gehaßten  »Bourgeoisie«  hinein- 
gefaßt wird.  Tatsächlich  werden  ebendadurch  diese  sonst  entgegen- 
gesetzten Parteien  bewogen  oder  doch  angeregt,  als  erhaltende  oder 
als  (Gesellschafts- )Ordnungs-Partei  sich  zusammenzuschließen;  we- 
nigstens ist  ihr  Zusammenhalten  gege  n  die  »Feinde«  der  (Gesellschafts-) 


Die  öffentuche  Meinung.  —  Näheres  über  poetische  Kämpfe.       167 

Ordnung  eine  Sache,  die  sich  von  selbst  zu  verstehen  pflegt  und  die  sie 
einander  gegenseitig  als  Pflicht  predigen.  Der  Prozeß  selber  nimmt  frei- 
lich in  verschiedenen  Ländern  sehr  verschiedene  Formen  an.  In  Groß- 
britannien ist  das  politische  Herkommen  und  die  Wahlentscheidung 
durch  einfache  Mehrheit  auf  das  Zwei-Parteien-System  eingestellt. 
Hier  hat  schon  die  Bildung  einer  radikalen,  der  noch  nebelhaften 
Arbeiterpartei  sich  nähernden  Parteigruppe,  die  immerhin  schon  das 
Schlagwort  ihres  gefeierten  Hauptes  (Gladstones)  „Die  Massen 
gegen  die  Klassen"  auf  ihre  Fahne  schrieb,  eine  ähnliche  und  zwar 
viel  intensivere  Wirkung  gehabt:  daß  nämlich  die  durch  2  Jahr- 
hunderte als  Aristokraten-CUquen  rivalisierenden,  die  Tories  und  die 
\\Tiigs,  zunächst  2  Jahrzehnte  hindurch  zusammengingen,  endlich 
sogar  zu  einer  Partei  der  »Unionisten«  sich  zusammenfügten.  Es 
liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß  die  Gegenstände  des  Erhaltens  und 
Neuerns  vielfach  sich  verändern  können,  aber  für  die  große  poHtische 
Entwicklung,  die  während  der  letzten  Jahrhunderte  in  Europa  als  Um- 
wälzung der  vom  Mittelalter  überkommenen  Einrichtungen  gewirkt 
hat,  handelte  es  sich,  bis  zu  dem  noch  immer  schwankenden  Auftreten 
des  Proletariats,  wesentUch  um  die  Rivalität  und  den  Klassenkampf 
zwischen  dem  alten  und  dem  neuen  Herrenstande,  zwischen  Grund- 
herrentum und  Kapital.  Daß  in  diesem  Streit  die  öffentliche  Meinung 
vorzugsweise  auf  Seite  des  neuen  Herrenstandes  oder  des  Kapitals  ge- 
standen hat,  ergibt  sich  aus  dem  Wesen  der  offen tHchen  Meinung,  inso- 
fern sie  städtisch  und  modern  und  fortschrittlich  gesinnt  ist ;  sie  wird 
in  der  Tat,  wie  die  Wissenschaft,  insbesondere  die  Naturwissenschaft, 
auf  welche  sie  sich  am  Uebsten  stützt,  von  dieser  emporstrebenden 
und  emporkommenden  Schicht  getragen.  Indessen  ist  das  Verhältnis 
doch  keineswegs  so  einfach  und  eindeutig,  daß  es  die  Anwendung 
einer  Schablone  gestattete.  Einmal  sog  die  neue  Bildung  immer  ihre 
Nahrung  aus  der  alten,  die  Übergänge  sind  mannigfach  und  auch 
Adlige  sind  unter  den  Vorkämpfern  heilsamer  oder  so  erscheinender 
Neuerungen,  an  ihrer  Spitze  zuweilen  die  Fürsten  und  ihr  höfischer 
Anhang;  in  Deutschland  war  ein  Jesuit  unter  den  ersten  Streitern 
gegen  die  Hexenprozesse,  deren  abergläubische  Sinnwidrigkeit  seit- 
dem in  die  öffentliche  Meinung  übergegangen  und  darin  fest  verkap- 
selt ist.  Sodann  darf  nicht  vergessen  werden,  daß  gerade  die  echte 
und  höhere  Bildung  ihre  selbständige  Würde  und  Unabhängigkeit 
besitzt,  die  sie  oft  auch  den  neuen  Elementen  des  Zeitgeistes  gegen- 
über kritisch  werden  und  befHssen  sein  läßt,  den  bloßen  Schein  zu 
durchdringen,  um  auch  die  andere  Seite  der  Dinge  kennen  zu 
lernen.  Endlich  möge  man  sich  erinnern,  daß  die  öffentliche  Mei- 
nung immer  auch  laudalrix  temporis  acti  ist,  daß  sie  gern  die  Schatten 


i68  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

der  »guten  alten  Zeit«  den  Übeln  und  Verderbnissen  der  Gegenwart  ent- 
gegenwirft und  überdies  eine  ausgesprochene  Vorliebe  für  die  mitt- 
lere Linie  hat.  »In  medio  virtus«  ist  einer  ihrer  Wahlsprüche.  — 
Dennoch  bleibt  das  Grund  Verhältnis  geltend :  die  öffentliche  Meinung 
geht  mit  und  entwickelt  sich  mit  den  Angriffen  der  Neuerer  gegen 
die  hergebrachten  und  »rückständigen«  Zustände,  Sitten,  Anschau- 
ungen; und  diese  Angriffe  suchen  ihren  Hauptschauplatz  in  der 
Literatur,  mehr  und  mehr  und  mit  gewisseren  Wirkungen,  in  der 
periodischen  Literatur,  in  der  Presse.  Das  Zeitungwesen  hat  neben 
seinem  anfänglichen  amtlichen  und  dem  ebenso  ursprünglichen 
bloßen  Nachrichtenzweck  ganz  überwiegend  eine  liberal-fortschritt- 
liche Tendenz  gehabt.  Die  konservative  Denkungsart  war  in  der 
Defensive  und  konnte  gegen  den  Fortschritt  der  liberalen  Presse 
sich  um  so  weniger  wehren,  da  sich  hinter  diese  mehr  und  mehr  die 
großen  Kapitalmächte,  besonders  die  des  Handels,  der  Banken  und 
der  Börse  stellten.  Daraus  erklärt  sich  auch,  daß  wenigstens  im 
deutschen  Sprachgebiet  die  allgemeine  Kritik  des  Zeitungwesens 
immer  eine  konservative  und  »reaktionäre«  Färbimg  gehabt  hat.  In 
diesem  Sinne  hat  Bismarck,  bald  nachdem  er  Minister  geworden, 
sich  ausgedrückt,  wenn  er  von  der  »oppositionellen  Presse«  sagte, 
daß  sie  zum  großen  Teil  in  Händen  von  Juden  und  unzufriedenen, 
ihren  Beruf  verfehlt  habenden  Leuten  sich  befinde.  Unzählige  Male 
ist  dies  Urteil  in  Deutschland  wiederholt  und  abgewandelt  worden; 
es  ist  ein  beständiges  Kampfmittel  auf  jener  Seite,  die  ganze  Presse 
als  jüdisch  verseucht,  als  verjudet  zu  brandmarken,  womit  unwillent- 
lich zugegeben  wird,  daß  die  konservative  Presse  in  ihrer  Bedeuttmg 
mit  der  hberalen  —  die  natürlich  auch  Bismarck  meinte,  als  er  die 
oppositionelle  nannte  —  nicht  wetteifern  könne;  oder  aber  sie  sei 
auch  jüdisch  »getauft«,  was  allerdings  nicht  selten  der  Fall  gewesen 
ist.  Darum  bezeichnet  auch  Treitschke  (PoUtik  II,  27)  es  einfach 
als  Tatsache,  daß  „Juden  heute  bei  uns  die  poHtische  Presse  be- 
herrschen" und  zwar  als  eine  monströse  Tatsache,  weil  der  moderne 
Jude  das  Gegenteil  dessen  habe,  was  man  politischen  Sinn  nennt: 
merkwürdig  erscheint  auch  in  dieser  Hinsicht,  daß  die  antisemitische 
Agitation^  wenn  sie  neuerdings  in  Deutschland  die  Sozialdemokratie 
oder  noch  schärfer  den  neuen  »Kommimismus «  oder  Bolschewismus 
anklagt,  w^eil  in  ihnen  das  Judentum  die  führenden  Rollen  habe,  nicht 
oder  kaum  auf  dessen  Tätigkeit  in  der  Parteipresse  dieser  Richtungen 
Bezug  nimmt:  diese  Parteipresse  ist  ja  für  die  große  »Öffentlichkeit« 
so  gut  wie  nicht  vorhanden ;  als  die  Presse,  welche  ihnen  ein  Dorn  im 
Auge  ist,  wird  immer  wiederdie  jüdisch-liberale  oder  jüdisch-demokra- 
tische Presse  vorgeführt  —  eben  wegen  ihrer  Mächtigkeit,  ihres  Geistes, 


Die  ÖFFENTI.ICHE  Meinung.  —  Näheres  über  poutische  Kämpfe.        169 

ihrer  Verbreitung.  Gibt  also  diese  die  öffentliche  Meinung  wieder  wie 
sie  ist  ?  oder  wirkt  sie  so  stark  auf  die  öffentliche  Meinung,  daß  sie 
sie  bestimmt  und  mit  sich  fortreißt?  Das  eine  wie  das  andere  ist 
zuweilen  der  Fall,  aber  beides  war  viel  häufiger  —  in  deutschen 
Landen  —  zu  jener  Zeit,  als  noch  Liberalismus  das  Glaubensbekenntnis 
fast  der  ganzen  »gebildeten  Welt«  und  diese  weder  von  antiliberalen 
(»reaktionären«)  Gedanken  noch  von  antisemitischen  Gefühlen  anders 
als  oberflächlich  berührt  war :  so  war  die  Lage  der  Dinge  von  etwa  1830 
bis  um  die  Mitte  des  8.  Jahrzehntes  des  Jahrhunderts.  Seitdem  hat  die 
öffentliche  Meinung  in  Deutschland  kein  ausgesprochenes  Parteipro- 
gramm mehr ;  war  sie  bis  dahin  »nationalliberal «  mit  entschiedener  Be- 
tonung des  »liberal«,  so  fiel  nun  der  Ton,  wenn  sie  überhaupt  dies  Bei- 
wort sich  noch  gefallen  ließ,  ganz  entschieden  auf  das  »national«  und 
zwar  mit  immer  vermehrter  Stärke,  so  daß  endlich,  in  der  Republik, 
eine  Partei,  deren  Hauptträger  die  deutsch-nationale  Bewegung  von 
1815 — 1870  als  demokratisch  gehaßt  und  verfolgt  hatten,  sich  als 
deutsch-nationale  Volkspartei  dem  ahnungslosen  Publikum  empfehlen 
konnte.  In  der  Tat  hält  jetzt  die  öffentliche  Meinung,  wenn  nicht  die 
konservative  allein,  so  doch  die  »beiden  Rechtsparteien«  für  die  wahren 
und  wirklichen  »nationalen  «  Parteien.  Allerdings  ist  die  öffentliche  Mei- 
nung dem  »krassen«  Antisemitismus  nicht  hold,  dieser  ist  mehr  auf 
ein  dunkles  Schleicher  dasein  angewiesen ;  auch  sonst  behält  sie  noch, 
mehr  oder  minder  latent,  starke  liberale  Bestandteile,  die  sich  auch 
einem  Teil  der  »starren  Konservativen«  aufdrängen;  aber  die  Furcht 
und  Abneigung  vor  sozialistischen  Neuerungen  führt  nicht  nur  zu  Ver- 
schmelzungen mit  konservativen  Gedankengängen,  sondern  macht 
auch  sonst  den  Liberalismus  verblassen  und  gewissermaßen  zur  Um- 
kehr und  Reue  geneigt,  als  möchte  er,  wenn  es  möglich  wäre,  zurück- 
nehmen und  widerrufen,  was  er  einst  als  Ideal  erstrebt  und  als  seine 
Errungenschaft  gepriesen  hatte.  Wir  werden  hier  in  die  Betrachtimg 
zurückgelenkt,  daß  der  alte  Gegensatz:  Adel  —  Bürgertum  durch 
den  neuen:  »bürgerliche  Parteien  und  Denkweisen«  —  »proletarische 
Parteien  und  Denkweisen«  verdunkelt  und  teü weise  verdrängt  wird. 
In  England  stellen  sich  diese  Verhältnisse  etwas  anders  dar.  Längst 
ist  dort  die  öffentliche  Meinung  in  allererster  Linie  national-engHsch, 
imperialistisch,  aristokratisch,  konservativ  gewesen  (was  sie  bei  uns 
zu  werden  seit  3 — 4  Jahrzehnten  begonnen  hatte);  darum  haben 
ihr  alle  großen  inneren  Reformen  in  langem  Ringen  allmählich  ab- 
gewonnen oder  aufgedrungen  werden  müssen.  Da  immer  nur  die 
2  Hauptparteien  für  die  Bildung  der  Regierung  in  Betracht  kommen, 
und  da  die  öffentliche  Meinung  in  einigem  Maße  einen  selbständigen 
Faktor  neben  den  Partei-Organisationen  für  Entscheidung  der  Wahlen, 


lyo  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

von  der  die  Regierung  abhängt,  ausmacht,  so  werben  und  wett- 
eifern die  beiden  Parteien  zunächst  um  die  Gunst  der  öffentlichen 
Meinung.  „Wenn  die  öffentliche  Meinung  in  Tagesfragen  sich  gel- 
tend macht,  so  bleibt  immer  die  Kritik  in  ihrer  Nachbarschaft;  in 
England  ist  sie  kritikloser  den  Schlagwörtern  preisgegeben,  und 
kann  sich  um  so  mehr  gehen  lassen,  da  sich  regelmäßig  nur  um  die 
eine  poHtische  Hauptfrage  die  Aufregungen  drehen:  ja  oder  nein,  die 
herrschende  Partei  am  Ruder  lassen  oder  die  andere  hinsetzen,  wo 
dann  die  Stimmimgen  schnell  entscheidend  wirken."  Nachdem  Low 
{The  governance  of  England^  p.  8i)  festgestellt  hat,  daß  es  sehr  schwer 
ist,  eine  Regierung  für  irgend  etwas,  was  sie  in  ihrer  ministeriellen 
Arbeit  getan  hat,  zur  Rechenschaft  zu  ziehen,  fährt  er  fort:  „Der 
wirkliche  Hemmschuh  gegen  einen  zu  groben  und  schreienden  Miß- 
brauch ministerieller  Macht  ist,  ohne  Zweifel,  die  heilsame  Furcht 
vor  der  öffentlichen  Meinung ;  aber  diese  Einschränkung  wäre  beinahe 
ebenso  wirksam  ohne  den  Beistand  des  Hauses  der  Gemeinen,  der 
nicht  darauf  zurückwirkt,  außer  nach  einer  allgemeinen  Wahl.  Da 
diese  also  entscheidet  über  das  Schicksal  des  Kabinetts,  so  muß  das 
Kabinett  sich  natürlich  angelegen  sein  lassen,  nicht  nur  vor  der 
öffentlichen  Meinung  zu  bestehen,  sondern  sie  auch  unablässig  und 
planmäßig  zu  bearbeiten''.  {Tönnies,  Der  englische  Staat  und  der 
deutsche  Staat,  S.  yy.)  Das-  gleiche  geschieht  aber  durch  die  andere 
Partei,  wie  sich  versteht :  hier  fällt  eben  der  Kampf  zwischen  Regierung 
und  Opposition  zusammen  mit  dem  Kampf  der  großen  Parteien,  und 
in  einigem  Maße  ist,  oder  gebärdet  sich  doch,  die  jedesmalige  Oppo- 
sitionspartei immer  als  Reformpartei,  wenn  sie  irgendwelche  Neue- 
rungen auf  ihre  Fahne  schreibt,  die  der  öffentlichen  Meinung  gefallen 
oder  wofür  diese  —  vielleicht  durch  die  andere  Partei  oder  wenigstens 
durch  Freischärler,  die  aus  ihr  stammten  —  gewonnen  wurde.  Die 
regierende  Partei  findet  Schwierigkeiten,  diese  Reform  in  Angriff 
zu  nehmen,  sie  hat  dringendere  Aufgaben.  Flugs  nimmt  die  Oppo- 
sitionspartei sie  auf,  als  ob  ihr  nie  um  etwas  mehr  zu  tun  gewesen  sei, 
möge  sie  sonst  noch  so  sehr  auf  ihren  »konservativen«  Charakter 
pochen.  Aber  die  öffentliche  Meinung  Englands  ist  Reformen  grund- 
sätzlich mehr  ab-  als  zugeneigt ;  ihr  ist  vor  allem  immer  darum  zu  tun, 
nicht  nur  das  Reich  zu  vergrößern,  den  Markt  für  britische  Waren  zu 
erhalten  und  zu  erweitern,  sondern  auch  darum,  die  engHsche  Verfassung 
als  Musterverfassung,  englische  Gesetze  und  Rechte  als  im  wesentlichen 
unübertrefflich,  alles  Ausländische  als  minderwertig  darzustellen, 
als  nicht  einmal  der  Kenntnisnahme  wert,  außer  sofern  es  sich  um 
Nachbildungen,  Nachahmungen  der  »Mutter  der  Parlamente«  und 
ihrer    wundersamen    »verantwortlichen    Regierimg«   handelt,    deren 


Die  öffentliche  Meinung.  —  Näheres  über  poi^itische  Kämpfe.        171 

wahrer  aristokratischer  Charakter  längst  von  gewissenhaften  Forschern 
britischen  Namens  enthüllt  worden  ist,  ohne  die  Rede  und  Prahlerei 
von  der  wahren  und  echten  Demokratie  —  die  allgemach  und  gleichen 
Schrittes  mit  der  Bureaukratie,  also  dem  modernen  Staat,  wirkliche 
Fortschritte  macht  —  zu  erschüttern.  Seit  etwa  30  Jahren  rücken 
auch  in  diesem  mächtigsten  Industriestaat  die  Fragen  der  sozialen 
Reform  in  den  Vordergrund.  Die  öffentliche  Meinung  steht  ihr  dort 
mißmutig  gegenüber.  Sie  ist  nicht  von  ihrer  inneren  Notwendigkeit 
überzeugt,  außer  gelegentlich,  wenn  ein  sensationeller  Mißstand  bekannt 
geworden  ist,  den  sie  schleunig  zu  vertilgen  wünscht,  hält  es  aber 
politisch  für  geboten,  den  Ansprüchen  der  Arbeiter  weitgehende 
Einräumungen  zu  machen,  teils  um  sie  zu  beschwichtigen,  teils  um 
sie  an  eine  der  beiden  »respektabeln «  Parteien  zu  fesseln.  Im  allge- 
meinen gilt  noch,  was  vor  etwa  25  Jahren  Bernard  Shaw  schrieb: 
„Die  öffentliche  Meinung  steht  dem  Reformator  ebenso  feindlich 
gegenüber  wie  dem  Verbrecher  ...  In  der  Öffentlichkeit  besteht 
nicht  die  Anschauung,  daß  jemand,  der  sein  Brot  auch  ohne  zu 
arbeiten  findet,  dafür  zu  arbeiten  verpflichtet  ist.  Im  Gegenteil: 
die  öffentliche  Meinung  hat  sich  daran  gewöhnt,  tägliche  Hand- 
arbeit als  das  Loos  der  verachteten  Klassen  anzusehen.  Es  ist 
das  Streben  aller,  Vermögen  zu  erringen  und  dann  nicht  mehr  zu 
arbeiten  Selbst  die  Mitglieder  der  höheren  Berufsarten  stehen  im 
Range  unter  dem  unabhängigen  Gentleman ^  der  so  genannt  wird,  weil 
er  nicht  von  seiner  eigenen  Arbeit  abhängt"  (Sozialismus  in  Eng- 
land, herausgeg.  von  SidnEy  Webb.  Deutsche  Ausgabe  von  KurEIvI^a, 
S.  130).  Der  aristokratische  Charakter  der  öffentlichen  Meinung  wird 
hier  durch  den  Dichter  wohl  etwas  zu  scharf  betont,  aber  er  ist  ohne 
Zweifel  in  England  viel  ausgeprägter  als  etwa  in  Deutschland,  zumal 
in  Süddeutschland.  Weit  mächtiger  ausgebildet  ist  dort  das  Bewußt- 
sein des  neuen  Herrenstandes,  der  »middle-class^,  die  zwar  mit  einiger 
Ehrfurcht  zur  oberen  Klasse  emporschaut,  aber  deren  politische 
Macht  immer  einzuschränken  beflissen  ist.  Darum  hat  die  Bekämpfung 
des  Boden- Monopols  von  allen  sozialen  Reformgedanken  am 
meisten  Wurzel  geschlagen.  So  gelangt  am  Schlüsse  einer  Unter- 
suchung der  »Geschichte  der  englischen  Bodenreformtheorien«  (S.  222) 
NiEHUUS  zu  der  Feststellung,  daß  sich  in  allen  Instanzen  der  Gesetz- 
gebung sowie  in  der  öffentlichen  Meinung  der  Gedanke  durchringe 
von  der  Notwendigkeit  der  Reform  des  Grundeigentums  und  der 
Inaugurierung  einer  Bodenpolitik,  die  den  Interessen  der  Allge- 
meinheit und  den  wirtschaftlich  Schwachen  mehr  als  bisher  ent- 
sprechen. In  Deutschland  ist  die  öffentliche  Meinung  mehr  und 
mehr  grundsätzlich  der  sozialen  Reform,  ja  in  einigem  Maße  dem 


172  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

Sozialismus  geneigt  geworden  (in  dem  besonderen  Kapitel  über  »Die 
Öffentliche  Meinung  und  die  soziale  Frage«  wird  darauf  zurück- 
zukommen sein):  ein  Erfolg  der  weiter  und  tiefer  gehenden  wissen- 
schaftlichen Belehrung,  namentlich  von  den  Universitäten  aus,  wo 
von  1870 — 1900  und  darüber  hinaus,  der  »KathedersoziaHsmus «  in 
einiger  Blüte  stand.  Er  hat  auch  einflußreiche  Zeitungen  erfaßt,  nach- 
dem er  zunächst  im  Verein  für  Sozialpolitik  sich  kristallisiert  hatte, 
einem  ,, wissenschaftlichen  Verein,  der  allerdings  auch  einen  Einfluß 
auf  die  öffentliche  Meinung  ausüben  will"  (Herkner,  Die  Arbeiter- 
frage ®,  II,  150).  So  hat  sich  ein  stark  modifizierter  lyiberalismus  heraus- 
gebildet, der  eine  Portion  SoziaHsmus  in  sich  aufgesogen  hat,  wenn- 
gleich ,,an  dem  Privateigentum,  an  der  kapitalistischen  Unternehmung, 
an  der  Selbstbestimmung  und  Selbst  Verantwortung  grundsätzlich" 
festhaltend  (das.  S.  167).  Seit  vielen  Jahren  dient  die  »Frankfurter 
Zeitung«,  neben  der  Kölnischen  die  bedeutendste  Tageszeitung  im 
Deutschen  Reiche,  diesem  »Sozialliberalismus  «,  den  schon  Sonnemann 
„nicht  nur  in  der  eigenen  kleinen  Partei  (der  süddeutschen  Volkspartei) 
sondern  in  der  öffentlichen  Meinung  überhaupt  mächtig  gefördert" 
hatte  (das.  S.  160).  Wenn  aber  ,,die  sozialliberale  Richtung  in  der  prak- 
tischen Politik"  am  stärksten  in  England  durchgedrungen  ist  (das.  158), 
so  muß  der  Nachdruck  durchaus  auf  der  zweiten  Hälfte  des  Wortes 
liegen,  das  vorwiegende  Metall  dieser  englischen  Denkweise  ist  immer 
noch  der  Freihandel,  der,  um  sich  zu  erhalten,  eine  lyegierung  von 
sozialen  Elementen  sich  gefallen  läßt.  Für  die  herrschende  Denkweise 
und.  die  öffentliche  Meinung  in  diesen  Dingen  ist  es  bedeutsam,  daß  eine 
eigentliche  Arbeiterpresse  in  Großbritannien  nicht  aufkommen  kann, 
obschon  gerade  unter  Gelehrten  und  anderen  Höhergebildeten  sozia- 
listische lychrmeinungen  nicht  geringen  Anhang  haben.  Kleine  Wochen- 
blätter mit  sehr  beschränktem  I^eserkreis  hat  es  zwar  schon  lange  ge- 
geben ;  eine  Tageszeitung  der  Arbeiterpartei  kam  erst  kurz  vor  dem 
Weltkriege  auf  und  ist  in  ihm  rasch  wieder  untergegangen  (neuerdings 
dann  unter  anderem  Titel  wieder  aufgelebt ;  man  hat  Grund  zu  ver- 
muten, daß  ihre  Auflage  auch  jetzt  noch  nicht  erheblich  ist,  obschon 
sich  neuerdings  Männer  von  hervorragendem  Namen  der  Lahour 
Party  angeschlossen  haben ) . 

In  Deutschland  wird  nun  seit  mehr  als  40  Jahren  (etwa  seit  1878) 
der  Liberalismus  von  beiden  Seiten  —  von  rechts  und  von  links  — 
heftig  angefochten  und  ins  Gedränge  gebracht,  mit  ihm  die  liberale 
Presse,  die  von  der  einen  Seite  überdies  als  Judenpresse  der  Gering- 
schätzung und  dem  Verdacht  preisgegeben  wird.  Besonders  in  die 
Landbevölkerung  dringt  diese  Presse  wenig  mehr,  die  kleinen  Orts- 
zeitungen stehen  zum  größten  Teil  unter  anderem  Einfluß.   Indessen 


Die  öffbntuche  Meinung.  —  Näheres  über  poi,itische  Kämpfe.       173 

wäre  es  durchaus  ein  Irrtum,  zu  meinen,  daß  die  liberalistische  Den- 
kungsart  in  allen  Stücken  zurückgegangen  sei  und  weiter  zurückgehe. 
Sie  bleibt  immer  die  weit  überwiegende  Denkungsart  der  städtischen 
Bildung  tmd  in  vielen  Stücken,  zumal  solchen,  die  nicht  immittelbar 
der  Tagespolitik  unterliegen,  verhält  sich  nach  wie  vor  die  ländHche 
Denkungsart  zu  dieser  empfangend;  ja  in  zunehmendem  Grade,  je 
mehr  »die  Stadt  ins  Land  fortschreitet«  und  das  geht  unablässig  vor 
sich.  Am  wenigsten  können  sich  die  konservativen  Zeitungen  diesen 
Einflüssen  entziehen,  die  überdies,  zum  größeren  Teil  in  der  Groß- 
stadt geschrieben  und  ganz  in  der  Großstadt  gedruckt  werden.  Tat- 
sächlich können  sie  nur  innerhalb  einer  gewissen  Grenze  vom  Libera- 
lismus sich  entfernen  und  ihm  widersprechen,  ohne  die  öffentliche  Mei- 
nimg, und  das  ist  dann  auch  die  Meinung  des  größten  Teils  ihrer  Leser, 
zu  stoßen  und  zu  kränken.  Sie  finden  vielen  Beifall,  wenn  sie  die  Vor- 
züge der  Monarchie  gegenüber  der  repubUkanischen  Staatsform  heraus- 
streichen ;  aber  sie  können  nicht  dafür  in  die  Schranken  treten,  den 
Absolutismus  wiedereinzuführen,  oder  gar  einen  väterlichen  Despo- 
tismus als  Heilmittel  empfehlen.  Sie  mögen  das  parlamentarische 
Regierungssystem,  ja  den  ganzen  Parlamentarismus  verwerfhch  finden, 
aber  sie  werden  doch  nicht  wagen,  eine  Regierung  ohne  Volksver- 
tretung zu  befürworten ;  und  wenn  sie  für  eine  ständische  oder  Berufs- 
vertretung sich  aussprechen,  so  werden  sie  sicherlich  alle  Stände,  alle 
Berufe  irgendwie  zur  Geltung  kommen  lassen  wollen.  Sie  mögen  ge- 
legen tHch  für  Wiederherstellung  der  »Prügelstrafe  «  sich  einsetzen ;  aber 
sie  werden  diese  dann  vorsichtig  auf  solche  Untaten  einschränken, 
denen  gegenüber  die  öffentliche  Meinung  sich  in  so  scharfer  Empörung 
befindet,  daß  sie  schon  außerordentliche  Maßnahmen  zu  erwägen 
geneigt  ist;  aber  diese  Zeitungen  werden  —  in  Deutschland  —  auch 
nicht  zur  Abschreckung  der  ärgsten  Schieber  und  Wucherer  die  Strafe 
des  Galgens,  geschweige  denn  die  des  Vierteilens,  Aufsradflechtens 
u.  dgl.  in  Antrag  bringen.  Ebenso  mögen  sie  allerhand  Maßnahmen 
in  Anregung  bringen,  um  den  Einfluß  des  Judentums  einzudämmen, 
höhere  Besteuerung  des  Börsenhandels,  der  Banken,  auch  etwa 
Hemmungen  der  Einwanderung  von  Israehten  aus  dem  Osten;  aber 
sie  werden  iiiclit  die  russischen  sog.  Pogroms  als  nachahmenswert 
darstellen,  nicht  die  Beschränkung  der  Juden  auf  gewisse  Straßen 
der  Städte,  nicht  die  Bindung  irgendwelcher  politischer  oder  bürger- 
licher Rechte  an  ein  christliches  Bekenntnis  oder  gar  die  Nach- 
weisung eines  »judenreinen«  Stammbaumes  befürworten.  Einerseits 
werden  wohl  die  meisten,  und  sicherlich  die  intelhgentesten,  konser- 
vativen Schriftsteller  selber  nicht  von  der  Vortrefflichkeit  oder  der 
Ausführbarkeit    soklu  r     Vorschläge    überzeugt    sein;    andererseits 


174  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

werden  auch  die  beschränkten  Eiferer  es  nicht  wagen,  damit  ans  Licht 
der  Öffentlichkeit  zu  treten :  die  Scheu  vor  dem  »Fluch  der  Lächerlich- 
keit« wird  sie  davon  abhalten  oder  auch  die  Aussicht  auf  eine  Zu- 
rechtweisung des  Verlegers  oder  der  Parteihäupter,  denen  die  Leitung 
der  Zeitung  obliegt;  denn  diese  müssen  beflissen  sein,  die  öffentliche 
Meinung  nicht  zu  beleidigen  und  wissen,  daß  man  behutsam  mit  ihr 
umgehen  muß. 

15.  C.  (Orthodoxe  und  heterodoxe  Meinungen.)  Wenn  auch 
jenen  Jahrhunderten,  die  wir  als  Mittelalter  zu  begreifen  pflegen, 
die  Ketzerei  und  Freigeisterei  nicht  fremd  blieb,  so  sind  doch  diese 
erst  seit  der  Zerspaltung  der  römischen  Kirche  und  im  Zusammen- 
hange mit  dem  Fortschritt  der  wissenschafthchen  Erkenntnis  zu  eben- 
bürtigen ja  vielfach  überlegenen  Mächten  neben  der  Religion  und  den 
Kirchen  angewachsen.  Auch  die  öffentliche  Meinung,  die  in  ihrer 
Entwicklung  sich  diesen  mehr  und  mehr  entgegengesetzt  hat,  ist  eine 
neuzeitliche  Erscheinimg,  gefördert  durch  die  sich  verallgemeinernden 
Künste  des  Lesens  und  Schreibens,  durch  die  Vermehrung  der  Bücher 
und  vollends  durch  die  Ausbreitung  der  Zeitungen,  dieser  Scheidemünze 
der  Literatur,  die  in  jedes  Haus,  in  jeden  Winkel  dringt,  überall  das 
Wissen  mehrt,  das  Denken  anregt,  das  Gespräch  belebt.  Wahres  und 
Unwahres,  Echtes  und  Falsches  immer  neu  mitteilt,  oft  leiden- 
schaftliche Gefühle  und  Wünsche  entzündet,  Stimmungen  befestigt, 
Meinungen  bildet,  Gespräche  fördert.  Von  den  Vertretern  des  über- 
lieferten Geistes,  der  alten  Frömmigkeit,  des  schlichten  Glaubens 
mußte  die  Zeitung  als  Feind  empfunden  werden.  Der  weltliche  Cha- 
rakter der  Bildung,  ihre  Leichtigkeit  und  Leichtfertigkeit,  die  Flach- 
heit der  Aufklärung,  der  Materialismus  der  neuesten  Weisheit  des 
Tages,  diese  Merkmale,  die  schon  die  Literatur  der  Bücher,  der  Flug- 
schriften und  moralischen  Wochenschriften  bezeichneten,  scheinen 
in  der  Tagespresse  sich  zu  vollenden.  Zunächst  ist  es  der  Geist  des 
Protestantismus,  der  Geist  von  Wittenberg,  Leipzig,  Genf,  der  dem 
Anhänger  der  römischen  Kirche  aus  der  gesteigerten  Tätigkeit  des 
Buchdruckes  entgegenweht^).  Bald  aber  regt  sich  der  Unglaube, 
die  »materialistische«  Naturwissenschaft,  das  Freidenkertum  —  eine 
Geistesrichtung,  die  den  neuen  Kirchen  wie  der  alten  Kirche  ver- 
dächtig und  verhaßt  ist.  Zugleich  wächst  das  politische  und  soziale 
Interesse,  das  kirchliche  und  religiöse  vermindert  sich.    Empor  kam 


*)  Schon  in  der  deutschen  Reformationszeit  fühlten  die  Verteidiger  der  alten  Kirche 
sich  im  Nachteil.  Sie  hatten  die  Reichsstädte  gegen  sich,  und  die  Reichsstädte  hatten 
die  Pressen.  Dr.  E)ck  mußte  auf  eigene  Kosten  drucken  lassen.  „Sie  drucken  in  den 
Reichsstädten  nichts  wider  den  lyUTHER,  es  nehme  denn  einer  eine  Anzahl  Bücher. 
Hab  in  6  Jahren  ob  200  Fl.  verdruckt",  schrieb  Eck  am  14.  IV.  1526  an  Herzog 
WU,BJSJM. 


Die  öffentucee  Meinung.  —  Näheres  über  politische  Kämpfe.        175 

die  Tagespresse  mit  der  großen  Revolution,  und  die  Preßfreiheit 
bedeutete  auch  die  Freiheit  der  Kritik  gegen  die  Geistlichkeit  und 
gegen  den  Glauben  und  Ritus  der  alleinseligmachenden  Kirche.  Die 
Hberale  Zeitung,  Werkzeug  der  Protestanten,  der  Juden,  der  Freimaurer, 
war  als  solches  auch  eine  Waffe,  die  sich  gegen  das  Mittelalter  und  dessen 
überlebende  geistige  Gestalt,  die  Kirche,  richtete.  Die  öffentliche  Mei- 
nung wurde,  auch  über  katholische  Kreise  sich  ausbreitend,  wenn 
nicht  feindselig,  so  mindestens  gleichgültig  gegen  die  Segnungen 
und  Flüche,  die,  vom.  päpstlichen  Stuhl  ausgehend,  für  den  wahrhaft 
gläubigen  Katholiken  immer  noch  den  Wert  einer  göttlichen  Offen- 
barung hatten.  Das  war  schon  im  Jahrhundert  der  Aufklärung,  als 
noch  die  Wirkung  von  Büchern  und  Flugschriften  überwog,  der  Fall, 
obgleich  in  dieser  Arena  die  Jesuiten  immer  als  gewandte  und  rück- 
sichtslose Gegenfechter  sich  bewährten.  „Die  Hierarchie,  der  fast  nur 
gelehrtes  Wissen  zu  Gebote  stand,  verteidigte  sich,  da  sie  die  Schrift- 
steller nicht  mehr  verbrennen  konnte,  durch  Verbrennung  ihrer  Schriften. 
Aber  diese  Schriften  enthielten  die  öffentliche  Meinung  von  Frank- 
reich" (Hase,  Kirchengesch.'  S.  555  von  der  vorrevolutionären  Philo- 
sophie in  Frankreich).  Durch  Bekanntmachung  aller  »gefährlichen  und 
verderblichen«  Lehren,  die  den  Jesuiten  schuldgegeben  wurden,  war 
,,die  öffentliche  Meinung  gewonnen"  (das.  556)  und  der  Orden  wurde 
als  staatsgefährhch  aus  Frankreich  verbannt  (1164).  Mit  dem  Empire^ 
und  vollends  mit  der  Restauration,  erfolgte  bekanntlich  eine  glanz- 
volle Wiederherstellung  der  Kirche  in  Frankreich,  nach  ihrer  völligen 
Zerrüttimg  durch  die  Revolution.  Aber  jede  neue  Revolution  brachte 
ihr  neue  Erschütterungen.  Ihre  leidenschaftlichen  Vorkämpfer 
sagten,  wie  der  päpstliche  Syllabus  von  1864,  dem  ganzen  modernen 
Geiste  den  Krieg  an  und  verklagten  die  Presse  als  dessen  giftge- 
schwollene Trägerin.  Louis  Veuillot,  selber  ein  JoumaHst,  schrieb 
darüber  (um  1860):  „Der  moderne  Zeitgeist,  dessen  innerstes  Wesen 
die  Vertierung  ist,  hat  nichts  Todbringenderes  geschaffen  als  dieses 
immer  tätige  Maschinen  werk,  welches  auf  den  Geist  einwirkt  durch 
die  verschiedensten  Düfte  der  Literatur,  Kunst,  Wissenschaft  und 
durch  den  siegreichen  Reiz  der  Frivolität.  Sobald  es  ihn  erfaßt  hat, 
führt  er  ihn  durch  alle  Temperaturen  hindurch,  dämpft  ihn  durch 
alle  möglichen  Dämpfe  ab,  verdunkelt  ihn  durch  alle  möghchen 
Rauchwolken,  preßt  ihn  durch  alle  möghchen  Walzen,  stampft  ihn 
in  allen  möglichen  Mörsern  und  zieht  ihn  durch  alle  möglichen  Hecheln, 
so  daß  am  Ende  nichts  mehr  übrig  bleibt  als  Werg,  auf  welchem  alle 
bösen  Mächte  keck  schlummern  dürfen."  Um  dieselbe  Zeit  gingen 
aus  bayrisch-klerikalem  Lager  die  heftigsten  Anklagen  gegen  die 
Presse  hervor.  So  die  Flugschrift  des  Dom-Kapitulars  Moutor  „Die 


176  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

Großmacht  der  Presse'';  so  mit  noch  größerer  Wut  JosEF  Lukas, 
dessen  Büchlein  ,,Die  Presse,  ein  Stück  moderner  Versimpelung",  in 
konzentrierter  Form  alles  enthält,  was  je  gegen  das  Gift,  die  Lügen- 
haftigkeit, die  Seichtheit,  die  Verjudung,  den  kapitaUstischen  Ge- 
schäftsbetrieb, die  Reklame,  die  Korruption  durch  die  Börse  und  die 
Industrie,  über  Verleumdungen  und  Verdächtigungen,  den  Widerspruch 
gegen  den  Geist  des  Christentums,  die  Wissenschaftsverflachung  und 
die  Sprachverderbnis,  die  poHtischen  Schäden  und  endlich  über  ,,die 
allgemeine  Versimpelung  durch  die  Presse'*  gesagt  werden  konnte, 
vorher  und  nachher  gesagt  worden  ist.  Von  Monitor  zitiert  Lukas 
den  Ausspruch,  die  Presse  habe  einen  »entsetzlich  gelungenen  «  Erfolg, 
„durch  welchen  die  Erkenntnis  und  das  Gewissen  der  ganzen  zivi- 
lisierten Welt  irregeleitet  und  korrumpiert,  durch  welchen  die  Zu- 
stände der  irdischen  Gesellschaft  so  aus  allen  Fugen  gerissen  worden 
sind,  daß  wir  überall,  wohin  wir  blicken,  nur  Haltlosigkeit  und  ein 
verzweifelndes  Sichaufgeben,  Trümmer  und  Verwüstimg  erblicken''.  — 
Natürlich  lassen  diese  Autoren  auch  eine  »gute«  Presse  gelten  —  die 
katholische  — ,  aber  sie  kennen  auch  deren  (zumal  damals  noch)  ge- 
ringe Bedeutung,  sie  erscheint  ihnen  als  Ausnahme;  auch  wissen  sie 
wohl,  welche  Vorzüge  die  »schlechte  «  Presse  vor  den  Kaplanblättchen 
hat :  Lucas  erzählt,  daß  der  berühmte  Theologe  Möhler  mit  Vorliebe 
die  Allgemeine  Zeitung  las;  als  man  ihm  dies  zum  Vorwurf  machte, 
antwortete  er :  er  kenne  gar  wohl  die  schlimme  Tendenz  dieses  Blattes, 
aber  man  müsse  sich  einmal  einige  Jahre  durch  die  Gemeinheiten 
einer  scheelsüchtigen  Provinzialpresse  durchgeschlagen  haben,  um 
die  Wohltat  einer  anständigen  Lektüre  begreifen  zu  können,  auch 
wenn  diese  nicht  unseren  Sternen  folge.  Seitdem  ist  nun  freiHch  auf 
deutschem  Boden  auch  ein  stattliches  katholisches  Zeitungswesen 
in  Anlehnimg  an  die  Zentrumspartei  und  ihre  Organisationen  heran- 
gewachsen. Während  es  um  1840  noch  kein  einflußreiches  katholisches 
Organ  in  den  Rheinlanden  gab  (Bergsträsser,  Studien  zur  Vor- 
geschichte der  Zentrumspartei,  S.  189  ff.  bei  Bauer,  Die  öffentliche 
Meinung,  S.  304n.),  so  behaupten  nunmehr  seit  Jahrzehnten  die 
»Kölnische  Volkszeitung«  und  der  »Westfälische  Merkur«  neben 
anderen  großen  Zeitungen  des  Zentrums  ihren  Rang;  die  Zahl  der 
Tageszeitungen,  die  1890  erst  94  war,  ist  bis  1909  auf  278  gewachsen. 
Es  wiederholt  sich  die  alte  Erfahrung,  daß  die  zuerst  verabscheuten 
Waffen  des  Gegners  angeeignet  und  nachgeahmt  werden.  Ähnlich 
ist  die  Entwicklung  in  anderen  Ländern  gewesen.  Gleichwohl  ist 
selbst  in  überwiegend  und  streng  kathoHschen  Ländern  wie  Österreich 
und  Spanien  die  katholische  Presse  nur  diejenige  einer  unter  mehreren 
Parteien,  und  nicht  leicht  die  einflußreichste  —  von  Frankreich  und 


Die  öffentliche  Meijojng.  —  Näheres  über  poi^itische  Kämpfe.       177 

Italien  zu  schweigen.  Charakteristisch  dafür  ist,  daß  die  klerikalen 
Wortführer  auch  in  jenen  Ländern  behaupten,  »die«  Presse  sei  in 
Händen  von  Freimaurern  und  Juden.  Jene  fühlen  sich  eben  durchaus 
und  überall  in  der  Defensive,  wenn  sie  auch  von  Zeit  zu  Zeit  Vorstöße 
und  Ausfälle  wie  aus  einer  belagerten  Festung  machen;  sie  ringen 
wider  die  Macht  des  Zeitgeistes. 

16.  (öffentliche  Meinung  beiderlei  Sinnes  im  Verhältnis  zur  Presse.) 
Unsere  Erörterung  wird  hier  auf  das  Verhältnis  von  Presse  und  öffent- 
licher Meinung  zurückgeführt.  Es  würde  sich  lohnen,  was  die  neueren 
beachtenswerten  Autoren  über  das  Zeitungswesen  ÄhnHches  und  Ver- 
schiedenes in  bezug  auf  diesen  Gegenstand  ausgesprochen  haben,  zu 
sammeln.  Klare  und  deutUche  Unterscheidung  zwischen  öffentHcher 
Meinung  imd  der  öf f  entHchen  Meinung  ist  notwendig,  um  hier  das  Rich- 
tige vom  Falschen  zu  trennen,  öffentliche  Meinung  tritt  in  vielen  Aus- 
drücken und  Zeichen  zutage,  besonders  stark  und  wirkungsvoll  in  der 
Literatur,  die  als  periodisch  regelmäßig  erscheinende  um  so  mehr  in  ein- 
heithchem,  bestimmtem  Sinne  sich  geltend  macht,  daher  am  ein-  und 
zudringlichsten  in  der  Tagespresse,  öffentliche  Meinung  so  verstanden 
ist  einem  Kriegsschauplatz  wohl  zu  vergleichen,  wenn  auch  die 
Kämpfe  nur  zuweilen  zum  Handgemenge,  zu  Duellen  und  Mord- 
anschlägen führen,  in  den  romanischen  Ländern  nicht  ganz  selten. 
Das  Publikum,  insbesondere  also  das  lesende,  verhält  sich  zu  diesen 
Meinungskämpfen  als  Zuschauer;  freilich  wie  ein  Zuschauer,  der  in 
einer  hohen  Proszeniumsloge  sitzend  nur  die  andere  Hälfte  der  Bühne 
sieht,  und  zwar  als  solche  die  zu  ihm  gehörige,  wie  zur  rechten  Hemi- 
sphäre des  Gehirnes  das  linke  Auge  gehört,  zur  Hnken  das  rechte. 
Dennoch  nimmt  der  Broschüren-  und  Zeitungsleser  immer  an  den 
Kämpfen  teil,  die  sich  ihm  einseitig  darstellen,  nämlich  wie  seine 
Partei  sie  ihm  darstellt,  und  so  erscheint  diese  ihm  immer  als  die 
rechthabende,  daher  in  der  Regel  auch  als  die  siegende.  Leicht  und 
oft  wird  auch  die  verfochtene  Sache,  weil  als  die  richtige,  so  als  die 
von  allen  redhchen  und  rechtschaffenen  Leuten  gebilligte  empfohlen 
werden,  die  öffentlich  vertretene  Meinung,  wenn  nicht  als  die  von 
allen,  so  doch  von  allen  Vernünftigen,  allen  Vaterlandsfreunden,  allen 
Wohlgesinnten  oder  allen  Gescheiten  geteilte  Meinung,  und  diese  Vor- 
stellung geht  namentlich  in  die  Vorstellung  der  öff entHchen  Meinung 
über.  Zuweilen  ist  es  wirkHch  so,  daß  die  in  einer  bedeutenden  und 
besonnenen  Zeitung  ausgesprochene  Meinung  über  eine  Angelegenheit 
von  öffentUchem  Interesse  die  bestbegründetc,  die  vernünftigste  oder 
die  durch  den  guten  Geschmack,  das  richtige  Gefühl  am  meisten  ge- 
währleistete Meinung  ist;  viel  öfter  freilich,  daß  die  scheinbare  Ver- 
nunft, die  vorherrschende  Denkungsart  oder  der  modische  Geschmack, 

Tfinnies.  KriUk  t^ 


178  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

das  den  Suggestionen  des  Tages  unterliegende  Gefühl  ihr  ent- 
gegenkommt —  im  einen  wie  im  anderen  Falle  kann  sie  die  allge- 
meine, die  öffentliche  Meinung  schon  sein  oder  werden.  Wenn  sie 
es  wird,  so  schwerlich  durch  die  kundgegebene  Meinung  eines 
Journals.  Bs  müssen  schon  mehrere  übereinstimmen  und  sie  müssen 
die  Grenzen  der  Parteigesinnung  überschreiten,  so  daß  die  sonst 
andersdenkenden  Zeitungen  fürchten  müssen,  Anstoß  zu  erregen 
oder  schon  erregt  zu  haben  bei  ihren  lycsern,  so  daß  sie  zum,  wenn 
auch  kunstreich  verhüllten,  Widerruf  oder  wenigstens  zu  erheblicher 
Abschwächung  ihrer  Gegenmeinung  sich  genötigt  sehen.  Das  ist  der  die 
Widerstände  brechende  »Strom«  der  öffentlichen  Meinung,  der  aller- 
dings durch  bedeutende  Zeitungen,  ja  durch  eine  Zeitung,  die  von 
anderen  nicht  ignoriert  werden  kann,  einen  mächtigen  Antrieb  erhalten 
mag.  Regelmäßig  wird  aber  dieser  Strom  schon  vorher  vorhanden  sein, 
und  die  Witterung  des  Preßorgans  —  es  kann  auch  eine  Wochen-,  ja 
eine  Monatsschrift  sein  —  macht,  daß  es  nun  wie  Aeolus  den  Wind  aus 
seinem  Schlauche  blasen  läßt,  der  eben  geeignet  ist,  das  ruhige  Ge- 
wässer in  Bewegung  zu  bringen:  je  nachdem  einen  ethischen,  einen 
politischen  oder  ästhetischen  Wind  —  aber  heulen  muß  er;  und  zu- 
weilen hat  er  alle  Ursache  dazu,  auch  ohne  die  Absicht,  die  ihn  toben 
läßt.  —  Viel  öfter  aber  ereignet  es  sich,  daß  ein  großer  Wind  der  öffent- 
lichen Meinung,  aufgeregt  durch  ein  besonderes  Ereignis,  einen  »Skandal « 
oder  sonst  einen  »Fall«,  sich  erhebt,  ohne  daß  die  Zeitungen,  anders 
als  durch  die  von  ihnen  vermittelten  Nachrichten  (die  aber  auch  auf 
anderen  Wegen  ins  Publikum  gelangen)  dazu  mitwirken.  Naturgemäß 
wird  dieser  Wind  auch  die  Herausgeber  und  Schriftsteller  der  Zeitungen 
ergreifen,  aber  wenn  es  ein  ihnen  widriger  Wind  ist,  sie  nur  wider- 
strebend in  seine  Richtung  mitfortreißen;  als  widrigen  Wind  empfinden 
sie  ihn  aber,  wenn  die  Meinung,  die  er  mit  sich  führt,  den  sonst  von 
ihnen  und  von  ihrer  Partei  vertretenen  Grundsätzen  und  Ansichten 
entgegengerichtet  ist.  Selten  werden  sie  wagen,  sich  dem  Vv'^inde 
entgegenzuwerfen,  er  kann  so  stark  sein,  daß  er  sie  umwirft.  Sie 
werden  doch  lieber  mit  dem  Winde  gehen,  wenii  auch  langsam  und 
zögernd;  zuweilen  kann  aber  ein  Sturm  auch  diesen  Widerstand 
brechen,  so  daß  sie,  wenn  auch  unfreiwillig,  sich  getrieben  fühlen. 

Dritter  Abschnitt.  Vulgäre  Erscheinung 
der  Öffentlichen  Meinung. 

17.  (öffentliche  Meinung  und  das  Zeitungsgeschäft.)  Der  be- 
ständige Gegenstand  der  Beobachtung  und  Erörterung  ist  die  öffent- 
liche Meinung  des  Tages,  an  der  nicht  unterschieden  zu  werden  pflegt,  ob 
es  die  öffentliche  Meinung  ist  oder  die  öffentliche  Meinung.  Sehr  oft 


Die  öffentliche  äIeinung.  —  Vui,gäre  Erscheinung  usw.  179 

wird  von  der  geteilten  öffentlichen  Meinung  gesprochen,  als  ob  ihre 
Einigkeit  die  normale  Erscheinung  wäre  —  was  von  der  artikulierten 
öffentlich  en  Meinung  allerdings  gilt — j  a,  in  der  englischen  Publizistik  ist 
es  üblich,  von  großen  »Körpern «und  von  »Stücken«  (Sektionen)  öffent- 
licher Meinung  zureden,  während  sie  unter  Public Opinion,  schlechthin 
die  öffentliche  Meinung  zu  verstehen  pflegt,  wenn  auch  bedeutende 
Schriftsteller  neuerdings  zuweilen  diese  durch  den  Artikel  auszeichnen, 
wohl  auch  ihn  ergänzend  durch  die  Worte  »als  ganze «^).  Es  ist  für 
jene  mannigfachen  und  verworrenen  Stimmen  des  Tages  nicht 
ein  wesentUches  Merkmal,  durch  die  Schriftsteller  des  Tages  ver- 
treten zu  werden ;  aber  dies  ist  tatsächlich  die  große  charakteristische 
Erscheinung  des  Zeitalters  geworden.  Ebenso  ist  es  ihr  normales 
Merkmal,  daß  sie  Meinungen,  Ansichten,  Gefühle  und  Bestrebungen 
von  Parteien  vertritt,  mögen  die  Parteien  organisiert  oder  unorga- 
nisiert, klein  oder  groß  sein,  mögen  sie  (ausnahmsweise)  in  ein  und 
dasselbe  Hörn  blasen  oder  (was  die  Regel)  einander  mit  größerer 
oder  geringerer  Heftigkeit  bekämpfen.  Wenn  die  Schriftsteller  —  die 
Journalisten  —  die  Ansichten  und  Gefühle,  denen  sie  Ausdruck 
geben,  selber  teilen,  so  erleichtert  ihnen  das  ohne  Zweifel  ihre  Auf- 
gabe, und  oft,  vielleicht  in  den  weitaus  meisten  Fällen  wird  es  der 
Fall  sein;  nicht  selten  wird  auch  durch  die  Übung  im  Aussprechen 
die  Gesinnung  selber  entstehen  oder  wenigstens  sich  stärken  und 
wachsen.  Aber  notwendig  ist  diese  Übereinstimmung  offenbar  nicht: 
der  Soldschreiber  folgt  wie  ein  anderer  Söldner  der  Fahne,  die  ihm 
Nahrung  gibt  und  Beute  in  Aussicht  stellt;  er  kann,  wie  er  soll,  und 
wenn  er  eine  Gesinnung  oder  »Überzeugung«  hatte,  so  wird  sie  durch 
Mangel  an  Kahrung  allmählich  zusam.menschrumpfen  und  ver- 
kümmern, ja  er  wird  durch  Erfahrung  gewahr  werden,  daß  es  ihm 
um  so  leichter  wird,  einer  bestimmten  —  vorgeschriebenen  —  Ansicht 
Ausdruck  zu  geben,  je  weniger  er  selber  eine  Ansicht  darüber  »sich« 
gebildet  hat,  er  braucht  sie  eben  nicht  für  sich,  sondern  ausschließlich 
für  die  andern,  nach  außen  hin  und  im  Dienste  einer  ihm  überlegenen 
Macht,  seiner  »Obrigkeit«.  Unter  allen,  die  über  das  Zeitungswesen 
neuerdings  geschrieben  haben,  ist  Übereinstimmung,  daß  die  Zeitung, 
zumal  die  große,  wesentlich  eine  kapitalistische  Unternehmung  ist 
und  geworden  ist,  deren  unmittelbarer  Hauptzweck  also  der  ist, 
Gewinn  aus  dem  Geschäfte  zu  erzielen.   Folglich  müssen  nach  diesem 

*)  Vgl.  z.  B.  Bryce:  Modern  democracies  II,  253:  ,,it  tnust  be  understood  that 
the  public  opinion  of  Australia  as  a  whole,  alarmed  by  the  mischief  which  strikes  were 
doing,  and  sympaihizing  with  the  desire  of  the  wage-carncrs  for  a  larger  share  of  the  Pro- 
ducts of  labour,  was  generally  favourable  to  the  experimettt"  (der  Zwangsschiedsgerichte 
usw.). 

12* 


i8o  Begriff  und  Theorie  der  öffenttvIchen  Meinung. 

Zwecke  die  Schriftsteller  sich  richten,  sich  ihm  anpassen  —  sie  müssen 
aussprechen,  was  ihn  fördert,  verschweigen,  was  ihn  hemmt;  die 
Ansicht  über  das  Interesse  der  Zeitung  leitet  den  »Geist«  ihrer 
Kundgebungen.  Dies  Interesse  ist  wesentlich  bedingt  durch  das 
Gefallen  oder  Mißfallen  a)  des  Leserkreises,  b)  der  Abonnenten,  c)  der 
Inserenten.  Der  Leserkreis  schließt  die  Abonnenten  und  Inserenten 
in  der  Regel  in  sich  ein ;  was  außerhalb  dieser  Gönner  liegt,  hat  haupt- 
sächUch  darum  Bedeutung,  weil  beide  sich  daraus  ergänzen  und 
vermehren;  außerdem  erhöht  auch  die  Größe  des  Leserkreises  den 
Ruf  und  das  Ansehen  der  Zeitung.  Die  Höhe  ihrer  »Auflage«  ist  ein 
Zeichen  davon,  und  diese  ist  teils  durch  den  Absatz  auf  offenem 
Markte  —  den  Einzelverkauf  —  teils  (und  —  in  Deutschland  wenig- 
stens —  zum  größeren  Teil)  durch  die  Abonnements  bedingt.  Diese 
sind  wiederum  ihrer  großen  Mehrzahl  nach  solche  von  Parteigenossen, 
die  bestimmte  Ansichten  und  Gesinntmgen  durch  die  von  ihnen 
regelmäßig  gelesene,  gehaltene  und  etwa  auch  sonst  unterstützte 
Zeitung  vertreten  zu  sehen  wünschen,  die  »ihre«  Zeitung  mit  Be- 
friedigung lesen,  wenn  solche  Meinungen  darin  zu  offenem  und  starkem 
Ausdruck  kommen,  und  sich  entrüsten,  wenn  sie  einen  »Artikel«  matt 
und  nicht  »gesinnungstüchtig«  genug  finden  oder  gar  Zugeständnisse 
an  den  gegnerischen  »Standpimkt«  darin  entdecken.  Auch  als  Inse- 
renten werden  vorzugsweise,  wenn  auch  keineswegs  ausschließlich, 
Anhänger  der  durch  die  Zeitung  vertretenen  Meinungen  sich  geltend 
machen;  manche  imter stützen  die  Zeitung  bewußt  durch  Inserate, 
weil  sie  die  »gute  Sache«  damit  fördern  wollen;  ja  diese  Absicht  geht 
zuweilen  über  den  eigentlichen  Zweck  der  Bekanntmachung  ihrer 
Firma  und  ihrer  Waren  hinaus,  wenigstens  ist  ihnen  diese  mittelbare 
Wirkung  —  die  eben  auch  dem  Geschäft  zugute  kommt  —  etwa 
ebenso  wichtig  wie  die  unmittelbare.  Für  das  Zeitungsgeschäft  aber  — 
darüber  sind  die  Kenner  der  Sache  einig  —  bedeuten  die  Inserate 
weit  mehr  als  die  Abonnements;  mithin  muß  auf  die  Inserenten, 
wenn  das  nackte  Gewinninteresse  entscheidet,  noch  mehr  Rücksicht 
genommen  werden,  als  auf  die  Abonnenten.  Und  für  jene  wird  in  der 
Regel  das  Interesse  des  Geschäftsmanns  wichtiger  sein  als  das  — 
meistens  wohl  damit  verbundene  —  des  Parteimannes.  Namentlich 
wird  es  sich  negativ  geltend  machen:  die  Erbitterung  über  einen 
unmittelbaren  oder  mittelbaren  materiellen  Schaden  wird  viel  heftiger 
sein  und  stärker  sich  geltend  machen,  als  die  Unzufriedenheit  mit  einer 
ideellen  Verkehrtheit,  einer  Verirrung  oder  »Entgleisung«.  Der  Leiter 
einer  Zeitung  wird,  nach  dem  Urteil  des  Verlegers  und  der  anderen 
Hintermänner  des  Zeitungskapitales,  seines  Amtes  übel  gewaltet 
haben,  wenn  ein  gewichtiger   »großer«  Inserent  der  Zeitung  seine 


Die  ÖFFENTI.ICHE  Meinung.  —  Vui<gäre  Erscheinung  usw.  i8i 

Anzeigen  entzieht.  Wiederum  sind  aber  sehr  oft  die  Inserenten 
keineswegs  damit  zufrieden,  sich  selber  auf  dem  Rücken  der  Zeitimg 
anzukündigen  oder  zu  empfehlen ;  wertvoller  sind  schon  die  Annoncen 
vom  auf  der  Stirn  oder  auf  der  Brust,  über  oder  mitten  im  gedanken- 
vollen Text  politischer  Erörterung  oder  belletristischer  Erzählung. 
Auch  von  dorther  aber  merkt  das  Publikum  die  Absicht,  es  hört 
immer  die  Stimmen  der  Marktschreier  und  ein  Teil  des  PubUkums  — 
zumal  das  »gebrannte  Kind«  —  ist  mißtrauisch  und  scheut  das  Feuer. 
Besser  nützt  dem  Absatz  eine  scheinbar  uninteressierte  Empfehlung, 
die  Anpreisung  durch  einen  scheinbar  von  dem  Wert  der  Sache  über- 
zeugten Schriftsteller  oder  sogar  durch  die  scheinbar  streng  sachlich 
urteilende  Redaktion.  Solche  Urteile  können  angeführt  (»zitiert«) 
werden,  sie  können  auch  mehr  oder  minder  echt  und  unbefangen  sein, 
wie  es  ohne  Zweifel  manche  Urteile  über  Bücher  und  andere  Waren 
sind,  die  der  Verleger  oder  Kaufmann  zu  deren  Gunsten  verwertet. 
Sie  erfüllen  aber  meistens  ebenso  ihren  Zweck,  wenn  sie  erfunden, 
gefälscht,  bestellt  sind.  Noch  besser  wirken  solche  Urteile,  wenn  sie 
scheinbar  nicht  inseriert  und  bezahlt  sind,  sondern  ausschließHch 
imd  unmittelbar  vom  Schreibtisch  des  Schriftstellers  und  sogar  des 
Schriftleiters  kommen,  wenn  der  Ivcser  sie  mit  demselben  Vertrauen 
empfängt,  womit  er  den  gewohnten  I^eitartikel  alle  Tage  in  sich  auf- 
nimmt. Es  ist  daher  die  Aufgabe,  den  I^eser  zu  täuschen  und  das  ist 
auf  mannigfache  Art  und  Weise  mögUch.  Die  einfachste  Methode  ist 
die  der  versteckten  Annonce ;  das  Verstecken  kann  mehr  oder  weniger 
vollständig  sein.  Im  Gegensatze  zu  anderen  Fällen  des  sittlichen 
I^bens  ist  hier  die  Schamlosigkeit  um  so  größer,  je  vollständiger  die 
Verhüllung.  Alle  Beobachter  sind  darüber  einig,  daß  die  französischen 
Zeitungen  die  verhüllte  Annonce  durchaus  geflissentlich  und  regel- 
mäßig pflegen.  Unbekannt  ist  sie  nirgends.  Wenn  sie  trotz  der  Ver- 
hüllung erkennbar  ist,  so  nimmt  sie  zuweilen  raffiniertere  Formen  an, 
flieht  z.  B.  aus  dem  Hauptteil  der  Zeitung  und  aus  dem  Handelsteil 
»unter  den  Strich «,  wo  sich  in  einer  spannenden  Novelle  oder  in  einem 
witzigen  (oder  witzig  sein  sollenden)  Feuilleton  die  »gelegentUche« 
Erwähnung  z.  B.  eines  Automobil-Gummireifens  »unauffällig«  unter- 
bringen läßt.  Übrigens  ist  seiner  Natur  nach  der  Handelsteü  den 
Fremdkörpern  des  Geschäftsinteresses  am  meisten  ausgesetzt.  Kenner 
der  Geheimnisse  behaupten,  daß  die  großen  deutschen  Zeitungen, 
„vor  allem  ihr  Handelsteil,  absolut  unbestechHch  sind"  (Feldhaus, 
Das  deutsche  Zeitungswesen,  U.  B.  5875,  S.  38).  Bei  den  franzö- 
sischen sei  die  Bestechlichkeit  eine  offenkundige  Tatsache;  der 
Handelsteü  werde  ,,ganz  einfach  an  ein  meistbietendes  Bankhaus 
verkauft"  und  das  Publikum  sei  so  den  Geschäftspraktiken  irgendeiner 


l82  Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  Meinung. 

Firma,  die  Geld  verdienen  will,  ausgeliefert.  Ja,  die  öffentliche 
Meinung  in  Frankreich  billige  das  (Fei^dhaus  das.).  Die  französische 
Zeitung  lebt  nicht,  wie  die  der  meisten  anderen  I^änder,  unmittelbar 
von  ihren  Inserenten;  der  Käufer  und  Leser  verschmäht  die  Pakete 
von  Beilagen  mitzuerwerben  und  überläßt  den  Handelsfirmen,  ohne 
seine  Hilfe,  ihre  Waren  bekannt  zu  machen.  Um  so  mehr  aber  erscheint 
die  versteckte  Annonce,  die  kleine  in  den  Text  der  Zeitung  hinein- 
geschmuggelte Reklame  als  eine  Spezialität  des  französischen  Ge- 
schäftes, wodurch  es  auf  minder  aufdringliche  Art,  die  eben  deshalb 
dem  Franzosen  wohl  graziöser  erscheint,  sich  zu  empfehlen  weiß. 

i8.  (Korruption.)  Wie  alle  charakteristischen  Erscheinungen  des 
modernen  Lebens,  so  zeigt  die  Tagespresse  ihre  schärfsten  und 
freiesten  Züge  in  den  Kolonialländern,  also  am  deutlichsten  in  dem 
größten  und  bedeutendsten  von  allen,  den  Vereinigten  Staaten 
Amerikas.  Die  »Korruption«  des  Zeitungswesens  ist  hier  nur  ein 
hervorstechendes  Merkmal  der  Korruption  des  öffentlichen  Lebens 
überhaupt.  Der  Literatur  des  Landes,  die  zu  einem  großen  Teile  nur 
eine  zusammengelesene  und  zusammengebimdene  Zeitung,  ein  »Ma- 
gazin« oder  ein  geistiges  Warenhaus  darstellt,  gereicht  es  zur  Ehre, 
daß  doch  Stimmen  in  ihr  laut  werden,  die  das  Geschwür  der  Korruption 
bloßlegen,  und  die  also  auch  wagen,  das  Zeitungswesen  so  darzustellen, 
wie  es  ist.  Daß  es  in  erster  Linie  und  durchaus  Geschäft  ist,  hebt  es 
vom  europäischen  Zeitungswesen  längst  nicht  mehr  ab.  Dr.  Robert 
Brünhuber,  selber  ein  Journalist,  wies  darauf  hin,  daß  die  Gefahren 
des  kapitalistischen  Zeitungsbetriebes,  einst  von  Männern  wie  Lassai,i,e 
verkündet,  heute  auch  von  Leuten  erkannt  und  anerkannt  werden, 
die  auf  dem  Boden  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  stehen. 
Er  führt  unter  anderen  Belegen  dafür  einen  Ausspruch  Theodor 
Barths  an :  „Der  Gedanke  der  geistigen  Beeinflussung  des  Publikums 
tritt  zurück  hinter  der  Frage:  Wie  kann  aus  dem  Verkauf  von  be- 
drucktem Papier  der  größtmögliche  Gewinn  herausgeschlagen  wer- 
den?" (Das  deutsche  Zeitungswesen,  Sammlung  Göschen  400,  S.  30 f.). 
Im  großen  Stile  entwickelt  sich  dieser  Preßkapitalismus  durch  das 
Zusammenkaufen  vieler  Zeitungen,  so  daß  die  schwächeren  durch 
die  stärkeren  unterstützt  und  gehalten  werden,  und  auch  in  diesem 
Gebiete  etwas  wie  ein  Monopol  des  bedruckten  Papieres  an  die  Stelle 
der  Konkurrenz  treten  kann;  es  entsteht  dadurch  allmäliHch  ein 
umgekehrtes  Verhältnis  zum  Publikum  und  zu  der  sonst  freier  wach- 
senden öffentlichen  Meinung :  während  die  Konkurrenz  sich  in  einigem 
Maße  nach  dieser  richten  muß,  zwingt  das  Monopol  ihr  seinen  Willen 
und  seine  Meinung  auf,  eben  dadurch  aber  Willen  imd  Meinungen 
des  Spekulations-,  sogar  des  Börsen-  und  Bankkapitals,  in  dessen 


Die  Öffenti^iche  Meinung.  —  Vui^gäre  EJrscheinung  usw.  183 

Hände  nach  Sch affines  Ansicht  zu  seiner  Zeit  (er  dachte  wohl  haupt- 
sächlich an  Österreich)  die  eigentHch  einflußreiche  großstädtische  Tages- 
presse gelangt  war,  der  es,  nach  Brunhubers  Ausdruck,  nicht  darauf  an- 
kommt, die  Idee  durch  den  Profit  töten  zu  lassen  (1.  c.  S.  32).  Aber,  so 
paradox  es  scheint,  das  unmittelbare  Geschäft  der  Presse  ist  für  die 
Macht  des  Kapitals  i  n  der  Presse,  und  durch  die  Presse  auf  die  öffent- 
liche Meinung,  nicht  die  am  meisten  wirksame  Kraft.  Der  Zeitungs- 
kapitalismus kann  anderem  Kapitalismus,  sei  es  aus  eigenem  Interesse, 
sei  es  aus  Grundsatz,  den  Zutritt  verwehren,  ja  er  kann  ihn  bekämpfen. 
Anders  sieht  die  Sache  aus,  wenn  dieser  andere  Kapitalismus  sich  der 
Zeitung  bemächtigt  als  eines  tauglichen  oder  tauglich  zu  machenden 
Mittels  für  seine  Zwecke;  wenn  also  kein  dringender  Grund  vor- 
handen ist,  die  Zeitung  rentabel  zu  machen,  sondern  etwaige  Zubußen 
durch  die  mittelbaren  Vorteile,  die  solcher  andere  Kapitalismus  aus 
dem  Geschäfte  zieht  oder  erwartet,  wettgemacht  werden.  Das  ist, 
was  ein  amerikanischer  Schriftsteller,  Herr  James  Edward  Rogers 
(The  american  newspaper  S.  201)  »Verbandsherrschaft«  (corporation 
control)  nennt.  „Die  Verbände  (d.  h.  vor  allem  die  Trusts)  sind  von 
den  Zeitungen  angegriffen  worden,  die  ihre  Spalten  gebraucht  haben, 
um  die  öffentliche  Meinung  gegen  sie  einzunehmen.  So  erfolgreich 
sind  Zeitungen  in  der  Lage  gewesen,  gegen  die  großen  Geschäfts- 
interessen des  Landes  einen  Druck  auszuüben,  daß  die  KapitaUsten 
ihrer  Selbsterhaltung  wegen  selber  in  das  Zeitungsgeschäft  sich  be- 
geben haben.  Sie  haben  alte  Zeitungen  gekauft  oder  neue  ins  Leben 
gerufen.  Es  ist  nur  eine  Wiederholung  der  Politik,  wodurch  zu  allen 
Zeiten  die  vorwaltenden  Interessen  gezeigt  haben,  daß  sie  die  Nützlich- 
keit der  Presse  als  eines  Mittels  der  Herrschaft  zu  würdigen  wußten.*' 
Die  Beispiele  Napoi^eons,  Bismarcks,  Roosevei^ts  werden  dafür 
ins  Feld  geführt.  „Ein  flüchtiger  Bück  auf  die  Liste  der  Eigentümer 
unserer  großen  Zeitungen  überzeugt  davon,  daß  sie  besessen  und 
beherrscht  werden  durch  einige  Millionäre,  deren  Interessen  außerhalb 
ihrer  liegen:  Leute,  denen  Eisenbahnen,  Bergwerke,  Dampferlinien 
u.  dgl.  gehören.  Die  volle  Bedeutung  dieser  Tatsache  wird  dem  Leser 
zur  Erwägung  überlassen."  Die  hier  angeklagte  Erscheinung  ist 
(lings  —  wie  es  scheint,  erst  nach  der  Katastrophe  von  1918  — 
auch  in  Deutschland  offenbar  geworden. 

19.  (Unabhängige  Presse  und  öffentliche  Meinung.)  Folgender- 
maßen hat  sich  ein  erfahrener  und  sehr  angesehener  amerikanischer 
Joumali.st,  John  SWINTON,  schon  im  Jalirc  1895  (bei  ciium  I\  tm.ihl 
der  New-York  Preß  Association)  ausgesprochen,  um  einen  Tnnkspruch 
auf  KÜe  unabhängige  Presse«  zu  beantworten:  „Es  gibt  nichts  des- 
gleichen in  Amerika  wie  eine  unabhängige  Presse,  es  wäre  denn  in 


184  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

Landstädten.  Sie  wissen  es  und  ich  weiß  es.  Es  ist  nicht  einer  unter 
euch,  der  wagen  kann,  einer  ehrlichen  Meiniing  Ausdruck  zu  geben. 
Wenn  Sie  es  tun,  so  wissen  Sie  im  voraus,  daß  es  niemals  gedruckt 
wird.  Ich  erhalte  150  S  wöchentlich  dafür,  daß  ich  meine  ehrlichen 
Meinungen  von  der  Zeitung,  mit  welcher  ich  verbunden  bin,  fern- 
halte .  .  .  Der  Mann,  der  so  töricht  wäre,  ehrliche  Meinungen  zu 
schreiben,  fände  sich  auf  die  Straße  gesetzt  und  müßte  nach  einem 
anderen  Erwerb  sich  umsehen.  Das  Geschäft  des  New- Yorker  Jour- 
naHsten  besteht  darin,  die  Wahrheit  zu  verdrehen,  dreist  zu  lügen, 
zu  vertuschen,  zu  verunglimpfen,  zu  kriechen  vor  dem  Götzen 
Mammon,  Vaterland  und  Abstammung  fürs  tägliche  Brot  oder  (was 
ungefähr  dasselbe  bedeutet)  für  sein  Gehalt  preiszugeben.  Sie  wissen 
das  und  ich  weiß  es;  welche  Narretei  daher,  auf  eine  »unabhängige 
Presse«  zu  toasten.  Wir  sind  Werkzeuge  und  die  Vasallen  reicher 
Leute,  die  hinter  der  Szene  stehen.  Wir  sind  Marionetten.  Sie  ziehen 
an  der  Schnur  und  wir  tanzen.  Unsere  Zeit,  unsere  Talente,  unser 
Leben,  unsere  Aussichten,  alles  gehört  anderen  Leuten.  Wir  sind 
Prostituierte  des  Geistes."  Diese  furchtbare  Anklage,  die  wie  der 
Schmerzensschrei  eines  Mannes  kHngt,  dessen  Berufstätigkeit  unter 
dem  schweren  Drucke  eines  ehrlichen  Gewissens  gelitten  hat,  findet 
sich  wiedergegeben  in  Lester  F.  Wards  »Pwrß  Sociology«.  Dieser 
Philosoph  bemerkt  dazu:  „Die  Zeitung  ist  schlechthin  ein  Organ  der 
Täuschung.  Jede  hervorragende  Zeitung  ist  Verteidiger  irgendeines 
Interesses,  und  alles,  was  sie  sagt,  dient  unmittelbar  oder  mittelbar 
(und  am  wirksamsten,  wenn  mittelbar)  zur  Förderung  dieses  Inter- 
esses. Es  gibt  in  heutiger  Zeit  nichts  dergleichen  wie  eine  Zeitung, 
die  ein  Prinzip  vertritt."  —  Im  gleichen  Jahre,  als  die  Äußerung 
SwiNTONS  geschah,  sprach  J.  W.  Jenks  im  American  Journal  of 
Sociology  (Vol.  I,  No.  2)  die  Ansicht  aus,  der  Einfluß  der  amerikanischen 
Presse  auf  die  öffentliche  Meinung  sei  verhältnismäßig  —  und  im 
Vergleich  mit  England  und  Deutschland  —  gering;  das  Volk  wisse, 
daß  die  Zeitungen  nach  Beweggründen  persönlichen  Gewinnes  geleitet 
werden,  und  daß  die  Politik  der  Zeitung  in  weitem  Maße  bestimmt 
wird  durch  die  Erwägung :  wie  wirken  die  ausgesprochenen  Meinungen 
auf  den  Absatz  und  auf  das  Inseratengeschäft?  Auch  werde  eine 
Zeitung  sehr  oft  genötigt,  ihre  Behauptungen  abzuändern,  weil  ge- 
fürchtet werde,  daß  der  Einfluß  auf  die  öffentliche  Meinung  ungünstig 
auf  irgendwelches  Geschäft  wirken  möge,  woran  der  Besitzer  der 
Zeitung  beteiligt  sei.  „Wir  werden  niemals  eine  in  ihren  Kundgebungen 
über  Probleme  des  öffentlichen  Lebens  durchaus  unabhängige  Zeitung 
haben,  ehe  wir  eine  Zeitung  haben,  die  schlechthin  unabhängig  von 
ihrer  Auflage  und  von  ihrem  Annoncengeschäft  ist." 


Die  Öffentliche  Meinung.  —  Vui^gäre  Erscheinung  usw.  185 

In  derselben  wissenschaftlichen  Zeitschrift  warf  im  Jahre  1909 
ein  »unabhängiger  JoumaHst«  aus  Chicago  die  Frage  auf:  ,,Ist  eine 
ehrliche  und  vernünftige  Tagespresse  möglich?^'  Obgleich  er  eine 
verhältnismäßig  günstige  Ansicht  über  diese  »MögUchkeit«  hegt,  so 
ist  doch  seine  Darstellung  der  amerikanischen  WirkUchkeit  über- 
wiegend grau  in  grau,  und  in  den  meisten  Beziehungen  darf  die  Tages- 
presse anderer  Länder  das  De  te  sich  sagen  lassen.  Was  er  anklagt, 
ist  I.  das  »Fegen«,  wie  es  in  großen  Zeitungen  üblich  sei;  es  nehme 
\'iele  Formen  an,  nicht  alle  seien  schlechterdings  unmoralisch,  aber 
alle  beleidigend  und  unentschuldbar.  Verstanden  wird  darunter  die 
Effekthascherei  im  Suchen  nach  Aufsehen  erregenden  Neuigkeiten, 
das  Aufbauschen  irgendwelcher  Vorkommnisse,  insbesondere  durch 
grobe  Triviahsierung  und  Übertreibung  irgendwelcher  von  einem 
hervorragenden  Manne  öffentHch  getanen  Äußerungen,  die  Aus- 
beutung oberflächHcher  Berichte,  Behandlimg  von  Gerüchten  als 
Tatsachen,  die  »Vergelbung«  wissenschaftlicher  Gegenstände  u.dgl.m., 
2.  die  unehrHche  Behandlung  poHtischer,  industrieller,  sozialer  imd 
anderer  bestrittener  Gegenstände.  „Es  ist  durchaus  wahr,  daß  es 
keinen  höheren  und  gerechteren  Gerichtshof  gibt,  als  die  aufgeklärte 
öffenthche  Meinimg  und  keine  bessere  Regierung,  als  Regierung 
durch  Debatte.  Aber  öffentliche  Meinung  kann  nicht  zur  auf- 
geklärten werden,  und  Debatte  kann  nicht  ersprießHch  sein,  wo  in 
der  Presse  die  Tatsachen  umgekehrt,  verdreht,  unterdrückt,  gauk- 
lerisch hin-  und  hergeworfen  werden.  Und  es  gibt  Zeiten  und  Gelegen- 
heiten —  Feldzüge,  Streiks,  Verfolgungen  —  wo  die  Zeitungen,  weit 
entfernt,  immittelbar  oder  mittelbar,  für  Rechthchkeit,  für  Vernunft, 
für  wesentliche  Gerechtigkeit  zu  arbeiten,  verzweifelte  Anstrengungen 
zu  machen  scheinen,  die  ruhige  Überlegung  zu  verdunkeln  und  Ver- 
worrenheit schlimmer  zu  verwirren."  In  vielen  amerikanischen 
Zeitungen  sei  kein  Unterschied  mehr  zwischen  dem  Nachrichtenteil 
und  den  Leitartikeln;  schon  in  jenem  werden  die  Tatsachen  »melo- 
dramatisiert«,  d.  h.  mit  phantastischem  Stoff  aufgepolstert.  Aber 
auch  3.  der  Leitartikel  hat  seine  schweren  Gebrechen.  Es  wird  gefehlt 
durch  Tun  und  durch  Unterlassen,  durch  Reden  und  durch  Schweigen, 
und  es  ist  schlimmer  damit  geworden.  „Es  gibt  Zeitungen,  die  als  die 
Sonderorgane  besonderer  Interessen,  der  Plutokratie,  des  Privilegs 
und  des  Monopols  dienen,  Zeitungen,  von  denen  man  keine  oder 
geringe  Rentabilität  erwartet,  sofern  sie  bloße  Anhängsel  für  die 
Spekulation,  für  »rasende  Finanz«  oder  ausbeuterische,  in  den  Formen 
des  Rechtes  sich  bewegende  Unternehmungen."  Ehrliche  Erörterung 
oder  auch  nur  ehrliche  Behandlung  von  Neuigkeiten  könne  natürlich 
von  2ieitungen  dieser  Art  niemals  erwartet  werden.     Der  Einfluß 


l86  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchnen  Meinung. 

mächtiger  Inserenten  sei  jedenfalls  —  in  Amerika  wie  in  England  — 
durch  und  durch  verderblich.  Dem  Geiz  des  Publikums,  das  die 
Zeitungen  allzu  billig  haben  wolle,  wird  ein  gut  Teil  Schuld  beige- 
messen. Die  offene  imd  versteckte  Unsittlichkeit  des  Annoncenteils 
ist  ein  Kapitel  für  sich.  Aber  allzu  viele  Zeitungen  annoncieren  sich 
selber  auch  in  ihren  I^eitartikeln  und  machen  Reklame  für  sich  wie 
für  alles  mögliche,  insbesondere  auch  für  neue  Romane  —  nach  den 
Zeitimgen  zu  urteilen  gibt  es  jeden  Monat  mindestens  ein  Dutzend 
Meisterwerke!  Die  Phraseologie  ist  immer  geschwollen,  üppig,  wort- 
reich, geschmacklos.  Schlimmer  als  die  eigentliche  gelbe  Presse  sind 
die  gelben  Streifen  und  die  gelben  Praktiken  in  der  anständigen 
»weißen«  Presse.  Die  Reinigung  des  Annoncenteils  ist  das  schwierigste 
Stück  in  der  herkulischen  Aufgabe,  ein  wirklich  sauberes  Zeitungs- 
wesen herzusteUen.  Auf  die  Dauer  würde  aber  hier,  wie  sonst, 
die  Sauberkeit  und  Ehrlichkeit  sich  bezahlt  machen.  „Redakteure, 
die  so  bereit  sind,  der  öffentlichen  Meinung  Vertrauen  zu  schenken 
in  politischen  und  wirtschaftlichen  Streitfragen,  sollten  ihr  aber 
auch  vertrauen  in  bezug  auf  Anerkennung  eines  guten  Journalismus." 
„Die  Zeitungen,  sogar  die  schlechtesten,  haben  so  viel  getan  für 
moralische  und  politische  Reform,  bewußter  und  unbewußter,  ab- 
sichtlicher und  unabsichtHcher  Weise,  daß  sie  wohl  auch  etwas  für 
ihre  eigene  Hebung  und  Verbesserung  tun  könnten."  —  In  der  Tat 
ist  man  in  den  Vereinigten  Staaten  beflissen,  durch  besondere  An- 
stalten die  geistig-sitthche  Ausbildung  der  Journalisten  zu  verbessern; 
Geldmittel  wurden  in  Menge  dafür  aufgebracht.  Der  Soziologe 
E.  A.  Ross  (Wisconsin)  stellte  vor  kurzem  —  in  der  International 
Ethical  Review,  April  1920  —  fest,  es  seien  mehr  als  40  Schulen  und 
Kurse  für  Journalisten  innerhalb  der  letzten  15  Jahre  entstanden, 
und  .  .  .  „die  heimliche  Preisgebung  der  Zeitung  an  die  Geschäfts- 
interessen ist  noch  niemals  so  allgemein  gewesen  wie  jetzt".  Man 
darf  sagen,  daß  wenigstens  in  den  Staaten  über  den  Wert  oder  Unwert 
ihrer  Tagespresse  die  öffentliche  Meinung  in  einigem  Maße  dick- 
flüssig geworden  ist.  Daß  sie  aber  die  Zeitungen  und  ihre  Autoren 
oder  Verleger  oder  anderen  Interessenten  zur  Einkehr  und  Besserung 
veranlassen  oder  gar  nötigen  werde,  ist  mindestens  in  dem  Verhältnis 
unwahrscheinlich,  als  die  öffentUche  Meinung  des  Tages  durch  eben 
dieselben  Zeitungen  »gemacht«  wird.  Mag  jene  dick-flüssige  Meinung 
immer  die  Presse  verneinen  oder  wenigstens  ihr  mit  Zweifel  und  Miß- 
trauen gegenüberstehen  —  die  luftige  öffentliche  Meinung  bleibt  von 
der  Presse  abhängig  und  läßt  sich  von  ihr  irreführen,  betrügen,  ver- 
giften und  verderben.  Dies  gilt  freilich  zunächst  und  vorzugsweise 
von  der  parteiischen  Meinung,  die  also  nur  je  einen  Teil,  wenn  auch 


Die  Öffentliche  Meinung.  —  Vui^gäre  Erscheinung  usw.  187 

vielleicht  den  überwiegenden  Teil,  der  öffentlichen  Meinung  in  sich 
darstellt  und  kundgibt.  Aber  als  überwiegender  Teil  kann  sie  auch  die 
öffentliche  Meinung  werden,  imd  das  ist  ein  häufiger  Fall  im  politischen 
Leben.  Sei  es,  daß  die  Presse  einmal  mit  sich  einig  ist,  oder  daß  eine 
Parteimeinung  auf  schwachen  Widerstand  stößt  und  sich  als  die  maß- 
gebende durchsetzt.  Mit  sich  einig  wird  die  Presse  naturgemäß  sein, 
wenn  es  um  ihre  eigenen  Angelegenheiten,  die  man  auch  ihre  Privilegien 
nennen  kann,  sich  handelt  —  z.  B.  einem  drohenden  Gesetze  gegen- 
über, das  ein  staathches  oder  kommunales  Inseratenmonopol  ein- 
führen wollte.  Einig  wird  sie  auch  sein,  wenn  eine  hinlänglich  starke 
öffentliche  Meinung  hinter  ihr  steht,  von  deren  Strom  sie  getragen 
wird;  so  in  offenbaren  patriotischen  Angelegenheiten.  Diese  Ein- 
mütigkeit hindert  aber  nicht,  begünstigt  vielmehr,  daß  ein  großer  Teil, 
ja  vielleicht  die  gesamte  öffentliche  Meinung  durch  einen  Teil  der 
Presse  und  deren  Hintermänner,  seien  es  Minister  oder  Parteiführer, 
belogen  und  angeführt  wird.  Kein  Publikum  scheint  so  kritiklos  wie 
das  englische  diesen  Einflüssen  sich  hinzugeben;  das  amerikanische 
nimmt  immerhin  die  Zeitungen  weniger  ernst.  In  einer  artigen  Satire 
beschrieb  neulich  Georg  Brandes  den  politischen  Brüllaffen,  der  mit 
Vorliebe  als  sog.  öffentliche  Meinung  in  der  Tagespresse  auftrete,  wo 
er  dann  nicht  mehr  über  eine  .  .  .  sondern  wenn  er  Lord  Northci^iffe 
heißt,  gar  über  mehrere  Millionen  von  Stimmen  verfügt.  „Er  bringt 
mit  ihnen  ein  so  fürchterliches  Gebrüll  hervor,  daß  kein  Laut  der  Welt 
sich  damit  zu  messen  vermöchte,  und  Vernunft  und  gesunder 
Menschenverstand  in  panischem  Schrecken  die  Flucht  ergreifen." 
In  einem  Artikel,  der  wie  eine  Ahnung  am  18.  Juli  1914  im  t^New 
Statesmana  erschien,  wird  berichtet,  wie  die  Times  durch  Northcuffe 
ein  gefährhches  Beispiel  des  Feuilleton-Geistes  geworden  sei,  des 
Geistes,  der  die  Stunden  nicht  nach  Glockenschlägen,  sondern  nach 
dem  Fallen  sensationeller  Vorhänge  zähle. 

20.  (Zusammenhang  mit  den  Aggregatzuständen  der  öffentlichen 
Meinung.)  Wenn  die  Tagespresse  naturgemäß  am  stärksten  auf  die 
luftartige  öffentliche  Meinung  des  Tages  wirkt  und  diese  gleichsam 
vor  sich  her  treibt,  wenn  sie  nicht  von  ihr  getrieben  wird,  so  ist  die 
Schlußfolgerung  gegeben,  daß  die  dichteren  Gestalten  in  einem 
ähnlichen  Zusammenhange  und  in  Wechselwirkung  mit  anderer, 
soliderer  Literatur  stehen  möchten;  und  dies  ist  wirklich  der  Fall. 
Es  sind  sich  verengernde  Kreise  des  lesenden  Pubhkums,  die  Wochen- 
blätter, Monatsschriften,  Vierteljahrsschriften  und  Flugschriften, 
endlich  sogar  Bücher  gewohnheitsmäßig  lesen;  und  je  enger  der 
Kreis,  um  so  mehr  prägt  er  in  sich  einen  wissenschaftlichen 
Typus  aus,  er  repräsentiert  um  so  mehr  Sektoren  der  »Gelehrten- 


l88  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

republik«,  die  in  einem  Lande  und  in  der  »Welt«  gleichsam  die  höchste 
Instanz  der  öffentlichen  Meinung  darstellt.  Die  Meinung  selber 
gewinnt  an  Solidität,  also  an  Widerstandskraft,  sie  hat  aber  weniger 
das  Bedürfnis,  sich  mit  lautem  Getöse  kundzugeben.  Man  darf  als 
Normalfall  vorstellen,  daß  die  Meinungen  dieser  Kreise,  und  daß 
folglich  auch  die  Aggregatzustände  der  Meinung  übereinstimmen; 
aber  sie  können  auch  auseinandergehen  und  einander  widerstreiten. 
Die  luftartige  öffentliche  Meinung  ist  es,  die  gewöhnlich  als  solche 
angesprochen  wird;  sie  hält  sich  selber  für  die  einzige  und  die  wahre 
öffentliche  Meinung  und  wird  zumeist  auch  dafür  gehalten.  Man 
lebt  in  ihr,  man  atmet  sie  ein,  man  fühlt  sie  in  der  Haut  wie  Kälte 
und  Wärme.  Die  dichteren  Arten  der  öffentlichen  Meinung  liegen 
tiefer  in  Herz  und  Hirn,  also  in  der  Seele.  Sie  sind  ihrem  Wesen  nach 
dauerhafter,  sie  überleben  den  Wechsel  der  Temperatur,  sie  bewirken 
aber  auch  den  Umschlag  des  Wetters.  Das  gilt  für  das  soziale  wie  für 
das  individuelle  Bewußtsein,  es  gilt  für  soziale  Teilmeinungen,  also  für 
diejenigen  einer  Partei,  wie  für  die  öffentliche  Meinung.  Innerhalb 
einer  Parteigesinnung  und  Bestrebung  gibt  ein  gutes  Beispiel  ab  der 
»Antisemitismus«.  Er  ist  für  die  sog.  deutsch -nationale,  ehemals 
deutsch-konservative  Partei,  mehr  als  eine  flüchtige  Tagesmeinung;  die 
festen  Überzeugungen  sehr  vieler  Mitglieder  halten  ihn  im  Flusse, 
und  dieser  Strom  tritt  bei  Gelegenheit  von  öffentlichen  Wahlen  über 
seine  Ufer.  Aber  er  kann  nicht  eine  feste  Parteimeinung,  nicht  ein 
eigentlicher  Punkt  des  Programms  werden;  vielmehr  ist  der  feste 
Kern  des  Programms  ihm  entgegen.  Dieser  will  und  soll  positiv- 
christlich sein;  das  positive  Christentum  kann  wenigstens  getaufte 
Juden  nicht  verwerfen.  Auch  ist  die  Parteikasse  schwerlich  stark 
genug,  um  die  Beiträge  solcher  abzustoßen.  Ferner  ist  es  als  Tatsache 
bekannt,  daß  die  einzige  philosophische  Begründung,  die  der  preußische 
Konservativismus  für  sich  gefunden  hat,  von  dem  getauften  Juden 
Stahi,  herrührt.  Nur  ein  enger  Kreis  innerhalb  der  Partei  denkt  und 
weiß  solche  Dinge.  Aber  er  ist  doch  einflußreich  genug,  um  un- 
besonnenen Meinungsflüssen  und  Meinungsblasen  zu  wehren.  Ähn- 
liche Beobachtungen  lassen  sich  auch  in  der  einheitlichen  öffent- 
lichen Meinung  eines  ganzen  I^andes  machen.  So  war  im  Deutschen 
Reiche  während  der  3  Jahre  1918 — 1921  die  öffentliche  Meinung  des 
Tages  ohne  Zweifel  jedesmal  für  Ablehnung  der  unerhörten  Zu- 
mutungen, die  von  der  sog.  Entente  an  die  Bewilligung  des  Waffen- 
stillstandes, des  Friedens  und  endlich  zu  mehreren  Malen  an  die 
bloße  Gunst  der  Festlegung  des  Maßes  der  aufgezwungenen  I^ei- 
stungen  geknüpft  wurden.  Die  zunächst  latent  bleibende,  aber 
festere   öffentliche   Meinung   wußte    wohl,    daß    einer    versklavten 


Die  öffentliche  äIeinung.  —  Höhere  Erscheinungex  usw.       189 

Nation,  wie  einem  Manne,  der  unter  die  Räuber  gefallen  ist,  nur  die 
Wahl  gestellt  ist  zwischen  Verlust  der  Börse  oder  des  I^ebens,  und  daß 
von  vielen  Millionen,  unter  denen  Frauen,  Kinder  und  Greise  die 
große  Mehrheit  bilden,  nicht  verlangt  werden  kann,  daß  sie  den  Tod 
der  Schmach  und  Verarmung  vorziehen.  Dies  Bewußtsein  trat  in 
den  Beschlüssen  der  Nationalversammlimg  und  des  Reichstages  ans 
Licht,  imd  die  Dissentierenden  konnten  die  Verantwortung  für  ihr 
Nein  leicht  tragen,  da  sie  nur  diese  Verantwortimg  zu  tragen  hatten. 
Im  tieferen  Grunde  war  die  siegreiche  Meinung  auch  ihre,  wenngleich 
latent  bleibende  Meinimg,  und  sie  wäre  früher  oder  später  als  die 
öffentUche  Meinung  zutage  getreten,  wenn  sie  nicht  als  unterliegende 
in  der  Opposition,  sondern  als  verantwortUche  an  der  Regierung 
gewesen  wäre.  Vielleicht  wäre  sie  aber  auch  dann  nur  durch  stahlharte 
Tatsachen  bekehrbar  oder  zum  Eingeständnis  ihres  Irrtums  bewegbar 
gewesen.  An  diesen  harten  Tatsachen  hätten  die  angeblichen  Vor- 
kämpfer des  »Rechts«,  der  »Freiheit«,  der  »Zivilisation«,  die  alten 
Bundesgenossen  des  Zarismus,  es  sicherlich  nicht  fehlen  lassen. 

Vierter  Abschnitt.  Höhere  Erscheinungen 
der  öffentlichen  Meinung. 

21.  (Ausdrucksformen  und  Ausdrucksmittel  der  öffentlichen  Mei- 
nung nach  W.  Bauer.)  „Das  ist  eben  die  Art  der  öffentlichen  Meinung, 
die  sie  vermutUch  mit  den  meisten  geistigen  Mächten  gemeinsam  hat, 
daß  sie  nämlich  dort,  wo  sie  auf  die  Öffentlichkeit  als  handelnde 
Kraft  wirkt,  gleichzeitig  von  ihr  neue  Antriebe  empfängt.  Sie  birgt 
die  verschiedensten  Einzelkräfte  in  sich,  die,  sobald  die  öffentliche 
Meinung  irgendwie  zum  Ausdruck  kommt,  frei  werden  und  in  ver- 
stärkender, bisweilen  aber  auch  in  abschwächender  Weise  auf  sie 
Einfluß  gewinnen.  Alles,  was  sie  hervorbringt  und  leistet,  wirkt  auf 
sie  selber  zurück,  deshalb  hat  sie  stets  etwas  Werbendes  an  sich.  Wie 
mit  Fangarmen  greift  sie  nach  neuen  Anhängern,  aber,  indem  sie 
solche  erhascht,  keimt  in  ihr  schon  der  Same  zu  neuen  Gestaltungen, 
denn  jeder  Neue  reiht  neue  Gedankenteilchen  an  den  alten  Besitz. 
Deshalb  gibt  es  auch  keine  Form,  in  der  sich  die  öffentHche  Meinung 
bewußt  kundgibt,  die  nicht  zugleich  eine  Werbung  enthielte.  Ja,  der 
Gradmesser  für  die  Gewalt  ihrer  Äußerungen  Hegt  geradezu  in  der 
Stärke  ihrer  Anziehungskraft,  mit  der  sie  sich  ihr  Gefolge  gewinnt. 

Diese  auf  Meinimgswerbung  augelegten  Kundgebungen,  die  wir 
Publizistik  nennen,  weil  es  zu  ihren  Hauptzielen  gehört,  die  Öffentlich- 
keit in  Bewegung  zu  bringen  und  auf  ihre  Seite  zu  ziehen,  gedeihen 
natürlicli  am  vorzüglichsten  in  unruhigen  Zeiten.  Um  nun  ihrer 
Anhänger  si'  bleiben  und  lu  n  aizichen,  gefällt  sie  sich, 


igo  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

zu  erscheinen,  als  ob  der  Inhalt  ihrer  Äußerungen  die  öffentliche 
Meinung  selber  sei.  Dieser  Deckmantel  berückt  oft  auch  spätere 
Kritiker,  die  ebenfalls  die  Erzeugnisse  der  Publizistik  mit  der  öffent- 
Hchen  Meinung  identifizieren.  Man  darf  eben  nie  aus  den  Augen 
lassen,  daß  alle  diese  agitatorischen  Äußerungen  bloß  dem  rationalen 
Teile  der  öffentlichen  Meinung  entsprechen  und  durch  ihre  offene 
oder  verhüllte  Werbeform  ungebührlich  überschätzt  werden.  Alle 
Agitation  muß  täuschen,  muß  die  schwachen  Seiten  ihres  Programms 
verdecken,  die  Irrtümer  der  Gegner  absichtlich  vergrößern,  die  Gegen- 
sätze, wo  es  sein  muß,  verschärfen  oder  abschwächen.  Nicht  der 
Wille  zur  Wahrheit,  sondern  die  Absicht  zu  wirken,  und  zwar  nach 
außen  hin  zu  wirken,  kennzeichnen  das  Wesen  der  Publizistik,  womit 
nicht  gesagt  sein  soll,  daß  ihre  Erzeugnisse  nicht  bisweilen  innerlich 
wahrer  sein  können  als  irgendeine  wissenschaftliche  Feststellimg. 

Publizistik  und  Publizistik  ist  nicht  immer  dasselbe.  Auch  hierin 
lassen  sich  genauere  Unterschiede  feststellen,  die  sowohl  für  die 
praktische  wie  auch  für  die  historische  Wertung  von  Belang  sind. 
Um  nämlich  zu  einem  halbwegs  sicheren  Urteil  zu  gelangen,  muß 
jedesmal  untersucht  werden,  in  welchem  persönlichen  Verhältnis  der 
Publizist  zu  seinem  Werke  steht. 

Das  ursprünglichste  und  natürlichste  ist  es,  wenn  er  sein  eigenes 
Urteil,  seifie  eigene  Anschauung  vertritt,  ohne  jede  äußere  Neben- 
absicht, einzig  und  allein  aus  der  inneren  Notwendigkeit  seiner 
Überzeugung.  Daß  er  sich  in  der  Beweisführung  etwa  den  Meinungen 
der  anderen  in  einem  oder  anderem  Punkte  anbequemt,  verschlägt 
hierbei  nichts  oder  wenig. 

Einen  anderen  Charakter  trägt  die  Publizistik,  wenn  sich  nach- 
weisen läßt,  daß  sie  von  vornherein,  nicht  bloß  in  der  Anführung 
der  Gründe,  sondern  in  ihrer  ganzen  Absicht,  in  ihrem  ganzen  Aufbau, 
Antrieben  von  außen  her  gefolgt  ist.  Etwa  um  materieller  Vorteile 
willen,  um  die  Gunst  eines  Mächtigen  zu  gewinnen  oder  sei  es  auch 
nur,  eine  Eitelkeit  oder  persönlichen  Haß  zu  befriedigen,  derentwegen 
man  die  eigene  wirkliche  Gesinnung  beugt  und'  verhüllt. 

Neben  diesen  beiden  Arten  agitatorischen  Schaffens  und  mit 
diesen  aufs  engste  ver woben,  lassen  sich  jedoch  noch  weitere  Unter- 
schiede erkennen.  Es  ist  nicht  ganz  gleichgültig,  ob  der  Publizist 
mit  seinem  Schaffen  nur  an  eine  bestimmte  Gelegenheit  anknüpft, 
oder  aber,  ob  er  das  Wirken  auf  die  öffentliche  Meinung  zu  seinem 
Gewerbe  gemacht  hat.  Gerade  diese  letztere  Erscheinung  wirkt  auch 
auf  die  Gestaltung  der  öffentlichen  Meinung  selbst  zurück.  Sie 
hängt  aber  auch  mit  politischen  Verhältnissen  zusammen,  ist  sie  doch 
eine  ständige  Begleiterscheinung  demokratischer  Ver fassrmgsformen." 


D  I  E    ÖFFENTUCHE    IvlEINUNG.    —    HÖHERE    ERSCHEINUNGEN   USW. 


191 


(Wilhelm  Bauer,  Die  öffentliche  Meinung  und  ihre  geschichtlichen 
Grundlagen.    Ein  Versuch.   Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr,  1914,  S.  153 f.). 

Diese  Ausführungen  sind  vortreffHch,  obgleich  sie  nicht  zwischen 
öffentHcher  Meinung  und  »der«  öffentlichen  Meinung  unterscheiden. 
Sie  gelten  für  die  eine  wie  für  die  andere,  wenn  auch  zunächst  und  vor- 
zugsweise nur  für  die  öffentliche  Meinung.  Diese  ist  eine  Mannigfaltig- 
keit von  Agitation,  die  in  der  Publizistik  aller  Art  ihre  lebendigste 
Gestaltung  findet,  aber  nicht  die  einzige.  Bauer  fährt  fort  (a.  a.  O.): 
„Bisher  war  nur  von  den  Kundgebungen  der  öffentlichen  Meinung 
im  allgemeinen  die  Rede,  nicht  aber  von  den  Ausdrucks  mittein, 
in  denen  diese  sich  äußern.  Da  sei  denn  gleich  vorweggenommen, 
daß  nichts,  womit  Mensch  auf  Menschen  Eindruck  zu  machen  vermag, 
in  ihrem  Bereiche  fehlt.  Die  Gebärde,  das  Bild,  die  Sprache,  die 
Schrift,  die  Tat,  das  sind  so  ungefähr  die  Grundformen,  aber  fast 
jede  von  ihnen  kann  noch  weiter  verstärkt  und  in  ihrer  Wirkung 
eindrucksreicher  werden.  Die  Sprache  wird  es  in  der  kunstvoll  ge- 
formten Rede  oder  im  Liede,  die  Schrift  durch  die  Vervielfältigung 
im  Druck,  das  Bild  durch  künstlerische  Vervollkommnung,  die  Tat 
durch  die  W^eihe  idealer  Ziele,  durch  Hingabe  des  Handelnden  selbst. 
Diese  Ausdrucksmittel  existieren  nicht  für  sich,  sind  nicht  starr  und 
unveränderUch,  sondern  werden  von  denselben  Faktoren  mitbestimmt, 
die  für  die  Entstehung  und  Bildung  einer  öffentlichen  Meinung  selbst 
in  Frage  kommen.  Deshalb  läßt  sich  auch  im  allgemeinen  kein  ab- 
soluter Wertmaßstab  ihrer  Wirkungskraft  aufstellen.  Es  gibt  Zeiten 
und  Völker,  die  dem  Einflüsse  der  Rede  zugänglicher  sind  als  dem 
gedruckten  Worte,  während  andere  sich  ganz  dem  Eindrucke  der 
mit  beweglichen  I^ettern  vervielfältigten  Schrift  hingeben.  —  In 
unserer  im  Zeichen  der  Technik  stehenden  Gegenwart  läßt  sich  eine 
genaue  Scheidung  der  Ausdrucksmittel  fast  überhaupt  nicht  mehr 
vornehmen.  Sie  alle  fließen  zusammen  in  die  große  Propaganda- 
organisation, wie  sie  heutzutage  jede  bedeutendere  geistige  Bewegung 
sich  zu  eigen  macht"  (das.  S.  154  f.). 

Bauer  stellt  zunächst  in  einem  großen  Kapitel  die  »mündHchen 
Ausdnicksraittel«  der  öffentlichen  Meinung  dar,  dann  in  einem 
größeren  KÜe  Ausdrucksmittel  der  öffentlichen  Meinung  in  Schrift 
und  Druck«.  Dort  wird  die  Rede  und  die  Dichtung,  besonders  die 
lyrische,  in  ihren  historisch  bedeutsamen  Wirkungen  dargestellt; 
dann  das  religiös  betonte  Wort  im  Altertum,  die  Missions-  und  die 
Erbauungspredigt  im  Mittelalter  und  neuerer  Zeit,  sodann  die  Staats- 
rede, Wahlrede,  Kammerrede ;  die  fortlebende  Macht  des  gesprochenen 
Wortes  in  der  Schule;  das  Gespräch,  der  Salon,  (Kt  Verkehr  überhaupt. 
Als  besonders  interessante  Ausdrucksform  wird  noch  das  Drama 


192  Begriff  und  Theorie  der  öffenti^ichen  Meinung. 


vorgeführt  tind  durch  die  Zeiten  begleitet.  „Der  Beifall  war  zu  einem 
Ausdrucksmittel  politischer  Meinungen  geworden**  (S.  187:  im  Frank- 
reich vor  1789).  „Alles,  was  sich  an  religiösen,  an  poHtischen  und 
nationalen,  an  gesellschaftlichen,  ja  sogar  wissenschaftUchen,  was 
sich  an  sittlichen  Idealen  in  den  Köpfen  einer  Zeit  regt,  spiegelt  sich 
in  der  dramatischen  I^iteratur  wider"  (189).  Wie  der  Beifall,  so  kann 
auch  das  Zischen  und  die  Ablehnung  eines  Stückes  zuweilen  Ausdruck 
einer  öffentlichen  Meinung  sein^).  Schrift  und  Druck  —  so  führt  das 
6.  Kapitel  aus  —  sind  als  Ausdrucksmittel  nur  graduell  verschieden.  Die 
Rede  fHeßt  in  sie  hinüber,  so  auch  der  Dialog,  der  als  lyiteraturgattung 
in  der  Antike,  im  Mittelalter  und  der  Renaissance  so  große  Bedeutung 
gewann;  auch  der  Brief  ist  Ersatz  der  mündlichen  Rede.  Die  agita- 
torische Schriftstellerei  hat  sich  aber  immer  besonders  gern  der 
poetischen  Formen  bedient;  stark  hat  in  dieser  Hinsicht  das  Spottlied, 
die  Satire,  gewirkt.  Man  hat  die  GöttHche  Komödie  übertreibend 
»eine  große  satirische  Weissagung  in  Form  einer  Vision«  genannt.  In 
unruhigen  Zeiten  schaffen  sich  Unzufriedenheit  und  Spott  überall 
Luft  und  Raum;  auch  die  Mauern  und  Anschlagsäulen  werden  ge- 
sprächig. Immer  wirkt  die  Verbreitung  von  Reden  und  Briefen  auf 
die  Bildung  von  Meinungen.  Der  Humanismus  hat  dem  Brief  zu  einer 
ungeahnten  Blüte  verholfen.  Auch  politische  Bedeutung  heftet  sich 
mehr  und  mehr  daran,  besonders  an  die  Berichte  der  Gesandten, 
aber  auch  an  Privatbriefe.  Da  trifft  man  auf  eine  der  Wurzeln  des 
Zeitung  Wesens.  Flugschriften  entstehen  aus  Briefen,  wirklichen 
und  fingierten.  Durch  Rundschreiben  und  Manifeste  teilen  die 
Träger  geistlicher  und  weltlicher  Macht  die  Beweggründe  ihres 
Handelns  mit.  Wie  die  Kunst  durch  Bauten,  Bildwerke,  Denkmäler, 
so  ziehen  sie  auch  die  Literatur  in  ihren  Dienst,  insbesondere  die 
Historie:  bald  gab  es  offiziöse  Geschichtsschreiber  und  die  Wissen- 
schaftlichkeit der  Historie  hat  erst  dadurch  sich  bewährt,  daß  sie 
aller  ( ?)   publizistischen  Elemente   sich   entledigte.     Auch   von   der 

^)  Die  Bedeutung  des  Dramas  als  Mittel  einer  Agitation  und  Propaganda,  daher 
auch  für  die  öffentliche  Meinung,  würde  eine  Monographie  erfordern,  um  völlig  ge- 
würdigt zu  werden.  Die  Rolle,  die  dem  Beaumarchais  sehen  Lustspiel  als  einem 
Donnergrollen  vor  der  großen  Revolution  zufiel,  wird  in  späterem  Zusammenhange 
gewürdigt  werden.  Es  gibt  aber  manche  andere  interessante  Beispiele.  Je  weniger  die 
offenen  Ausdrucksmittel  geduldet  werden,  um  so  mehr  werden  die  versteckten  an- 
gewandt. In  Rußland  unter  Nikolai  I.  galten  »  Kunst,  I/iteratur  und  Dichtung  als  mäch- 
tigste soziale  Hebel«,  Rußlands  größter  Kritiker  Bjelinski  vertrat  die  Anschauung, 
daß  dies  zu  ihrem  Wesen  gehöre.  ,,Es  erschien  (nach  Pypin)  nicht  seltsam,  ein  Schau- 
spiel für  die  Verteidigung  des  Freihandels  oder  ein  Gedicht  zum  lyobe  einer  ge- 
wissen Art  von  Steuern  zu  schreiben,  noch  daß  man  in  einer  Erzählung  seine 
staatlichen  Ansichten  darlegte,  während  der  Gegner  in  einem  l/ustspiele  dagegen 
stritt"  (HoETZscH,  Rußland  S.  63).  Auch  Schillers  Jugeuddramen  tragen  ja  durch- 
aus den  Charakter  von  Anklageschriften  gegen  die  Mächte  seines  Zeitalters. 


Die  Öffentwche  Meinung.  —  Höhere  Erscheinungen  usw.       193 

wissenschaftlichen    Behandlung    staatsrechtlicher,    politischer,    wirt- 
schaftlicher Fragen  unterscheidet  sich  die  publizistische  durch  ihre 
tendenziöse  Farbengebung,  wie  auch  dadurch,  daß  sie  immer  Ange- 
legenheiten ihrer  Gegenwart  aufgreift  und  zunächst  nur  auf  diese  zu 
wirken  bestrebt  ist.    An  Wendepunkten  des  geschichtlichen  Daseins 
gedeiht  diese  Literatur  am  üppigsten,  sie  zieht  und  verrät  ihre  Her- 
kunft aus  dem  Streit  des  Tages.    Bauer  geht  in  einem  lehrreichen 
Überblick  die  Literatur  der  Flugschriften  in  ihrer  geschichtlichen 
Entwicklung  von  den  hellenischen  Ursprüngen  des  modernen  Schrift- 
tums her  durch  (S.  221 — 262)  und  sagt  dann  über  ihr  Verhältnis  zur 
öffentlichen  Meinung,  die  Flugschrift  trage  nur  insoweit  kollektive 
Denkbestandteile  an  sich,  als  der  Verfasser  einer  solchen  Schrift  die 
Meinungen  und  Meinungsrichtimgen  teile,  die  in  seiner  Umgebung 
zur  Herrschaft  gelangt  sind.  Erst  durch  Vergleichung  aller  gleichzeitig 
erschienenen    Veröffentlichungen    dieser    Art   könne    das    Pamphlet 
oder  die  Broschüre  Quelle  für  die  Erkenntnis  der  öffentlichen  Meinung 
werden.    „Erst  indem  man  untersucht,  welche  Gedankengänge  sich 
am  öftesten  wiederholen,  wo  diese  an  ältere  anknüpfen,  wie  sie  zu 
neuen  weiterführen,  wird  man  zu  einem  Ergebnis  gelangen.  In  jedem 
Einzelfalle  ist  natürlich  auch  der  Nachweis  der  Verbreitung  der  ein- 
zelnen Flugschrift  von  Bedeutung."    Aber  auch  diese  sei  trügerisch. 
In  den  »gebildeten«  Kreisen,  als  durch  Wissen  und  gleichartige  wirt- 
schaftliche  Bedingungen   für   sich   abgesonderten,   bilden   sich   An- 
schauimgen  und  VorurteÜe,  „die  an  sich  vielleicht  nur  eine  Minderheit 
hegt  und  teilt,  die  aber  den  Anschein  gewinnen,  als  ob  sie  der  Gesamt- 
heit zu  eigen  seien,  weil  die  an  Ausdrucksmöglichkeiten  ärmere  Mehr- 
heit (das  gleiche  gilt  auch  von    anderen  Minderheiten!)   nicht 
zum  Worte  kommt  oder  sich  doch  nicht  in  entsprechender  Weise  ver- 
ständlich zu  machen  imstande  ist".   So  geht  die  Betrachtung  auf  die 
2Uiitung  über  (Kap.  7),  und  auf  die  historische  Entwicklung  ihrer  drei 
wesentlichen    Merkmale    Publizität,     Periodizität,    AktuaHtät.      In 
welchem  Verhältnisse  steht  die  Zeitung  zur  öffentHchen  Meinung? 
Das  Nachrichtenblatt,  das  Parteiblatt,  die  politische  Presse,  die  sich 
selbst  Partei  ist,  werden  unterschieden.  Die  Presse  läßt  die  öffentliche 
Meinung  auf  sich  wirken  und  formt  sie  auch  ihrerseits.    Die  wirt- 
schaftlichen Verhältnisse  zwingen  den  Zeitungsunternehmer   i.   auf 
die  Willensdispositionen  seiner  ständigen  Leser  und  seiner  Inserenten 
Rücksicht  zu  nehmen;  2.  sich  in  den  Mechanismus  der  großkapi- 
talistischen Organisationen  einzuordnen.    Der  Journalist  muß  wieder 
die   Interessen    des  Unternehmers   mit  denen   der   Partei   oder  der 
Regierung  ausgleichen  und  zugleich  immer  auf  das  Pubhkum  achten. 
Bestimmte   Analogien    bestehen    zwischen    Presse    und    öffentUcher 


194  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

Meinung,  aber  keine  Gleichheit.  Die  Wirkung  und  Bedeutung  der 
Zeitung  hatte  schon  im  17.  Jahrhundert  eine  gewisse  Blüte  erreicht; 
erst  die  französische  Revolution  brachte  eine  wahre  Zeitungsherr- 
schaft, die  sich  im  19.  Jahrhundert,  zumal  nachdem  die  Preßfreiheit 
durchgesetzt  war,  immer  mehr  steigerte.  Nun  ist  die  Presse  frei, 
aber  die  Journalisten  sind  es  nicht,  das  parteioffiziöse  Joch  lastet 
auf  ihnen  (Ausdruck  Brunhubers).  Außerdem  legen  die  Unter- 
nehmerverbindungen mit  ihren  Rücksichten  und  Beziehungen  der 
Preßfreiheit  schwere  Fesseln  an.  Die  Großorganisation  der  Nach- 
richtenzufuhr macht  den  Inhalt  der  Zeitungen  einförmig,  insbesondere 
die  Depeschenagenturen.  Im  Einzelfalle  ist  die  Meinungsfreiheit  ein- 
geschränkter als  je:  die  geistige  Einkreisung  der  Parteien  und  Berufs- 
verbände, der  Mangel  an  Bildung,  die  Gleichgültigkeit  gegen  öffentliche 
Angelegenheiten  schränken  auch  die  Wirksamkeit  der  Presse  ein. 
Ihre  eigentliche  Schwäche,  die  zugleich  ihre  Stärke  ist,  ruht  in  ihrer 
Herkunft  aus  der  städtischen  Kultur,  besonders  in  ihrem  groß- 
städtischen Wesen.  Es  gibt  auch  „eine  auf  Traditionen  sich  auf- 
bauende öffentliche  Meinung,  deren  Wurzeln  tiefer  in  den  Gemütern 
ruhen,  als  die  auf  dem  Neuigkeitenmarkt  flüchtig  eingetauschten 
Eingebungen*'  (S.  303).  Diese  also  wehrt  sich  gegen  die  Zeitungs- 
einflüsse, und  sie  ist  besonders  stark  unter  dem  Landvolk,  wo  die 
Presse  keine  so  bedeutende  Rolle  spielt.  Eine  besondere  Aufgabe  hat 
sie  als  Vermittlerin  zwischen  Volk  und  Regierung.  Jenes  sieht  im 
Grundsatze  der  Öffentlichkeit  die  sicherste  Gewähr  bürgerlicher 
Freiheit.  Aber  die  Zeitung  repräsentiert  nicht  die  gesamte  öffentliche 
Meinung  und  kann  auch  nicht  in  vollem  Umfange  Einfluß  auf  sie 
nehmen.  Eine  furchtbare  Waffe  besitzt  sie  durch  das  »Totschweigen«,, 
das  auch  gegen  das  Auftreten  politischer  Persönlichkeiten,  gegen  die 
Bekanntmachung  ernster  wissenschaftlicher  oder  künstlerischer  Werke 
sich  richtet.  Die  Ansätze  zur  Vertrustung  der  Meinungsübermittelung 
machen  Fortschritte  und  bald  wird  »Freigeist«  heißen  dürfen,  wer 
sich  dem  Meinungsmonopol  der  Presse  zu  entziehen  versucht.  —  An 
letzter  Stelle  betrachtet  Bauer  die  »Tat«  alö  Ausdrucksmittel  der 
öffentlichen  Meinung  (Kap.  8)  —  vor  allem  die  Politik  und  ihre  zu- 
gleich furchtbarste  und  großartigste  Erscheinungsform,  den  Krieg. 
Es  gibt  ein  Widerspiel  von  Krieg  und  Publizistik;  der  Krieg  ist  der 
Tod  jeglicher  Phrase.  Aber  die  öffentliche  Meinung  wirkt  stark  auf 
den  Krieg,  der  Krieg  auf  die  öffentliche  Meinung.  Das  gleiche  Wechsel- 
verhältnis auch  sonst  zwischen  Tat  und  Meinung.  Die  Berufspolitiker 
sind  die  Journalisten  der  Tat:  auch  sie  fragen  nicht  nach  dem  tat- 
sächlichen Wert  ihrer  Vorschläge  oder  Anträge,  sondern  lenken  ihre 
Bücke  einzig  auf  die  augenblickliche  öffentliche  Meinung.    Damit 


Die  öffentuche  Meinung.  —  Höhere  Erscheinungen  usw.       195 

werden  persönliche  und  politische  Momente  in  die  Gesetzgebung  und, 
was  noch  übler  ist,  in  die  innere  Verwaltung  oder  gar  in  die  Recht- 
sprechimg gebracht.  Wo  »der  rationale  Teil  der  öffentlichen  Meinung« 
zu  herrschen  beginnt,  da  offenbart  er  fast  immer,  daß  sein  innerstes 
Wesen  vorzüglich  negativ  wirkt;  dadurch  befördert  sie  oft  den  Fort- 
schritt. Die  moralisch  stärkeren  Autoritäten  wehren  sich  im  Kampfe 
gegen  sie.  Am  bedeutendsten  aber  ist  der  Kampf  des  einzelnen 
Menschen,  der  durch  sein  Tun  wirkt,  gegen  die  öffentliche  Meinung, 
die  ihm  früher  oder  später  folgen  muß,  besonders  also  des  großen 
Staatsmanns^). 

22.  (Ergänzungen.)  Ich  teile  diesen  Auszug  aus  der  Schrift  Bauers 
mit,  weil  ich  diese  Kapitel  als  vorgetane  Arbeit  schätze  und  der  Auf- 
merksamkeit derer  empfehle,  die  das  Wesen  der  öffentlichen  Meinung 
erforschen  wollen.  Einige  darin  enthaltene  Gedanken  glaube  ich  durch 
meine  Unterscheidungen  i.  der  Aggregatzustände  der  öffentlichen 
Meinung  (wie  der  Meinungen  überhaupt),  2.  der  öffentlichen  Meinung 
imd  »der«  öffentlichen  Meinung  fester  begründet  zu  haben.  Ferner 
aber  möchten  zur  Ergänzung  noch  folgende  Bemerkungen  sich 
anknüpfen  lassen: 

I.  Bauer  hat  selber  darauf  hingewiesen,  daß  er  die  »bildenden 
Künste«  als  Ausdrucksmittel  der  öffentlichen  Meinung  übergangen 
habe.  In  Wahrheit  ist  die  gesamte  Publizistik,  zumal  deren  niedere 
und  am  meisten  verbreitete  Gattung,  nicht  mehr  denkbar  ohne  die 
»Illustration«.  Wie  das  Bild  älter  ist  als  die  aus  ihm  entstandenen 
Schriftzeichen,  so  behält  es  auch  seine  Reize  für  die  Welt  der  I^eser, 
zumal  für  den  weiblichen  und  jugendlichen  Teil,  der  schaulustig,  aber 
nicht  denklustig  ist.  Ehemals  den  Monats-  und  Wochen-Zeitschriften 
vorbehalten,  ist  der  Holzschnitt  und  Holzstich,  mechanisch  der 
unendlichen  Vervielfältigung  fähig,  längst  auch  in  die  Tageszeitungen 


>)  Es  ist  ein  Verdienst  lebender  deutscher  Historiker,  auf  die  Bedeutung  von 
Flugschriften  und  Tagespresse  als  von  Urkunden  geistiger  Bewegung,  politischer 
Kontroversen,  sozialer  Entwicklungen  hingewiesen  und  ihre  Schüler  veranlaßt  zu  haben. 
diese  Urkunden,  die  dadurch  mittelbar  zur  Geschichtsquelle  wurden,  zu  studieren. 
Wir  verdanken  diesen  Studien  eine  Reihe  von  brauchbaren  Untersuchungen,  z.  B. 
Gustav  Körner,  Die  norddeutsche  Publizistik  und  die  Reichsgründung  im  Jahre 
1870.  Otto  Ba.vdmann,  Die  deutsche  Presse  und  die  Entwicklung  der  deutschen 
Frage  i86.|— 66.  Ll.sA  Kulenkampkf,  Der  erste  vereinigte  preußische  Landtag  1847 
und  die  Öffentliche  Meinung  Südwestdeutschlands.  Theodor  Scheffer,  Die  preußische 
Publizistik  im  Jahre  i«.59  unter  dem  Einfluß  des  italienischen  Krieges.  Ein  Beitrag 
zm  Geschichte  der  öffentlichen  Meinung  in  Deutschland.  Annie  Mittei.sTaedt, 
Der  Krieg  von  1859,  Bisraarck  und  die  öffentliche  Meinung  in  Deutschland.  Früher 
■chon  ist  selbständig  in  diesem  Gebiete  gearbeitet  worden,  z.  B.  von  Eduard  Cauer. 
Über  die  Flugschriften  Friedrichs  des  Grossen  aus  der  Zeit  des  7jährigen  Krieges; 
H.  VON  ZwiKDiNEK-SüDENHORST,  Die  Öffentliche  Meinung  in  Deutschland  im  Zeit- 
alter Ludwigs  XIV.  n.  a.  m. 

'3* 


196  Begriff  und  Theorie  der  öffenti,ichen  Meinung. 

eingedrungen,  und  jene  müssen  schon  durch  Farbendrucke  sich  aus- 
zeichnen, um  ihren  Rang  zu  behaupten.  Wenn  sonst  in  religiösen 
Darstellungen  die  »heihge  Geschichte«  oder  Geschichten  von  Heihgen, 
wenn  für  Kinder  Fabeln  und  Märchen  immer  jimg  und  neu  erscheinen, 
so  verlangt  der  Sinn  des  modernen  Menschen  auch  im  Bilde  das  Wirk- 
liche, das  Bedeutende,  das  Neue,  das  Interessante,  wenn  möglich 
das  »Pikante«  zu  sehen.  Das,  womit  die  öffentliche  Meinung  sich 
beschäftigt,  das  will  sie  auch  schauen  und  zwar  möglichst  rasch,  sonst 
denkt  sie  schon  an  etwas  anderes.  Weniges  Bedeutsameres  prägt  sich 
dauernd  dem  Gedächtnis  ein,  und  wird  in  Monumenten  verherrHcht: 
Personen  und  Sachen  der  Vergangenheit,  die  als  gegenwärtige  sich 
vorstellen  und  wirken;  mehr  und  mehr  wird  aber  die  Ehre,  die  ihnen 
gezollt  wird,  konventionell  imd  wird  erledigt  wie  ein  Geschäft;  der 
typische  heutige  Mensch,  der  in  der  öffentHchen  Meinimg  lebhaft 
mitwirkt,  befaßt  sich  nicht  gern  dauernd  damit.  Auch  will  die  cha- 
rakteristische Richtung,  »Vart  pour  Vart«  nicht  mehr  die  Kunst  in 
den  Dienst  des  Lebens,  sei  es  der  Religion  oder  anderer  sozialer 
Willensgestalten  ordnen,  sondern  sie  zum  reinen  Spiele  und  zum 
Gegenstand  der  Schwelgerei  und  Neugier  oder  auch  des  edelsten 
Genusses  machen.  —  Als  wichtige  Ausdrucksmittel  der  öffentlichen 
Meinung,  besonders  in  politischen  Angelegenheiten,  möchte  ich  aber 
ferner  erörtern:  A.  die  Vereinsbildung.  Zu  dieser  drängt  alles  gemein- 
same »Meinen«,  um  so  mehr,  je  mehr  es  als  Wünschen  imd  Wollen 
seiner  selbst  bewußt  wird.  Verein  bedeutet  verbundene  Kräfte, 
verbundene  Mittel,  insbesondere  also  Geldmittel,  eine  gemeinsame 
Kasse,  über  die  es  eine  einheitUche  und  geordnete  Verfügung  gibt. 
Besonders  Vereine  zu  politischen  Zwecken  sind  Ausdrücke  eines 
öffentlichen  Meinens;  sogar  geheime  Gesellschaften  und  Verschwö- 
rungen können  es  sein,  sofern  sie  einer  gemeinsamen  Gesinnung  oder 
Bestrebung  Ausdruck  geben  wollen  und  sollen.  Offen  oder  geheim 
können  Vereine  für  die  Ausbreitung  einer  Denkungsart  wirken  und 
wühlen.  In  Vereinen  wird  geredet,  beraten,  beschlossen,  sie  können 
eine  Strafgewalt  über  ihre  Mitglieder  in  Anspruch  nehmen  und  aus- 
üben. Disziplin  erhöht  ihre  Stoßkraft,  stärkt  ihren  Zusammenhang. 
Ein  tüchtiger  Führer  kann  wie  ein  Feldherr  wirken  und  heißt  wohl 
auch  General  —  merkwürdig  genug  gerade  in  religiösen  Gesellschaften 
wie  dem  Jesuitenorden  und  der  Heilsarmee.  Wie  die  »Gesellschaft  Jesu« 
für  die  römisch-katholische  Religion  und  Kirche,  so  hat  in  den  neueren 
Jahrhunderten  für  die  öffentliche  Meinung  der  Freimaurerorden, 
nebst  seinen  Abzweigimgen,  den  Illuminaten  u.  a.  gev^irkt ;  und  eine 
unmittelbare  poHtische  Bedeutung  hatte  in  England  frühzeitig  der 
»Klub «,  der  tmmittelbar  vor  der  großen  Revolution  nach  Frankreich 


Die  Öffentliche  Meinung.  —  Höhere  Erscheinungen  usw.       IQ7 

übertragen  wurde;  in  diesen  Klubs  „sprach  man  laut  und  ohne  Zu- 
rückhaltung über  die  Menschenrechte,  über  die  Vorzüge  der  Freiheit, 
über  die  großen  Mißbräuche  der  ungleichen  Ivcbenslage  sich  aus" 
(Mem.  de  Georget  bei  Buckxe  II,  378).  Die  gewaltigste  politische 
Bedeutung  gewann  dann  der  Klub  der  Jakobiner,  der  nach  dem  Aus- 
druck AuLARDS,  ebensosehr  Dolmetsch  als  Führer  der  öffentlichen 
Meinimg  wurde  (Etudes  I,  p.  125).  In  den  romanischen  Ivändern  hat 
das  ^laurertum  als  Ausdruck  des  I^iberalismus  und  neuerdings  des 
ausgesprochenen  Antigermanismus  noch  im  19.  und  20.  Jahrhundert 
zunehmende  Bedeutung  gewonnen.  G.  Maier  (Ethische  Umschau, 
Jvmi  19 15)  meint,  die  politische  Tätigkeit  des  Ordens  in  Italien  führe 
in  weiten  Kreisen  zur  Verkennung  seiner  ganzen  Tendenz;  die  Füh- 
rung der  KriegspoHtik  durch  die  Logen  sei  das  erste  Beispiel  einer  plan- 
mäßigen Beeinflussung  der  öffentlichen  Meinung,  wie  sie  früher  von 
Frankreich  und  seinem  Bonapartismus  ausgegangen  sei.  —  An  die  all- 
gemeine Bedeutung  von  Vereinen  für  die  heutige  Politik  möge  hier  nur 
erinnert  werden:  sie  wirken  ebenso  regelmäßig  auf  Zersplittenmg, 
v\ie  gelegenthch  auf  Vereinigung  der  Gedanken  und  Wollungen.  „Die 
Organisationen  sind  demnach  sowohl  ein  wesentlicher  Teil  der  gesell- 
schaftlichen Denk-  und  Willenskraft,  wie  der  Grundstock  der  gesell- 
schaftUchen  Denk-  und  Willensäußerungen,  die  man  bald  öffentliches 
Urteil,  bald  öffentUche  Meinung,  öffentHches  Gewissen  oder  ähnlich 
nennt.  Daß  diese  Urteile  oder  Meinungen  jetzt  sehr  häufig  mit  merk- 
würdiger Bestimmtheit  sich  kundgeben  und  im  Durchschnitte  von 
den  verschiedenen  Interessen  aus  besehen,  um  manches  sachgemäßer 
geworden  sind  und  an  Naivität  verloren  haben,  das  wird  gleichfalls 
zum  Teil  den  Organisationen  und  ihrer  Sorge  für  das  Ideologische 
zugeschrieben  werden  dürfen"  (K1.EIN,  Die  Organisation  S.  177). 
B.  Wie  ein  Verein  sich  periodisch  versammelt,  so  kann  er  auch  für 
seine  Zwecke  Versammlungen  berufen,  die  zur  Vermehrung  seiner 
Mitgliederzahl  imd  Mittel  wirken  sollen,  oder  aber  sonst  in  allgemeiner 
oder  besonderer  Richtung  bestimmte  Gedanken  eines  Programmes 
zu  vertreten  geeignet  scheinen.  Hervorragende  Bedeutung  haben  in 
den  modernen  Staaten  die  Wahlversammlungen,  wie  die  Partei- Wahl- 
vereine gewonnen.  Sie  heißen  sich  Organisationen  und  bedeuten  eine 
Mechanisierung  des  politischen  Willens  durch  die  Parteihäupter,  die 
in  Amerika  und  in  England  gut  durch  den  Ausdruck  »Drahtzieher« 
(wire-pullers)  bezeichnet  werden.  „Die  Berufspolitiker  arbeiteten 
(in  den  Vereinigten  Staaten)  unter  der  Leitung  der  managet s  und 
der  wire-pullers,  mit  einem  solchen  Ensemble  und  mit  einer  so  voll- 
kommenen Gleichgültigkeit  oder  Bewußtlosigkeit  gegenüber  dem 
Guten  und  Bösen,  daß  sie  die  Vorstellung  eines  automatisch  und 


198  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

blind  funktionierenden  Mechanismus,  einer  Maschine  hervorriefen. 
Die  Wirkung  schien  so  durchaus  die  gleiche,  daß  der  Ausdruck 
Maschine  der  Organisation  wie  ein  Spitzname  angeheftet  wurde,  den 
sie  bis  auf  diesen  Tag  trägt,  indem  er  sogar  dem  Ausdruck  caucus 
vorgezogen  wird"  (Ostrogorski,  La  demoer atie  et  les  partis  politiques. 
Nouvelle  ed.  Paris  1912,  p.  365).  Die  Volksversammlung,  die  aber 
als  Wählerversammlung  (in  Amerika  frimary)  eine  politisch  höhere 
Bedeutung  gewinnt,  erweckt  die  Vorstellung  eines  einigen  Willens, 
wenn  sie  durch  den  lauten  Beifall,  den  sie  einem  Redner  zollt,  oder 
durch  andere  Zeichen  ihre  Stimmung  und  Meinung  kundgibt.  Sie 
nimmt  einen  mehr  stürmischen  oder  mehr  ruhigen  Verlauf;  mit  Un- 
recht wird  oft  der  Tumult  für  ihr  ständiges  Merkmal  gehalten,  öffent- 
liche Meinung  kann  sich  mit  und  ohne  lyärm  in  ihr  und  durch  sie  geltend 
machen,  aber  als  gemeinsamer  Gedanke,  gemeinsames  Urteil  eher, 
wenn  sich  Rede  an  Rede  in  gleichem  Sinne  anreiht  und  mit  ruhiger 
aber  entschiedener  Zustimmung  gehört  wird.  C.  Wenn  eine  Ver- 
sammlung und  ihre  Entschließungen  nicht  selten  eine  vorhandene 
starke  Strömung  des  Meinens  und  WoUens  dartun  und  beweisen 
sollen,  so  gibt  es  andere  Demonstrationen,  in  denen  solche 
Strömimg  sich  unmittelbarer  offenbart.  Jedenfalls  will  sie  sich 
öffentlich  zeigen,  und  die  einfachste  Weise,  weil  sie  zunächst  nicht 
einmal  der  Worte  bedarf,  ist  die,  daß  viele,  die  von  ihr  erfüllt  sind 
und  es  zu  zeigen  wünschen,  zusammen  auf  die  Straße  gehen  oder  auf 
dem  Markte  zusammenkommen,  um  ihr  Wünschen  und  Meinen  kund- 
zutun, wofür  das  Tragen  von  Fahnen  und  Emblemen,  das  Singen  von 
Liedern,  vor  allem  aber  die  zahlreiche,  wenn  möglich  massenhafte 
Teilnahme,  die  in  jedem  Teilnehmer  das  Bewußtsein  seiner  Kraft 
erhöht,  natürliche  Mittel  und  Formen  sind.  So  wird  der  feierliche 
Gang,  die  »Prozession «  eine  beliebte  Art  des  Demonstrierens,  wie  das 
Flaggenhissen,  das  Glockenläuten  einer  Volksstimmung  und  oft  auch 
der  darin  enthaltenen  öffentlichen  Meinung  Ausdruck  gibt.  D.  Endlich 
sei  hier  noch  des  Ausdrucksmittels  der  Feste  gedacht,  zu  denen  sich 
Gleichgesinnte,  Gleichdenkende  vereinen,  das  Fest -Essen  ist  eine 
angenehme  und  beliebte  Form  und  eine  bequeme  gemächliche  Art 
darzutun,  daß  man  »dazu  gehört«,  was  in  der  Regel  auch  bedeutet, 
daß  man  die  vorgeschriebene  politische  Gesinnung  hegt  oder  doch  zu 
hegen  scheinen  will:  wenn  man  z.  B.  den  Träger  der  Krone  und  seinen 
Geburtstag  feiert.  Oder  ein  Einzelner,  ein  Fürst  oder  anderer  Magnat, 
»gibt«  Feste,  sie  sind  eine  Form  der  konventionellen  Geselligkeit, 
die  aus  irgendwelchem  Anlaß  den  Glanz  einer  Familie,  eines  Hofes, 
einer  Partei  oder  Geistesrichtung,  ja  eines  ganzen  Volkes  entfalten 
will.   „Sie  (die  Geselligkeit)  wird  benutzt,  um  Siege  in  den  politischen 


Die  Öffentliche  Meinung.  —  Höhere  Erscheinungen  i^sw.        19g 

und  materiellen  Interessenkämpfen,  in  Konkurrenzen  und  Wahlen 
vorzubereiten,  durch  Wahrung  des  Scheins  von  Reichtum  sein  An- 
sehen, den  Kredit  und  die  soziale  Stellung  zu  behaupten,  durch  ein 
»großes  Haus«  und  durch  Fütterung  von  Schmarotzern  sich  Einfluß 
zu  schaffen.  Ersetzt  doch  die  Geselligkeit  den  Markt  und  den  Jour- 
nalismus da,  wo  eine  stupide  Despotie  einem  ganzen  Volke  oder  einer 
Volksschicht  den  Mund  stopfen  will."  „Alle  diese  Momente  erklären 
sich,  wenn  man  sich  die  allgemeine  Tatsache  vergegenwärtigt,  daß 
die  geselUg  vereinigten  Personen  freie  Tribunale  der  Wertschätzung 
und  mitbestimmende  Faktoren  der  öffentlichen  Meinung  sind** 
(SCHÄFFLE,  Bau  und  Leben  des  sozialen  Körpers  IV,  S.  99).  —  Die 
allgemeinste  Bedeutung  hat  hierfür,  besonders  in  deutschen  Landen, 
das  gemeinsame  Trinken,  der  Festkommers,  wozu  ebenso  wie  zum 
Festessen,  die  Reden  gehören,  die  in  der  Stimmung  von  »zur  guten 
Stunde «  Vereinigten  einen  um  so  stärkeren  Widerhall  finden,  zumal 
wenn  man  schon  zum  Zwecke  einer  bestimmten  Kundgebung  zu- 
sammengekommen ist.  Oft  wird  der  Festredner  »allen  aus  der  Seele 
gesprochen  haben«,  oft  wird  die  in  den  Zeitungen  oder  sogar  als 
besonderes  Heft  verbreitete  Rede  noch  in  weiten  Kreisen  derer 
»zünden«,  die  sie  nur  geistig  vernehmen. 

Im  »Fest«  kommt  wohl  am  reinsten  zum  Ausdruck,  was  alle  Aus- 
drucksmittel der  öffentlichen  Meinung  miteinander  gemein  haben, 
daß  ihnen  eine  Tendenz  innewohnt,  den  Menschen  zu  erheben: 
sie  wenden  sich  an  ihn  als  an  ein  Glied  des  »geehrten  Publikums«, 
sie  wollen  seinen  Beifall,  oder  eine  noch  ausgesprochenere  Mitwirkung, 
sie  rechnen  auf  sein  Urteil,  also  auf  seine  Bildung  und  zumeist  auch 
auf  seine  gebildete  richtige  Denkungsart.  In  dem  gemeinsten  und 
allgemeinsten  Mittel,  der  Zeitung,  macht  sich  dies  am  wenigsten 
offenbar,  aber  es  ist  auch  in  ihr  enthalten,  auch  sie  schmeichelt 
dem  Leser,  sie  wirbt  um  seine  Zustimmung,  wofern  sie  diese  nicht 
als  von  selbst  verständlich  voraussetzt ;  indem  sie  eine  Meinung  öffentlich 
macht,  versammelt  sie  gleichsam  sich  und  ihre  Leser  zu  einem  Ge- 
richtshof, der  sein  Urteil  über  eine  Tagesfrage  abgeben  will,  und  der 
Leser  wird,  je  mehr  er  sonst  sich  wichtig  fühlt,  auf  seine  Zustimmung 
Gewicht  legen,  oft  sie  auch  durch  ausdrückliche  Zuschriften  kund- 
geben, während  er,  wenn  ausnahmsweise  ihm  »gegen  den  Strich« 
geht,  was  in  einem  Leitartikel  ausgesprochen  wurde,  wohl  auch  seine 
Entrüstung  zu  erkennen  gibt,  in  der  wirkungsvollsten  Weise  dadurch, 
daß  er  die  Zeitung  »einfach«  abbestellt,  und  etwa  auch  seine  Freunde 
überredet,  ein  Gleiches  zu  tun. 

23.  (Rückwirkungen  —  Mache  —  Analogien  der  Religion.)  2.  Richtig 
weist  Bauer  oft  darauf  hin,  daß  die  Ausdrucksmittel  regelmäßig 


200  Begriff  und  Theorie  der  öffentuchen  Meinung. 

auf  die  öffentliche  Meinung  zurückwirken,  daß  also  Wechselwirkung 
zwischen  Denkungsart  und  Ausdrücken  besteht.  Agitation  und 
Propaganda  wollen  und  sollen  Meinungen  und  Wünsche  —  For- 
derungen, Ablehnungen  —  verbreiten  und  verstärken.  So  können 
sie  unter  günstigen  Umständen  bewirken,  daß  aus  einer  Teilmeinung 
eine  Gesamtmeinung,  aus  parteüscher  öffentlicher  Meinung  also, 
die  sich  vielleicht  anfangs  nur  schwach  und  zaghaft  an  die  Öffentlich- 
keit hervorwagte,  die  öffentliche  Meinung  wird,  wohl  gar  aus  einer 
unterdrückten  die  herrschende  Meinung.  So  können  auch  Meinungen, 
die  einmal  geherrscht  und  gegolten  haben,  die  von  der  öffentlichen 
Meinung  gehegt  und  getragen  wurden,  untergehen  oder  doch  in  einen 
verlorenen  Winkel  zurückgedrängt  werden.  Es  ist  zuweilen  der  Er- 
folg der  gegnerischen  öffentUchen  Meinung,  die  gesiegt  hat,  zuweilen 
auch  ein  bloßes  Absterben  durch  eine  Art  von  Atrophie,  die  wiederum 
die  Folge  ungenügender  Tätigkeit  und  Übung  ist.  Im  allgemeinen 
befestigt  sich  eine  Meinung  durch  die  Zeit,  sie  gewinnt  die  Kraft  eines 
Vorurteils  und  erscheint  als  Selbstverständlichkeit:  dies  gilt  für  den 
einzelnen  Menschen  sowohl  als  für  ganze  Nationen  und  Gruppen 
von  Nationen,  die  sich  als  Träger  gleicher  Kultur  fühlen,  zumal  wenn 
sie  diese  für  die  höchste  bisher  erreichte  halten.  In  dieser  Hinsicht 
unterscheiden  sich  Meinung  und  Glaube  nicht,  aber  Meinung  wird 
durch  Dauer  und  Alter  dem  Glauben  ähnlicher.  Beide  werden  Gegen- 
stand der  Überlieferung  und  gewinnen  mit  den  Jahren  eine  gewisse 
Ehrwürdigkeit  und  Verklärung;  freiHch  ist  die  Schätzung  des  Alters 
auch  in  dieser  Hinsicht  sehr  verschieden,  im  gesellschafthchen  Zeit- 
alter nimmt  die  Pietät  ab  und  die  Kritik  wird  immer  stärker  tmd 
kühner;  wenn  auch  immer  neuer  Autoritätsglaube  sich  entwickelt, 
so  wird  er  doch  auch  immer  von  neuem  bezweifelt  und  angefochten, 
und  viele  Meinimgen  werden  wie  Kleider  so  rasch  abgelegt  wie  ange- 
zogen, sie  werden  auch  wie  der  Zuschnitt  von  Kleidern  zum  Gegen- 
stande der  Mode.  Wie  durch  eine  veraltete  Tracht,  so  kann  man 
durch  veraltete  Meinungen  auffallen,  und  das  Auffallende,  Sonderbare 
wird  leicht  belächelt ;  so  neigt  die  Jugend  immer  dazu,  über  das  Alter 
zu  lächeln,  und  diese  Neigung  verneint  die  sonst  wirksame  Neigung, 
es  zu  ehren.  —  Also  haben  junge  und  neue  Meinungen  immer  eine 
gewisse  Stimmung  der  jungen  Menschheit  für  sich,  die  als  solche 
in  einem  gesellschaftlichen  Zeitalter  »mehr  zu  sagen«  hat,  und 
wenn  sie  einmal  zu  Worte  kommt,  laut,  ja  lärmend  sich  vernehmen 
läßt,  und  dies  wird  oft  Ursache  ihres  Erfolges,  zumal  wenn  ein  all- 
gemeines Durcheinanderschreien  stattfindet  und  der  Preis  darauf 
gesetzt  ist,  die  anderen  Stimmen  zu  übertönen.  Da  kommen  denn 
alle  Ausdrucksmittel    der    öffentlichen   Meinung    zur   Geltimg,   und 


Die  Öffentuche  Meinung.  —  Höhere  Erscheinungen  usw.       20 1 

indem  der  Erfolg  sie  stärkt,  wird  er  Ursache  neuer  und  größerer 
Erfolge. 

3.  Alle  diese  Ausdrucksmittel  unterliegen  der  Mache.  D.  h.  an- 
statt aus  den  Meinungen,  Stimmungen,  Affekten,  die  sie  ausdrücken, 
unmittelbar  und  wirklich  hervorzugehen,  also  natürlich  zu  sein,  können 
sie  künstlich  werden,  indem  sie  bewußterweise  angewandt,  gebraucht, 
vielleicht  erfunden  werden,  um  etwas  auszudrücken,  was  vorhanden 
sein  mag  oder  nicht  vorhanden  sein  mag,  wenn  nur  ein  anders  ge- 
arteter Zweck  damit  erreicht  oder  gefördert  wird.  Je  entschiedener 
der  Zweck  gewollt  und  verfolgt  wird,  je  größer,  unbedingter,  wün- 
schenswerter er  erscheint,  um  so  mehr  ist  in  der  Regel  dem  Strebenden 
»jedes  Mittel  recht«,  desto  rücksichtsloser,  skrupelloser  wird  er  in  der 
Wahl  seiner  Mittel.  Gleichgültiger  daher  vor  allem  gegen  die  Wahr- 
heit. Unwahre  Nachrichten  dienen  oft  besser  als  wahre  dem  Interesse 
dessen,  der  sie  verbreitet,  und  das  Verschweigen  und  Unterdrücken 
der  wahren  kann  vorzugsweise  ersprießlich  sein.  Wenn  die  Tagespresse 
auf  die  auffallendste  Weise  in  diesem  Sinne  gebraucht  wird  (worauf 
auch  Bauer  hinweist),  so  ist  doch  nicht  weniger  die  öffentliche  Rede, 
der  Brief  —  auch  der  Privatbrief,  wenn  sein  Inhalt  bestimmt  ist, 
öffentHch  zu  werden  — ,  die  Flugschrift,  das  Buch,  ja  auch  das  dich- 
terische Werk,  insbesondere  das  auf  Sinne  und  Gedanken  am  stärksten 
wirkende  Schauspiel,  solcher  Handhabung  und  Verwendung  aus- 
gesetzt; und  je  mehr  der  Kürwille,  zumal  in  seiner  geistigsten  Form, 
als  Bewußtheit,  maßgebend  wird  im  gesellschaftlichen  Leben,  um  so 
mehr  werden  auch  die  Kämpfe  der  Meinungen  mit  solchen  mecha- 
nischen Waffen  geführt.  Die  »Erfindung«,  die  gleichzeitig  in  der 
Technik  ihre  Triumphe  feiert,  bedeutet  im  geistigen  I^ben  das  Er- 
sinnen von  Mitteln,  die  Menschen  zu  täuschen  oder  sie  auf  irgend- 
welchen Weg  zu  führen,  wo  sie  und  ihre  Gedanken  unschädlich  oder 
wo  sie  sogar  sehr  nützlich  zu  werden  scheinen.  Es  ist  das  »Raffine- 
ment« der  Zivüisation,  das  sich  darin  ergeht,  und  jeder  Kämpfer 
drängt  seinem  Gegner  die  von  ihm  gebrauchten  Waffen  auf.  Auch 
die  Vereinsbildung,  die  Berufung  von  Versammlungen,  die  Demon- 
stration und  die  Veranstaltung  von  Festen,  dienen  so  nicht  nur  den 
Meinungen  und  Gesinnungen,  denen  sie  Ausdruck  geben,  sondern 
auch  den  Absichten  und  Zwecken  derer,  für  die  der  Schein  oder  das 
Offenbarwerden  solcher  Meinungen  und  Gesinnungen  nützlich  ist 
oder  dafür  gehalten  wird;  und  eine  solche  oft  gehegte  Absicht,  ein 
solcher  mächtiger  Zweck  ist  die  Eroberung  iKicr  «  öffentlichen  Meinung, 
ihre  Gewinnung  für  eine  Idee  oder  eine  Person,  oder  als  Verwandlung 
einer  ungünstigen  in  eine  günstige  öffentliche  Meinung.  —  Hier  wie 
überall  entspricht  der  schroffe  begriffliche  Gegensatz  nicht  den  ge- 


202  Begriff  und  Theorie  der  öffenti<ichen  Meinung. 

samten  Erscheinungen  der  Wirklichkeit:  die  Übergänge  des  Natür- 
lichen in  das  Künstliche  sind  vielfach;  kunsthaft  ist  immer  oder 
wird  leicht  die  menschliche  Praxis,  wenn  sie  gekonnt  wird  —  die 
Methode  entspringt  aus  der  Übung.  Nur  das  Verhältnis  des  Subjektes 
zu  seinem  Mittel  und  das  darin  enthaltene  Verhältnis  von  Mittel  und 
Zweck  biegt  gleichsam  die  noch-natürliche  Kunst  in  die  Technik 
um.  Technik  im  Kampfe  heißt  Taktik,  Technik  in  Verfolgung  irgend- 
welcher Zwecke  Politik  —  Politik,  Taktik,  Technik  sind  erfinderisch, 
sie  richten  den  menschlichen  Geist  auf  die  mechanischen  Künste  der 
Überwindung  von  Widerständen,  der  Beschleunigung  von  Be- 
wegungen, der  Ordnung  und  Vermehrung  von  Kräften,  der  Um- 
wandlung von  Formen  der  Energie.  Wie  die  (ökonomische)  Technik 
im  Kampfe  mit  der  Natur,  so  führen  Taktik  und  PoHtik  die  Menschen 
in  ihren  mannigfachen  Kämpfen  widereinander,  so  auch  im  Kampfe 
um  die  öffentliche  Meinung. 

4.  Nachdrückhch  werde  hier  betont,  daß  die  Ausdrucksmittel  der 
öffentlichen  Meinung  auch  die  Ausdrucksmittel  der  Religion  sind, 
und  in  der  Regel  früher  der  Religion  als  der  ihrem  Wesen  nach  älteren 
Kulturmacht  dienen.  Dies  gilt  von  jeder  Art  der  Kunst,  von  bildenden 
und  redenden  Künsten,  von  Architektur  und  Tonkunst  in  hervor- 
ragendster Weise,  dazu  kommt  aber,  zuweilen  überwältigend,  die 
öffentliche  Rede,  die  Predigt,  und  hinzukommen  alle  Ausdrucksmittel 
der  Schrift  und  des  Druckes,  das  Buch,  die  Flugschrift,  die  Revue 
und  endlich  die  Zeitung.  Aber  nicht  minder  wirken  im  Sinne  der 
Religion,  wie  schon  angedeutet  wurde,  der  Verein  und  die  Versamm- 
lung, die  Prozession,  das  Fest  und  die  Geselligkeit.  Man  möchte 
sagen,  daß  die  öffentUche  Meinung  überall  in  den  Bahnen  wandelt,  die 
ihr  von  der  Religion  vorgezeichnet  wurden;  wenn  nicht  den  jüngeren 
prosely tischen  Religionen  schon  so  vieles  beigemischt  wäre,  was  der 
öffentlichen  Meinung  wesens verwandt  ist.  So  ist  auch  die  Mache,  die 
planmäßige,  ja  gewaltsame  Propaganda  eine  Methode,  deren  sich  die 
Apostel  der  ReHgion  wie  die  der  öffentlichen  Meinung  bedienen ;  und 
das  Interesse  mächtiger  Personen,  also  der  Fürsten,  Staatsmänner 
imd  Eroberer,  knüpft  sich  an  die  Ausbreitung  politischer  Lehren 
wie  religiöser  Dogmen,  setzt  sich  daher  für  die  eine  wie  für  die  andere 
Propaganda  ein.  Aber  die  großen  Unterschiede  zwischen  Religion 
und  öffentlicher  Meinung  treten  uns  entgegen,  wenn  wir  auf  der  eiiien 
Seite  uns  die  stillen  Konventikel  der  Frommen,  in  denen  die  Gläubig- 
keit und  Gottseligkeit  sich  recht  eigentHch  zu  Hause  fühlt,  auf  der 
anderen  Seite  die  Stätten  der  Geselligkeit  uns  vorstellen,  die  für  die 
Bildung  der  öffentlichen  Meinung  im  täglichen  Ivcben  hervorragende 
Bedeutung  haben:  das  sind  der  »Salon«  und  das  »Wirtshaus«;  beide 


Die  Öffentuche  Meinung.  —  Höhere  Erscheinungen  usw. 


203 


als  Stelldichein-Plätze  der  räsonierenden,  diskurrierenden,  geistreich 
plaudernden  und  politisierenden  »Welt«  —  der  Salon  typisch-fran- 
zösisch, aristokratisch  mit  bürgerlich  aufgeklärter  Denkungsart,  das 
Wirtshaus  von  vornherein  bürgerüch,  demokratisch,  zuerst  als  das 
»Kaffeehaus«  in  England  wichtig  für  das  soziale  und  politische  lycben 
geworden;  in  Deutschland  wird  im  19.  Jahrhundert  der  »Stammtisch« 
ein  Brennpunkt  des  politischen  Gespräches  in  kleinen,  mittleren, 
aber  sogar  auch  in  großen  Städten;  überall  das  »Kannegießern«  von 
mächtigen  Wirkungen  auf  Gestaltung  und  Befestigung  der  öffentlichen 
Meinung,  benannt  nach  der  Figur  eines  geistreichen  lyustspiels  des 
Norwegers  Holberg,  das  den  politisierenden  Kleinbürger  lächerlich 
macht. 

24.  (Verbindung,  Verpflichtung.)  Jede  Art  der  öffentlichen 
Meinung  will,  wie  jede  Art  der  Religion,  diejenigen,  die  zu  ihr  gehören, 
verbinden,  verpfhchten.  Alle  ihre  Ausdrucksmittel  haben  auch 
diesen  Sinn,  daß  sie  die  Gesinnungen  der  Adepten  einer  »Meinungs- 
schaft« auf  die  Probe  stellen,  wie  fortwährend  die  Kirche  und  jede 
religiöse  Gemeinde  die  Glieder  ihrer  Herde  beobachtet,  ob  sie  ihre 
Pfhchten  erfüllen  —  wenn  diese  Pflichten  auch  auf  ein  noch  so  geringes 
Mindestmaß  eingeschränkt  worden  sind.  So  verlangt  die  öffentliche 
Meinung  jedes  Standes,  jedes  Kreises,  jeder  Partei,  gewisse  I^eistungen 
von  ihren  Angehörigen,  und,  sofern  die  Gruppe  eine  gewisse  Denk- 
weise vertritt,  gelegentlich  eine  Kundgebung,  wenigstens  die  Nicht- 
verleugnung  dieser  Denkweise.  So  wird  etwa  das  Halten  einer  Zeitung 
oder  Zeitschrift,  das  Kaufen  einer  Broschüre,  eines  Buches,  die  Zahlung 
für  einen  Verein,  der  Besuch  einer  Versammlung,  die  Teilnahme  an  einer 
Demonstration,  vollends  aber  das  Halten  einer  Rede,  das  Schreiben 
eines  Artikels  oder  gar  eines  Buches,  gewertet  und  nicht  selten  verlangt. 
Offenbar  ist  es  leichter,  die  Äußerung  einer  Meinung  vorzuschreiben, 
zu  raten  oder  zu  widerraten,  zu  loben  oder  zu  tadeln,  als  das  Hegen 
solcher  Meinungen  zu  heischen  oder  zu  verbieten ;  aber,  wie  früher  er- 
örtert, Hegen  und  Kundgeben  wirken  wechselseitig  aufeinander.  Die 
Kundgebung  wird  am  erfolgreichsten  empfohlen  durch  Hinweisung  auf 
die  günstigen  Folgen,  die  sie  für  die  gemeinsame  Sache,  mittelbar 
also  auch  für  den  Einzelnen,  haben  werden,  auf  die  schlimmen  Folgen, 
die  sich  aus  anderen  Meinungen  und  deren  Duldung  oder  gar  Aus- 
breitung für  ihn  und  etwa  für  die  Partei  oder  den  Staat  ergeben 
möchten.  Was  so  dem  gemeinen  Wohle  dient,  wird  der  moralische 
Gerichtshof  der  öffentlichen  Meinung  immer  begünstigen,  was  ihm 
entgegen  ist,  also  auch  abweichende  Meinungen,  als  gefährUch,  darum 
auch  leicht  als  unsittUch  abstempeln.  Dadurch,  daß  sie  immer  prak- 
tische Zwecke  im  Auge  hat,  daß  der  Nutzen,  nach  Schillers  Wort, 


204  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

ihr  Idol  ist,  wird  sie  bewogen,  die  Meinungen  selber,  anstatt  nach 
ihrem  inneren  Wert,  ihrer  Wahrheit  oder  Wahrscheinlichkeit,  nach 
ihrer  Heilsamkeit  oder  SchädHchkeit  zu  beurteilen,  folglich  auch  am 
Wohle  der  Personen  zu  messen,  solche  und  solche  Meinungen  vorzu- 
schreiben als  Mittel,  um  zu  einem  bestimmten  Ziele  zu  gelangen, 
andere  zu  verwehren  oder  doch  zu  widerraten  als  Hemmungen  auf 
dem  Wege  dahin,  sei  es  in  der  Laufbahn  zu  einem  persönlichen  Glück, 
der  Karriere,  im  Wettrennen  und  Wettbewerb,  sei  es  in  gemeinsamer 
Verfolgung  eines  Zweckes.  Für  die  Wirkungen  kommt  es  unmittelbar 
nur  auf  das  Kundgeben  an,  und  dies  kann  als  Sache  des  Kürwillens 
in  einem  Sinne  geschehen,  der  die  gehegte  Meinung  schlechthin  ver- 
neint ;  aber  die  Kundgebung  wirkt  auf  den  Gedanken  zurück,  besonders 
durch  häufige  Wiederholung,  es  findet  eine  Anpassung,  ein  Ausgleich 
statt:  wie  der  ungläubige  Geistliche  durch  häufiges  Predigen  gläubig 
wird,  so  ist  es  auch  z.  B.  mit  den  politischen  Meinungen.  Der  Beamte 
in  einem  monarchischen  Staate  mag  republikanische  Gesinnung 
hegen:  durch  Erziehung,  Umgang,  I^ektüre  mögen  solche  Mei- 
nungen sich  stark  in  ihm  befestigt  haben;  wenn  er  vorankommen 
will,  muß  er  sie  unterdrücken,  ja  er  muß  von  Zeit  zu  Zeit  monarchisch 
loyale  Gefühle  zu  hegen  scheinen;  je  mehr  er  Erfolg  hat,  desto  mehr 
läßt  das  innere  Widerstreben  nach,  das  feste  Gefüge  seiner  »ehemaligen« 
Überzeugung  wird  aufgelockert,  es  löst  sich  zuletzt  in  Dunst  und 
Nebel  auf,  ein  neues  Organ  ist  (wie  sonst)  allmählich  durch  die 
Funktion  entstanden,  er  hat  Verständnis  gewonnen  für  den  monar- 
chischen Gedanken,  so  daß  dieser  sich  in  seiner  Seele  ansiedeln  konnte, 
um  so  sicherer,  je  mehr  das  alte  »Vorurteil«  dagegen  Platz  machte; 
und  so  in  vielen  ähnlichen  Fällen,  wo  einer  so  oft  etwas  gesagt  —  im 
schlimmsten  Falle  geradezu  »gelogen«  —  hat,  daß  er  es  am  Ende 
selber  glaubt.  Das  ganze  Gefüge  des  gesellschaftlichen  Lebens  nötigt 
zu  solcher  »Selbstverleugnung«  fortwährend,  am  meisten  natürlich 
den  Geschäftsmann,  den  politischen  wie  den  ökonomischen.  Am 
Kaufmann  ist  es  in  der  unmittelbarsten  Weise  wahrnehmbar,  wie  der 
Zweck  ihn  veranlaßt,  seine  Meinungsäußerungen  zu  unterdrücken 
oder  anzupassen.  Auch  verlangt  von  ihm  die  öffentHche  Meinung 
seines  Berufsstandes  in  erster  Linie  Klugheit  und  dadurch  gewonnenen 
Erfolg;  nicht  anders  vom  Staatsmann  die  öffentliche  Meinung  seiner 
Standesgenossen,  der  sich  aber  hier  die  eigentliche,  die  staatsbürgerliche 
öffentliche  Meinung  anschließt,  denn  hier  ist  das  allgemeine  Interesse 
am  Erfolg  und  darum  an  der  Klugheit  überwältigend.  Insofern  nun 
als  die  öffentliche  Meinung  vorzugsweise  auf  das  politische  Leben,  die 
politischen  Führer,  die  Gesetzgebung,  sich  bezieht,  so  urteilt  sie  auch, 
wo  sie  ihr  Wesen  am  reinsten  ausdrückt,  nach  dem  Erfolge,  und  verhält 


Die  Öffentliche  Meinung.  —  Höhere  Erscheinungen  usw.       205 

sich,  bald  dem  geschehenen,  bald  dem  erwarteten  Erfolge  nach,  be- 
jahend oder  verneinend,  bewundernd  und  verherrHchend  oder  ver- 
achtend und  schmähend  zu  Personen  und  zu  Begebenheiten.  Sie  ver- 
langt daher  Zustimmung  insbesondere,  wo  ihr  an  einem  zukünftigen 
Erfolge  gelegen  ist,  weil  sie  die  Einsicht  verlangt,  daß  solcher  Erfolg 
erstrebt  werden  müsse.  Stark  und  deutlich  tritt  dies  in  einem  Kriege 
hervor,  wo  eine  ganze  Nation  lebhaft  interessiert  ist  am  siegreichen 
Ausgang,  und  folgUch  die  öffentliche  Meinung  solchen  Erfolg  will.  Sie 
legt  dann  allen  Volksgenossen  die  Pflicht  auf,  nicht  nur  diesen  Erfolg 
mitzuwollen  (wozu  kaum  ein  Druck  notwendig  ist)  und  ihn  zu  erhoffen, 
sondern  auch  zu  denken  und  zu  meinen,  daß  er  eintreten  werde,  ihn 
nicht  nur  für  wahrscheinlich,  sondern  so  sehr  als  möglich  für  sicher 
und  gewiß  zu  »halten «  —  wenigstens  also  keine  mdrige  Meinung  laut 
werden  zu  lassen,  weil  solche  nachteilig,  entmutigend,  verstimmend  auf 
die  Volksgenossen,  vielleicht  sogar  auf  die  Kämpfer,  wirken  würde ;  aus- 
drückhch  wird  dies  Verhalten,  wenn  es  auch  aus  reinster  Überzeugung 
quillt  und  nichts  als  der  imwillkürliche  Ausdruck  unwillkürUcher 
Gefühle  und  Gedanken  ist,  als  eine  Mache  gebrandmarkt:  die  Ange- 
klagten werden  des  Flaumachens,  des  Miesmachens  bezichtigt,  in  der 
französischen  Sprache  als  i^Defaitistes«,  als  ob  sie  die  Niederlage 
herbeiwünschten  und  herbeizuführen  beflissen  wären;  in  Wahrheit 
geht  der  Verdacht  leicht  dazu  über,  auch  hier  wird  der  Wunsch  als 
Vater  des  Gedankens  ausgegeben,  oder,  wenn  dies  nicht  einleuchtet, 
als  der  natürUche  SprößUng  —  »er  glaubt  nicht  an  den  Sieg,  weil  er 
ihn  nicht  wünscht«  —  »er  wünscht  den  Sieg  nicht,  weil  er  nicht  an  ihn 
glaubt «  —  im  zweiten  Satze  soll  das  »weil«  zunächst  einen  Erkenn tnis- 
gnmd  bedeuten,  d.  h.  man  scliließt  aus  dem  Nichtglauben  auf  das 
NichtWünschen;  aber  es  wird  auch  ein  ursächlicher  Zusammenhang 
leicht  hinzu  verdacht,  daß  nämlich  die  Sünde  des  Unglaubens  die 
größere  Sünde  des  Verwünschens  nach  sich  ziehe.  Die  abweichende 
Meinung  als  Sünde  zu  verfemen,  ist  der  echten  öffenthclien 
Meinung  mit  der  Rehgion  gemein;  auch  wenn  beiden  nur  daran  ge- 
legen ist,  daß  solche  abweichende  Meinung  nicht  ausgesprochen,  in- 
sonderheit nicht  verbreitet  (»propagiert«)  werde,  so  geht  doch  die 
Schätzung,  also  die  Verwerfung,  unmittelbar  auf  die  Hegung  der 
Meinung,  sie  ist  die  *7natena  peccans<i^  und  der  Richter  ist  befUssen, 
sie  auf  bösen  Willen,  auf  Verstocktheit  des  Herzens,  auf  Verschlies- 
sung  des  Gemütes  gegen  die  Wahrheit,  zurückzuführen.  —  So  wenn 
es  um  unmittelbare  Strebensziele  sich  handelt,  die  der  öffentlichen 
Meinung  des  Tages,  aber  oft  auch  der  flüssigen  öffentlichen  Meinung 
angelegen  sind.  Etwas  anderes  ist  es  mit  den  Gegenständen,  worauf 
die  festgeronnene  öffentliche  Meinung  sich  bezieht.  Wenn  der  Zeitgeist 


2o6  Begriff  und  Theorie  der  öffenti,ichen  Meinung. 

die  Meinung  zur  Pflicht  macht,  daß  die  Folter  eine  Barbarei  war 
oder  daß  eine  Inquisition  ein  Schandmal  der  Menschheit  bedeutet, 
so  hält  er  zunächst  für  undenkbar,  daß  ein  »moderner«  Mensch  das 
nicht  einsehe;  wer  sich  zum  Verteidiger  solcher  Greuel  auf  wirft, 
möchte  wohl  gar  sie  wieder  einführen  oder  solche  Zeiten  wieder  her- 
stellen, in  denen  sie  geschehen  konnten;  und  welche  Beweggründe 
kann  es  dafür  geben,  als  das  eigene  Interesse,  das  Interesse  eines 
Standes  oder  einer  Klasse,  die  zu  herrschen  und  den  freien  Geist  zu 
knechten  wünscht  oder  ihre  ehemalige  Herrschaft  wiederherzustellen 
trachtet?  Auch  hier  vermischt  sich  im  verneinenden  und  verdam- 
menden Urteil  das  Aussprechen  und  das  Fürwahrhalten  solcher 
»unsinniger«  und  »abscheulicher«  Meinungen.  Das  Verneinen  und 
Verdammen,  worin  in  solchen  Fällen  der  Zeitgeist,  d.  h.  die  fest- 
gewordene öffentliche  Meinung  einig  ist,  geschieht  in  solchen  Fällen 
teils  im  Affekt,  aus  überströmendem  Gefühl  und  starker  Überzeu- 
gung, teils  aber  —  und  das  ist  für  die  öffentliche  Meinung  mehr 
charakteristisch  —  in  bewußter  Absicht,  um  solche  für  unrichtig  und 
verderblich  zu  haltende  Meinungen  im  Keime  zu  ersticken,  sie  als  ge- 
meingefährlich zu  unterdrücken.  Ist  der  Affekt  besonders  für  die 
große  Menge  charakteristisch,  so  zeichnen  sich  durch  überlegene  Be- 
wußtheit naturgemäß  die  Führer  aus,  die  sich  aber  für  die  Folgen 
und  Wirkungen  verantwortlich  wissen,  und  als  Intellektuelle  im 
Denken  geübter  sind,  wie  im  allgemeinen  der  bejahrtere  Mann  und 
der  Meister  jeder  Kunst,  jedes  Handwerks. 

25.  (Führer  der  Öffentlichen  Meinung.)  Denn  es  gibt  Führer  der 
öffentlichen  Meinung,  wie  es  Führer  der  Parteien  gibt.  Sie  fallen 
zuweilen  mit  solchen  zusammen,  aber  dann  muß  die  Partei  schon 
ein  Übergewicht  haben,  sie  muß  einem  allgemeineren  Gefühl  und 
Drang  Akzente  verleihen,  sie  muß  von  einer  siegreichen  Propaganda 
getragen  werden,  und  das  wird  sie  nur,  wenn  ihr  die  Bedürfnisse  der 
»Zeit«,  die  vorherrschenden  Empfindungen  und  Erfahrungen  ent- 
gegenkommen, wenn  ihre  Formeln  und  Schlag worte  unwiderstehlich 
wirken  —  dann  wächst  mit  ihr  die  öffentliche  Meinung  zu  ihren  Gun- 
sten, die  öffentliche  Meinung  nimmt  selbst  Partei.  In  diesem  Sinne 
findet  zwischen  den  großen  starken  Parteien  des  gebildeten  Bewußt- 
seins, der  konservativen  und  der  mutativen  —  »aristokratischen« 
und  »demokratischen«,  autoritativen  und  freiheitlichen  —  ein  offen- 
bares Schwanken  statt,  eine  rhythmische  Bewegung,  eine  Pendel- 
schwingung; wobei  aber  gleichzeitig  durch  die  neueren  Jahrhunderte 
ein  Aufstieg  des  zweiten  Gliedes  der  Alternative,  der  mutativen, 
demokratischen,  freiheitlichen  Politik  und  Gedankenrichtung  statt- 
gefunden hat  und  noch  stattfindet.    In  allen  lyändern  Europas,  ja 


D  I  E    ÖFFENTUCHE    MEINUNG.    —    HÖHERE    ERSCHEINUNGEN   USW.  2O7 

auch  in  den  Kolonialländern,  läßt  sich  diese  doppelte  Zwiefachheit 
erkennen. 

Im  Unterschiede  von  Religion,  ja  im  Gegensatze  zu  ihr,  so  wurde 
gesagt,  trage  die  öffentliche  Meinung  ein  wissenschaftliches  Ge- 
präge. So  hängt  auch  ihre  freiere  Gestaltung  innig  mit  dem  zu- 
nehmenden Einfluß  wissenschaftlichen  Denkens  zusammen,  wie  da- 
durch die  ganze  Epoche,  deren  Beobachtung  uns  die  Erkenntnis  der 
öffentlichen  Meinung  an  die  Hand  gibt  —  die  Gegenwart  in  ihrem 
breitesten  Sinne,  oder  die  »Neuzeit«  —  stark  und  deutlich  bezeichnet 
wird.  So  sind  denn  auch  die  Häupter  des  wissenschaftlichen  Denkens, 
die  Gelehrten  als  Lehrer,  die  natürlichen  und  wirklichen  Führer  der 
öffentlichen  Meinung  unmittelbar,  aber  mehr  noch  mittelbar,  und 
immer  in  dem  Maße,  als  ihr  Denken,  Forschen  und  Lehren  sich  er- 
streckt oder  doch  Bezug  hat  auf  Fragen  von  allgemeiner  Tragweite» 
von  öffentlicher  Bedeutung,  daher 

1.  auf  solche  von  allgemein-sozialem  Charakter,  der  immer  mit 
Problemen  des  wirtschaftlichen  Lebens  am  engsten  ver- 
knüpft ist; 

2.  auf  solche  von  politischem, 

3.  auf  solche  von  moralischem  und  in  besonderer  Weise  geistigem 
Charakter. 

Als  Führer  der  öffentlichen  Meinung  innerhalb  der  Nationen  stellen 
für  die  Neuzeit  zunächst  A.  die  Vertreter  des  alten  Lehrstandes, 
stellt  also  die  Geistlichkeit  sich  dar;  ihr  Einfluß  ist  noch  in 
der  ersten  Hälfte  der  bezeichneten  Epoche  überwältigend,  bleibt 
auch  in  der  zweiten  bedeutend.  Er  hängt  naturgemäß  eng  zu- 
sammen mit  dem  dauernden  Gewicht,  das  die  Religion  für  die  öffent- 
liche Meinung  behält,  deckt  sich  aber  nicht  damit,  da  auch  ein  reli- 
giöses und  theologisches  Laientum  sich  mehr  und  mehr  geltend  macht. 
Die  öffentliche  Meinung  ist  aber  in  den  modernen  Ländern,  mehr  oder 
weniger,  im  Laufe  dieser  Zeitspanne,  den  Einflüssen  der  Religion  und 
Theologie  überhaupt,  daher  denen  des  geistlichen  Standes  entglitten, 
sie  hat  sich  sogar  in  weitem  Umfange  diesen  Mächten  entgegen- 
gestellt und  ist  —  nach  der  hier  zugrunde  gelegten  Begriffsbildung  — 
erst  dadurch  eigen tHche  öffentliche  Meinung  geworden.  Der  neue 
Lchrstand  entwickelt  sich  aus  dem  alten  und  entfernt  sich  mehr 
und  mehr  von  dem  alten.  Zunächst  in  engster  Fühlung  und  zum  guten 
Teil  identisch  mit  ihm:  B.  die  Lehrer  der  Hochschulen.  In  geistig 
(d.  h.  der  allgemeinen  wissenschaftlichen  Bildung  nach)  zurück- 
gebliebenen Ländern,  wie  Spanien  und  England,  bleiben  sie  bis  in 
jüngste  Zeit  großen  Teiles  geistlichen  Standes:  freilich  mit  sehr  ver- 
schiedener Wirkung,  weil  dort  römisch-katholische,  hier  anglikanische 


2o8  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

(hin  und  wieder  auch  dissidentische)  GeistHchkeit ;  dort  schwacher, 
hier  teilweise  bedeutender  Anteil  an  der  neueren  Wissenschaft.  Sonst 
aber  stellt  die  theologische  Fakultät  den  Zusammenhang  dar,  und 
an  sie  schUeßt  die  andere  dogmatische  Fakultät,  die  juridische, vielfach 
sich  an:  beide  vertreten  die  überlieferte  Gestalt  gültiger  Wahrheit, 
die  Vergangenheit.  Hingegen  die  beiden  jüngeren  Fakultäten,  die 
medizinische  und  die  philosophische,  sind  mehr  oder  weniger  mit 
dem  Geiste  der  Zukunft  erfüllt,  sie  wollen  das  Neue  machen  und 
darum  das,  was  ist,  bis  in  seine  letzten  Gründe  erforschen. 

Der  Einfluß  der  Universitäten,  und  besonders  der  beiden  durch 
die  Naturforschung  mitbestimmten  Fakultäten,  auf  Gestaltung  der 
öffentlichen  Meinung  ist  in  der  Tat  —  zumal  im  deutschen  Sprachge- 
biete —  lebhaft  gewesen.  Hauptsächlich  im  protestantischen  Deutsch- 
land hat  sich  dies  bemerkbar  gemacht.  Deutsch  und  charakteristisch 
ist  der  Ausdruck  »Aufklärung«,  und  nach  ihr  wurde  das  i8.  Jahrhun- 
dert genannt,  nachdem  schon  der  Humanismus  vorzugsweise  an 
deutschen  Hochschulen  die  Stätten  seiner  Wirksamkeit  gefunden  hatte. 
Die  Neubelebung  des  klassischen  Altertums,  zumal  die  Anlehnung  an 
die  griechischen  Träger  von  Menschheitsidealen,  hatte  den  Triumphen 
der  Naturwissenschaft  vorausgeleuchtet;  jene  konnte,  auch  im  Geiste 
der  beiden  älteren  Fakultäten,  ertragen,  ja  gefördert  werden.  Die 
Naturwissenschaften  aber,  und  eine  von  ihnen  aus  die  Weltanschauung 
reformierende  Philosophie,  fanden  in  Deutschland  früher  als  in 
anderen  lyändern  Eingang  in  die  Hochschulen.  Der  W^ettbewerb 
der  Fürsten,  und  ihr  Interesse,  die  neuen  Erkenntnisse  für  sich  nutz- 
bar zu  machen,  trugen  stark  dazu  bei.  Viel  geringer  ist  der  Einfluß 
der  englischen,  der  französischen,  italienischen  Universitäten  auf  die 
Bildung  der  modernen  öffentlichen  Meinung  gewesen:  im  i8.  Jahr- 
hundert blieb  überall  oder  wurde  wiederum  der  geistliche  Einfluß 
vorwaltend,  sogar  im  19.,  wenigstens  in  Großbritannien,  während 
in  Frankreich  die  Revolution  diesen  Einfluß  immer  von  neuem 
lähmte    und  brach. 

C.  Auch  der  gesamte  übrige  Lehrstand  —  außer  den  Hochschul- 
lehrern —  hat,  wenn  auch  im  ganzen  weniger  frei,  also  mehr  im 
Banne  der  geistlichen  und  weltlichen  Autoritäten  bleibend,  zum  Teil 
doch  im  gleichen  Sinne  bedeutend  gewirkt;  vorzüglich  die  Lehrer  an 
den  Gymnasien  (»Oberlehrer«)  und  später  den  Realschulen;  jene 
durch  die  Pflege  der  antiken  Geistesschätze,  diese  durch  Pflege  der 
Naturwissenschaften  und  der  lebenden  Sprachen.  Erst  im  Laufe. des 
19.  Jahrhunderts  ist  auch  der  Volksschullehrerstand,  zumal  der 
städtische,  insbesondere  großstädtische,  erstarkt,  und  hat,  wenigstens 
innerhalb  des  Protestantismus,  tmd  in  dessen  Geiste,  weiterhin  aber 


Die  Öffentuche  Meinung.  —  Höhere  Erscheinungen  usw.       209 

auch  für  andere  und  modernere  Ideen  teils  innerhalb  seiner  selbst, 
zum  guten  Teil  aber  auch  in  dem  weiten  Bereich  seiner  Lehrtätigkeit, 
an  der  Verbreitimg  neuerer  Weltanschauung,  und  also  der  öffentlichen 
Meinung  in  bezug  darauf,  seinen  Anteil  genommen;  zum  guten  Teil 
dadurch,  daß  er  die  von  höheren  Schichten  des  I^ehrstandes  schon 
wieder  verlassenen  oder  schwach  verteidigten  Stellungen  der  Aufklärung 
noch  behauptete  oder  neu  besetzte ;  soweit  ihm  die  mangelhafte  Deckung 
seiner  sozialen  Lage  oder  seine  mangelhafte  Ausrüstung  dies  gestattete. 
D.  Wenn  aber  der  gesamte  Lehrstand  immittelbar  und  berufs- 
mäßig hauptsächlich  durch  das  lebendige  Wort  Gedanken  und  Mei- 
nungen ausbreitet,  so  gesellen  sich  ihm  frühzeitig  andere  Redner  und 
Prediger,  die  das  Volk  erregen  und  aufwiegeln  oder  dämpfen  und  be- 
schwichtigen, die  auf  den  Schlachtfeldern  der  Meinung  in  den  vordersten 
Reihen  fechten,  und  zwar  überwiegend  —  gerade  die  freien  Redner  zum 
Unterschiede  von  den  berufenen  und  besoldeten  —  zugunsten  neuer, 
junger,   ringender  und  reformatorischer   oder   sogar   revolutionärer 
Ansichten   und    »Ideen«.     Ehemals    auch   diese    fast   ausschließlich 
rehgiös,   aber   vom  rehgiösen   Gebiete   aus   und   mit  theologischen 
Geräten  auch  den  sozialen  und  poHtischen  Acker  pflügend,  sind  sie 
mehr   und   mehr,   mit   dem   Wachstum   der   politischen   Freiheiten, 
politische  Volksredner  und  Agitatoren  geworden.    Die  Tribüne 
wirkt  im  Volke,  wie  in  einer  beratenden  und  beschließenden  Ver- 
sammlung, zunächst  für  persönliche  oder  (in  der  Regel)  von  einer 
Partei  gedeckte  Ansichten,  also  Interessen;  sie  will  diese  empfehlen 
und  für  sie  Stimmung  machen;  in  einer  Versammlung  dieser  Art, 
wenn  es  nicht  eben  eine  Parteiversammlung  ist  (und  auch  dann  gibt 
es  wieder  Parteien  innerhalb  der   Partei)   werden  ihr  geschlossene 
Parteiansichten  und  Parteiinteressen  gegenüberstehen,  so  daß  Über- 
redungen und  Bekehrungen  selten  vorkommen.    Anders  in  offenen 
Volksversammlungen,  wo  die  Menge  zusammenströmt;  hier  wird  der 
Redner,  zumal  wenn  er  über  Stimm-Mittel  und  Beredsamkeit  verfügt, 
um  so  mehr   Beifall  finden,   Eindruck  machen.   Schwankende  be- 
festigen, auch  Andersdenkende  zu  sich  herüberziehen,  je  mehr  er  den 
Gefühlen,  Stimmungen,  Bedürfnissen  einer  solchen  Menge  entgegen- 
kommt; er  wird  hier  auch  zum  Handeln   aufrufen,   anfeuern  und 
begeistern,  oft  zu  ungestümen,  leidenschaftlichen,  verwegenen  Taten 
und  Untaten,  sei  es  für  reale  oder  für  ideelle  Ziele.   Auch  wenn  eine 
solche  Volksbewegung  beschränkt  bleibt  auf  Volksteile,  die  keine 
maßgebenden  Meinungen  zu  bilden  vermögen,  so  kann  sie  doch  eine 
zeiüiche  Fernwirkung  auf  Umgestaltung  der  öffentlichen  Meinung 
ausüben ;  teils  durch  das  Gewicht  ihrer  Gründe,  teils  durch  die  Furcht, 
welche  sie  erregt. 

TOanie».  KrltUt.  14 


210  Begriff  und  Theorie  der  öffentlichen  Meinung. 

£•    Unter    den    Rednern    und    Redepolitikern     ragt     in     allen 
modernen   I^ändern   der    Rechtsanwalt   hervor,    der    durch    die 
^.    forensische  Beredsamkeit    geübt    und    vorbereitet,    auch    als   freies 
GHed  des   Gelehrtenstandes  und  oft,   als  Mann  von  großem  Ein- 
kommen, mit  Vorliebe  sich  zum  Volksführer  und  Staatsmanne  auf- 
wirft.   Es  war  mehr  eine  zufällige  als  eine  notwendige  Erscheinung, 
daß  sie  in  auffallender  Weise  Vorkämpfer  der  liberalen  Ideen,  des 
Fortschritts   und    der    Reformen,    neuerdings   daher    oft    auch   des 
SoziaHsmus  geworden  sind.    Es  war  hauptsächlich  die  Folge  davon, 
daß  diese  Richtungen,  um  die  eherne  Mauer  der  bestehenden  Insti- 
tutionen und  Meinungen  zu  brechen,  vorzugsweise  der  Anwälte  be- 
durften,   während   die   herrschenden   Autoritäten   die   Sprache   der 
Macht  redeten,  außerdem  in  der  kirchUchen  Geisthchkeit  immer  die 
Organe  ihrer  Denkungsart  hatten,  als  Verteidiger  der  festen  Stellungen 
von  Thron  und  Altar.  Nachdem  in  neueren  Zeitläuften  deren  Einfluß 
stark  gesunken  und  auch  sonst  die  konservativen  Gesinnungen  aus 
ihrer  Machtstellung  herausgedrängt  worden,  sind  sie  ebenso  genötigt, 
wenigstens  auch  zu  den  Advokaten  ihre  Zuflucht  zu  nehmen  und 
finden  diese  um  so  leichter  bereit,  weil  jene  Denkweisen  auch  sonst 
immer  mehr  darauf  angewiesen  sind,  unter  modernen  poHtischen  Zu- 
ständen mit  modernen  IVIitteln,  also  mit  Schlagwörtern  und  agitatori- 
schen Zündstoffen  auf  die  öffentliche  Meinung  und  auf  die  große  Menge 
der  Wählerschaften  zu  wirken;  bei  welchem  Unterfangen  sie  natur- 
gemäß bald  ihre  Gegner  zu  übertrumpfen  sich  bemühen  und  lernen. 
Die  Herrschaft  der  Advokaten  und  I^iteraten,  die  Auguste  Comte 
anklagte,  wirkt  nicht  notwendig  im  Sinne  reformatorischer  oder  gar 
revolutionärer  Parteigesinnung,  wenn  sie  auch  im  Dienste  entgegen- 
gerichteter Meinungen  vielleicht  stärker  einer  sittlichen  Auflösung 
dient,  der  nur  mit  organischen  Mitteln  gewehrt  werden  kann.  —  Der 
Arzt  ist  der  andere  gelehrte  Stand,  der  wie  der  Anwalt  frei  im  wirt- 
schaftHchen  Leben  steht.    Er  ist  in  wissenschaftlicher  Denkungsart 
bewandert  auf  einem  Gebiete,  das  immer  dem  Wunderglauben  und 
der  Zauberei  vorzugsweise  offen  gestanden  hat  und  noch  steht;  er 
ist  ein  Vorkämpfer  der  Naturwissenschaft  und  als  solcher,  der  jedes 
Haus  betritt  und  meistens  überall  willkommen  ist,  geeignet,  im  Sinne 
eines  vernünftigen  männHchen  Urteils  zu  wirken  und  Gespenster  zu 
verscheuchen.    Sein  Einfluß  hat  die  moderne  Denkungsart  gestalten 
und  also  die  öffentHche  Meinung  bilden  helfen.  Wenn  er  unter  be- 
sonderen Umständen  auf  die  Seite  vergangener  oder  vergehender 
Mächte  und  Gesinnungen  sich  stellt,  so  wird  er  einer  zeitweiligen 
Strömung  der    öffenthchen  Meinung  Untertan,   anstatt  sie   zu  be- 
herrschen. Er  gefährdet  dadurch  die  soziale  Grundlage  seines  geistigen 


Die  öffentwche  Meinung.  —  Höhere  EJrscheinungen  usw.       211 

Daseins  und  wird  bald  sich  beklagen,  daß  er  die  von  ihm  gerufenen 
Geister  nicht  mehr  los  werde.  Er  will  immer  zum  »denkenden  besseren« 
Teile  des  Volkes  gehören  und  das  Bewußtsein  hegen,  daß  er  als 
Denkender  und  als  Redender  im  Sinne  der  Aufklänmg  und  Ver- 
nünftigkeit auf  weitere  Kreise  wirke. 

F.  Aber  (wie  früher  betont  ward)  —  wenn  nicht  tiefer  und 
stärker,  so  doch  weiter  und  breiter,  sind  die  Wirkungen  —  un- 
mittelbare und  mehr  noch  mittelbare  —  des  gelesenen  als  des 
gesprochenen  Wortes.  Gerade  für  die  Neuzeit,  und  daher  auch  für 
die  öffentiiche  Meinung  als  soziale  Macht  in  der  Neuzeit,  ist  die 
Verallgemeinerung  des  Lesens  durch  die  Buchdruckerkunst  und  die 
Ausbreitimg  der  Volksschulbildung  in  hohem  Grade  charakteristisch 
geworden.  Immer  ist  aber  die  Fähigkeit  eines  leichten,  raschen  und 
vielfachen  Ibsens,  zumal  des  I^esens  von  Büchern  wissenschaftlichen 
oder  gar  gelehrten  Inhaltes,  ungemein  verschieden  geblieben  und 
beschränkt  sich  nach  der  sozialen  Stellung,  weil  nach  der  Vorbildung 
und  der  geweckten  Anteilnahme  an  Dingen  und  Fragen.  In  den 
meisten  Ländern  der  heutigen  Kultur  wird  die  Fähigkeit  des  leichten 
geläufigen  Lesens  bei  der  großen  Mehrheit  von  Frauen  und  Männern 
angetroffen;  die  Lesegewohnheiten  beschränken  sich  auf  eine 
Minderheit,  wenn  auch  auf  eine  bedeutende,  auch  da,  wo  das  Lesen- 
können allgemein  oder  fast  allgemein  geworden  ist.  Und  in  bezug 
darauf  gelten  die  früher  bezeichneten  Unterschiede  der  Lebensalter, 
der  Geschlechter,  der  Klassen  und  der  Schichten  innerhalb  ihrer.  Sehr 
stark  heben  sich  die  »Gebildeten«  in  dieser  Hinsicht  vom  Volke  ab, 
stark  aber  auch  die  Städter,  und  unter  ihnen  ganz  besonders  die  Groß- 
städter von  den  Landbewohnern.  Auch  für  die  Geschlechter  gilt  der 
Unterschied,  wenn  auch  innerhalb  der  gebildeten  Schicht,  die  all- 
mählich tiefer  ins  Volk  sich  erstreckt,  die  Frauen  im  Lesen  der  schö  nen 
Literatur  regelmäßig  den  Männern  voraus  sind.  Dies  galt  insbesondere 
in  den  protestantischen  Ländern  schon  seit  der  Reformationszeit 
für  das  Lesen  der  Bibel  und  anderer  Erbauungsbücher,  während  in 
katholischen  erst  das  19.  Jahrhundert  eine  in  tieferen  Volksschichten 
andächtig  gelesene  religiöse  Literatur  hervorgebracht  und  mächtig 
gefördert  hat,  auch  diese  vorzugsweise  für  Frauen  bestimmt  und  von 
Frauen  geschätzt.  Für  die  öffentliche  Meinung  kommt  dies  insoweit 
stark  in  Betracht,  als  die  religiösen  Meinungen  einen  Widerpart  gegen 
die  öffentliche  Meinung  darstellen,  aber  auch  in  sie  übergehen. 
Der  Natur  der  Sache  nach  haben  auf  die  öffentliche  Meinung  als 
Meinung  und  Willen  der  gebildeten  und  daher  hauptsächHch  der 
bürgerlichen  Klasse,  vorzugsweise  weltliche  Schriften  fortwährend 
gewirkt. 

14* 


212  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

Dieser  Einfluß  der  Schriftsteller  auf  Gestaltung  der  öffentlichen 
Meinung  ist  eine  Wahrheit  von  ausschlaggebender  Bedeutung.  Er  ver- 
zweigt sich  von  wenigen  starken  Hauptadern  in  unzählige  Kapillar- 
gefäße. Seit  dem  17.  Jahrhundert,  wo  zuerst  Philosophen  ohne  geistliche 
Gewänder,  und  sogar  im  Widerspruch  gegen  viele  theologische  Denk- 
weisen, epochemachend  auftraten  —  Hobbes,  Descartes,  Spinoza, 
I/)CKE,  LEibniz,  Bayi,e  Und  andere  —  hat  dieser  Einfluß  unablässig 
zugenommen.  Im  18.  Jahrhundert  erreichte  er  eine  Höhe  und  Stärke, 
die  ein  bestimmender  Faktor  des  politischen  Lebens  wurde,  durch 
V01.TAIRE,  Rousseau,  Montesquieu,  Diderot  imd  die  Enzyklo- 
pädisten. Das  Urteil  ToCQUEVii.i,ES  über  den  Einfluß  der  Schrift- 
steller auf  die  geistige  Atmosphäre,  aus  der  die  Revolution  hervorging, 
ist  früher  mitgeteilt  worden  (S.  146).  Was  dort  der  Historiker  auf 
die  politischen  Theorien  einschränkt,  hat  in  Wahrheit  eine  viel 
allgemeinere  Bedeutung.  Auf  allen  Gebieten  wurden  die  hergebrachten 
Meinungen  tief  erschüttert  und  zum  großen  Teile  unheilbar  zerstört. 
Die  öffentliche  Meinung,  die  daraus  entstand  und  sich  allmählich 
befestigte,  ist  das  gemeinbürgerliche  Bewußtsein,  das  schon  unter  der 
Fahne  des  aufgeklärten  Absolutismus,  der  in  Frankreich  als  solcher 
nur  schwach  zur  Geltung  kam,  sich  mächtig  regte,  das  dann  in  der 
französischen  Revolution  zuerst  sich  selbständig  betätigte,  und  das  im 
Laufe  des  19.  Jahrhimderts,  ungeachtet  mehrerer  lebhafter  Erneue- 
rungen, die  der  religiösen  Denkungsart  zuteil  wurden,  siegreich  und 
durchdringend  vorgewaltet  hat.  Dieser  Fortgang  geschah  unter  immer 
vermehrter  Wirkung  der  Schriftsteller,  indem  sich  zu  den  Buch- 
schriftstellern und  Flugschriftverfassern  die  Zeitungschriftsteller  — 
oft  freilich  dieselben  Personen  —  gesellten,  imd  ihnen,  wenigstens 
was  die  Breite  der  Wirkungen  betrifft,  weit  über  den  Kopf  wuchsen. 
Jene  Gegenströmungen  aber  haben  auch  eine  dauernde  Bedeutimg. 
Wie  in  jedem  Kriege  und  fortgesetzten  Streit  die  Kämpfenden  von- 
einander lernen  und  die  Waffen,  wodurch  der  Gegner  sich  überlegen 
erweist,  selber  ergreifen,  so  geschieht  es  auch  in  den  Kämpfen  der 
Weltanschauungen.  Die  Verdünnung  des  Buches  und  der  Tagesschrift, 
der  Gebrauch  der  Zeitungen,  ist  zuerst  hauptsächlich  Angriffswaffe  der 
Neuernden,  also  der  bürgerlichen  und  liberalen  Denkungsart.  Auch 
sie  wird  aber  bald  aufgegriffen  und  angewandt  von  der  Gegenpartei, 
von  den  Verteidigern  des  alten,  sonst  als  überwunden  geltenden 
Bewußtseins.  Je  mehr  nun  diese  Gegensätze  im  öffentlichen  Leben 
und  Schrifttum  sich  ausprägen,  um  so  mehr  tritt  als  Inhalt  »der« 
öffentlichen  Meinung  hervor,  was  ihnen  gemeinsam  ist,  wenn  auch 
zunächst  nur  so  gemeinsam  ist,  daß  eine  Stellung,  die  der  neuen 
Denkungsart  gehört,    von    ihren  Gegnern    nicht   mehr  angegriffen, 


Die  öffentuche  Meinung.  —  Höhere  Erscheinungen  usw.       213 

sondern  »eingeräumt«  wird;  die  Einräumung  geht  sogar  in  vielen 
Fällen  in  Behauptung  über.  Solche  Entwicklimgen  sind  für  das  Ver- 
ständnis gegenwärtiger  Theorie  besonderer  Aufmerksamkeit  wert« 
Dies  Nachgeben  und  Aufgeben  des  Widerstandes  läßt  sich  bei  allen 
Aggregatzuständen  der  öffentlichen  Meinung  beobachten  und  ist  für 
diese  immer  durchaus  charakteristisch. 

G.  Den  Schriftstellern  im  hier  genannten  Sinne  pflegen 
nicht  die  Dichter  beigezählt  zu  werden,  obgleich  sie  fast  ohne 
Ausnahme  als  Schriftsteller  sich  betätigen.  Denn  andererseits  ge- 
hören die  Dichter  zu  den  &  Künstlern«,  die  sich  zum  Ziele  setzen, 
Unwirkliches  als  wirkhch  erscheinen  zu  lassen,  während  die  übrige 
Schriftstellerei  irgendwie  der  außerwissenschaftlichen  oder  wissen- 
schafthchen  Auffasstmg  des  Wirklichen  dienen,  es  wiedergeben,  dar- 
stellen will.  Die  Zusammenhänge  und  Berührungen  sind  aber  mannig- 
fach, so  wie  wiederum  die  des  Schriftstellers  mit  dem  Redner.  Auch 
der  Dichter  kann  als  Redner  wirken  und  insbesondere  durch  Vortrag 
seiner  Dichtung  große  Wirkungen  erzielen;  eher  aber  läßt  er  andere 
im  Spiele  reden,  legt  den  Spielenden  seine  Worte  in  den  Mimd,  die 
sie  also  von  der  Bühne  laut  werden  lassen.  Der  dramatische 
Dichter  kann  eher  ncch  als  der  erzählende  ein  Prophet  und  Führer 
der  öffentHchen  Meinung  werden.  Er  wird  es  durch  den  Eindruck  der 
sittlichen  Urteüe,  die  im  Schauspiel  lebendig  zu  Augen  und  Ohren 
sprechen.  Schii^i^r  verherrlichte  diese  Gedanken  als  Jüngling  in  jenem 
Vortrag,  worin  er  die  Schaubühne  als  eine  moralische  Anstalt  betrach- 
tet. Er  führt  aus,  die  Unzulänglichkeit,  die  schwankende  Eigenschaft 
der  poUtischen  Gesetze,  welche  dem  Staat  die  Religion  unentbehrlich 
mache,  eben  diese  bestimme  auch  den  sittHchen  Einfluß  der  Bühne. 
„Die  Gerichtsbarkeit  der  Bühne  fängt  an,  wo  das  Gebiet  der  weltlichen 
Gesetze  sich  endigt.  Wenn  die  Gerechtigkeit  für  Gold  verblendet 
und  im  Solde  der  I^aster  schwelgt,  wenn  die  Frevel  der  Mächtigen 
ihrer  Unmacht  spotten,  und  Menschenfurcht  den  Arm  der  Obrigkeit 
bindet,  übernimmt  die  Schaubühne  Schwert  und  Wage  und  reißt 
die  Laster  vor  einen  schrecklichen  Richterstuhl.  Das  ganze  Reich 
der  Phantasie  und  Geschichte,  Vergangenheit  und  Zukunft,  stehen 
üirem  Wink  zu  Gebot."  Auch  der  großen  Klasse  von  Toren  halte  die 
Schaubühne  den  Spiegel  vor  und  beschäme  die  tausendfachen 
Formen  derselben  mit  heilsamem  Spott.  „Aber  ihr  großer  Wirkungs- 
kreis ist  noch  lange  nicht  geendigt.  Die  Schaubühne  ist  mehr  als 
jede  andere  öffentliche  Anstalt  des  Staats  eine  Schule  der  praktischen 
Weisheit,  ein  Wegweiser  durch  das  bürgerhche  Leben,  ein  unfehlbarer 
Schlüssel  zu  den  geheimsten  Zugängen  der  menschHchen  Seele." 
Nicht  geringer  als  ihr  Verdienst  um  die  sittliche  Bildung  sei  das  um 


214  Begriff  und  Theorie  der  öffentwchen  Meinung. 

die  ganze  Aufklärung  des  Verstandes,  in  welcher  höheren  Sphäre 
der  große  Kopf,  der  feurige  Patriot  sie  erst  ganz  zu  gebrauchen  wisse. 
„Die  Schaubühne  ist  der  gemeinschaftliche  Kanal,  in  welchen  von 
dem  denkenden  besseren  Teile  des  Volkes  das  lyicht  der  Weisheit 
herunterströmt  und  von  da  aus  in  milderen  Strahlen  durch  den  ganzen 
Staat  sich  verbreitet.  Richtigere  Begriffe,  geläuterte  Grundsätze, 
reinere  Gefühle  fließen  von  hier  durch  alle  Adern  des  Volkes;  der 
Nebel  der  Barbarei,  des  finsteren  Aberglaubens  verschwindet,  die 
Nacht  weicht  dem  siegenden  Licht."  Unter  den  vielen  herrlichen 
Früchten  der  besseren  Bühne  will  er  dann  in  kurzen  Worten  die 
Duldung  hervorheben  tmd  als  noch  zu  erhoffende  segensreiche 
Wirkungen  die  Verbesserung  der  Erziehung  und  die  Zurechtweisimg 
der  Meinungen  der  Nation  über  Regierung  und  Regenten;  die  von 
der  Schaubühne  aus  bewirkt  werden  könnte,  wenn  die  Oberhäupter 
imd  Vormünder  des  Staats  es  verstünden.  Schii<i.ER  selbst,  obschon 
er  in  seinen  späteren  Jahren  die  Freiheit  ins  Reich  der  Träume  ver- 
wies, hat  als  »Dichter  der  Freiheit«  in  der  deutschen  Volksseele  einen 
Platz  erobert,  den  auch  die  öffentliche  Meinung,  je  mehr  sie  selber  für 
die  »Freiheit«  eingenommen  war,  ihm  als  gebührend  zuerkannt  hat; 
teils  haben  dazu  die  Werke  seiner  Jugend  gewirkt,  die  von  überschäu- 
mendem Trotz  gegen  »Tyrannen«  und  soziale  Übel  erfüllt  waren,  tmd 
darin  enthaltene  Sprüche  wie  „Männerstolz  vor  Königsthronen",  „Ich 
kann  nicht  Fürstendiener  sein",  „Sire,  geben  Sie  Gedankenfreiheit*', 
„Der  Mensch  ist  frei,  und  war*  er  in  Ketten  geboren"  —  teils  das  große 
Drama  der  Befreiimg  eines  Volkes,  das  am  Schlüsse  seiner  lyaufbahn 
lag,  und  die  darin  begegnenden  starken  Verse: 

„Nein,  eine  Grenze  hat  Tyrannenmacht; 

Wenn  der  Gedrückte  nirgends  Recht  kann  finden; 

Wenn  unerträglich  wird  die  I^ast  —  greift  er 

Hinauf  getrosten  Mutes  in  den  Himmel 

Und  holt  herunter  seine  ew'gen  Rechte 

Die  droben  hangen  unveräußerlich 

Und  unzerbrechlich  wie  die  Sterne  selbst  — " 


und 


Wir  wollen  frei  sein  wie  die  Väter  waren, 
Eher  den  Tod  als  in  der  Knechtschaft  leben. 


So  hat  er  ohne  Zweifel  zur  Schätzung  der  »Freiheit«,  und  also 
zum  Aufstieg  des  politischen  und  religiösen  LiberaHsmus  in  der  ersten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts,  und  darüber  hinaus,  mächtig  beigetragen. 
Der  allgemeine  Eindruck  seiner  Persönlichkeit,  eines  sympathischen 
IdeaHsmus,  der  an  reHgiösen  Enthusiasmus  erinnerte,  jener  Eindruck, 
dem  Goethe  die  Worte  gab: 

Er  glänzt  uns  vor,  wie  ein  Komet  entschwindend, 
Unendlich  Licht  mit  seinem  lyicht  verbindend" 


Die    ÖFFENTI.ICHE    MEINUNG.    —    HÖHERE    ERSCHEINUNGEN  USW.  215 


wirkte  dazu  mit  und  gab  Schii^lers  Namen  eine  Verklärung,  deren 
Spuren  noch  nicht  gewichen  sind.  So  ist  der  Dichter  ein  Führer  des 
öffentlichen  Geistes  und  der  öffentlichen  Meinmig  geworden. 

Wie  naturgemäß  mit  den  Ausdrucksmitteln  immer  die  Führung 
der  öffentlichen  Meinung  zusammenhängt  und  weil  neben  I^ehre, 
Rede,  Schrift,  Dichtung  auch  die  übrige  Kunst  zu  den  Ausdrucks- 
mitteln gehört,  so  werden  auch  die  Künstler  zuweilen,  wenn  nicht 
Führer  so  doch  Begleiter  der  öff entheben  Meinung;  in  erster  lyinie 
etwa  die  Bühnenkünstler  als  Dolmetsche  der  dramatischen  Dich- 
ttmg;  aber  auch  der  anerkannte,  ja  bewunderte  Maler,  Bildhauer, 
Architekt  und  der  Musiker  wirken  auf  den  Geschmack,  den  Genuß 
imd  dadurch  mittelbar  auf  die  Meinung,  zunächst  etwa  nur  von  dem, 
was  schön  sei,  aber  das  Schöne  und  das  Gute  berühren  sich  fort- 
während, so  daß  nicht  nur  die  ästhetische,  sondern  auch  die  ethische 
öffentliche  Meinung  von  ihnen  beeinflußt  und  mitbestimmt  wird, 
in  weiterer  Folge  daher  wohl  auch  die  politische.  So  haben  die 
bildenden  Künste  und  ihre  Größen  seit  der  Renaissance  im  Sinne  der 
Lösung  der  neueren  Denk-  und  Lebensweise  vom  asketischen  Ideal 
mitgewirkt,  was  Heine  und  andere  die  Emanzipation  des  Fleisches 
nannten;  sogar  die  Baukunst  wirkte  leichter,  heiterer,  ja  im  Rokoko 
frivol,  gegenüber  der  ernsten,  düsteren  und  erhabenen  Gothik.  In- 
dessen der  sittliche  Ernst,  durch  Wissenschaft  und  Philosophie  ver- 
tieft, stellt  auch  in  der  Kunst  dem  Weltleben  gegenüber  von  Zeit 
zu  Zeit  sich  wieder  her.  Ihm  unterwirft  sich  alsdann  die  öffentliche 
Meinung,  indem  sie  den  Künstlern  die  Palme  zuerkennt,  die  sich  im 
großen  Stile  als  Meister  bewährten  und  eine  der  religiösen  Empfin- 
dung verwandte  Stimmung  der  Seele  hervorzurufen  vermochten. 
Wenn  der  Künstler  —  welcher  Art  auch  immer  —  den  Erziehern  des 
Menschengeschlechtes  sich  gesellt,  so  stellt  er  die  öffentiiche  Meinung, 
den  Zeitgeist  auf  sich  ein  und  tritt  alsbald  in  Wechselwirkung  mit 
diesen  Kräften,  und  der  große  Künstler  wird  immer  in  Harmonie 
mit  dem  großen  Denker  wirken  auf  die  öffentUche  Meinung  des 
Jahrhunderts,  auf  die  des  Tages  wirkt  freihch  der  kleine  Künstler 
wie  der  kleine  Denker  oft  in  viel  auffallenderer,  sogar  in  blendender 
oder  berauschender  Weise. 


Zweites  Buch 


Empirische  Beobacfitungen  und 
Anwendungen 


V.  Kapitel. 

Die  Öffentlidie  Meinung   und  ihre  Merkmale. 

Erster  Abschnitt.    Soziologische  Zusammenhänge 
der  Öffentlichen  Meinung. 

I.  (Die  Formen  des  sozialen  Willens.)  Ich  habe  den  Begriff  der 
öffentlichen  Meinung  dahin  bestimmt,  daß  er  eine  Form  des  sozialen 
Willens  ausdrückt  und  zwar  eines  gesellschaftlichen  Willens  im  Unter- 
schiede von  allen  Formen  des  gemeinschaftUchen  Willens.  Die  I^ehre 
von  den  Formen  des  sozialen  Willens  werde  hier  nochmals  zusammen- 
gefaßt. Unterschieden  wurden  je  6  Formen  des  gemeinschaftUchen 
und  des  gesellschaftlichen  Willens,  von  denen  3  die  einfachen  oder 
elementaren,  3  die  zusammengesetzten  oder  höheren  Formen  sind. 
Die  Tafel  dieser  Kategorien  ist: 


A.  (Gemeinschaft) 
a)  Verständnis,  b)  Brauch, 
c)  Glaube; 
aa)  Eintracht,  bb)  Sitte, 
cc)  Religion. 


B.  (Gesellschaft) 
d)  Vertrag,  e)  Satzung, 
f)  Lehre; 
dd)  Konvention,  ee)  Gesetz- 
gebung,   ff)    öffentliche 
Meinung. 
Die  mit  einfachen  Buchstaben  (a — f)  bezeichneten  Formen  sind 
die  elementaren,  die  mit  zwiefachen  die  zusammengesetzten  oder 
höheren  Formen,  die  wir  auch  solche  des  Kollektivwillens  genannt 
haben. 

Alle  diese  Formen  sind  miteinander  verwandt,  hängen  unterein- 
ander zusammen,  gehen  ineinander  über.  Die  A-Formen  sind  ur- 
sprünglich und  wesentlich  geworden  —  sie  entsprechen  den  Formen 
des  individuellen  Wesen  willens.  Die  B-Formen  sind  abgeleitet 
und  wesentlich  gemacht,  sie  entsprechen  den  Formen  des  individuellen 
Kürwillens.  Die  A-Formen  des  sozialen  Wollens  sind  aber  nicht 
selber  notwendigerweise  Ausdrücke  von  Wesenwillen,  ebensowenig 
die  B-Formen  notwendigerweise  Ausdrücke  von  Kür  willen.  Wohl 
aber  sind  die  individuellen  Wesenwillen  in  entschiedener  Weise  an 
den  A-Formen,  die  individuellen  Kür  willen  in  entschiedener  Weise 
an  den  B-Formen  des  sozialen  Wollens  beteiligt.  Übrigens  aber 
müssen  diese  ganz  aus  sich  selber,  als  gemeinschaftliche  und  als 
gesellschaftliche    Formen    erkannt   und    beurteilt    werden.    —   Das 


220  Empiri»che  Beobachiuägen  und  Anwendungen. 

Prinzip  der  Einteilung  ist  die  dreifache  Natur  der  menschlichen 
Seele,  die  im  vegetativen  Leben  beruht,  im  animalischen  Leben  sich 
betätigt,  im  mentalen  und  spezifisch  menschlichen  Leben  als  Geist 
sich  vollendet.  Diese  Dreieinigkeiten  müssen  immer  als  Wechsel- 
wirkungen und  Zusammen  Wirkungen  begriffen  werden. 

Jede  dieser  Formen  verbindet  menschliche  Seelen  und  Willen; 
sie  verbindet,  indem  sie  auf  das  Tun  und  Handeln  und  —  mittelbar 
oder  unmittelbar  —  auf  das  Denken  der  Individuen  wirkt,  veran- 
lassend, nötigend,  anregend,  also  in  dreifacher  Weise  auf  ihren  Willen. 
Die  A-Formen  entspringen  überwiegend  aus  gemeinsamen  Gefühlen, 
die  B-Formen  überwiegend  aus  gemeinsamen  Gedanken.  Die  B-For- 
men  sind  nur  die  »rationalisierten «  —  reflektierten  —  d.i.  durch 
menschliches  Denken  auf  ihren  Grund  und  ihren  Zweck  bezogenen 
A-Formen,  bleiben  daher  immer  von  diesen  abhängig  und  in  ihren 
Sphären.  Sie  sind  gewissermaßen  deren  Nachahmimgen,  Nach- 
bildungen, Ersatzgestalten,  die  aber  eben  als  Gebüde  des  menschlichen 
Denkens  auch  eine  Kraft  erlangen  können,  die  in  äußeren  Wirkungen 
der  Kraft  jener  Urgebilde  weit  überlegen  wird.  Die  einen  wie  die 
anderen  enthalten  Imperative;  aber  die  der  B-Formen  sind  scharf 
begrenzt,  bestimmt  »formuliert«,  hart  und  starr  gestaltet,  die  der 
A-Formen  hingegen  schmiegsam  weich,  läßlich  unbestimmt,  lebendig 
bildsam.  So  läßt  sich  der  Übergang  wenigstens  der  einfachen  A-For- 
men in  die  einfachen  B-Formen  mit  einem  Prozeß  der  Erstarrtmg 
vergleichen.  So  wird  aus  einem  stillschweigenden  losen  Verständnis 
und  Verständigung  eine  förmliche  Abmachung,  eine  bestimmte 
Verabredung,  ein  Vertrag;  so  aus  einem  gefälligen,  sinnigen,  poesie- 
vollen Brauch  eine  harte  Satzung;  so  aus  einem  frommen,  hinge- 
gebenen, phantastisch-lebendigen  Glauben  eine  trockene  Lehre  und 
ein  starres  Dogma.  Die  ausgesprochene  Formel  wird  vollends  be- 
festigt —  fixiert  —  durch  die  Schrift,  sie  wird  in  der  Urkunde  nieder- 
gelegt, geht  in  ein  Buch  über.  Die  Urkunde  kann  dann  ihre  eigene 
Würde  empfangen,  wie  jeder  Vertrag  eine  Weihe  erhalten  mag;  ein 
Buch  kann  zur  »heiligen  Schrift«  werden.  Die  Verntmft  und  das 
logische  Denken  treten  in  den  Dienst  des  Glaubens  und  der  Ein- 
bildungskraft. Aber  eines  Tages  oder  Jahrhunderts  befreit  sie  sich 
von  der  Dienstbarkeit,  sucht  und  findet  ihre  eigenen  Wege. 

2.  (Die  Entwicklung  der  sozialen  Willensformen.)  Die  Ent- 
wicklung eines  überwiegend  gemeinschaftlichen  Zeitalters  zum  Vor- 
walten der  Gesellschaft  wird  vorzugsweise  durch  das  Zurücktreten 
oder  die  Verwandlung  der  höheren  A-Formen  gegen  und  in  die  höheren 
B-Formen  bezeichnet.  Es  ist  die  Rationahsierung  des  Geistes,  der 
Fortschritt  der  Kultur  zur  ZiviUsation,  das  Vorwalten  des  städtischen, 


MERKMAI.E.    SOZIOI^OGISCHE    ZUSAMMENHÄNGE   USW.  221 

großstädtischen  Zusammenlebens  mit  Entwicklung  des  Handels, 
der  Technik,  der  Wissenschaft.  Aber  auch  innerhalb  dieses  großen 
Prozesses,  in  jedem  Querschnitt  durch  die  historische  Entwicklung, 
erkennen  wir  die  gleichen  Unterschiede  und  Gegensätze,  ein  Mehr 
oder  Weniger  des  älteren  oder  des  neueren  Geistes,  eine  Hinneigung 
in  die  spätere  oder  ein  Beharren  in  der  früheren  Richtung,  eine  mehr 
oder  minder  vollkommene  Verschmelzung,  mehr  oder  minder  aus- 
gesprochene Herrschaft  des  einen  oder  des  anderen  Prinzips.  Wenn 
wir  nämlich  die  mannigfachen  Weisen  erforschen,  worin  Menschen 
durch  gemeinsames  und  für  sie  verbindliches  Wollen  zusammenhängen, 
so  finden  wir,  daß  sich  diese  beziehen  lassen  auf  ein 
A.  Zusammen- Wesen,  B.  Zusammen- Wohnen,  C.  Zusammen- Wirken. 
(Als  Zusammen- Wesen  werde  hier  das  natürhche  Gefühl  der  Zusammen- 
gehörigkeit  in  die  Form  eines  Tätigkeitswortes  gebracht.)  Aus 
jeder  dieser  Haupt  arten  des  Zusammen  ergeben  sich  viele  solche 
Weisen:  i.  des  gegenseitigen  Betragens,  2.  des  gemeinsamen  Handelns, 
3.  der  gleichen  Gesinnung;  also  des  in  diesen  Weisen  sich  ausprägenden, 
verbundenen  tmd  sich  als  verbindlich  setzenden  Willens.  Jede  be- 
tätigt und  bewährt  sich  als  gemeinsames  Leben,  gemeinsames  Arbeiten, 
gemeinsames  Denken. 

3.  (Zusammenhänge.)  A.  Das  Zusammen-Wesen  beruht  in  der 
naturgegebenen  Verwandtschaft  der  Menschen,  nach  deren  weitestem 
imd  engstem  Sinne,  so  aber,  daß  es,  je  enger  der  Sinn,  um  so  stärker  in 
die  Erscheinung  tritt.  Hier  ist  es  das  gemeinsame  lieben,  was  vor- 
wiegt tmd  charakteristisch  ist,  gemeinsames  Arbeiten  und  gemeinsames 
Denken  sind  davon  abhängig.  Wechselseitige  Beziehung  teils  zuein- 
ander, teils  zu  lebendigen  Ganzen  (Familie,  Geschlecht,  Stamm,  Volk) 
ergibt  die  Richtung.  Das  gemeinsame  Leben  bezeichnet  den  Übergang 
zum  in  der  Regel  mit  ihm  verbundenen  (B.)  Zusammen  -  Wohnen, 
das  gleichfalls  ursprünglich  zumeist  in  der  Verwandtschaft,  dem- 
nächst in  Verhältnissen  der  Herrschaft  und  Untertanschaft  gegründet 
ist,  allgemein  aber  die  von  Verwandtschaft  unterschiedene  Nachbar- 
schaft bezeichnet.  Auch  diese  hat  engere  und  weitere  Bedeutung; 
auch  aus  ihr  entspringt  verbundener  Wille  um  so  leichter  und  stärker, 
je  enger  sie  verstanden  wird,  je  mehr  ihr  solcher  Wille  schon  zugrunde 
liegt.  Eine  gewisse  örtliche  Nähe,  die  das  allgemeine  Merkmal  der 
Nachbarschaft,  ist  für  alle  menschlichen  Beziehungen,  Verhältnisse, 
Verbindungen  notwendig,  wenn  auch  die  Technik  einer  hochent- 
wickelten Zivilisation  die  weitesten  Entfernungen  überbrückt  und 
schon  uns  dem  Ziele  nähert,daß  man  von  jeder  bewohnten  Stelle  des 
Erdballs  zu  jeder  anderen  durch  Drähte  sprechen  und  durch  Ma- 
schinen würde  fliegen  können.   Die  große  Regel  wird  immer  bleiben, 


222  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

daß  die  Wechselwirkung  zwischen  den  Menschen,  gesellschaftliche 
wie  gemeinschaftliche,  an  die  leichte,  rasche  und  vielfache  Erreich- 
barkeit von  Gestalt  und  Stimme,  also  an  die  räumHche  Nähe,  die 
Nachbarschaft,  wenngleich  mehr  oder  weniger  enge,  geknüpft  bleibt. 
Gemeinsame  Beziehung  auf  den  Boden  —  das  I^and,  die  Heimat  — 
prägt  am  lebendigsten  im  gemeinsamen  Arbeiten,  insbesondere  im 
gemeinsamen  Bebauen  des  Ackers,  sich  aus.  So  bedeutet  sie  den 
Übergang  zum  (C.)  Zusammen- Wirken,  das  unmittelbar  als 
gemeinsamer  Kampf  um  den  Boden,  Verteidigung  des  besessenen 
I^andes  oder  Eroberung  des  Grundes  für  Kinder  und  Nachfahren  in 
die  Erscheinung  tritt,  aber  von  der  Kampfgenossenschaft  ihr  Wesen 
auf  jede  Art  der  Genossenschaft  der  Tätigkeit,  des  Sinnes  und 
Geistes  ausdehnt.  Denn  hier  erfüllt  sich  am  vollkommensten  die 
Bedeutung  des  gemeinsamen  Denkens:  Plänemachens,  Beratens, 
Beschheßens,  gegenseitiger  Anregung,  Förderung  und  Hilfe.  Auch 
hieraus  geht  verbindender  und  verbindlicher  Wille  um  so  leichter 
imd  stärker  hervor,  je  enger  und  inniger  die  Genossenschaft  und 
Freundschaft,  die  gegenseitige  Kenntnis  und  Anerkennung,  je  stärker 
daher  der  gemeinsame  Geist,  der  sich  darin  ausprägt  als  Gesinnung 
und  Bestrebung,  in  die  Erscheinung  tritt. 

4,  (Unterschiede  der  Individuen.)  A.  In  bezug  auf  das  Zu- 
sammen-Wesen  ist  der  tiefste  Unterschied  der  Menschen,  auch 
in  allen  psychologischen  Wirkungen,  der  natürliche  Unterschied 
des  Geschlechtes:  demgemäß  die  Individuen  immer  auseinander- 
streben und  gehen,  aber  auch  immer  zueinander  hingezogen,  anein- 
ander gefesselt  werden,  und  zwar  so,  daß  das  WeibUche  das  stärker 
Hinanziehende,  das  Männliche  das  stärker  Fesselnde  ist.  Frauen 
fühlen  und  denken  in  vielen  Stücken  anders,  und  zwar  ursprünglicher 
als  Männer  —  Männer  entfernen  sich  leichter  und  weiter  von  den 
Naturgrundlagen  des  Wesenwillens  und  der  Gemeinschaft,  weil  sie 
eher  und  mehr  mit  Feinden  und  Fremden  in  Wechselwirkung  treten, 
kämpfend  und  listend,  strebend  und  handelnd.  Also  beharrt  das 
weibHche  Geschlecht  mehr  in  den  A-Formen,  das  männUche  geht 
leichter  über  zu  den  B-Formen  des  sozialen  Willens.  Wie  aber  die 
Geschlechter  auf  das  gemeinsame  Leben,  gemeinsame  Arbeiten, 
gemeinsame  Denken  angewiesen  sind,  so  sind  auch  diese  Formen  des 
sozialen  (gleich  den  Formen  des  individualen)  Willens  nicht  ohne 
einander  und  unabhängig  voneinander  zu  denken.  Dies  gilt  ebenso 
für  die  folgende  Erörterung. 

B.  Der  am  tiefsten  gehende  Unterschied  in  bezug  auf  Zusammen- 
wohnen ist  derjenige,  der  durch  die  Vorstellungen  Land  und  Stadt 
bezeichnet  wird.   Er  ist  dem  zuvor  bedeuteten  Unterschiede  wesens- 


Merkmai,e.  —  Sozioi<oGiscHE  Zusammenhänge  usw.  223 

verwandt.  Auch  das  Land  beharrt  mehr  in  den  A-Formen,  die  Stadt 
bildet  die  B-Formen  des  sozialen  Willens  aus.  Aber  die  »Stadt«  bleibt 
immer  in  einem  gewissen  Maße  vom  »Land «  umfangen  und  abhängig, 
wie  das  männHche  vom  weiblichen  Wesen.  Sie  befreit  sich  von  ihrer 
Gnmdlage  um  so  mehr,  je  ausgesprochener  sie  zur  Großstadt  wird  — 
diese  aber  dehnt  sich  auf  das  Land  aus,  strebt  aber  auch  wieder  zum 
Lande  zurück  —  zumeist  vergebens. 

C.  Im  Zusammen-Wirken  ist  wiederum  ein  ähnlicher  tiefer 
Unterschied  erkennbar,  der  allgemein  als  Unterschied  der  Menge  von 
ihren  Häuptern,  Unterschied  also  der  großen  Schichten  eines  Volkes  an- 
gesprochen werden  kann,  von  denen  die  eine  die  weitaus  zahlreichere, 
aber  an  materiellem,  politischem  und  geistigem  Vermögen  schwächere 
ist,  die  andere  durch  die  entgegengesetzten  Merkmale  hervorragt.  Wenn 
durch  die  Kluft  zwischen  Arm  und  Reich  schon  das  gemeinsame 
Leben,  durch  die  Kluft  zwischen  Arbeit  und  Kapital  das  gemeinsame 
Arbeiten,  so  wird  vollends  durch  den  Abstand  zwischen  dem  Volk 
und  den  Gebildeten  das  gemeinsame  Denken  gehemmt  und  erschwert. 
Gleichwie  aber  die  Geschlechter  auf  das  gemeinsame  Leben  in  Ver- 
wandtschaft, durch  Ehe  und  Familie,  sind  Land  und  Stadt,  sind 
Volk  und  Herren  auf  gemeinsames  Leben,  gemeinsames  Arbeiten, 
gemeinsames  Denken  angewiesen:  sie  fordern  einander  zu  ihrer 
Ergänzung.  Insbesondere  Land  und  Stadt  auf  das  gemeinsame 
Arbeiten  im  Austausch  friedHcher  Nachbarschaft;  Volk  und  Herren 
auf  das  gemeinsame  Denken  zur  Erhaltung,  Pflege  imd  Vermehrung 
gemeinsamer  Kulturwerte:  ethischer,  politischer,  ästhetischer,  im 
Geiste  der  Genossenschaft  und  Freimdschaft,  des  volkstümlichen 
Verständnisses. 

5.  (Sekundäre  Unterschiede.)  In  allen  diesen  Beziehungen  gehen 
aber  mehrere  andere  wichtige  Unterschiede  neben  den  genannten  in 
gewissen  Parallelitäten  einher  und  vermischen  sich  mit  ihnen. 

Im  Zusammen-Wesen  sind  nicht  nur  die  Geschlechter  ver- 
schieden, sondern,  wenn  auch  minder  ausgeprägt  und  in  beständigem 
Flusse,  die  Lebensalter.  Eine  gewisse  Zweiheit  und  mögUcher 
Zwiespalt  ist  auch  hier  zwischen  Jung  und  Alt,  besonders  zwischen 
Kindern  oder  geschlechtsunreifen  imd  erwachsenen  oder  geschlechts- 
reifen  Personen.  Kinder  gesellen  sich  Kindern,  Jünglinge  Jünghngen, 
Jungfrauen  Jungfrauen,  aber  auch  Altersgenossen  verschiedenen 
Geschlechtes  durch  erwachende  und  sich  steigernde  Gefühle  zuein- 
ander gezogen  und  getrieben;  Männer  mit  Männern,  Frauen  mit 
Frauen,  aber  auch  ganze  Familien  miteinander:  miteinander  zu 
spielen,  zu  tanzen,  sich  zu  unterhalten;  miteinander  zu  plaudern 
und  zu  schwatzen,  Briefe  zu  wechseln,  Gespräche  und  Verhandlungen 


224  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

zu  führen.  So  sind  auch  die  Gegensätze  der  Lebensalter  immer  als 
Möglichkeiten  wirksam:  daß  Kinder  und  Ältere,  Jimge  und  Alte, 
Männer  und  Greise  einander  nicht  verstehen  und  ihr  Zusammenleben 
schwer  belastet  wird,  wenn  nicht  die  Kinder  heranreifen,  die  Jungen 
sich  losreißen  und  selbständig  werden,  die  Greise  abscheiden.  Die 
Zwiespalte  sind  analog  dem  Zwiespalt  zwischen  weiblichem  und 
männlichem  Geiste. 

Im  Zusammen -Wohnen  unterscheiden  sich  ähnlich  wie  Land 
und  Stadt  schon  das  dichter  zusammenwohnende  Land  von  der  dünn 
verstreuten  Bevölkerung,  daher  das  Landvolk  der  Ebene  von  dem 
des  Gebirges,  das  der  Marsch  von  dem  der  Geest  und  der  Heide ;  ebenso 
hebt  von  der  Landstadt  —  dem  »Flecken«  —  die  Großstadt,  also 
auch  die  Großstadt  von  Land  und  kleinen  Städten  zusammen,  vollends 
also  die  Hauptstadt  von  der  »Provinz«,  und  die  Weltstadt  von  allen 
anderen  Städten  sich  ab.  Ferner  sind  in  den  gleichen  Hinsichten 
ganze  Gegenden  oder  Bezirke,  imter  deren  klimatischen  und  kulturellen 
Einflüssen  ganze  Volksstämme  voneinander  verschieden.  Auch  diese 
Unterschiede  gehen  teilweise  parallel  mit  dem  Unterschiede  von  Land 
und  Stadt,  teilweise  kreuzen  sie  sich  mit  ihm.  Insbesondere  aber 
heben  jüngere  Ansiedlungen,  zumal  solche  in  fernen  und  neuen  Ge- 
bieten, in  denen  mannigfache  Individuen  »aus  aller  Herren  Ländern« 
begierig  zusammenströmen,  stark  von  alten  Mutterländern  sich  ab, 
indem  jene  schon  in  ihrer  ersten  Anlage,  auch  wenn  sie  noch  vor- 
wiegend ländlich  bleiben,  einen  städtischen,  ja  großstädtischen 
Charakter  zu  gewinnen  anfangen  und  darin  rasch  fortschreiten. 

Im  Zusammen-Wirken  unterscheiden  sich  ähnlich  wie  Volk 
imd  Herren,  verschiedene  Tätigkeitsgruppen  innerhalb  des  Volkes, 
verschiedene  Stände  innerhalb  des  Herrentums.  Dort  der  Unter- 
schied und  Gegensatz  des  arbeitenden  und  des  handeltreibenden 
Volkes,  innerhalb  des  arbeitenden  der  des  ackerbaulich  und  des  hand- 
werklich arbeitenden.  In  der  Herrenschicht  der  Unterschied  und  Gegen- 
satz des  geistlichen  und  des  weltlichen  Herrensts^ndes,  innerhalb  des  welt- 
lichen der  der  älteren  wesentlich  mit  der  Grundherrschaft  verknüpften 
und  der  jüngeren,  wesentUch  durch  Kapital  mächtigen  Herrenschicht. 

6.  (Die  Richtung  auf  Gesellschaft.)  Vollkommener  noch  als  in 
allen  diesen  Scheidungen  erfüllen  sich  die  hier  dargelegten  Begriffe, 
wenn  auf  der  einen  Seite  die  Teilnahme  an  irgendwelchem  Inhalt  des 
gemeinschaftlichen  Zusammenlebens  vorgestellt  wird,  auf  der  anderen 
die  Entblößung  davon,  die  schlichte"  Freiheit  des  Einzelmenschen, 
die  sich  von  der  jedesmal  gedachten,  oder  sogar  von  aller  Gemein- 
schaft schlechthin,  abhebt  oder  sich  über  sie  erhebt.  Dies  »isolierte 
Individuum«  wird    sodann    begriffen   als  Urheber    (Subjekt)  neuer 


Ihre  äIerkmale.  —  Sozioi^ogische  Zusammenhänge  usw.  225 

Verhältnisse  und  Verbindungen,  deren  es  für  seine  Zwecke  bedarf,  oder 
aber  als  Neubegriinder  und  Umwandler  der  überlieferten  alten,  die 
aber  dadurch  erneuert  werden,  —  daraus  ergibt  sich  der  Begriff  der 
Gesellschaft  und  gesellschaftlichen  Verhältnisse  und  Verbindungen. 
In  der  Richtung  auf  Gesellschaft  bewegen  sich  daher  weniger  als 
die  jedesmal  zweiten  die  jedesmal  ersten,  mehr  also  die  jedesmal 
zweiten  der  angeführten  Zwiefachheiten. 
Mithin: 

die  Männer  mehr  als  die  Frauen, 
die  Städter  mehr  als  die  Dörfler, 
die  Herren  mehr  als  das  Volk. 
Ebenso  femer: 

die  reiferen  Lebensalter  mehr  als  die  Kinder,  aber 
die  Jugend  mehr  als  das  Alter; 
Und 

die  dichter  Zusammenwohnenden  mehr   als  die  dünner   Zu- 
sammenwohnenden, 
Daher : 

die  Anwohner  des  Meeres  mehr  als  die  Binnenländler, 

die  Anwohner  der  Ströme  oder  anderer  Verkehrsstraßen  mehr 

als  die  davon  Entfernten, 
die  Bewohner  der  Täler  mehr  als  die  der  Gebirge, 
die  Ansiedler  der  Pflanzstätten  (Kolonien)  mehr  als  die  Ein- 
wohner der  Mutterländer. 
Ferner : 

die  handeltreibenden  mehr  als  die  werktätigen  Menschen, 
die  dem  Großhandel  mehr  als  die  dem  Kleinhandel  ergebenen, 
die  Menschen  des  Geldhandels  mehr  als  die  des  Warenhandels, 
die  handwerklich  arbeitenden  mehr  als  die  landwirtschaftlichen, 
die  des  feineren  mehr  als  die  des  gröberen  Handwerks, 
die  selbständigen  (Meister)  mehr  als  die  unselbständigen  (Ge- 
sellen,) 
der  weltliche  Herrenstand  mehr  als  der  geistHche  Herrenstand, 
der  höhere  mehr  als  der  niedere  Klerus, 
der  jüngere  (kapitalistische)  mehr  als  der  ältere  (grundherrliche) 
Herrenstand. 
Die  Analyse  aber  des  gedachten  Einzelmenschen  lehrt  ihn  wieder- 
um in  mannigfacher  Beziehung  kennen:  denn  es  steht 

gegenüber  dem  Familienmenschen  der  FaniiHenlose, 
gegenüber  dem  Einheimischen  der  Fremde, 
gegenüber  dem  Seßhaften  der  Reisende  und  Umherschweifende, 
gegenüber  dem  in  ^cincm  Denken  Gebundenen  der  Freidenker. 

Töaotc«.  Kritik.  je 


220  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Wiederum  gibt  es  in  jeder  dieser  Beziehungen  verschiedene 
Grade  der  Annäherung;  und  zu  solcher  Annäherung  sind  eben  Männer 
mehr  geneigt  als  Frauen,  Städter  mehr  als  Landleute,  die  Herren 
mehr  als  das  Volk  usw. 

Dies  tritt  auch  darin  hervor,  daß  die  Männer  eher  als  die  Frauen 
aus  freien  Stücken  ein  ehe-  und  familienloses  Leben  erwählen,  das 
gleiche  gilt  für  die  Städter,  vollends  die  Groß-,  Haupt-,  Weltstädtler, 
im  Vergleich  mit  den  Dörflern  usw.,  für  die  Vornehmen  und  Gebildeten 
im  Vergleich  mit  dem  Volke  usw.  —  Ebenso  haben  die  Männer  mehr 
Veranlassungen,  Beweggründe  und  Zwecke  zum  Reisen,  werden  also 
leichter  als  Fremde  in  der  Fremde  sein  und  mit  Fremden  Geschäfts- 
und andere  Beziehungen  anknüpfen.  Dasselbe  gilt  wiederum  von 
Städtern  im  Vergleiche  mit  Landleuten,  von  Groß-  im  Vergleiche  mit 
Eleinstädtern  usw.,  von  Herren  im  Vergleiche  mit  dem  Volke;  auch 
von  Händlern  und  Kaufleuten  mehr  als  von  Handwerkern  usw.  Die 
Massenwanderungen  des  Volkes  beweisen  nicht  gegen  diese  Ten- 
denzen: sie  sind  zumeist  durch  Notstände  hervorgerufen  und  nicht 
durch  die  Zwecke  der  Individuen  bestimmt.  Vielmehr  gilt  allgemein, 
daß  es  sich  hier  um  die  Grade  der  Freiwilligkeit  handelt,  und  die 
Freiwilligkeit  stellt  sich  am  reinsten  dar  als  die  Freiheit  der  Wahl, 
folglich  im  Begriffe  des  Kür  willens,  der  nicht  sowohl  unter  einem 
Drucke  (von  außen)  oder  aus  einfachem  Beweggrunde  (von  innen) 
sich  entschließt,  als  vielmehr  um  eines  bestimmten  Zieles  willen  seine 
Vorsätze  faßt,  seine  Pläne  schmiedet;  insbesondere  indem  er  sich 
Zwecke  setzt  wie  Gewinn  von  Machtmitteln,  und  solchen  Zwecken 
alles,  was  ihm  zur  Verfügung  steht,  mithin  auch  alle  eigenen  Hand- 
lungen dienstbar  werden  läßt. 

Wir  bemerken  endlich  auch,  daß  der  freie  Denker  leichter  und 
früher  in  Gestalt  des  Mannes  als  der  Frau,  des  Städters  als  des  Land- 
mannes und  vollends  in  Gestalt  des  Herren  —  des  typischen  Ge- 
bildeten —  als  des  Mannes  aus  dem  Volke  auf  die  Bühne  tritt.  Und 
so  läßt  sich  in  allen  jenen  Zwiefachheiten,  die  wir  betrachtet  haben, 
ein  derartiger  Unterschied  feststellen. 

7.  (Individuelle  Anlagen.)  In  alle  spielt  auch  hinein  die  Mannig- 
faltigkeit der  individuellen  Anlage:  Begabung  und  Neigung,  deren 
Verursachung  wiederum  mannigfach  mit  den  angezeigten  Unter- 
schieden zusammenhängt.  Die  Anlage  des  Menschen  hängt  in  erster 
Linie  von  seiner  Abstammung,  also  von  den  Anlagen  seiner  Kitern, 
diese  wieder  von  denen  ihrer  Eltern,  folglich  jede  einzelne  von  sehr 
vielen  Kreuzungen  ab.  Aber  die  Fortpflanzung  findet  zumeist  inner- 
halb eines  engeren,  mehr  oder  minder  unter  sich  verwandten  Kreises, 
eines  Stammes,  eines  Volkes,  oder  zum  mindesten  einer  Rasse  statt. 


Ihre  Merkmale.  —  Sozioi^ogische  Zusammenhänge  usw.  227 

Unter   regelmäßigen  Umständen   ist   die  Kxogamie   um  so   seltener, 
je  größer  der  Kreis,  innerhalb  dessen  die  Kndogamie  beobachtet  wird. 
Fruchtbare   außereheliche   Geschlechts  Verbindungen   zwischen   Men- 
schen verschiedener  Rassen  kommen  nur  unter  anomalen  Kolonie- 
zuständen häufiger  vor,  die  auch  neue  Mischrassen  erzeugen.    Man 
bemerkt  daher   die   psychischen   Eigenschaften,   wie   die   anthropo- 
logischen Merkmale,  als  solche,  die  einer  Familie,  einer  Sippe,  einem 
Stamme,  einem  Volke,  einer  Völkerfamilie  und  endlich  einer  Rasse  — 
deren  Begriff  freilich  wacklig  ist  —  gemeinsam  sind.   Bei  den  schwie- 
rigen Fragen,  die  sich  daran  knüpfen,  zu  verweilen,  gehört  nicht  zum 
Gegenstande  dieses  Werkes.   Es  genügt  uns,  an  die  allgemein-mensch- 
liche Begabung  zu  erinnern,  die  als  geistige  Fähigkeit  ein  mehr  oder 
minder  starkes  Vermögen  der  Entwicklung  zur  »Kultur«  —  die  wir 
als  den  gemeinschaftlichen  Urbegriff  verstehen  —  und  damit  auch 
zur    »ZiviHsation «,    der    gesellschaftlichen    Fortbildung    und    Rück- 
bildung der  Kultur,  in  sich  schließt.  Wie  einzelne  Menschen,  so  haben 
ganze   Familien,   Sippen,   Stämme,   Völker,   Völker familien,    Rassen 
diese  Fähigkeit  in  mehr  oder  minder  ausgeprägter  Weise,  mehr  oder 
minder  hohem  Grade,  und  die  besondere  Anlage  zur  Zivilisation  ist 
von  der  allgemeinen  Anlage  zur  Kultur  erheblich  verschieden.    Je 
mehr  man  aber  bei  dieser  Betrachtung  ins  Große  geht  —  d.  h.  ganze 
Stämme,  ganze  Völker  usw.  ins  Auge  faßt  —  um  so  deutlicher  tritt 
der   Zusammenhang   dieser   Kollektiv- Psyche   mit   den    allgemeinen 
Lebensbedingungen  geographischer  und  wirtschaftlicher  Art  zutage. 
Denn  durch  diese  ist  es  wiederum  das  Dasein  der  Mischrasse  und 
die  Tatsache,  daß  solche  für  die  Zivilisation  und  Gesellschaft  durch- 
aus begabter  ist  als  eine  reine  Rasse  —  diese  begabter  für  Kultur  und 
Gemeinschaft  —  wesentlich  bedingt  (Rasse  wird  hier  allgemein  ver- 
standen als  Abstammungsgruppe).    So  zog  der  üppige  Boden  Süd- 
Englands,   der    prachtvolle   Themsestrom,   die    mannigfache   Küste 
Abenteurer,  Schiffer  und  Krieger  an,  führte  zu  mehreren  Eroberungen 
und  Ansiedlungen  im  Laufe  weniger  Jahrhunderte,  folglich  auch  zu 
Blutmischungen,  aus  denen  in  der  Oberschicht  der  »angelsächsische« 
Typus  des  aristokratischen  Staatsmanns,  Handelsmanns  und  Globe- 
trotters erwuchs.    So  wiederholte  sich  der  gleiche  Prozeß  auf  viel 
größerer  Stufenleiter  in  der  Neuen  Welt  Nordamerikas.    Die  Küste, 
die  Schiffahrt,  das  Meer,  zusammenwirkend  mit  den  physischen  und 
mentalen    Begabungen,    die    durch    diese    ( lelegenheiten    gezüchtet 
wurden,  sind  die  Ursachen  der  überwältigenden  Völkergrößen.    So 
gelangt  auch   Sombart,  nach   seiner   meisterhaften,   wenn   auch  in 
Einzelheiten  anfechtbaren  Charakteristik  des  jüdischen  Geistes,  zu 
dem  Schlüsse:   ,,die   Juden  ein   Wüstenvolk   und    ein    Wandervolk" 


228  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

(Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben  S.  404),  „ihre  Kultur  die  spezi- 
fische Oasenktiltur''.  Und  den  Schlüssel  zu  der  Eigenart  des  Juden- 
tums und  zu  deren  gewaltiger  Wirksamkeit  findet  der  geistvolle 
Soziologe  in  der  Tatsache,  „daß  es  ein  orientaHsches  Volk  ist,  das  in 
einer  ihm  völlig  fremden  kUmatischen  und  volklichen  Umgebung 
seine  besten  Kjräfte  verzehrt"  (403),  womit  man  freilich  vergleichen 
muß,  was  er  an  anderer  Stelle  über  die  Anpassungsfähigkeit  und  Be- 
weglichkeit der  Juden  ausführt  (z.  B.  S.  423),  die  diese  in  sich,  trotz 
und  wegen  ihrer  Zerstreuimg,  gemeinschaftliche  Menschenart  zu 
einem  Hauptträger  der  modernen  gesellschaftlichen  Zivilisation  macht. 

Zweiter  Abschnitt.    Soziologische  Wechselwirkungen. 

8.  (Anwendung  auf  die  öffentliche  Meinung.)  Die  mannigfachen 
Erscheinungen  tmd  Einflüsse,  die  also  auf  die  Entwicklung  der  ge- 
sellschaftlichen Zivilisation  wirken  und  sie  begleiten,  müssen  sich  auch 
in  den  B-Formen  des  sozialen  Willens  und  ihren  Verhältnissen  zu  den 
A-Formen  wiederfinden.  Wenn  Konvention  sich  wesentUch  auf  das 
allgemeine  und  also  auf  das  wirtschaftliche,  Gesetzgebung  auf  das 
politische  I^ben,  so  bezieht  sich  öffentHche  Meinung  wesentlich  auf 
die  ethische  (imd  im  Zusammenhange  damit:  die  ästhetische)  Seite 
des  Zusammenlebens:  also  auf  dessen  »Geist«.  Oder:  während  Kon- 
vention wesentlich  Vorschrift  (Empfehlung,  Anordnung),  Gesetz- 
gebung Befehl  (Ge-  und  Verbot),  so  ist  öffentliche  Meinung  wesentlich 
Urteil.  Es  ergibt  sich  aber  auch,  daß  diese  Ausdrücke  nahe  mit- 
einander verwandt  sind  und  ineinander  übergehen. 

Als  Regel  darf  aber  aufgestellt  werden:  je  mehr  die  Menschen  auf 
bewußte  Art  denken  imd  ihren  Willen  durch  Absichten,  Pläne,  Be- 
griffe bestimmt  werden  lassen,  um  so  lebhafter  ist  ihre  Teilnahme 
am  gesellschaftlichen  und  öffentlichen  Leben,  ihre  Mitwirkung  in 
sozialen  und  politischen  Angelegenheiten,  um  so  stärker  wirken  sie 
auch  mit  zur  Bildung  von  Konvention,  Gesetzgebimg,  öffentlicher 
Meinung.  Daher  gilt  auch  dafür  jene  Stufenleiter,  auf  der  die  gesell- 
schaftUche  Richtung  verschieden  bedingter  Individuen  und  Schichten 
gemessen  wurde,  nämlich  daß: 

die  Männer  mehr  als  die  Frauen, 

die  Städter  mehr  als  die  I^andleute, 

die  Großstädter  mehr  als  die  Kleinstädter, 

die  Herren  mehr  als  das  Volk  usw. 
an  Gestaltung  der  öffentHchen  Meinung  wie  an  Gestaltung  der  Kon- 
vention und  an  Gestaltung  der  Gesetzgebung  beteiligt  sind. 

Während  aber  bei  der  Konvention  die  soziale  Stellung  ent- 
scheidend ist:  sie  ist  vorzugsweise  Sache  der  —  sei  es  durch  Geburt, 


Ihre  Merkmale.  —  Soziologische  Wechselwirkungen.  229 

durch  Reichtum  oder  durch  Rang  —  höchsten  Schichten;  während 
für  die  Gesetzgebung  das  poUtische  Interesse  den  Ausschlag  gibt: 
hier  wirkt  am  stärksten  der  Zusammenhang  des  Privatinteresses  mit 
den  öffentUchen  Angelegenheiten,  daher  die  Geschäftsleute  des  Er- 
werbs und  Handels  —  Grundbesitzer  imd  Kapitalisten  —  um  so  mehr 
im  Vordergrunde  stehen,  je  bedeutender  die  »auf  dem  Spiele  stehenden« 
Interessen,  je  tiefer  die  Gesetzgebung  ins  wirtschaftliche  Leben  ein- 
schneidet; so  ist  die  Gestaltimg  der  öffentlichen  Meinung  hauptsäch- 
lich durch  Wissen,  Denken  und  Bildung  bestimmt,  so  daß  die  Herren- 
schicht, die  Städter  und  die  Männer,  als  die  durchschnittlich  mehr 
Gebildeten,  mehr  Denkenden,  mehr  Wissenden,  diejenigen  sind,  die 
in  erster  Linie  als  die  Träger  und  Subjekte  der  öffentlichen  Meinung 
betrachtet  werden  müssen;  wobei  aber  immer  der  äußere  und  innere 
Zusammenhang  dieser  Gruppen  mit  jenen,  die  als  Träger  und  Sub- 
jekte der  Konvention  und  der  Gesetzgebimg  bezeichnet  wurden,  im 
Auge  behalten  werde. 

Es  ergibt  sich:  je  mehr  die  Bildung,  insbesondere  die  politische 
Bildung,  auf  weitere  Kreise  sich  ausdehnt  und  ausgebreitet  wird, 
mithin  je  mehr  sie  auch  die  Frauen,  die  Landbewohner  und  das  untere 
Volk,  namentlich  die  Arbeiterklasse  ergreift,  um  so  größer  wird  die 
Mitwirkung  dieser  Schichten  zur  öffentlichen  Meinung,  um  so  mehr 
wird  sie  wirklich  allgemein,  zugleich  aber  wird  sie  als  Einheit,  als  ein- 
mütige öffentliche  Meinung  um  so  unwahrscheinlicher.  Vermag  sie 
dennoch  als  solche  aufzutreten  und  sich  geltend  zu  machen,  so  wird 
ihre  Macht  und  Bedeutung  um  so  größer  sein.  Aber  auch  dann  wird 
ihr  von  innen  heraus  Ton  und  Farbe  gegeben  werden:  der  Geist,  der 
zur  Führ  u  ng  der  öffentlichen  Meinung  taugt,  wird  als  solcher  hervor- 
treten, der  Geist,  der  der  höhere,  lebendigere,  am  meisten  gebildete 
ist,  oder  zu  sein  scheint. 

9.  (Religion  und  öffentliche  Meinung.)  Die  sozialen  WiUensformen 
müssen  betrachtet  werden :  einmal  gleichsam  horizontal,  sofern  sie  in 
der  gleichen  Linie  liegen;  daher  die  öffentiiche  Meinung  als  der  am 
meisten  mentale  Ausdruck  eines  sozialen  Willens,  dessen  mehr  vege- 
tative Form  die  Konvention,  dessen  mehr  animalische  Form  die  Ge- 
setzgebung ist.  Sodann  aber  gleichsam  vertikal,  sofern  sie  mit  den 
entsprechenden  der  anderen  Linie  —  die  gesellschaftlichen  mit  den 
gemeinschaftlichen  —  in  der  gleichen  Ebene  liegen.  Begrifflich  müssen 
sie  wesentlich  in  ihrem  linearen  Zusammenhange  betrachtet  und  die 
höhere  aus  der  oder  den  niederen  entwickelt  werden;  empirisch- 
historisch  aber  steht  die  vertikale  Provenienz  voran,  die  zugleich 
dadurch  merkwürdig  ist  —  wie  die  Herkunft  des  Kürwillens  aus  dem 
Wesenwillen  — ,  daß  die  jüngere  (B-)Form  aus  der  älteren  (A-)Form 


230  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

sich  entwickelt  und  im  Laufe  ihrer  Entwicklung  ihr  überlegen  wird 
und  mehr  und  mehr  in  Gegensatz  zu  ihr  gerät,  mehr  und  mehr  in 
ihrem  Gebiete  der  maßgebende  soziale  Wille  wird.  So  verhält  sich 
Konvention  zu  Eintracht,  Gesetzgebung  zu  Sitte  und  Gewohnheits- 
recht, so  öffentliche  Meinung  zu  Religion. 

Im  Sprachgebrauch  wird  Religion  sowohl  individuell  als  sozial 
verstanden.  Der  soziologische  Sinn  ist  es,  der  uns  hier  beschäftigt. 
Er  kommt  zur  Geltung,  wenn  man  von  einer  herrschenden  oder 
geltenden  ReHgion,  einer  Volksreligion,  Staatsreligion,  von  einer 
Gemeinde  oder  Kirche  als  Träger  der  Religion  redet,  BekanntHch 
ist  weder  eine  Religion  noch  eine  »Konfession«  als  Gestalt  einer 
ReHgion,  weder  eine  Kirche,  noch  eine  Sekte,  an  staatliche  Grenzen 
gebimden.  Auch  sind  die  Bekenner  einer  Religion,  zumal  einer  der 
großen  WeltreHgionen,  so  über  den  Erdball  zerstreut,  daß  schwerlich 
ihr  gemeinsames  Wollen  anders  auf  Einzelne  einen  Druck  ausüben 
kann,  als  wiefern  solcher  in  der  Religion  selber,  dadurch,  daß  sie 
geglaubt  und  bekannt  wird,  enthalten  ist.  Und  dieser  Druck  ist  das 
Gebot  des  Gottes  oder  der  Götter,  deren  Verehrung  der  Kern  des 
Inhaltes  der  Religion  und  ihres  Willens  ist  —  auch  wenn  diese  Götter 
noch  lebende  oder  gestorbene  Menschen  sind  — ;  das  Gebot,  das  die 
Verehrer  zu  kennen  glauben,  als  Ehrfurcht,  Dienst,  Kultus  heischend, 
wie  das  Gebot  jedes  Herrn  in  mehr  oder  minder  ausgeprägten  Formen 
heischt.  Auch  wenn  Religion  in  einem  Verein,  einer  Gemeinde 
organisiert  wirksam  ist,  so  ist  dies  der  notwendige  erste  Gegenstand 
des  Gemeindewillens,  der  Zweck  des  Vereins.  Aber  je  mehr  die 
Gemeinde  oder  der  Verein  in  der  Lage  ist,  sein  Wollen  zur  Geltung 
zu  bringen,  um  so  mehr  vermannigfacht  sich  dies  Wollen.  Und  seine 
Kraft  erhöht  sich,  wenn  er  selber,  als  »heilige  Kirche«  ein  Gegenstand 
der  Verehrung,  ein  Stück  des  Inhaltes  der  ReUgion  wird.  Desto 
leichter  und  vollkommener  kann  ReHgion  sich  voUenden  als  der  ein 
ganzes  Volksleben,  eine  Kultur  durchdringende  und  erfüllende  soziale 
Wille,  als  Gestalt  des  Volksgeistes  selber,  der  aUen  einzelnen  Aus- 
drücken ihres  gemeinsamen  Lebens,  gemeinsamen  Arbeitens,  gemein- 
samen Denkens  ihre  bestimmte  Form  verleiht.  Dieser  vernimmt 
und  deutet  überall  und  fortwährend  die  Stimme  seines  Gottes,  er 
mißt  an  dessen  Geboten  und  Verboten  Wert  und  Unwert  der  mensch- 
Uchen  Handlungen,  hüllt  aUe  großen  und  öffentlichen  Unterneh- 
mungen in  ihr  feierliches  Gewand.  Die  ReHgion  eines  Landes  oder 
Volkes  ist  also  die  Gesamtheit  und  Einheit  vieler  Glaubenssätze 
und  wirkt  ebenso  nötigend  und  gebietend,  wie  Glaube  überhaupt 
sozial  wirkt.  Über  die  S3aionymik  von  Glauben  und  Meinen  wurde 
in  früherem  Zusammenhange  gesprochen.   Religion  ist  der  allgemeine 


Ihre  Merkmai^e.  —  Sozioi,ogische  WechseivWirkungen.  231 

und  öffentliche  Glaube,  der  eine  Gemeinschaft- Verbundenheit  zur 
Voraussetzung  hat  oder  solche  begründet  und  ausbildet. 

Die  öffentHche  Meinung  ist  eine  Macht,  die  sich  ähnlich  wde  die 
Religion  vorzugsweise  als  moralisches  Urteil  in  einem  Lande  geltend 
macht,  richtend,  verdammend,  »den  Stab  brechend«,  mit  Schmach 
und  Schande  bedeckend;  aber  auch  freisprechend,  ja  belohnend, 
lobend,  preisend,  verherrlichend:  Unwille  und  Wohlwollen.  Hier 
wurde  von  den  »Ag^regatzuständen«  der  Meinung  und  so  der  öffent- 
lichen Meinung  gesprochen.  Die  öffentliche  Meinung  wird  aber  zu- 
meist nur  in  ihrem  luftartigen,  flüchtigen  Zustande  angeschaut, 
wenn  sie  bei  Gelegenheit  eines  —  »Aufsehen  erregenden«  —  Er- 
eignisses mit  ihrem  Urteil  auftritt,  das  oft  nur  eine  dünne  Haut 
hat,  wie  eine  Seifenblase;  aber  es  gibt  auch  —  und  sie  sind  uns 
vorzugsweise  wichtig,  weil  daraus  jene  flüchtigen  Urteile  hervorzu- 
gehen pflegen  —  dauerhaftere  Gestaltungen  der  öffentlichen  Meinung 
in  verschiedenen  Graden  der  Flüssigkeit  oder  Festigkeit.  Diese  ihre 
Gestalten  werden  vorzugsweise  durch  I^ehren  bestimmt,  die  aus 
mannigfachen  Ursachen  Geltung  gewinnen,  als  geltende  umlaufen, 
gegeben  und  angenommen,  besprochen  und  nachgesprochen,  be- 
wimdert  und  geglaubt,  allmählich  für  eine  Menge,  ein  großes  Publi  - 
kum  Gegenstand  fester  unerschütterlicher  Überzeugung  werden. 
So  ist  eine  zwischen  Flüssigkeit  und  Festigkeit  sich  bewegende  Ge- 
stalt der  öffentlichen  Meinung  die  Erscheinung  eines  sozialen  Be- 
wußtseins, die  als  »Zeitgeist«  angesprochen  wird  und  die  ihrem  Wesen 
nach  international  die  Grenzen  der  Länder  rasch  überschreitet.  Der 
Zeitgeist  steht  und  fällt  mit  gewissen  Lehren.  Je  mehr  das  Publikum, 
das  den  Zeitgeist  trägt,  eine  politisch  oder  wenigstens  eine  geistig 
und  sittlich  verbundene  Gesamtheit  bildet,  um  so  mehr  nähert  sich 
seine  gemeinsame  x\nsicht  und  Überzeugung  der  öffentlichen  Meinung. 
Da  aber  eine  Lehre  nicht  auftritt,  verkündet,  verbreitet  wird,  ohne 
anderen  Lehren  und  Ansichten  das  Gebiet  streitig  zu  machen,  folglich 
auch  nicht,  ohne  angefochten  und  von  diesen,  die  sich  wehren  und 
verteidigen,  bekämpft  zu  werden,  so  bedarf  es  einer  gewissen  Zeit- 
spanne, um  so  längerer,  je  fester  gewurzelt,  je  weiter  verbreitet  die 
zu  verdrängenden  Ansichten  sind,  damit  eine  neue  Lehre  in  der 
öffentlichen  Meinung  erwogen  und  erörtert,  viel  längerer  Zeit  aber 
noch,  damit  sie  dieser  sozusagen  ins  Blut  übergehe  und  ein  fester 
Bestandteil  der  öffentlichen  Meinung  werde. 

Je  mehr  aber  dies  der  Fall,  um  so  ähnlicher  wird  nach  der  Form- 
Seite  die  öffentliche  Meinung  der  Rehgion,  oder  doch  einem  reli- 
giösen Glauben,  weil  es  diesem  wesentlich  ist,  »fest«  zu  sein,  weil  er 
in  seinen  ausgeprägten  Gestalten  als  heilige  Überzeugung  unerschütter- 


232  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

lieh  ist  und  mit  dem  Gewissen  als  der  gedankenhaf testen  Form 
des  Wesen  willens  sich  vermählt. 

Die  innere  Verwandtschaft  und  Ähnlichkeit  von  Religion  und 
öffentlicher  Meinung  —  daß  sie  in  derselben  Ebene  des  mentalen 
sozialen  Willens  Hegen  —  wird  dadurch  .verdunkelt,  daß  der  Sprach- 
gebrauch jener  weit  überwiegend  einen  festen,  dieser  fast  aus- 
schließHch  einen  luftartig-flüchtigen  Inhalt  gibt:  man  spricht  von 
einer  Religion  in  der  Regel  als  von  einem  System  der  Glaubenssätze 
und  der  Kultusformen;  von  der  öffentlichen  Meinung  fast  nur  als 
von  einer  gelegentHch  in  die  Erscheinung  tretenden  Macht  des  ge- 
meinsamen Bewußtseins.  Der  wissenschaftliche  Begriff  muß  aber 
sowohl  die  ReHgion  in  ihren  flüssigen  und  luftartigen  Formen  als 
die  öffentliche  Meinung  in  ihren  verschiedenen  Aggregatzuständen 
beobachten,  und  zunächst  die  festen  Gestalten  der  ReHgion  mit 
den  festen  der  öffentlichen  Meinung,  die  flüssigen  mit  den  flüssigen 
usw.  vergleichen.  Dabei  ist  immer  die  Richtung  der  Entwick- 
lung zu  beobachten :  ob  der  Prozeß  auf  Verdichtung  oder  auf  Ver- 
dünnung geht;  denn  es  gibt  die  dünneren  Gestalten  gleichsam  vor 
und  nach  den  dichteren.  Wenn  wir  flüssige  und  luftartige  Gestalten 
einer  ReHgion  behaupten,  indem  wir  ihre  feste  Gestalt  zum  Ausgangs- 
punkte nehmen,  so  meinen  wir  nicht,  daß  der  Glaube  der  Personen, 
die  ihr  angehören,  ins  Wanken  gerät,  daß  er  sich,  durch  Zweifel  und 
kritische  I^ehren  zersetzt,  verflüssigt  und  verflüchtigt  —  sondern  wir 
denken,  daß  sie  selbst  als  Wille,  daß  geglaubt  werde,  sich  verwandelt, 
daß  sie  sozusagen  weich  und  mürbe  wird  und  in  Fluß  gerät  oder 
völHg  in  Dunst  und  Nebel  sich  auflöst.  Offenbar  steht  aber  die  eine 
mit  der  anderen  Entwicklung  in  Wechselwirkung.  In  Athen  war 
ein  Prozeß,  wie  er  dem  Anaxagoras,  ja,  wenn  auch  aus  poHtischen 
Beweggründen,  dem  Sokrates  gemacht  wurde,  2 — 300  Jahre  später 
schwerlich  noch  möglich.  Die  Stadtgemeinde,  die  Magistrate,  die 
Priesterschaften  nahmen  die  religiösen  Zeremonien  nicht  mehr  ernst 
und  waren  wenigstens  mit  äußerer  Beobachtung  der  Formen  zufrieden, 
weil  jedermann  wußte,  daß  kein  vernünftiger  Mensch  noch  an  die 
Fabeln  von  Göttern  und  Heroen  glaubte.  „Schon  zu  Pi^atons  Zeit 
läßt  das  von  ihm  mit  unnachahmlicher  Plastik  ausgeführte  Bild  des 
EuTHYPHRON  uicht  daran  zweifeln,  daß  es  einzelne  Männer  gab,  die 
ehrlich  beschränkten  Sinnes  alle  alten  Erzählungen  von  den  Göttern 
für  buchstäbliche  Wahrheit  nahmen,  daß  diese  aber  dadurch  auch 
leicht  zum  Gespötte  der  übrigen  wurden"  (L.  Schmidt,  Die  Ethik 
der  alten  Griechen  S.  145).  In  Rom  wirkt  es  als  charakteristisch  für 
die  Verdünnung,  wenn  erzählt  wird,  daß  zwei  Auguren  nicht  ohne 
zu  lachen  einander  begegnen  konnten.   In  den  neueren  Jahrhunderten 


•  Ihre  Merkmai,e,  —  Sozioi.ogische  Wechselwirkungen.  233 

sind  wir  Zeugen  des  Vorganges,  daß  die  christliche  Religion  mit  ihrer 
Dogmatik  in  einen  Prozeß  gerät,  den  man  treffend  die  »Selbstzer- 
setzimg des  Christentums«  genannt  hat.  Die  römisch-katholische 
Kirche  freilich  legt  Wert  darauf,  unveränderHch  zu  scheinen  und 
allem  Modernisieren,  auch  dem  theologischen,  Widerstand  zu  leisten. 
Deutiicher  ist  die  Aufweichung  der  protestantischen  Kirchen,  auch 
wo  sie  in  Erhaltung  ihrer  Orthodoxie  verharren.  Diese  selbst  ist  in 
Fluß  geraten.  Einige  Bestandteile,  die  ehemals  fest  geglaubt  wurden, 
haben  sich  gänzlich  verflüchtigt,  als:  der  persönlich  und  gelegentlich 
auf  Erden  auftretende  Teufel,  die  wörtliche  Inspiration  der  heiligen 
Schrift  durch  den  Geist  Gottes  u.  a.  m.  Das  ganze  System  ist  auf- 
geweicht durch  die  Deutungen,  die  ihm  Schleierm acher  und  später 
in  ganz  anderer  Richtung  Ritschl  gegeben  haben,  indem  jener  das 
»Gottesgefühl«  zum  absoluten  Maßstabe  nehmend  die  Dogmen 
daraufhin  prüft,  ob  und  wiefern  sie  dieses  Gefühl  ausdrücken;  dieser 
die  Metaphysik  verwerfend,  ja  bekämpfend,  sie  nur  als  Ausdrücke 
eines  gläubigen  Gemeindebewußtseins  gelten  läßt  und  als  Wahrheiten 
behauptet,  obgleich  als  Wahrheiten  anderen  Sinnes  —  eine  Erneuerung 
der  Renaissance-Lehre  von  der  doppelten  Wahrheit.  „Alles  in  allem 
genommen  ist  nun  freihch  diese  »Dogmatik«  keine  Dogmatik  mehr  .  .  . 
sondern  nur  Darstellung  der  christlichen  Glaubensgedanken  aus  der 
Gesamtmacht  des  Christentums  heraus  und  mit  bald  größerer,  bald 
geringerer  Angleichung  an  moderne  Weltvorstellungen"  (TröIvTSCH 
in  »Die  Religion  in  Geschichte  und  Gegenwart«  II,  S.  109).  Wenn  sich 
so  in  vielen  Erscheinungen  die  Dissolution  der  Religion  und  ihrer 
Bekenntnisse  beobachten  läßt,  so  haben  wir  hingegen  von  ihrem 
Werden,  ihrer  Evolution,  nur  eine  historische  Erkenntnis,  der  aber 
die  Beobachtung  der  Primitiven  zur  Hilfe  kommen  kann.  Für  den 
KristalHsationsprozeß  des  Christentums,  wie  für  den  des  Buddhismus 
und  den  des  Islam,  hegt  der  Ursprung  deutlich  erkennbar  vor:  die 
Bildung  einer  kleinen  Gemeinde  von  Jüngern  um  die  Lehre  eines 
Meisters,  dem  eine  übernatürliche  Natur  oder  Weisheit,  gottähnliche 
oder  göttliche  Offenbarung  zugeschrieben  wird;  die  christUche  Juden- 
gemeinde nimmt  sich  erweiternd  und  vermehrend  Elemente  grie- 
chischer Spekulation,  die  von  Plato  und  weiter  zurück  vom  Pytha- 
goreismus  stammten,  in  sich  auf  und  gestaltet  sie  in  Jahrhunderte 
durchdauernden  Kämpfen  und  Entscheidungen  zur  Kirchenlehre, 
die  so  lange  in  Fluß  bleibt,  bis  sie  durch  die  großen  Konzilien  sich 
verhärtet,  von  denen  das  letzte  —  das  Tridentinum  —  erst  zu  einer 
Zeit  abschheßend  wirkt,  als  schon  der  Auflösungsprozeß  begonnen, 
ja  zu  tiefstgehenden  Spaltungen  geführt  hat.  —  Daß  ReHgion  auch 
im  Status  nascens  fortwährend  auftaucht,  innerhalb  imd  außerhalb 


234  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen.         -/ 

der  vom  Christentum  umschriebenen  Bezirke,  lehrt  jede  Beobachtung 
des  Volkslebens,  zumal  in  Ländern  und  Gegenden,  wo  die  religiöse 
Erregbarkeit  noch  stark  ist.  Der  Dichter  Gerhard  Hauptmann 
hat  einen  »Narren  in  Christo«  beschrieben;  in  England  und  Schott- 
land sind  solche  Narren  fast  eine  allsonntägliche  Erscheinung;  nicht 
minder  häufig  sind  die  Wunderpropheten  und  ihr  Anhang  in  den  Ver- 
einigten Staaten  —  ein  weiblicher  Prophet  dieser  Art  (Mrs.  Eddy) 
hat  es  zum  Bau  von  Kirchen  für  ihre  neue,  aber  sehr  elementare 
Frömmigkeit  gebracht.  In  Rußland  erheben  sich  unablässig  solche 
Blasen,  die  neuesten  Zeitläufe  sind  ihnen  ohne  Zweifel  günstig  ge- 
wesen. Einen  luft artigen  Zustand  der  Religion  bemerkt  man  über- 
haupt an  dem  in  einem  Volke  herrschenden  »Aberglauben«,  der  zum 
Teil  von  der  eigentlichen  und  offiziellen  Religion  gutgeheißen  und 
gefördert,  zum  Teil  mit  Gleichgültigkeit  betrachtet,  vielfach  aber 
auch  von  ihr  bestritten  und  bekämpft  wird,  zumal  als  Bestandteil  und 
Rest  einer  ehemaligen  überwundenen  und  unterdrückten  Religion. 
Er  kann  nichtsdestoweniger  allgemein  verbreitet  und  sehr  stark, 
insofern  der  echten  Religion  gleichartig  sein,  ja  unter  Umständen  — 
bei  bestimmten  Gelegenheiten  —  ihr  an  Kraft  überlegen. 

Dem  gewöhnlichen  Sinne  des  Sprachgebrauches  gemäß  wird  also 
Religion  der  öffentlichen  Meinung  um  so  ähnlicher,  je  mehr  sie  (die  Reli- 
gion) als  Gegenwirkung  der  herrschenden  Denkungsart  gegen  bestimmte 
einzelne  Vorgänge  und  Handlungen,  mithin  auch  gegen  die  Personen, 
die  darin  tun  oder  leiden,  sich  offenbart  und  aufgefaßt  wird;  ebenso 
wird  die  öffentliche  Meinung  der  Religion  (in  deren  vorwaltendem  Sinne) 
um  so  ähnlicher,  je  mehr  jene  als  eine  festgeronnene  Denkweise,  als 
ein  Stück  »Weltanschauung«  erscheint  und  erkannt  wird.  Der  gemein- 
same und  neutrale  Begriff  möge  als  der  des  öffentlichen  Urteils 
gelten,  welches  die  in  einem  Volke  herrschende,  mehr  oder  minder 
bestimmte,  günstige  oder  ungünstige,  bejahende  oder  verneinende 
Ansicht  ist,  wie  sie  zu  Menschen,  Ereignissen,  Taten  und  Untaten, 
zu  Gesetzen  und  Verordnungen,  zu  Ansichten  und  Lehren  selber,  zu 
wirklichen  und  möglichen  »Fragen «in  »göttlichen «und  »menschlichen« 
Dingen,  zur  »Welt«  schlechthin  —  eben  als  Weltanschauung  —  sich 
stellt  und  verhält.  Ein  anderer  neutraler  Begriff  ist  der  des  Imperativs, 
das  Gebot,  solche  Vorstellungen,  Meinungen,  Ansichten,  solche  Lehren 
anzuerkennen  und  für  wahr  zu  halten,  das  Verbot  zu  widersprechen 
und  anders  zu  denken,  vollends  andere  Meinungen  kundzugeben. 
Jeder  Wille,  also  auch  jeder  soziale  Wille,  bejaht  und  behauptet  sich 
selber,  verneint  die  gegen  ihn  gerichteten  Willen  und  deren  Tätig- 
keiten —  also  auch  (und  vollends)  der  Wille  einer  Gesamtheit,  einer 
Verbindung,  die  widerstrebenden  Willen  ihrer  Mitglieder  —  das  gehört 


Ihre  Merkmale.  —  Soziologische  Wechselwirkungen.  235 

zum  Wesen  des  IMitsicheinigseins :  der  Eintracht  wie  der  Konvention, 
der  Sitte  wie  der  Gesetzgebung,  der  Religion  wie  der  öffentlichen 
Meintmg. 

10.  (Gemeinsame  und  unterscheidende  Merkmale.)  Religion  be- 
ruht und  wurzelt  in  den  Tiefen  des  Volkslebens,  daher  des  Familien - 
Wesens,  der  gemeinsamen  Abstammung,  der  Erkennung  und  Ehrung 
von  Vater  und  Mutter  und  gemeinsamer  Ahnen.  Daher  auch  in 
gemeinsamen  Erlebnissen,  gemeinsamen  Gefühlen  und  Vorstellungen, 
die  fortgepflanzt  werden  durch  die  Generationen,  dem  Glauben  nach 
immer  bestätigt  durch  neue  Erfahrungen.  Dunkel  und  geheimnisvoll 
im.  Verkehr  mit  den  Unsichtbaren,  Mächtigen,  sucht  sie  das  Wahre, 
Richtige,  Heilsame  durch  Anrufung  der  Götter  in  Preis  und  Dank, 
durch  Zeichendeutung,  Orakel,  Lose,  Opfer  oder  aus  heiligen  Büchern 
zu  gewinnen,  wie  es  hergebracht  und  von  alters  her  geheiUgt;  darum 
ist  Zweifel  an  dem  Werte  solchen  Brauches,  an  der  Wirksamkeit  des 
Gebetes  und  Opfers  Frevel  und  Kränkung  jener  übernatürlichen, 
immer  als  nahe  und  gegenwärtig  und  in  der  Natur  lebendig  tätig 
empfundenen  und  gedachten  Mächte.  Religion  steigt  von  den  unteren, 
allgemeinen  Schichten  der  Frommen  empor  zu  den  besonderen, 
oberen,  seien  sie  Priester  oder  Vornehme,  Künstler  oder  Schriftgelehrte, 
in  deren  Geiste  sie  sich  verfeinert  und  veredelt  durch  die  Pflege  der 
Überlieferung  und  des  Gedankens,  der  in  Dichtungen  und  anderen 
Werken  der  I^hantasie  und  Erinnerung  niederschlägt.  Man  vergleiche 
etwa  mit  den  im  alten  Hellas  herrschenden  Religionen,  dem  rohen 
Götterdienst,  wie  er  noch  in  den  homerischen  Epen  uns  entgegentritt, 
die  erhabenen  Chorlieder  eines  Aeschylos,  die  tiefen  Gedanken  des 
Herakleitos  oder  der  Pythagoräer,  die  Kunst  des  Pheidias  und 
des  Praxiteles.  Man  vergleiche  ebenso  mit  dem  kathoUschen  Volks- 
glauben etwa  des  13.  Jahrhunderts  den  Dichter  der  Divina  Commedia 
und  die  Denkgebilde  eines  Albertus  Magnus,  Thomas  Aquinas 
und  DuNS  ScoTus.  In  der  gesamten  Geistlichkeit,  sofern  und  je  mehr 
sie  dem  Studium  obliegt,  sublimiert  sich  die  Volksreligion.  Dies 
führt  in  der  abendländischen  Kirche  zunächst  zur  Verhöhung  und 
Verschärfung  des  mönchischen  Ideales,  bald  aber  eben  dadurch  zu 
einer  Krise  der  Lebensanschauung  und  Ethik,  indem  sich  die  laxere 
Ansicht  von  der  strengeren  scheidet.  Das  eine  wie  das  andere  ist 
Folge  des  Wachstums  und  zunehmenden  Einflusses  der  Städte.  Wenn 
das  mönchische  Ideal,  unterhalb  dessen  für  die  große  Menge  der  Land- 
bewohner und  Krieger  die  christliche  Lehre  nur  ein  neuer  Wunder- 
glaube und  die  Anbetung  neuer  ausländischer  Götter  bedeutete, 
neben  denen  die  alten  Volksgötter  zu  armen  Teufeln  hinabsanken  — 
wenn  jener  weltvemeinende  Gedanke  zuerst  die  Geistlichkeit,  dann 


236  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

auch  im  Gefolge  der  Kreuzzüge  den  Stand  der  Ritter  ergriffen  und 
erhoben  hatte,  so  ging  er  mit  den  Bettelorden  —  den  Orden  der 
Philosophen  —  auf  das  Bürgertum  über,  an  dem  er  seine  Kraft  be- 
währte, aber  auch  zerbrach.  Die  asketische  lycbensrichtung,  die 
immer  nur  ringend,  in  der  Erwartung  des  baldigen  Weltendes,  sich 
behaupten  konnte,  wurde  als  Unwahrheit  offenbar :  die  Sittenlosigkeit 
der  Klöster  —  wie  der  Weltgeistlichkeit  —  spottete  der  frommen 
Gelübde,  die  Reformen  mißlangen.  Die  Moral  der  Neuzeit  wird,  je 
mehr  diese  sich  auf  ihre  eigenen  Füße  stellt  und  von  der  alten  Religion 
sich  unabhängig  macht,  um  so  mehr  in  letzter  Instanz  durch  die 
öffentliche  Meinung  bestimmt,  wenngleich  diese  zunächst  ein  neu- 
religiöses Gewand  anzieht  und  von  Zeit  zu  Zeit,  auch  nachdem  es 
stark  verbuchen  ist,  aufs  neue  sich  damit  bekleidet.  Veränderungen 
schreiten  unablässig  fort  und  zwar,  wenn  auch  mit  starken  Unter- 
brechungen, überwiegend  in  der  gleichen  Richtung:  die  öffentliche 
Meinung  wird  immer  mehr  sie  selber  und  wird  mächtiger,  indem  die 
Macht  der  Religion  sich  vermindert.  Nur  die  moderne  öffent- 
liche Meinung  können  wir  hier  erkennen  und  beurteilen,  wie  sie 
bis  heute  geworden  ist,  ohne  ihre  kommende  Entwicklung  voraus- 
zusagen und  vorauszuwissen.  Insonderheit  wissen  wir  nicht,  wie  sie 
sich  inskünftig  etwa  zur  Religion  verhalten  wird,  sei  es  zu  einer  oder 
mehreren  überlieferten  oder  zu  einer  ganz  jungen  und  frischen,  wie 
im  Altertum,  im  römischen  Reiche  der  jüdisch-hellenistische  Glaube 
der  Nazarener  war,  der  allmählich  die  Philosophen  für  sich  gewann 
und  dadurch  eine  wissenschaftlich-moralische  Autorität  erwarb. 

II.  (Moral  der  Religion  und  Moral  der  Öffentlichen  Meinung.) 
Wir  denken  hier  an  die  wirklich  geübte  und  gedachte  Moral,  an 
das  vorherrschende  Urteil,  wie  es  sich  öffentHch  kundgibt,  an  die 
öffentliche  Meinung  als  ethischen  Richter.  Feststehen  dürfte  etwa 
folgendes.  Die  öffentliche  Meinung  beurteilt  den  Menschen  nach 
seinen  Handlungen,  sie  fragt  nicht  so  viel  nach  seiner  Denkungsart, 
wenigstens  nicht  nach  seinem  Glauben ;  es  ist  ihr  merkwürdig,  aber 
nicht  ein  Greuel,  wenn  er  ungläubig  oder  wenn  er  gläubiger  Jude, 
gläubiger  Moslem  oder  Buddhist  ist.  Das  finstere  Heidentum  gibt 
es  für  sie  nicht.  Was  ihr  Eindruck  macht,  ist  die  Tüchtigkeit,  der 
tüchtige  Mensch,  was  ihr  am  meisten  mißfällt,  die  Nichtsnutzig- 
keit, der  Tunichtgut.  Sie  unterscheidet  freilich  das  spezifisch  Un- 
moralische als  nichtswürdig  und  böse,  aber  das  spezifisch  Moralische 
und  Unmoralische  steht  in  ihrer  Wertung  nicht  mehr  schlechthin  im 
Vordergrunde,  wie  es  für  das  Urteil,  das  durch  Sitte  und  vollends 
durch  Religion  gebunden  ist,  der  Fall.  Die  Tüchtigkeit  kann  aller- 
dings durch  eine  besonders  auffallende  Nichtswürdigkeit  verdunkelt 


Ihre  Merkmale.  —  Soziologische  Wechselwirkungen.  237 

werden ;  aber  die  Nichtswürdigkeit  selber,  oder  was  dafür  gehalten " 
wurde,  wird  verdunkelt  durch  den  großen  Erfolg,  den  Glanz  des 
Namens,  die  unbestrittene  Geltimg.  So  kommt  an  den  »großen 
Mann«  das  spezifisch  moralische  Urteil  nicht  heran,  die  Größe  wird 
angestaunt  und  bannt  den  Blick.  Typisch  dafür  ist  das  Urteil  über 
den  »großen«  Napoi^EON,  wie  es  —  bei  seinen  Zeitgenossen  noch 
durch  vielfachen  Haß  und  Unwillen,  auch  durch  sittliche  Entrüstung 
getrübt  —  für  die  Nachwelt  sich  festgesetzt  hat.  Die  Ideale  des 
Rittertums  wirken  stark  nach  in  der  öffentlichen  Meinung:  einem 
siegreichen  Feldherrn  weiht  sie  immer  noch  lieber  ihre  Lorbeeren 
als  einem  Dichter  oder  anderen  Künstler,  wenn  auch  dessen  Augen- 
bhckserfolg  ebenso  groß  sein  mag.  Und  doch  verabscheut  die  öffent- 
liche Meinung  das  Blutvergießen  und  die  Grausamkeit,  sieht  auch 
das  ganze  kriegerische  Wesen  —  den  »Miütarismus«  —  wesentUch 
als  ein  »notwendiges  Übel«  an.  Ebenso  betrachtet  die  öffentliche 
Meinung  den  Krieg  —  ungeachtet  alles  Chauvinismus  und  Im- 
periahsmus,  der  durch  die  Länder  am  meisten  rast,  die  andere 
am  heftigsten  als  miUtaristische  anklagen  — ,  nur  wenn  er  in  not- 
wendiger Verteidigung  geführt  wird,  als  »berechtigt«.  Sie  verurteilt 
eine  auf  Krieg  abzielende  PoHtik  und  setzt  sich  immer  für  den 
»Völkerfrieden«  ein,  in  erster  Linie  aus  wirtschaftUchen  Gründen, 
wegen  der  ungeheuren  Zerstönmgen  von  Gütern,  Zerrüttungen  der 
Finanzen,  die  der  große  Krieg  mit  sich  bringt,  aber  auch  aus  Gründen 
der  Humanität,  also  aus  sittUchen  Gründen.  Die  Humanität  ist  be- 
ständige Forderung  der  öffentlichen  Meinung,  und  sie  legt  großen  Wert 
darauf,  dadurch  mit  der  Lehre  des  Christentums,  nämlich  dem  Gebot 
der  Nächstenliebe  sich  zu  berühren.  Es  wäre  ihr  nicht  unwillkommen, 
die  Ansprüche  der  Rehgion  auf  diesen  Punkt  der  Übereinstimmung 
einzuschränken.  Während  aber  die  christliche  Nächstenliebe  sich  am 
liebsten  als  Barmherzigkeit  (Carität)  imd  sogar  mit  der  Richtung 
auf  Feindesliebe  betätigen  will,  so  ist  die  moderne  Humanität  mehr 
passiv  und  charakterisiert  sich  am  reinsten  als  Duldung  (Toleranz) 
und  insbesondere  als  Duldung  fremder,  wenn  auch  anstößiger  imd  für 
schädlich  gehaltener  Meinungen,  zumal  solcher  von  religiösem 
Charakter,  und  als  Duldung  beliebiger  Rehgionsübung.  »Jeder  mag  auf 
seine  Fasson  selig  werden«,  das  ist  ihre  Losung,  die  auf  den  Fürsten 
sich  zurückführt,  von  dem  Kant  sagte,  daß  er  „zuerst  das  menschliche 
Geschlecht  der  Unmündigkeit  wenigstens  von  selten  der  Regierimg 
entschlug*'.  Dieser  Geist  der  öffentlichen  Meinung  hat  seinen  bewußten 
Träger  am  Freimaurerorden  gefunden,  der  aber  die  Humanität 
auch  in  einem  weiteren  Sinne  ausdeutet  und  befördern  will.  In  bezug 
auf  die  Religion  aber  ist  gerade  die  Toleranz  das  wesentliche  Merk- 


238  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen, 

mal,  wodurch  die  weltliche  öffentliche  Meinung  von  der  geistlich- 
priesterlichen  Gesinnung  sich  abhebt,  die  in  den  großen  christlichen 
Konfessionen,  wie  in  den  historischen  Religionen  vorwaltet.  Denn 
diese  ist  unduldsam,  weil  sie  nur  ihre  I^ehre  für  wahr  und  heilsam, 
alle  Irrlehre  aber  für  Verrat  und  Abfall,  für  Verderben  am  Seelenheil 
erkennt.  Sofern  sie  Einfluß  hat  auf  die  politische  Macht  und  Re- 
gierung, wird  sie  immer  diese  bewegen  wollen,  solche  schädUche  und 
gefährliche  Doktrinen  zu  unterdrücken,  ihre  Prediger  zu  bestrafen 
und  die  Verbreitung  zu  untersagen.  Die  öffentliche  Meinung  ist  in 
der  Regel  duldsam  in  bezug  auf  religiöse  Vorstellungen,  aber  sie  ist 
in  den  Gebieten,  worauf  sie  größeren  Wert  legt,  ebenso  unduldsam 
wie  irgendeine   Religion. 

Keineswegs  ist  in  allen  Fragen  der  Ethik  die  öffentliche  Meinung  im 
Gegensatz  zur  Religion.  Aber  die  Akzente  liegen  anders,  zum  Teil  so 
sehr,  daß  ein  offenbarer  Widerspruch  herausspringt.  Beide  bleiben  in 
einigem  Maße  abhängig  vom  NatürHch-Ursprünglichen,  das  die  ein- 
trächtige Volksgesinnung  heischt  und  heiligt,  und  vom  Überlieferten- 
Hergebrachten,  das  die  Sitte  und  das  Gesetz  einschärfen,  z.  B.  in  bezug 
auf  die  Einehe,  die  Verwerfung  inzestuöser  Ehen  wie  der  Polygynie 
oder  Polyandrie.  Aber  verschiedene  Akzente  liegen  schon  auf  den 
Tugenden  der  Wahrhaftigkeit,  Treue  und  Ehrlichkeit,  die  aus  dem 
ursprüngUchen  Schatze  des  Volksbewußtseins  und  Volksgewissens 
geschöpft,  ihren  eigentlichen  Sinn  immer  hatten  als  Regeln  für  das 
Verhalten  zu  den  Brüdern,  Genossen,  Kameraden,  als  Ausfluß  einer 
gemeinschaftHchen  Gesinnung.  In  der  Religion  werden  sie  über- 
schattet von  den  viel  höheren  Pflichten  des  Dienstes  an  den  Göttern, 
der  Ehrfurcht  vor  den  Priestern,  des  Glaubens  an  die  Wahrheit  und 
Weisheit  ihrer  Vorschriften  —  der  Gottesfurcht  und  des  Gehorsams. 
Die  öffentliche  Meinung  beruht  zwar  auf  den  gleichen  Grundlagen, 
aber  in  eine  gesellschaftliche  Umgebung,  eine  Welt  von  Ungenossen 
und  Fremden  gestellt,  wird  sie  duldsam  gegen  Verletzungen  der  Wahr- 
haftigkeit, Treue  und  Ehrlichkeit,  so  lange  als  diese  Verletzungen 
nicht  in  strafbare  Handlungen  übergehen,  die  als  »Verbrechen« 
im  Einklänge  mit  dem  Gesetz  die  öffentliche  Meinung  in  der  Regel 
verwehrt.  Andere  Verstöße  dieser  Art  sind  zu  alltäglich  und  zu  sehr 
durch  den  »Kampf  ums  Dasein«  aufgenötigt,  als  daß  die  öffentliche 
Meinung  sich  viel  darum  bekümmern  könnte  und  wollte;  sie  müssen 
schon  kolossal  sein,  um  eine  starke  Entrüstung  hervorzurufen,  und 
dann  wird  auch  Verfolgung  und  Bestrafung  gefordert.  Diese  Be- 
trachtung führt  darauf,  festzustellen,  daß  überhaupt  innerhalb  der 
gesamten  Sittlichkeit  für  die  Religion  die  Gesinnung,  für  die  öffent- 
liche Meinung  die  Tat  im  Vordergrunde  steht,  daher  für  jene  die 


Ihre  Merkmale.  —  Soziologische  Wechselwirkungen.  239 

Moralität,  für  diese  die  I^egalität  der  Handlungen  dasjenige  ist,  worauf 
am  meisten  Gewicht  gelegt  wird.  Die  Religion  will  die  Seelen  be- 
herrschen und  macht  darauf  Anspruch,  die  innerste  Gesinnung,  ob 
sie  dem  Gotte  wohlgefällig  sei  oder  nicht,  zu  erforschen;  dem  dient 
auch  eine  Einrichtung  wie  die  Beichte.  Die  öffentliche  Meinung  hält 
sich  an  die  Erscheinimg,  an  das  Offenbare  und  Offenkundige,  daher 
auch  leicht  an  den  bloßen  Schein  und  läßt  sich  oft  durch  den  Schein 
täuschen.  Sie  will  auch  im  Sittlichen  das  Vorgeschriebene,  das  Regel- 
mäßige, das  Korrekte.  Sie  ist  läßlich  und  nachsichtig  in  bezug  auf 
die  Ausschweifimgen  des  Egoismus  in  Handel  und  Verkehr,  wenn 
nur  die  Gesetze  nicht  offen  übertreten  werden,  oder  sogar  dann,  wenn 
es  nur  nicht  »publik«  wird,  und  »das  Zuchthaus  nur  mit  dem  Ärmel 
gestreift«  wurde.  In  Kolonialländern  treten  jene  Ausschweifungen  am 
grellsten  zutage.  Auch  die  öf f enthche  Meinung  entfaltet  an  diesen  spe- 
zifisch modernen  Stätten  ihre  Macht  in  der  lautesten  und  freiesten 
Vveise.  Ein  enghscher  SozialpoUtiker,  lyord  WEI.BY,  sagt  von  dem  Geist 
der  Vereinigten  Staaten :  „Die  öffentliche  Meinung  ist  gelinde  oder,  um 
das  allergeringste  zu  sagen,  stumpf  (lenient,  or  to  say  the  least,  indolent) 
in  ihrer  Haltimg  gegen  gewissenloses  Trachten  nach  Reichtum.  Allzu 
oft  geht  man  über  Unrechttun  leicht  hinweg  indem  man  es  »Geschäft« 
nennt.  Das  Ergebnis  ist  Mangel  an  Vertrauen  in  die  Rechtschaffenheit 
derer,  die  große  industrielle  Unternehmungen  leiten.  Folglich  ist 
das  Land  von  vornherein  zur  Beunruhigung  geneigt,  und  wenn  üble 
oder  fragwürdige  Zeiten  kommen,  so  entartet  dieser  Mangel  an  Ver- 
trauen leicht  in  Angst  und  panischen  Schrecken"  (Contemp.  Review, 
Dez.  1907). 

12.  (Ordnung,  Recht,  Moral.)  Wir  mögen  wiederum  die  drei 
Gebiete  unterscheiden,  in  denen  das  Zusammenleben  der  Menschen 
der  Regelung  durch  kollektiven  Willen  unterliegt,  indem  als  Ordnung 
der  Inbegriff  von  Normen  bezeichnet  wird,  die  das  Leben  im  allge- 
meinen bändigen  und  das  Kulturleben  aus  der  Wildheit  herausheben 
sollen;  als  Recht  die  Gesamtheit  der  Regeln,  deren  Betätigung  und 
Durchführung  einem  förmlichen  Gericht  unterliegt;  als  Moral  endHcli 
höhere  Forderungen  und  Verwehrungen,  die  aus  der  Idee  eines 
schönen  und  edlen  menschlichen  Lebens  sich  ergeben.  ReHgion  und 
öffentliche  Meinung  beziehen  sich  auf  alle  drei,  aber  in  der  Moral 
finden  sie  ihr  eigentliches  und  besonderes  Gebiet,  zugleich  gehen  sie 
darin  am  weitesten  auseinander.  Sie  unterscheiden  sich  überhaupt 
durch  das  Maß  des  Ernstes  und  der  Strenge,  womit  sie  ihre  Regeln  be- 
tonen und  sanktionieren :  im  allgemeinen  ist  Religion  darin  der  öffent- 
lichen Meinung  weit  überlegen,  aber  dies  tritt  in  bezug  auf  die  all- 
gemeine Ordnung  des  Lebens,  als  die  am  meisten  äußere  Regelung,  am 


240  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

wenigsten  in  bezug  auf  die  Moral,  als  die  am  meisten  innere  Regelung, 
am  meisten  zutage.  Die  Religion  vertritt  eine  strenge  Moral,  die  öffent- 
liche Meinung  eine  laxe  Moral.  Der  Unterschied  ist  auch,  aber  in  viel 
minderem  Maße,  in  bezug  auf  das  Recht  und  am  wenigsten  in  bezug 
auf  die  Ordnung  erkennbar.  —  In  allen  diesen  Beziehungen  verhalten 
sich  sowohl  Religion  als  öffentliche  Meinung  i.  wünschend  und  ver- 
wünschend, billigend  imd  mißbilligend,  lobend  und  tadelnd,  be- 
wundernd und  verachtend,  2.  heischend  und  hemmend,  ge-  und  ver- 
bietend, fordernd  und  verwehrend,  3.  richtend  und  vergeltend,  also 
freisprechend  und  verurteilend,  belohnend  und  bestrafend.  Und 
zwar  macht  die  erste  Art  der  Normierung  ebenso  vorwiegend  im 
Gebiete  Ordnung,  wie  die  zweite  vorwiegend  im  Gebiete  Recht,  die 
dritte  vorwiegend  im  Gebiete  Moral  sich  geltend.  Dies  zu  erläutern 
mögen  noch  folgende  Bemerkungen  dienen: 

A.  Für  die  herrschende,  besonders  die  in  einem  Lande  herrschende 
Religion,  wie  für  die  (herrschende)  öffentliche  Meinung  gibt  es  be- 
wegende Vorstellungen  des  Normalen  und  Gesunden,  die  sich  steigern 
zu  Ideen  des  Vollkommenen,  zu  Idealen.  Beide  werden  bezeichnet 
durch  Worte  wie  Kultur,  Gesittung,  Veredlung,  denen  sowohl  Religion 
als  öffentliche  Meinung  günstig  sind,  wenn  auch  Religion  in  der  Regel 
den  idealen  Zustand  in  die  Vergangenheit,  öffentliche  Meinung  in 
die  Zukunft  verlegt.  So  ist  für  jüdische  wie  für  christliche  Religion 
der  Mythus  vom  Sündenfall  ebenso  charakteristisch,  wie  für  den 
hellenischen  Götterglauben  die  Mär  vom  goldenen  Zeitalter.  Dagegen 
hat  die  öffentliche  Meinung  immer  die  Neigung,  an  den  Fortschritt,  an 
die  allmähliche  Vervollkommnung  des  Menschen  als  an  die  Tatsache 
der  Erfahrung  sich  zu  halten;  sie  sieht  in  der  Wildheit  und  Roheit 
nicht  einen  Zustand  des  Abfalles  und  der  Bntartimg,  sondern  den 
ursprünglichen  Zustand  der  Menschheit.  Nach  diesen  Maßstäben 
richtet  sich  die  Schätzung,  welche  beide  a)  Menschen,  b)  Institutionen, 
c)  Vorstellungen  angedeihen  lassen.  Gelobt  und  bewundert,  getadelt 
und  verachtet  werden  solche  nicht  bloß  unter  dem  Gesichtspunkte 
der  Moral,  sondern  auch,  und  zumeist,  unter  denij eiligen  der  Ordnung. 
Menschen  wünscht  die  Religion  als  fromm  und  friedlich  gesinnte, 
sanftmütig  und  barmherzig,  demütig  und  gehorsam,  darum  auch  als 
tapfer  und  aufopfernd,  wenn  es  gilt  für  die  Hausaltäre,  für  die  hei- 
mischen Götter  und  Heiligtümer  zu  streiten;  aber  in  gewöhnlichen 
Zeitläufen  entspricht  die  Frau  dem  Ideal  mehr  als  der  Mann;  die 
öffentliche  Meinung  verherrlicht  überhaupt  eher  den  schaffenden, 
arbeitenden,  kämpfenden  Mann.  Das  Ideal  ist  dort  der  Heilige,  hier 
der  Held;  aber  der  Ritter,  wenn  helfend  und  edel,  für  eine  gute  Sache 
streitend,  wird  dort  wie  hier  bewundert.    Institutionen  wünscht 


Ihre  Merkmai^e.  —  Sozioi^ogische  Wechsei, Wirkungen.  24 1 

und  lobt  die  Religion  vorzugsweise  als  althergebrachte,  bewährte, 
geweihte,  zumal  solche,  die  sich  der  Einsetzung  durch  eine  Gottheit 
oder  einen  gottbegnadeten  Menschen  erfreuen.  Die  öffentliche 
Meinung  mißt  hingegen  die  Institutionen  an  ihrem  Ideale  der  Ver- 
nunft und  der  wissenschaftlichen  Geltung,  daher  des  Nutzens  und 
der  Zweckmäßigkeit.  Aber  in  den  Begriffen  des  Natürlichen  und 
Gesunden  begegnen  sich  beide,  die  Idee  des  Naturrechts  ist  der  Re- 
ligion und  der  öffentlichen  Meinung  in  den  neueren  Zeitläufen  ge- 
meinsam gewesen.  Dies  führt  uns  zu  den  Vorstellungen,  und  es 
ergibt  sich  von  selbst,  daß  die  ReHgion  religiöse,  die  öffentliche 
Meinung  wissenschaftliche  Vorstellungen  am  meisten  wünscht  und 
verherrHcht ;  dort  werden  irreligiöse,  gottlose,  hier  im  wissenschaftliche 
und  abergläubische  verabscheut:  jene  erregen  mehr  Schande,  diese 
mehr  Spott.  Aber  auch  hier  ist  das  Auseinandergehen  nicht  so  weit, 
daß  nicht  manche  Berührungspunkte  blieben:  die  Religion  sucht 
durch  ihren  Dolmetsch,  die  Theologie,  Fühlung  mit  den  Wissen- 
schaften, am  liebsten  mit  der  Königin  der  Wissenschaften,  der  Philo- 
sophie, zumal  mit  deren  Krone,  der  Metaphysik,  weil  diese  ihrerseits  — 
und  zwar  eben  unter  dem  Einfluß  der  Religion  und  ihrer  Theologie  — 
den  Übergang  vom  Natürlichen  zum  Übernatürlichen  finden  will.  Aber 
die  öffentliche  Meinung  steht  ihrem  Wesen  nach,  das  auf  Wirkliches  und 
Praktisches,  auf  die  Erfahrung  gerichtet  ist,  auch  diesen  Versuchen 
der  »Apologetik«  ablehnend  gegenüber;  ja  sie  fühlt  sich  dadurch 
herausgefordert.  Eher  läßt  sie  die  ReHgion  in  ihrer  Einfalt,  als 
schlichten  kindlichen  Glauben  und  als  Sitte  oder  sogar  als  Staats- 
einrichtung gelten  und  ist  sogar  bereit,  sie  in  diesem  Sinne  zu  schützen. 
B.  Auch  in  der  Sphäre  des  Rechts  verhalten  sich  Religion  und 
öffentlicheMeinung  auf  die  dreifache  Weise  (wünschend,  heischend,  rich- 
tend) tmd  in  der  dreifachen  Beziehung:  auf  Menschen,  Institutionen, 
Vorstellungen.  Aber  hier  steht  die  jedesmal  zweite  Weise  und  die  zweite 
Beziehung  voran,  und  diese  müssen  unterstrichen  werden.  Auch  die 
Menschen  sollen  »von  Rechts  wegen«  so  und  so  sein:  die  »Rechts- 
ordnung« wünscht  sie  »rechtschaff en  «  und  gerecht,  ganz  besonders  ihre 
eigenen  bestellten  Hüter,  die  Richter ;  sie  gebietet  und  verbietet  ihnen, 
den  Gesetzen  gemäß  (zuwider)  zu  handeln  und  zu  richten ;  sie  richtet 
selber  in  den  ordentlichen  Gerichten  die  Übertretungen  und  stellt 
sich  mit  Zwangsgewalt  wieder  her,  wo  sie  verletzt  wurde.  Aber  die 
Institutionen  sind  das  eigentliche  Gebiet  der  Rechtsordnung;  in 
diesen  verkörpert  sich  ihr  Geist,  und  zwar  zunächst,  indem  sie  sie 
durch  eine  Idee  beherrscht,  z.  B.  durch  die  Idee  der  Monarchie  oder 
durch  die  Idee  der  Repubhk  oder  durch  die  Idee  einer  gemischten 
Verfassung,  der  konstitutionellen  Monarchie.   Ebenso  will  die  Rechts- 

Tdante»,  Kritik.  16 


242  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Ordnung  die  Idee  der  Gemeinschaft  oder  die  Idee  der  Gesellschaft 
oder  eine  Mischung  beider  verwirklichen  (wenn  auch  unter  anderen 
Namen).  Aber  die  wirklichen  Institutionen  sind  es,  in  denen  die 
Rechtsordnung  vorzugsweise  heischend  und  hemmend,  ge-  und  ver- 
bietend, fordernd  und  verwehrend  auftritt,  mit  einem  Worte:  Ge- 
horsam und  regelmäßige  Tätigkeit  verlangend.  In  keinem  Zweige 
tritt  dies  so  bestimmt  hervor,  wie  in  den  Institutionen  des  Heer  - 
Wesens,  in  denen  »des  Dienstes  ewig  gleichgestellte  Uhr«  maßgebend 
ist.  Aber  so  sind  alle  staatlichen,  gemeindlichen  und  privaten  Insti- 
tutionen, mehr  oder  minder  scharf,  von  Heischungen  und  Hemmungen 
durchwirkt.  Überall  aber  macht  sich  die  Rechtsordnung  auch  rich- 
tend innerhalb  der  Institutionen  geltend:  neben  den  »ordentlichen« 
Gerichten  gibt  es  mannigfache  außerordentliche,  als  geistUche  Ge- 
richte, Ehrengerichte,  Standesgerichte  und  Standgerichte,  Kriegs- 
gerichte, Handels-  und  Gewerbegerichte,  Disziplinargerichte,  Volks- 
gerichte —  öffentliche  und  heimliche  —  usw.  Alle  wollen  Recht 
finden  und  Recht  sprechen,  wenn  auch  verschiedenes  Recht  und  in 
verschiedener  Weise :  Recht  und  Richter  sind  untrennbar  voneinander. 
Die  starken  Einflüsse,  mit  denen  zu  allen  Zeiten  die  Religionen  auf 
das  gesamte  Recht  gewirkt  haben,  sind  bekannt  und  offenbar,  sie 
verkörpern  sich  auch  heute  noch  in  lebendigen  Einrichtungen  und  in 
tief  wurzelnden  Vorstellungen.  Familie,  Gemeinde,  Kirche  sind  die 
großen  Bereiche  dieses  Zusammenhanges.  Aber  mehr  und  mehr  hat 
in  den  neueren  Jahrhunderten,  wie  in  der  Spätzeit  der  Antike,  be- 
sonders im  Römischen  Reich,  die  öffentliche  Meinung  mit  der  wissen- 
schaftHchen  Denkungsart,  der  Ratio,  sich"  an  die  Stelle  der  Religion 
geschoben  und  ist  die  ausschlaggebende  geistige  Macht  für  Rechts- 
bildung und  Rechtserhaltung  geworden.  Die  öffentliche  Meinung  for- 
dert Abschaffung  alter,  Herstellung  neuer  Gesetze  —  der  Gesetzgeber 
muß  ihr  folgen  und  sich  anbequemen.  Die  großen  Bereiche  der  öffent- 
lichen Meinung,  worauf  sie  ihre  Postulate  vorzugsweise  bezieht,  sind 
Individuum  -  Gesellschaft  -  Staat.  Im  alten  Recht;,  das  in  der  Religion 
seine  höchste  Instanz  hat,  hegt  Gemeinschaft  und  die  natürlich- 
wesentliche Gebundenheit  der  Individuen  wie  der  Gruppen  zugrunde. 
Im  neuen  Recht  wird  gemäß  der  rationalistischen  öffentlichen  Meinung 
die  Freiheit  der  Individuen  und  ihre  freiwillig  zweckmäßige  Selbst- 
bindung zugrunde  gelegt  und  gelten  als  die  allein  natürlichen  oder 
naturrechtmäßigen  Bindungen. 

C.  Betrachten  wir  endUch  auch  die  Moral  oder  die  sittliche  Ord- 
nung des  menschlichen  Zusammenlebens  unter  dem  dreifachen 
Gesichtspunkte.  Auch  sie,  und  sie  vollends,  hat  ihre  Ideen  und  Ideale 
und  wünscht  deren  Verwirklichung,  lobt  und   verherrlicht,  tadelt 


Ihre  Merkmai^e.  —  Soziologische  Weghsei. Wirkungen.  243 

und  verachtet  also  Menschen,  Institutionen,  Vorstellungen,  je  nachdem 
sie  dem  sich  nähern  oder  davon  entfernt  sind  imd  sogar  widrig  sich 
dazu  verhalten.  Sie  verhält  sich  auch  heischend  zu  ihnen,  gebietet 
imd  verbietet  solches  imd  solches  Verhalten  der  Menschen,  solche 
und  solche  Beschaffenheit  der  Institutionen  und  der  Vorstellimgen. 
Aber  sie  erfüllt  sich  erst  —  wie  früher  betont  wurde  — ,  wenn  sie 
richtend  auftritt:  sie  will  richten,  und  zwar  in  letzter,  in  höchster 
Instanz,  wenn  sie  auch  unfähig  ist,  ihre  Sprüche  anders  zu  vollziehen 
als  durch  sich  selber;  sie  erwartet  nicht,  wie  die  Recht  sprechenden 
Gerichte  es  in  der  Regel  tun,  den  Beistand  einer  anderen,  zwingenden 
Gewalt.  Sie  richtet  auch  über  Institutionen,  sogar  über  den 
Staat  (so  wenig  sie  ihn  entbehren  kann  und  will),  wenn  er  als  von 
ihre  m  Geiste  verlassen,  als  feindseUg,  so  den  Christen  als  »heidnischer« 
Staat  sich  darstellt.  Und  so  richtet  sie  auch  über  gerichtliche  Er- 
kenntnisse imd  Urteile,  billigt  und  unterstützt  sie  oder  verurteilt  sie 
als  ungerecht.  Sie  meint  dann  vorzugsweise  die  darin  ausgeprägten 
Vorstellungen  und  Gedanken,  denn  auf  diese  bezieht  sich  ihre  Juris- 
diktion am  \mmittelbarsten,  wenngleich  richterHche  Erkenntnisse 
auch  als  Willenshandlungen  der  Menschen  erscheinen,  die  dafür 
verantwortUch  sind;  aber  die  Beurteilung  dieser  Menschen  ist  für 
solchen  Fall  offenbar  sektmdär,  es  wird  oft  oder  sogar  in  der  Regel 
zugegeben,  daß  diese  subjektiv  in  gutem  Glauben  waren;  der  gericht- 
liche Spruch  wird  als  solcher,  als  Gedankengebilde,  nach  seinem 
morahschen  Wert  beurteilt.  Das  Urteil  kann  in  einem  gegebenen 
Umkreise  höchst  mannigfach  und  sehr  verschieden  begründet  sein, 
ob  Einzelne  es  fällen,  ob  ganze  Gruppen  oder  die  Gesamtheit.  Nur 
dann  wird  man  annehmen  dürfen,  daß  die  sittliche  Ordnung  eines 
Volkes  dahinter  stehe,  wenn  feststehende  Grundsätze  sich  darin 
kundgeben,  die  man  als  Inhalt  des  wirklichen  Volksgewissens  oder 
doch  eines  übereinstimmenden  moraHschen  Bewußtseins  zu  deuten 
berechtigt  ist,  nicht  aber,  wenn  bloße  Gehässigkeit,  blinde  Feindschaft, 
zumal  die  einer  Nation  gegen  eine  andere,  sich  darin  ausspricht.  In 
den  Vorstellungen  und  Gedanken,  eigenen  sowohl  als  fremden,  hat 
dies  gemeinsame  Denken  und  Wollen  seinen  eigensten  Gegenstand, 
worin  es  sich  reflektiert,  und  zwar  wünschend,  heischend,  zumal 
aber  richtend.  So  bricht  es  »den  Stab«  über  Ideen,  die  ihm  falsch, 
töricht,  verderblich  und  unheilvoll  scheinen,  wie  etwa  heute  die 
Ideen  des  »Bolschewismus«,  lange  Zeit  des  Sozialismus  schlechthin, 
heute  noch  wenigstens  des  als  seine  Spielart  oder  Entart  aufgefaßten 
»Kommunismus«,  vollends  des  Anarchismus  und  Syndikalismus, 
Namen  imd  Vorstellungen,  die  aber  niemals  so  tief  unter  die  Ober- 
fläche des  öffentlichen  Bewußtseins  gedrungen  sind,  wie  heute  die 

i6* 


244  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Vorstellungswelt  Sowjet -Rußlands.  Erst  außerhalb  des  politischen 
Gebietes  tritt  das  moralische  Urteil  in  die  ihm  gehörige  Sphäre.  Und 
diese  begrenzt  sich  am  schärfsten  als  die  der  geschlechtlichen 
Sittlichkeit  nebst  allen  Lebenserscheinungen,  die  davon  abhängen. 
In  dem  ganzen  Gebiete  (der  Moral)  liegt  klar  zutage,  daß  die  Ideen, 
die  Forderungen,  die  Urteile,  ganz  hauptsächUch  durch  die  Religion 
und  die  öffentliche  Meinung  bestimmt  werden:  dem  Inhalte  nach 
verwerfen  beide  ein  selbstsüchtiges,  eigennütziges,  unsoziales  Ver- 
halten, aber  die  Religion  grundsätzlich,  die  öffentliche  Meintmg 
nur,  wenn  es  durch  Übermaß  und  besonders,  wenn  es  gewalttätig 
sich  bemerklich  macht.  Die  Religion  fordert  (in  ihren  ausgeprägten 
Gestaltungen)  Entsagung,  Askese,  darum  macht  sie  jezu weilen  Ar- 
mut, Gehorsam,  Keuschheit  durch  Gelübde  zur  PfUcht.  Die  öffentliche 
Meinung  hat  für  alle  diese  Tugenden  keinen  Sinn.  Sie  setzt  immer 
ein  bewegtes  gesellschaftliches  Leben  und  einen  Verkehr  zwischen 
Menschen,  die  einander  innerlich  fremd  sind  und  bleiben,  voraus. 
Darum  ist  ihr  (s.  oben)  die  Legalität  und  die  ihr  verwandte  äußere 
formale  Korrektheit,  der  Anstand,  wertvoller  als  die  eigentliche 
Moralität,  wenigstens  als  die  aus  der  Gesinnung  fließende;  und 
wo  sie  auf  diese  Wert  legt,  da  appelliert  sie  an  das  wohlver- 
standene Selbstinteresse,  überhaupt  immer  an  die  Einsicht.  In 
bezug  auf  EhrUchkeit  ist  ihr  Wahrspruch,  daß  EhrUchkeit  die 
beste  Politik  sei,  überhaupt  ist  ihr  an  dem  Zusammenfallen  des 
sozialen  mit  dem  individuellen  Interesse  alles  gelegen.  Darum  ist 
sie  aber  auch  gegen  Unehrlichkeit  als  die  irrende  Verfolgung  des 
eigenen  Interesses  nachsichtig,  und  wendet  sich  mit  viel  mehr  Schärfe 
gegen  Roheit  und  Gewalttat  als  die  Zeichen  eines  unzivilisierten, 
zurückgebliebenen  Menschentums.  /  Die  Religion  (die  christliche) 
erbUckt  in  den  Sünden  dieser  Art  die  unbekehrte,  unwiedergeborene 
Natur  der  Menschen,  die  für  sie  bleibend  und  imveränderlich  ist, 
außer  durch  Gnade,  d.  i.  durch  innere  Erleuchtung,  die  dem  Gläubigen, 
sei  es  allein  aus  dem  Glauben  oder  aus  dem  Schatz  der  guten  Werke, 
den  die  Heiligen  angehäuft  haben,  zuteil  wird.  „Sich  unter  Verzicht 
auf  das  kreatürliche  Selbst  auf  dem  Höhepunkt  der  sittHchen  Leistung 
aus  der  eigenen  Hand  in  die  Gottes  zu  übergeben,  um  in  Gottes  Kraft 
das  Göttliche  zu  wirken,  das  die  Kreatur  aus  eigener  Kraft  nur  mit 
untilgbarer  Befleckung  durch  die  kreatürliche  Selbstsucht  wirken 
kann,  das  ist  der  Kernpunkt  der  christHchen  Rehgion  und  Ethik" 
(nach  Tröltsch,  Religion  in  Geschichte  und  Gegenwart  II,  1471): 
will  sagen  etwas,  das  für  die  öffentliche  Meinung  schlechthin  unver- 
ständlich, oder  soweit  sie  es  verstehen  mag,  unassimilierbar  ist.  Sie 
wird  sicherlich  in  keinem  Lande  der  gegenwärtigen  Zivilisation  den 


Ihre  Merkmai^e.  -—  Sozioi;ogische  Wechsei^wirkungen.  245 

Wert  eines  Menschen  danach  beurteilen,  ob  der  Mensch  auf  sein  krea- 
türliches  Selbst  verzichtet  hat,  oder  den  einer  menschlichen  Handlung 
danach,  ob  sie  darauf  ausgehe,  in  Gottes  Kraft  das  Göttliche  zu  wirken. 
Vielmehr  fragt  sie  bei  der  Bewertung  des  Menschen  zuerst  danach,  ob 
er  »taugt«,  die  Tüchtigkeit  steht  ihr  am  höchsten  und  als  Tüchtigkeit 
zuerst  die  Klugheit,  sodann  fragt  sie,  ob  er  und  was  er  »bedeutet«, 
der  bedeutende  Mensch  ist  es,  der  ihr  gefällt,  auf  den  sie  »Wert  legt«. 
EndHch  —  und  das  ist  für  ihre  Schätzung  entscheidend  —  fragt  sie 
nach  der  Wirkung,  nach  dem  Erfolge.  Der  Erfolg  tilgt  für  die  öffent- 
Hche  Meinung  alle  Flecken,  der  Sieg  verscheucht  die  Schatten  einer 
Kriegführung,  die  sich  farbiger  Mietsoldaten  im  europäischen  Kriege, 
die  sich  einer  ebenso  anti völkerrechtlichen  Aushungerungsmethode 
bedient  hat.  So  wertet  die  öffentliche  Meinung,  wo  sie  ganz  frei  ihre 
Wege  wandelt,  bei  einer  Handlung  zu  allererst  die  lycistung,  und 
als  solche  die  Gescheitheit  eines  Gedankens,  Planes,  Entwurfes, 
insbesondere  einer  Erfindung;  denn  sie  ist  auf  den  Fortschritt  der 
Menschheit  eingestellt  und  findet  diesen  am  meisten  ausgeprägt  in 
Vermehrung  und  Verbesserung  der  Mittel  des  I^ebens,  in  Erleich- 
terungen imd  Förderungen  des  Tausches  und  Verkehrs  über  den 
Erdball  hin,  in  allen  Neugestaltungen  der  Technik,  wobei  die  nicht 
minder  gewaltige  Technik  der  Destruktion  gern  über  der  Technik 
der  Produktion  vergessen  wird.  Verallgemeinert  wird  diese  Schätzung 
durch  den  Bezug  auf  das  gemeine  Wohl,  am  liebsten  das  der  Mensch- 
heit, aber  auch  das  eines  engeren  Kreises,  wie  der  »Nation«  —  die 
sich  zuweilen  mit  der  Menschheit  identifiziert  oder  doch  für  ihren 
Extrakt  oder  gleichsam  ihre  Quintessenz  hält,  und  dies  hat  typische 
Bedeutung  für  das  Urteil.  Überhaupt  aber  ist  der  Sieg  die  Handlung, 
die  am  entschiedensten  der  öffentlichen  Meinung  gefällt.  Auch  ReHgion 
—  und  zwar  je  mehr  sie  ursprüngHch  und  natürlich  ist,  um  so  un- 
umwundener —  feiert  und  verherrlicht  den  kriegerischen  Helden  und  den 
Sieg;  das  lieben  der  Gemeinschaft  ist  dadurch  bedingt.  Aber  die 
ÖffentHche  Meinung  richtet  ihre  Aufmerksamkeit  unmittelbarer  und 
stärker  auf  den  Gewinn,  den  Ertrag,  den  Vorteil  des  Sieges,  die  ReHgion 
mehr  auf  seine  Schönheit,  seinen  Glanz  und  seinen  Ruhm,  und  bei  der 
Heldentat  krönt  sie  am  liebsten  die  Aufopferung,  darum  den  Heldentod 
noch  über  das  Heldenleben;  die  ÖffentHche  Meinung  eher  umgekehrt. 
13.  (Empirische  Merkmale  der  ephemeren  öffentlichen  Meinung.) 
Die  Vorstellung  der  öffentHchen  Meinung  wird  hier  von  ihrem  Begriff 
abgelöst,  sie  wird  in  ihrer  alltäglichen,  dem  Sprachgebrauch  zugrunde 
Hegenden  Erscheinung,  also  in  ihrem  luftigen  oder  gasförmigen  Zu- 
stande betrachtet.  Wir  finden  an  iln  '<  Charaktere  ausgeprägt : 
I.  Sic-  i^t  ^,^^r  ^'f-ränderlich.   Rasch  wi^  -i^  entsteht,  vergeht  sie  auch, 


246  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

und  zwar  zunächst  darum,  weil  sie  ihre  Gegenstände  wechselt.  Die 
öffentUche  Aufmerksamkeit  verweilt  nicht  lange  bei  einem 
Gegenstande,  sie  springt  von  selber  ab  oder  wird  abgelenkt.  Dies 
bezeichnet  vor  allem  die  großstädtische  ÖffentUche  Meinimg,  wie  sie 
in  diesem  ihrem  Charakter  immer  durch  Paris  am  deutHchsten 
charakterisiert  wird.  Paris  fühlt  sich  als  Hauptstadt  der  Welt,  wie 
einst  Rom  es  war.  Und  der  römische  Dichter  mahnt 
.  .  .  Nee  si  quid  turhida  Roma 
Elevetj  accedaSj  nee  te  quaesiveris  extra!  — 
eine  Mahnung,  die  der  Denkende  immer  gegenüber  den  Wirbelwinden 
der  öffentlichen  Meinimg  sich  wiederholen  wird.  Ihre  VeränderHchkeit 
bedingt,  daß  sie  oft  und  plötzlich  umschlägt.  Was  macht  sie  um- 
schlagen? Zuerst  und  vor  allem  eine  Tatsache,  ein  Ereignis,  ein  Er- 
folg. So  in  bezug  auf  eine  Persönlichkeit.  „Mußt  Ruhm  gewinnen,  da 
werden  sich  die  Leute  gleich  anders  besinnen."  Sodann  aber  auch  oft 
eine  Bewegung,  eine  Agitation,  zumal  wenn  ihr  die  Begebenheiten  zur 
Hilfe  kommen.  Ein  klassisches  Beispiel:  der  Sieg  A&[  Anti-Corn-Law- 
League  in  England  wird  uns  in  späterem  Zusammenhange  begegnen. 
Die  öffentliche  Meinung  ist  2.  hastig  —  schnell  fertig  mit  dem  Wort,  wie 
die  Jugend,  ja  oft  weist  sie  die  Züge  eines  Kindes  auf  und  dann  nicht 
leicht  die  eines  artigen  Kindes.  Die  Geschwindigkeit  und  Hast  ist 
um  so  mehr  natürlich  und  notwendig,  je  mehr  die  ÖffentUche  Meinung 
in  der  Großstadt,  zumal  der  Hauptstadt,  sich  bildet,  wo  ein  Eindruck 
den  anderen  verjagt.  Auch  wenn  man  die  Teilnahme  der  eigentUchen 
großen  Volksmenge  außer  acht  läßt,  und  etwa  nur  die  Gestaltung 
des  maßgebenden  Urteils,  zumal  in  politischen  Angelegenheiten,  ins 
Auge  faßt,  so  steUen  eben  hier  schon  die '  Gebildeten  eine  »Menge« 
dar  und  weisen  daher  die  Merkmale  auf,  die  sich  an  dieser  beobachten 
lassen.  Ein  solches  Merkmal  ist  vor  anderen  die  leichte,  also  rasche 
Erregbarkeit,  daher  rührend,  daß  die  Erregung  sich  leicht  und  rasch 
fortpflanzt,  und  daß  sie  durch  gegenseitige  Mtteilung  in  jedem 
Erregten  verstärkt  wird.  Dies  wird  bei  jeder  Volksmenge  beobachtet, 
sobald  die  Individuen  in  leibliche  Nähe  miteinander  kommen:  je 
größer  der  Haufen,  um  so  sicherer  fühlt  sich  jeder  in  ihm,  um  so  mehr 
ermutigen  aUe  den  Einzelnen  und  verstärken  seine  Leidenschaft. 
Die  Bildung  erleichtert  es,  sich  ungeachtet  leiblicher  Ferne,  im  Geiste 
einig  zu  fühlen  mit  vielen  anderen,  von  denen  man  weiß  oder  meint 
und  erwartet,  daß  sie  Gesinnungsgenossen  sind,  daß  daher  ein  be- 
stimmtes Erlebnis,  der  Eindruck  eines  Ereignisses  bei  ihnen  die 
gleichen  Empfindungen  hervorrufen  werde  wie  bei  mir  selber.  Und 
dieser  Gedanke  wirkt  um  so  stärker  auf  die  eigene  Gemütsbewegung 
zurück,  je  mehr  er  zu  vermuten  Grund  hat,  daß  »aUe«  gleichzeitig 


Ihre  Merkmai^e.  —  Sozioi:,ogische  Wechsei. Wirkungen.  247 

von  dem  elektrischen  Schlag  durchzuckt  werden,  wie  es  in  der  Groß- 
stadt der  Fall  ist,  wo  ein  Gerücht  oder  eine  Tatsache  »wie  ein  I^auf- 
feuer«  sich  verbreitet,  wo  zum  wenigsten  die  Morgen-  oder  Abend- 
zeitung an  allen  Ecken  und  Enden  der  Stadt  gleichzeitig  die  Neuigkeit 
aufflammen  läßt,  wenn  nicht  »Extrablätter  «  schon  um  einige  Stunden 
vorausgerannt  sind  und  die  Kunde  dann  mündlich  oder  von  Hand 
zu  Hand  weitergetragen  wurde.  Die  Gelegenheiten,  »sich  auszu- 
sprechen «,  fehlen  nicht,  obschon  der  Großstädter  zumeist  als  Fremder 
unter  Fremden  lebt;  man  trifft  doch  Bekannte,  auf  der  Eisenbahn, 
der  Straßenbahn,  im  Kontor  oder  Bureau,  oder  in  Sprechzimmern, 
auf  dem  Markte,  den  Plätzen  oder  in  den  Straßen,  man  besucht  seine 
Freunde,  man  kommt  auch  mit  Unbekannten  ins  Gespräch,  wenn 
das  Bedürfnis  der  Rede  stark  genug  ist.  In  der  Regel  ist  dann  jeder 
»auch  der  Ansicht«,  sie  wird  von  allen  »ordentUchen  Leuten«  geteilt. 
Der  geschwinde  und  regelmäßige  Verkehr  macht  ein  ganzes  Land 
einer  Großstadt  ähnlich,  zumal  alle  großen  Städte  zusammengenommen ; 
binnen  24  Stunden  wissen  alle  die  große  Neuigkeit,  tmd  jeder  der 
daran  teilnimmt,  wird  auf  gleiche  Art  erschüttert  und  wirkt  mit  seiner 
gebildeten  Meinung  in  gleicher  Weise  auf  die  allgemeine  Meinung 
zurück.  —  Die  öffentHche  Meinung  ist  3.  oberflächlich  —  dies  folgt 
aus  ihrer  Hast  und  Beweglichkeit.  Sie  urteilt  nach  dem  Schein  tmd 
läßt  sich  durch  den  ersten  Eindruck  bestimmen.  Dieser  Eindruck 
kann  der  richtige,  ja  der  allein  mögliche  sein  —  unter  der  Voraus- 
setzung, daß  die  Nachrichten,  worauf  er  sich  gründet,  wahr  und 
richtig  sind.  Sehr  oft  ist  aber  das  nicht  der  Fall.  »Gelogen  wie  ge- 
druckt«, »Gelogen  wie  telegraphiert«  sind  Ausdrücke,  die  das  19.  Jahr- 
hundert, das  auch  die  öffentliche  Meinung  empor  blühen  sah,  erfunden 
hat.  Aber  es  ist  viel  seltener  direkte  Lüge,  als  Ungenauigkeit,  Ent- 
stellung, Ausgeben  einer  Vermutung  als  Wirklichkeit  oder  hohe  Wahr- 
scheinlichkeit, Ergänzung,  Aufbauschung,  Übertreibung,  was  tele- 
graphierte oder  gedruckte  Nachrichten  unzuverlässig  macht.  Der 
durchschnittliche  gebildete  Leser  und  Staatsbürger  weiß  dies  ent- 
weder gar  nicht  oder  vergißt  es  doch  immer  wieder.  Er  bildet  sein 
Urteil,  ohne  die  Gründe  zu  untersuchen.  Berichtigungen  werden 
übersehen  oder  dringen  nicht  unter  die  Oberhaut  des  Bewußtseins.  — 
Die  öffentliche  Meinung  ist  also  4.  leichtgläubig  und  unkritisch  —  am 
meisten,  wenn  eine  wirkliche  oder  angebliche  Sache  ihren  vorgefaßten 
Gedanken  und  Ansichten  entgegenkommt,  die  gleichsam  darauf 
warten,  ihre  Nahrung  zu  bekommen,  die  ihnen  sogar  dann  schmeckt, 
wenn  sie  an  und  für  sich  für  die  Subjekte  der  Meinung  unerfreulich 
ist,  um  so  mehr  also,  wenn  auch  Wünsche  durch  sie  befriedigt  werden, 
und   je   lebhafter    der    Wunsch,    je   größer   die    Ungeduld,    um    so 


248  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

leichtgläubiger  ist  die  öffentliche  Meinung.  Sie  ist  5.  von  Vorurteilen  er- 
füllt — diese  entspringen  aus  der  flüssigen,  vollends  aus  der  festen  öffent- 
lichen Meinung:  aus  den  entschiedenen  Gesinnungen  und  Willens- 
meinungen, den  herrschenden  Überzeugungen  und  damit  verbundenen 
Gefühlen.  Diese  sind  regelmäßig  um  so  weniger  wandelbar,  je  mehr 
sie  auf  Überlieferung  beruhen,  je  mehr  der  Mensch  sie  »mit  der  Mutter- 
milch eingesogen«,  d.  h.  sie  aus  seiner  frühesten  und  stätigsten  Um- 
gebung empfangen  hat,  je  mehr  sie  ihm  daher  als  natürlich  und  von 
selbst  verständlich  erscheinen.  Darum  ist  das  jedesmalige  einzelne 
Urteil  sehr  oft  eine  bloße  Folgerung  aus  einem  Vorurteil,  und  dieses 
wehrt  sich  dann  gegen  anders  gerichtete  Gedanken  und  Gründe. 
Darin  ist  ein  Widerspruch  gegen  das  erste  Merkmal,  die  Veränder- 
lichkeit, enthalten.  Die  öffentliche  Meinung  hat  auch  6.  ihre  Be- 
harrlichkeit und  ihren  Eigensinn.  Sie  kommt  wohl  vorübergehend 
auf  andere  Gedanken  und  gibt  sich  dem  Augenblicke  hin,  aber  sie 
kehrt  auch  elastisch  in  die  ihr  gewohntere,  erwünschtere  I^age  zurück. 
Um  so  eher  und  gewisser,  je  zäher  ihr  Vorurteil  in  bezug  auf  die  Sache 
oder  die  Persönlichkeit.  Sie  ist  aber  7.  besonders  zähe  in  bezug  auf  Per- 
sönlichkeiten —  viel  zäher  als  in  bezug  auf  Sachen.  Denn  hier  hat  das 
Gefühl  —  Begeisterung  oder  Abscheu  —  freieren  Spielraum  und  knüpft 
sich  unmittelbar  an  die  Empfindung  des  Guten  oder  Bösen,  des  Er- 
wünschten und  des  Unerwünschten,  welches  von  der  Person  ausgeht 
oder  auszugehen  scheint.  Je  mehr  sich  diese  Gefühle  befestigen,  um 
so  mehr  wird  die  öffentliche  Meinung  der  Religion  wieder  ähnHch, 
wenn  auch  die  Gegenstände  der  Verehrung  (oder  der  Furcht)  ganz 
und  gar  verschieden  sind  von  den  sonst  gepflogenen  Gegenständen 
des  Glaubens.  Menschen  werden  »vergöttert«  (oder  im  Gegenteil, 
wovon  nunmehr  abgesehen  werde,  »verteufelt«).  Die  Neigung  dazu, 
näniHch  zur  Vergötterung,  ist  nach  dem  Tode  der  Personen  um  so 
größer  (die  umgekehrte  geringer).  Wenn  aber  die  ursprüngliche  und 
echte  religiöse  Stimmung  solche  Tote  fortwalten  und  fortwirken  läßt, 
und  eben  darum  ihrem  abgeschiedenen  Geiste  opfert,  um  ihn  zu  ver- 
söhnen und  seine  Hilfe  in  Not  und  Gefahr  heranzurufen,  so  wird  die 
öffentliche  Meinung  nicht  leicht  so  weit  von  ihrer  Basis,  der  wissen- 
schaftlichen Denkungsart,  sich  entfernen.  Die  Vergötterung  eines  ab- 
geschiedenen Helden  kleidet  sich  allerdings  in  die  Form  des  Wunsches, 
beharrt  aber  auch  bei  dem  sich  ohnmächtig  wissenden  Wunsche: 
»wenn  doch  der  Held  noch  unter  uns  wäre«  oder  »gewesen  wäre«, 
und  in  den  rationalen  Gedanken :  die  Dinge  hätten  einen  ganz  anderen, 
einen  besseren  Verlauf  genommen,  wenn  er  noch  als  Feldherr  oder 
als  Staatsmann  an  der  Spitze  gestanden  hätte.  8.  So  steht  die  öffent- 
liche Meinimg  des  Tages  unter  den  Eindrücken  des  Tages,  ist  daher 


I 


Ihre  Merkmale.  —  Soziologische  Wechselwirkungen.  249 

in  der  Regel  aufgeregt  und  oft  leidenschaftlich  bewegt.  Sie  ent- 
spricht daher  selten  der  Idee,  die  wir  von  der  öffentlichen  Meinung 
als  der  mentalen  Form  des  sozialen  Kürwillens  gebildet  haben.  Aber 
sie  selber  betrachtet  den  Affekt,  von  dem  sie  beherrscht  wird ,  als 
etwas  ihr  Fremdes  und  macht  als  Urteil  auf  Wahrheit  und  Geltung 
Anspruch.  Dies  mit  um  so  mehr  Grund  und  Recht,  je  mehr 
sie  Ausdruck  einer  flüssigen  oder  sogar  festen  öffentlichen  Meinung 
ist;  denn  in  diesen  Aggregatzuständen  haben  die  Erregungen  sich 
»gesetzt«,  es  sind  »abgekühlte«  Zustände,  in  denen  die  Vernunft 
waltet  oder  doch  zu  walten  meint.  Dadurch  ist  keineswegs  aus- 
geschlossen, daß  der  Affekt  auch  darin  sich  geltend  mache.  Eine 
feste  »Überzeugung«  und  entschiedene  Meinung,  die  etwa  dem 
Denkenden  als  schlechthin  selbstverständlich  erscheint,  wird  oft 
»sich  auf  keinen  Streit  einlassen«  und  etwa  über  entgegengerichtete 
Meinungen  als  Torheit  und  Aberglauben  lächeln;  sie  richtet  damit 
zugleich  über  sie  und  verurteilt  sie.  Das  ist  auch  dem  Wesen  der 
öffentlichen  Meinung,  wie  es  sich  in  ihrer  Festigkeit  zu  erkennen 
gibt,  gemäß.  Sie  ist  erhaben  über  den  Streit  des  Tages  und  bleibt 
als  die  gemeinsame  Überzeugung  der  »Intellektuellen«  —  der  Ge- 
lehrtenrepublik —  oft  in  dessen  Hintergrunde  wirksam.  Oft  stellt 
sie  sich  verneinend  den  herrschenden  Meinungen  des  Augenblicks 
entgegen,  aber  sie  ist  auch  immer  in  Gefahr,  von  diesen  fort- 
gerissen zu  werden.  Alsbald  wird  auch  die  I^eidenschaft  sich  ihrer 
bemächtigen,  wenn  wir  auch  diese  nur  der  Mehrzahl  von  Individuen, 
die  gerade  Träger  der  öffentlichen  Meinung  sind,  zuschreiben,  und 
die  feste  öffentliche  Meinung  selber,  von  ihnen  unabhängig,  als 
freie  Vernunft  und  objektive  Wahrheit  über  den  Dingen  schwebend 
denken,  die  sich  dann  etwa  auf  einen  engeren  Kreis  von  Subjekten 
zurückzieht,  die  unerschüttert  durch  den  Sturm  als  Piloten  auf  dem 
Schiffe  stehen  und  von  ihren  eigenen  Gedanken,  ihrem  Vorsatz  und 
Ziel  tiefer  bewegt  werden  als  von  aller  äußeren  Umgebung.  In  diesem 
Sinne  bleibt  die  echte  öffentliche  Meinung  als  die  vernünftige  »Welt- 
rmschauung«  über  den  Parteien  und  ihrem  vielfältigen  Zweck.  Die 
öffentliche  Meinung  des  Tages  bleibt  immer  unter  dem  Einflüsse  der 
festen  und  der  flüssigen  öffentlichen  Meinung,  wenn  diese  Abhängig- 
keit auch  oft  verdunkelt  wird,  ja  den  Widerspruch  und  Gegensatz 
nicht  ausschließt.  So  ist  gemäß  den  Ideen,  die  in  der  festen  oder  der 
flüssigen  öffentlichen  Meinung  von  Ordnung,  Recht,  Moral  sich  aus- 
geprägt finden,  auch  die  luftartige  öffentliche  Meinung,  9.  grundsätzlich 
für  Erhaltung  dieser  sozialen  Willensmächte,  wenn  sie  auch  oft  deren 
Wesen  nur  mangelhaft  erkennt,  und  sich  leicht  durch  gegenwärtige 
Affekte  wider  sie  erregen  läßt,  vielleicht  ohne  die  Tragweite  der 


250  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

gerade  in  ihr  vorwaltenden  Gedanken  zu  ahnen.  Insbesondere  ist  — 
nach  unseren  Begriffen  —  die  Moral  das  eigentliche  Gebiet  der  öffent- 
lichen Meinung,  worin  sie  auch  in  ihren  diffusen  Formen  fortwährend 
sich  bewegt.  Sie  wird  immer  ihre  Verbeugungen  vor  der  Moral 
machen,  wenn  sie  auch  oft  den  Verbeugungen  ähnlich  sehen,  wo- 
durch das  heuchelnde  I^aster  vor  der  Tugend  sich  angenehm  machen 
will;  und  wenn  auch  ihre  Ansicht  des  Moralischen  immer  durch  das 
Interesse  —  das  gemeinsame  Interesse,  das  Parteiinteresse,  oder  für 
»die«  öffentliche  Meinung  das  öffentliche  oder  nationale  Interesse, 
endlich  etwa  ein  Menschheitinteresse  —  gefärbt  und  oft  verfälscht 
wird.  Die  Feldzeichen  der  Moral  kann  sie  in  ihren  Kämpfen  nicht 
entbehren  tmd  sie  ergreift  sie,  wo  immer  sie  ihr  am  Wege  liegen. 
Sie  Hegen  aber  am  Wege  als  »Schlagworte«  und  so  ist  es  10.  die  Ver- 
wendung von  Schlagworten,  wodurch  die  öffentliche  Meinung  des 
Tages  sich  kennzeichnet.  „Die  Mutter  des  Schlagworts  ist  immer 
und  immer  wieder  die  I^idenschaft,  der  Kampf  und  die  Ent- 
zweiung der  Geister.  Man  prüfe  Worte  (ich  würde  sagen  »Wörter«) 
wie  Freisinn,  Fortschritt,  Kleiner  Mann,  Proletarier,  Preßfreiheit, 
Weltpolitik,  Revanche,  Kubismus  oder  NaturaUsmus,  sie  alle  sind 
oder  waren  umtobt  von  Streit  und  Zwist.  Jedes  von  ihnen  wird  zu 
einer  Art  Geßlerhut,  den  die  vordringende  Partei  als  Symbol  ihrer 
Macht  aufrichtet.  Wie  der  Eroberer  auf  den  Zinnen  der  erkämpften 
Festung  zum  Zeichen  des  Erfolges  seine  Fahne  hißt,  so  sind  auch 
Schlagworte  nichts  anderes  als  Standarten  jener  Gedankenmächte, 
die  eben  an  Gelände  gewonnen  haben ^)." 

II.  Wenn  es  demnach  zunächst  die  Partei  ist,  die  das  Schlagwort 
ergreift,  es  weiter  trägt  und  unter  seinem  Zeichen  kämpft,  auch  oft 
ihre  Siege  erringt,  so  zeigt  sich  hier,  wie  in  vielen  Beziehungen,  das 
Publikum,  Subjekt  der  öffentlichen  Meinung,  als  eine  verallgemeinerte 
Partei,  insbesondere  als  die  siegreich  gewordene  Partei.  Da  sind 
es  nun  offenbar  gewisse  Ansichten  der  Ordnung,  des  Rechtes,  der 
Moral,  die  sich  in  Konvention,  in  Gesetzgebung,  und  endlich  ent- 
scheidend in  Öffentlicher  Meinung  durchsetzen  und  alsdann  normgebend 
werden,  so  daß  sie  selber  als  Normen  sich  geltend  machen  können. 
Sie  kristallisieren  sich  in  Schlagwörtern,  aber  daraus  folgt  nicht,  daß 
sie  nicht  mit  lauterer  und  starker  Überzeugung  für  wahr  gehalten 
werden,  daß  nicht  eine  wahre  öffentliche  Meinung  für  ihre  Gegen- 
stände sich  ausgebildet  hat  und  eine  unwiderstehHche  Macht  geworden 
ist.  Sie  mußten  sich  verbreiten,  sie  mußten  ausgebreitet  werden. 
Ob    ihre    Propheten    imd    Verkünder    in    bewußter    Weise    eigene 

1)  Wilhelm  Bauer,  „Das  Schlagwort  als  sozialpsyschische  und  geistesgeschichtliche 
Erscheinung"  (Histor.  Zeitschr.,  3  F.  26.  Bd.).  Eine  durchdachte  Studie.  S.  ob. Seite 62. 


Ihre  Merkmai^e.  —  Soziologische  Wechsei, Wirkungen.  25 1 

Interessen,  Klasseninteressen,  Sekteninteressen  verfolgten  oder  nicht, 
ist  für  den  Erfolg  nicht  von  wesentlicher  Bedeutung.  Auch  das 
Schlagwort  kann  in  gutem  Glauben  angewandt  und  um  seiner 
selbst,  seiner  Bedeutung  willen  geschätzt  werden,  so  nahe  auch  die 
Versuchung  Hegen  mag,  es  als  bloßes  Gerät  zur  Erzielung  bestimmter 
Wirkungen  zu  gebrauchen.  Daß  der  Redner  weiß :  es  zündet,  beweist 
nicht  gegen  seine  eigene  Überzeugung  von  dem  Wert  und  der  Richtig- 
keit darin  enthaltener  Idee.  Vielleicht  verfährt  er  in  unbesonnener, 
leichtfertiger  Weise,  wenn  er  töricht  auf  die  Gutheit  der  Menge  baut 
und  sich  verstockt  gegen  die  Erkenntnis  ihrer  wirkHchen  Beschaffen- 
heit. Sein  Glaube  kann  gleichwohl  einer  religiösen  Überzeugung 
gleichartig  und  gleichwertig  sein.  Darum  ist  es  so  oft  unrichtig  und 
durch  Vorurteile  eingegeben,  wenn  den  Volksführern  als  Demagogen 
zur  Last  gelegt  wird,  daß  sie  gewissenlos  die  Menge  aufreizen  und 
mit  Schlagwörtern  um  sich  werfen.  Es  kann  allerdings,  und  wird 
sehr  oft,  der  gewissenlose  Agitator,  der  nur  das  Seine  sucht,  oder  nur 
bestellte  und  bezahlte  Arbeit  leistet,  also  im  Dienste  anderer  redet 
und  arbeitet,  viel  größere  Erfolge  erzielen  als  der  ehrUche  Enthusiast 
und  Schwärmer.  Aus  historischer  Ferne,  daher  in  objektiver  Gestalt 
angesehen,  sind  aber  die  einen  wie  die  anderen  Erscheinimgsformen 
der  Ausbreitung  einer  Idee,  eines  Glaubens,  einer  Meinung,  zufällig 
und  gleichgültig.  Daß  sie  sich  ausbreiten  ist  es,  was  mit  soziologischer 
Notwendigkeit  sich  erfüllt.  Und  diese  Erfüllung  ist  in  letzter  Linie 
immer  die  Folge  der  Ausbreitung  einer  Kraft,  der  Veränderung  eines 
Kräfteverhältnisses,  einer  Wandlung  in  den  Zuständen  sozialer  Macht. 
Sehr  deutlich  ist  dies  an  den  Schlagwörtern,  die  den  Gedankengehalt 
des  rationalen  Naturrechts,  also  der  Überzeugung  des  Jahrhunderts 
der  Aufklärung  verkörperten  und  in  der  französischen  Revolution 
siegreich  wurden.  »Freiheit  und  Gleichheit  hört  man  schallen.«  Der 
Minister  Necker,  ein  wohlmeinender  Reformator  aus  der  Schule 
der  aufgeklärten  Autokratie,  schrieb  darüber  im  Jahre  1792,  als  ob 
nur  selbstsüchtige  Absichten  der  »Drahtzieher«  zugrunde  gelegen 
hätten.  Er  sagt,  es  sei  nicht  schwer,  das  öffenthche  Urteil  zu  lenken, 
wenigstens  nicht  so  schwer  wie  eine  gute  Staatsverfassung  zu  machen. 
Der  Nationalversammlung  oder  ihren  Leitern  sei  in  der  Tat  die  Er- 
füllung der  ersten  Aufgabe  besser  als  die  der  anderen  gelungen.  „Be- 
sonders die  Meinung  des  Volkes  ist  leicht  zu  unterjochen :  es  genügt, 
die  kleine  Zahl  seiner  vorherrschenden  Leidenschaften  zu  kennen, 
und  durch  einen  wirklichen  Knoten,  oder  durch  Illusionen,  damit  die 
Vorstellungen  zu  verbinden,  womit  man  sie  erfüllen  will.  Die  Menschen, 
die  einer  höheren  Klasse  angehören,  lassen  sich  oft  auf  dieselbe  Weise 
leiten,    so  sehr  fühlen  sie  sich  geschmeichelt,  die  unwillkürlichen 


252  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Erregungen  ihrer  Seele  mit  den  schönen  Namen  des  Gedankens,  der 
Reflexion,  der  Überlegung  geehrt  zu  sehen.  Darum  hieß  es  auf 
kluge  Art  der  Verfassung  dienen,  daß  man  dies  Werk  an  2  Prinzipien, 
an  2  Wörter  anknüpfte:  die  Gleichheit  und  die  Freiheit'*^).  — ^  In 
der  Sprache  selbst  prägt  sich  die  öffentliche  Meinung  deutlich  aus. 
Nicht  nur  der  Inhalt,  sondern  der  Klang  der  Worte  drückt  oft  die 
Affekte  aus,  die  sich  an  die  Vorstellungen  heften,  denen  diese  Worte 
dienen.  So  ist  ein  Wort  wie  Freiheit  seines  Zaubers  immer  sicher,  so 
sind  Wörter  wie  Wucher,  Verbrechen,  Mord  und  die  entsprechenden 
Personenbezeichnungen,  so  in  jüngster  Zeit  Kriegsgewinnler  und 
Schieber,  mit  einem  Makel  behaftet,  den  die  öffentliche  Meinung 
immer  von  neuem  in  Aussprüchen,  Anekdoten,  Satiren  ausbreitet. 

12.  Die  große  Schwäche  des  Klebens  an  Wörtern  haftet  allerdings 
nicht  nur  der  Öffentlichen  Meinung  des  Tages,  sondern  auch  der  dauern- 
den und  festen,  wie  dem  vulgären  Denken  überhaupt,  an.  Schnell  fertig 
wie  die  »Jugend«  ist  sie  mit  dem  Wort,  und  je  mehr  sie  sich  darauf  ver- 
bissen hat,  um  so  schwerer  belehrbar.  Die  Bildung,  die  Intellektualität, 
tritt  allerdings  in  ihr  zutage,  aber  eine  mittelmäßige,  die  des  durch- 
schnittlichen Urteils.  Dies  Niveau  ist  natürlich  sehr  verschieden 
in  verschiedenen  Kreisen,  Gruppen,  Nationen.  Die  Deutschen 
rühmen  sich  mit  gutem  Grunde  einer  verhältnismäßig  hohen  durch- 
schnittlichen Bildung.  Aber  diese  Bildung  ist  nicht  auch  politische 
Bildung.  Die  politische  Bildung  ist  schwach,  weil  das  politische 
Interesse  zu  wenig  entwickelt  ist.  Auch  Männer  von  starker  allge- 
meiner Bildung  durchschauen  selten  die  Dunst  wölke  ihrer  Partei. 
Die  nationale  Gesinnung  ist  lebhaft  genug,  aber  die  Einsicht  in  das, 
was  durch  das  gemeinsame  nationale  Interesse  gefordert  wird,  ist 
matt,  und  die  Verwechslung  des  nationalen  Interesses  mit  dem  Partei- 
oder eigentlicher,  dem  Klasseninteresse,  gerade  bei  denen,  die  jenes 
auf  ihr  Banner  schreiben,  alltäglich.  „Tief  und  ernstlich  denkende 
Menschen  haben  gegen  das  Publikum  einen  schweren  Stand"  —  das 
gilt  in  besonderer  Weise  für  die  Politik,  wo  das  Publikum,  ob  mit 


^)  Du  pouvoir  execittif  dans  les  grands  Etats  II,  266.  W11.HE1.M  Bauer,  der  in 
seinem  schätzenswerten  gelehrten  Buche  „Die  öffentliche  Meinung  und  ihre  geschicht- 
lichen Grundlagen",  S.  121,  den  ersten  Satz  dieser  Necker sehen  Auslassung  zitiert, 
hat  sie  nicht  richtig  verstanden.  Er  will  damit  belegen,  daß  das  Wesen  und  die  Wir- 
kungsweise der  Öffentlichen  Meinung  damals  im  großen  und  ganzen  erkannt  worden 
war.  Aber  Necker  unterscheidet  offenbar  die  öffentliche  Meinung,  die  er  auch 
sonst  den  ,, Menschen,  die  einer  höheren  Klasse  angehören",  zuschreibt  und  immer 
feierlich  mit  ihrem  Namen  O.  P.  nennt,  von  der  ,,Opinion  du  Peuple",  schon  durch 
die  Majuskel  (die  das  Zitat  Bauers  nicht  wiedergibt),  deutet  er  an,  daß  er  hier  (als 
Peuple)  die  große  Menge,  das  Volk  im  Unterschiede  von  der  Bourgeoisie  meint; 
welche  Entgegensetzung  eben  damals  reif  geworden  war.  Necker  versteht  immer 
als  Opinion  publique  die  Meinungen  der  Bourgeoisie. 


Ihre  Merkmaxe.  —  Sozioi^ogische  Wechsei^wirkungen.  253 


sich  einig  oder  nicht,  jedenfalls  mit  der  größten  Zuversicht  und 
Heftigkeit  seine  oft  kenntnislosen  und  törichten  Urteile  oder  Vor- 
urteile dem  Denkenden  entgegenhält,  entgegenschleudert.  So  hat 
dieser  oft  genug  Grimd,  über  die  Dummheit  der  öffentlichen  Meinung 
sich  zu  beschweren  und  sich  zu  empören.  Die  öffentliche  Meinung  ist 
dumm,  wenn  sie  nach  dem  Schein,  wenn  auf  Grund  oberflächlicher 
Kenntnis,  einer  tendenziös  ausgestreuten  oder  gerades wegs  gefälschten 
Nachricht,  auf  Grund  vorgefaßter,  schlecht  begründeter  Meinungen,  wenn 
das  PubUkum  gemäß  dem  Schlendrian  seiner  gewohnten  Vorstellungen 
und  Einbildungen  sich  ein  Urteil  anmaßt  über  Dinge  und  Fragen,  die 
ein  scharfes  Nachdenken,  sorgfältige  Prüfung,  Kenntnis  verborgener 
Tatsachen  und  Beweggründe,  die  überhaupt  einen  überdurchschnitt- 
lichen Verstand  erfordern,  um  auch  nur  verstanden  zu  werden. 
14.  (Gefühlspolitik  der  Öffentlichen  Meinung.)  So  bleibt  die 
wirkUche  öffentliche  Meinung  als  Durchschnittsmeinung  vieler,  wenn 
auch  zumeist  leidlich  gebildeter  und  gut  unterrichteter  Menschen 
—  ein  Durchschnitt,  woran  die  Frauen  nur  geringen  Anteil  haben  — 
in  poUtischen  Dingen  und  Fragen,  wo  sie  am  entschiedensten  als 
soziale  Macht  hervortritt,  am  meisten  hinter  ihrem  Begriff,  der 
ein  wohlerwogenes  Urteil  verlangt,  zurück.  Gefühlspolitik  ist  der 
Tummelplatz  der  öffentlichen  Meinung.  Diese  kann  oft  wundervoll 
mit  einer  planmäßigen  Verstandespolitik  zusammentreffen.  Sie  kann 
ihr  die  wertvolle  Unterstützung  der  Begeisterung,  ja  der  Leiden- 
schaft, die  Ingredienzen  der  sittlichen  Entrüstung  oder  der  moralischen 
Überzeugung,  die  dem  Politiker  als  solchem  vielleicht  gänzlich  fremd 
sind,  verleihen,  die  aber  der  PoUtiker  für  sich  verwenden  kann,  um 
seinen  Handlungen  eine  Rechtfertigung  und  Weihe  zu  geben,  ja  ihnen 
den  Schimmer  der  Tugend  und  etwa  auch  den  Glanz  einer  religiösen 
Sendung  zu  verleihen.  Folglich  gehört  es  zur  staatsmännischen  Kunst, 
die  öffentliche  Meinung  in  diesem  Sinne  zu  lenken  oder  ihr,  wenn 
sie  schon  die  nützliche  Richtung  gewonnen  hat,  gehörigen  Nachdruck 
und  Nachschub  zu  geben,  sie  zu  fördern  und  zu  erheben  und  vor- 
allem —  zu  verbreiten.  Es  ist  bekannt,  wie  die  Politik  und  Diplo- 
matie Großbritanniens  es  versteht,  das  Instrument  der  öffentlichen 
Meinung  zu  spielen  und  ihm  jenen  religiös-moralischen  »Gesang«  zu 
entlocken,  der  unter  diesem  Namen  (cant)  eine  seltsame  Berühmt- 
heit erworben  hat,  um  so  merkwürdiger,  da  diese  Töne  dem  »Lande 
ohne  Musik«  entstammen.  Dem  klugen  Politiker,  der  »britische 
Interessen «  vertritt,  kHngen  auch  die  schrillen  Mißtöne  angenehm  im 
Ohr,  wenn  sie  nur  mit  diesen  Interessen  harmonieren  und  wenn 
sie  nur  fortissimo  gesungen  werden.  Und  doch  ist  gerade  die 
britische  öffcntlicIuM«  iming  verhällnisniäÖi^  stark  mit  demBewußtsein 


254  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

des  politischen  Nutzens,  eben  der  britischen  Interessen  erfüllt, 
sie  wird  nicht  nur  getäuscht,  sie  täuscht  auch  sich  selber,  wenn  sie 
den  unedlen  Bestrebungen  der  Eroberungspolitik  edle  Beweggründe 
unterschiebt.  Das  ist  freiUch  auch  nicht  etwas  dem  Engländer  Eigen- 
tümliches, wenngleich  er  es  besser  versteht  als  andere:  „/a  politique 
Cache  toujours  ses  buts  egoistes  sous  le  masque  des  actions  gener euses'* 
(Dascovici,  La  question  du  Bosphore,  p.  243).  Die  öffentliche  Meinung 
ist  allerdings  und  der  Regel  nach  moralischer  als  die  Politik,  und  wenn 
jene  ganz  ihre  eigenen  Wege  geht,  so  mag  sie  auch  jezu weilen  einer 
niederträchtigen  Politik,  die  unter  Umständen  (und  oft,  wenn  sie  glaubt 
ganz  besonders  klug  zu  sein),  sehr  schädliche  Wirktmgen  hat,  Zügel 
anlegen,  ja  ihr  Steine  des  Anstoßes  in  den  Weg  legen,  über  die  sie 
nicht  hinwegkommt.  In  der  Regel  aber  gibt  sie  dem  Schlagwort, 
der  berauschenden  Phrase  besinnungslos  sich  hin  und  gefällt  sich  in 
der  Illusion,  als  wären  die  vorgegebenen  Beweggründe  die  wirklichen 
Beweggründe  des  Handelns.  Treffend  sagt  W.  ScHi^ÜTER  (Verf.  des 
»Deutschen  Tatdenkens«):  „Die  Masse  bringt  von  sich  aus  mit  ihrer 
Überproduktion  von  Gesinnung  und  ihrer  Unterproduktion  von 
Sachlichkeit  keinen  durchgreifenden  Führungsplan  auf"  (Gewissen, 
8.  VIII.  1921).  Für  die  »Masse«  gilt  hier  das  Wort  Macchiavei.i.s 
(an  den  dort  angeknüpft  wird) :  jyNel  mondo  non  e  se  non  volgo**). 
Die  PoHtik  will  und  soll  vor  allem  klug  sein  —  Klugheit  ist  geistige 
Weitsichtigkeit,  Voraussehen  kommender  Ereignisse  und  ihrer  Wir- 
kungen, der  Wirkungen  eigenen  Handelns  und  Unterlassens,  der 
Gegenzüge  gegen  die  eigenen  Schachzüge.  Der  kluge  Staatsmann 
will  das  Interesse  seines  I^andes  wahrnehmen,  will  seinen  Staat  vor 
Schaden  bewahren  und  ihm  Vorteile  erwerben,  seine  I^age  verbessern 
und  sichern.  Je  entschlossener  er  dieses  Ziel  ins  Auge  faßt,  um  so  mehr 
wird  er  zu  Schlußfolgerungen  über  das,  was  ersprießHch,  ja  not- 
wendig ist,  gelangen,  die  von  der  großen  Menge  eines  gebildeten 
Publikums  nicht  erkannt  und  nicht  verstanden  werden,  er  wird  also 
gegen  den  Strom  der  öffentlichen  Meinung  und  ihrer  Gefühlspolitik 
kämpfen  müssen.  Eine  streng  verstandesmäßige,  von  wissenschaft- 
lichem Denken  geleitete  Staatskunst  wird  der  immer  unreifen  öffent- 
lichen Meinung  in  auswärtigen  Angelegenheiten  immer  als  schwäch- 
lich, ängstlich,  ja  zuweilen  als  nachgiebig  und  feige  erscheinen; 
eine  solche  Staatskunst  wird  bereit  sein,  um  wichtiger  Ziele  willen, 
zumal  wenn  es  sich  um  die  Selbsterhaltung,  um  die  Lebensmöglich- 
keiten  des  Vaterlandes  handelt,  große  Opfer  zu  bringen,  ja  diese 
WiUigkeit  ist  geradezu  charakteristisch  für  einen  höchst  bewußten 
Kürwillen,  der  den  endUchen  Vorteil  und  Gewinn  rücksichtslos  zu 
seinem  Ziele  setzt.    Solchen  Opfern  wird  sich,  zumal  wenn  die  un- 


Ihre  Merkmale.  —  Sozioi^ogische  Wechsei^wirkungen.  255 

mittelbare  Notwendigkeit  nicht  in  die  Augen  fällt,  die  öffentliche 
Meinung  eines  Landes  regelmäßig  widersetzen,  sie  wird  dagegen 
protestieren,  als  mit  der  »Ehre«  des  Reiches  unvereinbar.  Man  stelle 
sich  vor,  ein  deutscher  Staatsmann  hätte  in  diesem  Sinne,  um  Frank- 
reich zu  versöhnen  oder  wenigstens  seinen  kriegerischen  Willen  zu 
parieren  und  das  Bündnis  mit  dem  Zarismus  zu  brechen,  den  Verzicht 
auf  die  Reichslande  oder  auch  nur  auf  die  französisch  sprechenden 
Teile  von  Lothringen  angeregt  und  angebahnt!  Die  Annexion  selber 
hat  bekannthch  Bismarck  nicht  in  dem  Umfange,  wie  sie  wirkHch 
wurde,  gewollt;  er  dürfte  sich  mit  ähnlichen  Erwägungen  getragen 
haben,  wie  1866  in  Nikolsburg.  Er  fühlte  sich  genötigt,  den  stra- 
tegischen Gründen  nachzugeben,  er  hätte  aber  auch  einen  sehr  schweren 
Stand  gegen  die  öffentliche  Meinung  gehabt,  die  —  mit  guten  hi- 
storisch-moralischen Gründen  —  die  Wiedergewinnung  der  in  den 
traurigsten  Zeiten  verlorenen  deutschen  Lande  stürmisch  und  drin- 
gend verlangte,  wie  jeder,  der  jene  Zeit  denkend  durchlebt  hat, 
sich  dessen  lebhafter  erinnern  wird,  als  es  etwa  der  PubHzistik  des 
Jahres  zu  entnehmen  wäre.  Der  Staatsmann  ist,  wie  jeder  andere 
Geschäftsmann,  geneigt,  über  morahsche  Empfindungen  sich  hin- 
wegzusetzen, wie  es  die  unbedingte  Zielbewußtheit  gebietet;  wie 
schwer  oder  leicht  es  ihm  werden  möge,  die  Widerstände  seiner  ei- 
genen Seele  zu  besiegen,  schwerer  wird  in  der  Regel  die  Über- 
windung der  objektiven  Macht  sein,  die  in  Gestalt  der  öffentlichen 
Meinung,  zumal  wenn  diese  mit  dem  allgemeinen  Volksempfinden  zu- 
sammenfällt, ihm  gegenüberstehen  mag^).  Er  muß  versuchen,  diesen 
Widerstand  aufzuweichen  imd  zu  biegen  —  im  Sinne  der  Zweckmäßig- 
keit die  öffentliche  Meinung  bearbeiten,  sie  zu  politisieren  versuchen ; 
wenn  aber  dies  im  gegebenen  Falle  unter  Umständen  höchst  nützlich 
ist,  so  kann  es  doch  durch  die  Maxime,  die  ihm  zugrunde  liegt  —  die 
Schwächung  moraHscher  Gefühle  —  so  schädHch  wirken,  daß  der 
Nutzen  mehr  als  wettgemacht  wird.  Vollends  gilt  dies,  wenn  der 
Entschluß  gefaßt  würde,  solchen  moralischen  Widerstand  zu  brechen 
oder  ihn  als  gleichgültig  zu  behandeln,  seiner   zu  spotten;   allzuoft 

*)  G.  Maisr  in  seiner  Ethischen  Umschau  (Mai  191 5)  betont,  wie  sehr  durch  die 
Öffentliche  Meinung,  „welche  sich  mit  Hilfe  der  modernen  Verkehrsmittel  ungeahnt 
rasch  und  plötzlich  verbreiten  läßt",  die  Staatsmänner  heute  beeinflußt  werden. 
Vielleicht  erkläre  sich  daraus  die  Tatsache,  daß  der  Beruf  des  Staatsmannes  ein  weniger 
l)e8tiraraender  geworden  sei  und  daß  geniale  Staatsmänner  seltener  geworden.  Die 
Mitbestimmung  ,.der  Völker"  enthalte  eine  ungeheure  Gefahr,  weil  sie  eine  mehr 
o<lcr  weniger  zufällige,  anarchische  sei,  am  meisten  bestimmbar  durch  die  Presse, 
deren  fortgesetzter  Suggestion  sogar  der  Denkende  und  Gebildete  nicht  zu  wider- 
stehen vermöge.  Er  knüpft  daran  Vorschläge,  für  eine  Reform  der  Presse  durch  ihre 
eigene  Berufsorganisation.  In  gleichem  Sinne  sind  von  manchen  Seiten  neuerding» 
Bestrebungen  rege  geworden. 


256  Empirische  Bkobachtungen  und  Anwendungen. 

wird  sich  dies  bitterlich  rächen  und  diese  Gefahr  muß  die  Staats- 
klugheit im  Auge  behalten,  auch  wenn  sie  selber  solche  moralische 
Bedenken  nicht  achtet,  ja  sie  verlachen  zu  dürfen  meint.  In  der 
Regel  wird  die  Gefühlspolitik  der  öffentlichen  Meinung  nicht  wissen, 
was  sie  will;  sie  ist  oft  erfüllt  von  Widersprüchen,  ihre  lyOgik  ist  weib- 
liche Logik.  So  ist  sie  etwa  dem  Kriege  abgeneigt,  mit  allem  natürlichen 
und  sittlichen  Widerwillen,  den  dies  Schreckgespenst  erregen  kann; 
aber  mit  aller  Entschiedenheit  pocht  sie  auf  die  nationale  Ehre,  die 
Nachgiebigkeit  verbiete,  vollends  empört  sie  sich  gegen  die  Idee, 
etwa  durch  Landabtretungen  die  Gunst  des  Feindes  zu  »erkaufen«; 
als  schmählichen  Handel  wird  sie  diese  Zumutung  von  sich  weisen.  Ein 
klassisches  Beispiel  des  Verhängnisses,  das  an  solcher  Politik  hängt, 
hegt  auch  vor  in  der  Weigerung  der  Magyaren,  Rumänien  diejenigen 
Einräumungen  zu  machen,  die  geeignet  gewesen  wären,  aus  dem 
feindseligen  Nachbar  einen  Bundesgenossen  zu  machen;  noch  nach 
Ausbruch  des  Weltkrieges  wäre  es  an  der  Zeit  gewesen,  als  nach  dem 
Tode  des  Königs  CaroIv  sogar  die  Neutralität  nicht  mehr  sicher  war. 
Graf  CzERNiN  hat  als  Gesandter  in  Übereinstimmung  mit  dem 
deutschen  Gesandten  die  Ansicht  vertreten,  daß  Ungarn  ein  terri- 
toriales Opfer  bringen  solle,  um  Rumäniens  Eingreifen  zu  ermöglichen. 
Ungarn  wies  den  Gedanken  von  der  Schwelle  seines  Hauses:  „wer 
immer  es  versuchen  sollte,  auch  nur  einen  Quadratmeter  ungarischen 
Bodens  zu  nehmen,  auf  den  wird  geschossen",  schrieb  Stefan  Tisza, 
der  als  Staatsmann  nicht  zu  den  geringsten  der  Profession  gehörte. 
„Aber  dieser  Widerstand  war  keine  Spezialität  TiszAS,  denn  wer 
immer  von  den  ungarischen  PoUtikern  an  der  Spitze  des  Kabinetts 
gestanden  wäre,  hätte  denselben  Standpunkt  verfochten"  (Czernin, 
Im  Weltkriege,  S.  140).  Denn  jeder  hätte  unter  dem  Hochdruck 
der  öffentlichen  Meinung  gestanden.  Mit  überlegener  Einsicht  hätte 
ein  Staatsmann  rücksichtslosen  Willen  und  Willenskraft  verbinden 
müssen,  um  zu  tun,  was  unzweifelhaft  politisch  richtig  war,  und  die 
Gefahr  des  nationalen  Unwillens  auf  sich  nehmen  müssen.  Jede  Politik 
enthält  freilich,  wie  jeder  Handel,  ein  aleatorisches  Moment;  ist  und  be- 
deutet ein  Stück  Spekulation.  Auch  der  besonnenste  Staatsmann  muß 
unter  Umständen  etwas  wagen,  er  muß  vor  allem  wagen  der  öffentlichen 
Meinung  zu  trotzen  und  sie  eines  besseren  zu  belehren.  Sie  ist  immer 
belehrbar  —  durch  den  Erfolg.  Der  Erfolg  blendet  sie  und  läßt  sie  mit 
großer  Geschwindigkeit  umlernen  und  vergessen.  Sie  bekundet  da- 
durch ihre  Oberflächlichkeit,  und  daß  sie  vom  Durchschnittsmenschen 
abstammt.  Mit  dem  Umlernen  ist  regelmäßig  ein  Vergessen  ver- 
bunden; sie  weiß  dann  nicht  mehr,  wie  sie  früher  gedacht  und 
geurteilt  hat.  Individuen  bekennen  dies  zuweilen  offen  und  öffentHch, 


AI.LGEMEINE   INHAI.TE   DER    ÖFFENTI<ICHEN   MEINUNG   USW.  257 

ja  sie  rühmen  sich  wohl  ihrer  gewonnenen  besseren  Einsicht,  wie  der 
Fromme  stolz  ist  auf  seine  Bekehrung.  Die  öffentliche  Meinung  will 
immer  weise  gewesen  sein  und  es  auch  heute  sein,  sie  verleugnet  daher 
in  der  Regel  ihren  früheren  »Standpunkt«;  das  ist  die  Haltung  des  Phi- 
listers, am  Ende  »will  es  niemand  gewesen  sein «.  In  lebhaften  Farben 
schildert  den  Umschwung  der  pohtischen  Stimmung  beim  gebildeten 
Pubhkum  Rhein-Hessens  Franz  Staudinger  (Kulturgrundlagen  der 
PoUtik  I,  S.  29) :  es  habe  1866  eine  gegen  Preußen  geradezu  fanatische 
feindselige  Stimmung  geherrscht.  „In  der  Stadt  (Darmstadt)  war 
alles  Wut  gegen  Preußen  und  Bismarck."  —  „Plötzlich  aber  hieß  es: 
das  S.Armeekorps  zieht  sich  zurück,  die  Preußen  kommen.'* ,, Und 
dann  hieß  es:  es  gibt  Frieden.  Die  Gymnasiasten  kehrten  nach  der 
Hauptstadt  zurück.  Und  war  die  Welt  auf  den  Kopf  gestellt?  Bis- 
MARCK  war  nun  auf  einmal  ein  großer  Mann,  kein  Lumpenhund  mehr. 
Alles  bewunderte  ihn  ..."  „.  .  .  in  vielen,  sehr  vielen  Fällen  waren 
es  ganz  dieselben  Menschen,  die  vorher  gegen  Preußen  gewütet 
hatten."  Staudinger  gibt  das  Rätsel  auf,  warum  in  diesem  Falle 
die  Menschen  den  Erfolg  anbeteten  imd  in  so  vielen  anderen  Fällen 
gerade  durch  den  Erfolg  des  Gegners  um  so  hartnäckiger  an  ihre  alte 
Fahne  geschmiedet  werden.  Er  hat  gewiß  recht,  daß  die  Lösung 
nicht  einfach  ist,  nicht  in  einer  patriotischen  oder  einer  demokratischen 
Phrase  erledigt  werden  kann.  Ein  Stück  der  Lösung  Hegt  in  der  Natur 
der  öffentlichen  Meinung,  und  zwar  eben  in  dem,  was  sie  von  Volksgefühl, 
Volksstimmung  und  Willen,  die  mehr  oder  weniger  einen  religiösen 
Charakter  haben,  unterscheidet;  denn,  sofern  dieser  wirksam  ist,  bringt 
er  auch  die  Treue  zur  Geltung  und  hängt  weniger  von  den  zufälligen 
Ereignissen  und  Erfolgen  des  Tages  ab.  Die  öffentliche  Meinung  ist  um 
so  mehr  geneigt,  »den  Mantel  nach  dem  Winde  zu  hängen«,  je  mehr 
sie  sich  von  dem  echten  Volksgefühl  unterscheidet. 

VL  Kapitel. 

Allgemeine  Inhalte  der  Öffentlichen  Meinung 
in  ihren  neuzeitlichen  Gestaltungen. 

Wir  betrachten  nunmehr  in  den  3  mit  römischen  Ziffern  zu  bezeich- 
nenden Gebieten  — dem  sozialen  und  ökonomischen  (I),  dem  pohtischen 
und  rechthchen  (II),  dem  geistigen  und  sittHchen  (III)  — nacheinander 
öffentliche  Meinung  in  einigen  charakteristi- 
schen Inhalten  und  Beispielen,  mit  gelegent- 
lichen Bezügen  auf  einzelne  Länder,  um  ihre  all- 
gemeine moderne  Gestaltung  zu  erkennen. 

Tön  nie»,  Kritik.  I7 


a)  die  feste 

b)  die  flüssige 

c)  die  luftartige 


258  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 


Erster  Abschnitt.  (I)  Das  soziale  und  ökonomische  Gebiet. 

I.  (la:  In  der  festen  öffentlichen  Meinung.)  Die  Idee  des  sozialen 
lyebens,  worauf  die  öffentliche  Meinung  sich  am  tiefsten  festgelegt 
(fixiert)  hat,  ist  die  Idee  der  persönlichen  Freiheit;  sie  macht  diese 
als  Ideal  geltend.  Dabei  ist  es  zunächst  das  Wort,  das  sozusagen 
angebetet  wird;  die  Vorstellungen,  die  mit  dem  Worte  verknüpft 
sind,  bleiben  zumeist  in  der  Schwebe.  Aber  das  Schlagwort  wirkt 
mit  um  so  größerer  Gewalt,  je  mannigfacher  und  je  unbestimmter 
die  daran  hängenden  Gedanken  sind:  »Freiheit,  die  ich  meine«  — 
jeder  »meint«  imd  liebt  die  Art  der  Freiheit,  deren  er  bedarf.  Vor 
allem  im  Gegensatz  zum  Sklavenstande  und  dem  Zustande  des  Ge- 
fangenen, sodann  als  die  vielverzweigte  Freiheit  des  Tuns  und 
I^assens,  also  des  Handelns :  man  will  nicht  behindert,  nicht  gehemmt 
sein  in  Verfolgung  seiner  Zwecke,  seines  Glückes,  und  die  öffent- 
liche Meinung  wünscht  und  gönnt  diese  Freiheit  jedem  Individuum 
als  Glied  »der«  Gesellschaft,  soweit  als  sie  mit  der  Freiheit  aller 
übrigen  zusammen  bestehen  kann,  gemäß  der  berühmten  Formel 
Kants.  Demgemäß  wäre  der  vollkommene  soziale  Zustand  die  allge- 
meine gleiche  Freiheit,  gehemmt  ausschließlich  durch  die  Gesellschaft, 
deren  Wille  als  Recht  den  Staat  zu  seinem  Träger  hat,  so  daß  es  nur 
diese  allgemeinen  Vorschriften  in  »Gesetzen«  gibt,  die  eines  jeden 
Freiheit  binden,  indem  sie  die  ihm  gelassene  Freiheit  schützen. 
Daraus  fließt  insbesondere  die  Forderung  eines  möglichst  hohen 
Maßes  von  wirtschaftlicher  Freiheit:  Freiheit  des  Handelns  im 
engeren  Sinne  und  Freiheit  der  Arbeit;  femer  die  Freiheit  der  Ver- 
bindung zu  beliebigen,  nicht  um  der  allgemeinen  Freiheit  willen  ver- 
botenen Zwecken.  Dieser  Grundgedanke  wird  von  der  öffentlichen 
Meinung  aller  modernen  I^änder  mehr  oder  weniger  stark  festgehalten, 
wenngleich  er  überall  gewisse  Einräumungen  zu  machen  sich  genötigt 
fand,  und  namentlich  während  des  Weltkrieges  in  den  kriegführenden 
und  sogar  in  den  neutralen  I^ändern  seine  Waffen  strecken  mußte; 
dies  wurde  doch  allgemein  als  ein  Notstand  empfunden  und  gedacht, 
nach  dessen  Überwindung  die  öffentliche  Meinung,  wenngleich  durch 
»sozialistische«  Meinungen  längst  erschüttert,  die  Wiederherstellung 
der  wirtschaftlichen  Freiheit,  insbesondere  der  Freiheit  des  Kaufens 
und  Verkauf ens,  als  dringende  Forderung  stellt.  Die  Handelsfreiheit 
soll  wenigstens  die  Regel  bleiben,  wenn  auch  viele  Ausnahmen 
zugelassen  werden  müssen.  Am  festesten  steht  dies  Ideal  noch  in 
den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika.  Auch  in  England  bleibt  es, 
oder  bHeb  doch  noch  bis  vor  i — 2  Jahrzehnten,  auf  dem  Grunde  der 
vorherrschenden  Denkungsart.    „Die  poUtische  öffentliche  Meinung 


Al<l.GEMErNE    INHAI^TE    USW.    —    DAS    SOZIAI^    UND    ÖKONOMISCHE    GEBIET.      259 

Englands  hat  es  mit  gewohnter  Kunst  verstanden,  sich  mit  diesem 
Gang  der  Dinge  (den  Wirkungen  des  Freihandels  auf  die  Land- 
wirtschaft) abzufinden",  K.  O1.DENBERG  in  Schmoi^IvERS  Jahr- 
buch XLIII,  S.  876,  wo  dann  darauf  hingewiesen  wird,  wie  diese  Weis- 
heit auf  Deutschland  abgefärbt  habe ;  im  ganzen  sei  —  bis  in  die  neueste 
Zeit  —  auch  hier  die  öffentliche  Meinung  durchaus  auf  die  enghsche 
Tonart  gestimmt  gewesen,  bei  unverkennbarem  Einfluß  enghscher 
Lehrbücher.  Ich  behaupte,  daß  auch  ohne  solche  Einflüsse  die  öff ent- 
hebe Aufmerksamkeit  immer  durch  den  Glanz  der  Großindustrie,  die 
Vermehrung  des  Reichtums,  die  verbesserte  Lebenshaltung  der 
Arbeiterklasse,  zu  stark  gefesselt  wurde,  als  daß  die  aufsteigenden 
Besorgnisse  einzelner  viel  Gewicht  hätten  erhalten  können.  Letzten 
Endes  stand  und  steht  die  Bevölkerungsfrage  im  Vordergrunde,  wenn 
nicht  des  Denkens,  so  doch  eines  ahnenden  Gefühles.  Das  Laisser 
faire  hat  drüben  noch  die  Macht  eines  kaum  bestrittenen  Dogmas  der 
öffentlichen  Meinung,  während  es  in  den  europäischen  Staaten,  nament- 
lich in  Frankreich  und  in  England,  die  Häresie  neben  sich  dulden  muß 
und  allmähhch  auf  sich  Einfluß  gewinnen  läßt,  wenn  auch  das  Dogma 
seine  gleichsam  festliche  Geltung  behält.  Nur  in  Deutschland  —  um  von 
den  übrigen  Staaten  Europas  zu  schweigen  —  hat  es  diese  beinahe 
verloren,  nachdem  hier  die  wissenschaftliche  Kritik  am  stärksten 
an  seiner  Zersetzung  gearbeitet  hat.  Einen  reinen  Ausdruck  findet  es 
überall  noch  in  der  Lehre  von  der  »Heiligkeit«  des  Eigentums,  einen 
Ausdruck,  an  dem  auch  die  religiöse  Formel  bemerkenswert  ist.  Die 
öffentliche  Meinung  hält  das  individuelle  Eigentum  und  dessen  grund- 
sätzliche Unantastbarkeit  durch  den  Staat  für  etwas  schlechthin  Natür- 
liches und  Notwendiges.  So  nennt  Bryce  an  erster  Stelle  unter  den 
6  Lehrmeinungen,  auf  die  man  zu  stoßen  pflege,  wenn  man  sozusagen 
einen  Schacht  abteufe  im  amerikanischen  Geiste,  die,  daß  gewisse 
Rechte  des  Menschen,  zum  Beispiel  sein  Recht,  zu  genießen,  was  er  er- 
worben hat,  ursprünglich  und  heiUg  seien ;  und  an  letzter,  daß  die  Funk- 
tionen der  Regierimgen  auf  ein  Mindestmaß  beschränkt  werden  sollten : 
„je  weniger  Regierung,  um  so  besser".  Für  diesen  Grundsatz  des  Gehen- 
lassens  ist,  nach  Bryce,  der  Grund  des  Gefühles  ungemein  stark  in 
Amerika,  „wurzehid  in  Charakter  und  Gewohnheiten  der  Rasse,  und 
sich  zu  ergeben  scheinend  aus  jener  Behauptung  individueller  Freiheit, 
die  in  solchen  ehrwürdigen  (revered)  Urkunden  niedergelegt  wurde, 
wie  in  der  Erklärung  der  Unabhängigkeit  und  in  den  älteren  Ver- 
fassungen der  Einzelstaaten".  Mehr  als  die  Urkunden  dürfte  für  diesen 
Individualismus  die  Tatsache  wirken,  daß  in  dem  weiträumigen 
Koloniallande  Menschen  aus  allen  Gegenden  und  Winkeln  des  Erd- 
balles zusammenlaufen,  von  denen  jeder  nur  sein  Glück  zu  suchen 

17* 


200  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

und  zu  machen  beflissen  ist.  Fremde,  die  mit  Fremden  sich  zu  ver- 
tragen und  zusammenzuleben  angewiesen  sind  —  der  Charakter  des 
heimatlosen  Wandervolkes,  der  mehr  und  mehr  auch  den  alten 
lyändern  sich  mitteilt,  ist  den  Bewohnern  der  Vereinigten  Staaten  von 
Anfang  an  in  hohem  Grade  eigen  gewesen:  die  »Freiheit«  ist  ihnen 
lyebensbedingung  und  bleibt  mit  der  Freiheit  der  Wildnis  oder  der 
Wüste  innerlich  verwandt. 

Anders  als  mit  der  Freiheit  verhält  es  sich  mit  der,  wie  Goethe 
einmal  sie  auszeichnet,  »löblichen«  Gleichheit.  Sie  gehört  zwar  in 
der  französischen  Formel  mit  jener  zusammen,  auch  der  Amerikaner 
bekennt  sich  theoretisch  zur  Gleichheit  alles  dessen,  was  Menschen- 
antlitz trägt.  Während  aber  Freiheit  mit  Enthusiasmus  und  I^iebe  ver- 
kündet wird,  so  geschieht  die  Hinzufügung  der  Gleichheit  mehr  pfHcht- 
mäßig,  nicht  ohne  inneres  Widerstreben.  Denn  die  öffentliche  Meinung 
ist  gegen  Verwirklichung  der  Gleichheit  im  sozialen  Leben  ebenso 
eingenommen,  wie  sie  deren  Möglichkeit  verneint.  Jene  (die  Verwirk- 
lichung) trägt  den  Geruch  kommunistischer  Lehren  an  sich,  die  als 
falsch  und  unheilvoll  abgelehnt  werden,  gegen  diese  (die  MögHchkeit) 
richtet  sich  die  Hinweisung  auf  die  offenbare  Verschiedenheit  der 
natürlichen  Anlagen  in  Fähigkeiten  und  Neigungen,  die  noch  schärfer 
als  bei  Individuen,  bei  verschiedenen  Volksstämmen,  vollends  bei 
ganzen  Völkern  und  gar  Rassen  hervortrete.  Dieselbe  gesellschaftliche 
Entwicklung,  die  das  »Ideal«  der  Gleichheit  bei  einer  großen  Kolonial- 
nation am  höchsten  erblühen  ließ,  bewirkte,  daß  in  eben  dieser  Nation 
die  Verschiedenheit  des  Vermögens  und  der  Lebenshaltung  in  die 
äußersten  Dimensionen  gesteigert  wurde,  und,  noch  ehe  dies  geschah, 
ein  Zusammenleben  verschiedener  Rassen,  die  sogar  durch  die  Haut- 
farbe voneinander  abstechen,  notwendig  erschien,  von  denen  die  eine 
zunächst  mehr  als  ein  Jahrhundert  lang  im  Stande  der  persönlichen 
Unfreiheit  (Sklaverei)  gehalten  wurde,  um  nach  deren  Aufhebung 
um  so  bitterer  die  persönliche  Ungleichheit  zunächst  in  sozialer,  bald 
auch  in  politischer  Beziehung  kosten  zu  müssen.  Die  öffentliche  Mei- 
nung Amerikas,  die  von  allen  Kennern  als  besonders  machtvoll  dar- 
gestellt wird,  nimmt  hieran  nicht  nur  keinen  Anstoß,  sondern  verlangt 
sie  vielmehr  und  mißbilligt  stark  die  gelegentlich  vorkommenden  Aus- 
nahmen, wenn  auch  in  Einzelheiten  das  Urteil  anders  in  den  südlichen 
als  in  den  Nordstaaten  sich  gestaltet.  Dennoch  hat  die  »Gleichheit«  in 
den  Vereinigten  Staaten,  und  ebenso  in  den  übrigen  Ländern  moderner 
Kultur,  eine  Bedeutung,  die  von  der  öffentlichen  Meinung  anerkannt, 
ja  gefördert  wird.  Zunächst  ist  sie  ein  anderer  Ausdruck  für  die  all- 
gemeine persönliche  Freiheit :  in  diesem  Sinne  ist  sie  überall,  zuletzt  in 
den  vom  Geiste  der  neuzeitlichen  Bildung  am  längsten  unberührt 


Al^I^GEMEINE    lNHAI,TE   USW.    —   DaS   SOZIAI^   UND    ÖKONOMISCHE    GEBIET.      261 

gebliebenen  Ländern,  in  Rußland  und  eben  in  Amerika,  durchge- 
drungen. Ferner  aber  wUl  sie  den  Sinn  haben,  daß  der  Vorzug  eines 
angeborenen  Standes,  erblicher  Würde  und  darauf  sich  berufende 
Ansprüche  schlechthin  geleugnet  werden.  Die  Vereinigten  Staaten, 
luid  ebenso  die  anderen  Kolonialländer,  kennen  weder  einen  hohen 
noch  einen  niederen,  weder  einen  persönlichen  noch  einen  erblichen 
»Adel«,  und  die  öffentUche  Meinung  dieser  Länder  würde  dem  Versuch, 
solche  Einrichtung  zu  schaffen,  den  Widerstand  der  Mißbilhgung  und 
des  Gelächters  entgegensetzen.  Dies  ist  Ergebnis  des  in  Europa  Jahr- 
hunderte hindurch  fortgesetzten  Klassenkampfes  zwischen  dem  alten 
Herrenstande  und  dem  sich  verdichtenden  Nationalbewußtsein  des 
Bürgerstandes,  insbesondere  des  Großbürgertums  (der  »Bourgeoisie«), 
das  sich  zum  neuen  Herrenstand  entwickelte.  Die  öffentliche  Meinung 
der  europäischen  Haupt- Kulturstaaten  duldet  noch  den  Adel,  strebt 
aber  nach  Ausgleichung  mit  ihm,  und  verwirft  alle  Ansprüche,  die  er 
auf  besondere  Vorzüge  als  geschlossener  Stand  geltend  macht;  sie 
besteht  darauf,  daß  nur  Verdienst  und  Fähigkeit,  nicht  Geburt  und  an- 
geborener Rang  entscheidende  Geltung  haben  dürfe.  Fast  alles  in 
diesem  Gebiete  greift  in  das  Gebiet  des  Rechtes  und  der  Politik  hinüber, 
wird  daher  unter  (II)  wiederum  erörtert.  Nur  in  der  »GeseUigkeit«, 
und  der  Gesellschaft  ihres  Sinnes,  gönnt  die  öffentliche  Meinung  dem 
Adel  noch  seine  hervorragende  Stellung,  zumal  dem  hohen  Adel 
und  schenkt  ihm  ein  persönliches  Interesse,  woran  besonders  die 
Frauen  auch  der  bürgerlichen  Schichten  teilnehmen.  Dies  Interesse 
gilt  dem  Glanz  der  FamiHen,  und  dieser  ist  wesentlich  bedingt  durch 
Reichtum,  besonders  durch  großes  Grundeigentum,  sammelt  sich 
aber  mehr  und  mehr  auf  den  Reichtum  schlechthin,  je  mehr  dieser  in 
einzelnen  Personen  sich  steigert;  und  so  kann  es  auch  gleichsam  auf 
den  Adel  »verzichten«,  wie  in  den  Vereinigten  Staaten  und  sonst  in 
Ländern  modernster  Gesellschaft.  Wenn  in  Spanien  der  Adel  noch 
eine  Verachtung  der  bürgerHchen  Erwerbstätigkeit  zur  Schau  trägt,  so 
würde  die  öffentliche  Meinung  in  anderen  Ländern  dies  verurteilen, 
am  ausgesprochensten  gerade  in  England,  wo  die  Bewunderung  des  Glan- 
zes und  gesellschaftlichen  Ranges  der  adligen  Familien  am  offensten  zu- 
tage tritt.  Ein  Amerikaner  sagt,  er  habe  einige  ganz  vorzügliche  Männer 
und  Frauen  in  der  englischen  Aristokratie  angetroffen,  freilich  ebenso 
vorzügliche  unter  den  Großkaufleuten  und  Fabrikherren:  „ebenso 
echte  Verfeinerung,  mehr  Rücksicht  auf  die  Empfindungen  anderer, 
und  wenn  nicht  gerade  ein  Lord  oder  eine  Lady  des  Weges  kam, 
ebensoviel  angeborene  Würde*'.  „In  Gegenwart  der  Aristokratie  jedoch, 
fallen  sie  alle  geistig  auf  ihre  Hände  und  Kniee"  (Badeau,  Aristocracy 
in  England,  1885,  S.  153).  In  der  öffentlichen  Meinung  Englands  sind 


I  *x 


202  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

allerdings  ein  I/ord  und  eine  Lady  so  etwas  wie  höhere  Wesen. 
Badeau  nennt  das  Kriechen  des  gemeinen  Engländers  vor  einem 
lyord  eines  der  Wunder  unserer  Zeit.  Es  gebe  nichts,  was  ihm  gleiche, 
bei  irgendeiner  zivilisierten  Nation  auf  dem  Erdball.  „Weder  der 
Bauer  Frankreichs  oder  Spaniens,  noch  der  gemeine  Soldat  Deutsch- 
lands, noch  der  I^azzaroni  von  Neapel,  ja  nicht  einmal  der  befreite  rus- 
sische Leibeigene  offenbart  in  Gegenwart  eines  gesellschaftUch  Höhe- 
ren jene  Überzeugung  vom  Dasein  einer  Kaste  (derer,  die  »besser« 
seien  als  er  selber),  welche  den  gebildeten  Briten  der  Mittelklasse  be- 
zeichnet." Es  ist  in  der  Tat  etwas  von  religiöser  Ehrfurcht  im  englischen 
Snobbism;  die  öffentliche  Meinung  innerlich  entwickelterer  Kulturen 
stellt  sich  kälter  zu  den  angeborenen  sozialen  Unterschieden  und 
fühlt  sich  beinahe  verpflichtet,  sie  zu  verneinen,  wie  es  1848  in  den 
Anträgen  auf  »Abschaffung«  des  Adels  in  Deutschland  imd  in  Preußen 
hervortrat  und  auch  in  der  neuen,  noch  (1919)  fortwirkenden  Revo- 
lution stark  zur  Geltung  gelangt;  wie  denn  die  neue  Verfassung  vom 
ii.VIII.  1919  in  ihrem  Art.  109  erklärt:  „Adelsbezeichnungen  gelten 
nur  als  Teil  des  Namens  imd  dürfen  nicht  mehr  verUehen  werden"  — 
ein  Satz,  den  die  gegenwärtige  öffentliche  Meinung,  wenn  auch  viel- 
leicht mit  einem  süßsauren  Gesichte,  nicht  umhin  kann,  gutzuheißen, 
oder  den  sie  wenigstens  nicht  gerades wegs  abzulehnen  wagt. 

2.  (Ib:  In  der  flüssigen  Öffentlichen  Meinung.)  Einen  bedeu- 
tenden Fall  der  flüssigen  öffentlichen  Meinung  im  Gebiete  des 
allgemeinen  sozialen  und  wirtschaftlichen  Lebens  sehe  ich  in 
Schätzimg  der  »Arbeit«.  Wenn  noch  Schiller  allgemein  »der  Hände 
Fleiß«  als  des  Bürgers  Ehre  pries,  während  den  König  seine  »Würde« 
ehre,  so  dauerte  im  19.  Jahrhundert  dieser  altbürgerliche  Stolz  gegen- 
über dem  »müßigen  Junker  und  Pfaffen«  zwar  fort,  er  geht  aber 
allmählich  in  eine  Verherrlichung  der  bloßen  kommerziellen  und 
industriellen  Erwerbstätigkeit  über,  die  durch  den  Namen  der  Arbeit 
ausgezeichnet  wird,  während  die  eigentliche  körperliche  tmd  Hand- 
arbeit ebenso  herabgesetzt  wurde,  wie  sie  tatsächlich  in  der  sozialen 
Stufenleiter  durch  die  große  Vermehrung  einer  lebenslänglichen 
Lohnarbeiterklasse  sank.  In  jenem  Sinne  war  es  typisch,  wenn 
Gustav  Freytag,  nach  Anleitung  von  Julian  Schmidt,  im  Roman 
das  Volk  bei  seiner  »Arbeit«  aufsuchen  wollte,  nämlich  im  Kontor. 
Die  Geringschätzung  der  Handarbeit  trat  um  jene  Zeit  (1860)  und 
noch  lange  nachher  bald  in  dem  herablassenden  Bedauern  zutage, 
womit  von  »Fabrikarbeitern«  gesprochen  wurde,  bald  darin,  daß  der 
gebildete  Bürger  sich  Ueber  Brauereibesitzer  als  Bierbrauer,  lieber 
Marchand  Tailleur  als  Schneidermeister,  lieber  Schuh  Warenfabrikant 
als  Schuhmacher meister  nannte,  welche  Neigung  auch  heute  dauert. 


AXI.GEMEINB  Inhalate  usw.  —  Das  soziai^e  und  ökonomische  Gebiet.     263 

so  daß  selbst  eine  so  wissenschaftliche  Berufsarbeit  wie  die  des 
Apothekers  sich  gern  hinter  dem  »Apothekenbesitzer«  versteckt. 
Indessen  ist  doch  die  Schätzung  der  gemeinen  wie  aller  Arbeit  während 
der  letzten  Jahrzehnte  erheblich  in  Fluß  gekommen,  und  zwar  ist 
sie  »höher«  geworden.  Zu  einem  Teile  hat  dazu  das  neu  erwachende 
Selbstbewußtsein  des  alten  Handwerks,  soweit  es  noch  Charakter 
hat,  gewirkt;  weit  stärker  aber  die  eigentlich  sogenannte  Arbeiter- 
bewegung, weil  sie  eben  der  her  abgedrückten,  aber  zugleich  empor- 
kommenden Lohnarbeit  Verbesserung  ihrer  Lage,  politische  Geltung 
tmd  damit  auch  erhöhte  Wertschätzung  erzwang.  Dafür  werde  auf 
die  besondere  Erörterung  über  die  öffentliche  Meinung  und  die 
soziale  Frage  hingewiesen. 

Ein  anderes  Gebiet,  worin  die  Flüssigkeit  der  öffentlichen  Meinung 
sich  beobachten  läßt,  ist  die  Frauenfrage  und  Frauenbewegung.  Auch 
hier  handelt  es  sich  um  ein  Problem  der  Gleichheit  und  Ausgleichung. 
Die  Arbeitsteilung  zwischen  Mann  und  Frau  ist  ein  uraltes  Erb- 
stück der  Gesittung:  die  Frau  nach  innen  gewandt,  der  Mann  nach 
außen.  Die  häusliche  Bestimmung  und  Beschränkung  der  Frau  und 
des  Mädchens  ist  durch  Herkommen  vorgeschrieben,  durch  Religion 
geheiligt.  Die  öffentliche  Meinung  stand  noch  vor  2  Menschen- 
altern fast  durchaus  unter  diesem  Einfluß  und  faßte  sich  in  die 
Formel:  »Die  Frau  gehört  ins  Haus«.  Aber  sie  ist  seitdem  stark 
in  Fluß  gekommen,  unter  dem  Drucke  der  wirklichen  und  wirt- 
schaftHchen  Entwicklung.  Ein  weites  Gebiet  der  Erwerbstätigkeit 
hat  sie  der  Frau  schon  eingeräumt.  Wir  denken  hier  nicht  zu- 
nächst an  die  Frau  der  Arbeiterklasse,  sondern  an  die  der  »gebil- 
deten« Schichten,  die  der  öffentlichen  Meinung  so  viel  näher  steht, 
wenn  auch  eine  dünne  Oberschicht  in  den  alten  Lebensformen  und 
Ideen  verharren  kann.  Die  weibliche  Berufswahl  erscheint  schon 
als  etwas  Normales,  beinahe  Notwendiges.  Das  Dichterwort,  „der 
Mann  muß  hinaus  ins  feindliche  Leben*',  hat  zwar  noch  vollere 
Geltung  als  ehemals  gewonnen,  aber  in  enger  begrenzter  Weise  gilt 
es  auch  für  die  Frau :  auch  sie  muß  wirken  und  streben  und  pflanzen 
und  schaffen,  wenn  sie  auch  noch  selten  am  ,, erlisten,  erraffen",  am 
„wetten  und  wagen,  das  Glück  zu  erjagen'*,  unmittelbar  teilnimmt. 
In  den  Vereinigten  Staaten  läßt  die  öffentliche  Meinung  zu,  ja  ver- 
langt zuweilen,  daß  die  Frau  Rechtsanwalt  und  Richter  werde;  nir- 
gends verwehrt  sie  ihr  noch,  ärztliche  Tätigkeit  aller  Art  auszuüben ; 
und  im  allgemeinen  ist  das  Frauen-Studium,  das  vor  30  Jahren 
noch  als  eine  Freiheit  galt,  die  allenfalls  der  von  den  Banden  der 
Sitte  sich  befreienden  Russin  in  der  demokratischen  Schweiz  ge- 
gönnt ward,  von  allen  Hochschulen  zögernd  zugelassen  worden,  —  man 


264  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

kann  sagen,  daß  sie  dem  Drängen  der  öffentlichen  Meinung  haben 
nachgeben  müssen,  die  in  diesem  Stücke  schon  eine  erhebUche  Festig- 
keit gewonnen  hat,  wenngleich  sie  in  bezug  auf  die  Abgrenzung  der 
weiblichen  Berufe  sich  noch  im  Flusse  befindet. 

3,  (Ic:  In  der  luftartigen  Öffentlichen  Meinung.)  Die  öffent- 
liche Meinung  des  Tages,  wie  wir  ihre  luftartige  Gestalt  lieber 
nennen  wollen,  ist  zum  guten  Teil  durch  ihre  flüssige,  mehr  noch 
durch  ihre  feste  Gestalt  bedingt,  und  erscheint  als  deren  Anwendung 
auf  besondere  Fälle  und  Gelegenheiten.  Waren  es  im  18.  Jahr- 
hundert die  Reste  des  Feudalismus,  die  I^eibeigenschafts-,  Hörig- 
keits-,  Erbuntertänigkeits -Verhältnisse  im  eigenen  I^ande  und 
der  britische  Sklavenhandel,  worüber  die  öffentliche  Meinung 
etwa  Deutschlands  und  Frankreichs  sich  empörte,  so  blieb 
noch  im  19.  die  Negersklaverei  in  Amerika,  die  Leibeigen- 
schaft in  Rußland,  denen  sie  das  Verlangen  nach  Befreiung  ent- 
gegensetzte, und  zwar  im  Bunde  mit  anderen  Mächten  erfolg- 
reich; seitdem  sind  in  dieser  Beziehung  nur  einzelne  Ausnahmen, 
wie  der  Sklavenhandel  der  Araber  in  Afrika,  die  Reste  von  Sklaverei 
in  Südamerika  und  Westindien,  als  Gegenstände  gelegentlichen  Un- 
willens übrig  geblieben.  Dazu  kommen  aber,  soweit  sie  in  auffallenden 
Tatsachen  offenbar  werden,  die  mannigfachen  Umgehungen  des  Ver- 
bots der  Sklaverei,  in  denen  der  Europäer  in  den  Kolonien  einheimische 
oder  eingeführte  Arbeitskraft  an  Scholle  und  Frohnde  zu  fesseln  sucht. 
So  wirkte  auf  die  öffentliche  Meinung  in  England  die  Einschleppung 
indischer  und  chinesischer  Arbeiter  in  die  Goldgruben  zu  Transvaal, 
tmter  Kontrakten,  die  ihnen  ein  Mindestmaß  persönlicher  Freiheit 
ließen  (,yindentured  lahour'').  Empörender  noch  war  die  Aufdeckung 
der  Kongo-Greuel  und  des  Verfahrens  der  englischen  Erwerbsgesell- 
schaften in  Putumayo  (Peru)  gegen  die  Indianer.  —  Als  Kränkungen 
der  sozialen  Gleichheit  werden  in  neuerer  Zeit  selten  noch  Über- 
griffe des  Adels  gegen  das  Bürgertum,  viel  weniger  solche  des  Adels 
und  des  Bürgertums  gegen  die  Arbeiterklasse  von  der  öffentlichen 
Meinung  aufgefaßt;  wohl  aber  die  gelegentlich  vorkommenden  Aus- 
schreitungen der  Militärgewalt  gegen  »Zivilisten«,  Äußerungen  des  in 
der  öffentlichen  Meinung  nicht  beliebten  »Militarismus«.  Solche  traten 
in  den  letzten  Jahren  vor  dem  Weltkriege  in  auffallender  Weise 
sowohl  in  Frankreich  und  in  England  als  im  Deutschen  Reiche 
zutage.  In  Frankreich  zuerst  und  vor  allem  der  Fall  Dreyfus.  So 
lange  als  man  glaubte,  es  handle  sich  um  Verrat,  den  ein  jüdischer 
Offizier  zugunsten  des  verhaßten  Feindes  geübt  habe,  stand  die  öffent- 
liche Meinung  zu  der  Verurteilung  imd  grausamen  Strafe.  Nachdem 
aber  enthüllt  war,  daß  eine  betrügerische  Intrige  der  auf  die  Reste 


Al,I.GEMEINE    INHAI.TE    USW.    DAS    SOZIAI^E    UND    ÖKONOMISCHE    GEBIET.       265 

des  alten  Herrenstandes  sich  stützenden  Militärpartei  zugrunde 
lag,  da  schlug  die  öffentliche  Meinung  um,  und  zwar  in  so  ent- 
schiedener Weise,  daß  die  Bildung  eines  republikanisch-demokra- 
tischen Blocks  die  unmittelbare  Folge  war,  der  sich  zur  Trennung 
der  Kirche  vom  Staate  verband  und  eine  antimilitaristische  Politik 
einleitete.  Dennoch  blieben  auch,  nachdem  Dreyfus  in  wieder- 
aufgenommenem Verfahren  (1906)  endlich  freigesprochen  war,  neue 
grobe  Ausschreitungen  des  Militarismus  in  Frankreich  nicht  aus. 
Im  Jahre  1907  geschah  eine  aufständische  Bewegung  der  Weinbauern 
in  Montpellier,  im  Jahre  191 1  eine  ebensolche  in  der  Champagne. 
Beidemal  fand  die  radikale  Regierung,  an  deren  Spitze  Herr  Cli^mKn- 
CEAU  stand,  sich  veranlaßt,  die  Bewegungen  durch  Soldaten  nieder- 
zuschlagen, und  als  in  Südfrankreich  diese  teilweise  meuterten  und 
sich  zu  den  Aufständischen  hielten,  ließ  er  die  Meuternden  durch  Küras- 
siere niederreiten.  In  beiden  Fällen  stand  die  öffentliche  Meinung  diesem 
schneidigen  Militarismus  entgegen,  da  die  Klagen  und  Beschwerden 
der  Winzer  als  berechtigt  anerkannt  wurden.  Anders  war  es  freilich, 
als  im  Oktober  1910  der  Ministerpräsident  Briand  gegen  den  Streik 
der  Eisenbahnarbeiter  sich  anschickte,  den  gesamten  Eisenbahn- 
dienst zu  mihtarisieren :  jeder  Bedienstete  der  Eisenbahnen  erhielt 
die  Einberufung  zu  einer  militärischen  Übung  und  wurde  also  der 
militärischen  Gerichtsbarkeit  unterstellt,  so  daß  Enthaltung  von 
der  Arbeit  militärische  Gehorsamsverweigerung  wurde.  Diesmal 
billigte  die  öffentliche  Meinung  Frankreichs  diese  sehr  weitgehende 
Betätigung  eines  politischen  Militarismus  —  es  handelte  sich  um  ein 
dringendes  Verkehrsinteresse,  und  der  Militarismus  richtete  sich 
gegen  Proletarier!  —  In  England  brachte  das  Jahr  des  Welt- 
krieges selber,  unmittelbar  vor  dessen  Ausbruch,  ein  Muster 
des  allerschwersten  Militarismus  als  Ungehorsam  der  kriegerischen 
Macht  gegen  die  bürgerliche  Regierung.  In  der  irischen  Provinz 
Ulster  war  ein  freiwilliges  und  gesetzwidriges  Heer  entstanden, 
das  auch  die  ausdrückliche  Bestimmung  sich  gab,  einem  bevor- 
stehenden unwillkommenen  Gesetz  Widerstand  zu  leisten.  Natür- 
lich beschloß  die  Regierung,  dieser  Insurrektion  durch  eine 
militärisch-maritime  Kraftentfaltung  zu  begegnen;  sie  tat  dies  ihrer 
von  selbst  verständlichen  Pflicht  gemäß,  die  öffentliche  Ruhe  auf- 
recht zu  erhalten  (während  es  sich  in  Frankreich  um  rein  bürgerliche 
Bewegungen  handelte,  denen  gegenüber  die  bürgerliche  Polizeigewalt 
zunächst  hätte  genügen  müssen,  wenn  man  zugleich  sich  bemüht 
hätte,  die  Ursachen  der  Unzufriedenheiten  abzustellen!).  Den  in 
Irland  stationierten  Landstreitkräften  hatte  der  Kriegsminister 
besondere   und  eingehende   Befehle  erteilt.    Alles  war   vorbereitet, 


266  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

um  die  sämtlichen  20 — 25  000  Mann,  die  in  Irland  standen,  in  Ulster 
zu  konzentrieren  imd  nötigenfalls  noch  eine  Division  aus  England 
hinüberzuwerfen.  Es  handelte  sich  um  eine  militärische  Operation 
großen  Stiles.  Und  siehe  da  —  „die  Auflehnung  des  Heeres  wurde 
zur  Wirklichkeit'*,  so  drückte  die  große  Zeitschrift  Quarterly  Review 
sich  aus.  „Da  war",  —  heißt  es  in  diesem  Bericht  weiter  —  „keine 
Erörterung  mehr  nötig;  es  war  unmittelbar  deutlich,  daß  das  Heer 
als  Ganzes  mit  General  Gough  und  seinen  Offizieren  es  war,  wovon 
die  Gehorsamsverweigerung  ausging,  und  daß  jeder  Versuch,  sie  zu 
bestrafen  und  mit  der  Zwangspolitik  fortzufahren,  den  unmittelbaren 
und  vollständigen  Austritt  von  fast  dem  ganzen  Offizierkorps  der 
lyinie  zur  unmittelbaren  Folge  haben  würde,  wahrscheinlich  sogar 
auch  den  der  Hauptmasse  der  Landwehr  ...  die  Regierung  tat  das 
einzige,  was  sie  unter  den  obwaltenden  Umständen  tun  konnte,  sie 
kapitulierte  .  .  .*'  Im  Jahre  1907  hatte  CIv^menceau  in  der  fran- 
zösischen Kammer  ausgerufen,  das  schwerste  Unglück  für  das  Land 
würde  sein,  wenn  die  Regierung  kapitulieren  würde  vor  einer  disziplin- 
losen Soldateska!  Soweit  kam  es  in  der  Tat  in  der  alten  Heimat  des 
Militarismus  nicht.  Aber  in  England,  dem  Musterlande  parlamen- 
tarischer »verantwortHcher«  Regierung  und  bürgerlicher  Freiheit, 
geschah  diese  Kapitulation!  Sie  ist  uns  hier  merkwürdig  hauptsächlich 
wegen  der  Haltung  der  öffentlichen  Meinung.  Sie  stand  in  diesem 
schreienden  Falle  des  Versagens  der  bürgerlichen  Autorität,  der  durch 
den  »Volkswillen  «  eingesetzten  Behörde,  nicht  einmütig  auf  deren  Seite, 
ja  im  eigenthchen  England  unzweifelhaft  überwiegend  auf  Seiten  des 
widerspenstigen  Militärs !  Aber  sie  würde  einhellig  und  mit  Getöse  ver- 
neinen, daß  darin  eine  Erscheinung  des  Militarismus  schHmmster  anti- 
bürgerlicher Art  vorliege.  Solche  Erscheinungen  würden  natürUch 
in  Theorie  und  Worten  unablässig  bekämpft  und  an  den  Pranger 
gestellt  —  wenn  sie  anderswo,  insbesondere  in  dem  verhaßten  imd 
gefürchteten  Deutschen  Reich,  sich  ereigneten,  wie  es,  in  einem  weit 
schwächeren  Fall,  einige  Monate  zuvor  im  Elsaß  geschehen  war. 
Hier  war  es  zuerst  die  bekannt  gewordene  grobe  Taktlosigkeit  eines 
Offiziers,  alsdann  die  Übergriffe  der  Militärbehörden  bei  Bekämp- 
fung von  Unruhen  in  der  Stadt  Zabern,  die  den  unmittelbaren 
Unwillen  der  deutschen  öffentlichen  Meinung,  zugleich  aber  den  künst- 
Hch  geschürten  derjenigen  in  den  Nachbarländern  erregte,  die  gegen- 
über dem  viel  ärger  zutage  getretenen  Militarismus  des  eigenen  Landes 
ruhig  und  duldsam  gewesen  war,  ja  ihn  ermutigt  hatte.  Die  öff ent- 
hebe Meinung  auch  der  neutralen  Länder  gab  in  dieser  Sache,  und  nach- 
her, während  der  Kriegsjahre,  in  den  Anklagen  gegen  den  ausschließ- 
lich preußischen  Mihtarismus  ihre  ganze  Luftigkeit  und  Windigkeit 


Al.I,GEMEINE    INHAI.TE    USW.    DAS    SOZIAI.E    UND    ÖKONOMISCHE    GEBIET.       207 

kund,   vermöge   deren  sie   gedankenlos  jedem   äußeren   Druck    sich 
preisgibt. 

Von  einer  anderen  Seite  betrachten  wir  aber  die  öffentliche  Meinung 
des  Tages,  wo  sie,  zunächst  sittHch  erregt,  empört  oder  entrüstet  über 
einen  gegebenen  einzelnen  Fall,  in  einer  neuen  Gestalt  aufsteigt  und 
von  solchen  einzelnen  Urteilen  aus  allmählich  sich  verdichtet,  um  nach- 
her flüssige  und  endlich  feste  Gestalt  zu  gewinnen.  In  dieser  Hinsicht 
sind  die  gesellschaftlichen  Skandale,  insbesondere  Skandalprozesse, 
die  auch  durch  Dauer  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  fesseln,  oft 
von  historischer  Bedeutsamkeit.  Typisch  dafür  ist  die  »Halsband- 
geschichte«, die  Napoleon  eine  der  3  Ursachen  der  französischen 
Revolution  genannt  haben  soll.  „Das  Entsetzliche  war,  daß  im 
PubHkum  das  moralisch  Unglaubliche  glaublich  gefunden  und  mit 
großer  Bereitwilligkeit  aufgenommen  wurde"  (Niebuhr,  Gesch.  des 
Zeitalters  der  Revolution,  I,  S.  151).  Der  Hof,  der  Adel  und  die  hohe 
Geistlichkeit,  alle  Mächte  die  äußerlich  noch  über  der  schon  ent- 
wickelten bürgerlichen  Gesellschaft  standen,  waren  bloßgestellt,  ja  ent- 
ehrt. Ein  langwieriger  Prozeß  wurde  vor  dem  Parlament  von  Paris  ge- 
führt. „Und  eben  dieser  war  es,  welcher  die  öffentliche  Meinung  ganz 
außerordenthch  erregte'*  (WAHL,Vorgesch.  der  franz. Revolut.  I,  S.  319). 
Es  war  daher  gleichgültig,  wer  verurteilt,  wer  freigesprochen  wurde; 
gleichgültig,  daß  ein  Teil  des  Publikums  für  die  Königin  aus  dem 
Hause  Österreich,  ein  Teil  wider  sie,  ein  Teil  für  den  Herzog- Kardinal, 
ein  Teil  gegen  ihn  Partei  nahm;  entscheidend  war  der  Eindruck,  daß 
die  ganze  hohe  Gesellschaft  verrottet  sei,  sie  hatte  sich  verächtlich 
und  lächerlich  gemacht.  Ähnlich  haben  in  neuerer  Zeit  manchmal 
Skandale  und  Prozesse  zuungunsten  der  vornehmen  Welt  gewirkt; 
so  besonders  englische  Ehebruchs-  und  Ehescheidungsprozesse. 
Das  Publikum  —  vorzugsweise  »bürgerUch  «  gesinnt  —  verallgemeinert 
immer:  »so  lebt  man  in  der  Gesellschaft,  die  sich  die  gute  nennt«. 
»Das  ist  High  Lifea  —  und  so  wird  der  Glaube  an  die  Rechtschaffenheit 
derer,  die  den  Vorzug  des  Ranges  und  des  Reichtums  genießen, 
untergraben,  die  öffentliche  Meinung  bricht  den  Stab  über  sie.  Zu- 
meist ist  es  die  geschlechtliche  SittUchkeit,  deren  gröbere  oder  feinere 
Verletzungen  das  öffentliche  Ärgernis  geben;  aber  zuweilen  machen 
auch  andere  Laster  und  Verfehlungen  in  ähnlicher  Weise  peinliches 
Aufsehen  und  bringen  die  öffentliche  Meinung  gegen  einzelne,  be- 
sonders auch  dann  gegen  die  höheren  Schichten  auf,  weil  diese  über- 
haupt am  schärfsten  beobachtet  werden,  weil  ihre  Privatangelegen- 
heiten als  solche  schon  das  öffentliche  Interesse  auf  sich  ziehen. 
So  war  es  in  Deutschland  der  Spielerprozeß  der  sog.  Harmlosen,  der 
im  Jahre  1904  einen  gewaltigen  Lärm  erregte  und  das  Ansehen  der 


268  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

adligen  Kavallerie-Offiziere  tief  schädigte.  Ähnlich  wirkten  zu- 
ungunsten des  »Militarismus«  und  jener  Schichten,  die  vorzugsweise 
als  dessen  Träger  gelten,  der  Fall  Brüsewitz  und  der  Fall  Zabern. 
Nachdem  die  Meinimg  so  durch  Jahre  hindurch  sich  verdichtet  hatte, 
und  auch  der  Druck  der  feindlichen  Anklagen  nicht  ohne  Wirkung 
geblieben  war,  brachte  endlich  der  Zusammenbruch  der  deutschen 
Sieghoffnungen  im  Oktober  1918  die  öffentliche  Meinung  in  Fluß, 
so  daß  sie  —  momentan  —  wirklich  von  der  Schädlichkeit  des  preu- 
ßisch-deutschen Militarismus  überzeugt  wurde,  dem  sie  lange  gläubig, 
oder  aus  Vernunftgründen,  durchdrungen  von  seiner  Notwendigkeit 
wegen  der  Lage  des  Deutschen  Reiches,  gehuldigt  hatte.  In  den 
republikanischen  I^ändern,  wie  in  den  Vereinigten  Staaten  und 
Frankreich,  reiht  sich  Skandal  an  Skandal,  die  allgemeine  Käuflich- 
keit, Bestechlichkeit,  Nichtswürdigkeit  in  Geldangelegenheiten  grell 
beleuchtend,  insbesondere  die  tiefe  Verderbnis  der  gewerbsmäßigen 
Politiker,  die  unter  dem  Namen  des  Volkswohles  nichts  als  ihren 
wirtschaftlichen  Vorteil  verfolgen.  Die  öffentliche  Meinung  des  Tages 
ist  in  unablässiger  Erregung  über  solche  Fälle;  aber  diese  Dünste 
verdichten  sich  nie  zu  einer  Anklage  gegen  Staatsform  und  Ver- 
fassung; diese  gelten  vielmehr  für  unübertrefflich  und  in  allen 
wesentlichen  Bestandteilen  richtig;  die  rationalistische  Gedanken- 
bewegung, von  der  überhaupt  die  öffentliche  Meinung  getragen 
wird,  ist  in  Einrichtung  dieser  Formen  zur  Ruhe  gekommen,  die 
öffentliche  Meinung  selber  hat  in  bezug  darauf  einen  Grad  der 
Festigkeit  erreicht,  den  nicht  leicht  eine  entgegengerichtete  Strö- 
mung erschüttert,  wenn  sie  je  sich  bilden  sollte.  Diese  Betrach- 
tung geht  in  die  Ansicht  der  öffentlichen  Meinung  auf  dem  poH- 
tischen  Gebiete  über.  Sie  dient  hier  nur,  um  verständlich  zu  machen, 
daß  die  Unzufriedenheiten  der  öffentlichen  Meinung  wegen  der  Er- 
scheinungen des  sozialen,  insbesondere  auch  des  wirtschaftlichen 
Lebens,  in  jenen  Ländern  keinen  politischen  Charakter  annehmen, 
vielmehr  höchstens  in  die  Forderimgen  innerer  Reformen  zusammen- 
laufen. 

Zweiter  Abschnitt.    Das  politische  und  rechtliche  Gebiet. 

4.  (IIa:  In  der  festen  Öffentlichen  Meinung.)  Die  wenigen 
festen  Bestandteile  der  öffentlichen  Meinung  im  politischen 
Gebiete  beziehen  sich  zumeist  auf  die  Staats -Formen.  Mit  voll- 
kommener Sicherheit  verwirft  sie  alles,  was  ihr  als  mittelalter- 
lich, mithin  als  barbarisch  gilt.  Vor  allem  daher  die  Priesterherrschaft 
und  die  geistlichen  Staaten.  Es  wird  allgemein  als  zugestanden  und 
als    selbstverständHch    angenommen,    daß    solche    niemals  .getaugt 


Al^LGEMEINE   INHAI.TE   USW.   —   DAS  POLITISCHE   UND   RECHTI.ICHE   GEBIET.      269 

haben,  daß  überhaupt  der  klerikale  Einfluß  im  Staatsleben,  und 
alles,  was  durch  das  Wort  )8>Theokratie «  bezeichnet  wird,  durchaus 
vom  Übel  sei.  Ebenso,  aber  minder  allgemein,  wenigstens  in  manchen 
Ländern  von  minder  fester  Geltung,  ist  die  Verneinung  und  Ver- 
werfung der  Herrschaft  des  Adels  als  eines  erblich  für  die  führenden 
Stellungen  und  Tätigkeiten  begabten  und  vorzugsweise  berufenen 
Standes.  In  England  hat  tatsächhch  der  Adel  auch  politisch  noch 
eine  bevorrechtete  Stellung,  die  von  der  öffentlichen  Meinung  geduldet 
wird,  was  die  gerade  in  der  »Mittelklasse«  herrschende  Ehrfurcht  vor 
hohen  Geburtstiteln  erleichtert;  auch  in  anderen  Ländern  sind  noch 
bedeutende  Reste  solcher  politischen  Sonderrechte  vorhanden,  aber 
z.  B.  in  Preußen  minder  bedeutsam,  weil  Preußen  nur  Teilstaat  des 
Deutschen  Reiches  ist.  Sie  waren  —  vor  dem  zerstörenden  Welt- 
kriege —  um  so  besser  gesichert,  je  weniger  entwickelt  die  öffentliche 
Meinung  in  dem  Lande,  je  mächtiger  hingegen  noch  die  Religion,  als 
Trägerin  der  Überlieferung  und  geheiligter  Einrichtungen,  war.  — 
Femer  gehört  auch  zu  diesen  verschmähten  und  in  die  Rumpelkammer 
der  Vergangenheit  zurückgestellten  politischen  Einrichtungen  der  mit 
Unrecht  von  der  öffentlichen  Meinung  für  mittelalterlich  gehaltene 
fürstHche  Absolutismus,  der  allerdings  in  mittelalterlichen  Glau- 
bensideen seine  starke  Stütze  hatte.  Unter  gehässigen  Namen  wie 
Despotie,  Autokratie,  persönliches  Regiment,  werden  auch  seine 
Reste  nicht  sowohl  kritisiert,  als  ohne  Prüfung  verworfen;  sie  sind 
der  öffentlichen  Meinung  gegenüber  unmöglich,  sind  »gerichtet«. 
So  ist  denn  auch  die  politische  öffentliche  Meinung  in  bezug  auf 
Staatsform  und  Verfassung  um  so  fester,  je  weiter  diese  von  der 
absoluten  Monarchie  entfernt  sind,  also  in  demokratischen  Repu- 
bhken.  Ganz  besonders  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika 
ist  sie  schlechthin  durchdrungen  und  erfüllt  von  der  Vortrefflichkeit 
und  Musterhaftigkeit  ihrer  Einrichtungen  (»our  insiitutions«)^  also 
von  ihrer  politischen  Überlegenheit  über  die  meisten  Staaten  Europas, 
ungeachtet  aller  Verderbnis  (»corruption<i),  die  am  Marke  dieser 
jungen  MischnationaUtät  frißt.  Diese  Überzeugung  und  Selbst- 
gefälligkeit ist  durchaus  ein  fester  Bestandteil  der  »amerikanischen« 
öffentlichen  Meinung.  Wird  sie  aber  als  theoretische  Ansicht,  daß  diese 
Staatsform  die  schlechthin  beste  sei,  aufgefaßt,  so  würde  ich  ihren 
Aggregatzustand  immerhin  als  tropfbar-flüssig  bezeichnen,  wenn  auch 
die  Tropfen  dick  und  schwer  sind:  will  sagen,  daß  der  typische  gebil- 
dete Amerikaner  einer  unbefangenen  Würdigung  anderer  politischer 
Systeme  schwerlich  fähig  ist,  aber  doch  nicht  leugnen  wird,  daß, 
wenn  nicht  die  beste,  so  doch  die  für  ein  gegebenes  Land  am  meisten 
geeignete  Staatsform  Gegenstand  verschiedener  Meinungen  sein  kann. 


270  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Als  einen  festen  Bestandteil  der  öffentlichen  Meinung  in  allen  I^än- 
dem  der  heutigen  Zivilisation  darf  man  noch  die  Ansicht  betrachten, 
daß  der  Staat  sein  Wesen  darin  hat,  eine  Einrichtung  zum  Nutzen  und 
Vorteil  der  Individuen  zu  sein.  Indessen  ist  auch  diese  Ansicht  am 
reinsten  und  bewußtesten  ausgebildet  in  den  neuzeitlichen  Republiken, 
deren  Typus  die  Vereinigten  Staaten  als  Union  und  Einzelstaaten  dar- 
stellen. In  den  Monarchien  versucht  noch  die  Idee  eines  in  sich  beruhen- 
den Ganzen,  das  durch  die  Monarchie  oder  doch  durch  die  Dynastie 
symboHsiert  werde,  sich  zu  erhalten.  Sind  diese  Monarchien  zugleich 
verhältnismäßig  reine  Nationalstaaten,  so  verbindet  sich  damit  leicht 
die  Idee  einer  von  Natur  zusammengehörigen  Volksgesamtheit, 
deren  äußere  Form  nur  der  Staat  sei.  Die  Theorie  bestimmt  solche 
Gesamtheiten,  wenn  sie  doch  als  Verbindungen  gedacht  werden, 
deren  Wesen  durch  Denken  und  Wollen  ihrer  Subjekte,  in  letzter 
Linie  also  der  Individuen,  gesetzt  wird,  als  »Gemeinschaft«  im  Gegen- 
satz zur  »Gesellschaft«,  die  den  ausschließlich  als  Mittel  für  die  indivi- 
duellen Zwecke  vorgestellten  und  konstruierten  Verein  bezeichnet. 
Die  öffentliche  Meinung  verschmäht  jene  Begriffe,  als  mit  Metaphysik 
oder  gar  Mystik  behaftet;  sie  will  klar  und  flach  denken,  darum  ist  ihr 
nur  der  gesellschaftliche  Begriff  zugänglich.  Dieser  ist  in  den  Ver- 
einigten Staaten  auf  der  Höhe;  aber  auch  in  England  ist  er  um  so 
tiefer  und  fester  in  der  öffentlichen  Meinung  verwurzelt,  je  vollkom- 
mener daselbst  »die «  Gesellschaft,  als  die  stillschweigende  Konvention 
der  durch  Geburt  und  Reichtum  oder  nur  durch  Reichtum  regieren- 
den Schichten  das  politische  Übergewicht  über  das  Volk  behauptet. 
James  Bryce  berichtet  im  98.  Kapitel  seines  Werkes  über  Amerika, 
dem  er  die  Überschrift  t>Laisser  faire<(^  gibt,  über  ein  Gespräch,  das  er  mit 
einem  philosophierenden  Europäer  über  den  Gegenstand  geführt  habe. 
Dieser  hatte  ihn  gebeten,  der  amerikanischen  »Theorie  des  Staates« 
ein  Kapitel  zu  widmen.  Bryce  antwortete:  die  Amerikaner  haben 
keine  »Theorie  des  Staates«.  „In  England  und  in  Amerika  gleicher- 
weise vermißt  man  einen  ganzen  Kreis  und  ein  System  von  Gedanken 
und  Empfindungen,  die  unter  den  Nationen  des  europäischen  Konti- 
nents machtvoll  gewesen  sind.  Für  diese  Nationen  ist  der  Staat 
eine  große  moralische  Macht,  die  Gesamtheit  der  Weisheit,  des  Ge- 
wissens, der  Kraft  des  Volkes,  jedoch  weit  größer  als  die  Summe 
der  Individuen,  die  das  Volk  bilden,  weil  jene  Macht  auf  bewußte 
und  wissenschaftliche  Art,  gewissermaßen  also  durch  ein  Naturgesetz, 
organisiert  ist  für  Zwecke,  die  das  Volk  nur  undeutlich  begreift,  und 
weil  er  der  Erbe  einer  tiefgewurzelten  Ehrfurcht  und  einer  fast  despo- 
tischen Autorität  ist.  Es  haftet  ein  Anflug  von  Mystizismus  an  dieser 
Vorstellung,  der  die  Verwandlung  willkürlicher  in  Volksvertretungs- 


Al,LGEMEINE   InHAI^TE   USW.   —  DAS   POUTISCHE   UND   RECHTUCHE   GEBIET.      27 1 

Regierung  überlebt  hat  und  beinahe  an  die  Heiligkeit,  welche  die 
mittelalterliche  Kirche  zu  umgeben  pflegte,  erinnert."  Auch  in  England 
sei  dem  Staat  und  Staatsdienst  ein  gewisses  Maß  von  Einfluß  und  Ach- 
timg  geblieben ;  wenn  auch  niemand  dem  Staat  als  solchem  eine  beson- 
dere Weisheit  zuschreibe,  niemand  die  Beamten  als  eine  Oberschicht 
ansehe,  so  wohne  dem  Staate  doch  Würde  bei,  und  die  Menschen 
seien  stolz  darauf,  ihm  zu  dienen.  Nichts  dergleichen  in  Amerika: 
„sogar  die  Würde  des  Staates  ist  verschwunden".  „Er  scheint  in 
WirkHchkeit  weniger  als  die  Individuen,  die  unter  ihm  leben".  „Der 
Staat  ist  nichts  als  ein  Name  für  die  Gesetzgebimgs-  und  Verwaltungs- 
Maschinerie,  wodurch  gewisse  Geschäfte  der  Einwohner  erledigt 
werden."  „Er  hat  nicht  mehr  Gewissen  oder  moralische  Bestimmung 
oder  Anspruch  auf  Ehrfurcht  und  Achtung  als  eine  Handelsgesellschaft 
zum  Behuf  der  Unternehmung  einer  Eisenbahn  oder  eines  Berg- 
werkes." „Die  Nation  ist  nichts  weiter  als  soundso  viele  Individuen." 
In  diesen  und  verwandten  Sätzen  prägt  sich  die  vollkommene  gesell- 
schaftliche Ansicht  des  Staates  aus,  zu  der  in  allen  Ländern  die  öffent- 
liche Meinung  ihre  entschiedene  Neigung  bekundet,  auch  da,  wo  sie 
sich  in  diesem  Sinne  nicht  durchaus  befestigt  hat.  In  Frankreich 
geht  sie  mit  der  Überzeugung,  daß  die  RepubHk  die  beste,  ja  die 
»einzig  wahre«  Staatsform  darstellt,  Hand  in  Hand,  obgleich  dort  der 
Sozialismus  immerhin  tieferen  Einfluß  auf  die  öffentliche  Meinung 
gewonnen  hat  als  in  den  Vereinigten  Staaten :  der  Sozialismus,  dessen 
Idee  sich  zwar  mit  jener  gesellschaftlichen  Ansicht  des  Staates  verträgt, 
aber  doch  auch  andere  und  zwar  entgegengesetzte  Elemente  in  sich 
enthält.  —  Im  niedergetretenen  Deutschland,  dem  der  Zusammen- 
bruch seiner  Macht  Veranlassung  geworden  ist,  auf  die  Erneuerung 
und  Vollendung  seines  nationalen  Bewußtseins  bedacht  zu  sein,  tut 
sich  zugleich  eine  Vertiefung  des  sozialen  Denkens  in  dem  fast  ein- 
mütigen Verlangen  nach  &  Gemeinschaft«  kund,  der  von  einem  lebhaft 
f Heßenden  Strom  der  öffentlichen  Meinung  getragen  wird. 

5.  (IIb:  In  der  flüssigen  öffentlichen  Meinung.)  Was  die 
Staatsform  betrifft,  so  wurde  schon  ausgesprochen,  daß  im  all- 
gemeinen in  den  europäischen  Hauptländern  die  öffentliche  Meinung 
nur  einig  und  fest  ist  in  Verwerfung  des  Absolutismus  und  der 
Theokratie,  übrigens  aber  in  jedem  Lande  —  unter  normalen  Ver- 
hältnissen —  den  bestehenden  Zustand  als  den,  wenn  auch  nicht 
schlechthin,  so  doch  für  das  eigene  Land  am  meisten  geeigneten 
zu  behaupten  geneigt  ist.  In  den  meisten  dieser  Länder  hielt  sie 
bis  an  die  Schwelle  des  Weltkrieges  eine  mehr  oder  minder  ein- 
geschränkte Monarchie  für  zweckmäßig,  und  als  Regel  auch  das 
Gelten  einer  geschriebenen  Verfassung  für  notwendig,  um  das 


272  Kmpirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Staatsrecht,  besonders  die  Rechte  der  »Krone«  und  die  der  »Volks- 
vertretung« oder  des  Volkes  schlechthin,  gegeneinander,  in  bestimm- 
ten Formen  darzustellen.  Aber  diese  Meinungen  befanden  sich  im 
Flusse:  mehr  und  mehr  war  ein  »konstitutionelles «Königtum  als  die 
sich  von  selbst  verstehende  Art  der  Monarchie  in  den  Hintergrund 
getreten,  und  die  Frage  war  insbesondere  im  Deutschen  Reich  imd 
in  den  deutschen  Kinzelstaaten  geworden,  ob  »parlamentarische« 
Regierung  oder  nicht.  Die  öffentliche  Meinung  befand  sich  seit  ge- 
raumer Zeit  im  Übergange  zur  Bejahung  dieses  Systems.  Dazu 
wirkte  besonders  der  Druck  der  Arbeiterbewegung  und  die  Aus- 
breitung der  sozialdemokratischen  Ansichten  im  Volke,  aber  auch 
die  Kritik,  die  gerade  in  den  weitesten  Kreisen  der  Bildung  und  des 
Besitzes  an  dem  zufälligen  Träger  der  »Kaiserkrone «  und  vollends  an 
dem  zu  erwartenden  Nachfolger  geübt  wurde,  trug  stark  dazu  bei: 
das  »persönliche  Regiment«  wird  nicht  auf  so  entschiedene  Weise 
von  der  öffentlichen  Meinung  gemißbilligt,  wie  der  maßgebende  Ein- 
fluß unverantwortlicher  Freunde  des  Monarchen,  die  unter  dem 
Namen  der  »Kamarilla«  Gegenstand  eines  mit  Grauen  vermischten 
Unwillens  sind.  Je  mehr  ferner  die  im  »Bund  der  Land^virte«  neu 
organisierte  konservative  Partei-Anschauung  nach  Osten  schaute, 
weil  sie  in  »Ostelbien«  zu  Hause  war,  und,  nach  preußisch-dynasti- 
scher Überliefermig,  in  der  Autokratie  des  Zarismus  den  festesten 
Hort  politischer  Autoritätsprinzipien  zu  erkennen  meinte,  um  so 
mehr  bHckte  alles,  was  dieser  Denkungsart  entgegen  war  —  und 
also  die  öffentliche  Meinung  — ,  nach  Westen  und  den  »westlichen 
Demokratien«,  ob  sie  die  Formen  der  Monarchie  abgestreift  hatten 
oder  nicht.  Das  alte  Vorbild  poUtischer  »Erb Weisheit«,  England,  er- 
schien auch  in  der  neuen  Gestalt,  die  seine  Verfassung  im  19.  Jahr- 
hundert angenommen  hatte,  als  Muster  eines  »lyandes,  das  sich  selbst 
regiert«;  in  Wirklichkeit  wurde  und  wird  es  durch  eine,  trotz  aller  Par- 
teiung,  nach  außen  hin  fest  zusammenhaltende,  in  der  Ausbeutung  der 
Weltteile  die  Bedingung  der  eigenen  Macht  und  Pracht  erkennende 
aristokratisch,  mehr  noch  (und  in  rasch  zunehinender  Weise)  pluto- 
kratisch  orientierte  Bourgeoisie  erfolgreich  beherrscht.  Eben  darum 
galt  es  immer  dem  reichen  Bürgertum  in  allen  Ländern  als  Land 
der  »Freiheit«,  ihrer  Freiheit,  ungeachtet  der  Einräumungen,  die 
den  Ansprüchen  der  Arbeiterklasse  gemacht  \\airden  und  obschon 
diese  in  dem  noch  »freieren«  Lande,  den  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika,  beinahe  fehlten ;  daß  solche  unter  europäischen  Verhältnissen 
schlechthin  notwendig  waren,  hatte  die  öffentliche  Meinung  auch 
z.  B.  in  Frankreich  und  im  Deutschen  Reiche  erkannt.  Zur  Ver- 
flüssigimg der  Meinung  in  dieser  Hinsicht  trugen  dann  die  51  Monate 


Al,I,GEMEINE   lNHAI,TE   ÜSW.   —  DAS   POETISCHE  UND   RECHTUCHE   GEBIET.      273 

des  Weltkrieges,  die  wie  sonst  51  Jahre  wirkten,  um  so  mächtiger  in 
Deutschland  bei,  je  ungewisser  der  endliche  Erfolg,  je  wahrschein- 
ücher  endüch  sogar  der  vöUige  Mißerfolg  dieser  ungeheuren  Kraft- 
probe wurde.  Je  mehr  Schuld  an  dem  mangelhaften  und  endlich 
an  dem  Mißerfolg,  der  politischen  Leitung  vor  dem  Ausbruch  und 
während  des  Verlaufes  zugeschrieben  ward,  um  so  mehr  wurde  die 
öffentliche  Meinung  aufnahmefähig  für  die  große  Reform  der  schein- 
baren Verwandlung  des  Obrigkeitsstaates  in  einen  Volksstaat,  der 
i^Parlamentarisierung«  und  »Demokratisierung«  der  Verfassungen  im 
Reiche  und  in  den  Staaten.  Auf  das  Verhältnis  der  öffentlichen  Meinung 
zur  ferneren  Kntwicklimg  wird  die  Betrachtung  unter  II  c  zurück- 
kommen. 

Die  flüssige  öffentliche  Meinung  ist  der   Bearbeitung  zugänglich, 
wie  Eisenerze,  wenn  sie  in  Fluß  gebracht  werden ;  und  auch  fest  gewor- 
dene Vorurteile  und  Ansichten  lassen  sich  erschüttern  und  aufweichen, 
wenn  gehörige   Kraft  daran  gewandt  wird.   Hier  ist  der  Ort,  eines 
Falles  aus  dem  19.  Jahrhundert  Erwähnung  zu  tun,  der  zwar  zunächst 
für  Großbritannien,  mittelbar  aber  sozusagen  für  den  ganzen  Erdball 
starke  Bedeutimg  hatte,  wo  es  einemplanmäßigen,  7  Jahre  lang  uner- 
müdlich mit  großem  Aufwände  an  materiellen  und  geistigen  Kosten 
geführten  Feldzug  der  Agitation  und  Werbung  gelang,  die  öffentliche 
Meinung  anderen  Sinnes  zu  machen  als  sie  bis  dahin  seit  langer  Zeit  ge- 
wesen war.   Es  handelte  sich  um  eine  Frage,  an  der  damals,  gleichwie 
es  jetzt  der  Fall  ist,  unermeßliche  wirtschaftlich-finanzielle  Interessen 
hingen,  die  Frage  der  Handelspolitik;  die  Bewegung  setzte  sich  zum 
Ziele,  die  öffentliche  Meinung  zu  gewinnen,  um  mit  ihrer  Hilfe  die 
Schutzzölle,  insbesondere  die  Komzölle,  abzuschaffen,  und  dies  gelang! 
Dies  Gelingen  war  um  so  schwerer,  da  es  galt,  das  ganze  poHtische 
Schwergewicht  der  regierenden  Familien  Englands  zu  überwinden, 
die  damals  (1839 — 4^)  noch  unumschränkter  als  heute  das  britische 
Staatswesen    und    die     öffentliche  Meinung    des    Landes    in    den 
Zügeln  hielten.    Die  gegen  sie,  imd  also  gegen  die  Klasse  der  Groß- 
grundbesitzer, gerichtete  Bewegung  hatte  2  Führer,  die  nichts  von 
dem  ererbten  Einfluß,  dem  Prestige,  besaßen,  wodurch  diese  Aristo- 
kratie  1V2  Jahrhunderte  lang   ihrem  Lande  wie  dem  Auslande  zu 
suggerieren  wußte,  daß  England  das  Land  der  politischen  »Freiheit« 
sei;  es  war  eben  das  Land  ihrer  Freiheit  und  Macht.    Von  jenen 
Führern,  die  daran  zu  rütteln  wagten,  stammte  der  eine,  Richard 
CoBDEN,  aus  einer  bescheidenen  kinderreichen  Landwirtsfamilie,  der 
andere,  John  Bricht,  gehörte  der  stillen  Gemeinde  der  »Freunde« 
(Quäker)   an;   beide   waren   Kaufleute,   Fabrikanten,   Vertreter   der 
emporkommenden  Mittelklasse,  die  bis  1832  zum  großen  Teile  überhaupt 

TÖBBlet ,  Kritik.  jg 


274  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

keine  politischen  Rechte  im  Lande  der  Freiheit  besessen  hatte. 
Der  Erfolg  ihres  Sturmlaufs  gegen  eine  Hochburg  der  Aristokratie 
ist  aus  unserem  Gesichtspunkt  besonders  dadurch  merkwürdig,  daß 
er  eine  vollständige  Ablenkung  des  Stromes  der  öffentlichen  Meinung 
bewirkte,  die  dann  ein  volles  Menschenalter  hindurch  der  Lehre  vom 
allein  reich  und  glücklich  machenden  Freihandel  treugebHeben  ist, 
um  dann  aber  schwerfällig  und  langsam  in  ihr  altes  Bette  zurück- 
zukehren. Jene  Freihandelslehre,  so  nüchtern  wirtschaftlich  sie  ist, 
so  materiaUstisch  und  nationalegoistisch  sie  von  ihren  Kri- 
tikern verstanden  zu  werden  pflegt,  hatte  und  hat  bei  den  ge- 
nannten Führern  und  unter  ihren  bewußtesten  Anhängern  einen 
religiös-humanitären  Anstrich,  und  wenn  man  sich  mit  deren  Per- 
sönlichkeiten bekannt  macht,  so  findet  man  keinen  Grund,  an  der 
Ehrlichkeit  und  Aufrichtigkeit  zu  zweifeln,  womit  sie  geltend 
machten,  der  Freihandel  werde  sich  als  die  hohe  Straße  bewähren, 
die  zu  einem  dauernden  Friedenszustande  in  Europa,  und  über  die 
Erde  hin,  führe.  Auf  die  mannigfachen  Mittel,  wodurch  diese  Männer 
die  öffentliche  Meinung  für  ihren  Zweck  planmäßig  und  wirksam 
bearbeitet  haben,  werden  wir  in  anderem  Zusammenhange  zurück- 
kommen. 

In  Wahrheit  will  die  öffentliche  Meinung  immer  eine  unparteiische, 
nicht  durch  Interessen  bestimmte  Meinung  sein,  sie  behauptet  das, 
wofür  sie  eintritt,  als  das  Richtige,  das  durch  Vernunft  Gebotene, 
durch  Wissenschaft  Empfohlene,  auf  die  besten  Autoritäten  Gestützte 
oder:  im  Sinne  des  allgemeinen  Wohles  Notwendige,  eine  bessere 
Zukunft  Sichernde.  Dadurch  rechtfertigt  sie  vor  sich  und  der  Welt  ihre 
Wandlungen,  ihren  oft  so  plötzlichen  Umschwung,  der  an  den 
Wechsel  der  Mode  in  bezug  auf  Kleidung,  Möbel  u.  dgl.  erinnert.  Gleich- 
wie dieser  Wechsel  sich  als  ein  veränderter  Geschmack  einführt  und,  so 
lange  als  die  Mode  dauert,  der  jedesmaHge  Geschmack  der  gute  Ge- 
schmack sein  will,  ja  geradezu  ein  ästhetisches  Gewand  anzieht,  so  will 
das,  was  in  der  Politik  »en  vogue«  ist,  auch  für  wahr  und  richtig  gelten, 
ohne  daß  die  öffentliche  Meinung  über  die  wirklichen  Ursachen  ihrer 
Veränderungen  zum  Bewußtsein  kommt.  Wenn  diese  in  dem  bezeich- 
neten englischen  Falle  Erfolg  einer  starken  Agitation  war,  so  wirkte 
doch  unterhalb  und  mit  dieser  Agitation  der  Umstand,  daß  die  Groß- 
industrie, besonders  die  Baumwollspinnerei  und  Weberei,  in  dieser 
Zeit  zunehmende  Bedeutung  gewann,  die  sich  allmählich  dem  all- 
gemeinen Bewußtsein  mitteilte  und  ein  wohlfeileres  Brot  als  im  Interesse 
des  Ausfuhrhandels  gelegen  erscheinen  ließ ;  besonders,  wenn  es  gelänge, 
das  Freihandels-Dogma  auch  in  anderen  Ländern  siegreich  zu  machen, 
d.  i.  deren  Widerstand  gegen  die  britische  Ware  zu  brechen.    Aber  es 


Al^LGEMEINE   INHAI^TE   USW.   —  DaS   POLITISCHE   UND   RECHTUCHE   GEBIET.      275 

kamen  äußere  Umstände  und  Ereignisse  hinzu :  die  seit  langem  in  der 
Arbeiterklasse  gärende,  im  Chartismus  sich  kundgebende  Stimmimg  und 
die  furchtbare  Hungersnot  als  Folge  von  Kartoffelkrankheit  in  Irland, 
dazu  die  schlechten  Weizenernten  auch  in  Großbritannien  1845  und 
1846  und  die  Furcht  vor  unmittelbarer  Hungersnot;  wie  begründet 
sie  war,  lehrt  die  Tatsache,  daß  1848  weniger  als  5  Millionen  Zentner 
Weizen  und  Weizenmehl  eingeführt  wurden,  1845  aber  fast  18  MiUionen 
und  überdies  15  Millionen  Zentner  Mais  für  Irland.  Die  harte  Not  und 
Notwendigkeit  wirkt  eben  auch  auf  die  öffentliche  Meinung  in  ent- 
scheidender Weise.  In  den  modernen  Volkswirtschaften  und  Staaten 
steht  sie  immer  abwechselnd  unter  dem  Einfluß  des  ökonomischen 
Aufschwunges  und  der  Handelskrise.  So  wirkte  im  Deutschen  Reiche 
die  schwere  Krisis  1875  und  folgender  Jahre  im  umgekehrten  Sinne: 
als  Bekehrung  vom  Freihandel  zum  Schutzzoll.  Und  auch  hier  war 
es  die  rasch  emporgekommene  Großindustrie,  besonders  die  Eisen- 
industrie, die  ihren  Untergang  befürchtete,  woraus  die  neue  Strömung 
hervorging,  die  sich  selber  noch  1875  als  »gegen  den  Strom«  (Flug- 
schrift VON  Kardorffs)  gerichtet  erkannt  hatte.  Seitdem  ist  eine 
Wandlung  der  öffentlichen  Meinung  nur  zugunsten  von  Handels- 
verträgen eingetreten,  wiederum  unter  dem  Einfluß  einer  Mißernte 
und  einer  beginnenden  Handelskrise  (1891/92),  die  Handelsverträge 
selber  sind  aber  mehr  und  mehr  protektionistisch  geworden,  und  in 
der  Schutzzollpohtik  ist  der  Agrarschutz  in  den  Vordergrund  getreten, 
dessen  Wirkungen  die  öffentliche  Meinung  in  den  Jahren  des  Welt- 
krieges als  »Rettung«  begrüßen  zu  dürfen  meinte;  der  Ausgang  des 
Krieges  wird  auch  in  diesem  Bezüge  zum  Umlernen  zwingen.  Ohne- 
hin treffen  sich  grundsätzliche  Freihändler,  wie  Brentano,  und  Ver- 
teidiger der  Schutzzollpolitik,  wie  H.  Dei^brück,  in  der  Ansicht,  daß 
wir  —  nach  dem  Kriege  —  „einer  neuen  Freihandelsperiode  entgegen- 
gehen", die  sogar  „ganz  von  selber  kommen  werde",  meinte  Dei^brüCK 
im  August  1918.  „Könnte  man  die  öffentliche  Meinung  schon  heute 
von  der  Richtigkeit  dieses  Gedankenganges  überzeugen  und  den  all- 
gemeinen Freihandel  als  Friedensprogramm  proklamieren,  so  würden 
wir  uns  damit  in  der  ganzen  Welt  eine  mächtige  Bundesgenossen- 
schaft gewinnen,  die  dem  Frieden  sehr  zustatten  kommen  würde ^)." 
—  Daß  die  öffentliche  Meinung,  wie  immer  verursacht,  oft  als 
eine  Art  von  Modewcchsel  auftritt,  lehren  am  besten  Beispiele 
aus  dem  typischen  Modelande,  Frankreich.  So  ist  seit  1871  der 
Revanche-Gedanke  stärker  und  schwächer  an  der  Mode  gewesen, 
starker  in  Verbindung  mit   monarchischen   oder   cäsaristischen  (die 


»)  Preuß.  Jahrb.,  Sept.  1918.  S.  397. 

i8* 


276  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Boulange)  Ideen,  schwächer  mit  dem  Erstarken  der  Republik,  stärker 
mit  der  Schwärmerei  für  die  Armee  und  dem  Antisemitismus  (der 
Fall  Dreyfus),  schwächer  mit  dem  Zusammenbruch  des  Betrug- 
feldzuges und  der  wachsenden  Furcht  vor  dem  Kriege;  stärker  mit 
dem  entschiedenen  Auftreten  des  Deutschen  Reiches  im  Wettbewerb 
um  Weltmacht,  schwächer  mit  dem  Erstarken  des  alten  Rivalen, 
Englands,  in  entscheidender  Stärke  aber  endhch,  als  England  sich 
des  nicht  mehr  gefürchteten  Rivalen  gnädig  annahm  und  sogar  die  — 
wenn  auch  latent  bleibende  —  Bundesgenossenschaft  des  Zaren  sich 
gefallen  ließ,  ja  umwarb,  um  das  Deutsche  Reich  bei  nächster  Gelegen- 
heit zu  erdrosseln.  Übrigens  ist  in  Frankreich  die  öffentliche  Meinung 
des  Tages,  bestimmt  durch  Skandale  und  Skandalprozesse,  stärker  als 
irgendwo,  und  verdichtet  sich  leichter  so,  daß  sie  in  eine  fließende 
Bewegung  gerät;  um  freilich  ebenso  rasch  wie  der  neueste  »cri  de  Paris« 
wieder  zu  verdunsten. 

6.  (II  c:  In  der  luftartigen  Öffentlichen  Meinung.)  Die  öffent- 
liche Meinung  des  Tages  in  politischen  Angelegenheiten  ist  die  am 
meisten  auffallende,  ja  sich  aufdrängende  Erscheinung  der  öffent- 
lichen Meinung  überhaupt;  sie  wird  daher  sehr  oft  für  die  öffent- 
liche Meinung  schlechthin  gehalten  imd  als  solche  angesprochen. 
Freilich  findet  dabei  regelmäßig  die  Vermischung  und  Verwechslimg 
der  öffentlichen  Meinung,  die  gleichsam  als  einheitliche  Gesamt- 
person gedacht  wird,  mit  der  öffentlichen  Meinung  als  Gesamtheit 
der  Äußerungen  verschiedener  Meinungen  statt.  An  diese  letztere 
wird  zunächst  und  vorzugsweise  gedacht,  wenn  »die  Presse«  als 
Organ  oder  als  Instrument  der  öffentlichen  Meinung  dargestellt  wird ; 
man  betrachtet  und  würdigt  dann  die  Aufregung  der  Gemüter  als 
solche,  auch  wenn  sie  in  einem  wüsten  Durcheinander  des  Geschreies 
sich  kundgibt. 

Ohne  Zweifel  ist  die  Tagespresse  das  bedeutendste  i^Ausdrucks- 
mittel«  der  öffentlichen  Meinung  auch  als  einheitlichen  sozialen 
Willens.  Nur  in  diesem  Sinne  werde  sie  hier  betrachtet.  Die  Vor- 
aussetztmg  ist,  daß  die  öffentliche  Meinung  vorher  und  unabhängig 
von  der  Tagespresse  feststeht,  daß  sie  durch  das  Bekanntwerden 
einer  Tatsache,  eines  Ereignisses  mit  naturgesetzlicher  Notwendig- 
keit sich  bildet  und  dann,  wie  durch  viele  andere  Mittel,  so  auch 
durch  die  Tageszeitungen  ganz  eigentlich  »zutage  tritt«.  In  diesem 
Falle  werden  die  Zeitungen  einmütig  sein,  oder  sie  sind  wenig- 
stens »auf  denselben  Ton  gestimmt«;  Parteiansichten,  die  sonst 
von  ihnen  verfochten  werden,  treten  zurück,  sie  unterwerfen  sich 
und  dienen  der  öffentlichen  Meinung.  Diese  hat  in  solchen  Fällen 
etwas  von  einem  Sturm,  ja  zuweilen  von  einem  Orkan  an  sich,  der  in 


Al^I^GEMEINE   INILAJ^TE  USW.   —  DAS  POWTISCHE  UND  RECHTWCHE  GEBIET.      277 

einer  bestimmten  Richtung  alles  vor  sich  herjagt,  alle  Widerstände 
bricht,  und  durch  seine  Druckwirkung  auf  die  Gehirne  der  Menschen 
ihr  Reden  imd  Schreiben,  also  auch  die  Ausdrücke,  die  es  in  der  »ge- 
druckten Kolumne«  findet,  eindeutig  bestimmt.  Die  öffentliche 
Meinung  dieses  Sinnes  ist  auch  in  jeder  großen  und  allgemeinen 
Volkserregung  enthalten,  wie  sie  etwa  der  Ausbruch  oder  der  Aus- 
gang eines  Krieges  hervorruft.  Aber  hier  überwiegt  die  leidenschaft- 
liche Empfindung,  die  auch  an  der  öffentlichen  Meinung  immer  ihren 
starken  Anteil  hat;  aber  während  jene  in  unklarer  Aufwallung,  im 
Brausen  und  Zischen  ihr  Genüge  hat,  so  strebt  wenigstens  die 
öffenthche  Meinung  immer  nach  klarem  und  gemessenem  Urteil. 
Am  ehesten  ist  sie  in  dieser  Beziehung  »mit  sich  einig«,  wenn  es 
sich  imi  die  Beurteilung  von  Ereignissen  imd  Personen  handelt, 
die  eine  bestimmte  moralische  Erscheinung  darbieten,  sei  es,  daß 
diese  ein  allgemeines  Gefallen  oder  ein  allgemeines  Mißfallen  auf  sich 
ziehe.  Daß  »das  Moralische  sich  immer  von  selbst  versteht«,  wird 
bei  solchen  Gelegenheiten  offenbar.  PoHtisch  macht  hier  die  öffent- 
liche Meinung  sich  geltend  insofern,  als  es  um  politische  Ereignisse 
oder  auch  nur  um  pohtische  Personen  sich  handelt;  denn  noch  in 
anderer  Weise  als  sonst  allgemein  bekannte  und  berühmte  Menschen^ 
ziehen  diese  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  sich;  das  öffent- 
liche Wohl  ist  mit  ihrer  Handlungsweise  verknüpft.  Daher  machen 
gewisse  Rechtsstreitigkeiten,  die  ein  besonderes  lyicht  auf  ihr  Privat- 
leben werfen,  z.  B.  Eheirrungen  und  Scheidungsprozesse,  nicht  selten 
solche  Personen  »unmöglich«  in  der  öffentlichen  Meinvmg,  die  sie 
verurteilt.  In  England  trägt  die  Öffentlichkeit  solcher  Prozesse 
wesenthch  dazu  bei.  So  erging  es  dem  Politiker  Dii,ke  1886  und 
dem  Vorkämpfer  Irlands  ParneIvI.  1890.  Aber  das  eigentliche  poli-^ 
tische  Urteil  der  öffentlichen  Meinung  tritt  viel  deutiicher  zutage, 
wo  es  sich  um  politische  Verfehlungen  handelt,  die  als  solche  zu- 
nächst mehr  von  der  intellektuellen  als  von  der  moralischen  Seite 
kritisiert  werden.  In  dieser  Hinsicht  sind  die  Reden  des  deutschen 
Kaisers  WiuiELM  des  Zweiten,  im  eigenen  I,ande  oft  heftig  erörtert 
und  scharf  gemißbilligt  worden.  So  Heß  sich  —  und  das  war  wohl  der 
Gipfelpunkt  solcher  Kritik  —  eine  imgewöhnliche  Einmütigkeit  der 
öffentlichen  Meinimg  feststellen,  als  am  28.  Oktober  1908  eine  eng- 
lische Zeitung  über  eine  Unterredimg  mit  dem  Kaiser  berichtete, 
die  vor  kurzem  stattgefimden  habe  und  vollkommen  beglaubigt  sei. 
Jeder  politisch  Denkende,  der  diese  Mitteilungen  las,  war  entsetzt 
über  den  Mangel  an  politischem  Verstand  und  Takt,  den  die  Äuße- 
nmgen  des  so  hoch  gestellten  Mannes  verrieten.  Nur  wer  die  Ein- 
drücke vmmittelbar  erlebt  hat,  konnte  damals  der  öffentlichen  Meinung 


278  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

gleichsam  ins  Antlitz  schauen ;  da  gab  es  in  Wahrheit  keine  Parteien 
mehr,  sondern  nur  ein  allgemeines  Schütteln  des  Kopfes  sowohl  über 
den  Inhalt  der  Aussprüche  als  über  die  Tatsache,  daß  ihre  Veröffent- 
lichung zugelassen  worden  sei.  Der  Widerhall,  den  die  umlaufenden 
Urteile  in  der  Tagespresse  fanden,  war  verhältnismäßig  schwach  — 
natürHch,  weil  die  Person  des  Monarchen  strafrechtUch  vor  der 
öff entheben  Kritik  geschützt  ist.  Doch  nannte  sogar  eine  streng 
konservativ-monarchische  Pastorenzeitung  die  Veröffentlichung  einen 
Schlag  gegen  die  Vertrauenswürdigkeit  der  deutschen  PoHtik.  Stärker 
und  deutlicher  trat  die  allgemeine  Unzufriedenheit  in  der  Verhand- 
lung des  Reichstags  am  9.  November  zutage.  Von  allen  Parteien 
lagen  Anfragen  vor,  die  Auskunft  und  Verantwortung  verlangten. 
Von  keiner  Partei  wurde  der  grobe  Mißgriff  des  Kaisers  in  Schutz  ge- 
nommen. Der  konservative  Redner  nannte  es  »erfreuUch«,  daß  das 
deutsche  Volk  in  schweren  AugenbUcken  nach  einheitlicher  Ver- 
ständigung dränge.  Ein  Redner  der  damaligen  (Hberalen)  Volkspartei 
wies  darauf  hin,  daß  auch  aus  Bundesratskreisen  niemand  die  Hal- 
tung des  Monarchen  als  richtig  bezeichnet  habe.  —  Wenn  sich  bei 
dieser  Gelegenheit  die  öffentliche  Meinung  des  Tages  in  ihrer  Stärke 
zeigte,  so  offenbarte  sie  doch  zugleich  ihre  Schwäche.  Flüchtig  und 
windig  wie  sie  ist,  war  sie  bald  wiederum  in  Nichts  aufgelöst;  ob- 
schon  sie  anfangs  sich  verdichten  zu  wollen  schien  zu  einer  ein- 
heUigen  Stimmung  und  Kundgebung  gegen  das  persönliche  Regiment 
und  die  eitlen  Wahnvorstellungen  eines  sonst  redUchen,  aber  seiner 
Aufgabe,  wie  er  sie  verstand,  durchaus  nicht  gewachsenen  Mannes. 
Der  Reichstag  hätte  damals  beflissen  sein  sollen,  diese  Verdichtung 
zu  befördern;  er  hätte  dann  wenigstens  eine  flüssige  öffentliche 
Meintmg  hinter  sich  gehabt,  wenn  er  auf  verfassungsmäßige  Ein- 
schränkung der  Rechte  des  Kaisers  gedrungen  hätte.  Daß  aber  der 
Reichstag  nicht  handelte,  hatte  wiederum  eine  seiner  Ursachen  darin, 
daß  die  öffentliche  Meinung,  wie  sie  am  reinsten  wohl  durch  die 
nationaUiberale  Partei  dargestellt  wurde,  zu  konservativ  war,  zu 
große  Furcht  vor  »demokratischen«  Neuerungen  hatte,  die  doch 
das  Lebensinteresse  der  Nation  gerade  angesichts  der  PersönHchkeit 
des  Monarchen,  —  man  mochte  sonst  wie  immer  über  ihren  Wert 
denken,  —  gebieterisch  forderte.  Es  kam  hinzu,  daß  die  öffentliche 
Meinung,  erfolgreich  bearbeitet  durch  einen  Flotten  verein,  der  sich 
in  mehr  als  3600  Ortsausschüssen  seit  1898  über  das  ganze  Reich 
ausgebreitet  hatte,  die  Vermehrung  der  deutschen  Hochseeflotte 
stark  begünstigte  und  in  der  Person  des  Kaisers  den  Herold 
dieser  Flotten-  und  Weltpolitik  erbUckte  und,  ungeachtet  aller 
Bedenken   gegen   die   Art   seines   Auftretens,    feierte.    —   In  jener 


Al,I,GEMEINE   INHAI^TE   USW.   —   DAS   GEISTIGE   UND   SITTLICHE   GEBIET   USW.      279 

Reichst agssitziing  sagte  ein  Abgeordneter :  tiefgehende  Erschütterung, 
Bestürzung  und  Zorn  erfülle  das  ganze  deutsche  Volk.  Dies  war, 
wie  bei  solchen  Gelegenheiten  üblich,  stark  übertrieben.  Die 
große  Menge  des  Volkes,  wie  sie  in  kleinen  Städten  und  Dörfern 
ihrer  Arbeit,  ihren  Geschäften  nachgeht,  wird  von  solchen  Begeben- 
heiten kaum  berührt.  Man  muß  an  solchen  Tagen  in  Eisenbahnwagen 
dritter  oder  gar  vierter  Klasse  reisen,  um  sich  zu  überzeugen,  daß  die 
Wogen  der  Erregung  nicht  sehr  weit  ins  Binnenland  spülen.  Auch 
ist  von  dieser  Erschütterung  und  Bestürzung  das  politische  Urteil 
wohl  zu  unterscheiden,  nach  welchem  die  öffentliche  Meinung  wenig- 
stens strebt  als  nach  ihrem  eigenen  charakteristischen  Merkmal,  so- 
fern sie  darauf  Anspruch  macht,  die  Politik  mitzubestimmen,  ja  selber 
zu  »regieren«.  Mit  diesem  Anspruch,  und  in  nicht  geringem  Um- 
fange mit  seiner  Erfüllung,  ist  nun  die  öffentliche  Meinung  in  jüngster 
Zeit  immer  offenbarer  aufgetreten ;  wir  finden  daher  Grund,  der  öffent- 
lichen Meinung  als  politischer  Macht  einen  besonderen  Abschnitt  zu 
widmen. 

Dritter  Abschnitt.    Das  geistige  und  sittliche  Gebiet. 

7.  (III  a:  In  der  festen  öffentlichen  Meinung.)  Im  geistigen  und 
sittlichen  Gebiete  ist  der  Grundzug  der  öffentlichen  Meinung,  der 
sich  in  ihrer  festen  Gestalt  am  stärksten  ausprägt,  die  Vernünftig- 
keit. Das  Streben  danach  ist,  wenn  auch  in  einer  rhythmischen 
Bewegung,  während  der  verflossenen  4 — 500  Jahre  neuzeitUcher  Ent- 
wicklung immer  stärker  und  immer  erfolgreicher  geworden.  Es  ge- 
fällt sich  selbst  als  Streben  nach  dem  Lichte  der  Erkenntnis  und 
der  Freiheit.  In  diesem  Sinne  stellt  sich  die  Neuzeit  als  Zeitalter 
der  »Aufklärung«  dem  »finsteren  Mittelalter«  (den  »dark  ages«)  be- 
wußt entgegen.  Das  allgemeine  Merkmal  dieser  Finsternis,  von  der 
Seite  der  Vorstellung  und  Meinung,  ist  der  Aberglaube.  Ihn  zu  be- 
kämpfen ist  die  Aufklärung,  der  Rationalismus,  unablässig  befHssen. 
Ausgeprägtes  Merkmal  des  Aberglaubens  ist  die  Meinung,  daß  es  in 
der  wirklichen  und  wahrnehmbaren  Welt  »Geister«  gebe  —  der 
Gespensterglaube,  ein  uralter,  ja  in  der  naturwüchsigen  Gestalt 
menschlicher  Vorstellungen  ursprüngUcher  Bestandteil  des  Volks- 
bewußtseins, der  auch  heute  noch  in  der  großen  Mehrheit  des  Menschen- 
tums fortdauert  und  das  Grundelement  der  positiven  Rehgionen  als 
sozialer  Willensmächte  bildet.  Innerhalb  des  Christentums  ist  er  am 
lebendigsten  gebUeben  in  der  orthodoxen  (griechisch-katholischen) 
Kirche.  Aber  auch  in  der  römisch-katholischen  Kirche  genießt  er 
stärkeren  Schutzes  und  besserer  Pflege  als  in  den  protestantischen 
Kirchen,  und  innerhalb  dieser  mehr  in  den  kirchlich  streng  als  in  den 


28o  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

freier  gesinnten  Kreisen;  auch  diesen  aber  ist  er  innerlich  nicht  so 
fremd  geworden,  wie  der  kleinen  Minderheit  derer,  die  streng  wissen- 
schaftlich zu  denken  gewohnt  sind.  Und  doch  tauchen  auch  in  diesen 
immer  von  neuem  die  Zweifel  auf,  ob  nicht  doch  »etwas  daran  sei«, 
ob  nicht  ein  Hineinragen  der  »Geisterwelt«  in  die  nüchterne  Wirklich- 
keit des  Tages  unter  Umständen  wirklich  stattfinde:  —  Zweifel,  die 
als  solche  zum  Wesen  des  wissenschaftlichen  Denkens  gehören, 
insofern  als  es  jeder  echten  Erfahrung  sich  offen  halten  will  und  muß. 
Seine  kräftigste  Stütze  behält  der  Gespensterglaube  an  dem  Verlangen 
der  menschUchen  Seele  nach  individueller  Fortdauer  und  dem  ent- 
sprechenden Wunsche,  daß  ein  besonderes  Leben  der  abgeschiedenen 
geHebten  Personen  nicht  nur  als  ungewisser  Glaube,  sondern  als 
gewisse  Tatsache  möge  festgestellt  werden.  Als  Glaube,  wenn  auch 
in  verschiedenen  Formen,  ein  Bestandteil  des  reHgiösen  Glaubens 
der  Völker,  besonders  auch  des  christlichen  Glaubens.  Als  angebHche 
Erfahrung  findet  er  dort  am  meisten  Boden,  wo  der  religiöse  Glaube 
mit  der  Aufklärung  kämpft  und  wo  diese  ungenügend  ernährt  wird, 
wie  es  in  Großbritannien,  und  in  seinen  ehemaligen  sowohl  als  jetzigen 
Kolonien  (Amerika,  Austrahen)  bekanntHch  der  Fall  ist.  Ent- 
schiedener als  in  diesen  I^ändern  lehnt  in  Deutschland,  in  Holland, 
Skandinavien  vmd  Frankreich  die  öffentHche  Meinung  bisher  noch 
den  »Spiritismus«  ab. 

Wenn  nun  der  allgemeine  Geisterglaube  nicht  unmittelbar  der 
Religion  angehört,  so  gilt  dies  hingegen  innerhalb  der  christlichen 
Weltanschauung  durchaus  vom  Glauben  an  das  Dasein  des  Teufels. 
Im  17.  Jahrhundert  noch  durchaus  herrschend,  sogar  innerhalb  der 
protestantischen  Kirchen  mehr  als  in  der  römisch-katholischen  ge- 
pflegt, ist  er  vor  dem  Lichte  des  philosophischen  18.  Jahrhunderts 
erblaßt  und  im  19.  fast  verschwunden.  Er  gehört  zwar  noch  zur 
geltenden  Dogmatik  der  alten  Kirche,  ein  vereinzelter  Professor  der 
katholischen  Theologie  weiß  wohl  gar  den  Ort  der  Hölle  als  des  Wohn- 
sitzes, worin  der  Satan  —  mit  seinen  vielen  Unterteufeln,  seiner  »Groß- 
mutter« rmd  den  ihm  anheimgefallenen  Seelen  —  hause,  zu  be- 
schreiben; auch  die  protestantische  Orthodoxie  hat  diesen  wichtigen 
Bestandteil  ihres  vSystems  niemals  schlechthin  aufgegeben,  und  ein 
achtungswerter  deutscher  Gelehrter  des  19.  Jahrhunderts  will  gar  den 
»Leibhaftigen«  zähnefletschend  mit  leiblichen  Augen  gesehen  haben. 
Aber  lebendig  ist  der  Teufelsglaube  nicht  mehr.  Er  wird  nicht  mehr 
ernst  genommen,  man  lächelt  über  ihn;  ob  mit  Recht  oder  mit  Un- 
recht, bleibe  hier  dahingestellt,  nur  an  Feststellung  der  Tatsache  ist 
uns  gelegen,  daß  die  öffentliche  Meinung  ihn  nicht  kennt  und  sein 
Dasein  leugnet. 


AiXGEMEINE   lNHAI,TE   USW.   —  DAS   GEISTIGE   UND   SITTUCHE   GEBIET   USW.      28 1 

Mit  dem  Teufelsglauben  ist  der  Glaube  an  bösen  Zauber,  daher 
an  die  Hexerei,  innig  verwandt.  Frauen  sind  zu  vielen  Tausenden 
als  Hexen,  die  mit  dem  Teufel  buhlten,  angeklagt  und  verurteilt 
worden;  hochgebildete  Männer,  gelehrte  Juristen  in  deutschen  Landen 
waren  als  ihre  Richter  noch  vor  200  Jahren  fest  überzeugt,  daß  diese 
armen,  zumeist  geisteskranken  Weiber  in  der  Walpurgisnacht  auf  dem 
Besen  zum  Blocksberg  ritten;  ähnHche  Meinungen  herrschten  über 
sie  in  anderen  I^ändern.  Die  Ausbildung  des  Hexenprozesses  war  zu 
ihrer  Zeit  eine  Errungenschaft  juridischer  Weisheit,  die  der  Theologie 
zur  Hilfe  kam;  in  den  protestantischen,  neueren  Jahrhunderten  und 
in  protestantischen  Ländern,  wurde  Sorgfalt  und  Scharfsinn  besonders 
darauf  angewandt.  Daß  die  Tatsachen,  insbesondere  die  Unzucht 
der  Dämonen  (Succubi  und  Incuhi)  mit  Menschen,  fest  geglaubt 
wurden,  ist  ebenso  gewiß,  wie  es  den  heutigen  Menschen  durchweg 
imverständhch,  ja  unglaubhaft  geworden  ist.  Die  gesamte  Zauberei 
ist  ein  Stück  der  echten,  uralten  VolksreHgionen,  die  das  Christentum 
bekämpfte,  nicht  indem  es  ihre  Wirklichkeit  anfocht,  sondern  indem 
es  sie  zum  Verbrechen  machte,  als  Abfall  vom  wahren  Gott,  Anbetung 
heidnischer  Götzen  tmd  böser  Dämonen,  oder  ihres  Hauptes,  des 
»Beelzebub  «. 

Die  Zauberei  selber,  der  nicht  nur  Frauen,  sondern  auch  männliche 
Hexenmeister  oblagen,  erschien  als  etwas  verhältnismäßig  Natürliches, 
so  lange  als  »Wunder«  überhaupt,  also  übernatürliche  Ereignisse, 
zwar  als  imgewöhnlich  und  selten,  aber  doch  als  durchaus  möglich 
und  wirklich  galten.  „Gewiß  gibt  es  in  der  Geschichte  der  letzten  3  Jahr- 
hunderte keine  Umwälzung,  welche  auffallender  und  an  einer  größeren 
Menge  bedeutsamer  Forschungen  reicher  wäre,  als  jene,  welche  in 
der  Schätzung  des  Wunderbaren  eingetreten  ist.  Gegenwärtig  nehmen 
fast  alle  Gebildeten  die  Erzählung  von  einem  in  ihren  Tagen  statt- 
gehabten Wunder  mit  einem  vollkommenen  und  sogar  spöttischen 
Unglauben  auf,  der  sie  aller  Prüfung  der  Gewißheit  überhebt.  Mögen 
sie  auch  ganz  und  gar  außerstande  sein,  eine  genügende  Erklärung 
der  stattgehabten  Erscheinungen  zu  geben,  so  fällt  es  deswegen 
ihnen  doch  nimmer  auch  nur  im  Traume  ein,  sie  einer  übernatürlichen 
Ursache  zuzuschreiben,  weil  eine  solche  Voraussetzung,  nach  ihrer 
Ansicht,  ganz  und  gar  außerhalb  des  Bereiches  einer  vernünftigen 
Erörterung  liegt.  Und  doch  gab  es  vor  wenigen  Jahrhunderten  keine 
Erklärungsweise,  der  sich  das  menschliche  Gemüt  bereitwilliger  bei 
jedem  auffallenden  Ereignisse  zugewandt  hätte.  Eine  Wunder- 
geschichte wurde  damals  allgemein  als  vollkommen  glaubhaft,  wahr- 
scheinlich und  gewöhnlich  aufgenommen.  Es  gab  kaum  ein  Dorf 
oder  eine  Kirche,  die  nicht  zu  irgendeiner  Zeit  der  Schauplatz  einer 


282  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Übernatürlichen  Kundgebung  gewesen  wäre.  Man  hielt  dafür,  daß 
die  Mächte  des  Lichtes  und  die  der  Finsternis  sichtbarlich  um  die 
Meisterschaft  kämpften.  Heilige  Wundertaten,  übernatürliche  Hei- 
lungen, überraschende  Urteilssprüche,  Gesichte,  Weissagungen  und 
Wunder  jeder  Art  bezeugten  die  Tätigkeit  des  einen,  während  Hexerei 
und  Magie  mit  all  ihren  begleitenden  Schrecken  die  augenscheinlichen 
Kundgebungen  der  anderen  waren." 

Indem  W.  H.  I^ecky,  der  das  i.  Kapitel  seiner  History  of  the  rise 
and  influence  of  the  spirit  of  Rationalism  in  Europa  mit  diesen  Sätzen 
eröffnet,  fernerhin  darstellt,  daß  die  Welt  das,  was  einst  so  allgemein 
und  so  fest  geglaubt  ward,  ganz  und  gar  aufgegeben  habe,  fährt  er 
fort:  wenn  eine  so  vollständige  Umwandlung  in  der  öffentlichen 
Meinung  Platz  greife,  so  könne  sie  nur  von  einer  oder  der  anderen 
von  2  Ursachen  sich  herschreiben.  Sie  könne  das  Ergebnis  einer 
Untersuchung  sein,  wodurch  die  Frage  so  erledigt  sei,  daß  es  als  feste 
Wahrheit  von  allen  Aufgeklärten  angenommen  werde,  auch  von 
denen,  die  gar  nicht  imstande  seien,  die  Begründung  nachzuprüfen. 
Oder  aber  sie  sei  durch  den  sogenannten  Zeitgeist  bewirkt,  also  die 
Folge  einer  allmählichen,  unmerklichen,  aber  tiefen  Umgestaltung  der 
vorwaltenden  Geistesrichtung  —  und  dies  treffe  offenbar  für  die  Ver- 
werfimg der  Hexerei  zu,  während  ein  Beispiel  der  ersten  Art  etwa 
das  Verstummen  des  Widerspruchs  gegen  das  kopernikanische  System 
oder  gegen  die  Lehre  vom  Kreislauf  des  Blutes  sei.  Wir  finden  hier 
in  scharfsinniger  Weise  unterschieden,  was  eine  so  starke  Veränderung 
und  Befestigung  der  allgemeinen  Denkweise  bewirken  kann.  Hinzu- 
zufügen ist,  daß  die  herrschende  Überzeugung  von  der  Richtigkeit 
einer  wissenschaftlichen  Ansicht  als  solche  noch  keine  öffentliche 
Meinung  begründet,  sondern  erst  dann,  wenn  entweder  die  Nicht- 
annahme dieser  Ansicht  moralisch  verurteÜt  wird  —  und  dies  ist 
offenbar  der  Fall  bei  allem,  was  sie  (die  öffentliche  Meinung)  als 
finsteren  Wahn,  als  rohen  Aberglauben  u.  dgl.  bezeichnet  —  oder 
aber  die  Ansicht  selber  als  moralisch  wertvoll,  als  eine  Quelle  der 
Verbesserung  imd  des  Fortschrittes  der  Menschheit  oder  der  Kultur 
empfohlen  wird.  Der  hier  gemeinten  Verdammnis  unterliegt  z.  B. 
der  neuerdings  (von  Herrn  Johannes  Schi^af)  gewagte  Versuch, 
die  Richtigkeit  der  heliozentrischen  Erklärung  des  Planetensystems 
durch  scheinbare  Beweisgründe  zu  erschüttern,  nicht;  und  ebenso- 
wenig gehört  die  Lehre  des  Kopernikus  oder  HarvEys  zu  den- 
jenigen Stücken  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis,  denen  »man« 
eine  besondere  moralische  Bedeutung  beizulegen  pflegt;  es  sei 
denn  insofern,  als  sie  die  allgemeine  Vermehrung  des  Wissens  be- 
zeichnen. 


Allgemeine  Inhalte  usw.  —  Das  geistige  und  sittliche  Gebiet  usw.    283 

Die  Verwandlung  der  Denkungsart,  auch  in  dem  so  eingeschränkten 
Sinne,  erstreckt  sich  noch  weiter.  In  den  bisher  erwähnten  Stücken 
ist  ein  schroffer  Gegensatz  zwischen  ReHgion  (in  ihrer  überlieferten 
Gestalt)  und  der  nunmehr  seit  etwa  2  Jahrhunderten  allmählich  fest- 
gewordenen öffentlichen  Meinung.  Was  die  Religion  zur  Pflicht 
maclit,  erklärt  die  öffentliche  Meinung  für  unsittlich  und  verab- 
scheuenswert, was  jener  als  schwere  Sünde  erscheint  —  z.  B.  einem 
verfolgten  Ketzer  Schutz  und  Obdach  gewähren  —  erscheint  der 
öffentlichen  Meinung  als  gute  Tat,  ja  als  allgemein  menschliche 
PfHcht.  In  anderen  Stücken  tritt  der  Gegensatz  dadurch  zutage, 
daß  gegen  Gesinnungen  imd  Gedanken,  welche  ReHgion  nicht  dulden 
kann  und  will,  öffentliche  Meinung  sich  zum  mindesten  gleichgültig 
verhält,  daß  sie  in  Glaubensfragen  Duldung  verlangt,  während 
Religion  unduldsam  ist.  So  war  noch  für  den  großen  Reformator 
Calvin  der  Zweifel  an  der  Gottheit  Christi  und  die  I^eugnung  der 
Trinität  ein  schweres  Verbrechen,  das  mit  dem  Feuertode  bestraft 
werden  mußte;  bekann tUch  hat  auch  der  sanfte  Melanchthon  dies 
gebilligt.  Man  vergleiche  damit,  wie  sich  selbst  in  Ländern  und 
Gegenden,  die  noch  stark  unter  geistlichem  Einflüsse  stehen,  die 
öffentliche  Meinung  heute,  und  schon  seit  100  Jahren,  dazu  verhält. 
Sogar  die  Leugntmg  des  Daseins  einer  Gottheit  überhaupt,  wenigstens 
eines  persönUchen  Gottes,  wird  sie  zwar  nicht  ausdrücklich  billigen  — 
die  öffentliche  Meinung  nimmt  wohl  dieses  Dasein  an,  ohne  ihm  aber 
eine  übernatürliche  Wirkung,  also  Eingriffe  in  die  Naturgesetze  zuzu- 
schreiben, man  darf  sagen,  daß  sie  heute  dem  »Deismus«  huldigt  —  aber 
sie  wird  schlimmsten  Falles  bedauernswerte  Irrtümer  darin  finden.  Eine 
gewisse  Einigkeit  besteht  hingegen  noch  zwischen  Religion  imd  öffent- 
licher Meinung  in  bezug  auf  Ablehnung  des  sog.  »Materialismus«. 
Der  Religion  ist  diese  Ablehnung  im  höchsten  Grade  ernst,  da  sie  ganz 
und  gar  auf  der  Annahme  immaterieller  und  doch  wirkHcher,  ja  unter 
Umständen  wahrnehmbarer  »Geister«  beruht.  Die  öffentliche  Meinung 
dagegen  pflegt  mit  dem  Worte  einen  unklaren  Begriff  (oder  mehrere) 
zu  verbinden.  Bald  denkt  sie  wesentlich  an  materielle  und  fleischliche 
Genüsse  und  deren  Minderwertigkeit  gegenüber  edleren  geistigen 
Genüssen  und  bringt  die  VorUebe  für  jene  mit  einer  rohen  Welt- 
anschauung in  Verbindung,  die  alles  leugnet,  was  nicht  greifbar  ist, 
und  wohl  gar  seeUsche  Vorgänge  als  schlechthin  unwirkhch  gering 
schätzt.  Bald  meint  sie  die  Gleichgültigkeit  gegen  »ideale«  Be- 
strebungen und  die  Ausschheßlichkeit  des  Interesses  für  Geld  und 
Gelderwerb,  welche  Verhaltungs weisen  wiederum  mit  einer  be- 
schränkten und  äußerlichen  Denkungsart  in  Zusammenhang  gebracht 
werden,  während  sie  tatsächlich  ebensogut  mit  einer  religiösen  und 


284  E)MfiRiscHE  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

theologischen  wie  mit  einer  wissenschaftlichen  Denkweise  sich  ver- 
trägt, wenngleich  sie,  aus  anderen  Ursachen,  parallel  mit  dieser  zuge- 
nommen und  sich  ausgebreitet  hat.  In  diesem  Sinne  klagt  auch  die 
öffentliche  Meinung  die  materialistischeRichtung  imserer  Zeit  heftig  an, 
während  die  Vertreter  der  Religion  den  Vertretern  jener  vorrücken,  daß 
eben  der  von  ihnen  so  gleichmütig  aufgenommene,  ja  begünstigte  »Ab- 
fall vom  Glauben  «  diesen  MateriaHsmus  notwendigerweise  hervorbringe 
und  verschulde.  Und  in  Zugeständnissen  an  diese  Vorwürfe  zeigt  sich, 
z.  T.  in  Deutschland,  mehr  in  den  kleineren  protestantischen  I^ändern, 
vollends  aber  in  England,  in  den  Vereinigten  Staaten  usw.  die  öffent- 
liche Meinung  wenigstens  soweit  noch  unter  dem  Einflüsse  der  Reh- 
gion,  daß  sie  den  »Atheismus«  mit  gleichem  Abscheu  betrachtet  und 
mit  einem  so  wirksamen  Banne  belegt,  daß  diejenigen,  die  im  Ernste 
nicht  verhehlen  können,  daß  sie  die  Vorstellungen  von  einem  Gotte 
für  ebenso  unbegründet  halten,  wie  die  überwundenen  Vorstellungen 
von  Göttern,  doch  aus  Scheu  vor  diesem  Banne  es  vorziehen,  den 
Atheismus  nicht  offen  zu  bekennen,  sondern  sich  unter  anderem  Namen 
(Agnostiker,  Konfessionslose,  Monisten)  dem  Publiko  vorzustellen. 

Der  feste  Grundsatz  der  Duldung  erhöht  sich  selber  als  Forderung 
der  »Gewissensfreiheit«,  vmd  findet  auch  in  dieser  Form  die  ent- 
schiedene Zustimmung  der  öffentlichen  Meinxmg.  Es  wird  darunter 
insbesondere  verstanden  das  Recht,  religiöse  Ansichten  und  Überzeu- 
gimgen  beliebiger  Art  nicht  nur  zu  hegen,  sondern  auch  kundzugeben, 
so  daß  sie  eigen  tHch  nur  einen  besonderen  Ausdruck  der  Rede-  und 
der  Preßfreiheit  darstellt.  Aber  die  Gewissensfreiheit  stellt  sich  insbe- 
sondere dem  Glaubenszwang  entgegen,  sie  nennt  sich  daher  auch, 
wie  in  der  berühmten  Anrede  des  Marquis  PosA  an  den  König  Phii^ipp, 
»Gedankenfreiheit«,  obschon  Gewissen  und  Gedanken  ihrem  Wesen 
nach  nicht  gezwungen  werden  können,  so  daß  in  Wahrheit  immer 
nur  jene  Freiheiten,  für  die  Religion  etwa  namentlich  die  Freiheit  des 
Kultus  als  besonderer  Form  der  Gottesverehrimg  in  Frage  kommt; 
diese  aber  ist  eigenthch  eine  poH tische  Angelegenheit.  Übrigens  aber  ist 
das  Verhältnis  der  öffentlichen  Meinimg  zur  Toleranz  in  zwiefacher  Hin- 
sicht merkwürdig.  Einmal  behält  in  manchen  Erscheinungsformen  die 
öffentliche  Meinung  immer  etwas  von  einer  herrschenden  Religion,  ist 
daher  tatsächlich  und  im  Widerspruch  zu  ihrem  Wesen  oft  auch  rehgiös 
intolerant,  indem  sie  eine  bestimmte  Form  der  Religion  oder  des  Kir chen- 
tums  begünstigt,  andere  mit  Geringschätzung  bedenkt.  So  ist  in  ausge- 
sprochener Weise  die  öffentliche  Meinung  in  England  beschaffen  ge- 
wesen, wo  sie,  ganz  offenbar  nicht  aus  religiösen  oder  theologischen 
Gründen,  nur  die  »Kirche  von  England«  als  respektabel  gelten  ließ, 
außerdem  etwa  der  römisch-katholischen  ihren  Rang  zuerkannte,  aber 


Allgemeine  Inhalte  usw.  —  Das  geistige  und  sittliche  Gebiet  usw.    285 

über  jede  Art  von  Dissent  die  Nase  rümpfte,  weil  er  mit  einem 
plebejischen  Genich  behaftet  war.  Dies  innere  Verhältnis  der 
öffentlichen  Meinung  zur  »etabherten»  Kirche  und  hingegen  zur 
»Kapelle«  besteht  auch  noch,  aber  es  ist,  infolge  zunehmender 
Gleichgültigkeit  gegen  Religion  überhaupt  einerseits,  zunehmenden 
Reichtums  vieler  Methodisten,  Independenten,  Quäker  usw.  anderer- 
seits, sehr  verdünnt  und  flüssig  geworden;  man  wird  es  kaum  noch 
als  einen  festen  Bestandteil  der  englischen  öffentlichen  Meinung 
schätzen  können.  —  Femer  aber  ist  die  öffentliche  Meinung  als 
sozialer  Wille  auch  eine  Kraft,  die  ihre  eigenen  Anhänger  bindet 
imd  verpflichtet;  den  Grundsatz  der  Duldung  wendet  sie  wohl  auf 
religiöse  Meinungsverschiedenheiten  an,  denen  sie  geringe  Bedeutung 
beimißt,  aber  keineswegs  auf  andere,  insbesondere  nicht  auf  politische, 
worin  sie  am  meisten  als  in  ihrem  eigenen  Gebiete  schaltet.  Vielmehr 
verlangt  die  öffentliche  Meinung  von  jedem,  der  auf  eine  führende 
Stellung  in  der  Gesellschaft  oder  im  Staat  Anspruch  macht,  Be- 
kenntnis zu  den  »richtigen«  (»korrekten«)  Meinungen  oder  wenig- 
stens Vermeiden  des  Widerspruchs  dagegen  und  ächtet  also  die 
Kundgebung  entgegenstehender,  ungehöriger  Ansichten.  Sie  kann  in 
dieser  Hinsicht  außerordentlich  starke  Wirkungen  ausüben,  nicht  nur 
unmittelbar,  indem  sie  selber  lobt  und  tadelt,  verherrlicht  oder  den 
Stab  bricht,  sondern  auch  mittelbar,  durch  Wechselwirkung  mit  ihren 
eigenen  Trägern,  insbesondere  solchen,  die  Gesetze  geben  und  deren 
Vollziehung  leiten,  mit  den  Machthabern  in  der  Gesellschaft  und  im 
Staate.  Wie  es  in  jedem  sozialen  Kreise  »eine«  öffentliche  Meinung 
gibt,  die  mehr  oder  minder  heischend  oder  verwehrend  auch  in  bezug 
auf  Meinungsäußerungen  sich  geltend  macht,  so  verlangt  »die« 
öffentliche  Meinung  von  allen  Hochgestellten,  daß  sie  jedenfalls  kein 
Ärgernis  geben,  mindestens  also  schweigen,  von  den  Höchstgestellten 
aber  geradezu,  wenigstens  bei  gewissen  Gelegenheiten,  den  Ausdruck 
derjenigen  Meinungen,  die  ihr  selber,  der  öffentlichen  Meinung,  als 
die  angemessenen  gelten, daher  in  einer  monarchischen  Regierung  königs- 
treuer, in  traditionell  repubUkanischen  solcher,  die  der  »Freiheit«  den 
Vorzug  geben,  womit  nicht  gesagt  wird,  daß  ein  Würdenträger  auch 
die  Freiheit  habe,  seine  Meinung  zugunsten  eines  persönhchen  Regi- 
ments kundzugeben  oder  gar  Propaganda  dafür  zu  machen.  In  dieser 
Betrachtung  ist  aber  die  der  öffentlichen  Meinung  des  Tages  (III  c) 
vorweggenommen.  Als  ein  f  ester  Bestandteüder  öffentlichen  Meinung 
in  geistiger  Hinsicht,  zumal  der  in  deutschen  Landen  herrschenden, 
darf  die  Hochschätzung  der  »Bildung«  bezeichnet  werden,  die  zugleich 
ein  wesentliches  Stück  in  dem  hier  vorgelegten  Begriff  der  öffent- 
lichen Meinung  darstellt.   Sogar  in  England  hat  sie  die  gesetzliche 


286  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Einführung  eines,  wenn  auch  mangelhaft  durchgesetzten,  Volksschul- 
wesens zu  bewirken  vermocht,  in  anderen  I^ändern  arbeitet  sie  noch 
daran.  Sie  betrachtet  die  Ausbreitung  des  Analphabetismus  als  eine 
Schande,  dessen  Mindestmaß  als  eine  Ehre  des  dadurch  charakteri- 
sierten lyandes.  Die  wissenschaftlichen  I^eistungen  des  deutschen 
Volkes  standen  in  der  öffentlichen  Meinung  aller  Länder  hoch,  bis  es 
im  Weltkriege  der  englischen  Propaganda  gelang,  die  deutsche  Nation 
als  eine  Nation  von  Barbaren,  als  Hunnen,  zu  brandmarken. 

Den  Unterschied  fester  und  flüssiger  öffentlicher  Meinung  kann 
man  deutlich  an  den  gangbaren  Urteilen  über  Hauptfragen  des  Rechts 
und  der  Sittlichkeit  beobachten.  Feste  öffentliche  Meinung  gibt  es 
vorzugsweise  in  bezug  auf  Strafprozeß,  Strafarten,  Strafvollzug.  Ein 
Hauptstück  des  alten  Strafprozesses,  wie  er  im  späteren  Mittelalter 
ausgebildet,  in  der  Neuzeit  überlebte,  war  das  strenge  Beweisverfahren 
mit  der  peinlichen  Frage,  der  sog.  Tortur.  Die  Einmütigkeit,  womit 
diese  verworfen  und  als  ein  Denkmal  finsterer  Zeiten  betrachtet 
wird,  ist  ein  fester  Bestandteil  der  öffentlichen  Meinung  in  allen 
Ländern  gegenwärtiger  Kultur.  Das  gleiche  kann  man  von  den 
qualifizierten  Todesstrafen  sagen;  wenn  sich  je  eine  Stimme  dafür 
erheben  sollte,  das  Vierteilen,  das  Flechten  aufs  Rad,  das  Schleifen 
bis  zur  Richtstätte  wieder  einzuführen,  so  würde  eine  solche  Stimme 
rasch  durch  allgemeine  Empörung,  durch  den  Unwillen  der  öffent- 
lichen Meinung,  erstickt  werden.  Flüssig  hingegen  ist  die  öffentHche 
Meinung  in  betreff  der  noch  übrigen  Reste  von  Leib-  und  Lebens- 
strafen. Die  Todesstrafe  wird  von  ihr  überwiegend  gebilligt,  die 
Prügelstrafe  überwiegend  gemißbilligt.  In  beiden  Fällen  ist  aber, 
wenigstens  in  Deutschland,  das  Gefüge  der  öffentlichen  Meinung 
ziemlich  locker,  die  öffentliche  Meinung  nähert  sich  dem  öffentlichen 
Zweifel,  sie  fühlt  sich  unsicher.  Das  gleiche  gilt  im  allgemeinen  von 
der  Art  des  Strafvollzuges.  Die  öffentliche  Meinung  ist  zunächst 
stolz  auf  die  moderne  Humanität  und  die  Verbesserung  der  Gefäng- 
nisse, sie  empfindet  von  Zeit  zu  Zeit  einen  heilsamen  Schauder,  wenn 
sie  an  die  scheußlichen  VerHeße  der  Vergangenheit,  wie  sie  etwa  in 
Rußland  noch  vorhanden  sind,  erinnert  wird.  Auf  der  anderen  Seite 
aber  ist  sie  auch  ziemlich  stark  gegen  den  »Humanitätsdusel«  ein- 
genommen, indem  sie  fürchtet,  daß  durch  zu  gute  Behandlung,  zu 
milde,  vielleicht  gar  willkommene  Strafen,  das  Verbrecher-  und  das 
Landstreichertum  ermutigt  werden,  oder  daß  die  Verbrecher  und 
Vagabunden  es  »besser«  haben  als  manche  ehrliche  Leute,  oder  end- 
lich weil  die  Genugtuung  ausbleibt,  die  dem  Schuldigen  die  ver- 
diente Strafe  angedeihen  lassen  will:  die  öffentliche  Meinung, 
daß  die  ewige   Weltordnung,   der  sie  einen  unbestimmten  Glauben 


Ai,i,GEMEiNE  Inhalte  usw.  —  Das  geistige  und  sittliche  Gebiet  usw.    287 

nicht  versagt,  irgendwie  zu  kurz  komme  und  unterstützt  werden 
müsse. 

8.  (III  b:  In  der  flüssigen  Öffentlichen  Meinung.)  Im  Zu- 
sammenhange damit  steht  es,  daß  die  öffentliche  Meinung  mit 
einiger  Festigkeit  auf  schärfste  Bestrafung  von  Roheitsverbrechen, 
besonders  sexuellen,  dringt;  der  Einwand,  daß  die  Urheber  solcher 
Missetaten  oft  geistig  mangelhafte,  kaum  zurechnungsfähige  Indi- 
viduen sind,  pflegt  abgelehnt  zu  werden;  das  Publikum  glaubt  mit 
den  meisten  juristischen  Richtern,  daß  da  entweder  Simulation  oder 
eine  weichliche,  mitleidige  Beurteilung  zugrunde  liege;  oder  es  ver- 
langt, daß  die  Unzurechnungsfähigen  erst  recht  dauernd  unschädlich 
gemacht  werden  sollen.  Andererseits  gibt  es,  wenigstens  in  Deutsch- 
land, eine  flüssige  öffentliche  Meinung  zugimsten  einer  schonenden 
und  vorwiegend  erzieherischen  Behandlung  jugendlicher  Ver- 
brecher :  die  Einführung  der  bedingten  Verurteilung  (oder  vorläufigen 
»Begnadigung«)  fand  ebenso,  wie  die  Gesetzgebung  für  Zwangs-  oder 
(später  sog.)  Fürsorge-Erziehung,  und  die  Versuche  der  Einführung 
von  »Jugendgerichten«  den  Beifall  der  öffentlichen  Meinung,  worin 
sich,  bei  diesen  wie  manchen  anderen  neueren  Gelegenheiten,  weib- 
liche Einflüsse  geltend  und  erkennbar  machten.  In  einer  Schrift  über 
die  Entwicklung  des  deutschen  Jugendgerichts  (von  Herbert  Rusche- 
WEYH,  Kieler  Inaugural-Diss.  1918)  werden  im  4.  Abschnitt  „die 
Reformforderungen  in  der  deutschen  Jugendgerichtsbewegung''  er- 
erörtert und,  nach  aUgemeinen  Bemerkungen,  die  Forderungen  der 
Frauen  an  die  Spitze  gestellt.  Bezeichnend  dafür,  daß  die  öffentliche 
Meinung,  nachdem  sie  zunächst  nur  durch  einzelne  Fälle  in  Er- 
regung gesetzt  wurde,  in  Fluß  kommt,  ist  die  Entstehung  einer  be- 
sonders sog.  »Bewegung«  für  oder  wider  eine  Sache,  besonders 
zugimsten  von  gesetzgeberischen  Neuerungen. 

Mit  dem  Privatrecht  und  seinen  Schäden  beschäftigt  sich  die 
öffentliche  Meinung  verhältnismäßig  wenig,  ob  sie  gleich  zu  seiner 
neueren  Gestaltimg  auf  entschiedene  Weise  mitgewirkt  hat.  Auf 
ihre  festen  Bestandteile  in  dieser  Hinsicht  wird  unser  IX.  Kapitel :  »Die 
öffentliche  Meinung  und  die  soziale  Frage«  zurückkommen.  Der  Teil 
des  Privatrechts,  dem  sie  am  ehesten  ihre  Aufmerksamkeit  widmet,  ist 
derjenige,  worin  Recht  und  Moral  am  unmittelbarsten  sich  berühren, 
nämlich  das  Familien  recht.  Aber  auch  hier  kann  höchstens  von 
einer  flüssigen  öffentlichen  Meinung  gesprochen  werden,  außer  insofern, 
als  sie  die  monogamische  Ehe  und  die  selbständige  Einzelfamilie  als 
wesentliche  und  notwendige  Einrichtungen  bejaht:  in  dieser  Hinsicht 
besitzt  sie  allerdings  eine  Festigkeit,  die  den  mannigfachen  Anfech- 
^'iflgcii  gegenüber,  die  in  der  Literatur  und  in  losen  Reden  zugunsten  der 


288  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Geschlechtsfreiheit  und  allgemeiner  Staatserziehung  seit  geraumer  Zeit 
auftauchen,  fast  imerschüttert  geblieben  ist.  Hingegen  kann  man  sagen, 
daß  gegenüber  dem  im  deutschen  BGB.   festgelegten  Eherecht  die 
öffentliche  Meinung  in   Deutschland  einigermaßen  im  Flusse  ist  zu- 
gunsten der  erleichterten  Ehescheidung.   Besonders  ist  sie  geneigt, 
kinderlosen  Ehen  die  Scheidung  auf  Grund  gegenseitiger  EinwiUigung 
zu  gestatten.  Auch  wird  es  stark  bemängelt,  daß  gesetzeskundige  und 
vermögensmächtige  Personen  durch  geschickte  Anwälte   leicht  eine 
Umgehung  des  strengeren  Eherechts  zu  bewirken  vermögen:  Fälle 
von  dieser  Art  erregen  von  Zeit  zu  Zeit  öffentliches  Ärgernis.  Übrigens 
wendet  sich  die  »Frauenbewegung«  auch  in  Deutschland  gegen  einige 
Grundlagen  des  Eherechts,  wie  es  im  BGB.  vorliegt,  zumal  gegen  die 
androkratischen  imd  patriarchalischen  Bestandteile  darin,  besonders 
im  ehelichen  Güterrecht.   Diese  Bewegung  ist  aber  bisher  nicht  stark 
genug  gewesen,   um  der  öffentlichen  Meinung   ihre  Richtimg  mit- 
zuteilen,  an  deren  Bildung  in  Deutschland  die  Männer  in  so  viel 
höherem  Grade  mitwirken  als  die  Frauen.  Mehr  Erfolg  haben  diese, 
wenn  sie  auf  bessere  rechtliche  Stellung  der  außerehelich  geborenen 
Kinder  dringen;  hier  kommt  ihnen  die  Humanität  der  Männer  ent- 
gegen, von  denen  doch  nur  eine  kleine  Minderheit  durch  das  Dasein 
solcher  Kinder  beeinträchtigt  wird,  und  auch  diese  werden  aus  Furcht 
vor  der  Meinung  sich  nicht  öffentlich  dazu  bekennen.  So  hat,  nach 
Marianne  Weber  (Ehefrau  imd  Mutter  S.  325),  sogar  in  Frankreich 
eine  Klärung  des  sittlichen  Bewußtseins  begonnen.  Die  von  französi- 
schen Frauen  eingeleitete  Agitation  für  die  Zulässigkeit  der  Vater- 
schaftsklage, meinte  die  treffliche  Schriftstellerin  (1907),  könne  auf 
die  Dauer  nicht  wirkungslos  bleiben;  wie  denn  —  offenbar  ein  ähn- 
licher Erfolg  der  Frauen  in  der  öffentlichen  Meinung  —  schon  im 
Jahre  1884,  ^^^  Wiedereinführung  der  Ehescheidung,   »das  Privileg 
des  Mannes  zur  ehelichen  Untreue  beseitigt  wurde«  (WEBER  1.  c).  — 
Was  das  dem  Familienrecht  so  eng  verknüpfte  Erbrecht  betrifft, 
so  ist  die  öffentliche  Meinung  zwar  durchaus  für  dessen  Erhaltung, 
begünstigt  aber  nicht  das  Intestat-Erbrecht  in  entfernte  Grade,  ist 
vielmehr  dem  Eintritt  eines  staatlichen  Erbrechts,  ebenso  wie  hoher 
Erbschaftssteuern,  sogar  bei  Vererbung  von  Eltern  auf  Kinder,  durch- 
aus zugänglich;    wie    die    Tatsache    beweist,    daß    solche    in    hoch- 
kapitalistischen Staaten,  wie  England,  Hamburg,  lyübeck,  ohne  star- 
ken Widerspruch  eingeführt  werden  konnten,  und  wie  auch  in  den 
Jahren  1908/9  die  öffentüche  Meinung  in  Deutschland  einem  ent- 
sprechenden Gesetzentwurf  günstig  gestimmt  war. 

In  bezug  auf  eigentlich  moralische  Fragen  ist  die  öffentliche 
Meinung  im  allgemeinen  dünnflüssig.     Im  Gegensatz  zum  religiösen 


AI.LGEMEINE   INHAI.TE   USW.   —   DAS   GEISTIGE   UND   SITTI.ICHE   GEBIET.       289 

Glauben,    der  feste  sittliche  Gnindsätze  zu  verfechten  pflegt,    weil 
sie  durch  Autorität,   sei  es  eines  ReUgionsstifters,  eines  Propheten, 
eines  Buches  oder  einer  Priesterschaft  geheihgt  sind;  wobei  in  der 
Regel  Übereinstimmung  mit  der  Sitte,   die   den  festgefügten  Bau 
überüeferter  Handlungsweisen  imd  überlieferter  Anschauungen  be- 
wahren will.    Die  öffentliche  Meinung  huldigt,  je  mehr  sie  sich  von 
der  Rehgion  entfernt,  ja  ihr  entgegenwirkt,  um  so  mehr  einer  laxen 
Moral:  lücht  nur  kasuistisch,  wie  die  übrigens  durchaus  in  ReUgion 
und  Kirchentum  wurzelnde  Theorie  und  Praxis  der  Jesuiten,  sondern 
gedankhch,  grundsätzlich.   Hier  sind  nicht  die  Systeme  der  Philo- 
sophen gemeint,  die  allerdings  auch  auf  die  Sittenlehre  der  öffent- 
lichen Meinung  einwirken  —  sogar  dem  Rigorismus  eines  Kant  imd 
Fichte  widmet  sie  eine  gewisse  Ehrfurcht  — ,  sondern  die  wirklich 
gang  und  gäbe  Denkungsart  der  gebildeten  Welt.   Deren  Beschaffen- 
heit tritt  am  deutlichsten  in  den  Fragen  der  geschlechtlichen  SittHch- 
keit  zutage,  die  überhaupt  für  die  SittUchkeit  charakteristisch  sind. 
Mit  einiger  Strenge  richtet  die  öffentliche  Meinung  nur  den  Ehebruch 
der  Frau,  und  auch  diesem  gegenüber  ist  sie  nachsichtig,  so  lange  bis  er 
sich  zum  öffentUchen  Ärgernis,  zum  Skandal,  auswächst.  Ebenso  duld- 
sam ist  die  öffentliche  Meinung  gegen  die  Ausschweifungen  der  männ- 
lichen Jugend,  daher  wird  dieProstitution  zwar  als  schweres  soziales 
Übel  anerkannt,  auch  ihre  gesundheitHchen  Gefahren  drücken  auf 
das  allgemeine  Bewußtsein,  aber  die  sittlichen  Folgen  und  Begleit- 
erscheinungen  werden   kaum   wahrgenommen   und   selten   erörtert. 
Strenge  überwacht  wird  dagegen  die  Reinheit  der  weiblichen  Jugend 
mittlerer  imd  höherer  gesellschaftlicher  Schichten.  Fehltritte,  die  hier 
begegnen,  finden  ebenso  wenig  Gnade  vor  der  öffentlichen  Meinung  wie 
vor  der  religiösen  Moral.  Aber  jene  heftet  ihr  Mißfallen  noch  mehr  an 
das  äußerlich,  das  gesellschaftHch  Anstößige,  als  diese.   Daher  gilt  auch 
der   »Makel  der  Geburt  <  nur  noch  innerhalb  der  höheren  Schicht, 
während  er  ehemals  vom  ehrlichen  Handwerk  und  Bürgertum  aus- 
schloß. —  Auch  in  anderen  Gebieten  der  Sittlichkeit  läßt  sich  die 
Flüssigkeit  der  öffentlichen   Meinung  beobachten.    Sie  schätzt  den 
»Altruismus«  als  Mitleid  und  Barmherzigkeit  hoch,  und  feiert  gern  den 
bleibenden  Wert  der  christlichen  Lehre  wegen  der  Vorschrift  »Liebe 
deinen  Nächsten  als  dich  selbst«,  während  ihr  die  FeindesUebe  und  das 
Segnen  derer,  die  uns  fluchen,  nicht  einmal  theoretisch  einleuchtet. 
Die  öffentüche  Meinung  schätzt  aber  gleichzeitig,  und  im  Grunde  weit 
mehr,  den  vernünftigen  Egoismus,   besonders  auch  das  Erwerbs- 
streben,  wenigstens    wenn  es  in  maßvollen  Grenzen  gehalten   wird. 
Hoch  steht  ihr  der  mit  gutem  Geschmack  verwaltete  Reichtum,  zumal 
der  selbsterworbene,  wenn  er  auch  mit  weitgehender  Wohltätigkeit 

TOnnict,  Kritik.  ip 


290  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

und  »Liberalität«  verbunden  ist.  Eine  gewisse  charakterlose  Weich- 
heit und  Mürbheit  ist  dadurch  der  öffentlichen  Meinung  namentlich  in 
Ländern  eigen,  wo  auch  die  Religion  an  diesen  platten  und  flachen  Wider- 
sprüchen nicht  nur  ihr  Genüge  hat,  sondern  darin  sich  mit  Behagen  er- 
geht, wie  in  England  und  den  Vereinigten  Staaten  so  offensichtlich  der 
Fall  ist.  Der  Mann,  der  nach  dem  satirischen  Spruch  Grii.i.parzers 
heute  Bettler  beglückt,  die  er  gestern  zu  Bettlern  gemacht  hat,  ist  in 
diesen  plutokratischen  Ländern  ein  ganz  besonders  angesehener  Mann. 
Viel  weniger  Sinn  als  für  Wohltätigkeit  hat  die  öffentliche  Meinung  in 
allen  modernen  Ländern  für  die  Tugend  der  Gerechtigkeit,  wenn  sie 
auch  vom  Richter  verlangt  wird.  Überhaupt  hängt  sie  sehr  an  der 
Vergeltung  im  Strafrecht  und  an  der  Herrschaft  des  formalen  Rechts, 
scheut  aber  die  Anwendung  eines  sittlichen  Begriffs  der  Gerechtigkeit 
auf  Begründung  des  Eigentums,  besonders  des  »ehrlichen«  d.  h.  mit 
dem  Strafgesetz  verträglichen  Erwerbes,  und  des  großen  Eigentums  an 
Kapital  und  Boden.  —  Noch  weniger  schätzt  die  öffentliche  Meinung 
praktisch  die  Wahrhaftigkeit.  Sie  nimmt  keinen  oder  geringen  An- 
stoß daran,  daß  sogar  versprechende  Eide  als  leere  Worte  empfunden 
und  behandelt  werden,  daß  geistHche  Personen  öffentlich  verpflichtet 
werden,  zu  Unglaublichem  und  wahrscheinlich  Nichtgeglaubtem  sich 
zu  bekennen.  Der  Konflikt  zwischen  Religion  und  der  öffentlichen 
Meinung  bleibt  in  diesen  Dingen,  infolge  der  Energie  und  äußeren 
Macht  der  Religion,  und  der  Schlaffheit  der  öffentlichen  Meinung, 
versteckt  und  hat  geringe  Wirkungen.  Besonders  lax  ist  die 
öffentliche  Meinung  auch  gegenüber  der  Unwahrhaftigkeit  des  Poli- 
tikers. Daß  dieser,  um  Wahlstimmen  zu  gewinnen,  seine  Aussagen 
und  angeblichen  Überzeugungen  der  Gelegenheit  anpaßt  und  rasch 
wandelt,  erscheint  ihr  beinahe  als  selbstverständlich  oder  sogar  als 
PfHcht  vom  Standpunkte  der  Partei  aus. 

Wenn  die  Hochschätzung  der  intellektuellen  Bildung  als  fester  Be- 
standteil der  öffentlichen  Meinung  zumal  in  Deutschland,  bezeichnet 
wurde,  so  sind  dagegen  die  meisten  anderen  Schätzungen  des  Unter- 
richtswesens flüssig.  Die  Würdigung  der  klassischen  Bildung,  also  des 
Unterrichts  in  den  alten  Sprachen,  wirkt  noch  in  die  Modernität  hinein, 
aber  stark  aufgeweicht,  während  sich  die  Voranstellung  der  Realien,  also 
auch  der  Realschulbildung,  mehr  und  mehr  verdichtet.  Jene  wird 
konventionell,  diese  entspricht  der  allgemeinen  Richtung  der  öffent- 
lichen Meinung  auf  das  Nützliche  und  Vernünftige,  das  »Reelle«.  So  ist 
sie  von  Bewunderung  erfüllt  für  alle  Fortschritte  der  Technik,  und 
begünstigt  daher  auch  die  technischen  Hochschulen,  wie  die  technische 
Fortbildung  des  Handwerkers  und  Fabrikarbeiters.  Innerlich  gleich- 
gültig, wenn  nicht  sogar  feindlich,  gegen  die  Religion,  vielmehr  die 


Al,I.GEMEINE   INHAI^TE   USW.    —   DAS   GEISTIGE   UND   SITTUCHE   GEBIET.       29I 

Religionen,  hegt  sie  doch  schwere  Bedenken  gegen  deren  »Abschaffung«, 
daher  auch  gegen  die  Ausscheidung  des  Unterrichts  in  »der«,  d.  i.  in 
irgendwelcher  Religion,  welche  Ausscheidung  ihr  als  ein  Vorspiel 
solcher  Abschaffung  erscheint.  Sie  fürchtet  nicht  nur,  daß  die  gemeine 
Sittlichkeit  dadurch  Einbuße  erleidet,  sondern  sie  sieht  um  so  mehr 
eine  Erschütterung  der  gesellschaftlichen  Ordnung  darin,  da  die 
Parteien,  deren  ausgesprochenes  Streben  auf  eine  solche  Erschütterung 
abzielt,  auch  den  Religionsunterricht  in  den  Schulen  abzuschaffen 
wünschen. 

9.  (III c:  In  der  luftförmigen  Öffentlichen  Meinung.)  Die  öffent- 
liche Meinung  des  Tages  in  sittlichen  und  geistigen  Angelegen- 
heiten ist  die  Erscheinungsform  der  öffentlichen  Meinung,  die  am 
häufigsten  und  schärfsten  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zieht, 
daher  auch  oft  verallgemeinert  wird,  als  ob  in  ihr  das  Wesen 
der  öffentlichen  Meinung  sich  erschöpfe.  Denn  hier  tritt  sie  als 
Sittenrichter  auf,  und  da  sie  diese  Funktion  auch  in  allgemein- 
sozialen und  besonders  in  politischen  Angelegenheiten  ausübt,  so 
scheint  dieselbe  schlechthin  für  sie  charakteristisch  zu  sein.  Eben 
daher  aber  wird  hier  leicht  »die«  öffentliche  Meinung  mit  einer 
öffentlichen  Meinung  (vgl.  Buch  I,  Kap.  III,  4.  Abschnitt,  S.  40)  ver- 
wechselt, wie  sie  als  das  gemeinsame  geltende  und  verbindliche 
Urteil  in  jedem  sozialen  Kreise,  zumal  solchen  von  gemeinschaft- 
licher Art,  sich  bildet,  lobt  oder  tadelt,  ehrt  oder  verdammt,  be- 
stimmte Handlungsweisen,  aber  auch  Denkweisen,  d.  i.  Bekenntnisse 
zur  Pflicht  macht.  Als  Gericht  wirkt  diese  vorzugsweise  negativ,  wie 
ein  Strafgericht;  der  »Gerichtshof  der  öffentlichen  Meinung«  kann 
auch  freisprechen  und  sogar  den  Angeklagten  mit  Glanz  und  Ruhm 
aus  der  Untersuchung  hervorgehen  lassen;  in  der  Regel  aber  tritt 
er  in  seine  Tätigkeit  ein,  um  ein  mißbilligendes,  verwerfendes  Urteil 
zu  fällen,  wodurch  das  »Ansehen«  des  Schuldigen  vermindert  wird. 
Jede  Privatperson  unterliegt  so  in  ihrem  Kreise  einer  öffentlichen 
Meinimg,  deren  Urteilssprüche  mehr  oder  minder  Bedeutung  und 
Gewicht  für  ihre  Stellung  »in  der  Gesellschaft«  haben.  Dies  ist  aber 
in  erhöhtem  Maße  der  Fall  bei  Personen  »von  Stande«,  zumal  wenn 
ihr  Stand  durch  solches  Urteil  erschüttert  wird;  daher  in  allen 
aristokratischen  und  exklusiven  Kreisen,  die  besonderen  Wert  auf 
ihre  eigentümliche  Ehre  legen.  Die  Minderung  dieser  Ehre  hat  sogar 
regelmäßig  den  Verlust  des  Standes  selber  zur  Folge.  So  ist  der  Offizier, 
den  die  Meinung  seiner  Kameraden  als  feig  brandmarkt,  weil  er  etwa 
dem  Vorurteil  des  Standes  in  bezug  auf  »Satisfaktion«  nicht  gerecht 
wird,  dadurch  in  seinem  Stande  »unmöglich«  geworden.  Ebenso  wird, 
wer  sein  Ehrenwort  gebrochen  hat,  im  Offizierkorps  wie  in  der  studen- 

19» 


292  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

tischen  Verbindung  mit  Ausstoßung  bestraft  und  wird  von  der  öffent- 
lichen Meinung  eines  solchen  Kreises  verurteilt.  In  einigem  Maße  stellen 
auch  die  Frauen  der  guten  Gesellschaft  in  jedem  Orte  oder  in  einer 
Landschaft  einen  solchen  Kreis  dar,  der  insbesondere  über  Verstöße 
ihrer  eigenen  Angehörigen  gegen  die  Frauenehre  zu  richten  sich 
berufen  fühlt.  Jede  öffentHche  Meinung  dieser  Art  —  mit  Ausnahme 
etwa  derjenigen  in  den  untersten  sozialen  Schichten,  unter  Vagabunden 
tmd  Verbrechern,  wenn  anders  man  auch  da  »eine«  öffentliche  Meinung 
finden  will,  —  ist  gemeint,  wenn  im  Deutschen  Reichsstrafgesetzbuch 
^§  186)  die  Behauptimg  oder  Verbreitimg  einer  Tatsache  mit  Strafe 
bedroht  wird,  welche  einen  »anderen«  verächtlich  zu  machen  oder  in 
der  öffentlichen  Meinung  herabzuwürdigen  geeignet  ist,  und  ebenso 
{§  187)  mit  schwererer  Strafe  Behauptung  oder  Verbreitung  einer 
unwahren  Tatsache,  welche  den  anderen  »verächtlich  zu  machen 
oder  in  der  öffentlichen  Meinung  herabzuwürdigen  oder  dessen  Kredit 
zu  gefährden  geeignet  ist«  (vgl.  auch  §  189).  Jede  öffentliche  Meinung 
eines  Standes  oder  eines  Ortes  kann  so  durch  Aufnahme  einer  über 
mich  behaupteten  Tatsache  bewogen  werden,  mich  geringer  als  bisher 
zu  schätzen  oder  sogar  mich  zu  verabscheuen.  »Die«  öffentliche 
Meinung  schlechthin,  also  etwa  die  des  ganzen  Landes,  wird  sich 
darum  nicht  kümmern,  außer  wenn  ich  eine  öffentlich  bekannte 
Person  bin:  »die«  öffentliche  Meinung  ist  aber  auch  »eine«  öffentliche 
Meinung.  Solche  Fälle  nun,  daß  die  öffentliche  Meinung  über  einen 
oder  mehrere  Menschen  gleichsam  zu  Gerichte  sitzt,  begegnen  im 
heutigen  öffentlichen  Leben  alle  Tage;  auch  wenn  sonst  unbekannte 
Personen  erst  durch  ihre  Handlungen  bekannt  werden  oder  ge- 
worden sind,  wie  bei  »sensationellen«  Prozessen,  insbesondere  Straf- 
prozessen. Fälle  dieser  Art  sind  schon  erwähnt  worden,  wo  das 
»Verdikt«  der  öffentlichen  Meinung  auch  pohtische  Bedeutung  ge- 
wonnen hat.  Aber  in  der  Regel  handelt  es  sich  hier  nur  um 
moralische  Wirkungen:  auch  der  straf rechtHch  Freigesprochene 
oder  Leichtbestrafte  kann  moraUsch,  auf  Grund  der  durch  den 
Prozeß  über  ihn  bekannt  gewordenen  Tatsachen,  verurteilt,  ja  ver- 
fehmt  werden.  Nicht  minder  als  die  in  einem  Prozesse  bloß- 
gelegten Tatsachen  kann  aber  irgendeine  Tatsache,  die  von  einem 
öffentUch  bekannten  Mann  in  den  Zeitungen  berichtet  wird,  ihn  in  der 
öffentlichen  Meinung  des  Landes  herabsetzen  oder  gar  vernichten. 
So  wirkte  etwa  im  November  19 18  das  Bekanntwerden  der  Tatsache, 
daß  Wii,HEi,M  DER  Zweite  nach  Holland  entflohen  war,  —  zumal 
nachdem  berichtet  ward,  daß  diese  Flucht  schon  vor  Monaten  sei 
vorbereitet  worden  —  in  entscheidender  Weise  zu  seinen  Ungunsten. 
Ebenso  wurde  die  hohe  Meinung,  worin  der  General  Ludendorff  als 


Al,I.GEMEINE   INHAI^TE   USW.   —   URTEILE  DER  MORAI,PHII,OSOPHEN  USW.        293 

Feldherr  gestanden  hatte,  erheblich  vermindert,  als  das  deutsche 
Publikum  allmählich  Klarheit  darüber  gewann,  daß  er  fortwährend 
einen  starken  politischen  Einfluß  ausgeübt,  ja  so  etwas  wie  eine 
Diktatur  sich  angemaßt  habe  —  nachdem  die  Folgen  sich  als  Unheil 
herausgestellt  hatten.  Dieser  Fall  ist  auch  darum  bemerkenswert, 
weil  es  sich  hier  nur  gleichsam  um  eine  Herabsetzung  der  Temperatur 
handelte,  bewirkt  durch  an  sich  verzeihliche  Mißgriffe,  von  denen 
man  nicht  bezweifelt,  daß  sie  in  gutem  Glauben  geschahen ;  also  nicht 
um  unmittelbar  moralisch  genierende  Tatsachen. 

Vierter  Abschnitt.    Urteile  der  Moralphilosophen  über 
die  allgemeinen  Inhalte. 

10.  (LOCKE,  HOBBES,  MANDEVILLE,  HELVETIUS,  SMITH.)  öffent- 
hche  Meinimg  dieses  Sinnes  hat  oft  die  Aufmerksamkeit  der  Moral  Phi- 
losophen in  Anspruch  genommen .  So  unterscheidet  Locke  {Essay  con- 
cerntng  human  understanding  Book  II,  Ca.  28  §  7,  lo,  12)  drei  Arten  von 
Gesetzen  oder  Sittenregeln,  worauf  die  Menschen  im  allgemeinen  ihre 
Handlungen  beziehen,  um  danach  zu  beurteilen,  ob  sie  »richtig«  oder 
»schief«  seien :  i.  das  göttliche  Gesetz,  2.  das  bürgerliche  Gesetz,  3.  das 
Gesetz  der  Meinimg  oder  des  Rufes  (repufation)  —  die  Übersetzung  von 
Th.  Schui^tze  (Leipzig,  Reclam)  sagt  hier  dem  Sinn  gemäß  »Gesetz 
der  öffentlichen  Meinung«.  Locke  erörtert  dies  in  seiner  weit- 
läufigen Weise,  um  zu  schließen :  „Also  ist  das  Maß  dessen,  was  irgend- 
wo als  Tugend  und  als  Laster  benannt  und  geschätzt  wird,  dies 
Gefallen  oder  Mißfallen,  Lob  oder  Tadel,  wie  sie,  durch  eine  geheime 
und  stillschweigende  Einmütigkeit,  in  den  verschiedenen  Gesell- 
schaften, Schichten  und  Vereinen  (trihes  and  cluhs)  von  Menschen 
in  der  Welt  sich  bilden;  woher  es  kommt,  daß  verschiedene  Hand- 
lungen Ehre  oder  Schande  unter  ihnen  finden,  je  nach  dem  Urteil, 
nach  den  Regeln  oder  der  Mode  (fashion)  des  Ortes".  Fernerhin  be- 
tont er,  daß  die  Rücksicht  auf  diese  Urteile  der  stärkste  Beweggrund 
für  die  Menschen  sei,  sich  ihnen  anzubequemen.  Anderen  Strafen, 
göttlichen  oder  menschhchen,  hoffe  man  sich  zu  entziehen;  „aber 
niemand  entgeht  der  Strafe  ihres  Tadels  und  Mißfallens,  der  gegen 
die  Mode  und  Meinung  der  Gesellschaft,  an  die  er  sich  hält  und  der  er 
sich  empfohlen  halten  will,  verstößt" i).  Viel  stärker  und  schärfer, 
zugleich   in  klassischer   Knappheit,   denkt   auch  in   diesem  Stücke 

*)  Die  Wiedergabe  bei  Wundt  Ethik^,  I,  400  ist  nicht  richtig,  wenn  es  darin  heißt, 
LOCKB  lasse  das  natürliche,  auf  der  Grundlage  der  allgemeinen  Lust-  und  Schmerz- 
empfindungen  und  des  Reflexionsvermögens  empirisch  entstandene  Sittengebot 
dem  bürgerlichen  Gesetz  und  dem  Gesetz  der  öffentlichen  Meinung  überlegen  sein; 
denn  er  identifiziert  vielmehr  das  natürliche  Sittengebot  mit  dem  Gesetz  der  öffent- 
lichen Meinung. 


294  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

I/OCKES  Vorgänger,  Thomas  Hobbes,  wenn  er  {The  Elements  of  Law 
natural  and  politic,  Ch.  8)  von  der  Macht  des  Menschen  spricht  und 
von  der  Bhre  als  Anerkennung  solcher  Macht  durch  andere,  ferner 
von  den  »ehrenvollen«  Zeichen,  nach  denen  Anerkennung,  daß  jemand 
mehr  Macht  habe  als  sein  Mitbewerber,  sich  richte ;  endlich  dann  von 
den  Zeichen  der  Ehre  selber,  je  nachdem  sie  der  Niedere  dem  Höheren 
oder  der  Höhere  dem  Niederen  angedeihen  läßt  (ausführlicher  in 
Leviathan  Ch.  lo,  wo  es  dann  einfach  heißt:  „Ehre  besteht  nur  in 
der  Meinung  von  Macht").  Geistreich  handelt  auch  MANDEViiyi.E 
(Fahle  of  the  Bees,  Dialogue  II)  von  der  überwältigenden  Macht  dei 
»Meinung  der  I^eute«,  insbesondere  der  »Meinung  der  Standesgenossen« 
über  das  Gemüt  der  Menschen,  und  von  der  »Erfindung  der  Ehre« 
als  der  weitaus  größeren  Leistung  gegenüber  der  Erfindung  der 
Tugend,  da  sie  das  edelste  und  stärkste  Band  der  Gesellschaft  ge- 
schaffen habe.  Wie  sein  Vorgänger  Larochefoucauld,  und  unter 
dem  Einflüsse  des  Hobbes,  will  auch  Mandeville^)  alles  Löbliche 
auf  das  Trachten  nach  Lob  und  die  Furcht  vor  Tadel  zurückführen. 
„Der  wirkliche  Gegenstand  des  Stolzes  oder  der  Eitelkeit  ist  die 
Meinung  anderer'*;  Beifall  und  Bewunderung  am  liebsten  in  der 
ganzen  Welt,  am  liebsten  in  alle  Zukunft,  sei  es,  wonach  der  strebe, 
der  am  meisten  von  Stolz  und  Eitelkeit  erfüllt  sei  2).  MandEVH,i.E 
weiß  aber  auch,  daß  der  Beifall  des  Publikums  keineswegs  aus- 
schließlich, ja  nicht  einmal  vorzugsweise,  Tugenden  und  sittlich 
als  wertvoll  anerkannten  Eigenschaften  gezollt  wird,  sondern  oft 
weit  mehr  dem  Reichtum,  Prunk,  der  hohen  Geburt,  dem  Geist  und 
geistigen  Leistungen  und  allem  was  glänzt,  auch  dem  Betragen 
mehr,  sofern  es  sich  den  in  jedem  Kreise  herrschenden  Ehrbegriffen 
tmd  Vorstellungen  von  Anstand  und  SchickUchkeit  anpaßt  als,  sofern 
es  reügiösen  oder  anderen  sittUchen  Schätzungen  entspricht;  ja, 
mehr  die  Eleganz  und  Feinheit  des  äußeren  Benehmens  als  wirklich 
tugendhafte  Handlungen  preist.  So  ist  die  Meinung  der  Leute,  so 
auch  die  öffentliche  Meinung,  selber  an  einem  sittlichen  Maßstabe 
gemessen,  von  sehr  zweifelhaftem  Werte,  aber  darum  nicht  weniger 
mächtig  und  einflußreich.  Die  Philosophen  der  Aufklärimg  haben  mit- 
einander gemein,  daß  sie  die  denkende  Bewußtheit  als  Beweggrund 
menschlichen  Handelns  schärfer  betonen  als  eine  richtige  Psychologie 
gestattet,  aber  daß  eine  mehr  oder  minder  bewußte  Rücksicht  auf  die 
Meinung  der  Leute  für  Menschen,  die  im  öffentHchen  Leben  stehen, 
auf  die  öffentliche  Meinung,  ein  ungemein  starkes  Motiv  auch  des- 
jenigen Handelns  ist,  das  gut  genannt  wird,  ist  eine  offenbare  Wahr- 

^)  Sakmann,  Bernard  Mandeville  (Preiburg  i.  B.  1897),  S.  123. 

2)   The  Fable  of  the  Bees  {Dialogue  II),  Vol.  II,  p.  52  ed.  Edinbourgh  1772. 


Al,I<GEMKINE  iNHAlvTE   USW.    —   URTEILE  DER  MORALPHILOSOPHEN   USW 


295 


heit;  auch,  was  schon  Plato  so  scharf  hervorgehoben  hat,  daß  zumeist 
in  dieser  Hinsicht  die  scheinbare  Tugend  die  gleiche,  ja  oft  eine  viel 
stärkere  Wirkung  auslöst  als  die  wirkliche.  —  In  Anlehnung  an  Mande- 
viLi^  und  dessen  Vorgänger  entwickelt  Helvetius  den  Gedanken, 
daß  der  Nutzen  der  Gesellschaft  und  des  Gemeinwesens  allein  be- 
stimme, was  gut  und  schlecht  sei,  und  daß  in  den  umlaufenden  Mei- 
nungen das  Gefühl  für  diesen  Nutzen  sich  ausdrücke.  Er  unterscheidet 
dabei  die  Urteile  des  Publikums  von  denjenigen  besonderer  Gesell- 
schaften; von  diesen  werde  ganz  besonders  hochgeschätzt,  was  man 
den  guten  Ton  und  die  gute  Sitte  nenne ;  das  große  Publikum  könne 
diese  nicht  gleich  hoch  schätzen,  und  umgekehrt;  ebenso  sei  es,  aus 
dem  Grunde  der  verschiedenen  Interessen,  mit  der  Bewunderung, 
die  das  PubHkum  einem  Menschen  zolle,  und  derjenigen,  die  von 
besonderen  Gesellschaften  ausgehe.  Der  große  Mann,  zumal  wenn 
er  bescheiden  sei,  verzichte  gern  auf  den  Beifall  der  besonderen 
Gesellschaften;  er  fühle,  daß  ihre  Schätzung  nur  beweisen  könnte, 
daß  seine  Gedanken  den  ihren  ähnlich  seien,  und  diese  Ähnhchkeit 
sei  oft  wenig  schmeichelhaft;  die  öffentliche  Würdigung  sei  für  ihn 
allein  des  Wünschens  und  Strebens  wert,  weil  sie  immer  ein  Geschenk 
der  öffentlichen  Dankbarkeit  und  folglich  Beweis  eines  wirklichen 
Verdienstes  sei.  „In  der  Tat,  wie  gleichgültig  immer  man  sich  stellen 
möge  gegen  die  öffentliche  Meinung  (quelqu'  indifference  qu'on 
affecte  pour  l'opinion  publique),  jeder  sucht  sich  selbst  zu  schätzen, 
und  hält  sich  um  so  mehr  für  schätzenswert,  je  allgemeiner  er 
sich  geschätzt  sieht^)*'.  Der  geistreiche  Schriftsteller  unterscheidet 
also  sehr  deutUch  zwischen  dem,  was  wir  »eine«  öffentliche  Meinung 
nennen,  und  »der«  öffentlichen  Meinung  als  der  Meinung  des 
allgemeinen  Publikums,  so  daß  die  Vorstellung  des  allgemein  Ge- 
schätztwerdens für  ihn  übergeht  in  die  des  Ruhmes,  oder  wenigstens 
der  Berühmtheit  bei  den  Zeitgenossen.  Er  gibt  (am  Schlüsse  des 
Kapitels)  folgende  Merkmale  des  wahren  Verdienstes,  auch  wenn  es 
noch  nicht  durch  die  Feuerprobe  des  PubUkums  gegangen  sei,  und  des 
Geistes,  der  die  allgemeine  Schätzung  wirklich  verdiene:  i.  daß  der 
Träger  solchen  Verdienstes  und  Geistes  sich  zu  den  Leuten,  die  durch 
das  Publikum  und  durch  die  Nationen  des  Auslandes  am  meisten 
geschätzt  würden,  am  meisten  hingezogen  fühle,  2.  daß  er,  nach 
einem  Worte  Cicero s,  gelobt  werde  von  einem  Menschen,  der  selber 
schon  gelobt  wird,  3.  wenn  er  endhch  die  Schätzung  derjenigen 
erlange,  die,  in  Werken  oder  großen  Stellungen,  schon  große  Be- 
gabungen haben  glänzen  lassen;  „ihre  Schätzung  für  ihn  setzt  eine 


*)  D0  resprit,   Amatcrdam  u.  Ireipzig  1759.    I,  p-   125.     {Discours  II,  CA.   10.) 


296  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

große  Ähnlichkeit  zwischen  ihren  Ideen  und  den  seinen  voraus;  und 
diese  Ähnhchkeit  kann,  wenn  auch  nicht  als  ein  vollkommener 
Beweis,  so  doch  als  eine  hinlängHch  große  Wahrscheinlichkeit  dafür 
angesehen  werden,  daß  er,  wenn  er  ebenso  wie  sie  den  Blicken  des 
PubHkums  sich  ausgesetzt  hätte,  gleich  ihnen  einen  Anteil  an  dessen 
Achtung  gewonnen  hätte' ^  —  Interessant  ist  wiederum,  daß  HKi.vt:Tius 
das  Publikum  als  das  des  eigenen  lyandes  versteht  und  die  Nationen 
des  Auslandes  davon  unterscheidet:  der  richtige  Gedanke  liegt  zu- 
grunde. 

Auch  Adam  Smith  (The  theory  of  moral  sentiments)  verlegt  den 
sittiichen  Wert  in  das  Urteil  der  Umgebung,  und  zwar  in  das  des 
unparteiischen  Zuschauers,  das  auf  unwillkürHcher  Sympathie  beruhe; 
er  betrachtet  diese  hauptsächlich  in  bezug  auf  die  Beweggründe  der 
Handlungen,  nachdem  auch  HuME  vor  ihm  als  Merkmal  der  sittHchen 
Handlung  das  angenehme  Gefühl  der  BilHgung  bezeichnet  hatte, 
das  sie  in  der  Seele  des  uninteressierten  Zuschauers  auslöse.  Adam 
Smith  bemüht  sich  um  die  Analyse  der  Bedingungen,  unter  denen 
eine  Handlung  gebilligt  werde,  ihm  Hegt  daran,  die  Rückwirkung 
der  Urteile  über  andere  auf  das  Gewissen  als  Urteil  über  uns  selbst 
darzustellen.  Kr  erörtert  die  Selbstschätzung,  inwiefern  sie  selber 
die  Sympathie  des  Zuschauers  erwecke,  und  unterscheidet  in  dieser 
Hinsicht  das  berechtigte  Selbstbewußtsein  sowohl  als  die  aus- 
schweifende Selbstbewunderung  von  den  Fehlern  (»Lastern«)  des 
Stolzes  und  der  Eitelkeit.  Er  schildert  diese  Fehler  nach  ihren  unter- 
scheidenden Merkmalen.  Der  Stolze  fühle  sich  nicht  immer  wohl  in 
der  Gesellschaft  von  seinesgleichen  und  noch  weniger  in  derjenigen 
von  Höhergestellten.  Der  Eitle  hingegen  suche  eben  diese,  und  scheine 
zu  denken,  daß  von  ihrem  Glänze  etwas  auf  ihre  Umgebung  über- 
strahle. „Er  hebt  es,  zu  den  Tafeln  der  Großen  hinzugezogen  zu  werden 
und  noch  mehr,  gegen  andere  Leute  den  intimen  Verkehr,  dessen  er 
dort  gewürdigt  werde,  herauszustreichen.  Er  gesellt  sich,  so  viel  er 
kann,  mit  Leuten  nach  der  Mode :  jenen,  von  denen  man  annimmt,  daß 
sie  die  öffentliche  Meinung  leiten  (who  are  supposed  to  direct 
the  public  opinion),  mit  den  Witzigen,  mit  den  Gelehrten,  mit  den 
Populären;  und  er  meidet  die  Gesellschaft  seiner  besten  Freunde, 
sobald  als  der  sehr  ungewisse  Strom  der  öffentHchen  Gunst  gegen  sie 
zu  laufen'  scheint"  (II,  119).  Hier  wird  die  (wirkHche)  öff enthebe 
Meinung  offenbar  nicht  verstanden  als  wesentHch  moralischen  Inhaltes, 
sie  wird  von  den  „Gefühlen  des  angenommenen  unparteiischen  Zu- 
schauers", die  man  auch  die  ideelle  öffentiiche  Meinung  nennen  könnte, 
unterschieden;  Rücksicht  auf  diese  ist  gleich  dem  Sinn  für  SchickHch- 
keit,  der  hauptsächhch  und  beinahe  ausschheßhch  der  allgemeinen 


AI.LGEMEINE   INHALTE   USW.   —   TJRTEII.E  DER  MORALPHII.OSOPHEN   USW.        297 

Hilfstugend,    der     Selbstbeherrschung,     zur    Empfehlung     gereiche 
(11,  130). 

II.  (Neuere  Moralphilosophen.)  Von  neueren  Moralphilosophen  sagt 
ganz  im  Sinne  von  Adam  Smith  Gustav  Rümei^in  :  „Der  gewaltigeTrieb, 
in  der  Vorstellung  Anderer  Anerkennung  und  Geltung  zu  finden,  unter- 
wirft uns  und  unsere  Handlungsweise  dem  Urteil  und  sittlichen  Bewußt- 
sein der  Gesellschaft."  Der  sittliche  Maßstab  der  Menge  sei  reiner  und 
strenger  als  der  sittliche  Durchschnittswert  des  Einzelnen  erwarten 
ließe.  „Weil  es  unserer  Eitelkeit  und  SelbstHebe  lästig  wäre,  den  anderen 
uns  selbst  gleich  oder  gar  höher  zu  stellen,  so  legen  wir  für  die  Wert- 
schätzimg  anderer  einen  strengeren  Maßstab  an  als  für  uns  selbst, 
und  aus  der  Massenwirkung  dieser  Tadelsucht  und  Selbsttäuschung 
ergibt  sich  für  das  Ganze  die  heilsame  und  hochbedeutende  Tatsache, 
Maß  die  öffentliche  Meinung  immer  sittlich  höher  steht 
als  die  Gesellschaft  selbst*/'  Diese  Autorität  aber,  die  dem 
Einzelnen  aus  der  öffentlichen  Ordnung,  Sitte  und  Meinung  zuströme, 
verfahre  schon  ihrer  Natur  nach  bhnd  und  ohne  Kritik.  „Wie  die 
Flagge  eines  Schiffs  die  gute  wie  die  schlechte  Ware  deckt,  so  nimmt 
sie  neben  den  ewigen  Grundlagen  sittHcher  Ordnung  auch  die  vorüber- 
gehenden Strömungen  des  öffentlichen  Meinens,  die  Vorurteile,  den 
Aberglauben,  den  Priesterbetrug,  die  Sonderinteressen  herrschender 
Klassen  unter  ihre  Flügel.  In  anderen  Dingen,  und  zwar  gerade  in 
solchen,  die  ein  Zeitalter  am  lebhaftesten  beschäftigen,  gerät  sie  selbst 
ins  Schwanken  und  die  öffentliche  Meinung  spaltet  sich  in  die  Mei- 
nungen der  Parteien"  (Reden  u.  Aufsätze  N.  F.  S.  24f.).  Harald 
HÖFFDiNG,  der  sich  diese  Betrachtung  Rümelins  zu  eigen  macht, 
nennt  die  öffentiiche  Meinung  ein  MittelgUed  zwischen  dem  positiven 
Recht  und  der  ethischen  Überzeugung,  oder  den  intellektuellen  Aus- 
druck der  positiven  Morahtät,  etwas  wie  eine  moralische  Polizei,  die 
durch  ihr  Lob  und  ihren  Tadel  mächtigen  Einfluß  ausübe.  Sie  sei  auf 
ihre  Weise  ebenso  wie  die  Rechtsorganisation,  deren  gründhche 
Methoden  ihr  aber  nicht  zu  Gebote  stehen,  eine  Art  Naturordnung, 
welche  Schranken  und  Bedingungen  aufrichte;  sie  übe  eine  Kontrolle 
aus,  die  nicht  zu  entbehren  sei.  Ihre  Schranken  zu  erkennen,  sei  sie 
nicht  geneigt;  sie  glaube  sich  im  Besitz  der  Allwissenheit  und  werde 
intolerant,  schere  alle  über  einen  Kamm,  werde  oft  von  Standes-, 
Rassen-,  Partei-  und  Religionsvorurteilen  beherrscht  (Ethik,  Deutsche 
Ausgabe*,  S.  533 — 535).  Auch  Friedrich  Paui^en  kommt  in  den 
späteren  Auflagen  seines  Systems  der  Ethik  (7.  u.  8.  Aufl.  II,  327 ff.) 
auf  die  öffentHche  Meinung  zu  sprechen.  Sie  sei  die  Summe  alles 
dessen,  was  man  in  der  Gesellschaft  über  alles,  was  die  Aufmerksam- 
keit auf  sich  zieht,  redet  und  hört,  meint  und  urteilt.   „All  dies  Hören- 


298  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 


sagen  bildet  gleichsam  eine  Nebelwand,  auf  der  die  Dinge  und  Per- 
sonen, die  vorüberziehen,  einen  vergrößerten  und  oft  ins  Groteske 
verzerrten  Schattenriß  ihrer   Gestalt  werfen,   zum  Erstaunen  oder 
Gelächter  der  Vorübergehenden/*    Weiter  heißt  es  dann,   die  Be- 
deutung dieses  Gerichtshofs  der  öffentlichen  Meinung  liege 
offenbar  darin,  daß  er  die  geltenden  Anschauungen  von  dem,  was 
löblich  imd  tadelnswert,  schön  und  häßlich,  gut  und  schlecht  ist, 
allen  Abweichungen  gegenüber  aufrecht  erhalte  und  durchsetze.    Sie 
wirke  als  eine  Art  Sittenpolizei   (vgl.  Höffding:    aber  Polizei  ist 
etwas  anderes  als  ein  Gerichtshof!),  ihre  Straf  mittel  seien  die  dem 
Staat  und  der  Kirche  entfallenen:  Verweis,  Minderung  der  Achtung, 
endlich   der    Bann,    d.  h.    die   Ausschließung   aus   der   Gesellschaft. 
Gelegentlich    spende    sie     auch    Belohnungen:     Beifallklatschen i), 
Bewunderung,  Ruhm.    PauIvSEN  erörtert  dann  noch  die  Schwächen 
»dieses  Gerichtshofs«:  Mangel  an  geordnetem  Verfahren,  Mangel  an 
sachkundigem  Urteil.     Dazu  komme,  daß  die  öffentliche  Meinung 
die  gemeine  Meinung,  die  Meinung  des  Durchschnittsmenschen  sei; 
sie   begrüße   alles   Große,   UngewöhnHche,   über  die   Durchschnitts- 
fassung Hinausgehende  mit  Widerspruch  und  Hohngelächter.    Hier 
liege  der  Grund,  daß  alle  großen  und  kraftvollen  Geister  das  Urteil 
der  öffentlichen  Meinung  gering  schätzten.   —  Man  bemerkt,  daß 
HÖFFDING  nur  an  die  öffentliche  Meinung  irgendwelcher  Umgebung 
als  Kritik  der  sittlichen  Werte  denkt,  Paui^sen  aber  an  das  vor- 
herrschende  Urteil   des   Publikums   überhaupt   —   des   Publikums, 
d.  h.  irgendeines  Publikums.    Beide  beschäftigen  sich  nicht  mit  der 
besonderen    politischen    Bedeutung    der    öffentlichen    Meinung, 
weder  als  einer  mannigfachen  noch  als  einer  einheitlichen  Potenz. 
Für  beide  gibt  es  die  öffentliche  Meinung  nur  als  besonderen  Fall 
»einer«  öffentUchen  Meinung,  diese  ist  es,  die  sie  im  Auge  haben, 
also  eine  sehr  allgemeine  und  darum  auch  sehr  primitive  Erscheinung, 
ganz  im^Gegensatz  zu  der  Auffassung,  welche  die  öffentliche  Meinung 
als  eine  ausgeprägt  neuzeitHche,  an  die  heutigen  Lebensbedingungen 
geknüpfte  Macht  des  Zusammenlebens  versteht.  In  jenem  Sinne  spricht 
auch  Herbert  Spencer  von  wilden  Volksstämmen,  die  ihre  friedliche 
Lebensweise  ohne  andere  Regierung  außer  derjenigen  von  öffentlicher 
Meinimg  und  Sitte  führen  (Princ.  of  Sociology  I,  p.  719).    Die  Zu- 
sammenstellung mit  der  Sitte  und  mit  der  Mode  (fashion)  ist  für  diese 
Auffassung  bezeichnend.    Sitte  und  Mode,  obgleich  innerlich  nahe 
verwandt,  sind  ganz  verschiedene  Arten  des  sozialen  Willens.    Sitte 
ist  konservativ,  Mode  mutativ;  Sitte  Element  der  Vererbung,  Mode 


1)  Im  Texte  steht:  Beifall,  Klatschen.     Ich  vermute  einen  Druckfehler. 


Macht  unt)  Machtfaktoren  usw.  —  Die  Macht.  299 

der  Anpassung;  Sitte  will,  daß  man  ihr  treu  bleibe,  auch  nachdem 
sie  ihren  ursprünglichen  Sinn  verloren  hat,  Mode  will  überhaupt 
keinen  Sinn  haben,  sie  ist  w^echselnde  Laune,  die  keine  Treue  verlangt, 
sondern  raschen  Gehorsam;  Sitte  beruht  in  »Eintracht«  der  Lebens- 
formen, Mode  ist  durchaus  konventionell.  In  der  konventionellen 
Gesellschaft  hegen  auch  die  Wurzeln  der  öffentlichen  Meinung, 
sowohl  als  mannigfachen  wie  als  einheitlichen  Willens,  während 
öffenthche  Meinung,  die  sich  an  die  Sitte  anschließt,  für  jede  Gemein- 
schaft charakteristisch  ist,  daher  in  der  gegenwärtigen  Theorie  als 
eingeschlossen  im  sozialen  Willen,  der  als  Religion  seine  ausgeprägte 
Gestalt  hat,  verstanden  wird. 


VIL  Kapitel. 

Madit  und  Macfitfaktoren  der  Öffentlichen 

Meinung. 

Erster  Abschnitt.    Die  Macht. 

I.  (Neuerungen.)  Es  ist  eine  Tatsache,  der  alle  bedeutenden 
Geschichtsschreiber  ihre  Anerkennimg  zollen,  daß  die  öffentliche 
Meinung,  wie  sie  von  ihnen  in  Übereinstimmung  mit  der  gegenwärti- 
gen Theorie  verstanden  wird,  bei  allen  großen  Veränderungen  in 
Kirche  und  Staat,  in  der  Gesetzgebung,  Justiz  und  Verwaltung,  von 
denen  die  neueren  Jahrhunderte  erfüllt  sind,  eine  bedeutsame  Rolle 
gespielt,  ihre  Macht  zur  Geltung  gebracht  habe.  Dies  ergibt  sich 
schon  aus  dem,  w^as  über  die  Aggregatzustände  der  öffentlichen  Meinung 
ausgesprochen  wurde.  In  ihren  wichtigsten  Ansprüchen  und  Leistun- 
gen kann  eben  die  öffentliche  Meinung  schlechthin  als  der  moderne 
Geist,  der  subjektive  »Geist  der  Neuzeit«,  begriffen  werden,  der  zu- 
meist allmählich,  zuweilen  stoßweise  und  plötzlich,  sich  entwickelt 
und  immer  stärker,  immer  erfolgreicher  an  der  Vernichtung  und 
Untergrabung  überheferter  Anschauungen  wie  hergebrachter  Insti- 
tutionen arbeitet.  Merkwürdig  ist  dabei  vor  allem,  daß  die  öffent- 
liche Meinung  des  Tages  keineswegs  im  allgemeinen  Neuerungen 
geneigt  ist,  viel  eher  stemmt  sie  sich  dagegen  und  besteht  darauf, 
daß  das  Hergebrachte  wertvoll  und  richtig,  oder  doch  im  gegebe- 
nen Falle  zweckmäßig  sei,  und  jedenfalls  einen  guten  Sinn  habe. 
So  sind  alle  die  großen  Veränderungen  der  Ansichten,  des  Rechts, 
der  Staatsverfassungen  zunächst  von  Wenigen  befürwortet  worden 
oder  von  Schichten,  die  nicht  als  die  maßgebenden  unmittelbar  an 
der  Gestaltung  der  öffentlichen  Meinung  beteiligt  waren.    Daher  ist 


300  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

es  ein  langer  historischer  Prozeß  gewesen,  der  die  Öffentliche  Meinung 
zuerst  in  Fluß  gebracht,  dann  sogar  befestigt  hat,  zugunsten  der  Ge- 
werbefreiheit, des  freien  Geldverkehrs,  der  Freizügigkeit,  der  Koalitions- 
freiheit, der  Versammlungsfreiheit,  zugunsten  der  Verfassungen,  der 
Wahlrechte  und  ihrer  Ausdehnung,  gegen  das  heimliche  und  schriftliche 
Prozeßverfahren,  gegen  Hexenprozesse  und  Folter,  für  Schwurgerichte 
und  freie  Beweiswürdigung;  vollends  in  einer  späteren  Phase  der  Ent- 
wicklung für  die  Einmischung  des  Staats  und  seiner  Gesetzgebung 
in  den  freien  Arbeitsvertrag,  für  die  Bedingtheit  des  Privateigentums 
an  Boden  und  Kapital,  also  für  die  Zulässigkeit  und  Zweckmäßigkeit 
soziaHstischer  Neuerungen  als  gesetzgeberischer  Beschränkungen  des 
Eigentumsrechts.  Die  Widerstände  versammelten  sich  regelmäßig 
und  am  wirksamsten  in  irgendwelchem  religiösen  Motive,  wie  denn 
die  ReHgion  durchaus  eine  konservative  Macht  ist,  mithin  auch  die 
öffentliche  Meinung  des  Tages,  so  lange  und  sofern  sie  von  der  Religion 
umfangen  bleibt.  Es  wird  sich  also  immer  um  eine  Umwandlung,  Um- 
gestaltung der  öffentlichen  Meinung  handeln,  wodurch  sie  zugleich  ent- 
bunden und  auf  ihre  eigenen  Füße  gestellt  wird.  Immer  ist  die  Auf- 
gabe der  Neuerer  gewesen,  wenn  sie  nicht  schon  im  Namen  einer 
festen  oder  wenigstens  flüssigen  öffentlichen  Meinung  auftraten, 
diese  oder  wenigstens  unmittelbar  die  flüchtige  öffentliche  Mei- 
nung des  Tages  für  sich  zu  gewinnen,  also  die  Meinungen  zu 
bearbeiten,  sie,  wo  es  nötig  und  möglich  schien,  umzustimmen. 
Sei  es,  daß  einzelne  »Propheten«  mit  bewußtem  Willen  dies  unter- 
nehmen, von  wenigen  Anhängern  unterstützt,  oder  daß  diese,  als 
ihre  Jünger  und  Apostel,  die  Botschaft  von  der  heilsamen  Wahrheit, 
die  der  Meister  gebracht  habe,  in  die  Welt  verkünden,  oder  daß  Dritte 
sich  zu  ihrem  Vorteil  der  Sache  bemächtigen,  ihn  und  sein  Gefolge 
unterstützen,  selber  offen  oder  verborgen  die  neuen  Meinungen 
fördern  und  begünstigen  —  immer  wird  der  Gang  der  Dinge  um  so 
langsamer  und  schwieriger  sein,  je  stärker  das  Heer  der  überlieferten 
Ansichten,  der  damit  verknüpften  Gefühle  und  Interessen,  je  zäher 
also  das  Vorurteil  und  der  Selbsterhaltungstrieb  der  alten  Ordnung 
dawider  steht.  In  diesem  Sinne  kann  man  das  Sichdurchringen  der 
neuen  Ideen  mannigfach  beobachten.  Auch  wenn  sie  selber  rehgiös 
sind,  ja  oft  um  so  mehr,  steht  ihnen  die  ReHgion,  die  überlieferte, 
geltende,  überwiegend  geglaubte,  als  eine  Festung,  die  zu  erobern 
ist,  entgegen.  Indessen,  wie  religiöse  mit  religiösen,  so  kämpfen  auch 
außerreUgiöse  mit  außerreligiösen.  Auch  hier  ist  die  öffentliche 
Meinung  zunächst  für  die  überlieferten,  alten,  festgewurzelten  Ideen, 
sie  weicht  nur  allmählich  immer  wiederholten  Angriffen,  wenn  auch  zu- 
weilen, unter  dem  Druck  ungeheurer  Ereignisse,  ein  plötzlicher  Ruck 


Macht  und  Machtfaktoren  üsw.  —  Die  Macht.  301 

entsteht,  der  die  langsam  ausgehöhlte  fallen  läßt.  Immer  ist  eine  neue 
öffentHche  Meinung  zur  Stelle,  wie  in  einer  politischen  Revolution 
die  neuen  Träger  der  souveränen  Gewalt,  nachdem  die  alten  abgesetzt 
sind  oder  abgedankt  haben. 

2.  (Das  Moment  der  Öffentlichen  Meinung.)  Die  Macht  der 
öffentlichen  Meinung  ist,  wie  das  Gleichnis  anzeigt,  um  so  stärker, 
je  höher  der  Grad  ihrer  Festigkeit  xmd  zugleich  die  Energie,  mit  der 
sie  in  Bewegung  gesetzt  wird:  beide  zusammen,  die  Masse  mit  dem 
Faktor  der  Geschwindigkeit,  machen  das  Moment  der  öffentHchen 
Meinung.  Die  Festigkeit  allein  entscheidet  die  passive  und  negative 
Macht  des  Widerstandes  gegen  Angriffe,  die  Energie  ist  für  den  An- 
griff selber,  also  für  die  aktiven  und  positiven  Wirkimgen  wesentHch. 

In  diesen  Eigenschaften,  die  ihre  Kraft  bedingen,  ist  die  öffentliche 
Meinung  mit  der  Rehgion  gleichartig.  Daß  aber,  wie  früher  bemerkt 
wurde,  die  Rehgion  vorzugsweise  im  festen,  die  ÖffentHche  Meinung  zu- 
meist in  ihrem  flüchtigen  Aggregatzustande  betrachtet  wird,  rührt  auch 
davon  her,  daß  wir  durch  ein  halbes  Jahrtausend  den  Kampf  zwischen 
Rehgion  und  öffentlicher  Meinung  beobachten ;  einen  Kampf,  worin  sich 
die  Rehgion  notwendig  und  wesentlich  in  der  Defensive  befindet, 
während  die  ÖffentHche  Meinung  die  Macht  ist,  die  ihr  das  Gebiet 
streitig  macht  und  immer  vergrößertes  Gelände  ihr  abgewonnen  hat. 
Darum  hat  die  Rehgion  insbesondere  durch  ihre  Festigkeit,  als 
fester  Glaube,  ihre  Widerstandsfähigkeit  bewährt,  es  hegt  in  der 
Tat  nahe,  sie  mit  einer  starken,  sich  selbst  für  uneinnehmbar  halten- 
den Festung  zu  vergleichen,  die  als  ganze  selten  angegriffen  wird; 
um  so  mehr  aber  ihre  zahlreich  gebauten  Vorwerke,  gegen  die  von 
Zeit  zu  Zeit,  mit  größerem  oder  minderem  Erfolge,  ein  Sturm  der 
ÖffentHchen  Meinung  sich  erhebt.  In  der  Regel,  und  nament- 
lich in  den  früheren  Phasen  werden  wir  auch  in  diesen  Bewegungen  ein 
starkes  rehgiöses  Element  finden,  wodurch  sie  sich  verstärken,  solange 
und  sofern  die  gesamte  populäre  Denkungsart  noch  religiöse  Fär- 
bung trägt.  Die  ÖffentHche  Meinung  offenbart  sich  zunächst  in 
der  Negative,  der  Kritik,  der  Ablehnung,  Verwerfung,  Herabwürdigung, 
Lächerlichmachung  überheferter,  durch  die  Rehgion  bisher  geheihgter 
Vorstellungen,  Lehrsätze,  Vorschriften,  »Dogmen«  mid  »Riten«. 
Daran  beteihgen  sich  insgemein  die  Andersdenkenden,  mögen  sie 
dabei  ihre  eigene,  andersgeartete  Rehgion  oder  Konfession  ins  Gefecht 
führen,  oder  diese  im  Hintergründe  behalten,  oder  insgeheim  sogar 
verleugnen.  Wenn  wir  die  letzten  4V2  Jahrhunderte  überblicken, 
in  denen  diese  Kämpfe  so  lebhaft  gewesen  sind,  so  finden  wir,  daß 
in  der  größeren  Hälfte  dieser  Zeit  die  ÖffentHche  Meinung  noch  kein 
Dasein  für  sich  gehabt  hat,  daß  sie  ohne  reUgiöse  Gewandung  sich 


302  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

nicht  sehen  lassen  durfte;  ihr  besonderes  Dasein  aber  erkennen  wir 
hinter  dieser  Gewandung,  und  zwar  vorzüglich  daran,  daß  sie  ein- 
mütig auftritt,  ohne  daß  Einmütigkeit  in  den  religiösen  Fragen, 
die  umstritten  werden,  als  wirklich  oder  wahrscheinlich  voraus- 
zusetzen wäre. 

3.  (Verhältnis  zur  Kirche  um  die  Wende  der  Neuzeit.)  Eine 
solche  Einmütigkeit  wird  nun  am  leichtesten  sich  einstellen  in  bezug 
auf  Gegenstände  von  moralischer  Bedeutung,  insofern  als  in  einem 
Volke  hinlänglich  gleichartige  Normen  gelten  und  also  das  Urteil 
über  bestimmte  Verstöße  gegen  solche  sich  von  selbst  zu  verstehen 
scheint,  weil  Empfindungen  des  Unwillens  und  des  Wunsches,  Miß- 
billigung kundzugeben,  ja  zu  strafen,  allgemein  und  notwendig 
entstehen.  Nun  ist  immer  für  eine  herrschende  Schicht  der  gute 
Ruf  von  ganz  besonderem  Werte,  er  trägt  erheblich  bei  zu  ihrem 
Ansehen  und  ihrem  Einfluß,  wenn  auch  beide  zunächst  auf  Macht 
und  Gewalt,  diese  aber  zum  guten  Teil  auf  Überlieferung,  also  auf 
den  Glauben  an  die  Erhabenheit  und  Würde  der  Herrscher  sich 
stützen ;  welcher  Glaube  wiederum  als  religiöser  Glaube  seine  Weihe 
und  feste  Gestalt  empfängt.  Gilt  dies  mittelbar  für  den  weltUchen, 
so  gilt  es  ganz  unmittelbar  und  also  um  so  stärker  für  den  geistlichen 
Herrenstand.  Beide  aber  können,  trotz  des  beharrenden  Glaubens 
an  den  Stand  als  solchen  und  an  die  Ämter,  die  er  bekleidet,  durch 
das  Verhalten  seiner  individuellen  Träger  sich  in  Verruf  bringen, 
so  daß  auch  Macht,  Ansehen,  Einfluß  schweren  Schaden  davon  leidet. 
„Keine  Gesellschaftsklasse  ist  so  sehr  auf  die  öffentliche  Achtung 
angewiesen  wie  der  Klerus:  darauf  beruht  seine  innere  und  äußere 
Macht.  Versteht  er  nicht  zu  imponieren,  so  versteht  er  rucht  zu  re- 
gieren." (lyORBNZ  u.  Scherer,  Gesch.  des  Elsaß  I,  142)^).  Das  Im- 
ponieren freiUch  mußte  um  so  besser  gelingen,  wenn  die  Würden  des 
weltiichen  Adels  mit  der  geistlichen  Aristokratie  gepaart  waren,  wie 
es  in  ausgedehntem  Maße  immer  mehr  im  15.  Jahrhundert  übHch 
geworden  war,  da  das  bischöfliche  Amt  regelmäßig  dem  Adel  vor- 
behalten blieb  und  oft  auch  landesherrliche  Funktionen  in  sich  schloß. 
Auch  ist  es  weniger  diese  Verweltlichung  der  Kirche,  die  mehr  inner- 
halb ihrer  selbst  Anstoß  erregte,  als  der  anstößige  ]>benswandel  der 
allzu  massenhaft  auftretenden  niederen  Geistlichkeit  gewesen, 
allzu  oft  verbunden  mit  auffallender  Unwissenheit  dieses  bisherigen 


1)  Daß  die  »Renaissance*  in  Italien  literarisch  dahin  wirkte,  das  Ansehen  des 
geistlichen  Wesens  und  damit  auch  des  geistlichen  Standes  zu  untergraben,  ist  offen- 
bar. Über  die  „Stellung  des  Papsttums  zur  öffentlichen  Meinung"  handelt  Burck- 
HARDT  ausführhch  (Kultur  der  Renaissance,  I,  gjii.,  265),  ebenso  über  die  schmach- 
volle Nachrede,  die  man  (schon  im  13.  Jahrhundert)  den  bloßen  Pfründnern,  Chor- 
herren und  Mönchen  gewidmet  hat  (II,  23off.). 


Macht  und  Machtfaktoren  usw.  —  Die  Macht.  303 

Lehrstandes,  was  allmählich  »die  öffentliche  Meinung«  gegen  sie 
empört  hat^);  das  aber  war  schon  damals  vorzugsweise  die,  wenn 
auch  noch  durchaus  rehgiös  gefärbte,  Bildung  der  Städte,  woran 
auch  ein  Teil  des  niederen  Adels  tätigen  Anteil  nahm.  Bis  dahin  — 
um  die  Wende  des  15.  zum  16.  Jahrhundert  —  war  die  gemeinsame 
ReUgion  der  Völker,  die  als  Erben  des  weströmischen  Reiches  dessen 
Kultur  fortsetzten,  indem  sie  ihre  eigene  ausgestalteten,  das  Christen- 
tum der  römisch-katholischen  Kirche.  Nachdem  beide  —  Rehgion 
und  Kirche  —  manche  Erschütterungen  bestanden  hatten,  geschah 
es  im  16.  Jahrhundert,  daß  ein  tiefer  Riß  sich  öffnete,  der  seitdem  nicht 
wieder  geheilt  worden  ist,  und  Teile  jener  Völker,  auch  innerhalb  der 
meisten,  als  protestantische  von  denen,  die  der  alten  Kirche  wenigstens 
äußerhch  treu  gebUeben  sind,  abhebt.  Die  Fortschritte  der  »Refor- 
mation« laufen  parallel  und  sind  vielfach  verwoben  mit  den  Fort- 
schritten des  städtischen  Wesens,  also  des  Handels  und  der  von  ihm 
abhängigen  industriellen  Arbeit.  Mit  ihnen  aber  steigt  auch  die  Er- 
kenntnis der  wirklichen  W^elt  und  das  Streben,  sie  durch  Erkenntnis  zu 
beherrschen,  wenn  man  auch  zunächst  mit  dem  Wissen,  das  aus  dem 
Altertum  überliefert  war,  sich  begnügen  muß.  Dies  Studium  schHeßt 
unmittelbar  an  die  Gelehrsamkeit  der  Schulen,  die  Kleriker  und  Rechts- 
gelehrte zu  bilden  bestimmt  war,  sich  an,  als  älterer  Humanismus  noch 
in  Fühlung  damit  bleibend,  als  jüngerer  in  heftiger  Opposition  da- 
gegen, die  sich  als  Spott  und  Verachtung  kundgibt.  Die  Angriffe  rich- 
ten sich  wider  die  ganzen  Stände :  die  Geistlichkeit  und  die  Doctores, 
aber  mit  der  größeren  Leidenschaft  und  Erbitterung  gegen  jene, 
die  gerade  auch  im  Punkte  der  Bildung  am  meisten  der  Kritik  aus- 
gesetzt war.  Die  Angriffe  waren  bestimmt,  auf  die  große  Menge  der 
Gebildeten  oder  Bildungsdurstigen  zu  wirken;  darum  kleideten  sie 
sich  am  liebsten  in  das  Gewand  des  Witzes,  der  Satire;  wie  Thomas 
Murner  zu  jener  Zeit  sagte:  „Wer  dem  Ungelehrten  will  schreiben, 
der  muß  spassen  viel."  Holzschnitt  und  Buchdruck  waren  schon 
als  die  technischen  Mittel  der  Vervielfältigung  der  Spaße  wie  des 
Ernstes  zur  Verfügung;  sie  waren  auf  den  lebhafteren  Verkehr  der 
größeren  Städte,  woran  auch  das  Landvolk  der  Umgebung  teilnahm, 
berechnet.  Aber  auch  an  die  Gelehrten,  auch  in  deren  eigener  Sprache 

*)  ,,Ea  war  so  weit  gekommeu,  daß  die  Verfassung  des  geistlichen  Standes  die 
öffentliche  Moral  beleidigte"  .  .  .  „der  Zustand  der  in  wilder  Ehe  lebenden  Priester  .  .  . 
erregte  Mitleiden  und  Verachtung".  (Rankk,  Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der 
Reformation  I,  251 .)  Er  führt  des  Humanisten  Wimpheuno  Ausspruch  vom  scandalum 
odium  murmur  populi  in  omnetn  clerum  an  und  fügt  hinzu:  , .Unzählige  Aussprüche 
in  diesem  Sinn  waren  im  Umlauf;  die  Flugschriften  jener  Zeit  sind  voll  davon." 
Als  gemeinsamen  Charakter  der  hervorleuchtendstcn  Erscheinungen  der  Literatur  um 
die  Wende  des  Jahrhunderts  bezeichnet  Ranke  den  der  Opposition. 


304  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

lind  Denkweise,  wandte  sich  die  Bosheit  der  Kritik  gegen  den  gelehrten 
Stand  —  dies  war  der  Charakter  und  darin  beruhte  die  Wirkung  der 
„Bpistehi  unberühmter  Männer^^,  worin  es  so  grell  zutage  trat,  daß 
,,der  ehemals  hochgeehrteste  Stand",  die  Geistlichen,  in  der  öffentHchen 
Meinung  „immer  tiefer  sank  und  seinen  Boden  in  stetiger  Abnahme 
mehr  imd  mehr  verlor".  So  lange  als  es  noch  wesentlich  um  eine 
Bewegung  in  der  Gelehrtenwelt  und  deren  Ausbreitung  sich  handelte, 
stand  imangefochten  an  ihrer  Spitze  ein  Schriftsteller  und  Theologe 
europäischen  Ansehens  wie  der  Niederdeutsche  Erasmus,  „der  erste 
große  Autor  der  Opposition  in  modernem  Sinne",  wie  ihn  Ranke 
(Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der  Reformation  I,  260),  „der 
erste  große  Vertreter  und  Prediger  der  rein  humanistischen  Bildung 
in  Deutschland",  wie  ihn  Paui^en  (Gesch.  des  gelehrten  Unterrichts^ 
1, 67)  genannt  hat.  Sein  „I^ob  der  Torheit"„brachte  eine  unbeschreibHche 
Wirkung  hervor":  „noch  bei  I^ebzeiten  des  Erasmus  sind  27  Auflagen 
davon  erschienen;  in  alle  Sprachen  ist  es  übersetzt  worden:  es  hat 
wesenthch  dazu  beigetragen,  den  *Geist  des  Jahrhunderts*  in 
seiner  antiklerikaUschen  Richtung  zu  befestigen"  (Ranke  1.  c.  263). 
„So  ward  er  allmählich  der  berühmteste  Mann  in  Europa :  die  öffentliche 
Meinung,  der  er  Weg  bahnte  vor  ihr  her,  schmückte  ihn  mit  ihren 
schönsten  Kränzen  (ib.  265).  Ein  Prediger  wie  Johan  Geii^ER  von 
Keisersperg,  der  die  erregte  Kritik  des  Volkes  mit  der  Autorität  seines 
Wortes  bekräftigte  (I^orEnz  u.  Scherer,  1.  c.  153);  ein  Schriftsteller 
wie  der  Dichter  des  Narrenschiffs,  Sebastian  Brant,  der  „mit  kühnem 
Freimut  den  Trägern  der  kirchlichen  und  der  weltHchen  Gewalt  ihre 
Gebrechen  vorhält,  mit  schneidender  Schärfe  gegen  die  Verkehrtheiten 
und  Laster,  wo  und  wie  immer  sie  sich  zeigen,  zu  Felde  zieht" 
(Janssen,  Gesch.  d.  deutschen  Volkes  I,  17/18,  304),  haben  mit  vielen 
Geringeren,  imd  mit  dem  begünstigenden  Einfluß  der  Zeitverhältnisse, 
die  eine  immer  zunehmende  Unzufriedenheit  etwa  1467 — 15 17  nährten, 
dahin  zusammengewirkt,  etwas  wie  eine  dem  deutschen  Volke  gemein- 
same öffentliche  Meinung  hervorzubringen,  die  der  Reformation  die 
Wege  ebnete.  So  meinte  schon  Christian  Garve,  keine  Begebenheit 
habe  vielleicht  die  Macht  der  öffentHchen  Meinung  in  dem  Sinne,  den 
er  dem  Worte  gebe  (er  war  einer  ihrer  frühesten  Theoretiker)  deut- 
hcher  gezeigt  als  die  Reformation.  „Es  hatte  sich  eine  öffentliche 
Meinung  gebildet,  daß  eine  Änderung  in  der  lychre,  den  Gebräuchen, 
und  vornehmlich  in  der  Hierarchie  der  Kirche  vorgehen  müsse; 
und  selbst  über  viele  Punkte  des  neu  zu  errichtenden  Systems 
war  man  im  vStillen  zu  einer  Entscheidung  und  Einstimmigkeit 
gekommen.  Daher  der  unerwartete  Beifall,  welchen  der  Mann  in 
der  Welt  fand,  der  diese  gemeinschaftHchen  Urteile  Vieler  in  seinen 


Macht  und  Machtfaktoren  usw.  —  Die  Macht.  305 

Schriften  gleichsam  nur  sammelte  und  kundmachte.  Er  wurde  der 
Vereinigungspunkt,  um  den  sich  die  schon  vorhandene  Partei  sammelte, 
wodurch  ihre  Größe  sichtbar  wurde,  er  war  aber  nicht  der  Stifter 
derselben"  (Versuche  über  versch.  Gegenstände  der  Moral,  V,  301) 
Bei  einem  neueren  Autor  finden  wir  dargestellt,  wie  die  „nationalen 
Humanisten,  Hütten  voran"  um  Luther  sich  drängten  und  ihn  als 
ihren  Bundesgenossen  begrüßten,  wie  Hütten  auch  den  mächtigen 
Reichsritter  Säckingen  gewann,  imd  so  die  drei  bis  dahin  getrennten 
Richtungen  der  Opposition,  die  theologische,  die  humanistische  und 
die  poUtische  „zu  einem  großen  Strom  verschmolzen".  „Zum  ersten- 
mal wurde  die  Presse  eine  Macht  im  Leben  des  deutschen  Volkes" 
(ElÄMMEL,  Der  Werdegang  des  deutschen  Volkes  II.,  S.  7).  Dabei  ist 
aber  noch  nicht  der  revolutionären  Bewegungen  in  der  Bauernschaft 
imd  in  den  Unterschichten  der  Städte  gedacht  worden,  die  geraume  Zeit 
vor  Luther  in  lebhaftester  Gärung  waren,  aber  die  Verkündimg  der 
»►evangelischen  Freiheit«  um  so  lieber  willkommen  hießen,  da  sie  längst 
im  stillen  der  Schwärmerei  huldigten,  die  durch  alle  Ketzereien  hin- 
durchgehend, im  Husitentum  neu  belebt,  eine  vollkommene  Er- 
neuerung christücher  Gemeinschaft  und  des  allgemeinen  Priestertums 
verlangten,  um  der  erwarteten  Wiederkunft  des  Herrn  und  dem 
Aufgang  des  1000  jährigen  Reiches  entgegenzugehen.  Diese  Schwarm- 
geisterei bildete  den  Generalbaß  in  der  Harmonie  der  öffentlichen 
Meinung ;  sie  ist  durch  und  durch  religiös,  aber  widerkirchlich  religiös 
und  eben  dadurch  auch  weltlich-praktisch  gerichtet.  Nur  kurze  Zeit 
klangen  alle  diese  Instrumente  zusammen,  und  diese  Zeit  war  eben  die 
des  Auftretens  Luthers,  darum  horchten,  so  mannigfach  auch  ihre 
Motive  v/aren,  alle  „Ritter,  Bürger  und  Bauern,  Kleriker  und  Laien, 
Gelehrte  und  Ungelehrte  deutscher  Nation,  hoch  auf,  als  ihnen  die  lang 
erwartete  Stimme  des  Befreiers,  das  ersehnte  Wort  der  Erlösung  ans  Ohr 
schlug"  (F.  V.  Bezold,  Gesch.  d.  deutschen  Reformation,  244).  Aber, 
wie  es  regelmäßig  und  gesetzmäßig  geschieht,  auf  diesen  Gipfel  gelangt, 
erweckte  das  Getöse  auch  den  Widerstand,  die  Reaktion  bahnt  sich 
an,  die  alten  Gewalten  sammeln  ihre  Streitkräfte  —  Luther  verfiel 
dem  Bann  und  der  Reichsacht.  Hausrath,  sein  protestantischer 
Biograph,  berichtet,  wie  unter  H Adrians  Papsttum  der  Aberglaube 
beider  Parteien  mit  einem  mißgeborenen  Kalbe  sich  deutend  be- 
schäftigte. „Es  gab  nur  noch  eine  Liebe  und  einen  Haß;  kam  ein 
Ungeheuer  zur  Welt,  so  mußte  es  Luther  bedeuten  oder  die  Klerisei, 
wo  man  früher  an  den  »Türk  oder  Tartar«  gedacht  hätte.  Das  war 
die  Stimmung  in  Deutschland  unter  Hadrian  VI.,  und  dieser  Um- 
schlag der  öffentlichen  Meinung  war  das  Werk  eines  einzigen  Mannes" 
(Luther,  1, 572).  Aber  nicht  umgesclilagen  war  die  öffentliche  Meinung, 

TAnniet,   Kritik.  20 


306  Bmpirischk  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

die  Spaltung  ist  von  nun  an  das,  was  sie  in  Fragen  der  Religion  und 
des  Kirchentums  bezeichnet.  Sie  geht  der  Spaltung  der  I^änder  und 
Städte,  der  Territorien  in  katholische  und  protestantische,  später  in 
lutherische  und  reformierte,  voran,  in  welchen  Spaltungen  dann  die 
ganze  Bewegung  erstarrte  und  verging.  —  Ein  amerikanisch-deutscher 
lyiteraturhistoriker,  der  das  tragische  Schauspiel  der  deutschen  Ent- 
wicklung von  der  Reformationszeit  bis  in  den  30  jährigen  Krieg  schildert, 
bricht  in  die  Worte  aus :  „Wie  anders  wäre  der  Gang  der  Ereignisse 
gewesen,  wenn  zu  jener  Zeit  ein  umfassendes  nationales  Bewußtsein, 
eine  starke  öffentliche  Meinung  in  Deutschland  vorhanden  gewesen 
wäre!"  (KuNO  Francke,  Social  forces  in  German  literature,  p.  139). 
Und  er  wiederholt  (ib.  20  Seiten  nachher),  die  Hauptursache,  warum 
die  Bewegung  ins  Stocken  geriet  und  die  idealistische  Strömung  der 
deutschen  Literatur  hemmte,  sei  darin  zu  finden,  daß  ein  starker 
nationaler  Wille,  eine  aufgeklärte  öffentliche  Meinung  im  Deutschland 
des  16.  Jahrhunderts  gefehlt  habe. 

4.  (Die  Wucherfrage.)  Ganz  auffallend  tritt  uns  die  Einmütigkeit 
der  öffentlichen  Meinung  entgegen  in  Fragen  von  wirtschaftlicher  und 
politischer  Art,  die  ehemals  streng  von  der  ReHgion  aus  betrachtet 
wurden,  jetzt  aber  gänzlich  außerhalb  ihres  Bereiches  fallen,  auch  wenn 
sie  etwa  noch  eine  moralische  Seite  darbieten,  die  sonst  ausschließHch 
vom  religiösen  Standpunkt  beurteilt  wurde,  nunmehr  aber  einem  rein 
weltlichen  und  rationalen  Urteil  unterhegt.  Eine  solche  Frage  ist  die 
des  zinsbaren  Darlehns.  Bis  über  das  Jahr  1600  hinaus,  und  min- 
destens seit  1200,  galt  der  Satz  von  der  pravitas  usuraria:  daß  alles 
eigentliche  Zinsennehmen  eine  Sünde  sei,  gemäß  dem  Herrenwort 
Mutuum  date,  nihil  inde  sperantes.  Es  war  ein  rehgiös  begründetes, 
theologisch-kanonisches  Verbot,  das  eine  weitschichtige  gelehrte 
Literatur  hervorrief,  eine  sehr  große  Rolle  in  der  Beichtpraxis  spielte 
und  als  schlechthin  gewissenbindend  galt.  Heute  geht,  unabhängig 
vom  religiösen  Bekenntnis,  die  allgemeine  Überzeugung  dahin,  daß 
es  kaum  etwas  Harmloseres,  Unschuldigeres,  Natürlicheres  geben 
könne,  als  bei  Gewährung  eines  Darlehens  Zinsen  dafür  auszubedingen ; 
während  die  Gewährung  eines  zinsfreien  Darlehens  —  in  der  Regel 
auf  kleine  Beträge  beschränkt  —  entweder  als  Ausdruck  besonderen 
Wohlwollens  gegen  Freunde  und  Verwandte  gilt,  oder  als  eine  Wohl- 
tätigkeit, deren  Luxus  reiche  Personen  sich  gönnen,  sei  es  aus  gutem 
Herzen,  oder  weil  sie  darin  einen  besonderen  Genuß  ihrer  Reichtums- 
macht empfinden.  Die  Verwerfung  und  Verurteilung  des  »Wuchers« 
ist  die  gleiche  geblieben ;  aber  während  damals  —  für  den  Standpunkt 
des  römisch-katholischen  Christentums  —  alles  Zinsnehmen  als 
Wucher  gebrandmarkt  wurde  —  weshalb  auch  jene  Norm  des  kano- 


Macht  und  Machtfaktoren  usw.  —  Dre  Macht. 


307 


nischen  Rechts  als  »Wucherverbot«  bekannt  ist  — ,  so  wird  heute 
darunter  teils  alle  mit  Ausbeutung  fremder  Notlage,  fremden  I^eicht- 
sinnes  u.  dgl.  verbundene  Annahme  oder  Bedingung  übermäßiger 
Zinsen  genannt,  teils  die  damit  verwandte  Brzielvmg  und  Erraffung 
auffallend  hohen  Handels-  imd  Unternehmergewinnes,  zumal  wenn 
Schliche  und  Tücken  dafür  angewandt  werden,  um  Gesetze  zu  um- 
gehen oder  auf  die  Gefahr  nicht  abschreckender  Strafen  hin  offen  zu 
übertreten.  In  der  entschiedenen  Mißbilligung  solcher  Praktiken  gehen 
ebenso,  wie  im  Abscheu  gegen  Diebstahl  und  Betrug  die  Moral  der  Reli- 
gion und  die  Moral  der  öffentlichen  Meinung  einig;  um  so  auf f allendei 
erscheint  das  weite  Auseinandergehen,  wenn  die  historische  Bedeutimg 
des  Wucherverbotes  ins  Auge  gefaßt  wird.  Sie  hängt  damit  zusammen, 
daß  überhaupt  das  wirtschaftliche  Erwerbsleben  in  erster  I^inie  unter 
den  Gesichtspunkt  von  Gut  imd  Böse  gebracht  wurde,  und  daß  die 
Arbeit  für  besser  galt  als  Handel  und  Geschäft;  nachdem  diese  über- 
wiegend und  herrschend  geworden  sind,  haben  sie  nicht  geradehin 
das  Verhältnis  umzukehren  vermocht,  wohl  aber  bewirkt,  daß  sie 
nur  ausnahmsweise  unter  moralische  Beurteilung  fallen;  im  allge- 
meinen genügt  die  RechtHchkeit  und  Ehrlichkeit,  deren  Wesen  man 
darein  setzt,  daß  i.  das  positive  Recht  wenigstens  soweit  beobachtet 
wird,  als  es  allgemein  geltenden  moralischen  Vorstellungen  Ausdruck 
gibt,  2.  auch  ein  natürhches  Recht  Anerkennung  findet,  das  darin 
gefunden  wird,  daß  sehr  weitgesteckte  Grenzen  des  Verhältnisses  von 
Ircistung  und  Gegenleistung  nicht  überschritten  werden.  Während  nun 
die  öffentliche  Meinung  als  Sprecherin  jener  moralischen  Vorstellun- 
gen auch  sehr  hohen  Handels-  und  Unternehmergewinn  in  der  Regel 
mehr  bewundert  als  verurteilt,  so  ist  es  anders  in  bezug  auf  »Kriegs- 
gewinne« —  gegen  diese  macht  sie  mit  Heftigkeit  geltend,  daß  es 
häßlich  ist,  in  einer  Zeit,  da  das  Volk  leidet  und  seine  Jugend  sterben 
oder  verstümmelt  oder  in  Gefangenschaft  schmachtend  sehen  muß, 
sich  zu  bereichern  und  zu  mästen,  zumal  wenn  dies  durch  die  Not 
des  Volkes  geschieht,  wie  bei  einigen  Arten  dieser  Handelsgeschäfte 
offcnsichüich  der  Fall  ist  oder  doch  so,  daß  die  öffentHche  Not  da- 
durch gesteigert  wird.  Nun  begegneten  freiUch  diese  Anklagen  sich 
mit  dem  Odium,  worin  der  Kapitalismus  überhaupt  in  weiten  Kreisen 
des  Volkes  gefallen  ist,  als  Ursprung  des  Mehrwertes,  des  arbeitlosen 
und  auf  Ausbeutung  fremder  Arbeit  beruhenden  Einkommens.  Die 
Öffentliche  Meinung  nimmt  bisher  an  dieser  Gesamtverurteilung  des 
werbenden  Kapitals  nicht  Teil,  sie  will  vielmehr  durch  Preisgabe  der 
»Auswüchse«, des  »illegitimen «Handels,  des  neuen  Reichtums,  den  die 
verhängnisvolle  Kriegskonjunktur  hervorbringe,  den  »reellen«  Handels- 
und Fabrikationsgewinn  retten,  sie  betrachtet  als  Regel,  daß  der 

20* 


3o8  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Gewinn  durch  das  persönliche  Verdienst  der  »Unternehmer«  erzielt 
werde,  und  daß  er  zugleich  dem  allgemeinen  Besten,  insbesondere 
gerade  zum  Besten  der  Besitzlosen,  denen  sie  »Arbeit  geben«,  diene; 
denn  nur  die  Aussicht  auf  Gewinn  kann  sie  dazu  bestimmen,  diesen  — 
sogar  im  Vorschuß  —  Lohn  zu  zahlen.  Auch  abgesehen  davon,  daß 
im  Untemehmergewinn  ein  Lohn  enthalten  ist,  der  als  Vergütung 
für  Leistungen,  die  für  die  Entstehung  des  Produktes  wesentUch 
waren,  zu  denken  ist,  gilt  doch  der  Gewinn,  also  auch  der  des  reinen 
Handels,  als  »verdient«,  weil  erworben  durch  eigene  kluge  Tätigkeit, 
durch  Fleiß  und  Eifer,  und  weil  das  Ergebnis,  die  Versorgung  des 
Marktes,  gemeinnützig  sei.  Auf  ein  solches  Verdienst  kann  nun 
freilich  der  bloße  LeihkapitaHst  keinen  Anspruch  machen.  In  Wahr- 
heit gilt,  wenn  auch  die  Nationalökonomen  allerhand  Theorien  zur 
Erklärung  des  Kapitalzinses,  die  zum  Teil  zugleich  dessen  Fecht- 
fertigung enthalten  wollen,  vorbringen,  der  Kapitalzins  als 
selbstverständlich.  „Es  wird  ganz  so  Eigenschaft  des  Geldes,  Wert 
zu  schaffen,  Zins  abzuwerfen,  wie  die  eines  Birnbaumes,  Birnen  zu 
tragen"  (K.  Marx,  Kapital  III,  378).  „In  dem  zinstragenden  Kapital 
ist  aber  die  Vorstellung  vom  Kapitalfetisch  vollendet,  die  Vorstellung, 
die  dem  aufgehäuften  Arbeitsprodukt,  und  noch  dazu  fixiert  als  Geld, 
die  Kraft  zuschreibt,  durch  eine  eingeborne  geheime  QuaUtät,  als  reiner 
Automat,  in  geometrischer  Progression  Mehrwert  zu  erzeugen  ....'' 
(ib.  385).  Es  ist  sicherlich  der  größte  Triumph  der  öffentlichen  Meinung, 
daß  sie  in  diesem  Sinne  sich  durchzusetzen  vermocht  hat,  ihre  Macht 
kann  sich  nicht  deutHcher  beweisen,  als  dadurch,  daß  sie  keinen 
Widerstand  und  Widerspruch  mehr  zu  gewärtigen  hat,  daß  insbe- 
sondere auch  die  Religion  ihr  durchaus  hat  nachgeben  müssen,  wie 
es  dadurch  geschehen  ist,  daß  im  Jahre  1830  die  Poenitentiaria  Romana 
den  Beichtvätern  Anweisung  erteilte,  die  Zinsnehmer  nicht  mehr  zu 
beunruhigen  (Röscher,  I^^,  573).  Die  Geschichte  des  Wucherverbots 
ist  die  Geschichte  eines  allmählichen  Zurückweichens  mit  immer 
vermehrten  Einräumungen,  deren  bedeutendste  sich  noch  heute  in 
der  Einschiebung  des  Wortes  Interessen,  das  in  mehreren  Haupt- 
sprachen das  herrschende  Wort  für  Zins  geworden  ist,  dem  Gedächtnis 
eingeprägt  hat;  denn  dies  Wort  sollte  ursprünglich  einen  anderen 
Begriff,  den  Begriff  einer  erlaubten  Vergütung,  im  Gegensatz  zur  ver- 
ruchten des  Zinses,  bezeichnen.  Die  öffentliche  Meinung  ließ  sich  diese 
Einräumung  gefallen  und  sprach  unter  dem  Namen  des  Interesses  den 
Zins  frei,  nachdem  in  Wirklichkeit  beide  längst  identisch  geworden 
waren.  Auch  darin  tut  ihr  entscheidender  Sieg  sich  kund,  daß  die 
modernen  philosophischen  Werke  über  Ethik  der  Fragwürdigkeit 
des  Zinsnehmens  überhaupt  keine  Erwähnung  mehr  tun.   Und  es  ist 


Macht  und  AUchtfaktoren  usw.  —  Die  Macht.  309 

sogar  eine  Neigung  deutlich  wahrnehmbar,  die  Selbstverständlichkeit 
des  Zinses  auf  den  ganzen  Kapitalgewinn  auszudehnen,  wenn  er  nur 
nicht  durch  efiorme  Höhe  Anstoß  erregt;  diese  aber  wird  auch  dem 
Zinsfuß  nicht  gegönnt,  ja  gilt  sogar  als  verbrecherisch. 

5.  (Kirche  und  Staat.)  Ein  drittes  Beispiel  der  Macht  der  öffent- 
lichen Meinung,  wie  sie  im  Gegensatz  zur  Religion  sich  entfaltet  hat, 
wählen  wir  aus  dem  politischen  Gebiete.  Es  betrifft  die  Idee  des  Gemein- 
wesens selber.  Für  die  ReUgion,  so  lange  sie  die  herrschende  Geistes- 
macht war,  verstand  es  sich,  daß  die  Elirche  das  höchste,  das  wahre,  das 
von  Gott  selber  gestiftete,  also  über  menschliche  Kritik  erhabene  Ge- 
meinwesen wäre.  Die  öffentliche  Meinung  hingegen  steht  auf  selten 
des  Staates.  Sie  bekämpft  die  Hierarchie,  die  Theokratie,  die  Macht- 
ansprüche der  Kirchen,  die  Intoleranz  und  den  Jesuitismus,  ja  auch  das 
Staatskirchen  tum ;  sie  neigt  dazu,  im  Staate  allein  die  sittHche  Macht 
anzuerkennen,  welche  die  Kirchen  für  sich  in  Anspruch  nehmen.  Sie 
begrüßte  den  Kampf  der  preußischen  und  badischen  Gesetzgebung 
gegen  die  Übergriffe  der  Kirche,  die  Verbannung  der  Jesuiten  aus 
dem  Deutschen  Reiche  als  »Kulturkampf«,  sie  klagte  die  Verkündung 
der  Unfehlbarkeit  des  Papstes  in  dogmatischen  Fragen  an  als  eine 
Verhöhnung  der  gesunden  Vernunft,  eine  Kriegserklärung  gegen  den 
Staat,  wodurch  der  konfessionelle  Friede  gestört  werde.  Der  Gebrauch 
der  Wörter  »Pfaffen«  und  »Pfaffenherrschaft«,  oft  in  Verbindung  mit 
dem  Worte  »mittelalterHch«,  gibt  der  öffentlichen  Meinung  in  dieser 
Hinsicht  bezeichnenden  Ausdruck :  das  Wort  Pf  äff ,  ursprünglich  eine 
ehrenvolle  Bezeichnung  des  geistlichen  Standes,  ist  längst  zum  Schimpf- 
wort geworden.  Im  übrigen  ist  das  Verhalten  der  öffentlichen  Meinung, 
wenigstens  in  Deutschland,  vollends  etwa  in  England,  nicht  schlechthin 
feindUch  gegen  die  Kirchen,  sondern  duldsam,  mit  dem  Zugeständms, 
daß  sie  einen  gewissen  moralischen  Wert  haben,  wenn  sie  nur  dem  Staate 
sich  unterordnen  und  keiner  Übergriffe  in  dessen  Gebiet  sich  schuldig 
machen.  Anders  ist  es  in  den  romanischen  Ländern.  Besonders  in 
Frankreich  steht  die  öffentliche  Meinung  stark  unter  dem  Einfluß  des 
Freimaurer-Ordens,  und  dieser  huldigt,  außer,  daß  er  einen  heftigen 
republikanischen  Chauvinismus,  dem  die  öffentliche  Meinung  genau 
folgt,  vertritt,  Voltaire  sehen  Überheferungen,  deren  Stichwort  das 
Ecrasez  V infame.  Nur  unter  dem  Druck  einer  starken  antikirchhchen 
öffentlichen  Meinung  war  die  Trennung  der  Kirche  vom  Staat  möglich, 
die  im  Jahre  1905  ausgesprochen  wurde,  nachdem  schon  vorher  mit 
rücksichtsloser  Härte  gegen  die  geistUchen  Korporationen  und  ihre 
Schule  verfahren  war.  In  dem  fortdauernden  Kampfe  ist  es  aber  ohne 
Zweifel  der  Kirche  zugute  gekommen,  daß  die  öffentliche  Meinung 
in   den   folgenden   Jahren    abgelenkt    wurde    und    zwar    auf    ein 


310  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Gesichtsfeld,  das  gerade  in  Frankreich  ihr  von  altersher  teuer  ist: 
das  der  nationalen  Gloire  und  Bereicherung :  die  Eroberung  Marokkos, 
die  Entente  cordiale  mit  England,  die  dadurch  und  Sixch.  Englands 
Versöhnung  mit  dem  Zarismus  der  Aussicht  sich  eröffnende  Wieder- 
eroberung des  Elsaß  und  der  abgetrennten  Teile  Lothringens  — 
diese  Dinge  traten  mit  erhöhter  Stärke  ins  öffentiiche  Bewußtsein; 
die  leidenschaftHche  Wut  der  Eifersucht  und  Rachsucht  gegen  das 
immer  mächtiger  emporsteigende  deutsche  Nachbarreich  verdunkelte 
alle  anderen  Empfindungen.  Die  Kirche  gab  dazu  wie  immer  ihren 
Segen;  Kirche  und  öffentHche  Meinung  schlössen  einen  Waffen- 
stillstand auf  Grund  des  gegebenen  Zustandes.  Ähnlich  wirkte  in 
Preußen,  und  mittelbar  im  übrigen  Deutschen  Reich,  der  verstärkte 
Gegensatz  gegen  die  Sozialdemokratie  im  letzten  Viertel  des  19.  Jahr- 
hunderts zur  Abschwächung  des  Kulturkampfes :  die  V/af f en  wurden 
auf  dem  Fechtboden  niedergelegt,  weil  der  Staat  sie  für  anderen  Ge- 
brauch nötig  hatte,  und  die  öffentliche  Meinung  gab  ihre  Zustimmung 
dazu.  Überhaupt  läßt  sich  beobachten,  daß  fast  das  ganze  Jahrhundert 
hindurch,  die  Stoßkraft  der  öffentlichen  Meinung  wie  die  der  gesamten 
liberalen  Denkungsart,  der  sie  den  am  meisten  geistigen  Ausdruck 
gibt,  erhebUch  vermindert  wird  durch  das  Emporkommen  des  Radi- 
kalismus und  Sozialismus,  weil  gegen  diese  Mächte  auch,  und  oft  am 
meisten,  der  lyiberalismus  sich  wehren  muß  und  daher  nicht  selten  mit 
den  konservativen  Gesinnungsmächten  sich  zu  vertragen  und  sogar  zu 
verbünden  geneigt  wird.  Sehr  bedeutende  Bestandteile  der  Uberalen 
Meinung  sind  feste  öffentliche  Meinung  geworden;  im  Widerstand 
gegen  »hierarchische  Gelüste«  wirkt  sie  bestimmend  und  maßgebend; 
wo  es  nicht  oder  nicht  mehr  der  Fall  ist,  da  muß  der  lyiberaUsmus 
kämpfen  um  seine  Geltung  und,  um  als  öffentliche  Meinung  zu  wirken, 
sich  nach  Bundesgenossen  umsehen;  daher  wirbt  er  um  konservative 
Gunst,  wenn  es  gegen  links,  und  um  radikale  Gunst,  wenn  es  gegen 
rechts  zu  kämpfen  geboten  scheint.  Das  Werben  ist  es  eigentlich, 
was  die  unartikulierte  öffentliche  Meinung  bezeichnet.  Werben  und 
Kämpfen.  Im  allgemeinen  hat  sie,  wenn  sie  einen  so  hohen  Grad  von 
Dichtigkeit  gewinnt,  daß  sie  als  artikulierte  wirken  kann,  dies  einem 
Eindruck  imd  Antrieb  zu  verdanken,  der  plötzlich  »die  weitesten 
Kreise«  ergreift  und  nun  mit  größerer  oder  geringerer  Heftigkeit  »die« 
öffentüche  Meinung  in  Bewegung  setzt:  als  ein  heftiger  Wind,  ja  als 
Sturm,  ersetzt  sie  dann  durch  Energie,  was  ihrer  Masse  fehlt ;  ihr  Moment 
kann  durch  diesen  Impetus  gewaltig  und  zermalmend  wirken.  So  erhob 
sich  ein  Sturm  der  öffentHchen  Meinung  Deutschlands,  als  jene  Daily 
Telegraph-'Enth.ü\hm%  geschehen  war,  die  das  persönliche  Ansehen  des 
Kaisers  tief  erschütterte  und  damit  eine  der  Wurzeln  des  monarchischen 


Macht  und  Machtfaktoren  usw.  —  Die  Machtfaktoren.  311 

Bewußtseins  angriff.  Auf  eine  Einschränkung  der  monarchischen 
Gewalt,  Abschaffung  des  persönlichen  Regimentes  hatte  die  liberale 
Meinimg  immer  hingearbeitet;  in  bezug  auf  den  zweiten  Punkt  waren 
sogar  die  nationalliberale  und  die  fortschrittHche  Richtung  mitein- 
ander einig;  auch  das  Zentrum  fand  daran  keinen  Gefallen;  die 
sozialdemokratische  Partei,  soweit  sie  schon  für  die  öffentliche 
Meinimg  in  Betracht  kam,  war  der  monarchischen  Institution  ebenso 
wie  ihrem  persönHchen  Träger  abgeneigt.  Aber  auch  die  entschie- 
densten Verfechter  der  Institution  sahen  auf  diesen  Träger  mit 
starken  Zweifeln,  wenn  nicht  mit  offener  Geringschätzung.  So  be- 
durfte es  in  diesem  Falle  keines  eigenthchen  Werbens  und  Kämpfens, 
um  den  Sturm  zu  entfesseln.  Oft  aber  ist  die  Entstehung  der  öffent- 
lichen Meinung  des  Tages  imd  ihrer  Kraft  einem  langwierigen  Bohren 
zu  verdanken,  einer  »Agitation«,  die  das  Erdreich  des  zumeist  in  Sitte 
und  Religion  verwurzelten  Bewußtseins  allmählich  auflockert  und  es 
bereit  macht  zum  Empfange  und  zur  Förderung  des  eingestreuten 
Samens. 

Zweiter  Abschnitt.    Die  Machtfaktoren. 

6.  (  Übergänge  der  Aggregatzustände.)  In  der  Regel  wird  man  finden, 
daß  die  luftartige  öff enthebe  Meinung  i.  aus  der  flüssigen  und  2.  durch 
deren  Vermittlung  aus  der  festen  öffentHchen  Meinung  in  einem  Prozeß 
entsteht,  den  wir  mit  der  Schmelzung  und  Verdunstung  vergleichen 
mögen.  Beide  sind  Wirkungen  der  Zufuhr  von  Wärme,  d.  i.  von  Be- 
wegung, die  den  molekularen  Bau  eines  Körpers  zersetzt.  Solche  Wir- 
kung übt  auf  die  menschliche  Seele  die  Gemütsbewegung  oder  Erregung, 
die  ebenso  ganze  Mengen,  wie  den  einzelnen  Menschen  ergreift.  Bei 
dem  Einzelnen  stellt  sie  sich  ein,  wenn  seine  persönlichen  Werte  und 
Güter  angegriffen  und  bedroht,  vermindert  und  verschwächt,  aber 
auch,  wenn  sie  begünstigt  und  gefördert,  vermehrt  und  verstärkt 
werden.  Es  ist  in  der  Regel  wohl  heute  die  feste  Meinung  und  Über- 
zeugung eines  gebildeten  Mannes,  daß  Sklaverei  durchaus  und 
unter  allen  Umständen  verwerflich  und  schändUch  sei;  zuweilen  ist 
es  aber  nur  eine  flüssige  Meinung,  deren  Gerinnen  verhindert  wird 
durch  gewisse  Eindrücke,  die  er  aus  der  I^ektüre  von  der  Minder- 
wertigkeit der  schwarzen  Rasse,  von  der  Notwendigkeit,  in  tropischen 
Ländern  Arbeitszwang  auszuüben  usw.  gewonnen  hat;  oder  der  Ab- 
scheu, den  eine  Zeitungsnachricht  von  der  BestiaUtät  farbiger  Soldaten, 
deren  die  Entente-PoUtik  zur  Zivilisierung  der  barbarischen  Deutschen 
sich  bedient,  hat  schmelzend  auf  sein  Bewußtsein  gewirkt.  Nun 
aber  wird  ihm  die  briefliche  Kunde,  daß  sein  Sohn  auf  einer  Reise  in 
die  Gewalt  eines  Neger  Stammes  geraten  und  in  die  Sklaverei  verkauft 


312  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

worden  ist.  Wenn  er  das  gleiche  gehört  hätte  von  einem  jungen 
Türken  oder  Engländer,  so  wäre  der  Fluß  seiner  Meinung  kaum 
davon  berührt  worden.  Da  sie  ihn  selbst  angeht,  so  treibt  die  Kunde 
Blasen,  die  in  die  Höhe  steigen.  Sein  Kummer  läßt  den  leidenschaft- 
lichen Wunsch  und  die  Meinung  entstehen,  daß  die  Sklaverei  und  die 
Reste  des  Sklavenhandels  von  den  europäischen  Nationen  mit  aller 
Macht  unterdrückt  werden  sollten.  —  So  auch  die  öffentHche  Meinung. 
Es  war  im  Jahrzehnt  1860 — 1870  eine  ziemlich  feste  öffentliche  Meinung, 
durch  Wissenschaft  und  Presse  genährt,  daß  die  vollkommene  wirt- 
schaftHche  Freiheit,  ohne  hemmende  Staatseinmischungen,  für  das  Ge- 
samtwohl, auch  für  die  Arbeiterklasse,  das  heilsamste  System  sei,  daß 
diese  nur  durch  Selbsthilfe,  namentlich  durch  Sparsamkeit. und  Ein- 
schränkung ihrer  Vermehrung  sich  helfen  könne,  übrigens  werde  die  Ver- 
mehrung des  Kapitals  auch  den  lyohnfonds  allmählich  erhöhen.  Durch 
die  Arbeiterbewegung  und  den  dieser  entgegenkommenden  Katheder- 
soziaHsmus  geriet  diese  öffentliche  Meinung  in  den  Fluß  der  Diskussion, 
die  mit  nicht  geringer  Heftigkeit  und  Wärme  geführt  wurde.  Dann  aber 
wurde  die  Sozialdemokratie  drohend.  Die  Vermehrung  ihrer  Anhänger 
erregte  die  Gemüter;  eine  schwere,  lang  sich  hinschleppende  wirt- 
schaftliche Krisis  ließ  die  Lage  der  Arbeiterklasse,  zumal  der  Arbeits- 
losen, in  trübstem  Lichte  erscheinen;  die  Monarchie  und  die  Religion 
wurden  von  einer  rücksichtslosen  Agitation  in  Reden  und  Schriften 
angefochten,  mit  ihnen  schien  die  Sicherheit  des  Eigentums  zu  wanken. 
Die  öffentliche  Meinung  verlangte  Repression,  aber  sie  bekehrte  sich 
gleichzeitig  unter  dem  Drucke  der  Furcht  zum  Aufgeben  des  Laisser 
/atV^-Prinzips,  zu  der  Erkenntnis,  daß  durch  Gesetze,  durch  Reformen 
der  Arbeiterklasse  von  Staats  wegen  geholfen  werden  müsse.  Die  beiden 
Attentate  auf  den  mehr  als  achtzigjährigen  Kaiser,  im  Sommer  1878,  ob- 
gleich Taten  Wahnwitziger  ohne  wirklichen  politischen  Hintergrund, 
wirkten  in  höchstem  Maße  aufregend  und  entscheidend,  zunächst 
ausschließlich  im  Sinne  des  Ausnahmegesetzes,  bald  aber  auch  so, 
daß  die  kaiserliche  Botschaft,  die  ein  praktisches  Christentum  an- 
kündigte, willkommen  war :  die  Furcht  gab  den  Ausschlag  und  drängte 
die  theoretischen  Bedenken  in  den  Hintergrund. 

Eine  feste  Meinung  oder  Überzeugung  geht  nicht  leicht  unmittelbar 
in  den  gasförmigen  Zustand  über,  sie  muß  erst  in  Fluß  geraten  sein. 
Jemand  hat  die  heutzutage  normale  Ansicht  in  sich  befestigt,  daß 
Geistererscheinungen  nichts  Wirkliches  sind,  sondern  auf  Täuschungen 
und  Einbildungen  beruhen.  Durch  vielfache  Erzählungen  und  Ver- 
sicherungen gläubiger  Spiritisten  gerät  aber  seine  Meinung  sachte  in 
Fluß.  Da  wird  die  Zauberei  eines  seiner  bisherigen  Freunde  als  Be- 
trug entlar\i:.   Nun  »empört«  er  sich  gegen  den  »Unfug«  —  »seht  ihr, 


Macht  und  Machtfaktoren  usw.  —  Die  Machtfaktoren.  313 

wie  recht  ich  hatte  «  —  seine  Meinung  zittert  in  den  lauften,  so  wie  sie 
durch  das  Erlebnis  erregt  wurde ;  ihrem  allgemeinen  Inhalt  nach  ge- 
winnt sie  den  vorigen  Grad  der  Festigkeit.  Ganz  das  gleiche  begegnet 
der  öffentlichen  Meinung,  die  leicht  in  Fluß  und  Zweifel  gebracht  wird 
durch  Reden  und  Schriften,  durch  erschütternde  Begebenheiten  — 
gerade  in  bezug  auf  übersinnliche  Dinge  besitzt  sie  in  der  Regel  nur 
einen  geringen  Grad  von  Festigkeit,  aber  mit  lebhafter  Genugtuung,  mit 
einem  Gefühl  der  Sättigung  nimmt  sie  es  wahr,  wenn  ein  »eklatanter« 
Fall  bekannt  wird,  durch  den  ihre  »eigentliche«  Ansicht,  daß  es  mit 
allen  solchen  angeblichen  Erfahrungen  nichts  auf  sich  habe,  Be- 
stätigung empfängt.  —  Je  weniger  fest  eine  Meinung  ist,  um  so  leichter 
gerät  sie  ins  Wanken,  ja  wenn  mannigfache  Elemente  auf  sie  wirken, 
in  Zerrüttung.  Eine  flüssige  Meinung  wird  leicht,  wenigstens  Stücke 
von  ihr  werden  durch  widrigen  Wind  in  entgegengesetzte  Richtung 
getrieben,  oder  sie  teilt  sich  nach  verschiedenem  Gefälle.  Kommt 
dann  eine  Erregung  hinzu,  die  dem  Stücke,  das  in  die  andere  Richtung 
treibt,  begegnet,  so  hat  sich  das  Individuum  oder  das  Publikum 
eine  neue  Meinung  gebildet,  ist  anderen  Sinnes  geworden :  ein  Beispiel 
wurde  schon  angeführt.  Es  ergibt  sich  zugleich,  warum  die  öffentliche 
Meinung  in  ihrem  luftartigen  Zustande  so  selten  mit  sich  einig  ist,  und, 
um  es  vorübergehend  zu  sein,  eines  starken  I  mp  ulses  bedarf.  Normal 
ist  die  Auflösung  in  verschiedene  Meinungen,  ja  es  darf  die  Regel 
gebildet  werden:  je  loser  der  Aggregatzustand,  um  so  mehr  wird 
die  artikulierte  öffentliche  Meinung  der  unartikulierten  ähnlich,  und 
umgekehrt:  je  fester  der  Aggregatzustand,  um  so  einiger  ist  mit 
sich  die  öffentliche  Meinung.  Immer  ist  die  Einigkeit  am  größten 
nach  außen  hin,  gegen  den  Feind  oder  den  Gegner;  daher  dauernd 
in  gewissen  wesentlichen  Beziehungen.  Die  öffentliche  Meinung  ist 
hier  wie  eine  Mauer  oder  umgibt  sich  mit  einer  Mauer  wie 
eine  Feste,  mit  einem  Panzer  wie  ein  Kriegsschiff;  die  Einigkeit 
entsteht  plötzlich  im  Augenblicke  der  Gefahr:  es  wird  notwendig, 
zu  kämpfen,  sich  zu  wehren;  um  der  Abwehr  willen  zum  Angriff 
überzugehen.  Möge  es  sich  dabei  um  einen  wirklichen  »Verteidigungs- 
krieg« handeln  oder  nur  der  Schein  eines  solchen  erregt  sein  und  in 
Wirklichkeit  ein  räuberischer  Angriffskrieg  gegeben  sein,  der  aus 
Handelseifcrsucht  entsprungen  ist  —  um  Volksstimmung  und  öffent- 
liche Meinung  für  die  Sache  zu  gewinnen  und  zu  einigen,  täu.scht  aber 
die  Regierung  eines  solchen  Staates  den  Verteidigungskrieg  vor,  oder 
wenn  dies  gar  zu  unwahrscheinHch  ist,  sogar  den  ritterlichen  Krieg, 
um  einer  kleinen  Nation  gegen  Räuber  und  Mörder  zu  helfen;  dies 
wirkt  eben  auf  die  öffenthche  Meinung  stark,  und  sie  wird  rasch  hinab- 
gedrückt auf  das  Niveau  der  allgemeinen  impulsiven  Volksstimmung; 


314  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

oder  diese  wird  von  der  öffentlichen  Meinung  mit  fortgerissen. 
Möge  die  Stimmung  bis  zum  gegebenen  Augenblicke  noch  so  zer- 
rissen, noch  so  sehr  von  innerer  Feindseligkeit  erfüllt  gewesen  sein, 
sie  einigt  sich  leicht  und  rasch  in  der  Überzeugung  von  der  Ruch- 
losigkeit des  ohnehin  gehaßten  und  gefürchteten  Feindes;  Schimpf- 
wörter, mit  denen  man  ihn  anspuckt,  tragen  dazu  bei,  auch  den 
Zorn  einer  rohen  Menge  gegen  ihn  zu  entfesseln.  Ebenso  hat  aber  die 
öffentHche  Meinung  eines  I^andes  ihre  Gegnerschaft  im  Inneren,  und 
wird  unter  ähnlichen  Umständen  gegen  diese  einig.  Am  ehesten  gegen 
die  Regierung  des  Staates,  deren  Druck  immer  von  allen  gefühlt 
wird,  deren  Gründe  oft  nicht  gekannt,  öfter  nicht  verstanden,  aber 
auch,  obgleich  gekannt  und  verstanden,  gemißbilligt  werden,  zumal 
weil  und  sofern  der  Staat  selber  auch  (und  vielleicht  sogar  am  meisten) 
von  den  Intellektuellen  und  Gebildeten  des  I^andes  als  ein  fremdes 
Wesen  empfunden  und  gedacht  wird,  vor  dessen  Mißhandlungen 
man  auf  der  Hut  sein,  dessen  Übergriffen  man  vorbeugen  müsse. 
Diese  grundsätzliche  Kritik  steigert  sich,  wenn  die  Bildung  \md 
wissenschaftliche  Denkungsart  meint,  daß  die  Regierung  von  ver- 
alteten Anschauungen  sich  leiten  lasse  und  ehemalige  Zustände  und 
Einrichtungen,  deren  man  froh  ist,  ledig  geworden  zu  sein,  wieder 
heraufzuführen  unternehme;  das  Schlagwort  »Reaktion«,  zumal 
wenn  das  Prädikat  »finster«  hinzugefügt  wird,  genügt  dann,  um  sie 
anzuklagen  und  zu  richten.  Wenn  der  liberale  Kammerredner  oder 
Volksversammlungsredner  oder  die  Uberale  Zeitung  diese  Ausdrücke 
hinwirft,  zugleich  etwa  die  Worte  »Pf äff «  und  »Junker«,  so  geschieht 
es  in  der  Rechnung  auf  Beifall  außerhalb  ihrer  engeren  Parteikreise, 
es  enthält  eine  Berufung  an  die  öffentliche  Meinung,  man  weiß,  daß 
auch  der  etwa  konservativ  wählende  Oberlehrer  oder  Amtsrichter,  ja 
der  städtische  Pfarrer  in  der  Regel  so  etwas  nicht  will  und  also  in- 
soweit auf  der  liberalen  Seite  steht.  Die  große  Brauchbarkeit  der 
Schlagwörter  besteht  eben  darin,  daß  sie  die  öffentliche  Meinung 
gleichsam  auf  den  Kopf  schlagen  und  betäuben. 

7.  (Eindrücke.)  Übrigens  wird  die  öffentliche  Meinung  des  Tages 
in  auffallender  Weise  durch  Eindrücke  bestimmt.  In  Deutschland 
wie  in  Österreich,  war  sie  von  dem  Wert,  ja  der  Notwendigkeit  der 
Monarchie  noch  im  Oktober  1918  ziemlich  fest  überzeugt.  Durch 
den  Zusammenbruch  der  Heere,  den  Verrat  des  österreichischen,  die 
Fahnenflucht  des  deutschen  Kaisers,  das  überraschende,  fast  voll- 
ständige und  beinahe  ohne  Widerstand  sich  erfüllende  Gelingen  der 
Staatsumwälzung,  geriet  sie  stark  in  Fluß  und  nahm  eine  entschiedene 
Neigung  zur  Republik  an,  dies  kam  auch  vor  und  in  den  Wahlen  zur 
Nationalversammlung,     deren    Berufung    die    öffentliche    Meinung 


Macht  und  Machtfaktoren  usw.  —  Die  Machtfaktoren.  315 

stürmisch  verlangt  hatte,  zum  Ausdruck;  die  Bildung  der  Koalitions- 
regierung entsprach  der  Meinung,  daß  nunmehr  nichts  anderes  möglich 
sei,  und  daß  man,  wenn  nicht  die  demokratische  Repubhk  gutheißen, 
so  doch  sich  mit  ihr  abfinden  und  »sich  auf  den  Boden  der  gegebenen 
Tatsachen  stellen  «  solle.  Wäre  es  mm  der  neuen  Regierung  gelungen  — 
was  nach  Lage  der  Dinge  unmöglich  war  —  einen  erträgHchen  Frieden 
abzuschließen,  eine  ausreichende  Volksernährung  sicherzustellen,  die 
Wucherer  und  Schieber,  die  von  der  öffentlichen  Meinung  längst  aufs 
Korn  genommen  waren,  schwer  zu  bestrafen  und  an  den  Pranger  zu 
stellen,  überhaupt  nach  der  furchtbaren  Niederlage  durch  20  fache 
Übermacht  erträgliche  Zustände  herzustellen,  so  hätte  sicherlich  die 
öffentHche  Meinung  in  der  Richtung  auf  den  RepubUkanismus  sich  be- 
festigt, sie  hätte  den  sozialdemokratischen  Präsidenten  aus  dem  Hand- 
werkerstande, so  großes  Unbehagen  er  ihr  verursachte,  geschluckt,  und 
hätte  die  Losung  ausgegeben,  daß  es  zunächst  keine  andere  Aufgabe 
gebe,  als  denen,  die  einmal  die  politische  Macht  besaßen,  nach  Kräften 
beim  mühevollen  Wiederaufbau  zu  helfen.  Das  wäre  auf  alle  Fälle 
das  Gebot  eines  weisen  politischen  Bewußtseins  gewesen.  Aber  unter 
dem  Druck  einer  schwülen  Atmosphäre,  inmitten  allgemeiner  Er- 
schlaffung, Abstumpfung,  Entsittlichung  wurden  die  Gemüter  der 
Besonnenen  in  andere  Richtung  getrieben.  Das  Bewußtsein  tiefen 
Elends,  der  wirtschaftüchen  Verarmung,  der  geistigen  Verkümmerung, 
der  morahschen  Demütigung,  das  bei  hinlänglichem  und  klarem 
Denken  schon  in  jenem  November  hätte  vorhanden  sein  müssen, 
bedurfte  erst  einer  langwierigen  Erfahrung,  immer  neuer  Eindrücke, 
um  sich  zu  vertiefen  und  auszubreiten.  Und,  wie  es  in  solchen  Fällen 
geschieht,  war  rasch  eine  ursächliche  Verbindung  hergestellt:  das 
Elend  —  die  neue  Regierung;  Wohlstand  und  Macht  —  die  alte  Re- 
gierung. Die  öffentliche  Meinung  des  Tages  nahm  wieder  eine  mon- 
archistische Färbung  an,  um  so  leichter,  da  sie  in  ihren  alten  Strom 
zurücklenkte,  die  noch  vor  kurzem  heiUg  gehaltene  nationale  Gesinnung, 
die  nur  durch  die  Ereignisse  eine  Erschütterung  erfahren  hatte.  Es 
vniide  neue  trübe  oder  gar  düstere  Erfahrung  dazu  gehören,  um 
wieder  die  entgegengesetzte  Meinung  hochzubringen.  Diese  Phasen  der 
Schwankung  hat  bekanntlich  die  ÖffentHche  Meinung  Frankreichs  mehr 
als  100  Jahre  lang  durchgemacht,  bis  sie  einstweilen  —  ob  endlich  ?  — 
bei  dem  »Glauben  an«  die  RepubUk  sich  beruhigt  hat.  Ihre  religiöse 
Beglaubigung  hat  die  monarchische  Staatsform  überall  in  Europa 
beinahe  völlig  verloren;  der  Cäsarismus  hat  sie  kaum  genossen;  sie 
überlebt  fast  nur  noch  in  der  Denkungsart  von  Frauen  und  mit 
politischem  Bewußtsein  verbunden  bei  den  Männern  der  alten  Aristo- 
kratie und  des  höherenBeamtentums.  Die  öffentliche  Meinung  Deutsch- 


3l6  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

lands  huldigte  und  huldigt  heute  in  einigem  Maße  wieder,  dem  »Ver- 
nunft-Monarchismus«, und  eben  dies  Wort  ist  für  das  Wesen  der  öffent- 
lichen Meinung  charakteristisch.  Die  Vernunft  ist  immer  bewegücher 
als  das  Gefühl;  der  Kürwille  veränderlicher  als  der  Wesen wille.  Dieser 
hat  ein  natürliches  Beharrungsvermögen,  jener  flattert  und  flackert 
hin  und  her,  auf  der  Suche  nach  neuen  Mitteln  zur  Erleichterung,  Be- 
schleunigung, Verbesserung  des  lyebens  zur  fhehenden,  unerreichbaren 
Glückseligkeit.  Und  die  öffentliche  Meinung  des  Tages  urteilt  in  gar 
vielen  Fällen  oberflächlich,  urteilt  nach  dem  Schein,  nach  der  unmittel- 
baren Erfahrung,  nach  Eindrücken.  »Unter  dieser  Regierung  herrscht 
eine  wirtschaftliche  Krisis  —  wir  müssen  nach  einer  anderen  Regie- 
rung streben.«  Die  andere  Regierung  tritt  auf,  es  bleibt  alles  beim 
alten  —  »vielleicht  war  die  frühere  Regierung  doch  vorzuziehen.«  Der 
Eindruck,  die  Erfahrung,  deren  Wirkungen  auf  die  Empfindung,  und 
durch  die  Empfindung  auf  das  Denken,  diese  sind  also  die  ent- 
scheidenden Faktoren  für  die  Entstehung  der  öffentlichen  Meinung 
des  Tages,  sofern  sie  etwas  anderes  ist  als  bloße  Erscheinungsform 
einer  flüssigen  oder  sogar  festen  öffentlichen  Meinung.  Darum  müssen 
dort  die  für  solche  Eindrücke  empfänglichen  Seelen  vorhanden  sein, 
solche  die  geneigt  sind  und  fähig,  oder  doch  für  fähig  und  berufen 
gelten,  eine  Meinung  sich  zu  »bilden«.  Das  sind  aber  die  modernen, 
die  auf  Kürwillen  eingestellten,  die  gesellschaftlichen  Menschen,  daher 
vorzugsweise  die  Gebildeten  in  der  Großstadt;  überhaupt  aber  die 
Menschen  je  nach  ihren  naturalen  und  kulturalen  Beschaffenheiten 
und  Anlagen,  in  den  früher  angezeigten  Relationen  mehr  oder  weniger. 
Die  erste  Bedingung  ist  die  Lebhaftigkeit  des  Verkehrs.  Aus  ihr 
entspringt  die  Entwicklung  und  Beschleunigung  des  Denkens  \md 
Urteilens.  In  erster  Linie  sind  es  Geschäfte  aller  Art,  die  dem 
Menschen  die  Zunge  lösen,  ihn  beredt  machen ;  das  sind  hauptsächUch 
A.  Tausch-  und  Handelsgeschäfte,  B.  politische,  d.  h.  im  allgemeinen 
auf  gemeinsame  Angelegenheiten  bezügliche  Geschäfte  und  Ver- 
handlungen nach  außen  und  nach  innen.  Beide  Arten  machen  häufige 
und  möglichst  rasche  Ortsbewegung  notwendig :  innerhalb  einer  Groß- 
stadt kommen  die  Menschen  für  beide  Arten  fortwährend  von  der 
Peripherie  aus  im  Zentrum  (der  City)  zusammen,  aber  auch  alle 
Punkte  der  Peripherie  stehen  in  Verkehr  miteinander  und  haben 
viele  engere  Nebenzentren  der  Zusammenkünfte :  Läden,  Markthallen 
Wirtshäuser,  Theater  und  andere  Schaustätten,  Versammlungssäle 
und  Vereinsräume  —  alles  was  im  Zentrum  dichter,  mannigfacher, 
prächtiger  anzutreffen  ist;  hier  vor  allem  die  Börse  als  mächtige 
Anziehung  für  das  Gewerbe  des  Kaufmanns  und  alle,  die  durch 
irgendwelche   Handelsgeschäfte    Ge\\inn    zu   erzielen   oder   Verluste 


]SL\CHT  uxD  Machtfaktoren  usw.  —  Dik  Machtfaktoricn.  ^^17 

wiedergutzumachen  hoffen;  aber  auch  auf  den  Marktplätzen  und 
Straßen,  in  den  Eisenbahnwagen,  Straßenbahnen,  Omnibussen 
finden  solche  Begegnungen  statt,  die  zum  Abschluß  von  Verhand- 
lungen lind  Geschäften  führen.  Überall  ist  das  Gespräch,  wodurch 
die  Menschen  Abreden  und  Abmachungen  treffen,  heute  neben  dem 
natürhcheren  Nahgespräch  das  Ferngespräch,  das  viele  persönhche 
Zusammenkünfte  erspart  und  weit  über  die  Grenzen  einer  Stadt,  ja 
eines  Landes  hinaus  vermittelnd,  fördernd,  erleichternd  trotz  vieler 
Hemmungen  wirkt.  Im  Gespräch  kommen  gemeinsame  wie  ver- 
schiedene Meinungen  zutage,  die  von  den  unmittelbaren  Gegen- 
ständen auf  mittelbare,  mehr  oder  minder  damit  zusammenhängende 
übergehen,  am  ehesten  auf  die  Begebenheiten  des  Tages  und  Vortages, 
auf  erhoffte  oder  drohende  Ereignisse,  auf  PersönHchkeiten,  die  gerade 
im  Mittelpunkte  des  Interesses  stehen.  Auch  mit  ganz  fremden, 
die  der  Zufall  zusammenführt,  zumal  auf  Reisen,  kommt  man  ins 
Gespräch;  in  der  Regel  setzt  aber  das  Gespräch  irgendwelche  Be- 
ziehungen und  Verhältnisse  gemeinschaftlicher  oder  gesellschaftlicher 
Art  voraus;  unter  Umständen  machen  auch  feindliche  Beziehungen 
und  Verhältnisse,  mögen  ihnen  jene  positiven  zugrunde  liegen  oder 
nicht,  Gespräche  notwendig  —  einen  Gedankenaustausch,  der  sich  in 
der  Regel  streng  und  hart  an  den  Gegenstand  und  Zweck  halten  wird. 
Solche  Gespräche  sind  im  politischen  Verkehr  am  ehesten  anzutreffen, 
der  zum  guten  Teil  ein  Verkehr  zwischen  offenen  oder  geheimen  Feinden 
ist,  nicht  selten  sogar,  wenn  diese  Feinde  sich  Bundesgenossen  nennen. 
Sonst  aber  geht  auch  ein  freundliches  Gespräch,  zumal  wenn  es  geschäf t- 
Uchen  Charakter  hat,  leicht  in  ein  feindliches,  einen  (mehr  oder  minder 
scharfen)  »Wortwechsel «über.  Das  gilt  auch  vom  gelehrten  und  gebil- 
deten Gespräch;  sachliche  Gespräche  und  Disputationen  werden  leicht 
»persönHch  «  und  führen  zu  Ausdrücken  der  Geringschätzung,  des  Hasses 
und  der  Verachtung.  Auch  im  poHtischen  Verkehr  von  Freunden  und 
Parteigenossen  treten  die  Gegensätze  und  Meinungsverschiedenheiten 
zutage.  Unabhängig  davon  aber,  und  sogar  vorzugsweise  durch  den 
Widerstand,  worauf  die  Meinungsäußerung  trifft,  wird  die  Bildung  der 
Meinung  und  des  Urteils  gefördert,  die  freie  Aussprache  entfesselt.  Das 
ist  besonders  wichtig  für  das  politische  Leben,  es  ist  um  so  leb- 
hafter, je  mehr  in  ihm  die  Debatte  vorherrscht. 

8.  (Debatte.)  Die  Debatte  wird  mehr  oder  weniger  heftig, 
leidenschaftlich,  oft  mit  Erbitterung  und  Wut  geführt  und  der  Kampf 
der  Worte  geht  zuweilen  sogar  in  ernsthaften  beratenden  Versamm- 
lungen in  HandgreifHchkeiten  roher  Art  über  und  setzt  sich  in 
Straßenkämpfen,  ja  in  Bürgerkriegen  fort.  Solchen  pathologischen 
Erscheinungen  gegenüber  ist  die  geordnete  Debatte  in  parlamen- 


3l8  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

tarischen  Formen,  unter  mäßigendem,  rügendem,  ja  strafendem 
Vorsitz  der  normale  und  physiologische  Ausdruck  eines  reifen  staat- 
lichen, gemeindlichen,  korporativen  Zusammenlebens.  „Kampf- 
losigkeit'*,  so  urteilt  der  konservative  Ci^emens  Theodor  Perthes 
(Politische  Zustände  und  Personen  in  Deutschland  zur  Zeit  der 
französischen  Herrschaft.  Das  südliche  und  westliche  Deutschland, 
S.  5),  „deutet  in  der  Nation,  wie  in  dem  Einzelnen  nicht  auf  Frieden, 
sondern  auf  Schwäche  und  Stumpfsinn.  Überall  und  zu  jeder  Zeit 
ringt  nicht  allein  das  Gute  mit  dem  Bösen,  das  Berechtigte  mit  dem 
Unberechtigten,  sondern  auch  das  Berechtigte  mit  dem  Berechtigten, 
um  inmitten  mächtig  drängender  Kräfte  seinen  Platz  zu  behaupten 
oder  zu  gewinnen.  Eine  Fülle  von  Gegensätzen,  eine  große  Mannig- 
faltigkeit von  Kräften,  Richttmgen,  Interessen  war  durch  das  deutsche 
Mittelalter  hervorgearbeitet;  sie  alle  hatten  das  Recht  auf  Gel  ung 
und  bedurften  der  gesonderten  Vertretung.  Eine  poHtische  Parteien- 
bildung war  in  dem  Gange  der  Dinge  begründet;  wie  durch  einen 
Naturprozeß  wuchsen  Parteien  hervor  und  wirkten  mit  der  vollen 
Kraft  jugendlicher  Unmittelbarkeit.  Oft  genug  freihch  wurde  das 
poHtische  Ringen  mit  dem  Schwerte  ausgefochten  .  .  .  Die  Form 
des  Kampfes  gehörte  dem  Geiste  des  Mittelalters  an,  die  Gegensätze 
der  politischen  Strömungen  aber  und  deren  Geltendmachung  durch 
kräftige  Parteien  waren  damals,  wie  zu  jeder  Zeit,  nicht  nur  Kenn- 
zeichen, sondern  auch  Wurzel  und  Frucht  eines  bedeutenden  politischen 
Lebens."  Im  gleichen  Sinne  preist  WaIvTER  Bagehot  (Der  Ursprung  der 
Nationen.  Deutsche  Ausg.,  Leipzig  1874)  das  Zeitalter  der  »Erörte- 
rungen« und  ein  auf  Erörterung  beruhendes  Staatswesen :  nichts  erhöhe 
die  Intelligenz  so  sehr  wie  intellektuelle  Erörterung  und  nichts  erhöhe 
diese  so  sehr  wie  eine  Regierungsform,  die  danach  strebe  und  darauf  an- 
gewiesen sei,  eine  intellektuelle  Atmosphäre  zu  erzeugen ;  solche  Regie- 
rung trage  mächtig  zum  Wachstum  einer  Fähigkeit  bei,  die  er  »Leb- 
haftigkeit verbunden  mit  Mäßigung  «  nennt,  und  wodurch  die  Engländer, 
wie  er  meint,  im  praktischen  Leben  alle  anderen  Nationen  übertreffen. 
9.  (Staatsreden,  Gespräche,  Briefe.)  Wenn  die  öffentHche  Ver- 
sammlung und  der  große  Kreis  von  Zuhörern,  den  der  Redner  wie  der 
Schauspieler  sich  wünscht  »um  ihn  gewisser  zu  erschüttern«,  die 
Lebhaftigkeit  der  Rede  anregt,  so  sorgt  die  Geschäftsordnung  der 
Versammlung  und  mit  ihr  das  Präsidium  für  Mäßigung,  wenn  auch 
oft  mit  geringem  Erfolg.  Von  Zeit  zu  Zeit  aber  erhebt  sich  in  poh- 
tischen  Versammlungen,  sei  es  denen  gesetzgebender  Körperschaften 
oder  in  freiberufenen,  die  große  Staatsrede,  die  den  Hörer  fesselt 
und  einen  tiefen,  nachhaltigen  Eindruck  auf  ihn  macht,  zu  einer 
mächtigen,    die    poHtische    öffentüche   Meinung    mitbestimmenden 


Macht  und  :Machtfaktoren  usw.  —  Die  Machtfaktoren. 


319 


Bedeutung.  Die  günstigsten  Vorbedingungen  dafür  hat  ein  führender 
Staatsmann,  wenn  er  Vertrauen  genießt,  wenn  er  nicht  nur  in  der 
Versammlung  selber,  sondern  weithin  im  ganzen  Lande  und  darüber 
hinaus  (insbesondere  auch  bei  den  lyandsleuten  im  Auslande)  Widerhall 
findet,  wenn  er  auch  über  die  Mittel  verfügt,  sich  vernehmbar  zu 
machen;  in  Frankreich  beschließt  die  Kammer  zuweilen,  eine  solche 
Rede  durch  öffentlichen  Anschlag  im  Lande  zu  verbreiten.  In  Deutsch- 
land wurden  1870 — 1890  die  Reden  Bismarcks,  in  England  zu  gleicher 
Zeit  diejenigen  Gladstones  und  Disraei^is  mit  Spannung,  Andacht 
und  Bewunderung  gehört  und  gelesen.  Aber  einen  Resonanzboden, 
wie  den  der  französischen  Volksseele,  hat  keiner  jener  Redner  je  ge- 
funden. Diese  kriegerische  Nation,  der  Miles  gloriosus  der  Geschichte, 
liebt  die  Trompetentöne  und  den  Trommelwirbel  auch  in  der  Rede; 
ihre  rasche  Leidenschaft  drückt  sich  in  einer  nüchternen,  durch- 
sichtigen, an  schlagenden  Wörtern  reichen  Sprache  aus,  geschaffen, 
um  »Eindruck«  zu  machen  auf  eine  weiche,  weibHche  Haut,  wie  sie 
dort  den  Männern  von  eherner  Stirn  eigen  ist.  Der  Appell  eines 
Redners  an  ihre  Eitelkeit,  an  ihren  Sinn  für  die  Mode,  ihre  Lust  am 
Neuen  und  am  Spielzeug,  am  Putz  und  am  Parfüm,  wird  niemals 
verloren  sein.  Echt  französisch  ist  gedacht,  was  Gabriei.  Hanotaux, 
ein  hervorragender  Historiker  und  Politiker,  nach  dem  Erscheinen 
der  letzten  Bände  von  Emile  Olwviers  .^Uempire  liberal**  schrieb 
(Figaro,  29.  Aug.  1913):  „Unter  einem  Regime  der  Meinung  muß 
man  überzeugen  und,  um  zu  überzeugen,  muß  man  sprechen.  Das 
hauptsächliche  Urteil  über  eine  Persönlichkeit  des  heutigen  offen thchen 
Lebens  ist  stets:  »er  spricht  gut;  er  hat  gut  gesprochen«.  Das  Wort 
genügt  für  alles,  es  entscheidet  alles,  zerschneidet  alles,  deckt  alles.*' 
Er  führt  dann  aus,  der  Redner  wolle  überzeugen,  wolle  gefallen,  er 
wolle  das  letzte  Wort  haben:  um  dies  Dreifache  zu  erreichen,  müsse 
sein  Vorgehen  notwendigerweise  offen,  gefällig  und  warm  sein  —  ge- 
nau die  umgekehrten  Eigenschaften  seien  aber  die  des  Diplomaten 
und  des  Geschäftsmannes.  Gewiß  richtig.  Wie  aber,  wenn  der  Diplo- 
mat und  Geschäftsmann  den  Offenherzigen,  den  Gefallen  wollenden, 
den  von  edler  Leidenschaft  Erfüllten  zu  spielen  weiß?  Oder  ist 
etwa  das  Komödiantentum  dem  Staatsmann  und  anderen  Leuten, 
die  bestimmte  Zwecke  im  Auge  haben,  fremd?  —  »Der  Vortrag 
macht  des  Redners  Glück«,  möge  der  Vortrag  echter  oder  geheuchelter 
Empfindung  entspringen.  Ein  hinreißender  Redner  kann  die  Menge 
umstimmen,  eine  gebildete  Menge  eher  als  eine  ungebildete;  denn 
je  geringer  die  Bildung,  desto  mehr  horcht  ein  Mann  nur  auf  das, 
was  seinen  Vorstellungen,  Meinungen,  Gefühlen  entgegenkommt, 
sie  stärkt  und  fördert,  um  so  weniger  ist  er    fähig  und   geneigt. 


320  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Beweisgründe  tind  Beweggründe  auf  sich  wirken  zu  lassen,  die  seinen 
»Vorurteilen«  entgegengerichtet  sind.  Darum  beruht  in  der  Wirkung  auf 
die  Gefühle,  in  der  Rechnung  auf  das,  was  die  Zuhörer  hören  wollen, 
die  Macht  des  eigentlichen  Volksredners  in  der  Volksversammlung; 
dagegen  wird  in  engeren  Kreisen,  in  Vereinen  und  ihren  Versamm- 
lungen, in  Ausschuß-  und  Komitee- »Sitzungen«,  auch  der  schwächere 
Redner  durch  die  Stärke  seiner  Argumente  Bindruck  machen  und 
Erfolge  haben.  Dort  wird  mehr  die  Stentorstimme,  die  Energie  und 
Rücksichtslosigkeit  des  Ausdrucks,  die  tönende  Phrase,  hier  eher  die 
Feinheit  der  Unterscheidung,  der  schlagende  Witz,  der  freundüche 
Humor,  die  Planmäßigkeit  des  Gedankens  entscheidend  auf  die 
Seelen  wirken.  Hier  wie  dort  macht  sich  oft  der  Machtzauber  (das 
Prestige)  der  Persönlichkeit  geltend,  auch  durch  Eigenschaften 
außerhalb  der  Rednergabe:  durch  den  großen  Namen  und  Ruhm, 
der  »ihm  vorangeht«;  schöne  und  »imponierende«  Gestalt  und  Miene, 
Anmut  und  Würde,  I^iebenswürdigkeit  und  finsterer  Ernst,  —  man 
denke  an  RobespierrE  —  diese  Zaubermittel  wirken,  je  für  sich 
oder  zusammen,  um  den  Taten  und  Worten  eines  Mannes  Gewicht 
zu  geben,  um  ihn  selber  in  der  öffentlichen  Meinung  zu  heben  — 
freiüch  auch,  ihn  zu  senken,  wenn  er  verdächtig  wird,  wenn  die  Mut- 
maßung um  sich  greift,  daß  er  mit  solchen  Mitteln  betrügen  wolle, 
daß  er  nur  das  Seine  suche,  seine  Macht  und  Herrschaft  begründen 
wolle  —  und  ach,  wie  nahe  liegt  dies!^) 

Aber  Persönlichkeiten  größeren  oder  kleineren  Kalibers  wirken 
im  neueren  öffentlichen  lieben,  ja  schon  seit  vielen  Jahrhimderten, 
mehr  und  öfter  durch  das  geschriebene  als  durch  das  gesprochene 
Wort.  Zunächst  wird  das  Gespräch  ergänzt,  auch  ersetzt  durch 
den  Briefwechsel.  In  unendlichen  Mengen  schwirren  heute  Briefe 
imd  was  ihnen  verwandt  ist,  hin  und  her,  am  meisten  innerhalb 
eines  I^andes,  noch  intensiver  in  engeren  Gebieten,  aber  auch  über 
die  Grenzen  von  allen  Orten,  zu  aUen  Orten  des  Erdballes,  wenn  nicht 
Notstände,  wie  Krieg  und  Aufruhr,  es  verhindern.  In  der  Regel 
betrifft  der  Brief  nur  Privatangelegenheiten  zwischen  Einzelpersonen 
oder  Famihen;  darunter  hebt  der  Geschäftsbrief  sich  ab  durch  die 
Tragweite  der  wirtschaftlichen,  meistens  pekuniären  Interessen, 
denen  er  dient.  Aber  es  gibt  auch  Briefe  in  Angelegenheiten  der 
Wissenschaft,  der  Künste,  imd  Briefe  über  öffentliche  Angelegenheiten. 
Solcher  schriftlicher  Gedankenaustausch  zwischen  politisch  tätigen, 


^)  So  nannten  schon  beim  Fest  des  Höchsten  Wesens  feindliche  Stimmen  Robes- 
PLERRE  den  Papst  der  Revolution.  „Es  hieß  so  viel",  sagt  Barere  {Mdmoires  I,  202), 
„als  ihm,  wie  Mahomet,  das  Szepter  und  die  Tiere  geben.  Es  war  auch  das  Prognostikon 
seines  Falles  in  der  öffentlichen  Meinung." 


Ai^  Faktor  des  Staatsi^ebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.         321 

zumal  wenn  einflußreichen,  Personen,  kann  auch  für  die  Bildung 
der  öffentlichen  Meinung  Bedeutung  gewinnen.  Ist  der  Brief  Schreiber 
eine  Persönlichkeit  von  hohem  Range  oder  hoher  Stellung,  so  macht 
eine  briefliche  Äußerung  von  ihm  um  so  mehr  Eindruck,  der  Brief 
wird  im  Vertrauen  oder  auch  ganz  offen  mitgeteilt,  der  Eindruck, 
den  er  macht,  verbreitet  sich;  zuweilen  ist  er  eben  dafür  bestimmt. 
Es  gibt  Rundschreiben,  die  umlaufen  und  überall  eine  gleiche  oder 
doch  möglichst  ähnliche  Wirkung  auslösen  sollen.  Dazu  kommt  dann 
der  »Offene  Brief«,  der  sich  an  viele,  wohl  gar  an  Alle,  wenigstens  an 
alle  Bewohner  eines  I^andes  wendet.  Ein  solcher  offener  Brief  eines 
Königs  an  seine  »Untertanen«  gestaltete  im  Jahre  1846  durch  den 
Widerspruch  tmd  Unwillen,  den  er  hervorrief,  das  schleswig-hol- 
steinische Nationalbewußtsein,  die  bewußt  deutsche,  also  anti- 
däiüsche  öffentliche  Meinung,  die  sich  in  Hunderten  von  Adressen 
und  Petitionen,  in  stürmischen  Volksversammlungen,  in  Protesten 
der  holsteinischen  und  der  schleswigschen  Ständeversammlung 
kundgab.  „Nur  das  Vertrauen,  daß  die  Stände  sich  durch  die  Be- 
schränkung ihres  Petitionsrechts  nicht  abhalten  lassen  würden,  die 
Rechte  des  Landes,  zugleich  besonnen  und  entschieden  zir  verteidigen, 
vermochte  die  aufgeregte  öffenthche  Meinung  vor  Ausschreitungen 
zu  bewahren"  (Schneiden,  Erinnerungen  eines  Schleswig-Holsteiners 
II,  S.  153).  Ein  Brief  war  es  auch,  wodurch  Bismarck  seinen  Entschluß, 
zu  einer  schutzzöllnerischen  Handelspolitik  überzugehen,  am  15.  Dez. 
1878  öffentiich  machte,  freilich  ein  Brief,  den  er  als  Reichskanzler  an 
den  Bundesrat  richtete;  der  Grundgedanke,  der  gesamten  inländischen 
Produktion  einen  Vorzug  auf  dem  heimischen  Markte  zu  gewähren,  hatte 
damals  schon  in  der  öffentUchen  Meinung,  nach  dem  sie  durch  eine 
schwere  Krisis,  durch  den  Unwillen,  den  die  Gründerzeit  erregt  hatte, 
vorbereitet  war,  Boden  gewonnen;  die  Autorität  des  Fürsten  Bismarck 
gab  ihr  nunmehr  die  gewaltigste  Förderung  und  brachte  sie  in  Fluß. 


VIII.  Kapitel. 

Die  Öffentliche  Meinung  als  Faktor 
des  Staatslebens. 

Erster  Abschnitt.  Insgemein  und  in  Amerika. 

I.  (Die  Anerkennung  der  Tatsache.)  Die  Macht  der  öffentlichen 
Meinung  ist  dadurch  auf  die  vollkommenste  Art  eine  feststehende  Tat- 
sache geworden,  daß  sie  als  ein  Faktor  des  Staatslebens  anerkannt  wird. 
Dies  geschieht  bald  dadurch,  daß  sie  neben  dem  Parlament  eines 

TOnnlet.  Kritik.  21 


322  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

I^andes  genannt  wird,  als  eine  Instanz,  von  deren  Billigung  oder 
Mißbilligung  der  Erfolg  einer  Maßnahme  der  Regierung,  daher 
oft  auch  das  Bestehen  und  die  Dauer  einer  Regierung  abhänge. 
Nicht  selten  werden  in  diesem  Sinne  auch  die  Presse  und  die 
öffentliche  Meinung  zusammengenannt,  obschon  andererseits  die 
Presse  selber  als  ein  Ausdruck  oder  als  ein  Organ,  in  neuerer 
Zeit  als  das  bedeutendste  Organ  der  öffentlichen  Meinung  gilt.  Es 
wird  dann  eben  die  Presse  ihrer  selbständigen  Bedeutung  und 
Macht  wegen  herausgehoben  und  den  übrigen  Äußerungen  der 
öffentlichen  Meinung,  wie  sie  in  Tagesgesprächen,  in  Volksversamm- 
lungen und  deren  Entschließungen,  in  Vereinen,  in  Petitionen,  Demon- 
strationen, Hterarischen  Pubhkationen,  Theatervorstellungen  usw.  zu- 
tage treten,  an  die  Seite  gestellt.  So  ist  auch  nicht  selten  von  Parla- 
ment, Presse  und  öffentlicher  Meinung  als  einer  dreigliedrigen 
Organisation  des  »Volkes«  oder  des  PubHkums  die  Rede,  und  zwar 
zuweilen  so,  daß  die  öffentüche  Meinung  als  die  letzte  entscheidende 
Instanz  gilt,  weil  sie,  wenn  einmütig,  die  Haltung  der  Presse  maß- 
gebend bestimme,  und  weil  auch  das  Parlament  ihr  nicht  dauernd 
widerstehen  Icönne,  denn,  sobald  das  Parlament  erneuert  wird,  sei  es 
im  regelmäßigen  Verlauf  oder  nach  geschehener  Auflösung,  so  werden 
die  Neuwahlen  ihr  Gepräge  erhalten  durch  die  öffentliche  Meinung. 
Daher  werden  in  England,  wo  die  parlamentarische  Tradition  die 
älteste  ist,  die  Nachwahlen  mit  besonderer  Aufmerksamkeit  be- 
obachtet: wenn  die  Wählerschaft  eines  Kreises  eine  andere  Mehrheit 
als  die  gewohnte,  oder  auch  nur  als  die  der  letzten  vorhergehenden 
Wahl  aufweist,  so  wird  dies  als  ein  Zeichen  veränderter  oder  doch 
in  bestimmtem  Simie  sich  kundgebender  öffentlicher  Meinung  auf-^ 
genommen.  In  manchen  Darstellungen  wird  daher  die  öffentliche 
Meinung  als  souverän,  als  der  eigentliche,  wahre  Souverän  eines 
wirklich  modernen  Staates  dargestellt,  also  insbesondere  eines  demo- 
kratischen Staates,  wo  dann  die  Meinung  der  Mehrheit  als  die 
öffentliche  Meinung,  und  diese  als  erklärter  »Volkswille«  erscheint. 
Wenn  wir  hingegen  streng  unterscheiden  zwischen  öffentlicher 
Meinung  und  Volksstimmung,  der  öffentlichen  Meinung  und  dem 
Volkswillen,  so  wird  doch  anerkannt,  daß  die  so  benannten  Er- 
scheinungen ineinander  übergehen,  und  daß  die  öffentliche  Meinung 
auf  die  Volksstimmung,  daher  auch  auf  den  Volkswillen  sehr  oft 
entscheidenden  Einfluß  ausübt,  aber  auch  umgekehrt:  so  daß  zu- 
weilen die  Erscheinungen  voneinander  sich  nicht  unterscheiden  lassen. 
2.  (Vereinigte  Staaten.)  In  keinem  Lande  ist  demnach  diese  Ober- 
herrlichkeit der  öffentlichen  Meinung  so  zu  erwarten  wie  in  den 
Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika.  In  keinem  und  von  keinem 


Als  Faktor  des  Staatslebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        323 

wird  sie  auch  so  geflissentlich  hervorgehoben.  Alle  Darsteller  des 
amerikanischen  Staatslebens  stimmen  in  dieser  Hinsicht  völUg  über- 
ein. Der  große  Washington  hatte  in  seiner  Lebewohl-Ansprache 
(Farewell-Adress)  die  Losung  dafür  in  den  Worten  gegeben:  ,,Im  Ver- 
hältnis wie  der  Aufbau  (the  stmcture)  einer  Regierung  der  öffentlichen 
Meinung  Kraft  verleiht,  ist  es  von  wesentlicher  Bedeutimg,  daß  die 
öffentliche  Meinung  aufgeklärt  sei."  Unter  den  Kennern  des  großen 
Bundesstaats  ragt  durch  eingehendste  Kenntnis,  politischen  Verstand 
und  unbestrittene  Autorität  hervor  James  (jetzt  Viscount)  Bryce, 
Verfasser  des  älteren  Werkes  The  american  Commonwealth  und  des 
neueren  Modern  Democracies.  Er  hat  einen  ganzen  Abschnitt  des 
erstgenannten  Werkes  {Part  IV)  der  öffentlichen  Meinung  gewidmet 
und  ist  in  mehreren  Kapiteln  des  jüngeren  darauf  zurückgekommen. 
Dort  stellt  er  nach  einleitenden  Kapiteln  über  das  Wesen  der  öffent- 
lichen Meinung  und  Regierung  durch  die  öffentliche  Meinung  (welche 
Kapitel  hier  übergangen  werden)  dar  ( Chap.LXXVI II),  wie  die  öffent- 
liche Meinung  in  Amerika  herrsche.  Es  sei  von  allen  Experimenten,  die 
Amerika  gemacht  habe,  dasjenige,  welches  am  meisten  Aufmerksamkeit 
verdiene,  weil  die  Lösung  des  Problems :  einem  System  nahezukommen, 
worin  der  Wille  des  Volkes  unmittelbar  und  beständig  auf  seine 
vollziehenden  und  gesetzgebenden  Geschäftsführer  wirke,  von  allen 
früheren  Lösungen  abweiche;  Amerika  habe  mehr  Kühnheit  im  Ver- 
trauen auf  die  öffentliche  Meinung  in  ihrer  Anerkennung  und  Wirksam- 
machung  gezeigt,  als  bisher  irgendwo  sonst  geschehen  sei.  „Sich  hin- 
wegsetzend über  Präsidenten  und  Staatsgouverneure,  über  den  Kongreß 
und  über  die  Legislaturen  der  Einzelstaaten,  über  Konventionen  und 
über  die  unermeßliche  Maschinerie  des  Parteiwesens,  steht  die  öffent- 
liche Meinung  in  den  Vereinigten  Staaten  da,  als  die  große  Quelle 
der  Macht,  als  die  Herrin  von  Dienern,  die  vor  ihr  zittern"  (II,  267). 
Diese  voUere  und  unmittelbarere  Herrschaft  der  öffentlichen  Meinung 
in  den  Veremigten  Staaten  leitet  Bryce  aus  der  Tatsache  ab,  daß 
von  drei  möglichen  Systemen  der  Volksherrschaft  —  das  erste  sei 
die  Herrschaft  der  Vollversammlung  der  Bürger,  das  andere  das 
Repräsentativsystem  —  das  dritte  sich  durchgesetzt  habe,  das 
als  ein  Versuch,  das  erste  auf  ein  großes  Land  anzuwenden  oder 
als  Modifikation  des  anderen  verstanden  werden  könne;  in  diesem 
dritten  System  habe  nicht  eine  Kammer,  sondern  das  Volk  selbst 
die  entscheidende  Gewalt;  jene  bestehe  zwar  fort,  werde  aber  für 
so  kurze  Frist  gewählt  und  begegne  so  vielen  Hemmungen,  daß  viel 
von  ihrer  Macht  und  Würde  dahin  sei;  die  Abgeordneten  werden 
nicht  als  weise  und  starke  Männer,  gewählt,  um  zu  regieren,  vorgestellt, 
sondern  als  Delegierte  mit  begrenztem  Mandat,  das  in  kurzen  Intervallen 

21* 


324  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

erneuert  wird.  Die  wirkliche  Regierung  durch  die  öffentliche  Meinung 
sei  da  vorhanden,  wo  die  Wünsche  xmd  Ansichten  des  Volkes  vor- 
walten, selbst  ehe  sie  durch  die  regelmäßigen  gesetzlich  bestimmten 
Organe  hindurchgegangen  sind,  imd  ohne  daß  dies  Hindurchgehen  not- 
wendig wäre.  Er  vergleicht  diese  Herrschaft  mit  der  Herrschaft  eines 
unbeschränkten  Monarchen  oder  Despoten.  Solche  letzte  und  höchste 
Instanz  sei  im  amerikanischen  Staatsleben  um  so  mehr  notwendig, 
weil  das  ganze  Verfassungswesen  mit  seinen  einander  hemmenden 
Faktoren  imd  Gewalten  fortwährenden  Konfüktstoff  in  sich  berge, 
so  daß  die  Maschinerie  immer  in  Gefahr  sei,  zum  Stillstand  zu  kommen. 
Da  sei  nun  aber  der  Herr  und  Meister  stets  bei  der  Hand :  die  öffent- 
liche Meinung  wirft  ihr  Gewicht  in  die  eine  oder  die  andere  Wagschale, 
und  das  ist  entscheidend.  Zeigt  die  Meinung  selber  kein  entschiedenes 
Übergewicht,  so  „ist  es  ohne  Zweifel  schwer,  bis  die  nächste  Wahl 
stattfindet,  zu  bestimmen,  welcher  von  vielen  disharmonischen  Rufen 
wirklich  die  vorwaltende  Stimme  ist'*;  diese  Schwierigkeit  müsse  in 
einem  großen  I^ande,  wo  häufige  Plebiszite  unmöglich,  ertragen  werden. 
Die  Bemühungen  der  Bildner  der  Verfassung,  dem  Volkswillen  seine 
zerstörende  Gewalt  zu  nehmen,  indem  sie  ihn  in  viele  kleine  Kanäle 
leiteten,  haben,  meint  Bryce,  gerade  den  Erfolg  gehabt,  die  öffentliche 
Meinung  über  die  regelmäßigen  und  gesetzhch  bestimmten  Organe  der 
Regierung  zu  erheben.  Jedes  dieser  Organe  sei  zu  klein,  um  die  öffent- 
liche Meinung  zu  gestalten,  zu  eng,  um  sie  auszudrücken,  zu  schwach, 
um  ihr  Wirksamkeit  zu  verleihen.  „Sie  herrscht  als  eine  durch- 
dringende und  ungreifbare  Macht,  gleich  dem  Äther,  der  durch  alle 
Dinge  hindurchgeht.  Sie  bindet  alle  Teile  des  verwickelten  Systems 
zusammen,  und  gibt  ihnen  jegliche  Einheit  des  Geistes  und  der 
Tätigkeit,  die  sie  besitzen"  (271).  Und  auch  aus  einem  anderen 
Grunde  sei  die  Meinung  der  großen  Nation  ein  gewichtigerer  Faktor 
in  der  Regierimg  der  Vereinigten  Staaten,  als  er  irgendwo  in  Europa 
sei.  In  Europa  mache  die  herrschende  Oberschicht  die  öffentliche 
Meinung  ebenso,  wie  sie  die  Verwaltung  leite  und  die  Gesetzgebtmg 
in  Händen  habe.  Davon  sei  in  Amerika  nicht  die  Rede.  Die  Mit- 
glieder der  gesetzgebenden  Körperschaften  seien  geistig  kaum  über 
dem  Durchschnitt  ihrer  Wähler.  Keine  Klasse  könne  darauf  An- 
spruch machen,  mehr  als  eine  andere  der  Ursprung  von  Ideen  zu  sein 
und  poHtische  Lehrmeinungen  für  die  Menge  aufzubauen.  Man  kann 
in  Amerika  nicht  von  den  Klassen  an  die  Massen  appelheren. 

3.  (Die  Organe  der  Öffentlichen  Meinung  in  Amerika.)  Als 
von  selbst  verständlich  bezeichnet  Bryce,  daß  unter  den  Organen 
der  öffentlichen  Meinung  die  Presse,  insbesondere  die  Zeitungs- 
presse, obenan  steht.    Zeitungen  seien   auf  diei  Arten  einflußreich: 


Als  Faktor  des  Staatslebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.       325 

als  Erzähler,  als  Anwälte  und  als  Wetterhähne.  In  der  dritten 
Eigenschaft,  wo  sie  der  öffentlichen  Meinung  als  Zeiger  und  Spiegel 
diene,  finde  die  Tagespresse  am  meisten  Aufmerksamkeit :  „die  Leute, 
die  im  öffentlichen  Leben  stehen,  fühlen,  daß  sie,  indem  sie  ihr  sich 
ergeben  zeigen,  die  öffentliche  Meinung  gleichsam  versöhnen  und  ihrer 
Befehle  gewärtig  sind".  „Wenn  man  der  Gottheit  seinen  Kultus 
widmet,  lernt  man  dem  Priester  sich  fügen."  Mehr  als  Parteiblätter 
sind  in  dieser  Hinsicht  unabhängige  oder  halbunabhängige  Zeitungen 
^^on  Bedeutung,  nämlich  i.  einige  Großstadtblätter,  die  zwar  in  der 
Regel  eine  Partei  unterstützen,  aber  ihr  den  Rücken  wenden,  wenn 
sie  glauben,  daß  es  an  der  Zeit  ist;  2.  Blätter,  die  hauptsächlich  Nach- 
richten geben  und  nur  je  nach  Umständen  eine  oder  die  andere  Partei 
unterstützen;  3.  unpolitische  Blätter,  worunter  weitaus  die  wichtigsten 
in  Amerika  die  religiösen  Wochenblätter  sind.  Wenn  diese  sich 
gelegenthch,  wie  bei  einer  Präsidentenwahl,  auf  Politik  einlassen, 
so  ist  ihre  Macht  bedeutend,  weil  sie  einen  moralischen  Standpunkt 
einnehmen  und  weil  sie  Sonntags  herauskommen.  —  Als  ein  Organ, 
die  öffentliche  Meinung  auf  zufangen,  zu  messen  und  bekannt  zumachen, 
das  in  Europa  fast  unbekannt  sei,  bezeichnet  Bryce  die  Methode,  private 
Äußerungen  hervorragender  Persönlichkeiten  zu  zitieren.  Manchmal 
geschieht  dies  dadurch,  daß  man  einen  Privatbrief  bekannt  macht, 
der  nicht  an  die  Zeitung  gerichtet  war,  sondern  an  einen  Freund, 
der  aber  weiß,  welche  Bestimmung  er  hat.  Manchmal  wird  ange- 
kündigt, wie  der  Hervorragende  bei  der  nächsten  Wahl  zu  stimmen 
gedenkt.  Ahnlich,  aber  noch  schärfer,  wirkt  das  Interview^  das  nicht 
selten  bestellt  wird.  Den  Zeitungen  helfen  diese  Mittel,  dem  Ausdruck 
und  zugleich  der  Gestaltung  der  öffentlichen  Meinung  dienstbar 
zu  sein,  was  ihnen  im  ganzen  besser  gelingt  als  z.  B.  in  England. 
Danach  wird  oft  einen  Politiker,  der  eine  Zeitlang  auf  Reisen 
gewesen  ist,  das  Gespräch  mit  4 — 5  leitenden  Männern  besser  über 
die  vorherrschende  Stimmung  unterrichten  als  alle  Zeitungs- 
lektüre. Versammlungen  spielen  im  öffentlichen  Leben  der  Ver- 
einigten Staaten  eine  geringere  Rolle  als  in  England.  Die  Häufigkeit 
der  Wahlen  erleichtert  es  dort  am  meisten,  der  öffentlichen  Mei- 
nung den  Puls  zu  fühlen;  auch  aus  Neben  wählen  in  den  Einzelstaaten 
werden  oft  Schlüsse  gezogen.  Stark  ist  die  Wirksamkeit  von  Ver- 
einen: sie  stacheln  die  Aufmerksamkeit,  rufen  Erörterung  hervor, 
formulieren  Grundsätze,  entwerfen  Pläne,  machen  ihre  Mitglieder 
kühn  und  reizen  sie,  bringen  den  Eindruck  einer  sich  ausbreitenden 
Bewegung  hervor,  welcher  Eindruck  bei  einem  mitfühlenden  und 
empfindsamen  Volke  ein  wesentlicher  Faktor  des  Erfolges  ist.  Der 
Schein  der  Stärke  sammelt  Rekruten  imd  erhöht  das  Selbstvertrauen 


326  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

auch  der  Veteranen.  —  Die  Einflüsse,  welche  für  das  Leben  in  Städten 
charakteristisch  sind,  wirken  bei  der  so  viel  dünneren  Bevölkerung 
in  Amerika  viel  weniger  als  in  Europa,  aber  die  Tendenzen  der  Meinung 
sind  leichter  zu  fassen,  weil  die  Klassenunterschiede  viel  geringer  sind, 
der  Verkehr  leichter  und  die  Parteizugehörigkeit  bestimmter.  Den- 
noch bleibt  auch  hier  dem  Irrtum  weiter  Spielraum.  Und  doch  regiert 
die  öffentliche  Meinung?  Ein  Souverän  ist  darum  nicht  weniger 
Souverän,  weil  seine  Befehle  zuweilen  falsch  verstanden  oder  unrichtig 
wiedergegeben  werden.  „In  Amerika  lauscht  jeder  auf  sie.  Diejenigen, 
denen  die  Führung  der  Geschäfte  des  I^andes  obliegt,  gehorchen 
nach  ihrem  besten  Wissen  und  Verstehen.  Sie  handeln  nicht,  wie  es 
in  Europa  bisher  üblich  war,  nach  ihren  eigenen  Ansichten  und 
erwarten,  daß  das  Volk  diese  billige;  sie  steuern  den  Kurs,  von  dem 
sie  glauben,  daß  das  Volk  im  Augenblicke  ihn  wünscht." 

4.  (Faktoren  der  Öffentlichen  Meinung.)  BßYCE  imtersucht  nun 
ferner  die  Potenzen,  wodurch  die  öffentliche  Meinung  in  Amerika 
bestimmt  werde,  imd  zwar  in  erster  I^inie  den  Volkscharakter,  denn 
die  öffentliche  Meinung  eines  Volkes  sei  noch  unmittelbarer  als  seine 
politischen  Einrichtungen  Reflex  und  Ausdruck  seines  Charakters.  V/as 
er  aber  als  den  Volkscharakter  versteht,  soll  wesentlich  nur  von  den  ein- 
geborenen Amerikanern,  nicht  von  der  jüngeren  europäischen  Ein- 
wanderung, geschweige  von  den  Negern  des  Südens  gelten.  Die  Ameri- 
kaner, sagt  er,  sind  gutherzig,  hilfreich  zueinander,  nachsichtig,  wenn 
auch  zuweilen  jähzornig,  hegen  großen  Abscheu  gegen  Grausamkeit. 
Sie  haben  guten  Humor  und  nehmen  die  Dinge  nicht  übermäßig  ernst. 
Sanguinisch  und  duldsam,  glauben  sie  an  ihren  Stern  und  geben  sich 
gern  Hoffnungen  hin.  Unbegrenzten  Glauben  haben  sie  an  das,  was 
sie  das  »Volk«  nennen  und  an  ein  demokratisches  Regierungssystem, 
mit  dem  Vertrauen,  daß  Wahrheit  tmd  Gerechtigkeit  darin  sich 
durchsetzen,  auch  wenn  zunächst  nur  von  einer  Minderheit  vertreten. 
Daraus  folgt  die  Neigung,  etwas  für  richtig  und  gut  zu  halten,  weil 
es  die  Mehrheit  auf  seiner  Seite  hat.  Eine,  wenn  ^uch  oberfläcliliche 
Volksbildung  ist  allgemein  verbreitet.  Der  Stand  der  Moral  ist  (abge- 
sehen von  dem  Pöbel  einiger  Großstädte  und  von  den  Negern  des 
Südens)  ziemlich  hoch,  besonders  im  Verhalten  gegen  Frauen  mid 
Kinder,  überhaupt  im  FamiHenleben.  Sie  sind  im  ganzen  ein  religiöses 
Volk.  ReHgion  und  moraUsches  Gefühl  verleihen  allen  philanthro- 
pischen und  Reformbestrebungen  Eifer  und  Nachdruck.  Aber  sie 
sind  nicht  willig,  Autoritäten  anzuerkennen.  Der  Einzelne  pocht 
auf  sein  eigenes  unabhängiges  Urteil.  Zumal  in  der  Politik,  die  jeder 
praktische  Mann  zu  verstehen  meint,  so  gut  wie  jeder  andere.  An 
der  Gemeindepoütik,  worin  man  sich  selbst  regiert,  wird  auch  die 


Als  Faktor  des  Staatsi^ebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        327 

große  Politik  gemessen.  Es  gibt  wenig  Leute,  die  »Zeit«  haben,  auch 
hat  der  Bürger  keine  Zeit  über  politische  Probleme  nachzudenken, 
wenngleich  die  Pflicht,  sich  damit  zu  beschäftigen,  von  jedem  aner- 
kannt wird.  Das  Geschäft  geht  vor.  Der  IMangel  an  ernstem  und 
ausdauerndem  Denken  macht  sich  nicht  nur  in  der  Politik  bemerkUch ; 
man  bemerkt  ihn  sogar  mehr  in  bezug  auf  wirtschaftliche  und  soziale 
Fragen.  Die  Denkweise  des  Handeltreibenden  überwiegt,  sie  lehnt 
abstraktes  und  subtiles  Denken  ab  und  ist  durch  Gründe  schwer  zu 
überzeugen,  weil  ihre  Ansichten  in  der  Regel  durch  lokale  oder  Partei- 
verhältnisse im  Vorwege  gebildet  und  festgewurzelt  sind.  Gleichwohl 
sind  Phantasie  imd  Affekte  leicht  zu  erregen,  und  ihre  Empfänglich- 
keit für  Idealismus  übertrifft  die  der  Engländer  und  Franzosen. 
Wenig  seßhaft,  teilweise  geradezu  nomadisch,  sind  sie  doch  sehr 
gesellig  und  weniger  reserviert  als  der  gebildete  Engländer,  darum 
leichter  zu  organisieren,  aber  auch  der  Veränderung  und  Abwechslung 
geneigt  (sie  haben  geringe  spezifische  Wärme).  Nichts  hat  bei  ihnen 
so  viel  Erfolg  wie  der  Erfolg.  Die  Stimmungen  wechseln  nicht  selten 
wie  eine  Sturmflut  und  hohle  Ebbe.  Und  doch  sind  sie  in  gewisser 
Weise  auch  ein  konservatives  Volk.  Sie  hängen  an  Gewohnheiten,  an 
gesetzHchen  und  theologischen  Bräuchen  und  Formeln;  ihr  Pro- 
sperieren befördert  die  konservative  Gesinnung.  So  rasch  sie  in  der 
Annahme  und  Einführung  praktischer  Neuerungen,  so  sehr  sie  vielfach 
auch  dem  Experimentieren  in  der  Politik  geneigt  sind,  so  haben  sie 
doch  den  praktischen  Verstand,  der  den  Wert  des  Dauerhaften  und 
Soliden  in  den  Institutionen  zu  schätzen  weiß. 

5.  (Einfluß  von  Klassen.)  In  einem  besonderen  Kapitel  betrachtet 
der  Forscher  die  Gewohnheiten  und  Tendenzen  der  Hauptschichten 
des  amerikanischen  Volkes  in  ihrem  Einfluß  auf  die  öffentliche 
Meinung.  Der  Landwirt,  noch  in  einigem  Maße  der  wichtigste  Typus, 
weist  z.  T.  die  Merkmale  auf,  die  ihn  in  allen  Ländern  bezeichnen ;  aber 
er  ist  mehr  ein  Geschäftsmann  als  in  Europa.  Er  fühlt  und  vertritt 
eben  sein  Berufs-  und  Klasseninteresse  im  Kampfe  gegen  Monopole 
und  Kapitalismus,  insbesondere  gegen  die  Eisenbahngesellschaften  im 
Westen.  Die  Landarbeiter  bilden  keine  Klasse  für  sich.  Auch  Krämer 
und  Handwerker  an  den  kleineren  Plätzen  sind  in  ihren  Interessen 
mit  den  Landwirten  eng  verbunden,  lesen  aber  mehr  Zeitungen, 
lernen  mehr  aus  Gesprächen,  haben  mehr  städtische  Bildung,  inter- 
essieren sich  mehr  für  Handelspohtik,  und  eher  im  Sinne  des  Pro- 
tektionismus, sonst  selten  von  Berufs  wegen  für  eine  der  Parteien 
eingenommen.  Die  Lohnarbeiter  sind  im  ganzen  (wie  bekannt)  besser 
gestellt  als  in  Europa.  Ungeachtet  ihres  kleinbürgerlichen  Gepräges 
hat  aber  das  Klassenbewußtsein  neuerdings  stark  zugenommen.    Die 


328  :Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Arbeit  als  solche  ist  bisher  in  den  Parlamenten  der  Union  wie  in  denen 
der  Staaten  noch  kaum  vertreten,  wenn  auch  manche  Mitglieder 
dieser  Körperschaften  ihr  Leben  als  Arbeiter  begonnen  haben.  Leb- 
haft macht  sich  oft  die  Stimmung  gegen  Einwanderung  wohlfeiler 
Arbeitskräfte  geltend,  besonders  in  den  Pacifik-Staaten  gegen  Einfuhr 
aus  China  und  Japan.  Übrigens  unterscheidet  sich  die  Klasse  der 
industriellen  Arbeiter  politisch  nicht  wesentlich  von  den  Kleinbürgern 
und  Landwirten.  Unter  den  jüngeren  Einwanderern  machen  sich  die 
religiösen  Sympathien  (besonders  der  Katholiken),  die  Abneigung 
gegen  Bier  verböte  (bei  den  Deutschen)  und  der  Haß  gegen  England 
(bei  den  Iren)  bemerkbar.  Die  Großbürger- Klasse  gebraucht  die 
Politik  vorzugsweise  für  ihre  eigenen  Zwecke,  insbesondere  defensiv 
imd  im  Sinne  des  Laisser  faire;  sie  besitzen  aber  die  Mittel,  um  die 
öffentliche  Meinung  und  den  Gang  der  Dinge  zu  beeinflussen.  Auch  ihr 
mittelbarer  Einfluß,  besonders  in  Finanzfragen  und  durch  Herrschaft 
über  die  Eisenbahnen,  ist  bedeutend  und  hemmt  rasche  Veränderun- 
gen. Unter  den  freien  Berufen  sind  die  J  uristen  weitaus  am  meisten 
politisch  tätig  und  wirksam.  Ihre  Leistung  besteht  hauptsächlich  dar- 
in, die  öffentliche  Meinung  von  der  technischen  Seite  zu  erziehen 
und  die  Fragen  dem  Volke  mundgerecht  zu  machen.  Der  Einfluß  der 
Schriftsteller  ist  nicht  gering  durch  Wochen-  und  Monatsschriften, 
ebenso  und  unmittelbarer  der  der  Lehrer,  zumal  der  Universitätslehrer : 
sie  wirken  dahin,  die  politische  Denkungsart  ernster  zu  gestalten,  den 
Gesichtskreis  unter  den  Reichen  zu  erweitern,  ihren  Patriotismus  zu- 
gleich zu  dämpfen  und  zu  erheben.  Die  Musensitze  gehören  heute 
zu  den  stärksten  Kräften,  die  für  den  Fortschritt  wirken  und  eine 
gesunde  öffentliche  Meinung  in  den  Vereinigten  Staaten  bilden  helfen; 
Wert  der  Lehrkräfte  und  Zahl  der  Studierenden  nehmen  fortwährend 
zu.  —  Scharfe  Klassenscheidungen  gibt  es  in  den  Vereinigten  Staaten 
nicht.  Namentlich  gibt  es  keine  Schicht,  deren  eigentliche  Tätigkeit 
darin  besteht,  die  öffentliche  Meinung  zu  gestalten  und  zu  leiten;  am 
wenigsten  fühlen  die  Politiker  sich  dazu  berufen.  Sie  werden  von  der 
öffentlichen  Meinung  geleitet,  anstatt  sie  zu  leiten.  Noch  weniger  gibt 
es  eine  regierende  Klasse.  Auch  die  beiden  großen  Parteien  scheiden 
sich  nicht  nach  Klassen.  Allerdings  sind  neuerdings  durch  die  großen 
Streiks  und  durch  die  politische  Agitation,  die  sie  begleitete,  neue 
Elemente  von  Klassengefühlen  und  Klasseninteressen  auf  die  Bühne 
getreten.  Die  Stärke  der  Nation  liegt  aber  in  der  Fähigkeit  politischen 
Denkens  und  vaterländischen  Interesses  bei  der  großen  Menge. 

6.  (Wirksamkeit.)  Nachdem  in  einem  Folgekapitel  (82)  noch  die 
Unterschiede  im  Geiste  des  Ostens,  des  Westens,  des  Südens  innerhalb 
des  großen  Reiches,  und  die  Färbungen  der  öffentUchen  Meinung  durch 


Als  Faktor  des  Staatslebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        329 

die  in  jeder  Gegend  vorherrschenden  Einflüsse  erörtert  worden,  wird 
von  Bryce  die  Frage  aufgeworfen:  wie  wirkt  sie?  und  in  3  Fragen 
unterschieden:  i.  wer  bildet  sie,  die  Wenigen  oder  die  Vielen?  2.  wie 
sucht  sie  die  Gesetzesmaschinerie  zu  ergreifen  und  zu  benutzen,  die 
von  den  Verfassungen  (des  Bundes  und  der  Staaten)  dargeboten  wird  ? 
3.  welche  Mittel  hat  sie  außer  diesen,  auf  den  Gang  der  Dinge  zu 
\^irken  ?  —  Diese  Fragen,  zumal  die  erste,  werden  dadurch  geklärt,  daß 
man  in  bezug  auf  poHtische  Bildung  drei  Schichten  unterscheidet :  i.  die 
der  praktischen  Politiker,  an  deren  Spitze  die  Parteiführer  stehen,  2.  die 
der  poH tisch  Interessierten,  3.  die  der  verhältnismäßig  Gleichgültigen, 
die  höchstens  zur  Wahlurne  gehen  oder  sich  ziehen  lassen.  Die  erste 
Schicht  ist  in  Amerika  durchaus  gering,  auch  die  dritte  kleiner  als  in 
England,  wird  nur  durch  Neueingewanderte  und  Neger  erheblich.  In  der 
zweiten  Schicht  wird  die  öffentliche  Meinung  der  Vereinigten  Staaten 
sowohl  gebildet  als  auf  die  Probe  gestellt,  sowohl  geschaffen  als  ge- 
staltet. Luft  und  Wärme  der  Politik  strahlen  nicht,  wie  in  England, 
von  einem  Zentrum  aus,  durchdringen  vielmehr  die  ganze  Atmosphäre 
und  sind  nicht  viel  intensiver  in  der  inneren  Sphäre  der  praktischen 
Politiker  als  anderswo.  Die  fortwährenden  Wahlen  nötigen  den  gewöhn- 
lichen Bürger,  an  den  öffentlichen  Angelegenheiten  einen  tätigen  An- 
teil zu  nehmen.  Er  hält  sich  für  ebenso  kompetent  wie  seinen  Ver- 
treter und  den  Beamten.  So  gilt  für  Amerika,  daß  die  öffentüche 
Meinung  nicht  gemacht  wird,  sondern  wächst.  In  irgendwelchen  Be- 
wegimgen  ist  die  Rolle  der  individuellen  Führer  minder  bedeutend 
als  in  England.  Reden  und  Leitartikel  wirken  weniger,  der  Gang 
der  Ereignisse  mehr  auf  die  Denkungsart  des  Amerikaners  als  des 
Europäers.  Jene  erste  und  innere  Schicht  von  Denkern,  Schrift- 
stellern, Rednern,  ist  zwar  auch  in  Amerika,  zumal  in  den  Groß- 
städten, nicht  gering  an  Zahl,  aber  sie  sind  isoliert  und  unorganisiert, 
sie  büden  keine  Klasse.  Das  Machen  und  Führen  der  öffentlichen 
Meinung  ist  mehr  Sache  von  Liebhabern  (Amateurs),  die  darin  zuweilen 
Großes  leisten,  aber  es  ist  weniger  zusammenhängend,  weniger  über- 
wältigend, wirkt  weniger  rasch  auf  die  Masse  der  Bürger  als  es  z.  B. 
in  England  der  Fall  ist.  —  Wie  kann  man  nun  durch  die  öffentliche 
Meinung  Einfluß  auf  die  Gestaltung  der  Dinge  zu  erlangen  hoffen? 
Einfach  ist  es,  wenn  sie  in  den  Bahnen  einer  Partei  verläuft,  wie 
aber,  wenn  außerhalb?  Zuvörderst  ist  Organisation  unerläßhch, 
dann  aber  stehen  3  Wege  offen.  Man  kann  versuchen,  für  die 
Sache,  den  Zweck,  den  man  fördern  will,  eine  der  großen  Par- 
teien zu  gewinnen  —  der  sicherste  aber  auch  der  schwierigste  Weg. 
Die  Partei  hat  ihre  feste  Dogmatik.  2.  eine  neue  Partei  bilden. 
Kostspielig   und   mühsam,   nur   anwendbar,    wenn   man   nicht   der 


330  Bmpirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

lyächerlichkeit  verfallen  will,  wo  es  sich  um  eine  Sache  von  offenbar 
großer  Bedeutung  handelt,  dann  freilich  wirkt  es  als  Reklame  und 
kann  zersetzend  auf  die  alten  Parteien  wirken,  auch  wenn  es  sonst 
keinen  Erfolg  hat.  Endlich  3.  die  Sache  in  der  Schwebe  halten 
und  sie  den  Parteien  anbieten  als  Preis,  der  für  Unterstützung  im 
Wahlkampfe  zu  zahlen  wäre  —  ein  häufiges  Verfahren,  wirksam  und 
verhältnismäßig  leicht  anwendbar.  Die  MögUchkeit,  daß  es  einge- 
schlagen wird,  wirkt  als  eine  Hemmung  auf  die  Parteien,  indem  es  sie 
abhält  von  Gesetzgebung,  die  ein  Stück  wachsender  öffentlicher 
Meinung  reizen  und  zur  Absplitterung  veranlassen  könnte;  es 
macht  sie  also  duldsamer  gegen  Abweichungen  vom  orthodoxen 
Programm,  als  sonst  die  Parteidisziplin  zulassen  würde.  —  All- 
gemein gilt  natürlich,  daß  Rücksicht  auf  die  öffentliche  Meinung 
und  ihren  Erfolg  bei  den  nächsten  Wahlen  mächtig  wirkt  auf  die 
Gesetzgeber  und  Regierungen.  Wie  Strafrecht  und  Gerichtsbarkeit 
neben  ihrer  vergeltenden  eine  vorbeugende  Wirkung  haben,  so 
macht  auch  eine  gesunde  und  wachsame  öffentliche  Meinung 
sich  dadurch  geltend,  daß  sie  törichte  oder  korrupte  Gesetzgebung 
sowolil  als  unredliche  Verwaltung  zu  verhüten  in  der  I^age  ist.  Die 
Zeichen  werden  auch  hier  zuweilen  irrig  gedeutet.  Aber  es  gibt 
ziemlich  sichere  Zeichen,  dazu  gehört  die  Art,  wie  Personen  von 
anerkannt  gemäßigter  Denkweise  sich  aussprechen  und  die  von  den 
weniger  parteigebundenen  Zeitungen  eingenommene  Stellung.  Bald 
merken  dann  auch  einige  der  Parteiorgane,  wie  der  Wind  weht.  Wenn 
es  in  den  Wählerschaften  immer  imsichere  Elemente  gibt,  die  leicht 
den  Ausschlag  geben,  so  sind  das  oft  auch  solche,  die  unlauteren  Ein- 
flüssen zugänglich  sind,  aber  in  Amerika  darf  es  eher  als  in  England 
für  ein  Zeichen  unabhängigen  Urteils  und  das  Abschwenken  von 
einer  Partei  zur  andern  für  begründet  durch  ernsten  und  sachlichen 
Dissens  oder  durch  Unzufriedenheit  mit  den  Personen  gelten.  Als 
Gegengewicht  gegen  die  Parteischeidung  wirken  die  mannigfachen 
»Bewegungen«  für  oder  wider  eine  Sache,  die  in  den  Vereinigten 
Staaten  alle  Kräfte  anspannen,  um  ihren  Meinungen  Ausdruck  und 
Verbreitung  zu  geben.  Die  Parteien  befassen  sich  wenig  mit  Lehr- 
meinungen.  Nur  vor  wichtigen  Wahlen,  die  eine  Frage  entscheiden 
sollen,  versucht  jede  von  ihrem  Standpunkt  aus,  die  politischen  An- 
sichten zur  Reife  und  Ellärung  zu  bringen.  Die  Geschäftigkeit  der 
öffentlichen  Meinung  ist  weniger  stetig  als  in  Europa,  sie  kümmert 
sich  nur  stoßweise  intensiv  um  die  Politik.  Amerika  leidet  unter  einer 
Art  von  Wechselfieber,  in  jedem  4.  Jahre  erleidet  das  Land  mit  be- 
vorstehender Präsidentenwahl  einen  Anfall.  Übrigens  hat  die  PoUtik 
es  nicht  eilig,  sie  macht  viel  I^ärm,  ohne  viel  vorwärts  zu  kommen; 


Als  Faktor  des  Staats lebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        331 

mehr  als  die  Maschinerie  der  Regierung  hilft  dazu  der  praktische 
Verstand  und  ehrliche  Patriotismus  von  Männern  unabhängiger 
Denkimgsart,  die  sich  den  Parteidogmen  nicht  gefangen  geben. 

7.  (Mehrheit  und  Menge.)  Die  Tyrannei  der  Mehrheit,  die  man 
oft  den  Demokratien  zur  Last  legt,  macht  sich  nach  Bryce  in  den 
Vereinigten  Staaten  wenig  fühlbar:  sowohl  in  der  Gesetzgebung  der 
Union  imd  der  Staaten,  als  in  der  Tätigkeit  der  Öffentlichen  Meinung. 
Was  diese  betrifft,  so  war  es  anders  in  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts:  ToCQUEViLivE  sagte  damals,  er  kenne  kein  Land, 
wo  im  allgem^einen  weniger  Unabhängigkeit  des  Geistes  und  echte 
Freiheit  der  Erörterung  anzutreffen  sei  als  in  Amerika.  Der  Bürger- 
krieg hat  mit  der  Bigotterie  und  dem  Fanatismus  aufgeräumt, 
die  bis  dahin  vorherrschten.  Nicht  sowohl  Tyrannei  der  Mehr- 
heit, als  ein  gewisser  Servilismus  der  Minderheit  macht  sich 
geltend.  Aus  dem  Dogma,  daß  die  Mehrheit  entscheiden  soll, 
quillt  leicht  ein  anderes,  wenn  es  auch  zumeist  unterbewußt 
bleibt,  daß  nämlich  die  Mehrheit  immer  im  Rechte  sei;  aus  beiden 
wiederum  entsprießt  das  Gefühl,  daß  es  umsonst  ist,  der  Mehrheit 
Opposition  zu  machen  oder  sie  auch  nur  zu  kritisieren.  Bryck  nennt 
dies  den  »Fatalismus  der  Menge«.  Die  schrankenlose  Freiheit 
der  Diskussion  wirke  dazu  mit,  wie  Unterdrückung  den  Widerstand 
reizt;  wer  von  der  Menge  verurteilt  oder  totgeschwiegen  werde, 
könne  an  kein  höheres  Gericht  Berufung  einlegen.  Ebenso  wirke  der 
feste  Glaube,  den  die  Amerikaner  haben  an  die  Gesundheit  ihrer 
Institutionen  und  an  die  Zukunft  ihres  Landes.  Man  hat  gesagt,  sie 
halten  sich  für  Gegenstände  einer  besonderen  Fürsorge  der  göttlichen 
Vorsehung.  Die  Amerikaner  fühlen  sich  bei  ihrer  freiwilligen  Unter- 
werfung unter  den  Willen  der  öffentlichen  Meinung  unzweifelhaft 
wohl.  Sie  kann  um  so  geschwinder  und  um  so  vollständiger  ihren 
Willen  durchsetzen,  sie  gewinnt  überdies  dadurch  eine  Festigkeit,  die 
den  ganzen  politischen  Körper  stärkt.  Fragen,  über  welche  die  Massen 
sich  entschieden  haben,  scheiden  aus  der  praktischen  Erörterung  aus. 
Der  Streit  beschränkt  sich  auf  Nebenfragen;  wie  wild  er  hier  auch  tobe, 
er  stört  die  große  und  schwere  Masse  der  Übereinstimmung  ebenso- 
wenig, als  ein  Sturm  die  Tiefen  des  Ozeans  aufrührt. 

8.  (Schätzung  der  öffentlichen  Meinung.)  Als  offenbare  Schwäche 
einer  Regierung  durch  die  öffentHche  Meinung  bezeichnet  Bryce  die 
Schwierigkeit,  diese  mit  Sicherheit  zu  erkennen;  denn  es  gibt  viele 
unechte  Nachahmungen.  Wahlen  sind  die  große  Probe,  aber  Wahlen 
sind  schon  über  zahlreich  in  den  Vereinigten  Staaten.  Das  Refe- 
rendum wäre  mühsam  und  kostspielig  schon  in  den  größeren  Einzel- 
staaten, geschweige    in    der  Union.     Die    öffentliche   Meinung   ist 


332  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

mehr  geeignet,  Wünsche  auszudrücken,  als  praktische  Entwürfe 
daraus  zu  gestalten  —  sie  weist  auf  Zwecke  hin,  aber  ist  minder 
geeignet,  die  Mittel  dafür  zu  prüfen  und  auszuwählen,  sie  schwächt 
vielmehr  die  dafür  geschaffenen  Organe.  Die  Parlamentarier  haben 
wenig  Geschick  für  konstruktive  Gesetzgebung.  Die  öffentliche 
Meinung  selber  ist  langsam  und  schwerfäUig  in  der  Art  wie  sie 
große  praktische  Probleme  behandelt:  sie  faßt  sie  ins  Auge,  redet 
unaufhörlich  darüber,  beklagt  sich,  daß  der  Kongreß  sie  nicht  löse, 
ärgert  sich,  daß  sie  nicht  von  selber  sich  lösen.  Sie  bleiben  ungelöst. 
Das  bedächtige  und  zögernde  Auftreten  der  öffentlichen  Meinung 
hat  freilich  auch  seine  guten  Seiten.  Es  ergibt  sich  schon  durch 
die  Größe  des  Gebiets,  und  in  der  Tat  wirkt  die  öffentliche  Meinung 
in  den  Einzelstaaten  zuweilen  hastig  und  hemmungslos,  während  in 
der  Gesamtnation  ihre  QuaHtäten  einander  mehr  gegenseitig  aufheben. 
Ihre  große  Aufgabe  der  Gesetzgebung  und  Verwaltung  gegenüber  ist 
Kritik.  Diese  Funktion  wird  sehr  erschwert  durch  das  amerikanische 
System  vielfach  geschiedener  und  einander  kreuzender  Kompetenzen. 
Zuweilen  irrt  das  Publikum  umher  wie  ein  brüllender  I,öwe,  suchend, 
wen  es  verschlinge,  und  findet  keinen,  den  es  für  den  Skandal  ver- 
antwortlich machen  kann.  Und  überdies  ist  die  öffentliche  Meinung 
zwar  in  großen  Sachen  rasch  und  voll  Eifers,  in  geringeren  aber  sorg- 
los, und  immer  zur  Nachsicht  geneigt.  Daran  ist  auch  schuld,  daß 
gerade  die  tatkräftigen  Naturen  durch  ihre  Privatinteressen  sich  völHg 
in  Anspruch  genommen  finden,  und  daß  der  fatalistische  Optimismus 
sie  oft  gleichgültig  macht.  »Die  Sache  wird  schon  zurecht  kommen«  — 
damit  tröstet  man  sich.  Der  eine  glaubt,  nicht  mehr  berufen  zu  sein, 
sich  einzumischen,  als  der  andere.  Auch  der  praktische  Staatsmann 
scheut  sich  davor,  etwas  Neues  anzuregen,  weil  er  fürchtet,  es  möge 
der  öffentlichen  Meinung  mißfallen.  So  ist  die  enorme  Macht  der 
öffentlichen  Meinung  sowohl  eine  Gefahr  für  das  Volk  selber  wie  für 
seine  Führer.  Die  einen  wie  die  anderen  werden  mit  übermäßigem 
Vertrauen  zu  ihrer  eigenen  Weisheit  und  Tugend,  zu  ihrer  Freiheit 
angefüllt.  Andererseits  ist  die  Gesundheit  der  öffentlichen  Meinung 
und  die  von  ihr  geübte  Kontrolle  die  starke  Seite  des  amerikanischen 
Systems.  „Die  öffentliche  Meinung  ist  eine  Art  von  atmosphärischer 
Luft,  frisch,  scharf  und  getränkt  mit  Sonnenschein,  wie  die  der 
amerikanischen  Städte,  und  dies  Sonnenlicht  tötet  viele  der  schädlichen 
Keime,  die  da  ausgebrütet  werden,  wo  Politiker  zusammenkommen. 
Der  Genius  der  allgemeinen  Öffentlichkeit  hat  überwiegend  heilsame 
Ergebnisse.**  „Die  Meinung  einer  ganzen  Nation  ist,  wenn  sie  zum 
Ausdruck  gelangt,  die  berufenste  Autorität,  die  Endzwecke  der  natio- 
nalen Politik  zu  bestimmen."  Die  Herrschaft  der  öffentlichen  Meinung 


Ai^  Faktor  des  Staatslebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        333 

in  Amerika  kontrastiert  vorteilhaft  mit  einer  Demokratie,  die  aus- 
scMießlich  auf  Mehrheiten  gegründet,  in  der  Praxis  hastig,  gewaltsam, 
tyrannisch  wäre.  Auf  jene  wirken  allmähhch  Beredsamkeit,  Bildung, 
Weisheit,  Ansehen  der  Erfahrung  und  der  Persönlichkeit.  So  wird  durch 
die  öf f entUche  Meinung  die  Demokratie  duldsam  und  vernünftig,  es  wird 
minder  wahrscheinHch,  daß  sie  durch  Klassenscheidimgen  verbittert 
und  geplagt  wird.  In  Amerika  ist  es  nicht  nur  die  Gewohnheit  des 
Wählens,  sondern  die  erfrischende  Seeluft  der  ganzen  Atmosphäre 
des  öffentHchen  Lebens  und  die  Art,  wie  man  Nachrichten  empfängt 
tmd  bespricht,  wie  man  beide  Seiten  hört  und  beurteilt,  was  die  Ein- 
sicht des  durchschnitdichen  Bürgers  gestaltet.  Er  atmet  die  öffentliche 
Meinung,  wie  er  sie  bilden  hilft,  und  beides  hebt,  entwickelt,  erzieht  ihn. 
Es  gibt  ihm  eine  Empfindung  persönlicher  VerantwortHchkeit,  stärker, 
weü  beständiger  als  es  in  den  »freien  lyändern«  Europas  vorhanden 
ist,  wo  er  seine  Macht  einer  gesetzgebenden  Körperschaft  anvertraut. 
Er  hat  ein  Gefühl  von  Eigentumsrecht  an  der  Regierung,  und  damit 
eine  Art  von  Unabhängigkeit  sowohl  des  Benehmens  wie  des  Geistes, 
das  stark  absticht  gegen  die  Untertänigkeit  der  imteren  Klassen  in 
der  alten  Welt.  Der  eingeborene  Amerikaner  ist  politisch  geduldig, 
geneigt,  es  zuerst  mit  sanften  Mitteln  zu  versuchen  und  zu  erwarten, 
daß  die  anderen  sich  der  Gewalt  der  öffentlichen  Meinung,  die  sie  selber 
anerkennen,  auch  beugen  werden.  In  keinem  Lande  nimmt  eine  ge- 
schlagene Minderheit  ihre  Niederlage  so  gut  auf.  Beweisend  dafür  ist 
auch  der  erzieherische  Einfluß  der  öffentlichen  Meinung  auf  den 
Einwanderer.  Die  geistige  Luft,  die  er  atmet,  verwandelt  ihn  un- 
merklich; das  gilt  sogar  von  den  Iren,  trotz  ihrer  Abneigung  gegen 
England.  Die  Amerikaner  haben  einen  unbegrenzten  Glauben  an 
freie  Untersuchung  und  völlig  freie  Aussprache.  Die  unermeßHche 
Macht  der  ÖffentHchen  Meinung  ermögHcht  ihnen,  ihrer  eigenen  An- 
sicht nach,  mit  wenig  Regierimg  auszukommen.  Klasseninteressen, 
wenn  sie  auch  auf  die  Gesetzgebung  zu  wirken  suchen,  werden  ge- 
mildert durch  die  nationale  öffentliche  Meinung.  Sie  gestattet  weder, 
daß  die  Armen  durch  die  Reichen  bedrückt  werden,  noch  das  Um- 
gekehrte, was  die  demokratische  Verfassung  so  leicht  machen  würde. 
Die  Ehrlichkeit  und  der  gesunde  Menschenverstand  des  Staatsbürger- 
tums verhindert  es.  Gesetzgebung,  die  zunächst  vielleicht  plausibel 
scheint,  wird  durch  die  Kritik  der  öffentlichen  Meinung  oft  mit  Erfolg 
tinter  Trommelfeuer  genommen.  Unzählige  Beförderungen  weiß  sie 
zu  verhindern,  wenn  sie  auch  nicht  die  Setzung  der  richtigen  Männer 
auf  die  richtigen  Plätze  zu  sichern  in  der  Lage  ist.  Daß  in  den  Süd- 
staaten schamlose  Patronage  herrschte,  besonders  in  den  20  Jahren 
nach  dem  Bürgerkriege,  hängt  mit  dem  Charakter  der  öffentlichen 


334  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Meinung  dort  zusammen,  die  ganz  von  den  Weißen  gemacht,  der 
republikanischen  Partei  feindlich  war,  so  daß  diese,  während  sie  die 
Posten  zu  vergeben  hatte,  auf  die  öffentliche  Meinung  keine  Rück- 
sicht nahm.  Diese  war  bisher  so  gut  wie  ganz  die  Meinung  der  kleinen 
Sklavenhalter,  der  Aristokratie  von  Grundeigentümern  gewesen  und 
als  solche  heftig  und  unduldsam  gegen  die  Abolitionisten  und  den 
Norden.  Das  humane  Verhalten  der  siegreichen  Nordstaaten,  das 
nicht  den  Politikern,  sondern  dem  Volksganzen  gutzuschreiben  ist, 
hat  sie  umgestimmt  und  beinahe  ausgeglichen  mit  der  Meinung  des 
Nordens  und  des  Westens.  —  Die  alles  unterwerfende  Macht  der 
öffentlichen  Stimme  verhindert  die  Amerikaner  nicht,  große  Männer 
anzuerkennen  und  zu  ehren.  Sie  haben  einen  Hunger  nach  solchen 
und  sind  durchaus  willig,  sich  zu  begeistern.  Und  wenn  auch  die 
Bekämxpfung  einzelner  Personen  noch  oft  mit  Erbitterung  geschieht, 
$0  läßt  sich  doch  bemerken,  daß  die  öffentliche  Meinung  mäßiger, 
weicher  und  sicherlich  duldsamer  wird.  Gerade  ihre  Stärke  trägt 
dazu  bei:  sie  achtet  sich  selber  zu  hoch,  um  zu  wünschen,  irgendeine 
Stimme  zum  Schweigen  zu  bringen. 

9.  (Kritik  I.)  Der  Leser  findet  hier  (2. — 8.)  im  Auszuge  (von 
mir  übersetzt)  wiedergegeben,  was  der  4.  Abschnitt  des  Ery CE sehen 
Werkes  auf  116  Seiten  dargestellt  hat.  Was  darin  zur  allge- 
meinen Theorie  der  öffentlichen  Meinung  enthalten  ist,  wird  in 
späterem  Zusammenhange  ausführlicher  erörtert  werden.  Hier  werde 
nur  die  Schilderung  der  öffentlichen  Meinung  in  den  Vereinigten 
Staaten  ins  Auge  gefaßt  und  einer  Prüfung  unterzogen.  Ihr  Ver- 
fasser ist  ein  Gelehrter  und  Denker  von  Rang,  der  die  Vereinig- 
ten Staaten  nicht  nur  aus  Büchern,  sondern  mehr  durch  eigene 
Beobachtung  und  Erfahrung  kennt.  Er  verhehlt  nicht  die  Schatten- 
seiten des  amerikanischen  Lebens,  zumal  des  öffentlichen  Lebens 
und  des  Parteiensystems,  dessen  Verderbnisse  er  mit  aller  Schärfe 
anklagt  —  teils  in  dem  dritten  Abschnitt,  der  dem  Partei wesen 
gewidmet  ist,  teils  in  besonderen  Kapiteln,  so  in  dem  loi.  über 
die  wahren  Mängel  der  amerikanischen  Demokratie  und  im  122. 
über  die  Zukunft  der  politischen  Institutionen.  Aber  unverkenn- 
bar gibt  sich  doch  in  dem  ganzen  Werke  der  Freund  und  Be- 
wunderer des  amerikanischen  Gemeinwesens  und  der  Gesellschaft, 
worin  es  wurzelt,  kund.  Es  ist  zum  Teil  eine  Apologie,  die  aber  nur 
ungern  zugesteht,  daß  eine  Apologie  irgendwie  notwendig  sei.  Es  ist 
das  Buch  eines  schottischen  Liberalen,  der  in  einer  demokratischen 
Verfassung  und  im  fessellosen  öffenthchen  Leben  die  einzige  eines 
fortgeschrittenen  und  gebildeten  Volkes  würdige  Art  des  Zusammen- 
lebens   sieht.      Also    findet    er    in    einem    gewissen    Maße    in    der 


Ai,s  Faktor  des  Staatsi^ebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        335 

amerikanischen  Demokratie  sein  Ideal  verkörpert.  Und  da  er  doch  die 
schweren  Schäden  des  Staatslebens  nicht  wegleugnen  kann  oder  will, 
so  ist  es  die  Herrschaft  der  »gesunden«  öffentlichen  Meinung,  ihre 
Überlegenheit  auch  über  den  Präsidenten,  über  den  Kongreß  und 
vollends  über  die  Regierungen  der  Einzelstaaten,  was  ihn  tröstet 
und  beruhigt,  was  ihm  das  sehr  günstige  Vorurteil,  womit  er  den 
amerikanischen  Boden  betreten  hat,  rettet  und  ihn  mit  vollkommener 
Zuversicht  in  die  Zukunft  der  Vereinigten  Staaten  schauen  läßt.  Die 
Macht  des  Kongresses,  will  sagen,  des  Parlaments,  das  weder  an  Mut, 
noch  an  Tatkraft  und  Weisheit,  darum  auch  nicht  an  Ansehen  ge- 
winne, scheine,  im  Vergleiche  mit  der  Macht  der  öffentlichen  Meinung, 
eher  abzunehmen  (II,  907).  Der  Präsident  sei  in  manchen  Beziehungen 
besser  geeignet  als  das  Parlament,  die  öffentliche  Meinung  sowolil  zu 
beeinflussen  als  in  sich  darzustellen  (ib.  908).  Diese  wisse  wohl,  daß 
die  »Maschine«  —  so  wird  das  System  der  organisierten  Parteien 
allgemein  genannt  —  der  gründHchen  Reinigung  bedürfe,  aber  das 
letzte  Menschenalter  lasse  auch  eine  zwar  langsame  aber  stetige 
Besserung  in  dieser  Hinsicht  erkennen  (910).  Die  drei  großen  Vorzüge, 
die  Amerika  vor  Europa  habe  —  i.  Abwesenheit  von  Klassenscheidung 
und  Klassenhaß,  2.  Verbreitung  des  Wohlstandes  über  eine  uner- 
meßliche Schicht  kleiner  Eigentümer,  3.  Abwesenheit  des  chronischen 
Pauperismus  und  wirtschaftlicher  Not,  auch  in  Zeiten  der  Depression, 
wo  die  unentwickelten  Gebiete  des  Westens  so  etwas  wie  ein  Sicher- 
heitsventil darbieten  —  diese  Vorzüge  bleiben.  Freilich,  es  hängen 
auch  Wolken  über  der  Zukunft  und  das  amerikanische  Schiff  hat 
einen  Nebelberg  vor  sich:  die  zunehmende  Verdichtung  der  Be- 
völkerung, abnehmende  Fruchtbarkeit  des  Bodens.  Aber  auch  gegen 
die  drohenden  Übel,  wodurch  die  Zustände  denen  Europas  ähnUcher 
werden,  insbesondere  gegen  die  Kämpfe  zwischen  Kapital  und  Arbeit, 
wird  sich  die  OrdnungsHebe,  die  freiheithche  Sitte,  die  dadurch  be- 
günstigte Mäßigung  und  Selbstbeherrschung,  die  glückliche  Verteilung 
des  Grundeigentums,  der  einschränkende  und  versöhnende  Einfluß 
der  Religion  bewähren  (914 f.). 

10.  (Kritik  II.)  Die  Methode,  die  Bryce  bei  seinem  Studium 
des  Geistes  der  Vereinigten  Staaten  anwendet,  ist  überwiegend 
empiristisch -induktiv.  Aber  hier  und  da  geht  er  auch  von  allge- 
meinen Sätzen  aus,  um  davon  die  Erscheinungen,  wie  sie  zu  er- 
warten seien  und  wirkhch  vorgefunden  werden,  abzuleiten  (deduk- 
tive Methode).  So  in  dem  Kapitel  (85)  über  den  Fatahsmus  der  Menge, 
Jene  drei  Sätze,  daß  die  Mehrheit  entscheiden  müsse,  daß  die  Mehr- 
heit im  Recht  sei,  daß  es  vergeblich  sei,  ihr  Widerstand  zu  leisten, 
gewinnt  er  auf  diese  Weise.  Er  geht  von  der  Voraussetzung  aus,  daß 


336  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

die  aristokratische  Struktur  einer  Gesellschaft  aufgelöst  ist,  daß  die 
alten  Gruppen  verschwunden  sind,  daß  die  Menschen  sich  mehr  als 
Mtglieder  einer  Nation  als  einer  Klasse,  einer  Famihe  oder  Gemeinde 
innerhalb  einer  Nation  fühlen,  daß  ein  nivellierender  Prozeß  den 
Vorzug  der  Geburt  und  des  Ranges  zerstört  hat,  daß  großes  Grund- 
eigentum nicht  mehr  vorhanden  ist,  daß  \dele  Personen  der  sonst 
unteren  Klasse  zu  Eigentum  gelangt  sind,  daß  Wissen  leicht  zugänglich 
und  die  Fähigkeit,  es  zu  gebrauchen,  nicht  mehr  auf  die  Wenigen 
beschränkt  ist.  „Unter  solchen  Bedingungen  sozialer  Gleichheit 
wird  die  Gewohnheit  intellektuellen  Befehles  und  individuellen  Selbst- 
vertrauens aus  der  führenden  Klasse  verschwunden  sein,  die  den 
Typus  des  Nationalcharakters  schafft,  und  wird  nirgends  in  der 
Nation  vorhanden  sein."  Bryce  setzt  femer  voraus,  daß  poHtische 
Gleichheit  Hand  in  Hand  mit  diesem  Nivellement  gegangen  ist. 
Dadurch  imd  wenn  alles  der  Entscheidung  der  Mehrheit  überlassen 
wird,  wird  unvermeidHch  auch  das  Selbstvertrauen  des  starken  Mannes 
und  sein  Bewußtsein  individueller  Kraft  sinken,  weil  auch  er  fühlt, 
daß  er  nur  einer  unter  vielen  ist,  und  daß  er,  wenn  überhaupt,  nur 
dadurch  etwas  erreichen  kann,  daß  er  die  Persönhchkeit  seines  Nach- 
bars als  in  jedem  Zoll  seiner  eigenen  gleichwertig  anerkennt.  Es  wird 
ferner  vorausgesetzt,  daß  diese  Entwicklung  stattfindet  in  einem 
enorm  großen  und  volkreichen  lyande,  wo  der  Einfluß,  den  einer 
privatim  durch  seinen  Geist  oder  seinen  Reichtum  ausüben  kann, 
sich  beschränkt  auf  den  kleinen  Kreis  seiner  Stadt  oder  Nachbarschaft. 
In  der  unermeßHchen  geschäftigen  Menge  mit  ihrem  Geschrei  durch- 
einanderwirbelnder Stimmen,  das  er  aus  der  Nähe  vernimmt,  scheint 
sein  eigenes  Sein  verloren.  Er  hat  das  Bewußtsein  seiner  Nichtigkeit, 
das  uns  überwältigt,  wenn  wir  nachts  die  Milchstraße  am  Himmel 
anschauen,  imd  wissen,  daß  schon  von  dem  nächsten  Fixstern  aus 
unser  Planet  tmsichtbar  ist.  In  einem  so  beschaffenen  I^ande  dürfe 
man  erwarten,  gewisse  Gefühle  und  Denkweisen  in  den  Seelen  der 
Menschen  herrschend  zu  finden.  Und  als  solche  bezeichnet  Bryce 
die  genannten  drei  Sätze.  Er  hat  gewisse  Merkmale  der  amerikanischen 
Gesellschaft  und  ihres  Staates  richtig  geschildert.  Aber  diese  sind, 
wenn  auch  zum  Teil  minder  ausgeprägt,  die  Merkmale  jeder  modernen 
Gesellschaft,  jedes  modernen  Staates.  An  einigen  davon  nimmt 
freilich  gerade  Großbritannien  am  wenigsten  teil,  und  naturgemäß 
denkt  der  Schotte  zunächst  an  die  Unterschiede  der  Vereinigten 
Staaten  von  diesem  seinem  Vaterlande.  Die  Tendenzen  zur  sozialen 
Gleichheit  sind  hier  viel  schwächer  entwickelt,  auch  die  förmliche 
politische  Gleichheit  war,  zumal  als  Bryce  schrieb  (vor  191 1),  noch 
sehr  mangelhaft,  da  eine  gesetzgebende  Körperschaft,  die  aus  erblichen 


Ai,s  Faktor  des  Staatslebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        337 

Großen  und  aus  Bischöfen  besteht,  noch  jedes  Gesetz,  das  im  Hause 
der  Gemeinen  beschlossen  war,  zu  Fall  bringen  konnte.  Auch  ist 
Großbritannien,  mit  den  Vereinigten  Staaten  verglichen,  ein  kleines 
Land,  dessen  Kräfte  und  Gedanken  in  einer  ungeheuren  Hauptstadt 
konzentriert  sind,  das  die  heutigen  Verkehrsmittel  in  fortwährendem 
raschen  Austausch  seiner  Bewohner  erhalten.  Was  die  Ausdehnung 
des  Gebietes  betrifft,  so  konnte  nur  das  ehemalige  Rußland  mit  den 
Vereinigten  Staaten  vergUchen  werden.  Alle  großen  europäischen 
Länder,  wenn  auch  Rußland  bisher  am  wenigsten,  und  mehrere  kleine, 
unterliegen  sonst  den  gleichen  Lebensbedingungen,  die  besonders 
während  der  2.  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  unsäglich  verschärft  sich 
herausgestellt  haben:  den  Umständen,  die  ich  als  die  Entwicklung 
von  Gemeinschaft  zu  Gesellschaft  zu  begreifen  versuche. 

Ich  habe  unterschiedlich  dargestellt  (»Individuum  und  Welt«^Welt- 
wirtsch.  Archiv  I,  i),  wie  die  freien  Individuen  und  der  »Individualis- 
mus«, den  sie  vertreten,  also  auch  die  gesellschaftlichen  Vereinigungen, 
die  daraus  hervorgehen,  i.  in,  2.  aus,  3.  neben  den  gemeinschaftlichen 
Zusammenhängen  und  Verbänden  sich  entwickeln.  Kolonien,  die 
einen  günstigen  Boden  finden,  gehen  einerseits  schon  aus  diesen 
Indi\ddualisierimgen  und  ihren  Gesellschaften  (die  auch  im  Gemein- 
schaf tsge  wände  auftreten,  wie  religiöse  Sekten)  hervor,  andererseits 
machen  sie  die  gleichen  Entwicklungen  stark  beschleunigt  und  mit 
geringeren  Hemmungen  durch.  Freilich  steht  bei  Ackerbaukolonien 
die  Natur  des  Ackerbaues,  die  den  gemeinschaftlichen  Typen  so  viel 
günstiger  ist,  entgegen.  Aber  dieser  Widerstand  pflegt  durch  Neuheit 
und  Fremdheit  des  Bodens,  durch  den  Mangel  an  Überlieferung, 
durch  die  Gebildetheit  des  IndividuaHsmus  der  Ansiedler,  bald 
überwunden  zu  werden.  So  zeigen  die  Vereinigten  Staaten,  ungeachtet 
des  so  viel  breiteren  Raumes,  den  noch  die  landwirtschaftliche  Basis 
in  ihnen  einnimmt,  trotz  des  so  viel  geringeren  Teiles  der  gesamten 
Bevölkerung,  der  in  großen  Städten  wohnt,  und  allgemein  der  viel 
geringeren  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  —  verglichen  mit  den 
führenden  Ländern  der  alten  Welt  —  sie  weisen  gleichwohl  die  Züge 
der  fortgeschrittenen  und  entfesselten  »Gesellschaft«,  nicht  nur  inner- 
halb ihrer  Großstädte,  sondern  im  Gesamtcharakter  des  Landes, 
schärfer  als  irgendwo  ausgeprägt  auf.  A.  Innerhalb  der  Gemein- 
schaften —  und  als  solche  sind  es  rehgiöse  Gemeinden,  »freie  Kirchen«, 
die  für  Neu-England  wie  für  andere  Siedelungsländer  am  meisten 
Bedeutung  in  sich  trugen  —  entwickelt  sich  auf  dem  jungen  Boden 
der  einzelne  Mann  mit  seiner  Kraft,  seinem  Verstand,  seinem  Selbst- 
vertrauen, um  so  leichter  und  rascher,  da  schon  die  Auswanderung 
ursprünglich  ein  »Abenteuer«  ist,  das  T     ''    '    it  und  Wagemut,  ja 

Tönnies,  Kritik.  22 


33S  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

rücksichtslose  Entschlossenheit  fordert;  von  vornherein  ist  Kampf 
gegen  die  rohe  Natur,  zumeist  auch  gegen  feindhche  Urbewohner, 
geboten,  der  diese  Eigenschaften  weiter  fördert.  Auch  ist  es  die  Be- 
schaffenheit, besonders  der  geringe  Umfang  und  die  Zerstreuung, 
der  pohtischen  und  rehgiösen  Verbände  —  der  township  und  der 
Chapel  —  was  das  Hervortreten  und  die  freie  Bewegung  tatkräftiger 
Individuen  erleichtert.  Geistig  bindet  die  Heimat  mehr  als  die  Fremde, 
und  die  Kolonie  bleibt  lange,  und  immer  für  die  Neuankömnüinge, 
eine  Fremde.  B.  Aus  den  Gemeinschaften  befreit  sich  der  einzelne 
Mensch  um  so  leichter,  da  ihre  herrschaftliche  Gestaltung  von  vorn- 
herein schwächer  ist  oder  —  gegenüber  einer  für  minderwertig  ge- 
schätzten Rasse  —  die  absolute  Form  der  Herrschaft  über  Sklaven 
angenommen  hat.  Während  sonst  die  Herrschaft  auch  die  Herren 
nicht  nur  moralisch,  sondern  auch  rechtlich  verbindet,  so  fällt  in  der 
Sklaverei  die  rechthche  Bindung  weg.  Was  aber  die  genossenschaft- 
lichen Bindungen  betrifft,  so  ergibt  sich  ihre  Schwäche  aus  dem  ge- 
samten Charakter  des  kolonialen  Wirtschaftslebens,  das  primitive 
Merkmale  mit  spätentwickelten,  solche  der  Ursprünge  mit  solchen 
der  Auflösung  verknüpft.  Die  mittlere  (und  mittelalterliche)  Phase, 
die  in  ausgebildeter  Markgenossenschaft  und  im  Zunftwesen  ihren 
Ausdruck  hat,  ist  in  ihm  am  wenigsten  vertreten,  oder  erliegt  bald 
den  I^ebensbedingungen,  die  zu  scharfem  Wettbewerb  reizen,  wie 
die  durch  das  Mißverhältnis  zwischen  der  Roheit  des  Landes  und  den 
Kulturbedürfnissen  der  Einwanderer  angeregte  Lebhaftigkeit  des 
Verkehrs  und  Austausches,  und  die  durch  die  Notwendigkeit  der 
Einfuhr  aus  der  alten  Welt  hervorgerufene  Richtung  auf  Ausfuhr 
von  Produkten.  Auch  auf  dem  politischen  Gebiete  sind  die  Voraus- 
setzimgen  des  Individualismus  durchaus  gegeben.  Gerade  hier 
wurzelt  das  Gemeinschaftliche  durchaus  in  Überheferung  und  Boden- 
ständigkeit; das  historische  Bewußtsein  wird  ihm  eine  starke  Stütze. 
Das  Leben  der  Kolonie  ist  unhistorisch,  es  gestaltet  die  Anfänge  neu, 
aber  mit  dem  ausgebildeten  rationalistischen  Bewußtsein;  die  Basis 
des  »natürlichen  Rechts«  ist  hier  vorhanden.  .„Das  ganze  Staats- 
gebäude ist  neu,  für  eine  unvordenkliche  Überlieferung  also  gar  kein 
Platz.  Alle  Institute  sind  vor  den  Augen  der  Staatsgenossen  selber 
gepflanzt  und  herangewachsen:  ein  Gefühl  der  Ehrfurcht  können  sie 
daher  nicht  gebieten"  (Röscher,  Kolonien*  S.  91).  —  In  geistiger 
Beziehung  wirken  diese  Lebensbedingungen  und  Einrichtungen  dahin, 
einer  nüchternen,  prosaischen,  auf  das  unmittelbar  Nützliche  ge- 
richteten Denkungsart  den  Boden  zu  bereiten.  Nur  scheinbar,  oder 
nur  in  geringem  Maße,  wirkt  dem  die  Frömmigkeit,  die  oft  zu 
den    Veranlassungen    der    Auswanderung   gehörte,    entgegen.     Sie 


Ai,s  Faktor  des  Staatsi,ebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.       33g 

nimmt  bald  den  Charakter  an,  den  man  längst  mit  gutem  Grunde 
der  englisch-schottischen  Religiosität  zugeschrieben  hat,  den  Cha- 
rakter des  kalten  Aberglaubens,  wenn  sie  diesen  Charakter  nicht 
schon  mitbringt.  Auch  hier  eine  Vermischung  des  ursprüngHchen 
Opfer-  und  Gebetwesens,  das  für  irgendwelche  Wagnisse  die  Hilfe 
der  Götter  in  Anspruch  nimmt,  mit  dem  späten  RituaHsmus  erstarrter 
Konventionen.  Zugleich  führt  die  Mischung  verschiedener  Rehgions- 
formen  wenn  auch  (in  Amerika)  keineswegs  zur  Fusion,  so  doch  zum 
Ausgleich  und  inneren  Indifferentismus.  Ebenso  wird  das  individuelle 
und  allgemein-menschhche  Bewußtsein  durch  das  Zusammenleben 
imd  Zusammenwirken  der  Menschen,  die  verschiedenen  Ländern 
entstammen,  gefördert.  Eine  seichte  Gebildetheit  gibt  dem  allgemeinen 
geistigen  lieben  sein  Gepräge.  Wenn  diese  schon  in  England  mit  einer 
außerordenthchen  Verbreitimg  grober  Unwissenheit  sich  vereinbar 
erweist,  so  muß  dies  vollends  in  einem  Koloniallande  zutage  treten, 
das  seine  Sprache  ganz  und  seine  Sitten  und  Denkungsart  zum  größten 
Teile  aus  Großbritannien  entlehnt  hat.  Der  Ausgleich  des  Geistes- 
lebens zwischen  Männern,  Frauen  und  Kindern  trägt  dazu  nicht 
imerhebhch  bei.  Daß  auch  aus  der  Famihe  sich  die  Individuen 
emanzipieren,  ist  einer  der  auffallendsten  Züge  des  Koloniallebens  — 
die  Emanzipation  der  Frauen,  auch  wo  sie  nicht  zur  poHtischen  Gleich- 
berechtigung fortschreitet,  eine  ausgeprägte  Erscheinung,  die  der 
Kinder  ging  dem  entschiedenen  Befürworter  des  Individuahsmus, 
Herbert  Spencer,  zu  weit.  Jene,  die  Freiheit  der  Frauen,  wird 
auch  begünstigt  durch  ihre  relative  Seltenheit  in  Einwanderungs- 
gebieten, die  ihren  Wert  und  ihre  Selbstschätzung  erhöht.  C.  Neben 
allen  Gemeinschaften  ist  es  auf  dem  ökonomischen  Gebiete  die  um- 
wälzende Kraft  des  Handels,  die  im  Zusammenhange  mit  den  bisher 
betrachteten  Tendenzen  und  Voraussetzungen  im  Kolonialleben 
rascher  und  entscheidender,  als  sonst  im  modernen  Gesellschaf tswesen, 
den  Ausschlag  gibt.  Handel  bedeutet  in  seinem  Fortschreiten  und 
seiner  Vergrößenmg  KapitaHsmus,  und  dem  KapitaUsmus  ist  nichts 
willkommener  als  der  freie  und  junge  Boden  der  Kolonien,  wenn 
auch  die  am  meisten  für  ihn  charakteristische  industrielle  Produktion 
zunächst  großen  Hemmnissen  begegnet.  Das  Widersprechende  im 
Beieinandersein  des  primitiven  und  des  hochmodernen  Wesens  tritt 
auch  hier  zutage.  Dem  ist  zuzuschreiben,  daß  der  KapitaHsmus  in 
diesem  neuen  Lande  nicht  nur  äußerlich  fessellos  sich  entfaltet, 
sondern  auch  in  seinem  inneren  Wesen  groteske  Züge,  bis  zum  Zerr- 
bilde aufweist;  es  fehlen  die  Hemmungen  des  Heimat-  und  Gemein- 
schaftsgeistes, oft  auch  die  des  Verständnisses,  das  zwischen  Kom- 
patrioten  das  Zusammenleben  trotz  des  Gegensatzes  der  Klassen 


340  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

erleichtert.  So  ist  auch  der  Staat  der  einer  gemischten  und  künstlich 
gebildeten  Nation,  die  im  wesentlichen  nur  geeinigt  ist  durch  das 
gemeinsame  Bedürfnis  des  Schutzes  der  Person  und  des  Eigentums, 
so  daß  der  Staat  nur  als  Gehilfe  und  Wächter  der  Gesellschaft  erscheint. 
„In  Amerika",  erklärt  Bryce  (II,  588),  „ist  sogar  die  Würde  des 
Staates  (die  ihm  in  England  noch  geblieben  sei)  verschwunden.  Er 
scheint  tatsächlich  weniger  als  die  Individuen,  welche  unter  ihm  leben. 
Das  Volk,  d.  h.  die  ungeheure  Menge  der  Menschen,  die  das  Land 
bewohnen,  flößt  Achtung  oder  sogar  Ehrfurcht  ein,  von  dem  Orga- 
nismus weiß  man  nichts.  Der  Staat  ist  nichts  als  ein  Name  für  die 
Gesetzgebungs-  und  Verwaltungsmaschinerie,  die  gewisse  Geschäfte 
der  Einwohner  erledigen.  Ihm  wird  nicht  mehr  Bewußtsein,  ge- 
schweige eine  moraHsche  Mission  oder  ein  Rechtsanspruch  auf  Ehr- 
furcht und  Achtung,  zugeschrieben  als  einer  Aktiengesellschaft  für 
den  Betrieb  einer  Eisenbahn  oder  eines  Bergwerks;  und  diejenigen, 
die  ihn  vertreten,  werden  öffentlich  imd  im  Privatleben  mit  genau 
ebenso  geringer  Ergebenheit  behandelt."  Unter  solchen  Umständen 
wird  auch  das  Staatsleben,  der  Staatsdienst  und  das  Amt  in  aus- 
schließender Weise  als  ein  Geschäft  empfunden  und  betrachtet  werden, 
ein  Geschäft,  das  der  Privatmann,  der  sich  damit  befaßt,  so  vorteil- 
haft als  mögHch  für  sich  zu  gestalten  und  auszubeuten  beflissen  ist. 
Und  die  öffentliche  Meinung  ?,  wird  nicht  auch  dieser  Ausdruck  des 
nationalen  Willens  gleichsam  gepachtet  werden  von  Unternehmern, 
die  hinlängHch  gerissen  {smart)  sind,  sich  auf  dies  Geschäft  zu  ver- 
stehen ?  Wird  nicht  dieser  gesellschaftliche  Geist  neben  allem  gemein- 
schaftHchen  Geist,  aus  den  Bedürfnissen  der  Interessen  der  Individuen 
sich  herausbilden  ?  Werden  nicht  dieselben  Spekulanten  und  Streber, 
die  das  poHtische  Leben  beherrschen  und  ihren  Zwecken  anpassen, 
auch  dieses  »Oberherrn«  sich  zu  bemächtigen  wissen?  Sollte  nicht 
die  öffentliche  Meinung  zum  Geschäft  werden  wie  alles  andere? 

II.  (Kritik  IH.)  Die  Ansicht  Bryces  geht  dahin,  daß  in 
Amerika  die  öffentHche  Meinung  wirklich  die  Willensmeinung  der 
großen  Mehrheit  des  Volkes  sei.  „Die  öffentliche  Meinung  Deutsch- 
lands, Italiens,  Frankreichs  und  Englands  ist  wesentlich  die  Meinung 
der  Klasse  gewesen,  die  schwarze  Röcke  trägt  und  in  guten  Häusern 
wohnt,  wenn  sie  auch  in  den  zwei  zuletzt  genannten  Ländern  während 
der  letzten  Jahre  in  zunehmender  Weise  durch  die  Meinung  der 
sozial  niedrigeren  Schichten  beeinflußt  worden  ist.  Wenn  auch  die 
Mitglieder  des  britischen  Parlaments  jetzt  der  Masse  ihrer  Wähler 
gehorchen,  sobald  diese  einen  bestimmten  Wunsch  kundgibt,  so  ist 
doch  der  Einfluß,  der  am  stetigsten  auf  sie  wirkt  und  durch  sie  hin- 
durchgeht, die  Meinung  einer  Klasse  oder  von  Klassen,  und  nicht  die 


Ai,s  Faktor  des  Staatsi^ebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika..        341 

der  ganzen  Nation.  Die  Klasse,  zu  der  die  große  Mehrheit  der  Mit- 
gheder  beider  Häuser  gehört  (nämHch  die  Grundbesitzer  und  die 
Personen  der  freien  Berufe  und  der  höheren  Schichten  des  Handels) 
ist  die  Klasse,  welche  hauptsächlich  gestaltet  und  ausdrückt,  was 
man  die  öffenthche  Meinimg  nennt/'  In  Amerika  sei  das  anders 
(s.  ob.  2.).  Man  könne  hier  nicht  von  den  Klassen  an  die  Massen  Be- 
rufimg einlegen.  „Was  der  Unternehmer  denkt,  denken  auch  seine 
Arbeiter  (es  sei  denn  in  Fragen,  die  sich  besonders  auf  die  Arbeit  imd 
ihre  Interessen  beziehen).  Was  der  Großkaufmann  empfindet,  emp- 
findet ebenso  der  Krämer  und  die  ärmeren  Kunden.  Die  Scheidungen 
der  Meinimg  sind  vertikal  und  nicht  horizontal.'*  Die  Tatsache, 
welche  der  Gelehrte  hier  ausdrücken  will,  könnte  auch  dahin  gedeutet 
werden,  daß  der  Übergang  der  Meinungen  aus  den  oberen  Schichten 
in  die  unteren  in  der  Neuen  Welt  sich  leichter  und  widerstandsloser 
vollziehe  als  in  der  Alten  Welt,  daß  eben  dadurch  die  wirkliche  Ver  - 
allgemeinerung  der  öff  entheben  Meinung  öfter  geschehe  und  darum 
auch  mehr  für  unerläßlich  gehalten  werde,  als  in  den  lyändem  Kuropas, 
insbesondere  in  England,  der  Fall  sei.  Hier,  in  einer  durch  und  durch 
aristokratischen  sozialen  Verfassung,  die  auch  den  wesentlichen  Inhalt 
der  PoHtik,  trotz  demokratischer  Formen,  bestimme,  genüge  es, 
wenn  die  öffenthche  Meinung  der  Oberschicht  sich  geltend  mache; 
die  der  unteren  komme  wenig  in  Betracht,  möge  sie  sich  jener  an- 
schließen oder  ihr  widersetzen.  Offenbar  meint  Herr  Bryce  dies,  wenn 
er  hervorhebt,  in  England  und  Frankreich  sei  die  öffenthche  Meinung 
während  der  letzten  Jahre  in  zunehmender  Weise  durch  die  Meinung 
der  sozial  niedrigeren  Schichten  beeinflußt  worden.  Er  irrt  sich 
gröbhch  (wie  der  Brite  fast  immer  irrt,  wenn  er  über  Deutschland 
urteilt)  in  der  Ansicht,  daß  dies  hier  weniger  oder  gar  nicht  der  Fall 
sei.  Durch  das  Dasein  eines  breiten  Bauernstandes  und  damit  eng 
zusammenhängenden  Handwerkerstandes  sind  beide  I^änder,  Frank- 
reich und  Deutschland,  im  sozialen  Sinne  demokratischer  konstituiert 
als  England,  und  in  Deutschland  macht  gerade  in  diesen  mittleren 
Schichten  der  hohe  Stand  der  Volksbildung  sich  erkennbar,  der  auch 
politisch  bedeutende  Wirkungen  ausübt;  so  ist  nur  aus  ihm  die  außer- 
ordentliche Stärke  der  Arbeiterbewegung,  und  die  Kraft  des  poli- 
tischen Verstandes  erklärbar,  der  in  ihr  sich  Geltung  verschafft  hat. 
Gewiß  ist,  daß  in  Deutschland,  und  wahrscheinlich  ebenso  in  den 
übrigen  europäischen  Hauptländern,  die  öffentliche  Meinung,  schon 
wegen  des  Anteils,  den  die  Arbeiterklasse  an  ihrer  Bildung  hat,  den 
Wust  und  Greuel  politischer  Korruption  nicht  dulden  würde  —  sagen 
wir  lieber,  vor  1914  nicht  geduldet  hätte  —  der  in  den  Vereinigten 
Staaten  seit  Jahrzehnten  wuchert  und  aller  Reformversuche  spottet. 


342  Bmpirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Bryce  selber  erklärt,  nachdem  er  die  Schilderung  der  Wahlma- 
schinerie, des  Beutesystems,  der  Bestechungsmethoden  in  gesetz- 
gebenden und  kommunalen  Körperschaften  geschildert  hat,  der 
I^ser  werde  sich  zuweilen  an  das  England  unter  Sir  Robert  Walpoi^e, 
zuweilen  an  Rußland  imter  Zar  Nicoi^Aus  I.  gemahnt  finden.  Mancher 
werde  daraus  den  irrigen  Schluß  ziehen,  es  könne  in  Amerika  wenig 
öff enthebe  Meinung  in  der  Politik  wirksam  sein  und  „die  leitenden 
Geister,  die  in  allen  Ländern  die  Meinung  gestalten  und  leiten,  hätten 
in  Amerika  dieser  Fimktion  entsagt  und  ließen  die  Politiker  ihre 
eigenen  Wege  gehen"  (II,  239).  Er  gesteht,  hier  liege  das  Kardinal- 
problem der  amerikanischen  Politik.  Wo  dies  politische  Leben  alles 
durchdringe,  könne  da  die  praktische  Politik  auf  einem  niedrigeren 
Niveau  sich  befinden  als  die  öffentliche  Meinung?  „Wie  kann  ein 
Volk,  das  grobe  Übel  duldet,  ein  reines  Volk  sein?"  Diese  Fragen 
zu  beantworten,  sei  die  schwerste  Aufgabe,  der  ein  Schilderer 
der  Vereinigten  Staaten  sich  gegenübergestellt  finden 
könne.  Um  sie  zu  lösen,  will  Bryce  das  Verhalten  der  amerikanischen 
öffentHchen  Meinung  zu  jenen  Erscheinungen  des  öffentlichen  Lebens 
objektiv  darzustellen  versuchen,  indem  er  es  an  dessen  auffallende 
Merkmale  anknüpft.  Er  erörtert  also  i.  die  Korruption.  Das  meiste 
davon  sehen  die  Leute  nicht;  sie  sehen  wenig  und  glauben  noch 
weniger.  Die  umlaufenden  Anschuldigungen  werden  dem  Parteistreit 
und  Parteihaß  zugeschrieben;  oder  man  hält  sich  daran,  daß  doch 
wenig  sich  beweisen  lasse;  oder  man  meint,  die  Politiker  haben  ihre 
besondere  Moral,  mit  der  nicht  zu  rechten  sei.  Gebildete  Leute  sagen: 
„es  sind  nur  die  PoUtiker;  was  kann  man  erwarten  von  den  Poli- 
tikern?" Kurz:  viele  bilden  sich  keine  zureichende  Vorstellung  von 
dem  Übel  und  die  es  tun,  regen  sich  nicht  sehr  darüber  auf.  2.  Wahl- 
betrug. Erregt  eher  Entrüstung  als  Bestechung,  aber  mit  Maßen, 
denn  man  ist  niemals  überrascht,  davon  zu  hören.  Man  versucht, 
durch  Gesetzgebung  Abhilfe  zu  schaffen.  Wird  aber  der  Wahlbetrug 
gegen  Neger  geübt,  so  erfährt  er  kaum  MißbiUigung,  sogar  im  Norden 
nicht.  3.  Die  Maschine  (das  C aucus-W esen).  Der  Ärger  darüber  ist 
oft  vermischt  mit  Amüsement.  Der  Boss  ist  so  etwas  wie  ein  Spaß, 
wenn  auch  ein  recht  kostspieliger.  „Es  ist  eine  Art  von  Fatalismus 
in  ihrer  Ansicht  der  Demokratie.  Wenn  in  einem  freien  Lande  etwas 
besteht,  so  hat  es  ein  Recht,  zu  bestehen,  denn  es  besteht  mit  Ge- 
nehmigimg des  Volkes,  von  dem  man  annehmen  kann,  daß  es  sich 
beruhigt  bei  dem,  was  es  nicht  vertilgt.  4.  Das  Beute-System  und  die 
Günsthngswirtschaft  in  der  Patronage  wird  gelinde  beurteilt,  weil 
man  meint,  die  Abwechslung  entspreche  der  Gleichheit  und  verhindere 
Beamtenaristokratie.  Freilich:  es  ist  schwer  zu  verstehen,  warum  die 


Ai,s  Faktor  des  Staatsi.ebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        343 

Praxis  der  Politiker  so  gelinde  beurteilt  wird.  ,,Kein  gewöhnlicher 
Bürger,  geschweige  ein  Mann  von  sozialer  Bedeutung  und  höherer 
Bildung  würde  in  seinem  privaten  Verhalten  tun,  was  viele  Politiker 
mit  wenig  Furcht  vor  Schande  tun,'*  imd  ohne  daß  ihre  Laufbahn 
dadurch  gestört  würde.  „Buropa  bietet  einen  ähnlichen  Kontrast 
zwischen  dem  Ton  des  öffentlichen  und  dem  des  Privatlebens."  Der 
Beobachter  knüpft  hieran  eine  interessante  Anmerkung  über  die 
öffentliche  Moral  in  England.  „Die  Engländer  haben  zwei  sittliche 
Maßstäbe  für  das  öffentliche  Leben :  einen  konventionellen  oder  idealen, 
imd  einen  praktischen  (wirklichen)."  „Der  konventionelle  findet  Aus- 
druck nicht  bloß  auf  der  Kanzel,  sondern  auch  in  den  Reden  der  Poli- 
tiker imd  in  den  Leitartikeln  von  Journalisten.  Er  behandelt,  von  der 
Voraussetzung  aus,  daß  der  normale  britische  Staatsmann  ein 
patriotischer,  iminteressierter,  wahrheitliebender  und  großdenkender 
Mann  sei,  jede  Verfehlimg  als  eine  Abweichung  von  einer  durchaus 
festen  Linie  der  Pflicht,  ein  Vorkommnis,  das  schlechthin  eine  Aus- 
nahme darstelle  und  den  Schuldigen  des  Vertrauens  auch  seiner 
eigenen  Partei  unwürdig  mache,  aber  den  im  allgemeinen  so  edlen 
Ton  des  britischen  politischen  Lebens  nicht  berühre.  Ganz  anders 
die  praktische  Moral  [the  actual  morality),  wie  man  sie  in  den  Foyers 
der  gesetzgebenden  Kammern,  oder  den  Rauchzimmern  der  politischen 
Klubs,  oder  in  den  Ausschußräumen  bei  den  Wahlhandlungen  kennen 
lernt.  Sie  betrachtet  (oder  betrachtete  noch  vor  kurzem)  die  Be- 
stechung von  Wählern  nur  als  ein  Vergehen,  wenn  Entdeckung  folgte ; 
sie  nimmt  als  selbstverständlich  an,  daß  ein  Minister  von  seiner 
Patronage  Gebrauch  machen  wird,  um  seine  Partei  oder  sich  selber 
zu  stärken;  sie  lächelt  über  Wahlversprechungen,  wie  die  Götter 
lächelten  über  die  Schwüre  der  Liebenden;  sie  verteidigt  den  Miß- 
brauch parlamentarischer  Regeln;  sie  duldet  Zweideutigkeiten  und 
irreführende  Behauptungen,  die  von  einem  Beamten  ausgehen,  sogar 
dann,  wenn  sie  nicht  die  Entschuldigung  staatlicher  Notwendigkeit 
für  sich  haben.  Nach  dieser  wirkHchen  Richtschnur  beurteilen  die 
Engländer  einander  tatsächlich;  und  wer  unter  diesen  Normalstand 
nicht  sinkt,  braucht  die  konventionelle  Idealität  von  Presse  und 
Kanzel  nicht  zu  fürchten."  Dieser  Tatbestand,  meint  Bryce,  sei 
vielleicht  auf  eine  Tendenz  zurückzuführen,  die  in  allen  Berufen  zu- 
tage trete;  auch  pflege  jedes  Land  seine  eigenen  Staatsmänner  nach 
einer  wirklichen  Richtschnur,  die  des  Auslandes  nach  der  konven- 
tionellen zu  beurteilen  (für  »jedes  Land«  muß  man  hier  lesen  »England« 
und  hin  und  wieder  wohl  auch  ein  anderes  Land).  Aber  Amerika? 
Es  beurteile  seine  eigenen  Mängel  insofern  milde,  als  es  sich  nach  der 
bisherigen   Praxis  abschätze,  d.  h.   man  sei  über  gewisse  politische 


344  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

I^aster  weniger  entsetzt,  weil  diese  I^aster  alltäglich  seien,  als  nach 
dem  allgemeinen  Ton  zu  erwarten  wäre.  „Aber  weit  entfernt,  die 
Dinge  nach  Art  der  Engländer  zu  verhüllen,  eine  strenge  Norm  zu 
verkünden  und  unerbittlich  auf  das  Ausland,  gelinde  auf  die  eigenen 
I^andsleute  anzuwenden,  gibt  man  in  Amerika  der  Öffentlichkeit 
aller  Art  einen  ungemein  freien  I^auf  und  gestattet  Schriftstellern 
und  Rednern,  die  Fehler  ihrer  Politiker  in  greller,  um  nicht  zu  sagen, 
in  übertriebener  Färbung  darzustellen/*  Das  habe  seine  Schatten- 
seiten. „Es  ist  fast  zu  wenig  Vorspiegelung  (0/  make-helieve)  bei  den 
Amerikanern  in  ihrer  Publizistik  wie  in  ihrer  privaten  Unterhalttmg, 
und  ihr  Widerwille  gegen  Humbug,  Heuchelei  und  was  sie  den  eng- 
lischen Pharisäismus  nennen,  neigt  nicht  nur  zur  Laxheit,  sondern 
hat  sie  in  den  Augen  der  Alten  Welt  ihrer  wirklichen  moralischen 
Empfindlichkeit  Unbill  widerfahren  lassen.  Gewohnt,  unablässigen 
lyippendienst  einer  Tugend  gezollt  zu  sehen,  deren  praktische  Aus- 
übung man  nicht  beabsichtigt,  nehmen  die  Europäer  (d.  h.  die  Eng- 
länder!) naturgemäß  an,  daß  die  Dinge  in  den  Vereinigten  Staaten 
noch  um  etliche  Schattierungen  dunkler  sind  als  sie  geschildert 
werden  und  deuten  Freimütigkeit  als  Zynismus.  Würde  die  ameri- 
kanische Politik  nach  dem  wirklichen  und  nicht  nach  dem  konven- 
tionellen Maßstabe  europäischer  lyänder  (d.h.  Großbritanniens!) 
beurteilt,  so  würde  der  Kontrast  zwischen  den  Untugenden  der  PoH- 
tiker  und  den  Tugenden  des  Volkes  weniger  auffallend  sein."  Man 
hört  aus  dieser  gesamten  Erörterung  des  Bewunderers  amerikanischer 
Kultur  die  Verlegenheit  heraus,  der  er  in  ihrem  Eingang  unverhohlenen 
Ausdruck  gibt,  um  sie  nachher  mit  Fleiß  zu  übertäuben.  Er  leugnet 
zuerst,  daß  die  führenden  Geister,  denen  er  hier  auch  für  Amerika 
zugesteht,  daß  sie  die  öffentliche  Meinung  gestalten  und  leiten,  die 
PoHtiker  ihre  eigenen  Wege  gehen  lassen.  Er  sagt  dann  (zwei  Seiten 
nachher),  daß  gerade  die  Gebildeten  sich  damit  trösten,  von  den 
Pohtikern  könne  man  nichts  Besseres  erwarten.  Er  schildert  in  dem 
folgenden  großen  Abschnitt  (dessen  wesentlichen  Inhalt  wir  mitgeteilt 
haben),  die  öffentliche  Meinung  als  den  eigentlichen  Souverän  in 
Amerika,  als  den  immer  wachsamen  Hüter  und  Herrscher,  und  zu- 
gleich als  die  über  alle  Schichten  ausgebreitete  Gesinnung  —  und  hier  ? 
auch  hier  ist  sie  ihm  stärker  und  tätiger  als  irgendwo,  aber  —  um 
solche  Kleinigkeiten,  wie  die  Korruption  im  öffentlichen  Leben, 
kümmert  sie  sich  wenig,  das  meiste  sieht  sie  einfach  nicht,  das  wenige, 
was  sie  sieht,  glaubt  sie  meistens  nicht.  „Der  Seelenzustand  des 
Durchschnittsmenschen  ist  eher  ein  Zustand  der  Mattigkeit  als  der 
Schwieligkeit  (callousness)."  In  der  Hauptsache  kann  und  will  Bryce 
die  Tatsache  nicht  leugnen,  daß  die  öffentUche  Meinung  im  politischen 


Ais  Faktor  des  Staatsi.ebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.       345 

Leben  die  gröbsten  Verstöße  gegen  sonst  gültige  sittliche  Grundsätze 
duldet  und  leicht  nimmt,  daß  man  ohne  Scham  und  Rückhalt  solche 
Dinge  öffenthch  erörtert,  ohne  auch  nur  die  Vorstellung  der  Mühe 
wert  zu  halten,  als  ob  man  auf  Besserung  ernstlich  bedacht  sei.  Er 
sucht  diesen  Tatbestand  dadurch  zu  beschönigen,  daß  er  sagt:  „in 
England  ist*s  im  Grunde  nicht  viel  besser,  aber  man  macht  wenigstens 
immer  seine  Verbeugung  vor  der  Tugend,  man  macht  ihr  in  Gestalt 
der  heuchlerischen  Rede  sein  Kompliment;  die  Amerikaner  verstehen 
sich  darauf  nicht". 

12.  (Andere  Auffassungen  —  OsTROGORSKl.)  Man  begreift  dem- 
gemäß, daß  es  über  das  Verhältnis  der  öffentlichen  Meinung  in  den 
Vereinigten  Staaten  zu  den  poHtischen  Zuständen  andere  Auf f  assimgen 
gibt.  Eine  große  Schilderung  der  engHschen  und  amerikanischen 
»Demokratie«,  wie  sie  in  der  Organisation  ihrer  politischen  Parteien 
sich  ausdrückt,  hat  in  einem  bedeutenden  Werke  Ostrogorski  ge- 
geben, zu  dessen  englischer  Ausgabe  der  Verfasser  des  y,American 
Commonwealth"  eine  empfehlende  Vorrede  geschrieben  hat.  Vor 
Bryces  eigener  Darstellung  zeichnet  sich  Ostrogorski  dadurch  aus, 
daß  er,  obschon  sich  selber  als  Demokraten  bekennend,  den  ameri- 
kanischen Zuständen  keine  sentimentale  Beschönigimg  zuteil  werden 
läßt,  sondern  nur  beflissen  ist,  zu  schildern,  was  ist.  Er  entwickelt 
auf  mehreren  Seiten  (Demoer acy  and  the  Organisation  of  political 
Parties  II,  384 — 390),  wie  die  öffentliche  Meinung  durch  die  »Maschine« 
beschwindelt  wird  (how  public  opinion  is  hoodwinked  hy  the  Machine). 
Die  Maschine  kann  Leute  von  Charakter  nicht  gebrauchen;  ja  zu- 
weilen muß  sie  der  Vorsicht  halber, ,, notorische  Banditen"  in  Anspruch 
nehmen,  weil  diese  zu  viel  wissen  und  sonst  zu  Verrätern  würden; 
jedenfalls  müssen  die  Kandidaten  —  möge  es  sich  um  ein  Gemeinde- 
ratsmitghed,  einen  Abgeordneten  zum  Kongreß,  oder  sogar  um  den 
Gouverneur  eines  Staates  handeln  —  dem  unteren  Ende  ihrer  respek- 
tiven  sozialen  Sphäre  angehören.  „Sie  der  Gesamtpartei,  einschließUch 
deren  anständige  und  unabhängige  Teile,  aufzunötigen,  erfordert  oft 
eine  höhere  Strategie  und  eine  besondere  Taktik,  wodurch  der  perverse 
Scharfsinn  der  Häupter  der  Maschine  selbst,  des  Boss  und  des  ge- 
schäftsführenden Ausschusses  auf  die  Probe  gestellt  wird.  Die  Auf- 
gabe besteht  darin,  die  Karten  geschickt  zu  mischen,  besonders  auch 
die  verschiedenen  Wahlen  durcheinander  zu  bringen.  So  handelt  es 
sich  bei  einer  Gemeindewahl  niemals  um  die  gute  Verwaltung  der 
Stadt,  um  Straßenpflaster  und  Entwässerung,  sondern  um  Schutz- 
zölle, um  Cuba,  um  die  Philippinen.  Das  allgemeine  Geschick  der 
Partei  im  Staate  und  im  Reiche  steht  auf  dem  Spiel.  Da  darf  man 
nicht  kleiiüich   sein  und  die  Partei,  die   glorreiche  Partei,  für  die 


346  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Verfehlungen  irgendwelcher  Mitglieder  büßen  lassen.  Ihre  Niederlage 
würde  wohl  gar  finanziellen  Ruin  bedeuten;  was  liegt  da  an  dem 
einzelnen  Mann?  es  ist  die  Flagge,  der  man  folgen  muß.  Gerade  im 
gegebenen  Augenblick  kommt  alles  darauf  an,  es  ist  ein  Fall  von 
force  majeure^  der  es  schlechthin  gebieterisch  verlangt,  daß  man  für 
die  Parteiliste  eintrete  und  sogar  einen  »gelben  Hund«  mit  in  den 
Kauf  nehme!  —  Dabei  werden  auch  falsche  Karten  ins  Spiel  gebracht. 
Auf  der  einen  Seite  gilt  es,  durch  Zierrat  zu  täuschen:  anständige, 
aber  charakterschwache,  leicht  zu  lenkende  Persönlichkeiten  an  die 
Spitze  zu  bringen,  als  Delegierte,  aber  auch  als  Kandidaten,  z.  B.  für 
einen  Bürgermeisterposten  —  ein  solcher  Ehrenmann  an  der  Spitze 
muß  dann  eine  ganze  Reihe  von  I^euten  decken,  die  es  nicht  sind. 
Andererseits  aber  werden  die  Wähler  beschwindelt  durch  Aufstellung 
von  jjdummißs"  —  das  sind  Kandidaturen  von  Leuten,  die  in  einem 
noch  viel  schlechteren  Ruf  stehen  als  die  eigentlich  gewollten.  Eine 
solche  allerübelste  Kandidatur  ruft  natürlich  Unwillen  und  Ent- 
rüstung hervor.  Dann  macht  die  Maschine  ihre  Verbeugung  vor  der 
öffentlichen  Meinung,  gibt  willig  nach  und  zieht  die  Kandidatur 
zurück,  um  mit  derjenigen  aufzuwarten,  die  sie  von  Anfang  an  gewollt 
hat.  Das  Publikum  nimmt  alsdann  diesen  Mann  als  das  kleinere  von 
zwei  Übeln  mit  einer  wahren  Erleichterung  auf  und  gratuliert  sich 
zu  dem  neuen  Beweis,  der  für  die  Allmacht  der  freien  Meinung  in  einer 
Demokratie  gegeben  sei,  da  schon  ihr  Wink  genüge,  um  zu  bewirken, 
daß  die  politischen  Banditen  ihre  Köpfe  verstecken.  Bei  dieser  Finte 
ist  der  Schuft,  der  den  dummy  spielt,  im  Vernehmen,  er  verzichtet 
dann  »freiwilHg«.  Zuweilen  wird  aber  auch  eine  anständige  Persön- 
lichkeit als  dummy  verwandt,  d.  h.  seine  Kandidatur  ist  nicht  ernst 
gemeint,  soll  aber  einen  guten  Eindruck  machen;  im  letzten  Augen- 
blick wird  sie  durch  eine  echte  Maschinen-Kandidatur  ersetzt.  Oft 
wird  sogar  die  Rolle  des  dummy  von  der  Maschine  der  Gegenpartei 
eingespielt.  Wenn  diese  schlechte  Aussichten  hat,  so  tut  sie  der 
scheinbar  von  ihr  bekämpften  Partei  den  Gefallen,  nur  Kandidaten 
aufzustellen,  deren  Ablehnung  durch  die  Wählerschaft  sicher  ist; 
Zweck:  einen  Anteil  an  der  »Beute«  zu  gewinnen.  Z.B.  es  wäre 
Stimmung  vorhanden,  aus  Widerwillen  gegen  die  Korruption  der 
Republikaner  einen  Demokraten  zu  wählen,  wenn  es  ein  anständiger 
Mann  ist.  Die  demokratische  Maschine  hat  aber  zu  wenig  Aussicht, 
sie  zieht  es  vor,  mit  ihrer  Gegnerin  unter  einer  Decke  zu  spielen  (wofür 
diese  natürlich  an  anderer  Stelle  sich  ebenso  gefällig  erweisen  muß). 
Was  tut  sie  ?  sie  stellt  einen  anständigen  Mann  auf,  der  aber  bekannt 
ist  als  Befürworter  einer  Sache,  die  für  die  Gegenpartei  unmöglich 
ist  —  manche,  die  sonst  gern  für  einen  Demokraten  stimmen  würden, 


Als  Faktor  des  Staatslebens.  —  Insgemein  unt)  in  Amerika.        347 

werden  sicherlich  nicht  für  einen  solchen  stimmen,  der  z.  B.  für  freie 
Silberprägung  eintritt  u.  dgl.  Auch  in  anderer  Weise  kolludieren  die 
gegnerischen  ]\Iaschinen  häufig;  sie  verschachern  einander  die  Stimmen 
und  tauschen  sie  aus,  leisten  einander  »I^iebesdienste «.  Wird  eine 
Parteimaschine  von  Reformern  angegriffen,  so  fühlt  sich  die  Gegen- 
partei nicht  selten  soHdarisch  mit  ihr;  es  handelt  sich  darum,  das 
Regime  imd  das  Beutesystem  zu  retten,  die  Heiligtümer  der  Politiker. 
Bleibt  aber  eine  Maschine  auf  sich  selber  angewiesen,  so  predigt  sie 
den  Frieden  in  der  Partei,  sie  ist  zu  Opfern  bereit,  gibt  Mißstände  zu 
und  ist  scheinbar  emsig,  sie  abzustellen.  „Je  nach  lyage  der  Dinge 
macht  sie  die  Opfer  größer  oder  kleiner;  dem  Zerberus  der  öffentlichen 
Meinung  schmeißt  sie  etliche  Wahlstellen  in  den  Rachen,  die  hoch- 
anständigen Personen  zugedacht  werden,  ...  ist  das  Ungeheuer  wild 
und  zeigt  scharfe  Zähne,  so  werden  ihm  einige  Brocken  mehr  zuge- 
worfen." Je  größer  die  Gefährdung,  um  so  ausgesprochener  die 
Nachgiebigkeit.  „Wenn  die  öffentliche  Meinung  besonders  nach- 
drücklich sich  für  eine  bestimmte  Kandidatur  erklärt,  so  beeilt  sich 
die  Maschine,  diese  anzunehmen.'*  „Die  Anpassungswilligkeit  der 
Maschine  ist  unter  solchen  Umständen  grenzenlos;  sie  ist  imstande, 
um  die  öffentliche  Meinung  irrezuführen,  ihre  Haut  zu  wechseln, 
durchaus  anständig  zu  werden  und  scheinbar  nur  um  das  Gemeinwohl 
besorgt  zu  sein;  ja  sie  hißt  wohl  selber  die  Fahne  der  »Reform« ,  predigt 
den  Kreuzzug  gegen  die  Korruption  der  PoHtiker,"  zumal  gegen  die- 
jenigen in  der  Maschine  der  Gegenpartei.  „Alles  dieses  dauert  so 
lange  als  nötig,  bis  der  Sturm  sich  gelegt  hat;  nachher  geht  es  wieder 
nach  der  alten  Weise.  Die  versprochenen  Reformen  sind  abgetan; 
der  Form  halber  werden  einige  Gesetzentwürfe  eingebracht,  oder 
wenn  sie  durchgehen,  so  wurden  sie  vorher  in  der  Kommission  so 
ihrer  Lebenskraft  beraubt,  daß  es  totgeborene  Kinder  sind.  Die 
Verbeugungen  vor  der  EhrHchkeit  und  die  Reuakte,  zu  denen  die 
Maschine  sich  verstanden  hatte,  sind  für  sie  nichts  als  Komödien, 
womit  sie  den  friedHchen  Genuß  der  Macht  unterbricht.  Außer  in 
solchen  kritischen  Perioden  kümmert  sie  sich  wenig  darum,  was 
anständige  I^ute  von  ihren  Taten  und  Missetaten  denken;  sie  rechnet 
auf  die  Gleichgültigkeit  und  die  Apathie  der  großen  Masse  der  Wähler; 
sie  ist  überzeugt,  daß  die  Partei,  welcher  Art  Leute  sie  auch  in  die 
Stellungen  bringen  möge,  »ins  Geleise  rollen  «  wird,  und  die  Erfahrung 
widerspricht  dem  selten ;  in  ruhigen  Zeiten  kann  sie  die  Kandidaturen 
nach  ihrem  Gefallen  schieben,  und  das  ist  genug,  sie  zur  Herrin  der 
hsLgQ  zu  machen.  Also  die  öffentliche  Meinung  zum  besten  habend, 
mit  ihr  fechtend,  oder  sie  einfach  ignorierend,  wenn  es  angeht,  weiß 
die  Maschine  doch  immer  ihr  weis  zu  machen,  sie  (die  Maschine)  habe 


348  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

eigentlich  gar  keine  Macht  und  müsse  unbedingt  tun,  was  das  »Volk« 
will.  Und  das  »Volk«  macht  sich  diese  Auffassung  mit  vieler  Selbst- 
gefälligkeit zu  eigen,  es  weiß  zwar,  daß  die  Politiker  voller  Listen  und 
Kniffe  sind,  aber  es  hat  Vertrauen  zu  seiner  eigenen  Stärke,  ein  hoch- 
sinniges Vertrauen,  auf  Grund  dessen  es  nicht  sowohl  mit  Entrüstimg, 
als  mit  nachsichtiger  Verachtung  für  die  PoHtiker  erfüllt  ist,  die  von 
seiner  Gnade  abhängig  sind/'  Im  Anschluß  an  diese  Ausführung 
weist  OsTROGORSKi  noch  darauf  hin,  daß  dies  HintersHchtführen 
der  öffentlichen  Meinung  in  wirkungsvoller  Weise  unterstützt  werde 
durch  die  Parteipresse.  An  späterer  Stelle  seines  Buches  führt 
OsTROGORSKi  aus,  daß  von  Zeit  zu  Zeit  doch  die  Geduld  des  Publikums 
sich  erschöpfe,  ja  daß  schließlich  jede  Maschine  von  ihrem  Schicksal 
ereilt  werde,  wie  jeder  Straßenräuber  auf  dem  Schaf fot  zu  enden 
pflege  —  freiHch,  wie  jedem  Straßenräuber  ein  frischer  folge,  so  werde 
auch  jede  verkrachte  Maschine  bald,  sei  es  durch  denselben  oder  einen 
anderen  Boss,  wieder  zusammengefUckt.  Man  fühle  sich  zuweilen 
erinnert  an  das  Wort  vom  »Despotismus,  gemäßigt  durch  Meuchel- 
mord«, aber  es  gehe  in  Wirklichkeit  friedHch  her,  wenn  das  Volk 
einmal  in  seinem  Zorne  sich  erhebe.  Dann  führe  das  souveräne  Volk 
seine  Streiche  ohne  Erbarmen  und  unterschiedlos,  Schuldige  und 
Unschuldige  werden  gerichtet.  Terror  läuft  durch  die  Reihen  der 
Pohtiker,  die  mächtigsten  unter  ihnen,  die  Häuptlinge  der  Bosses, 
an  deren  Lächeln  noch  den  Tag  zuvor  Staatsgouverneure  und  Gesetz« 
geber  hingen,  müssen  ins  Gras  beißen.  „Die  Macht  der  öffentlichen 
Meinung,  von  der  man  annimmt,  daß  sie  in  den  Vereinigten  Staaten 
auf  jedem  und  auf  allem  schwer  lastet,  wie  die  Moira  der  Alten,  erreicht 
schHeßlich  einmal  die  Politiker,  aber  es  geschieht  mehr  oder  weniger 
von  ungefähr,  während  jede  regelmäßige  Verantwortlichkeit  aus- 
geschlossen ist.  Die  Autorität,  die  von  der  öffentlichen  Meinimg  über 
die  Maschine  ausgeübt  wird,  ist  die  Autorität  des  Richters  Lynch  — 
folghch  beschränkt  sich  die  Ergebenheit  und  Unterwürfigkeit,  womit 
die  Maschine  genötigt  ist,  die  öffentliche  Meinung  zu  behandeln,  aus- 
schHeßlich  auf  das  Risiko,  dem  sie  ausgesetzt  ist,  den  Lynch  zu  wecken, 
der  in  der  Brust  des  PubUkums  schlummert."  „Allerdings  pflegt  die 
Maschine  der  öffentlichen  Meinung  große  Aufmerksamkeit  zu 
schenken."  Wo  immer  es  möglich  ist,  ohne  großes  Opfer  die  öffentliche 
Meinung  zufrieden  zu  stellen,  tut  die  Maschine  es  gerne.  „Aber 
es  steht  nicht  oft  in  ihrer  Macht,  denn  wollte  sie  immer  nach  den 
Interessen  des  Publikums  sich  richten,  so  würde  sie  ihre  eigenen  Aus- 
sichten zugrunde  richten.  Würde  sie  nur  anständige  Leute  in  die 
Amter  bringen,  so  würden  diese  nicht  willens  sein,  ihr  zu  dienen; 
gäbe    sie    es   auf,   Wahlrechte,    Gesetze,    Schutz    für    irgendwelche 


Ai,s  Faktor  des  Staatsi^ebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.       349 

Körperschaften  feil  zu  halten,  wo  würde  sie  das  Geld  hernehmen,  das  sie 
für  ihren  Unterhalt  und  für  die  enormen  Ausgaben  ihrer  Propaganda 
in  einer  Großstadt  oder  einem  Staat  nötig  hat  ?  So  ist  schon  durch  die 
Macht  der  Verhältnisse  der  Boss  gezwungen,  über  die  Meinung  an- 
ständiger imd  aufgeklärter  I^eute  sich  hinwegzusetzen.  Der  im  allge- 
meinen apathische  imd  träge  Zustand  der  öffentlichen  Meinung  setzt 
ihn  in  den  Stand,  ihr  in  9  von  10  Fällen  ungestraft  zu  trotzen;  die 
Schwierigkeit  ist,  über  den  10.  Fall  hinwegzukommen.  Zu  diesem 
Behuf  schlagen  sie  die  öffentliche  Meinimg  an,  um  die  Annäherung 
des  schlimmen  Punktes  zu  künden.  So  lange  sie  ihn  nicht  für  nahe 
halten,  treiben  sie  ihre  Praktiken,  ohne  sich  Schranken  zu  setzen, 
ja  finden  zuweilen  ein  wüstes  Vergnügen  darin,  der  öffentlichen 
Meinung  offen  Trotz  zu  bieten;  ihre  Frechheit  kommt  ihnen  dann, 
angesichts  der  drohenden  Gefahr,  wie  eine  Art  von  Heroismus  vor. 
Sie  geben  nur  nach,  wenn  sie  gar  nicht  anders  können.  Wenn  die 
poH tische  I^age  auf  eine  bestimmte  Frage  sich  verengt,  die  in  aus- 
gesprochener Weise  der  öffentlichen  Meinung  vorgelegt  ist,  so  daß 
diese  in  einer  bestimmten  Richtung  sich  bewegen  muß,  so  steht  das 
Wetterglas  für  die  Maschine  niedrig.  Wenn  sie  nun  noch  die  Wahl 
hat  zwischen  Niederlage  oder  Unterwerfung  unter  die  Fordervmgen 
der  öffentlichen  Meinung,  so  gibt  die  Maschine  nach.  Aber  oft  ver- 
sucht sie  trotzdem  noch,  die  Oberhand  zu  bekommen,  und  nur,  wenn 
sie  geschlagen  ist,  bessert  sie  sich.  Dann  stellt  sie  vorzügliche  Kandi- 
daten bei  den  Wahlen  auf,  nimmt  eine  demütige,  ja  kriechende 
Haltung  ein,  und  übt  sich  so  lange  in  Tugendhaftigkeit,  bis  die  öffent- 
liche Meinimg  wieder  einschlummert.  Im  großen  und  ganzen 
ist  die  Autorität  der  öffentlichen  Meinung  nur  eine 
schwache  und  nachgiebige  Hemmung  gegen  die  Machi- 
nationen der  Maschine;  nur  teilweise  Einschränkungen 
vermag  sie  ihrer  Macht  aufzuerlegen^)  (S.  420).  Dies  Urteil 
bewährt  sich  in  Anwendung  auf  die  einzelnen  Erscheinungen. 
Ungeheuerliche  Mißbräuche,  die  mit  den  Urversammlungen  (primaries) 
verbunden  waren  und  sind,  haben  zum  Einschreiten  der  Gesetzgebung 
geführt,  eine  gewisse  polizeiUche  Aufsicht  ist  ihnen  zuteil  geworden, 
die  Äußerlichkeiten  ihrer  Einberufung  und  Leitung  sind  besser  als 
sie  es  zuvor  waren,  geordnet  worden;  aber  was  hinter  den  Kulissen 
vorgeht  und  die  primaries  zur  Komödie  macht,  hegt  außerhalb  des 
Bereiches  der  Gesetzgebung.  So  sind  denn  die  Ergebnisse  nicht 
erheblich  gewesen.  „Im  allgemeinen  bleiben  die  Betrügereien,  die  in 
den    Urversammlungen    begangen    werden,    ungestraft,    trotz    des 

*)  Vgl.  Lord  Whtt'^      :  ^fr  die  öffentliche  Meinung  in  den  Vereinigten  Staaten, 
(oben  S.  239.) 


350  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Gesetzes."  Die  Behörden  ■ —  Wahlbeamte,  die  selber  in  diesen  Ver- 
sammlungen ernannt  werden,  vielleicht  unter  Mitwirkung  eben- 
derselben Leute,  die  fortgesetzt  Betrügereien  sich  zu  schulden  kommen 
lassen  —  hätten  wohl  ihre  Pflicht  getan,  wenn  sie  von  der  öffentlichen 
Meinung  unterstützt  oder  ermutigt  wären,  aber  die  Missetaten  der 
Urversammlungen  sind  nicht  so  beschaffen,  daß  sie  ihren  Zorn  erregen; 
jedenfalls  ist  dieser  Zorn  niemals  von  langer  Dauer  —  tags  darauf 
ergeht  man  sich  in  sittHcher  Entrüstung  über  die  Politiker,  dann  geht 
man  wieder  an  seine  Geschäfte.  „Das  ist  das  Geheimnis  der  Wirkungs- 
losigkeit und  man  möchte  fast  sagen,  der  Nutzlosigkeit  aller  dieser 
Gesetze  zum  Schutze  der  Urversammlungen.  Die  öffentliche  Meinung, 
oder  wenigstens  ein  erhebUcher  Teil  von  ihr,  hat  im  Laufe  der  letzten 
Jahre  (vor  1902)  die  Wichtigkeit,  ja  die  gebieterische  Notwendigkeit, 
die  Urversammlungen  zu  säubern,  sich  vergegenwärtigt,  indem  sie 
Gesetze  gegen  die  Übeltäter  verlangte;  aber  sie  hat  noch  nicht  den 
Willen  tmd  die  Tatkraft  erworben,  aus  diesen  Gesetzen  eine  Wirk- 
lichkeit zu  machen.  Günstigsten  Falles  ist  sie  noch  in  der  Phase  des 
Video  meliora  proboque,  deteriora  sequorJ*  Anderen  Reform  versuchen, 
insonderheit  in  der  Gemeindeverwaltung,  ist  es  nicht  besser  ergangen. 
In  den  Jahren  1882 — 85  wurde  in  Brooklyn,  Boston  und  New  York, 
nachher  noch  in  mehreren  anderen  großen  Städten,  das  System  der 
»Gemeinde-Diktatur«  eingeführt  und  mit  entschiedener  Gunst  auf- 
genommen; es  war  ein  Versuch,  den  Teufel  der  Korruption  mit  dem 
Beelzebub  des  Cäsarismus  auszutreiben  —  die  bekannte  Sackgasse 
der  Demokratie.  „Es  gab  nichts  Neues  oder  Amerika  Auszeichnendes, 
um  diesen  Absolutismus  zu  mäßigen  oder  zu  regulieren,  außer  der 
Macht  der  öffentlichen  Meinung,  die  in  den  Vereinigten  Staaten 
stärker  als  anderswo  ist*':  alles  kam  darauf  an,  daß  es  gelänge,  Männer 
von  hervorragenden  Eigenschaften  an  die  Spitze  zu  bringen.  „Aber  das 
Parteisystem  behielt  nach  wie  vor  die  Schlüssel  zu  allen  öffentlichen 
Stellungen  in  Händen.  Die  Neuigkeit  des  Systems  und  das  Wesen,  das 
davon  gemacht  wurde,  hatten  bev/irkt,  daß  die  öffentliche  Meinung 
in  ziemlich  vielen  amerikanischen  Großstädten  mit  einem  Sprung 
erwachte  und  Säuberungen  in  den  Gemeindehaushalten  durchsetzte. 
Aber  es  hatte  nur  eine  bleibende  Wirkung,  die  aber  gar  viele  ameri- 
kanische Bürger  zu  schätzen  wußten :  es  sparte  ihnen  die  Mühe,  sich 
selber  zu  regieren,  und  wiegte  sie  in  die  Täuschung,  eine  wirksame  Art 
von  Regierung  erfunden  zu  haben,  die  von  selber  arbeite.  Die  Zen- 
tralisation, die  auf  Kosten  der  Gemeinderäte  geschah,  entzog  diesen 
auch  manche  Befugnisse,  die  den  Staatsgesetzgebungen,  ja  dem  Staats- 
gouverneur übertragen  wurden  —  d.  h.  Körperschaften  und  Beamten, 
die  am  meisten  dem  Parteidruck  ausgesetzt  waren,  vor  dem  jene 


Ai,s  Faktor  des  Staatsi.ebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        351 

Kompetenzen  gerade  gerettet  werden  sollten.  Andere  Reformversuche 
sind  ebenso  erfolgarm  gewesen.  So  die  Einführung  des  australischen 
Listensystems  und  die  Legalisierung  der  Parteien.  Die  PoHtiker 
verstanden  es,  die  guten  Gedanken,  die  dieser  Reform  zugrunde  lagen, 
auf  den  Nullpunkt  herunterzubringen.  Sie  Heferten  damit  ein  schla- 
gendes Beispiel  ihrer  gewohnheitsmäßigen  Taktik,  ihrer  Gepflogenheit, 
die  von  der  öffentlichen  Meinung  verlangten  Reformen  einzufangen, 
der  Allmacht  der  öffenthchen  Meinung,  „vor  der  in  den  Vereinigten 
Staaten  alle  zittern,  alle  bis  in  den  Staub  sich  demütigen'',  scheinbar 
sich  zu  unterwerfen.  „Sie  gaben  ihr  nicht  die  Sache  selbst,  sondern 
den  Namen  der  Sache,  wie  ein  Spielzeug,  das  man  Kindern  gibt,  um 
sie  ruhig  zu  halten."  So  habe  das  austraUsche  System,  w^eit  entfernt, 
das  »Wähler-Monopol«  der  Maschine  zu  brechen,  es  vielmehr  be- 
festigt. Man  hat  sich,  nach  dem  Ausdrucke  eines  Fürsprechs  solcher 
Reformversuche  (Goodnow),  wie  Leute,  die  sich  im  Nebel  verirrt 
haben,  in  einem  Kreise  bewegt.  Gleichwohl  ist  der  Glaube  an  die 
geheimnisvolle  Macht  der  öffentlichen  Meinung  unerschüttert;  man 
spricht  davon  mit  einer  Art  von  reHgiöser  Ekstase,  und  so  ist  der 
Glaube  an  die  öffentUche  Meinung  selber  eine  mystische  Potenz  imd 
wiegt  in  einigem  Maße  sogar  die  Unzulänglichkeit  ihres  Einflusses  auf. 
Wenn  der  Bürger  auch  keinen  Finger  rührt,  um  Mißbräuche  zu  be- 
kämpfen, so  bleibt  er  doch  überzeugt,  daß  er  es  jederzeit  kann,  und 
diese  Überzeugimg  nährt  in  ihm  den  Funken,  aus  dem  die  Flamme 
des  Unwillens  sich  erheben  karm,  um  Licht  imd  Wärme  zu  verbreiten 

(s.  596). 

13.  (Andere  Zeugnisse.)  Die  außerordentiich  hohe,  ja  gebietende 
Stellung,  die  der  öffenthchen  Meinung  in  den  Vereinigten  Staaten 
eigen  sei,  wird  von  vielen  anderen  Schriftstellern  hervorgehoben.  So 
widmet  Münsterberg  ein  Kapitel  seines  Werkes  (»Die  Amerikaner«, 
2  Bände,  Berhn  1904)  der  öffentlichen  Meinung.  Er  wagt,  der  Parallele 
Ausdruck  zu  geben  (1, 224  ,,Man  könnte  sagen") :  „das  Parteileben  mit 
allen  seinen  Wahlen  und  Amtern  und  Programmen  ist  im  Grunde 
doch  nur  das  Unterhaus  der  Nation,  die  öffentliche  Meinung  ist  das 
Oberhaus,  und  das  wirkhche  öffentHche  Leben  wird  von  beiden 
Häusern  gemeinsam  geleitet."  Ja  er  spitzt  diese  Vergleichung  noch 
folgendermaßen  zu  („In  gewissem  Sinne  könnte  man  sagen"):  „das 
Parteileben  bringt  das  Wollen  der  Nation  zu  quantitativem  Ausdruck, 
die  ÖffentUche  Meinung  zu  qualitativem".  Doch  müsse  jede  Situation 
sich  in  scharfe  Gegensätze  spalten,  damit  eine  numerische  Feststellung 
der  Anhänger  und  der  Gegner  möglich  werde,  der  innere  Reichtum  der 
Frage  werde  da  zerstört  zugunsten  einer  Abstraktion,  die  schematisch 
jede  Bewegung  als  Diagonale  in  einem  Parallelogramm  verschieden 


352  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

gerichteter  Kräfte  auffasse;  Hauptvorzug  sei,  daß  die  Diskussion  in 
jeder  Wahl  ein  vorläufiges  Ende  finde.  Im  Oberhaus  dagegen,  in  der 
öffentlichen  Meinung  stehe  die  mannigfache  Wirklichkeit  auf  der 
Tagesordnung,  keine  zahlenmäßige  Abstimmung  könnte  da  fördern, 
in  der  Welt  der  Qualitäten  gebe  es  keine  Gegensätze,  sondern  nur 
Abstufungen  und  Übergänge,  keine  Anhänger  und  Gegner,  sondern 
nur  Verschiedenheiten  .  .  .  vor  allem  in  der  sittlichen  Energie  und 
sittlichen  Reinheit.  Das  Ziel  sei  aber  nicht  eigentlich  politisch, 
sondern  in  allen  Gebieten  reformierend  zu  wirken  und  das  öffentliche 
Schaffen  den  Idealen  der  Nation  anzupassen ;  die  öffentliche  Meinung 
sei  die  über  den  Parteien  wirksame  moralische  Einheit  der  Nation. 
„Hier  müssen  nur  die  wahrhaft  besten  Männer  der  Nation  in  den 
Vordergrund  treten,  idcht  mit  Programmen  und  nicht  mit  Parteireden, 
und  doch  mit  der  stillen  Kraft,  der  alle  Parteien  sich  schließlich 
beugen  müssen  und  eine  öffentliche  Meinung  muß  sich  herausbilden 
und  organisieren,"  die  z.  B.  ein  Präsidenten- Veto  fordere,  eine  Kandi- 
datenliste durchstreiche,  eine  Partei  in  der  Gesetzgebung  zerspalte 
und  unablässig  beide  Parteien  gleichzeitig  zwinge,  trotz  allen 
Sträubens  den  Parteivorteil  hinter  der  reiferen  sittlichen  Forderung 
zurücktreten  zu  lassen.  Das  könne  sie  nur  leisten,  weil  sie  alle  Wesen- 
heiten des  tjrpischen  Amerikaners  enthalte.  Dieser  Typus  sei  freilich 
nicht  in  einem  numerischen  Durchschnitt  zu  finden;  um  ihn  zu 
charakterisieren,  schildert  Münsterberg  einen  »Freund«,  der  „mit 
allen  seinen  guten  und  schlechten  Eigenschaften  die  Sprache  der 
öffentlichen  Meinung  spricht".  Dieser  Freund  ist  nun  allerdings  (eben 
dieser  Darstellung  gemäß)  nicht  ein  durchschnittlicher  Einwohner, 
wohl  aber  der  durchschnittliche  wohlhabende  und  wohlmeinende 
Bürger  der  Vereinigten  Staaten,  der  es  sich  leisten  kann  „mit  Fehlern 
und  Schwächen  Geduld  und  Nachsicht",  aber  „für  ruedrige  Gesinnung 
und  Ehrlosigkeit  imnachsichtliche  Empörung  und  Verachtung" 
(S.  230)  nicht  nur  zu  hegen,  sondern  kundzutun.  Auch  der  unver- 
siegliche  Humor,  den  Münsterberg  das  Antiseptikum  der  ameri- 
kanischen Politik  nennt,  weil  er  in  deutlichem  Gegensatz  zum  Partei- 
leben stehe,  ist  charakterstisch  für  den  satten  und  behäbigen  Ge- 
schäftsmann, der  zwar  „mit  vollen  Händen  für  Bibliotheken  und 
Universitäten  gibt"  aber  „rucht  leugnet,  daß  in  ihm  selber  ein  Zug 
zum  Ivcbensgenuß  und  zur  Oberflächlichkeit  steckt"  (S.  228).  Hin- 
weistmg  auf  diesen  »Humor«,  womit  dieselben  Parteiführer,  die  ihre 
Geschäfte  mit  plebejischem  Ernste  treiben  (,, philisterhaft  humorlos"), 
wie  das  souveräne  Volk  es  verlange,  im  sozialen  Kreise  „spöttisch, 
ja  selbst  zynisch"  über  den  Parteien  zu  stehen  scheinen,  darf  nach 
Münsterberg    auch    bei    der    flüchtigsten    Charakterisierung    der 


Als  Faktor  des  Staatsi,ebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        353 

öffentlichen  Meinung  niemals  fehlen  (230).  Münsterberg  hebt  dann 
die  Mitwirkung  und  den  energischen  Einfluß  der  Frauen  auf  die 
amerikanische  öffentliche  Meinung  hervor,  besonders  auf  ihre  mora- 
hsche  Betätigung:  „jede  Reformbewegung,  die  an  sittliche  Gründe 
appelUert,  ist  durch  die  öffentliche  Frauenmeinung  gefördert  und 
gestärkt  worden'*  {232);  femer  in  Übereinstimmtmg  mit  Bryce,  daß 
die  öffentliche  Meinung  nicht  durch  Klassengegensätze  zerspalten  sei, 
daß  sie  im  ganzen  mit  überraschender  Einheitlichkeit  sich  entwickle. 
Freilich  „die  Anregungen  für  die  öffentliche  Meinung  kommen  aus 
dem  Kreis  der  Gebildeten  und  Besitzenden"  .  .  .,  „aber  von  da  aus 
dringen  sie  dann  schnell  unpersönlich  in  weitere  und  weitere  Kreise". 
„Der  Mann  auf  der  Straße  trägt  sie  fort,  und  wenn  sie  der  rechte 
Ausdruck  des  typischen  Amerikanertums  waren,  so  nimmt  der 
Schlichteste  sie  mit  derselben  Frische  auf  wie  der  Gebildetste,  der 
Fabrikarbeiter  ebensogut  wie  der  Fabrikbesitzer,  der  Bauer  so  gut 
wie  der  Bankier.  Wer  an  die  Gewissenhaftigkeit,  an  die  Sittlichkeit, 
an  den  Patriotismus,  an  die  Gemeinnützigkeit,  an  den  Geist  des  Fort- 
schritts und  der  Ordnung,  des  Edelmuts  und  der  Menschenliebe  beim 
Amerikaner  appelliert,  der  findet  keine  Klassen,  keine  Gegensätze,  son- 
dern nur  die  eine  öffentliche  Meinung,  deren  Träger  sich  nach  der  Inten- 
sität ihres  sittUchen  selbstlosen  Wollens  abstufen"  (233).  Das  von  Bryce 
wenigstens  berührte  Problem,  wie  es  möglich  sei,  daß  diese  edle  öffent- 
liche Meinung  das  ungeheuerliche,  durch  und  durch  korrupte  Treiben  der 
PoHtiker  nicht  nur  ertrage  und  dulde,  sondern  offenbar  durch  ihre 
Nachsicht  befördere,  wirft  Münsterberg  (so  weit  ich  sehe)  nicht  auf. 
14.  (Amerikanische  Ansicht.)  BryCE  und  MÜNSTERBERG,  der 
Schotte  und  der  Deutsche,  sind  beide  Enthusiasten  für  Amerika. 
Das  tritt  auch  in  ihrer  Verherrlichung  der  amerikanischen  öffentlichen 
Meinung  zutage.  Ostrogorski,  der  ein  Adoptiv-Amerikaner  ist  und 
dem  politischen  lycben  des  Landes  das  eingehendste  Studium  gewidmet 
hat,  dämpft  diese  Auffassung  erheblich;  und  seine  Darstellung  ist 
innerlich  wahrscheinlicher.  Wir  werden  finden,  daß  sie  auch  durch 
angelsächsische  Amerikaner,  deren  Stimme  wert  ist,  gehört  zu  werden, 
ihrem  wesentlichen  Gehalte  nach  bestätigt  wird.  So  widmet  in  seinen 
„Principles  of  Sociology'*  F.  H.  Giddings  der  öffenthchen  Meinung 
eine  streng  theoretische  Prüfung,  die  ihn  auf  Grund  der  Kenntnis 
seines  Landes  keineswegs  zu  unbedingter  Anerkennung  ihres  Wertes, 
ebensowenig  wie  zum  Preise  ihrer  Allmacht  führt.  Giddings  unter- 
scheidet »echte«  öffentliche  Meinung  von  falscher  (ohne  über  diese 
sich  des  näheren  auszulassen)  und  definiert  jene  als  das  Urteil  einer 
selbstbewußten  Gemeinschaft  über  irgendeinen  Gegenstand  von 
allgemeinem  Interesse.    In  poh tisch  organisierten  Gesellschaften  sei 

Tönnlei,  Kritik.  23 


354  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

sie  abhängig  von  der  Aufrechterhaltung  einer  liberalen  und  ver- 
fassungsmäßigen Regierung,  aber  auch  von  allgemeiner  Verbreitung 
der  Bildung  und  von  Beziehungen  der  Gerechtigkeit  und  Sympathie 
zwischen  Wohlhabenden  und  Armen,  daß  offener  Ausdruck  der 
Gesinnungen  die  natürliche  Gewohnheit  aller  Klassen  sein  kann.  Es 
sei  mehr  der  Geist  als  die  Form  des  Republikanismus  erforderlich. 
„Echte  öffentliche  Meinung  ist  höher  entwickelt  in  England  als  in 
Frankreich**  (auch  jene  Beziehungen  der  Gerechtigkeit  und  Sym- 
pathie??). „Verhängnisvoll  für  sie  ist  die  halb  -  kriminelle 
Demokratie,  welche  amerikanische  Großstädte  entehrt  und  miß- 
regiert hat**  (139).  „Indessen,"  fährt  er  fort,  „wie  repubUkanisch  auch 
eine  Gemeinschaft  sein  möge  und  wie  einsichtig  ihre  Mitglieder,  in 
einigem  Maße  wird  ihre  öffentliche  Meinung  immer  durch  einige 
führende  Geister  gestaltet.  In  der  Ortsgemeinde  (Amerikas)  sind  diese 
jetzt  nicht  immer  mehr  der  Geistliche,  der  Gutsherr  und  der  Arzt, 
die  in  der  letzten  Generation  noch  das  Denken  auf  dem  Lande  bei  uns 
leiteten.  An  vielen  Plätzen  sind  sie  verdunkelt  worden  durch  den 
Geschäftsmann  —  nicht  immer  zum  Besseren**.  Die  Presse  sei  erst 
seit  der  Anti-Sklaverei- Agitation  ein  wichtiges  Organ  der  öffentlichen 
Meinung  in  den  Vereinigten  Staaten  geworden.  Ihr  Einfluß  sei  aber 
nicht  so  unbegrenzt,  wie  man  oft  behaupte.  Und  doch  leugnet  ein 
anderer  amerikanischer  Publizist,  Prof.  Hadley,  auf  Grimd  dieses 
Einflusses,  daß  es  eine  allgemeine  (universal)  öffentliche  Meinung  in 
den  Vereinigten  Staaten  gebe;  vielmehr  bilde  das  Publikum  jeder 
großen  Zeitung  eine  öffentliche  Meinung  für  sich.  „Die  Tatsachen, 
Ansichten,  Beweggründe,  die  den  Lesern  der  einen  dieser  Zeitungen 
vertraut  sind,  sind  denen  der  anderen  fremd.  Jede  Gruppe  denkt,  daß 
ihre  Meinungen  ein  wirkliches  Verständnis  der  Bedürfnisse  des  Volkes 
bedeuten,  und  daß  die  Ansichten  der  anderen  Gruppen  die  Beweis- 
gründe selbstsüchtiger  Heuchler  darstellen,  doppelt  verabscheuenswert, 
weil  sie  die  Form  einer  Berufung  an  das  öffentliche  Interesse  an- 
nehmen.** Und  an  anderer  Stelle  macht  derselbe  angesehene  Gelehrte 
das  PubHkum  selber  für  den  „gelben  Journalismus**  verantwortHch. 
„Wenn  dem  Publikum  mehr  um  Sensationen  als  um  Tatsachen  zu  tun 
ist,  mehr  um  Aufregung  als  um  Einsicht,  so  müssen  natürlich  seine 
Meinungen  auf  falschen  Angaben  und  oft  auf  gefährlichen  beruhen, 
und  seine  Schlußfolgerungen  werden  unweise  und  unverantwortlich 
sein.  Und  so  lange  als  die  öffentHche  Meinung  unweise  oder  unver- 
antwortlich ist,  so  wird  auch  die  Regierung  des  Landes  schlecht  sein^).'* 


*)  Die  erste  Stelle  in  ,, Standards  of  public  morality",  p.  13,  16;  die  zweite  aus  einem 
Artikel  in  The  youth's  companion;  beide  Stellen  dem  Büchlein  von  James  Edward 
Rogers  (s.  o.)  entlehnt. 


Als  Faktor  des  Staatsi,ebkns.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        355 

Offenbar  anerkennt  hier  der  Autor  das  Publikum  der  gelben  Presse 
als  ein  so  großes,  daß  er  (im  Gegensatz  zu  seinem  früheren  Ausspruch) 
dessen  Meinung  als  »die«  öffentliche  Meinimg  gelten  lassen  muß. 
Rogers  macht  sich  in  dem  Büchlein  jyThe  american  newspaper" 
(Chicago  1909)  Hadleys  Schlußfolgerungen  zu  eigen.  Wir  haben 
schon  früher  (S.  183)  auf  seine  Darlegungen  Bezug  genommen. 

15.  (Schlußfolgerungen.)  Wir  dürfen  zu  dem  Schlüsse  kommen, 
daß  die  öffentHche  Meinung  als  poHtischer  Faktor  in  den  Vereinigten 
Staaten  nicht  so  sehr  verschieden  ist  von  ihrer  Bedeutung  in  anderen 
Ländern.  Sie  ist  ein  mächtiger  Faktor  neben  den  anderen  mächtigen 
Faktoren,  ein  politischer  Faktor,  der  aus  der  Gesellschaft  hervorgeht 
und  sie,  nämlich  )>die«  Gesellschaft,  die  Gesamtheit  der  maßgebenden 
Schichten,  repräsentiert.  Sie  ist,  dort  wie  überall,  die  Meinung  der 
Vertreter  von  Bildung  und  Besitz;  nur  daß  hier  ein  stärkerer  Nach- 
druck auf  dem  Besitz  liegt,  so  daß  ein  sehr  großes  Vermögen  oder 
wenigstens  ein  sehr  großes  Einkommen  dazu  gehört,  in  dieser  Hinsicht 
Kiazu  zu  gehören«;  während  eine  mäßige  Bildung  dafür  genügt,  die 
dank  der  formalen  Demokratie  sehr  weit  verbreitet  ist.  Das  gegen- 
sätzliche Nebeneinander  wirkhcher  Plutokratie  und  förmlicher  Demo- 
kratie muß  sich  auch  in  der  öffentHchen  Meinung  reflektieren.  Sie 
ist  sehr  weit  ausgebreitet;  nur  die  Farbigen  (Neger,  MischUnge, 
Indianer)  und  die  jungen  Zuwüchse  der  Einwanderer,  haben  keinen 
Teil  an  ihr;  deren  Meinimgen  und  Gesinnungen  zählen  nicht.  Andere 
stehen  in  zweiter  Reihe;  das  gilt  mehr  oder  minder  von  allen  un- 
englischen Amerikanern,  besonders  von  den  zahlreichen  und  in 
einzelnen  PersönHchkeiten  zuweilen  von  der  ÖffentHchen  Meinung 
anerkannten,  in  ihr  zur  Geltung  gelangten  Deutsch- Amerikanern. 
Die  Art,  wie  die  öffentliche  Meinung  sie  während  des  Weltkrieges  als 
»Bindestrich- Amerikaner«  brandmarkte,  war  dafür  bezeichnend. 
Die  ÖffentHche  Meinung  der  Vereinigten  Staaten  ist  angelsächsisch. 
Wir  denken  hier  immer  nur  an  die  flüchtige  Tagesmeinung,  die  man 
in  der  Regel  als  die  öffentliche  Meinung  versteht.  Aber  die  hat  eben 
ihre  festen  Wurzeln,  und  diese  »feste«  ÖffentHche  Meinung  gilt  es  zu 
erkennen,  um  die  flüssige  und  die  luftartige  zu  begreifen.  Jene  ist 
noch  heute  wesentlich  puritanisch;  d.  h.  sie  ist  in  ihrem  Ursprünge 
kleinbürgerlich  eng,  beschränkt  religiös  —  aber  sie  trägt  diesen 
Ursprung  zur  Schau,  ohne  wirklich  noch  darin  befangen  zu  sein,  ohne 
daran  zu  glauben.  Sie  ist  äußerlich  fromm,  innerlich  durchaus  weltHch- 
flach,  weltlich  im  Sinne  jener  Aufklärung,  die  im  Mittelalter  nur 
Finsternis  sah.  Sie  kennt  die  alte  Welt,  daher  die  Grundlagen  ihrer 
eigenen  Kultur,  nur  mangelhaft,  lebt  daher  viel  mehr  in  d^r  Gegen- 
wart und   in   Zukunftsvorstellungen,   die   ausschHeßHch   durch   die 

23* 


356  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Gegenwart  bestimmt  sind,  als  die  öffentliche  Meinung  etwa  in  Deutsch- 
land und  England,  von  der  Goethes  Wort  gilt:  „Wir  alle  leben  vom 
Vergangenen  und  gehen  am  Vergangenen  zugrunde''.  Was  wir  hier 
von  der  öffentUchen  Meinung  der  Vereinigten  Staaten  sagen,  das 
wird  sonst  wohl  vom  »Geist«  der  Amerikaner  gesagt;  aber  die  öffent- 
liche Meinung,  wie  wir  sie  verstehen,  ist  ja  der  wesentiiche  Ausdruck 
des  Geistes  einer  Nation.  Ein  tief  klaffender  Widerspruch  geht  durch 
ihn  hindurch:  das  späte  Endprodukt  der  1^/2  Jahrtausend  hindurch 
genährten  Bildung  Europas,  woran  er  durch  seine  unehrwürdigen 
Kirchen,  wie  durch  die  kargen  Spuren  von  Kunstübung,  die  ihn 
umgeben,  erinnert  wird,  ist  er  in  seinem  Bewußtsein  ganz  jung  und 
neu,  also  durchaus  »rationalistisch«  und  zwar  im  Sinne  einer  Vernunft, 
die  sich  am  liebsten  mit  den  Mitteln  für  äußere  Zwecke  beschäftigt. 
Der  amerikanische  Geist  ist,  wie  weidlich  bekannt,  schlechthin  auf 
Bereicherung,  auf  ehrenhaftes  oder  nicht  ehrenhaftes  Geldmachen 
erpicht,  und  dies  billigt,  ja  begünstigt  die  öffentliche  Meinung,  indem 
sie  den  Reichtum  bewundert,  wenn  sie  auch  zugleich  von  ihm  verlangt, 
daß  er  sich  in  großzügiger  Wohltätigkeit,  insbesondere  in  Spenden 
für  öffentlich  anerkannte  Bildungszwecke  äußere.  In  entschiedener 
Weise  ist  überhaupt  die  öffentliche  Meinung  für  alles  Große  einge- 
nommen; auch  in  dieser  Beziehung  die  fortgeschrittene  Trägerin  der 
modernen  Zivilisation.  Daß  sie  diese  unbedingt  bejaht,  bezeichnet 
die  amerikanische  mehr  als  irgendeine  europäische  öffentHche  Meinung. 
Die  Unterscheidung  von  Zivilisation  und  Kultur,  die  neuerdings  fast 
eine  Welle  in  der  flüssigen  öffentlichen  Meinung  des  Deutschtums 
geworden  ist,  ist  der  amerikanischen  durchaus  unverständlich.  Die 
amerikanische  öffentliche  Meinung  ist  individuaüstisch  und  gesell- 
schaftHch,  Höheres  und  Tieferes  ist  ihr  unbekannt.  Mehr  als  irgendwo, 
außer  aber  in  Australien,  gilt  der  Ausspruch  Adam  Smiths  von  der 
amerikanischen  Gesellschaft,  daß  in  ihr  jedermann  ein  Kaufmann  ist; 
daher  ist  für  die  amerikanische  ÖffentHche  Meinung  die  eigentliche 
Lebensaufgabe  des  Menschen,  ein  gutes  Geschäft  zu  machen ;  und  dies 
muß  sich  auch  ins  Jenseits  erstrecken.  Politisch  bedeutet  es  die 
Geringschätzung  des  Staats;  die  als  Errungenschaft  des  Fortschritts 
der  ZiviHsation  gepriesene  Freiheit  wird  vorzugsweise  als  wirtschaft- 
liche Freiheit  verstanden;  »freie  Bahn  dem  Tüchtigen«  will  man 
allerdings,  aber  die  Tüchtigkeit  wird  vorzugsweise  als  smartnesSy 
a!s  Schlauheit  und  Rücksichtslosigkeit  des  Sichgeltendmachens  ver- 
standen. Die  öffentUche  Meinung  freilich  wird  dies  nicht  ausdrücküch 
gelten  lassen,  sie  wird  immer  ein  moralisches  Gewand  anziehen;  aber 
sie  zeigt  ihre  Blöße  in  der  Beugung  vor  dem  Erfolg,  die  leicht  in  An- 
betung der  Erfolgreichen  übergeht.    Die  Verehrung  der   »Freiheit« 


AI.S  Faktor  des  Sxaatsi,ebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        357 

hat  sich  fast  ein  Jahrhundert  lang  mit  der  Neger  Sklaverei  vertragen. 
Sie  verträgt  sich  auch  heute  noch  mit  Erscheinungsformen  der  lyohn- 
sklaverei,  die  in  Europa  die  öffentUche  Meinung  nicht  mehr  dulden 
würde.  Die  Vereinigten  Staaten  sind  das  gelobte  Land  des  Kapi- 
taUsmus  und  der  Bourgeoisie;  die  öffentliche  Meinung  dort  hält 
diesen  Zustand  nicht  nur  für  schlechthin  normal,  sondern  für  einen 
Musterzustand  imd  für  den  höchsten  Gipfel  menschheitUchen  Fort- 
schritts. Sie  steht  insbesondere  den  dort  aufs  höchste  gepflegten 
Fortschritten  der  Technik  durchaus  unkritisch  gegenüber.  Indessen 
läßt  sich  gewahren,  daß  diese  selbstgewisse  ÖffentUche  Meinung 
neuerdings  an  Festigkeit  verliert;  an  manchen  Stellen  ist  sie  in  Fluß 
geraten.  Die  Erscheinungen  der  Korruption,  die  Auswüchse  der 
Geldmacht,  sind  so  schreiend,  daß  die  öffentliche  Meinung  ihr  Ohr 
nicht  davor  verschließen  kann.  Der  Einfluß  eines  bedeutenden 
Schriftstellers,  des  KaUforniers  Henry  George,  hat  sich  seit  einem 
Menschenalter  bemerkbar  gemacht  und  ist  in  der  Stille  gewachsen. 
Mit  ihm  zersetzen  europäische  soziaHstische  und  philosophische 
Strömvmgen  die  amerikanische  öffentliche  Meinung.  Indessen  mußte 
sie  wiederum  in  ihrem  rohen  und  unwissenden  Dünkel  bestärkt 
werden  durch  die  englische  Propaganda  während  des  Weltkrieges. 
Diese  stellte  Deutschland  als  das  I^and  der  Hunnen  dar,  dessen 
Regierung  auf  nichts  als  Raub,  Mord  und  Brandstiftung  bedacht, 
die  Weltherrschaft  erobert  hätte,  wenn  nicht  das  edle  England  der 
von  ihm  so  heiß  geliebten  französischen  RepubHk  und  dem  armen 
kleinen  Belgien,  wie  dem  großen,  in  unnahbarer  Kulturhöhe  schwe- 
benden Reiche  des  Zaren  großmütig  und  selbstlos  zur  Hilfe  gekommen 
wäre.  Die  leichtgläubige  öffentliche  Meinung  des  oberflächlich  ge- 
bildeten Koloniallandes  schluckte  alles.  Sie  offenbarte  ihre  ganze 
Nichtigkeit  imd  Nichtswürdigkeit.  —  Immerhin  sind  in  der  festen 
öffentlichen  Meinung  der  Vereinigten  Staaten  auch  Bestandteile 
von  echterem  Gehalt.  Daß  eine  repubhkanische  Verfassung  und  die 
Demokratie  die  angemessenen  Formen  des  modernen  Staates  sind, 
läßt  sich  theoretisch  durch  starke  Gründe  verteidigen,  auch  wenn 
man  zugibt,  daß  die  Tatsachen  des  amerikanischen  politischen  Lebens 
abschreckend  sind.  Wie  stark  aber  diese  Überzeugung  ist,  läßt  sich 
daran  ermessen,  daß  die  beiden  großen  Parteien  einander  als  die 
republikanische  und  die  demokratische  gegenüberstehen;  da  jeder 
weiß,  daß  die  repubhkanische  auch  Demokratie,  die  demokratische 
auch  Rcpubhk  will,  so  daß  der  Gegensatz  einen  ganz  anderen  Sinn, 
nänüich  (ursprünghch)  den  des  ZentraUsmus  und  des  Föderahsmus 
hat.  Jene  Einmütigkeit  bedeutet  eine  mächtige  Ursache  der  Stärke 
der  öffentlichen  Meinung,  denn  auch  die  große  Menge,  wie  sehr  sie 


358  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

sieh  sonst  den  Interessen  der  herrschenden  Klasse  entgegenstemmen 
möge,  ist  mit  ihr  im  Glauben  an  Republik  und  Demokratie  einig. 
Sie  ist  nur  monarchisch  gesinnt,  wo  die  Monarchie  als  ÜberHeferung 
geschätzt  wird  und  wenigstens  einem  großen  Teil  des  arbeitenden 
Volkes,  z.  B.  den  Bauern  ihre  besondere  Gunst  erweist,  oder  wo  sie  die 
Menge  durch  kriegerischen  Glanz  vmd  Sieg  an  sich  gefesselt  hat.  Die 
industrielle  Arbeiterschaft  ist  von  der  großstädtischen  Aufklärung 
mehr  oder  weniger  tief  erfaßt  und  daher  grundsätzlich  repubhkanisch 
gesinnt.  Infolgedessen  ist  die  Herrschaft  der  großbürgerUchen  oder 
kapitaHstischen  Klasse  in  einer  RepubHk  viel  besser  gesichert  als  in 
einer  Monarchie,  wie  auch  immer  die  Monarchie  sich  zu  den  An- 
sprüchen der  Arbeiterklasse  verhalten  möge.  In  den  Vereinigten 
Staaten  hat  aber  ohnehin  jene  Klasse  eine  gewisse  UniversaHtät,  die 
sonst  ihrem  Wesen  fremder  bleibt.  Überall  repräsentiert  sie  das 
»Bürgertum«  als  dessen  stärkstes  Element;  und  am  Bürgertum  haben 
gewissermaßen  alle  Teil;  wenn  auch  die  Vorstellung  von  ihm  in  der 
französischen  Sprache  sich  in  den  bourgeois  und  den  citoyen  spaltet, 
so  bleibt  es  doch  der  Ausdruck  des  normalen  Menschentums  im 
heutigen  Staate;  in  Amerika  aber  weit  mehr  als  anderswo:  i.  weil 
Amerika  keine  Ritterschaft,  keine  Aristokratie  (der  Geburt)  kennt, 
also  der  sonst  vorhandene  Gegensatz  von  Adel  und  Bürgertum  fehlt, 
2.  weil  auch  eine  breite  Schicht  der  Arbeiterklasse,  dank  ihrer  relativen 
Seltenheit  im  Koloniallande,  verhältnismäßig  gutes  Einkommen 
genießt,  daher  kleinbürgerlich  lebt  und  kleinbürgerlich  fühlt;  dazu 
kommt,  daß  bei  den  Chancen,  die  die  Weiträumigkeit  imd  die  rasche 
Entwicklung  durch  den  immer  frischen  Zustrom  von  Einwanderern 
bietet,  der  Tüchtige  und  Mutige  sozusagen  noch  den  Marschallstab 
in  seinem  Tornister  trägt;  er  fühlt  sich  nicht,  wie  der  Proletarier  in 
den  alten  Ländern,  hoffnungslos  an  sein  Los  gekettet.  Aus  diesen 
Ursachen  kann  der  von  Bryce  beschriebene  Schein  entstehen,  als 
wäre  die  öffentUche  Meinung  in  Amerika  schlechthin  allgemein:  sie 
ist  in  der  Tat  allgemeiner,  d.  h.  weniger  durch  Klassengegensätze 
eingeschränkt  als  in  irgendeinem  Lande  Europas  (um  so  mehr  jedoch 
durch  Rassengegensätze;  von  den  coloured  people  ist  hier  charakteristi- 
scher Weise  nicht  die  Rede,  wenn  auch  Bryce  einmal  betont,  daß  sie  an 
Bildung  der  öff entheben  Meinung  keinen  Anteil  haben).  Ein  starkes 
Moment  der  Einigkeit  Hegt  aber  in  der  Abhängigkeit  eines  Kolonial- 
landes vom  Mutterlande.  Und  so  mannigfach  auch  die  Bestandteile 
der  amerikanischen  Einwohnerschaft  sind,  sie  empfindet  als  ihr 
Mutterland  Großbritannien,  wie  denn  die  geistige  Bildung  ihren 
Hauptsitz  immer  in  den  Neuengland-Staaten  gehabt  hat.  „In  diesem 
Kreise  (der  englisch  sprechenden  Welt),  der  wohl  über  die  Hälfte  der 


AI.S  Faktor  des  Staatslebens,  —  Insgemein  und  in  Amerika.        359 

weißen  Völkerrassen  umfaßt,  besitzt  die  englische  Sprache  ein  abso- 
lutes Monopol ..."  (dieses  Monopol)  ,,hält  die  öffentliche  Meinung  der 
Vereinigten  Staaten  in  einer  festen  Abhängigkeit  von  England,  die  fast 
so  stark  ist,  als  wären  die  Staaten  eine  britische  Provinz"  (Prof.  Paui, 
Carus (t)  »Neutrale  Stimmen«,  lyeipzig  1916,  S.  23)^). 

i6.  (Nachträge  zu  Bryce.)  Es  wurde  darauf  hingewiesen,  daß 
Bryce  in  seinem  neuen  Werke  über  moderne  Demokratien  auch 
die  öffentUche  Meinung  in  Amerika  von  neuem  erörtert.  Die  Lehre 
von  der  öffentüchen  Meinung  geht  durch  die  beiden  Bände  hindurch. 
Den  Hauptinhalt  des  Werkes  bildet  die  Schilderung  von  6  demo- 
kratischen Staatsverf assimgen :  als  solche  werden  die  der  Vereinigten 
Staaten,  der  Schweiz,  Frankreichs,  Canadas,  Australiens  und  Neu- 
seelands dargestellt  (Part II).  Vorausgeht  eine  allgemeine  Abhandlung 
über  demokratisches  Staatsrecht  (Part  I)  und  den  Schluß  (Part  III) 
büden  Reflexionen  —  in  23  Kapiteln  — ,  die  sich  teils  auf  die  Beob- 
achtimgen  an  jenen  6  Republiken  (als  solche  gelten  dem  Verfasser 
auch  die  Dominions)  zurückbeziehen,  teils  die  demokratischen  Er- 
fahnmgen  überall  betreffen,  teils  endlich  die  Ergebnisse  eines  syste- 
matischen Studiums  und  der  Vergleichung  mit  anderen  Staatsformen 
enthalten.  Die  öffentliche  Meinung  wird  im  einleitenden  ersten  Ab- 
schnitt durch  ein  besonderes  (das  letzte)  Kapitel  betrachtet,  die 
ÖffentUche  Meinung  in  den  Vereinigten  Staaten  wiederum  durch  ein 
besonderes  Kapitel,  und  auch  der  dritte  Hauptabschnitt  kommt  auf 
ihre  Wichtigkeit  tmd  Macht  zurück.  Vieles  wird  hier  wiederholt  und 
weitergesponnen,  was  dem  Leser  des  Commonwealth  bekannt  ist, 
und  soweit  es  nicht  reine  Theorie  enthält,  hier  mitgeteilt  wurde. 
„Es  gibt  keinen  besseren  Prüfstein  für  die  Vortrefflichkeit  einer 
demokratischen  Regierung  als  die  Stärke  der  öffentHchen  Meinung 
als  herrschender  Macht",  mit  diesem  Satze  beginnt  das  Kapitel  über 
die  öffentliche  Meinung  in  Amerika.  Der  Gedankengang  schreitet 
dann   in   folgender   Bahn   fort:    Das    poh tische   Interesse    ist   weit 

*)  Graf  Bbrnstorpp,  ehemaliger  deutscher  Botschafter  iu  Washington,  sagte  vor  dem 
Untersuchungsausschuß  in  Berlin  am  14.  November  1919:  .Jeder,  der  die  Verhältnisse 
in  Amerika  kennt,  weiß,  daß  ein  Präsident  nichts  unternehmen  kann,  was  nicht  mit 
der  Ansicht  der  öffentlichen  Meinung  übereinstimmt.  Er  kann  diese  öffentliche 
Meinung  wohl  beeinflussen  und  hemmen,  er  kann  aber  nichts  gegen  sie  tun.  Anfangs 
war  die  amerikanische  Meinung  gegen  uns  unfreundlich,  sie  nahm  für  die  Entente 
Partei.  Wir  standen  nicht  einer  nicht  vertrauenswürdigen  Person  gegenüber,  sondern 
der  ausgesprochenen  Ansicht  des  amerikanischen  Volkes,  und  infolgedessen  handelte 
e«  sich  nicht  darum,  ob  Wir.soN  zuverlässig  war,  oder  nicht,  sondern  darum,  daß 
das  amerikanische  Volk  diesen  Wunsch  ausgesprochen  hatte."  Im  Anschluß  daran 
bezeichnete  der  ehemalige  Vizekanzler  Hei.fpericu  seine  »Auffassung«  dahin,  daß 
WU.30N  von  der  amerikanischen  Geschäftswelt  und  der  öffentlichen  Meinung 
getrieben  worden  sei.  Die  Auslegung  war  olme  Zweifel  richtig.  Denn  die  Geschäfts- 
welt hatte  eben  die  öffentliche  Meinung  in  ihrer  Tasche. 


360  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

verbreitet,  und  es  gibt  über  die  meisten  Fragen  eine  erhebliche 
Übereinstimmung,  wodurch  die  Klüfte  zwischen  den  Parteiansichten 
verengt  werden.  Dafür  dienen  auch  die  Erfahrungen  des  Weltkrieges 
zur  Bestätigung.  Deutsche  und  Iren  stehen  freilich  in  bezug  auf 
äußere  Politik  nicht  im  allgemeinen  Strome.  Aber  die  lösenden  und 
assimilierenden  Kräfte  der  Schule,  der  Kameradschaft,  des  ganzen 
sozialen  Milieus  sind  in  Amerika  stärker  als  irgendwo;  auch  reUgiöse 
Unterschiede  bedeuten  wenig.  Daß  die  Scheidungen  der  Denkungsart 
vertikal,  nicht  horizontal  verlaufen  (s.  ob.)  wird  wiederholt.  Ebenso 
wenig  als  über  ReUgion  denken  in  der  Regel  über  PoUtik  Unternehmer 
und  Arbeiter  wegen  ihrer  verschiedenen  Klassenlage  verschieden. 
So  bewegt  sich  auch  in  den  wichtigsten  Fragen  die  öffentHche  Meinung 
nicht  in  Parteikanälen;  gelegentHche  Heftigkeit  des  Parteistreites 
darf  darüber  nicht  täuschen.  Die  allgemeine  politische  Bildung  ist 
verhältnismäßig  hoch;  der  Einfluß  der  Universitäten  darauf  während 
der  letzten  40  Jahre  mächtig  gewachsen,  die  Zahl  der  Promovierten 
wohl  zehnmal  so  groß  (im  Verhältnis  zur  Volkszahl)  als  irgendwo  auf 
dem  europäischen  Festland  und  zweimal  so  groß  als  in  Großbritannien. 
(Ein  sonderbares  Kriterium  —  daß  diese  Promotionen  größeren 
Bildungswert  haben  als  etwa  unser  Abiturientenexamen  wird  Bryce 
nicht  zu  behaupten  wagen!)  Die  Presse  übt,  mit  allen  ihren  Fehlern, 
auch  guten  Einfluß  auf  Meinungsbildung;  das  I^esen  ist  allgemein, 
hervorragende  I^eute  lassen  sich  gern  »interviewen«  und  geben 
dadurch  ihre  Ansichten  kund,  die  immer  Eindruck  machen.  I^eit- 
artikel  der  Zeitungen  bedeuten  nicht  so  viel  wie  in  England  und 
Frankreich,  die  Zeitungen  werden  überhaupt  nicht  so  ernst  genommen, 
und  die  bedeutenden  Journalisten  gelangen  selten  zu  politischer 
Machtstellung ;  auch  ist  ihre  Gunst  oder  Ungunst  weniger  maßgebend 
für  die  Geltung  eines  Staatsmannes.  Der  Parteicharakter  der  Zei- 
tungen ist  auch  weniger  ausgeprägt,  die  eigene  Partei  wird  oft  scharf 
kritisiert.  Keine  einzelne  Zeitung  hat  einen  Einfluß,  wie  ihn  einzelne 
Zeitungen  in  England,  Frankreich,  Italien,  Australien,  Argentinien 
haben.  Die  Entfernungen  sind  zu  groß,  die  neue  Zeitung  veraltet,  bis 
sie  im  Lande  herumkommt.  Durch  Bekämpfung  der  Korruption, 
wie  auch  durch  ihre  Haltung  im  Weltkriege,  habe  sich  die  ameri- 
kanische Presse  verdient  gemacht  (!).  —  Den  charakteristischen  Typus 
des  Durchschnitts- Amerikaners  als  Subjekts  der  öffentHchen  Meinung 
bildet  für  Bryce  der  einheimische  Bauer  in  den  nördhchen,  speziell 
den  mittleren  westUchen  und  nordwestlichen  Staaten,  mit  dem  er 
den  Krämer  und  Handwerker  der  kleineren  Städte  zu  einer  Art 
von  zusammengesetzter  Photographie  zusammenlegen  will;  dieser 
amerikanische  Mensch  zeichne  durch  Stolz  auf  sein  Vaterland  und 


AI.S  Faktor  des  Staatsi.ebens.  —  Insgemein  und  in  Amerika.        361 

durch  vaterländisches  Pflichtgefühl  sich  aus;  sein  Denken  bewege  sich 
in  einem  engen  Kreise,  lasse  sich  politisch  leicht  täuschen  und  für  eine 
Partei  gewinnen,  ermangele  aber  nicht  der  Menschenkenntnis  und  wisse 
die  guten  Eigenschaften  eines  tüchtigen  Staatsmannes  zu  schätzen. 
In  normalen  Zeiten  nachsichtig  und  duldsam,  keineswegs  wie  die 
meisten  Europäer  meinen,  materialistisch,  sondern  freigebig  wie  kein 
anderes  Volk  zu  wohltätigen  und  gemeinnützigen  Zwecken;  der 
Klassengegensatz  werde  durch  ein  höheres  gemeinsames  National- 
bewußtsein überragt.  Als  Urteil  und  Gefühl  der  großen  Nation  trete 
dies  in  den  verschiedenen  Reformbewegungen  zutage:  das  eben  sei 
die  wahre  Herrschaft  der  öffentlichen  Meinung,  die  nur  mangelhaft 
in  der  Volksvertretung  sich  ausdrücke,  auch  aus  dem  sorgfältigsten 
Studium  der  Presse  nicht  leicht  sich  eruieren  lasse,  und  doch  in  Wahr- 
heit eine  Kraft,  ungreifbar  wie  der  Wind,  die  alle  zu  erkennen  und 
der  fast  alle  zu  gehorchen  wünschen.  Bryce  schildert  das  Keimen 
imd  langsame  Wachstum  jener  Reformbewegungen  seit  dem  Bürger- 
kriege. So  sei  auch  die  Bewegung  zugunsten  des  Friedens  und  wider 
den  alten  aggressiven  Geist  stetig  gewachsen.  „Von  den  unselbstischen 
Beweggründen,  die  Amerika  in  den  Weltkrieg  brachten,  um  zu  ver- 
teidigen, was  es  für  eine  gerechte  Sache  hielt,  braucht  man  nicht  zu 
reden'*  ( 1 !).  Die  öffentliche  Meinung  hat  die  Ausdehnung  der  Zentrale 
über  die  Einzelstaaten  begünstigt,  zuletzt  (1920)  durch  Ausdehnung 
des  Frauenstimmrechts  über  das  ganze  Reich,  während  sonst  die 
Wahlrechte  immer  den  Staaten  vorbehalten  blieben.  Auch  hat  sich 
der  philanthropische  Impuls  in  die  soziale  Gesetzgebung  übertragen, 
um  die  Lage  der  Armen  zu  verbessern,  nicht  auf  Grund  von  kollek- 
tivistischen Theorien  importiert  aus  Deutschland  durch  die  Schüler 
von  Marx,  sondern  aus  der  Gesinnung  menschlicher  Brüderlichkeit  (!). 
Wichtiger  sind  drei  poHtische  Strömungen,  die  unter  sich  nahe  ver- 
bunden sind:  i.  Haß  der  Geldmacht,  besonders  der  monopolistischen, 
2.  Widerwille  gegen  die  Parteimaschinerie,  3.  Unwille  über  die  Kor- 
ruption und  Mißverwaltung  der  großen  Städte.  „Diese  3  Quellen  des 
Übels  sind  im  Geiste  von  Bürgern,  die  durch  Gemeinsinn  und  Tatkraft 
sich  auszeichnen,  als  3  Häupter  der  H3^dra  miteinander  verknüpft, 
die  gleichzeitig  abgehauen  werden  müssen,  wenn  das  Ungeheuer 
vertilgt  werden  soll."  „Es  ist  versucht  worden  auf  gesetzgeberischem 
Wege,  und  mißlungen,  denn  die  gesetzgebenden  Körperschaften 
werden  korrumpiert  durch  die  Geldmacht  und  beherrscht  durch  die 
Maschine."  Und  doch  —  so  fragen  wir  —  ist  die  öffentUche  Meinung 
allmächtig?  Doch  bleibt  sie  rein  und  unverdorben?  —  Es  genügt 
die  Fragen  aufzuwerfen  und  auf  die  Darstellungen  Ostrogorskis 
zurückzuverweisen ;  auch  dürften  die  groben  Illusionen  des  schottischen 


362  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Gelehrten  durch  die  Zeichen,  mit  denen  sie  hier  an  4  Stellen  begleitet 
wurden,  hinlänglich  gerichtet  sein.  Gleichwohl  bleibt  aus  seiner 
gründlichen  Kenntnis  des  Landes  sehr  viel  zu  lernen,  auch  in  bezug 
auf  die  öffentHche  Meinung. 

Zweiter  Abschnitt.    Die  Öffentliche  Meinung  in  England. 

17.  (Grundzüge.)  Weil  die  öffentliche  Meinung  tatsächlich  überall 
die  nach  Verallgemeinerung  strebende  bürgerliche  Denkungsart  ist, 
so  hat  sie  im  »alten  I^ande«  —  das  ist  eben  England  für  die  Ameri- 
kaner —  ein  anderes  Gesicht.  Hier  tritt  viel  deutlicher  zutage,  daß 
die  öffentliche  Meinung  zunächst  als  bürgerHche  Denkungsart  im 
Gegensatz  zur  adlich-kirchlichen,  daher  zur  offiziellen  Religion  als 
poHtisch  maßgebender  Macht  sich  entwickelt  hat.  Ja,  England  ist 
typisch  dafür,  daß  sie  in  dieser  Weise  sich  entwickelt,  während  sie 
selber  noch  gewissermaßen  ganz  Religion  ist  oder  doch  erfüllt  von 
rehgiösen  Meinungen  und  Vorurteilen.  In  der  »puritanischen  Re- 
bellion«, die  den  König  enthauptete,  wurde  zuerst  diese  weltlich- 
bürgerliche Denkimgsart  eine  Weile  siegreich  —  sie  selber  noch  ganz 
eingehüllt  in  religiöse  Anschauungen,  ja  im  Sinne  des  subjektiven 
Ernstes  viel  religiöser  als  die  von  ihr  überwundene  Kirche.  Aber  sie 
trägt  die  entscheidenden  Merkmale  der  öf fentHchen  Meinimg  insofern 
an  sich,  als  sie  auch  auf  Rationalität  Anspruch  macht,  und  gerade 
an  die  innerpolitischen  Verhältnisse  hauptsächlich  diesen  Maßstab 
anlegt.  Dies  geschieht  in  ausgesprochenerer  Weise  als  durch  den 
Puritanismus,  durch  die  I^aiengemeinden  und  ihre  Vertretungen,  so 
auch  durch  die  Generalversammlung  der  schottischen  Kirk,  eben 
darum,  weil  sie  den  Anspruch  erheben,  auch  das  poUtische  und  das 
Privatleben  nach  christhchen  Grundsätzen  zu  ordnen.  „In  der 
Generalversammlung  war  es,  daß  die  neue  Kraft  der  öffentlichen 
Meinung  {the  new  force  of  public  opinion)  gesetzgebende  und  ver- 
waltende Gestalt  annahm",  sagt  von  der  Zeit,  als  Jakob  V.  (der  Erste 
von  England)  noch  König  von  Schottland  allein  war,  John  Richard 
Green  (Hist.  of  the  English  People  III,  67).  An  den  Versuchen,  diese 
Kraft  zu  unterdrücken  oder  zu  beschneiden,  erschöpfte  Jakob  seine 
monarchischen  Hilfsmittel;  durch  einen  Tendenzprozeß  gegen  pres- 
byterianische  Geistüche  1606  —  den  lyinhthgow-Prozeß  —  brachte 
er  die  ÖffentHche  Meinung  des  I^andes  in  einer  Weise  gegen  sich  auf, 
die  noch  an  seinem  Nachfolger,  ein  Menschenalter  später,  sich  rächte. 
Die  öffentliche  Meinung  Schottlands  wirkte  ansteckend  auf  diejenige 
Englands,  der  presbyterianische  Pietismus  verband  sich  mit  dem 
puritanischen,  die  Monarchie  zu  zerstören.  Kari.  I.  hatte  schon  bald 
nachdem  er  den  Thron  bestieg,  die  Gunst  der  öffentlichen  Meinung 


Axs  Faktor  des  Staatslebens.  —  Die  Öffentliche  ^Ieinung  in  EJngulnd.    363 

eingebüßt;  R.  Gardiner  spricht  (History  of  England  VI,  9)  von  seinen 
Bemühungen,  sie  durch  eine  kühne  und  wie  er  hoffte,  erfolgreiche  aus- 
wärtige PoHtik  zu  versöhnen,  während  der  Minister  Buckingham  zu 
gleicher  Zeit  sich  vorwerfen  lassen  mußte,  daß  er  eben  an  solcher  Be- 
mühung (die  öffentHche  Meinimg  mit  sich  auszusöhnen),  es  fehlen  lasse 
(ib.).  Gardiner,  der  den  staatsmännischen  Fähigkeiten  Straffords 
gerecht  wird,  hebt  hervor,  wie  dieser  (im  Jahre  1640)  alle  schwachen 
Punkte  des  parlamentarischen  Systems  erkannte,  ohne  irgendeine 
von  dessen  starken  Seiten  zu  sehen.  „Kr  hatte  keinen  Glauben,  daß 
eine  bessere  Organisation  aus  der  chaotischen  öffentHchen  Meinung 
seiner  Tage  hervorgehen  könne"  (IX,  119).  Als  aber  CromwEli.  mit 
starker  Hand  den  Staat  wiederherstellte,  kannte  er  wohl  die  Trag- 
kraft der  ÖffentHchen  Meinimg  und  wußte,  daß  sie  nicht  durch 
Frömmigkeit  allein  ernährt  werden  konnte.  Er  berief  sich  nach- 
drückhch  auf  die  weltHchen  Interessen  und  behauptete  die  bürgerliche 
Gewalt  tatkräftig  gegen  die  Übergriffe  der  GeistHchkeit.  Obgleich 
es  noch  viele  KathoHken  im  Lande  gab  —  besonders  unter  dem  Adel 
und  in  den  unteren  Schichten  —  und  sonst  die  reUgiösen  Richtungen 
sehr  geteilt  waren,  so  war  doch  die  (gemeinbürgerliche)  ÖffentHche 
Meinung  so  gut  wie  einig  in  der  Ablehnung  des  Papismus  (No  Popery) 
und  in  der  Forderung  der  Gewissensfreiheit,  die  jede  Richtung  für 
sich  stellte.  Der  Protektor  stellte  sich  als  Vorkämpfer  für  beide  dar, 
legte  aber  der  Gewissensfreiheit  den  Sinn  einer  weitgehenden  Dul- 
dung —  sogar  für  Juden  und  Quäker  —  unter,  obschon  der  Puri- 
tanismus  so  imduldsam  war  wie  irgendeine  Kirche,  während  er  als 
Staatsmann  allen  Denominationen  die  Einmischung  ihrer  geistlichen 
Vorurteüe  in  politische  Angelegenheiten  bestritt  und  abwehrte,  die 
fast  alle  in  Anspruch  nahmen.  Sein  wirkliches  System  war  die  MiHtär- 
diktatur,  seine  Macht  war  die  Macht  des  Schwertes.  Aber  der  General 
und  das  Heer  waren  weit  entfernt  davon,  ihre  SteUung  als  eine 
revolutionäre  zu  betrachten.  „Obwohl  sie  auf  keinen  formalen 
Grund  zu  ihrer  Rechtfertigung  sich  berufen  konnten,  so  waren 
doch  ihre  Maßregeln  seit  Einrichtung  der  RepubHk  bis  dahin 
wesentHch  zur  Aufrechterhaltung  der  Rechte  des  Landes  auf 
Vertretung  und  Selbstregierung  bestimmt;  und  die  ÖffentHche 
Meinung  war  einigermaßen  mit  dem  Heere  gegangen,  sowohl  in  ihrem 
Verlangen  nach  einer  vollständigen  und  wirksamen  Körperschaft 
von  Vertretern,  als  in  ihrem  Widerstand  gegen  den  Plan,  wodurch 
das  Rumpfparlament  halb  England  seines  Wahlrechtes  berauben 
wollte"  (Green,  I.e.  279/80).  Sie  ging  auch  weiter  mit  Oliver: 
sein  Wunsch,  eine  geordnete  Verwaltung  (scUlemenl)  einzurichten, 
war  „nicht  nur  gestärkt  worden  durch  die  Triebkraft  der  ÖffentHchen 


364  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Meinung,  sondern  zugleich  durch  das  dringende  Bedürfnis  jedes 
Tages"  (ib.  286).  „Nie  hatte  der  Ruf  eines  englischen  Herrschers 
höher  gestanden"  (301).  Aber  diese  Höhe  war  von  kurzer  Dauer. 
CromwelIv  mußte  noch  erleben,  daß  die  Woge  der  Opposition  gegen 
sein  Regiment  stündlic^stieg,  daß  der  »Strom  der  Meinung«  immer 
stärker  sich  gegen  ihn  kehrte.  ,,Der  gemäßigte  Monarchist  reichte 
dem  Kavalier  die  Hand,  der  stetige  Presbjrterianer  schloß  dem 
gemäßigten  Monarchisten  sich  an  und  ihre  Reihen  wurden  schließHch 
gefüllt  durch  die  Gründer  der  Republik  selber"  (ib.  305).  „Papist 
und  Ungläubiger,  Mystiker  und  Ritualist,  Latitudinarier  (hberale 
Theologen)  und  Presbyterianer,  alle  waren  feindlich"  (ib.).  Die 
schwächliche  Gestalt  des  zweiten  Protektors  gab  der  Begeisterung 
für  die  Republik  den  Rest  und  für  eine  Weile  der  Meinung  für  die 
Restauration  des  legitimen  Königtums  das  entschiedene  Übergewicht. 
Der  neue  König  (Kari,  II.)  sagte  bei  seiner  I^andung:  „Es  ist  meine 
eigene  Schuld,  daß  ich  nicht  früher  gekommen  bin;  denn  ich  finde 
niemand,  der  mir  nicht  sagt,  daß  er  sich  immer  gesehnt  habe  nach 
meiner  Rückkehr."  „Mit  ihr  —  der  Restauration  —  beginnt  das 
moderne  England"  (Green,  ib.  327).  Die  rationalistischen  Ele- 
mente treten  in  den  Vordergrund  des  öffentlichen  Geistes.  Aber  den 
stärksten  Rückhalt  gab  ihnen  noch  der  Schauder  vor  der  Rückkehr 
des  Papsttums,  obschon  die  mächtigste  Partei,  die  der  Whigs,  diese 
nicht  so  sehr  aus  religiösen  Gründen  fürchtete,  wie  aus  Angst  um 
die  Klosterländereien  (abbey  Lands),  die  durch  die  »Reformation«  den 
Magnaten  zugefallen  waren  und  manche  Krautjunker  oder  Händler 
erst  zu  Magnaten  gemacht  hatten.  Diese  Einmütigkeit  kehrte  sich 
in  entscheidender  Weise  gegen  den  letzten  Stuart-König,  der  sich 
durch  seine  Toleranz- Verordnungen  auch  die  torystische  Geistlichkeit, 
die  sonst  passiven  Gehorsam  predigte,  zu  Feinden  machte;  und  diese 
Stimmung  konnte  sogar  einen  großen  Teil  des  Dissent,  der  doch  aus 
jenen  Verordnungen  Befreiung  gewann,  mit  sich  fortreißen.  Jakob 
wollte  ein  Parlament  berufen,  das  die  Toleranz- Verordnung  gesetzlich 
machen  sollte;  zu  diesem  Behuf  setzte  er  eine  Kommission  ein,  um 
die  inkorporierten  Städte  in  seinem  Sinne  zu  reformieren.  Katholische 
und  dissentierende  Bürger  sollten  Anhänger  der  Duldung  in  das 
nächste  Haus  der  Gemeinen  wählen.  „Indessen",  sagt  Rawson 
Gardiner  (A  students  history,  II,  641),  „so  stark  war  die  öffentliche 
Meinung  gegen  den  König,  daß  sogar  diese  neuen  Mitglieder,  die  aus- 
drückUch  gewählt  waren,  für  die  Kandidaten  des  Königs  zu  stimmen, 
als  unzuverlässig  erschienen  und  deswegen  der  Gedanke,  ein  neues 
Parlament  einzuberufen,  einstweilen  fallen  gelassen  wurde."  —  Die 
»glorreiche«    Revolution    begründete    die    englische    Oligarchie,    als 


Axs  Faktor  des  Staatslebens.  —  Die  Öffentuche  Meinung  in  England.     365 

Herrschaft  einer  Bourgeoisie,  worin  der  große  Grundbesitz,  also 
der  Adel  und  sein  linker  Arm,  die  Kirche,  noch  auf  lange  hin  das 
ausgesprochene  Übergewicht  besaßen.  Während  in  den  Haupt- 
ländern des  Kontinents  die  Monarchie  die  Stände  überwand  und  in  den 
Dienst  des  einheitlichen  Staatsgedankens  zwang,  entwickelte  sich  in 
England  ein  planmäßigeres  ständisches  Regiment,  als  sonst  irgendwo 
vorhanden  gewesen  war,  wenn  auch  in  monarchischen  Formen  und 
auf  ökonomisch  modernisierter  Grundlage.  Die  öffentliche  Meinung 
des  Landes  stand  ganz  unter  seinem  Einflüsse.  Mehr  und  mehr  ver- 
sammelte sie  sich  in  der  Hauptstadt,  deren  Geist  aber  mit  den  nahen 
Universitäten  in  starker  Wechselwirkung  blieb.  Eine  neue  Heimstätte 
fand  sie  in  den  »Kaffeehäusern«,  wo  literarische  und  politische  Ange- 
legenheiten einer  täglich  frischen  und  angeregten  Erörterung  unter- 
zogen T;\airden.  Die  kecke  und  dreiste  Kritik,  die  sich  hier  Luft  machte, 
erhöhte  das  Bewußtsein  der  bürgerlichen  Freiheit,  das  zu  gleicher 
Zeit  in  Schriftstellern  wie  Locke,  Addison,  Steei<E  sich  Bahn  brach. 
Die  öffentliche  Meinung  wurde  unter  den  Bann  des  Zauberwortes 
»Freiheit«  gebracht.  Die  mehr  privatrechtliche  als  öffentlichrechtliche 
Tyrannei  der  „Squirearchy"  erschien  gegenüber  dem  Absolutismus, 
der  in  Frankreich  so  glänzend  sich  entfaltete,  als  Freiheit  des  Volkes 
imd  machte  auch  auf  die  unzufriedenen  Elemente  des  Auslandes 
diesen  Eindruck.  Als  solche  fanden  sich  zunächst  wiederum  die  sonst 
einander  widerstrebenden  Schichten  zusammen:  die  adhgen,  die 
um  ihre  beschnittenen  alten  Freiheiten  rangen  und  durch  Ein- 
schränkung der  Monarchie  sie  wiederzugewinnen  hofften,  und  die 
bürgerlichen,  die  solche  Freiheiten  neu  erobern  wollten.  Diese  Einig- 
keit wurde  zwar  durch  die  Schrecken  der  französischen  Revolution 
und  des  napoleonischen  Despotismus  gesprengt;  aber  das  bürgerliche 
Bewußtsein  erstarkte  doch  überall  so  sehr,  daß  nach  einem  Menschen- 
alter —  dem  ersten  des  19.  Jahrhunderts  —  die  öffentliche  Meinung 
in  Frankreich,  wie  in  Deutschland  und  den  Nebenländern,  auf  Eng- 
land als  das  Musterland  eines  Verfassungsstaates  blickte.  Dies 
mußte  das  Selbstbewußtsein,  womit  die  öffentliche  Meinung  Englands 
ohnehin  sich  zu  gefallen  gewohnt  war,  bedeutend  verstärken.  In  der 
Tat  war  längst  der  nationale  Dünkel,  womit  der  Engländer  auf  andere 
Nationen  geringschätzend  hinabzublicken  pflegt^),  durch  ungeheure 

*)  Rawson  Gardiner,  der  tüchtigste  unter  den  englischen  Historikern  im  iQ.Jahrh  , 
•pricht  {H.o.E.  VII,  358)  von  der  Notwendigkeit,  die  im  Jahre  1634  für  England 
offenbar  geworden  sei,  angesichts  der  holländischen  Übermacht  zur  See  und  der  unter 
RiCHBUBU  wachsenden  französischen  Seemacht,  eine  des  Namens  werte  Flotte  zu 
besitzen,  und  dem  Anspruch  Karls  I.  auf  Mare  clausuni.  „Ungeheuerlich  wie  dieser 
Anspruch  war,  traf  er  zu  stark  (appealed  too  stronf^ly)  auf  die  englische  Verachtung 
Ton  Ausländern,  um  ohne  Widerhall  in  englischen  Herzen  zu  bleiben!"  — 


366  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Eroberungen  in  allen  Weltteilen  mächtig  gewachsen.  Er  war  mehr 
und  mehr  der  Hochmut  einer  zur  Weltherrschaft  sich  für  berufen 
haltenden  Nation  geworden.  Zunächst  der  Stolz  des  eigentlichen 
Engländers  gegenüber  den  unterworfenen  oder  angegliederten  Na- 
tionen —  den  Walisern,  den  Iren  und  den  Schotten  —  seines  Inselreichs, 
ist  er  zum  unbedingten  Anspruch  auf  Überlegenheit  und  deren  Aner- 
kennung im  Verhältnis  zu  den  »Eingeborenen«  (natives)  aller  fremden 
Länder  geworden;  und  daran  nehmen  naturgemäß  alle  bewußten 
»Briten«  der  maßgebenden  Schichten  teil.  So  hat  ein  fester  Bestand- 
teil der  britischen  öffentlichen  Meinung  tiefe  Wurzeln  geschlagen. 
Durch  schwere  Kriege,  die  Englands  Aristokratie  mit  seinen  ge- 
worbenen und  gepreßten  Mannschaften  zu  Wasser  und  zu  Lande 
führte,  besonders  durch  den  mehr  als  100 jährigen  Kampf  gegen  den 
französischen  Nebenbuhler,  konnte  sich  dies  Bewußtsein  um  so  mehr 
verstärken,  da  es  nur  durch  den  Abfall  der  Kolonien,  aus  denen  die 
Vereinigten  Staaten  entstanden,  einen  Rückschlag  erfuhr;  sonst 
vermochte  der  unermeßlich  wachsende  Reichtum  Englands  immer, 
den  Endsieg  zu  gewinnen;  die  Bedeutung  der  Seeherrschaft  für  die 
Weltherrschaft  stellte  sich  allzu  klar  an  den  Tag.  So  hat  sich  die 
Meinung,  eine  Nation  höherer  Art,  das  »auserwählte  Volk«  zu  sein, 
in  einen  Glauben  verdichtet,  das  »Dogma  eines  Vierteljahrtausends«, 
wie  ein  deutscher  Gelehrter  (Prof.  D1BE1.IUS)  es  genannt  hat,  ist 
daraus  erwachsen. 

18.  (Reformbill  —  Freihandel.)  Bestimmend  wurden  diese  festen 
Bestandteile  für  die  öffentliche  Meinung  des  18.  und  19.  Jahrhunderts, 
wie  sie  es  im  20.  noch  sind.  Um  1750  aber  treten  sie  in  einen  gewissen 
Gegensatz  gegeneinander:  die  Machtpolitik  wurde  wieder  schärfer 
betont,  das  Verlangen  nach  politischer  Freiheit  regte  sich  in  den 
bürgerlichen  Schichten,  besonders  der  jüngeren,  vom  Parlament  aus- 
geschlossenen Städte  und  Flecken  als  Forderung  der  Reform  wider 
die  herrschenden  Familien:  die  jüngere,  durch  das  Wachstum  der 
Industrie  rasch,  emporgekommene  Schicht  der  Fabrikanten  meldete 
ihre  Ansprüche  an,  nachdem  der  Handel  auch  politisch  immer  mehr 
in  den  Vordergrund  getreten  war.  Bezeichnend  dafür  ist  schon  die 
Verehrung,  die  dem  älteren  Pitt  gezollt  wurde.  „Es  war  nicht  eine 
Popularität  in  der  gesamten  Nation,  von  der  die  Mehrheit  zu  jener 
Zeit  weder  lesen  noch  schreiben,  ebensowenig  eine  politische  Er- 
örterung verstehen  konnte.  Pitts  begeisterte  Verehrer  waren  zu 
finden  unter  den  Kaufleuten  und  Geschäftsinhabern  der  Städte", 
die  an  der  Sittenlosigkeit  und  Korruption  der  feinen  Gesellschaft 
keinen  Teil  hatten  —  so  setzte  »der  große  Commoner«  seine  Macht, 
als  auf  populärer  Unterstützung  beruhend,  der  Macht,  vne  sie  bisher 


Aw  Faktor  des  Staatsi,ebens.  —  Die  Öffentuche  Meinung  in  Engu^d.    367 

auf  parlamentarische  Konnexionen  gegründet  war,  entgegen  (R.  Car- 
diner, A  students  history  III,  751).  Der  geistvolle  SEEI.EY  nennt  ihn 
„den  ersten  Minister  der  öffentHchen  Meinung"  (Inirod.  to  pol.  sctence, 
S.  238).  So  bildete  sich  allmählich,  auch  durch  die  Wirksamkeit  seines 
Sohnes,  dann  infolge  der  Revolution,  des  großen  Krieges,  der  Reaktion, 
der  Teuerung,  endhch  der  französischen  Juli- Revolution,  der  starke 
Strom  der  öffentlichen  Meinung,  der  die  Reformbill  1832  zum  Gesetz 
erhob  ^).  Obschon  die  politische  Freiheit  der  Bürger  bis  dahin  überaus 
mangelhaft,  ja  illusorisch  gewesen  war;  obschon  sie  es  für  die  große 
Menge  blieb,  auch  nach  den  Erweiterungen  des  Wahlrechts  durch  die 
Gesetze  von  1874  und  1885,  so  blieben  doch  über  das  Schlagwort 
der  Freiheit  und  die  Meinung,  daß  man  in  England  mehr  als  irgendwo  — 
außer  etwa  in  den  Vereinigten  Staaten  —  diese  Freiheit  genieße,  die 
Parteien  einig;  sie  bewährte  sich  als  festes,  trotz  vielfacher  scharfer 
Kritik  von  Gelehrten  im  eigenen  I^ande,  unerschüttertes  Stück  der 
heimischen  öffentlichen  Meinung,  die  auch  nach  wie  vor  im  Auslande 
nachgebetet  wurde.  In  dem  Schlagwort  vermischt  sich  der  Stolz  auf 
politische  mit  der  Behauptung  unübertrefflicher  bürgerlicher  Frei- 
heiten, an  die  keine  Staatsgewalt  rühren  dürfe.  Auch  diese  Über- 
zeugung bleibt  noch  ziemlich  fest,  obschon  man  allmählich,  während 
des  19.  und  20.  Jahrhunderts,  dem  Schulzwang,  der  Einkommensteuer, 
den  Fabrikgesetzen  und  anderen  Ausdehnungen  der  Polizeigewalt, 
sodann  trotz  heftiger  Widerstände  dem  Versicherungszwang  — während 
des  Weltkrieges  sogar  der  »Konskription «,  d.  i.  dem  System,  das  wir 
allgemeine  Wehrpflicht  nennen,  und  der  Zwangswirtschaft  in  bezug  auf 
Lebensmittel,  Bebauung  des  Bodens  u.  a.  sich  hat  unterwerfen  müssen. 
Der  moderne  Staat  mit  seiner  charakteristischen  Freiheit  und  Gleich- 
heit war  noch  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  durchaus 
schwach  entwickelt  in  England ;  erst  mit  der  KathoHken-Emanzipation 
1828  begann  der  Begriff  des  Staatsbürgers  wirksam  zu  werden,  und 
diese  erste  Bresche  in  die  Mauer  des  Anglikanismus  zu  legen,  war  eine 
unendlich  mühsame  Arbeit;  wenn  sie  gelungen  sein  werde,  sagte  da- 
mals ein  Lord  Lonsdale,  so  werde  der  ungeteilte  Enthusiasmus 
des  Landes  in  den  Kanal  der  Reform  strömen.  Lecky,  der  dies 
erzählt,  bemerkt  dazu,  viele  Jahre  lang  sei  die  öffentliche  Meinung 
auf  die  Katholikenfrage  konzentriert  gewesen,  und  die  Erfahrung 
lehre,  daß  die  Stärke  der  öffentlichen  Meinung,  die  notwendig  sei,  um 

*)  Dm  alte,  „auf  den  verrotteten  Flecken  und  umfangreichen  Bestechungen 
beruhende"  Unterhaus  hatte  als  vermeintliches  Bollwerk  der  politischen  Freiheit  die 
öffentliche  Meinung  —  anderer  Länder  für  sich;  die  des  eigenen  Landes  keineswegs 
immer.  „Namentlich  in  dem  23  jährigen  Kriege  gegen  die  französische  Republik  und 
Napoleon  ist  die  öffentliche  Meinung  öfter  verzweifelt  und  hat  von  der  . .  .  Regierung 
die  Herstellung  des  Friedens  gefordert."  DklerCck,  Regierung  und  Volkswille,  S.  12. 


368  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

eine  große  organische  Veränderung  in  England  durchzubringen, 
niemals  gleichzeitig  ins  lieben  gerufen  werden  kann  über  zwei  ganz 
verschiedene  Fragen  (Democracy  and  liherty  I,  S.  17).  Schon  im 
Jahre  1827  nannte  die  Westminster  Review  den  Erfolg  das  vielleicht 
denkwürdigste  Ereignis  des  Jahrhunderts,  „als  Beweis  für  die  wachsende 
Kraft  und  Kultur  der  öffentlichen  Meinung**.  Andere  Stücke  der 
öffentlichen  Meinung  sind  zwar  im  Flusse  geblieben,  haben  aber 
doch  einen  hohen  Grad  von  Zähigkeit  und  Konsistenz  gewonnen. 
Von  dieser  Art  ist  der  Glaube  —  wie  wir  hier  wiederum  sagen  dürfen  — 
an  den  Freihandel,  der  zunächst  als  ein  Sieg  über  die  öffentliche 
Meinung,  als  Begründung  einer  neuen  öffentlichen  Meinung  um  die 
Mitte  des  19.  Jahrhunderts  entstanden  war,  und  in  diesen  Hinsichten 
das  merkwürdige  Beispiel  der  Wirkungen  einer  planmäßig  geleiteten 
und  durchgeführten  Propaganda  darstellt.  Deren  Gelingen  war 
sehr  schwer,  und  zuerst  durchaus  unwahrscheinlich,  denn  es  galt, 
das  ganze  politische  Schwergewicht  der  oberen  Zehntausend  zu  über- 
winden, die  zu  jener  Zeit  noch  fast  unumschränkt  das  britische  Staats- 
wesen beherrschten.  Die  gegen  sie,  gegen  die  Klasse  der  Großgrund- 
besitzer —  Nobility,  Gentry  und  Kirche  —  gerichtete  Bewegung  hatte, 
wie  früher  erwähnt,  zwei  Führer,  die  nicht  zu  jenen  Familien  gehörten. 
Unter  ihrem  Einfluß,  und  dann  freilich  noch  mehr  unter  dem  Einfluß 
des  unermeßlichen  Aufschwunges,  den  der  britische  Welthandel  im 
folgenden  Menschenalter  nahm,  wurde  die  Lehre  vom  allein  wohl- 
habend und  irdisch  glücklich  machenden  Freihandel  ein  Evangelium, 
das  als  solches  allen  Völkern  gepredigt  werden  wollte.  Dies  hätte 
wahrscheinlich  auch  dann  keinen  entscheidenden  Erfolg  gehabt, 
wenn  der  CoBDEN-Club  über  die  gleichen  Agitationsmittel  verfügt 
hätte,  mit  denen  es  Cobden  und  Bright  gelungen  war,  die  öffentliche 
Meinung  ihres  eigenen  Landes  zu  bekehren.  Diese  Mittel  zu  betrachten, 
hat  darum  ein  theoretisches  Interesse,  weil  sie  auch  heute  in  solchen 
Bewegungen  angewandt  werden,  wenn  sie  auch  kaum  jemals  wieder 
zu  so  systematischem  Zusammenwirken  gebracht  worden  sind.  An 
erste  Stelle  und  in  ihren  Mittelpunkt  stellte  sich  ein  Verein,  die 
berühmte  Anfi-Corn-Law-League,  die  ihren  Hauptsitz  in  Manchester 
hatte  und  ihre  Zweige  über  das  ganze  Land  hin  ausbreitete.  Das 
zweite  Mittel  stellten  Vorträge  dar,  die  zuerst  in  den  Städten  Eng- 
lands, dann  in  denen  Schottlands,  und,  nachdem  im  Verlauf  von 
4  Jahren  ein  starker  Anhang  in  den  Städten  gewonnen  war,  auch 
auf  dem  Lande  gehalten  wurden;  oft  in  Verbindung  mit  dem 
dritten  Mittel:  großen  Volksversammlungen,  die  nicht  selten, 
weil  Räume  vorenthalten  wurden,  unter  freiem  Himmel  tagten, 
wobei  Lastwagen   als  Rednertribünen   dienten.     Immer   hatten  die 


Aw  Faktor  des  Staatsi^ebens.  —  Die  Öffentuche  Meinung  in  e;ngi,and.    369 

Versammlungen,  so  sehr  als  möglich  einstimmig,  die  vorher  abgefaßten 
Entschließungen  für  schleunige  Abschaffung  der  GetreidezöUe  anzu- 
nehmen.   Bs  war  der  Natur  der  Sache  nach  schwerer,  die  Pächter 
und  Ivandarbeiter  zu  überzeugen,  als  die  Handwerker  und  Krämer 
oder  gar   die   Kaufleute   und   Fabrikherren.     Auch   wurde   erst  im 
4.  Jahre  damit  begonnen,  es  erwies  sich  aber  schon  als  ein  großer 
Gewinn,   die   allgemeine   Aufmerksamkeit   auf   den   Gegenstand 
zu  lenken,  und  jenen  ländlichen  Schichten  die  Erwägung  immer  wieder 
nahe  zu  bringen,  ob  ihr  Interesse  das  gleiche  sei  wie  das  der  Grund- 
eigentümer, den  Zweifel  daran  zu  wecken  und  wach  zu  erhalten. 
Das  4.  Hauptmittel   der  Werbung  bildeten  die  Druckschriften. 
Von  Anfang  an  hatte  die  I^iga  ein  eigenes  Wochenblättchen,  das,  wie 
CoBDEN  sagte,   jede  Silbe   von  seinen  und  seiner   Freunde   Reden 
20  000  Menschen  in  allen  Kirchspielen  des  Reiches  mitteilte.    Aber 
noch  mehr  Wirkung  schrieb  man  der  Verteilung  und  Versendung  von 
Flugschriften  zu.    Diese  geschah  in  immer  zunehmendem  Umfange. 
Am  Schlüsse  des  4.  Jahres  der  Liga  meldete  der  Jahresbericht,  daß 
500  Personen  angestellt  waren  für  die  Verteilung  der  Flugschriften 
von  Haus  zu  Haus,  5  Millionen  Exemplare  waren  an  Wähler  in  Eng- 
land und  Schottland  versandt  worden,  und  insgesamt  —  denn  die 
Zahl  der  Wähler  war  damals  noch  verhältnismäßig  gering  —  mehr 
als  9  Millionen.   Das  5.  Mittel,  zugleich  bestimmt,  wie  mehrere  andere 
Veranstaltungen,   die  Finanzen  der  Liga  zu  verbessern  —  als  sie 
3  Jahre  bestanden  hatte,  waren  100000  £  aufgewandt,  und  noch 
schienen  die  Korngesetze  unbeweglicher  als  je  —  ein  Mittel  also,  um 
zugleich   Geld   zu   machen,    waren    »Bazare«,   damals   noch   etwas 
Neues  und  ein  Gespött  der  Gegner.  Ein  6.  Mittel:  Demonstrationen 
und  öffentliche   Aufzüge.    Viel  Aufsehen   machte   der  Marsch   von 
500   Delegierten,    wohlgekleideten   und   wohlhabenden   Herren,    vor 
das  Haus  der  Gemeinen,  im  Februar  1842,  als  die  Krisis  in  der  Her- 
stellung von  baumwollenen  Waren  ihren  Höhepunkt  erreicht  hatte. 
Der  Premierminister  Sir  Robert  Peel,  derselbe,  der  4  Jahre  später 
die  Abschaffung  der  Korngesetze  selber  in  Antrag  brachte,  wurde, 
als  er  in  seinem  Wagen  ihnen  begegnete,  mit  Zurufen  wie  )^Nieder 
mit   dem  Monopol«,   »Gib  Brot«,   »Sofortige  Abschaffung«,  begrüßt. 
Das  7.  Mittel  setzte  schon  eine  eigene  Tätigkeit  gewonnener  Anhänger 
voraus.    Es  bestand  in  Veranlassung  von  Petitionen  an  das  Parla- 
ment ;  diese  hatten  um  so  mehr  Bedeutung,  weil  sie  das  einzige  Mittel 
der   noch  nicht  wahlberechtigten  Menge  waren,   ihre  Wünsche  und 
Beschwerden  unmittelbar  vernehmbar  zu  machen.    Natürlich  gab  es 
Gegen-Petitionen ;  aber  Cobden  und  Bright  blieben  mit  den  Zahlen, 
die  sie  aufweisen  konnten,  weit  überlegen.    Das  8.  Mittel  bestand 

Töaniei,  Kritik.  24 


370  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

darin,  die  Zahl  der  Parlamentswähler,  auf  die  man  rechnen  konnte, 
auf  Grund  des  geltenden  Wahlrechtes,  dessen  Erweiterung  damals 
jenseits  aller  Erwartungen  war,  zu  vermehren.  Dies  konnte  schon  in 
weitem  Umfange  dadurch  geschehen,  daß  man  die  sehr  vernach- 
lässigten WählerHsten  vollständiger  machte;  dann  aber  geschah  es 
auf  unmittelbare  Art,  indem  man  zu  Wählern  machte,  die  es  bisher 
nicht  waren.  Nach  dem  Reformgesetz  von  1832  hatten  Männer  das 
Wahlrecht,  die  ein  freies  Grundeigentum  im  Werte  von  40  Sh.  jähr- 
lichen Ertrages  ihr  eigen  nannten.  Diese  ließen  sich  schaffen.  In  den 
drei  hauptsächlichsten  industriellen  Grafschaften  waren  schon  Anfang 
1845  auf  diese  Weise  4 — 5000  neue  Wähler  in  die  Listen  eingetragen 
worden.  Das  9.  Mittel  endlich  war  dasjenige,  welches  allein  den 
schließlichen  Erfolg  unmittelbar  bewirken  konnte:  die  Tätigkeit  im 
Parlament  selber,  d.h.  wesentlich  im  Hause  der  Gemeinen.  Die 
Wirkung  aber  hatte  um  so  mehr  den  vorherigen  starken  Erfolg  in 
der  öffentlichen  Meinung  zur  Voraussetzung,  da,  selbst  nachdem  die 
Mehrheit  im  Unterhause  gesichert  war,  der  Widerstand  des  Hauses 
der  Lords  als  des  Bollwerkes  der  großen  Grundeigentümer,  schwer 
überwindbar  gewesen  wäre,  wenn  es  nicht  vor  dem  unsichtbaren 
Bundesgenossen  —  eben  der  öffentlichen  Meinung  —  die  Waffen  zu 
strecken  sich  genötigt  gesehen  hätte.  Kurz  vor  dem  entscheidenden 
Erfolge  schilderte  Cobden  am  27.  Februar  1846  im  Parlament  den 
Stand  der  Dinge,  wie  er  sich  ihm  darstellte.  Er  leugnete,  daß  die 
Gegner  irgendwelche  Wahrscheinlichkeit  hätten,  im  Falle  einer  Auf- 
lösung, die  Mehrheit  zu  gewinnen.  Aber  selbst,  wenn  es  gelänge, 
„was  würde  eine  Mehrheit  von  20 — 30,  die  aus  minderwertigen  Wahl- 
kreisen (pocket  horoughs  and  nomination  counties)  gewonnen  wäre, 
beginnen  angesichts  einer  Minderheit,  die  aus  den  Großstädten  her- 
vorginge ?  Sie  würden  entsetzt  zurückschrecken  vor  der  Lage,  in  der 
sie  sich  befänden.  Die  so  zustande  kommende  Mehrheit  würde  keinen 
Tag  fortfahren  ihre  Ansichten  zu  vertreten,  nachdem  sie  ein  so  uner- 
meßliches moralisches  Übergewicht  der  öffentlichen  Meinung,  wie 
es  wirklich  vorhanden  ist,  vorgefunden  hätten".  Cobdens  Biograph 
bemerkt  dazu:  „kein  Versuch  wurde  damals  oder  später  gemacht, 
seine  schlagende  Feststellung  des  Zustandes,  worin  das  öffentliche 
Bewußtsein  sich  befinde,  abzuschwächen.  Sogar  der  Premierminister 
<Sir  R.  PEEiy)  war  nicht  gefaßt  auf  eine  so  überwältigende  Kraft  der 
öffentlichen  Meinung"  (M0RI.EY,  Life  of  R,  Cobden,  pop.  ed.  S.  357). 
Und  wenige  Tage,  nachdem  die  Abschaffung  zum  Gesetz  erhoben 
war,  am  2.  Juli  1846,  sprach  John  Bright  im  Rate  der  Liga,  zu  dem 
Antrag,  deren  Tätigkeit  nunmehr,  da  der  Erfolg  gesichert,  abzubrechen, 
u.  a. :  „Wir  haben  das  Volk  dieses  Landes  den  Wert  eines  großen 


Als  Faktor  des  Staatslebkns.  —  Die  öffenti,iche  Meinung  in  Engi^and.    371 

Prinzips  gelehrt  .  .  .  Sie  haben  gelernt,  daß  in  der  öffentlichen 
Meinung  eine  Macht  vorhanden  ist,  viel  größer  als  diejenige,  die  in 
irgendeiner  besonderen  Staatsform  enthalten  sein  kann ;  daß,  obschon 
wir  in  diesem  Reiche  ein  System  der  Regienmg  besitzen,  das  demo- 
kratisch (poj>ular)  und  ein  repräsentatives  genannt  wird  —  ein  System, 
das  zienüich  plump  konstruiert  ist  und  nur  mit  vielen  knirschenden 
Reibungsgeräuschen  funktioniert  — ,  daß  doch,  unter  dem  Impuls 
eines  großen  Prinzips,  mit  großer  Mühe  und  mit  großen  Opfern,  alle 
diese  Hindernisse  überwunden  werden,  so  daß  aus  einer  Maschine, 
die  ausdrücklich  ersonnen  ist,  das  Gegenteil  zu  bewirken,  am  Ende 
doch  Gerechtigkeit  und  Freiheit  für  die  Nation  herauskommt  ...**.  — 
Lothar  Bucher  (der  langjährige  Sekretär  Bismarcks)  hat  um  das 
Verständnis  der  öffentlichen  Meinung  sich  Verdienste  erworben. 
Er  weiß,  daß  sie  ein  Proteus  ist,  wegen  des  Unbestimmten,  Unbe- 
stimmbaren ihres  Inhaltes  fast  nie  zu  fassen  und  festzustellen.  Er 
sagt  (»Der  Parlamentarismus  wie  er  ist«  S.  243),  in  England  pflege 
man  (um  das  Jahr  1854)  zwei  typische  Fälle  anzuführen,  um  das 
Wesen  der  öffentlichen  Meinung  zu  beleuchten:  das  Reformgesetz 
von  1832  und  die  Aufhebung  der  Getreidezölle.  BuCHER  wendet  ein: 
„Aber  in  jedem  dieser  Fälle  existierten  doch  zwei  sehr  bestimmte,  sehr 
tätige  und  einander  gerade  entgegengesetzte  öffentliche  Meinungen. 
Wie  hätte  es  sonst  so  langer  hartnäckiger  Kämpfe  bedurft?"  Auch 
meint  er,  es  könne,  gerade  was  das  Ergebnis  von  1846  angehe,  nicht 
gelten,  daß  öffentHche  Meinung  sei,  was  die  Mehrheit  meine.  Denn, 
während  die  Reformbül  auch  die  Unterstütztmg  der  Arbeiter  gehabt 
habe,  so  habe  der  Aufhebung  der  Getreidezölle  diese  gefehlt,  weil 
die  damals  noch  bestehenden  Vereine  der  Chartisten  in  den  schutz- 
zöllnerischen  Grundsätzen  mehr  Verwandtes  mit  ihren  eigenen 
sozialistischen  Theorien  oder  Wünschen  gefunden  haben  als  in  dem 
(später  sogenannten)  Manchestertum.  Es  ist  Bücher  nicht  klar 
geworden,  daß  überhaupt  und  regelmäßig  die  öffentliche  Meinung 
in  Wirklichkeit  Willensmeinung  des  geistig  regsten,  finanziell  stärksten, 
literarisch  einflußreichsten  Teiles  einer  Nation,  der  als  solcher  die 
andersdenkenden  Teile  zu  überschatten  vermag,  ist  und  bedeutet :  nur 
unter  diesem  Gesichtspunkte  wird  man  ihre  Macht  richtig  würdigen  i). 

*)  „Die  öffentliche  Meinung  erzwang  den  Rücktritt  von  North  (1782).  unter- 
stützte den  König  bei  Entlassung  des  Koalitionsministeriums  (1783)  und  gab  dem 
jüngeren  Pitt  eine  Mehrheit  im  Parlament  von  1784,  die  ihn  von  den  Intrigen  des 
Hofes  unabhängig  machte.  Dies  Erwachen  der  Öffentlichen  Meinung  war  nicht  von 
Dauer;  aber  ab  das  18.  Jahrhundert  zu  Ende  ging,  wurde  das  Haus  der  Gemeinen 
unabhängiger;  die  gröberen  Formen  der  Korruption  verschwanden  mit  I^ord  North." 
Anson.  Law  and  Cusiom  of  the  Constitution,  2.  ed.,  II.  37.  Ausdrücklich  sagt  die.ser 
Kenner  der  englischen  Staatsgeschichte,  im  18.  Jahrhundert  sei  das  Haus  der  Ge- 
meinen nicht  „representativi  of  Public  Opinion"  gewesen;  Ib.  137. 

24* 


372  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

19,  (Die  öffentliche  Meinung  im  neuesten  England.)  In  der  Über- 
zeugung von  dem  Heil  und  Kulturfortschritt  des  Freihandels  blieb  die 
öffentliche  Meinung  30  Jahre  lang  unerschüttert.  Seitdem  ist  allmäh- 
lich wieder  eine  Gegenströmung  erstarkt,  die  jene  feste  Burg  zu  unter- 
wühlen vermochte.  Noch  einmal  konnte  die  liberale  Partei  nebst  ihrem 
Anhängsel,  der  Arbeiterpartei,  im  Jahre  1906,  mit  diesem  Stützpunkt 
einen  gewaltigen  Wahlsieg  gewinnen.  Erst  der  Weltkrieg  hat  auch 
auf  diese  Gedankengänge  so  zersetzend  gewirkt,  daß  die  »Tarif reform«, 
wie  die  schutzzöllnerische  Politik  sich  verschämt  nennt,  die  Ober- 
hand gewonnen  zu  haben  scheint.  Die  Abschließung  des  britischen 
Weltreichs  soll  versucht  werden.  Die  große  Frage  ist,  ob  es  gelingen 
wird,  die  inzwischen  so  stark  angewachsene,  so  viel  besser  organisierte 
industrielle  Arbeiterklasse  mit  neuen  Getreidezöllen  zu  versöhnen. 
Sie  ist  zwar  nach  wie  vor  kein  wesentlich  bestimmender  Faktor  der 
öffentlichen  Meinung,  aber  durch  das  allgemeine  Wahlrecht  ist  sie 
nicht  nur  unmittelbar  politisch  wirksam,  sondern  hat  auch  Einfluß 
auf  jene  gewonnen;  wenn  auch  immer  noch  schwächeren  als  sie  etwa 
in  Deutschland  besitzt.  Die  öffentliche  Meinung  in  England  findet 
sich  zurückgezwungen  auf  den  Gedankengang,  den  Sir  Robert  Peei, 
im  Jahre  1842,  also  lange  vor  seiner  Bekehrung  zu  Cobdens  An- 
sichten entwickelte,  da  er  sagte,  es  sei  für  die  Wohlfahrt  aller  Klassen 
seines  Landes  unendlich  wichtig,  dafür  zu  sorgen,  daß  der  Bedarf  an 
Getreide  hauptsächlich  aus  dem  einheimischen  Ackerbau  gedeckt 
werde;  es  lohne  sich,  einen  etwas  höheren  Betrag  dafür  zu  zahlen, 
gleichsam  als  eine  Versicherungsprämie  gegen  das  Unheil,  „das  sich 
ergeben  würde,  wenn  wir  ganz  oder  zum  großen  Teile  für  unsere  Zufuhr 
vom  Auslande  abhängig  würden".  Bekanntlich  ist  Großbritannien 
jetzt  ungefähr  für  vier  Fünftel  seines  Bedarfes  an  Brotkorn  auf  über- 
seeische Einfuhr  angewiesen,  —  Wandelbarer  als  in  den  großen 
Hauptfragen  der  inneren  Politik  hat  sich  die  öffentliche  Meinung 
Englands  zu  wiederholten  Malen  in  Angelegenheiten  der  auswärtigen 
PoUtik  erwiesen.  Die  auswärtige  Politik  ist  bis  in  die  neueste  Zeit 
die  besondere  Domäne  der  regierenden  Familien  des  Landes  geblieben. 
Sie  hatte  darum  bis  vor  kurzem  ihre  eigentliche  Heimstätte  im  Ober- 
hause. Der  Sekretär  des  Auswärtigen  Amtes  ist  fast  immer  ein  Mit- 
glied dieses  Hauses,  also  ein  Peer\  es  war  eine  Ausnahme,  daß  Sir 
Edward  Grey,  der  einer  der  vornehmsten  Familien  der  Oligarchie 
angehört,  es  nicht  war  (er  wurde  erst  bei  seinem  Abgange  in  diesen 
Rang  befördert).  Auch  um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  wurde 
eine  sehr  aktivistische  auswärtige  Politik  durch  einen  Commoner 
geführt,  aber  dieser  Commoner  war  Lord  Pai^merston,  der  als  irischer 
Peer  für  das  Unterhaus  wählbar  war.    Merkwürdig  ist  nun,  wie  um 


Ai^  Faktor  des  Staatsi^ebens.  —  Die  öffenti^iche  Meinung  in  Engi^and.    373 

die  Zeit,  als  Pai^merstons  Einmischungspolitik  in  ihrer  Blüte  stand, 
die  öffentliche  Meinung,  die  kurz  zuvor  noch  Cobden  und  Bricht 
ihr  »Hosianna*  zugerufen  hatte,  über  dieselben  Männer  ihr  »Kreuziget« 
ertönen  Heß.  Die  öffentliche  Meinung  war  dahin  bearbeitet  worden, 
den  Kr  im  krieg  für  einen  notwendigen  und  gerechten  Krieg  zu 
erklären  —  Cobden  und  Bricht  verurteilten  diesen  Krieg  innerhalb 
und  außerhalb  des  Parlamentes  in  der  entschiedensten  und  rücksichts- 
losesten Weise.  „Die  britische  Nation**,  schrieb  Lord  Paxmerston 
in  einem  Privatbriefe,  „ist  einmütig  in  dieser  Angelegenheit;  ich 
sage  einmütig,  denn  ich  bin  nicht  gesonnen,  Cobden,  Bricht  und 
Compagnie  für  etwas  zu  rechnen."  Um  so  auffallender  wird  nun  der 
rasche  Umschwung  der  öffentlichen  Meinung,  obgleich  der  Ausgang 
auch  dieses  Krieges  für  England  günstig  war.  Der  neueste  Biograph 
John  Brichts,  Ch.  Trevei^yan,  stellt  die  Tatsache  fest:  „Während 
Bricht  und  Cobden  (denn  in  diesem  Kampfe  ging  Bricht  voran), 
so  lange  der  Krimkrieg  dauerte,  sich  kaum  vernehmbar  machen 
konnten  —  nachdem  der  Krieg  vorüber  war,  fanden  sie  Glauben." 
Und  er  schreibt  es  ihrem  Einflüsse  zu,  daß  bei  mehreren  späteren 
Gelegenheiten,  wo  England  scheinbaren  Grund  hatte,  sich  einzu- 
mischen, wie  im  Jahre  1864,  diese  Einmischung  unterblieben  sei. 
Nach  einem  Ausspruche  Gi^adstones  habe  man  den  Krimkrieg  nach 
seinem  Abschlüsse  in  einen  Abgrund  des  Odiums  gestürzt,  und  der 
Geschichtsschreiber  WAI.P01.E  meint,  es  sei  schwer  zu  bestimmen, 
ob  die  Gründe  für  jenen  Krieg  oder  die  Dauer  seiner  Ergebnisse  das 
gewesen  sei,  was  am  wenigsten  zur  Größe  des  Ringens  in  ange- 
messenem Verhältnisse  stand.  —  Eine  Wiederholung  dieses  Spektakels 
hat  der  Burenkrieg  1899 — 1903  dargeboten.  Wiederum  war  die 
öffentliche  Meinung  so  gut  wie  einmütig:  die  wenigen  Pro-Boers,  die 
auf  das  Ungerechte  und  Unedle  dieses  Angriffskrieges  hinwiesen, 
wurden  verachtet  und  niedergeschrieen.  Nachdem  der  Krieg  »sieg- 
reich« unter  furchtbaren  Greueln  beendet  war,  konnten  wenige  sich 
der  Einsicht  entziehen,  daß  jene  die  Wahrheit  gesprochen  hatten; 
den  Burenkrieg  öffentlich  zu  verteidigen,  erschien  bald  als  ein  Wagnis. 
Der  Ausfall  der  Parlamentswahlen  im  Januar  1906  wurde  allgemein 
auch  als  Verurteilung  der  gewaltsamen  Erstickung  jener  südafri- 
kanischen Republiken,  und  der  schwach  verhüllten  Sklaverei,  wo- 
durch die  »Sieger*  die  Ausbeutung  der  Goldgruben  des  Transvaal 
sich  zu  sichern  wünschten,  aufgefaßt.  —  Die  öffentliche  Meinung 
wird  auch  in  England  oft  als  die  in  der  Politik  entscheidende  Macht 
dargestellt.  In  Wirklichkeit  ist  sie  hier  wie  überall  ein  Faktor,  dessen 
Einfluß  und  Stärke  je  nach  Umständen  und  je  nach  seiner  eigenen 
Beschaffenheit  verschieden  ist.    Der  Grad  seiner  Festigkeit  ist  der 


374  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Grad  seiner  Stärke.  Je  fester  die  öffentliche  Meinung,  desto  weniger 
vermag  ein  anderer  Faktor  des  politischen  I^ebens  sich  gegen  sie  zu 
behaupten;  je  flüssiger  und  gar  luftartiger,  um  so  eher.  Denn  um  so 
leichter  kann  sie  bearbeitet,  umgestaltet,  ja  umgeweht  werden;  sie 
läßt  sich  nicht  nur  täuschen,  irreführen,  fälschen,  sie  kann  auch,  wie 
eine  allgemeine  Erörterung  zeigen  wird,  gemacht  (fabriziert)  werden. 

Dritter  Abschnitt.    Die  Öffentliche  Meinung 
im  französischen  Staat. 

20,  (Necker  und  die  große  Revolution.)  Jakob  Necker,  der  in 
der  ersten  Phase  der  großen  französischen  Revolution  eine  sehr 
bedeutende  Rolle  gespielt  hat,  eröffnet  seine  im  Jahre  1797  erschie- 
nenen Betrachtimgen  über  diese  Revolution  mit  dem  Satze,  die 
Epoche  einer  großen  politischen  Umwälzung  sei  niemals  die  Zeit, 
die  man  wählen  müsse,  ihre  Geschichte  zu  schreiben;  welchen  Satz 
er  zu  begründen  unternimmt.  Er  wolle  sich  hauptsächlich  angelegen 
sein  lassen,  ihren  moralischen  Fortgang  zu  schildern.  „Ich  habe  eine 
große  Stellung  innegehabt  in  der  Regierung  und  beim  König,  wenige 
Jahre  vor  und  nach  Einberufung  der  General-Stände;  ich  war  folglich 
in  einer  Lage,  worin  man  die  Vorläufer  einer  Revolution,  wenn  es 
deren  wirkliche  oder  ausgesprochene  gibt,  entdecken  kann.  Hiermit 
gebe  ich  wieder,  was  ich  gesehen  habe.  Zuvörderst  die  große  Kraft 
der  öffentlichen  Meinung.  Sie  hatte  mich  außerordentlich 
betroffen;  und  nicht  erst  nach  ihren  Triumphen  sage  ich  das;  denn 
ich  habe  mich  über  den  Gegenstand  verbreitet  in  meinem  Werke  über 
die  Administration  der  Finanzen,  verfaßt  unmittelbar  nachdem  ich 
das  Ministerium  verlassen  hatte,  im  Jahre  1781."  Er  gibt  dann  einen 
Überbück  über  die  Geschichte  der  öffentlichen  Meinung  während 
der  letzten  Jahrhimderte^).  „Ludwig  XIV.  hatte  lange  Zeit  nur  die 
Gimst  der  öffentlichen  Meinung  erfahren,  und  er  fürchtete  sich  nicht 
davor,  sie  in  Ansehen  zu  bringen.  Sie  fügte  zu  dem  Ruhme  des 
Monarchen  eine  größere  Solennität;  und  da  sie  ausschließlich  mit 
ihm  sich  beschäftigte,  so  glaubte  er,  im  Vertrauen  auf  seine  persönliche 
Größe,  daß  die  Könige,  zu  allen  Zeiten,  ihre  Meister  und  ihre  Lenker 
bleiben  könnten.  Er  täuschte  sich.  Die  Bewegung  der  Geister,  die 
Eifersucht  der  Talente,  das  leidenschaftliche  Verlangen  nach  Lob, 
diese  ganze  neue  Erregung  der  Geister,  als  deren  belebendes  Gestirn 
Ludwig  erschien,  erwarb  auf  unmerkliche  Art  eine  Kraft,  die  ihr 


^)  Treitschke  nennt  den  Ausspruch  Napoi^eons  des  Dritten  sehr  richtig, 
in  diesem  Lande  der  Zentralisation  habe  die  öffentliche  Meinung  ohne  Unterlaß 
alles,  das  Gute  wie  das  Böse,  dem  Haupte  der  Regierung  zugeschrieben  (Hist.  u.  pol. 
Aufsätze^  Dritter  Band,  S.  60). 


Ai^  Faktor  des  Staatsijsbens.  —  Im  französischen  Staat.  375 

eigentümlich  wurde;  und  als  dieser  große  Monarch  seinen  Ausgang 
nahm,  da  entwickelten  sich  die  Gedanken  und  die  Gefühle,  die  er 
belebt  hatte,  unabhängiger  geworden,  in  verschiedenen  Gestalten. 
Man  hatte  sich  daran  gewöhnt,  empfunden  zu  werden,  bemerkt  zu 
werden,  und  man  suchte  in  der  Gesellschaft  die  Ermutigungen  und 
die  Belohnungen,  die  man  nicht  mehr  am  Hofe  fand.  In  der  Haupt- 
stadt richtete  daher  die  öffentliche  Meinung  ihre  Herrschaft  auf; 
und  bald  verteilte  sie  dort  Preise  und  Kronen,  die  man  in  Parallele 
brachte  mit  den  Belohnungen,  über  welche  die  Könige  verfügten. 
Der  Regent,  LxnDWiG  XV.  und  sein  Enkel,  jeder  in  der  Weise  seines 
Geistes  und  seines  Charakters,  fühlten  sich  oft  erschüttert  durch 
diese  immer  zunehmende  Autorität,  und  nicht  ohne  Widerstreben 
sahen  sowohl  sie  selber  als  ihre  Minister  sich  in  einer  Art  von  Notlage, 
mit  ihr  zu  verhandeln.  Gern  hätte  man  ihr  überlassen,  als  souveräne 
Herrin  zu  entscheiden  über  Geschmack  und  Geist,  über  Beredsamkeit 
und  angenehme  Talente;  aber  seit  langem  hatte  die  öffentliche 
Meinung  diese  Grenzlinie  überschritten,  und  sobald  als  der  Stand  der 
Dinge  die  Blicke  auf  sich  zog,  scheute  sie  sich  nicht,  mit  Kühnheit 
sowohl  gegen  die  Regierung  als  gegen  ihre  Maßregeln  sich  auszu- 
sprechen. Die  ernsthaften  Bücher  vermehrten  sich,  und  die  Verfasser 
gaben  sich,  vom  Zeitgeist  geleitet,  Erörterungen  hin  über  die  Rechte 
des  Volkes  oder  über  die  Pflichten  der  Staatsverwaltung.  Und  während 
noch,  unter  Ludwig  XIV.,  der  berühmte  Fenei^on  einige  allegorische 
Lektionen  im  Exil  hatte  büßen  müssen,  die  überdies  gemildert  waren 
durch  die  Gewandtheit  des  Hofmanns  und  durch  den  Reiz  einer 
harmonischen  und  poetischen  Sprache,  so  erlebte  man  in  unseren 
Tagen,  daß  eine  ganze  Menge  von  Schriftstellern  ohne  Gefahr,  und 
oft  in  einem  barbarischen  Stil,  die  wichtigsten  Fragen  der  politischen 
Ökonomie  aus  dem  Grunde  behandelten  und  überdies  ungestraft  die 
Fehler  der  Minister  und  die  Irrtümer  oder  die  Sorglosigkeit  der 
höchsten  Stelle  tadelnd  beurteilten.  Sie  wurden  gleichwohl  gelesen 
und  sie  hatten  in  allen  Schichten  ihre  Anhänger  und  Parteigänger." 
Necker  ist  dann,  in  Schilderung  der  unmittelbaren  Vorgeschichte 
wie  des  Verlaufes  der  Revolution  selber,  unablässig  beflissen,  das 
Verhältnis  der  öffentlichen  Meinung  zu  den  Ereignissen  und  den 
Einfluß  zu  beobachten,  den  sie  darauf  gehabt  habe.  So  in  Darstellung 
des  Kampfes  zwischen  der  Regierung  und  dem  Parlament  von  Paris: 
das  Schwanken  Briennes,  der  Fehler,  den  er  gemacht  habe,  einen 
Streit  mit  dem  höchsten  Gerichtshof  anzufangen,  in  einem  Augen- 
blicke, wo  die  Regierung  die  Stütze  der  öffentlichen  Meinung  verloren 
hatte.  „Die  Warnungen,  welche  Brienne  empfangen  hatte  über 
die  Macht  der   öffentlichen  Meinung  und  die  Fügsamkeit,  die  er 


376  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

selber  gegen  sie  gezeigt  hatte,  indem  er  seinen  Steuerplänen  so  rasch 
entsagte,  machten  ihn  doch  nicht  von  seinem  gewagten  Gange  ab- 
wendig**, er  faßte  den  Plan,  die  Gerichtshöfe  in  ihren  lycbens wurzeln 
anzugreifen,  auf  die  offenbare  Gefahr  hin,  die  Nation  mit  ihrer  Sache 
zu  verbinden  (I,  34).  Das  Parlament  von  Paris  hatte  schon  im 
August  1787  die  Berufung  der  Generalstände  verlangt.  „Die  öffentliche 
Meinung,  welche  ihm  seinen  Weg  gewiesen,  belebte  sich,  durch  ein 
so  bedeutendes  Zugeständnis  erregt,  mehr  und  mehr,  und  die  General- 
stände wurden  des  Feldgeschrei,  worin  Paris  und  die  Provinzen  sich 
einigten."  „Die  Regierung  versuchte  diesem  allgemeinen  Votum 
Widerstand  zu  leisten,  dann  gab  sie  ihm  allmählich  nach"  (41).  Auf 
Briennes  Sturz  folgte  Neckers  eigenes  zweites  Ministerium  (anno 
1788).  Er  nennt  sich  berufen  durch  die  öffentliche  Meinung,  unter- 
stützt von  dieser  in  der  Leitung  der  Finanzen.  Kr  verteidigt  sich 
gegen  die  Vorwürfe,  die  man  ihm  gemacht  hat,  weil  er  den  Monarchen 
nicht  bewogen  habe,  von  Einberufung  der  Stände  Abstand  zu  nehmen. 
„Keine  Illusion,  kein  Prestige  hätte  die  öffentliche  Meinung  ge- 
blendet, und  rasch  hätte  sie  ihr  Gericht  gehalten  über  den,  der  aus 
unbedachtem  Ehrgeiz  seine  Wissenschaft  und  seine  Kräfte  allein 
an  die  Stelle  der  Aufklärung  (lumieres)  einer  ganzen  Nation  und 
ihrer  Allmacht  hätte  setzen  wollen**  (52).  „Die  Berufung  der  Ver- 
treter der  Nation  war  beschlossen,  der  Monarch  hatte  die  Ver- 
pflichtung übernommen,  und  die  öffentliche  Meinung  stand  aufrecht 
da,  um  ihn  zu  nötigen,  sein  Versprechen  zu  halten'*  (70).  Necker 
entwickelt,  wie  seit  der  letzten  Ständeversammlung  (von  1614)  alles 
anders  geworden  sei:  die  Sitten,  die  Geistesverfassung,  die  Gefühle 
der  Furcht  oder  des  Respektes  vor  der  königlichen  Macht,  das  Maß 
der  Kenntnisse,  Natur  und  Ausdehnung  des  Reichtums;  „und  vor 
allem,  eine  Autorität  hatte  sich  erhoben,  die  vor  zwei  Jahrhunderten 
nicht  vorhanden  war,  und  mit  der  man  notwendigerweise  verhandeln 
mußte,  die  Autorität  der  öffentlichen  Meinung**  (yy).  Eingehend 
und  scharfsinnig  erörtert  er  die  Verhältnisse  zwischen  den  drei  Ständen 
und  den  siegesgewissen  Aufstieg  des  Tiers,  der  sich  am  10.  Juni 
zuerst  als  Aktiv- Versammlung,  bald  nachher  als  Nationalversammlung 
konstituierte.  Der  Adel  trug  sich  mit  Plänen,  dem  entgegenzutreten, 
er  setzte  sich  dem  Verdacht  aus,  daß  er  den  König  bewegen  wolle, 
eine  Versammlung  aufzulösen,  worin  der  dritte  Stand  mit  so  vieler 
Kraft  sich  geltend  machte.  „Die  Verblendung  war  außerordentlich. 
Wie  hätte  der  König,  der  eben  der  Allmacht  der  öffentlichen  Meinung 
gehorcht  hatte,  indem  er  eine  Nationalversammlung  einberief,  so 
rasch  eine  genügende  Autorität  erwerben  sollen,  um  dieser  selbigen 
Macht  im  Augenblicke  ihrer  größten  Energie  entgegenzutreten,  im 


Ai^  Faktor  bms  Staatsi^bens.  —  Im  französischen  Staat.  377 

Augenblicke,  wo  sie  gehalten  wurde  durch  die  Vereinigung  der  Ver- 
treter der  Nation,  im  Augenblicke,  wo  alle  Hoffnungen  noch  in  ihrer 
ersten  Glut  entzündet  waren?'*  (242).  Necker  gab  Ludwig  den  Rat, 
die  loKönigliche  Sitzung«  (am  14.  Juli)  zu  halten.  Er  begründet  diesen 
Rat  u.  a.  wie  folgt:  „Der  Monarch  mußte,  indem  er  mit  Pomp  sich 
den  Generalständen  zeigte,  auf  eine  bestimmtere  und  ausgedehntere 
Art,  als  er  bisher  getan,  seine  Interessen  für  das  öffentliche  Wohl 
und  seine  besonderen  Neigungen  zugunsten  des  Volkes  kundgeben; 
er  mußte  es  sowohl,  um  der  Nation  Vertrauen  einzuflößen  in  die 
wahren  Gefühle  seines  Herzens,  als  auch,  um  seinen  liberalen  Ge- 
sinnungen ein  Gepräge  der  Echtheit  zu  geben,  das  den  Auslegungen 
der  Verleumdung  zu  trotzen  vermöchte ;  er  mußte  es  ferner,  um  seiner 
Autorität  neue  Parteigänger  und  neue  Freunde  zu  gewinnen  und 
um  mit  Vorteil  gegen  die  Anstrengungen  einer  Partei  zu  kämpfen, 
die  dadurch,  daß  sie  der  öffentlichen  Meinung  den  Hof  machte,  sich 
zu  ihrem  Meister  machen  wollte  und  Gesetze  in  ihrem  Namen  zu 
geben  wünschte'*  (258).  NeckeR  beruft  sich  darauf,  daß  er  alles 
getan  habe,  um  der  Regierung  die  Stütze  der  öffentlichen  Meinung 
zu  erhalten.  „Ich  riet  ganz  genau,  was  hier  zu  gewinnen  notwendig 
war,  und  nichts  mehr  als  das.  Man  durfte  sich  auf  mich  verlassen 
für  eine  solche  Würdigung ;  und  sicherlich,  ich  kannte  sie  besser,  diese 
öffentliche  Meinung,  ich  kannte  sie  besser  als  die  Hofschranzen,  die 
seit  langer  Zeit  mit  ihr  auf  gespanntem  Fuße  lebten"  (283).  Er 
wollte  sogleich  nach  der  Seance  royale  zurücktreten;  der  König  und 
die  Königin  überredeten  ihn,  davon  Abstand  zu  nehmten.  Er  wollte 
nun  um  so  bewußter  sich  auf  den  dritten  Stand  stützen,  der  sein 
Bleiben  gefordert  hatte;  er  erklärte  diesem,  daß  er  nicht  lange  mehr 
bleiben  werde,  wenn  sie  fortführen,  sich  von  der  Regierung  zu  trennen, 
und  wenn  sie  sich  weigerten,  mit  ihr  die  Mittel  der  Versöhnung  zu 
suchen,  die  den  inneren  Frieden  sichern  und  den  Generalständen 
einen  regelmäßigen  Fortgang  geben  konnten  (312).  Die  Vertreter 
des  Tiers  machten  ihm  große  Versprechungen;  und  Necker  meint, 
sie  hätten  diese  vielleicht  gehalten,  wenn  nicht  der  Hof,  üblen  Rat- 
gebern folgend,  Maßregeln  ergriffen  hätte,  die  notwendigerweise  den 
Argwohn  nähren  und  Mißtrauen  säen  mußten.  „Der  König  hatte 
inzwischen,  da  er  mit  solcher  Entschiedenheit  in  mich  drang,  ihm 
zur  Seite  zu  bleiben,  mich  überzeugt,  daß  er,  durch  den  23.  Juni 
gewarnt  vor  der  Angriffs-  und  Widerstandskraft  der  öffentlichen 
Meinung,  meine  Hilfe  in  Anspruch  nahm,  um  eine  so  wertvolle 
Bundesgenossin  und  so  gefährliche  Feindin  wiederzuge- 
winnen" (313).  Necker  hielt  um  diese  Zeit  sich  selber  für  fähig,  den 
Abgeordneten  des  dritten  Standes  diese  Macht  streitig  zu  machen. 


378  Empirischb  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Am  14.  Juli  geschah  sein  Sturz,  zugleich  mit  Entlassung  von  drei 
anderen  Ministern,  die  damals  die  öffentliche  Gunst  für  sich  hatten, 
zugleich  mit  Entsendung  von  Regimentern  nach  Versailles.  In  Paris 
und  anderen  Großstädten  wurde  eine  Bürgerwehr  zur  Verteidigung 
der  Freiheit  ins  I^ben  gerufen,  die  später  so  berufene  Nationalgarde. 
„So  wurde  fast  in  einem  Augenblick  das  Lebensprinzip  der  königlichen 
Autorität  zerstört;  denn  eine  Autorität  ist  nichts  ohne  die  Kraft, 
die  ihr  als  Stütze  dient .  .  .  (Ergebnis  des  unpolitischen  Verhaltens 
unbesonnener  Ratgeber  des  Monarchen).  Niemals  war  ein  Augenblick 
schlechter  gewählt,  um  der  öffentlichen  Meinung  zu  spotten  und  zu 
versuchen,  ihr  die  Stirn  zu  bieten.  Niemals  war  sie  wachsamer,  nie- 
mals kraftvoller  und  ihrer  Macht  gewisser  gewesen.  Man  erwartete 
mit  immer  wachsender  Teilnahme  die  Verhandlungen  einer  solennen 
Versammlung,  die  in  ihren  Händen  das  Geschick  Frankreichs  zu 
halten  schien"  (II,  13).  „Ein  einziger  Tag  kann  die  Ideen  zerstören, 
die  den  menschlichen  Größen  als  Pfeiler  dienen;  ein  einziger  Tag 
kann  den  gewaltigen  Koloß  der  Meinimg,  in  welche  Höhe  auch  die 
Zeit  ihn  erhoben  hat,  umstürzen"  (II,  25).  Die  Geschichte  wird  den 
ersten  Ständen,  insbesondere  dem  Adel,  nicht  verzeihen.  „Sie  wird 
ihnen  vorwerfen,  nicht  bemerkt  zu  haben,  daß  die  Vergangenheit  auf 
keine  Weise  der  Gegenwart  glich,  und  daß  Geistlichkeit,  Adel,  Dritter 
Stand,  Hof,  die  Großen,  die  königliche  Autorität,  die  Verteilung  des 
Reichtums,  die  Verbreitung  der  Aufklärung,  kurz  der  National- 
charakter und  die  öffentliche  Meinung,  daß  alles  das  verändert  war 
seit  200  Jahren"  (II,  39).  Im  ferneren  Verlaufe  seiner  Erzählung,  die 
bis  zur  Einführung  der  Verfassung  des  Jahres  III  (1795)  geht,  über 
welche  Necker  den  Stab  bricht,  spricht  er  weniger  und  mit  schwächeren 
Akzenten  von  der  öffentlichen  Meinung,  hin  und  wieder  von  ihrer 
»Erschlaffung«  (II,  235,  III,  352).  Aber  bei  seiner  erbitterten  Schil- 
derung des  Konvents  und  der  Terreur  bemerkt  er,  daß  trotz  der 
Schliche  und  der  Unverschämtheit,  womit  das  Komitee  des  Salut 
Public  (der  »Wohlfahrtsausschuß«)  sich  in  Gunst  zu  setzen  bemüht 
war,  die  öffentliche  Meinung  nicht  gezögert  habe,  in  durchschlagender 
Weise  sich  auszusprechen;  „ein  allgemeiner  Schrei  ließ  sich  ver- 
nehmen und  zwang  die  Versammlung,  den  Schleier  zu  zerreißen,  den 
sie  auf  Mißbräuche  der  Gewalt  hatte  werfen  wollen,  zu  denen  sie  so 
lange  als  ruhiger  Zuschauer  sich  verhalten  hatte"  (III,  82).  In  den 
letzten  Abschnitten  des  Werkes,  die  ganz  theoretisch  sind,  begegnen 
manche  allgemeine  Anmerkungen  über  die  öffentliche  Meinung, 
worauf  in  späterem  Zusammenhange  zurückzukommen  sein  wird. 
21.  (MiRABEAU,  SlfiyfiS  u,  a.)  Auch  bei  anderen  Zeitgenossen 
der  großen  Revolution  finden  wir  die  Bedeutung,  welche  die  öffentliche 


Ai^  Faktor  des  Staatsi^bens.  —  Im  französischen  Staat.  379 

Meinung  in  ihr  und  schon  vor  ihr,  als  Vorbereitung,  gewonnen  habe, 
vielfach  gewürdigt.  VorzügUch  merkwürdig  ist,  wie  Neckers  über- 
legener Gegner  Mirabeau  nicht  minder  eifrig  beflissen  ist,  die 
öffentliche  Meinung  zu  erkennen  und  in  seine  politischen  Rechnungen 
einzustellen.  Seine  kleinen  Denkschriften  für  den  Hof  sind  angefüllt 
mit  Hinweisungen  auf  die  Bedeutung  der  öffentlichen  Meinung  und 
mit  Entwürfen,  in  einem  für  die  Monarchie  günstigen  Sinne  auf  sie 
einzuwirken.  „Ich  habe  oft  gesagt,"  heißt  es  in  der  20.  dieser  Denk- 
schriften (vom  24.  August  1790),  „daß  man  die  Art  des  Regierens 
ändern  müsse,  wenn  die  Regierung  nicht  mehr  dieselbe  ist.  Die  öffent- 
liche Meinung  hat  alles  zerstört,  die  öffentliche  Meinung  muß  wieder- 
herstellen. Man  kann  die  öffentliche  Meinung  nicht  entscheidend 
bestimmen  (determiner)  außer  durch  Führer  der  Meinung;  man  wird 
in  Zukunft  nicht  über  die  große  Menge  verfügen  können,  außer  durch 
die  Popularität  einzelner  Männer,"  und  in  der  21.  (i.  Nov.  1790), 
wo  er  Necker  scharf  kritisiert,  heißt  es  u.  a. :  „Br  beherrscht  nicht 
mehr  die  öffentliche  Meinung";  in  der  23.  (7.  Nov.):  „Man  hat  oft 
gesagt,  und  ich  scheue  mich  nicht,  es  zu  wiederholen,  daß  die  öffentliche 
Meinung  das  einzige  Bereich  (ressort)  ist,  das  der  Regierung  bleibt, 
daß  der  einzige  Minister,  der  seines  Platzes  würdig,  derjenige  ist,  der 
sich  auf  den  Boden  der  Tatsachen  stellt  und  vermöge  der  Mittel, 
die  noch  in  seiner  Macht  sind,  diese  Meinung  zunächst  zu  leiten, 
nachher  zu  meistern  versteht:  durch  Anstellung  der  gescheitesten 
Männer  und  durch  alle  Werkzeuge  des  Einflusses."  Als  ein  des  Er- 
folges beinahe  sicheres  Mittel  dieser  Art  empfiehlt  er  eine  offiziöse, 
sehr  billig  zu  verkaufende  Zeitung  (qui  sans  porter  le  cachet  suspect 
du  ministire,  servil  pourtant  son  ouvrage).  Die  29.  Schrift  handelt  von 
den  Mitteln,  die  Verfassung  zu  berichtigen,  unter  Erhaltung  aller 
derjenigen  Bestandteile,  die  der  Nation  und  dem  Monarchen  nützlich 
seien.  Auch  dafür  hänge  alles  von  der  richtigen  Leitung  der  öffent- 
lichen Meinung  ab.  Man  müsse  die  Provinzen  durch  geschickte  Leute 
bereisen  lassen;  „ihre  Korrespondenz  würde  das  Thermometer  der 
Meinung  in  jedem  Departement  und  in  jeder  wichtigen  Gemeinde 
anzeigen,  würde  erkennen  lassen,  welche  Bürger  es  sind,  auf  deren 
Stimmen  es  ankommt"  usw.  „Es  ist  unnötig,  zu  bemerken,  daß 
dieser  Gang  sehr  langsam  sein  muß,  weil  die  öffenüiche  Meinung  in 
einer  Zeit  der  Revolution  außerordentlich  vorsichtig  behandelt 
werden  muß,  da  man  sie  sammeln  muß,  ehe  man  sie  stärkt,  und  ihr 
vielmehr  beistehen,  als  sie  aufregen  muß  ..."  „Je  nachdem  die 
Öffentliche  Meinung  der  Nationalversammlung  günstig  oder  entgegen 
wäre,  würde  man  handeln,  um  den  Gang  der  Dinge  zu  bcsclileunigen 
oder  zu  verlangsamen  ..."   Nicht  solle  man  die  Versammlung  durch 


380  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

die  öffentliche  Meinung  fortjagen  lassen,  das  würde  alles  verderben; 
„es  ist  vielmehr  nützlich,  daß  sie  so  lange  bleibt,  bis  die  Unzufrieden- 
heit sehr  ausgeprägt  ist,  wenn  man  will,  daß  diese  Meinung  Einfluß 
gewinne  auf  die  Wahl  des  zweiten  gesetzgebenden  Körpers  und  auf 
die  Antriebe,  die  er  aus  den  Provinzen  empfangen  wird,  auf  die  Be- 
fugnisse, die  ihm  gegeben  werden  sollen,  auf  die  Art,  wie  er  sie  erfüllen 
wird  .  .  ."  In  der  36.  Denkschrift  (24.  Dez.  1790)  triumphiert  Mira- 
BEAU  über  den  Rücktritt  des  Ministeriums,  „ich  halte  sie  für  fort- 
geschickt durch  den  absolutesten  aller  Tyrannen,  die  öffentliche 
Meinung,  und  durch  die  gebieterische  Notwendigkeit."  Die  47.  Denk- 
schrift, die  umfangreichste  (ein  „Abriß  der  I^age  Frankreichs  und  der 
Mittel,  die  öffentliche  Freiheit  mit  der  königlichen  Autorität  zu  ver- 
söhnen") gibt  einen  systematischen  Plan  zur  Rettung  der  Gesellschaft, 
wie  MiRABEAU  sie  dachte.  Er  zählt  eine  Menge  Hindernisse  auf,  an 
erster  Stelle  die  Unentschlossenheit  des  Königs,  an  zehnter  die  Richtung, 
welche  die  öffentliche  Meinung  unmerklich  einschlage  nach  dem 
Parteigeist  hin ;  in  der  Ausführung  nennt  er  es  eins  der  schlimmsten : 
„Das  ärgste  Übel  wäre  ohne  Zweifel,  wenn  die  öffentliche  Meinung  ent- 
schieden einen  solchen  Kurs  einschlüge;  denn  welches  Mittel  bliebe 
dann  ?  Wie  sollte  man  die  Bürger  lenken,  die  weder  hören  noch  auf- 
geklärt werden  wollten?  Die  übertriebenen  Werke  gegen  die  Revo- 
lution, z.  B.  das  von  Cai^onne,  sind  durchaus  geeignet,  ein  solches 
Restdtat  hervorzubringen,  und  das  beweist,  daß  man,  wenn  man 
versucht,  durch  Schriften  auf  die  Meinung  der  Provinzen  einzuwirken, 
sich  die  größte  Mühe  geben  muß,  sie  hinlänglich  mit  Patriotismus 
zu  tränken,  die  Versammlung  mehr  zu  loben  als  zu  kritisieren,  die 
Aufmerksamkeit  des  Volkes  ausschließlich  auf  die  Dekrete  zu  lenken, 
die  offensichtlich  dem  Interesse  aller  entgegen  sind."  Und  er  fügt 
sehr  charakteristisch  hinzu:  „die  allergrößte  Geschicklichkeit,  die 
größten  Begabungen  sind  notwendig,  damit  dies  Mittel  des  Erfolges 
nicht  eine  neue  Gefahr  werde."  Eingehende  Vorschriften  gibt  alsdann 
der  kluge  Politiker,  wie  man  das  Ansehen  der  Versammlung  unter- 
graben könne,  wie  man  auf  sie  selber,  wie  auf  die  Meinung  in  den 
Provinzen,  wie  auf  Paris  wirken  müsse  .  .  .  „Es  wird  oft  vorkommen, 
daß  die  Journalisten,  deren  Schriften  man  dirigieren  kann,  nicht 
genügen  werden,  um  die  öffentliche  Meinung  zu  bestimmen ;  besondere 
Werke  werden  da  notwendig  sein  ..."  „Die  meisten  verwaltenden 
Körperschaften  des  Reiches  werden  viel  weniger  irregeführt  durch 
die  öffentliche  Meinung  als  daß  sie  schwach  ihr  gegenüber  sind :  sie 
möchten  dem  Volke  Widerstand  leisten,  vielleicht  sogar  sich  be- 
schweren über  die  Versammlung;  aber  sie  haben  dazu  weder  die  Kxaft 
noch  die  Freiheit ..."   Der  Plan  enthält  dann  Anweisungen,  wie  die 


Als  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  französischen  Staat.  381 

beiden  Chefs  eines  einzurichtenden  Atelier  de  Police  täglich  von  Herrn 
DE  MoNTMARiN  einen  Bericht  über  den  Etat  de  Paris  einreichen  sollen, 
darin  über  die  Nationalversammlung,  die  Jakobiner,  deren  Häupter, 
über  den  Klub  von  1789,  über  den  monarchischen  Klub,  über  öffent- 
liche Plätze,  Kaffees,  Theater,  Klubs,  Promenaden,  über  M.  DE  Lafa- 
YETTE,  die  Nationalgarde,  .  .  .  Arbeiter,  Geistliche,  Journalisten  .  .  ., 
den  König,  die  Königin,  die  öffentliche  Meinung  usw.  Ebenso  will  er 
ein  Atelier  des  Ouvrages,  d.  h.  ein  Bücher-Preßbureau  einrichten, 
und  führt  die  früher  angedeuteten  Gedanken  aus,  Emissäre  zur 
Berichterstattung  über  das  ganze  I^and  zu  senden:  die  »Reisenden 
ersten  Ranges«  sollen  zunächst  beobachten:  i.  den  gegenwärtigen 
Stand  der  öffentlichen  Meinung  über  die  Revolution  und  über  die 
Verfassung;  2.  welche  Leute  am  meisten  Einfluß  auf  diese  Meinung 
haben;  3.  welche  Tendenz  in  den  neuen  Verwaltungskörperschaften, 
den  Wahlkörpern  und  den  Gerichtshöfen  zu  bemerken  sei?  Und 
zum  ersten  Punkte  will  er  untersucht  wissen:  a)  wie  die  öffentliche 
Meinung  über  die  Revolution  im  allgemeinen,  über  ihre  Notwendigkeit 
und  ihre  Wohltaten  denke,  wie  über  die  Dauer  der  Verfassung  und 
über  ihre  Fehler,  wie  endlich  über  die  allgemeine  und  vorbehaltlose 
Billigung  aller  Dekrete  (gemeint  sind  offenbar  die  des  Königs)  und 
über  die  Unvollkommenheit  und  sogar  die  Mißbräuche  einiger  neuer 
Gesetze?,  b)  in  betreff  eines  jeden  dieser  Punkte,  aus  welchen  Ele- 
menten die  öffentliche  Meinung  bestehe,  d.  h.  aus  welcher  Klasse 
der  Bürger  sie  gebildet  sei?  c)  in  welchem  Verhältnisse  die  Mehrheit 
zur  Minderheit  stehe;  z.  B.  ob  die  der  öffentlichen  Meinung  entgegen- 
gerichtete Meinung  ein  Drittel  oder  ein  Viertel  oder  welchen  anderen 
Bruchteil  der  Gesamtheit  für  sich  habe  ?  Ob  man  von  Mehrheit  oder 
Minderheit  rede,  es  wird  bezeichnet  werden  müssen,  in  welchen  Ver- 
hältnissen darin  Adel,  Geistlichkeit,  die  alte  Beamtenschaft,  die  Hof- 
leute, die  Militärs,  die  wohlhabenden  Bürger,  die  Kaufleute,  die 
Handwerker  und  die  Bauern,  die  Bewohner  der  Städte  und  die  des 
flachen  Landes  vertreten  sind?  —  Zum  zweiten  Punkte  will  der 
Staatsmann,  daß  ermittelt  werde:  a)  welche  Leute  am  meisten  teil- 
gehabt haben  an  der  Revolution  und  ihren  Kredit  eingebüßt  haben, 
b)  welche  in  diesem  Augenblicke  am  meisten  Popularität  genießen 
unter  den  Patrioten?  c)  welche  am  meisten  Einfluß  auf  die  Unzu- 
friedenen des  Klerus,  auf  die  Unzufriedenen  des  Adels,  auf  die  Unzu- 
friedenen der  Gemeinen  und  auf  diejenigen  haben,  die,  obwohl  sie  die 
Revolution  lieben  und  die  Verfassung  annehmen,  gleichwohl  mit 
einer  Menge  von  Dekreten  der  Versammlung  unzufrieden  sind.  „Es 
wird  notwendig  sein,  insbesondere  alle  diejenigen  Dekrete  zu  be- 
merken, mit  denen  man  am  wenigsten  zufrieden  ist;  die  Beweggründe 


382  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

anzuzeigen,  die  man  anführt  für  die  Beschwerden  darüber;  und  das 
genaue  Verhältnis  zwischen  denen,  die  solche  sich  gefallen  lassen 
und  denen,  die  eine  Abänderung  wünschen;  d)  man  muß,  wenn  man 
von  einflußreichen  Leuten  redet,  diejenigen,  die  da  fähig  sind,  Werke 
zu  verfassen,  die  Meinung  zu  gestalten,  zu  propagieren  imd  zu  diri- 
gieren, von  denen  unterscheiden,  die  da  nur  durch  ihren  Eifer  und 
durch  ihr  Betragen  die  Volksgunst  erworben  haben;  e)  man  muß  den 
Charakter  jedes  einflußreichen  Menschen  schildern,  sein  Alter,  seinen 
Stand,  seine  Sitten,  seine  Talente,  Vermögen,  Passionen,  Recht- 
schaffenheit, Fehler,  Elugheit,  Beziehungen  sowohl  in  den  Provinzen 
als  in  Paris,  seine  geheimen  Ansichten,  sein  Interesse,  seine  Hoff- 
nungen und  seine  Bedürfnisse  ermitteln.  Zu  3.  sollen  die  Kund- 
schafter auf  folgende  Fragen  antworten:  a)  welches  ist  die  Meinung 
jedes  Mitgliedes  der  Körperschaften  über  alle  Gegenstände  der 
öffentlichen  Meinung?  b)  wie  steht  es  mit  ihrer  Popularität  und 
ihrem  Einflüsse?  c)  beobachten  sie  als  Körperschaften  genau  die 
Dekrete  der  Nationalversammlung,  oder  übertreten  sie  diese,  sei  es 
aus  Unkenntnis  oder  aus  anderen  Gründen?  d)  sind  sie  zufrieden 
mit  der  Abhängigkeit,  worin  die  Nationalversammlung  sie  hält,  oder 
wünschen  sie,  ihre  Befugnisse  zu  vermehren?  e)  sind  alle  Körper- 
schaften des  gleichen  Departements  einmütig,  oder  sind  sie  einander 
entgegen  und  in  bezug  auf  welche  Punkte?  f)  stehen  sie  in  Be- 
ziehungen mit  den  verwaltenden  Körperschaften  anderer  Departe- 
ments? g)  von  welchen  Mißlichkeiten  fühlen  sie  sich  am  meisten 
getroffen  in  den  neuen  Gesetzen  ?  h)  welchen  Einfluß  hat  jede  dieser 
Körperschaften  auf  die  öffentliche  Meinung  ?  i)  welche  sind  die  ein- 
flußreichsten Mitglieder,  sei  es  in  bezug  auf  ihre  Körperschaften  oder 
auf  die  öffentliche  Meinung  ?  —  Zweimal  wöchentlich  soll  über  alle 
diese  Fragen  Bericht  erstattet  werden  und  außerdem  noch  eine  Reihe 
von  Einzelfragen  beantwortet  werden,  an  deren  Spitze  steht:  „welche 
ist  die  öffentliche  Meinung  über  die  Intentionen  Ihrer  Majestäten?, 
über  die  Art  ihres  Verweilens  in  Paris?,  über  die  Notwendigkeit  der 
monarchischen  Regierung?,  welchen  Eindruck  glaubt  man,  daß  eine 
Reise  des  Königs  in  die  Provinzen  hervorbringen  würde?  Es  folgen 
solche  Einzelfragen  über  die  Nationalversammlung,  über  Journalisten, 
über  das  Heer,  die  Nationalgarden,  die  Jakobiner  und  andere  Klubs, 
die  Anarchie,  die  Steuern,  das  Ministerium  (welches  ist  die  öffentliche 
Meinung  über  das  Ministerium  und  über  jeden  einzelnen  Minister?), 
über  Paris,  über  die  Assignaten,  die  Güter  der  Geistlichkeit,  die 
Verfassung  im  allgemeinen,  die  Bildung  der  neuen  gesetzgebenden 
Körperschaft,  deren  Macht,  und  über  einzelne  Begebenheiten.  — 
Aus  diesen  Instruktionen  könnte  vielleicht  auch  heute  ein  Staatsmann 


Ai^  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  französischen  Staat.  383 

lernen.  Sie  zeigen,  wie  Mirabeau  nicht  nur  die  Macht  und  Bedeutung 
der  öffentlichen  Meinung  kannte,  sondern  auch  die  Aufgabe  erkannte, 
sie  zu  lenken  und  zu  bestimmen,  und  daß  er  die  Methoden  scharf  in 
Erwägung  gezogen  hatte,  den  Proteus  zu  bezwingen.  Auch  für  die 
Geschichte  der  Theorie  sind  diese  Gedanken  beachtenswert,  im  ge- 
hörigen Zusammenhange  wird  darauf  zurückzukommen  sein.  Noch 
einen  dritten  berühmten  und  mitwirksamen  Zeitgenossen  der  großen 
Revolution  vernehmen  wir  hier,  der  dem  Genius  der  öffentlichen 
Meinung  seine  Huldigungen  dargebracht  hat:  den  Abb6  Si£y£s.  In 
der  anonymen  Schrift  aus  dem  Jahre  VIII  „Des  opinions  politiques 
du  citoyen  Sieybs  et  de  sa  vie  comme  komme  public*'  heißt  es  (p.  10), 
der  Jünger  LocKEs,  Condillacs  und  Bonnets  habe  sich  frei  gemacht 
von  jeder  Art  abergläubischer  Ideen  und  Empfindungen  und  sei 
erstaunt  gewesen,  als  er  die  Welt  kennen  lernte,  zu  finden,  daß  sie  in 
dieser  Hinsicht  weiter  fortgeschritten  war,  als  er  vermutet  hatte.  „Der 
Mangel  an  Gleichgewicht,  der  sich  bemerken  ließ  zwischen  der 
öffentlichen  Meinung  und  der  Meinung  der  I^eute  seines  Standes, 
war  auf  einen  Punkt  gekommen,  daß  eine  nahe  Explosion  ihm  unaus- 
weichlich schien.  Was  für  eine  soziale  Ordnung,  sagte  er  oft,  wo  man 
die  Fortdauer  des  14.  Jahrhunderts  mitten  in  den  Fortschritten  des 
18.  erblickt!'*  —  So  heißt  es  in  jener  Flugschrift  „Was  ist  der  dritte 
Stand  ?'*,  die  als  eine  schmetternde  Trompete  in  die  Morgendämmerung 
der  Revolution  hinaustönte:  „Die  Bürgschaft  der  öffenüichen  Frei- 
heit kann  nur  da  sein,  wo  die  wirkliche  Kraft  ist.  Wir  können  nur 
frei  sein  mit  dem  Volke  und  durch  das  Volk  ..."  „Wenn  eine  Erwägung 
von  dieser  Wichtigkeit  für  den  I^eichtsinn  und  den  engen  Egoismus 
der  meisten  französischen  Köpfe  zu  hoch  ist,  so  werden  sie  doch 
wenigstens  nicht  umhin  können,  von  den  Veränderungen,  die  sich 
in  der  öffentlichen  Meinung  ereignet  haben,  überrascht  zu  sein. 
Die  Herrschaft  der  Vernunft  dehnt  sich  alle  Tage  weiter  aus;  sie 
macht  mehr  und  mehr  die  Wiedergewinnung  der  angemaßten  Rechte 
notwendig;  früher  oder  später  wird  es  geboten  sein,  daß  alle  Klassen 
sich  in  die  Schranken  des  Gesellschaftsvertrages  einschließen  .  .  ." 
(3.  ed.,  p.  10).  Natürlich  war  Si£y£s  ein  Vorkämpfer  der  Preßfreiheit. 
In  einer  Rede  vor  der  Nationalversammlung  sprach  er  sich  dahin  aus : 
„Sehet  die  Wirkungen  der  Presse:  sie  verwandelt  sich  in  eine  frucht- 
bare Quelle  nationaler  Wohlfahrt;  sie  wird  die  Schild  wache  und  die 
wahre  Schutzwehr  der  öffentlichen  Freiheit;  es  ist  wahrlich  die  Schuld 
der  Regierungen,  wenn  sie  es  nicht  verstanden  haben,  wenn  sie  nicht 
den  Wülen  gehabt  haben,  alle  Früchte  daraus  zu  gewinnen,  die  sie 
ihnen  verhieß.  Will  man  Mißbräuche  reformieren  ?  Sie  wird  euch  die 
Wege  bereiten,  wird  sozusagen  wegfegen  diese  Menge  von  Hemmnissen, 


384  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

welche  die  Unwissenheit,  das  persönliche  Interesse,  die  Arglist  auf 
eurer  Straße  aufrichten  werden.  Im  Fackelglanz  der  öffentlichen 
Meinung  müssen  alle  Feinde  der  Nation  und  der  Gleichheit,  die  von 
selber  auch  die  Feinde  der  Aufklärung  sind,  sich  beeilen,  von  ihren 
schändlichen  Anschlägen  abzusehen"  usw.  In  den  Verhandlungen 
der  Constituante  wie  in  den  parallel  laufenden  imd  allmählich  immer 
einflußreicher  werdenden  des  Klubs  der  Jakobiner  waren  die  Be- 
rufungen auf  die  öffentliche  Meinung  naturgemäß  häufig.  Hervor- 
ragend betätigte  sich  in  beiden  Robespierre.  „Ich  wiederhole  es," 
sagte  er  am  13.  Juni  1792  im  Klub,  „das  Mittel,  um  die  Freiheit  zu 
retten,  ist  Aufklärung  der  öffentlichen  Meinung,  das  Mittel  sie  zu- 
grunde zu  richten  ist:  Verleumdung  unter  ihre  eifrigsten  Verteidiger 
zu  säen"  —  RobespierrE  zollte  der  öffentlichen  Meinung  eine  ab- 
göttische Verehrung,  sie  war  für  ihn  das  wahre  Stre  supreme:  sie, 
d.  h.  was  er  dafür  hielt,  die  Meinung  seiner  weiteren  Anhängerschaft, 
die  er  während  der  Terreur  durch  den  Elub  beherrschte;  nach  dem 
Ausdruck  Aulards  war  dieser  ebenso  sehr  der  Dolmetsch  als  der  Regu- 
lator der  öffentlichen  Meinung!^)  Noch  in  seiner  letzten  Rede  bei 
den  Jakobinern,  am  8.  Thermidor  (1794)  spricht  RobespiErrb  von 
dem,  was  er  auf  die  Gefahr  hin,  die  öffentliche  Meinung  zu  beleidigen, 
getan  habe  um  der  heiligsten  Interessen  des  Vaterlandes  willen.  Und 
als  zwei  Tage  später  der  Konvent  über  den  Klub  triumphiert  hatte 
und  der  scheußliche  BarCre  im  Namen  des  Wohlfahrtsausschusses 
Bericht  erstattete,  da  hob  dieser  besonders  den  verhängnisvollen  Ein- 
fluß hervor,  den  Robespierre  durch  seine  despotische  Herrschaft 
im  Klub  auf  die  öffentliche  Meinung  gewonnen  habe.  „Wenn  sich 
ein  Mann  auf  despotische  Weise  des  Willens,  der  Verhandlungen  und 
der  Bewegungen  der  zahlreichsten  und  berühmtesten  populären 
Gesellschaft  bemächtigt,  wird  er  unvermerkt  der  Beherrscher  der 
öffentlichen  Meinung,  und  die  öffentliche  Meinung,  welche  allein  das 
Recht  hat,  ein  freies  Volk  zu  regieren,  hat  dann  ihre  Herrschaft  ver- 
loren" (Hist.  parlSmentaire  XXXIV,  p.  77 ff.  bei  Zinkeisen,  Der 
Jakobiner-Klub  II,  932). 

Auch  von  minder  bedeutenden  Politikern  jener  Zeit  gibt  es  viele 
Zeugnisse  ihrer  Aufmerksamkeit  auf  die  öffentliche  Meinung,  auch 
schon  der  Versuche,  sie  im  eigenen  Sinne  zu  stimmen  und  zu  be- 
stimmen. Die  2  Bände  der  Korrespondenz  Mirabeaus  mit  dem 
Grafen  DE  I.A  Marck  sind  reich  an  Zeugnissen  davon.  Am  meisten 
bemerkenswert  dürften  folgende  sein.  In  dem  Entwurf  einer  Denk- 
schrift über  die  Annahme  der  Verfassung  durch  den  König  —  diesen 


^)  Etudes  et  lefons  sur  la  r^volution  jrangaise,  I,   125. 


Ai^  Faktor  des  Staatsi.ebens.  —  Im  französischen  Staat.  385 

Entwurf  hatte  Marie  Antoinktte  von  IvA  Marck  sich  ausgebeten, 
um  ihn  in  den  ersten  Tagen  des  September  1791  dem  Könige  vorzu- 
legen; Verfasser  war  I^A  Marcks  Sekretär  Pei^i^ne  —  heißt  es  u.a: 
„Man  hat  gemeint,  um  das  Dasein  der  gegenwärtigen  Revolution  zu 
sichern,  alle  Veränderungen  (der  Verfassung)  langsamen  und  gesetz- 
lichen Formen  unterwerfen  zu  müssen;  man  hat  sogar  den  beiden 
nächsten  Legislaturen  jede  Revision  untersagt;  man  hat  dabei  aber 
nicht  bedacht,  wie  wenig  der  französische  Geist  in  diese  Langsamkeiten 
sich  schickt;  man  hat  ebensowenig  bemerkt,  daß,  in  einer  Zeit  der 
Revolution,  die  öffentliche  Meinung  ein  unwiderstehlicher,  reißender 
Strom  wird  zugunsten  der  Parteicliquen  (des  factieux),  die  es  verstehen, 
sie  hervorzurufen  .  .  ."  Trotz  schwerster  Bedenken  spricht  der  Ver- 
fasser sich  für  Annahme  der  Verfassung  aus  und  über  den  Ton,  worin 
die  Akte  abgefaßt  werden  müsse,  sagt  er:  „Der  König  muß  in  der 
ersten  Redewendung  sagen,  daß  er  die  Urkunde  der  Verfassung  mit 
aller  Aufmerksamkeit,  die  ein  so  wichtiger  Gegenstand  fordert,  ge- 
prüft; daß  er  das  Ganze  und  alle  Einzelheiten  in  sich  aufgenommen 
habe  und  beides  in  unwiderruflicher  Weise  annehme;  er  wird  des 
weiteren  sagen  können,  daß  er  in  dieser  Verfassung  die  Ausdrücke 
der  Mehrheit  der  französischen  Nation  anerkennt;  und  daß  selbst 
wenn  diese  Verfassung  noch  unvollkommen  wäre,  das  öffentliche 
Wohl  verlangt,  daß  der  gegenwärtigen  Revolution  eine  Grenze  gesetzt 
werde,  sowie  dem  gesetzlichen  Interregnum,  das  ihre  unvermeidbare 
Folge  gewesen  ist.  Der  König  wird  zeigen,  daß  er  nicht  erst  diesen 
Augenblick  abgewartet  hat,  um  aus  der  öffentlichen  Meinung  die 
Regel  für  sein  Verhalten  zu  gestalten,  so  bald  er  geglaubt  hat,  daß 
diese  Meinung  ihm  ein  Mittel  mehr  anzeigte,  zum  Heile  der  Nation 
mitzuwirken/'  —  Graf  Vergonnes,  Neckers  zeitweiliger  Kollege, 
verklagte  diesen  beim  Könige  in  einem  vertraulichen  Bericht  — 
abgedruckt  in  Soulavies  Memoires  historiques  IV,  206 — 213  —  und 
sagt  darin  u. a. :  „Wenn  Herrn  N  E  C  K  E  R  s  öffentliche  Meinung 
das  Übergewicht  erhielte,  so  müßte  Ew.  Majestät  sich  darauf  ge- 
faßt machen,  befehlen  zu  sehen,  die  sonst  gehorchen,  und  gehorchen 
zu  sehen,  die  sonst  befehlen."  Bi.anc  (Hist.  de  la  rev.  fr,  II,  52.) 
findet  in  dieser  Äußerung  ein  Zeichen  durchdringenden  Scharf bHcks. 
22.  (Georg  Forster.)  Der  Enthusiasmus  der  Revolution  teilte 
sich,  wie  bekannt,  auch  Ausländern  mit,  zumal  solchen,  die  an  ihrem 
Herde  lebten.  War  Necker  frei  von  Illusionen  und  durch  und  durch 
bürgerlicher  Aristokrat,  und  den  (von  ihm  selber  geleiteten)  Anfängen 
der  Revolution  hold,  so  blieb  dagegen  Georg  Forster  der  Liebe  treu, 
um  derentwillen  er  sich  zum  Einwohner  von  Paris  und  zum  fran- 
zösischen Bürger  gemacht  hatte.    In  seinen  »Parisischen  Umrissen«, 

Taaaiet,  Kritik.  25 


386  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

die  er  im  November  und  Dezember  1793,  also  mitten  in  der  Schreckens- 
zeit, an  seine  Frau  Therese  (geb.  Heyne  später  Frau  Huber) 
geschrieben  und  bekannt  gegeben  hat  (sie  wurden  zuerst  in  der 
Zeitschrift  »Friedens-Präliminarien«  gedruckt),  um  „die  Sache,  die 
er  zu  der  seinigen  gemacht  hatte,  vor  sich  und  anderen  zu  recht- 
fertigen" (Perthes,  Politische  Zustände  und  Personen  S.  104),  zeigt 
er  sich  ganz  und  gar  erfüllt  von  dem  Gedanken  (den  später  Garve 
dahin  formte),  daß  in  allen  Perioden,  welche  die  Revolution  durch- 
schritten, und  in  welchen  sie  nach  der  Reihe  ihre  eigenen  früheren 
Werke  und  deren  Baumeister  zugrunde  gerichtet  habe,  so  wie  sie 
damit  anfing,  die  alte  Verfassung  des  Reichs  und  deren  Verteidiger 
zustürzen  —  sie  immer  der  öffentlichenMeinung  nachgekommen 
sei ;  woher  es  auch  komme,  daß  sie  bisher  unaufhaltsam  und  unwider- 
stehlich gewesen  sei.  Im  ersten  dieser  Briefe  meint  Forster,  in  der 
öffentlichen  Meinung  bestehe  die  größte  Stärke  des  Revolutionsheeres, 
sie  und  ihre  Einflüsse  seien  Dinge,  wovon  man  vor  der  Revolution 
keinen  richtigen,  wenigstens  keinen  vollständigen  Begriff  gehabt 
haben  möge.  Das  neulich  erlassene  Dekret  des  Konvents,  daß  die 
Regierung  in  Frankreich  bis  zum  Frieden  revolutionär  bleiben  solle, 
sei  der  eigentlichste  Ausdruck  der  öffentlichen  Meinung,  daß  die 
Revolution  sich  so  lange  fortwälzen  müsse,  bis  ihre  bewegende  Kraft 
ganz  aufgewendet  sein  werde.  In  ihr  habe  der  Wille  des  Volkes  seine 
höchste  Beweglichkeit  erlangt,  und  die  große  Lichtmasse  der  Vernunft 
werfe  ihre  Strahlen  in  der  von  ihm  verstatteten  Richtung.  Er  will 
sich  »mathematisch«  so  über  sie  ausdrücken:  „Unsere  öffentliche 
Meinung  ist  das  Produkt  der  Empfänglichkeit  des  Volkes,  vermehrt 
mit  dem  Aggregat  aller  bisherigen  Revolutionsbewegungen.'*  >,Wer 
einen  anschatdichen  Begriff  davon  hat,  oder  auch  nur  aus  der  Ge- 
schichte und  Anthropologie  weiß,  wie  beweglich  und  empfänglich  die 
französische  Nation  ist;  und  wer  dann  berechnet,  in  welchem  Grade 
die  Ereignisse  der  4  letzten  Jahre  diese  Reizbarkeit  erhöhen  und  das 
Teilnehmen  an  den  öffentlichen  Angelegenheiten  schärfen  mußten: 
dem  wird  es  schwerlich  entgehen,  daß  die  Macht  einer  auf  diese 
moralische  Beschaffenheit  geimpften  öffentlichen  Meinung  Wunder 
tun  kann."  Er  entschuldigt  sich  im  dritten  Briefe,  daß  er  seinen 
Freund  immer  wieder  „von  unserer  öffentlichen  Meinung"  unter- 
halte; „allein  sie  ist  das  Werkzeug  der  Revolution  und  zugleich  ihre 
Seele".  Seit  mehr  als  6  Jahren  (also  noch  in  den  letzten  Zeiten  der 
Monarchie)  habe  sie  allmählich  sich  verwandelt  und  die  großen  Er- 
eignisse eines  nach  dem  anderen  hervorgerufen:  „denn  die  Größe 
der  Hauptstadt,  die  in  ihr  konzentrierte  Masse  von  Kenntnissen, 
Geschmack,  Witz  und  Einbildungskraft;  das  daselbst  immer  schärfer 


Ai,s  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  französischen  Staat.  387 

ätzende  Bedürfnis  eines  epikuräisch  kitzelnden  Unterrichts;  die  I/)s- 
gebundenheit  von  Vorurteilen  in  den  oberen,  und  mehr  oder  weniger 
auch  in  den  mittleren  und  niederen  Ständen;  die  imgezwungene 
Mischung  in  Gesellschaften;  die  stets  gegen  den  Hof  strebende  Macht 
der  Parlamente ;  die  durch  die  Freiwerdung  von  Amerika,  und  Frank- 
reichs Anteil  daran,  in  Umlauf  gekommenen  Ideen  zur  Regierung, 
Verfassung  und  Republikanismus;  die  Abhängigkeit  der  im  Übermaß 
genießenden  Klasse  von  der  ihren  Begierden  dienstbaren,  die  sich 
dadurch  immer  mehr  emanzipierte;  das  böse  Gewissen  des  Hofes  und 
der  Administration,  die  einem  Staatsbankrott  entgegen  sahen ;  endlich 
die  dadurch  entstandene  Straflosigkeit  der  politischen  Broschüren- 
schreiber, die  zu  Hunderten  jetzt  die  Wunden  des  Staats  sondierten, 
und  mit  grenzenloser  Keckheit  und  Quacksalberweisheit  ihren  Wund- 
balsam darauf  zu  streichen  sich  erkühnten:  —  dies  alles  bahnte  der 
Denkfreiheit  und  der  Willensfreiheit  dergestalt  den  Weg,  daß  schon 
eine  geraume  Zeit  vor  der  Revolution  eine  entschiedene  öffentüche 
Meinung  durch  ganz  Paris,  imd  aus  diesem  Mittelpunkt  über  das 
ganze  Frankreich,  beinahe  unumschränkt  regierte."  Nach  dieset 
ebenso  knappen  wie  geistvollen  Schilderung  des  Zustandes  der  fran- 
zösischen Volksseele,  aus  dem  die  Revolution  geboren  wurde,  stellt 
er  in  wenigen  Sätzen  auch  deren  Geschichte  bis  zur  Stunde,  da  er 
schrieb,  dar :  man  dürfe  als  ausgemacht  annehmen,  daß  die  öffentliche 
Meinung  in  einer  jeden  dieser  Epochen  sich  entschieden  geäußert, 
und  zugleich  vor  den  Hauptereignissen  derselben  einen  besonderen 
Charakter  angenommen  habe.  „Der  sanfte  Tod  des  Priestertums*', 
heißt  es  einige  Seiten  nachher,  „und  seiner  Hierarchie  in  Frankreich 
ist  der  redendste  Beweis  von  der  Macht  der  öffentlichen  Meinung." 
Als  letzte  und  mächtigste  Wirkung  der  Revolution  und  der  ihr  inne- 
wohnenden Kraft  der  öffentHchen  Meinung  bezeichnet  Förster 
dann  —  seine  Irrtümer  sind  hier,  wie  sonst  die  Irrtümer  edler  stür- 
mischer Geister,  merkwürdig  — ,  daß  sie  der  Habsucht,  der  Gewinn- 
sucht, dem  Geize,  mit  einem  Worte,  der  ärgsten  Knechtschaft,  zu 
welcher  der  Mensch  hinabsinken  könnte,  der  Abhängigkeit  von  leb- 
losen Dingen,  einen  tödlichen  Streich  versetzt  habe.  Einmal  spricht 
er  in  der  Sprache  Neckers  vom  Koloß,  an  anderen  Stellen  vom  Strom 
der  ÖffentHchen  Meinung.  Paris  gebe  den  Ton  an,  nicht  bloß  wegen 
seiner  Bevölkerung  und  Größe,  sondern  weil  der  Umlauf  des  Handels, 
der  Ideen,  der  Menschen  selbst,  im  Lande  noch  unbedeutend  sei. 
„Bei  uns  ist  Paris  der  einzige  Maßstab  der  Vollkommenheit,  der  Stolz 
der  Nation,  der  Polarstem  der  Republik.  Hier  allein  ist  Bewegung 
und  Leben,  hier  Neuheit,  Erfindung,  Licht  und  Erkenntnis.  Paris 
ist    der    Kommunikationspunkt    zwischen    allen    übrigen    Städten, 

25* 


3^8  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

zwischen  allen  Departements  der  Republik;  alles  fließt  hier  zusammen, 
um  erst  von  hier  aus  nach  den  Provinzen  zurückzuströmen.  Die 
Gesetze  des  Geschmackes  und  der  Mode  werden  seit  einem  Jahr- 
hundert in  Paris  gegeben  und  promulgiert.  Frankreich  gehorchte 
ihnen  wie  Göttersprüchen;  und  ohne  daß  wir  es  verlangten  (Forster 
fühlt  sich  als  Franzose  und  spricht  als  solcher)  huldigte  ihnen  Europa. 
Noch  jetzt  wird  ihre  Oberherrschaft  jenseits  unserer  Grenzen  aner- 
kannt, wie  schon  die  bloße  Existenz  eurer  Mode  Journale  beweisen 
muß;  aber  im  Bezirke  der  Republik  selbst  gebietet  jetzt  Paris  auf 
eine  weit  wirksamere  Art :  durch  die  Kraft  der  öffentlichen  Meinung.*' 
Man  werde  zugeben  müssen,  daß  die  außerordentliche  Verbreitung 
wissenschaftlicher  Begriffe  und  Resultate  in  Paris  der  Grund  von 
jener  großen  Empfänglichkeit  seiner  Einwohner  für  Revolutionsideen 
geworden  sei:  „Die  Neugier  der  Pariser  ist  viele  Grade  feiner  und 
unterscheidender  als  in  irgendeinem  Winkel  des  ganzen  Landes;  und 
ihre  Ausbildung  durch  den  Umgang  mit  unterrichteten  Leuten,  und 
durch  die  Übung,  im  Schauspiel  attische  Feinheiten  zu  empfinden, 
übertrifft,  im  ganzen  genommen,  alles,  was  man  sich  vorstellen  kann, 
ehe  man  hier  gewesen  ist  und  mit  eigenen  Augen  gesehen  hat.*'  Durch 
die  5  Revolutionsjahre  sei  dies  noch  viel  auffallender  geworden.  „Des 
Morgens  sieht  man  alle  Hökerinnen  auf  der  Straße  über  ihren  Kohlen- 
feuern sitzen  und  die  Zeitungen  lesen;  des  Abends  hört  man  in  den 
Volksgesellschaften,  in  den  Sektionsversammlungen  Wasserträger, 
Schuhknechte  und  Karrentreiber  von  den  Angelegenheiten  ihres 
Landes  und  von  den  Maßregeln  des  AugenbHckes  mit  einer  Bestimmt- 
heit sprechen,  die  nur  aus  der  einfachen  Richtigkeit  und  Klarheit 
allgemein  verbreiteter  Grundbegriffe  entspringen  kann."  Forster 
täuscht  sich  nicht  darüber,  daß  oft  die  Stimme  der  Pariser  für  die 
Stimme  des  ganzen  Volkes  gegolten  habe;  aber,  so  meint  er,  das  ganze 
Volk  habe  dieser  Stimme  Beifall  gegeben,  und  alle  Versuche,  die 
Departements  mit  Paris  zu  entzweien,  seien  jederzeit  mißlungen. 

23.  (Frau  VON  Stael.)  Ich  untersuche  hiejr  nicht,  ob  und  wie 
weit  Forster  die  Rolle  und  die  Kjraft  der  öffentHchen  Meinung  in 
der  von  ihm  bewunderten  großen  Revolution  richtig  dargestellt  habe. 
Aber  man  wird  sich  der  Erkenntnis  nicht  entziehen,  daß  er  sie  mit 
ungemeiner  Lebendigkeit  aufgefaßt  und  in  blendender  Sprache  ge- 
schildert hat;  auch  daß  man  durch  diese  zeitgenössische  Abbildung 
in  das  wogende  Leben  der  Hauptstadt,  die  damals  wohl  die  Haupt- 
stadt der  Welt  heißen  durfte,  hineingeführt  und  gleichsam  unter- 
getaucht wird,  daß  man  den  Puls  der  öffenthchen  Meinung  schlagen 
fühlt,  der  immer  in  den  Großstädten,  zumal  den  zentralen,  am  leb- 
haftesten sich  regt,  darf  man  zum  Lobe  des  Mannes  sagen,  der  freilich 


AI.S  Faktor  dks  Staatslebens.  —  Im  französischen  Staat.  389 

keineswegs  ein  deutscher  Patriot,  aber  einer  der  besten  deutschen 
Schriftsteller  gewesen  ist.  Seinen  Scharfsinn  tut  Förster  auch  darin 
kund,  daß  er  erkennt,  in  Deutschland  gebe  es  noch  keine  öffentHche 
Meinung  in  dem  von  ihm  gemeinten  poHtischen  Sinne,  und  es  könne 
keine  geben,  „wenn  das  Volk  nicht  zugleich  losgelassen  sein  wird"; 
aber  „es  dort  loslassen,  diese  ungemessene  unberechnete  Kraft  auch 
in  Deutschland  in  Bewegung  setzen,  das  könnte  jetzt  nur  der  Feind 
des  Menschengeschlechtes  wünschen".  Klar  erkennt  er  auch  den 
Unterschied  des  französischen  Ivcbens  darin,  daß  es  in  Paris  kon- 
zentriert sei.  „Paris  ...  ist  die  Quelle  der  öffentüchen  Meinung,  das 
Herz  der  Repubhk  und  der  Revolution."  „Paris  empfindet,  denkt, 
genießt  und  verdaut  für  das  ganze  I^and."  —  Daß  Förster  durch 
Necker  stark  beeinflußt  worden  ist,  halte  ich  für  wahrscheinlich, 
wenngleich  mir  bisher  keine  Hinweisung  darauf  begegnet  ist.  Dieser 
Einfluß  versteht  sich  von  selbst  bei  der  geistreichen  Tochter  Neckers, 
die  selber  in  jungen  Jahren  Zeugin  der  Ereignisse  gewesen  war^ 
Frau  VON  StaSi.  zeigt  sich  in  ihren  Considerations  sur  les  principaux 
evHements  de  la  revolution  francaise  fortwährend  beflissen,  der  Be^ 
deutung  der  öffentlichen  Meinung  als  bewegender  Kraft  des  politischeii 
Ircbens  gerecht  zu  werden.  Freilich  verfällt  sie  dabei  in  Irrtümer: 
so  wenn  sie  darauf  hinweist,  daß  im  18.  Jahrhundert  (in  Wirkhchkeit 
viel  früher)  die  aristokratischen  Körperschaften  die  ersten  gewesen 
seien,  welche  die  königliche  Macht  angriffen ;  „nicht  daß  sie  den  Thron 
umstürzen  wollten,  aber  sie  waren  getrieben  durch  die  öffentliche 
Meinung" ;  „diese  wirkt  eben  auf  die  Menschen,  ohne  daß  sie  es  merken, 
und  oft  sogar  gegen  ihr  Interesse"  (I,  43).  (In  Wirkhchkeit  handelte 
es  sich  da  um  einen  sehr  bewußten  und  sehr  heftigen  Interessenkampf 
des  Adels  gegen  die  absolute  Monarchie.)  Von  Maurepas,  dem  ersten 
Premier-Minister  Ludwigs  XVI.,  sagt  die  Baronin,  er  habe  sich 
derartig  von  der  öffentlichen  Meinung,  ohne  es  zu  wissen,  gezogen 
gesehen,  daß  die  erste  Handlung,  die  er  dem  Könige  vorschlug,  die 
Wiederherstellung  der  »Parlamente«,  jener  13  höchsten  Gerichtshöfe 
des  Landes,  war  (49).  „Diese  neue  Macht  (eben  die  ÖffentHche  Meinung) 
gewann  von  Tag  zu  Tag  vermehrte  Kraft,  und  die  Nation  befreite 
sich  sozusagen  durch  sich  selber"  (52).  Während  des  ersten  Mini- 
steriums Neckers  sei  die  Meinung  noch  nicht  durch  den  Parteigeist 
verdorben  gewesen  (62).  Es  sei  das  Kreditbedürfnis,  was  die  Re- 
gierungen genötigt  habe,  die  öffentHche  Meinung  in  acht  zu  nehmen 
(ä  menager  l'opinion  publique);  „und  ebenso  wie  der  Handel  die 
Nationen  zivilisiert  hat,  so  hat  der  Kredit,  der  eine  seiner  Folgen 
ist,  irgendwelche  Verfassungsformen  notwendig  gemacht,  um  die 
OffentHchkeit  in  den  Finanzen  zu  sichern  und  die  eingegangenen 


390  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Verpflichtungen  zu  gewährleisten"  (66).  Die  Veröffentlichung  des 
Standes  der  Finanzen  —  Neckers  große  Neuerung  —  habe  auch  den 
wichtigen  Nutzen  gehabt,  ihm  die  Stütze  der  öffentlichen  Meinung 
zu  .sichern  bei  den  mannigfachen  Einschränkungen,  die  zu  bewirken 
notwendig  war  (72).  Nur  diese  zwei  Mittel  habe  es  damals  gegeben, 
um  die  öffenthche  Meinung,  die  sich  schon  stark  über  die  Staats- 
geschäfte im  allgemeinen  aufregte,  zu  befriedigen:  die  Provinzial- 
ver waltungen  und  die  öffentHchkeit  der  Finanzen  (86).  Die  Tochter 
bezeugt,  nächst  seinen  reHgiösen  Pflichten  sei  ihrem  Vater  die  öffent- 
liche Meinung  das  gewesen,  was  ihn  am  meisten  beschäftigte;  „er 
opferte  Vermögen,  Ehre,  alles,  was  die  Ehrgeizigen  erstreben,  der 
Wertschätzung  der  Nation;  und  diese  Volksstimme,  damals  noch 
nicht  zerrüttet  (alter Se)  hatte  für  ihn  etwas  Göttliches"  (98).  Bei  der 
Verehrung,  die  Necker  gezollt  wurde,  insbesondere  bei  seinem  ersten 
Rücktritt  (1781),  verweilt  natürUch  die  Tochter  besonders  gern. 
Unter  Ludwig  XIV.  wäre  so  etwas  einem  in  Ungnade  gefallenen 
Minister  gegenüber  nicht  mögHch  gewesen.  „Dieser  neue  Geist  der 
Unabhängigkeit  hätte  einen  Staatsmann  über  die  Macht  der  öffent- 
lichen Meinung  belehren  müssen",  aber  die  Minister  begingen  Fehler 
über  Fehler  (106).  Cai^onne  mußte  es  büßen,  daß  die  öffenthche 
Meinung  immer  größer  wurde  und  der  Geist  der  Unabhängigkeit  in 
allen  Klassen  zutage  trat.  Er  glaubte  sich  auf  die  öffenthche  Meinung 
stützen  zu  können  gegen  das  Parlament,  aber  sie  war  ebenso  sehr 
gegen  ihn  wie  gegen  das  Parlament  selber  (112 f.).  Dagegen  bheb  sie 
Necker  treu.  Als  ihn  die  lettre  de  cachet  erreicht  hatte,  die  ihn 
40  Meilen  von  Paris  verbannen  sollte,  da  „verwandelte  die  öffenthche 
Meinung  die  Verfolgung  in  einen  Triumph"  (116).  Durch  das  Ver- 
sprechen der  Generalstände  feierte  die  öffenthche  Meinung  selber 
ihren  Triumph,  den  sie  sich  nicht  durch  die  von  BriennE  gesetzte 
Frist  von  5  Jahren  verschieben  heß  (126).  Sie  zwang  den  Hof,  den 
Erzbischof  fortzuschicken  und  NeckER  zurückzuberufen  (155).  Marie 
Antoinette  betrachtete  ihn  während  seines  zweiten  Ministeriums 
immer  als  ernannt  von  der  öffentUchen  Meinung  —  obgleich  sie  ihn 
während  des  ersten  protegiert  hatte  (159).  Die  öffenthche  Meinung 
war,  teils  durch  die  Maßregeln  des  Erzbischofs,  teils  durch  die  eigene 
Kraft  des  dritten  Standes,  „vollkommen  darauf  vorbereitet,  daß 
dieser  in  den  Generalständen  von  1789  mehr  Einfluß  gewann  als  in 
den  früheren  Versammlungen"  (170).  Das  Verhalten  der  Privilegierten 
(Könige,  Adel,  Priester)  um  diese  Zeit,  in  der  I^iteratur  und  in  der 
Pohtik,  erklärt  sich  Frau  von  Staei.  daraus,  daß  sie  ihre  Vorteile 
durchaus  wahren  woUten,  aber  zugleich  auf  die  Ehre  Anspruch 
machten,   gleichgültig   dagegen   zu   sein;    „und   die    Geschicktesten 


Ai^  Faktor  des  Staatsi.ebens.  —  Im  französischen  Staat.  391 

schmeichelten  sich,  die  öffentliche  Meinung  einzuschläfern,  damit  sie 
ihnen  nicht  streitig  mache,  was  sie  sich  die  Miene  gaben,  gering  zu 
schätzen"  (182).  Auch  dies  Urteil  ist  offenbar  unrichtig.  —  Die 
Baronin  verfaßte  das  Werk  in  den  ersten  Jahren  der  Restauration; 
es  war  1816  abgeschlossen.  Sie  war  begeistert  für  die  englische  Ver- 
fassung, die  auch  ihres  Vaters  Ideal  war.  So  meint  sie,  die  »echte« 
öffentUche  Meinung,  diejenige  nämhch,  die  oberhalb  der  Faktionen 
schwebe,  sei  seit  27  Jahren  (also  seit  1789)  die  gleiche  in  Frankreich 
und  jede  andere  Richtung  könne  als  künstliche  nur  einen  augen- 
blickhchen  Einfluß  haben  (207);  man  habe  damals  (1789)  eben  nur 
die  Trennung  der  gesetzgebenden  und  der  vollziehenden  Gewalt 
gewollt  und  nicht  daran  gedacht,  den  Thron  umzustürzen.  Aber 
auch  der  am  meisten  energische  Wille  der  neueren  Zeit,  derjenige 
Bonapartes,  hätte  er  sich  auf  dem  Throne  befunden,  wäre  zerschellt 
gegen  die  öffentliche  Meinung  im  Augenblicke  der  Eröffnung  der 
Etats  Gener aux  (209).  „Als  Napoi^EON  den  Despotismus  in  Frankreich 
aufgerichtet  hat,  waren  die  Umstände  diesem  Vorhaben  günstig; 
man  war  der  Unruhen  müde,  man  hatte  Furcht  vor  den  schrecklichen 
Übeln,  die  man  erhtten  hatte,  weil  die  Rückkehr  derselben  Faktionen 
sie  von  neuem  herbeiführen  konnte;  überdies  war  der  Enthusiasmus 
des  Publikums  dem  kriegerischen  Ruhm  zugewandt;  der  Krieg  der 
Revolution  hatte  den  Nationalstolz  erhoben.  Dagegen  unter 
Ludwig  XVI.  knüpfte  sich  die  öffentliche  Meinung  ausschHeßlich 
an  rein  philosophische  Interessen  (offenbar  zu  viel  gesagt);  sie  war 
gestaltet  worden  durch  die  Bücher,  welche  eine  große  Zahl  von  Ver- 
besserungen für  die  Ordnungen  des  bürgerHchen  Lebens,  der  Ver- 
waltung und  der  Gerichte  in  Vorschlag  brachten;  man  lebte  seit 
langer  Zeit  in  tiefem  Frieden;  der  Krieg  war  sogar  aus  der  Mode  ge- 
kommen seit  Ludwig  XIV.  Die  ganze  Bewegung  der  Geister  bestand 
in  dem  Wunsche,  politische  Rechte  auszuüben,  und  die  ganze  Ge- 
schicklichkeit eines  Staatsmanns  gründete  sich  auf  die  Kunst,  zu 
dieser  Meinung  das  richtige  Verhältnis  zu  gewinnen"  (de  menager 
cette  opinion)  (210).  —  Auch  der  14.  JuH  —  die  Erstürmung  der 
Bastille  —  macht  die  geistreiche  Dame,  die  als  23 jähriges  Mädchen 
das  Ereignis  aus  der  Nähe  erlebte,  in  ihrem  Urteil  nicht  irre;  mit 
d^r  Bewegung  jener  Zeit  fühlte  sie,  ungeachtet  allen  Unwetters  das 
folgte,  doch  sich  in  Sympathie  verbunden.  „Der  Tag",  sagt  sie,  „hatte, 
trotz  scheußlicher  Morde,  die  der  Pöbel  beging,  »Größe«;  die  Be- 
wegung war  national,  keine  Faktion,  weder  des  In-  noch  des  Auslandes, 
konnte  einen  solchen  Enthusiasmus  erregen.  Ganz  Frankreich  teilte 
ihn  ...  die  ehrenwertesten  Namen:  Baii^ly,  La  Fayette,  Lai.i.1, 
wurden  von  der  öffentUchen  Meinung  ausgerufen;  man  verließ  das 


392  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Schweigen  eines  Landes,  das  von  einem  Hofe  regiert  wurde,  um  das 
Geräusch  der  freiwilligen  Beifallsrufe  aller  Bürger  zu  vernehmen. 
Die  Geister  waren  erregt,  aber  es  war  noch  nichts  als  Gutes  in  den 
Seelen  .  .  ."  (241).  Ihr  Urteil  über  die  Nationalversammlung,  der  sie 
nachrühmt,  daß  sie  eine  vornehme  Gleichgültigkeit  gegen  die  Angriffe 
ihrer  Gegner,  „wofür  die  öffentHche  Meinung  sie  richte",  gezeigt  habe, 
faßt  sie  dahin  zusammen :  hätte  sie  damit  eine  gerechte  Strenge  gegen 
alle  Schriften  und  alle  Aufläufe,  die  zur  Unordnung  reizten,  verbunden ; 
hätte  sie  sich  gesagt,  daß  in  dem  AugenbHcke,  wo  eine  Partei  mächtig 
wird,  sie  zu  allererst  die  Ihren  zurückdrängen  (reprimer)  muß,  so 
hätte  sie  mit  so  vieler  Tatkraft  und  Weisheit  regiert,  daß  das  Werk 
von  Jahrhunderten  vielleicht  in  2  Jahren  sich  erfüllt  hätte."  Liebens- 
würdige Fata  morganal  —  Im  Jahre  1790  sei  die  Nationalversammlung 
der  öf f entHchen  Meinung  noch  so  sicher  gewesen,  daß  die  Versammlung 
es  Hebte,  sich  mit  Soldaten  des  Vaterlandes  zu  umgeben  (376). 

24.  (NiEBUHR,  TOCQUEVILLE,  Anton  SPRINGER,)  Kaum  ein 
anderer  noch  hat  über  die  Begebenheiten  der  Revolution  in  den 
zwei  folgenden  Menschenaltern  so  bedeutsam,  geurteilt,  wie  der 
deutsche  Historiker  Nikbxjhr  und  der  französische  Historiker  ToCQUE- 
viivi^E  —  beide  ersten  Ranges  als  staatsmännische  Kenner  der  Ge- 
schichte. NiEBUHR  hat  im  Sommer  1829  Vorlesungen  über  die 
Geschichte  der  letzten  40  Jahre  in  Bonn  gehalten  (sie  sind  in 
2  Bänden,  nach  Heften,  als  Geschichte  des  Zeitalters  der  Revolution, 
von  seinem  Sohne  herausgegeben  worden:  Hamburg  1845).  Kr  führt 
seine  Vorträge  damit  ein,  daß  er  die  darzustellende  Zeit  größtenteils 
selbst  erlebt  habe  und  unter  Verhältnissen,  die  es  ihm  möglich  machten, 
mehr  als  viele  andere  von  den  Begebenheiten  zu  erfahren.  Er  war 
dreizehn  Jahre  alt,  als  an  der  Seine  die  Trompete  erscholl,  gehört 
also  wirklich  noch  zu  den  Zeitgenossen  der  Revolutionszeit.  Niebuhr 
nimmt  oft  auf  die  allgemeine,  die  herrschende  Meinung  Bezug,  auch 
unter  anderen  Ausdrücken:  so,  wenn  er  erwähnt  (I,  104),  daß  die 
hohe  Geisthchkeit  sich  durch  Vernachlässigung  ihrer  Pflichten  »ganz 
in  Dekonsideration« gebracht  hatte;  er  spricht  aber  auch ausdrückHch 
von  der  öff entHchen  Meinung:  sie  sei  bei  dem  Vorgehen  Terra Ys 
und  Maupeous  gegen  das  Parlament  „so  entschieden  gegen  die 
Regierung"  gewesen,  daß  nur  einige  Leute  von  der  philosophischen 
Partei  sich  für  das  neue,  von  Maupeou  eingesetzte  Parlament  erklärten, 
unter  denen  Voi^taire  war  (134);  sie  habe  —  in  der  ersten  Zeit  der 
Regierung  Ludwigs  XVI.  —  in  ganz  Frankreich  zwei  Männer  der 
höchsten  Stände:  Turgot  und  Mai^esherbes,  als  die  besten  der 
Nation  genannt,  und  sie  seien  es  gewesen  (137) ;  die  ÖffentHche  Meinung 
habe   in   Frankreich   eine   freundHche   Stimmung   gegen   das    »freie 


Als  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  französischen  Staat.  393 

England«  verbreitet,  die  dem  Handelsverträge  Pitts  entgegenkam 
(117).  NiEBUHR,  der  keine  hohe  Meinung  von  NeckER  hat,  hebt  hervor, 
daß  er  schon  bei  seiner  ersten  Ernennung  (1776)  in  der  öffentlichen 
Meinung,  „die  schon  etwas  vom  Revolutionären  hatte",  sehr  hoch 
gestanden  habe.  Damals  aber  habe  die  öffentliche  Meinung  Krieg 
gegen  England  gewollt  (143).  —  Merkwürdig  ist  nun,  wie  in  der  geist- 
vollen Erzählung,  die  Niebuhr  von  dem  späteren  Verlauf  der  Dinge 
gibt,  die  Rede  nicht  mehr  von  der  öff entheben  Meinung  ist ;  man  darf 
darin  den  Ausdruck  der  Tatsache  sehen,  daß  sie  in  den  ungeheuren 
Wirrungen  der  Kriege,  der  Schreckensregierungen,  des  napoleonischen 
Despotismus  betäubt  und  gedämpft,  oder  wie  Necker  sich  ausdrückte, 
erschlafft  war:  ein  Vorgang,  dessen  Analogie  wir  im  20.  Jahrhundert 
erlebt  haben  und  erleben.  Was  zutage  trat,  war,  wie  schon  Forster 
erkannte,  die  Meinung  von  Paris,  und  diese  machte  mit  tyrannischen 
Mitteln  zuerst  der  Jakobiner-Klub,  später  Napoleon.  —  T0CQUEVII.1.E 
geb.  1805,  der  unter  den  Eindrücken  des  Kaiserreichs,  wenn  auch  nur 
als  Zeuge  von  dessen  Untergang,  und  unter  denen  der  Restauration 
aufgewachsen  war,  schildert  in  einem  besonderen  Kapitel  seines  tiefen 
Werkes  Landen  rSgime  et  la  revohition,  wie  Frankreich  von  allen 
Staaten  Europas  derjenige  gewesen  sei,  dessen  Hauptstadt  das  größte 
XJbergewicht  über  die  Provinzen  erlangt  hatte  und  folgHch  das  übrige 
Reich  am  vollständigsten  absorbierte.  Schon  1740  habe  Montesquieu 
einem  seiner  Freunde  geschrieben,  daß  es  in  Frankreich  ein  Paris 
und  einzelne  entfernte  Provinzen  gebe,  die  zu  verschlingen  Paris 
noch  lücht  Zeit  gehabt  habe.  Als  Bestätigung  führt  ToCQUEViLLE 
an,  daß  es  im  16.  Jahrhundert  und  im  Anfange  des  17.  in  den  Provinzen 
sehr  bedeutende  Buchdruckereien  an  Orten  gegeben  habe,  wo 
sie  seitdem  verschwunden  seien.  „Und  doch  unterliegt  es  keinem 
Zweifel,  daß  im  18.  Jahrhundert  unendlich  mehr  Bücher  aller  Art 
gedruckt  wurden  als  im  16.;  aber  alles  Leben  des  Geistes  hatte  sich 
nach  Paris,  dem  Zentrum  des  Landes  gewandt.  Paris  hatte  die 
Provinzen  verschlungen"  (deutsche  Übers.  S.  83,  85).  ToCQUEViLLE 
will  damit  nicht  leugnen,  daß  die  öffentUche  Meinung  über  das  ganze 
Land  hin  zu  einer  gewaltigen  Woge  angeschwollen  war.  Wenn  er 
darstellt,  wie  gegen  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  die  Schriftsteller 
zu  großer  poHtischer  Macht  gelangten,  wie  die  ReHgionsverachtung 
unter  den  Franzosen  dieser  Zeit  eine  allgemeine  und  herrschende 
Leidenschaft  geworden  sei  (Buch  III,  Kap.  i  u.  2),  so  behauptet  er 
nicht,  daß  diese  Einflüsse  ausschHeßHch  von  Paris  ausgegangen  seien; 
vielmehr  schreibt  er  einen  großen  Teil  der  Wirkungen  dem  Verfalle 
des  religiösen  Glaubens  und  dem  Stummwerden  der  galHkanischen 
Kirche  zu,    die   ehemals   so   fruchtbar   an   hochbegabten    Rednern 


394  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

gewesen  war :  „Leute,  die  noch  am  alten  Glauben  festhielten,  fürchteten 
die  einzigen  zu  sein,  die  ihm  treu  bHeben,  und  da  sie  die  Absonderung 
mehr  als  den  Irrtum  fürchteten,  so  gesellten  sie  sich  zu  der  Menge, 
ohne  wie  diese  zu  denken.  Was  nur  die  Ansicht  eines  Teiles  der  Nation 
noch  war,  schien  auf  solche  Weise  die  Meinung  aller  zu  sein,  und 
dünkte  eben  deshalb  denjenigen  unwiderstehlich,  die  ihr  diesen 
trügerischen  Anschein  gaben"  (das.  S.  182).  Im  Anschluß  daran 
schildert  er  die  Bewegung  für  wirtschaftliche  Freiheit,  die  von  den 
Economistes  ausgehend,  das  ganze  Land  und  gerade  die  wohlhabenden 
und  gebildeten  Ackerbauer  am  meisten  ergriff.  Diese  Bewegung  war 
den  eigentlichen  poHtischen  Freiheiten  nicht  geneigt.  „Selbst  TuRGOT, 
dessen  Seelengröße,  dessen  hochbegabter  Geist,  ihm  eine  abgesonderte 
Stellung  inmitten  aller  anderen  anweist,  hat  keinen  größeren  Hang 
zu  politischer  Freiheit,  wenigstens  entsteht  bei  ihm  die  Neigung 
dazu  erst,  als  die  öffentliche  Meinung  sie  ihm  einflößt"  (187).  TuRGOT 
selber  hatte  die  Bedeutung  dieser  Macht  erkannt.  ToCQUEVii,i,E 
führt  aus  einer  Denkschrift,  die  jener  1775  dem  Könige  einsandte,  an, 
wie  er  seinen  Vorschlag,  jährlich  eine  repräsentative  —  beratende  — 
Versammlung  einzuberufen,  begründet  habe  in  den  Worten:  „Dadurch 
würde  die  königliche  Gewalt  aufgeklärt  werden,  ohne  gehemmt  zu 
sein,  und  die  öffentliche  Meinung  wäre  dann  ohne  alle  Gefahr  be- 
friedigt. Denn  diese  Versammlung  hätte  keine  Gewalt,  sich  not- 
wendigen Maßregeln  zu  widersetzen  ..."  ToCQUKVii,i.E  meint  dazu, 
man  habe  den  Bereich  einer  Maßregel  und  den  Geist  seiner  Zeit  nicht 
in  höherem  Grade  verkennen  können  (169).  „Der  König",  so  drückt 
er  in  einem  späteren  Kapitel  sich  aus  (Buch  III,  Kap.  4),  worin  er 
schildert,  wie  Ludwigs  XVI.  Zeit  im  Wohlstande  die  blühendste  der 
alten  Monarchie  gewesen  sei,  „führte  zwar  noch  immer  die  Sprache 
des  Herrn  und  Gebieters,  aber  er  gehorchte  selber  einer  öffentUchen 
Meinung,  die  ihn  täglich  leitete  oder  mit  sich  fortriß;  die  er  stets 
berücksichtigte,  fürchtete,  der  er  unablässig  schmeichelte;  unum- 
schränkt dem  Buchstaben  des  Gesetzes  nach,  war  er  bei  dessen  Voll- 
ziehung von  Schranken  umgeben".  Zur  Bestätigung  führt  er  an,  daß 
schon  1784  Necker  in  einer  öffentlichen  Urkunde  dies  als  eine  unbe- 
strittene Tatsache  behauptet  habe:  „Den  meisten  Fremden  fällt  es 
schwer,  sich  eine  Vorstellung  von  der  Macht  zu  bilden,  die  in  Frank- 
reich die  öffentliche  Meinung  ausübt;  sie  begreifen  kaum,  daß  es 
eine  unsichtbare  Macht  gebe,  die  ihre  Herrschaft  bis  in  die  Behausung 
des  Königs  erstreckt.  Das  ist  aber  dennoch  wahr"  (204f.).  TocQUE- 
VII.1.E  knüpft  diese  Sätze  an  die  Betrachtung,  daß  die  französische 
Nation  in  ihren  oberen  Klassen  bereits  die  aufgeklärteste  und  freieste 
des  Kontinents  gewesen  sei,  in  deren  Schöße  jeder  auf  seine  Weise 


Ai,s  Faktor  des  Staatsi^ebens.  —  Im  französischen  Staat.  395 

Reichtümer  sammeln  und  nach  Belieben  mit  dem  erworbenen  Gute 
schalten  durfte.  Was  aber  diese  öffentliche  Meinung,  wie  mehr  oder 
minder  jede,  bezeichnete,  war,  daß  die  gebildeten  und  vermögenden 
Schichten  darin  einig  waren,  und  zwar  stand  damals  der  Adel  durch- 
aus in  der  vordersten  Reihe ^).  „In  dieser  ersten  Epoche  der  Revo- 
lution, wo  der  Krieg  noch  nicht  erklärt  ist  zwischen  den  Klassen, 
ist  die  Sprache  der  Adligen  im  ganzen  ähnhch  derjenigen  der  anderen 
Klassen;  sie  unterscheidet  sich  nur  darin,  daß  sie  weiter  geht  und 
einen  höheren  Ton  anschlägt"  (Chap.  ined.  de  Vouvrage  Landen 
regime  et  la  revolution:  Oeuvres  VIII,  98).  „Die  Opposition  des  Klerus 
war  nicht  minder  entschieden,  wenn  auch  behutsamer."  „Überall, 
wo  die  Stände  sich  zum  Widerstand  vereinen,  sieht  man  die  Geistlichen 
sich  einstellen  (das.  S.  100).  Die  Regierung  wehrt  sich,  indem  sie 
(unter  anderem)  mit  großen  Kosten  viele  kleine  Schriften  zu  ihrer 
Verteidigung  veröffentUchen  läßt.  „Aber  man  liest  ihre  Verteidigung 
nicht,  und  man  nährt  sich  an  1000  Flugschriften,  die  sie  angreifen" 
(das.  106).  Bald  aber  —  nachdem  die  Einberufung  der  Generalstände 
erfolgt  war  —  trat  der  Umschwung  ein:  die  Sprecher  des  tiers,  sich 
als  Vertreter  von  26  Millionen  fühlend,  wie  SißYifes  sich  ausdrückte, 
wenden  sich  gegen  die  200  000  »Privilegierten«.  „Die  Aristokratie 
erkannte  mit  Erstaunen  in  den  Ideen,  deren  man  sich  bediente,  um 
sie  zu  schlagen,  ihre  eigenen  Ideen."  „Die  Begriffe,  mit  deren  Hilfe 
man  sich  bemühte,  sie  zu  vernichten,  bildeten  den  Grundbestand  ihres 
eigenen  Gedankens."  „Was  die  Unterhaltung  ihres  Geistes  in  ihren 
Mußestunden  gewesen  war,  daraus  wurden  schreckliche  Waffen, 
gegen  sie  gerichtet"  (das.  127).  ToCQUEVii,i.E  führt  dann  aus,  wie  die 
Verdoppelung  des  tiers  und  die  gemeinsame  Abstimmung  notwendig 
diesem  das  Übergewicht  verleihen  mußten:  „er  hatte  für  sich  den 
Strom  der  öffentüchen  Gunst,  die  anderen  hatten  ihn  gegen  sich" 
(131).  An  einer  späteren  Stelle,  wo  er  Bemerkungen  über  die  kon- 
stituierende Versammlung  macht,  gibt  ToCQUEViivLE  eine  Stelle  aus 
der  zeitgenössischen  Correspondance  des  deputes  de  VAnjou  wieder, 
worin  es  heißt:  „Ungeachtet  aller  Verworrenheit  (alle  Welt  redet  dort 
gleichzeitig,  man  regt  sich  ziellos  auf,  man  weiß  nicht,  welcher  Form 
man  folgen  soll;  man  kennt  einander  nicht)  ist  die  Versammlung  schon 
allmächtig  durch  die  Einheit  ihrer  Gefühle  und  den  Strom  der  Meinung, 
der  sie  trägt  und  den  sie  empfindet  unter  ihren  Füßen"  (179). 

Anton  Springer  widmet  in  seinen  Vorlesungen  über  »Die  Ge- 
schichte   des    Revolutionszeitalters    1789 — 1848«    (Prag    1849)    ^^^ 

^)  »»O*  fut  la  noblesse  qui  entra  la  premiire  et  le  plus  hardiment  datts  la  luite  com' 
mune  contre  le  pouvoir  absolu  du  roi" ,  ToCQUEviUR,  Chap.  inidits  de  l'ouvrage  L'ancien 
ri£ime  {Oeuvres  VIII,  p.  97). 


396  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen, 

»literarischen  Opposition«  eine  geistreiche  Betrachtung,  die  er  dahin 
zusammenfaßt:  „So  weit  war  die  öffentHche  Meinung  in  Frankreich 
gekommen:  was  bisher  bestanden,  als  Macht  und  Gewalt  gegolten, 
es  war  durch  die  I^iteratur  zerbröckelt,  in  seine  Bestandteile  aufgelöst 
worden.  Der  innere  Volksgeist  war  bereits  vollständig  revolutionär 
und  lange  konnte  es  nicht  dauern,  daß  er  auch  die  öffentlichen  Zustände 
mit  in  dasselbe  Geleise  nachzog"  (S.  79),  und  „Die  öffentliche  Meinung 
hatte  sich  bereits  zu  stark  ausgesprochen,  zu  nachdrücklich  auf  die 
Widersprüche  im  alten  Staatsleben  hingewiesen,  als  daß  sie  nicht 
selbst  bei  den  Machthabern  am  Throne  Beachtung  gefunden  hätte*' 
(S.  88).  —  Tiefe  EinbHcke  in  den  Geist  und  die  innere  Geschichte 
der  Revolution  gewinnt  man  aus  den  von  Adoi^f  Schmidt  heraus- 
gegebenen »Tableaux«  (lycipzig  1867 — 1870,  Vol.  i — 3),  wo  —  nach 
den  eigenem  Worten  des  Herausgebers  (Pariser  Zustände,  Jan.  1874, 
I,  p.  VII)  —  es  möglich  ist,  das  Innenleben  der  Revolution  zu  be- 
lauschen, den  täglichen  Pulsschlag  der  öffentüchen  Meinung,  die 
Stimmungen  und  Strebungen  der  Bürger  aller  Parteien  und  aller 
Klassen  usw. 

25.  (Die  öffentliche  Meinung  Frankreichs  in  neuerer  Zeit.)  „Was 
war  das  für  ein  neues,  was  für  ein  seltsames  Wort,  das  Wort  »öffentliche 
Meinung«,  das  ein  Minister  zum  ersten  Male  in  die  Ohren  eines  abso- 
luten Monarchen  erschallen  ließ  ?"  In  diesen  Worten  gibt  Louis  Bi,anc 
den  Kindruck  wieder,  den  er  von  der  Entdeckung  dieser  neuzeitlichen 
Macht  empfangen  hat  (Hist.  de  la  revol.  frangaise  II,  52).  Er  weiß 
wohl,  daß  sie  nicht  mit  den  Stimmungen  und  Bestrebungen  der 
großen  Menge,  insbesondere  der  Arbeiterklasse,  deren  Anwalt  er  sein 
will,  zusammenfällt.  Er  spricht  nicht  ausdrücklich  aus,  läßt  aber 
durchblicken,  daß  die  öffentliche  Meinung  der  Teneur  feindlich  war 
und  daß  sie  daraus  für  die  Vorbereitung  der  Gegenrevolution  Nahrung 
sog^).  In  Wahrheit  haben  Nkcker  und  seine  Tochter  Recht,  wenn  sie 
als  die  echte  ÖffentHche  Meinung  in  bezug  auf  das  Verfassungswesen  — 
während  der  Revolutionszeit  und  weit  über  diese  hinaus  —  die  An- 
erkenntnis der  beschränkten  Monarchie,  des  konstitutionellen  König- 
tums, behaupten.  Damit  verband  sich  aber  das  Interesse  für  eine 
tatkräftige  auswärtige  Politik,  für  den  Ruhm  der  französischen 
Waffen  und  die  Eroberung :  ein  so  starkes  Interesse,  daß  es  sogar  das 
Emporkommen    einer    cäsarischen    und    unbeschränkten   Monarchie 

1)  Richtig  bemerkt  auch  der  englische  Historiker  Hoi,i,and  Rose:  „Tai.i,ier 
und  die  anderen  Jakobiner,  welche  Robespierre  durch  den  Staatsstreich  des  10.  Ther- 
midor  stürzten,  dachten  nicht  daran,  mit  Milde  zu  regieren.  Es  war  die  Kraft  der 
nun  endlich  freigesetzten  öffentlichen  Meinung,  was  sie  zur  Mäßigung  zurückfegte, 
und  die  I^eidenschaft  des  französischen  Wesens  versprach  diese  in  Royalismus  um- 
zugestalten."   {Pitt  and  Napoleon,  p.  37.) 


Als  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  französischen  Staat.  397 


nicht  nur  duldete,  sondern  begrüßte.  Immer  wieder  setzt  sich  oder 
wenigstens  ihren  Schein  die  öffentliche  Meinung  durch:  im  kon- 
stitutionellen Gebahren  der  letzten  Jahre  Napoleons  und  der  100  Tage, 
in  der  Charte  Ludwigs  XVIII.,  vor  allem  im  Bürgerkönigtum,^) 
imd  in  der  raschen  Restauration  nach  dessen  Sturz  durch  den 
Februar  1848,  dem  dann  der  neue  Cäsarismus,  mehr  getragen  von  der 
Bauernschaft  als  von  der  öffentHchen  Meinung,  folgte,  die  aber 
schheßhch  das  Empire  liberal  durchsetzte.  „Bis  1860  wurden  keine 
sehr  heftige  Klagen  laut.  Aber  von  1860  an  befriedigte  die  äußere 
undvolkswirtschafthche  PoHtikNAPOi^EONsIII.  die  öffentHche  Meinung 
so  wenig,  daß  er  selbst  die  Notwendigkeit  fühlte,  den  Liberalen  einige 
Zugeständnisse  zu  machen  ..."  Lebon,  Staatsrecht  der  franz.  Rep. 
(Hdb.  d.  ö.  Rechts  IV,  Abt.  6)  p.  17.  Auch  in  der  dritten  RepubHk 
hat  die  öff entUche  Meinung  lange  Zeit  —  bis  an  die  Schwelle  des  neuen 
Jahrhunderts  —  mit  der  republikanischen  Staatsform  sich  nicht 
ausgesöhnt;  nur  die  Furcht  vor  der  vollkommenen  Reaktion  durch 
Armee  und  Kirche,  hielt  die  Bourgeoisie  bei  der  Stange,  während 
der  Einfluß  der  Arbeiterklasse  gleichzeitig  immer  stärker  wurde, 
wenn  er  auch  bisher  nicht  vermocht  hat,  den  bourgeoisen  Charakter 
der  RepubHk  erheblich  zu  modifizieren. 

Die  öffentliche  Meinung  Frankreichs  hat  an  den  Traditionen  des 
Militarismus,  also  des  kriegerischen  Ruhmes  und  der  Eroberung  fest- 
gehalten, die  in  der  französischen  Volksseele  immer  ihren  Widerhall 
gefunden  haben.  Diese  Stimmungen  und  Neigungen,  durch  den  Be- 
freiungskrieg gegen  England  mächtig  angeregt,  von  König  Franz  I. 
gepflegt,  von  Ludwig  XIV.  auf  den  höchsten  Grad  gesteigert,  waren 
doch  vorzugsweise  auf  den  Adel  und  die  ihm  unmittelbar  anhängenden 
Schichten  beschränkt  geblieben,  bis  die  Revolution  und  Napoi^eon 
sie  national  zu  machen  wußten.  Sie  teilten  sich  dem  ganzen  Volke 
mit;  zu  ihrem  Hüter  wurde  die  Bourgeoisie,  die  in  ihren  höheren 
Schichten  den  Idealen  des  Rittertums  zu  huldigen  für  ihre  Pflicht 
hielt.  „Immer  haben  die  Helden  Frankreichs  durch  den  Mut  und  die 
Todesverachtung,  durch  den  unwiderstehHchen  Schwung  und  die 
siegreiche  Expansion,  durch  die  Seelengröße  und  den  ritterlichen 
Geist,  durch  die  Hingebung  an  das  Vaterland  oder  an  die  Menschheit, 
die  Liebe  zur  »Freiheit«,  zur  »Aufklärung«,  zum  »Fortschritt«  —  durch 
solche  Eigenschaften  und  Ideen  haben  sie  die  schhchte  und  unwill- 
kürhche  Phantasie  des  Volkes  verführt"  (FouiLLfiE,  Psychologie  du 
peupie  frangais  p.  387);  wozu  man  hinzufügen  darf,  daß  die  rednerische 
Phrase  dabei  immer  mächtig  mitgewirkt  hat.  Die  öffentliche  Meinung 


*)  Vgl.  Exkurs  über  die  Juli-Revolution  S.  401. 


398  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Frankreichs  ist  chauvinistisch.  Darum  konnte  sie  das  Emporkommen 
Preußens  nicht  ertragen.  Sie  forderte  Rache  für  Water loo  und  erhob 
sich  mit  dem  Schrei  nach  dem  linken  Rheinufer  1840;  Rache  für 
Sadowa,  d.  h.  für  eine  Niederlage,  die  Frankreich  unmittelbar  gar 
nicht,  mittelbar  wenig  berührte;  das  besiegte  Österreich  war  ihm 
seit  Jahrhunderten  der  Feind.  Ein  engHscher  Historiker,  der  ange- 
sehenste der  Epoche  (Rawson  Gardiner,  A  students  history  of 
England  III.  964)  urteilt  so:  „Indem  die  Franzosen  eifersüchtig 
wurden  auf  den  Erfolg  Preußens,  brach  der  Kaiser  Napoi^EON  1870 
einen  Streit  vom  Zaune  mit  dem  König  von  Preußen.'*  Dies  ist 
ebenso  historische  Wahrheit  —  wenn  auch  Bismarck  verstanden 
hatte,  den  Gegner  in  seinem  Netze  zu  fangen  —  wie  es  historische 
Wahrheit  ist,  daß  Frankreichs  kriegerischer  Geist  nicht  geruht  hat, 
bis  sein  verbündetes  Zarenreich  zum  entscheidenden  Angriff  bereit 
war  (1914).  In  auffallendster  Weise  trat  der  miütaristische  Charakter 
der  französischen  öffentlichen  Meinung  hervor  in  der  Dreyfus- 
Af faire.  Die  Verbrecher,  die  es  wagten,  mittels  gefälschter  Urkunden 
die  Verurteilung  zu  bewirken,  wußten,  daß  sie  die  öffentliche  Meinung 
hinter  sich  hatten.  Die  Regierung,  die  so  lange  sich  weigerte,  die 
chose  jugee  wieder  aufnehmen  zu  lassen,  wußte,  daß  die  öffenthche 
Meinung  von  der  Wiederaufnahme  nichts  wissen  wollte.  Wenn  es 
zuletzt  gelang,  die  volle  Freisprechung  des  Verurteilten  und  Schwer- 
bestraften zu  erwirken,  so  ist  die  öffentliche  Meinung  nicht  zu  seinen 
Gunsten  umgeschlagen,  sondern  sie  wurde  durch  die  Wucht  der  ent- 
hüllten Tatsachen  gelähmt;  sie  war  ohnmächtig.  Während  weniger 
Jahre  schwieg  der  rachedurstige  Militarismus;  kaum  rührte  sich  ein- 
mal (im  Jahre  1905)  die  deutsche  Macht  in  einer  Richtung,  die  der 
französischen  Machterweiterung  entgegentrat,  so  war  der  Chauvi- 
nismus wieder  auf  dem  Posten  und  hat  ihn  seitdem  nicht  wieder 
verlassen. 

26.  (Die  Friedensbedingungen  1871.)  H1PP01.YTE  Taine,  einer  der 
stärksten  und  schönsten  Geister  im  Frankreich  des  19.  Jahrhunderts, 
schrieb  am  9.  Oktober  1870  über  „die  öffentliche  Meinung  in  Deutschland 
und  die  Friedensbedingungen"  (Studien,  deutsche  Übers.  S.  210  ff).  Er 
wollte  jene  aufklären  über  die  wirkliche  öffentliche  Meinung  in  Frank- 
reich. „Der  Kaiser  spielte  Würfel  um  die  Wiederherstellung  seiner  per- 
sönlichen Macht.  Die  Kammern,  die  er  ernannt  hatte,  waren  gefügig ; 
mehrere  Journalisten,  die  den  Krieg  predigten,  waren  von  eigennützigen 
Motiven  bewegt  oder  hebten  effekthaschende  Phrasen.  Ihr  Geschrei 
hat  die  Deutschen  betrogen  und  täuscht  sie  noch.  Der  verworrene 
lyärm,  der  von  der  Straße  ausgeht,  verhinderte,  daß  ein  anderes  Wort 
gehört  wurde,  und  zwar  ein  ernstes  und  aufrichtiges,  die  schwache. 


Als  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  französischen  Staat. 


399 


traurige  und  allgemeine  Stimme  der  öffentlichen  Meinung"  ...  Br 
beruft  sich  auf  das,  was  er  —  nach  Ausbruch  des  Krieges  —  in  allen 
Kreisen  und  in  den  verschiedenen  Schichten  der  Gesellschaft  habe 
sagen  hören.  _„Man  zürnte  den  Abgeordneten,  die  den  Mund  Thiers* 
geschlossen  hatten;  man  war  entrüstet  über  die  geheimen  Manöver, 
durch  die  man  die  Straßenkläffer  gewann,  um  die  öf f entüche  Meinung 
unter  ihrem  Geschrei  zu  ersticken."  „Unglücklicherweise  hat  bei 
uns  die  öffentliche  Meinung  nicht  wie  in  England  einen  unmittelbaren 
und  zwingenden  Einfluß  auf  die  öffentlichen  Angelegenheiten:  sie 
äußert  sich  nur  in  Gesprächen,  sie  macht  sich  erst  spät  geltend.  Die 
Fremden,  die  sich  an  die  Kammern  und  die  Zeitungen  halten,  kennen 
von  unserem  Lande  nur  die  öffentliche  Schaustellung  und  .  .  .  kennen 
gar  nicht  oder  verkennen  die  wahren  Gefühle  der  Nation"  .  .  .  „Außer 
den  Feldzügen  in  der  Krim  und  in  ItaHen  hat  die  öffentliche  Meinung 
alle  seine  (NapoIvEons  III.)  Kriege  als  kostbare  und  gefährliche 
Paraden  betrachtet,  die  zum  Nutzen  der  Dynastie  und  zum  Schaden 
der  Nation  erfunden  und  wie  eine  schlechte  Oper  veranstaltet  wurden, 
um  Lärm  zu  verursachen  und  die  Menge  zu  zerstreuen.  Heißt  das, 
daß  die  Nation  Beifall  gespendet  hat?  Sie  hat  sie  geduldet,  aus 
Mangel  an  Pfeifen,  um  sie  zum  Stillschweigen  zu  bringen,  indem  sie 
die  Achseln  zuckte,  sich  die  Ohren  verstopfte,  und  zwar  mit  einer  so 
starken  Mißbilligung,  daß  sich  von  diesem  Augenblick  an  die  Oppo- 
sition wieder  gebildet  hat  und  der  Kaiser  den  Boden  unter  seinen 
Füßen  schwanken  fühlte  und  dann  alles  auf  eine  Karte  setzte."  Wie 
es  scheint,  hat  Taine  eine  unrichtige  Ansicht  von  der  öffentUchen 
Meinung.  Er  schreibt  ihr  eine  schwache  und  traurige  Stimme  zu. 
Was  er  meint,  ist  die  viel  tiefer  liegende,  »unartikuHerte«  (mit  Cari^yi^E 
zu  reden)  Stimme  der  großen  Menge  des  Volkes,  und  innerhalb  dieser 
Menge  wiederum  die  der  älteren  Leute,  die  nicht  so  leicht  und  rasch 
wie  die  Jugend,  von  einem  aus  der  Hauptstadt  und  von  höheren 
Schichten  aus  erhobenen  Geschrei  der  Stimmungsmache  sich  fort- 
reißen lassen.  Bezeichnend  für  Taines  Auffassung  ist,  daß  er  sich 
darauf  beruft,  er  habe  viermal  das  ganze  Frankreich  durchreist  und 
überall  mit  den  Arbeitern  und  noch  mehr  mit  den  Bauern  gesprochen, 
habe  ganze  Monate  hindurch  in  verschiedenen  Dörfern  gewohnt, 
immer  und  überall  habe  er  dieselben  Ideen  getroffen.  (NämHch 
Gedanken  an  ihren  Grundbesitz,  an  die  Zukunft,  an  ihre  Wertpapiere, 
an  ihren  steigenden  Wohlstand,  dem  gegenüber  ihr  Gütchen  durch 
die  Hypothek  und  den  Wucher  fast  nicht  mehr  sich  bedrückt  fühle.) 
Was  das  Bürgertum,  die  Industriellen,  die  Kaufleute,  die  Menschen 
von  freier  Profession  und  die  ganze  Klasse  derer,  die  einen  »Rock« 
tragen  und  Kapital  besitzen,  betreffe,  so  sei  bekanntlich  der  Reichtum 


400  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

ungemein  angewachsen  und  damit  auch  das  Bedürfnis  nach  Komfort. 
Ihren  Geist  dürfe  man  nicht  mit  dem  Geist  jener  Generation  ver- 
gleichen, die  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  lebte,  „damals  als  das 
Heer  die  große  Karriere  bedeutete  und  der  beständige  Krieg  jedem 
Ehrgeiz  grenzenlose  Perspektiven  eröffnete**.  Zu  gleicher  Zeit  sieht 
aber  Taine  voraus:  wenn  die  Deutschen  ihre  Forderungen  (Elsaß 
und  lyothringen)  durchsetzen  sollten,  so  würde  sich  für  ein  Jahr- 
hundert oder  wenigstens  ein  halbes  Jahrhundert  eine  Perspektive  von 
Metzeleien  eröffnen;  das  gebe  zu  denken,  auch  für  Sieger,  „das  Glück 
wechselt"  —  die  Ungerechtigkeit  sei  eine  unverwüstUche  Kriegssaat; 
„in  dieser  Hinsicht  spricht,  wenn  das  Herz  schweigt,  die  Geschichte 
laut  genug**.  Taine  erkannte  nicht,  daß  schon  1866 — 1870  alle  jene 
Franzosen,  die  an  der  nationalen  Ehre  und  der  Tradition  des  Ruhmes 
mit  ganzer  I^eidenschaft  hingen  —  und  diese  Gefühle  hatten  sich  von 
der  »ritterlichen  und  feudalen  Klasse«,  die  Taine  als  heute  veraltet 
und  von  der  Herrschaft  ausgeschlossen  bezeichnet,  über  die  gesamte 
höhere  Bourgeoisie  und  ihre  Bildung  ausgebreitet  —  daß  alle  diese 
Wortführer  und  Träger  der  öffentlichen  Meinung  schon  in  dem 
rivalisierenden  Emporkommen  Preußens  eine  kränkende  Ungerechtig- 
keit erbhckten  und  daß  sie  den  Sieg  dieser  Nebenbuhler  auch  ohne 
die  Annexionen  schwerlich  bald  verschmerzt  hätten.  (Demnach 
wäre  ohne  Zweifel  von  selten  des  neuen  deutschen  Reiches  nur  eine 
auf  Versöhnung  und  Bündnis  gerichtete  PoUtik  gute  und  richtige 
Politik  gewesen!)  Interessant  ist  es,  mit  Taines  Ansicht  diejenige 
eines  nicht  minder  berühmten  deutschen  Historikers  zu  vergleichen. 
Heinrich  von  Treitschke  schrieb  1871:  „Ich  wüßte  nicht,  wann 
jemals  die  öffenthche  Meinung  Europas  eine  so  versteckte  Unge- 
rechtigkeit gezeigt  hätte,  wie  im  Verlaufe  dieses  Krieges,  vornehmlich 
seit  dem  Sturze  Napoi^EONS  III.  Eine  friedfertige  Nation  wird  von 
einem  unruhigen  Nachbarn,  der  sie  seit  Jahrhunderten  mißhandelt 
imd  verhöhnt  hat,  ohne  jeden  Vor  wand  angegriffen;  sie  erhebt  sich 
in  herrlichem  Einmut,  zerschmettert  den  Dränger  in  zwanzig  Schlachten 
und  fordert  schließhch  mit  erstaunlicher  Mäßigung  als  den  Preis 
unerhörter  Siege  eine  I^andschaft,  die  ihr  einst  frevelhaft  geraubt 
worden,  die  ihr  angehört  durch  Geschichte  und  Sprache,  die  ihr  unent- 
behrlich ist,  wenn  die  Wiederkehr  des  Friedensbruches  verhindert 
werden  soll .  .  .  Und  in  einem  solchen  Kampfe,  wo  Recht,  Mäßigung, 
Menschlichkeit  ausschließlich  auf  der  Seite  des  Angegriffenen  erscheint, 
nimmt  die  öffentliche  Meinung  fast  des  gesamten  Auslandes  laut  oder 
heimlich  Partei  für  den  Angreifer;  sie  übernimmt  die  Mitschuld  an 
seinem  Verbrechen,  ermöglicht  ihm  durch  ihren  Beistand  die  Fort- 
setzung des  Krieges**  (Hist.  u.  polit.  Aufsätze,  III,  575). 


Als  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  deutschen  Staat.  401 

27.  (Exkurs.)  (Die  Juli- Revolution.)  „So  riß  die  Gewalt  der  öffent- 
lichen Meinung,  die  für  Erhaltung  der  Monarchie,  Erhöhung  einer 
neuen  Dynastie,  für  die  Bestätigung  der  Revolution  zugleich  und  ihre 
BeschUeßung  war,  alle  Gedanken  un^illkürHch  dieses  Weges ;  ihre 
Schwerkraft  hielt  den  revolutionären  Elementen  selbst  in  dem  Städt- 
haus, dem  Herde  der  Demagogie,  wo  sich  bereits  die  Anwandlungen 
regten,  ein  wenig  Pariser  Commune  zu  spielen,  ein  niederziehendes 
Gewicht"  (Gervinus,  Geschichte  des  19.  Jahrb.,  VIII b,  S.  469). 
,,So  festigte  sich  unter  dem  Gewicht  der  öffentlichen  Meinung  der 
Orleanismus  auf  dem  Stadthause  dem  repubHkanischen  Gedanken 
gegenüber ;  im  Palais  Bourbon  befestigte  er  sich  in  denselben  Stunden 
den  letzten  Versuchen  und  Versuchungen  des  Bourbonismus  gejgen- 
über"  (S.  471).  Dann  über  die  Flucht  der  könighchen  FamiHe:  „Die 
Dauphine  war  in  einer  fast  krampfhaften  Aufregung.  Wie  mußte  ihr 
auch  zumute  sein,  wenn  sie  auf  dieses  Geleite  der  Kommissäre  sah, 
die  selbst  ohne  jeden  Schutz  nichts  neben  und  hinter  sich  hatten  als 
die  moraUsche  Macht  der  öffentUchen  Meinung"  (S.  534).  Gervinus 
nennt  die  Hauptstadt  „die  große  Fabrik  der  Meinungen"  ^)  und 
charakterisiert  die  Handlungsweise  der  Dynastie  dahin,  daß  sie  bei 
ihrer  Verletzung  der  Verfassung  selbst  alle  Ventile  der  öffentlichen 
Meinung  zerbrochen,  alle  Mittel  des  gesetzlichen  Widerstandes  abge- 
schnitten habe  (S.  587).  Nach  Ai^fred  Stern  nahm  auch  die  öffent- 
liche Meinung  des  englischen  Volkes  mit  einer  Wucht,  deren  Gewalt 
keinen  Widerstand  zuließ,  für  die  „glorreiche  Revolution  des  Nach- 
barlandes Partei"  (Gesch.  Europas  IV,  S.  46). 

Vierter  Abschnitt.   Die  öffentliche  Meinung 
im  deutschen  Staat. 

28.  (Allgemeines.)  Es  wurde  ein  Ausspruch  Forsters  angeführt 
und  gebilligt,  wonach  um  die  Zeit  der  französischen  Revolution  eine 
politische  öffentliche  Meinung  in  Deutschland  nicht  mögHch  war. 
Nämlich  nicht  in  dem  Sinne,  wie  sie  in  Frankreich,  und  vorher  schon 
in  England,  auf  die  Gesetzgebung  und  das  übrige  politische  Leben 
einwirkte.  In  der  Tat  wären  die  Bedingungen  dafür  eher  im  Deutsch- 
land des  16.  als  in  dem  des  18.  Jahrhunderts  gegeben  gewesen:  es  gab 
damals  mehr  deutschen  Staat  als  in  der  Zeit  Klopstocks,  Lessings, 
Schillers  und  Goethes.  So  ist  denn  auch  oft  von  der  öffentlichen 
Meinung  als  einer  Macht  im  Zeitalter  der  Reformation  gesprochen 
worden.  Schon  Garve,  dessen  vortreffliche  Studie  »Über  die  öffentHche 
Meinung«  uns  schon  mehrmals  beschäftigt  hat,  spricht  sich  dahin  aus, 

*)  Offenbar  ein  entlehnter  Ausdruck,  da  Gbrvinus  selber  ihn  in  Anführungs- 
zeichen setzt.    Woher? 

Töaaiet.  Kritik.  26 


402  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

keine  Begebenheit  habe  vielleicht  die  Macht  der  öffentlichen  Meinung  (in 
dem  Sinne,  den  er  dem  Worte  gebe)  deutlicher  gezeigt  als  die  Refor- 
mation. „Der,  welcher  glaubt,  daß  die  Predigten  und  Schriften  Luthers 
die  Veränderung  in  den  religiösen  Begriffen  der  Menschen  zuerst  hervor- 
gebracht haben,  welche  sich  von  seiner  Zeit  herschreibt  —  daß  er  der 
Urheber  der  Reformation  sei;  der  schlägt  die  Kraft  eines  Mannes 
zu  hoch  an  und  verkennt  die  Kraft  der  Wahrheit.  Nein,  eben  weil 
schon  vor  Luther,  in  mehreren  christlichen  Ländern,  eine  große 
Anzahl  von  Menschen  so  dachte  wie  er,  die  Ungereimtheiten  bemerkte, 
welche  er  ins  Licht  setzte,  sich  von  denjenigen  Mißbräuchen  gedrückt 
fühlte,  gegen  die  er  sich  erhob,  und  die  Wahrheiten,  welche  er  laut 
predigte,  wenigstens  dunkel  ahndete :  eben  deswegen  war  sein  Anhang 
so  groß  und  die  Ausbreitung  der  Reformation  gleich  in  den  ersten 
J ahren  seiner  Erscheinung  so  schnell.  Es  hatte  sich  eine  öffentliche 
Meinung  gebildet,  daß  eine  Änderung  in  der  Lehre,  den  Gebräuchen, 
und  vornehmlich  in  der  Hierarchie  der  Kirche  vorgehen  müsse;  und 
selbst  über  viele  Punkte  des  neu  zu  errichtenden  Systems  war  man 
im  stillen  zu  einer  Entscheidung  und  Einstimmigkeit  gekommen. 
Daher  der  unerwartete  Beifall,  welchen  der  Mann  in  der  Welt  fand, 
der  diese  gemeinschafthchen  Urteile  vieler  in  seinen  Schriften  gleichsam 
nur  sammelte  und  kundmachte.  Er  wurde  der  Vereinigungspunkt, 
um  den  sich  die  schon  vorhandene  Partei  sammelte,  wodurch  ihre 
Größe  sichtbar  wurde;  er  war  aber  nicht  der  Stifter  derselben." 
Gleichwohl  wird  man  nur  mit  Vorbehalt  von  der  öffentlichen  Meinung 
als  einheitUcher  Macht  im  öffentUchen  Leben  jener  Zeit  reden  dürfen. 
Es  fehlte  der  Zusammenhang  und  Verkehr,  auch  das  Leben  der  Städte 
hatte  noch  fast  ganz  und  gar  lokalen  Charakter  und  wanderte  nur 
schwer  und  längsam  von  einem  Orte  zum  andern.  Auch  beruhten 
die  herrschenden  Stimmungen  gegen  die  Kirche,  die  Klöster  und  die 
Pfaffen,  mehr  in  dumpfen  und  unklaren  Gefühlen,  unterstützt  durch 
Ahnungen  und  Prophezeiungen  der  Schwarmgeister,  als  daß  eine 
scharfe  und  bestimmte  Willensmeinung  auf  Erneuerung  und  Ent- 
weltHchung  des  Kirchenwesens  gerichtet  war.  Die  gesamte  Vor- 
stellungswelt des  Volkes  wurzelte  noch  im  Glauben  und  Aberglauben, 
also  in  der  Überlieferung.  Nur  eine  Minderheit,  in  erster  Linie  die 
Geistlichkeit  selber,  und  von  Laien  fast  nur  Adel  und  wohlhabendere 
Bürger,  waren  des  Lesens  und  des  Schreibens  kundig.  Es  gab  keine 
Zeitungen  und  keine  telegraphischen  Depeschen.  Allgemeiner  als 
Druckschriften  wirkten  noch  Bilder,  man  denke  an  die  Bihlia  Pau- 
perum;  der  Holzschnitt  machte  die  Anschauung  des  Heiligen,  wie 
des  Verhaßten  und  Mißachteten  volkstümlich.  Gelesen  wurden 
natürUch  vorzugsweise  fromme  Schriften,  von  denen  freilich  manche 


Ai,s  Faktor  des  Staatsi^ebens.  —  Im  deutschen  Staat.  403 

die  Verderbnis  der  Welt  und  der  Kirche  anklagten  und  nicht  nur 
Buße,  sondern  auch  politische  Eingriffe  verlangten.  Allerdings  war 
die  erregte  Gesamtstimmung,  durch  zunehmende  Teurung  genährt, 
gegen  Kaufleute  und  Wucherer  ebenso  heftig  wie  gegen  Mönche  und 
W^eltgeisthche,  zum  Teil  auch  gegen  Adel  und  Fürsten  gerichtet, 
etwas  der  öffentlichen  Meinung  Ähnliches,  und  man  darf  sagen,  daß 
die  öffenthche  Meinung  der  deutschen  Nation  eben  damals  in  den 
Anfängen  ihrer  Entwicklung  stand.  Aber  man  war  noch  „viel  zu 
ausschheßUch  auf  den  allgemeinen  Zustand  der  Gesellschaft  gerichtet 
und  auf  die  moralische  Reformation  des  Volkes,  als  daß  man  dem 
Tatsächhchen,  den  Handlungen  viele  Achtsamkeit  hätte  schenken 
können,  wären  sie  auch  bedeutender  gewesen  als  sie  waren"  (Gervinus, 
Gesch.  d.  deutschen  Dichtung  II,  291).  „Wo  irgendeine  Seite  des 
Lebens  so  gewaltig  alles  verschHngt,  wie  in  der  Reformationszeit  das 
MoraHsche  und  ReHgiöse,  da  muß  jede  andere  Seite  notwendigerweise 
verhältnismäßig  darunter  leiden"  (das.  453,  wiederholt  von Schmoi.i,ER, 
Zur  Gesch.  der  nationalökonomischen  Ansichten  in  Deutschland 
während  der  Reformationsperiode:  Tüb.  Zeitschr.  für  d.  ges.  Staats- 
wissensch.  1860,  S.  470).  Man  darf  auch  sagen:  die  öffenthche 
Meinung  war  noch  die  Rehgion,  sie  beruhte  ganz  in  der  Überlieferung 
und  im  Glauben,  auch  wo  sie  auf  Neuerungen  drang,  wollte  sie  nichts 
als  Rettung  und  Wiederherstellung  des  Alten,  Echten;  ihre  Über- 
einstimmung in  wesentlichen  Punkten  war  daher  natürlich,  insoweit 
als  überall  die  unmittelbare  Erfahrung,  der  Augenschein,  Zerstörung 
dieses  Alten,  Echten  offenbar  machte;  sie  bedurfte  verhältnismäßig 
wenig  der  Verständigung  zwischen  den  einander  fernen  Orten,  wenig 
der  überallhin  sich  erstreckenden  Propaganda,  um  universal  und  stark 
zu  werden,  wie  schon  seit  Beginn  des  15.  Jahrhunderts,  und  zwar 
besonders  in  deutschen  Landen,  das  Verlangen  nach  Reform  der 
Kirche  an  Haupt  und  Gliedern  geworden  war.  Im  stillen  war  die 
Ketzerei  überall  verbreitet;  sie  nahm  so  für  sich  das  echte  und 
ursprünghche  Christentum  in  Anspruch;  der  Husitismus  hatte  ihr 
Mut  gemacht,  die  altevangehschen  Gemeinden  standen  miteinander 
in  heimhchem  aber  tiefem  Verständnis,  das  immer  nahe  an  einer 
Verschwörung  war;  unter  mannigfachen  Namen  und  mit  dem  gemein- 
samen Hang  zur  Mystik  und  zu  intensiver  Frommheit  begegneten  sie 
sich  und  kannten  sie  einander.  Für  ihre  ReHgiosität  war  die  Ver- 
werfung der  Kirche  und  der  Widerwille  gegen  die  Priester  selbst- 
verständliche Sache;  dafür  bedurfte  es  keiner  Belehrung  Und  Auf- 
regung. Weil  aber  der  Boden  so  bereitet  war,  darum  schlugen 
Luthers  Flugschriften,  schlug  die  Kunde  von  seinem  mutigen  Auf- 
treten so  mächtig  ein,  und  bewirkten  allerdings,  daß  zeitweihg  eine 

26* 


404  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen, 

Gemeinsamkeit  des  Denkens  imd  Wollens  in  Deutschland  entstand, 
die  man  füglich  als  die  öffentliche  Meinung  ansprechen  kann.  Über- 
haupt tritt  deren  Wesen  um  so  mehr  hervor,  je  mehr  sich  die  Auf- 
merksamkeit weltHchen  Angelegenheiten  zuwendet,  die  bald  auch 
den  poHtischen  Willen  auf  den  Plan  rufen.  So  war  es  der  Fall  bei  den 
wirtschaftlichen  Nöten,  an  deren  Beurteilung  eben  auch  lyUTHER 
mit  seinen  Anklagen  wider  den  Wucher  so  lebhaften  Anteil  nahm. 
„Was  war  natürHcher'*,  meint  Schmoi.i»ER  (a.  a.  O.  S.  505),  indem 
er  darstellt,  wie  die  Kaufleute  ihren  Vorteil  auch  in  der  Geldentwertung 
fanden,  „als  daß  die  öffentHche  Meinung  den  Grund  von  all  dem  in 
den  großen  Handelsgesellschaften  suchte,  daß  man  sie  der  Monopole 
imd  der  willkürlichen  künstlichen  Teuerung  beschuldigte?**  Die 
nächste  Folge  der  Preisveränderung,  da  sie  ja  nur  eine  künstUche 
sein  sollte,  „war  der  Wunsch  der  öffentlichen  Meinung  und  der  Ver- 
such der  Gesetzgebimg,  sie  mit  Gewalt  zu  beschränken  und  zurück- 
zuhalten" (das.  511).  Das  volkswirtschaftHche  Gebiet  ist  offenbar 
dasjenige  gewesen,  auf  dem  sich  die  ÖffentHche  Meinung  am  frühesten 
und  freiesten  entfalten  konnte,  weil  der  Gegenstand  jedem  Haushalter 
nahehegt  und  weil  alles,  was  es  an  Verkehr  gab,  gerade  diese  Erörterung 
befördern  mußte:  nächst  dem  Wetter  ist  die  teure  Zeit,  die  Sorge 
ums  tägUche  Brot  der  sich  unmittelbar  darbietende  Gegenstand  des 
Gespräches,  zwischen  Fremden  wie  zwischen  Freunden.  Und  wo  die 
Tatsachen  reden,  gehen  die  Ansichten  nicht  weit  auseinander:  das 
erleben  wir  heute  (1919/20)  wie  man  es  damals  erlebt  hat.  Überdies 
wirkten  zu  jener  Zeit  noch  das  kirchliche  Wucherverbot  und  das 
religiöse  Mißtrauen  gegen  den  Handel,  die  Abneigung  der  Christen 
gegen  die  Juden  und  die  Furcht  vor  den  Türken  zusammen,  um  die 
natürUche  Unzufriedenheit  mit  den  bestehenden  Zuständen  zu  ver- 
stärken. Religion  geht  hier  unmerkUch  in  die  ÖffentHche  Meinung 
über.  Ganz  langsam  hat  sich  diese  sozusagen  auf  ihre  eigenen  Füße 
gestellt.  Der  naturwissenschaftHche  Historiker  Friedrich  von 
HelIvWAxd  meint  in  besonderem  Bezüge  auf  Deutschland,  es  habe 
„mit  Ende  des  16.  Jahrhunderts  die  öffentHche  Meinung  in  Europa 
ganz  leise  begonnen,  eine  Macht  zu  werden,  der  sich  auch  die  Herrscher 
nimmer  völHg  zu  entziehen  vermochten";  er  will  dadurch  erklären, 
daß  in  den  großen  Kämpfen  zwischen  Österreich  und  dem  empor- 
kommenden Preußenkönige  die  Völker  (wie  die  Literatur  jener  Periode 
beweise)  im  allgemeinen  hinter  ihren  Fürsten  standen  (Kultur- 
geschichte^ II,  520).  Schwerer  wiegt  die  Ansicht  Leopold  Rankes: 
„Nicht  erst  heutzutage  hat  die  öffentHche  Meinung  Einfluß  in  der 
Welt  bekommen;  in  allen  Jahrhunderten  *des  neueren  Europas* 
hat  sie  ein  wichtiges  Lebenselement  ausgemacht"  (Werke,  Bd.  37,  S.  8y). 


AI.S  Faktor  des  Staatsi.ebens.  —  Im  deutschen  Staat.  405 

Auch  Ranke  denkt  dabei  an  Deutschland  mindestens  ebenso  wie  an 
die  im  17.  und  18.  Jahrhundert  voranschreitenden  Staaten.  Deutsch- 
land, ökonomisch  und  poUtisch  zurückgedrängt,  behauptete  und 
steigerte  bald  seine  Bedeutung  für  das  geistige  Leben.  Die  deutschen 
Universitäten  vor  allem,  unter  ihrem  Einflüsse  manche  Höfe  und  Städte, 
nährten  die  philosophisch-wissenschaftUche  Denkungsart,  die  für 
einmütige  Gestaltung  der  öffentUchen  Meinung  maßgebend  wurde. 
Weil  sie  keinem  einheitlichen  deutschen  Staat  gegenüberstand,  so 
mußte  sie  sich  begnügen,  in  jedem  Territorium  auf  die  Neuerungen 
zu  dringen,  die  der  Zeitgeist  verlangte.  Im  17.  Jahrhundert  vor-, 
bereitet,  wurde  so  die  Aufklärung  im  18.  recht  eigentüch  Sache  der 
öffentHchen  Meinung,  in  Deutschland  mehr  als  irgendwo.  Ihre  Ein- 
mütigkeit tritt  dadurch  am  hellsten  zutage,  daß  nicht  nur  die  pro- 
testantische, sondern  auch  die  kathohsche  GeistHchkeit  in  und  mit 
diesem  Strome  schwamm.  Diese  Entwicklung  ist  oft  durch  Meister- 
griffel geschildert  worden;  auch  wenn  man  die  öffentliche  Meinung 
nicht  ausdrückhch  nennt,  so  schildert  man  sie  doch.  „Man  wollte 
vor  allem  geistig  weiter.  Der  Verstand  war  es,  von  dem  man  alles 
Heil  erwartete.  Verstandesmäßig  war  zunächst  die  Betonung  des 
Natürlichen  ...,  verstandesmäßig  anfangs  auch  die  bürgerliche 
Bekämpfung  der  gesellschaftlichen  Unsitten  der  galanten  Welt." 
„Man  faßt  die  »Aufklärung«  falsch  auf,  wenn  man  in  ihr  nur  ein 
geistiges  Vorwärtsstreben  sieht:  ebenso  wichtig  ist  der  durch  sie 
bedingte  moralische  Fortschritt"  (Steinhausen,  Gesch.  der 
deutschen  Kultur,  S.  639,  641).  In  der  Tat  hat  gerade  die  öffentliche 
Meinung,  wie  sie  im  18.  Jahrhundert  in  Deutschland  sich  bildete, 
einen  ausgeprägt  moralischen  Charakter:  sie  beurteilt  kritisch  die 
überlieferten  und  gegenwärtigen  Einrichtungen,  sie  verhält  sich  zu 
vielen  bisher  durch  Herkommen  und  Glauben  geheihgten  verneinend; 
und  zwar  vorzugsweise  aus  moralischen  Gründen,  indem  sie  den 
Maßstab  der  humanen  Gesittung,  der  natürlichen  Freiheit,  des  ver- 
nünftigen Rechts  daran  legt.  Besonders  stark  wirkt  dahin  die  allge- 
mein anerkannte,  vielgepflegte,  insbesondere  den  Beamten  auf  Hoch- 
schulen, und  durch  umfangreiche  Uteratur,  mitgeteilte  philosophische 
Lehre  des  »Naturrechts«,  sowohl  als  natürhches  Privatrecht  wie  als 
allgemeines  Staatsrecht.  Mehr  und  mehr  hatte  sich  in  dieser  Lehre, 
im  Gegensatz  zu  ihrem  früheren  ständischen  Charakter,  die  Stabilierung 
der  unbeschränkten  Souveränität  des  Staates,  repräsentiert  (in  der 
Regel)  durch  den  Fürsten,  herausgestellt,  und  zwar  in  Absicht  auf 
eine  weise  »Policierung«,  die  Ordnung  der  gesellschaftUchen  Ver- 
hältnisse nach  Gesichtspunkten  der  sozialen  Zweckmäßigkeit  oder 
der  Wohlfahrt.    Von  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  her. 


406  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

unter  dem  Einflüsse  des  Thomas  Hobbes,  durch  Autoren  wie 
Puffendorf,  Thomasius,  Chr.  Wolff,  bis  über  die  Mitte  des  i8.  hin- 
aus, war  dieser  Vorzug  des  PoUzeistaates,  der  Wert  einer  aufgeklärten 
Selbstherrschaft  allmählich  beinahe  ein  fester  Bestandteil  der  öffent- 
lichen Meinung  geworden.  Er  wurde  dann  erschüttert  durch  englische 
und  diese  vermittelnde  französische  Einflüsse  (lyOCKE,  Montesquieu), 
so  daß  Verfassung  und  beschränkte  Monarchie  bald  gegen  den  »Des- 
potismus« ausgespielt  wurden.  Dies  stand  offenbar  im  Zusammen- 
hang mit  dem  gleichzeitig  sich  ausbreitenden  Ideal  der  wirtschaft- 
lichen Freiheit;  obgleich  die  Physiokratie  durchaus  den  »Freihandel 
im  Absolutismus«  predigte.  Freiheit  wurde  mehr  und  mehr  die 
Losung;  auch  die  »löbliche«  Gleichheit,  nach  Goethes  Wort, 
wurde  ihr  gern  gesellt,  als  die  beiden  Schlag worte  von  jenseits  der 
Vogesen  herübertönten.  Aber  auf  diese  Jugendträume,  denen  die 
gesamte  Bildung  sich  hingab,  fiel  bald  ein  Mehltau  durch  die 
Schreckenszeit,  den  Prozeß  des  Königs,  die  Revolutionskriege.  Vollends 
die  napoleonische  Unterdrückung  wirkte  wie  Eiseskälte  scheidend 
auf  die  öffentHche  Meinung:  wenn  sie  weite  Kreise  für  sich  gewann 
und  noch  einmal  den  Absolutismus  in  seiner  rationalsten  Gestalt  als 
Cäsarismus  emporleuchten  ließ,  so  wandten  sich  edlere  Gemüter  mit 
Schauder  von  der  ganzen  Modernität  ab,  die  darin  verkörpert  war, 
um  in  die  Vergangenheit,  in  das  sonst  verachtete  Mittelalter  zurück- 
zutauchen:  die  »Romantik«  wurde  auch  in  der  politischen  Denkungs- 
art  Mode.  Bald,  und  überwiegend  das  19.  Jahrhundert  hindurch, 
wurde  doch  an  der  Idee  eines  konstitutionellen  Königtums  fest- 
gehalten; sie  hat  sich  als  ein  festes  Stück  der  öffentlichen  Meinung 
erwiesen,  und  hat  sich  als  solches  auch  zur  gegenwärtigen  Zeit 
(1919/20),  nachdem  seit  einem  Jahre  das  Reich  und  die  Einzelstaaten 
in  RepubUken  verwandelt  worden  sind,  wesentlich  erhalten.  Wenn 
auch  diese  Umwandlung  durch  das  nur  mittelmäßige  Ansehen  und 
die  schwachen  Sympathien,  deren  die  Persönlichkeit  des  Kaisers, 
ebenso  wie  die  PersönUchkeiten  mancher  Einzelmonarchen  sich 
erfreuten,  erleichtert  worden  ist,  so  ist  sie  andererseits  eng  verknüpft 
mit  dem  unglückseligen  Ausgange  des  Weltkrieges  und  erscheint  der 
öffentlichen  Meinung,  sofern  diese  noch  die  Meinung  der  alten  herr- 
schenden Schichten  ist,  als  das  Werk  törichter  oder  verbrecherischer 
Schwärmer  und  Verräter,  in  Verbindung  mit  ausländischen  Machi- 
nationen und  Bestechungsgeldern.  Durch  den  Kontrast  werden  die 
Zustände  der  »alten  Regierung«  in  helleres  Licht  gehoben,  als  worin 
sie  sonst,  belastet  durch  anerkannte  schwere  Irrtümer,  erscheinen 
würden.  Die  Republik  ist  das  Banner  des  Proletariats,  darum  schon 
scheinen  alle  Meinungen,  die  mit  den  Angelegenheiten  des  Kapitals 


Ai,s  Faktor  des  Staatsi^ebens.  —  Im  deutschen  Staat.  407 

und  des  Grundbesitzes  verknüpft  sind,  um  das  Banner  der  Monarchie 
sich  sammeln  zu  sollen,  obschon  offenbar  noch  keine  MögHchkeit 
vorhanden  ist,  es  zu  entfalten.  Wenn  dieser  Zustand  länger  als  ein 
Menschenalter  dauern  sollte,  so  wird  voraussichtHch  die  öffentUche 
Meinung  sich  an  die  repubUkanische  Verfassung  gewöhnen  und  mit 
ihr  aussöhnen;  sollte  sich  sogar  herausstellen,  daß  sie  der  Erhaltung 
der  bestehenden  Gesellschaftsordnung  eher  günstig  als  nachteiUg 
wirken  wird,  so  wird  sie  den  Umsturz  der  Staatsordnung  nicht  nur 
verschmerzen,  sondern  als  Fortschritt  preisen.  So  ist  die  Entwicklung 
in  Frankreich  während  der  letzten  Jahrzehnte  des  19.  Jahrhunderts 
gewesen;  und  die  RepubHk  der  Vereinigten  Staaten  ist  noch  das 
festeste  Bollwerk  der  Bourgeoisie  und  ihres  Privateigentums. 

29.  (Perthes  über  die  deutsche  Staatsgesinnung.)  Ci<EMENS 
Theodor  Perthes  hat  in  durchaus  lehrreicher  Weise  „das  deutsche 
Staatsleben  vor  der  Revolution"  (nämüch  vor  der  französischen  und 
ihren  Wirkungen  auf  das  Deutsche  Reich)  dargestellt.  Der  zweite 
Teil  dieser  Schrift  handelt  von  den  staatbildenden  Kräften  im  deutschen 
Volke  vor  der  Revolution,  und  darin  der  Erste  Abschnitt  von  der 
Staatsgesinnung  des  deutschen  Volkes.  Als  solche  erscheint  zunächst 
der  poHtische  Gehorsam  und  die  pohtische  Treue,  als  deren  Mutter 
aber  die  Gewohnheit,  die  in  keinem  politischen  Zusammenleben  zu 
entbehren  sei.  „Solange  Geist  und  Leben  den  bestehenden  Formen 
innewohnt,  bilden  daher  Gewohnheitstreue  und  Gewohnheitsgehorsam 
eine  große  poHtische  Macht,  welche  in  den  Formen  die  Träger  des 
inneren  Lebens  und  hierdurch  dieses  selbst  schützt  und  bewahrt. 
Wenn  aber  die  bestehenden  Einrichtungen  ihres  früheren  Gehalts 
beraubt  sind,  so  tritt  der  Teil  des  Volkes,  welcher  die  lebensleeren 
Formen  mit  gleich  zäher  Gewohnheit  des  Gehorsams  und  der  Treue 
wie  früher  die  belebten  festhält,  durchaus  in  den  Hintergrund,  da  in 
ihm  kein  eigener  Wille  und  keine  eigene  Tat  sich  findet.  Nichts  als 
die  vis  inertiae  hatte  auch  in  Deutschland  dieser  Teil  des  Volkes  gegen 
Ausgang  des  vorigen  Jahrhunderts  denen  entgegenzusetzen,  welche, 
getrieben  vom  guten  oder  bösen  Prinzip,  entschlossen  waren,  statt 
das  Leben  ihrer  Vorfahren  zu  wiederholen,  selbst  zu  leben  und  wollend 
und  handelnd  in  die  politische  Umbildung  einzugreifen,  zu  welcher 
der  Gang  der  Geschichte  drängte.  Weit  bedeutender  für  die  Zukunft 
Deutschlands  als  die  Gewohnheitstreue  und  der  Gewohnheitsgehorsam 
war  daher  die  Gesinnung  innerhalb  des  deutschen  Volkes,  welche,  sich 
entbindend  von  der  Macht  des  Hergebrachten,  den  bestehenden 
politischen  Formen  entgegentrat.  In  ihrer  historischen  Entwicklung 
und  in  ihrer  Erscheinung  seit  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts bedarf  sie  einer  näheren   Betrachtung"   (202).     Perthes 


4o8  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

schildert  dann  in  einem  Ersten  Kapitel  (203 — 227)  die  politische 
Opposition  in  Deutschland  bis  zum  Ausbruch  des  Dreißigjährigen 
Krieges.  Die  von  ihm  ausführlich  dargestellte  Ansicht  der  Reforma- 
toren über  die  Stellung  der  Untertanen  zur  Obrigkeit  in  weltlichen 
Verhältnissen  sei  tief  in  die  Volksgesinnung  eingedrungen  und  klinge 
vielfach  wieder  in  den  beiden  am  meisten  gelesenen  Volksschrift- 
stellern der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts;  Hans  Sachs  und 
Johann  Fischart.  Nachdem  die  Versuche  der  Ritter  und  der  Bauern, 
Befreiung  von  dem  auf  ihnen  lastenden  Drucke  mit  den  Waffen  zu 
erkämpfen,  durch  die  Siege  der  Fürsten  gescheitert  waren,  sei  die 
Opposition  dieser  beiden  Schichten  aus  der  deutschen  Geschichte 
verschwunden.  Auch  die  Städte,  vielfach  in  diese  Kämpfe  verwickelt, 
büßten  den  I^andesherren  gegenüber  jede  Möglichkeit  ein,  ihrem 
Widerstreben  gegen  die  Hemmungen  des  städtischen  I^ebens  Geltung 
zu  verschaffen.  Nur  die  Opposition  der  Fürsten  gegen  die  Reichs- 
gewalt bHeb,  und  zwar  schließlich  nur  die  der  evangelischen,  da  die 
katholischen  sich  an  den  Kaiser  anschlössen.  Diese  Opposition  führte 
zum  großen  Kriege.  Im  Zweiten  Kapitel  dieses  Abschnittes  zeichnet 
Perthes  die  Umbildung  der  politischen  Opposition  in  Deutschland 
vom  Ende  des  30  jährigen  Krieges  bis  zur  Mitte  des  18.  Jahrhunderts. 
Nur  Trümmer  der  alten  Stände,  die  sich  nun  in  schrofferer  Abge- 
schlossenheit als  zuvor  gegenüberstanden,  überlebten  den  West- 
fäUschen  Frieden.  Für  die  I^andesherren  war  nicht  nur  der  religiöse, 
sondern  auch  der  politische  Grund  zur  Opposition  weggefallen.  Die 
Deutschen  fanden  sich  nur  noch  als  Individuen  nebeneinander,  und 
ausschließlich  die  Opposition  der  Individuen  kommt  noch  in  Frage. 
In  den  Städten  mischten  sich  die  Individuen:  zu  dem  eigentlich 
städtischen  lieben  hatte  sich  ein  lieben  in  Wissenschaft  und  Kunst 
gesellt;  dazu  kamen  die  von  einsamen  Burgen  in  die  Städte  ziehenden 
Ritter,  die  sich  mehrenden  Beamten,  die  Elemente  der  Höfe.  „Aus 
ihrem  gegenseitigen  Verhalten  zueinander  und  aus  der  Wechselwirkung, 
welche  sie  untereinander  übten,  wuchs  sehr  allmählich  und  unbemerkt 
ein  neues,  der  früheren  Zeit  unbekannt  gebliebenes  geistiges  Sein 
hervor,  welches,  da  ein  treffenderer  Ausdruck  fehlt,  als  soziales  lieben 
bezeichnet  werden  mag."  Nach  meinen  Begriffen  würde  ich  eben 
dies  als  »die  Gesellschaft«  bezeichnen,  in  dem  eingeschränkteren  Sinne 
der  Oberschicht,  der  maßgebenden  Kreise,  wie  ihn  auch  Perthes 
versteht,  wenn  er  weiter  sagt:  „Alle,  deren I^ebenstätigkeit  durch  die 
von  ihrem  Berufe  gestellten  Anforderungen  in  körperlicher  Arbeit 
verzehrt  ward,  waren  daher  ausgeschlossen;  alle  dagegen,  deren 
Beiruf  eine  vorwiegend  geistige  Tätigkeit  verlangte  oder  gestattete, 
eingeschlossen.   Die  Bauern,  Handwerker,  Krämer  standen  außerhalb, 


Ai^  Faktor  des  Staatsi^ebens.  —  Im  deutschen  Staat.  409 

die  Gutsbesitzer,  die  allmählich  hervortretenden  Fabrikanten  und 
die  Kaufleute  innerhalb"  der  Gesellschaft.  In  Wirklichkeit  vollzog 
sich  dieser  Prozeß,  den  man  seinem  Ziele  gemäß  die  Ausbildung 
eines  Gesellschafts-  und  Staatsbürgertums  —  der  »Bourgeoisie«  — 
nennen  darf,  in  allen  lyändern,  wenn  er  auch  in  dem  großen  Gebiete 
des  Deutschtums  zunächst  weit  mehr  auf  territorialer  als  auf  nationaler 
Grundlage  geschah.  Eine  ausgeprägte  Form  habe  zwar,  fährt  Perthes 
fort,  der  soziale  Sinn  nicht  gewonnen,  aber  die  Macht,  womit  die 
Einzelnen  ergriffen  und  festgehalten  wurden,  sei  doch  nicht  aus- 
schließlich innerer  Natur  gewesen.  „Vielmehr  bildete  derselbe  in  seiner 
*Konvenienz*  eine  Norm  aus,  welche  so  stark,  ja  stärker  als  ein 
Gesetz  es  vermocht  hätte,  den  Kreis  umgrenzte,  innerhalb  dessen 
die  Einzelnen  sich  bewegen  durften.  Das  Organ  ferner  zur  Wirk- 
samkeit nach  außen,  welches  für  den  Rittersinn  in  dem  Fehderechte, 
für  den  Bürgersinn  in  dem  städtischen  Rechte  lag,  war  für  den  sozialen 
Sinn  die  *öffentliche  Meinung*,  eine  Tat  des  sozialen  I^ebens, 
welche  mitbestimmend  in  die  Zeitverhältnisse  eingriff.  Weil  die  Kraft, 
durch  welche  die  wirkenden  Organe  des  sozialen  Lebens,  die  Kon- 
venienz  nämlich  und  die  öffentHche  Meinung,  hervorgetrieben  war,  in 
einem  dunklen  und  unbestimmten  Gefühl  lag,  so  konnte  auch  den 
politischen  Zuständen  gegenüber  das  soziale  Leben  weder  eine  mit 
besonnener  Einsicht  fest  abgegrenzte  Aufgabe  sich  stellen,  noch  die 
unbestimmten  und  schwankenden  Aufgaben,  welche  es  sich  setzte, 
in  einer  geordneten,  sich  seines  Zieles  bewußten  Weise  verfolgen. 
Weil  femer  das  soziale  Leben  einer  äußeren  Erscheinungsform  ent- 
behrte und  ein  vorwiegend  Inneres  blieb,  so  konnte  es  selbst  körperlos, 
nicht  berührt  und  erregt  werden  durch  den  realen  Druck,  welchen 
menschliche  Willkür  oder  ertötende  Einrichtungen  in  den  staatlichen 
Verhältnissen  ausübten.  Aber  so  oft  politische  Handlungen  oder 
Einrichtungen  auf  ein  ihnen  zugrunde  liegendes  Prinzip  hinwiesen, 
welches  mit  der  durch  die  Konvenienz  des  sozialen  Lebens  festge- 
stellten Auffassungsweise  in  Widerspruch  stand,  fühlte  sich  das 
soziale  Leben  verwundet  und  die  öffentliche  Meinung  begann  den 
Kampf  nicht  gegen  einzelne  politische  Übelstände,  sondern  gegen 
'1-  Prinzip,  aus  dem  sie  sich  wirklich  oder  vermeintlich  ableiteten. 
Handlungen  schreiender  Ungerechtigkeit,  härteste  Bedrückung  Ein- 
zelner kamen  dann  sehr  gelegen,  um  an  ihnen  das  Unheilbringende 
des  bekämpften  Prinzips  anschaulich  zu  machen.« 

„Da  das  soziale  Leben  dnrcli  die  W'cc  lisc  Iwirkun;^,  welche  die 
Einzelnen  als  Einzelne  aufeinander  übten,  sich  gebildet  hatte  und 
deshalb  unter  seinen  Angehörigen  keinen  Unterschied  der  Art  nach 
anerkennen  konnte,  so  wurde,  wenn  auch  nur  ^rhr  allmählich,  die 


410  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Gleichheit  aller  seiner  Elemente  die  Basis,  auf  welcher  die  das  soziale 
lycben  beherrschende  Geistesrichtung  ruhte.  In  den  schroffsten 
Widerspruch  gegen  dieselbe  trat  die  neue  Stellung,  welche  das  deutsche 
Fürstentum  und  die  Nachkommen  der  alten  Ritterschaft  seit  dem 
Ende  des  Dreißigjährigen  Krieges  in  immer  wachsendem  Umfang  für 
sich  in  Anspruch  nahmen.  Der  prätendierten  Stellung  beider  gegen- 
über erhob  sich  die  öffentliche  Meinung  tief  gereizt  zu  dem  noch  jetzt 
nicht  beendeten  Kampf."  In  wesentlicher  Übereinstimmung  mit 
Perthes  sagt  auch  Treitschke:  „Jene  mittleren  Schichten  der 
Gesellschaft,  welche  die  neue  Bildung  tragen,  rückten  dermaßen  in 
den  Vordergrund  des  nationalen  Lebens,  daß  Deutschland  vor  allen 
anderen  Völkern  ein  Land  des  Mittelstandes  wurde;  ihr  sittliches 
Urteil  und  ihr  Kunstgeschmack  bestimmten  die  öffentliche  Meinung" 
(D.  G.  I,  88). 

30.  (Wirkungen  der  Revolution,  Freiherr  VOM  STEIN.)  So  mußte 
die  Revolution  im  Nachbarlande  mächtig  zur  Gestaltung  und  Stärkung 
dieser  Gedankenelemente,  also  zur  Verdichtung  der  politischen 
öffentlichen  Meinung  in  Deutschland  wirken. 

„Denn  wer  leugnet  es  wohl,  daß  hoch  sich  das  Herz  ihm  erhoben 

Ihm  die  freiere  Brust  mit  reineren  Pulsen  geschlagen, 

Als  sich  der  erste  Glanz  der  neuen  Sonne  heranhob. 

Als  man  hörte  vom  Rechte  der  Menschen,  das  allen  gemein  sei. 

Von  der  begeisternden  Freiheit  und  von  der  löbUchen  Gleichheit  1 

Schauten  nicht  alle  Völker  in  jenen  drängenden  Tagen 

Nach  der  Hauptstadt  der  Welt,  die  es  schon  so  lange  gewesen, 

Und  jetzt  mehr  als  je  den  herrlichen  Namen  verdiente? 

Waren  nicht  jener  Männer,  der  ersten  Verkünder  der  Botschaft 

Namen  den  höchsten  gleich,  die  unter  die  Sterne  gesetzt  sind? 

Wuchs  nicht  jeglichem  Menschen  der  Mut  und  der  Geist  und  die  Sprache  ? 

Da  war  jedem  die  Zunge  gelöst;  es  sprachen  die  Greise, 
Männer  und  Jünglinge  laut  voll  hohen  Sinns  und  Gefühles." 

(„Hermann  und  Dorothea,  Kilo:  Das  Zeitalter".) 

Diese  Stimmungen  und  Meinungen  konnten  jtiicht  ohne  Einfluß 
auf  die  poHtischen  Leitungen  bleiben.  In  den  einzelnen  deutschen 
Territorien  und  Staaten,  zumal  solchen,  wo  sie  schon  vor  der  Revo- 
lutionszeit als  gebildeter  Zeitgeist  sich  geregt  hatten,  tritt  dies  im 
letzten  Jahrzehnt  des  18.  und  im  ersten  des  19.  Jahrhunderts  mehr 
und  mehr  zutage.  FreiUch  erwartete  und  erhoffte  man  noch  in  über- 
wiegender Weise  das  Heil  von  den  erleuchteten  I^eitern  des  Staates, 
mehr  schon  von  den  Staatsmännern,  die  es  ihrem  Berufe  nach  waren, 
als  von  den  Fürsten.  Um  so  mehr  richtete  sich  die  MißbiUigung  gegen 
solche  Staatsmänner,  die  für  unfähig,  unaufgeklärt  und  unwissend 
galten,  so  daß  man  ihnen  die  Schuld  am  öffentUchen  Unglück  gab. 


Als  Paktor  des  Staatsi.ebens.  —  Im  deutschen  Staat.  411 

wo  es  sich  eingestellt  hatte,  wie  1806  in  Preußen.  Schon  vor  der 
Katastrophe  sah  der  Freiherr  vom  Stein  sie  herannahen.  Er  entwarf 
am  27.  April  eine  ,, Darstellung  der  fehlerhaften  Organisation  des 
Kabinetts  und  der  Notwendigkeit  der  Bildung  einer  Ministerial- 
konferenz'',  die  er  am  10.  Mai  als  Denkschrift  zuerst  der  Königin  I^uiSE 
und  dann  dem  Könige  überreichte.  Sie  enthielt  die  heftigsten  An- 
klagen gegen  die  Personen  der  Geheimen  Kabinettsräte  Beyme  und 
Lombard  und  des  von  diesen  abhängigen  Ministers  von  Haugwitz. 
Diese  unverantwortUche  Camarilla,  aus  untaugHchen  Menschen 
bestehend,  mache  und  entscheide  alles  —  hingegen  „denen  obersten 
Staatsbeamten  bleibt  die  VerantwortHchkeit  der  Anträge,  der  Aus- 
führung, die  Unterwerfung  unter  die  öffentliche  Meinung'*.  „Die 
neueren  Ereignisse",  heißt  es  dann  weiter,  „w^o  wir  feierlich  sank- 
tionierte Verträge  im  Augenblick  der  Erfüllung  umgangen  und  bald 
darauf  umgestoßen  sahen,  sind  ein  fürchterUch  belehrendes  Beispiel, 
wie  notwendig  es  ist,  Personen  zu  ändern,  wenn  man  Maß- 
regeln ändern  will.  Die  neue  Staatsverwaltung  kann  auch  nur 
durch  die  Entfernung  der  Mitglieder  der  alten  Zutrauen  erlangen, 
da  diese  in  der  öffentlichen  Meinung  tief  gesunken,  und  zum  Teil  mit 
Verachtung  gebrandmarkt  sind"  (G.  H.  Pertz,  Das  lycben  des  Mi- 
nisters Freihr.  vom  Stein  I,  338)^).  Nach  seiner  Absetzung  und  nach 
der  furchtbaren  Niederlage  schrieb  Stein  im  Juni  1807  einen  neuen 
»Verwaltungsplan«,  der  an  jenen  Versuch,  die  Kabinettsherrschaft 
zu  stürzen,  sich  anschloß.  Er  spricht  darin  seine  Überzeugung  von 
der  Vortrefflichkeit  zweckmäßig  gebildeter  »Stände«  aus,  die  er  als 
ein  kräftiges  Mittel  ansehe,  die  Regierung  durch  die  Kenntnisse  und 
das  Ansehen  aller  gebildeten  Klassen  zu  verstärken,  sie  alle  durch 
Überzeugung,  Teilnahme  und  Mitwirkung  bei  den  Nationalangelegen- 
heiten an  den  Staat  zu  knüpfen...,  *und  ein  gut  gebildetes 
Organ  der  öffentlichen  Meinung  zu  erhalten*,  die  rhan  jetzt 
aus  Äußerungen  einzelner  Männer  oder  einzelner  Gesellschaften  ver- 
geblich zu  erraten  bemüht  ist"  (ib.  427).  Er  beruft  sich  hier  auf  seine 
»Diensterfahrung«  und  wir  haben  ein  Zeugnis  vor  uns,  daß  er  als 

»)  Auch  Prinz  Louis  Ferdinand  gehörte  zu  dem  Kreise,  dessen  Bestreben  dahin 
ging,  die  Kabinettsregierung  in  ein  wirkliches  Staatsministerium  umzugestalten. 
Der  Mittelpunkt  dieses  Kreises  war  Stein.  „Das  Ereignis  ist  von  der  allergrößten 
Wichtigkeit  für  unsere  innere  Geschichte;  es  ist  der  Anfang  zur  Bildung  einer  öffent- 
lichen Meinung  in  den  Fragen  innerer  Politik,  der  Anfang  zur  Bildung  einer  politischen 
Partei  in  Preußen."  Paui,  Baili.eu,  Prinz  Louis  Ferdinand,  »Deutsche  Rundschau«, 
Band  XLV,  5,  S.  221.  „Der  König  warf  aber  den  Bittstellern  vor,  daß  sie  selbst  durch 
ihr  Verhalten  die  öffentliche  Meinung  irreführten  und  das  so  notwendige  Vertrauen 
zur  Regierung  schwächten,  tadelte  den  herrschenden  Parteigeist,  der  den  Verfall 
des  Vaterlandes  herbeiführen  werde,  und  verbat  si<  li  übrigens  für  die  Zukunft  «sehr 
bestimmt«  derartige  Eingaben."    Das.,  S.  223. 


412  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Minister  sich  hat  angelegen  sein  lassen,  die  öffentliche  Meinung  in 
politischen  Fragen  zu  erkennen  und  zu  beachten.  Nach  seinem 
zweiten  Rücktritt  schrieb  er  im  März  1810  eine  Denkschrift  über  den 
Geist,  worin  das  Unterrichts wesen  Österreichs  geleitet  werden  sollte. 
Er  klagt  darin  über  den  gewaltsamen  Zustand  der  Dinge  in  Deutsch- 
land. „Ein  eiserner  Druck  lähmt  alle  auf  poHtische  oder  historische 
Gegenstände  angewandte  Geistestätigkeit,  *es  gibt  keine  öffent- 
liche Meynung  mehr*,  die  sich  aus  denen  fr ey  ausgesprochenen, 
sich  wechselseitig  bekämpfenden  Urteilen  der  Menschen  bildet,  und 
es  darf  sich  nur  die  Stimme  der  Schmeichelei  und  des  Beifalls  erheben, 
die  der  Wahrheit,  der  freimütigen  Beurteilung,  des  Unwillens  über 
Unterdrückung  und  zugefügte  Schmach  muß  schweigen"  (Pertz 
II,  424).  Und  doch  tröstet  sich  der  Verfasser:  „Die  Meinung  bekämpft 
siegreich  die  Gewalt,  die  Herrschaft  Napoi^Eons  steht  in  Widerspruch 
mit  der  öffentlichen  Meinung,  mit  der  Vernunft,  sowohl  mit  denen 
eigennützigen  als  mit  denen  edelsten  Gefühlen  des  Menschen,  dem 
Gefühl  für  Recht,  für  Wahrheit  und  Freiheit.**  Die  päpstliche  Herr- 
schaft sei  im  12.  und  13.  Jahrhundert  fester  gegründet  gewesen  als 
die  NapoIwEONS,  „sie  beruhte  in  einem  rehgiösen  Zeitalter,  auf  reli- 
giösen Ideen  .  .  .  und  dennoch  unterlag  diese  Macht  der  öffentlichen 
Meinung**  (ib.  427),  Wenn  man  erwarten  dürfe,  daß  die  liberalen 
und  edleren  Grundsätze  wieder  die  Herrschaft  erhalten  und  in  das 
lieben  treten,  „so  werden  die  Nationen  und  die  Regenten  um  so 
dringender  aufgefordert,  durch  I^eitung  der  lyiteratur  und  der  Er- 
ziehung dahin  zu  wirken,  daß  die  öffentliche  Meinung  kräftig  und 
rein  erhalten,  und  die  Künste  der  Verführung  des  Unterdrückers 
vereitelt  werden**  (428).  Er  spricht  dann  von  der  Anzahl  der  Schrift- 
steller, die  in  Deutschland  größer  sei  als  in  irgendeinem  anderen 
europäischen  I^ande,  da  die  große  Menge  von  I^ehrern  und  jungen 
Leuten,  die  sich  den  Wissenschaften  widmen,  in  ihrem  Beruf,  oft 
auch  in  dem  Wunsch,  ihre  wirtschaftliche  lyage  zu  verbessern,  eine 
Veranlassung  zu  schriftstellerischen  Arbeiten  finde.  „Diese  Zahlen 
versinnHchen  einigermaßen  die  Größe  des  Einflusses  der  Gelehrten 
imd  der  Literatur  auf  die  öffentliche  Meinung,  und  wie  wichtig  es  ist, 
einen  solchen  kräftigen  Hebel  zu  ergreifen,  und  seine  Anwendung 
nicht  dem  Zufall  oder  einer  feindsehgen  Hand  zu  überlassen"  (430). 
„Österreich  sollte  also  die  deutschen  Gelehrten  mehr  benutzen,  um 
auf  die  öffentHche  Meinung  in  Deutschland  zu  wirken,  dieses  würde 
geschehen,  wenn  es  eine  große  Achtung  für  die  Wissenschaft  äußerte, 
dem  Umlauf  der  Ideen  weniger  Hindernisse  in  den  Weg  legte,  aus- 
gezeichnete Gelehrte,  besonders  solche,  die  für  die  gute  Sache  schreiben, 
belohnte,  öffentliche  literarische  Blätter  sich  zu  eigen  machte,  seine 


Ai^  Faktor  des  Staatsi^ebens.  —  Im  deutschen  Staat.  413 


wissenschaftlichen  Anstalten  verbesserte  und  dem  in  Deutschland 
herrschenden  Vorurteil  entgegenwirkte,  als  halte  es  die  Fortschritte 
des  menschlichen  Geistes  zurück  und  lähme  dessen  Kraft  durch  die 
ängstliche  Vormundschaft,  die  es  über  ihn  ausübt*'  (ib.).  Stein  läßt  sich 
dann  aus  über  die  Erziehung  als  das  andere  kräftige  Mittel  zur  Leitung 
des  gegenwärtigen  und  Veredlung  des  zukünftigen  Geschlechts.  In 
seinen  »Staatswissenschaf tUchen  Betrachtungen«,  die  er  um  dieselbe 
Zeit  geschrieben  hat,  klagt  er,  daß  dem  Geist  des  Zeitalters  eine  be- 
stimmte Richtimg  fehle.  „Die  Schriftsteller  der  Nation  haben  zum 
Teil  allen  Abwechslungen  der  äußeren  Verhältnisse  sich  knechtisch 
hingegeben,  die  öffentliche  Meinung  war- geführt,  nur  sehr  wenige 
haben  feste  Grundsätze  aufgestellt  und  sind  diesen  und  der  Wahrheit 
und  dem  Recht  getreu  geblieben"  (446).  Auch  in  diesen  Aphorismen 
kommt  er  darauf  zurück,  Österreich  sollte  die  deutschen  Gelehrten 
mehr  benutzen,  um  auf  die  öffentHche  Meinung  in  Deutschland  zu 
wirken  (452).  Zu  gleicher  Zeit  schloß  er  seine  „Prüfung  des  Harden- 
BERGschen  Finanzplans"  mit  den  Worten:  „Auf  die  Opinion  ist  im 
Preußischen  wenig  Rücksicht  zu  nehmen.  Hier  herrscht  ein  tief 
eingewurzelter  Egoismus,  halbe  Bildung,  Ungebundenheit  vereinigt 
mit  der  nordischen  Gemütslosigkeit  und  Roheit.  Diese  verwilderte 
öffentliche  Meinung  muß  durch  ernsthafte  Strafmittel  berichtiget 
und  nicht  durch  Schonung  und  Nachgiebigkeit  noch  mehr  irregeleitet 
werden"  (491).  Und  in  einer  beigefügten  Denkschrift,  die  besonders 
die  Zweckmäßigkeit  eines  Papiergeldes  in  der  damaligen  Lage  des 
preußischen  Staates  erörtert,  wiederholt  der  berühmte  Staatsmann 
fast  wörtlich  seine  Brünner  Ausführungen  über  die  Aufgabe  der 
Regenten,  durch  Leitung  der  Literatur  und  der  Erziehung  dahin  zu 
\Äirken,  daß  die  öffentliche  Meinung  rein  und  kräftig  erhalten  werde 
(502).  In  einem  Schreiben  an  Gentz  aus  dem  Jahre  1811  bestätigt 
Stein  dessen  Ansicht,  daß  die  Ursache  des  Falles  im  Wert  und 
Kredit  des  österreichischen  Papiergeldes  „in  einer  verwilderten 
öffentlichen  Meinung"  liege,  deren  „Berichtigung  nicht  allein  die 
Angelegenheit  der  Regierung,  sondern  der  Verständigen,  Vermöglichen, 
Angesehenen  der  ganzen  Nation  sei"  (556  f.).  Mit  diesen  und  so  mit  der 
öffentlichen  Meinung,  wie  sie  allerdings  im  übrigen  Deutschland 
lebendiger  war  als  im  damaHgen  Preußen,  hatte  sich  der  Minister  im 
Einklänge  gewußt,  als  er  für  den  erleichterten  Besitz  und  den  freien 
Gebrauch  des  Grundeigentums  und  also  für  Aufhebung  der  Erbunter- 
tänigkeit eintrat.  Die  naturrechtliche  Idee  von  der  Freilu  it  als  dem 
Rechte  des  Menschen  und  Bürgers  hatte  eine  mächtige  Verstärkung 
erfahren  durch  die  physiokratische,  von  Adam  Smith  in  gefälligen 
Fonnen   dringender    gemachte    Befürwortung    der    wirtschaftlichen 


414  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Freiheit.  Auch  Stein  stand  unter  diesen  Einflüssen:  er  verklagte 
damals  die  Leibeigenschaft  als  im  Widerspruch  mit  den  ursprünglichen 
und  unveräußerHchen  Rechten  der  Menschheit,  und  die  willkürhche 
Entsetzung  von  Bauernhöfen  verschaffe  den  Berechtigten  wenig 
Vorteil,  halte  aber  die  Verpflichteten  in  einem  fortdauernden  Zustand 
von  Unmündigkeit,  und  sein  unterhabendes  I^and,  Gebäude  und 
Inventarium  bleibe  von  einer  elenden  Beschaffenheit,  da  es  ihm  nicht 
eigentünüich  gehöre  und  aller  Reiz  fehle,  es  zu  verbessern  und  Kapital 
anzuhäufen  (II,  29).  Seine  tiefere  Einsicht,  die  ihn  von  dem  starken 
Strom  der  Meinung  unabhängig  machte  („der  Grundsatz  der  mög- 
Hchsten  wirtschaftlichen  Freiheit  hatte  damals  die  Herrschaft" 
V.  D.  Goi,Tz,  Die  ländl.  Arbeiterklasse  S.  90)  bewährte  aber  der  Freiherr, 
wenn  er  alsbald,  im  Gegensatz  zu  Vorschlägen  der  Kommission, 
erklärte,  nur  eine  gesetzliche  Einschränkung  der  freien  Disposition 
über  das  Eigentum  werde  bleiben  müssen,  diejenige  nämhch,  welche 
dem  Eigennutz  des  Reicheren  und  Gebildeteren  Grenzen  setze,  und 
das  Einziehen  des  Bauernlandes  zum  Vorwerksland  verhindere.  Dies 
werde  um  so  nötiger  sein,  als  der  im  §  i  erlaubte  freie  Güterverkehr 
die  Veränderungen  mit  der  Herrschaft  vervielfältigen,  und  der 
steigende  Kaufwert  die  neuen  Besitzer  immer  mehr  reizen  werde, 
ihren  Vorteil  zu  suchen  (II,  20).  —  Nachdem  Stein,  um  desto  kräftiger 
gegen  Napoi<EON  zu  wirken,  in  die  Dienste  des  Zaren  getreten  war, 
überreichte  er  diesem  am  13.  September  18 12  Bemerkungen  über  die 
politische  und  militärische  I^age  Deutschlands  von  dem  öster- 
reichischen Hauptmann  von  Pfuei.  (in  französischer  Sprache) :  an  die 
Darstellung  der  Hauptländer  schHeßt  sich  ein  kleiner  Aufsatz  über 
die  Opinion  publique,  dessen  Eingang  hier  verdeutscht  werde :  „Unge- 
achtet der  abweichenden  Verhältnisse,  die  den  öffentHchen  Geist  in 
den  verschiedenen  Teilen  Deutschlands  beeinflussen,  bemerkt  man 
doch  eine  gewisse  Gleichförmigkeit  in  der  Art,  die  Dinge  zu  betrachten 
und  über  die  Ereignisse  nachzudenken,  die  sich  vorbereiten.  Diese 
Gleichförmigkeit  stellt  eine  wohl  ausgeprägte  öffentliche  Meinung 
her"  —  diese  sei,  wie  dann  eingehend  ausgeführt  wird,  durchaus  auf 
Seite  Rußlands,  trotz  aller  Anstrengungen  der  Franzosen,  sie  auf  ihre 
Seite  zu  ziehen.  —  Über  die  deutsche  Bundesakte,  die  am  8.  Juni  1815 
unterzeichnet  wurde,  urteilte  Stein,  wie  bekannt,  von  einer  so  fehler- 
haften Verfassung  lasse  sich  nur  ein  sehr  schwacher  Einfluß  auf  das 
öffentUche  Glück  Deutschlands  erwarten:  „und  man  muß  hoffen, 
daß  die  despotischen  Grundsätze,  von  denen  mehrere  Kabinette  sich 
noch  nicht  losmachen  können,  nach  und  nach  durch  die  öffentliche 
Meinung,  die  Freiheit  der  Presse  und  das  Beispiel  zerstört  werden, 
welches    mehrere    Fürsten,    besonders    Preußen,    geben    zu    wollen 


Als  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  deutschen  Staat.  415 

scheinen,  indem  sie  ihren  Untertanen  eine  weise  und  wohltätige  Ver- 
fassung erteilen"  (IV,  446).  Die  große  Bedeutung,  die  Stein  der 
öffentlichen  Meinung  beilegte,  erhellt  auch  aus  seinen  staatsmän- 
nischen Maßnahmen  und  Anregungen,  ihr  eine  bestimmte  und  er- 
wünschte Richtung  zu  geben,  sie  also  zu  »bearbeiten«,  worauf  an 
anderer  Stelle  zurückzukommen  sein  wird. 

31.  (Die  öffentliche  Meinung  bis  1848,  die  Burschenschaft.)  Nach 
der  Revolution  und  ihren  Wirkungen  in  Deutschland  waren  es  die 
Befreiungskriege,  die  dein  deutschen  Volke  ein  gemeinsames  und 
erhöhtes  nationales  Bewußtsein  gaben,  das  zunächst  überwiegend 
rehgiös  und  romantisch  gestimmt,  mehr  und  mehr  doch  eine  politische 
Ziele  erstrebende  öffentHche  Meinung  wurde.  Als  der  verhängnisvolle, 
von  stumpfen  Ansichten  beherrschte  Wiener  Kongreß  tagte,  da  regte 
sie  sich  überall,  ohne  von  Fürsten  und  Diplomaten  der  Beachtung 
gewürdigt  zu  werden.  „Die  öffentliche  Meinung  in  Deutschland,  von 
den  preußischen  Staatsmännern,  besonders  Humboldt  und  Gneisenau, 
warm  befürwortet,  sprach  sich  energisch  für  die  Rückgabe  der  in 
früheren  Jahrhunderten  dem  Reiche  entrissenen  Gebiete  Elsaß  und 
Lothringen  aus"  (Springer,  Gesch.  d.  Revolutionszeitalters  S.  359). 
Bekannthch  war  es  die  englische  Welt-  und  Gewaltpolitik,  die  diesen 
Akt  der  ausgleichenden  Gerechtigkeit  verhinderte,  obgleich  oder 
vielmehr  weil  er  die  Ruhe  Europas  besser  als  irgendeine  andere  der 
gegen  Napoleons  Reich  zielenden  Maßregeln  gesichert  hätte.  Die 
öffentliche  Meinung  mußte  wachsen  mit  der  zunehmenden  Bedeutung 
des  Bürgertums  und  seines  LiberaUsmus;  dieser  aber  gewann  um  so 
mehr  Energie,  je  mehr  er  gedrückt  wurde  und  sich  durch  die  Fort- 
dauer des  absolutistischen  Regimentes  betrogen  fand.  Dazu  wirkte 
aber  hauptsächhch,  daß  nunmehr  auch  die  größeren  Teile  des  Adels, 
die  sonst,  auf  Wiederherstellung  ihrer  ständischen  Rechte  erpicht, 
mit  der  Bourgeoisie  zusammen,  nach  Repräsentativverfassungen 
gestrebt  hatten,  in  Furcht  vor  der  Revolution,  deren  Schrecken  im 
Nachbarlande  zutage  getreten  waren,  um  Thron  und  Altar  sich 
scharten.  Die  öffentliche  Meinung  entwickelte  sich  als  Opposition 
des  dritten  Standes  gegen  die  RestaurationspoHtik.  Ihr  nächstes, 
mit  Inbrunst  ersehntes  Ziel  war  die  staathche  Einheit  Deutschlands, 
deren  Herstellung  von  den  39  nun  ganz  souverän  gewordenen  Fürsten 
als  Kränkung  ihrer  Rechte  empfunden  und  verabscheut  wurde.  Ihr 
reihte  sich  der  Enthusiasmus  der  gebildeten  Jugend  an,  der  die  Er- 
neuerung des  deutschen  Kaisertums  in  romantischer  Verklärung  sah; 
aber  langsam  rang  sich  auch  das  kommerzielle  und  industrielle  Inter- 
esse des  Bürgertums  zum  Streben  nach  einem  gemeinsam-einheithchen 
Wirtschaftsgebiet  durch,  das  dem  gleichen  Recht,  der  gleichen  Münze, 


4l6  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

gleichem  Maß  und  Gewicht  unterliegen  und  dem  freien  Binnenhandel 
offenstehen  solle;  wo  dieser  Gedanke  einmal  Wurzel  gefaßt  hatte,  er- 
wärmte er  auch  den  trockensten  Geschäftsmann  für  ein  einiges  Deutsch- 
land. Aber  zunächst  war  diese  Vorstellung  eine  Schwärmerei,  die  an 
den  Universitäten  ihren  Herd  hatte.  An  einzelnen  Stellen  entartete 
die  Schwärmerei  in  poHtischen  Wahn.  „Der  Haß,  mit  welchem  die 
öffentHche  Meinung  KoTZEBUK  verfolgte,  gestaltete  sich  (bei  dem 
Studenten  Sand)  zu  der  fixen  Idee,  durch  die  Ermordung  Kotzebubs 
mit  Aufopfenmg  seines  eigenen  I^ebens  das  Vaterland  zu  retten" 
(Springer,  1.  c.  393).  Die  Tat  war  allerdings  ein  Flammenzeichen. 
Darum  versuchten  die  »Karlsbader  Beschlüsse«  1819  dies  Feuer  im 
Keime  zu  ersticken,  als  die  Bundesregierungen  sich  gegeneinander 
verpfhchteten,  „Universitäts-  und  andere  lychrer,  die  ...  durch 
Verbreitung  verderbücher,  der  öffentHchen  Ordnung  und  Ruhe 
feindseüger,  oder  die  Grundlagen  der  bestehenden  Staatseinrichtungen 
untergrabender  Lehren  ihre  Unfähigkeit  zur  Verwaltung  des  ihnen 
anvertrauten  wichtigen  Amtes  unverkennbar  an  den  Tag  gelegt 
haben,  von  den  Universitäten  und  sonstigen  Ivchranstalten  zu  ent- 
fernen." Es  folgte  (in  §  3)  eine  ausdrückhche  Ächtung  des  „unter 
dem  Namen  der  allgemeinen  Burschenschaft  bekannten  Vereins". 
Von  den  Universitäten  sagt  Friedrich  Paui^sen,  sie  seien  seit  dem 
18.  Jahrhundert  die  Stätten,  von  denen  die  Nation  die  großen  Impulse 
ihres  Lebens  erwarte.  „Sie  sind  ...  die  Bildungsstätten  für  die 
führenden  Klassen,  die  Stätten  wo  die  »öffentHche  Meinung«  für  das 
nächste  Menschenalter  zuerst  Gestalt  gewinnt"  (RichtUnien  der 
jüngsten  Bewegung,  S.  88).  Nächst  den  Universitäten  faßten  die 
Beschlüsse  den  Mißbrauch  der  Presse  scharf  ins  Auge,  alle  Druck- 
schriften außer  Büchern  von  mehr  als  20  Bogen  wurden  —  zunächst 
für  5  Jahre  —  einer  strengen  Zensur  unterworfen;  endHch  wurden 
strenge  Maßregeln  gegen  revolutionäre  Umtriebe  und  demagogische 
Verbindungen  einer  Zentral-Untersuchungs-Kommission  zur  PfUcht 
gemacht.  Die  Karlsbader  Beschlüsse,  urteilt  Treitschke,  verwirrten 
und  verwüsteten  die  öffentHche  Meinung  von  Grund  aus  (D.  G.  II,  573), 
und,  als  die  Demagogenverfolgung  zu  rasen  begonnen  hatte,  sei  die 
ohnehin  verstimmte  öffentHche  Meinung  in  hellem  Zorne  aufgebraust, 
als  der  Herausgeber  des  Rheinischen  Merkurs  (JosEF  Görres)  .  .  . 
vom  preußischen  Staate  ausgestoßen  und  von  seinen  alten  Todfeinden, 
den  Franzosen  ....  mit  unverhohlener  Schadefifreude  großmütig 
beschützt  wurde  (ib.  579).  Stein,  der  ungeachtet  seiner  immer  heftiger 
gewordenen  Abneigung  gegen  „das  fratzenhafte  und  zum  Teil  auch 
verbrecherische  .  .  .  Treiben  mehrerer  dunkel  voller  Gelehrten"  offen 
gestand,  daß  ihm  die  Karlsbader  Maßregeln  mißfielen,  bezeichnete 


Als  Faktor  des  Staatsi^kbens.  —  Im  deutschen  Staat.  417 

als  Lehre  der  »Demagogen«,  diese  seien  das  Resultat  einer  Adels- 
verschwörung gegen  die  Volksfreiheit  (V,  452).  Diese  Ansicht  und 
die  damit  verbundene  Verurteilung  war  offenbar  die  Antwort  der 
öffentlichen  Meinung  des  Tages,  die  allmähUch  sich  verdichtete.  Zu 
den  Zeugnissen  ihrer  Entwicklung  gehört  die  immer  lebhafter  werdende 
theoretische  Beschäftigung  mit  der  öffentHchen  Meinung;  ihren 
Spuren  werden  wir  später  nachgehen.  Darin  gab  sich  zugleich  ihre 
Schätzung  und  das  Verlangen  nach  freier  Meinungsäußerung,  insbe- 
sondere üterarischer,  also  nach  Preßfreiheit,  kund,  die  schon  lange 
auf  dem,  wenn  auch  noch  ungestalteten,  Programm  des  poHtischen 
LiberaHsmus  gestanden  hatte.  Eine  Sturmflut  der  öffentlichen 
Meinung  erregten  mehrere  hervorstechende  Begebenheiten:  auf  den 
hannoverschen  Verfassungsbruch  und  die  Eidesverweigerung  der 
»Göttinger  Sieben«  ist  in  früherem  Zusammenhange  schon  Bezug 
genommen  worden  (III).  Diese  gesamte  Richtung  schritt,  bis  sie  im 
Jahre  1848  siegreich  wurde,  über  zwei  große  Stufen  vor:  die  erste 
war  die  der  französischen  Juli- Revolution  gewesen,  die  sehr  stark 
auf  Deutschland  zurückwirkte,  die  andere  wurde  die  des  preußischen 
Thronwechsels  (1840),  an  den  sich  die  Uberalen  Hoffnungen  knüpften, 
obgleich  sich  bald  herausstellte,  daß  der  gekrönte  Romantiker  viel 
weniger  modern  dachte,  als  sein  nüchterner  und  beschränkter  Vater. 
Die  öffenthche  Meinung  erstarkte  im  jungen  Deutschland  und  der 
sog.  Linken  der  HegeUaner,  so  daß  der  jugendliche  Weltstürmer 
Friedrich  Engels,  der  auch  diese  Veste  einzunehmen  gedachte, 
im  Vorwort  seines  Aufsehen  erregenden  Buches  »Die  Lage  der 
arbeitenden  Klasse  in  England«  zu  schreiben  wagte,  die  Mittelklasse 
oder  Bourgeoisie  sei  in  Frankreich  und  England  direkt,  in  Deutschland 
als  »öffenthche  Meinung«  indirekt  im  Besitze  der  Staatsmacht  (Ausg. 
1892,  p.  XXXII).  Endlich  erhob  sich  dann  die  öffentliche  Meinung 
und  die  Klasse,  in  deren  Namen  sie  sich  äußerte,  gegen  den  Absolutismus, 
der  unter  Friedrich  Wilhelm  IV.,  wie  unter  anderen  deutschen 
Monarchen  die  Reste  des  Feudalismus  liebevoll  unter  seine  Fittiche 
genommen  hatte:  die  Revolution  von  1848  hob  also  auch  die  Macht 
der  öffentlichen  Meinung  rasch  und  bedeutsam  empor.  Es  war  die 
in  den  tiefsten  Hintergrund  gedrängte  Bundesversammlung,  die  am 
18.  Mai  erklärte,  die  deutschen  Regierungen  und  sie  als  deren  gemein- 
schaftliches Organ,  „aufrichtig  huldigend  dem  neuen  Geiste  der  Zeit", 
reichten  den  National  Vertretern  die  Hand  zum  Willkomm;  sie  hätte 
auch  sagen  können,  daß  sie  der  öffentlichen  Meinung,  die  über  sie 
t  den  Stab  gebrochen  hatte,  die  Schlüssel  der  eroberten  Stadt 
-.-^.cgenbringe.  »So  wurde  der  Preußische  Vereinigte  Landtag  von 
der  Flutwelle  der  öffentüchen  Meinung  getragen  und  wurde  sich 

TOnnie».  Kritik.  27 


41 8  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

dessen  bewußt,  so  schwach  auch  der  lyiberaHsmus  in  ihm  vertreten 
war.  Die  öffentHche  Meinung  jener  Zeit  hatte  in  manchen  Stücken 
auch  einen  konservativen  Charakter,  besonders  in  rehgiösen  Fragen. 
Der  Minister  Eichhorn  berief  sich  darauf  bei  Beratung  des  Antrages 
auf  Änderung  der  ständischen  Gesetzgebung  und  Erweiterung  der 
Rechte  der  Dissidenten  (20.  Mai  1847).  Dazu  sagte  der  schlesische 
städtische  Abgeordnete  TschinkB:  „Ich  glaube,  daß  wir  die  öffent- 
Hche Meinung  gern  hören  und  achten,  ich  glaube,  daß  sie  keinem 
von  uns  gleichgültig  ist,  und  zwar  um  so  weniger,  als  sie  nach 
vielen  Kämpfen  endhch  sich  Geltung  errungen  hat,  als  sie  gottlob 
auch  in  unserem  Staat  bereits  das  Richteramt  ausübt.  Nichtsdesto- 
weniger, glaube  ich,  werden  wir  uns  dem  Herrn  Minister  zu  Dank 
verpfHchtet  fühlen,  daß  er  von  seiner  Seite  der  öffentHchen  Meinung 
eine  Anerkennung  gezollt  hat .  .  .  Ich  meinerseits  muß  bekennen, 
daß  ich  vernommen  habe,  daß  die  öffentHche  Meinung  mit  den 
Ständen  des  preußischen  Reiches  und  ihrem  Wirken  bisher  zufrieden 
war,  daß  die  Stimmen  da  draußen  sich  beifälHg  geäußert  haben  .  .  . 
über  die  feste  aber  gemäße  Stellung,  die  die  preußischen  Stände  bis 
jetzt  eingenommen  haben,  daß  sie  sich  beifälHg  geäußert  haben 
über  die  drei  Grundpfeiler,  die  wir  uns  erkoren  haben  zur  Richt- 
schnur: Recht  und  Pflicht  und  Humanität." 

32.  (Die  Paulskirche.)  Nachdem  das  Vorparlament  den  Grundsatz 
der  Volkssouveränität  aufgesteUt  hatte,  bedeutete  die  deutsche 
Nationalversammlung,  die  am  18.  Mai  in  der  Paulskirche  zusammen- 
trat, einen  unbestrittenen  Triumph  des  schwarz-rot-goldenen  Einheits- 
gedankens, den  die  ÖffentHche  Meinung  einmütig  zu  dem  ihren  ge- 
macht hatte.  Der  Abgeordnete  für  Köln,  Ravbaux,  berief  sich  (am 
27.  Mai)  auf  die  Gesinnungen,  die  der  größere  Teil  Deutschlands  hege. 
„Jeder,  der  widerspricht,  wird  der  öffentlichen  Meinung  wider- 
sprechen, und  diese  öffentHche  Meinung,  sie  spricht  sich  nicht  bloß 
hier  in  diesem  Saale,  sondern  auch  in  der  Presse  aus.*^  In  der  großen 
Debatte  über  die  provisorische  Zentralgewalt  sagte  am  21.  Juni  Herr 
VON  AuERSWAi^D,  er  sei  viel  in  verschiedenen  Teilen  Deutschlands 
herumgereist  und  wisse,  daß  man  überall  denke,  es  müsse  der  öffent- 
Hchen Meinung,  die  in  der  Paulskirche  repräsentiert  werde,  Rechnung 
getragen  werden.  Und  in  der  langen  Aussprache  über  Standesunter- 
schiede, Adel,  Titel  und  Orden,  sprach  am  i.  August  Moritz  Mohi, 
die  Worte:  „Die  öffentHche  Meinung  ist  zu  aufgeklärt,  um  noch 
Geburtsunterschiede  zu  wollen;  die  Bildung  und  das  Rechtsgefühl 
sind  zu  mächtig,  um  vor  der  Tatsache  herkömmlicher  Kastenvorzüge 
sich  zu  beugen."  Und  in  der  gleichen  Frage  erklärte  Moritz  Hart- 
mann (aus  Böhmen):    „der  Adel  ist  eigentHch  in  der  öffentHchen 


Ai^  Faktor  des  Staatsi^bens.  —  Im  deutschen  Staat.  419 

Meinung  getötet,  und  gegen  etwas  liebloses  zu  Felde  zu  ziehen,  gibt 
das  Ansehen  eines  Don  Quixote".  In  der  Paulskirche  nahm  die 
Galerie  einen  sehr  lebhaften  Anteil  an  den  Verhandlungen  und  gab 
zu  manchen  Klagen,  auch  zu  Beschränkungen  der  Öffentlichkeit 
Anlaß.  Dazu  bemerkte  am  i.  September  WiESNKR  von  Wien  treffend, 
in  England  sei  die  Gegenwart  des  Publikums  durch  ein  altes  Gesetz 
verboten.  „Die  Macht  der  öffentlichen  Meinung  hat  aber  so  sehr 
gesiegt,  daß  man  über  das  alte  Gesetz  wegschritt."  Er  hätte  wohl 
hinzufügen  mögen,  daß  eine  mächtige  öffentHche  Meinung  in  betreff 
einer  solchen  Sache  in  Deutschland  schwerhch  zu  finden  sei.  Hingegen 
behauptete  Eisenmann  von  Würzburg  am  14.  September,  als  es  sich 
um  den  traurigen  Waffenstillstand  von  Malmö  handelte,  wohl  mit 
Recht,  es  herrsche  allenthalben  in  Deutschland  die  größte  Aufregung 
gegen  die  Annahme:  nicht  nur  die  Demokraten  oder  die  roten  Re- 
publikaner, sondern  alle  konstitutionellen  Vereine  von  München  bis 
an  den  Rhein,  seien  darüber  einig.  Der  Volksvertreter  müsse  den 
Mut  haben,  einer  gemachten  öffentlichen  Meinungzu  trotzen, 
wenn  es  das  Wohl  seines  Vaterlandes  fordere.  „Wenn  man  sich  aber 
überzeugt,  daß  die  große  Mehrheit  des  Volkes  einen  entschiedenen 
Entschluß  fordert,  wenn  man  sich  überzeugt,  daß  man  durch  Nach- 
geben  der  Nationalversammlung  das  notwendige  Vertrauen  raubt, 
daß  man  ihren  morahschen  Einfluß  vernichtet  und  so  die  letzte  Stütze 
ruiniert,  auf  der  vielleicht  noch  die  deutsche  Ordnung  sich  halten 
kann,  dann  ist  es  unsere  Pflicht,  die  öffentUche  Meinung  zu  hören." 
Er  riet  deshalb,  man  möge  das  Verzeichnis  aller  Adressen  und  Pe- 
titionen über  den  Gegenstand  hören,  ehe  man  ein  endliches  Urteil 
fälle.  Dies  geschah  am  folgenden  Tage  durch  den  Sekretär  Simson. 
Und  dazu  sagte  Robert  Bi.um  am  16. :  „Man  weist  hin  auf  die  öffent- 
liche Meinung;  ihr  Ausspruch  Hegt  nahe  genug,  wenn  von  67  Ein- 
gaben 66  sich  in  einem  und  demselben  Sinne  aussprechen."  —  Inter- 
essant ist  auch  die  Bemerkung,  die  am  22.  September  in  der  langen 
Debatte  über  das  Schulwesen  Friedrich  (von  Bamberg)  machte :  „In 
früherer  Zeit",  sagte  er,  „waren  die  Schullehrer  bescheidener  in  ihren 
Anforderungen;  allmählich  sind  sie  mutiger  geworden,  je  mehr  sie 
sich  der  Gunst  der  öffentlichen  Meinung  versichert  halten  konnten"  .  .  . 
Diese  Gunst  hatte  auch  über  die  Nationalversammlung  wie  ein  weicher 
Frühlingsregen  sich  ergossen;  bald  aber  trat  Dürre  ein.  Als  im 
Oktober  der  Ausspruch  der  Times  in  der  Versammlung  berichtet  wurde 
—  die  Nationalversammlung  sei  ein  Schatten  und  der  Reichsverweser 
sei  ein  Schatten  dieses  Schattens  — ,  da  war  in  Wahrheit  auch  in 
Deutschland  selber  das  Vertrauen  schon  gewichen,  die  Meinung 
erlahmt.     Bald    folgte    die   Reaktion    in   Preußen;    die   Frage    des 

22* 


420  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Verhältnisses  zu  Österreich  trat  zu  gleicher  Zeit  in  den  Vordergrund. 
Am  6.  Januar  1849  sprach  LÖWE  (von  Calbe)  sich  dahin  aus,  die 
Geschichte  werde  ihr  Urteil  über  diese  Versammlung  dahin  aus- 
sprechen, daß  der  größte  Scharfsinn,  der  ganze  Aufwand  des  Geistes 
dafür  dagewesen  sei,  wie  man  sich  die  Verhältnisse  so  zurechtlegen 
körme,  „daß  man  keinen  Entschluß  zu  fassen  braucht,  daß  nichts 
geschieht!"  „So  stehen  wir  auch  heute  den  preußischen  Verhältnissen 
gegenüber."  Als  er  das  letztemal  geredet  habe,  sei  alles  noch  in  der 
blauen  Zukunft  verborgen  gewesen,  „damals  war  Furcht  vor  dem 
großen  Kampfe,  der  entbrennen  könnte  zwischen  Volk  und  Krone, 
und  man  wagte  damals  noch  nicht,  über  die  öffenthche  Meinung  so 
mit  Stiefeln  und  Sporen  fortzugehen,  wie  das  in  der  letzten  Zeit  Sitte 
geworden".  Am  11.  Januar  begann  aber  Wü^heIvM  Jordan  eine 
seiner  dichterischen  Reden  mit  den  Worten :  „Der  PoHtiker,  sagt  man, 
soll  Ehrfurcht  haben  vor  der  öffentHchen  Meinung."  In  den  letzten 
Wochen,  da  die  österreichische  Frage  entladungsreif  in  den  Zenit 
hinaufgerückt  sei  und  alle  Federn  und  Druckerpressen  beschäftige, 
sei  es  ihm  sehr  schwer  geworden,  jenes  Gebot  zu  erfüllen;  den  Fanatis- 
mus der  Phrase  gegen  die  nüchterne  Notwendigkeit  und  die  Rück- 
sichtslosigkeit der  poHtischen  Phantasie  gegen  die  Gewalt  der  hand- 
greifhchen  Dinge:  „alles  das  haben  wir  in  reichem  Maße  entfaltet 
gesehen  auf  dem  Felde  der  öffentHchen  Meinung".  Der  zum  Präsi- 
denten des  Reichsministerrats  gewählte  Herr  von  Gagern  ver- 
teidigte sich  am  13.  Januar  gegen  den  Vorwurf,  er  trage  Mitschuld 
daran,  daß  die  theoretische  Richtung  auf  Bildung  einer  tabula  rasa 
im  die  Konstituierung  Deutschlands  nicht  habe  mit  Erfolg  ange- 
schlagen werden  können.  Er  gedenke  mit  hoher  Achtimg  der  Erhebung 
des  Volkes,  welche  das  Vorparlament  hervorrief,  habe  aber  der  Wirk- 
samkeit des  Vorparlaments  niemals  eine  andere  Berechtigung  vin- 
diziert, als  die  eines  entschiedenen  und  unzweideutigen  Ausdrucks 
der  ÖffentHchen  Meinung,  mittels  einer  freiwilHgen  Versammlimg, 
die  das  Vertrauen  der  Nation  sich  erworben  hatte,  und  die  auf  Grund 
dieses  Vertrauens  Aussprüche  tat,  die  sich  allgemein  Geltung  ver- 
schafften. Er  spricht  dann  von  der  Veranlassung  der  Revolution  in 
BerHn,  die  er  in  dem  Streben  nach  einer  Gesamtvertretung  des 
preußischen  Staats  an  SteUe  der  von  der  öffentHchen  Meinung  für 
ungenügend  erachteten  Institutionen  erblicken  will.  Auch  für  die 
Herstellung  des  starken  Bundesstaates,  also  der  deutschen  Einheit, 
werde  die  aUein  praktische  Idee  sich  in  der  öffentHchen  Meinung 
weiter  Bahn  brechen.  Es  war  die  große  Staatsrede  zugunsten  des 
Erbkaisertums,  die  auf  der  Rechten  und  im  Zentrum  sehr  starken 
Beifall  erntete,  während  auf  der  Linken  Unruhe  und  heftiges  Zischen 


Ai^  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  deutschen  Staat.  42 1 

antwortete.  Eingehend  erörterte  am  17.  Januar  der  Heidelberger 
Historiker  HagEN,  warum  die  Dynastie  Hohenzollern  den  Wünschen, 
Hoffnungen  und  Bestrebungen  des  deutschen  Volkes  niemals  ent- 
gegengekommen sei;  man  könne  nicht  glauben,  daß  die  absolutistische 
Richtung  der  preußischen  Regierung  mit  dem  März  auf  einmal  ver- 
schwunden sei,  einer  Regierung,  ,, welche  von  der  öffentlichen  Meinung 
seit  33  Jahren  immer  aufgefordert  worden  ist,  eine  konstitutionelle 
Regierungsform  zu  geben,  welche  aber  niemals  diesem  Wunsche 
Gehör  geliehen  hat",  bis  sie  dazu  gezwungen  wurde.  In  einem  Teile 
von  Deutschland  wenigstens  sei  die  öffentliche  Meinung  gegen  Preußen. 
Der  Redner  kritisiert  mit  Schärfe  die  verschiedenen  Vorschläge  des 
Erb-  wie  des  Wahlkaisertums,  und  des  Direktoriums.  Er  stimme  für 
einen  verantwortlichen  und  zeitweiligen  Präsidenten.  Ob  ein  solcher 
die  Macht  habe,  Deutschland  zu  regieren  ?  Die  Machtfrage  sei  aller- 
dings von  größter  Bedeutung.  „Sie  wissen,  meine  Herren,  wir  hatten 
auch  einmal  eine  Macht,  obwohl  uns  weiter  nichts  zu  Gebote  stand 
als  die  öffentliche  Meinung;  aber  sie  ist  es,  welche  immer  und  ewig 
die  meiste  Macht  gibt."  Er  schließt  mit  dem  Wunsche,  daß  ein  neues 
Parlament  gewählt  werde,  welches  entschieden  die  öffentliche  Meinung 
repräsentiere.  „Meine  Herren,  der  Geist  der  deutschen  Freiheit  ist 
fähig,  Armeen  aus  der  Erde  zu  stampfen."  Der  Darmstädter  Schulz 
beantragte  die  erste  Ernennung  des  Oberhaupts  auf  nur  ein  Jahr  und 
berief  sich  zur  Begründung  zuerst  auf  den  schwankenden  Zustand 
der  öffentlichen  Meinung  in  Deutschland,  namentlich,  daß  über  die 
Oberhauptsfrage  die  Meinung  höchst  geteilt  sei.  Bassermann,  der 
beredt  für  das  Erbkaisertum  eintrat,  bekannte  zugleich  seinen 
Glauben  an  eine  deutsche  Zukunft,  die  politische  Zukunft  beruhe 
aber  auf  der  Zukunft  der  Parteien,  und  das  lieben  der  Parteien  beruhe 
auf  der  öffentlichen  Meinung,  er  achte  die  öffentliche  Meinung  zu 
sehr,  als  daß  er  nicht  glaube,  einiges  beitragen  zu  müssen  zu  ihrer 
Aufklärung  und  Berichtigung.  Der  Kölner  ReichenspergeR  bestritt 
mit  dem  Erbkaisertum  zugleich  den  Wert  der  öffenthchen  Meinung. 
Ihr  Gewicht  gehöre  zu  den  Argumenten,  die  man  vorzugsweise  für 
den  preußischen  Erbkaiser  anführe.  „Man  sagt,  dieselbe  habe  sich 
auf  das  entschiedenste  für  den  Plan  ausgesprochen  und  müsse  schon 
für  sich  allein  maßgebend  sein."  Er  bezweifle  das,  wolle  aber  auch 
daran  erinnern,  wie  diese  sogenannte  öffentliche  Meinung  in 
der  dänischen  Waffenstillstandssache  so  plötzlich  zu  Falle  gekommen 
sei;  erinnern  wolle  er  an  die  neuliche  wilde  Jagd  auf  das  Ministerium 
Brandenburg,  erinnern,  wie  diese  öffentliche  Meinung,  nachdem 
sie  in  Frankreich  vor  wenigen  Monaten  noch  erst  der  Republik  zu- 
gejauchzt, in  den  letzten  Tagen  eine  Verschwörung  von  6  Millionen 


422  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Franzosen  gegen  Cavaignac  organisierte,  und  warum  ?,  „weil  er,  wie 
selbst  seine  Gegner  zugeben,  der  honetteste  unter  den  Republikanern 
ist".  Wenn  es  sich  wirklich  begeben  sollte  oder  könnte,  daß  Herrn 
Bassermanns  erblicher  Kaiser  so  aller  Sympathien  bar  dastünde, 
so  wurzellos  in  der  öffentlichen  Meinung  wie  I^amartine  in  Frank- 
reich, so  sähe  es  wahrHch  schlecht  aus  um  diesen  Kaiser,  trotz  aller 
Erblichkeit  und  äußeren  Macht.  In  den  sich  anschließenden  endlosen 
Debatten  über  Reichsoberhaupt  und  Reichsrat  führte  der  Demokrat 
Wn^HKiyM  Zimmermann  (von  Stuttgart)  als  Ausspruch  eines  be- 
rühmten Staatsmannes,  den  er  sich  zu  eigen  machte,  an:  „Wenn 
auch  die  physische,  die  Mihtärmacht  noch  so  gering  wäre,  die  öffent- 
liche Meinung,  die  eine  Regierung  für  sich  hat,  wird  diese  kleine 
Militärmacht  verhundertfachen."  Am  i.  Februar  aber  sagte  der 
Freiherr  von  Vincke,  der  das  absolute  Veto  des  Oberhauptes  in  Ver- 
fassungsfragen verteidigte,  nachdem  er  seine  Ansicht  über  die  Re- 
volution ausgesprochen :  „und  wenn  die  öffentliche  Meinung  wirkHch 
die  Macht  ist,  wofür  wir  sie  haken,  so  wird  ihre  Wirksamkeit  sich 
auch  geltend  machen  in  der  Verfassung  und  wird  Sie  schützen  davor, 
eine  Revolution  notwendig  zu  finden ;  und  wenn  Sie  der  öffentlichen 
Meinung,  wie  Sie  es  getan  haben  und  täglich  tun,  auf  den  Thron 
verholfen  haben  in  Kuropa,  so  haben  wir  keine  Revolution  zu  scheuen ; 
aber  auch  wahrlich  nicht,  daß  das  absolute  Veto  imstande  sein  wird, 
der  öffentlichen  Meinung,  wenn  sie  eine  wahrhafte  Gewalt  geworden 
ist,  einen  wirksamen  Damm  entgegenzusetzen,  und  Sie  haben  daher 
keine  Ursache,  gegen  das  absolute  Veto  zu  stimmen"  .  .  .  „sollte  über- 
haupt eine  Änderung  der  Regierungsform  in  der  öffentHchen  Meinung 
notwendig  erscheinen,  und  die  ungeheure  Mehrheit  konsequent  sich 
dafür  aussprechen,  so  bin  ich  der  Ansicht,  daß  die  öffentliche  Meinung 
allein  hinreichende  Macht  haben  wird,  ihren  Zweck  zu  erreichen, 
und  daß  nicht  das  Wort  eines  Fürsten  ihr  einen  Damm  wird  entgegen- 
stellen können."  Der  Berliner  NeuwerCK  bestritt  am  13.  Februar 
diese  Ansicht.  Die  deutsche  Geschichte  beweise  das  Gegenteil.  „War 
das  etwa  die  moralische  Macht,  welche  im  März  die  Revolution 
hervorrief?  Nein,  es  war  eine  ganz  ehrliche,  materielle,  bewaffnete 
Macht.  War  das  etwa  die  öffentliche  Meinung,  welche  alle  Fürsten 
und  Regierungen  mit  einem  Schlage  nötigte,  sich  auf  den  Kopf  zu 
stellen?"  In  derselben  Sitzung  meinte  aber  ein  anderes  Mitglied  der 
Linken,  RödingER  (von  Stuttgart),  in  pathetischem  IdeaUsmus: 
„Gibt  es  aber  ein  Mittel,  die  öffentUche  vernünftige  Meinung,  den 
ÖffentHchen  Geist,  den  Volksgeist,  ja  man  kann  in  gewissem  Sinne 
wohl  sagen,  den  Weltgeist,  zuzuziehen  zur  Entwicklung  des  Menschen... 
gibt  es  ein  solches  Mittel,  den  Krieg  unmöglich  zu  machen,  und 


Als  Faktor  des  StaatsIvEbens.  —  Im  deutschen  Staat.  423 

unmöglich  zu  machen  die  Revolution;  so,  denke  ich,  müssen  wir  zu- 
greifen und  dürfen  nicht  die  Abweisung  an  die  hinfällige  Hoffnung 
knüpfen,  daß  wir  auf  dem  bisherigen  Wege  auskommen  können." 
Wie  viele  hinfällige  Hoffnungen  hat  der  Weltgeist  versinken  sehen 
auf  unserer  Erde,  seit  diese  guten  Worte  gesprochen  wurden!  —  In 
der  Debatte  über  öffentliche  oder  geheime  Wahl  verteidigte  RiESSER 
(Hamburg)  am  27.  Februar  jene,  u.  a.  mit  den  Worten,  die  sich  gegen 
den  Vorwurf  wandten,  man  wolle  doch  in  anderen  Akten  des  Staats- 
lebens nicht  die  volle  öf f entHchkeit :  „jede  poH tische  Handlung  soll 
in  dem  AugenbUcke,  wo  sie  zur  Tat  wird,  nach  den  Regierungsgrund- 
sätzen, zu  denen  wir  uns  alle  einstimmig  bekennen,  vor  das  Licht  der 
öffentUchkeit,  vor  den  Richterstuhl  der  öffentlichen  Meinung  treten". 
Er  berief  sich  dann  mehrfach  auf  die  öffentliche  Meinung  in  England, 
der  das  allgemeine  Wahlrecht  nicht  entspreche,  in  England,  dessen 
Kraft  und  Heil  darin  Hege,  daß  es  auf  dem  Boden  seiner  Verfassung 
ohne  gewaltsame  Umwälzung  die  Reformen,  deren  es  bedarf,  und 
die  sich  allmähHch  in  der  öffentlichen  Meinung  Bahn  brechen,  erhalten 
kann.  Reichensperger  sprach  gegen  das  direkte  Wahlrecht,  das  in 
der  Regel  die  öffentHche  Meinung  nur  an  ihrer  Oberfläche  fasse,  wie 
sich  in  Frankreich  zeige,  „diejenigen,  welche  vor  etwa  'A  Jahren  so- 
zusagen auf  den  Schultern  der  Urwähler  unter  Ovationen  in  die 
Deputiertenkammer  getragen  worden  sind,  sie  müssen  sich  jetzt 
krampfhaft  an  ihren  Stühlen  festhalten,  um  von  den  Fluten  der 
öffentlichen  Meinung  nicht  hinweggespült  zu  werden"  .  .  .  schließlich, 
,,wenn  man  dies  stete  Hin-  und  Herfluten  der  öff entheben  Meinung,  die 
heute  nach  dieser,  morgen  nach  jener  Seite  sich  wirft,  müde  ist,  wird 
der  Ruf  »Ordnung  um  jeden  Preist  von  einem  Ende  des  Kontinents 
zum  andern  ertönen,  und  dann  vielleicht  gar  der  Säbel  nicht  bloß  dem 
allgemeinen,  sondern  allem  Stimmrecht  überhaupt  ein  Ende  machen." 
Wenn  am  19.  März,  in  der  dritten  Lesung  der  Verfassung,  Eisenmann 
es  »leider  wahr«  nannte,  daß  gar  wenige  Männer  die  Kraft  haben, 
unberührt  von  jedem  »Windzug«  der  öffentUchen  Meinung  der  einmal 
gefaßten  Oberzeugung  treu  zu  bleiben,  so  versicherte  am  20.  Zittel- 
Bahlingen,  er  treibe  keinen  »Götzendienst«  mit  dem,  was  man 
gewöhnlich  die  öffentliche  Meinung  zu  nennen  pflege;  die  beiden 
Gleichnisse  vertragen  sich  freilich  schlecht  miteinander.  Am  folgenden 
Tage  erklärte  Riesser  es  für  vollkommen  richtig,  „daß  wir  für  die 
Durchführung  unseres  Beschlusses  und  für  die  Annahme  der  Kaiser- 
würde auf  die  öffentUche  Meinung  sowohl  in  Preußen  als  im  übrigen 
Deutschland  rechnen".  Weiterhin  aber  erklärt  er:  „Wenn  wir  von 
der  öffentlichen  Meinung  reden,  so  meinen  wir  nicht  die  Revolution, 
sondern  wir  meinen  das  feste  Bewußtsein,  das  dauernde  Wollen  und 


424  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Streben  eines  Volkes,  das  sich  nicht  in  einzelnen  gewaltsamen  Taten 
ausläßt,  sondern  fest  und  stetig  dem  Fortschritt  der  Menschheit  und 
der  Geschichte  folgend,  im  Geiste  des  Volkes  lebt",  wozu  Stimmen 
auf  der  Rechten  riefen  »Sehr  gut«.  Wenn  aber  am  28.  März  die  Kaiser- 
wahl mit  290  gegen  248  Stimmen  (die  sich  der  Wahl  enthielten)  ge- 
schah, so  zeigte  dies  Ergebnis  deutlich  genug,  daß  es  eine  einheitHche 
und  starke  öffentliche  Meinung  (der  vermutlich  auch  Friedrich 
W11.HE1.M  nicht  widerstanden  hätte)  über  die  Frage  in  Deutschland 
nicht  gab  —  ein  Jahr  früher  wäre  sie  wahrscheinhch  vorhanden 
gewesen,  aber  eher  im  entgegengesetzten  Sinne.  Am  23.  April  sprach 
WelCKER  für  die  Erhaltung  der  neuen  Verfassung,  die  zu  gleicher 
Zeit  massenhaft  durch  Eingaben  politischer  Vereine  gefordert  wurde; 
er  nannte  sie  den  einzigen  Faden,  der  aus  dem  Labyrinth  der  Gegen- 
wart hinausführe.  „Rechts  und  links  dürfen  Sie  die  Männer  fragen: 
wo  ist  das  neue  Heil?  Alles  vereint  sich  in  dem  Gefühl:  nur  hier  ist 
Heil  und  Rettung,  weil  ein  anderes  nicht  möglich  ist.  Das  ist  die 
Bürgschaft  der  Dauer,  der  Kraft  und  des  Wachstums  jener  öffentHchen 
Meinung"  .  .  .  „dazu  die  ganze  Stärke  des  vaterländischen  Gefühls 
aller  würdigen  Deutschen  für  die  Einheit  und  Ehre  des  Vaterlandes," 
was  der  Redner  mit  einem  glühenden  Appell  zum  Schluß  ausführte. 
33.  (Preußens  Revolution.)  Ich  habe  hier  die  bedeutendsten 
Aussprüche  zusammengestellt,  die  in  der  Paulskirche  über  die  öffent- 
liche Meinung  laut  geworden  sind ;  fast  ohne  Ausnahme  wird  sie  darin 
als  eine  einheitliche  Macht  vorgestellt,  als  die  Macht  des  Zeit-  und 
Volksgeistes,  deren  die  Nationalversammlung  in  ihrem  gemeinsamen 
Streben  für  die  Einheit  und  Freiheit  Deutschlands,  wie  verschieden 
diese  Begriffe  auch  gedeutet  wurden,  sich  gewiß  fühlte,  wenn  auch 
die  entschieden  Hberalen  Elemente  sich  am  zuversichtlichsten  auf  sie 
beriefen.  Minder  lebhaft  noch  als  in  der  deutschen,  machte  sich  in 
der  verhängnisvoll  mit  ihr  konkurrierenden  preußischen  National- 
versammlung die  öffentliche  Meinung  geltend,  und  das  ist  bezeichnend 
für  den  großen  Unterschied  zwischen  beiden.  Die  Paulskirche  wollte 
einen  deutschen  Staat  schaffen,  sie  hatte  keinen  Staat  hinter  sich, 
sondern  einen  Bund  von  2  großen,  einigen  mittleren  und  vielen 
kleinen  Staaten ;  eine  Bundesverfassung  und  eine  Bundesversammlung, 
die  von  der  ÖffentHchen  Meinung  längst  gerichtet  waren ;  diese  hätte 
es  begrüßt  und  unterstützt,  wenn  von  Anfang  an  die  Frankfurter 
Nationalversammlung  als  Vertretung  des  souveränen  deutschen 
Volkes  sich  und  ihre  Verfassung  ausdrücklich  an  die  Stelle  des 
bestehenden  durch  den  Wiener  Kongreß  hergestellten  Monstrums 
von  Bund  gesetzt,  und  erklärt  hätte:  das  deutsche  Reich,  das  wir 
ins  lyeben  rufen  sollen  und  wollen,  ist  mit  dem  Deutschen  Bunde 


Als  Faktor  des  Staatsi,ebens.  —  Im  deutschen  Staat.  425 

unvereinbar;  weil  jenes  leben  will,  muß  dieser  fallen.  Die  National- 
versammlung, die  sonst  in  ihrer  ersten  Phase,  getragen  von  der  öffent- 
lichen Meinung  und  einem  allgemeinen  Enthusiasmus,  große  Ent- 
schlossenheit zeigte,  war  doch  zu  einer  solchen  offenen  Erklärung 
gegen  das  alte  System  unfähig;  sie  beriet  die  Verfassung  noch,  als  es 
nichts  mehr  zu  verfassen  gab.  Formen,  denen  der  Inhalt  fehlte.  Die 
öffentHche  Meinung  Deutschlands  war  nicht  nachhaltig  und  stark 
genug,  den  Verfall  ihres  Werkes,  der  deutschen  Revolution,  aufzu- 
halten. In  Preußen  war  die  öffentliche  Meinung  von  vornherein 
zweideutig  und  mit  innerem  Widerspruch  behaftet ;  sie  wollte  zugleich 
die  deutsche  Einheit  und  den  preußischen  Staat ;  Friedrich  W11.HELM 
der  Vierte  meinte,  ihr  gerecht  zu  werden,  wenn  er  am  21.  März  in  dem 
Aufruf  »an  mein  Volk  und  an  die  deutsche  Nation  «  die  »alten  deutschen 
Farben  annahm«  und  »das  Aufgehen  Preußens  in  Deutschland«  ver- 
hieß ;  und  er  wäre  ihr  gerecht  geworden,  wenn  auch  nur  für  die  Dauer 
jener  Tage,  wenn  seinen  Worten  sogleich  Taten  gefolgt  wären.  Statt 
dessen  versuchte  er,  durch  Taten  wie  den  Kaiserritt  und  dazu  ge- 
sprochene Worte  sich  ferner  „an  die  Spitze  derselben  Freiheits- 
bewegung zu  stellen,  deren  größtes  Hindernis  seine  Regierung  bis 
dahin  gewesen  war"  (Ad.  Stahr).  Darüber  erhob  sich  eine  so  starke 
Entrüstung  im  ganzen  übrigen  Deutschland,  daß  mit  seinem  König 
auch  das  preußische  Volk  sich  gekränkt  fühlte.  Der  Hallische  Löwe, 
H.  Leo,  der  im  Sinne  der  Reaktion  die  Signatura  Temporis  schrieb, 
sagt  darüber  S.  39:  „Ein  sehr  wohltätiger  Rückschlag  war  gewonnen 
auf  die  öffentliche  Meinung  in  Preußen  selbst  .  .  .  gerade  infolge  dieser 
Vorgänge  schlug  die  patriotische  Empfindung  Preußens  wieder  ihre 
ersten  jungen  Wurzeln,  nachdem  die  alten  in  der  wilden  Glut  der 
letzten  revolutionären  Aktionen  vor  2  Tagen  verdorrt  schienen" 
(Stahr,  S.  137).  Zunächst  wandte  sich  die  öffentliche  Meinung  in 
Preußen  um  so  entschiedener  der  »Freiheit«  zu.  „Das  stolze  Wort, 
womit  der  Minister  Hansemann  einer  Deputation  der  Kölner  Radi- 
kalen in  den  ersten  Tagen  seines  Ministeriums  erklärte :  „die  Bildung 
des  Ministeriums  sei  an  und  für  sich  die  beste  Garantie  dafür,  daß 
alles  vernünftigerweise  zu  Verlangende  gewährt  werden  würde", 
fand  lauten  Widerhall  in  der  öffentlichen  Meinung  (Stahr  181). 
Stahr,  dem  wir  eine  lebendige  und  lichtvolle  Schilderung  der 
preußischen  Revolution,  unmittelbar  unter  ihren  Eindrücken  ent- 
standen, verdanken,  macht  darauf  aufmerksam  (187),  daß  ein  merk- 
würdiger Umschwung  der  öffentlichen  Meinung  in  bezug  auf  die 
Berufung  des  Vereinigten  Landtages  zutage  trat:  bis  zum  Morgen 
des  18.  März  rief  alle  Welt  in  und  außer  Preußen  nach  schleuniger 
Versammlung  dieses  einzigen,  wenn  auch  noch  so  unvollkommenen, 


426  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

bestehenden  Organes  der  Nationalvertretung  .  .  .  noch  am  Mittage 
dieses  kritischen  Tages  wurde  die  Verkündung  der  beschleunigten 
Einberufung  .  .  .  mit  Jubel  begrüßt.  „Und  noch  waren  kaum  die 
äußerUchen  Spuren  des  unmittelbar  darauf  folgenden  Revolutions- 
kampfes beseitigt,  da  erhoben  sich  schon  von  allen  Seiten  dringend 
und  laut  die  Stimmen  des  Protestes  gegen  die  eben  noch  ersehnte 
Maßregel."  „Die  Frankfurter  Wahlen  traten  gegen  die  preußischen 
in  der  öffentlichen  Meinung  des  Landes  auf  eine  bedauernswerte 
Weise  in  den  Hintergrund"  (219).  In  Sachen  der  Rückberufung  des 
Prinzen  von  Preußen  siegte  die  Regierung.  „Aber  dieser  Sieg  war 
eine  Niederlage  in  der  öffentHchen  Meinung"  (231).  Als  das  Mi- 
nisterium Hansemann-Auerswai^d  als  Ministerium  der  Tat  die 
Revolution  förmlich  anerkannte,  hieß  es  allgemein,  dies  Ministerium 
„sei  die  äußerste  Konzession,  welche  die  Krone  an  die  öffentliche 
Meinung  zu  machen  gedenke"  (329).  Bald  regte  sich  mächtig  die 
Reaktion.  Es  bildete  sich  eine  Liga  der  Aristokratie.  Die  öffentliche 
Meinung  unterschätzte  offenbar  deren  Kraft,  wenn  sie  dieselbe  für 
unschädlich  und  ohnmächtig  hielt  (401).  Die  Gegenrevolution  verfügte 
außerdem  auch  über  das  Heer  und  die  Bureaukratie.  „Aber  noch  wagte 
man  nicht,  diese  Waffen  zu  gebrauchen.  Denn  noch  stand  die  öffentliche 
Meinung  im  Bunde  mit  der  Märzrevolution  ...  es  war  der  Verblendung 
der  ultrademokratischen  Partei  vorbehalten,  die  öffentliche  Meinung 
in  ihren  Sympathien  für  die  Revolution  zu  erschüttern  ..."  (425  f.). 
Bald  „hatten  die  offenbaren  Versuche,  republikanisch-soziaHstische 
Theorien  zur  Geltung  zu  bringen,  die  öffentliche  Meinung  alarmiert ..." 
(437).  Die  Ermattung  und  Wandlung  der  deutschen  öffentlichen  Mei- 
nung (494),  die  auch  die  Idee  deutscher  Einheit  verblassen  ließ,  fiel 
nicht  zufällig  mit  ihrer  Entkräftung  in  Preußen  zusammen.  Als  das 
Ministerium  Brandenburg  gebildet  war,  dessen  Seele  der  Freiherr 
VON  Manteuffei.  war,  da  hielt  jede  Partei  es  rätHcher,  die  andere 
zum  Angriffe  zu  provozieren,  denn  jede  von  beiden  fürchtete,  daß 
sich  die  öffentUche  Meinung  gegen  den  Angreifer  erklären  würde  (647). 
Der  Ministerpräsident  Camphausen  hatte  in  der  14.  Sitzung  der 
preußischen  konstituierenden  Versammlung,  am  14.  Juni  1848, 
ausgesprochen,  es  sei,  als  er  berufen  wurde,  das  Land  wie  nach  einem 
eben  überstandenen  Sturme,  von  einem  wogenden  Wellenschlag  be- 
wegt gewesen.  Zwei  Wege  habe  es  gegeben,  um  es  zu  beruhigen. 
Der  eine:  sofort  alle  Konsequenzen  des  eingetretenen  Zustandes  mit 
SchneUigkeit  und  Energie  ohne  Scheu  vor  willkürlichem  Eingreifen 
zu  ziehen,  gewissermaßen  als  eine  revolutionäre  Regierung  aufzutreten 
und  dem  Volke  einerseits  den  unverkümmerten  Genuß  der  ihm 
zugesagten    Rechte   und   Freiheiten   zu   sichern,   um   sich   dadurch 


Als  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  deutschen  Staat.  427 


andererseits  seine  Zustimmung  zu  den  kräftigsten  Maßregeln  für  Ord- 
nung und  Ruhe  gewiß  zu  machen.  Diesen  Weg  habe  das  Ministerium, 
auch  wenn  es  ihn  hätte  einschlagen  können,  unter  keinen  Umständen 
einschlagen  wollen.  „Den  zweiten  Weg,  den  des  gesetzlichen  Über- 
gangs, sind  wir  gegangen,  und  er  war  nicht  leicht.  Es  wurde  uns  da- 
durch die  Aufgabe  gestellt,  unsere  Stärke,  unsere  exekutive  Gewalt 
beinahe  ausschließlich  in  der  öffentlichen  Meinung  zu  suchen; 
wir  mußten  mit  der  öffentlichen  Meinung  regieren,  die  zu  jeder  Zeit, 
an  jedem  Orte  und  im  voraus  zu  erkennen,  ungemein  schwierig  ist, 
die  nicht  selten  nach  vollendeten  Tatsachen  eine  andere  zu  sein  scheint 
als  vorher."  In  diesen  Worten  lag  eingeschlossen,  daß  die  Methoden 
einer  revolutionären  Regierung  die  öffentliche  Meinung  vor  den  Kopf 
gestoßen  hätten.  Wenn  dies  richtig,  so  folgt  daraus  doch  nicht,  daß 
sie  unzweckmäßig  gewesen  wären,  daß  der  Beweis  ihrer  Zweckmäßig- 
keit nicht  auch  die  öffentliche  Meinung  überzeugt  und  mit  sich  fort- 
gerissen hätte.  Wenige  Tage  nach  jener  Rede  hatte  Hansemann 
aufgehört,  an  der  Spitze  zu  stehen.  Auch  unter  seinem  Nachfolger 
AuERSWALD  sprach  —  am  4.  Juli  —  der  Minister  des  Inneren  KtJHi.- 
WETTER,  über  die  Frage  des  Reorganisation  Posens  sich  dahin  aus, 
die  Regierung  werde  mit  Dank  jede  Aufklärung  entgegennehmen, 
„namentlich  solche,  die  nicht  von  Behörden  herkommt,  sondern  aus 
der  öffentlichen,  auf  Vernunft  und  Kenntnis  der  Sache  gegründeten 
Meinung  hergenommen  wird,  und  diese  öffentliche  Meinung  kann 
wohl  nicht  besser  hergestellt  werden  als  durch  die  Vertreter,  die  aus 
dem  Vertrauen  des  Volkes  hervorgegangen  sind,  um  seine  Interessen 
hier  wahrzunehmen."  Beinahe  schon  ihren  letzten  Widerhall  fand 
die  revolutionär  gestimmte  öffentUche  Meinung  jener  Tage  in  den 
Oktober- Verhandlungen  über  Abschaffung  des  Adels  und  der  Orden 
und  Ehrenzeichen.  In  dieser  zweiten  Frage  sprach  der  national- 
ökonomische Professor  Baumstark.  Er  stellte  in  Frage,  ob  die  „sitt- 
liche Kraft  unserer  Zeit"  in  Beziehung  auf  das  Ordenswesen  erwiesen 
sei.  „Lassen  Sie  die  sittliche  Kraft  der  Gegenwart  uns  nicht  an 
solchen  Dingen  erproben,  woran  sich  ihre  Schwäche  zeigt.  Hätten 
wir  nicht  einen  besseren  Maßstab  als  diesen,  so  stünde  es  schlecht. 
Die  öffentliche  Meinung  hat  indessen  über  den  Ordensunfug  längst 
entschieden,  und  zwar  in  solcher  Weise,  daß  nach  meiner  Ansicht  ein 
Ausspruch  in  der  Staatsverfassung  über  den  Ordenskram  nicht  nötig 
ist.  Das  Übel  wird  durch  die  Zeit  selbst  geheilt  werden,  die  es  ver- 
achtete." Die  Manteufpel  und  General  Wrangei.  standen  schon  vor 
der  Tür.  Die  98.  Sitzung  der  Nationalversammlung  fand  (am  27.  No- 
vember 1848)  in  Brandenburg  statt.  Darin  leitete  Dr.  Dane  ein 
Schreiben  von  13  liberalen  Abgeordneten,  die  an  der  Sitzung  teilnahmen. 


428  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

mit  der  persönlichen  Erklärung  eines  gedämpften  Protestes  ein,  worin 
er  sagte:  „Wir  haben  im  Vertrauen  auf  die  Gerechtigkeit  unserer 
Sache  das  Urteil  der  öffentlichen  Meinung  anheimstellen  wollen." 
34.  (Die  Reaktion,  BiSMARCKS  Kampf  gegen  die  öffentliche 
Meinung.)  Die  öffentHche  Meinung  hatte  sich  um  diese  Zeit  wohl 
noch  nicht  völlig  von  der  Revolution  abgewandt.  Es  geschah  erst 
im  Laufe  des  Jahres  184g,  als  auch  die  Frankfurter  Versammlung 
immer  mehr  sich  als  ohnmächtig  erwies;  insbesondere  dürfte  das 
Fehlschlagen  der  Kaiserhoffnungen  dazu  beigetragen  haben.  Am 
30.  Mai  dieses  Jahres  erheß  König  Friedrich  Wii,hei.m  die  Ver- 
ordnung über  das  Wahlrecht  in  3  Klassen  auf  Grund  des  Art.  105, 
der  unter  dem  5.  Dezember  1848  oktroyierten  Verfassung,  obschon 
dieser  Artikel  auch  nach  dem  Urteil  konservativer  Juristen  dafür 
keine  genügende  Rechtsbasis  gewährte.  Am  12.  August  1849  unter- 
breitete das  Ministerium  der  auf  Grund  dieser  Verordnung  gewählten 
Kammer  eine  längere  Denkschrift  zu  deren  Rechtfertigung  („Der 
Öffentlichkeit  glaubte  man  eine,  wenn  nicht  bessere,  so  doch  wenigstens 
ausführHchere  Begründung  schuldig  zu  sein"  als  die  im  Immediat- 
bericht  an  den  König  enthaltene:  H.  v.  GERI.ACH,  „Die  Geschichte 
des  preußischen  Wahlrechts"  S.  12).  Vom  öffentHchen  Wahlverfahren 
heißt  es  darin  (AI.  9) :  „Gerade  bei  diesem  Verfahren  werden  Wahl- 
umtriebe, Bestechungen  und  sonstige  Unlauterkeiten  am  wenigsten 
verborgen  bleiben.  Die  öffentliche  Meinung  wird  sie  richten  und  die 
Prüfung  der  Wahl  Verhandlungen  ihre  Wirkung  vereiteln."  Also 
auch  damals  noch,  auch  von  der  ausgesprochen  reaktionären  Re- 
gierung wurde  der  öffentlichen  Meinung  eine  Huldigung  zuteil,  wenn 
auch  nur  in  einer  Sache  von  minderer  politischer  Bedeutung.  Wie 
die  Regierung  um  diese  Zeit  sonst  von  der  öffentlichen  Meinung 
dachte,  das  hatte  in  derselben  II.  Kammer  schon  am  21.  April  1849 
der  Ministerpräsident  Graf  Brandenburg  durch  jene  Rede  verraten, 
die  in  dem  berufenen  dreimaligen  »Niemals!«  endete,  womit  der 
Preuße  die  Reichsverfassung  ablehnte;  er  sagte. darin:  „Es  ist  hier 
vielfach  die  Rede  von  der  öffentlichen  Meinung  gewesen  (u.  a.  hatte 
ein  Abg.  lyÖHER  darauf  hingewiesen,  es  gebe  auch  im  Auslande  die 
gefürchteten  Kommunistenvereine,  ,die  Revolutionäre  haben  sich 
sogar  durch  das  ganze  I^and  nach  Art  von  geheimen  Orden  organisiert ; 
dennoch  haben  sie  wenig  Einfluß :  die  öffentliche  Meinung  hält  diesen 
in  Schach')  .  .  .  Ich  erkenne  diese  Macht  an  in  vollem  Maße  ...  ich 
erkenne  sie  aber  an  in  der  Art,  wie  das  Schiffsvolk  die  Macht  der 
Elemente  auf  hoher  See  anerkennt,  indem  es  sich  nicht  den  Winden 
und  den  Strömungen  hingibt  und  auf  diese  Weise  herrenlos  auf  der 
See  treibt  —  denn  auf  diese  Weise  wird  das  Schiff  nie  den  rettenden 


Axs  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  deutschen  Staat. 


429 


Port  erreichen"  usw.  Auf  derbere  Art  sprach  sich  wenige  Monate 
später,  am  6.  September,  der  Abg.  von  Bismarck-Schönhausen  aus, 
als  er  seine  Zustimmung  zum  sog.  Drei- Königs- Vertrage  mit  dem 
Wunsche  begleitete,  den  er  bei  der  Gelegenheit  nicht  unterdrücken 
könne,  „daß  es  das  letztemal  sein  möge,  daß  die  Errungenschaften 
des  preußischen  Schwertes  mit  freigebiger  Hand  weggegeben  werden, 
um  die  nimmersatten  Anforderungen  eines  Phantoms  zu  befriedigen, 
welches  unter  dem  fingierten  Namen  von  Zeitgeist  oder  öffentUcher 
Meinung  die  Vernunft  der  Fürsten  und  Völker  mit  seinem  Geschrei 
betäubt,  bis  jeder  sich  vor  dem  Schatten  des  anderen  fürchtet  und 
alle  vergessen,  daß  imter  der  I/öwenhaut  des  Gespenstes  ein  Wesen 
steckt  von  zwar  lärmender,  aber  wenig  furchtbarer  Natur."  Wenn 
BiSMARCK  als  konservativer  I^andedelmann,  der  er  im  Grunde  seines 
Herzens  immer  bUeb,  auch  in  seiner  späteren  großen  lyaufbahn  die 
öffentHche  Meinung  bald  Haß,  bald  Verachtung  fühlen  Heß,  so  wußte 
er  doch  als  Staatsmann  ihre  Macht  zu  würdigen,  ihre  Bedeutung  zu 
schätzen.  Hier  mögen  zuvörderst  für  das  eine  wie  das  andere  Belege 
aus  den  »Gedanken  und  Erinnerungen«  gegeben  werden.  Einmal 
spricht  er  (I,  iio)  von  der  angeblichen  öffentHchen  Meinung  des 
enghschen  Volkes,  von  ihr  im  Bunde  bald  mit  dem  Prinzen  A1.BERT, 
bald  mit  Lord  Palmerston;  von  diesen  Hilfen  sei  —  um  das  Jahr  1860  — 
durch  die  »Wochenblattspartei«  imd  den  Bethmann-Holl  WEG  sehen 
Kreis  die  Gestaltung  der  deutschen  Zustände  mit  Sicherheit  voraus- 
gesagt (soll  heißen:  als  von  diesen  Hilfen  zu  erwarten),  die  später 
auf  den  Schlachtfeldern  erkämpft  worden  sei.  Ebenso  spricht  er  (im 
Anfang  des  6.  Kapitels  I,  122)  mit  Ironie  von  dem  Beifall  der  öffent- 
lichen Meinung  von  Paris  und  London:  die  geistig  hervorragende 
Residenz  Weimar  sei  nicht  frei  von  dem  Alp  gewesen,  der  bis  zur 
Gegenwart  auf  unserem  Nationalgefühl  gelastet  habe:  daß  ein  Fran- 
zose und  vollends  ein  Engländer  durch  seine  Nationalität  und  Geburt 
ein  vornehmeres  Wesen  sei  als  der  Deutsche,  und  daß  jener  Beifall  ein 
authentischeres  Zeugnis  des  eigenen  Wertes  bilde  als  unser  eigenes 
Bewußtsein.  Diese  Kritik  gilt  der  Prinzessin  AuGUSTA,  deren  »per- 
sönliche Politik«,  nachdem  sie  Königin  und  Kaiserin  geworden,  von 
dem  Staatsmann  als  eine  Hemmung  seiner  Macht  und  der  Staatsraison 
empfunden  und  bekämpft  wurde.  In  der  KonfUktszeit  hatte  Bismarck 
unablässig  wie  gegen  höfische  und  parlamentarische  Feindsehgkeiten, 
so  gegen  die  öffentUche  Meinung  sich  zu  wehren  und  schien  oft  ihrer 
zu  spotten  1).    Sehr  großes  Aufsehen  machte  es,  als  am  5.  Juni  1863 

*)  Im  November  1864  schrieb  A.  v.  Gutschmid  an  H.  v.  Treitschke  von  Bis- 
marck: „Wenn  er  sich  nur  abgewöhnen  wf)llte,  die  öffentliche  Meinung  unnötiger  Weise 
Jtu  brttskiereul"  („Von  Kieler  ProfesÄoren",  herausgcg.  v.  Dr.  M.  Uepmann,  S.  343.) 


430  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

der  damalige  Kronprinz  in  Danzig  erklärte,  er  habe  von  den  An- 
ordnungen, die  eben  zur  Beschränkung  der  Presse  erlassen  waren, 
nichts  gewußt  und  habe  keinen  Teil  an  den  Ratschlägen  gehabt,  die 
dazu  führten.  Der  König  war  empört.  Der  Kronprinz  schrieb  am 
3.  September  an  Bismarck,  der  König  wisse  nunmehr,  daß  er,  der 
Prinz,  der  entschiedene  Gegner  des  Ministeriums  sei.  Er  reichte  eine 
Denkschrift  ein,  um  sein  Verhalten  zu  begründen  und  zu  rechtfertigen. 
Bismarck  teilt  die  Randbemerkungen  mit,  die  er  dazu  gemacht  habe. 
In  einer  von  diesen  heißt  es,  die  Stellung,  welche  S.  Kgl.  H.  gege  n  die 
Krone  genommen  habe,  sei  im  I^ande  bekannt  genug  und  werde  von 
jedem  Hausvater  im  Lande,  welcher  Partei  er  auch  angehören  möge, 
gemißbilHgt  als  ein  Lossagen  von  der  väterHchen  Autorität,  deren 
Verkennung  das  Gefühl  und  das  Herkommen  verletze.  „Sr.  Kgl.  H. 
konnte  nicht  schwerer  in  der  öffentHchen  Meinung  geschadet  werden 
als  durch  Publikation  dieser  memoires*'  (I,  325).  Bismarck  irrte  sich 
ohne  Zweifel,  wenn  er  dies  wirkHch  glaubte,  was  man  aber  mit  Grund 
bezweifeln  mag.  Der  gebildete  Hausvater  hat  es  damals  so  wenig  wie 
jetzt  unschickHch  und  unehrerbietig  gefunden,  daß  ein  32 jähriger 
Sohn  eine  von  der  des  Vaters  abweichende  politische  Ansicht  hegt 
und  geltend  macht;  um  so  weniger  wenn  der  Hausvater  die  Ansicht 
des  Sohnes  teilt,  wie  es  in  den  Schichten,  die  vorzugsweise  die  öf fent- 
Hche  Meinung  bilden,  damals  wirklich  der  Fall  war.  In  seiner  aus- 
wärtigen PoHtik  dachte  der  preußische  Ministerpräsident  damals  (1863) 
noch  an  eine  dualistische  Spitze  Deutschlands;  unter  ihr,  meinte  er 
in  den  5>G.  u.  H. «,  würde  unsere  innere  verfassungsmäßige  Entwicklung 
von  der  Versumpfung  in  bundestägiger  Reaktion,  und  von  der  ein- 
seitigen Förderung  absolutistischer  Zwecke  in  den  einzelnen  Staaten 
nicht  notwendig  bedroht  worden  sein ;  die  Eifersucht  der  beiden  Groß- 
staaten wäre  der  Schutz  der  Verfassungen  gewesen.  „Preußen, 
Österreich  und  die  Mittelstaaten  würden  bei  dualistischer  Spitze  auf 
Wettbewerb  um  die  öffenthche  Meinung  in  der  Gesamtnation  wie  in 
den  einzelnen  Staaten  angewiesen  gebheben  s^ein,  und  die  daraus 
entspringenden  Friktionen  würden  unser  öffentHches  Leben  vor 
ähnhchen  Erstarrungen  bewahrt  haben,  wie  sie  auf  die  Zeiten  der 
Mainzer  Untersuchungskommission  folgten"  (I,  333).  Und  weiterhin: 
(Österreich  und  Preußen,  sobald  sie  einig,  leichtfertig  anzugreifen, 
war  keine  der  anderen  Mächte  geneigt).  „Solange  Preußen  allein, 
wenn  auch  in  Verbindung  mit  dem  stärksten  Ausdruck  der  öffentHchen 
Meinung  des  deutschen  Volkes,  einschheßhch  der  Mittelstaaten,  die 
Sache  in  der  Hand  hatte,  kam  sie  nicht  vorwärts  und  führte  zu  Ab- 
schlüssen, wie  dem  Waffenstillstand  von  Malmö  und  der  Olmützer 
Konvention."  Man  habe  aber  in  Wien  Preußen  unrichtig  eingeschätzt. 


Axs  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  deutschen  Staat.  431 

Mit  dem  Wechsel  im  Charakter  der  obersten  I^eitmig  (durch  die  Thron- 
folge König  Wilhelms)  habe  man  zu  wenig  gerechnet  „und  zu  viel 
mit  dem  Einfluß,  den  man  durch  die  angebliche  öffentHche  Meinung, 
wie  sie  durch  Preß-Agenten  und  Subsidien  erzeugt  wurde,  auf  Berhner 
Entschheßungen  früher  hatte  ausüben  können,  und  durch  Vermittlung 
fürsthcher  Verwandten  und  Korrespondenzen  des  könighchen  Hauses 
auch  ferner  auszuüben  bereit  und  imstande  war"  (I,  336).  In  dem 
Gespräch,  das  am  22.  August  1864  der  König  und  Bismarck  mit 
Franz  Joseph  und  seinem  Minister  Rechberg  führten,  kam  der 
österreichische  Kaiser  auf  die  Schwierigkeit  zu  sprechen,  der  öffent- 
lichen Meinung  in  Österreich  gegenüber  ganz  ohne  Äquivalent  aus 
der  gegenwärtigen  Situation  hinauszugehen,  wenn  Preußen  einen 
so  großen  Gewinn  wie  Schleswig-Holstein  mache  (I,  345).  Bismarck 
hatte  seinen  Vorsatz,  diese  Herzogtümer  in  Preußen  einzuverleiben, 
schon  früher  ziemHch  unverhohlen  ausgesprochen.  An  seinen  Nach- 
folger als  Botschafter  in  Paris,  den  Grafen  Robert  v.  d.  Goltz,  hatte 
er  zu  Weihnachten  1863  u.  a.  geschrieben:  „Sie  glauben,  daß  in  der 
»deutschen  öffenthchen  Meinung«,  Kammern,  Zeitungen  etc.  irgend- 
etwas steckt,  was  uns  in  einer  Unions-  oder  Hegemoniepohtik  stützen 
und  helfen  könnte.  Ich  halte  das  für  einen  radikalen  Irrtum,  für  ein 
Phantasiegebüde.  Unsere  Stärkung  kann  nicht  aus  Kammern-  und 
PreßpoHtik,  sondern  nur  aus  waffenmäßiger  GroßmachtpoHtik  hervor- 
gehen .  .  ."  (II,  4).  Und  zurückbückend  sagt  er:  „Als  die  Situation, 
welche  ich  absolut  glaubte,  vermeiden  zu  müssen,  betrachtete  ich 
diejenige,  welche  in  der  öffentlichen  Meinung  von  unseren  Gegnern 
als  Programm  aufgestellt  war,  d.  h.  den  Kampf  und  Krieg  Preußens 
für  die  Errichtung  eines  neuen  Großherzogtums,  durchzufechten 
an  der  Spitze  der  Zeitungen,  der  Vereine,  der  Freischaren  und  der 
Bundesstaaten  außer  Österreich,  und  ohne  die  Sicherheit,  daß  die 
Bundesregierungen  die  Sache  auf  jede  Gefahr  hin  durchführen  würden. 
Dabei  hatte  die  in  dieser  Richtung  entwickelte  öffentHche  Meinung, 
auch  der  Präsident  Ludwig  von  Gerlach,  ein  kindliches  Vertrauen 
zu  dem  Beistande,  den  England  dem  isolierten  Preußen  leisten 
würde  .  .  .  Ich  habe  nie  in  der  Überzeugung  geschwankt,  daß  Preußen, 
gestützt  nur  auf  die  Waffen  und  Genossen  von  1848,  öffentHche 
Meinung,  Landtage,  Vereine,  Freischaren  und  die  kleinen  Kontingente 
in  ihrer  damaHgen  Verfassung,  sich  auf  ein  hoffnungsloses  Beginnen 
eingelassen  und  unter  den  großen  Mächten  nur  Feinde  gefunden 
hätte,  auch  in  England"  (II,  9—10).  Beim  Könige  sei  für  seinen 
Standpunkt,  daß  er  »kein  Recht  auf  Holstein«  habe,  die  Vergegen- 
wärtigung der  MißbilHgung  wirksam  gewesen,  die  er,  wenn  er  den 
Augustenburger  aufgab,  bei  seiner  GemahHn,  bei  dem  kronprinzHchen 


432  ^Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

Paare,  bei  verschiedenen  Dynastien  und  bei  denen  zu  erwarten  hatte, 
welche  damals  in  seiner  Auffassung  die  öffentliche  Meinung  Deutsch- 
lands bildeten  {12).  ,jDie  öffentHche  Meinung  war  in  den  gebildeten 
Mittelständen  Deutschlands  ohne  Zweifel  augustenburgisch,  in  der- 
selben Urteilslosigkeit,  welche  sich  früher  den  Polonismus-und  später 
die  künstHche  Begeisterung  für  die  battenbergische  Bulgarei  als 
deutsches  NationaHnteresse  unterschieben  ließ.  Die  Mache  der  Presse 
war  in  diesen  beiden  etwas  analogen  Lagen  betrübend  erfolgreich 
und  die  öffentliche  Dummheit  für  ihre  Wirkung  so  empfänglich  wie 
immer"  (das.).  Der  berühmte  Staatsmann  verrät  hier  selber  etwas 
von  jener  Urteilsschwäche,  die  bei  ihm  aus  der  Mißachtung  sittlicher 
Ideen  entsprang.  Er  sah  den  ungeheuren  Unterschied  nicht,  daß  in 
der  schleswig-holsteinischen  Frage  die  Überzeugung  zugrunde  lag, 
daß  ein  gutes  monarchisches  Recht  mit  der  Forderung  des  National- 
gefühls zusammentraf,  und  daß  eben  die  Gerechtigkeit  die  Trennung 
Schleswig-Holsteins  von  Dänemark  innerHch  notwendig  mache. 
Seine  Geringschätzung  solcher  Erwägungen  und  Beweggründe  kon- 
trastiert seltsam  mit  seiner  oft  wiederholten  Versicherung,  daß  die 
lyiebe  und  Treue  zu  seinem  hohenzoUernschen  Herrscherhause  für 
seine  PoHtik  das  I^eitmotiv  gewesen  sei.  „Mein  Respekt  vor  der  sog. 
öffentlichen  Meinung**  (so  fährt  er  a.  a.  O.  fort),  „das  heißt,  vor  dem 
lyärm  der  Redner  und  den  Zeitungen,  war  niemals  groß  gewesen, 
wurde  aber  in  betreff  der  auswärtigen  PoHtik  in  den  beiden  oben 
verglichenen  Fällen  (es  war  von  3  Fällen  die  Rede,  gemeint  ist  wohl 
die  Augustenburgerei  und  die  Polenbegeisterung)  noch  erheblich 
herabgedrückt"  (das.).  Am  i.  Juni  1865  hielt  Bismarck  eine  Rede 
für  den  außerordentlichen  Geldbedarf  der  —  preußischen !  —  Marine ; 
einige  Stellen  daraus  teilt  er  in  den  G.  u.  E.  II,  S.  18  ff.  mit.  „Es  hat 
wohl  keine  Frage  die  ÖffentHche  Meinung  in  Deutschland  in  den 
letzten  20  Jahren  so  einstimmig  interessiert,  wie  gerade  die  Flotten- 
frage. Wir  haben  gesehen,  daß  die  Vereine,  die  Presse,  die  I^andtage 
ihren  Sympathien  Ausdruck  gaben,  diese  Sympathien  haben  sich  in 
Sammlung  von  verhältnismäßig  recht  bedeutenden  Beträgen  be- 
tätigt." Da  es  besonders  die  Hberalen  Parteien  gewesen  seien,  die  dabei 
tätig  waren,  so  habe  er  geglaubt,  mit  der  Vorlage  diesen  eine  rechte 
Freude  zu  machen.  Daß  die  Vorlage  abgelehnt  wurde,  erfüllte  ihn 
noch  beim  RückbHck  mit  Zorn :  Parteihaß,  Unehrlichkeit,  Vaterlands- 
losigkeit macht  er  aus  diesem  geringen  Anlaß  den  Parlamentariern 
zum  Vorwurf.  Indessen  war  damals  nicht  daran  zu  denken,  daß  die 
preußische  Marine  gegen  die  französische  etwas  bedeuten  könne, 
und  der  Krieg  gegen  Frankreich  lag  in  der  Luft;  ihm  galten  nach 
Begründung  des  Norddeutschen  Bundes  alle  diplomatischen  Sorgen 


Als  Faktor  des  Staatslebens.  —  Im  deutschen  Staat.  433 

und  Erwägungen.  ,,In  der  öffentlichen  Meinung  Italiens  konnte 
ich  auf  sicheren  Anhalt  nicht  rechnen,  nach  der  Haltung  der  ita- 
lienischen Politik  während  des  Krieges,  nicht  bloß  auf  Grund  der 
persönlichen  Freundschaft  Victor  Bmanuels  für  Louis  Napoleon, 
sondern  auch  nach  Maßgabe  der  durch  Garibaldi  im  Namen  der 
öffenthchen  Meinung  ItaHens  bekundeten  Parteinahme.  Der  Bund 
Italiens  mit  Frankreich  und  Österreich  lag  nicht  bloß  nach  meiner 
Befürchtung,  sondern  nach  der  öffenthchen  Meinung  in  Europa  nicht 
außerhalb  der  WahrscheinHchkeif  (II,  53 f.).  Daß  Bismarck  den 
Wert  und  die  Macht  der  öffenthchen  Meinung  auch  für  sich  und  sein 
Wirken  zu  würdigen  wußte,  bewies  seine  Bemühung  um  »Indemnität«, 
wofür  König  Wilhelm  kein  Verständnis  hatte,  dieser  sah  darin  ein 
Eingeständnis  begangenen  Unrechts.  Der  Umschlag  der  öffenthchen 
Meinung,  der  sich  in  Deutschland  nach  dem  Ausgange  des  deutschen 
Bürgerkrieges  vollzog,  ist  in  der  Tat  eines  der  auffallendsten  Beispiele 
der  Wirkungen,  die  der  Erfolg  auf  die  öffentliche  Meinung  ausübt. 
Bismarck  ist  bekanntHch  dieses  durch  1870  und  die  Begründung 
des  neuen  Reiches  gesteigerten  Erfolges  niemals  vöUig  froh  geworden, 
er  wußte  nicht,  mit  denen,  die  ihm  wahrhaft  und  als  gläubige  Jünger 
anhingen  —  das  waren  aber,  zumal  nach  187 1  die  Wortführer  der 
öffenthchen  Meinung  — ,  sich  in  ein  dauerndes  freundschafthches 
Verhältnis  zu  setzen,  vielmehr  machte  er  aus  seinen  Freunden  Zweifler 
oder  Gegner,  aus  seinen  Gegnern  nicht  Freunde,  aber  laue  Gefolgs- 
männer; ernster  als  sie  es  wohl  verdienten,  nahm  er  die  Widerstände 
bei  Hofe,  und  diesen  gegenüber  brauchte  er  auch  die  öffentliche 
Meinung.  So  schrieb  er  am  8.  Juni  1877  ^^  ^^^  Geheimrat  Tiedemann, 
als  der  König  den  ehemaligen  Unterstaatssekretär  von  Grüner, 
einen  Günsthng  der  Königin,  zum  Wirkhchen  Geheimen  Rat  ohne 
Gegenzeichnung  ernannt  hatte,  u.  a. :  „Die  öffentliche  Meinung  und 
der  Landtag  würden  kaum  annehmen,  daß  das  Staatsministerium 
diese  Auszeichnung  seines  notorischen  Gegners  gewünscht  habe"  usw. 
(II,  199).  Als  er  vor  der  Wahl  stand  zwischen  Österreich-Ungarn  und 
Rußland  (1879)  hielt  Bismarck  die  Verbindung  mit  Rußland  zunächst 
noch  für  materiell  stärker.  „Sie  hatte  mir  früher  auch  für  sicherer 
gegolten,  weil  ich  die  traditionelle  dynastische  Freundschaft,  die 
Gemeinsamkeit  des  monarchischen  Erhaltungstriebes  und  die  Ab- 
wesenheit aller  eingeborenen  Gegensätze  in  der  Politik  für  sicherer 
hielt  als  die  wandelbaren  Eindrücke  der  öffentlichen  Meinung  der 
ungarischen,  slavischen  und  kathohschen  Bevölkerung  der  habs- 
burgischen  Monarchie'*  (II,  234).  Dennoch  entschied  er  sich  für 
Österreich  und  legte  großen  Wert  darauf,  daß  dies  Bündnis  »ziemlich 
bei  allen  Parteien  populär«  war  (236).    „Wir  müssen  und  können  der 

Tönnict,  Kritik.  2$ 


434  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

österreichisch-ungarischen  Monarchie  das  Bündnis  ehrhch  halten; 
es  entspricht  unseren  Interessen,  den  historischen  Traditionen 
Deutschlands  und  der  öffentlichen  Meinung  unseres.  Volkes"  (257). 
BiSMARCK  wies  auch  mit  großem  Nachdruck  auf  diese  hin  in  seinem 
Schreiben  an  lyord  Sai^isbury  vom  22.  November  1887.  „Es  wäre 
widersinnig,  anzunehmen,  heißt  es  darin,  daß  die  Regierung  einer 
Nation  von  50  MilUonen  Bin  wohnern  —  bei  dem  Maße  von  Zivilisation 
und  der  Macht  der  öffentlichen  Meinung,  wie  sie  in  Deutschland  vor- 
handen ist  —  diesem  Lande  die  Leiden,  welche  ein  jeder  große,  auch 
ein  siegreicher  Krieg  im  Gefolge  hat,  auferlegen  würde,  ohne  der 
Nation  genügende  schwerwiegende  und  schlagende  Beweise  zu  geben, 
um  die  öffenthche  Meinung  von  der  Notwendigkeit  des  Krieges 
zu  überzeugen."  So  Heß  er  auch  den  2.  W11.HE1.M  in  dessen  erster 
Thronrede  am  25.  Juni  1888  zum  Deutschen  Reichstage  sagen,  er 
halte  an  dem  Bündnis  in  deutscher  Treue  fest,  „nicht  bloß,  weil  es 
geschlossen  ist,  sondern  weil  ich  in  diesem  defensiven  Bunde  eine 
Grundlage  des  europäischen  Gleichgewichts  erblicke,  sowie  ein  Ver- 
mächtnis der  deutschen  Geschichte,  dessen  Inhalt  heute  von  der 
gesamten  öffenthchen  Meinung  des  gesamten  deutschen  Volkes 
getragen  wird  und  dem  herkömmhchen  europäischen  Völkerrecht 
entspricht,  wie  es  bis  1866  in  unbestrittener  Geltung  war". 

35.  (Die  Öffentliche  Meinung  unter  WILHELM  II.)  In  dem  Kampfe, 
der  dann  zwischen  dem  alten  Reichskanzler  und  dem  jungen  Kaiser 
sich  entspann,  hatte  jener  die  öffentliche  Meinung  auf  seiner  Seite  — 
so  darf  man  sagen,  obwohl  in  einem  solchen  Falle  niemals  von  einer 
einstimmigen  oder  auch  nur  von  einer  überwältigend  starken  Über- 
einstimmung die  Rede  sein  kann.  Mehr  Autorität  als  Majorität  fällt 
da  ins  Gewicht.  Bismarck  verstand  es  dann  bekanntHch,  diese  Gunst 
zu  hegen  und  durch  unablässige  heftige  Kritik  der  PoHtik  seines 
Nachfolgers  warm  zu  erhalten.  Treffend  sagt  Hammann,  der  damals 
Preßreferent  im  Auswärtigen  Amt  wurde:  „Da  die  Wirkungen  auf 
die  öffenthche  Meinung,  die  von  selbst  und  ohne  besondere  Nachhilfe 
von  der  Macht  der  Persönlichkeit  Bismarcks  ausstrahlten,  wegge- 
fallen waren,  mußte  nun  die  Tagespresse  sorgfältiger  beobachtet  und 
die  Vertretung  nationaler  und  amtHcher  Interessen  in  ihr  planmäßig 
gepflegt  werden  ..."  Die  öffentliche  Meinung  umzustimmen,  gelang 
natürhch  nicht;  eine  gewisse  Neigung  dazu  brachte  für  kurze  Zeit 
des  Freiherrn  von  Marschali.  »Flucht  in  die  Öffentlichkeit«  hervor: 
Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  mußte  fliehen  vor  der 
politischen  Polizei,  und  diese  Institution  des  preußischen  Staates 
hatte  die  BiSMARCKsche  Fronde  hinter  sich.  Das  Unglück  des 
Deutschen    Reiches,    inmitten    seiner    glänzenden    wirtschaftUchen 


Ai^  Faktor  des  Staatswesens.  —  Im  deutschen  Staat.  435 

Entwicklung,  ging  seinen  verhängnisschweren  Weg.  Die  Weltpolitik, 
die  BiSMARCK  nur  zögernd  sich  hatte  regen  lassen,  entfaltete  ihre 
Schwingen.  Sie  hatte  mit  der  Begeisterung  für  eine  große  Flotte,  mit 
der  Überzeugung,  daß  Kolonien  schlechthin  notwendig  seien,  die 
öffentliche  Meinung  auf  ihrer  Seite.  Der  Kaiser  selbst  wurde  ihr 
beredter  Anwalt,  ihr  gewandter  Agitator.  So  weit  er  in  seinen  Reden 
einer  gemäßigten  Ausdrucksweise  beflissen  war,  konnte  er  eben  da- 
durch die  öffentliche  Meinung  mit  sich  versöhnen.  Sie  mit  sich  ver- 
söhnen hieß  in  diesem  FaUe,  sie  an  sich  fesseln.  Er  machte  sich  zum 
Vorkämpfer  und  Herold  der  öffentlichen  Meinung.  Die  öffentliche 
Meinung  war  auch  für  ein  festes  und  entschiedenes  Auftreten  dem 
Auslande  gegenüber ;  weil  es  so  viel  billiger  war,  glaubte  sie  dadurch 
noch  mehr  als  durch  gesteigerte  Rüstungen  den  Frieden  zu  sichern. 
Sie  verkannte  die  ungeheuren  Gefahren  der  Einkreisung  ebenso  wie 
sie  die  UnmögHchkeit  einsah,  eine  Kriegsflotte  zu  bauen,  die  der 
enghschen  wirklich  ebenbürtig  gewesen  wäre.  Sie  leistete  den  Staats- 
männern, die,  in  berechtigtem  Stolz  auf  die  deutsche  Leistungsfähigkeit 
und  getragen  von  mächtigen  Interessenkörpem,  die  poUtische  Not- 
wendigkeit der  Welt-,  Kolonial-  und  Flottenpolitik  vertraten,  keinen 
Widerstand,  sondern  Heh  ihnen  Unterstützung,  die  von  patriotischen 
Hochgefühlen  geheischt  wurde.  FreiHch  verstanden  diese  Staats- 
männer auch,  die  öffentliche  Meintmg  für  ihre  Gedanken  und  Pläne 
zu  gewinnen.  Die  Begründung  und  Ausbreitung  des  i>Flotten Vereins«, 
den  zu  fördern  bald  ein  wohlfeiles  Mittel  war,  den  Ruf  einsichtiger 
und  hoher  nationaler  Gesinnung,  also  auch  Belohnungen  dafür,  zu 
erwerben,  war  ein  ebenso  wirksames  Mittel,  wie  einst  die  Bildung  der 
Anii'Corn-Law-League  für  ihre  Zwecke  gewesen  war.  So  hat  der 
Admiral  Tirpitz,  wie  H.  Dei^brück  („Bismarcks  Erbe"  S.  200)  sich 
ausdrückt,  nach  langer,  ebenso  kunstvoller  wie  erfolgreicher  Bear- 
beitung der  öffenthchen  Meinung  das  Werk  hochgebracht.  Mit 
diesem  Werke  stieg  die  öffenthche  Meinung  Deutschlands  in  jene 
Höhe,  in  der  sie  auch  während  des  furchtbaren  Weltkrieges  sich  zu 
halten  vermochte,  aus  der  nur  eine  noc^  schrecklichere  Katastrophe 
sie  herabgestürzt  hat.  Wir  erinnern  uns  des  jüngst  (aus  dem  dritten 
Bande  G.  u.  E.)  bekannt  gewordenen  Bismarck- Wortes  (s.  ob.  S.  165), 
daß  die  Achivi  qui  plectuntur  nicht  immer  die  unmittelbaren  Zeit- 
genossen der  fehlerhaften  Handlungen  sind.  —  Wir  lernen  auch  aus 
dem  mit  so  vieler  Spannung  erwarteten  Bande,  daß  Wii,hei.m  II. 
.schon  als  Prinz  mit  der  öffentlichen  Meinung  zu  rechnen  wußte:  in 
seinem  Schreiben,  das  ihn  wegen  der  WALDKRSEE-Versammlung 
rechtfertigen  wollte,  heißt  es,  er  habe  den  Hofprediger  Stöcker  trotz 
.seiner  anerkennenswerten  Leistungen  für  Monarchie  und  Christentum 

a8» 


436  Empirische  Beobachtungen  und  Anwendungen. 

»gerade  wegen  der  öffentlichen  Meinung«  in  der  von  ihm  beab- 
sichtigten Missionsvereinigung  zurückgestellt  (G.  u.  B.  III,  S.  10). 
Gleichwohl  ermahnt  ihn  Bismarck  —  in  seiner  ziemHch  gestrengen 
Antwort  —  um  im  Regieren  die  nötige  freie  Hand  zu  haben  (es  gäbe 
Zeiten  des  lyiberaHsmus  und  Zeiten  der  Reaktion,  auch  der  Gewalt- 
herrschaft), müsse  verhütet  werden,  daß  der  Prinz  „schon  als  Thron- 
folger von  der  öffentHchen  Meinung  zu  einer  Parteirichtung  gerechnet 
werde;  das  sichere  MißHngen  ihrer  Unternehmungen  könne  von 
VereinsmitgHedern  um  so  leichter  getragen  werden,  da  jeder  nachher 
den  anderen  anklage;  einen  Thronfolger  als  Protektor  aber  treffe 
es  schwerer  in  der  öffentHchen  Meinung"  (S.  19,  21).  Nach  diesen 
Äußerungen  scheint  dem  berühmten  Staatsmann  die  öffentliche 
Meinung  von  entscheidender  Bedeutung;  andererseits  rügt  er  es, 
daß  der  Großherzog  von  Baden  in  dem  Herkommen  aufgewachsen 
sei,  daß  das  Streben  nach  Popularität  und  das  »Rechnung  tragen« 
jeder  Regung  der  öffentHchen  Meinung  gegenüber  das  Fundament 
der  modernen  Regierungskunst  sei  (S.  30).  Auf  Louis  Phii^ippe  als 
Vorbild  konstitutioneller  Monarchen  gehe  diese  Denkungsart  zurück. 
Ihn  selber  verläßt  jedoch  die  Rücksicht  auf  jene  verhängnisvolle 
Macht  keineswegs.  Auch  der  letzte  Satz  im  Entwurf  seines  Abschieds- 
gesuches lautet:  (er  würde  es  schon  vor  Jahr  und  Tag  dem  Kaiser 
unterbreitet  haben,  wenn  er  nicht  den  Eindruck  gehabt  hätte,  daß 
es  S.  M.  erwünscht  wäre,  die  Erfahrungen  und  Fähigkeiten  eines 
treuen  Dieners  seiner  Vorfahren  zu  benützen)  „Nachdem  ich  sicher 
bin,  daß  Eure  Majestät  derselben  nicht  bedürfen,  darf  ich  aus  dem 
ÖffentHchen  I^ben  zurücktreten,  ohne  zu  befürchten,  daß  mein 
Entschluß  von  der  öffentlichen  Meinung  als  unzeitig  verurteilt  werde" 
<S.  100). 


Drittes  Buch 

Besondere  Fälle  der  Öffentlichen  Meinung 


IX.   Kapitel. 

Die  Öffentlidie  Meinung  und  die  soziale  Frage. 

Erster  Abschnitt.  Das  allgemeine  Verhältnis. 

I.  (Grundlagen.)  Die  soziale  Frage  ist,  ihrem  Kerne  nach,  eine 
Rechtsfrage,  die  das  Verhältnis  zwischen  öffentUchem  Recht  und 
Privatrecht  betrifft.  In  dem  Mittelpunkt  steht  die  Frage  des  Privat- 
eigentums, seines  Inhaltes,  seiner  Ausdehnung  oder  Beschränkung. 
Religion  —  als  ihr  historischer  Typus  wird  hier  die  der  römisch- 
kathoHschen  Kirche  betrachtet  —  ist  keineswegs  für  unbedingtes 
und  schrankenloses  Privateigentum.  Ihre  I^ehren  knüpfen  zunächst 
an  die  Tatsachen  des  Bodeneigentums  an,  wo  die  Rechte  der  Ge- 
meinde, der  Sippe,  der  Kirche  denen  des  Einzelnen  vorausgehen  und 
sie  bedingen.  Sie  behaupten  die  Rechtspflicht  des  Almosens  und  oft 
den  moraUschen  Vorzug  der  Armut.  Ebenso  verlangen  sie  nicht  un- 
bedingte persönliche  Freiheit,  sondern,  ohne  gerade  völlige  Knecht- 
schaft gutzuheißen,  lassen  sie  den  Einzelmenschen  durch  seinen  ange- 
borenen oder  erworbenen  Stand  bedingt  sein  und  »heihgen«  diesen 
Stand  als  Stück  der  überlieferten  und  von  Gott  gesetzten  Ordnung, 
als  deren  Wesen  immer  Gemeinschaft,  in  ihren  Ausprägungen 
als  patriarchalisch-herrschaftliche  oder  brüderHch  genossenschafthche 
OUederung,  erkannt  wird.  So  ist  Rehgion  untrennbar  verbunden 
mit  der  »Patrimonial-Feudal-Innungszeit«  (nach  Schaffte  s  Aus- 
druck) und  ist  befhssen,  diese  zu  verteidigen  und  zu  erhalten.  Ihr 
steht  mit  Verkündung  der  »Gesellschaft«,  in  der  sich  die  freien  Eigen- 
tümer begegnen  und  zusammenfinden,  die  öffentUche  Meinung 
gegenüber.  „Auf  den  höchsten  Kulturstufen  setzt  endUch  die  Macht 
der  »öffentlichen  Meinung«,  von  den  Ideen  allgemeiner  MenschenUebe 
und  demokratischer  Gleichheit  beherrscht,  die  vöUige  Aufhebung 
aller  unkündbaren  oder  gar  angeborenen  Klnechtschafts Verhältnisse 
durch"  (Röscher).  In  gleicher  Weise  setzt  sie  das  freie  und  un- 
beschränkte Eigentum  durch,  es  scheint  ilir  allein  natürlich  und 
dem  Naturrecht  gemäß,  zumal,  wenn  es  gedacht  wird  als  auf  eigene 
Arbeit  gegründet.  Jene  Ideen  haben  freilich  selber  zunächst  religiöse 
Färbung,    insbesondere    die    des    Protestantismus,    getragen,    zumal 


440  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffentlichen  Meinung. 

des  antikirchlich-individualistischen,  aber  allmähHch  verbleicht  diese 
Farbe  an  der  Sonne  der  Wissenschaft  und  Aufklärung,  indem  diese 
immer  mehr  die  öffentliche  Meinung  erleuchtet.  Wir  erörtern  hier 
aber  nicht,  wie  diese  liberalen  Ideen  in  die  sozialistischen  übergehen 
und  in  ihnen  umgebogen  werden,  denn  indem  die  öffentliche  Meinung 
als  gegebene  historische  Erscheinung  betrachtet  wird,  bleibt  sie 
von  jener  ursprünglichen  »bürgerlichen«  Gestalt  des  lyiberalismus 
beherrscht.  Auch  der  >x:hristliche«  Sozialismus  vermag  über  sie 
wenig;  wenn  dieser  als  Politik  der  katholischen  Kirche  sich  geltend 
macht,  so  tritt  hier  unmittelbar  »Religion«  als  Gegenbild  der  öffent- 
lichen Meinung  in  Wirksamkeit,  gegen  welche  sie  freilich  große  Mühe 
hat,  sich  zu  behaupten  und  auch  zu  Anpassungen  und  Einräumungen 
genötigt  ist,  weil  eben  die  öffentHche  Meinung  die  stärkere  Macht  im 
öffentlichen  Leben  geworden  ist.  Insbesondere  hat  sie  in  den  be- 
stehenden Einrichtungen  sich  ausgeprägt,  denen  ReHgion  und  Kirche 
nicht  nur  nicht  sich  entziehen  können,  sondern  die  sie  immer  auch 
in  einigem  Maße  zu  wahren  und  zu  »sanktionieren«  angewiesen 
sind.  —  Die  wirkliche  Gestaltung  des  Privatrechts  in  allen  modernen 
Staaten  beruht  ganz  und  gar  auf  den  Grundlagen  der  persönlichen 
Freiheit  und  des  freien  Eigentums.  Die  persönHche  Freiheit  ist  ein 
Gegenstand  der  festen  öffentHchen  Meinung.  Hörigkeit,  I^eib- 
eigenschaft,  vollends  Sklaverei  gelten  als  Schandmale  eines  über- 
wundenen, durch  Bildung  und  Humanität  nicht  erhellten  Zeitalters. 
Versuche,  sie  wiederherzustellen,  werden  von  der  ÖffentHchen  Meinung 
nicht  nur  gemißbilligt,  sondern  begegnen  sittlicher  Entrüstung  und 
heftigem  Unwillen.  Wenn  sie  dennoch  gewagt  werden,  so  müssen 
sie  sich  in  andere  Namen  einhüllen  und  die  ÖffentHche  Meinung  zu 
täuschen  versuchen,  was  unter  Umständen  —  wenn  es  sich  auf 
weit  entfernte  Gegenden  bezieht  —  wohl  geHngen  kann  (man  er- 
innere sich  der  ,,indentured  labour*').  Weniger  fest  und  eher  flüssig 
zu  nennen  ist  das  Postulat  der  Freiheit  des  Eigentums  in  dem  Sinne, 
daß  damit  die  Freiheit  des  Erwerbs,  der  Veräußerung,  der  Ver- 
pfändung, das  (subjektive)  Recht  des  Gebrauches  und  des  Miß- 
brauches verknüpft  ist;  wenngleich  der  Mißbrauch  als  solcher  Be- 
denken erregt.  Das  bürgerliche  Bewußtsein,  das  in  der  ÖffentHchen 
Meinung  sich  spiegelt,  erkennt  in  der  Befreiung  des  Eigentums  von 
den  vielfachen  hemmenden  Schranken,  die  es  ehemals  umgaben,  eine 
der  großen  Errungenschaften  der  Neuzeit  und  Aufklärung.  Es 
findet  darin  eine  hohe  Forderung  der  Gerechtigkeit  verwirkHcht, 
aber  zugleich  rühmt  es  die  NützHchkeit  und  Zweckmäßigkeit  der 
Befreiung,  die  sich  in  Vermehrung  des  Nationalvermögens,  in  glän- 
zenden   neuen  Erfindungen,  in   Zunahme  und  Beschleunigung  des 


Die  Öffentuche  Meinung  und  die  soziai^e  Ffage.  —  Alwjemeines.     441 

Verkehrs  und  in  einem  Aufschwung  aller  Gewerbe  und  Künste  be- 
währe. 

Indessen  haben  doch  manche  Umstände  sich  vereinigt,  ein  voll- 
kommenes Gerinnen  dieser  öffenthchen  Meinung  zu  verhindern.  Das 
Entstehen  großen  privaten  Reichtums  wird  auch  von  vielen  Gebil- 
deten als  Verminderung  und  Zurücksetzung  ihrer  selbst  und  ihres 
Verdienstes  empfunden.  Die  Quellen  dieses  Reichtums  sind  oft 
als  unlauter,  ja  schmutzig  bekannt.  Wucher,  wie  maßlose  Spe- 
kulationsgewinne, Gründertum  und  Protzentum  begegnen  allge- 
meiner MißbilHgung.  Ebenso  wird  hilflose  Armut  und  Not,  das 
Elend,  worin  ehrbare  und  arbeitsame  FamiHen  schmachten,  mit 
Schauder  und  Mitleid  wahrgenommen.  Die  Ungerechtigkeit,  die 
darin  Hegt,  daß  einige  allzuviel,  viele  allzu  wenig  haben,  wird  beklagt. 
Wohltätigkeit,  die  dem  Übel  abzuhelfen  beflissen  ist,  wird  gelobt, 
aber  auch  als  unzureichend  empfunden.  Religion  spricht  noch 
stärker  zu  ihren  Gunsten  als  öffentHche  Meinung.  Auch  stellen  sich 
die  Vertreter  des  Christentums,  zumal  des  römisch-kathoHschen, 
niemals  rückhaltlos  auf  die  Seite  der  Verherrlichung  des  freien  Eigen- 
tums und  der  wirtschafthchen  Freiheiten,  so  wenig  wie  sie  sonst  die 
Fortschritte  der  Neuzeit  ohne  weiteres  anerkennen,  die  vielmehr 
oft  von  ihnen  heftig  angefochten  werden.  —  Gleichwohl  ist  der  Strom 
der  öffenthchen  Meinung  stark  genug  gewesen,  um  Bewegungen, 
die  in  entgegengesetzter  Richtung  versucht  wurden,  ungemein  zu 
erschweren.  Solches  der  öffenthchen  Meinung  trotzende  Streben 
enthalten  die  soziahstischen  und  kommunistischen  Lehren  und  ihre 
Vertretung  durch  Gelehrte  wie  durch  Führer  der  Arbeiterklasse. 
Von  diesen  Bemühungen,  gegen  den  Strom  zu  schwimmen,  ist  das 
19.  Jahrhundert  erfüllt  gewesen.  Und  sie  haben  das  Gefüge  der  ihnen 
feindhchen  öffenthchen  Meinung  immerhin  allmähhch  zu  erschüttern 
vermocht.  Viele  Schwimmer  sind  in  den  Wellen  versunken,  aber 
etUche  haben  sich  gerettet  und  dem  ungeheuren  Druck,  der  auf 
ihnen  lastete,  siegreich  widerstanden.  Die  antisoziahstische  öffent- 
liche Meinung  ist  als  solche  auch  heute  noch  vorhanden  und 
stark.  Aber  ihre  Kraft  hat  sich  merkhch  vermindert.  Bewirkt 
und  erreicht  hat  die  unablässige  Kritik  der  für  die  ÖffentHche  Mei- 
nung unantastbaren  »Gesellschaftsordnung«,  daß  alle  sie  betreffenden 
Fragen  in  sehr  lebhaften  Fluß  gekommen  sind,  und  daß  eben 
dadurch  jener  Strom  der  öffenthchen  Meinung  sich  geteilt  und 
verdünnt  hat. 

2,  (SoziaHstische  Lehren.)  Solange  wie  sie  sich  bloßen  Theorien 
der  •Gütergemeinschaft«  gegenüber  sieht,  lehnt  die  ÖffentHche 
Meinung  den  SoziaHsmus  und  Kommunismus  als  wohlgemeinte,  aber 


442  Besondere  Fäi,i:,e  der  öffentlichen  Meinung. 

ganz  und  gar  unpraktische  »Schwärmereien«  ab.  Denn  i.  die  Güter- 
gemeinschaft widerstrebe  der  menschlichen  Natur.  Schon  bei  Kindern 
lasse  sich  der  angeborene  Sinn  für  das  Eigentum  beobachten.  2.  die 
Gütergemeinschaft  würde  den  untüchtigen  und  faulen  Mitgliedern 
der  Gesellschaft  zugute  kommen  und  wohl  auch  gefallen,  die  tüchtigen 
und  fleißigen  müßten  sich  dagegen  empören,  sie  würden  den  I^ohn 
ihres  Fleißes  und  ihrer  Leistungen  in  Anspruch  nehmen  und  ge- 
nießen wollen;  3.  die  Gütergemeinschaft  müßte  aus  diesen  und  aus 
vielen  anderen  Ursachen  zu  unablässigem  Zank  und  Streit  führen. 
Häufiger  aber  wird  anstatt  der  Gütergemeinschaft  (Kommunismus)  als 
Soziahsmus  die  künstUche  Gleichmachung  der  Vermögen  und  Ein- 
kommen, das  »Aufteilen«  verstanden.  Dagegen  richtet  die  öffentUche 
Meinung  den  Einwand,  die  Gleichheit  würde  sich  nur  kurze  Zeit 
halten  können,  der  alte  Zustand  werde  bald  wieder  hergestellt  sein. 
Oder  aber,  es  wird  geltend  gemacht,  solche  Verteilung  werde  nie- 
manden glückUcher  machen,  vielmehr  werde  aus  einer  Gesellschaft, 
in  der  wenigstens  Viele  ein  gutes  Auskommen  genössen,  eine  Gesell- 
schaft von  Habenichtsen  werden.  Die  Anekdote  aus  dem  Jahre  1848, 
daß  der  Baron  Rothschii^d  einem  Frankfurter  Arbeiter  gesagt  habe : 
„Ihr  wollt  teilen?  jeder  soll  gleich  viel  haben?  ich  bin  einverstanden, 
ich  besitze  30  Millionen  Taler,  es  gibt  30  MilHonen  Deutsche  —  hier 
haben  Sie  Ihren  Taler"  —  bezeichnet  den  damaligen  Stand  der  öffent- 
lichen Meinung,  der  noch  lange,  vielleicht  bis  heute,  wenn  auch  sehr 
abgeschwächt,  fortgedauert  hat.  Immer  besteht  eine  starke  Neigung, 
so  unpraktische  Ideale  lächerlich  zu  machen.  Der  erfahrene  Mann,  der 
die  Welt  kennt,  der  Praktiker,  der  »etwas  vor  sich  gebracht  hat«,  wird 
von  der  öff enthchen  Meinung  vorgezogen,  sie  wird  immer  geneigt  sein, 
ihm  Recht  zu  geben.  Er  aber  spottet  über  die  Narren  und  »Weltver- 
besserer«. —  Bei  etwas  näherer  Bekanntschaft  mit  den  Ideen  einer 
allgemeinen  ArbeitspfUcht,  einer  »Organisation  der  Arbeit«  wird  der 
Unwille  laut  über  den  »Tod  aller  Freiheit«,  und  die  unerträgliche 
Tyrannei  der  Staatsgewalt,  über  den  Zuchthausstaat  und  wohl  gar 
»ein  von  inappellabeln  Demagogen  regiertes  Zuchthaus«,  welches 
BiSMARCKsche  Wort  Röscher  in  seiner  Kritik  des  Soziahsmus  des 
öfteren  zitiert  hat.  —  Wenn  aber  die  Verfechter  des  Sozialismus  und 
Kommunismus  geltend  machen,  es  handle  sich  um  den  sozialen  Fort- 
schritt, der  natürUch  nur  unter  großen  Schwierigkeiten  sich  vollziehen 
könne,  es  sei  eine  sitthche  Aufgabe,  die  Freiheit  der  Individuen  mit 
den  Rechten  der  Gemeinschaft  zu  versöhnen  u.  dgl.,  so  erklärt  die 
öffenthche  Meinung  dagegen,  die  Gütergemeinschaft  gehöre  rohen 
Völkern  und  Zeiten  an.  „Erst  in  demselben  Verhältnisse,  wie  sich 
hernach  der  Wohlstand  und  die  Bildung  entwickelten,  pflegte  sich, 


Die  ÖffentIvIChe  Meinung  und  die  soziai^e  Frage.  —  Ai,i,gemeines.      443 

zugleich  als  Wirkung  und  Ursache,  das  Privateigentum  schärfer  aus- 
zubilden" (Röscher). 

Anders  verhält  sich  die  öffentHche  Meinung,  wenn  konkretere 
Anklagen  gegen  die  bestehende  Verteilung  der  Güter  erfolgen.  Ihre 
Übel  werden  nicht  geleugnet;  aber  ihnen  gegenüber  wird  der  Arbeiter 
zunächst  auf  Selbsthilfe  hingewiesen.  Die  erste  Selbsthilfe,  die 
man  ihm  empfiehlt,  ist  die  Sparsamkeit.  Daß  jeder  seines  Glückes 
Schmied,  daß  der  ehrliche,  rechtschaffene  und  fleißige  Mann,  auch 
wenn  er  »mit  nichts«  anfängt,  es  zu  etwas  bringen  könne,  ist  eine 
Grundlehre  des  bürgerUchen  Bewußtseins  und  also  der  öffenthchen 
Meinung.  Sparsamkeit  aber  gilt  als  d,as  Mindeste,  was  man  von  dem 
Arbeiter,  der  oft  bei  günstiger  Lage  des  Betriebes,  worin  er  tätig 
ist,  oder  bei  günstiger  allgemeiner  Konjunktur  hohen  l^ohn 
verdiene,  erwarten  und  verlangen  müsse.  Als  eine  Hauptursache 
des  unleugbaren  Elends  vieler  Arbeiter  gilt  aber,  außer,  daß  er 
seinen  Mehrerwerb  leichtsinnig  zu  verjubeln  pflege,  ganz  besonders 
die  verfrühte  Eheschließung  und  unbedachte  Erzeugung  vieler 
Kinder.  Dieser  Beweisgrund  hat  in  der  öffentlichen  Meinung  etwa 
von  1800 — 1880,  aber  auch  darüber  hinaus,  eine  ungemein  starke 
Zugkraft  gehabt;  die  öffentliche  Meinung  war  davon  durchdrungen 
und  stützte  sich  auf  die  Urteile  der  berühmtesten  Nationalökonomen 
und  Sozialphilosophen.  An  deren  Spitze  stand  durch  allgemeines 
Ansehen  und  tief  reichenden  Einfluß  der  Schotte  John  Stuart  M11.1.: 
er  wollte  die  ÖffentHche  Meinung  selber  zu  einer  wirksamen  Macht 
erheben  gegen  die  Tendenzen  der  zu  starken  Vermehrung;  sie  werde 
dereinst  genügende  Fortschritte  machen,  um  eine  den  Verhältnissen 
nicht  entsprechende  Zahl  von  Kindern  sittlich  ebenso  tadelnswert 
zu  finden,  wie  jede  andere  Art  von  sinnUcher  Unmäßigkeit,  z.  B. 
Trunksucht.  Im  gleichen  Sinne  lehrte  RoscHER,  ein  Hauptmoment 
zur  Bestimmung  der  Lohnhöhe  liege  in  der  Hand  des  Arbeiterstandes 
selbst;  es  setze  freilich  einen  hohen  Grad  von  Einsicht  und  Selbst- 
beherrschung der  unteren  Klassen  voraus,  wenn  die  Sach Wertsteigerung 
des  Arbeitslohnes  eine  Vermehrung,  nicht  der  Arbeiterzahl,  sondern 
des  Arbeiterwohlstandes  bewirken  solle.  —  Allgemein  aber  pflegte 
(und  pflegt  auch  heute  noch  vielfach)  die  öffentliche  Meinung  sich 
dahin  zusammenzufassen,  daß  die  Arbeiter  selber  schuld  seien,  wenn 
es  ihnen  schlecht  gehe.  Besonders  fand  (und  findet)  dies  auch  An- 
wendung auf  die  traurigste  Lage  des  Angebots  der  Arbeitskraft  — 
den  Mangel  an  Nachfrage,  die  Arbeitslosigkeit.  Die  ÖffentHche 
Meinung  setzte  als  deren  allgemeine  Ursache  die  »Arbeitsscheu«, 
nebst  Trunkfälligkeit,  Neigung  zum  Landstreichen,  mangelnden  Sinn 
fürs  FamiUenleben,  kurz  Lasterhaftigkeit  voraus,   und  hat  sich  in 


444  Besondere  Fäi*i.e  der  Öffentuchen  Meinung. 

bezug  auf  die  wirklichen  Hauptursachen  erst  allmähUch  und  un« 
zulänglich  belehren  lassen^).  —  Was  die  großen  Einkommen  betrifft, 
so  unterscheidet  die  öffentliche  Meinung  deren  Bewertung  nach 
ihrem  Ursprünge:  wenn  sie  ledigUch  als  Früchte  eines  ererbten  Ver- 
mögens und  als  müßige  Rieseneinkommen  gelten,  so  werden  sie  mit 
Mißbehagen  betrachtet,  zumal  wenn  eine  üppige,  auffallende,  protzen- 
hafte Lebensweise  damit  verbunden  ist,  die  als  solche  schon  der 
öffentHchen  Zensur  unterHegt.  Anders,  wenn  ein  großes  Einkommen 
für  verdient  oder  für  das  Ergebnis  eines  »sauer  erworbenen«  Ver- 
mögens gehalten  wird;  es  erscheint  dadurch  um  so  mehr  als  gerecht- 
fertigt und  wird  auch  gern  bewundert,  je  mehr  es  in  lyiberaHtät, 
großartiger  Wohltätigkeit,  Unterstützung  von  Kunst  und  Wissen- 
schaft, patriotischen  Betätigungen  sich  kundgibt.  Tätige,  fleißige 
Geschäftsmänner  gelten  nun  im  allgemeinen  als  Erwerber  ihres  Ver- 
mögens und  Einkommens.  Im  i8.  Jahrhundert  wurde  die  aufge- 
klärte Meinung  vorzugsweise  dem  großen  Kaufmann  hold,  zumal 
dem  überseeischen:  „Güter  zu  suchen  geht  er,  doch  an  sein  Schiff 
hänget  das  Gute  sich  an."  Wir  hören  von  poetischen  Verherrhchungen 
des  Handels,  die  seit  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  häufiger 
geworden  seien  (Sombart,  Kapitalismus*  II,  i,  S.  32).  Als  Widerhall 
dieser  Denkungsart  dürfen  wir  auch  verstehen,  was  Goethe  in 
Meisters  I^ehr jähren  dem  Kaufmann  Werner  in  den  Mund  legt:  „Wo 
gibt  es  nun  noch  einen  rechtmäßigeren  Erwerb,  eine  biUigere  Eroberung 
als  den  Handel?" 

3.  (Der  Handel.)  In  Deutschland  hatte  sich  in  dieser  Hinsicht 
ein  großer  Umschwung  vollzogen  seit  der  Reformationszeit,  wo  die 
öffentHche  Meinung  noch  ganz  in  der  Religion  befangen,  in  Martin 
I^UTHER  ihren  wirkungsvollsten  Sprecher  fand,  der  mit  grellen  Farben 
die  unter  den  Kaufleuten  vorhandenen  „böse  Griff  und  Tücke  des 
Geizes,  des  Eigennutzes  und  der  Büberei"  schilderte  und  die  Preis- 
steigerer,  Einkäufer  und  MonopoHsten  als  „öffentUche  Diebe,  Räuber 
und  Wucherer"  brandmarkte;  die  Raubritter  seien  geringere  Räuber 
als  die  Kaufleute,  sintemal  die  Kaufleute  täghch  die  ganze  Welt 
rauben,  wo  ein  Räuber  im  Jahr  einmal  oder  zwei  einen  oder  zwei 
beraubt"  (nach  Janssen,  Gesch.  d.  deutschen  Volks  II,  S.  42of.). 


^)  über  die  ersten  Jahre  nach  der  Julirevolution  und  in  bezug  auf  die  Pfalz,  be- 
merkt H.  V.  Treitschke,  die  öffentliche  Meinung  habe  vor  der  neuen  Erscheinung 
des  Massenelends  noch  ganz  hilflos  gestanden  und  die  Auswanderung  als  ein  wirk- 
sames soziales  Heilmittel  gepriesen.  (D.  G.  IV,  251.)  Marx  behauptet  in  einer  seiner 
rhetorisch  leidenschaftlichen  Wendungen,  schon  während  der  ,, Manufakturperiode", 
mit  der  Entwicklung  der  kapitalistischen  Produktion  habe  die  öffentliche  Meinung 
von  Europa  den  letzten  Rest  von  Schamgefühl  und  Gewissen  eingebüßt  (Kapital  I,  *, 
S.  724).    Seine  Beweisgründe  sind  spezifisch  englischen  Erfahrungen  entlehnt. 


Die  Öffentwche  Meinung  und  die  soziai^e  Frage.  —  Ai,i,gemeines.      445 

Solche  Töne,  die  noch  von  dem  altchristlichen,  im  Mittelalter  be- 
harrenden Widerwillen  gegen  den  Handel  herrühren,  sind  in  den 
folgenden  Jahrhunderten  immer  leiser  geworden,  wenn  auch  niemals 
verstummt.  Die  öffenthche  Meinung  ist  auch  im  19.  Jahrhundert 
geneigt  gebheben,  den  Handel  zu  verherrlichen^),  mehr  aber  noch 
wandte  sie  ihre  Gunst  dem  industriellen  Unternehmer  zu,  zumal 
in  den  Fällen,  wo  er  den  Erfinder  oder  den  erfolgreichen  Ingenieur 
oder  beide  in  seiner  Person  vereinigte.  Vor  allem  wird  seine  Tatkraft, 
sein  Wagemut,  seine  BeharrHchkeit,  kurz  der  »Unternehmungsgeist« 
hoch  gepriesen  und  die  »Hauptleute  der  Industrie«,  wenigstens  die 
erfolgreichen,  begleitet  ein  ähnHcher  Beifall,  wie  die  Führer  eines 
siegreichen  Heeres.  Die  Reste  der  Abneigung  gegen  Wucher  und 
Plusmacherei,  die  vorzugsweise  auf  dem  Lande,  in  konservativ  und 
klerikal  beeinflußten  Kreisen  bleiben,  richten  sich  —  in  Deutschland, 
Frankreich  und  anderen  I^ändern  —  am  Hebsten  gegen  die  Juden, 
als  eine  volksfremde  Gruppe,  deren  wachsender  Reichtum  mit  Miß- 
vergnügen betrachtet  und  gern  auf  unlautere  Handlungsweisen 
zurückgeführt  wird.  Mehr  und  mehr  hat  aber  die  öffenthche  Meinung 
mit  den  Angriffen,  die  von  sozialistischer  Seite,  also  im  Interesse  der 
neuen  industriellen  Arbeiterklasse,  gegen  den  »KapitaUsmus«  und 
damit  gegen  die  »Ausbeutung«  der  Arbeitskraft  durch  das  »profit- 
hungrige Kapital«  gerichtet  wurden,  sich  auseinandersetzen  müssen 
und  konnte  gewissen  Wirkungen  dieser  starken  Strömungen  sich 
nicht  entziehen.  Sie  ist  immer  zu  bedeutenden  Einräumungen  bereit 
gewesen,  imd  hat,  wie  sie  die  »Auswüchse«  des  Handels  im  Börsen- 
spiel, Grundstückschacher,  Kettenhandel  verurteilt,  so  auch  die 
»Mißstände«  vöUig  anerkannt,  die  das  Maschinenwesen,  die  Fabrik- 
industrie, der  Großbetrieb  im  Gefolge  haben.  Und  so  hat  sich  eine 
entschiedene  Wandlung  vollzogen  von  jenem  Standpunkt  des  Gehen- 
lassens,  der  alle  Einmischung  des  Staates  in  den  freien  Verkehr  für 
schädlich  hält*),  zur  entschiedenen  Befürwortung  einer  sozialen 
Gesetzgebung,  namenthch  zum  Schutze  der  Frauen,  Kinder  und 
jugendlichen  Personen,  in  hygienischem  und  in  sittUchem  Interesse. 
Mit  dieser  Einräumung  war  lange  eine  um  so  entschiedenere  Ablehnung 


')  Nach  Klein  (Die  Organisationen,  S.  47)  habe  im  letzten  Drittel  des  18.  Jahr- 
hunderts die  öffentliche  Meinung  begonnen,  sich  gegen  die  Aktiengesellschaften 
aufzulehnen.  Er  bezieht  sich  dann  auf  das  Verbot  durch  den  französischen  Konvent 
1793.    Die  Abneigung  war  gegen  die  Assoziation,  nicht  gegen  den  Handel  gerichtet. 

*)  „Bis  zu  Anfang  des  8.  Jahrzelints  (des  XIX.  Jahrh.)  herrschte  in  Wissenschaft 
und  öffentlicher  Meinung  eine  Auffassung  vor,  die  dem  Staate  nur  einen  Rechts- 
und Machtzweck  beilegte  und  glaubte,  daß  alles  wirtschaftliche  Leben  am  besten 
•ich  selbst  zu  überlassen  sei."  G.  K.  Anton,  Geschichte  d.  preuO.  Fabrikgesetzgebung, 
1891,  S.  VIII. 


446  Besondere  Fälle  der  Öffentlichen  Meinung. 

des  auf  erwachsene  Männer  —  die  Normalarbeiter  —  auszudehnenden 
Schutzes  verbunden.  Besonders  scharf  und  deutlich  machte  sich  diese 
Unterscheidung  in  England  geltend  und  konnte  sich  dort  bis  gegen 
Ende  des  19.  Jahrhunderts  behaupten,  nachdem  schon  in  dessen 
Anfang  die  Aufdeckung  der  Greuel  in  Frauen-  und  Kinderarbeit, 
besonders  in  der  jungen  Baumwollenindustrie,  eine  gelinde  Empörung 
zur  Folge  gehabt  hatte,  die  denn  auch  schwache  gesetzgeberische 
Maßnahmen  zu  bewirken  vermochte,  unterstützt  durch  ein  Partei- 
interesse, das  den  industriellen  Emporkömmlingen  abhold  war. 
Die  soziale  Frage,  als  Zweifel  an  dem  Werte  der  modernen  Gesell- 
schaftsordnung und  Eigentumsordnung,  bUeb  gerade  in  England 
lange  außerhalb  des  Gesichtskreises  der  öffentlichen  Meinung,  die 
soziaUstischen  Gedanken  wurden  als  unsinnige  Projekte  {wild 
schemes)  vorgestellt.  Während  der  letzten  30  Jahre  (1890 — 1920) 
haben  sie  jedoch  unerbittlich  sich  weiter  vorgeschoben  und  das 
Ernstgenommenwerden  erzwungen.  Dies  ist  eine  allgemeine  Er- 
scheinung in  den  alten  Kulturländern,  so  daß  hier  eine  gewisse  In- 
differenz der  öffentlichen  Meinung  gegenüber  den  Theorien  einge- 
treten ist;  wie  immer  der  goldenen  Mittelstraße  (dem  juste-müieu) 
geneigt,  will  sie  das  Gute  des  Individualismus  mit  dem  Guten  des 
Sozialismus  verbinden  und  die  übelen  Seiten  beider  vermeiden,  oder: 
der  Staatstätigkeit  zum  allgemeinen  Besten  ihr  Recht  lassen,  aber 
auch  der  individuellen  Selbstverantwortung  freien  Spielraum  ge- 
währen; wenn  in  wirtschaftUcher  Hinsicht  niemals  schlechthin  das 
laisser  faire  gegolten  hat  —  am  meisten  immerhin,  trotz  der  Fabrik- 
gesetzgebung, in  Großbritannien  —  so  hat  sich  die  Wage  neuerdings 
immer  mehr  einer  gemäßigten  Sozialreform  zugeneigt,  weil  diese 
zugleich  als  Vorbeugung  gegen  die  »soziale  Revolution«,  überhaupt 
gegen  innere  Unruhen,  die  von  »Fabrikarbeitern«  und  von  »groß- 
städtischem Pöbel«  immer  befürchtet  werden,  geschätzt  wird.  Da- 
gegen hat  sich  die  Anerkennung  der  Selbsthilfe,  die  bei  theoretischen 
Urteilen  lange  im  Vordergrunde  stand,  erhe^Hch  abgeschwächt; 
vielmehr  knüpften  sich  daran  Besorgnisse,  als  anstatt  der  individuellen 
die  kollektive  und  organisierte  Selbsthilfe  in  den  Vordergrund  trat: 
vor  der  Macht  der  »gewerkschaftlichen«  Verbindungen,  weil  die 
Meinung  ist,  daß  sie  Streiks  anzetteln  und  dem  Unternehmer  streitig 
machen,  Herr  im  eigenen  Hause  zu  sein;  vor  der  »genossenschaft- 
lichen« Organisation,  weil  sie  den  Ruin  des  Mittelstandes  bedeute. 
Die  Stellung  der  öffenthchen  Meinung  zu  diesen  beiden  Arten  der 
Selbsthilfe,  in  denen  sie  die  Verwandtschaft  mit  sozialistischen  Ideen 
wittert,  erfordert  eine  nähere  Beleuchtung. 


Die  öffentuche  Meinung  und  die  soziale  Frage.  —  Die  Probi.eme.     447 


ZweiterAbschnitt.  Die  besonderen  Probleme. 

4.  (Das  Koalitionsrecht.)  Die  öffentliche  Meinung  sah  zunächst 
scheel  zu  allen  Verbindungen  der  Arbeiter,  die  den  Zweck  setzten, 
bessere  Arbeitsbedingungen  zu  erobern.  Sie  betrachtete  den  freien 
Arbeitsvertrag  als  eine  große  Errungenschaft  des  Geistes  der  Auf- 
klärung gegenüber  allen  Arten  von  unfreier  Arbeit  und  sah  das 
Wesen  des  freien  Arbeitsvertrages  in  der  individuellen  Vereinbarung 
zwischen  den  Parteien,  nämlich  dem,  der  die  Arbeit  »gebe«,  d.  h.  die 
Verdienstgelegenheit  gewähre,  und  dem,  der  sie  nehme,  wobei  jeder, 
wie  sonst  bei  einem  rechten  Tausch,  im  eigenen  Interesse  handle. 
»Zusammenrottungen«  erschienen  als  Beschränkungen  der  Freiheit, 
also  als  Störungen  des  Marktes,  wie  alle  Verabredungen  über  Preise, 
die  den  freien  Wettbewerb  unterbinden.  In  dem  Lande,  das  zuerst 
die  große  Industrie  sich  entfalten  sah,  haben  auch  zuerst  die  »Gewerk- 
vereine« (Trade  Unions)  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  in  Anspruch 
genommen.  Bis  1824  war  die  »Koalition«  schlechthin  verboten.  Die 
Strenge  der  Gesetze  gegen  sie  wurde  verschärft  durch  die  Angst 
vor  Jakobinern  und  geheimen  Gesellschaften,  die  unter  den  Ein- 
drücken der  französischen  Revolution  die  Gemüter  beherrschte; 
das  Gesetz  von  1800  bedrohte  alle  Verabredungen,  Versammlungen 
und  Vereine  von  Lohnarbeitern  zum  Zwecke,  eine  Lohnaufbesserung 
herbeizuführen,  mit  Zuchthausstrafe  (Koalitionen  der  Arbeitgeber 
nur  mit  Geldstrafe).  Die  Aufhebung  dieser  Gesetze  geschah  fast 
unversehens,  sie  wurde,  nach  dem  Ausdrucke  Brentanos,  durch 
das  Parlament  hindurchgeschmuggelt,  die  öffentliche  Meinung  wurde 
ihrer  erst  gewahr,  als  die  Folgen  sich  bemerklich  machten,  und 
unterstützte  es,  daß  im  folgenden  Jahre  (1825)  soviel  wie  möglich 
davon  zurückgezogen  wurde.  Die  Ge  werk  vereine  blieben  verfemt. 
„In  den  30er  und  40er  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  litten  die  Ge- 
werkvereine unter  der  äußersten  Ungunst  seitens  der  öffentUchen 
Meinung  und  der  Gesetzgebung"  (Brentano  HWS^  IV,  1126).  Sie 
steigerte  sich  durch  das  Auftreten  der  Chartisten  und  der  christUchen 
Sozialisten,  die  als  deren  unheilvolle  Gönner  galten;  vollends  aber 
durch  vorkommende  Fälle  von  Koalitionszwang,  der  bis  zu  ver- 
brecherischen Gewaltsamkeiten  verschärft  wurde.  Der  öffentliche 
Unwille  stieg  auf  den  höchsten  Gipfel,  als  gewisse  Vorgänge  von 
äußerster  Roheit  bekannt  wurden,  die  sich  in  Sheffield  zugetragen 
hatten  (1866).  Wenige  Jahre  vorher  war  durch  den  Bericht  eines 
Ausschusses,  den  die  Gesellschaft  zur  Beförderung  der  Sozialwissen- 
schaften eingesetzt  hatte,  „der  erste  systematische  Versuch  gemacht 
worden,  die  Gewerkvereine  gerecht  zu  beurteilen".    „Allein  die  den 


448  Besondere  Fäi^i^e  der  Öffentlichen  Meinung. 

Arbeitgebern  so  genehme  Beurteilungsweise  ließ  sich  aus  der  öffent- 
lichen Meinung  nicht  so  leicht  verdrängen"  (das.).  In  einigem  Maße 
gelang  dies  aber  durch  den  Bericht  der  parlamentarischen  (könig- 
lichen) Kommission,  die,  eben  infolge  der  Erregung  gegen  die  Ge- 
werkvereine, zur  Untersuchung  ihres  Wesens  und  Tuns  berufen 
wurde.  Der  Kontrast  war  sehr  auffallend,  in  den  sich  die  ermittelte 
Wahrheit  zu  dem  losen,  verallgemeinernden  Gerede,  die  Tatsachen 
zu  den  Gerüchten,  stellten.  Auffallend  und  beschämend.  In  solchen 
Fällen  muß  sich  die  öffentliche  Meinung  bequemen.  Niemand  kann 
wagen,  die  ehemals  so  beÜebten  Lästerungen  zu  wiederholen,  ohne 
sich  dem  Vorwurf  der  Unwissenheit  auszusetzen;  und  die  Unter- 
suchung anfechten,  macht  den,  der  ihre  Methoden  nicht  nachzu- 
prüfen vermag,  lächerlich.  Es  trat  aus  diesen  Ursachen  eine  tief- 
gehende Veränderung,  die  nicht  eben  als  ein  Umschwung  zu- 
gunsten der  Arbeiter-Fachvereine  gedeutet  werden  sollte,  sondern 
lieber  als  ein  Verstummen,  und  in  der  Folge  als  ein  reserviertes, 
abwartendes  Verhalten^).  Im  I^aufe  der  Jahrzehnte  ist  dieses  aber 
mehr  und  mehr  in  eine  gewisse  Sympathie  übergegangen.  Die  Größe 
der  Organisation,  ihrer  Finanzkraft  und  pekuniären  I^eistungen 
zieht  Bewunderung  auf  sich,  es  wird  anerkannt,  daß  sie  das  Verhältnis 
zwischen  Kapital  und  Arbeit  regelmäßiger  und  ordentHcher  gemacht 
haben,  daß  ihre  Führer  nicht,  wie  man  ehemals  wähnte,  zu  Streiks 
aufwiegeln,  sondern  eher  vor  solchen  warnen  und  als  Finanzminister 
der  großen  »amalgamierten «  Unionen  und  Kartelle  vorsichtig  er- 
wägen, ob  der  Erfolg  die  Kosten  lohnen  werde.  Daher  wurde  mit 
großem  Mißfallen  bemerkt,  daß  die  Autorität  der  Führer  bei  den 
großen  Massen  sich  verminderte,  daß  diese  ungezügelt  ihre  eigenen 
Wege  suchten  und  gingen,  wie  es  bei  den  großen  Ausständen  der 
Transportarbeiter  in  den  Jahren  19 11 — 13  offensichtlich  der  Fall 
war.  Man  sah  hierin  fremde  Einflüsse,  besonders  solche  der  fran- 
zösischen Syndikalisten,  wirksam  werden,  und  konnte  um  so  mehr 
schätzen,  daß  ein  gut  geführtes  Gewerkschaftswesen  als  ein  Bollwerk 
gegen  die  soziale  Revolution  sich  bewähre.  Auch  die  großen  inter- 
nationalen Kongresse,  an  denen  die  Häupter  der  Gewerkschaften 
neben  denen  der  SoziaUsten  teilnahmen,  machten  in  dieser  Zuver- 
sicht nicht  irre,  weil  man  wußte,  daß  der  englische  Trade  Unionism 
durchaus  den  rechten  Flügel  in  diesen  Arbeiterparlamenten  darstelle, 

*)  „Von  diesen  Berichten  der  Kommission  datiert  ein  neues  Stadium  in  der  Stellung- 
nahme der  öffentlichen  Meinung  gegenüber  den  Trade  Unions,  die  sich  insbesondere 
auch  in  den  Leitartikeln  der  Presse  wiederspiegelt.  Auch  große  Unternehmer  wie 
Brassey  äußerten  sich  öffentlich  dahin,  daß  die  Gewerkschaften  erzieherisch  auf  die 
Arbeiter  einwirkten,  und  daß  ihre  Tätigkeit  die  Kosten  der  Produktion  nicht  erhöhe, 
sondern  vermindere."    Kui^emann,  Gewerkschaftsbewegung  (1900)  S.  16. 


Die  Öffenti,iche  Meinung  und  die  soziale  Frage.  —  Die  Probleme.     449 

und  sich  auf  praktische,  unmittelbare  Ziele  beschränke,  deren  Erreich- 
barkeit die  öffentHche  Meinung  zugestanden  hat,  indem  sie  eben 
dadurch  das  kapitalistische  Privateigentum  und  die  ganze  darauf 
beruhende  Gesellschaftsordnung  zu  retten  hofft.  Andere  Momente 
haben  in  England  dazu  beigetragen,  das  Odium,  welches  so  lange 
auf  den  Arbeiterverbindungen  lastete,  zu  beheben.  Vor  allem  zeigt 
sich  die  Wechselwirkung  zwischen  öffentHcher  Meinung  und  Gesetz- 
gebung. Noch  im  Jahre  1866  hatte  das  Obergericht  entschieden, 
daß  Trade  Unions  ungesetzHche  Verbindungen  seien.  Erst  im  Ge- 
setze von  1871  gab  ihnen  ein  neues  Gesetz  vollständigen  Schutz  für 
ihr  Vermögen;  aber  noch  wurde  ein  besonderes  Strafgesetz  daran 
gehängt,  um  ihre  Aussichten,  in  Lohnstreitigkeiten  zu  siegen,  wesent- 
lich zu  verschlechtern.  Fünf  Jahre  später  wurde  das  Ausnahmegesetz 
aufgehoben.  Die  ÖffentHche  Meinung,  die  also  sich  zu  größeren  Ein- 
räumungen gedrängt  sah  und  diese  Gesetzgebung  zuUeß,  sah  sich 
dann  wieder  dem  Einflüsse  ausgesetzt,  den  die  Sicherung  der  Rechts- 
lage zugunsten  der  Gewerkvereine  ausüben  mußte.  Einzelne  Ver- 
treter der  Arbeit  betraten  die  heiligen  Hallen  des  Hauses  der  Ge- 
meinen. Die  unlängst  noch  als  verbrecherisch  geschmähten  Vereine 
wurden  von  den  herrschenden  Klassen  als  regelmäßiges  Glied  der 
bestehenden  Gesellschaftsorganisation  rezipiert  (Brentano).  Dies 
war  freiUch  mehr  Schein  als  WirkHchkeit^).  Die  schwere  und  schlei- 
chende Krise,  die  gegen  Ende  der  70er  Jahre  gipfelte  und  nach  einer 
kurzen  Hebung  auch  die  Mitte  der  80  er  erfüllte,  streute  auch  den 
Samen  soziaUstischer  Ivchren,  der  Glaube  an  den  sozialen  Frieden 
wurde  tief  erschüttert,  das  Unbehagen,  von  dem  auch  der  denkende 
Teil  der  Gebildeten  sich  ergriffen  zeigte,  machte  das  Vertrauen  rasch 
wieder  wankend,  das  man  in  die  Arbeiterorganisationen  gesetzt  hatte. 
Die  öffentUche  Meinung  fühlte  sich  völUg  unsicher.  Auf  der  einen 
Seite  gewann  das  Gefühl  der  Furcht  die  Oberhand,  auf  der  anderen 
die  Gefühle  des  Mitleids  mit  dem  greller  in  die  Erscheinung  tretenden 
Elend  der  Schichten,  die  nicht  in  Gewerkvereinen  organisiert  waren. 
Bei  dem  Ausstand  der  Streichholzmacherinnen  1888  wie  bei  dem 
großen  Hafenstreik  1889  trat  dies  zutage:  „nichts  kann  den  Fort- 
schritt, den  die  Gewerkvereinsbewegung  in  der  öffentlichen  Meinung 


*)  Bei  allein  „Wohlwollen"  hielt  bis  weit  über  1870  hinaus  , .jeder  Gebildete  es 
für  ausgemacht,  daß  der  Trade  ünionism  als  Mittel,  die  I^age  des  Arbeiters  zu  ver- 
^>**'*">»  »g«g«n  die  politische  Ökonomie«  sei.  Dieser  Eindruck  rührte  nicht  sowohl 
Ton  einer  ausdrücklichen  Erklärung  der  Nationalökonoraen,  als  von  der  allgemeinen 
Ansicht  des  Arbeitslohnes  her,  die  eine  aufgeklärte  öffentliche  Meinung  von  jenen 
empfangen  hatte"  (Theorie  des  T^hnfonds,  in  Verbindung  mit  den  Theorien  der 
Akkumulation  und  des  Bevölkerungswachstums),  S.  u.  B.  Webb,  Industrial  Demo- 
cracy  II,  S.  603. 


Töanics,  Kritik. 


29 

• 


450  Besondere  Fäi,i.e  der  Öffentwchen  Meinung. 

gemacht  hatte,  besser  zeigen,  als  daß  nunmehr  Damen  der  vor- 
nehmsten Kreise  ihre  bisherigen  kostspiehgen  I^iebüngsversuche  zur 
Besserung  des  Lohnes  der  weibHchen  Arbeiter  .  .  .  verließen  und  sich 
an  die  Spitze  einer  Bewegung  zur  Organisation  der  weiblichen  Arbeiter 
in  Gewerkvereinen  stellten"  (Brentano).  Zu  gleicher  Zeit  lenkte 
der  Ausstand  der  Hafenarbeiter  (1889)  die  Aufmerksamkeit  auf  die 
Zustände  des  Ostens  von  London,  die  schon  einige  Jahre  früher  der 
»Schmerzensschrei «  (A  bitter  cry)  und  die  Untersuchung  über  das 
Schwitz-System  von  anderer  Seite  grell  beleuchtet  hatte.  Der  Aus- 
stand wurde  wesenthch  durch  die  laute  Sympathie  des  Pubhkums 
gewonnen,  ebenso  2  Jahre  später  der  Streik  der  Omnibus-Bedien- 
steten. Im  Jahre  1900  erklärte  Werner  Sombart,  indem  er  von 
den  Eroberungen  der  Gewerkvereine  auf  dem  Gebiete  des  öffent- 
lichen Lebens  in  England  sprach,  es  habe  sich  tatsächlich  alles  zu 
ihren  Gunsten  gewandt:  „Staatsbehörden,  städtische  Behörden, 
Gerichte,  Presse,  öffenthche  Meinung  wetteifern  untereinander,  um 
der  Arbeiterbewegung  bei  jeder  Gelegenheit,  die  sich  bietet,  ihre 
Reverenz  zu  machen''  (»Dennoch!«  S.  20).  Bezeichnend  ist  es,  daß  der 
nächste  starke  Angriff  gegen  diese  gewonnenen  Stellungen  in  der  Weise 
geschah,  daß  er  aus  dem  rechtlichen  Stande  der  Gewerkvereine  die 
Konsequenzen  zu  ihren  Ungunsten  zu  ziehen  unternahm.  Dies 
geschah  durch  die  Haftbarmachung  des  Eisenbahnerverbandes  für 
Schaden,  der  durch  Streikposten  verursacht  sei  (die  Taff.  Vale 
Decision  1901)  und  —  gewissermaßen  im  entgegengesetzten  Sinne  — 
durch  das  OSBORNE-Urteil  (Dez.  1909),  das  ihnen,  eben  weil  sie  bloße 
Zweckvereine  seien,  das  Recht  nahm,  sich  parlamentarisch  vertreten 
zu  lassen.  Die  öffentliche  Meinung,  deren  Sympathie  infolge  der 
Ausbreitung  imperiaUstischer  Ideen  und  Gefühle,  der  Agitation  für 
Schutzzölle  und  gegen  ausländischen,  besonders  deutschen  Wett- 
bewerb, stark  abgeflaut  war,  zeigte  sich  sehr  geneigt,  dem  letzten 
Urteil  ihren  Beifall  zu  geben,  nachdem  das  erstere  durch  eine  von 
der  neuen  Uberalen  Regierung  durchgesetzte  Akte  unwirksam  gemacht 
worden  war  (Trades  Disputes  Ad  1906).  Guten  Teils  erklärt  sich 
dies  daraus,  daß  die  öffenthche  Meinung  zu  dem  ganzen  ungeheuren 
Erfolg  der  von  der  neuen  Arbeiterpartei  unterstützten,  liberalen 
Herrenpartei,  ein  schiefes  Gesicht  machte;  in  anderer  Weise  als  es 
auch  sonst  regelmäßig  und  naturgemäß  durch  die  Vertreter  der 
überwundenen  Meinung  geschieht,  die  nicht  in  Anspruch  nehmen 
kann,  die  öffentliche  Meinung  zu  sein.  Diesmal  fühlte  sich,  wie  nie- 
mals zuvor,  das  eigentliche  und  alte  England  durch  Wales,  Schottland 
und  Irland  geschlagen;  zugleich  die  Respektabilität  durch  Ver- 
tretungen des  Pöbels  oder  derer,  die  mit  ihm  paktierten;  die  Kirche 


Die  ÖFFENTI.ICHE  MEINUNG  UND  DIE  SOZIAI,E  FRAGE.  —  DlE  PROBI,EME.      45 1 


von  England  durch  die  »Kapelle«,  d.h.  die  Nicht- Konformisten, 
durch  Sekten,  über  die  man  die  Nase  zu  rümpfen  gewohnt  war,  wie 
Methodisten  und  Quäker.  Dies  Verhalten  der  öffentlichen  Meinung 
machte  sich  auch  bei  den  zwei  Neuwahlen  des  Jahres  1910  bemerkbar 
imd  bewirkte,  obgleich  die  Mehrheit  im  Hause  erhebhch  vermindert 
blieb,  daß  im  eigentHchen  England  die  Mehrheit  der  Wähler  und  der 
Gewählten  wieder  sich  zum  konservativ-unionistischen  Programm 
bekannte.  Willkommen  mußte  unter  diesen  Umständen  der  öffent- 
Hchen  Meinung  sein,  daß  sich  innerhalb  der  Gewerkschaftswelt  Er- 
scheinungen zeigten,  auf  die  sie  als  hochgefährlich  hinweisen  konnte: 
dalün  gehörte  die  schon  erwähnte  Unbotmäßigkeit  der  I^ute  ihren 
Führern  gegenüber,  und  die  Spuren  des  französischen  Syndi- 
kalismus, die  bei  Gelegenheit  des  Kongresses  zu  Sheffield  19 10  und 
in  den  folgenden  Jahren  bei  Massenstreiks  (auf  die  zurückzukommen 
sein  wird)  zutage  treten.  Auch  Sombart  schreibt  in  bezug  auf  die 
jüngste  Entwicklung  (Sozialismus  und  soziale  Bewegung  6.  Aufl. 
S.  276),  seit  einer  Reihe  von  Jahren  sei  die  Stimmung  in  England 
zuungunsten  der  Gewerkvereine  umgeschlagen.  „Das  Unternehmer- 
tum ist  in  seiner  überwiegenden  Mehrheit,  wie  es  scheint,  gewillt, 
die  Tyrannei  der  Gewerkvereine  zu  brechen,  die  »öffentliche 
Meinung«,  d.h.  im  wesentlichen  die  Welt  der  Philister, 
bekommt  ebenfalls  Angst  vor  der  immer  mehr  erstarkenden  Macht 
der  Trade  Unions  und  fürchtet  vor  allem,  deren  Politik  könne  die 
Leistungsfähigkeit  der  enghschen  Industrie  und  damit  ihre  Kon- 
kurrenzfähigkeit herabsetzen"^). 

Im  Deutschen  Reiche  haben  die  »Gewerkschaften«  nicht  die 
gleiche  historische  Bedeutung  für  die  Arbeiterbewegung  gehabt  wie 
in  England.  Daher  entbehrt  auch  ihre  Entwicklung  der  großen 
dramatischen  Momente.  Sie  ist  erst  im  Gefolge  der  geistigen  und 
poUtischen  Bewegung  eingetreten,  vorzugsweise  als  Wirkung  des 
großen  Einflusses,  den  die  sozialdemokratische  Partei  auf  die  Massen 
der  industriellen  Lohnarbeiter  gewann.  Bis  dahin,  d.  h.  bis  tief  in 
das  letzte  Viertel  des  Jahrhunderts,  hatte  die  öffentliche  Meinung 
geringe  Veranlassung,  den  Fachvereinen  erhebhche  Aufmerksam- 
keit zu  widmen;  seitdem  aber  geschah  es  teils  im  Zusammenhange 
mit  Streiks,  teils  mit  der  genannten  Partei;  beide  Gegenstände 
bleiben  der  Betrachtung  noch  vorbehalten.  Die  Folge  beider  Zu- 
sammenhänge war  aber  ein  überwiegend  ungünstiges  Urteil,  indem 
man  sie,  wenigstens  die  sog.  freien  Gewerkschaften  bald  als  auf- 
rührerische Verbindungen   anklagte,  bald  ihre  Tyrannei  gegen  die 


*)  Ich  würde  sagen:    ,, glaubt  .  .  .  habe  herabgesetzt  und  geschädigt!' 


29- 


452  Besondere  Fäi.i,e  der  öffentuchen  Meinung. 

eigenen  Mitglieder,  vollends  gegen  Streikbrecher,  den  »Terrorismus«, 
womit  sie  (sagte  man)  ihren  Willen  geltend  machen,  schalt.  Sombart 
(1.  c.  S.  48)  stellt  dar,  wie  sich  1878 — 1890  die  poHzeiliche  Unter- 
drückung gleichermaßen  gegen  die  poHtische  Partei  und  gegen  die 
Gewerkschaften  richtete.  Dann  trat  die  Bewegung  1890  in  eine 
neue  Phase  ihrer  Entwicklung.  Auch  der  Kampf  gegen  sie  veränderte 
sich.  „An  die  Stelle  der  brutalen  Unterdrückung  trat  die  schikanöse 
Drangsaherung,  an  die  Stelle  der  Keulenschläge  traten  die  Nadel- 
stiche. Aber  daran  lassen  es  Verwaltungs-  imd  Gerichtsbehörden, 
Unternehmertum  und  öffenthche  Meinung  nicht  fehlen."  Seitdem 
ist  die  öffentliche  Meiniing  allerdings  enthaltsamer  geworden.  Sie 
hat  ein  gewisses  Verständnis  für  das  Gewerkschaftswesen  gewonnen, 
hat  sich  hin  und  wieder  darauf  besonnen,  daß  sie  ehemals  für  diese 
»Selbsthilfe«  eingenommen  war,  als  diese  freiHch  noch  in  schwachen 
Anfängen  steckte;  so  kann  sie  wenigstens  den  nicht-sozialdemo- 
kratischen Gewerkvereinen  einige  Achtung  und  Sympathie  nicht 
versagen,  und  läßt  sich  den  »klerikalen«  Einfluß  in  dieser  Sphäre 
gefallen.  Vollends  gefallen  ihr  die  jüngsten  sog.  wirtschaftsfriedhchen 
Vereine  und  ähnliche  Bildungen,  die  eine  nationale  und  patriotische 
Gesinnimg  in  den  Vordergrund  stellen,  alle  Kampfmittel,  besonders 
die  Niederlegung  der  Arbeit,  grundsätzHch  verwerfen  und  die  (von 
der  ältesten  Gruppe  deutscher  Gewerkvereine  ehemals  vertretene, 
dann  aber  aufgegebene)  Lehre  von  der  wesentlichen  Harmonie  zwischen 
Kapital  und  Arbeit  aufs  neue  geltend  machen.  FreiHch  sind  diese 
sämtlichen  Formen  des  vom  Odium  der  poHtischen  Partei  freien 
•Gewerkschaftswesens  an  Zahl  und  Bedeutung  bisher  unbedeutend 
geblieben.  Wenn  aber  das  Aburteilen  über  die  Sache  selber  an 
Schroffheit  verloren  hat,  so  ist  dies  der  Beachtung  und  Aufklärimg 
zu  verdanken,  die  ihr  deutsche  Gelehrte  gewidmet  haben,  unter  denen 
Brentano  an  der  Spitze  steht.  Der  Verein  für  SozialpoHtik  und, 
nachdem  dieser  seinen  poHtischen  Charakter  eingebüßt  hatte,  die  vom 
Freiherrn  von  Beri^Epsch  gegründete  Gesellschaft  für  Soziale  Reform 
haben  dazu  mitgewirkt.  In  ihrem  Geiste  lehrte  auch  Sombart,  wenn 
er  (Pfingsten  1900  im  Vorwort  der  genannten  Schrift  »Dennoch«) 
schrieb,  der  eigenthche  Zweck  (seiner  Vorträge,  die  in  dieser  Schrift 
wiedergegeben  wurden)  sei  der,  durch  Klärung  des  Urteils  Stimmung 
zugunsten  der  Gewerkschaftsbewegung  zu  machen.  „Bei  den  Ar- 
beitern, soweit  es  hier  noch  .nötig  ist;  vor  allem  aber  in  den  Kreisen 
der  Gebildeten,  deren  Stellungnahme  auch  in  sozialen  Fragen  deshalb 
keineswegs  bedeutungslos  ist,  weil  sie  ein  gut  Teil  der  sog.  »öf  fentHchen 
Meinung«  bilden,  und  diese  gerade  für  die  Erfolge  der  Gewerkschafts- 
bewegung ein  nicht  zu  imterschätzender  Bundesgenosse  ist**  (1.  c.  p.  VI). 


Die  Öffentliche  Meinung  und  die  soziai^e  Frage.  —  Die  Probi^eme.     453 

Frankreich  ist  das  Mutterland  des  utopischen  SoziaHsmus,  ist 
aber  lange  ein  unfruchtbarer  Boden  geblieben  für  alle  praktischen 
Bestrebungen  und  einheitlichen  Organisationen  der  Arbeiterklasse, 
sei  es  auf  politischem  oder  auf  wirtschaftlichem  Gebiete.  Den  Ver- 
einen der  Arbeiter  zur  Wahrung  und  Förderung  ihrer  Interessen 
standen  Gesetz  und  öffentliche  Meinung  gleichermaßen  entgegen. 
Beide  auf  dem  Boden  der  Revolution,  die  nichts  bestehen  lassen  wollte 
als  das  Individuum  und  den  Staat,  die  eine  und  unteilbare  RepubUk. 
Dieser  extreme  »Individualismus«  war  natürlich  ebenso  den  Unter- 
nehmerverbänden wie  den  Arbeitervereinen  abgeneigt,  aber  die 
Macht  der  Bourgeoisie  in  Gesetzgebung  und  öffentlicher  Meinung 
zeigt  sich  darin,  daß  jene  viel  früher  als  diese  geduldet  wurden.  Erst 
nach  1871  konnte  die  politische  und  gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung ihr  Haupt  etwas  höher  erheben.  Noch  auf  dem  zweiten 
freien  Arbeiterkongreß  (in  Lyon  1876)  warnte  man  vor  Streiks,  und 
der  Comtist  Finance  hob  die  Bedeutung  der  öffentlichen  Meinung 
hervor,  die  bei  allen  Bestrebungen  der  Arbeiter  geschont  und  ge- 
wonnen werden  müsse  (M.  v.  d.  Osten,  Die  Fachvereine  und  die 
soziale  Bewegung:  Frankreich:  Schmollers  Jahrbuch  1891  S.  1060). 
Erst  das  Gesetz  vom  21.  März  1884  brach  mit  der  revolutionären 
Überlieferung^).  Das  Gesetz  von  1791  und  der  Satz  des  Code  criminel, 
der  alles,  was  die  »Freiheit  der  Arbeit«  beeinträchtige,  unter  Strafe 
stellte,  wurden  gleichzeitig  aufgehoben.  Den  Fach  vereinen  wurde 
gesetzliche  Anerkennung  zuteil,  ihr  rechtliches  Dasein  wurde  geregelt. 
„Welcher  Umschwung  der  Anschauungen  ist  damit  angedeutet, 
wie  mußten  sich  die  sozialen  Verhältnisse  geändert  haben,  damit 
in  dem  den  Kultus  der  freien  Persönlichkeit  auf  die  Spitze  treibenden 
Frankreich  ein  solches  Gesetz  möglich  wurde!"  (v.  d.  Osten,  1.  c. 
S.  1090).  In  der  Tat,  eine  neue  Strömung  hatte  in  der  öff entheben 
Meinung  die  Macht  gewonnen.  Indessen  ist  sie,  ungeachtet  dieser 
Zugeständnisse,  in  den  Gedankenbahnen  der  großen  Revolution  und 
ihres  Ruhmes  gebheben.  Daraus  ist  auch  der  SyndikaHsmus  her- 
vorgegangen, der  zwar  als  rebellische  Form  des  Ellassenkampfes 
nicht  von  der  öffentlichen  Meinung  gebilligt  wird,  aber  doch  wegen 
seiner  heroischen  Geste  und  seiner  verwegenen  Anwendung  der 
großen  Prinzipien  (Freiheit,  Gleichheit,  BrüderHchkeit)  mehr  Gnade 
vor  ihr  gefunden  hat  als  andere  und  rationellere  Bestrebungen.   Hier, 

*)  Da«  Gesetz  von  1874  zum  Schutze  jugendlicher  und  weiblicher  Arbeiter  ist  lange 
Zeit  hindurch  sehr  lückenhaft  zur  Ausführung  gebracht.  „Der  Arbeiterstand  bekun- 
dete zunächst  Gleichgültigkeit,  die  Unternehmerschaft  zum  Teil  hartnäckige  Gegner- 
schaft; die  öffentliche  Meinung  war  über  den  Gegenstand  wenig  geklärt,  man  er- 
blickte in  dem  Gesetz  vielfach  mehr  einen  Versuch  unangebrachter  Einmischung  in 
Privat verhäUnisac  als  eine  sozialpolitische  Maßnahme."     Mataja    HWSt"  I  S.  668. 


454  Besondere  Fäli^e  der  öffentuchen  Meinung. 

wie  überall  macht  sich  überdies  bemerkbar,  daß  mehr  und  mehr 
auch  die  Meinung  des  Proletariats  auf  die  öffentliche  Meinung  Ein- 
fluß gewinnt  und  in  ihren  Richtungen  wenigstens  hier  und  da  eine 
Ablenkung  zu  erzwingen  vermag. 

In  Italien  ist  die  ökonomische  Organisation  der  Industrie- 
arbeiter, noch  ausgesprochener  als  in  Deutschland,  im  Gefolge  der 
poHtischen  Bewegung  erfolgt,  hat  aber  mehr  als  dort  auf  die  Land- 
arbeiter übergegriffen.  Nachdem  sie,  was  sehr  spät  erfolgt  ist,  recht- 
liche Freiheit  erworben  hatte,  hat  die  öffentliche  Meinung  ihr  keinen 
erheblichen  Widerstand  mehr  geleistet.  Ja,  Sombart  schreibt  der 
öffentlichen  Meinung  eine  wesentliche  Mitwirkung  zu  dem  Ergebnisse 
zu,  daß  der  Bourgeoisie  in  ItaUen  mit  dem  Jahre  1890  ein  verändertes 
Verhalten  aufgezwungen  wurde.  „Immerhin  ist  es  nicht  uninter- 
essant, zu  konstatieren,  wie  auch  in  Italien  die  Bourgeoisie  bis  zu 
dem  Augenblicke,  wo  der  Druck  der  Arbeiterschaft  und  mit  ihm 
die  öffentliche  Meinung  ihr  ein  verändertes  Verhalten  abzwingen, 
und  der  Gesetzgebung  Fesseln  schmiedet,  mit  denen  sie  versucht, 
die  Arbeiter  zu  bändigen.*'  (Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  VI,  S.  210.) 

Für  die  Schweiz  nennt  Herkner  unter  den  Gründen,  aus  denen 
er  meinte  (im  Jahre  1909),  daß  der  schweizerischen  Bewegung  noch 
schwere  Zeiten  bevorstehen,  den  Umstand,  daß  „die  zahlreichen 
Streikunruhen  die  öffentliche  Meinung  den  Gewerkschaften  manchen- 
orts entfremdet  haben''  (HVSt».  IV,  S.  1202). 

In  den  Vereinigten  Staaten  habe,  sagt  Münsterberg  (Die 
Amerikaner  I,  469),  »die  Nation«  zu  der  stetig  fortschreitenden 
Organisation  der  Arbeit  im  wesentlichen  die  Rolle  des  interessierten 
aber  neutralen  Zuschauers  gespielt.  Münsterberg  unterscheidet 
fein  zwischen  dem  Verhalten  bei  dem  konkreten  Fall  eines  direkten 
Konfliktes  (wo  die  Sympathie  der  »Nation«  fast  regelmäßig  auf  der 
Seite  der  Arbeiter  sei)  und  hingegen,  wenn  die  »Gesetzgebung«  in 
Frage  komme,  also  der  begriffliche  Gegensatz  von  Arbeit  und  Kapital 
ins  Bewußtsein  trete  (hier  neige  die  »Nation«  umgekehrt  zur  Sym- 
pathie mit  dem  Kapital);  dies  gilt  natürlich  auch  gegenüber  dem 
Dasein  und  Wirken  der  Ge  werk  vereine.  Der  geistreiche  Kenner  der 
Vereinigten  Staaten  schildert  ferner,  wie  der  Riesenausstand  in  den 
Anthrazitkohlengebieten  von  Pennsylvania  1902  die  Kapitalisten- 
gruppe in  allzu  unerfreulichem  laichte  gezeigt  habe,  und  als  ihre  Ver- 
treter sich  nicht  entblödeten,  auch  den  Präsidenten  der  Vereinigten 
Staaten  in  brüsker  Weise  über  die  Rechte  des  Eigentums  aufzuklären, 
da  begann  man,  die  geläufigen  Anschauungen  mehr  und  mehr  zu 
revidieren."  „Die  öffentüche  Meinung  wurde  sich  in  wachsendem 
Maße  klar,  daß  jene  ganz  großen  Gesellschaften  denn  doch  nicht  mehr 


Die  Öffentliche  Meinung  und  die  soziale  Frage.  —  Die  Probleme.    455 

Privatgesellschaften  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  seien,  daß 
ein  Stahltrust  oder  ein  Kohlentrust  im  Gefüge  des  Staatslebens 
nicht  diejenige  Freiheit  beanspruchen  kann,  die  der  Besitzer  eines 
Krämerladens  für  seinen  winzigen  Betrieb  erwarten  darf/'  Ins- 
besondere sei  die  Überzeugung  gewachsen,  daß  dem  Arbeiter  das 
moralische  Recht  zustehe,  bei  der  Leitung  des  Betriebes  ein  ent- 
scheidendes Wort  mitzusprechen.  „Und  so  hat  sich  denn  langsam 
in  der  öffentUchen  Meinung  die  Ansicht  durchgerungen,  daß  Gewalt- 
samkeit von  Seiten  der  Arbeiter,  und  Weigerung  der  Arbeitgeber,  mit 
den  Gewerkvereinen  zu  verhandeln,  in  gleichem  Maße  verdammens- 
wert  sind  .  .  .  Die  öffentUche  Meinung  verlangt,  daß,  nachdem  nun 
einmal  sich  historisch  die  Organisation  in  Gewerkvereinen  vollzogen 
hat,  eine  Verhandlung  zwischen  den  Delegierten  beider  Seiten  alle 
Streitpunkte  zu  beseitigen  erstrebe,  und  daß,  wo  eine  Einigung  nicht 
erfolgt,  ein  Schiedsgericht  in  Kraft  trete,  dem  beide  Seiten  sich 
unbedingt  unterordnen"  (1.  c.  S.  487).  Gerade  in  dieser  Richtung 
sei  die  ÖffentUche  Meinung  energisch  vorgegangen.  Schon  im  Jahre 
190 1  habe  eine  Konferenz  der  führenden  Kapitals-  und  Arbeits- 
vertreter eine  ständige  Behörde  eingesetzt,  um  Streitigkeiten  zwischen 
Arbeitgebern  und  Gewerkvereinen  auszugleichen. 

5.  (Genossenschaftswesen.)  Als  Selbsthilfe  der  Arbeiterklasse 
und  Versuch,  den  Umklammerungen  des  Kapitalismus  sich  zu  ent- 
winden, ist  in  neuester  Zeit  in  allen  lyändern  das  Genossenschafts- 
wesen mehr  und  mehr  bedeutsam  geworden,  namentUch  durch  die 
Konsumvereine  und  deren  Großeinkaufsgesellschaften,  die  auch  als 
Organisationen  der  Arbeit  Kraft  gewinnen,  wenn  sie  zur  Eigen- 
produktion gewisser  Verbrauchsgegenstände  übergehen.  In  England 
und  Schottland,  wo  deren  äußere  Entwicklung  am  frühesten  und 
weitesten  fortgeschritten  ist,  hat  ihnen  auch  die  ÖffentUche  Meinung 
längst  eine  gewisse  Beachtung  und  sogar  Sympathie  geschenkt. 
Da  in  diesen  Ländern  die  Mittelstandsschicht  des  Kleinhandels  zwar 
stark  an  Zahl,  aber  —  außer  dem  Kleinhandel  mit  geistigen  Ge- 
tränken —  schwach  an  sozialer  und  politischer  Bedeutung  ist,  so 
konnte  deren  Widerstand  und  Unzufriedenheit  diese  Entwicklung 
nur  wenig  hemmen.  In  anderen  Ländern  haben  sich  diese  Hem- 
mungen viel  stärker  bemerkbar  gemacht.  Die  ÖffentUche  Meinung, 
im  Grundsatz  der  Selbsthilfe  der  Armen  geneigt,  ist  andererseits  auch 
sehr  für  die  »Erhaltung  des  Mittelstandes«  eingenommen,  schon  weil 
sie  selber  auf  dessen  Denkungsart  und  Bildung  beruht  —  in  England 
nennt  die  Bourgeoisie  sich  selber  die  Mittelklasse  — ,  und  weil  sie 
überall  der  Maxime  „/n  medio  virtus"  huldigt.  Bis  in  die  jüngste  Zeit 
wurde,   insbesondere   in   Deutschland,   den    Konsumvereinen   wenig 


456  Besondere  FäTvLE  der  Öffenti^ichen  Meinung. 

Beachtung  geschenkt.  Nur  in  wenigen  Großstädten  hatten  sie  einige 
Bedeutung  gewonnen.  Man  ließ  sie  gewähren  und  war  nicht  unzu- 
frieden damit,  daß  sie  dem  l/ose  der  Armen  einige  Erleichterung 
brächten.  Erst  als  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  aus  der  Arbeiter- 
bewegung ein  mächtiger  Aufschwung  des  Genossenschaftswesens  sich 
erhob,  fühlte  in  weiterem  Umfange  die  bürgerliche  Schicht  des  Klein- 
handels um  so  mehr  sich  bedroht,  da  sie  zu  gleicher  Zeit  gegen  die 
neuen  Warenhäuser  sich  wehren  mußte;  das  Ziel  ihrer  Wünsche, 
besonders  gefördert  durch  das  hinter  ihnen  stehende  Kapital  (die 
Großkrämer,  die  nicht  sowohl  durch  große  Läden,  als  durch  viele 
kleine  ihr  Geschäft  machen),  ging  dahin,  Warenhäuser  und  Konsum- 
vereine müßten  durch  Steuern  erdrosselt  werden.  Dem  PubUkum 
waren  die  Warenhäuser  wegen  ihrer  niedrigen  Preise  und  anderer 
AnnehmHchkeiten  Heb  geworden;  gegen  die  Konsumvereine  wendet 
es  sich  nicht  aus  Wettbewerbseifersucht,  unterstützt  diese  aber  durch 
die  Verurteilung  der  »sozialdemokratischen«  Konsumvereine.  Die 
flüssige  öffentliche  Meinung  zeigt  sich  hier  bisher  in  ihrer  ganzen 
Blödigkeit  und  ihrem  tauben  Eigensinn.  Wären  diese  Konsumvereine 
sozialdemokratisch,  so  hätte  sie  alle  Ursache,  diese  Wendung  der 
»Umsturzpartei«  von  der  Verfolgung  entfernter  Ziele  und  der  Hin- 
gebung an  fatalistische  Theorien  zu  praktischer  Selbsthilfe  und  zur 
Anpassung  an  den  »Gegenwartsstaat«  willkommen  zu  heißen.  Anstatt 
dessen  genügt  das  odiose  Beiwort,  sie  gegen  solche  redliche  Versuche 
einzunehmen  (mit  den  »redlichen  Pionieren «  im  Auslande  wird  natür- 
lich, wenn  man  von  ihnen  hört,  sympathisiert).  Zur  Rede  gestellt 
aber,  wird  die  öffentliche  Meinung  geltend  machen,  daß  doch  offenbar 
und  eingeständHch  diese  neuen  Konsumvereine  es  darauf  abgesehen 
haben,  durch  ihr  Anwachsen  und  ihre  Eigenproduktion  allmählich 
die  kapitaHstische  Welt  aus  den  Angeln  zu  heben.  Daß  dies  nicht 
geduldet  werden  müsse,  scheint  sich  von  selbst  zu  verstehen.  (Etwas 
anderes  ist  es,  wenn  aus  der  eigenen  Mitte  oder  wenn  von  einer 
anderen  poHtischen  Richtung  her  vor  unbesonnenen  Fortschritten, 
vor  Wegen,  die  in  den  Sumpf  führen,  gewarnt  ^rd  und  dagegen 
strenge  Grundsätze  vorsichtiger  Geschäftsführung  eingeschärft 
werden;  jedoch  vermischt  sich  naturgemäß  dieser  Gesichtspunkt  mit 
der  allgemeinen  Abneigung  der  öffentlichen  Meinung),  femer  wird 
dann  die  Personalunion  ins  Gesichtsfeld  gerückt.  Die  meisten  Leiter 
dieser  Arbeiterkonsumvereine  sind  tatsächlich  Sozialdemokraten. 
Die  meisten  Leiter  der  größeren  Banken  sind  tatsächlich  National- 
liberale. Man  redet  um  deswillen  nicht  von  nationalliberalen  Banken, 
aber  die  andere  Tatsache  scheint  Grund  genug,  von  sozialdemo- 
kratischen Konsumvereinen  zu  reden.    Gegen  diese  Bezeichnung,  die 


Die  Öffentliche  Meinung  und  die  soziale  Frage.  ■ —  Die  Probleme.     457 

als  eine  Bezichtigung  wirken  soll,  hilft  es  wenig,  daß  das  deutsche 
Gesetz  den  Genossenschaften  jede  pohtische  Betätigung  verwehrt. 
Noch  weniger  helfen  die  grundsätzHchen,  oft  wiederholten  Erklärungen 
und  Versicherungen,  daß  die  Konsumvereine  politisch  schlechthin 
neutral  sind  und  sein  wollen ;  daß  es  eine  innere  Lebensbedingung 
für  sie  sei,  diese  NeutraUtät  aufrecht  zu  erhalten  und  zu  schützen. 
Die  öffentliche  Meinung  sagt  unerschüttert:  »sozialdemokratische 
Konsumvereine«.  Die  Schädigung  des  Mittelstandes,  die  als  solche 
für  unerfreulich  gilt,  erscheint  in  um  so  schlimmerem  Lichte,  wenn 
sie  von  sozialdemokratischen  Organisationen  ausgeht.  —  Das  Konsum- 
vereinswesen hat,  ungeachtet  so  heftiger  Widerstände,  gegen  Ende 
des  alten  und  im  Laufe  des  neuen  Jahrhunderts,  in  Deutschland  und 
in  anderen  Ländern  (besonders  auch  in  der  Schweiz  und  in  Skandi- 
navien) einen  mächtigen  Aufschwung  genommen.  Wenn  eben  dieser 
auch  die  heftigen  Anklagen  und  die  abgünstigen  Urteile  verursacht 
hat,  so  leitet  er  doch  zugleich  hinüber  zu  einer  besseren  Erkenntnis. 
Diese  zu  vermitteln,  ist,  wie  in  allen  Dingen,  die  Wissenschaft  berufen, 
die  in  diesem  Gebiete,  wie  überall,  mit  der  pohtischen  Theorie  und 
Praxis  sich  nahe  berührt.  Da  läßt  nun  ein  Fortschritt,  wenigstens 
der  Aufmerksamkeit  und,  in  der  sozialen  Frage,  der  Beachtung  sich 
wahrnehmen,  die  der  Erscheinung  heute  gewidmet  wird,  wenn  sie  mit 
derjenigen  verglichen  wird,  die  ihr  noch  vor  wenigen  Jahrzehnten 
zuteil  wurde.  Huber,  der  erste  und  verdienstvolle  deutsche  Förderer 
der  Sache,  sprach  noch  (1857  i"^  ersten  Bande  des  Staatswörter- 
buchs) —  hauptsächlich  mit  Bezug  auf  das  gesamte  Assoziations- 
wesen der  Arbeiter  in  England  —  von  der  gehässigsten  Opposition  der 
mammonistischen  Privatindustrie  und  der  ihr  dienstbaren  Presse,  bei 
fast  gänzlicher  Ignorierung  von  Seiten  der  öffentHchen  Meinung  und 
dem  durch  diese  widrigen  Umstände  mit  verursachten  Scheitern 
von  Hunderten  solcher  Assoziationsversuche.  Der  Rechtshistoriker 
O.  GrcRKE  aber  wußte,  10  Jahre  später,  im  ersten  Bande  seines 
berühmten  Genossenschaftsrechts  (1868),  schon  die  verschiedenen 
Arten  der  »Personalgenossenschaft  für  wirtschaftHche  Zwecke«  und 
unter  ihnen  besonders  die  wirtschaftHchen  Distributivgenossen- 
schaften von  den  Produktivgenossenschaften  zu  unterscheiden;  jene 
iber  zerfallen  ihm  in  Konsumvereine  und  Wohnungsgenossenschaften. 
C^ber  beide  spricht  er  mit  vollkommener  Kenntnis  der  damals  vor- 
handenen Tatsachen.  Die  Rechtsgelehrten  haben  natürlich  auch 
später  insoweit  mit  diesen  sich  beschäftigt,  als  die  Gesetzgebung  sich 
darauf  bezogen  hat,  also  besondere  Rechtssätze  darauf  angewandt 
werden  müssen;  aber  auch  nicht  weiter.  Das  BGB.  und  das  gleich- 
zeitig (i.  Januar  1900)  in  Kraft  getretene  deutsche  Handelsgesetzbuch 


458  Besondere  FäIvI^e  der  Öffentwchen  Meinung. 

gehen  daran  vorbei.  —  Auch  die  Nationalökonomen  haben  sich  bis 
vor  kurzem  nur  obenhin  darum  bekümmert.  Rau  tut  der  Konsum- 
vereine in  seiner  »VolkswirtschaftspoHtik«  keine  Erwähnung;  Roscher 
gleichfalls  nicht  in  seinen  »Grundlagen  der  Nationalökonomie«  (der 
Begriff  ist  also  für  ihn  bedeutungslos);  hingegen  in  der  »National- 
ökonomie des  Handels  und  Gewerbfleißes«  widmet  er  unter  dem  allge- 
meinen Kapitel  »Genossenschaftliche  Neubildungen  der  Gewerbe- 
freiheit« den  Produktivgenossenschaften  einen  Abschnitt  und 
bringt  in  diese  auch  die  Rochdale  Equitable  Pioneers  Society,  offenbar 
nur,  um  den  Satz  anzubringen  (der  auch  in  seiner  »Politik«  wieder- 
kehrt), daß  nichts  so,  wie  ihre  »glorreiche  Geschichte«  die  giftige 
Irrlehre  des  Sozialismus  von  der  Hoffnungslosigkeit  des  Sparens  für 
Arbeiter  in  helles  Licht  setze.  Hingegen  im  fünften  Bande  des  »Sy- 
stems der  Volkswirtschaft«,  wo  das  zweite  Buch  die  „Anstalten,  die 
Armut  zu  verhüten**,  erörtert,  will  das  dritte  Kapitel  dieses 
Buches  die  Konsumvereine  behandeln  und  geht  hauptsächlich  auf 
die  enghschen  ein,  sieht  aber  (1894)  richtig  voraus,  daß  die  gesetzliche 
Zulassung  (1889)  von  Genossenschaften  mit  beschränkter  Haftung 
im  Deutschen  Reich  „die  Vereine  gewiß  sehr  heben  wird*'.  In  den 
neueren  Lehrbüchern  von  Conrad  und  Phii^ippovich  zeigt  sich  dann 
ein  erhebhcher  Fortschritt.  Conrad  behandelt  die  Konsumvereine 
in  seiner  »Volkswirtschaftspolitik«  als  eine  Erscheinung  der  »Arbeiter- 
frage« und  diese  als  ein  Kapitel  seines  Abschnittes  II,  der  über- 
schrieben ist  „Die  Stoff  veredelnden  Gewerbe"  (als  ob  die  Konsum- 
vereine für  die  Landwirtschaft  grundsätzlich  ohne  Bedeutung  wären, 
was  ein  Kenner  der  Landwirtschaft  und  seines  Genossenschafts- 
wesens wie  Conrad  am  wenigsten  meinen  konnte!).  Hingegen 
Phii^ippovich  weist  ihnen  in  der  »Allgemeinen  Volkswirtschafts- 
lehre« ihren  Platz  an,  wo  er  im  zweiten  Abschnitt  seines  zweiten 
Buches  (»Produktion  und  Erwerb«)  die  Organisation  der  Pro- 
duktion und  des  Erwerbes  darstellt  und  an  erster  Stelle  die  »Formen 
der  Unternehmung«  erörtert.  Hier  unterscheidet  er  Einzelunter- 
nehmung, gesellschaftliche  Unternehmungsforfnen  und  öffentliche 
Unternehmungen,  und  widmet,  nach  einem  Paragraphen  (63)  über  die 
Aktiengesellschaften,  5  solche  (64 — 68)  den  »Genossenschaften«; 
darin  aber  kommen  den  Konsumvereinen  nur  4  Zeilen  zugute,  und  bei 
der  Sonderbehandlung  der  Genossenschaften  in  Deutschland  nennt 
er  dessen  Genossenschaftsbewegung  „fast  ausschHeßlich  ein  Mittel 
der  Vervollkommnung  wirtschaftlicher  Technik  in  den  mittleren 
Klassen  der  Bevölkerung,  die,  wenig  begütert,  durch  Konsumvereine 
kleine  Ersparungen  zu  machen  hoffen,  und  sodann  eine  Stütze  des 
gewerbUchen   und   landwirtschaftlichen   Kleinbesitzes'*    (P,   S.  181). 


Die  Öffentliche  Meinung  und  die  soziale  Frage.  —  Die  Probleme.     45g 

Auch  Schmoller  behandelt  in  seiner  »Allgemeinen  Volkswirtschafts- 
lehre« (I,  525)  die  Konsumvereine  auf  einer  halben  Seite.  Wenn  er 
aber  in  ihre  Definition  aufnimmt,  „daß  sie  einen  Gewinn  erzielen 
wollen",  und  dann  auch  von  Verteilung  des  »Gewinnes«  nach  den 
Ankäufen  spricht,  wenn  er  ferner  zu  den  Verwaltungsgrundsätzen 
zählt:  ,,mögUchst,  wenn  das  Gesetz  es  erlaubt,  Verkauf  auch  an  Nicht- 
mitgUeder,  um  sie  zum  Eintritt  zu  locken"  —  so  verkennt  er  ihr 
Wesen  durchaus.  Er  fällt  hinter  Röscher  zurück,  der  zwar  gegenüber 
einem  Konsumvereine,  der  auch  an  NichtmitgHeder  verkauft,  die 
Gewerbesteuer  für  begründet  erklärt,  dann  aber  hinzufügt:  „Sonst 
aber  hat  der  sog.  Gewinn  der  Konsumvereine  ja  nur  den  Charakter 
einer  Ersparnis"  (er  setzt  es  als  bekannt  voraus).  Dieser  Unterschied 
ist  sehr  oft,  und  in  verschiedenen  I^ändern  mit  gleicher  Schärfe, 
betont  worden,  so  noch  neuerdings  durch  den  schwedischen  Genossen- 
schafter Anders  Örne,  der  die  Terminologie  einer  Kommunalsteuer- 
vorlage als  völlig  unrichtig  bekämpft,  weil  sie  von  kooperativen 
»Nahrungsgeschäften«  spreche;  diese  Bezeichnung  (näringsföretag  im 
Schwedischen)  setze  eine  Absicht,  Gewinn  zu  erzielen,  voraus.  „Eine 
solche  Absicht  Hegt  nicht  vor  bei  kooperativen  Geschäften,  kommt 
jedenfalls  nicht  in  Frage  bei  der  wichtigsten  Gruppe  unter  ihnen,  den 
Konsumvereinen.  Diese  haben  zum  Zwecke  eine  Ausgabeersparnis, 
nicht  einen  Gewinn"  (Hur  bor  kooperationen  heskattas?  Stockholm 
1917,  S.  16).  Was  aber  den  Verkauf  auch  an  NichtmitgHeder  betrifft, 
so  ist  er,  wo  gesetzHch  erlaubt,  eine  Praxis  unbedeutender  Vereine, 
die  von  den  Verbänden  und  den  Leitern  der  Gesamtbewegung  unab- 
lässig und  eindringUch  bekämpft  wird,  auch  mit  sichtlichem  Erfolge: 
so  in  Schweden,  in  Norwegen,  in  der  Schweiz  usw.  Durchaus  unrichtig 
ist  es,  diesen  Mißbrauch  als  Verwaltungsgrundsatz  zu  bezeichnen, 
wie  Schmoller  tut.  Eben  die  Bekämpfung  ist  Verwaltungsgrund- 
satz. —  Auch  bei  Adolph  Wagner  wird  man,  obschon  er  mit  allen 
Bestrebungen  der  Arbeit  gegen  das  Kapital  lebhaft  sympathisierte, 
keine  Würdigung  des  Konsumgenossenschaftswesens  erwarten.  Er 
war  zu  sehr  Staatsmann  —  StaatssoziaHst  —  um  der  Selbsthilfe  der 
Arbeiter,  außer  wo  sie  unmittelbar  auf  Gestaltung  des  Arbeitslohnes 
wirkt,  sonderliche  Bedeutung  beizumessen.  —  So  ist  die  Verbreitung 
einer  richtigen  Erkenntnis  fast  ausschUeßUch  solchen  Schriftstellern 
vorbehalten,  die  der  Sache  ihre  besondere  Teilnahme  widmen,  ihr 
besondere  Förderung  persönlich  angedeihen  lassen  —  derer  aber  ist 
keine  große  Zahl,  und  sie  gelten  mehr  oder  weniger,  zumeist  mit  .  nl. m 
Grunde,  als  SoziaHsten,  und  dies  wird  leicht  zum  Anlaß,  die  Bezcicli- 
nung  der  zahlreichsten  Gattune;  von  Konsumvereinen  als  »sozial- 
demokratisch« für  bestätigt  z\i  lialidi.    In  Wahrheit  ist  gerade  die 


460  Besondere  Fäi,i.e  der  Öffentwchen  Meinung. 

Teilnahme  ausgesprochen  sozialdemokratischer  Theoretiker  für  diese 
Gestalt  der  Arbeiterbewegung  und  vollends  die  der  Partei  als  solcher, 
durchaus  lau,  zum  Teil  offenbar,  weil  sie  Ablenkung  von  den  großen 
politischen  Zielen  besorgen,  deren  Erreichung  diese  bescheidenen 
Fortschritte  überflüssig  machen  soll;  sodann  aber  auch,  weil  die 
strenge  Lehre  den  davon  gehegten  Erwartungen  entgegen  ist.  So 
daß  die  sog.  anarchistischen,  mit  Proudhons  Theorien  verwandten 
Doktrinen,  die  jedoch  in  England,  Deutschland,  Skandinavien  sehr 
geringen  Anhang  haben,  sich  durch  die  tatsächhchen  Erfolge  mehr 
befriedigt  fühlen  und  auch  wirkUch  diese  befördert  haben.  Anderer- 
seits ist  es  kein  Zufall,  daß  ein  entschiedener  Gegner  des  Sozialismus, 
ein  Mann,  der  mit  dem  gesamten  Liberalismus  seiner  Zeit  das  »Gehen- 
lassen« {laisser  faire)  vertrat,  Herman  Schui^ze  aus  Delitzsch, 
der  praktische  Begründer  der  Konsumvereine  in  Deutschland  ist 
(Staudinger,  Die  Konsumgenossenschaft  S.  66).  Wie  aber  Stau- 
dinger zeigt  (das.  S.  61),  betrachtet  eben  dieser  um  die  Sache  so  ver- 
diente Mann  die  Organisation  der  Konsumenten  nur  als  Handels- 
geschäft, das  mit  seinen  »Kunden«  arbeitet,  und  die  Eigenproduktion 
für  die  organisierten  Konsumenten  nur  als  Marktproduktion.  —  Wenn 
also  bei  den  Nationalökonomen  und  Sozialpolitiken!  wenig  Ver- 
ständnis für  diese  höchst  bedeutsame,  einer  großen  Entwicklung 
fähige  Sache  angetroffen  wird,  so  dürfen  wir  noch  weniger  davon  bei 
den  Philosophen  erwarten,  obgleich  diese,  soweit  sie  sich  mit 
Problemen  der  Ethik  befassen,  und  vollends,  wenn  sie  dadurch  auf 
die  politische  Theorie  geführt  werden,  nicht  umhin  können,  der 
sozialen  Frage  einige  Aufmerksamkeit  zu  schenken.  F.  Staudinger, 
der  hervorragendste  Vorkämpfer  des  Arbeitergenossenschaftswesens, 
steht  auch  als  Ethiker,  der  in  einer  Reihe  von  Schriften  dessen  grund- 
sätzliche Bedeutung  unterstrichen  hat,  ziemlich  allein.  Staudinger 
hat  am  eingehendsten  in  seinen  »Kulturgrundlagen  der  Politik« 
(Jena  1914)  zu  beweisen  sich  angelegen  sein  lassen,  daß  es  ohne  Ge- 
nossenschaftsbildung heute  keine  nach  oben  führende  KulturpoHtik 
geben  könne,  daß  aber  für  Kulturpolitik  im  Sinne  der  Gemeinschaft 
zu  wirken,  höchste  ethische  Aufgabe  sei.  Auch  bei  anderen  neueren 
Ethikern  finden  wir  in  der  Regel  —  wenigstens  bei  den  deutschen  — 
eine  scharfe  Beurteilung  des  KapitaHsmus,  also  der  heute  durchaus 
vorherrschenden  sozialen  Lebensbedingungen.  So  bei  Paui^EN  und 
bei  Wundt,  deren  umfangreiche  Werke  durch  Reihen  von  Auflagen 
bekunden,  daß  sie  zeitgemäß  gewirkt  haben  und  noch  wirken. 
Paulsen,  der  in  seinem  »System  der  Ethik«  (7.  u.  8.  Auflage  1906) 
das  vierte  Buch  den  Formen  des  Gemeinschaftslebens  und  den 
großen  dritten  Abschnitt  darin  dem  wirtschaftlichen  Leben  und  der 


Die  Öffentliche  Meinung  und  die  soziale  Frage.  —  Die  Probleme.      461 

Gesellschaft  widmet,  behandelt  in  einem  langen  Kapitel  dieses  Ab- 
schnitts »SoziaUsmus  und  soziale  Reform«;  er  schreibt  darin  (II,  S.  487) 
dem  Genossenschaftswesen  die  Absicht  zu,  den  Kleinbetrieb  zu  erhalten 
und  lebensfähig  zu  machen  (es  wirke  aber  doch  zugleich  im  Sinne  der 
inneren  SoziaHsierung  der  Produktion  imd  der  produktiven  Kräfte); 
dann  führt  ihn  die  Betrachtung  der  sozialen  Reform  auf  die  »Organi- 
sation der  Arbeiter«,  und  er  spricht  von  Gewerkvereinen,  Arbeiter- 
ausschüssen, GeschäftsbeteiHgung,  von  diesen  auch  als  einer  „Über- 
gangsform zu  einer  Produktionsgenossenschaft"  (das.  S.  528):  das 
ist  alles.  Wundt  erwähnt  als  die  sittlichen  I^ebensgebiete  zuerst 
die  einzelne  PersönUchkeit,  sodann  »die  Gesellschaft«,  und  zwar  i.  die 
Famiüe,  2.  die  Gesellschaftsklassen,  3.  die  Vereine  und  Verbände 
(Ethik  II,  292 ff.).  Der  »Berufsverband«  führe  zumeist  vorzugsweise 
den  Namen  der  Genossenschaft:  diejenige  Gattung  von  Berufs  ver- 
bänden habe  die  größte  Bedeutung  gewonnen  —  und  dies  sei  für 
Charakter  und  Richtung  der  sozialen  Bewegungen  der  Gegenwart 
bemerkenswert  —  die  an  sich  die  allerloseste  Form  der  Vereinigung 
sei:  die  KoaHtion;  als  solche  werden  dann  in  einigen  Sätzen  die 
Gewerkvereine  und  Gewerkschaften  der  Arbeiter  und  die  Kartelle 
der  Unternehmer  besprochen.  Nichts  weiter.  Wenn  also  diese  beiden 
berühmten  Ethiker  tatsächUch  das  Konsumgenossenschaftswesen 
nicht  zu  kennen  scheinen,  so  spiegelt  sich  doch  dessen  Fortschritt 
bei  einem  dritten  —  in  der  Grundrichtung  mit  beiden  verwandten  — 
Autor,  dem  Dänen  Harai^d  Höffding,  dessen  Ethik  in  Skandi- 
navien und  durch  die  deutsche  Ausgabe  auch  in  Deutschland  Ansehen 
und  Einfluß  besitzt.  Während  er  nämlich  in  der  ersten  deutschen 
Ausgabe  (1888)  gleichfalls  nur  von  Gewerkvereinen,  GewinnbeteiH- 
gimgen  und  Produktivgenossenschaften  als  Formen  der  freien  Asso- 
ziation von  Arbeitern  handelt,  um  am  Schlüsse  des  Abschnittes  zu 
sagen  (S.  290),  es  könnten  noch  verschiedene  andere  Arten  erwähnt 
werden,  „welche  jede  ihren  Wert  haben"  („So  die  Konsumvereine, 
die  Baugenossenschaften,  die  Versicherungsvereine  u.  a.")  —  in  der 
zweiten  Auflage  dieser  deutschen  Ausgabe  (1901)  werden  die  Konsum- 
vereine besser  gewürdigt,  hauptsächUch  auch,  weil  sie  —  in  England 
und  in  der  Schweiz  —  mächtig  zur  Entwicklung  des  Solidaritäts- 
gefühls beigetragen  haben,  und  weil  sie  „Redlichkeit  und  Uneigen- 
nützigkeit,  Klugheit  und  Energie,  demokratische  Gesinnung  und 
Fähigkeit  zur  Selbstverwaltung '*  erfordern.  Sie  seien  neben  den 
Gewerkvereiiü  nichtigste  Schule  für  die  Arbeiterklasse  geworden 

wie  auch  das  wichtigste  Mittel  für  soziale  Organisation  dieser  Klasse, 
„die  seit  der  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  und  der  Zünfte  als  eine 
chaotische  Masse  dastand"  (S.  383). 


462  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffentuchen  Meinung. 

Wie  immer  Führer  und  Geführte  in  Wechselwirkung  miteinander 
stehen,  so  auch  Führer  und  Geführte  der  öffentUchen  Meinung.  Die 
hier  dargestellte  Haltung  jener  zu  einer  so  wichtigen  sozialen  Er- 
scheinung ist  nur  dadurch  zu  erklären,  daß  sie  von  der  öffentlichen 
Meinung  so  gut  wie  nichts  empfingen;  es  geht  aber  daraus  auch 
hervor,  daß  diese  von  ihren  Führern  sehr  wenig  empfing.  Wenn  fast 
alle  hier  genannten  einflußreichen  Schriftsteller  von  dem  Wesens- 
kern oder  dem  unterscheidenden  Merkmal  der  Konsumgenossen- 
schaft nichts  erkannt  hatten  —  daß  sie  keinen  Gewinn  machen  und 
kein  Kapital  bilden  will  um  zukünftigen  Gewinnes  willen  — ,  so 
kann  es  nicht  wunder  nehmen,  wenn  die  öffentliche  Meinung  nichts 
davon  weiß  und,  man  darf  sagen,  nichts  davon  wissen  will,  sondern 
im  günstigsten  Falle  den  Konsumvereinen  einen  Platz  neben  den  für 
normaler  geltenden  Kleinhandelsbetrieben  einräumt  und  sie  in  der 
Besteuerung  diesen  gleichgestellt  sein  läßt.  Wenn  man  die  Stellung, 
welche  die  Gewerkschaften  in  der  öffenthchen  Meinung  sich  erobert 
haben,  damit  vergleicht,  so  fällt  zu  deren  Gunsten  ins  Gewicht,  daß 
sie  mehr  und  mehr  als  nicht  mehr  vernichtbare  Macht  sich  dar- 
gestellt haben,  was  man  von  den  Konsumvereinen  noch  nicht  sagen 
kann,  am  ehesten  von  der  Bedeutung  sagen  mag,  die  sie  in  Groß- 
britannien und  in  der  Schweiz  erlangt  haben. 

Dritter  Abschnitt.   Verhältnis  zu  Sozialdemokratie 
und  Arbeiterbewegung. 

6.  (Die  Sozialdemokratie.)  Um  so  mehr  gilt  aber  von  der  poH- 
tischen  Partei,  die  den  Sozialismus  zugleich  mit  der  Demokratie  sich 
zum  Ziele  gesetzt  hat,  daß  sie  als  Macht  sich  Beachtung  und  dadurch 
in  einigem  Maße  auch  Achtung  erzwungen  hat.  Wir  nehmen  hier  die 
deutsche  Sozialdemokratie  als  Muster,  denn  nur,  oder  doch  am 
frühesten  und  stärksten,  im  Deutschen  Reiche  hat  diese  aus  dem 
Geiste  des  19.  Jahrhunderts  entsprungene  Partei  historischen  Rang 
erworben.  Während  ihrer  ganzen  Entwicklung  ist  sie  von  der  öffent- 
lichen Meinung  verneint  worden,  wenn  auch  vor  40  Jahren  (1878) 
viel  entschiedener,  als  es  heute  (1918)  der  Fall  ist.  Hier  ist  der  typische 
Fall,  daß  »die «  öffentliche  Meinung  als  Einmütigkeit  der  sonst  ent- 
gegengesetzten und  feindlichen  Parteien  sich  darstellt,  der  kon- 
servativen und  der  liberalen;  wenn  jene  mehr  die  politische  Richtung 
ablehnen  und  verdammen  —  mit  Hinweisung  darauf,  daß  die  Hberale 
ihr  verwandt  sei  — ,  so  diese  um  so  heftiger  die  ökonomisch-soziale 
Richtung  —  wiederum  mit  Hinweisung,  daß  diese  falsche  Tendenz 
mit  gewissen  Neigungen  der  konservativen  Parteien  sich  begegne. 
Wie   aber   die  öffentHche  Meinung  den  sozialdemokratischen  Geist 


Die  Öffentliche  Meinung  und  die  soziale  Frage.  —  Sozialdemokratie.       463 

schlechthin  verwirft  und  verabscheut,  offenbart  sich  auch  darin,  daß 
die  Liberalen  ängstUch  befUssen  sein  müssen,  den  Schein  verwandter 
poUtischer  Bestrebung,  die  Konservativen  ebenso  den  Schein  ver- 
wandten sozialen  Geistes,  abzuwehren.  Vieles  Charakteristische 
enthielten  in  dieser  Beziehung  die  Verhandlungen  des  Reichstages, 
als  er  im  Jahre  1878  die  Vorlage  über  die  „gemeingefährüchen  Be- 
strebungen" der  Sozialdemokratie  beriet.  So  erklärte  damals  Fürst 
BiSMARCK,  er  halte  für  richtig,  was  er  vor  kurzem  in  einem  Artikel 
der  »Nationalzeitung«  gefunden,  daß  die  Wähler  aller  Abgeordneten, 
also  auch  des  Zentrums  und  der  Fortschrittspartei,  mit  alleiniger 
Ausnahme  der  Sozialdemokraten,  von  ihren  Abgeordneten  erwartet 
haben,  daß  sie  der  Regierung  gegen  Beseitigung  dieser  Gefahr  bei- 
stehen würden.  Es  war  allerdings  nicht  buchstäblich  richtig;  denn 
die  Wähler  des  Zentrums  waren  noch  zu  feindHch  gegen  die  Regierung 
gestimmt,  solange  sie,  wie  Windthorst  in  dieser  Verhandlung  sich 
aussprach,  „ihres  Glaubens  wegen  verfolgt  würden",  aber  sie  kamen 
eben  für  die  öffentHche  Meinung  damals  wenig  in  Betracht,  die 
öffentUche  Meinung  wurde  allerdings  durch  jene  Äußerung  charak- 
terisiert. BiSMARCK  machte  sie  sich  zu  eigen,  um  die  Notwendigkeit 
der  Gruppe,  die  später  als  »die  Kartellparteien«  bekannt  war,  für 
sich  und  seine  Politik  daraus  abzuleiten.  In  diesem  Sinne  antwortete 
ihm  am  folgenden  Tage  Herr  von  Bennigsen.  Er  sagte,  der  Reichskanzler 
habe  in  einer  offenen,  unumwundenen  Weise  die  Gleichberechtigung  der 
Hberalen  und  konservativen  Elemente  auf  dem  Gebiet  unseres  poHtischen 
Lebens  anerkannt,  und  dies  sei  wertvoll  gerade  in  der  jetzigen  Zeitlage, 
je  schwieriger  die  Verhältnisse  seien,  „wenn  wir  gemeinsam  eine  so  große 
Gefahr  bekämpfen  sollen,  wie  die  sozialdemokratische  Bewegung",  um 
so  mehr  werde  man  verlangen  können,  daß  sich  Staatsmänner  und 
Parteien  berühren.  Man  nannte  diese  Bennigsen  sehe  Rede  eine  staats- 
männische Rede;  sie  war  ein  Echo  der  öffentlichen  Meinung^). 


*)  Im  Jahre  1874  schilderte  A.  Schäffle  den  „verworrenen  Zustand  der  öffent- 
lichen Meinung",  bei  dem  das  Erste,  was  not  tue,  sei:  die  präzise  Kenntnis  vom  Wesen 
und  Ziel  der  sozialistischen  Neugestaltvmg,  insbesondere  die  Zerstreuung  der  einlullen- 
den falschen  Vorstellungen  und  die  Vernichtung  der  sich  selbst  täuschenden  Ignoranz 
—  in  folgendem  Satze,  dem  ersten  seiner  ,, Quintessenz  des  Sozialismus",  als 
deren  Absicht  er  bezeichnet,  richtige  Kenntnisse  auf  diesem  Felde  zu  fördern:  ,,Seit 
den  letzten  Wahlen  zum  Deutschen  Reichstag  (1874)  spukt  das  »rote  Gespenst«  bis 
in  die  letzte  Bierstube.  Aber  merkwürdig,  nicht  bloß  in  der  Welt  der  Kannegießer, 
sondern  weit  hinauf  in  die  Reihen  der  »besitzenden  und  gebildeten  Klassen«  ...  ist 
der  Kern  und  das  Ziel  der  sozialistischen  Propaganda  noch  fast  unbekannt"  usf. 
Die  1894  erschienene  Schrift  von  Otto  Prange,  ,,Das  rote  Gespenst",  betrachtet  in 
ihrem  ersten  Kapitel  ,,das  rote  Gespenst  und  die  öffentliche  Meinung".  Und  1889 
erklärte  G.  v.  Schulze  -  Gaevernitz:  ,,Dic  öffentliche  Meinung  .  .  .  irrt,  wenn  sie 
in  den  Umsturzparteicn  das  unabwendbare  Gespenst  der  Zukunft  sieht,  demgegen- 
über man  nichts  kann,  als  das  Gewissen  salviercn  .  .  ." 


464  Besondere  Päw^e  der  Öffentuchen  Meinung. 

Sehr  deutlich  sprach  sich  auch  damals  und  während  der  folgenden 
Jahrzehnte  die  öffentUche  Meinung  aus,  wenn  sie  die  sozialdemo- 
kratische Partei  als  »Umsturzpartei«  bezeichnete  und  alle  übrigen 
Parteien  ihr  gegenüber  als  Ordnungsparteien  oder  gar  schlechthin 
als  die  Ordnungspartei.  Das  Gothaer  Programm  (vom  Mai  1875) 
erklärte  zwar,  daß  die  sozialistische  Arbeiterpartei  Deutschlands 
„mit  allen  gesetzlichen  Mitteln"  den  freien  Staat  und  die  sozia- 
Ustische  Gesellschaft  usw.  erstrebe.  Um  diesen  Wortlaut  kümmerten 
sich  aber  unter  ihren  Gegnern  wenige.  Dennoch  war  es  für  diese  eine 
Genugtuung,  daß  zwei  Jahre  nach  Erlaß  des  Sozialistengesetzes 
der  Wydener  Kongreß  die  Streichung  des  Wortes  »gesetzHchen « 
beschloß,  und  die  Parteileitung  in  einem  Manifest  u.  a.  erklärte : 
„Will  es  nicht  biegen  von  oben  herab,  so  muß  es  brechen  von  unten 
hinauf."  In  einer  Schrift  über  „die  rote  Internationale"  schrieb  der 
Regierungsassessor  Dr.  Zacher  (1884),  die  Partei  habe  sich  nun  als 
Revolutionspartei  zu  erkennen  gegeben  (S.  23).  Wenn  sie  sich  aber 
trotzdem  nach  außen  hin  immer  wieder  als  friedHebende  Reformpartei 
aufzuspielen  suche,  so  sei  das  nichts  weiter,  als  ein  taktisches  Manöver, 
um  der  öffentlichen  Meinung  gegenüber  den  Schein  der 
Gesetzlichkeit  zu  wahren  und  schwankende  Elemente  nicht 
abzuschrecken.  In  dieser  Angabe  ist  die  Erkenntnis  enthalten,  daß 
die  öffentliche  Meinung  GesetzHchkeit  will,  und  zugleich  der  (be- 
gründete) Verdacht  kundgegeben,  daß  die  ÖffentUche  Meinung  sich 
durch  den  Schein  täuschen  lasse.  In  den  Verhandlungen  von  1878 
sagte  auch  der  geistreiche  Zentrumsführer  Windthorst,  indem  er 
das  Ausnahmegesetz  als  verwerfüch  hinstellte,  das  Einzige,  was  er 
den  Sozialdemokraten  absolut  verbiete  und  verbieten  wolle,  sei, 
daß  sie  die  Ideen,  über  die  sie  diskutieren,  und  die  sie  nach  seinem 
Willen  frei  diskutieren  möchten,  mit  Gewalt  durchführen  wollen 
(„wenn  es  so  gemeint  ist,  dann  stehen  wir  Schulter  an  Schulter  gegen 
Sie").  Er  unterstrich  damit  die  Einhelligkeit  der  öffentHchen  Meinung 
in  dieser  Beziehung,  von  einem  Standpunkte  aus,  für  den  Religion 
und  nicht  öffenthche  Meinung  den  maßgebenden  Grundsatz  be- 
deutet. 

Wenn  aber  darin  beschlossen  scheint,  daß  sie  eine  friedliche  und 
gesetzHch  vorgehende  Partei  wenigstens  zu  dulden  und  nicht  mit  Ge- 
walt zu  unterdrücken  gesonnen  sei,  so  war  (und  ist  noch  heute,  wenn 
auch  vermindert)  die  öffentliche  Meinung  doch  gegen  die  Sache, 
gegen  die  Ideen  dieser  Partei  in  schärfster  Weise  eingenommen. 
Selbst  dann  noch,  wenn  die  ursprüngUchen  Vorstellungen  von  Kom- 
munismus, vom  Aufteilen  oder  von  Gütergemeinschaft  verblichen 
sind,  und  insbesondere  das  Schlagwort  »SoziaHsmus«  aufgehört  hat, 


Die  Öffenti,iche  Meinung  und  die  soziai,e  Frage.  —  Soziai^demokratie.     465 

Schauder  zu  erregen.  Die  Auffassung  neigt  dann  dahin,  nicht  so  sehr 
die  Scheußlichkeit,  wie  die  Unmöghchkeit  solcher  Bndziele  hervor- 
zuheben, daher  in  der  Hinweisung  auf  »sozialistische  Utopien«  das 
zweite  Wort  schärfer  zu  betonen.  Wenn  der  eigenthche  Sinn  des 
Wortes  »Utopie«  oder  gar  sein  Ursprung  wenigen,  die  es  im  Munde 
führen,  bekannt  ist,  so  verbindet  sich  doch  stark  damit  die  Vor- 
stellung von  etwas  Sinnlosem,  Törichtem,  ja  Kindischem,  durch 
dessen  Verfolgung  also  man  sich  lächerHch  mache;  und  der  »Fluch 
der  Lächerlichkeit«  wirkt  in  der  öffenthchen  Meinung  wie  ein  Bann- 
fluch. Alle  Pfeile,  die  auf  ein  so  geächtetes  Ziel  gerichtet  werden, 
vereinigen  sich  in  den  Angriffen  auf  den  »Zukunftsstaat«.  Die 
öffentUche  Meinung  betrachtet  dies  Gebilde  der  Phantasie  bald  als 
etwas  Furchtbares,  als  das  »große  Zuchthaus«,  bald  als  etwas  so 
Unsinniges,  daß  es,  in  die  V/irkHchkeit  übersetzt,  rasch  in  sich  zu- 
sammenstürzen müßte.  Nach  dem  Fall  des  Ausnahmegesetzes  (1890) 
kamen  der  allgemeinen  Überzeugung,  daß  die  Sozialdemokratie  nun- 
mehr mit  »geistigen  Waffen«  überwunden  werden  müsse,  nach  jenen 
beiden  Richtungen  entgegen  die  von  dem  namhaften  Pohtiker  Eugen 
Richter  verfaßten  Flugschriften  „Die  Irrlehren  der  Sozialdemokratie'* 
und  „Sozialdemokratische  Zukunftsbilder".  Obgleich  dieser  gewandte 
und  kenntnisreiche  Mann  nur  ein  schwaches  und  zusammenschmel- 
zendes Parteigefolge  hatte,  so  wujrde  ihm  doch  lebhafter  Beifall  von 
allen  Seiten  außerhalb  der  Sozialdemokratie  zuteil,  der  lebhafteste 
von  seinen  eigensten  poHtischen  Gegnern,  den  Konservativen.  So 
wurde  das  erste  kleine  Heft  in  mehr  als  80  000  Exemplaren  verbreitet, 
von  dem  anderen  wurde  im  März  1892  das  206.  bis  210.  Tausend 
gedruckt,  die  »Zukunftsbilder«  verdankten  ihren  größeren  Erfolg 
offenbar  der  noveUistisch  erzählenden  Form,  worin  das  Schicksal 
einer  Familie  am  Tage  »nach  dem  Umsturz«  und  binnen  weniger 
Wochen  nachher  auf  »ergreifende  Art«  dargestellt  wurde.  Die  »Zu- 
kunftsbilder« wollten  »frei  nach  Bebei.«  entworfen  sein;  dem  lag 
zugrunde,  daß  A.  Bebel  unter  dem  Banne  des  Ausnahmegesetzes  ein 
Buch  über  »die  Frau«  verfaßt  hatte,  das  auch  außerhalb  seiner  Partei 
weithin  gelesen  wurde;  er  hatte  darin  seine  persönlichen  Ansichten 
über  die  Lage  der  Frau  in  der  kommenden  Gesellschaft  entwickelt 
und  zu  diesem  Behuf  sich  eine  Vorstellung  von  der  Zukunftsgesell- 
schaft (den  Ausdruck  »Zukunftsstaat«  meidet  er  ängstUch)  gebildet, 
die  von  seinen  eigenen  Genossen  stark  angefochten  wurde,  aber  der 
gegnerischen  Kritik  um  so  reicheren  Stoff  bot,  ihren  Witz  und  Spott 
daran  zu  üben;  außer  der  RiCHTERschen  erschien  noch  eine  Reihe 
von  Flugschriften  im  letzten  Jahrzehnt  des  Jahrhunderts,  die  alle 
sich  der  Widerlegung  Bebei^s  widmeten. 

Tön  nies,  Kritik.  30 


466  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffentwchen  Meinung. 

Wenn  aber  die  Gedanken  an  den  Zukunftsstaat  als  Hoffnungen 
und  Schwärmerei  doch  etwas  Harmloses  an  sich  zu  haben  scheinen, 
das  zwar  töricht,  aber  nicht  verdammenswert  sein  möchte,  so  erregen 
hingegen  Unwillen  und  Empörung  jene  Irrlehren,  die  gegen  die  be- 
festigten und  geheiligten  Institutionen  des  sozialen  I^ebens  gerichtet 
sind.  Als  solche  wird  auch  »die«  Religion  geachtet,  und  wenn  auch 
das  Zeitalter  sich  gewöhnt  hat,  das  Nebeneinander  ganz  verschiedener 
und  einander  gegenseitig  für  verderblichen  Wahn  erachtender  Reli- 
gionen oder  Konfessionen  und  Sekten  als  unabänderlich  anzusehen; 
wenn  auch  —  z.  T.  infolgedessen  —  die  öffentHche  Meinung  ziemHch 
gleichgültig  gegen  diese  Unterschiede  und  Unterscheidungslehren, 
ja  überwiegend  freidenkerisch  geworden  ist:  so  gilt  ihr  doch  ein  An- 
griff auf  »die«  ReHgion,  auf  alle  Religion  und  Religiosität  als  staats- 
gefährHch,  zumal  wenn  er  in  Verbindung  mit  Angriffen  auf  andere 
Institutionen,  die  dem  modernen  Menschen  näher  am  Herzen  hegen, 
insbesondere  also  auf  das  »Eigentum«,  gebracht  wird.  Obgleich  nun 
die  deutsche  sozialdemokratische  Partei  ReHgion  für  Privatsache 
erklärt,  also  keine  programmatische  Stellung  zu  ihr  einnimmt,  so 
hatten  doch  gar  manche  Äußerungen  ihrer  Anhänger,  auch  einiger 
Führer,  der  Vorstellung  Nahrung  gegeben,  daß  die  Partei  als  solche 
atheistisch  sei,  und  die  Bezeichnung  als  »Privatsache«  wurde  oft 
dahin  gedeutet,  daß  sie  eine  Geringschätzung  und  Herabsetzung  in 
sich  schließe.  Die  »Begründung«  des  Sozialistengesetzes  konnte 
auf  Verständnis  und  Zustimmung  der  öffentHchen  Meinung  rechnen, 
wenn  sie  als  Folge  der  sozialdemokratischen  Agitation  u.  a.  hinstellte : 
„Die  sittlichen  und  religiösen  Überzeugungen,  welche  die  Gesell- 
schaft zusammenhalten,  werden  erschüttert";  wenngleich  es  ihr 
schwer  gefallen  wäre,  diese  rehgiösen  Überzeugungen  der  heutigen 
Gesellschaft  genauer  zu  beschreiben.  In  der  Generaldebatte  konnte 
BebeIv,  nachdem  er  »ausdrücklich  erklärt«  hatte,  daß  die  Sozial- 
demokratie nicht  verlange,  daß  ihre  Anhänger  in  religiösen  Dingen 
eine  bestimmte  Meinung  haben  müssen,  mit  Recht  fragen:  „Wer 
hat  denn  aber  diese  atheistischen  Lehren,  die  Ihnen  so  viel  Sorge 
und  Verdruß  machen,  wissenschaftHch  und  philosophisch  begründet  ?** 
und  die  Frage  dahin  beantworten,  es  seien  Männer  der  Wissenschaft, 
die  mit  ihren  sonstigen  Anschauungen  im  bürgerhchen  Leben,  und 
meist  in  der  liberalen  Partei,  gestanden  haben.  Und  am  folgenden 
Tage  war  Hänel  ehrhch  genug,  der  Behauptung  gegenüber,  die 
sozialdemokratische  Agitation  gehe  aus  auf  die  Untergrabung  der 
ReHgion,  einzugestehen :  „Die  Richtung  gegen  die  reHgöse  Stimmung, 
wahrhaftig,  sie  stammt  nicht  aus  der  sozialdemokratischen  Agi- 
tation ...  sie  stammt  von  uns,  sie  stammt  aus  unserer  Literatur, 


DIE  ÖFFENTi;iCHE  MEINUNG  UND  DIE  SOZIAI,E  FRAGE.  —  SOZIAIJ)EMOKRATlE.  467 

sie  stammt  vor  allen  Dingen  auch  aus  dem  Verhältnis  unserer  ge- 
bildeten Klassen  zu  den  verschiedenen  Kirchen,  in  denen  sie  ein- 
geboren sind."  —  Indessen  die  öffentliche  Meinung  verlangt  nicht 
eine  besondere  Ehrfurcht  vor  den  Kirchen,  deren  Mannigfaltigkeit 
und  Streit  ihr  anstößig  ist,  sie  ist  mehr  für  eine  unkirchliche  Rehgion 
und  will  wenigstens  den  Gottesglauben  nicht  angetastet  wissen,  ohne 
daß  sie  Eingriffe  der  Götter  in  den  Verlauf  der  Natur  anzunehmen 
geneigt  wäre :  sie  setzt  den  Deismus  fort,  der  im  17.  Jahrhundert  auf- 
kam und  im  18.  zu  den  Vernunftideen  der  »natürhchen«  Religion 
gerechnet  wurde.  Weil  ihr  ebenso  wie  das  Dasein  Gottes  auch  das 
Dasein  der  menschHchen  Seele  über  allem  Zweifel  steht,  so  ist  ihr  der 
sog.  MateriaHsmus  gleich  dem  Atheismus  zuwider,  und  es  gehört 
eine  besondere  Dreistigkeit  dazu,  die  leicht  als  ein  freches  Trotzen 
gegen  die  öffentliche  Meinung  erscheint,  sich  zu  diesem  »Materialismus« 
zu  bekennen,  der  jedoch  von  vielen  als  Ergebnis  und  letztes  Wort  der 
neueren  Naturwissenschaft  geschätzt  wird,  besonders  seitdem  diese 
die  Abstammung  des  Menschen  von  niederen  Organismen  in  ihr 
Bereich  gezogen  und,  wie  man  glaubt,  bewiesen  hat;  denn  damit 
scheint  das  Besondere,  der  göttliche  Adel  des  Menschentums,  preis- 
gegeben zu  werden.  Überdies,  und  in  nahem  Zusammenhange  damit, 
wird  dann  diese  philosophische  Ansicht  als  die  Wurzel  einer  Willens- 
richtung aufgefaßt,  die  ausschheßlich  auf  sinnliche  Genüsse  gerichtet 
sei,  und  wohl  gar,  weil  ja  der  Glaube  an  ein  zukünftiges  Leben  nicht 
vorhanden,  also  nicht  hemmend  wirke,  in  der  Äußerungsich  zusammen- 
fasse: „Lasset  uns  essen  und  trinken,  denn  morgen  sind  wir  tot." 
In  der  Verhandlung  von  1878  zitierte  der  Abgeordnete  von  KXeist- 
Retzow  diesen  bekannten  Lebensgrundsatz  und  meinte,  dazu  müßten 
die  Sozialdemokraten  kommen,  denn  „die  Sozialdemokraten  wollen 
ein  glückliches,  reiches  Leben  mit  einem  Abschluß  in  dieser  Welt 
erreichen."  Herr  von  K1.EIST  gab  in  der  gleichen  Rede  den  Worten 
Hänels  seine  volle  Anerkennung,  wonach  die  gebildeten  Klassen, 
die  Besitzenden,  gegenwärtig  in  „Materialismus  und  Unglauben"  ver- 
sunken seien.  Wenn  man  auch  die  Behauptung  der  Tatsache  nicht 
als  Inhalt  der  öffenthchen  Meinung  bezeichnen  darf,  so  ist  doch  für 
diese  charakteristisch,  daß  der  stockkonservative  und  der  fortschritt- 
lich-freisinnige Abgeordnete  in  der  Mißbilligung  des  »MateriaHsmus 
und  Unglaubens«  sich  zusammenfanden,  wenn  auch  ohne  Zweifel 
die  beiden  Schlag worte  für  den  einen  eine  andere  Bedeutung  hatten 
als  für  den  anderen.  —  Im  Gegensatz  zum  Materialismus  billigt  die 
öffentliche  Meinung  den  »Idealismus«,  ohne  aber  dabei  an  dessen 
philosophische  Bedeutung,  die  sie  schwerlich  kennt,  zu  denken,  es 
wäre  denn  in  dem  Sinne  eines  Glaubens  an  das  »Geistige«,  das  »Höhere«, 

30* 


468  Besondere  Fäi^le  der  Öffentlichen  Meinung. 

an  »Ideale«,  womit  alsbald  der  Übergang  in  die  sittliche  Bedeutung 
vollzogen  wird.  Wenn  nun  gleichzeitig  den  Sozialdemokraten  die 
»Leugnung  aller  Ideale«  vorgeworfen  und  die  törichte,  unpraktische 
Schwärmerei  für  das  unmögHche  Ideal  des  Zukunftstaates  und  der 
Gütergemeinschaft  zur  Last  gelegt  wird,  so  stört  dieser  Widerspruch 
die  öffentliche  Meinung  keineswegs.  Jeder  Tadel  hat  seine  Zeit  und 
seinen  Ort.  Ja,  die  öffentliche  Meinung  kann  auch  den  Tadel  in  ein 
Lob  wenden,  und  z.  B.  den  Idealismus,  die  Aufopferung  und  Be- 
geisterung, die  von  Sozialdemokraten  für  ihre  Partei  betätigt  werden, 
den  Mitghedern  anderer  Parteien  als  Muster  darstellen;  ebenso  wird 
wohl  die  Hingebung,  die  der  organisierte  Arbeiter  seinem  Gewerk- 
verein bewähre,  anerkannt  und  als  exemplarisch  gewürdigt.  —  Hin- 
gegen richtet  sich  wieder  die  volle  Wucht  des  Unwillens  gegen  die 
von  soziaHstischen  Schriftstellern  ausgehenden  »Angriffe  auf  die  Ehe« 
und  die  »VerherrHchung  der  freien  Liebe«.  Wenn  auch  nicht  geradezu 
geltend  gemacht  wird,  daß  die  Partei  als  solche  Weibergemeinschaft 
als  das  Stück  ihres  Kommunismus  predige,  dem,  nach  W.  Röscher, 
alle  konsequenteren  SoziaHsten  so  nahe  stehen  wie  der  Gütergemein- 
schaft, so  ist  doch  die  Meinung,  daß  jenes  Ideal  eines  ledigHch  mora- 
lischen Bundes  zwischen  den  Geschlechtern  in  der  Wirklichkeit  kaum 
auf  etwas  anderes  als  auf  Weibergemeinschaft  hinauskommen  werde. 
Wie  stark  der  Abscheu  dagegen  in  jener  Phase,  die  dem  Erlaß  des 
Sozialistengesetzes  vorausging,  die  öffentliche  Meinung  in  Anspruch 
nahm,  davon  zeugt  u.  a.  die  Reihe  der  Zitate  in  einem  1876  er- 
schienenen Buche  (Die  Sozialdemokratie.  Nach  ihrem  Wesen  und 
ihrer  Agitation  quellenmäßig  dargestellt.  Von  Richard  Schuster, 
S.  226 — 234),  die  danach  angetan  waren,  den  ruhigen  Bürger  schau- 
dern zu  machen.  Dagegen  ist  es  nun  auffallend,  daß  zwei  Jahre 
später,  in  der  großen  Gerichtsverhandlung,  wie  man  wohl  die  Beratung 
des  Ausnahmegesetzes  nennen  kann,  diese  Anklage  auch  von  den 
heftigsten  Anklägern  kaum  gestreift  worden  ist.  Diese  Unterlassung 
zeigt  den  Unterschied  der  öffentUchen  Meinung  von  der  Tätigkeit 
öffentlicher  Politiker.  Diese  mochten  es  für  bedenklich  halten,  gerade 
in  diesem  Punkte  die  Kritik  bestehender  Zustände,  insbesondere 
solcher,  die  in  den  höheren  Schichten  der  Gesellschaft  angetroffen 
werden,  herauszufordern. 

Die  öffentHche  Meinung,  immer  befUssen,  sich  an  einfache,  elemen- 
tare Formeln  zu  halten,  machte  auch  von  jeher  die  sozialdemo- 
kratische Partei  dafür  verantwortUch,  daß  sie  »das  Eigentum«  auf- 
heben wolle.  Treffend  sagt  das  genannte  Buch  von  1876:  „Vom 
Kampf  der  Sozialdemokratie  gegen  das  Eigentum  redet  wohl  jeder- 
mann, aber  nicht  alle  haben  es  zu  klaren  Vorstellungen  hinsichthch 


Die  Öffentuche  Meinung  und  die  soziai^e  Frage.  —  Sozialdemokratie.     469 

dieses  Punktes  gebracht."  Der  Verfasser  will  dann  einiges  zur  Auf- 
klärung darüber  beitragen.  In  der  oft  genannten  Beratung  von  1878 
\vurde  auch  bei  dieser  Seite  verhältnismäßig  wenig  verweilt.  Wahr- 
scheinlich aus  der  Ursache  nicht,  weil  keine  volle  Einmütigkeit 
zwischen  den  Parteien  darüber  vorhanden  war,  die  naturgemäß  reiner 
in  die  Erscheinung  trat  gegenüber  den  Ideen  zu  gewaltsamem  Um- 
sturz, dem  »Hochverrat«,  wie  Herr  von  Ki^eist,  ohne  Widerspruch 
zu  finden,  die  Bestrebungen  der  Sozialdemokraten  brandmarkte, 
ebenso  aber  auch  gegenüber  dem  Materiahsmus  und  Atheismus. 
Angriffen  gegen  das  große  Grundeigentum  hätten  die  I^iberalen  sich 
nicht  völlig  versagen  können.  Angriffe  gegen  das  kapitaUstische 
Eigentum  waren  den  Konservativen  (damals  noch)  nicht  unbedingt 
zuwider.  Da  nun  aber  der  Sozialismus  hauptsächlich  gegen  den 
»KapitaUsmus«  sich  richtet  und  in  den  Zuständen  der  Industrie  seine 
Wurzeln  hat,  so  fühlten  sich  hier  auch  die  I^iberalen  auf  den  Kampf- 
platz gerufen,  obgleich  das  Ausnahmegesetz  in  den  konservativen 
Parteien  seine  eigentlichen  Träger  hatte,  wie  auch  dadurch  sich  be- 
stätigte, daß  die  Neuwahlen  nach  der  Auflösung  des  Reichstages  1878 
im  Vergleiche  mit  den  Wahlen  des  Vorjahres  die  Zahlen  der  für  beide 
konservative  Parteien  abgegebenen  gültigen  Stimmen  von  977  766 
(=  17^6  von  100  gültigen  Stimmen)  auf  i  525  270  (=  26,2  v.  H.) 
vermehrte^),  wodurch  die  Zahl  der  Abgeordneten  dieser  beiden 
Parteien  von  78  (=  19,7)  auf  116  (=  29,3)  erhöht  wurde.  Durch 
dieselben  Neuwahlen  fiel  die  Zahl  der  für  die  damaligen  drei  liberalen 
Parteien  (Hberale,  nationalliberale  und  Fortschrittspartei,  ohne  die 
»süddeutsche  Volkspartei«)  abgegebenen  Stimmen  von  2  150  850  auf 
I  960  999,  d.  i.  von  38,8  auf  33,7  v.  H.  und  die  Zahl  der  Abgeordneten 
von  176  auf  135,  d.  i.  von  44,3  auf  33,9  v.  H.  Der  Liberalismus  war 
eben  schon  durch  das  Verlangen  der  öffentlichen  Meinung  nach  dem 
Ausnahmegesetz^)  ins  Gedränge  gekommen,  während  gleichzeitig 
der  Umschwung  in  der  Handelspohtik  ihn  so  unterwühlte,  daß  er  für 
drei  Jahrzehnte  aus  dem  vordersten  Graben  herausgedrängt  wurde. 
Äußerlich  trat  das  auch  in  der  Zerspaltung  der  bis  dahin  so  stolzen 
und  starken  nationalliberalen  Partei  zutage,  wenngleich  sie  noch 
geschlossen  für  das  Ausnahmegesetz  stimmte.  Die  Hberalen  Haupt- 
redner in  der  Beratung  waren  Hänei.,  Bamberger,  Bennigsen. 
Hänel  behandelte  die  Frage  ideologisch.    Er  wollte  die  Heftigkeit 

*)  Zugrtmdegelegt  sind  die  entscheidenden  Wahlen:  Stat.  Jahrb.  f.  d.  D.  R., 
Erster  Jahrgang  1880,  S.  141  f. 

*)  Auch  in  dem  Artikel  „Sozialdemokratie"  des  HWS'  Bd.  VII.  S.  584  heißt  es, 
nachdem  von  den  beiden  Attentaten  die  Rede  gewesen:  „Aber  die  öffentliche  Meinung 
machte  ungerechterweise  die  Sozialdemokraten  dafür  verantwortlich,  und  so  kam 
(Oktober  1878)  das  Ausnahmegesetz  .  .  .  zustande." 


470  Besondere  Fäi.i,e  der  Öffenti^ichen  Meinung. 

und  Roheit  der  Agitation  auf  dem  Boden  des  gemeinen  Rechts  ein- 
dämmen, den  Forderungen  der  öffentlichen  Meinung  also  entgegen- 
kommen, verwarf  aber  das  »Partei-  und  Tendenzgesetz«.  Ganz  anders 
Bamberger:  dieser  gescheite  Mann  wand  sich  in  so  unbestimmten 
Redeformen,  daß  Hänei<,  der  sich  als  „Anhänger  seiner  geistreichen 
Redeweise"  bekannte,  erklären  mußte,  er  sei  absolut  nicht  imstande, 
zu  erkennen,  was  Herr  Bamberger  denn  eigentüch  im  letzten  Sinne 
tmd  im  letzten  Ziele  wirklich  wolle.  In  Wahrheit  hatte  aber  der 
(damals  noch)  nationalHberale  Abgeordnete  für  das  Gesetz  ge- 
sprochen, indem  er  in  sophistischer  Weise  begründete,  er  glaube 
nicht,  daß  es  sich  um  ein  Ausnahmegesetz  »dieser  Art«  handle  (in 
dem  Sinne  nänüich,  daß  nur  eine  besondere  Kategorie  von  Personen 
von  demselben  getroffen  werde).  Kr  läßt  sich  dann  aber  dahin  aus, 
daß  er  für  unentbehrHch  halte,  das  Wort  »sozialistisch«  (außer  sozial- 
demokratisch und  kommunistisch)  in  das  Gesetz  hineinzunehmen. 
Er  machte,  wenn  auch  in  zweideutiger  Sprache,  kein  Hehl  daraus, 
daß  er  auch  Katheder-  und  StaatssoziaHsten  der  Verfolgung  auszu- 
setzen wünschte;  denn  »das  Übel«  habe  seine  Wurzel  auch  in  den 
Denkweisen,  die  von  den  verschiedensten  Seiten  aus  der  Nation  heraus 
gefördert  worden  seien.  Man  könne  religiös  und  monarchisch  gesinnt 
sein  und  doch  »die  Theorien«  vertreten,  von  denen  er  gesprochen  habe 
(„daß  das  Kapital  an  und  für  sich  ein  Fluch  und  ein  Unglück  sei 
und  abgeschafft  werden  müsse''  (!!);  von  manchen  werde  nicht 
gegen  das  Eigentum  im  allgemeinen,  sondern  gegen  das  römische 
Eigentum  polemisiert,  von  anderen  zwar  nicht  das  unbewegliche 
Eigentum,  sondern  das  sog.  Kapital  angegriffen,  „auf  welches  über- 
haupt alle  Schmach,  Vorwürfe  und  Entrüstung  herabgerufen  wird"). 
Das  Gift,  das  in  die  deutsche  Nation  hineingetragen  worden  sei, 
bestehe  darin,  daß  jede  Partikel  der  Nation  gegen  die  andere  in 
wildester  Weise  aufgehetzt  wurde,  weil  man  immer  dem  betreffenden 
Teile  sagte:  der  andere  Teil  lebt  auf  deine  Kosten;  wenn  es  mit  ge- 
rechten Dingen  zuginge,  würdest  du  an  seiner  Stelle  oder  teilweise 
an  seiner  Stelle  sein,  und  es  ist  nur  böser  Wille  der  Gesetzgebung, 
wenn  dies  nicht  geschieht.  Durch  die  krause  Erörterung  leuchtet 
doch  unverkennbar  heraus,  daß  Bamberger  den  Kapitalismus  vor 
gefährdender  Kritik  schützen  wollte.  Das  war  aber  nicht  der  vor- 
waltende Gesichtspunkt  der  öffentUchen  Meinung.  Sie  war  keines- 
wegs gesonnen,  die  schriftstellerische  Freiheit  der  Gelehrten  oder  gar 
die  wissenschafÜiche  lychre  der  Hochschulen  zu  beschränken,  vielmehr 
hätte  die  Erkenntnis,  daß  dies  eine  Folge,  vielleicht  sogar  eine  beab- 
sichtigte Folge  des  Ausnahmegesetzes  sein  werde  (tatsächHch  ergab 
es  sich  als  notwendige  Wirkung),  die  öffentliche  Meinimg  irre  machen 


Die  Öffentucele  Meinung  und  die  soziai,e  Frage.  —  Soziai^demokratie.      471 

können  an  der  Verfemung  jener  „gemeingefährlichen  Bestrebungen**. 
Kein  Wunder,  wenn  der  eigentUche  Führer  der  nationalHberalen 
Partei,  der  auch  nach  der  Sezession  es  bHeb,  zugleich  ein  Führer  der 
gebildeten  poHtischen  Meinung,  sich  ganz  anders  aussprach.  Herr 
VON  Bennigsen,  der  wenige  Monate  vorher  mit  schlagenden  Gründen 
und  beredten  Worten  die  Vorlage  der  verbündeten  Regierungen  ver- 
worfen hatte,  fand  sich  nun  —  nicht  am  wenigsten  durch  die  öffent- 
hche  Meinung,  der  gegenüber  er  seine  Partei  zu  retten  befHssen  war  — 
in  der  Notlage,  die  neue,  gleichgeartete  Vorlage  zu  verteidigen.  Er 
nannte  das  Gesetz  ein  »Spezialgesetz«  und  versuchte  es  als  im  Ver- 
gleich mit  dem  Frühjahrsentwurf  »besser«  darzustellen:  wohl  nicht 
imter  die  Absicht  des  Gesetzgebers,  wohl  aber  unter  den  Wortlaut 
seien  damals  wissenschaftliche  Untersuchungen,  humanitäre 
Zwecke,  pÄiktische  Förderung  von  Arbeiterinteressen  ebensowohl 
wie  revolutionäre,  direkt  auf  den  Umsturz  hingehende  Agitationen 
gefallen.  Nunmehr  aber  werde  nicht  die  Sozialdemokratie  als  solche 
unter  Verfolgung  gestellt,  nicht  ihre  Bestrebungen  als  solche  würden 
verfolgt,  am  allerwenigsten  werde  eine  bestimmte  Klasse  der  Be- 
völkerung als  solche  getroffen  (!!).  Er  führte  dann  aus:  niemand 
werde  so  vermessen  sein,  zu  glauben,  daß  mit  der  —  „ich  will  es  mit 
dem  hergebrachten  Kimstausdruck  bezeichnen* *  —  kapitalistischen 
Produktionsweise  der  heutigen  Zeit  die  letzte  Form  gefunden  sei, 
welche  die  wirtschaftHche  Produktion  annehmen  könne  und  an- 
nehmen werde ;  und  niemand  werde  behaupten  wollen,  wenn  im  I^aufe 
der  weiteren  Entwicklung  der  Menschheit  eine  andere  Grundlage  für 
die  Produktionsweise  gewonnen  werde  als  die  heutige,  daß  dann  die- 
jenige Form  des  Privatrechts,  also  auch  des  Eigentums,  welche 
gerade  dieser  kapitalistischen  Produktionsform  entspreche,  dieselbe 
bleiben  werde,  ja,  auch  nur  bleiben  könne.  „Meine  Herren,  wenn  vor 
unsern  Augen  .  .  .  der  Schleier  weggezogen  würde,  der  ims  die  späteste 
Zukunft  verhüllt,  wenn  die  alsdann  herrschenden  Formen  des  wirt- 
schaftUchen  Lebens  und  Zusammenseins  und  die  Gestaltungen  von 
Staats-  imd  Privatrecht  imserem  Blicke  sich  zeigten  —  sie  würden 
uns  gewiß  sehr  wunderbar  und  fremdartig  erscheinen,  viel  wunder- 
barer und  fremdartiger  mögUcherweise  noch,  als  derartige  Erschei- 
nungen in  früheren  Jahrtausenden.'*  Wer  wolle  so  vermessen  sein, 
zu  sagen,  er  könne  den  Gang  der  wirtschaftlichen  und  Rechtsent- 
wicklung für  Jahrhunderte,  Jahrtausende  voraussehen?  Und  als 
Folgerung  aus  diesen  Betrachtungen  spricht  er  dann  aus:  „Nein, 
m.  H.,  wissenschaftUche  Erörterungen  abzuschneiden,  selbst  wenn 
sie  unwillkommen  sein  mögen  für  die  bestehenden  Institutionen,  das 
darf  ein  menschlicher  Gesetzgeber  nicht  wagen.    Würde  er  es  wagen. 


472  Besondere  Fäi^i^e  der  öffentlichen  Meinung. 

es  würde  ihm  doch  niemals  gelingen"  usw.  Ähnlich  würde  es  liegen 
hinsichtlich  aller  derjenigen  Versuche,  vielleicht  weitgehenden  Ver- 
suche, die  Lage  der  arbeitenden  Bevölkerung  zu  verbessern,  oder, 
um  es  wirtschaftHch  bestimmter  auszudrücken,  den  Anteil,  den  die 
arbeitende  Klasse  im  ganzen  an  dem  Produktionsergebnis  habe,  zu 
steigern:  darauf  können  wissenschaftÜche  Untersuchungen,  darauf 
könne  die  Gesetzgebung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  einwirken. 
Nur  der  revolutionäre  Charakter,  den  die  ganze  sozialdemokratische 
Bewegung  angenommen  habe,  erscheine  als  so  gefährlich,  und  nur 
der  müsse  getroffen  werden.  Nachdem  der  Parteiführer  dies  noch  in 
eingehender  Weise  erörtert  hat,  faßt  er  sich  dahin  zusammen,  das 
seien  die  Gründe,  „aus  denen  wir  gegenüber  dieser  veränderten  .  .  . 
Vorlage,  angesichts  einer  so  entschieden  hervorgetretenen  Kund- 
gebung der  öffentlichen  Meinung  unseres  Volkes,  uns  der 
Aufgabe  nicht  entziehen,  mit  der  Regierung  und  den  Parteien  zu- 
sammen, die  diesen  Boden  für  den  richtigen  halten,  gesetzgeberisch 
tätig  zu  sein."  Daran  schließt  sich  dann  der  Ausdruck  des  Vertrauens, 
daß  der  Reichskanzler  keine  reaktionäre  Politik  einleiten  wolle,  daß 
er  vielmehr  die  Gleichberechtigung  der  Hberalen  und  der  konser- 
vativen Elemente  auf  dem  Gebiete  unseres  poHtischen  Lebens  aner- 
kenne. —  Selten  hat  wohl  ein  einflußreicher  Politiker  so  gute  theore- 
tische Einsicht  mit  so  völliger  BHndheit  in  bezug  auf  Ausführung  und 
Wirkungen  eines  PoHzeigesetzes  verbunden,  das  allerdings  dazu 
geschaffen  war,  eine  bestimmte  Klasse  der  Bevölkerung  als  solche 
zu  treffen. 

7.  (Wandlungen  der  Öffentlichen  Meinung. )  Das  Gesetz  bedeutete 
einen  vollkommenen  Sieg  der  öffentlichen  Meinung  über  die  noch 
junge  und  mutwilHge  Partei.  Sie  lag  eine  Zeitlang  zerschmettert  am 
Boden.  AUmähUch  aber  vermochte  sie  sich  zu  erholen  und  dem  Ge- 
setze zu  trotzen.  Und  als  nach  12 jähriger  Wirksamkeit  es  nicht 
erneuert  wurde,  da  hat  die  Freiheit,  im  Verein  mit  anderen  Ursachen, 
der  Partei  zu  einer  so  glänzenden  äußeren  Entwicklung  verholfen, 
daß  diese  im  Jahre  1878  als  das  vollkommene  poHtische  Verderben 
des  Deutschen  Reiches  gegolten  hätte.  Aber  mit  zunehmender  Aus- 
dehnung und  Macht  hat  die  Sache  der  Sozialdemokratie  zwar  nicht 
über  die  öffentHche  Meinung  gesiegt,  aber  sie  doch  in  einigem  Maße 
überwunden.  Manche  alte  Vorwürfe  und  Anklagen  sind  verstummt 
oder  doch  selten  und  unwirksam  geworden;  sie  werden  wie  abgelegte 
Kleider  nur  noch  von  bescheidenen  Geistern,  und  wie  alte  Moden  in 
Krähwinkel  und  Schöppenstedt  getragen.  Die  Wandlung  tritt  deutlich 
zutage,  wenn  man  mit  der  Rede  eines  Parteiführers  wie  Bennigsen, 
der  damals  natürlich  die  vornehmste  Zeitung  seiner  Partei  tätiges 


Die  ÖFFENTI4CHE  MEINUNG  UND  DIE  SOZIAI^E  FrAGE.  —  SOZIAI^DEMOKRATIE.        473 

Geleite  gab,  vergleicht,  was  die  Kölnische  Zeitung  20  Jahre  später 
(1898)  schrieb,  z.  B.  im  April  des  Jahres:  „Niemand  glaubt,  daß 
die  Sozialdemokraten  im  Ernst  daran  denken,  auf  die  Straße  hinab- 
zusteigen und  durch  eine  Revolution  Staat  und  Gesellschaft  umzu- 
wälzen", eine  Betrachtung,  die  im  Oktober  des  gleichen  Jahres  mehr- 
fach in  derselben  Zeitung  ausgeführt  wurde,  imd  im  Januar  1900  war 
von  einer  geschäftigen  und  vordringUchen  Menschenklasse  die  Rede, 
bei  der  die  Erscheinung  des  Hasses  und  der  Angst  vor  der  Sozial- 
demokratie nicht  selten  ins  Pathologische  umschlage.  Im  September 
desselben  Jahres  schrieb  in  den  Preußischen  Jahrbüchern,  worin  einst 
die  mächtige  Stimme  Heinrich  von  Treitschkes  über  den  Sozialis- 
mus und  seine  Gönner,  den  Soziahsmus  und  den  Meuchelmord  ertönte, 
Hans  Dei^brück,  heute  sei  zweifellos  unter  den  deutschen  Parteien 
die  »interessanteste«  die  Sozialdemokratie,  die  anderen  seien  alle 
mehr  oder  weniger  im  Stadium  der  Versteinerung.  Und  Theodor 
MoMMSEN  konnte  im  Dezember  1902  wagen,  der  öff entheben  Meinung 
die  Worte  ins  Gesicht  zu  schleudern,  jene  sei  zur  Zeit  die  einzige  große 
Partei,  die  Anspruch  habe  auf  politische  Achtung.  Man  stelle  sich  vor, 
diese  Worte  wären  1878  gesprochen  worden !  Offenbar  hatte  der  Strom 
der  öffentlichen  Meinung,  gegen  den  die  Anhänger  wirkHch  oder 
scheinbar  revolutionärer  Ansichten  immer  schwimmen  müssen,  sich 
geteilt  und  war  durch  das  Zerfheßen  in  mehrere  Richtungen  erhebhch 
dünner  und  schwächer  geworden.  Die  Ursachen  dieser  merkwürdigen 
und  wichtigen  Tatsache  sind  mannigfach:  wir  versuchen  sie  ihrer 
Bedeutung  gemäß  zu  ordnen. 

I.  Die  wachsende  Macht  der  Partei  war  zunächst  geeignet,  sie 
furchtbarer  und  gefährlicher  erscheinen  zu  lassen.  So  hatte  sie  wirkHch 
bis  1878  fast  ausschheßhch  gewirkt.  Das  Wachstum  unterhielt  und 
befruchtete  die  Vorstellung,  daß  das  schädliche  Gewächs  noch  aus- 
gerottet werden  könne  und,  solange  es  Zeit  sei,  vertilgt  werden  müsse. 
Aber  die  Zahlen  der  Reichstagwähler,  die  sogar  unter  dem  Druck 
des  Gesetzes  bedeutend  gestiegen  waren,  und  der  Verzicht  auf  das 
Gesetz  durch  die  Nach-BiSMARCKsche  Regierung,  ließen  keinem 
Zweifel  Raum,  daß  dies  mißlungen  war.  Nun  begann  die  zunehmende 
Macht  eine  entgegengesetzte  Wirkung  auszuüben;  mit  steigender 
Beachtung  erzwang  sie  auch  ein  gewisses  Maß  von  Achtung,  das  bei 
näherer  Kenntnis  und  vermehrter  Gewöhnung  oft  auch  eine  feindhche 
Sache  auf  sich  zieht,  wenn  sie  Eigenschaften  aufweist,  die  sonst  als 
achtungswürdig  gelten.  In  dieser  Richtung  konnte  nun  die  öffentUche 
Meinung  sich  der  Erkenntnis  nicht  entziehen,  daß  in  der  vielgeschmäh- 
ten Partei  eine  vortreffliche  Organisation,  eine  gute  Disziplin  herrsche, 
daß  —  ganz  besonders  unter  der  Verfolgung  —  viel  Aufopferung  und 


474  Besondere  Fäi,i.e  der  öffentuchen  Meinung. 

Begeisterung,  ein  echter  Idealismus,  zutage  getreten  sei  und  dauernd 
sich  bewähre;  daß  die  Partei  und  die  Gewerkschaft  eine  nicht  geringe 
Bildungs-  und  Erziehungsarbeit  leiste,  daß  dem  Alkoholismus  und 
anderen  Lastern  nicht  ohne  Erfolg  entgegengewirkt  werde;  daß  ihre 
Presse  von  manchen  Übeln  frei  sei,  die  in  den  meisten  anderen  Zei- 
tungen widerwärtig  auftreten.  Vor  allem  aber  wirft  eine  anerkannte 
Macht  die  Frage  auf,  ob  man  sie  nicht  für  sich  nutzen  könne,  ob  nicht 
ein  Bündnis  mit  ihr  ersprießlich  sei?  Die  öffentliche  Meinung  hat  sich 
dagegen  gesträubt,  sie  verneinte  die  Bündnisfähigkeit  der  »Umsturz- 
partei«; und  doch  mußte  diese  im  heftigen  Kampfe  der  anderen  Parteien 
wider  einander  jezu weilen  als  das  »kleinere  Übel«  erscheinen;  min- 
destens aber  mußte  ihre  freiwiUige  Hilfe  im  Wahlkampfe  willkommen 
geheißen  werden.  Da  dies  öfter  vorkam,  so  konnte  es  nicht  aus- 
bleiben, daß  jene  Entschiedenheit  der  öffenthchen  Meinung  ge- 
schwächt wurde. 

2.  Dazu  trug  nun  ferner  bei,  das  Fortschreiten  der  sozialen 
Reform,  das  auf  Anerkennung  derselben  Übel  und  Mängel  vorhan- 
dener Gesellschaftsordnung  beruhte,  die  auch  die  verrufene  Partei 
sich  anheischig  machte,  zu  beseitigen.  Die  aller  »SozialpoHtik « 
abholde  Lehre  vom  volkswirtschaftüch  allein  richtigen  Gehen-  und 
Geschehenlassen  war  niemals  sehr  fest  gewurzelt,  wenn  auch  die 
öffentliche  Meinung  sie  angenommen  hatte.  Die  Preisgebung  dieses 
Dogmas  erfolgte  zwar  langsam,  aber  stetig.  In  dieser  Hinsicht,  wie  in 
so  mancher,  bezog  die  öffentHche  Meinung  noch  oder  wieder  ihre 
Nahrung  von  der  Religion;  »wieder«,  indem  mit  der  großen  Umkehr 
vom  Liberalismus,  die  eine  Folge  der  Weltkrise  von  1875  und  der 
Folgejahre  war,  auch  die  Frömmigkeit  wieder  mehr  gepflegt  und 
geehrt  wurde.  Dies  geschah  wohl  mit  ausdrücklicher  Berufung 
auf  das  Beispiel  des  Fürsten  Bismarck  und  auf  den  vom  ehrwürdigen 
Kaiser,  nach  seiner  Verwundung  getanen  Ausspruch  „dem  Volke 
muß  die  Religion  erhalten  werden":  Das  Stocken  des  sog.  Kultur- 
kampfes wurde  vielfach  als  eine  Folgerung  empfunden.  Die  Kaiser- 
Hche  Botschaft  vom  17.  November  1881,  womit  die  Zwangsver- 
sicherungs-Gesetzgebung  eingeleitet  wurde,  berief  sich  ausdrücklich 
darauf,  in  der  Fürsorge  für  die  Hilfsbedürftigen  die  rechten  Mittel 
und  Wege  zu  finden,  sei  „eine  schwierige,  aber  auch  eine  der  höchsten 
Aufgaben  jedes  Gemeinwesens,  welches  auf  den  sitthchen  Funda- 
menten des  christlichen  Volkslebens"  stehe.  Diese  Worte  konnten 
darauf  rechnen,  einen  starken  Widerhall  zu  finden,  wenn  auch  kaum 
einen  nachhaltigen.  Die  christHch-sozialen  »Parteien«,  evangehsche 
wie  kathoHsche,  bheben  unbedeutend.  In  den  beiden  Erlassen  des 
Kaisers  Wilhelm  II.,  vom  4.  Februar  1890,  welche  die  zweite  Phase  der 


Die  öffenti^iche  Meinung  und  die  soziai^e  Frage.  —  Soziai,demokratie.     475 

Sozialreform  im  Deutschen  Reiche  einleiteten,  wird  der  Entschluß 
kundgegeben,  die  fernere  Entwicklung  unserer  Gesetzgebung  in  der 
gleichen  Richtung  zu  fördern,  in  welcher  „Mein  in  Gott  ruhender 
Großvater  sich  der  Fürsorge  für  den  wirtschaftlich  schwächeren  Teil 
des  Volkes  im  Geiste  christlicher  Sittenlehre  angenommen 
hat**.  Es  wird  nur  darauf  als  auf  eine  historische  Tatsache  Bezug 
genommen.  Und  der  Urheber  dieser  Erlasse  erklärte,  wenige  Jahre 
später,  christlich-sozial  für  »Unsinn«.  In  Wahrheit  hat  sich  die  Er- 
kenntnis der  Notwendigkeit  umfassender  Sozialreform  in  der  öffent- 
Hchen  Meinung  nicht  aus  Gründen  des  Christentums  oder  aus  reU- 
giösen  überhaupt,  sondern  aus  poHtischen  Gründen,  festgesetzt, 
abgesehen  von  den  Gefühlen  des  Mitleids  und  der  Scham,  die  bei 
solcher  Erkenntnis  mitwirken.  Die  politischen  Gründe  sind  teils  in 
der  Erwägung  enthalten,  daß  die  Sozialdemokratie  um  so  wirksamer 
bekämpft  werden  könne,  wenn  man  ihre  »berechtigten  Forderungen« 
so  weit  wie  möghch  erfülle ;  teils  beziehen  sie  sich  auf  die  Wehrtüchtig- 
keit, sind  also  militärischer  und  national-patriotischer  Art,  teils 
endhch  erwarten  sie  eine  allgemeine  Verbesserung  der  Gesamtkultur 
von  einer  Hebung  des  »vierten  Standes«  und  seiner  Eingliederung  in 
die  gleichberechtigte  Staatsbürgerschaft.  Als  berechtigte  Forderungen 
aber  erscheinen  vorzügUch  alle  jene,  die  durch  Rücksichten  der 
Hygiene  und  der  Moral  gerechtfertigt  werden,  daher  —  wie  schon  in 
den  ältesten  Daten  der  Fabrikgesetzgebung  —  solche  zugunsten  der 
Frauen,  insbesondere  verheirateter  Frauen  und  Mütter,  der  Kinder 
und  jugendlichen  Personen;  dazu  kommen  dann  andere  Gesichts- 
punkte, die  dafür  sprechen,  dem  Arbeiter  ein  »menschenwürdiges 
Dasein«  zu  sichern:  angemessenes  Lohneinkommen,  Einschränkung 
der  Arbeitszeit,  um  Muße  und  Unterhaltung  zu  gewähren,  Beschaffung 
von  Obdach  für  die  Obdachlosen,  anständige  Wohnung  für  Familien, 
besonders  für  kinderreiche,  Bekämpfung  des  Schlafstellenwesens  und 
vieler  anderer  Übelstände,  die  teils  den  Groß-  und  Industriestädten 
eigentümlich,  teils  mit  besonderen  Zweigen  der  Arbeit  und  Dienst- 
leistung verbunden  sind  —  allen  sozialen  Reformen  dieser  Art,  die 
das  gegebene  Grundverhältnis  zwischen  Kapital  und  Arbeit  nicht 
wesenthch  verändern,  ist  die  öffentUche  Meinung  mehr  und  mehr 
geneigt  geworden,  nachdem  diese  Schäden  deutUcher  zutage  getreten 
und  immer  öfter  erörtert  worden  sind. 

3.  Indem  in  dieser  Hinsicht,  neben  und  über  den  christlich- 
sozialen Bestrebungen,  eine  weltliche  und  wissenschaftUche  Richtung, 
die  zunächst  als  Katheder-Sozialismus  angeklagt  oder  verspottet 
wurde,  steigenden  Einfluß  auf  die  Jugend,  dadurch  auch  auf  das 
Beamtentum  in  Staaten   und   Gemeinden  gewonnen  hatte,   mußte 


476  Besondere  Fäi^i^e  der  Öffentuchen  Meinung. 

dies  allmählich  auch  die  öffentliche  Meinung  in  bezug  auf  die  Sozial- 
demokratie aufklären  und  verdünnen.  Wesenthch  trug  dazu  bei  ein 
so  erhabenes  Beispiel,  wie  es  der  junge  Kaiser  durch  seine  Februar- 
Erlasse  und  durch  die  Berufung  einer  internationalen  Arbeiterschutz- 
konferenz zu  geben  kühn  genug  war,  wenn  auch  die  Wirkung  stark 
vermindert  wurde  dadurch,  daß  es  mit  der  Trennung  von  dem  welt- 
berühmten Reichskanzler  verbunden  war,  für  den  die  ÖffentHche 
Meinung  entschieden  Partei  nahm  gegen  den  Kaiser.  Vollends  wurde 
dann  die  Wirkung  abgeschwächt  durch  die  Entlassung  des  preußischen 
Handelsministers  von  Beri<Epsch  im  Juni  1896,  die  als  eine  Abkehr 
von  der  Sozialreform  verstanden  werden  mußte,  wie  denn  diese  auch 
in  anderen  Tatsachen  um  die  Mitte  des  letzten  Jahrzehntes  — 
wiederum  war  es  in  einer  Zeit  wirtschaftHcher  Krisenstimmung  — 
sich  offenbarte.  Gleichwohl  war  die  sozialreformerische  Stimmung 
so  stark  geworden,  daß  sie  sich  nicht  wieder  unterdrücken  Heß:  sie 
äußerte  sich  a)  in  der  Begründung  einer  Gesellschaft  für  soziale 
Reform,  an  deren  Spitze  die  Autorität  des  genannten  ehemaligen 
Ministers  sich  stellte,  b)  darin,  daß  der  Verein  für  Sozialpolitik,  der 
inzwischen  seinen  ursprünglichen  Charakter  eingebüßt  hatte,  doch 
jener  Stimmung  und  daraus  hervorgehender  wissenschaftUcher  Arbeit 
wenigstens  wieder  freiere  Bahn  gewährte,  c)  in  der  Begründung  neuer 
sozialpohtischer  und  die  Kenntnis  der  Tatsachen  des  sozialen  Lebens 
in  der  Arbeiterbewegung  fördernder  Zeitschriften,  wie  des  »Sozial- 
poHtischen  Zentralblatts«,  der  »Blätter  für  soziale  Praxis«,  des 
»Archivs  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik«,  der  »Hilfe«  usw., 

d)  darin,  daß  eine  neue,  wenn  auch  schwach  bleibende  Partei  unter 
Leitung  eines  bedeutenden  Mannes  sich  bildete,  die  nationale  Ziele 
mit  sozialen  verbinden  wollte,  von  ihrer  Mutter,  der  evangelisch- 
sozialen Richtung,  durch  politischen  Geist  sich  scharf  unterscheidend, 

e)  daß  die  freisinnige  Partei,  die  mehr  oder  minder  rein  den  alten 
wirtschaftlichen  LiberaUsmus  vertreten  hatte,  und  so  freilich  den  auf 
Selbsthilfe  beruhenden  Organisationen  gewerkschaftlicher  und  ge- 
nossenschaftlicher Art  grundsätzlich  keinen  Widerspruch  entgegen- 
setzen konnte,  nunmehr  auch  die  Unentbehrlichkeit  der  »Staatshilfe« 
anzuerkennen  genötigt  war.  Sie  war  dazu  genötigt  unter  dem  Drucke 
der  öffentlichen  Meinung  und,  daß  sie  es  tat,  wirkte  in  gleichem  Sinne 
auf  die  öffentliche  Meinung  zurück.  Ebenso  die  damit  in  Verbindung 
stehende,  nur  dadurch  mögliche  Aufsaugung  einer  kleinen  »national- 
sozialen« Parteigruppe.  Wenn  diese  auf  unmittelbare  politische  Be- 
tätigung verzichtet  und  sich  darauf  beschränkt  hätte,  aufklärend 
und  belehrend  zu  wirken,  so  wäre  freiHch  ihr  Einfluß  gerade  auf  die 
öffentliche  Meinung  weit  stärker  und  nachhaltiger  geworden,  f)  wie 


Die  ÖFFENTUCKE  I^IEINUNG  UND  DIE  SOZIAI,E  FrAGE.  —  SOZIAI^DEMOKRATIE.       477 

in  allen  Wandlungen  vorherrschender  Denkungsart,  so  macht  sich 
auch  in  diesem  Falle  der  Aufstieg  einer  neuen  Generation  geltend, 
die,  wie  stark  auch  durch  die  vorhergehende  ältere  bestimmt,  zugleich 
neuen  Ideen  und  neuen  Idealen  huldigt.  Daß  die  hberalen  Gedanken 
verblaßten  und  die  entsprechenden  Neuerungen  der  inneren  PoUtik 
sich  nicht  zu  bewähren  schienen,  kam  zwar  überwiegend  konservativen, 
aber  doch  zu  einem  guten  Teile  auch  soziaUstischen  Gesinnungen  zu- 
gute. So  etwas  wie  »soziales  Empfinden«,  ein  sympathisches  Ver- 
ständnis für  die  Leiden  der  unteren  Gesellschaftsschichten  und  ihre 
Versuche,  sich  davon  zu  befreien,  wurde  ebenso  wie  vermehrte  Kennt- 
nis der  Tatsachen  des  sozialen  Lebens  und  der  sozialen  Entwicklung, 
mehr  und  mehr  den  Gebildeten  zur  PfHcht  gemacht. 

4.  Nicht  geringen  Einfluß  darauf  hat  auch  der  vermehrte  Druck 
des  KapitaHsmus  auf  das  mittlere  Bürgertum  und  die  in  ihm  be- 
ruhende Beamtenschaft  ausgeübt.  Wenngleich  diese  Schichten  selber 
am  Kapitalismus  beteiHgt  sind  und  mit  ihm  stark  zusammenhängen, 
so  fühlen  sie  doch  mehr  und  mehr  ihre  Ohnmacht  gegenüber  dem 
karteUierten  und  syndizierten  »Großkapital«.  Und  dazu  trägt  wieder 
bedeutend  bei  das  Wachstum  einer  in  ihnen  beruhenden  Kategorie 
von  »Angestellten«  der  Industrie  und  des  Handels,  die  allmähhch 
erkennen  müssen,  daß  ihre  Anstellung  nicht  mehr  eine  Stufe,  sondern 
eine  lebenslängHche  Berufsstellung  ist.  Es  gibt  eine  Angestellten- 
bewegung und  bedeutende  Anfänge  einer  gewerkschaftlichen  Ver- 
einigung, wovon  1878,  als  dieser  »neue  Mittelstand«  noch  nicht  in 
nennenswertem  Umfange  vorhanden  war,  keine  Rede  sein  konnte. 
Im  gleichen  Sinne  dürfte  die  zunehmende  Erwerbstätigkeit  der 
Frauen,  besonders  diejenige  junger  Mädchen  des  gebildeten  Mittel- 
standes, gewirkt  haben.  Und  im  Zusammenhange  mit  allen  diesen  Mo- 
menten steht,  wenn  auch  praktisch  nur  im  Gegensatze  zu  einer  be- 
sonderen Kategorie  des  Kapitals,  dem  der  Hausbesitzer  und  Haus- 
Hypothekengläubiger,  die  Bewegung  für  »Bodenreform«,  die  immer 
weitere  Kreise  der  Mieter,  als  der  Konsumenten  der  Wohnungsware, 
und  des  städtischen  Beamtentums  zur  Erkenntnis  über  den  wesent- 
lichen Antagonismus  der  kapitaUstischen  Gesellschaft  drängt.  In  Eng- 
land, wo  das  absokite  und  riesenhaft  ausgedehnte  Eigentum  am 
Boden  noch  imm  te  Grundlage  einer  aristokratischen  Gesell- 

schaftsverfassung Diia^t,  hat  diese  Bewegung  eben  so  tiefe  Wurzeln 
wie  in  den  Vereinigten  vStaaten  und  anderen  Kolonialländern,  wo  die 
unbegrenzte  Spekulation  mehr  und  nuhr  dieser  wesentlichen  Basis 
aller  freien  Arbeit  sich  bemächtigt  hat  und  Henry  George  mit 
großem  Erfolge  ihr  eine  theoretische  Form  verUeh.  Daß  sie  auch  in 
Deutschland   zu   einer  erheblichen  Bedeutung  herangewachsen  ist. 


478  Besondere  Fäi,i,e  der  öffentwchen  Meinung. 

war  hauptsächlicli  dem  sittlichen  Ernst  und  Eifer  Adoi,f  DamaschkEs 
zu  verdanken,  der  sich  der  Unterstützung  von  Politikern  und  Sozial- 
Ökonomen,  unter  denen  Adoi^ph  Wagner  hervorragt,  erfreute,  und  mit 
Beredsamkeit  und  Geschick  die  öffentliche  Meinung  wenn  nicht  völlig 
für  die  Sache  zu  erobern  und  zu  befestigen,  so  doch  in  lebhaften 
Fluß  des  Strebens  zu  setzen  verstanden  hat. 

5.  Durch  das  Wachstum  und  die  Vermehrung  der  Aktiengesell- 
schaften, durch  das  Aufkommen  der  Kartelle,  durch  die  Herrschaft 
der  Spekulation  und  die  Krisen,  die  sie  im  Gefolge  hat,  gelangte  es 
mehr  und  mehr  zum  allgemeinen  Bewußtsein,  daß  nicht  sowohl, 
oder  doch  nicht  allein,  wie  die  umlaufende  I^ehre  und  Rechtfertigung 
des  Kapitalismus  behauptet,  die  Tüchtigkeit  und  der  Geist  indivi- 
dueller Unternehmer,  sondern  in  erster  I^inie  das  unpersönliche  Ka- 
pital Träger  des  Systems  ist,  daß  in  ihm  schon  die  Arbeit  gesell- 
schaftlich organisiert  worden  ist,  aber  nicht  zum  Vorteil  der  Gesamt- 
heit und  des  Staates,  sondern  zum  Vorteil  der  zumeist  anonymen 
Eigentümer  des  Kapitals,  und  daß  die  Verstaathchung,  auch  wenn 
sie  nach  wie  vor  Produktion  oder  Verkehr  in  der  Absicht  auf  Gewinn 
betreibt,  diesen  Gewinn  doch  irgendwie  dem  allgemeinen  Nutzen 
dienstbar  macht. 

6.  Endlich  mußte  zur  Milderung  des  öffentlichen  Urteils  über 
die  Sozialdemokratie  auch  der  Umstand  beitragen,  daß  sie  selber 
milder  wurde.  Dadurch,  daß  ihre  Vertretung  in  den  Staaten  und 
Gemeinden,  wie  im  Reiche,  wuchs,  war  sie  genötigt,  den  praktischen 
Aufgaben  sich  mehr  zu  nähern  und  deren  Schwierigkeiten  kennen 
zu  lernen;  bei  ernsten  Naturen  mußte  der  Sinn  für  Verantwortung 
der  Politik  dadurch  gehoben  werden.  Auch  die  Presse  ging  mehr 
und  mehr  von  Deklamationen  zu  sachHchen  Erwägungen  über, 
die  auch  früher  idcht  gefehlt  hatten,  aber  leichter  übersehen  werden 
konnten.  Im  gleichen  Sinne  haben  die  außerpoHtischen  Organi- 
sationen auf  die  Politik  zurückgewirkt.  Damit  hing  wieder  die  tat- 
sächliche Verbesserung  der  I^age  der  arbeitenden  Klasse  nahe  zu- 
sammen, die  in  erster  Linie  der  ungeheuren  Vermehrung  des  deutschen 
Nationalwohlstandes,  infolge  der  Ausdehnung  seiner  großen  In- 
dustrien und  seines  Außenhandels,  sodann  der  Sozialreform  selber, 
endHch  den  eigenen  Bestrebungen  der  Arbeiterschaft  zu  verdanken 
war.  Nun  mündete  aber  diese  Veränderung  und  Verbesserung  auch 
in  einer  »Mauserung«  der  Partei,  die  unter  dieser  Bezeichnung  schon 
vor  dem  Ausnahmegesetz  oft  erwartet  wurde  und  die  öffentliche 
Aufmerksamkeit  stark  auf  sich  zog.  Wenn  das  —  nach  dem  Falle 
des  Sozialistengesetzes  vereinbarte  —  Programm  der  Partei  eine 
Verschärfung  und  Verhärtung   des  theoretischen  Standpunktes  in 


Die  Öffentliche  Meinung  und  die  sozlaxe  Frage.  —  Soziai^demokratie      470 

sich  schloß,  so  machte  sich  wenige  Jahre  später  das  Verlangen  nach 
einer  »Revision«  dieser  Grundsätze  geltend,  und  wenn  sie  auch  nicht 
durchdrang,  so  bheb  doch  ein  starker,  den  »Revoluzern«  und  »Radi- 
kaUnskis«  sehr  kritisch  gegenüberstehender  Flügel,  der  in  den  gewerk- 
schaftlichen und  genossenschafthchen  Kreisen  seine  stärksten  Stützen 
hatte,  und  für  Besonnenheit  und  praktische  poHtische  Tätigkeit 
unablässig  eintrat. 

Von  den  alten  Vorwürfen  gegen  die  Partei  erwies  sich  als  der 
zäheste  und  nachhaltigste  derjenige,  der  ihr  den  Mangel  an  Patrio- 
tismus, die  »Vaterlandslosigkeit«  Schuld  gab.  In  der  militärfeindlichen 
Gesinnung  wurde  eine  Gefahr  für  das  Heer  erbhckt,  die  Anklage 
wegen  Internationalität  verstärkte  sich  um  so  mehr,  je  schärfer  die 
Gegensätze  zwischen  dem  Deutschen  Reich  und  anderen  Großmächten 
sich  zuspitzten,  was  um  die  Wende  des  Jahrhunderts  und  dann 
während  des  neuen  Jahrhunderts  in  wachsendem  Maße  geschehen 
ist.  Das  Wort  des  Kaisers  wider  die  »vaterlandslosen  Gesellen«  (1895) 
fand  in  der  öffentlichen  Meinung  einen  lebhaften  Widerhall.  Gesetz- 
geberische Versuche,  die  als  »kleine  Sozialistengesetze«  die  Partei 
von  neuem  ins  Herz  treffen  sollten,  scheiterten  zwar  an  den  Ver- 
hältnissen der  Parteien  und  auch  an  der  verdünnten  öffentlichen 
Meinung,  um  so  mehr  aber  fand  der  Gedanke  Anklang,  durch  andere 
Mittel  die  Ausbreitung  einzudämmen.  So  fand  der  »Reichsverband 
gegen  die  Sozialdemokratie«,  im  Mai  1904  begründet,  einen  frucht- 
baren Boden  für  seine  mit  mannigfachen  Mitteln  in  lebhaftester 
Weise  betriebene  Agitation.  Er  erbHckte  seine  Aufgabe  ledighch 
in  der  Bekämpfung  der  internationalen  „volks-  und  vaterlands- 
feindlichen Sozialdemokratie  und  in  der  Aufklänmg  der  großen 
Masse  der  Arbeiterschaft  durch  Wort  und  Schrift".  In  den  Aufrufen 
wurde  mit  Vorliebe  der  Ausdruck  „gemeinsames  Vorgehen  gegen 
den  roten  Feind''  gebraucht,  er  wollte  alle  »bürgerlichen«  oder 
»staatserhaltenden«  Parteien  vereinigen.  Durch  den  (im  Grunde 
undeutschen)  Gebrauch  des  Wortes  »bürgerlich«,  der  journalistisch 
auf  beiden  Seiten  gepflegt  wurde,  war  ein  neues  Symbol  geschaffen, 
das  die  poHtisch  Gläubigen  von  den  Ketzern  schied.  Wie  dann  das 
Verhalten  der  Ketzer  am  4.  August  19 14  gewirkt  hat,  wird  an  späterer 
Stelle  betrachtet  werden. 

8.  (Der  Sozialismus  in  anderen  Ländern.)  Hier  möge  noch  ein 
Blick  auf  die  Stellung  der  öffentlichen  Meinung  zur  Sozialdemokratie 
und  zur  politischen  Verwirklichung  der  soziahstischen  lychren  in 
anderen  Ländern  geworfen  werden.  In  Frankreich,  dem  Mutter- 
lande sozialistischer  und  kommunistischer  Lehren,  ist  die  Bildung  einer 
sozialdemokratischen  Partei  und  ihr  entsprechender  Kammerfraktion 


480  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffentlichen  Meinung. 

vielen  Hemmungen  begegnet  und  erst  in  der  dritten  Republik  spät 
vollendet  worden.  Die  öffentliche  Meinung,  eingeschworen  auf  die 
Prinzipien  von  1789,  hält  die  Freiheit,  Gleichheit  und  Brüderlichkeit, 
vor  allem  durch  die  republikanische  Verfassung,  dann  auch  durch 
das  Suf frage  universel,  für  gewährt  und  gesichert;  und  da  die  Unver- 
letzHchkeit  des  Eigentums  schon  während  der  Revolution  unter  die 
„Rechte  des  Menschen  und  Bürgers",  die  nicht  veräußerhch  sind, 
aufgenommen  war,  so  konnte  dadurch  der  natürliche  Abscheu  der 
besitzenden  Klasse,  um  so  mehr  natürhch,  da  in  ihr  die  Bauern  und 
Kleinbürger  noch  eine  sehr  breite  Schicht  bildeten,  gegen  eigentums- 
feindüche  Bestrebungen  nur  befestigt  und  gesteigert  werden.  Nach- 
dem die  Niederwerfung  der  Pariser  Kommune  geschehen  war,  erhielt 
sich  die  Einigkeit  der  auf  dem  Boden  der  großen  Revolution  stehenden 
repubUkanisch  gesinnten  Klassen  um  so  besser,  je  schwerer  sie  durch 
die  lange  noch  vorwaltenden  Tendenzen  der  Restauration  bedroht 
waren.  Um  so  weniger  aber  konnte  die  Bildung  einer  einheitlichen 
SoziaHstenpartei  gelingen,  und  solange  diese  fehlte,  hatte  die  öffent- 
hche  Meinung  keinen  Grund,  über  die  umlaufenden  mannigfachen 
I^ehren  soziaHstischen  Charakters  sich  aufzuregen.  Nachdem  aber 
die  Partei  einmütig  und  stark  geworden  ist,  sind  ihre  parlamentarischen 
Erfolge  mit  Fortschritten  in  der  öffentlichen  Meinung  Hand  in  Hand 
gegangen,  und  beide  hat  sie  wesentHch  dem  Geiste,  der  Beredtsamkeit 
und  Redlichkeit  ihres  bedeutenden  Hauptes  Jean  Jaur^s  verdankt. 
Sein  Einfluß  vermochte  sogar  dem  in  der  öffentlichen  Meinung 
Frankreichs  so  stark  verankerten  Chauvinismus  und  dem  »konstanten 
Faktor  «,  den  für  die  französische  PoHtik  die  Feindschaft  gegen  Deutsch- 
land bildete,  in  einigem  Maße  entgegenzuwirken.  Insbesondere 
erschien  dann  in  dem  Streite  des  Freimaurertums,  das  in  Frankreich 
so  hohe  politische  Bedeutung  hat,  gegen  den  Klerus  und  die  römische 
Kurie,  die  sozialistische  Partei  nur  als  ein  kampfentschlossener  Flügel 
des  radikalen  Blocks,  der  auch  sonst  in  Abwehr  der  Reaktion  nicht 
zu  entbehren  wäre.  Dieser  Flügel  vermochte  dann  sogar,  kurz  vor 
Ausbruch  des  Weltkrieges,  in  der  Deputiertenkammer  und  im  vSenat 
die  Einkommensteuer  durchzusetzen,  gegen  welche  die  öffentliche 
Meinung  Frankreichs  so  lange  sich  gesträubt  und  mit  dem  Erfolge, 
daß  viele  Ministerien  dadurch  zugrunde  gingen,  gerungen  hatte. 
AD01.PH  Wagner  schrieb  schon  (Finanzwissensch.  3.  Teil,  Ergänzungs- 
heft S.  144)  zu  Anfang  des  Jahres  1896  über  den  Bourgeois-DoumER- 
schen  Entwurf,  es  sei  „unwahrscheinlich,  daß  er,  selbst  mehr  oder 
weniger  abgeändert,  Gesetzeskraft  erlange,  gegenüber  dem  Wider- 
stand, welchen  er  in  der  öffentlichen  Meinung,  in  der  Presse,  vor 
allem  in  den  Kammern  bereits  gefunden  hat",  und  alsbald  konnte  er 


Die  öffentuche  Meinung  und  die  soziai^e  Frage.  —  Soziai,demokratie.       481 

berichten,  daß  die  Budgetkommission  den  Einkommensteuerentwurf 
mit  28  gegen  5  Stimmen  abgelehnt  und  die  Regierung  aufgefordert 
habe,  einen  anderen  Entwurf,  der  die  I^asten  in  gerechterer  Weise 
verteile,  vorzulegen;  zu  gleicher  Zeit  sei  im  Senat  gewarnt  worden 
vor  der  »sozialistischen«  Steuerpolitik  des  radikalen  Ministeriums. 
Die  Furcht  vor  der  öffentUchen  Meinung  wirkte  offenbar  auf  die  Ent- 
scheidungen beider  Kammern.  „Als  der  (DouMERsche)  Entwurf 
veröffentlicht  wurde,  brach  ein  wahrer  Sturm  der  Entrüstung  los  .  .  . 
Man  behandelte  den  Vorschlag  als  das  Produkt  eines  Wahnsinnigen. 
Alle  nationalen  und  poHtischen  I>idenschaften  wurden  gegen  ihn 
entfesselt.  Man  sah  in  dem  Entwurf  eine  Gefahr  für  die  Freiheit,  für 
den  Besitz,  für  die  Arbeit;  er  schlage  dem  ge7tie  du  peuple  frangais 
ins  Gesicht'*  (Tröi^tSCH,  Supplementbd.  II  zur  i.  Aufl.  des  HWSt. 
S.  312).  Gewisse  Anschauungen,  meinte  Adoi^ph  Wagner  (1896), 
spielen  in  Frankreich  noch  heute  eine  ähnliche  Rolle,  wie  in  der 
Periode  der  ersten  Revolution  (dies  ist  in  der  Tat,  wie  oben  aus- 
gesprochen, das  allgemeine  Merkmal  der  öffentlichen  Meinung  in 
Frankreich)  ...  so  die  Bedenken  gegen  das  »inquisitorische«  Ein- 
dringen in  die  persönlichen  und  in  die  Einkommen-  und  Vermögens- 
verhältnisse bei  einer  ordentlichen  direkten  Einkommensteuer,  ein 
dem  »französischen  Nationalcharakter«  vielfacher  Behauptung  nach 
unerträgüches  Verfahren  (A.  Wagner,  Finanz  Wissenschaft  III,  i., 
S.  425).  Es  war  also  nichts  Geringes,  daß  der  Finanzminister  CAII.1.AUX 
im  Jahre  1914  beide  Kammern  dazu  vermochte,  trotz  dieses  Wider- 
willens sein  Einkommensteuergesetz  —  den  zwölften  Entwurf  seit 
1887  —  wirklich  anzunehmen.  Offenbar  war  dieser  Widerstand  zu- 
gleich mit  demjenigen  gegen  die  dreijährige  Dienstzeit  schlaff  ge- 
worden unter  dem  Einflüsse  des  wieder  erstarkten  Chauvinismus, 
der  als  die  politische  Religion  der  Franzosen  immer  wieder  der  öffent- 
lichen Meinung  sich  überlegen  erweist.  —  Übrigens  finden  wir  das 
Verhältnis  der  öffentUchen  Meinung  in  Frankreich  zur  sozialen  Frage 
gut  charakterisiert  in  einem  Pariser  Briefe  von  F.  Schotthöfer,  der 
am  16.  Juni  1898  in  der  »Sozialen  Praxis«  gedruckt  wurde.  Es  heißt 
darin,  der  französische  »Liberalismus«  —  der  ist  dort  mehr  als  in  einem 
anderen  Lande  das  Bekenntnis  der  öffentlichen  Meinung  —  sei  wirt- 
schaftspoUtisch  schon  zum  intensivsten  Schutzsystem  übergegangen, 
seine  theoretische  Bekehrung  zur  Staatsintervention  auf  sozialem 
Gebiete  scheine  nur  eine  Frage  der  Zeit  zu  sein  (in  der  Tat  hat  seitdem 
der  »Arbeiterschutz«  einige  Fortschritte  gemacht,  besonders  in  bezug 
auf  Begrenzung  der  Arbeitszeit!).  FreiUch  einen  konsequenten  Staats- 
sozialismus nach  deutschem  Muster  wird  er  nie  inaugurieren.  Dazu 
enthält  er  zu  viel  Unternehmerinteressen  in  sich,  dazu  fehlen  in 

Töoalet,  Kritik.  31 


482  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffentlichen  Meinung. 

Frankreich  überhaupt  die  allgemeinen  Voraussetzungen.  Man  hat 
immer  mit  der  weiter  vorgeschrittenen  Demokratisierung  und  mit 
der  Elleinbürgerlichkeit  des  Landes  zu  rechnen,  und  nie  zu  vergessen, 
daß  die  französische  Nation  heute  in  einer  starken  Dezentrahsation 
des  pohtischen  Lebens,  in  einer  Verminderung  der  zentralen  Staats- 
gewalt eine  der  notwendigsten  Reformen  erbhckt  und  darum  vor 
neuen  Staatseingriffen  etwas  zurückschreckt.  Der  gemäßigte  Libe- 
ralismus ist  aber  einer  der  Hauptträger  dieser  Ideen,  und  seine  Sozial- 
reform richtet  sich  darum  weit  mehr  dahin,  die  unteren  Klassen  zu 
seiner  eigenen  Lebens-  und  Gesellschaftsauffassung  heraufzuziehen^ 
mehr  im  Arbeiter  die  private  Initiative  zu  wecken,  als  den  positiven 
Arbeiterschutz  oder  die  obligatorischen  Versicherungen  zu  entwickeln, 
denen  er  nur  den  unbedingt  notwendigen  Raum  zugesteht".  Wenn 
hieraus  zu  entnehmen  ist,  daß  die  öffentliche  Meinung  die  gewerk- 
und  genossenschaftliche  Organisation  der  Arbeit  mit  einer  gewissen 
Gunst  bedenkt,  so  darf  man  doch  nicht  wähnen,  daß  diese  Gunst 
mehr  als  theoretisch  und  akademisch  ist.  Der  Brief  schUeßt  mit  Er- 
wähnung eines  schönen  Spruches,  den  Herr  Wai^deck-Rousseau 
damals  vor  kurzem  verkündet  hatte :  „//  faudra  que  le  capital  travaille 
et  que  le  travaü  possede".  Die  Lösung  der  sozialen  Frage  durch  diese 
liebenswürdige  Phrase  dürfte  der  öffentlichen  Meinung  Frankreichs 
völHg  eingeleuchtet  haben!  —  Wenn  die  politische  Bewegung  und 
Partei  sich  Achtung  in  der  öffentlichen  Meinung  erworben  hatte,  so 
war  dies  wohl  fast  ausschheßhch  der  bedeutenden  und  lauteren 
Persönlichkeit,  dem  Geist  und  der  Beredsamkeit  des  einen  Mannes 
Jean  Jaurijs  zu  verdanken;  dennoch  machte  die  Wut  des  Chauvi- 
nismus kurzen  Prozeß  mit  diesem  Manne,  als  er  sich  tatkräftig  ihr 
entgegenwarf,  und  die  öffentliche  Meinung  hat  es  ertragen,  daß  der 
Mörder  (bisher)  4  Jahre  lang  (1914 — 1918)  straffrei  gebheben  ist! 

In  England  ist  bekannthch  die  Bildung  einer  Arbeiterpartei 
langsam  und  spät  erfolgt,  und  diese  hat  im  Parlament  noch  nicht 
gewagt,  sich  grundsätzhch  als  Gegnerin  des  Kapitalismus  und  seiner 
Parteien  zu  bekennen.  Dies  beruht  darin,  daß  in  keinem  anderen 
Staate  Grundvermögen  und  Kapitalvermögen,  ungeachtet  ihrer 
wesentUchen  Gegensätze,  eine  so  befestigte,  zugleich  verbundene 
und  —  durch  den  Wechsel  der  Parteien  —  getrennte  Herrschaft 
aufzurichten  verstanden  haben,  wie  in  Großbritannien;  eine  Herr- 
schaft, die  der  (wiederum  mehr  als  irgendwo  sonst)  noch  im  Schöße 
der  Religion  ruhenden  öffentlichen  Meinung  als  schlechthin  notwendig 
und  durch  die  götthche  Weltordnung  bestimmt  erscheint.  Diesem 
System  entspricht  auch  die  Technik  der  Wahlen  mit  ihren  vielen 
kleinen,    das  Gewicht  der  örthchen  Größen  sichernden  Wahlkreisen 


Die  öffentliche  Meinung  und  die  soziale  Frage.  —  Sozialdemokratie.       483 

und  vor  allem  mit  der  Regel  einfacher  Mehrheiten,  der  gegenüber 
jede  dritte  Partei  so  lange  ohne  alle  Aussicht  ist,  bis  sie  die  Aus- 
sicht auf  eine  einfache  Mehrheit  hat,  während  sie  als  Minderheit 
nur  wirkt,  wie  die  ungültigen  Stimmen  in  Wahlsystemen,  die  eine 
vollkommene  Mehrheit  verlangen.  In  einem  Beispiel  ausgedrückt: 
wenn  in  einem  Wahlkreis  die  konservative  Partei  ein  geringes  Überge- 
wicht ü5er  die  liberale  Partei  hat,  so  bewirken  die  Stimmen  einer  dritten 
Partei  nichts  weiter,  als  daß  jene  siegt,  d.  h.  sie  können  das  nicht  ver- 
lündern,  während  sie  bei  der  (früheren)  deutschen  und  bei  der  franzö- 
sischen Wahltechnik  eine  zweite  Wahl  bewirken  und  dann  für  die  libe- 
rale Partei  den  Ausschlag  geben  können.  —  Indessen  hat  sich  doch  in 
der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  eine  tiefgehende  Wandlung  im 
inneren  poHtischen  lieben  Großbritanniens  vollzogen.  Deren  nächste 
Ursache  ist  die  Ausdehnung  des  Wahlrechts  gewesen,  wodurch  die 
herrschenden  Parteien  genötigt  wurden,  mehr  und  mehr  die  Bedürf- 
nisse und  Wünsche  der  großen  Masse  sich  angelegen  sein  zu  lassen, 
deren  Wirkung  jene  Ausdehnung  selber  gewesen  war.  In  diesem  Sinne 
sind  die  beiden  alten  Parteien  gleichermaßen  »demokratisch«  ge- 
worden; zu  gleicher  Zeit  aber  haben  diese  beiden  alten  Parteien  in 
der  Weise  sich  neu  gebildet,  daß  gewichtige  Teile  der  Linken  (die 
Whigs  und  andere  »Unionisten «,  vorzugsweise  Schutzzöllner)  mit 
ihren  alten  Gegnern,  den  TorySy  zunächst  sich  verbunden,  dann  sogar 
sich  verschmolzen  haben,  während  der  Rest,  eine  kleine  Minderheit 
der  Aristokratie  und  Plutokratie,  nunmehr  mit  besserem  Recht  sich 
als  Volkspartei  darstellt,  da  er  nicht  nur  die  breiten  mittel-  und 
kleinbürgerhchen  Schichten,  die  teils  als  solche  der  Nebenländer 
(Schottland  und  Wales),  teils  als  die  »Kapelle«  (Nonconformists) 
sich  charakterisieren,  unter  seiner  Fahne  versammelt,  sondern  auch 
durch  das  Bekenntnis  zum  Freihandel  und  durch  entschiedene,  ins- 
besondere dem  großen  Grundbesitz  entgegengerichtete  soziale  Re- 
formen, die  industrielle  Arbeiterschaft  an  sich  fesselt.  Und  diese 
neue  liberale  Partei  ging  aus  den  Wahlen  der  Jahre  1906  und  1910 
siegreich  hervor,  so  daß  dem  Herkommen  gemäß  aus  ihr  die  Re- 
gierung sich  bildete.  Während  nun  bis  dahin  der  Wechsel  der  Re- 
gierungen selber  —  das  Schwingen  des  Pendels  —  der  öffentHchen 
Meinung  als  normal  galt  und  grundsätzHch  die  eine  Partei  als  ebenso 
berechtigt  wie  die  andere,  so  daß  die  jedesmalige  Regierung,  ebenso 
wie  die  vorkommenden  KoaHtionsregierungen,  gleichsam  von  der 
öffentlichen  Meinung  ihre  Salbung  empfing,  wie  sehr  auch  die  ge- 
schlagene Minderheit  sie  in  Presse,  Parlament  und  Agitation  be- 
kämpfte, —  so  war  im  neuen  Jahrhundert  der  völlig  neue  Zustand 
eingetreten,  daß  die  öffentUche  Meinung  die  Regierung  als  solche 

31* 


484  Besondere  Fäi,IvE  der  Öfpentwchen  Meinung. 

verneinte,  und  ihr  Dasein  nur  duldete,  obgleich  es  als  ein  revo- 
lutionäres verabscheut  wurde.  Das  war  der  Zustand  1906 — 1914:  die 
öffentliche  Meinung,  die  im  eigentUchen  England  und  in  dessen 
Großbürgertum  —  mit  großem  Grundbesitz  oder  ohne  solchen  — 
ihren  eigentlichen  Herd  hat,  war  empört  über  die  plebejische,  revo- 
lutionäre, irenfreundHche,  die  Verfassung  zerstörende,  die  erworbenen 
Rechte  in  Frage  stellende  Regierung.  Sie  betrachtete  sie  nicht  mit 
freundlicheren  Augen,  als  wenn  sie  wirklich  aus  einer  Mehrheit  der 
Arbeiterklasse  hervorgegangen,  als  wenn  sie  —  sozialdemokratisch 
gewesen  wäre.  Charakteristisch  dafür  war  es,  daß  die  Regierung 
vergebens  versuchte,  eine  große  lyondoner  Morgenzeitung  ihrer 
Richtung  ins  lieben  zu  rufen.  Heller  aber  noch  wurde  diese  Lage  der 
Dinge  beleuchtet  durch  die  Vorgänge  der  Jahre  1911  und  1914.  Im 
Jahre  191 1  geschah  es,  daß  der  Ministerpräsident  im  Hause  der  Ge- 
meinen als  Verräter  begrüßt  und  ein  anderer  Minister  durch  das 
Werfen  harter  Gegenstände  an  seine  Sterblichkeit  erinnert  wurde, 
obgleich  beide  persönlich  zu  den  »respektabelen  Personen«  gehörten  — 
die  Täter  hätten  es  nicht  gewagt,  wenn  sie  nicht  Grund  gehabt  hätten, 
auf  Verständnis  oder  wenigstens  auf  Nachsicht  der  öffentHchen  Mei- 
nung zu  rechnen.  Im  Jahre  1914  geschah  es,  daß  in  einem  Teile 
Irlands  die  RebeUion  gegen  ein  rechtsgültig  beschlossenes  Gesetz  von 
engHscher  Seite  planmäßig  organisiert  wurde,  und  daß  die  Offiziere 
engüscher  Regimenter,  die  bestimmt  wurden,  der  Rebellion  entgegen- 
zutreten, den  Gehorsam  verweigerten;  in  dem  bald  nachher,  infolge 
des  Weltkrieges,  gebildeten  KoaHtionsministerium  erhielt  der  Urheber 
jener  RebelUon  einen  Sitz!  Alle  diese  Vorgänge  waren  nur  mögHch, 
weil  die  öffentliche  Meinung  auf  Seite  der  RebelUon  und  ihres  Ur- 
hebers, auf  Seite  der  ungehorsamen  Offiziere  stand.  Die  Regierung 
war  in  der  Tat  gegen  die  öffentliche  Meinung  ohnmächtig.  Man  mag 
nach  diesen  Tatsachen  schätzen,  wie  sich  die  öffentUche  Meinung  zu 
einer  starken  Arbeiterpartei  und  gar  zu  einer  aus  dieser  gebildeten  Re- 
gierung verhalten  würde. 

Scheinbar  fast  ohne  Zusammenhang  mit  dem  in  bezug  auf  die 
wesentUchen  Grundlagen  des  sozialen  und  politischen  Lebens  streng 
konservativen  Charakter  der  britischen  öffentlichen  Meinung  ist  nun 
aber  die  Erscheinung,  daß  diese  sich  doch  während  des  letzten  Drittels 
des  19.  Jahrhunderts  von  einer  ausgeprägt  »individualistischen« 
zu  einer  in  der  Oberfläche  »kollektivistischen«  Richtung  bekehrt  hat. 
Den  Gang  dieser  Wandlung  schildert  ausführhch  ein  besonderes 
Buch  des  Juristen  A.  V.  DiCEY  „Lectures  on  the  relation  between  law 
and  public  opinion  in  England'^  (1905)-  Wir  wollen  es  an  dieser 
Stelle  behandeln  —  anstatt  bei  Erörterung  des  Verhältnisses  zwischen 


Die  Öffentliche  Meinung  und  die  soziai^e  Frage.  —  Soziai,demokratie.         485 

öffentlicher  Meinung  und  dem  Sozialismus  als  solchem  —  weil  es 
durchaus  die  Wechselwirkung  zwischen  der  Gesetzgebung  und 
der  öffentlichen  Meinung  zum  Gegenstande  hat.  Wenn  dabei  alles 
Gewicht  auf  Entstehung  der  »kollektivistischen«  Strömung  gelegt 
wird,  so  liegt  doch  eine  Einteilung  zugrunde,  die  den  ganzen  Verlauf 
des  19.  Jahrhunderts  in  drei  Abschnitte  zerlegt,  so  daß  nacheinander 
die  drei  Gestaltungen  des  Gedankens  zur  Geltung  kommen,  die  der 
konservativen,  der  Uberalen  und  der  sozialistischen  Parteiung  zu- 
grunde liegen.  Dicey  bezeichnet  den  ersten  Abschnitt  als  die  Periode 
des  alten  Toryismxxs  oder  der  gesetzgeberischen  Ruhestimmung  (1800 
bis  1830);  sie  enthält  neben  reaktionären  Gesetzen  auch  humanitäre 
Reformen  (sehr  bescheidene)  wie  das  Gesetz  von  1802  zum  Schutze 
der  Gesundheit  und  Sittlichkeit.  Der  zweite  Abschnitt  ist  die  Periode 
des  Benthamismus  oder  IndividuaUsmus  (1825 — 1870),  der  eine  sehr 
eingehende  Darstellung  gewidmet  wird.  Die  Gesetzgebung  dieser 
Zeit  wird  bezeichnet  durch  i.  den  Übergang  der  politischen  Macht 
auf  die  Mittelklasse,  2.  durch  humaneres  Straf  recht,  Tierschutz, 
Sklavenbefreiung,  3.  ganz  besonders  durch  Ausdehnung  der  indi- 
viduellen Freiheit,  namentlich  mit  Bezug  auf  Verträge  und  Asso- 
ziationen, 4.  durch  Schutz  der  Personen  im  formalen  Recht,  besonders 
im  Strafprozeß.  Aber  in  dieser  Ära  der  Blüte  des  Liberalismus  be- 
ginnt schon  der  Gegensatz  zwischen  Individualismus  und  Kollek- 
tivismus in  die  Erscheinung  zu  treten;  namentlich  durch  die  Fabrik- 
gesetzgebung, als  deren  treibende  Kraft  in  erster  Linie  die  ^oryistische 
Philanthropie  christlich-sozialen  Anstrichs  geschildert  wird:  idealer 
Repräsentant  Lord  Ashi^ey  (dessen  späterer  Name  Shaftesbury 
war).  Darin  trat  zutage,  daß  die  gemeinsame  Gegnerschaft  auch 
Tendenzen,  die  selber  einander  feindlich  sind,  vereinigt.  Die  von  den 
Torys  ausgehende  Gesetzgebung  trägt  ein  kollektivistisches  Gepräge. 
„Der  Erfolg  der  Fabrikgesetze  gab,  nicht  nur  in  der  Welt  der  Arbeit, 
sondern  in  vielen  anderen  Lebenssphären,  Anschauungen  Gewähr, 
die,  wenn  sie  nicht  geradezu  soziaHstisch  waren,  wenigstens  doch  in 
der  Richtung  auf  Sozialismus  oder  Kollektivismus  lagen"  (S.  239). 
Aber  erst  nach  1870  kommt  diese  Richtung  zum  Durchbruch,  so  daß 
ihre  Periode  durch  das  letzte  Drittel  des  Jahrhunderts  (1865— 1900) 
bezeichnet  wird  und  darüber  hinausgeht.  Ihr  Hauptinhalt  möge  als 
bekannt  vorausgesetzt  werden.  Dicey  stellt  als  den  )> wesentlichen 
und  grundfesten«  Unterschied  zwischen  der  Gesetzgebung,  welche 
die  Ära  des  Individualismus  und  derjenigen,  welche  die  des  Kollek- 
tivismus bezeichne,  dar,  daß  sie  in  verschiedenen,  wenn  auch  nicht 
schlechthin  miteinander  unverträglichen,  Weisen,  das  Verhältnis 
zwischen  dem  Menschen  und  dem  Staat  aufzufassen,  beruhe  und  ihnen 


486  Besondere  Fäi.i,e  der  Öffentlichen  Meinung. 

Ausdruck  gebe.  „Die  Liberalen  der  Bentham  sehen  Schule  haben 
vorzugsweise  und  zu  ausschließlich  die  Menschen  betrachtet  als  ge- 
sonderte Personen,  von  denen  jede  durch  ihre  eigenen  Anstrengungen 
ihr  eigenes  Glück  und  Wohl  bewirken  muß;  und  haben  die  Ansicht 
vertreten,  daß  das  Gedeihen  einer  Gemeinschaft  —  z.  B.  der  engHschen 
Nation  —  weiter  nichts  bedeutet  als  das  Gedeihen  oder  die  Wohlfahrt 
aller  oder  der  Mehrzahl  ihrer  Mitglieder.  Sie  haben  ferner  angenommen, 
und  sicherlich  nicht  ohne  Grund,  daß,  wenn  das  wahre  Interesse 
eines  Menschen  wohl  verstanden  werde,  seine  wahre  Wohlfahrt  die 
wahre  Wohlfahrt  des  Staates  bedeute.  Darum  haben  die  Liberalen 
während  der  Zeit,  als  ihr  Einfluß  vorherrschend  war,  eine  Gesetz- 
gebung befördert,  die  eines  jeden  Bürgers  Freiheit,  Tatkraft  und 
Unabhängigkeit  steigern  sollte,  ihn  über  sein  wahres  Interesse  be- 
lehren und  in  ihm  die  Empfindung  seiner  eigenen  individuellen 
Verantwortlichkeit  für  die  Wirkungen  seines  eigenen  persönlichen 
Verhaltens,  sei  es  für  ihn  selber  oder  für  seine  Nächsten,  verschärfen 
sollte.  Die  KoUektivisten  hingegen  haben  die  Menschen  hauptsächlich, 
und  zu  ausschließlich,  betrachtet,  nicht  sowohl  als  isoherte  Individuen, 
sondern  als  Wesen,  die  ihrer  eigentUchen  Natur  nach  Bürger  und  Teile 
des  großen  Organismus  —  des  Staates  —  seien,  dessen  Glieder  sie  sind. 
Reformer,  deren  Aufmerksamkeit  dermaßen  durch  die  soziale  Seite 
der  menschlichen  Natur  in  Anspruch  genommen  wurde,  haben  ge- 
glaubt, oder  vielmehr  gefühlt,  daß  das  Glück  eines  jeden  Bürgers  von 
der  Wohlfahrt  der  Nation  abhänge,  und  haben  geltend  gemacht,  daß 
die  Wohlfahrt  der  Nation  sicher  der  einzige  Weg  sei,  das  Glück  jedes 
individuellen  Bürgers  zu  befördern.  Daher  haben  die  KoUektivisten 
eine  Gesetzgebung  begünstigt,  welche  die  Kraft  der  sozialen  und 
sympathischen  Gefühle  jedes  Menschen  steigern,  seine  Empfindung 
der  Verantwortlichkeit  der  Gesellschaft  oder  des  Staates  für  die 
Wohlfahrt  und  das  Glück  jedes  einzelnen  Bürgers  schärfen  sollte." 
Die  Kraft  des  Kollektivismus  sei  („wir  fühlen  es  alle  instinktiv")  noch 
nicht  erschöpft;  allem  Anschein  nach  noch  nicht  einmal  abnehmend. 
Der  Verfasser  bezieht  sich  dann  auf  eine  frühere  Ausführung  in  seiner 
zweiten  Vorlesung,  daß  die  öffentliche  Meinung  viel  weniger  durch 
die  Kraft  des  Beweises  als  durch  den  Druck  der  Umstände  bestimmt 
werde:  die  Umstände  aber,  die  das  Wachstum  des  Kollektivismus 
begünstigt  haben,  seien  noch  fortwährend  da,  und  ihre  Macht  über 
die  Anschauungen  und  Gefühle  des  Publikums  sei  offenbar.  „Gesetze 
wiederum  gehören  (wie  gleichfalls  früher  gezeigt  worden)  zu  den 
mächtigsten  unter  den  vielen  Ursachen,  die  gesetzgeberische  Meinung 
erzeugen;  die  Gesetzgebung  des  Kollektivismus  hat  nunmehr  (1905) 
einige  25  oder  30  Jahre  gedauert  und  hat  selber  dazu  beigetragen,  die 


Die  ÖFFENTI.ICHE  MEINUNG  UND  DIE  SOZIALE  FRAGE.  —  SOZIAI^DEMOKRATIE.  487 

moralische  tind  intellektuelle  Atmosphäre  zu  schaffen,  worin  sozia- 
listische Ideen  blühen  und  wuchern.  So  wahr  ist  dies,  daß  moderne 
IndividuaHsten  selber  zumeist  in  einigen  Stücken  Sozialisten  sind. 
Die  iimere  lyOgik  der  Dinge  führt  daher  zur  Ausdehnung  und  Ent- 
wicklung der  Gesetzgebung,  die  das  Gepräge  des  Kollektivismus 
trägt"  (S.  301).  —  Der  gelehrte  Jurist  hat  eine  bedeutsame  Wandlung 
der  öffenthchen  Meinung  richtig  erkannt.  Daß  er  aber  deren  Beweg- 
gründe, und  folglich  auch  ihre  Tiefe,  richtig  schätze,  darf  bezweifelt 
werden.  Allerdings  sind  die  Ansichten  führender  Denker  anders 
geworden,  und  lychrsätze  über  das  Verhältnis  zwischen  Staat  und 
Individuum  werden  auch  in  England  jetzt  öfter  als  vor  60  Jahren  in 
dem  von  Dicey  kollektivistisch  genanntej;i  Sinne  kundgegeben.  Man 
mag  auch  sagen,  daß  diese  nicht  ohne  allen  Einfluß  auf  Gestaltung 
der  öffenthchen  Meinung  gebUeben  sind.  Entscheidenden  Einfluß 
haben  sie  schwerHch  ausgeübt.  Die  öffentHche  Meinung  Englands 
ist,  wie  gesagt  wurde,  in  bezug  auf  die  wesentlichen  Grundlagen  des 
sozialen  und  poHtischen  lyebens  streng  konservativ.  Sie  ist  durch- 
drungen von  der  Überzeugung,  daß  die  engHsche  Nation  bei  weitem 
die  erste  der  Welt,  rehgiös  gesprochen,  daß  sie  die  auserwählte  sei, 
daher  zur  Herrschaft  über  alle  andern  vorausbestimmt.  Verschieden- 
heit der  Ansichten  über  innere  PoUtik  tritt  dagegen  zurück;  die 
Öffentliche  Meinung  Englands  hält  ihre  ErobererbUcke  immer  nach 
außen  gerichtet,  und  in  dieser  Spannung  ist  ihr  die  UnübertreffHchkeit 
und  VorbildHchkeit  der  eigenen  Zustände  wie  der  eigenen  Verfassung 
und  Gesetzgebung  eine  vor  aller  Prüfung  feststehende  Glaubens- 
sache. Scheinbar  hat  die  öffentliche  Meinung  von  der  Gleich- 
gültigkeit gegen  die  Kolonien,  die  so  weit  ging,  daß  Äußerungen  von 
PoHtikern,  man  könne  nichts  Besseres  tun,  als  sie  aufgeben,  geduldet 
wurden,  zum  ImperiaUsmus  sich  bekehrt;  in  Wahrheit  ist  sie  immer 
imperiaUstisch  gewesen;  mitten  in  jener  Zeit  wurde  die  auswärtige 
Politik  durch  Palmerston  beherrscht,  den  man  I^ord  Feuerbrand 
nannte,  weil  er  stets  bereit  war,  die  Kriegsfackel  in  ein  fremdes  I^and 
zu  schleudern,  wenn  das  geringste  britische  Interesse  auf  dem  Spiele 
zu  stehen  schien.  Der  französische  Sozialökonom  Bastiat  beklagte 
sich  bitterlich  gegen  Cobden  über  Pai^merstons  ,,taquinerie"  (Neck- 
sucht, d.  h.  ununterbrochen  herausforderndes  Wesen).  „Nichts, 
was  ihr  gleichkam,  ist  je  in  unserer  Politik  gesehen  worden,  weder 
vor-  noch  nachher",  schrieb  1879,  ^^^  ^^^  neue  Imperialismus  noch 
in  der  Wiege  lag,  John  Morley  im  lieben  Cobdens  (zum  Jahre  1850). 
Und  doch  weiß  EscoTT,  der  Geschichtsschreiber  von  Downing  Street, 
von  dem  Machtzauber  beim  Volke  (d.  h.  natürhch  bei  der  Mittel- 
klasse) und  bei  den  Vornehmen  zu  erzälilen,  den  das  Auswärtige  Amt 


488  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffentwchen  Meinung. 

unter  dem  Pai^merston sehen  Regiment  erworben  hatte  {jythe  populär 
and  fashionable  prestige  acquired  under  the  P almer stonian  regime  hy 
tJie  Foreign  Office".  BscoTT,  The  story  of  British  diplomacy  379). 
PAI.MERSTONS  Zauberformel  war,  daß  England  für  »etwas«  gelten 
sollte  in  den  Ratsversammlungen  Kuropas;  dies  »etwas«,  sagt  der 
sehr  korrekt  englisch  denkende  EscoTT,  bedeutete  „in  der  Wirkung: 
alles".  „Die  Nation  liebte  PAI.MERSTONS  lebensvolle  Politik  (spirited 
policyY'.  Auf  die  Kolonien  kam  damals  wenig  an;  der  Gegensatz 
gegen  die  russische  Machtpolitik  im  Balkan,  gegen  die  französische 
im  Mittelmeer,  beherrschte  alles.  —  So  groß  der  Triumph  Cobdens 
in  und  mit  der  öffentHchen  Meinung  gewesen  war,  in  der  auswärtigen 
PoHtik  erhtten  er  und  Brjght  Niederlage  auf  Niederlage.  Die  ge- 
waltige »Bewährung«  des  Freihandels  durch  den  Aufschwung  des 
englischen  Geschäftes  und  Reichtums  1850 — 1870  schützte  sie  nicht 
davor,  als  unpraktische  Friedensschwärmer  zu  gelten.  Seitdem  ist 
die  öffenthche  Meinung  mehr  und  mehr  zur  »Tarif- Reform«,  d.  h.  zum 
Schutzzollsystem  zurückbekehrt  worden.  Aber  diese  Bewegung 
geht  ebensowenig  tief,  wie  die  mit  ihr  verwandte  zu  »kollektivistischen  « 
Anschauungen.  Es  sind  unwilUge  Einräumungen  an  die  Not  der  Um- 
stände; in  einem  Falle  der  böse  Deutsche,  im  anderen  der  böse  Arbeiter, 
ist  es,  der  das  Verlassender  »gesunden«  enghschen  Ideen  zu  erzwingen 
scheint^).  Und  im  stillen  denkt  man  immer,  daß  es  doch  nur  zeit- 
weilig geschehe.  Charakteristisch  dafür  ist  DiCEY  selber,  der  bei  aller 
Gerechtigkeit,  die  er  dem  Sozialismus  widerfahren  läßt,  seinen  heim- 
lichen Widerwillen  dagegen,  als  Sprecher  der  englischen  Herrenschicht, 
nicht  verhehlen  kann,  indem  er  des  öfteren  von  jenen  Tendenzen  als 
von  einer  Zeiterscheinung  redet,  die  ihm  wie  eine  I^aune  und  wie  eine 
Mode  vorkomme;  er  glaubt  nicht,  daß  sie  bald  sich  erschöpfen  werde, 
aber  er  hält  es  offenbar  nicht  für  ausgeschlossen,  daß  eine  Periode 
entgegengesetzter  Denkungsart  wiederkehren  werde.  „Es  mag 
gestattet  sein,  zu  mutmaßen,'*  heißt  es  in  einer  Anmerkung  (S.  301), 
„daß,  wenn  je  der  Fortschritt  soziaHstischer  Gesetzgebung  aufgehalten 
werden  sollte,  diese  Hemmung  nicht  sowohl  dem  Einfluß  des  Denkens, 
als  irgendeinem  offenbaren  Tatbestande,  der  die  öffenthche  Aufmerk- 
samkeit auf  sich  ziehen  wird,  zu  verdanken  sein  mag;  z.  B.  dem 
Wachstum  der  staatlichen  Besteuerung  als  der  gewöhnlichen,  wenn 
nicht  unausweichlichen  Begleiterscheinung  einer  soziahstischen  Poli- 
tik." Daß  überhaupt  das  individuaHstische,  in  Wahrheit  gesellschaft- 
liche, kapitaUstische  Wirtschaftssystem  allmählich  untergehen  könne. 


*)  Im  Weltkriege  ist  es  zutage  getreten,  wie  stark  auch  heute  noch  die  Foimeln 
und  Phrasen  der  Freiheit  wirkten,  während  sie  zu  gleicher  Zeit  mit  Füßen  getreten 
wurden. 


Die  Öffentlichk  Meinung  und  die  soziai^e  Frage.  —  Sozialdemokratie.       489 

dem  Großbritannien  und  Größerbritannien  zweifellos  ihre  Größe 
und  Macht  verdanken,  vermag  ein  normales  angelsächsisches  Hirn 
nicht  zu  denken.  Und  doch  verwechselt  DiCEY  eine  Bewegung,  die  in 
den  Köpfen  der  Intellektuellen  —  einer  in  Großbritannien  besonders 
schmalen  Schicht  — ,  in  der  wissenschafthchen  I^iteratur  und  in  der 
fortwährend  auf  die  Bedürfnisse  und  Unzufriedenheiten  der  Masse 
zugeschnittenen  praktischen  Politik  mächtig  geworden  ist,  mit  der 
Bewegung  der  öffentHchen  Meinung,  die  so  viel  langsamer  ihre  trägen 
Fluten  einher  wälzt.  Auch  in  Großbritannien  wirken  die  )>Intellek- 
tuellen«  allmählich  und  zuweilen  stark  auf  die  öffentliche  Meinung, 
sie  gehören  zu  ihren  Führern ;  aber  ihr  Einfluß  ist,  verglichen  mit  dem 
Einflüsse  der  Zeitungen  und  Parteiführer,  der  Romanschriftsteller 
und  Musikhallen,  viel  zu  gering,  als  daß  man  die  unter  jenen  vor- 
herrschende Meinung  mit  der  öffentlichen  Meinung  identifizieren 
dürfte.  Man  darf  sagen,  daß,  ungeachtet  der  von  DiCEY  richtig 
gezeichneten  Umwandlung  der  Denkungsart  in  gelehrten  Kreisen, 
die  öffenthche  Meinung  in  England  noch  entschieden  »individuaUstisch« 
und  gesellschaftHch  ist,  in  dem  Sinne,  den  der  ökonomisch-pohtische 
LiberaHsmus  ausprägt. 

Was  das  Verhältnis  der  öffentlichen  Meinung  in  den  Vereinigten 
Staaten  zum  poütischen  Sozialismus  betrifft,  so  dürfte  in  der  Haupt- 
sache noch  heute  ein  charakteristischer  Ausspruch  von  BryCE  gelten, 
der  im  Jahre  1905  schrieb :  .  .  .  „die  soziaHstische  Propaganda  und 
die  Arbeiterparteien,  welche  furchtsame  Leute  in  europäischen 
lyändem  beunruhigen,  beunruhigen  niemand  in  den  Vereinigten 
Staaten,  zum  Teil  vielleicht,  weil  so  viel  Glaube  an  die  gesunde  Ver- 
nunft der  Massen  herrscht,  zum  Teil  aber,  weil  ein  so  großer  Teil 
der  Bevölkerung  weder  aus  Unternehmern  noch  aus  Arbeitern  be- 
steht, sondern  aus  Landwirten,  denen  der  Boden  gehört,  den  sie  be- 
bauen", freilich  sei  ihm  von  allen  seinen  Freunden  gesagt  worden, 
daß  die  ruhige  Zufriedenheit,  womit  die  am^erikanische  öffentliche 
Meinung  der  Zukunft  entgegensehe  und  durch  den  Fortschritt  kollek- 
tivistischer Ideen  sich  den  Blick  nicht  trüben  lasse,  nicht  für  dauernd 
und  unerschütterlich  gelten  dürfe.  Er  aber  werde  immer  von  neuem 
durch  den  tiefge wurzelten  Optimismus,  der  in  den  Staaten  herrsche, 
überrascht,  durcli  ihr  ungeheures  Selbstvertrauen.  Die  seitdem 
vergangenen  Jahre,  besonders  die  Wirkungen  der  Krise  von  1907 
und  folgenden  Jahren,  dürften  aber  den  Freunden  Bryces  recht 
geben.  Max  Schippel  hält  das  Werk  von  Myers  über  die  großen 
amerikanischen  Vermögen,  soweit  es  einer  schon  vielverbreiteten 
Volksstimmung  nicht  nur  der  Arbeiter,  sondern  auch  der  Farmer- 
klasse Ausdruck  gebe,  für  ein  Sturmzeichen,  „das  dem  bequemen 


4Q0  Besondere  Fäi,i,e  der  öffentlichen  Meinung. 

kapitalistischen  Gehenlassen  der  bisherigen  amerikanischen  Wirtschaf  ts- 
und  Sozialpohtik  zur  Warnung  dienen  sollte"  (Neue  Rundschau,  April 
1916,  S.  449).  Freilich,  auch  die  Farmer  bilden  nur  einen  schwachen 
Faktor  für  das  Werden  der  öffentlichen  Meinung ;  und  soweit  es  der  Fall 
ist,  denken  sie  ganz  überwiegend  »gemeinbürgerUch «  (kapitahstisch). 
9.  (Streiks  und  Aussperrungen. )  Ich  betrachte  nunmehr  noch 
die  luftartige  Gestalt  der  öffentlichen  Meinung,  worin  sie  ihr  Wesen 
erst  rein  entfaltet.  Sie  sitzt  zu  Gericht  über  die  Ereignisse,  über  die 
Verhaltungsweisen  der  Bürger,  der  Regierungen,  der  Arbeiter,  ihre 
Richtersprüche  steigen  wie  Blasen  empor,  scheinbar  nach  Stimmungen 
und  Ivaunen,  daher  selten  berechenbar,  oft  in  derselben  Frage,  über 
den  gleichen  Gegenstand  wechselnd,  ja  entgegengesetzt  —  der  Be- 
griff der  öffentlichen  Meinung  in  diesem  Sinne  würde  sich  erst  erfüllen, 
wenn  sie  ihre  Urteile  bewußterweise,  in  Absicht  auf  gewisse  Zwecke, 
der  jedesmaligen  Lage  der  Dinge  anpaßte;  davon  bleiben  indessen 
die  Erscheinungen  noch  weit  entfernt,  die  Gefühle,  Sympathien  und 
Antipathien  geben  in  der  Regel  den  Ausschlag.  Naturgemäß  ist 
diese,  bei  bestimmten  Gelegenheitsursachen  sich  äußernde  Form  des 
sozialen  Willens  in  hohem  Maße  bedingt  durch  die  gleichzeitige 
flüssige  Gestalt  der  öffentUchen  Meinung  und  vollends  durch  deren 
dauernde  und  feste  Gestalt.  So  auch  in  der  sozialen  Frage.  Als  die 
britische  Regierung  indentured  labour,  d.  h.  die  Sklaverei,  in  die  Gold- 
gruben des  Transvaal  einführte,  da  empörte  sich  die  öffentliche 
Meinung  dagegen,  so  sehr  sie  sonst  jene  erobernde  Regierung  unter- 
stützte. Ebenso  entrüstet  sich  regelmäßig  die  öffentHche  Meinung 
über  alles,  was  als  »mittelalterliche  Barbarei«  auftritt  oder  ihr  so 
dargestellt  wird;  im  Bereiche  der  sozialen  Frage  daher  über  Miß- 
handlungen von  Dienstboten  und  Arbeitern,  wie  sie  auf  dem  Lande 
vorkommen,  wie  über  anderen  auffallenden  Mißbrauch  der  Obmacht 
der  Arbeitgeber,  z.  B.  Truck.  —  Ferner  sind  die  jedesmaHgen  Urteile 
der  öffentlichen  Meinung  abhängig  von  ihrer  vorherrschenden  Strö- 
mung oder  flüssigen  Gestalt,  daher  gegen  alles.  Revolutionäre,  ins- 
besondere gegen  öffentliche  Unruhen,  Krawalle,  Putsche;  werden 
bei  solchen  Gelegenheiten  oft  die  »armen  verführten«  Massen  be- 
dauert, so  wendet  sich  der  Unwille  um  so  heftiger  gegen  die  Führer 
und  Verführer.  Die  immer  wiederkehrenden  Anklagen  gegen  diese, 
daß  sie  sich  von  den  »Arbeitergroschen«  »mästen«,  die  Verdachts- 
äußerungen, daß  sie  in  ihrem  selbstischen  Interesse  zu  Streiks  auf- 
reizen, verdichten  sich  zu  einem  flüssigen  Aggregatzustand,  so  daß 
die  öffentliche  Meinung,  auch  wenn  sie  die  Arbeiterbewegung 
als  solche  dulden  gelernt  hat,  ihr  doch  die  Führer  versagt,  zumal 
wenn    diese   als   ordentUch   bezahlte   Beamte   ihrer   Organisationen 


Die  Öffenti,iche  Meinung  und  die  soziai^e  Präge.  —  Soziai<demokratie.      491 

sich  vorstellen.  Indessen  ist  diese  Strömung  sichtlich  schwächer 
geworden,  je  mehr  die  Organisation  und  Führung  unter  dem  Drucke 
der  wirtschafthchen  Verhältnisse  sich  verallgemeinert  hat;  es  sind 
mehr  einzelne  auffallende  Fälle,  worüber  die  öffentUche  Meinung  sich 
aufregt.  Ein  solcher  Fall  war  die  BEBEi^sche  Villa:  die  Tatsache, 
daß  der  hervorragende  Politiker  in  Zürich,  wo  seine  Tochter  ver- 
heiratet lebte,  eine  Villa  besaß,  von  der  er  einen  Teil  zur  Sommer- 
frische bewohnte,  während  sie  sonst  vermietet  war,  schien  mit  dem 
Stande  eines  Arbeiterführers  schlechthin  unverträglich  und  ein 
Beweis  zu  sein,  daß  dieser  in  der  Regel  es  sich  wohl  sein  und  das 
Elend  der  Massen  auf  sich  beruhen  lasse.  —  Wie  die  rohen  und 
kindischen  Attentate  auf  den  greisen  Monarchen,  der  sich  allgemeiner 
Hochachtung  erfreute,  auf  die  öffentUche  Meinung  im  Deutschen 
Reiche  wirkten,  ist  schon  erwähnt  worden.  Ebenso  wie  hier  zur  Sozial- 
demokratie, verhielt  sie  sich  in  den  Vereinigten  Staaten  zu  den 
Anarchisten,  als  8  Jahre  später  ein  blutiger  Zusammenstoß  zwischen 
diesen  und  der  Polizei  in  Chicago  geschah.  „Aber  jetzt  wandte 
sich  die  öffentliche  Meinung  mit  Heftigkeit  gegen  die  Anarchisten" 
(G.  Adler  HWSt.^  I,  S.  460).  Es  folgten  die  bekannten  (ungesetz- 
lichen) Hinrichtungen.  Ähnlich  war  es  in  Frankreich  nach  der  Er- 
mordung Carnots:  „die  aufflammende  Reaktion  der  bis  in  den  inner- 
sten Nerv  erregten  Gesellschaft  fegte  wie  ein  Sturmwind  den  Anar- 
chismus hinweg"  (das.  S.  462).  —  Was  aber  die  Sozialdemokratie 
betrifft,  so  ist  noch  in  lebendigster  Erinnerung,  wie  der  4.  August  19 14 
auf  die  öffentUche  Meinung  in  Deutschland  gewirkt  hat.  Wie  mit 
einem  Schlage  war  die  Anklage  der  vaterlandslosen  oder  gar  vaterlands- 
feindUchen  Gesinnung  zu  Boden  geworfen.  Freigesprochen  und  gerei- 
nigt stand  die  verfemte  Partei  da,  glänzend  hatte  sich  das  Wort  bewährt, 
das  IG  Jahre  zuvor  (am  7.  März  1904)  Bebel  im  Reichstage  gesprochen 
hatte :  „Meine  Herren,  Sie  können  künftig  keinen  siegreichen  Krieg  ohne 
uns  schlagen.  Wenn  Sie  siegen,  siegen  Sie  mit  uns  und  nicht  gegen  uns, 
ohne  unsere  Hilfe  können  Sie  nicht  mehr  auskommen":  worauf  die 
mächtigen  Worte  über  die  „Verteidigung  unseres  deutschen  Bodens" 
folgten,  Worte,  die  derselbe  Volksführer  noch  am  10.  Dezember  des 
gleichen  Jahres  in  gesteigerten  Formen  wiederholte.  Bemerkenswert  ist 
aber,  daß  diese  und  manche  ähnliche  Kundgebungen  hervorragender 
Sozialdemokraten  auf  die  öffentUche  Meinung  nur  geringen  Eindruck 
machten  und  die  festgewurzelten  Vorurteile  nicht  zu  erschüttern  ver- 
mochten (vgl.  Eduard  David,  Sozialdemokratische  Briefe  über  Vater- 
landsliebe I — VI  in  der  Wochenschrift  »Die  neue  Gesellschaft«  1905). 
Die  regelmäßig  sich  wiederholenden  Vorgänge  im  Gebiete  der 
sozialen  Frage,  worüber  die  ÖffentUche  Meinung  sich  aufregt,  sind  aber 


492  Besondere  Fäi,IvE  der  Öffentuchen  Meinung. 

die  großen  Arbeiter  ausstände.  In  der  Regel  ist  das  Urteil  nur  eine 
Folgerung  aus  der  allgemeinen  Schätzung  der  Arbeiterbewegung  und 
des  Sozialismus  —  die  flüssige  öffentliche  Meinung  verdunstet  darin. 
In  der  früheren  Phase  —  bis  etwa  1880  —  lag  noch  zumeist  die  Auf- 
fassung zugrunde,  daß  ein  Streik  nicht  nur  unsittlich,  sondern  auch 
unrechtmäßig  sei,  so  etwas  wie  eine  Empörung  von  Dienern  gegen 
ihren  Herrn  oder  doch  von  Abhängigen  gegen  ihren  Brotgeber,  zum 
mindesten  aber  wurde  Undankbarkeit  und  überdies  Torheit  darin 
gefunden,  der  armen  unwissenden,  verführten  Masse  jedoch  weniger 
als  den  Führern  und  Verführern  die  Schuld  gegeben.  Herknkr 
schrieb  noch  in  der  ersten  Auflage  seiner  Arbeiterfrage  (1894)  S.  24,  52, 
in  Deutschland  spiegele  die  öffentliche  Meinung  die  Stimmung  der 
durch  die  Streiks  gereizten  Arbeitgeber  wider.  Immerhin  fand  die 
um  1885  von  einem  preußischen  Minister  kundgegebene  Auffassung, 
hinter  jedem  Streik  lauere  die  »Hydra  der  Revolution«,  nur  einen 
schwachen  Widerhall;  man  hatte  den  Eindruck  der  Unkenntnis  und 
Übertreibung,  die  eher  schade  als  nütze.  Es  war  eben  um  die  Zeit 
der  Wende  zur  allgemeiner  werdenden  Einsicht,  daß  es  sich  jedenfalls 
um  den  Gebrauch  eines  Rechtes  handle,  das  als  solches  geachtet  werden 
müsse,  wenn  auch  im  einzelnen  Falle  die  sittliche  Berechtigung 
fehlen  möge.  Die  im  kaiserlichen  Februar-Erlaß  1890  enthaltene 
Verkündung  der  »Gleichberechtigung  der  Arbeiter«  mußte  einen 
starken  Eindruck  machen.  Seitdem  nimmt  nur  noch  zu  den  ganz 
großen  Ausständen  die  öffentHche  Meinung  in  entschiedener  Weise 
Stellung,  und  zwar  überwiegend  verneinende,  hauptsächHch  wegen 
des  Schadens  für  die  Volkswirtschaft,  der  Gefahren  für  die  öffentliche 
Ruhe.  In  England  ist,  wie  die  ganze  Entwicklung,  so  auch  diese 
um  einige  Jahrzehnte  früher.  Die  Streiks  erscheinen  hier  so  stark 
im  Zusammenhange  mit  den  Gewerkvereinen,  daß  das  Verhalten 
der  öffentlichen  Meinung  zu  jenen  in  der  Hauptsache  immer  aus  dem 
Verhalten  zu  diesen  abgeleitet  werden  kann  (Ablehnung,  zuletzt  ge- 
steigert, bis  gegen  1870,  Sympathie  bis  etwa  1900,  seitdem  wieder 
Umschwung  in  entgegengesetzter  Richtung).  In  Frankreich  wird  alles 
auf  die  politische  Revolution  bezogen.  Wie  die  öffentliche  Meinung 
diese  in  ihrem  bürgerhchen  Charakter  bejaht,  so  will  sie  auch  ihre 
Errungenschaften  —  vor  allem  das  freie  und  gesicherte  Eigentum  — 
gegen  die  soziale  Revolution  schützen.  Die  größeren  Streiks  werden 
als  Vorbereitungen  zu  dieser  oder  als  ihre  Vorspiele  empfunden  und 
aufgefaßt.  Nur  das  poHtische  Interesse  der  Parteiführer,  ihre  Arbeiter- 
freundHchkeit  zu  beweisen,  wirkt  einigermaßen  entgegen.  Die  ÖffentHche 
Meinung  wird  fast  nie  für  die  Arbeiter  Partei  nehmen,  wohl  aber, 
wie  überall,   Vergleichen  und  Vermittlungen  ihre  Gunst  schenken. 


Die  öffentuche  Meinung  und  die  soziai,e  Frage.  —  Soziai^demokratie.       493 

Im  Zusammenhange  damit  die  Tatsache,  daß  gewonnene  Streiks 
seltener  als  in  anderen  Ländern  vorkommen.  Auch  das  Gesetz  von 
1892  über  das  Binigungsverfahren  hat  geringen  Erfolg  gehabt,  weil 
die  Unternehmer  sich  immer,  auch  bei  geratenen  Vergleichen,  über- 
legen wissen.  —  Im  allgemeinen  wird  man  sagen  dürfen,  daß  folgende 
Bedingungen  die  öffenthche  Meinung  geneigt  machen,  ausständige 
Arbeiter  mehr  oder  weniger  zu  unterstützen:  i.  wenn  auffallend 
schlechte  Lohn-  oder  andere  Arbeitsverhältnisse  offenkundig  vor- 
Hegen,  2.  wenn  kein  Kontraktbruch  vorhegt,  sondern  »ordnungs- 
mäßige Kündigung«,  3.  wenn  das  Pubhkum  aus  anderen  Gründen 
gegen  die  Betriebe  ihrer  Unternehmer  und  Leiter  eingenommen  ist, 
4.  wenn  Vermittlung  und  Schiedsgericht  angebahnt  wurden,  aber 
an  dem  Widerstand  der  Unternehmer  gescheitert  sind,  5.  wenn  keine 
»Begehr Hchkeit «  —  nach  höheren  Löhnen  —  entdeckt  werden  kann, 
sondern  die  Arbeiter  offenbar  im  Stande  der  Verteidigung  gegen  Ver- 
schlechterung ihrer  Lage  sind  (Abwehrstreiks),  6.  wenn  der  scheinbare 
Streik  in  WirkHchkeit  als  eine  Aussperrung  sich  darstellt  und  so  auf- 
gefaßt wird^),  7.  wenn  die  Arbeiter  sich  eines  ruhigen  Verhaltens  be- 
fleißigen, zu  keinen  Klagen  über  »Terrorismus«  Veranlassung  geben, 
8.  wenn  der  Ausstand  gute  Aussichten  auf  Erfolg  hat,  und  wenn  er 
einen  siegreichen  Verlauf  zu  nehmen  scheint.  —  Jede  dieser  Bedin- 
gungen kann  allein  genügen,  um  ein  bejahendes  Verhalten  der  öffent- 
Hchen  Meinung  zu  einem  Ausstande  zu  bewirken,  wahrscheinhcher 
wird  es,  wenn  mehrere  zusammenkommen,  am  wahrscheinlichsten, 
wenn  alle  gegeben  sind,  was  aber  wiederum  an  sich  selbst  das  am 
wenigsten  wahrscheinhche  ist.  Zu  i.  wirkt  besonders  stark  mit,  wenn 
Frauen  und  Kinder  als  die  »ausgebeuteten«  Personen  erscheinen. 
Dies  ist  in  auffallender  Weise  der  Fall  in  der  Heimindustrie,  die 
als  solche  schon  leicht  als  offenbares  Elend  in  die  Erscheinung  tritt. 
So  war  es  bei  dem  Ausstand  der  Streichholzarbeiterinnen  (match 
girls)  1888  in  London.  „Ohne  Kasse,  ohne  Organisation,  schien  der 
Streik  hoffnungslos.  Aber  durch  die  unermüdHche  Tatkraft  von 
Frau  Besant  und  Herrn  Herbert  Burrows  wurde  die  öffentliche 
Meinung  in  einer  nie  vorher  bekundeten  Weise  aufgebracht .  .  .  nach 
hartnäckigem  Widerstand,  der  zwei  Wochen  dauerte,  wurden  die 
Unternehmer  durch  den  bloßen  Druck  der  öffentHchen  Stimmung 
genötigt,  ihren  Arbeiterinnen  einige  Zugeständnisse  zu  machen" 
(S.  u.  B.  Webb,  History  of  Trade  Unionism  388).  „Es  war  eine  neue 
Erfahrung  für  die  Schwachen,  gerade  wegen  ihrer  Schwäche  Erfolg 


*)  „Nicht  zu  vergessen  ist  .  .  .,  daß  die  öffentliche  Meinung  viel  leichter  Sympa- 
thien empfindet  für  die  »armen«  Arbeiter,  als  für  den  »reichen« Arbeitgeber."  A.Wkber, 
Der  Kampf  zwischen  Kapital  und  Arbeit,  S.  485. 


494  Besonders  Fäi,i,e  der  Öffentlichen  Meinung. 

zu  haben,  vermöge  der  Dazwischenkunft  des  Publikums"  (das.  389). 
Ähnlich  geschah  es  in  Deutschland  mit  dem  Konfektionsarbeiterinnen- 
streik 1896.  „Unter  dem  Druck  der  öffentlichen  Meinung  kam  es  in 
BerHn  noch  zu  einem  Versuch  der  Verständigung"  .  .  .  ,,Ohne  Zweifel 
hätten  die  großen  Herren  viel  kürzeren  Prozeß  gemacht  (als  es  durch 
die  teilweisen  Einräumungen  geschah)  .  .  .  wenn  nicht  die  öffentliche 
Meinung,  wie  sie  sich  in  Parlamenten,  Presse,  öffentlichen  Versamm- 
lungen und  hilfreichen  Veranstaltungen  mit  überwältigender  Deut- 
Hchkeit  äußerte,  eine  gewisse  Rücksicht  verlangt  hätte"  (Oldenberg, 
HWSt.3  I,  S.  940 f.).  Als  ein  gutes  Mittel,  um  die  öffentHche  Meinung 
für  eine  Sache  der  Arbeit  zu  gewinnen,  erwiesen  sich  die  Ausstellungen 
der  Heimarbeit,  bei  denen  der  Kontrast  zwischen  Leistung  und  Lohn 
schreiend  zutage  trat.  2.  Der  deutsche  Kaiser  war  Sprecher  der 
öffentlichen  Meinung,  als  er  am  14.  Mai  1889  die  Deputation  der 
Bergarbeiter  empfing,  die  ihm  erklärte:  „Wir  fordern,  was  wir  von 
unseren  Vätern  ererbt  haben,  nämHch  die  achtstündige  Schicht." 
Der  Gedanke  dieser  Sendung  war  aus  einer  Lage  der  Dinge  ent- 
sprungen, welche  „durch  die  sich  verschärfenden  Gegensätze  und 
die  Wucht  der  öffentlichen  Meinung  auf  der  einen,  die  Aspirationen 
der  Dortmunder  HäuptUnge  auf  der  anderen  Seite"  bedingt  war 
(O1.DENBERG  in  Schmollers  Jahrbuch XIV,  S.  932;  vorher  daselbst): 
„Nicht  nur  die  allgemeine  Parteinahme  des  durch  den  drohenden 
industriellen  Stillstand  erschreckten  Pubhkums  für  die  streikenden 
Bergleute,  nicht  nur  die  einmütige  Arbeiterfreundlichkeit  der  ge- 
samten, freilich  auch  von  parteitaktischen  Nebenrücksichten  geleiteten 
Tagespresse  bis  tief  in  das  eigene  nationalliberale  Lager  hinein  .  .  . 
reizte  die  Arbeitgeber  aufs  empfindlichste."  Ebenso  aber  sprach 
der  Kaiser  im  Namen  der  öffentlichen  Meinung,  wenn  er  seinem 
Willkommsgruß  hinzufügte :  „Ihr  habt  euch  aber  ins  Unrecht  gesetzt, 
denn  die  Bewegung  ist  eine  ungesetzliche,  schon  deshalb,  weil  die 
I4tägige  Kündigungsfrist  nicht  innegehalten  wurde,  nach  deren 
Ablauf  die  Arbeiter  gesetzlich  berechtigt  gewesen  wären,  die  Arbeit 
einzustellen.  Infolgedessen  seid  ihr  kontraktbrüchig."  Offenbar 
wäre  die  Bedeutung  des  kaiserlichen  Empfanges  viel  höher  gewesen, 
wenn  dieser  Vorwurf  nicht  hätte  erhoben  werden  können.  „Es  scheint 
mir  deshalb  auch",  schrieb  Oldenberg  (a.  a.  O.  S.  931  Note  i)  „nicht 
unglaubwürdig,  wenn  berichtet  wird,  die  den  Vertragsbruch  scharf 
betonenden  Worte  des  Kaisers  hätten  vielfachen  Anstoß  und  die 
Empfindung  bei  Bergleuten  erregt,  »das  kann  der  Kaiser  nicht 
gesagt  haben«.  Treffend  nennt  Oldenberg  den  Standpunkt,  den  die 
Mehrzahl  der  Arbeitgeber  eingenommen  hatte,  die  Wiederaufnahme 
der  Arbeit  zu  verlangen,  ehe  man  sich  auf  Verhandlungen  einlasse, 


Die  öffentliche  Meinung  und  die  soziale  Ffage.  —  Sozialdemokratie.       495 

„für  den  der  Verhältnisse  Kundigen"  eine  „formalistische  Über- 
treibung". Solcher  Verhältnisse  kundig  ist  eben  die  öffentliche 
Meinung  fast  nie,  die  nach  einfachen  Formeln  und  Schlagworten 
urteilt.  3.  Hier  hegt  wohl  der  häufigste  und  leichteste  Grund  zur 
Parteinahme  für  ausständige  Arbeiter.  Daher  so  oft  die  üble  I^age 
der  Grubenherreii :  als  Käufer  der  Kohlen  steht  ihnen  nicht  nur  das 
gesamte  PubUkum,  sondern  insbesondere  auch  alle  an  Kohlen-ver- 
brauchenden  Industrien  beteihgten  Personen,  mithin  sehr  bedeutende 
Unternehmerkreise,  gegenüber.  Wenn  alle  Abnehmer  an  bilHgen 
Kohlenpreisen  interessiert  sind  und  die  Grubenherren  geltend  machen 
können,  daß  jeder  Streik  die  Ware  verteuere,  so  überwiegt  doch  die 
Meinung,  daß  ihre  Gewinne  auch  bei  verhältnismäßig  niedrigen 
Preisen  sehr  hoch  seien  und  daß  ihnen  demgemäß  die  Schmälerung 
»zu  gönnen«  sei.  Sehr  leicht  entsteht  dann  auch  der  Verdacht,  daß 
jene  selber  den  Streik  hervorgerufen  hätten,  um  einen  Vor  wand  zur 
Erhöhung  der  Kohlenpreise  zu  gewinnen.  O1.DENBERG  (S.  960) 
hält  diesen  Verdacht  wohl  mit  Recht  im  Falle  von  1889  für  unbe- 
gründet, hebt  aber  hervor,  der  objektive  Zusammenhang  von 
Streik  und  folgender  Kohlenteuerung  werde  auch  von  unbefangenen 
Interessenten  nicht  geleugnet.  Derselbe  Gewährsmann  berichtet 
(im  HWSt.5  I,  945)  über  die  Wiederholung  der  Katastrophe  im 
Jahre  1905,  „des  größten  Streiks,  den  Deutschland  erlebt  hat": 
„Die  öffentHche  Meinung  nahm  mit  seltener  Einmütigkeit  gegen  die 
Arbeitgeber  Partei,  deren  Konto  ohnehin  vom  Kohlensyndikat  und 
den  Zechenstillegungen  her  schwer  belastet  war",  und  fügt  hinzu, 
wichtiger  als  die  finanzielle,  sei  die  poHtische  Hilfe  gewesen,  die  die 
ÖffentHche  Meinung  den  Bergleuten  brachte  (Berggesetznovelle  der 
preußischen  Regierung)  i).  —  So  war  es  auch  in  den  Vereinigten 
Staaten  (vgl.  ob.)  „der  große  Kohlenstreik,  der  die  »Nation«  wie  nie 
zuvor  zum  Nachdenken  anregte  und  das  Problem  mit  allen  seinen 
Gefahren  in  voller  Beleuchtung  zeigte"  (Münsterberg,  1.  c.  484). 
Ahnhch  liegt  es  aber  auch  bei  den  Verkehrsinstituten:  gerade  weil 
das  PubUkum  hier  unmittelbar  unter  dem  Stillstand  leidet,  und  weil 
es  selber  oft  über  Willkür  und  (wie  es  leicht  glaubt)  Überteuerung 
durch  die  »Gesellschaften«  (oder  gar  durch  den  Staat)  seufzt,  so  ist 
es  geneigt,  die  Schuld  an  einem  Ausstande  weniger  bei  den  Arbeitern 
als  bei  den  Betriebsleitern  zu  sehen.  In  Stuttgart  scheiterte  1900  ein 
Straßenbahnerstreik ,, trotz  energischer  Unterstützung  durch  Magistrat 
und  öffentliche  Meinung"  mit  der  nicht  unbescheidenen  Forde- 
rung des  Neunstundentages  und  anderer  Verbesserungen  (Olden- 
BERG,  1.  c.  944).  Auch  den  Meistern  der  Nahrungsmittelgewerbe  ist 
*)  Vgl.  auch  A.  Weber,  Der  Kampf  zwischen  Kapital  und  Arbeit,  S.  466. 


496  Besondere  Fäi.le  der  Öffentwchen  Meinung. 

bekanntlich  das  Publikum  im  allgemeinen  »nicht  grün«.  Der  Teil- 
erfolg eines  I4tägigen  Ausstandes  von  3500  Berliner  Bäckern  und 
Konditoren  im  Mai  1904,  und  eines  zweiten  Berliner  Bäckerstreiks 
im  Frühjahr  1907,  „ist  der  Sympathie  des  konsumierenden  Publikums 
zu  verdanken"  (O1.DENBERG,  S.  948),  zu  dem  freihch  auch  die  große 
Menge  der  Arbeiterklasse  selber  gehört.  4.  Der  Vermittlung  wird 
immer  die  öffentUche  Meinung  geneigt  sein,  zumal  wenn  sie  von  be- 
deutender Seite,  Regierungen,  Oberbeamten,  allgemein  angesehenen 
Privatpersonen  ausgeht.  Wenn  daher  die  Unternehmer  ablehnen  und 
bedingungslose  Unterwerfung  fordern,  so  entfremden  sie  sich  leicht 
die  ÖffentUche  Meinung.  Die  Streikgeschichte  Englands,  des  »klas- 
sischen I^andes  der  Ausstände«,  weist  manche  solche  Fälle  auf.  Oft 
genug  ist  aber  die  Parteinahme  gegen  die  Arbeiter  zu  stark,  um  nach- 
zugeben, wenn  sie  auch  erschüttert  wird.  So  war  es  im  Hamburger 
Hafenstreik  1895/96,  wo  der  Arbeitgeber- Verband  den  „unglücklichen 
Schiedsgerichtsvorschlag,  mit  dem  man  den  Arbeitgebern  so  unzeit- 
gemäß in  den  Arm  gefallen  sei  und  der  der  Arbeiterschaft  erst  die 
Ansicht  von  einem  vermeintlichen  Rechte  beigebracht  habe",  ver- 
warf; daß  die  öffentliche  Meinung  sich  nicht  dagegen  zu  erheben 
wagte,  bewies  das  Schweigen  des  Bürgerschaft-Parlaments.  5.  Schon 
zu  einer  Zeit,  „als  noch  die  öffentliche  Meinung  ohne  weiteres  Aus- 
stände als  an  sich  unberechtigt  erklärte"^),  kam  es  in  England  vor 
(1828!),  daß  der  Widerstand  der  Teppicharbeiter  in  Kidderminster 
gegen  eine  Lohnherabsetzung  von  17  v.  H.  „die  Sympathie  und  Unter- 
stützung Vieler,  die  nicht  zu  ihrer  Klasse  gehörten,  fand"  (Webb, 
H,  of  Trade  Untonism  S.  100).  Von  dem  Verhältnis  der  öffentlichen 
Meinung  zu  den  Arbeitern  in  den  Vereinigten  Staaten  sagt  Münster- 
BERG  allgemein:  „Man  will  ihnen  wohl,  solange  sie  sich  verteidigen. 
Werden  sie  wirklich  zu  Angreifern,  so  schlägt  die  Stimmung  um" 
(a.  a.  O.  S.  488).  6.  Der  Unterschied  von  Streiks  und  Aussperrungen 
spielt  für  die  öffentliche  Meinung  eine  beträchtliche  Rolle;  die  ge- 
ringere Sympathie,  die  im  Falle  jener,  gegen  diejenige,  die  ihnen  zuteil 
wird,  wenn  eine  offenbare  Aussperrung  vorliegt,  ist  nur  die  Steigerung 
des  Vorzuges  von  Abwehr,  gegen  Angriffstreiks.  Bündig  erklärte 
BiERMER  {1895)  über  den  Unterschied  von  Streik  und  Aussperrung 
{lock  out):  materielle  Bedeutung  habe  er  nur  insoweit,  „als  die  Be- 
urteilung der  Streitigkeit  seitens  der  Parteien  und  der  öffentlichen 
Meinung  in  Frage  kommt"  (HWSt.^  Supplm.  I,  S.  106).  In  einer 
späteren  Abhandlung  (HWSt.^  II,  S.  250:  1909)  sagt  derselbe  Ge- 
währsmann :  „Die  Parteien  haben  der  öffentlichen  Meinung  gegenüber 

^)  NoSTiz,  H.  V.,  Das  Aufsteigen  des  Arbeiterstandes  in  England  (Jena  1900) 
S.  548.   Der  Verf.  fügt  hinzu,  dieser  falsche  Standpunkt  sei  gegenwärtig  überwunden. 


Die  Öffentliche  Meinung  und  die  soziale  Frage.  —  Sozialdemokratie.     497 

ein  natürliches  Interesse,  die  Verantwortung  für  den  Streit  der  Gegen- 
seite zuzuschieben.  Das  geUngt  dem  Unternehmertum  leichter  als 
dem  schwerfälligen  Apparat  einer  ArbeiterkoaUtion."  Keineswegs 
ist  es  aber  die  Schwerfälligkeit  hauptsächhch,  sondern  vielmehr  die 
viel  geringere  Gunst,  der  die  Arbeiterschaft  von  vornherein  begegnet, 
und  ihre  geringere  Fähigkeit,  die  öffentUche  Meinung  in  ihrem  Sinne 
zu  beeinflussen.  Wenn  daher  Biermer  ferner  sagt  (das.  S.  254): 
„An  und  für  sich  liegt  es  nicht  im  Interesse  der  Unternehmer,  in 
Arbeitsstreitigkeiten  die  Initiative  zu  ergreifen.  Sie  haben  heutzutage 
mehr  als  die  Arbeiter  Rücksicht  zu  nehmen  auf  die  Stellung  der 
öffentüchen  Meinung,  die  vielfach  ohne  genaue  Kenntnis  der  dem 
KonfUkt  zugrunde  liegenden  Ursachen  dem  passiven  Teile  der 
Kämpfenden  ihre  Sympathie  zuzuwenden  geneigt  ist,  also  den  ver- 
urteilt, von  dem,  oberflächUch  betrachtet,  die  den  Frieden  störende 
Aktion  ausgeht"  —  so  ist  das  nur  insoweit  richtig,  als  die  Unter- 
nehmer nicht  in  der  Lage  sind,  die  »Schuld«  auf  die  Arbeiter  abzu- 
wälzen, ja  sogar  die  Aussperrung  als  einen  Streik  erscheinen  zu  lassen, 
was  doch  oft  mit  einigem  Geldaufwand  gelingt.  So  war  es  im  Kampfe 
der  Krimmitzschauer  Textilarbeiter  um  den  Zehnstundentag  (1903), 
der  „von  beiden  Seiten  mit  einer  Erbitterung  geführt  wurde,  die  ihn 
zu  einem  Merkstein  in  der  deutschen  Sozialgeschichte  gemacht  hat** 
(Oldenbrrg).  —  Zur  Bestätigung  seien  noch  die  Bemerkungen 
Bernsteins  angeführt  (Der  Streik,  S.  50):  „Bei  der  großen  Rolle, 
die  fast  mehr  noch  als  bei  anderen  Kämpfen,  beim  Streik  der  mora- 
lische Faktor  spielt,  sind  Unternehmer  wie  Arbeiter  unter  Um- 
ständen sehr  darauf  bedacht,  die  Gegenpartei  als  die  angreifende 
erscheinen  zu  lassen,  und  wenden  demgemäß  allerhand  taktische 
Mittel  an,  dies  Ergebnis  herbeizuführen.  Umgekehrt  wird  aber  auch 
mancher  Angriffsstreik  unternommen,  der  faktisch  der  Abwehr 
eines  von  der  anderen  Seite  vorbereiteten  Angriffs  gilt,  und  manchmal 
mischen  sich  Angriff  und  Abwehr  in  solcher  Weise,  daß  es  schwer  hält, 
herauszufinden,  welches  Moment  vorwiegt.  Das  gleiche  ist  beiläufig 
auch  im  Verhältnis  von  Streik  und  Arbeitssperre  der  Fall.  Englische 
Gewerkschaften  haben  sogar  eine  fast  abergläubische  Vorstellung 
von  dem  Unterschied,  den  es  ausmacht,  ob  ihre  großen  Kämpfe  als 
Streiks  oder  als  Abwehr  von  Aussperrungen  geführt  werden*)."    Die 

*)  Ein  gutes  Beispiel  bietet  auch  die  Sperre,  die  nach  dem  großen  Streik  von 
i88q  über  eine  Menge  von  einheimischen  Bergleuten  im  Ruhrkohlenrevier  verhängt 
wurde,  was  beinahe  einen  Wiederausbruch  des  allgemeinen  Ausstandes  zur  Folge 
gehabt  hätte.  ..dessen  Abwendung  nur  durch  dringendes  Abraten  einiger  sozialdemo- 
kratischer Reichstagsabgeordneter,  durch  starken  moralischen  Druck  der  öffent- 
lichen Meinung  auf  die  Arbeitgeber,  und  durch  die  amtlich  beglaubigte  Zusicherung 
gelang,  die  Ausgesperrten  wieder  aufzunehmen".    (Oldenbbrg  a.  a.  O..  S.  948.) 

Töno  Ic«.  Kritik.  32 


498  Besondere  Fäli^e  der  öffentlichen  Meinung. 

Ähnlichkeit  der  Fälle  eines  großen  Krieges  springt  hier  in  die  Augen, 
»Verteidigungskrieg«  ist  die  I^osung.  Keine  Seite  will  die  angreifende 
gewesen  sein.  Ebenso  in  großen  inneren  Konflikten,  wie  dem  deutschen 
»Kulturkampf«.  Immer  die  gleiche  Rücksicht  auf  die  öffentliche 
Meinung,  die  Furcht  vor  ihrem  verdammenden  Urteil,  das  Buhlen 
um  ihre  Gunst.  7.  Wie  wichtig  und  wertvoll  für  die  Streikenden  ein 
gesetzUches,  ruhiges  Verhalten  ist,  ergibt  jeder  Bericht  über  einen 
großen  Ausstand  in  Büchern  und  in  der  zeitgenössischen  Presse. 
Wenn  dies  in  den  wenigen  Fällen,  wo  ein  Ausstand  mit  Hilfe  der 
öffenthchen  Meinung  gewonnen  wurde,  besonders  hervorgehoben 
zu  werden  pflegt,  so  ist  eine  Wirkung  immer  ebenso  sicher,  wie  umge- 
kehrt das  öffentliche  Mißfallen  am  meisten  durch  Gewalttätigkeiten, 
überhaupt  durch  Nötigungen  gegen  »Arbeitswillige«,  vollends  durch 
Aufruhrszenen  erregt  wird.  Die  Entrüstung  darüber  tritt  so  oft  auf, 
wie  andererseits  die  Ausdauer,  Zähigkeit  und  Opferbereitschaft  be- 
wundert wird.  8.  Es  gilt  endlich,  wie  bei  jedem  Kampf,  daß  in  der 
Regel  die  siegreiche  Sache  nicht  nur  den  Göttern  am  besten  gefällt, 
sondern  auch  den  Beifall  des  Publikums  gewinnt.  Haben  doch 
sogar  hervorragende  Gelehrte  einen  Streik  darum  als  »frivol«  be- 
zeichnet, weil  er  geringe  Aussicht  auf  Erfolg  gehabt  habe.  Der  gute 
Erfolg  gilt  in  der  Regel  als  Beweisgrund  für  die  Güte  der  Sache. 
Je  moderner  und  gesellschaftHcher  die  geistige  Bildung  in  einem 
Lande,  desto  mehr  wird  dieser  Gesichtspunkt  bestimmend  wirken, 
um  so  mehr  wird  auch  die  große  Menge  an  Bildung  der  öffenthchen 
Meinung  beteihgt  sein. 

Treffend  bemerkt  BiermER  (HWSt^  I,  S.  1008),  ein  unbedingter 
Verlaß  auf  die  Unterstützung  streikender  Arbeiter  von  selten  des 
Pubhkums  sei  nicht  vorhanden.  „Wenn  auch  die  öffentUche  Meinung, 
wie  sie  sich  wenigstens  in  den  angesehensten  Preßorganen  äußert, 
gleichsam  als  eine  Art  höherer  Instanz  zu  richten  und  zu  entscheiden 
das  Recht  für  sich  in  Anspruch  nimmt,  so  kann  sie  natürlich  nicht 
als  eine  in  jedem  Falle  bilHg  und  neutral  urteilende  Instanz  ange- 
sehen werden.  Es  ist  eine  EigentümHchkeit  der  sog.  »öffentlichen 
Meinung«,  daß  sie  im  Wiederholungsfalle,  durch  die  nicht  enden- 
wollende Kette  der  Streitigkeiten  degoutiert  und  übermüdet,  die 
bisher  verfochtene  Richtung  aufgibt  und  zu  einer  gegenteihgen  Auf- 
fassung umschwenkt,  sich  selbst  aber  von  jeder  Schuld  und  Verant- 
wortung freispricht."  Dagegen  schreibt  ein  nationalHberaler  PoUtiker 
(Hugo  Böttger,  Die  Industrie  und  der  Staat  1910,  S.  235) :  die 
deutsche  Arbeiterschaft  werde  ja  wohl  so  bald  noch  nicht  auf  den 
Streik  als  Mittel  der  Verbesserung  ihrer  Lage  verzichten,  obwohl  das 
Mittel  häufig  genug  versagt  habe.   „Aber  sie  wird  aUmähHch  von  der 


Die  Öffentwche  Meinung  und  die  soziale  Frage.  —  Soziai^demokratie.     499 

Überschätzung  dieses  Mittels  geheilt  werden,  namentlich  dann, 
wenn  auch  die  öffentliche  Meinung,  die  heute  ihre  Argumente  mehr 
aus  der  Tiefe  des  Gemüts  als  aus  der  Kenntnis  der  realen  Verhältnisse 
schöpft  *und  fast  blindlings  für  die  Arbeiter  Partei  zu 
ergreifen  pflegt,*  besser  über  die  Ursachen  der  Arbeitskämpfe 
unterrichtet  sein  wird.  Dann  werden  die  organisierten  Arbeiter  sich 
nicht  mehr  auf  diesen  Rückhalt  verlassen  können,  und  sie  müssen 
dann  die  sachhchen  Interessen  den  poHtischen  voranstellen.  Die 
öffentliche  Meinung,  die  Kommunen  und  der  Staat  haben  bei  diesen 
Kämpfen  die  Rechte  und  Pflichten  der  Neutralen;  wer  einer  Partei 
Waffen  zuträgt  in  Gestalt  von  Streikfonds  oder  Sympathiekund- 
gebungen, tritt  selbst  in  den  Kampfzustand  ein  und  wird  über  kurz 
oder  lang  an  den  Kriegskosten  beteiligt  werden."  Anders  urteilt 
H.  V.  NosTiz  (a.  a.  O.  S.  548),  freilich  unmittelbar  nur  mit  Bezug 
auf  England,  indem  er  sagt,  es  „komme  vor",  daß  nicht  bloß  eine 
Anzahl  Angehöriger  der  oberen  Stände,  sondern  die  öffentliche 
Meinung  überhaupt  sich  auf  Seite  der  Ausständigen  stelle,  wie  es 
insbesondere  bei  dem  Dockerstreik  1889  geschehen  sei.  Eine  solche 
allgemeine  Parteinahme  sei  aber  nur  der  Ausnahmefall,  .  .  .  was  von 
der  öffentHchen  Meinung  und  den  oberen  Ständen  verlangt  werden 
dürfe,  sei  Unparteilichkeit  als  Regel.  Der  Ausnahmefall  ist  schwerHch 
häufiger  in  Deutschland  als  in  England,  jedenfalls  dort  wie  hier  Aus- 
nahmefall. Beide  Autoren  scheinen  nicht  zu  erwägen,  daß  auch  der 
Richter  unparteiisch  und  neutral  sein  will  und  soll,  und  daß  doch  ein 
gerechter  Richter  einer  von  zwei  Parteien  rechtzugeben  pflegt.  Die 
öffentliche  Meinung  aber  wird  regelmäßig  als  eine  Art  von  mora- 
Hschem  Gerichtshof  angerufen.  Daß  sie  als  solche  gerecht  zu  urteilen 
sich  befleißigt,  ist  wenigstens  nicht  ausgeschlossen;  wie  weit  es  ihr 
gelingen  mag,  ist  eine  andere  Frage.  Nach  der  Natur  der  öffentlichen 
Meinung  ist  sicherlich  eher  ihre  Voreingenommenheit  gegen  die 
Arbeiter  zu  vermuten,  wie  denn  alle  Beobachter  übereinstimmen, 
daß  diese  in  den  früheren  Zeiten,  d.  i.  bis  weit  über  die  Mitte  des 
19.  Jahrhunderts  hinaus,  durchaus  vorwaltete,  gemäß  der  herge- 
brachten und  ehemals  ganz  natürlichen  Auffassung,  daß  Gesellen 
(in  England  »Diener«)  ihren  Meistern  zu  gehorchen,  also  die  ihnen 
aufgetragene  Arbeit  zu  leisten  hätten.  Von  der  veränderten  Auf- 
fassung wird  noch  zu  reden  sein.  Richtig  ist,  was,  nach  Herrn  v.  NoSTiz' 
Angabc,  im  amtlichen  Bericht  über  den  Ausstand  der  Londoner 
Hafenarbeiter  (1889)  zu  lesen  steht,  daß  die  Streitfragen  in  der  Regel 
zu  schwierig  sind  und  zu  tief  für  eine  sachliche  Beurteilung  durch  die 
Allgemeinheit  liegen.  Herkner  meinte  noch  1896  (Die  Arbeiter- 
frage*, S.  loi),   die    öffentliche   Meinung,    „die    ursprünglich    den 

32* 


500  Besondere  Fälle  der  Öffentlichen  Meinung. 

Arbeiterorganisationen  durchaus  abhold  war/*  sei  dabei  bestimmt 
worden,  und  werde  in  vielen  Streiks  noch  bestimmt,  durch  „grobe 
Selbstsucht  der  Besitzenden,  Weigerung,  den  Arbeiter  praktisch  als 
gleichberechtigten  Kontrahenten  beim  Arbeitsvertrage  anzuerkennen, 
individualistische  Abneigung  gegen  kooperative  Gestaltungen,  irrige 
ökonomische  Theorien,  Vorherrschaft  der  kapitalistischen  Interessen 
in  der  bürgerUchen  Tagespresse  und  im  politischen  Leben".  Keine 
dieser  Feinde  der  Gewerkvereine  befinde  sich  im  Vorrücken,  der  größte 
Teil  wanke  oder  sei  schon  in  die  Flucht  geschlagen. 

IG.  (Veränderungen  des  Urteils.)  Daß  die  Dinge  in  der  Regel  zu 
tief  für  eine  sachliche  Beurteilung  durch  die  Allgemeinheit  liegen, 
gilt  allerdings  für  die  meisten  Fragen,  die  vor  das  »Forum«  der  öffent- 
lichen Meinung  kommen.  So  läßt  sich  überhaupt  in  ihrem  Verhalten 
zur  sozialen  Frage  im  ganzen  und  in  ihren  Einzelheiten  das  Wesen 
der  öffentUchen  Meinung  wohl  erforschen  und  erkennen.  Besonders 
geben  gerade  die  Ausstände  Gelegenheit  zur  »Bearbeitung«  der 
öffentlichen  Meinung,  die  denn  auch  von  beiden  Seiten  geschieht, 
und  zwar  neuerdings  —  während  der  letzten  30  Jahre  —  offenbar  in 
stark  zunehmendem  Maße.  Bin  gutes  Beispiel  gab  hierfür  der  damals 
vor  kurzem  organisierte  Arbeitgeberverband  von  Hamburg-Altona 
im  großen  Hafenarbeiter  ausstand,  der  1896  ausbrach.  „Wenn  aber 
die  Unternehmerschaft  die  Gunst  der  Behörden  in  höchstem  Maße 
genoß  ...  so  hatte  sie  doch,  wie  sie  wohl  wußte,  sich  um  die  Gunst 
der  öffentlichen  Meinung  gebracht  (durch  Ablehnung  des  Schieds- 
gerichts). Diese  galt  es  wieder  zu  gewinnen.  Die  Reeder  hatten  von 
Anfang  an  behauptet,  daß  die  Schauerleute  hohe  Löhne  verdienten. 
Schon  am  30.  November  veröffentlichte  die  Amerika-Linie  eine  Lohn- 
liste über  Kohlenakkordarbeiter,  die,  mit  lauter  Jahreslöhnen  von 
2 — 3000  M.  figurierend,  wohl  danach  angetan  war.  Unkundige  zu 
frappieren  .  .  .  Auszüge  aus  Lohnbüchern  anderer  Stauereibetriebe 
folgten,  während  und  nach  den  Tagen  des  Schiedsgerichts  Vorschlages" 
usw.  (TÖNNIES,  »Der  Hamburger  Streik  von  1896/97«  im  Archiv  für 
soziale  Gesetzgebung  und  Statistik  Bd.  X,  H.  5,  S.  702).  Daraufliin 
erklärte  der  Staatssekretär  Böttiger  am  3.  und  10.  Dezember  im 
Reichstage:  Hunderttausende,  ja  vielleicht  Millionen  von  deutschen 
Arbeitern  würden  sich  danach  sehnen,  gleich  günstige  Erwerbs- 
verhältnisse zu  haben  .  .  .  „nachdem  die  Hamburger  Lohnlisten 
gedruckt  vorliegen,  werden  Sie  ...  gar  nicht  anders  können,  als 
zugeben,  daß  der  Stand  der  Lohnhöhe  in  Hamburg  für  den  gesamten 
deutschen  Arbeiterstand  ein  beneidenswerter  ist."  Der  Staats- 
sekretär fand  im  Reichstage  „lebhafte,  allseitige  Zustimmung", 
natürlich  um  so  mehr  im  großen  PubUkum.   Auf  Grund  des  späteren 


Die  ÖFFENTI.ICHE  MEINUNG  UND  DIE   SOZIALE   FrAGE.  —  SOZIALDEMOKRATIE.       5OI 

Berichtes  der  Senatskommission  urteilte  E.  Francke  (Schmollers 
Jahrbuch  XXII,  3,  S.  949),  die  Erhebung  habe  unumstößHch  fest- 
gestellt, daß  aus  diesen  Maxi  mallöhnen  Einzelner  (!)  ein  Schluß  auf 
die  Verhältnisse  der  großen  Mehrzahl  der  Arbeiter  nicht  gezogen 
werden  dürfe,  und  daß  insofern  die  VeröffentUchung  der  Lohnlisten 
ein  ganz  schiefes  Bild  über  die  Lage  der  Hamburger  Hafenarbeiter 
gehefert  habe.  Näheres  ist  dort  und  in  meinem  Aufsatze  »Die  Enquete 
über  Zustände  der  Arbeit  im  Hamburger  Hafen«  im  Archiv  XII, 
S.  308 ff.  nachzulesen,  wo  es  heißt:  „Das  Urteil  über  das  Listen- 
manöver kann  hiernach  dem  Leser  überlassen  bleiben."  Aber  das 
Listenmanöver  hatte  seine  Wirkung  auf  die  öffentliche  Meinung 
geübt.  In  ähnlicher  Weise  pflegen  vorkommende  Gesetzwidrigkeiten 
»ausgeschlachtet«  zu  werden,  während  von  der  Gegenseite  natürlich 
diese  verkleinert  und  entschuldigt  werden,  ebenso  stellt  die  Arbeiter- 
presse und  stellen  Reden  und  Flugblätter  die  Lage  der  Arbeiter  in 
grellen  Farben  dar,  klagen  die  Ungerechtigkeit  und  Habgier,  wohl 
auch  das  üppige  Leben  der  Unternehmer,  die  Parteilichkeit  der  Be- 
hörden heftig  an ;  zumeist  in  unmittelbarer  Verteidigung  ihres  Stand- 
punkts und  Verfahrens,  neuerdings  aber  auch  mehr  planmäßig,  in  der 
Absicht,  die  öffentliche  Meinung  für  sich  zu  gewinnen^).  —  Übrigens 
konnten  die  Veränderungen  der  Urteile  über  Gewerkschaften  und  über 
die  sozialdemokratische  Partei  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  Äußerungen 
der  öffentlichen  Meinung  bei  Gelegenheit  großer  Ausstände  bleiben. 
SCHM01.1.ER  meint  sogar,  auch  die  schlecht  geleiteten,  oft  von  einem 
Haufen  junger  Leute  vom  Zaun  gebrochenen,  den  ruhigen  älteren 
Arbeitern  oktroyierten  und  zunächst  erfolglosen  Ausstände  hätten 
doch  für  den  Arbeiterstand  auf  die  Dauer  insofern  Früchte  getragen, 
als  die  öffentliche  Meinung  aufgerüttelt,  die  Arbeiter  selbst 
durch  Erfahrung  klüger,  die  Führer  geschulter,  die  Unternehmer 
vorsichtiger  und  zu  Kompromissen  geneigter  wurden,  als  auch  diese 
Streiks  doch  später  häufig  zur  Abstellung  vieler  Mißbräuche  führten 
(Allgem.  Volkswirtschaftslehre  II,  S.  407).  Diese  »Aufrüttelung« 
hätte  kaum  erhebliche  Wirkungen  gehabt,  wenn  ihr  nicht  eine  Be- 
lehrung vorausgegangen  wäre.  Das  Publikum  hat  den  Streik  richtiger 
zu  beurteilen  gelernt;  es  hat  gelernt,  daß  er  an  und  für  sich  keine 
ungesetzliche  Handlung,  daß  er  vielmehr  der  Gebrauch  eines  durch 
die  Gesetzgebung  anerkannten  Rechtes  ist;  daß  es  so  etwas  wie  Aus- 
beutung der  Arbeitskraft  und  ihrer  Träger  gibt,  daß  deren  Erhaltung 

*)  Demnach  meint  Ad.  Weber  (Der  Kampf  zwischen  Kapital  und  Arbeit,  S.  465), 
indem  er  hervorhebt,  daß  die  Arbeiter  sehr  viel  Wert  darauf  legen,  die  öffentliche 
Meinung  für  sich  zu  gewinnen,  sie  seien  in  dem  Pankte  „offenbar  viel  klüger  und 
diplomatischer  als  die  Unternehmer". 


y^ 


502  Besondere  Fäi,i.e  der  Öffentwchen  Meinung. 

und  Schonung  im  allgemeinen,  ganz  besonders  auch  im  nationalen 
und  staatHchen  Interesse  Hegt.  Wenn  die  ÖffentHche  Meinung  den 
Belehrungen  sozialistischer  Schriftsteller  wenig  zugängHch  ist  —  be- 
kanntlich fürchtete  (vor  dem  Weltkriege)  das  gebildete  Publikum 
dieBerührungmit  sozialdemokratischen  Zeitungen  wie  eine  ansteckende 
Krankheit  —  so  hat  um  so  mehr  die  unermüdliche  und  mutige  Auf- 
klärung geleistet,  die  (z.  B.)  von  einem  Manne  wie  lyUjo  Brentano 
ausgegangen  ist;  sein  Einfluß  rinnt  durch  viele  Kanäle.  —  Mit  dem 
Verständnis  für  die  Sache  ist  der  Sinn  für  Vermittlung  und  Ausgleich, 
also  für  Schiedsgerichte,  Binigungsämter  u.  dgl.,  gewachsen;  so  daß 
nunmehr  die  von  den  meisten  Großunternehmern  noch  festgehaltene 
Ansicht,  ein  Streik  müsse  mit  bedingungsloser  Unterwerfung  der 
Streikenden,  also  mit  Niederzwingung  und  Triumph  der  »Herren« 
enden,  der  öffentlichen  Meinung  gegenüber  als  veraltet  gelten  darf. 
Schon  im  Jahre  1889  machte  ein  Geh.  Regierungsrat  Ui^rich  Vor- 
schläge bekannt  (in  Conrads  Jahrbüchern  N.  F.  Bd.  19),  was  im  Falle 
der  Weigerung  einer  Partei  (der  Fall,  daß  beide  Teile  sich  weigern, 
werde  selten  vorkommen),  der  Entscheidung  eines  Schiedsgerichts 
sich  zu  fügen,  geschehen  müsse.  Er  meint,  bei  Weigerung  des  Arbeit- 
gebers könne  durch  das  Gesetz  den  Arbeitern  das  Recht  zuge- 
sprochen werden,  ohne  Einhaltung  der  Kündigungszeit,  indem  an- 
genommen würde,  daß  die  Kündigung  durch  Anrufen  des  Schiedsge- 
richts (gemeint  ist,  daß  es  vor  Streik  oder  Aussperrung  angerufen  wäre) 
erfolgt  sei,  in  den  Ausstand  zu  treten,  und  es  könnten  dem  weiger- 
lichenArbeitgeber  alle  öffentlichen  Kosten,  welche  durch  den  Ausstand 
entständen,  aufgelegt  werden.  „Es  würde  das  wohl  genügen,  in  Ver- 
bindung mit  dem  Druck  der  öffentlichen  Meinung,  um  auch  den  hart- 
näckigsten Arbeitgeber  mürbe  zu  machen.''  Ebenso  würde  im  Falle,  daß 
Arbeiter  sich  weigern  (was  bekanntlich  sehr  viel  seltener  vorkommt) 
„außer  dem  Druck  der  öffentlichen  Meinung**  genügen,  wenn  die 
Staatsregierung  im  Verwaltungswege  jede  Unterstützung  der  aus- 
stehenden Arbeiter  z.  B.  durch  Geldsammlungen  verhinderte,  dagegen 
dem  Arbeitgeber,  der  sich  der  Entscheidung  fügen  wollte,  in  jeder 
Beziehung  ihre  Hilfe  angedeihen  ließe.  Wenn  hier  die  ÖffentHche 
Meinung  —  wohl  nicht  ihre  Macht,  aber  ihre  Einsicht  und  Unpartei- 
lichkeit —  überschätzt  werden  dürfte,  ebenso,  wie  zu  gleicher  Zeit 
V.  Schui^ze-Gaevernitz  die  Anstalten  zur  Erhaltung  und  Sicherung 
des  »sozialen  Friedens«  in  Großbritannien  überschätzte,  so  ist  doch 
nicht  verkennbar,  daß  die  öffentliche  Meinung  für  den  Gedanken, 
durch  Schiedsgerichte  und  Einigungsämter  Ausständen  und  Aus- 
sperrungen vorzubeugen,  ausgesprochene  Arbeitsstreitigkeiten  durch 
die  gleichen  Mittel  rasch  zu  beenden,  gewonnen  ist,  wenn  sie  auch  — 


Die  öffexti^ichk  Meinung  und  die  soziai,e  Frage.  —  Soziai.demokratie.     503 

ähnlich  wie  beim  Völkerfrieden  — •  noch  keine  Wege  sieht,  solche 
Schiedssprüche  obligatorisch  zu  machen  und  ihre  Geltung  zu  er- 
zwingen. Wie  verhält  sich  die  öffentUche  Meinung  zur  Erledigung 
von  Arbeitsstreitigkeiten  durch  Schiedsgerichte,  insbesondere  zu  dem 
Gedanken  obligatorischer  Schiedsgerichte  ?  Im  allgemeinen  ohne 
Zweifel  günstig,  wie  immer  zur  Vermittlung  und  Vorbeugung.  Aber 
zu  dem  wirksamsten  Prinzip,  dem  des  Zwanges,  hat  sie  in  Europa 
noch  kaum  Gelegenheit  gehabt,  Stellung  zu  nehmen.  Es  Hegt  außer- 
halb ihres  Gesichtskreises.  In  bezug  auf  Austrahen  sagt  ganz  neuer- 
dings (Modern  Democractes  1921,  Vol.  II,  p.  253)  James  Bryce,  die 
öffentliche  Meinung  Australiens  („in  ihrer  Ganzheit*')  sei  im  allgemeinen 
dem  Experiment  der  obligatorischen  Schiedsgerichte  günstig  gestimmt 
gewesen.  Er  schreibt  die  Tatsache  einerseits  der  Beunruhigung  über 
das  Streikunheil,  andererseits  der  Sympathie  mit  dem  Streben  der 
Lohnarbeiter,  ihre  Lage  zu  verbessern,  zu.  Ahnlich  beurteilt  Bryce 
auch  die  ÖffentUche  Meinung  auf  Neuseeland:  sie  scheine  der  Er- 
haltung des  Gesetzes,  das  ein  Schlichtungsverfahren  obligatorisch 
macht,  günstig  zu  sein  (ib.  p.  337). 

Im  allgemeinen  kann  man  sagen,  daß  die  öffentliche  Meinung 
I.  von  der  Notwendigkeit  und  Un widerruf Hchkeit  der  Koalitions- 
freiheit —  wenigstens  für  industrielle  Arbeiter  —  überzeugt  ist;  daß 
sie  im  Deutschen  Reiche  ihrer  Durchführung,  wie  sie  jüngst  vermöge 
Aufhebung  des  §  153  GO.  geschah,  keinen  nennenswerten  Widerspruch 
entgegensetzte,  ist  allerdings  Folge  der  Kriegsstimmungen  gewesen, 
bleibt  aber  um  nichts  weniger  bedeutungsvoll.  2.  Wenn  in  Frankreich 
die  Egalite  als  Prinzip  und  Schlagwort  vergöttert  wird,  ohne  daß  man 
immer  geneigt  ist,  Folgerungen  aus  ihr  zugunsten  der  Arbeiter  zu 
ziehen,  so  hat  in  der  öffentlichen  Meinung  Englands  wie  des  Deutschen 
Reiches  die  gesetzHche  „Gleichberechtigung  der  Arbeiter",  die  be- 
kannthch  auch  der  zweite  kaiserUche  Februarerlaß  (1890)  vertrat, 
allmählich  sich  festgesetzt.  —  Beide  Grundsätze  gehören  ihrem  Wesen 
nach  der  bestehenden  liberalen  Rechts-  und  Gesellschaftsordnung  an, 
aber  diese  hat  erst  nach  und  nach  ihren  Platz  in  der  öf  f  entUchen  Meinung 
erobert,  insofern  als  sie  der  überUeferten,  durch  Rehgion  geheiHgten, 
in  Gemeinschaftsvorstellungen  beruhenden  Ordnung  widersprach. 
Wenn  nun  ebenso  eine  gesetzliche  Vertretung  politischer  Grund- 
sätze und  Forderungen,  also  das  Auftreten  und  »positive  Mitarbeiten « 
in  gesetzgebenden  Körperschaften  nicht  nur  als  erlaubt,  sondern  in 
einigem  Maße  als  wünschenswert  zu  gelten,  sich  durchgesetzt  hat, 
so  wehrt  sich  die  öffentliche  Meinung  um  so  mehr  wider  die  Ver- 
mischung ökonomischer  und  politischer  Mittel.  Sie  will,  daß  gegen 
die    wirtschaftliche    Umwälzung    durch    Gesetze    alle    »bürgerlichen 


504  Besondere  FÄr,i.E  der  Öffentuchen  Meinung. 

Parteien«  geschlossen  Front  machen,  sie  empört  sich  gegen  den  Ge- 
danken, daß  die  Arbeiter  durch  allgemeine  Arbeitseinstellung  poli- 
tische Veränderungen  zu  erzwingen  versuchen.  Interessant  ist  in 
dieser  Hinsich't,  wie  Jean  Jauri;s  die  leidenschaftliche  Befürwortung 
des  Generalstreiks,  die,  damals  noch  innerhalb  seiner  Partei  lärmend, 
bald  in  den  SyndikaHsmus  überging,  abwehrt,  indem  er  die  Be- 
dingungen des,  wie  er  dartut,  höchst  unwahrscheinUchen  Gehngens 
erörtert.  Es  genüge  nicht,  daß  das  Proletariat  begeistert  sei,  auch 
nicht,  daß  es  seinem  eigenen  inneren  Antriebe  gehorche.  „Es  ist 
überdies  erforderlich,  daß  es  einem  beträchthchen  Bruchteile  der 
öffentlichen  Meinung  bewiesen  hätte,  daß  seine  Forderungen  berech- 
tigt sind  und  unmittelbar  sich  verwirklichen  lassen.  Jeder  allgemeine 
Ausstand  wird  notwendigerweise  eine  Störung  in  den  ökonomischen 
Verhältnissen  hervorrufen;  er  wird  viele  Gewohnheiten  kränken  oder 
sogar  viele  Interessen  aufrühren.  Die  öffenthche  Meinung  des  ge- 
samten Landes  —  und  selbst  die  Meinung  desjenigen  sehr  wichtigen 
Teiles  der  Lohnarbeiter  aller  Art,  der  nicht  in  die  Bewegung  einge- 
treten sein  wird  —  wird  sich  daher  kraftvoll  kundgeben  gegen  die- 
jenigen, die  man  verantwortlich  machen  wird  für  die  Verlängerung 
des  Konfhktes.  Nun  aber  wird  die  öffenthche  Meinung  nicht  die 
KapitaHstenklasse  verantwortlich  machen,  und  nur  dann  sich  in  über- 
wältigender Stärke  gegen  sie  kehren,  wenn  durch  eine  glühende  und 
sachliche  Propaganda  die  Billigkeit  der  Arbeiterforderungen  und  die 
praktische  MögHchkeit,  sie  zu  befriedigen,  ihr  unmittelbar  bewiesen 
sein  werden  .  .  .  Und,  da  keine  Kraft,  auch  keine  revolutionäre,  gegen 
die  öffentliche  Meinung  des  ganzen  Landes  aufkommen  kann,  so  würde 
die  Arbeiterklasse  eine  sehr  ausgedehnte  Niederlage  erleiden"  (Etudes 
socialistes  5^*  ed.  1902,  S.  loif.). 


X.  Kapitel. 

Die  Öffentlicfie  Meinung  und  der  Weltkrieg. 

Erster  Abschnitt.    Vor  dem  Weltkriege. 

I.  (Vor  dem  Weltkriege  in  Deutschland.)  Die  öffentliche  Meinung 
im  Deutschen  Reiche  war  auf  einen  nahen  Krieg  wenig  vorbereitet. 
Sie  wußte  wohl,  daß  der  kommende  Krieg  groß  und  furchtbar  sein 
werde,  aber  sie  fürchtete  ihn  verhältnismäßig  wenig,  weil  sie  ein 
gewisses  Vertrauen  hegte,  daß  er  den  Nachbarmächten  ebenso  furcht- 
bar erscheine,  und  daß  es  gelingen  werde,  ihn  abzuwenden,  wie  es 
mehr  als  einmal  in  den  Jahrzehnten  seit  dem  Frankfurter  Frieden 


Der  Weltkrieg. 


Vor  dem  Weltkriege. 


505 


gelungen  war.  Denn  man  wußte,  daß  das  Reichsoberhaupt  lebhaft 
wünschte,  den  Frieden  zu  erhalten  und  daß  auch  unter  den  maß- 
gebenden Ministern  keiner  war,  der  eine  zum  Kriege  reizende  Politik 
vertreten  oder  geltend  gemacht  hätte.  Ganz  besonders  traf  dies  zu 
für  den  letzten  Reichskanzler  des  Friedens,  Herrn  von  Bethmann- 
HOLLWEG.  Die  öffentUche  Meinung  war  allerdings  auf  Deutschlands 
Großmachtstellung  stolz  und  wußte,  daß  diese  Neid,  Eifersucht, 
Haß  bei  den  alten  und  neuen  Feinden  erregte.  Sie  begrüßte  jeden 
Schritt  der  Machtbetonung,  weil  sie  richtig  schätzte,  daß  nur  die 
Furcht  vor  einem  gewaltigen  Gegner  die  bei  anderen  Völkern  vor- 
handenen Neigungen,  den  Frieden  zu  brechen,  zurückhalten  könne. 
Sie  wußte  wohl,  daß  Österreich-Ungarn  kein  sehr  starker,  wenn  auch 
ein  zuverlässiger  Bundesgenosse  war ;  aber  sie  hielt  das  Deutsche  Reich 
für  so  mächtig  vermöge  seines  I^andheeres,  daß  die  »Monarchie« 
durch  die  Gewißheit  der  »Nibelungentreue«  von  Fall  zu  Fall  hinlänglich 
geschützt  sein  werde,  um  den  offenbaren  Bestrebungen  Rußlands, 
durch  die  Balkanstaaten,  insbesondere  durch  Serbien,  Österreich  zu 
unterwühlen,  standzuhalten.  Dies  hatte  sich,  bei  Gelegenheit  des 
kühnen  Ährenthax  sehen  Schrittes,  Bosnien  und  die  Herzegowina 
in  das  Reich  einzuverleiben,  bewährt,  und  der  Erfolg  stärkte,  wie 
immer,  die  öffentliche  Meinung.  In  seiner  großen  durchdachten  Rede, 
die  der  Reichskanzler,  Herr  von  Bethmann-Hollweg,  am  7.  April  1913 
zur  Militärvorlage  gehalten  hat,  erinnerte  er  daran,  was  auch  die 
öffentliche  Meinung  wußte,  aber  gern  vergaß,  daß,  soweit  menschliche 
Voraussicht  reiche,  kein  europäischer  Krieg  entbrennen  werde,  in 
den  nicht  auch  wir  Deutsche  verwickelt  sein  würden.  Er  wies  darauf 
hin,  daß  die  Ereignisse  auf  dem  Balkan  „das  Verhältnis  der  Groß- 
mächte zueinander  nicht  nur  nahe  und  empfindlich  berühren,  sondern 
auch  verhängnisvoll  stören  können".  Auch  mit  dem  Dreibund,  und 
gerade  als  die  nach  Osten  und  Westen  vorgeschobene  Macht  des  Drei- 
bundes, bleibe  das  Deutsche  Reich  eingekeilt  zwischen  die  slavische 
Welt  und  die  Franzosen.  „Wir  müssen  darauf  gefaßt  sein,  uns  nach 
zwei  Seiten  unserer  Haut  wehren  zu  müssen."  Das  war  der  lautere 
Ausdruck  der  öffentlichen  Meinung  in  Deutschland  vor  dem  Kriege. 
Bethmann  warnte  zugleich  die  Kabinette  der  Großmächte  in  der 
Form,  daß  er,  als  er  seine  Meinung  aussprach,  die  Chancen,  daß  sie 
den  Mittelpunkt  kriegerischer  Aspirationen  bilden  würden,  seien  nicht 
gestiegen,  sondern  gesunken.  „Von  den  Dimensionen  eines  Welt- 
brandes, von  dem  Elend  und  der  Zerstörung,  die  er  über  die  Völker 
bringen  würde,  kann  sich  kein  Mensch  eine  Vorstellung  machen.  Alle 
Kriege  der  Vergangenheit  werden  wahrscheinlich  ein  Kinderspiel 
dagegen  sein.   Kein  verantwortlicher  Staatsmann  wird  gesonnen  sein. 


5o6  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffentuchen  Meinung. 

leichtfertig  die  lyunte  an  das  Pulver  zu  legen.  Die  Neigung  dazu  hat 
abgenommen.  Zugenommen  aber  hat  die  Macht  der  öffent- 
lichen Meinung,  und  innerhalb  der  öffentlichen  Meinung  der  Druck 
derer,  die  sich  am  lautesten  gebärden.  Das  pflegen,  je  demokratischer 
die  Einrichtungen  sind,  in  leidenschaftlich  erregten  Zeiten  (um  so 
mehr)  nicht  Majoritäten  sondern  Minoritäten  zu  sein."  Es  bezog  sich 
auf  Frankreich,  der  IVIinister  meinte  hier  offenbar  die  mnartikulierte« 
öffentliche  Meinung  der  Presse,  die  gerade  in  Frankreich  trotz  heftigster 
Gegensätze  innerhalb  ihrer  in  dem  einen  Punkte  eindeutig  war. 
BETH1VIANN-H0I.I.WEG  hat  kurz  vor  dem  Eintritt  der  Katastrophe  an 
den  Botschafter  in  lyondon  über  die  Kriegsbläserei  des  russischen 
Kriegsministers  geschrieben,  deren  „Rückwirkungen  auf  die  deutsche 
öffentHche  Meinung"  ihm  unverkennbar  und  bedenklich  schienen 
(»Die  deutschen  Dokumente«  I,  Nr.  3).  Seien  es  bisher  nur  die 
extremsten  Kreise  unter  den  Alldeutschen  und  Militaristen  gewesen, 
welche  Rußland  die  planvolle  Vorbereitung  eines  baldigen  Angriffs- 
krieges auf  uns  zuschoben,  so  „beginnen  sich  jetzt  auch  ruhigere 
PoHtiker  dieser  Ansicht  zuzuneigen";  auch  der  Kaiser  habe  sich  schon 
ganz  in  diese  Gedankengänge  eingelebt  und  es  sei  der  Ausbruch  eines 
neuen  »Rüstungsfiebers«  zu  befürchten.  Maßnahmen,  wie  die  Mehr- 
indienststellung von  Auslandskreuzern,  die  Armierung  und  Bemannung 
der  Schlachtschiffe  usw.,  die  sonst  als  notwendige  Folge  allmählicher 
ruhiger  Entwicklung  in  die  Erscheinung  treten  würden,  könnten 
verhängnisvoll  wirken,  wenn  sie  „panikartig  unter  dem  Druck  einer 
aufgeregten  und  von  Kriegsbesorgnis  erfüllten  öff entheben  Meinung" 
vorgenommen  würden.  In  seinen  nach  dem  Kriege  verfaßten  »Be- 
trachtungen« macht  der  Staatsmann  die  Bemerkung;  „Wo  Dif- 
ferenzen zwischen  der  Marine  und  der  poHtischen  I^eitung  sich  an- 
deuteten, trat  die  öffentliche  Meinung  fast  ohne  Ausnahme  auf  die 
Seite  der  ersteren.  Erwägung  der  internationalen  Kräfteverhältnisse 
galt  leicht  als  schwachmütige  Rücksichtnahme  auf  das  Ausland" 
(S.  loi).  Wie  wir  früher  gesehen  haben,  ist  dies  ganz  und  gar  cha- 
rakteristisch für  die  ÖffentHche  Meinung.  Es  fehlte  ihr  freilich  hier, 
wie  in  der  Regel,  nicht  ein  Begriff:  die  »Seegeltung«  als  Vollendung 
der  Macht,  das  Meer  als  die  Quelle  der  Völkergröße,  war  von  hervor- 
ragenden Gelehrten  ihr  vorgestellt  worden,  das  Vorbild  Groß- 
britanniens wirkte  in  leuchtender  Größe;  auch  sog  die  Flotten- 
begeisterung fortwährend  ihre  Nahrung  aus  den  mächtigen  Interessen 
der  Großindustrie,  die  bei  ihrem  Kampfe  um  Absatz  auf  dem  Welt- 
markte und  um  einen  »Platz  an  der  Sonne «,  nämüch  um  Anteil  am 
Kolonialbesitz  in  fremden  Weltteilen,  eine  Macht  hinter  sich  haben 
mußte  und  wollte  —  aber  diese  durchaus  natürlichen  und  in  sich 


Der  WEI.TKRIEG.  —  Vor  dem  Wei^tkriege.  507 

berechtigten  Bestrebungen  und  Ideen  sahen  nicht  die  Konsequenzen 
und  Gefahren,  sie  erkannten  nicht  die  Notwendigkeit,  um  der  Siche- 
rung und  Sicherheit  willen  Opfer  zu  bringen  —  eine  oberste  Regel 
der  poHtischen  Klugheit.  Durch  vermehrte  imd  verstärkte  Rüstungen 
allein  wähnten  sie  den  Gefahren  der  Lage  zu  begegnen,  oder  sogar 
ihnen  vorzubeugen,  und  sahen  nicht,  was  der  Staatsmann  sehen  muß, 
daß  solche  auch  die  Gefahr  näher  bringen.  Nur  eine  kleine  Minder- 
heit —  und  diese  war  nicht  die  der  Flottenschwärmer  —  innerhalb 
der  Zivilbevölkerung  sah  dem  kommenden  Kriege  gleichmütig,  ja 
zuweilen  mit  Genugtuung  entgegen;  sie  hatte  das  Verdienst,  auf  die 
Feindseligkeiten  der  Feinde  immer  von  neuem  scharf  aufmerksam 
zu  machen,  aber  sie  bemerkte  nicht  oder  bekümmerte  sich  nicht, 
daß  die  Art,  wie  sie  es  tat,  besonders  der  Ton  ihrer  Presse,  der  dem 
der  Nachbarn  wenig  nachgab,  dazu  diente,  diese  Feindseligkeiten 
zu  verschärfen  und  zu  vermehren.  Das  wollte  nicht  nur  die  große 
Menge  des  deutschen  Volkes  nicht,  auch  die  Mehrheit  der  Gebildeten, 
die  eigentliche  Trägerin  der  öffentlichen  Meinung,  war  davon  weit 
entfernt;  sie  erkannte  die  Größe  und  Nähe  der  Gefahr  nicht,  sie  ver- 
traute dem  allgemeinen  Friedensbedürfnis,  das  ja  in  Wahrheit 
einer  Friedensnotwendigkeit  entsprach  —  und  zog  dabei  Rußland 
und  die  mnartigen  Kinder«  auf  dem  Balkan  nicht  gehörig  in  Rech- 
nung^). Die  wesentUche  Gefühlspolitik  der  öffentlichen  Meinung 
trat  ganz  besonders  im  Verhältnis  zu  England  zutage.  Die  klare 
Einsicht,  daß  auch  um  sehr  hohen  Preis  ein  gutes  Verhältnis  zu  dieser 
Weltmacht  —  neben  der  damals  die  Vereinigten  Staaten  noch  nicht 
in  Betracht  kamen  —  gesucht  werden  müsse,  daß  dies  eine  Lebens- 
frage für  das  Deutsche  Reich  sei,  woran  dessen  ganze  Zukunft  hing, 
fehlte.  Nicht  ohne  Grund  wird  die  deutsche  Diplomatie  der  Jahre  1890 
bis  1904  angeklagt,  die  sicherUch  nicht  durch  überlegene  Klugheit 
sich  ausgezeichnet  hat;  aber  es  ist  recht  fragwürdig,  was  sie  gegen 
eine  leidenschaftlich  erregte,  von  den  Hochgefülilen  der  BiSMARCKSchen 
Ära  noch  erfüllte  öffentliche  Meinung  durchzusetzen  vermocht  hätte. 
Nicht  zu  übersehen  sei  es  —  meint  bei  Erörterung  des  Verhältnisses 
zu  England  G.  von  Jagow,  Ursachen  und  Ausbruch  des  Weltkrieges 
S.  34  — ,  daß  die  öffentliche  Meinung  jenseits  und  diesseits  des  Kanals 
durch  verschiedene  Zwischenfälle  (KRÜGER-Telegramm,  Burenkrieg, 
Rededuell  Bülow-Chamberi,ain,  Hetze  einzelner  Preßorgane)  einem 

*)  Treffend  stellt  der  belgische  Gesandte  Beyens  noch  in  seinem  ausführlichen 
Bericht  vom  24.  VI.  1913  fest,  daß  der  Kaiser  durch  die  friedliche  Tendenz  seiner 
Politik  während  der  letzten  Jahre  (nach  der  Daily  Telegraph-Sache)  wiederum  größeres 
Anaehen  gewonnen,  und  daß  er  sich  den  Wünschen  der  öffentlichen  Meinung  angepaßt 
habe,  in  dem  er  le  guardien  de  la  paix  war:  SchwerdTFEGER,  Der  Pehlspruch  v. 
Versailles,  S.  188. 


5o8  Besondere  Fäixe  der  Öffentijchen  Meinung. 

Bündnis  immer  ungünstiger  geworden  war.  Es  war  das  Unglück 
Deutschlands,  daß  seine  öffentliche  Meinung  an  Bismarck  einen 
Führer  gehabt  hatte,  dem  sie  fast  unbedingt  vertraute;  von  diesem 
Bande  losgelassen,  wähnte  sie  sich  jedem  möglichen  anderen  Führer 
überlegen  —  dem  deutschen  Kaiser,  der  sich  für  berufen,  sogar  vom 
Himmel  geweiht  hielt,  es  zu  sein,  mit  gutem  Grunde  —  und  gab  sich 
lieber  der  Leitung  eines  im  bunten  Gauklergewande  Klugheit  durch 
Dreistigkeit  übertrumpfenden  Journalisten  hin,  der  angeblich  und 
scheinbar  die  Bismarck  sehe  Tradition  bewahrte.  So  entstand  der 
sonderbare  Widerspruch,  daß  dieselbe  öffentliche  Meinung,  die  durch- 
aus gegen  den  Kaiser  eingenommen  war  und  ihm  kein  politisches 
Urteil  zutraute,  mit  höchster  Begeisterung  auf  die  politisch  mangel- 
haft erwogenen  Flottenvergrößerungsgedanken  des  Kaisers  und 
seiner  damaUgen  »Handlanger«  einging  und  bei  jeder  kritischen 
Gelegenheit  dem  gewaltigen  Seenachbar  fletschende  Zähne  zeigte, 
anstatt  durch  freundliche  Mienen  um  seine  Gunst  zu  werben.  So 
habe  —  sagt  Herr  von  Eckardstein,  Lebenserinnerungen  und  poli- 
tische Denkwürdigkeiten  II,  S.  41  —  Graf  BÜ1.0W  schon  in  der 
Samoa- Angelegenheit  „sich  nicht  nur  dem  Kaiser,  sondern  auch  fast 
der  gesamten  öffentlichen  Meinung  Deutschlands  gegenüber  in  einer 
sehr  schwierigen  Lage**  befunden;  und  „nur  unter  dem  Druck  der 
künstlich  verhetzten  öffentUchen  Meinung  schritt  man  zu  neuen 
Verhandlungen  mit  dem  engHschen  Kabinett  auf  der  Basis,  daß 
Deutschland  den  Hauptteil  der  Samoa-Gruppe  erhalten  sollte"  (das. 
S.  43).  So  instruierte  auch  der  Botschafter  Graf  Hatzfeldt  den 
Botschaftsrat  dahin,  es  müßten  (von  England)  hinreichende  Kom- 
pensationen zugestanden  werden,  um  die  Verständigung  „vor  unserer 
öffentlichen  Meinung  rechtfertigen  zu  können**  und  da  für  eine 
Kombination  der  beiden  Fragen  Samoa  und  Togo  die  »Arbitrage«  des 
Königs  von  Schweden  vorgesehen  war:  „Wir  müßten  jedenfalls 
unserer  öffentHchen  Meinung  gegenüber  den  größten  Wert  auf  Bei- 
behaltung der  Arbitrage  legen**  (S.  49).  Auch  bei  der  ferneren  Ver- 
handlung wollte  Hatzfeldt  als  feststehend  betrachtet  wissen,  „daß 
unsere  öffentliche  Meinung  durch  .  .  .  Verzicht  auf  Samoa  auf  das 
tiefste  erregt  und  .  .  .  auch  durch  Gewährung  großer  kolonialer  Kom- 
pensationen durch  England  nicht  beruhigt  werden  würde";  er  Heß 
ChamberIvAIN  sagen,  daß  er  einen  Ausgleich  auf  der  Basis  erstrebe, 
„welche  uns  die  Möglichkeit  bieten  würde,  bei  der  weiteren  Ent- 
wicklung unserer  freundschafthchen  Beziehungen  zu  England  auf  die 
bereitwillige  Unterstützung  unserer  öffentHchen  Meinung  zu  rechnen** 
(S.  63).  Der  so  schrieb  und  dachte,  war  ein  geschickter  Diplomat, 
aber  er  war  nicht  der  Leiter  der  auswärtigen  Pohtik,  noch  weniger 


Der  Weltkrieg.  —  Vor  dem  Weltkriege.  509 


der  Gesamtpolitik;  dieser  war  noch  der  greise  Fürst  H0HENI.0HE, 
oder  —  der  Kaiser :  weder  der  eine  noch  der  andere  war  imstande,  die 
öffentliche  Meinung  Deutschlands  zu  politisieren,  wie  es  gerade  in 
bezug  auf  das  Verhältnis  zu  England  mit  aller  Tatkraft  hätte  versucht 
werden  müssen.  So  versetzte  der  Burenkrieg,  der  wohlbegründete 
moralische  Entrüstung  fast  in  allen  Volksschichten  auslöste,  auch 
die  öffentliche  Meinung  in  einen  Zustand  der  Raserei,  der  sie  sehr 
geneigt  machte,  die  Ansicht  von  Hofgeneralen,  daß  es  „jetzt  Zeit  für 
uns  sei,  gegen  England  loszuschlagen"  zu  bilHgen  und  zu  unter- 
stützen —  es  gab  keine  Autorität,  die  dem  Publikum  mit  Aussicht 
auf  Erfolg  sagen  konnte,  daß  die  poHtische  Klugheit  gebiete,  sich 
jeder  Einmischung  in  die  Händel  Englands  mit  seinen  Vasallen 
(denn  zu  diesen  gehörten  schon  damals  Transvaal  und  die  südafri- 
kanische Repubhk)  zu  enthalten;  daß  die  Idee,  Englands  Welt- 
herrschaft zu  brechen,  etwas  sei,  was  —  wie  auch  immer  die  Zukunft 
Europas  sich  gestalten  möge  —  für  uns,  denen  der  Zweifrontenkrieg 
bevorstand,  die  wir  zwischen  die  zwei  großen  Militärmächte  eingekeilt, 
nur  den  schweren  Nationalitätenstaat  Österreich-Ungarn  und  ein  — 
wie  im  Grunde  jedermann  wußte  —  durchaus  unzuverlässiges  ItaHen 
in  unserem  Gefolge  hatten,  daß  dieser  Gedanke  für  uns  schlechthin  ein 
Noli  me  ^ang^r^.  darstellen  müsse.  Tatsächlich  wurde  die  öffentliche 
Meinung  zwischen  Sorgen  und  Zuversicht  hin-  und  hergerissen,  und 
ihre  Sorgen,  wenn  sie  rege  waren,  zwischen  Rußland  auf  der  einen, 
England  auf  der  anderen  Seite ;  daß  diese  beiden  Mächte  sich  die  Hände 
reichen  würden,  hielt  man,  bis  es  1907  geschah,  für  unmöglich,  wie 
der  geistig  nicht  normale  Staatssekretär  von  Holstein  diese  Ver- 
mutung immer  für  »naiv«  erklärt  hatte.  Der  einzige  feste  Punkt  in 
der  auswärtigen  Politik  war  für  die  öffentUche  Meinung  wie  für  die 
regierenden  Personen  das  Festhalten  am  »Dreibund«,  insbesondere 
an  Österreich-Ungarn,  das  wegen  seiner  deutschen  Bestandteile  als 
stammverwandt  empfunden  wurde;  das  Wort  von  der  Nibelungen- 
treue gab  diesem  guten  Willen  eine  heroische  Klangfarbe.  Anders 
war  das  Verhältnis  zu  Italien,  dem  Erbfeinde  des  auch  mit  ihm  »ver- 
bündeten« Österreich.  , .Unsere  öffentliche  Meinung  nahm,  besonders 
auch  im  Hinblick  auf  die  räuberische  Art  des  italienischen  Vorgehens, 
zum  überwiegenden  Teil  lebhaft  Partei  gegen  Italien"  (Jagow,  1.  c. 
S.  47).  Die  elementare  politische  Klugheit  gebot  hingegen  freundliche 
Neutralität,  und  unsere  Regierung  handelte  demgemäß.  —  So  hatte 
sich  mehr  und  mehr  die  Lage  zugespitzt.  Es  war  nicht  eine  Spitze, 
sondern  viele,  die  alle  als  Pfeile  gegen  das  Herz  des  deutschen  Reiches 
gerichtet  waren.  Die  öffentliche  Meinung  stand  dem  ohne  gehöriges, 
ohne  hinlänglich  tiefgehendes  Verständnis,  und  folglich  völlig  ratlos 


510  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffentwchen  Meinung. 

gegenüber.  Sie  fand  das  sog.  Ultimatum  Österreich-Ungarns  an 
Serbien  x>zu  scharf«,  wie  es  auch  Bethmann-Hoi,i.weg  und  Jagow 
fanden.  Aber  wdr  alle  hatten  auch  die  dumpfe  Empfindung,  daß  jede 
mildere  Behandlung  den  großserbischen  Größenwahn  und  seine 
blinde  Wut  nur  ermutigt,  und  daß  Rußland  dahinter  mit  Genugtuung 
sich  ins  Fäustchen  gelacht  hätte.  Zur  entschiedenen  Friedensliebe 
und  Friedenspolitik  des  Kaisers  und  seiner  damaligen  verantwortlichen 
Ratgeber  hatte  die  öffentliche  Meinung  Deutschlands  ein  unbedingtes 
und  gerechtes  Vertrauen;  die  Person  des  Monarchen,  ohnehin  mehr 
mit  Nachsicht  als  mit  Bewunderung  angesehen,  verlor  sogar  dadurch 
etwas  von  dem  Nimbus  seiner  Würde,  daß  man  ihn  als  einen  Führer 
im  Kriege  noch  weniger  als  im  Frieden  sich  vorstellen  konnte  und 
mochte.  Fest  stand  aber  für  die  öffentliche  Meinung  wie  für  die 
offizielle  Politik  und  deren  I^eiter  die  Notwendigkeit  der  Bündnistreue 
zu  Österreich-Ungarn,  für  jene  mehr  aus  moraUschen,  für  diese  durch- 
aus aus  praktischen  Gründen,  wenn  auch  die  Nibelungentreue  laut 
verkündet  wurde.  „Wir  müssen  und  können  der  österreichisch- 
ungarischen Monarchie  das  Bündnis  ehrhch  halten;  es  entspricht 
unsem  Interessen,  den  historischen  Traditionen  Deutschlands  tmd 
der  öffentlichen  Meinung  unseres  Volkes''  (Bismarck,  Gedanken  und 
Erinnerungen  II,  S.  257). 

2.  (Vor  dem  Weltkriege  in  England. )  Die  öffentliche  Meinung 
Englands  ist  ohne  Zweifel  politisch  geschulter  und  politisch  klüger 
als  die  deutsche.  Wenn  die  allgemeine  Bildung  dort  ohne  Zweifel 
tiefer  steht  und  ihre  Verbreitung  geringer  ist,  so  kommt  das  der 
politischen  Bildung  in  denjenigen  Kreisen,  die  auf  die  Gestaltung 
der  öffentlichen  Meinung  entscheidenden  Einfluß  üben,  eher  zugute, 
als  daß  es  sie  mindert.  Denn  es  hängt  unlösbar  damit  zusammen: 
I.  daß  die  öffentUche  Meinung  ihre  Zellkerne  in  geschlosseneren 
Kreisen  hat,  2.  daß  die  Aufmerksamkeit  der  Intellektuellen,  die  am 
meisten  zur  Gestaltung  der  öffentUchen  Meinung  wirken,  sich  mehr 
auf  die  poHtischen  Probleme  versammelt  und  verdichtet.  Beide 
Ursachen  tragen  dazu  bei,  daß  die  öffentliche  Meinung  Großbritanniens 
mehr  feste  und  flüssige  Bestandteile  in  bezug  auf  politische  Fragen 
enthält,  als  die  öffentliche  Meinung  anderer  Länder.  Dies  hat  jedoch 
seinen  hauptsächlichen  Grund  in  der  geschlossenen  und  gewaltigen 
Überlieferung  des  Landes,  in  der  Kontinuität  und  Konzinnität  seiner 
Entwicklung  und  dem  ungeheuren  Machtzauber  (dem  Prestige),  den 
die  Insel  kraft  ihrer  Erfolge  in  der  Weltbeherrschung  so  ausübt,  daß 
sie  —  wenigstens  am  hellen  Tage  einer  Friedensära  —  wie  die  Sonne  alle 
anderen  Sterne  verdunkelt.  Die  Geschlossenheit  der  für  die  Meinung 
maßgebenden  Kreise   ist  nur  ein  anderer  Ausdruck  der  Tatsache 


Der  WEI.TKRIEG.  —  Vor  dem  Wei^tkriege.  51 1 

daß  die  »regierenden  Familien«,  ungeachtet  aller  demokratischen 
Formen  und  Redensarten,  das  Heft  fest  in  ihren  Händen  behalten. 
Und  die  Intensität  des  poHtischen  Interesses  dieser  Kreise  ist  zum 
guten  Teile  eine  Folge  des  außerordentUchen  Wertes,  den  sie  auf  ihren 
Reichtum  und  auf  dessen  Erhaltung  legen.  Außerdem  ist  sie  eine 
Folge  der  Mentahtät  der  Frauen,  die  dem  männlichen  Geiste  viel 
näher  und  verwandter  ist  und  am  Urteil  über  Politik  lebhafteren 
Anteil  nimmt.  In  meiner  Schrift  „Der  engHsche  Staat  und  der  deutsche 
Staat"  (1917)  hatte  ich  geschrieben:  „Wenn  die  öffentliche  Meinung 
in  Deutschland  wie  in  England  großen  poHtischen  Einfluß  in  sich 
trägt,  so  dürfte  dort  —  in  Deutschland  —  ihr  chronischer,  in  England 
dagegen  der  akute  Charakter  stärkere  Bedeutung  haben ;  dieser  Unter- 
schied läßt  sich  am  einfachsten  deutHch  machen  dadurch,  daß  man 
beide  aufs  Lesen  bezieht:  in  Deutschland  behält  das  Buch  noch  eine 
verhältnismäßig  größere  Geltung;  in  England  ist  es  weit  mehr  die  Zei- 
tung, wonach  die  Ansichten  sich  richten."  (S.  276.)  Auch  amerikanische 
Beurteiler  (und  in  ihrem  Sinne  Lord  Bryce)  heben  hervor,  daß  die 
Zeitung  in  den  Vereinigten  Staaten  mindere  Geltung  habe  als  in  Eng- 
land, und  daß  es  auch  davon  herrühre,  daß  das  Leben  dort  sozusagen 
in  extensiver  Kultur  hegt;  für  Großbritannien  wird  das  Denken  alle 
Tage  frisch  wie  der  Frühstücksspeck  und  wie  das  Roastbeef  des 
abendlichen  dinner  in  London  zubereitet,  wenn  auch  die  nahe  ge- 
legenen gleichsam  offiziellen  Universitätsstädte  Oxford  und  Cambridge 
immer  einige  Ingredienzien  dazu  Uefern.  Nun  muß  aber  auch  hervor- 
gehoben werden  —  was  in  der  genannten  Darstellung  übersehen 
wurde  — ,  daß  auch  die  Rückwirkung  des  Pubhkums  auf  die  Presse 
stärker  und  bewußter  ist,  als  irgendwo,  insbesondere  durch  die  unent- 
geltUche  Mitarbeit  benannter  und  unbenannter,  angesehener  und 
unbekannter  Männer  und  Frauen  an  den  Zeitungen  durch  die  j, Leiters 
to  the  Editor'*,  mit  deren  Bedeutung  und  Einfluß  sich  die  „Stimmen  aus 
dem  Pubhkum"  in  unseren  Blättern  nicht  entfernt  vergleichen 
können.  —  Der  berufene  Erfolg,  den  das  Zusammenwirken  von 
Nationalcharakter,  insularer  Beschränktheit,  historischer  Erfahrung, 
Weltmacht  und  aristokratischer  Regierungsgrundlage  und  Methoden 
in  der  britischen  Seele  gehabt  hat,  ist  die  vollkommene  Steifheit  und 
Sicherheit  eines  Nationalstolzes,  für  den  alles  Ausländische 
minderwertig  und  leicht  ein  wenig  lächerlich  ist.  Dieser  Nationalstolz 
ist  auch  das  beharrende  Grundelement  der  britischen  öffenthchen 
Meinung.  Auf  ihm  beruhen  ihre  festen  politischen  Bestandteile,  und 
auch  die  flüssigen  sind  von  ihm  eingedämmt;  er  erhebt  sich  oft  in 
wunderlichen  Blasen.  Als  die  festen  oder  wenigstens  flüssigen  Bestand- 
teile des  britischen  pohtischen  Bewußtseins  seien  hier  aufgezählt: 


512  Besondere  Fäi^le  der  Öffentuchen  Meinung, 

I.  die  Lehre  von  den  britischen  Interessen:  daß  sie  für  alle  politischen 
Fragen  entscheidendes  Gewicht  haben:  sie  werden  je  nach  Bedarf 
auch  »Lebensinteressen«  genannt.    So  denken  auch  andere  Nationen 
über  ihre  Interessen,  jede  denkt  so  auf  ihre  Weise.    Aber  der  Brite 
denkt   so   und   zieht   mit   intuitiver,   bedenkenfreier   Sicherheit   die 
Folgerungen  daraus.  Er  bewährt  darin  seine  politische  Reife  und  Kraft, 
daß  sie  ihm  über  aller  GefühlspoUtik,  daher  auch  über  aller  Partei- 
pohtik    steht.     Darin    beruht    die    Kontinuität    der    auswärtigen 
PoUtik,  trotz  der  Pendelschwingung  der  Regierungen  und  obgleich 
hier  wie  anderswo  die  traditionelle  MachtpoHtik  ihre  Hauptstütze 
in  der  konservativen  Partei  hat,  auch  vom  Oberhause  aus  am  be- 
wußtesten getrieben  wird,  ja  gleich  dem  Hosenbandorden   als  zur 
Prärogative  der  Lords  gehörig  angesehen  wurde.    Es  war  sehr  unge- 
wöhnUch,  daß  in  Sir  Edward  Grey  ein  Mann  an  die  Spitze  des 
Foreign  Office  trat,  der  nicht  dem  Peers-Hause  angehörte,  und  noch 
ungewöhnlicher,   daß  er  K.  G.  (Knight  of  the  Carter)  wurde.    Über- 
raschungen in  der  Form,  die  gleich  den  Überraschungen  in  der  Sache 
auf  die  öffentliche  Meinung  einen  tiefen  Eindruck  gemacht  haben. 
Als  sachüche  Überraschung  wirkte  es,  trotz  allem,  was  man  in  dieser 
Hinsicht  gewohnt  war,  daß  das  Kabinett  der  Pro-Boers  und  Little- 
Englanders  —  denn  als  deren  Partei  wollte  die  übergroße  Mehrheit 
der  Wähler  dem  unverschämten  ImperiaUsmus  der  Tortes ^  der  dem 
Lande  im  Burenkriege  unerwartet  teuer  geworden  war.  Halt  gebieten  — 
die  imperiahstische  Politik  der  Lansdowne  und  Chamberlain  unent- 
wegt fortsetzte  und  ihr  sogar  bald  eine  schärfere  Spitze  verUeh.    Die 
Herren  Asquith  —  zuerst  war  ein  wirklicher  Mann  des  Friedens,  Herr 
Campbell- Bannerm AN,  an  die  Spitze  getreten  —  Grey  und  Haldane 
waren     die     Präsidenten    jener    Liberal    (Imperialist)    League,    die 
von   Joe   Chamberlain   als    ^Jmperialism  in  brackets"   heftig  ver- 
spottet worden  war.    Dieser  Imperialismus  in  Klammern  war  aber 
gerade  das,  was  die  öffentliche  Meinung  und  ihr  gehorsamster  Diener, 
Sir  Edward  Grey,  schätzten  und  begehrten.    Sie  wollten  allerdings 
den  ImperiaUsmus,  aber  er  sollte  eingeklemmt  werden  in  die  Klammern 
der  FriedensHebe  und  des  Eintretens  für  die  Rechte  der  schwächeren 
und  kleineren  Staaten,  mit  anderen  Worten  in  die  Klammern  der 
Scham  und  der  Heuchelei,  die  zusammen  die  verschämte  Heuchelei, 
den  cant  charakterisieren.     Dies  war  also  richtig  auf  die  öffentliche 
Meinung  berechnet,  die  hier,  wie  so  oft,  das  Widersprechende  in  sich 
zu  vereinigen  beflissen  war:  den  Imperialismus  und  den  Pazifismus, 
was  für  England  zugleich  dem  europäischen  Kontinent  gegenüber  die 
Maxime    bedeutete    Bella  gerant   aliil     In    vollkommener    Überein- 
stimmung befanden  sich  Regierung  und  öffentUche  Meinung  durch 


Der  Weltkrieg.  —  Vor  dem  Wei^tkriege.  513 

das  Bestreben,  den  Gegensatz  zwischen  Frankreich  und  Deutschland 
von  neuem  anzufachen,  d.  h.  die  chauvinistische  Revanchestimmung 
der  Pariser  zu  ermutigen  und  zugleich  das  Deutsche  Reich  als  Friedens- 
störer hinzustellen.  Der  Sympathie  der  britischen  öffentHchen 
Meinung  wurden  die  Franzosen  versichert,  selbst  wenn  es  um  eine  so 
sichtHch  faule  Sache,  wie  die  von  ihnen  in  Anspruch  genommene  Er- 
oberung von  Marokko  war,  zum  Kriege  mit  Deutschland  käme.  Sir 
Edward  Grey  sprach  diesen  seinen  Wunsch  schon  im  Beginn  der 
ersten  Marokko- Krise  dergestalt  gegen  die  Botschafter  beider  Länder 
aus,  daß  er  als  seinen  »Glauben«  bezeichnete,  die  britische  öffentliche 
Meinung  werde  über  die  »materielle  Unterstützung«  Frankreichs 
einig  werden.  Die  liberale  und  der  Erhaltung  des  Friedens  günstige 
„Partei,  welche  die  Mehrheit  in  der  französischen  Kammer  hatte, 
wurde  gefürchtet  von  unserem  Auswärtigen  Amt  und  von  der  Times, 
die  sich  verbündeten  mit  allem,  was  am  wenigsten  liberal  und  am 
wenigsten  dem  Frieden  geneigt  war  in  der  französischen  öffentHchen 
Meinung"  —  dies  das  klassische  Zeugnis  des  ausgezeichneten  enghschen 
Gelehrten  Bertrand  Russeli.  {yyThe  policy  of  the  Entente''  1916, 
p.  16)^).  Derselbe  Autor,  der  übrigens  die  Ansicht  vertritt,  daß  die 
deutsche  Regierung  weit  mehr  zu  tadeln  sei  als  die  britische,  sowohl 
für  den  Kriegsausbruch  als  für  die  Art  der  Kriegführung,  ist  gleich- 
wohl offen  genugj  zu  erklären:  „Was  unser  Auswärtiges  Amt  beun- 
ruhigte, war  nicht  die  Furcht  vor  Krieg  zwischen  Frankreich  und 
Deutschland,  sondern  die  Furcht,  daß  sie  zu  einer  Verständigung 
gelangen  möchten,  die  für  unsere  Interessen  nachteilig  wäre"  (p.  29) 
und:  „Ist  es  überraschend,  wenn  Deutschland,  eingedenk,  daß  wir 
vor  kurzem  (1912)  uns  geweigert  hatten,  Neutralität  zu  versprechen, 
wenn  Deutschland  angegriffen  würde,  erkennend,  daß  wir  offenbar 
bange  waren  vor  freundlichen  Beziehungen  zwischen  Frankreich  und 
Deutschland  und  nicht  uns  scheuten,  mit  Krieg  zu  drohen  (wie  Herr 
Lloyd  George  im  Juli  191 1  tat),  zu  der  Schlußfolgerung  kam,  daß 
wir  eine  Kraftprobe  zwischen  Deutschland  und  der  Entente  wünschten  ?" 
(p.  31).  Russell  meint,  was  die  ungeheure  Mehrheit  der  Engländer 
angehe,  so  sei  es  das  Gegenteil  der  Wahrheit,  aber  das  Auswärtige 


>)  Der  belgische  Gesandte  in  London  schrieb  am  23.  Juni  1006:  ..Der  Standpunkt 
der  öftentlichcn  Meinung  ist  festgelegt.  Die  englische  Presse  hat  sich  in  Angriffen 
gegen  den  Kaiser,  seine  Regierung  und  sein  Volk  derart  ausgetobt,  daß  das  Publi- 
kum mißtrauisch  bleibt.  Deutschland  ist  der  große  Nebenbuhler  auf  dem  Weltmarkte, 
als  Militär,  und  in  Zukunft  vielleicht  auch  als  Seemacht."  Am  8.  Februar  1907 
schreibt  derselbe  die  durch  Furcht  und  Eifersucht  hervorgerufene  antideutsche  Stim- 
mung habe  noch  nichLs  von  ihrer  Stärke  eingebüßt;  die  üffenthche  Meinung  scheine 
von  dem  deutschen  Wahlergebnis  (das  der  Regierung  verhältnismäßig  günstig  war) 
enttäuscht. 

Tön  nie».  Kritik.  -• 


514  Besondere  Fäi,i.e  der  Öffentwchen  Meinung. 

Amt  und  die  Tiwßs  hätten  die  Sachen  so  geführt,  „daß  die  Deutschen 
zu  keiner  anderen  Schlußfolgerung  kommen  konnten." 
Die  Furcht  vor  guten  Beziehungen  zwischen  Frankreich  und  Deutsch- 
land sei  der  uneingestandene  Beweggrund  der  ganzen  englischen 
Politik  gewesen  (p.  36),  und  obgleich  diesmal  (1911)  noch,  trotz  der 
herausfordernden  Rede  L1.0YD  Georgk*s,  die  diplomatische  Frage 
erledigt  wurde,  „so  blieben  doch  die  schlimmen  Wirkungen  auf  die 
öffentüche  Meinung"  (p.  37).  ,,Die  Engländer,  die  Herrn  I^loyd 
George  für  einen  echten  Friedensfreund  hielten,  waren  überzeugt, 
daß  er  schwerwiegende  geheime  Gründe  für  seinen  Vorstoß  gehabt 
haben  müsse;  der  5>Panther«  von  Agadir  erinnerte  sie  an  die  Kaiserrede 
zu  Tanger  von  1905,  und  sie  kamen  zu  der  entschiedenen  Ansicht, 
daß  die  deutsche  Politik,  dreist  und  aggressiv  immer  die  internationale 
I^age  störe,  immer  bei  der  Hand  sei,  die  Welt  in  Krieg  zu  stürzen ;  irre- 
geführt durch  die  Times,  blieben  die  Engländer  in  Unwissenheit  über 
die  deutsche  Sache  und  erfuhren  nicht,  daß  sie  und  die  Franzosen  die 
wirklichen  Angreifer  gewesen  waren."  —  Aber  die  öffentliche  Meinung 
Englands  war  nicht  nur  von  Furcht  vor  Deutschland,  die  sich  in 
Gespensterfurcht  vor  einer  Invasion  verdichtete,  angefüllt;  es  war 
auch  der  Haß,  die  Eifersucht  in  ihr  rege,  sie  hegte  den  ehrlichen 
Wunsch,  dem  Deutschen  Reich  mitsamt  seiner  Industrie  und  seiner 
Flotte  den  Garaus  zu  machen.  Wenn  dies  auch  nur  von  Heißspornen 
ausgesprochen  wurde,  so  verbreiteten  sich  doch  immer  mehr  jene 
Gefühle  und  erhoben  sich  zur  hohen  Politik.  Das  hing  zusammen 
mit  dem  anderen  Grundsatz,  der  in  der  britischen  öffenthchen  Meinung, 
soweit  sie  politische  Gedanken  hegt,  feststeht,  das  ist  2.  der  Grundsatz 
des  europäischen  Gleichgewichts,  der  halance  of  power.  Es  muß 
Verwunderung  erregen,  daß  eine  Nation,  die  sich  gern  ihres  untheo- 
retischen Charakters  rühmt,  in  der  Politik  einer  so  grauen  Theorie 
huldigt,  ebenso  wie  das  Volk  der  Vereinigten  Staaten  der  Monroe- 
Doctrin,  die  aber  dadurch  sich  auszeichnet,  daß  sie  ehrlich  das  ameri- 
kanische Interesse  zur  Begründung  geltend  maqht,  während  die  eng- 
lische öffentliche  Meinung  hier,  wie  immer,  die  Humanität  und,  wenn 
möglich,  die  Vorsehung  ins  Gefecht  führt,  die  freiHch  auch  den  bri- 
tischen Interessen  immerdar  zur  Hilfe  kommen.  Ein  freidenkender 
und  zugleich  frommer  Engländer,  John  Bright,  nannte  jene  Lehre 
vom  Gleichgewicht  ein  Idol,  dem  zahllose  Opfer  gebracht  worden 
seien.  Treffend  ist  diese  Charakteristik  auch  dadurch,  daß  sie  auf 
einen  religiösen  Aberglauben  als  die  trübe  Quelle  hinweist,  aus  der 
die  Verehrung  dieses  Idols  fheßt.  In  der  Tat  ist  der  kritiklose  Glaube 
hier  wie  sonst  ein  Element  der  Stärke.  Wenn  ein  Staatsmann  die 
Formel  ausspricht,  so  kann  er  darauf  rechnen,  daß  ihm  nachgesprochen, 


Der  Wei^tkrteg.  —  Vor  dem  Wei^tkriege.  515 

daß  ihm  geglaubt  wird.^)  —  Ein  Grundsatz  von  ziemlich  fester  Be- 
schaffenheit war  ferner  auch  3.  der  »Zwei-Mächte-Standard  «geworden, 
des  Inhaltes,  daß  es  für  Großbritannien  notwendig  sei,  immer  den 
beiden  nächst  ihm  größten  Seemächten,  auch  wenn  sie  verbunden 
wären,  überlegen  zu  bleiben.  Ein  schlechthin  kriegerischer,  miH- 
taristischer  Grundsatz,  der  jede  Macht,  auch  wenn  sie  wie  Frankreich 
seit  1904  verbündet  und  in  WirkHchkeit  abhängig  war,  als  mögHchen 
Feind  betrachtet.  Er  ist  gleichbedeutend  mit  dem  nicht  so  gern  ein- 
gestandenen der  vollkommenen  Herrschaft  Großbritanniens  über 
die  Meere  y^Rule  Briiannia,  rule  the  waves".  Als  Maxime  des  britischen, 
poHtischen  Handelns  geht  er  durch  die  letzten  3  Jahrhunderte  hin- 
durch. Ihm  ist  vor  allem  die  Aufrechterhaltung  des  Beuterechtes  zur 
See  zu  verdanken,  obwohl  sie  längst  auch  von  britischen  Völkerrechts- 
lehrern als  schlechthin  barbarisch  charakterisiert  worden  ist.  So  muß 
es  4.  als  ein  wenigstens  flüssiges  Stück  der  öffentlichen  Meinung  in  Eng- 
land betrachtet  werden,  daß  dies  angebliche  Recht  nicht  aufgegeben 
werden  dürfe.  Allerdings  regten  sich  kurz  vor  dem  Weltkriege  Stimmen, 
die  es  als  eine  Schande  bezeichneten  und  zugleich  das  Interesse  der  ge- 
waltigen britischen  Handelsflotte,  von  der  auch  die  Ernährung  des  Insel- 
reiches abhängig  sei,  geltend  machten,  um  die  Abschaffung  als  ratsam 
erscheinen  zu  lassen.  Bezeichnend  aber  ist,  daß  eine  radikale  und 
soziahstische  Wochenschrift,  der  New  Stafesman,  am  16.  Mai  1914 
einen  Artikel  von  3  Spalten  brachte,  um  das  Seebeuterecht  zu  ver- 
teidigen! —  Als  ein  flüssiges  Element  möchte  ich  auch  bezeichnen 
5.  die  Ansicht,  daß  der  Schein  immer  aufrecht  erhalten  werden 
müsse,  als  verabscheue  die  britische  Öffentliche  Meinung  den  Krieg 
schlechthin  aus  moraUschen  und  religiösen  Beweggründen,  und  daß 
doch  ebensolche  Beweggründe  die  Teilnahme  an  Kriegen  und  die 
ihnen  folgenden  Annexionen  und  Vernichtungen  anderer  Mächte 
notwendig  machen  und  rechtfertigen.  Denn  —  in  den  Worten  des 
Schweden  Steffen  —  es  ist  „der  Instinkt  des  Engländers,  sich  stets 
einzubilden,  daß  er  streng  moraUsch  handle,  wenn  er  tatsächUch  mit 
allen  zweckdienHchen  oder  nötigen  Mitteln  seine  krassen  Macht- 
interessen fördert".   Darum  wird  die  öffentHche  Meinung  einen  Krieg 

*)  Ein  englischer  Gelehrter,  Ph.  H.  W — d,  der  als  einer  der  scharfsinnigsten 
volkswirtschaftlichen  Denker  Englands  bezeichnet  wird,  schrieb  am  10.  September 
191 4  an  den  Schweden  Gustav  F.  Steffen  u.  a.,  nachdem  er  seine  glühende  Hoff- 
nung ausgesprochen,  daß  die  Allierten  siegen  würden:  „Und  schließlich  hoffe  ich, 
daß  jener  widerwärtige  Götze,  den  man  das  »europäische  Gleichgewicht«  nennt,  ge- 
«tiirzt  werden  wird.  Dieses  »Gleichgewicht«  bedeutet,  daß  man  überall  Explosivstoffe 
umherliegen  hat,  die  durch  Zündschnüre  verbunden  sind  —  nur  um  die  Leute  abzu- 
schrecken, daß  sie  nicht  brennende  Streichhölzer  wegwerfen!  Wir  haben  jetzt  gesehen, 
wie  vortrefflich  da,s  System  wirkt."  Steffen,  Krieg  und  Kultur.  Aus  dem  Schwe- 
dischen, S.  36. 

33* 


5l6  Besondere  Fälle  der  Öffentlichen  Meinung. 

nur  billigen,  wenn  sie  die  Überzeugung  gewonnen  hat,  daß  es  ein  »ge- 
rechter und  notwendiger  Krieg«  {a  just  and  necessary  war)  sei  — 
die  Billigung  wird  aber  nicht  etwa  auf  den  Verteidigungskrieg  einge- 
schränkt —  welcher  enghsche  Krieg  wäre  ein  solcher?  —  Innerhalb 
dieser  Elemente  und  mehr  oder  weniger  durch  sie  gefördert,  war  die 
Abneigung  gegen  Deutschland  ins  Ungeheuerliche  angewachsen. 
Ein  Hberaler  Staatsmann  (Rosebery)  sprach  von  dem  furchtbaren 
Gegner,  „der  uns  bewegt,  wie  das  Meer  die  schwachen  Teile  eines 
Küstenlandes".  So  erklärt  sich,  nach  Helfferich,  der  englische 
Kampf  gegen  das  Bagdadbahn-Projekt  in  der  Hauptsache  daraus, 
daß  die  britischen  Staatsmänner  und  die  britische  öffentliche  Meinung 
in  dieser  Bahn  einen  außerhalb  der  britischen  Kontrolle  stehenden 
Zugang  zum  Persischen  Golf  und  die  Möglichkeit  einer  deutschen 
Festsetzung  an  dessen  Küsten,  darin  aber  eine  Bedrohung  Indiens 
erblickten  (Vorgeschichte  des  Weltkrieges  S.  50).  Mit  wenigen  Aus- 
nahmen arbeitete  die  gesamte  einflußreiche  Presse  in  dieser  Richtung, 
sie  malte  den  Teufel  des  Krieges  alle  Tage  an  die  Wand.  Von  England 
aus  ist  die  Behauptung,  daß  die  Gewinninteressen  von  Waffen-  und 
Panzerplattenfabriken  dahinter  gestanden  haben  —  eine  Behauptung, 
die  auch  auf  Deutschland  und  Frankreich  angewandt  wurde  —  mit 
der  größten  Bestimmtheit  und  dem  geringsten  Widerstand  aus- 
gesprochen worden;  in  England  erhielt  die  schmutzige  kriegs- 
treiberische Presse  ihren  Namen  als  »gelbe  Presse«.  Ihre  Aufgabe 
und  ihre  Leistung  war,  die  öffentliche  Meinung  vorzubereiten  und 
bei  jedem  wirklichen  oder  möglichen  Konflikt  die  Schuld  auf  das 
Volk  zu  wälzen,  das  bald  nachher  mit  dem  Schimpf worte  »Hunnen« 
bedacht  wurde.  ,,Es  ist  klar,"  schrieb  am  24.  Mai  1907  der  belgische 
Gesandte  in  London,  Graf  Lalaing,  „daß  das  amtUche  England  im 
stillen  eine  deutschlandfeindhche  Politik  befolgt,  die  auf  eine  Iso- 
lierung Deutschlands  abzielt,  und  daß  König  Eduard  es  nicht  ver- 
schmäht hat,  seinen  persönhchen  Einfluß  in  den  Dienst  dieser  Idee 
zu  stellen;  aber  es  ist  sicherUch  sehr  gefährUch,  die  öffentliche  Meinung 
in  so  offenkundiger  Weise  zu  vergiften,  wie  es  die  unverantwortüche 
Presse  tut,  von  der  hier  die  Rede  ist."  Und  im  gleichen  Sinne  schrieb 
am  30.  Mai  der  belgische  Gesandte  in  Berlin,  daß  das  Mißtrauen  durch 
die  persönlichen  Bemühungen  des  Königs  von  England  genährt  werde. 
„Die  Presse  tut  das  ihrige  dazu,  indem  sie  jeden  Erfolg  der  äußeren 
Politik  Englands  als  auf  das  Endziel  gerichtet  hinstellt,  Deutschland 
zu  isoUeren.  Wer  wollte  wagen,  zu  behaupten,  daß  sie  sich  in  diesem 
Punkte  irrt?"  —  Zwei  Monate  vor  der  Katastrophe  schilderte  sehr 
lebendig  ein  englischer  Schriftsteller,  von  BerUn  aus,  den  Zustand 
und  die  Mache  der  britischen  öffentUchen  Meinung  ( The  New  Statesman 


Der  Weltkrieg.  —  Vor  dem  Wei^tkriege.  517 

vom  30.  Mai  1914).  Der  englische  Journalist  in  Berlin  sei  am 
wenigsten  zu  tadeln  für  die  Verhetzung.  Er  sei  ein  geplagtes  Indi- 
viduum und  habe  wenig  Zeit,  das  Land  wirklich  kennen  zu  lernen, 
noch  weniger,  die  Wahrheit  seiner  Neuigkeiten  kritisch  zu  prüfen. 
„Er  weiß  überdies,  was  man  in  England  von  ihm  erwartet.  Vor  kurzem 
sprach  ich  mit  einem  Korrespondenten  der  von  Paris  gekommen 
war  und  nunmehr  von  BerHn  aus  nach  London  schreiben  sollte. 
Er  fühlte  den  Wechsel  als  eine  Erlösung.  In  Paris,  sagte  er,  war  man 
gar  zu  sehr  beschränkt.  Man  durfte  weder  schimpfen,  noch  kritisieren, 
nicht  einmal  auf  offenbare  Übelstände  hinweisen.  »Das  wäre 
schädlich  für  die  Entente«,  so  lautete  die  Weisung  aus  London.  In 
Berlin  habe  man  freie  Hand.  Je  mehr  Geschichten  von  Deutschlands 
niederträchtigen  Ambitionen,  von  brutalen  Schutzmännern,  von 
Soldatenmißhandlungen  oder  von  Beamtendummheiten,  um  so 
besser  ..."  „Kein  Gerücht  ist  zu  abgeschmackt,  berichtet  zu  werden, 
keine  Geschichte  zu  unbedeutend,  so  lange  sie  darzutun  geeignet  ist, 
was  für  Narren  oder  Schurken  diese  Deutschen  sind."  —  Dieser 
Schriftsteller  sieht  die  Sache  noch  ziemlich  arglos  an ;  er  scheint  nichts 
zu  wissen  von  dem  „Boykott  alles  Deutschen  durch  die  weltum- 
spannende Organisation  der  Presse,  die  in  diesen  Jahrzehnten  uns 
nicht  nur  geschäftlich,  sondern  auch  kulturell  und  menschlich  in  Verruf 
zu  bringen  suchte  und  fast  alle  Schlagworte  des  Weltkrieges  von  langer 
Hand  her  vorbereitete".  „Es  ist  die  aufsteigende  Welle  im  Lande 
der  public  opinion,  die  den  Staatsmännern,  die  einen  anderen  Weg 
gehen  möchten,  schon  uubequem  werden  könnte,  denjenigen  aber, 
der  sich  ihrer  bemächtigt,  mit  starkem  Ruck  in  die  Höhe  tragen 
wird."^)  „Es  wird  eine  zukünftige  Aufgabe  der  Geschichte  sein,  fest- 
zustellen, welche  Rolle  diese  Presse,  der  Zeitungskonzern  des  Lord 
N0RTHC1.IFFE  mit  seinem  Gefolge  abhängiger  Organe  in  der  Provinz 
und  im  ganzen  englischen  Kolonialreich,  das  Bureau  Reuter  und 
die  Associated  Press,  der  Temps  und  Matin  für  die  Vorbereitung 
einer  antideutschen  und  kriegerischen  Atmosphäre  gespielt  haben"*). 
Diese  Maschine,  urteilt  Oncken,  greife  in  den  nächsten  Jahren  so 
sicher  und  regelmäßig  ineinander,  daß  man  nicht  von  einem  regellosen 
Überflutetwerden  der  Staatskunst  durch  die  »öffentliche  Meinung«, 
sondern  eher  von  einem  zielbewußten  politischen  Willen  sprechen 
möchte,  der,  von  oben  nach  unten  durchsickernd,  als  eine  lebende 
Energie  von  unabsehbaren  Wirkungen  sich  immer  weiter  potenziert. 


*)  Hermann  Oncken,  Die  Vorgeschichte  des  Krieges,  „Deutschland  und  der 
Weltkrieg"«,  S.  542. 

')  Dazu  ist  mindestens  noch  die  Novoje  Vremja  zu  zählen,  die  eine  Filiale  der 
NoRTHCLipFS-Presse  für  das  Zarenreich  geworden  war. 


5l8  Besondere  FÄr,i,E  der  Öffentwchen  Meinung. 

Damit  ist  in  einem  etwas  verwegenen  Gleichnis  zutreffend  ausge- 
drückt, wie  die  englische  PoHtik  allmählich  die  englische  öffentliche 
Meinung  in  die  Vorstellung  hineingeknetet  hat  (um  ein  anderes 
Gleichnis  zu  gebrauchen),  daß  Seite  an  Seite  mit  dem  Zarismus  zu 
kämpfen,  für  Recht,  Freiheit,  ZiviHsation  kämpfen  heißt,  weil  jeden- 
falls gegen  Deutschtum  kämpfen  so  viel  als  die  Barbarei,  die  Nieder- 
tracht, den  Militarismus  kämpfen  heiße.  Das  war  unbedingt  keine 
leichte  Sache,  Daß  sie  gelang,  muß  als  ein  Meisterstück  der  hohen 
poUtischen  Betrugskunst  und  Taschenspielerei  gewürdigt  werden. 
Es  hieß  so  viel  als  die  öffentliche  Meinung  auf  den  möglichen  Fall 
eines  Elrieges,  wie  der  Weltkrieg  tatsächlich  war,  von  langer  Hand 
vorbereiten.  Dieser  möghche  Fall  war  mit  dem  AugenbHcke  der 
Entente  mit  Frankreich  gegeben,  auch  ohne  daß  es  noch  einer  be- 
sonderen Entente  mit  Rußland  bedurft  hätte.  Denn  daß  in  einem 
ernsten  deutsch-französischen  Konflikt,  wie  sehr  er  von  Frankreich 
oder  sogar  von  Rußland  eingefädelt  werden  mochte,  Deutschland 
befHssen  sein  mußte,  um  diesen  Zweifrontenkrieg  zu  bestehen,  sich 
die  Offensive  gegen  Frankreich  zu  sichern,  stand  strategisch  fest;  der 
Fall  war  damit  gegeben,  und  es  galt  mithin,  selbst  unter  den  un- 
günstigsten Umständen  einen  solchen  KoaUtionskrieg  als  einen 
gerechten  und  notwendigen  Kxieg  erscheinen  zu  lassen. 

Die  ungünstigsten  Umstände  traten  ein:  ein  Vorstoß  —  nicht 
einmal  direkt  von  Rußland,  das  allenfalls  noch  als  Kulturstaat,  ver- 
glichen mit  dem  barbarischen  Deutschland,  dem  britischen  PhiHster, 
der,  nach  Houston  Stewart  Chamberi^ain,  unkundig  ist  wie  die 
Kaffern,  eingebildet  werden  mochte;  sondern  von  einem  Schützling 
Rußlands,  von  Serbien,  einem  jungen  Staate,  dem  sich  alle  möglichen 
Eigenschaften,  nur  nicht  die  der  Gesittung,  andichten  Heßen.  Die 
Kunde  von  dem  scheußlichen  Doppelmorde,  dem  ein  fürstliches 
Ehepaar  am  27.  Juni  1914  zum  Opfer  fiel,  konnte  nur  Entsetzen 
und  Empörung,  Mitleid  mit  unschuldigen  Kindern,  die  ihrer  Eltern 
beraubt  waren,  auslösen;  auch  fühlte  man  wohl,  daß  das  Ereignis 
eine  politische  Bedeutung  hatte  —  für  Osten  eich.  Es  ist  bezeichnend, 
daß  eine  Wochenschrift  wie  der  New  Statesman,  die  einen  hoch- 
stehenden Teil  der  britischen  IntelHgenz  repräsentierte  und  an  der 
öffentHchen  Meinung  mitzuwirken  berufen  war,  in  der  ersten  Nummer 
nach  dem  Morde,  am  4.  Juli,  am  Schlüsse  eines  Artikels  über  die 
Aussichten  Österreich-Ungarns,  darauf  hinweist,  daß  der  Erzherzog 
den  Trialismus  begünstigt  habe  und  der  größte  Freund  der  serbo- 
kroatischen Rasse  gewesen  sei,  zugleich  freilich  der  entschiedenste 
Gegner  des  Gedankens,  sie  der  Monarchie  zu  entziehen.  „So  erklärt 
es  sich,  daß  der  slavophilste  Fürst,  der  je  dem  österreichischen  Thron 


Der  Weltkrieg.  —  Vor  dem  Weltkriege. 


519 


nahe  kam,  durch  emen  sla vischen  Parteigänger  ermordet  wurde/* 
Sodann  wird  in  einer  allgemeinen  Betrachtung  über  politischen 
Meuchelmord  ein  menschliches  Mitgefühl  mit  den  Mördern,  ob  sie 
schon  geistig  entartet  und  moralisch  einäugig  sein  möchten,  aus- 
gedrückt. Von  Gefahr  für  den  Weltfrieden,  Gefahr  für  England 
keine  Andeutung.  In  der  folgenden  Nummer  (July  11)  geschieht  der 
Sache  überhaupt  keine  Erwähnung.  Am  18.  JuH  wird  über  das  Ende 
Hartwigs  gesprochen,  der  „mit  Isvoi^ky  die  Führerschaft  des 
aggressiven  und  pro-russischen  Panslavismus  in  der  heutigen  diplo- 
matischen Welt  geteilt"  und  eine  entscheidende  Rolle  bei  der  Bildung 
des  Balkanbundes  gebildet,  habe;  „er  wurde  bald  das  Orakel  der 
Staatsmänner  König  Peters  und  machte  Serbien  zu  Rußlands  ver- 
läßUchstem  diplomatischen  Pfände";  er  bildete  (als  der  Balkankrieg 
ausbrach)  den  Brennpunkt  aller  der  aggressiven  Einflüsse  auf  der 
russisch-serbischen  Seite  in  dem  akuten  Konflikt  mit  Österreich- 
Ungarn."  Erst  am  25.  erscheint  ein  Artikel  über  „die  neue  öster- 
reichische Panik",  worin  ausgeführt  wird,  daß  Österreich  nicht  auf 
Unterstützung  durch  Bulgarien  und  die  Türkei  rechnen  könne  und 
daß  Serbien  nicht  ohne  Freunde  sein  würde,  diplomatischer  Druck 
auf  Österreich  werde  sich  nicht  auf  seine  Bundesgenossen  beschränken. 
Vom  Weltkrieg  noch  keine  Ahnung.  Erst  am  i.  August  wird  gleich 
auf  der  ersten  Seite  die  Katastrophe  als  höchst  bedrohlich  angekündigt. 
Dabei  ein  vernünftiges  Urteil:  ein  Verhängnis,  wie  in  der  antiken 
Tragödie.  „Denn  niemand  ist  auf  greifbare  Art  im  Unrecht  —  außer 
etwa  Serbien,  und  auch  Serbien  ist  mehr  zu  tadeln  wegen  der  Mittel, 
die  es  gebraucht  hat,  als  wegen  des  Zieles,  nach  dem  es  strebte."  Es 
sei  Serbiens  Unglück,  nicht  seine  Schuld,  daß  dessen  Erreichung  das 
Dasein  Österreichs  bedrohen  muß.  „Und  wer  kann  Rußland  tadeln, 
wenn  es  ablehnt,  die  junge  slavische  Nation  vernichten  zu  lassen? 
wer  Deutschland,  wenn  es  ablehnt,  die  Wahrscheinhchkeit,  eine 
triumphierende  russische  Armee  an  seinen  Grenzen  zu  sehen,  sich 
gefallen  zu  lassen,  wer  Frankreich,  wenn  es  seinem  so  eng  ver- 
bundenen Bundesgenossen  zu  Hilfe  kommt  ?"  Hier  aber  sei  die  Kette 
zu  Ende.  Für  Italien  und  für  Großbritannien  gebe  es  keine  solchen 
bindenden  Verpflichtungen.  „Ja,  beide  sind  nicht  im  mindesten 
geneigt,  die  Seite  zu  unterstützen,  an  die  sie  dem  Namen  nach  ge- 
bunden sind."  „In  Italien  scheint  die  Öffentliche  Meinung  im  ganzen 
durchaus  ohne  Sympathie,  wenn  nicht  geradezu  feindUch  gegen 
Österreich  zu  sein ;  und  das  gleiche  darf  von  der  britischen  Meinung  — 
so  weit  als  es  solche  überhaupt  gibt  —  im  Verhältnis  zu  Rußland 
gesagt  werden."  Und  in  einem  Artikel  über  die  Beziehungen  zwischen 
den  Großmächten  heißt  es,  Berlin  habe  während  der  gegenwärtigen 


520  Besondere  Fatale  der  öffentlichen  Meinung. 

Krisis  gearbeitet,  Wien  zu  mäßigen;  aber  der  schwache  Punkt  sei 
gewesen,  daß  Deutschland,  was  immer  Österreich-Ungarn  tun  möge, 
nicht  zulassen  könne,  daß  es  vernichtet  werde.  Der  Ausgangspunkt 
der  Krise  sei  ein  durchaus  echter  KonfHkt  der  Interessen.  Österreich- 
Ungarn  konnte  nicht  umhin,  dem  serbischen  Irredentismus  Halt  zu 
gebieten,  bei  Strafe  selber  zerstückelt  zu  werden.  „Wie  immer  man 
über  die  Einzelheiten  der  Note  denken  möge,  ihr  Ursprung  war 
Selbstverteidigung.*'  „Rußlands  Einmischung,  wenn  Österreich- 
Ungarn  schon  im  Kriegszustande  mit  einem  anderen  Staate  (z.  B. 
Serbien)  wäre,  würde  Deutschland  zwingen  (would  compel  Germany) 
gemäß  den  Satzungen  des  Dreibundes,  Österreich-Ungarn  zu  Hilfe 
zu  kommen."  „Das  wiederum  würde  Frankreich  zwingen  usw.'* 
Das  Vereinigte  Königreich  sei  an  dem  Ringen  auf  dreifache  Weise 
interessiert:  i.  durch  den  Wunsch,  das  europäische  Gleichgewicht  zu 
erhalten,  2.  durch  die  VerbindUchkeiten  der  Tripel-Entente,  3.  durch 
das  spezielle  Interesse,  das  einige  ihm  zuschreiben  für  das  Schicksal 
Frankreichs  und  die  fortgesetzte  Neutralität  der  Niederlande,  insbe- 
sondere des  Hafens  von  Antwerpen.  „Keins  von  diesen  Dingen  ist 
ein  bloßer  Fetisch,  aber  keins  ist  auch  jenseit  des  Zweifels.  Gegen 
I.  wird  darauf  hingewiesen,  daß  Europa  nicht  mehr  die  Welt  ist; 
„zwei  aufsteigende  Mächte,  die  Vereinigten  Staaten  und  Japan, 
stehen  draußen  und  ihre  relative  Bedeutung  würde  angesichts  eines 
durch  Krieg  ruinierten  Europas  noch  größer  werden  als  sie  ist'*. 
Auch  der  2.  Punkt  habe  seine  Kehrseite,  aber  das  dritte  Argument 
sei  dem  Fetisch  am  nächsten.  Die  Entwicklung  von  Deutschland 
und  Rußland  mache  die  Frage  des  Gleichgewichts  für  die  Zukunft  zu 
einer  Frage  zwischen  diesen  beiden  Mächten.  „Es  ist  eine  Frage, 
worin  unsere  Politik,  in  die  schwächere  Wagschale  unser  Gewicht  zu 
legen,  uns  fast  mit  Gewißheit  —  wenn  nicht  heute,  so  morgen  —  auf 
Deutschlands  Seite  führen  muß."  Diesem  verständigen  Artikel  folgt 
eine  für  Deutschland  durchaus  sympathische  Korrespondenz  aus 
Berlin,  die  am  Schlüsse  darauf  hinweist,  die  Krise  habe  offenbar 
gemacht,  daß  das  Deutsche  Reich  weit  davon  entfernt  sei,  die  Er- 
oberungspläne zu  hegen,  welche  die  Chauvinisten  Großbritanniens 
und  anderer  Nationen  ihm  zuschreiben.  —  Und  nun  vergleiche  man  das 
vom  8.  August  datierende  Heft  dieser  Zeitschrift.  Die  Teilnahme 
Großbritanniens  war  Tatsache  geworden.  Auf  der  Frontseite  herrscht 
zwar  noch  ein  gemäßigtes  Urteil.  Den  unmittelbaren  Tadel  für  den 
Ausbruch  des  Krieges  wolle  man  nicht  versuchen,  zwischen  Deutsch- 
land, Rußland  und  Österreich  zu  verteilen.  Aber  es  scheine  klar, 
daß  die  deutsche  Regierung,  ob  hauptsächUch  aus  Furcht  vor  Rußland, 
ob  aus  Treue  gegen  Österreich  oder  aus  einem  weniger  ehrenvollen 


Der  Weltkrieg.  —  Vor  dem  Weltkriege.  52 1 

Beweggrunde,  sich  nicht  angestrengt  habe,  den  britischen  Be- 
mühungen, den  austro-serbischen  Zwist  zu  schHchten  {^to  arrange«), 
zu  helfen.  Ferner  wird  vorgeworfen,  daß  man  in  BerUn  die  britische 
Neutralität  habe  erkaufen  wollen  und  daß  Deutschland  sich  durch 
Überschreitung  der  belgischen  Grenze  ins  Unrecht  gesetzt  habe.  Nun 
aber  die  Register,  die  im  ferneren  Texte  gezogen  werden !  Die  Fiktion, 
daß  Belgien  entscheidende  Ursache  für  Englands  Eintritt  gewesen 
sei,  tritt  hier  in  ihre  vollen  Rechte.  Alles  Vertrauen  und  alle  Achtung 
hätte  man  sonst  eingebüßt  usw.  Dann  aber  der  Pariser  Brief  von  einem 
Robert  Dell,  „der  französische  Gesichtspunkt"  hat  die  Schrift- 
leitung ihn  überschrieben.  Er  enthält  die  groben  Verzerrungen  der 
Wahrheit,  die  dreisten  Anschuldigungen,  die  dann  allmähhch  auch 
in  das  allgemeine  Bewußtsein  der  Engländer  und  von  da  in  das  der 
Amerikaner  hinübergedrückt  worden  sind  —  Hohenzollem-Tyrannei 
und  der  ganze  Schwindel!  — 

Sir  Edward  Grey  war  kein  weiser  Mann  und  keineswegs  ein 
Staatsmann  von  mehr  als  mittelmäßigem  Range.  Aber  er  konnte 
nicht  umhin,  die  Lage  der  Dinge  von  Anfang  an  zu  durchschauen. 
Er  mußte  wissen,  daß  der  serbische  Vorstoß  von  Rußland  gefördert, 
wenn  nicht  angestiftet  war;  daß  Österreich  sehr  kräftig  darauf 
reagieren  mußte;  daß  der  Krieg  dadurch  sehr  wahrscheinlich  würde, 
der  Krieg,  so  wie  er  wirkUch  kam.  Das  Problem  war  von  Anfang  an, 
die  öffentUche  Meinung  Englands  für  Englands  Eintritt  in  den  Welt- 
"^rieg  zu  gewinnen.  Fest  stand  zunächst:  sie  war  nicht  für  Serbien, 
und  als  Vorkämpfer  der  serbischen  Meuchelmörder  das  Deutsche  Reich 
niederzuringen,  das  schien  keine  erfreuHche  Aufgabe.  „Ich  hasse  die 
Idee  eines  Krieges  zwischen  den  Großmächten  und  daß  irgendeine 
von  ihnen  in  einen  Krieg  gezerrt  werden  sollte  durch  Serbien  wäre 
verabscheuenswürdig",  sagte  er  am  20.  Juli  zum  deutschen  Bot- 
schafter und  berichtete  darüber  an  den  Geschäftsträger  in  BerHn 
(The  British  Diplomatie  Conespondence  No.  i).  Inzwischen  wurde 
der  britische  Botschafter  in  Petersburg  von  seinem  französischen 
Kollegen  und  von  Herrn  Sassonoff  bedrängt,  die  Regierung  Seiner 
Britannischen  Majestät  möge  sich  vollkommen  soHdarisch  mit  der 
französischen  und  der  russischen  Regierung  erklären.  Dagegen  habe 
er,  so  berichtet  er,  Buchanan  am  24.  (Nr.  6)  gesagt,  direkte  britische 
Interessen  in  Serbien  seien  gleich  Null,  und  ein  Krieg  wegen  dieses 
Landes  würde  niemals  von  der  britischen  öffentlichen  Meinung 
gebilligt  (sanctioned)  werden.  Grey  antwortete  darauf  mit  voller 
Zustimmung:  „Ich  denke  nicht,  daß  die  hiesige  öffentliche  Meinung 
unsern  Eintritt  in  einen  Krieg  über  einen  serbischen  Streit  bilHgen 
würde  oder  sollte.    Die  Entwicklung  anderer  Fragen  kann  uns 


522  Besondere  Fäi^i^e  der  Öffentwchen  Meinung. 

aber,  wenn  der  Krieg  ausbricht,  in  ihn  hineinziehen,  und  ich  bin 
deshalb  beflissen,  ihn  zu  verhüten"  (Nr.  24).  Sir  Edward  wußte 
natürUch  genau,  daß  die  anderen  Fragen  nur  Vorwände  sein  würden, 
die  er  suchen  müsse,  weil  der  Eintritt  Deutschlands  an  Österreichs 
Seite  unvermeidlich  war,  und  weil  Großbritannien  jedenfalls  gegen 
Deutschland  Partei  ergreifen  würde.  Daß  er  dies  wußte,  geht  aus 
oft  wiederholten  Äußerungen,  die  in  das  »Blaubuch«  übergegangen 
sind,  deutlich  genug  hervor.  So  schreibt  er  am  29.  an  den  Botschafter 
in  Berlin:  er  habe  dem  deutschen  Botschafter  —  Lichnowsky  — 
gesagt,  die  britische  Einmischung  komme  nicht  in  Frage,  wenn 
Deutschland  nicht  dabei  wäre,  oder  sogar  nicht  einmal,  wenn  Frank- 
reich nicht  dabei  wäre.  Aber  wir  wüßten  sehr  wohl,  daß,  wenn  die 
Sache  so  ausliefe,  daß  wir  dächten,  britische  Interessen  verlangten 
von  uns  die  Einmischung,  daß  wir  dann  sofort  uns  einmischen  müßten, 
und  die  Entscheidung  werde  sehr  schleunig  geschehen  müssen, 
ebenso  wie  die  Entscheidungen  der  anderen  Mächte.  Er  warnte  noch 
ausdrücklich  den  Veitreter  Deutschlands  davor,  zu  vermuten,  daß 
England  nicht  eingreifen  werde,  er  solle  sich  durch  den  freund- 
schaftlichen Ton  ihrer  Unterhaltung  nicht  irreführen  lassen  (Nr.  89). 
Diese  Warnung  teilte  er  alsbald  dem  französischen  Botschafter 
Cambon  mit.  „Aber",  so  berichtet  er  selbst  seinem  Botschafter  in 
Paris,  „ich  fuhr  fort,  ihm  auch  zu  sagen,  daß  unsere  öffentliche  Meinung 
die  gegenwärtige  Schwierigkeit  von  einem  ganz  anderen  Gesichts- 
punkte aus  betrachte  als  demjenigen,  den  sie  vor  einigen  Jahren 
während  der  Marokko-Schwierigkeit  einnahm.  Im  Falle  von  Marokko 
handelte  es  sich  um  einen  Streit,  worin  Frankreich  unmittelbar  inter- 
essiert war,  und  worin  es  zutage  trat,  daß  Deutschland,  in  einem 
Versuch,  Frankreich  an  die  Wand  zu  drücken,  Frankreich  einen  Zwist 
aufnötigte  über  eine  Frage,  die  Gegenstand  eines  speziellen  Ver- 
ständnisses zwischen  Frankreich  und  uns  war  (ein  echter  Grey!  die 
Algeciras-Konferenz  war  also  etwas  völlig  Gleichgültiges,  Wert-  und 
Folgenloses  in  seinen  Augen!).  Im  gegenwärtigen  Falle  handle  es  sich 
um  einen  Streit  zwischen  Österreich  und  Serbien,  worin  wir  uns  nicht 
berufen  fühlten,  Hand  anzulegen.  Selbst  wenn  es  eine  Frage  zwischen 
Österreich  und  Rußland  würde,  dürften  wir  uns  nicht  berufen  fühlen, 
die  Hand  hineinzustecken.  Es  wäre  dann  eine  Frage  der  Überlegenheit 
zwischen  Germanen  und  Slawen  —  ein  Ringen  um  die  Überlegenheit 
auf  dem  Balkan;  und  es  sei  immer  unsere  Idee  gewesen,  es  zu  ver- 
meiden, in  einen  Krieg  über  eine  Balkanfrage  hineingezogen  zu  werden. 
Wenn  Deutschland  hineingezogen  würde  und  Frankreich  hinein- 
gezogen würde,  so  hätten  wir  noch  keine  Entschlüsse  gefaßt,  was 
wir  tun  würden;  es  wäre  ein  Fall,  den  wir  zu  überlegen  haben  würden. 


Der  WeIvTkrieg.  —  Vor  dem  Wei^tkriege. 


523 


Frankreich  würde  dann  in  einen  Streit  hineingezogen,  der  nicht  sein 
eigener  wäre,  aber  worin,  dem  Bündnis  (mit  Rußland)  zufolge,  seine 
Ehre  imd  sein  Interesse  es  verpflichteten,  teilzunehmen.  Wir  seien 
frei  von  Verpflichtungen  und  wir  würden  zu  entscheiden  haben,  was 
die  britischen  Interessen  von  uns  verlangen  würden.  Ich  hielte  es 
für  notwendig,  das  zu  sagen,  weil,  wie  er  wisse,  wir  alle  Vorsichts- 
maßregeln in  bezug  auf  unsere  Flotte  träfen,  und  ich  eben  daran  sei, 
Fürst  lyiCHNOWSKY  zu  warnen,  nicht  darauf  zu  rechnen,  daß  wir  zur 
Seite  stehen  würden,  aber  es  wäre  nicht  schickhch,  daß  ich  Herrn 
Cambon  sollte  irregeführt  werden  lassen  zu  der  Annahme,  als  bedeute 
dies,  daß  wir  beschlossen  hätten,  wie  wir  handeln  wnirden  in  einem 
Falle,  von  dem  ich  noch  hoffe,  daß  er  nicht  wirklich  werden  würde." 
Am  folgenden  Tage  (d.  30.)  erinnerte  der  französische  Botschafter 
GrEY  an  den  Briefwechsel,  den  sie  vor  2  Jahren  miteinander  geführt 
hatten,  „worin  wir  übereinkamen,  wenn  der  europäische  Friede 
ernstlich  bedroht  wäre,  zu  erörtern,  was  wir  tun  wollten'*  (Nr.  105). 
Ks  war  ein  leicht  verschleiertes  Versprechen  bewaffneter  Hilfe.  Grey 
brauchte  nicht  daran  erinnert  zu  werden,  aber  er  wußte  auch,  daß 
er  diesen  Briefwechsel  vor  seinem  Parlament  geheim  gehalten  hatte, 
und  er  fühlte  sich  keineswegs  sicher,  ob  er  die  Mehrheit  für  sich  haben 
werde,  wenn  er  daraufhin  Englands  Teilnahme  an  einem  serbisch- 
russischen Krieg  fordern  würde.  Die  öffentliche  Meinung  war  zweifel- 
los stark  dagegen  eingenommen.  „Für  Petersburg  und  Paris**  —  so 
schreibt  M.  Pokrowski  in  der  Wochenschrift  Prawda  vom  23.  Februar 
19 19  auf  Grund  der  von  der  Sowjet- Regierung  gefundenen  Akten- 
stücke —  „war  in  diesem  Moment  (in  den  letzten  Tagen  des  Juli  1914) 
die  enghsche  »öffentliche  Meinung«  der  interessanteste  Kranke,  und 
diesem  Kranken  fühlte  man  unentwegt  und  beinahe  mehrmals  tägUch 
den  Puls."  Nachdem  Benckendorff  (der  russische  Botschafter  in 
London)  am  27.  hoffnungsvoll  sich  ausgesprochen  hatte,  wegen  der 
schon  2  Tage  früher  beschlossenen  Flotten  Vorbereitungen,  und  weil 
die  Sprache  Greys  viel  klarer  und  merklich  fester  geworden  sei, 
wird  er  am  30.  bedenklich:  die  Lage  sei  in  den  Augen  des  Parlaments 
noch  nicht  so  weit  geklärt,  daß  Grey  ohne  Gefahr  schon  offen  auf- 
treten könnte.  Und  am  31.  stellt  er  fest,  daß  das  englische  Publikum, 
und  sogar  das  Parlament,  die  Frage  als  eine  spezifisch-slawische 
betrachte.  So  hatte  eben  die  Times  sie  dargestellt  und  dabei  „die 
französischen,  englischen  und  europäischen  Interessen  sehr  taktlos 
verschwiegen".  „Ich  bitte  Sie  (Sassonow),  in  Betracht  zu  ziehen, 
daß  die  Regierung  nicht  auftreten  kann,  ohne  die  öffentliche  Meinung 
vorbereitet  zu  haben."  Und  es  folgte  ein  noch  weniger  günstiges 
>Bulletin^  aus  London:  „Heute  wurde  konstatiert,  daß  das  Parlament 


524  Besondere  Fäli^e  der  Öffentuchen  I^Ieinung. 

im  gegenwärtigen  Moment  keine  bestimmte  Haltung  billigen  könne, 
daß  die  serbische  Sache  in  den  Augen  der  öffentlichen  Meinung  keine 
Bedeutung  habe,  und  daß  alle  Finanz-,  Handels-  und  Industrie- 
Centralen  Nord-Englands  gegen  den  Krieg  seien.  Einige  Stunden 
später  fürchtete  er  sogar,  daß  eine  übereilte  Beurteilung  der  Haltung 
Englands  „GrEY  paralysieren  würde";  es  gelte  aber,  seinen  Einfluß 
wiederherzustellen.  Treffend  bemerkt  der  Russe,  dies  zeige,  wie  schwer- 
fäUig  die  öffentliche  Meinung  Englands  in  jenem  Moment  auf  den 
österreichisch-russisch-serbischen  Konflikt  reagierte.  Er  führt  noch 
als  höchst  charakteristisch  das  Telegramm  des  Is voi.sk Y  (den  Jaur£s 
kurz  vorher  als  den  Schurken  bezeichnete,  der  den  Krieg  gewollt  und 
durchgesetzt  habe)  vom  2.  August  an,  worin  dieser  triumphierend 
folgenden  Klimax  mitteilt:  i.  die  Deutschen  überschreiten  schon  in 
kleinen  Abteilungen  die  französische  Grenze  —  dies  wird  der  Re- 
gierung die  Möglichkeit  geben,  vor  den  Kammern  zu  erklären,  auf 
Frankreich  sei  ein  Überfall  verübt  worden,  2.  deutsche  Truppen  haben 
Luxemburg  betreten  —  dieser  Umstand  werde  als  sehr  vorteilhaft 
für  Frankreich  betrachtet,  denn  er  werde  unvermeidlich  England  zu 
einer  energischeren  Handlungsweise  veranlassen,  3.  es  sind  Anzeichen 
vorhanden,  daß  Deutschland  im  Begriff  steht,  auch  die  belgische 
Neutralität  zu  verletzen.  „Das  wird  noch  fühlbarer  für  England  sein. 
Der  Präsident  des  Conseil  telegraphierte  sofort  nach  London  und 
beauftragte  Cambon,  die  Aufmerksamkeit  Greys  darauf  zu  lenken" 
(»Deutschland  schuldig?"  S.  205 — 208).  Und  so  geschah  es.  Grey 
hielt  seine  aufstachelnde  Rede  im  Unterhaus  am  3.  August  noch  ohne 
durchschlagenden  Erfolg.  Diesen  gab  erst  Belgien.  Der  New  States- 
man  hatte  am  13.  Juni  (1914)  geschrieben:  „Es  ist  eine  richtige  Ver- 
allgemeinerung, zu  sagen,  daß,  ungeachtet  der  Öffentlichkeit  unseres 
demokratischen  Zeitalters,  das  englische  Volk  in  lächerlicher  Weise 
schlecht  unterrichtet  ist  über  alle  Fragen  der  auswärtigen  Politik. 
Die  vielen  wissen  nichts,  und  die  wenigen,  welche  wissen,  hüten  ihre 
Geheimnisse  mit  der  Berufseifersucht  eines  römischen  Augur.  Über- 
dies ist  das  allgemeine  Publikum  gleichgültig  gegen  seine  Unwissen- 
heit." Dieselbe  vortreffliche  Zeitschrift  beantwortete  am  24.  Oktober 
die  Frage:  Warum  gingen  wir  in  den  Krieg?  dahin:  „Wie  auch  immer 
Sir  Edward  Greys  persönliche  Wünsche  gewesen  sein  mögen,  er 
könnte  nicht  das  Kabinett,  noch  weniger  das  ganze  Land  mit  sich 
fortgerissen  haben,  wenn  nicht  die  deutsche  Armee  den  Fuß  nach 
Belgien  gesetzt  hätte.  Es  ist  möglich,  daß  später  die  öffentUche  Mei- 
nung zu  einer  Pohtik  der  Einmischung  bekehrt  worden  wäre  durch 
den  AnbUck  eines  Frankreich,  das  unter  der  gepanzerten  Faust 
gelegen  hätte,  aber  dies  ist  durchaus  hypothetisch.**    Die  historische 


Der  Weltkrieg.  —  Vor  dem  Weltkriege.  525 

Tatsache  steht  sogar  fest,  daß  erst  durch  Belgien  die  Mehrheit  des 
Kabinetts  für  den  Krieg  gewonnen  wurde.  Der  Minister  Lloyd 
George  hat  in  einem  Gespräch,  das  im  März  1915  bekannt  gemacht 
wurde,  gemeint,  noch  am  i.  August  hätte  eine  Abstimmung  der 
Wähler  von  Großbritannien  eine  Mehrheit  von  95  :  5  gegen  den 
Krieg  ergeben,  am  4.  August  umgekehrt  eine  Mehrheit  von  99  :  i 
dafür.  „Die  Revolution  in  der  öf fenthchen  Meinung  war  ausschHeßUch 
dem  Angriff  auf  ein  kleines  und  unbeschütztes  Land,  das  ihm  kein 
Unrecht  getan  hatte,  zuzuschreiben."  Er,  Lloyd  George,  hätte  sonst 
nicht  der  Kriegserklärung  zugestimmt,  und  er  glaube  das  gleiche 
sagen  zu  können  für  die  meisten  seiner  Kollegen.  —  Gleichwohl  hatte 
bekanntUch  Grey  sich  geweigert  (am  i.  August),  NeutraUtät  zuzu- 
sichern gegen  das  Versprechen,  die  belgische  Neutralität  unangetastet 
zu  lassen,  oder  gegen  irgendein  Versprechen.  „Alles,  was  ich  sagen 
kann,"  hatte  er  geantwortet,  „ist,  daß  unsere  Haltung  in  hohem  Maße 
durch  die  hiesige  öffentUche  Meinung  bestimmt  sein  wird,  und  daß 
die  Neutralität  Belgiens  sehr  starke  Bedeutung  für  die  hiesige  öffent- 
liche Meinung  haben  wird"  (Nr.  123).  —  ,,Wenn  Worte  etwas  be- 
deuten," bemerkt  dazu  der  Earl  of  Loreburn  (How  the  war  came  ? 
p.  238),  „so  bedeutet  dies,  daß  Sir  Edward  nicht  um  der  Rettung 
Belgiens  willen  unser  Land  zur  NeutraUtät  verpflichten  wollte." 
„Er  mag  im  Rechte  gewesen  sein,"  fügt  er  hinzu,  „aber  es  war  nicht 
belgischen  Interessen  zu  Liebe,  daß  er  sich  weigerte."  Wenngleich 
konservativ-realpoHtische  Publizisten  längst  die  Vorstellung  als 
lächerlich  gebrandmarkt  haben,  daß  England  lediglich,  oder  auch  nur 
hauptsächlich,  um  eines  anderen  Staates  willen  —  dessen  Rettung 
nicht  einmal  versucht  wurde  —  sich  in  einen  ungeheuren  Krieg 
begeben,  so  wird  doch  die  britische  öffentliche  Meinung  daran 
festhalten,  daß  nur  ein  so  edler  Beweggrund  die  Friedenshebe  des 
britischen   Bürgers  zu  überwanden  vermocht  hat. 

3.  (Vor  dem  Weltkriege  in  Frankreich  i).)  Die  ÖffentUche  Meinung 
Frankreichs  war  und  ist  Chauvinismus,  iiämUch  eine  ungemessene 
und  unmeßbare  Nationaleitelkeit  und  Begierde  nach  Ruhm.  Aber 
nicht  nur  der  Chauvinismus,  auch  das  normale  Nationalgefühl  und 
der  gerechte  Stolz  eines  krieg-  und  sieggewohnten  Volkes  war  tief 
gekränkt  worden  durch  die  Niederlagen  von  1870  und  durch  den 
Frankfurter  Frieden.  vSo  war  es  natürUch,  daß  die  Generation,  die 
dies  erUtten  hatte,  nach  Vergeltung  lechzte.  Aber  diese  Generation 
war  um   die   Jahrhundertwende   fast   versunken,   andere   Interessen 


M  Mit  Geist  und  Kenntnis  findet  man  die  Vorkriegshaltung  der  »Westmäclite« 
in  Politik  und  Meinung  dargestellt  in  dem  Buche  „Schwedische  Stimmen  zum  Welt- 
kriege", S.  97  ff. 


526  Besondere  Fäi^le  der  Öffentwchen  Meinung. 

und  Kämpfe  waren  in  den  Vordergrund  des  öffentlichen  Bewußtseins 
getreten.  Die  Auffrischung  durch  das  russische  Bündnis  war  mehr 
von  morahscher  als  von  unmittelbar  poHtischer  Bedeutung,  und  zu- 
nächst wurde  dieses  mehr  als  Sicherung  und  Wiederherstellung  des 
Gleichgewichts  gegen  die  BiSMARCKsche  Hegemonie  in  Kuropa 
gedacht.  Frankreich  dachte  nicht  daran,  Rußland  gegen  Japan  zu 
helfen,  obwohl  es  sehr  geneigt  war,  gegen  England,  das  ihm  1898  eine 
Demütigung  beigebracht  hatte,  die  nicht  viel  geringer  war  als  Sedan- 
Frankfurt,  zugunsten  der  Buren-RepubUken  zu  intervenieren.  Das 
Blatt  wandte  sich  erst,  als  England  Miene  machte,  die  Vernichtung 
des  Deutschen  Reiches  ins  Auge  zu  fassen.  Ein  durch  verbrecherische 
Liederlichkeit  europäisch  verrufener  König  hegte  und  pflegte  diesen 
Gedanken  mit  sportmäßigem  I^eichtsinn.  Noch  am  11.  JuH  1903 
schrieb  der  belgische  Gesandte  aus  Paris:  „Was  man  hier  heiß  begehrt, 
ist  die  Erhaltung  des  Friedens:  Ägypten  und  Faschoda,  ebenso  wie 
Elsaß-IyOthringen,  sind  Fragen,  die  das  französische  Pubhkum  zu  ver- 
gessen beginnt."  Aber  der  Gesandte  in  Berlin  schrieb  am  gleichen 
Tage,  die  gemeinsame  Abneigung  gegen  das  aufstrebende  Deutschland 
habe  im  letzten  Grunde  Frankreich  und  England  zueinander  geführt. 
Die  kritischen  Jahre  waren  1904,  das  die  französisch -enghsche 
Entente,  und  1905,  das  die  erste  Marokko-Krise  brachte.  Am  24.  Ok- 
tober dieses  zweiten  Jahres  stellt  der  belgische  Gesandte  in  Paris  fest, 
der  nationale  Chauvinismus  sei  dort  wieder  erwacht.  Um  dieselbe 
Zeit  schrieb  der  Gesandte  desselben  Landes  von  BerHn  aus,  der 
englische  Haß  gegen  Deutschland  entspringe  einzig  und  allein  dem 
Neide  auf  die  Entwicklung  der  deutschen  Marine,  des  deutschen 
Handels  und  der  deutschen  Industrie.  —  Treffend  bemerkt  Oncken 
(a.  a.  O.  S.  581),  die  öffenthche  Meinung  Frankreichs  und  Englands 
sei  damals  in  wechselseitigen  und  sich  steigernden  elektrischen 
Kontakt  eingetreten.  Das  Jahr  191 1  —  die  zweite  Marokko-Krise  — 
obgleich  der  Erfolg  Frankreichs,  eine  Demütigung  Deutschlands 
offenbares  Ergebnis  waren,  bewirkte  dort  eine  erhebhch  vermehrte 
Ladung  und  Spannung.  Ein  Rundbericht  des  Brüsseler  auswärtigen 
Ministeriums  vom  28.  Oktober  1912  gibt  dem  britischen  Quos  ego  — 
die  Rede  Lloyd  Georges  ist  gemeint  —  die  Schuld,  daß  in  der  fran- 
zösischen öffentlichen  Meinung  ein  Umschwung  jener  Art  sich  ein- 
gestellt habe,  wie  er  nur  bei  einem  so  leicht  zu  beeinflussenden  Volke 
wie  dem  französischen  möghch  sei.  „Diese  Umformung  in  der  Ein- 
stellung der  öffentHchen  Meinung  ist  auffallend.  Wenn  man  sagen 
wollte,  daß  die  französische  Nation  in  ihrer  Gesamtheit  kriegslustig 
geworden  sei,  so  hieße  das  vielleicht  zu  weit  gehen.  Der  Landmann, 
der  Bürger,  der  Kaufmann,  der  Industrielle  und  der  Geschäftsmann 


Der  Weltkrieg.  —  Vor  dem  Weltkriege. 


527 


wissen,  was  ein  Zusammenstoß  sie  kosten  würde;  bei  der  allgemeinen 
Wehrpflicht  muß  jeder  für  die  Seinigen  zittern.  Gleichwohl  ist  man 
dahin  gelangt,  dem  Lande  das  Vertrauen  in  den  Erfolg  zu  geben; 
man  muß  femer  mit  der  stürmischen  Jugend,  den  mihtärischen 
Kreisen  und  den  Leuten  rechnen,  die  nichts  zu  verlieren  haben/' 
Doch  wohl  auch  mit  denen,  die  viel  zu  gewinnen  hofften!  Der  Bericht 
schildert  dann  die  ausgedehnten  Kundgebungen,  an  denen  der  Groß- 
fürst Nikolaus  nebst  Gemahlin  teilnahm,  die  sich  an  die  Grenzen 
des  Gebietes  begaben,  um  die  abgetretenen  Provinzen  zu  begrüßen, 
und  fährt  dann  fort :  „Alles  dies  erregt  die  öffentliche  Meinung,  die 
von  der  militärischen  Überlegenheit  und  einem  zukünftigen  fran- 
zösischen Siege  um  so  mehr  überzeugt  ist,  da  die  Regierung  unauf- 
hörUch  militärische  Flugzeuge  in  Bestellung  gibt.  .  .  .  Die  öffentliche 
Meinung,  die  1870  Napoleon  III.  die  Hand  geführt  hat,  und  die 
wiederum  nervös  und  reizbar  geworden  ist,  wird  eines  Tages  unter 
diesem  Gesichtspunkte  »recommencer  rhistoire«  und  die  beiden  Re- 
gierungen jählings  vor  eine  Lage  stellen  können,  aus  der  es  keinen 
anderen  Ausweg  gibt  als  den  Appell  an  die  Waffen.'*  (Schwertfeger, 
S.  162 f.).  Auch  im  folgenden  Jahre,  dem  letzten  vollen  Friedensjahre, 
betont  der  belgische  Gesandte  Guillaume  von  Paris  aus,  mit  Unrecht 
werde  von  den  französischen  Zeitungen  die  kriegerische  Haltung  der 
französischen  Regierung  als  Antwort  auf  die  deutscherseits  ergriffenen 
Maßregeln  dargestellt;  viele  ihrer  Maßregeln  seien  nur  das  Ergebnis 
seit  langer  Zeit  gepflogener  Studien.  Und  derselbe  schreibt  am 
3.  März:  „Von  meiner  Stelle  aus  kann  ich  die  öffentliche  Meinung 
Deutschlands  schwer  ergründen;  aber  ich  stelle  alle  Tage  fest,  wie 
die  öffentliche  Meinung  in  Frankreich  alle  Tage  mißtrauischer  und 
chauvinistischer  wird."  Etwas  später  wiederholt  er,  sie  werde  mehr 
und  mehr  chauvinistisch  und  unbesonnen.  Und  doch  deuten  viele 
Zeichen  darauf  hin,  daß  auch  diejenigen  französischen  Kreise,  in  denen 
die  öffentliche  Meinung  zu  Hause  ist  und  zubereitet  wird,  mehr  mit 
dem  Feuer  spielten,  als  daß  sie  das  europäische  Wohngebäude  in 
Brand  zu  stecken  wünschten.  Man  fürchtete  das  Abenteuer  und 
sehnte  sich  zugleich  nach  dem  ungeheuren  Nervenkitzel,  den  es  mit- 
sichbringen  würde,  wenn  es  dem  heißgeliebten  Freunde,  dem  Zarismus, 
gefallen  sollte,  es  heraufzubeschwören.  Für  diesen  war  es  seit  dem 
Februar  1914,  wenn  nicht  früher,  beschlossene  Sache,  —  er  wußte, 
daß  Marianne  ihm  gehorchen  würde,  wie  sie  gehorchte,  als  er  die 
Wiedereinführung  der  (nunmehr  allgemeinen  und  nur  für  kurze  Dauer 
erträglichen)  dreijährigen  Dienstzeit  in  Frankreich  verlangte.  Die 
Machinationen  der  offiziösen,  ja  halb-offiziellen  russischen  Presse 
in   den    Frühlingsmonaten   sind   alle   darauf   berechnet,  Frankreich 


528  Besondere  Fäli^e  der  Öffentlichen  Meinung. 

vorzubereiten,  Frankreich  zu  binden  und  zu  fesseln i).  Sie  waren  alle 
auf  den  Ton  gestimmt,  den  am  13.  Juni  die  Birschewija  Wjedomosti 
mit  der  Überschrift  anschlug:  „Rußland  ist  bereit,  Frankreich  muß 
es  auch  sein".  Der  Zarismus  war  ungeduldig,  der  Zarismus  befahl. 
Lieber  wäre  ihm  gewesen,  wenn  ein  deutsch-französischer  Streitfall, 
ein  neuer  Marokko-Zwist,  sich  hätte  vom  Zaune  brechen  lassen,  weil 
er  dann  der  engHschen  Hilfe  sich  unmittelbar  sicherer  gefühlt  hätte, 
und  dieser  sich  zu  versichern,  war  das  Ziel  der  russischen  PöHtik. 
Ein  solcher  Fall  war  aber  nicht  sehr  wahrscheinUch.  Von  Serbien 
aus  konnte  der  Tanz  alle  Tage  beginnen.  Herr  von  Hartwig  hatte 
dafür  gesorgt.  Der  belgische  Gesandte  in  Paris  schrieb  am  24.  Juni, 
also  noch  4  Tage  vor  dem  Meuchelmord:  „Frankreich  und  Rußland 
spielen  in  Wahrheit  gegenwärtig  ein  sehr  gefährUches  Spiel;  sie 
arbeiten  auf  einen  Blujf  hin,  der  die  verhängnisvollsten  Wirkungen 
zeitigen  könnte.**  Diesen  Bericht  machte  das  Brüsseler  Ministerium 
für  ein  Rundschreiben  sich  zu  eigen,  das  am  3.  Juli,  also  am  5.  Tage 
nach  dem  Meuchelmord  erlassen  wurde  und  fügt  hinzu:  „Sie  steigern 
sich  wechselseitig  auf  dem  Wege  der  Rüstungen  bis  zum  äußersten'* 
und  bei  Ankündigung  des  Bluffs  einschaltet  „hauptsächüch  Rußland** 
(SCHWERTFEGER,  S.  2o6f.).  Die  zarische  Regierung  brannte  auf 
Aktion,  es  handelte  sich  für  sie  um  nichts  Geringeres  als  um  die 
Krönung  der  Stoi<ypin sehen  Reaktion,  um  die  Rettung  der  —  nun- 
mehr konstitutionell  verbrämten  —  Autokratie  durch  einen  glor- 
reichen, siegreichen  Krieg,  der  insbesondere  bestimmt  war,  das  Ziel 
der  Jahrhunderte,  »Zargrad«  (Konstantinopel)  in  den  Rachen  des 
heiligen  Rußland  zu  bringen.  „Auf  dem  Wege  zu  den  Meerengen**, 
schreibt  in  richtiger  Erkenntnis  und  auf  Grund  der  Akten  des  Peters- 
burger Auswärtigen  Amtes  M.  Pokkowski,  „ergaben  sich  zwei 
Hindernisse.  Das  erste  war  die  reservierte  Haltung  Englands  in  der 
Frage,  das  zweite  das  ängstliche  Verhalten  der  französischen  öffent- 
lichen Meinung,  d.  h.  der  französischen  Bourgeoisie,  zu  Kriegs- 
abenteuern. Es  gab  ein  Mittel,  das  zweite  Hindernis  zu  be- 
seitigen, dieses  Mittel  war  der  Krieg  mit  Deutschland. 
Wenn  Deutschland  in  den  Krieg  verwickelt  wurde,  erhielt  die  russische 
Diplomatie  ein  sicheres,  ohne  Versagen  wirkendes  Mittel,  die  Be- 
fürchtungen der  Pariser  Bankiers  zu  überwinden.*'  Die  unmittelbare 
Unterlage  für  diese  innerlich  höchst  wahrscheinliche  Ansicht  bietet 
dem  Russen  ein  Bericht  des  russischen  Botschafters  in  Paris  IsvOLSKY 


•1)  Vgl.  die  Nachweisungen,  in  , .Deutschland  schuldig?",  S.  i86{f.  S.  Tönnies, 
^  „Die  Schuldfrage.  Rußlands  Urheberschaft  nach  Zeugnissen  aus  dem  Jahre  1914." 
/  2.  Aufl.  (Berlin,  Stilke.)    ,,Germany's  guilt  disproved"  (C.  L.  von  Langerhuysen, 

Amsterdam  191 9),  p.  6 — 48, 


Der  WEI.TKRIEG.  —  Vor  dem  Wei^tkriege. 


529 


aus  dem  September  191 2  (der  Briefwechsel  Cambon-Grey  folgte  im 
November  des  gleichen  Jahres!).  Äußerungen  des  damaligen  fran- 
zösischen Ministerpräsidenten  PoiNCARi;  werden  darin  wiedergegeben. 
Danach  würde,  auch  wenn  durch  diese  oder  jene  Ereignisse,  z.  B. 
einen  Überfall  Österreichs  auf  Serbien  Rußland  »gezwungen«  würde, 
aus  seiner  passiven  Lage  herauszutreten,  Frankreich  energische 
diplomatische  Unterstützung  gewähren;  aber  die  französische 
Regierung  wäre  nicht  in  der  Lage,  vom  Parlament  oder  von  der 
öffentlichen  Meinung  die  Ermächtigung  für  irgendwelche  aktiven 
militärischen  Maßnahmen  zu  erhalten.  Deutschlands  Eintreten 
für  Österreich  werde  aber  die  friedliche  Gesinnung  Frankreichs  sofort 
ändern;  er  sei  überzeugt,  daß  in  diesem  Falle  das  Parlament  und  die 
öffentliche  Meinung  die  Entschlossenheit  der  Regierung,  Rußland 
bewaffnete  Unterstützung  zuteil  werden  zu  lassen,  ausnahmslos 
billigen  werde.  Die  Chancen  Rußland-Frankreichs  im  Falle  eines 
allgemeinen  Zusammenstoßes  wurden  von  den  Sachverständigen 
»überaus  optimistisch«  beurteilt.  Dieser  Brief  nimmt  schon  aus- 
drücklich Bezug  auf  die  »bereits  früher«  (also  längst  vor  dem  No- 
vember-Briefwechsel) zwischen  dem  französischen  und  dem  enghschen 
Marinestab  getroffenen  Vereinbarungen;  so  sei  auch  der  eben  gefaßte 
Beschluß,  das  dritte  französische  Geschwader  aus  Brest  nach  Toulon 
zu  verlegen,  »im  Einverständnis  mit  England«  getroffen  worden. 
Für  die  öffentliche  Meinung  in  Frankreich  kam  in  der  Tat  auf  dies 
Einverständnis  mit  England  alles  an.  Wenn  aber  Herr  Pokrowski 
diese  öffentliche  Meinung  einfach  mit  der  Meinung  der  Pariser  Bankiers 
gleichsetzt,  so  erweist  er  diesen  offenbar  zu  viele  Ehre.  Richtig 
dürfte  aber  sein,  daß  die  hohe  Finanz  einen  außerordentlich  großen 
Einfluß  auf  die  öffenthche  Meinung  in  Paris  und  dadurch  in  Frank- 
reich hat.  Naturgemäß  war  sie  nicht  unbedingt  für  den  Krieg,  aber 
die  Hauptströmung  der  öffentlichen  Meinung :  Gelegenheit  zu  suchen, 
um  mit  der  Sicherheit  enghscher  Hilfe  Rußland  beizustehen,  dem 
Deutschen  Reich  einen  tödUchen  Schlag  zu  versetzen,  war  viel  zu  stark, 
als  daß  die  Bankiers  hätten  sich  ihr  entgegenwerfen  können  und 
wollen;  überdies  wirkte  auf  sie  sehr  stark  das  Interesse  der  von 
Rußland  verschluckten  MilHarden.  Bei  alledem  war  die  französische 
öffentliche  Meinung  und  durch  sie  die  französische  Politik  nur  ein 
Spielball  in  den  Händen  der  überaus  geschickten  und  völlig  skrupel-V^ 
losen  russischen  Diplomatie.  Am  24.  JuU  1914  sagte  der  französische 
Botschafter  PalEologue  zu  Herrn  Sassönow:  „Vergessen  Sie  nicht, 
daß  meine  Regierung  eine  Regierung  der  öffentlichen  Meinung  ist, 
und  daß  sie  euch  nur  dann  wirksam  unterstützen  kann,  wenn  sie  die 
Meinung  für  sich  hat.  Endlich  denken  Sie  an  die  e  nglische  öffentliche 

Tönnies,  Kritik.  )  3^ 


530  Besondere  Fäi.i.e  der  öffentlichen  Meinung. 

Meinung!"  {Revue  des  deux  mondes,  Bd.  15.  I.  192 1).  Der  offenbare 
Sinn  dieser  Mahnung  ist  offenbar  identisch  mit  demjenigen  der 
Äußerungen  PoiNCARßs  gegen  Isvoi^ky,  die  Pokrowski  mitteilt. 
„Sorgen  Sie  dafür,  daß  Deutschland  eingreift,  und  es  wird  sicher 
eingreifen,  wenn  Rußland  gegen  Österreich-Ungarn  so  vorgeht,  daß 
es  für  dieses  Reich  um  Verteidigung  sich  handelt;  ihr  müßt  also 
euch  bemühen,  den  casus  foederis  für  Deutschland  herbeizuführen, 
ihr  dürft  euch  also  nicht  darauf  beschränken,  Serbien  diplomatisch, 
nicht  einmal  darauf,  es  militärisch  zu  unterstützen,  sondern  ihr  müßt, 
ohne  Österreich  direkt  den  Krieg  zu  erklären,  es  so  bedrohen,  daß 
Deutschland  sich  mitbedroht  fühlt,  daß  Deutschland  Grund  zur 
Besorgnis  hat,  ihr  möchtet  mit  eurer  Mobilmachung  rascher  fertig 
werden,  als  ihm  lieb  ist,  daß  also  der  Angriff  von  Deutschland  aus- 
zugehen schei  nt.  Nur  dann  wird  die  französische  öffenthche  Meinung 
sicher  auf  den  Köder  anbeißen!"  „Und  denken  Sie  an  die  englische 
öffenthche  Meinung!"  Parallelstelle  zu  dem  Satze  Pokrowskis 
(„Deutschland  schuldig?"  S.  194):  „Und  nun  kann  man  sich  das 
Vergnügen  der  zarischen  Diplomatie  vorstellen,  als  es  sich  fast  zu 
gleicher  Zeit  herausstellte,  daß  der  Krieg  mit  Deutschland  auch  das 
beste  Mittel  bildete,  das  englische  Eis  zum  Schmelzen  zu  bringen." 
Der  Franzose  sah  es  voraus  —  diese  Bedeutung  hatte  die  Mahnung 

PAI.]feOLOGUES. 

4.  (Vor  dem  Weltkriege  in  Rußland^).)  Der  Rumäne  Dascovici 
nannte  noch  1915  Rußland  ein  Land,  wo  die  öffenthche  Meinung 
fast  nichts  bedeute  (un  pays  oü  Vopinion  publique  ne  conipte 
presque  rien:  La  question  du  Bosphore,  p.  246).  Ganz  in  gleichem 
Sinne  urteilt  ein  im  Auslande  bewanderter  Deutscher  Karl  Federn 
(Die  Politik  des  Dreiverbandes  und  der  Krieg,  S.  69;  die  Schrift  war 
vorher  in  englischer  Sprache  erschienen).  Er  bezieht  sich  darauf, 
was  Sir  Edward  Grey  am  24.  Juh  an  den  britischen  Botschafter  in 
Paris  geschrieben  habe,  daß  Rußland  durch  die  öffenthche  Meinung 
gezwungen  sein  würde,  einzugreifen,  falls  österr.eich  Serbien  angreifen 
sollte.  Dies  gibt  freihch  GrEY  nicht  als  seine  Meinung,  sondern  als 
eine  Äußerung  Cambons,  aber  es  tritt  auch  in  mehreren  späteren 
Depeschen  zutage,  daß  die  britischen  Diplomaten  sich  dies  Argument 
gern  zu  eigen  machten.  Dazu  bemerkt  Federn  :  „Also  die  öffenthche 
Meinung  in  Rußland  ist  schuld!  Als  ob  die  öffenthche  Meinung  in 
Rußland  irgend  etwas  zu  sagen  hätte!  Oder  vielmehr,  als  ob,  wenn 
die  öffenthche  Meinung  in  Rußland  irgendwelche  Macht  hätte,  die 
gegenwärtige  (damahge  von  1916)  Regierung,  das  ganze  gegenwärtige 

*)  Vgl.  hierüber  besonders  auch  die  Flugschrift  von  Theodor  Schiemann,  „Wie 
^  die  Presse  unserer  Feinde  den  Krieg  vorbereitet  und  erzwungen  hat",  Berlin  1919* 


Der  Wei,tkrieg.  —  Vor  dem  Wewkriege.  531 

Regierungssystem  auch  nur  einen  Tag  länger  Bestand  haben  könnte! 
Und  wenn  es  eine  öffentliche  Meinung  in  diesem  Sinne  in  Rußland 
gäbe,  die  das  Drängen  der  russischen  Regierung  zum  Kriege  ent- 
schuldigen konnte,  wieviel  mehr  müßte  dann  die  öffentliche  Meinung 
in  Österreich  —  die  wirkUch  bestand  und  den  Krieg  gegen  Serbien 
forderte  —  die  österreichische  Regierung  rechtfertigen!  Diese  Be- 
rufung auf  die  russische  öffentHche  Meinung  ist  grotesk.  Die  russische 
öffentliche  Meinung  ist  nichts  weiter  als  eine  Güederpuppe,  die  hervor- 
geholt und  künsthch  bewegt  wird,  wenn  die  russische  Regierung  die 
Verantwortung  für  irgendeinen  Schritt  nicht  selbst  nach  außen  hin 
übernehmen  will,  die  aber  ganz  unfähig  ist,  von  selber  irgend  etwas 
zu  verlangen  oder  gar  zu  erreichen.  So  oft  die  wirkhche  öffentliche 
Meinung  in  Rußland  einen  Wunsch  zu  äußern  versucht,  mit  dem 
die  Regierung  nicht  einverstanden  ist,  wird  die  betreffende  Zeitung 
bestraft  oder  unterdrückt;  wenn  sie  ihre  Stimme  in  einer  Versammlung 
zu  erheben  wagt,  wird  sie  von  Kosaken  niedergetreten.  Die  »öffent- 
liche Meinung«  in  Rußland,  auf  die  Herr  Sassönow  und  Sir  Edward 
Grey  sich  berufen,  bedeutet  nichts  weiter  als  Zeitungsartikel,  die  die 
russische  Regierung  bestellt  oder  doch  zu  drucken  gestattet  hat;  die 
russische  öffentUche  Meinung  ist  von  der  russischen  Regierung  ab- 
hängig, nicht  aber  die  russische  Regierung  von  ihr.  Sir  Edward  Grey 
weiß  dies  natürhch  sehr  genau,  aber  der  enghsche  Zeitungsleser  weiß 
es  nicht.  Die  Mehrzahl  der  engUschen  Zeitungsleser  ist  über  die  Zu- 
stände fremder  Länder  so  wenig  unterrichtet,  daß  man  ihnen  solche 
Märchen  leicht  aufbinden  kann,  und  da  er  (der  Durchschnittszeitungs- 
leser) weiß,  daß  in  seinem  Lande  die  öffentHche  Meinung  eine  Macht 
ist,  so  ist  er  gerne  zu  glauben  bereit,  daß  dies  auch  in  Rußland  der 
Fall  sei,  und  daß  die  russische  Regierung  dadurch  sehr  gegen  ihren 
Willen  gezwungen  würde,  einzugreifen,  wie  ungern  sie  auch  den 
Weltfrieden  stören  mochte.  So  wird  die  Fiktion  einer  j^öffentHchen 
Meinung  in  Rußland«  als  ein  Mittel  verwendet,  die  öffentliche  Meinung 
in  England  irrezuführen.*'  —  Das  Vorhandensein  der  öffentHchen 
Meinung  im  zarischen  Rußland  wird  hier  nirgends  bezweifelt,  aber 
ihre  Macht  wird  geleugnet.  Als  gewiß  darf  man  annehmen,  daß  die 
Öffentliche  Meinung  damals  (und  viel  mehr  noch  neuerdings)  einen 
engeren  Zirkel  repräsentierte  als  in  einem  anderen  großen  Lande, 
gemäß  der  so  viel  geringeren  städtischen,  zumal  großstädtischen 
Bevölkerung,  gemäß  ihrer  weiten  Zerstreutheit  in  einem  Gebiet  mit 
geringen  Verkehrsmitteln,  gemäß  dem  niedrigen  Stande  der  allge- 
meinen Volksbildung,  der  schon  die  Fähigkeit,  vollends  die  Gewohnheit, 
des  Lesens  als  eine  Ausnahme  erscheinen  läßt.  Viele  Jahre  vor  dem 
Weltkriege  ist  schon  oft  von  Kennern  des  russischen  Volkes  oder 

34* 


532  Besondere  Fäli^e  der  Öffentwchen  Meinung. 

solchen,  die  es  zu  sein  meinten,  versichert  worden,  die  Volksstimmung 
sei  den  Deutschen  feindüch,  und  als  nähere  Ursache  pflegte  die 
Vereitlung  des  Friedens  von  St.  Stefano  durch  Bismarck  und  der 
BerHner  Congreß  geltend  gemacht  zu  werden.  Später  ist  bald  im 
allgemeinen  die  »friedhche  Durchdringung«  der  russischen  Volks- 
wirtschaft mit  deutschem  Kapital,  bald  mit  besonderem  Nachdruck 
die  Ungunst  des  Handelsvertrages,  in  dem  Rußland  schmähHch 
benachteihgt  worden  sei,  angeführt  worden.  Und  —  so  meint  Graf 
E.  Reventlow  (PoHtische  Vorgeschichte  des  großen  Krieges,  S.  310)  — 
gerade  der  Umstand,  daß  man  die  Deutschen  als  Techniker,  als  Ver- 
walter oder  als  kaufmännische  Berater  brauchte,  erhöhte  den  Haß 
und  den  Glauben  an  die  Legende,  Rußland  werde  durch  die  Deutschen 
ausgesogen.  Der  konservative  Schriftsteller  fügt  hinzu,  der  Deutsche 
werde  in  Rußland  »vielfach«  mit  dem  Juden  identifiziert,  und  darauf 
führe  sich  der  Haß  gegen  die  Deutschen  »wesentlich  mit«  zurück. 
Wieviel  nun  von  diesem  Haß  ein  wirkHch  verbreitetes  Volksgefühl, 
wie  viel  »öffentliche  Meinung«  Moskauer  und  Petersburger  Intel- 
lektueller, PoHtiker  und  JournaUsten,  wie  viel  endlich  bloße  Mache 
gewesen  ist,  das  zu  ent-  und  zu  unterscheiden  würde  eine  sehr  tief- 
gehende Kenntnis  dieser  schwer  zu  kennenden  Nation  voraussetzen. 
Tatsache  dürfte  aber  sein,  daß  die  prahlerische  Schwärmerei,  in  Ver- 
bindung mit  dem  »orthodoxen«  Bekenntnis,  eine  Stimmung  war,  die 
verschiedene  Schichten  des  russischen  Volkes  miteinander  gemein 
hatten,  und  woraus  eine  öffentliche  Meinung  ihre  Nahrung  ziehen 
konnte,  wenn  die  auswärtige  Politik  des  Zarismus  irgendwie  auf 
Widerstand  stieß,  wie  solcher  Widerstand  von  Österreich-Ungarn 
und  folgHch  auch  von  Deutschland  her,  naturnotwendig  war. 

Wenn  man  Einfluß  und  Macht  der  Presse  in  Rußland  abschätzen 
will,  so  muß  man  allerdings  ihre  geringe  Freiheit  und  die  geringe  Ver- 
breitung der  Bildung  in  Rechnung  stellen,  andererseits  aber  auch,  daß 
die  poUtische  Opposition,  je  weniger  sie  andere  gangbare  Wege  fand, 
um  so  mehr  sich  in  den  Zeitungen  lyuft  zu  machen  beflissen  war. 
Gewandte  und  beredte  Schriftsteller  konnten  mehr  als  irgendwo 
durch  Zeitungen  —  erlaubte  oder  verbotene  —  die  öffentliche  Meinung 
beherrschen.  So  wird  von  Al.  Herzens  Zeitschrift  Kolokol  (Glocke), 
die  in  London  gedruckt  wurde,  gesagt,  daß  sie  die  öffentliche  Meinung 
Rußlands  jahrelang  verkörperte,  mindestens  beherrschte  (Hoetzsch, 
Rußland,  S.  63).  Das  war  etwa  der  Fall  bis  die  Bauernbefreiung  in 
den  Hintergrund  trat.  Nachher  ging  „Herzens  Stellung  in  der 
russischen  öffentlichen  Meinung,  die  seine  dem  Polenaufstand  freund- 
liche Haltung  vernichtet  hatte",  auf  Katkov  über,  der,  in  den 
Moskauer  Nachrichten  als  Wortführer  eines  auf  der  Slavophilie  sich 


Der  Weltkrieg.  —  Vor  dem  Wei^tkriege.  533 

aufbauenden  aggressiven  Nationalismus"  sich  geltend  machte  und 
unermeßlichen  Einfluß  gewann  (das.  S.  66).  —  Daß  der  Panslawis- 
mus  das  Element  war,  auf  dessen  Wirken  und,  wenn  es  erwünscht 
war,  Explosion  die  hinterlistige  russische  Staatskunst  immer  rechnen 
konnte,  geht  auch  aus  der  jüngst  (Herbst  1921)  bekannt  gewordenen 
Äußerung  Sassönows  an  Isvolsky  vom  18.  Juni  1912  hervor;  sie 
bezog  sich  auf  eine  Uneigennützigkeitserklärung  der  Großmächte, 
mit  der  sie  zwischen  Italien  und  der  Türkei  vermitteln  wollten:  „Die 
Unterzeichnung  (eines  solchen  Aktes)  würde  sowohl  von  der  russischen 
öffentüchen  Meinung  als  auch  von  den  slawischen  Staaten  so  aufgefaßt 
werden,  als  ob  Rußland  auf  seine  Jahrhunderte  alte  PoHtik  auf 
dem  Balkan  verzichtete"  (vgl.  Graf  Pourtali^s  „Neues  über  die  ^ 
Ententediplomatie  vor  dem  Weltkriege",  Preuß.  Jahrbücher,  Sep- 
tember 1921). 

Unmittelbar  vor  der  Katastrophe  sprach  in  einem  vielbemerkten 
Briefe  an  den  Herausgeber  der  »Preußischen  Jahrbücher  «  ein  russischer 
Gelehrter,  der,  „ganz  und  gar  von  deutscher  Bildung  durchdrungen", 
wußte,  was  er  und  die  Welt  dem  Deutschtum  verdanken,  über  die 
Ursachen  dieser  Antipathien  sich  aus.  Die  Mißstimmung  gegen  die  ~' 
Deutschen  sei  in  jedermanns  Seele  und  Munde,  „und  selten  dünkt  es 
mir,  war  die  öffentliche  Meinung  einstimmiger";  als  ein  »Resonator« 
dieser  öffentlichen  Meinung  wünscht  der  »Kernrusse«  zu  gelten. 
Er  sucht  die  Ursprünge  der  Feindseligkeit  —  in  der  Politik  Peters 
des  »Großen«,  weil  dieser  unbarmherzig  und  gewaltsam  das  alte  \ 
Russentum  ausgerottet  habe  und  „die  Russen  in  Deutsche  verwandeln 
wollte".  Dann  aber  wird  die  nächste  Ursache  doch  in  die  unmittelbare  ^ 
Vergangenheit,  keineswegs  in  irgendwelche  Schuld  Rußlands  und 
des  Zarismus  verlegt.  Der  letzte  Handelsvertrag,  unter  dem  Drucke  ..  \ 
des  unglücklichen  Japan-Krieges  und  der  inneren  Verwirrung  ge- 
schlossen, sei  nur  dem  deutschen  Ackerbau  und  der  deutschen  In- 
dustrie zugute  gekommen.  „Zwölf  Jahre  lang  war  Rußland  ein 
Tributär  Deutschlands,  und  die  öffentliche  Meinung  erhebt  im  voraus 
ihre  warnende  Sprache,  daß  die  Regierung  die  früheren  Fehler  nicht 
wiederholen  dürfe.  [Wenige  Zeilen  vorher  versichert  der  logische  M 
Schriftsteller,  das  Land  (der  Tributär  Deutschlands)  wachse  —  gerade 
seit  1904,  also  während  der  bewußten  12  Jahre  —  materiell  und  geistig 
auf  eine  geradezu  staunenerregende  Weise  ...  die  Agrarreform 
Stolypins  fange  an,  ihre  Früchte  zu  tragen  und  der  Bauer  sei  der 
früheren  Not  entronnen;  die  Industrie  mache  solche  Fortschritte, 
daß  es  an  Rohmaterialien  fehle  und  diese  entwickelte  Industrie  könne 
sogar  den  inneren  Verbrauch  nicht  befriedigen;  die  Wunden  des 
japanischen  Krieges  und  der  Revolution  seien  geheilt.    Und  dafür 


534  Besondere  FÄr,i.E  der  Öffentuchen  Meinung, 

sollte  das  schuldige  Deutschland  büßen!]  Zur  Bekräftigung  fügt  der 
Schriftsteller  hinzu:  „Man  darf  nicht  vergessen,  daß  in  dem  letzten 
Dezennium  die  öffentliche  Meinung  eine  ganz  andere  Rolle  spielt  als 
IG  Jahre  zuvor;  sie  ist  zu  einem  reellen  politischen  Moment 
gewachsen."  Der  Brief  läuft  in  eine  sehr  dünn  verhüllte  Drohung 
mit  demnächstigen  Kriege  aus:  „wir  sind  entschlossen,  die  uns  ge- 
bührende Stellung  uns  zu  verschaffen",  „man  entzieht  sich  sogar 
einer  bitteren  Notwendigkeit  nicht,  wenn  sie  wirklich  notwendig 
wird".  Der  Adressat,  Professor  H.  Dei^brück,  verstand  seinen  Schüler 
richtig:  „Sie  kündigen  uns  den  Krieg  an."  In  Wahrheit  war  das 
ganze  Halbjahr,  das  im  Doppelmorde  von  Serajevo  seinen  Abschluß 
fand,  von  diesen  Ankündigungen  und  Drohungen  des  Krieges  erfüllt^), 
und  der  deutsche  Staatssekretär  im  Auswärtigen  Amte,  Herr  von  Ja- 
Gow,  hatte  alle  Ursache,  am  14.  Mai  warnend  darauf  hinzuweisen,  — 
natürhch  steht  da  für  ihn  die  Presse  im  Vordergrunde.  „Zweifellos 
hat  sich  die  seit  langem  in  einem  Teil  der  russischen  Presse  herrschende 
deutschfeindliche  Bewegung  in  letzter  Zeit  immer  mehr  verschärft 
und  auf  den  verschiedensten  Gebieten  zu  einer  fast  systematischen 
Kampagne  gegen  uns  geführt ..."  „In  unserer  nervösen  Zeit  mit 
den  Einwirkungen  der  Presse  auf  die  Psyche  des  Volkes  ist  das  ein 
Spielen  mit  dem  Feuer."  Er  sprach  die  Hoffnung  aus,  daß  es  den 
Bemühungen  der  beiden  Regierungen  gelingen  werde,  diesen  gefähr- 
lichen Strömungen  einen  Damm  entgegenzusetzen.  Keine  7  Wochen 
vergingen,  da  erhob  sich  mit  wildem  Brausen  die  Sturmflut.  Die 
serbische  Woge  des  Panslawismus  schlug  in  das  Fahrzeug  des  euro- 
päischen Friedens. 

Weniger  als  sonst  kann  man  in  solchem  Falle  die  wahre 
öffentUche  Meinung  durch  die  Zeitungen  ermitteln.  Die  öffent- 
liche Meinung  zwingt  die  Presse,  sittHche  Entrüstung  kund- 
zugeben. Ihr  wahres  Gesicht  zeigt  sie  erst  wieder,  wenn  die  Folgen 
und  Folgerungen  zutage  treten.  Die  öffentliche  Meinung  verwirft 
regelmäßig  den  poHtischen  Mord,  kann  aber  oft  nicht  umhin,  mit 
seinen  Wirkungen  zufrieden  zu  sein.  Ob  sie  in  Rußland  damit  zu- 
frieden war,  daß  der  österreichisch-serbische  KonfHkt  zur  hellen 
Flamme  wurde,  wird  man  nur  mit  Mühe  noch  aus  mannigfachen 
Spuren  jener  Tage  ermitteln  können,  aber  in  hohem  Grade  wahr- 
scheinhch  ist  es.  Die  ÖffentUche  Meinung  Rußlands  war  (und  ist 
sicherlich  im  Grunde  noch)  der  Panslawismus,  sei  es  in  der  milderen 
Form,  daß  die  heilige  Mutter  ihre  Balkan-Kinder  unbedingt  schützen, 
ihnen  Hilfe  gewähren  müsse,  oder  in  der  herberen,  daß  die  allslawische 


^)  Vgl.  meine  Schrift,   „Die  Schuldfrage".    2.   Aufl.    Berlin,  Stii,ke  1919. 


Der  Wei^tkrieg.  —  Vor  dem  Wei^tkriege.  535 

Sache  die  Vernichtung  der  Türkei  und  die  Zertrümmerung  Österreich- 
Ungarns  fordere.  Gleichwohl  scheint  ihr  der  Fürstenmord  nicht 
unmittelbar  willkommen  gewesen  zu  sein,  weil  er  zunächst  doch  als 
eine  schlechte  Sache  erschien  und  eine  freudige  Mitwirkung  der 
verbündeten  Mächte,  insbesondere  Englands,  an  einem  Kriege,  der 
im  Sinne  der  Mörder  zu  führen  wäre,  zweifelhaft  erscheinen  mußte. 
Noch  am  25.  Juh  berichtet  der  deutsche  Botschafter  nach  Berhn: 
„Die  hiesige  (St.  Petersburger)  öffentHche  Meinung  hat  sich  bis  jetzt 
dem  österreichisch-serbischen  Konflikt  gegenüber  merkwürdig  gleich- 
gültig gezeigt."  Br  fügt  freihch  hinzu:  „Dies  dürfte  sich  allerdings, 
wie  schon  die  heutige  Presse  zeigt,  in  den  nächsten  Tagen  ändern" 
(Die  deutschen  Dokumente,  Nr.  204),  aber  in  seinen  Erinnerungen 
wiederholt  Graf  PouRTAXifes  (Am  Scheideweg  zwischen  Krieg  und 
Frieden,  S.  16),  in  Petersburg  sei  die  Stimmung  am  25.  Juh  noch 
ganz  ruhig  gewesen.  „Von  einer  besonderen  Erregung  infolge  des 
serbischen  Ultimatums  war  im  Publikum  nichts  zu  merken."  In  den 
nationalistischen  Zeitungen  habe  man  natürHch  scharfe  Angriffe 
gegen  Österreich-Ungarn  gefunden,  ein  überraschend  vernünftiger 
Standpunkt  sei  aber  in  dem  Kadettenorgan  »Rjetsch«  zum  Ausdruck 
gekommen.  „Jedenfalls",  so  folgert  der  Botschafter,  „ist  es  in  diesem 
Augenbhcke  nicht  die  öffenthche  Meinung  gewesen,  welche  die 
russische  Regierung  zu  einem  aggressiven  Auftreten  gegen  Österreich- 
Ungarn  gedrängt  hat."  Nur  eine  kleine  Gruppe  sei  bestrebt  gewesen, 
dem  Konfhkt  gleich  von  vornherein  einen  scharfen  Charakter  zu 
geben.  Die  Öffenthche  Meinung  des  I^andes  freihch  mochte  doch 
hinter  dieser  kleinen  Gruppe  stehen;  sie  ließ  sich  wahrscheinhch  eher 
in  Moskau  als  in  St.  Petersburg  beobachten  und  erkennen.  Der 
deutsche  Kaiser  telegraphierte  am  28.  JuU  an  den  Zaren,  nachdem 
er  auf  das  Monarcheninteresse  hingewiesen,  und  daß  die  Politik  dabei 
keine  Rolle  spiele:  „Andererseits  verstehe  ich  vollkommen,  wie 
schwierig  es  für  Dich  und  Deine  Regierung  ist,  den  Strömungen  eurer 
öffentlichen  Meinung  entgegenzutreten."  In  merkwürdigem  Gegen- 
satz zu  dieser  Äußerung  faßte  man  in  Petersburg  das  monarchische 
Interesse  auf.  Graf  Pourtal^s  findet  es  bemerkenswert,  daß  in  dem 
Gespräch,  das  er  am  30.  Juh  etwa  11  Uhr  vormittags  mit  Sassönow 
führte,  dieser  zum  zweiten  Male  auf  die  Gefahren  hingewiesen  habe, 
die  der  russischen  Dynastie  erwachsen  würden,  wenn  die  russische 
Pohtik  den  österreichisch-ungarischen  Forderungen  gegenüber  nicht 
fest  bleibe.  „Man  könnte  aus  dieser  Äußerung  schheßen,  daß  die 
öffenthche  Meinung  Rußlands  in  hohem  Maße  erregt  war  und,  auf 
die  Gefahr  eines  Krieges  hin,  die  Regierung  zu  einer  schroffen  Haltung 
gegen    Österreich-Ungarn   und   Deutschland   gedrängt   habe."     Das 


536  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffentwchen  Meinung. 

sei,  betont  Graf  Pourtai.:^s,  in  Wirklichkeit  nicht  der  Fall  gewesen. 
Eine  gewisse  Aufregung  sei  allerdings  durch  die  Preßhetze  entstanden, 
auch  seien  die  Kundgebungen  in  Zunahme  gewesen.  „Das  große 
Publikum  verhielt  sich  aber  im  ganzen  erstaunlich  ruhig.  Von 
Kriegsbegeisterung  war  nicht  das  geringste  zu  bemerken,  viel  eher 
konnte  man  Anzeichen  lebhafter  Besorgnis  wahrnehmen,  daß  es 
zum  Kriege  kommen  könnte."  Während  des  Balkankrieges  sei  die 
Aufregung  viel  größer  gewesen.  „Manche  Anzeichen  lassen  es  aber 
nicht  ausgeschlossen  erscheinen,  daß  sich  in  der  russischen  Regierung 
Elemente  befanden,  die  in  einem  Kriege  eine  willkommene  Ablenkung 
erbHckten  gegenüber  mannigfachen  Zeichen  von  Unzufriedenheit 
und  Gärung,  die  sich  in  der  letzten  Zeit  im  Volke  bemerkbar  gemacht 
hatten."  Graf  Pourtale^s  dürfte  diese  Zeichen  richtig  gedeutet 
haben.  Am  6.  Februar  (1914)  hatte  die  Reichs-Duma  der  Regierung 
ein  entschiedenes  Mißtrauensvotum  wegen  der  Verfechtung  offenbar 
gesetzwidriger  Maßregeln  erteilt,  indem  sie  darin  eine  Bestätigung 
dafür  sah,  daß  die  Regierung  selbst  ein  System  gesetzwidriger  Maß- 
regeln organisiert  hatte.  Am  19.  März,  nachdem  der  erste  der  Kriegs- 
ministerartikel der  St.  Petersburger  Börsenzeitung  vorausgegangen 
war,  erließ  der  Zar  ein  merkwürdiges  Reskript  an  den  Minister- 
präsidenten, worin  es  heißt,  die  „weitere  Festigung"  der  Staats-  und 
Gesellschaftsordnung  müsse  die  allererste  Sorge  der  Regierung 
bilden,  und  er,  der  Zar,  erwarte  vom  Ministerpräsidenten,  daß 
dieser  unablässig  im  Auge  behalte,  daß  das  große  Bildnis  des  rus- 
sischen Staates  nicht  durch  persönliche  Erwägungen  verdunkelt 
werden  und  das  Wohl  des  Volkes  mit  seinen  Überlieferungen  und 
historischen  Grundfesten,  auf  denen  Rußland  wuchs  und  erstarkte, 
völlig  fremden,  grundlosen  Bestrebungen  nicht  zum  Opfer  gebracht 
werden  dürfe. 

Am  9.  April  nahm  die  Duma  mit  166  Stimmen  der  Oktobristen 
und  der  Opposition  gegen  64  der  Rechten  eine  von  den  Oktobristen 
eingebrachte  Tagesordnung  an,  worin  es  u.  a.  hieß,  es  sei  klar  zutage 
getreten,  daß  das  Ministerium  des  Innern  fortfalire,  die  öffentliche 
Meinung  zu  verachten  und  die  Interessen  der  breiten  Masse  zu 
ignorieren.  Auch  der  Handelsminister  wurde  auf  schärfste  Weise 
angegriffen.  Und  während  zu  gleicher  Zeit  die  bewilligten  Rüstungs- 
ausgaben ins  Ungemessene  wuchsen,  besonders  diejenigen  für  Wieder- 
herstellung der  Flotte,  wurde  am  17.  Mai  durch  die  Oktobristen  der 
Antrag  gestellt,  mehrere  Kapitel  des  Etats  um  die  Gesamtsumme 
von  768  000  Rubel  zu  kürzen,  um  gegen  die  Nichterfüllung  der  von 
der  Duma  19 13  ausgesprochenen  Wünsche,  sowie  gegen  die  allgemeine 
PoHtik  des  Mnisteriums    des  Innern    zu    protestieren.     Mit    einer 


Der  Wei^tkrieg.  —  Vor  dem  Wei^tkriege. 


537 


Mehrheit  von  i86  gegen  95  Stimmen  wurde  eine  Übergangsformel 
angenommen,  die  u.  a.  besagte :  „Da  das  Ministerium  des  Inneren 
systematisch  die  Wünsche  der  gesetzgebenden  Faktoren  ignoriert,  hält 
die  Duma  es  für  nutzlos,  irgendwelche  neue  Wünsche  auszusprechen. 
Sie  findet,  daß  die  PoHtik  des  Ministeriums  des  Inneren  die  Unzu- 
friedenheit der  breiten  Massen  der  Bevölkerung  hervorruft,  zur 
Verstärkung  regierungsfeindhcher  Strömungen  beiträgt  und  die  Durch- 
führung des  in  Allerhöchsten  Manifesten  offenbarten  Kaiserlichen 
Willens  hindert.  Dies  schwächt  die  Macht  Rußlands  und  bedroht 
das  Reich  mit  unübersehbarem  Schaden.  Die  Duma  richtet  die  Auf- 
merksamkeit der  Regierung  auf  die  Gefahren  einer  derartigen  PoUtik.*' 
Am  3.  Juni  erfolgte,  wiederum  unter  Teilnahme  der  Oktobristen, 
ein  ebensolcher  Vorstoß  gegen  das  Unterrichtsministerium,  wie  er  im 
April  gegen  das  Ministerium  des  Innern  geschehen  war,  auch  mit 
entsprechender  Begründung  und  zugleich  als  Protest  gegen  die  allge- 
meine Politik  des  Ministeriums.  Die  Weigerung  des  Unterrichts- 
ministeriums, mit  der  öffentlichen  Meinung  zu  rechnen,  wird  ausdrück- 
lich angeklagt.  Wenige  Tage  später  erschien  der  schon  erwähnte  zweite 
Kriegsministerartikel,  der  ausdrücklich  bestimmt  war,  Frankreich  zu 
drängen,  wenn  er  mit  dem  in  fetten  Lettern  gedruckten  Worten  schloß : 
„Rußland  ist  bereit,  und  es  hofft,  daß  Frankreich  es  gleichfalls  sein 
wird."  Am  23.  Juni  lief  die  engUsche  Flotte  in  Kronstadt  ein.  An 
demselben  Tage,  unmittelbar  vor  ihrer  Vertagung,  nahm  die  Duma 
noch  in  geheimer  Sitzung  eine  ganze  Reihe  von  Rüstungsvorlagen 
(zu  Wasser  und  zu  Lande)  an,  deren  letzte  und  bedeutsamste  ein  Ver- 
bot der  Pferdeausfuhr  über  die  europäische  und  die  Schwarze-Meer- 
Grenze.  Ein  solches  Verbot  erfolgt  bekannthch  immer  erst,  wenn 
ein  Kriegszustand  schon  vorhanden  ist  oder  doch  unmittelbar  bevor- 
steht. Am  28.  Juni  geschah  der  Doppelmord.  —  Die  Regierung  der 
Staatsstreiche  und  der  Gegenrevolution  war  durch  die  Energie  und 
den  Verstand  Stolypins  geschaffen  und  getragen  worden.  ST01.YPIN 
wurde  am  14.  September  191 1  ermordet.  Mit  ihm  hatte  jene  Regierung 
allen  Halt  verloren.  In  der  4.  Duma,  die  im  Herbst  1912  gewählt 
war,  bildeten  die  Oktobristen  —  die  Anhänger  eines  streng  monar- 
chischen Konstitutionalismus,  den  deutschen  Nation aUiberalen  ver- 
gleichbar —  mehr  noch  als  in  der  dritten  das  Zünglein  an  der  Wage. 
Stolypin  hatte  sie  zu  beherrschen  verstanden  und  konnte  einiger- 
maßen auf  sie  rechnen,  wenn  sie  auch  seine  Verfassungsbrüche  nicht 
billigten.  Ihr  Kongreß  im  November  1913  sprach  sich  für  scharfe 
Opposition  gegen  die  Regierung  aus.  Sie  verlangten  1914  sämt- 
liche Präsidentensitze  der  Duma.  Sofern  die  öffentliche  Meinung  in 
Rußland  eine  Wirklichkeit  war,  stand   sie  ohne  Zweifel  hinter  der 


538  Besondere  Fäi<i,e  der  Öffentlichen  Meinung. 

vereinigten  Opposition  der  Oktobristen  und  der  sog.  Kadetten.  Die 
Regierung  bewegte  sich  auf  einem  glatten  und  sehr  dünnen  Eise. 
Der  Einbruch  konnte  alle  Tage  erfolgen.  Sie  mußte  ihn  fürchten, 
denn  das  Wasser  unter  ihr  war  tief.  Sie  hatte  das  dringende  Verlangen, 
festes  I^and  zu  erreichen,  Erdboden  unter  ihren  Füßen  zu  haben. 
Das  feste  I^and  war  der  Panslawismus,  der  Erdboden  der  Militarismus. 
Die  Vorbereitung  zum  Kriege  im  ersten  Halbjahr  1914,  die  scharfe 
Betonung  der  unmittelbaren  Bereitschaft,  die  drängende,  heischende, 
ja  befehlende  Art,  in  der  die  Heeresfolge  Frankreichs  verlangt  wurde, 
korrespondiert  vollkommen  dem  Notgefühl  der  gegenrevolutionären, 
ihrer  Schuld  und  ihrer  inneren  Haltlosigkeit  bewußten  Regierung. 
Nur  durch  den  Appell  an  die  Vaterlandsliebe,  und  vollends  an  die 
lyiebe  zu  den  südslawischen  »Brüdern«,  den  lieben  Kindern  der 
Balkanhalbinsel,  insbesondere  der  Serben,  deren  hoffnungsvolle 
Angriffe  auf  das  verhaßte  Österreich  unablässig  und  planmäßig 
ermutigt  und  gefördert  wurden,  nur  durch  diese  Ablenkung  aller 
Stimmungen  und  der  öffentlichen  Meinung  nach  außen  hin, 
konnte  eine  solche  Regierung  die  ihr  entgleitenden  Zügel  wieder  in 
die  Hände  bekommen  und  ihre  Führerschaft  behaupten.  Daher  war 
ihr  der  Anlaß,  der  Fürstenmord,  wenn  sie  ihn  nicht  geradezu  herbei- 
geführt, gerufen,  bestellt  hat,  zum  mindesten  eine  höchst  willkommene 
Gelegenheit,  das  erlösende  Wort  C'est  la  guerre  zu  sprechen.  „Serbiens 
I^and  der  Verheißung  hegt  im  Gebiet  des  heutigen  Österreich-Ungarn", 
schrieb  am  6.  Mai  1913  Sassönow  an  Herrn  von  Hartwig,  und 
„für  Serbien  werden  wir  alles  tun",  ließ  sogar  der  friedliche  Zar  am 
2.  Februar  1914  dem  König  von  Serbien  durch  den  Ministerpräsidenten 
Paschitsch  sagen.  „Es  ist  auf  der  einen  Seite  der  slawische  Ehrgeiz, 
der  die  Verantwortung  für  diesen  Zustand  der  Dinge  trägt;  anderer- 
seits muß  man  die  Gründe  für  die  herausfordernde  Haltung  Rußlands 
und  seiner  Armeen  in  den  innerpolitischen  Fragen  suchen :  die  russische 
Umsturzpartei  erhofft  von  einem  auswärtigen  Kriege  die  Befreiung 
von  der  Monarchie;  die  Monarchisten,  im  Gegensatz,  erwarten  von 
demselben  Kriege  das  Ende  der  Revolution.  Man  muß  auch  das 
Bedürfnis  in  Betracht  ziehen,  eine  müßige  und  zahlreiche  Armee  zu 
beschäftigen,  den  Ehrgeiz  ihrer  Generale  zu  befriedigen  und  die  Auf- 
merksamkeit der  Iviberalen,  welche  Verfassungsänderungen  verlangen, 
auf  die  auswärtige  PoUtik  abzulenken."  So  hatte  am  22.  November 
1887  Fürst  BiSMARCK  an  den  Marquis  von  Sausbury  geschrieben. 
So  war  es  in  der  Hauptsache  auch  noch  19 14,  wenngleich  die  extreme 
Gruppe  der  »Bolschewisten«,  den  lychren  des  Pazifismus  huldigend, 
den  auswärtigen  Krieg  verwünschte ;  einig  waren  sich  darüber,  daß  er 
einen  unerträglichen  Zustand  beenden  werde,  die  konterrevolutionäre 


Der  WEI.TKRIEG.  —  Vor  dem  Wewkriege. 


539 


Regierung  und  die  Opposition  der  Duma,  die  aus  den  Kadetten 
und  wenigstens  der  Mehrheit  der  Oktobristen  bestand,  während 
Kleinrussen,  Polen,  Mohammedaner  und  andere  allogene  oder  anders- 
gläubige Gruppen,  in  der  Staatsstreich-Duma  schwach  vertreten, 
auch  sonst  sich  passiv  verhielten,  da  sie  vom  russischen  Sieg  ebenso\deI 
zu  fürchten  wie  von  der  russischen  Niederlage  zu  hoffen  hatten.  Die 
Großrussen  erwarteten  einen  raschen  Sieg,  mit  Hilfe  der  Franzosen  und 
ganz  besonders  mit  der  Flottenhilfe  Großbritanniens:  die  Regierung 
erhoffte  davon  Eroberung  und  Befestigung  der  Autokratie,  die  echt- 
russischen Leute  sogar  mit  Beseitigung  der  konstitutionellen  Formen; 
die  Opposition  hingegen  erwartete  eine  Modernisierung  des  russischen 
Staates,  Mitregierung  der  Bourgeoisie,  ungeheuren  wirtschaftUchen 
Aufschwung  durch  Vertilgung  der  penetration  pacifique  —  einmütig 
war  man  in  der  Absicht,  der  deutschen  Industrie  und  der  deutschen 
Macht  einen  tödlichen  Schlag  zu  versetzen,  einmütig  in  dem  Streben 
nach  den  Meerengen  und  nach  Konstantinopel.  Für  die  öffentliche 
Meinung,  sofern  sie  die  nüchterne  besonnene  politische  Denkungsart 
zugleich  mit  dem  nationalen  Idealismus  in  sich  verkörperte,  war  dies 
Endziel  die  Hauptsache.  Offenbar  mit  Rücksicht  darauf  veranstaltete 
die  Regierung  jene  »besondere  Beratung«  am  21.  Februar  19 14, 
worin  von  mehreren  autoritativen  Seiten  die  Verwirklichung  des 
Ideals  »aller  Russen«  —  die  Eroberung  von  »Zargrad«  —  als  bedingt 
durch  einen  europäischen  Krieg  und  zugleich  als  unmittelbar  ins  Auge 
zu  fassendes  Ziel  festgestellt  wurde.  Die  Regierung  der  Sassönow 
und  SUCHOMI.INOW  wußte  sich  verloren  gegenüber  der  öffentlichen 
Meinung,  die  eine  Fortführung  der  Revolution,  eine  Erneuerung 
ihrer  Errungenschaften  forderte,  gegenüber  der  Mehrheit  der  Duma, 
die  ihr  ein  Mißtrauensvotum  über  das  andere  erteilte,  gegenüber  der 
Zerfahrenheit  eines  Hofes,  an  dem  die  Geisterschau  eines  Grigory 
Rasputin  die  Geister  beherrschte,  während  im  Hintergrunde  die 
Partei  der  Großfürsten  den  »Krieg  um  jeden  Preis«  zu  schüren  nicht 
abüeß. 

5.  (Vor  dem  Weltkriege  in  anderen  Ländern.)  Die  öffentliche 
Meinung  aller  Länder  war  an  dem  Entsetzen  über  den  Doppelmord 
und  an  der  angstvollen  Beobachtung  der  Folgen  naturgemäß  stark 
beteiligt.  Für  Österreich-Ungarn  wird  man  noch  weniger  als 
für  Rußland  eine  einheitliche  und  gleichartige  Stimmung  und 
Denkungsart  behaupten  können;  nicht  beim  Volke,  noch  weniger 
in  der  Regel  b(  im  »gebildeten  Publikum.  Es  gab  vereinzelt  Reichs- 
staatsmänner; noch  mehr  vereinzelt  war  die  Reichs- öffentliche^ 
Meinung.  Die  Staatsmänner  waren  in  der  Regel  austrozentrisch  oder 
magyarozentrisch,  die  öffentUchc  Meinung  noch  ausschließlicher  das 


~^ 


540  Besondere  Fäli^e  der  Öffenti^ichen  Meinung. 

eine  oder  das  andere.  In  jedem  der  beiden  Staaten  war  das  eine  oder 
das  andere  Interesse  maßgebend.  Es  gab  wohl  auch  eine  tschechische, 
eine  kroatische  öffentHche  Meinung,  aber  sie  stellten  keine  politischen 
Mächte  dar.  Die  österreichische  und  die  ungarische  öffentliche 
Meinung  gingen  in  mehreren  Stücken  zusammen,  so  in  bezug  auf  die 
Dynastie,  wenn  auch  zunächst  nur  wegen  der  Person  des  Kaisers 
und  Königs;  in  den  meisten  Stücken  gingen  sie  auseinander.  Um  so 
schwerer  fiel  die  Einmütigkeit  ins  Gewicht,  womit  die  beiden  Nationen 
sich  dafür  erklärten,  der  serbischen  Feindseligkeit  mit  der  größten 
denkbaren  Schärfe  zu  begegnen.  Beide  wußten,  daß  die  Großmacht- 
stellung des  Reiches  auf  ihrer  Verbundenheit  beruhte,  und  daß  sie 
getrennt  ohnmächtig  würden;  beide  legten  folglich  auf  die  Erhaltung 
dieser  Großmachtstellung  den  allergrößten  Wert;  beide  erkannten 
die  Gefahr  ihrer  gänzHchen  Zerstörung  durch  die  großserbischen  und 
panslawistischen  Bestrebungen,  hinter  denen  der  Zarismus  und  sein 
Kosakentum  lauerten.  AnfängHch  war  gerade  Tisza  für  eine  mildere 
Tonart.  Graf  Berchtold  (der  österreichische)  betrachtete  ihn  (den 
ungarischen  Minister)  als  „retardierendes  Moment"  (Die  deutschen  Do- 
kumente, Nr.  19),  aber  am  14.  JuH  (Nr.  49)  besuchte  TiszA  den  deutschen 
Botschafter,  um  ihm  zu  sagen,  er  habe  bisher  immer  zur  Vorsicht 
ermahnt,  aber  jeder  Tag  habe  ihn  nach  der  Richtung  hin  mehr  be- 
stärkt, daß  die  Monarchie  zu  einem  energischen  Entschlüsse  kommen 
müsse,  um  ihre  I^ebenskraft  zu  beweisen  und  den  unhaltbaren  Zu- 
ständen im  Südosten  ein  Ende  zu  machen.  Er  habe  sich  schwer  ent- 
schlossen, zum  Kriege  (gegen  Serbien)  zu  raten,  sei  aber  jetzt  fest  von 
dessen  Notwendigkeit  überzeugt,  und  werde  mit  aller  Kraft  für  die  Größe 
der  Monarchie  einstehen.  Es  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  die  öffent- 
liche Meinung  seines  Landes  den  Minister  zu  dieser  Entschlossenheit 
gedrängt  hat.  Der  magyarische  Nationalismus  war  ebenso  leiden- 
schaftHch  und  scharf  wie  der  serbische;  in  seiner  HandelspoUtik 
war  er  mehr  als  der  österreichische  (der  ohnehin  schwächer  und 
milder  war)  gegen  Serbien  feindlich  gewesen.  Und  immer  wieder 
bewährt  sich  das  Wort  des  Corneuus  Tacitus:  Oderunt  homines 
quos  laeserunt,  eine  Mischung  von  gutem  und  bösem  Gewissen,  nebst 
einigen  Ingredienzen  von  Übung  (im  Kränken)  und  Schaden- 
freude ergeben  die  Beweggründe.  Daß  die  magyarische  öffent- 
liche Meinung  sonderlich  von  Gefühlen  und  wenig  durch  Einsicht 
bestimmt  war,  ist  an  anderer  Stelle  (vgl.  S.  256)  an  einem  guten 
Beispiel  dargestellt  worden.  Der  Mangel  an  geschlossener  Einheit 
der  beiden  Reichshälften  hat  auch  während  des  Krieges,  zumal  als 
er  seinem  unsehgen  Ende  sich  näherte,  verhängnisvoll  in  der  öffent- 
lichen Meinung  wie  in  der  Regierung  der  »Monarchie«,  die  eben  ihr 


Der  Weltkrieg,  —  Vor  dem  WeIvTkriege.  541 

Wesen  in  der  Untertanschaft  unter  das  Haus  Habsburg  hatte,  sich 
geltend  gemacht. 

„So  austrophob  im  allgemeinen  die  italienische  öffentliche  Meinung 
ist,  so  serbophil  hat  sie  sich  bisher  immer  gezeigt."  „Ganz  abgesehen 
davon,  daß  die  Politik  der  Regierung  in  Italien  nicht  unwesentlich  von 
den  Stimmungen  der  öffentlichen  Meinung  abhängt,  so  beherrscht  die 
Auffassung  (eine  territoriale  Ausbreitung  der  österreichisch-ungarischen 
Monarchie,  selbst  eine  Ausdehnung  ihres  Einflusses  im  Balkan  werde 
in  ItaHen  perhorresziert  und  darüber  die  in  Wirklichkeit  für  Italien 
viel  größere  slavische  Gefahr  verkannt)  doch  auch  die  Köpfe  der 
Mehrzahl  der  itaüenischen  Staatsmänner."  Diese  Sätze  finden  sich 
in  einem  Schreiben  des  Staatssekretärs  von  Jagow  an  den  Botschafter 
in  Wien  vom  15.  JuU  1914.  Das  Schreiben  zeugt  nicht  nur  von  Kennt- 
nis Italiens,  die  Herr  von  Jagow  als  Botschafter  in  Rom  erworben 
hatte,  sondern  auch  von  staatsmännischer  Einsicht.  Jagow  sieht  klar 
voraus,  daß  Italiens  Parteinahme  für  Serbien  die  russische  Aktionslust 
wesentHch  ermutigen  werde,  und  daß  Italien  mit  Grund  bei  jeder 
Veränderung  im  Balkan  zugunsten  der  Donaumonarchie  ein  Recht 
auf  Kompensationen  in  Anspruch  nehme;  als  einzige  vollwertige 
Kompensation  werde  aber  in  Italien  die  Gewinnung  des  Trento 
erachtet  werden.  ,, Dieser  Bissen  wäre  allerdings  so  fett,  daß  damit 
auch  der  austrophoben  öffentlichen  Meinung  der  Mund  gestopft 
werden  könnte."  Durchaus  treffend  wird  weiter  gesagt,  es  sei  zwar 
ein  solches  Opfer  sehr  schwer  mit  den  Gefühlen  des  Herrschers  wie 
des  Volkes  in  Österreich  vereinbar,  aber  es  frage  sich,  welchen  Wert 
die  Haltung  ItaUens  für  die  österreichische  Politik  habe,  welchen 
Preis  man  dafür  zahlen  wolle,  und  ob  der  Preis  im  Verhältnis  zu  dem 
anderwärts  erstrebten  Gewinn  stehe.  Gleichwohl  will  er  nur  der  Be- 
urteilung des  Botschafters  selber,  seiner  Kenntnis  der  in  Wien  vor- 
handenen Dispositionen  anheimgeben,  ob  bei  einem  vertraulichen 
Gespräch  mit  dem  österreichischen  Minister  die  Frage  des  Trento 
auch  nur  erwähnt  werden  könne !  Offenbar  mußte  die  Bundesgenossen- 
schaft immer  sehr  behutsam  angefaßt  werden;  angesichts  der  unge- 
heuren Gefahren  wäre  aber  eine  entschlossenere  Haltung,  ja  eine 
bestimmte  Weisung  allerdings  angezeigt  gewesen.  Vortrefflich  wird 
in  der  »Ethischen  Umschau«  von  Gustav  MAiER-Zürich,  Nr.  i  vom 
November  191 1  „TripoUs  und  die  öffentHche  Meinung  in  Italien" 
dargestellt.  „Gewisse  Geistesbewegungen"  —  heißt  es  da  —  , »werden 
durch  die  Kraft  de  r  Massensuggestion  bis  zu  c  iiu  in  rinikt  ^'cst eifert, 
wo  die  vernünftige  Meinung  des  Einzelnen  vollständig  verschwindet, 
und  der  Irrtum,  gleich  einem  unsichtbaren  Flnirhnn,  epidemisch 
ansteckend  in  der  Luft  schwebt."    Wie  iiüliei   durch  die  Religion, 


542  Besondere  Fälle  der  öffentlichen  Meinung. 

SO  werde  heute  durch  große  nationale  Fragen  die  Seele  der  Völker 
derartig  erhitzt,  daß  zeitweise  jede  ruhige  Besinnung  verloren  gehe.  — 
Der  Krieg,  der  diese  Stimmung  in  Itahen  bewirkte,  war  der  Krieg  um 
die  Eroberung  eines  Stückes  der  Türkei  in  Afrika.  —  Eine  ähnüche 
üble  Rolle  wie  Italien  hat  für  die  unglückHchen  Mittelmächte  der 
heimUche  Bundesgenosse  Rumänien  gespielt.  Treue  ist  in  der  großen 
PoHtik  ein  scheinbarer  Wert,  der  bei  Gelegenheiten  zur  Schau  ge- 
tragen wird,  aber  sich  als  nichtig  erweist,  sobald  er  dem  Feuer  der 
Wahrheit  auch  nur  nahekommt.  Schon  im  Winter  1913/14  hat  der 
König  aus  dem  Hause  Hohenzollern  dem  österreichischen  Gesandten 
gesagt,  er  werde  seine  Politik  nicht  gegen  die  öffentliche  Meinung 
seines  Landes  führen  können  (D.  D.  Nr.  39).  Und  in  dem  Memo- 
randum der  österreichisch-ungarischen  Regierung,  das  nach  langen 
Vorbereitungen  unmittelbar  vor  dem  Morde  von  Serajevo  fertig- 
gestellt und  nach  Berlin  gesandt  wurde,  heißt  es,  die  russisch-fran- 
zösische Aktion  habe  in  Rumänien  schon  während  der  Balkankrise 
mit  voller  Intensität  eingesetzt  und  habe  die  öffentliche  Meinung 
durch  erstaunliche  Verdrehungskünste  und  durch  geschickte  An- 
fachung der  unter  der  Oberfläche  stets  fortglimmenden  großrumä- 
nischen Idee  in  eine  feindselige  Stimmung  gegen  die  Monarchie 
hineingetrieben  und  die  auswärtige  Politik  Rumäniens  zu  einer  mit 
seinen  Bundespflichten  gegenüber  Österreich-Ungarn  kaum  in  Ein- 
klang stehenden  militärischen  Kooperation  mit  Serbien  veranlaßt. 
Diese  Aktion  werde  mit  allem  Nachdruck  und  mit  so  eindrucksvollen 
und  demonstrativen  Mitteln,  wie  dem  Besuch  des  Zaren  am  rumä- 
nischen Hofe,  fortgesetzt.  „Parallel  damit  vollzog  sich  ein  immer 
tiefer  gehender  Umschwung  in  der  rumänischen  öffentlichen  Meinung, 
und  es  kann  heute  nicht  daran  gezweifelt  werden,  daß  viele  Kreise 
der  Armee,  der  Intelligenz  und  des  Volkes  für  eine  neue  Orientierung 
Rumäniens  gewonnen  sind,  für  eine  Politik  des  Anschlusses  an 
Rußland,  die  sich  die  »Befreiung  der  Brüder  jenseits  der  Karpathen« 
zum  Ziele  zu  setzen  hätte."  Dennoch  meint  Graf  Czernin,  der  Ru- 
mänien kannte,  wenn  Bratianu  nicht  die  öffentliche  Meinung  seines 
Landes  durch  zwei  Jahre  gegen  Österreich  hätte  aufpeitschen  lassen, 
und  schließlich  seine  russische  Grenze  nicht  von  allen  Truppen  ent- 
blößt, so  wäre  das  russische  Ultimatum  vom  August  1916  wirkungslos 
geblieben  (Im  Weltkriege,  S.  357).  —  In  bezug  auf  Serbien  schreibt 
ein  einsichtsvoller  serbischer  Diplomat,  wie  ihm  im  Herbst  19 13,  als 
er  zum  letztenmal  in  Belgrad  war,  der  Größenwahn  auffallend 
gewesen  sei,  der  den  Hof,  die  Regierung  und  „die  unreife  öffent- 
liche Meinung  in  Serbien"  ergriffen  hatte  (Boghitschewitsch, 
Kriegsursachen,   S.  77). 


Der  Weltkrieg.  —  Vor  dem  Weltkriege.  543 

Über  die  öffentliche  Meinung  in  den  neutralen  Ländern,  zu 
denen  ja  auch  die  Vereinigten  Staaten  bis  zum  3.  Februar  1917 
gehörten,  möge  nur  folgendes  bemerkt  werden.  Nur  in  dem 
kleinen  Dänemark  war  sie  schon  vor  dem  Weltkriege  ausgesprochen 
und  aus  offenbaren  Gründen,  deutschfeindhch,  hingegen  in  Schweden 
um  so  mehr  germanophil  geworden,  je  mehr  der  russische  Im- 
periaUsmus  die  Freiheiten  Finlands  erwürgte  und  seine  Expansion 
über  die  Ostsee  ausdehnte,  was  eine  schwere  Bedrohung  Skandi- 
naviens in  sich  schloß,  die  aber  außer  in  Finland  nur  in  Schweden 
zu  deutHchem  und  starkem  Bewußtsein  gelangte.  Was  mit  mehr 
oder  weniger  Grund  über  die  Unbeliebtheit  der  Deutschen  in  anderen 
Ländern  ausgesagt  worden  ist,  mag  dem  Betragen  vieler  Reisender 
und  besonders  mancher  Handlungskommis  zugeschrieben  werden, 
aber  Klagen  dieser  Art  werden  zwischen  Nachbarn  immer  laut  und 
sind  im  allgemeinen  nur  Begleiterscheinungen  der  Größe,  die  das 
Deutsche  Reich  vermöge  seiner  politischen  Macht  und  mehr  vermöge 
der  Leistungen  seiner  großen  Industrie  in  Europa  und  auf  dem  Erd- 
ball gewonnen  hatte.  Größe  gebiert  immer  Haß  und  Eifersucht, 
zumal  wenn  sie  die  Kleinen  überwältigt.  Kein  Völkerhaß  ist  dem 
vergleichbar,  der  die  Engländer  traf,  als  sie  den  Burenrepubliken 
den  Garaus  machten.  In  den  Folgejahren  hat  England  verstanden, 
den  Haß  auf  Deutschland  abzuwälzen,  dessen  Last  es  selber  jahre- 
lang empfunden  hatte.  Wenn  aber  in  bezug  auf  die  RivaHtät  zwischen 
Deutschland  und  England,  in  bezug  auf  den  Rachedurst,  der  den 
Chauvinismus  der  Franzosen  beseelte,  ja  sogar  in  bezug  auf  die  Be- 
kämpfung des  Deutschtums  durch  den  Panslavismus  und  die  anti- 
österreichischen Tendenzen  des  italienischen  Nationalismus,  in  der 
öffentlichen  Meinung  der  neutralen  Länder  nur  eine  schwache  Teil- 
nahme, ja  sogar  eine  weitgehende  Gleichgültigkeit  erwartet  werden 
muß  und  als  Tatsache  gelten  darf,  so  kommt  bei  den  Vereinigten 
Staaten  und  vollends  für  andere  exotische  Länder,  eine  vollkommene 
Unkenntnis  und  Unwissenheit  hinzu,  die  zu  jedem  Urteil  über  diese 
Fragen  der  europäischen  Politik  von  vornherein  unfähig  machte. 
Bezeichnend  dafür  ist,  daß  in  der  New -Yorker  Evening  Post,  einer 
Zeitung,  die  etwa  den  Rang  der  Frankfurter  Zeitung  in  Anspruch 
nehmen  kann,  während  des  ersten  Halbjahrs  1914  von  europäischen 
Dingen  überhaupt  keine  Rede  ist,  außer  daß  hin  und  wieder  die 
Angelegenheiten  Irlands  und  einige  andere  Vorgänge  des  britischen 
politischen  Lebens  berührt  wckK  n!  —  Die  vollkommene  Unwissenheit 
des  amerikanischen  Publikums  war  die  logische  Prämisse  seiner 
Stellungnahme  während  des  Krieges. 


544  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffentuchen  Meinung. 

ZweiterAbschnitt.    Die  Öffentliche  Meinung  während 
des  Weltkrieges.^ 

6.  (Im  allgemeinen.)  In  der  Regel  wird  die  öffentliche  Meinung 
in  einem  Ivande,  das  sich  im  Kriegszustände  befindet,  darüber  einig 
sein,  daß  der  Krieg  dem  eigenen  Lande  aufgezwungen,  daß  er  ein 
Verteidigungskrieg  oder,  wie  die  englische  Formel  lautet,  ein  gerechter 
und  notwendiger  Krieg  sei.  Die  Volksstimmung  ist  kriegerisch,  ist 
von  Haß  und  Zorn  gegen  den  Feind  oder  die  Feinde  erfüllt,  zumeist 
auch  von  patriotischer  Begeisterung,  von  Hoffnung  auf  ein  baldiges 
und  glückHches  Ende,  von  Zuversicht  in  den  endhchen  ruhmvollen 
Sieg.  An  anderen  Stellen  ist  schon  darauf  hingewiesen  worden,  daß 
die  öf  f  entÜche  Meinung  in  solcher  kritischen  Lage  ihr  Wesen  deutücher 
als  sonst  offenbart:  nämHch  als  soziale  Willensmacht,  die  eine  be- 
stimmte Art  zu  denken  und  zu  urteilen  heischt  und  gebietet,  und 
gegen  Andersdenkende  unduldsam  ist.  Wie  für  die  ReHgion,  wird 
für  die  öffenthche  Meinung  der  Zweifel  Sünde  —  Zweifel  an  der 
eigenen  Stärke,  Zweifel  am  endhchen  Siege,  Zweifel  an  der  Nichts- 
würdigkeit und  Schuld  des  Feindes.  Zunächst  werden  die  Äußerungen 
solcher  Zweifel  verwehrt  wegen  ihrer  schädhchen  Wirkung  auf  die 
Stimmung;  als  Miesmacher,  Flaumacher,  Defaitisten  werden  solche 
Zweifler  beschuldigt,  durch  ihr  Verhalten  den  Mut  der  Kämpfer 
und  der  Heimbevölkerung  zu  schwächen  und  eben  dadurch  auch  die 
Aussichten  des  Triumphes  zu  mindern.  Alsbald  aber  gilt  auch  die 
Denkungsart  selber,  auch  wenn  sie  nur  durch  Schweigen,  durch 
gedrückte  Stimmung  und  zögernde  Teilnahme  an  patriotischen 
Kundgebungen  sich  verraten  mag,  als  tadelnswert,  ja  als  verächtlich 
und  schlechthin  vom  Übel.  Die  leidenschaftliche  Erregung,  die  der 
Krieg  notwendig  bewirkt,  vergrößert  die  Gefahren  und  macht  ent- 
schlossener zur  Tat,  um  ihnen  zu  wehren.  Die  öffenthche  Meinung 
findet  leicht,  daß  die  Regierung  versäume,  die  notwendigen  Maßregeln 
zu  ergreifen,  diese  wird  manches  tun,  weil  sie  es  für  notwendig  hält,  sie 
wird  wirkhche  Verräter,  wo  sie  diese  gewahr  wird,  mit  fester  Hand 
packen,  sie  wird  auch  manches  tun  nur  zur  Beruhigung  der  öffent- 
lichen Meinung.  So  war  es  wohl,  als  in  England  dem  hervorragenden 
Gelehrten  Bertrand  Russei^l,  der  über  die  PoHtik  der  Entente  An- 
sichten vertrat,   die  das  britische  Interesse  nicht  verleugneten,  aber 

*)  „Wie  aber  alles  Reden  ein  Urteilen  in  sich  begreift,  so  legt  die  öffentliche 
Meinung  nirgends  ihre  Schwäche  an  Kritik  und  Sachkunde  so  offen  bloß,  wie  ge- 
rade im  Kriege.  All  das  Fürchten,  Hoffen  und  Zittern,  das  die  Menschen  in  solchen 
Zeiten  erfaßt  und  durchrüttelt,  das  herrscht  auch  über  ihr  Denken  und  lockt  dieses 
Denken  von  starrer  Logik  und  kühler  Überlegung  ins  Reich  der  Gefühle  und  Leiden- 
schaften."   W.  Bauer,  Der  Krieg  und  die  öffentliche  Meinung  (1915).  S.  13. 


Der  Weltkrieg.  —  Während  des  Wei^tkrieges.  545 

der  korrekten  nationalen  Selbstgerechtigkeit  nicht  entsprachen,  als 
diesem  wissenschaftlichen  Manne  verboten  wurde,  außerhalb  eines  ge- 
wissen inneren  Kreises  öffenthch  zu  reden.  Die  Zeitung  Manchester 
Guardian,  die  selber  eines  maßvolleren  Urteils  sich  befleißigte,  als  sonst 
übHch  war,  bemerkte  zu  dieser  Maßregelung:  „Bei  uns  (in  England) 
hat  die  akademische  Welt  wenig  Gewicht;  in  Amerika  und  allgemein 
in  Ländern,  wo  das  Volk  an  die  Wichtigkeit  der  Bildung  glaubt,  ist 
sie  ein  ernstHcher  Faktor  in  Gestaltung  der  öffentHchen  Meinung/' 
Die  Gestaltung  der  öffentHchen  Meinung  im  Kriege  unterHegt 
naturgemäß  der  Sorge  der  Regierung  und  der  Heeresleitung.  Zunächst 
ist  ihnen  an  der  Stimmung  im  Heere  —  sie  ist  die  »Moral«  —  und 
um  dieser  willen  an  der  Volksstimmung  überhaupt  gelegen.  Diese  muß 
hochgehalten,  muß  immer  von  neuem  aufgefrischt  werden.  Kein 
besseres  Mittel  gibt  es  dafür  als  Siegesnachrichten  und,  um  die  Sieges- 
nachrichten wahrscheinUch  zu  machen,  kein  besseres  Mittel  als  den 
wirklichen  Sieg.  Leicht  wird  aber,  wegen  des  Wertes  der  Siegesnach- 
richt, der  wirkUche  Sieg  vergrößert,  die  wirkliche  Niederlage  —  deren 
Nachricht  naturgemäß  die  entgegengesetzte  Wirkung  auslöst  —  ver- 
kleinert oder  verschleiert;  und  von  der  Leichtfertigkeit  oder  doch 
minderen  Gewissenhaftigkeit  in  bezug  auf  die  Wahrheit  führt  bald 
ein  weiterer  Schritt  zum  Entschlüsse  der  bewußten  Täuschung,  der 
Lüge.  Die  Kriegsgeschichte  aller  Zeiten  ist  davon  erfüllt;  durch 
Unverfrorenheit  im  Lügen  haben  von  je  die  Russen  sich  hervorgetan. 
Mit  der  unmittelbaren  Wirkung  auf  die  große  Menge  ist  der  Zweck 
aller  solcher  Künste  erfüllt.  Die  öffentUche  Meinung  kann  nicht 
lange  über  die  Unwahrheiten  solcher  Darstellungen  getäuscht  werden. 
Man  studiert  Kriegskarten,  man  vergleicht,  man  erhält  private  Be- 
richte, man  hest  feindhche  oder  neutrale  Zeitungen,  man  unterstützt 
vielleicht  das  Bestreben,  die  große  Menge  in  Unkenntnis  zu  erhalten. 
Aber  Regierung  und  Heeresleitung  wollen  auch  die  öffentliche  Meinung 
nicht  sich  selber  überlassen,  auch  wenn  sie  allen  Grund  haben,  ihrer 
patriotischen  Gesinnung  zu  vertrauen,  sie  sind  nichtsdestoweniger  be- 
müht, dieser  fortwährend  die  ihnen  genehme  Richtung  zu  geben,  und 
zwar  wird  sich  leicht  ein  Zwiespalt  zwischen  den  beiden  Mächten, 
der  zivilen  und  der  miUtärischen  ergeben,  wenn  etwa  jene  die  öffent- 
liche Meinung  zum  Frieden  geneigt  zu  machen  für  notwendig  hält, 
diese  unablässig  die  Fortsetzung  des  Krieges  verlangt  und  als  aus- 
sichtsreich darstellt.  Vorteilhafter  ist  offenbar,  wenn  die  öffentHche 
Meinung  in  einem  und  im  gleichen  Sinne  bearbeitet  wird,  und  zwar 
kann  der  einheitUch  friedhche  oder  der  einheitHch  kriegerische  Ein- 
fluß angezeigt  sein,  je  nach  der  wirklichen,  oft  nur  den  Wenigen,  die 
an  der  Spitze  stehen,  bekannten  Kriegslage. 

Tönnics,  Kritik.  35 


546  Besondere  Fäli^e  der  Öffentuchen  Meinung. 

7.  (In  Deutschland  während  des  Weltkrieges.)  In  Deutschland 
war,  angesichts  einer  ungeheuren  Überzahl  von  Feinden,  die  sich 
fortwährend  vermehrte  und  verstärkte,  eine  maßvolle  und  vorsichtige 
Haltung  geboten,  die  sich  vor  anderen  der  Reichskanzler  v.  Bethmann- 
H01.LWEG  angelegen  sein  ließ,  wodurch  er  von  vornherein  einen 
schweren  Stand  hatte  gegen  die  eines  raschen  und  vollkommenen 
Sieges  gewärtige  öffentliche  Meinung,  die  über  Art  und  Ausdehnung 
des  Mißerfolges  an  der  Marne,  der  den  ursprünglichen  Feldzugsplan 
als  gescheitert  anzusehen  nötigte,  getäuscht  worden  war^).  Den 
Vertretern  der  Presse  wurde  am  3.  August  gesagt:  „Wir  werden  nicht 
immer  alles  sagen  können,  aber  was  wir  Ihnen  sagen  werden,  ist 
wahr."  In  den  deutschen  Heeresberichten  dürfte  in  Wahrheit  nichts 
geradezu  Unwahres  gestanden  haben,  aber  der  Zeuge  vor  Gericht 
muß  nicht  ohne  guten  Grund  schwören,  »nichts  zu  verschweigen«. 
Das  Verschweigen  und  Verschleiern  machte  die  Berichterstattung 
über  den  großen  Rückzug  im  September  durchaus  unwahr,  wie  das 
Schweigen  über  verlorene  Schiffe  den  Bericht  über  die  ehrenvolle 
lycistung  des  großen  Seegefechts  im  Skagerrak.  Politisch  war  das 
eine  wie  das  andere  ein  Fehler,  schon  weil  es  doch  bekannt  werden 
mußte  und  das  Vertrauen  erschütterte,  aber  auch,  weil  das  deutsche 
Volk  nicht  wie  ein  Kind  behandelt  werden  durfte.  Es  mußte  auch  die 
bittere  Wahrheit  ertragen,  da  es  so  viele  Bittemisse  willig  ertrug, 
die  durch  falsche  Siegeszuversicht  nicht  versüßt  wurden.  Die  poli- 
tische Führung  hatte  in  diesem  so  viel  schwereren  Kriege  nicht  den 
ungeheuren  Machtzauber  für  sich,  den  schon  im  Jahre  1870  Graf 
BiSMARCK  geltend  machen  konnte,  der  ihn  verführte,  auch  in  rein 
mihtärische  Fragen  sich  hineinzumischen;  so  war  es  das  Schicksal 
des  Deutschen  Reiches,  daß  seine  Leitung  ausschließlich  militaristisch 
wurde,  die  fast  ungehemmte  Diktatur  des  Generals  Ludendorff, 
der  dann  auch  die  Behandlung  der  öffentlichen  Meinung  zu  seinen 
Aufgaben  zählte  und  nur  durch  starke  Getränke  sie  wach  zu  erhalten 
und  aufpeitschen  zu  sollen  meinte.  Von  Anf9,ng  her  stand  wie  in 
allen  anderen  Ländern,  so  auch  in  Deutschland  die  öffentliche  Mei- 
nungsäußerung unter  einer  strengen  Zensur.  Natürlich  waren  ihre 
Funktionen    unzulänglich    und    erregten    viele    Unzufriedenheiten. 


1)  Treffend  urteilte  H.  DEi.BRt)CK  nach  der  Katastrophe  (Deutsche  Allg.  Zeitung, 
27.  VII.  1919):  ,,Die  öffentliche  Meinung  geht  notwendigerweise  mit  dem  Soldaten." 
„Soldaten  aber  sind  und  müssen  ihrer  Natur  nach  optimistisch  und  zuversichtlich 
sein."  Der  Kaiser  habe  nicht  die  Kraft  gehabt,  Bethmann-Hoi^lweg  zu  halten  — , 
,,dem  geschlossenen  Ansturm  der  öffentlichen  Meinung  der  Majorität  des  Reichstages 
und  der  Obersten  Heeresleitung  gab  er  nach."  Man  dürfe  auch  nicht  vergessen,  wie 
schwierig  die  Position  der  Michaelis  und  Hertling  gewesen  sei,  gegenüber  der 
patriotisch  erregten  öffentlichen  Meinung. 


Der  Wei^tkioeg.  —  Während  des  Wei^tkrieges.  547 

Schon  im  Februar  1915  erkannte  die  Oberste  Heeresleitung  als  ihre 
Aufgabe,  den  selbständigen  Pressedienst  des  Generalstabes  zu  einer 
Oberzensur  auszuweiten  und  eine  Art  von  Pressestrategie  einzu- 
richten. „Eine  Führung  der  öffentlichen  Meinung  erwartete  die 
Oberste  Heeresleitung  nur  durch  weitgehende  Aufklärung  und  frei- 
willige Mitarbeit  der  Presse  (Nicoi^ai,  Nachrichtendienst,  Presse  \ind 
Volksstimmung  im  Weltkrieg,  BerUn  1920,  S.  75).  So  trat  im  August 
1915  das  Kriegspresseamt  ins  Leben,  worin  die  Oberzensurstelle  die 
2.  Abteilung  bildete.  In  dem  Werke  des  Oberstleutnants  NiCOi^Ai 
wird  natürhch  die  Tätigkeit  des  Kriegspresseamtes  nicht  nur  ver- 
teidigt, sondern  in  glänzendes  Licht  gesetzt.  „Politische  Aufgaben 
wollte  und  sollte  das  Kriegspresseamt  nicht  tragen,  trug  sie  aber 
tatsächlich  durch  das  Zurücktreten  der  poHtischen  Stellen  hinter 
die  Oberzensurstelle  und  hinter  die  treibende  KJraft  des  Kriegspresse- 
amts, besonders  in  der  Frage  der  Beeinflussung  der  Volksstimmung 
und  der  Auslandspropaganda",  S.  89.  Nachdem  die  Oberste  Heeres- 
leitung an  den  Generalfeldmarschall  und  an  General  Ludendorfp 
übergegangen  war,  bemühten  diese  sich  mit  aller  ihrer  Tatkraft, 
dem  Reichskanzler  „die  Notwendigkeit  einheitlicher  Presseleitung 
und  einer  Aufklärung  der  öffentlichen  Meinung"  vorzustellen  und 
eine  bei  der  Reichskanzlei  zu  errichtende  Zentralstelle  durchzusetzen, 
die  für  ein  einheitliches  Vorgehen  sämtUcher  Pressestellen,  sowie 
auch  dafür  verantwortHch  sein  sollte,  daß  bei  größeren  Ereignissen 
rechtzeitig  weitblickende  Weisungen  erteilt  und  Maßnahmen  ver- 
abredet würden.  Im  Scheitern  dieses  Planes  sieht  der  General 
LuDENDORFF  die  Hauptursache  des  Verhängnisses;  es  habe  an  ein- 
heitlichem Siegeswillen  gefehlt,  der  bei  den  feindlichen  Nationen 
vorhanden  gewesen  sei.  Durchaus  treffend  bemerkt  dazu  H.  Dei^brüCK 
(LuDENDORFF,  TiRPiTZ,  FAI.KENHAYN  S.  17) :  „Man  faßt  sich  an  den 
Kopf,  wenn  man  solche  Gedankengänge  liest.  Jeder  Satz  eine  Ab- 
surdität oder  ein  historisches  Falsum.  Es  ist  durchaus  unrichtig, 
daß  das  engUsche  Volk  geschlossen  hinter  dem  Vernichtungswillen 
der  Regierung  Lloyd  George  gestanden  habe.  Sehr  bedeutende 
Teile  sowohl  der  demokratischen  Linken  wie  der  Konservativen 
waren  einem  Verständigungsfrieden  geneigt,  und  sind  nur  (?)  durch 
die  von  der  Vaterlandspartei  und  General  Ludendorff  in  Deutschland 
repräsentierte  Gewaltpolitik  verhindert  worden,  sich  geltend  zu 
machen.  Nicht  anders  war  es  in  Amerika,  und  sogar,  wenn  auch  in 
schwächerem  Maße,  in  Frankreich . .  .  Wie  hätte  das  (deutsche) 
Volk  zu  noch  höheren  Leistungen  aufgepeitscht  werden  können? 
Mit  einer  von  der  Regierung  geleiteten  Presse  (meint  Ludendorff). 
Welche  Vorstellung  vom  Wesen  der  Presse,  von  Regierungseinflüssen 

35* 


548  Besondere  Fäi,i-e  der  öffentuchen  Meinung. 

und  von  der  Natur  eines  Volkes,  das  eben  darin  seine  Freiheit  sieht, 
daß  jeder  Einzekie  aus  eigenem  freien  Willen  dem  Vaterlande  dient! 
Gewiß  hat  auch  die  Regierung  Einfluß  auf  die  Presse  und  durch  die 
Presse  auf  das  Volk.    Aber  dieser  Einfluß  ist  begrenzt,  und  die  Er- 
fahrung gerade  dieser  Jahre  hat  uns  gelehrt,  daß  solche  Beeinflussung 
oft  viel  mehr  Schaden  als  Nutzen  gestiftet.    Die  Produktionen  des 
LuDENDORFF  sehen   Kriegspresseamts   wie   das   Walten  der  Zensur, 
haben  uns  oft  genug  mit  einer  Art  von  Schauder  erfüllt.  Dies  deutsche 
Volk,  von  dem  ein  Drittel  der  Sozialdemokratie  anhing,  ein  anderes 
Drittel  unter  dem  Einfluß   der  katholischen   Kirche  stand,  bildet 
General  LudBndorff  sich  ein,  hätte  durch  offiziöse  Zeitungen  zu 
einer  anderen  Gesinnung  erzogen  werden  können.    Nun  erst  gar  für 
welche  Zwecke!"  (nämlich   imperiaUstische)    usw.     Man   hätte   nun 
meinen  sollen,  daß  der  Obersten  Heeresleitung  ihr  Vorhaben  nach 
Beseitigung   des   Reichskanzlers   Bethmann  gelungen   wäre.     Beim 
Reichskanzler  MiCHAEi<is  wurde  der  Antrag  auf  Herbeiführung  einer 
]>itung  der  öffentHchen  Meinung  erneuert  (NiCOi^Ai,  S.  105).  Dieser 
entschloß  sich,  die  Stelle  eines  Pressechefs  in  der  Reichskanzlei  zu 
schaffen  (das.  S.  94),  d.  h.  den  Geboten  3vUDEndorffs  zu  willfahren. 
„Anfang  September  nahm  sie  ihre  Tätigkeit  auf,  die  Anfang  Oktober 
mit  dem  Amtsantritt  des  Grafen  Herti^inG  wieder  beendet  wurde" 
(das.).    Dieser  Regierung  gegenüber  erweiterte  sich  die  Forderung 
der  Obersten  Heeresleitung  zu  der  nach  einem  Propagandaminister, 
bestimmt,  den  militärischen  Kampf  politisch  zu  unterstützen  und 
die  in  ihm  erzielten  Erfolge  politisch  auszuwerten"   (S.  95).    „Die 
Regierung  des  Grafen  Hertling  stimmte  der  Forderung  an  sich  zu, 
bei  der  Durchführung  versagte  sie  noch  mehr  als  die  früheren." 
Noch  Ende  Juni  1918  trug  sie  sich  mit  »Vorarbeiten«,  um  die  Zu- 
sammenfassung sämtUcher,  zur  führenden  Einwirkung  auf  die  öffent- 
liche Meinung  des  In-  und  Auslandes  bestimmten  amtlichen  Ein- 
richtungen ins  Werk  zu  setzen.    „Die  bureaukratische  Behandlung, 
wo  die  Oberste  Heeresleitung  Taten  verlangt  hatte,  wirkte  wie  Hohn" 
(S.  96).    Daß  I^UDENDORFF  in  gutem  Glauben  und  von  reinem  Eifer 
für  die  Sache  beseelt  war,  unterliegt  keinem  Zweifel.   Auch  war  eine 
einheitHche  Direktion  im  Sinne  ungebrochener  Tatkraft  nicht  ganz 
so  aussichts-  und  wertlos,  wie  Delbrück  sie  erscheinen  läßt.    Aber 
an    den    elementaren    Tatsachen    der    Stärkeverhältnisse,    an    dem 
Scheitern  des  U-Bootkrieges,  an  dem  Sinken  der  morahschen  Kraft 
durch  die  fortgesetzte  Unterernährung  konnte  keine  solche  Direktion 
etwas   ändern.     Auch   Lord  NORTHCI.IFFE,   auf   dessen   Wirken   als 
Propagandaminister    die  Oberste    Heeresleitung    sich    berief,    wäre 
gänzHch  ohnmächtig  gewesen,  wemi  die  Erfolge  des  U-Bootkrieges 


Der  Wei-tkrieg.  —  Während  des  Wei,tkrieges.  549 

vom  April  1917  sich  2 — 3  Monate  lang  auch  nur  auf  gleicher  Höhe  ge- 
halten hätten,  geschweige,  wenn  sie  noch  gesteigert  worden  wären!  — 
Die  Oberste  Heeresleitung  hat  offenbar  einen  Unterschied  zwischen 
Volksstimmung  und  der  öffentlichen  Meinung  nicht  gekannt.  Sie 
wollte  auf  die  Volksstimmung  einwirken  und  konnte  im  günstigsten 
Falle  die  öffentHche  Meinung  erreichen,  die  im  Grunde  solcher  Ein- 
wirkung kaum  bedurfte.  Durch  Zeitungsartikel  wird  die  eigentUche 
Volksmenge  in  Stadt  und  I^and  wenig  beeinflußt,  die  Volksstimmung 
beruht  auf  dem  Wohl-  oder  Übelbefinden  des  Volkes,  und  dies  ist 
durch  den  Ernährungszustand  wesentlich  bedingt.  Die  öffentliche 
Meinung^)  erkannte  wohl,  daß  eine  letzte  Energie  eingesetzt  werden 
mußte,  um  auch  nur  zu  einem  erträgHchen  Frieden  zu  gelangen, 
aber  sie  konnte  diese  letzte  Energie  nur  aus  dem  Vorrate  des  Volkes 
schöpfen,  und  der  war  so  gut  wie  erschöpft.  Allerdings  wirkten  auch 
der  Zusammenbruch  Bulgariens  und  Österreichs,  der  auch  dem  Volke 
nicht  verborgen  bleiben  konnte,  in  einer  Weise  niederdrückend,  die 
durch  keine  Zeitungsartikel  hätte  ausgeglichen  werden  können;  es 
wirkte  auch  verhängnisvoll  der  Wahn  der  Weltrevolution,  der  durch 
den  von  aller  poHtischen  Einsicht  »unabhängigen«  Flügel  der  deutschen 
sozialdemokratischen  Partei  genährt  wurde;  aber  diese  Wirkungen 
traten  eben  darum  in  so  schlimmer  Weise  ein,  weil  die  Volksseele, 
zumal  die  der  städtischen  Einwohner  und  eines  großen  Teiles  der 
erschöpften  Kämpfer,  ganz  und  gar  mürbe  geworden  war.  Die  eng- 
lische imd  französische  war  es  auch;  aber  sie  hatten  die  Mannschaft, 
die  Munition  und  die  Fourage  eines  reichen  und  frisch  auf  den  Kampf- 
platz tretenden  Hun^rt-Millionen- Volkes  hinter  sich  —  Deutschland 
hatte,  nur  noch,  mehr  als  es  selbst  zerbrochene  Stützen  neben  sich. 
Was  der  Oberst  Nicolai  im  6.  Abschnitt  des  zweiten  Teiles  seiner 
Schrift  über  die  Volksstimmimg  sagt,  ist  ohne  alle  Kenntnis  der 
Volkspsychologie  geschrieben,  es  hat  genau  den  Wert,  wie  der  Eifer 
des  Geistlichen,  der  von  der  Kanzel  Glauben  und  Gottesfurcht 
predigt,  als  zum  ewigen  Heile  notwendig,  und  durch  seinen  Eifer 
die  Erfüllung  wahrscheinlicher  zu  machen  vermeint;  in  diesem  Sinne 
sind  die  Ausführungen  von  dem  Gedanken  durchzogen:  „Wir 
brauchten  die  starke  Stimmung,  wie  wir  sie  im  ersten  Teil  des  Krieges 
hatten."  So  »braucht«  auch  der  kranke  Greis  die  Kraft  und  das 
Lebensgefühl  des  Jüne^lings,  um  das  zu  leisten,  was  dieser  ehemals 
geleistet  heit. 


*)  Die,  xiach  dem  Ausdrucke  des  Prof.  von  Schulze-Gabvernitz  (Schmollers  Jahr- 
buch. XIII,  S.  418),  ,,bei  uns  zur  Zeit"  —  in  Wahrheit  gilt  es  so  gut  wie  überall 
und  immer  —  „auschließlich  eine  öffentliche  Meinung  der  oberen  Klassen"  ist  (wo  man 
jedoch  das  Wort   »obere«   nicht  in  engem  Siime  ausdeuten  darf). 


550  Besondere  Fäj^i^e  der  Öffentwchen  Meinung. 

8.  (In  England  während  des  Weltkrieges.)  In  einem  Umfange, 
wie  es  niemals  erhört  war,  hat  im  Weltkriege  eine  Propaganda 
stattgefunden,  ein  Werben  um  die  öffentliche  Meinung  des  neutralen 
Auslandes,  das  in  erster  Linie  mit  den  Mitteln  der  Zeitungspresse, 
aber  femer  auch  durch  Bildwerke,  durch  Films,  durch  Bücher  und 
Flugschriften  und  fast  mit  allen  denkbaren  Methoden  geschah,  man 
nannte  es  wohl  einen  Wettbewerb  um  die  Seele  des  fremden  Volkes, 
es  war  in  der  Tat  nicht  allein  auf  die  öffentliche  IMeimmg,  sondern 
zugleich  auf  die  Gefühle  der  gesamten  Volksmenge  berechnet.  Bs  ist 
eine  oft  erörterte  und  sichere  Tatsache,  daß  Deutschland  und  seine 
Bundesgenossen  in  diesem  nicht  sonderlich  edlen  Wettstreit  von 
Anbeginn  sich  im  Nachteil  befimden  haben.  Die  Feinde  zeichneten 
sich  nicht  nur  durch  größere  Geschicklichkeit,  Rücksichtslosigkeit, 
Übimg  in  Bestechungskünsten  u.  dgl.  aus,  sie  hatten  vor  allem  den 
Vorteil  imgehinderten  Verkehrs  und  der  Kabelstränge,  die  das 
überseeische  Nachrichtenwesen  beherrschen,  und  der  engHsche  Feind 
überdies  den  unermeßlichen  Vorzug  der  Sprache,  zumal  für  die  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika,  deren  Kern  eine  Gruppe  seiner  ehe- 
maligen Kolonien  bildet. 

Die  öffentliche  Meinung  Englands  war  zunächst  der  Teilnahme 
am  Kriege  nicht  sehr  geneigt.  Gewisse  feste  Bestandteile  ihres  Credo 
sträubten  sich  dagegen,  als  Anwälte  der  Balkan-Meuchelmörder  und 
im  Namen  des  Zarismus  zur  Vernichtung  Deutschlands  sich  anzu- 
schicken. Es  gab  zwar  eine  starke  aristokratische  Gruppe,  reprä- 
sentiert durch  ein  Tageblatt  wie  die  Morning  Post,  eine  Wochenschrift 
wie  die  Saturday  Review,  eine  Monatsschrift  wie  die  National  Review, 
die  längst  das  Germaniam  esse  delendam  auf  ihr  Banner  geschrieben 
hatte,  der  also  der  Krieg  imter  allen  Umständen  willkommen  war, 
wenn  erwartet  werden  durfte,  daß  der  russische  steam  toller  bald  vor 
den  Toren  der  preußisch-deutschen  Hauptstadt  stehen  würde.  Diese 
Gruppe  agitierte  zwar  seit  langem  in  diesem  Sinne  und  hatte  Einfluß 
auf  die  öffentliche  Meinung  in  Großbritannien,  wie  auch  jenseits  des 
Ozeans,  gewonnen,  aber  sie  war  nicht  die  öffentliche  Meinung. 
„Warum  gingen  wir  in  den  Krieg?''  fragte  am  24.  Oktober  1914  der 
„New  Statesman*' ,  die  Zeitschrift  der  Fabian  Society,  die  also  auf  einer 
höheren  Warte  steht  als  die  vulgäre  PubHzistik,  Nach  vielen  Um- 
schweifen wird  behauptet,  die  Verteidigung  Belgiens  sei  der  wirk- 
same Beweggrund  gewesen,  der  Englands  Eintritt  in  den  Kampf 
bestimmte.  Für  die  öffentliche  Meinimg  war  dies  ohne  Zweifel  richtig; 
sie  konnte  sich  nicht  nur  beruhigen,  sondern  erheben  in  dem  Gedanken, 
daß  nur  ein  edles  Motiv  die  friedfertige  britische  Nation  —  die  sonst 
wohl  notgedrungen  in  Afrika  und  in  Asien  Kriege  führt  —  an  die 


I 


Der   WEI.TKRIEG.   —  WÄHREND   DES   WELTKRIEGES.  55 1 

Seite  des  russisch-serbischen  Barbarentums  bringen  konnte.  „I/)rd 
Beaconsfield  soll  von  Gi^adstone  gesagt  haben,  daß  er  stets  seine 
Politik  mit  falschen  Karten  im  Rockärmel  spiele,  imd  daß  er  überdies 
fest  überzeugt  sei,  der  Heilige  Geist  habe  sie  ihm  hineingeschoben. 
England  konnte  nicht  Holland  seiner  Flotte,  Frankreich  seines 
Handels  imd  seiner  Kolonien  und  die  Buren  ihrer  Gold-  und  Dia- 
mantenminen berauben  ohne  ein  frommes  Gebet  zum  Himmel  und 
einen  edlen  ethischen  Grund  auf  den  Lippen."  So  ein  amerikanischer 
Theologe,  T.  C.  HalIv  in  einem  kleinen  Hefte  über  „TÄß  English  yellow 
press'*  (aus  der  y,New  York  Sun'*  vom  17.  Januar  1915).  Ein  anderer 
amerikanischer  Schriftsteller,  Prof.  Kuno  Francke,  schrieb  um 
dieselbe  Zeit  „Die  sittliche  Entrüstung  der  heutigen  englischen 
Regierung  über  die  deutsche  Invasion  Belgiens  würde  mehr  Eindruck 
machen,  wenn  man  sich  sicher  fühlen  dürfte,  daß  im  Falle  einer 
französischen  Invasion  die  gleiche  sittliche  Entrüstung  und  darauf- 
folgende Kriegserklänmg  gegen  Frankreich  zutage  getreten  wäre*' 
(The  Germanistic  society  of  Chicago,  Nr.  5).  Die  britische  Regierung 
wußte,  daß  sie  die  Vorstellung,  Belgien  sei  der  Grund  zum  Kriege, 
als  »Schmieröl  für  die  öffentliche  Meinung«  brauchte,  um  einen 
Ausdruck,  den  ich  einmal  aus  dem  Munde  Max  Webers  hörte,  anzu- 
wenden. Heute  wird  im  Ernst  kein  britischer  Politiker  die  Fabel 
aufwärmen.  Wenn  aber  die  englische  öffentliche  Meinung  und  ihre 
Führer  sich  hätten  genügen  lassen  an  dieser  Legende  und  ihrer  sorg- 
samen Pflege,  so  hätte  die  Göttin  der  Wahrheit  mit  nachsichtigem 
Lächeln  auf  sie  hinabgeschaut^).  Aber  mit  Schaudern  wendet  sie  sich 
ab  von  den  Methoden,  mit  denen  die  öffentliche  Meinung  verhetzt 
und  vergiftet  wurde,  nicht  nur  innerhalb  des  Landes,  das  diesen 
Angriffskrieg  des  Zarismus  und  seiner  Bundesgenossen  führte,  sondern 
über  den  ganzen  Erdball  hin.  „Die  Amerikaner  ärgern  sich,  daß  sie 
schlecht  unterrichtet  werden  über  den  Krieg  . . ."  (es  ist  von  Anfang 
an  nicht  besser  gewesen).  „Behaupten  sie  jetzt  im  Ernste,  zu  glauben, 
daß  der  deutsche  Kaiser  den  Krieg  hervorrief,  oder  daß  der  Kronprinz 
ihn  in  den  Krieg  hineinnötigte,  oder  daß  Liebknecht  mit  600  So- 
zialisten auf  den  Straßen  BerUns  erschossen  wurde,  oder  daß  die 
russische  Dampfwalze  binnen  6  Wochen  in  Berlin  sein  wird,  oder  daß 
Deutschland  nur  eine  historische  Erinnerung  ist,  aber  daß  belgische 
Kinder,  denen  beide  Hände  abgehackt  wurden,  herumlaufen,  daß 
der  Kronprinz  getötet,  der  Kaiser  wahnsinnig  geworden,  daß  Breslau 

*)  Herr  v.  Bbthmann  Hollweg  klagte  mit  gutem  Grunde  am  26.  August  1915 
Mr.  ASQUiTH  an,  daß  er  durch  Verschweigen  eines  sehr  wichtigen  Umstandes  bei 
den  Neutralitätsverhandlungen  mit  Haldane  („t'/  war  should  he  forced  upon  Germany") 
die  öffentliche  Meinung  in  England  auf  imverantwortliche  Weise  irregeführt  habe. 
(Sechs  Kriegsreden  des  Reichskanzlers.  S.  49.) 


552  Besondere  Fäi^i^e  der  Öffentwchen  Meinung. 

genommen,  Krakau  verbrannt  worden  ist?  —  Und  doch  werden 
alle  diese  laugen  und  tausend  mehr  mit  gelehriger  Unterwürfigkeit 
aus  den  Händen  einer  Londoner  Presse  entgegengenommen,  deren 
schreiendes  Gelb  und  grenzenlose  Fähigkeit  zum  Aufschneiden  eine 
der  schandbarsten  Neuheiten  dieser  traurigen  neuen  Ära  in  der 
engHschen  Geschichte  ist  ..."„..  .  wir  empfangen  unsere  Meinungen 
und  die  angeblichen  Tatsachen  aus  den  gleichen  besudelten  Quellen''. 
So  Thomas  C.  Hai,i,  in  der  genannten  Flugschrift.  Der  lyügen-  und 
Verleumdungsfeldzug  ist  ein  historisches  Faktum.  In  ihm,  und  zum 
guten  Teil  durch  ihn,  hat  Großbritannien  im  Weltkriege  den  »Sieg« 
davongetragen  1).  Denn  gerade,  daß  der  Boden  Amerikas  und  mit 
ihm  der  nicht  übermäßig  starke  Geist  seines  Präsidenten  so  zubereitet 
war,  bewirkte  die  sonst  nicht  hinlänglich  motivierte  innere  Einstellung 
der  öffentlichen  Meinung  drüben,  die  von  den  wirklichen  Zusammen- 
hängen der  europäischen  Dinge  eine  mangelhafte  Vorstellung  hatte 
und  durch  die  systematische  I/üge  in  Wahn  und  Haß  hineingezogen 
wurde.  Ein  dritter  amerikanischer  Autor,  Phii^ipp  Francis,  der 
nach  dem  Kriege  schrieb,  sagt  treffend  darüber :  „Daß  die  Deutschen 
in  dieser  Beziehung  von  den  Briten  vollkommen  matt  gesetzt  wurden, 
führt  sich  nicht  auf  Mangel  an  Bemühungen  ihrerseits  zurück,  sondern 
auf  die  überlegene  GeschickHchkeit  und  die  längere  Berufserfahrung 
der  Briten."  Er  spricht  dann  ausführlich  über  die  Greuelpropaganda 
und  die  furchtbaren,  ja  allerschHmmsten  Greuel  der  britischen  Krieg- 
führung, den  Aushungerungskrieg;  er  zitiert  den  Ausspruch  Bernard 
Shaws:  „Ich  trage  kein  Verlangen  danach,  ein  Kind  zu  töten,  aber 
wenn  ich  ein  Kind  töten  müßte,  so  würde  ich  es  Heber  mit  einer 
Bombe  oder  einem  Torpedo  töten,  als  es  zu  Tode  zu  hungern."  Er 
vergleicht  dann  die  deutsche  und  die  britische  Methode,  von  denen 
jene  nur  darauf  abgezielt  habe,  das  Volk  der  Vereinigten  Staaten  für 
eine  strenge  Neutralität,  diese,  es  für  Eintritt  in  den  Krieg  zu  stimmen. 
„Nach  ihrer  rationalen  Art  beriefen  sich  die  deutschen  Propagandisten 
auf  die  Vernunft,  zuweilen  mit  richtiger,  zuweilen  mit  falscher  Logik, 
aber  immer  mit  dem  Versuche,  die  öffentHche  Meinung  durch  logisches 
Räsonieren  zu  beeinflussen.  Die  Briten  waren  klüger,  sie  appellierten 
an  Gemütserregungen."  Das  sei  von  je  her  und  immer  das  System 
der  britischen  Propaganda  gewesen,  „indem  man  die  wirklichen 
Motive  dieses  fortwährenden  Kriegserregers  .  .  .  hinter  dem  Heucheln 

^)  „England  ließ  sofort  die  Kabel  zerschneiden,  welche  uns  mit  den  überseeischen 
I^ändem  verbanden  .  .  .,  es  zerstörte  die  drahtlose  Telegraphie,  um  seiner  Presse  die 
Alleinherrschaft  über  die  Geister  in  aller  Welt  zu  sichern."  K.  Bücher,  Unsere  Sache 
und  die  Tagespresse,  S.  3.  Vgl.  Hettner,  Englands  Weltherrschaft  und  der  Krieg  VI, 
2,  Kabel,  Funkentelegraphie  und  Nachrichtenwesen  (von  Dr.  Schmitthenner), 
S.  i38ff. 


Der  WeIvTkrieg.  —  Während  des  Wei^tkrieges.  553 

beleidigter  Unschuld  und  der  angeblichen  Verteidigung  erhabener 
Prinzipien,  allgemeiner  Rechte  und  Freiheiten  .  . .  verbarg."  Die 
offenbare  Tatsache  ist,  daß  diese  Pressestrategie,  obgleich  man 
überall  die  englischen  Methoden  und  die  wichtigsten  Tatsachen 
kannte,  die  zu  ihrer  Beleuchtung  erfordert  werden,  einen  fast  voll- 
ständigen Erfolg  gehabt  hat.  Es  wurde  beinahe  ein  fester  Bestandteil 
der  öffentlichen  Meinung  nicht  nur  unter  den  feindHchen  Nationen, 
von  denen  mehrere  ohne  jeden  auch  nur  scheinbar  gerechtfertigten 
Kriegsgrund  der  großen  Verschwörung  sich  anschlössen,  sondern 
auch  unter  den  meisten  derer,  die  dauernd  neutral  blieben:  i.  daß 
vom  Deutschen  Reich  und  von  Österreich-Ungarn  der  Weltkrieg 
aus  schierer  Machtbegierde  begonnen  und  planmäßig  vorbereitet 
worden  sei,  daß  insbesondere  Deutschland  allein  schuldig  an  diesem 
großen  Unheil  sei,  2.  daß  die  Verletzung  der  Neutralität  I^uxemburgs 
und  zumal  Belgiens  durch  den  Notstand,  worin  sich  Deutschland 
befand,  in  keiner  Weise  gerechtfertigt  oder  auch  nur  entschuldigt 
werde,  sondern  ein  kriegerisches  Vorgehen  sei,  dessen  sich  engelreine 
Mächte,  wie  Großbritannien,  Frankreich,  Rußland  und  Serbien 
niemals  schuldig  gemacht  haben,  3.  daß  überhaupt  der  sanften  und 
humanen  Kriegführung  dieser  zivilisierten  Staaten  die  Kriegführung 
der  Deutschen  als  die  einer  schlechthin  wilden  oder  doch  gänzlich 
barbarischen  Nation  gegenüberstehe.  Diesen  frechen  Blödsinn  cha- 
rakterisiert Th.  C.  Hall  mit  dem  Satze:  „Kann  ein  Amerikaner 
von  gesundem  Menschenverstand  mit  Geduld  zuhören,  w^enn  die 
Londoner  Presse  uns  belehren  will,  daß  ein  Heer,  zusammengesetzt 
aus  der  Blüte  von  Deutschlands  gebildeter  Jugend,  worin  Gelehrte 
von  Weltruf  als  gemeine  Soldaten  und  Unteroffiziere  dienen,  .  .  .  eine 
Horde  von  Barbaren  sei,  verglichen  mit  einer  Armee  von  Turkos, 
Sikhs,  dem  Auswurf  von  London,  Gurkhas,  Kosaken,  Tartaren 
vom  Amur-Strome,  Japanern,  tunesischen  Arabern  und  Negern  aus 
der  Sahara?  Und  daß  das  Schicksal  der  Zivihsation  abhängt  von 
dem  Siege  der  ungebildeten  und  trunksüchtigen  Bauernschaft  Ruß- 
lands unter  dem  Befehl  der  korrupten,  anmaßenden  und  brutalen 
Autokratie,  deren  leitender  Geist  der  Großfürst  Nicolai  Nico- 
LAJE WITSCH  ist  ?"  —  4.  daß  in  entsprechender  Weise  die  Behandlung 
der  Kriegsgefangenen  auf  jener  Seite  zart  und  rücksichtsvoll,  auf 
dieser  schlechthin  roh  und  menschenunwürdig  gewesen  ist. 

Wie  schreiend  auch  der  Widerspruch  dieser  Anschuldigungen  mit 
aller  festgestellten  Wahrheit  und  inneren  Wahrscheinlichkeit,  —  die 
öffentliche  Meinung  der  Länder,  um  nicht  zu  sagen  >der  Welt«,  hat  diese 
Widersprüche  und  Lügen  willig  geschluckt  und  mit  besonderem  Behagen 
daran  gekaut,  nachdem  das  Deutsche  Reich  und  seine  Verbündeten 


554  Besondere  Fäi.i,e  der  Öffenti^ichen  Meinung. 

dem  humanen  Aushungermigskrieg  erlegen  waren.  Zur  Charakteristik 
der  öffentHchen  Meinung  ist  es  wichtig,  diese  Tatsachen  festzulegen. 
Sie  werden  allerdings  zu  einem  Teile  durch  die  »Kriegspsychose« 
erklärt  und  entschuldigt;  und  daß  die  häßHchen  Methoden  der  I^üge 
und  Verleumdung  —  dazu  gehört  auch  »das  Bild  als  Verleumder«, 
wie  es  der  Dichter  Ferdinand  Avenarius  in  einer  Flugschrift  des 
DÜRER-Bundes  unwiderleglich  dargestellt  hat  — ,  daß  diese  Methoden 
angewandt  wurden,  mag  als  ein  Stück  des  modernen  Krieges  und 
seines  Raffinements  gewertet  werden;  auch  auf  deutscher  Seite  ist 
ohne  Zweifel  in  dieser  Hinsicht  vieles  unternommen  worden,  was  vor 
einem  strengen  ethischen  Urteil  nicht  besteht;  wie  auch  sonst  der 
Radikalismus  der  Kriegführung  von  allen  Seiten  geübt  worden  ist 
und  Ursachen  hat,  die  allgemeiner  Natur  sind  und  in  einem  zu- 
künftigen Kriege  noch  furchtbarer  zutage  treten  werden.  Die  Tat- 
sachen sind  uns  hier  nur  wichtig  zur  Charakteristik  der  öffentlichen 
Meinung.  Naturgemäß  steht  sie  in  einem  kriegführenden  I^ande, 
je  ernster  die  Kriegsnot,  um  so  mehr  unter  dem  Drucke  des  Affektes; 
imd  zum  Affekt  kam  im  Weltkriege  in  allen  beteiHgten  I^ändern, 
mehr  oder  minder  scharf,  überall  aber  mit  gewollter  Strenge,  die 
Zensur.  I^eidenschaftlich  erregt  war  die  öffentHche  Meinung  mit  der 
Volksstimmung;  Gedanken,  die  sie  dämpfen  oder  gar  hätten  um- 
stimmen können,  wurden  mit  vielen  Künsten  durch  die  Zensur  ihr 
femgehalten;  die  »richtigen«  Gedanken  führte  eine  offiziöse  Presse, 
führten  die  Kriegsberichte,  führten  bestellte  Broschüren  und  Bücher 
ihr  zu.  Daß  es  gelang,  den  Engländern  und  den  Amerikanern  die 
gröbsten  Unwahrheiten  und  UnwahrscheinUchkeiten  zu  suggerieren, 
muß  zum  Teil  dem  Bildungsstande  der  Gebildeten  in  diesen  Ländern 
und  ihrem  ganz  besonders  in  bezug  auf  Dinge  des  europäischen 
Kontinents  engen  Gesichtskreis  zur  Last  gelegt  werden;  zum  Teil 
rührt  es  her  von  wirkUchen  Greueln,  die  der  große  Krieg,  und  der 
moderne  technisch  »veredelte«  Krieg  in  um  so  höherem  Grade,  mitsich- 
bringt;  aber  der  größte  Teil  der  Schuld  daran  ist  doch  absichtHcher 
künstlicher  Mache  zuzuschreiben,  einer  PoHtik,  die  schlechthin  skrupel- 
los in  der  Wahl  ihrer  Mittel  war,  und  die  man  nach  dem  Florentiner 
Staatsschreiben  zu  benennen  pflegt,  obgleich  MachiavEi^li  wohl  von 
Gift  und  Dolch,  aber  kaum  etwas  von  systematischer  Vergiftung  der 
ÖffentHchen  Meinimg  imd  moralischem  Meuchelmord  als  Mitteln  einer 
gewissenlosen  PoHtik  gewußt  hat.^) 


^)  In  der  Schrift  von  Paul  Dehn,  »England  und  die  Presse«,  ist  der  Versuch  ge- 
macht worden,  durch  die  Gruppierung  charakteristischer  Bruchstücke,  den  Feldzug  der 
I<ondoner  Presse  gegen  Deutschland  vor  und  während  des  Weltkrieges  von  19 14 — 15 
darzulegen.   Unter  der  Überschrift:    „Ist  die  Presse  besteclüich?"  werden  auch  über 


Der  Wei^tkrieg.  —  Während  des  Wei.tkrieges.  555 

9.  (Frankreich  während  des  Weltkrieges.)  Der  französische  Geist 
weist  eine  Parallele  zum  Wesen  der  luftartigen  öffentlichen  Meinung  in- 
sofern auf,  als  beide  der  Idee  nach  rational,  logisch,  nüchtern  urteilend 
sind,  in  Wirklichkeit  aber  von  heftigen,  sinnlich-übersinnlichen  I^eiden- 
schaften  inspiriert  sich  zeigen.  So  bedurfte  die  französische  öffentliche 
Meinung  der  Vorstellung,  daß  Deutschland  das  friedenliebende, 
friedensinnende  Frankreich  überfallen  und  aus  eitel  Bosheit  und 
Machtbegierde  ihm,  wie  dem  imschuldigen  Belgien  den  Krieg  ins  Land 
getragen  habe.  Obgleich  Frankreich  seit  44  Jahren  den  Rachekrieg 
geplant  hatte,  und  sich  in  dieser  Idee,  die  verlorenen  Landesteile  mit 
Gewalt  zurückzuerobern,  moralisch  völlig  gerechtfertigt  fühlte,  so 
daß  der  öffentlichen  Meinung  jeder  Krieg,  der  zur  Vernichtung 
Deutschlands  die  Aussicht  darbot,  willkommen  sein  mußte,  und  wie 
der  russische  Botschafter  Benckendorff  an  seinen  Minister  aus 
London  schrieb  —  am  12./25.  Februar  1913  —  „von  allen  Mächten 
Frankreich  allein  diejenige  war,  die,  um  nicht  zu  sagen,  daß  sie  den 
Krieg  wolle,  ihn  ohne  großes  Bedauern  sehen  würde"  [schon  damals 
bei  Gelegenheit  der  Balkanverhandlungen  in  London,  wo,  nach  dem 


die  Pariser  Zeitungen  artige  Tatsachen  und  Aussprüche  mitgeteilt.  So  habe  Jauräs 
gesagt:  „Unsere  Presse  ist  verfault  bis  in  die  Wurzeln.  Der  Journalismus  in  unserm 
Lande  ist  schlimmer  als  die  Prostitution;  denn  er  umgibt  sich  mit  einem  Mantel  von 
Moral  und  Wohlanständigkeit  und  es  wirkt  draußen  .  .  .  wie  ein  Ausdruck  der  Mei- 
nung der  Besten  Frankreichs,  und  ist  doch  nichts  anderes  als  der  Ausdruck  einer 
perfiden  und  geldgierigen  Spekulantenclique."  Emii^e  Verhaeren  habe  die  Presse 
einen  Schandfleck  der  französischen  Kultur  genannt,  AuGUSTE  Rodin  ihr  das 
Prädikat  „verabscheuungswürdig"  gegeben.  (Nach  der  Voss.  Ztg.  v.  20.  X.  1914.) 
Ein  durchaus  glaubwürdiger  Kenner  der  englischen  Presse  ist  der  Philosoph  und 
Mathematiker  Bbrtrand  Russei,!,;  er  schreibt  {Roads  to  freedom,  p.  i47ff.):  „Die 
Masse  der  Bevölkerung  eines  Landes  kann  angeleitet  werden,  jedes  andere  Land  zu 
lieben  oder  zu  hassen,  nach  dem  Wunsche  der  Zeitungsbesitzer,  der  oft  unmittelbar 
oder  mittelbar  unter  dem  Einflüsse  des  Willens  der  Finanzgrößen  steht.  So  lange  als 
Feindschaft  zwischen  England  und  Rußland  erwünscht  war,  waren  unsere  Zeitungen 
voll  von  der  grausamen  Behandlung  russischer  poHtischer  Gefangener,  von  der  Unter- 
drückung Finlands  und  Polens  u.  dgl.  Nachdem  die  auswärtige  Politik  eine  Schwen- 
kung gemacht  hat,  sind  diese  Notizen  aus  den  bedeutenderen  Zeitungen  verschwunden, 
wir  hören  statt  dessen  von  den  Missetaten  Deutschlands."  —  Eine  gute  Übersicht 
über  die  Organisationen  der  Preßarbeit  in  den  kriegführenden  Ländern  gibt  Ei/TZ- 
bacher:  ,,Die  Presse  als  Werkzeug  der  auswärtigen  Politik",  Jena  1918.  Die  deutsche 
Praxis  ist  durch  Deutsche  mit  scharfen  Akzenten  kritisiert  worden,  so  vor  allem  von 
K.  BÜCHER,  ,, Unsere  Sache  und  die  Tagespresse."  ,,Die  deutsche  Tagespresse  und  die 
Kritik";  neuerdings  in  einem  kleinen  Heft  von  Paui*  Rach6:  „Wir  sind  allzumal 
Sünder",  Berlin  s.  a.  (1919).  Aber  auch  darin  heißt  es:  ,,Wir  können  dem  Gegner  den 
Ruhm  neidlos  lassen,  daß  er  auf  dem  Gebiete  der  Verhetzung  alles  das,  was  wir  nach 
der  Richtung  hin  geleistet  haben,  tief  in  den  Schatten  stellte"  .  .  .  ,,so  mag  das  daran 
liegen,  daß  vrir  uns  vielleicht  doch  scheuten,  gar  zu  skrupellos  vorzugehen."  —  Für  den 
ganzen  Gegenstand  ist  auch  die  Darstellung,  ,, Krieg  und  Presse  —  auf  Grund  amtlicher 
Quellen"  im  2.  Band  des  Werkes  ,, Deutschland  und  der  Weltkrieg",  2.  Aufl.,  1916 
und  die  noch  heute  sehr  lesenswerte  Darstellung  im  4.  Abschnitt  über  Vorgeschichte 
usw.  des  Krieges  von  Hermann  Oncken  zu  vergleichen. 


556  Besondere  Fäi;i,e  der  Öffentlichen  Meinung. 

gleichen  Bericht,  der  französische  Botschafter  offenbar  gierig  auf  das 
»erlösende«  kriegerische  Wort  der  Russen  gewartet  hat:  Bencken- 
DORFF  sagt  ausdrücklich,  daß  Frankreich  sich  durchaus  keine  Reserve 
auferlegt  habe.  ,ySi  peu,  il  ne  faut  pas  s'y  tromper,  que  qu'elle 
qu*aU  ete  la  moderation  prudente  quoique  jamais  enigmatique  de 
M.  Cambon  en  seance  —  c*est  en  realite  sur  moi  (den  russischen  Bot- 
schafter) quHl  se  reglait  plus  que  sur  ses  propres  inspirations. 
Au  contrairej  en  recapitulant  tous  ses  entretiens  avec  moi  les  paroles 
echangees^)y  en  y  ajoutant  Vattitude  de  M.  Poincare  —  il  me  vient  Videe 
qui  ressemble  ä  une  conviction,  que  de  toutes  les  Puissances  c^est  la 
France  seule,  qui  pour  ne  pas  dire  qu^elle  veut  la  guerre,  la  verrait 
Sans  grand  regret/'  Frankreich,  das  Frankreich  des  leidenschaftHchen 
Nationalgefühls,  wünschte  den  Krieg,  es  brannte  auf  den  Krieg,  er 
war  ihm  mindestens  seit  191 1  zu  jeder  Zeit  willkommen,  da  es  sich 
auch  der  Hilfe  Englands,  außer  derjenigen  Rußlands,  sicher  fühlte. 
Rußland  bereitete  den  Krieg  planmäßig  vor  und  wollte  ihn  zwischen 
Serbien  und  Österreich  ausbrechen  lassen;  es  fühlte  sich  im  Jahre  1913 
noch  nicht  fertig  und  bereit,  wohl  aber  im  Jahre  19 14  —  wenn  die 
Brandfackel  von  Serajevo  nicht  gezündet  hätte,  so  wäre  ohne  allen 
Zweifel  noch  im  gleichen  Jahre  eine  andere  noch  feurigere  geworfen 
worden.  England  »wünschte«  und  »wollte«  keinen  Krieg,  aber  es 
sah  ihn  kommen,  da  es  genau  wußte,  daß  seine  Bundesgenossen  ihn 
wünschten  und  wollten,  und  war  entschlossen,  die  Vernichtung  des 
Deutschen  Reiches  —  nicht  etwa  unmittelbar  sich  zum  Ziele  zu 
setzen  —  welcher  Frevel!  —  aber  auf  jede  Weise  und  unbedingt  zu 
begünstigen,  wenn  eine  weise  Vorsehung  sie  beschlossen  haben 
sollte.  —  Für  die  Haltung  des  französischen  Geistes  und  der  fran- 
zösischen Politik  ist  sehr  bezeichnend  die  Erklärung,  welche  Herr 
PoiNCAR^  —  damals  Ministerpräsident  —  vor  dem  Balkankriege 
dem  Russen  Sassönow  gegeben  hat  (Deutschland  schuldig,  S.  143), 
„daß  es  die  öffentliche  Meinung  Frankreichs  der  Regierung  der 
Republik  nicht  gestatte,  wegen  Fragen,  die  nur  den  Balkan  betreffen, 
kriegerische  Aktionen  zu  unternehmen,  *wenn  Deutschland  teil- 
nahmlos bliebe*  und  nicht  aus  eigener  Initiative  den  casus 
foederis  provoziere.  In  letzterem  Falle  könne  Rußland  natürlich  auf 
volle  und  genaue  Erfüllung  der  VerpfHchtungen  rechnen,  zu  welchen 
Frankreich  sich  Rußland  gegenüber  gebunden  habe.  Ganz  im  gleichen 
Sinne  berichtete  Isvoi^ky  an  Sassönow  am  30.  August/12.  September 
einmal  und  nochmals  am  4./ 17.  November  1912.  Ein  klares  Kriegs- 
programm, ein  deuthcher  Plan.    Auf  dem  Balkan  soll  es  losgehet, 


*)  Der  Text  in  „Deutschland  schuldig?",  Anlage  10,  scheint   hier   lückenhaft. 


Der  WeIvTkrleg.  —  Während  des  Wei^tkrieges.  557 

Österreich  soll  gereizt  werden,  Deutschland  soll  sich  Österreich  zur  Seite 
stellen  —  alles  übrige  ergibt  sich  von  selbst.  Am  22723.  November  1912 
geschah  der  berufene  Briefwechsel  zwischen  Herrn  Paui,  Cambon  und 
Sir  Edward  Grey.  Die  französische  öffentUche  Meinung  sah  dem 
Kriege,  wie  Graf  Benckendorff  in  dem  gleichen  Bericht  vom 
12./25.  Februar  1913  sich  ausdrückt,  mit  der  meisten  )>Philosophie« 
entgegen;  sie  habe,  mit  Recht  oder  mit  Unrecht,  vollständiges  Ver- 
trauen zur  eigenen  Armee.  —  Und  doch  —  der  Überfall!  doch  die 
Legende!  doch  gerade  der  greise  ClSmenceau,  der  typische  Herold 
des  Rachekrieges,  am  meisten  erpicht  darauf,  die  alleinige  Schuld 
am  Ausbruche  des  Krieges  auf  diejenige  Macht  zu  schieben,  der  Ruß- 
land nicht  einmal  Zeit  gelassen  hatte,  den  casus  foederis  für  gegeben  zu 
erachten,  sie  war  durch  die  zarische  Gesamtmobilmachimg  unmittelbar 
vor  die  Frage  der  notgedrungenen  Abwehr  und  Verteidigung  gestellt.  — 
Dieselbe  öffentliche  Meinung,  die  den  Krieg  herbeigesehnt  hatte, 
bedurfte  in  ihrem  selbstgefälligen  Wahn  des  Parfüms  eines  unschul- 
digen Bewußtseins  —  um  die  Volksstimmung  mit  sich  fortzureißen. 
In  diesem  Sinne  wurde  die  Preßarbeit  während  des  Krieges  im  In- 
tmd  Auslande  betrieben.  „Die  Franzosen  selbst  weiß  man  gemäß 
ihrer  heißblütigen  und  nicht  allzu  sachlichenArt,  auch  in  den  schwersten 
Lagen  immer  wieder  durch  ein  blendendes  Schlagwort  oder  durch 
die  Fata  Morgana  einer  Hoffnung  zu  neuen  Opfern  aufzupeitschen  . . . 
die  Völker  des  Auslandes  sucht  man  für  das  edle  und  ritterliche 
Frankreich,  das  Land  der  Freiheit,  des  Lichts  und  der  Schönheit  zu 
gewinnen,  und  gegen  dessen  barbarische  Gegner,  die  dickköpfigen 
Sauerkrautfresser,  die  geistlosen,  rohen  und  tierischen  boches  einzu- 
nehmen." E1.TZBACHER  (Die  Presse  als  Werkzeug  der  auswärtigen 
Politik,  S.  32),  dem  diese  Sätze  entlehnt  sind,  faßt  seine  Ansicht, 
warum  der  auswärtige  Dienst  Frankreichs  die  öffentliche  Meinung 
fremder  Länder  durch  das  Mittel  der  Presse  so  gut  zu  bearbeiten 
verstehe,  dahin  zusammen:  „Für  wen  die  öffentHche  Meinung  des 
eigenen  Volkes  höchste  Instanz  ist,  der  denkt  auch  daran,  wie  viel 
von  der  Stimmung  anderer  Völker  abhängt.  Jeder  französische 
Minister  und  jeder  Vertreter  Frankreichs  im  Auslande  betrachtet  es 
als  selbstverständlich,  daß  für  die  auswärtigen  Beziehungen  Frank- 
reichs heute  alles  auf  die  Gesinnung  der  Völker  (d.  h.  der  guten 
Gesellschaft,  die  das  Publikum  bildet)  ankommt,  und  weiß,  wie  man 
die  Presse  zu  diesem  Zwecke  verwendet.  Namentlich,  wenn  er  selbst 
dem  Presseberuf  angehört  hat,  wird  er  im  Ausland  wie  in  der  Heimat 
bei  jeder  Maßregel  deren  Rückwirkungen  auf  die  öffentliche  Meinung 
beachten.  Die  am  eigenen  Volk  erworbene  Schulung  kommt  ihm 
bei    fremden   Völkern    zugute"   (das.  S.  34).     Vorbedingung    dieses 


55 8  Besondere  Fäli^  der  Öffentwchen  Meinung. 

Erfolges  war  aber  die  Tatsache,  daß  die  Freiheit  der  Presse  und  jeder 
öffentHchen  Meinungsäußerung  in  keinem  Staate  so  eingeschnürt 
war,  wie  im  repubUkanischen  Frankreich.  „In  Paris"  —  so  führte 
schon  Herr  v.  Bethmann-Hoi.i,weg  am  28.  Mai  1915  aus  —  „herrscht 
allein  der  Terror  der  Zensur."  „Keine  Verlustlisten  erscheinen,  kein 
deutscher,  kein  österreichisch-ungarischer  Generalstabsbericht  darf 
abgedruckt  werden;  die  ausgetauschten  schwerverwundeten  Invaliden 
werden  von  ihren  Angehörigen  abgesperrt.  Eine  wahre  Angst  vor  der 
Wahrheit  scheint  die  Regierenden  zu  beherrschen.  So  kommt  es, 
daß,  nach  zuverlässigsten  Beobachtungen  in  breitesten  Volksschichten, 
noch  heute  keine  Kenntnis  von  den  schweren  Niederlagen  der  Russen, 
auch  nur  im  vorigen  Jahre,  besteht,  daß  man  weiter  glaubt  an  die 
russische  Dampfwalze,  die  auf  Berlin  losgeht  usw."  —  (Sechs  Kriegs- 
reden, S.  33.) 

IG.  (Rußland  während  des  Weltkrieges.)  Die  russische  öffent- 
liche Meinung  —  sofern  eine  solche  als  vorhanden  vorgestellt  werden 
darf  —  war  eine  scharfe  Aufsicht  und  Kontrolle  gewöhnt,  aber  die 
Niederlagen  konnten  ihr  nicht  verborgen  bleiben.  Sie  schob  die 
Schuld  zunächst  auf  die  korrupte  Großfürstenwirtschaft  und  den  Hof, 
außer  auf  den  Mangel  an  Munition,  dem  England  abhelfen  mußte, 
sie  rüstete  sich  allmählich,  unter  dem  Beistande  der  englischen  Bot- 
schaft, zu  dem  Entschlüsse,  die  Friedenspartei  am  Hofe  zunächst 
durch  Beseitigung  des  gesundbetenden  Mönches,  sodann  des  Zaren 
selber,  über  den  Haufen  zu  werfen.  In  der  Hauptsache  abhängig  von 
Frankreich,  und  mittelbar  von  England,  war  sie  mit  beiden  einig  in 
den  Schlagworten:  gegen  den  preußischen  MiHtarismus,  für  den  zu- 
künftigen Weltfrieden,  für  die  Befreiung  der  kleinen  Nationen  usw. 
Gleichwohl  finden  wir  nicht,  daß  die  Schuld  am  Kriege  auf 
das  Deutsche  Reich  geschoben  wurde:  diese  allzu  schreiende  Un- 
wahrheit hat  das  I^and  nicht  auszusprechen  gewagt,  das  sich  vollkommen 
der  Tatsache  bewußt  war,  den  Krieg  ganz  eigenthch  durch  seine  Mobil- 
machung angefangen  zu  haben.  Indem  Rußland  diese  Urheberschaft 
des  Krieges  zu  rechtfertigen  versucht,  gesteht  es  sie  ein.  In  dem 
zarischen  Manifest,  das  sogleich  im  Anfange  ans  Licht  trat,  heißt  es: 
„Heute  obhegt  es  uns,  für  ein  ungerecht  angegriffenes,  verwandtes 
Land  (Serbien)  einzutreten  und  die  Ehre,  die  Würde  und  Integrität 
Rußlands,  sowie  seinen  Platz  unter  den  anderen  Großmächten  zu 
wahren.  Wir  glauben  unerschütterUch  daran,  daß  alle  unsere  treuen 
Untertanen  einig  und  opferfreudig  sich  zum  Schutze  unserer  russischen 
Erde  erheben  werden."  Natürlich  muß  man,  wenn  man  aus  irgend- 
welchem Grunde  oder  Scheingrunde  Krieg  anfängt,  die  eigene  Erde 
zu  schützen  bemüht  sein  —  nur  in  diesem  Sinne  wird  behauptet,  daß 


Der  Wei^tkrieg.  —  Nach  dem  "VVewkriege.  559 

es  sich  um  einen  Verteidigungskrieg  handle.  Ebenso  sagte  der  Prä- 
sident der  Duma  in  der  Sitzung  vom  8.  August  1914  nicht,  daß 
Deutschland  den  Krieg  angefangen  habe,  sondern,  indem  er  ver- 
sichert, daß  »Rußland«  den  Krieg  nicht  wollte,  daß  dem  »russischen 
Volke«  Eroberungspläne  fremd  seien,  fährt  er  fort:  „aber  dem 
Schicksal  selbst  gefiel  es,  uns  in  kriegerische  Taten  hinein- 
zureißen. Das  1,0s  ist  gefallen  usw."  Nicolaus  Suchanoff, 
der  in  einer  kleinen  Schrift  „Die  russische  Linke  und  der  Krieg",  die 
1917  bei  Eugen  Diederichs  deutsch  erschien,  dies  mitteilt,  fügt 
hinzu:  „In  demselben  Sinne  faßte  auch  die  öffentliche  Meinimg  den 
Krieg  auf,  soweit  diese  Meinung  in  den  bei  der  neuen  Lage  der  Dinge 
noch  erhalten  gebliebenen  Organen  der  Tagespresse  zum  Ausdruck 
kommen  konnte."  Er  zeigt  aber  weiter,  wie  die  Ideologie  des  Krieges 
bald  über  diese  Grenzen  hinausgeschritten  sei,  daß  fast  immerklich 
der  Krieg  gemäß  der  Auslegung  der  »patriotischen«  Presse  aus  einem 
Verteidigungs-  in  einen  Befreiungskrieg  sich  verwandelte.  Der 
»Germanismus«  sei  dargestellt  worden,  als  ob  das  heilige  Rußland 
unter  seinem  Joch  wie  unter  einer  Fremdherrschaft  seufze  und  stöhne, 
und  wie  als  »Frage  der  Unabhängigkeit  Rußlands«  die  Meerengenfrage 
aufgestellt  worden  sei,  wie  auch  dabei  die  »deutschen  Greuel«  her- 
halten mußten,  und  wie  endhch  „der  liberale  Imperialismus,  der 
bisher  der  Tradition  entsprechend  unter  einer  dichten  Schicht  von 
Feigenblättern  schamhaft  sich  verborgen  gehalten,  plötzlich  durch 
die  Kriegsereignisse  stürmisch  nach  außen  gedrängt  worden"  sei  (S.  98). 
Von  einem  Vertreter  dieser  Ideen  (Murawieff)  sagt  der  sozialdemo- 
kratische Verfasser,  daß  er,  nachdem  er  alle  Kriegsmotive  als  unhalt- 
bar abgewiesen,  „bei  der  zerbrochenen  Schale  des  Panslawismus*' 
stehen  bleibe,  „für  die  er  dann  künstliche  Stützen  und  Ornamente 
im  Stile  der  Modernen  entdeckte"  (S.  45). 

Dritter  Abschnitt.  Die  Öffentliche  Meinung 
nach  dem  Weltkriege. 
II.  (Im  allgemeinen  und  in  Deutschland.)  Seit  dem  Ende  des 
Weltkrieges  ist  die  öffentliche  Meinung  in  den  beteiligt  gewesenen 
Ländern  beider  Welten,  mit  der  gesamten  Volksstimmung  dieser 
Länder  und  auch  mehrerer  neutral  gebliebener,  in  einem  Zustande 
der  Gärung.  Die  ungeheuren  Erregungen  zittern  mächtig  nach, 
ein  Aufatmen  nach  den  gewaltsamen  Anstrengungen  und  schweren 
Entbehrungen  findet  statt,  man  versucht,  sich  zu  besinnen,  und 
erkennt  allmählich  den  ungeheuren  Umfang  der  Zerstörungen,  die 
das  Unheil  bewirkt  hat,  eine  gewisse  Unlust  und  Unkraft,  gepaart 
mit   Hoffnungslosigkeit,    tritt    zutage,    die    gewohnten    Geleise    des 


560  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffentwchen  Meinung. 

vormaligen  täglichen  Arbeitslebens  wiederum  zu  befahren.  Die  längst 
gelockerten  Bande  »frommer  Scheu«  scheinen  völlig  aufgelöst  zu  sein, 
es  macht  sich  ein  Zustand  erkennbar,  den  ein  geistreicher  Beobachter 
als  den  der  morahschen  Verlausung  kennzeichnete.  Eine  leiden- 
schaftHche  Neigung  zum  Tanze  machte  sich  nicht  weniger  bei  den 
überwundenen  als  bei  den  !8>siegreichen«  Völkern  geltend.  Und  die 
öffentliche  Meinung?  Auch  sie  ergab  sich  dem  Tanzvergnügen,  sie 
bewegte  sich  und  bewegt  sich  bis  zur  Stunde  schaukelnd  hin  und  her, 
bewegt  hauptsächHch  durch  die  Ungewißheit  der  Zukunft,  den  unbe- 
friedigenden Zustand  der  Gegenwart,  den  RückbHck  auf  eine  Ver- 
gangenheit, in  der  die  MögUchkeiten  einer  ungestörten  Beharrung 
vorhanden  gewesen  zu  sein  scheinen,  obgleich  sie  in  WirkHchkeit 
ausgeschlossen  waren. 

Übrigens  ist  natürlich  die  Gedankenbildung  der  öffentlichen 
Meinung  in  jedem  I^ande  sehr  verschieden,  je  nachdem  es  aus  dem 
Unheil  und  dem  Wirrsal  herausgekommen  ist.  In  dem  einen  beherrscht 
die  Traurigkeit  und  der  Bmst,  in  dem  anderen  Freude  und  Heiterkeit 
die  vernünftige  Denkungsart.  In  dem  einen  ist  zu  den  Schrecken  und 
Schäden  des  Vae  victis  die  Veränderung  der  Staatsform  mit  mannig- 
fachen Neuerungen  hinzugekommen.  So  in  dem  mit  Füßen  getretenen, 
verleumderisch  beschimpften,  verstümmelten  Deutschen  Reich.  Durch 
die  Revolution,  einen  Umschlag,  der  sämtliche  Kxonen  und  Krönchen, 
die  sich  bisher  als  die  Träger  des  deutschen  Staatswillens  gefühlt 
hatten,  auf  die  Erde  rollen  Heß,  war  die  öffentHche  Meinung  betäubt  — 
ratlos,  hilflos.  So  stark  auch  der  Eindruck  war,  der  Eindruck  der 
furchtbaren,  schwer  begriffenen  Erkenntnis,  daß  der  Krieg  verloren, 
war  noch  stärker  und  verdunkelte  in  einigem  Maße  jenen.  Überdies 
war  das  Mißtrauen  gegen  die  Arbeiterklasse,  die  Abneigung  gegen  die 
Sozialdemokratie  durch  die  national-patriotische  Haltung  jener, 
durch  die  Bewilligung  der  Kriegskredite,  wozu  die  große  Mehrheit 
der  Partei  dauernd  sich  verstanden  hatte,  erhebHch  gedämpft  worden. 
Unter  diesen  Eindrücken  hatte  die  öffentUche  Meinung  Deutschlands 
sich  —  wie  für  anderes  Entgegenkommen  —  so  für  die  Abschaffung 
des  ohnehin  längst  zum  Gegenstande  der  Scham  gewordenen  Klassen- 
wahlrechts im  Staate  Preußen  entschieden,  und  hätte  die  Verkündung, 
daß  in  Zukunft  das  Reichstagswahlrecht  auf  Preußen,  ja  auf  alle 
Einzelstaaten  Anwendung  finden  solle,  wenn  nicht  mit  Genugtuung, 
so  doch  mit  dem  Bewußtsein  einer  inneren  Notwendigkeit  empfangen. 
Nun  kam  die  Revolution  mit  einer  noch  viel  weiter  gehenden  Gleichheit 
der  Individuen  und  ihrer  politischen  Rechte.  Die  ÖffentHche  Meinung 
nahm  dies  zweifelnd  und  resigniert,  aber  ohne  erhebHchen  Widerstand, 
entgegen.    Stark  mußte  dazu  mitwirken,  daß  gerade  die  gebildeten 


Der  Wei,tkrieg.  —  Nach  dem  Wei^tkriege.  561 

Frauen  das  ihnen  in  den  Schoß  gefallene  Wahlrecht  als  ein  Kompli- 
ment empfanden  und  willkommen  hießen,  und  daß  gerade  sie,  die 
wohl  am  meisten  um  die  verschwundenen  Dekorationen  der  Monar- 
chien und  Höfe  trauerten,  mit  allem  Eifer  in  eine  gegenrevolutionäre 
Strömung  hinabzutauchen  bereit  waren.  Zunächst  hatte  die  öffentliche 
Meinung  genug  poHtische  Einsicht,  um  unmittelbar  jede  Regierung, 
wenn  sie  nur  eine  »feste«  und  durch  überwiegende  Zustimmung  des 
Volkes  beglaubigte  Regierung  sei,  der  Fortdauer  des  diktatorischen 
Zustandes  einer  Herrschaft  von  sog.  Volksbeauftragten  vorzuziehen, 
wenngleich  diese  Diktatur  sich  tatsächlich  in  sehr  gemäßigten  Formen 
bewegte.  Daher  war  der  Ruf  nach  der  »Nationalversammlung«  ein- 
mütig, und  jener  Besinnungslose,  der  erklärte,  nur  über  seine  Leiche 
gehe  der  Weg  dahin,  machte  sich  vor  der  öffentlichen  Meinung 
schlechthin  lächer hch.  So  wurden  dann  auch  die  Beratungen  über 
die  neue  Verfassung  und  die  Beschlüsse  tiefgehender  Neuerungen  mit 
Ruhe  und  Geduld,  ja  im  Durchschnitt  nicht  ohne  Hoffnung,  daß 
»manches  Gute«  daraus  sich  ergeben  werde,  aufgenommen;  die  Mit- 
wirkung einer  PersönUchkeit,  die  so  hoch  in  der  öffentlichen  Meinung 
stand  wie  diejenige  Friedrich  Naumanns,  wirkte  in  dieser  Hinsicht 
ohne  Zweifel  günstig.  Erschüttert  wurde  die  öffentliche  Meinung 
erst  wieder  durch  das  Ungeheuer  des  Versailler  Friedens  und  seines 
Korollars,  des  Friedens  von  St.  Germain;  ein  Übergewicht  war  in 
der  öffentlichen  Meinung  wohl  noch  entschiedener  als  in  der  damaligen 
Regierung  gegen  die  bejahende,  in  Verzweiflung  beruhende  Ent- 
scheidung der  Nationalversammlung,  also  für  Verwerfung  der  auf- 
gezwungenen Bedingungen,  insbesondere  des  scheußlichen  Ein- 
geständnisses der  alleinigen  Schuld  am  Weltkriege  —  trotz  des 
schauderhaften  Risikos  der  Erneuerung  des  Krieges  ohne  Hoffnung 
und  Kraft,  das  schHmmer  als  die  Streckfolter  der  »peinlichen  Frage« 
wirken  sollte  und  mußte.  Seitdem  hat  mehr  und  mehr,  neben  dem 
Unwillen  über  diese  Friedensbedingungen,  neben  der  Meinung,  daß 
zu  große  Nachgiebigkeit  gegen  die  Feinde  geübt  werde,  neben  der 
Empörung  über  das  Verhalten  der  Besatzungstruppen  —  insonders 
die  »schwarze  Schmach«  —  und  dem  damit  immer  mehr  sich  ver- 
tiefenden Bewußtsein  der  Erniedrigung  des  Vaterlandes  —  die  zu- 
nehmende Teuerung  und  die  vollkommene  Zerrüttung  der  Finanzen 
des  Reiches  wie  aller  öffentlichen  Körperschaften,  die  Gedanken  der 
öffentlichen  Meinung  in  Anspruch  genommen;  im  Zusammenhange 
damit,  ohne  daß  dieser  Zusammenhang  in  der  Regel  klar  erkannt 
wurde,  die  Geldentwertung,  namentlich  die  hinschwindende  Geltung 
der  deutschen  Mark  im  Auslande,  die  »Valuta«,  die  seitdem  in  aller 
Munde  ist.  Nur  noch  die  brennende  Frage  »Oberschlesien«,  die  ebenso 

Tön  nie»,  Kritik.  o^ 


562  Besondere  Fälle  der  Öffentlichen  Meinung. 

sehr  eine  I^ebensfrage  ist,  konnte  mit  ihr  in  Wettbewerb  treten.  Die 
parteiische  Anklage,  daß  dieser  üble  Zustand  der  Sozialdemokratie, 
der  Revolution,  der  neuen  Regierung  zugeschrieben  werden  müsse, 
hat  anfangs  in  der  öffentlichen  Meinung  nur  wenig  Boden  gefunden, 
hat  aber  unter  dem  Druck  planmäßiger,  unablässiger,  mit  großen 
Mitteln  rücksichtslos  arbeitender  Agitation,  die  zum  guten  Teil  be- 
sonders die  Anstachelung  judenfeindlicher  Gesinnungen  sich  ange- 
legen sein  ließ  und  mit  diesem  rohen  Verfahren  am  erfolgreichsten 
war,  mehr  und  mehr  sich  ausgebreitet  und  fortgesetzt.  Die  öffentliche 
Meinung  ist  in  ihren  für  Deutschland  normalen  Zustand  zurück- 
gekehrt, Ausdruck  des  bürgerlichen,  insonders  des  hochbürgerlichen, 
Bewußtseins  (der  vornehmen  Bourgeoisie)  zu  sein,  das  als  Attraktions- 
zentrum und  durch  seine  Macht  über  die  Presse,  wie  durch  andere 
materielle  Kräfte,  für  weite  Kreise  maßgebend  ist.  Es  kommt  hinzu^ 
daß  für  die  gemeine  Denkungsart  die  Schlußfolgerung:  mit  der 
ehemaligen  Regierung  war  ein  glücklicher  Zustand,  mit  der  gegen- 
wärtigen Regierung  ist  ein  unglücklicher  Zustand  verbunden  —  also 
ist  die  gegenwärtige  Regierung  verantwortlich  für  die  gegenwärtigen 
Übel  —  unmittelbar  einleuchtend  zu  sein  pflegt.  So  ist  denn  im 
allgemeinen  der  abnorme  Zustand  eingetreten,  daß  die  öffentliche 
Meinung  gegen  die  Regierung  und  —  wenn  auch  mit  geringerer  Ent- 
schiedenheit —  gegen  die  neueingeführte  Staatsform,  die  sich  in  den 
schwarz-rot-goldenen  Farben  symboUsiert,  in  Empörung  sich  befindet 
und,  wenn  auch  verhohlen,  auf  eine  Restauration,  also  auf  den  Umsturz, 
hinarbeitet.  Gleichwohl  kann  sie  nicht  umhin,  mit  den  aufgeworfenen 
Problemen  sich  zu  beschäftigen,  und  kann  sich  der  Erkenntnis  nicht 
entziehen,  daß  diese  Probleme  irgendwie  durch  Faktoren  bewirkt 
worden  sind,  die  dauernder  und  wesentlicher  sind,  als  die  jeweihgen 
Regierungen.  So  vor  allem  das  Problem  der  sozialen  Frage,  das  als- 
bald in  der  deutschen  und  österreichischen  Staatsveränderung  mit 
dem  Schlagwort  »Sozialisierung«  auf  die  Bühne  trat.  Die  öffentliche 
Meinung  verhält  sich  im  allgemeinen  skeptisch  dazu,  sie  hält  die 
Initiative  des  Unternehmers  und  das  Streben  nach  Gewinn  für  uner- 
läßlich zum  Gedeihen  der  Volkswirtschaft,  sie  bezweifelt  oder  leugnet 
gänzlich  die  von  Anwälten  der  Sozialisierung  verkündete  größere 
Produktivität  solchen  Arbeitssystemes ;  ferner  wurde  auf  die  Gefahren 
hingewiesen,  daß  vermehrtes  Staatseigentum  von  den  feindlichen 
Regierungen  als  Pfand  für  ihre  Schadenersatzansprüche  mit  Beschlag 
belegt  würde.  Andererseits  war  und  ist  in  die  öffentliche  Meinung 
ein  gut  Teil  sozialistischer  Denkungsart  übergegangen;  ein  Prozeß, 
der  sich  langsam  vor  dem  Weltkriege  entwickelt  hatte,  nahm  ein 
beschleunigtes  Moment  an;  äußerhch  trat  es  darin  zutage,  daß  viele 


Der  Weltkrieg.  —  Nach  dem  Weltkriege.  563 

Intellektuelle,  auch  Universitätsprofessoren,  der  bisher  geächteten 
Partei  beitraten.  So  hat  denn  auch  in  Deutschland  die  öffentliche 
Meinung  halb  mit  Resignation,  halb  mit  Zustimmung  und  Hoffnung 
in  die  Betrachtung  sich  ergeben,  daß  ein  neues  »soziales«  Zeitalter 
angebrochen  sei,  daß  die  neuen  Rechte  und  Ansprüche  des  werk- 
tätigen Volkes,  dessen  intellektuelle  Kraft  durch  den  Zuzug  der  »An- 
gestellten« so  erhebhch  gewonnen  hat,  unwiderruflich  festgelegt  sind, 
daß  also  die  Fragen  der  Gemeinwirtschaft,  Planwirtschaft  und  all- 
mähUcher  Umgestaltung  aus  der  Richtung  auf  Gewinn  in  die  Richtung 
auf  Bedarfsdeckung  nicht  mehr  mit  einem  grundsätzlichen  und 
doktrinären  Nein  beantwortet  werden  können,  sondern  Fragen  der 
Zweckmäßigkeit,  also  der  Erfahrung  und  Erprobung  sind,  deren 
Lösung  aber  durch  die  gegenwärtigen  Nöte  durchaus  erschwert 
werde,  so  daß  ihre  Vertagung  geboten  sei.  Einen  starken  Druck  hat 
dabei  zuungunsten  des  Kapitalismus  und  seines  Handels  die  Er- 
scheinung des  Kriegs-  und  des  Revolutionsgewinnlertums  geübt, 
die  abstoßenden  Gestalten  des  neuen  Reichtums  und  die  empörenden 
Erscheinungen  der  Gewinnsucht,  denen  die  rasche  Verarmung  höher 
gebildeter  und  in  ihrem  Vertrauen  auf  die  Stabilität  der  Volkswirt- 
schaft, des  Staats-  und  Hj^pothekenkredits  traurig  betrogener 
Schichten  gegenübersteht.  Hingegen  haben  wieder  zugunsten  des 
KapitaUsmus  und  freien  Handels  die  Erfahrungen  der  Kriegszwangs- 
wirtschaft, die  dadurch  anscheinend  begünstigten  Erscheinungen 
des  Schleichhandels  und  das  Versagen  des  Anreizes  auf  die  Produktions- 
fähigkeiten insbesondere  der  landwirtschaftlichen  Betriebe  gewirkt; 
mehr  als  alles  andere  jedoch  das  Gespenst  des  »Bolschewismus«,  i 
der  in  Rußland  seit  dem  Herbst  19 17  mit  schonungsloser  Gewalt  i 
durchgeführten  »Diktatur  des  Proletariats«,  deren  volkswirtschaftliche 
Leistungen  in  Deutschland  nicht  durch  den  Namen  des  Kommunismus, 
den  die  Anhänger  der  »dritten  Internationale«  sich  beilegten,  an 
öffenthcher  Gunst  gewannen;  denn  mit  dem  Worte  ist  von  lange  her 
die  Vorstellung  einer  besinnungslos  utopistischen  Schwärmerei  unlös- 
lich verbunden,  wenn  nicht  die  noch  roheren  der  Aufteilung,  der 
Weibergemeinschaft  u.  dgl.  Jedenfalls  werden  die  Erlebnisse  dieses 
Kommunismus  im  ehemaligen  Zarenreiche  mit  Begierde  und  Spannung 
verfolgt,  soweit  es  die  dünn  gesäten  Berichte  zulassen.  Und  mit 
Genugtuung  erfährt  man,  daß  der  KapitaHsmus  und  die  freie  Unter- 
nehmung wieder  zurückgerufen  werden,  um  den  unerträglich  ge- 
wordenen Zuständen,  dem  fortschreitenden  Rückgange  der  Industrie 
abzuhelfen;  mit  Schaudern  hört  man  die  Schilderungen  der  Leiden, 
denen  sogar  deutsche  Anhänger  des  Systems,  die  in  ihrer  Torheit  sich 
verlocken  ließen,  das  kommunistische  Paradies  zu  erproben,  ausgesetzt 

36» 


564  Besondere  Fäli.e  der  öffentwchen  Meinung. 

waren.  Die  öffentliche  Meinung  ist  ebenso  einig  über  die  Unmöglich- 
keit des  Sozialismus  nach  russischem  Muster,  wie  über  die  un- 
geheuren Gefahren,  die  der  europäischen,  also  auch  der  deutschen 
Gesittung  durch  seine  Ausbreitung,  ja  schon  durch  die  Propaganda 
der  »Weltrevolution«  drohen.  Immer  von  neuem  glaubt  man,  auf 
Grund  oberflächlicher  Nachrichten,  den  Zusammenbruch  der  Sowjet- 
regierung  erwarten  zu  sollen;  ohne  daß  in  der  Regel  die  Frage  auf- 
geworfen wird,  ob  denn  ein  anderes  Regiment  wirklich  dem  deutschen 
Interesse  günstiger  sein  werde  oder  nicht  etwa  viel  ungünstiger? 
Die  öffentliche  Meinung  steht  in  dieser  Hinsicht,  wie  in  so  mancher, 
ohne  sich  dessen  bewußt  zu  werden,  oft  unter  dem  Einfluß  der  Inter- 
essen des  Handels,  die  sich  selber  regelmäßig  mit  den  Interessen  der 
Volkswirtschaft  identifizieren,  obgleich  sie  nur  zu  einem  Teil  damit 
zusammenfallen,  und  ohne  daß  andere,  geistigere  und  moralisch 
wichtigere  Interessen  dagegen  abgewogen  werden.  Im  ganzen  ist  sie 
eines  wohlerwogenen  Urteils  über  große  politische  und  ethische 
lycbensfragen  nur  in  mangelhafter  Weise  fähig,  und  zumeist  nur, 
indem  sie  der  Autorität  großer  Führer  sich  fügt,  die  in  neuerer  Zeit 
verhängnisvoll  selten  geworden  ist.  Indessen  beharrt  die  öffentliche 
Meinung  in  ihrer  gerade  für  den  deutschen  Geist  schon  hergebrachten 
und  der  ÜberHeferung  gemäß  hohen  Schätzung  der  Volksbildung 
und  Volkserziehung,  —  und  sie  verkennt  nicht,  daß  den  Bestrebungen 
dafür  durch  die  soziale  und  politische  Hebung  des  Proletariats  eine 
freiere  Bahn  gebrochen  wurde.  In  diesem  Sinne  ist  die  Teilnahme 
am  »Volkshochschulwesen«  gerade  nach  der  Staatsveränderung 
allgemeiner  geworden  und  in  einigem  Maße  sogar  vertieft  worden; 
während  man  freilich  eingestehen  muß,  daß  mit  diesen  Mitteln,  so 
wenig  wie  sonst  durch  verbesserte  Bildung  des  Verstandes,  der  offen- 
baren Entsittlichung  des  Volkes  bisher  keineswegs  gewehrt  worden 
ist.  Allgemeiner  erhebt  sich  der  Gedanke,  daß  mit  der  modernen 
Kultur  die  gesamte  Weltanschauung  in  eine  schwere  Krisis  eingetreten 
ist.  Charakteristisch  dafür  ist  der  von  vielen  Seiten  laut  werdende 
Ruf  nach  erneuter  »Gemeinschaft«  und  die  Tatsache,  daß  der  begriff- 
liche Gegensatz  »Gemeinschaft  und  Gesellschaft«  fast  plötzlich  in  das 
allgemeine  Bewußtsein  überzugehen  begonnen  hat.  So  ist  die  öffent- 
liche Meinung  auch  genötigt,  mit  der  religiösen  Krisis  sich  zu  be- 
schäftigen, die  seit  Jahrhunderten  angewachsen,  in  einer  so  kritischen 
Zeit  wie  ein  gähnender  Abgrund  zutage  tritt.  So  sehr  die  öffentliche 
Meinung  der  Geister-  und  Gespensterseherei,  der  Bildung  mysta- 
gogischer  Sekten  und  Konventikel  ablehnend  gegenübersteht,  sie 
kann  der  in  allen  sozialen  Schichten  zutage  tretenden  Neigung,  auf 
solchen  Abwegen  Trost,   Beruhigung,   Zerstreuung  zu  suchen,  nur 


Der  Wei,tkrieg.  —  Nach  dem  Wewkriege.  565 

mühsam  wehren.  Darin  wie  in  einer  wütenden  Vergnügungssucht 
und  Verschwendung  offenbart  sich  nicht  minder  die  vorherrschende 
Verzweiflung,  wie  die  Gedankenlosigkeit  und  Verwilderung  der 
Gemüter. 

12.  (In  Frankreich.)  Wie  zuvor  bedeutet  wurde,  und  wie  mannig- 
fach bezeugt  ist,  werden  die  gleichen  Erscheinungen  auch  in  den 
anderen  Ländern  Europas,  die  durch  den  Weltkrieg  hindurchgegangen 
sind,  beobachtet.  Auch  in  den  siegreichen,  die  zwischen  Triumph  und 
Trauer  hin-  und  hergeworfen  werden.  In  Frankreich  überwiegt 
das  Triumphgefühl  und  mit  ihm  die  fortdauernde  Besorgnis,  daß 
der  zu  Boden  geschlagene  Gegner,  dessen  Überlegenheit  auch  der 
»Sieg«  nicht  verkennen  ließ,  von  neuem  sich  erheben  werde,  und  die 
Entschlossenheit,  mit  allen  Gewaltmitteln  ihn  daran  zu  verhindern. 
Mit  dieser  Furcht  und  dem  sie  begleitenden  unerbittlichen  Haß 
verbindet  sich,  wie  sonst  bei  dem  Gallier,  der  nüchterne  geschäftliche 
Sinn,  der  in  dem  Satze  „Lß  Boche  paiera  tont'*  seine  sprechende 
Formel  fand.  Die  Fähigkeit  des  Boche,  alles  zu  bezahlen,  was  der 
Franzmann  verlangen  würde,  stand  zunächst  für  das  doktrinäre  und 
rasch  urteilende  Bewußtsein  dieser  Nation  fest.  Neuerdings  sind 
freilich  recht  ernste  Zweifel  daran  aufgekommen.  „Die  gesamte 
öffentliche  Meinung,  die  Handels-  und  Industriewelt,  selbst  die 
BerufspoHtiker,  beschäftigen  sich  seit  Wochen  mit  der  eventuellen 
Zahlungsunfähigkeit  Deutschlands.  Den  Anstoß  dazu  gaben  ohne 
Zweifel  die  Alarmartikel  des  englischen  Professors  Keynes,  der 
früher  als  Deutschenfreund  verhaßt  und  verachtet  war,  dann  aber 
durch  das  Eintreffen  seiner  bisherigen  Prophezeiungen  in  den  Mittel- 
punkt des  öffentlichen  Interesses  trat.  Sein  Name  ist  heute  in  aller 
Munde,  Freund  wie  Feind  nimmt  Stellung,  seine  Ideen  und  Beweis- 
führungen werden  leidenschaftlich  diskutiert,  vielfach  angegriffen, 
nie  widerlegt,  von  der  überwiegenden  Mehrzahl  gutgeheißen.**  So 
schreibt  ein  Pariser  Vertreter  des  Hamburgischen  Correspondenten 
am  22.  September  1921.  Wahrscheinlich  schreibt  er  der  Pariser 
öffentlichen  Meinung,  die  in  Frankreich  immer  den  Ton  angibt  und 
das  Konzert  sicherer  beherrscht  als  diejenige  irgendeiner  anderen 
Hauptstadt  irgendeines  anderen  Landes,  mehr  Vernünftigkeit  und 
Besonnenheit  zu,  als  sie  besitzt,  wenn  auch  in  den  Zeitungen  einmal 
eine  Laune  und  die  nie  schlummernde  Furcht  zum  Ausdruck  gelangt. 
Die  Franzosen  sind  bekanntlich  —  zu  einem  guten  Teil  —  ausge- 
zeichnete Mathematiker  und  Mechaniker;  der  Mechanismus  ist  auch 
im  geistigen  Wesen,  im  moralischen,  im  politischen,  ihr  Idol.  Aber 
sie  sind  zugleich  so  sehr  Phantasten,  so  ganz  von  Einbildungen  beseelt, 
wenn  eine  herrschende  Leidenschaft  sie  erfüllt,  daß  sie  gerade  in  diesen 


566  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffenti,ichen  Meinung. 

Gebieten,  wo  die  genaue  Berechenbarkeit  nicht  möglich  ist,  unver- 
wandt und  unbekehrbar  an  das  Perpetuum  mobile  glauben  und  für 
dessen  VerwirkHchung  ihren  Geist  und  Willen  vergeuden.  „Der 
wesentHche  Zug  unseres  Geistes  in  diesem  Gebiete"  (dem  des  sozialen 
Lebens),  sagt  in  Selbsterkenntnis  Ai.frbd  Fouii.li:e  {Psychologie 
du  peuple  frangais,  Paris  1898,  S.  204),  „das  ist  der  Glaube  an  die 
Allmacht  des  Staates  und  der  Regierung  ..."  „Mit  Unrecht  per- 
sonifizieren wir  allzu  voreilig  die  Gesellschaft  in  einem  einzigen 
Menschen  oder  in  einer  Gruppe  von  Menschen,  die  uns  regiert.  Infolge 
dessen  wird  unser  durchaus  berechtigter  Glaube  an  die  soziale  Kraft 
ein  durchaus  unberechtigter  Glaube  an  einen  künstlichen  Mechanis- 
mus. Anstatt  des  poUtischen  Sinnes  wie  oft  haben  wir  nichts  als  den 
Fanatismus  der  Politik."  „Wir  glauben,  daß  es  genügt,  Prin- 
zipien zu  verkünden,  um  die  Folgerungen  daraus  zu  verwirklichen, 
genügt,  die  Verfassung  mit  einem  Zauberschlage  zu  verändern,  um 
auch  Sitten  und  Gesetze  zu  verwandeln,  Dekrete  zu  improvisieren, 
um  den  Gang  der  Zeit  zu  beschleunigen  ..."  „Unsere  Vernunft,  die 
vernünftelt  bis  zur  Unvernunft,  begreift  schlecht  die  dunklen  und 
tiefen  Notwendigkeiten  der  Natur  und  des  I^ebens"  .  .  .  „wir  ahnen 
nicht  die  Macht  der  Zeit  und  denken  ausschließlich  an  die  Kraft  des 
menschlichen  Willens,  und  nicht  einmal  des  ausdauernden  Willens, 
sondern  des  impulsiven,  ungeduldigen  Willens,  der  da  ausruft :  »Alles 
oder  nichts.«  Zu  gleicher  Zeit  führen  wir  das  Gefühl  {le  sentiment) 
in  die  PoHtik  —  wo  es  übrigens  als  eine  sehr  wirkliche  Kraft  allerdings 
seine  Rolle  spielt,  die  um  so  größer  wird,  in  dem  Maße,  als  die 
öffentliche  Meinung  mehr  und  mehr  die  Welt  regiert." 
Und  gerade,  daß  die  öffentliche  Meinung  ihrem  Wesen  nach  Vernunft 
ist,  daß  sie  räsonniert  und  räsonniert,  und  doch  so  ganz  und  gar  im 
Banne  der  heftigsten  I^eidenschaft  eingeschlossen  ist,  ist  zugleich  für 
sie  und  für  den  französischen  Geist  bezeichnend,  der  zuerst  der 
öffentlichen  Meinung  die  Bahn  eröffnet  hat,  die  Bahn  einer  über  ihr 
eigenes  Wesen  völUg  unklaren,  aus  Freiheitsenthusiasmus  in  Despo- 
tismus, aus  Despotismus  in  Restauration,  aus  Restauration  in  neue 
Umwälzungen  sich  stürzenden  Revolution,  die  schließhch  in  einer 
ausgesprochenen  Herrschaft  der  hohen  Finanz  und  in  einer  Ver- 
schwörung auf  Tod  und  lieben  mit  —  dem  Zarismus  als  dem  Hüter 
der  europäischen  Zivilisation  ihre  vorläufige  Endschaft  gefunden  hat. 
13.  (In  England.)  Auch  Großbritannien,  der  eigentliche  Gewinner, 
soweit  in  Europa  von  einem  Gewinner  die  Rede  sein  kann,  wird 
seines  Triumphes  und  der  Vernichtung  des  Deutschen  Reiches,  nach 
der  es  so  lange  sich  gesehnt  hat,  um  derenwillen  es  gleichfalls  dem 
Zarismus  die  Bruderhand  reichte,  nicht  froh.    Es  erkennt,  daß  der 


Der  Wei,tkrieg.  —  Nach  dem  Wei^tkriege.  567 

deutsche  Geist,  der  deutsche  Fleiß,  auch  ihm  unentbehrhch  ist,  und 
es  weiß,  daß  zum  Gedeihen  von  Geist  und  Fleiß  Freiheit  gehört,  daß 
Sklavenarbeit  zumal  für  moderne  Betriebe  keineswegs  ein  geeignetes 
System  darstellt.  Ein  enghscher  Brief  schilderte  die  Lage  der  Dinge 
im  Sommer  19 19,  als  die  Triumphstimmung  noch  auf  der  Höhe  war, 
dahin,  daß  die  wirklichen  Gedanken  der  Denkenden  nicht  bei  den 
Siegesfeiern,  sondern  bei  dem  üblen  Zustande  der  Finanzen,  bei  der 
Zügellosigkeit  von  Kriegsgewinnlern  und  bei  der  um  sich  greifenden 
Arbeitlosigkeit  verweilten.  Seitdem  ist  diese  immer  schlimmer  in  die 
Erscheinung  getreten,  Riesenausstände  Heßen  eine  tiefe  Unzufrieden- 
heit der  Bergleute,  der  Transportarbeiter,  und  anderer  großer  Massen 
des  werktätigen  Volkes  erkennen,  das  Irlandproblem  hat  immer 
furchtbarere  Gestalt  angenommen,  Irland  ohne  Ulster  kann  es  wagen, 
seine  Anerkennung  als  eines  souveränen  Staates  zu  verlangen.  Die 
Fortsetzung  der  Hungerblokade  über  den  Waffenstillstand  und  die 
erklärte  Ohnmacht  der  Mittelmächte  hinaus  ist  in  weiten  Kreisen 
auch  von  denen  als  unmenschlich  und  schandbar  empfunden  worden, 
die  sonst  mit  der  Aushungerung  von  i&Hunnen«  einverstanden  waren; 
die  kostspielige  und  vergebliche  Unterstützung  der  russischen  Gegen- 
revolution erschien  auch  denen  als  eine  Torheit,  die  von  Antipathie 
und  Furcht  vor  dem  Bolschewismus  erfüllt  waren;  so  wenig  wie  der 
Ausgang  des  Weltkrieges  sonst,  konnte  sie  Ehre  und  Ansehen  der 
Nation  heben  oder  retten.  ÄhnHch  wirkt  als  ein  Mene  mene  tekel 
upharsin  der  lange  fortdauernde  Krieg  in  Mesopotamien,  der  Sieg 
der  schon  lucht  mehr  in  die  politische  Rechnung  einbezogenen  Türken 
über  die  ententefrommen  Griechen,  endlich  für  die  englische  Welt- 
macht insonders  bedrohhch  der  glimmende  Aufstand  in  Indien, 
dessen  Feuer  früher  oder  später  in  helle  Flammen  ausschlagen  muß. 
Noch  tröstet  sich  England  mit  seinem  unerschütterÜchen  guten 
Gewissen,  es  gibt  keine  Nation,  die  so  sehr  das  Talent  des  guten 
Gewissens  hätte.  Aber  dies  Gewissen,  das  durch  grobe  Täuschungen 
ernährt  wurde,  kann  auf  die  Dauer  seine  Ruhe  sich  nicht  erhalten. 
Es  ist  zu  viel  gesunder  Menschenverstand  und  zu  viel  Humani- 
tät im  engUschen  Geiste,  wenn  auch  beide  zurückgedrängt  wurden, 
als  daß  nicht  allgemach  das  ungeheure  Unrecht,  das  seine  verzerrten 
Gestalten  dem  deutschen  (und  deutsch-österreichischen)  Volke 
angetan  haben,  zur  Erkenntnis  und  zur  Geltung  kommen  sollte. 
Mächtig  erhebt  sich  eine  mehr  und  mehr  von  den  Trägern  wissen- 
schaftlicher Bildung  gestützte  »Partei  der  Arbeit«,  so  daß  schon  im 
größten  Ernste  deren  Fähigkeit,  zur  Regierung  zu  gelangen,  erörtert 
wird:  es  wäre  die  erste  in  echterem  Sinne  demokratische  Regierung 
Großbritanniens.     Ihre    intelligenteste     Gruppe,     die     Independent 


568  Besondere  FÄr,i,E  der  Öffentlichen  Meinung. 

Labour  Party j  hat  vom  Anbeginn  klar  gesehen,  „wie  der  Krieg  kam*': 
in  einer  kleinen  Flugschrift,  die  diese  Frage  behandelt,  findet  man 
den  schlechthin  wahren  Satz:  „Niemand,  der  sämtliche  Urkimden 
durchforscht,  kann  einen  Augenblick  zweifeln,  daß  Rußland  vom 
ersten  Tage  an  auf  Krieg  lossteuerte"  (The  New  Statesman,  27.  Februar 
1915).  Diesen  Satz  wird  die  öffentHche  Meinung  Englands  anerkennen 
und  sich  zu  eigen  machen  müssen,  um  zur  Gerechtigkeit  und  Wahr- 
haftigkeit, die  sie  wertzuschätzen  immer  in  Anspruch  genommen  hat, 
zurückzukehren . 

14.  (In  den  übrigen  Ländern.)  Von  der  öffentUchen  Meinung  nach 
dem  Weltkriege  in  den  übrigen  I^ändern  wagen  wir  nur  wenig  zu  sagen, 
außer,  daß  viele  Zeichen  darauf  deuten,  ihre  Entwicklung  nehme 
einen  ähnlichen  I^auf  wie  in  England.  Die  »Welt«  hängt  bekanntHch 
heute  zu  eng  zusammen,  als  daß  nicht  Unglück,  Unzufriedenheit, 
Unbehagen  überallhin  sich  ausbreiten  sollte.  Offenbar  haben  die 
Gewaltfriedensschlüsse,  das  erpreßte  unwahre  Schuldbekenntnis,  bei 
den  Denkenden  aller  Länder  Entrüstung  hervorgerufen.  Der  Torso 
des  Völkerbundes  ist  zum  Gespött  geworden;  die  ehrlichen  Freunde 
des  Weltfriedens  erwarten  mehr  Schaden  als  Nutzen  für  ihre  Sache 
von  ihm.  Sogar  die  Vereinigten  Staaten  Amerikas,  die  außerhalb 
dieses  Gebildes  stehend,  dennoch  des  politischen  Übergewichts  sich 
bewußt  sind,  das  der  durch  ihre  Teilnahme  entschiedene  Weltkrieg 
ihnen  gegeben  hat,  werden  angesichts  der  Zerrüttung  Europas,  auf 
dessen  wirtschaftliche  und  geistige  I^eistungen  sie  einstweilen  noch 
angewiesen  sind,  dieser  ihrer  Machtstellung  nicht  froh.  Mit  den 
besonnenen  und  einsichtigen  Politikern  aller  lyänder  müssen  auch 
die  ihren  eine  gründliche  Revision  jener  Verträge  wünschen  und 
erstreben,  die,  von  aller  poHtischen  Einsicht  verlassen,  ledigUch  dem 
wahnsinnigen  Rachedurst  derer,  die  als  Besiegte  zu  Siegern  wurden, 
ihre  Entstehung  verdanken.  Gesetzt,  es  sei  wahr,  daß  »die  öffentliche 
Meinung  der  Welt«  diesen  Ausgang  als  einen  gerechten  Ausgang 
gewünscht  hat  —  die  öffentliche  Meinung  der  Welt  hegt  über  seine 
Folgen  keine  Zweifel  mehr.  Diese  Folgen  wären  auch  bei  einem  ent- 
gegengesetzten Ende  nicht  wesentlich  verschieden  gewesen  —  zuge- 
geben; aber  diese  Vermutung  bietet  so  wenig  eine  Entlastung  dar, 
wie  etwa  die  Richter  des  Kapitäns  Dreyfus  dadurch  entlastet  werden, 
daß  man  annehmen  mag,  radikal  gesinnte  und  freimaurerische  fran- 
zösische Richter  hätten  unter  gleichen  Umständen  einen  royalistischen 
Hauptmann  ebenso  parteiisch  und  ungerecht  beurteilt.  —  Von  einer 
russischen  öffentlichen  Meinung  kann  heute  weniger  als  je  die  Rede 
sein.  Ihre  intellektuellen  Träger  sind  getötet  oder  verjagt  oder 
mundtot  gemacht;  nicht  nur  die  andersdenkende  Tagespresse,  sondern 


Die  Zukunft  der  Öffentlichen  Meinung.  569 

jede  öffentliche  Kundgebung  von  Gesinnungen  und  Meinungen  wird 
schonungsloser  als  von  den  grausamsten  zaristischen  Regierungen 
unterdrückt;  alles  Geistige  ist  zerrissen  und  zersplittert,  das  Exil  in 
Paris  und  in  Berlin  verhält  sich  stumpf  und  als  ohnmächtiger  Zu- 
schauer zu  dem  Gange  der  Dinge  in  dem  weiten  Lande,  dessen  fernerer 
Verlauf  aber  sicherlich  eine  unabsehbare  Weltbedeutung  haben  wird. 
Unter  den  übrigen  Nationen  Europas,  zumal  denen  germanischer 
Abstammung,  aber  auch  unter  den  denkenden  Gliedern  der  ita- 
lienischen, der  spanischen  Nation,  ja  auch  Czecho-Slovakiens,  um 
von  Irland,  Finland  u.  a.  zu  schweigen,  wird  die  öffentliche  Meinung 
mehr  und  mehr  zu  der  Erkenntnis  sich  durchringen,  daß  die  Rettung 
deutschen  Geistes,  deutscher  Wissenschaft  und  Kunst  ihre  eigene 
Retttmg  ist,  daß  daher  das  Verderben  der  deutschen  Volkswirtschaft 
und  des  deutschen  Staatswesens  sie  in  einen  Abgrund  hinabstürzen 
würde,  der  tiefer  und  hoffnungsloser  wäre  als  der  Abgrund,  in  den 
ehemals  die  Kulturen  Griechenlands,  Vorderasiens,  Nordafrikas  und 
Italiens  versunken  sind. 


XI.  Kapitel. 

Die  Zukunft  der  Öffentlichen  Meinung. 

I.  (Verhältnis  zur  Religion.)  Die  Zukunft  der  öffentlichen  Meinung 
ist  die  Zukunft  der  Kultur.  Es  unterHegt  keinem  Zweifel,  daß  die 
Macht  der  öffentlichen  Meinung  fortwährend  zimimmt  und  ferner 
zunehmen  wird.  Ebenso  ist  es  gewiß,  daß  sie  immer  mehr  von  unten 
her  beeinflußt,  verändert,  zuweilen  aufgewühlt  wird.  Es  leuchtet 
ein,  welche  Möglichkeiten  diese  Entwicklung  in  sich  trägt:  manche 
wird  man  gutheißen,  manche  wird  der  voraussehend  Urteilende  übel 
nennen,  wie  schon  jetzt  das  Urteil  des  Historikers  und  Ethikers  über 
Heil  und  Unheil,  das  aus  den  Wirkungen  der  öff entheben  Meinung 
erwächst,  nach  beiden  Seiten  schwankt.  Wenn  man  den  Gang  der 
menschhchen  Gesittung  ins  Auge  faßt,  im  Sinne  einer  Veredlung  des 
Menschen,  von  der  einige  Spuren  im  Laufe  der  uns  bekannten  Ge- 
schichte erkennbar  sind,  so  wird  diese  in  den  zukünftigen  Jahr- 
hunderten wesentlich  bedingt  sein  durch  den  Grad  der  Festigkeit, 
den  die  öffentüche  Meinung  in  bezug  auf  sittHche  Fragen  gewinnen 
wird,  und  durch  den  Inhalt  ihres  Bewußtseins  über  solche  Probleme. 

Wenn  auch  in  ihren  wirklichen  Erscheinungen  die  öffentUche 
Meinung  vielfach  mit  religiösen  Beweggründen  vermischt  auftritt, 
so  steht  doch  im  ganzen  ihre  Ausbildung  und  Macht  im  umgekehrten 


570  Besondere  Fäi,i:,e  der  Öffentwchen  Meinung. 

Verhältnis  zur  Bedeutung  der  Religion  im  öffentlichen  lieben.  Die 
christliche  Religion  hat  in  den  neueren  Jahrhunderten  verloren,  was 
die  öffentliche  Meinung  gewonnen  hat.  Dort  Abnahme,  hier  Zunahme 
der  Kraft  und  des  Einflusses.  Mehr  Gegensatz  der  öffentlichen 
Meinung  gegen  die  ältere,  festere  und  stärkere  Gestaltung  des  Christen- 
tums, die  der  römischen  Kirche,  als  gegen  die  jüngere,  losere  und 
schwächere  des  Protestantismus,  mit  der  sie  vielfach,  zumal  in  Eng- 
land und  in  den  Vereinigten  Staaten,  engere  Fühlung  behält,  insonder- 
heit mit  deren  dissidentischen,  spezifisch  bürgerlichen  Elementen. 
Der  Verfall  der  christlichen  ReHgionsformen  jeder  Art  wird,  ungeachtet 
vieler  edler  Kräfte,  die  sich  ihrer  Erhaltung  widmen,  fortschreiten, 
die  Selbstzersetzung  des  Christentums  ist  im  Werke  und  kann  in 
ihrem  gesetzmäßigen  Fortschreiten  nicht  dauernd  gehemmt  werden. 
Wird  also  Irreligiosität  und  mit  ihr  völliger  Verfall  der  Sitten  ein- 
treten ? 

Die  Sittlichkeit  steht  zur  Religiosität  in  vielen  engen  und  starken 
Beziehungen,  sie  ist  nicht  wesentlich  durch  Religiosität,  noch  weniger 
durch  eine  bestimmte  Art  der  Religion  oder  gar  durch  ein  Bekenntnis, 
einen  dogmatischen  Glauben  bedingt.  Die  öffentliche  Meinung  ist 
aber  —  nicht  nur  in  England  und  den  Vereinigten  Staaten  —  für 
Religiosität:  sie  versteht  darunter  den  sittlichen  Ernst  und  die  Be- 
ziehung der  Güter  des  I^ebens  auf  Ewigkeitswerte.  Sie  nennt  eine 
solche  Gesinnung  auch  Idealismus  und  stellt  sich  in  scharfen  Gegensatz 
zum  »Materialismus«,  dessen  Deutung  in  theoretischem  oder  prak- 
tischem Sinne  unklar  schwebend  gelassen  wird,  wenn  nur  seine  Ver- 
werflichkeit und  Falschheit  feststeht.  Darum  ist  auch  die  öffentliche 
Meinung  —  insbesondere  in  Deutschland  —  einem  freisinnig  ver- 
standenen Christentum  als  der  historischen  Form  eines  sittlichen 
IdeaHsmus,  der  Nächstenliebe,  Sanftmut,  Aufopferung  fordere,  bisher 
günstig  gewesen,  ja  geneigt,  in  ihm  die  vollendete  Gestalt  der  Reli- 
giosität anzuerkennen.  Aber  der  Wert  und  die  Bedeutung,  die  irgend- 
welchem Glauben  beigelegt  werden,  nehmen  sichtlich  ab,  und  die 
Ideenassoziation  Christentum-Ethik  ist  im  I^aufe'  der  letzten  Jahr- 
zehnte —  wenn  Beobachtung  und  Lebenserfahrung  nicht  trügen  — 
lockerer  geworden.  In  dieser  Hinsicht  hat  das  Verhalten  der  christ- 
lichen Nationen  zu  einander,  insbesondere  die  christliche  I^iebe,  womit 
das  protestantische  England  und  das  protestantische  Amerika  das 
gleichfalls  überwiegend  protestantische  Deutschland  behandelt  haben, 
tief  erschütternd  gewirkt;  außer  dem  Weltkriege  selbst,  da  der  Krieg 
als  solcher  dem  Christen  eine  vertraute  Erscheinung  ist.  Immerhin 
hat  sein  Wüten  dem  Ansehen  des  Christentums  unermeßlich  Eintrag 
getan:  viele  gute  und  gläubige  Christen  verteidigen  einen  gerechten 


Die  Zukunft  der  Öffentwchen  Meinung.  571 

Verteidigungskrieg,  aber  kaum  wird  einer  wagen,  das  Verhalten  guter 
Christen,  z.  B.  anglikanischer  Geistlicher  zum  Baralong-Morde  oder 
einiger  deutscher  Pastoren  zu  den  beklagenswerten  Methoden,  die 
deutscherseits  nur  als  völkerrechtliche  Repressalien  gegen  die  Hunger- 
blokade  gerechtfertigt  waren,  und  ähnliche  Erfahrungen  als  Christen- 
tum in  Anspruch  zu  nehmen.  Wenn  aber  der  Heroismus,  die  Auf- 
opferung imd  Entsagung  der  Männer  und  Frauen,  die  im  Kriege  sich 
betätigt  haben,  gepriesen  werden,  so  kann  doch  weder  eine  Nation 
noch  eine  Religion  solche  Leistungen  und  Eigenschaften  wesentlich 
für  sich  allein  in  Anspruch  nehmen.  Das  Lob  gebührt  dem  Menschen- 
tum, nicht  dem  Christentum. 

Der  Rückzug  auf  die  christliche  Moral  ist  nur  eine  Verschleierung 
des  Standpunktes,  auf  den  die  öffentliche  Meinung  unter  dem  Einfluß 
der  Aufklänmg,  imd  vollends  unter  denen  der  verbundenen  natur- 
wissenschaftlichen und  historischen  Erkenntnisse  des  19.  Jahrhunderts, 
sich  gestellt  hat;  er  kommt  einer  Preisgebung  des  christlichen  Glaubens 
gleich.  Das  ist  ein  tragisches  Ereignis  im  Völkerleben,  für  das  der 
christliche  Glaube  nicht  nur  als  Weg  zum  ewigen  Heil,  sondern  auch 
als  Anerkennung  metaphysischer  Wahrheiten  gegolten  hat,  denen 
gegenüber  alle  Vernunft  und  Wissenschaft  zu  wesenlosen  Schatten 
verbleichen  —  sollten.  Aufgehalten  und  verzögert  ist  dieser  sozio- 
logische Prozeß  hauptsächUch  durch  die  Konventionalität  der  guten 
Gesellschaft,  die  durch  die  französischen  Revolutionen  und  ihre 
Folgen  in  Ängste  geraten  war,  und  deren  höhere  Schichten  insbesondere 
in  den  Burgen  der  Kirche  Schutz  suchten;  gehemmt  aber  wurde  er 
auch  durch  die  monarchische  Staatsform  und  die  Regierungen,  die 
ihr  dienten.  Diese  Hemmung  ist  jetzt  in  Deutschland,  in  Österreich, 
in  Rußland  imd  in  den  neuen  Nationalstaaten  weggefallen,  wie  früher 
in  Frankreich,  in  Portugal;  die  Religiosität,  auch  das  Christentum, 
kann  in  repubUkanischen  Staaten  so  gut  wie  in  monarchischen  ge- 
deüien,  die  Kirchen  können  ihre  Positionen  behaupten,  aber  die 
bewußte  Förderung  sei  es  des  Scheines  oder  der  Wirklichkeit  religiöser 
Vorstellungen  und  religiöser  Zeremonien  durch  die  höchste  oder  aller- 
höchste Stelle  ist  weggefallen.  Auch  jene  KonventionaUtät  wird  da- 
durch aufgelockert;  mehr  aber  leidet  sie  durch  die  zunehmende 
soziale  Bedeutung  der  Schichten,  die  an  ihr  keinen  Teil  haben  und 
nicht  gewillt  sind,  sich  dadurch  beengen  zu  lassen;  die  zwar  geringere 
Einsicht  in  die  Zusammenhänge  der  Dinge,  schwächeres  Wissen 
besitzen,  die  aber  ein  stärkeres  Bedürfnis  nach  Aufrichtigkeit  und 
Wahrhaftigkeit  in  Lebensfragen  empfinden,  die  auch  von  ihnen  als 
heilige  anerkannt  werden.  Immer  mehr  nehmen  Elemente  solcher 
Herkunft  an  Gestaltung  der  öffentlichen  Meinung  teil.   Je  mehr  diese 


572  Besondere  Fäi,i,e  der  Öffentuchen  Meinung. 

Teilnahme  wirksam  wird,  um  so  weniger  wird  die  öffentliche  Meinung 
in  dieser  Hinsicht  durch  politische  Rücksichten  irgendwelcher  Art 
gebunden  sein.  „Ohne  das  Band  zu  kennen,  kann  man  es  nicht 
lösen*' ^).    Nun  aber  lernt  das  Volk  selber  das  Band  kennen. 

2.  (Mögliche  Entwicklungen.)  Mehrere  Entwicklungen  sind  mög- 
lich. Vielleicht  ist  eine  revolutionäre  auch  in  diesem  Gebiete  am 
meisten  wahrscheinlich.  Sie  hat  schon  einmal  stattgefxmden,  als 
f  anatisierte  evangelische  Horden  die  Bilder  stürmten  und  die  herrlichen 
Glasfenster  gotischer  Kirchen  zertrümmerten.  Die  grandiose  Einheit 
der  römisch-katholischen  Kirche  hätte  sich  durch  Reformen  und 
Kompromisse  erhalten  lassen;  es  wäre  insbesondere  für  die  politische 
Entwicklung  Deutschlands  unendlich  heilsamer  gewesen.  Daß  es 
nicht  geschah,  hatte  tiefe  innere  Ursachen.  Solche  werden  auch  die 
künftige  Entwicklung  als  notwendige  bestimmen.  Die  endliche  Krisis 
des  Christentums  wird  tiefer  sein,  als  die  Krisis  der  Kirche  im  i6.  Jahr- 
hundert war.     Sie  wird  die  Welt  stärker  erschüttern. 

Denkbar  ist  auch  eine  andere  Entwicklung.  Die  Verallgemeinerung 
des  freigeistigen  Bewußtseins,  seine  Erhebung  in  der  öffentlichen 
Meinung,  die  Vertiefung  seiner  Lehren  durch  die  Beziehung  auf  die 
Ewigkeit  und  Unendlichkeit  des  Seins,  auf  die  Unerforschhchkeit  des 
Wesens  der  Dinge,  kann  die  öffentliche  Meinung  selber  zur  Religiosität 
werden  lassen.  Sie  kann  aus  sich  heraus  die  ReHgion  des  Heiligen 
Geistes  gestalten :  die  universale  Menschheitsreligion  als  die  Erfüllung 
und  Vollkommenheit  aller  bisherigen  Weltreligionen,  die  schon 
Priester  des  13.  Jahrhunderts  ahnungsvoll  kommen  sahen.  Ein 
großer  Sieg  und  Triumph  des  Christentums  wäre  es,  wenn  es  diese 
seine  Aufhebung  und  Vollendung  aus  sich  heraus  zu  gestalten  ver- 
möchte; eine  Selbsterkenntnis  und  Selbstüberwindung  der  öffentlichen 
Meinung,  wenn  sie  in  diesem  Sinne  das  Christentum  in  sich  aufzu- 
nehmen und  sich  seiner  anzunehmen  vermöchte,  nicht  mehr  es  zu 
glauben  und  zu  bekennen,  sondern  es  auszugestalten  in  seiner  reinsten 
und  echtesten  Absicht,  der  Absicht  einer  Veredlung  des  Menschentums. 

Es  ist  fast  schon  ein  feststehendes  Urteil  der  öffentlichen  Meinung 
geworden,  daß  eine  Beherrschung  der  Volkswirtschaft,  eine  ent- 
schiedene Gegenwirkung  gegen  die  Herrschaft  des  Kapitals  in  ihr, 
daß  also  die  Erhebung  der  Arbeit  —  zunächst  wenigstens  zum  mit- 
bestimmenden Faktor — Voraussetzung  dieser  Verbesserung  des  Volks- 
geistes ist:  die  soziale  Reform.  Die  öffentUche  Meinung  wagt  noch 
nicht,  den  »Sozialismus«  zu  bejahen,  aber  sie  wagt  auch  nicht  mehr, 
ihn  zu  verneinen.   Sie  scheut  zurück  vor  dem  Wort,  dessen  Sinn  mit 


^)  Ovx  eoxi  Xveiv  äyvoovvxa  rov  Ssofiöv  —  ein  Wort  des  Aristoteles,  das  Höff- 
DiNG  dem  ersten  Kapitel  seiner  Religionsphilosophie  als  Motto  vorgesetzt  hat. 


Die  Zukunft  der  Öffentlichen  Meinung.  573 

Zwang,  Bureaukratie,  Schematismus  allzu  eng  verschmolzen  ist, 
noch  mehr  vor  dem  Wort  )>Kommunismus «,  das  neuerdings  durch 
wilde  Bewegungen  in  Gebrauch  und  in  Verruf  gekommen  ist;  das 
Wort,  dem  sie  —  wenigstens  im  Deutschen  —  den  Vorzug  gibt,  ist 
schon  genannt  worden,  das  Wort  »Gemeinschaft«.  Die  Volksgemein- 
schaft ist  im  Weltkriege,  sowohl  durch  das,  was  sie  leistete,  als  durch 
ihr  Mangeln,  zum  Gegenstande  eines  Bewußtseins  geworden,  das  sie 
zugleich  als  Wirklichkeit  und  als  moralische  Notwendigkeit  erkennt. 
Und  es  wird  erkannt,  daß  sie  ihren  Kern  nicht  in  irgendwelchen  Vor- 
stellungen, Theorien  und  Lehren,  sondern  in  Tatsachen  hat,  vor  allem 
in  der  Gesundheit  des  FamiHenlebens,  des  Herdes  der  echten  Sittlich- 
keit, den  das  beste  öffentHche  Erziehungswesen  wohl  umhegen  und 
verbessern,  aber  nicht  ersetzen  kann.  Je  mehr  die  ÖffentHche  Meinung 
sich  auf  diesen  Gedanken  versammelt,  um  so  mehr  wird  sie  die  mannig- 
fachsten Kräfte,  die  verschiedenen  Weltanschauungen  und  Parteien 
zu  einem  Ziele  vereinigen  können;  wie  denn  schon  jetzt  in  der 
Richtung  auf  maßvoll  durchführbare  Reformen  des  Arbeiterrechtes, 
auf  Bodenreform,  Wohnungsreform,  auf  Bekämpfung  des  AlkohoUs- 
mus,  der  Geschlechtskrankheiten  und  der  Tuberkulose,  im  Sinne  der 
sozialen  Hygiene  überhaupt,  zu  der  auch  die  Hygiene  der  Ehe  und 
der  Fortpflanzung  gehört,  wie  im  Genossenschaftswesen,  das  den 
Kapitalismus  von  innen  heraus  heilen  will,  wahre  Menschen-  und 
Volksfreunde  längst  einander  die  Hände  reichen,  ohne  nach  den 
Bescheinigungen  ihres  richtigen  und  übereinstimmenden  Glaubens- 
bekenntnisses zu  fragen.  Da  ist  der  Heilige  Geist  des  Wahren,  Schönen 
und  Guten  mitten  unter  ihnen,  der  Parakletos,  der  berufen  ist,  alle 
zu  stärken  und  zu  fördern.  Zu  ihm  können  auch  diejenigen  sich  be- 
kennen, denen  ein  anderer  Glaubensinhalt  noch  wichtiger  ist  und 
erscheint,  aber  er  wird  eines  Tages  »die«  Religion  derer  sein,  die  nur 
eine  organisch  vertiefte  Vernunft,  welche  sich  als  Gewissen  ihre 
Normen  gibt,  zum  Lenken  ihres  Denkens  und  WoUens  zu  machen 
entschlossen  sind;  die  ÖffentHche  Meinung  wird  das  soziale  Gewissen, 
wie  Religion  es  immer  gewesen  ist:  sie  wird  selber  die  endliche 
ReHgion,  in  dem  Maße,  wie  sie  sich  mit  ethischem  Inhalt  erfüllt  und 
diesen  zu  läutern  sich  angelegen  sein  läßt. 

So  ist  die  Zukunft  der  öffentlichen  Meinung  und  also  die  Zukunft 
der  Kultur  von  der  Zukunft  der  Wissenschaft  abhängig.  Sofern  der 
wissenschaftliche  Geist  von  der  Flamme  der  Wahrhaftigkeit  durch- 
leuchtet und  erwärmt  wird,  trachtet  er  auch  nach  dem  Schönen  und 
Guten,  nach  der  Einheit  des  Schönen  und  Guten.  Zum  Schönen  und 
Guten  gehört  in  erster  Linie  die  Pietät  —  der  Sinn  der  Ehrfurcht  vor 
allem  Edlen,  das  gewesen  ist,  das  gesucht  wurde,  das  verloren  ging; 


574  Besondere  Fäi,i<e  der  öffentlichen  Meinung. 

ein  großer  Gewinn  für  die  Veredlung  des  Menschentums  wäre  es,  wenn 
die  öffentliche  Meinung  gelehrt  werden  könnte,  die  Pietät  und  Ehr- 
furcht zu  pflegen,  wie  auch  Goethe  als  eine  Aufgabe,  die  mit  Erziehung 
des  Menschengeschlechts  aufgegeben  ist,  erkannt  und  verkündet  hat. 

Die  Wissenschaft  wird  ferner  wie  bisher  zur  Zersetzung  und 
Zerstörung  dienen.  Der  Geist  der  Wahrheit  trägt  in  seinem  Arme 
nicht  die  Friedenspalme,  sondern  das  Schwert.  Aber  er  führt  auch 
den  Pflug,  er  hat  schon  vielen  Boden  urbar  gemacht,  und  je  mehr 
seine  Geltung  anerkannt  wird,  um  so  mehr  wird  er  zu  bauen  vermögen. 
Und  was  gut  gebaut  wird,  das  dauert;  so  wird  neues  Leben  aus  den 
Ruinen  erblühen. 

3.  (Die  Reform  der  Presse.)  Nicht  nach  unseren  Wünschen  und 
Hoffnungen  richtet  sich  die  Zukunft,  wohl  aber,  wenn  auch  in  eng- 
begrenzter Weise,  nach  unserem  Tun  und  Wirken,  das  zum  Teil 
unseren  Wünschen  und  Hoffnungen  folgt.  Wir  können  alle  mit- 
wirken an  Gestaltung  der  Zukunft,  wir  —  Männer  und  Frauen  des 
gelehrten  Standes  —  sind  sonderUch  berufen,  mitzuwirken  an  der 
Zukunftsgestaltung  der  öffentlichen  Meinung. 

Da  die  öffentliche  Meinung  eine  Form  des  geistigen  lyebens  einer 
Nation  —  wir  denken  hier  zunächst  an  unsere  eigene,  an  die  deutsche 
Nation  —  so  wirken  auf  sie  alle  Elemente  dieses  geistigen  Lebens, 
unter  denen  wir  die  Wissenschaft  voranstellen,  weil  ihr  die  öffentliche 
Meinung  am  nächsten  steht.  Auch  alle  echte  Kunst,  die  den  Ge- 
schmack bildet,  das  Gemüt  erhebt  und  läutert,  darum  besonders  die 
schöne  Literatur,  sofern  sie  wahrhaft  schön  und  edel  ist,  kann  zur 
Erziehung  der  öffentlichen  Meinung  beitragen.  Fast  alle 
Elemente  werden  heute  vermittelt  durch  periodische  Druckschriften  — 
mit  dem  Wesen  der  Tagespresse  ist  die  Vorstellung,  die  wir  von  der 
öffentHchen  Meinung  haben,  so  eng  verknüpft,  daß  Reform  und 
Zukunft  der  ÖffentHchen  Meinung  unabtrennbar  scheint  von  Reform 
und  Zukunft  der  Zeitungen.  Im  früheren  Texte  dieses  Werkes  ist 
auf  die  Anklagen  hingewiesen  worden,  die  gegen  die  Presse  neuerdings 
und  seit  langer  Zeit  laut  geworden  sind,  auch  ist'  einiger  Vorschläge 
und  Wünsche  Erwähnung  geschehen,  die  auf  ihre  Verbesserung 
ausgehen.  Zum  Schluß  werde  hier  auf  einen  Gedanken  aufmerksam 
gemacht,  den  die  Erfahrungen  des  Weltkrieges  in  der  Seele  eines 
deutschen  Amerikaners  wachgerufen  haben,  die  unter  der  ungeheuren 
Last  von  Unwahrheit  und  rohem  Gebaren  der  enghsch-amerikanischen 
Zeitungen  dieser  Jahre  schwer  gelitten  hat.  Herr  Ferdinand  Hansen 
ruft  seine  amerikanischen  Mitbürger  auf  zur  Stiftung  eines  Fonds  von 
Y  1000    Millionen    Dollars,    um    :^Sicherheitsventile«    im    öffentHchen 

Leben  der  Vereinigten  Staaten  „gegen  die  selbstsüchtige  Macht  des 


Die  Zukunft  der  Öffentlichen  Meinung.  575 

Goldes"  zu  schaffen.  „Eine  völlig  unabhängige  Tageszeitung  sollte 
in  jeder  Stadt  gegründet  und  durch  erfahrene,  hochgebildete  und 
gewissenhafte  Männer,  die  besten  Köpfe,  die  das  I^and  hervorbringt, 
geleitet  werden,  in  Verbindung  mit  Körperschaften  pädagogischer 
Richtung.  Sie  möge  den  Titel  führen  »der  Staatsbürger«."  „Alle 
anerkannten  Parteien  würden  darin  freien  Raum  haben,  dem  Gange 
der  Ereignisse  zu  folgen  und  sie  nach  ihren  Grundsätzen  auszudeuten. 
Die  Stimmen  des  Volkes  würden  unmittelbaren  Ausdruck  finden. 
Die  Leitartikel  des  »Staatsbürgers«  würden  so  leidenschaftslos,  so 
unpartensch  und  objektiv  sein,  daß  ihre  Botschaften  oder  Meinungen 
bald  mit  vollkommenem  Glauben,  mit  größter  Achtung  imd  mit 
Vertrauen  empfangen  würden.  Die  Zeitung  würde  ihren  eigenen 
Kabeldienst  haben,  frei  von  den  Lügendrähten  und  den  vergifteten 
internationalen  Brunnen  der  Reuter,  Havas,  Northcuffe  und  der 
gelben  finanz-imperiaUstischen  Presse.  Diese  sind  die  gemeinsamen 
Feinde  des  Menschengeschlechts  und  sie  müssen  entlarvt  und  ver- 
nichtet werden,  ehe  ein  wirklicher  dauernder  Friede  und  guter  Wille  in 
der  Welt  herrschen  kann"  (übersetzt  aus  der  Handschrift  des  ameri- 
kanischen Originals).  Die  Zeitung  soll  von  dem  Einkommen  aus 
Inseraten  —  Hansen  nennt  es  das  Krebsgeschwür  am  Herzen  alles 
Journalismus  — ,  durch  ihre  hohe  Auflage  unabhängig  sein,  die  ihr 
der  Umstand,  daß  sie  die  Zeitungen  verschiedener  Parteirichtungen 
überflüssig  mache,  sichern  werde.  „Nur  den  zuverlässigsten  Firmen, 
nur  ehrenwerten  Inseraten  würde  Raum  gegeben  werden."  „NatürUch 
wären  die  lasterhaften  und  gemeinschädlichen  Züge  des  Modetorheit- 
Journalismus  mit  größter  Strenge  ausgeschlossen,  insbesondere  der 
unsittliche  Mord-  und  Totschlag-Sensationalismus,  die  schandbaren 
Verletzungen  der  Heiligkeit  des  Privatlebens  usw."^) 

Die  Grundgedanken  dieser  Unternehmung,  die  auf  amerikanische 
Verhältnisse  näher  angewandt  werden  —  haben  ihren  Wert  auch  für 
uns  in  Deutschland.  Daß  sie  verwirklicht  werden,  glauben  wir  nicht. 
Aber  sie  sind  wertvoll  als  Kritik  dessen,  was  im  Felde  des  Zeitungs- 
wesens wirklich  ist.  Am  meisten  Aussicht  dürfte,  wenigstens  in 
Deutschland,  eine  Reform  der  Presse  von  innen  her,  durch  sie  selber, 
d.  h.  durch  ihre  ernstesten  und  am  meisten  gebildeten  Repräsentanten 
haben.  Die  Notwendigkeit  einer  solchen  Reform  sollte  selber  als 
öffentliche  Meinung  in  Fluß  kommen,  und  sie  wäre  ein  wirksames, 
vielleicht  das  wirksamste  Mittel  zur  Selbsterziehung  der  öffentlichen 
Meinung. 

*)  Vgl.  auch  die  jüngst  erschienene  Schrift  „Zur  Frage  der  Preßreform"  von 
Karl  Bücher.  Tübingen  1922. 


NamenvcrzcicJinis. 


Addison  365. 

Adelung  9. 

Adler  491. 

Aehrenthal  505. 

Aeschylos  235. 

Albert  Prinzgemahl  429. 

Albertus  Magnus  235. 

Anaxagoras  232. 

Anson  371. 

Anton  445. 

Aquinas  235. 

Aristoteles  572. 

Ashley  485. 

Asquith  512,  551. 

Auerswald  418,  426  f. 

Augusta   V.    Preußen    162, 

429. 
Aulard  197,  384. 
Avenarius  554. 

Badeau  261  f. 

Bagehot  318. 

Bailleu  441. 

Bailly  391. 

Bamberger  160 f.,  469 f. 

Bandmann  195. 

Barth  182. 

Bassermann  421  f. 

Bastiat  487. 

Bauer  62,  165,  176,  189 ff., 

199.  201,  250,  252,  544. 
Baumstark  427. 
Bayle  212. 
Beaconsfield  551. 
Beaumarchais  192. 
Bebel  465 f.,  491. 
Beckx  165. 

Benckendorff  523,  555 ff. 
Bennigsen  463,   469,   471  f. 
Berchtold  540. 
Bergsträsser  176. 
Berlepsch  452,  476. 
Bernhardi  165. 
Bernstein  497. 
Bemstorff  359. 
Besant  493. 
Bethmann-HoUweg,  M.   A. 

429. 


Bethmann-Hollweg,    Th. 
505f.,  510,  546,  548,  551, 

558. 
Beyens  507,  516,  526. 
Beyme  411. 
Bezold  305. 
Biermer  496ff. 
Bismarck  158  ff.,  168,  183, 

195.  255,  257,  319,  321, 

371.     398,     429ff..     442. 

463,     474,     476,     507f., 

510»  532,  546. 
Bjelinski  192. 
Blanc  385,  396. 
Blum  419. 

Boghitschewitsch  542. 
Böhm-Bawerk  130. 
Bonnet  383. 
Bossuet  144. 
Böttger  498. 
Bötticher  500. 
Bourgeois  480. 
Brandenburg  421,  426,  428. 
Brandes  187. 
Brant,  Seb.  304. 
Brassey  448. 
Bratianu  542. 
Brentano  275,  447 ff.,  452, 

502. 
Briand  265. 
Brienne  375,  390. 
Bright  273,  368 ff.,  488,  514. 
Brunhuber  157,  182!,  194. 
Brüsewitz  141,  269. 
Bryce  79 f.,   179,  259,  270, 

323ff.,   358ff.,   489,   503, 

511. 
Buchanan  521. 
Bucher  10,  156,  I58f.,  162!, 

371. 
Bücher  148,  552,  555,  575. 
Buckingham  363. 
Buckle  197. 
Bülow  507  f. 
Bulwer  157. 
Burckhardt  302. 
Burrows  493. 
Busch  158  ff. 


Caillaux  481. 

Calonne  380,  390. 

Calvin  283. 

Cambon  522  ff.,  529 f.,  557. 

Campbell- Bannermann  512. 

Camphausen  426. 

Carlyle  399. 

Camot  491. 

Carol  V.  Rumänien  256,  542. 

Carus  359. 

Cauer  195. 

Cavaignac  422. 

Chamberlain,  H.  St.  518. 

Chamberlain,     Joe.     507f., 

512. 
Cicero  295, 

Clemenceau  265!.,  557. 
Clifford  47. 

Cobden  273,  368ff.,  487^ 
Comte  210. 
Condillac  383. 
Conrad  458. 
Cromwell  157,  363. 
Czemin  256,  542. 

Damaschke  478. 

Dane  427 f. 

Dante  65,  192,  235. 

Dascovici  254,  530. 

David  491. 

Dehn  554  f. 

Delbrück    275,     435,    473, 

534,  546ff. 
Dell  521. 
Descartes  212. 
Dibelius  366. 
Dicey  484  ff. 
Diderot  212. 
Dilke  277. 
Disraeli  319. 
Doumer  480 f. 
Dreyfus  264 f.,  398,  568. 
Droysen  157. 


Eck  174. 
Eckardstein 
Eddy  234. 
Eduard  VII.  516 


508. 


Namenverzeichnis  . 


577 


Eichhorn  418. 
Eisenmarm  419,  423. 
Eltzbacher  555.  557. 
Engels  417. 
Erasmus  304. 
Escott  487!. 
Euripides  106. 

Falk  162. 

Federn  53of. 

Fenelon  375. 

Fichte  289. 

Fick  3. 

Finance  453. 

Fischart  408. 

Forster  385  ff.,  393,  401. 

Fouillöe  397,  566. 

Francis  552. 

Francke,  Ernst  501. 

Francke,  Knno  306,  551. 

Frank  130. 

Frantz  152. 

Franz  I.  397. 

Franz  Joseph  431,  540. 

Friedrich  419. 

Friedrich  II.  86,  144,  157, 
195.  237. 

Friedr.  Chr.  v.  Augusten- 
burg 147. 

Friedr.  Wilh.  III.  411,  417. 

Friedr.  Wilh.  IV.  417.  424!., 
428. 

Frey tag  262. 

Gagem  420. 

Galilei  3. 

Gardiner  363 ff.,  398. 

Garve  304,  386,  401  f. 

Garibaldi  433. 

Geffcken  162. 

Geiler  304. 

Gentz  413. 

George  357.  477. 

Georget  197. 

Gerlach,  H.  v.  428. 

Gerlach,  h.  v.  431. 

Gervinus  401,  403. 

Giddings  Vif.,  353. 

Gierke  457. 

Gladstone    167,    319,    373, 

551. 
Gneisenau  415. 
Goethe     I48f.,     214,     260, 

356,  401,  406,  410,  444, 

574- 
Goltz,  Rob.  V.  d.  431. 

Tönnlc».  Kritik. 


Goltz,  Th.  V.  d.  414. 

Goodnow  351. 

Goschen  521. 

Gough  266. 

Granville  159. 

Green  362  ff. 

Grey    372,     512!.,     52lff., 

529ff..  557- 
Grillparzer  290. 
Grimm  9,  13. 
Grüner  433. 
Guillaume  526ff. 
Gustav  Adolf  143. 
Gutschmid,  A.  v.  429. 

Hadley  354 f. 

Hadrian  VI.  305. 

Haering  V. 

Hagen  421. 

Haidane  512,  551. 

HaU  551  ff. 

Hammann  434. 

Hänel  467  ff. 

Hansemann  425  ff. 

Hansen  574  f. 

Hardenberg  413. 

Hartmann  418. 

Hartwig  519,  528,  538. 

Harvey  282. 

Hase  175. 

Haugwitz  411. 

Hauptmann  234. 

Hausrath  305. 

Haussonville  126  f. 

Hatzfeldt  508. 

Hegel  77. 

Heine  86,  215. 

Helfferich  359,  516. 

Hellwald  404. 

Helvetius  295  f. 

Heraklit  235. 

Herkner  1 72, 454, 492,  499 ff . 

Hertling  546,  548. 

Herzen  532. 

Hettner  552. 

Heyne  9. 

Hobbes    16,    74,    104,    157, 

212,  293 f.,  406. 
Hoetzsch  192,  532. 
Höffding  297  f.,  461,  572. 
Hohenlohe  509. 
Hohlfeld  132. 
Holberg  143,  203. 
Holland  15. 
Holm  143  f. 
Holstein  509. 


Huber  457. 
Hume  296. 
Hütten  305. 

Ihering  73. 

Isvolsky  518,   524,   528ff., 
533»  556. 

Jagow  507,  5091,  534,  541. 
Jakob  I.  362,  364. 
Jakob  II.  III. 
Janssen  304,  444. 
Jaur6s  480,  482,  524,  555, 

564. 
Jenks  184. 
Jordan  132,  420. 
Joseph  II.  144. 

Kämmel  305. 
Kant  13,  237,  258,  289. 
Karl  I.  362,  365. 
Karl  II.  364. 
Karl  X.  140. 
Kardorf f  275. 
Katkov  532. 
Kern  68  f. 
Keynes  565. 
Klein  197,  445. 
Kleist-Retzow  467,  469. 
Klopstock  401. 
Kopemikus  282. 
Körner  195. 
Kotzebue  416. 
Krüger  507. 
Kühlwetter  427. 
Kulemann  448. 
Kulenkampff  195. 
Kurella  171. 

Lactantius  12. 
Lafayette  381,  391. 
I^alli  391. 
Lalaing  513,  516. 
I^amartine  422. 
ha.  Marck  384  f. 
lyansdowne  512. 
I^a  Rochefoucauld  294. 
Lassalle  182. 
I>bon  397. 
Leoky  282,  367. 
Leibniz  8,  212. 
Leo  164,  425. 
Lessing  401. 
Lessius  62. 
Lichnowsky  522  f. 
Liepmann  429. 

37 


578 


Namenverzeichnis. 


Lloyd  George  51 3 f.,  525^-. 

547- 
Locke  212,   293,   365,   383, 

406. 
liöhl  132,  I36f.,  157. 
lyöher  428. 
lyöwe  420. 
Lombard  411. 
lyonsdale  367. 
Ivorebum  525. 
Lorenz  302,  304. 
Louis  Ferdinand  411. 
Louis  Napol6on  433. 
Louis  Philippe  140, 397, 436. 
Low  170. 
Ludendorf f  546ff. 
Ludwig  XIV.  374«-,    385, 

390  f-,  397- 
Ludwig  XV.  375. 
Ludwig  XVL  375,  389,  392, 

394. 
Ludwig  XVIIL   397. 
Lukas  176. 

Luise  V.  Preußen  411. 
Luther  14,  304f .,  402 ff.,  444. 

Macchiavelli     142  f.,      254, 

554- 
Maier  197,  255,  541  f. 
Maistre  65. 
Malesherbes  392. 
Mandeville  294. 
Manteuffel  426 f. 
Marie  Antoinette  385,  390. 
Marschall  434. 
Marx  V,  64,  308,  361,  444. 
Mataja  453. 
Maupeou  392. 
Maurepas  389. 
Melanchthon  283. 
Michaelis  546,  548, 
Mill  443. 
Mittelstaedt  195. 
Mirabeau  379^^- 
Mohl  418. 
Mühler  176. 
Molitor  175  f. 
Mommsen  473. 
Monmarin  381. 
Montesqieu   212,   393,   406. 
Morley  370,  487. 
Müller  162. 
Münsterberg  351  ff.,    454f., 

495  f- 
Murawieff  559. 
Mumer  303. 


Murray  10. 
Myer  489  f. 

Napoleon  I.  117,  139,  153, 
158,  164,  183,  237,  367, 
391.  393»  397.  406,  412, 
4i4f. 

Napoleon  III.   374,   397 ff., 

527- 
Naumann  476,  561. 
Necker   251  f.,    374ff.,    385, 

387,  389f.,  393.  396. 
Neuwerck  422. 
Nicolai  547ff. 
Nicolai  Nicolajewitsch  553. 
Niebuhr  267,  392  ff. 
Niehuus  171. 
Nikolaus  I.  342. 
Nikolaus  535 f-,  538,  542. 
North  371. 
Northcliffe  187,  517,  548f., 

575. 
Nostiz  496,  499. 

Oeme  459. 

Oldenberg  259,  494  ff. 
Oldenburg- Januschau  141. 
Oncken  517,  526.  555. 
Osbome  450. 
Osten,  V.  d.  453. 
Ostrogorski  198,  345 ff-,  353. 
361. 

Paleologue  529 f. 

Palm  158. 

Palmerston     I56f.,     372f., 

429.  487- 
Pamell  277. 
Paschitsch  538. 
Paulsen  297f .,  304, 416, 46of . 
Peel  369f..  372- 
Pertz  411  f. 

Perthes  318,  386,  407ff. 
Peter   d.    Gr.    v.    Rußland 

533- 
Peter  v.  Serbien  519,  538, 
Pfuel  414. 
Pheidias  235. 
Philipp  von    Orl6ans    375. 
Philippovich  458. 
Pitt  d.  Ä.  366,  393- 
Pitt  d.  J.  371. 
Piaton  232  f,  295. 
Poincare  5 29 f.,  556. 
Pokrowski  523,  5 28  ff. 
Poschinger  165. 


Pourtalös  533,    535 f. 

Prange  463. 

Praxi t  les  235. 

Proudhon  460. 

Puffendorf  406. 

Rach6  555. 

Ranke  303 f.,  404 f. 

Rasputin  539,  558. 

Rau  458. 

Raveaux  418. 

Rechberg  431. 

Reichensperger  421,  423. 

Reuter  517. 

Reventlow  532. 

Richelieu  157,  365. 

Richter  465. 

Richthof  en  158. 

Riesser  423. 

Ritschi  233. 

Robespierre  320,  384,  396. 

Rodin  555. 

Rödinger  422  f. 

Rogers  183,  354  f. 

Roosevelt  183. 

Röscher  144,  308,  338,  439, 

442f..  458,  468. 
Rose  396. 
Rosebery  516. 
Roß  186. 
Rothschild  442. 
Rousseau  74,  212. 
Rümelin  297. 
Ruscheweyh  287. 
Rüssel    127,    5i3f.,    544^-. 

555- 

Sachs  408. 

Sassonow  521,523,  529,  531, 

533,  535,  538  f.,  556. 
Säckingen  305. 
Sakmann  294. 
Salisbury  434. 
Sand  416. 
Schäffle    183,     I98f.,    439, 

463- 
Scheffer  195. 
Scherer  302,  304. 
Schiemann  530. 
Schiller     83,      192,     203  f., 

2i3ff.,  262,  284,  401. 
Schippel  489  f. 
Schlaf  282. 
Schieiden  321. 
Schleiermacher  233. 
Schleinitz  162. 
Schlosser  140. 


Namenverzeichnis  . 


579 


Schlüter  254. 
Schmidt,  Ad.  396. 
Schmidt,  Jul.  262. 
Schmidt,  Iv.  232. 
Schmitthenner  552. 
Schmoller  403 f.,  459,   501. 
Schopenhauer  104  f. 
Schotthöfer  481. 
Schubert  71. 
Schultze  293. 
Schulz  121. 
Schulze-Dehtzsch  460. 
Schulze-Gaevemitz    463, 

502,   549- 
Schuster  468  f. 
Schwertfeger  507,  527!. 
Scotus  235. 
Seeley  567. 
Shaw  171,  552. 
Sieyös  383 ff.,  395. 
Simson  419. 
Smith  296f.,  356.  413. 
Sokrates  232. 
Sombart    97,     227f.,     444, 

45off.,  454. 
Soulavie  385. 
Spencer  298,  339. 
Spinoza  212. 
Springer  395 f-,  415^- 
Stael  388 ff.,  396. 
Stahl  188. 
Stahr  425. 
Staudinger  257,  460. 
Steele  365. 
Steffen  515. 
Stein  410  ff. 
Steinhausen  405. 
Stern  140,  401. 
Stöcker  435  f. 


Stolypin     138,     528,     533, 

537- 
Straf ford  363. 
Suchanoff  559. 
Suchonilinow  537,  539. 
Swinton  183  f. 

Tacitus  540. 

Taine  398  ff. 

Tallier  396. 

Tarde  V. 

Temple  157. 

Terray  392. 

Thomasius  406. 

Tiedemann  433. 

Tirpitz  435. 

Tisza  256,  540. 

Tocqueville    65,    146,    212, 

331,  392  ff. 
Tönnies  27,   67,    157,    170, 

337.  50oi..  511.  528,  534- 
Toussenel  156. 
Treitschke  i39f.,  168,  374, 

400,  410,  416,  429,  444, 

473- 
Trevelyan  373. 
Troeltsch  233,  244,  481. 
Tschinke  418. 
Turgot  147,  392,  394- 

Ulrich  502. 

Vergonnes  385. 

Verhaeren  555. 

Veuillot  175. 

Victor  Emanuel  433. 

Victoria  162. 

Vincke  422. 

Voltaire  212,  309,  392. 


Wagener  164. 

Wagner  459,  478,  480 f. 

Wahl  267. 

Waldeck- Rousseau  482. 

Waldersee  435. 

Walpole  342,  373. 

Ward  184. 

Washington  323. 

Webb  130, 171, 449, 493.496. 

Weber,  Ad.  493,  495,  501. 

Weber,  Marianne  288. 

Weber,  Max  132,  136,  551. 

Weigand  13. 

Welby  239,  349. 

Welcker  424. 

Wellington  157. 

Westphal  7. 

Wiesner  419. 

Wilhelm  I.  160,  312,  433, 
474f.,  491. 

Wilhelm  II.  141,  163,  272, 
277f.,  292f.,  3iof.,  314, 
406,  434ff.,  474ff.,  507ff., 

514.  535.  546.  551- 
Wilmanns  7. 
Wilson  359,  552. 
Wimpffen  159. 
Wimpheling  303. 
Windthorst  463  f. 
Wolff  406. 
Wrangel  427. 
Wundt  293,  460 f. 

Zacher  464. 
Zedier  12. 
Zimmermann  422. 
Zinkeisen  157. 
Zittel  423. 
Zwiedinek-Südenhorst  195. 


37* 


Sacfiverzeidinis. 


Aberglaube  i6,  234,  279ff., 

3i2f.,  339.  514. 
Absolutismus  75,  iii,  I43ff. 

269,  271,  406,  417. 
Adel  29,  io9f.,  120,  i66f., 

261  f.,  269,  302f. 
Agitation  23,  45,  62 f.,  190 f., 

3". 
Angestelltenbewegung  477, 

563. 
Anti-Corn-Law-League  246, 

368,  435. 
Arbeit  118  f.,  262,  307. 
Arbeiterbewegung  263,  312, 

341,  397,  s.  soziale  Frage. 
Arbeiterpresse    168,     172, 

474.  478. 
Arbeiterschutz   445 f.,    453, 

475  f- 
Associated  press  517. 
Atheismus  284. 
Aufklärung  208,  279,  405. 
Aussperrung  493,  496  f. 
Ausstand  265,  448 ff.,  492 ff. 

567. 
Australien  503. 

Bagdadbahn  516. 

Bauern  118  f. 

Befreiungskriege  139. 

Begriff  18,  60. 

Bild  195  f. 

Belgien   521,    524f.,    55of., 

553- 
Bevölkerungsbewegung  127 

443- 
Bildimg     85  f.,     167,     174, 

252,  285,  290,  341. 
Bifschewija  Wjedomosti  528. 
Bodenreform     171,     477f., 

573. 
Bolschewismus  563,   567. 
Börse  95  f. 
Bourgeoisie  261,   272,   328, 

358,  417- 
Buddhismus  38,  57,  233. 
Bulgarien  519,  549. 
Bund  der  I^andwirte  272. 


Burenkrieg  373,   507,   509, 

526,  543,  551- 
Burschenschaft  416. 

Cäsarismus  153,  157. 
Chauvinismus    309,    397 f., 

482. 
Christentum  29,  38,  57,  233, 

235 f-»  289,  403,  57off. 

Dänemark  143,  432,  543. 
Daily   Telegraph   277,   310, 

507. 
Debatte  133,  3i7f. 
Demokratie  153,  269,  345ff., 

357- 

Demonstration  198. 

Deutsche    Rundschau  158. 

Deutschland  109,  112,  140, 
I57ff.,  i67ff.,  i7iff.,  208, 
259,  262,  266 ff.,  271  ff., 
275  ff.,  286,  288,  292  f., 
304  ff.,  309 ff.,  341»  401  ^f-. 
45if.,477f.,  504ff.,5i3f., 
5i6ff.,532ff.,  543,547ff., 
560  ff. 

Deutschnationale    Volks- 
partei 169,  188. 

Drama  83,  191  f.,  213 ff. 

Dritte  Stand  io9ff. 

Ehe 238, 287f.,  289,  468, 573. 
Ehre  74,  78,  291  f. 
Einkommensteuer  48off. 
Eintracht  66ff. 
Elsaß-Iyothringen  255,  310, 

400.  415,  526f.,  555. 
England  iiof.,  156 f.,  167, 

169 ff.,  196,  208,  227,253f., 

259,    261,    265f.,    271  ff., 
284ff.,     29O;     309,     322, 

336f.,  339,  341,  343»  345. 
354,  362ff.,  417,  446f., 
456,  462,  482ff.,  492f., 
496,  5o6ff.,  5ioff.,  543, 
547,  55off.,  566ff. 
Entente  276,  310,  398,  5i7f., 
526,535,539,542,558.566. 


Fakultäten  101  ff.,  208. 

Familie  66,  287,  573. 

Finland  543,  569. 

Flotte  432,  435,  506,  508, 
526. 

Flottenverein  278,  435. 

Frankfurter  Zeitimg    172. 

Frankreich  iiof.,  139  f., 
.I59f.,  166,  175,  181,  192, 
I97f.,  208,  251  f.,  264ff., 
271,    275  f.,    309f..    315, 

341.  354.  365f-,  374^^-. 
401,  406,  410,  417,  453, 
479ff..  491  ff.,  506,  513, 
5i6ff.,    525ff.,   543,  547, 

551,  555ff-,  565. 
Frauenarbeit  445,  475,  477, 

493. 
Frauenfrage  263 f.,  288,  339, 

353.  465,  561. 
Freihandel  15,   172,   258 f., 

273 ff.,   312,   366ff.,   406, 

488. 
Freiheit  64 f.,  139,  166,  214, 

258ff.,  367,  406,  410,  439. 
Freimaurer  175,  I96f.,  237, 

309,  480. 
Friede  zu  Frankfurt  I59f., 

525f- 
Friede  von  Versailles  188 f., 

561,  568. 
Führer   31  f.,    36 ff.,    206 f., 

462,  489 f.,  564. 
Fürst  Iiof.,  142,  144. 

Gazette  de  France  148,  158. 
Gefühl  4,  i2f.,  19,  21,  41,  44. 
Geisthchkeit  30,  io9f.,  120, 

175,  207 f.,  302 ff. 
Gelehrte  89,  loif.,  106,  212. 
Gemeinschaft    21,    44,    80, 

91  f.,    2i9ff.,    242,     270, 

337.  439,  564- 
Genossenschaften  446,  455ff 

476,  479,  573- 
Gesellschaft  21,  80,  92,  200, 
2i9ff.,     242,     270,     337, 
408,  439,  564- 


Sachverzeichnis. 


581 


Gesetzgebung  74 ff.,  151. 
Gewerkschaften  446,  451  f., 

474.  476.  479. 
Gewissensfreiheit  124,  284, 
Gewohnheit    51  f.,    54,    64, 

67 ff.,  86,  407. 
Glaube    isff.,    21  ff.,    38ff., 

52,    64,    56f.,    70,    H4f., 

i2off.,  280,  302. 
Gleichheit    260,    336,    406, 

410,  442,  492,  503. 
Gottheit   15,    38 f.,    70,   92, 

ii5f.,  122,  283. 
Großstadt  246 f. 
Grundbesitz  n8,  166 f. 

Häresie  15,  29,  38,  io9f., 
122,  283  f. 

Hamburgischer  Korrespon- 
dent 565. 

Handel  29,  95  f.,  98,  307  ff., 

339.  444«-.  563 f- 
Handwerk  29. 
Heterodoxie  114!.,  174. 
Hexenprozesse  167,  281. 
Humanismus  208. 
Hungerblockade  567. 

Indien  567. 

Irland  265  f.,  275,  567,  569. 
Islam  38,  57,  233. 
Italien  197,  302,  433,  454. 
509.  519,  533.  541.  569- 

Jakobinerklub  197, 384,  393. 
Jesuiten  175,  196,  289,  309. 
Journal  de  l'Empire  158. 
Journalisten  178  ff. 
Journal  officiel  148. 
Juden  38,   i68f.,   173,   175, 

188.  227f.,  233,  445,  532, 

562. 
Jurisprudenz  26,  loif. 

Kamarilla  272. 

Kapital  ii8f.,  i66f.,  I79ff. 

Kapitalismus     307,     47of., 

478.  563. 
Kathedersozialismu3      172, 

312,  47of. 
Katholische  Presse  176  f. 
Katholizismus    29,     174 ff., 

233.  279,  363f. 
Kaufmann  96f..   204,   444. 
Kinematograph  83  f. 
Kirche  22,  57,  I09f.,  I2i£f., 


174  ff.,  303  ff.,  402 ff.,  439, 

570.  572. 
Klassen  28,  30,  327^,  335, 

341.  353.  360. 
Klassenkampf    28  ff.,     61, 

108 f.,  166 f.  s.  Arbeiter- 
bewegung. 
Koalitionsrecht  447 ff.,  503. 
Kölnische  Volkszeitung  176. 
Kölnische  Zeitung  172,  473. 
Kollektivwille  66 ff.,  80,  219. 
Kolonien  264,   337 ff.,  435, 

487f.,  506. 
Kompromiß  133. 
Konservative   Partei   272. 
Konservativismus  64,  ii2ff., 

166  f. 
Konstantinopel   528,    539. 
Konsumverein  455  ff.  siehe 

Genossenschaft. 
Konvention  71  ff.,  228,  409. 
Krieg   42,    98,    125  f.,    205, 

237.     256,     313,     504ff., 

5i5f.,  544f.,  570. 
Kriegspresseamt  547 f. 
Xrimkrieg  373. 
Kritik  16,   121  f. 
Künstler  25,  213  ff. 
Kürwille   18,   27,   34,   4of., 

44,  46,    60,    63,    71,    78, 
105,   201,  219,  254,  316. 

Kultur  80,  227,  356. 
Kulturkampf     162,     309  f., 

463. 
Kunst  89,   195 f.,  574. 

Latour  party  172,  567f. 

Land  28  f.,   ii9f. 

Laisser  faire  259,  312,  328, 

445- 
Ivehre  53,  56ff.,  6off.,  231. 
Lehrer  208 f.,  328,  416. 
Liberalismus   61,    112 ff., 

i66ff.,  214,  3iof.,  476. 

Manchester  Guardian  545. 
Marokko  310,  513,  522,  526. 
Maschine    198,    342,   345  ff. 
Materialismus  283  f. 
Matin  517. 
Medizin  26,   102. 
Mehrwert  307. 
Meinungsäußerung  23, 32  ff . , 

45.  49.  81.  203f. 
Meinimgskämpfe    89,    100, 

177. 


Menge  25,  27,  31,  37,  120, 

319.  335. 
Militarismus  141,  264ff. 
Mode  40 f.,  72 f.,  200,  274, 

293.  296,  299.  388. 
Monarchismus  65,  166,  271, 

3i4ff.,     358.     396,     406, 

421. 
Moral  236ff..  242ff.,  288ff. 

Nachrichten  94  ff. 
Nachrichtenfälschung  98. 
Nationalgefühl    429,    511  f. 
National  Review  14. 
Nationalversammlung   561. 
Nationalzeitung  106,  463. 
New    Statesman     74,     187, 

515 ff.,  524,  550,  568. 
New -York  Evening  Post 

543. 
Niederlande  520,  551. 
Novoje  V  rem  ja  517. 

öffentliche  Meinung  77 f., 
129.  131  ff.,  177. 

eine  ö.  M.   I29f.,   I37ff. 

die  ö.  M.  131  ff.,  i37ff.,  154, 
I77ff.,  219,  229ff.,  236ff., 
30off..  371.  374,  544. 

Österreich-Ungarn    163, 
256,    4i2f..    431,    433f., 
505.  509f..  5i8ff..  534^^» 
538 ff.,  549,  553,  556. 

Oligarchie  II r. 

Opposition  108,  150  f. 

Ordnung  239 ff., 

Orthodoxie  11 4 f.,   I74ff. 

Paris  246,  388f.,  393,  410. 

Parlament  322. 

Parlamentarismus  272. 

Parteien  35  ff.,  40,  43,  62 ff., 
99,  io8ff.,  152,  179,  250, 
290,  3i8f.,  329f.,  345ff., 

357- 

Parteiregierung    150,     153. 

Paulskirche   164,  418  ff. 

Politik  160,  165,  252ff., 
279.  435.  524.  566. 

Presse  79,  90 f.,  136 f.,  I47ff., 
155.  158,  168,  I72f., 
i75ff.,  193,  255,  276,  322, 
324f.,  348ff.,  354,  36of., 
5i6f.,  527,  531  f.,  534, 
546ff..  55off.,  557f.,  562, 
574^- 


i2 


Sachverzeichnis. 


Preßfreiheit  125,  127,  129, 

149.  175.  383. 
Preußen  257,  424,  560. 
Priester  22, 30, 70, 91  f.,  ii6f . 
Privateigentum     2^>      112, 

119,  259,  439,  466. 
Produktivgenossenschaft 

458. 
Proletariat    76,    11 1,    118, 

128,  166,  169. 
Propaganda  79f,  104,  357, 

368. 
Protestantismus  29,  I74ff., 

232. 
Prozesse  267,  292. 
Publizistik  190. 

Rassen  355,  358. 
RationaUsmus  282. 
Recht    68 f.,     74 f.,     239 ff., 
241  ff,,  290,  457. 

Erbrecht  288. 

Gewohnheitsrecht  68. 

Naturrecht  61. 

Privatrecht  76,  112, 166, 
287,  440,  471. 

Staatsrecht  74. 

Straf  recht  147, 286f .,  290. 

Völkerrecht  74,  515. 
Rechtsanwalt  210. 
Redefreiheit  126,  149. 
Redner  93,  209,  31 8  ff. 
Referendum  i53ff. 
Reformation  25,   100,   109, 
Privateigentum  76, 1 12, 1 19, 

439,  466. 

124,    174,   303 ff.,   402 ff., 

444.  472. 
Reformbill  iii,  366ff. 
Regierimg  108  ff.,  142,  I47ff., 

314- 
Regiment  108  ff. 
Reichstag  278. 
Religion  21  f.,  29,  32,  38ff., 

59f.,     65,     69ff.,     I52f., 

202,    23off,,    283,    289f., 

3ooff.,    466f.,    474.    564, 

569ff. 
Republiki66, 3i4f.,  357.397- 
Resolution  47. 
Revolution,  engl.  1688  iiof. 
—  franz.    1789    iio,    139, 

192,     251  f.,     267,     365, 

374ff.,  406,  410. 

1830  139,  401,  417. 

— deutsche  1848  424ff.,  433. 


Revolution,  deutsche  191 8 

ii2f.,  115, 129, 153.  314^-. 

549,  560  ff. 
Rumänien  256,  542. 
Rußland     iii,     276,     433, 

488,   505ff.,   518,   53off., 

542f.,   545,   555f..   558f., 

568. 

Samoa  508. 

Satzung  53. 

Sitte  67ff.,  73f.,  289,  297ff. 

Sittlichkeit  289,  560,  564f., 

570.  573. 
Skandale  267,  276. 
Sklaverei   260,    264,    311  f., 

338.  354.  357>  373.  439, 

490. 
Schlagwort    62f.,     25off., 

258,  314- 
Schleswig-Holstein     321, 

431  f. 
Schottland  11  o. 
Schriftsteller  88, 146.  211  ff., 

328. 
Schuldfrage     141,     504  ff.  j^ 

558,  561.  568. 
Schulwesen  286. 
Schutzzoll  321  s.  Freihandel. 
Schweden    543    s.    Skandi- 
navien. 
Schweiz    154 f.,    454,    457, 

462. 
Sekten  iio,  121. 
Serajewo  5i8f.,  535,  537ff., 

556. 
Serbien    505,    510,    5i8ff., 

534^^-.  538,  542.  556.  558. 
Skandinavien  457,  569. 
Sozialdemokratie    64,    113, 

3ioff.,  451,  456f.,  462ff., 

491  ff.,  548,  560,  562f. 
Soziale  Frage  439 ff.,    562. 
Soziale     Gesetzgebung    76, 

361,  367.  445,  474f. 
Soziale  Reform  171  f.,  446, 

474ff.,  478,  572f. 

Gesellschaft    für    Soziale 
Reform  452,  476. 
SoziaUsierung  562. 
Sozialismus     11 2  f.,    441  ff., 

489f.,  572f. 
Sozialismus,  christlicher, 

439,  474^- 
Sozialistengesetz   163,    312, 
464  ff. 


Sozialpohtik,     Verein     für 

172,  452.  476. 
Sowjet-Rebublik  76,   iiif., 

563f.,  568f. 
Spanien  208,  261,  569. 
Sprache  45,  82. 
Staat    43,    57,    75 f.,    HO, 

I22ff.,  268 ff.,  309ff.,  340, 

367,  486f. 
Staat  und  Gesellschaft  75  ff. 
Staatsanzeiger  148. 
Staatsmann      96  f.,     i56ff. 

204,  255ff.,  277,  319. 
Stadt    28f.,    67,    100,    103, 

ii9f. 
Stand  28,  376ff. 
Strafgesetzbuch    130,    159, 

292. 

Tag,  Der  106. 
Technik  290,  357. 
Temps  517. 
Test  Act  III. 
Theater  82  f.,   150. 
Theokratie  269,  271. 
Theologie  26,  38,   70,   loi. 
Times   130,   156,   158,   187, 

419,  513^. 
Tory    167,   i69f.,  483,  485. 
Trade  Unions  447 ff.,  492 f. 
Trust  454  f. 
Türkei  519,  533.  535.  567- 

Übereinstimmung  25 f.,  44. 
Überlieferung  91  f. 
Unabhängige     Sozialdemo- 
kratische Partei  549. 
Universitäten  207f.,  416. 
Unternehmer  307 f.,  445. 

Vaterlandspartei   127,   547. 
Verein  43,  47f.,  57,   I96f., 

.   325- 

Vereinigte   Staaten    182 ff., 

227,    259ff.,    269f.,    272, 

290,    322ff.,    454f.,    477, 

489f.,  491.  495.  514.  543. 

547.     549.     554^-.     568, 

574f- 
Verfassung  ii8f.,  271  f. 
Verkehr  103,  3i6f. 
Versammlung  133  ff.,  197^-, 

209. 
Volksherrschaft  323  f. 
Volksstimmimg  153  f.,  257, 

3i3f.,322,544f.,449,554- 


Sachverzeichnis. 


^ 


Wahlen  35f.,  153,  155,  322, 
325,  329ff.,  342ff. 

Wahlrecht  153,  361,  367, 
423,  428,  482f.,  56of. 

Weltanschauung  564. 

Weltkrieg  125,  258,  272!., 
357»  360.  367,  398.  406, 
435.  488,  491.  5i8ff-, 
54of.,   546.   570,   573f. 

Wesenwille  7,  i7ff.,  27,  41, 


44,  46,  51  f.,  71,  105,  219. 

316. 
Westfähscher  Merkur  176. 
Westtninster  Review  368. 
Whig  167,  i69f.,  483. 
Wien  126  f. 

Wissenschaft  21  f.,  38!.,  57. 
Wohltätigkeit    289f.,    352, 

356,  439. 
Wucher  3o6ff. 


Zabem  141,  266,  268, 
Zeitung     84,     90!.,     94ff. 

99!.,  104,  136,  148,  I58f. 

174,   I77ff.,   193^-.   199. 
Zensur  125 ff.,   147,  546ff. 

558. 
Zentrum  463  f.,  548. 
Zins  3o6ff. 
Zivihsation  80,  227,  356. 


Druck  der  Spamerschen  Buchdruckerei  in  I^eipzig. 


Verlag  von  Julius  Springer  in  Berlin  W9 

Lehrbuch  der  Geschichtsphilosophie,  von  Dr.  Georg 

Mehlis,  Professor  an  der  Universität  Freiburg  i.  Br.     19 15. 

Preis  M.  20. — ;  gebunden  M.  23. — 


Psychologie  der  Weltanschauungen.  vonDr.phii. 

Karl  Jaspers,  ord.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  Heidel- 
berg.   Zweite,  durchgesehene  Auflage.  Erscheint  im  Sommer  1922 


Der  Gegenstand  der  Psychologie.  Eine  Einführung 

in  das  Wesen  der  empirischen  Wissenschaft.    Von  Paul  Häberlin,  ordent- 
licher Professor  an  der  Universität  Bern.     1921.  Preis  M.  48. — 


Psychologie  der  Zusammenhänge  und  Be- 
ziehungen.   Von  Dr.  med.  Vera  Strasser  in  Zürich.    192 1. 

Preis  M.  96. — ;  gebunden  M.  iio. — 


Naturgeschichte  der  Seele  und  ihres  Bewußt- 

WerdenS.  Eine  Elementarpsychologie.  Von  Dr.  Eugen 
Bleuler,  o.  Professor  der  Psychiatrie  an  der  Universität  Zürich.  Mit 
4  Textabbildungen.   192 1.  Preis  M.  66. — ;  gebunden  M.  78. — 


Intelligenzprüfungen  an  Menschenaffen,  von 

Wolfgang  Köhler.  Zweite,  durchgesehene  Auflage  der  „Intelligenz- 
prüfungen an  Anthropoiden  I",  aus  den  Abhandlungen  der  Preuß. 
Akademie  der  Wissenschaften,  Jahrgang  1917,  physikalisch  -  mathem. 
Klasse,  Nr.  i.    Mit  7  Tafeln  und  19  Skizzen.     1921. 

Preis  M.  66. — ;  gebunden  M.  78. — 


Psychologische  Forschung.  Zeitschrift  für  Psychologie 
und  ihre  Grenzwissenschaften.  Herausgegeben  von  K.  Koffka  in  Gießen, 
W.  Köhler  in  Berlin,  M.  Wertheimer  in  Berlin,  K.  Goldstein  in  Frank- 
furt a.  M.,  H.  Gruhle  in  Heidelberg.  Erscheint  in  zwanglosen,  einzeln 
berechneten  Heften,  die  zu  Bänden  von  20 — 30  Bogen  vereinigt  werden. 


Hierzu  Teuerungszuschläge 


Verlag  von  Julius  Springer  in  Berlin  W9 


SOZial-IdealismUS.  Neue  Richtlinien  sozialer  Erziehung.  Von 
Paul  Natorp.  Zweite,  unveränderte  Auflage  (unveränderter  Neudruck). 
1922.  Preis  M.  90. — 


Genossenschaftliche  Erziehung  ais  Grundlage  zum 

Neubau  des  Volkstums  und  des  Menschentums.    Thesen  nebst  Einleitung. 
Von  Paul  Natorp.    1920.  Preis  M.  5.50 


Aufsätze  zur  deutschen  Revolution,  von  Hans  von 

Hentig.     1919«  Preis  M.  2.60 


Der  Friede  von  Versailles,  wirtschafts-und  sozialpolitische 

Ausblicke.     Von  Adolf  Braun.     1919.  Preis  M.  2. — 


Der  Friedensvertrag  und  Deutschlands  Stel- 
lung in  der  Weltwirtschaft.  Beiträge  von  Moritz  juHus 

Bonn-Berlin,  Hans  Bredow- Berlin,  Heinrich  Dade-BerUn,  August  Euler- 
Frankfurt  a.  M.,  Franz  Eulenburg  -  Kiel,  Ernst  Francke  -  Diessen,  Emil 
Guggenheimer-Berhn,  Walther  Jung-Berlin,  Herbert  Kraus- Königsberg, 
Alfred  Lansburgh  -  Berlin,  Franz  Lusensky  -  Berlin,  Albrecht  Macco  -  Köln, 
Carl  Scholz-Berlin,  Peter  Stubmann-Hamburg,  Georg  de  Thierry-Berlin, 
Walther  Vogel-Berlin.  Herausgegeben  von  der  Deutschen  Weltwirtschaft- 
lichen Gesellschaft,  E.V.  Mit  einer  Übersichtskarte.  1921.    Preis  M.  28. — 


Das  Völkerrecht,  systematisch  dargestellt^  von  Dr.  Franz  von 
Liszt,  o.  ö.  Professor  der  Rechte  der  Universität  BerUn.  Zwölfte  Auf- 
lage.   Von  Prof.  Dr.  Max  Fleischmann,  Halle  a.  S.  In  Vorbereitung. 


Das  neue  Arbeitsrecht,  systematische  Einführung  von  Pro- 
fessor Dr.  jur.  Walter  Kaskel  in  Berlin.  Vierte,  unveränderte  Auflage. 
1922.  Gebunden  Preis  M.  96. — 


Hierzu  Teuerungszuschläge 


Verlag  von  Julius  Springer  in  Berlin  W9 


Friedrich  Engels 

Eine  Biographie  von  Gustav  Mayer 

Erster  Band: 

Friedrich  Engels  in  seiner  Frühzeit  (1820— 1851) 

Mit  einem  Bildnis.    1920.    Preis  M.  22. — ;  gebunden  M.  26.80 
Ergänzungsband : 

Friedrich  Engels  /  Schriften  der  Frühzeit 

Aufsätze,  Korrespondenzen,  Briefe,  Dichtungen  aus  den  Jahren  1838-1844 

nebst  einigen  Karikaturen    und    einem  unbekannten  Jugendbildnis  des 

Verfassers.    1920.    Preis  M.  26. — ;  gebunden  M.  38. — 

Aus  den  zahlreichen  Besprechungen: 

.  .  .  diese  Mayersche  Biographie  erschließt  uns  Quellen,  die  bisher  nicht 
sprudelten,  und  gibt  uns  ein  plastisches  und  gut  abgerundetes  Bild  aus  der 
Frühzeit  des  deutschen  Sozialismus  .  .  .  t,Der  Tag'* 

.  .  .  Mayer  ist  kein  Biograph  im  Sinne  trockener  Historie,  er  ist  vielmehr 
Porträtist.  Er  gibt  uns  von  seinem  Helden  nicht  bloß  zu  hören,  sondern  er 
läßt  ihn  uns  auch  sehen,  er  ist  kein  Nekrologist,  sondern  er  macht  lebendig  .  .  . 

f.  Vorwärts" 
.  .  .  Wenn  dies  Werk  in  erster  Linie  die  Geschichtschreibung  des  neuzeit- 
lichen Sozialismus  um  eine  Arbeit  bereichert,  an  der  fortan  niemand  wird 
vorbeigehen  dürfen,  so  ist  es  zugleich  eine  in  hohem  Grade  fesselnde  Schil- 
derung der  Entwicklung  des  poUtischen  Geistes  im  Deutschland  des  Vormärz. 

,y  Berliner  Tageblatt*' 

Feinheit  und  Tiefe  der  Auffassung  bei  hervorragender  Sachkenntnis,  psycholo- 
gischer und  historischer  Takt,  weiteste  Durchdringung  des  zeitgeschichtlichen 
Hintergrundes,  insbesondere  vorzüghche  Beherrschung  der  Hegeischen  Philo- 
sophie und  ihrer  Ausläufer,  dazu  eine  ungemein  lebensvolle,  durchsichtige  und 
gebändigte  Darstellung  rücken  dieses  Buch  wissenschaftlich  wie  literarisch  in 
erste  Reihe  der  historiographischen  Neuerscheinungen  der  letzten  Jahre. 

,,Der  neue  Merkur" 

.  .  .  Wie  Engels,  der  spätere  Kommunist  und  Verbündete  von  Karl  Marx,  aus 
einer  durchaus  konservativ  gerichteten,  wohlhabenden  bergischen  Familie  her- 
vor- und  hinauswuchs,  das  ist  ein  menschlich  und  sozialpsychologisch  gleich- 
bedeutsamer Vorgang,  der  in  seiner  seelischen  Kompliziertheit  und  in  seinen 
geschichtlichen  Folgen  die  Ausführlichkeit  vollauf  rechtfertigt,  mit  der  G.  Mayer 
in  diesem  ersten  Band  die  Frühzeit,  die  Lehr-  und  Wanderjahre  seines  Helden 
darstellt  .  .  . 

Die  menschlichen  und  die  literarisch-politischen  Urkunden  der  Frühzeit  sind 
die  farbige  Illustration  und  bestätigende  Dokumentierung  der  Mayerschen 
Darstellung  .   .   .  „Deutsche  Revue'* 

Hierzu  Teuerungszuschläge 


Verlag  von  Julius  Springer  in  Berlin  W 9 


Das  neue  deutsche  Wirtschaftsrecht,  Eine  syste- 
matische Übersicht  über  die  Entwicklung  des  Privatrechts  und  der  benach- 
barten Rechtsgebiete  seit  Ausbruch  des  Weltkrieges.  Von  Dr.  Arthur 
Nußbaum,  a.  o.  Professor  an  der  Universität  Berhn.   1920.    Preis  M.  16. — 


Die  volkswirtschaftliche  Bilanz  und  eine  neue 
Theorie  der  Wechselkurse.  Die  Theorie  der  reinen 

Papierwährung.     Von  Edmund  Herzfelder.     1919. 

Preis  M.  24. — ;  gebunden  M.  26.40 


Die  Verkehrsmittel  in  Volks-  und  Staatswirt- 
sc naft«    Von  Dr.  Emil  Sax,  o.  ö.  Professor  der  poütischen  Ökonomie 
i.  R.     Zweite,   neubearbeitete  Auflage. 

Erster  Band:  Allgemeine  Verkehrslehre.     1918.  Preis  M.  10. — 

Zweiter  Band:   Land-  und  Wasserstraßen,  Post,  Telegraph,  Telephon. 
1920.  Preis  M.  48. — ;  gebunden  M.  66; — 

Dritter  (Schluß-)  Band:  Eisenbahnen.  Erscheint  im  Mai  1922. 


Der  Kapitalzins.     Kritische  Studien.  Von  Dr.  Emil  Sax,  o.  ö.  Pro- 
fessor der  politischen  Ökonomie  i.  R.     19 16.  Preis  M.  6. — 


Die  Seehafenpolitik  der  deutschen  Eisenbah- 
nen und  die  Rohstoffversorgung,  von  Dr.  Erwin 

V.  Beckerath,   Privatdozent  an   der  Universität  Leipzig.     191 8. 

Preis  M.  11, — 


Das  Seefracht -Tarifwesen,  von  Dr.  Kurt  ciese,  ober- 

regierungsrat  in  Hamburg.     1919.       Preis  M.  34. — ;   gebunden  M.  40. — 


Die  Reichseisenbahnen.  Gedanken  und  vorschlage  zur 
Finanzwirtschaft  und  Organisation  des  deutschen  Verkehrswesens.  Von 
Regierungsrat  R.  Quaatz  in  Köln.     1919.  Preis  M.  2.40. 

Hierzu  Teuerungszuschläge 


i 


Verlag  von  Julius  Springer  in  Berlin  \\ 


Lehrbuch  der  Geschichtsphilosophie,  von  Dr  Georg 

Mehlis,  Professor  an  der  Universität  Freiburg  i.  Br.     191 5. 

Preis  M.  20. — :  gebunden 


Psychologie  der  Weitansciiauungen«  vonür. ; 

Karl  Jaspers,  ord.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  He: 
berg.    Zweite,  dwrchgesehene  Auflage.  Erscheint  im  Somir 


Der  Gegenstand  der  Psychologie.  Eme  Einführ 

in  das  Wesen  der  empirischen  Wissenschaft.    Von  Paul  Häberlin,  ordern 
lieber  Professor  an  der  Universität  Bern.     1921.  Preis  y 


Psychologie  der  Zusammenhänge  und  Be- 
ziehungen.   Von  Dr.  med.  Vera  Strasser  in  Zürich.    1^21. 

Preis  M.  oG. — -:  gebunden  M.  ti< 


Naturgeschichte  der  Seele  und  ihres  Bewußt- 
werdens. Eine  Elementarpsycholo^ie.  Von  Dr.  Eugen 
Bleuler,  o.  Professor  der  Psychiatrie  an  der  Universität  Zürich.  Mit 
4  Textabbildungen.    192 1.  Preis  M.  66.-^;  gebunden  M.  yf 


Psychologische  Forschung,  zeitschnii  für  Psychoi 

und  ihre  Grenzwissenschaften.    Herausgegeben  von  K.  Kofika  in  <'"-" 

W.  Köhler  in  Berhn,   M.  Wertheimer  in  Berlin,   K.  Goldstein  iv 

fürt  a.  M.,   H.  Gruhle  in  Heidelberg.     Erscheint   in   zwanglosen,   einzeln 

berP'^^iT'^'^Ti    TTf>ft»^n      rliV    VII     HJj-nrlf-n    ^rnrt     .>n — ir^   T^rnrnn    \'r-rl^]u')<ri     vvprdpn 

HierzuTeuerungszuschläg« 


Intelligenzprüfungen  an  Menschenaffen. 

Wolfgang    Köhler.      Zweite,   durchgesehene  Auflage   der   ,,Intellig*  |i 

Prüfungen  -an  Anthropoiden  I",  aus  den  Abhandlungen  der  Pr» 
Akademie  der  Wissenschaften,  Jahrgang  191 7,  physikalisch -matl' 
Klasse,  Nr.  1.    Mit  7  Tafeln  und  19  Skizzen.     192.J. 

Preis  M.  6''-  — •  «.'■»"•«. 


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